Das Königliche Seminartheater — Altenroda — Grünlein : Novellen

By Paul Keller

The Project Gutenberg eBook of Das Königliche Seminartheater — Altenroda — Grünlein
    
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Title: Das Königliche Seminartheater — Altenroda — Grünlein
        Novellen

Author: Paul Keller

Illustrator: Wilh. Poetter

Release date: April 12, 2025 [eBook #75839]

Language: German

Original publication: Breslau und Leipzig: Bergstadtverlag, 1923

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS KÖNIGLICHE SEMINARTHEATER — ALTENRODA — GRÜNLEIN ***



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                     Anmerkungen zur Transkription.

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des
Originaltextes wurde übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
sind stillschweigend korrigiert worden.

Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter erstellt.

Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~

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                     Das Königliche Seminartheater
                               Altenroda
                               Grünlein




                                  Das
                        Königl. Seminartheater

                               Altenroda
                               Grünlein


                               Novellen

                                  von

                              Paul Keller


                 Bergstadtverlag / Breslau und Leipzig


            Einband und Buchschmuck von Prof. Wilh. Poetter


                 Druck von Wilh. Gottl. Korn, Breslau


      Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
              ~Copyright 1923 by Bergstadtverlag Breslau~




	                                         Seite
    Das königliche Seminartheater	             3
    In den Grenzhäusern	                            37
    Der Ausflug	                                    75
    Das Telefon des Bildschnitzers	            99
    Die Briefe der Tochter	                   117
    Die letzte Furche	                           129
    Bergkrach	                                   143
    Altenroda	                                   155
    Vom Musikleben in Altenroda	                   177
    Der Schuldturm	                           247
      Das traurige Schicksal des Meisters Michael  251
      Vom törichten Kaspar                         265
      Rauchermärchen                               277
    Die drei Geizhälse	                           291
      Der evangelische Geizhals                    295
      Der katholische Geizhals                     303
      Der jüdische Geizhals                        317
    Zwei Idyllen	                           329
      Der Briefkasten                              329
      Hero und Leander                             335
    Ansorge	                                   357
    Grünlein	                                   391




                            Das Königliche
                            Seminartheater

                  Ein Stück eigener Lebensgeschichte




                 ~Buchschmuck von Prof. Wilh. Poetter~


                           ~55.-74. Auflage~




                 Druck von Wilh. Gottl. Korn, Breslau


      Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
              ~Copyright 1923 by Bergstadtverlag Breslau~




Zuweilen ist mir in irgend einer Stadt, in irgend einer Gesellschaft
ein Kranz mit einer Schleife verehrt worden. Die Kränze sind verdorrt,
die Schleifen habe ich mir aufgehoben. Unter ihnen befindet sich
ein verblichenes blaues Band, darauf steht: »Paul Keller zu seinem
19. Geburtstag. Gewidmet von seinen Freunden Bartsch, Bentzinger,
Böttcher, Heilgans, Scherwentke.« Der Kranz, der zu dem Band gehörte,
hat vielleicht einmal schlecht und recht einen Taler gekostet samt
der Schleife, auf welche die spendenden Freunde die Inschrift mit
chinesischer Tusche selbst aufgepinselt hatten.

Fünf neunzehnjährige Seminaristen schenkten einem Kameraden zum
Geburtstag einen Lorbeerkranz für drei Mark. Jeder gab sechzig Pfennig.
Welch ein Opfer! Für sechzig Pfennig konnte man in jener billigen Zeit
-- es war 1892 -- in einem Restaurant Breslaus fein zu Mittag speisen;
für sechzig Pfennig konnte man einen Sitzgalerieplatz im Stadttheater
haben, den »Lohengrin« hören, den »König Lear« oder die »Haubenlerche«;
für sechzig Pfennig konnte man selbst »bei ausgesprochenem Pech«
tagelang Zwanzigstelpfennig-Skat spielen; für sechzig Pfennig konnte
man sich drei Reklam-Bücher kaufen; für sechzig Pfennig konnte man
zwölf Tassen heißen Kaffee im Seminar haben; für sechzig Pfennig hätte
man sich bei einem Ferienkommers in bayerischem Bier um den Verstand
saufen können.

Und eine solche Summe gab man so hin! Für einen Freund! Für einen
Kranz!

Ach, ihr fünf treuen guten Kerle, deshalb ist mir ja Euer verblaßtes
Band, auf das Ihr selbst Eure Namen gepinselt habt, heute noch so eine
Kostbarkeit.

Dieses Band ist einmal sehr teuer gewesen.

                   *       *       *       *       *

Ich war auf eine etwas abenteuerliche Art ins Breslauer Seminar
gekommen. Da ich meine dreijährige Vorbildung in der Grafschaft Glatz
und zwar in der Königlichen Präparandenanstalt zu Landeck genossen
hatte, war ich -- wie alle dortigen Schüler -- für das Seminar in
Habelschwerdt bestimmt. Aber ich wollte nicht nach Habelschwerdt.
Warum, weiß ich selbst nicht recht. Die Hauptursache war wohl mein
Freund Oskar Bartsch, der aus Breslau stammte, mir glänzende Bilder
von dieser Stadt zeichnete und sagte: »Ein Mann wie du gehört nicht
nach Habelschwerdt, er gehört nach Breslau.« Darauf gingen wir zwei
zu dem Vorsteher unserer Anstalt, sagten ihm, wir möchten nicht nach
Habelschwerdt, wir möchten gerne zu der Aufnahmeprüfung ins Seminar
nach Breslau; aber er -- der prächtige, humorvolle Doktor -- schmiß
uns ganz gemütlich raus, indem er sagte: »Das Habelschwerdter Seminar
wird die Riesenehre, euch zwei als Schüler zu haben, bei gesundem
Leibe überstehen!« Draußen auf der Treppe stopfte Bartsch die Hände
in die Hosentaschen und sagte: »Das ist eine Gemeinheit!« Ich gab
ihm recht, und wir gingen in die Osterferien. Dort gelang es mir,
auf einem Feldspaziergang meinem Vater das Reisegeld nach Breslau
abzupressen, um daselbst eine große »Aktion« ins Werk zu setzen. Mein
Freund Bartsch führte mich durch die Wunderstadt, und wir gingen
direkt ins Lehrerseminar. Der Direktor, dessen äußere Bärbeißigkeit mit
seinem inneren jovialen Wesen -- wie wir später erfuhren -- in krassem
Widerspruch stand, saß trotz der Ferien in seinem Amtszimmer. Als ob
er ausgerechnet auf uns zwei Lebensstürmer gewartet hätte. Als er uns
so prüfend ansah, die wir an seiner Tür andauernd mit »Dienermachen«
beschäftigt waren, verloren wir die Sprache.

»Was wünschen Sie?« fragte er dreimal mit seiner tiefen Stimme.

Wir dienerten nur.

»Also wer sind Sie denn eigentlich? Und was wollen Sie?«

Da brachte ich heraus:

»Wir sind zwei Präparanden aus Landeck und möchten gern ins Breslauer
Seminar eintreten.«

»So? Haben Sie denn bei uns die Aufnahmeprüfung, die vor zwei Wochen
war, mitgemacht?«

»Nein. Wir durften nicht.«

»Wieso durften Sie nicht?«

»Der Herr Vorsteher unserer Anstalt hat gesagt, wir gehörten nach
Habelschwerdt; wir hätten in Breslau nichts zu suchen.«

Der Direktor lächelte.

»Na, da hat ja Ihr Herr Vorsteher ganz recht gehabt. Wie kommen Sie
denn dann hierher?«

»Wir -- wir sind -- so auf eigene Faust ...«

»Aah -- auf eigene Faust! Das ist gut von Präparanden! Und wie denken
Sie sich das -- eh ...? Sie wissen doch, daß man in einem Königlich
Preußischen Lehrerseminar nur dann aufgenommen werden kann, wenn
man die Aufnahmeprüfung bestanden hat. Und Sie wissen auch, daß die
diesjährige Aufnahmeprüfung für das Breslauer Lehrerseminar vorbei ist.
Also, wie haben Sie sich die Sache eigentlich gedacht?«

»Wir -- wir hatten gedacht, wir könnten ja extra geprüft werden.«

Da hieb der Direktor mit der Faust auf den Tisch. Aber er erboste sich
nicht. Er lächelte.

»Also, man wird alt wie ein Haus und lernt nie aus. Vier Tage lang
haben wir Aufnahmeprüfung gehalten. Zweiunddreißig haben bestanden,
vierzig sind durchgefallen. Und jetzt kommen zwei aus Landeck daher,
vierzehn Tage zu spät, gegen den Willen ihres Anstaltsleiters kommen
sie auf eigene Faust und wünschen eine Extraprüfung. Sie sind gut, Sie
zwei!«

Mir dämmerte, daß wir eine Frechheit begangen hatten, und ich wollte
mich mit einer eiligen Verneigung drücken. Mein Freund Bartsch schloß
sich mir an. Aber als wir schon halb zur Tür hinaus waren, rief der
Direktor: »Halt, bleiben Sie mal da! Finden Sie sich in Breslau
zurecht?«

Bartsch nickte. Er sei Breslauer Kind, sagte er.

»So -- dann gehen Sie nach der Schuhbrücke Nummer soundso. Da ist
ein Haus, an dem außen ein Fries angebracht ist, das einen Hexentanz
darstellt. In diesem Hause wohnt der Herr Provinzialschulrat Dr. X.;
dem sagen Sie, Sie seien Präparanden aus Landeck, gehörten eigentlich
nach dem Seminar in Habelschwerdt, seien aber gegen den Willen Ihres
Anstaltsleiters auf eigene Faust nach Breslau gefahren und wünschten
eine Sonderprüfung, da die Breslauer Aufnahmeprüfung schon vorbei sei.
Und nun gehen Sie. Ich wünsche Ihnen viel Glück!«

In überschwenglichem Gefühl dankten wir dem Direktor, nicht ahnend den
mörderlichen Hinterhalt, den er uns legte. Dieser Provinzialschulrat
+Dr.+ X. war sein Freund, wohl auch sonst ein tüchtiger Mann, aber
er war als arger Wüterich verrufen; noch heute fährt bei der Nennung
seines Namens manchem schlesischen Lehrer eine Gänsehaut über den
Rücken.

Wir zwei Dummlinge aber torkelten vergnügt drauf los, fanden das Haus
und standen bald einem Manne gegenüber, der uns aus runden Gläsern
fixierte wie eine Brillenschlange ihre Opfer.

»Was wollen Sie?«

Ich stotterte mit Todesverachtung die ganze Geschichte heraus.

Iwan der Schreckliche begriff anfangs rein nichts. Dann aber erkundigte
er sich mit zischenden Fragen, und als ihm die irrsinnige Frechheit
klar geworden war, daß sich zwei Präparanden erkühnten, eine Königlich
Preußische Haus- und Prüfungsordnung umstoßen zu wollen, und in ihrem
Anarchismus bis zu einem Provinzialschulrat kamen, kriegte er das
Wundfieber.

Er raste, und ich glaubte, mein und meines Freundes Bartsch letztes
Stündlein zähle nur noch nach Sekunden. Einen Blick nach der Tür wagte
ich nicht zu werfen. Ich war wie gelähmt.

Plötzlich aber stand der Tobende still, wischte sich die Stirn und
sagte mit fast stiller Miene:

»Ja, das ist ja menschlich gar nicht erklärlich! Wie kommen Sie
eigentlich dazu? Wie können Sie das ...«

Die Stimme versagte ihm.

Worauf ich -- fest überzeugt, daß wir so wie so verloren seien --
erwiderte:

»Herr Provinzialschulrat, wir wären nicht zu Ihnen gekommen. Aber wir
waren zuerst im Seminar, und der Herr Seminardirektor hat uns gesagt:
Gehen Sie nur nach der Schuhbrücke, in das Haus, wo der Hexentanz dran
ist, und da bringen Sie mal Ihr Anliegen vor. Ich wünsche Ihnen Glück
dazu!«

Seine Furchtbarkeit starrten erst mit den Augen, dann fingen
hochdieselben an merkwürdig zu grinsen. Zweimal ging der Herr über
Leben und Tod durch das große Zimmer, dann sagte er mit unglaublicher
Milde:

»Na, da gehen Sie zum Herrn Seminardirektor zurück und sagen Sie ihm,
Sie würden wirklich eine Extraprüfung haben. Die Verfügung ans Seminar
würde kommen. Inzwischen besorgen Sie sich die nötigen Papiere!«

                   *       *       *       *       *

Das Gesicht des Herrn Direktors, das er machte, als er uns lebendigen
Leibes wiederkommen sah, ist nicht zu beschreiben. Schließlich fing er
furchtbar an zu lachen.

Wir bekamen wirklich eine Extraprüfung. Sieben Seminarlehrer samt
Direktor mußten zwei Präparanden zwei Tage lang prüfen. Bartsch wußte
nicht, wer der letzte römische Kaiser gewesen sei, und ich zerbrach mir
über die Kryptogamen, die »Geheimblütler«, so lange den Kopf, bis ich
zu den Pilzen, die mir einfielen, auch die Kohlköpfe rechnete, da ich
nie einen Kohlkopf öffentlich hatte blühen sehen.

Das war nun ganz falsch. Aber da Geschichte und Naturkunde nur
Nebenfächer waren, kamen wir durch.

Unser guter Vorsteher aus Landeck, Herr +Dr.+ Krause, schickte uns
einen Glückwunschbrief.

                   *       *       *       *       *

Das war meine erste Prüfung, im Seminar von Breslau heimisch zu
werden, und sie war wirklich nicht leicht. Der Prüfende in Naturkunde
hatte mich Siebzehnjährigen zum Beispiel gefragt, was ich über
Sauerstofffabriken wisse. Natürlich nichts. Fast noch schwerer aber war
das, was folgte. Provinzialschulrat +Dr.+ X. war als Schultyrann
eine milde Fee gegen das, was mein neuer Seminarbruder Heilgans als
Kunsttyrann war. Dieser siebzehnjährige hochgemute Jüngling mit den
hochgebürsteten Haaren und den rollenden Augen war um mich, den von
außen Gekommenen, lange wortlos herumgestrichen. Endlich erwischte er
mich allein. Wir hatten beide zusammen Orgelübungsstunde. Abwechselnd
mußte einer eine halbe Stunde lang spielen, die andere halbe Stunde
Bälge treten.

»Spielen Sie zuerst!« sagte Heilgans.

Wir zwei »Neuen« wurden von den anderen gesiezt.

Ich war ein sehr mittelmäßiger Orgelspieler, packte meine »Orgelschule«
aus, trampelte meine »Pedalübungen« und marterte mich an einem
F-Moll-Choral verzweiflungsvoll ab. Heilgans »machte Wind«. Er lächelte
verächtlich über meine Leistungen; dann kam er dran zu spielen. Er
breitete ein großes Buch vor sich aus, dessen Umfang mich in Erstaunen
setzte und dessen Titelblatt er mir mit lässiger Handgebärde zeigte:

  ~Die Walküre~,
  Oper von Richard Wagner.

»Ich spiele jetzt den Walkürenritt!« sagte Heilgans; »das ist die Perle
vom Ganzen!«

Und er reckte sich in dem alten Überzieher, den er anhatte, und sauste
mit den Filzschuhen, die er trug, in so wahnsinnigem Tempo über die
Pedale, brachte solch grauenhaft majestätische Musik bei sämtlichen
gezogenen Registern zum Vorschein, daß ich völlig außer Atem kam, und
zwar nicht nur wegen der Bewunderung für die Heilganssche Fertigkeit,
sondern auch, weil ich für diese Kunststürme den Wind zu liefern hatte.

Gerade waren wir mitten in der Ekstase, da kam der Oberlehrer
revidieren. Und was neulich der Direktor gesagt hatte, das sagte nach
Überschauung der Sachlage auch er: »Man wird alt wie ein Haus und
lernt nie aus! Spielt einer in dieser engen Stube mit voller Orgel den
Walkürenritt! Noch dazu in Filzschuhen! Ja, Mensch, die Bude fällt uns
ja über dem Kopf zusammen.«

Nach dieser Abkanzelung spielte Heilgans mit einer einzigen gedeckten
Flöte »Tauet, Himmel, den Gerechten!« so lange, bis er den Oberlehrer
außer Hörweite glaubte. Dann aber ging er -- immer mit den Tönen der
sanften Flöte -- in andere, ganz andere Rhythmen über und fing endlich
an leise dazu zu singen:

 »~Mein lieber Schwan, ach, diese letzte traurige Fahrt, wie gerne
 hätt' ich sie dir erspart. Nach einem Jahr, wenn deine Zeit im Dienst
 zu Ende sollte gehn, dann durch des Grales Macht befreit, wollt' ich
 dich anders wiedersehn!~«

Der Zauber der süßen Melodie packte mich so, daß ich auf das
Bälgetreten vergaß und die Orgel stillstand.

»Warum machen Sie keinen Wind, Herr?«

»Ach,« sagte ich ganz selbstvergessen, »das war schön! Was war denn das
für herrliche Musik?«

»Na, doch dritter Akt, dritte Szene von ›Lohengrin‹.«

»Was ist das: ›Lohengrin‹?«

Heilgans sah mich düster an. Ich glaube, ihm graute vor meiner
Unwissenheit.

»Sie können so herrlich spielen!« sagte ich in ehrlicher Bewunderung.

Da blickte er etwas freundlicher.

»Waren Sie nie im Theater?« fragte er.

»O ja, im Landecker Badetheater habe ich ›Minna von Barnhelm‹ gesehen,
und im Salzbrunner Badetheater den ›Veilchenfresser‹.«

»Badetheater sind Mumpitz,« belehrte mich Heilgans. »Die ›Minna‹ von
Lessing is ja noch 'n ganz leidliches Stück, aber der ›Veilchenfresser‹
is Kitsch. So was von Schiller, Goethe, Shakespeare oder Theodor Körner
haben Sie nicht gesehen?«

»Nein,« sagte ich beschämt.

»Auch keine Oper?«

»Keine einzige.«

»Es ist unglaublich,« sagte Heilgans und verfiel in Trübsinn über den
geistigen Tiefstand mancher seiner Volksgenossen.

»Da wissen Sie wohl überhaupt nichts von Dichtern?«

»O ja, gelesen habe ich sehr viel, und ich -- ich dichte selbst ein
bissel.«

Heilgans meckerte vor Vergnügen.

»Sie dichten selber? Das is ulkig. Da -- da schießen Sie mal mit was
los, was Sie gedichtet haben.«

Ich besann mich nicht lange und deklamierte:

 »~O, wie das Herz auch wallt und ringt und wie es liebt und haßt, es
 kommt der Abend, und er zwingt es bald zu langer Rast. Wenn dann den
 fernen Westen säumt ein leuchtend' Abendrot, ist wenig wahr, was man
 geträumt, und manche Hoffnung tot.~«

»Das haben Sie doch nicht alleine gemacht,« unterbrach mich Heilgans.

»O ja. Das ist das letzte Gedicht das von mir gedruckt wurde. Ich hab's
eingesteckt.«

Ich zog ein Zeitungsblatt aus der Tasche und zeigte es ihm. Er las es,
las meinen Namen, aber ich mußte ihm erst noch einen Redaktionsbrief
zeigen, ehe er an mich glaubte.

»Hm ja,« sagte er dann, »das Ding ist ja gar nicht übel. Es reimt
sich. Aber wissen Sie, die eigentliche, die richtige Kunst ist bloß
beim Theater. Wenn das Theater nicht wär', hätte überhaupt das ganze
Leben keinen Zweck. Ich bin schon siebzehnmal im ›Lohengrin‹ gewesen;
ich kann jedes Wort und jede Note auswendig; ich habe acht Wagnersche
Klavierauszüge, da kostet jeder vierzehn Mark. Richard Wagner ist
überhaupt der Inbegriff von allem, was man wissen muß.«

Er versprach, mich in den »Lohengrin« und in »Tannhäuser« einzuführen.

»Vielleicht auch noch in die ›Meistersinger‹ und in den ›Holländer‹,«
fügte er hinzu; »denn den ›Ring‹ oder gar ›Tristan und Isolde‹ werden
Sie nie verstehen.«

Ach Gott, wie war ich dankbar, daß sich dieser hochgebildete
Großstädter mit so einem Glatzer Waldburschen, wie ich daherkam,
überhaupt abgab.

Am selben Abend stellte mich Heilgans seinem Freunde Felix Böttger vor,
der ein fast ebenso kunsterfahrener Mann war wie er.

»Er versteht nichts vom Theater,« sagte Heilgans bei der Vorstellung
»ich hab' ihn anfangs überhaupt nicht leiden gekonnt; aber ich denke,
wenn wir uns ein bißchen Mühe geben, wird was aus ihm.«

»Na, nur immer Mut, junger Mann,« sagte Böttger mit tiefer, jovialer
Stimme und legte mir die Hand auf die Schulter.

                   *       *       *       *       *

Wir wohnten alle im Internat. Das Seminar war ein uraltes früheres
Klostergebäude mit vielen hygienischen Unzulänglichkeiten, aber auch
mit einer kostbaren gemütlichen Romantik.

Unser Kursus hatte zwei Schlafsäle. Der kleinere hieß die »Vorhölle«,
der größere der »Himmel«. Ich schlief anfangs im »Himmel«, aber
Heilgans sorgte dafür, daß ich zu ihm in die »Vorhölle« zog. Er sagte,
dort sei es gemütlicher; im »Himmel« wohnten die Banausen. Für diese
Bemerkung wurde er von einer Schar himmlischer Geister am Abend
durchgehauen.

Und diese tätliche Beleidigung erforderte Rache.

»Können Sie Gespenstergeschichten erzählen?« fragte mich Heilgans.

Ob ich das konnte!

Am nächsten Abend, als die Lichter erloschen waren und tiefe
Dunkelheit in den alten Klosterräumen herrschte, erzählte ich eine
Gespenstergeschichte nach der anderen. Ich mußte eigens in den Himmel
kommen und erzählte dort durch die Finsternis.

»Noch eine Geschichte, noch eine,« sagten die Himmelsleute, und ich
erzählte mit halbverhaltener Stimme. Fast fürchtete ich mich vor den
eigenen Geschichten.

Dann brachte Heilgans die Rede auf einige Selbstmorde, die früher im
Seminar passiert waren, und sagte, daß ganz ernsthafte Leute glaubten,
es spuke. Auf dem angrenzenden Kirchboden solle es oft rumoren.

Die »Himmelianer« taten zwar mutig, aber ganz richtig war keinem ums
Herz.

Um Mitternacht nun, als alles schlief, läutete plötzlich durch die
tiefe Stille der bange Ton eines Glöckleins. Es war ein schauriger
Klang. Nur wimmernd und ganz vereinzelt schlug die Glocke an.

»Bim bim!«

Dann lange Pause.

Dann wieder einmal: »Bimm, bimm, bimm!« Und dann wieder minutenlanges
Schweigen.

»Bimm!«

Ein verlorener klagender Ton.

Der ganze »Himmel« wachte auf. Wir hörten Zischeln, leises Sprechen.
Aber es stand keiner auf.

Die Dunkelheit war so tief, der Klang des Glöckleins so sterbensbange,
daß selbst mir die Haut schauderte, obwohl ich wußte, daß Heilgans
und mein Landecker Freund Bartsch heimlich an dem Gasrohr des Himmels
eine kleine Glocke angebracht hatten, von der eine Schnur durch ein
Fensterchen über der Türe zu uns in die Vorhölle lief.

Eine ganze Stunde lang bimmelte die Geisterglocke, und erst als draußen
von einem Turm eine Uhr Eins schlug, hörte der Spuk auf.

Ein paar sonst ganz robuste Burschen aus dem Himmel sagten am nächsten
Morgen, sie hätten kalten Angstschweiß geschwitzt. Das hätte ich mit
meinen verdammten Gespenstergeschichten zuwege gebracht; das Gebimmel
sei grausig gewesen.

Die Sonne brachte die Geisterglocke an den Tag, und der darob
einsetzende Feldzug des uns an Zahl viermal überlegenen Himmels gegen
uns Vorhöllenleute endete mit unserer schweren Niederlage.

»Aber Banausen sind sie doch!« sagte Heilgans, als er sich seine
schmerzenden Gliedmaßen rieb. Mit mir machte er Bruderschaft.

                   *       *       *       *       *

In die Vorhölle siedelten nach und nach lauter der Kunst ergebene
Leute über, und hier entwickelte Heilgans die große Idee der Gründung
eines Königlichen Seminartheaters. Er hatte indes sämtliche Mitglieder
des Kursus auf ihre Theatertalente hin beobachtet und geprüft und
fand, daß nur sechs absolut talentlos waren. Diese bestimmte er zu
Kulissenschiebern, Theaterboten, Portiers und Garderobiers. Es wurde
eine Theaterkommission eingesetzt, und diese ernannte in fulminanten
Dekreten Herrn Arthur Heilgans zum Direktor, Herrn Felix Böttger zum
Oberregisseur, Herrn Paul Keller zum Dramaturgen, Herrn Liersch zum
Kapellmeister, Herrn Eduard Bentzinger zum Theatermaler und technischen
Leiter. Mein Freund Bartsch wurde »Bonvivant«; ein dicker, frischer
Junge, der sonst den Spitznamen »Doppelpunkt« führte, wurde erste
Liebhaberin; Blasel, der damals Meisterschwimmer von Deutschland
war, wurde Heldentenor, der dicke Wurbs komische Alte, Picha erster
Operettenheld, und so erhielt jeder sein Fach und seinen Posten. Das
erste Theaterrequisit, das wir hatten, war ein Kupierrädchen, wie es
bei der Schneiderei gebraucht wird; Blasel hatte es seiner Mutter
gestohlen, und es diente dazu, die Theaterbillette zu »lochen«. Es gab
drei Arten von Plätzen: zu zehn, fünf und zwei Pfennig. Freibillette
wurden nicht ausgegeben, nicht mal an die Kritiker.

Heilgans hielt nun täglich in allen Pausen Vorträge über dramatische
Kunst. Einmal wurde er während einer Studierstunde von dem
revidierenden Lehrer erwischt, als er gerade auf allen Vieren auf dem
Fußboden herumkroch und wie besessen schrie:

    »Mein schaudernd Gebein deckt kalter Schweiß!
    Was fürcht' ich denn? Mich selbst? Sonst ist hier niemand. Ist hier
    ein Mörder? Nein. -- Ja, ich bin hier!«

»Sind Sie verrückt?« fragte der aufs höchste erstaunte Lehrer.

»Entschuldigen -- nein,« stammelte Heilgans; »ich bin bloß
Richard III.«

Der Lehrer war so grausam, dem edlen Shakespeare-Darsteller eine
Stunde Arrest zuzudiktieren. Als er gegangen war, bestieg Heilgans das
Katheder und hielt eine kurze Ansprache:

»Meine Herren! Wer sich der Kunst vermählt hat, wie ich, muß leiden.
Denken Sie an die Karlsschüler; denken Sie daran, wie Schiller unter
dem Unverstand seiner Lehrer und Vorgesetzten gelitten hat. Es ist
immer die alte Geschichte: ›Es liebt die Welt, das Strahlende zu
schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehn.‹ Sie haben gesehen,
wie dieser Pauker mich schwärzen und in den Staub ziehen wollte. Aber
das gelingt ihm nicht. Ich werde meine Stunde Arrest mit Freuden
absitzen, weil es für die Kunst geschieht. Und Schiller, dem ebenfalls
Verfolgten, zu Ehren werden wir zur Eröffnung unseres Königlichen
Seminartheaters ein Schillersches Stück geben, und zwar ›Wallensteins
Tod‹. Dieses Stück erfordert keine große Ausstattung, da es nur in
Zimmern spielt. Ich selbst übernehme die Rolle des Wallenstein, Böttger
spielt den Max Piccolomini, Herr von Schalscha übernimmt die Thekla,
die anderen Rollen werde ich noch verteilen. Meine Herren, wenn Sie den
›Wallenstein‹ richtig erfassen wollen, dann ...«

Der revidierende Lehrer kam zurück.

»Warum stehen Sie auf dem Katheder? Warum sitzen Sie nicht auf Ihrem
Platz und arbeiten?«

»Ich -- ich -- hatte nur einen -- einen kleinen Vortrag über Friedrich
Schiller gehalten.«

»Zwei Stunden Arrest,« entschied der Gestrenge.

Heilgans schlich auf seinen Platz und »arbeitete«. Als aber jemand kam
und glaubwürdig berichtete, der Revisor habe nun bestimmt das Seminar
verlassen, ging Heilgans nach dem Katheder zurück und sagte:

»Meine Herren, entschuldigen Sie die kleine Störung, durch die ich
vorhin abermals unterbrochen wurde. Also, wenn Sie ›Wallenstein‹
richtig auffassen wollen, dann ...«

                   *       *       *       *       *

Mit der »richtigen Auffassung« des »Wallenstein« hatte es seinen Haken.
Nach etwa vierzehn Tagen sagte mir Heilgans:

»Mit dem ganzen Tode von Wallenstein ist es nichts. Die Kerle wollen
nicht genug pauken. Und pauken muß nu ein Schauspieler. Ich habe die
vier ersten Akte gestrichen, und wir geben nur den letzten ...«

Der große Tag nahte. An einem Schornstein unter dem Dach hing ein
vom Theatermaler Bentzinger entworfener riesiger Zettel, auf dem die
Eröffnungsvorstellung angezeigt wurde. Die beiden oberen Klassen
(Ober- und Mittelkursus) waren eingeladen worden. Natürlich gegen
Entree. Sämtliche Plätze gingen schon im Vorverkauf weg. Das Privileg
dazu hatte Blasel, weil er das Kopierrädchen geliefert hatte. Die
Vorstellung fand im geräumigen Himmelssaal statt; die Vorhölle
diente als »Garderobe« und »Foyer«. Die Theaterdiener geleiteten die
Herrschaften zu ihren Plätzen. Alles war in gespannter Erwartung.

Die Bühne wurde durch den hintersten Teil des Himmels, den ein
Rundbogen abschloß gebildet. Ein Kunstwerk an sich war der Vorhang.
Er war aus Schlafdecken hergestellt, die dem Königlich Preußischen
Fiskus gehörten und nun »zusammengestückelt«, auch vielfach mit Löchern
versehen worden waren, damit sich der Vorhang malerisch raffen und
»ziehen« ließ. Gott habe diese alten Decken selig; sie sind im Dienste
erhabener Kunst eines ehrenvollen Todes gestorben.

Ober- und Mittelkursus stellten je einen Kritiker, die, mit
Notizbüchern bewaffnet, in der ersten Reihe saßen. Der Kritiker des
Mittelkursus, ein Herr Wawrok, galt als ein gestrenger Kunstrichter.
Ich habe das auch zu fühlen bekommen.

Die Vorstellung war herrlich. Ich selbst spielte die Rolle des alten
Gordon, aber ich mußte mich sehr zusammennehmen, daß ich meinen Part
stellte; denn Heilgans als Wallenstein riß mich gänzlich hin. Schon
sein Äußeres war gut. Er trug als Wams eine ganz neue »Düffeljacke«
seiner Mutter, einen spitzen Hut, einen richtigen Degen und Stiefel mit
Sporen und großen flatternden Papiermanschetten.

Und wie er sprach! Als er sagte: »Die Hoffnung nenn' ich meine Göttin
noch,« und gar, als er die letzten Worte: »Ich denke einen langen
Schlaf zu tun ...« wie in die Ewigkeit hineinsprach, fühlte ich in
tiefer Erschütterung die Größe dramatischer Kunst.

Allein wie seine Stimme tremolieren konnte -- hinreißend!

Der Beifall war stark und wohlverdient. Am nächsten Tage waren an
den Schornsteinen die handschriftlichen Rezensionen der Kritiker
angeheftet. Herr Wawrok hatte sechs Bogenseiten geschrieben. Er zog
eine geistvolle Parallele zwischen Arthur Heilgans und Ernst von
Possart und wies ganz unparteiisch nach, in welchen Stücken Possart
den Heilgans überrage, aber auch in welchen Punkten Heilgans dem
Münchener Tragöden zweifellos überlegen sei. Jedenfalls -- das stand
selbst diesem scharfen Kritikus fest -- wir lebten mit einem der
größten Tragöden Deutschlands unter einem Dach.

Ich selbst kam schlecht weg. Zunächst bemängelte der Kritiker meine
Garderobe. Er schrieb: »Herr Keller sah als Gordon einem italienischen
Räuberhauptmann viel ähnlicher, als dem würdevollen Kommandanten der
Festung Eger. Überhaupt scheint Herr Keller als Schauspieler nur von
mittlerer Begabung zu sein, dem man wichtigere Rollen an so einem
ernstem Kunstinstitut, wie es das Königliche Seminartheater ist,
nicht anvertrauen sollte. Herr Keller wird gut tun, lieber gar nicht
aufzutreten, sondern zur Kritik überzugehen.«

Und so geschah es auch. Ich wurde wegen Mangel an Talent -- Kritiker.
Als solcher habe ich einen riesigen Einfluß gewonnen und mich sogar zum
Vorsitzenden der Theaterkommission aufgeschwungen, der daran dachte,
Herrn Wawrok als Kritiker »abzusägen«.

                   *       *       *       *       *

Etwa vier Wochen später beauftragte mich der Theaterdirektor Heilgans,
ein eigenes Stück zu dichten.

»Wie lang soll es sein?« fragte ich.

»Drei Akte -- jeder Akt bis fünfzehn Minuten lang.«

»Ernst oder lustig?«

»Beides. Keine Tragödie. Keine Komödie. Ein Schauspiel. Mit
befriedigendem Ausgang. Damenrollen höchstens eine. Für Böttger eine
besonders wirkungsvolle Rolle. Ein Intrigant muß auch drin vorkommen.
In vierzehn Tagen kannst du's wohl machen?«

Ich war in acht Tagen fertig; denn ich hatte es, wie alle jungen
Dichter, sehr eilig, auf die Bühne zu kommen. »Magdalena. Ein
ländliches Schauspiel.« Der rührende Abschied eines Handwerksburschen
von seinem Schatz, einem armen, braven Webermädel. Dann die Not des
Vaters. Als Bewerber um die Maid tritt ein halbidiotischer reicher
Bauernsohn auf (Herr Böttger); dessen Vater ist der Gläubiger des
Webers. Das Mädel mag nicht. Verzweiflungsszenen. Zum Schluß große
Zwangsauktion. Des Webers Häuschen wird versteigert. Ein Fremder
erwirbt es. Er ist -- na, wer kann es auch sonst sein? -- der
heimkehrende besagte Handwerksbursch, der inzwischen reich geworden ist
und nun den »befriedigenden Ausgang« macht.

Es war ein voller Erfolg. Heilgans umarmte mich unter Freudentränen.
Herr Wawrok schrieb: »Der Monolog der ›Magdalena‹ am Anfang war zwar zu
lang, und moderne Dichter sollten überhaupt keine Monologe verwenden,
aber dieser Monolog war nur ein Sonnenfleck; denn das Ganze war eine
Sonne.«

Dieser letzte Satz söhnte mich mit Herrn Wawrok für alle Zeiten aus.

                   *       *       *       *       *

Nach mir und Schiller kam zur Abwechselung mal Theodor Körner dran.
»Das Fischermädchen« wurde aufgeführt. Ich sehe jetzt noch unseren
»Naturburschen« Scholz hinter der Szene Donner und Blitz machen. Die
Blitze machte er mit brennendem Kolophonium, in das er blies. Aber die
Sache funktionierte nicht, und Scholz verbrannte sich so arg den Mund,
daß er während der Vorstellung um Hilfe schrie. Ein reines Wunder ist
es, daß bei unseren künstlerischen Experimenten nicht die ganze morsche
Seminarbude abgebrannt ist. Die Musen haben uns beschützt.

Aus dem Publikum kamen Anträge an die Theaterkommission, daß man
nicht immer nur »klassische Stücke«, sondern auch mal gute Schwänke
und Lustspiele aufführen solle. Heilgans wollte anfangs davon nichts
wissen; denn er trug sich bereits mit Plänen, zur Oper überzugehen,
aber schließlich machte er dem Publikum Konzessionen.

»Ein in Gedanken stehen gebliebener Regenschirm« erweckte Lachstürme
auf den Zweipfennig-Plätzen. Das bessere Publikum auf den
Zehnpfennig-Plätzen hielt sich reservierter, amüsierte sich heimlich
aber auch ganz königlich.

Bei einem Stücke dieser Art geschah es, daß der Naturbursche Scholz
vor der Aufführung vor den Vorhang trat und folgende Rede ans Publikum
hielt:

»Meine Damen und Herren! (Die Damen existierten nur in Scholzens
Phantasie.) Dieses Stück, das wir geben wollen, ist ein
Ausstattungsstück. Wir brauchen dazu ein paar Stiefel, die ganz ganz
sind. Kann jemand ein paar ganz ganze Stiefel pumpen? Er erhält sie
nach der Aufführung gewichst zurück; denn es kommt im Stücke vor, daß
die Stiefel gewichst werden.«

Da sich nicht gleich jemand meldete, zog Scholz mir, der ich als
Kritiker in der ersten Reihe saß, zwangsweise die Stiefel aus und
verschwand damit. Ich erhielt das Schuhwerk nach der Aufführung
teilweise arg mit Wichse bekleistert, aber durchaus in ungewichstem
Zustande zurück und schrieb daher zornerfüllt in meine Kritik: »Der
gestrige Theatertag zeigte, daß das Königliche Seminartheater von
seiner hohen Warte herabsinkt und zu einer Schmiere wird.«

Darauf kehrte Heilgans zu den Klassikern zurück und gab zunächst
»Wilhelm Tell«. Wie hat Böttger den Tell gespielt! Glänzend! Vor dem
Apfelschuß, als er Geßler bestürmte, das grausame Gebot zurückzunehmen,
ja, sein eigenes Leben anbot, zitterte er in seiner Vaterangst so, als
ob er den Veitstanz hätte. Heilgans (Geßler) aber sagte herrisch und
hartherzig: »Iche will dein Leben nicht; iche will den Schoß!«

                   *       *       *       *       *

Da wir unsere Aufführungen zumeist an den freien Nachmittagen hielten,
waren die Lehrer unserem Theater noch nicht auf die Spur gekommen.
Einmal aber, als der Oberkursus Examen hatte, dachten wir, die
Gelegenheit sei günstig, verließen auf den Zehen unsere Studierstube
und schlichen nach dem Himmelssaal, allwo alsbald »Der Lügner und
sein Sohn« über die weltbedeutenden Bretter ging. Mitten im Spiel
erschien ein Warner mit der Schreckenskunde: »Der Oberlehrer kommt
rauf!« Alles meinte, er komme über die Hinterstiege, und eilte nach
der Vordertreppe. Und da lief eben alles dem Oberlehrer in die Hände:
Heilgans als Heldenvater in Schlafrock und Nachtmütze, Böttger als
Stromer, von Schalscha als junges, reizend gekleidetes Fräulein,
Bartsch als Sonntagsjäger mit der Flinte.

Der Oberlehrer war starr. Er wußte sich solche Erscheinungen hier in
den Schlafsälen an einem Unterrichtsvormittag nicht zu erklären und
murmelte: »Bin ich verrückt oder sind Sie verrückt?« Wir stoben zu
unseren Büchern zurück. Nach einer halben Stunde sagte einer: »Der
Blasel hat sich gerade ankleiden wollen und ist in der Angst in den
Unterhosen in die Orgel oben gekrochen.«

Blau gefroren holten wir den Ärmsten aus der Orgel heraus; denn es war
ein Wintertag, und die Orgelstube war ungeheizt.

Das erwartete Donnerwetter blieb zunächst aus. Aber es kam später. Auch
Heilgans hatte ein Stück gedichtet. Es hieß: »Die Axt des Glückes.«
Alle Proben, sogar die Generalprobe, hatte er in der freien Zeit
gehalten; nun ritt ihn aber doch einen Tag vor der Aufführung der
Teufel, noch eine zweite Generalprobe zu halten, und er verschwand
mit seinen Mannen während der vorgeschriebenen Studierzeit nach dem
»Himmel«. Dort erwischte ihn der revidierende Lehrer, meldete diesen
Fall dem Direktor, und dieser sagte am nächsten Tage:

»Ich habe schon lange gewußt, daß Sie Theater spielen; ich weiß, daß
Heilgans der Direktor, Böttger der Regisseur und Keller der Dramaturg
ist. Ich habe gedacht: Wenn die jungen Leute nichts Dümmeres treiben
als sowas, ist's schon gut, und habe nichts gesagt. Ja, ich hab' mich
gefreut. Ich habe gedacht, da gehen die Leute aus sich heraus; es
steckt ein idealer Kern drin, und sie lernen auch was dabei. Da Sie
aber die Arbeitszeit mißbrauchen, verbiete ich das Theaterspielen ein
für alle mal!«

So fiel ein Reif in unsere Frühlingsnacht. Als der Direktor das Zimmer
verlassen hatte, bestieg Heilgans das Katheder und sagte:

»Meine Herren! Eingetretener Umstände halber sehe ich mich gezwungen,
das Amt eines Theaterdirektors, das ich unter Ihnen zu bekleiden so
lange die Ehre und das Vergnügen hatte, niederzulegen. Allein, es muß
augenblicklich etwas geschehen, unser getötetes Kunstleben wieder
lebendig zu machen.«

Wir schickten eine Bittdeputation zum Direktor, die reumütig Abbitte
tat und alles Gute für die Zukunft versprach. Es war umsonst; das
Theaterspielen blieb strengstens untersagt. O, diese unglückliche »Axt
des Glückes«!

                   *       *       *       *       *

Um diese Zeit geschah es, daß Heilgans in Liebe verfiel. Abends,
wenn er in seinem Bette, dicht an der Feueresse lag, fing er an zu
philosophieren, und seine Gedanken bewegten sich immer in demselben
Zirkel: »Lieben kann man bloß jemanden, den man kennt. Sie kennt mich
nicht; folglich kann sie mich auch nicht lieben.«

»Sie« hatte Heilgans in der Singakademie gesehen, wo wir unsere Übungen
hatten. Sie war die Tochter eines Stadtrates, ein schönes, stolzes
Fräulein von vielleicht fünfundzwanzig Jahren. Heilgans war neunzehn.
Heilgans entwarf nun einen Plan, wie er sich seiner Holden bekannt
machen könne, und sagte eines Abends:

»Kinder, ich mach' es einfach so: ich gehe an ihre Entreetür, klingele,
und wenn sie herauskommt, frage ich sie, ob in dem Hause nicht ein
Doktor Linke wohne. Na, da gibt dann ein Wort das andere. Aber klappen
muß es. Wie im Theater. Proben muß man! Wer von Euch spielt mal das
Fräulein Grete?«

Keiner erbot sich dazu.

»Nun, da probe ich allein,« sagte Heilgans, der das Theaterspielen nun
mal nicht lassen konnte. Er schleppte ein Tafelgestell in die Nähe
der Tür, sagte, daß er sich unter diesem Gestell sein Fräulein Grete
vorstelle, und guckte dann zur Tür herein:

»Ach Verzeihung, gnädiges Fräulein, wohnt in diesem Hause nicht ein
Doktor Linke?«

Flugs stand er darauf hinter dem Gestell und antwortete mit hoher
Diskantstimme:

»Nein, mein Herr, ich glaube, in diesem Hause wohnt kein Doktor Linke.«

»Das ist sehr schade, mein gnädiges Fräulein, daß in diesem Hause
kein Doktor Linke wohnt. Ich hätte mir auch nicht erlaubt zu fragen
nach diesem Doktor Linke, aber ich kenne das gnädige Fräulein von der
Singakademie her.«

»Ach, das trifft sich ja gut!«

So wurde der Dialog fortgesetzt, bis sie ihn einlud, »doch mal
näherzutreten«.

Leider ist die Aufführung dieser Szene anders ausgefallen als die
Probe. Denn als Heilgans wirklich an der Tür des Stadtrats läutete, kam
nicht die Tochter, sondern der Vater öffnen. Außerdem aber erschien
eine riesige Dogge, die dem liebebrennenden Mann mit dem etwas
schlechten Gewissen Schrecken einjagte. Der Schluß war, daß Heilgans
dem Stadtrat die auf die Straße entwischte Dogge einfangen helfen
mußte, das Töchterlein aber nicht sah. Gebrochen kam der Jüngling heim.
Ernst ist das Leben, heiter allein die Kunst.

                   *       *       *       *       *

Es war tief in der Nacht. Irgendwo in der Ferne summte wohl noch das
Lied der Großstadt; im Seminar war Totenstille, selbst die Vorhölle
»schlief in himmlischer Ruh«.

Ach, was ist der Schlaf in so jungen Jahren tief und süß! Unser
Theatermaler Bentzinger schlief so gern, daß er uns bat, ihn jedesmal
zu wecken, wenn mal einer erwache, und ihm dann zu sagen, wie spät es
sei. »Es ist mir allerhöchste Wonne,« sagte Bentzinger, »wenn mich
jemand um zwei Uhr in der Nacht weckt und mir sagt: jetzt darfst du
noch dreieinhalb Stunden schlafen!«

So wurde Bentzinger wirklich fast in jeder Nacht geweckt, oft zwei-
oder dreimal, und er war immer dankbar für solchen Freundschaftsdienst.
In dieser Nacht wurde auch ich geweckt. Heilgans saß auf meiner
Bettkante und seufzte tief und schwer. Ich aber war unwirsch ob der
Störung und sagte:

»Heilgans, laß mich jetzt bloß mit deiner Stadtratstochter in Ruh'.
Jetzt will ich schlafen. Du kannst mir doch deinen Kummer bei Tage
klagen.«

»Es ist nicht die Grete, die mich nicht schlafen läßt,« entgegnete
Heilgans, »sondern ich habe einen schwereren Kummer. Das Theater! Wir
müssen wieder Theater spielen.«

»Das geht doch nicht!«

»O ja, es muß gehen. Du mußt ein neues Stück schreiben, und wir führen
es auf und laden den Direktor dazu ein.«

»Du bist verrückt!«

»Mit nichten! Hör' zu. Der Alte' gibt doch bei uns Psychologie. Du
mußt nun ein Thema aus der Psychologie nehmen und dem Alten vorreden,
dieses Thema hätte dich in seinem Unterricht so kolossal interessiert,
daß du gar nicht hättest anders können, du hättest müssen ein Stück
machen, und das solle er sich mal ansehen. Es wäre uns gar nicht um das
Theaterspielen, es wäre uns bloß um die Psychologie zu tun.«

»Denkst wohl, der Alte ist so dumm, daß er das glaubt?«

»Das glaubt er bestimmt; denn er wird sich geschmeichelt fühlen, und
wenn sich jemand geschmeichelt fühlt, glaubt er alles.«

»Psychologie! Das ist verdammt schwer!«

»Na, du brauchst ja nicht gerade über die Induktion oder die
Apperzeption oder solches Gemäre zu dichten. Such' dir halt was. Und in
acht Tagen muß es fertig sein. Da beginnen die Proben. Ich und Böttger
machen die Hauptrollen. Schalscha muß auch 'ne Rolle kriegen und der
Schlolaut auch. Den müssen wir jetzt mal öfters herausstellen. 'n ganz
gutes Talent. Und nu denk' nach! Mich friert. Ich weck' jetzt bloß noch
den Bentzinger, dann kriech' ich wieder in die Klappe.«

Er schlich davon.

»Bentzinger, wach' auf! Es is dreivierteleins. Fünf Stunden kannst du
noch schlafen.«

Bentzinger dehnte sich wohlig. Da sagte ihm Heilgans noch: »Der Keller
macht bis über acht Tage 'n psychologisches Drama. Mit dem schlagen wir
den Alten breit.«

»Da will ich auch mitspielen,« sagte Bentzinger und schlief
augenblicklich wieder ein. Ich aber wälzte mich nun schlaflos im Bett.
Heilgans hatte mir keinen schlechten Wurm in den Kopf gesetzt. Ein
psychologisches Stück. Für fünf Personen. In acht Tagen. Das war kein
Pappenstiel. Und ein solches Stück, das den Direktor milde stimmen
sollte! Aber gerade die Grenze, die meiner künstlerischen Freiheit mit
den fünf Personen gesteckt war, brachte mich rasch auf einen Gedanken.
Ich sprang aus dem Bett und rüttelte Heilgansen munter: »Ich hab's! Ich
hab's schon! Die vier Temperamente! Und der fünfte, der macht einen
Gemischt-temperamentigen.«

Heilgans rieb sich die Augen.

»Die vier Temperamente? Ja, was -- was hab' ich denn eigentlich für 'n
Temperament?«

»Du machst den Melancholiker. Das mußt du ja jetzt nach deiner
verkrachten Liebe tadellos können. Der Böttger macht den Phlegmatiker.«

»Großartig!« schrie Heilgans begeistert, hüpfte aus dem Bett und sprang
zu Böttgers Lager.

»Böttger, altes Murmeltier, wach' auf; du spielst den Phlegmatiker!«

Böttger begriff nicht, wieso der Phlegmatiker in seine Nachtruhe
platzte, als er aber alles gehört hatte, gesellte er sich zu uns
beiden, und wir weckten noch den Schalscha, dem wir klar machten, daß
er ein tobender Choleriker, sei, und der uns auch wirklich ob der
Störung mächtig anschnauzte, den Schlolaut, dem wir erklärten, daß
er »gemischttemperamentig« sei, und den Picha, der den Sanguiniker
übernehmen sollte. Zuletzt weckten wir den Bentzinger. Der aber hörte
von allem nichts, fragte nur, wie spät es sei, rechnete aus, wie lange
er noch schlafen könne, und legte sich selig auf die andere Seite.

                   *       *       *       *       *

»Herr Direktor! Es ist uns nicht um das Theaterspielen. Es ist
uns bloß um die Psychologie. Ihr Vortrag über die Temperamente
hat mich so interessiert, daß es mir keine Ruhe ließ, bis ich ein
Charakterlustspiel gemacht hatte.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Ein Charakterlustspiel in einem Akt.«

Der Direktor blinzelte mich an, was so aussah wie: »Spiegelberg, ich
kenn dich!« -- aber er sagte:

»Na, was für einen Gedanken haben Sie denn Ihrem Stück zugrunde
gelegt?«

»Daß reine Temperamente nicht nebeneinander existieren können, daß
sie zu Zank und Streit kommen müssen, daß der gemischt-temperamentige
Mensch der glücklichste ist.«

Er brummte befriedigt und sagte: »Na, da legen Sie mir mal Ihr Heft
vor.«

Ich holte das Heft, und am selben Abend rief mich der Direktor aus dem
Studierzimmer und sagte:

»Spielen Sie das Stück. Aber nicht oben im Schlafsaal. Unten im großen
Musiksaal. Ich werde es mir ansehen. Und die Herren Seminarlehrer laden
Sie auch ein. Jetzt sagen Sie es den anderen; aber machen Sie es mit
dem Indianertanz, der ja nun doch kommen wird, gelinde!«

Es war wirklich ein prächtiger »Alter«, dieser Seminardirektor Ziron.
Er wußte, daß wir ihn besiegt hatten, und lud uns zu dem Siegestanze
selber ein.

Vielleicht würde er die Erlaubnis aber nicht gegeben haben, wenn er
geahnt hätte, daß Böttger und Heilgans in ihrem Enthusiasmus zu einem
richtigen »Coiffeur« gingen, sich dort kunstgerecht schminken und
zurichten ließen und dann -- Böttger als kahlköpfiger, dickbauchiger
Gastwirt, Heilgans als Dorfpoet mit Vatermördern und wallender
Haarmähne -- auf den Straßen Breslaus zum Erstaunen des Publikums
lustwandelten. Die beiden Künstler erreichten glücklich das Seminar,
ehe sie ein Schutzmann wegen Erregung von Straßenaufläufen und groben
Unfugs einsperrte. Sie spielten am Abend glänzend. Mir als Autor
schlug das Herz bis an den Hals vor Freude und Bewunderung. Das ganze
Seminarlehrerkollegium, der Direktor an der Spitze, war erschienen,
auch ihre Damen hatten die Herren mitgebracht. Und sämtliche
Seminaristen waren da; darunter die Kritiker mit heimlich benutzten
Notizbüchern. Böttger, als Phlegmatiker, klagte während des ganzen
Stückes über seine »Beene, die ihm so weh täten,« und noch Monate
später, ehe wir das Seminar überhaupt verließen, sagte der Direktor:
»Böttger, ich wünsche Ihnen, daß Ihnen auf all Ihren Lebenswegen
niemals die Beene weh tun mögen.« Aber auch die anderen leisteten
Vorzügliches. Heilgans als melancholischer Dorfpoet erntete Stürme
von Beifall. Das Endergebnis war: das Theaterverbot war endgültig
aufgehoben.

                   *       *       *       *       *

Heilgansens Geburtstag kam. Wir sagten ihm, daß wir zur Feier des Tages
ein »Festspiel« geben wollten; er möge einen Wunsch äußern. Da wählte
sich der Schalk -- die Venusbergszene aus dem »Tannhäuser«. Das ging
etwas über die Kräfte des Königlichen Seminartheaters. Aber »gegeben«
wurde der »Tannhäuser« doch. In einem Klavierzimmer, in dem auch
Kleiderschränke standen. Musikmeister Liersch gab den Orchesterpart
tadellos; Blasel war ein hellstimmiger Tannhäuser; dagegen rackerte
sich der dicke Veith, der auf einem Strohsack lag, vergebens ab, eine
verführerische Venus zu sein. Auch die »Nymphen« im Hintergrund waren
unter der Kanone; der Naturbursche Scholz, der sich ebenfalls zu einer
Nymphenrolle gedrängt hatte, hüpfte und sprang wie ein Waldschrat
umher. Für Heilgans aber, den Gefeierten des Tages, war auf einem
Kleiderschrank ein »Logenplatz« errichtet, auf dem er thronte. Von da
oben sah er mit einem Operngucker interessiert auf die Bühne, und in
der Pause »erging« er sich, indem er von einem Kleiderschrank auf den
anderen stieg.

Von seiner »Loge« aus hielt er auch eine Rede an die Künstler und das
Publikum, in der er sagte: »Neunzehnmal habe ich den ›Tannhäuser‹
gesehen; ganz genossen habe ich ihn aber erst heute.«

                   *       *       *       *       *

Auch mein Geburtstag kam. An den Feueressen prangten große Zettel:
»Festvorstellung. ›Magdalenens‹ Premiere in Posemuckel. Festspiel in
zwei Akten von Arthur Heilgans«. Das Stück, das der alte Freund mir
zu Ehren gedichtet hatte, spielte bei einer kleinen Theatertruppe in
Posemuckel, der es erbärmlich schlecht ging und die sich durch eine
wohlgelungene Aufführung der »Magdalena« (meines Erstlingsstückes)
finanziell rettete. Am Schluß des Stückes kam der Laternenanzünder zum
Direktor und sagte: »Herr Direktor, der Dichter ist in unserm Theater!«
»Holt ihn,« rief der Direktor, »wir müssen ihm danken, daß er unser
Theater aus schwerer Not errettet hat.«

Und nun wurde ich -- der von allem keine Ahnung hatte -- auf die Bühne
geholt, und ich erhielt meinen ersten Kranz. »Paul Keller zum 19.
Geburtstag. Gewidmet von seinen Freunden.«

Wenn ich mein ganzes Leben überschaue, ich weiß nicht viele
Augenblicke, die so tief an mein Herz rührten wie jener. Ein
betäubender Duft stieg aus dem Kranz, den ich in Händen hielt, in meine
junge Seele. Heilgans und Böttger standen in ihren Kostümen neben mir.
Aber als sie zu mir sprachen fiel alle Theaterei von ihnen ab; die
ganze Treue ihrer Herzen, der ganze goldene Idealismus ihrer Jugend
sprach aus ihren Worten.

                   *       *       *       *       *

Ehe wir aus dem Seminar schieden, beschlossen Heilgans, Böttger und
ich, uns photographieren zu lassen. Natürlich »in Kostüm«. Ich machte
Pläne, Böttger auch, aber Heilgans sagte: »Nur der Faust' ist unser
würdig. Wir werden uns nach dem Vorspiel zum ›Faust‹ photographieren
lassen als Theaterdirektor, Theaterdichter und Lustige Person.«

So taten wir. Neben dem blauen Bande des Kranzes, den ich damals
erhielt und das noch heute an der Wand meines Arbeitszimmers hängt,
bildet das Bild ein Erinnerungszeichen an jene schöne Zeit.

Glückselige Zeit! Vielleicht brummt mancher Philister, wir hätten zu
viel Zeit »vertändelt«. Er hat unrecht. Vieles, was ich als »unbedingt
notwendig« in der Schule lernte, ist längst unter toter Asche
versunken; aber was ich im jungseligen idealen Kunstdienst unseres
Königlichen Seminartheaters erwarb, besitze ich noch jetzt.




                          In den Grenzhäusern

                 Erzählung aus den schlesischen Bergen


Es war in meinen jungen Jahren. Alle Ferientage war ich oben in den
Bergen, die ihren gewaltigen Grenzkamm zwischen Preußen und Österreich
hinstrecken an die vierzig Meilen lang. Das ging immer hinüber und
herüber in den dunklen Wäldern und langgestreckten Tälern, immer auf
einsamen, zeigerlosen Wegen, daß man wirklich oft nicht wußte: Bist du
nun noch im Vaterland oder bist du schon im »Ausland«? Denn das Volk
ist hüben wie drüben -- derb, treuherzig, von derselben Tracht und
Sprache und nimmt das Zweimarkstück an Stelle des Guldens diesseits wie
jenseits.

An einem trüben Sommerabend kam ich in die »Grenzhäuser«. Die
Grenzhäuser lagen noch auf preußischer Seite an einem waldigen Abhang,
über dem die Kammlinie aufstieg, an der diesseits das preußische,
jenseits das österreichische Zollhaus stand. Drüben über dem Berge
das erste böhmische Dorf hieß auch Grenzhäuser. Es war natürlich eine
Gemeinde für sich und führte den gleichen Namen nur aus dem einzigen
Grunde, weil es eben schwer ist und verdrießliches Kopfzerbrechen
macht, immer neue Ortsnamen zu erfinden. In den preußischen
Grenzhäusern bestand seit alter Zeit ein Gasthaus, das auf den Namen
»Der rote Hahn« getauft war; als viel später in den österreichischen
Grenzhäusern auch ein Wirtshaus entstand, nannte es sein Besitzer »Der
blaue Hahn«, weil er ein wenig neuerungssüchtig veranlagt war.

Im »Roten Hahn« kehrte ich an jenem Sommerabend ein. Ich war sehr
durstig und verlangte ein Glas Bier. Der biedere Wirt betrachtete
mich und meine grüne Jugend, schüttelte den Kopf und sagte: »Trink du
lieber a Glas Puttermilch, mei Jüngla; Bier ies fer dich zu stork.« Ich
ärgerte mich sehr über diese Ansprache; denn ich hielt mich bereits für
einen jungen Herrn, aber ich bekam nichts anderes als Buttermilch. Eine
Weile darauf kam der Wirt wieder an mich heran und forderte mich auf,
eine rotscheckige Kuh suchen zu helfen, die sich in den Wäldern verirrt
habe. Innerlich war ich empört und sagte mir, es sei eine Frechheit,
einen zahlenden Touristen also zu behandeln; denn was ginge mich die
rote Kuh des Wirts an; äußerlich machte ich aber nur eine abgespannte
Miene und sagte: Ach, ich sei so weit gegangen an diesem Tag und sehr
müde. Da faßte mich der herkulische Mann an der Schulter: »Na marsch,
marsch, tu ni erscht so stupide und zimperlich!« und schob mich zur
Tür hinaus. Es nutzte nichts, ich mußte dem barfüßigen Hüterjungen und
einer Magd die verlorene rote Kuh suchen helfen. Ich tat es mit tiefem
Ingrimm und beklagte es, in eine so barbarische Gegend geraten zu sein.
Aber wir hatten Glück. Als wir gerade auf die Suche gingen, und zwar
nach einem wohlerwogenen Kriegsplan, der Hüterjunge nach Norden, die
Magd nach Süden und ich nach Westen, kam die Kuh von der Ostseite her
angetrabt und meldete sich mit einem donnernden Gebrüll zur Stelle.

»Na siehste,« sagte der Wirt belehrend zu mir, »wenn man nur die Arbeit
nich scheut, bringt se immer ihren Segen.«

Zum Abendbrot bekam ich ein neues Glas Buttermilch, einen Berg von
Bratkartoffeln, Butter, Brot, Wurst und Käse vorgesetzt.

Das fand ich nun recht anständig, aber ich dachte an die Kostenrechnung
und sagte, so viel könne ich nicht essen. Da nahm mich der Wirt unter
die Arme, hob mich ein paarmal in die Höhe und sagte verächtlich:

»Neunzig Pfund hechstens wiegt die Borste. Wie alt bist du denn nu
schon?«

»Achtzehn Jahre,« sagte ich. »Ich besuche das Breslauer Seminar und bin
schon im zweiten Kursus.« Ich dachte, das würde dem Mann imponieren,
aber es war leider nicht der Fall.

»Miserabel siehste aus,« sagte er; »wahrscheinlich haste de
Schwindsucht.«

Ich sagte dem Gemütsmenschen beklommen, daß ich zwar ein wenig mager,
aber ganz gesund sei. Das glaubte er aber nicht, sondern meinte:

»Das is ja eben das Gutte bei sulchen Leuten, daß se selber nich
wissen, wie's um se steht. Meine Schwägerin, die hat's nich geglobt,
daß se de Schwindsucht hätte, bis se tot war. Die sah grade su aus.«

Mir wurde plötzlich ganz übel, und ich ließ mutlos den Löffel sinken.

»Ich hab' keinen Appetit mehr,« sagte ich leise.

»Das is bluß wegen deinem verknuchten Gelabere,« fuhr nun die rundliche
Wirtin ihren Mann an; »su einem jungen Blutte su an elendiglichen
Quatsch vorreden, das is ja a reenes Verbrechen! Junger Herr, hör'n Se
bloß nich uff den alen Esel, der weeß nich, was a labert.«

»Nanu,« sagte der Wirt betroffen, steckte die Hände in die Hosentaschen
und sah immer verwundert zwischen mir und seinem Weibe hin und her.
»Was -- was hab' ich denn etwa verbrochen?«

Die Wirtin stand kirschrot vor ihm.

»Wenn eener wirklich -- nee, nee, du bist ja zu a tummes Luder!«

Sie faßte ihn am Arme und zog ihn hinaus. Ich blieb trübselig hinter
dem reichbeladenen Abendbrottisch sitzen. Nach etwa zehn Minuten kam
der Wirt wieder herein. Er kratzte sich hinter den Ohren, machte eine
sehr verlegene Miene und sagte kopfschüttelnd:

»Meine Ale is zu komisch. Do denkt se nu, Sie könnten denken, ich
hätt's ernste gemeent. Nu, du müßt ich ju -- do müßt' ich ju wirklich
a aler Labersack erster Klasse sein, wenn ich ei'm Menschen wie Sie
sulches Zeug vorredte. 's war doch bluß Spoß. Denn Sie sein ju wie
Milch und Blutt -- und Gewichte haben Sie -- schwer leck -- ich hab' Se
kaum erheben können -- und Muskeln ha'n Se und zu a Suldaten werden Se
komm', a storker Kerl sein Se!«

»Du laberst ja schun wieder,« kam die Wirtin zur Tür hereingefahren;
»denn das globt a doch jitzt nich. Do merkt a doch, wie der Hase
leeft.«

»Ich sag' überhaupt nischt meh,« sagte der Wirt und setzte sich
beleidigt in einen Winkel.

»Das is ooch viel besser,« entgegnete ihm die Gattin. »Und Sie, junger
Herr, machen Se sich nischt draus. Essen Se immer recht tüchtig und
sein Se viel ei freier Luft, do kriegen Se im Läben keene
Schwindsucht.«

»Ganz dasselbe, was ich von Anfang an gesat ha,« brummte der Mann im
Winkel.

Dann wurde es still.

Nach einer Weile fragte mich die Wirtin, ob ich noch ein Glas
Buttermilch wünschte. Ich dankte. Der Wirt fuhr höhnisch lachend empor.

»Puttermilch! Nischt wie Puttermilch! Davo kriegt eener freilich keene
Schwindsucht. Aber die Cholera kriegt a! -- Das is doch kee Junge meh,
das is doch a Herr. Eener, der schon im zweeten Seminar is. Fer den
paßt keene Puttermilch, fer den paßt a Seidel Bier!«

Er brachte zwei Gläser Bier und lud mich ein, mit ihm auf der Bank vor
der Haustür Platz zu nehmen.

Das war der Anfang meiner Freundschaft mit dem Roten Hahnenwirt
Heinrich Hollmann, einer Freundschaft, die noch heut besteht.

                   *       *       *       *       *

Der Abend war still und trüb. Es war, als hätten alle Bäume in
schlaffer Trägheit die Köpfe geneigt. Der Nebel stieg langsam und
müd vom Tale auf, über dem Kammweg lag ein fahler Schein, gelb wie
Laternenlicht. Am Waldrand huschte eine Eule, sonst regte sich nichts.

»Das wird eine gute dunkle Nacht,« sagte der Hahnenwirt. Dann fing er
an, mir Schmugglergeschichten zu erzählen, eigentlich die einzige Art
von Geschichten, die er in den Grenzhäusern erleben konnte.

»Die die Schmuggler für schlechte Leute halten,« sagte mein neuer
Freund, »sein alles tumme Kerle. Die wissen eben nich, wie's hier
zugeht. Das bissel kleener Grenzverkehr rüber und nüber macht keen
Staat arm oder reich. Da lohnt sich der ganze Sums mit den Grenzjägern
nich. 's is olles Quatsch.«

»Aber es wird doch manchmal einer erschossen,« wandte ich ein.

»Erschussen? Ja, Schmuggler -- Grenzjäger nich! Da könn' Se lange
suchen, eh Se een erschuss'nen Grenzjäger finden. Nu ja, 's is mal a
schlechter Kerl drunter, wie 's halt ieberoll schlechte Kerle gibt;
aber sunst sein de Schmuggler ehrenwerte Leute. Orme Teifel sein's, die
sich amal a paar Pfennige schwer genug verdien'. Wovon soll'n se denn
leben hier in diesen Bergen?«

»Sie sind wohl auch ein Schmuggler?« frage ich harmlos.

Aber da fuhr er auf.

»Jüngla,« sagte er, »nimm dich in acht, sunst hau ich dir eene runter.
Beleidigen loß ich mich nich!«

Ich erschrak über diesen Entrüstungsausbruch und stammelte eine
Entschuldigung, setzte auch beschwichtigend hinzu, daß ich selbst schon
Kleinigkeiten für den eigenen Bedarf geschmuggelt hätte.

Da knurrte er:

»Wer hier in der Gegend nich schmuggelt, is blödsinnig!«

Später, viel später war einmal der Deutsche Kaiser im
schlesisch-böhmischen Grenzgebirge. Es wurde ihm ein Glas böhmischen
Weines vorgesetzt. Er trank ihn und sagte: »Na prosit -- geschmuggelt
ist er ja sicher!« Und lachte.

An jenem Abend aber griff ich in die Tasche, zog einen Papierbeutel
heraus und bot meinem Gastfreund eine Zigarre an. Der sah mich
betroffen an.

»Der Junge roocht,« sagte er, »und hat doch de ...«

»Ich hab' nicht die Schwindsucht,« unterbrach ich ihn. »Nehmen Sie
nur.«

»Österreicher,« sagte er anerkennend, als er die Marke prüfte, »seht
amal die Borste an! Na, wenn sich das bluß mit dem Biere und der
vielen Puttermilch verträgt.«

Dann rauchten wir und schwiegen. Ein Mann stieg vom Kammweg herunter,
den ich nach einiger Zeit als einen Grenzjäger erkannte.

»Da kommt ein Grenzer.«

»Ja,« meinte Hollmann, »eener, der noch Durst hat. Es is Wenzel
Hollmann von der andern Seite.«

»Ist er verwandt mit Ihnen?«

»Weil er Hollmann heeßt? Ach, keene Spur. Hier heeßen drei Viertel von
allen Leuten Hollmann oder Liebich. Wu sull'n ooch immer die neuen
Namen herkummen!«

Wenzel Hollmann, ein geschmeidiger Mann in knapper österreichischer
Uniform, setzte sich zu uns und trank drei oder vier Gläschen
Wünschelburger Kornbranntwein. Seine Dienstkappe legte er neben sich
auf die Bank. Es stak ein winziges Sträußchen daran.

»Immer hat a a Puckettel[1] an der Mütze,« sagte der Hahnenwirt; »'s is
halt a schneidiger Kerl.«

»Na, du weißt doch, daß mir das immer die Kinder vom Blauen Hahnen
dranmachen. Und du putzest mich ja selber oft aus,« entgegnete der
Grenzer.

Der Rote Hahnenwirt lachte aus vollem Halse.

»Ja, denkst du, der Rote steht gegen den Blauen zurücke? Putzt der
Blaue seine Kunden, putzt der Rote erst recht seine Kunden.«

Er entfernte das Sträußchen, das aus drei Stengelchen Rosmarin
und einem gelben Hahnenfuß bestand, brach vom Gartenzaun zwei
Heckenröslein, pflückte vom Beet eine rote Nelke und befestigte sie an
der Kappe des Grenzers.

»Der Rote Hahn läßt sich von der Konkurrenz nischt vormachen,«
sagte er.

Der Grenzer lächelte ein wenig geschmeichelt und ging bald darauf
davon.

Der Hahnenwirt lachte leise hinter ihm her. Dann sagte er:

»Na, Jüngla -- junger Herr -- ich sollt's ja eegentlich nich
verraten, aber Se werden ja nischt ausmähren -- Se haben ja selbst
schon geschmuggelt -- na, und da soll'n Se gleich amal a rechtes
Schmugglerstückel zu sehn kriegen. Wissen Se, was das bedeutet?«

Er nahm die Rosmarinstengel und den Hahnenfuß auf, die der Grenzer
dagelassen hatte.

»Also passen Sie auf. Das, was ich hier in der Hand hab', is 'ne
Geschäftsbestellung. Und zwar eene vom Blauen Hahnenwirt drüben. Der
Hahnenfuß bedeutet a Faß Butter, und die Rosmarinstengel bedeuten drei
Pfund Schokolade. Die soll ich nu nach drüben liefern.«

»Und das bringt der Grenzer?« rief ich überrascht.

»Jawull, der Grenzer! Der is der zuverlässigste Bote. Der tumme
Kerl hat natürlich keene Ahnung, daß a unsern Briefträger macht.
Ich hab', wie Se gesehn haben, gleich meine Gegenbestellung beim
Blauen Hahn gemacht: eine rote Nelke, das is a Fässel Roter, und zwee
Heckenröslein, die bedeuten zwee Flaschen gezehrten Oberungar. Das
trägt a nu wieder rüber; denn a pendelt immer zwischen uns beeden hin
und her.«

»Das ist großartig ausgedacht!« rief ich begeistert.

»Ja, Kupp muß ma haben,« sagte der Hahnenwirt stolz. »Wir haben
'ne ganze Liste ausgearbeit'. Klee z. B. bedeutet Slibowitz,
Jelängerjelieber bedeutet Virginiazigarren, Fette Henne
versinnbildlicht 'ne Tonne ungarisches Schweineschmalz, Flachs is
natürlich Leinwand, Männertreu sind Hosenträger, Rosen Stoff für seidne
Blusen und 'ne kleine Distel is 'n Sack Salz. Eine volle Getreideähre
heißt: Ich bitte um die Rechnung; eine leere Ähre aber bedeutet: Wart
noch a bissel, hab' jetzt gerade keen Geld.«

»Es ist genial,« flüsterte ich voll Bewunderung.

»Ja, junger Herr,« sagte der Hahnenwirt, »wenn Se immer hier wären,
könnten Se noch a ganz gescheiter Kerle werden ...«

»Der Wenzel Hollmann scheint mir grade kein sehr tüchtiger Grenzjäger
zu sein,« wandte ich nach einer Weile ein.

»Der -- nicht tüchtig? Oho! Ein Satan is a. Unsere Preußen sind viel
langsamer, se haben zu dicke Bierbäuche, aber der dürre Windhund von
Österreicher, der geht Tag und Nacht rum und hat beinah schon die ganze
Gegend erwischt.«

»Hat er Sie auch schon einmal erwischt?« fragte ich.

»Mich? Ich bin keen Schmuggler,« brauste er wieder auf; doch dann
setzte er hinzu: »Unsere Leute, ich meine die, die so die Ware zwischen
mir und meinem Blauen Kollegen drüben hin- und herschaffen, die hat a
freilich schon ziemlich ofte erwischt -- der Lump der!«

Er schnob vor Ingrimm.

»Dreimal mehr Strafe haben wir schon blechen müssen, als der ganze
Handel einbringt. Aber Geschäft is Geschäft. Blödsinnig müßt' ma
sein, wenn ma nich schwärzte. Und geleimt wird a doch! Das haben
Sie ja gesehen, wie a geleimt wird. So a Spaß schwemmt ollen Ärger
weg. Der größte Hauptkerl aber, den a noch nie erwischt hat, das
is der Wassermüller Liebich unten in a Talhäusern. Das is so a
Mordsteufelskerl, der würd' nicht erwischt, und wenn der deutsche und
der österreichische Kaiser selber uf die Grenzwache zögen.« Nach diesem
starken rednerischen Trumpf rieb sich Heinrich Hollmann vergnügt die
Hände.

»Das Dollste is,« fuhr er fort und er lachte mit so tiefem Vergnügen,
daß man merkte, wie die Freude aus dem untersten Herzen kam; »das
Dollste is, daß der Liebich dem Wenzel Hollmann die eegne Liebste
weggeschmuggelt hat. Das verwindet der Windhund sein Lebtag nich.«

»Möchten Sie mir das erzählen?«

Er schielte mich von der Seite her an.

»Für Liebesgeschichten biste noch a bissel zu grün,« sagte er. Aber er
erzählte, und erzählte zum Teil hochdeutsch.

»Also -- da war a Mädel drüben -- Franziska -- 's hübscheste Mädel
im ganzen Gebirge. Alle war'n in se verschossen -- alle -- alle ohne
Ausnahme, hüben wie drüben. Am dollsten aber waren der Grenzjäger
Wenzel und der Wassermüller Liebich in die Franziska verliebt. Also,
die beiden waren schon total verrückt um die Köppe. Je mehr se nu
aber auf das Mädel spannten, desto mehr hatten se natürlich uff
einander 'ne grenzenlose Wut. Wenn se sich bloß sahen, wurden sie
grün im Gesichte. Am schlimmsten war's natürlich uff 'm Tanzboden.
Da wundert man sich noch heute, daß da nich amal a Unglück geschehen
is. Se überboten sich, wo se konnten. Hatte der Wenzel 'ne neue
Extrauniform, kaufte sich der Liebich 'n neuen schwarzen Anzug, 'n
Patent-Gummikragen und bunte Manschetten; wie sich der Wenzel in
eener Auktion 'n Zwicker gekauft hatte, durch den a zwar nich sehen
konnte, in dem a aber sehr studiert aussah, schaffte sich der Liebich
'ne Meerschaumspitze an, obwohl ihm jedesmal schlecht wurde, wenn
a roochte. Der Wenzel machte Schulden über Schulden und koofte der
Franziska in eenem Jahre alleine sieben Granatbroschen; der Liebich
schenkte ihr 'n goldnen Fingerring mit ei'm Garantieschein, daß er
binnen drei Jahren nich schwarz würde. Und so ging's weiter, es waren
eben, wie gesagt, ganz verrückte Kavaliere. Da versuchte es der Wenzel
mit was anderem. A schmiß sich so heftig uff seine Berufsarbeit,
daß a binnen kurzem neun Schmuggler erwischte und 'ne schriftliche
Belobigung kriegte. Damit hob a sich nu bei der Franziska ein; denn
das is wahr: nischt gefällt ei'm Mädel an ei'm Kerl besser, als wenn a
Schneid hat. Das is, weil die Weiber selber su feiges Gelichter sind.
Also, der Liebich fängt schon an, mitsamt seiner Meerschaumspitze
sachte hinten runterzurutschen -- da wird a plötzlich a Schmuggler.
A bringt der Franziska allerhand feine Geschenke, mal 'ne kleine
Tonne grüne Heringe, mal 'n Viertelzentner Viehsalz, und a sagt immer
dazu, daß a am liebsten in Wenzels Amtsstunden schmuggelte, weil das
der dämlichste Grenzjäger von ganz Österreich wäre. Der Wenzel wurde
halb verrückt vor Wut. A schlief nich mehr, a lag Tag und Nacht uff
der Lauer, a saß amal von Mitternacht bis Morgens uff eenem Baume in
strömendem Regen, und wie's endlich Tag wurde, hatte ihm der Liebich,
ohne daß er was gemerkt hätte, 'ne Flasche Pain-Expeller unter den
Baum gestellt, weil Pain-Expeller gutt is gegen Rheumatismus. Das ganze
Gebirge lachte, und wie der Wenzel mit seinem Belobigungsbriefe und
eener seidnen Schürze das nächste Mal zur Franziska kam, merkte er, daß
es Essig war. Sie hatte sich für a preißischen Liebich entschieden.
Aber ihre Mutter war für a östreichischen Wenzel. Und da setzte es der
Wenzel durch, daß a, wie ich amal 'ne Entenkirmes mit Ball machte,
mit der Franziska über die Grenze rüberkommen konnte. A hatte sich
für schweres Geld 'n geschlossenen Glaswagen gemietet. Weil sich's nu
aber nich schickte, daß a bei dem Mädel im Wagen saß, setzt a sich
manierlich neben a Kutscher, und im Wagen saß die böhmische Jungfer.
Wie se ans deutsche Zollhaus kamen, war's schon dunkel; denn es war im
späten November. Der Wenzel stieg ab und sagte der Jungfer im Wagen,
er hätte vier österreichische Zigarren zu verzollen. Damit wollt' a
zeigen, was für a gewissenhafter Mensch er wär', und sich bei der
Franziska einheben. Wie er aus 'm Zollhaus wieder rauskommt, setzt'
a sich gleich wieder auf 'n Bock, und die Fahrt ging weiter. Herr,
du meine Güte, wie se hier im ›Roten Hahn‹ ankamen, saß in dem Wagen
'ne Strohpuppe, und die Franziska war verschwunden. Die tanzte drüben
mit 'm Liebich bei der österreichischen Konkurrenz. Der Kutscher, der
mit 'm Liebich im Komplott gewesen war, kriegte zwar vom Wenzel a
paar gesalzene Ohrfeigen, aber -- mit der Franziska war's aus. Sechs
Wochen drauf heirat' se a Liebich. Kurz vorher hatte se von den sieben
Granatbroschen zweie an a Wenzel zurückgeschickt. Su sein die Weiber!«

Der Rote Hahnenwirt machte eine Pause in seiner Erzählung, zündete sich
die Zigarre neu an und lachte leise und philosophisch vor sich hin.

»Su sein die Weiber!« wiederholte er. »Mir is es ooch erst mit der
Fünften geglückt. Und fünf is für mich 'ne Unglückszahl.«

Er ließ wehmütig den Kopf hängen; aber bald lachte er wieder und
erzählte weiter.

»Der Liebich trieb's nu ganz toll. Kurz vor seiner Hochzeit erzählte
er in Wenzels Gegenwart im Gasthause, seine Schwiegermutter müsse
doch jetzt Kuchen backen, und da wolle er ihr ein Faß Butter aus dem
Preußischen hinüberschaffen. Das war nu der Gipfel der Frechheit.
Wenzel, der Grenzjäger, der sowieso mit verglasten Augen und hohlen
Backen rumlief, lauerte von nun an Tag und Nacht. Zwar mit der
Franziska war er fertig; aber den Kerl -- den Lump -- den Teufel --
reinzulegen, das wär' für ihn das Allerhöchste gewesen. Und richtig
-- a erwischt ihn. In der Silvesternacht -- 's war 'n Hundewetter --
erwischt der Wenzel a Liebich uff eenem entlegenen Seitenwege mit ei'm
Faß Butter. Aus einem Graben, direkt aus der Schneejauche heraus,
springt er ihn an.

»Wo is der Zollschein?« schreit er.

Liebich, der sonst ein starker Kerl is, is so erschrocken, daß a lallt
und stammelt wie a Kind.

»Ich hab' -- ich hab' -- die Putter -- die Putter -- verzollt ...«

Er sucht in allen Taschen.

»Wo ist der Zollschein?«

Liebich dreht alle Taschen um, immer wieder, immer wieder -- er sucht
wie verrückt nach 'm Scheine.

»Ich -- ich hab'n verloren ...«

Wenzel lacht hämisch.

»Wenzel, mach' mich nich unglücklich.«

Liebich sinkt geknickt auf seine Karre. »Hab' Erbarmen, Wenzel, laß
mich laufen ...«

»Marsch, nach dem Zollamt!«

»Hab' Erbarmen, Wenzel ...«

»Nichts da! Vorwärts marsch, oder ...«

»Wenzel, denk' an de Franziska -- mach se nich unglücklich wegen den
paar Pfund Putter ...«

»Vorwärts! Die Karre aufnehmen und -- marsch vor mir her. Bei
Fluchtversuch kriegst 'ne blaue Bohne zwischen die Rippen!«

»Erbarm dich, Wenzel -- erbarm dich über mich und de Franziska ...«

Der Grenzer hebt das Gewehr. Da nimmt der Liebich die Karre auf.
Aber er läßt sie wieder fallen. Es wird ihm schlecht -- er muß sich
hinsetzen -- alle Glieder zittern ihm -- es würgt ihn ...

»Ich glaub' -- mich hat -- der Schlag gerührt -- mir is so schlecht!«

Liebich is kaum imstande, sich wieder aufzurichten. Den schweren
Schubkarren zu stoßen, is ihm ganz unmöglich. Er faßt immer nach 'm
Herzen. So muß der Grenzer schließlich selber zugreifen. Er schiebt
den Karren, und Liebich muß drei Schritt vor ihm her gehen. Wollte er
ausreißen, wär's sein Tod. So geht's den steilen Berg hinauf. Der Weg
is glitschig; das Wetter is schauderhaft -- Wind und Regen schlagen
den beiden ins Gesicht. Der Grenzer schwitzt und kann's kaum noch
ermachen. Aber er muß den Karren schieben; denn der Liebich is ganz
hin. Taumelig geht er vor ihm her. Immer wieder mal sagt er:

»Wenzel, ich bitt' dir alles ab, was ich dir angetan hab' -- aber laß
mich laufen -- tu's uns nich an!«

Der andere hört nicht darauf.

