Berge Meere und Giganten

By Alfred Döblin

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Title: Berge Meere und Giganten

Author: Alfred Döblin

Release date: April 12, 2025 [eBook #75838]

Language: German

Original publication: Berlin: S. Fischer, 1924

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BERGE MEERE UND GIGANTEN ***





                                 Berge
                           Meere und Giganten


                                 Roman

                                  von
                             Alfred Döblin


                                  1924
                      S. Fischer / Verlag / Berlin


                       Sechste bis neunte Auflage

       Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
           Copyright 1924 by S. Fischer, Verlag A.-G., Berlin




                               Zueignung


Was tue ich, wenn ich von dir spreche. Ich habe das Gefühl, als dürfte
ich kein Wort von dir verlauten lassen, ja, nicht zu deutlich an dich
denken. Ich nenne dich „du“, als wärst du ein Wesen, Tier Pflanze Stein
wie ich. Da sehe ich schon meine Hilflosigkeit und daß jedes Wort
vergebens ist. Ich will nicht wagen euch nahe zu treten, ihr Ungeheuren,
Ungeheuer, die mich auf die Welt getragen haben, dahin, wo ich bin und
wie ich bin. Ich bin nur eine Karte, die auf dem Wasser schwimmt. Ihr
Tausendnamigen Namenlosen hebt mich, bewegt mich, tragt mich, zerreibt
mich.

Ich habe schon Vieles geschrieben. Nur herumgegangen bin ich um euch.
Mit Angst habe ich mich vor euch entfernt. In meiner Demut vor euch war
Angst vor Lähmung und Betäubung. Immer habe ich euch, ich gestehe es,
als Schreckliches in einem dunklen Winkel des Herzens gehabt. Da hatte
ich euch verborgen, hielt die Türe zu.

Jetzt spreche ich – ich will nicht du und ihr sagen – von ihm, dem
Tausendfuß Tausendarm Tausendkopf. Dem, was schwirrender Wind ist. Was
im Feuer brennt, dem Züngelnden Heißen Bläulichen Weißen Roten. Was kalt
und warm ist, blitzt, Wolken häuft, Wasser heruntergießt, magnetisch
hin- und herschleicht. Was sich in Tieren sammelt, in ihnen die
Schlitzaugen nach rechts und links bewegt auf ein Reh, daß sie springen
schnappen, die Kiefern öffnen und schließen. Von dem, was dem Reh Furcht
macht. Von seinem Blut, das fließt und das das andere Tier trinkt. Von
dem Tausendwesen, das in den Stoffen Steinen Gasen haucht, raucht, sich
löst, verbindet, verweht. Immer neuer Hauch und Rauch. Immer neues
Prasseln Verschmelzen Verwehen.

Jede Minute eine Veränderung. Hier wo ich schreibe, auf dem Papier, in
der fließenden Tinte, in dem Tageslicht, das auf das weiße knisternde
Papier fällt. Wie sich das Papier biegt, Falten wirft unter der Feder.
Wie die Feder sich biegt, streckt. Meine führende Hand wandert von links
nach rechts, nach links vom Zeilenende zurück. Ich spüre am Finger den
Halter: das sind Nerven, sie sind vom Blut umspült. Das Blut läuft durch
den Finger, durch alle Finger, durch die Hand, beide Hände, die Arme,
die Brust, den ganzen Körper, seine Haut Muskeln Eingeweide, in alle
Flächen Ecken Nischen. So viel Veränderung in diesem hier. Und ich bin
nur ein Einzelnes, ein winziges Stück Raum. Auf meinem Tisch, dem weißen
Tuch verwelken drei gelbe Tulpen, jedes Blatt daran unübersehbar reich.
Daneben grüne Blätter von Weißdorn Rotdorn. Unten auf dem Rasen
Stiefmütterchen Vergißmeinnicht Veilchen. Es ist Mai. Ich habe nicht
gezählt, wie viele Bäume Blumen Gräser in den Anlagen stehen. An jedem
Blatt Stengel Wurzelschaft geschieht sekundlich etwas.

Da arbeitet das Tausendnamige. Da ist es.

Singen der Drosseln, Rasseln Schmettern der Schienen: da ist es.

Stille, mit einer Bewegung gefüllt, die ich nicht höre, von der ich doch
weiß, daß sie abläuft: da ist es. Das Tausendnamige. Sich unaufhörlich
Wälzende Drehende Aufsteigende Zurückfallende sich Kreuzende.

Ich gehe auf dem weichen wippenden Boden am flachen Ende des
Schlachtensees. Drüben die Tische Stühle der Alten Fischerhütte, Dunst
über dem Wasser und Schilf. Am Boden der Luft gehe ich. Eingeschlossen
in diesem Augenblick mit Myriaden Dingen an dieser Ecke der Welt. Wir
sind zusammen diese Welt: weicher Boden Schilf See Stühle Tische der
Fischerhütte, Karpfen im Wasser, Mücken darüber, Vögel in den Gärten der
Villen von Zehlendorf, Kuckucksruf Gräser Sand Sonnenlicht Wolken Angler
Angelrute Leinen Haken Köder Kindergesang Wärme elektrische Spannung der
Luft. Wie blendend tobt oben die Sonne. Wer ist das. Welche Masse Sterne
toben neben ihr, ich seh’ sie nicht.

Die dunkle rollende tosende Gewalt. Ihr dunklen rasenden, ineinander
verschränkten, ihr sanften wonnigen kaum ausdenkbar schönen, kaum
ertragbar schweren nicht anhaltenden Gewalten. Zitternder greifender
flirrender Tausendfuß Tausendgeist Tausendkopf.

Was habt ihr mit mir vor. Was bin ich in euch. Ich muß sprechen von
euch, was ich fühle. Denn wer weiß wie lange ich noch lebe.

Ich will nicht aus diesem Leben gegangen sein, ohne daß sich meine Kehle
geöffnet hat für das, was ich oft mit Schrecken, jetzt stille,
lauschend, ahnend empfinde.




                              Erstes Buch.

                       Die westlichen Kontinente


Es lebte niemand mehr von denen, die den Krieg überstanden hatten, den
man den Weltkrieg nannte. In die Gräber gestürzt waren die jungen
Männer, die aus den Schlachten zurückkehrten, die Häuser übernahmen,
welche die Toten hinterlassen hatten, in ihren Wagen fuhren, in ihren
Ämtern dienten, den Sieg ausnutzten, die Niederlage überstanden. In die
Gräber gestürzt die jungen Mädchen, die so schlank und blank über die
Straßen gingen, als wäre nie ein Krieg zwischen Männern in Europa
gewesen. In die Gräber gestürzt die Kinder dieser Männer und dieser
Frauen, die heranwuchsen, an den Häusern bauten, die sie übernommen
hatten, die Fabriken bevölkerten, die die Toten errichtet und stehen
gelassen hatten.

Geschlecht um Geschlecht war wie von einer langsam rutschenden Wand
umgelegt worden. Sie begaben sich in die dunklen Wohnungen, die die
Elemente bereiteten. Hinter ihnen wurden schon die neuen Geschlechter
emporgehoben, fluteten aus geöffneten Schleusen über die verlassene
Welt.

Immer waren wieder blanke junge Mädchen da. Junge Männer mit glänzendem
zurückgekämmtem Haar, lebhaften Augen, frischen Mündern und Backen, die
gern lächelten. In den Alleen Alte an Stöcken mit abwesenden Blicken,
und winzige Geschöpfe in weißem Leinenzeug, die mit schrumpfligen
Fingerchen sich vor das blinzelnde rosige Gesicht griffen. Am Himmel
bewegte sich das stille blitzende Licht, das morgens erschien und abends
unterging. Die Erde drehte sich in Tag und Nacht. Trug Erdteile Meere
Gebirge Flüsse mit sich. Gab von Jahr zu Jahr neuen Sommer und Winter
von sich. Wälder wurden von ihr hochgewälzt; sie stürzten ein; sie trieb
neue auf. Schmetterlinge hauchte sie für ein paar Tage hin. Fische
Landtiere Vögel Ameisen Käfer Schnecken wuchsen und zerfielen.

Die Menschen der westlichen Völker hinterließen ihren Nachkommen das
Eisen die Maschinen, Elektrizität, die unsichtbaren stark wirkenden
Strahlungen, die Berechnung zahlloser Naturkräfte. Man hatte Apparate
von ungeheurer Macht. Wie die neuen Menschen ins Leben traten, jubelten
sie über die Aufgabe, die vor ihnen lag. Es war ihnen gleich, daß ihnen
der Weg vorgezeichnet war; sie und dieser Weg konnten sich nicht
trennen. Diese Maschinen, Apparate, für die die glanzvollsten reichsten
Lehrstätten gegründet wurden, die die anderen Wissenschaften verdrängt
und banal gemacht hatten, unernst und ärmlich, wurden Saugapparate, die
von Jahrhundert zu Jahrhundert, zuletzt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
intensivere Kraft entfalteten.

Wie die Apparate und Einrichtungen da standen, sprühend an Vermögen,
wurden die Menschen gedrängt, sie über die Länder zu führen. Die
Erfindungen waren Zauberwesen, die ihnen aus den Händen glitten und sie
hinter sich herzogen. Die Menschen fühlten, es war ihr Wille, der vor
ihnen flog.

Um Europa und Amerika lagen die Länder, denen man die Macht der Apparate
zeigen mußte, wie ein Liebhaber seine süße Geliebte strahlend über die
Straßen führt. Jeder bewundernde Blick fährt ihm wonnig ins Herz; er
geht neben ihr, ihren Arm haltend, die ihn verschämt anblickt, blickt
stolz nach allen Seiten. Sie drangen in die östlichen und südlichen
Kontinente ein. Die Winde der Atmosphäre flossen um die Erdkugel,
strömten von wärmerer nach kälterer Erde, stiegen auf, flossen oben ab.
Sie wehten, die heiße Zone verlassend, nach Süden und Norden hin; die
drehende Erde bog sie zur Seite. Gewaltig die Meeresströmungen, die das
gleichmäßige Wasser durchdrangen. Von regelmäßigen breiten Furchungen
waren die küstennahen Meere durchzogen, den Strandlinien parallel:
Wellen in ungeheurer Bewegung setzten an, unablässig aus der Ferne
nachdrängend; einförmig ihr Weg; sie schmetterten gegen den Strand. Den
Apparaten der Menschen war nicht vorgeschrieben, wohin sie sich zu
wenden hatten. Die fliegenden Menschen durchzuckten jede warme und kalte
Luft, mochte sie über dem Boden östlich oder westlich schwimmen, oder in
dem Kalmengürtel sich langsam über dem tropischen Boden erheben.
Ölschiffe Unterwasserboote sausten fegten durch jedes Wasser; wie ein
Messer in der Hand des Chirurgen, das das Gefäß umschneidet
überschneidet. Die Menschen drangen in die weiträumigen Landschaften
ein, Gebirge und Tiefebenen, heiße und kalte Gegenden tragend, die Asien
heißen. Die schweifenden fellbekleideten Wogulen Ostjaken Jakuten
Tungusen wichen von ihnen erschreckt und höhnisch ab. Die gelben Völker,
Chinesen Japaner, wehrten sich nicht, aber nahmen ihnen die Apparate aus
der Hand.

Auf Afrika richteten die blassen eisengetriebenen Männer und Frauen ihre
Augen. Der uralte noch immer traumverlorene Erdteil. Über die blaugrüne
Fläche des Mittelmeeres fuhren von Norden her wie Geschosse die Schiffe
der weißen Völker. Die Randgebirge überflogen die leichten Menschen.
Siebzig Breitengrade überdeckte der plumpe Erdkoloß.

Am Mittelmeer lagen die Reste der kleinen arabischen Siedlungen, noch
von Räubern Entarteten Ungezähmten bewohnt, die Zufluchtsstätte der
nordischen Verbrecher, Kampfzentra gegen die erdumspannende Gesellschaft
und ihre knebelnde Sicherheit, auch Schmarotzerherde, wie Polizisten und
Richter die Blößen der Gesellschaft erspähend, um sie auszubeuten. Sie
züngelten viperartig vor. Aus den Jammerlöchern um die Große Syrta, aus
Trabulus Lebda Masrata, die verfallen waren wie altbabylonische und
ägyptische Städte, stiegen die zahllosen Männer und Frauen, die während
vieler Jahrzehnte den europäischen Stier stichelten und quälten. Über
sie brausten die weißen Männer und Frauen in kleinen fliegenden
Apparaten weg, über die Randgebirge in die heiße große Wüste.

Die Wüste, das mächtige Wesen, zog sich fünfzehn Breitengrade hin,
hinter den Bergketten von Marokko bis Tunis versteckt, von Mauretanien
und den Zugstraßen der braunen Tuaregs bis zu alten Weideplätzen der
berberischen Aulad Soliman. Sie streckte sich, von den Küstenterrassen
herwachsend, mit Ebenen Gebirgsstöcken Dünen grau und weiß unter der
Sonne aus, die fast gesichtsnah auf ihr lag. Kiesebenen und Steinwüsten
ließ sie wechseln. Der Wind zehrte an den nackten glühenden Hügeln,
zerrieb mit Sand die Felsen, die Hitze zersprengte zermürbte die Felsen.
Wirbelstürme arbeiteten wetzend. Langsam zerfielen die uralten Gebirge
der Erde. Aus der Masse des gelben und weißen Flugsandes stiegen
schwarze Hügel Klippen hervor. Neben den Steinplateaus der Hammada
al-Hamra lagen die niederbrechenden niedersinternden Trümmerfelder des
zernagten Serirs. Der Kalk trat zutage, der den schwarzen zerriebenen
Sandstein trug; in Dünen wurde alles zu Sand hingelegt. Tibesti das
wilde Gebirge, das im Süden zwei Breitengrade überdeckte; dunkelfarbige
Blöcke, massig aufeinander gestuft, kahl und nackt. Aus den senkrechten
Wänden rieselte stäubte unter dem saugenden Gluthauch der bläuliche
grüne weiße Kalkstein. Riesenwürfel bröckelten glitten langsam von den
skelettierten Bergen ab, die Hügel flachten sich ab, schoben sich zu
Steinflächen aus mit schwankenden Pfeilern und Säulen. Sechshundert öde
Kilometer von Ost nach West das Steinland, die Hammada al-Hamra; der
Boden gab sich nur dem Wind und der Sonne her; dünner Sand trieb über
ihn hin. Zweihundert tote Kilometer wogte das Land südwärts. Wasserlose
Ebenen nach Südosten hin. Dies war Fessan. In den kahlen Kalkebenen
zwischen den schwarzen Bergen des Tibesti wohnten die Tedas. Lebten mit
dem rasenden Wind, der in Wirbeln über die Platten ihres Landes strich,
unter den graugelben Sandhosen, die über den Ebenen hinschwebten.
Nadlige Tamariskenbüsche stiegen aus dem gedörrten Boden auf,
Sajalakazien, breitkronige Bäume. Selten quoll trübes Wasser zur
Oberfläche auf, zu den Disteln Dornbüschen Halfagras. In den zerstreuten
spärlichen Pflanzungen stand die Dattelpalme; tief ließ das schlanke
anmutige Pflanzengeschöpf seine saugenden Wurzeln in die feuchte
Bodenschicht hängen, wiegte auf dem hohen Stamm seine buschige Krone.
Die Tedas der Wüste hatten zierliche magere Leiber, dunkelgelblich ihre
Haut, die platte Nase hing herab, wulstig die Lippen, der falsche
lauernde Blick, nicht haftend wie der der Zwergvölker der Büsche. In
ihren dunklen Hemden, den dunklen Schal vor Mund und Nase, Ledersäckchen
mit Zauber an Turban Hals Arm zogen sie mit Kamelen von Brunnen zu
Brunnen. Kamelmilch und Datteln ihre Nahrung, die ihre Zähne zu braunen
Stummeln auflöste. Die Haut unter ihren Sohlen so hornig, daß sie über
Kiesel und heißes Schiefergestein laufen konnten. Gebleichte
Kamelknochen, die sie fanden, pulverten sie, rührten das Pulver mit
Blut, das sie einer Ader der Tiere entnahmen zu Teig; daran sättigten
sie ihren Leib. Die Lederringe an ihren Messern zerklöppelten sie mit
Steinen, kochten zerschnitten sie, sättigten sich. Nachts schwieg der
Sandwind. Wenn an dem tiefdunklen klaren Himmel glänzende Lichter
hervortraten, die große Mondkugel im silbernen Äther hoch schwebte,
erhoben sie sich stumm aus dem Felsschatten, ein Fatifa murmelnd,
wanderten stumm unverschleiert weiter. Tuaregs wuchsen wie sie auf den
Flächen der westlichen Wüste; magere mißtrauische Menschen mit
zweizinkigen kurzen Wurfeisen und Speeren.

Über den Wellen und Bergketten der Wüste erschienen die weißen
getriebenen Flieger. Von den Lagerplätzen der Nomaden trugen sie
ängstliche junge mit Gewalt mit sich fort, setzten sie nach Stunden
wieder bei ihrer hinstürzenden Horde aus. Die Tedaleute ließen sie bei
sich übernachten. Wie der Mond aber sein weißes Licht über die
Landschaft goß, lagen die bronzehäutigen Männer vor den Zelten der
Fremden, im Schatten, lüfteten lautlos die Wand, warfen Speere. Kaum
eine Handbreit flogen die ins Dunkle. Zum Entsetzen der sich
hinwerfenden Tedas prallten die eisernen Spitzen wie von einer Wand ab;
der lange vibrierende Stab rollte rückwärts. Wenn sich drin bei den
schlafenden Männern nichts rührte, schlichen überall geduckt verhüllte
Nomaden an die Lagerstätten der Fremden, Revolver in den Händen, die sie
von ihnen geschenkt erhalten hatten zu dem roten Tarbusch, dem
blauschwarzen Sudanhemd und Beinkleid, dem blauschwarzen Schal für Mund
und Nase. Je dichter sie an die Fremden herankamen, um so gewichtiger
wurden die Waffen in ihren Fingern. Sie mußten mit Gewalt die Revolver
vorwärtsdrängen, die sich vor der Annäherung an ihren früheren Besitzer
zu fürchten schienen. Wie aber der gespannte Hahn einschnappte und das
Pulver krachte, warf das Explosionsgas das Geschoß nur wenig im Rohr
vorwärts, dann drückte die Kugel rückwärts, das Rohr zersprang
knatternd, zerriß den Angreifern die Hände. Die Fremden standen ruhig
auf. Die kleinen Lederkästchen, die die eisenabstoßende Ladung
enthielten, schnallten sie fester über ihren Brüsten, verbanden die
Verwundeten, sprachen den Angreifern, die sich im Sand vor ihnen
vergruben, zu, und denen, die im schwarzen Tamariskenschatten im
Hinterhalt bewegungslos lagen.

Über Horden, die mit ihren Kamelen von versiegenden Brunnen zu
versiegenden Brunnen sich schlugen, senkten sich fliegende Fremde,
legten gefüllte Schläuche unter sie. Da kam Unruhe Ungeduld unter die
Stämme von der Großen Syrta bis zum Tsadsee. Mehr und mehr von den
Männern und den zierlichen Frauen blickten verlangend auf die weißen
fliegenden Menschen, verschwanden mit ihnen. Die Alten saßen an ihren
Lagerplätzen, in den Dattelpflanzungen, fühlten Grimm Haß Trauer
Ohnmacht. Stämme im südlichen Tibestigebirge ließen ihre Pflanzungen im
Stich, flohen in die Wüste bei der Annäherung der Weißen, zerrissen die
Schläuche, die ihnen die fremden Zauberer zuwarfen, schlugen sich, vom
Haß getragen, vorwärts. Das Abbröckeln unter der Verlockung der Europäer
war nicht zu verhindern. Fessan, die Hammada von Murzug, das westliche
Steinplateau der Wüste leerte sich von den dürren braunen Menschen, die
sie gezeugt hatte. Sie schwammen durch die Luft, dienten den weißen
Meistern, die Diener einer geheimnisvollen abenteuerlichen Weisheit,
eines Zauberwesens waren, das sich in der kalten feuchten Region
angesiedelt hatte. Die ernsten Wüstensöhne wurden in die warmen
Küstenlandschaften des Mittelmeers, nach Sizilien, Unteritalien, dem
Balkan, Spanien geworfen. Viele flohen nach Freiheit verlangend zurück,
verkamen, unfähig die alten Sitten zu lieben, die neuen anzunehmen, von
den einschmelzenden Resten ihrer Stämme geächtet.

Die Große Wüste dehnte sich unbewegt, stumm von den Küstenterrassen, mit
Steinflächen Kiesebenen Dünen und Hochplateaus, mit Natronseen grünen
Oasen über das heiße Festland bis zum Tsadsee, aus dem die Elefanten
soffen, an dem die Antilopen sprangen, Pelikane flogen.

Die Massen des Sudan wurden ergriffen, Wangela Aschanti Sokoto Fallata,
die vom Kongo Mantema Urua und südlich am Tanganika. Diesmal gab man
ihnen nicht bunte Stoffe Glasperlen, nahm ihnen Elfenbein Kautschuk. Die
Völker schmolzen nicht zusammen, als die Nordmänner und -frauen bei
ihnen erschienen. Es hatte die längste Zeit Buschvölker Akkahs Pygmäen
gegeben. Die kaffeebraunen Waldkobolde mit den tiefeingesenkten
verkniffenen Augen, den großen Rundköpfen, den affenartigen Fratzen, die
gehaßten scheuen Zwerge waren in Kürze von ihren Nachbarn, den Monbuttu,
ausgerottet; und wo sie auf der Wanderschaft erschienen, saß man hinter
ihnen her, tötete sie. Die gekrümmten Säbelmesser die Lanzen
Pfeilspitzen mit Blutrinnen, die Bogen aus Rohr fielen den dunklen
Männern zuerst aus der Hand. Es hatte keinen Sinn mit den alten Waffen
umzugehen, die Weißen boten stärkere, leicht handliche. Sie brachten
nicht nur die Waffen, sondern setzten sich unter die dunklen Männer und
Frauen, zeigten, wie man gefährliche Kräfte aus der Luft und Erde holt,
wie man sie steigern und anreichern kann. Auf nichts waren die Schwarz-
und Braunhäute so aus wie auf Gewinnung der neuen Geschosse Gase
Abwehrschilde und Masken. Und wie sie die Geschosse hatten und ihren
Nachbarn überlegen wurden, – die zuerst ergriffenen von der Guineaküste,
die von Joruba und Benin über die westlichen Aschantis, die
Mandingoleute über die von Futa Djallon und die Gebirgsvölker am oberen
Niger, die Makua von Mozambique über das Gasaland Matebelereich Lobise
Uamba Batonga – gaben sie, sich kriegerisch ansiedelnd, die Holzscheunen
die Rundhütten aus Lehm Akazienästen Strohdächern auf. Die eisernen
gläsernen rasch zerlegbaren Wohnungen der nördlichen Striche zogen
unwiderstehlich ein. Und die Menschen drängte es, zu wissen, wie man sie
baute, um neue zu bauen, die entfernten Stämme zu unterwerfen. An der
Westküste, am mittleren Niger, Tanganikasee, Senegal, wo feste
Negerstaaten entstanden, gingen die ersten Bergwerke in den
unerschlossenen Boden, getrieben von den kriegerischen Einheimischen.
Stämme über Stämme wurden ausgerottet. Immer kämpfte die lähmende reiche
Schönheit, üppige Fruchtbarkeit der Länder mit dem Ehrgeiz der Menschen,
hinter denen die Wunderapparate der Nordleute standen. Da entstanden die
ungeheuerlichen Reiche der Eingeborenen, wie die Gewächse des Landes
sich rapid ausbreitend, andere umschlingend und in sich
zusammenstürzend.

Und wie die Reiche stürzten sich befestigten, flogen und fuhren neue
stolze Scharen Weißer, die Erfinder Entdecker, Herren der Gewalten, ein,
gaben ihr Werk hin, schmolzen selbst unter den Farben und der Wärme des
Landes. Die Braunen Schwarzen Graubraunen aber wurden verlockt, an die
Quellen dieser Kräfte zu gehen; sie drängten nach Norden. Und es war ein
sonderbares Geschick, das damals die eisernen weißen Volksstämme traf:
ihre Fruchtbarkeit ließ nach. Während ihr Hirn zu immer glänzenderen
Taten vordrang, verdorrte die Wurzel. Gleichmäßig sanken im Laufe der
Jahrzehnte bei den europäischen Völkern die Kinderzahlen. Es war nicht
erkenntlich, ob es die Berührung mit den neugefundenen strahlen- und
gasförmigen Substanzen war, die dies verursachte, oder die Ernährung mit
den sehr erregenden reizenden künstlichen Mitteln, die neuen Rausch- und
Betäubungsstoffe. Um so fruchtbarer waren die lüstern an die strahlenden
Zentren drängenden Farbigen, die schweißdunstenden Männer und Frauen mit
den blitzenden und melancholischen Augen, die wie Dienende und
Unterworfene erschienen und in einigen Generationen alles überfluteten.

                   *       *       *       *       *

Wie Dämonenscharen durchzogen Einpeitscher die Kontinente Afrikas
Amerikas Europas. Das waren Männer und Frauen, die die Menschen reizten
mit Dingen, die sie ihnen boten, – reizten, versuchten, gegeneinander
stachelten. Die Menschen waren ein wachsendes Bündel, ein Sandhaufen von
Bedürfnissen, auf die die Einpeitscher neuen Sand bliesen. Durchzittert
von Spannungen wurden die Menschen wie erhitzte Luft über Feuer. Von
allen großen Stadtlandschaften nach allen Orten kamen Männer und Frauen,
beobachteten, trugen Dinge Freuden Schmeicheleien Wohliges Mildes heran.
Man sah die Wesen in den Städten und auf dem freieren Lande sich
verändern. Die Einpeitscher hatten das Spiel in der Hand, hatten die
Bewegung nur einzuleiten; dann drängten die Gehetzten schon, schrien
nach ihren Hieben. Die früheren Generationen hatten sich damit begnügt,
genährt gekleidet gewärmt mäßig unterhalten zu werden. Es war den
Menschen an den Apparaten klar, daß dies nicht genügte. Die westlichen
Menschen begehrten viel; es mußte ihnen noch mehr gegeben werden.

Nachrichten wurden verbreitet. Man hatte in den Stadtschaften kunstvolle
zauberhafte Apparate, die nach allen anderen Orten meldeten, womit sich
die Menschen hier befaßten, was sie zueinander sagten, wie sie ihre
Einrichtungen veränderten, was sich bei ihnen hervortat. Fernbilder
trugen die Gestalten der Menschen, der Gegenstände weiter. Ein Reiz, der
aufstand, war eine Feuersbrunst, die eben noch Funken einer Flamme,
jetzt das ganze Viertel, die Stadt einhüllte. In fernen Ländern, auf
Gebirgen, an wilden wassertosenden Strömen, auf tropischen
hitzeübergossenen tierwimmelnden Steppen saßen Menschen, Stämme, die in
sich ruhten. Zu ihnen fuhr der Reiz das Wort die Gestalt. Die Bilder
standen vor ihnen, traten immer wieder vor sie, rissen an ihnen. Daß sie
sich vom Wasser lösten, aus der einwiegenden Hitze drängten. Wie eine
Schaufel unter einen Steinhaufen, der am Boden liegt und bemoost ist,
drang die Erregung knirschend unter die Menschen, hob sie an, zerstreute
sie.

                   *       *       *       *       *

Die alten politischen Staaten bestanden noch dem Namen nach. Wie die
Hautfarben, die Gesichter arabisch ägyptisch negerhaft sich veränderten,
die Sprachen zu einem Kauderwelsch wurden, in dem sich nördliche und
südliche Zonen berührten, so verloren die Staaten ihren alten strengen
Charakter. Eine fast gleichförmige Menschenmasse bevölkerte das Gebiet
von Christiania bis Madrid und Konstantinopel. Wie im Sprachlichen so
überwog hier die, dort die Art.

Langsam war in zwei neuen Jahrhunderten der westliche Völkerkreis unter
das Imperium London-Neuyork gekommen. Das angelsächsische Imperium war
es, in dem sich die Ströme dunkler grauer schwarzer brauner weißer
Menschen miteinander langsam mischten. Dann zermorschten die politischen
Gewalten. Als die Apparate und Erfindungen sich häuften, wuchs der
allgemeine Reichtum. Eine Erleichterung, Abkürzung fast aller
Tätigkeiten trat ein. Zugleich zeigte sich die Gefahr dieser
Menschheitsperiode, deren Ungeheuerlichkeit sich erst nach weiteren
Jahrhunderten entfalten sollte. Man bedurfte nicht vieler Menschen für
die Apparate. Der Krieg früherer Zeiten ernährte sich selbst; jetzt
konnte man die Menschen nur in Bewegung erhalten durch immer neue
Erfindungen, die den Niederbruch alter Industrien, den Aufbau neuer mit
sich führten. In einer Erschlaffungsperiode, als man von den
Entdeckungen der vergangenen Jahrzehnte lebte und sie sich ungehindert
auswirken ließ, setzte die erste große, nicht lärmende Katastrophe ein.
Die Besitzer der Werke Erfindungen, denen die Reichtümer zuströmten,
streckten zuerst, um die Menschen festzuhalten, die Arbeiten, fügten
Zwischenarbeiten ein, ja legten wichtige Maschinen still, um Arbeit zu
schaffen. Sie entwickelten für Aufsicht, Berechnung eine ungeheure
völlig luxushafte Bureaukratie. Aber all diese krampfhaften ängstlichen
und hilflosen Maßnahmen genügten nicht. Die Betriebe wurden fast
erdrückt, aber noch stärker war der Zustrom der Menschen, die sich in
den Städten versammelten. Die Beherrscher der Apparate wußten nicht
mehr, wie sie den Schein der Arbeit aufrechterhalten sollten. Sie wußten
nicht, ob sie ihre technischen Gefährten und Wissenschaftler zu neuen
Erfindungen anspornen sollten oder nicht vielmehr selbst ihre Betriebe
demolieren. Mit Grauen sahen sie die Reichtümer auf sich zufließen; ein
sonderbares Schuldgefühl drängte sie, die Güter von sich abzulenken. Sie
kämpften entsetzt mit der Technik, die über sie hergewachsen war, und
mit den Menschen, deren Zahl und Furchtbarkeit wuchs. Es gab eine Zeit,
wo die Industrien erst selbständig, dann mit Hilfe des Staates ein
riesiges alle umspannendes System der Geld- und Warenverteilung
organisierten. Das waren die freiwillig von den Industrien abgeworfenen
Güter. Die Industrien ernährten den Staat, aber versteckten sich. Es
war, als wollten sie Entscheidungen aus dem Weg gehen und sich
loskaufen. Dann wuchsen sie in ihre Rolle hinein. Als Gelder und Waren
aus ihren Becken wegschwammen, fühlten sie, wer sie waren und was sie
hatten. Eine kleine Anzahl Industrieherren warf, unfähig die
Verantwortung zu tragen, die Werke dem Staat in die Hände. Die Mehrzahl
aber griff in die schon automatisch laufende Verteilungsmaschinerie. Mit
zwei drei Zügen kämmten sie ihre gewaltigen Anlagen fast menschenleer.
Sie wollten eine Regelung der Zuwanderung, selbständige Bestimmung über
die Verteilung der Güter. Da auch der Staat und die politische Regierung
nur durch sie lebte, wollten sie Macht über die Regierung. Während
Hungersnot Menschenflucht einsetzte, stapelten die Maschinenherren Geld
und Waren auf. Die Regierungen traten hervor. Sie wollten sich der
gefahrdrohenden fluktuierenden Massen annehmen. Diesen Augenblick hatten
die Industrien erwartet. Sie lehnten das alte Almosensystem ab. In allen
Staaten näherten sich die politischen Machthaber den Industrieherren.
Wie einen abgemagerten Fuchs hatten sie die Regierung aus ihrem Bau
aufgestöbert. Es gab, wie man sich offen, der Besitzende und der
Ausgehaltene, gegenüberstand, kein Halten mehr. Im Belgischen, in
Brüssel, wurde zuerst der Schlag geführt, der längst erwartet war. Im
Parlament erklärte zynisch ein Vertreter der Werkherren, den man geladen
hatte, er lehne es ab, zu verhandeln oder die sogenannt öffentlichen
Institutionen anzuerkennen. Dies Parlament sei vom sogenannten Volk
gewählt; er kenne nur Werkherren und ferner Arbeiter und Ausgehaltene.
Man möge den Ministern untersagen, vom öffentlichen Wohl zu reden; das
seien Dinge, von denen ein Minister nichts verstehe.

Am Tage drauf wurden die Minister dieses Landes beiseite geschleppt. Das
Heer war längst in der Hand der großen technischen industriellen
Gruppen. Es bestand, wie überall in Europa, aus jungen Menschen, die aus
den Fabriken Werkstätten stammten, in denen sie die Herstellung und
Bedienung ihrer Waffen erlernt hatten. Sie hatten nur Ehrfurcht vor den
Männern und Frauen in den Werken, faßten nicht, was die sogenannten
Politiker taten. Die Massen in den Städten rebellierten nicht; wurden
rasch beruhigt. Sie waren alle selbst innigst nur an die Maschinen
gebunden, verlangten Luxus Brot und freie Bahn für die Kräfte der
Maschinen. Die politischen Ministerien wurden zur Durchforschung ihrer
Arbeit von den technischen und Industriezentralen beschickt. Dann
wurden die Baulichkeiten für andere Zwecke verwandt. Die
Wohlfahrtseinrichtungen wurden der Arbeitsüberwachungs- und
Verteilungsstelle der großen Verbände angegliedert. Der Verkehr mit
anderen Staaten war schon vorher im angelsächsischen Imperium
vertrauliche Sache der großen Verbände.

Ungeheuer wirkte der in Belgien fast lautlos sich abspielende Vorgang
auf die Nachbarstaaten. Es verlief kein Jahrzehnt, da hatten freiwillig
oder unfreiwillig, zum Teil dem Druck Englands folgend, die politischen
Regierungen, die nur hemmende und dekorative Rudimente waren, den
Industriekörpern Platz gemacht. Scheinparlamente, bedeutungslose
ordnende Selbstverwaltungskörper liefen neben ihnen her. In den großen
Reservoirs der Menschen, den Stadtreichen Stadtschaften, bildeten sich
Senate, deren Hauptsitz die Menschen der Apparate einnahmen.

                   *       *       *       *       *

Die Stadtschaften lagen frei da. Aber unsichtbar umgab sich jede mit
einem System von Verteidigungsanlagen. Die Peripherie der unübersehbaren
Gebiete von Bergen und Niederungen Flüssen Seen Sümpfen, überrieselt wie
mit einer Zuckerglasur von flachen Häusern, kilometerlangen Werken,
dichten und lockeren Menschensiedelungen, war überall unscheinbar
umzogen mit Reihen von Masten aus Holz. Sie standen ohne Verbindung
miteinander im Gelände, glichen abgeästeten sehr hohen Pappeln. Sie
schienen Wegweiser zu sein, trugen Tafeln von Straßen, maskierten sich
als Telegraphenstangen. Im Innern waren die Masten hohl und als
Eingeweide trugen sie Bündel meterlanger zusammengebogener elastischer
Metalldrähte. Die Masten waren auf Granitplatten montiert, welche das
Endstück eines Kabels enthielten. Die Metalldrähte waren verschieden
geformt. Das Drahtbündel konnte durch eine Schalterbewegung in der Stadt
aus dem Mast heraus in die Höhe geschnellt werden. Wie ein lebendiges
Band konnte es sich steif in die Höhe strecken, und im Moment, wie es
aufrecht stand, warf es einen tötenden Wirbel von Strahlen um sich.

Die Stadtlandschaften hatten, was wenige wußten, Verteidigungswerke und
Abwehrgürtel schon in der Zeit vor dem Uralischen Krieg.

Die Beherrscher der stärksten Industrieanlagen und Riesenwerke hatten
sie in geheimer Gemeinschaft mit den Senaten angelegt, als die
einzelstaatliche Gewalt in dem europäisch-amerikanischen Völkerverband
erlosch und in Südamerika, in dem ehemaligen Griechenland, in Kapland
Südfrankreich, zuletzt in Dänemark militärische anarchische Gebilde
hochschossen. Die Rebellionsschläge ängstigten die Kontinente.

Mit Bangen erfuhr man von der geradezu höhnenden Leichtigkeit, mit der
der Franzose Bourdieu, ein einfacher Techniker, sich des
Mittelmeerzentrums Marseille bemächtigte. Im Nu waren Tausende, aus dem
Dunkel der Städte auftauchend, wie magisch gerufen um ihn versammelt
gewesen. Er hatte nichts getan als eine Anzahl krafterzeugender Fabriken
und Sammelstationen mit einer Handvoll trotzigen Gesindels besetzt. Aus
den Stoffen, die die Zeit lieferte, verstand er im Augenblick furchtbare
Abwehr- und Angriffswaffen zu schaffen, die herzustellen man bisher
keine Veranlassung gehabt hatte. Er gab das erste Beispiel
einer systematischen Störung der den Erdball umlaufenden
Verständigungsapparate. Schlag um Schlag hatte er nun, im geheimen
arbeitend, die Siedlungen und Wirtschaftsanlagen der Provence, ganz
Südfrankreichs bis vor Bordeaux besetzt. Vor Bordeaux kam der flinke
Mann durch seine eigenen Waffen um, indem er einen der Blitze, die seine
Maschinen erzeugen konnten und die Brand auf Kilometer in das getroffene
Objekt warfen, statt im Winkel nach oben tief auf den Boden richtete.
Der Blitz, ohne durch den schon abgesandten zweiten wolkenhochlaufenden
Strom nach unten reflektiert zu werden, funkelte breit vorwärts,
veraschte den blassen Bourdieu und eine Anzahl seiner Leute, die vor
seinem Lager schlenderten und in deren Rücken das heiße Ungetüm kam. Es
verlohte auseinander rauschend an einer Zypressenwaldung. Dies war bei
Begles in der Garonne. Der Kerntrupp Bourdieus ließ kostbare Zeit
verstreichen; das rückwärtige eroberte Land, aus dem Wirtschaftsverband
mit der übrigen Welt gerissen, lag wartend kritisierend lachend. Bis von
Marseille selber ein unbeobachteter Trupp junger Einwohner, die von
Kampfstimmung angesteckt waren, dazu eine Schar gemieteter
überfalldurstiger Marokkaner von der Küste aufbrach, die Fernsprüche und
Weisungen der Truppe Bourdieus täuschend aufnahm, die fünfhundert
Menschen, aus denen Bourdieus Korps bestand, zu einer bestimmten
Morgenstunde auf ein Feld südlich Begles lockte und während jene da
warteten, ihre Flammen-Wurf- und Verteidigungsmaschinen vernichteten,
sie selbst mit dem Rest der Apparate massakrierte. Der siegreiche Trupp,
der den Handstreich verübt hatte, kam aber nicht vollzählig in Marseille
an. Man hatte dort beim Anrücken der Schar vor ihr nicht weniger Furcht
wie vor dem beseitigten Bourdieu. Unterwegs kam die Weisung an den
Führer der Mannschaft, sich der Marokkaner, soweit sie in den Besitz
gewisser Geheimnisse oder gar Apparate gekommen seien, rasch und lautlos
zu entledigen. Er ließ sie nach einigen Tagen vor sich her die schöne
starkfließende Loire in sechs bewimpelten, freudig musikschmetternden
Schiffen in großem Abstand fahren. Während der Fahrt setzte er wie
Blutegel die kleinen Versenkerkasten unter der Wasserlinie an die
Schiffe an. So daß einem unwiderstehlichen Antrieb folgend Schiff auf
Schiff sich ins Wasser drängte, gezogen von den lautlos neben sie
geführten, rasend neben sie niedergehenden, dicht an sie geschmiegten
Unterwasserbooten, die sich mit Ketten Saugern Tastern an sie hängten.
Die leeren biegsamen gläsernen Gehäuse, abwärts gestoßen durch den
wütenden mit Hammergewalt einsetzenden Druck komprimierter Gase, der von
rückwärts auf ihre Deckplatten niederfuhr, zwängten im Nu die
Marokkanerschiffe unter den Wasserspiegel, ihre Kraft von Sekunde zu
Sekunde steigernd, angeklammert und die Umklammerung nicht loslassend,
bis Schiff und Boot, die aufgerissene weiß zusammenklatschende
Wasseroberfläche verlassend sturzartig auf den Grund des dunklen Stromes
stießen, verkrampft den Sand aufrührten, sich ruckweise warfen zuckten
strudelten. Die restliche Führerschaft sah ihr eigenes Schicksal voraus.
Sie riet den übrigen Truppen sich zu zerstreuen. Sie selbst erschienen
unaufgefordert einzeln auf den Hügeln vor Marseille, vernichteten im
Freien von Apparaten, was sie besaßen, vor den Augen des zugezogenen
Senats. Entgingen dadurch dem Tode, nicht aber dem Schicksal, in der
Stadt sogleich aus ihrem Arbeitsbereich gedrängt zu werden. Der Senat
war wachsam geworden.

Für einige Zeit war seit dieser Epoche jedes Zentrum der
afrikanisch-europäisch-amerikanischen Erde vor bestimmten Bedrohungen
sicher. Wenige feste, geheim gehaltene Hauptstellen für die Verteilung
der Energie hatte man überall eingerichtet. Man war immer im unklaren
darüber, ob man zu viel oder zu wenig Menschen mit dem Vorhandensein der
stärksten Kraftanhäufung vertraut machte. Man hatte keine Furcht mehr
wie in früheren Zeiten vor Fernbeschießungen Bomben- und Kanonenkugeln.
Die eisernen Geschosse konnten mit voller Wucht in die energiegeladene
Luft stürzen. Sie war verdichtet wie die Luft des Erdballs für den
Meteor, der aus dem dünnen Äther saust. Schon kilometerweit vor den
Städten verlangsamte sich unter dem entgegentosenden elektrischen Orkan
der Masten der Lauf des Geschosses, um zuletzt zerrieben, glühend
pulverförmig abzufallen. Die Schwäche dieser größten Anlagen bestand
darin, daß der Stromwirbel sich geradeaus pflanzte, mit einer Schicht
die Städte von oben her abschloß, aber in der Tiefe bis zur Häuserhöhe
kein weitreichender Dauerschutz möglich war. Denn diese ausgeworfene
Energie wirkte zerstörend und verbrennend auf alles was in seinen
Bereich fiel. Eine Sekunde nach Anschalten der Masten in Höhe der Häuser
wäre alles, Stein Holz Fleisch Metall in einen glühenden Brei verwandelt
verkohlt verkrümelt, als hätte sich Ätzlauge über die Stadt geworfen.

Von einer leisen, spielerisch abgelehnten, innerlich nie verhehlten
Furcht wurden seit den Rebellionen alle Länder und Kantone durchzittert,
es könnten im geheimen Menschen die Wissenschaft auf gefährliche Dinge
durchstudieren und zähere ernstere härtere Männer als Bourdieu möchten
darauf zu Entschlüssen kommen. Langsam bildete sich in den Städten eine
Herrenklasse heraus. Sie kannten alles; saßen über Zeichenbrettern
konstruierten standen vor Modellen arbeiteten mit Gasen erdigen Stoffen
in den Laboratorien. Aus ihnen stammten die Errichter der Anlagen und
Werke, Besitzer der Werke. Sie begannen, mit der Verbreitung bestimmter
Kenntnisse anzuhalten. Fremde, ihnen nicht Sichere mühten sich
vergeblich in den Spezialschulen Zugang zu gewinnen. Lächelnd wurden sie
mit alten Kenntnissen abgespeist, mit Teilarbeit beschäftigt. Der Besitz
der angeschwollenen gefahrvollen Kenntnisse konnte nicht allen gestattet
werden. Mathematik Ingenieurwissenschaft Chemie Elektrotechnik Biologie
Radiotechnik waren nur Ausgewählten gestattet, deren Zahl man von
Jahrzehnt zu Jahrzehnt verringerte. Diese standen unter strenger
Aufsicht. Die politischen Behörden übten die Aufsicht selbst aus. Mit
einem Geheimnis umgab man die theoretischen Wissenschaften. Man
zerstückelte die Disziplinen, um keinem, der nicht bestellt war, eine
Übersicht zu gestatten.

                   *       *       *       *       *

Es hatte eine Zeitlang den Anschein, als ob man zur Einführung der
Sklaverei schreiten würde. Das schwallartige Heranwogen unermeßlicher
Scharen Farbiger und Mischlinge aus den Ländern Afrikas, die sich mit
der Aufnahme der freigestellten Kenntnisse und Genüsse begnügten,
begünstigte die Neigung dazu. Bald kam es in spanischen und
italienischen Stadtlandschaften, die den wildesten Andrang der Massen zu
bewältigen hatten, die auch ein außerordentlich leidenschaftliches
unduldsames Herrengeschlecht erzeugten, zu Vorfällen, die zu einer
raschen Änderung in der Behandlung der Massen aufforderten. San
Francisco wie London rieten schon längst den Herren von Barcelona Madrid
Mailand Palermo zu größter Strenge und Aufmerksamkeit. Man könnte
Fremde, sagten sie, denen der Mondgottesdienst noch im Blut steckte, die
für einen Schluck kalten Biers ihre Habe und Arbeitskraft verkauften,
nicht behandeln wie Menschen nördlicher Herkunft. Die westliche und
nördliche Kultur war von ihnen aufzunehmen, nicht aber zu verschlucken.
Ungestüm und aufdrängend, wie die Abkömmlinge der Berber und Haussa
waren, waren sie geneigt im Grunde nichts zu achten.

Der wulstnackige schmerbäuchige Mailänder Ravano della Carceri, dessen
Großvater noch Elefanten mit schwarzen Sklaven gejagt hatte, hatte in
seinem Glaswerk den ersten von ihm provozierten Ausbruch der
Arbeitermassen nur erwartet. Er ließ, um ein warnendes Beispiel seinen
lauen Freunden in der Stadt zu geben, die Zügel schleifen. Man
zertrümmerte, als er zwei Mulatten niederschoß, seinen Direktionssitz im
Stadtzentrum. Er tat, als ob er erschreckt floh und alles im Stich ließ.
Er hatte noch Zeit, unter Hohn die Verflutung seiner Werke mit dem
erhitzten Volk zu beobachten. Die Revolte blieb in den Anfängen stecken.
Bei dem Getümmel der Leute Carceris wurden die angegliederten Werke
Sanudos und Horzis unruhig; dann die angrenzenden in der Landschaft
Pisa. Fremdenviertel wurden alarmiert, die Massen wogten durcheinander,
sie sangen ihre Heimatlieder, Landsmannschaften gliederten sich, in
alberner Erregtheit rief man Frauen und Kinder. Das strahlte ahnungslos
festlich. Glücklich sahen sie zu den endlosen niedrigen zauberhaften
Werkfronten auf, die sie einst bestaunt hatten, an denen sie furchtsam
wie unter Dämonenblicken gekrochen waren; dort liefen jetzt auf dem Dach
schwarze Plattgesichter, machten Männchen.

Als noch Morosinis Lebensmittelwerk und zwei unterirdische Linien die
afrikanischen Sprünge erduldet hatten, lief ein bunter Wirrwarr von
Schreiern in langen Sätzen zum Senat der Stadt, um seine Demission zu
erzwingen. Sie rannten, als käme es darauf an zu zeigen, wer der erste
war. Ravano della Carceri war bei dieser Audienz anwesend. Die
Hauptlärmer der Deputation, zwei Mulatten, schon im heimatlichen Hemd
über dem europäischen Arbeitskittel, beachteten oder erkannten ihn
nicht, den Herrn ihres Werks. Das versetzte ihn in große Wut und
hinderte ihn, wie er sich vorgesetzt hatte, weiter im Hintergrund hinter
dem hohen Lehnstuhl des Vorsitzenden zu bleiben. Er stellte sich
stampfend vor die beiden, die er anfaßte, denen er das Hemd über der
Brust lüftete; ob sie wüßten wer er sei. Und dann, was sie zu dieser
Zeit hier zu suchen hätten. Auf ihre ungläubige schüchterne Lache und
die kichernde Bemerkung, er solle sich nach seinem Werk umsehen, – was
hinge zum Beispiel jetzt auf dem Dache? die Mulatten grinsten sich an
und brüllten vor Spaß – griff er dem einen heiser an den Schlips auf dem
Arbeitskittel, sie sollten sich ihrer Wege scheren. Da war er von dem
starken Farbigen abgeschüttelt, lag am Boden. Im Nu auf den Beinen hing
er sich dem Mann an den Hals, wurde mit einem Ruck an den Boden
geschleudert, mit Fußstößen traktiert, von den anlaufenden Farbigen am
Boden vor den Herren, die wegsahen, die Hände rangen, sich blaß auf die
Lippen bissen, mit Riemen verwalkt. Die Riemen in der Hand, unflätig
schimpfend, traten sie vor die Herren, denen niemand beistand; was sie
nun dächten. Die erbaten sich nicht aufsehend Bedenkzeit, mußten auf das
grobe Drohen der Farbigen das Zimmer räumen. Den halb besinnungslosen
Carceri durften sie unter dem Gespött der Deputation, die sich auf den
Senatssitzen, an den Sprechapparaten breit machte, aufheben. Ein
fürchterlicher Stockhieb sauste noch über sie an der Türschwelle; der
zerbrach dem grauen schweren Sanudo, der Carceri um die Hüfte führte,
den Unterarm, so daß er den schwankenden Mann fallen ließ, den die
Farbigen aus dem Zimmer rollten, um knallend die Tür hinter ihnen
zuzuschlagen und ein prahlendes Fernsprechen in die Nachbarorte zu
beginnen. Carceri kam in dem Erdgeschoßzimmer, in das sie sich auf einer
Hintertreppe geflüchtet hatten, zur Besinnung. Er sah schrecklich aus;
die Zähne waren ihm ausgeschlagen; er lallte, ein Zahn hatte seine Zunge
durchbohrt; er lehnte luftschnappend mit fausthohen Stirnbeulen auf der
Bank, spie Blut, schluckte einen Branntwein nach dem andern. Verfluchte
sich innerlich, daß er sich für die anderen hergegeben hätte.