Und nu kommt's.

Wie sie den Berg rauf sind, bis zur Chaussee und nich mehr weit zum
Zollhause haben, greift der Liebich uff eenmal in de Westentasche und
sagt ganz gemütlich: »Na, da hab' ich ihn ja!«

Und a bringt einen richtigen Zollschein raus. A hatte die Putter
richtig verzollt. Der Grenzer, der kaum noch schnaufen kann, steht wie
versteinert vor ihm, und Liebich lacht und sagt:

»Ich dank' dir ooch, Wenzel, daß du mir die schwere Karre auf 'n Berg
geschoben hast. Bist halt doch ein gutter Kerl, Wenzel! Von der Putter
back' wir nu Hochzeitskuchen. Sollst 'n Stickel davon kriegen.«

Der andere is nu nahe am Ersticken gewest, aber der Liebich hat
gemeint:

»Ich hab' dir's doch von vornherein gesagt, daß ich die Putter verzollt
hatte. Und wenn ~ich~ dir was sag', kannste es doch glauben.«

Hat die Achseln gezuckt, is plötzlich wieder ganz bei Kräften gewest
und hat seinen Karren auf der Chaussee gemütlich weitergefahren. Und
der Wenzel hat sich an einen Baum anhalten müssen und hat laut geheult
vor Wut und Scham, wie ihn der andere geäfft hat. A hat mir amal
erzählt, a hätt' ihn totschießen wollen, aber der liebe Gott hätte ihn
vor der Sünde bewahrt. Aber er hat 'n tödlichen Haß uff a Liebich, und
das nehm' ich ihm ooch nich übel.«

Soweit ging die Erzählung des Roten Hahnenwirtes.

                   *       *       *       *       *

Es war unterdes dunkel geworden, und wir gingen schlafen. Von meiner
Giebelstube aus sah ich noch ein wenig hinaus auf die dunklen
Waldberge. Wer weiß, wo der Wenzel jetzt lag mit der Flinte im Arm und
auf das menschliche Wild lauerte, das sich scheu und verstohlen durch
die schwarzen Waldgänge schlich und auf jeden Laut lauschte, auf jedes
Zeichen Obacht gab, das ein nahes Verderben anzeigen konnte. Und wie
ich noch so hinaussah, passierte ein Schmugglerstück dicht vor meinen
Augen.

Ein Mann mit einem Schubkarren tauchte aus dem Dunkel auf. Er klopfte
leise an einen Fensterladen. Der Hahnenwirt kam aus dem Hause, spähte
erst nach allen Seiten, verhandelte mit dem Mann im Flüsterton und
belud dann seinen Karren mit einem Faß und einem kleinen Paket.

Der Hahnenfuß und die drei Stengel Rosmarin!

Das ging nun hinüber über die Grenze nach dem »Blauen Hahn«. Ich war
so aufgeregt, daß ich noch nicht schlief, als die Wirtsstubenuhr unten
die elfte Stunde klirrte. Nicht lange darauf klopfte es unten an die
Tür. Ich fuhr rasch in die Kleider; denn wo hätte ich junger Bursch ein
Geschehnis in dem alten Schmugglerhaus verpassen wollen. Ich schlich
die Treppe hinab und duckte mich in einen Winkel. Hollmann kam mit
einer Laterne angeschlürft und fragte, wer draußen sei.

»Liebich -- der Wassermüller Liebich!« antwortete eine tiefe Stimme.

Mir pochte das Herz. Der Müller Liebich, der war ja der berühmte
Schmuggler, der Gegner Wenzels, des Grenzers. Da öffnete der Wirt die
Tür. Ein kräftiger Mann stand draußen.

»Nanu, Liebich, willst du was über die Grenze schaffen?«

»Ja,« sagte der andere, und seine Stimme war ganz heiser. »Meine --
meine Frau will ich rüberschaffen.«

»Deine -- Frau?«

Liebich lehnte sich an den Türpfosten.

»Sie is gestorben,« sagte er tonlos. »Die Leiche will ich
rüberschaffen. Da liegt sie.«

Er wies auf ein Wägelchen, das draußen im Dunkel stand.

»Liebich,« rief der Hahnenwirt, »du redst wohl irre? Du wirst doch mit
sowas keen Allotria treiben!«

»Komm raus,« sagte der andere. Der Hahnenwirt ging hinaus, und ich
folgte, ohne daß mich jemand bemerkte. Liebich hob eine Decke von
dem Wägelchen auf. Darunter stand ein Sarg. Tiefinnerlicher Schmerz
schüttelte den Mann so, und er weinte so stoßweise, so bitterlich, daß
der ganze furchtbare Ernst klar war.

»Wann -- wann is se denn ...«

»Vorgestern. Wir haben das erste Kind gekriegt. Nach sechs Jahren. Das
Kind lebt -- die Franziska is tot.«

»Und nu willst du sie rüberschaffen? Nach Hause?«

»Ja, sie wollte drüben begraben werden.«

»Und warum bringst du sie denn in der Nacht?«

»'s macht sonst zu viel Schererei, wenn man eine Leiche über die Grenze
haben will. Is se aber erst amal drüben, wird se ooch drüben begraben.«

Liebich wollte die Leiche seiner Frau über die Grenze schmuggeln. Er
konnte wohl gar nicht anders; sein ganzes Denken war so eingerichtet,
daß ihm ein Verhandeln mit Grenzbehörden ganz ausgeschlossen schien.
Müde setzte er sich auf die Bank, auf der ich vorhin mit Hollmann
gesessen hatte.

»Ich wollt's alleine schaffen,« sagte er, »aber ich kann nich. Die
Kräfte verlassen mich.«

Was er dem Feinde gegenüber früher einmal geheuchelt hatte, war jetzt
bitterster Ernst geworden.

»Du mußt mir helfen, Hollmann; ich ermach's nich alleine.«

Der Gastwirt erholte sich von seiner Bestürzung; dann versprach er, dem
Freunde zu helfen. Jetzt erblickte er auch mich und schnob mich wohl
erst zornig an; aber nach einigem Hin und Her erlaubte er mir sogar,
mich dem kleinen traurigen Zug anzuschließen.

Die Leiche einer jungen Frau und Mutter auf einem kleinen wackeligen
Wägelchen, vorn an der Deichsel der leise schluchzende Mann, hinten,
den Karren schiebend, Hollmann und ich, so ging es langsam den Bergweg
hinauf. Ein müder Nachtwind surrte durch die Bäume, ein feiner Regen
rieselte vom Himmel. Was war das für eine traurige Fahrt! Und doch
pochte mir das Herz in ungewohnten Schauern, und die Wangen brannten
mir viel mehr von der Aufregung als von der Anstrengung.

Bei einer Wegbiegung blieben die Männer halten und lugten nach der
Höhe. Ein Licht brannte dort oben, wohl in dem Häuslein irgend eines
Webers oder kleinen Bauern.

»Die Straße ist sicher!« sagte Hollmann; denn das Licht war ein Signal
für die Schmuggler, daß kein Grenzer auf dem Wege war, es war wie ein
Leuchtturm für die Gefährdeten unten im dunklen Waldmeer.

Liebich legte sich mit dem ganzen Oberkörper auf den Sarg und fing
wieder an zu weinen. Er preßte den Kopf an das harte Holz, das sein
Liebstes umschloß, er küßte den Sarg, er umklammerte ihn mit den Armen.

Es dauerte eine geraume Weile, ehe wir wieder weiterfuhren. Den
Zollhäusern wichen wir auf einem Nebenwege aus. Als wir aber jenseits
der böhmischen Station waren, erlosch plötzlich das Licht am Berge.

Die Männer blieben stehen und lauschten.

Wir waren in Gefahr.

»Vorsicht!«

Wir hielten an. Liebich schnaufte tief und grimmig auf. »Nich amal die
Toten lassen se ihres Weges ziehen!«

Dann legte er den Finger an die Lippen. Das Wägelchen mit dem Sarge
stand ganz am Rande der Straße. Liebich drückte sich an einen Baum, und
Hollmann zog mich leise hinter den Sarg. Dort kauerten wir uns nieder.

Minuten vergingen. Sacht und fein rieselte der Regen. Die Berglehne
stieg schwarz gegen den Nachthimmel empor. Mich fror. Da huschte
Liebich unhörbar die Straße entlang auf eine Brücke zu. Ich sah, wie er
darunter verschwand.

»Was macht er?« fragte ich kaum hörbar.

»Ruhig!« brummte der Gastwirt ziemlich laut. »A sucht die Brücke und a
Graben ab. Da stecken se meist -- und nu nich immerfort reden, sonst
...«

»Halt!«

Wie aus der Erde herausgeschossen, stand ein Mann vor uns. Wenzel
Hollmann -- der Grenzjäger war es. Er hatte die Flinte unter dem Arm.

»Halt! -- Wer seid Ihr?«

Er trat näher.

»Der Hahnenwirt,« sagte er betroffen. »Was machen Sie hier? Was ist das
für ein Sarg?«

Der Wirt war fürchterlich erschrocken, aber er wollte sich's nicht
merken lassen und sagte in schwerem Mißmut:

»Wenzel, Sie kennen mich! Sie wissen, daß ich der ehrlichste Mann im
ganzen Gebirge bin, der noch nie daran gedacht hat, das Allergeringste
zu schmuggeln. Also, lassen Se mich in Ruhe und gehen Se Ihres Weges.«

»Was ist das für ein Sarg?« wiederholte der Grenzjäger statt aller
Antwort seine Frage. Er trat heran und wollte die Decke, die nur das
Kopfende des Sarges freiließ, entfernen.

Da kam ein gurgelnder Laut von der Brücke her.

»Laß den Sarg stehen! Geh weg vom Sarg, du verfluchter Spürhund!«

Liebich raste heran.

»Ich schlag' dich tot, wenn du den Sarg anrührst!«

»Was ist in dem Sarge?« fragte der Grenzer mit eiskalter Stimme.

»Das geht dich nichts an!«

»Was ist in dem Sarge?«

Der Grenzer hob die Flinte. Da mengte sich der Gastwirt ein.

»Schieß' nicht, Wenzel -- Liebichs Frau liegt in dem Sarg -- die
Franziska ...«

Der Grenzer ließ die Flinte sinken.

»Die Franziska?« fragte er betroffen. »Ist sie gestorben?«

»Es geht dich nichts an,« brummte Liebich.

Da fing der Grenzjäger jäh an zu lachen.

»Oho, Brüderlein, es geht mich wohl was an! Es geht mich sehr viel an.
Ein neuer Sarg ist auch steuerpflichtig und außerdem -- deine Frau
liegt ~nicht~ in dem Sarg!«

»Nicht in dem Sarg?« wiederholte der Hahnenwirt verwundert. Auch ich
machte große Augen.

»Es ist einer von den ekelhaftesten Schmugglertricks,« fuhr der Grenzer
fort, »einen Sarg zu benutzen, um Waren zu schwärzen. Da hat man keinen
Respekt vor Leben und Tod, keinen Respekt vor dem Kreuze, das auf dem
Sarg ist. Gotteslästerlich ist das -- pfui, Hollmann, Ihnen hätte ich
das nicht zugetraut. Alle drei sind meine Arrestanten!«

Mir wurde übel. Als Zögling einer Königlich Preußischen Lehranstalt
hier unter so abenteuerlichen Verhältnissen verhaftet zu werden, mußte
von den traurigsten Folgen für mich sein. Auch der Hahnenwirt neben mir
zitterte.

»Ich hab's nicht gewußt,« sagte er. »Ich hab' ihm geglaubt ...«

Der Grenzer lachte spöttisch.

»Reden Sie nicht -- Sie kennen doch den Liebich -- Sie werden schon
gewußt haben, daß in dem Sarge wahrscheinlich was ganz anderes steckt,
als eine Leiche.«

Er trat wieder an den Sarg heran und hob die Decke.

»Rühr' den Sarg nicht an,« brüllte Liebich, »oder ich vergreif' mich an
dir!«

Die Augen standen ihm heraus.

»Also marsch zum Amt! Da wird sich ja herausstellen, was in dem Sarg
ist. Angefaßt und vorwärts marsch!«

»Bei unserer alten Freundschaft --« fiel Hollmann in bittendem Tone ein.

»Damit ist's aus,« entgegnete der Grenzer in barschem Tone. »'s ist
eine gotteslästerliche Schuftigkeit so was!«

Ich gab ihm im stillen recht und bereute aufs bitterste, mich in den
bösen Handel eingelassen zu haben. Dicke Tränen rollten mir über die
Backen, während ich das Wägelchen mit dem Sarge schieben half und der
Grenzjäger mit der scharfgeladenen Flinte hinter uns herschritt. Mühsam
ging es einen Berg hinauf. Es hatte aufgehört zu regnen, und der späte
Mond war klar aus den Wolken getreten. Niemand sprach ein Wort; nur das
schwere Ächzen Liebichs war vernehmbar. Das Wägelchen stieß auf dem
harten Wege, und der Sarg schwankte hin und her.

So erreichten wir die Anhöhe. Die Straße ging nun ziemlich steil
bergab. Und plötzlich riß uns Liebich den Wagen aus der Hand und sauste
mit dem Gefährt wie ein Rasender den Berg hinab.

Ein scharfer Schuß. Wir schrien auf. Liebich brach zusammen. Das
Wäglein fuhr mit den Vorderrädern schwankend über ihn hinweg und blieb
stehen. Selbst mehr tot als lebendig rannte ich mit den anderen der
Unheilstätte zu. Wenzel und der Wirt zogen Liebich unter dem Wagen
hervor. Er war bewußtlos. Die Kugel war ihm rücklings in die linke
Schulter gedrungen.

Sie legten ihn an den Wegrand.

»Er hat's nich anders haben gewollt,« sagte der Grenzer.

»Es ist gotteslästerlich so was!«

Still war's -- ganz still. Aber die Herzen hämmerten.

Da trat der Hahnenwirt an das Wäglein und riß die Decke herunter. Ein
brauner Sarg mit weißen Beschlägen und einem geschnitzten Kreuz wurde
sichtbar. Vier Schrauben verschlossen ihn. Mit zitternden Fingern
machte sich der Hahnenwirt daran, die Schrauben zu lösen. Der Grenzer
sah ihm erst finster zu, dann half er, und die beiden Männer hoben den
Deckel.

Sie ließen ihn mit einem Schrei zur Erde sinken. In dem Sarge lag eine
tote Frau. Sie war in einem weißen Kleid, und ein blonder Kopf von
rührender Schönheit lag auf einem seidenen Kissen.

»Es ist wahr gewest,« stammelte der Hahnenwirt -- »es ist wahr gewest!«

Der Grenzer starrte auf die Leiche, die vom Mondlicht beschienen vor
ihm lag, ein wehes Lächeln um den blühenden Mund.

»Franziska!«

Der Grenzer stammelte unverständliche Worte und sank plötzlich mit
einem markerschütternden Weinen neben dem Sarg nieder. Nie wieder habe
ich einen Mann so laut und weh weinen gehört

Da rührte es sich am Wegrande. Liebich kam zu sich, sah wirr und wild
um sich, wußte plötzlich alles, was sich zugetragen, sah den geöffneten
Sarg und hörte den anderen schluchzen.

»Geh weg -- weg -- du Hund -- ich -- ich schlage dich tot!«

Er sank in die Ohnmacht zurück. Der Grenzer kniete immer noch auf der
Straße. Er preßte den Kopf an das Holz des Sarges und sprach wirre
Worte durcheinander, Worte, die um Verzeihung flehten, Gebetsworte,
zärtliche Worte innigster Liebe. Der Hahnenwirt stand mit gefalteten
Händen da, unfähig, etwas zu tun, und mir jungem Burschen war das Herz
voll Furcht und Grauen.

Endlich rafften wir uns zusammen, schlossen den Sarg wieder und deckten
ihn wieder zu. Was wir zuerst hätten tun müssen, darauf kamen wir
zuletzt -- wir sahen endlich nach dem Verwundeten. Er erwachte und
schrie furchtbar auf, als wir den Arm an der zerschossenen Schulter
berührten.

Zum Dorf war es glücklicherweise nicht weit. Wir wollten anfangs
Liebich mit auf das Wägelchen laden, aber es war zu schmal, er hatte
neben dem Sarge nicht Platz.

Wenzel, der Grenzjäger, kam wieder heran. In tiefster
Niedergeschlagenheit sagte er:

»Liebich, verzeih mir's, daß ich dich diesmal in falschem Verdacht
hatte.«

Da kam etwas von dem alten herben Humor in Liebichs Seele zurück, und
er sagte:

»Du denkst immer falsch; Du weißt nie, was los is!«

Nach dem Dorfe hinunter mußten wir. Es zeigte sich, daß sich Liebich
wohl aufrichten, aber nicht allein gehen konnte. Er mußte gestützt
werden.

»Stützt ihn,« sagte der Grenzer; »ich werde den Wagen ziehen.«

»Geh von der Leiche weg,« befahl da Liebich; »rühr' sie nicht an!«

Noch über den Tod hinaus reichte die glühende Eifersucht. Also kam es
so, daß der Hahnenwirt und ich das Wäglein zogen und Liebich, auf den
Todfeind gestützt, hinterher schwanken mußte.

Es war tief in der Nacht, schon gegen Morgen hin, als wir mit unserer
traurigen Last an Franziskas Heimathaus anlangten und eine alte Frau
der tot heimkehrenden Tochter unter tausend Tränen die Tür öffnete.

Am übernächsten Tage wurde die Franziska auf dem heimatlichen Kirchhof
begraben. In aller Herrgottsfrühe war die Beerdigung. Liebich konnte
ihr nicht beiwohnen; er lag krank zu Bette. Der Schmerz hatte ihn aber
doch so weich gemacht, daß er sich mit seinem alten Gegner Wenzel
versöhnt hatte. Trotz dieser Aussöhnung erlaubte er aber nicht, daß
Wenzel mit der Franziska zu Grabe ging.

Und der war doch dabei. Er stand auf einem Berge, von da man den
Friedhof übersehen konnte, hörte die Glocken läuten, hörte die Lieder
klingen und sah, wie auf weißen Grabtüchern etwas Liebes, Liebes in die
Tiefe sank.

                   *       *       *       *       *

Damit wäre nun eigentlich diese Erzählung aus. Aber da es sich darin
nicht bloß um die Liebesgeschichte der schönen Franziska aus dem
Böhmerland, sondern um das Leben in den Grenzhäusern überhaupt handelt,
will ich noch erzählen, wie ich in späteren Jahren zu meinem Freunde
Heinrich Hollmann, Wirt zum Roten Hahnen, zurückgekommen bin.

Er blieb immer der Alte, immer der redselige, etwas großsprecherische
Mann mit der gleichen Respektlosigkeit vor allen Dingen und Personen
seiner Umgebung und dem gleichen absoluten Respekt vor seiner Frau.
Weber und kleine Bauern gingen in seinem Hahnenwirtshaus ein und aus,
und wenn ich diese wortkargen Leute mit den blauen, leeren Augen
hinter ihren Branntweingläschen sitzen sah, wußte ich wohl, warum sie
schmuggelten. Beileibe nicht nur um des bißchen Erwerbes willen, wie ja
auch der Wildschütz nicht nur um eines lumpigen Talerhasens allein Ehre
und Freiheit, ja vielleicht Gesundheit und Leben in die Schanze schlägt.

Ihr Herren, die ihr zu Gericht sitzet, denkt nur an die kleinen
niederen Stuben dieser Armen, an ihre eintönige, langweilige Arbeit,
die Stunde um Stunde, Jahr um Jahr, ein ganzes langes Menschenleben
dieselbe trostlose Last ist. Und denkt daran, daß auch diese Menschen
eine Seele haben, die nach Tat und Abwechselung, Freude und Gefahr
lechzt, daß auch diese Sehnsucht nach grünen Wegen der Romantik
sucht. Was tun sie? Sie schmuggeln, sie wildern wohl auch. Und in all
der langen Zeit, da sie hinter dem Webstuhl im engen Käfig sitzen,
geht ihre Phantasie auf einsamen Schleichwegen zwischen Gefahr und
lohnendem Sieg. Kommt nun einer der Ihrigen, erzählt er von irgend
einer gelungenen Tat, dann tritt Leben in die leeren Augen, dann
geht das träge Herz mal eine Stunde lang schneller, dann steigt's
in müden Leibern auf wie Trotz und Kraft. Was bietet ihnen auch der
Staat? Wieviel vom allgemeinen Erbe läßt er ihnen zukommen, und wie
groß ist die Schädigung, die sie hinwiederum ihm zufügen? Mögt Ihr es
entscheiden; ich tue es nicht.

Vom Liebich-Müller erzählte mir der Hahnenwirt, daß er nicht mehr
schmuggele. Die Fahrt mit dem Sarge war sein letztes unerlaubtes
Überschreiten der österreichischen Grenze. Es machte dem Müller keinen
Spaß mehr, zu schmuggeln. Denn die Franziska war tot, vor der er den
Nebenbuhler lächerlich machen konnte. Mit dem Wenzel vertrug er sich,
wenn er ihn traf. Er gab jetzt sogar zu, daß der Wenzel gewissermaßen
auch ein wenig im Rechte sei; denn wenn er, der Liebich, Grenzer wäre,
gäbe es überhaupt keine Schmuggler mehr, sondern alle säßen auf Nummer
Sicher. Da stimmte ihm dann der Hahnenwirt biedermännisch bei.

Eines aber brachte dem Müller große Genugtuung. Etwa zwei Jahre nach
Franziskas Tode heiratete Wenzel ein braves Mädchen aus dem gleichen
böhmischen Dorf. Da hat Liebich, als Wenzel mit seiner Braut zur Kirche
ging, bei Franziskas Grab gestanden und hineingesagt:

»Weißte, Franzel, was der Wenzel macht? Hochzeit macht a. Mit der
Nitsche Hedwig, dem albernen Ding. Da haste den Kerl! Was hab' ich dir
immer gesagt? A Windhund is a. Ohne eene Spur von Treue. Da wirst du ja
jetzt froh sein, daß du ~mich~ genommen hast, denn ich hätte nie
eene andre als dich genommen, nie!«

Liebich nahm wirklich keine zweite Frau. Er widmete sich nur mit
großer Liebe der Erziehung seines kleinen Sohnes. Über seine eigenen
Schmugglererfolge wußte der Hahnenwirt nicht viel Erfreuliches zu
berichten. Eines Abends, als Wenzel wieder einmal bei ihm eingekehrt
war, steckte er ihm ein Lindenblatt an den Hut.

»Ah, gilt die alte Korrespondenz immer noch?« fragte ich.

»Nu natürlich! Sie roochen doch so gerne +Regalia media+, und
ich hab' keene im Hause. Nu -- Lindenbaum bedeutet eben +Regalia
media+.«

Am nächsten Tage wurde wirklich vom Blauen Hahnenwirt drüben eine Kiste
+Regalia media+ über die Grenze geschafft.

Aber Hollmann war trotzdem unzufrieden.

»Wenzel hat meine Leute greulich oft erwischt,« sagte er
niedergeschlagen. »Ich kann sagen, es kost' mich schon a Vermögen an
Strafe. A paar von meinen Leuten haben sogar sitzen müssen. Na, das
kost' dann erst recht viel. Der Kaiser hat nich so teure Hosen an
wie su a Gebirgsweber, wenn a für unsereinen amal a Paar durchsitzen
muß. Aber geschmuggelt muß sein; denn wer hier in der Gegend nich
schmuggelt, is blödsinnig. Und geleimt wird a doch, das haben Sie ja
geseh'n, wie a geleimt wird.«

                   *       *       *       *       *

Es vergingen wieder viele, viele Jahre. An mich kam die Vierzig heran,
und mein Freund Hollmann hatte den Kopf voll weißer Haare, als ich ihn
wieder traf. Verändert hatte sich aber sonst in den Grenzhäusern so gut
wie nichts. Es ist mit dem Leben umgekehrt wie mit einer Drehscheibe:
im Zentrum rast es am schnellsten, an der Peripherie scheint es still
zu stehen.

Ja, und doch hatte sich Neues und Großes in den Grenzhäusern ereignet.
Des Wassermüllers Sohn Wilhelm war so herangewachsen, daß er schon
seine Zeit bei den Hirschberger Jägern abgedient hatte, und der
österreichische Zollbeamte Wenzel Hollmann hatte ein Töchterlein, das
eine rechte frische Bergwaldsblume war. Es war die alte Geschichte: die
beiden Kinder liebten sich, und die beiden Väter wollten von dieser
Liebe nichts wissen, da sie ihnen ganz gegen das Herz war, wenn sie
sich auch äußerlich vertrugen. Den Müller schmerzte oft die halblahme
Schulter, die er dem Grenzer zu verdanken hatte, und dieser hatte
auch keinen Grund, mit dem Müller recht intim zu werden. So taten die
beiden Alten das Dümmste, was sie junger, starker Liebe gegenüber
tun konnten: sie sperrten sich dagegen. Daß das gar keinen Zweck
hatte, ist unnötig zu erwähnen. Die Grenze hinüber und herüber wurde
schönes, goldenes Liebesgut geschmuggelt: Briefe und Küsse, Blumen und
Tränen. Und ging es gar nicht anders, so schlich der Mond, der älteste
Schmuggler der Welt, hinter Wassermüllers Wald herum, nahm tausend
Liebesgedanken als unerlaubtes Gut, stieg über die Berge, leuchtete dem
dummen Grenzer, der unten auf dem Wege stand, dreist ins Flintenrohr
und lieferte sein süßes Schmugglergut an des Töchterleins Kammerfenster
ab.

Schon gut; es ging, wie es halt fast immer geht: die beiden Alten
mußten nachgeben. Und da kam ein Tag, wo in der Wassermühle ein großes,
echtes Versöhnungsfest gefeiert und alles für die bevorstehende
Hochzeit besprochen werden sollte. Gerade da war ich wieder einmal auf
eine Woche im Roten Hahnen einquartiert.

Eines Nachmittags war es, da fuhr ein Glaswagen beim Hahnen vor.
Diesmal saß keine Strohpuppe darin und auch der Wenzel nicht beim
Kutscher auf dem Bock, sondern stolz und feierlich neben seinem
taufrischen Töchterlein. Gott, war das böhmische Mädel ein liebes Ding!
Und der Wenzel -- der war in Zivil. Hatte einen Zylinderhut aufs Haupt
gestülpt, trug einen tadellosen Smoking und Lackschuhe mit Gamaschen.
So fesch kann nur ein Österreicher aussehen. Langsam und feierlich kam
er auf mich zu und reichte mir gerührt die Hand.

»Schauns -- so kommt's!« sagte er. »Aber das freut mich, daß Sie gerade
hier sind. Sie gehören ja gewissermaßen dazu.«

Er legte seinen glänzenden Zylinder auf den Tisch und fuhr plötzlich
zornig zurück.

»Verflucht -- wer hat mir denn an meinen Zylinderhut eine Kornblume
gesteckt? Ist das eine Frechheit!«

Der Rote Hahnenwirt kam heran, beguckte kopfschüttelnd die Blume und
ging hinaus, wo er leise ein Fäßchen Wünschelburger Kornbranntwein nach
dem Blauen Hahnen in Auftrag gab.

Wenzel warf die Blume grimmig auf die Erde. Dann wurde er aber wieder
feierlich und erzählte mir, als ob er sich entschuldigen müßte,
warum er nun doch seine Einwilligung zu dieser Hochzeit gäbe. Wäre
der Liebich noch ein Schmuggler -- niemals, nie! Aber der sei kein
Schmuggler mehr, der sei nur noch ein alter Esel. Und so fahre er jetzt
mit der Ursula hin, und es solle ein schönes Familienfest werden. Der
Hahnenwirt und ich, wir müßten mitmachen, denn wir gehörten dazu. Der
Blaue Hahnenwirt drüben habe gerade die Gicht; sonst hätte er ihn auch
mitgebracht. Im Wagen sei Platz für uns.

Hollmann, der Wirt, mußte nun Toilette machen und erschien endlich in
einem viel zu engen Gehrock, der den Globus seines Bauches nur bis zu
den Wendekreisen bedeckte. Wir nahmen mit im Wagen Platz, und die Fahrt
ging hinab nach der Wassermühle.

Es ist für mich als Preußen schmerzlich zu sagen: aber mein Landsmann
Liebich empfing seinen feierlich ausstaffierten Mit-Schwiegervater in
Hemdsärmeln! Wenzel bemerkte es schon beizeiten und sagte leise zu mir:

»Nu sagen's, wie konnte die Franziska an solchen Kerl nehmen, der nicht
im geringsten an Schneid hat?«

Das Fest selbst aber wurde sehr, sehr schön. Junge Liebe und junges
Glück zu sehen, ist freilich für den, der übers Leben schaut, eine
wehmütige Freude, aber doch eine Freude voll schweren Erinnerungsduftes
aus fernen Frühlingstagen.

Liebich war sehr schweigsam. Die Verlobung wurde vollzogen, und
der Wein, den wir tranken, war alles österreichische Marke und
wahrscheinlich geschmuggelt; aber Wenzel ließ ihn sich schmecken;
denn was ging es ihn an, wenn sich preußische Grenzer über den Löffel
balbieren ließen? Ja, er trank viel und wir andern auch, und die
Stimmung wurde sehr lustig. Da erhob sich der Müller zu einer Rede.

»Hier sitzen wir nu, und das is sehr schön. Daß die Franziska nich
dabei is, is freilich sehr schade. Aber ich weiß, wo die is; das weiß
ich schon durch meine lahme Achsel. Na, das is nu aber ja längst alles
vollkommen vergessen, und die Kinder, die sich heiraten werden, haben
das alles nich mit erlebt. Wozu reden wir also erst darüber? Und damit
du siehst, Wenzel, wie gut ich's mit dir meine, schenk' ich dir hier
eine echt silberne Tabaksdose, damit du immer an mich denkst, wenn du
draus schnupfst. Das Brautpaar lebe, hurra -- hoch!«

Aus blauem Florpapier wurde eine ganz prächtige silberne Dose enthüllt,
die Liebich erst kurz zuvor in Breslau erstanden hatte. Wenzel war
tiefgerührt. Es ärgerte ihn aber jetzt sehr, daß er kein Gegengeschenk
hatte und nun in seinem Smoking gegen den Hemdärmelmann unvorteilhaft
abstach. Als das reiche Abendbrot vorüber war und die Böhmen an die
Heimkehr dachten, befahl der Müller seinem Sohne, nun auch ihr eigenes
Wäglein zurechtzumachen; sie würden die lieben Gäste heimbegleiten;
denn so ein Tag wie heut sei nicht oft.

Fröhlich ging es die Berge hinauf, der Grenze zu. Wir kamen ans
österreichische Zollhaus. Ein Beamter trat heraus und fragte der Reihe
nach jeden nach Steuerbarem. Wir verneinten alle, auch Wenzel, der
Grenzer in Zivil, natürlich. Da sagte der Beamte, der (wie ich später
erfuhr) auf seinen Kollegen nicht gut zu sprechen war:

»Es tut mir leid, Herr Wenzel Hollmann; aber es ist eine Anzeige
eingelaufen, Sie brächten eine neue silberne Dose über die Grenze.«

Ein Schrei aus Wenzels Mund. Und schon flog ein Bündel blaues
Florpapier auf die Straße und aus dem Papier heraus flog eine neue
silberne Dose.

Wir glaubten alle, nun müsse die Welt untergehen. Wenzel, der
gefürchtete Grenzer, das Muster von Gewissenhaftigkeit und
unnachsichtlicher Strenge, war beim Schmuggeln ertappt worden.

Er stieg aus dem Wagen und klappte ganz zusammen. Gebrochen lehnte er
sich mit seinem schönen Anzug an das sandige Rad, der Zylinder fiel ihm
vom Kopfe.

»Ich -- ich -- hab' -- nicht drangedacht,« brachte er heiser heraus.

Der Beamte zuckte die Achsel.

»Es war meine Pflicht. Die Anzeige ist schriftlich gekommen.«

Er hob die Dose auf.

»Die muß ich natürlich konfiszieren. Bitt' schön!«

Er wies mit der Hand auf die Tür des Zollhauses. Wie einen armen
Schächer, der zum Schaffot getragen werden muß, schleppten der
Hahnenwirt und ich den unglücklichen Wenzel ins Amtslokal.

Da mischte sich Liebich ein.

»Herr Kontrolleur,« sagte er, »Sie wissen doch ganz genau, daß Herr
Wenzel Hollmann nicht im Traume daran gedacht hat, absichtlich
zu schmuggeln. Ein Beamter wie er -- ich bitt' Sie! Ich habe ihn
mit dieser Dose überrascht, hab' sie ihm geschenkt, und nu hat er
eben nicht dran gedacht. Denken Sie etwa den ganzen Tag an Ihre
Schnupftabakdose?«

»Es tut mir leid -- die Anzeige ist schriftlich gekommen; vor dem
Gesetz sind alle gleich.«

Die für Wenzel Hollmann maßlos qualvollen Formalitäten wurden
vollzogen. Er brachte kaum ein Ja oder Nein heraus. Totenblaß saß er
da. Der Müller erbot sich, alles zu zahlen, sowohl den Rückkaufspreis
für die konfiszierte Dose, wie auch die ziemlich hohe Strafsumme.

Endlich konnten wir weiterfahren. Der Müllersohn setzte sich zu seinem
gänzlich gebrochenen zukünftigen Schwiegervater, und ich bestieg das
Wäglein Liebichs, der die Zügel führte. Als wir ein Stück gefahren
waren, sagte der Müller kleinlaut:

»So is es! Erst macht's einem einen Heidenspaß, einen dummen Streich zu
machen, und nachher kommen die Gewissensbisse.«

»Was haben Sie denn?«

»Was ich hab'? Ich hab' -- ich hab' nämlich die Anzeige selber ins
Zollamt geschickt.«

»Sie sind wohl nicht gescheit?«

»Nee, wahrscheinlich nicht! Es kommt mir jetzt so vor, als ob ich 'ne
richtige Tracht Prügel verdiente.«

»Aber um des Himmels willen, warum haben Sie denn das getan?«

»'s hat mir eben keine Ruh gelassen, ich mußt' ihm noch 'n Streich
spielen, ich mußt' ihm noch was versetzen. Ich dachte, wenn wir erst
verwandt sind, dann is es nu doch amal auf immer vorbei mit so was, und
da hatt' ich mir das eben so schön ausgetüftelt und dachte, 's würde a
Heidenspaß sein. Ich dachte, ich schenk ihm die Dose, und wenn a nach
Hause fährt, denkt a nich an die Dose und fällt rein, weil a doch eben
am Zollamt schon geklemmt is. Ein famoser Witz, dacht' ich. Aber jetzt
-- ob a etwa noch Unannehmlichkeiten bei seinen Vorgesetzten haben
wird?«

»Wahrscheinlich. Sicher sogar. Eine Strafversetzung wird wohl das
Mindeste sein.«

»Verdammt noch mal, bin ich ein Lausekerl!«

Liebich kam in arge Gewissensnot.

»Vor allen Dingen sagen Sie sonst niemand, daß Sie die Anzeige
geschickt haben, sonst wird noch das junge Glück zuschanden, und was
können die Kinder dafür?«

»Nee, die können nischt dafür, daß sie solch mordsdämliche Väter haben.
Sie halten mich wohl jetzt für einen großen Esel?«

Ich schwieg, und er nickte trübe vor sich hin. Schließlich versprach
ich ihm, eine ganz ausführliche Eingabe an die österreichische
zuständige Behörde aufzusetzen und darin nachzuweisen, daß es sich bei
der ganzen Angelegenheit um einen derben Schabernack gehandelt hätte,
an dessen Ausgang der seit Jahrzehnten als goldtreu erprobte Beamte
ganz unschuldig gewesen sei. Auch wolle ich versuchen, selbst bei den
maßgebenden Persönlichkeiten vorstellig zu werden und den Sachverhalt
aufzuklären. Liebich meinte, wenn ich das täte, würde er es mir sein
Leben lang nicht vergessen; denn die Reue über die elende Geschichte
nehme ihm reinweg den Atem.

Und so ist es gekommen. Die Eingabe und der Besuch taten ihre Wirkung.
Wenzel erhielt eine Vorladung und kam mit einer sanften Nase davon. Als
Liebich den guten Ausgang erfuhr, kicherte er in tiefstem Vergnügen und
sagte zu mir:

»Ich freu' mich jetzt doch riesig, daß ich mir den schönen Spaß gemacht
habe.«

                   *       *       *       *       *

Einer aber aus der edlen Grenzhäuser-Kumpanei erfuhr noch einen großen
Schmerz, und das war mein Freund, der Hahnenwirt.

Wieder einmal war Wenzel bei ihm eingekehrt und hatte seine Dienstkappe
auf den Tisch gelegt. Da beschloß der Hahnenwirt seine übliche
Bestellung beim »Blauen« drüben zu machen und steckte wie spielend
ein Lindenblatt an die Mütze. Wenzel sah das, nahm das Blatt und
zerpflückte es langsam.

»Warum zerpflückst du denn das hübsche Blättel?« fragte der Wirt
verwundert.

Da sah ihn der Hollmann an und sagte langsam:

»'s hat kan Zweck -- der ›Blaue‹ drüben hat jetzt selber kane
+Regalia media+.«

Wie entgeistert saß der Hahnenwirt vor ihm.

»Was -- was meinst du denn damit?« stotterte er.

»Ich meine,« sagte der Grenzer gemütlich, »daß du mich seit mehr als
zwanzig Jahren für einen dummen Kerl hältst, der Euch die Bestellungen
hinüber und herüber schafft. Und ich meine, daß ich das seit zwanzig
Jahren gewußt hab'. Hatt' ich aber ein Sträußerl an der Mütze, da wußt'
ich: halt, heute is was los. Na, und hab' ich ja auch genug von Euren
Leuten erwischt.«

Das Gesicht meines Freundes Hollmann spiegelte ins Gelbgrüne. Mit
schwerem Vorwurf gegen mich sagte er: »Und einem solchen Kerl haben Sie
aus der Patsche geholfen!«




                              Der Ausflug

              Eine Skizze aus meiner Dorfschullehrerzeit


Ich bin einmal acht Monate lang Dorfschullehrer gewesen, und daß ich
es gleich sage: diese stillen, einförmigen acht Monate stehen immer
noch frisch im Felde meiner Erinnerung, während vieles andere nachher,
was nach Meinung der Welt größer und bunter war, ausgelöscht ist ...
verweht ... verloren.

Wenn die jungen Männer nach der ersten Lehrerprüfung das Seminar
verlassen, kriegt irgendein Regierungsrat die Liste, und aus ihr greift
er einen beliebigen Kandidaten heraus, wenn irgendwo eine Stelle zu
besetzen ist. Ohne Wahl zuckt der Strahl! Ich kam unter allen meinen
Kursusgenossen in das allereinsamste, weltverlorenste Dörflein. Es lag
ganz im Flachlande; nur aus dämmernder Ferne her schimmerten die blauen
Schlesierberge, die ich aus meiner Kindheit her kannte und liebte.
Rings ums Dorf fette Felder und Wiesen, aber ohne alle Romantik, nur
ein wenig Ufergebüsch war am Bach. Die Bauern waren fromme, stille
Leute, ohne die Laune und den Schalk, den die Gebirgler haben. Es war
ein wohlgeordnetes Bauerndorf. Wochentags Arbeit von Sonnenaufgang bis
zur herandämmernden Nacht; Sonntag Vormittag waren alle Bewohner ohne
auch nur eine einzige Ausnahme in der Kirche, Sonntag Nachmittag alle
Männer in der Schenke (auch ohne eine allereinzige Ausnahme). Wenn die
Abendglocke erklang, flogen alle Kartenblätter hin, und alle Hände
falteten sich; wenn der letzte Ton eben verstummte, donnerten alle
höchsten Trümpfe auf die Tische.

»Und ich da mitten still und stumm!« Da sagten die Bauern: Er hat
wahrscheinlich die Schwindsucht. Schade um ihn!

Das sagte sich auch meine kreuzbrave Frau Hauptlehrerin, und sie
pflegte und fütterte mich deshalb mit rührender Sorgfalt. Ihr ebenso
braver Gatte erklärte mich aber für kerngesund und gab mir von seinen
besten Zigarren. Dieser Hauptlehrer war ein munterer Geist, eigentlich
auch ein Verschlagener. Der Mann war auf sieben Blätter abonniert,
das waren die sieben fetten Kühe für ihn und mich am Nilfluß dieser
Einsamkeit.

Das Dorf lag über zwei deutsche Meilen von der Kreisstadt entfernt.
Diese Kreisstadt war ja selbst klein und ohne reges Leben. Sie zählt
etwa siebentausend Bewohner. Aber es war doch eine Stadt. Es gab sogar
Soldaten dort und einen Bahnhof, auf dem allerdings die Schnellzüge
nicht hielten, es war vor allen Dingen dort der breite, tiefe Oderfluß.
Gegen unser Dorf war diese Stadt ein tumultuarisches Großgemeindewesen
voll Glanz, Abwechslung, Sehenswürdigkeiten, Vergnügungen und Gefahren.
Man wisperte bei uns von dieser Stadt, wie man anderwärts von Berlin
oder Hamburg wispert.

Unsere Dorfleute kamen fast niemals nach der Kreisstadt. Es war »zu
weit«. Selbst für die reichen Bauern, die sechs Pferde im Stall hatten
und die einen Glaswagen besaßen, war es »zu weit«. Wer einem Bauern
eine Spazierfahrt zumutet, wenn es nicht gerade ganz offiziellen
Lustbarkeiten gilt, wie: Hochzeit, Kindtaufen, Begräbnis oder
Gerichtstermin, der täuscht sich. Nur bei solchen Anlässen »spannt der
Bauer ein«, sonst nicht. Wie sollten die Leute nach der Kreisstadt
oder gar darüber hinaus kommen? Es war noch ein näher gelegener
Marktflecken da; der hatte zwar keine Eisenbahn, und die Bürger
sprangen dort auf die Straße, wenn ein so modernes Wunder durchkam, wie
es ein Radler ist, aber unsere Leute konnten in diesem Marktflecken
alles kaufen, was zum Leben gehörte und was sie nicht unmittelbar
selbst aus Landwirtschaft und Viehzucht beziehen konnten. Was sollten
sie in der Kreisstadt? Wie sollten sie dahin gelangen? Zu Fuß gehen,
drei Stunden hin, drei Stunden her, für nichts und wider nichts, als
dort Geld auszugeben und sich vielleicht hänseln lassen? Nein! Sie
brauchten die Kreisstadt nicht! Sie brauchten die Welt nicht! Sie waren
sich selbst genug, sie waren die unabhängigsten Leute, die ich in
meinem Leben kennen gelernt habe.

Manchmal kam mir das Große solch wurzelstarken, selbstsicheren Lebens
schon damals zum Bewußtsein; aber ich war blutjung, eben zwanzig Jahre
alt, ich kam aus der Großstadt Breslau, wo meine Studiengenossen
Heilgans und Böttger und ich es unter unserer Würde gehalten hätten,
in der »Freistunde« von was anderem zu reden, als von Alvary als
Siegfried, von Possart als Richard III., von d'Andrade als Don
Juan, ich kam von Breslau, wo schon damals (+anno+ 1893) die
Pferdebahnen rasselten und die Droschkenkutscher lackierte Zylinder
hatten.

Oh, und ein Mensch, der den Wagner- und den Shakespearestil inne
hatte, mußte nun abends vor diesem Schulhaus sitzen und zusehen, wie
unser Dackel, der von meinem Hauptlehrer auf den Namen des englischen
Staatsmannes »Pitt« getauft war, der schnurrbärtigen Therese,
einer alten Schachtel, den Rock zerriß und wie der Hauptlehrer die
Geschädigte mit den Worten beschwichtigte: »Pitt, der Kerl, kann eben
wirklich kein hübsches, junges Mädel vorbeigehen lassen.«

»+In minimis natura maxima+« hatte auch mich der alte, große Linné
gelehrt; aber ich wußte das damals nicht aufs Leben anzuwenden -- ich
war zu jung, ich hatte Heimweh nach der Welt. Ich sah nach den Bergen,
über die Berge hinaus in die große bunte Weite ...

Ein Junge zeigte in der Schulpause einem Mädel einen alten Kalender,
und sagte: »Siehst du, so sieht eine Eisenbahn aus!« Ich besah das
Bild. Es war eine Darstellung der ersten Eisenbahn, die im Jahre
1835 von Fürth nach Nürnberg fuhr, mit der bekannten Stephensonschen
Lokomotive mit dem hohen Schornstein und den Wagen, die wie mit Planen
überspannte Reisekutschen aussahen.

»Habt ihr wirklich noch keine richtige Eisenbahn gesehen?« fragte
ich. Aus den erstaunten Augen der Kinder las ich das Überflüssige
meiner Frage. Am Abend jenes Tages sagte ich zu meinem Hauptlehrer:
»Wir wollen etwas tun. Wir wollen mit den Schulkindern einen Ausflug
unternehmen, aber nicht nur bis zur Kreisstadt, nein, bis nach Breslau;
wir wollen ihnen die Oder zeigen, die Eisenbahn und eine große Stadt.«

Er war ein kluger Mann und sagte: »Ja.«

       *       *       *       *       *

Einfach war die Sache durchaus nicht. Auch wenn wir von allen inneren
Widerständen, die wir in der Gemeinde gegen solch ein Abenteuer finden
mußten, absahen, machte uns der »Fahrplan« viel Schmerzen. Unser Dorf
lag von Breslau in der Luftlinie etwa vierzig Kilometer entfernt,
aber wir durften für den Ausflug nur einen Tag in Anspruch nehmen und
verzweifelten an der Aufgabe, an einem Tage vierzig Kilometer hin und
her zu machen und noch einige Stunden Zwischenpause herauszubringen.
Endlich gelang es. Wenn wir morgens früh zwei Uhr mit der ganzen
Schar aufbrachen, konnten wir abends zwischen zehn und elf, also nach
zwanzigstündiger Reise zurück sein und behielten noch einige Stunden
für die Besichtigung von Breslau. Die »Verbindung« war nicht glänzend;
heute fährt man in derselben Zeit von Berlin bis nach Serbien.

Der Pfarrer, der Ortsschulinspektor war, stand unserem Plan freundlich
gegenüber; er sagte, er möchte sich selbst gern beteiligen, wolle aber
die Messe nicht ausfallen lassen. Schließlich vermeldete er am nächsten
Sonntag von der Kanzel: »Eines Schülerausflugs wegen ist die heilige
Messe nächsten Dienstag nachts ein Uhr.« Die Gemeinde horchte auf, und
die ganze beträchtliche Oppositionspartei, die sich inzwischen gegen
den Ausflug gebildet hatte, löste sich schon in den Kirchenbänken
stillschweigend auf.

Der, dem's am meisten zu Herzen ging, war der Schneider Dierschke. Ich
sah ihn auf seinem Platz sitzen und in tiefer Betrübnis den grauen Kopf
schütteln. Nach dem Gottesdienst machte ich mich im Kirchgängerstrom an
Dierschke heran.

»Nu, Meister Dierschke, Sie werden doch ihren Enkelsohn auch mit fahren
lassen?«

Er schüttelte unwillig den Kopf.

»Wilhelm fährt nicht mit.«

»Warum denn nicht?«

»Es hat keinen Zweck. Ich bin siebzig Jahre alt; ich bin bloß einmal
im Leben in die Stadt gekommen. Da habe ich eine Eisenbahn gesehen. Es
saßen vier Männer oben drauf, aber sie hatte sechsundfünfzig Wagen.
Weiter bin ich nicht gekommen. Ich bin siebzig Jahre alt, der Junge ist
erst elf Jahre. Er kann noch lange warten.«

»Fahren Sie doch selber auch mit. Es fahren viele Eltern mit.«

»Ich werd' mich schön hüten.«

»Aber warum denn?«

»Das da, da außen, das ist alles bloß Gaukelei.«

Nun schwoll mir aber das Herz. Die »Kulturmission« überkam mich,
diesem Hinterwäldler, der im Leben nur einen Güterzug gesehen hatte,
ganz gehörig den Text zu lesen, ihm sein eigenes Leben so erbärmlich
wie möglich hinzustellen und die Fremde zu preisen, die er mit ihren
milliardengestaltigen Schönheiten und Reichtümern nicht kannte und
darum haßte. Er bilde sich ein, ein sehr guter Großvater zu sein, aber
er sei ein sehr schlechter; denn er verwehre seinem Enkel den Einblick
in eine Welt, wo dieser einmal ein viel besseres Fortkommen finden
könne als in diesem entlegenen Dorf.

Dierschke hatte verschiedene Male meinen Redestrom unterbrechen wollen,
aber es gelang ihm nicht; ich sprach ... ich sprach ... nun etwa im
Stile Possarts als Richard III.

Am Schluß lachte der Schneider, und ich ärgerte mich schwer über diese
Wirkung meiner rednerischen Leistung. Nach einem Weilchen aber lächelte
Dierschke und sagte:

»Herr Lehrer, ich werd' Ihnen was sagen: Wir waren drei Brüder, alle
drei Schneider. Der Vater war Schneider, was sollten wir anders werden?
Zwei von meinen Brüdern sind in die Welt gegangen. Einer ist ein Lump
geworden, der andere hat in Breslau ein schönes Schneidergeschäft
gehabt; das ist so lange schön gewesen, bis sein Erspartes weg war und
mein Erspartes, was ich ihm geborgt hatte, auch. Und nun bin ich alt,
und meine Frau ist tot, und meine einzige Tochter ist auch tot, und ich
hab' nur noch den Wilhelm. Der soll zu Hause bleiben.«

Da verstummte meine weltmännische Beredsamkeit.

»Nun, Meister Dierschke,« sagte ich, »es zwingt Sie ja natürlich
niemand; aber ich hätt' halt den Wilhelm gern mitgehabt, weil ich ihm
gut bin.«

»Ich weiß schon, Herr Lehrer,« nickte der Schneider freundlich.

Da kam der Bauer Puder vorbei.

»Schneider,« sagte er, »ich laß meinen Jungen auch nicht mit; ich denk'
gar nicht dran! Solche Faxen machen wir nicht mit!«

Der Bauer Puder vertrug sich fast mit niemanden aus der Gemeinde,
natürlich auch nicht mit der Schule. Der handelte aus purer
Widerspruchslust, und seine Worte gingen an mir vorbei.

                   *       *       *       *       *

Draußen lag die warme, dunkle Sommernacht, aber in der Kirche war es,
als sei Christnachtsfeier. Die Altarkerzen leuchteten in den dunklen
Raum, große Schatten stiegen an den Wänden hinauf, hie und da war ein
goldenes oder silbernes Aufblinken von einem Leuchter oder einer
Figur; die Kirche war bis zum letzten Platz gefüllt, vor jedem Beter
stand ein Wachsstöcklein, das mit zarter gelber Flamme leuchtete,
oben auf dem Orgelchor sangen die Schulkinder; zu zweien oder dreien
standen sie um ein Lichtstümpflein zusammen, die jungen Gesichter
waren rot beleuchtet, die alten frommen Lieder klangen, diesmal mit
ein wenig aufgeregten Stimmen, und ich saß auf der Orgelbank und war
nicht weniger erregt als die Kinder. -- Das ist ein Bild, das in meiner
Erinnerung blieb und mir auch heute noch den Gedanken nahelegt: mit
Künstleraugen gesehen, gibt es kaum einen lieberen Beruf als den eines
Dorfschullehrers; er ist sehr arm an äußeren Genüssen, aber unendlich
reich an inneren Freuden, und die Freude steht so hoch über dem Genuß
wie das Gold über dem Kupfer; jede reine Freude, die du genossen,
ist wie ein goldener Schmuck, den du erworben, bleibt unveränderlich
und unvergänglich im Wert, setzt keinen Grünspan giftiger Reue an
und rettet in armen Tagen vor bitterster Not. Wie ich als junger
Mann da so die Orgel spielte in dem nächtlichen Gottesdienst und die
frischen Kinder, die einem großen Augenblick, dem Einblick in die
Welt, entgegensahen, singen hörte, dachte ich: solche Freuden, solche
Schmuckstücke will ich mir sammeln. Vielleicht, daß ich in Kriegszeiten
des Lebens manches von ihnen unter die Ackerfurche des Daseins
vergraben muß -- aber ich weiß, wo alles liegt, und grabe aus, was ich
brauche.

Die Orgel verstummte, die Lichter wurden eilig ausgepustet, die
Kinderschar drängte die Chortreppe hinab; draußen auf der Straße,
zwischen Kirche und Schule, warteten die mit Reisern geschmückten
Leiterwagen, die uns nach der Kreisstadt, bis an den Oderfluß bringen
sollten. Wir hatten nämlich -- großzügig, wie wir nun mal waren --
mit einem Dampfschiff ein Abkommen getroffen, nach dem uns dieses um
viereinhalb Uhr verladen und auf dem Wasserwege nach Breslau befördern
wollte. Nun sagte der Schulze: um viereinhalb in der Kreisstadt sein,
das bedeute, spätestens um zwei Uhr zu Hause wegfahren; denn sechzehn
Kilometer in zweieinhalb Stunden zurückzulegen, sei keine Kleinigkeit.
--

Wer diese Rosse vor den Leiterwagen auf der nächtlichen Landstraße
stehen sah, gab dem Schulzen ohne weiteres Recht. Denn diese Rosse
rechneten so: wenn man einen Pflug zieht, braucht man zu einer Furche,
die hundert Schritt lang ist, fünf Minuten. Nun kann man ja einen Wagen
etwas schneller ziehen, aber wie kommt diese verrückte Gesellschaft
überhaupt dazu, uns jetzt aus dem Stall zu zerren, wo wir doch gar
noch nicht ausgeschlafen haben? Die Rosse waren wie der Bauer Puder,
sie waren nicht für solche »Faxen«. Als aber die Kinder mit einem
ungeheuren Lärm auf die Wagen drängten, spitzten sie die Ohren, und
Lehmanns Schimmel schüttelte wild die Mähne, worauf Lehmann dringend
mahnte, »ganz stille« zu sein; denn sein Schimmel sei ein junges
feuriges Tier, das ginge leicht durch.

Gerade als wir abfahren wollten, kam der Schneider Dierschke an mich
heran. Er brachte seinen Enkelsohn und sagte:

»Der Wilhelm soll doch mitfahren.«

»Es ist recht, Meister. Wir passen schon auf ihn auf. Aber wollen Sie
nicht selbst mitfahren?«

Sein altes kluges Auge glimmte auf.

»Es mag schon sehr schön sein,« sagte er; »aber ich will doch zu Hause
bleiben.«

Und er sah seinen Enkel noch einmal stumm, aber mit liebender Sorge an,
als ob er ihn auf eine unendlich weite Reise schicke, und ging seiner
Wege.

Fort ging die Fahrt zum Dorf hinaus. Die Kinder saßen ganz stumm.
Schon gleich hinter der Dorftafel spähten sie mit großen Augen, ob
etwas Neues zu sehen sei. Es waren aber die alten, bekannten Felder
und Wiesen, umhüllt von den Schleiern der dunklen Nacht. Ein frischer
Morgenwind blies von Osten her, es war ganz still, nur die Wagen
knarrten den Weg entlang.

Eine Stunde verging, ein fremdes Dorf tauchte auf. Was mag das sein?
wisperten die Kinder. Einer nannte den Namen. Nun waren alle in großer
Erwartung. Ach, es war ein Dorf wie das unsere, aber es wurde sehr
bewundert.

Auf der Dorfstraße stand der Nachtwächter, sichtlich ein Bild krassen
Erstaunens. Wie ein Hexenspuk fuhren die buntgeschmückten Wagen an
ihm vorbei. Ich saß auf dem letzten Wagen, und als ich an dem Wächter
vorbeikam, brachte er heraus:

»Was .. was .. ist das? Wo fahrt Ihr hin?«

»Wir fahren ins Morgenland,« rief ich ihm zu.

»Ins Morgenland!« schrie er und streckte fassungslos den Spieß in die
Luft. Der gute Mann hatte noch eine Stunde Dienst und hat gewiß in
dieser Nacht nicht mehr einschlafen können.

Die Sonne kündigte sich an. Schon wehten ihre königlichen Purpurfahnen
am Himmelstor. Da sangen die Kinder das freundliche Geibellied:

  »~Wer recht in Freuden wandern will,
  der geh' der Sonn entgegen.~«

Zwischendurch merkte ich, daß die meisten Kinder ihre Proviantpakete
ausgepackt und schon in der ersten Reisestunde den größten Teil der
Vorräte verputzt hatten. Wenn ein gesunder Mensch aufgeregt ist, fängt
er an zu essen, und diese Kinder waren aufgeregt.

                   *       *       *       *       *

Wir gingen zu Fuß durch die morgendlich beleuchteten Straßen der
kleinen Stadt. Die Kinder bestaunten die hohen Häuser und tauschten
Vermutungen, daß in ihnen lauter Millionäre wohnten. Beim ersten
Uhrmacherladen kamen wir nicht vorbei, die ganze Klasse machte vor
dem Schaufenster Halt, drängte sich und reckte die Hälse, starrte
in ein Wunderland von Reichtum. Beim Bäckerladen kam einer auf den
Gedanken, sich ein Stück Kuchen zu kaufen, was zur Folge hatte,
daß die ganze Herde ihm nachlief und der Bäcker seinen Laden wegen
zu großen Andranges des Publikums zeitweilig schließen mußte. Er
dienerte dann auch noch lange mit seinem dicken Bauch hinter uns her.
Dieselbe Szene wiederholte sich vor einer Wurstmacherei, die aus
irgend einem Grunde schon geöffnet war, und es schmerzte mich, daß
die Kinder sich so viel mehr für materielle Genüsse begeisterten, als
für einen prächtigen alten Straßenwinkel, auf den ich ganz vergebens
aufmerksam machte. Streuselkuchen und Knoblauchwurst, welch ein Genuß
für lebenshungriges Volk! Von wertvollen Baulichkeiten machte nur
der Kirchturm wegen seiner Höhe und ein Springbrunnen wegen einiger
komischer Figuren Eindruck, alles Alte kam den Naturkindern schäbig
und wertlos vor; dagegen riefen einige kitschige moderne Villen einen
gewaltigen Eindruck hervor. Und der Oderstrom! Ein paar riefen Ah! und
Oh!, als sie ihn sahen, den meisten merkte man eine leise Enttäuschung
an -- sie hatten sich ihn größer vorgestellt. Unübersehbar breit und
unergründlich tief, schäumend und zischend, von tausend Schiffen
belebt. O, die Wirklichkeit hat Mühe, der Phantasie von Dorfkindern
gerecht zu werden. Als aber der kleine Oderdampfer kam, der uns
aufnehmen sollte, kannte die Verwunderung keine Grenzen. Dem wirklich
Großen kommt naives Volk nicht nahe, das Kleine, das es versteht und
für groß hält, ist es, was ihm dient.

Dieser Dampfer war ein merkwürdiges Schiff. Er machte mit seinem
Triebrad einen Mordslärm, er dampfte, tutete, klingelte, ratterte,
rasselte mit Ketten, stampfte, er fuhr angeblich sogar, aber er kam
nicht vorwärts. Ob er das auch nicht beabsichtigte, weiß ich nicht,
aber es wäre gegen die Verabredung gewesen, da wir doch nach Breslau
wollten. Jedenfalls torkelte dieses Schiff immer von einem Ufer zum
anderen, immer hinüber und herüber, und ein Mann, welcher als der
Kapitän des Schiffes galt, erklärte uns, es seien so viele Haltestellen
da. Anfangs glaubte ich dem Schiffer nicht, aber nach einer Stunde
sah ich ein, daß wir uns tatsächlich vorwärts bewegt hatten --
wahrscheinlich durch die Flußströmung -- denn die Türme der Kreisstadt
waren nicht mehr zu sehen.

Bei so mäßiger Schiffsbewegung ist es verwunderlich, daß ein paar
Kinder seekrank wurden. Streuselkuchen, Knoblauchwurst und nun auf dem
Dampfer eine Himbeerlimonade nach der anderen -- es war schlimm! Der
Kapitän schüttelte den Kopf und sagte, sein Schiff »schlingere nicht«.
Ich hätte auch wissen mögen, wie es das fertig gebracht hätte.

Zu sehen war nicht viel Neues. Felder und Wiesen wie daheim. Nur wenn
einmal ein Stück schöner Eichenwald auftauchte, wurden die Kinder
still und nachdenklich. Und als sie Flößer sahen, die auf ihrem
luftigen Fahrzeug eine kleine Strohhütte hatten und davor ein offenes
Feuerchen brannten, schrien die Jungen: »Indianer! Indianer!« Einer
von den Slowaken, die da von ihrer Beskidenheimat den langen Oderstrom
hinunterfuhren gen Stettin, trat an den Rand des Floßes und rief ein
paar polnische Worte herüber.

»Ein Seeräuber!« sagte ein Junge.

Ein »guter« Lehrer hätte wohl nun augenblicklich einen lehrreichen
Vortrag über die Flößerei gehalten, über den Holzhandel vom
karpatischen Waldgebirge nach der Ostsee hin, aber die Kinder sahen mit
so großen Augen nach den vermeintlichen Indianern und dem Seeräuber,
daß ich lieber ein schlechter Lehrer war und schwieg, bis das Floß
mit dem Strohhäuslein und dem flackernden Feuerchen den staunenden
Kinderaugen entschwand.

Einer mied beständig meine Nähe. Das war Wilhelm Dierschke. Da merkte
ich auch die Ursache; er war barfuß. »Junge«, sagte ich, »wo hast
du denn deine Stiefel? Du kannst doch nicht wie ein Gänserich durch
Breslau latschen!«

»Im Sommer drücken mich die Stiefel,« entgegnete Wilhelm, »da hab' ich
sie heute früh ausgezogen und an der Oder versteckt.«

»Wo hast du sie versteckt?«

»An der Oder in einen Strauch, ehe wir eingestiegen sind.«

»Und wenn sie jemand sieht und stiehlt?«

Seine Augen zogen Wasser.

»Sie kosten elf Mark,« sagte er voller Angst, »und drei Mark ist der
Großvater beim Schuster noch schuldig.«

Die Stiefel waren so gut wie verloren. Da wir die Rückfahrt mit der
Bahn machten, kamen wir gar nicht mehr an die Oder. Und das mußte
gerade dem Enkel des Weltverächters Dierschke passieren. Aber ich
tröstete den Jungen. Mitreisende wohlhabende Bauern steckten mir so
viel Geld für die Kinder zu, daß ich, um nicht alle seekrank zu machen,
auf Überschüsse sinnen mußte, die ja schließlich dem Stiefelverlust
gegenüber zu verwenden waren.

Wie es möglich war, weiß ich nicht, aber wir kamen richtig nach Breslau
und zwar noch am Vormittag desselben Tages, an dem wir früh 2 Uhr
abgefahren waren.

»Es sind vier Meilen,« sagte der Kapitän mit Wichtigkeit, und die
Kinder horchten auf und dachten nach, wie weit sie nun von Zuhause
entfernt seien. Am Zoologischen Garten landeten wir.

Für Kinder gibt es in Zoologischen Gärten nur fünf Arten von Tieren,
die wirkliches Interesse bieten: erstens die Affen, zweitens der
Elefant, drittens die Bären, viertens das Nilpferd, fünftens der Löwe.
Alles andere und seien es auch die größten Seltsamkeiten, wird nur
nebenher mit halbem Auge betrachtet. Wir standen an jenem Tage volle
drei Viertelstunden vor dem Affenhause. Das Vergnügen endete mit einem
groben Scherz. Ein Bauer neckte einen Affen dadurch, daß er ihm statt
eines Stückes Zucker ein Stück Kreide gab. Als nun der Bauer demselben
Affen ein rohes Ei durchs Gitter reichte, warf es ihm das erboste
Tier, in der Meinung abermals gefoppt zu sein, an den Kopf. Dieses
Attentat löste sowohl bei den Affen als auch bei den Kindern ungeheure
Heiterkeit aus; der übel zugerichtete Bauer aber knurrte, er mache
nicht mehr mit, und verließ uns.

Von Käfig zu Käfig ging es. Manchmal hörten die Kinder auf meine
Erklärung, aber nur, wenn sie ein wenig romantisch oder anekdotenhaft,
nie, wenn sie lehrhaft trocken war. Immer langsamer lief der Zug,
die erste Müdigkeit stellte sich ein. In einem Wirtsgarten, wo wir
einkehrten, stürzten sich die Kinder wieder auf die materiellen
Genüsse, aber sie naschten mehr, als sie aßen. Einige saßen ganz still
auf ihren Stühlen, nutschten an grellfarbenen Zuckerstangen und sahen
stumm vor sich hin, und ein alter Bauer seufzte tief auf und sagte:

»Wie wird nur jetzt alles zu Hause sein?«

Ich glaube, der Alte hatte eine Anwandlung von Heimweh, er sehnte sich
von den fremden Tieren weg nach dem heimischen Stall. Und ich sagte zu
ihm:

»Sehen Sie, Vater Schulz, der Löwe, der uns so verachtungsvoll
angesehen hat, der denkt auch an seine Heimat. Er denkt an das
Felsengebirge in der Wüste, von dem herab seine Eltern nach Beute
schauten; er hat nichts vergessen; er hat es im Instinkt; er denkt
immer: Wie mag nur jetzt alles zu Hause sein? Und er ist in fremdem
Lande eingesperrt bis an sein Ende.«

»Es kann einem eigentlich leid tun um die Tiere,« sagte der Alte.

»Ja,« sagte ich, »mir tut es auch leid. Es ist unendlich viel Qual,
ungestillte heiße Sehnsucht nach Heimat und Freiheit in solch einem
Garten. Man sagt, sie seien der Wissenschaft halber da; aber das ist
nicht wahr, sie sind nur der Schaulust, der plumpen Unterhaltungslust
wegen geschaffen.«

So setzte ich mich selbst ins Unrecht. Aber ich konnte nicht anders;
ich hatte wieder zu viel Trübsinn aus der Tierseele leuchten sehen, und
ich sagte es ja auch nur zu Vater Schulz.

Das Siegesgewisse meiner Laune sank überhaupt merklich. Was konnte
ich den Kindern von der großen Stadt zeigen, wieviel Einblick
ihnen gewähren in einen solchen Riesenorganismus? Straßenverkehr,
Straßenlärm, ein Vorbeigehen an glitzernden Schauläden, ein kurzes
Verweilen am Stadtgraben, wo die Schwäne schwammen, das war eigentlich
alles. Zweiundachtzig weltfremde, ungeschickte Kinder im Gewühl der
Großstadt zusammenzuhalten, war wahrlich keine Kleinigkeit für uns,
die wir die Verantwortung hatten. Die Kinder gingen ängstlich und
gänzlich stumm vor Staunen durch die Stadt. Nur hin und wieder war es
möglich, ihnen eine Erklärung zuzurufen; aber ihre Gesichter waren
so unbeweglich, daß man nicht wissen konnte, ob sie etwas besonders
interessiere oder nicht. Soldaten marschierten vorbei, das war das
Schönste. Wenn ich aber den Kindern sagte: hier ist das Rathaus,
eines der schönsten Gebäude der Welt, so verstanden sie nicht, warum
dies alte Haus so schön sein sollte, und wenn ich sagte, das ist das
Theater, wußten sie nicht, was das sei. Die Schauläden zogen wie
Kaleidoskopbilder schnell vorüber; denn wir durften ja nicht stehen
bleiben, und so entschieden sich die Kinder später bei der Beantwortung
der Frage, was auf der Hauptstraße von Breslau am schönsten gewesen
sei, zur Hälfte für die Soldaten, zur anderen Hälfte für einen Mann,
der bunte Gummiballons zu verkaufen gehabt hatte.

So durften wir ja nicht nach Hause fahren! Ich führte die Kinder
truppweise auf den Aussichtsturm der Liebichshöhe, von der man das
Häusermeer Breslaus überschauen kann. Da wurde den Kindern die Größe
einer solchen Stadt klar. Sie rissen die Augen auf und atmeten
schwerer. Aber es war doch eben nur ein totes Häusermeer, was sie
sahen, und es hätte gar keinen Zweck gehabt, ihnen ein Dutzend Namen
von Kirchen und anderen Baulichkeiten zu nennen. So fing ich an zu
reden: »Seht ihr dort draußen das große Gebäude? Es ist eine Fabrik.
Zweitausend Menschen arbeiten jetzt darin im Schweiße ihres Angesichts.
Das erscheint euch viel. Aber seht euch diese unzähligen Dächer an.
Unter fast allen wird gearbeitet von hunderttausenden von Menschen.
Dort oder dort stirbt vielleicht jetzt gerade ein Mensch; denn alle
Tage sterben in einer solchen Stadt viele Menschen; da oder dort
freut sich gerade eine Mutter, daß sie ein neues Kind bekommen hat;
dort steht ein großes Krankenhaus, hunderte von Menschen leiden darin
Schmerzen; von dorther tönt Musik, da freuen sich lustige Leute. Und
seht, wie die Lastwagen fahren, jeder nach seinem Ziel, jeder mit
einem bestimmten Zweck, und wie die Leute unten auf der Straße wimmeln,
jeder mit anderen Gedanken, jeder mit anderem Zweck und Ziel. Das weite
Land, das ihr seht, versorgt die Stadt täglich mit Mehl und Fleisch,
Obst und Gemüse, und die Stadt schickt hinaus Geräte und Kleider und
Möbel und Uhren. Und dort fährt die Eisenbahn.«

Da starrten die Augen.

»Wo fährt sie hin?«

»Sie fährt wohl nach Berlin; aber mancher, der drin sitzt, reist weiter
bis an den Rhein oder gar hinüber nach Amerika und kommt niemals
wieder. Da fährt er hin, und da drüben ist der Bahnhof, und da steht
jetzt noch eine Frau, die hat das Taschentuch vor den Augen und weint.«

»Es ist viel in der Stadt,« sagte ein Kind.

»Seht ihr das rote Haus dort? Das ist das Gefängnis. Da sitzen
unglückliche Menschen, die das Gesetz nicht achteten, und zählen die
Tage, bis sie wieder einmal frei unter anständigen Leuten gehen können.
Dort ist der Dom, daneben wohnt der Fürstbischof; in jenem Hause wohnt
der oberste General.«

»Und wo wohnen wir?« fragte ein Kind.

»Dort ist der Zobtenberg, den wir auch zu Hause sehen, nur daß er hier
etwas anders ausschaut, und wenn ihr links an ihm vorbei in die Ferne
seht, da liegt hinter der Himmelslinie unser Dorf.«

Die Kinder bohrten die Blicke in den Dämmerdunst der Ferne, und ob sie
natürlich auch nichts von ihrem Dörflein erspähen konnten, sie schauten
immer wieder hin und winkten mit den Händen.

»Es ist viel in der Stadt!« hatte ein Kind gesagt. Das war mir genug.
Die Kinder hatten einen Eindruck empfangen, wir fuhren nicht leer nach
Hause.

Und ein gewaltiges Neues kam noch: die Kinder fuhren mit der Eisenbahn.
Auch mancher Erwachsene aus unserer Schar fuhr zum ersten Male mit
der Bahn. Wer lächelt darüber? Wie lange fliegen heute schon unsere
Luftschiffe? Wer flog mit? Und wer würde heute nicht mit ebenso
feierlichem, die Angst schlecht verhehlendem Gesichte im Luftfahrzeug
sitzen, wie damals diese Kinder im Eisenbahnzuge? Dem Neuen gegenüber
sind wir alle Kinder.

Der Zug flog donnernd dahin, und als wir schon nach kurzer Zeit auf dem
Bahnhof der heimischen Kreisstadt anlangten, stiegen alle mit einem
frohen Lächeln aus:

»Es ist vorbei! Es ist gut gegangen!« Und sie fingen an zu lärmen und
sahen mutig um sich.

Wir suchten den Gasthof wieder auf, in dem uns die Wagen erwarteten,
und ich hielt einen Generalappell. Ich zählte die Kinder.

Einundachtzig!

Ich zählte nochmals. Wieder einundachtzig! Da brach mir der Schweiß
aus, und ich zählte zum dritten Mal einundachtzig. Mit zweiundachtzig
Schülern waren wir fortgefahren, zweiundachtzig hatten wir noch
in Breslau in die Eisenbahnwagen hineingezählt, jetzt waren nur
einundachtzig.

»Es fehlt jemand. Wer fehlt?« fragte ich.

»Ich nicht! Ich nicht!« schrien etwa zwanzig. Da fuhr ich nervös
dazwischen:

»Ihr Schafsköpfe, ich frage nicht, wer ~nicht~ fehlt, ich frage,
wer fehlt!«

Der aber, der fehlte, meldete sich nicht. Ich brüllte über den Hof:
»Es fehlt ein Kind!« Der Hauptlehrer, der Pfarrer, die Bauern eilten
herbei, regten sich auf und suchten. Vergebens!

»Wer fehlt?«

»Ich nicht!« sagte noch einer; der kriegte ein Kopfstück.

Plötzlich kam mir die Erleuchtung.

»Ist Wilhelm Dierschke da? Wilhelm Dierschke! Wilhelm Dierschke!«

Keine Antwort. Nun wußte ich, wer fehlte. Wilhelm Dierschke hatte
sich vom Bahnhofe weggeschlichen, um am Oderfluß seine versteckten
Stiefel zu suchen. Es ward schon dunkel, die Kinder mußten nach Hause;
es war ja noch ein Weg von 2-1/2 Stunden zurückzulegen. Da ließ ich
die neunundneunzig in der Wüste, ich ließ sie nach Hause fahren und
ging das verlorene Schäflein suchen. Als »guter Hirt« kam ich mir
aber gar nicht vor. Ganz im Gegenteil. Ich wußte, daß der Junge seine
Stiefel versteckt hatte, ich hätte mir denken müssen, daß er sie suchen
würde, da er sie doch wiederhaben wollte, und ich hätte am Bahnhof auf
Wilhelm Dierschke besonders aufpassen sollen. Ich hatte es aber unter
einundachtzig anderen Sorgen vergessen, und der Junge hatte sich auch
so heimlich entfernt, daß nicht ein einziger seiner Kameraden darauf
aufmerksam geworden war.

Ich stürmte durch die Stadt, dem Oderstrom zu. Meine Phantasie malte
mir gräßliche Bilder. Der täppische Junge ist in der Abenddämmerung
an den Fluß gekommen, die Böschung ist steil, er hat gesucht, nicht
gefunden, ist ausgeglitten, schwimmt vielleicht jetzt schon weit den
Fluß hinunter, und der alte Mann, dessen einziges Lebensglück er ist,
wartet daheim, und ich habe den Jungen übernommen.

Einmal mußte ich auf dem kurzen Wege stehen bleiben, um Luft zu
schöpfen. Dann endlich war ich am Oderfluß. Ich erkannte die
Landungsstelle.

»Wilhelm Dierschke! Wilhelm Dierschke!« rief ich.

Es kam keine Antwort. Ich rief, ich schrie, ich schlängelte mich durch
das Ufergebüsch.

Ich lugte ins Wasser.

Ruhig floß der Strom; der Wind wehte durch die Bäume. Immer wieder rief
ich -- den Fluß hinauf und hinunter rannte ich -- es war alles umsonst.

Nach einer langen Zeit fragte eine Stimme:

»Wer ruft denn hier?«

Es war ein Fischer. Er sagte, er sei seit vielen Stunden am Fluß, noch
lange vor Abend, aber er habe keinen Knaben gesehen. Ob er denn nicht
den Fluß absuchen könne, fragte ich in meiner Verwirrung. Er schüttelte
lächelnd den Kopf.

»Wenn er hineingefallen ist,« sagte er mit der rücksichtslose Offenheit
so einfacher Leute, »dann ist er hin. Denn es ist hier tief und
reißend.«

Tränen würgten mich. Da schüttelte er wieder den Kopf und sagte:

»Gehn Sie doch mal zur Polizei. Ich werd' Ihnen den Weg zeigen.«

Das war ein Rat, der mir einleuchtete. Ich ging mit dem Schiffer nach
der Stadt zurück, nicht ohne wiederholt stehen zu bleiben und laut zu
rufen. Der Schiffer führte mich einen Weg durch enge Gassen. Und in
der allerengsten Gasse, wohin ich selber niemals gefunden hätte --
fand ich Wilhelm Dierschke. Er verteidigte heldenmütig sich und seine
kanonenrohrartigen Stiefel gegen eine Schar von Gassenjungen, die das
Dorfkind belagerten.

Selig rief ich »Wilhelm! Wilhelm!« und hielt ihn in den Armen samt
seinen Stiefeln.

Wir gingen dann miteinander durch die Stadt. Ich fand kein Wort des
Vorwurfs; ich sagte dem Jungen nur, die anderen seien schon nach Hause,
da es doch bereits spät sei; wir beide würden nun in einem Gasthaus
übernachten und morgen früh um 3-1/2 Uhr aufbrechen, da seien wir noch
vor Schulanfang zu Haus. Wilhelm schluckte an seinen Tränen, preßte mit
jedem Arm einen Stiefel an seine Brust und sagte gar nichts.

Da fiel mir der Großvater ein. Was für ein furchtbarer Jammer, wenn die
anderen heimkehrten und allein sein Wilhelm fehlte! Eine telegraphische
Nachricht jetzt während der Nacht zu geben, war ganz ausgeschlossen. Da
sagte ich: »Wilhelm, wir müssen noch heute Nacht nach Hause gehen; es
ist wegen deinem Großvater.«

Der Junge nickte gehorsam, aber ich merkte, er war todmüde. Und ich
war auch müde. Da fragte ich den Schiffer, der noch bei uns war, ob er
uns wohl eine Fuhre nach dem Dorfe J. besorgen könne. Er fragte, wo J.
liege; ich beschrieb es ihm.

»Oh, wer wird jetzt in der Nacht so weit über Land fahren,« sagte er
abweisend.

Ich sagte, es müsse sein, und bot zehn Mark Fuhrlohn. Zehn Mark waren
damals sehr viel Geld. Da sagte der Schiffer, er habe einen Bruder, der
Droschkenkutscher und ein sehr gefälliger Mensch sei; wenn es dieser
nicht täte, täte es keiner. Ehe dieser Bruder gefunden war, ehe er
eingespannt hatte, vergingen abermals dreiviertel Stunden, viel zu viel
Zeit für meine Unruhe.

Endlich fuhr das Wäglein die dunkle Landstraße entlang. Das Kind
schlief ein, der Nachtwind kühlte meine heiße Stirn, und ich war
glücklich.

Wohl noch eine halbe Meile vor unserem Dorfe hörte ich plötzlich
eine Stimme durch die Nacht rufen: »Wilhelm! Wilhelm! Großer Gott!
Barmherziger Gott!«

Es war der alte Großvater, der sein Enkelkind suchte. Ich rief zurück,
sprang vom Wagen herunter und lief auf ihn zu. Er sah aus wie ein
Irrsinniger, das lange weiße Haar flatterte um seinen bloßen Kopf.

»Ist er da? Lebt er?«

»Es ist alles gut, Meister. Da auf dem Wagen sitzt der Wilhelm.«

Der Schneider trat heran.

»Junge!«

»Ich hatte meine Stiefel verloren,« sagte der Kleine mit weinerlicher
Stimme.

Ich setzte den Großvater zu dem Jungen in den Wagen und mich beiden
gegenüber.

»Ich werd' alles vergelten, Herr Lehrer,« sagte der Schneider mit
bebender Stimme.

»Davon ist gar keine Rede, Meister! Sie müssen mir nur versprechen, daß
Sie nicht böse sind auf mich.«

Er schüttelte den Kopf und weinte leise. Nach einer Weile sagte er:

»Es ist alles gut. Der Junge ist da.«

»Und«, sagte der Junge, »wir fahren in einem so schönen Wagen, und die
Stiefel sind auch da. Ach, Großvater, es war so schön, so sehr schön,
daß ich mitgefahren bin.«

Der Alte wollte heftig widersprechen, aber er sah mich an, wollte mich
nicht kränken und sagte:

»Ja, es war wohl schön, daß du mitgefahren bist.«

Im Dorfe waren noch alle Leute munter, alle in Aufregung. Wir wurden
mit herzlicher Freude empfangen.

                   *       *       *       *       *

Das war der einzige Ausflug, den ich mit Schulkindern als
Dorfschullehrer gemacht habe. Schon nach acht Monaten rief mich meine
Behörde in eine größere Stadt, wo ich an der Lehrervorbildung mithelfen
mußte. Einmal bekam ich einen anonymen Brief, dessen Poststempel leider
auch nicht zu entziffern war. In dem Briefe war nichts enthalten als
ein Zehnmarkschein. Ich habe noch heute den Verdacht, daß der Brief vom
Schneider Dierschke war.




                    Das Telefon des Bildschnitzers

                       Eine Bergstadtgeschichte


Alle Sommermärchen sind aus: die, die im Kelch der Rose wohnten wie
in einer rotleuchtenden Stadt; die, die um nackte Füßlein spielender
Kinder durch den Bach schwammen; die, die auf den tönenden Flügeln des
Gartenkonzerts dahinhuschten über glühende junge Wangen und sich im
stillen Walde verloren. Alle sind aus.

Es war einmal -- es ist nicht mehr!

Auch das Sommer- und Lebensmärchen des Bilderschnitzers Klemens ist
nicht mehr. Sein Junge ist gestorben und begraben worden. Es war ein
klarer Herbsttag, als sie den kleinen Hermann in die Grube legten; die
Luft war voll Gebet und Liederklang, voll vom Weinen der Weiber und den
scheuen Seufzern der Männer; es sangen auch noch ein paar Vögel, mit
dem Schnabel nach Süden hin, und die roten Blätter wirbelten, und auf
den Kirchturm, von dem die Glocke klang, schwamm von Norden her eine
Wolke zu. Ein Weilchen blieb dies Bild stehen mitten im Herbsttag, und
dann gingen alle nach Hause.

So war des Bilderschnitzers Sommer- und Lebensmärchen zu Ende.

Manchmal lacht Klemens und hält sich für einen Narren. Die ganze Zeit,
als er das Roß mit dem Araber geschnitzt hat, hat er doch gemeint,
daß das Roß lebe und der Araber lebe, und hat meist in Hemdsärmeln
dagesessen, weil ihm die Glut der Wüstenluft allzu arg zusetzte. Wußte
er nicht genau, daß sein Araber gegen Omar ben Alef ansprang, gegen
den Prahler, der geschworen hatte, ihn lebend zu fangen und ihm den
Bart zu scheren, und den er nun in die Hölle schicken würde? War nicht
deshalb der Ansprung des Pferdes so kühn, das Auge des Reiters so
erschrecklich, der Arm so wuchtig gehoben, die Beine im Bügel so zum
Reißen gestrafft, weil eben alles lebendig gewesen war, als Klemens
die Gruppe schuf? Gewiß war es lebendig und ist's auch noch, denn
manchmal noch fährt Klemens dem Reiter in die Haare, weil sie ihm nicht
vom Schweiß der Anstrengung verklebt genug sind, oder er bringt ein
Fältlein im Mantel, das noch zu ordentlich liegt, in flatternden Wurf.

Alles lebt; alles ist wirklich. Aber eines Tages wird ein reicher Mann
kommen, von dessen Gunst der arme Klemens leben muß, und ihm den Araber
abkaufen, um ihn bei sich daheim auf ein langweiliges Wandbrett zu
stellen oder ihn gar seinen verwöhnten Sprößlingen zum Zerbrechen zu
geben.

Dann sind Araber und Roß, Omar ben Alef und Wüstenkampf, Palmenwipfel
und heiße Luft ein Märchen gewesen, und das Märchen ist aus.

Der Pfarrer hat am Grabe des kleinen Hermann ein paar sehr schöne Sätze
gesprochen. Er hat so gesagt:

»Klemens, manche Leute sagen, du seist halt ein Spielzeugmacher oder
Bilderschnitzer wie viele in unserer Bergstadt und anderswo. Aber du
bist ein Künstler; das wissen alle die, die etwas davon verstehen. Da
kommt es wohl öfters vor, daß du an einer Gruppe, die du mit großer
Kunst und viel Mühe und Treue geschaffen hast, mit tiefer Liebe hängst.
Aber eines Tages kommt ein reicher Mann und kauft dir die Gruppe ab,
und du mußt sie ihm hingeben, denn das Leben zwingt dich dazu. Dann
bist du wohl traurig in deinem Herzen, aber du tröstest dich in dem
Gedanken: der reiche Mann wird mein Werk in einen schönen Saal stellen,
wo andere herrliche Kunstwerke stehen, und kluge Menschen werden ihre
Freude an dem Werk haben und ganz im geheimen den Mann segnen, der es
geschaffen hat. Nun siehe, lieber Klemens, das herrlichste Kunstwerk,
das je ein Menschenauge in deiner Werkstatt sah, war dein Sohn. Nicht
nur, daß er von dir abstammte; du hast an nichts so viel Sorge, so
viel Mühe und Verständnis gewandt wie an dies Kind, das leiblich und
seelisch wuchs und wurde zum wunderbaren Kunstwerk. Zehn Jahre lang
hast du an ihm gebildet und alle Freuden des schaffenden Künstlers an
ihm erlebt. Da kam der reiche Mann -- der reichste Mann der Welt und
begehrte den Knaben für sich und sagte: ›Meister Klemens, ich will
deinen Hermann für meinen goldenen Himmelssaal. Dort wird er weilen im
Licht der Ewigkeiten, und Heilige und Weise, Patriarchen und Engel, der
Chor der Jungfrauen und alle Künstler und Könige, die in die Heimat
fanden, werden ihn sehen, werden sich seiner Edelgestalt freuen und
werden den segnen, von dem er stammt. Und ich selbst werde dich lohnen
mit Gütern, die niemand vergeben kann als ich.‹ Die Not des Lebens
zwang dich, lieber Meister Klemens, dem reichen Manne dein Kleinod
zu geben. Aber wenn du auch traurig bist, sieh ohne Verzweiflung dem
entschwundenen Gute nach und tröste dich mit Gedanken von ewiger
Schönheit, die über die schmalen Grenzen dieses Lebens hinausgehen und
denen du folgen kannst!«

Von diesem starken Trostwort lebte der Bilderschnitzer nun seit drei
Monden. Er sprach es sich alle Tage vor, und es tat ihm immer wieder
wohl. Aber die trüben, trüben Tage kamen, da die Menschen verdrossen an
den Fenstern vorbeigingen, der Regen über die Scheiben weinte und der
Efeu frierend in die Stube sah -- die Tage, da alles so furchtbar leer,
die Arbeit so zwecklos, das Leben so ohne alle Gnade und Freude war,
und dann schrie er nach dem Kinde, dann zerraufte er sich das Haar, da
stieß er einmal mit dem Fuße nach seiner schönsten Gruppe, dem heiligen
Hubertus, daß dem Jäger die Armbrust brach und der Hirsch mit dem
weißen Kreuzlein verwundert auf den tobenden Meister sah.

Als Advent kam, wurde es schlimmer mit Klemens. Da nicht Leute genug
in der Bergstadt wohnten, die teure Holzschnitzereien kauften, erwarb
der Meister einen Teil seines Lebensunterhaltes dadurch, daß er vor
Weihnachten künstlerisches Spielzeug schuf. Ein Hanswurst, den er mit
ein paar kräftigen Schnitten aus Tannenholz formte, hatte größeren
Kunstwert als viele Goetheköpfe, die aus Marmor sind und in den
großstädtischen Bazaren stehen. Das war immer die schönste Zeit des
Jahres gewesen, die stillen Novembertage und der verschneite Advent.
Dann war's am heimlichsten gewesen in Bildschnitzers Stube, dann war
der Junge, der Frühling, Sommer und Herbst auf der Straße war oder über
die Stadtmauer kletterte, daheim beim Vater, und er dichtete mit ihm
Kunstwerk um Kunstwerk.

»Vater, mach' ein Schiff mit drei Segeln! Ein Mohr und eine schöne
Engländerin müssen darin sitzen, und auf dem Mast sitzt ein Affe, der
frißt eine Nuß. Der Mohr hat die Engländerin geraubt und der Affe die
Nuß.«

Dann guckte der Bilderschnitzer schief über die Brille auf den
Jungen, in dessen Kopf es so kurios aussah, und fing an, das Schiff zu
schnitzen, den Mohren und den Affen. Der Junge sah zu und war ein so
strenger Regisseur und Kritiker, daß der Alte dachte: »Was wird aus ihm
werden?« -- »Vater, mach' eine kleine Tonne mit einem Schwimm-Männlein
darin, das auf- und abtaucht, und das Schwimm-Männlein muß aussehen
wie der Ratsdiener Mathies, der sich zu Tode trinkt.« -- »Vater, bau'
ein großes Fernrohr, mit dem man in die Erde gucken kann. Man muß die
Bergleute sehen, man muß die Zwergemännchen sehen, wie sie Gold und
Silber aushacken, und man muß den Teufel sehen, wie er brennt.«

Ein solches »Fernrohr in die Erde« hat Klemens gebaut, ein Rohr mit
auswechselbaren Bildern, und viel Geld damit verdient.

Einmal sagte der Kleine: »Du müßtest eine Wunderschachtel bauen können,
in die man hineinspricht, und die Worte müssen darin bleiben, und erst,
wenn man den Deckel aufmacht, kommen sie wieder heraus.«

Das Kind hatte nie etwas von Grammophon und Telephon gehört, und
Meister Klemens zerbrach sich lange den Kopf, ob er es ermöglichen
könne, ein sprechendes Grammophon zu kaufen. Aber es war zu teuer, und
so kam Klemens darauf, sich ein Haustelephon zu bauen. Als der Knabe
einmal einige Tage verreist war, legte er es an. Es führte vom Atelier
des Meisters, das unter dem Dache lag, hinab in die Wohnstube, die zu
ebener Erde war. Unten hauste die Frau. Sie war die zweite Gattin des
Meisters; Hermanns Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Die zweite
war ein stilles Weib, hatte selbst keine Kinder, und wenn sie auch für
den Knaben nie stürmische Zärtlichkeiten hatte, so war sie doch immer
von gleichbleibender Fürsorge für ihn.

Bei der Mutter war Hermann, als ihm das Wunder des Fernsprechers
offenbar wurde. Die Mutter sagte nachmals, sie hätte geglaubt, der
Junge bekäme die Krämpfe. Seine Aufregung und Freude begnügte sich aber
in Zukunft nicht, mit dem Vater durchs Haus zu sprechen, die Leitung
mußte bis ans Ende des Gartens in einen leeren Schuppen verlängert
werden. Nun wollte der Junge stundenlang mit dem Vater sprechen, der
oben im Hause unter dem Dache saß. Der Alte war selbst ein kindischer
Gesell, der solche Dinge liebte, aber mit der Zeit wurde ihm der Spaß
zu zeitraubend, und Hermann bestellte sich Freunde nach dem Schuppen,
die er vom Atelier aus ansprach. Ihm blieb es immer die gleiche Lust,
Worte in die Ferne zu richten. Als er aber einmal einem Kameraden die
ganze Geschichte vom ägyptischen Josef durchs Telephon erzählte und am
Schluß fragte, ob er auch alles verstanden habe, kam keine Antwort.
»Es muß eine Störung in der Leitung sein,« sagte der Vater. Es war
aber keine Störung in der Leitung, sondern dem Zuhörer in dem kalten
Schuppen war die Geschichte zu lang geworden und er war davongelaufen.

»Er ist ein Esel,« sagte Hermann verächtlich; »ich würde eher erfrieren
als von dem Telephon fortgehen.«

Niemals hatte der Junge ein Spielzeug gehabt, das ihn so gefesselt
hätte, wie dieses Telephon. Seine Phantasie spielte den ganzen Tag um
den Kupferdraht, der das unverstandene Wunder enthielt. Sein Vater
erzählte ihm, wie weit andere Leute mit dem Telephon sprechen können --
über Berg und Tal, durch Stadt und Land, ja, übers Meer hinweg. Dann
wurden die dunklen Augen des Knaben rein starr.

»Telephoniert der Kaiser auch?« fragte er atembenommen.

»Freilich telephoniert er!«

»Aber -- aber wenn er einmal seinen Soldaten telephoniert -- so zum
Beispiel -- wenn er ein wenig böse ist: ›Stillgestanden! Linksum
kehrt!‹, und das geht durchs ganze Land, erschrecken da nicht die Leute
in den Städten und die Rehe im Walde, wo der Draht hindurchgeht?«

Der Bilderschnitzer brummte, das sei ihm ganz egal, ob die Rehe
erschräken oder nicht, und der Junge träumte weiter. Lange Pause.

»Aber wir können doch mit unserem Telephon nur bis in den Schuppen
sprechen,« kommt's endlich.

»Wenn der Postmeister drüben über der Straße einen Draht an unser
Telephon macht, können wir sprechen, soweit wir wollen.«

Wieder lange Pause.

»Aber wie ist's mit dem lieben Gott? Wenn er alles kann, muß er doch
auch telephonieren können.«

»Freilich kann er!«

»Auch mit Draht?«

Dem Bilderschnitzer, der gerade einem alten Landsknecht die Nase mit
einer Warze verziert, wird die Fragerei unbequem.

»Ich weiß nicht! Vielleicht knüpft er einen Mondenstrahl an den Draht
an.«

»Einen Mondenstrahl!«

Der Junge träumte; er sieht die Leitung bis in den Himmel.

So war's meist, wenn der Bilderschnitzer mit seinem Buben zusammensaß.

       *       *       *       *       *

Im letzten Advent saßen sie auch so beisammen. Es war schon Abend, das
Feuer brannte im Ofen, und es war ganz still in der Stube. Auf einmal
geht die Klingel am Telephon.

Die beiden fahren auf und erschrecken sehr.

»Wer kann das sein? Mutter?«

»Mutter ist doch in Bärsdorf und kommt erst mit dem Abendzug zurück.«

»Wer kann es sein?«

Der Bilderschnitzer nimmt den Hörer.

»Holla! Wer ist dort? -- Was? -- Was? -- Ach -- ach -- ich -- oh -- oh
Majestät ...«

Er legt bestürzt den Hörer weg.

»Hermann, der Kaiser will dich sprechen.«

»Was? Wer? Mich? -- der Kaiser? O, Vater!«

»Ja -- ja, er ist am Telephon. Komm schnell, du darfst ihn doch nicht
warten lassen -- denk' doch, der Kaiser ...«

»Ich kann doch nicht -- ich -- ich hab' ja gar nicht den Sonntagsanzug
an.«

»So bitt' halt um Entschuldigung, und nun mach' rasch!«

Der Vater schiebt den Jungen zum Telephon. Der ist feuerrot im Gesicht
und zittert mit der Hand, als er den Hörer ans Ohr legt.

»Hier ist der Kaiser!« sagt eine bärentiefe Stimme, »der richtige
Kaiser in Berlin. Wer ist dort?«

»Hier -- hier« -- meckert ein Stimmchen, »hier ist -- bin ich!«

»Wer ist ›ich‹?« fragt der Brummbaß unwirsch.

»Bildschnitzers Hermann aus der Bergstadt,« piept das Stimmchen.

»So! Na, dich will ich ja eben sprechen.«

»Ich bitte -- bitte -- um Entschuldigung, weil ich nicht den
Sonntagsanzug anhab' -- aber bei uns ist heut erst Donnerstag.«

»So!« lacht der »Kaiser«; »Ihr seid wohl dort ein bißchen zurück? Bei
uns in Berlin ist schon Sonnabend.«

»Bitt' um Entschuldigung!« wiederholt das Büblein.

»Geschenkt! Geschenkt!« erwidert der Kaiser. »Dein Anzug ist ja gar
nicht so schlecht. Bloß der zweite Knopf an der Jacke fehlt und der
Absatz am linken Schuh.«

»Ja, ja,« stottert erschrocken der Junge; »der Müller Eduard hat ihn
mir abgerissen.«

»Den Absatz?«

»Nein, den Knopf!«

»So!« sagt der Kaiser; »nun, das wollte ich zuerst wissen. Und nun was
anderes. Ich habe gehört, du möchtest gern eine Prinzessin heiraten.
Ist das wahr?«

»Bitt' um Entschuldigung; ich hab' bloß Spaß gemacht.«

»Waaas? Bloß Spaß? Erst redste dicke Worte und dann willste kneifen?«

Der Kaiser ist offenbar böse. Da sagt der Bub mutig: »Wenn ich eine
kriege, werd' ich sie schon heiraten.«

»Na, das wollt' ich mir auch ausgebeten haben,« sagt der Kaiser. »Ich
laß meine Prinzessinnen nicht gern in unnützes Gerede kommen. Also, was
willste für eine -- willste nu eine mit Krone oder eine ohne Krone?«

Der Junge überlegt sich's drei Sekunden lang; dann sagt er:

»Ach, dann bitte eine mit Krone.«

»Hm!« brummt der Kaiser. »Also schön, eine mit Krone! Abgemacht! Grüß
deinen Vater, und zu Weihnachten ist die Hochzeit!«

Klinglingling -- das Gespräch ist aus.

Der Junge steht noch ein Weilchen wie erstarrt, dann springt er dem
Vater an den Hals: »Der Kaiser hat mit mir telephoniert -- der richtige
Kaiser in Berlin -- ich -- ich -- heirat' eine Prinzessin mit einer
Krone!«

»Donnerwetter!« schreit der Bilderschnitzer und haut den hölzernen
Landsknecht auf den Tisch, daß er beide Beine bricht. Fünf Minuten
lang schreien sie beide durcheinander, einer immer aufgeregter als der
andere. Sie fuchteln mit den Händen, sie sind krebsrot, sie reden immer
beide zu gleicher Zeit. Da wird der Junge ein wenig stiller und sagt:

»Er hat's gesehen, daß mir da -- da -- ein Knopf fehlt -- und (er hebt
das Bein) da ein Absatz.«

»Ein scharfes Auge hat der Kaiser!« sagt der Vater bewundernd. »Es ist
eigentlich peinlich!«

»Ach,« sagt der Junge, »es schad't nichts, er war ja ganz gemütlich.«

»Hm!« brummt der Vater. Sie sprechen dann mancherlei. Es ist schon am
Anfang Dezember und bis Weihnachten kaum drei Wochen. Wer weiß, ob
der Stache-Schneider bis dahin noch einen neuen Anzug fertig machen
kann. Und ein neuer Anzug muß sein, wenn man eine Prinzessin heiratet.
Und dann -- wenn die Prinzessin kommt mit ihrer langen Schleppe und
der goldenen Krone und den Hofdamen und Pagen, und drei Automobile
und sieben Pferde wird sie gewiß auch haben -- wie bringt man soviel
unter in fünf Stuben und einem kleinen Gartenschuppen? Und wenn sie
immerfort französisch spricht und den ganzen Tag Champagnerwein trinken
will, der so teuer ist?

Es geht lange hin und her, und schließlich meinen beide, Vater
und Sohn, diese überstürzte Heirat mit der Prinzessin mache viel
Scherereien und allerhand Schwierigkeiten und werde sehr kostspielig
sein. Am besten wäre es, man wäre die Geschichte wieder los. Aber wie?
Es ist immer leichter, eine zu bekommen, als eine wieder loszuwerden.
Und nun gar, wenn es eine Prinzessin ist.

Schließlich sagt der Vater, er wolle einmal in den »Löwen«
hinübergehen; dort sitze jetzt sicher der Herr Kantor, der Hermanns
Pate war, mit dem wolle er den schwierigen Fall besprechen.

Der Herr Pate saß wirklich am Stammtisch und lachte Tränen, weil auch
er gerade der Runde das telephonische Gespräch erzählt hatte. Und als
Meister Klemens nach einer Stunde wieder heimkam, sagte er zu seinem
Sohne:

»Die Sache ist gemacht! Wir telephonieren jetzt den Kaiser an. Ich hab'
mich erkundigt: er hat natürlich Telephonnummer Million. Also du sagst:
er möchte, bitte, entschuldigen, du könntest die Prinzessin nicht
heiraten, denn du seist erst neun Jahre alt, und dein Herr Kantor und
Pate erlaube es nicht!«

Der Junge sträubt sich und will nicht; er sagt, er geniere sich vor dem
Kaiser; aber endlich kommt das Gespräch zustande. Der Kaiser ist auch
gleich aufs erste Klingelzeichen am Apparat.

»Waas?« brüllt er. »Du willst nicht? Der Kantor erlaubt's nicht?
Wer hat mehr zu sagen: der Kaiser oder der Kantor? Ich werde mein
Kriegsheer schicken und den Kantor totschießen lassen.«

»Nein -- nein -- bitte -- bitte -- nicht,« wimmert das Büblein.

»Der Kantor ist wohl dein Lehrer?«

»Ja, ja!«

»Hast du ihn denn so gern -- den Lehrer?«

»Ja -- ja -- ich hab' ihn -- sehr -- sehr lieb! Er ist sehr gut und
lustig.«

Da muß sich offenbar der »Kaiser« an der anderen Seite des Drahtes die
Nase schneuzen. Man hört es deutlich. Und dann sagt er ganz milde:

»Du bist ein guter Junge -- und du kannst bei deinem Vater und deinem
Lehrer bleiben, und zu Weihnachten kommt eine ganze Kiste Soldaten und
Kanonen für dich.«

Klinglingling! Das Gespräch war aus.

                   *       *       *       *       *

Nur ein Jahr war das her. Es war alles wie sonst, das Feuer brannte im
Ofen, die Arbeit lag auf dem Tische, viele Bestellungen kamen Tag um
Tag.

Der Bilderschnitzer aber starrte ins Licht der Lampe.

So ein Kind kann sterben -- kann einem genommen werden! So mitten
heraus aus dem Leben -- gesund und tot. Was war das Leben noch wert?
Was ging ihn Weihnachten an? Was ging es ihn an, daß fremde Kinder sich
an seiner Hände Werk erfreuten?

So ein Kind kann sterben!

Er trat ans Fenster, sah hinauf zum kalten Nachthimmel. Wie waren die
Sterne so nahe! Wenn er von der Stadtmauer bis zum nächsten Ort schaut,
ist der weiter, als diese Sterne sind. Und er kann sein Kind nicht
sprechen, sein Kind nicht sehen?

Warum erfindet Ihr denn alles, warum erfindet Ihr denn nicht, daß man
einmal ein paar Minuten mit einem Toten sprechen kann? O, gäbe das
einen Frieden ...!

Ein rasendes Verlangen nach dem Jungen packt ihn. Das Telephon hängt
noch an der Wand. Einmal hat der Junge auch mit dem Himmel gesprochen
-- mit dem Nikolaus, der dort in der Goldenen Spielzeugstraße Nummero
1000 wohnt. Er hat ihm seine unschuldigen Wünsche gesagt und beigefügt,
Schnitzwerk wolle er nicht haben; denn das könne auch im Himmel niemand
besser machen als sein Vater. Da ist dem »Nikolaus« am anderen Ende des
Drahtes damals die Stimme ausgegangen.

So ein Kind muß sterben!

Weinend reißt der Bilderschnitzer an der Kurbel, und in verzweifeltem
Weh spricht er mit seinem toten Knaben ...

Drunten in der Wohnstube sitzt ein blasses, stilles Weib. Dieses hört
das Klingelzeichen und nimmt den Hörer:

»Hermann, höre mich -- Hermann, ich rufe dich -- ich halt' es nicht
mehr aus ohne dich -- mein lieber Junge -- ich verzweifle ohne dich --
o komm wieder -- o komm wieder, lieber Junge!«

       *       *       *       *       *

Der Einsame oben erschrickt. Er hat ein leises Weinen vernommen. Dann
-- dann hat er eine Stimme gehört, die schlicht und klar sagt:

»Gott schickt dir ein neues Kind!«

Da stürzt er die Treppen hinab und reißt die Tür zur Wohnstube auf.
Seine Frau hat noch den Hörer in der Hand.

»Ist es wahr?« stammelt er.

»Es ist wahr!« antwortet sie und reicht ihm tröstend die Hand hin.




                        Die Briefe der Tochter

                       Eine Skizze aus dem Leben


Es war einige Zeit vor dem Kriege.

Die verwitwete Frau Geheimrat hatte zwei Töchter. Die ältere -- Hedwig
-- war zu Haus bei der Mutter geblieben: die jüngere -- Irene -- war
ihrem Gatten tief ins Russenland gefolgt, wo sie mit ihrem Manne ein
Gut bewirtschaftete. Die Schwestern glichen sich außerordentlich bis in
viele, ja ganz lächerliche Kleinigkeiten. Beide waren frische, sonnige
Mädel. Als aber Irene fortgezogen war, wurde es sehr einsam im Hause
der Mutter; ein Herzleiden legte der alten Dame die größte Schonung
auf, und als die Jahre an Hedwig vorübergingen und die Hoffnung auf
Ehe- und Mutterglück ihr langsam zerrann, wurde sie ein stilles Mädchen
mit dem leisen wehmütigen Lächeln, das diejenigen haben, die auf das
Schönste verzichteten und denen doch die tiefe Güte des Herzens blieb.

Alle zwei Jahre kam Irene einmal zu Besuch. Dann war die Jugend wieder
im Haus, dann war alles Sehnen und Bangen fern, dann funkelten die
Wände und glitzerten die Fensterscheiben. Wenn aber der Abschied
gekommen war, wenn die Uhr wieder so müde und einförmig tickte und die
toten Stunden zählte, dann blieb nur die Hoffnung: in zwei Jahren kommt
sie wieder, dann blieb nur die eine ganz fröhliche Stunde in der Woche,
wenn Irenes Brief am Sonnabend kam und ihre liebe drollige Art aus den
Zeilen zu den Vereinsamten sprach. Dann lachten sie oft unter Tränen,
legten den Brief in ein Mahagonikästlein zu den andern und dachten
stolz und glücklich an Irene, wie man an einen großen Schatz in der
Ferne denkt ...

Im fünfzehnten Jahre nach der Verheiratung Irenes erhielt Hedwig
durch eine Mittelsperson von ihrem Schwager eine heimliche Nachricht,
die Entsetzliches brachte. Irene war bei einem Aufstand von einem
betrunkenen Bauern erschlagen worden.

Eine Base war es, die Hedwig zu sich gerufen und ihr den Unglücksbrief
übermittelt hatte. Erst nach zwei Stunden gelang es dem Hausarzt, einem
alten Freund der Familie, das zusammengebrochene Mädchen zu sich zu
bringen. Nach der dritten Stunde schickte die ahnungslose Mutter nach
ihr. Es wurde eine Ausflucht gefunden, und Hedwig saß noch weitere zwei
Stunden bei der Base.

»Weinen Sie! Weinen Sie sich aus!« sagte der Arzt.

Aber Hedwig weinte nicht. Sie sprach auch nicht. Sie saß ganz still da.
Zuletzt erhob sie sich und stand gerade und fest.

»Mich hat's getroffen,« sagte sie, »die Mutter wird's nicht treffen.
Ich werde es ihr nie sagen -- nie!«

Sie wies jede Begleitung ab und ging allein nach Hause. Und sie belog
zum erstenmal die Mutter. Während sie das Abendbrot bereitete, war sie
lebhaft und lachte ein paarmal stoßweise.

»Du bist so komisch!« sagte die Mutter.

»Das Leben ist überhaupt komisch,« entgegnete die Tochter; »du glaubst
gar nicht, wie komisch.«

Die Mutter schüttelte den Kopf.

Nach dem Abendbrot sagte Hedwig: »Ich habe so Lust, ein paar Briefe von
Irene zu lesen.«

Damit war die Mutter immer einverstanden. Und Helene suchte aus dem
Mahagonikasten die lustigsten Briefe heraus, die Irene je geschrieben
hatte und las sie laut vor. Die Mutter lächelte und nickte glückselig
mit dem Kopf, und Hedwig kicherte bei jeder drolligen Stelle der Briefe.

»Siehst du,« sagte sie am Schluß, »solche Briefe könnte ich nie
schreiben, mir fehlt der Humor.«

Die Mutter seufzte.

»Liebes Kind, Irene hat auch viel mehr Grund lustig zu sein, als du in
deiner Einsamkeit.«

»Ja,« nickte Hedwig versonnen, »Irene hat allen Grund, sich über das
Leben lustig zu machen. Aber ich werde von jetzt an auch lustig sein,
Mutter, paß nur auf!«

In der Nacht hatte Hedwig, die bei der Mutter schlief, ihr Taschentuch
im Mund wie einen Knebel, weil sie sonst laut aufgeschrien hätte. Aber
am Morgen lächelte sie wieder und pfiff dem Kanarienvogel eine Melodie
vor.

Am gleichen Morgen wurde Irene in Rußland begraben ...

Nächsten Sonnabend blieb der gewohnte Brief aus Rußland aus. Die Mutter
betrübte sich; aber Hedwig lachte und sagte:

»Wird sich russisches Postmeister gesagt haben: wozu soll immer schöne
russische Marke in dreckige Deutschland wandern? Mach' ich Marke los
von Brief, schmeiß' Brief weg, verkauf' Marke noch einmal, geht auch!«

»Du bist jetzt immer sehr vergnügt, Hedwig.«

»Findest du, Mutter? Ich will noch vergnügter werden.«

Eine Woche verging, der Sonnabend kam wieder; die alte Geheimrätin saß
schon in früher Morgenstunde am Fenster und wartete auf den Briefträger.

Und er brachte den gewohnten Brief von Irene.

»Diesmal hat Postmeister nicht Marke gemaust,« sagte Hedwig heiter, riß
den Brief auf und las ihn laut vor. Schon nach dem dritten Satz lachte
sie laut auf.

»Diese Irene ist ein zu drolliges Ding!«

Die Mutter freute sich auch über den Brief, wunderte sich aber, daß ihn
Hedwig gar so lustig fand.

»Er ist witzig,« sagte die alte Frau zum Schluß, »aber ich weiß nicht
-- die andern sind so mehr lieb und drollig.«

»Was du auch hast, Mutter; ein Brief fällt nicht aus wie der andere!«

»Gib mir den Brief.«

»Aber du hast ihn doch schon gehört, Mutter.«

»Na, gib ihn schon,« sagte die Alte ärgerlich; »ich will ihn doch
selbst lesen; man hat doch die Schrift in den Händen.«

Die Mutter setzte die Brille auf und las.

»Die Schrift ist ein bißchen verändert,« sagte sie; »Irene mag eine
neue Art Feder gehabt haben.«

»Ja, wahrscheinlich,« stimmte Hedwig bei und tastete sich durch die Tür
nach der Küche.

Sie und ihre Schwester hatten immer eine Schrift gehabt, die nicht
zu unterscheiden war. Nun, da Hedwig unter tausend Qualen und Mühen
einen Irenenbrief an die Mutter geschrieben und ihn dem Schwager zur
Rücksendung zugestellt hatte, fand sie ihre eigene Schrift verändert
und konnte es nicht verhüten.

Noch am gleichen Tage mußte sie den »Brief von Irene« beantworten und
der Mutter das Antwortschreiben geben.

»Aber Hedwig,« sagte diese betroffen, »deine Schrift ist ja auch anders
geworden, und zwar gerade wie die von Irene.«

Hedwig zuckte die Achseln.

»Das macht wahrscheinlich, weil wir beide älter werden, Mutter. Irene
und ich werden immer gleich bleiben; ich glaube, wenn die eine mal tot
ist, ist die andere auch tot.«

»Kind,« sagte die Mutter streng, »ich verbiete dir, daß du so was von
dir und Irene sagst.«

»Ich werde es nie wieder sagen, liebe Mutter!«

So vergingen fast zwei Jahre. An jedem Sonnabend kam ein Brief
von Irene. Er enthielt immer viel Lustiges, Schilderungen aus der
Häuslichkeit, Szenen aus dem russischen Gemeindeleben. Gott weiß, wie
schwer Hedwig die Abfassung dieser Briefe wurde. Der Schwager mußte
ihr »Stoff« liefern (immer durch die Base), und Hedwig war glücklich,
als sie einen Band »Anekdoten aus dem russischen Volksleben« erstehen
konnte. Den ganzen Band schrieb sie nach und nach in den Briefen »von
Irene« ab. Der Mutter gegenüber atmeten die Briefe immer die reinste
Liebe; sie waren immer von zärtlicher Sorge erfüllt, die Mutter
möge ihres Herzleidens wegen sich vor jeder Aufregung hüten; denn
die Geschehnisse dieses jämmerlichen Erdendaseins seien gar keiner
Aufregung würdig.

Manchmal sagte die Mutter: »Findest du nicht auch, Hedwig, daß sich
Irene verändert haben muß? Es ist eine Schärfe und Härte in ihren Stil
gekommen, die früher nicht da waren und die mir leid tun. Das Kind muß
etwas Trübes erfahren haben, was mir verschwiegen wird. Nein, nein,
widersprich mir nicht, Hedwig; eine Mutter hat feine Ohren.«

Dann entwarf Hedwig den nächsten »Irenenbrief« wohl fünfmal, ehe sie
ihn abschickte und prüfte jeden Satz immer und immer wieder, ob nicht
die Note ihrer eigenen tiefen Herzenserbitterung darin mitklinge. Und
manchmal blickte sie in stummer Qual auf zum Himmel: »Führ' mir die
Hand, Irene!«

Nach zwei Jahren war die Zeit gekommen, daß Irene ihren Besuch machen
sollte. In jenen Wochen konnte es Hedwig nicht mehr verbergen, daß
sie sehr krank war. Der alte Hausarzt kam, sprach von Nerven und
Bleichsucht und verordnete seine Mittelchen. Und eines Tages kam ein
kurzer mit Bleistift geschriebener Brief aus Rußland:

»Liebe Mutter, ich war so leichtsinnig, auf eine Leiter zu steigen
und bin gefallen. Meine Verletzungen sind nicht lebensgefährlich, was
Du schon daraus sehen kannst, daß ich Dir selber -- wenn auch mühsam
-- schreibe. Das Schlimmste ist, daß der Arzt sagt, eine anstrengende
Reise nach Deutschland sei auf absehbare Zeit ausgeschlossen. Arme
Mutter! Ich liebe Dich und küsse Dich und Hedwig.

  Eure Irene.«

Die alte Frau bekam einen bösen Anfall; ihr Leben war in Gefahr, und
Hedwig stand im Hausflur vor dem alten Arzte und sagte: »Ich habe den
Tod betrügen wollen; er läßt sich nicht betrügen!«

Aber die Mutter wurde wieder gesund, hauptsächlich weil der Schwager
alle Tage telegraphisch gute Nachricht über das Befinden Irenes gab.
Nach vierzehn Tagen saß die alte Dame wieder im Lehnstuhl am Fenster
und sagte zu Hedwig:

»Kind, ich traue deinem Schwager nicht, daß er mir Irenes Zustand zu
günstig schildert. Fahr' hin, Kind, überzeug' dich selbst, wie es Irene
geht, und gib mir dann Nachricht. Wenn du mir gute Nachricht gibst, ist
sie wahr; denn du hast mich noch nie im Leben belogen.«

Da wandte sich Hedwig ab und starrte mit gläsernen Augen die Wand an.

Am dritten Tage ließ sie die Mutter in der Obhut der Base und reiste
nach Rußland. Endlos war die Fahrt durch die nüchterne Ebene. Als sie
auf der kleinen Station ankam, trat ihr der Schwager entgegen, führte
sie abseits unter eine Baumgruppe und sagte in tödlicher Verlegenheit:

»Hedwig, noch ehe wir in den Wagen steigen, muß ich dir etwas sagen --
ich bin -- ich bin wieder verheiratet.«

»Du bist -- du bist ...?«

»Ja, ohne Hausfrau konnte ich das Gut nicht halten.«

»Ah!«

Sie sah sich wie betäubt nach dem Bahnhof um.

»Wann fährt denn der nächste Zug zurück?«

»Hedwig!«

»Ich kann ja nicht -- kann ja nicht ...«

Sie saßen wohl über eine Stunde unter der Baumgruppe auf einer Bank.
Der Schwager redete viel auf sie ein. Sie aber sagte immer nur mit
einem irren Ausdruck in der Stimme:

»Die Mutter, die Mutter ...«

Und endlich fuhr sie mit dem Schwager heim und wurde von der neuen
Gutsherrin freundlich empfangen. Am Abend schickte sie einen Eilbrief
nach Hause.

»Irene geht es sehr gut. Sie hat einen so zielbewußten, tüchtigen Mann.

  Hedwig.«

Drei Wochen hielt sie es aus. Sie schmückte Irenes Grab mit den wenigen
schlichten Blumen, die sie in der Landschaft fand, und freute sich des
Töchterleins, das die Schwester hinterlassen hatte. Die kleine Irene
war ein zwölfjähriges Mädchen, lebhaft und heiter wie ihre Mutter. Den
ganzen Nachmittag entwarf und schrieb Hedwig Briefe. Abwechselnd war
immer einer mit Irene, der andere mit Hedwig unterzeichnet. Nicht nur
das Briefpapier wechselte, nein, auch der Stil. Während Irenes Briefe
heiter, liebevoll, romantisch waren, schrieb Hedwig geschäftsmäßig und
trocken.

Kurz vor ihrer Abreise verlangte Hedwig von ihrem Schwager in
bestimmtester Form, daß er ihr Irenes Kind überlasse und mitgebe. Er
sah sie in seiner scheuen, aber milden Weise an und wandte ein:

»Glaubst du, daß das Kind nie verraten wird, daß seine Mutter tot ist?«

Da brach Hedwig in bittere Tränen aus und fuhr allein durch die
trostlose Steppe Rußlands heim.

Nach einem Jahre neigte sich das Leben der alten Frau Geheimrat zu
Ende. Der Hausarzt machte schließlich der Tochter gegenüber kein Hehl
mehr daraus. Und er fand sie gefaßt.

»Drei Jahre habe ich mir das Leben der Mutter noch ertrotzt -- jetzt
kann ich es wohl nicht mehr,« sagte sie.

Sie saß oft und sann, ob sie nun der Mutter alles offenbaren solle.
Aber sie kam immer wieder zu dem Schluß: »Sie soll erst erfahren,
daß sie Irene verloren hat, in dem Augenblick, wo sie ihren Liebling
wiederfindet. Nicht eine Sekunde soll sie Herzeleid haben um Irenes
grausamen Tod.«

Dabei blieb es. Die Mutter, die ihr Ende nahen fühlte, ließ Brief
über Brief an Irene schreiben, und jeden Tag kamen Briefe zurück voll
innigster Liebe, aber auch voll Klagen, daß gerade jetzt eine Reise
unmöglich sei. Dazu Vertröstungen auf nahe Zukunft.

So kam die Todesstunde. Da rief die Mutter:

»Telegraphiere an Irene -- sie muß kommen -- muß. -- Besorge selbst das
Telegramm, Hedwig -- andere besorgen es nicht richtig!«

Hedwig entfernte sich. Als sie nach kurzer Zeit in Mantel und Hut
zurückkam, rief die Mutter:

»Irene -- Irene -- du bist da -- du bist da!«

Hedwig sank am Bett in die Knie. Der Hut fiel ihr vom Kopf, die
Sterbende streichelte ihre braunen Haare.

»Irene -- mein Kind -- du bist da -- du warst so lange -- Hedwig und
ich haben so gewartet -- Hedwig ist ein sehr, sehr gutes Mädchen.«

Dann wurden die Augen weit, die Sterbende hob den Kopf der Knienden,
starrte ihr ins Gesicht und sagte:

»O, du bist -- nicht Irene -- du -- bist Hedwig ...«

Sie sank zurück in die Kissen, starrte nach der Decke, griff mit den
Händen in die Luft und rief plötzlich:

»Da steht Irene -- dort oben!«

Und starb ...

Nach Minuten erhob sich Hedwig und drückte der Mutter die Augen zu. Sie
streichelte die blasse Wange und sprach:

»Nun weißt du es, Mutter. Nun zürne mir nicht und sage auch Irene, daß
sie der Fälscherin nicht zürne!«

       *       *       *       *       *

Am Begräbnismorgen erschien der Schwager aus Rußland. Er führte Irenes
Kind an der Hand, übergab es Hedwig und sagte:

»Ich bringe dir das Kind, damit du nicht zu allein bist.«

Da schaute Hedwig den Schwager an und sagte:

»Richard, du bist ein treuer Mensch!«

Am Abend, als sie beisammen saßen, sagte Richard:

»Hedwig, achte nur darauf, daß mir die kleine Irene alle Wochen einen
Brief schreibt -- mir würde sonst die Sonne fehlen.«

Und er sah mit verlorenem Blick in den Abend hinaus.




                           Die letzte Furche

              Eine romantische Geschichte von Paul Keller


                               Der Tod.

Gar viele meinen, das sei immer der Knochenmann mit der Sense auf der
Schulter.

Aber das ist nicht so.

Der Sensenmann -- der ist nur einer von der großen Kompagnie, die »Tod«
heißt. Wo die Donner der Schlacht dröhnen und die Blitze der Bajonette
zucken, da mäht er seine Schwaden; oder wo die Schwüle der Seuchenpest
lastet, da schwingt er seine Sense; oder wo eine heiße Lokomotive auf
eine brüchige Dammstelle zusaust, da fällt seine Ernte. Der Sensenmann
arbeitet nur im großen; einzelne Halme mäht kein Schnitter.

Für die einzelnen sind die kleineren Geschäftsgenossen da. Zum Beispiel
der Rüpel.

Der zieht dem fleißigen Maurer unvermutet die Leiter unter den Füßen
weg; der stopft mit flinkem Finger einem gemächlich Schmausenden einen
Knochen in den Hals; der stößt ein Kind, das nach jungen Enten schaut,
in den Teich; der schmiert einer Brummfliege Gift an den Stachel und
hetzt sie auf einen arglosen Wandersmann wie einen tollen Hund.

Oder der Zauderer.

Der ist sentimental. Der ist ein Schwächling. Er hat keine Energie,
er vermag niemals sein Werk stark und flink zu tun. Wochenlang,
monatelang, jahrelang sitzt er am Lager seines Opfers und zögert und
verschiebt's vom Morgen zum Abend, vom Abend zum Morgen. Er weicht
zurück vor jedem bißchen neuen Lebensmut, er geniert sich vor dem
Weinen klagender Freunde, er mag das Netz nicht zerreißen, er knüpft
feig' und heimlich Masche an Masche auf, und wenn ihm ein Tröpflein
Medizin ins Gesicht gespritzt wird, verkriecht er sich in den Winkel.
Aber er kommt immer wieder, entknotet mit heimlichem Finger immer
wieder Masche um Masche und kann es nicht über sich bringen, sein Werk
zu vollenden, bis der von Schmerzen Gepeinigte mit bettelnder Stimme
selbst Tag und Nacht nach ihm ruft. Und wenn es dann endlich getan ist,
wenn die Freunde tiefseufzend sagen: der Tod war eine Erlösung! -- dann
schleicht der Zauderer davon und lächelt und hält sich für besser und
gutherziger als seine Genossen.

Um noch einen dritten zu nennen: der Schneider.

Der hat nicht viel gelernt. Er ist ein simpler Bursche. Seine ganze
Kunst besteht darin, mit einer Schere den Faden, der vom Himmel auf
jedes Menschen Haupt sich herabstrafft und diesen Menschen aufrecht
hält, unvermutet durchzuschneiden, worauf der Entfestigte plötzlich
am Boden liegt und seine Freunde vor Schrecken das Zittern kriegen.
Der Schneider hält sich für einen Humoristen. Wenn er einem, der in
guter Weinlaune gerade voller Behagen eine Anekdote erzählt, den
Faden durchschneidet, glaubt der Schneider, daß es keine wirksamere
Pointe gäbe. Denn diese Anekdote und ihren Schluß vergißt kein Hörer
sein Leben lang. Oder wenn einer gerade in puterrotem Zorne schimpft
und sich aufrichtet gegen seine Widersacher und plötzlich auf der
Nase liegt, so meint der Schneider, das sei nichts anderes als eine
Illustration zu der großen Erdenweisheit: »Mensch, ärgere dich
niemals!« Der Schneider hat viel Ähnlichkeit mit seinem Kameraden, dem
Rüpel; er faßt rasch zu, überlegt nichts, macht seine Arbeit so aus
der Laune, so aus dem Handgelenk heraus. Nur ist er weniger brutal als
der Rüpel. Kinder und einfaches Volk verschont er fast immer, nur unter
den »besseren« Ständen erlaubt er sich oft seine Streiche.

Manchmal freilich kommt er auch als gütiger Menschenfreund. Da sitzt
ein alter Gelehrter, der nichts mehr vom Leben erwartet, vor einem
Lieblingsbuch und sinkt mit dem weisen Antlitz plötzlich auf die
geliebten Zeilen, wie ein Mondenstrahl fällt ins tiefe Meer; oder
ein Beter, der mit Gott spricht, hört unvermutet sein »Amen« in der
Ewigkeit klingen, oder ein Schläfer, der mit grauen Sorgen zur Ruhe
ging, wacht in goldenem Lichte auf, oder ein Verirrter in der Fremde
findet sich plötzlich heim. Wundert ihr euch, daß der schlichte Engel,
der dem Leben des Bauern Tobias beigegeben war, als er vom Herrn
der Zeit den Wink zum Schlußmachen bekam, zu der Genossenschaft der
Todesbrüder ging und sich für seinen Schützling den »Schneider« ausbat?
Der Engel kannte die Rechnung des alten Tobias, die Rechnung mit dem
Himmel, die Rechnung mit der Erde. Sie stimmten beide. Und so bat er
sich den Schneider aus.

Am Montagabend, wenn die Lerche zu singen aufhörte, sollte es geschehen.

                   *       *       *       *       *

Der Bauer Tobias war am Montag nachmittags in ganz besonderer Laune
aufs Feld hinausgezogen. Im Hof hatte ihn noch sein Lieblingsenkelein,
die kleine Traute, angehalten und gemahnt:

»Großvater, du bist mir noch immer die Puppe schuldig, die du mir
versprochen hast und die ich schon vorgestern bekommen sollte.«

Tobias hatte sich hinter den Ohren gekratzt.

Richtig! Seit drei Tagen war er der Traute eine Puppe schuldig. Das war
nicht in der Ordnung. Und da er Glück hatte, stelzte gerade die dürre
Botenfrau vorüber, die nach der Stadt ging. Die hielt er an und sagte:

»Kathrine, ich brauch' eine Puppe. Eine, die was aushält.«

»Und mit blauen Augen,« ergänzte Traute.

»Ja, mit blauen Augen,« sagte der Großvater. »Und da sind elf Groschen,
zehn Groschen für die Puppe und einen Groschen für die Besorgung.«

So war das Geschäft abgeschlossen. Tobias war niemandem auf der Welt
mehr etwas schuldig, nicht einmal der Traute, der er doch eigentlich
immer was »schuldig« war. Nun war er auf dem Felde und pflügte ein
Stoppelfeld mit dem Schälpflug um. Es war eine leichte Arbeit.

Eigentlich hätte er es gar nicht mehr nötig gehabt, tätig zu sein. Seit
einem Vierteljahr war er im »Auszug«. Und Tobias hatte einen guten
Sohn. Dem würde es nicht zuviel sein, wenn der alte Vater zwanzig Jahre
lang und länger im Auszug lebte. Nein, er würde sich freuen. Der liebe
Gott segne den Wilhelm! Dies kleine Stoßgebetlein war der Refrain
von allen heimlichen Hymnen der alten Bauernseele, die zum Himmel
emporstiegen.

Furche um Furche zieht der brave Ackergaul den Pflug auf und ab, und
Tobias geht hinter dem Pflug, und seine friedvollen Augen sehen mit
Freude auf das braune fette Ackerland, das unter dem Eisen emporquillt.

Ein Kleefeld grenzt an das Ackerland. Darüber singt eine Lerche ihre
hellen Triller und schwirrenden Melodien. Tobias blinzelt manchmal zu
ihr empor in die sonnige Luft. Er hat von jeher die Lerchen gern gehabt.

Näher, immer näher kommt der Pflug dem Kleefeld. Bald ist die Arbeit
getan.

Am Himmel türmt sich ein Wolkengebirge auf. Es hat mehrere Gipfel,
einen Kammweg, der sie verbindet, dunkle Täler und schroffe Abhänge.
Die Sonne nähert sich dem Gebirge, verschwindet hinter ihm und
versilbert seinen höchsten Gipfel. Dann sinkt sie hinab hinter die
schwarzen Hänge. Es wird plötzlich dunkler und kühler auf dem Felde.
Der alte Bauer schaut zum Himmel, ob die Sonne denn schon untergehen
wolle, aber er sieht das Wolkengebirge, lächelt und sagt: »Es ist noch
Zeit!«

Hell singt die Lerche über dem Klee.

Furche um Furche -- immer dem Ende zu. Der Wilhelm wetzt am anderen
Ende des Kleefelds die Sense. Er will das Abendfutter schneiden. Schon
knarrt der Futterwagen den Feldweg entlang. Jetzt macht Tobias eine
kurze Rast.

Um den Wiesenbusch, der ihm nahe ist, lugt ein Gesicht. Ein scharfer
Blick fliegt über die Wiese, so scharf wie der Augenstrahl ist, den
der Jäger auf ein Wild richtet. Und nun, wie der Tobias dem Busch den
Rücken kehrt, huscht ein Schatten über die Wiese.

Der Tod ist da -- der Schneider. Aber er hört die Lerche noch singen
über dem Klee, und die Sonne steht noch über dem Himmelsrande. Er ist
zu zeitig gekommen. So duckt er sich, von keines Menschen Auge gesehen,
auf die letzte Ecke des Ackerfeldes. Ein betender Engel kniet neben
ihm.

Die beiden warten.

Fröhlich fährt Tobias den Acker wieder hinauf. Es ist ihm so wohl; er
fühlt sich noch gar nicht müde. Wilhelm hat auch einmal herübergewinkt.
Das hat ihn gefreut wie immer.

Wieder wendet sich der Pflug.

»Die letzte Furche,« sagt der Bauer laut. »Freu' dich, Schimmel, die
letzte Furche. All Ding nimmt einmal ein Ende!«

Sacht geht's den Acker hinab, auf den Schneider zu, dessen Augen durch
die Luft glühen. Und der Schneider reckt den Hals. Aber der Engel faßt
ihn an der Hand. Noch singt die Lerche.

Unter dem Wolkengebirge tritt die Sonne wieder hervor, steht klar am
Abendhimmel.

Wie der Tobias mitten in der Furche ist, packt ihn plötzlich jemand von
hinten an der Schulter. Tobias erschrickt ein wenig und läßt den Pflug
fallen. Das Pferd bleibt stehen und sieht sich um.

Da lacht auch schon der Tobias.

»Der G'steifel ist's. Und ich dummer Kerl erschreck'!«

»Ja,« lacht der G'steifel, »niemand kann schneller und leiser laufen
wie einer, der ein lahmes Bein hat.«

Tobias begrüßt den alten Freund und Kriegskameraden. Schon anno Siebzig
hat der »G'steifel« von den Bayern im Feld seinen Namen bekommen. Jetzt
sieht er bewundernd übers Feld.

»Mensch, Tobias, du wirst wohl gar nicht alt? Hast du nun das ganze
Feld wieder allein umgewendet?«

»Es ist leichte Arbeit,« sagt Tobias; »der Acker ist mürbe und der
Schälpflug greift ja nicht tief. Und unter acht Stunden Feldarbeit am
Tage -- das würd' mir nicht gefallen.«

»Wird halt auch mal kommen, daß die Kräfte abnehmen, Tobias.«

»Ja, ja, aber es wird mir nicht gefallen. Es wird mir gar nicht
gefallen.«

»Aja, da ist's aber noch lange hin. Vorläufig schnupfen wir mal.«

Der G'steifel zieht eine silberne Tabaksdose aus der Tasche. »Luise«
ist auf ihrem Deckel eingraviert.

»Ihr seid doch Kerle,« lacht der G'steifel, »dreiundvierzig Jahre lang
gewöhnt mir nu schon meine Luise das Schnupfen ab, und wie ich siebzig
Jahr alt bin, schenken mir die Freunde 'ne silberne Luise. Das habt Ihr
fein ausgediftelt, Tobias! Das ist ein Witz!«

»Ja, ja,« lacht der Tobias fröhlich, und eine Träne tritt ihm dabei ins
Auge. »Sie hat's doch nicht übel genommen?«

»Die Luise? Nu nee. Ihren Namen in Silber! Geschmeichelt gefühlt hat
sie sich, hat aber die Dose in den Glasschrank stellen wollen. Na,
das gibt's nich. Ich will immer an dich erinnert sein, Alte, hab' ich
gesagt. Na, da schnupf' halt.«

»Die Luise soll leben!« sagt Tobias und schnupft. Gleich hinterher muß
er an die zehnmal niesen.

»'s is starke Sorte,« sagt der G'steifel. »Meine ausgepichten
Nasenröhren müssen so was haben. Du aber bist's nich gewöhnt.«

Am Feldende der Schneider reckt abermals den Hals. Und wieder faßt der
Engel seine Hand. Noch singt die Lerche.

»Gut schaust du aus,« sagt der G'steifel. »Warst halt immer ein
hübscher Kerl. Ich glaube, damals -- vor dreiundvierzig Jahren -- hätte
die Luise lieber dich genommen als mich.«

»Nu nein,« protestiert der Tobias, »mit dir hat's nie ein Bursch
aufnehmen können.«

Der G'steifel klopft wehmütig lächelnd auf sein lahmes Bein.

»Nu ja,« sagt Tobias; »fürs Vaterland! Das ist eine Ehre!«

»Ja, ja,« seufzt der alte Kamerad, und bald darauf erörtern sie zum
vielhundertsten Male den Fall, wie der G'steifel zu seinem lahmen Beine
gekommen ist. Die Arbeit ruht, die letzte Furche liegt halb unvollendet
da, die Sonne rückt tiefer am Himmel.

Da steigt die Lerche aus der Luft herab aufs Kleefeld zu. Der Schneider
steht auf, geht gebückt den Acker entlang, nimmt die blitzende Schere
aus dem Rockärmel. Aber die Lerche steigt noch einmal hoch empor und
singt hell und klar über den beiden alten Kriegskameraden, die in
Erinnerung schwelgen. Und der Schneider schleicht verdrossen nach
seinem Platze zurück.

Nun sind die beiden Alten fertig.

»Du fährst wohl auf dem Kleefuder heim?« fragt der G'steifel.

»Ja, es sitzt sich weich und gut auf dem Klee.«

»Ich kann's nicht,« sagt der G'steifel; »mein Reißen leidet es nicht,
auf Klee zu sitzen.«

Sie geben sich die Hände und scheiden voneinander.

Tobias nimmt den Pflug auf und vollendet die letzte Furche.

Hell singt die Lerche. Der Engel hebt die gefalteten Hände. Der
Schneider lauert.

Die Furche ist vollendet. Tobias legt den Pflug hin und strängt das
Pferd ab. Dann schaut er über den Acker.

Langsam schleicht der Schneider hinter ihm und reckt sich hoch empor
über sein Haupt.

»Das ganze Feld liegt schön da!« sagt Tobias in tiefer Zufriedenheit.

Da bricht die Lerche schrill ihre Weise ab und schießt in den Klee.

Ein leises Blitzen über dem Haupt des Tobias.

Ohne den leisesten Laut sinkt er tot auf die weiche, braune Ackererde.

                   *       *       *       *       *

Der Wilhelm rast übers Kleefeld, schreiend und oftmals fallend rennt
der entsetzte alte G'steifel. Sie schlucken, sie ächzen, sie machen
einige unbeholfene Wiederbelebungsversuche, aber der tote Tobias
lächelt zu dem fruchtlosen Beginnen.

Da sehen sie ein, daß alles aus ist.

Laut weinend sinkt der junge, starke Wilhelm neben dem Vater ins
Knie; bis ins Mark erschüttert steht der G'steifel neben dem so jäh
gefallenen Kameraden. Eben noch stark und froh, und jetzt tot -- wie
ist das möglich, wie ist das möglich? G'steifel schlägt dreimal an die
Brust: »Gott sei uns Sündern gnädig!«

Dann packt ihn ein lähmender Gedanke. Er hat den Tobias von seinem
scharfen Tabak schnupfen lassen, und der hat so sehr niesen müssen, daß
ihm wohl eine Herzader gesprungen ist. Herrgott -- Herrgott ...

Der G'steifel weint bitterlich und er verwünscht das böse Tabakszeug,
das er gegen den Willen seiner Frau dreiundvierzig Jahre lang geliebt
hat. Und er schluchzt: »Ich werd' nimmer froh! Ich werd' nimmer froh!«

Und ist so außer sich vor Schmerz und Verzweiflung, daß er es gar nicht
merkt, wie seine Finger mechanisch die Dose öffnen und in der Aufregung
Prise um Prise in die Nase stecken.

Der Kleewagen rumpelt heran.

»Auf dem Kleewagen hat er heimfahren wollen,« schluchzt der G'steifel.

Der Wilhelm nickt, und so betten sie den Vater auf den duftenden Klee.
Langsam fährt der Wagen über den Sturzacker dem Wege zu. Der G'steifel
ist außer sich, und die vermeintliche Schuld drückt ihm das Herz ab. Er
hält es nicht aus, er beichtet dem Wilhelm, klagt sich an und schwört
dem Tabak ab.

Wilhelm tröstet ihn.

»Der Tabak ist nicht schuld,« sagt er, »Gott hat es so gewollt.«

Da wird auch der G'steifel ruhiger.

Ach, es ist schön, wie der alte Bauer Tobias heimfährt. Die liebsten
Pferde ziehen ihn, der geliebte Sohn und der treueste Freund begleiten
ihn. Und sie lieben den Toten in diesem Augenblicke viel, viel mehr,
als sie sich selbst lieben.

Auf dem Feldhügel bleibt der Wilhelm stehen und deutet nach Westen.

»Da ist Vaters Seele hin!« sagt er ruhig und fromm.

Zwei weiße Gebirge stehen am Himmel mit silbernen Gipfeln und
leuchtenden Almen, und mitten zwischen ihnen steht der Weg offen in
ein rotleuchtendes goldenes Land.

Die Sonne zog diese Straße, und nun zieht auf ihr ein schlichter Engel
mit einer Bauernseele der ewigen Heimat zu.

Was lächelt der Leichnam im kühlen Klee? Ein Bauer zog aus auf ein
schmales Feld, ein gekrönter König, der über die ganze Welt erhöht ist,
kehrt heim.

Die Abendglocke singt ihr tiefes, frommes Feierabendlied. Am Hoftor
sitzt die kleine Traute. Sie hält selig eine neue Puppe auf dem Schoß
und lugt mit ihren großen Augen den Feldweg entlang.




                               Bergkrach

                   Humoreske in schlesischer Mundart


Ei der letzta Walpurgisnacht hotta amol de schläscha Barge Krach
mitsomm. Wer hotte dan Krach ongefanga? Nattierlich kee andrer Mensch
als wie der Zotabarg[2]. A hotte die Schniekuppe 'n ale Gake[3] gehissa.

»Was?« schrie die Schniekuppe. »Du Fatzke! Was unterstiehste dich? Bin
ich nich eure Keenigin?«

»Nee, du bist 'n ale Gake,« verhorrte der Zotabarg uff sem dicka Kuppe.

»Nu, du niederträchtiger Latschel, du Faffermandla[4], du Ziegequork
du! Ich bien doch 'n feine, gebild'te Dame.«

»Jawohl ja, Sie sein 'n feine, gebildete Dame,« sate der Huchwald,
dar sich zu benahma weeß, weil a vo a Salzburner[5] Kurgästa Plüh und
Bildung gelernt hot.

»Hal ock du die Frasse,« sagte der klobige Zotabarg zum Huchwalde,
»sunst verrot ich's erst, daß de anne Liebschoft mit der Eule hust. Ich
sah's schun, wie ihr euch immer pussiert. Und der Sturchbarg stieht ni
weit vo euch weg.«

»Pfui, pfui, Zotabarg,« schrie der frumme Kreuzbarg bei Striegau, und
durch olle die viele Foffabarge ei der Schläsing ging a Sturm, und se
hielta 'm Zotabarge 'n Revermande. Der beleidigte Huchwald schmieß
augenblicklich dam groba Karle 'n Päpel[6] Wulka on a Kupp, und de
Eule schamte sich wie 'n ale Jumfer. Der Sturchbarg tat wie tulpe.

»Was ist denn das für ein Skandal?« fragte das Huche Rad[7] ('s war zu
Kaisers Geburtstag werkliches geheemes huches Rad gewurn). »Wer lärmt
denn da und stört die Nachtruhe?«

»Ach, Exzellenz,« sate die Schniekuppe, »'s sein nämlich wieder die
klein' Leute im Paterre, die Spektakel machen.«

»Natürlich der Pöbel,« sate 's werklich huche Rad. »Wo sind denn unsere
Polizisten, die beiden Sturmhauben?«[8]

Die Sturmhauba schliefa leider. 's huche Rad grief ei seine tiefe
Hosatosche, ei die gruße Schniegrube, zug an weißa Zädel raus und
machte sich 'n omtliche Notiz über die schläfriga Pulzisten.

Nu war's a bißla stille. Uff emol pläkte der Pietschaberg[9] bei
Ingerschdurf wie a Feuerkolb. A behaupte unter vielem Gewinsele, der
Zotabarg hätt' a mitt'm Fusse geschibbt.

»'s ies gar nie wohr,« striet's der Zotabarg ob, »der ale Lopps, der
Pietschabarg, is wieder bepietscht. Eene Krohe hot a immer eim Stäppel,
merstenteels aber 'n ganza Heffa.[10]«

»Ich -- ich -- bien -- ganz -- ganz -- un -- un -- gar -- nie -- be
-- suffa,« druxte der Pietschabarg, »aber -- Zotabarg, du -- du bist
-- uffte -- uffte genug -- benabelt.« Olle Barge ei der Schläsing
lachta, und der Zotabarg kriegt 'n ganz verknuchte Bust. A recht's
olla mitnandern ei ganz urnara[11] Ausdrücka vür, wie uffte eim Johre,
daß sie benabelt gewast wär'n. 's war 'n lausige Liternei. Wenn's wohr
is, was dar Karl sate, do sein de schläs'scha Barge 'n ganz versuffne
Klicke. Und was das Schlimmste derbeine ies: die hüchsta Spitza, die
sein am üfftesta eim Nabel, die klen'n Kneppe, die blein viel klorer.
Aber manchmol erwischt se's oo. Sugar 'm frumma Kreuzbarge sate der
Zotabarg nach, a hätte monchmal 'n klen'n Stäbrich[12].

»Aber,« so schluß a, »bei a Monnsbildern is ni asu schlimm, wenn se
sich och manchmol asu recht eihüll'n; wenn sich aber a Froovulk[13]
ei der Wuche drei, vier, fünf, sechs, sieba Mol benabelt, dos ies ane
Offaschande. Und a sittes Froovulk ies äben die Schniekuppe.«

Die Schniekuppe kreeschte ver Wutt.

»Zotabarg,« krächzt' se, »du bist ju a ganz gemeener, urnarer,
geweeniglicher Dingrich. Nu, du tummer Grootsch[14] du! Wos
verstiehst'n du, wie's ei hucha und hichsta Kreesen hargieht? Do is asu
viel Wind und eisige Kälde, doß ma sich monchmol a bisserla eisacka
muß. Muß, du Offe, hierscht es? Aber du warst ju schun immer asu a
aler Stänkerfritze, dar keene Ruh' gab und sich über olles und jedes
die Frasse zerriß. Deswägen hot dich ju och ünser Herrgott aus der
onständiga Sudetenreihe rausgesotzt. Weil du keene Ruhe gibst, do hot a
dich abseits vo olla ganz alleene gesetzt, wie der Schulmeester anne
recht biese Range alleene uff eene Uxabanke[15] setzt.«

A schollendes Gelächter vu olla Barga. Do war sugar der Altvater
ufgewacht, dar schun siehr wacklig und taprig ies und immer eischläft,
eb wos lus ies oder nich.

»Wos -- wos ies denn eegentlich?« fragt a däsig.

»Ach, alter Herr,« sate die würdige Bischofskuppe bei Ziegenhols, »es
ist doch heute wieder die sündige Walpurgisnacht, da machen eben die
Berge Skandal und lästern und führen gemeine Redensarten.«

»Ähähähähä,« dröselte der Altvater. »jajajaja! 's war immer asu -- 's
war immer asu.«

Und wie a das su leise dudelte und mit eem verschlofna Blicke nach seim
Lieblingstöchterla, 'm Heidebrünnel, niber liebäugelte, schlief a och
schunt wieder ei.

Nu zug aber der Schniebarg ei der Grofschaft lus, dar ies nämlich der
Schniekuppe ihr Stiefbruder. Seit a 'n sehr schienes Aussichtstermla
uff semm Kuppe hot, spricht a huchdeutsch.

»Meine Herren,« sat a, »wir lassen uns doch von dem erbärmlichen
Zotenberge nicht produzieren; wir werden ihn einfach aus insem
Gebergsverein nausschmeißen.«

»Nu, du Glotzer Natzla[16], du,« schrie der Zotabarg, »wie sprichst 'n
du? Plombier' dich ock nich! 's heeßt ju gar nich produzieren, 's heeßt
ju profetieren.«

»Provozieren,« ächzte 's gebild'te Huche Rad, »es ist entsetzlich,
unter solchen Banausen zu leben.«

»Ja, ja, Exzellenz,« seufzte die Schniekuppe, »das sag' ich auch. Und
Exzellenz wissen doch, ich bin eine gebildete Frau. Ich verkehre mit
Breslauern, Berlinern, Engländern und sugar Amerrekanern. Und ich
bin patriotisch. Ein König und eine Königin von Preußen sind auf mir
gewäst.«

»Prahl dich nich, tumme Gans,« prillte der Zotaberg.

»Kriegst doch keen'n Orden! Du und patriotisch! Vurna biste preiß'sch
und hinga biste biehmsch[17]. Und die Leute san, deine Hingerseite is
immer noch scheener wie deine Verderfront.«

»Gott, wie unanständig,« sate der Veilchenstein[18], der beim Huchen
Rad immer eim Vorzimmer stieht.

»Halt's Maul, Veilchenstein, du bist a Jude!« schrie der Zotaberg.

»Nu werd a gor noh antersemitisch,« klong's wie a Seufzer vu der
Silberkuppe riber.

»Ja, und du bist och 'ne Judenschickse,« schantierte der Zotabarg uff
die Silberkuppe.

»Judenschickse -- pfui!« sate der frumme Annaberg bei Strehlitz, und
nahm 'n Klusterbitter ver Entrüstung.

»Rummel! Rummel! Rummel! Rummel!« quietschte der Rummelsberg bei
Strählen ver Freede. A ies der reene Kuckuck, a prillt immer sen'n
eegna Nama.

Nu fiel'n de Walmbriger Barge[19] olle über a Zotabarg har: der
Huchwald, der Sottelwald, der Schworze Barg, der Gotshibel, die
Uxaköppe und halt olle. Ar wäre a ganz ormseliger Buschklepper, meenta
se, ar und sei Bruder, der Geiersberg, wär'n die leibhoftiga Satane,
und orme Luder wär'n 's, Blobeermichel, während sie, die reicha
Walmbriger Barge, asu viel Kohle hätta.

»Macht euch nie gruß,« gurgelte der Zotabarg derzwischen, »macht euch
ock ni mausig, daß ihr die Kolik im Bauche habt!«

Iber da faula Witz ging a tuller Skandal lus. Die Schniekuppe wischte
sich mit em Wölkla zwanzigmol hingernander die Nase und fächelte sich
dann domiete, die Uxaköppe drohta mit a Hörnern, der Wulfsberg heulte,
der Fuchsberg ballte, der Schniebarg schmieß ver Bust mit Lawin'n
rim, 's Huche Rad machte sich wie verrückt Notizen, die Pferdeköppe
wieherta, der Veilchenstein jommerte, der Krokonosch schimpfte uff
biehmsch, der Annaberg tronk immerfurt Klusterbitter, der Rummelsberg
prüllte wie tälsch: »Rummel, Rummel,« die Eule tat, als wenn se
sich halbtut schamte, der Huchwald schwur, uff a Summer werd a a
Zotabarg mit Hagelkörnern tutschissa[20] wie mit eener Matrilljese,
der Schworze Berg sah aus wie a wütender Näger, der Sturchberg schlug
mit a Fliegeln, und die hunderttausend Mühlberge ei der Schläsing[21]
klopperta ver Ufregung.

Do kam uff eemol der liebe Herrgott ei seim himmelblooen Mantel aus
seim scheenen Paradiese runder ei die liebe Schläsing und sate:

»Bst! Seid stille! Seid hübsch artig, meine lieba Kinderla! Ihr seid
ju olle su hibsche, schmucke Perschla und Madla[22] ihr mißt euch ni
händeln. Ich bien euch ju olla asu harzlich gutt. Gieht jitzt hibsch
schlofa[23], und wenn ihr murne früh wieder ufstieht, do flecht ich
jedem an lichta, guldna Kranz ei de Hoore. Gieht schlofa, ihr Kinderla,
gieht schlofa!«

Und der liebe Herrgott zug jedem ane weeche, mollige Nachtmütze über
die Ohren. Do worn se gut und stille, sanftmittig wie die Lammla.
Blußig der Knurrkupp vo Zotabarg kunnde sich nich asu plutze beruhigen.
Wie ihm die Nachthaube schun übers Maul wegrutschte, brummelte a
drunder no leise ver sich:

»De Schniekuppe ies doch 'n ale Gake!«




                               Altenroda


                            46.-65. Auflage




                               Altenroda

                Ein Rundgang -- Zugleich eine Ouvertüre


Liebe Stadt, wenn ich dein gedenke, wird mir die Seele ruhig. Dann bin
ich auf eine Weile fort aus dem schrecklichen Leben, das wir nun alle
führen müssen. Wie ein Jüngling erwache ich aus schwerem Schlafe und
schaue in unschuldiges Frühlingslicht.

Wenn ich dein gedenke, Altenroda, dann ist es mir, als sei alles nicht
wahr, das von Leid und Angst, von Enttäuschung und Gram, von den
Toten, die noch leben müßten, vom bösen Kriege und von der Schande des
Vaterlandes, als sei alles nur ein Traum gewesen, so furchtbar, daß das
Erwachen desto tröstender ist.

Du bist noch da, liebes Altenroda! Der Eulenwald schirmt dich noch auf
mit seinen grünen Armen, der Ochsenkopf baut sich noch auf wie eine
trutzige Feste, die Poststraße läuft durch die bunte Aue und auf dem
Flüßchen schwimmen die silberweißen Enten.

Altenroda! Wie mich die Sehnsucht quält, dich wiederzusehen, dir zu
sagen: »Siehe, ich lebe auch noch. Laß mich wieder einmal durch deine
alten Straßen gehen!«

       *       *       *       *       *

Heute wollte ich zu dir hinfahren. Es ist nicht weit. Als ich auf den
Hauptbahnhof meiner großen Stadt kam, standen Maschinengewehre davor.
Irgendwo, auf einer entfernten Gasse war wildes Geschrei. Ein Beamter
kam und sagte, es sei Eisenbahnerstreik; die Züge führen nicht. Traurig
ging ich heim. Ich durfte nicht nach Altenroda.

                   *       *       *       *       *

Deine Kinder bekommen alle das Heimweh, wenn sie von dir ferne sein
müssen -- auch ich habe das Heimweh nach dir. Und wie man nicht nach
Sünden seines Vaters oder seiner Mutter fragt, sondern ihr Bild heilig
und unversehrt im Herzen bewahrt, so mag ich nicht fragen, ob auch
dir, Altenroda, der Krieg die Jugend nahm, ob auch dir die Revolution
das Glück ermordete. Ich sehe dich im Lichte alter Zeit, friedlich und
schön, waldfrisch und heimlich.

Ich kann nicht zu dir, weil die Züge nicht fahren. Aber ich will
mich hinsetzen und alte Erinnerungen an dich aufschreiben. Dann bin
ich bei dir -- in dir. Ich baue mir rasch ein weißes Luftschiff mit
silbernem Propeller, darauf fahre ich zu dir hin im Sonnenscheine unter
dem schweigenden Himmel. Schwalben umzwitschern mich, Störche ziehen
flügelschlagend vor mir her; vom Bienenstocke meines Vaters steigt die
Frau Königin mit ihrem Gefolge auf und bringt mir einen Gruß; dort über
den Bergen des Ostens blinkt schon der frühe Mond.

Es geht über die alte Heimaterde. Der Hahn vom Kirchturme glitzert
herauf, die Wälder wogen tief unten wie blaue Teiche. Wie Fußschemel
sind die Berge; aber ich bin ein Kind, meine Beine sind zu kurz, die
Schemel zu erreichen; sie baumeln in freier Luft. Von unten her singen
Lerchen wie Kanarienvögel, die am Fußboden sitzen. Die Glocken klingen
aus der Tiefe. Kinder sehen mein Schiff, zeigen nach oben und jauchzen.
Sie rufen herauf: »Du! Du! -- Laß mich ein Stückchen mitfahren!«

So fahre ich gen Altenroda.

                   *       *       *       *       *

Von ungefähr greife ich aus der Weste einen Taschenkalender heraus.
Welches Datum haben wir? Den 6. Juli 1913. Aha, das ist mein
vierzigster Geburtstag. Es ist also doch nicht wahr, daß ich nahe der
»50« bin, es hat auch gar keinen Weltkrieg von 1914 bis 1918 gegeben.
Das waren nur böse Träume. Es ist erst der 6. Juli 1913. Der Kalender
muß es wissen.

Gott sei dank! Erst 1913. Nun werde ich in Altenroda mitten in den
Frieden hineintreffen und keine Trauer- und Angstgesichter, wohl aber
die alte deutsche Ehre und das alte deutsche Glück finden.

       *       *       *       *       *

Da ist schon der Gipfel des Ochsenkopfes. Vom Aussichtsturme der
Bergbaude weht die schwarzweißrote Fahne. Es muß wohl ein Festtag
sein, daß sie geflaggt haben. Vom Ochsenkopfe herab hat einmal ein
Köhler eine ganze Stadt zuschanden geraucht -- huhu! Und dort oben sind
jetzt immer die Volksfeste. Am Abhang des Berges stand in alter Zeit
der Galgen; jetzt ist eine lustige Wiese dort. Alle Tyrannen der Welt
werden am Ende lächerlich; auf dem Schindanger grasen die Gänse.

Nun eine Biegung; ich bin über dem Flusse, über der Poststraße, über
der bunten Aue. Links vor mir liegt der meilenweite Eulenwald. Auf der
Straße marschiert junges, buntmütziges Volk. Gymnasiasten sind es, die
in die Ferien wandern. Sie singen, jubeln und -- rauchen. Aha, daher
hatte der Ochsenkopf geflaggt. Die großen Ferien beginnen. Da freut
sich die ganze Stadt mit den Kindern und feiert ein Fest.

Nun der Rathausturm, die Kirchtürme, der Schuldturm, das hohe,
spitzgiebelige Dach der Kranich-Apotheke -- ich bin da!

                   *       *       *       *       *

Ich muß zu allererst nach dem »Goldenen Löwen«, muß mich bei Vater
Speer anmelden. Wie kann er ahnen, daß ich komme?

Er hat es aber doch geahnt, eilt mit entgegen, soweit er mit seinen
zweihundertfünfzig Pfund eilen kann, schiebt das Käppchen auf dem Kopfe
hin und her, lacht und sagt:

»Ich dachte mir's schon. Mit Ihnen geht mir's wie mit dem Wetter. Ich
merke die Ankunft vorher in den Knochen.«

»Wenn's nur kein Reißen ist, Vater Speer.«

»Nö, nö! Das Wetter ist ja sehr schön heute.«

»In Altenroda ist immer schönes Wetter.«

Er lacht sein gutmütiges Meckern.

»Haha, da ist er kaum rein zur Stadt und sagt schon wieder was
Lächerliches. Immer schönes Wetter! Da hätten Sie mal den Sturm am 17.
April erleben müssen. Die halbe Stadt abgedeckt. Da war gerade der
August Stumpe da ...«

»Ach der! Den habe ich neulich den »Tristan« singen hören. Herrlich!«

»Wie er den Christian singt, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß
er am 18. April nach dem Sturme auf die Häuser rauf ist und Dächer
geflickt hat vom Morgen bis in die sinkende Nacht.«

»Ein guter Sänger!« sage ich in Erinnerung an einen schönen
Theaterabend.

»Ein guter Dachdecker,« sagte Vater Speer in Erinnerung an den Sturm.

»Der Stumpe -- so so -- der war da. Ja, die Altenrodaer Kinder hängen
an ihrer Stadt.«

»Gehört sich auch! Nur der Cyrill ist nicht mehr dagewesen. War
wohl doch ein bißchen obenhinaus und konfuse. War ja aber kein
Einheimischer.«

Die Häuser sind mit Fahnen, Girlanden und Tannenreis geschmückt.

»Das ist wohl wegen des Ferienanfangs?«

»Jawohl. Na, es ist doch ein Festtag. Die Schützengilde macht heute
Umzug und abends ist bei mir ›Sommernachtstraum‹ im ›Löwen‹. Früher
hieß es ›italienische Nacht‹. Aber das haben wir abgeschafft; wir sind
ja wohl keine Italiener.«

»Nein, Vater Speer. Sind die Hullah-Araber noch auf dem Gymnasium?«

»Nein, Gott sei dank nicht. Das waren, weiß Gott, die größten
Vagabunden, die wir hier auf der Schule gehabt hatten. Haben im März
alle ihr Abitur gemacht, alle bestanden und sind nun fort nach den
Universitäten.«

»Das freut mich!«

»Mich auch! Und die ganze Stadt freut's! Daß sie fort sind! Das sind,
darauf nehme ich Gift, die Burschen gewesen, die mir zur Nachtzeit
immer die leeren Fässer aus dem Hofe nach dem Marktplatz rollten und
die den Fuhrleuten vor dem ›Löwen‹ die Pferde ausspannten. Und wegen
der Promenadenesel von damals habe ich auch meinen Verdacht. Sie wissen
schon -- wegen Hero und Leander!«

Wir gehen ein Stückchen weiter.

»Der gute Vater Ansorge ist also tot?«

»Leider!« sagt der Löwenwirt düster. »Viel zu früh! Erst siebzig! Er
hat der Stadt sein ganzes Vermögen vermacht.«

»Und +Dr.+ Schicketanz auch?«

»Der auch! Liegen beisammen. Wird sich auch so gehören.«

»O, der Tod!«

»Ja, der Tod!«

Vater Speer spuckt gerade aus, als ob er dem Tod ins Gesicht treffen
wollte.

Im Sonnenschein liegt die Krumme Straße, die ein wenig bergauf
führt. An den Häusern sind Söller und Balkone, vor den Türen stehen
grüngestrichene Bänke. Das Pflaster ist holperig. Selbst Herr
Ansorge, der große Wohltäter der Stadt, hat nicht haben wollen, daß
neumodisches, glattes Pflaster käme. »Solches Katzenkopfpflaster«, hat
er gesagt, »gehört zur kleinen Stadt. Es macht ihm seine Marktmusik.
Ohne Rumpeln kein fröhlicher Markt.«

In den Hausgärten hängen die Kirschbäume voll goldener Fruchtkugeln. In
den zahlreichen Starkästen hausen Sperlinge. Speer weist darauf hin und
brummt:

»Wer in einem Obstgarten Starkästen aufhängt, ist so dumm wie einer,
der in der Vorratskammer Mäusenester anlegt.«

»Aber, Papa Speer, Sie haben ja wohl in Ihrem Garten auch viele
Starkästen?«

»Leider! Die Dummen werden nicht alle!«

Die Leute, die in den Türen stehen oder uns begegnen, reichen uns die
Hände und plaudern mit uns. Man kommt in Altenroda langsam vorwärts.
Mein Gedächtnis wird bewundert, weil ich noch weiß, daß die kleine
Friedel zugleich Scharlach und Diphtherie hatte, und daß +Dr.+
Schicketanz sie rettete, und weil ich mich erkundige, ob der geblumte
Rock sich gut getragen habe, den die Großmutter nach langem Rechnen und
Zaudern um eine Mark und zwanzig Pfennige das Meter gekauft hatte.

Wir kommen am »Weißen Roß« vorbei.

»Wie geht es dem Wirt?«

»Schlecht! Hat zu hohe Preise. 1911er Zeltinger verkauft er die Flasche
für zwei Mark und fünfundzwanzig Pfennige. Das kann kein Mensch zahlen.
Die Gäste verkrümeln sich. Ich habe diesem Roß von Roßwirt gesagt:
›Ich verschenke den Zeltinger für zwei Mark; gib du ihn für eine Mark
und neunzig Pfennige und du hast die Gäste.‹ Er kann's nicht tun, hat
den Wein selber mit zwei Mark in der Hand. Saure Schnauze gehabt beim
Einkauf. Kommen Sie, wir wollen die Konkurrenz was verdienen lassen.«

Wir kehren ein und lassen die Konkurrenz was verdienen. Im Lokal sitzt
ein dürres Männchen mit einer Brille auf der Nase. Es wird von Vater
Speer auffallend schlecht behandelt.

Draußen frage ich: wer der Dürre sei.

»Ach der,« knurrt Speer; »der ist ein schlechter Kerl. Ein Berliner.
Früher ist er Archivrat gewesen, und bei seiner Pensionierung ist er
leider auf den Gedanken verfallen, nach Altenroda zu ziehen. Jetzt
kriecht er auf den Bodenräumen des Rathauses rum, stöbert in alten
Pfarr- und Innungsbüchern und schreibt blecherne Artikel. Wütend sind
wir auf den!«

»Was schreibt er denn?«

»O, der hat zum Beispiel geschrieben, die Stadt Wenighofen sei gar
nicht von unserem Köhler zuschanden geraucht, sondern im Hussitenkriege
+anno+ Vierzehnhundert so und so viel zerstört worden. Denken
Sie, wenn das die Kinder lesen! Das ist, als wenn sich ein Kerl zu
Weihnachten vor die Kleinen hinstellt und ihnen sagt: ›Es gibt gar kein
Christkind; der ganze Plunder, über den ihr euch so freut, ist aus dem
Warenhause.‹ Eine Roheit ist so etwas. Auch die Geschichte vom Meister
Michael und seiner Wunderuhr hat er angezweifelt. Er hat gesagt, das
hätte sich gar nicht bei uns, sondern in Olmütz zugetragen. Er saß bei
mir im ›Löwen‹, als er das behauptete.«

»Was haben Sie denn darauf erwidert?«

»Ach, erwidert hab' ich gar nichts; ich hab' ihn bloß rausgeschmissen.«

Aus der Gerbergasse tönt Kinderlärm. Eine ganze Schar ärmlich
gekleideter Buben und Mädchen tollt dort herum.

»Sehen Sie,« sagte Vater Speer, »drei Viertel von diesen Radaumachern
sind direkte Nachkommen von Paul Distelfink, Enkel oder Urenkel. Na,
Sie kennen ja die Geschichte von Ansorge und Distelfink und der dummen
Emma. Ja, ja, lauter Distelfinken! Wenn das so weiter geht mit dieser
Familie Distelfink, ist Altenroda in sechzig Jahren eine Großstadt.
Und ein Mann wie Ansorge muß sein Leben lang einsam bleiben und erhält
keinen Erben!«

Seit einigen Minuten ertönt Glockengeläute. Nun begegnen wir einem
Leichenzuge; gerade an der Marktecke zieht er an uns vorüber. Vornweg
ein mit schwarzen Schleiern geschmücktes Kreuz, dann etwa vierzig
Schulkinder, die unter Leitung ihres Kantors ein Begräbnislied
singen, hellstimmig, krähend, fidel, als ob es zu einem Schulausfluge
ginge; dann ein blasser, junger Geistlicher, der in einem Gebetbuche
liest, vor ihm rotbäckige Ministranten mit Weihbrunnen und Rauchfaß,
äußerlich würdig, aber die Augen rechts und links werfend; dann der
Sarg, von sechs Männern getragen, denen die Zylinderhüte schief
auf dem Kopfe sitzen und die Zitronen in der Hand tragen; dann
schwarzgekleidete Leidtragende und zuletzt viel Volk. Die meisten Leute
des Trauergefolges machen gleichgültige Gesichter; manche schwätzen
miteinander.