Der alte Sanudo saß auf der Erde. Sie schnitten ihm den Ärmel auf; er
weinte. Carceri stöhnte aus seinem verschwollenen Gesicht zu den
anderen, die ihn hielten: „Tut ihr nur, was ihr wollt. Ich tue was ich
werde.“ Und dann, als sie flüsternd zu diskutieren anfingen, er steif
zurückgelehnt: „Tut was ihr wollt. Was ihr wollt.“ Sie berieten, während
es in den Gängen hinter der verriegelten Tür von Liedern hallte, wohin
man sich zurückziehen sollte, um das Weitere abzuwarten. Sowohl die
jungen wie die älteren waren einig, daß die Revolte noch rascher als die
früheren militärischen abklingen werde. Man zuckte mit den Achseln; sie
dachten, wie sie sich bleich ansahen und an den Wänden zusammendrängten:
einmal werde sie doch ihr Schicksal erreichen; es sei im Grunde viel,
daß sie sich bis jetzt gehalten hätten. „Und was kommt nachher?“
wimmerte Sanudo. „Wann?“ Carceri riß hinten die Augen auf, sie quollen
ihm zu. „Wenn wir nicht mehr sind. Sie sagen doch, es sei schon viel,
wenn wir uns so lange halten. Also was ist dann? Was werden sie können?
Wir werden ihnen alles übergeben, den Säufern. Und was werden sie daraus
machen?“ Carceri versuchte zu lächeln: „Ich kanns mir ausdenken. Wir
werden dann auch noch ein paar Jahre leben, wofern sie uns nicht vorher
zum Zeitvertreib totgeschlagen haben. Sie kehren vielleicht in ihrer
Begeisterung wieder zu den heimatlichen Sitten zurück und fressen uns
auf. Ich gratuliere euch allen zu dem warmen Wohnsitz, der euch
bevorsteht. Neben Knoblauch und Sellerie und Branntwein.“ Sie machten
sich, als der Lärm draußen verklang, heimlich davon. Erreichten den
Platz vor dem Ratsgebäude. Man erkannte sie nicht. Das Tosen auf den
nahen Straßen war ein Gemisch von Freude kindlicher Gutmütigkeit
Blutrünstigkeit. Der Aufruhr war noch nicht über ganz Mailand
ausgedehnt, aber man schlug sich schon auf den Straßen um Rang und
Beute. Man sah schon schlaue Europäer, die zu den Farbigen hielten, auf
und daran, sich der Bewegung zu bemächtigen, in den überall gebildeten
Konventikeln horchen, die klügsten der Redner beiseite ziehen, den und
jenen mit sich vor die gebrüllerfüllten Ratszimmer führen.

Ravano della Carceri erlebte eine feierliche, sicher ihn durchsteigende
Wut, als auf den Straßen nördlich Mailands Peitschen knallten, und
Farbige aufrecht auf den Pferderücken stehend ihre Tiere jagten, die
Arme warfen, die Pferde schnaubten. Wagerecht warfen sie ihre Beine, die
braunen Rümpfe dicht über dem Boden hängend. Diese Menschen würden nicht
die italienischen Menschen und Werke beherrschen; es ging alles seinen
guten Weg. Er kniff dem jungen Guistiniani, schwarzhaarig und
gelbblasses nervös zitterndes Gesicht, in den Arm, wie sie seitwärts in
eine Pinienschonung umbogen, wies ihm schweigend die vorüberstürmende
Jagd. Guistiniani bebte, blickte weg: „Das muß ich mit ansehen. Ich
schäme mich. Ich werde nicht lange leben, um dies anzusehen.“ „Du bist
jung. Blick mein Gesicht an. Hast du das heute morgen noch für möglich
gehalten. Weine nicht. Weine ich denn. Wie sie mich auf den Boden
geworfen haben. Wer war es eigentlich, der mich mit dem Fuß getreten
hat.“ „Ich weiß nicht.“ „Hätt es gerne gewußt. Ein tüchtiger Mann.
Möchte ihn weniger einen Kopf als einen Fuß kürzer machen.“ Der junge
schlug den linken Arm um Carceris Brust, klammerte sich mit seinem
rechten an ihn an, stöhnte: „Dann weine ich für dich, weil es meine Art
ist. Und ich sage dir, Carceri, du magst von mir denken, was du willst,
weil ich weine; ich werde aber gewiß nicht stille halten. Ich stand mit
den andern im Gedränge, als sie dich anpackten und das Gräßliche
losging. Wir waren alle ja – hilflos. Nein, ich war nicht hilflos. Aber
von den anderen ging dieses Gefühl, dieses niederträchtige auf mich
über; ich hätte allein stehen können neben denen, ich hätte mich auch
nicht für dich bewegen können. Aber: ich bin bestraft genug worden, daß
ich zusah. Es ist einmal geschehen, wird nicht wieder geschehen.“ „An
mir wird es nicht wieder geschehen, Guistiniani. Danach haben sie auch
keinen Appetit mehr. Sie werden annehmen, ich habe fürs erste genug.
Aber da sind ja noch andere, an denen sich allerhand versuchen läßt. Was
meinst du zum Beispiel, Guistiniani, zu einem schlanken jungen Mann mit
schwarzem Haar und unruhigem unzufriedenem Ausdruck, der den verdammten
Ravano della Carceri nach Hause begleitet. Sie werden dir dein
Gesichtchen, das dein Mütterchen immer gewaschen gepudert gesalbt
gestrichen hat noch einmal salben und streichen. Ein feines Pulver haben
sie, afrikanischer Wüstensand, Kieselsteine aus dem Atlasgebirge, das
wirst du erleben. Soll ich dich küssen, Bübchen Guistiniani, auf dein
zartes Gesicht. Ich glaube, morgen tue ich es nicht mehr.“ Sie gingen;
Guistiniani, den Kopf gesenkt, den Blick auf das Gras, strenge
Stirnfalten: „Du bist ein so unbändiger Mann, Carceri. Du mußt mir Farbe
bekennen. Du mußt sagen, was du meinst. Ich bin aus dem ältesten
Geschlecht unseres Landes, du mit mir. Ich gebe nicht nach. Den
stinkigen Afrikanern. Dem Gesindel, dessen Kraft worin liegt? In den
Lenden. In den Hoden der Männer, im Bauch der Weiber. Diese Plapperaffen
Fettwanste Papageien. Ich schäme mich, von Menschen zu sprechen. Sie
sind von den Bäumen gekrochen und spucken auf uns.“ „Und mein Gesicht?
Und der Arm von Sanudo?“ „Ich will nicht, Carceri. Oh lieber Carceri,
höre auf und sprich nicht so.“

Da zog Carceri den jungen Menschen beiseite, setzte sich mit ihm unter
einen Baum, fragte ob jemand in der Nähe sei. Und dann, dicht an
Guistiniani gelehnt, murmelte er, gestikulierte. Es sei gut, nicht zu
laut zu reden. Der Junge solle sich vorsehen. Vor den anderen Männern
und Frauen ihrer Kreise. Wenn die hörten, was er von Blut, altem
Geschlecht und so weiter gesagt habe, so würde er etwas bemerken. „Wie
viel altes Blut gibt es. Wer hat nicht ein Tröpfchen Afrika in der Ader.
Nicht drüber reden. In ein zwei Generationen sind wir hops. Sind
Nachspeise, Dessert, Schokolade, Käsebrötchen im Lande; das Hauptfutter
sieht gelb und schwarz aus. Vom Tiber zum Po werden Kamele getrieben.
Ich wollte auch, sie wären grün wie Gras und ich könnte sie zertrampeln;
sieh mal, so. Aber deine Freunde, die Schufte geben schon nach. Ihr Blut
taugt nichts. Es ist ihnen gleich, ob sie morgen noch da sind, wenn sie
nur leben. Die Schufte, ja, die mit der Hilflosigkeit von vorhin. Ein
Segen, daß sie dem Sanudo den Arm zerschmettert haben. Das merken sie
besser als mein Gesicht, das ist für sie dickere Galle. Unsere Brüder,
unsere Freunde! Mutloses Gesindel, Pack, das sein Los verdient. Weißt
du, was ich täte, jetzt, wenn ich nicht das Gesicht schon hätte?“ Er
schrie; der junge neben ihm im Gras hielt ihm ängstlich den Mund zu.
„Ich ginge zu den Kannibalen. Stellte mich auf ihre Seite. Ja. Ich
zeigte diesem Stinkvolk, was sie tun müßten. Tu dus doch! Ratzekahl
alles! Das sollten sie tun! Schwamm drüber. Ein Volk, ein Pack.“ „Still“
schmiegte sich Guistiniani an, „nun ist gut. Nun hast du gesprochen. Nun
ist alles gesprochen. Du darfst nichts mehr sagen. Nun will ich dir
etwas von dem Gras erzählen. Sieh mal, ich bitte dich, sieh her,
Carceri, das Moos an der Rinde. Und hier wieder Gras. Es ist ganz
hellgrün, du kannst es wohl nicht sehen. Ich will es dir genau
beschreiben. Es sind, fühle, ganz lange kurze mittelgroße Halme. Man
kann sie zwischen den Fingern ziehen, ja nimm nur, nimm doch nur, ich
will dir alles sagen. Zieh sie ganz lang zwischen den Fingern aus, bis
zur Spitze, aber nicht daran schneiden, sie haben einen scharfen Rand.
So, das ist lauter Grashalm. So sind alle Grashalme. Und weißt du, wo
ich sie herhabe, die du eben da hältst? Alle? Ein paar von den Füßen, wo
du eben draufgetreten hast, die Afrikaner, die du zuerst zertreten
wolltest. Sie sind noch glatt, sie haben sich wieder aufgerichtet,
einige sind geknickt, es sind ganz wenige. Und hier die – sind von
deinem Kopf: da hast du doch, Carceri, wütend mit dem Kopf
gegengedrückt; sie haben eins abbekommen, sind aber noch lebendig. Was
glaubst du, sind das Afrikaner? Vielleicht. Aber vor allem: ich bin es
auch und du bist es auch, Carceri. Ich geh nicht zu den Farbigen den
Kannibalen. Denn warum sollte ich nicht auf das Grashälmchen hören, das
unter dem Fuß ruhig weiter wächst. In den alten Liedern, die die Frommen
haben, heißt es immer vom Gras, es hätte Ähnlichkeit mit dem Menschen,
oder der Mensch mit dem Gras. Und wenn der Wind über sie weht,
verschwindet ihre Spur. Ist schon richtig. Aber das Gras ist auch immer
wieder da. Was ist mehr: das Weggehen oder das Wiederkommen? Ich halte
mich an das Wiederkommen.“ Der unten hatte die Arme unter den seitlich
gesunkenen Kopf verschränkt. „Und so denkst du, Guistiniani, mit den
Bunthemdigen fertig zu werden. Sehen möchte ich dich einmal, wenn die
Angst aus dem Gedränge kommt. Sehen werde ich dich einmal.“ Carceri
kroch auf allen vieren hoch; der andere half, während der mächtige Mann
knurrte: „Ihr seid alle nicht viel wert. Was meinst du“, er wankte
vorwärts, sprach, die Hand vor dem Mund, „du glaubst, mir machen die
Bunthemden angst. Weil sie die Werke haben. Ich habe schon noch abseits
für alle Notfälle ein paar kleine Waffen, und Sanudo hat welche; schöne
Geräte. Sieht aus wie nichts, und wenn du sie ansiehst, bist du schon
nichts. Der beste Spiegel für gewisse Menschen: sie blicken hinein und
finden nichts. Wir könnten damit so in der Nacht oder spät abends, wenn
das Gedränge groß ist, auf den Senat spazieren. Magistrat sagen sie; sie
halten das glaub ich, für eine nordische Suppe. Wir könnten ihnen eine
Einlage in die Suppe machen. Nur den Sanudo und Morosini und unsere
anderen lieben Freunde möchte ich von der Suppe nicht ausschließen. Du
bist von der Partie? Sag ja. Bist doch von der Art der Grashalme;
unvergänglich aber naiv.“

Sie saßen Meilen weg vom Zentrum Mailands in einem unterirdischen kühlen
Haus. Eine Marmorsäule stand auf dem Treppenpodest des gewölbeartigen
ganz mit Rankenblumen bewachsenen und behangenen Zimmers. Die
Marmorsäule leuchtete mattweiß sonnenartig gelb. Bald leuchteten nur die
Augen im Kopf, bald silbern und golden der Schulterschal und die Hände,
die ihn hielten. Während alles im Dunkel lag, überlief eine rosa Röte
die Brüste; ihre Kugeln versendeten das Licht auf das weiche Kinn, das
von unten angestrahlt wurde, auf den schalverhüllten gewölbten Leib, die
bloßen im Dämmer tretenden Füße. Der über sich gebeugte tücherbedeckte
weißhaarige Sanudo schlug seinen stummen Gästen, die auf bettartigen
Lagern ruhten, vor, sich der Waffen zu bedienen, die man hätte, und
freies Feld um sich zu machen. „Wir müssen es“ stöhnte er, „ich tu es
nicht leicht.“ Man fragte nach der Art der Waffen, lag wieder dumpf da.
Sanudo, gezwungen lächelnd stand auf, während er hinwarf: „man muß ihnen
noch danken, daß sie uns die Zeit dazu lassen“, wankte zur Tür, um durch
einen Griff an den Ranken ein leises Weben am Gewölbe herauf zu erregen,
fern verschwebendes Kindersingen. Sanudo: „Es sind, wie ich weiß, noch
Herren hier, die ihre Meinung zurückhalten und denen man vielleicht
etwas Zeit lassen muß, sich zu äußern. Es wäre schade, wenn man sie
schweigen ließe. Ich wüßte gern zum Beispiel, was Carceri verschweigt.“
Carceri grob lachend: „Was denkst du, mein Süßer?“ „Daß du lauerst und
abwartest, was wir machen werden. Ich bin so gut mit im Spiel wie du. Du
machst dir nichts aus mir und den andern, aber allein wirst du auch
nicht stehen können.“ Carceri knurrte, mit beiden Armen sich von seinem
Lager hochstemmend: „Ich mach mir nichts aus den andern. Machen sie sich
etwas aus mir? Hab ich nicht vor Jahren gewarnt, als Schiff nach Schiff
von Algier von Senegal von Tripolis kam und jedes warf wie eine Kloake
diese Menschen über uns aus. Hab ich Euch nicht in diesem selben Raum
gewarnt. Da kam dasselbe: im äußersten Fall haben wir Waffen! Davon weiß
niemand! Die geheimen Geräte! Oh Eure geheimen geheimnisvollen Geräte.
Ich weiß schon nicht, ob es unter den Bunthemden nicht Leute gibt, die
noch andere haben; Gott schenkt sie ihnen im Schlaf, Ihr werdet Eure
Entdeckungen machen.“ Sanudo schüttelte den Kopf; Michieli und
Faskarini, zwei stolze schnauzbärtige Gesichter, richteten sich von den
Lagern auf neben Carceri, warfen sich Blicke zu. „Wir sollten“ Sanudo
streichelte resigniert seinen kranken Arm, „keine Schiffe mehr zulassen,
vielleicht die Schiffe versenken? Du hattest sonderbare Pläne, von denen
du nicht deutlich sprachst. Wir leben schließlich nicht im alten
Mittelafrika. Wir haben es mit Menschen zu tun.“ Carceri sprang auf, die
Arme hoch: „Da ist es! Wir haben es mit Menschen zu tun. Seid mir recht
zahm. Caressiert sie, damit sie Euch Zucker aus der Hand fressen. Seht,
nicht mal das tun sie. Wir füttern sie genug. Sie wollen mehr. Sie
wollen uns gar nicht. Sie wollen einfach nichts, als uns weghaben. Nun
tut ihnen doch den Gefallen. Sie sind Menschen. Man wird ihnen doch
ihren Willen nicht nehmen. Und wir sind doch Klügere. Der Klügere gibt
nach.“ „So gehts nicht weiter.“ Michieli, der kleine Schwarzbärtige,
sprang auf: „Wohin soll das. Sprich was du meinst. Warum sollen wir
nicht die Mittel anwenden, die wir haben.“ „Das sag ich ja auch“ der
dicke prustende Mann mit dem verschwollenen Gesicht. „Das sagst du
nicht. Du sagst, die Waffen seien lächerlich, sinnlos. Du willst nicht
auf den Busch klopfen.“ „Das werde ich auch nicht. Den Gefallen tue ich
ihnen nicht.“ „Also“ Michieli brüllte vor ihm, die Hände fuchtelnd vor
der Stirn, „was ist denn das für ein Hin und Her. Die Waffen, die du
hast, wendest du nicht an. Die Mittel, die du hast, willst du anwenden.
Was ist das für ein Unsinn, Carceri. Wir sind hier keine Kinder.“

Nach einem Schweigen, während er den springenden Schwarzbärtigen
fixierte, hob der listige Carceri die breiten Schultern, seufzte offen
apathisch, ließ sich seinen langen Mantel raffend auf sein Lager fallen,
flüsterte mit Guistiniani. Die Säule strahlte sehr weiß, gab Tageslicht.
Sanudo blickte zu Carceri hinüber: „Ich sehe, Carceri ist seiner alten
Ansicht, dies und das hätte geschehen müssen. Einen Vorschlag, was jetzt
geschehen soll, macht er nicht. Ich bin ein alter Mann, Carceri. Ich bin
nicht aus europäischem Geschlecht wie du. Es ist noch nicht gar so weit
her, einige Handvoll Jahrzehnte, da waren meine Väter Läufer
Kameltreiber Dattelpflanzer Brunnensucher wie die draußen, die uns in
der Hand haben. Mir würde es leichter sein, müßte es doch leichter sein,
vor ihnen zu kapitulieren. Es wäre nicht einmal eine Kapitulation. Ich
könnte mir den Weg zu ihnen leicht machen. Aber so geht es doch nicht.
Etwas hab ich inzwischen gelernt. Es ist mir einiges ins Blut
übergegangen. Ich bin entschlossen, ihnen nicht zu überlassen, was wir
und die vor uns geschaffen haben. Und wenn ich sie zwischen den Fingern
zerreiben müßte.“ Carceri widerwillig und scheinbar schlafsüchtig: er
wolle nicht weiter diskutieren. Er hätte gesagt, was er sagen könnte.
Guistiniani schwieg auf die Blicke, die ihm Carceri zuwarf. Carceri
wollte ersichtlich mit den andern nicht mitmachen. Sanudo wurde
aufgefordert, alle Zuverlässigen rasch mit den Waffen vertraut zu
machen. Man wollte noch in der Nacht, die Verwirrung bei dem siegreichen
Gesindel bringen werde, vorgehen. Sanudo beschwor den liegenden Ravano
della Carceri sich an dem Werk zu beteiligen. Der lehnte stumm wie
Guistiniani ab.

Sie benutzten, etwa zweihundert der Herrenschicht, in der Nacht die
Freudenfeiern der Farbigen, die sich im Besitz von ganz Mailand
befanden, zu einem Angriff. Erlebten, wie sie sich um den ausersehenen
Zentralbezirk der Stadt gruppierten auf abseits liegenden Plätzen,
hinter Büschen von Parkanlagen, einen vollkommenen Mißerfolg. Die
Apparate, verschiedener Konstruktion und mit verschiedenen
Angriffspunkten, Fernwirker und Durchdringer auf geradem oder durch
Zwischenlenker zackigem Weg, versagten. Der Gleichgewichtszustand der
unteren Luftschicht war gestört durch Farbige, die halb verspielt, halb
furchtsam hinter allen Energieumformern und Umschaltern standen, sinnlos
alle Apparate spielen ließen. Heimliche Versuche des nächsten Tages
ergaben dasselbe Resultat; es kam hinzu, daß die transportabeln Waffen,
sehr empfindlich, durch die intensive Sonnenstrahlung des Tages
gehindert wurden. Sie sollten lautlos strichweise Häuserreihen lähmen
und arbeiteten leer.

Damals gehörten in den südlichen Landschaften Europas die Frauen zu
den aktivsten Elementen. Sie waren durch den furchtbaren
Wirtschaftskampf der vorangegangenen Epochen, der ein Überangebot von
Menschenmaterial vorfand, stark gezüchtet. Überall waren die Ehen und
Untertänigkeitsverbände zwischen Mann und Weib zerstört worden durch den
Zwang, der auf die Männer ausgeübt wurde, Frauen und Töchter in den
Wirtschaftskampf herzugeben. Grausam scharfe Jahrzehnte waren gewesen,
in denen man in allen Ländern der ineinandergeflochtenen Völker Messer
auf Messer sich gegenüberstand, während gleichzeitig die Erfindungen und
die Bewältigung der Naturkräfte beispiellos vorwärtstrieben. Als die
Spannung nachließ, die großen Entdeckungen kamen, die Güter auf breite
Massen überflossen, waren Männer und Frauen verändert. Die weißen Männer
fanden zu den hemmungslos zuströmenden und herbeigerufenen Farbigen
Afrikas einen Stamm weißer Wesen neben sich, der sie waren und nicht
waren. Von denen sie nicht wußten, ob sie mit ihnen zu kämpfen oder sich
zu verbinden hatten. Es geschah nichts von beiden. Die Frauen taten was
sie mochten, und mit geringerem Sentiment als die Männer. Sie hatten zur
Wut der weißen Männer keinen Sinn für die weißen, sondern mischten sich
unter die Fremden. Die Männer verpönten die in den Tropen gewöhnliche
Verbindung mit farbigen, aber die Frauen entwichen ihnen, taten im
Lande, was die Männer in den Tropen getan hatten. Taten es kaum
anderthalb Jahrhundert. Dann war die Gefahr der neu aufgekommenen Typen
klar. Irgendwie mußte man sich, um nicht zu ertrinken, abschließen.
Damals mischten sich nur gewöhnliche Frauen mit den zuströmenden
Fremden. Die stärkeren, die Organisatorinnen, die mächtigen Herrinnen
und Schöpferinnen von Riesenanlagen, die geschickten und waghalsigen
weiblichen Experimentatoren, die kräftigen großen muskulösen Menschen
mit den langen Schritten und den prüfenden harten Zügen bildeten unter
sich die Vorstellung aus, eine überlegenere Rasse zu sein. Sie zogen
sich dahin zurück, wo sie vor einem erneuten Sturz sicher waren; sie
wurden die Avantgarde des Kampfes für die aufgeblühte, riesenhaft
entfaltete und sich entfaltende Technik. Wenig Mutterliebe sahen sie;
wenig Mutterliebe konnten sie geben.

Sie sprangen, als im Mailändischen die vernichtende Niederlage drohte,
zuerst ein. Jene zögernden Bedenken, die von Männern, besonders den
lahmen älteren geäußert wurden, Gleichgültigkeit gegen das Erliegen,
kannten sie nicht. Sie hatten ein ungeheures Mißtrauen gegen die
Fremden. Ein beinah nicht geringeres gegen die Männer ihrer Schicht und
Volksart. Es war ihnen furchtbar, diesen Männern, gegen die sie als
Gleichgestellte, aber doch als siegreiche Empörer öfter Haß, bisweilen
Verachtung empfanden, Dinge zu überlassen, die für sie selbst
verhängnisvoll werden konnten. In nicht wenigen Frauen stieg der
schreckliche Gedanke auf, die Männer könnten sie aus Rache an die
Fremden preisgeben und vermuteten, die Männer gäben nach, weil sie sich
der Weibsherrschaft entziehen wollten, der Weibsherrschaft, die sie
beschämt, noch immer im Herrengefühl, heraufkommen sahen. Die Frauen
sprangen zu. Die Weiber, jetzt nicht im Besitz der tödlichen
Angriffswaffen, gingen, wie sie waren, in den roten und blauen Togen,
die vornehme Frauen trugen, an die Stätten, wo die lautlosen und doch
tosenden Energiemassen erzeugt umgeformt weitergeleitet wurden, suchten,
wie man sie vergnügt und hämisch an die feinen und gewaltigen Maschinen,
die ihnen nicht mehr gehörten, heranließ, die Kundigen unter den
Usurpatoren zu erstechen und zu erschießen. Das gelang in mehreren
Fällen. Die Frauen wurden darauf an Ort und Stelle getötet; die
Kraftstelle ruhte eine kurze Weile oder zerbrach; die Usurpatoren ließen
es darauf ankommen, ließen keinen, dessen sie nicht sicher waren heran;
der tiefe Argwohn, der den nomadisierenden Völkerstämmen innewohnte,
wirkte sich aus. Darauf sich demütigend schickten die Frauen sehr junge
verlockende Wesen ihrer Art zu Scheinverhandlungen zu den neuen Herren.
Die Mädchen sollten bei Ablehnung aller Vorschläge zu den Farbigen
übergehen, rasch die lüsternen Fremden gefügig machen, sie vor die
Leitungen und Umformungen zu lassen. Die Herrinnen gaben ihnen den
Spruch, mit dem sie ein halbes Geheimnis verrieten: die Frauen seien
bereit den Siegern Dienst zu leisten, wenn die Fremden davon absähen sie
zu knechten. Das Geschick Mailands, im Grunde ganz Südeuropas hing
damals an einem Haar. Uneingestanden hatten die Frauen, die schon damals
halb bundartig zusammenhingen, die Absicht, die Männer ihrer Farbe
fallen zu lassen und sich der Fremden zu bedienen. Die jungen Wesen in
Mailand gaben ihre gefährliche Halbwahrheit den braunen und
bronzefarbigen Männern weiter, denen sie angenehm klang. Die abgesandten
klugen Geschöpfe erlebten dann aber ein Schicksal, das sie in die
grauste Zeit der weiblichen Vergangenheit zurückführte: nach Mißbrauch
und Schändung vor vielen Männern und jauchzenden Weibern wurden sie
alten Männern als Sklavinnen beigegeben.

Ravano della Carceri, Guistiniani, Sanudo verließen eine Woche nach dem
Ausbruch die Mailänder Landschaft, kamen zu Fuß wandernd unter Gefahren
nach Alessandria, von da fliegend nach Genua. Riefen Genua Marseille
Bordeaux um Hilfe. Guistiniani flog nach London, an den Zentralsitz der
westlichen Regierungsmacht. London erklärte, wie vorauszusehen, daß an
ein zentrales Eingreifen erst zu denken sei, wenn zugestandenermaßen die
örtlichen Schutzmaßnahmen versagten. Böse Blicke bekam der sehr still
berichtende Guistiniani zu sehen. Die Londoner hatten gesagt, man sei
offenbar unfähig im Mailändischen; ob man wieder zur Einrichtung von
London bestellter Magistrate zurückkehren solle; ob man nicht wisse, was
man riskiere nicht für sich allein, sondern für alle, wenn man wichtige
Dinge den Gegnern und Unbotmäßigen überließe oder ausliefere; wie einen
Giftschrank einem verrückten Apotheker, der einen halben Ort damit
umbringt; oder wie früher ein Regiment, das nicht aufpaßt und seine
Artillerie vor dem Feind stehen läßt. Rom Marseille Bordeaux, selbst
noch frei aber schon bedroht erklärten sich bereit zur Hilfe, verlangten
aber zugleich Sicherung vor der Wiederkehr solcher Unfälle im eigenen
Interesse. In Rom erregte der zurückgekehrte Guistiniani mit seinem
Bericht aus London Aufsehen; der Tadel erschien berechtigt und machte
wütend auf Mailand wie auf London. Rom, durch Mailand stark gefährdet,
ebenso Genua und Bordeaux verlangten Kontrolle Mailands und seiner
Adnexe. Die Mailänder Deputation mußte das zugeben und unterschreiben;
sie wurde nur anerkannt als Stadtvertretung unter diesem Vorbehalt. Im
übrigen gab es, was Mailand anlangte, angesichts der Kraftquellen, die
die Revoltierenden in der Hand hatten, keine Möglichkeit als die
Vernichtung des größten und wichtigsten Teils der Stadtschaft. Sie
erfolgte nach weiteren vier Tagen, im ganzen zwanzig Tage nach dem
Ausbruch der Revolte. Die verbrannte erstickte Stadt wurde ihren Herren
wieder übergeben.

Der schwer leidende vergrämte Sanudo spielte im neuen Mailand dann keine
Rolle mehr. Ein Kontrolleur, Emissär Londons, wurde neben den Senat
Mailands gestellt. Carceris Augenblick war gekommen. Er suchte die
Oberhand in Mailand zu gewinnen, stieß auf den Widerstand der Frauen,
die ihm die Zähne zeigten. Der junge Guistiniani unterstützte erst den
bärenhaften Carceri, der offen zugab, daß er die Sache auf die Spitze
getrieben habe und nun zeigen werde, wie zu verfahren sei. Diese
Zynismen machten ihn bei vielen Männern, durchaus bei allen Frauen
unmöglich, die im ganzen enttäuscht, sich vor seiner Tücke und
Gewalttätigkeit fürchteten. Ravano della Carceri hatte auf die folgende
Entwicklung von Südeuropa nur kurze Zeit Einfluß; er geriet in Streit
mit Guistiniani, der sich ihm nicht fügen wollte. Ein Mordanschlag
Carceris auf Guistiniani, auf den er plötzlich seinen ganzen Groll
richtete, mißlang. Am Tage darauf erlag Carceri den Verletzungen, die er
beim Einsturz seines Hauses erlitt; die Sprengung hatten Frauen
vorgenommen. Schneidig und kühn stellte Guistiniani, ein stählerner
gelbblasser Mann, die Verdächtigen vor Gericht. Seine Hand, die die
südlichen Stadtschaften nun zwei Jahrzehnte spürten, war nicht weniger
hart als die seines erschlagenen Freundes Carceri, um dessen
eingefallenes Haus er ein Gitter zog und das nicht berührt werden
durfte. Er schlug den Ansturm der Frauen zurück, hielt sie lange im
Zaum. Bis er verzweifelnd, in seiner Vereinsamung durchschauert sich
zurückzog wie Hunderte seiner Zeit, nach den lockenden Abfallstätten
Europas und Amerikas, an die Mittelmeer- und atlantischen Küsten. Es war
die Zeit der Frauenbünde, der übermütigen unwiderstehlichen Verbände,
der hinsterbenden Mannesgewalt. Die Wut der Frauen verfolgte Guistiniani
nach Trabulus an der Großen Syrte.

                   *       *       *       *       *

Der Fall Mailands im Beginn des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts löste
zuerst in Rom, dann in den angeschlossenen Zentren Südeuropas eine
Bewegung aus zur Verschärfung der Bestimmungen für die Verbreitung von
Herrschaftsmitteln und Kenntnissen, die die Bildung von sehr kleinen
Herrenklassen und einer riesigen beherrschten Schicht nach sich zog. Die
Leichen der hunderttausend Farbigen und Mischlinge in der Poebene waren
noch nicht in der stummen Erde verwest, da begegneten sich vor der
brausenden Nordsee bei Dünkirchen die Männer und Frauen der Länder und
Stadtschaften, die London hergefordert hatte. Heimlich kamen sie an der
stürmischen herbstkalten Küste zusammen. London wußte, was es vorhatte,
die Delegationen wußten es auch bald. Herumgehend in den Spielhäusern,
bei Segelfahrten, in Dünenwanderungen, Lagerungen in Picknickzelten
kamen sie zu den Resultaten, die sie nicht den Ferntönern anvertrauten.
Alle waren in kurzer Zeit von dem furchtbaren Ernst ergriffen, den die
Haltung Londons und Neuyorks ausströmte. London pessimistisch wie immer,
sah das Ende der westlichen Welt voraus.

Die Männer und Frauen dieser Regierung, die sich hier fordernd bewegten,
trugen die Zeichen einer sehr westlichen Einwanderung. Nord- und
südamerikanische Indianerstämme hatten sich im vorletzten Jahrhundert
bei dem rapiden Nachlaß der weißen Fruchtbarkeit über Kanada und
Brasilien ausgedehnt. Als arbeitende Hilfsvölker traten sie vornehmlich
bei der angelsächsischen Durchdringung Südamerikas in die Dienste
Londons, wogten dann zum Teil nach dem westlichen europäischen
Kontinent, zum Teil nach Schottland. Eigentümliche dünne schwarze Bärte,
nach vorn stehende runde Backenknochen sahen die südlichen Europäer bei
den Herren aus London, straffe Gestalten, die einen trüben schwarzen
Blick warfen und an Menschen, mit denen sie redeten, vorbeisahen. Sie
sprachen mit sanften hohen Stimmen, ihre Sprache spanisch verwelscht.
Sie gaben, die die Erben der Weltbeherrscher waren, zu erkennen, daß sie
nicht beabsichtigten, die Fähigkeit der Nationen und Landschaften
durchzuprüfen; verlangten Aufschluß darüber, was man getan hätte, um
seine Nachbarn und das Reich nicht zu schädigen. Als im Laufe der
Besprechungen am Dünkircher Strand Guistiniani auftauchte, kam es zu der
heftigsten Auseinandersetzung zwischen ihm und der Londoner Gruppe. Wie
Mailand und die südlichen Städte, die eben erst gerettet seien, es wagen
könnten, einen Mann wie diesen aus den unfähigsten Kreisen Mailands
herzuschicken. Guistiniani hielt sie mit scharfen Worten nieder. Sie
erkannten seine Gefährlichkeit, lernten den Mann bald genauer kennen.
Die Londoner Herren gaben ihren weiblichen Kameraden nicht nach, die von
Mailänder Freundinnen angestachelt, die Beseitigung des geschmeidigen
und eisigen Mannes verlangten. Der Mensch aber war es selbst, der hier
Carceris Plan der Sklaverei vortrug. Der Plan war unwiderstehlich. Er
schlug bei London augenblicklich ein. Die Kommissionen machten sich den
Plan rasch zueigen.

Die Dünkircher Begegnung, für das Geschick des westlichen Völkerkreises
von entscheidender Bedeutung, endete nach zwei Wochen mit dem Anspruch
der erschienenen Kommissare an ihre Regierungen Senate und tatsächlichen
Machthaber, die vorhandene Zivilisation mit allen erdenklichen Mitteln
und um jeden Preis zu verteidigen. Sie stellten die Gefährlichkeit des
Erliegens irgendeiner örtlichen Machtgruppe, sei sie Nation oder
Stadtschaft, fest. Folgerten daraus das Recht der Nachbarstaaten und
weiter der London-Neuyorker Zentralgewalt, die überall bereitgestellten
Verteidigungsmittel und Maßnahmen nachzuprüfen. Die Londoner
langbärtigen Herren erklärten, im Interesse der Gesamtheit gezwungen zu
sein, zu der aufgegebenen Einrichtung der örtlichen Kommission und
Beobachtungsposten zurückzukehren. Die einzelnen Machtgruppen möchten
dies nicht auffassen als ein Bestreben Londons seine Gewalt zu
erweitern, sondern als Sicherheitsmaßnahme im Interesse aller. Man hatte
damit das, was man in langen Jahrzehnten, ja in mehr als einem
Jahrhundert abgeschüttelt hatte, wieder. Man konnte nicht widersprechen,
denn der schwere Ernst Englands schien berechtigt; eine Möglichkeit der
Durchführung der kommenden Maßnahmen ohne Zusammenschluß war nicht
gegeben.

Von Dünkirchen strömte auf Europa Afrika Amerika der Geist der
Helotenwirtschaft. Die Delegationen und Senate hatten sich verpflichtet
in ihren Ländern Staaten Stadtschaften Wissenschaft Technik und alle
denklichen konkreten Kenntnisse abzuriegeln. Die Vernachlässigung dieser
Verpflichtung war mit dem Verlust der Selbständigkeit für das
Staatswesen verbunden. In allen Zentren galt es nach Dünkirchen
geheimste Pläne auszuarbeiten zur Feststellung der wichtigsten Dinge,
betreffend Krafterzeugung Lebensmittel Beförderung Angriffs- und
Abwehrwaffen, Feststellung der nötigen Zahl von Personen an den
arbeitenden und ausführenden Stellen und an den zusammenfassenden. Unter
Verzicht auf allzu stürmischen Fortschritt, ja bei voller Klarheit über
eine mögliche Stagnation wurde die Zahl der Personen gefunden, ihre
Herkunft war auf einen Kreis beschränkt. Die Senate bezeichneten die
zuverlässigen Familien. Überall waren Machthaber ihnen zu entnehmen. Bei
der Strenge des anfänglichen Vorgehens taten sich in den meisten
Staatskörpern sehr kleine Gruppen zusammen, die in Fühlung mit den
Londoner Beobachtungsposten eine Art Wohlfahrtsausschuß bildeten und
dauernd das öffentliche Leben und die herrschenden Familien
kontrollierten.

Dies alles geschah geheim und niemand im Volk bemerkte sogleich etwas.
Man übte in der Tat nur gesteigert streng die alte Methode. Den
Fragenden wurde die mit Beispielen zu belegende Gefährlichkeit der
Situation vorgehalten. Aufdrängende wurden hingehalten abgeschoben.
London Berlin Paris Mailand Marseille Neuyork sah einen neuen Adel, der
sich um die furchtbaren technischen Einrichtungen gruppierte.

Diese Männer und Frauen waren die eigentlichen Machthaber der westlichen
Erde, waren mißtrauisch unter sich, immer gejagt, Vergnügungen
verachtend, durchweg einsam. Keiner von ihnen ging ohne die leichten
Waffen, die sie nur für sich reservierten. Sie erschienen überall
überraschend. Der Wohlfahrtsausschuß der Einzelstaaten, die Beobachter,
waren wie sie ausgestattet, mit Lampen, deren Licht durch einen Spiegel-
und Blendmechanismus so reflektiert wurde, daß die Menschen faktisch
unsichtbar waren. Sie waren wie eine Wand, die man mit Spiegeln
bekleidet; man glaubte in sie hineingehen zu können. So konnten sie
scheinbar durchsichtig auf offenen Straßen, oft auch in Häusern sich
bewegen. Sie ritten fuhren flogen ungesehen. In den Massen ging das
Gerücht von ihnen. Denn sie beseitigten ungewünschte oder gefährliche
Personen, die eine Zusammenkunft verließen, ebenso wunderbar wie sie
selbst erschienen. Die Toten waren nicht auffindbar, wie man die
Lebenden auf ihrem Wege nicht hatte verschwinden sehen. Es trat
vielleicht ein Mann, ein junges Weib an einen Baum, ging um eine
Häuserecke, bückte sich, faßte sich an die Brust, griff nach seinem
Rücken, machte einige sonderbare Bewegungen, als ob etwas juckte oder
kniffe, und war weg. Nichts war an der Stelle, als ein stärkeres Blitzen
des Sonnenlichts, ein Staub wie von einem Windstoß. Öfter wurden
ähnliche Vorgänge beobachtet, man munkelte davon, Gerichte befaßten sich
damit, Aufklärung erfolgte nie, da die Verschwundenen nie gefunden
wurden. Die Klagesteller hatten schon Recht mit ihrer Behauptung, die
Verschwundenen seien beseitigt oder gut verborgen worden. Sie wurden
noch in dem Spiegelkleid, das über sie geworfen war und in dessen Mantel
sie neben dem Entführer und der Entführerin gingen, gezerrt und rasch
gelähmt, an die geheimen Stellen der Laboratorien getragen, wo sie nicht
einmal den Blitz sahen, der aus der Wand, an die man sie mit dem irr
lächelnden Gesicht lehnte, fuhr. Zusammensinkend, weiche Massen, lohten
sie auf dem sprühenden Boden. Dessen Funken nicht aufhörten, bis weiße
Asche wie Flugsand auf ihm tanzte.

Früh sahen die Machthaber die Gefährlichkeit ihrer Waffen für sich
selbst ein. Suchten über das Mißtrauen, das sie gegeneinander hegten,
hinwegzukommen. Niemand konnte wissen, wohin den einen Eifersucht
plötzlicher Zorn Erbitterung treiben konnte. Man sah sich und den andern
seinen Trieben wehrlos ausgesetzt wie einen Träumer seinen Einfällen.
Wie sie oft finster vor Wäldern standen, auf einem Balkon die
hellbestrahlten Wipfel der Bäume betrachteten; diese tiefgrünen
Nadelhölzer, die in riesige schweigsame Höhe ihre gelbbraunen Zapfen
streckten, ruhig hinwuchsen: und der Mensch in sich wühlt, bewegt sich,
wühlt.

Furchtbar wurden Annäherungsversuche unter ihnen erschwert durch das
Zusammendrängen der Frauen zueinander, durch den nicht nachlassenden
Kampf der Frauen um die Vorherrschaft. Die Männer der Staatskörper, die
Überwachungsausschüsse konnten sich nicht verhehlen, daß sie ihres
Lebens nicht sicher waren. Es war nicht ruchbar geworden, was die
Mailänder Frauen bei der großen Farbigenrevolte den Fremden
vorgeschlagen hatten; es war aber klar, daß überall verräterische
Gedanken bei den Weibern umliefen. Keine Möglichkeit bestand, die Frauen
aus den Senaten auszuschließen, ja die Männer dachten nicht daran.
Kraftvoll sicher zäh waren die Frauen, ihre Stärke ihr Wille Geist waren
unentbehrlich. Bei zahllosen Männern dieser Periode bestand schon voll
die Neigung vor den Weibern den Rückzug anzutreten. Aus den mächtigsten
Familien zogen sich Männer von Ämtern und wichtigen Dienststellen
zurück, um nicht mit Frauen zusammenzustoßen. Die Überwachungsausschüsse
waren der gefährlichste Ort; hier durfte man einer Auseinandersetzung
nicht ausweichen. Man machte offen einen Burgfrieden. Im geheimen
blieben beide Parteien auf der Hut, sannen darauf sich Waffen zu
reservieren.

Das drei- und vierundzwanzigste Jahrhundert brachte die große
Veränderung Afrikas: den ostwestlichen breiten Durchstich der Küste
südlich der Kanarischen Inseln in der Linie Cap Blanco und Bojador, die
Wasserüberflutung der tiefliegenden Wüsten von Igidi Tamesruft Afelele
bis zum Westrand des Tümmogebirges. Der schwere afrikanische Kontinent
wurde aufgelockert und getrennt durch das Saharische Meer.

Schon waren die Weltmächte auf zwei reduziert, die Londoner und die
indisch-japanisch-chinesische. Die Stadtschaften waren Wesen geworden,
durch die die Sonne scheint; an dem Boden liegt das Licht überall um
sie, aber sie haben nicht aufgehört zu sein. Wie die Stadtschaften sich
ausdehnten, erhöhte sich überall der nationale Glanz. Prunkhaft erhöhte
er sich unter dem abgestorbenen absterbenden politischen Leben. Die
Mächte der Landschaften und Staatskörper wandten überall dieselbe
Methode an, zu der sie getrieben wurden durch den Drang sich zu
behaupten und die Apparate, um die sie sich gruppierten: die Methode des
Erregens Sättigens Mästens Überfütterns. Die Fette nach der Kastration,
die Gespreiztheit Sanftmut Huld und Süße der Eunuchen stellte sich ein,
der fratzenhafte ohnmächtige Impuls. Man schonte die Eigenliebe der
Massen. Die Überwachungsausschüsse gingen geheimnisvoll durch die
Völker, aber schon aßen die strengen herrscherischen Familien selbst von
dem Gift, das sie auslegten. Die Fülle der Erfindungen ließ nach, man
lebte vom Überkommenen, ordnete unter sich zukommende Rechte Aufgaben.
Und am raschesten entarteten die Frauen. Gigantische Figuren gab es um
diese Zeit unter ihnen, großartig in Wollust und Herrschsucht. Was
früher in phantastischer Weise aufkommende Negerschläge leisteten, wurde
jetzt ihr Werk: Staaten der willigen kapaunenhaften Menschen
zusammenschließen, rasch und hitzig sie aufbauen, sich in Glorie wiegen,
um früher oder später von einer Kleinigkeit, etwas Übersehenem sehr
Sichtbarem, von einem Nachbarstaat oder von London beseitigt zu werden.

                   *       *       *       *       *

Wie ungeheuer hat Melise von Bordeaux gewütet. Das Weib, in dessen Adern
Nigritierblut floß, gemischt mit dem der italienischen und
westfranzösischen Landschaft, übersprang alle Abkommen, die ihre
marklose kindische Umgebung unter sich schloß. Sie beobachtete, wie man
sich Genüssen überantwortete, dabei weich und weicher wurde und zog eine
Gruppe Menschen um sich zusammen. Sie war von wildester sinnlicher
Leidenschaft, zugleich kalt und abstoßend, selber leidend. Wie eine
Riesenschlange umfaßte sie ihre Liebhaber und Liebhaberinnen,
zerknirschte sie gesättigt, ließ sie geängstigt liegen. Man wußte nie,
womit es ihr ernst war, die kraushaarige dicklippige mit dem glänzenden
schwarzen Blick, die viel und heftig weinte, sich und ihr Schicksal
beklagte. Ihr Weinen war von der Art der Betrunkenen, sehr tonreich und
ohne Hintergrund, mit Ungnade und ärgerlichem Lachen endend. Sie bewog
alle Familien ihrer Stadtschaften die wichtigsten Waffen und Anlagen ihr
und ihrem Anhang zu übergeben. Sie legte eine Zahl Anlagen nieder, weil
sie nicht wußte, wie sie sich ihrer bedienen sollte und hielt sie daher
für überflüssig. Sie unterschied bald eine Reihe Landschaften mit ihrer
Herrschaft überziehend, Lieblingslandschaften und Dienerlandschaften. In
die Dienerlandschaften legte sie die ernährenden und unterhaltswichtigen
Einrichtungen; ihre Residenzen machte sie zu Leitern und Genießern
dieser Arbeit.

Sie und ihre Umgebung nahmen großartige Manieren an. Sie spielten sich
offen als Herrscher und Könige auf, erschienen, Erstaunen und Wut
auskostend, mit kostbarem Gefolge und strahlend in den gemeinsamen
Versammlungen der westlichen Stadtschaften. Wut erregten sie, aber auch
ansteckend wirkten sie. Und sie waren, Melise von Bordeaux, die
schwerlockige adlernasige gelbbraune Frau, und ihr Anhang der Anstoß zur
Zertrümmerung vieler Herrschaftsgruppen, für gefährliche Umwälzungen in
mitteleuropäischen Landschaften, die zwar den Willen zu ähnlichem Glanz
und wilder Glorie hatten, aber nicht die Verteilung von Kraft dort und
Schwäche hier. Es ging in diesen mitteleuropäischen Stadtschaften, wo
ein Kapaun wild werden wollte oder eine Henne sich für einen Pfau
ausgab, hart auf hart. Mit heimlichen Tötungen, tückischer
Gewalttätigkeit zermürbten sich die Herrschaftskreise; gewaltsam mußte
die Ordnung wiederhergestellt werden. Bisweilen tat dies London. London
hatte immer die Gefahr der Massenrevolte vor Augen. Es ließ eine Weile
das Spiel gehen, dann stieß es wie ein Geier auf die Streitenden nieder,
zwang sie stille zu halten. Ja es kam im Herzen von Mitteleuropa, wo man
nicht zur Ruhe kommen konnte, zum Zugriff von London: vor dem Ausbruch
des Uralischen Krieges hatten sechs machtvolle Stadtlandschaften
Mitteleuropas, darunter München und Preßburg, ihre Selbständigkeit
verloren und duldeten das Dominat englischer Familien.