»Der alte Kesselschmied Mentke,« flüstert mir Speer zu. »Dreiundachtzig
Jahre alt. Der Tod war eine Erlösung.«

Einem Begräbnisteilnehmer ist sein Hund nachgelaufen gekommen, ein
schöner Dobermann. Umsonst versucht der Mann, durch zischelnde, zornige
Befehle, durch Drohen mit dem Regenschirme oder scheinbares Aufheben
eines Steines das Tier zur Rückkehr zu bewegen. Er erreicht nur, daß
sich der Dobermann als Letzter dem Trauerzuge anschließt.

Vater Speer und ich haben unsere Häupter entblößt, als der Sarg
vorbeigetragen wird, und gehen nun langsam auf dem Bürgersteige
mit, begleitet von einer Kinderschar. Eine Arbeiterfrau gibt ihrem
Sprößling, der seinen Reifen neben dem Sarge hertreibt, eine gewaltige
Ohrfeige. So geht der Schlingel jetzt bitterlich weinend, die
schmutzigen Fäustchen in die Augen gebohrt und den Reifen um den Hals
gehängt neben dem Sarge her als der Betrübteste im Zuge.

Alle Türen öffnen sich. Käufer und Verkäufer treten aus den Läden und
entbieten dem toten Kesselschmiede einen letzten Gruß. Nur der Barbier
mit seinem Streichriemen und seinem eben eingeseiften Kunden hätten
sich lieber nicht in der Türe zeigen sollen.

Von der Berliner Straße her, die am anderen Ende des Marktplatzes
mündet, tönt schmetternde Musik. Die Schützengilde marschiert an;
die Kapelle spielt einen wirbelnden Marsch. Plötzlich bricht die
Musik ab. Der Kapellmeister hat den Begräbniszug erblickt. Er spricht
leise auf die Musiker ein, und als der Sarg vorbeigetragen wird, läßt
er, ein Protestant, ob es auch ein katholisches Begräbnis ist, den
herrlichen Choral spielen: »Meinen Jesum lass' ich nicht; Jesus wird
mich auch nicht lassen«. In strammer militärischer Haltung steht die
Schützengilde und die Fahne senkt sich vor dem alten Kesselschmiede.

Als der Zug schon um die nächste Biegung und nichts mehr davon zu sehen
ist, steht die Gilde immer noch da. Der Kapellmeister überlegt, wie er
in die so jäh unterbrochene Freudenstimmung musikalisch zurückfinden
könne. Etwas Lustiges muß es wieder sein; denn dafür ist Schützenfest;
aber es soll doch an das eben gehabte ernste Erlebnis angeknüpft, etwas
Schickliches zur Überleitung gefunden werden. So läßt der Kapellmeister
spielen: »Muß i denn, muß i denn zum Städele hinaus« und dann in die
Hohe Gasse nach dem »Löwen« einbiegend: »Freut Euch des Lebens, weil
noch das Lämpchen glüht ...«

Da habe ich wieder ein echt Stück Altenroda erlebt. Es ist nichts,
was mich an diesem Leichenbegängnis mit seiner Mischung von Wehmut,
Feierlichkeit und Humor gestört hätte. So ist Altenroda, so ist
schließlich das ganze Leben -- neben den Särgen der Alten treiben die
Kinder ihre Reifen, blasen die Musikanten.

Ich denke daran, daß der alte Mentke nun für immer zum Städele hinaus
muß, in dem er über acht Jahrzehnte lebte. Glückliche Reise in die
große Ferne! Alter Mentke, gelt, es war schön in Altenroda!

Mein Begleiter Speer räuspert sich.

»Weiß der Himmel,« sagt er, »wenn ich ein Begräbnis gesehen habe, muß
ich immer was trinken. Es ist mir stets nicht ganz lauter um den Magen.
Gehn wir mal zum Apotheker.«

Dazu bin ich gern bereit. Der Apotheker ist mein Freund seit langem. Er
ist einer der angesehensten Bürger, in vielerlei Wissen erfahren, sehr
musikalisch, als Sänger kunstgerecht ausgebildet, etwas streitsüchtig,
aber im ganzen eine goldene Seele. Über der Tür seiner Apotheke funkelt
ein goldener Kranich, das hochgiebelige Haus ragt stattlich in die
Luft. Hinter dem Geschäftsraume der Apotheke ist eine Trinkstube, die
der Apotheker, der von Hause aus Oberösterreicher ist, den »Giftgadern«
nennt. »Gadern« ist ein durch ein »Gatter« abgeschlossener Raum.

Der Apotheker mich sehen, an der Hand fassen und in den Gadern ziehen,
das geschieht alles in Sekunden.

»Freut mich, Sie zu sehen!« oder auch nur »Guten Tag!« sagt er nicht.
Er hält das für selbstverständlich und haßt Phrasen, die ja meist doch
rein gar nichts bedeuten.

Der Giftgadern der Kranich-Apotheke zu Altenroda ist -- glaube ich
-- eine der verrücktesten Trinkstuben der Welt. Ein Panoptikum.
Einmal ist einer, der im Gadern auf einem Sofa über Nacht blieb und
in bleichem Mondlichte aufwachte, in Schreikrämpfe verfallen. In
einer Ecke steht ein Totengerippe. Daneben hängt auf der einen Seite
das Bild einer alten Zigeunerin, auf der anderen ein Gemälde, das
ein hoch talentierter futuristischer Maler gestiftet hat und das die
»Maul- und Klauenseuche« darstellt. Ich glaube, daß dieses Gemälde das
Allerschrecklichste im Giftgadern ist; wer es angeschaut hat und bei
gesunden Nerven geblieben ist, erschrickt vor nichts mehr im Leben.
In einer anderen Ecke steht ein Ritter in Originalrüstung. Auf seinem
Schilde ist eingraviert: +Qui bene bibit bene dormit, qui bene dormit
non peccat, qui non peccat venit in coelum, item qui bene bibit venit
in coelum.+ (Der Archivar aus Berlin hat diese Inschrift als eine
nachträgliche Fälschung erklärt und darf daher nicht mehr in den Gadern
kommen.)

Die Wände sind bis an die Decke mit Bildern, Konsolen, Urnen,
Kriegstrophäen bedeckt, alles in erstaunlichem Durcheinander, so
daß eine Karikatur Napoleons I. neben dem Bilde einer neuzeitlichen
Berliner Theaterdiva hängt und eine (auch vom Archivar angezweifelte,
aber trotzdem echte) Tabaksdose Friedrichs des Großen auf einer
Konsole neben einem in ein ganz modernes Glaskästchen eingeschlossenen
Bleistiftlein liegt, mit dem der Dichter Geibel angeblich das schöne
Lied: »Der Mai ist gekommen« geschrieben haben soll.

»Ordnung,« sagte der Apotheker, »ist in einem Giftgadern nicht zu
fordern. Außerdem, wer sollte auch Zeit und Lust genug haben, hier
Ordnung zu machen? Wem's nicht paßt, der bleibt draußen.«

Der Mann hat recht: die Erde und ihre Zeit und ihr Raum sind winzig wie
ein Stäublein, das im Winde fliegt. Homer und Geibel sind Zeitgenossen,
Altenroda und Peking liegen dicht beieinander.

Im Giftgadern sitzen drei Männer, alte Bekannte von mir. Keiner läßt
sich durch meine Ankunft in der Unterhaltung stören.

Denn das hat der Apotheker heraus: nichts stört in einer Gesellschaft
mehr, als das ständige »Guten Tag« und »Ade« sagen. Sitzen Leute
zusammen und unterhalten sich gerade gut, kommt ein neuer hinzu, reicht
jedem die Hand: »Guten Tag, Herr Schulze!« -- »Guten Tag, Herr Müller!«
-- »Guten Tag, Herr Lehmann!« -- so hat er mit seinem nichtssagenden
Grüßen die Unterhaltung gestört, das feine Geflecht der Behaglichkeit
zerrissen. Und sind die Maschen wieder geschlungen, steht einer auf,
reicht jedem die Hand und sagt: »Gute Nacht, Herr Müller!« -- »Gute
Nacht, Herr Schulze!« -- »Gute Nacht, Herr Lehmann!« so ist er allen
durch die Unterbrechung lästig. Sinn und Zweck hat so etwas nicht.
Im Giftgadern hängt an einer Strippe eine Hand herab, die in feinem
Glaceleder steckt. Wer kommt, schüttelt diese Hand (soll für alle
heißen: »Guten Tag!«), wer geht, schüttelt die Hand (heißt für alle
»Auf Wiedersehen!«). Oben an der Strippe ist ein Läutewerk, das bimmelt
leise bei Ankunft und Abgang.

Ich stehe nun da und schüttele die künstliche Hand. Der Apotheker neben
mir fragt:

»Nun, was ist zuerst gefällig: Mundwasser, Gurgelwasser oder
Zahntropfen?«

»Zahntropfen!« sagt mein Begleiter Speer. »Hab's Begräbnis mitmachen
müssen, da ist mir nicht lauter um den Magen.«

»Dreimal Zahntropfen!« ruft der Apotheker in die Apotheke hinaus, und
es erscheinen drei Gläser Kognak. Hätte er »Gurgelwasser« bestellt, so
wäre Bier gekommen, bei »Mundwasser« aber Wein. Der Apotheker hat diese
Decknamen eingeführt, weil er seine Reputation wahren muß. Wenn er eine
Bestellung aus dem Giftgadern hinausruft in die Apotheke, dann muß das
einen pharmazeutischen Anstrich haben, damit die Kunden draußen kein
Ärgernis nehmen.

Allerhand Fallen sind im Giftgadern. Wer so kindisch ist, an dem Seile
der kleinen Glocke zu ziehen, die an der Wand hängt (und fast jeder
Neuling ist so kindisch!) der zahlt eine Auflage, ebenso, wer auf
der Laute klimpert, die daliegt (und fast jeder Neuling klimpert).
Auch muß der, welcher sich auf einen Hocker setzt, der ein verkapptes
Musikinstrument ist und »Trink'n wir noch ein Tröpfchen« spielt, diese
hinterlistig erpreßte Aufforderung wahr machen.

Beileibe keine Nebberei! Einen gastfreundlicheren Wirt als den
Apotheker gibt es in ganz Europa nicht. So darf zum Beispiel der,
der das erste Mal in den Giftgadern kommt, für seine Zeche überhaupt
nichts bezahlen. Niemand hat dieses »Recht des ersten freien Tages«
mißbraucht, jeder ist wiedergekommen und hat sich »revanchiert«.

Nur einer hat es anders gemacht. Der ist in Abwesenheit des Apothekers
in den Giftgadern gekommen, hat einmal, zweimal, dreimal gut gegessen,
siebenmal gut getrunken, feine Zigaretten verlangt, hat dann gesagt:
»Ich bin das erste Mal hier, also zahle ich nichts, danke bestens!
Mahlzeit!« ist gegangen und nie wieder gekommen. Das war ein Berliner.
Selbstverständlich war das ein Berliner!

Sechs Wochen lang hat ganz Altenroda auf diesen »Schmierfink« von
Berliner geschimpft. In der siebenten Woche kam ein Brief aus Berlin:
»Nachdem jetzt wohl genug auf den Berliner geschimpft worden ist, zahlt
er seine Schuldigkeit.« Schickt der Mann den Betrag seiner Zeche und
ein hochanständiges Trinkgeld dazu für die Bedienung. Ganz Altenroda
war betroffen. Ganz Altenroda schämte und ärgerte sich und schimpfte
dann aufs Neue auf den Berliner, der eine angebotene Gastfreundschaft
bezahlt hatte.

»Das können Sie glauben,« sagte Vater Speer damals zu mir, »Berlin ist
eine Stadt von lauter Lauseigeln.« Ich wagte nichts zur Verteidigung
der Berliner zu sagen, dazu bin ich Vater Speeren gegenüber zu
furchtsam. Und dann hatte ich die ganze Geschichte selbst mit erlebt,
hatte selber mit geschimpft und war dann ob des Benehmens des Berliners
auch selbst mit »betroffen« gewesen.

Mein herrlicher, nun verewigter Freund Ansorge sagte damals milde:

»Man soll nie schimpfen; denn erstens hat es keinen Zweck, zweitens
steht es einem schlecht zu Gesichte, und drittens ärgert man sich
hinterher immer darüber, daß man sich geärgert hat.«

Ja, ja, lieber, ehrwürdiger Freund, solltest halt noch leben! Solltest
nicht zu den Toten gegangen sein. Solltest jetzt wie einst mit im
Giftgadern sitzen. Da würdest du mild auf die Freunde einwirken, die
auf den Archivar schimpfen, der aus Berlin gekommen ist und sich
ungehörig um die Geschichte der Stadt Altenroda kümmert.

Sie freuen sich doch, die alten Kumpane, daß ich gekommen bin. Sie
fragen natürlich nach vielem aus der großen Stadt. An die Großstadt
denken sie oft mit einem Schauer wie an ein sündiges Babel und haben
bei diesem Schauer immer eine heftige Sehnsucht, hinzufahren. Das ist
halt so.

Es werden wirtschaftliche Fragen erörtert. Die Bauern wuchern
neuerdings furchtbar, wird mir geklagt. Für ein Pfund Butter haben sie
eine Mark und dreißig Pfennige verlangt, für ein Ei nehmen sie, ohne
vor Scham in die Erde zu sinken, acht Pfennige. Da kann sich ja auch
ein begüterter Mann zum Frühstück nicht mehr seine drei Eier gönnen.
Der Hering kostet zwölf Pfennig, Schweinefleisch ohne Knochen schon
neunzig! Traurige Zeiten!

Der Zentner Kohle gilt eine Mark und zwanzig Pfennige. Die Bergleute
werden immer frecher. Ein achtzehnjähriges Dienstmädel verlangt
mir nichts dir nichts fünfzehn Mark pro Monat und jeden zweiten
Sonntag frei; die Schullehrer wollen mit eintausendfünfhundert Mark
Jahreseinkommen nicht mehr zufrieden sein. Ja, wohin soll denn das noch
führen?

»Ach,« sagt der Apotheker, »wir sitzen in einem Schlaraffenlande; wir
wissen's bloß nicht!«

»Sie vielleicht,« höhnte der Kaufmann Nerlich, der das größte
Kolonialwarengeschäft in der Stadt hat. »Wissen Sie, was ich im vorigen
Jahre für Einkommensteuer hab' zahlen müssen? Vierundachtzig Mark! Wo
soll man denn das hernehmen?«

»Aus der Kasse!« sagt Vater Speer pomadig.

Nerlich wird wild.

»Ja, Sie haben leicht in die Kasse zu greifen, wo Sie für den Kognak
fünfzehn Pfennig und für die Zigarre zehn Pfennig nehmen. Was da
bleibt! Und die Portion Mittagessen fünfundsiebzig Pfennig, hehe, feine
Sache!«

»Ihnen geb' ich Rabatt,« sagt Vater Speer.

Wenn sich die Stimmung so zuspitzte, schrie der Apotheker allemal in
die Apotheke hinaus:

»Zahntropfen!«

Die besänftigten nicht nur die Zähne, sondern auch die Gemüter. Aber
nicht lange. Die Bürger von Altenroda lieben es zu streiten, eine
Eigentümlichkeit, die man in deutschen Landen des öfteren antreffen
kann. Es ging bald wieder los. Nerlich erhitzte sich aufs neue.

»Was das jetzt auch für eine Schlamperei mit der Eisenbahn ist! Gestern
wollte ich meine Schwiegermutter abholen. Muß ich doch geschlagene acht
Minuten auf dem Bahnhofe warten. Soviel hatte der Zug Verspätung! Ist
das nicht unerhört?«

»Na,« sagte der Apotheker, »wenn sich die Schwiegermutter um acht
Minuten verspätet hat, dann schreiben Sie doch an die Bahn einen
Dankbrief.«

Nerlich trank sein »Gurgelwasser« aus.

»Schwiegermutter hin, Schwiegermutter her. Über solch ernste Sachen
soll man nicht spotten. Ordnung muß sein im Lande! Ordnung! Und Recht
und Billigkeit! Und das ist nicht mehr in Deutschland.«

Er stand auf, schüttelte die lederne Hand, die an der Decke hing, und
verschwand.

Schweigen. Jeder grübelte, ob er nun in einer schlechten oder
erträglichen Zeit lebe.

Der Apotheker und Vater Speer fanden das Leben anno 1913 »erträglich«.

Der Apotheker sagte zu mir:

»So, was man arme Leute nennt, das mag's bei Ihnen in der Großstadt
geben, bei uns nicht. Hungern kennt hier keiner, Frieren auch nicht.
Wär noch schöner! Luxus, na ja, das ist nicht, aber was sein muß,
ist da! Bei uns kann jeder achtzig Jahre alt werden, wenn's ihm der
Herrgott von Geburt aus mit in die Knochen gegeben hat, und wenn er
seinen Lebensbrennstoff nicht selbst verliedert hat.«

Er ging zu einer riesigen Tonurne, die eine Ausgrabung war und die
Asche eines Menschen enthielt, der vor zweitausend Jahren starb. Neben
der Urne stand ein Grammophon. Von diesem ließ der Apotheker das
Deutschlandlied spielen.

                   *       *       *       *       *

Eine kleine Welt ist Altenroda. Aber die ganze Welt ist klein; Paris
und Berlin sind Nester wie Altenroda. Die größten Spießer sind unter
denen, die das Spießertum verachten. Außer der Liebe ist nichts Großes
auf der Welt. Es gibt keine großen Reiche, keine große Kunst, keine
großen Männer. An solche Dinge glauben nur Knirpsgehirne. Selbst die
Sonne ist nur ein Flimmerchen. Über ein paar kleine Differenzen,
wie etwa zwischen Goethe und einem Stallknecht, sollte sich niemand
aufregen; beide -- Goethe und der Stallknecht -- sind ganz klein, der
eine ein bißchen kleiner als der andere.

Groß allein ist die Liebe, die der Odem Gottes ist. Sie läßt uns das
Winzige groß sehen, so daß wir selbst ein Käferlein im Sonnenlichte mit
seligem Entzücken zu betrachten vermögen und mit heimlichem Schaudern
zusehen, wie ein gewaltiger Sperling ein Würmchen auffrißt, oder -- wie
ein Reich durch ein anderes zugrunde gerichtet wird.

»Sie spintisieren!« sagt Vater Speer, da wir über den Marktplatz gehen.
»Was ist los?«

Ich sage ihm etliches von dem, was ich eben gedacht habe.

Speer schüttelt den Kopf.

»Wegen der paar Zahntropfen braucht man ja nicht gleich auf solche
Gedanken zu kommen.«

So sagt er und grüßt gleicherzeit devot nach dem Bürgersteige
hinüber, wo der Herr Major daherschreitet, der Kommandeur des hier in
Garnison liegenden zweiten Bataillons des xten Infanterieregiments,
Feldmarschall Graf von Kunsewitz.

»Haben Sie gesehen, wie freundlich der Major gedankt hat?« fragte Vater
Speer. Er strahlt. Das Offizier-Kasino ist in seinem »Löwen«. Es bringt
zwar bei den Vorzugspreisen, die die Herren Offiziere genießen und bei
den Ansprüchen, die sie machen, nicht viel ein. Aber die Ehre, man
denke, die Ehre! Der Herr Major hat auf Speers Gruß nicht nur gedankt;
er hat direkt mit dem Kopfe genickt. Das tut sonst beim Grüßen kein
Offizier. Beim Militär nickt man nicht mit dem Kopfe. Das sah beinahe
wie Vertraulichkeit aus. Vater Speer strahlt.

Es sind halt doch große Differenzen zwischen den einzelnen Menschen.
Meine Gedanken von vorhin ... Nun, lassen wir es!

                   *       *       *       *       *

Was ist das?

Jemand kommt und sagt: es sei spät in der Nacht; das Schießen auf der
Straße habe nun aufgehört; es sei Zeit, schlafen zu gehen; auch wäre
der Ofen kalt geworden.

Schießen?

Ich habe nichts gehört.

Und Feuer im Ofen?

Eben hat sich Vater Speer mit einem bunten Schnupftuch den Schweiß von
der Stirne gewischt.

Aha -- die täuschen sich; die denken, ich sei in Breslau, es sei Winter
und Revolte.

Sie täuschen sich. Ich bin in Altenroda; es ist ein friedlicher
Sommertag -- der 6. Juli 1913 -- mein vierzigster Geburtstag.




                      Vom Musikleben in Altenroda


In friedlicher Zeit, als die Menschen noch nicht so von politischen
Ängsten und Leidenschaften zerrüttelt waren, hatten sie Muße, das Leben
mit Behaglichkeit zu genießen und sich mit allerhand schönem oder
vergnüglichem Nebenwerk das Dasein zu erheitern. Allenthalben blühten
Liebhaberkünste, insonderheit wurde gern gesungen, und so war es auch
in der Stadt Altenroda.

In dieser Stadt gab es drei Gesangvereine: einen vornehmen, einen
weniger vornehmen und einen gar nicht vornehmen, alles hübsch geordnet
nach Stand und Einkommen.

Singen konnten alle drei Vereine nicht; aber sie bildeten sich ein, daß
sie es könnten. Ihr Publikum, das zumeist aus Verwandten und Bekannten
bestand, klatschte Beifall, wenn sie ein Konzert gaben, und so war
alles in schöner Ordnung.

Der Apotheker jener Stadt aber, der ein gewaltiger Bassist war und
den »Schwarzen Walfisch zu Askalon« oder den »Grafen von Rüdesheim«
so machtvoll vortragen konnte wie kaum ein anderer Mensch, warf
sich auf die kritische Seite und störte, wie alle Kritiker, die
künstlerische Ruhe und das Behagen der Sängerwelt. In dem vornehmsten
Gesangvereine, dem er selbst angehörte, der »Harmonie«, krittelte der
Apotheker ständig, war bei den Proben nie zufrieden und wollte immer
alles anders »aufgefaßt« und bis zur Endlosigkeit wiederholt wissen.
Dadurch machte er sich unbeliebt und wurde bei der Generalversammlung
nicht mehr in den Vorstand gewählt, weshalb er aus dem Vereine
ausschied und diesen der mächtigsten Grundsäule des Basses beraubte.
Aber auch mit dem zweitvornehmsten Vereine, dem »Kirchenchor«,
verfeindete sich der Apotheker. Als bei dem zwanzigsten Konzert, das
er in diesem Vereine erlebte, abermals »Der Herr ist mein Hirt« und
»Hebe deine Augen auf« auf dem Programm standen, gähnte der Apotheker
bei einer Pianissimostelle so laut und schmerzlich, daß die ganze
Zuhörerschaft in Lachen ausbrach, wodurch die feierliche Liedwirkung
sehr beeinträchtigt wurde. Der Dirigent des Kirchenchores war so
böse auf den Apotheker, daß er, als er sich bald darauf einen Finger
beschädigte, mit der Eisenbahn nach einer Nachbarstadt fuhr, um dort
ein Schächtelchen Salbe einzukaufen, da er den Apotheker nichts mehr
verdienen lassen wollte.

Ganz und gar verschüttet aber hatte es der Apotheker mit dem dritten
Gesangverein, welcher »Frohsinn« hieß. Er hatte öffentlich behauptet,
dieser Verein müsse nicht »Frohsinn«, sondern »Verzweiflung«
genannt werden; seine Mitglieder gehörten samt und sonders in die
Korrektionsanstalt.

Einige Frohsinnsmänner, die über solche Kritik verdrossen waren,
brachten darauf dem Apotheker fast allabendlich ein Ständchen, dessen
Text nur eine einzige Zeile hatte: »Es war einmal ein Apotheker«,
dessen Musik aber die Textworte fugenartig auseinanderzog, zum
Beispiel: »A-a-po-po-the-the-ker-ker«. Der Apotheker war rasend über
diese »Sauerei«, wie er es nannte, konnte es aber nicht hindern, daß
sich immer wieder einige Mitglieder des »Frohsinns« vor seiner Haustür,
über der als Firmenbild ein goldener Kranich war, aufstellten und im
Liede beteuerten, daß einmal ein »A-a-po-po-the-the-ker-ker« war. Die
Fuge über dieses eine Wort war ungefähr eine Viertelstunde lang, worauf
die Sänger, wenn sie nach dem endlosen Gestammle das Wort »Apotheker«
am Schluß doch glücklich und im Zusammenhange herausgebracht hatten,
sich vor dem goldenen Kranich artig verneigten, gleich als hätte der
Beifall gespendet, und ihrer Wege gingen.

Solche Dinge können ja einem Biedermanne und Kunstkenner das Leben
verbittern ...

Seit einigen Wochen lebte in Altenroda ein junger Mann namens Cyrill
Dietrich. Die Leute hielten ihn für überspannt. Schon seine Eltern
mußten nicht ganz gescheut gewesen sein, sonst hätten sie ihn doch
lieber Max oder Kurt oder auf sonst einen vernünftigen Namen, aber
nicht Cyrill getauft. Cyrill war früher Postsekretär gewesen; aber er
hatte -- wie sich der Apotheker im Bilde ausdrückte -- die Marken an
die Wand geklebt, war nach Berlin gegangen, hatte dort Musik studiert
und schließlich sein Examen glänzend bestanden. Eine Stelle als
Kapellmeister hatte Cyrill bis dahin aber nicht gefunden, wenigstens
keine, die er anzunehmen geneigt war; denn er hielt viel von sich
selbst und schrieb zurzeit an einer Oper, zu der er sich den Text
selber dichtete. »Ganz wie die beiden Wagner, Vater und Sohn,« sagte
der Apotheker, der einzige, der den jungen Mann ernst nahm, weil er
in ihm außer sich selbst den einzigen musikverständigen Menschen von
Altenroda erblickte.

Cyrill benahm sich sehr hoffärtig. Der Frau Bürgermeister, die ihm
angeboten hatte, ihrer siebzehnjährigen Else »fortgeschrittenen
Klavierunterricht« zu erteilen, wofür eine Mark und fünfundzwanzig
Pfennige die Stunde gezahlt werden sollten, hatte Cyrill einen
höhnischen Absagebrief geschrieben. Darauf hatte die Frau
Fabrikbesitzer Strümpel, die mit der Bürgermeisterin verfeindet war,
Herrn Cyrill Dietrich sechs Mark für die Stunde angeboten, wenn er
ihre Tochter Thea unterrichten wollte. Cyrill antwortete, wenn er
kein Geld mehr haben werde, wolle er sich bei Herrn Strümpel um eine
Stelle als Fabrikarbeiter bemühen, keinesfalls aber dem Fräulein Thea
Klavierunterricht geben.

Darauf sagten die Leute in Altenroda, Cyrill sei ein Grobian. Nur der
Apotheker lobte ihn und nannte ihn einen Charakter.

Jedenfalls hatte sich Cyrill, was seine musikalischen Fähigkeiten
und Kenntnisse anlangte, in Respekt gesetzt. Als die »Harmonie« ihr
nächstes Konzert gab, räusperte sich ihr Dirigent verlegen, als er
Herrn Cyrill im Saale auftauchen sah, und alle Vereinsmitglieder sagten
sich im stillen: Heute heißt es aber sich zusammennehmen und das Beste
bieten.

Cyrill hörte sich nur die erste Nummer des Konzerts an, dann verließ er
behutsam und mit betroffenem Gesichte den Saal.

»Der hat genug!« sagte der Apotheker ziemlich laut, was ein Kichern,
aber auch ein verärgertes »Pst! Pst!« zur Folge hatte. Die Sänger auf
dem Podium machten erboste Gesichter und es war, als läge ihnen gar
nichts mehr daran, weiterzusingen.

Am nächsten Tage suchte der Apotheker Herrn Cyrill auf. »Sie haben
gestern das Konzert der ›Harmonie‹ ostentativ verlassen. Das war nicht
mehr als recht und billig.«

»Ich wollte die Leute nicht kränken,« erwiderte Cyrill sanft; »ich
hielt es nur nicht länger aus.«

»Kann ich mir denken, mir denken! Die Leute haben keine Ahnung vom
Singen.«

»Nein,« sagte Cyrill noch sanfter.

»Keine Ahnung von Tonbildung oder richtiger Atmung oder Dynamik. So zum
Beispiel singen sie:

    ›~Stüll ruht da Söö,
    Die Veeglein schlafähn,
    Ein Flistarn nua, du merkst es kahum.~‹

Und bei ›Flistarn‹ brüllen sie wie die Stiere. Dabei soll man das
Flüstern kaum merken. Ich danke!«

Cyrill lächelte nur schmerzlich.

»Herr Cyrill Dietrich,« nahm nun der Apotheker einen großen Anlauf,
»ich bin gekommen, Ihnen einen Vorschlag zu machen, beziehungsweise
Ihnen eine Bitte zu unterbreiten. Es ist eine Schande, daß das
Musikleben Altenrodas so trostlos daniederliegt. Altenroda ist
doch immerhin eine ansehnliche Stadt: Landratsamt, Gymnasium,
Fabriktätigkeit, neuerdings sogar Garnison. Also da muß etwas
geschehen. Ich hatte mir nun die Sache so gedacht, daß die vier besten
Stimmen hier am Ort zu einem Quartett zusammentreten würden: Sopran,
Alt, Tenor und Baß, daß Sie, Herr Kapellmeister, die Direktion und vor
allen Dingen die Ausbildung des Quartetts übernehmen. Dann würde den
Banausen hier endlich einmal klar werden, was singen heißt.«

Der Apotheker machte eine Pause und wartete auf eine Antwort. Er
wartete vergebens. Cyrill sah ihn nur düster an. So würde Beethoven
ausgesehen haben, wenn man ihm zugemutet hätte, auf einem Jahrmarkte
Musik zu machen. Nach einer Weile aber öffnete Cyrill doch die Lippen
und sagte mit müder, schleppender Stimme:

»Herr Apotheker, ich werde Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Es
war einmal ein Kanarienvogel, dem ging es ganz gut in seinem Bauer;
denn er war in der Gefangenschaft geboren. Dann aber kam er in eine
Stadtwohnung, wo in dem Zimmer über ihm Gesangunterricht erteilt wurde.
Nach drei Wochen war der Kanari tot. Er war nämlich leider musikalisch
gewesen. Verstehen Sie, er war musikalisch gewesen, der arme Kanari!
Es ist ein Unglück, musikalisch zu sein, Herr Apotheker; man leidet
schrecklich darunter!«

Solch abgrundtiefer Hochmut ging nun dem Apotheker doch über die
Hutschnur; er erhob sich also von seinem Stuhle und sagte:

»Nun, Herr Kapellmeister, da scheine ich ja mit meinen Bestrebungen bei
Ihnen kein Glück zu haben. Ich möchte nur das eine wissen, ob Sie nicht
auch mal Unterricht haben mußten, oder ob Sie schon als Meister vom
Himmel gefallen sind.«

Cyrill sah ihn ganz verdutzt an und brachte nur zwei Worte heraus:

»Ja -- ich!«

»Ja -- Sie -- Sie!« grollte der Apotheker. »Woher wissen Sie denn, ob
die vier, von denen ich sprach, nicht ebenso musikalisch sind wie Sie
und Ihr verstorbener Kanarienvogel?«

Cyrill staunte über den Apotheker. Dann ging ein Lächeln über seine
Züge, als dächte er bei sich: was für seltsamen Aberglauben gibt es
doch in der Welt. In Altenroda soll es Leute geben, die so musikalisch
sind wie ich. Dieser Gedanke erheiterte Cyrills Gemüt so, daß er fragte:

»Ich möchte wohl wissen, wer diese großen Talente sind.«

Der Apotheker kam ein wenig in Verlegenheit.

»Nun, nun,« sagte er, »ich will ja nicht zuviel behaupten; aber was
das Stimmaterial anlangt, so ist schon alles da, was notwendig ist.
Da ist zunächst die Tochter von unserem Kirchendirigenten. Hat einen
prachtvollen Sopran -- lerchenklar! Technik hat sie keine. Sie kann
nicht piano ansetzen und hat keine Zwerchfellatmung. Atmet einfach
durch die Lungen. Das ganze Korsett wackelt, wenn sie singt.«

»Sie wissen etwas von Zwerchfellatmung?« fragte Cyrill mit einigem
Respekt.

»Ach, ich weiß wohl dies und das,« fuhr der Apotheker fort.
»Also Fräulein Liesel Tilgner wäre der Sopran. Ihr Vater kann
mich nicht ausstehen und ich ihn nicht. Aber die Kunst steht
über allem Persönlichen. Dann käme der Tenor. Er ist von Beruf
nur Dachdeckergehilfe. Aber war nicht der große Wachtel früher
Droschenkutscher? Und Slezak, wenn ich nicht irre, Schlossergesell?
Unser Tenor heißt August Stumpe (der wird sich ja wohl ein Pseudonym
beilegen müssen; denn ›Stumpe‹ klingt nicht). Stumpe hat eine
strahlende Höhe. Das +H+ mühelos und crescendofähig. Mittellage
etwas rauh. Schade, daß er ein windiger Hund ist.«

»Tenöre sind immer windige Hunde; das gehört dazu,« sagte Cyrill, den
die Sache zu interessieren begann.

»Ja, deswegen braucht einer aber noch nicht dem Verein ›Frohsinn‹
anzugehören und vor meinem ehrsamen Hause Schweinereien zu singen.
Aber, wie gesagt, die Kunst steht über dem Persönlichen.«

Damit schloß der Apotheker plötzlich seine Rede. Cyrillen interessierte
nun die Sache wirklich. Durch sein Hirn war der Gedanke geblitzt: Wie
wäre es, wenn ich hier ein Talent entdeckte, ihm die erste Ausbildung
gäbe und dann einem Direktor damit unter die Nase führe? Mein Weg als
Kapellmeister wäre gemacht.

»Wer sind nun die beiden letzten, der Alt und der Baß?« erkundigte er
sich.

Abermals kam der Apotheker in Verlegenheit.

»Ich spreche nicht gern von mir selbst und meiner Familie, es sieht
leicht nach Dünkel und Selbstlob aus. Und ich kann es in den Tod nicht
ausstehen, wenn jemand eingebildet ist. Echte Talente sind bescheiden.«

Cyrill schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, nur die Lumpe sind bescheiden. Das wußte schon Goethe! Wer
was kann, weiß das auch.«

»Also,« atmete der Apotheker schwer auf, »der Alt wäre meine Tochter
Sabine, und der Baß wäre ich.«

In Cyrills Miene trat eine gewisse Säure. Zwei Talente in einer
Familie schienen ihm von vornherein verdächtig. Aber da ihn, wie
schon wiederholt gesagt wurde, die Sache interessierte, forderte er
den Apotheker auf, ihm doch etwas vorzusingen, und wies mit einer
Handbewegung nach einem alten gelben Piano, das der Tante Cyrills
gehörte, bei welcher der junge Künstler wohnte.

Der Apotheker wurde bei der Aufforderung, zu singen, rot wie eine
Pfirsichblüte. Aber er erhob sich mutig und sagte:

»Wie ich schon auseinandersetzte, Herr Kapellmeister, an Technik
fehlt's. Man weiß, wie es sein soll, aber man kann's nicht!«

»Das ist so wie bei den Kritikern,« warf Cyrill ein.

»Richtig!« stimmte der Apotheker bei, der ein unsinniges Herzklopfen
verspürte. Kurz erwog er, ob er den »Schwarzen Walfisch«, den »Grafen
von Rüdesheim« oder »Es liegt eine Krone im tiefen Rhein« vortragen
solle. Er entschloß sich für das letzte, hochberühmte Lied, da in
diesem seine Gefühlswärme und sein schönes Tremolo am besten zur
Geltung kamen. Als er aber am Klavier saß, wurde das Herzklopfen noch
ärger, und er spürte ein Würgen in der Kehle, das für ein schönes
Tremolo keine guten Aussichten bot. Es hätte leicht ein Meckern daraus
werden können.

Also präludierte der Apotheker auf dem Klavier ein wenig hin und her
und her und hin, erhob sich dann plötzlich und sagte:

»Entschuldigen Sie, Herr Kapellmeister, aber ich kann hier nicht
singen, das Klavier ist zu verstimmt.«

Nun wurde Cyrill rot -- nicht wie eine Pfirsichblüte, sondern wie
reiner Zinnober.

»Verstimmt?« lachte er etwas albern. »Verstimmt sagen Sie? Natürlich
verstimmt! Greulich! Ich aber -- ich wußte das gar nicht. Die alte
Kommode gehört meiner Tante. Ich spiele natürlich nie darauf. Nie! Ich
habe hier kein anderes Instrument als die Orgel meiner Seele.«

Mit der letzten edlen Phrase hatte Cyrill seine Haltung
wiedergewonnen. Der Apotheker kehrte langsam nach seinem Stuhle zurück.
Er war ein praktischer Mann, ein Menschenkenner, und so dachte er sich:
Aha, der arme Kerl hat das Geld für den Klavierstimmer sparen wollen
und die Sache selbst versucht -- und da ist eben ein solches Resultat
herausgekommen. Er war boshaft genug, anzufangen vom Klavierstimmen zu
reden.

Cyrill lehnte sich stolz zurück.

»Wissen Sie, was das erste Erfordernis für einen sogenannten
berufsmäßigen Klavierstimmer ist? Er darf kein musikalisches Gehör
haben; sonst taugt er nichts.«

»Nanu!« warf der Apotheker ein.

»Ja,« sagte Cyrill wieder in seinem hochmütigen Tonfall; »ich kann
das nicht so kurz erläutern. Dazu gehört die ganze Vorkenntnis vom
wohltemperierten Klavier.«

»Kenne ich!« sagte der Apotheker freudig. »Ein ganzer Ton hat neun
Grade, +cis+ steht fünf Grade über +c+, des nur vier Grade.
+Cis+ ist höher als +des+. Zwischen dem vierten und fünften
Grad gehen diese beiden sozusagen Stiefzwillingsschwestern aneinander
vorbei. Auf dem Klavier aber müssen +cis+ und +des+ gleich
sein. Beide werden mit der gleichen schwarzen Taste getippt. Das ist
ein Gehör-Kompromiß.«

»Das ist kein Kompromiß,« sagte Cyrill feierlich, »das ist Sudelei. Für
musikalische Menschen eine Qual. Klavier ist Roheit!«

»Dann ist die Orgel auch Roheit!« warf der Apotheker ein; »dann ist
jedes Instrument Roheit, das festliegende Töne hat und Kompromiß
zwischen +cis+ und +des+ eingehen muß. Dann bestehen nur
Streichinstrumente und menschliche Stimme, die diese Unterschiede
machen können.«

Cyrill bekam Respekt vor seinem Gegenüber. Dem Apotheker aber schwoll
der Kamm.

»Halten Sie Paderewski für einen Künstler?«

»Ja, natürlich!« antwortete Cyrill.

»Paderewski hat mal bei uns ein Konzert gegeben. Seine königliche
Kunstmajestät verirren sich auch manchmal in eine kleinere Stadt. Also
unsere ›Harmonie‹-Banausen hatten zwar den Mut gehabt, Paderewski
ein Heidenhonorar zu garantieren, aber nicht das Geschick, für ihn
einen anständigen Flügel zu besorgen. Paderewski kommt an -- es war
ein kalter Wintertag -- badet seine Hände eine Viertelstunde lang in
warmem Wasser, probiert dann den Konzertflügel und macht ein Gesicht
wie ein Löwe, der Krautsalat fressen soll. Kurz und gut, ich hatte
damals gerade meinen neuen Blüthner; Paderewski kommt zu mir, ist
zufrieden; ich stelle natürlich den Flügel zur Verfügung, und alles
wurde ausgezeichnet. Damals hat sich Paderewski auch von meiner Sabine
ein Liedchen vorsingen lassen und sie gelobt.«

Cyrill erkannte, daß er besiegt sei. Mit persönlichen Bekannten von
Paderewski sich zu entzweien, wäre Wahnsinn.

So bat Cyrill den Apotheker, ihm morgen seinen Gegenbesuch machen und
den Paderewski-Flügel probieren zu dürfen. Es könnte dann gleich das
Weitere wegen des neuzubildenden Quartetts besprochen werden.

Hochbefriedigt ging der Apotheker nach Hause. Der goldene Kranich über
seiner Tür blitzte stolz im Sonnenschein.

                   *       *       *       *       *

Der Apotheker verbrachte eine unruhige Nacht. Es war durchaus nicht
leicht, Fräulein Liesel Tilgner und Herrn August Stumpe, die beide
feindlichen Vereinen angehörten, für ein Quartett zu gewinnen. Zum
ersten Male im Leben wurde der Apotheker, der sonst von grobkörniger
Ehrlichkeit war, zum Heuchler. Er schrieb zwei verlogene Briefe, in
denen er den Adressaten unmäßiges Lob spendete, insonderheit auch
sagte, daß sie in ihren »geschätzten Vereinen« ja schon eine gute
Gesangsvorbildung genossen hätten und nun unter der Leitung des Herrn
Cyrill Dietrich, eines der gefeiertsten und genialsten Dirigenten
Deutschlands, in einem erlesenen Quartett zur letzten Kunstreife
geführt werden sollten. Man wollte sie ihren beliebten und geschätzten
Vereinen natürlich durchaus nicht abtrünnig machen, im Gegenteil würden
diese gewiß eine Förderung erfahren, wenn sie durch ein Mitglied mit
dem in Musikkreisen äußerst einflußreichen Herrn Cyrill Dietrich in
Verbindung kämen. In aufrichtiger vorzüglicher Hochachtung usw.

Um neun Uhr früh wurde der Laufbursche Fritz beauftragt, die beiden
Briefe zu ihren Empfängern zu tragen. Nach einer Stunde schon war er
zurück, was für den Laufburschen eine anständige Leistung war, da der
Weg, den er zurückzulegen hatte, immerhin unter einer Viertelstunde
nicht zu machen war.

Fritz berichtete, bei Fräulein Tilgner hätte er den Brief einfach
abgegeben, aber mit dem Dachdecker sei es eine schwere Not gewesen. Der
hätte gerade auf einem hohen Dache geklebt. Da hätte er hinaufgebrüllt,
er solle doch mal runter kommen, der Herr Apotheker schicke ihm einen
Brief.

»Was hat er gesagt?« fragte der Apotheker begierig.

»Ach, gesagt hat er gar nichts,« erwiderte Fritz. »Er hat bloß zu
singen angefangen: Es war einmal ein A-a-po-po ...«

Fritz bekam eine Ohrfeige.

»Was hast du mit dem Briefe gemacht?« fauchte der Apotheker.

»Ich bin,« heulte Fritz, »ich bin die Leiter hinaufgestiegen und hab'
den Brief in die Dachrinne gelegt.«

Da bekam er eine zweite Ohrfeige.

»Schuft! In die Dachrinne? Und jetzt regnet's! Schreibe ich dafür
Briefe?«

Fritz machte, daß er hinauskam. Der Apotheker tobte im Zimmer auf und
ab. Nach einer Viertelstunde wurde die Tür aufgerissen, Fräulein Liesel
Tilgner stürmte herein und fiel dem Apotheker jubelnd um den Hals.

»Ich freu' mich -- ich freu' mich -- ich freu' mich ...«

»Also Sie machen mit?« fragte der Apotheker befriedigt. »Was sagt denn
der Herr Papa?«

»Ach der! Der hat es mir aufs strengste verboten. Also, wann gehen die
Übungen an? Ich kann es kaum erwarten. In unserem Kirchenchor ist das
ein greuliches Gequieke.«

»Allerdings!« sagte der Apotheker, indem er auf den Brief vergaß, den
er erst vor einer Stunde abgeschickt hatte.

Am Nachmittag kam Cyrill. Er vergaß, den Hut abzunehmen, guckte sich
nur geistesabwesend im Zimmer um, sah den Blüthner-Flügel, ging mit
zitternden, ausgestreckten Armen auf das schöne Instrument los und
spielte in seliger Selbstvergessenheit drei Stunden lang, ohne auch
nur eine Pause zu machen und den Apotheker zu Worte kommen zu lassen.
In der dritten Stunde wurde es dem langweilig, und er ging in den
Giftgadern, um einen Schnaps zu trinken. An der Tür traf er seine
Tochter Sabine. Diese sagte:

»Das ist ja ein greulicher Kerl. Paß auf, der zerhaut uns noch den
Flügel.«

»Schweig!« sagte der Apotheker. »Musiker sind so!«

»Kopfschmerzen hab' ich schon,« schmollte Sabine. »Wenn der es jedesmal
so macht, kann's ein schönes Quartett werden.«

»Schweig!« sagte der Vater abermals und trank einen zweiten Schnaps.
Dann ging er seufzend nach dem Musikzimmer zurück.

Nach drei Stunden brach Cyrill das Spiel jäh ab.

»Haben Sie Notenpapier?« fuhr er den Apotheker an.

Nein, Notenpapier war nicht im Hause. Da suchte Cyrill verstört nach
seinem Hute, fand ihn aber nicht, weil er ihn immer noch auf dem Kopfe
hatte, und rannte davon. Der Apotheker sah ihm blöde nach. Vom Quartett
war nicht die Rede gewesen ...

Am Abend dieses Tages kamen verdächtige Gestalten die Friedrichstraße
herab, steuerten über den Marktplatz und stellten sich vor der Apotheke
zum »Goldenen Kranich« auf: August Stumpe, der Tenorist, mit noch acht
Mann aus dem Verein »Frohsinn«. Dem Apotheker, der sie kommen sah, lief
es eiskalt über den Rücken. Jetzt kam wieder jener elende Schandgesang
-- und dann war es mit der Hoffnung, den stimmbegabten Dachdecker für
das Quartett einzufangen, vorbei. Das war also die hohnvolle Absage
auf seine liebenswürdige Einladung. Bleich vor Ärger zog sich der
Apotheker tief ins Zimmer zurück, um wenigstens am Fenster nicht
gesehen zu werden. Doch, wie sollte er alsbald erstaunen!

    »~Stüll ruht da Söö,
    Die Veeglein schlafähn ...~«

Mit schmetternden Stimmen und großer Begeisterung wurde das Lied
gesungen. Und als die Sänger in der letzten Strophe in Donnertönen
beteuert hatten, daß »auch du, auch du wirst schlafen gehn«, gingen sie
noch lange nicht schlafen, sondern sangen: »Wenn ich den Wandra frage
...« und dann: »Ich kenn' ein'n hellen Ödelstein ...«

Man brachte dem Apotheker ein ernstgemeintes Ständchen. Das sah er beim
dritten Liede ein, freute sich unbändig über das treue deutsche Herz,
das sich da draußen vor seiner Haustür offenbarte, trat ans Fenster,
öffnete es und klatschte stürmischen Beifall, als die Sänger geendet
hatten. Aus jedem Fenster des Marktplatzes hing ein Menschenkopf
heraus. Manche Leute klatschten, manche kicherten leise und hofften,
daß doch noch die Apothekerhymne kommen würde. Aber sie kam nicht,
sondern im Gegenteil:

    »~Unsa Kaisa liebt die Blumen,
    Denn er hat ein samft Gemiet ...~«

Ein paar Hunde eilten herbei und sangen mit. Sie heulten zum
Steinerweichen. Darüber faßte einen Bassisten der Zorn. Er ging hin,
hieb den Bestien sein Liederbuch um die Ohren und vertrieb sie.

Nach dem schönen Waldmannschen Kornblumenliede trat ein Sänger an das
Fenster heran und hielt folgende Ansprache:

»Geehrter, geschätzter Herr Apotheker! Indem wir ja eigentlich bis
jetzt einige bedauerliche Differenzen hatten, sind wir gekommen, um Sie
mit einem kleinen Ständchen zu beehren; denn wir haben uns gefreut,
daß Sie in einem Briefe an unsern Freund und Ehrenmitglied, Herrn
Stumpe, unserem geschätzten Vereine Ihre Ehrfurcht ausgesprochen haben.
Wir werden unseren Freund und Ehrenmitglied, Herrn Stumpe, für Ihr
Quartett gern zur Verfügung stellen und in Ihren Konzerten vollzählig
erscheinen. Der Herr Apotheker lebe hoch -- hoch -- hoch!«

Die neun Männer brüllten, aus manchem Fenster wurde auch mitgebrüllt,
und die Hunde, die sich in eine Seitengasse zurückgezogen hatten,
bellten und heulten. Es war sehr eindrucksvoll.

Der Herr Apotheker erwiderte, daß er sich über das reizende Ständchen
außerordentlich gefreut habe, und lud die Herren zu einem Gläschen
Wein ins Haus. Die tranken nun im Giftgadern so reichlich, wie es der
Gastfreundschaft des Wirtes und ihrem eigenen Appetite entsprach.

Der Laufbursche Fritz aber erlebte an diesem Abend noch ein
schmerzliches Abenteuer. Der Apotheker hatte ihn als Eilboten zu
Herrn Cyrill geschickt mit der Siegesnachricht: »Unser Quartett ist
komplett!« Fritz kam ganz entgeistert zurück. Er sagte, Herr Cyrill
hätte ihn erwürgen wollen, weil er ihn beim Komponieren gestört habe.

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Abend sollte die Tätigkeit des neuen Quartetts durch den
ersten Übungsabend eröffnet werden. Cyrill kam eine halbe Stunde zu
spät, grüßte kurz und setzte sich sofort an den Blüthner-Flügel, allwo
er mächtig zu präludieren anfing. Der Apotheker saß in Angst und
Sorge da, weil er der drei Stunden von gestern gedachte. Er machte
einige Versuche, an Herrn Cyrill heranzukommen, der wies ihn aber mit
drohender Miene ab und versank immer tiefer in ein Meer von Akkorden,
Passagen, Trillern, Stakkaten, Arpeggien und kontrapunktischen
Wogengängen.

Nachdem Cyrill so dreiviertel Stunden lang gespielt hatte, nahm der
Dachdecker seinen Hut, sagte dem Apotheker ins Ohr: »Ich habe keine
Zeit mehr!« und drückte sich zur Tür hinaus. Der Apotheker versuchte
vergebens, den Sänger am Jackenärmel zurückzuhalten. August Stumpe
hatte »keine Zeit mehr«. Er ging Skat spielen. Der Apotheker war bleich
vor Ärger.

»Unser Tenor ist fortgegangen!« sagte er laut.

Cyrill machte eine Pause.

»Wer ist fortgegangen?«

»Unser Tenor! Die Übung sollte um acht Uhr beginnen. Jetzt ist es halb
zehn. Herr Stumpe ist ein fleißiger Handwerker, er muß sich seine Zeit
genau einteilen; er hatte keine Zeit mehr zu warten.«

»So, so,« sagte Cyrill; »nun, wenn er keine Zeit hat, soll er doch
ruhig gehen.«

Und er begann wieder zu spielen. Da brach jemand in ein schallendes
Gelächter aus. Cyrill fuhr herum. Wer wagte es, in seiner Gegenwart
so unverschämt zu lachen? Ach, er sah in ein blühendes, wonniges
Mädchengesicht; er sah den Frühling, die Poesie, die Schönheit in
Menschengestalt vor sich; er sah eine strahlende junge Göttin. Seine
Blicke verfingen sich, seine Gedanken verwirrten sich, sein Herz
stockte. Bleich saß er auf seinem Klaviersessel. Wieder einmal war aus
heiterem Himmel jener Blitz gefallen, den die Menschen »Liebe auf den
ersten Blick« nennen.

Endlich ermannte sich Cyrill. Er erhob sich und machte eine ganz
demütige Verneigung.

»Ich habe leider bisher unterlassen, mich vorzustellen, meine Damen.
Cyrill Dietrich! Ich bitte vielmals um Verzeihung. Wenn ich an die
Musik komme, geschieht es mir wohl, daß ich Raum und Zeit vergesse.
Ich durfte aber unmöglich Ihre Gegenwart vergessen. Ich bitte um
Entschuldigung.«

Der Apotheker stellte die beiden Damen vor; die größere, etwas massige,
war Liesel Tilgner, die kleine, zierliche, braune war Apothekers
Sabinchen -- die junge Göttin.

»Schade, daß der Tenor fort ist,« sagte der Apotheker; »wir könnten
sonst jetzt anfangen.«

»Wo ist er hin?« fragte Cyrill selbstvergessen. »Ist er dachdecken
gegangen?«

Wieder lachte Sabinchen silbrig auf.

»O, Gott! Dachdecken in so finstrer Nacht!«

Der Apotheker sagte, er würde den Ausreißer schon finden und
herbeischaffen. Und nun wurde Fritz, der Laufbursche, abermals
ausgesandt, und zwar nach dem »Bleiernen Hecht« mit der Botschaft, Herr
Stumpe möge kommen; es habe jetzt angefangen.

Nach einer Stunde kam Fritz mit einem kleinen Rausch, aber nicht mit
dem Tenor zurück. Der Dachdecker und seine Spielkumpane hatten ihm
Schnaps zu trinken gegeben und ließen sagen, zum Singen sei es heute zu
spät.

Fritzen wurde für den nächsten Morgen eine Tracht Prügel in Aussicht
gestellt, und er ging mit dem bekümmerten Gedanken schlafen, daß es ein
hartes Ding um den Dienst der Kunst sei

Im Musikzimmer hatte sich Cyrill inzwischen zur »Prüfung der Stimmen«
von dem Apotheker und Liesel Tilgner je ein Lied, von Sabinchen aber
vier Lieder vorsingen lassen.

Nach dem vierten Liede sagte Sabinchen:

»Bei mir dauert es wohl am längsten, ehe Sie ein wenig Talent
entdecken?«

Cyrill sah sie schmerzlich an.

»Mein gnädiges Fräulein, ich werde kein größeres Glück kennen, als Ihre
goldige Stimme ausbilden zu dürfen. Es wird eine schöne Sache werden um
unser Quartett. Wenn es den Herrschaften recht ist, beginnen wir morgen
mit dem Unterricht pünktlich um acht Uhr.«

Der Apotheker staunte, daß Cyrill jetzt bereits eine ganze Reihe
vernünftiger Sätze gesagt hatte, und freute sich.

»Die größte Überraschung werden Sie an August Stumpe erleben,« sagte
der Apotheker. »Er ist zwar ein windiger Hund, aber an Stimmaterial ist
er uns allen über.«

Am nächsten Abend trat Cyrill Schlag acht Uhr in das Musikzimmer. Er
fand das Quartett vollzählig versammelt vor und ließ sich zunächst
Herrn August Stumpe vorstellen und prüfte dessen Stimme. Stumpe wählte
sich: »Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein.« Als er geendet
hatte, sagte Cyrill:

»Sie singen nicht -- Sie brüllen! Aber Sie brüllen schön! Sie brüllen
ganz wunderbar!«

Dann begann der Unterricht.

»Zunächst,« sagte Cyrill, »müssen Sie stehen lernen.«

Die Mädchen kicherten.

»Ja, meine Damen,« fuhr Cyrill ernst fort, »stehen lernen! Sehen Sie
mal, wie Herr Stumpe dasteht, wie er den Bauch vorstreckt.«

»Ich habe gar keinen Bauch; also kann ich ihn wohl auch nicht
vorstrecken,« knurrte der Dachdecker mißmutig.

»Bitte keinen Widerspruch. Sie haben, wie alle homines sapientes, einen
Bauch und strecken ihn vor. Außerdem stehen Sie da wie ein Rekrut in
Grundstellung und präsentieren ihr Notenblatt wie ein Gewehr. Das wirkt
häßlich und lächerlich. Stellen Sie abwechselnd mal den rechten und
den linken Fuß etwas vor, haben Sie federnde Leichtigkeit in Füßen und
Knieen, halten Sie die Arme anmutig und pressen Sie vor allen Dingen
Ihren Adamsapfel nicht zu weit heraus. Auch lassen Sie sich die Haare
gut schneiden, den Schnurrbart um drei Viertel verkürzen und putzen Sie
alle Tage dreimal Ihre Zähne, früh, nach dem Mittagessen und vor allen
Dingen vor dem Schlafengehen.«

Der Dachdecker sah sich nach seinem Hute um und wollte auf und davon.
Doch der Apotheker faßte ihn am Arme und sagte:

»Hier muß alles deutlich und ohne Rückhalt zur Sprache kommen. Außerdem
sind wir unter uns, und Lehrzeit ist keine Herrenzeit. Ich bitte, Herr
Kapellmeister, mir immer die blanke Wahrheit zu sagen, alle meine
Fehler rücksichtslos zu rügen.«

Dieser Aufforderung kam Cyrill augenblicklich nach.

»Sie, Herr Apotheker,« sagte er, »sind viel zu dick. Auf der Bühne
wären Sie höchstens als Falstaff zu gebrauchen; für das Podium sind Sie
unmöglich. Trachten Sie danach, sechzig Pfund abzunehmen.«

»Aber erlauben Sie,« unterbrach ihn der Apotheker denn doch verärgert.
»Ich glaubte immer, Bassisten dürften ein gewisses Embonpoint haben.«

»Embonpoint wohl,« erwiderte Cyrill, »aber keinen Speckbauch. Ein
Sänger hat ästhetisch zu wirken, und Speckbäuche sind unästhetisch.«

Der Dachdecker freute sich über das, was dem Apotheker widerfuhr,
sah ein, daß der Kapellmeister unter den verschiedenen
Gesellschaftsschichten, was seine Grobheit anlangte, keinen Unterschied
machte, und beschloß, sich in Zukunft durch Kritik nicht mehr beleidigt
zu fühlen.

Mit den Damen verfuhr Cyrill viel höflicher. Er empfahl ihnen, vor
dem Spiegel ihre angeborene natürliche Anmut bis zur größten Wirkung
zu steigern und sich möglichst immer individuell zu kleiden und zu
frisieren, jedenfalls dabei aber auch dem Zeitgeschmack durch eifriges
Studium der apartesten Modezeitschriften Rechnung zu tragen.

»Und nun, bitte, setzen Sie sich!«

Cyrill musterte die vier vor ihm Sitzenden und sagte: »Es kommt
vor, daß man auf dem Podium auch mal sitzen muß, z. B. wenn man die
Einzelnummer eines anderen abzuwarten hat. Wenn Sie, Herr Stumpe, dann
mit so weit vorgestrecktem Gebein dasäßen wie eben jetzt, würden die
Konzertbesucher der ersten Reihe befürchten, Sie wollten ihnen ins
Gesicht treten.«

Der Dachdecker zog erschrocken seine Pedale ein und sah sich wieder
nach seinem Hute um.

»Sie werden zunächst sprechen lernen,« fuhr Cyrill fort (ohne daß
jemand lachte). »Erst muß man sprechen können, dann erst kann man
singen lernen. Von hundert Sängern, die in Deutschland singen, kann
nicht ein halber richtig sprechen. Ist es Ihnen schon aufgefallen, daß
ein guter Schauspieler, der etwa bei einer Sterbeszene auf der Bühne im
leisesten Flüstertone spricht oder singt, im vierten Stock oben auf der
Galerie richtig verstanden wird, während einen sogenannten Volkssänger,
der keine Ahnung vom Sprechen hat, oft die Nahesitzenden schon nicht
verstehen, auch wenn er brüllt, daß ihm beinahe die Lungen platzen? Das
macht die vorhandene oder fehlende Sprechtechnik. Wir fangen natürlich
ganz von vorne an, mit der lautreinen Aussprache der Vokale: a, e, i,
o, u. Herr Apotheker, sagen Sie ›a‹!«

Der Apotheker sagte »a«.

»Sagen Sie wiederholt ›a‹ hintereinander.«

Der Apotheker wurde rot, und auch der Dachdecker dachte sofort an die
Apothekerhymne, die er ja so oft mitgesungen hatte.

»A--a--a--a--a,« sagte der Apotheker mit Todesverachtung.

»Nun sagen Sie wiederholt ›a‹, Herr Stumpe!«

Stumpe sagte: »A--a« und mußte sehr an sich halten, daß er nicht, wie
gewohnt: »popo -- thethe -- kerker« dazusetzte.

»Nun, meine Herrschaften,« griff Cyrill wieder ein, »haben Sie ein ›a‹
gehört? Nicht ein richtiges ›a‹!« Der Herr Apotheker sagt ein Gemisch
von ›a‹ und ›o‹, weil er die Zunge zu hoch wölbt, Herr Stumpe sagt
›ä‹, weil er den Mund zu breit macht und zu wenig öffnet. Bei beiden
kommen die Vokale gequetscht aus der Kehle. O, diese Kehltöne -- dieses
Gutturale! Wenn es möglich wäre, müßte man allen Gesangsschülern die
Gurgel abschneiden, damit sie das Kehlsprechen verlieren, das der
Tod allen Sprechens und Singens ist. Vorn an den Zähnen wird der Ton
gebildet, nicht hinten, da, wo die Mandeln rötlich blühen.«

Die vier Gesangsschüler sahen beschämt und betroffen vor sich nieder,
während Cyrill mit dem Fünfzackenkamm der rechten Hand seine Haarmähne
durchharkte.

»Bitte, Fräulein Tilgner, sagen Sie ›a‹!«

Liesel Tilgner war ganz verängstigt und sagte:

»Ich kann es nicht!«

»Sehen Sie,« triumphierte Cyrill, »bisher haben Sie geglaubt, Sie seien
eine Sängerin und könnten Gott weiß was für schwere Lieder singen,
und nu können Sie nicht einmal ›a‹ sagen. Aber die Erkenntnis seiner
Unzulänglichkeit ist der Kreuzpunkt, von da aus die Straße nach oben
führt.«

Nach dieser Sokratischen Sentenz machte Cyrill eine Pause, damit alle
Anwesenden über sein Wort nachdenken könnten. Dann wiederholte er:

»Und nun, Fräulein Tilgner, sagen Sie ›a‹.«

Liesel Tilgner sagte ›a‹.

»Es ist ›ä‹,« urteilte Cyrill düster; »›ä‹ wie bei Herrn Stumpe. --
Darf ich nun Sie bitten, Fräulein Sabine?«

Sabinchen lachte erst etwas geniert, dann sagte sie klar und deutlich
›a‹!

Cyrill klatschte in die Hände.

»Herrlich! Kristallklar! Direkt echt! Bühnenecht! O, bitte, Sie müssen
in diesem Falle unser Vorbild sein. Vielen Dank, Fräulein Sabine! Und
nun kommt das Experiment. Fräulein Sabine! Sie müssen also sozusagen
unser Anschauungsmaterial sein. Bitte, stellen Sie sich dicht an den
Kronleuchter. Und Sie, Herr Apotheker, kommen Sie her und schauen Sie
Ihrem Fräulein Tochter in den Mund hinein, wenn sie ›a‹ sagt. Es kommt
ganz auf die Lage der Zunge an und wie der Atem darüber hinweggeht,
erst in zweiter Linie auf die Öffnung der Lippen. Geben Sie genau
acht. Wer nicht ›a‹ sagen lernt, dem bleibt das ganze Alphabet der
Gesangskunst verschlossen.«

Der Apotheker nahm vor seinem Töchterlein Aufstellung, guckte ihr dicht
mit seinem Brillengläsern auf den Mund und sagte:

»Sprich ›a‹.«

Das Mädel lachte zuerst, dann sagte sie ›a‹.

Der Apotheker guckte und guckte, dann wandte er sich um und sagte:

»Ich seh nichts! Rein nichts! Wissen Sie, Herr Kapellmeister, wenn man
mit so dickem Kopf vor so kleinem Schnabel steht, dann ist man sich
selbst im Lichte. Der Kronleuchter nutzt dann gar nichts; es bleibt
finster in der Höhle.«

»Das ist richtig!« sagte Cyrill und dachte nach.

»Machen Sie's doch!« sagte der Dachdecker dreist zu Cyrill. »Sie haben
ja einen viel größeren Mund; da sieht man vielleicht eher etwas.«

Cyrill warf ihm als Antwort nur einen verächtlichen Blick zu und
dachte weiter nach. Endlich verklärte sich seine Miene.

»Man bringe eine elektrische Taschenlampe,« sagte er.

Nach einigem Hin und Her wurde die Lampe herbeischafft. Sie stammte
von dem Laufburschen Fritz und funktionierte wider alles Erwarten der
Leute, die über Fritzens sonstige Ordnungsliebe eingeweiht waren.

»So,« sagte Cyrillus Triumphator; »ich möchte die Schwierigkeit sehen,
die bei festem Willen nicht zu überwinden wäre. Also Fräulein Sabine,
sagen Sie fortgesetzt ›a‹, und Herr Apotheker, schauen Sie Ihrem
Fräulein Tochter in den Mund und achten Sie vor allem darauf, wie die
Zunge liegt.«

Der Apotheker begab sich wieder auf Beobachterposten, Sabinchen sagte
›a‹, und Cyrill trat mit der elektrischen Taschenlampe heran und
blitzte plötzlich auf.

Vater und Tochter fuhren zurück und rieben sich die Augen.

»Sie blenden einen ja!« rief der Apotheker und riß sich die Brille ab.

»Gott -- o Gott -- bin ich erschrocken!« seufzte das Sabinchen.

Cyrill stand mit seiner Lampe da als ein geschlagener Held.

Der Dachdecker faßte sich zuerst.

»Es wird nichts nützen,« sagte er, »wenn wir sehen sollen, wie Fräulein
Sabine ›a‹ sagt, muß sie einige Leuchtkäfer kauen. Oder sie muß ein
Feuerfresser werden.«

Der Dachdecker war ein dreister Mensch, der es mit der Kunst nicht
ernst nahm. Das empfanden alle. Nur Sabinchen lachte über seinen
Scherz.

Es ging noch lange mit dem »a« sagen, dann kamen »e« und »i« an die
Reihe. Bei letzterem mußte der Mund unnatürlich breit gemacht werden.

»Das ›i‹ muß man sich gewissermaßen mit beiden Mundwinkeln in die
eigenen Ohren hineinsagen,« lehrte Cyrill.

Die richtige Rundung beim »o« brachte Fräulein Liesel am besten heraus,
und den Unterkiefer streckte beim »u« der Apotheker am besten vor.

Nach eineinhalb Stunden sagte Cyrill:

»Das wäre der Anfang. Die Übungen im lautreinen Sprechen der Vokale
werden den Anfang jeder Unterrichtsstunde bilden. Es ist wie das
Einmaleins beim Rechnen. Heute üben wir nur den flüssigen Konsonanten
›l‹ noch ein, damit Sie ihn in Verbindung mit den Vokalen auf die
ersten fünf Töne der Tonleiter zu Hause üben können; also la, le, li,
lo, lu -- lu, lo, li, le, la und umgekehrt al, el, il, ol, ul -- ul,
ol, il, el, al.«

Es gab noch greuliche Mühen diesen Abend. Der Konsonant »l« hat es, was
die Zungenhaltung anlangt, in sich, und daß er zwei Millimeter über der
oberen Zahnreihe mit der Zungenspitze angesetzt werden muß, ist auch
nicht so einfach, wenn man es bisher falsch gemacht hat.

Am Schlusse der Unterrichtsstunde sagte Cyrill:

»Nun noch eine kleine Aufgabe. Sprechen Sie: ›Rabe, Rebe, Robe‹ -- oder
›Aber, Eber, Ober‹! Es handelt sich um das Zungen-R.«

Es stellte sich heraus, daß nur der Dachdecker das Zungen-R hatte, alle
anderen sprachen Gaumen-R.

»Nun, dieses vermaledeite Gaumen-R wird uns allein monatelang
aufhalten,« seufzte Cyrill.

Der Apotheker lud alle Teilnehmer an dem Unterricht zum Abendbrot ein.

Der Einladung wurde gern entsprechen. Nur der Dachdecker sagte, er
hätte keine Zeit mehr, und ging in den »Bleiernen Hecht«.

»Nun, wie war's?« fragten ihn dort seine Freunde.

»Feezig,« antwortete der Sängersmann. »Ich kann beinahe ›a‹ sagen.«

»Was habt ihr denn gesungen?«

»Gesungen? Ihr habt eine Ahnung! Singen werden wir, wenn wir werden
richtig sprechen können. Und das wird vor Ablauf des fünfzehnten
Unterrichtsjahres wohl nicht der Fall sein. Wißt ihr, was ihr seid --
stumm seid ihr! Nicht einen Buchstaben könnt ihr sprechen, geschweige
ein Wort.«

Sie lachten, daß es dröhnte.

Der Dachdecker ließ sie lachen, war an diesem Abend beim Spiele nicht
ganz bei der Sache und sang am nächsten Tage, als er das Dach des
Rathauses ausbesserte, so beharrlich la, le, li, lo, lu und alle
Umkehrungen dieser schönen Übung, daß das Sabinchen ans Fenster
trat und ihm lachend zunickte. Alle anderen Leute aber meinten, der
Dachdecker hätte den Sonnenstich bekommen, und man solle die Feuerwehr
alarmieren und ihn herunterholen.

                   *       *       *       *       *

Es war fast jeden Abend Unterricht.

Man mußte es Herrn Cyrill lassen, daß er als Lehrer an Fleiß und
Hingebung kaum übertroffen werden konnte. Alle vier Schüler erwiesen
sich als über das Mittelmaß begabt. Der bei weitem Begabteste war der
Dachdecker; er faßte alles spielend auf, und was ihm einmal korrigiert
wurde, machte er nie wieder falsch. Er kleidete sich neuerdings gut,
ging ordentlich frisiert und rasiert, hatte blitzblanke Zähne und
benahm sich immer tadelloser. Wenn ihn der Apotheker einmal einlud,
hatte er Zeit dazubleiben. Seine Freunde im »Hecht« freilich waren mit
ihm höchst unzufrieden.

Die Lautbildungslehre ging weiter; die Schüler erfuhren, daß der schöne
Name Hedwig nicht wie Het-wick ausgesprochen wird, sondern He-dwich,
daß es nicht »daas Grapp«, sondern umgekehrt »daß Graab« heiße, nicht
Entschuldijunk, sondern Entschuldi-gung mit der nasalen Verbindung von
n und g, nicht selbstvastäntlich, sondern selbstverstän-dlich. Und so
vieles andere, was damit zusammenhängt. Die Betonungslehre kam daran,
schließlich die Tonfärbelehre, die schon ins Künstlerische hineinragt,
und daneben gingen meist unter endlosen Solfeggien: do, re, mi, fa ...
die eigentlichen Gesangsübungen.

Sämtliche Teilnehmer mußten musikalische Bücher lesen, auch Biographien
von großen Musikern; es wurden drei Musikzeitschriften mitgehalten
und vor allen Dingen auch die konzertkritischen Artikel aus den
Tageszeitungen studiert und erläutert. Es wurde mit Feuereifer
gearbeitet. Nach drei Monaten sagte Cyrill: »Zur Belohnung für Ihren
Fleiß und Ihre Ausdauer wollen wir es jetzt mit dem ersten Quartett
versuchen. Ich habe dafür das Volkslied: ›In einem kühlen Grunde‹
ausgewählt.«

Cyrill hielt eine Ansprache über dieses Lied. Er sprach mit großer
Liebe und Verehrung von Eichendorff.

»Ein Heiligtum ist dieses Lied, ein Nationalschatz. Und doch, der
Schatz wäre beinahe verloren gegangen. Eichendorff hatte das Lied
aus göttlicher Eingebung heraus geschrieben und es von Königsberg
nach Schwaben an seinen Freund Justinus Kerner gesandt. Der las das
Gedicht, erkannte, daß er ein Juwel ohnegleichen in Händen hatte,
und lief aus seinem Arbeitszimmer hinaus, um alle Hausgenossen
zusammenzurufen, ihnen dieses Juwel zu zeigen. Als Justinus Kerner an
seinen Schreibtisch zurückkehrte, war die Eichendorffsche Handschrift,
die er dort zurückgelassen hatte, spurlos verschwunden. Das Zimmer
wurde durchsucht. Umsonst. Das Fenster stand offen. Ein Luftzug mußte
das kostbare Blatt entführt haben. Justinus war in Verzweiflung. Er
wußte, daß Eichendorff keine Abschriften anfertigen ließ, daß das Juwel
verloren war, wenn sich das Blättlein Papier, an das es gefesselt war,
nicht wiederfand. Justinus Kerner ließ fünf Tage lang seinen Garten und
das angrenzende Gelände absuchen. Das Blatt war verschwunden. Seinem
Freunde Eichendorff den Verlust zu melden, wagte Kerner nicht.

Und da geschah das Wunder. Ein Händler kam in Kerners Haus, ein
Mann, der einen Korb mit allerlei ›Kurzsachen‹ feilbot: Tabaksdosen,
Broschen, Kinderspielzeug. Er bot auch Kerner seine Waren an. Und
da sieht der -- zum Herzstillbleiben ist es gewesen -- Eichendorffs
Handschrift um eine Kinderklapper gewickelt.

›In einem kühlen Grunde ...‹

Ein Griff. Justinus Kerner hatte das Lied.

›Wo haben Sie dieses Papier her?‹ fragte er den Händler mit bebender
Stimme.

Der Händler guckte sich das Blättlein an.

›Ach Gott,‹ sagte er, ›das fand ich auf einem blühenden Flachsfeld. Es
war gutes Papier, auf einer Seite ganz unbeschrieben, und da brauchte
ich es zum Einpacken.‹

Weit über eine deutsche Meile weg war das blühende Flachsfeld, auf das
der Wind Eichendorffs unsterbliches Lied aus Kerners Wohnung getragen
hatte!

Können Sie sich denken, wie Justinus Kerner vor Weh und Freude
geweint hat, als er dieses Blättlein Papier wieder hatte? Ahnen Sie,
was das ist um ein unwiederbringliches Heiligtum aus dem Tempel der
Menschheit? An diesem einfachen Liede, das doch ein Diamant unsagbaren
Wertes ist, haben sich arme Prinzessinnen, die an ungeliebte Prinzen
verkuppelt wurden und einen Leutnant von der Schloßgarde liebten,
berauscht; dieses Lied ist wie eine Mahnerin zum Ernst in Trinkgelage
von Schlemmern hineingekommen; dieses Lied hat arme Wäschermädel in
ganz weite Höhen geführt; einsame alte Junggesellen haben das Lied
auf frostigen Buden gesungen; versonnene Bauernmädel am Brunnentrog
haben es angestimmt in stiller Abendstunde; ein einsamer Wanderer
auf mondbeschienener Landstraße hat es gesummt; ein alter Gelehrter
nach langer Geistesarbeit ist an seinen Flügel geschlichen und hat
mit müden Fingern die alte, liebe Weise noch einmal gespielt. Das
Lied vom deutschen Walde, von der deutschen Mühle, von der Liebe,
vom zerbrochenen Ringlein, vom Aufbäumen des verwundeten Herzens und
vom Sterbenwollen. Sehen Sie, meine Zuhörer, der ganz große Geist,
der Beethoven hieß, der hat seine unsterbliche neunte Symphonie
geschrieben. Um den ganzen Erdball herum können Sie suchen, über der
Erde und unter der Erde -- einen so großen Demantklotz finden Sie
niemals mehr wie diese ›Neunte‹! Was will Beethoven in seiner Neunten
sagen? Es war ein Mensch, der durch Schuld und Nichtschuld, kurz,
durch sein Leben an allem verzweifelte. Dann suchte er Erlösung in
wilder Lust. Er fand sie nicht. Er fand sie endlich erst in der reinen
Freude Götterfunken. Eichendorffs kleines Lied führt nicht so weit --
es führt ins Sterbenwollen, aber doch auch durch die ganze Staffel des
Liebens und Leidens hindurch. Ihnen, meine Zuhörer, will ich nur das
eine einprägen: Ehrfurcht -- Ehrfurcht vor einem Kunstwerk, ob es eine
Symphonie ist oder ein Volkslied.«

Als einige Tage später die Stimmen des Quartetts zum ersten Male
zusammenklangen, hatte Cyrill Tränen der Freude in den Augen.

»So schön,« sagte er, »ist in Altenroda noch niemals gesungen worden
...«

Und auch hier kam die Liebe und mischte sich ins schöne Spiel. Wenn
Cyrill seinen Unterricht gab, war er streng sachlich und hütete sich
wohl, von seinen Gefühlen für das Sabinchen etwas zu verraten. Er
wußte, daß er anfänglich auf der gefährlichen Bahn gewesen war, sich
vor der Geliebten lächerlich zu machen, und daß nichts der Erfüllung
heißer Liebessehnsucht so hinderlich ist, als sich in ein lächerliches
Licht zu stellen.

So war Cyrill ein gewissenhafter, ja gestrenger Lehrer und sah auch
dem Sabinchen keinen Fehler nach, wenngleich er bei seinen Korrekturen
an ihr eine gewisse sanfte Zartheit nicht verbergen konnte, die er ja
für den Dachdecker, den Apotheker und auch für Fräulein Liesel Tilgner
nicht übrig hatte.

Zu Hause in seiner armseligen Stube aber litt Cyrill oft die größte
Liebesnot und hatte Kummer aller Art. Von dem schmalen elterlichen
Erbteil besaß er noch tausend Mark. Wenn die weg waren, stand er vor
dem Nichts. Die Tante, seine einzige noch lebende Verwandte, bei der
er wohnte, war selbst wenig bemittelt und außerdem äußerst geizig. Was
sollte werden aus Cyrill? Der Dachdecker selbst war reicher als er;
er hatte ihm einmal anvertraut, daß er ein kleines Erbteil und etwas
Erspartes von zusammen dreitausend Mark besitze. Er hatte das wohl in
der gutmütigen und doch für Cyrill demütigenden Absicht gesagt, ihm
seine Hilfe anzubieten, wenn er mal in finanzieller Verlegenheit wäre.
So sah wohl jedermann schon von weitem Cyrill den armen Hungerleider an.

Was sollte werden aus Cyrill? Nichts gelang. Er hatte weder eine Stelle
als Kapellmeister bekommen, noch hatte sich ein Theater gefunden,
das seine Oper aufführen wollte. Nur einige kurze Liedkompositionen
hatte er bei Verlegern angebracht, diese aber auch nur gegen winziges
Honorar. Aber Cyrill freute sich, wenn die vierseitigen Blätter
herauskamen, die seinen Namen trugen und ein Kindlein seines Geistes
bargen, und trug sie alle zu Sabine. Einmal gab Cyrill ein neues Lied
heraus und hatte kühn auf das Titelblatt drucken lassen:

  »~Sabine gewidmet~ ...«

Der Text des Liedes lautete:

    ~Daß ich Dich liebe ...
    Es wissen es alle Blumen der Au,
    Es weiß es die Dämmerung, die Nebelfrau,
    Die Vögel zwitschern's vom hohen Dach,
    Die Wellen im Bache schwatzen es nach,
    Der Hahn auf dem Kirchturm möchte es schrei'n
    Hoch in den blauen Himmel hinein;
    Im Walde tuschelt es Baum zu Baum,
    Die Bienen summen's am Wiesensaum;
    Bald wissen's wohl alle Leute der Stadt,
    Als ständ' es geschrieben im Wochenblatt;
    Es weiß es die Nacht und das Morgenlicht --
    Nur Du weißt es nicht!~

Für dieses Lied hatte Cyrill bei seinem Verleger der »besseren
Ausstattung« wegen auf jedes Honorar verzichtet, ja selbst zugezahlt.
Und als nun die ersten Exemplare vor ihm auf dem Tische lagen, auf dem
Titelblatt sein Name und der des geliebten Mädchens, umrahmt von roten
Rosen, faßte ihn heiße Angst. Gewiß, Sabine brauchte den Text durchaus
nicht auf sich zu beziehen; solche Liedtexte sind neutral, können dahin
oder dorthin oder ganz ins Blaue gezielt sein, aber sie konnte das
Lied auf sich beziehen und dann konnte sie sich kompromittiert fühlen.
»Bald wissen es alle Leute der Stadt, als ständ' es geschrieben im
Wochenblatt ...« dem Mädel mußte ja himmelangst werden, wenn sie das
las. Und dann war es durch die Schuld seiner aufdringlichen Huldigung
gewiß aus und vorbei mit aller Hoffnung. Cyrill telegraphierte an
seinen Verleger, er ziehe das Lied aus dem Musikhandel zurück. Der
Verleger antwortete: »Nur gegen Übernahme der ganzen Auflage.
Dreiunddreißigeindrittel Prozent Rabatt vom Originalpreis. Fünf
Exemplare bereits verkauft.«

So opferte Cyrill einen großen Teil seines bißchen Vermögens und hatte
bald einige hundert gedruckte Lieder in seiner Wohnung aufgetürmt, für
die er keine Verwendung besaß.

»Die Nacht wußte es und das Morgenlicht,« was Cyrill um Sabine litt.
Hoffnungslos. Er, der arme Musiker, sie das einzige Kind eines reichen
Mannes!

                   *       *       *       *       *

Und noch ein zweiter litt um Sabine: der Dachdecker. Was ist doch Frau
Musika für eine arge Kupplerin. Wie geht sie mit leisen Hexenschritten
um die Menschen herum, kreist sie ein, läßt sie aus überquellenden
Tonbechern süßes Gift schlürfen, nach fremden Rhythmen atmen, in
fremden Melodien fühlen. Wie kann sie zwei Menschen in alle Tiefen
und Höhen führen, Geheimsprache reden vor tausend Ohren, unsichtbare
Liebeslauben bauen vor tausend Augen. Wie kann sie streicheln und
quälen, erheben und erniedrigen, werben und verderben.

Der schlichte Sohn des Volkes, der übermütige Bursch, war zum Träumer
geworden. Wenn er auf einem hohen Dache saß, irrten seine Augen immer
wieder über das Häusermeer dahin, wo auf dem Marktplatz neben dem
Rathausturme das Apothekerhaus mit dem goldenen Kranich war. Dieses
Haus war ihm zur wahren Heimat geworden. Das war licht und schön,
anders als seine arme Handwerkerstube, und ein Engel von himmlischer
Anmut lebte darin.

Oft saß der Dachdecker auf einem schwindeligen Platz in tiefen
Gedanken. Manchmal, wenn die Glocken so feierlich klangen, weinte er.
So viele Dächer, und keines das seine; aus so vielen Schornsteinen
weißer Rauch, und sein eigen kein Herd, an den er ein geliebtes Weib
führen konnte.