Melise war in Bordeaux Toulouse königinartig Alleinherrscherin, ließ
sich eine Kathedrale an der Garonne südöstlich Bordeaux’ in der freien
Landschaft anlegen, wo sie betete und sich verehren ließ. Denn es war
nicht ganz klar, was sie und der Priester tat, den sie feierlich
eingesetzt hatte, wenn sie sich neben dem Priester auf dem Altarraum
hinsetzte, den Blick geradeaus schweifen ließ, die schwerberingten Hände
nebeneinander, die fleischquellenden Arme bis zur Schulter bloß,
Goldbrokat und elfenbeinernen Tierbehang vor der mächtigen langsam
atmenden Brust. Sie war, wie ihr die süd- und ostfranzösischen
Stadtschaften zufielen, niemals so vermessen, von selbst die Hand nach
mehr auszustrecken. Erwies sich auch immer unterwürfig, ja kriecherisch
gegen London. Ihre Macht verlockte sie nie, mit den Frauenbünden, die so
üppig vegetierten, zu paktieren; sie liebte Frauen so wenig wie Männer
und man konnte sie nicht auf diesen Boden herabziehen. Glorie und
Unterwerfung war ihr Verlangen; darin konnte man ihr nicht genug tun.
Sie tötete und entmannte Dutzende Männer, von denen sie annahm, sie
wären ihr untreu. Zugleich getötet und geschlechtsunfähig gemacht wurden
Frauen, die mit diesen Männern verdächtigt wurden. Sie schwankte einige
Zeit in ihrer Stellung zu den Frauen hin und her; es schien als ob sie
den Frauen in ihrer Eifersucht und Stolz feindlich werden würde. Da
wurde diese Königin gebrochen durch ein Weib, ein Mädchen ihrer Sippe,
die ihre Tochter sein konnte.

Das weißgelbe liebliche Persönchen wurde nach der Beseitigung ihres
Liebhabers vor Melise gebracht. Melise trank viel. In ihrem heulenden
Elend hielt sie die weiche Person bei sich fest, die verschüchtert
stille hielt. Melise schlug mit ihrer stählernen Kopfbürste auf sie ein,
auf die Arme, die jenen Mann umschlungen hatten, auf die Backen, die sie
sich hatte küssen lassen, auf die Lippen, die sie mit den Fingern anzog,
die sie mit der scharfen Bürste rasch klöppelte. Das Mädchen hielt
weinend inne, kreischte, bat immer um Verzeihung und um Gnade. Sie hatte
ja in der Tat nicht gewußt, wer der Mann war, der sie genommen hatte. Er
hatte sie genommen, denn sie wollte von Männern nichts wissen. Melise,
die Fäuste mit der Bürste und einer langen Nadel in die breiten Hüften
stemmend, stand speichelnd, rot- und dickgesichtig vor dem über den
Teppich gekrümmten halbnackten Mädchen, dem sie die Kleider abgerissen
hatte, um zu sehen was an ihr war. Das blutende verängstigte Wesen, dem
die Tränen schmierig auf den Teppich liefen über die zerstichelten
Backen und aus der Nase mit den Blutstropfen, blickte hilflos und
jammernd, speiend und sich verschluckend, am Teppich sich abtrocknend
und hingewunden zu der rasselnden gewaltigen Frau auf. Plötzlich wurde
diese Frau unter einem Blicke von dem Gefühl des Abscheus vor sich
selbst getroffen. Sie nahm die Fäuste aus den Weichen, besah sich Bürste
und Nadel, legte sie nachsinnend langsam auf einen Tisch. Seitlich
blickte sie zu dem Mädchen herunter, das ihr aufmerksam, stärker
verängstigt mit den Blicken folgte. Das Wesen, fühlte Melise, konnte für
nichts, sie war nicht schuldig; der Mann hatte sie genommen, der Mann
tat mit dem dummen Wesen, wie früher immer Männer mit Frauen taten. Der
Mann schweifte herum, nahm die, morgen die, ein verfluchtes Geschöpf.
Melise dachte keinen Augenblick an sich. Grollend kniff sie die Augen
zu, schlug ein paarmal mit der Bürste auf das Mädchen ein, zog sie dann,
die sich sträubte und zappelte, und stach sie mit der langen Nadel durch
den Handteller, die Hand des Mädchens zwischen ihre Knie klemmend. Die
Nadel ging durch die Hand der kreischenden wühlenden augenaufreißenden
Person, ging in Melises Knie, die den Schmerz sich zusammenkrampfend
einsog und wie das Mädchen stöhnte aus offenem Mund mit zurückgebogenem
Hals. Die Nadel hervorziehend wegwerfend sank sie auf den Teppich,
stöhnte. Nach dem jungen wegschnellenden Wesen hangelte sie ins Leere
mit den Armen, schlüpfte ihr dann, sich am Boden hinziehend nach,
drückte den zurückzuckenden Kopf, den sie an den Haaren erfaßte, unter
ihren auf den nassen Teppich, heulte, ahmte das Wimmern des Mädchens
nach. „Komm“ seufzte Melise „du bist mein. Es geschieht dir nichts. Sie
sollen uns nichts tun. Es soll uns niemand etwas tun. Dir nicht und mir
nicht. Es soll keiner etwas wagen. Oh tut das weh. Ich bin es satt. Hab
ich dir weh getan. Bleib hier. Bleib bei mir.“ Und das zerschlagene
gepeinigte Mädchen mußte das aufgelöste stöhnende bettelnde Weib
hochziehen, sie an einen Sessel führen, wo Melise hinsank, sie an sich
zog, auf die Knie an den Leib zog, das Gesicht an den zerstochenen
kleinen Brüsten rieb: „Oh. Was ist das für ein Leben. Solche Mörder
haben wir um uns. Wenn ich die Mörder beseitigen könnte. Sei mir nicht
böse. Bist du mir böse, seid ihr mir böse, schlimme Lippen, armes
Händchen. Heilt alles. Wir werden Rache nehmen.“ Und das Kind schlang
einen Arm um die Frau. Die Frau fühlte eine Zärtlichkeit, die sie
erstaunen machte, eine wohltuende erweichende Zärtlichkeit unter dem
lächelnden Blick aus diesem zerschrammten hochgequollenen Gesicht über
sich heraufziehen. Ein Kind, fühlte sie, das ist ein Kind. Was bin ich
auch für ein Kind. Blieb das Gesicht andrückend an den Quell der
aufsteigenden Zärtlichkeit.

Diese mißlungene Tötung besiegelte Melises Schicksal. Sie wurde
jähzorniger herausfordernder als je. Hatte kein Gleichgewicht mehr
zwischen Männern und Frauen. Unverändert lehnte sie die Lockungen der
Frauenbünde finster ab; Männer mochte sie nicht.

Sie hatte die Laune sich aus einem dunklen Grunde Persephone zu nennen.
Dies geschah lange Zeit bevor irgendeiner und auch sie wußte, was sie
damit meinte. Persephone war sie, die Königin des Totenreichs, die ein
schlimmes totes und todwürdiges Wesen von der Erde geraubt hatte und in
die Finsternis zog. Sie wollte Persephone sein. Ihre Totengerichte in
der Kathedrale bei Toulouse wurden berüchtigt. Die Priester waren
erschreckt und konnten nicht mitmachen. Melise lachte, versteckte Frauen
in die Priesterkleider, die mußten neben ihr stehen; aber doch konnte
sie immer einige und gerade die mächtigsten der Priester neben sich
sehen, die sich vor ihr fürchteten und die sie im Zaume hielt. Sie ließ
Bauern Arbeiter auf der Straße in den Häusern auf den Äckern aufgreifen.
Verlangte, violett und schwarz am Altar thronend, bunt geschminkt,
blutrot grell beide dicke Lippen, blau umrandet die Augen, von ihnen
Rechenschaft. Sie hatte wie ein mittelalterlicher Fürst eine gefürchtete
Garde von Bewaffneten um sich. Die trugen Kappen und Masken,
Stiefelschäfte bis an den Leib, waren Männer und Frauen. Tornister
trugen sie auf dem Rücken, lanzenartige drahtumwickelte Stäbe in den
Händen, standen an den Wänden und schienen keine Menschen zu sein. Die
Königin hörte an, wer vor sie gebracht wurde. Wer sprach, mußte erzählen
von sich, was er wußte. Darauf wurde er entkleidet und mußte weiter
sprechen. Persephone besah und hörte die Menschen, Männer Frauen Mädchen
Jünglinge, die vor sie gebracht wurden, von Schreck und Wut ergriffen
waren, weinten, um Gnade flehten. Sie sagte: sie sei Persephone, die
Königin der Unterwelt. Ob sie das Zepter in ihrer Hand nicht erkennten,
ob sie nicht wüßten, daß man rasch erscheinen und da sein müsse, und daß
zwischen jetzt und jetzt, Tod und Leben, Acker und Tod, Straße und Tod
nur eine Sekunde liege. Die Sekunde sei übersprungen im Augenblick, wo
sie die Kathedrale betreten hätten. Sie hätten ihre Arbeit zu lassen;
die ginge weiter auch ohne sie; die sei ihre Hände nicht wert. Jetzt sei
die Stunde für sie, die Königin Persephone, da. Ihr müßten gezeigt
werden die Glieder, die Stimme, die Bewegungen; ob sie noch das Recht
hätten zu leben oder herunterkommen müßten. Sie schrie, sich vom Sitz
erhebend, das Zepter schwenkend, finster: „Es ist vorbei. Die Häuser
Straßen Maschinen Äcker haben genug von Euch. Ihr habt ihnen genug
gegeben. Jetzt ist meine Stunde.“ Aber wie sie sich setzte anhörte sah
prüfte, nahm sie mit sich, was ihr behagte. Sie nahm aus ihrem schwarzen
hochgetriebenen Haar die langen Nadeln, die zu beiden Seiten drin
staken. Die warf sie zur Seite vor dem violetten Priesterwesen. Und vor
wen die Nadel gefallen war, der wurde die Stufen hinaufgezogen vor sie.

Es waren die starken Männer, die schönen schlanken weißen, Gatten und
braune Jünglinge, üppige strotzende Mädchen und Frauen, die sie zu sich
nahm und von der Erde verbannte. War eine tiefe Seligkeit, die Melise
empfand, ihr Zepter zur Seite der Priesterin gebend, wenn sie den Mann,
das Weib empfing, umarmte. Wie es sich wand, warm weich; sie wußten
nicht, waren sie begnadigt oder verurteilt. Aber sie waren begnadigt.
Die Königin zog sie an sich, war aufgestanden. Drückte die Gesichter an
ihre Arme, die offenen schweren Brüste. Ihre Hände glitten an den
Gesichtern Schultern Leib Schenkeln entlang. Sie berührte liebkosend die
Heimlichkeiten der Leiber. Die Priester und Priesterinnen hingefallen
auf die Knie sangen abgewandt Lieder. In dem Menschen, den sie
umschlang, entstand eine sanfte Verwirrung. Träumend wild griff das an
den Hals, der sich ihm bot, wühlte sich gegen den festlich grausigen
Kopf, die starken Schultern. Da war sein Schicksal da. Der Kopf, der
eben noch nach dem Mund Melisens gesucht hatte, bog sich leicht stöhnend
beiseite. Der nackte Leib wogte hin und her, wie auf der Suche nach
einer Bewegung, die er nicht fand. Während Persephone sich in ihren
Stuhl fallen ließ, trunkene Augen, das Gesicht in schluchzender
Verzückung, unter der düsteren und wimmernden Musik, die wellenartig
aufquoll und toste, rollte von ihr der Mensch ab, der einer gewesen war
und den sie jetzt beherrschte, in sich trug. Ein Leib in sie
eingegangen, hergerissen von den Äckern, der Erde.

Melise quoll auf von Wesen, die sie in sich aufgenommen hatte. Nicht
mehr Persephone war sie, sondern Hades, die Unterwelt selbst. Ihr
Gebiet, von Bordeaux bis über Toulouse reichend, hatte noch Bestand und
England unterstützte die wachsende Kraft dieses Staates, als sie
übersättigt ungesättigt hinschmolz. Die zarte kindliche feine, die sie
zuerst gepeinigt hatte, die weiche Betise war die letzte, die sich ihr
zu opfern hatte. Und die sich der Königin lange hingegeben hätte, wenn
Melise, die wilde rastlose, sie gewollt hätte. Melise spielte mit ihr,
schützte sie, ging um sie herum. Betise durfte auf keinem ihrer Züge
zugegen sein, saß in einem schloßartigen Haus bei Bordeaux, bewacht von
Frauen der Königin. Lange Monate suchte die Königin sie nicht auf. Auf
abwesende liebevoll zerstreute halbstumme Stunden kam sie dann. Das
zarte Wesen wußte, wenn Melise kopfsenkend verträumt vor ihr stand, daß
sie nicht sprechen fragen durfte. Obwohl sie sie anbetete.

Die Königin trat bei Betise ein, die auf einem Kissenbündel am Boden
lag, schlafend von der Sonne bestrahlt wurde. Erst wie die mächtige
stark ausschreitende Frau an die Kissen stieß, fuhr Betise hoch.
Kicherte reckte sich süß, hielt inne erstarrend. Daß die Frau, ein
brauner fast nackter Leib, von Blutströmen Blutkrusten bedeckt war. Die
Arme voll Blut, die Finger von schwarzer Borke überzogen, Brüste und
Schenkel überrieselt, die Augen ausgegossen leer; trübe das Gesicht.
Persephone sah das Kind an, verzog das Gesicht. Greinte, während sie
dastand, die Hände schlaff an ihr herunterhingen, die Finger zuckten
zitterten. Mit Blut von den Menschen, die sie umfaßte, berieselt.
Unauslöschlich in ihr der Drang mehr zu tun; sie war in tiefe
Verzweiflung gesunken, hatte schon Priesterinnen neben sich zu Göttinnen
erhoben. „Man muß die Erde entvölkern“ sagte sie; griff die
Priesterinnen, die Göttinnen, die schrien, sich wehrten, nahm sie selbst
zu sich. Da stand sie stöhnend vor Betise, die sie nie gesehen hatte,
ließ sich, während das Kind aufsprang, auf die warmen duftatmenden
Kissen. „Ich werde dich abwaschen“, streichelte Betise, hinter ihr
knieend, ihre Haare. „Warum willst du mich abwaschen. Siehst du mich.
Ich bin Persephone“, sie zerbiß die Kissen, „ich bin nicht Melise. Nicht
Melise.“ „Du bist Melise. Melise, du bist es. Ich werde dich abwaschen.“
„Nicht. Du wirst es nicht tun. Laß es.“ „Weg soll es. Ich will dir doch
zeigen, Melise, ma douce Melise, Melise, ma pauvre fille, – wie süß, daß
du zu mir kommst –, ich will dir zeigen, was du unter dem Blut hast. Was
sich da versteckt hat. Sieh den Schwamm. Es ist nur ein Schwamm. Es ist
Wasser daran. Paß auf, du Schöne, was die alles machen können, der gelbe
Schwamm, das weiße Wasser. Das nehmen wir alles herunter, das Rote das
Schwarze das Schmierige das Borkige. Das gehört nicht zu meiner dunklen
schönen Königin. Sieh, was eine Königin für eine blanke glatte Haut hat,
da kommt sie schon hervor, braun, wie meine, nein, noch dunkler. Sie hat
nur gewartet. Wie das spiegelt in der Nässe, ei. Lieg nur ruhig. Alles
nehme ich dir weg. Du brauchst kein Glied bewegen.“ „Betise, du dumme,
weißt du, was hier liegt? Hast du von dem gehört.“ „Ja. Aber lieg still.
Ich habe von dem gehört. Daß du die schönste braune Haut hast, die
besser als meine ist. Daß du meine Königin bist und – Späße machst wie
du darfst. Komm, tu die Füße voneinander. Bis über die Knie ist es dir
gelaufen. Sie haben dich eingewickelt, damit man dich nicht sehen kann.
War das so schön, Melise?“ „Solange, oh solange ich es fühle, Betise.
Solange ich das Lebendige der Menschen umfasse, ist es schön. Solange
mich das Blut berieselt, ist es schön.“ „Und mein Wasser? Schön?“ „Dein
Wasser, dein Wasser“, Melise richtete sich müde auf, „bin ich jetzt
fertig?“ „Dein Gürtel ist noch ganz schmierig. Und jetzt nehm’ ich dir
auch deinen Gürtel ab.“ „Das tust du nicht.“ „Warum nicht. Schämst du
dich vor mir. Bin ich nicht eine Frau. Jetzt bist du ganz sauber. Ich
trockne dich ab. Eins nach dem andern, Betise.“ Betise lachte: „Zu dir
hab ich Betise jetzt gesagt. Ja jetzt sag ich zu dir Betise.“ „Und du
wirst Melise.“ „Ja, ich bin selber _ma pauvre fille_ Melise. Ich diene,
weißt du wem? Der armen Betise, die in einem Zimmer sitzen mußte, immer
auf Kissen schlafen mußte, trauern und warten, bis einer kam, der ihr
etwas erzählte. Von der großen Königin. Hätte sie nur gewußt, was die
Königin tut. Hätte die Königin sie einmal mitgenommen.“ „Ach, Betise.“
Langsam hob sich Melise, die braune schwere Frau auf, stellte sich an
die blaßblauen Vorhänge neben dem Fenster. Der warme Sonnenschein fiel
auf ihre Haut. Sie hielt den haarbehangenen Kopf, das leere tote Gesicht
abwärts, befühlte mit den Handflächen ihre eigenen Schultern ihre Arme
die Hüften den Leib, ließ sich bescheinen. Zitternd nahte ihr die Zarte:
„Jetzt führe ich dich in meinen Garten. Da sollst du unter meinen lieben
Ulmen gehen. Sie warten schon lange auf dich.“

Und wie sie sie um die Hüften faßte und durch die Fenstertür ins Freie
auf den Sandweg führte, erzitterte das junge Geschöpf noch heftiger:
„Ich schäme mich, daß ich ein Kleid neben dir trage.“ Und hatte, nachdem
sie einen Augenblick das Gesicht in den Händen verborgen hatte, ganz
hoch winselnd, ihr Kleid fallen lassen, die Strümpfe abgestreift und
Melises Hüfte umfaßt: „Hier gehen wir; ich zeige es dir. Es ist niemand
in meinem Garten. Die Frauen passen gut auf.“ „Wohin führst du mich,
Betise?“ „Es ist mein Garten. Fürchte dich nicht. Die Sonne ist noch
wärmer hier als drin. Wie waren doch unsere Voreltern gut daran, die im
heißen Land liefen und sich nur von der Sonne anziehen ließen.“ Aus
Melise kam nach einer Weile, als sie auf einer Wiese mit rotem Klee
gingen und das Zittern der angeschmiegten Jungen nicht nachließ: „Und
wer geht da neben mir. Sieh da, Betise. Du hast keine Furcht vor mir?“
„Wie soll ich Furcht vor dir haben“, sie zog Melise, die folgte, auf das
sanfte Grün. „Weißt du, was ich tue, weil ich, ich, Melise bin?“ „Du
Melise?“ „Ja, ich.“ Es blitzte in den schwarzen Augen Melises; ihr
Gesicht belebte sich: „Ja, sei nur Melise. Ich hab’ dich gern. Tu
einmal, tu’s an mir“, sie schrie, „sei Melise.“ „Was soll ich tun?“ „Was
du magst. Wenn dus kannst.“ Tränen stürzten aus dem Gesicht der Jungen:
„Lieg still. Lieg still.“ Wie ein Blockstumpf legte sich die braune Frau
um. Die Junge streichelte ihre Füße die Hände, um sie kriechend. Sie
streifte, während sie das Gesicht der Frau beobachtete, einen Ring von
Melises kleinem Finger, den Ring, mit dem Melise ihre Liebsten tötete.
Schon hing sie an Melises Hals, küßte sie, rieb die Wangen an ihr:
„Persephone.“ „Ich bin es nicht.“ „Seis noch einmal. Für mich.“ „Ich
kann es nicht.“ „Noch einmal.“ „Ich kann nicht.“ „Ich will aber,
Persephone. Ich muß zu dir.“ „Ich kann nicht. Ich bin nicht Persephone.“
„Komm doch. Sieh mich an.“ Melise öffnete die Augen, ließ sich
hochrichten.

Die schwere braungelbe Frau ließ sich durch den Garten führen.
Feistschenklig brustschaukelnd ging sie, von Betise umschlungen; der
wilde schwarzhaarige Kopf schwankte vor der Brust. Sie seufzte im Gehen:
„Es brennt. Die Füße brennen mich.“ „Die Sonne ist hier heiß. Komm zum
Bach. Da ist die Brücke. Da willst du hin.“

„Melise“ die zarte hellere, wie sie am Wasser unter der Brücke saßen,
klammerte sich an die prallen Arme, die die Frau neben ihr hängen ließ,
preßte den Kopf an ihren Hals. Die dämmernd stöhnte brusttief: „Was
willst du also?“ Betise fuhr fühlend, beglückt aufbebend, mit den Händen
Gesicht über den Leib der Königin, die sich abwesend lang umlegte. „Ich
lieb dich. Ich lieb dich, Melise. Ich will dir nur sagen, daß ich dich
liebe. Daß ich dich so lange, ohne Anfang und Ende lange erwartet habe.
Und daß du da bist. Gib mir deinen Mund, sag: du bist meine Freundin.“
„Deine Freundin“, murmelte die andere. Betise: „Deine Freundin, ich bin
es, du Hals du Kopf und Haar du nasses Haar du Brust du Arm hier und da,
du Leib. Kommt, liebe Augen beide, ich will euch wohltun. Ihr seid
trübe. Ich muß weinen, schreien, wenn ich euch sehe. Geht nicht auf.“
Und schob, eine Hand über Melises Augen und Nase gelegt, an dem schweren
Körper. Er regte sich nicht. Da kreischte sie: „Ich rolle dich, rolle
dich, Melise.“ Und stach ihr drehend rollend die Nadel des Ringes
zwischen die Rippen. Widerstandslos rollte der schlaffe Leib auf das
Gesicht auf den Rücken auf das Gesicht, rutschte die graue Böschung ins
Wasser ab. Der Kopf Melises hob sich schnappend noch im Wasser auf. Die
andere drückte, ihr nachspringend, an ihr liegend, den Kopf zurück,
überschrie Schmerz und Angst: „Nicht wieder aufgehen, Augen. Bist im
Wasser. Bist im Wasser. Es ist ja gut. Ich singe über dir. Hör mich,
Melise. Ich bin ein Hänfling. Du fliegst mit mir. Jetzt, jetzt, wir
fliegen ganz hoch, so weit meine Stimme reicht. Höher. Ja, wir fliegen
riesenhoch. – Süße Melise, ich bitte dich. Du machst mich nicht mehr
weinen. Deine Augen gehen nicht mehr auf.“ Sie zog ihre Hand ab, aus dem
Wasser, küßte sich die nassen Finger: „Genug, arme Hand. Zitterst so.
Ich auch. Genug.“ Warf sich über die verschattete Böschung zurück, das
Gesicht am Gras reibend, mit den Zähnen Gras mahlend: „Wir zittern
allesamt. Meine süße Königin, ich habe dir das getan.“ Sie kauerte unter
der Brücke, die Kniee angezogen: „Diese Brücke haben ihre Augen zuletzt
gesehen. Ich bleibe unter der Brücke. Ich kann sie liegen sehen, der
glatte braune Rücken, die blanken Beine. Das Wasser springt daran hoch.
Da liegt meine süße Königin. Oh wohl habe ich ihr getan.“ Lange saß sie
still da, manchmal ihre Finger betrachtend, die trockneten, sich die
Haare streichend: „Sag nicht so. Sag nicht so. Warum soll ich mich
ertränken. Ich lieb sie ja. Es muß einer da sein auf der Welt, der
Melise liebt. Bleibe alles, wie es hier ist: Brücke Schatten Sonne
Garten Melise. Bleibe alles, wie es ist.“ Die Schatten wurden tiefer,
Betise saß noch im Gras zwischen dem Klee: „Sie werden mich greifen. Sie
werden nach ihr suchen. Mich greifen sie nicht. Ich muß leben bleiben.
Es muß einer leben bleiben, der Melise liebt. Sie sollen sie nicht
töten.“

Sie schmiegte sich unten zärtlich an den braunen kühlen
wasserüberrieselten Leib, warf den Ring in das Wasser, huschte unter der
Brücke vor, über den Klee die roten Mehlprimeln und Enziane der Wiese.
Durch die offne Fenstertür schlüpfte sie ein, rieb sich den Sand von den
Fußsohlen. Legte sich über den zitternden feinen Körper die
buntgestreiften Hosen, die ihr Melise zuletzt geschenkt hatte, das weite
blaue lange Hemd, das hellgelbe seidene mantelartige Oberkleid. Aus
einem weißen Baumwolltuch band sie sich um den Kopf eine Haube. Sie warf
Handküsse um sich, in den abendlichen Garten. Und schritt ruhig aus dem
stillen Haus, an den Haufen der Wächter Melises vorbei, denen sie sagte,
sie ginge, weil die Königin sie schicke. Blieb verschwunden, obwohl
Sichtbares und Unsichtbares gegen sie aufgeboten wurde. –




                             Zweites Buch.

                          Der Uralische Krieg


Die Massen wurden gesättigt verweichlicht. Man war auf der Suche nach
neuen Bedürfnissen. Ließ neue Fremdenmassen heran, erweiterte die
Stadtlandschaften. Wie die Strenge unter der Herrscherschicht nachließ,
kam Verrat von Geheimnissen aus Leichtsinn Prahlerei, im Trunk vor.
Häufiger zeigten sich wilde schreckliche und dumme schwerfällige
lenksame Figuren unter ihnen. Weiber und Männer, in der Herrscherschicht
verbündet, fielen sich heftiger an. Dann stürzten sie wieder zum
gemeinsamen Schutz ihrer Hoheit und Apparate heraus.

Die gefährlichen großen grausamen Gestalten stiegen nicht nur aus der
Herrenschicht, sondern nun auch aus der üppigen vielformigen Masse.

Es kam am Ende des vierundzwanzigsten Jahrhunderts zu den ersten
Verzweiflungsschlägen gegen die Maschine. Noch ein Jahrhundert später
erzählte man von den mächtigen Taten. Die Richtung war von der
Peripherie des Völkerkreises auf das Zentrum: Timbuktu gegen Rom, Sidney
gegen San Franzisko, Nordafrika gegen Messina Palermo. In den
außenliegenden Landschaften gedieh der Übermut und seine Reaktion am
heftigsten. Niemals wurde wie einmal in Mailand der Herrscherschicht,
die von London gestützt war, die Macht entrissen. Aber es ging
gefährlich gegen die Machtmittel selbst. Die Bibel erzählt von den
Makkabäern. Die Namen Targuniasch, Zuklati sind ihnen gleichzustellen.
Die Europäerreste an der nordafrikanischen Küste, dem Zugriff der
Europäer entzogen, offenbarten ihre Kraft. In den dudelnden verträumten
Städten trieben sich plötzlich hetzende Menschen herum. Die Wut wurde
aufgepeitscht. Die Apparate, die man hatte für Belustigung, die
Gestaltenentwickler, wurden benutzt zur höhnenden Darstellung des Lebens
der Königin Melise und anderer. Da war die Kathedrale bei Bordeaux, ihre
Priester und Priesterinnen, die Lanzen der Söldner. Die bestialischen
Totengerichte spielten sich ab, Männer Frauen von den Straßen Äckern,
aus den Häusern gerissen. Die stummen gewaltigen Apparate zerstören. Die
Köpfe zerstören, aus denen sie kamen.

Es fanden sich in den Landschaften, wie von einem Wind getroffen, Männer
und Frauen, die gegen die Gehirne vorgingen, aus denen die Apparate
wuchsen. In hinterlistiger Weise, durch Liebende Freunde Kumpane beim
Trunk wurden in den gewaltigsten Stadtlandschaften Menschen der
Herrscherschicht weggerafft. Der Mähende und seine Saat kam meist
zugleich um: so wild war der Trieb die Apparate zu beseitigen, daß kein
Angreifer an sich dachte. Oft schlummerte man unter Kokain und
brasilianischen Giften ein, Angreifer und Angegriffene. Der Boden unter
den Apparaten sank. Die Männer und Frauen, die sich so opferten, waren
nicht zu zählen.

Targuniasch und Zuklati sind die Männer gewesen, die ohne Macht zu
besitzen, ohne Menschenmassen hinter sich, an die Senate ihrer Staaten
geradeaus die Forderung stellten, die Maschinen herzugeben und sich dem
Volksspruch zu unterwerfen, welche Apparate zu erhalten seien. Die
wandernden unsichtbaren Überwachungsausschüsse und Kommissare konnten
sie nicht ermitteln. Denn beide Männer sprachen zu niemand, waren ihrer
Umgebung selbst verhüllt.

Es kam die Zeit der schweren Erlebnisse für Antwerpen und Calais. Dort
hielten die beiden sich auf. Eine Kraft, die man nicht kannte, arbeitete
sich rasch in die gefährlichsten Geheimnisse ein. Die erschlaffte
Herrscherschicht zuckte zusammen, merkte auf. Kein verdächtiges
plötzliches Hinsterben beim Tafeln, kein fremder Zugriff; sie hatten
Verräter unter sich. Die eintreffenden Kommissare Londons fanden nichts.
In Antwerpen waren eines Tages alle Schalter der Zentralstadt zerstört,
die Schutzwaffen der meisten Herren verschwunden. Die Stadt war wehrlos.
Targuniasch rief zum Angriff. Die Masse hörte ihn erstaunt an, lärmte
verlief sich. Als London erschien, war er untergetaucht. Targuniasch
wühlte weiter. Vergebens. Die Oberen warfen neue Vergnügungen über die
Menschen. Da stand eines Tages das Triebwerk Antwerpens still. Am Abend
lief noch nichts. Zwei Tage nicht. Der Name Targuniasch war auf allen
Lippen. Man fand den Mann verkohlt zwischen den Leitungen eines
Hauptkraftspenders, den er damit zerstört hatte.

Zuklati endete ähnlich in Calais.

Die Besorgnis der Herrscher war aufs Höchste gestiegen. Man saß da,
wußte keinen Rat.

Timbuktu spie Verzweifelte Attentäter auf Rom. Die zwei Frauen, die aufs
tiefste erregend in Francisko am Großen Ozean erschienen, stammten aus
dem kampfzerrissenen Sidney.

                   *       *       *       *       *

Der Umschwung erfolgte nach Jahrzehnten der Attentate und Repressalien
durch die heraufsteigende Generation der Herrschenden. Die alten Köpfe,
mißtrauisch traurig vergrämt unfruchtbar, waren schon auf Paktieren aus.
Da warfen die Jungen sie um, setzten sich an ihren Platz. Die Jungen
hatten das Gefühl der verlorenen verhängnisvollen Situation. Sie griffen
ein, bundartig in den meisten Kapitalen zusammenhängend. Eng an die
Massen schlossen sie sich an, die sie unfeindlich aufmerksam
durchstreiften. Die Massen, gärend führungslos, nahmen enthusiasmiert
den Wechsel hin. Erst wurden einige Stadtschaften von dem neuen Geist
ergriffen, dann viele andere. In Europa vollzog sich der Bruch mit der
Dünkircher Direktive in einer Schroffheit, die die ganze Spannung der
Massen offenbarte. Die Überwachungsausschüsse mit ihren schrecklichen
Geheimnissen verschwanden, die Abriegelung der Kenntnisse gab man preis,
die Senate wurden geöffnet. Die aufrührende Kraft des Ereignisses war
geheimnisvoll. Und dahinter fühlte man lockend fordernd in die Knie
zwingend das Neue.

Und das Neue kam so rasch wie die junge Generation. Begrüßt von den
Massen bewegten sich jetzt durch die Straßen Anlagen Werke
Regierungsgebäude blühende Männer und Frauen. Ritten durch die Länder,
erregten durch ihr Erscheinen maßlose Freude. Sie waren sachverständig
wie die Alten.

Zum ersten Male seit vielen Jahrzehnten tauchten in Städten Frankreichs
Deutschlands Italiens Fahnen auf, an Häusern Flugzeugen Wagen. Wie aus
dem Dunkeln stiegen diese Zeichen mit den Jungen auf. Die noch lebenden
Alten staunten, waren hingerissen, fürchteten sich, warnten.

Etwas Mächtiges war im Begriff auf dem Kontinent zu werden. Die Fahnen
der neuen Demokratie, die in London Paris Calais Berlin und rasch über
allen Landschaften erschienen, sehnsüchtig begrüßt, so daß die Frauen
sich in sie hüllten, die öffentlichen Gebäude wie die Fabriken und
Wohnhäuser ihre Fassaden dahinter versteckten, waren nicht von gleichen
Farben. Oft üppige Zusammenstellungen, die an die alten Nationalfarben
anklangen. Aber überall silbern weiße und goldene Sterne Sonnen und
Monde. Die blühenden jungen Männer und Frauen der Herrscherschicht
trugen die Fahnen über die Landschaften. Die Massen fielen der Sonne dem
Mond den Sternen zu. Diese Sterne und der Mond blitzten an dem alten
Himmel. Von der Erde schlugen jetzt Millionen Herzen heftiger bei ihrem
Anblick. Dies waren keine Frühlingsträume Liebeslieder, was sie bewegte.
Es legte ihnen nicht den Kopf auf die Seite, formte ihre Lippen nicht
zum Seufzer, machte ihr Gesicht schmal, die Beine schwer. Hingezogen
hinkrampfend: sie wußten nicht, was sie wollten. Aber aufs Innigste
wußten sie: das waren ihre Zeichen. Die Wühlereien Insulte Attentate auf
die Senate hörten auf. Die Menschen verschworen sich den Zeichen.
Begehrten sich für sie zu zeigen.

Im Momente, wo die himmlischen Abbilder auf den Fahnen der Kontinente
erschienen, brausten die Wasserstürze, die fern von den Zentren die
Dynamos antrieben, heftiger siegreicher. Die Sonderturbinen der
alleenlangen Werke sangen hoch und tief wie in Chören. Die
Transmissionen die Drähte, rasselnd schnarrend, dumpf stöhnten
kreischten. Etwas Lächelndes Freches blitzte aus den Kabelwerken den
Rohrleitungen der Werkstätten.

In die Menschen der Städte, die um diese tonnenschweren Untiere von
Maschinen liefen, ihre Hebel und Gestänge angriffen, über die Gestänge
sich zogen, war eine Liebe zu diesen eisernen Wesen gefahren. Ihr
Dröhnen Schnattern Einschnappen tat ihnen wohl. Es labte erregte sie wie
eine Liebesbegegnung.

Es war nach dem Mißtrauen und Eigenbrödeln des vergangenen Jahrhunderts,
dem Wuchern Vorsichhocken der Städte und Landschaften eine Verbindung
hergestellt über Europa und bald über die großen drei Kontinente. In die
Senate traten zu den Jungen der Herrscherschicht kraftvolle Männer und
Frauen der fremden Massen der Völker der Versklavten. Die Massen waren
Hände der anderen gewesen, genießende Münder gestreichelte gewärmte
Haut. Über sie brauste der Geist so wild, daß sie, wie sie ihn fühlten,
zu zerstörerischen Angriffen auf die getrieben wurden, die sie so lange
davon zurückgehalten hatten. Die von den Alten vieler Stadtschaften
befürchtete Ausrottung der Herrengeschlechter erfolgte an vielen Orten;
das waren belanglose Vorgänge, die den Verlauf der Dinge nicht änderten.
Die Menschen, die sich jetzt neu an die Apparate warfen, die Mysterien
der Kenntnisse aufnahmen, waren heißer, als die sie ablösten. Kosend, in
stürmischem Überschwang, glückschwellend krochen Männer und Frauen an
die Maschinen, die jetzt ihre waren. Das Eisen erschien ihnen beseelt
wie ihr eigenes Fleisch.

Während ein Branden die Kontinente erfüllte, die letzten Alten der
Herrscherschicht alles verloren gebend ins Grab sanken, zeigte sich
eines Tages in Süddeutschland eine junge Frau auf den Straßen einer
großen Stadtschaft. Trug ein riesiges Banner mit den Zeichen der
Gestirne. Aber es waren nicht nur Sterne Sonne Mond auf dem Banner,
sondern ein Feuer, das von den Gestirnen ausging, die wie Früchte
aufgebrochen waren und Flammen hochwarfen. Das Banner lehnte sie auf
einem Platz an einen Baum, sprang vor den jäh erregten Tausenden, die
mit ihr gezogen waren in einem ausbruchsüchtigen Drang, auf die
Granitschale des Brunnens. Das Wasser der Fontäne stäubte im Wind über
sie, ihre Füße standen im Becken. Oben schwang sie, gelbes sanftes
rundes Gesicht braune Augen, die dünnen Arme, riß sich die Brust auf:
„Wie lange wollen wir herumgehen? Die Straßen betreten? Den Staub, die
Steine? Wozu? Wozu sind wir da, wozu bin ich da? Wißt Ihrs nicht? Ich
weiß es. Wir lieben das Eisen; die Kraft ist in uns, die Stärke, die
keine Zeit hatte. Man hatte uns davon abgesperrt. Jetzt haben wir sie.
Jetzt fühlen wir sie. Sie ist unser Blut unser Leben. Es ist nicht die
Erde. Was soll die Sonne auf unseren Fahnen, Mond Sterne. Nicht Sonne
Erde Sterne. Wir! Wir! Wir! Wir Menschen! Die Sterne aufbrechen! Die
Sonne aufbrechen! Wir können es! Wir haben ein Hirn im Kopf. Da stehen
unsere Maschinen. Unser Fleisch. Ich liebe sie. Was ist kräftiger als
sie. Was ist kräftiger als wir mit ihnen. Meine Seligkeit. Ich will
nicht an mich halten. Kommt, Freunde Freundinnen, zu unserer Kraft! Zu
unseren Kindern! Zu unserem Herz.“ Sie war mit dem Banner, geführt von
ekstatischen Menschen zum nächsten Kraftwerk getragen worden. Ein
Zittern befiel die Arbeiter beim Heranrauschen der Scharen. Durch den
Riesenraum wogte das Banner, das ihnen an die Seele griff. Das Lied von
Targuniasch, dem Befreier brauste. Die Frau schrie vor einem surrenden
rastlosen Ungetüm: „Targuniasch, der Befreier. Er wollte die Werke
zerstören. Wir wollen sie für uns erobern. Unser Blut ist bei uns. Meine
Seligkeit! Meine Seligkeit! Wir wollen uns nicht zurückhalten vor ihnen.
Hin! Ich muß hin!“ Und unter Aufschrei Hinsinken von Frauen und Männern,
besinnungslosem tobsüchtigem Stöhnen und Kreischen stürzte sie sich von
der steinernen Umfassung des Maschinenkörpers in seinen blitzenden
wogenden eisenschmetternden Leib. Keinen Augenblick änderte die Maschine
ihren Lauf, herrisch dröhnte sie in ihrer steinernen Umfassung. Sie
wühlte in ihrem Bett, schlang den Frauenleib, salbte sich mit seinem
gießenden hellroten Blut. Riesig überschmetterte sie Kreischen und
Schreckensstille der Menschen. Ein Mann auf der Umfassung, klein
geduckt, Gesicht, das nicht zeigte ob es lächelte oder weinte: „Hin ist
hin. Was ist ein Leib für eine Maschine. Wieviel muß eine Maschine
fressen, um ein Mensch zu sein. Sie muß nicht glauben, ihr genug getan
zu haben. Das war für das Maschinchen ein Tropfen. Hört an, wenn ich
‚hi‘ schreie, was das Maschinchen dazu sagt. Hi! Hi! Da bin ich nichts;
sie ist lauter. Das braucht mehr als einen Menschen. Wer will mit auf
die Reise. Gurre, gurre, gurre!“ Er lockte. Zu zwei, drei, vier standen
sie oben, blickten von der Umfassung. Der verzerrte kleine schrie: „Ein
Sprung.“ Sie hatten sich angefaßt, waren hin. Die Körper warf die
Maschine im Bogen über sich; es war, als spie sie sie noch mal aus, bis
sie die Überkugelten Zurückstürzenden schluckte. Einen Moment schnurrte
sie, als wenn sie sich innerlich riebe und zögerte; donnerschmetterte
eisentoste weiter. Die Fahne der Frau hob am Schaft eine andere Frau,
der die Zähne schnarrten. Sie war sehr groß; die Fahne hielt sie vor
sich in gefalteten Händen; angstvolle Miene, die Knie vibrierten unter
ihr; sie trat auf die Umrandung. „Keiner mehr heran. Laßt die Maschine
ruhn. Sie schluckt. Für heute genug.“ So donnerwetterte die Maschine,
daß sie flohen.

Sie waren in vielen Städten so hingenommen. Sie sprangen auf die Beute.
Die Fahnen der jungen befreienden Männer und Frauen wehten über den
Landschaften. Knechtend hinzwingend wehten sie über den Landschaften.
Sie rissen die Blicke weg von den Äckern Straßen Fabriken. Wie ein Wurm
schlich es hin zu den Männern und Frauen, die fühlen konnten; aus der
Berührung der Werkzeuge, dem Blick auf die Werkfronten, den Reden der
Menschen, den Gesten schlich es in ihre Arme, hob sie an die Brust, ließ
sie an die eigene Brust sich legen, ließ die Kniee sich
aneinanderdrücken, die Füße Knöchel sich aneinanderpressen, drückte das
Kinn auf die Brust, daß sie standen und sich wieder frei machten sich
schüttelten wild räkelten.

Um die großen Anlagen die Werften Fabriken, um die Lager der Flugzeuge,
neben den Schienen den wandernden Häusern gingen in Dunkelheit die
Menschen, die farbigen heißen die weißen gelben, schielten, waren
bezwungen, wanden sich, barmten: „Was sollen wir tun?“ Sie trugen die
losen und engen Arbeitskleider. Die Ruhe hatten, hatten bauschige Jacken
Überwürfe an sich hängen, wallende Hüte Schärpen, schleppten sie die
Dämme und Mauern entlang. Wie sie sich duckten: „Tu uns nichts. Was
sollen wir tun. Sag uns: was. Sprich: was. Her den Mund zu uns, an
unsere Ohren. Wie es uns knirscht in der Brust; wie wir klein sind.
Nein, wir sind groß. Zeig uns, wie wir springen sollen; wir werden
springen.“ Bäumten sich: „Wo ist Rettung.“

Sie litten unter dem Drang. Durcheinander von Liebe Inbrunst
Zerstörungswut. Zerstören mußten sie die Apparate, die sie liebten. An
vielen Orten taten sie es. Sie taten es nicht gern. Sie waren nicht
anders als die Männer und Frauen, Herren und Herrinnen, die dann in
großen Schleiern und Schatten, sichtbar und unsichtbar hinter ihnen
waren, sie beim Nacken ergriffen, zum Hinrichten und Vernichten
fortschleppten. Von diesen Händen, die sie steif hielten, hingen sie
herunter. Sie waren eins mit ihnen, lachten und wanden sich zappelten
tobten: „Tötet uns. Was macht es aus. Es wird uns nicht ändern.“ Die
Leiber, die sie schleppten, – die Schatten, sichtbar und unsichtbar
hinter ihnen, – schrien: „Warum habt Ihr Euch an unserem Blut
vergriffen. Warum an unserem Blut. Ihr sollt es sagen. Dies sollt Ihr
sagen.“ Von denen, die an ihren Händen hingen, lachend zuckend: „Sar
Tiglat! Iddiu! Ihr wollt es wissen. Was wollt Ihr von uns wissen. Wir
sind Euch voraus. Ihr werdet uns töten. Ihr nehmt uns das Leben ab. Wir
danken Euch.“ Man warf sie in keine Maschine, um das Werk nicht zu
schänden. Nahm keinen Stahl, um ihn nicht zu beschmutzen und zu kränken.
Suchte Felsen Wasser Sümpfe Flußlachen auf, zerwarf erstickte sie. „Oh
hätte ich mehr Hände“ schrieen die Richter. „Oh hätte ich mehr Leiber“,
die Vernichteten. Wut und Entzücken in beiden.

Was war mit den Männern und Frauen. Wie sie tausendmal kampflos
nebeneinander stiegen, von Inbrunst und Verwirrung vor dasselbe Ziel
getragen, so hielten sie sich tausendmal bei den Fingern, an den Daumen
Knöcheln Ellbogen Schultern. Die Finger zogen sich weg, krampften
zusammen. Die Daumen stellten sich auf, bohrten sich ein. Die Ellbogen
spreizten sich, stemmten sich, zuckten wie Scharniere zusammen, schlugen
wie Türen zusammen. Die Schultern waren nicht anders wie Wasser. Wie ist
das Wasser. Das Wasser ist weich. Faßt man auf das Wasser, so weicht es
aus, schwindet hin, ist nicht da, schlägt über die Finger und ist da und
nicht weg, hat Finger Hände Knöchel verschlungen. Die Schultern nahmen
die Hände, sanken wie Tasten unter den Fingern herunter, bebten auf,
wogten tiefer, schwankten wie ein Boot rechts und links, fegten wie
Segler zur Wasserfläche herunter. Fuhren rechts aus, links aus. Das war
wie Schilf unter dem Wind, flatterte ab, schnellte auf, schwamm in Ruhe.
Spritzte wie Milch in Röhren herunter, drang hochgesogen empor. Die
Schultern, – bis ihre Muskeln sich verfestigten aufsprangen sich
versteinten und es hieß: leben oder sterben. Kein Geschlecht begehrte
vom andern, es möchte schwächer sein. Jedes begehrte vom andern, es
möchte stärker sein. Damit man es wilder eiserner fürchterlicher tiefer
fassen und daran verderben könnte.

                   *       *       *       *       *

Von Italien begann es. Die Landschaften waren plötzlich erfüllt von
Scharen, die sich aus den Werken Siedlungen lösten. Die gaben vor, der
Geist der Maschinen Apparate zu sein und ergossen sich über die Gebiete
der Städte. Es waren wilde halbverwirrte Scharen. Mit Maschinenrädern
schwarz blau rot ihre Brüste bemalt, die sie offen trugen. Die
knatternden Riesenbanner mit Sonne Mond Gestirnen über und vor ihnen.
Feuer brach aus den Gestirnen. Oft, viel öfter aber brach es nicht aus
ihnen, sondern stieg Feuer aus der Dunkelheit unter ihnen. Der feurige
Schwalch schlug zum Himmel, hüllte die erblassenden Zeichen ein. Die
Dunkelheit war nichts als eine Wolke. Manchmal war sie ein Kopf eine
Brust der schwarze Raum zwischen zwei hochgehobenen Menschenhänden.
Zwischen denen brunstete knisterte flutwogte schwoll das Feuer auf, zur
Seite, leckte herunter. Diese Menschen waren Mordsenger. Sie zogen
autonom hin. Man wagte ihnen, die furchtbar finster durch Deutschland
Frankreich Italien Irland schritten, nicht zu widerstehen. In Amerika,
an der Ostküste zerstörten sie kleine Siedlungen. Dann äscherten sie
große Teile von Chicago Washington ein. Wie der Blizzard erschienen sie,
wie der Heerwurm machten sie unter sich den Boden kahl. Stiegen über
Gebirge, hielten nicht vor Wüsteneien. Es war kein einziger unter ihnen
Mörder Mordbrenner Mordsenger. Immer wurden sie, was sie waren, wenn sie
zu den wandernden getriebenen schäumenden brandenden Scharen stießen.
Sie schmolzen zusammen mit ihnen.

Stolz trieben sie an Flüssen vorbei, die sie austrockneten zerrissen
umlenkten. Zu nichts trugen sie schwere Apparate mit sich, als um Erde
und Himmel anzufassen. Sie suchten Widerstände auf. Rasierten vor sich
mit zwei drei ihrer Flammenschleuderer Haine und Forsten, die ihnen im
Wege standen, stampften über die heiße kahle Landschaft. Kinder, die
geboren wurden, warfen die Mütter widerwillig hinter sich. Diese
Menschen erstickten an sich selbst. Denn zuletzt drangen sie auf sich
selbst ein. Die Gewalt, die sie hatten, mußten sie auch an sich zeigen.
Aus Massenopfern wurden Massenselbstmorde. Es waren Ereignisse, die in
den durchschrittenen Landschaften furchtbar und ansteckend wirkten.
Zahllose wurden in den Wirbel hineingezogen. Grimmig fordernd blickten
die brennenden Fahnen auf die Gebiete herunter. Ihr Knattern klang
erregender als Kriegsgeheul. Die Fahnen riefen die Männer und Frauen aus
den Häusern. Sie mußten sich stellen, in Reih und Glied, als wenn es zum
Kampf ginge. Und dann wurden sie über fremde Stadtschaften geworfen,
zerbrachen Wälder, rissen Flüsse auseinander, traten sich gegenüber,
Mann und Frau, um sich hin zu ringen, den Strick von eigener Hand um den
Hals, das Messer in eigener Hand, den Strahl den man selbst gerichtet
hatte, gegen die bemalte Brust, schweißige Stirn, das heißblickende
erwartende Auge.

Jahrelang fluteten und ebbten die Mordsenger und Scharen der
Selbstmörder über die westlichen Landschaften. Bis aus ihren eigenen
Massen die Gewalten entstanden, die sie vernichteten. Inka Stochod, ein
Pole, dämmte die Welle, von der er selbst eine Zeit getragen war. Mit
einer Handvoll Ergebener, kraftvoll nüchtern, dabei ekstatisch heiß wie
er, tötete er im Ostdeutschen an einem Pfingsttage eine Anzahl der
turbulentesten Menschen neben sich, Männer und Frauen, die schon
übereingekommen waren, sich zu opfern. Stochod beseitigte sie, ehe sie
es konnten. Den Scharen, die in der schlesischen und mährischen
Landschaft in seiner Nähe waren, berichtete er das Geschehene, überzog
sie, warf sie hin. Mit einigen weiteren Schlägen erstickte Stochod,
Menschen und Waffen aus Berlin Hamburg heranziehend, die Erregung in
Ost- und Mitteldeutschland. Schwankende Senate der südlichen deutschen
Landschaften gewannen Kraft, gegen die Banden in ihrem Gebiet
vorzugehen. Stochod konnte zur selben Zeit in London von der Befriedung
des großen mitteleuropäischen Gebiets berichten, wo die mit ihm
erschienenen Skandinavier und Italiener fassungslos von dem Schreckwesen
sprachen, das ihr Gebiet heimsuchte.

Auf dieser Konferenz in London waren Stochod und Arsen Yorre aus Lyon
sich gegenübergetreten. Stochod mittelalterlich lockenwallend, in der
bunten prächtigen Tracht seiner Zeit, mit Pelzmütze und steiler Feder,
ein schwerer immer lachender Mensch, der, dem furchtbaren Treiben
entrissen, von Späßen übersprudelte, mit seinen fleischigen Händen sich
selbst Beifall klatschend, listig aus seinen gelblichen Augen blinzelnd.
Er umarmte Yorre, den sehnigen aus Eisen gegossenen Südfranzosen, der in
Frankreich begonnen hatte, was Stochod schon beendet hatte.

Stochod sich dehnend brüllte von seinen einfachen Methoden. Sie standen
im Nebel auf dem Balkon in der Downing Street. Das heraufknatternde
Leben unter sich konnten sie nicht erkennen. Sie schwuren sich Hilfe.
Stochods Geliebte und Mitregentin, eine junge aalglatte Polin, schwarz
umrahmtes mit einfachen Linien gezogenes Gesicht, ließ ihre Augen
blitzen, als sie die beiden zusammenfand. Sie sah Yorre streng an; als
sie aber eine Weile zugehört hatte, griff sie den Franzosen bei den
Schultern an. Er ließ sich betasten und spannte seine Muskeln an. Sie
konnte ihre Finger nicht von seinen Armen lösen; er klemmte ihre Hände
an seinem Brustkorb fest, daß sie schrie. Sie ließ sich dann von ihm
umarmen und auf den Mund küssen, hängte sich rasch wieder an Stochods
mächtige Brust, der ihnen strahlend zugesehen hatte, und ihren biegsamen
schlanken Rücken unter freudigem Brüllen streichelte. Von Lyon aus warf
Yorre in wenigen Wochen die zerstörerischen Fanatiker nieder. Vor Paris,
wo sich die restlichen Banden eingeschlossen hatten, erschien er in
einem märchenhaften Aufzuge. Er lagerte sich zehn Tage vor der Stadt.
Die Fernwaffen von Paris konnten ihm nichts antun. Hinter ihm waren die
Kenntnisse Londons Amerikas Deutschlands. Er ließ alle in seine
Stellungen, die hereinwollten. In der Stadt Paris war die Tobsucht des
Mordens und Selbstmordens nicht zum Stillstand gekommen; Yorre ließ sie
ohne Bewegung sich ausrasen. Schauernd standen seine Massen vor der
Stadt, hinter deren machtlosen Masten und magnetischen Riegeln das Feuer
brannte, das von den Ebenen weggetrieben war. Draußen zuckte es in ihnen
noch. Sie spannten die Muskeln an, drängten es herunter.

                   *       *       *       *       *

Unter dem starren großartigen Zwang der Technik und ihrer bestrickenden
Wirkung auf die Massen kam in der Mitte des fünfundzwanzigsten
Jahrhunderts die Wasser- und Sturmlehre auf. Es wurde von einigen Köpfen
der Masse, – unter ihnen besonders der Indianerabkömmling Surrur in
Edinburg, ein Guato von Paraguay, und der Norweger Sörensen –
hingewiesen auf die sehr große Zweckmäßigkeit und das fast maschinelle
Zusammenarbeiten in den Tierstaaten. Hier folge jedes Tier einem ganz
bestimmten Arbeitsdrang, der für alle nützlich sei, trage Halme
zusammen, zerbeiße Pilze, baue Waben. Dies seien Dinge, die eine Gruppe
und Arbeitskategorie gleichmäßig nach ihrer Kraft verrichtete,
unpersönlich triebmäßig reflexartig. Man könne nicht sagen, daß der
menschliche Zustand der Zersplitterung dem gegenüber einen Fortschritt
bedeute. Es sei unrecht ein Privatleben zu führen und Individuen zu
dulden. Sie führten aus, es genüge, wenn eine gewisse kleine Anzahl
Menschen sich dazu hergebe, bestimmte Sonderfunktionen auszuüben, zu
denken planen Personen zu sein. Im übrigen sei es im Interesse der
Menschheit, für die ungeheure Masse einen gleichmäßigen Dauerzustand
herzustellen, ihnen das doch nie ausgelebte Eigenleben zu nehmen, sie
vegetativ einzuebnen. So garantiere man Gleichmäßigkeit und Glück des
Einzelwesens. Und nur so. Denn sicher könne weder durch Lehre noch durch
private Bemühung der Einzelne zu einem Glück kommen oder vor Unglück
bewahrt werden. Sie wiesen auf das Fluktuieren, das bekannte ganz
ziellose Schaukeln der Weltgeschichte. Die Ursache für dieses Hin und
Her, das Aufsteigen und Abstürzen großer Reiche, blühender Zentren liegt
in der guten Absicht der Individuen und Völker, von sich aus etwas zu
leisten. Die Massen sind aber zerspalten in Schichten Parteien bis herab
zu Einzelpersonen; einiges gelangt zu dem, einiges zu dem, man versteht
sich nicht, bekämpft sich, das ist der Keim des Untergangs. Die
Einebnung zu einer Menschenmasse muß jeder anderen Bemühung vorangehen.
Ein Soldat ist gesättigt, jenseits von Glück und Unglück, in seinem
Dienst. Verläßt er Reih und Glied, geht er allein mit den Kameraden oder
in eine Familie, so beginnt das Schwanken seine Unbrauchbarkeit
Gefährlichkeit.

Die Wasser- und Sturmlehre Sörensens und Surrurs zeigte auf die
Einförmigkeit der Wasser- und Luftteilchen; man könne nur als Phantast
annehmen, daß es Luftpersonen und Wasserpersonen gäbe. Milliarden Luft-
und Wasserteilchen sind völlig gleichartig zusammengeschoben, bilden
Luft und Wasser. Luft und Wasser aber sind Dinge, gewaltiger an Kraft
als Staaten und Menschenhaufen und von unglaublicher Beständigkeit.
Surrur, dem die Technik der Lebensmittelsynthese Außerordentliches zu
verdanken hatte, behauptete ernsthaft und nachdrücklich von Edinburg
aus: es bliebe den Menschen nichts weiter übrig als Einzeltier oder
vegetative Masse zu werden. Das Einzeltier sei unmöglich. Bliebe nur die
vegetative Masse. Damit sei gegeben: Aufhören der Geschichte, Sicherheit
der Art Mensch. Er dachte das durch staatliche Züchtung, über
Jahrhunderte fortgesetzt, durch biologische Eingriffe, besonders
Ernährung zu erreichen.

Mit Lehren dieser Art wurde ausgesprochen, was sich im europäischen
Völkerkreis schon bewegte. Es sollte sich zeigen, daß sie
ununterdrückbar immer wieder auftauchten und einem tiefen Drang der
gehetzten Wesen entsprachen.

Dem aufkommenden einförmig strengen Massenideal konnten sich die Frauen
am leichtesten unterwerfen. Damals forderte niemand Milde.
Erbarmungsloses Sichten und Ausscheiden wurde als selbstverständlich
angesehen. Man vernachlässigte planmäßig den Schutz der Schwachen.
Unglückliche wurden nicht bedauert, sondern verachtet. Das
Humanitätsgefühl, das ererbt war, schwand. Überall blieben am Rand der
großen Menschengesellschaften, in den größten Städten, Organisationen
zurück, die, von Abkömmlingen der alten Herrengeschlechter geführt, es
sich nicht nehmen ließen, Sieche Greise Kranke zu pflegen. Sie waren in
vielen Landschaften, in manchen Jahrzehnten, verfemt, konnten sich nur
unter Decknamen im tiefsten Dunkel am Leben erhalten. Und besonders das
anströmende Volk war es, das diese Wohlfahrtsgesellschaften haßte, ihre
Niederlassungen oft sturmartig vernichtete. Einzig am Glanz der Apparate
teilzunehmen, ihre Kraft vorwärts zu treiben, beseelte die Menschen:
hier gediehen die Frauen. Der schwächliche Typ der westlichen Frau
verschwand. Die neu aufkommenden Frauen haßten nichts so als zarte
Frauen, die die Wonne der Männer gewesen waren. Sie mißbrauchten sie,
machten sie zu Dienerinnen, demütigten sie grausam, deren Art nach
wenigen Generationen einging. Überall taten sich die Frauen beim
Absterben der Familie zusammen, übernahmen die Initiative für den Schutz
und die Aufziehung der Säuglinge und kleinen Kinder. Sie hatten die
gleiche Sachlichkeit und Kälte wie die Männer, dazu größere Brutalität.
Lebten in gewaltigen Kameraderieen, die sich über die größten
Stadtlandschaften ausdehnten, saßen aber auch in den einzelnen Werken
und rangen mit den Männern, die sich gegen die Frauen wehrten wie gegen
andere Männer. Die Männergesellschaften, die sich dann bildeten, konnten
an Kraft nicht mit den Frauenbünden wetteifern.

In diesen Bünden organisierten die Frauen den Dienst und die Verteilung
der Geburten. Sie waren sich bewußt, welche Einbuße ihr Geschlecht durch
Schwangerschaft Geburt Stillen der Kinder erlitt. Es hieß den Nachteil
möglichst gering gestalten, die Fähigkeit der Frau, Kinder zu gebären,
aus einer Schwäche zu einer Stärke zu gestalten. Die Frauen waren es,
welche lange Zeit allein unter sich bestimmten, wer von ihnen und wie
viele sich zum Gebärakt herzugeben hatten. Denn es war klar, daß man
ebensoviel Kampfeinheiten verlor. Erst in diesem Augenblick wurde die
jahrhundertelang diskutierte Frage der Menschenzüchtung beantwortet,
gelegentlich der Lösung einer anderen Aufgabe. Die Frauen stellten sehr
widerstandsfähige starke ihnen genehme Exemplare für die Kindererzeugung
bereit, von denen sie erwarten konnten, daß sie durch Geburten nicht
niedergebrochen wurden und daß sie kräftige Kinder bringen würden, an
die nicht überflüssige Kraft vergeudet wurde. Die Einrichtungen, die die
Frauen aller Kapitalen nach Absterben der Familien für die Mutterweiber
schufen, waren die einzigen von humanitärem Anstrich und gehörten zu den
großartigsten und bestgeschützten Gesellschaftserzeugnissen der Epoche.
Allein die Frauen, und zwar eine lange Zeit die der Bünde, bestimmten
und gaben bekannt die zur Vaterschaft geeigneten Männer. Früchte
unbekannter Herkunft wurden rigoros vernichtet.

Hätte diese Epoche der westlichen Menschheit länger gedauert, so wäre
die weibliche Vorherrschaft besiegelt gewesen. Denn die Frauen hatten es
in der Hand, und erfaßten es rasch, daß nach Verfall des sanften Hin und
Her zwischen Mann und Weib das Gebären der Kinder die furchtbarste Waffe
gegen die Männer war. Frauen konnten zwar vergewaltigt, aber nicht zum
Gebären gezwungen werden. Sie hatten es in der Hand, die Zahl der
heranwachsenden Männer zu vermindern. In den Frauenbünden lebte schon
der Gedanke, nur eine geringe Zahl männlicher Kinder am Leben zu
erhalten. Sie hatten vor, das Andrängen fremder Volksmassen abzuwarten,
dann diese Waffen gnadenlos zu gebrauchen. Man hörte schon aus
nördlichen Stadtschaften, in die langsamer Fremde eingeschwemmt wurden,
daß die Frau in den Senaten die Oberhand hatte, in ihrem Gebiet
Vielmännerei durch ihre Geburtenpolitik erzwang.

Da machte das Übermaß plötzlich auftauchender Entdeckungen und
Erfindungen, dieser so leidenschaftlich und streng von allen betriebene
Fortschritt, allen Plänen ein Ende.

                   *       *       *       *       *

Wilder als je erhob sich um das Ende des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts
und den Beginn des neuen das Gespenst der neuen Erfindung, des
vernichtenden Fortschritts. Erfindungen nahmen ganzen Industrieen den
Boden, leerten wie ein Krieg ein Dutzend blühender Städte aus, die sich
auf die Wanderschaft begeben mußten. Es war eine Wanderung von Völkern,
derer sich die Nachbarstaaten annehmen mußten, falls sie sich nicht
kriegerischer Überflutung aussetzen sollten.

Nichts ist an Wut zu vergleichen dem Kampf, der gegen die Erfindung des
Lichtanstrichs geführt wurde. In dem dunklen Helsingfors wurde einmal
das Geheimnis des Anstrichs von einem Mann gefunden, den das
Fluoreszieren der Fluorite, Sodalithe, des Berylls nicht losgelassen
hatte.

Frau Garner, deren Sklave er war, oder Freund oder Gehilfe, griff die
schwärmerischen träumerischen Einfälle Tikkanens auf, mit scharfem
Durchschauen. Zielbewußt arbeitete sie jahrelang, ohne Tikkanen davon zu
sagen. Als sie Tikkanen in ihr völlig finsteres Versuchslaboratorium
kommen ließ, aus einer Stahlbombe an der Tür die Wand neben sich
anspritzte, und ohne daß der stumm und sanft wartende Mann einen Apparat
sah, die bereitgestellten Gasflaschen gegen die feuchte Wand hauchen
ließ, schwoll zu seiner maßlosen Verwunderung eine Helligkeit neben ihm
auf, grünlich, dann rötlich, gelb, zuletzt ein Weiß, das alle
Gegenstände Gestalt, Farbe annehmen ließ. Das Staunen des bezwungenen
Mannes war grenzenlos.

Tikkanen erkannte nicht die Elemente der Erfindung. Erst wie die Frau
ihm die Analyse der Spritzmasse gab, fand er sich zurecht. Ihm dämmerte
schwermütig etwas. Er sprach es aus, als sie die Verbesserung und
Vereinfachung der Methode überdachten: im Grunde schiene ihm die
Entdeckung mit seiner Beobachtung am Strand der Insel Smölen
zusammenzuhängen. Er lächelte dabei diskret. Sie hatte dies Lächeln
schon lange erwartet. Sie ging mit ihm ohne ein Wort zu sprechen in den
Versuchen weiter. Sie forderte ihn auf, die Verstärkung der Leuchtkraft
beim Auftreffen der Masse auf pflanzliche oder tierische Gewebe zu
prüfen. Die Hunde, deren sie sich bediente, reagierten, wie sie schon
wußte; sie husteten ihn an. Der Mann überlebte die Hunde nicht lange.
Nach einem Jahrzehnt war die Substanz fertig. Sie bedurfte einer großen
Zahl geübter Sonderarbeiter und Sonderfabriken. Aber hebelte hundert
Werke aus, die Licht Lichtträger Lichtfortführer erzeugten. Es war so
geworden: niemand war vor Erfindungen sicher, die aus dem Hinterhalt auf
die Menschen fielen. Wie früher Epidemien die Menschen verheerten,
Städte ausrotteten, so jetzt das ruckweise Anwogen neuer Erfindungen.
Werke Anlagen Städte Landschaften wurden auf Grund von Erfindungen von
den überterritorialen, meist London–New-Yorker Konzernen hingestellt,
die Menschen aus allen Erdteilen für den bestimmten Zweck ansiedelten.
Bis ein neuer Fortschritt sie niederwarf verschwinden ließ. Die planende
Industriegruppe zog sich von ihrer Gründung zurück; auf dem Kontinent
aber wallten ziellos neue Hunderttausend. Wie sie drohend entwurzelt
ausgehalten von den Nachbarstädten und Landschaften über ihren Boden
fluteten, verlangten sie Schutz vor den Erfindern, oder wie sie sagten:
vor den Konzernen.

Da griffen die örtlichen längst verblaßten Senate dies Stichwort auf.
Sie kamen den Massen entgegen. Die Senate schworen, jeder Zertrümmerung
der Stadtschaften durch fremde kriegerische oder technische Angriffe
Widerstand zu leisten. Dann stellten sich die Stadtschaften, stolzer als
je aufwachsend, auf eigene Beine. Die zertrümmerte Gewalt der großen
Familien wurde neu gekräftigt. Die Stadtschaften mußten sich zum Teil
nach rückwärts entwickeln, vielseitig arbeiten und erzeugen, um nicht
durch einen Stoß umgeworfen zu werden. In den Stadtschaften bewegten
sich die gezügelten Massen sehr ruhig. Sie durften brüllen: „Weg mit
neuen Erfindungen!“ Dieser Haß war es auch, der den neuen Herren es
erleichterte, die Zahl der zur Technik und Wissenschaft zugelassenen
Menschen wieder zu rationieren und sich selbst zu befestigen. Die Senate
ließen sich offen das Mandat geben, neuaufkommende Techniken zu prüfen
und ihre Verwendung zu genehmigen. Die Stadtschaften hängten sich eng
aneinander. Es bestand ein Ring der Stadt- und Landschaften. London,
sehr aufmerksam, kontrollierte sie mit ihrem eigenen Einverständnis.

Die Herren der Städte aber, mit Volkszustimmung zu großer Macht gelangt,
saßen hohnvoll hoheitsvoll da, Männer und Frauen, und lachten. Lachten,
wie die Völker ihnen vertrauten; sie wollten gewiß helfen, daß den
Städten nicht der Boden durch neue Erfindungen entzogen wurde. Lachten:
„Wir werden euch nicht den Boden wegziehen lassen. Wenn Ihr nur wüßtet,
auf welchem Boden Ihr steht.“

Es liefen damals Vertreter von Sekten und Kirchen in allen Landschaften
herum, warnend vor Fortschritten, vor den schamlosen Weltkonzernen und
ihrem zerstörenden Wirken. Sie warnten, wie sie wieder starke Männer und
Frauen an der Spitze der Städte und Landschaften sahen, vor diesen
Geschwistern der Melise von Bordeaux, den immer wiederkehrenden Bösen.
Man könne nicht erraten, was die Macht, dieses höllische Untier, das
diese überfallen habe, mit ihnen anfangen werde. Die Oberen strahlten.
Gaben allen Sicherheit Beschäftigung Glanz.

                   *       *       *       *       *

Mit dem Aufkommen der künstlichen Lebensmittelsynthese im
sechsundzwanzigsten Jahrhundert trat ein beispielloser allgemeiner
Umschwung ein. Es erfolgte eine Veränderung aller Lebensverhältnisse,
zugleich die Nötigung, zu strengen ja strengsten Herrschaftsformen
zurückzukehren. Der Gewalt dieser Nötigung konnte kein gutgemeintes
Protestieren standhalten. Die aus den Massen Kommenden waren es, die am
intensivsten die furchtbare Entdeckung betrieben und die Reaktion
herbeiführten. Die führenden Senate hatten vehement die Arbeiten
betreiben lassen; ihr Fortschritt stürzte sie in Verwirrung. Als die
ersten glücklichen Resultate nach Jahrzehnten des Tastens vorlagen,
erschraken sie. Ließen die Arbeiten erst unterbrechen, neu beginnen;
dann hielten sie die Resultate zurück. Die Erfindungen durften nicht
heraus, die Erfinder saßen in ihren eigenen Reihen. Jahrzehntelang lagen
in den Laboratorien von Chicago und Edinburg die Versuchsanordnungen
fertig, deren Ausführung katastrophale Wirkungen auf das Zusammenleben
der Menschen üben mußte.

Man war nicht den Weg der einfachen anorganischen Zusammenstellung
gegangen, sondern drang von Beobachtungen des pflanzlichen und
tierischen Organismus aus vor. Die ultramikroskopische Beobachtung und
Feinregistrierung an überlebenden Organen hatte nach ungeheuren
Schwierigkeiten Fehlgehen, bei unermüdlicher Arbeit ganzer Bataillone
von Chemikern Physikern Physiologen Klarheit geschaffen über die
Umsetzungsvorgänge im lebenden Körper. Es hatte der größten Fortschritte
in der Physik, im Bau der Ultramikroskope, der elektrischen Maßapparate
bedurft. Von Alice Layard in Chicago, einer weißen Frau, einem
Wunderexemplar der Menschheit, die von phantastischer Schönheit war,
kamen entscheidende Anregungen, in der Registrierung, der automatischen
Aufzeichnung von begleitenden mikroelektrischen und Wärmevorgängen in
den Organzellen. Darauf lief die Zerlegung der komplizierten Aufbau- und
Abbaumechanismen rasch ans Ziel.

Die Physiker und Chemiker emanzipierten sich vom Tier- und
Pflanzenkörper. Man dachte längst mit Widerwillen und halbem Lachen an
die Hungersnöte, die ein einziger dürrer Sommer über ganze Landstriche
bringen konnte; diese absurde Abhängigkeit der Menschen von Hitze und
Trockenheit. Diese Chemiker und Physiker haßten nichts so wie grüne
Saatfelder Wiesen, die burleske Ansammlung von Viehherden. Wie aus
früheren Erdperioden ragten noch in diese Zeit Schlachthöfe Wurstläden
Bäckereien hinein. Bäckereien: das waren Dinge, die man auf
altassyrischen Tontafeln meldete.

Der große Meki in der Stadtlandschaft Edinburg hatte das führende
Laboratorium. In ihm arbeiteten zweihundert ausgewählte Menschen. Wer
nicht mit belangloser Teilarbeit beschäftigt war, verließ das Gebiet
jahrelang nicht. Meki, der dem Edinburger Senat angehörte, war vom Senat
gehalten, die Bewachung seiner Gehilfen streng durchzuführen, bei
Verdacht auch nicht vor Internierung sich zu scheuen. Man erzählte
damals und später viel von der grünen Tafelrunde Mekis. Grüne
gleichmäßige Kleider trugen die Männer und Frauen Mekis. Sie saßen
zweihundert an ihren Tischen in dem großen Wohngebäude hinter den
Instituten. Im selben Raum standen, in dem hufeisenförmigen Zwischenraum
ihrer Tische, kleine Tafeln, an denen in violetten Kostümen Menschen
aßen und tranken, die man Gäste nannte. Sagte man „Gäste“, so zog man,
wenn man frisch in das Institut kam, leicht die Oberlippe zum Lächeln
an; ältere runzelten die Stirn. Es waren die Menschenopfer, die man für
die Versuche brauchte, sobald sie in ein gewisses Stadium getreten
waren. Sie sahen aus wie die anderen; allmählich veränderte sich ihr
Anblick, sie wurden durch andere ersetzt. Der Senat schickte aus der
Stadt auf einen Hinweis die Menschen herauf, niemals unruhige
ängstliche, noch Menschen, die Verdacht schöpften, sondern stets
Beliebige, unter dem Schein der gewünschten Mithilfe und Einweihung in
die Geheimnisse. Aber man weihte sie nicht ein, diese hundert Menschen,
die sich wunderten, wie man sie täglich wog, ihre Körperwärme maß, sie
in Gastzimmer tat; aber sie nahmen keinen Anstoß daran, denn sie sahen,
daß auch die Grünen sich selbst untereinander so wogen und
kontrollierten. Sie gingen in den Wäldern mit den anderen, liefen
trieben Sport, aber immer wieder verschwanden welche. Sie kannten nicht
das weit zurückliegende riesige Lazarett, das neben den Stallungen für
kranke Pferde und Hunde tausend Betten für Menschen hatte. Denn so viel
Leidende häuften sich von Zeit zu Zeit an. In Einzelräumen lagen sie; zu
keiner Zeit sprach einer den anderen; und wer genesen war, wurde nach
Chicago gesetzt in die Nähe der Station Alice Layards, die die Menschen
unter Augen behielt.

Die Violetten Mekis kannten auch nicht den weiten sonderbaren Friedhof.
Das waren in den Boden gebaute kleine Betonkeller, die hell zu
beleuchten waren. Ging man die Treppe herunter, so stand vor einer tief
ausgekehlten Wand eine Zahl von Kolben Gläsern Becken, die Öffnungen
teils verschlossen, teils mit Hähnen versehen, durch die zischend
Gasartiges ein und aus lief. Kleine Ventilatoren trieben surrend die
scharf säuerliche Luft des Kellers durch ein Schornsteinrohr aus. Jedes
Glas und Becken war signiert; angekettet an der Wand hing ein mächtiges
Buch voller Eintragungen. Über ihren Tod hinaus wurden die Violetten
verfolgt, die Veränderungen ihrer Organe nach dem Aufhören der
Verbindung mit den andern weiter geprüft. Es wurde niemand den Grünen
gleichgültig, wenn er starb und das verlor, was man oberflächlich seinen
„Geist“, sein „Leben“ nannte. Aus den Speisesälen und Laboratorien
stiegen sie auf den Friedhof, maßen weiter Wärme, entnahmen
Flüssigkeiten, setzten Stoffe zu, regulierten die Gaszuführung, führten
elektrische Ströme durch, jagten Strahlen durch die ruhenden Teile. Die
Violetten wußten nie, was mit ihnen geschah. Sie glaubten zu leben zu
essen zu trinken zu atmen wie die anderen. Aber sie aßen Scheinspeise,
tranken Scheingetränke, atmeten Luft in ihren Zimmern, in ihren gut
abgesonderten, verschlossenen Gastzimmern, die mit geheimen Substanzen
gesättigt war. Was man ihnen vorlegte, im hufeisenförmigen Zwischenraum
zwischen den plaudernden Tischen der Grünen, sah aus wie Braten,
schmeckte wie Soße Wein Kuchen Kaffee Schokolade. Bisweilen und fast
immer im Beginn war auch der Braten, die Soße da, Träger der Prüfstoffe.
Später gab man nur Scheinnahrung: fleischähnliche Massen Gallerte, die
gehärtet war oder leberartige Dichte hatte. Sie war angereichert je nach
dem Versuch mit den Substanzen, die man prüfte.

Hier gingen, in den Wäldern Zimmern Sälen, die Violetten, die Gäste,
junge Männer und Frauen aller Rassen, als wäre nichts. Bisweilen abends
wurde einer geholt, ein Mann und eine Frau. Zwei drei der Grünen standen
in der stillen Schlafkammer vor dem aufgerichteten Wesen, das seine
bunten Kleider an den Boden geworfen hatte, fragten das Weib den Mann,
ob es bereit sei eins seiner Glieder zu opfern. Das zuckte zusammen
schrie, war im Moment narkotisch betäubt. Oder es senkte langsam, Blick
um Blick mit den ernsten Grünen tauschend, den Kopf, sann und fragte
zitternd. Es gab viele, die nicht schrien, sondern sannen und fragten.
Sie erhielten jede Aufklärung. „Warum nicht, warum nicht?“ knirschte es
zwischen den Zähnen „wenn es Euch nur gelingt“. Und sie gingen zwischen
den Grünen in einer Auflockerung ihres Inneren, ganz schwebend und
abwesend, weggetrieben durch die Korridore. „An mir soll’s nicht liegen.
Zeigt, was ihr könnt.“ Und triumphierend überflogen sie, als hätten sie
es selbst hergerichtet, die blendend erleuchteten weißgekachelten
Beobachtungshallen mit ihren Blicken, die Tische, auf denen Apparate
standen, die eigentümlichen Glaskästen, Särgen ähnlich, in denen
Menschen und leinenbedeckte Gliedmaßen lagen, die sich bewegten,
sonderbar die Finger spreizten, griffen. Freudig nahmen sie den Anblick
auf. Es surrte rauschte um sie. Eigentümliche Hitze wehte überall, kam
aus den Spalten der Glaskästen, in denen Menschen, von Röhren Drähten
umgeben, von Flüssigkeiten umrieselt lagen, geschlossenen Auges, hell
beleuchtet, deutlich die Brust hoben und senkten. Sie hatten selbst
bald, glückgeschwellt wie sie waren, die entrückende Maske vor dem
Gesicht.

Um sie, in gläsernen Schränken, in Kästen Wasserbetten, bei wechselnder
Temperatur von Erdkälte bis zu hoher Wärme lagen auf Watte, schwammen in
Behältern umhüllt und bloß, weiße und rote Organe und Organteile. Aus
Standgefäßen floß ihnen in dünnen Röhren die ernährende
Durchblutungsflüssigkeit zu. Sie rieselte auch in die Leiber die Muskeln
der bewußtlosen schlafenden geöffneten Menschen, der Männer und Frauen
aus Uganda aus Kapstadt London, wie sie herangetrieben waren. An alle,
lebende Organismen, lebende Organe, durchpulste Organteile waren die
beobachtenden Apparate herangeschoben. Die Grünen gingen hin und her,
entnahmen Zellen, trugen sie in Schalen an andere Kästen. Die ungeheuer
hohen Glaszylinder, in denen sich weiße rotgeäderte Därme an ihrem
Gekröse langsam wurmartig bewegten, getrennt oder verbunden mit dem
Organismus. Substanzen goß stäubte strich man auf sie, beobachtete die
Verwandlung, die sie auf der triefenden Schleimhaut, an der dünnen
Darmwand erfuhren. Die Schädel waren manchen der Menschen geöffnet, die
behaarte Kapsel lag neben ihnen. In ein flüssiges warmes Bett war nach
rückwärts das vorquellende pulsierende Gehirn gelagert. Dick zogen sich
die blauen strotzenden Venen über die weißliche gefurchte Masse; sie war
auseinander gezogen, Drähte und Röhrchen führten in ihr Inneres. Drähte
und Röhrchen führten auch zu den Därmen, in das Blut, in die Leber. Mit
blitzenden Metallapparaten, schickenden registrierenden, war alles
verbunden. Auf Gummisohlen gingen Männer und Frauen mit schützenden
Gesichtsmasken durch die Räume, in denen kein Laut gehört wurde außer
dem gelegentlichen gesangartigen Stöhnen, das aus den Glassärgen kam.

Schwere Eisenwände, verschiebbar, trennten die gekachelten Räume von
stark gemauerten, in denen auf Beeten Erdaufschüttungen Pflanzen,
niedrige und hohe Bäume wuchsen. Auch sie waren umgeben von einem
Wirrsal von Drähten und Röhren. Sie waren gespalten, angebohrt; in die
Kronen Stämme Wurzeln führten Leitungen. Kühl waren einzelne hohe Säle
durchweht; in anderen brütete die Luft; rote grüne phosphoreszierende
Lichter lagen auf den Pflanzen.

In kleinen und unscheinbaren fabrikartig finsteren Seitenräumen und
Kellern, in Bottichen, hitzeschwebenden Kesseln und Schranken geschah
die Hauptarbeit dieser Anlage: die Nachahmung Nachbildung der
beobachteten Vorgänge, erst mit reichem lebendigem Hilfsmaterial aus
Tieren und Pflanzen der Nachbarräume, dann mit immer weniger. Die
Hilfssäfte und Zellen wurden aufs äußerste eingeschränkt; es ging so
weit, daß Meki sagte, er brauche zur Erzeugung einer Fettsorte, einer
Eiweißgruppe, nicht mehr lebender Substanz als der frühere Bierbrauer
Hefe zu seinem Getränk. In der Tat vermochte auch Meki nie ganz
organisches Material auszuschalten. Und die Arbeit, die den ersten
Schritt des Unternehmens in die Praxis bedeutete, war die Errichtung
riesiger Hallen zur Konservierung und Züchtung bestimmten
Zellenmaterials aus tierischen und pflanzlichen Leibern.

Zuletzt ließ sich der kleine langbärtige Mann, der ein skeptischer
Philosoph war, Meki, der mit den Augen zwinkerte und wenn er jemanden
sprach, seitlich zu Boden blickte, im Wald seiner Anlagen, entfernt von
den Prüf- und Wohngebäuden, ein Haus errichten, das zum freudigen
Schreck der nicht eingeweihten Gehilfen völlig den Charakter einer
Fabrik hatte. Sie sahen die Apparate, die sie für die Organe in den
Hallen der Lebenden und in den Friedhofshallen benutzten,
antransportiert in die hundert zellenartigen Räume des Gebäudes; man
schleppte Tonnen chemischer Stoffe an, stellte Gaserzeuger. Man sah, wie
die Räume, Stock um Stock, eine Einheit bildeten, wie Substanzen,
schlüpfend von einem Raum in den anderen, unter Wechsel der
Temperaturen, einen Weg gingen, dort kürzer, dort länger verweilend, mit
anderen gemischt geschmolzen gelöst sich veränderten. Das kleine, von
Gärten und Mauern umschlossene Gebäude, das völlig fensterlos war und
nur in einzelnen Zimmern Luft durch Röhren erhielt, das gegen Licht und
Luft abgedichtete Haus war von einem Durcheinander schniefender
blasender rumpelnder Geräusche erfüllt. Es knurrte, wenn man sich ihm
von außen näherte, in allen Ritzen wie ein böses Tier; die gemauerten
Wände waren außen zum Abschluß der Lichtstrahlung mit einer schwarzen
zusammenhängenden Glasmasse überzogen.

Als in Chicago zuerst Einzelheiten der künstlichen Lebensmittelsynthese
bekannt wurden, unter stärkster Erregung der Stadt, machten Neuyork und
London alle angegliederten Staaten und Stadtverbände auf die
Gefährlichkeit rascher Entschlüsse aufmerksam, warnten vor übereilter
Herausgabe der Arbeitsmethode. Da Chicago aber schon selbständig
vorgegangen war, auch Alice Layard offen erklärte, sie habe die Mittel
in der Hand, um ganze Völker ackerlos und sonnenlos jahrzehntelang zu
ernähren, so blieb nichts übrig, als die Gefahren der neuen Entdeckungen
möglichst gering zu gestalten. Von Alice Layard wurde bekannt, daß sie
an der Spitze der nordamerikanischen Frauenkameraderie stand. Sie war
von ihren Verbänden auf die Furchtbarkeit der Waffen hingewiesen, die
die Frauen sich schaffen könnten, wenn sie sich die Synthese
reservierten; man wollte Alice, dieses kapriziöse Wesen veranlassen, die
Arbeitsmethode zu verheimlichen und Chicago zum Zentrum eines
Weiberstaates zu machen. Alice konnte sich den Triumph des Siegs über
Millionen Männer nicht entgehen lassen; sie konnte nicht schweigen. Im
Chicagoer Senat aber war sie dann bald allein neben den Männern. Das
ertrug sie nicht. Sie verlangte ihren Einfluß in der Kameraderie wieder;
die Frauen verfolgten sie aber mit Haß. Da leistete sie sich eines der
Stücke, wie man sie viel von Frauen hörte. Sie trat in ihrer Kameraderie
auf, redete dunkel davon, daß man sie und ihr Handeln jetzt mißverstehe,
daß man später klar sehen werde. Darauf hörte man monatelang nichts von
ihr. Im Bereich der Stadtschaft Chicago aber, nach der ein unerhörter
Zustrom von Menschen stattfand, stellte sich bald Siechtum unter den
künstlich ernährten Menschen ein. Meki wurde von dem Senat nach Chicago
zur Aufklärung der Vorgänge berufen. Meki war ein ruhiger Mann, an
rasches Handeln gewöhnt. Er hatte von weitem geglaubt, es handle sich um
Beri-beri oder Skorbut; als er aber die Menschen auf den Straßen und in
den Häusern sah, die Tausende, die von Zuckungen und Lähmungen befallen
waren, wurde ihm klar, daß planmäßig an einer Diskreditierung des
Verfahrens gearbeitet wurde. Die Giftstufe einiger Eiweißkörper wurde
immer beibehalten. Beobachtend erkannte er Alice Layard, zu seiner
Verblüffung, als die planmäßige Störerin der Arbeit. Er fand das schöne
weiße scharfsinnige Weib traurig liegen in ihrer Wohnung; sie war
verstört, versunken, nicht geneigt ihm Rede zu stehen. Sie war nicht
getroffen von dem Unglück, das sie anrichtete, sondern von der
rachsüchtigen Härte ihrer Geschlechtsgenossinnen, die sie auch jetzt
zurückwiesen. Sie konnte sich nicht rein waschen; sie grub sich noch
tiefer ein. Der benachrichtigte Chicagoer Senat, bestürzt und tief
ergriffen, ließ das schöne Wesen, das großen Ruhm genossen hatte und der
Stolz der halben Welt gewesen war, in ihrer Wohnung von fünf Negern
totknütteln. Die Frauen schwiegen.

                   *       *       *       *       *

Nicht wie einen Regen, den man aus einer Berieselungsanlage auf das
trockene Beet fallen läßt, sondern wie eine Bestie, die man auf die
Straße führt, mit eisernen Stangen rechts und links gehalten, so,
zwingend fesselnd, ließen im zweiten Drittel des sechsundzwanzigsten
Jahrhunderts die großen westländischen Stadtschaften die ungeheure
Neuerung unter ihre Menschen hinaus. Senate, neue Herrenschichten wurden
wie durch kein früheres und späteres Ereignis in diesem Moment
zusammengeschweißt, zu Stein befestigt. Jetzt mußte man zur Erkenntnis
kommen, wer man war. Vor aller Augen stand das großartige Beispiel
Englands selbst, der weisen erfahrenen Führerin dieser Völkermasse, die
den großen Meki behandelte wie einmal Spanien den viel kleineren
Christoph Kolumbus: sie kerkerte ihn fast zehn Jahre in seiner
Edinburger Anlage ein. Meki selbst legte, freigelassen und nach London
zu einer Besprechung geladen, Hand an sich.

London faßte, daß man sich in den alleinigen Besitz aller Geheimnisse
der Synthese und aller Anlagen setzen mußte und daß man damit in den
Besitz eines beispiellosen Machtmittels kam. Während die Schwesterstadt
Neuyork noch zögerte, hatten Londons ruhige stille Männer und lächelnde
langsame Frauen schon Anlagen nach Anlagen in Wales und Cornwall
errichten lassen. Und während die Senate der Kontinente die
Verzögerungsmaßnahmen berieten, die Dosierung der Herausgabe an die
Massen, gab plötzlich an einem bestimmten Maitag der Londoner Senat
allen ihm direkt unterstehenden und befreundeten Landschaften die
bedrohende Neuigkeit bekannt, gab bekannt die Zahl und den Ort der stark
geschützten Fabriken, nannte den Namen des toten ruhmreichen Meki, dem
der Senat zum Jahrestag seines Freitodes Säulen in allen großen Zentren
zu errichten befahl.

Wie einen Schlag ließ der kühle Senat auf seine europäischen und
afrikanischen Gebiete die Nachricht niedersausen. Er zeigte auf die sehr
geringe Arbeitsleistung für den synthetischen Zucker Fette und
Fleischmassen, ermahnte sich der Neuerung zu bemächtigen und äußerlich
die von der Wissenschaft hergestellten Substanzen zu erfreulichen
Genußmitteln zu machen; kündigte an, daß eine neue Ära in der
menschlichen Arbeit beginne: dieser Triumph entlaste die nach Freiheit
und Würde ringende Menschheit.

London wußte, daß Verwirrungen und Unruhen in allen Gebieten seines
Einflusses einsetzen würden, auch, daß es zuletzt Herr der Situation
sein würde. Den Atem verhaltend sahen die kontinentalen Staaten und
großen Stadtschaften dem Vorgehen Londons zu, das entschlossen war, weit
über Jahrhunderte voraussehend, den schwächeren Tochterstaaten zu
zeigen, welcher Weg zu gehen war: der der absoluten Inbesitznahme der
Machtmittel durch eine sichere Schar Menschen. Über die von England
beherrschten Gebiete der britischen Inseln und Afrikas kam ein Taumel.
Es ist nichts dem angstvollen Tumult zu vergleichen, der, rasch
gesteigert, sich nach einigen Wochen in den Landstrichen entwickelte,
die, in Südafrika vornehmlich, dem Ackerbau und der Viehzucht dienten.
Als die großen Stadtschaften den Auftrieb der Viehherden ablehnten und
man Viehhöfe Schlachthäuser schloß. Als man die Bewachung der
Getreidespeicher aufgab; die Tore der Speicher offen ließ, das Mehl in
Säcken auf die Höfe schüttete. An vielen Orten waren vor kaum einem
Jahrzehnt starke Mühlenanlagen nach neuen Prinzipien errichtet worden;
sie bedeckten das Areal großer Dörfer; umgeben waren die Gebiete von
Spielplätzen Wohnhäusern Verkaufsstätten. Die Speicher ließ man
geschlossen, dann wurden sie von lungernden Massen angezündet; die
Mühlen gesprengt. Es war eine falsche bewußtlose Richtung, in der die
Erregung, die flackernde oft mit Wut geladene Fassungslosigkeit der
herumlagernden Massen ablief. Sie brachen von ihren Wohnsitzen auf,
gingen zielsuchend an die Zentren heran. Die Stadtschaften selbst waren
unterminiert, die Hallen großer Fabriken leer. Draußen trieb die
Landbevölkerung an, trollten die Bauern, die durch Gerüchte erschreckt
waren, wogten die Männer und Frauen, die die Eisenwerkzeuge für die
Äcker gearbeitet hatten, geschmolzen gehärtet geschmiedet geschnitten
erkaltet geputzt. In dem Gewühl der Menschen war ein Hin und Her der
Gefühle. Niemand entbehrte Nahrung, niemand konnte sagen, daß ihm etwas
entzogen war und doch bluteten sie, waren widerwillig finster, als sie
von den Öfen getrieben wurden, die Mühlen stehen ließen. Man würde ihnen
sagen, erfuhren sie an den Zentren, was sie zu verrichten hätten, es
würde ihnen an nichts fehlen. Und der anfängliche Zweifel wurde durch
die Tatsache widerlegt: die Eisenzüge mit Tonnen und Säcken rollten Tag
um Tag in dieselben Schuppen, in denen das Mehl abgeladen war. Während
schon alle Speicher ohne Widerspruch der Senate, ja sichtlich von ihnen
begünstigt, ausgeleert und von johlenden Horden abgesengt waren, waren
die Auslagen der Bäckereien mit Brot und Kuchen im Übermaß gefüllt. Ja,
London wies die Senate an, auf Wochen Mehl zu verschenken, um den
Eindruck zu verstärken und seinen Schlag verwirrender und wuchtiger zu
führen. Die großen Hallen für Butter Öle Speisefette boten die
künstlichen Stoffe aus; man hatte sie den natürlichen zum Verwechseln
ähnlich gemacht im Schnitt und Strich, ihre Festigkeit war stärker als
die der natürlichen. Lachend, Arm in Arm gingen in den englischen und
südafrikanischen Zentralen die weißen braunen schwarzen Menschen durch
die Hallen. Man träumte, war in einem Schlaraffenland. „Sie haben
künstliche Tiere. Sie können Bäume machen.“ Allein die fleischartige
gehärtete Gallerte, die Trägerin der Eiweißstoffe, wurde verspottet. Was
überall aus den Fabriken in Waggons angefahren wurde, die schneidbare
bald leber- bald knochenartige braune und rosa Grundmasse, die sich auf
Kochen erweichte, bisweilen bis zur Weiche des Leims, wurde ausgespien,
behagte den starken Zähnen, die reißen und zerren wollten, den
Backenmuskeln, die knirsch- und mahlbegierig waren, nicht. Der Geschmack
wich von dem tierischer Muskulatur ab. Den Viehzüchtern Viehhaltern war
so Schonzeit gegeben, bis auch sie wichen dem Mekifleisch. Dessert für
Feinschmecker wurde das gesottene gebratene gebackene gedünstete Fleisch
natürlicher Vögel Fische Rinder Schalentiere.

Die Äcker verlassen, die ungeheuren Flächen Bodens, jahrtausendelang von
Generation auf Generation gepflegt gebaut geliebt. Die Urwälder waren
niedergebrochen worden, die umschlingenden Lianen abgerissen.

Wilde Tiere hatten abgeschossen werden müssen, der gelbe Löwe der
Panther. Die Termiten waren verjagt worden; Bäche umgeleitet, Hütten
gebaut, feste Häuser, Dörfer und Hunde dazu, Stallungen für Hühner Gänse
Kühe.

In den südlichen Zonen gab es Gebiete, die erst vor ein zwei
Jahrhunderten freigelegt abgeholzt waren. Die eiserne Pracht der
Nordländer war angezogen, hatte gezerrt gerissen gewürgt an dem Boden,
die Pflanzen und Wurzeln geschluckt zerbissen zerkaut. Die Steine, die
der Boden barg, waren aufgehoben worden, fortgeschleudert auf
Trümmerhaufen. Man hatte in das schwarze Bett, das die Baum- und
Pflanzenleichen verlassen hatten, Millionen blasser zarter Keime gelegt.
Der Boden nahm sie willig auf; die Keime trieben mit grünen Spitzen über
die Oberfläche. Grüne weite Felder, dichte Wälder der Halme, der sanft
im Wind schaukelnden Ähren erhoben sich. Sie standen jetzt mit den
Scheunen Schuppen Wohngebäuden, die man zu räumen begann, da. Die
Menschen zogen sich in die Riesenstädte zurück. Sie kapselten sich in
den Städten ein. Gaben den größten Teil der Erde frei. Der Boden ruhte
aus. Die Halme wuchsen wild, welkten; bunte Blumen, die man vorher
Unkraut nannte, wucherten dazwischen, Tiere schlichen ein, die Feldmäuse
sprangen offen am Boden.

Der uralte Boden lag stumm unter den auf- und abgehenden Lichtern des
Himmels, mit den Winden der Wärme den Gewittern den Regenstürzen. Bezog
seine Nacktheit mit Blumen Pflanzen Tieren, rollte sich wie ein Igel
ein.

Die Menschenmassen, in die Städte gelockt, kamen fest in die Hände ihrer
eisernen Regenten.

                   *       *       *       *       *

Das Spiel, das London begonnen hatte, wurde von den andern Zentralen
fortgeführt. Nach einem Jahrzehnt war im westlichen Völkerkreis der Ring
der großen Herrengeschlechter geschmiedet.

Das strenge leidenschaftliche Ringen der Arbeitenden konnte aufhören.
Immer war seit da die westländische Bevölkerung, fast völlig von den
Stadtschaften verschlungen, geteilt in die kleine Masse der Schaffenden
und die Riesenmenge der Untätigen. Die Menschen der Gruppen wechselten
nach Neigung und Bedarf. Mit Vergnügungen Scheinarbeiten mußte man die
Massen der Lungernden beschäftigen, deren Zahl stieg. Die einförmige
Zucht verlor sich schnell. Eine wüste Vielförmigkeit entfaltete sich.
Die Herrschenden hatten neben sich große Stäbe von Kundigen und
Scheinparlamenten, die sich mit der Ablenkung der untätigen Massen
befaßten.

Noch immer erweiterten sich die großen Stadtschaften. Der Zustrom der
Fremden, das Wallen hin und her nahm kein Ende.