Von hohen Dachfirsten sah er über die Stadt hinweg ins freie Land
hinaus. Straßen führten in weite Fernen. Er könnte wandern, könnte sich
loslösen von seiner Pein. Aber er würde wohl rückwärts gehen, um immer
noch die liebe Stadt zu sehen, und wenn ihr letztes Dach verschwände,
würde er von Sehnsucht überwältigt nach Hause laufen. Was blieb dem
armen Dachdecker anderes übrig, als eines Tages abzustürzen und »in
Ausübung seines Berufes« ehrenvoll den Hals zu brechen!

                   *       *       *       *       *

Cyrill war eines Nachts auf einen Rettungsgedanken verfallen, auf einen
Gedanken, den er allerdings früher schon einmal gehabt hatte. Er mußte
August Stumpe ausbilden, mit diesem wirklich ganz außergewöhnlichen
Gesangstalent eines Tages einem Opernhausdirektor unter die Nase fahren
und so Stumpe als Sprungbrett für die eigene Kapellmeisterlaufbahn
benutzen.

Cyrill war immer noch nicht ohne Hochmut. In Marienwerder war ihm eine
Kapellmeisterstelle angeboten worden. Es war zum Lachen. Als ob er nach
Marienwerder aussähe! Als ob Sabine je die Frau eines mit dreitausend
Mark dotierten Kapellmeisters in Marienwerder werden würde. Abgesagt!
Die Agentur schrieb ihm darauf, daß sie vorläufig für ihn nichts wisse.

Cyrill sagte Stumpe August einmal auf dem Heimwege unter
ehrenwörtlicher Zusicherung absoluter Verschwiegenheit: er wolle ihn
zum Opernsänger ausbilden und schon dafür sorgen, daß er im ersten
Fach unterkomme. August Stumpe lachte erst blöde, dann sagte er, er
habe nicht recht verstanden. Worauf Cyrill noch einmal seine Absicht
aussprach. Darauf sagte der Dachdecker, Herr Cyrill möge entschuldigen,
ihm sei nicht gut, es werde ihm so komisch. Und er ging beiseite und
lehnte den Kopf an einen Zaun. Eine Hand preßte er aufs Herz und eine
auf den Magen, und es würgte ihn zum Erbarmen.

»Brechen Sie nur! Brechen Sie nur!« riet Cyrill. »Sie sind der rechte
Mann. Es packt Sie. Sie nehmen es ernst!«

Es war ein stilles Heldentum, das die beiden von nun an verrichteten.
Alle Abende, die nicht dem »Quartett« gewidmet waren, saßen sie
in Cyrills Stube, studierten und übten oft bis tief in die Nacht.
Alle Sonntage waren dem eifrigsten Studium geweiht. Selbst nach den
Quartettabenden nahm Cyrill den Dachdecker oft mit in seine Klause. Er
lieh ihm Bücher. Selten hatte ein eifriger Lehrer einen so eifrigen
Schüler.

Der ersehnte Preis all dieser Mühen war für beide der gleiche.

Sabine!

Die armen Burschen wußten es nicht und gewannen sich nach und nach lieb.

Hätten sie sich durchschaut, sie hätten sich gehaßt und gegenseitig zu
verderben gesucht.

So wanderten sie beide dem selben Lichte zu und keiner sah von dem
andern, daß er die gleiche Straße zog.

                   *       *       *       *       *

Anfang November wollte das Quartett sein erstes Konzert geben. Wenn
aber ein Quartett ein Konzert geben will, muß es einen Namen, eine
Firma haben, schon der Anschlagsäulen und der Zeitungsnotizen wegen.

Es wurde eine Beratung abgehalten. Wer je einer Beratung beigewohnt
hat, in der ein neuer Name gefunden werden soll, weiß, daß das
ein schwieriges Geschäft ist, ganz gleich, ob es sich um eine
Gesangsvereinigung, um eine literarische Zeitschrift, um eine
Aktiengesellschaft, um ein neues Insektenpulver oder um ein kleines,
manchmal noch gar nicht geborenes Kind handelt. Namengebung ist immer
schwer und verantwortlich.

»Ich bitte um Vorschläge,« sagte Cyrill; »ich selbst werde meine
Meinung zuletzt sagen, um niemand zu beeinflussen. Bitte, Fräulein
Tilgner!«

»Ich hatte mir gedacht,« sagte Fräulein Tilgner, »da wir doch vier
sind -- im Quartett sind ja wohl immer vier -- also da könnten wir uns
›Quartett Jahreszeiten‹ nennen. Der ›Frühling‹ ist natürlich Sabinchen,
ich selbst bin ja etwas älter und könnte als der ›Sommer‹ gelten; Herr
Stumpe müßte den ›Herbst‹ darstellen, und der Herr Apotheker, wenn er
so gut sein wollte, den ›Winter‹.«

»Danke!« sagte der Apotheker verdrossen; »so eisgrau bin ich noch
nicht! Fünfundfünfzig bin ich! Und dann -- wieso Herr Stumpe mit
sechsundzwanzig Jahren ›Herbst‹? Und wieso überhaupt vier? Sind
wir nicht fünf? Zählt der Dirigent nicht mit? Der Name ist einfach
unmöglich.«

»Bitte um Entschuldigung!« sagte Fräulein Tilgner kleinlaut und setzte
sich.

»Nun Ihren Vorschlag, Fräulein Sabine,« forderte Cyrill auf.

»Ich hatte,« sagte das Sabinchen, »auch an die Zahl vier gedacht, und
da wollte ich vorschlagen, wir nennen unser Quartett ›Kleeblatt‹. Es
gibt ja übrigens auch fünfblättrige Kleeblätter.«

Der Apotheker erhob sich.

»Meine liebe Tochter, erstens sind Kleeblätter in erdrückender
Majorität dreiblättrig. Vierblättrige sind eine Seltenheit, und es wäre
arrogant, wenn wir uns als Seltenheit hinstellen wollten. Das würde
eine boshafte Kritik sofort aufgreifen. Eine boshafte Kritik würde
aber noch etwas anderes sofort aufgreifen; nämlich sie würde sagen:
Kleeblatt? Wieso? Es liegt hier eine Beleidigung des Publikums vor.
Denn wem werden Kleeblätter vorgesetzt? Doch nur Rindviechern! Der Name
›Kleeblatt‹ ist ganz unmöglich.«

»Nun, dann mache doch selbst einen Vorschlag, Papa!«

»Das will ich,« sagte der Papa. »Ich schlage vor, unser Quartett
heißt: ›Der Wagen‹. Der Name berührt zunächst befremdend. Aber das
soll er. Alles, was in der Welt zugkräftig sein soll, muß einen
auffälligen Namen haben. Das weiß ich aus der Apotheke. Je verrückter
der Name einer neuen Sache ist, desto besser geht sie. Und dann
denken Sie doch an die berühmte Düsseldorfer Vereinigung ›Malkasten‹
oder an die Münchener ›Scharfrichter‹. Ist das nicht auch verrückt?
Doch nun zur Sache! Ein Wagen hat vier Räder. Alle Räder müssen
gleichen Takt halten, alle müssen dem gleichen Ziel zusteuern,
dieselbe Straße ziehen, mal langsam, mal schnell, mal in anfeuerndem
Tempo, mal nachlassend diminuendo. Und der Fünfte? Kein auch noch so
verrohter Kritiker wird wagen, in einem blöden Witz zu behaupten,
daß der Dirigent des ›Wagens‹ das Roß sei, das den Wagen zieht,
sondern jedermann wird ihn als den Kutscher ansehen, der den Wagen
lenkt. Das Publikum aber wird der ›Wagen‹ über Berg und Tal in grüne
Waldeinsamkeit, an alte Burgen und in das Gewühl der Großstadt führen,
kurz, der ›Wagen‹ wird ihm eine Reise durch alle Poesie des Lebens
vermitteln.«

»Was sagen Sie zu dem Vorschlag des Herrn Apothekers, Herr Stumpe?«

»Ach,« sagte August Stumpe, »der Vorschlag ist an sich sehr geistreich.
Nur, wir sind ein Musikverein, und ein Wagen macht keine gute Musik.
Ein Wagen knarrt, und wenn er singt, quietscht er. Man könnte dann den
Verein lieber ›Automobil‹ nennen, das hat auch vier Räder, und alles
andere trifft auch zu, das von der Waldeinsamkeit und den Burgen und
Städten, zu denen man hinfahren kann. Ein Wagen kann ferner nur wenig
Leute über Berg und Tal führen; wir wollen aber vielen Menschen die
›Reise durch die Poesie‹ verschaffen. Darum sollten wir uns lieber
›Omnibus‹ heißen, der hat auch vier Räder.«

»Herr Stumpe, wollen Sie mich verhöhnen?«

»Gott bewahre, Herr Apotheker, ich sage nur meine Meinung.«

»Er sagt seine Meinung! Und er hat ein Recht dazu!« entschied Cyrill.

»Bitte, Herr Stumpe, was sagen Sie zu den Vorschlägen der beiden Damen?«

»Ja,« meinte Stumpe, »wir kommen ja nur mit der Wahrheit weiter. Es
tut mir leid, aber die Vorschläge der beiden Damen waren kitschig. Am
kitschigsten war der von Fräulein Sabine. ›Kleeblatt‹ nennt sich ein
Backfischkränzchen, aber kein ernster Kunstverein.«

»Sie sind frech,« sagte Sabine gemütlich. »Pah!«

Cyrill war ganz blaß.

»Bitte, Herr Stumpe, nun machen Sie Ihren eigenen Vorschlag.«

»Ich schlage vor,« sagte August Stumpe, »daß wir auf allen Klimbim
verzichten und unsere Vereinigung nennen: ›Quartett Cyrill Dietrich‹.
Herr Cyrill Dietrich ist unser Lehrer, unser Führer; ohne ihn könnten
wir nichts. Cyrill Dietrich ist ein schöner, wohlklingender Name. Der
Name Cyrill Dietrich wird einer Vereinigung immer ein Ansporn sein,
eifrig zu arbeiten, und dem Publikum immer eine Garantie, daß es etwas
Gutes zu erwarten hat.«

Schweigen. Cyrill saß mit gesenktem Haupte da. Er war in tiefster
Seele glücklich. Er hatte in diesem Augenblicke den Dachdecker August
Stumpe von Herzen lieb. Nicht in der Hauptsache wegen der letzten
über ihn selbst geäußerten Worte, obwohl Cyrill wie alle Künstler für
Anerkennung überaus empfänglich war, sondern des Wahrheitsmutes wegen,
mit dem Stumpe seine Meinung gesagt hatte, und vor allem, weil er sich
so recht als begnadetes Gotteskind offenbarte. Wie kam ein Dachdecker
zu solchem Geschmack, zu solcher Ausdrucksweise? Der Mann war, während
er Cyrills Unterricht genoß, mit Siebenmeilenstiefeln gewandert. Ach,
das naturgeborene Genie vor sich zu haben, was ist das doch für eine
Wonne!

Nach einer Weile aber lehnte Cyrill den Vorschlag August Stumpes
dennoch ab.

»Meine Damen und Herren! Bitte, binden Sie sich nicht an meinen Namen.
Einst -- vielleicht sehr bald -- werde ich nicht mehr bei Ihnen sein.
Ich werde dann nichts sein, als der zufällige erste Dirigent Ihres
Quartetts, der noch dazu sehr kurze Zeit bei Ihnen tätig war. Mein Name
ist kein Programm. Genehmigen Sie meinen eigenen Vorschlag: ›Quartett
Altenroda‹. In dem schönen Namen Altenroda haben Sie alles, wofür Ihr
Herz und Ihre Kehle singt, haben Sie die Heimat und alles, was Ihnen
darin lieb und wert ist.«

Cyrills Vorschlag wurde angenommen.

                   *       *       *       *       *

Als August Stumpe nach diesem Abend im Bette lag, dachte er nicht wie
sonst darüber nach, weshalb wohl ein ein Meter und fünfundsiebzig
Zentimeter langer, kräftiger Mann zur Nachtruhe in einem Gestell
zu liegen habe, das nur ein Meter und siebzig Zentimeter lang war,
sondern er klagte sich in leidenschaftlichen Selbstvorwürfen an, daß
er an Fräulein Sabines harmlosem Vorschlag eine so bissige Kritik
verübt, daß er seinen Engel so böse gekränkt hatte. Immer wieder
überdachte er die Situation; immer aufs neue schüttelte es ihn vor dem
»Kleeblatt«-Vorschlag Sabinens, und immer aufs neue brannten dennoch
alle Sehnsuchtsfeuer nach dem lieblichen Mädchen hin. Es war ein auf-
und abwogendes Fieber, ein wildes Auf und Nieder. Ganz zuletzt aber
dachte August Stumpe an Cyrill. Und im Gedanken an Cyrill schlief er
ein. Ein kleiner kluger Gott saß auf der Kante der kleinen Bettstelle
und lächelte. Wieder hatte einer die Liebe zur Kunst über die Liebe zum
Weibe gestellt.

Auch Cyrill schlief schlecht. Auch er dachte an die Vorgänge des
Abends. Und auch er quälte sich. Daß Sabine den »Kleeblatt«-Vorschlag
gemacht hatte, grämte ihn noch im Bett, verursachte ihm sauren
Geschmack im Munde. Aber was war sie denn? Ein Kind von kaum zwanzig
Jahren. Ein liebes, wonniges Mädel. Was sollte man von ihr verlangen?
Die Sehnsuchtsfeuer loderten. Aber dann glitten Cyrills Gedanken doch
zu dem begnadeten Dachdecker hinüber, und er wurde ganz ruhig und
schlief ein.

Und derselbe kleine kluge Gott, der auf Stumpes Bettstelle gehockt
hatte, kam auf silberner Mondbahn zu Cyrill gefahren und besah sich
lächelnd auch diesen Getreuen. --

Auch Fräulein Liesel Tilgner schlief nicht. Sie hatte sich heute in
August Stumpe, als er so grob wurde, endgültig und rettungslos verliebt.

Selig schlief nur das Sabinchen, ihr herziges Köpfchen auf den molligen
Arm gelegt. Sabinchen dachte an nichts Böses und an nichts Gutes --
sie dachte an gar nichts. Völlig ruhelos war der Apotheker. Er saß an
seinem Schreibtisch und entwarf »Statuten« für das »Quartett Altenroda«.

                   *       *       *       *       *

Das »Quartett Altenroda« gab sein Konzert. In der Vorankündigung hieß
es, das Programm würde einen Volkslied-Teil und einen Kunstlied-Teil
enthalten, zur Umrahmung des Liederteils zwei Klaviervorträge,
ausgeführt von Herrn Cyrill Dietrich, im ersten Teil Schubert, im
zweiten Beethovens Letzte Sonate (+op.+ 111). Preise der Plätze
drei Mark, zwei Mark, eine Mark; Stehplatz fünfzig Pfennige.

Bei der Aufführung waren eigentlich nur Stehplätzler anwesend, das
Parkett war fast leer. Nur hie und da hockten mit trübseligem Gesicht
ein paar verirrte Seelen. Sie fühlten sich äußerst unbehaglich in ihrer
Einsamkeit. Die Sänger taten ihnen leid. An den Wänden aber klebte
junges Volk: leise kicherndes hübsches Backfischgesindel und junge
Männer im ehrenvollen Alter von sechzehn bis neunzehn Jahren, die alle
gut gescheitelte Frisuren hatten und feierliche Gesichter machten.

»Was sollen wir tun?« fragte der Apotheker, als er den leeren Saal sah.
»Diese Bande! O, diese Bande! Was sollen wir tun?«

»Singen!« antwortete Cyrill, düster und lakonisch.

»Aber doch nicht allein vor diesem jungen Rabattengemüse?«

»Doch!« sagte Cyrill noch um eine Silbe lakonischer, und der Fall war
entschieden.

Schlag acht Uhr (das war der festgesetzte Beginn des Konzerts) machte
Cyrill Dietrich seine Dirigentenverneigung vor dem Publikum und hielt
eine kleine Ansprache:

»Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß insonderheit die Jugend
Altenrodas unserer Einladung so zahlreich Folge geleistet hat. Ihr
schöner, jung-seliger Idealismus hat Sie hierhergeführt. Nur wer
die Jugend hat, hat die Zukunft. Nur auf die Jugend baue ich meine
Hoffnung, daß in Altenroda eine Besserung des Kunstgeschmacks eintreten
kann. Ich heiße Sie herzlich willkommen und bitte Sie, auf den
leergebliebenen Stühlen des Saales Platz zu nehmen.«

Hei, flog das hübsche Backfischgesindel in seinem jungseligen
Idealismus auf die leeren Stühle. Die jungen Herren folgten in
gemessenerem Tempo; einige aber blieben »ostentativ« an der Wand
stehen. Sie wollten sich »nichts schenken« lassen; sie hätten ja,
wenn sie es nur gewünscht hätten, sich leicht einen Talerplatz kaufen
können. Sie hatten es aber nicht gewünscht. Sie standen lieber. Sie
standen »prinzipiell«, standen »zum Vergnügen«. Und alle Welt ließ sie
auch ruhig stehen.

Schlag acht Uhr wurde auf Cyrills Befehl auch die Kasse
geschlossen. Zehn Minuten später aber, als der Kassierer noch
mit den Aufräumungsarbeiten, insonderheit mit dem Verpacken von
dreihundertfünfundsiebzig unverkauft gebliebenen Programmen beschäftigt
war, erschien noch ein Sekretär mit seiner Frau und wünschte zwei
Plätze.

»Bedaure,« sagte der Kassierer hochmütig; »die Kasse ist geschlossen.«

»Ist es denn so voll?« fragte der Sekretär verwundert.

»Das wohl nicht,« erwiderte der Kassierer; »aber was geschlossen ist,
ist geschlossen. Das ist so bei vornehmen Konzerts.«

Das Konzert des »Quartetts Altenroda« war boykottiert worden. Die
ganze sangesfreudige Stadt Altenroda war nun einmal in drei Lager
eingeteilt, je nach der Zugehörigkeit zu einem der drei Gesangvereine;
jedes Lager war bis zur Lächerlichkeit vereinsmeierisch und hielt auf
strengste Disziplin. Parole war Parole. Wehe dem, der da nicht Stange
hielt! Und hier bei Cyrills Konzert hieß in allen drei Vereinen die
Parole: »Nicht hingehen!« Die »Harmonie« haßte Cyrill wegen seines
Verhaltens im Harmonie-Konzert. Der Kirchenchor war neidisch auf
Liesel Tilgner, die »wohl die Einzige sein wollte, die was könnte«. Der
Verein »Frohsinn« hatte »seinen Freund und Ehrenmitglied« August Stumpe
wider alle anderslautenden Zusagen eingebüßt; denn August Stumpe hatte
sich seit langem dem Verein ferngehalten, nicht einmal an dem großen
Schweineschlachtfest-Wettsingen hatte er sich beteiligt.

Also Parole: »Nicht hingehen!«

Die wenigen, die dennoch gekommen waren, es waren sechsundzwanzig,
waren Außenseiter. Nur die »unreife Jugend« hatte sich davon, das neue
Quartett zu hören, nicht abhalten lassen. »Weil es doch ein Feez ist,«
hatte die blonde Käthe Birke zu dem Primaner Erich Mosemmel auf dem
Hinwege gesagt.

Als das Konzert aus war, lungerte spazierengehend halb Altenroda in der
Nähe des Konzertraumes auf Nachrichten, »wie es eigentlich gewesen sei«.

Käthe Birke, die mit dem Primaner Erich Mosemmel nach Hause ging und
ihren Eltern begegnete, erstattete Bericht.

»Es war himmlisch! Ich habe nie geglaubt, daß es etwas so Schönes gibt.«

Das Kind hatte Mühe, zwei halbe Tränen in die Blauaugen
zurückzudrängen, als es das sagte.

»Ja,« bestätigte Erich Mosemmel, bedeutend forscher im Ton; »es war
tadellos!«

Und es ging noch am selben Abend ein Gesumme in der Stadt, das Konzert
sei herrlich gewesen. Und noch am selben Abend erwogen zwei Männer, ob
sie nicht am besten Selbstmord verübten: Cyrill und der Dachdecker. Der
Apotheker nahm es fast ebenso tragisch wie diese beiden; er betrank
sich im Giftgadern ganz unverünftig. Liesel Tilgner flennte sich
halbtot, einmal, weil der Tenor in seinem Unglück über das schlecht
besuchte Konzert fast gar nicht mit ihr gesprochen hatte, und dann,
weil ihr Vater, der Kirchenchordirigent, der noch immer gegen ihre
Beteiligung am Quartett war, gesagt hatte, der »Reinfall« wäre eine
gerechte Strafe für ihren kindlichen Ungehorsam. Ach Gott, es ist auch
schwer, als »Kind« von einunddreißig Jahren immer noch ganz gehorsam zu
sein.

Nur Sabinchen aß nach dem Konzert noch einmal tüchtig zu Abend,
lutschte eine Tüte Bonbons aus und schlief dann selig, das wunderschöne
Köpfchen auf den molligen Arm geschmiegt.

                   *       *       *       *       *

In Altenroda gab es eine Sensation.

Das Stadtblatt brachte folgenden Artikel:

»~Kunst im Winkel.~ Ach, ich alter Knabe! Ich habe geglaubt,
im Musikleben Bescheid zu wissen. Ich habe in Berlin, in Rom, in
Paris, in München mich bemüht, einen Blick hinter den Schleier der
Musik der bezauberndsten aller Göttinnen, zu tun, in ihr ewig schönes
Gesicht zu schauen. Und dann habe ich so ziemlich alles, was auf
Erden an Bedeutung singt, geigt, orgelt, flötet, klavierspielt,
opert, operettelt und Laute zupft, gehört. Ich war in einem Jahre bei
zweihundertundzwei Musikabenden. (Beileidsbesuche und Kranzspenden
dankend verbeten!) Ich hätte geschworen, daß ich nie, nie mehr ganz
freiwillig in ein Konzert gehen würde, sondern nur, wenn es höhere
Pflicht erheischt: Kritikerpflicht oder die Pflicht, einem Großen in
der Musik zu huldigen, indem man sich demütig zu seinen Füßen setzt.
Kleinstadtkunst, das war für mich so etwas wie Gurkenbau in Liegnitz,
Schnupftabakfabrikation in Ratibor, Stoffweberei in Cottbus. Alles sehr
brav, alles sehr brauchbar, ja unentbehrlich, aber mich ging's nichts
an, hatte mit ›Kunst‹ nichts zu tun. Kleinstadtkunst ging mich noch
weniger an als die vielen Dilettantenstümpereien in den Großstädten,
die nichts sind als Legierungen von Schwärmerei und Eitelkeit und
vielleicht ein bißchen Sehnsucht.

Ach, ich alter Knabe, ich alter musikalischer Globetrotter! Da bin
ich in einem entzückenden Erdenwinkel zur Winterfrische, habe wegen
Talentlosigkeit meiner Bauchmuskeln das Skifahren aufgegeben und mich
nur auf das Rodeln beschränkt, mußte mal kurz verreisen, las, wie schon
vorher tausendundeinmal, also zum tausendzweitenmal den Fahrplan falsch
und blieb also in Altenroda fünf Stunden lang ohne Weiteranschluß
sitzen. Ein Einheimischer kann sicherlich in Altenroda fünfzig Jahre
lang zufrieden und selig sein; aber was soll ein großstädtischer
Fremdling mit fünf Stunden in Altenroda anfangen? Alle Ehre der
Konditorei unter den Lauben und dem Hotel zum ›Löwen‹, sowie den dort
ausliegenden Lesezirkelheften -- aber ach, fünf Stunden sind halt
grausam lang.

Kurz und gut, ich sah ein Plakat: ›Quartett Altenroda. Konzert.‹ Ich
las das Plakat aus lauter Langerweile. Und ich fiel in einen Abgrund
von Erstaunen. Das war ein Programm, würdig eines Konzertraums, dessen
Vorbedingung aparter Geschmack ist. Wo in aller guter und böser
Geister Namen kam ein Mensch nach Altenroda, der ein solches Programm
aufstellen konnte? Und wenn nun schon einer war, der solchen Geschmack
hatte, wie konnte er die Kräfte zusammen bekommen, solch ein Programm
auszuführen? Es mußte doch greulicher Unfug dabei herauskommen.

Ich ging hin. Das Konzert sollte um acht Uhr beginnen. Ich war --
pünktlich, wie es sich geziemt -- fünfzehn Minuten vor acht da. Ein
leerer Raum. Einige Jünglinge und Jungfrauen an den Wänden. Mir wurde
bange wie einem Einsamen in der Wüste.

Und nun sangen vier Leute; ein blasser junger Mann dirigierte. Zwei
Damen-, zwei Herrenstimmen. Eine kritische Würdigung des Konzerts
will ich nicht geben, nicht etwa, wie man mancherorten sagen würde,
eine ›Rezension‹ schreiben; ich will nur als eines meiner seltsamsten
Lebensereignisse berichten, daß ich in einer deutschen Kleinstadt eine
Kunstgabe fand, die mich in Erstaunen setzte. Glückliches Deutschland,
wenn selbst in deine fernsten Täler solcher Kunsteifer und solche
Kunstreife gedrungen sind! Der Tenor des Quartetts hat prachtvolles,
wenn auch noch nicht zu voller Edelreife gediehenes Material. Die
anderen leisten (auch von strengem Gesichtspunkt aus beurteilt)
höchst Achtbares. Alle sprechen richtig, alle atmen richtig, alle
singen richtig. Der Dirigent ist ein famoser Mann, und ich segne mein
Mißgeschick, das mich in Altenroda fünf Stunden aufhielt.«

Dieser Artikel, der im Altenrodaer Stadtblatt erschien, war von
einem der gefeiertsten und gefürchtetsten Kritiker der Hauptstadt
unterzeichnet.

Jedermann, der behauptet, daß Rezensenten gemeingefährliche Subjekte
sind, hat recht. Cyrill Dietrich kriegte einen Weinkrampf vor Jubel,
als er den Artikel las. August Stumpe, der ein zerschlätertes
Winterdach ausbessern sollte, saß mit dem Zeitungsblatt in eisiger
Höhe, wäre beinahe erfroren und tat gar nichts, weder zur Ausbesserung
des Daches noch seines Seelenzustandes. Der Apotheker betrank sich drei
Tage und drei Nächte lang vor Freude, und nur Sabinchen heulte, und
zwar wegen der plötzlich ausgebrochenen Trunksucht ihres lieben Papas.

Daß aber der Artikel der kritischen Großstadtkoryphäe in dem Altenroder
Stadtblatt Aufnahme gefunden hatte, erklärte sich einfach daraus, daß
der Verleger des Stadtblattes die Bedeutung jener Koryphäe kannte.
Er war auf einige großstädtische Zeitungen abonniert. Und wenn er
jetzt eine Abonnentenreklame für sein Stadtblatt losließ, vergaß er
nie zu bemerken: Mitarbeiter u. a. Herr +Dr. X.+, der gefeierte
Musikkritiker erster Weltblätter.

       *       *       *       *       *

Es ging schon auf den Frühling zu. Im Winter blüht das Geschäft
der Dachdecker nicht. Über ein paar Notaufträge, wenn gerade das
Schneegestöber schon ins Haus dringt oder sich der Nordwind einen gar
zu groben Spaß erlaubt hat, kommt es nicht hinaus. So hatte August
Stumpe viel Zeit zum Studium, und es wurde auch jede freie Stunde
sorglich genützt. Cyrill war ein unermüdlicher Lehrer. Es war diesem
durch und durch musikalischen Manne ein Herzensglück, ein so starkes
Talent, wie das des Dachdeckers war, zu immer größerer Reife zu führen.
Schon lange waren sie über bescheidene Rollen aus Spielopern wie
»Freischütz« und »Waffenschmied« hinaus. Schon waren sie bei Wagner
angelangt. Als Cyrill das erstemal zu seinem Schüler über Wagner
sprach, stand er vor ihm wie ein begeisterter Priester, und als er ihm
die Wonnen und Wunder des »Lohengrin« erschloß, seufzte der Dachdecker
und sagte: »Das ist Musik aus dem Paradiese.«

Eines Tages fuhren die beiden miteinander nach der Hauptstadt. Im
Wartesaal zu Altenroda trafen sie sich.

»Ich habe einstweilen die beiden Fahrkarten gekauft,« sagte Cyrill.

»Ich auch!« sagte der Dachdecker.

Cyrill hatte dritter, der Dachdecker hatte zweiter Klasse gelöst.
Schließlich legten sie die vier Karten zusammen, fuhren erster und
waren schön allein im Abteil. Der Dachdecker schämte sich halb zu
Tode in dem feinen Raume und wünschte nur, daß keine anderen Menschen
einsteigen möchten.

Cyrill lächelte wehmütig.

»Sie werden bald immer erster Klasse fahren,« sagte er. »Wenn Sie erst
ein Bühnenstern sind! Und ich werde immer dritter Klasse fahren. Ich
glaube, ich bin selbst dritter Klasse.«

Dagegen erhob der Dachdecker leidenschaftlichen Protest; aber Cyrill
wehrte ab und sagte:

»Lassen Sie es gut sein. Nicht jeder kann ganz vorne stehn. Es genügt
schon, wenn er dabei ist. Heute abend im Opernhaus nehmen wir uns ganz
gute Plätze. Wohnen können wir ja in einem kleinen Vorstadthotel.«

Sie saßen in einer Loge des Opernhauses.

Lohengrin.

Das silberne Singen der Geigen mit dem Gralsmotiv setzte ein; die
Ouvertüre wogte vorüber, der Vorhang hob sich, und ein schönes
Bühnenbild zeigte König Heinrich mit den Männern von Brabant am Ufer
der Schelde.

Der Dachdecker preßte seine Hand auf Cyrills Knie, als müsse er sich
festhalten. So selig erschrocken wie er schaute einst Moses ins Gelobte
Land.

Als die Lichtgestalt Lohengrins auftauchte, diese Gestalt, die
aus Glanz und Wonnen kommt, ganz Schönheit, ganz Reinheit, ganz
Heldenkraft, ganz wundersamste Jugend, rannen dem armen Dachdecker
unaufhaltsam die Tränen über die Wangen, das Herz pochte ihm in
Seligkeit; alle Glocken klangen, alle Engel sangen; tausend Melodien
strömten ihm zu: Du bist glücklich, du bist selig, du bist im Himmel!

Aber als der Vorhang gefallen war, saß der Dachdecker stumm und mit
bleichem Gesichte auf seinem Stuhle.

Die Leute gingen nach dem Vorraume.

»Wollen wir nicht auch hinausgehen?« fragte Cyrill.

Der Dachdecker schüttelte den Kopf. Wie konnte man aus diesem Himmel
hinausgehen? Aber er war so todblaß und stierte so eigentümlich mit den
Augen, daß Cyrill fragte:

»Was ist Ihnen? Ist Ihnen nicht wohl?«

»Ach,« sagte der Dachdecker, »ach, ich erbärmlicher Kerl! So etwas
werde ich niemals können. Der Lohengrin ist wie ein Gott!«

Cyrill schwieg. Er dachte: Ganz gut, wenn du die Größe und
Schwierigkeit deiner Aufgabe erfassest. Im übrigen ist noch jeder,
der wirklich etwas kann, nicht einmal, sondern hundertmal an sich
verzweifelt. Nur die Stümper sind selbstsicher.

Im zweiten Akte, nach Elsas süßen Nachtgesängen, faßte sich der
Dachdecker am Hals und flüsterte Cyrill angsterfüllt zu:

»Mir wird übel!«

Cyrill sah mit einem Blick, daß die Sachlage hier bedrohlich wurde,
faßte August an der Hand und führte ihn hinaus. Unwillige Blicke
folgten den Störern, und Elsa sang unten auf der Bühne: »Es gibt ein
Glück, das ohne Reu,« ohne zu ahnen, daß da oben ein kunstbegeisterter
Naturmensch diese Sentenz +ad absurdum+ führte.

August Stumpe mußte sich erbrechen. Kalter Schweiß perlte ihm auf dem
Gesichte und auf den Händen.

»Na, hören Sie mal,« sagte Cyrill, der nur unwillig den Samariter
spielte, »wenn Sie sich immer im Theater so aufregen wollen, dann
taugen Sie freilich nichts für die Bühne.«

»Nein,« schöpfte August Luft, »nein, ich tauge nichts! Ich tauge rein
gar nichts! Ich bin eine unnütze Kreatur! Ich bin ein dummer Mensch.
Für mich gibt's nur eins -- weg von der Welt!«

»Blech!« sagte Cyrill zum Trost und sonst nichts. Dann führte er
August an ein Büfett und labte ihn mit einer Flasche Selterswasser.
Von drinnen drangen die Hochzeitshymnen des großen Kirchgangs. August
strebte wieder hinein.

»Nicht um die Welt!« sagte Cyrill und hielt den Dachdecker zurück.

Da lehnte sich August Stumpe in seinem todjämmerlichen Zustande an
eine Säule, und Cyrill stand neben ihm in dem leeren Restaurationsraum,
und beide machten einen unvorteilhaften Eindruck.

Wie sie so dalehnten, kam ein kleiner dicker Herr mit einem Hornzwicker
auf der Nase vorbei, musterte sie, blieb stehen, ging vorüber, blieb
wieder stehen, guckte sich um und kam plötzlich heran.

»Also, da möchte ich doch wetten, Sie beide sind aus Altenroda.«

Cyrill und August erschraken, als ob sie entlarvte Verbrecher seien,
und einer von beiden sagte: »Ja, ja, ja!«

»Habe ich Sie doch erkannt,« schmunzelte der alte Herr vergnügt. »Ja,
mein Physiognomiengedächtnis! Also die Leute vom Quartett Altenroda.
Sie der Dirigent, Sie der Tenorist! Weiß alles, weiß alles! War ja in
Ihrem Konzert. Sind also da mal hergekommen in die Oper -- was? Und da
ist Ihnen wohl schlecht geworden? Sehen ja ganz verdaddelt aus?«

»Ja,« sagte Cyrill, der den gewaltigen Musikkritiker von dazumal
inzwischen erkannte oder wenigstens ahnte, »meinem Freunde wurde übel.«

»Er ist doch nicht Sänger von Beruf? Was ist er denn?«

»Dachdecker.«

»Dachdecker? So, so -- Dachdecker! So -- heidi -- ganz oben! Ganz oben,
direkt am Kirchturmknopf! Dachdecker! Und singt! Und fährt mal in die
Oper! Opfert Geld! Siebzehn Mark zweiter Klasse hin und her! Weiß
ich! War ja doch in der Gegend. Siebzehn Mark! Und dann die sonstigen
Spesen. In die Oper! In den ›Lohengrin‹! Und hört dann hier solches --
solches -- und wird ihm schlecht.«

Der kleine dicke Herr mit der Hornbrille nahm Cyrill etwas auf die
Seite.

»Sagen Sie mal -- der Mann hat sich wohl direkt erbrochen? Das sieht
man ihm doch an!«

»Ja,« sagte Cyrill, »es wurde ihm übel. Schon nach dem ersten Akt wurde
ihm ganz benommen.«

»Hatte er denn vorher getrunken oder sich den Magen verdorben?«

»Durchaus nicht! An der Übelkeit ist nur die Oper schuld.«

Der Dicke funkelte Cyrill mit den Brillengläsern an.

»Die Oper! War denn -- dieser -- dieser Dachdecker schon öfter in der
Oper?«

»Nein, es ist die erste, die er hört.«

Der Dicke rieb sich die Glatze.

»Das ist fabelhaft! Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Sehen
Sie, man müßte doch annehmen, auf eine so naive Haut, wie es ein
Dachdecker aus Altenroda ist, müßte die erste Oper, die er hört,
mächtigen Eindruck machen, sie müßte ihn begeistern. Aber nein!
Wenn er ein musikalisches Talent ist (und das ist Ihr Dachdecker
in ganz hervorragendem Maße), wenn er ein musikalisches Innenleben
hat, wird ihm bei einer solch gottserbärmlichen Aufführung, wie die
heutige ist, einfach schlecht. Er kotzt! Er verachtet die ganze
Bande. Der ›Lohengrin‹, der heute hier auf Engagement zu singen die
Verbrecherstirn hat, soll sich auf einen Misthof als Kikerikihahn
vermieten. Ja, das soll er! Das schreibe ich morgen in meine Kritik.
Als Kikerikihahn auf einen Misthof vermieten! Selbst ein wirklich
musikalischer Dachdecker aus Altenroda hat das herausempfunden.«

Auf diese Rede hin sagte Dietrich Cyrill weder »ja« noch »nein«. Er war
zu erstaunt über diese Wendung der Dinge.

»Also,« fuhr der Dicke fort, »ich habe damals über Ihr Konzert an Ihr
Stadtblatt einige Zeilen gerichtet. Es machte mir Spaß. Ich wollte auch
den Spießern aus Altenroda, die Ihrem Konzert ferngeblieben waren,
eines auswischen. Ich habe mich damals über Ihre Leistungen gewundert.
Aber noch mehr wundere ich mich heute. Daß einem Naturkinde bei der
ersten Oper, die es hört, schlecht wird, nur weil schlecht gesungen
wird -- sehen Sie, das ist ein psychologisch rasend interessanter Fall.
Das ist ein Testimonium so elementaren Schönheitswillens, daß ich
erstaunt bin.«

Der Dicke ging nun zu dem Dachdecker, der mit einem weidlich dummen
Gesicht immer noch an der Säule stand, und sagte:

»Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Übelkeit! Wundern Sie sich nicht, daß
mir nicht auch übel geworden ist! Verachten Sie mich deswegen nicht!
Ich bin abgehärtet bis aufs äußerste. Ich kann Seifenlauge vertragen,
weil ich berufshalber tausendmal habe Seifenlauge schlucken müssen.
Verstehen Sie das?«

August wußte nicht, was der ›Lohengrin‹ mit Seifenlauge zu tun habe,
aber er nickte mit dem Kopf. Ihm war alles egal.

Nun war drinnen der zweite Akt zu Ende; die Leute strömten in den
Restaurationsraum. Der kleine Dicke zog eine Visitenkarte aus der
Tasche, überreichte sie Cyrill und sagte:

»Da ist meine Adresse! Es würde mich freuen, wenn Sie mich mit Ihrem
Freunde morgen besuchten. Am besten zwischen elf und zwölf Uhr.«

Dann ging er.

Während des dritten Aktes saß August Stumpe wieder in seligen
Schauern da. Es wurde ihm nicht mehr übel. Am Schluß nur, bei der
Gralserzählung, rannen ihm heiße Tränen über die Wangen. Er klatschte
keinen Beifall. Ganz still saß er noch, als die meisten Leute schon
gegangen waren, und verließ als einer der letzten das Theater, Leuchten
in den Augen und einen Schimmer von Verklärung auf dem Gesicht.

In einem kleinen Vorstadthotel hatten Cyrill und August ein gemeinsames
Zimmer inne. Der Dachdecker saß auf seiner Bettkante und träumte.
Cyrill störte ihn nicht.

»Wie ein Gott hat er gesungen -- wie ein Gott!«

Da meinte Cyrill:

»Lieber Freund, ich gebe Ihnen einen guten Rat; wenn wir morgen bei
dem kleinen Doktor sein werden, sagen Sie kein Wort über die heutige
Aufführung, kein einziges Wort!«

»Warum nicht?« fragte Stumpe.

»Weil es sich nicht ziemt, daß ein Anfänger in Gegenwart einer solch
anerkannten Größe seine eigene kritische Meinung zum Besten gibt.«

»Das ist richtig!« sagte der Dachdecker. Nach einem Weilchen stand er
auf.

»So hat er dagestanden!« sagte er in seliger Versunkenheit, »so die
Augen ganz in die Ferne gerichtet nach Monsalvat, weit über alle Länder
und Menschen hinweg. Und so hat er gesungen: ›Im fernen Land, unnahbar
Euren Schritten, steht eine Burg, die Monsalvat genannt ...‹«

Und nun sang August Stumpe erst leise, dann mit immer vollerer Stimme
die Gralserzählung, und Cyrill hörte ihm glückselig zu. Sein Schüler
sang die Gralserzählung wirklich viel schöner als der Tenor auf der
Bühne, und was den Dachdecker heut so begeistert hatte, war ja auch
nicht die wenig hohe Kunst jenes Bühnentenors gewesen, sondern das
Theater selbst, in das dieser begnadete Künstler als ein verbannter
Königssohn zum erstenmal wie in eine Heimat gekommen war, in die er
gehörte.

»Mein Vater Parsival trägt seine Krone, sein Ritter ich, bin Lohengrin
genannt ...«

In einer Gloriole glühender Tonfarben sang der Dachdecker den Schluß
der Gralserzählung.

»Ruhe dort drin! Die Herrschaften schlafen schon!«

Das war der Nachtportier.

»Nein!« brüllte ein Handlungsreisender, der im linken Nebenzimmer
schlief, »er soll weitersingen. Der Mann singt großartig.«

Die Tür zum rechten Nebenzimmer öffnete sich; die Nachthaube einer
alten Jungfer erschien, und eine Stimme flötete:

»O, Herr Portier, bitte, lassen Sie ihn weitersingen. Es ist himmlisch!«

»Nein,« sagte der grobe Portier, »es ist nicht himmlisch, sondern es
ist Nacht. Die Leute wollen schlafen.«

Aus dem oberen Stockwerk rief einer grob die Treppe herunter:

»Was ist denn das für ein Radau da unten? Ruhe will ich!«

Das war August Stumpes erster Erfolg und Mißerfolg in der großen Stadt.

»Publikum!« sagte Cyrill. »Publikum!«

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Vormittag zwischen elf und zwölf Uhr war August Stumpes
Schicksalsstunde. Der kleine Doktor hatte die beiden mit den Worten
empfangen:

Ȇber gestern wollen wir nicht mehr reden. Wir wollen in diese Stimmung
nicht zurückfallen. Ich habe mir den Ärger in meiner Nachtkritik von
der Leber heruntergeschrieben, und Ihnen ist, wie ich sehe, ja auch
wieder besser.«

Er führte sie in ein schönes Musikzimmer.

»Sie sollen mir was erzählen,« sagte er; »von dem Musikleben in
Altenroda sollen Sie mir was erzählen.«

Cyrill erzählte kurz und schlicht von der Gründung und Ausbildung des
Quartetts.

»Wo und bei wem haben Sie studiert, Herr Dietrich?«

Cyrill gab Auskunft, und der Doktor brummte.

»Und da sitzen Sie in Altenroda? Was machen Sie denn da?«

»Ich warte auf eine Anstellung als Kapellmeister. Ich bin arm und
muß bei meiner Tante wohnen, die meine einzige Verwandte ist. Einige
Angebote habe ich gehabt; es waren aber so untergeordnete Institute,
daß ich lieber in Altenroda weiter darbe. Ich habe auch eine Oper
geschrieben.«

Der Doktor stand auf und unterbrach Cyrill.

»Oper geschrieben? Als Kapellmeister? Das ist nichts! Kapellmeister
sollten nie Opern schreiben, Theaterdirektoren und Bühnenleute nie
Dramen dichten. Wissen Sie, was das ist? Inzucht ist das! Kommen
meist Wechselbälger heraus! Mache! Technik! Kulissenverwendung!
Gebrauchsgegenstände +pro loco+! Nein! Ist nichts! Jeder bei
seinem Fach! Ein General soll nicht zugleich Armeelieferant sein.«

Damit war Cyrill abgefertigt, und August Stumpe kam an die Reihe.

»Singen Sie mir was vor! Die Tonleiter!«

August Stumpe sang die Tonleiter auf do, re, mi ...

»Na weiter! In die zweite Etage! Noch mal von unten an!«

Stumpe sang zwei Tonleitern.

»Also,« sagte der Doktor, »das war in ›a‹. Nun versuchen Sie es mal
einen halben Ton höher, in ›b‹«.

Als August Stumpe sofort das »b« richtig traf, unterbrach ihn der
Doktor und sagte:

»Gut! Ich weiß Bescheid! Nun singen Sie mir noch irgend etwas aus einer
Oper. Was möchten Sie sich wählen?«

»Die Gralserzählung!«

Darüber machte der Doktor ein saures Gesicht. Diese Wahl mißfiel ihm.
Aber er sagte:

»Meinetwegen. Nach der Seifenlauge gestern ...«

Und er schlug den Klavierauszug zum »Lohengrin« auf. August Stumpe
sang. Nicht ganz so in Verklärung und Entzückung wie gestern Abend,
aber doch gut.

Am Schluß sagte der Doktor, dem hinter der Brille die Augen funkelten:

»Also -- das können Sie noch nicht. Selbstverständlich noch nicht. Aber
in einem Jahre werden Sie es wahrscheinlich können. Nun, mein Lieber,
das Dachdecken hört jetzt auf, und wenn es allen Bürgern in Altenroda
in die Bude regnet. Und wenn in der Konditorei unter den Lauben der
Kaffee verwässert, und wenn alle Journale im ›Löwen‹ verfaulen -- das
Dachdecken hört auf! Absolut und sofort! In einem Monat sind Sie hier.
Ich werde für einige Mäzene sorgen, die Ihren Unterhalt bestreiten und
Ihnen die geeigneten Lehrer verschaffen. Alles andere findet sich dann
für Sie von selbst.«

Nach einigen Abschiedsworten waren die beiden entlassen.

                   *       *       *       *       *

Sie saßen in einer kleinen Weinstube. August Stumpe hatte ein
knallrotes Gesicht. Er hatte Fieber. Seine Lebensstraße war plötzlich
von glühweißem Sonnenlicht übergossen. Das blendete ihn, der so lange
im Schatten gelebt hatte. Völlig verwirrt war er. Er tastete nach
Cyrills Hand; die war eiskalt. Cyrills Aussichten auf eigenes Glück
waren vernichtet. Der kleine Doktor hatte ihn fallen lassen, und der
bunte Vogel, den er gezüchtet und gepflegt, auf den er seine Hoffnungen
gesetzt hatte, flog davon.

August Stumpe versuchte ein Gespräch herbeizuführen, es mißlang.

»Lassen Sie mich!« sagte Cyrill verstört, »ich muß mich erst darein
finden!«

»In was müssen Sie sich finden?«

Cyrill gab keine Antwort. Er sank in die Sofaecke der kleinen Nische,
in der sie saßen, und schloß die Augen. Ganz ruhig saß er. Nur die
Brust zuckte manchmal in innerem Krampf.

Der Kellner legte leise ein paar Zeitungen hin. Der Dachdecker sah
eine Weile bestürzt und verängstigt auf Cyrill, dann glaubte er,
der schlafe, und er blätterte vorsichtig, um kein Geknittere zu
verursachen, in einer Zeitung. Da fand er die Nachtkritik des Doktors
über die »Lohengrin«-Aufführung.

»In einer kleinen Dingsda-Stadt lebt ein Dachdecker, der musikalisch
ist und durch einen Zufall zu einer sachgemäßen musikalischen
Ausbildung gekommen ist. Dieser Mann wandte seinen kargen, auf
halsbrecherischem Höhengelände erworbenen Lohn an, um mal in unserer
Oper den ›Lohengrin‹ zu hören. Der Unglückswurm geriet in die
Aufführung, in der gestern Herr Edmund Tolschmusen auf Engagement
als Lohengrin debutierte. Und dem musikalischen Dachdecker wurde
schlecht. Man stelle sich vor: ein Dachdecker, ein reiner Tor, ein Hans
Kuckindiewelt, einer, der auszog, um das selige Gruseln zu lernen,
dem wurde schlecht, der mußte sich in die Retirade flüchten, weil
Herr Edmund Tolschmusen so übererbärmlich sang, daß dem musikalischen
Naivling die Magenwände rebellierten. Herr Edmund Tolschmusen soll mal
nach Dingsda fahren und sich ein Konzert anhören, in dem der Dachdecker
singt, damit er eine Ahnung kriegt, wie gesungen werden muß. Oder wenn
er so viel Kunsteifer nicht aufbringt, soll er sich kurzerhand als
Kikerikihahn auf einen Misthof vermieten. Vielleicht zieht unser Herr
Intendant, der ihn zum Probesingen einlud, als Hühnerwärter gleich mit.
Fürs Krähen und Gackern interessiert er sich ja sicherlich.«

Großstädter sind an solche deutliche und witzige Kunstkritiken ja
gewöhnt; aber dem Kleinstadtmann verschlug's den Atem.

Mit entseeltem Gesicht starrte August Stumpe das Zeitungsblatt an. Er
las die »Kritik« ein zweites und drittes Mal, spuckte, kratzte sich am
Halse und an den Beinen und wurde nur immer verwirrter. Himmelangst
wurde ihm; als sei er verhext, so kam er sich vor. Was war denn das?
Was bedeutete denn das? Der Dachdecker war ja doch wohl er selbst? Aber
wer war denn der Kikerikihahn?

Cyrill Dietrich erhob sich plötzlich.

»Also, lieber Stumpe, ich bin wieder bei mir. Ich hoffe, ich werde
darüber hinwegkommen. Stoßen Sie mit mir an. Ich gratuliere Ihnen
aufrichtig und herzlich. Ich freue mich, daß ich der Kunst einen
solchen Jünger wie Sie habe zuführen können. Sie werden nun bald ganz
im Lichten sein, und ich werde in Altenroda Klavierstunden geben
müssen. Ich sagte es Ihnen schon gestern -- der eine erster, der andere
dritter Klasse. Das ist nun mal so im Leben.«

Da faßte August Stumpe ein unsinniger Zorn, als ihm klar wurde, daß er
aufsteigen, sein bisheriger Lehrer aber in der Tiefe bleiben solle. Er
verschüttete sein Weinglas und sagte:

»Wissen Sie, was der Doktor ist? Ein Schuft! Wissen Sie, was er in
seiner Zeitung geschrieben hat? Ich bin ein Tor, der Tenorist von
gestern Abend ist ein Kikerikihahn. Und Sie läßt er sitzen! Und von
mir sagt er, mir sei schlecht geworden, weil es im Theater so schlecht
war; dabei ist mir schlecht geworden, weil es überaus herrlich war. Der
Idiot! Ich gehe jetzt zu ihm und hau ihm eins in die Schnauze.«

Der zarte Cyrill bemühte sich ganz vergebens, den riesigen Dachdecker
aufzuhalten. Der empörte Mann riß sich los und stürmte davon. Die
Kellner wunderten sich sehr über diesen Gast.

Cyrill konnte nichts tun, als den Doktor telephonisch auf das
vorbereiten, was ihm bevorstand. Ein kollerndes Lachen rollte Cyrillen
durch den Telephonhörer als Antwort ins Ohr.

»Na, also, wenn er aufbricht, um einen Kritiker zu hauen, ist er ja
doch der geborene Bühnenkünstler! Das ist eine neue Talentprobe. Lassen
Sie ihn kommen! Und Sie, kommen Sie auch noch mal zu mir, Sie sind ja
eigentlich der +spiritus rector+ von der ganzen Geschichte. Einer,
der aus einer Dilettantensache so etwas machte, wie Ihr Quartett, der
ist ja sicher ein Kapellmeister. Der muß intelligent und vor allem
sehr fleißig sein. Fleißig -- das ist eine gute Eigenschaft für einen
Kapellmeister. Nur das eine tun Sie sich selbst zu Gefallen: sagen Sie
niemand, daß Sie eine Oper komponiert haben.«

Nach einer Stunde saßen Cyrill und August wieder zusammen.

August Stumpe hatte ein friedliches Gesicht.

»Na,« sagte er, »es war ganz nett. Gehauen haben wir uns nicht. Ich
habe ihm bloß ordentlich meine Meinung gesagt, daß es gestern im
Theater großartig war, und daß mir so schlecht geworden ist, weil
es eben so großartig war. Und da hat der Doktor so gelacht, daß ich
dachte, er erstickt. Aber dann hat er gesagt: ›Stumpe, Irren ist
menschlich. Ich habe mich in Ihnen geirrt. Wenn Sie mir gestern
abend das gesagt hätten, was Sie mir jetzt sagen, hätte ich Sie nie
und nimmer eingeladen. Ich hielt Sie aber für ein psychologisches
Monstrum. Stumpe, Sie sind kein Monstrum. Doch ein guter Sänger können
Sie werden; das habe ich inzwischen festgestellt. Und so bleibt alles
beim alten, und Ihren Meister Cyrill werde ich auch unterbringen. Ich
hab' schon was für ihn in Aussicht.«

Schön wurde es in der kleinen Weinstube! Nachmittags um vier machten
Cyrill und August Bruderschaft.

Darauf ging August Stumpe an einen Kellner heran, zerrte ihn am Ärmel
in eine Ecke und sagte:

»Ach, verzeihen, Sie, Herr Nachbar, können Sie mir sagen, wieviel
eigentlich so eine Flasche Champagner kostet?«

Der Kellner grinste.

»Das kommt auf die Marke an. Französischer Sekt etwa achtzehn Mark.«

»Warten Sie mal!« sagte August Stumpe, zog sein Portemonnaie heraus,
zählte sein Geld, rechnete umständlich auf einem Zettel mit Bleistift
etwas aus und sagte dann:

»Es langt! Bringen Sie eine!«

Der Kellner berichtete am Büfett, daß ein solch ländlicher Blödling,
wie dieser Gast war, der den Sekt bestellte, noch in keiner Weinstube
der Welt aufgetaucht sei. August und Cyrill aber saßen sich glückselig
gegenüber, nannten sich du, hatten miteinander und durcheinander
gesiegt. Und einmal bückte sich August schnell nieder und küßte dankbar
Cyrills feine weiße Dirigentenhand.

                   *       *       *       *       *

Als die beiden nach Altenroda heimkamen, fand jeder auf seiner Stube
eine gedruckte Mitteilung vor, die niederschmetternd war.

Der Apotheker zeigte die Verlobung seiner einzigen Tochter Sabine mit
dem Provisor seiner Firma an.

Sie waren mit dem Abendzug spät eingetroffen. Nun kam eine trostlose
Nacht. Jeder war einsam für sich mit seiner Verzweiflung. Jeder saß vor
dem schrecklichen kleinen Blatt, das den Verlust des Liebsten auf der
Welt kundtat; jeder hatte wildes Weh im Herzen; jeder war vom Himmel in
die Hölle gefallen.

Was war der herrlichste Weg, der sich wie durch ein Wunder erschlossen
hatte, wenn das selige Ziel, zu dem er führen sollte, für immer
verschwand?

Das Naturkind, den Dachdecker, packte es am schlimmsten. Er dachte an
nichts weiter, als daß es aus sei mit aller Lebenshoffnung, daß er nie
mehr singen würde, daß er sterben müsse.

Gegen Mitternacht hielt es August nicht mehr aus in seiner Einsamkeit.
Er wußte niemand, dem er sich anvertrauen konnte, als Cyrill. So
verließ er das Haus, um, wenn es möglich wäre, noch zu Cyrill zu
gelangen. Und August begegnete Cyrill auf der menschenleeren,
nächtlichen Straße.

Sie erschraken vor einander.

»Ich wollte zu dir!«

»Und ich zu dir!«

Cyrill erkannte blitzschnell, wie es um den Dachdecker stand; der
Natursohn ahnte von dem andern auch jetzt noch rein nichts. Er war nur
von seinem eigenen Herzeleid überwältigt, fiel Cyrill um den Hals und
begann laut zu schluchzen. Wie weichmütig war doch dieser starke junge
Mann!

Cyrill stand steif und still. Wie ein Steinbild stand die
feingliederige Gestalt, an die sich der weinende Riese lehnte.

»Komm mit mir!« sagte er erst nach einer ganzen Weile.

Sie gingen durch den Frühlingssturm. Wolken jagten über ihnen, löschten
alte Sterne aus und enthüllten neue Sterne.

In Cyrills Stube saß der Dachdecker auf dem kleinen roten Plüschsofa.
Er saß mit gefalteten Händen und sagte mit ernster Feierlichkeit in der
Stimme:

»Cyrill, du bist mein Freund geworden. Dir allein kann ich mich
anvertrauen. Ich kann nicht mehr leben. Ich kann es nicht ertragen, daß
Sabine einem andern gehört. Ich muß sterben. Aber ich habe noch eine
alte Mutter. Die ist fromm. Die würde es nicht überleben, wenn der Sohn
so ein -- ein Selbstmörder wäre. Sie würde glauben, daß mich dann der
liebe Gott auf ewig verwirft.«

Er machte eine Pause. Cyrill saß ihm schweigend und düster gegenüber.

»Ich habe die Sabine zu sehr geliebt,« fuhr der Dachdecker fort. »Ich
habe die ganze Sache beim Quartett nur ihretwegen mitgemacht; ich habe
auch bloß ihretwegen zur Oper gewollt. Das ist nun alles aus. Cyrill,
du weißt, ich habe einen gefährlichen Beruf. Wenn du nun mal hörst,
der August Stumpe ist abgestürzt, da weißt du Bescheid. Du sollst es
wissen, sonst soll es niemand wissen, vor allen Dingen nicht meine
Mutter. Aber eine soll es noch wissen -- Sabine! Der sollst du es
einmal heimlich sagen. Sie soll wenigstens einmal eine halbe Stunde um
mich leiden.«

Cyrill sagte auch jetzt noch nichts. Er setzte sich an sein altes
Klavier und begann ganz leise zu spielen. Der Dachdecker lag lang auf
dem Sofa. Was sich bei ihm in naturwüchsiger Heftigkeit entlud, ging
in stiller Qual auch durch Cyrills Seele. Der spielte wohl eine Stunde
und länger. Dann stand er auf. Er war sich seiner Dirigentenpflicht
bewußt geworden. Er durfte nicht dulden, daß jener andere dort die
schöne Symphonie seines Lebens umwarf und vernichtete. Er war wie jener
in Irrnis und Wirrnis, aber er war der berufene Führer, der den andern
befreien mußte.

Cyrill zog eine Schublade auf, nahm ein Notenblatt heraus und legte es
vor August Stumpe hin.

»Da -- lies das!«

Der starrte erst geistesabwesend auf das Blatt. Als er aber den Namen
Sabine sah, griff er gierig zu.

»Daß ich dich liebe ...« -- »Sabine gewidmet.«

Und er las den Text. Verwirrt fragte er.

»Was bedeutet das? Ist das Lied von dir?«

»Ja.«

»Und es ist auf Sabine gemacht? Dieses Liebeslied?«

»Ja.«

Der Dachdecker sprang auf.

»Dann hast du ja auch -- du auch ...«

Seine Augen glommen feindselig, seine Fäuste ballten sich. Cyrill stand
ganz ruhig da.

»Ja, ich habe sie auch geliebt. Ebenso sehr wie du. Und bin nun ebenso
um mein Glück betrogen wie du.«

»O Gott! -- O Gott!«

Der Dachdecker sank auf das Sofa zurück.

»Und -- und was wirst du tun?«

»Ich werde mir nicht das Leben nehmen. Ich habe eine andere Ansicht
von dem, was ich noch im Leben zu tun habe, eine andere Ansicht von der
Kunst als du. Gewiß, ich habe jenes Mädchen geliebt, aber ich liebe
noch viel mehr die Musik. Der werde ich treu bleiben; die wird jetzt
meine Braut sein. Die ist jeden Tag schön, jeden Tag lieb, jeden Tag
tröstlich, jeden Tag die beste Gefährtin. Die wird nie alt.«

»Ja du -- ja du!« rief der Dachdecker leidenschaftlich. »Du bist ein
großer, gelehrter Künstler. Ich bin ein Stümper, ein Anfänger. Außer
dem, was ich von dir kann, kann ich nichts. Für mich ist's aus!«

»Für dich ist's nur aus, wenn du ein ganzer Narr bist! Du bist ein
Anfänger. Aber in zwei Jahren wirst du schon an erster Stelle stehen
und ich an einer zweiten oder dritten Stelle. Wer weiß, ob ich je eine
erste Stelle erreiche. Aber selbst das, was ich bin und was ich kann,
werfe ich nicht weg um das schöne Gesicht eines Mädchens.«

August Stumpe saß ganz still da. Nach einiger Zeit sagte er:

»Cyrill, du bist mein Freund, der einzige wahre Freund, den ich habe.
Du bist hundertmal klüger als ich. Dir werde ich folgen.«

»Sieh,« sagte Cyrill, »wir sind wirklich Freunde. Als uns heute
unerwartet dieses Unglück traf, lief einer zum andern in seiner Not.
Und wir begegneten uns mitten in der stürmischen Frühlingsnacht. Das
hat was zu bedeuten! Wir sollen beieinander bleiben.«

»Ja, das sollen wir,« rief August Stumpe. »Das sollen wir! Ich werde
alles tun, was du willst!«

Da hatte die Dirigentenseele Cyrills eine zarte Freude über den
gefügigen Sänger.

»Ich will ganz aufrichtig zu dir sein,« sagte Cyrill; »du warst mir
anfangs auch nur ein Mittel zum Zweck. Ich erkannte deine Begabung und
sagte mir, durch dich könne ich wohl selbst zu etwas kommen. Und so ist
es ja auch geworden, wenn auch etwas anders, als ich es anfangs dachte.
Wir sind uns auf dem Lebenswege begegnet, und ich glaube, es war für
beide ein Glück. Und wenn es nun mit Sabine so ganz anders gekommen
ist, als wir beide es wünschten -- jeder ganz für sich selbst -- so ist
doch in dem Unglück das Glück, daß wir beide Freunde bleiben können.«

»Ja, richtig,« rief August Stumpe, »wenn ich die Sabine bekommen hätte,
dann hätte ich ja dich wohl verloren. Und umgekehrt auch. Und das wäre
schrecklich gewesen.«

»Ja,« sagte Cyrill, »und nun wollen wir beraten, was zu tun ist.«

                   *       *       *       *       *

Um vier Uhr früh ging der Dachdecker nach Hause und fing sofort an,
seine Sachen zusammenzupacken. Um neun Uhr hoben die beiden Freunde
ihre Sparkassenguthaben ab. Um zehn schickten beide einen Blumenstrauß
mit einer kurzen Gratulation nach der Apotheke.

Gegen Abend verließen Cyrill Dietrich und August Stumpe Altenroda. Ein
Bote brachte einen Brief in die Apotheke:

»Sehr geehrter Herr Apotheker!

Mein Freund August Stumpe hat Aussicht, bei der Oper anzukommen; ich
werde wahrscheinlich eine Kapellmeisterstelle erhalten. Wenn Sie
diesen Brief lesen, haben wir beide Altenroda bereits verlassen.
Einen Abschiedsbesuch wollten wir nicht machen, um das Glück der
jungen Braut nicht zu stören. Wir danken Ihnen für die in Ihrem Hause
empfangene Gastfreundschaft und wünschen, daß es Ihnen gelingen möge,
die durch unseren Fortzug im Quartett Altenroda leergewordenen Plätze
neu zu besetzen.

  Cyrill Dietrich.«

Über diesen Brief war sich der Apotheker noch nicht im klaren, als er
in Zorn und Schmerz bereits die dritte Flasche Burgunder getrunken
hatte.

Das Sabinchen lag im Bettchen und flennte. Es waren so nette Leute
gewesen, der Cyrill und der Dachdecker. Und so schöne Musik hatten sie
gemacht. Eigentlich waren sie netter als der Provisor, den sie bloß
nahm, daß die Apotheke später nicht in fremde Hände kommen sollte.
Jetzt würden die beiden berühmte Künstler werden in der großen Stadt.
Und sie mußte in Altenroda versauern.

Sabinchen flennte.

Und über allem Flennen schlief sie ein, das herzige Köpfchen auf den
molligen Arm geschmiegt.

Ein kleiner Gott saß auf dem Bettende. Er lächelte ein wenig spöttisch
und wunderte sich gar nicht, als auch das Sabinchen im Schlaf plötzlich
mit dem Flennen aufhörte und zu lächeln begann. Der kleine Gott wußte:
jetzt träumt sie von dem schönen Brautkleide, das sie haben wird. Das
ist ihr die Hauptsache. Und das hat sich doch gut gemacht, daß die
keine Künstlerfrau geworden ist. Inzwischen trug der Schnellzug Cyrill
Dietrich und den Tenoristen August Stumpe fort aus dem Musikleben
Altenrodas ins Leben der großen Welt.




                            Der Schuldturm

                            Drei alte Mären


  Es gäbe eine dicke Chronik, wenn einer die Geschichte des
  Schuldturmes von Altenroda aufzeichnete. Denn ob Altenroda auch
  immer nur eine geringe Stadt war, seine Bewohner waren allzeit ein
  helles Völklein: voll Biederkeit, aber manchmal, wenn des Teufels
  Stern regierte, auch voller Grausamkeit. Drei Stücklein sollen hier
  erzählt werden: das traurige Schicksal des Meisters Michael, die
  Geschichte vom törichten Kaspar und die Abenteuer des Köhlers vom
  Eulenwalde, der ein kurioser Mann war, aber doch auch seine bitteren
  Erfahrungen mit dem Altenrodaer Turme machte.




              Das traurige Schicksal des Meisters Michael


Das war in rotgoldener Herbstzeit, am Tage Michaeli, als ein
Wandersmann mit leichtem Ränzel den Ochsenkopf, der südlich die Stadt
Altenroda überragt, herunter stieg und an der Wegbiege, wo das Bild des
heiligen Michael steht, Halt machte. Von dort aus überschaut man die
ganze Stadt, samt dem Eulenwalde, der grünen Aue und der Poststraße,
die in die Ferne führt.

Der Wanderer, der aus dem Dunkel der Bäume trat, und plötzlich das
schöne Bild vor sich sah, breitete die Arme aus, ein Beben lief über
seine junge Gestalt, und die braunen Augen wurden feucht. Wohl öffneten
sich auch die Lippen, sie brachten aber kein Wörtlein hervor. Hätten
sie sprechen können, es wäre ein einziger Schrei gewesen: »Heimat!
Liebe Heimat!« So sank der Jüngling ins Herbstgras, lehnte den hübschen
Kopf an den Sockel des Heiligenbildes und sah in wortloser Seligkeit
hinunter auf seine Vaterstadt.

Er war lange fort gewesen, über acht Jahre. Als er auszog in die Welt,
war er ein zweiundzwanzigjähriger Jüngling, und jetzt war er ein
Mann. Gestern war er dreißig Jahre alt geworden und heute war sein
Tauf- und Namenstag: Michael. Am längsten war Michael drunten in der
Stadt Nürnberg gewesen; dort hatte er alle Wunder geschaut, die von
Malern und Zeichnern, Kupferstechern und Goldschmieden, Baumeistern
und Gießern verrichtet worden waren. Und nun war Michael selbst ein
Meister in der Kunst der Uhrmacherei geworden. Sein großes Uhrwerk,
das er in dreijähriger Arbeit in Nürnberg geschaffen hatte, war von
den dortigen Meistern mit höchstem Lobe bedacht und von der Volksmenge
bestaunt worden; der Abt eines reichen Klosters hatte es für gutes Gold
erworben, und es hatten sich nun allerhand mächtige und reiche Herren
gefunden, die geneigt waren, den Meister Michael in ihre Dienste zu
nehmen, sogar des Bayern Kurfürstliche Gnaden und der hochwürdigste
Herr von Bamberg. Michael aber, dem das Geld des Abtes reich im Beutel
läutete und dem etwas anderes noch viel schöner im Herzen klang, sagte
den Herren ehrerbietigsten Dank und begehrte Urlaub, erst einmal in
seine ferne Heimat zu reisen.

Da saß er nun bei der Bildsäule des Michael und sah hinunter auf die
liebe Stadt, die ihm draußen in der Ferne tausendmal im Wachen und
Schlafen erschienen war. Jetzt sah er sie wirklich vor sich, jetzt
brauchte er nur ein paar hundert Sprünge zu machen, dann war er mitten
drin in der Heimat.

Aber er blieb sitzen. Es war eine große Scheu in ihm; die Stimme war
ihm so verschlagen, daß er jetzt denen drunten keinen rechten Gruß
hätte sagen können.

Auf der Straße fährt der Postwagen mit seinem Gepäck. Das wird eher da
sein als er; wird ihn wohl unten schon anmelden.

Verspätete Schwalben ziehen nach Süden. Wie können sie fortfliegen von
Altenroda? Ist es nicht besser, hier zu frieren, als anderwärts in
Sommer und Sonne zu sein? Eine warme, wonnige Stunde verrinnt noch.

Da -- wer kommt den Berg herauf -- wem geht er entgegen wie ein
Taumelnder -- welch süßes Traumbild umfängt sein Blick?

»Elisabeth!«

Sie hängt leise weinend an seinem Halse, und er steht da und atmet
schwer, und er schaut empor und sieht nichts als lauter Himmel.

Als er ihr ins Auge schaut, weiß er: Treue und Reinheit hat sie bewahrt
durch acht lange Jahre.

»Ist es wahr?« fragt er endlich.

»Ja! Komm heim!«

                   *       *       *       *       *

Der Ruf von Michaels Meisterschaft war nach Altenroda gedrungen, und
die Stadt war stolz darauf, daß einer ihrer Söhne sich in der großen
Welt solchen Ruhm erworben hatte. So wurde nun Michael mit allen Ehren
aufgenommen; jedermann wollte sein Freund und Gevatter sein, und der
Tuchkaufmann Degener hörte auf, seiner Tochter Elisabeth zu zürnen,
daß sie auf den fahrenden Gesellen acht Jahre gewartet hatte. Da des
Mägdleins Truhe gefüllt und der Hausrat gerichtet war, wurde die
Hochzeit schon einen Monat später mit viel Feierlichkeit und fröhlichem
Gepränge und Gespiel begangen.

Eine Bedingung hatte der Schwieger für Einwilligung in so rasche Ehe
jedoch gestellt. Er war Ratsherr, und also brachte er selbst an Meister
Michael den Wunsch des Rates der Stadt, welcher folgender war:

»Michael, du bist ein großer Meister der Uhrmacherkunst. Du sollst
für deine Vaterstadt eine Uhr erbauen, wie sie keine Stadt im ganzen
Deutschen Reiche besitzt. Der Ruhm Altenrodas soll überall im Lande
bekannt werden, und viele Fremde sollen kommen und deine Wunderuhr
anstaunen. Nachdem die Bürger von Altenroda in harten Kämpfen mit den
Ritter von Runkelstein diesen den Eulenwald und die grüne Aue wieder
abgenommen haben, erfreut sich die Stadt solchen Wohlstandes, daß sie
dich für deine Arbeit ebenso reich entlohnen kann, wie ein fürstlicher
oder geistlicher Herr.«

Da sprach Meister Michael: »Ich hab' ein groß Werk im Kopfe. Wenn ich
es mit der Gnade Gottes zu gutem Ende führe, wird eine Uhr entstehen,
wie sie keine Stadt im Deutschen Reiche besitzt, ja nicht einmal der
König von Spanien oder der Papst zu Rom. Und ich wüßte niemand, dem ich
die Uhr lieber vergönnen würde, als der ehrenhaften Stadt Altenroda,
die meine liebe Heimat ist.«

Als diese Worte bekannt wurden, war große Freude in Altenroda, und das
Lob Meister Michaels war in aller Munde.

Sieben Jahre baute Michael an der Uhr. Er versenkte sich ganz in
sein Werk, ging sehr selten unter Menschen, was ihm wohl den Ruf
eines fleißigen Meisters, aber auch eines sonderbaren, wenn nicht gar
hochmütigen Menschen einbrachte. Frau Elisabeth allein war seine stille
Genossin. Sie hatte keine Kinder, aber sie war selbst wie ein stilles
Kind, dessen Gegenwart auch dann den Meister nicht störte, wenn er tief
im Grübeln war, wenn er rechnete, maß, zirkelte, probierte, wenn er mit
kunstgeübter Hand Rädchen feilte, geheime Federn spannte oder Wellen
einsetzte.

Nach sieben Jahren, just wieder am Michaelisfeste, war die Uhr fertig
und in den Rathausturm eingebaut. Vier breite Abteilungen lagen
übereinander. Die oberste und größte zeigte die Allmutter, die Sonne.
Um die Sonne drehte sich die Erde und um die Erde der Mond. Und es
waren nicht nur die Stunden und Minuten zu sehen, wie bei jeder Uhr,
sondern auch Tag und Jahr waren verzeichnet und sollte selbst in
einem Schaltjahr niemals ein Irrtum im Datum vorkommen. Sodann gab
die Uhr die Mondviertel an und sollte auch in hundert Jahren noch
alles damit stimmen. An der Umdrehung der Erde um die Sonne waren die
vier Jahreszeiten zu erkennen und konnte jedermann deutlich sehen, in
welchem Winkel die Sonnenstrahlen auf die Stadt Altenroda fielen, deren
Platz auf dem Globus durch einen glitzernden Demantstein bezeichnet war.

In der zweiten Abteilung waren Licht und Nacht verkörpert als die
Symbole von Gut und Böse. Im linken und rechten Seitenfelde lauerten
Satanas und andere Geister der Finsternis. Öffnete sich aber am
Morgen das Mitteltor, dann erschien Michael, der lichte Sieger des
Himmels. Seine strahlenden Augen waren auf die Stadt gerichtet, deren
Schutzpatron er war, auf silbernem Schilde standen mit goldener Schrift
die Worte: »+Quis ut deus?+« Wer ist wie Gott? Sein Schwert war
ein flammender Blitz. Wenn St. Michael erschien, schön wie der junge
Tag, dann verkrochen sich Satanas und die andern Geister der Finsternis
in die tiefsten Schatten. Um Mittag erschienen auf dem dritten Felde
würdevoll einer nach dem andern die zwölf Apostel: Petrus mit den
Schlüsseln des Himmelreiches, der greise, gebückte Andreas mit seinem
Kreuze, Jakobus mit der Keule, der zarte Johannes, der Liebling des
Herrn, und so die ganze Reihe durch, bis Judas mit dem Geldsack die
heilige Reihe unheilig abschloß.

Auf dem untersten Felde kamen zur Abendzeit die heiligen drei Könige
gegangen. Man sah ihnen an, daß ihr Weg ein weiter gewesen war. Müde
ließen sich die Kamele am Halftergurt ziehen. Aber die drei Männer,
die das Heil der Welt suchten, schauten gläubig und mutig gerade aus.
Und siehe, ihr Ziel war nahe. Ein Stern senkte sich auf ein niederes,
mit Stroh gedecktes Haus und blitzte golden auf. In das Strohhaus
gingen die Weisen aus dem Morgenlande hinein. Der Stern aber leuchtete
wie ein ewiges Lämplein die ganze Nacht. Damals sagten die Mütter von
Altenroda, wenn die Kinder nicht schlafen wollten: »Pst! Am Rathaus hat
das Christkindlein schon sein Licht angezündet!« Dann huschelten sich
die Kleinen ins Bettchen und schliefen artig ein.

Zur Mitternacht aber, wenn die Sterne feierlich flimmerten oder auch,
wenn der Sturmwind die Wolken jagte, erklang vom Turme die Weise eines
Chorals, der in Altenroda damals gesungen wurde:

  ~Herr über Tag und Nacht,
              Herr über Schlaf und Wacht,
  Herr über Glück und Not,
                Herr über Leben und Tod,
  Herr über alle Zeit --
                  Preis dir in Ewigkeit!~

                   *       *       *       *       *

Als dieses Wunderwerk einer Uhr der Stadt übergeben wurde, geriet
alles vom Bürgermeister und Ratsherrn an bis zum ärmsten Werkelmann
und bis zum kleinen Jungen in einen Taumel von Freude. Vom frühen
Morgen, als St. Michael erschien, bis über den Mittag der zwölf Apostel
hinweg stand die Menge vor dem Rathause; sie stand noch, als die drei
Weisen am Abend müde Einkehr hielten; sie wich nicht vom Platze, bis um
Mitternacht der Choral ertönte:

  ~Herr über alle Zeit,
                  Preis dir in Ewigkeit!~

Der Gesang brauste zum sternklaren Himmel, und es zeigte sich, welch
gewaltiger Prediger ein wahrer Künstler sein kann; denn als die Uhr
sang und als die Menschen sangen, da ging eine tiefe Erschütterung
durch alle Seelen; Tränen flossen, Männer schluchzten; alles Niedere
fiel ab vom Volke; Meister Michael hob die Herzen mit seinen Händen bis
an den Himmel.

Freudentage folgten. Wie ein König ging Michael durch seine
Heimatstadt, und neben ihm blühte als schlichte Blume Frau Elisabeth an
seinem Wege.

                   *       *       *       *       *

Meister Michael war nach der Menschen Meinung auf dem Gipfel des
Glückes angelangt. Der Rat der Stadt hatte freiwillig die ausbedungene
Summe für die Uhr zu des Meisters Ehr und Nutzen weit erhöht; der
Schwieger war gestorben und hatte der einzigen Tochter sein schönes
Patrizierhaus und sein stattliches Vermögen hinterlassen. Michael besaß
alles, was nach der Menschen Meinung erstrebenswert ist: Ruhm, Geld,
Liebe. Dazu war er gesund und schien wie ein kerniger Baum im Walde.

Ein Jahr lang ruhte der Meister von seiner Riesenarbeit aus. Dann
aber wurde er unruhig. Zwecklos erschien ihm das Leben; öde und leer
schleppten sich die Tage dahin. Auch seine Frau vermochte nicht, ihn
zu trösten. Sie war kein Spielzeug, und er war nicht der Mann, um
zu spielen. Immer mehr wuchs in ihm der Durst nach Arbeit. Zuletzt
marterte er ihn Tag und Nacht. Michael saß einsilbig bei seiner Frau,
er war mißmutig gegen die Freunde, die ihn besuchten; er wurde zornig,
wenn jemand die Uhr als sein großes Lebenswerk pries. Schließlich griff
die schlechte Seelenstimmung auch den Körper an. Müde ging Michael
einher, er hatte keine Freude an Speise und Trank, und selbst in das
schönste Abendrot sah er mit leeren Augen.

Qualvoll waren die Nächte. »Was schlafe ich denn, da ich doch nichts
getan habe, da ich doch nicht müde sein, kann?« fragte er sich. Wenn
der Choral vom Turme klang, hielt er sich die Ohren zu. Schließlich
haßte er sein eigenes Werk. Er ging nie wieder an der Uhr vorüber,
sah die Kinderschar nicht, die dort hockte wie vor einem wunderbaren
Spielzeug.

Spielzeug! Jawohl, das war es: ein kunstvolles, sauber gearbeitetes,
frommes Spielzeug. Sonst nichts! Eines Mannes, eines Meisters nicht
würdig. Kein Werk, neben dem die eigene Seele in Dankbarkeit vor Gott,
der es gegeben hat, niederkniet. Nur ein artiges Spielzeug! Kein
Meisterwerk!

Der Gram fraß an Meister Michael, und die Quelle all dieses schweren
Mißbehagens war seine Untätigkeit. Was sollte er tun? Tand fabrizieren
für Stutzer und eitle Weiber? Kleine Kirchengeräte schaffen, die jeder
andere auch recht gut machen konnte? Bürgermeisterketten erfinden,
Krummstäbe ziselieren, Schnallen an Herzogsmäntel machen, Degengriffe
für Erbgrafen, Wappen für Ritter, die nicht lesen konnten?

Nein! In solchen Kleinkram fand sich Michaels Seele nicht zurück. Sein
Gedanke war immer und immer nur die Uhr. So hineingreifen ins All, die
Blicke der Sonne belauschen, aufhorchen, wie sich die Erde langsam
durch das Universum rollt, und jede Sekunde wissen, wo sie gerade ist,
die Schrittlein abmessen, die der Mond um die Erde macht, und den alten
Nachtwandler auch nach Hunderten von Jahren noch genau zur Stunde
ertappen mit halbem oder ganzem Gesicht -- ja, das alles hatte er schon
vermocht. Ach, er mußte darüber hinaus! Das Firmament, oder doch ein
großer sichtbarer Teil! Den Abendstern aufleuchten und als Morgenstern
wiederkehren lassen, den roten Mars bringen und den königlichen
Jupiter, den Himmelswagen fahren und den Polarstern als unverrückbaren
Punkt darüber leuchten lassen, die Plejaden, den Orion auf- und
untergehen lassen, dem armen Menschen sagen: sieh, so Gewaltiges ist
über dir und um dich, und du bist so klein, und es ist alles in großer,
ewiger Ordnung, und nur dein armes kleines Herz kannst du nicht in
Ordnung bringen. Das war Michaels Traum.

Frau Elisabeth versuchte mit sanfter Hand die Fieber des Mannes zu
kühlen -- es gelang ihr nicht. Trübsinnig wurde der Meister, zuletzt
war er krank.

Aber eines Tages, nachdem er vom Morgen bis Abend draußen im Eulenwalde
ganz einsam gewesen war, kam er lachend zurück, umarmte sein Weib und
sagte:

»Elisabeth, ich habe es zwar noch nicht, aber ich ahne es. Und da ich
es ahne, werde ich es eines Tages wissen, und dann wird es sein!«

       *       *       *       *       *

Ja, eines Tages wußte er sein neues Werk. Er sprach zu niemand davon,
nicht einmal zu seiner Frau. Und er ging auf eine weite Reise. Als er
zurückkam, sagte er:

»Elisabeth, ich war in Wien. In der Kaiserstadt. Ich habe dort gute
Aufnahme gefunden. Nun wollen wir nach Wien ziehen, und dort werde ich
mein neues Werk schaffen. Es wird anders sein als das von Altenroda.«

Zu den Vätern der Stadt aber sprach Meister Michael also:

»Ihr Herren, ich habe für unsere Stadt eine Uhr geschaffen, die euer
Lob gewann. Ich bitte euch, daß ihr mich nun in Frieden entlasset.
Ich will nach Wien gehen und dort eine neue Uhr schaffen, die mein
Meisterstück werden soll.«

»Dein Meisterstück?« fragte der Bürgermeister finster; »hast du nicht
für uns dein Meisterstück geschaffen?«

»Ach, edle Herren, ich habe noch nicht das Höchste getan, das ich
vermag. Eure Uhr ist -- wenn ich das ohne Überhebung sagen darf --
meine gute Gesellenarbeit; das Meisterwerk aber steht noch aus. Lasset
mich nach Wien ziehen, damit ich es dort schaffe.«

Da entließen die Ratsherren den Meister, beriefen ihn aber am nächsten
Tage aufs neue.

»Meister Michael,« sagte der Bürgermeister, »du hast uns eine Uhr
geschaffen, die ohnegleichen ist. Wir haben Vertrag mit dir gemacht,
daß es die schönste Uhr in allen deutschen Landen sein soll. Das ist
sie bis jetzt; nichts geht über sie. Der Ruhm dieses Kunstwerkes und
damit dein Ruhm und der Ruhm deiner Vaterstadt geht durch das ganze
Land. Willst du uns diesen Ruhm nehmen, willst du deinen Vertrag
brechen?«

Da weinte Meister Michael und sagte:

»Ihr Herren, verachtet mich, hasset mich, nennet mich undankbar,
ehrvergessen der großen Wohltaten, die ich durch euch empfing --
ich kann nicht anders, ich muß mein Werk verrichten, ein Werk, das
Altenroda nicht ertragen könnte. Lasset mich um der Barmherzigkeit
Gottes und um der Kunst willen in Frieden nach Wien gehen und dort mein
Werk tun!«

Bürgermeister und Ratsherrn blickten düster, entließen den Meister und
beriefen ihn auf den nächsten Tag. Sie legten ihm eine Schrift vor und
begehrten strenge von ihm, daß er sie unterzeichne. Die Schrift lautete:

»Ich, Meister Michael Grünhuber, schwöre bei Gott, bei meiner
Seligkeit, bei der Ehre meiner Frau, bei der Ehre meiner Mutter und bei
meiner eigenen Ehre, daß ich, solange ich lebe, niemals ein Uhrwerk
anfertigen werde, das der Uhr in meiner Vaterstadt Altenroda gleichkäme
oder sie gar überträfe.«

Der Meister weigerte die Unterschrift. Er bat, er weinte, schrie und
wurde schließlich in den Turm abgeführt.

Dort saß er drei Jahre. An jedem dritten Tage wurde ihm die Schrift
wieder vorgelegt und ihm sofortige Freiheit in Aussicht gestellt, wenn
er sie unterschriebe.

Einmal wurde er der Haft entlassen. Da lag Frau Elisabeth im Sterben.
Er bettete ihr müdes Köpfchen an seine Brust, sog mit einem langen
Kusse ihre entfliehende Seele auf und bestattete sie zu Grabe. Dann
mußte er in den Turm zurückkehren.

Fünf Tage nach Elisabeths Begräbnis unterschrieb Michael das Dokument
des Rates der Stadt.

So wurde er aus der Haft entlassen und ging, ohne einen Menschen
anzusehen, nach seinem Hause.

Er lebte still drei Monate dahin und verließ das Haus nur, um Blumen
auf Elisabeths Grab zu tragen.

Im vierten Monat wollte der Meister nach Wien entfliehen. Unter
dem Wams trug er den großen Plan zu seinem Meisterwerk, den er in
drei Kerkerjahren ausgedacht und in drei Monaten seiner Freiheit
aufgezeichnet hatte.

An der Grenze des Stadtgebietes wurde er gefangen.

Der Rat der Stadt erkannte den Meister Michael Grünhuber schuldig des
Vertragsbruches, schuldig des Meineides, womit er gefrevelt habe gegen
Gott, gegen seine Seligkeit, gegen die Ehre seiner Frau, gegen die Ehre
seiner Mutter wie gegen seine eigene Ehre, erklärte ihn für schimpflich
und aller bürgerlichen Ehre verlustig und verurteilte ihn zur Strafe
der Blendung, damit es ihm nie wieder einfalle, seinen Vertrag zu
brechen und die Stadt Altenroda des Ruhmes zu berauben, die beste Uhr
in deutschen Landen zu besitzen.

Es geschah.

Meister Michael wurde des Lichtes beider Augen beraubt. Sein Vermögen
wurde eingezogen.

Als Bettler zog Michael von Tür zu Tür. Manchmal machte er Halt dort,
wo er wußte, daß im Ratsturme seine Uhr war. Den Lichtengel Michael
konnte er nicht mehr sehen, die zwölf Apostel nicht mehr, die heiligen
drei Könige nicht mehr; das ewige Lämplein über dem Stall von
Bethlehem sah er nicht mehr. Nur in der Nacht sang der Choral in seine
arme Seele.

Als Michael aber einmal tagelang vor der Uhr stand und gespannt auf
ihren Schlag lauschte, fragten die Bürger:

»Was hat er? Was ist's um die Uhr?«

Da sagte der Blinde:

»Die Uhr gerät in Unordnung. Führt mich noch einmal hinein.«

Sie taten nach seinem Willen.

Mit blinden Händen tastete sich der Meister in sein Werk.

Als er herauskam, ging die Uhr nicht mehr.

Alles Volk war so erschrocken, daß niemand darauf achtete, wie der
Blinde entwich.

Kein Mensch hat jemals wieder etwas von ihm gehört. Die Uhr aber geht
nicht bis auf den heutigen Tag. Kein Künstler späterer Zeit hat sie
wieder zum Leben zu erwecken vermocht.




                         Vom törichten Kaspar


Seit Jahrhunderten lebte die Stadt Altenroda in Fehde mit den Rittern
von Runkelstein. Diese hatten südlich der Stadt, etwa zwei Wegstunden
entfernt, ihre feste Burg und beunruhigten von da aus nicht nur die
Kaufleute, die auf der Poststraße gen Altenroda fuhren, sondern fielen
auch des öfteren keck in städtischen Besitz ein. Da gab es Hader und
Fehde oft jahrelang, bis beide Parteien den Zank satt hatten. Dann
wurde Friede geschlossen. Die Ritter brachten ihren Kaplan mit, den
einzigen, der in ihrem Burgbereich lesen und schreiben konnte, und
auf dem Rathause zu Altenroda wurde alles verhandelt, genehmigt und
unterschrieben, von den Rittern durch drei Kreuze mittels eines Pinsels
und roter Tusche, da sie einen Gänsekiel in ihren Fäusten nicht zu
erfühlen und zu halten vermochten. Es handelte sich in den meisten
Fällen um Waffenstillstand auf neun Jahre.

Die Hauptsache bei diesen Friedensschlüssen waren die darauffolgenden
Trinkgelage, bei denen die Ritter den vortrefflichen Weinen, die im
Ratskeller von Altenroda lagen, so viele Ehre antaten, daß sie in den
meisten Nächten in ganz leblosem Zustande nach ihren Herbergen gebracht
werden mußten. Mit der Zeit kamen diese Friedensfeste die Stadt
kostspieliger zu stehen als der Krieg, weshalb der ganze Rat immer tief
aufatmete, wenn die teuren Gäste endlich heimzogen.

Die Ritter hielten den neunjährigen Waffenstillstand selten länger
als neun Wochen; dann fingen die Ärgernisse von neuem an. Es ist kein
Wunder, daß die Bürger von Altenroda über solch permanente Bosheit in
gerechten Zorn gerieten.

Als es ihnen daher einmal gelang, den einzigen Sohn des Ritters, den
Junker Ottokar, auf einem besonders kecken Raubzuge zu fangen, beschloß
der Rat der Stadt, dieses Mal mit den Runkelsteinern ein für allemal
aufzuräumen.

Ottokar wurde vor das Gericht gestellt, mit Leichtigkeit vieler grober
Taten überführt und einstimmig zum Tode verurteilt.

»Indem wir den Junker fällen,« sagte der Bürgermeister, »vernichten wir
zugleich das ganze Raubgezücht der Runkelsteiner; denn auf des Junkers
zwei Augen steht das ganze Geschlecht.«

Die Stadtväter berieten nun lange über die Todesart, durch die
Junker Ottokar sterben sollte. Enthaupten schien ihnen zu sanft und
glimpflich, ihn henken oder rädern zu lassen, aber bedenklich, da
sie dann den Zorn des ganzen Adels auf sich laden würden, der solche
Todesart für einen ihresgleichen als nicht standesgemäß erachten würde.

So fand ein Ratsherr großen Beifall, als er sagte:

»Wir leben im Anfang des Monats August. Der Tag Sancti Bartholomäi,
welcher der 24. August ist, steht dicht bevor. St. Bartholomäus ist --
wie ihr Herren wohl wißt -- dadurch zu Tode gebracht worden, daß er
geschunden wurde. Wir wollen den Junker am Bartholomäustage zu Ehren
des Heiligen schinden.«

Niemand fiel das Sonderbare dieser Art Heiligenverehrung auf; denn
es war eine grobe Zeit. Alle waren vielmehr von dem Vorschlag sehr
befriedigt.

Der alte Runkelsteiner, der um seinen einzigen Sohn in begreiflicher
Sorge war, selbst zu schwach zu einem offenen Überfall und zurzeit ohne
Bundesgenossen, schickte einen Boten an die Stadt und bot dreitausend
Goldgulden Lösegeld für seinen Junker.

Der Rat der Stadt sagte sich: »Nicht drei Goldgulden hat der alte
Schlauch im Besitz, geschweige dreitausend,« stellte sich aber, äußerer
Gerechtigkeit wegen, als ob er dem Vorschlag traue, und ließ sagen,
wenn binnen drei Tagen die dreitausend Goldgulden da seien, wolle man
sich die Sache wegen seines Sohnes überlegen.

Abermals kam der Bote des Runkelsteiners. Bares Geld, richtete er
aus, hätte sein Herr eben nicht bei der Hand, wolle aber gerne einen
Schuldschein unterpinseln und, wenn es sein müsse, mit zehn, nicht nur
mit drei Kreuzen.

»Wir wollen mit dem Pinsel nichts mehr zu tun haben,« entschied der
Bürgermeister.

Der Junker Ottokar saß im Turme, und wenn er an den bevorstehenden
Bartholomäustag dachte, juckte ihn die Haut, und er kratzte sich lange
und heftig, dachte aber nicht an seine Sünden, sondern nur daran, wie
er ausrücken und dabei ein ganzes Fell behalten könne.

Zu jener Zeit lebte in Altenroda ein Mädchen namens Rosmarie. Sie
war die Tochter eines Herbergsvaters, und da der Junker Ottokar beim
letzten Friedensfeste in ihres Vaters Haus in Quartier gelegen hatte,
in den Junker tief und schmerzlich verliebt. Hatte es doch der Edelherr
nicht verschmäht, sie manchmal in die rosigen Wangen zu kneifen oder
ihren blühenden Mund zu küssen.

Dieses Mädchen aber wurde von Kaspar, dem Sohne des Turmwächters, bis
zur Unsinnigkeit geliebt. Kaspar war ein schmucker, starker Bursche,
aber sein Geist war nur von geringen Gaben.

Als das Mädchen Tag und Nacht lang um den Junker geweint hatte und
den Gedanken nicht mehr ertragen konnte, daß ihm die junge Haut samt
dem schwarzen Schnurrbarte vom Kopfe gezogen werden sollte, kam sie
auf einen Rettungsgedanken. Sie berief den Turmkaspar zu sich und tat
so schön mit ihm, daß der arme Bursche glaubte, er sei plötzlich ins
Paradies gekommen. Und dann sprach die Schlange:

»Mein schöner, allerliebster Kaspar! Wie gerne wollt ich deine Frau
werden, wenn du mir nur ein einziges Mal einen Gefallen tun wolltest.«

Kaspar schwur, daß er ihr alle Gefälligkeiten der Welt erweisen, ja,
daß er Wunder wirken wolle, wenn es nicht anders ginge.

»Wunder brauchst du nicht zu wirken,« sagte das Mädchen, »bloß
du sollst dem Junker Ottokar, der im Turme sitzt, etwas von mir
ausrichten, und du sollst ihn in der morgigen Neumondnacht heimlich aus
dem Gefängnisse herauslassen.«

»Mädel!« schrie der Kaspar. »Wenn ich das täte, gäbe mir mein Vater
wahrhaftig eine Ohrfeige.«

»Siehst du,« begann das Mädchen zu weinen, »nicht einmal eine Ohrfeige
willst du für mich wagen und sprichst doch vom Wunderwirken.«

»Eine Ohrfeige will ich schon hinnehmen,« sagte Kaspar, »auch ein paar
gebrochene Rippen. Aber, Rosmarie, was liegt dir an dem Junker? Liebst
du ihn?«

Da merkte Rosmarie, daß Kaspar eifersüchtig wurde. Sie sprach nun mit
hundertspältigen Worten auf ihn ein; erzählte, wie freundlich und
herablassend der Junker immer zu ihr gewesen sei, und daß sie den
Gedanken nicht ertragen könne, ihn so grausam gemartert zu sehen.

Kaspar brummte. Er sagte sich: sie liebt ihn! Die Eifersucht fraß an
seinem Herzen.

Rosmarie senkte das Köpfchen und faltete die Hände. Mit traurigem
Seufzen sprach sie:

»Wenn du mir also nicht zu Willen bist, so muß der liebe Junker
dahingehen, und ich sehe schon, daß du dir aus mir nichts machst. Ich
werde also sterben und dann gewiß nicht deine Frau werden.«

Da begann auch Kaspar zu weinen; denn er konnte das Mädchen nicht also
kläglich reden hören. Und ob er gleich den Verdacht nicht los wurde,
daß Rosmarie den Junker lieb habe, so hörte er doch auch, wie schön
sie zu ihm selbst sprach, und schließlich sagte er sich: Sie liebt uns
beide. Wenn sie erst meine Frau ist, werde ich dafür sorgen, daß sie
mich allein liebt.

Also willigte er in den Handel ein, worüber das Mädchen in Seligkeit
geriet. Sie gab dem Kaspar drei Küsse auf die Backe.

Es wurde nun alles genau beraten, wie das Abenteuer bewerkstelligt
werden sollte. Kaspar sollte seinem Vater, dem Turmwächter, sobald
dieser seinen tiefen Abendtrunk getan hatte, die Turmschlüssel stehlen
und den Junker durch eine Seitenpforte des Turmes ins Freie lassen.
Rosmarie wollte schon vor Toresschluß die Stadt verlassen und mit einem
Pferde, das sie von einem verwandten Bauern entlehnen wollte, in der
Nähe der Turmtüre warten. Kaspar sollte sie dann durch den Turm in die
Stadt wieder hinein lassen, und in drei Wochen sollte Hochzeit sein.

Abgemacht!

Als der Junker im Turm hörte, daß seine Rettung bevorstand, freute er
sich gewaltig, fragte aber, was das für eine Herbergstochter sei, die
ihm so dienstlich sein wolle.

»Ach Gott, doch die Rosmarie,« sagte Kaspar verwundert, »doch die mit
den roten Backen und den braunen Haaren.«

Der Ritter schüttelte den Kopf. Er sagte, es gäbe mehrere Herbergen in
Altenroda und also auch mehrere Herbergstöchter. Rote Wangen hätten
alle und Haarfarben könne er sich nicht behalten.

Darüber freute sich Kaspar. Er sagte sich, der Ritter kann sich auf
Rosmarie nicht genau besinnen, also wird er sie auch nicht allzu heftig
lieben, und ich habe sie allein für mich.

Um Mitternacht öffnete Kaspar das Ausfallpförtlein und ließ den Junker
frei. Alsbald kam mit leisem Jauchzen Rosmarie aus einem nahen Gebüsch.
Sie führte ein Pferd am Zügel und sprach leise Worte zu ihrem Ritter.
Der lachte, schwang sich aufs Roß und zog das Mädel blitzschnell zu
sich in den Sattel.

Kaspar erschrak furchtbar.

»Halt, halt,« schrie er, »was macht ihr? Das ist ja meine Braut!«

Und er hing sich verzweifelt dem Pferde an den Schweif.

»Du Tölpel,« rief der Ritter, »lauf hinter uns her! Komm auf den
Runkelstein!« Hieb dem Pferde die Faust auf den Hals, daß es aufbäumte,
ausschlug, davonraste und den armen Kaspar ins Gras schleuderte.

Der lag erst ohnmächtig, dann richtete er sich auf und befühlte seinen
Schädel.

»Sie ist fort. Er ist fort. Und ich sitze hier!«

Diese drei Tatsachen stellte Kaspar in tiefer Traurigkeit fest. Er war
von so einfacher Wesensart, daß er sich erst bei Tagesgrauen ganz klar
wurde, was eigentlich geschehen war.

Da warf sich Kaspar ins Gras und weinte aus Scham und Herzeleid
darüber, daß die Rosmarie so schlecht war.

Als die Stadttore geöffnet wurden, ging er nach dem Marktplatze und
wartete auf die Ratsherrn. Die kamen heute früher als sonst, und viel
Volk war auch schon vor dem Rathause versammelt; denn es war ruchbar
geworden, daß der Runkelsteiner aus dem Turme entwichen war.

»Was hast du uns zu sagen?« fragte der Bürgermeister, als Kaspar vor
dem Rate stand.

»Ich will mich beklagen,« sagte Kaspar, »über den Junker Ottokar und
über das Mädchen Rosmarie. Denn sie haben mich betrogen, und der Rat
der Stadt soll sie bestrafen.«

»Was haben sie dir denn getan?«

Nun erzählte der törichte Kaspar alles genau, wie es sich zugetragen
hatte, wie er mit dem Mädchen und dem Junker einen Vertrag gemacht
habe, daß er den Junker aus dem Kerker lasse und dafür das Mädchen zur
Frau kriege, und wie die beiden den Vertrag gebrochen und ihn betrogen
hätten. So sollte nun die beiden auch die verdiente Strafe treffen.

Der Rat der Stadt entschied:

»Der Junker Ottokar und das Mädchen Rosmarie haben abscheulich an dem
Kaspar gehandelt. Wegen ihrer verwerflichen Gesinnung sollen beide hart
bestraft werden, so man ihrer einmal habhaft werden sollte. Der Kaspar
aber, der den gefährlichsten Feind der Stadt aus dem Kerker befreit
hat, soll gehenkt werden.«

Als der törichte Kaspar dieses Urteil hörte, fiel er um. Sein Herz war
so voll Liebe, Zorn und Wehe gewesen, daß er gar nicht daran gedacht
hatte, ihm selbst könne wegen seiner Tat auch etwas geschehen.

Nach Tagen erst in der kühlen Kerkerluft ging ihm alles richtig auf.
Jetzt dachte er auch daran, daß der Junker gerufen hatte: »Du Tölpel,
laufe hinter uns her. Komm auf den Runkelstein!« Das war wegen des
Henkens gewesen, und müßte er wohl gar noch dem Junker wegen seines
Rates dankbar sein.

Der älteste der Ratsherrn, ein milder Greis, der weit über das Leben
sah, rückwärts wie vorwärts, sagte in der nächsten Ratssitzung:

»Kaspar ist eine Einfalt. Die Liebe hat sein armes Gehirn stumpf und
seine Augen so blind gemacht, daß er seine Schuld nicht erkannte,
wie er ja auch die Gefahr nicht ersah, in die er hineinlief, da er
sich selbst bezichtigte. Deshalb, ihr Herren, wollet milde mit ihm
verfahren, damit Gott euch genädig sei und ihr eurer Feinde doch noch
Herr werdet. Schenket dem Toren die Strafe des Stranges. Sperrt ihn
eine Zeitlang in denselben Kerker, aus dem er den Junker entließ, und
dann verbannt ihn aus Altenroda. Wer aus einer solchen Heimat verbannt
wird, trägt schwere Strafe genug.«

Diesem weisen Rate folgten die Väter der Stadt. Kaspar mußte drei
Jahre im Turme sitzen und dann mit einem Stecken aus Haselholz, einem
schmalen Ränzel und zehn Groschen Münze für immer die Stadt verlassen.

Kaspar ist hin und hergewandert in der Welt und endlich unter die
Söldner eines Fürsten geraten. Auf einem Kriegszuge fand er in einem
Straßengraben eine sterbende Soldatendirne. Es war Rosmarie. Der Junker
hatte sie eine Zeitlang auf der Burg behalten und dann verstoßen.

Rosmaries Gesicht war ganz häßlich geworden; nur die Haare waren von
brauner Seide wie einst.

Als die Arme entschlafen war, grub der Kriegsknecht Kaspar ein Grab,
legte Rosmarie hinein und sprach ein Gebet, wobei er sein Gesicht gen
Osten wandte, wo in weiter Ferne die Heimatstadt Altenroda lag.




                            Rauchermärchen


Im Eulenwalde lebte vor ungefähr zweihundertdreizehn Jahren ein
Köhler, der als ein guter Mensch anzusprechen gewesen wäre, wenn er
nicht so lasterhaft geraucht hätte. Und zwar rauchte er Tabakspfeife.
Dieses Teufelsding verbreitete im Eulenwalde auf eine Meile im Umkreis
einen solchen Qualm und Gestank, daß die Rehe und Hasen schwarze
Felle bekamen, der stickende Brodem den Mäusen verheerend in ihre
Erdwohnungen drang und den Eulen und allen Singvögeln des Waldes die
Augen tränten. Die garstige Wirkung kam davon her, daß der Köhler nicht
nur Tag und Nacht die Pfeife kaum ausgehen ließ, sondern, daß auch sein
Tabak von übler Sorte war. Ein Zug, gegen den Wind geblasen, genügte,
einem Wanderer der eine Meile weg arglos und gesund seine Straße
marschierte, plötzlich den Atem zu verschlagen.

Der Tabak hieß Rippentabak. Er bestand aus in Stücke gebrochenen
Stangen, welche die Pestilenz in sich hatten. (Die Gegend, wo dieser
Tabak wuchs, ist im Laufe der Zeiten als Strafe Gottes untergegangen.)

Das Schlimmste war, daß der Köhler diese Pestilenz damals nicht
etwa hübsch behutsam im engsten Kreise behielt, sondern eitel und
leichtfertig in alle Winde blies. Der Köhler war Kunstraucher. Hatte er
sich durch einen abgrundtiefen Zug aus seiner Pfeife die Mund-, Nasen-,
Ohren- und Stirnhöhlen, die Luftröhre, die Lunge, ja den Magensack
voll Dampf gesogen, so ließ er diesen inneren Reichtum langsam und in
kunstvollen Formen wieder an die Außenwelt steigen.

Der Köhler rauchte Ringe: kleine, mittlere, große, auch Ringe, die sich
ineinander verschlangen, er rauchte aber auch Herzen, manchmal eines,
manchmal zwei, die sich miteinander vereinigten; er rauchte eine Mandel
Eier; er rauchte die Rechenaufgabe zwei mal zwei gleich vier in der
Luft; er rauchte einen Reiter; er rauchte Sonne, Mond und Sterne.

Waldkinder, die auf der Suche nach Pilzen und Beeren waren, sahen dem
Köhler manchmal bewundernd zu. Dann sagte er, wenn er wollte, könnte er
das ganze Einmaleins rauchen. Das war aber nicht wahr; rauchen hätte
er's vielleicht können, aber das Einmaleins selber konnte er nicht. Er
konnte nur zwei mal zwei gleich vier.

Am Rande dieses Waldes lebte in einer hohlen Eiche die Baumgöttin
Querka. Sie stand bei den Bürgern von Altenroda in hohem Ansehen;
denn sie beschützte die Stadt vor Blitz und Hagelschlag. Die
Göttin hatte eine empfindliche Nase, also daß sie sich durch die
höllischen Rauchschwaden des Köhlers oft belästigt fühlte. Aus großer
Gutherzigkeit hatte sie lange geschwiegen. Als aber das jüngste
ihrer drei Kinder den Husten bekam, sagte die Göttin: »Da muß etwas
geschehen!« -- machte sich auf und ging zum Köhler. Sie war recht lieb
und artig mit dem alten Brummbart und fragte ihn nebenher, ob er es
denn nicht so einrichten könne, daß er den Rauch zum Himmel hinauf
blase, damit er sich dort zu Wolken zusammenballe und vom Winde auf den
Großen oder Stillen Ozean getragen werde.

Da sagte der Köhler: »Nein, mein Rauch gehört in den Eulenwald!« -- und
da war wohl auch nichts dagegen zu tun.

Die Göttin aber half sich durch eine List. Heimlich sprach sie über die
Tabakspfeife einen Zaubersegen, der bewirken sollte, daß alle Figuren,
die der Köhler rauchte, in der Luft zu Gold wurden.

Richtig, kaum war die Göttin fort, so begann der Zauber zu wirken. Der
Köhler hatte eben einen stattlichen Ring geraucht und sah zu, wie er
langsam davonschwamm -- was zu sehen immer des Köhlers größte Freude
war -- als der Ring plötzlich in der Luft stehen blieb, zu funkeln
anfing und auf einmal -- kling, kling -- auf die Erde fiel. Der Köhler
ging herzu, hob einen riesigen goldenen Ring auf, betrachtete ihn, ließ
ihn an einem Steine klingen und hing ihn sich endlich um den Hals. Dann
setzte er sich auf den Holzblock zurück, auf dem er immer saß, dachte
über das Geschehnis nach und rauchte in Gedanken eine Mandel Eier. Als
die Eier aber kaum bis an die kleine Birke geschwebt waren, blieben
sie stehen, wurden zu Gold und regneten auf die Erde. Der Köhler hob
verwundert die Eier unter der Birke auf und sagte: »Nanu!« Darauf ging
er wieder nach seinem Holzblock und dachte weiter nach, was zur Folge
hatte, daß plötzlich zwei goldene Herzen aus der Luft fielen. Jetzt
sagte der Köhler: »Das scheint mir nicht mit rechten Dingen zuzugehen.«
Aber an sich machte ihm die Sache Freude. Also paffte er sich einen
ganzen Berg goldener Ringe, Herzen, Sonnen und Eier zusammen. Nur
mit der Rechenaufgabe war es ein verhextes Ding. Jedesmal fielen die
Ziffern in falscher Reihenfolge aus der Luft, so daß immer im Grase
zu lesen stand: zwei mal vier gleich zwei. Darüber ärgerte sich der
Köhler, und als die Aufgabe immer aufs neue mißriet, kam der Mann
in so großen Zorn, daß er seine Tabakspfeife faßte und sagte: »Du
dummes Ding, wenn du nicht mehr ordentlich rechnen kannst, sollst du
verbrennen!«

Damit schleuderte er die Pfeife ins Feuer des Meilers. Nun konnte der
Köhler eine ganze Nacht lang nicht rauchen, was ihn so verdroß, daß er
nach dem goldenen Berge mit dem Fuße stieß.

Die Göttin drüben am Waldrande aber sagte: »Merkt ihr nicht,
Kinderchen, was heute für gute Luft ist?« Das Kleinste hörte auf zu
husten, und viele Bäume, die in dem Qualm am Verdorren gewesen waren,
schlugen mutig wieder aus.

Am nächsten Morgen, als der Köhler aus seiner Hütte trat, sah er
einen fremden Rittersmann bei seinem Goldhaufen stehen und diesen mit
Aufmerksamkeit betrachten.

»Was willst du mit dem vielen Golde?« fragte der Ritter.

»Das weiß ich selber nicht!« sagte der Köhler.

»So will ich dir einen guten Vorschlag machen, lieber Mann. Leihe mir
das Gold gegen einen Schuldschein. Einen Silbertaler als Zins gebe ich
dir im voraus.«

Der Köhler dachte nach, ob das wohl ein gutes Geschäft sei, und kam zu
dem Schluß, ein Silbertaler sei nicht zu verachten, da er sich doch
eine neue Tabakspfeife kaufen mußte. Also willigte er in den Handel
ein. Der Fremde schrieb etwas auf ein Papier, was der Köhler nicht
lesen konnte, gab ihm einen Silbertaler und lud das Gold in großen
Säcken auf seine Maultiere.

»Leb wohl!« sagte er und stieg auf sein Roß.

»Ach, edler Herr,« sagte der Köhler; »es wäre mir halt lieb, wenn ich
Eure Adresse wüßte.«

»Meine genaue Adresse kann ich dir nicht geben,« sagte der Ritter; »ich
reite nämlich gerade in den Krieg nach Persien.«

»Ach so,« sagte der Köhler und ließ ihn mit dem Golde ziehen.

Hinterher aber ärgerte er sich und sagte sich, der Fremde habe ihn
wohl sicherlich übervorteilt. Doch er tröstete sich, daß er sich ja
jederzeit einen neuen Haufen Goldes zusammenrauchen könne.

Die Sache kam aber anders. Der Köhler hatte sich um drei Groschen
in Altenroda eine neue Pfeife erhandelt und wollte dem Händler sein
goldenes Kunststück vorrauchen. Da kam aber nichts zustande als
Rauchringel, die davon schwebten und die ganze Stadt verpesteten.

Der Rat der Stadt, als er die Sache übel in die Nase bekam, schickte
eilends seine Büttel aus und ließ den gottlosen Raucher festnehmen. Es
war nämlich bei schwerer Strafe verboten, innerhalb von Altenroda bis
zwei Wegstunden über die Stadt hinaus Rippentabak zu rauchen.

Der Köhler wurde vor Gericht gestellt, und es wurde der herbe Spruch
gefällt: ein ganzes Jahr solle der Sünder im Turme schmachten, bis
ein Sommer durch seine Hitze, ein Herbst durch seine Stürme, ein
Winter durch seinen Frost und ein Frühling durch seine Düfte die Stadt
Altenroda von seinem Tabaksgestank wieder gereinigt habe. Nach zwei
Wochen schon kam der Beichtvater des Köhlers zum Rat und bat um Gnade
für den Eingesperrten, der im Turm ohne Rippentabak verschmachten
müsse, wie ein Fisch ohne Wasser. Der Rat von Altenroda, der immer
milde und menschenfreundlich war, bestimmte darauf, man solle dem
Köhler fünfundzwanzig Stockhiebe auf seinen ledernen Hosenboden
verabfolgen und ihn dann als verwarnt entlassen.

Solches geschah. Als der Köhler sich von den fünfundzwanzig Hieben
soweit erholt hatte, daß er wieder laufen konnte, kaufte er sich
einen Zentner Rippentabak, das Pfund zu zwei Pfennigen, und wanderte
heimwärts.

Im Walde war unterdes große Freude gewesen. Glückselig saß Querka, die
Göttin, in ihrem hohlen Baum und atmete köstliche Lüfte, die Mäuse
freuten sich, daß es nicht mehr durch die Ofenröhren ihrer Wohnung
rauchte, die Felle der Hasen färbten sich auffallend heller und die
Augenentzündung der Vögel ließ nach.

»Das habe ich alles mit meinem Zauberspruch getan,« dachte Querka;
»denn goldene Ringe können nicht fliegen.«

An einem Abend aber -- was roch Querka? Was rochen ihre Kinderlein? Was
schnüffelten die Hasen? Wovor schüttelten die Eulen ihr Gefieder?

Rippentabak!

Es schwebten wieder Herzen, Ringe, Eier und Rechenaufgaben durch den
Wald. Die Göttin eilte erschrocken zur Köhlerhütte. Richtig, da saß
er und rauchte; rauchte aber nicht Gold, sondern rauchte Rauch --
Rippentabaksrauch.

Die kluge Göttin machte sich nun wieder recht lieb und artig an den
alten Schlot heran und fragte ihn, wo denn die goldenen Ringe seien.

Hätte er verliehen, sagte der Köhler und besäße ein Testimonium
darüber. Er holte die Quittung des Ritters aus seiner Hütte und zeigte
sie der Göttin. Diese las:

»Ich bestätige, daß der Köhler vom Eulenwalde der guten Stadt Altenroda
der größte Esel der Welt ist.

  Kuno von Bimbim.«

»Das ist die Quittung?« fragte die Göttin, »die Quittung für all' Euer
Gold?«

»Ja,« sagte der Köhler stolz; »es hat alles seine Richtigkeit.«

Die Göttin ließ ihn bei dieser fröhlichen Auffassung und fragte
schmeichelnd, ob er sich denn nicht etwas gedacht habe, als er
plötzlich goldene Ringe rauchen konnte.

»Ja,« nickte der Köhler, »das habt Ihr getan.«

»Und wo ist die verzauberte Tabakspfeife hingekommen?«

Der Köhler wies mit dem Daumen nach dem Meiler.

»Da! Verbrannt! Das dumme Ding konnte nicht mehr rechnen. Es rechnete
zwei mal vier gleich zwei. Und das ist falsch. Das ärgerte mich!«

Nun redete die Fee in den lieblichsten Worten auf den Köhler ein, er
möge sich doch auch über seine neue Tabakspfeife einen Segen sprechen
lassen; aber der Köhler hielt die Pfeife abwehrend beiseite und sagte:

»Nein, ich mag nicht! Meine Ringe und Herzen können fliegen; aber deine
goldenen Ringe purzeln auf die Erde. Daß sie fliegen können, das ist
das Schöne bei den Ringen. Was habe ich vom Golde, das mir ja doch
wieder ein Ritter abborgt, der damit nach Persien reitet.«

Da schlug die Fee trostlos die weißen Hände zusammen.

Nach einiger Zeit fragte sie: »Was ist denn in dem schrecklich großen
Ballen da?«

»Rippentabak!« sagte der Köhler. »Ein Zentner. Ich hatte bloß noch
einen kleinen Vorrat. Wenn der aufgeraucht ist, kommt der neue Ballen
dran.«

Da liefen der Fee heimlich Tränen über das Gesicht. Als aber der Köhler
einmal nach der Hütte verschwand, weil er sein kostbares »Testimonium«
dort wieder bergen wollte, erhellte sich das Gesicht der Fee; sie trat
an den Tabakssack und sprach heimlich und schnell eine Zauberformel,
wodurch sich der Rippentabak in Tabak so edler Art verwandelte, wie er
nur in den Gärten des Kalifen gedeiht.

»Müssen wir schon Tabaksrauch schlucken, dann doch edlen!« sagte sich
die Fee.

Drei Tage später öffnete der Köhler den neuen Tabaksballen. Er
verwunderte sich über das Aussehen des Tabaks, der ein krümeliges
braunes Gewuschele darstellte, gar keine starken reellen Rippen,
stopfte sich aber eine Pfeife, rauchte sie bis zu Ende und spuckte
während der Zeit seinen ganzen Meiler aus. Nach der zweiten Pfeife
wurde ihm so übel, daß er die kleine Birke, an der er sich festgehalten
hatte, umbrach und mit ihr zu Boden fiel. Als er sich erholt hatte,
erfaßte ihn großer Zorn. Er nahm den wildesten Eichenprügel, den er
besaß, eilte nach Altenroda hinunter, immer schimpfend: »Zwei Pfennige
für das Pfund hat mir der Betrüger abgenommen!« kam in den Laden des
Kaufherrn, der ihm den Tabak verkauft hatte, und prügelte den mit dem
Eichenknüppel, bis er halbtot am Boden lag. Nur den Bemühungen des
gelahrten Medikus der Stadt unter Beiziehung des Baders gelang es, den
schwerverletzten Kaufmann am Leben zu erhalten.

Dieser mißhandelte Kaufmann aber war eine gewichtige Persönlichkeit.
Er besaß ein Grundstück von siebenhundert Gulden im Wert und hatte
die Tochter des Bürgermeisters zur Frau. Hauptsächlich aus letzterem
Grunde verurteilte der Rat der Stadt den missetäterischen Köhler zum
Tode durch den Strick. Der Beichtvater kam zwar wieder und bemühte sich
mit ängstlicher Fürsprache, aber das nützte gar nichts; der Köhler
sollte hängen.

Waldkinder jedoch, die nach Beeren und Pilzen suchten, erzählten sich
von dem traurigen Schicksal, das dem Köhler bevorstand. Und das hörte
die Fee. Sie erschrak bis in die Tiefe ihres lichten, lieben Herzens
und eilte auf ihren goldenen Schuhen nach Altenroda. Dort trat sie vor
den Rat der Stadt und erzählte alles.

»Ihr Herren, ich allein hab' Schuld, ich allein!«

Da traten die Ratsherrn zusammen und sagten sich nach kurzer Beratung:

»Mit der Göttin Querka können wir es nicht verderben. Wer weiß, was
sonst, wen das nächste schwere Wetter zwischen Ochsenkopf und Eulenwald
hereindringt.«

Also gingen sie wieder in den Sitzungssaal und sagten:

»Hohe Göttin, wir haben beschlossen, dir den argen Sünder zu
überantworten. Du selbst fälle das Urteil. Fälle es aber nicht zu
milde, fälle es gerecht. Der Rat der Stadt behält sich vor, seine
Einwände zu machen.«

Die Göttin ließ sich zu dem Gefangenen führen.

Der saß wie ein Verhungerter und Verdursteter auf dem Boden seiner
Zelle.

»Kennst du mich?«

»Ja.«

»Willst du etwas von mir?«

»Ja.«

»Was?«

»Rippentabak!«

»Das geht nicht. Aber was anderes kann ich dir schenken.«

»Was?«

»Das Leben!«

Der Köhler kratzte sich hinter dem Ohr.

»Was ist das Leben ohne Rippentabak!« sagte er trostlos.

Die Göttin staunte diesen Menschen an. Dann kam ihr ein guter Gedanke.

»Sag mir, Köhler, mußt du durchaus im Eulenwalde wohnen, oder könntest
du auch anderswo rauchen?«

»Auch anderswo,« sagte der Köhler. »Bloß Rippentabak muß es sein, aber
nicht solcher, der runterfällt, sondern solcher, der fliegt.«

Die Göttin fällte den Spruch:

»Der Köhler Jakobus aus dem Eulenwalde der würdigen Stadt Altenroda ist
zur Strafe dafür, daß er den ehrenwerten Bürger Bartholomäus Schnürle
fast bis zum leiblichen Tode mißhandelt hat, zu lebenslänglicher
Verbannung verurteilt. Diese Verbannung soll er auf dem mit
›Ochsenkopf‹ benannten Berge verbüßen, der im Süden der Stadt liegt,
gerade auf der Gegenseite der Stadt, wo bisher seine Hausung war.
Der Verbrecher ist berechtigt, jede Woche einmal nach Altenroda
hinabzusteigen, sich alldorten zehn Pfund Rippentabak sowie sonst zum
Leben Zubehör zu kaufen.«

Der Rat von Altenroda bestätigte dieses Urteil, tat aber auch seine
Wünsche kund: »Die Köhlerhütte ist ganz auf dem Gipfel des Ochsenkopfes
zu errichten, wo der meiste Luftzug ist; auch ist zum Schutze für die
Gemarkungen Altenrodas eine steinerne Rauchfeste zu errichten, eine
keilförmige Schanze, durch die jeweils der Rauch aus Jakobi Pfeife
hinunter nach Wenighofen zieht.«

So geschah es. Wenighofen -- eine feindnachbarliche Stadt von Altenroda
-- ist ausgestorben. Wer das nicht glaubt, sehe auf der Landkarte nach.
Er wird Wenighofen nicht finden.

Was aus dem Köhler weiter geworden ist, weiß niemand. Aber wenn er
nicht gestorben ist, raucht er heute noch.

Rippentabak!

                   *       *       *       *       *

Anmerkung.

Du bekehrst eher zehn Türken zum Christentum als einen Raucher zur
Vernunft.




                          Die drei Geizhälse

   In Altenroda lebten drei Geizhälse. Es mögen vielleicht noch
   mehr geizige Leute in der Stadt gewesen sein, werden doch vom
   sechzigsten Lebensjahre an die meisten Menschen geizig, was zu den
   Alterserscheinungen oder, gelehrter ausgedrückt, zu den +vicia
   aetatis+ gehört; aber die drei, von denen hier die Rede sein
   soll, waren so auffallend gut geratene Exemplare von Geizkragen, daß
   sie in ganz Altenroda berühmt oder vielmehr berüchtigt waren. Der
   Religion nach war der erste evangelisch, der zweite katholisch, der
   dritte Jude. Geizhälse und Wucherer gibt es unter allen Gattungen
   der Menschheit, da soll nur die eine der andern nichts vorwerfen.
   Nun soll alles hübsch der Reihe nach erzählt werden.




                       Der evangelische Geizhals


Der evangelische Geizhals wurde später Dissident, und sein Abfall von
der ursprünglichen Religion hing mit seinem Geiz zusammen. Er hieß
Leonhard Fahrig. Fahrig war Kolonialwarenhändler. Solange der Pastor
der Gemeinde von seinem geringen Einkommen für seine Familie Kaffee,
Zucker, Mehl und Reis, den bescheidenen Tabaksbedarf, sowie jedes
Weihnachtsfest eine Flasche Zeltinger bei Leonhard Fahrig kaufte, saß
der Kaufmann jeden Sonntag in der Predigt. »Leben und leben lassen!«
sagte er manchmal. Kam ein offener Opferteller, so daß der Nachbar vom
Nachbar sah, was der auflegte, so warf Fahrig klirrend einen geputzten
Nickel auf den Teller, kam aber der verschwiegene Klingelbeutel, so
steckte er einen Hosenknopf hinein. Der Glöckner Krause, der ein
kluger Mann war, sagte einmal in der Sakristei, als der Ertrag des
Klingelbeutels ausgezählt wurde:

»Vier Mark, dreizehn Pfennige und ein Knopf. Herr Pastor, der
Hosenknopf ist vom Kaufmann Fahrig. Der Mann macht immer so fummelige
Finger, wenn er über den Klingelbeutel greift, und steckt die Hand so
tief rein, daß ich nie eine Münze sehen kann. Er ist von Fahrig, der
Knopf, da verlasse sich der Herr Pastor darauf!«

»Ausgeschlossen!« sagte der Pastor. »Denken Sie doch, der wohlhabende
Mann! Und dann, Hosenknöpfe sind auch etwas Brauchbares. Ich habe zu
Hause hundertzwanzig Stück liegen. Wenn Sie einmal Bedarf haben, lieber
Krause ...«

Krause schüttelte den Kopf. Er war wieder einmal unzufrieden mit seinem
Pastor. Am nächsten Sonntag, als er mit dem Klingelbeutel ging, paßte
er vor Fahrigs Kirchenstand auf wie ein Detektiv. Aber Fahrig machte
»fummelige Finger«, steckte die Hand tief in den Klingelbeutel, und der
Detektiv war geprellt.

Krause, der ein kleine Ackerwirtschaft besaß, dachte während dreier
Tage, da er mit seinem Kuhgespann pflügte, an nichts anderes als an den
Hosenknopf im Klingelbeutel. Mittwoch abends gegen halb sechs rief er
sein »Heureka!« Das hieß diesmal in deutscher Sprache: »Warte, du Lump,
ich hab' dich!« Krause erschrak über den erleuchteten Gedanken, der ihm
gekommen war, so, daß er mitten in der Furche den leichten Schälpflug
wegwarf und sich zitternd vor Aufregung auf den Feldrain setzte. Die
Kühe guckten sich verwundert nach ihm um, steckten dann die nassen
Schnauzen zusammen und kamen nach einigem Brummgetuschel überein,
den Schälpflug hinter sich herzuschleifen und sich an des Nachbars
Stoppelklee den Bauch vollzufressen. Krause merkte davon nichts. Er
saß auf dem Feldraine, fuchtelte mit den Händen und strampelte mit den
Beinen, so daß man solch lebhafte Bewegungen einem würdigen Glöckner
nimmermehr hätte zutrauen sollen.

Am nächsten Sonntag saß Leonhard Fahrig auf seinem Stand in der Kirche.
(Nebenbei gesagt, es ist nicht ganz richtig, etwas als »Stand« zu
bezeichnen, wo man sitzt.) Also Fahrigs »Stand« war in der vierten
Reihe der erste Platz, dicht unter der Kanzel. Der Pastor predigte, und
als die Einleitung vorbei war, erschien Krause mit dem Klingelbeutel.
Leise bimmelte das Glöcklein zu den belehrenden und ermahnenden
Worten des Predigers. Als Krause drei Bänke abgesammelt hatte und
Leonhard Fahrig als der Nächste sich nun für seine Opfergabe rüstete,
hielt der Glöckner plötzlich inne, griff sich an den Kopf, als ob
er in der Sakristei etwas vergessen habe, und verschwand. Er ging
leise, auf Zehenspitzen, was aber den Pastor doch so störte, daß er
einen Bibelvers als aus Galater stammend bezeichnete, während er in
Wirklichkeit bei Korinther steht. Bald kam Krause mit dem Klingelbeutel
zurück und heischte Leonhard Fahrigs Gabe. Fahrig machte seine
»fummeligen Finger«, steckte die Hand tief in den Klingelbeutel und
ließ seine Gabe in diese Höhle der Mildtätigkeit hineinsinken.

Plötzlich griff sich der Glöckner Krause abermals an den Kopf und
verschwand wieder nach der Sakristei. Den Pastor auf der Kanzel störte
das so, daß er in der Predigt stecken blieb, was ihm noch nie passiert
war. Auch die Gemeinde machte lange Hälse, zumal als Krause zurückkam,
sich zu Leonhard Fahrig beugte und ihm etwas in die Hand drückte. Dann
aber ging der Glöckner weiter und sammelte die Gaben der Gemeinde
ein. Eine richtige Andacht kam während dieser Predigt weder bei dem
Pastor noch bei der Gemeinde mehr auf, zumal alle sahen, daß der sonst
so sanfte Glöckner ein feuerrotes Gesicht und wild rollende Augen
sowie einen zappeligen Gang hatte, auch aus Versehen des öfteren die
Andächtigen mit dem Klingelbeutel ans Ohr oder an die Nase stieß.

In der Sakristei fragte der Pastor streng:

»Krause, was war das heute während der Predigt für allerhand Störung?«

»Bitte um Verzeihung, Herr Pastor, ich mußte es tun; ich mußte ihn
entlarven.«

»Entlarven? Wen?«

»Den Geizkragen -- den Fahrig. Er ist der Knopfgeber. Ich hab's
rausgekriegt. Erst habe ich die drei ersten Bänke abgesammelt, dann bin
ich in die Sakristei gegangen und habe den Klingelbeutel ausgeschüttet,
dann bin ich zu Fahrig zurück und habe ihn ganz allein was in den
leeren Klingelbeutel stecken lassen, dann wieder nach der Sakristei,
und da war der Knopf. Ich habe dem Fahrig den Knopf zurückgegeben und
ihm gesagt: Solche Münze nehmen wir nicht an!«

»Ja, Sie haben das ziemlich laut gesprochen. Die Umsitzenden werden es
verstanden haben.«

»Ich hatte leiser sprechen wollen, Herr Pastor; aber ich war zu
aufgeregt.«

»Hm,« sagte der Pastor nachdenklich, »eigentlich soll man wegen eines
Hosenknopfes die Verkündigung des Wortes nicht stören. Aber einen argen
Geizhals haben Sie entlarvt, das stimmt. Ich werde Herrn Fahrig heute
noch hundertzwanzig Hosenknöpfe zurückschicken.«

Das geschah und wurde zum Anlaß, daß Leonhard Fahrig aus der
evangelischen Landeskirche Preußens austrat und Dissident wurde. Sein
Auge strahlte, als er bedachte, daß er dadurch ja die Kirchensteuer
spare, die für ihn immerhin drei Mark und fünfundzwanzig Pfennig für
das Jahr betrug. Außerdem kamen die Nickel für den Opferteller in
Wegfall; die Hosenknöpfe waren auch nicht ganz umsonst gewesen. Mochte
der Pastor sein bißchen Kram immerhin bei dem jungen Konkurrenten
kaufen, diesen Verlust würde die Firma Fahrig verschmerzen.

Es kauften von nun an aber sehr viele bei dem jungen Konkurrenten und
zwar nicht nur die Angehörigen jener Gemeinde, sondern auch viele Leute
anderer Konfession, denen der Filz zuwider geworden war.

Umsonst beteuerte Fahrig, daß ihm zufällig ein Hosenknopf losgegangen
sei, er diesen in sein Portemonnaie gesteckt und aus Versehen für
den Klingelbeutel ergriffen habe. Niemand glaubte ihm; niemand hörte
ihm gern zu, wenn er wetterte, die gläubigen Christen würden durch
die Habgier der Pfaffen aus der Kirche hinausgedrängt. Als aber der
Zorn über den argen Rückgang seines Geschäftes ihn zu solcher Torheit
hinriß, daß er eines Tages einen Zettel an sein Schaufenster klebte:
»Ausverkauf von hundertundzwanzig hochehrwürdigen Hosenknöpfen«, da
hatte er in Altenroda vollständig verspielt.

Wutschnaubend verkaufte Leonhard Fahrig sein Geschäft und zog in die
Fremde. Die Altenrodaer Bürger lachten und ließen ihn ziehen. Sie waren
einen ihrer drei Geizhälse los.

Nutzanwendung: Geiz ist die Wurzel alles Übels! Das wahre Sprichwort,
das durch diese und die zwei folgenden Geschichten beleuchtet werden
soll, sei aufs neue allen denen eingeschärft, die geizig sind oder es
zu werden beabsichtigen.




                       Der katholische Geizhals


Der katholische Pfarrer von Altenroda predigte einmal:

»Es gibt kein Laster, gegen das so schwer anzukämpfen ist wie gegen
den Geiz. Wenn ich gegen die Unzucht predige, so wird gar mancher und
gar manche erröten; denn sie fühlen sich getroffen; den Trunkenbolden
braucht man kaum erst zu sagen, daß sie Süfflinge sind, sie wissen
es, und wenn sie einmal das graue Elend kriegen, heulen sie über sich
selber; dem Hochmütigen, der sonst stolzen Sinnes glaubt, er sei
überhaupt nicht sündhaft, sondern sich eben nur seines rechten Wertes
bewußt, wird bei einer Armenseelenpredigt, bei der Schilderung von
Grab und Vergängnis doch einmal weich und demütig zu Mute werden, wenn
auch nur vorübergehend -- der Geizige allein bleibt immer unbewegt;
sein Herz ist von Stein. Jedes göttliche Samenkorn verdorrt auf diesem
felsigen Ackerlande. Was der Geizige Gutes tut, tut er aus Berechnung;
niemals ist seine Hand milde im stillen; die Not der Brüder läßt ihn
ungerührt; das goldene Kalb ist der Götze, den er anbetet; wenn er
könnte, machte er auf dem Sterbebette noch Geschäfte und feilschte mit
dem Tischler um den Preis des eigenen Sarges. Er ist so verblendet, daß
er sein jämmerliches Laster, das ihn zum Sklaven des Geldes erniedrigt,
nicht erkennt, sondern sich nur für einen Mann hält, der eben sparsamer
und klüger ist als die anderen. So schreibt er einen Gewinnposten
zum anderen; der Teufel aber zieht sein Notizbuch und schreibt die
Gegenrechnung; denn eher wird ein Tau durch ein Nadelöhr gehen, als
ein Geiziger ins Himmelreich.«

Als der Geistliche so predigte, saß unten im Kirchenschiff Herr
Birnbaum und dachte: »O, wie predigt er wieder gut; o, wie hat
er wieder recht!« Daß er selbst der ärgste Geizkragen der ganzen
Pfarrgemeinde war, daß die Predigt hauptsächlich auf ihn zielte, daran
dachte er nicht.

Sein Herz war von Stein.

Birnbaum war Beamter, hatte sich durch Streberei und rücksichtsloses
Vordrängen hochgearbeitet und es trotz seines nicht bedeutenden
Gehaltes zum Besitzer mehrerer Häuser gebracht. Den Grundstock
zu seinem Vermögen, das er durch Spekulationen und Wucher eifrig
vermehrte, hatte die Mitgift seiner Ehefrau gebildet, die ihm in jungen
Jahren sechsunddreißigtausend Mark zubrachte, die höchste Summe, auf
die Birnbaums Ehrgeiz damals gerichtet sein konnte. Diese Frau war so
mordshäßlich, daß der Spiegel erblindete, wenn sie hineinsah, und die
Vögel davonflogen, wenn sie auf die Straße trat, auch alle Säuglinge
in den Kinderwagen zu brüllen anfingen, wenn sie vorüber ging. Frau
Birnbaum hatte eine einzige Tochter, die fast ebenso häßlich war wie
sie und die zum Unglück Helene hieß, so daß sie in ganz Altenroda »die
schöne Helena« genannt wurde. Um dieses Mädchen tat es vielen Leuten
leid; denn sie hatte nicht das harte Herz ihres Vaters und führte ein
freudloses Dasein. Sie hatte fast nie freie Zeit, mußte Tag für Tag
Handarbeiten machen, die an ein Geschäft in der Hauptstadt geliefert
wurden, besaß keine Bücher, durfte nie zum Tanze gehen und trug immer
unschöne, aber »unverwüstliche« Kleider.

An Sommerabenden, wenn Helene noch über der Handarbeit saß und die
Mutter im Hause wie eine Magd tätig war, beschäftigte sich Herr
Birnbaum manchmal damit, Streichhölzer in zwei Teile zu spalten, damit
von jedem Streichholz zweimal Feuer gewonnen werden könne. Im Winter
gingen alle der Lichtersparnis wegen mit den Hühnern zu Bett.

Als Helene vierundzwanzig Jahre alt geworden war (das ist gewöhnlich
der Zeitpunkt, wo unvermählt und unverlobt gebliebene Mädchen anfangen,
unruhig zu werden), dachte der Vater daran, ihr einen Mann zu besorgen.
Er ging zunächst nur auf Geld aus, mußte aber bald zu seinem Leid
erkennen, daß vermögende junge Männer zwar gegen Vermögen auf der
anderen Seite im allgemeinen nichts einzuwenden haben, daß sie aber
auf negative Reize der Braut um so weniger Wert legen, auch wenn
ihnen gesagt wird, daß es sich um ein sehr sparsames, häusliches und
bescheidenes Mädchen handle. Der junge Windikus Bomüller, der Sohn des
Bankiers, war sogar so frivol, zu sagen: »Ach was, wenn sie häuslich,
sind sie scheußlich«. Deswegen brach Herr Birnbaum seine geschäftlichen
Beziehungen zu dem Bankhause aber doch nicht ab, erstens weil der
Verkehr mit einer auswärtigen Bank sich kostspieliger gestaltet hätte,
schon wegen des vielen Portos, und dann, weil bei Bomüller ein junger
Mann war, der Herrn Birnbaum manchmal wertvolle Tips für An- oder
Verkauf von Wertpapieren gab.

Es erging Herrn Birnbaum bei seinem Männerfang so wie dem hoffärtigen
Fischreiher, der am Flußrande saß und es durchaus unter einem Hechte
nicht tun wollte, die Karpfen, Schleien, Weißfische aber verschmähte.
Als jedoch alle Karpfen, Schleien, Weißfische davongeschwommen waren,
blieb dem Fischreiher nur ein Schlammpeizger übrig.

Der Schlammpeizger Herrn Birnbaums hieß Rillmann und war der bewußte
junge Mann aus dem Bankhause. Der Bengel war hübsch und in seinem Fache
nicht unbegabt, besaß aber keinerlei Vermögen, offenbar auch keinen
Sparsamkeitssinn; denn er brauchte nach Birnbaums Erkundungen sein
Jahresgehalt von zweitausendvierhundert Mark glatt auf.

Birnbaum überlegte, bis die schöne Helena sechsundzwanzig Jahre alt
geworden war. Dann sagte sich der kluge Vater: Nun ist's hohe Zeit;
die Verschwendungssucht werde ich dem Rillmann schon abgewöhnen,
und was ihm an Vermögen fehlt, kann er mir, der Bescheid auf dem
Geldmarkte weiß, der sogar manches Geheimnis erspüren kann, durch seine
Fingerzeige ersetzen.

Birnbaum machte sich an Rillmann heran, und als dieser endlich
merkte, was der Geldmann mit ihm vorhatte, wurde er sehr bedenklich.
Er kam in Zwiespalt mit sich selbst. Wenn er Birnbaums letzten
Jahres-Bankabschluß immer und immer wieder las, sagte sich Rillmann
jedesmal: »Ich nehm' sie!« Sah er aber das Mädchen selbst nur von fern,
so schwur er bei sich: »Ich nehme sie nie und nimmer!« Als die Zeit
schon auf Helenas achtundzwanzigsten Geburtstag zu marschierte, kam
Rillmann zu dem endgültigen Entschlusse, die schöne Helena zu heiraten.
Ein Freund, dem er sich anvertraute, hatte ihm dazu geraten.

»Aber sie ist so fürchterlich häßlich!« seufzte Rillmann.

»I was, häßlich!« sagte der Freund; »mit den zunehmenden Jahren wirst
du kurzsichtig, da ist's dann nicht mehr so schlimm.«

So kam die Sache ins Rollen, zum seligen Entzücken Helenas, die den
hübschen, lustigen Rillmann unsäglich liebte.

Vor dem Sonntag, an dem Rillmann bei Birnbaums einen »offiziellen
Besuch in persönlicher Angelegenheit« angemeldet hatte, sagte der Mann
zur Frau:

»Weib, es nützt nichts, wir müssen Wein geben, wenigstens mal zum
Anstoßen auf das Brautpaar.«

Birnbaum hatte einmal bei einer Zwangsversteigerung, die einen armen
Vorstadtrestaurateur betraf, zehn halbe Flaschen Moselwein gekauft,
eine saure Sorte, von der aber Herr Birnbaum behauptete, sie würde
mit jedem Jahre besser und lasse sich überdies durch einen Zuguß von
Zuckerwasser veredeln. Nach Neujahr, wenn der Pfarrer, der Kaplan und
der Küster zur Einsegnung der Wohnung kamen, wurde immer eine halbe
Flasche geopfert. Die drei Herren nahmen zwar stets eine ablehnende
Haltung an, aber Herr Birnbaum ließ es sich als der reichste Mann der
Pfarrei nicht nehmen, die Geistlichkeit samt dem Küster gastfreundlich
zu bewirten. Die Sache wurde dann so gemacht, daß Frau Birnbaum mit
einem Tablett erschien, auf dem vier gefüllte Gläser standen, und daß
sie jedem der drei Herren eines in die Hand gab, das vierte aber dem
Gatten. Da die halbe Flasche nämlich nur drei Gläser abwarf, wurde
Herrn Birnbaums Glas mit Wasser gefüllt, was nicht auffiel, da die
Weingläser von grünlicher Färbung waren. Nach dem ersten Schluck, den
er aus seinem Glase genommen hatte, schnalzte Herr Birnbaum allemal
mit der Zunge und sagte:

»Es ist eine bekömmliche Sorte. Ich hab' den Wein von einer guten
Firma, direkt aus der Originalkellerei. Er heißt ›Edelmarke‹.« Dann
lächelten die Herren fein und tranken voll Mut und Gottvertrauen
den Quietscher hinunter. Die Frage, ob noch ein Gläschen gefällig
sei, verneinten sie eifrig und einstimmig und empfahlen sich. Das
wiederholte sich in ungefähr derselben Weise zu jedem Neujahr.

»Weib, wir müssen Wein geben,« sagte Birnbaum vor dem Verlobungssonntag
zu seiner Frau. »Und diesmal trinken wir mit. Man verlobt schließlich
seine einzige Tochter nicht alle Tage.«

»Aber es sind nur drei Gläser in der Flasche,« warf Frau Birnbaum ein.

»Richtig!« sagte der Mann; »nun, da muß eben doch wieder eines an
Wasser glauben, und das ist, meine ich, Helena. Wer weiß, wie ihr der
Wein bekäme, und außerdem gehen wir doch wohl als Eltern vor.«

»Daß es nur kein Unglück bringt, wenn Helena mit Wasser anstößt.«

Da wurde Birnbaum, der wie alle Geizhälse sehr abergläubisch war,
bedenklich und beschloß heroisch, auch diesmal selber der Wassertrinker
zu sein. Der Frau wolle er den Vorrang lassen. Sie sollte, wie immer,
den Wein selber präsentieren, indem sie jedem sein Glas zureichte.

Der Sonntag kam. Der Freier erschien, der in Todesangst seinen
auswendig gelernten Spruch herunterjagte, wie einer, der fürchtet,
stecken zu bleiben.

Papa Birnbaum spielte den Gerührten und Überraschten, sprach von den
Talenten des jungen Mannes, von den Tugenden der Tochter, von eifrigem
Streben, von weisem, sparsamem Haushalten, von damit verbundener
gesicherter Zukunft, vom Zusammenarbeiten von Schwiegervater und
Schwiegersohn und berief sich bei all diesen Ausführungen fleißig auf
den lieben Gott. Nur von einem, auf das Rillmann am gespanntesten
wartete, sprach Birnbaum nicht -- von einer Mitgift. Da faßte der
Freiersmann Mut und sagte:

»Ja, Herr Birnbaum, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich von
Haus aus ohne Vermögen bin, und von meinem kleinen Gehalte habe ich
Ersparnisse nicht machen können. Jetzt beziehe ich jährlich im ganzen
zweitausendsechshundert Mark; davon kann ich natürlich eine Frau und
eventuell eine Familie nicht standesgemäß ernähren.«

Birnbaum lächelte.

»Mein Lieber,« sagte er, »das Wort ›standesgemäß‹ hat es in sich.
Manche Leute leben über ihren Stand, die werden pleite; manche Menschen
leben ihrem Stande gemäß, die machen keine Schulden, kommen aber auch
zu nichts; manche Leute leben unter ihrem Stande, die werden reich.«

»Das ist wohl richtig,« sagte Rillmann; »aber mit
zweitausendsechshundert Mark Jahreseinkommen kann ich keinen Haushalt
gründen.«

»Sie wollen also über Ihren Stand leben?«

Rillmann antwortete nicht; aber sein Gesicht bekam einen verbissenen
Ausdruck, und er warf einen Blick nach der Tür. Da wurde Birnbaum
ängstlich. Er erwog blitzschnell, daß er eine jetzt gegebene Zusage
nach der Hochzeit ja wieder zurücknehmen könne.

»Herr Rillmann, Sie wissen, ich halte das Meinige zusammen. Vermögen
bekommt Helena jetzt nicht. Das Mädchen will nicht ihres Geldes,
sondern um ihrer selbst willen geheiratet sein. Schließen meine Frau
und ich mal unsere müden Augen, wir sind ja immerhin beide schon
dreiundfünfzig, so ist Helena die einzige Erbin. Das wissen Sie wohl.
Ich schaffe nur für mein Kind. Immerhin gefällt es mir, daß Sie als
Geschäftsmann auch an die materielle Seite der Sache denken. Ich will
Ihnen entgegenkommen und zahle Ihnen monatlich einen Zuschuß von -- nun
sagen wir -- von fünfundzwanzig Mark.«

Als sich die Gesichtsform des jungen Mannes bei Nennung der Ziffer zu
einem Grinsen verzerrte, setzte Birnbaum rasch hinzu:

»Oder, wenn Ihnen das erforderlich erscheint, von fünfzig Mark. Sie
werden sehen, Herr Rillmann, Sie kommen glänzend aus. Helena ist nicht
umsonst mein Kind. Im übrigen ordnen wir das alles später.«

Damit ging Birnbaum zur Tür, rief Frau und Tochter herein, um dem
Freier weiter keine Zeit zur Überlegung und zu Einwendungen mehr zu
lassen, umarmte die Frauensleute und sagte voll tiefer Rührung:

»Denke dir, Helena, Herr Rillmann hat um deine Hand bei mir angehalten.«

Das Mädchen stand mit sanft gerötetem Gesichte da; ein überirdisches
Strahlen brach aus ihren kleinen, sonst so farblosen Augen, der
Widerschein tiefinnersten Glückes verschönte sie.

Die Mutter heuchelte auch ihrerseits freudige Überraschung, und Herr
Rillmann führte nun den Entschluß aus, den er sich in schweren Kämpfen
einsamer Nachtstunden abgerungen und für den er sich vor der Werbung
in Gesellschaft seines Freundes bei einer Flasche edlen Weines Mut
angetrunken hatte: er reichte Helena die Hand und küßte sie flüchtig
auf den Mund. Über diesen feierlichen Akt vergoß Frau Birnbaum eine
Menge von Tränen.

Als aber nach dem Kuß eine Pause verlegenen Schweigens eintrat,
klatschte Birnbaum in die Hände und sagte:

»Nun aber genug des Weinens und der Abküsserei. Hole Wein, liebe Frau!
Das müssen wir feiern!«

Frau Birnbaum entfernte sich und kam ungeschickterweise schon nach kaum
einer Minute mit vier Gläsern, die draußen gefüllt bereit gestanden
hatten, zurück. Herr Birnbaum warf ihr für diese Tölpelei, die alles
verriet, einen so zornigen Blick zu, daß die Frau verwirrt wurde und
die Gläser klirrten. Herrn Rillmann aber war die eine Minute in der
Gesellschaft seiner Braut schon so lang geworden, daß er von dem
verunglückten Manöver nichts merkte.

Frau Birnbaum reichte jetzt jedem ein Glas, nahm sich das letzte, und
nun rief Birnbaum aus:

»Wir trinken auf das Wohl des jungen Brautpaares. Wir wünschen euch,
liebe Kinder, daß eure Ehe so glücklich werden möge, wie die unsere
immer war. Das Brautpaar lebe hoch -- hoch -- hoch!«

Alle tranken. Aber schon nach dem Ansetzen sah Birnbaum seine Frau
erschreckt an. Das, was er trank, war nicht Wasser -- es war Wein.

Was war das? Was bedeutete das?

Nun sah Birnbaum auf den Bräutigam. Der stand mit einem so verdatterten
Gesicht da, blickte so entgeistert in sein Weinglas, daß dem Brautvater
eine grausige Ahnung aufstieg.

Die Frau hatte die Gläser verwechselt, dem Bräutigam das Glas mit dem
Wasser gereicht.

Betroffen saßen alle im Kreise. Der Bräutigam stierte immer in sein
Glas, als ob er einen verhexten Pokal in der Hand halte. Plötzlich
stand er auf und sagte in Verwirrung:

»Meine Herrschaften, ich muß mich jetzt empfehlen. Ich muß erst mal
nach Hause.«

Keine Widerrede half. Rillmann ging.

Birnbaum tobte mit seiner Frau wie ein Berserker; die Frau weinte,
Helena hatte Herzkrämpfe.

Am Nachmittag schon kam Rillmanns Absage.

                   *       *       *       *       *

Die Geschichte der armen Helena ist sehr traurig ausgegangen. Das
Mädel, dem ein einziges Mal im Leben die große goldene Sonne des
Glückes aufgegangen war, konnte es nicht verwinden, daß diese Sonne
so bald wieder unterging. Im Herbste begann sie zu husten. Als der
Husten den Hausmitteln, die angewendet wurden, nicht wich, machte
Frau Birnbaum schüchtern den Vorschlag, man möge doch mal +Dr.+
Schicketanz befragen. Sie wurde rauh abgewiesen.

»+Dr.+ Schicketanz! Was der für Rechnungen schreibt. Wegen einer
Erkältung gleich zum Doktor laufen! Ich hab' wohl mein Geld auf der
Straße gefunden?«

So blieb es. Erst im Frühjahr, als sich ihr Zustand immer mehr
verschlimmerte, wurde Helena zum Arzte geschickt.

+Dr.+ Schicketanz, der ein guter Arzt, aber ein etwas
rücksichtslos offener Mann war, sagte zu der Mutter:

»Es ist ein Skandal, daß Sie mit dem Mädchen erst jetzt zu mir kommen.
Nun aber dalli in die Lungenheilanstalt! Ob's noch was helfen kann,
steht dahin. Ich glaube nicht!«

Nein, es half nicht mehr. Schon nach drei Monaten schickte die Anstalt
die Kranke nach Hause. Hoffnungslos. In ihren letzten Leidenstagen
sprach Helena öfters in Traum und Fieber laute Worte, denen Vater und
Mutter erschüttert lauschten:

»Ich bin nicht mehr häßlich ... ich bin schön ... ich habe große Augen
und glänzende braune Haare ... ich habe ein gutes seidenes Kleid und
eine goldene Kette ... ich habe Lackschuhe und ich kann tanzen ... ich
habe einen Fächer ...«

»O, er kommt, er kommt wieder und sieht, wie schön ich bin. Und er
liebt mich. Wir trinken den ganzen Abend guten Wein.«

Schmerzlos neigte die arme Schattenblume, der Zeit ihres Lebens Schmelz
und Glanz versagt geblieben waren, eines Abends das Köpfchen und starb.

Einen Tag nach dem Begräbnis stand Birnbaum vor seinem Geldschrank,
schlug mit den Fäusten an die stählerne Tür und schrie in Verzweiflung:

»Wofür? -- Wofür?«




                         Der jüdische Geizhals


Pinkus.

Er stammte aus Brzezany.

Das liegt in Ostgalizien.

Noch hinter Lemberg.

Daran ist nichts auszusetzen; denn selbst hinter Lemberg müssen doch
Leute wohnen. Auch: warum soll einer nicht Pinkus heißen und aus
Brzezany stammen? Aber die Altenrodaer Bürger schimpften darüber,
daß Pinkus aus Brzezany sich in ihrer Stadt niedergelassen und seine
ostgalizische Kultur in Form einer »Gemischtwarenhandlung« dort hatte
in Erscheinung treten lassen. Die Bürger von Altenroda waren zum
großen Teil stramme Antisemiten, sie schimpften auf den Juden, machten
Witze über seinen Namen, seine Herkunft und sein Aussehen, und wenn
sie einigen alten unnützen Kram zu verkaufen hatten, bestellten sie
heimlich den Pinkus und suchten noch so viel von ihm herauszuschinden,
wie es bei solchem Trödel und solchem Käufer eben möglich war. Auch
borgten manche bei ihm Geld.

Pinkus stand sich in solcher Gemeinde glänzend. Er kaufte alles
zusammen, was ihm unter die Finger kam. Der Apotheker hatte einmal
bei einem Faschingsfeste der »Harmonie« eine alphabetische Aufzählung
des Pinkusschen Warenbestandes zum Besten gegeben: Armleuchter,
Abortspapiere, Betschemel, Bartflechtenmittel, Cypernwein,
Cäsarenwahnsinn (antiquarisch von Quidde), Dörrgemüse, Daunenfedern,
Emaillegeschirr, Einreibe, Feigen, Fichtes Reden, Heiligenbilder,
Hosenträger usw.

Acht Tage nach dem Faschingsfeste der »Harmonie« kam Pinkus zu dem
Apotheker und sagte:

»Herr Doktor Apotheker, ich bedanke mer for den schönen Witz, was der
Herr Doktor Apotheker gemacht haben mit mir armen Mann. Ich habe in der
letzten Woche gemacht ausgezeichnete Geschäfte!«

Als Pinkus gegangen war, sagte sich der Apotheker:

»Ich bin ein Esel! Ich habe für den Mann Reklame gemacht.« Niemand
widersprach, da niemand da war.

Also, halb Altenroda schimpfte auf Pinkus, und ganz Altenroda machte
gelegentlich Geschäfte mit ihm. Pinkus stand sich gut dabei. Er
überragte an Geschäftsklugheit sämtliche Bürger der Stadt, und da
geistige Überlegenheit immer Neid erzeugt, freute sich die gute Stadt
Altenroda, als es eines Tages gelang, den wirklich geizigen und
schachersüchtigen Pinkus hineinzulegen. Der Held, dem die Ehre zufiel,
war ein armer Musiker, der Sonnabends und Sonntags im »Bleiernen Hecht«
zum Tanze aufspielte, zwischendurch mal in einer Familie zur Hochzeit
oder beim fünfzigsten Geburtstag und sich sonst durch Privatstunden (zu
sechzig Pfennigen) sein tägliches Armeleutebrot zusammenfingerte.

Und nun kommt die Geschichte.

Pinkus hatte eine Baßgeige gekauft. Er hatte zwar keine Ahnung von
Musikinstrumenten, aber warum sollte er auf der Auktion die Baßgeige
nicht kaufen, wenn er sie billig bekam?

Es hatte aber auf der Auktion auch ein Musikant auf die Baßgeige
gesetzt. Sechzig Mark hatte der arme Teufel im Beutel, und als Herr
Pinkus einundsechzig Mark bot, mußte der andere das hübsche Instrument
im Stich lassen. Traurig erzählte der Musikus im »Bleiernen Hecht«
sein Mißgeschick den Kameraden.

»Laß mich nur machen,« sagte nach einer Pause tiefen Nachsinnens der
eine.

Nächsten Tag ging dieser Mann zu Pinkus.

»Herr Pinkus,« sagte er, »ich bin ein Musiker und habe gehört, daß
sie eine Baßgeige zu verkaufen haben. Ich habe zwar schon eine gute
Baßgeige, aber ich möchte eine -- sozusagen -- eine zweite Baßgeige als
Reserve anschaffen.«

»Reserve is gut gesprochen,« sagte Herr Pinkus; »jeder gediegenete
Musiker hat Baßgeige auf Reserve. Sie soll'n se sehen.« Und er zeigte
ihm die Baßgeige und sprach dazu: »Ein hochmodernes, ein haltbares und
elegantes Instrument. Kostet mich auf Ehrenwort selber hundertzwanzig
Mark ohne die Spesen, aber weil ich sehe, daß Sie sind ein begabter
junger Musiker, will ich Ihnen verkaufen die Baßgeige mit minimalem
Profit for hundertdreißig Mark.«

»Für hundertdreißig Mark ist so ein Instrument geschenkt«, sagte der
Käufer, wobei sich Pinkus erschrocken ins Bein zwickte.

»Aber,« fuhr der Musikus fort, »probieren muß ich die Baßgeige erst.
Denn die Hauptsache ist der Ton, und den kann man von außen nicht so
genau beurteilen.«

»Sie soll'n se probieren. So e feine Baßgeige nach der letzten
Mode, wo Sie selber haben gesagt, ich bin e Dammel, daß ich se for
hundertdreißig Mark losschlag'! Geigen Se los!«

Der Musiker nahm die Baßgeige und fing an, darauf herumzugeigen. Pinkus
machte ein verklärtes Gesicht.

»Klingt se nicht lieblich? Klingt se nich schick und adrett? Sitzt nich
jeder Ton wie angegossen? Meiner Lebtage habe ich noch kei so feine
Musik gehört.'s Herz im Leibe lacht einem. Na, was zulegen werden Se.
Sagen wir rund hundertfünfzig Mark; ich seh', Sie sein e anständiger
Mensch und e gediegener Musikus, Se verlangen nischt umsonst.«

»Für hundertfünfzig Mark ist das Instrument geschenkt,« sagte der
Musiker und wieder kniff sich Herr Pinkus wütend ins Bein.

»Ausgemacht is noch nischt,« rief er; »ich hab' überhaupt keine festen
Preise. Geben Se dreihundert und Se sollen de Geige haben!«

Der Musikant nickte nur, ganz in sein Spiel versunken, mit dem Kopfe.

Plötzlich stutzte er ...

Holloh, was ist das ...?

Er spielte die letzte Passage noch einmal -- Nanu? Zum Donnerwetter,
das ist ja -- Er spielte die Passage zum dritten Male ...

»Alle Hagel!«

»Was is denn? Was tun Se sich denn?«

»Herr Pinkus, ich glaube, ich glaube ...«

»Was glauben Se? Was glauben Se uff eemal von de gute Baßgeig'?«

»Herr Pinkus, Herr Pinkus, mir ahnt was Schreckliches!«

Der Musikant spielte noch einmal -- zweimal, drei-, viermal eine
fürchterliche Passage, dann sagte er erbleichend:

»Herr Pinkus, es fehlt ein Ton!«

»Was fehlt?«

»Ein Ton! Es ist ein Ton zu wenig auf der Baßgeige! Und gerade der
wichtigste. Sie ist unvollständig!«

»Sind Se meschugge, Mensch? Uff so eener feinen Baßgeige wird e Ton
fehlen? Sie, Sie, Sie -- Musikus Sie!«

»Herr Pinkus, ich kann mir nicht helfen -- er fehlt.«

»Nu, zum Deixel, da sehn Se doch erst mal genauer nach.«

»Das will ich gerne tun, Herr Pinkus, gerne!«

Und der Musikant rasselt noch einmal die Passage ab, schüttelt den
Kopf, steht auf, geht rund um die Baßgeige herum, betrachtet sie von
allen Seiten, klopft ihr schließlich auf den Rücken und geigt wieder.

»Er fehlt, Herr Pinkus, er fehlt! Aber warten Sie noch! Gedulden Sie
sich noch!«

Er schraubt an den Wirbeln, geigt, probiert, schraubt wieder, zerrt an
den Saiten, geigt nochmals ...

»Nichts zu machen, Herr Pinkus, der Ton fehlt!«

»Aber -- aber zum Deixel, was denn fer e Ton? Wieviel Tön' gehören denn
zu e Baßgeige?«

»Fünfundzwanzig, Herr Pinkus! Fünfundzwanzig! Und da sind bloß
vierundzwanzig, hören Sie, der fehlt!«

Er geigt langsam vierundzwanzig Töne, dann rutschen seine Finger
herunter, und er summt nur mit dem Munde was Tiefes, Brummiges.

»So, der fehlt! Der fünfundzwanzigste. Der tiefste und gerade für die
Baßgeige der wichtigste -- der fehlt! Das ist schrecklich!«

»Aber wieso? Wie kann er fehlen? Wo ich das Instrument aus einer der
besten, leistungsfähigsten neuzeitlichen Firmen for Musik bezogen
habe. Wie kann er fehlen?«

»Weiß nicht, Herr Pinkus! Ihnen zuliebe will ich einen letzten Versuch
machen.«

Der Musikant zieht ein Stück Kolophonium aus der Tasche, wichst wie
rasend den Bogen, rückt den Steg, schraubt an den Wirbeln, geht um die
Baßgeige, pocht abermals an ihren Rücken, schüttelt sie heftig hin und
her und geigt dann und sagt:

»Es ist beim besten Willen nischt zu machen, Herr Pinkus, der Ton
fehlt. Die Baßgeige sieht äußerlich großartig aus, innerlich is sie ein
Krüppel!«

»Wieso 'n Krüppel? Wegen den einen Ton?«

»Herr Pinkus, Sie sind ja gewiß sehr musikalisch. Aber haben Sie
schon mal die Geschichte vom Stradivarius gehört? Nicht? Also, der
Stradivarius war der größte Baßgeigenkünstler, der auf der Welt gelebt
hat. Er war ein Spanier. Und er hatte eine Baßgeige, die kostete,
sage und schreibe, dreißigtausend Mark. Die hatte ihm die Königin von
Spanien von einem alten Zigeunerprimas gekauft. Was ist passiert? Der
Zigeuner war ein Lump. Eines Tages stellte sich heraus, daß ein Ton
fehlt, und Stradivarius und die Königin von Spanien sitzen blamiert und
mit hängenden Ohren da, und die Baßgeige, die dreißigtausend Mark, sage
und schreibe dreißigtausend Mark gekostet hat, is keine hundert wert.«

»Aber, das is ja meschugge,« schreit Pinkus. »Das is doch keine reelle
Rechnung. Wenn auf einer kompletten Baßgeige fünfundzwanzig Töne sein
sollen und einer fehlt, da können doch abgehen höchstens vier Prozent.«

»Nee, Herr Pinkus, bei Baßgeigen is das anders. Wenn da een Ton fehlt,
da läßt sich überhaupt keen richtiges Konzert mehr mit machen. Immer,
wenn der Ton kommen soll, hüppt die Geschichte, wie bei einer kaputen
Leier, und da pfeift einen ein gebildetes Publikum aus. Nich einmal
für Tanzmusik auf'm Dorf is so 'ne Baßgeige zu gebrauchen. Die Tänzer
kommen ja alle aus 'm Tritt.«

Pinkus schwitzte.

»Mein Lieber,« sagte er; »ich sehe, Se woll'n mir bloß was abschachern.
Also sagen wir hundertfünfzig Mark, wie's am Anfang war.«

»Nee, Herr Pinkus, für ein' Musiker is die Baßgeige total unbrauchbar.
Ich bin doch nich so dumm wie der Stradivarius! Das Möbel da, das könn'
Sie höchstens an einen Holzhändler verkaufen.«

Pinkus dampfte.

»Vielleicht -- vielleicht als Wanddekoration,« keuchte er.

»Na, ja, aber die Leute, die sich die Wände mit Baßgeigen dekorieren,
die geh'n ja dünne.«

»Gibt's schon,« sagte Herr Pinkus schnaufend, »gibt's schon! Also, was
geben Se freiwillig?«

»Nischt, Herr Pinkus, nischt! Was soll ich mit 'ner kaputen,
unvollständigen Baßgeige?«

»Also, geben Se mir achtzig Mark; fertig sind wir!«

»Herr Pinkus! Auf Wiedersehen!«

Er ging wirklich. Pinkus wartete ab; als aber der Musikant um die
nächste Ecke verschwand, eilte er ihm nach.

»Also, wenn schon der tiefste Ton fehlt, Se brauchen doch die Baßgeige
bloß zur Reserve. Können Se se nich gebrauchen for die höheren Stücke?«

»Höhere Stücke sind bei Baßgeigen sehr selten,« sagte der Musikant
kühl. »Aber damit Sie nicht ganz um Ihr Geld kommen, will ich Ihnen
zwanzig Mark zahlen.«

»Sagen Se sechzig Mark!«

Sie redeten hin und her und einigten sich schließlich auf dreißig Mark.
Der Musikant holte sich die Baßgeige, und Pinkus warf die Tür krachend
hinter ihm ins Schloß.




                             Zwei Idyllen




                            Der Briefkasten


Hoch am Ochsenkopf und noch dazu abseits vom Hauptwege liegt eine
weltverlorene Kolonie, die Weberhäuser. Die Leute, die in den neun
verstreuten Häuslein dort leben, haben nur mit Altenroda etliche
Verbindung. Was über Altenroda hinausliegt, geht sie nichts an.

Im letzten Jahre aber waren fünf Sommergäste, welche angeblich die
absolute Einsamkeit, in Wirklichkeit die absolute Billigkeit suchten,
in den Weberhäusern gewesen. Ende August waren die Gäste abgereist und
die Weberhäuser waren so einsam wie immer.

Was, dachte der einzige Spatzenmann, der in den Weberhäusern wohnte,
am Anfang Oktober, ich mach's wie im vorigen Winter, ich niste in dem
Briefkasten. Der Briefkasten ist ein gutes, festes Häuslein, sicherer
als diese windigen Starkästen, und ungestört ist man auch. Besprach
sich also mit seinem Weibe.

»Blech ist zu kalt,« sagte diese.

»Rede kein Blech, Weib,« sprach der Mann unwillig. »Blech ist fest. Das
ist die Hauptsache. Rin in den Kasten!«

Dann krochen sie durch einen Spalt, über dem »Einwurf« geschrieben
stand, und sahen sich im Kasten um. Ein reizendes Schlafgemach, von
schwach bläulichem Lichte erfüllt. Unten war ein kleines Schild
angebracht, wie ein Transparent, da stand »Sonnabend« darauf zu lesen.