                   *       *       *       *       *

Leuchtmar und Rallignon, Männer vom Schlage Inka Stochods und Yorres,
die die Herrschaft in den westeuropäischen Senaten an sich
gerissen hatten, fühlten, was sich unter ihren Füßen regte. Das
siebenundzwanzigste Jahrhundert, das Jahrhundert der Verhängnisse für
den westlichen Völkerkreis, war heraufgezogen. Dieses Sieden,
unbefriedigte Rollen. Gefährliche Gleichgültigkeit, plötzlich
aufgetaucht und alles zermorschend. Nichts geschah isoliert. Die Horden
Menschen, die in London an den Maschinen und dem Industriekörper hingen,
erlahmten zusehends unter denselben Gefühlen wie die in Paris Berlin
Neuyork. Die wilden Erregungen, heftigen Reize flossen von allen ab. Man
ließ in Mißtrauen Apathie von den lockenden Dingen ab, an denen man
gehangen hatte. Prunk Spiele Gelage entfalteten wenig Wirkungen mehr.
Modische schöne lebenpeitschende entzückenheischende Gegenstände, von
den Maschinen erzeugt, standen vor den Menschen, die stumm die Lippe
sinken ließen. Das wühlte herum in alten vergessenen Kostümen.
Völkerschaften, gemischte, gaben sich zu erkennen, wie Kinder die müde
werden, in der Zimmerecke stehen und anfangen an einem Finger zu
lutschen. Deutsche hielten die schwere Bibel in der Hand, blätterten im
Gesangbuch, sangen trübe im Wald. Träge ließen die schwärzlichen braunen
Menschen in den südlichen Gebieten sich fallen: da lebte in ihnen das
Gefühl der reichen ernährenden Landschaften auf; sie konnten das Gefühl,
das wie Rauch im Regen durch sie schwelte, nicht erreichen, kamen zu
keinem Frieden. Arabische Stämme, in den wallenden verschlingenden
Strudel der Westvölker gezogen, wurden vom Drang zu den Apparaten, den
tosenden Maschinenhäusern losgelassen. Mit verhängten Augen blickten sie
auf stille Ebenen, bestiegen Pferde. Und wie sie darauf hingen, war es
dumm, was sie taten; Pferde waren dumm. Die Maschinen arbeiteten wie
sonst. Die Wasserfälle warfen ihre Hochspannungen über Meere Gebirge in
die Städte. Es war, als wäre die Verbindung zu ihnen durch eine
feindliche Gewalt gestört. Die man wegschieben mußte.

Die riesigen Massen, mit denen fast ruckartig nach der Freigabe der
Entdeckung Mekis die Stadtschaften sich vollsogen und die sich untätig
um die ernährenden Werke versammelten, warfen sich. Aus den Werken
gingen immer kleine Scharen, müde wie sie, blinzelten, waren einsilbig.
Phantastische Spiele in den Städten, um die Städte Blumen- und
Tierzuchten, waren aufgeblüht; sie lockten wenige. Die Massen in allen
Zentren des westlichen Völkerkreises wurden fetter träger, zuckten
exotisch heftig launenhaft. Ein unterirdischer Groll wuchs in allen
Zentren, in diesen hier weißen, dort negerhaften, dort bräunlichgelben
üppigen Menschen, die sich Tempel Moscheen Kirchen bauten, zu dunklen
Göttern mit halbem Herzen beteten, im Grunde von keinem der
Wanderprediger und Propheten gefaßt wurden. Es geschah, daß an manchen
Orten sich nicht genug Menschen fanden, die geneigt waren, die Werke zu
betreten.

Trägheit wucherte über allen Landschaften, zusammen mit einer
eigentümlichen Finsternis. Wie man in einem unsäglich sich tiefer und
tiefer auswirkenden Überdrußgefühl lagerte, schwoll alte Gehässigkeit
zwischen den in den Stadtschaften beisammen wohnenden Stammesresten an.
Da war es Bogumil Leuchtmar aus der hamburgischen Stadtlandschaft, der
mit einer Gruppe junger Regenten und Regentinnen den Anfang machte. Die
Wieschinska, seine ehemalige Mitregentin in Heraklopolis, der
schlesischen Stadtlandschaft, die von Berlin ihren Ausgang genommen
hatte, war mit ihm; ein Weib namens Azagga, die in der bayrischen
Stadtlandschaft dominierte, ferner Uru aus Palermo und der Dongod-dulu
aus dem ägyptischen Zentrum. Sie waren sich klar, wie sie in
Heraklopolis bei der Wieschinska zusammentrafen, daß sie einer langsamen
Zersetzung oder erneuten Ausbrüchen zuvorkommen mußten. In ihnen war die
Kraft der Apparate das Glück der prangende stierartige Stolz der
Maschine; wie in Palmen lebte er in ihnen, suchte nach Auftrieb und
Krone. Der Italiener Uru verfiel der Wieschinska; die spöttische Frau
mußte das übersprudelnde Geschöpf zur Besinnung bringen, ihn, der unter
ihre dienenden Männer treten wollte. Es gab Lachen unter den fünf
Regenten in Heraklopolis, als der stämmige Uru in der blaugelben Schärpe
des Männerharems der Wieschinska zu einer Besprechung erschien. Die
Schärpe hatte er gestohlen; die Wieschinska riß sie ihm ab. Einen
Augenblick zuckte in der kleinen Gruppe der fremdartige Geschlechtshaß
auf; der Wieschinska schien es, als wollte Uru sie verhöhnen; die Männer
blähten sich heimlich über die Niederlage der Frau. Nach zehn sachlichen
Worten war der Strom abgelenkt. Sie brauchten nicht durch Heraklopolis
wandern, um zu wissen, daß unberührt gefeiert vergöttert die schaffenden
Apparate stehen bleiben mußten. Unberührt gefeiert vergöttert ihr Blut.

Die lohenden Standarten nahmen sie auf.

Wie Bogumil Leuchtmar, Wieschinska aus Heraklopolis, Azagga, Uru und
Dongod Dulu über die norddeutsche Tiefebene flogen – Landschaft neben
Landschaft ausgegossen, murrende gärende Menschenmasse getrieben
zwischen Häuserreihen, unkenntliche Beobachtungs- und Bewachungsposten
zwischen ihnen – da fühlten die Massen noch nicht ihr Schicksal. Wie
Menschen, die feindlich in der Liebe aneinander gekettet sind,
zusammengeflochten, um sich zu zerreißen zu quälen zu beißen, so
umwanderten sie kopfsenkend noch die verborgenen geschützten Orte der
Apparate, angriffsbereit liebesbereit umschlingensbereit. Den fliegenden
Regenten war nichts unsicher. Die Standarten mit den Gestirnen und dem
Feuer wehten vor ihren Apparaten.

Sie trafen nicht in London ein, wohin sie geladen waren. In Brüssel
hielten sie. Leuchtmar war es, der die Fahrt hemmte. Er war es, der
plötzlich die Fahne noch bevor er landete, scheinbar unabsichtlich
einzog zerriß, in Fetzen fallen ließ. Die anderen waren schon in
Brüssel, da schwamm er noch, gehemmt unschlüssig in der Luft, umkreiste
die Stadt bis an die Nordsee, fuhr an, zurück, als müßte er sich durch
ein Gestrüpp Bahn brechen. Wie auf schwellendem Moor fuhr er, ratlos.
Und ratlos, – als hätten sie sich verabredet, begegneten sie sich –
hielt bei Dünkirchen Rallignon. Auf dem Boden der Konferenz, die vor
vier Jahrhunderten nach dem Fall Mailands den Herrengeschlechtern die
unbedingte Macht in den Staaten und Städten gegeben hatte, wanderten sie
nebeneinander, sahen sich nicht an. Denn auch Rallignon dachte an Krieg.

In ihm war der Kriegsgedanke berauschend aufgegangen. Aus den Apparaten
wie aus Wein war er zu ihm aufgestiegen. Niemand sollte ihnen
widerstehen. Man wollte sie haben, ihren Preis singen, der Welt
offenbaren. An die Grenzen des Wirklichen und Möglichen sollten sie,
über das Erdenkbare hinaus mußten sie fahren. Man wollte die Waffen die
Kräfte nicht gegen sich, sondern um sich führen. Rallignon durchfühlte
es lüstern angstvoll wie Leuchtmar. Es mußte Staat gegen Staat gehen.
Welcher Staat gegen welchen Staat? Darum sahen sich Leuchtmar und
Rallignon nicht an. Ein Belgier holte sie von Brüssel ein. Verstört wie
sie. Diese Gedanken gingen wie Gespenster um. Wer an die Apparate
rührte, jetzt, in diesem Augenblick, wurde von ihnen getroffen.

Im Wagen fuhren sie zu dritt auf Brüssel. Bogumil brusteingesunken im
Wagen stöhnend höhnend: es sei sinnlos nach Brüssel zu fahren: er werde
umkehren; sie müßten bedenken, was sie vorhätten. Der sehnige Rallignon
neben ihm war fleckig rot, verändert. Furchtsam blickte er rechts und
links zum Wagen hinaus: es sei nicht ungefährlich für sie auf dem Land
zu fahren; man werde sie erkennen; wenn man sie erkannte. Er glaubte
schon, man wüßte, was er in sich trug; drückte sich in die dunkle Ecke
des leichten flotten Gefährts, zog die Mütze über sich: man werde sie
erwürgen. Leuchtmar zu ihm gedreht: „Warum denn? Was haben wir getan?“
Aber er faßte schon nach seiner Brust, erblich: „Ich habe keine Waffen.“
Der Flame saß mit offenem Mund, drängte auszusteigen. Als der Wagen in
einer Schonung hielt, hatte sich der schwere Leuchtmar über seine Knie
nach vorn gelegt; nach den Händen Rallignons tastete er: „Rallignon,
mein Freund. Mein Freund. Nicht mein Feind. Sag ja.“ „Ich kann nichts
sagen, Bogumil. Komm. Was soll werden.“ Leuchtmar faßte sich mit den
Händen an die Schläfe: „Mag sich Europa selbst zerstören. Wir wollen
nichts tun. Wir wollen es nicht tun. Wir wollen uns nicht dazu
hergeben.“ Rallignon war herausgesprungen. Leuchtmar ging hinter ihnen:
Er hielt wie die beiden andern die Augen niedergeschlagen, konnte die
Häuser Felder nicht sehen, stöhnte. Flüsterte hinter den beiden: „Nichts
davon sprechen. Ich behalt es bei mir. Ich gebe nichts von mir. Man soll
mich nicht dazu bekommen.“ Einzeln gingen sie in Häuser, kleideten sich
um. Verkleidet kamen sie in Brüssel an.

Da hatte die Wieschinska schon erklärt: sie werde nicht nach London
gehen. Die Azagga, in deren Senat englische Aufsicht überwog, schloß
sich stürmisch an. Der aus Palermo und aus Kairo waren nicht weit sich
der Wieschinska anzuschließen: man würde zusammenziehen was man hätte
und gegen England richten. Leuchtmar, eingefallen, bat nichts zu
beschließen. Man solle nach London. Die Wieschinska erkannte, daß er,
der nicht von der Tischplatte aufblickte, Aufschub wollte. Sie wetterte
forderte Entschluß. Leuchtmar und Rallignon, wie sie aufstanden und
zurücktraten, wirkten erschütternd. Der Flame flehte: „Wir wollen nichts
beschließen.“ Leuchtmar und Rallignon schienen gelähmt. Die Wieschinska
wollte sie mit Fäusten angreifen. Vor dem bösen Blick Leuchtmars wich
sie zurück. Ohne ihn und Rallignon war nichts zu unternehmen. Plänkelnd
gab sie nach.

In London, in den geheizten Glashäusern, waren asiatische Fremde
erschienen. Zufällig waren sie da. Die Mongolen hatten eine Erkundung
Londons und des Zustandes der westlichen Staaten vor. Die Kontinentalen
umzogen die fremde Deputation wie Hunde den Knochen. Stellten sich,
sonderbar gelockt, vor sie, befragten besahen behorchten sie. Die
melancholischen klugen Engländer traten beobachtend hinter ihre
östlichen Gastfreunde. Wie ein Blitz senkte es sich in Bogumil, den
trüben plumpen, daß er die Mongolen, die starkknochigen weichen
schmunzelnden, diese für sich kichernden Japaner, diese beiden wuchtigen
weithosigen Russen haßte. Seine Augen waren stier. Er haßte sie.
Rallignons Backenmuskeln wie Balken; er knirschte mit den Zähnen. Sie
fingen, sich bewegend, wilde Hänseleien mit den Östlichen an, die die
Londoner zu schlichten suchten. Die üppige Wieschinska begriff, was in
den beiden Männern vorging, kniff die Augen zu, jubelte. Azagga, der
glotzäugige weibliche Koloß, Uru und der schwarzhäutige Dongod Dulu
ließen sich schleppen. Die stillen Engländer brachen die Besprechungen
für Tage ab, um die merkwürdige Stimmung der kontinentalen Freunde zu
erkunden. Sie trafen bei denen keine Überlegung mehr an. Keine Nachricht
war zu den Engländern gekommen von dem Plan, sie selbst anzugreifen.
Aber vor diesem starken bluttiefen Verlangen, das sie sahen, fuhren sie
zurück, dachten nach, erschraken, lenkten ein. Unten sprühte die Stadt,
in dieser Minute, der nächsten, folgenden. Da zogen sich die Engländer
zurück, um die Dinge zu überblicken. Die kontinentalen Gäste wußten, daß
sie bis zur Entscheidung in Gefangenschaft und unsichtbarer Aufsicht der
Londoner waren. Keiner unter ihnen hatte jetzt Furcht. Die Engländer
erwogen nur kurze Zeit, ihre Freunde zu töten. Sie wußten, daß
Kampfobjekte gesucht wurden und daß sie selbst das nächste wären. Sie
setzten sich zu der Delegation Leuchtmars. Zu keiner neuen Besprechung
luden sie die Asiaten. Sie seien, erklärten sie denen, durch
Angelegenheiten des nahen Kontinents stark beschäftigt. Freundlich
geleiteten sie die Asiaten zu ihren mächtigen Luftschiffen. Schon aus
Paris wurde gemeldet, daß die asiatische Kommission in der Nähe der
Stadt die Luftschiffe verlassen und, offenbar um unkenntlich zu sein,
sich auf kleinen Fahrzeugen zerstreut hatte.

                   *       *       *       *       *

Der östliche Menschheitskreis lag stumm auf dem uralten Riesenkontinent.
Die dunklen Massen Asiens hatten die Maschinen empfangen; es war etwas
Fremdes, lief wie eine Raupe über sie. Sie ließen die feinen Apparate,
die schweren dumpfen Eisenwesen auf ihrer Erde stehen, die griffen ihr
Herz nicht an. Immer waren von den vielen hundert Millionen Menschen
Scharen im Westen, sogen mißtrauisch aufmerksam die fremden Kenntnisse
ein. In der Zeit der strengsten Herrengeschlechter nahm eine ausgewählte
Schar der Asiaten an den verbotenen Studien teil, wurde in den Besitz
der Materialien und Modelle gesetzt. Dies duldete England, weil es
friedlich war und die Asiaten sich verbinden wollte. In Asien welkten
blühten Rassen; kaum, daß die Westler Kenntnis von ihrem Ergehen hatten.
Bombay Kalkutta hatten ihr europäisches Gesicht abgelegt. In China waren
große neu entstandene europäische Städte weggefegt worden; Einheimische
hausten handelten in den Ruinen Gewölben der Europäer. Es war nicht
möglich gewesen, den gelben braunen Millionen westliche Bedürfnisse
einzuimpfen; sie hatten Gewehre und Waffen genommen, um die Fremden zu
vertreiben. Langsame Berührungen, zögernde Verhandlungen fanden mit dem
immer besorgten London statt. Als in Bombay Lhassa Peking Tokio Kasan
Tobolsk die nach London entsandte Kommission erschien, war man für alles
gerüstet. In den westlichen Kapitalen war die Bewaffnung der Asiaten
bekannt; man glaubte sich voraus. Es gab schließlich keine Bedenken. Man
mußte losbrechen.

Die Apparate hatten sich in den vergangenen Jahrhunderten völlig
verändert. Aus Maschinen, in Hallen durcheinander gestreut, waren
Maschinenblöcke Maschinenhäuser Kolosse Pyramiden von Anordnung,
Maschinenorganismen geworden. Große Menschenmassen der Periode nach
Dünkirchen bis zur Zeit der Rebellen Targuniasch und Zuklati hatten sie
auftürmen und bedienen müssen. Die Energiewirtschaft hatte zur
Verkuppelung der Kraftwerke untereinander geführt. Der Aktionsradius für
die erzeugten und transformierten Energien war ins Riesige gewachsen.
Die Energien wurden an wenigen Punkten gespeichert. Neben den
Krafterzeugungsblock traten die Kolosse der Sondermaschinen, für
einzelne Landstriche arbeitend, im ganzen Land waren keine vereinzelten
Maschinen. Dies war – gegen Ende des fünfundzwanzigsten demokratischen
Jahrhunderts – die Zeit, wo die Sonderung unter den Stadtlandschaften
sich unwiderstehlich durchsetzte, Glasstädte Lichtstädte Nahrungsstädte
Kleidungsstädte entstanden. In den Versuchsstädten und abseits von den
Sonderstädten begannen sich die Erfindungen zu häufen. Da stürzten in
wenigen Jahrzehnten Blöcke und Pyramiden der Maschinen zusammen. Neue
Naturkräfte, gasförmige strahlende, schon vor einem Jahrhundert
aufgespürt, waren von den Zeitgenossen Mekis gefaßt, in Apparate
gespannt worden. Die polternden Kolosse wurden durch Liliputapparate
beschämt. Jahrzehnte Jahrhunderte von Kraft wurden wehrlos, gelähmt von
dem Blick dieser Minuten. Man legte die großen Maschinenstädte nieder.
Unscheinbar in geschützten Gewölben die feinen zierlichen Apparate, in
denen die Naturkräfte gefangen waren wie Gespenster in der Flasche.
Wenige Hände brauchten sie zu bedienen. Das Herz stand den ersten
Menschen still, als sie die Apparate sahen. Gewöhnten sich an sie,
lebten unter ihrer Obhut, bequem, kaum dankbar, Kinder einer reichen
Familie.

Diese wunderbaren streng behüteten Apparate, die Kraft der westlichen
Herrengeschlechter, waren im Besitz des Abendlandes wie der Asiaten.

Im Westen flog ein Rausch über die wimmelnden Menschenmassen, als man
ihnen Kenntnis gab von den Dingen, die sich vorbereiteten. Schlagartig
sank die tiefe zweifelnde Unruhe hin. Als hätte man einem schlaffen
Körper Äther und Kampfer eingespritzt.

Die Asiaten riefen ihre Völker auf. Zeigten die Macht der Weißen. „Sie
kommen mit Maschinen. Sollen wir uns wehren? Unterwerfen?“ Man kannte
die Antwort voraus. Die Inder wußten, wie man Elefanten zähmt, Flüsse
überschreitet, betet; die Chinesen, wie man Felder bestellt, Schiffe
zieht, handelt; die sibirischen Steppenvölker konnten melken jagen. Sie
dachten, ihren Zauber gegen die Europäer aufzubieten. Da fuhren
Luftschiffe von Süden und Osten her über ihnen und alle fuhren nach
Norden und Westen. Wie sich die Schiffe, bei deren Anblick ihr Herz
erstarrte, tiefer senkten, winkten ihnen Inder Chinesen zu, die Blüte
ihrer Länder, feine junge Männer, die lachten: „Wir fahren ihnen
entgegen nach Westen und Norden.“ Die Sibirier grinsten. Die Mongolen
kollerten ihr Lachen, hoben ihre Kinder hoch. Millionen Zauberformeln
gingen hinter den Kämpfern.

Es war ein Kampf, der von London mit tiefer Apathie begonnen wurde.
Wechselnd zwischen Verzweiflung und Resignation stimmte London dem
Beginn des Krieges zu. Es gab keinen anderen Weg. Man konnte zusehen,
was sich bei dem Ringen entwickeln würde. Vielleicht half man sich über
Jahrzehnte weg, vielleicht ließ sich noch ein Jahrhundert plänkeln. Sie
hatten begrüßt, daß man unerhörte Erfindungen unterdrückte und sich
selbst behauptende Stadtschaften schuf. Aber sie sahen das Aussichtslose
dieser Versuche. Die Maschine war nicht aufzuhalten, das westliche
Gehirn nicht umzustellen. Als Leuchtmar Rallignon und ihre kontinentalen
Freunde in London erschienen, staunten die Engländer, strichen ihre
schwarzen dünnen Bärte. Diese waren unbelehrbar, Kinder. Sie freuten
sich an ihnen. Die Männer und diese wilde kraftvolle Wieschinska wollten
Krieg, einen Krieg für ihre Massen. Die alten Herrengeschlechter waren
doch klüger. Sie hätten in diesem Augenblick alle Waffen und Apparate
eingezogen, deren sie habhaft werden konnten; hätten hunderttausend
Menschen, Millionen um sich massakriert. Diese hier hatten sich mit den
Massen verbrüdert, es gab keine Grenze zwischen ihnen und dem „Volk“.
Sie dachten nicht daran, es sich leicht zu machen: zu Hause bleiben und
alles erledigen. Sie ließen sich erregen jagen. Ja, die Buben und Puppen
hatten geheim vor, gegen sie, die Engländer, das große weise
Mutterreich, zu kämpfen. Vielleicht mit den Parolen der alten
Geschichtsbücher: Freiheit, Unabhängigkeit. Waren dumme Eintagsmenschen.
Man mußte mit ihnen den törichten Weg gehen: kämpfen. Es war vielleicht
ermunternd. Diese Kontinentalen hatten noch den Glauben, einen
lächerlichen Glauben an die abscheulichen Instrumente, die man versenken
sollte.

Leuchtmar Rallignon Gru Wieschinska Azagga Dongod Dulu setzten nach dem
Kontinent über. Die östliche Erdhälfte war zu bezwingen. Man konnte
nicht Feuer nach Gestirnen werfen, wenn man nicht einmal den Erdball
bezwungen hatte und hundert Meilen hinter der Weichsel eine ablehnende
Welt lag. Es war ein neuer Impuls, der in die tändelnden schwelenden
Massen fuhr: das Bild einer riesigen Fläche, maßlos hoher Gebirge,
wimmelnder exotischer Landschaften und Städte. Über diese sollten sie
fallen, in die sich mischen einschwemmen. Es sollte geschehen. Sie
hatten die Apparate. Jetzt sollte dies geschehen. Man hörte von der
ungeheuren unausgeschöpften Kraft der Apparate. Mit anderer Seele als
vorher wurden die Fahnen, Feuer und Gestirne, über die Landschaften der
westlichen Kontinente getragen. Fiebernde Kraft heizte die Herzen,
machte die Muskeln steif. Man hielt die Fahne; sie warf alle Willen
zusammen.

Die Stadtlandschaften bewegten sich. Scharen über Scharen von Männern
Frauen begehrten Einstellung zum Kampf. Mit einigen zehntausend
Menschen, sachgeübten, war der Krieg zu führen. Die Überlegung riet,
viele heranzuziehen, zum Beschäftigen und Vernichten. In allen Ländern
wurde von der Führung eine Stelle abgezweigt, die sich mit dem Erdenken
sinnloser Arbeit für die Soldaten befaßte, die Stelle B, wie sie London
im Unterschied zu der wirklich kriegführenden Stelle A nannte. Die
Stelle B wurde rasch mit den klügsten politischen Köpfen besetzt, die
mit Technikern und militärischen Fachleuten in losem Zusammenhang
standen. Der Andrang zu dem Scheinheere B war in den westlichen
Kontinenten so stark, daß die anfänglichen Pläne der Leitung nicht
ausreichten. Sie sahen vor Kriegsdienste nach früherer Methode; man
stellte Kanonen her, ließ Verteidigungslinien aufwerfen befestigen,
baute auf Festungswerken Apparate, von denen man den Kämpfern Wunder
versprach, an denen sie üben mußten: mörderische Modelle. London ging
weiter, im Sinn seiner früheren Überlegungen. Seine B-Leitung führte
starke Menschenmassen, Regimenter begeisterter und gefährlicher Männer
und Frauen auf den wirklichen Kriegsschauplatz, die russische Tiefebene;
sie hatten furchtbare vergebliche Arbeit zu leisten.

Die Asiaten gaben die russische Tiefebene nicht frei. In drei Staffeln
rückten die Westländer vor, überflogen überrannten auf Brücken Schienen,
die sie in wenigen Tagen vor sich auswarfen, aus Polen Rumänien Galizien
dringend, Witebsk Mohilew Poltawa Cherson. Der Dnjepr und seine Sümpfe
lagen hinter ihnen. Die Städte dieses Abschnittes waren ihnen nicht
fremd. Dichter wurde vor ihnen, unter ihnen das Maschennetz der Dörfer,
Gehöfte, verstreuten Siedlungen. Jenseits Jaroslaw Wladimir Woronez
Charkow näherten sie sich den Flußläufen, die die große Wolga aufnahm,
dem Jergenihügel, dem breiten Bergufer der Wolga selbst. Im Norden
stießen sie auf Wjätka Wologda. Da verbrannten stürzten die ersten
Fliegerreihen, stürzten im Flug aus dem weißen Himmel auf die stille
Ackererde. Neue rückten nach. Stürzten. Durchschritten nicht eine
unsichtbar vor ihnen aufgerichtete Barriere. Als Erkundungstechniker
folgten, stellten sie die Wellen fest, die die Motore in Unordnung
brachten. Und wie sie noch nach der Art der Wellen, Ausgangsort Formel
forschten, fuhr am Boden gegen sie das Ungetüm aufgewühlter
Menschenmassen an. Auf Pferden Wagen Karren, die Flüsse
herunterschleifend auf Schiffen Booten Kähnen, rollten strömten von
Osten nach Westen, spülten drangen quollen von Norden nach Süden
Menschen- und Tierleiber. Bestürzte klagende verwirrte Menschen, Männer
Frauen Kinder Pferde Rinder Schweine, die sie trieben, Hühner, die
getragen gejagt wurden. Jammernde schreiende zerlumpte nackte
Einzelläufer. Große stumme drängende Horden, Dorfgemeinschaften, die
sich nicht fragen ließen. Betäubt, die Gesichter Decken Kleider
schmierig. Übernächtig schleppten sie sich vorwärts. Konnten nicht
achthaben auf die sterbenden Säuglinge. Das warf sich am Boden hin,
weinte zerkratzte sich Stirn und Backen, ließ das Tote mit Erde bestreut
liegen, konnte nichts begraben in dem nassen Boden, rannte traumhaft
gestoßen. Das griff, was es hatte und fand, an: Bäume Hütten Bretter,
warf sich aufs Wasser, schwamm strampelte stöhnte ruderte. Das seufzte
kreischte, waren Weibermassen, löste sich die Haare, riß an ihnen, biß
an ihnen, blickte rückwärts: weite wimmernde Blicke auf den grauen
trüben Himmel, der nichts als Wolken zeigte. Hinter ihnen brannte es.
Sie schrien. Hatten es nicht brennen sehen, aus anderen Dörfern waren
Menschen gekommen, von weither hatten alle es gehört. Da gewahrten die
Fremden wogende himmelbedeckende Massen von Vögeln, die lärmend und
still in gleichmäßigem Zug oder stiebend von Osten nach Westen, von
Norden nach Süden stießen, dichte Ballen von Raben, Heerscharen kleiner
Vögel, Bergfinken Tannenhäher, vorüberrauschend, mit Zwitschern Rufen
Flöten die Nächte erfüllend. Der Boden besät mit abstürzenden
erlahmenden kleinen Körpern. Sie rauschten flirrten pfiffen flibberten
in großer Höhe. Und das Lebendige der Erde setzte sich mit den Menschen
in Bewegung. An den Karren hingen Scharen von Fledermäusen. Griff man
sie, stoben sie hoch, schwirrten mit ausgespannten Armen, setzten sich.
Am Boden rieselte es zwischen den Füßen der wandernden Menschen und
Tiere. Die schwarzen und grauen Mäuse wimmelten über die Wege, die
nassen Äcker. An manchen Flüssen bedeckten sie pfeifend die Oberfläche,
kleine glatte zuckende Rücken, schlagende spiralige Schwänze. Liefen
Felsen hoch, stürzten herunter, rutschten Rinnen herab, ließen sich an
Bäumen herunter. Auf und ab die raschen Schatten der Jarboamäuse.
Menschen, durch Wologda und Wjätka drängend, trugen Beile Messer,
blutige Wolfspelze an den Wagen. Während sie vorwärts trieben, liefen
die Bären Füchse Vielfraße aus den Strichen hinter ihnen. Das zickzackte
huschte kaperte schwarz braun grau in Sätzen über die Wege, legte
knurrend sich in den Staub, verendete lechzend, taumelte, wurde
erschlagen. Auf kleinen schwimmfreudigen braunen Pferden Kirgisen,
bukajewsche Horde von den Salzsümpfen, Gesichter schwarz und stumpf.
Schnalzten, gaben keine Antwort, peitschten die Pferde.

Als die Weißen nicht vorwärts kamen, vom Brand gestammelt wurde, Dörfer
und Siedlungen anschwammen, trieben die Erkunder durch die schrecklichen
Tier- und Menschenscharen, bewaffnet geschützt, auf Pferden. Bevor der
nicht zerriebene Rest dieser Posten zurückkehrte, war die Barriere in
der Luft gesprengt. In der Luft über der Wolga schwebend, die dunstende
Kirgisensteppe, Samara Perm überschauend, sahen sie die von Menschen und
Tieren wühlende Ebene.

Im Rücken der Menschen und Tiere aber den großen und unmeßbar weit nach
Norden und Süden sich umbiegenden Rauch- und Flammenwall, der mit
sichtbarer Bewegung, langsam und kaum pausierend in kleinen Pulsschlägen
hinter ihnen herwanderte.

Feuer Rauch, den Horizont abschließend, keine Lücke lassend, die
rollende Mauer.

Soweit sie konnten, näherten sich die Flieger dem Brand, in Furcht, von
Strahlen gefaßt zu werden. Sahen zuletzt das Feuer sich von der Erde mit
der Erde erheben, aus dem Boden spritzen, Hügel Berghöhen überklimmen,
über flaches Land Gebirge hochrennen. Es hielt vor keinem Flußlauf.

Da warfen die Westler sich rückwärts, verließen fliegend fahrend die
Linie der Wolga. Von Cherson bis zur Waldaihöhe im Norden bauten sie
sich auf. Sie kannten die Millionen Menschen, die in der reichen
wasserdurchlaufenen ackerbestandenen Ebene wohnten und die, die vor der
Feuerwand einherliefen. Sie hatten überflogen Mohilew Smolensk
Tschernikow Poltawa Kiew Jekaterinoslaw; Orel Kursk Kaluga Tula Twer
Nowgorod Tambow. Das Feuer wanderte von Osten gegen sie, vom Uralgebirge
stieg es, die Asiaten opferten das Land vor sich, dachten, die Westler
würden die Woge der Lebendigen aufnehmen, und die Feuerwand würde über
Europa, zum Balkan, nach Polen, an die Ostsee ziehen. Man mußte sich
wehren.

Und wie vom Ural Feuer lief, lief nach fünf Tagen Feuer entgegen, von
Cherson über Poltawa Mohilew Pskow zu den Waldaihöhen.

In die Erde metertiefe Stollen gestoßen, Stollen neben Stollen. Blöcke
bohrten sich ein, rissen den Boden auseinander, die Linie vom grünen
Ladogasee bis zum Toten Meer. Wie eine große Egge griff es in die Erde,
hielt den Kopf gesenkt. Die Blöcke warfen unten Sprengstoffe Gase Salze
vor sich aus. Blöcke über ihnen durchlockerten die Erde, mischten sie
mit Gasen Salzen, durchdrangen sie mit Hitze. Hochgeschleudert unter
Donnerschlag rauchte blutflammte die Erde, verzehrte sich geifernd in
die Luft, aufgehoben in einem wirbelnden puffenden Qualm. Lohe
Flammengarben sprangen in Säulen aus dem bloßgelegten Boden, brannten
hinter der qualmenden niederregnenden Masse weiß und grün steil in
Riesenhöhe auf. Flamme neben Flamme wie die Blockzähne der großen Egge,
über Wiesen Ackerboden, zwischen Dörfern Landstraßen, vom Toten Meer zum
Ladogasee Cherson Poltawa Mohilew Pskow Waldai. Den gleichen
wolkenbezogenen Himmel angrellend Tag und Nacht, ihn rüttelnd
erschütternd mit Stößen zu Donner und Widerdonner. Menschen Häuser
Steine Hügel Tiere Wälder restlos zerklafternd aufhebend hochwerfend
verschüttend, Flußtäler zerreißend ausfüllend. Die Betten der Seen
Ströme sprengte das wandernde, Minute um Minute vorrückende, Qualm
speiende, regnende, sich in Hitze sielende Wesen. In den Sümpfen sprühte
es, auf dem Moor sprangen die Kreuzkröten, die listigen Salamander in
die Höhe. Die Wasserfrösche im Schilf duckten sich vor dem Rauch, der
über die Sumpffläche strich. Es klatschte um sie. Wie sie einen Satz
nach rückwärts machten, waren sie mit Schlamm unter den kolbigen Zehen
aufgehoben, um sich gedreht, Giftdunst um sie, trockene Flamme,
vergasende Erde grün aus dem Moor gegen ihre platzenden Leiber.

Die Egge über Wolhynien und den Bug. Das Landvolk wich nach Süden über
Jekaterinoslaw auf das Meer, auf die Krim zu. Die Egge stach den Dnjepr
an. Das mächtige Gewässer stürzte randlos nach Osten Westen, schwemmte
sprudelte rauschte über die zerschnittene abgehäutete Erde, den
brodelnden Sumpf. Ströme Bäche Seen, ihrer Umfassungen beraubt,
kenterten über den neuen Boden, Lehm und Morast wälzend. Hinter den
Eggen liefen die Röhren Gasspender Salzmischer Hitzeatmer. Selbsttätig
zog das schnaubende Bergwerk sie hinter sich, entleerte sich seiner
Spannung und Ladung, nahm ruhend unter der vibrierenden Luft, von der
Erdlast befreit, die in Geheul und Rauch verging, neue Nahrung ein.
Stemmte spießte bohrte sich unter die Erdmassen, die ihm vorlagen, brach
gasend heizend explodierend aschend durch unter Bergen Baumwurzeln
Stadtfundamenten.

Blauschwarze Schwaden, niedrighängende, zogen nach Polen Galizien
Rumänien, wo das Laub an den Bäumen schwarz wurde, das Vieh auf den
Weiden starb, die Menschen sich nach Westen wandten. Im leeren Osten
schäumte die grüne Flut über der abgetragenen Erde. Unter dem Wasser
schütterte, bohrte das Bergwerk, riß, riß. In Stößen wallte das trübe
Element ostwärts. Die Erde in Sprüngen geöffnet, das Wasser in die Risse
stürzend. Flammen brausten; die Nässe klatschend im Schwall dazwischen.

Im warmen üppigen Taurien tauchten Regimenter englischer Soldaten der
B-Armee auf. Sie wurden auf Schiffen vom Süden durch den Bosporus und
das Schwarze Meer getragen. Das Schwarze Meer war von Tausenden Seglern
Booten Lastdampfern bedeckt. Flöße schwammen dazwischen. Im Norden nahe
den Ufern Herden schwimmender ertrinkender Pferde. Vom Asowschen und
Toten Meer, aus dem Kaukasus, von der Krim selbst quollen die Massen,
gestopft durcheinander die Ufer erfüllend. Kosaken Kirgisen Slawen mit
Bauern Priestern Männern und Kindern Weibern, die blauschwarze
Wasserfläche anstarrend, über sie herfallend. Der Boden unter ihnen,
Sand Wiesen, schon weggenommen von dem schrecklichen pfeifenden Gewühl
der wandernden Springmäuse. Bei Tag und Nacht kämpften sie mit den
Wölfen und Füchsen, die hinter ihnen, unter ihnen auf der Flucht waren,
sich an den Erliegenden mästeten.

Erschauernd, ihr Grausen nicht überwindend, schlugen sich die
angefahrenen Soldaten, ihre Schiffe den Flüchtenden preisgebend, nach
Norden durch, um eine Linie zu ziehen zwischen Cherson und Taganrog.
Immer wieder auseinandergerissen durch das scheußliche über sie fallende
Gewühl der Springmäuse, Rudel der tobsüchtigen Wölfe, zuletzt durch die
Völkerwanderung der Menschen, die sich bei der dichten Annäherung des
Erdbrandes in Vertierung selbst anfielen. Die Flüchtigen ließen es auf
einen Kampf auf Tod und Leben mit den Soldaten ankommen; sie waren ohne
Nahrung, von Schrecken Erbitterung Haß verwüstet. Schlecht bewaffnet
wurden die Truppen zertrümmert. Aber neue aus dem menschenfließenden
Westreich kamen hinter ihnen und brachen sich, immer fast zergehend,
Bahn. Sie wollten, zwischen Cherson und Taganrog auf der noch
unversehrten Erde zwischen den beiden Feuerlinien vorgehend, den Brand
vom Ural aufhalten. London befürchtete, daß nach Ersäufung der ganzen
Ebene zwischen Ural und Düna keine Angriffsmöglichkeit zu Land bestand;
die kontinentalen Massen brauchten Angriff und Sieg. Eine Erdmasse als
Kampftribüne sollte zwischen der östlichen und westlichen Wüste, dem
ersäuften und erstickten Land, erhalten bleiben. Den B-Truppen waren zum
Schutz nur wenige technische Einheiten beigegeben worden; die Führer
hielten den Versuch für fast aussichtslos. Das todesmutige dichte
Herantreiben von Stollen an die uralische Feuerwoge, während die
westliche verharrte, das Aushauchen reaktionshemmender Gase, Auswerfen
löschender und vereisender Salze glückte nur an wenigen Stellen. Das
Tempo des östlichen Vorrückens wurde zuletzt unerhört wütend. Die
russische Tier- und Menschenwelt, von Osten und Norden andringend, im
Westen eingeengt, ertrinkend verhungernd verbrennend, behinderte an den
meisten Orten das Ansetzen der Gegenstollen, zerstörte die vom südlichen
Wasser nachgezogenen Röhren und Kabel. Zu dem Widerwillen gegen die
Westler trat bei den noch kräftigen Einheimischen blindmachende
Verzweiflung, Abscheu vor allem Menschlichen, ja Lebendigen. Eine Woge
von Barbaren und Kannibalen rollte nach Süden. Mitgerissen von ihnen,
eingekeilt zwischen sie, die Truppen der Westler.

Noch auf der Flucht, nach rechts und links kämpfend, sahen die Truppen
die westliche Feuerwoge sprengend und lohend sich in großen Sätzen
erheben und grün der östlichen zulaufen. Sie schrien im Bereich der
grünen und gelben Schwaden wie die schwarzen Kirgisen und Slawen.
Niemand sah mehr den andern. Hunderte von der eigenen Feuerwoge im
Rücken gefaßt, geröstet.

In der Linie Bardjansk Charkow Orel Kaluga Twer packten sich die
springenden Reihen der Bergwerke, stießen knallten grimmten in einem
einzigen Feuertosen zusammen. Verdonnerten verzitterten die Bohrer
Sprenger Gaser Heizer.

Dickes schlammiges Wasser sprudelwallte brodelte über ihnen. Sie
vergifteten es, brachten es zum Sieden Bäumen Spritzen, warfen es in
Säulen über sich. Es klatschte gischend zurück. Sie mußten Ruhe geben.
Die Kabel rissen. Die Ladungen rieselten lehmig tintig aus.

Während vom Ural das Feuer lief, vom hohen nördlichen Töl-pos-is, dem
Kamme des Jamentau, Iremal, beschickt von den Gelben, die aus den
unendlichen Tannenwaldungen und Klüften des Ostabhanges herstiegen,
lagen Gasschiffe Riesenboote Luftschiffe über dem Ozean im Westen,
aufgebrochen aus England Irland, dem Golf von Biskaya, von den
Kapverdischen Inseln, der Guineaküste. Kreuzten das atlantische Wasser
Karaibische Meer, breiteten sich, die Durchfahrt von Panama verlassend,
an der weiten Westküste des amerikanischen Kontinents im Süden und
Norden aus, um dem asiatischen Angriff von Westen zuvorzukommen. Die
amerikanischen Geschwader schlossen sich ihnen an. Unterwasserboote
Gasboote, in breiter Front die plumpen Arbeitsschiffe zwischen sich
fassend, von Abwehr- und Kundschafterbooten umschwärmt, durchschnitten
das große westliche Gewässer, dröhnten an Hawai Paumotu Tubai vorüber,
zogen bei Neuseeland die südliche Front ein, verdichteten sich im
Norden, von Neuguinea bis Kamtschatka.

Da waren sie in ein zauberhaftes Meer gestiegen. Erfuhren
Beunruhigungen, die sie auf Fehlleistungen der Schiffe,
Täuschungsmanöver der Kommandanten bezogen. Tauchboote Überwasserschiffe
begannen ihr Tempo zu ändern, rascher zu fahren, rascher rasend, die
Richtung zu verändern, zu stocken, stillezustehen. Ganz unregelmäßig
wiederholte sich das, trat hier auf, dort auf an der Riesenfront, die
langsam vorrückte, einen Gürtel um den Ostabfall des asiatischen
Kontinents legte. Dann fing es mit einem plötzlichen Ruck, dem
Stillstand einzelner Schiffe an. Im Wasser hielten Schiffe, wühlten
rechts links mit Schrauben, bäumten sich, kamen nicht los. Langsam
wurden sie frei, freier, brausten pirschten auf ihren Gegner, rasten in
entfesselter Geschwindigkeit, unter dem Wasser, auf der gischenden
Fläche, fühlten plötzlich, daß sie sich nicht halten konnten, daß sie
stürzten, eine Kraft über ihnen. Man zog sie, riß sie von vorn. Vorn zog
man sie, saugte saugte sie. Tosend die Schiffe, wahnsinnig, nicht
gebunden an das Wasser, von keinem Motor gejagt, über die Wasserfläche
rauschend holpernd, mit den Seitenflächen vorbiegend, fast kenternd,
sich überwerfend, schleifend geschleift. Bis sie die weiße schwarze
Masse sahen, auf die sie flogen, die sie bannte, die selbst auf sie
flog, die weiße schwarze Bank, durch das gischende Wasser anschießend
wie sie, das eiserne Schiff, mit ihnen Spitze gegen Spitze
zusammenprallend, prasselnd sich mit ihnen vermählend, schmetternd mit
ihnen verschnürt zerfallend absinkend.

Das Geschwader der Philippinen hatte sich Mindanao genähert. Deutlich
bewegte sich von Osten eine Gruppe flacher feindlicher Schiffe. Die
Westlichen hatten im Augenblick die Motore des asiatischen Geschwaders
gelähmt; die flachen Schiffe küstennah standen unbewegt wie eine Linie
Soldaten. Wie Reiter stolz aufgebäumt raste das weiße Geschwader gegen
sie im Keil. Die Wellen geschlagen schäumten festlich. Das vorderste
Schiff stürzte plötzlich, die Spitze des Keils. Knickte ein, stand nicht
auf, sank ins Leere. Die nächsten Schiffe rückten an, knickten, ihr Deck
unter der Meeresoberfläche. Verschwanden wie in Löchern des Meeres. Als
wären sie Pferde, empfingen Schnitte in die Sehnen der Knie, waren, auf
dem Bauch liegend, verschwunden. Schiff nach Schiff. An der Küste die
Linie des gelben Geschwaders. Der Keil stürzte weiter. Das Wasser wurde
unter den Schiffen weggerissen. Das Fahrzeug sank in die Wasserspalte.
Die Spalte, ein Trichter, weitete sich rechts und links kugelförmig. Das
Schiff, stürzend torkelnd, am Boden der Wasserschlucht von den
herabschießenden Wellen umgeschlagen, wurde begraben, während das Wasser
über ihm sich zusammentat, stürmisch aufhob und glättete.

Das rollende Meer wurde ihnen unter dem Kiel weggerissen. Stürzend ins
Leere, in die Lichte von weiten Schornsteinen kamen sie nicht wieder
hoch. Das weiße Geschwader fing zu stutzen an. Während es zögerte, riß
das Meer weiter rechts und links auf. Sie schlichen um die tosenden
Abgründe. Dies und jenes stürzte noch. Wenige rasten rückwärts.

Vom westlichen Kontinent kamen über Amerika Berichte. Der Feuerkrieg am
Ural stieg vor ihren Augen auf. Unruhe über den Geschwadern. Die Führer
berieten über Maßnahmen gegen den auffälligen Druck, der sich der
Besatzungen bemächtigte, als Befehle von London über Neuyork liefen,
zurückzukehren bis auf den Küstenschutz. Den Pazifik überflohen sie in
breiter Linie. Am Ostabfall Amerikas hielten sie; asiatische Angreifer
hingen auflauernd über der Küste. Die Westlichen waren froh; sie gönnten
ihren trüben Besatzungen das Abenteuer. Die Gelben flogen; man ließ sie
sich nähern. Wie die Gelben das Meer den Schiffen unter dem Kiel
weggerissen hatten, dachte man ihnen die Luft wegzureißen. Raketen in
der Finsternis von den Borden der weißen Geschwader vor der Küste. Sie
tasteten die kleinen Flieger ab, die im Schutz ihrer Abwehrwaffen in der
Luft leicht pendelten, die schwebenden breiten Bollwerke der
Lastluftschiffe, die die Größe der weißen Arbeitsschiffe hatten. Von dem
Kranz der Raketen wurden schwarze Gebilde hochgetragen, die wie Ketten
zwischen ihnen schwankten. Wie die Raketen zu glühen begannen, dumpften
Schläge: die Böenbomben an den Ketten explodierten. Von oben nach unten
zersprangen sie, wühlten die Luft beiseite, mit jedem Schlag sekundlich
dem früheren folgend, stießen keilten sie die Luft weg. Wie ein
Schwimmer, der auf dem wippenden Sprungbrett steht, die Knie beugt, sich
zum stolzen Niedertauchen rüstet, das Brett kracht, er torkelt kippt
sich überschlagend, mit den Armen leer greifend, klatscht bäuchlings
unter Stöhnen auf die spritzende Wasserfläche, so hingen die gelben
Flieger und Luftschiffe, sprung- und wurfbereit. Die Füße ihnen
abgeschlagen. Wehrlos unwissend, was mit ihnen geschah, klafterten sie
abwärts, wirbelten um sich in der finsteren brausenden Luft, schlugen
ins Meer, Münder geöffnet, Finger gekrümmt, träumend erwartend.

Die gelben Flieger, sich zurückziehend, sammelten sich bei Tag wie Raben
am Panamagolf. Finsteres Gewimmel den Rio Chagras entlang, von der
Limonbucht bis Panama. Sie wechselten jeden Augenblick die Höhe; die
Schiffe des weißen Geschwaders traten in die Schleuse von Miraflores,
Padro Migual. Man riß aus den Fliegern mit tosenden Böen Punkte Ballen
heraus; sie drangen verstärkt zusammen, auseinander. Einzeln tauchten
sie herunter, schienen sich bald auf Colon, den Endpunkt des Kanals,
bald auf die erste Schleuse zu konzentrieren. Dann sausten die Raben in
ganzen Scharen auf die Hügelketten um den Kanal, im Angesicht der
fahrenden Schiffe. Hockten rechts und links, als täten sie nichts.
Hastig die Schiffe durchgeschleust, Paraiso San Pablo Soldado passiert.
Unbelästigt liefen die Weißen an Bohio Soldado vorbei, bei Colon aus,
sammelten sich, warteten in der Limonbucht. Schiff um Schiff schleuste
durch. Die neu auslaufenden empfingen da zu ihrem Staunen kein Zeichen
von den wartenden. Eine stumme Schar von Schiffen sammelte sich,
wartete; immer mehr verstummten. Die neuen glaubten, die Maschinen der
anderen seien gestört, booteten, flogen zu ihnen herüber. Und wie sie
anstiegen, landeten aus der Luft, lagen und gingen da – lachende
Menschen. Salven Gelächter schlugen ihnen entgegen. An den Masten, über
den Bordrand hingen sie, ausgestreckt, hier und da, schlafend
schnaubend. Sie winkten sprangen herum mit eingezogenem Leib, als würden
sie von einem fürchterlichen Kitzel gereizt, brüllten aus vollem Halse
ihr Gelächter aus, auf Fußspitzen tanzend. Mit dem Kopf an den Masten
standen welche, den Kopf auf die Brust gesenkt, nach rückwärts gegen das
Holz gedrückt. Seitwärts mit den Fahrtbewegungen ihr Rumpf schwankend.
Sie schmunzelten in süßer Lähmung, spielten mit den Fingern, rutschten
sachte mit den Füßen aus, saßen fielen um, lagen prusteten. Die Mehrzahl
der Männer und Frauen schlief in einer irren Wonne. Die angebootet
kamen, konnten die schlafsüchtigen Leiber schütteln; sie rissen die
Augen auf, blutunterlaufene Augen, geplatzte Adern in der Weiße, plump
verzogen das gedunsene Gesicht zu einem vertraulichen Grinsen. Kichern
Gurgeln Grunzen aus dem verklebten weit geöffneten Mund; sie legten sich
sanft um. Die Menschen, die sie rüttelten, gingen nur eine kurze Weile,
fühlten sich genötigt, selbst zu bleiben, zu grinsen gähnen, vor sich
hin zu lächeln, zu niesen kichern und dann zu lachen, daß das Zwerchfell
schmerzte. Sie schmetterten ihr Lachen von neuem, von neuem, husteten
verschütteten ihre Lungen, fühlten sich selig, müde und müder. Einige
fanden die Kraft, auf ihre Schiffe zurückzukehren, wo das Kichern schon
begann. Dann flogen Meldungen über die Meerenge. Auf den Hügelketten um
den Kanal hockten die Raben, wechselten gelegentlich ihren Sitz. Flieger
der weißen Geschwader warfen sich über sie. Wild schwirrten sie hoch,
auf der Flucht vor den Böen. Das Kraftwerk von Cartagena setzte ein. Die
gelben Flieger waren im Bereich seines elektrischen Feuers, im
sprühenden Geflecht der Wellen Cartagenas. Ein unsichtbares Gewitter
umfaßte sie, schleuderte sie auseinander. Als wären sie sehnsüchtige
verliebte Tiere, benahmen sich die Apparate, die unterhalb der
Strommassen liefen. Schwankten zitterten stiegen auf unter, rissen sich
ab, zuckten hoch. Sie schlingerten warfen drehten sich, ihre Propeller
arbeiteten blind. Sie waren gefangen wie Fliegen im Spinngewebe. Die
Gelben stellten ihre Motore ab; nur wenig sackte die Maschine, dann hing
sie fest, ja stieg stieg. Sie sahen von unten das Schauspiel der
Maschinen, die bewegungslos in der Luft hielten, als lägen sie auf dem
Meeresgrund. Motore sah man laufen und stehen. Unwiderstehlich die
Randstrahlung des Gewitters. Sie vermochten, nach stundenlangem Drängen
Spannen, die schweren apparatebeladenen Flieger, die den Kanal zerniert
hatten, nicht in das Meer zu stürzen. Nur einige schnallten sich los,
warfen Kleider in die Luft, sprangen nackt aus ihrem Apparat, der im
Schwung nach oben schoß. Willenlos schaukelten die übrigen in den
stählernen Kästen. Stiegen ruckweise höher höher in die aschestreuende
Zone, waren urplötzlich gefaßt, kilometerweit nach vorn gestoßen,
durchbohrt, durchlöchert, zerfressen, mit kleinem weißen Licht
aufflammend, zerfallen.

                   *       *       *       *       *

Aus Rumänien Polen Deutschland fuhren Beobachter nach dem Osten. Über
das Atlantische Meer kamen die trüben Geschwader. Zahlreich die Schiffe,
die auf der Einfahrt zugrunde gingen, an den Antillen den Bahamainseln.
Tiefer Mißmut zwang sie zurückzubleiben. Weigerten sich nach dem alten
Kontinent oder Amerika zurückzukehren. Angriffe von Teilen des
Geschwaders, Schiff gegen Schiff, wurden beobachtet.

Die Westgrenze der Verwüstungszone fuhren Kundschafter ab. Sie flogen
wanderten fuhren auf Booten. Das unabsehbare Überschwemmungsgebiet.
Einebnung der Landschaften. Wo die Wälder Wiesen Blatt- und Grasgrün
Ähre Blüte laufendes Tier singender Vogel? Schwarzbraun grünlich
fließende Seen, auf denen gesplitterte Baumstämme mit Wipfeln Wurzelwerk
schwammen, Teile von Tieren und Menschen, unter der Giftwirkung mit
hellroter und rosa Farbe. Gelb verbrannte zerbrochene Bettladen
Schaufeln Schlittenkufen im dicken Gewirr der Oberfläche hinziehend, zu
weiten Anhöhen über dem Morast aufgestapelt, spitze Kegel, abgeplattete
kilometerbreite Pyramiden: der Ort von Städten und Dörfern.
Zusammengepflastert Steinblöcke Häuserreste Lehmmassen Eisenteile Räder
Fensterladen. Die breiten Krater der Schwarzerde, wüste Steinhaufen um
Charkow und Kursk. Unterpflügt umgeworfen fein gemahlen der Boden, der
ruhte, aus dem kein Halm trieb, über dem kein Regenwurm sich bewegte,
keine Ameise lief. Starke Hügelgruppen am westlichen Ufer der südlichen
Wolga von der Egge der Bergwerke gefaßt; die Wolga, im Osten meilenweit
ins ehemalige Kirgisenland flutend, spritzend nach Westen aus
Sieböffnungen über das tiefliegende Land. Die Wandungen des Siebes
bröckelten ab; die Wolga brach nach Westen durch.

Über die Wolga drang kein Kundschafter. Manche verkamen, ließen die
Vorsichtsmaßregeln außer acht. Schwer mit unklarem Schmerz beladen
kehrte Gruppe nach Gruppe zurück. Trübsinnig grambepackt fielen sie in
die östlichen Städte wie Meteore, die im Niedergehen ihr Feuer von sich
geben.

Englische und kontinentale Stadtreiche hatten gegen Ende des Krieges
getan, was zu tun war: Massen ihrer Bevölkerung von sich geworfen, in
die unmäßig anwachsende B-Armee, die man erbarmenlos dezimierte. Man
markierte asiatische Angriffe durch Fliegermassen, riß tausende Wehrlose
auf den brachliegenden Feldern Rumäniens und Polens hin. Man erprobte
auftauchende Waffen am lebenden Objekt. Auf zehn gelbe Flieger, die vor
Panama an der Küste unter Böen und Raketen herabgerissen wurden, kamen
hunderttausende weiße, die die Kraft der Böen erprobten. Schneidend und
bedenkenlos die Diktatur der verzweifelten Herrscherschichten. Als
zwischen dem Toten Meer und dem Ladogasee, über Cherson Poltawa Mohilew
Pskow Waldai der sprengende Bergwerkgürtel gelegt wurde, dem asiatischen
gegenüber, war er in der Walachei der Poebene Westfalen Wales schon
mehrmals über den Boden gegangen, hatte mit Gift und Explosion
Regimenter der Überflüssigen gefordert.

Über die unerschöpflichen spielklügelnden Städte fielen da die
Nachrichten vom Krieg. Die Kundschafter, finsternistriefend, ließen sich
in die Menschenmassen nieder. In London, englischen und kontinentalen
Stadtschaften wurde in diesem Augenblick die Diktatur offenkundig. In
London bedurfte es keines Kampfes. Mit zwei drei Schlägen bemächtigte
sich Rallignon und seine Kampftruppe der gesamten Ernährungs- und
Bewaffnungsanlagen von Paris Lille Châlons Orleans. Die Wieschinska, das
Weib, bei der Durchschleusung des Panamakanals unter die nervenlähmenden
Strahlen der Japaner gekommen, gehörte zu den wenigen, die sich nach
kurzem Siechtum erholten. Sie behielt Geist und Willen: Beine hingen im
Stuhl schlaff von ihr; sie beseitigte, mit ihrem noch gespannten
strahlenden Gesicht, ihrer machtvollen tiefen Stimme die Menschen an
sich fesselnd, den zögernden Senat ihres Gebietes, vereinigte Werke und
Waffen in ihrer Hand.

Über allen wartenden getöserfüllten Städten erschien in diesem
Augenblick das Gesicht der toten Landschaften. Unverhüllt erschien es.
Hatte niemand Lust, etwas zu verbergen. Keine Niederlage war gemeldet.
Sondern nur: es hatte sich nichts geändert. Die Jungen, Männer und
Frauen, die Führer hatten die Fahne erhoben, geschrien von ihrer Kraft.
Das Feuer aus der Erde, zwischen den Händen der Menschen, zu den
Gestirnen aufbrennend: da war es, in der russischen Ebene, vom Ural bis
zu den Waldaihöhen. Das Land zerrissen, Flüsse entleert, Menschen Bäume
Tiere verzehrt. Das grauenvolle tote Land. Das war das Werk der Jungen
mit den Standarten. Das konnten sie. Das war das Geheimnis der Apparate,
die wunderbaren eingesperrten Naturkräfte in den Gewölben. Die
Rückkehrer der Flotte meldeten, daß es keine Fabel war, was die
Techniker und Gelehrten erzählt hatten von den Luftböen den Wasserböen
Kurz- und Langstrahlern Brandsprengern. Aber nichts war zu leisten
damit. Man lief um die Städte wie vorher, hatte Treibhäuser für Blumen
Spiele Zirkus. Was sollte man damit? Versagt hatten die Jungen, die
Herren und Herrinnen. Lächerlich ihre Fahnen. Die Erde konnten sie
zerreißen, Städte vergiften. Wenn sie wollten, konnten sie auch die
westlichen Landschaften vernichten.

Die Kundschafter vom Osten waren Menschen aus der Mitte dieser Städte.
Man ließ sie ruhig unter die Massen. Es waren die Träger dieser Augen,
sie hatten solche Gesichter, flüsterten wie Wahnsinnige, gellten warfen
die Arme, bedeckten die Augen. Diese Landschaften, die aus den Betten
gerissenen Riesenströme. Wälder Äcker Gewimmel von Tieren und Menschen:
weg. Es gab Städte, in denen Attentate auf die Boten gemacht wurden, in
hilfloser giftiger sich selbst zerreißender Wut, weil sie ihnen dies
angetan hatten. So tief waren manche Boten, frieden- und spielgewöhnt,
weich wie die Massen, von Grauen und Angst ausgehöhlt, daß sie durch die
Straßen nur liefen weinten. Als hätte man sie bestraft und sie klagten
deshalb, forderten Sühne, erzählten ihr Unglück, so liefen sie auf die
Bühnen, in die Säle Ratshäuser und riefen. So hat der Held in dem alten
Gedicht geschrien, als ihm sein lieber Freund erschlagen war, die Leiche
geschändet und entblößt. Es war ein Rest des Schreies der fliehenden
Tier- und Menschenscharen vor der Feuerwoge vom Ural, der Tausende vom
Asowschen und Toten Meer, die zusammengedrängt, Kosaken Kirgisen Slawen,
Bauern Weiber, die blauschwarze Meeresfläche anstarrten, während unter
ihnen der Boden von dem wandernden Getier fortgenommen wurde, klatschend
lohend in ihrem Rücken die Brandlinien anrollten. Überall schüttelten
sich die trüben gemästeten Massen in der Qual des Verlorenseins. So tost
der Vulkan und rast glücklich, voll Hohn und Wonne, daß schmerzliche
Kräfte in ihm aufsteigen, die glühende Lava, von der er sich befreit,
die er breit deckend über die Erde gießt. Die Landschaften hätten die
Herren verbrennen können; sie wollten sich über die Herren gießen, Rache
nehmen. Wo Stadtlandschaften nicht durch starke Senate gesichert waren,
erfolgten lauffeuerartig Revolten Zertrümmungen von Straßenzügen Werken.

Nach diesen Vorgängen wurde kein Friede zwischen dem westlichen
Völkerkreis und den Asiaten geschlossen. Es geschah nichts. Der Krieg
war zu Ende, wie ein Tier, das einen Beilhieb in die Halswirbelsäule
empfängt.

Die Staaten schnurrten zusammen. Jede Stadtlandschaft kämpfte um ihr
Dasein.




                             Drittes Buch.

                                 Marduk


Zuerst kam in Berlin der Konsul Marke auf. Er war Erkunder bei den
technischen Truppen des Uralischen Krieges gewesen. Anfliegend aus der
schwarzen Krim, die beladen war mit Sterbenden, verendenden Pferden
Hunden Füchsen Katzen, über das verödete Bessarabien, die stillen
Beskiden fuhr er. Als er sich Berlin näherte, sich über dem alten Bernau
senkte, hatten sich da Massen angesammelt, ihn erwartend in den
herbstlichen Alleen, zwischen den Plantagen und Baumschulen. Megaphone
waren aufgestellt. Er vor dem Haus sich niederlassend, ging unter dem
Gebrüll der Menschen wortlos zur Tür, schloß sie hinter sich. Rief,
dessen braune Kleider den scharfen Geruch der Gase und des Brandes von
sich gaben, seine beiden Töchter, forderte von ihnen, nachdem er sie
unbewegt lange beschaut hatte, – sie weinten strichen Hände Gesicht des
starren Mannes, – daß sie sich entleiben sollten. Gelegentlich wurde
seine Starre durch Schluchzen Aufstöhnen durchbrochen.

„Ihr wollt euch nicht töten? Wollt ihr euch nicht töten?“ Eintönig und
immer wiederholt seine Frage. Er sprach das hier übliche
Englisch-Deutsch; bisweilen murmelte er in einem unverständlichen
Jargon: russisch, der Leute zwischen den Feuerlinien. Die Töchter warfen
sich vor ihn auf den Boden, weinten ratlos. Zwei alte Hausgehilfinnen
holten sie; er sah sie nicht an. Der starkrückige Mann, die Fliegerkappe
über die Stirn hochgeschoben, drängte weiter: „Ihr müßt euch töten.“
„Warum? Warum nur? Was haben wir getan?“ Er murmelte russisch. Dann
stand er zitternd, zog die Kappe ganz über das Gesicht: „Ihr – habt
nichts getan. Was soll einer getan haben. Oder zwei. Ich auch nicht. Wir
haben nichts getan. Alle müssen hin.“ Er fuchtelte mit dem Stahlgürtel,
den er sich abgeschnallt hatte, schlug auf den Boden, als ob er etwas
niederpeitschte. Jourdane, die jüngere, bot ihm zu trinken. Er kippte
das Weinglas, das er in seiner linken Hand hielt und anschaute, dem
blonden schmächtigen Mädchen über die Brust. Sie wollte in einer
Mischung von Zorn und Angst seinen Arm packen. Die Ältere hielt sie
zurück. „Ich will dein Gift nicht nehmen, Weib.“ Marke stellte das Glas
vor sich auf den Tisch, fuhr mit dem Gürtel wagerecht hin und her,
schlug es vom Tisch herunter. „Ich will keine Luft mit euch. Es war
nicht nötig, daß ihr in mein Haus kamt, wenn ihr nicht auf mich hört.
Hier ist meine Luft. Ihr müßt weg. Alle. Tötet euch.“

Die Megaphone dröhnten über die Straßen. Marke schrie, an sein Fenster
tretend: „Worauf wartet ihr. Ihr müßt weg. Weg müßt ihr, sag ich euch.“
Er gehörte nicht zu den Herrschenden, Leuchtmar, der in Hamburg
getötete, hatte ihn nie gesehen. Die Menschen unten liefen ängstlich
voneinander, verstanden nicht, was er wollte.

Jourdane blieb in der Nacht am Bett Markes, der wenig schlief. Sie
glaubte, er sei von einem Gift des Krieges getroffen. Während sie sich
über die Stuhllehne zu ihm bückte, schwoll ein Grauen von ihm auf sie
über. Eine Weile saß sie noch, dann konnte sie nicht widerstehen. Mußte
den Kopf heben, die Arme auf die Stuhllehne stützen, die Füße
aufdrücken, aufstehen, gehen. Den Mann im Bett sah sie nicht mehr. Sie
ging zur Tür. Nahm Markes dünnen Stahlgürtel ab, band ihn um einen
Riegel, steckte, einen Stuhl besteigend, den Stuhl mit Freude unter sich
wegstoßend, den Kopf in die Schlinge. Der Kopf mußte in die Schlinge
gesteckt werden. Sie empfand, wie sie die Füße gegen den wankenden Stuhl
stieß, eine tiefrieselnde Lust über den Leib die Knie und die Arme. Zum
dargebotenen Hals, der sich an die kühle anschnellende Schlinge legte,
rann die schreckliche Lust herauf.

Der Mann, im Fall des Stuhls zuckend, sah sie hängen. Er wollte vom Bett
hin um sie zu retten, aber seine Beine kamen nicht auf. Seine Arme, die
nach der Bettkante griffen, knickten krampften zusammen. Er hielt den
Kopf in der Richtung auf die Hängende. Lauschte nach ihr. Langsam
vermochte er zu schlucken, tönend die Luft durch Mund Nase einzuziehen,
zu schnarchen, zu stöhnen.

Sein lautes wildes immer wilderes Stöhnen, – er saß gebunden auf der
Bettkante, den Kopf starr nach der Hängenden, – rief die Tochter, die im
Nebenraum schlief, herbei. Sie sah nicht, warum er keuchte lallte.
Verfolgte seinen Blick. Schwankend, hoch die Luft aufziehend,
hinsinkend, sich hinschleifend war sie an der Tür. Stürzte mit der
abgehobenen Schwester vom Stuhl, über sie her. Marke im Hemd auf der
Bettkante. Seine nackten Füße vibrierten auf dem Teppich. Weinend warf
sich die Tochter, als Jourdane leblos dalag, an ihn, umschlang seinen
Rumpf. Und während ihr verzerrtes Gesicht von Tränen überflossen wurde,
blickte sie nach oben, zu dem Gesicht des Vaters. Der war stürmisch
durchzuckt. In seinen Beinen Armen, dem Rücken krampften die Zuckungen
Jourdanes nach, während sie hing. Immer schnellten seine Beine an,
wollten sich seine Knie krümmen, die Füße stoßen. Er drückte sich fest,
fester.

Das Aufwühlen seiner Muskeln bezwang er. Sein wieder erstarrender
drohender verlangender Ausdruck gegen Janina. Die ließ ihn los. Ihr
Entsetzen Abscheu vor diesem Wesen. Auf die Schwester lief sie, löste
ihr den Gürtel vom Hals, hielt ihn, kniend, über die Schwester
wegblickend, in der geballten Faust gedrückt, wie eine Peitsche, mit der
sie auf den Mann losgehen wollte. Und stand, den Gürtel pressend in der
Rechten, um den stummen Mann, den lippenbeißenden, der hörbar durch das
Zimmer atmete, auf das Bett zurückzuwerfen, ihm anzutun, was sie konnte.
Das Scheusal, das die junge süße Erhängte getrieben hatte. Da fühlte sie
seine Augen. Er saß noch immer auf dem Bett. Sein Ausdruck so wechselnd:
bald zitternd zerfließend, bald starr und unerbittlich befehlend, bald
schmerzgespannt. Die Fäuste hatte er sich zum bloßen Hals erhoben, sie
krallten in die Haut. Er war von der Verzweiflung verschluckt,
verstrudelt, geschlagen an jedem Glied. Vor ihm kniete sie einen Moment.
Horchte, sah zu ihm auf. Berührte seine Hände. Sein Ausdruck wurde
drängender. Sie stand, getrieben, Muskel und Spannung, vor der
Schwester, die auf dem Teppich lag, das Gesicht mit dem offenen Mund
nach oben, die Knie an den Leib gezogen. Der Gürtel fiel Janina aus der
weißen Hand; sie hatte die Hände wie die Tote geöffnet. Was saß hinter
ihrem Rücken auf dem Bett. Der Stuhl. Sie zog ihn her. Der dünne Gürtel.
Der Riegel. Verschließen des Gesichts. Der Stuhl polterte. Sie sollte
erst, Janina, nach langen Stunden in der Helle des Vormittags neben
Jourdane liegen, das Kinn nahe der zarten Brust, die Beine angezogen.
Umschrien von den beiden alten Frauen. Marke saß noch immer auf der
Bettkante. Stöhnte leise, antwortete nicht, als Männer ihn befragten.
Zog sich gegen Mittag an. Mit dem Stahlgürtel rieb er sich die behaarte
Brust aufs Fleisch blutig. Unter dem Hemd auf dem blutigen Fleisch
schnürte er sich den Gürtel. Unheimlich stand er stundenlang wortlos im
Zimmer, die Faust an der Brust.

Man hatte damals ein Verfahren, auf großen Plätzen, offenen Straßen im
aufwirbelnden farbigen Rauch Gestalten und Landschaften sichtbar werden
zu lassen. Die spiegelnde Fata Morgana der Wüsten war das Vorbild
gewesen. Die Wissenschaft hatte ihr Geheimnis entdeckt; künstliche
Wolken waren die Träger der Erscheinungen, Empfänger der über Prismen
und Spiegel hingeworfenen lebenden Abbilder. Die Fernseher übertrugen
augenblicklich auf jede Entfernung Vorgänge, die im beleuchteten Rauch
der Fata Morgana leibhaftig erschienen. Die Megaphone dröhnten an diesem
Abend. Der Bildrauch wirbelte auf den Plätzen, in den Anlagen, im
Zirkus. Marke erschien. Sein vielen bekanntes Gesicht, aber die Haare
grau, Strähnen wirr über Ohren Stirn; gramumwuchert sein Gesicht.
Vernichtetes Gesicht, bald starr, bald zuckend, bald in Zittern
aufgelöst. Er stand auf dem Balkon seines Hauses. Die Faust hielt er
lange wortlos gegen die Brust. Unter seinen schlagenden verwünschenden
Handbewegungen, seinen heißen Haßblicken stoben viele Menschen davon.
Sein Mund öffnete sich. Ein Rollen Poltern Tosen aus dem Megaphon: „Ich
lebe. Meine Töchter sind tot. Sie haben wohl getan. Weg auch ihr.“ Er
schrie: „Das bin ich“, schlug sich die Brust, riß die Jacke auf, das
Hemd weg. Den stählernen Gürtel packte er mit beiden Fäusten,
schmetterte ihn gegen die aufgerissene zottige Brust, ohne daß sich sein
Gesicht veränderte und ließ von diesem flutenden Hin und Her der Starre,
des aufgelösten flimmernden Vibrierens. „Das bin ich.“ Die Menschen, die
am Boden die Rauchapparate bedienten, lagen in halber Betäubung. Oft
verschwand Markes Balkon, die Front seines Hauses, seine Figur im dicken
unaufgelösten Qualm. Angstvoll schrie die Menge; immer trat die Figur
wieder hervor. Man sah das Eisenstück, das er vom Gitter seines Balkons
brach, das er gegen seinen eigenen Hals richtete, in diesem Augenblick,
das er gegen seine eigenen Augen richtete. Jetzt Schläge über die Stirn
rechts links. Tausend aufgreifende Hände aus den Mengen. Gurgeln Gröhlen
Röcheln aus dem Megaphon.

Der blinde Marke lebte. Neue Boten kamen. Brachten Bilder vom Uralischen
Krieg.

                   *       *       *       *       *

Im Kreis dieser Stadtlandschaft breitete sich eine Finsternis
Lebenssattheit Todesverlangen aus. Die meisten Werke standen. Nur die
notdürftigste Verbindung mit den Nachbarstädten wurde gepflegt. Wie
abgehetzte Hunde mit lechzenden Zungen und grade von sich gestreckten
Gliedern lagen die Herren der großen Werke, rührten sich nicht. Es
konnte keiner verhindern, daß von den Massen nur dieser Anblick begehrt
wurde: Marke, sein drohendes Stehen, seine Blendung. Er sprach nicht.
Fuhr mit der Hand und seinem Gürtel durch die Luft, verlangte eintönig
und stumpf: „Tötet Euch.“ Gleichmütig erhängten sich in diesen Wochen,
hier wie in anderen westlichen Städten, kräftige Männer und Frauen.

Wie noch die Todessehnsucht durch die Menschen brauste, saß Marke in
seinem Zimmer. Er richtete in der schweren Schwärze, die ihn umgab,
seinen Kopf wie immer nach der Tür, neben der der Riegel war.

Da fühlte er sich an Knien und Hüften berührt. Er tastete hin, griff
nichts. Ließ die Hände fort. Wieder berührte es ihn an Knien und Hüften.
Tastete sich langsam langsam an seiner Brust hoch mit so großer Weiche.
Wonnig ließ er es geschehen. Er hatte gar keine Furcht.

Es war die tote Jourdane, die schmächtige junge Tochter. Die streichelte
über seine Augenhöhlen. Ein Fliedergeruch kam mit ihr. Sie hatte mit
beiden Armen seinen Hals umschlungen, saß auf der Bettkante neben ihm.
Er fühlte ihre kühle Wange. „Vater“ hauchte es. Er saß im Glück, rührte
sich nicht. „Vater. Du bist blind. Ich bin nicht mehr bei dir.“ Er hielt
immer still. Sein Oberkörper schwankte von rechts nach links. Sie ließ
nicht von ihm. „Vater, wie viele Blumen Käfer Menschen und Kinder sind
durch uns gestorben. Ich lebe nicht mehr. Du bist blind, Vater. Ihr
guten Augen seht nicht mehr. Wieviel sollen noch sterben, Vater.“

Er fragte: „Wo ist Janina? Ist Janina bei dir?“ „Ich will sie rufen,
Vater.“

Und da fühlte er sich losgelassen. Eine lange Minute saß er allein.
Wehen Hauchen. Sehnsüchtig empfing er die Berührung an seinen Schultern,
seiner Stirn, ein langes zitterndes Anpressen an sein Gesicht. „Janina,
bist du Janina?“ Das antwortete lange nicht, ließ nicht von seinem Kopf,
schluchzte: „Ja, ich bin Janina.“ „Liebe Janina. Liebe Janina.“ „Vater.“
„Bist du da, Janina. Bist du wirklich da. Mein süßes Kind.“ An seinem
Körper neben ihm schwang es, hielt sich fest. „Wo hast du Jourdane
gelassen?“ „Wir können nur einzeln kommen.“ „Komm öfter, Janina.“ „Wir
sind so oft da, Vater. Du siehst uns nicht, du hörst uns nicht, du
fühlst uns nicht.“ „Ich fühl’ dich ja.“ Da schwankte sein Oberkörper wie
ein Mast im Sturm. Sein Rückgrat hielt nicht mehr. Er fiel zurück.

Am andern Morgen ließ er die beiden Frauen, die mit den Töchtern
zusammen waren, zu sich kommen. Er war verwandelt, sprach sanft zu
ihnen. Sie möchten öfter im Haus bei ihm sein. Aber leise gehen, damit
er Jourdane und Janina höre, wenn sie kämen.

Sie kamen öfter. Die zarten abgeschiedenen Seelchen. Lächelnd saß er im
Stuhl, bewegte sich nicht. Er streichelte den alten weinenden Frauen die
Hände.

Den Werktätigen und Ruhenden, Fabrikherren, Weißen und Farbigen ließ er
sagen, daß er zu ihnen sprechen wolle. Marke gab nach kurzem Zögern dem
Drängen des Senats nach.

                   *       *       *       *       *

Mit ihm begann die Reihe der Konsuln in Berlin.

Er wirkte klar, allen sichtbar und verständlich. Gelöst wurden die
Verbindungen mit anderen Stadtlandschaften und fremden Staaten. Nur die
wurden aufrecht erhalten, die der unmittelbaren Erhaltung der
Volksmassen dienten. So die für die dynamische Kraft, die, in
Skandinavien und den Alpen aus Wasserstürzen für den ganzen Kontinent
gewonnen, herströmte. Die Lebensmittelsynthese, – Marke wollte zuerst
die chemischen Laboratorien, die großen Pilz- und Organanstalten
niederlegen, – vermochte er nicht zu beseitigen, da die Äcker nicht
genügten. Aber er trieb massenhaft Menschen aus der Stadt heraus auf die
Felder zur Bebauung, drängte auf Entfernung aller Überflüssigen. Sein
Konsulat begann mit der Wehrlosmachung der Stadt. Den Mastenwald an der
Peripherie zum Fernschutz brach er ab. Alle Apparate, die der Bewaffnung
und Verteidigung dienten, zerstörte er. Darauf erfolgte die
staunenswerte, das Herz der Stadt zerreißende, Millionen Menschen, Senat
und Volk aufs tiefste erschütternde Sprengung der zentralen
Schaltanlagen und Kraftsammelstellen, der unnahbar geschützten, für
heilig gehaltenen Energiespeicher. Erst als dies geschah, wußte Senat
und Volk, daß sie eine Gewalt über sich gesetzt hatten. Die von fernher
laufende Kraft wurde schon außerhalb des Weichbildes der Stadt
zersplittert; sie lief von mehreren Seiten an; keine Anlage hatte mehr
zur Verfügung als ihre Arbeit erforderte. Der Tod stand auf jeden
Versuch eigenmächtiger Kraftspeicherung. Als dies geschah, gaben mehrere
der stärksten Herrenfamilien ihre Werke selbst aus der Hand, verloren
sich unter die Mengen der Ernährten und Arbeitenden. Aus diesen Kreisen
Verstörter wuchsen die späteren Feinde des neuen Stadtwesens.

Berlin erstreckte sich über die meilenweite wellige Ebene zwischen dem
unteren Elbetal und der Oder. Es überlagerte die lehmige tonige sandige
Fläche, die die letzte Eiszeit bereitet hatte, vom roggentreibenden
Fläming, dem Lausitzer Wall im Süden bis zu den wiesenreichen
seenbestandenen baltischen Landrücken an der Ostsee. Es schloß Sümpfe
Wälder Flußläufe in sich ein, Forsten Talzüge, die Baruth-Brücker
Niederung, die Duberower Berge, die Kiefern Eichen Birken hochtrieben,
das Höhenland der Havel, die dürre Zauche mit dem Schwielow- und Rietzer
See. Den Oderbruch und Küstrin erreichte es im Osten. Das flache
Rhinluch, das Havelländische Luch umzogen seine Anlagen, Schwedt und
Prenzlau im Nordosten, die das sumpfige Höhenland der Uckermark im
Nordosten trug, überlief es mit seinen Außenmarken.

Die Stadtschaft hatte zahllose weite Plätze und riesige
Straßenkreuzungen. Mächtig wirkte an den großen öffentlichen Stellen das
feierliche Bild eines Stiers, der in die Knie gebrochen war. Ein
armlanges Messer stak in seiner linken Flanke. Einmal am Vor- und
Nachmittag brüllte die Säule, stark wie eine Schiffsirene, täuschend
ähnlich in Schrei und gliederlähmender Angst dem Ton eines sterbenden
großen Tiers. Sie brüllte unregelmäßig unvermittelt in dieser und jener
Stadtgegend. Dann mußte jeder auf Minuten die Arbeit verlassen, die
nicht dringend war.

Unüberwindlich lang waren die Jahre der Lethargie, die heraufzogen. Nach
Vernichtung der Bewaffnung der Stadt, Sprengung der Zentralen, Eröffnung
der Äcker überließ Marke, mit dem Senat nur der Kontrolle dienend, die
Stadt sich. Jeder lebte für sich. Mystische Bünde machten sich breit.
Ihnen boten sich viele Menschen an; die Zahl der Untätigen
Herumlungernden war nach der Sprengung der Zentralen, der Ablösung von
der Umwelt gestiegen. In den Sekten wurde gegen die höllische Ernährung,
das teuflische Menschenwerk gepredigt; die Wut finsterer Lehrer richtete
sich gegen die geschonten Laboratorien, in die Tonnen mit Salzen Säuren
Metallen einfuhren, aus denen Zucker und Fette geworfen wurden, Tiere
und Pflanzenleiber, in denen Organteile Organsäfte als Arbeitskräfte
dienten.

Am Müritzsee hatten sich Siedlungen aufgetan. Täglich wallten Menschen
dahin, wo der hagere skeptische weiße James Maikotten mit ihnen sein
Frage- und Antwortspiel anfing: Was sie vorhätten. Was sie von diesem
blinden Konsul Marke erwarteten. Ob sie glaubten, daß die Welt besser
würde, wenn ein paar Werke in die Luft flögen. Ein paar Werke. Er
empfehle Kastration. Sie müßten den neugeborenen Knaben die Hoden
abschneiden, dann könne man hoffen, daß in fünfzig Jahren die Erde
besser aussehe: Unkraut auf den Wiesen, ein paar Häuser noch von alten
Leuten bewohnt, aber wilde Tiere kommen schon wieder; die Erde beruhigt
sich, die verkehrte Art Mensch ist erledigt. Die ganze Erde braucht
Erholung von den Menschen. Nicht bloß Rußland. Eine Fehlart ist der
Mensch. Surrur hat recht; aber seine Wind- und Wasserlehre war zu
hoffnungsvoll. Es sei kein Zweifel, die Art Mensch hat keinen Bestand.
Sie vernichtet sich, frißt sich selbst auf; ihre Gaben drängen sie dazu.
Was tut der Konsul Marke? Eine Krankenheilung mittels Halsumschlags; der
Kranke hat Gift in sich; ein Halsumschlag! Warum nicht gar gute Worte?
Das Gift wird doch deutsch und englisch verstehen und sich zureden
lassen und seiner Wege gehen. Sie hätten sich den neuen Putz eines
blinden Konsuls sparen können. Aber schließlich, es schade nichts; er
kleide sie gut. Es sei ein netter würdiger Konsul vor dem Schlafengehen.

Sie hatten sich längst an die künstlichen, sehr raffiniert aufgemachten
Stoffe gewöhnt, die in jedem Überfluß zu jeder Zeit vorhanden waren. Der
Geschmack reiner tierischer und pflanzlicher Nahrung stieß sie ab. Sie
lachten in allen westlichen Stadtlandschaften, schüttelten die Köpfe,
wenn sie den zarten und nach Belieben abwechselnden Geschmack ihrer
Mekispeisen verglichen mit dem penetranten Geruch eines gebratenen
Tiermuskels, eines Fischstückes. Zauberhaft konnten die Herrichter der
Mekispeisen, die den Nährstoffabriken angegliedert waren, Geschmack
Derbheit Zerreißbarkeit Geruch Farbe der Gerichte ändern. Es wäre den
Menschen, die schon in dritter und vierter Generation künstliche Nahrung
zu sich nahmen, schwer geworden, zur natürlichen Kost zurückzukehren.
Ihre Mägen sonderten schon nicht mehr genug Säure ab für die Aufspaltung
tierischer Muskeln, die Därme waren träge und schlaff geworden, die
großen unbeschäftigten Bauchdrüsen eingeschrumpft. Leicht hätte die
Menschheit dieser Epoche ihre Arme und Beine kraftvoll, ja eisern machen
können. Aber ohne zu wissen, was sie taten, wählten sie, wie sie
herumlagen spielten sich wenig bewegten, die mästende lähmende fette
süße Nahrung. Ihre Glieder wurden plump schwach. Fremde Massen, die neu
in den westlichen Kreis einstießen, staunten und lachten: so sehen die
Meister aus, diese Herren der Erde. In einer instinktiven Furcht flohen
immer wieder Negerstämme, hamitische und indianische Gruppen, und
verbarrikadierten sich gegen die Europäer: sie mochten nicht so werden.

Auf den Tod des Konsul Marke warteten viele. Der Blinde umgab sich mit
wenigen Männern, die er oft in steigendem Mißtrauen wechselte. Frauen
wies er von sich, aber gerade Frauen hingen ihm viel an. Er entwickelte
sich in eine apostolische Starre hinein. Seine Zustände mystischer
Verworrenheit wurden viel besprochen. Die Nachwirkungen des Krieges
waren bei ihm nicht auszulöschen. Er ging spiritistischen Neigungen
nach. Zog durch das Gebiet der Stadtlandschaft mit einigen Vertrauten
und Frauen, kümmerte sich um die Bekenntnisse Kirchen Tempel der Sekten.
Er hielt diese Dinge für so wichtig, daß er zuletzt fast wöchentlich die
Prediger und Lehrer um sich versammelte, sie anhörte, sie darauf
hinwies, das Volk mit den frommen überirdischen Gedanken zu
durchdringen. Er, dem die weißen Haare lang in den Nacken und seitlich
über die Ohren fielen, war ängstlich, daß hierin etwas versäumt würde.
Nichts hielt er für so wichtig wie dies.

Er wußte nicht, daß seine Haltung die Zahl der Opponierenden vermehrte.
Die Männer und Frauen, die in den Laboratorien prüften und studierten,
hielten ihre alten Vorstellungen verschwiegen fest. Eine Fronde bildete
sich aus ihnen, Angehörigen der Herrengeschlechter. Diese Geduldeten,
besonders in den Mekifabriken, von deren Gutwilligkeit man eigentlich
lebte, führten zuletzt eine Art Nebenregierung. Sie hielten die Dekrete
zur Überwachung der sich wieder regenden Technik, zur Ausbreitung der
Frömmigkeit, zur fortschreitenden Zerstörung der Fabriken und Rückkehr
zum Ackerbau, zur Viehzucht an der Quelle fest. Markes rechte Hand, den
Chef seiner Spitzelpolizei, einen eisernen umsichtigen Mann, gewannen
sie zu ihrem eigenen Erstaunen. Sie hatten bald leichtes Spiel. Die
Kerker, in denen Saboteure der Verordnungen Markes saßen, Besitzer und
Hersteller von Waffen, aufsässige Konstrukteure, die sich heimlich
Kraftleitungen verschafften, wurden unauffällig nach und nach geöffnet.
Man ließ aus fremden Stadtgebieten Verbannte hinein.

In dieser Zeit starb Marke, verwahrlost. Man hatte ihn wochenlang unter
dem Vorwand ärztlichen Befehls nicht herausgelassen. Er war eigentlich
Gefangener des Chefs seiner Spitzelpolizei. Tagelang lag er, dem ein
weißer Bart wild das pergamentene Gesicht umwucherte, quer über dem
Bett, diktierte, gab Anweisungen. Nur Frauen waren zuletzt bei ihm. Er
träumte von den Ergebnissen seiner Regierung. Glaubte die Stadt in
sichere feste Bahnen gelenkt. Tyrannisierte die Frauen mit Forderungen
nach Speisen Milch Kräutern Packungen Umlagerung. Ließ keinen Arzt zu
sich. Ein endloser Todeskampf.

                   *       *       *       *       *

Die Megaphone Glocken Flammenzeichen riefen zu Versammlungen. Die Fronde
trat überall hervor. Sie erlebte eine ungeheure Enttäuschung.

Ligbau, ein uralter Mann, ließ sich an ein Megaphon vor dem Ratsgebäude
führen, gestikulierte mit dem Ausdruck des Abscheus: „Ihr seid entlarvt.
Wir haben euch schon gesehen und erwartet. Es soll alles noch einmal
anfangen. Ihr glaubt, ihr seid dicht daran es durchzusetzen. Und ihr
werdet es durchsetzen. Murrt nicht; sie werden es durchsetzen. Es ist
unser Geschick. Ich rate euch, die ihr hier steht, nehmt es hin. Es hat
keinen Zweck. Haltet es nicht auf. Es ist uns beschieden, so sind wir,
so tragen wir uns. Setzt alle Verbannten und Gefangenen wieder ein.
Macht keine halbe Arbeit. Die Zeit ist geschwind, haltet euch nicht mit
Versuchen und Prüfungen auf. Wir wissen ja doch, wohin der Weg geht. Und
es ist gut vorgesorgt, daß es diesmal rascher geht als zur Zeit des
Krieges, des letzten Krieges, des vorletzten Krieges. Ich bin achtzig
Jahr. Ich freue mich, ich bin glücklich, daß ich nicht im Bett zu
sterben brauche. Ich brauch mich nicht anzustrengen um zu sterben; es
wird mir abgenommen werden. Eine schöne Zeit; was wird es für
Überraschungen geben! Juchhei! Freut euch! Sie haben schon alles
durchdacht. Fragt sie nur; sie haben es schon in ihren Büchern, auf
ihren Zeichenbrettern und Tafeln. Seht euch ihre Köpfe an. Da steckt es
drin, was es bald regnen wird.“ Er raste und zischte. „Kennt ihr die
Spree und die Havel die Oder die Elbe? Ich denke, das ist es, was sie
anbeten. Das sind die Götter dieser neuen Regenten. So sollen wir
werden. Matsch und Lehm, dickes und dünnes Wasser. Recht
auseinandergerissen zerpreßt. Bin ich kein Hellseher, habe ich es euch
nicht aus dem Kopf genommen? Ich kann es euch sagen, weil ich ein alter
Mann bin. So, wie ihr, so haben vor dreißig Jahren andere ausgesehen, so
haben sie gelacht. Leuchtmar und Rallignon. Ihr seid keine Neuigkeit.
Eure Erfindungen sind neu; was ihr vorhabt, wird ganz neu sein, aber ihr
seid sehr alt. Da seid ihr wieder, du da, du bist doch schon tot, am
Asowschen Meer bist du gestorben mit der B-Armee, es war eine schöne
Armee, sie war deiner würdig. Da bist du schon wieder lebendig. Deine
eigenen Entdeckungen, dachte ich, hätten dich totgeschlagen. Aber es
gefällt dir so gut, du kannst dir keine fünfzig Jahre Schlaf gönnen. Ist
nicht die Frau da, die im Süddeutschen sich in die Maschine stürzte?
Elise Frangani, die halbe Italienerin, die ja, ist sie nicht hier, ha,
wer bist du sonst? Versteckst dich hinter seinem Rücken. Es ist nicht
nötig. Du sitzt in seinem Kopf und seinem Leib, in vielen Köpfen hier;
du bist drauf und dran zu zeigen, daß du wieder da bist. Welche
Neuigkeiten für einen alten Mann. Ha, welche Überraschungen. Wie komm
ich nur zu solchem Glück! Mit meinen weißen Haaren noch solches Glück!“
Er gestikulierte neben dem Megaphon; man verstand ihn nicht. Man
begütigte ihn; unten standen manche, die nicht die Augen heben konnten.
Er schrie: „Ich soll weiter reden. Sagt mir doch erst: ist Marke tot?
Ist er in der Krim gestorben, konnte er nicht nach Hause kommen, oder
ist er hergekommen. Seine Töchter haben sich erhängt. Er hat sich die
Augen ausgeschlagen.“ Er tastete um sich, während sein lappiges Gesicht
glührot überflammt war, die Augen ihm hervorquollen, fuchtelte krächzte:
„Zur Wahl! Der neue Konsul! Wir haben einen Krieg geführt. Der Krieg ist
eben zu Ende. Wir sind von der Grenze gekommen. Da war – Wüste! Wüste!
Die Ruinen von Ninive sind Paläste gegen das, was wir gesehen haben. Der
Euphrat fließt noch, die Grundmauern stehen da, man findet noch Ziegel,
es gibt alles. Das Land aber in Rußland ist verwüstet, das Land ist
nicht mehr da. Die Erde ist weggerissen. Die Krater gehen bis an die
heiße Flüssigkeit in der Erde. Ich wähle – Marke! Wählt mit! Marke!
Bürger, niemand als Marke soll Konsul sein.“

Dieser wurde beiseite geführt. Ein kühler sachlicher Mann sprach nach
ihm. Ligbau im Krankenstuhl in seiner Nähe. Vornübergebeugt beobachtete
der alte Mann mit weißen Augen den Redner; rief zu ihm herauf: „Was hast
du im Kopf? Woran werden wir sterben, Giftströme, Gasströme! Sprich
doch!“ Wie er fertig war, schrie er: „Wählt ihn! Er führt den nächsten
Weg. Noch einmal werden wir uns nicht auf diesem Platz wiedersehen.“ Das
Weib, das mit dem Mann gestanden hatte, sprang hinauf, schmähte den
Alten, zeigte die Fäuste. Der Alte erhob sich vom Stuhl, stieg auf das
Podium, schlug ihr mit den Fäusten gegen den Hals: „Das hast du damals
nicht gewagt.“ Sie warf sich weinend auf das Podium; der Mann führte sie
finster herunter.

                   *       *       *       *       *

Darauf wurde Marduk Konsul des Stadtwesens. Er war ein hochstirniger
blasser Mann in den dreißig, mit großen ernsten Augen. Ein langes
knochiges Gesicht, ruhiger gleichmäßiger Gang auf unsicheren
muskelschwachen Beinen. Er hatte sich bis da nicht hervorgetan, aber in
den Tagen der sich hinzögernden Wahl, während schon Zeichen der Anarchie
hervortraten, – in Mecklenburg standen die Sprosse der alten
Herrschaftsgeschlechter auf, im Magdeburgischen sammelten sich um den
greisen fanatischen Ligbau Maschinenstürmer, – damals besaß er den Mut,
aus Bernau, wo er saß, mit einer Freischar von zweihundert Menschen in
eine Beratung der Eisenfreunde einzutreten bei Löwenberg, die gesamte
anwesende Führerschaft dieser Bewegung aufzuheben und an einem einzigen
Tage samt und sonders verschwinden zu lassen. Es ist bis zum Schluß
seines langen Konsulats – er herrschte bis über die Mitte des
siebenundzwanzigsten Jahrhunderts – wenigen bekannt geworden, wohin
diese zweiundvierzig Männer und Frauen gelangt sind.

Marduk, selbst ein Mann vom Schlage derer, die er festgenommen hatte,
hauste in den Waldungen um Löwenberg, an der mecklenburgischen Grenze,
nahe dem Haupteiweißwerk. Ein kleiner Wald von Buchen stand neben seiner
Arbeitsstätte hinter Mauern. Zwischen diese grünen Buchen ließ er die
zweiundvierzig Gefangenen treiben. Ihnen fielen schon, wie sie durch die
kleine Tür hereinwanderten, die geborstenen Stämme auf. Vor den Rissen
der Stämme, auf den breiten Wunden stand dicker blasig erstarrter
gelblicher Schlamm. Wo er am Baum zur Wurzel herunterrann, war er
vertrocknet wie zu einem pulvrigen Rostbelag. Dunkel erinnerten sich die
Männer an die Pflanzenversuche dieses Marduk, der sich stets abseits
hielt. Er sollte in den Mekilaboratorien an tierischen Organteilen,
besonders an Pflanzenstücken eigentümliche Wachstumsveränderungen
erzeugt haben.

Finster gingen die Gefangenen in Marduks Park umher, begriffen nicht,
was Gefangennahme Hertransport diese Internierung bedeutete. Marduk war
einer der ihren. Es konnte möglich sein, daß er bestimmte Informationen
hatte über Angriffe auf sie, sich seiner Bundesgenossen versicherte und
sie vorläufig festnahm. Sie erwarteten stündlich, daß er unter ihnen
erschiene und sie aufkläre. Sie hatten, von dem rauhen Frühlingswind
umweht, das Gefühl, als ob sich von Zeit zu Zeit neben ihnen, an ihrer
Schulter, hinter ihrem Rücken etwas bewegte. Suchten, fanden nichts. Sie
setzten sich bald zusammen, bald auseinander. In der Luft war etwas
Eigentümliches von der Schärfe eines dünnen Rauches. Aus den Bäumen
schien Hitze zu steigen; die Bäume fühlten sich an einigen Stellen warm
an. Beunruhigt wandten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Bäume. Wie sie
die Köpfe an die Rinden legten, schnurrte surrte summte es drin. Das
waren die Säfte; es war Frühling. Nur war es merkwürdig, wie scharf es
sich im Mark und im Holz bewegte. Verwundert ließen sie das Ohr nicht
von den Bäumen, horchten da und da. Es zischte in manchen Bäumen, als ob
sie kochten. Ohne daß einer den Baum berührt hätte, fiel ein begrünter
Ast herunter. Ein kleines Fauchen gab es oben, als ob Säfte sich
entleerten. Der scharfe Geruch, der feine dünne, wurde stärker an diesem
Stamm; sie konnten sich in seiner Nähe nicht aufhalten. Der Geruch war
stechend wie Ammoniak.

In ihrer Unruhe kamen einige auf den Einfall, sich gegen die Bäume zu
wehren und sie umzubrechen; es war eine junge Pflanzung. Sie gingen ein
zwei Bäume an, zerrten stießen an den Stämmen; einer kletterte hoch, riß
brach große Äste ab, entlaubte den Baum, fiel plötzlich betäubt
rücklings auf den Boden über das Laub. Der Baum atmete in Stößen einen
heißen Dampf aus. Man schleppte den Bewußtlosen davon, zog sich zurück.
Marduk erschien nicht. Man schob ihnen gegen Abend in Körben Nahrung und
Getränke herüber über die Drahtspitzen der Mauer. Sie schliefen ein.

Gegen vier Uhr früh, als es hell wurde, suchten sie einander, wunderten
sich. Der Wald war so dicht geworden, der Weg zwischen den Stämmen so
eng. Die Bäume hatten ihre Massen unförmig verbreitert. Sie konnten kaum
zu zweien zwischen den Bäumen gehen. Ein surrendes Geräusch, ähnlich dem
von gestern, hatten sie in den Ohren. Sie zweifelten, woher es kam; die
Bäume wagten sie nicht zu berühren. Man konnte, obwohl von oben deutlich
Morgenlicht hereinfiel, in der Nachbarschaft Hähne krähten, die
unterirdisch laufenden Wagen polterten, wenig rechts und links sehen.
Ängstliches Stöhnen hier, Stöhnen da. Mancher entledigte sich seiner
Jacke, seiner Bluse, um besser zu atmen. Es war sicher, der Wald wuchs.
Während einige ohnmächtig lagen von Frauen und Männern, die geängstigten
anderen suchend gedankenlos über sie herstiegen, während allen die Knie
zitterten und sie sich durch das Dickicht wanden, wie in einem Keller
sich zurechttasteten, schrien an der Mauer welche den Namen Marduk:
„Erbarmen, Marduk!“ Einige suchten immer von neuem die Gänge, die sich
von Stunde zu Stunde verengerten. Manche sogen an den Fingern Beeren,
kauten spien Blut aus.