»Mann, hier liegt was,« sagte das Weib. Es war ein dicker Brief, auf
dem mit roter Schrift stand: »Eilt!«

»Der ist gut,« sagte der Mann, »der ist dick und federt wie eine
Matratze.«

Dann flogen sie aus, stahlen Stroh, stahlen Heu, zupften Moos und
sammelten Laub, und bald war die Wohnung ausgestattet. Als der Abend
kam, und der Wind grimmig pfiff, lachte das Spatzenpaar in seinem
sicheren Hause und hörte mit Behagen den Regen auf sein Dach tropfen.

Am selben Abend saß der Weber Bieselt, an dessen Hause der Briefkasten
angebracht war, unten in Altenroda im »Bleiernen Hecht« und der
Briefträger gab ihm einen Schnaps zum besten und sagte: »Also,
Bieselt, wenn diesen Winter wirklich jemand mal bei Euch was in den
Briefkasten stecken sollte, da laßt mich's wissen. Ich komm dann rauf,
um zu leeren; denn Pflicht ist Pflicht.« Der Briefträger machte ein
entschlossenes Beamtengesicht, als er das sagte.

                   *       *       *       *       *

Den Sperlingen ging's gut. Die Kost war schmal, aber das Haus war
prächtig. Einmal aber in stiller Nacht, als beide geruhsam schliefen,
hörten sie leise Schritte ... eine Hand tastete nach dem Kasten ... ein
keuchendes Atmen hörte man ... dann flog ein Brief in den Spalt, flog
gerade auf das erschrockene Ehepaar.

»So eine Gemeinheit!« schimpfte der Mann, als er sich von dem schweren
Schlage erholt hatte; »ich muß sehen, wer das war.«

Er flog auf Kundschaft und kam bald zurück.

»Die schwarze Liese, die dumme Gans! Der steckt der Dragoner im Kopfe,
der auf Ernteurlaub war, und nun schreibt sie ihm. Paßt sich das?«

Nein, nein, schüttelte das Weib ihr Gefieder, das passe sich ganz und
gar nicht. Darauf trampelte der Mann wütend auf dem Briefe mit den
Füßen herum und sagte:

»Hilf, Weib! Wir buddeln den Brief unter.« Und sie buddelten ihn unter.

Zehn Tage später flog wieder in tiefer Nacht ein Brief durch die
Spalte. Der Spatz war rasend, flog auf Kundschaft aus und kam bald
zurück.

»Die Hubrichen, die alte Schwarte. Die schreibt gewiß an den Pinkus,
daß sie die Zinsen nicht bezahlen kann! Hilf, Weib, wir buddeln den
Brief unter!« Und sie buddelten ihn unter.

Am nächsten Freitag, schon vor Aufgang des Mondes, flog abermals ein
Brief durch die Spalte. Der Spatz hätte mit den Zähnen geknirscht, wenn
er welche gehabt hätte, flog auf Kundschaft aus und kam bald zurück. Er
war blaß vor Zorn.

»Die Heinisch Selma, das Schaf, die schreibt auch an den Dragoner,
der auf Ernteurlaub da war.« Und in höchster Entrüstung buddelten die
beiden den Brief unter.

Zwei Tage später aber sauste schon wieder in später Stunde ein Brief
durch die Spalte und eine leise Stimme draußen sagte: »Wenn mich bloß
niemand sieht!«

»Das Dorf hat die Schreibwut,« schrie der Spatz, flog auf Kundschaft
und berichtete, daß es die Häuslerin Steinert sei, die ohne Wissen
ihres Mannes ihrem Jungen Geldbriefe schicke.

Ende November kam ein Kind geschlichen, das einen Brief ans Christkind
dem Spatzenpaare auf die Köpfe warf. Alles wurde untergebuddelt.

Als aber Mitte Dezember die Hübner Frieda mit einem Briefe an den
Dragoner, der auf Ernteurlaub gewesen war, angeschlichen kam, wurde der
Spatz tobsüchtig.

Er riß das Lager auf, Brief um Brief empor und warf unter athletischer
Anstrengung sämtliche Briefe mit Hilfe seines Weibes zur Spaltöffnung
hinaus.

Am anderen Morgen trat der Weber aus dem Hause, sah die vielen Briefe
im Schnee liegen, stieß einen Quieker aus, steckte alle Briefe wieder
in den Kasten und sandte drei Tage später einen Eilboten an den
Briefträger nach Altenroda.

Dieser kam schon vor Ablauf der nächsten Woche an, den Kasten zu
leeren. Die Sperlinge aber waren inzwischen ausgezogen; denn durch die
Papierlawine, die der Weber in den Kasten geworfen hatte, wären sie
beinahe zerquetscht worden.

Der Briefträger leerte den Kasten, sah den Haufen Stroh, Heu, Federn,
Moos und verschiedene andere Andenken der Spatzen und sagte mit einem
amtlichen Blick auf den Weber: »Das Einwerfen fremder Gegenstände in
öffentliche Postkästen ist verboten!«

Der Weber entgegnete nichts. Der Spatz aber meinte:

»Heutzutage mag der Geier ein Sperling sein. Nicht mal im Briefkasten
mehr hat man Ruhe!«




                           Hero und Leander


Die beiden Esel hießen Hero und Leander. Esel haben oft hochtrabende
Namen. Der Kutscher von Hero und Leander hieß Dröselmann. Alle drei
waren städtische Angestellte von Altenroda.

Hero und Leander hatten einen kleinen Wagen durch die Anlagen
der Stadt zu ziehen, Müll abzufahren, manchmal etwas Gartengerät
herbeizuschaffen, auch ein Fuderlein Sand oder Dünger zu befördern,
und sie taten unter Führung ihres Kutschers Dröselmann das alles in
gemessener, durchaus unüberhasteter Weise. Niemals gingen sie am
»Bleiernen Hecht« vorüber. Sie blieben vor dem Wirtshause stehen und
zwangen förmlich ihren Kutscher, einzukehren und seinen Schnaps zu
trinken. Ein paarmal kam es dann vor, daß die Esel mit dem Wagen allein
weiterfuhren und den Grünzeughändlern ihre Geschäftsauslagen, wie
Kohlköpfe und Möhren, die vor der Tür ausgestellt waren, auffraßen, was
Anlaß zu Geschimpfe und Beschwerden gab. Das alles aber war den Eseln
egal. Sie hatten wenig Rechtlichkeitssinn.

Auch an der ersten Promenadenbank blieben die Grauen immer halten.
Diese Bank hieß »Neubergers Ruh«. Professor Neuberger hatte viel
Verdienste um die städtischen Anlagen von Altenroda, so daß man
ihn durch Anbringung einer Tafel geehrt hatte, welche der ersten
Promenadenbank seinen Namen gab.

Seit sich der zerstreute Gelehrte einmal auf ein Butterbrot gesetzt
hatte, das ein Kind auf der Bank liegen gelassen hatte, versäumten
humorliebende Gymnasiasten nie, auf dem Schulwege eine Butterstulle
auf »Neubergers Ruh« als Falle zu deponieren, was den hellen Hosen des
Professors noch verschiedentlich häßliche Flecken einbrachte.

Die beiden Esel Hero und Leander aber lungerten jeden Morgen auf das,
was die anderen Esel, die nun in der Schule festsaßen, auf der Bank
hinterlassen hatten. Lohnte sich der Fund, dann machte Dröselmann
Halt, kratzte alle Butter mit dem Messer in eine Stullenecke zu einem
Schlemmerbissen für sich selbst zusammen und verfütterte das Brot an
seine Getreuen. Als die Gymnasiasten von solchem Tun Wind bekamen,
ärgerten sie sich und schwuren Dröselmann und seinen Langohren Rache.

An einem wunderschönen Juni-Nachmittage hatte sich Dröselmann, der ein
bißchen lange im »Hecht« gesessen hatte, unter einem Baume, der an der
Grenze zwischen Promenade und Eulenwald stand, schlafen gelegt. Die
beiden Esel versanken in milde Träumereien. Es war alles so friedlich,
daß niemand an die Nähe eines bösen Feindes geglaubt hätte. Und doch
schlich er heran, und zwar in Gestalt des Obertertianers Müller III.
Dieser berühmte Fährtensucher und Krieger, der in seinem Araberstamme
den Namen »Vater der Stille« führte (wodurch seine Gewandtheit im
Anschleichen angedeutet werden sollte), hatte vom Eulenwalde aus
das Gespann und den schlafenden Kutscher erspäht und sich sofort
angeschlichen, um festzustellen, ob Dröselmann auch wirklich schlafe,
und ob da irgend etwas zu machen sei.

Der Eselmann Leander öffnete das linke Auge zu einem Blinzeln, stellte
auch das linke Ohr etwas senkrecht und versuchte mit einem kleinen
Schnaufer des linken Nasenloches nach der Richtung, wo Müller III
anschlich, Witterung zu bekommen. Die rechte Hälfte Leanders schlief
weiter.

»Liebe Frau,« sagte nach einiger Zeit Leander, »ich glaube, es kommt
jemand.«

»Laß mich in Ruh,« schimpfte die Frau und schlug dem störenden Eheherrn
die Schwanzquaste auf den Rücken.

»Weib, da drüben ist was nicht recht richtig,« flüsterte der Mann.

»Du sollst mich in Ruhe lassen,« schnaubte die Gattin und stieß mit dem
Hinterfuße nach dem Manne.

»Aber Herochen,« klagte der Mann, »ich dachte doch nur ...«

»Du sollst nicht denken! Schlaf!«

Und er schlief, sowohl mit der rechten als auch mit der linken Seite;
denn er war ein Esel und folgte dem Weibe.

Der »Vater der Stille« war jetzt nur zwei Schritte von dem Kopfe
Dröselmanns und überzeugte sich, daß dieser in tiefem Schlafe lag. Dann
schlich er zurück und rannte, als er sich sicher glaubte, nach dem
Eulenwalde, wo unter der Querkaeiche sein Stamm, die Hullah-Araber,
lagen. (Indianer spielen galt den Tertianern von Altenroda für
zu albern; so was machten höchsten die Quartaner und die noch
tieferstehenden Jahrgänge, mit denen man keine Fühlung hatte. Von
Tertia an war man räuberischer Beduine.)

»Hört mich an,« sagte der ›Vater der Stille‹; »ich, euer Scheich, habe
erkundet, daß dieser Giaur, welcher sich Dröselmann nennt, schläft.
Allah versenkte ihn in den Schlaf der Ungerechten, welche sich mit
giftigen Getränken, die uns Rechtgläubigen verboten sind, berauschen.
Die Stunde der Rache ist gekommen. Dieser Giaur hat uns wiederholt des
täglichen Brotes beraubt, womit wir unseren Erzfeind, den Professor
Neuberger, anlocken wollten. Allah schicke den Hund von Professor, der
mir erst in der Osterzensur wieder ›mangelhaft‹ in der Naturkunde gab,
in die tiefste Dschehenna!«

»Allahu ekber,« murmelten die Krieger.

»Was tut ein freier ben Arab?« fuhr der Scheich fort. »Er nimmt
dem Feinde zunächst seine Rosse. Tapfere Krieger, edle Söhne des
ruhmbedeckten Stammes der Hullah-Araber, sprecht mit mir die heilige
Fatha, die erste Sure des Korans, und dann brecht mit mir auf, daß wir
den Sieg an unsere Fersen heften und den Feind seiner Rosse berauben.«

Da rief der ganze Stamm: »Hamdullilah, Hamdullilah!« und tanzte um das
Feuer, das entzündet war, in wilder Freude. Hadschi Ali ben Gorah ben
Akiba aber, ein sehr betagter Stammesgenosse (er war nämlich in jeder
Gymnasialklasse einmal sitzen geblieben), machte ein sorgenvolles
Gesicht und sagte:

»Wenn wir, wie unser Scheich sagt, den Sieg an unsere Fersen heften,
dann wird der Sieg hinter uns sein, das heißt mit anderen Worten, wir
werden davonlaufen und die Sieger werden uns auf den Fersen sein.«

»Schweig, du Vater des vertrockneten Gehirns und Bruder der
Kurzsichtigkeit,« zürnte der Scheich, »wie kann Dröselmann, der
ein lahmes Bein hat, uns verfolgen, zumal wenn er trunken ist?
Stammesgenossen, ich sage euch, schon nach einer halben Stunde werden
wir die Sure des Sieges beten!«

»Allah il Allah!« rief der ganze Stamm.

»Laßt uns gehen; denn Asr, die Stunde des Aufbruchs, die beste des
ganzen Tages, ist gekommen.«

Sie verbeugten sich in der Richtung gen Mekka und dann brachen sie auf,
einer hinter dem anderen, huschend, gebückt, voran der Scheich. Jetzt
waren sie vor einer Schonung.

»Gerade aus!« gebot der Scheich leise und kroch in die Pflanzung. Alle
Hullah-Araber krochen hinterher, als letzter Hadschi Ali ben Gorah ben
Akiba, der ob seiner Erfahrungen immer das Ehrenamt hatte, den Rückzug
zu decken, und als Sohn des städtischen Försters auch die genaueste
Ortskenntnis besaß.

Plötzlich erdröhnte ganz in der Nähe ein Schuß. Sämtliche Araber flogen
auf die Nasen.

»Wartet, ihr Halunken,« donnerte die Stimme des Försters, »euch werde
ich lehren, in die Schonung zu kriechen. Ich erschieße die ganze Bande!«

Die Araber fraßen sich vor Angst in den Sandboden ein. Ein zweiter
Schreckschuß. Dann die Stimme des Scheichs:

»Der Förster! Er schießt mit Hasenpfeffer! Jungens, lauft!«

Alles rannte. Der Förster fluchte. Am meisten fluchte er, als er seinen
eigenen Sprößling unter den Waldfrevlern entdeckte, den Hadschi Ali ben
Gorah ben Akiba.

»Na warte, Fritze,« brüllte der Forstmann, »komm du mir nach Hause!«

Im Kastanienwäldchen sammelten sich die Hullahs. Der Scheich fand seine
Fassung schnell wieder.

»Tapfere Krieger der Hullahs,« rief; »ihr habt einen heimtückischen
Überfall glorreich überwunden. Laßt uns die Sure des Sieges sprechen.
Denn der Feind hat trotz seiner Feuerschlünde nichts über uns
vermocht. Leider wird er durch seine Schüsse den geweckt haben, den
wir überfallen wollten. Wir müssen also unseren Kriegszug für heute
abbrechen.«

Er hatte nicht ganz recht. Zwar, als die Schüsse erdröhnten, waren auch
Hero und Leander in wilder Flucht davongelaufen, hatten zuletzt den
Wagen umgeworfen, die Geschirre zerrissen und waren von dem Förster
eingefangen worden. Der Kutscher Dröselmann aber hatte von all diesen
Ereignissen nichts bemerkt. Er erfreute sich eines gesegneten Schlafes.

Am nächsten Morgen wurde Dröselmann auf das Rathaus zitiert und ihm
daselbst ein wenig freundlicher »Guten Morgen« gesagt.

Fünf Tage später durcheilte die Stadt das Gerücht: die Esel seien schon
wieder durchgegangen. Diesmal aber waren sie nicht wieder eingebracht
worden, sondern mit Geschirr und Wagen spurlos verschwunden. Das
Gespann war offenbar gestohlen worden. Dröselmann mußte wieder aufs
Rathaus kommen und wußte von dem ganzen Vorfall nichts zu melden,
als daß er ob der ungeheuren Sommerhitze am Wegrande ein wenig
entschlummert sei, und daß bei seinem Erwachen die Esel auf und davon
waren.

Darauf sagte der Bürgermeister: »Gute Nacht, lieber Dröselmann, wir
brauchen Sie fürderhin nicht mehr. Schlafen Sie weiter recht wohl!«

                   *       *       *       *       *

Im Eulenwalde lag ein altes Jagdhaus, das sich ein adliger Herr in
früherer Zeit gebaut hatte, das aber nun ganz in Verfall geraten und
seit Menschengedenken unbewohnt war. Ein grasverwachsener Waldweg
führte zu ihm, der kaum manchmal zu einer Holzfuhre benutzt wurde.

Nach diesem alten Jagdhause schafften die Hullah-Araber ihre Beute, und
der Zufall wollte es, daß sie ganz unbemerkt blieben.

Die Hullahs feierten ein großes Siegesfest, und es zeigte sich, daß
jeder seinen Karl May gründlich kannte.

»Tapfere Krieger,« rief der Scheich, »seht ihr sie leuchten, die Sonne
unseres Ruhmes? Seht ihr sie stehen, die erbeuteten Rosse und Wagen
unseres Feindes? In allen Zelten des Morgenlandes, bei den Wachtfeuern
der Wüste und an den Ufern des Nils wird man von unserer Großtat
sprechen.«

»Allahu ekber!« riefen die Krieger und entzündeten ihre Pfeifen.

»Tapfere Krieger,« fuhr der Scheich fort, »ein echter ben Arab liebt
sein Roß; seht, wie ich dem meinen den Kuß des Friedens gebe!«

Er näherte sich dem Kopfe der Eselin und wollte sie küssen. Hero aber
schnappte nach ihm; auch bespritzte sie ihn aus ihren Nasenlöchern.

»Dieses Roß,« sagte der Scheich, indes er sich das Gesicht abwischte,
»tut noch etwas fremd zu mir. Ich will ihm zeigen, daß ich sein Freund
bin.«

Nun brachte er eine Menge Zuckerstücke zum Vorschein, die er den
Vorräten seiner Mutter entnommen hatte, und fütterte die Eselin.

»Weib,« sagte der Esel Leander; »lasse dich nicht von einem Manne, der
dich hat küssen wollen, mit Zucker speisen.«

»Ach, du bist wohl eifersüchtig?« fragte die Frau und fraß dann erst
recht.

Da seufzte der Mann: »So sind die Weiber!« Aber er fügte sich drein;
denn er war ein Esel. Hadschi Ali ben Gorah tröstete ihn mit einem
Bündel Möhren.

Hadschi Ali stand neuerdings beim Stamme wieder in höchsten Ehren;
denn seine Deutung von der Heftung des Sieges an die Fersen hatte sich
bewahrheitet, und obwohl sich von väterlicher Seite wegen des Betretens
der Schonung der Sieg nachträglich sogar auch noch an Alis Hosenboden
geheftet hatte, war der Edle doch dem Stamme treu geblieben und hatte
sich an der neuen Kriegstat beteiligt.

Auch die anderen Hullah-Araber hatten für die beiden erbeuteten »Rosse«
allerhand Leckerbissen mitgebracht, sogar Weißbrot und Schokolade, so
daß Leander seine Hero anschmunzelte und sagte: »Die Lauseigel sind
gut. Wir haben unsere Lage verbessert!«

Hadschi Ali ben Gorah aber legte seine sechzehnjährige erfahrene Stirn
in Falten und sagte:

»Was fangen wir nun mit den Eseln an?«

»Zuerst müssen wir furagieren,« sagte Mullah ben Nadir, dessen Vater
beim Train gedient hatte. »Esel brauchen Heu. Ich weiß eine Wiese in
der Nähe, wo Heu zu haben ist. Auch Klee mögen sie.«

Dieser Vorschlag wurde angenommen; der Scheich und zwei Krieger zogen
aus, um zu erkunden, ob Wiese, Kleefeld und Weg sicher seien, und dann
brach der ganze Stamm auf und schaffte ein Fuder Heu und Klee herbei.
In dem alten Jagdschloß waren noch bedeckte Räume genug, daß das
Eselpaar einen Stall, der Wagen eine Remise fand.

»Was machen wir nun mit den Eseln?« fragte der weise Ali wieder. »Es
genügt nicht, wenn wir sie bloß immerzu füttern.«

»Nein,« sagte Ibn Dschisirah, »wir müssen sie reiten. Esel sind
Reittiere.«

»Wir haben keine Sättel,« warf Ali ein.

»Sättel,« höhnte der Scheich; »wie oft ist der große Kara ben Nemsi,
den sie im Abendlande Karl May nennen, ohne Sattel geritten! Ich werde
es euch zeigen; denn ich bin euer Scheich.«

»Hai! Hai! Der Vater der Stille!« jubelten die Krieger.

Der Scheich schirrte nun die Eselin ab, gab ihr die zärtlichsten
Kosenamen, erinnerte sie an den Zucker, den er ihr verehrt hatte, und
schwang sich mit einem kühnen Schwunge auf den Rücken des Tieres.

Der Erfolg war ein gewaltiger. Hero drehte erst verwundert den Kopf
um, was bedeuten sollte: »Nanu? Was ist das für eine Frechheit?« Dann
wippte sie ein wenig mit dem Rücken, dann machte das Vieh unvermutet
einen kreuzförmigen Satz, einen wahren Zaubersprung, zugleich
nach vorn, hinten, rechts und links, so daß der Scheich wie eine
abgeschossene Rakete in die Luft flog.

»Allah kerim!« riefen erschrocken die Krieger.

Der Scheich, der nach glänzender Kurve gelandet war, erhob sich. Er
hatte sich gewaltig geschlagen, ließ aber nichts merken, sondern sagte
gleichmütig:

»Dieses Roß scheint falsch zugeritten zu sein. Ich will das andere
probieren.«

Nun kam Leander an die Reihe. Leander hatte mit Behagen zugesehen, was
für Teufelsmätzchen sein Weib mit dem Araber vollführte.

»Ja, ja, lasse sich einer mit der ein, mit der wird kein Esel fertig,«
sagte er bei sich. Während sich nun der Scheich mit ihm zu schaffen
machte, dachte sich Leander:

»Wie wäre es, wenn ich den Schlingel auf mir reiten ließe? Gewiß bekäme
dann das nächste Mal ich den Zucker und das Weib bekäme nichts; das
würde sie sehr kränken.«

Aus diesen ehelichen Erwägungen heraus ließ Leander den Scheich
aufsteigen und setzte sich in gemütlichen Trab mit ihm.

Die Hullahs waren außer sich vor Entzücken.

»Er reitet! Er reitet wirklich! Er fällt nicht herunter!« riefen sie.
Der Scheich aber sagte leuchtenden Auges:

»So reitet ein ben Arab!«

                   *       *       *       *       *

»Was machen wir wegen der Esel?« fragten sich auch die Räte der Stadt
Altenroda. Sie empfanden den Verlust der Tiere als eine Schande.
Das »Stadtblatt« und einige benachbarte Zeitungen machten in Poesie
und Prosa böse Witze über die Affäre. So wurde schließlich auf die
Wiedereinbringung der schamlos gestohlenen Esel eine Belohnung von
dreihundert Mark gesetzt, die auch bald auf fünfhundert erhöht wurde.
Im »Löwen«, im »Roß« und im »Hecht« aber wurde fast von nichts anderem
gesprochen als von dem entschwundenen Stadtmarstall, und es wurden
große Wetten abgeschlossen, ob die Tiere wiederkommen würden oder
nicht. Schließlich erhöhten diejenigen, die auf die Rückkehr der
Esel gewettet hatten, die Prämie von sich aus auf tausend Mark. Der
abgesetzte Eselskutscher Dröselmann hatte der Stadt den Rücken gekehrt
und war nach Berlin gezogen, wo er zwei Brüder hatte, die von ähnlichem
Kaliber waren wie er. Seine Frau hatte Dröselmann in Altenroda
zurückgelassen.

                   *       *       *       *       *

Den Eseln erging es indessen im Eulenwalde vorzüglich. Wenn sich der
Stamm der Hullah-Krieger auch nicht täglich vollzählig versammelte,
was wegen verschiedener schwerer Hinderungsgründe nicht immer
möglich war (Klavierstunde, Tante zu Besuch, zum Schneider maßnehmen
gehen, Strafarbeiten machen, Arrest absitzen und so), es waren doch
immer einige der Helden anwesend und vergaßen nie, manches Leckere
mitzubringen. Die Esel waren des Nachts angebunden, wurden aber am
Nachmittag losgelassen und führten ein freies Leben voller Wonne.
Leander, der gutmütige Mann, ließ auf sich reiten, bei Hero, der
störrischen Eselin, aber gelang es nur dem Scheich, einen Rekord von
elf Sekunden aufzustellen, dann flog auch er unweigerlich.

Manchmal in stiller Nacht, wenn sie allein waren, sagte der Mann:

»Ach, Frau, in diesem verwunschenen Schlosse ist es schauerlich zur
Nachtzeit. Hörst du, wie das Käuzchen schreit und wie laut der Bach
rauscht? Auch klappert der Wind mit den Dachsparren.«

»Er klappert nicht! Du klapperst! Und zwar mit den Zähnen. Du bist ein
Feigling!«

»Ach, Frau, ich wollte gewiß mutig sein wie ein Löwe, wenn ich nur
erst wieder bei Papa Dröselmann im Stalle stände. Da wohnten Menschen
ringsum und zwei Hunde sind im Hofe, ein Boxer und ein Pinscher, der
die ganze Nacht bellt.«

»Du bist ein Esel, darum bist du dumm; wärst du eine Eselin, so wärst
du klug. Geh nur zu deinem Dröselmann, lasse dich alle Tage an den
Wagen spannen, schleppe Lasten und kriege schlechtes Futter! Geh, geh!
Ich bleibe hier. Und wenn du gehst, wirst du noch etwas Dümmeres sein
als ein Esel.«

»Nämlich was denn?«

»Ein Witwer!«

»O weh, ein Witwer will ich nicht sein!«

»So halt's Maul! Männer, die nicht Witwer sind, haben das Maul zu
halten.«

Das tat denn Leander und fürchtete sich in dem einsamen Waldhause halb
zu Tode. Erst wenn der Morgen kam, schlief er ein.

       *       *       *       *       *

An einem Sonntagnachmittage, als fast der ganze Stamm der Hullah
versammelt war, sagte der Scheich:

»Tapfere beni Hullah! Es sind zwölf Tage und zwölf Nächte vergangen,
seit wir auf unserem glorreichen Kriegszuge die Rosse des Giaurs
Dröselmann erbeuteten. Ihr habt gehört, was diesem Vater der
Verschlafenheit und Enkelsohne der Kümmelflasche begegnet ist. Sein
Mudir (Bürgermeister) hat ihn aller seiner Ehrenstellen entsetzt und
seiner Einkünfte entkleidet. Er hat ihn in die Verbannung gejagt, wo
ihn die Krokodile der Verzweiflung fressen werden. Allah verbrenne
seine Seele in Spiritus. Was uns dieser Giaur geschadet hat, ist
gerächt. Der freie Sohn der freien Wüste aber, der ben Hullah, ist
großmütig und edel. Wenn seine Rache erfüllt ist, hört er auf, zu
strafen.

Nun komme ich auf die Stadt zu sprechen, welche Altenroda heißt. Gewiß,
es wohnen in dieser Stadt vielerlei Bösewichte, wozu insonderheit die
Professoren der Schule gehören, welche das Gymnasium heißt.«

»Allah! Wallah! Tallah!« knurrten die Krieger.

»Allah,« fuhr der Scheich fort, »wird diese Giaurs samt und sonders an
einen Spieß stecken, und über dem tiefsten Schlunde der Feuermolche in
der Dschehennah zappeln lassen.«

»Allah! Wallah! Tallah!« heulten die Krieger in wildem Fanatismus.

»Aber, beni Hullah, mein Ohr hat vernommen, daß einige unter euch
Verwandte in Altenroda haben, und deswegen wollen wir die Stadt nicht
vernichten, sondern ihr Gnade zuteil werden lassen.«

Die Männer brummten irgend etwas Arabisches.

»Ich weiß, teure Stammesgenossen, die Milde fällt euch schwer. Zu arg
und schändlich seid ihr in jener Stadt oft erzürnt worden. Aber der
Starke sei gnädig dem Schwachen. Um eurer Verwandten willen will ich
die Stadt begnadigen und ihr die Esel zurückerstatten, um die sie
jammert.«

Unwilliges, ja drohendes Gemurre.

»Hört mich, edle beni Hullah -- ich habe noch andere Gründe für meine
Milde. Das größte El Asr des ganzen Jahres, die größte Stunde des
Aufbruchs steht bevor. (Der Scheich meinte den Beginn der großen
Ferien.) Die Hullah zerstreuen sich dann auf lange Zeit; der eine
zieht dorthin, wo auf weiten Steppen die Herden grasen; der andere
erklimmt die höchsten Felsengipfel der Welt; der dritte stürzt sich in
das Meer, um Perlen zu suchen; ein vierter sucht seinen ruhmreichen
Großvater auf. Niemand wird hier bleiben, um unsere Roßherde zu
bewachen und sie gegen den Überfall von Feinden oder vor wilden Tieren
zu beschützen. Was soll aus ihnen werden?«

Düster sahen die Männer vor sich hin. Ihre herrliche Beute freizugeben,
auf den Spaß zu verzichten, alle Tage die Altenrodaer Bürger von den
verschwundenen Eseln mirakeln zu hören, sich selbst ihres köstlichen
Geheimnisses zu berauben, keine Reittiere mehr zu haben, das alles
erschien ihnen Wahnsinn.

»Was du planest, o Scheich,« sagte Omar ben Gandesi zornig, »verhüte
der Prophet!«

»So möge eure Weisheit entscheiden,« antwortete der Scheich verstimmt,
»was nach dem großen El Asr mit unseren Viehherden geschehen soll!«

Alle versanken in dumpfes Sinnen. Die Pfeifen dampften. Endlich sagte
der weise Ali:

»Wenn wir sie schon selbst nicht behalten können, so wollen wir sie
doch der feindlichen Stadt Altenroda nicht zurückgeben. Möge diese
Stadt zum Gelächter der ganzen Welt die esellose genannt werden in
Ewigkeit. Wir werden die Esel aus ihrer schmachvollen Sklaverei
erlösen, wir werden ihnen die Freiheit geben. Wald, Feld und Flur
sollen ihre Weide sein, der Sternenhimmel ihr Zelt, und zu Mogreb, der
Stunde des Frühgebetes, schon möge alltäglich ihr Feierabend beginnen.«

»Wohl gesprochen, edler Ali; auch ich bin für die Freiheit der Esel.
Aber bedenke, was aus ihnen werden soll, wenn die Regenzeit eintritt
oder wenn feindliche Stämme ihnen nachstellen.«

So sprach der Scheich. Da sprang Omar ben Gandesi erregt auf und rief:

»Ich hab's! Allah hat mein Herz erleuchtet und meinen Verstand scharf
gemacht wie die Zähne des Krokodils. Ihr wißt, daß die Obrigkeit von
Altenroda auf die Wiedereinbringung der Esel einen Preis von tausend
Silberstücken gesetzt hat. Lasset uns mit den Eseln vor das Rathaus
ziehen, sagen, wir haben sie im Walde eingefangen, und uns den Preis
einfordern. Wenn wir ihn teilen, hat bei El Asr, der Stunde des
Aufbruchs, jeder soviel Geld, daß sein Weg mit Rosen bestreut sein wird
und sich in allen Herbergen die Diener vor uns reichen Männern neigen
werden.«

»Hamdullilah!« schrien die Krieger, und sie reichten sich die Hände und
tanzten vor Freude. Nur der Scheich und der weise Ali blieben sitzen.

Als der Tanz aufhörte, sprach der Scheich:

»O, ihr Kinder des Unverstandes und Väter des Leichtsinnes! Was ihr
planet, würde unser aller Verderben ein. Man würde euch durchschauen,
euch nicht die tausend Silberstücke, sondern die Bastonade geben, sowie
auch elendiglich einkerkern.«

»Der Scheich hat recht,« sagte Ali düster; denn er dachte an seinen
Vater, den Förster. Da wurden sie alle still, und bleierne Ratlosigkeit
lag über der Versammlung.

Endlich stand der Scheich auf und hielt eine Rede von solchem
Bilderreichtum und von so hinreißendem Feuer, wie sie eben nur von
einem Orientalen gehalten werden kann. Als er geendet hatte, reichten
ihm seine Krieger die Hände, und in aller Augen lag hoher Stolz und
fester Entschluß.

                   *       *       *       *       *

Die Johannisnacht war gekommen. Auf dem Ochsenkopf wurde ein mächtiges
Johannisfeuer angezündet. Goldig flackerte es auf in der pechschwarzen
Neumondnacht, und alles Volk aus der Stadt vergnügte sich und hatte
sich zum Feste hinaus begeben. Selbst die größeren Kinder genossen in
dieser Nacht Freiheit.

Jenseits vom Ochsenkopf aber, im Eulenwalde, im Lager der Hullahs,
regte es sich.

»Wir sind vollzählig beisammen,« sagte der Scheich. »Allah hat keinen
um die Ehre bringen wollen, an der Heldentat, die wir vorhaben,
teilzunehmen. Betet die heilige Fatha!«

Die Krieger verbeugten sich gegen Mekka, was in der herrschenden
Finsternis leider nach vier verschiedenen Richtungen geschah, dann
wurden die Esel aus dem Stalle geführt und an den Wagen gespannt. Der
Scheich mit zwei Spähern ging voraus, der Wagen mit Begleitung folgte.
Hadschi Ali ben Gorah kommandierte den Nachschub. Mit allerhöchster
Vorsicht schob sich die Karawane weiter. Bei einem Gemüsefelde wurde
Halt gemacht. Der Scheich entlehnte sich von einer Vogelscheuche einen
alten Frack, einen fürchterlichen Zylinder und ein Halstuch; auch
band er sich eine Gesichtslarve vor, die er vom letzten Fasching her
besaß. So ausgerüstet, war er schrecklich anzuschauen. Er entließ nun
mit einer Handbewegung alle seine Krieger und fuhr ganz allein hinein
in die feindliche Stadt. Voller Bewunderung sahen die Hullahs dem
unvergleichlichen Helden nach.

Die Stadt war wie ausgestorben. Was nicht zum Johannisfeuer gegangen
war, steckte in den Häusern. Nur bei einer Straßenlaterne saßen drei
alte Frauen auf den Haustürstufen und schwatzten.

Als sie das gespensterhafte Gefährt daherkommen sahen, schrien sie
gellend auf, stürzten ins Haus und warfen die Tür hinter sich zu. Das
erste der Weiber wurde ohnmächtig, das zweite schrie in Todesangst
fortwährend, es hätte den Leibhaftigen gesehen, das dritte nahm
Baldriantropfen.

Fernerhin unbemerkt gelangte der Scheich bis zum Marktplatz. Dort
führte er sein Gespann an einen dunklen Straßeneingang, strängte die
Esel ab, streichelte sie noch einmal zärtlich und verschwand im Dunkeln.

       *       *       *       *       *

Vom Ochsenkopf kam mit Marschmusik und Hunderten von Fackeln der
Festzug vom Johannisfeuer heim. Voran schritt der Bürgermeister. Es
war in Altenroda nicht Sitte, daß, wie anderwärts, die Obrigkeit die
Volksfeste nur huldvoll genehmigte, mit Steuern belegte und polizeilich
überwachen ließ, sondern sie, die Obrigkeit, mußte mitmachen, sich
persönlich beteiligen. Immer mehr Fackeln erfüllten den Marktplatz, die
Musik dröhnte, der Bürgermeister erklomm die Freitreppe, um die übliche
kleine Ansprache zu halten.

»Bürgerinnen und Bürger unserer lieben Stadt! Der Johannisabend ist für
alle ein Fest der Freude!«

»I--a, i--a!« tönte es von irgendwo her. (Das sind wieder Schulbuben,
die Unfug treiben, denken alle.)

»Zwar ist es schön und friedlich in den Mauern unserer Stadt, aber
herrlich ist es doch, in holder Sommerzeit einmal hinauszuschweifen
nach Wald und Berg ...«

»I--a, i--a!«

Plötzlich ein begeistertes, markerschütterndes Schreien.

Und nun folgt ein Hexensabbath: »Die Esel! Die Esel!«

Fackeln drängen nach einer dunklen Ecke.

»Die Esel! Die Esel!«

»Was ist los? Was gibt es?«

»Die Esel sind da! Unsere Esel sind da! Unsere lieben Esel sind da!
Unsere Stadtesel sind da!«

Die ganze Menge gerät in Tumult. Der Bürgermeister läßt zwei Trompeter
blasen.

»Ruhe! Was gibt es?«

Bäckermeister Chibulke schreit mit seiner Löwenstimme über den Platz:

»Unsere Stadtesel sind da! Hero und Leander. Da stehen sie an der
Eulengasse!«

»Herbringen! Zeigen! Die Esel! Die Esel!«

Über den Marktplatz bewegt sich, von vier Männern und zahlreichen
Fackeln begleitet, das Eselsgespann. Die Leute staunen sich die Augen
aus den Köpfen, sie zappeln, schlagen mit den Händen, schreien.

Vor dem Bürgermeister hält das Gespann. Es tritt tiefe Stille ein. Der
Bürgermeister blickt die Esel entgeistert an.

»Wo kommen die her?« fragt er.

»Ich weiß nicht,« sagt der Bäcker. »Am Eingang der Eulengasse haben sie
gehalten, ganz ohne Kutscher.«

»Es ist ein Plakat an dem Wagen,« ruft einer.

»Vorlesen! Vorlesen! Ru--uhe!«

Ein Mann liest von der Freitreppe aus das Plakat vor, das an dem
Eselswagen war:

»Bürger von Altenroda!

Um eurer zahlreichen Sünden und Missetaten willen seid ihr gestraft
worden, daß ihr euer schönes Eselsgespann verloret und die ganze Welt
über euch lachte. Diesmal soll Gnade für Recht ergehen, und ihr bekommt
euer Gespann wieder. Das nächste Mal fällt es strenger aus! Seid also
gut zu euren Armen und nachsichtig mit eurer Jugend! Sonst wehe euch!
Die tausend Mark Belohnung soll die Frau Dröselmann bekommen, die durch
eure Härte des Ernährers beraubt worden ist. Tut ihr das nicht, so
werdet ihr die Esel nicht lange behalten.

  Gezeichnet: Die Männer des Rechts.«

Ein ungeheures Gelächter ging los. Nur die Hullahs standen still und
stolz da, und ihr Scheich hüllte sich schweigend in seinen Burnus.

                   *       *       *       *       *

Die tausend Mark wurden wirklich an die Frau Dröselmann gegeben. In
Altenroda herrschte viel zu viel Humor und Biedersinn, als daß das
nicht geschehen wäre. Frau Dröselmann, die ohnehin froh war, daß sie
ihr altes Trinkhuhn von Mann los war, schlug selig die Hände zusammen,
als sie das Geld bekam, und sagte:

»Gott sorgt! Der Mann ist fort, und die Esel sind da!«

Darob wurde sie zur städtischen Eselkutscherin ernannt. Sie verrichtete
ihr Amt ausgezeichnet, hielt vor keinem Wirtshaus, war zuverlässig und
betreute ihre Tiere mütterlich ...

Nur wenn sie in die Gegend kam, wo die Promenade an den Eulenwald
grenzt, wollten ihr die Grauschimmel allemal durchgehen. Eine unbändige
Sehnsucht zog Hero und Leander nach dem alten Jagdhause im Eulenwalde.
Und wenn sie eine bunte Gymnasiastenmütze sahen, zitterten sie vor
Freude.




                                Ansorge


Wie Ansorge mit dem Vornamen hieß, wußte in Altenroda kaum ein Mensch.
Etwa bis zum vierzehnten Jahre wurde er »Ansorgerle« gerufen; vom
vierzehnten bis dreißigsten Lebensjahre hieß er »der junge Ansorge«,
von da an schlechtweg »Ansorge« und über das fünfundfünfzigste
Lebensjahr hinaus »Vater Ansorge«.

»Ansorge« ist ein unvollkommener Name. Man weiß nicht, ob der Mann, der
ihn trägt, reich oder arm »an Sorge« ist. Ist er reich daran, dann ist
er natürlich arm; ist er arm daran, so ist er gewöhnlich reich. Eine
nur scheinbar verzwickte Geschichte, deren Richtigkeit jeder leicht
einsehen wird. Vielleicht kann »Ansorge« auch »Ohnesorge« heißen, wie
kluge Sprachler behaupten, aber das trifft auf unseren Mann nicht zu.

Mit diesem Ansorge war die Sache überhaupt nicht so einfach wie mit den
Ansorges insgemein; er war nämlich reich an Geldmitteln und trotzdem
auch reich an Sorgen. Und die Angelegenheit gestaltet sich noch
seltsamer, wenn man hört, daß Ansorge persönliche Sorgen nur viermal
im Leben hatte: einmal in seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahre eine
ungetreue Liebste, einmal im siebenunddreißigsten Lebensjahre eine
falsch behandelte Zahnfistel, einmal in seinem dreiundvierzigsten
Lebensjahre die Kündigung seines Prokuristen und einmal im siebzigsten
Lebensjahre die Sorge um die Gesundheit seines Trauergefolges.

Ansorges Sorgen galten immer anderen Menschen. Weil er sich selber
nicht wichtig vorkam, hatte er auch um sich selbst keine Sorgen; aber
weil ihm die Schicksale anderer Menschen am Herzen lagen, kam er sein
Lebtag aus dem Kummer nicht heraus.

Als Knabe machte sich Ansorgerle Schmerzen darüber, daß Paul Distelfink
keinen Springkreisel besaß, da er doch wußte, wie sehr sich der Junge
ein solches Spielzeug wünschte. Da bot er eilig und freundlich dem
Knaben seinen eigenen Kreisel an. Distelfink aber war ein Ruppsack,
sagte, er sei kein Betteljunge, und mochte den Kreisel nicht. Darauf
legte Ansorgerle den Kreisel auf Distelfinks Schulweg und paßte, hinter
einem Strauche versteckt, auf, ob er ihn finden werde. Distelfink fand
den Kreisel und schrie: »Den alten Kreisel trag' ich aufs Fundbüro!«

Das war eine der fremden Sorgen, von denen Ansorge sehr früh erkannte,
es sei gar nicht so leicht, ihnen abzuhelfen.

                   *       *       *       *       *

Eine schlimme Sache war das mit der verunglückten Liebe. Ansorge hatte
Emma Rillek von seinem siebzehnten Jahre an geliebt und sich mit ihr in
seinem zwanzigsten Jahre heimlich verlobt. Emmas Mutter, die Witwe war,
durfte nichts wissen. Sie ahnte auch wirklich dann noch nichts, diese
strenge Frau, als der junge Ansorge ihrer Tochter zum Geburtstag eine
Wäscheaussteuer schenkte, in der allein zwei Schock leinene Handtücher
waren, und nächste Weihnachten eine Zimmerausstattung und einen
Silberkasten. Die Witwe Rillek war arm. Wie soll eine arme Frau auch
gleich auf den Gedanken kommen, ein junger Mann habe mit der Tochter
etwas vor, wenn er ihr einmal einige Sachen schenkt? Ansorge freute
sich unbändig, daß die Frau so ahnungslos war, und schenkte Kleider,
Pelzwaren, Küchengeräte, Halsbänder, eine goldene Uhr und solche Dinge
mehr. Die Mutter blieb immer gleich ahnungslos.

Am 6. Mai wollte Ansorge um Emma anhalten. Dann war er fast
dreiundzwanzig und sie eben sechsundzwanzig geworden. Das rechte Alter
und Verhältnis zum Heiraten.

Am 3. Mai traf sich Ansorge mit Emma im Eulenwalde. Er hatte immer
Angst, die strenge Mutter könne hinter diese heimlichen Stelldicheine
kommen. Wie schrecklich, wenn sie ihm dann die paar Geschenke, die er
Emma gemacht hatte, zurückschickte!

An diesem 3. Mai merkte Ansorge seiner Emma eine gewisse Beklemmung an.
Er redete ihr liebevoll zu, sich doch ja keine Sorgen zu machen und ihm
alles anzuvertrauen, was sie drücke. Da brachte Emma endlich heraus:

»Ansorge, du könntest mir einmal einen Gefallen tun.«

Er sagte, daß er sich gern gefällig zeigen werde.

»Aber es ist ein großer, schwerer Gefallen!«

»Das tut nichts,« sagte Ansorge und lachte sie aufmunternd an.

Da schluckte sie ein paarmal, wurde knallrot und sagte dann stockend:

»Ich möchte -- daß du einwilligst -- daß ich den Paul Distelfink
heirate.«

Erst verstand er sie nicht.

»Wie?« fragte er. »Bitte, sage es noch einmal!«

Da ergoß sich eine Flut von Worten über ihn. Es sei ja bloß deshalb
so gekommen, weil sie doch eben Nachbarskinder gewesen seien,
der Distelfink und sie, beide -- wie er ja wohl wisse -- in der
Gerbergasse aufgewachsen. Da komme halt so was. Und dann, er solle ihr
doch den Gefallen tun und einwilligen -- es ginge überhaupt nicht mehr
anders.

Er schritt ganz still neben ihr her. Eine große Sorge, ein schwerer
Herzenskummer war plötzlich über sein eigenes Leben gekommen. Sie
redete immer weiter, weinte, sagte, daß sie todunglücklich würde, wenn
er nicht nachgäbe.

Da gab er nach. Beim Abschiede war er freundlich, er tröstete sie und
wollte ihr sogar -- wie immer -- ein Goldstück für »kleine Ausgaben«
schenken. Aber stolz -- wie ehedem der Knabe Distelfink den Kreisel --
schlug sie das Goldstück aus.

Noch in der Nacht desselben Tages wurde der junge Ansorge sehr krank.
+Dr.+ Schicketanz betreute ihn. Schicketanz hatte in Prima
gesessen, als Ansorge in der Untertertia sitzen blieb, hatte es aber
nicht verschmäht, sich von dem reichlichen Taschengelde des so tief
unter ihm stehenden Mitschülers damals immer das Tabaksgeld zu leihen,
das er bis heutigen Tags nicht wiedergegeben hatte. Nun war Schicketanz
Arzt in Altenroda, Ansorge der Besitzer der von seinen frühverstorbenen
Eltern ererbten Fabrik, und nun saß +Dr.+ Schicketanz an dem
Krankenlager des Ansorge.

Sie siezten sich. Einer, der schon in Prima war, da der andere in
Untertertia kleben blieb, kann unmöglich zu ihm »du« sagen, wenn nicht
etwa das Leben es später so besonders eigentümlich gefügt hat.

»Lieber Herr Ansorge,« sagte +Dr.+ Schicketanz nach achttägiger
Behandlung, »organisch sind Sie gesund. Ihr ganzes Übelbefinden -- daß
Sie nicht essen und schlafen können, daß Sie natürlich dadurch abmagern
und schlaff werden, sich elend fühlen -- beruht auf nervöser Grundlage.
Zunächst müssen Sie mal erst etwas zu Kräften kommen, dann schicken wir
Sie auf Reisen.«

Er ist ein guter Arzt, dachte Ansorge. Was der Grund zu den nervösen
Grundlagen seines Todkrankseins war, erzählte er dem Doktor nicht. Das
war auch nicht nötig. Ganz Altenroda wußte Bescheid.

In dieser sorgenvollen Zeit seines Lebens quälte sich der junge
Ansorge besonders mit der einen Frage: Ob sie mir wohl meine Geschenke
zurückschicken werden?

Die Geschenke kamen nicht zurück. Da freute sich Ansorge und sagte zu
sich selber: »Es sind doch rücksichtsvolle Menschen. Das tun sie mir
nicht an.«

Auch an Distelfink dachte er nun freundlicher. Damals mit der Abweisung
des Kreisels hatte ihn Distelfink gekränkt. Nun nahm er -- was ihm
gewiß schwer wurde -- die mancherlei Sachen, die er der Emma verehrt
hatte, an. Das war nett von dem Distelfink. Überhaupt -- alles hätte er
haben können, nur gerade die Emma hätte er ihm nicht nehmen sollen.

Über die Bitternis dieses Gedankens kam Ansorge wochenlang nicht
hinweg, und +Dr.+ Schicketanz hatte zu tun, ihn aufrecht zu
erhalten.

Dann ging der junge Ansorge zwei Jahre auf Reisen.

Als er gesund und kräftig zurückgekommen war, erschien eines Tages Paul
Distelfink in seinem Privatkontor und sagte:

»Alter Freund, ich komme mit einer Bitte. Emma und ich haben gestern
das dritte Kind bekommen. Es ist unser erster Junge. Nun wollen wir
dich herzlich bitten, Pate zu sein. Es soll ja Glück bedeuten und eine
Ehre sein, wenn man beim ersten Jungen aus einer Ehe Pate ist. Nun,
Ehre und Glück hast du ja wohl nicht nötig, aber uns nähmst du halt
eine Sorge ab, wenn du Pate wärst.«

Ansorge sah den Bittsteller mit seinen stillen Augen an. Er überlegte.
Er überlegte lange. Dann sagte er sich: »Warum soll ein kleiner
unschuldiger Junge keinen Paten haben?« Und er sagte zu.

Zwei Tage nach der Taufe kam die Mutter Emmas, die Witwe Rillek, ins
Privatkontor, flennte und sagte:

»Ach, Herr Ansorge, Sie sind gewiß der beste Mensch von der Welt. Meine
Emma, meine Emma, nein, diese schreckliche Gans. Ich muß mich einmal
aussprechen zu Ihnen, Herr Ansorge, sonst drückt es mir noch das Herz
ab. Ich denke immer, Sie könnten eine schlechte Meinung von mir haben.
Aber ich war unschuldig, Herr Ansorge, ganz unschuldig. Ich habe schon,
als Sie siebzehn Jahre alt waren und die Emma zwanzig, gemerkt, daß Sie
wohl dem Mädel gewogen waren, und es war mein Stolz. Aber das dumme
Ding, das vermaledeit dumme Ding, und der Kerl, der Distelfink, der
keine drei Taler in der Tasche hat -- o, Herr Ansorge, wenn Sie wüßten,
wie oft ich das dumme Mädel gehauen und ihr immer gesagt habe: daß du
ja den Ansorge nimmst, der ein so anständiger Mensch ist und dir so
noble Geschenke macht! Sie hat's nicht getan!«

Ansorge saß ganz still da. Das war also die gestrenge Mutter, vor der
er sich gefürchtet hatte!

»Womit könnte ich Ihnen denn dienen, Frau Rillek?«

»Ach Gott, Herr Ansorge, sehen Sie mal, wie halt doch das Leben teuer
ist, und dann die vielen Krankheiten! Die Älteste von der Emma, die
Pauline, hat dreimal Zahnkrämpfe gehabt. Die zweite, die Meta, haben
wir impfen lassen müssen, Distelfink war drei Wochen in Behandlung
wegen eines Nackengeschwürs, und ich mußte auch ein paarmal zum Arzt
wegen meines Reißens. So haben sich halt beim +Dr.+ Schicketanz
-- er verteuert ja die Leute -- hundertzehn Mark angesammelt, und nun,
wo wir schon wieder das dritte haben -- die Hebamme, das unverschämte
Weib, hat zwanzig Mark verlangt -- wer soll nun die hundertzehn Mark an
Schicketanz bezahlen?«

»Die bezahle ich!« sagte Ansorge.

»Ich danke!« sagte Frau Rillek und flennte.

So war die Geschichte von Ansorges Liebe zu Ende und seine erste
persönliche Sorge vorbei.

                   *       *       *       *       *

Die zweite persönliche Sorge hatte Ansorge im siebenunddreißigsten
Lebensjahr durch ein Zahngeschwür. Er hatte einen Freund, der ein guter
Zahnarzt war. Doktor Neumann hieß er. Als Ansorge aber eines Tages
heftige Zahnschmerzen bekam, überlegte er tagelang, ob er zu +Dr.+
Neumann gehen solle. Es wohnte nämlich an der nächsten Straßenecke ein
Dentist, ein junger Anfänger, mit dem es nicht vorwärts ging und der
Ansorge auf der Straße immer mit einem demütig bittenden Blick ansah,
aus dem deutlich zu lesen war: »Sei doch so gut, du reicher Mann,
kriege einmal Zahnschmerzen und komme dann zu mir!« Also, +Dr.+
Neumann hatte eine große Praxis und war wohlhabend, der Dentist war
ein armer Teufel. Vertrauen hatte Ansorge zu dem jungen Manne nicht,
aber die Menschenliebe gebot ihm, den armen Anfänger zu unterstützen.
Er ging mit seinen verschleppten Zahnschmerzen zu ihm.

Am dritten Tage, an dem der Dentist den sehr schwierig liegenden Fall
Ansorges behandelte, geriet der Patient in Lebensgefahr. Es trat
schwere Blutvergiftung ein. +Dr.+ Neumann und eine eiligst aus
der Hauptstadt herbeigerufene medizinische Größe hatten Mühe, das
Leben Ansorges zu erhalten. Furchtbare Qualen hatte der Arme bereits
ausgestanden; nun wurde ihm durch eine Operation der Kiefer zerstemmt,
die Wange geschlitzt.

Wochenlang war Ansorge schwer krank. Als er genas und im Spiegel sein
verunstaltetes Gesicht sah, das bisher immer so hübsch rund und so
glatt rasiert gewesen war, beschloß er, sich einen Vollbart wachsen
zu lassen. Er hatte sein Lebtag Vollbärte nicht ausstehen mögen, aber
nun war es nötig, das Wundmal durch einen Bart zu verdecken, damit die
Leute nicht immer an den Mißerfolg des Dentisten erinnert wurden und
der arme Schlucker am Ende seine geringe Praxis ganz einbüßte.

Der Dentist aber war so wie so pleite. Kein Mensch suchte ihn mehr auf;
denn ganz Altenroda sprach von dem schweren Unfall Ansorges. Da kam der
Zahnheilkünstler eines Tages zu Ansorge und bat ihn ganz zerknirscht um
Verzeihung.

»Ich bin selber halb gestorben vor Angst um Sie, Herr Ansorge! Ich habe
mich zu zeitig selbständig gemacht; daran liegt's. Ich hätte lieber,
was die Zahnheilkunde betrifft, noch manches dazu lernen sollen.«

»Ja!« sagte Ansorge leise.

»Von Altenroda muß ich weg,« fuhr der Dentist betrübt fort. »Die Leute
haben das Vertrauen zu mir verloren. In Magdeburg könnte ich eine
Gehilfenstelle bekommen und vieles lernen; aber ich habe Schulden. Wenn
ich jetzt meine Instrumente verkaufe, kann ich später nicht mehr neu
anfangen; denn diese Sachen werden von Tag zu Tag teurer.«

»Wie viel haben Sie denn Schulden?« fragte Ansorge nebenher.

»Tausend Mark,« sagte der Dentist und errötete.

»Und dann brauchen Sie ja wohl noch Geld für die Übersiedelung nach
Magdeburg?«

Der Dentist nickte und seufzte.

»Ja, das ist schlimm,« sagte Ansorge und stand auf. Er setzte sich aufs
Sofa, wo, wie immer, sein Dachshund lag, und kraute in Gedanken dem
Hunde die Kehle. Der knurrte nach dem Dentisten hinüber. Das sollte
heißen:

»Wenn du willst, beiße ich ihn hinaus!«

Ansorge steckte dem Köter ein Stück Zucker ins Maul, das er für solche
und ähnliche Fälle immer in der Rocktasche hatte, trat ans Fenster
und sah auf die Straße. Die Höllenqualen, die er ausgestanden hatte,
fielen ihm ein, die schwere Operation, die Verunstaltung des Gesichtes,
der Vollbart, der spitz, lückig und unschön um seinen Mund sproßte,
schließlich auch die hohe Rechnung, die die medizinische Größe aus der
Großstadt geschickt hatte. »Lieber Herr Dentist Hornriegel,« wollte er
sagen, »ich trage Ihnen nichts nach. Für Magdeburg wünsche ich Ihnen
viel Glück; weiter kann ich aber nichts für Sie tun.«

Als er sich jedoch umwandte und das zerknirschte Gesicht des jungen
Mannes sah, sagte sich Ansorge, es sei unrecht, in einem solchen
Falle hartherzig zu sein. So sagte er etwas ganz anderes, als er sich
vorgenommen hatte:

»Na, in Gottes Namen, Herr Hornriegel, da werde ich Ihnen halt
tausendfünfhundert Mark leihen; da wird's wohl reichen.«

Aus Hornriegels vielen mit Tränen betauten Dankesworten blieb Ansorge
nur die ständig wiederkehrende Beteuerung im Sinn:

»Sie werden sehen, Herr Ansorge, ich bin kein Unwürdiger. Ich bin
strebsam; ich werde noch ein tüchtiger Dentist werden. Und Ihr Geld
kriegen Sie wieder!«

Als Hornriegel mit den tausendfünfhundert Mark abgezogen war, setzte
sich Ansorge wieder zu seinem Dackel aufs Sofa. Das Vieh drehte ihm den
Schwanz hin. Das war das schlimmste Zeichen seiner Verachtung. Nicht
einmal ein Stück Zucker nahm der erzürnte Vierbeiner an.

                   *       *       *       *       *

Jahre vergingen. An seinem vierzigsten Geburtstag, als die Festgäste
alle gegangen waren, saß Ansorge abermals bei seinem Dackel, der
unterdes eine weiße Schnauze bekommen hatte.

»Dackel,« sagte er; »jetzt sind wir vierzig Jahre alt geworden. Ins
Schwabenalter sind wir gekommen. Meinst du, daß wir jetzt weise werden?«

Der Hund schüttelte den Kopf, daß ihm die Ohren klatschten. Er will
sagen, dachte Ansorge: ich war schon immer weise, du wirst es nie. Und
in diesem Augenblicke fiel ihm der Dentist ein, von dem er nie wieder
etwas gehört hatte, von dem er gar nicht wußte, ob er überhaupt nach
Magdeburg gezogen war.

Eine halbe Stunde der Träumerei verging. Der Hund knurrte und bellte
leise im Schlaf. Vielleicht träumte ihm von dem Dentisten, den er
einmal hatte hinausbeißen wollen, dieses aber damals nicht gedurft
hatte ...

Am nächsten Tage bekam Ansorge einen Brief.

»Verehrter Herr Ansorge!

Bitte um Verzeihung, daß ich mich nicht eher gemeldet habe. Mir
ist es indes sehr unterschiedlich, meist recht schlecht ergangen.
Aber nun habe ich es geschafft. Ich bin selbständiger Dentist in
einer hannoverischen Mittelstadt, und mein Kundenkreis wächst von
Woche zu Woche. Mißerfolge habe ich nicht mehr gehabt; ich habe in
den Jahren viel gelernt. Seit einem Vierteljahr bin ich glücklich
verheiratet. Die Neueinrichtung hat viel gekostet, sonst könnte
ich Ihnen die tausend Mark, mit denen Sie mir aus bitterster Not
geholfen haben, bald zurückzahlen. So muß ich Sie bitten, heute mit
der ersten Ratenzahlung von fünfhundert Mark zufrieden zu sein. Das
andere und die aufgelaufenen Zinsen folgen binnen einem Jahre nach. Im
»Altenrodaer Stadtblatt«, das ich immer noch mithalte, las ich, daß
der so hochbeliebte Bürger der Stadt, Herr Ansorge, seinen vierzigsten
Geburtstag feiert. Bitte, nehmen Sie auch einen herzlichen Glückwunsch
an von Ihrem fürs ganze Leben dankbaren

  ~Hornriegel~, Dentist.«

Mit diesem Briefe in der Hand stand Ansorge lange still da. Er sagte
sich:

»Da war nun wieder einmal so etwas wie eine Sorge in mein Leben
gekommen. Und nun ist sie zu nichts geworden; sie ist durch eine große
Freude aufgewogen worden.«

Dann schlug er den Dackel, der auf dem Sofa lag, auf den Buckel und
sagte mit einem glücklichen Lachen:

»Ach, Dackel, was bist du doch für ein dummer Kerl!«

Der Hund brummte.

Er will sagen, dachte sich Ansorge, es hätte ja auch anders kommen
können. Aber es blieb eine große Freude in ihm. Und seine zweite
persönliche Sorge war aus.

                   *       *       *       *       *

Ansorge war ein tüchtiger Kaufmann. Er verstand es, mit seiner
Arbeiterschaft und seiner Kundschaft ganz ausgezeichnet umzugehen, und
wenn sich sein Reichtum trotz hoher Einnahmen nicht vermehrte, so lag
das daran, daß die klugen Stadtväter von Altenroda Herrn Ansorge zum
Armendirektor gewählt hatten. Die Stadtväter wußten genau, so lange
Ansorge Direktor war, brauchten sie den Armenetat nicht zu erhöhen;
denn Ansorge leistete Riesenzuschüsse aus eigener Tasche. Dabei lebte
er selbst äußerst bescheiden, ja, er schränkte sich ein. Als er aber
einmal aus irgend einem Anlaß eine gute Flasche Wein für drei Mark
trank, drohte ihm der Stadtkämmerer mit dem Finger und sagte:

»Direktorchen, Direktorchen, leben Sie nicht über die Verhältnisse der
Stadt!«

Am meisten kosteten Ansorge die Kinder, zumal zu Weihnachten. Dieses
liebliche Fest plünderte seine Kasse meist vollständig aus. Vom
fünfundfünfzigsten Lebensjahre an bekam der Wohltäter den Namen »Vater
Ansorge«, den er, der nie eigene Kinder gehabt hatte, mit Stolz trug.

Der Apotheker, der manchmal gebildete Reden führte, sagte einmal im
»Goldenen Löwen«, Ansorge sei der stärkste Altruist, der ihm begegnet
sei. Alle Stammtischgäste nickten ihm Beifall zu, obwohl keiner wußte,
was ein Altruist sei. Ansorge schüttelte den Kopf. Er sagte nichts,
aber er dachte sich: Wenn Ihr nur wüßtet, was ich für ein Egoist bin.
Wer etwas Gutes unterlassen hat, ist in schlechter Stimmung. Das Essen
und die Zigarre schmecken ihm nicht, er ist unfroh und fühlt sich
elend. Wie anders fühlt sich der Mensch nach einer guten Tat. Ganz
herrlich ist das Hochgefühl, das er hat. Es ist, als ob die Seele ein
Bad genommen und sich darauf an etwas ganz Gutem satt gegessen und satt
getrunken hätte. Und dieses Wohlgefühl geht auf den Körper über. Wer
Gutes tut, tut es in erster Linie sich selber.

Ganz und gar unzufrieden mit Herrn Ansorges Wohltätigkeitssinn war der
Prokurist seines Geschäfts, Herr Sperlich. Mit Ingrimm sah Sperlich,
wie die hohen Reinerträgnisse, die er, der langjährige treue Beamte,
aus dem Unternehmen herauswirtschaftete, aus Ansorges allezeit offenen
Händen verrannen. Man hätte die Anlage vergrößern, das Geschäft
verdoppeln können, wenn eben nicht diese unselige Verschwendungssucht
des Chefs gewesen wäre.

Der Ruf von Ansorges Wohltätigkeitssinn war inzwischen weit über die
Grenzen von Altenroda hinausgedrungen. Von weither kamen Bittbriefe.
Einmal kam ein solcher aus Hamburg. »+Dr.+ Meier, Schriftsteller,«
war er unterzeichnet. Was sich alles unter dem ehrlichen Namen
»Schriftsteller« verbirgt, ist schauerlich. Aber das wußte Ansorge
nicht, auch flößte ihm der Doktortitel Vertrauen ein. Der Brief
erschütterte ihn. Er gab das Bild einer menschlichen Lebenstragödie,
herzbewegender, unverschuldeter Leiden, und endete in dem Hilferuf:

»Sie, edler Herr, sind meine letzte Hoffnung. An Ihnen liegt es, ob
ich weiter leben, weiter schaffen kann, oder ob ich untergehen muß.
Nächsten Freitag abends sechs Uhr schlägt meine Schicksalsstunde.
Habe ich dann nicht sechshundert Mark in der Hand, so ist es aus mit
mir. Es bleibt mir dann nichts übrig, als mich noch am selben Abend
aufzuhängen. Einen Revolver besitze ich nicht, kann auch keinen
kaufen. Meine arme, unschuldige Familie muß ich dann ihrem Schicksal
überlassen. Nun entscheiden Sie, was geschehen soll.«

Dieses Schreiben zeigte Ansorge seinem Prokuristen. Sperlich pfiff
leise durch die Zähne und legte den Brief auf den Schreibtisch.

»Nun?« fragte Ansorge.

Aber Sperlich war schon wieder in seine Arbeit vertieft, und Ansorge
wollte ihn nicht stören. Also ging er leise hinaus. Er hatte ohnehin zu
tun. Draußen vor der Stadt lebte eine Witwe, die sich durch Weißnähen
ernährte. Sie hatte einen einzigen Sohn, einen hübschen, intelligenten
Bengel, an dem sie in abgöttischer Liebe hing. An was sollte auch das
arme Weib, das nichts auf der Welt besaß als dieses Kind, sein Herz
sonst hängen? Ansorge hatte dem Jungen eine gute Lehrlingsstelle bei
einem Optiker verschafft. Was tat der Lumpazius? Bestahl seinen Chef
um hundertfünfzig Mark. Da war er denn hinausgeworfen worden, und der
empörte Optiker drohte außerdem mit Anzeige.

Der Fall hatte Eile. War der Anzeigebrief erst beim Gericht, so war
nichts mehr zu wollen. Also hin zum Optiker! +Dr.+ Meier in
Hamburg mußte warten. Es war erst Montag, und Meiers Schicksalsstunde
schlug erst Freitag abend um sechs. Hier galt es zunächst, dem
Optiker die hundertfünfzig Mark zu ersetzen, die der schreckliche
Junge verlumpt hatte. Allein fünfunddreißig Mark für eine Busennadel
mit Brillanten hatte der Kerl ausgegeben. Ansorge mußte lachen, wenn
er an dieses Schmuckstück dachte. Am besten wäre es natürlich, der
Optiker nähme den Jungen, der bittere Reuetränen vergoß, wieder auf.
Ein deutlicher Denkzettel würde dem Bürschlein genügen. War aber der
Optiker harthörig, nun, so blieb Ansorge wohl nichts übrig, als den
jungen Fant zunächst im eigenen Betriebe zu beschäftigen und ihn im
Auge zu behalten, natürlich, ohne sein ohnehin verletztes Ehrgefühl
weiter zu kränken.

Gegen elf Uhr kam Ansorge nach Hause. Er war hundertfünfzig Mark los
geworden und hatte den diebischen Jungen auf dem Halse. Etwas nervös
trat er ins Büro.

»Wir wollen jetzt den Hamburger Brief erledigen,« sagte er.

»Ist schon erledigt,« brummte der Prokurist Sperlich.

»Ah, Sie haben die sechshundert Mark hingeschickt?«

»Nein, das nicht; ich habe was ganz anderes hingeschickt?«

»Was denn?«

»Einen Strick. Der Mann will sich ja doch aufhängen; da wollte ich ihm
gefällig sein.«

»Herr Sperlich, Sie erlauben sich einen merkwürdigen Scherz.«

»Es ist kein Scherz, Herr Ansorge. Ich habe tatsächlich einen neuen
hanfenen Strick an diesen +Dr.+ Meier nach Hamburg geschickt. Und
zwar als Eilpaket.«

»Herr -- Herr Sperlich -- wenn das wahr ist ...«

»Es ist wahr!«

»Dann -- dann sind Sie entlassen!«

»Wie sagten Herr Ansorge?«

»Wenn das wahr ist, daß Sie nach Hamburg den -- den Strick gesandt
haben, sind Sie entlassen.«

»Schön!« sagte der Prokurist. Er legte seine Schreibsachen pedantisch
gerade, wischte die Feder sorgsam am Tintenputzer ab, stand dann
langsam auf, rückte den Schreibtischstuhl zurecht, nahm seinen Hut vom
Kleiderhaken, sagte: »Guten Tag, Herr Ansorge,« und ging nach Hause.

Das geschah alles in so großer Gelassenheit, daß Ansorge wie in
Betäubung dastand. Erst allmählich wachte er auf.

Ungeheuerliches war geschehen. Er hatte jemand gekündigt, nein, nicht
gekündigt, sondern Knall und Fall entlassen. Sperlich! War denn
das möglich? Aber der Mann hatte ja ein Verbrechen begangen, hatte
einem Verzweifelten den letzten Mut genommen, einen mit dem Tode des
Ertrinkens Ringenden vollends unter Wasser getaucht. Und die Familie,
die arme Familie des Doktor Meier!

Ein dringendes Telegramm wurde aufgesetzt. Tausend Mark gingen
telegraphisch nach Hamburg, dazu die Bemerkung: »Eilpaket
bedauerlichstes Mißverständnis. Fassen Sie Mut, helfe Ihnen weiter.
Ansorge.«

Als Ansorge dieses Telegramm persönlich abgegeben und seine tausend
Mark losgeworden war, fühlte er sich wohler. Gegen Sperlich hatte er
großen Groll. Solche Gemütsroheit hätte er dem Manne nie und nimmer
zugetraut. Sperlich war Vorsitzender des Tierschutzvereins. Wer konnte
von einem solchen Manne auch nur eine Unzartheit erwarten? Und dieses
Benehmen, dieses Absenden eines Strickes an einen Menschen, der in
Verzweiflung war! Ein Rätsel, ein unerforschbares Rätsel! Außerdem
war Sperlich ein schlechter Geschäftsmann. Mit sechshundert Mark wäre
der Fall zu erledigen gewesen, nun, nach der furchtbaren Kränkung,
die Doktor Meier in Hamburg erlitten hatte, mußte natürlich eine Art
Sühnegeld gezahlt werden. (Das waren also die vierhundert Mark, die
Ansorge über die geforderte Summe geschickt hatte.) Diesen Verlust von
vierhundert Mark hatte er Herrn Sperlich zu verdanken.

Eine unruhige Nacht verging. Am nächsten Morgen Punkt acht war
Ansorge im Büro. Sperlichs Platz war leer. Sperlich war als der
Gewissenhafteste aller Angestellten sonst schon immer um drei Viertel
acht da. Also, da er um drei Viertel acht nicht gekommen war, kam er
überhaupt nicht. Er hatte die Kündigung ernst genommen.

Herrn Ansorge faßte eine leise Übelkeit an. Vierundzwanzig Jahre war
Sperlich im Geschäft. Eine Perle von Ehrlichkeit und Tüchtigkeit!
Dukatengold von Charakter! Nächstes Jahr sollte Sperlich sein
fünfundzwanzigstes Geschäftsjubiläum feiern, und Ansorge zerbrach sich
schon wochenlang den Kopf über das Festprogramm. Und nun? Kündigte ihm!
Nein, warf ihn hinaus!

Ansorge war überzeugt, daß ihn ganz Altenroda als einen rohen,
undankbaren Patron ansehen würde, wenn dieser Hinauswurf des allgemein
geschätzten Herrn Sperlich bekannt wurde. Vielleicht würden die
Arbeiter in einen Proteststreik treten. Dann -- das nahm sich Ansorge
vor -- würde er unter jeder nur irgend annehmbaren Bedingung seine
Fabrik verkaufen, seine Vaterstadt verlassen, um irgendwo auf der Welt
einsam und fremd sein Leben zu beschließen.

So nervös geworden -- schickte Ansorge einen Boten in Sperlichs Wohnung
mit der Anfrage, ob etwa Herr Sperlich nicht wohl wäre, da er nicht
im Geschäft sei. Der Bote kam zurück und meldete: »Herr Sperlich ist
verreist.« Das ganze Personal machte erstaunte Augen. Ansorge las aus
diesem Erstaunen schweres Mißtrauen und heftige Vorwürfe gegen sich
selbst.

Zwei Tage später saß Ansorge entgeistert vor einem Briefe.

»Auskunftei Spürvogel, Hamburg.

Auf die von Ihrer Firma an uns gerichtete Anfrage erwidern wir
ergebenst folgendes:

›Schriftsteller‹ +Dr.+ Meier ist ein sogenanntes verbummeltes
Genie. Er ist ein total verlumptes Individuum, das wegen
Eigentumsvergehen und Schwindeleien aller Art schon oft mit dem
Strafrichter Bekanntschaft gemacht hat. Neuerdings verlegt er sich
berufsmäßig auf die Herstellung wirksamer Bettelbriefe, die er an
Personen verschickt, die als besonders wohltätig gelten. Meier erzielt
durch seine Manipulationen oft größere Beträge. Er sucht in seinen
Briefen immer besonderes Mitleid mit seiner bedrohten Familie zu
erwecken. Meier hat aber keine Familie; er ist alter Junggeselle.
Auch ist ein besonderer Trick Meiers, mit Selbstmord zu drohen, falls
er bis zu einer gewissen Stunde die geforderte Summe nicht erhält.
Darüber macht er dann beim Weine seine besonderen Scherze. Wenn er
einen größeren Erfolg gehabt hat, lädt er seine intimsten Freunde und
Freundinnen zum Weine und sagt beim ersten Glase: ›Na, prosit auf das
dumme Luder!‹ Es ist nicht weiter notwendig zu warnen, dem Schwindler
auch nur die geringste Summe leih- oder geschenkweise zu gewähren.«

                   *       *       *       *       *

Hab' einer tausend Mark abgeschickt und krieg' einer einen solchen
Brief!

Ansorge las die »Auskunft«, die ja wohl Herr Sperlich von der Firma aus
noch veranlaßt hatte, immer aufs neue.

So ein Lump! So ein Lump!

Dem hatte er tausend Mark geschickt!

Und der merkwürdige Toast, der in der »Auskunft« erwähnt war, der war
ja nun in Hamburg wohl längst auf ihn -- Herrn Ansorge -- ausgebracht
worden. Vielleicht war er zweimal ausgebracht worden, weil Ansorge ja
mehr geschickt hatte, als von ihm verlangt worden war.

Ein dummes ...

Danke schön!

Ansorge war kreideweiß. Er stand auf, zerriß den Brief der Auskunftei
in hundert Fetzen und ging krank nach Hause.

In der Nacht bekam er Schüttelfröste. In einem fiebrigen Traume sah er
Herrn Sperlich, seinen unersetzlichen Prokuristen, vor einem Hamburger
Großhandelsherrn stehen, der ihm die Hand reichte und sagte:

»Also, Herr Sperlich, ich engagiere Sie! Wir hier in Hamburg wissen um
+Dr.+ Meier und Konsorten Bescheid.«

                   *       *       *       *       *

Wie eine weiße, angeschossene Taube war Ansorges Seele. Rund um seine
reine Menschenliebe sah er die wilden Jäger roher Selbstsucht lauern.

Und da kam ihm ein Gottesgeschenk an Trost.

Ein kleines Mädelchen lebte in der Vorstadt, das Kind eines
Eisenbahners, der in seinem Beruf zu Tode verunglückt war. Das Kind
war vier Jahre alt, seine verwitwete Mutter fünfundzwanzig. Das Weib
sah dem jäh dahingerafften Gatten in verzehrender Trauer nach. Ihr
einziges Lebensglück war das vierjährige Mädchen. Das fiel beim Spielen
in den durch Gewitter hochgeschwollenen Fluß. Und es wurde gerettet.
Durch den einzigen fähigen Kerl gerettet, der zufällig in der Nähe war.
Und dieser einzige zu einer Lebensrettung fähige Kerl war der Sohn
der Weißnäherin, der Lumpazius, der seinem Chef hundertfünfzig Mark
gestohlen hatte und zurzeit nur darum nicht weit weg von Altenroda in
einer Besserungsanstalt war, weil ihn Ansorge davor bewahrt hatte.

Ansorge ging zu der Mutter des geretteten Kindes. Sie sagte ihm: »Ach,
Herr Ansorge, wenn Ihr Lehrling, der junge Schmiedecke, nicht gewesen
wäre, da wäre ja alles, alles dahin! Ich habe ihm meinen goldenen
Fingerring angeboten, aber er hat ihn nicht gewollt.«

Ansorge ging in sein Geschäft, nahm sich den »Lumpazius« vor und führte
folgende Unterhaltung mit ihm:

»Schmiedecke, du weißt, daß du einmal ein Lump gewesen bist.«

»Ja,« sagte Schmiedecke beklommen.

»Schmiedecke, ich sage dir, das mit der kleinen Trudel, das war
eine Edeltat, und daß du den Fingerring nicht angenommen hast, war
vielleicht noch mehr. Schmiedecke, ich hoffe, du wirst Karriere machen!«

Da fing der Junge so an zu weinen, daß Ansorge flink hinausging.

                   *       *       *       *       *

Es war abends neun Uhr. Ansorge saß an seinem Schreibtisch, hatte einen
Briefbogen vor sich und grübelte. Der Prokurist Sperlich!

Ansorge hatte sich überwunden, nochmals zu Frau Sperlich geschickt
und sich nach ihrem Gatten erkundigen lassen. Er sei in einer
Sommerfrische, es gehe ihm gut, ließ Frau Sperlich sagen, und sie danke
für die freundliche Nachfrage.

Was tut der Chef eines Unternehmens mit einem Angestellten, der auf
eigene Faust ohne Urlaub wochenlang in die Sommerfrische geht, der
sagen läßt, es ergehe ihm gut da, und er danke für die freundliche
Nachfrage?

Entläßt ihn! Jawohl, aber das ging hier nicht an; denn Sperlich war
schon entlassen. War bei Lichte besehen ein Mann, der von der Firma
Ansorge aus tun und lassen konnte, was er wollte.

Was sollte man so einem Manne schreiben?

Ansorge saß drei Stunden lang vor dem leeren Briefbogen. Es war nicht
der geschäftliche Verlust, der ihn bewegte. Einen neuen tüchtigen
Prokuristen, der sich voraussichtlich rasch einarbeiten würde, hatte
ihm ein Geschäftsfreund empfohlen. Er brauchte nur zuzugreifen. Aber
er wollte den alten, treuen Menschen, den Dukatencharakter zurückhaben.

Um elf ging Ansorge schlafen. Um eins stand er wieder auf. Er schrieb
auf den Briefbogen:

»Lieber Herr Sperlich!

Was zwischen uns geschehen ist, geschah von mir aus im Affekt. Ich
weigere mich nicht, über mein damaliges Verhalten mein Bedauern
auszusprechen. In der Sache selbst hatten Sie nämlich recht. Wenn Sie
die Kündigung als nicht geschehen ansehen und die alten für meine
Firma wertvollen Beziehungen aufrechterhalten wollen, so bitte ich um
bezüglich Nachricht. Für den Fall Ihres Wiedereintritts in die Firma
gebe ich Ihnen weitere drei Wochen Urlaub.«

Dieser Brief ging am 3. August von Altenroda ab. Am 5. August, früh
drei Viertel acht, saß der Prokurist Sperlich in seinem Büro und
arbeitete, ohne vom Pult aufzusehen.

Drei Tage später sagte Ansorge zu Sperlich:

»Was meine Wohltätigkeitsbestrebungen anlangt, so mögen, Herr Sperlich,
in Zukunft ~Sie~ die auswärtigen Angelegenheiten erledigen.
Natürlich immer nach gerechter und wohlwollender Prüfung. Ich
glaube, daß es in solchen Fällen gut ist, vorher vertrauenswürdige
Erkundigungen einzuziehen.«

»Jawohl, Herr Ansorge,« sagte Sperlich, »ich werde alles gewissenhaft
besorgen.«

Ein Mißtrauen aber blieb bei Ansorge doch. Der Strick -- der Strick!
Das war doch gar zu drastisch. Schließlich schickte Sperlich einem
armen Mädel, das sich zu vergiften drohte, eine Schachtel »Rattentod«,
einer anderen, die sich ertränken wollte, eine Badekappe. Zuzumuten
wäre es ihm -- dem Rauhbein. Und so einer hieß Sperlich. Rabe müßte er
heißen oder Uhu!

Schön aber war es, daß Sperlich wieder da war. Und seltsam war das
Folgende.

Sperlich kam eines Tages zu Ansorge und sagte:

»Herr Ansorge! Ich habe ja wohl die Bearbeitung der Fälle für
auswärtige Wohltätigkeit übertragen bekommen; aber nun ist ein Fall
da, wo ich Sie doch um Ihr ganz spezielles Einverständnis bitten
muß. In unserer Nachbarstadt Wilmershofen wird eine Heilanstalt für
unbemittelte Lungenkranke errichtet. Die Firma ist angegangen worden,
einen Beitrag zu zeichnen. Wie hoch soll er sein?«

Ansorge trat ans Fenster. Das tat er immer, wenn er tief nachdenken
wollte, obwohl es -- so fiel ihm einmal ein -- unlogisch ist, bei
tiefem Nachdenken auf die Straße zu sehen.

Jetzt waren seine Gedankengänge so: Ein junger Mann von
siebenundzwanzig Jahren kriegt die Schwindsucht -- Frau, zwei kleine
Kinder -- denkt sich: Hätt' ich Rettung! Hätt' ich Rettung, daß ich
bei euch bleiben könnte, ihr lieben drei! Hat keine Rettung. Dann eine
junge Witwe -- Mann an Schwindsucht gestorben -- sie sich angesteckt --
zwei Kinder -- muß auch hinüber -- die Kinder Waisen -- furchtbar!

Also dreißigtausend Mark müßten es anstandshalber sein. Das letzte Jahr
war schlechter als die vorigen; dreißigtausend Mark waren viel Geld
für die Firma. Zudem: der ganze Umkreis, die Provinz, der Staat mußten
mitwirken an dem unbedingt notwendigen Werke.

Die Hauptsache aber: Sperlich! Was würde Sperlich sagen, wenn er
dreißigtausend Mark für eine Lungenheilanstalt verlangte, von ihm, der
ehedem wegen sechshundert Mark einen Strick absandte?

Trotzdem: in so heiliger Liebeshilfe durfte keine Feigheit sein! Mochte
schließlich selbst Herr Sperlich wieder ins Gebirge gehen.

Ansorge wandte sich am Fenster um. Sein Gesicht war blaß, gefaßt, ja
bestimmt.

»Herr Sperlich,« sagte er, »bei einem so dringenden Liebeswerk wird
sich meine Firma mit einem ansehnlichen Betrage beteiligen. Ich werde
die Zeichnung keinesfalls unter -- unter fünfzehntausend Mark halten.«

Sperlich saß auf seinem Stuhl, den Körper vornüber geneigt, die Hände
zwischen die Knie geklemmt.

»Nun? Sind Sie mit der Summe einverstanden?«

»Nein!« sagte Sperlich mit rauher Stimme.

Ansorge trat wieder ans Fenster. Was ihm die da unten reifentreibenden
Kinder und der einen Prellstein beschnubbernde Hund sowie das eine
Markttasche tragende Weib in seinen Fragen zu offenbaren hatten, wußte
Ansorge nicht. Aber er sah immer, wenn er tief in Gedanken war, auf die
Straße.