Um neun Uhr morgens, als schon blendend hell die Sonne schien, dieselbe
Sonne, die über den Schiffen im Atlantischen Ozean, über dem weiten
Ozean leuchtete, dieselbe Sonne, die ganz nah in Bernau über den
Sandplätzen der Kinder stand, da gellten wahnsinnige Hilferufe, nicht
abbrechend, in dem Park, wildes Wehgeschrei, als hätten Tiere einen
Menschen angefallen. Die meisten sanken im Augenblick mit weißen
Gesichtern auf den Boden. Die in der Nähe des Geschreis streckten die
Hälse; im Halbdunkel sahen sie etwas zappeln, mit den Beinen stoßen.
Füße, um die ein Rock wogte. Eine Frau; oben saß sie fest; ihr Arm wie
eine Planke am Ellbogen, am halben Ober- und Unterarm festgeklemmt
zwischen zwei zusammengeifernden Bäumen. Sie stand an den drängenden
schwellenden Wesen, mit dem Rücken gegen sie, suchte ihnen auszuweichen,
bog sich, ihr Rock saß unten fest, sie wand sich, heulte klagte brüllte:
„Kommt her. Kommt. Ein Messer.“

Der Wald knackte unaufhörlich. Die unten standen lagen liefen sich
zusammendrängten auflösten, wurden überspritzt von der klebrigen
leimartigen Feuchtigkeit, die wie Schleimpatzen aus Vogelschnäbeln auf
Gesichter und Hände fiel, oft fein wie aus Röhren sprühte. Zu dem
Knistern trat immer wieder ein Sausen und Sprudeln, wie aus einer
geöffneten Flasche, das zuletzt erstickte. Die Bäume verschränkten Ast
in Ast, verschoben sich umeinander. Die Dunkelheit nahm zu. Ein Dach,
eine hölzerne Decke bildete sich langsam über den Menschen. Der Wald
verdichtete sich zu einer engen, immer engeren Kiste, von deren Deckel
es heruntersickerte. Die Luft gärend bitter muffig, mit Schwaden der
stechenden reizenden Gase. Der Boden aber, vorher noch eben, wellte
sich, ringelte, schlängelte sich. In Wülsten schwollen die Wurzeln
hervor, armdicke Adern, von denen der Sand abrollte. Der Boden wurde
höher.

Die offenen Plätze suchten sie zwischen den dicken, immer dickeren
Bäumen, als wenn sie nicht wüßten, daß jeder Raum vor Stunden noch offen
war. Sie keuchten, wenn aus dem Halbdunkel sich einer zu ihnen durchwand
ins Hellere, gifteten. Oft sprang einer auf, Mann, Weib, die Kleider
abgeworfen, sprang einen Baum an, krallte, biß sich ein. Aber der Baum
sonderte widrig ab, sabberte, war so feucht, so warm; die Zunge verätzte
er ihnen.

Um zehn Uhr, – die Glocke von Marduks Haus scholl laut herüber, –
erdrosselten sich zwei Männer mit ihren Gürteln. Die Frau, deren Arm
abgequetscht war, die lechzend zwischen den Bäumen nach vorn überhing,
hatten sie zuvor stumm gemacht. Stockfinster war es an den meisten
Stellen des Parks. Um sie knarrten krachten wucherten die Bäume. Ein
furchtbares inneres Leben dehnte die brünstigen aufgeregten
Pflanzenwesen. Man sah die ungeheuren tonnigen Massen wie in Krämpfen
sich langsam spiralig um sich drehen, längs klaffen und noch immer in
die Breite wachsen, in die Höhe aufsteigen, bluten und noch immer
wachsen, dabei rauchen; bersten, einer den andern aufschneidend und mit
ihm verschmelzend, dabei zischen und prasseln. Und wo zwei Bäume Raum
fanden, nieder nach vorn in die Lücke zwischen andere zu fallen mit
überschweren Kronen, erhob sich vom Boden wieder der Stumpf; er trieb
und wuchs. Zwischen den Ästen in den Kronen flatterten verirrte Vögel;
von oben stießen sie abwärts. Riefen kratzten schlugen um sich, sobald
sie sich gesetzt hatten; lösten Flügel und Füße von den klebrigen Ästen
und Blättern ab, schwirrten schreiend federstreuend senkrecht hoch,
suchten Lücken. Andere hingen fest, wühlten hieben mit den Schnäbeln
gegen das schwellende Holz, das gierig den eingestoßenen Schnabel
festhielt, ihn nicht losgab, ihn rasch umwuchernd, ihm Herz Nüstern und
Augen umgießend, einleimend einsargend, wie auch der kleine Körper sich
abstemmte zappelte sich nach hinten seitlich bog. An ihren tanzenden
Füßen, mit ihren schlagenden Flügeln zogen sie dicke Gallerte hoch,
suchten sie herunterzutreten. Abgleitend wälzten sie sich um die Stämme
herum, wurden eingebettet. Den Kopf nach unten hingen sie. Der Saft lief
über sie. Da tropften sie in der Masse von Ast zu Ast, noch zappelnd,
klatschten auf den Boden neben einen Menschen, der sich wand, auf seine
Schulter, neben seinen Hals, blieben schnabelsperrend tretend liegen.
Manche festgekittet nach einigem Aufklettern und Drehen hielten gelähmt
betäubt still an ihrem Ast. Sie wurden vom Holz aufgenommen, waren ein
runder stoßender Wulst auf ihm, von dem Saft sprühte, ein ruhiger
kleiner Knoten, ein flacher Knopf.

Das mammutische triefende krachende Wachsen zerpreßte klemmte malmte
manschte die Menschen, knackte die Brustkörbe, brach die Wirbel, schob
die Schädelknochen zusammen, goß die weißen Gehirne über die Wurzeln.
Die Stämme berührten sich. Wurzel Stamm Krone eine Masse, ein
verschmolzener wogender wühlender dampfender Klotz. Oben barst er,
zischte. Unten trieb schluckte drang es auf, drang seitwärts bis an die
Mauer.

                   *       *       *       *       *

Den übergroßen Kopf drückte Marduk gegen das Fenster: „Jetzt ist es
vorbei. Ihr könnt nichts mehr.“

Jonathan Hatton, der viel jüngere, sein Freund, den man mit ergriffen
hatte, stand vor ihm, lächelte: „Nun, so möge es so sein.“

„Ich weiß, du glaubst mir nicht.“

„Doch. Bei allen Dingen bei denen man schwört, Marduk, verzeih mir, ich
glaub es.“

„Lach nicht, Jonathan. Lächle auch nicht. Es ist gar nicht nötig, daß du
lächelst. Du hast dich lange nicht um mich gekümmert, die andern auch
nicht; ihr glaubtet, es ginge auch ohne mich.“

„Marduk“ der andere trat ernst näher, „du hattest dich, du, von uns
zurückgezogen.“

„Du wirst sehen, ihr hättet gut getan, euch um mich zu kümmern und
anzusehen, was ich tue.“

„Was soll das.“

„Nichts. Du wirst sehen.“

„Du schließt dich uns nicht an und jetzt klagst du.“

Marduk verzog das Gesicht hart: „Ich habe nicht nötig, mich euch
anzuschließen. Du, damit ist es jetzt aus, mit diesen Dingen. Ja,
Jonathan. Ihr werdet jetzt alle still werden, ganz still. Ich nehme euch
aus den Händen, was ihr habt. Ich will nicht, daß ihr arbeitet. Ich will
nicht. Verstehst du das?“

„Nein und ja. Sag mir, Marduk, alles was du weißt und kannst. Ja sage es
mir. Du wirst mich nicht überraschen. Ich bin auf Stärkeres gefaßt. Mit
dem Stärksten wirst du mich nicht umwerfen.“

Strahlend stand Jonathan: „Was ich – gefunden habe, hat noch niemand
gefunden.“

„Hat noch niemand gefunden“ höhnte der verhüllte Marduk.

„Wenn ich – niemand – sage, Marduk, so weißt du, daß ich nicht Schaum
blase! Ich leugne so wenig gearbeitet zu haben, wie du es leugnen wirst.
Warum? Das Sehen ist mir erlaubt, das Hören ist mir erlaubt. Was soll
mir verbieten zu denken.“

„Weiter.“

„Nein, ich spreche nicht.“

„Schaffe deine Freunde hierher, Jonathan.“

„Ich?“

„Ja. Bring sie, Jonathan.“

„Siehst du, sie hast du gefangen genommen. Sie alle. Du kannst dich
nicht mehr auf sie besinnen. Ich möchte dir beschreiben, wie wir
zueinander waren. Ich träumte heute nacht, ich fühlte mich so wohl, wie
auf einer Luftfahrt, ich glitt mit einem Wesen durch die Luft, ich weiß
nicht, ob es Mann oder Weib oder beides war. Wie dem schönen Geschöpf
die Augen strahlten. Wonnig war es. So rasch glitten wir hin. Fast war
es keine Bewegung. Unten standen die Menschen und wunderten sich. So
glücklich waren wir.“

Marduk warf sich unruhig in seinem Stuhl. Sein Gesicht hatte er ganz auf
die Brust gedrückt. Er hob den Kopf, blickte Jonathan finster an: „Komm,
ich will sie dir zeigen.“

Die Wachen vor der Haustür wies er ab. Er ging barhäuptig allein mit
Jonathan der ungefesselt war. Hinter einer Wiese zog sich ein flaches
langes Gebäude hin, in das sie traten. Sie gingen durch die glasgedeckte
Halle der muffig warmen Anlage, in der Pflanzenreste geschichtet lagen,
Körbe, niedrige Kisten. Auf einen weiten ungepflasterten Hof stiegen sie
herunter; oberflächliche Röhrenleitungen traten am Boden hervor. Marduk
öffnete ein Gitter; da war ein Feld, in dem viele einzelne Stücke
abgezäunt waren; manche waren grün und bunt bewachsen, manche
scheunenartig überdacht; auf einigen Stücken verwesten ganze Stapel
unkrautartiger Gewächse. Dann senkte sich das Gelände; über den Hang, um
den Boden der Senkung zog sich eine abschließende Mauer, darüber
dahinter eine hohe schwarze und grüne Masse. „Sieh da. Du baust,
Marduk.“

„Komm.“

Er zog eine kleine Eisentür der Mauer. Dunst schlug ihnen entgegen.
Keine Öffnung, keine Helligkeit. Der Wald war an die Steinfliesen
herangetreten, hatte sie nach der Tür zu umgeschoben. Zwei Stufen
konnten sie heruntergehen. Jonathan hatte Marduk seine Hände entzogen,
lächelte den Mann, der ihn führte, blaß mit übergroßen Blicken an: „Was
machen wir hier.“

„Weiter gehen. Geradeaus.“

„Was soll das. Ich geh nicht mit dir.“

„Ich wollte dich bitten, wenn ich kurzsichtig bin und mich nicht
zurechtfinde, du möchtest mich führen. Du sollst mir deine Freunde
zeigen. Du hast sie besser in Erinnerung als ich. Hier meine Hand,
Jonathan. Der Weg geht geradeaus.“

Der war die Stufen zurückgetreten, hatte an der Eisentür den Kopf
zurückgeworfen: „Du bist verrückt, Marduk.“

„Nicht doch, Jonathan. Sie müssen alle hier sein.“

Jonathan war nach einem Blick auf das ihm zugewandte vibrierende Gesicht
mit einem Sprung unten. Tastete an der klebrigen dunstenden Holzwand:
„Ja. Das sind Stämme. Das sind dicke Bäume. Wo ist denn der Eingang.
Hier komme ich nicht weiter.“

„Versuch einmal von hier. Versuch es. Sie versuchen es von drinnen.“

„Das ist eine Wand, eine Holzwand, Marduk. Mach doch auf. Wo ist die
Tür.“

Er lief seitlich rechts und links über den harztriefenden Boden. Der
Wald trat an die Mauer heran, ließ ihn nicht ein: „Es ist alles so
schmierig, mit Harz, mit Leim. Warum tut ihr das? Wo ist denn die Tür.“

„Ruf sie einmal. Ruf sie.“

„Soll ich? Wirklich?“ Er rief. Der andere schüttelte sich: „Sie
antworten nicht.“

Jonathan stürzte sich auf ihn: „Du hältst mich zum Narren.“

„Wie sehen, Jonathan, deine Freunde aus, wenn sie müde sind oder lustig
sind?“ Der, stöhnend, nahm ihm jedes Wort von den Lippen.

„Zwischen den Bäumen – lächeln sie. In den Blättern – sitzen sie. Sie
sind Vögel geworden. Sie sind so schön, daß ich sie verfolgte. Sie haben
sich auf der Flucht vor mir in – Bäume verwandelt.“

„Das hast du – Marduk?“

„Das habe ich gekonnt. So stark bin ich gewesen.“ Strahlend erregt zog
er den im blauen Mantel, der nicht sprach, sich schwer bewegte, durch
die Eisentür, über das helle Feld in das lange Gebäude. Der Dunst, der
ihnen aus dem Park entgegenschlug, auch hier. Ein Pulver lag neben einer
geöffneten Kiste am Boden; Jonathan faßte automatisch danach; Marduk
hielt seine Hand fest: „Faß nicht an. Du hast nichts geschluckt davon?
Es ist für Menschen und Tiere Gift.“ Die verwelkten verwesenden
Pflanzenhaufen starrte Jonathan an; Marduk verfolgte seinen Blick: „Ich
kann sie auftreiben. In einer Stunde. Von einer halben Stunde zur
nächsten.“ Phantastische getrocknete Gräser lagen auf Steinfliesen
nebeneinander: „Kann ich nichts?“ Er streckte die Arme aus, bog die
Fäuste: „So viel kann ich. So viel kann ich. – Jetzt will ich deine
Freunde begraben. Wohl ihnen, daß sie nicht mehr Menschengestalt haben
und wie wir sind. Sie sind in den Bäumen. Ich will sie begraben.“

Jonathan war schon zurück durch die Halle gegangen, er rieb gedankenlos,
den Blick auf die Erde, die Handteller aneinander. Sie liefen über das
von der Frühlingssonne beschienene Feld, Jonathan fiel der Umhang von
der Schulter, Marduk wollte ihn aufheben, zuckte, lief weiter. An den
Hang zur Mauer wollte Jonathan herunter; der andere aber, auf einen
Erdhaufen sich setzend, zog ihn neben sich. Marduk griff ihn an: „Nun
zeig du mir, was du kannst. Du mußt mir jetzt etwas zeigen.“

Der saß starr, stammelte mit verzerrtem offen zugewandten Gesicht.

„Hab keine Furcht, Jonathan, dir wird nichts geschehen. Du kannst es mir
zeigen. Ich bin Kenner, ich bin Fachmann. Ich weiß es zu würdigen.“

„Marduk. Wen habt ihr in den Wald getrieben? Ihr habt Frauen mit
hereingetrieben? Es sind alle drin, die festgenommen sind?“

„Alle. In den Löwenkäfig. In die Arena.“

„Alle? Alle Frauen?“

„Alle. Zweiundvierzig. Da haben sie fechten können. Es waren keine Löwen
und Tiger da. Es waren bloß Bäume, gegen die sie kämpften. Sie haben für
einen neuen Glauben gekämpft. Das war eine neue Christenverfolgung.
Nein, eine Antichristenverfolgung.“

„Marduk“ schrie Jonathan besinnungslos, weinte, erhob den Arm.

Der Ältere fuhr fort: „Ja. Antichristen. Ich spiele den Christen. Ich
laß sie mit ihren Götzen nicht aufkommen. Sie müssen alle ins Gras
beißen.“

„Marduk. Meine Mutter war dabei.“

Der mit rollenden Augen stand auf, ballte die Fäuste, wog sie gegen ihn:
„Und wenn deine Mutter dabei war. Und wenn deine Frau und dein Kind
dabei war. Wenn du dabei warst. Es wird nicht besser. Ihr sollt es
spüren. Ihr müßt es spüren. Es soll keiner entgehen. Ich wohl auch
nicht. Es ist gut, daß es so über uns verhängt ist, daß wir es nahe
spüren. Ha, jetzt spürst du, du es dicht, dicht unter der Haut. Gut so.
Gut so. Wie gut, daß sie alle dabei waren.“

Und dabei klapperten seine Zähne, ein schrecklicher Frost hatte ihn
ergriffen. Er hatte dies nicht gewollt, so wandte es sich gegen ihn, so
griff ihn die Waffe, die er auf andere gerichtet hatte, selbst an. Er
wehrte sich, die Schlange umwand ihm Füße und Arme. Jetzt würde er
Jonathan verlieren.

Er stolperte auf ihn zu, bückte sich zu ihm herunter: „Ist meine
Erfindung nicht herrlich. Sprich doch. Wir sind doch Kenner. Da kommt
keiner mit. Was sagst du zu dem Wald unten. Keine Lücke ist mit der Hand
zu finden. Wie ein Schrank, paßt Fuge an Fuge. Ist meine Erfindung nicht
herrlich?“

Er rüttelte ihn.

„Ich will dir sagen, wenn du mir nicht antwortest, wird es dir nicht gut
gehen. Ich werde dich dann – leben lassen. So werde ich dich wenigstens
umbringen können.“

„Tu es. Marduk. Du Verdammter! Du Teufel!“

„Ich verdammt? Ich Teufel?“

Jonathan sank seitlich, ohnmächtig hin. Marduk hatte eine graue Kapsel
auf seiner Brust an einem Kettchen. Daran zerrte er, öffnete die Kapsel,
schüttete sich grünes Pulver auf die Finger. Er bückte sich, um es
Jonathan zwischen die weißen Lippen zu schieben. Dann streute er jäh das
ganze Pulver von sich, warf sich an den Ohnmächtigen, grub sein Gesicht
an seinen Hals, stöhnte haßwütete noch, als der sich schon räkelte, sich
aufzusetzen bemühte.

Sie standen sich an den Erdhaufen gegenüber. Schwarz vor ihnen die Masse
des Waldes hinter der Mauer. Als sie sich anblickten, preßte Marduk die
Lippen: „Ich bin bereit, bereit, mich dir zu stellen. Ich – tue es ohne
Bedingungen.“

Heiser Jonathan: „Ich habe nichts davon, wenn du tot bist.“

„Tu, was du willst.“

Zwei Wochen fuhr Jonathan an der Ostsee hin und her. Er konnte keine
Erde und keinen Baum sehen. Marduk hatte die Stadtlandschaft fest in
Besitz genommen. Dann trat Jonathan in sein Haus, der schlanke braune,
blaß mager ruhig, gab ihm die Hand, bot ihm seine Dienste an. Marduk
betrachtete ihn lange: „Ich habe kein Recht über die Stadt. Ich habe nur
Recht über mich. Willst du Recht über mich.“

„Ich will nichts, als dir beistehen.“

Wieder schwieg der Ältere; äußerte langsam: „Du wirst, Jonathan, die
Häuser und Anlagen zerstören, in denen noch Apparate und Einrichtungen
von uns, von euch stehen. Sie sind noch nicht völlig vernichtet. Auch
nicht völlig gefunden. Und du wirst mir die Namen der Männer und Frauen
angeben, die dir bekannt sind, die mit euch gearbeitet haben und noch am
Leben sind.“ Der magere junge Mensch hielt seinen Blick aus. Er nannte
mehrere Namen. Marduk gab ihm dreißig Bewaffnete, die gingen mit ihm.
Nach einigen Stunden, am hellen Nachmittag stand er mit fünfzehn Männern
und sechs Frauen vor dem Konsul. Der Jüngere trug den grünen Rock und
den hellblauen Mantel, die er angehabt hatte, als er vor Marduk geführt
war, und die noch die Flecke der Erde von Marduks Park trugen.

In der sanften gehaltenen Art, die Jonathan seit seiner Rückkehr von der
See hatte, setzte er sich neben Marduk hin, öffnete seinen Mantel,
sprach jeden bei Namen an. Bevor die Vernehmung zu Ende war, verfärbte
er sich, fiel blaß vornüber. Er war am Abend nicht dabei, als die
fünfzehn Männer und sechs Frauen seitwärts geführt und erledigt wurden.

Der Konsul, im schwarzen Seidenmantel, die großen ernsten Augen gesenkt,
zog am frühen Morgen gleichmäßig seine Schritte durch die Stadt. Es
wehte heißer Wind. Flieger jagten mit dumpfem Rollen in der Luft. Die
riesenhaften Plätze. Die metallenen Riesentiere, Messer in den Flanken,
hingesunken schweigend auf den Steinpiedestalen. Das Gewühl umspülte
ihn. Die halb in der Luft schwebenden Tribünen, offenen Hallen, auf
denen Mädchen und Männer Bälle mit Stöcken trieben. Es hatte sich nichts
seit dem Beginn seines Konsulats geändert. Die grellrot bemalten, mit
Masten und Wimpeln versehenen Häuser, in denen die künstlichen
Nährstoffe ausgegeben wurden, auf den Dächern liegende gewundene
Kennzeichen für die Frachtflieger. Die Hauptausgänge der unterirdischen
Bahnen in der Nähe des Nahrungsspeichers; Heraufdröhnen und Surren der
Züge, die aus Fabriken und zentralen Speichern liefen, der Züge, die in
tieferen Stockwerken radial und peripher die Versorgungsbezirke
abstreiften, Schacht und Aufzug zu jedem Haus. Das kecke Wandeln der
Männer von südlichem Typus. Nonchalantes Trotten Pfeifen Rauchen von
Mulattennachkömmlingen mit grauen Gesichtern, gedrückten Nasen; das
sieghafte Strahlen der weißen Frauen; stumpfes geschäftsmäßiges
Herumgehen der lange Ansässigen, ihre apathische Ruhe im Dasitzen vor
den Trink- und Rauchstätten, leise Stimmen, wenig veränderlicher
Gesichtsausdruck. In goldgelben Talaren gingen die Priester durch die
Straßen, singend rufend lockend. Marduks Augen brennend auf allen.
Unsicher stockend sein Atem. Wie sonderbar die Frauen zurückgetreten
waren. Sie waren am raschesten verändert; es schien, sie hatten mit dem
Nachlaß der großen Erregungen auch ihre Spannung verloren, hatten sich
viel in Mütter, ja in Dienerinnen von Männern zurückgebildet. Jonathan,
goldgelb in Seide wie ein Priester, den braunen Kopf bloß, trat leicht
neben Marduk, lächelte, als der ihn fremd ansah. Jonathan wollte zur
Stadt hinausfahren; Marduk hielt ihn: „Erdulde dies. Entzieh dich nicht,
Jonathan. Ich verstehe dies. Der ungeheure unausdenkbare Bann, in dem
wir leben. Blicke um dich.“

In der Ferne hörte man das schaurige Gebrüll eines Metallstieres. Es
wurde im Augenblick auf den Straßen still, die Menschen verlangsamten
die Schritte, standen; sahen auf die Steinplatten des Bodens. Marduk
blickte zwischen sie, hielt Jonathans Arm, war sichtlich seiner nicht
Herr; seine Schultern zitterten, die Augen blickten verschwommen: „Du
kennst das nicht. Kennst du nicht die Stadt? Das ist wie ein Wind, der
mir an den Mund fährt und mein Gesicht faßt. Ich fahre durch den Wind.
Sieh diese Männer an, die Frauen die Bahn die Flieger die Straßen, du
hast den Stier gehört. Das Mekihaus, Marke, der blinde Konsul, ich hier,
du; wie das beglückt. Wie es mich beglückt, füllt, seelenselig macht.
Trunken, Jonathan.“

Jonathan führte ihn schweigend am Arm. Der Ältere mit den großen
brennenden Augen redete weiter. Plötzlich drehte Jonathan den Kopf zur
Seite, ließ den Arm los, seine Schultern bebten lautlos. Er schluchzte.
Marduk stand an einem Vorgartengitter, wartete, bis er endete. „Du bist
zu früh nach Hause gekommen, Jonathan. Du hättest länger an der Ostsee
bleiben sollen.“

Der sah ihn mit verdunkelten Augen an: „Hab ich dir nicht genug Beweise
gegeben?“

„Ich – brauch meine Mutter nicht vergessen“, Jonathan sah den andern
fast zärtlich an „Ich habe sie mit Schmerzen – wieder geboren. Wie sie
mich geboren hat.“ Er hauchte: „Sieh auf die Eiche da. Sieh immer in das
Laub der Eiche hinein. Dann erzähle ich dir. Du darfst aber nicht
wegsehen. Sie ist zu mir gekommen. Meine Mutter. An der See. Stückweise.
Ich habe sie deutlich am Wasser gesehen. Erst sah ich – ihren Arm. Oh
der Arm, – er war zerpreßt. Was hab ich mich gewunden. Er bewegte sich,
die Finger griffen auf und zu. Er krampfte. Aber ich, ich, Marduk, ich
konnte ihn stillhalten. Er hielt still. Ich konnte das, Marduk. Und beim
andern Arm auch. Ich konnte alle Finger langsam bewegen machen. Und dann
kamen die Schultern, die Schultern meiner Mutter. Ich habe oft meinen
Kopf auf die Schultern gelegt. Ich war zu Hause, wenn ich ihre Schulter
berührte. Die Schulter – konnte ich – nicht erkennen. Du mußt in das
Laub sehen, Marduk. Du tust es. Die Schulter war gespalten. Als wenn sie
einer in der Mitte zertrennt hätte. Oder sie wäre auseinandergefallen.
Das konnte ich nicht gut machen. Was ich mich anstrengte dabei. Ich habe
lange Stunden verbracht, Marduk, um nur die Schulter heil zu machen.
Diese Lücke. Ehe die Teile zusammengingen. Aber sie gingen dann
zusammen. Und die Arme waren dabei und die Finger bewegten sich ruhig.
Und zuerst konnte ich den Kopf nicht sehen. Es machte mir auch gar keine
Sorge, daß sie statt eines Kopfes eine Blume zwischen den Schultern
hatte, Klatschmohn, die schlaffen roten glanzigen Blätter, von denen
welche herunterhingen, und ich konnte eine dunkle Kapsel drin sehen, die
stäubte. Es kam mir vor, als wenn das ein Auge war. Sie hatte so
schwarze Augen. Und am Abend waren es auch ihre Augen. Sie waren es
wirklich. Sie hatte einen roten Hut auf mit roten Bändern und war so
freundlich mit mir. Ich konnte mich stundenlang am Strand nicht bewegen,
denn ich fürchtete, die Schultern würden wieder auseinanderfallen. Aber
ich konnte alles gut zusammenhalten. Nur den Atem durfte ich lange
Sekunden nicht von mir geben. Ich bin dann ohne zu essen schlafen
gegangen. Lag die Nacht wie im Starrkrampf, war wie ein Toter. Als ich
aufwachte und zur Türe hinausging an das Wasser, hielt ich gerade da, wo
ich gestern aufgehört hatte. Stört dich, daß du immer in die Blätter
sehen mußt? Aber ich kann dann besser erzählen. Ich habe sie dann
schließlich ganz gemacht, lebend beweglich, in ihrem Kleid. So kam sie
aus deinem Wald heraus. Durch eine Lücke. Ich habe entsetzlich darum
kämpfen müssen. Es ist gelungen. Jetzt ist alles wieder gut.“

„Spricht sie nicht?“

„Noch nicht. Ich werde sie schon zum Sprechen bringen. Ich traue mir
alles zu.“

„Du wirst sehen, sie wird mich verfluchen.“

„Ich glaub es nicht. Sie sieht mich doch. Sie weiß doch, wo ich bin.“
Stolz blickte Jonathan vor sich. Einen Augenblick, als er den Jüngeren
so leiden sah, hatte Marduk vorgehabt, ihn von sich wegzuschieben. Er
fürchtete, der Jüngling würde ihn schwach machen und zum Erliegen
bringen. Jetzt – sah er von der Eiche weg, legte den Arm um die Hüfte
des zitternden Menschen, dessen Augen in grauen Höhlen lagen. Beklommen,
fast wonnig fühlte er das leise Vibrieren und das atmende Auf und Ab der
Flanken. Er dachte: „Ich fühle ihn nach und halte mich. Er ist mein
Schmerz und mein Führer. Ich will ihn behalten, solange er so bleibt.
Solange er leidet und sich nicht helfen kann, soll er leben bleiben, –
damit ich nicht vergesse.“

Zu Jonathan, an dessen grünem bauschigen Kleid er herabblickte, sagte
er: „Wärst du ein Mädchen, eine Frau, würde ich dich zur Frau haben
wollen. So aber habe ich Glück, daß du kein Weib bist. Du wirst keine
Kinder gebären, für dich, gegen mich; wirst ungebunden gehen, wohin du
willst. Du wirst nicht aus einer tierischen Laune über mich fallen,
damit ich fühle: ich bin noch etwas anderes als dieser Marduk, dein
Freund, der dich braucht und dir folgt; ich bin noch eine dumpfe Kraft,
nein, ein dumpfes Leiden von irgendwoher, wie diese tausend Menschen,
wie die Blätter die Steine.“

„Bedauerst du mich, Marduk? Du brauchst mich nicht zu bedauern.“

„Komm in den Garten.“

Sie gingen ungehindert in den Garten. Marduk stellte einen Fuß auf die
Sitzbank unter der Eiche. Er hatte einen ruhigen kummerlosen Ausdruck;
es schien, als wenn sie gar nichts miteinander gesprochen hätten. Er zog
die Riemen seines silberbeschlagenen Halbschuhs fest. Jonathan sah erst
zu, dann, während Marduk einen Ellbogen auf das Knie stemmte, legte er
die Schnalle fest. „Das kannst du gut, Jonathan. Und du kannst noch
anderes gut. Willst du durchaus ein toter oder schwacher Mann sein? So
ein Ast, den man abgerissen hat und der nur so lange lebt wie er noch
feucht ist? Willst du nicht noch eine Weile mit deiner Mutter
zusammenleben? Du hast dich gestern gut gegen deine ehemaligen Freunde
benommen. Sie leben nicht mehr. Nein. Ich habe deinen Willen ausgeführt.
Es war dein Wille.“

Der Jüngere, dem die Hände heruntergefallen waren, legte den Kopf an
Marduks Knie. Er hielt sich mit den Armen an diesem Knie fest.

„Ich biete dir eine Ehe mit mir an, Jonathan. Wie denkst du darüber. Du
hättest keine Pflicht weiter als da zu sein, mir dein Gesicht zu zeigen.
Es ist nicht nötig, daß du mit mir sprichst. Regen und Wärme sprechen
auch nicht, und man braucht sie doch. Du sollst auch nicht mein Diener
sein. Nicht einmal mein Gehilfe. Und nicht einmal mein Tischgefährte.
Sondern, wie ich schon sagte: nur da sein. Es ist nicht nötig, hier.
Aber doch oft bei mir.“

„Sonderbar, Marduk. Ich dachte, du willst mich als Gehilfen.“ Marduk
nahm den Fuß nicht herunter. Er gähnte: „Also, es ist abgemacht.“

                   *       *       *       *       *

Marduk war mit einigen hundert Mann in die unverteidigte Stadt
eingezogen. Er ließ noch am Tage seines Einmarschs eine Kraftzentrale in
dem ersten, sogenannt Grünen Rathaus der Stadt errichten, in dem er sein
Quartier aufschlug. Angriffs- und Abwehrwaffen, die er mit anderen
seiner Gruppen aufbewahrt und vorbereitet hatte, wurden im Augenblick in
der Nähe des Rathauses versteckt und an Marduks Zentrale angeschlossen.

Der Usurpator rief die Leiter der noch bestehenden Industrien, die
Besitzer der Ländereien, Männer Frauen, in das Rathaus und gab ihnen,
wie sie den Haupthof durchschritten, den Anblick der fünfzehn
erschossenen Männer und sechs Frauen, dazu von dreißig lebenden
Neuverhafteten, die unruhig auf dem Hof herumgingen. Er redete die
Erschienenen an. Es waren graue und junge buntgekleidete Tiere, die sich
neugierig hochmütig verschüchtert vor ihm drängten.

Glossing, der alte Mann aus englischem Stamme, der Lehrer Marduks in den
chemischen und physiologischen Versuchen, der feine Botaniker, sah
mokant und gelangweilt zu der hohen Kuppel des Saals und den
herunterwogenden Seidenfahnen auf, den alten Verbrüderungszeichen, den
Fahnen des englisch-amerikanischen Mutterreichs, denen des Uralischen
Kriegs mit den Gestirnen, die vom Feuer der Erde gefaßt werden. Er
dachte: Marduk wird reden: er möge reden; es mögen andere reden und
handeln, sie werden nichts ändern. Er dachte zäh ruhig sicher: es wird
niemand vermögen, mich und meinesgleichen auszurotten. Kühl betrachtete
er die um sich; was war Marduk für ein Narr, daß er sich unter diese
begab; er war gut im Zuge; wen lockt es, sich mit diesem einzulassen.

Mild bewegte sich im Gedränge, die große Brille auf der stumpfen Nase
hin und her schiebend, Blue Sittard, von kreolischem Blut. Er sonnte
sich an den Gesichtern seiner Umgebung, der heimliche Kristallforscher,
von dem man sich wunderbare Dinge erzählte. Die rechte Hand war ihm in
eine seiner Steinzertrümmerungsmaschinen geraten und bis auf die
Mittelhandknochen abgepreßt worden. Er konnte mit den Stümpfen, die er
sich wie Finger hatte präparieren lassen, kleine nickende Bewegungen
machen und erschreckte Unbekannte, wenn er im Gespräch den hellgrauen
Lederhandschuh scheinbar unabsichtlich abzog und mit der Hand
gestikulierte, die sogar künstliche rosa Nägel an den Spitzen hatte und
Glied um Glied mit Brillantreifen besetzt war. Eine kühle und laszive
Seele. Marduk würde reden. Er möge reden.

Der schäumende Ekbert, der junge überlange gebückte Mann in schlottriger
Arbeitstracht, ein höhnischer Mensch von großer Weichheit, der dazu
bestimmt war, irgendeinem seiner Impulse zum Opfer zu fallen.

Die blonde ernste weiße Marion Divoise, die üppig, teilnahmslos an einer
Fensternische stand, ihre graugrünen Augen schweifen ließ. Viele Mädchen
und Jünglinge hingen ihr an. Sie war von einer großen Keuschheit,
schmerzliche und sonderbare Liebesgeschichten wurden von ihr erzählt, La
Balladeuse hieß sie. Sie hatte von den Industrien ihrer Familie nur noch
den Boden in Besitz, kannte Marduk nicht. Wer ist es, dachte sie. Wenn
er mich bewegen erregen könnte.

Am Boden, an den Fingern kauend, auf einer Steinstufe Drüttchen, die
lange schwarze Weibsperson, die fanatisch für Marke gekämpft hatte, an
der Zertrümmerung der großen noch bestehenden Frauenbünde arbeitete.
Dutzende Männer nagte sie an, daher hatte Drüttchen, das vielbeachtete
und gehaßte Weib, den Spitznamen die Landratte.

Sie sahen alle erstaunt den hochstirnigen Abenteurer eintreten, der mit
Hilfe einiger Männer und Waffen diesen Streich verübt hatte, um ihn
wohl nach einem Monat zu bereuen. Marduk, auf dem Platz des
Senatsvorsitzenden, nahm den rotfedrigen breiten Hut vor ihnen ab, hieß
sie willkommen. Als er sich setzte, stand seitlich von ihm Jonathan, den
alle gut kannten, von dessen Zugehörigkeit zu Marduk noch wenige wußten.
Eine starke Bewegung entstand unter den Menschen, als Jonathan auf ein
Zeichen Marduks sich neben ihn setzte. Marduk gab ihnen von seinem Sitz
aus Bericht. Markes Werk werde weitergeführt. Die Lehren des Uralischen
Krieges sind voll und nachsichtslos zu ziehen. Er bestätigt den
bisherigen Senat, werde sich seiner Mitarbeit bedienen. Dann schwieg er,
Schweißtropfen vor der Stirn, schielte auf den Lederbezug des Tisches.
Wie sich unten nichts regte, bat er den greisen Glossing, den Botaniker,
den bisherigen Vorsitzenden, herauf. Er versprach sich, nannte Blue
Sittard mit der großen Brille, der sich an die Tribüne gedrängt hatte,
ihn mit einem ironischen Lächeln festhielt.

Glossing stellte sich nach einem gleichmütigen Kopfnicken neben Marduk,
murmelte, so daß er sich unterbrechen mußte, während die Einberufenen
sich vor ihm ballten. Die Sitzung werde kurz sein; sie sei nicht von ihm
einberufen, sein Platz sei besetzt – Marduk erhob sich stürmisch;
Glossing ablehnend: er danke – ob jemand sprechen wolle, ob jemand die
Neigung habe etwas zu sagen.

Blue Sittard erhob den Arm; ging nur eine Stufe zur Rednertribüne
herauf, lächelte ironisch bald Marduk bald Jonathan an, schmunzelte in
die Versammlung: „Wir sind ja alle Marduk und dir, Jonathan, sehr
dankbar, daß wir eingeladen sind, diesen Raum hier zu betreten, hier zu
stehen zuzuhören. Wir sind alle gern hier. Seien Sie uns nicht böse,
Marduk und du, Jonathan, wir sind beinah noch lieber in diesem Saal als
mit Ihnen. Das soll keine Spitze und Feindseligkeit gegen Euch sein, wie
es sich versteht zwischen guten Bekannten Arbeitsgefährten wie wir, fast
möchte ich sagen: zwischen Brüdern in der Gefahr. Denn wir können es ja
jetzt aussprechen: wir haben unter Marke manches Ding gemeinsam
betrieben, das nicht beliebt war. Und warum sind wir lieber in diesem
Saal, als mit Ihnen beiden? Weil wir schon oft diesen Saal betreten
haben und jedesmal saß oder stand dort, wo Marduk sitzt, ein –; jetzt
wirst du wieder lachen, Jonathan. Wir sehen dich gern lachen, übrigens.
Wir haben gehört, welche Trauer über dich gekommen ist durch den Verlust
eines Menschen, den auch mancher unter uns verehrt und geliebt hat. Es
ist uns eine Wohltat zu wissen, wie rasch sich eine gesunde Natur über
Unglück und Mißgeschick erhebt; wir können daraus Kraft für uns selbst
schöpfen. Wer stand da, wollte ich sagen, wo jetzt Herr Marduk sitzt?
Ein Konsul, den wir gewählt haben. Ganz recht, der war da. Wahrhaftig.
Und das erfreut uns. Nun werden Sie fragen, Marduk, nachdem Sie uns so
liebenswürdig angeredet haben: welcher Unterschied denn besteht zwischen
Ihnen und dem Konsul Marke. Das ist eine Frage eine Sache, die über das
Formale hinaus Interesse hat. Ich wartete jeden Augenblick, Sie werden
mich unterbrechen. Aber Sie besitzen die große Güte mir zuzuhören, fast
wie einem Freunde. Und ehrlich gesagt, Marduk: nehmen Sie an, Sie hätten
nicht die Geduld und machten von ihrem unzweifelhaften Rechte Gebrauch,
so wüßte ich doch nicht, wie ich der Frage ausweichen sollte.“

Er drehte sein stumpfnäsiges Gesicht voll dem Saal zu, sonnte sich am
Anblick der Versammlung; manche sahen weg. „Also sprechen Sie, Blue
Sittard“ gab Marduk herunter. Der verneigte sich, stärker grinsend gegen
Marduk und den Vorsitzenden: „Ich danke. Danke auch dem Herrn
Vorsitzenden, für den Marduk eben sprach, in Stellvertretung. Wir sind
alle, die hierher gekommen sind, hocherfreut, daß wir sprechen und so
sprechen dürfen. Es heißt sonst: unter den Schwertern schweigen die
Musen, aber man sieht die Ausnahmen. Das will nicht sagen: ich sei eine
Muse; Blue Sittard mit seiner Brille und seiner schlechten Hand hält
sich nicht für eine Muse. Aber vor einer halben Stunde war ich alter
Mann doch stark musisch gestimmt; ich will mich nicht schämen, es vor
Euch zu bekennen. Das war, als ich in diesen Saal über den Hof ging und
dort einige mir wohlbekannte Männer und Frauen traf. Diese Männer und
Frauen, die ich wohl kannte, oft getroffen und gesprochen habe, von
denen manche mit mir an einem Tisch gegessen haben, – einige habe ich
erst vor einigen Tagen begrüßt und ihnen die Hand gedrückt, – die
schwiegen plötzlich bei meinem Anblick. Ich habe nichts verbrochen
inzwischen, es ist zwischen uns nicht das Geringste vorgefallen. Sie
schwiegen so intensiv, sie hatten so hartnäckige, fast böswillige
Gebärden an sich, daß ich annahm: diese Männer werden, und diese Frauen
werden niemals mehr reden. Dabei hatten sie die Münder weit offen; sie
lagen sehr bequem wagerecht auf dem Boden; das Steinpflaster schien sie
gar nicht zu drücken. Sie schienen so entschlossen zu sein, diese unsere
Freunde, daß sie nicht einmal einen Atemzug von sich gaben. Nun ist das
zwar Privatangelegenheit dieser schweigenden Herrschaften. Jedoch wollte
ich Sie bitten, Marduk, Sie möchten, da Sie von einer anderen Seite
hereinkamen, nicht bloß durch das Fenster sehen, sondern ein paar Herren
und Damen herunterschicken, um nachzuforschen, ob die Schweigenden da
etwas Schlimmes, vielleicht ein Unglück betroffen hat.“

Marduk schwieg. Glossing neben ihm hielt die Augen gesenkt. „Wollen Sie
uns erlauben, Herr Marduk, nachzuforschen, was die fünfzehn Männer und
sechs Frauen bewegt, so hartnäckig zu schweigen. Besonders da Sie so
gütig sind, uns sprechen zu lassen.“

Marduk schien von dem Ton Blue Sittards unberührt. Die Männer und Frauen
seien heute nacht auf seine Anweisung erschossen worden.

Blue Sittard hob freundlich, fast entzückt die Arme: „Gut. Gut. Dacht
ich mirs doch. Es ist ja auch einigermaßen wunderbar, daß einer so lange
den Atem anhält. Machte mich schon ganz verwirrt, brachte mich in
lyrische Erregung, diese Fähigkeit, diese Ausdauer der einundzwanzig.
Nur entsetzt die Frage: was tun wir hier. Auf dem Hofe liegen
einundzwanzig Erschossene. Und wir –“

Er lachte heftig, sah sehr blaß aus, rupfte seinen grauen Backenbart,
streckte plötzlich weit die Arme aus, beugte sich schief und oft vor
Marduk: „So steht es. Verzeihung. Verzeiht. Verzeiht mir. Dies wollte
ich berichten.“ Er wandte sich zu seinen Freunden, buckelte wieder,
verwirrt, wollte sich zwischen die Menge drängen. Aus dem unbewegt
sitzenden Marduk war plötzlich etwas auf ihn gezuckt. Von der Tür bis
zum Sitz Jonathans drängten sich die Freunde. Er schob sich, ein
ärmliches Lächeln um den Mund, zwischen sie. Und wie er erst unter ihnen
war, viele vor sich, zwei hinter sich, zwei neben sich, da zog er den
Hals ein, hob die Schultern, gab helle winselnde Angstlaute von sich,
quietschte aus geschnürter Kehle, die Hände vor dem Mund, um die Laute
zurückzupressen, rieb sich das Gesicht, daß die Brille über die Stirn
stieg. Wie ein Kind, das eine lange finstere Treppe heruntergehen soll,
erst ruhig und tapfer steigt, Stufe um Stufe, bei jedem Absatz stehen
bleibt, den Atem anhält, um sich schaut, zurückschaut, schon rascher
läuft, rascher, seine Schulmappe hält es fest, es gleitet am Geländer
entlang, die Angst, die panische Angst ist hinter ihm. Es läuft, es kann
sich nicht halten, stürzt schreit stürzt weiter, gellt durch das hohe
Treppenhaus. Und wie man mit Lampen aus den Wohnungen kommt, steht es an
einem Fenster, späht zeigt um sich, keucht entgeistert, weiß nichts zu
sagen, das Herz klopft ihm zum Mund, in die Lippen, in die Augen, über
den Scheitel; es würgt, stößt auf, heult im Licht. So winselte Blue
Sittard. Bestürzt umfaßten ihn die Freunde. Marduk ruhig von oben:
„Macht Platz um ihn.“

„Nein“, winselte der, drängte tiefer.

„Ich will ihn sehen.“

Er wühlte sich unter die Freunde, die ihn nicht verstanden, in denen es
vibrierte. Hinten öffneten welche die Türen. Sie strichen an dem
besessenen Blue Sittard: „Was tust du uns an. Beherrsche dich.“

Leicht schäumte schon Angst aus ihnen selber, trieb sie zu fragen. Sie
stolperten, drehten sich um sich, stießen nach den Türen. Was sie
sprachen, war für niemanden gesprochen. Jonathan näherte sich Marduk,
der seine aschgraue Maske zur Seite drehte. Keinen Blick konnte er von
ihm erhaschen. „Halt sie in Schach“ ächzte Jonathan. Unten wälzte sich
die blonde üppige Balladeuse, durch die erst Stürme von Zittern gelaufen
waren, in Krämpfen, in denen sie ganz rasch sprach, mit mehreren
Unsichtbaren gegen den Boden hin eine heftige Unterhaltung führte,
wieder sich lang ausdehnte. Sie lag mit ausstoßenden Beinen seitwärts
allein auf dem Parkett, während die Knäuel die Türen verstopften.

Marduk drohte am Tisch: „Was ist, Blue Sittard. – Was ist mit den
Toten?“ Der winselte: „Er kann –; er kann –“ Und jetzt hatte er es; er
schwang die Arme, heulte: „Er kann es. Er wird sie lebendig machen. Die
Toten.“

Und schallend lachte Marduk, der aufgestanden war: „Ich werde es euch
zeigen. Ich kann sie lebendig machen.“

Sie fluteten in Panik hinaus. Der Graus des Uralischen Krieges.

Marduk saß hin, mahlte mit den Zähnen, knipste die Finger der linken
herabhängenden Hand am Daumen. La Balladeuse lag auf den Ellbogen über
dem Parkett, drohte: „Das soll nur sein. Wenn sie es wagt, ist es ihre
Sache. Aber an mir hat sie keine Hilfe, das soll sie wissen. Zum
hundertsten Male, zum tausendsten Male. Ich habe es ihr gesagt, kurz und
bündig. Ravaillac hat damit nichts zu tun. Was kommt ihr mit dem. Das
ist ein übles Manöver. Geh weg, Ravaillac. Deine Schuhe? Habe ich
nicht.“ Sie setzte sich auf, betrachtete ihre blauen Strümpfe, stand
taumelnd, blickte vorwärts und rückwärts. Das Haar hing ihr um den Kopf.
Ging wie eine Blinde im Zickzack, in den Saal hinein, bog ganz weit nach
rückwärts den Kopf, steuerte auf das Podium mit den beiden Männern, oft
tief Luft schöpfend, beide Hände auf die Brust gelegt.

Marduk zog sich zusammen, schwoll auf. Er blickte mit scheinbar
lächelndem Ausdruck auf Jonathan, der eine Stufe unter ihm stand. „Bist
du hier?“ er knipste unter dem Tisch weiter, „ich glaube, ich habe eine
Schwachheit getan. Als ich hier hineinging. Die Erbschaft Markes antrat.
Was geht mich Marke an. Ich hätte bei meinen Arbeiten bleiben sollen.
Die Flammenbergwerke waren nichts.“

La Balladeuse torkelte in die Mitte des Saals, horchte dahin und dahin;
schien nicht zu wissen, von wo das Gespräch kam; ab und zu zeigte sie
mit der Hand nach einer Richtung, in der sie weiterspazierte.