Also, mit den fünfzehntausend Mark war Sperlich nicht einverstanden.
Was wollte der Knicker? Wie weit reichte eigentlich seine
Menschlichkeit?

Abermals wandte sich Ansorge um. Sein Gesicht war noch um einen Schein
blasser, gefaßter, bestimmter geworden.

»Herr Sperlich, wenn sich unsere Firma an dem Liebeswerk beteiligt,
dann keineswegs unter zehntausend Mark.«

Sperlich erhob sich.

»Herr Ansorge, Ihrem Willen untersteht ja alles. Ich hätte mir bloß
erlauben wollen, einen anderen Vorschlag zu machen.«

»Nun?«

»Ich -- ich wollte -- dreißigtausend Mark vorschlagen. Es wird auch
manchen armen Schlucker aus unserem Betrieb geben, der drüben Zuflucht
suchen muß.«

Ansorge trat abermals ans Fenster.

Der eine Junge hatte der Grünzeugmuttel den Reifen gegen den Bauch
gefahren um dafür eine beträchtliche Ohrfeige in Empfang zu nehmen.

Kreiselnde Welt!

Ansorges Gesicht erhellte sich, wie wenn die Sonne aufgeht über einer
im Nebel schauernden Flur.

Das dritte Mal wandte er sich um.

»Na, Sperlich, ich hatte ja zuerst selber an dreißigtausend gedacht;
ich hatte es doch nur aus Sorge vor Ihrem Widerspruch nicht aussprechen
mögen.«

»Die Entscheidung liegt immer bei Ihnen, Herr Ansorge!«

Das war zwar nicht ganz tatrichtig, aber es war schön gesagt von Herrn
Sperlich.

Ansorge und Sperlich waren für immer treu verbunden. Und so war
Ansorges dritte persönliche Sorge aus der Welt.

                   *       *       *       *       *

Es gibt viele Dichter und Philosophen, die behaupten, das rarste
Pflänzlein auf der Erde sei die Dankbarkeit. Von Herrn Ansorges Leben
läßt sich das nicht sagen. Er hat viele, auch ganz rührende Dankbarkeit
erfahren. Seine weichen Schlapphüte hielten in der Krempe keinen Monat
die Form; denn ganz Altenroda grüßte ihn. In der Schule hatte eine
junge Lehrerin einmal gefragt, ob die Kinder ganz schlechte Menschen
aufzuzählen wüßten. Da war folgende Liste herausgekommen: Kain, Judas,
Herodes, Kaiser Nero, Napoleon und der Kutscher Nimietz aus Altenroda.
(Niemitz hatte ein Pferd so mißhandelt, daß er auf die Anzeige Herrn
Sperlichs, des Vorsitzenden des Tierschutzvereins, einen Monat
Gefängnis bekam.)

Und nun sollten die Kinder die besten Menschen nennen. Das sagte das
eine Mädchen:

»Jesus Christus!«

»Vortrefflich!« lobte die Lehrerin; »er war zwar Gottes Sohn, aber er
war doch auch ein Mensch wie wir! Der Beste von allen Menschen. -- Und
nun nennt noch einen ganz guten Menschen.«

Da meldete sich die halbe Klasse.

»Herr Ansorge!«

Die Lehrerin war verblüfft. Aber sie war ein kluges Mädchen, und so
erkannte sie: hier ist von Kindermund erst der Meister und dann ein
Jünger genannt worden. Sie machte die wehmütige Erfahrung, daß die
Kinder auf die Frage nach anderen ganz guten Menschen sich mühsam den
Kopf zerbrechen mußten, und hatte nichts dagegen, als ein kleines Kind
als dritten in der Reihe der ganz guten Menschen sagte:

»Mein Vatel!«

Diese Schulgeschichte sprach sich herum. Ganz Altenroda freute sich
-- bis auf einen, dem sie außerordentlich peinlich war. Das war Herr
Ansorge selbst. Niemand durfte ihm von dieser Geschichte sprechen,
selbst seine besten Freunde nicht.

Der, der sich am meisten über diese -- so drückte er sich aus --
Abstimmung über gute und böse Geister aufregte, war +Dr.+
Schicketanz.

Im »Löwen«, als Ansorge am Stammtisch fehlte, äußerte sich Schicketanz
also:

»Die Frage nach guten und schlechten Menschen ist im Grunde genommen
Unsinn. Überhaupt Kindern gegenüber, die keine Lebenserfahrung haben.
Aber die Sache mit dem Ansorge, die ist doch bedeutsam. Da ist doch
etwas ins Volksbewußtsein gedrungen, etwas ins Vertrauensvolle,
Gläubige gewachsen. Ich habe lange den Ansorge für einen Narren
gehalten; ich weiß jetzt, daß er ein Weiser ist, der viel mehr
inneres, wahres Glück hat, als wir alle. Und was die Lehrerin anlangt,
die die an sich unsinnigen Fragen gestellt hat, so will ich in der
Stadtverordnetenversammlung beantragen, daß sie die Leitung der
Mädchenschule bekommt. Meine eigenen Enkelkinder lasse ich so wie so
seit jenem Tage von ihr unterrichten.«

Drei Tage später, bei einer ganz unpassenden Gelegenheit, aber unter
vier Augen, machte +Dr.+ Schicketanz mit Ansorge Bruderschaft.
Ansorge, der in Untertertia sitzen geblieben war, als Schicketanz
schon nach Oberprima kam, fühlte sich aufrichtig geehrt. Er war damals
dreiundsechzig, Schicketanz achtundsechzig Jahre alt.

Da starb in Altenroda ein betagtes Weib, das eine so einsame Seele
gewesen war, daß sie keinerlei Verwandte hinterließ.

Die Hinterlassenschaft umfaßte etliches wurmstichiges Möbelzeug, alte
Weiberkleider, einen geringen Bestand an Wäsche und ein Sparkassenbuch
über achtzehnhundertsechsundzwanzig Mark fünfundsechzig Pfennige.
Obwohl nun die Erbschaft ja nicht bedeutend genannt werden konnte,
hatte die alte Frau ein Testament gemacht. Unter dem Kopfkissen, auf
dem sie ihre müden Augen geschlossen hatte, wurde ein Zettel gefunden,
darauf stand handschriftlich:

»Von dem, was ich habe, soll ein ganz einfaches Begräbnis bezahlt
werden. Was übrig bleibt, vermache ich alles Herrn Ansorge in Altenroda.

  Altenroda, den 23. Mai 1910.      Anna Lüdke.«

Es war kein Zweifel, das Testament war rechtsgültig. Ein paar alberne
Spötter wollten Witze machen; aber sie verstummten bald. Alle Leute
fühlten, daß hier eine dankbare Seele ihren letzten Willen kundgetan
hatte. Alle Leute waren aber auch neugierig, wie sich Herr Ansorge zu
der an ihn gefallenen Erbschaft verhalten werde.

Nun, das Begräbnis der Frau Anna Lüdke wurde wirklich ganz einfach
gehalten, so wie sie es bestimmt hatte. Es kostete alles in allem
zweihundertachtzig Mark. Einige Weiber in Altenroda rechneten nun
damit, daß Ansorge den Rest der Erbschaft unter sie verteilen werde.
Aber sie verrechneten sich. Ansorge ließ alles Mobilar und alle anderen
Gegenstände in sein Haus bringen, wo er ein eigenes Zimmer damit
ausstattete und ein Bild der Anna Lüdke aufhängen ließ. Er saß öfters
in diesem Zimmer, arbeitete auch manchmal dort. Das Sparkassengeld hob
er für seine eigene Kasse ab. Er achtete die Erbschaft; er trat sie
an. Der Anna Lüdke ließ er ein Denkmal setzen. Es war nach Meinung der
Leute lange nicht das »schönste« auf dem Friedhof von Altenroda; aber
es war das wertvollste, auch bei weitem das teuerste. Ein wirklicher
Künstler hatte es geschaffen.

                   *       *       *       *       *

Auch der reinste Tag geht zu Ende. Als Ansorge siebzig Jahre alt war,
kam das Sterben an ihn heran. Das Sterben gilt ja für die Menschen alle
als die letzte Not. Auch an Ansorge trat die letzte Not, die letzte
Sorge heran.

Es wäre auch alles milde und in Frieden verlaufen, wenn +Dr.+
Schicketanz nicht gewesen wäre. Der war schuld, daß Ansorge seine
vierte und letzte Sorge schwer wurde. Nicht nur, daß er mit allen
medizinischen Künsten und Listen Ansorge das Sterben von Woche zu Woche
vereitelte, er griff auch zu absonderlichen Mitteln anderer Art.

Da saß der alte Eisbart an Ansorges Krankenlager und sagte:

»Also, sterben möchtest du, Freundchen? Möchte dir wohl passen! So
gar nichts mehr tun als immerfort auf dem Rücken liegen und die
Augen zuhaben. Das gibt's aber nicht! Du bist siebzig, ich bin
fünfundsiebzig. Du bist in Untertertia kleben geblieben, als ich nach
Oberprima versetzt wurde. Nachtragen will ich dir das ja heute nicht
mehr; der Fall ist schließlich verjährt, und du hast ja doch die Schule
durchgemacht. Aber Komment ist Komment! Erst die Prima, dann die
Tertia! Erst ich, dann du! Ich mache mit meinen fünfundsiebzig Jahren
noch die Leute gesund, im Hause für zwei Mark und fünfzig Pfennige und
in der Sprechstunde für eine Mark. Und du willst einfach so losgehen?
Nein! Erst die Prima, dann die Tertia! Erst wird von mir gestorben,
dann von dir! Verstanden? Du bist erst fünf Jahre nach mir an der
Reihe. Vordrängeln gilt nicht!«

Ansorge lächelte auf seinem Krankenlager und dachte: Er ist ein guter
Arzt. Dann sagte er matt:

»Ja, lieber Freund, der Herrgott hat wohl für seine Versetzungen einen
anderen Modus als die Oberlehrer. Du wirst es schon nicht ändern
können, daß ich das große Abitur ~vor~ dir mache.«

»Das werde ich ändern!« zürnte Schicketanz; »das gebe ich nicht zu!«

Am nächsten Tage sah Schicketanz, daß an Ansorges Schicksal kaum noch
etwas zu ändern sei. Und er pflanzte die vierte, die letzte Sorge in
Ansorges Leben.

Es war im April, und es herrschte ständig wechselndes, meist böses
Wetter. Da sagte +Dr.+ Schicketanz zu seinem Patienten:

»Guck zum Fenster hinaus! Kannst du es verantworten, bei solchem Wetter
zu sterben? Was würde dann geschehen? Ganz Altenroda würde mit dir
zu Grabe gehen. Du weißt, daß der letzte Teil des Weges zum Friedhof
ungepflastert ist. Ich habe mir ihn gestern in deinem Interesse
angesehen. Ein Sumpf -- sage ich dir! Na also, was geschieht, wenn du
jetzt stirbst? Ganz Altenroda geht mit zu Grabe, und halb Altenroda
wird krank. Erkältet sich auf den Tod. Wieviel -- glaubst du -- werden
allein an Lungenentzündung deines Begräbnisses wegen sterben?«

Und Ansorge fiel wirklich auf die Praktik dieses geistigen +Dr.+
Eisenbart hinein. Er sagte sich: Es ist richtig, wenn ich jetzt sterbe,
ist es ein Unglück oder doch für viele ein schweres Ungemach und für
manche eine Gefahr. Wenn ich auch noch letztwillig wünschte, es möge
niemand mit mir zu Grabe gehen, es würde nichts nützen. Unheil gäbe es
sicher.

So war Ansorges letzte persönliche Sorge die um die Gesundheit seines
Leichengefolges.

Doch die Lösung kam.

Schon am nächsten Tage erschien +Dr.+ Schicketanz nicht mehr. Er
war an einem Herzschlag verschieden.

»Erst die Prima -- dann die Untertertia,« murmelte Ansorge unter
Tränen. »Komment ist Komment!«

Ansorge lebte noch fünf Tage. Er beobachtete immer das Wetter. Ein
Barometer wurde auf seinen Befehl an seinem Bette aufgehängt. Er sah
oft nach dem schwarzen Zeiger, ob er vorrücke. Der Zeiger blieb stehen.
Endlos spritzte der Regen; hart stieß der Nordwind ans Haus. Vier Tage
nach +Dr.+ Schicketanz' Tode fing der schwarze Zeiger an Ansorges
Barometer langsam an, auf »Schön Wetter« zuzugehen. Ansorge sah es mit
wehmütiger Befriedigung.

Bald stand der schwarze Zeiger auf »Beständig«.

In der Morgenstunde ging die Frühlingssonne auf. Auf der goldenen
Straße ihrer Strahlen ging Ansorges Seele heim.

Seine letzte persönliche Sorge und alle anderen Sorgen seines Lebens
waren vorbei.




                               Grünlein


                          72. -- 91. Auflage


Der Soldat und auch der Hund gehören in den Krieg hinein, der
Schuljunge, die Großmutter und der Gnom eigentlich nicht; aber da auch
diese letzten drei in dieser Geschichte eine Rolle spielen, so mußten
sie in der Überschrift mit angeführt werden. Und es wird nachher viele
in Erstaunen setzen, daß auch der Gnom in den Krieg zog, obwohl er
wegen seiner geringen Größe dienstuntauglich war; denn er war nur so
lang, wie eine Ohrfeige und ein Nasenstüber zusammen sind. Und jetzt
beginnt das Märchen.

Es war einmal ein schöne goldene Zeit, da noch kein Krieg war im Lande,
da der Vater bei seinen Kindern, der Bräutigam bei seiner Braut und der
Sohn bei seiner Mutter war. Der König des Landes konnte sich alle Tage,
wenn er wollte, seine goldene Krone aufsetzen oder auf die Jagd ziehen
oder auf seinem Prachtschiff spazieren fahren oder seine Hofjungfern
tanzen lassen; die Bürger lachten, wenn sie Geschäfte machten oder bei
Bier und Wein saßen, und die Schulbuben hatten alle Hosentaschen voll
Apfel und Butterstullen. Damals ging es in unserem Vaterlande zu wie
in Schlaraffenland; wer am Abend zwei Schinkenstullen gegessen und ein
Hühnerei geschluckt hätte, wäre noch lange nicht als ein Verschwender
angesehen worden; die Bauern konnten soviel Korn auf dem Boden und so
viele Schweine im Koben haben, wie sie wollten; die Bäcker buken Tag
und Nacht Semmeln und Zuckerringe; die braunen Würste waren auf den
Jahrmärkten zahlreicher als die Eicheln im Walde; aus tausend Hähnen
floß alle Tage roter und weißer Wein, und jeder Leierkasten spielte zum
Tanze.

Das war in der schönen, längst vergangenen Friedenszeit. Alle Leute im
Lande dachten, das müsse so sein, und »sie aßen und tranken und hielten
Hochzeiten«.

Auf einmal fingen an in den dunklen Hausbalken der Schwarzwaldhäuser
und Alpenhütten bis hin zu den Fischerkojen am Meer unheimlich viele
Totenuhren zu ticken, und selbst der arme Bauer in Masurenland hörte,
wie die schaurige Uhr ging, und fühlte, wie der Wind von Osten her
leichenkalt durch die Ritzen seiner Hütte drang. Blutregen fiel, als
die Abendsonne über Deutschland stand; alle Vögel flogen aufgeregt um
die Spitzen der Kirchtürme; alle Männer hatten sehr blasse oder sehr
rote Gesichter.

Der Tod wetzte die allergrößte Sense, die in seiner schwarzen Scheune
hängt.

Es wurde Krieg

Im Riesengebirge klettert ein Dorf die Berghänge hinauf, und abseits
von ihm liegt eine einsame Mühle. Der Müller wohnte dort mit seiner
alten Mutter, seinem achtjährigen Sohne Hubert, mit einer Magd und
einem Mühlknecht. Die Frau war tot, aber es wohnte außer den fünf
Leuten noch ein kluger Hund namens Wolf in der Mühle, sowie ein kleiner
Hausgeist, der das Grünlein hieß.

Grünlein hatte seinen Namen von der grünen Mütze her, die er trug,
und hatte ihn also wohl dem Rotkäppchen nachgemacht. Er war der
Nachkomme eines uralten deutschen Zwergenvolkes und wohnte schon seit
sehr langer Zeit in der Mühle. Schon als Großmutter noch ein kleines
Mädel war, war Grünlein dagewesen, und Großmutter war doch schon alt.
Bis zu ihrem vierzigsten Jahre hatte sie zweiunddreißig Zähne gehabt.
Da war ihr der erste ausgegangen, und sie hatte gesagt: »Jetzt lebe
ich noch einunddreißig Jahre.« Richtig war auch alle Jahre immer ein
Zahn abhanden gekommen, und jetzt hatte sie noch sieben. Sonntag
nachmittags, wenn Hubert ein Vergnügen haben sollte, machte Großmutter
den Mund auf, und der Junge zählte die Zähne.

Bei diesem großen Spaß, wenn berechnet wurde, wie lange Großmutter noch
zu leben habe, war Grünlein, der Gnom, immer zugegen. Er war überhaupt
fast immer dabei, wenn Großmutter und der Junge allein waren. Sonst,
wenn die Magd schlechter Laune war und in der Mühle rumorte, oder
wenn gar der Knecht fluchte, setzte sich Grünlein seine Tarnkappe auf
und verschwand. Er kam dann tagelang nicht zum Vorschein. Aber dann
kam wohl ein Abend, wenn die Dämmerschatten langsam vom Tal nach den
lichten Höhen krochen, daß der Junge plötzlich zur Großmutter sagte:

»Großmutter, siehst du, daß Grünlein wieder da ist?«

»Ja, ja, ich sehe es schon.«

»Gelt, er sitzt auf dem Fuchsientopf?«

»Ja, ja, und er läutet mit der roten Glocke.«

»Mit der oberen oder mit der unteren?«

»Mit der unteren.«

Da waren sie einig, und Großmutter mußte dem Jungen eine Geschichte
erzählen. Grünlein hörte mit zu, und Wolf, der Hund, schlich herbei und
hörte auch zu. Wenn der Müller Zeit hatte, setzte er sich auch mit ans
Fenster; denn auch er kannte das Grünlein.

Wolf war vielleicht ein richtiger Wolf, er sah nämlich so aus, und
Herr Scheibel, der Amtsdiener, von dem ihn der Müller gekauft hatte,
machte bei einer Frage nach der Herkunft des Tieres immer ein so
geheimnisvolles Gesicht, als ob er sagen wolle, das Tier stamme direkt
aus dem russischen Urwald. Herr Scheibel hatte den Wolf als Polizeihund
dressiert. Als aber nach langer Zeit in der Gegend endlich einmal ein
Mord passiert war und Scheibel seinen Polizeihund auf die Spur des
Täters setzte, verbellte das dumme Tier schließlich den Herrn Pfarrer,
während der Mörder inzwischen in der Nachbarschaft erwischt wurde.
Nach diesem furchtbaren Ärgernis trennte sich der Polizeimann von dem
dressierten Hunde und verkaufte ihn in die Mühle, wo sich Wolf als
gefräßiges, aber im allgemeinen ganz friedliches Raubtier erwies.

Feierlich schöne Stunden waren es, wenn der Junge, die Großmutter,
der Gnom und der Hund so beisammensaßen und die alte Frau Geschichten
erzählte. Die Berge atmeten ihren Tannenduft zum Fenster herein, und
die alte Mühle surrte ihr Lied von tiefem Frieden.

So war es auch am ersten Augusttage des lange hinter uns liegenden
Jahres 1914. Die Großmutter erzählte gerade von einer schönen
Himmelsinsel, wo niemand hungert und niemand friert, niemand leidet und
niemand stirbt, da trat der Müller, der drunten in der Stadt Hirschberg
gewesen war, in die Stube, wischte sich den Schweiß von der Stirn und
sagte:

»Denkt Euch, es wird Krieg!«

»Um Himmels willen, nein, nein!« rief die Großmutter und schlug die
Hände zusammen.

»Krieg wird? Krieg?« schrie der Junge. »Hurra! Das ist schön!«

Grünlein wollte ausreißen, aber er kletterte nur höher ins Gezweig des
Fuchsienstrauches und schaute mit großen Augen durch das Geäst.

Der Hund wedelte mit dem Schwanz, als ob er sich über die Botschaft
freue.

»Ja,« sagte der Müller, »und in drei Tagen muß ich fort.«

»Karl -- Karl, ist das wahr?« fragte die Großmutter, und ein Weinen
zitterte durch sie.

Der Junge ging auf den Vater zu und sagte mit jäh durchbrechender Angst:

»Vater ... sie werden dich doch nicht totschießen?«

Der Müller zuckte erst die Achseln, dann schüttelte er dreimal
hintereinander den Kopf und schlang den Arm um den Jungen.

Der Hund wedelte immer noch mit dem Schwanze, Grünlein guckte mit
großen Augen aus dem Gezweig des Fuchsienstrauches.

                   *       *       *       *       *

Als der Müller fortzog, gab es einen schweren Abschied. Der Knecht war
schon zwei Tage vorher fort, die Mühle mußte stille stehn. Der Junge
weinte laut, der Hund jaulte, die alte Mutter sagte mit gefalteten
Händen: »Du bist in Gottes Hand!«

Grünlein aber saß wieder mit großen Augen in den Zweigen des
Fuchsienstrauches. Und als der Müller sagte: »Es ist Zeit, ich muß
jetzt gehen!« packte es den Gnomen am Herzen, er zog blitzschnell die
Tarnkappe über den Kopf, hüpfte auf die Pappschachtel, in der der
Müller seine geringe Kriegswanderhabe trug und zog mit.

Grünlein wog allerhöchstens ein halbes Pfund. Aber wie er auf der
rückwärtigen Hälfte der Pappschachtel saß, während der Müller den
Bergweg hinabstieg, kippte die Schachtel nach hinten, und wie er sich
auf die vordere Hälfte der Schachtel setzte, kippte sie nach vorn, und
der Müller kam ins Stolpern.

Noch ehe er eine Stunde gegangen war, setzte er sich an den Wegrand,
stützte den Kopf in die Hände und dachte, was nun werden solle. Wie war
der Weg in den Krieg so lang und schwer! Da hinter ihm lag die Heimat
-- mit ein paar Sprüngen war sie zu erreichen -- da vor ihm waren
weite, weite Todesstraßen. Ob er die Seinigen wiedersehen würde?

»Vater -- Vater -- ziehe nicht fort!«

Der Junge war ihm nachgelaufen, und der Hund auch.

Nun raffte sich der Müller auf, tröstete den Jungen und verwies es ihm
mit Milde, daß er ihm nachgekommen sei. Und er sprach vom Vaterland
und vom König und vom Wiederkommen. Als er aber zuletzt sagte: »Nun,
Hubert, geh' du mit dem Hunde den Berg hinauf, und ich gehe mit meiner
Pappschachtel den Berg hinab,« da war der Junge so leichenblaß, daß
Grünlein, der alles miterlebt hatte, von der Pappschachtel auf den
Rücken des Hundes sprang und nicht mit in den Krieg zog, sondern zurück
nach der Mühle.

Als der Vater schon einige Wochen fort war, sagte die Großmutter zu dem
Jungen:

»Hubert, mir sind auf einmal zwei Zähne ausgefallen.«

Der Junge zählte sofort nach und sagte bestürzt:

»Nur noch fünf! Großmutter, da lebst du ja bloß noch fünf Jahre. Das
stimmt ja nicht!«

Die Großmutter meinte, Kriegsjahre zählten doppelt, und wenn sie noch
fünf Jahre lebe, sei das schon genug; bis dahin sei der Vater schon
längst zurück. Aber der Junge war jetzt viel ängstlicher geworden, als
er früher war, händigte der Großmutter seinen funkelnden Silbertaler
aus, den er in der Sparkasse hatte, und sagte, sie solle sich Zähne
einsetzen lassen -- hundert Stück. Das wollte aber die Großmutter nicht.

Wolf, der Hund, hatte seinen Herrn drei Tage lang ehrlich betrauert;
am vierten aber hatte er seinen wahrhaften Wolfshunger wieder bekommen
und damit alle Traurigkeit abgelegt. Er lag nun in der Sonne, schnappte
nach Fliegen, fraß und bellte, als ob überhaupt kein Krieg sei.

Ganz anders war das Hausgeistlein. Wenn jetzt die Großmutter und der
Junge beisammen saßen, erzählte die alte Frau keine Märchen mehr; sie
und der Junge sprachen nur noch vom Krieg. Und je mehr sie sich um den
Vater kümmerten, ein desto schlechteres Gewissen bekam Grünlein, weil
er den Müller hatte allein seine schwere Straße wandern lassen.

Gegen Ende des August faßte Grünlein den Entschluß, dem Müller in den
Krieg nachzuziehen. Die Großmutter las die zwei Briefe, die inzwischen
angelangt waren, dem Jungen jeden Tag vor, und Grünlein wußte, daß der
Müller mit den schlesischen Landwehrleuten nach Polen gezogen sei. Wo
der Weg nach Polen ging, wußte der Gnom. Wenn man ins Dorf kam, mußte
man bei Korbmachers Haus rechts abbiegen, da ging es dann gleich den
Berg hinunter nach Polen. Aber wie der arme Schelm mit seinen kurzen
Beinen drei Tage und drei Nächte gewandert und nach Hirschberg gekommen
war, sah er dort viele Soldaten, die eben nach Frankreich zogen, und
meinte, er habe sich gründlich verlaufen; denn über Hirschberg führe
der Weg nicht nach Polen, sondern nach Frankreich. Er wanderte nun
wieder nach der Mühle zurück und war sehr traurig, daß er den Weg nicht
fand; denn es war ihm klar geworden, daß es mit dem Polenland und der
Welt überhaupt eine weitläufige Sache sei.

Als er wieder zu Hause war und sich etwas ausgeruht hatte, kam ihm ein
guter Gedanke. Er wußte aus den Briefen, daß Polen und Rußland ganz
dasselbe ist, und da doch Herr Scheibel, der Amtsdiener, immer gesagt
hatte, der Hund Wolf sei ein richtiger Wolf und stamme aus Rußland, so
mußte der Köter doch den Weg dahin wissen.

Im Abenddämmern machte sich Grünlein an den Hund heran. Der hatte eben
vier Tage und vier Nächte lang mit kurzen Unterbrechungen geschlafen
und gähnte müde, als ihn Grünlein fragte, ob er denn wirklich ein
richtiger Wolf sei und aus Rußland stamme.

»Das will ich meinen,« sagte das Vieh.

Und nun bat Grünlein mit bewegten Worten, ihm doch den Weg nach Rußland
deutlich und bestimmt anzugeben.

Da kratzte sich der Wolf heftig das Fell und sagte dann verlegen:

»Ach, Grünlein, ich will dir im Vertrauen sagen: Rußland ist eine
ziemlich große Gegend; an allen Orten bin ich nicht gewesen, und
mancherlei habe ich auch wieder vergessen.«

Nach dieser Auskunft schloß Wolf sofort die Augen und tat, als ob
er schon wieder ganz fest schlafe. Grünlein aber setzte sich in den
Fuchsienstrauch und weinte.

Am selben Abend aber geschah noch etwas Besonderes. Die Großmutter
und der Junge hatten vor, dem Vater eine Wurst zu schicken, und die
Botenfrau hatte aus der Stadt eine runde Papphülse mitgebracht, in die
die Wurst genau paßte.

Die Großmutter, der Junge und die Magd saßen um den Tisch und sprachen
darüber, wie diese Wurst nun eine so weite Reise machen, wie sie zum
Vater gelangen und ihm gut schmecken werde. Der Wolf sah mit gelb
schillernden Augen nach dem Tisch, dem Grünlein aber klopfte das Herz.
Die Wurst wurde mit einer gewissen Feierlichkeit in die Hülse gesteckt,
die Hülse mit einer Kapsel verschlossen. Die Magd schrieb die Adresse,
weil sie von den dreien die schönste Schrift hatte. Dann gingen alle
schlafen.

Grünlein klammerte sich an die Zweige des Fuchsienstrauches und kämpfte
einen schweren Seelenstreit mit sich aus. Wenn der Hausherr die Wurst
bekam, war das schön, aber schöner noch, wenn sein gutes Hausgeistlein
zu ihm kam. Da rief Grünlein durch die Finsternis der Stube:

»Pst, Wolf! Friß die Wurst!«

»Es gibt zu viel Hiebe!« knurrte der Hund.

»Es gibt keine Hiebe; denn ich krieche selbst in die Hülse und reise
nach Rußland.«

»Du bist nicht gescheit, Grünlein,« sagte der Wolf, kam aber gierig
näher.

Grünlein turnte nach dem Tisch, löste die Kapsel, zog mit ungeheurer
Anstrengung die Wurst aus der Hülse, löste sie aus dem Papier, in
das sie gewickelt war, rollte die Wurst wie einen Baumstamm an die
Tischkante, von wo sie auf den Fußboden fiel, wickelte sich selbst in
das Umschlagpapier, kroch in die Hülse und zog die Kapsel von innen
nach. Grünlein paßte gut in die Umhüllung denn er wog ein halbes Pfund,
und die Wurst wog auch ein halbes Pfund.

Wolf roch unterdes an der Wurst herum, sagte bei sich: »Ich bin ganz
unschuldig; denn ich habe sowas ganz und gar nicht gewollt!« und dann
schlang er die Wurst mit ein paar Bissen hinunter.

Am nächsten Morgen brachte die Botenfrau das Päckchen Bindfaden, das
sie am Vortage zu besorgen vergessen hatte. Die Hülse wurde nun so oft
verschnürt, daß man von der Adresse fast nichts mehr sehen konnte, und
dann setzte sich Hubert mit dem Feldpaket an die Dorfstraße und wartete
drei Stunden, bis der Gebirgsbriefträger kam und das Paket mitnahm.

Hubert schaute ihm lange nach und bewunderte die schwarze Tasche, von
der aus solch weite Reisen angetreten werden konnten. Ach, wenn er gar
gewußt hätte, daß in der Tasche jetzt sein Grünlein steckte, das nach
Polen reiste!

                   *       *       *       *       *

Der Briefträger gab die Rolle mit Grünlein auf dem Postamt ab. Als der
Gnom gerade an der Wand seines Hauses ein wenig horchen wollte, was
draußen los sei, bekam er einen mächtigen Schlag an den Kopf; denn
der Beamte stempelte die Rolle. Grünlein kam von dem Postamte nach
einem Bahnhof, von da ein Stückchen weiter wieder auf einen Bahnhof
und blieb dort schließlich mit anderen Wurst-, Keks-, Schokolade-
und Zigarrenpaketen zusammen wochenlang liegen. Endlich ging die
Reise weiter. Einmal hörte er einen Beamten zu einem anderen sagen:
»Wir fahren eben über die Rheinbrücke, jetzt werden die Leute bald
französisch sprechen.« Das alles fiel aber dem Wichtelchen nicht auf;
es meinte, das müsse so sein, wenn man nach Rußland reise. Erst in
Brüssel nahm ein Beamter die Rolle in die Hand, schimpfte und sagte:
die Pakete, die für Regimenter in Polen bestimmt seien, gehörten nicht
nach Belgien. Grünlein wurde mit vielen anderen Irrgängern umsortiert
und fuhr in wochenlanger Reise wieder auf Schlesien zu. Unterwegs hatte
er ein Abenteuer. Auf einer Zwischenstation wollte ein sogenannter
freiwilliger Helfer, der aber in Wirklichkeit ein Paketmarder war, die
Rolle ihrer vermeintlichen Wurst berauben, nicht wissend, daß diese
Wurst längst in den Magen eines Urwaldviehs verschwunden und die Rolle
höchst geheimnisvollen Inhalts war. Wie nun der schlechte Mensch den
Deckel öffnete, sprang ihm Grünlein mitten ins Gesicht, zertrampelte
ihm mit den Füßen die Nase, hieb ihn mit den Fäusten an die Stirn und
spuckte ihm in die Augen. Da schnürte der Dieb das Paket, nachdem
Grünlein wieder hineingekrochen war, in großer Überraschung wieder zu.

Sechs Wochen und einen Tag, nachdem Grünlein von Hirschberg abgefahren
war, landete er auf dem Bahnhof von Tschenstochau, und vier oder fünf
Tage danach war er bei seinem Herrn.

Es stellte sich heraus, daß für den Müller, der hier als der
Landwehrmann August Liebert geführt wurde, auf einmal zweiundzwanzig
Paketchen einliefen. Dem Müller wurden die Augen feucht vor
Dankbarkeit, und er sagte:

»So haben mich meine Leute doch nicht vergessen; es hat sich nur alles
ein wenig verspätet.«

Ehe der Müller die Pakete öffnete, las er die eingelaufenen Briefe.
Und da schrieb ihm sein Bub mit seinen ungefügen, großen Buchstaben
auch: »Grünlein ist weg. Ich und Großmutter denken, er ist dir nach.
Vielleicht ist er in ein Paket gekrochen.«

So hatte der Junge alles richtig erraten.

                   *       *       *       *       *

Es war Abend. Der Müller saß abseits am Rande des polnischen Flusses.
Seine Kameraden hielten ihn für einen Spintisierer. Aber sie hatten ihn
doch gern; denn er war ein guter Kamerad und konnte bei Gelegenheit
auch lustig sein.

Nun aber saß er versonnen an dem lehmgelben Wasser und hörte zu,
wie der Herbstwind durch die gelben Blätter der Erlen ging. Und wie
er einmal seufzte und die Augen aufhob, sah er das Grünlein in den
Erlenzweigen sitzen. Da freute er sich und sagte:

»Ach, Grünlein, da bist du ja! Hubert hat mir geschrieben, daß du mir
nachgereist bist. Erzähle mir, wie es zu Hause geht.«

Grünlein war so bewegt, daß ihm zunächst nichts anderes zu erzählen
einfiel, als daß die Großmutter zwei Zähne verloren und der Wolf leider
eine schöne Wurst gefressen habe. Doch dann besann er sich auf Besseres
und sagte, die alte Mühle stehe noch, die großen Berge ständen auch
noch und der Fuchsientopf sei auch noch da. Da wurden dem Müller die
Augen heiß, und er sagte:

»Es ist schön zu Hause!«

Das Grünlein sah sich in der Gegend um. Es wies nach vorn über den Fluß
hinüber und fragte:

»Was ist das Schreckliches dort drüben?«

»Das ist ein verbranntes Dorf, liebes Grünlein.«

Das Geistlein schauerte in sich zusammen.

»Es müssen sehr schlechte Menschen sein, die das getan haben!«

»Wir haben es getan!«

»Ihr -- o -- du ...«

Grünleins Augen füllten sich mit Tränen des Entsetzens.

»Ja, liebes Grünlein. Wenn wir es nicht getan hätten, wären die Russen
gekommen und hätten unsere Mühle verbrannt, deinen Fuchsientopf
zerschlagen und die alte Großmutter getötet.«

»Mich friert!« hauchte das erschrockene Grünlein. »Wir wollen nach
Hause gehen.«

»Gehen wir nach Hause,« sagte der Müller mit einem schmalen Lächeln,
stieg mit dem Grünlein in einen Graben und kroch mit ihm in ein
finsteres Loch.

Dort lagen einige Männer auf Stroh und schliefen.

»Hier, liebes Grünlein, bin ich jetzt zu Hause.«

Das Grünlein weinte. Es sah, wie sich sein Herr lang aufs Stroh legte
und bald tief und fest schlief, aber es konnte sich mit allem, was es
erlebte, nicht zurechtfinden; denn es ging nicht in seine wohlgeordnete
Gedankenwelt hinein, daß der Müller, der ein so angesehener Mann war
und keine zweitausend Taler Schulden auf seinem schönen Besitztum
hatte, nun eine so schäbige Wohnung haben und wie das der Kaiser für
seine treuen Soldaten zugeben könne.

Grünlein lehnte sich an die Bodenwand. Es war nur gut, daß die
Großmutter und Hubert nicht wußten, wie der Müller hier hauste.
Vielleicht würde es sogar den Hund Wolf erbarmt haben.

Plötzlich fühlte Grünlein, daß ihn etwas von hinten anstieß. Er wandte
sich um und sah den Kopf eines Maulwurfs, der aus der Erde schaute.

»Pst, Kleiner,« sagte der Schwarze, »komm herein in meine schöne
Wandelhalle; wir wollen uns ein wenig miteinander unterhalten.«

Grünlein kroch dem Maulwurf nach, fand zwar, daß dessen Wandelhalle
ein dunkles glitschiges Loch sei, fast noch schäbiger als des
Müllers Unterstand, dachte aber: der Herr im Samtrock ist sicher ein
Einheimischer und kann dir über mancherlei Auskunft geben.

Das tat der Schwarze auch. Er stieß einen großmächtigen Seufzer aus und
klagte in erregten Worten, daß die Deutschen den Maulwürfen gegenüber
die Neutralität schmählich verletzt hätten.

»Wir Maulwürfe lebten mit Deutschland in Frieden,« sagte der Schwarze;
»wir dachten gar nicht daran, die Deutschen mit Krieg zu überziehen.
Wir waren absolut neutral. Was haben aber die Njemski gemacht?
Sie haben rücksichtslos unsere Wohnungen, Wandelhallen und andere
Kunstbauten zerstört, und durch ihre Granaten sind allein siebzehn
Männer, zwanzig Frauen, sechs Greise und fünfunddreißig Maulwurfskinder
aus meiner nächsten Verwandschaft getötet worden. Ist das nicht
barbarisch?«

»Ihr unterminiert wahrscheinlich manchmal etwas,« wandte das Grünlein
schüchtern ein.

»Wir unterminieren nie!« rief der Maulwurf erbost. »Das ist eine der
schamlosen Verleumdungen Deutschlands. Aber wir werden siegen, und dann
werden wir von Deutschland als Kriegsentschädigung hundert Millionen
Morgen Gurkenbeete verlangen.«

»Du gehörst wahrscheinlich zur Entente?« fragte Grünlein.

»Alle echten Maulwürfe gehören zur Entente,« entgegnete der Schwarze
stolz.

»So lasse mich -- bitte -- wieder in den Unterstand zurück!« bat das
Grünlein, »denn ich bin ein Deutscher.«

»O, nein, mein Guter,« höhnte da der Schwarze, »du bist mein
Gefangener. Der Rückweg ist dir längst verlegt.«

Nun sah Grünlein eine Menge anderer Maulwürfe herankriechen, und
es ging ihm eiskalt durch die Glieder, daß er nunmehr ein armer
Kriegsgefangener sei. Den ersten Tag war Grünlein an der Front, und
schon hatten ihn die Feinde am Kragen. Darüber schämte sich der Kleine
fast bis zur Verzweiflung. Aber es nutzte nichts, die Feinde schleppten
ihn fort, stießen ihn mit ihren Rüsseln und prügelten ihn mit ihren
Grabfüßen.

Unterwegs machte der Transport Halt.

»Da schau hinunter,« sagte der erste Maulwurf, der sich unterdes
als der Hauptmann der Horde erwiesen hatte. Er wies in eine große
Höhle hinein. Da sah Grünlein erschaudernd fünf Totengerippe in
russischen Uniformen. Drei der Gerippe lagen auf dem Boden, eines saß
zusammengebeugt da, eines lehnte aufrecht an der Wand.

»Durch eine deutsche Granate verschüttet,« knirschte der Schwarze.

Dem Grünlein schlugen die Zähne aufeinander, aber es sagte:

»Wahrscheinlich gibt es auch Höhlen, in denen arme deutsche Soldaten so
verschüttet sind.«

»Die gibt es,« erwiderte der Maulwurfshauptmann, »aber das geschieht
ihnen recht!«

Weiter ging die Fahrt durch die dichten Maulwurfsstollen. Grünlein, der
zu groß war für diese »Wandelhallen«, mußte vielfach auf allen Vieren
kriechen.

Da kam wieder etwas Neues. Der Hauptmann hieß Grünlein durch ein
Guckloch schauen, und Grünlein sah in einen weiten Gang, in dem
Laternen brannten und beschmutzte Männer mit Hacke und Schaufel
arbeiteten. Sie trieben den Stollen immer tiefer, und auf großen Karren
wurde die ausgeschachtete Erde fortgeschafft.

»Weißt du, was diese Russen machen?« fragte der Maulwurf höhnisch
seinen Gefangenen. Grünlein schüttelte den Kopf.

»Sie graben ihre Stollen bis unter den deutschen Schützengraben, aus
dem du kommst, und wenn sie am Ziele sind -- das wird sehr bald sein --
füllen sie die Höhlungen mit Pulver, und der Schützengraben fliegt in
die Luft.«

»Mein armer Herr,« weinte das Grünlein auf, »er wird verschüttet
werden.«

»Verschüttet oder in die Luft fliegen,« grinste der Schwarze. »Die Wahl
hat er nicht. Es kommt darauf an, wie die Mine wirkt.«

Halbtot kroch das Grünlein weiter, bis endlich in einer großen Höhle
Halt gemacht wurde. Dort wimmelte es von Maulwürfen. Der Hauptmann
hielt eine Rede.

»Brüderchen und Schwesterchen,« rief er, »jubelt; denn wir haben
gesiegt! Mit nur zweihundert Mann unseres glorreichen Volkes ist es mir
gelungen, diesen gefährlichen Deutschen unverwundet in unsere Gewalt
zu bekommen. Wenn wir sehen (er wies auf das gefangene Grünlein),
welch' enorme Verluste die Deutschen erleiden, so erkennen wir, daß
die deutsche Kriegsmacht zerrieben, daß unser und unserer glorreichen
Verbündeten Endsieg nahe ist!«

Das ganze Volk keuchte vor Begeisterung, legte sich auf den Rücken und
fuchtelte vor Freude mit den Grabfüßen. Das kriegsgefangene Grünlein
wurde nun an eine Baumwurzel gebunden, die wie eine Säule in der Höhle
stand, der Hauptmann übernahm selbst die Wache, und alles andere Volk
zerstreute sich. Grünlein war in jämmerlicher Stimmung. Er verstand
wenig oder gar nichts vom Krieg, er kannte die Lüge nicht, und wenn er
nun daran dachte, daß in einigen Tagen sein guter Herr zerrissen werden
sollte, und daß durch seine Gefangennahme -- wie es doch der Hauptmann
gesagte hatte -- das deutsche Vaterland in eine schwere Lage gekommen
sei, da wünschte sich der arme Schlucker den Tod.

Plötzlich sauste eine große Ratte in den Raum herein, und ehe der
erschreckte Maulwurfshauptmann noch dreimal schnaufen konnte, biß ihn
die Ratte tot und fraß ihn zur Hälfte auf. Dann wandte sie sich an
Grünlein, der eben ohnmächtig werden wollte.

»Warum bist du gebunden?«

»Ich bin ein Deutscher, ich bin kriegsgefangen.«

»Bist du aus Schlesien?«

»Ja -- aus Schlesien.«

»Das ist gut. Ich will gerade nach Tarnowitz hinüber, wo in einer
Schlächterei gut zu leben ist. Komm mit, zeig' mir den Weg.«

Sie zerbiß die Bande, und Grünlein war froh, befreit zu sein, obwohl
er keine Ahnung hatte, wo Tarnowitz lag. Das Tier führte Grünlein nun
durch lange unterirdische Gänge, wo Ratten- und Mäusenester waren; die
Hamster hatten dort ihre Kornkammern, erstarrte Regenwürmer lagen wie
leblose Schlangen, und viel Käferlein im Puppenkleid schliefen dem
nächsten Frühling entgegen.

»Was für seltsame Nachbarschaft hat doch mein Herr,« dachte das
Grünlein. »Dort drüben bahnen finstere Männer den Schacht des Todes,
und hier hüten die Hamster ihre Getreidekörner und träumen junge
Marienkäferchen von Sonne und Leben.«

Die Ratte stieß jetzt hinauf ins Licht. Da knallte ein Schuß übers
Feld, und das Tier lag in seinem Blut. Ein sibirischer Scharfschütze
hatte es erschossen. Drüben im deutschen Schützengraben lachte einer:

»Sie haben morgen einen von dem Schock russischer Feiertage; da
brauchen sie einen Festbraten. Wohl bekomm' es!«

Das arme Grünlein aber, das von Natur aus kein Held war, steckte nun
mitten zwischen zwei Schützengräben in einem Rattenloche und wußte
nicht mehr ein noch aus.

                   *       *       *       *       *

Wochenlang, Tag und Nacht, irrte Grünlein auf den Feldern Polens umher.
Es fand zu seinem Herrn nicht mehr zurück.

Frierend saß der Kleine unter kahlen Bäumen, schlich durch brausende
öde Wälder, fuhr manchmal ein Stückchen auf einem Bagagewagen mit,
nächtigte in den Trümmern zerschossener Häuser, hockte zitternd
zwischen den armseligen Kleiderballen weinender Flüchtlinge, hörte das
zornige Rauschen kalter fremder Ströme.

Grambitteres Heimweh packte das deutsche Hausgeistlein. Wie schön war
es, als noch Friede war. Die Müllerstube war so warm, so dicht, daß
kein kaltes Lüftlein hineinkonnte, die Menschen, die um den Tisch
saßen und ins gelbe Licht der Petroleumlampe träumten, waren so gut,
daß nicht einmal ein feindlicher Gedanke ihr Herz befleckte. Dann kam
der Krieg. Jetzt mußte der sanftmütige Müller Menschen erschießen
und verstümmeln, jetzt zündete der Mühlknecht Häuser an und hatte
doch zu Hause einmal dem Hubert eine Ohrfeige gegeben, weil der mit
einer leeren Streichholzschachtel gespielt hatte, was der Knecht für
feuergefährlich ansah.

Wenn Grünlein durch die Lehmjauche der Schützengräben schlich, die
Männer in hohen Stiefeln darin stehen sah, den Anzug beschmutzt, die
Hände blaugefroren, die Bärte verklebt und verfilzt und die Augen voll
finsterer Entschlossenheit nach Osten gerichtet, dann fürchtete sich
das weichmütige Geistlein eine Frage nach seinem Herrn zu tun.

Einmal aber sah es einen sitzen mit einem feinen, stillen Gesicht.
Der Mann hatte eine Brille auf und las einen Brief. Unter den blanken
Gläsern blitzte es feucht und klar, so wie wenn man durch blankes Eis
in eine Quelle schaut. Zu diesem Manne faßte Grünlein Vertrauen und
setzte sich ihm aufs Knie. Der Soldat mit der Brille hob die Augen und
sagte:

»Eh, du kleiner Mann mit der grünen Kappe, du bist wohl ein deutsches
Hausgeistlein?«

»Ich heiße Grünlein und stamme aus einer Mühle im Riesengebirge,« sagte
schüchtern der Gnom.

Der Soldat nickte.

»Ja, ich kenne Euch. Ich habe auch so ein Geistlein, es wohnt neben
meiner Gelehrtenstube im Zimmer meiner jungen Frau und heißt Rapunzel.
Es ist mir auch schon nachgekommen; jetzt aber ist es wieder zu Hause;
denn Ihr Hausgeistlein geht ja als Sehnsuchtsboten immer von der Heimat
ins Feld, vom Feld in die Heimat immer hin und her. O ja, das deutsche
Gemüt!«

»Ich habe meinen Herrn verloren,« klagte das Grünlein, »weil ich so
dumm war, einem Maulwurf zu vertrauen. Ich bitte dich, daß du mir den
Weg zu meinem Herrn sagst. Er heißt August Liebert.«

Der Soldat lächelte.

»Ja, liebes Grünlein, der Name genügt nicht. Wenn du weißt, bei welchem
Armeekorps, bei welcher Division und Brigade, bei welchem Regiment,
welcher Kompagnie und Korporalschaft dein Herr ist, kann ich dir wohl
den Weg weisen.«

Das Grünlein sagte, wenn es sich solche Dinge merken wollte, würde
ihm sein Kopf mitten entzwei platzen. Und so war auch hier nichts zu
machen. Doch erlaubte der Soldat mit der Brille dem Grünlein, bei ihm
zu bleiben und, wenn er Mut habe, abends mit ihm auf Vorposten zu
ziehen.

Das Grünlein sagte ehrlich, daß es von Haus aus eigentlich gar nicht
eine Spur von Mut habe, aber da es weder nach Hause noch zu seinem
Herrn zurückfinde, sei ihm das Leben gleichgültig geworden. So zog es
mit dem Soldaten auf Wache.

Sie lehnten beide an einem Baum, der Soldat bis zum untersten Ast
hinauf, das Grünlein bis zur zweiten Runzel im Stamm. Schwarz lag das
feindliche Land; der Wind ging müde über leere Felder hin zu den fernen
Föhren. Weit im Osten brannte ein Dorf. Da ging der Vollmond auf und
lachte herab auf die brennenden Häuser, auf die öden Fluren und auf
den Soldaten am Baumstamm mit eben demselben vergnügten Gesicht, wie
er zu Hause im Städtlein gelacht hatte, wenn Studenten die Laternen
auslöschten. Dem Mond ist es gleichgültig, ob die Menschen Unfug
treiben oder Krieg führen. Er ist in seiner schönen Höhe und lacht.

»Grünlein,« sagte der Soldat leise; »ich glaube, morgen wird dein
Bruder Rapunzel da sein. Meine Frau wird ihn schicken. Wenn du meine
Frau kenntest, würdest du sagen, daß nichts Lieberes ist auf der Welt.
Immer lustig gewesen, Grünlein, kleine und große Schmerzen verbissen,
nur um freundlich, um fröhlich zu sein. Und immer ein Kind geblieben,
Grünlein. Deshalb hat sie auch noch vom Hausgeist Rapunzel gesprochen,
als sie schon eine Frau war und unseren kleinen süßen Jungen hatte.
Jetzt aber lacht sie nicht mehr.«

Der Mond versteckte sich hinter den Wolken, und das Dorf im Ost brannte
heller.

»Grünlein, ich habe ihr heute geschrieben, sie soll nur guten Mutes
sein. Wir sind nun schon ganz nahe an Warschau, und wenn wir Warschau
haben, ist der Krieg zu Ende. Dann ziehen wir alle heim.«

Ein heißes Freudengefühl zog dem Grünlein durchs Herz, als es diese
frohe Botschaft hörte.

»Wirst du mich mit nach Hause nehmen?«

»Ja, Grünlein, und ich werde mit meiner Frau und meinem Jungen in Eure
Mühle zu Besuch kommen, und das Rapunzel werde ich auch mitbringen. Ihr
könnt dann zusammen sitzen.«

»Ja,« sagte Grünlein selig, »in dem Fuchsienstrauch, dicht hinter dem
Rücken der Großmutter. Rapunzel sitzt rechts, und ich sitze links.«

So vergingen die Stunden. Die Beiden träumten vom Glücke nahen
Friedens. Ein zweites Dorf im Osten brannte auf; der Mond wanderte
über tiefdunkle Himmelsauen, kletterte in lichte Wolkengebirge hinein,
verschwand hinter schwarzen Mauern, lugte wieder neugierig um deren
Ecke, verschwand abermals und legte sich schließlich breit auf die
Himmelswiese, zugedeckt mit einer durchsichtigen Schleierdecke. Es war
ganz still, nur zweimal war in weiter Ferne dumpfer Geschützdonner. Der
Soldat zog vorsichtig die Uhr.

»Fünf Minuten noch, Grünlein, dann werde ich abgelöst.«

In diesem Augenblick fiel aus nächster Nähe ein Schuß, und der deutsche
Mann fiel durchs Herz getroffen am Baumstamm tot zusammen.

Grünlein lag lange ohnmächtig.

Er erwachte, als noch vor Morgengrauen deutsche Soldaten den Gefallenen
unter Mühe und Todesgefahr von dannen schleppten.

Unter einem andern Baum, an einem Waldrand, wurde der Soldat mit der
Brille begraben. Der Tag brach an. Der klare Osthimmel strahlte in
goldenem Glanz. Da sangen die Soldaten mit leisen Stimmen:

  »~Morgenrot, Morgenrot,
  Leuchtest mir zum frühen Tod~ ...«

Nach den zwei Zeilen aber schon brachen sie ab; denn sie konnten nicht
weitersingen. Als sie die kleine Grube mit Erde bedeckt hatten, fing
noch einmal einer an zu singen, und sie sangen wieder nur zwei Zeilen:

  »~Darum still, darum still
  Füg' ich mich, wie Gott es will~ ...«

Grünlein wohnte dem Begräbnis bei. In herzbrechendem Schmerz dachte
er: Was wird mein Brüderlein Rapunzel sagen? Und was wird die liebe
Frau sagen? Und was wird der kleine Junge sagen, wenn er überhaupt erst
etwas sagen kann?

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Tage sah das Grünlein, daß die Soldaten aufbrachen und
nicht mehr weiter nach Ost zogen, wo die Sonne aufgeht, sondern nach
West, wo die Sonne untergeht. Im Westen aber -- das wußte das Grünlein
-- lag die deutsche Heimat. So meinte der Gnom, der Krieg sei nun aus,
und sein erschüttertes Herz schöpfte aus dieser Hoffnung neue Kraft.

Wie schwer war die Enttäuschung, als Grünlein aus den Gesprächen der
Soldaten erfuhr, daß die Deutschen nicht vermocht hatten, Warschau zu
nehmen, und der Krieg nicht zu Ende sei, daß jetzt alle Brücken und
Straßen zerstört werden müßten, damit die nachdringenden Russen nicht
zu rasch vorwärts kämen, und daß alles daran gesetzt werden müßte, das
schöne, reiche Schlesierland zu retten. Ein Ostpreuße erzählte, wie
furchtbar es in seiner Heimat aussähe, nachdem die Russen dort gehaust,
und Grünlein sah schon die heimische Mühle brennen, die Großmutter
erschlagen, den Knaben verstümmelt und Wolf, den Hund, hungernd und
heulend um die Trümmer der zerstörten Heimstätte irren. Er sah, daß aus
seiner schlesischen Heimat dasselbe werden würde, was aus Ostpreußen
geworden war.

Da faßte das Grünlein namenlose Todesangst, und nur eines wollte es
noch: heim, um mit den Lieben zu sterben.

Eines aber wunderte das Grünlein: daß die deutschen Soldaten, die
zurückgingen, so ganz und gar nicht verzagt waren. Sie mußten ihr
Leben, ihre Kanonen, ihr Gepäck, ihre Nahrungsmittel retten, sie hatten
unendliche Mühsal zu ertragen, aber sie sagten mit frohen Mienen:

»Kommt nur, Ihr Russen, es wird Euch schlecht ergehen!«

Grünlein, das von Haus aus, wie wohl schon ein- oder siebenmal gesagt
wurde, kein Held war, bezweifelte solche Reden aufs stärkste und wollte
durchaus heim zur Großmutter, ehe ihr der letzte Zahn ausgeschlagen war
und sie sterben mußte.

Der Knirps konnte auf dem eiligen, wenn auch wohlgeordneten Rückzug
mit seinen kurzen Beinchen nicht mit und wäre unrettbar in russische
Gefangenschaft geraten, wenn er sich nicht als eine Art Schmarotzer
überall angehängt hätte. Zuerst kroch er einem Landwehrmann in den
Tornister. Der Landwehrmann, der an diesem Tage fünfunddreißig
Kilometer zu marschieren hatte, legte den schweren Tornister auf einen
Wagen, und der Wagen fiel bis über die Achsen in so tiefen Schlamm,
daß ihn vier Pferde nicht flottkriegen konnten. Grünlein kroch nun
einem der Kutscher, die die Pferde antrieben, in die Tasche. In dieser
Tasche waren neben einer Wurst und einem Stück Kommißbrot, welches
die Tagesration bildete, ein Paar schwergetragene Strümpfe, ein
Liebesbrief und zwei Liebeszigarren. Grünlein wickelte sich frierend
in die Strumpfüberreste, obwohl sie ihm furchtbar erschienen. An einem
Straßenstein zog der Soldat bei kurzer Rast das Kommißbrot aus der
Tasche, aß es mit bestem Appetit auf, las schmunzelnd den Liebesbrief
und rauchte sich mit dem Behagen eines Schlemmers eine der Zigarren an.
Die wüst zugerichteten Strümpfe aber warf der Soldat, weil er sagte,
»er müsse mal Inventur machen,« kurzerhand in den Straßengraben, und
mit ihm, ohne daß er es wußte, das Grünlein. Grünlein beschloß, sich
im Bedarfsfall von nun an immer in die Liebesbriefe der Soldaten zu
wickeln, weil sie diese viel sorgfältiger aufbewahren als Strümpfe.

Während Grünlein noch in dieser größten Erniedrigung und Armseligkeit
seines Lebens im Straßengraben saß, kam eine Militärkapelle des Weges
und machte am selben Straßensteine Halt.

Der Kapellmeister hielt eine Rede.

»Kinder,« sagte er »wir konzentrieren uns zwar jetzt rückwärts, weil
uns das grade mal Spaß macht, wir gehen sozusagen langsam zurücke
wieder auf heem zu -- aber Warschau wird doch genommen! Habt Ihr schon
mal gehört, daß ein Königlicher Kapellmeister was umsonst gemacht
hat? Nischt macht er umsonst! Na, also! Ich habe einen Warschauer
Einzugsmarsch komponiert, Ihr habt ihn eingeübt, und folglich hat
Warschau zu fallen, ganz egal, ob wir auch momentan ganz zufällig mal
ein bißchen auf dem Rückmarsch sind, -- seht Ihr, Kinder, doch nur,
weil wir unseren Lieben zu Hause wieder mal etwas näher sein wollen.
Jungens, ich sage Euch, es geht uns famos. Wir sitzen hier gemütlich
am Wegrande, ruhen uns aus und frühstücken, während die Russen wie
die gehetzten Wölfe ohne Herz und Atem hinter uns herjagen und uns
verfolgen müssen. Jeder von uns hat sein gutes Stück Kommißbrot,
Wasser gibt's von oben und von unten mehr als wir brauchen, die
Gulaschkanonen können auch nicht aus der Welt sein, folglich denke ich,
ist es angebracht, wenn wir jetzt mal unseren Warschauer Einzugsmarsch
loslassen.«

Die zweihundert Kilometer zurückgejagten Musikanten spielten nun den
Warschauer Einzugsmarsch mit heller Begeisterung. Tadellose Musik war
es aber nicht. Das empfand auch der Kapellmeister und Komponist des
Marsches.

»Kinder,« sagte er, »es hätte ja schöner sein können, aber es war
wunderschön. Daß uns die Lumpen den ersten Trompeter, zwei Hornisten
und unseren braven Scholz -- o Gott, o Gott, was blies er für einen
Bariton! -- totgeschossen haben, daß in Ihrer Tuba, lieber Grützner,
ein Loch und drei Beulen sind, daß Ihnen, Teubner, von ihren zwei
Becken eines durch einen kunstfeindlichen Granatsplitter aus der Hand
gerissen worden ist -- na, dafür können wir nicht, vor allen Dingen
auch nicht dafür, daß Ihnen, Freund Hübner, das eine Fell der großen
Trommel geplatzt ist und die halbe Hand dazu. Schön war's trotz
alledem, künstlerisch schön, wie Ihr geblasen habt; das sage ich Euch
hier in diesem Weiden-, Dreck- und Wasserkonzertsaal, ich, nicht
nur Euer Kapellmeister, nein, auch der Komponist der eben zu Gehör
gebrachten Tondichtung!«

Am Grabenrande stand Hübner, der Paukenschläger. Er hatte während des
Marsches wie toll auf das gesunde Fell seiner Pauke geschlagen.

Grünlein, der inzwischen ein Menschenkenner geworden war, dachte bei
sich: Ich tue gut, durch dieses Loch im Trommelfell zu kriechen; denn
dieser Hübner läßt eher sein Leben im Stich als seine Pauke.

Und so tat der Kleine. Hübner hockte sich todmüde die große Trommel
auf den gekrümmten Buckel und trug sie samt Grünlein von dannen. Als
sie aber im Notquartier einige Stunden Ruhe fanden, schlief Hübner
so tief und schön, weil ihm Grünlein heimlich die beiden gutmütigen,
verstaubten Augen geküßt hatte. Grünlein nahm es dem großen starken
Trommler nicht einmal übel, als am nächsten Morgen trotz fortgesetzten
Rückzuges der Kapellmeister abermals den Warschauer Einzugsmarsch
spielen ließ und Hübner so wüst auf das gesunde Trommelfell einschlug,
daß Grünlein zu dem Loch der anderen Seite hinausflog.

Zwei Tage später wurden Schützengräben bezogen, und es hieß, mit dem
Rückzug habe es nun ein Ende; man wolle die Russen erwarten und ihnen
einen bösen Empfang bereiten.

»Jetzt wird es mit der Schießerei wieder losgehen,« dachte das Grünlein
traurig; »nach Hause sind wir nicht gekommen, und ich habe es doch so
satt und will heim.«

Das Kerlchen wußte aber nicht, wie es die Heimreise bewerkstelligen
sollte, und die Hoffnung, seinen Herrn wiederzufinden, hatte es ganz
aufgegeben. Da kam dem Grünlein ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Es
war wieder einmal häßliches Regenwetter, und Grünlein war unter eine
umgestülpte leere Konservenbüchse gekrochen. In diesem Blechhäuschen
saß der Gnom zwar trocken, aber der Regen trommelte so laut auf das
Blechdach, daß Grünlein an Hübners Pauke erinnert wurde. Doch hörte er,
wie zwei Männer miteinander sprachen, von denen der eine sagte, daß
er noch heute mit seiner Flugmaschine nach Schlesien fliegen werde.
Ei, wie da das Grünlein aufhorchte! Es verließ augenblicklich seine
schützende Behausung und sah sich draußen um. Da erblickte es auch
alsbald die Flugmaschine, die wie eine riesige Libelle auf der nahen
Wiese lag. Grünlein machte sich an die Maschine heran, unbekümmert
darum, daß er kein Pilot war. Wenn aber einer nichts vom Fliegen
versteht, soll er nicht fliegen, sonst fliegt er. Das alberne Grünlein
verfiel nämlich auf den Gedanken, sich gerade mitten in den Propeller
hinein zu setzen. Als nun der Flieger ankurbelte und der Propeller zu
schnurren und sich zu drehen begann wie ein verrückt gewordenes Rad,
vergingen dem Gnomen Hören und Sehen; grün und blau wurde ihm vor
den Augen; der Magen drehte sich ihm um, und nicht eine Minute lang
vermochte er sich zu halten, da wurde er von dem Teufelsrad hinaus ins
Weltall geschleudert. Wenn Grünlein auf etwas Hartes gefallen wäre,
auf einen Granitstein, eine Eisenbetonwand oder gar auf einen Laib
Kommißbrot, so wäre es mit ihm aus gewesen. So aber fiel er auf etwas
Weiches, Warmes, Molliges. Ein Hund lag am Boden und schnarchte beim
Schlafen, und dem Hund fiel Grünlein aufs Fell.

Blitzschnell sprang das Tier auf und schimpfte rasend über die freche
Störung. Aber schon im dritten Satze schnappte er ab, stutzte und brach
dann in ein Gebell aus, das wie ein polterndes Lachen klang.

»Grünlein -- Grünlein, wo kommst du her?«

Grünlein erholte sich von seinem Schrecken und sah erstaunt, daß Wolf
neben ihm stand, Wolf aus der Mühle.

»Wolf -- Wolf, bist du es wirklich? Wie kommen auf einmal wir zwei
zusammen?«

»Ja, das weiß ich nicht. Ich schlief gerade mal ein bißchen, was in
diesem schrecklichen Lande selten genug vorkommt, da bist du plötzlich
wie ein Stein vom Himmel gefallen und hast mich auf den Buckel
getroffen.«

»Wolf -- geliebter, süßer Wolf!« sagte Grünlein außer sich in der
Freude des Wiedersehens, küßte den Wolf auf seine dicke, schwarze Nase,
kraute ihn hinter den Ohren, kraute ihn am Halse, kraute ihn unter den
Vorderbeinen, wo es der Wolf gern hat, weil er da »schlecht hinkann«,
und auch Wolf war sehr vergnügt.

»Wie kommst du nur hier nach Polen, lieber Wolf? Suchst du auch unseren
Herrn?«

Wolf schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin dienstlich hier. Ich bin eingezogen. Als Sanitätshund.
Herrn Scheibel, der mich doch schon einmal dressiert hatte, hat es
nicht ruhen lassen, bis wir zwei beim Militär waren. Da bin ich
umdressiert worden. Und Herr Scheibel ist auch umdressiert worden. Und
wir haben unsere Sache gut gemacht.«

»Wolf, sag' mir, steht unsere Mühle noch?«

»Nein, sie geht wieder. Wir haben einen neuen Mühlknecht.«

»Ach, so meine ich's nicht; ich frage, ob die Großmutter und der Junge
gesund sind und ob der Fuchsientopf noch steht.«

»Es war alles in Ordnung, als ich fortzog.«

»Ach, das ist schön! Ich habe sehr das Heimweh. Wie geht es dir, lieber
Wolf?«

»Hm. So so! Ich habe einem österreichischen Oberst das Leben gerettet;
dafür hat Herr Scheibel die Tapferkeitsmedaille gekriegt. Mir schickt
der Oberst aus Dankbarkeit jede Woche eine Liebeswurst. Die Wurst ißt
Herr Scheibel und ich krieg' die Pelle. Das nennt sich Gerechtigkeit im
Krieg.«

»Hast du schon viele Soldaten gerettet?«

»O, ganze Regimenter.«

Grünlein sah den Wolf ehrfürchtig an.

»Wie ist das schön für dich, daß du dich so verdienstlich machen
kannst. Ich kann leider gar nichts tun. Wie fängst du es eigentlich an?«

»Schnüffeln, Grünlein, -- schnüffeln ist die Hauptsache. Auf tausend
Meter riechen: da liegt einer! Das ist natürlich schwer, da muß einer
Genie haben. Alles Genie sitzt in der Nase. Und dann einen Mordsmut
haben und ruhig bleiben! Ich schabe mir das Fell jetzt mit Vorliebe auf
Feldern, wo Granaten einschlagen, um meine Flöhe furchtsam zu machen.
Das ist auch so eine Ungerechtigkeit -- Entlausungsanstalten für die
Menschen haben sie, Entflohungsanstalten für uns nicht. Wir können uns
ruhig weiter scharren!«

»Wie macht Ihr Sanitätshunde es mit den Verwundeten?«

»O, wir reißen ihnen die Achselklappe ab, tragen sie zu dem Führer und
sagen so dem Mann: da ist etwas los!«

»Du bist wohl ein sehr berühmter Sanitätshund?«

Wolf hob die Nase hoch.

»Grünlein, ich werd' dir was sagen, was aber nicht in die
Öffentlichkeit kommen darf. Der Kaiser hat einmal eine große
Hundeparade abgenommen und an mich eine belobigende Ansprache gehalten
und den Hindenburg haben einmal die Russen gefangen gehabt; da habe ich
ihn aus zwei Divisionen ganz allein herausgebissen.«

Jetzt merkte das Grünlein, daß der vierbeinige Kriegsheld anfing
aufzuschneiden. Es hörte nur mit peinlichen Gefühlen den weiteren
Berichten des Wolfes zu, unter denen auch die Behauptung war, Wolf habe
dem Großfürsten Nikolai die Gurgel durchgebissen und dem Zaren den
Hosenboden zerfetzt.

Darauf sagte der Hund, Grünlein möge nur entschuldigen, er müsse jetzt
wieder schlafen, und sie könnten ja nachher weiterplaudern. Wolf
schlief ein, und Grünlein war es zufrieden, setzte sich zu ihm und war
selig, jemand aus der Heimat getroffen zu haben, und wenn es auch bloß
der Wolf war.

Ein Feldlazarett war in der Nähe. Sanitätssoldaten trugen bleiche
Verwundete vorbei, Hunde traben neben den Bahren, und ob es gleich
todernste Bilder waren, es war immer der Trost dabei: da ist wieder
einer, den brüderliche Barmherzigkeit dem Tode streitig machen will, da
kommt wieder einer aus der harten Schlacht in die Pflege weicher Hände.

Ein Schäferhund, der vorbeikam, blieb bei Wolf stehen und sagte
verächtlich:

»Das Faultier schläft wieder.«

»O bitte,« sagte das Grünlein, »er hat schon ganzen Regimentern das
Leben gerettet, vom Kaiser und vom Hindenburg gar nicht zu reden.«

Der Schäferhund schüttelte sich vor Vergnügen.

»Kleiner, dummer Junge,« sagte er, »dieser Wolf ist der gefräßigste und
faulste Kerl aus unserem ganzen Korps. Wenn das so weitergeht, kommt er
noch in die zweite Klasse des Sanitätshundestandes.«

Darüber betrübte sich Grünlein, aber er hatte schon immer gehört, daß
die Schäferhunde hochmütig seien und sich für die Elitetruppe unter der
Hundearmee hielten, und da war die schnarchige Rede erklärlich.

Es wurde Nacht. Vom dunklen Waldrand drüben erscholl heiseres Geheul.
Da erwachte Wolf und sagte leise:

»Komm, Grünlein, wir wollen hier fortgehen. Dort drüben heult ein Wolf.«

»Du bist ja auch ein Wolf,« sagte Grünlein, »geh' hin, unterhalte dich
mit ihm, vielleicht kannst du etwas erfahren, was nützlich für uns ist.
Du mußt doch seine Sprache verstehen. Was singt er eigentlich für ein
rauhes Lied in die Nacht hinein?«

»Ein Freßlied. Aber ich verstehe ihn nicht recht, er spricht einen
anderen Dialekt als ich, und ich will mit ihm nichts zu tun haben.«

Daß er von einer gutmütigen Hundemutter in Warmbrunn in Schlesien
geboren worden war, hat dieser stolze Urwäldler nie zugegeben.

Herr Scheibel kam. Er trug seine Sanitätstracht und schimpfte den Wolf
aus, der ihm wieder durch die Lappen gegangen sei. Den Gnomen sah er
nicht. Aber Grünlein erkannte ihn, und sein Herz schlug vor Freude, daß
er einen Menschen aus der Heimat gefunden habe, und wenn es auch nur
Herr Scheibel war, der immer ein knurriger Mann gewesen und nichts von
Grünlein wußte.

Grünlein ritt auf dem Rücken des Hundes, wie er zu Hause, wenn sie mit
Hubert spielten, unzählige Male getan hatte. So ging es in die Nacht
hinein. Da sagte Herr Scheibel:

»Sei froh, Wolf, daß ich dich wieder übernommen habe; denn dein Herr,
der Müller, ist heute gefallen.«

Ein todweher Seufzer stieß durch die Nachtluft wie eine dünne
schmerzliche Melodie, und Scheibel sah verwundert auf. Der Hund aber
warf sich auf die Erde, fing an zu heulen und zu winseln und legte den
Kopf auf die Vorderpfoten. Scheibel klopfte ihn auf den Rücken.

»Na, ja, Wolf, das ist nicht anders. Es ist eben Krieg. Ob der Müller
tot ist oder ob er den Russen verwundet in die Hände gefallen ist, weiß
niemand. Vermißt ist er, und man hat ihn fallen sehen.«

War das eine traurige Reise durch die Nacht!

Nun war alles aus; Glück und Freude war gestorben und die Hoffnung
zunichte. Jetzt würde die Mühle verkauft werden müssen, die alte
Großmutter und der Junge mußten in die Fremde wandern, und wenn
Grünlein nach Hause kam, würden wohl die alten Berge noch stehen und
das Mühlrad würde vom rauschenden Bach gedreht werden wie einst, in der
Mühle aber würden fremde Leute wohnen, und das Grünlein war heimatlos.

Dunkel lag der Himmel über dem Verbandplatz. Ärzte und Pfleger waren in
rastloser Tätigkeit. Laternen huschten hin und her. Manchmal schrillte
ein wilder Wehschrei auf; wunde Menschen stöhnten, klagten und schrien
nach der Heimat. Ein ganz junger, blasser Feldgeistlicher ging durch
die Reihen. Seine Augen waren sehend. Er sah mit Rosen und Lorbeer
bekränzte Seelen hinauf zum Himmel ziehen. Noch krachten die Granaten,
noch platzten die Schrapnelle in der Luft; aber die Seele, die den
armen feldgrau gekleideten Leib verlassen hatte, ging das alles nichts
mehr an. Sie war jenseits von Schmerz und Tod; sie zog zu dem ewigen
König, der keine einzige Kanone und kein Schlachtmesser hat und doch
der Herr aller ist. Feuer brannten auf der Erde, stille Feuer, an denen
Soldaten ihr karges Mahl kochten, wilde Feuer, die die Heimstätten
armer Menschen verbrannten, grausame Feuer des Todes aus Mörsern und
Schlünden. Die befreite Seele sah all dieses trübe Erdenlicht nicht
mehr. Sie schwebte darüber hinaus ewigen Lichtern zu, goldenen Sonnen,
die ihre funkelnden Flammenleiber im blauen Äther drehten, Sternen,
die tausendmal größer waren als dieses arme Kügelchen Erde, in das die
Menschen sich nicht friedlich teilen können, um deren winziger Maße
willen die für die Ewigkeit Geborenen sich ans Leben gehen.

O, alle, die leben, die weiter kämpfen und streiten, überwinden
den Feind; aber die, die gestorben sind, denen das Schwert aus der
erkalteten Hand sinkt, überwanden die Welt.

Gönnt ihnen den Sieg, den einzigen, der nach Millionen Jahren noch
gelten wird!

So dachte der junge Feldgeistliche, spendete Trost und drückte müde
Augen zu.

                   *       *       *       *       *

In der Nacht wurde es still. Hinter einem dichten Wald begruben die
Russen ihre vielen Toten. Am Tage war um diesen Wald auf schmalen
Wegen, zwischen verwachsenen Hecken und tiefen Grabenrändern auf Tod
und Leben gestritten worden.

Ein Pope hob das doppelbalkige Kreuz über die Gräber; eine schwermütige
Slawenweise summte um die Totenstätten.

Abseits wurde den Deutschen die Grube gescharrt. Wilde Gesellen
vom Ural und von den Eisküsten des Stillen Ozeans trugen Söhne des
lieblichen Thüringens, Schlesier und Rheinländer zu Grabe.

Am Waldrande lag der Müller. Der schaute mit der letzten Kraft
seiner Augen diesem Ende entgegen. Ein paar wüste Kerle näherten
sich ihm mit eiligen Totengräberschritten. Schon tastete einer nach
dem leblos liegenden Müller, da sprang ihm ein graues Tier an die
Gurgel. Mit einem Schrei liefen die Kerle davon. Sie gehörten zu einem
abergläubischen Stamm, der den Wolf als etwas Göttliches verehrt.

Wolf, der Mühlhund, aber beleckte leise winselnd seinen Herrn, und das
Grünlein küßte ihm die Augen und war außer sich vor Schmerz und Freude.

Die Russen löschten Feuer und Lichter. Lautlos lag die Waldwiese; nur
manchmal kroch irgendwo eine dunkle Gestalt.

In gelbem, zornigem Licht schillerten die Augen des Wolfes, der bei
seinem Herrn Wache hielt. Da gab im Morgengrauen ein Soldat einen
Schuß auf diese Lichter ab; das Tier brach stöhnend zusammen. Grünlein
weinte, als es sah, daß nun auch Wolf verwundet war. So saß er zwischen
dem Herrn und dem Hunde und horchte an der Brust des Müllers und
horchte am Fell des Tieres, ob die treuen Herzen noch schlügen.

Gegen Sonnenaufgang stürmte deutsche Infanterie durch den Wald; die
Russen wichen nach kurzem Kampf zurück. Der Müller und der Hund wurden
gefunden, das Grünlein aber sah niemand.

Als der Müller auf eine Tragbahre gebettet worden war, sah einer nach
dem Hunde und sagte: »Das rechte Hinterbein ist ihm zerschmettert; am
besten ist's, er bekommt den Gnadenschuß.«

»Wolf, spring auf! Wolf, lauf fort!« rief das Grünlein in höchster
Angst.

Da erhob sich Wolf, humpelte auf drei Beinen nach der Bahre hin und
leckte seinem Herrn die herabhängende Hand zum Abschied für immer.

Der Müller schlug die Augen auf, sah den Hund und sprach:

»Wolf, lieber Wolf, du hast mich gerettet.«

Und zu den anderen sagte er:

»Es ist mein eigener Hund aus der Heimat.«

Da nahm ein starker Soldat Wolf auf den Arm und trug ihn hinter dem
Müller her zum Verbandsplatz. Grünlein saß mit auf der Bahre und gab
acht, daß es den beiden Verwundeten gut ergehe. Auf dem Verbandsplatz
war ein Tierarzt anwesend, der sich des vierbeinigen Patienten annahm,
und durch den Befehl eines gütigen Vorgesetzten und andere günstige
Umstände geschah es, daß der Hund mit dem Müller in ein Lazarett kam,
wo er eine Abteilung für sich bildete, da andere Tiere in diesem
Lazarett nicht gepflegt wurden.

Daß Grünlein mit in das Lazarett zog, versteht sich von selbst. Er
schlief immer abwechselnd eine Nacht bei dem Müller im Bett und eine
Nacht bei Wolf im Hundekorbe.

                   *       *       *       *       *

Weihnachten kam.

In diesem Jahre, sagte der Tod, sollen meine Kinder eine ordentliche
Bescherung haben. Im wilden Karpathengebirge stellte er Millionen
Weihnachtsbäume auf und legte hunderttausend Soldaten darunter:
Österreicher, Deutsche, Ungarn, Polen und Russen ohne Zahl. Mit diesen
bunten Soldaten spielten die Kinder des Todes und packten sie in große
Schachteln.

Um diese Zeit war der Müller im Lazarett. Großmutter und Hubert
schrieben jammernde Briefe, daß der Müller am heiligen Fest so weit
weg von ihnen im Hause der Schmerzen sein müsse; aber der Müller
antwortete: »Klagt nicht, Gott hat uns reich beschenkt; er hat mir das
Leben beschert. Und ich bin nicht allein; Wolf und das Grünlein sind
bei mir.«

Da hatte die Großmutter geantwortet, sie sei schon zufrieden, da er
doch gerettet sei. Einmal habe sie ein Jucken im Munde gehabt, da habe
Hubert behauptet, jetzt wüchsen ihr ein paar neue Zähne, daß sie noch
ein bißchen zu leben habe, wenn jetzt die bessere Zeit käme.

                   *       *       *       *       *

Im Februar stiegen der Müller, der Hund und das Grünlein auf der
Endstation der Riesengebirgsbahn aus dem Zug. Sie hatten Heimatsurlaub.

Grünlein war immer leicht zum Weinen geneigt; denn er war ein
weichmütiges Kerlchen; aber so heftig hatte er doch noch nie
geschluchzt wie jetzt, da er aus dem Kriege kam und die heimatlichen
Berge wiedersah.

Hoch ragte die weiße Riesenkoppe auf; der diamantene Gebirgskamm zog
viele Meilen weit in den blauen Himmel hinein, die Wälder standen im
Silberkleid.

Ein Rößlein klingelte mit dem kleinen Schlitten den Bergweg hinauf. Der
Kutscher auf dem Bock sprach die traute Sprache der Heimat. Auf dem
Hintersitz saß links der Müller, rechts auf dem Ehrenplatz der Wolf
und zwischen beiden das Grünlein, das ein bißchen fror vor Kälte und
Erregung. Abgeholt waren sie nicht worden; denn sie hatten sich nicht
angemeldet.

Friedlich läutete das Rößlein, die Häuser lagen hingeduckt in den
Schnee, blauer Rauch stieg aus den Schornsteinen, tiefe Stille war im
hohen Wald.

Wer hätte hier ahnen sollen, daß in der Welt Krieg sei? Als sie ins
Heimatsdorf kamen, ging die Fahrt langsam vonstatten. Fast vor jedem
Haus mußte der Schlitten halten, weil Leute herausgestürzt kamen, die
dem Müller die Hand schütteln und ein paar Worte mit ihm sprechen
wollten.

Ach, was wird nur die Großmutter sagen, was wird nur der kleine Hubert
sagen?

Sie sagten nicht viel. Als der Schlitten vor der Mühle hielt, sahen
zwei junge und zwei alte Augen in seligem Erschrecken zum Fenster
heraus, und als sie herauskamen, warf sich der Junge in den Schnee
und schlug in leidenschaftlicher Freude mit Armen und Beinen; die
Großmutter aber faltete die welken Hände über der Brust und fing an zu
beten.

Der Müller legte die Hand über die Augen. Der Kutscher nahm die Mütze
ab.

                   *       *       *       *       *

Dann faßte der Müller seinen Jungen an der Hand und sagte:

»Hubert, es ist schwer draußen; aber die Heimat ist so schön, und was
drin lebt, ist so lieb, daß es sich lohnt, zu leiden und zu sterben.«

Darauf gingen sie in die große warme Stube. Sie saßen um den Tisch
und hielten sich an den Händen. Die Heimatsberge schauten zum Fenster
herein; Wolf schmiegte den Kopf an den Rock der Großmutter; Grünlein
aber war in den Fuchsienstrauch geklettert und schüttelte ihn, daß alle
seine roten Glocken läuteten.


Fußnoten:

[1] Kleines Bukett.

[2] Zobtenberg, ein in einem großen Teile der Provinz sichtbarer, weil
aus der Ebene steil emporsteigender Bergkegel zwischen Breslau und dem
Eulengebirge, der als Wahrzeichen Schlesiens gilt.

[3] Ungefähr »alte Gans«.

[4] Pfeffermännchen; die Schneekoppe ist 1600, der Zobtenberg 700 +m+
hoch.

[5] Salzbrunner.

[6] Pack.

[7] Hohes Rad, Riesengebirge.

[8] Große und kleine Sturmhaube, Riesengebirge.

[9] Hügel in der Nähe des Zobtens.

[10] Haufen.

[11] ordinären.

[12] Rausch.

[13] Frauenzimmer.

[14] Tölpel.

[15] Ochsen- oder Sünderbank.

[16] Glatzer Nazchen.

[17] Vorn bist du preußisch, hinten böhmisch.

[18] Veilchenstein, Kuppe des Riesengebirgskammes.

[19] Waldenburger Berge.

[20] totschießen.

[21] In Schlesien.

[22] Burschen und Mädchen.

[23] schlafen.





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS KÖNIGLICHE SEMINARTHEATER — ALTENRODA — GRÜNLEIN ***


    

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