„Sie sind wie Hasen davongelaufen. Haha, bin ich ein Dummkopf und sitze
hier. Ich werde Tote lebendig machen. Und alle Lebenden tot. Haha. Komm
einmal. Ich will die im Hof ansehen.“

Der andere blieb neben ihm stehen. Marduk ging an ihnen vorbei. Er
polterte finster strahlend, prustend die Stufen herunter ohne Jonathan
zu beachten: „Wir haben große Macht; er hat es von mir geglaubt, Blue
Sittard, der Dicke. Ich will nicht versäumen, ihm zu gehorchen. Soll ihm
nicht widersprochen werden.“

Die Blonde Flüsternde Gestikulierende rumorte auf ihn zu, wie er über
das Parkett strich. Sie standen sich gegenüber: „Mein Junge. Ich will
dir sagen, wir lassen uns in keine Debatten ein.“ Er schüttelte sie von
sich. „Keine Debatten, mein Junge. Hirn muß man haben im Kopf. Wenn man
Hirn hat, muß man wissen, was die Hühner für Eier legen. Wirst du mir
das ausreden?“ „Was will das dumme Weib?“ Sie stopfte taumelnd die
Fäuste in die Weichen: „Das sag ich dir, wer du bist, Ravaillac, der
Trompeter oder die Balladeuse selbst, ich werde mit dir fertig. Mich
kriegst du nicht unter. Versuchs mal, Herzchen. Hopp. Du kommst an meine
Schuhe nicht heran. Die sitzen fest. Frag den Trompeter, was mit seiner
Lampe geschehen ist. Schaum, nur Schaum.“ Marduk war vorbei. „Schaum“,
schrie sie und torkelte hinter ihm, kam nicht von der Stelle. Sie ging
in falscher Richtung, fuchtelte mit den Armen: „Greif ihn, das ist
Ravaillac. Ich hab noch Waffen, er soll mir nicht entgehen. Marion, das
ist ein Schuft.“

Jonathan löste sich von der Stufe, auf der er stand, lief hinter Marduk,
der aus der Türe ging. Marduk drängte auf den Hof, war verzaubert: „Ich
habe es nicht von den Menschen. Das hat in mir unter einer Decke
gelegen. Die Propheten und Heiligen sprachen davon. Ich werde Wunder
geschehen lassen. Es ist zum Schütteln. Nicht sterben lassen. Dann müßte
man noch mehr tun: frisches Leben hinzutun, frisches anderes Leben
aufgießen. Die Natur kann die Zähne fletschen.“

Sie standen auf dem Hof. Die lebenden Gefangenen wurden davongetrieben.
Rasch ging er auf die Leichen zu. Sie lagen auf den Steinplatten in drei
Reihen hintereinander. Eine weibliche Leiche, die Beine bis über die
Knie bloß. Dünne, unter der Lederdecke leicht angezogene gelbweiße
Beine, die Zehen gespreizt und nach oben gestreckt. Marduk bückte sich,
einen Fuß zu berühren. Er umfaßte mit der ganzen Hand den Fuß um den
Spann, ließ ihn nach einer Weile los; der Fuß war von einer
hochsteigenden durchdringenden Kälte. Er verschränkte, sich aufrichtend,
die Arme. Ging um die Köpfe der letzten Reihe herum. Ein Mann, dem ein
Strohhut über dem Gesicht lag, hatte die Ellbogen seitlich ausgestoßen,
als ob er etwas in den Händen hielt und nähte. Marduk faßte einen
Ellbogen. Der ließ sich anheben. Und als er ihn stärker aufzog, drehte
sich der ganze Mensch an dem Ellbogen auf die Seite, als wäre er ein
Stück, rollte losgelassen wieder zurück. Der Hut war von seinem Gesicht
gerutscht; ein älterer vollwampiger Mann mit kahlem Schädel; sorgenvoll
runzelte er die Stirn, mit dem halboffenen Auge schielte er an seiner
Nase herunter; da war seine Oberlippe zerrissen, der blutige
Kieferknochen lag splittrig bloß. Als Marduk sich die Hand vom Gesicht
nahm, runzelte der alte Mann noch immer die Stirn, schielte.

Marduk zog das Ledertuch über den Hals hoch. Blendend die Sonne von
oben. Scharfe schwarze Schatten über dem Hof. Er wollte sich abwenden,
da stöhnte es hinter ihm. Jonathan stand da, mit dem vollen Blick auf
den bedeckten toten Mann, wischte sich die Tränen von den Backen, ging
vor Marduk zum Hoftor.

Der Ältere, den Korridor betretend, murmelte vor sich: „Es war schon
gut, daß ich davon gelassen habe. Wir werden weiter so machen.“

Schnürte den Rock fester, schlich, von Wachen gefolgt, weiter. Voll
Abscheu sah ihm Jonathan nach.

                   *       *       *       *       *

Jonathan trat morgens in Marduks Empfangszimmer im Stadtgebäude, gab ihm
die Hand: „Wunderst du dich, daß ich komme, Marduk? Nein, nicht wahr, du
wunderst dich nicht; du darfst dich nicht wundern.“

Ein schönes saalartiges Zimmer hatte Marduk; Marke hatte es herrichten
lassen. Links und rechts Riesengemälde vom Boden bis zur Decke. Auf der
einen Seite farbige Massen, Balken Drähte Maschinenteile, die, als wenn
sie nicht zu halten wären, plastisch aus der Wand heraustraten. Auf der
anderen die Überschwemmungen Schuttanhäufungen, versinkende Tiere und
Menschen. Eine Knochen- und Schädelpyramide in der Mitte des Zimmers.
Jonathan zuckte: „Hier wohnst du, Marduk.“ Der gab keine Antwort. Dann,
hinter dem Tisch: „Was bringst du.“ „Ich weiß es nicht. Aber ich kann
nicht mit dir in Unfrieden leben,“ seine Augen schielten, „und bitte dir
alles ab, was ich gestern gedacht habe. Und bitte dich inständigst, du
möchtest nicht davon sprechen, nichts zu mir davon erwähnen.“

„Ich glaube, Jonathan, du kommst nicht meinetwegen, sondern deinetwegen
her.“

„Ich kann nicht mit dir Ruhe finden, Marduk. Du wünschest, daß ich dein
Spiegel sei. Ich will mehr als dein Spiegel sein. Ich habe zwei Hände
einen Kopf ein Gefühl; ich bin ja dein Freund.“

„Wir wollen zusammen essen. Nicht mehr sprechen.“

Marduk faßte den Jungen unter den Arm; sie gingen in das kleine schmale
Nachbarzimmer, sprachen bei der Tafel lange nichts. Marduk dachte: „So
unterwürfig ist er, weil er um seine Mutter leidet. Er ißt viel, weil
ich neben ihm sitze. Er sitzt ruhig. Er schielt nicht. Er lächelt mich
immer an. Was für ein gequältes Wesen ist er. Und solch kaltes Tier wie
mich muß er zu seinem Freund haben. Freund sagte er; ich bin ihm so
Freund, wie ihm das Brot der Wein da Freund ist. Ich bin ihm
Lebensbedingung. Er war auf einem Fluchtversuch.“ Marduk lehnte sich
zurück, die Hände vor der Stirn: „Ich habe heute vor, mich mit einigen,
die ich erschreckt habe, zu unterhalten. Ich muß sie beruhigen. Ich will
selbst in mein Landhaus fliegen, ihnen einige Anordnungen vorführen.“ Er
unterbrach sich; ihm flog durch den Kopf: „Was nutzt es, daß ich alle
Weisheiten der Erde besäße und hätte der Liebe nicht.“ Gleichmütig sanft
Jonathan, die Serviette faltend: „Ich komm gern mit.“

Marduk, weiter zielend: „Wir begleiten die Herren zu den Versuchen über
Wachstumsunterbrechung und -antriebe bei jungen und älteren Tieren.“

„Wie du magst“, nickte Jonathan zum tiefen Erstaunen Marduks; „ich bin
nur froh, daß du mir nichts nachträgst.“

Als der Konsul, wie um etwas abzuschütteln, aufstand, hatte er das
Gefühl allein zu sein: „Ich habe einen Freund verloren. Ich bin allein.
Wer hilft mir weiter.“ Er summte, den leeren Blick gegen das
regentriefende Fenster, eine traurige Melodie. Als der Jüngere
leuchtenden Gesichts einfiel, schlug sich Marduk die Brust mit kurzen
drückenden Schlägen, hielt sich verzweifelt den Kopf: „Ich bin allein.
Hier sitze ich. Wer hilft mir weiter. Wer hilft mir weiter.“ Er ließ
sich auf einen Schemel neben dem kleinen runden Weintisch fallen; um die
anderen niederzuschlagen, um über ihnen zu stehen, war er aufgebrochen,
hatte alles gelassen. Was ließ er zurück, was war dies Neue, das er
gewann. Die Macht über diese. Über alle. Was. Was. „Verflucht“ stöhnte
er; sein Glas in der losen Hand kippte um, der rote Wein rieselte auf
den Teppich. Den Widerwillen, die Selbstverstoßung, Empörung, die die
Fingernägel in die Handteller einbohrt, sah Jonathan, der sich nach ihm
weit vorbeugte. Fahl matt wurde plötzlich sein Gesicht, die Schultern
sanken ihm langsam herunter, die Unterlippe hing sehnsüchtig traurig;
der Schlimme saß da, der Schlimme, wieder der Schlimme, rang mit sich.
Und Marduk kam herüber zu ihm; das Glas stellte er auf den Tisch; in
Brust Schultern Armen fühlte er sich durchbebt: „Mein Spiegel“, dachte
er, „er ist es.“ Gierig blickte er ihn an, sog seinen Anblick ein. Nein,
er war nicht, vielleicht nicht verloren. Dies war ein Schmerz; dieser
litt. Dies war Jonathan, sein Freund sein Kind sein Herz. Traurig
berührte Jonathan, bittend, als er ihn fühlte, seinen Arm: „Soll ich?“
wühlte es erstickt, schluckte es in Marduk. Er hörte wie ihn der Jüngere
Sanfte mit verschleierter zarter Stimme ansprach: „Du mußt mir von
deinen Versuchen, den letzten, erzählen. Du kannst es ruhig tun.“ Marduk
wand sich; es war nicht möglich, daß einer so sprach; dies war Jonathan.
Er hielt sich, die Hände rückwärts aufstemmend, an der Tischplatte fest,
stieß, die Augen schließend, durchflutet, von einer Kühle übergossen als
wäre er entblößt, einen tiefen Seufzer aus. „Mach das Fenster auf“ bat
er Jonathan. Wie der Regen draußen trommelte; nasser Wind flog herein.
Nur mit Mühe arbeitete Marduk eine Stunde. Dann legte er sich, nicht
einmal über sich erstaunt, am hellen Mittag in sein Bett. Wühlte sich
tief und tiefer in das Kissen, schlang die Decke als wenn er sich
verkröche, fest über sich. Wie von einem Zauberfinger berührt schlief er
ein, fest. Ein Schlaf, der sein Mark durchfloß.

                   *       *       *       *       *

Die Toten wurden am folgenden Tage öffentlich beerdigt. Der Konsul
beteiligte sich an dem feierlichen Zug. Er erklärte keine Rache üben,
keinen Schrecken verbreiten zu wollen. Abends bebte die Erde wie im
Beginn von Markes Konsulat: zahlreiche entdeckte Anlagen und
Versuchsstätten, auch Marduks eigene wurden in die Luft gesprengt.

Er selbst sammelte um sich eine große Anzahl von Männern und Frauen, die
ihm ergeben waren, Waffen trugen, Angriffs- und Abwehrapparate
herstellten und vervollkommneten. Er umgab sich wie ein Tyrann mit
Hunderten Spionen und Wächtern.

In der Zeit seines Konsulats verminderte sich die Einwohnerzahl des
Stadtgebiets um Millionen. Der Zuzug hörte ganz auf. Nicht nur Versuchs-
und Arbeitsstätten sprengte Marduk, sondern in rascher Folge eine Zahl
von Fabriken und Anlagen, die er für unnütz hielt. Er griff damit in den
Besitz der stärksten Herrschaftsgruppen ein, die er verelendete. Die
planmäßige Zerstörung dieser Einrichtungen, die der Bequemlichkeit und
Annehmlichkeit, aber auch dem Austausch mit anderen Stadtschaften
dienten, hatte zur Folge die Herauslösung der märkischen Stadtschaft aus
dem allgemeinen großen Verkehr der Industrien und damit weitere
Entblößung des Landes. Die Mekifabriken hielt Marduk in der Hand, stieß
die Menschen aber mit Gewalt in die Wildnis der Forsten und Felder. Es
entstand die erste wirkliche Revolte, als er ohne Befragen des Senats
auch eine Anzahl Nahrungsspeicher sprengte. Er zerstörte diese
kunstvollen Anlagen, ließ sie nicht zerfallen, um durch die tosende
Zertrümmerung seinen Willen zur glatten Abwendung von ihnen
bekanntzugeben. Der Senat, der bald aus einer Mehrheit ernster Anhänger
des Konsuls bestand, – viele Frondierende zogen sich verzagt,
überdrüssig in die näheren und ferneren Landschaften zurück, – stellte
sich gegen ihn. Aus allen Gegenden der Stadtschaft rückten damals gegen
die Ratsgebäude die Menschen mit den schlaffen apathischen Zügen, den
unsicheren dünnen Gliedmaßen, den starken Leibern, auch härtere
Ackerbauern. Kinderscharen wurden losgelassen. Entsetzen unter ihnen.
Sie sollten umkommen; wer nicht Boden und Vieh besaß, sollte verhungern.
Man verlangte vor dem burgartig gesicherten Stadtgebäude nach Marduk,
der sich nicht sehen ließ, forderte seine Absetzung. Die Menschen
zerstreuten sich zum Schutz der noch unversehrten Mekifabriken und
Anlagen, organisierten ihre Bewachung. Marduk ließ wochenlang diesen
Zustand. Als der Senat sich weigerte, die Menschen zu beruhigen, gab der
Konsul bekannt, daß er selbst die Anlagen schütze. Das Recht der
Auswanderung stünde jedem frei. Die Erregten kehrten sich nicht an
Marduks Warnung. Da kamen ihm Haufen Landsiedler zu Hilfe. Nachdem eine
Zahl der Unruhigen von den Speichern und Anlagen verdrängt war, ein Teil
von Marduks Wache im Innern der Anlagen unschädlich gemacht war, zerfloß
die Revolte. Ein neuer Strom Menschen ergoß sich aus dem immer wüsteren
Land.

                   *       *       *       *       *

Die blonde ernste weißhäutige Marion Divoise stand bei dem Streit des
Konsuls Marduk mit den Senatoren in einer Fensternische des Saales, ließ
ihre graugrünen Augen schweifen. Viele Mädchen und Jünglinge hingen an
ihr. Sie dachte, als sie Marduk oben sah: wer ist es; wenn er mich
bewegen erregen könnte. Bei dem folgenden schrecklichen Tumult brach sie
zusammen, wurde verwirrt nach Hause gebracht.

Marion Divoise, die üppige vollbusige Blonde, die Freude vieler Männer
und Frauen, drängte seit da zu Marduk. Sie verlangte, wie viele,
vergeblich Zutritt zum Konsul. Der lebte eingeschlossen bald im
Stadtgebäude, bald in seinem ärmlichen Landhaus; es war nie sicher, wann
er da und dort mit seiner schwer bewaffneten Wache erschien. Marion
hörte auf, die Strenge zu sein, die Männer und Frauen durch ihre geheime
Süße anlockte, die sich ernst und verstehend, warm und dann wieder fremd
unter ihnen bewegte. Der schauerliche Tumult bei der Parlamentsrede
Glossings am Tage nach Marduks Staatsstreich war ihr nicht aus der Seele
gegangen. Sie suchte sich beängstigt davon wegzuziehen. Weder Männer
noch Frauen hatte sie bis dahin ernsthaft angehört. Sie folgte immer
Lockungen und Erklärungen mit ihrer Güte und Sanftheit, aber leicht
obenhin. „Was ihr alle sonderbar seid“ war ihr heimlicher Gedanke bei
den Begegnungen mit ihren Freunden; allein saß sie oft zu Hause in ihrem
Schlafzimmer und lachte, lachte über die Menschen. Bisweilen riß sie
einer in seiner glühenden Neigung weit hin. Aber wenn die jungen
Menschen dringlicher nach ihren schönen Armen, ihrem Hals, ihren Hüften
griffen, stieg der Widerwille in ihr auf. Ohne Maß beleidigt war sie,
mit Haß und Demütigung überfiel sie den schmerzlich Getroffenen, der
sich wand. Ein Vieh nannte sie ihn. Es hieß, daß sie sich früherer
Liebhaber bediente, um einen Menschen, der ihr zu nahe gekommen war,
tief und raffiniert zu kränken, ihn nackt aus dem Bett seines Hauses auf
die offene Straße zu werfen.

Sie hatte, wie Marduk seine gefürchtete Wache, eine Schar von Männern
und Frauen, die der weißen strengen Person jeden Dienst leisteten. Aus
ihnen suchte sie sich jetzt zum ungläubigen Staunen der anderen, denen
es zugeflüstert wurde, selbst Freunde Liebhaber aus. In Scham zwang sich
die Balladeuse dazu. Sie wollte zu einem Mann. Es waren für sie Szenen
furchtbaren Leidens, wo sie neben einem freudigen glücküberschwellenden
jungen Wesen saß, das sich ihr zu Füßen warf, ihre Zehen küßte, und dann
von ihrem Hals, ihren Armen, ihrer Brust nicht ließ. Sie fror und
glühte, bebte am ganzen Rumpf. Das sprang wie ein Käfer an ihr herum,
suchte seinen Speichel mit ihrem zu vermischen; sie wandte durchschauert
ihr Gesicht ab, das sich versteinte. Sie litt, wollte es dulden, wenn
sie auch zerbrach. Sie wich zurück, versuchte es mit neuen.

Und dann saß sie einmal mit einem Mann zusammen, den sie nie gesehen
hatte, einem farbigen sie selbst anwidernden Mann, der eine Viehherde
angetrieben hatte. Im Augenblick, wo sie ihn sah, verlangte sie nach
ihm. Starr stand in ihr fest, sie wollte nicht zurückweichen. Ohne
Narkose; ganz gewiß von diesem Kerl. Er trank schon nach einer halben
Stunde neben ihr. Sie rührte kein Glas an; umschlang erschauernd seinen
runden Wollkopf. Er verstand. Er dachte eine Canaille zu vergewaltigen;
trug sie in seinem Kittel vorsichtig auf ihr Bett. Da hatte sie sich ein
Kissen vor das Gesicht gedrückt, bettelte um Gnade. Weinend betäubt
rasend vor Selbstverachtung gab sie sich der Schändung hin. Sie stand
den Kopf zurückgelehnt an einem Schrank, schluchzend flehend: „Ist jetzt
fertig? Ist jetzt gut?“ Reichte dem Mulatten, ohne ihn anzusehen, die
feine zitternde Hand, die eiskalt und bis zum Gelenk abgestorben war.
Und sonderbar, wie sie seine hitzigen Finger fühlte, der schreckliche
Dunst dieses Tieres, das vor ihr stand, zu ihr herüberschwoll, fühlte
sie sich bewegt, die Augen zu öffnen, ihn, wie er zärtlich süßlich und
dienerhaft gemein grinste, mit dem Blick zu umfassen, ganz ruhig zwei
Schritt auf ihn hin zu tun, den weißblonden Kopf an seine Brust zu
senken. Mitten in den schrecklichen Dunst hinein. „Geh jetzt“ flüsterte
sie, wie er es wagte, leicht über ihre Schultern zu streicheln. Sie
zuckte hoch. Er war fort; sie hatte nun dies getan, hatte es hinter
sich. Sie blies wehte die Luft von sich. Und wie sie an das Tier dachte,
rutschte rauschte sie mit einem leisen Ton aus, zu Boden, lachte
flüsterte schimpfte verwirrt gegen den Boden hin, wie im Saal des
Ratsgebäudes.

In ihren Gliedern, ihrem erlahmenden Rückgrat blieb die ungeheure
Erregtheit stecken, die sie nicht schlafen ließ, die mit einem hohen
gequälten Ton in ihre Stimme stieg. Nun wagte sie es mit anderen Frauen
ihres Hauses über sich zu sprechen; die jungen und älteren zarten und
starken Männer aber, die um sie waren, betrachtete sie jetzt
aufmerksamer. Sie versuchte die Männer, versuchte sich an den Männern.
Sie saßen neben ihr, hängten sich glücklich und fiebernd an ihren weißen
schamüberglühten Hals. Es regte sich nichts in ihr; sie streichelte sie,
tiefer und tiefer geängstigt vor sich. Weinend mußte sie ihren Kopf auf
die Kissen und Polster legen; man sollte sie nicht quälen, sie seien ja
alle so gut. Nur nach dem Mulatten hatte sie öfter ein bitteres
schauriges fast kindliches Verlangen. Der durfte nicht gehen, wenn er
sich in der Nähe ihres Hauses zeigte. Es zog sie etwas zu ihm, etwas
Vertrautes, er mußte zu ihr kommen. Es war schrecklich, wie sie ihn
einmal auf ihr feines einfaches Zimmer nahm, ihn, was sie nie tat, mit
Kuchen und Likören bediente, den farbigen Mann in der gelben
Viehtreiberjacke, der sich grinsend breit machte vor der demütig ernsten
Frau, wie er ihr den Rest seines Likörglases an die Stirn spritzte, sie
im Moment herriß. Sie schrie im Schreck. Die starke Frau rang und schlug
sich besessen mit ihm, zerbiß seine Hände und lag dann, krachend auf den
Boden gestaucht, winselnd still. Er ließ sie grimmig atemlos, Glas um
Glas des Likörs herunterstürzend, den Mund mit Kuchen vollstopfend,
liegen. Diesen Mann ließ sie noch manchmal zu sich rufen; sie wußte
nicht, was sie zu ihm trieb; er tat mit ihr wie mit einer Sache, sie
erduldete alles.

An einen jungen fast knabenhaften Mann, den sie Desir nannte, hängte sie
sich, war ihm öfter aufgelöst, Trost suchend, abwesend, bettelnd, gut.
Sie träumte in dieser Zeit oft von einem Wasser, auf dem sie fuhr. Desir
war ein weißer Schwan, der vor ihr schwamm; sie lag in einem Boot, er
zog sie, zog sie immer weiter, weit fort.

Als Marduk die stärkere Nutzbarmachung des Landes betrieb, das ihr
gehörte, verlangte sie wieder mit ihm zu sprechen. Und als es ihr
abgeschlagen wurde wie jedem sonst, wandte sie sich an Marduks jungen
Freund Jonathan. Die schöne weiße Balladeuse war erschreckt, als nach
einem durch Kurier überbrachten Brief, sie hätte mit ihm zu verhandeln,
eines Mittags Jonathan selbst im Flugzeug auf dem Dach ihres Hauses
erschien. Oben neben seinem leichten Apparat, den er sicherte und
abstellte, stand sie, betrachtete den feinen braunhaarigen Jüngling, der
sich an das Dachgitter lehnte, lächelnd sagte, er sei gekommen. Er wisse
wenig, was er mit seiner Zeit anfangen solle; ob sie ihm böse sei, daß
er gekommen sei. Wie hatte sich dieser Mensch, den sie kannte, in den
letzten Jahren geändert! Wie gleichmütig versunken lächelte er, wie hob
sich manchmal seine linke Augenbraue und zuckte schmerzlich. Er sprach
so leise und freundlich, und wenn sie antwortete, so wußte sie aus
seinem leeren Blick, seinem Mund, der sich bewußtlos öffnete, dem Kopf,
der sich zur Seite bog, daß er meist nicht zuhörte. Dies war der Freund
Marduks. Sie nahm ihn in ihr Haus herunter; er wollte kein Zimmer, im
Garten saßen sie. Bald sagte sie, sie wolle Marduk sprechen. Er zog
Holunderäste über sich: „Warum wollen Sie Marduk sprechen? Er hat so
wenig Zeit. Lassen Sie ihn doch, Marion.“ Sie saß aufrecht, war, je mehr
sie Jonathan sah, stier und steif in ihrem Begehren, den Konsul zu
sprechen. Sie wurde zornig. „Ist er mehr als ich. Warum versteckt er
sich? Er ist Konsul, er nennt sich so, er muß hören, was man von ihm
will.“ „Muß er das, Marion? Er meint es nicht. Er denkt umgekehrt, wir
müssen hören, was er will.“ Sie stand blaß auf: „Das wußte ich, daß es
so ist. Es ist mir recht, daß Sie hergekommen sind, Jonathan, und daß
Sie es mir noch sagen. Ich will ihn sprechen, so steht es, ich muß es,
und das verlange ich.“ „Seien Sie nicht wild, Marion. Es sind schon
manche wild gewesen und sind nicht mehr wild.“ „Nicht ich. Nicht ich.“
Sie stand und flüsterte. Jonathan drückte sie auf ihren Sessel: „Sagen
Sie, Marion, was ist. Ich will mit ihm sprechen.“ Sie schwieg; dann:
„Gut.“ Und wie sie fertig gesprochen hatte, dachte Jonathan: wie recht
hat Marduk, daß er sie nicht hört; Weiber sind Räuber. „Gut Marion, ich
wills ihm sagen. Gehen wir.“ Wie sie aber ein paar Schritt gegangen
waren, drückte ihm Marion plötzlich heftig die Hand, sah ihn so
dringlich an, daß er ein Erstaunen fühlte und ihm der Einfall kam, zu
Marduk von ihr zu reden.

Man ließ die schöne Balladeuse vor Marduk. Als er in seinem Zimmer des
Ratsgebäudes von dem ungeheuren Wandgemälde der Uralischen
Flammenbergwerke und der flüchtenden versinkenden Menschen sich
herbewegte, braunschwarz wie die Menschen des Bildes, zitterte sie zum
ersten Male. Er schien mit seinen unsicheren Beinen dem Riesenkopf den
dunklen ernsten Augen aus dem Bild herauszuwackeln. Jonathan führte sie.
Marduk gab ihm die Hand, lächelte: „Wen bringst du mir.“ Er sah nur
Jonathan an, bat, als der gehen wollte, er möchte bleiben, lächelte
schweigend, als er gegangen war, noch in der Richtung seines Weges. Mit
demselben Lächeln drehte er sich automatisch Marion zu, die Jonathan auf
eine Sitzbank geführt hatte: „Was willst du, Marion. Was tust du?“
Geheimnisvoll fühlte sie sich berührt, entwaffnet. Schwach und still
sagte sie, sich verwirrend, wieder zitternd, es müßten die Ländereien
der Stadt nach Norden und Nordwesten ausgedehnt werden. Marduk fragte,
ob der Senat sie dabei im Stich ließe. Sie mußte es verneinen, log, sie
fürchte sich vor dem Widerstand ihrer eigenen Leute, wollte Bewaffnung
und Schutz auf ihrem Besitz. Dies sei unmöglich, gab Marduk von sich,
versprach, mißtrauisch sie anblickend, seine Hilfe für weiterhin, stand
auf, wieder auf seinen Platz zwischen den braunschwarzen Versinkenden
zurückzukehren.

Sie war nur wenige Minuten bei Marduk gewesen, da ging sie langsam durch
mehrere Türen, über Treppen hinaus. Jonathan sonnte sich auf der großen
Freitreppe; er hielt einen Schmetterling auf seiner Kappe, schaukelte
ihn; sie wich ihm aus. Von der Begegnung mit Marduk brachte sie nichts
mit als einen Groll auf Jonathan, eine bis zum Zorn gesteigerte dumpfe
Wut auf diesen, auf diesen. Sie ging aufgelöst in ihrem Zimmer umher;
nachmittags ritt sie mit Desir aus, unterwegs liebkoste sie ihn, weinte
wild, neben ihrem Pferde über die Felder gehend.

Die starke Frau arrangierte Gehässigkeiten gegen Marduk. Die
Frauenbünde, fast zerfallen, waren damals in den fremden Stadtschaften
erneut rege; sie streckten ihre Arme nach der Mark aus, wo sie heimliche
Frondeure unterstützten. Die Berührung mit ihnen tat der Balladeuse
wohl. Sie machte sich Mut, unterstützte Frondeure. Dann spielte sie
wieder mit Desir. In das Leben dieses Desir wurde sie eigentümlich
hineingezogen. Der Feine fesselte sie nicht. Erst, wie sich an ihn
andere begehrliche Frauen hingen, merkte sie auf, wollte seine
Zärtlichkeit nicht vermissen, las mit Beklemmung die Zettel, die er von
anderen Frauen erhielt, sah die Blumenkränze, mit denen sie ihn
behingen. Und sie seufzte und wollte es nicht dulden. Sie fühlte sich
gedrängt, auf diese Frauen loszugehen mit einer Erregung; aber dahinter
stand schon die Trauer. Sanft ließ sie Desir mit einer anderen Frau,
sanft hängte sie sich selbst an die andere Frau, forschte sie aus, sah
ihre Neigung Glück, ging wieder zu Desir, stand kopfsenkend da, fiel
neben ihn, der sie verlangte, seufzte mit leeren Augen, eingehüllt von
seiner Weichheit, den unaufhörlichen Flüsterworten, von den Händen an
Stirn und Hals gefaßt, die in sie nichts strömten. Sie tat froh auf den
Fahrten, Desir war ihr Mann, von ihm wollte sie ein Kind. Nein, nicht
ein Kind, viele Kinder. Ihre Ruhe wollte sie vor Augen haben,
festhalten. Es sollte alle Vergangenheit ruhen.

In dieser Zeit gebar sie zwei Kinder, zwei Mädchen, die sie selbst an
der Brust aufzog und pflegte. Groß war die Zärtlichkeit der mütterlichen
Divoise zu ihren Kindern; sie hatte von ihrer Schönheit und Art nichts
verloren. Und eines Tages erkrankte das jüngere Kind. Die Erregung der
Divoise; blitzrasch veränderte sie sich. Wen sie erreichen konnte von
Ärzten zog sie herbei. Geschüttelt saß die dunkel verhüllte Divoise am
Bette des Kindes, schrie nach Hilfe. Mit Angst Haß Bangigkeit verfolgte
sie das Agieren der stillen Männer und Frauen am Bett. Saß zuletzt nicht
mehr in der Nähe des klagenden und heftig atmenden Kindes, saß nahe der
Wand, wo sie niemand sah, über sich gebeugt, ein Tuch, das ihr Desir auf
die Schultern gelegt hatte, über dem Kopf.

Das Kind zog die Luft gleichmäßig mit hohem Tönen ein, gab sie rasch von
sich. Eine Pause. Wieder hohes Tönen Blasen. Die Ärzte hielten das
Vergehen der kleinen Seele nicht auf. Als es frühmorgens nicht mehr
blitzrasch das Köpfchen warf und mit suchenden Augen nach rechts und
links fuhr, und ohne die Wimper zu bewegen aus großen runden Augäpfeln,
trübe überhauchten, die in Schwärze liegende Decke betrachtete, bewegte
sich die mütterliche Divoise, das violette Seidentuch über Rumpf und
Gesicht, heran an das Bett, lag eine Weile zu Füßen des schweigenden
Wesens. Mit dem Gesicht aufliegend nahm sie finster schluchzend das
Füßchen des Kindes in den Mund, sog daran, legte es sich an den Hals.
Trug das tote Wesen im Zimmer herum, setzte sich, während das Tuch
rückwärts von ihr abfiel, auf den Stuhl, den eben der Arzt verlassen
hatte, hielt das Erstorbene auf dem Schoß, setzte es auf; die Arme
schlenkerten an dem kleinen hemdbekleideten Mädchenkörper. Marion, nicht
hörend, was man ihr sagte, hielt das Kind fest, wickelte es in ihr
wieder aufgerafftes Tuch, schleppte es durch das Zimmer, summend, mit
festem Schritt. Dies tat sie stundenlang bis zum Morgengrauen: gehen,
das Kind wickeln aufsetzen, bis es steif geworden war und aufrecht auf
ihrem Knie saß mit gesunkenem Kopf. Eine Frau nahm ihr das kalte
wachsfarbene Wesen aus den Händen: „Nun ist’s gut, Marion! Nicht wahr,
nun ist’s gut?“ „Ich hab es nicht weggegeben“ zitterte Marion mit leeren
Händen, „du hast es mir weggenommen, das mußt du wissen.“ Saß noch da,
wie das Erstorbene zugedeckt wurde. „Mein Tuch drüber, mein Seidentuch.
Nun hast dus weggenommen. Nun ist es geschehen.“

Aus dem stillen Zimmer ging sie. Über einen Flur. Wie sie eine Tür
öffnete, schlief drin das ältere Kind. Das Morgenrot schien herein.
„Warum nur das eine? Warum nur? Es könnte auch das andere sein. Soll ich
warten?“ Sie zitterte von den Knien aufwärts in Wellen bis in den Hals;
nahm das schlafende Kind mit zwei besinnungslosen Griffen hoch. Schon
schrie es aus ihrem Mund: „Desir, Desir.“ So bündig scharf schrie es aus
ihrem Hals, er war in wenigen Augenblicken bei ihr. Sie preßte, den Mund
schließend, zwischen den Zähnen, sich vom Licht abwendend: „Da ist das
Kind. Da hast du es. Leg es hin.“ Er mußte ihr die Finger ablösen von
den Ärmchen des Kindes, das schlafend über ihrer Schulter hing, einen
kalten verklammten Finger nach dem andern.

Sie haßte von da ab Marduk. Nichts beglückte sie so, nichts war ihr
inniger als der Haß auf Marduk, den langen Menschen, braunschwarz, mit
dem Riesenkopf, den dunklen ernsten Augen, den unsicheren Beinen. Wenn
sie heimfuhr von dem Kind, von ihrem Mann aufstand: dies empfing sie
doch und hüllte sie gewaltsam ein. Es war etwas wie ein Rachegefühl in
ihrem Haß. Ruhig hielt sie damit an. Sie war ihrer Dinge gewiß.

Sie stand eines Tages vor Marduk, der aus der Wand der Uralischen
Flammen hervortrat zwischen den flüchtenden versinkenden Menschen. „Komm
da weg“ herrschte sie ihn an „du stehst da schlecht.“ Sie zog ihn an die
Schädelpyramide: „Da stehst du gut, Marduk. Bleib da stehen.“ „Was
willst du, Balladeuse.“ „Balladeuse, Balladeuse. Mir liegt an Balladen
nicht. Es waren nicht meine Balladen. Ich kann nur sagen, daß –“ „Daß du
mich liebst.“ „Daß ich dich liebe? Bist du verrückt, Marduk. Ich dich
lieben? Wofür denn? Um was?“ „Lach nur. Darum bist du hergekommen, darum
habe ich dich ohne Wachen hereingelassen. Es kommen öfter welche herein.
Ich merke es gleich. Es macht mir nichts aus.“ Sie trat an ihn heran:
„Du bist wahnsinnig, Marduk. Ich verbiete dir so zu sprechen. Es ist
schamlos. Ich habe dir nichts getan, daß du mich beleidigst.“ „Dir sind
deine Kinder gestorben, Marion, du bist hergekommen, daß ich dich
tröste.“ „Mein Kind lebt, eins ist gestorben.“ „So lieb dein Kind.“ „Was
geht dich mein Kind an? Steh bei den Schädeln. Wenn es nach dir ginge,
wäre die ganze Erde eine Schädelpyramide.“ „Ich muß die Wache rufen.“
„Ruf sie, ruf sie nicht, Marduk. Tus. Tus nicht. Mein Himmel, was soll
ich sagen.“ Sie war plötzlich bläulich blaß geworden. Zitterte bis zum
Schwanken. Sie war in schrecklicher Bedrängnis, sah an sich herunter,
kratzte, rieb sich die Finger: „Ich hab mit dir nichts zu tun. Ich weiß
nicht, was ich von dir will. Du tust mir unrecht, wenn du sagst, ich
liebe dich. Ich werde nicht von hier weggehen. Du darfst deine Wache
nicht rufen. Laß laß mich noch hier stehen. Ich sterbe noch früh genug.
Du kennst mich nicht.“

Ganz still stand der lange Marduk. Die Divoise warb um ihn. Er fühlte
nichts, aber ganz im Innern erbebte etwas in ihm, wie in einer Stadt die
Scheiben leise klirren von den Donnerstößen einer sehr fernen Schlacht.
Sein Mund fing an sich zu einem Lächeln zu verziehen: „Ich habe manche
Geschäfte, Marion Divoise.“ „Ich auch.“ „Was soll geschehen?“ „Laß mich
–“ sie war am Schwanken, schloß den Kopf zurückbiegend die Augen,
schluckte, „– laß mich – in dem Hause bleiben. Ein paar Stunden.“ Sein
Inneres erbebte stärker, tiefer innen; er zog die Muskeln seiner Arme
zusammen, ballte die herabhängenden Hände, leise: „Das ist bei mir nicht
üblich. Ich habe keine Frauen bei mir.“ „Laß mich – in deiner Nähe –
sein, Marduk.“

Er mußte um die Pyramide herumgehen; trat unter das große Flammenbild,
kam wieder hervor, im braunschwarzen offenen Mantel. Die Divoise hatte
die Augen geschlossen, bewegte sich nicht, unkenntlicher Ausdruck über
ihrem Gesicht. Die Augen riß Marduk auf, biß sich auf die Unterlippe. Er
wußte nicht, was in dem Raum umging, was seine Schulterhaut mit Hitze
und Kälte überschüttete. Er fühlte seine Beine gedrängt, sich nach ihr
hinzubewegen, lachte leicht, wie er ihre Hand anrührte: „Also, ich werde
dir ein Zimmer geben lassen hier. Verbreite es nicht. Es ist nicht meine
Art.“ Ihre Hand zuckte zurück; tonlos sagte sie: „Dies ist gut von dir,
Marduk.“ Er sah, wie sehr sie litt, faßte sie, die betäubt schien, am
Arm, führte sie durch einen Gang in ein Zimmer, wo sie sich von ihm
losmachte, sich setzte. „Ich bin, Marion Divoise, nicht weit von hier.
Du hebst diesen Griff. Man sagt dir, wo ich bin.“

Die blonde Balladeuse lag mit dem Gesicht auf dem Tisch. Erst als er
hinaus war, stieß sie das tierartige Stöhnen aus, das schon lange in ihr
gesteckt hatte, schlug sich die Brust, zerzupfte die Fransen der
Tischdecke. Um – plötzlich – anzuhalten, die Hände herabfallen zu
lassen. Matt wurden die Schultern, weich sank sie über sich zusammen,
lächelte eingedeckt hingedrückt vor sich, stützte den Kopf auf den Arm,
hingebend: „Ich bin hier. Gelandet. Oder gestrandet. Oder. Oder. Marduk
kann jeden Augenblick kommen; wenn ich den Griff hebe, wird er kommen.
Meine Hand kann das, meine liebe kleine Hand. Ich in seinem Haus, unter
seinem Dach. Marion Divoise, du Süße, jetzt ist das beste: du schläfst!“
Dachte nicht an ihr Kind, Desir, die Menschen, die an ihr hingen. Kam
sich vor wie am Ende eines langen Wegs. Und die Arme unter den Kopf
gekreuzt schlief sie eine süße Stunde. Fühlte, wie sie sich aufsetzte:
„Welch verzaubertes Haus. Was ist mit mir geschehen. Ich kann mir nichts
denken, was so schön ist wie dies jetzt. Marduk soll kommen. Marduk soll
kommen.“

Man sagte ihr, wie sie den Griff hob, daß Marduk auf seinem Zimmer
schliefe. „Auch er. Er auch.“ Sie faßte sich an die Brust, ihre Augen
leuchteten. Wie es dunkel wurde, hob sie wieder den Griff. Da schlief
Marduk noch. Verwirrt ging sie an den Apparat. Die ruhige Männerstimme
kam heraus, der Konsul liege im Schlaf auf seinem Zimmer.

„Ich bettle, ich bin versklavt. Ich muß mich rüsten.“ Laut sprach sie
sich vor: „Er kommt bald“, die zerzupften Fransen des Tischtuchs vom
Boden sammelnd und in einem Haufen auf dem Tisch bergend; daneben setzte
sie sich. Sie drückte den Lichtknopf.

Wie die Tür aufging, stand Jonathan in weißer Seide da. „Ich war bei
Marduk. Er sagte mir, daß du hier wärst. Ich freue mich dich zu sehen.“
„Er hat dich geschickt.“ Jonathans Stimme war erfüllter, klangreicher,
fester als sonst: „Nein. Ich bin selbst hergekommen. Er warf es nur
nebenbei hin. Ich wollte dich sehen.“ „Was ist an mir zu – sehen,
Jonathan. Du kennst mich doch. Du wolltest vielleicht etwas anderes. Von
dir hatte ich es nicht geglaubt.“ „Was ist, Marion?“ „Daß du dich
täuschen wirst. Daß ich hier bin, kann ich nicht verheimlichen. Ich
schäme mich aber nicht. Garnicht. Daß dus genau weißt.“ „Ich höre,
Marion Divoise.“ „Ich habe nichts zu verbergen. Da bin ich. Und jetzt
schäme du dich, daß du hier hereinkamst.“

Jonathan, die Arme an der Tür verschränkend, schlug das rechte Bein vor
das linke: „Ich bin hier, um dich anzusehen, Marion Divoise. Wenn du
noch mehr sprechen willst, sprich.“ Sie bog glühend den Kopf über die
Seidenfasern auf dem Tisch: „Was wollt ihr mit mir machen.“ Und langsam
ging der weiße junge Mensch von der Tür weg auf sie zu: „Komm, steh
auf.“ Und nochmal: „Komm.“ Und wie sie finster aufstand, legte er beide
Arme um ihre Hüften. Rutschte, plötzlich schluchzend, von innen
gestoßen, an ihr herunter: „Tu an ihm, was du willst. Tus, Marion. Ich
bin nicht dein Feind.“ Und wie sie die Hände herunterließ, zog er sie
vor seinen Mund, küßte sie. Sie hob den jungen Menschen an sich hoch,
der immer stammelte: „Du bist hier, bei ihm; du bist hier“ und ganz
außer sich war. Er umschlang ihren Hals. Seine Augen brannten und
irrten: „Ich weiß nicht, Marion, was es auf sich hat, daß du hier bist
und wer dies gefügt hat. Aber es kann geschehen, daß du mit einem
Schlage mich und ihn tötest.“

Wie sie ihn von sich abdrängen wollte, lachte stöhnte er an ihrem Hals:
„Du kennst das Menschenleben nicht, Divoise. Du siehst nur immer zu.
Vielleicht jetzt nicht so. Du weißt nicht, was hier geschieht. Und durch
dich. Es ist gut. Ich sage dir, es ist gut. Ich habe dich nicht
hergerufen, aber nun bist du da, nun ist es geschehen, ich begrüße dich,
ich segne dich, daß du herein kamst, Divoise.“ So stammelte er, ließ in
trunkener Schwelgerei von ihr. Die Hände gegen sein eigenes lächelnd
angehobenes Gesicht gelegt, ohne ihre Fragen zu beantworten, stolz, fast
feindselig ging er hinaus.

Eine Wache führte sie auf Marduks Zimmer. Das war ein halbdunkler
schmaler hoher Raum, weißlich von allen Seiten blinkend, als sei er mit
Blech ausgeschlagen. Schalter Kästen Hebel in Fuß- und Brusthöhe
angebracht. Auf dem Tisch, der im Dunkel lag, flammten Tafeln mit
Ziffern und Schriftzeichen auf. Trübe blickte sie Marduk, auf einer
niedrigen Bank hockend, an, wie sie im helleren Türlicht stand. „Marion,
tritt ein.“ Sie schöpfte Luft: „Kann ich mich setzen?“ Sie saß auf der
Bank an der Tür, und wie sie eine Weile den Kopf nach unten gebogen
hatte, hielt sie seinen Augen stand: „Marduk, ich will dir etwas von mir
sagen. Ich habe ein Kind verloren. Das war ein Schild vor mir. Es ist
hin. Auch von dem andern weiß ich nichts mehr. Ich bin schutzlos. Du
siehst meine Schande. Ja Schande. Wenn etwas Schande ist, so ist es
dies, daß ich hier vor dir auf der Bank sitze.“ „Es hat noch keine
dagesessen.“ „Das tut mir nichts. Ob eine oder keine dagesessen hat. Ich
bin nicht eine oder keine. Ich hätte hier nicht sitzen dürfen und nun
ist es geschehen und da bin ich.“

Sie bog ihren Leib nach vorn, ballte die Hände vor dem Mund. Vom Tisch
kam es: „Was hast du dahin geworfen, an den Boden?“ „Was?“ „Das da. Das
Dünne. Die Fasern.“ „Fasern von dem Tischtuch drüben. Ich hatte sie in
der Hand behalten.“ „Tu sie weg.“ „Was?“ „Heb die Fetzen auf, Marion.
Sie sollen da nicht liegen.“ „Die Fetzen?“ „Ja, du sollst sie aufheben.
Du hast sie hingeworfen. Wozu wirfst du sie hin.“ „Ich heb sie auf,
Marduk.“ „So tus.“ Sie weinte am Boden, die Fasern zusammenlesend: „Ich
kann nicht aufstehen. Oh meine armen Hände. Ich kann nicht mehr.“ Sie
sank mit dem Gesicht auf den Boden. „Marion, erbittere mich nicht, du
sollst die Fetzen aufheben und hierher auf den Tisch legen.“ „Ich tus
ja, Marduk. Ich kann jetzt nicht. Da, da, das sind alle. Jetzt sinds
alle.“ Sie legte sie vor ihn, stand auf und ab zitternd neben ihm. Er
betrachtete sie, erst ungehalten, dann mit freudiger Verachtung, legte
die Hand an ihre Hüfte. „Laß das, Marduk. Du denkst, du hast gewonnenes
Spiel. Du willst mich wegwerfen. Nimm den Arm weg.“ Und eben noch trübe
vor sich stierend wogte sie auf und ab, warf sich an ihn auf der Bank,
umschlingend, ihn niederziehend: „Doch. Es ist gut. Da bist du. Es ist
gut. Jetzt ist es gut. Mir ist wohl. Ach ist meinen Armen wohl. Ach ist
meinem Kopf wohl. Ich bin gesund. Da, ich zittre nicht mehr. Mir ist
ganz gut vom Kopf bis zu den Füßen. Wie hätte ich das geglaubt! Beweg
dich. Jetzt kann mir nichts mehr geschehen. Jetzt zerreiß mich, schlag
mich, wirf mich zum Fenster hinaus.“ Und sie ließ von ihm, dehnte sich
selig allein: „Dies ist das Leben, Marduk, sag ich dir. Dies hab ich nun
geschenkt bekommen. Du hast es mir geschenkt.“

In ihm klirrte es. Von der Brust stieg in den Hals eine Verschnürung,
seine Arme waren in Eis getaucht. Er hatte einen Widerwillen, eine Wut
auf diese Frau. Sie griff ihn an. Man mußte sie belehren. Das saß neben
ihm auf der Bank, reckte sich, sprach, Fasern lagen auf dem Tisch
zerstreut. Seine Hand griff nach den Fasern, er drehte die Augen nach
der Frau: „Dein Gesicht her.“ Sie ließ sich die Hände abheben. Ihr Kopf
hing nach hinten wie eines schlafenden Kindes. Sie blinzelte, als wenn
sie ins Licht blickte. „Laß mich dich ansehn, Marion.“ „Ich kann nicht,
ich kann nicht, Marduk. Jetzt kann ich doch nicht. Ruf mich an, ruf mich
bei Namen. Wie ich heiße.“ Als er rief, lächelte sie, lachte träumte.
Sie horchte, umfaßte mit dem linken Arm seine Schultern. Marduks Gesicht
verzerrte sich. Er mußte mit Gewalt seine Wut festhalten. Während er
sich spannte, dachte er: dies ist merkwürdig, was hier geschieht. Durch
ihn trieb ein Gefühl, das zuckte bis in seine Zähne: man muß sich auf
ein Flugzeug setzen, die Steuerung fallenlassen und durch die Wolken
hin. Man muß tollkühn sein. Und dabei war eine Schwäche in seinen Lippen
Armen. Und noch tiefer in der Brust. Das bewältigen. Sein Grimm stieg.
Er schluckte und schlang. Er hatte schon den rechten Arm um sie gelegt,
die weiche durchwogte lachende Balladeuse. Da veränderte sich sein
Gesicht. Die Spannung war verschlungen, versunken. Er ließ den Arm nicht
los, der linke Arm legte sich über ihre vor- und rückwärts schwebende
Brust. Das steuerlose Flugzeug war da, das ihn forttragen sollte.

„Marion“ ließ er sich sprechen, verzweifelt, die kalte Nase neben ihrem
Ohr, „das ist ein sonderbares Abenteuer, in das du mich führst. Ich
weiß, es macht dir Spaß, mich dahin zu führen. Du bist ein tolles Wesen,
ich habe viel von dir gehört. Ich soll auch einer von den vielen sein,
die auf deiner Strecke liegen. Das willst du, daß das geschehen soll.
Ich weiß es.“ „Was weißt du, Marduk“, lachte die Balladeuse. „Daß du
hergekommen bist, mich zu unterwerfen. Mich unter deine Füße zu
kriegen.“ Er wollte es, versunken verschlungen, wie er war, hören. Er
spitzte seinen Mund, sprach ihr in Gedanken die Antwort vor. Aber sie
gehorchte nicht, bewegte sich in seinen Armen: „Es ist die Seligkeit. Du
kannst mir sagen, was du willst. Es hat sich erfüllt.“ Er rüttelte in
einem fragenden Widerstreben an ihr, aber sie wich nicht. Da mußte er
nach ihren Schläfen greifen, um ihren Mund mit seinen trockenen Lippen
zu berühren; fest drückte er seine Lippen, gewaltsam auf. Aber wie von
einer Feueresse prallte er zurück, vor diesem heißen Atem, der langsam
strömte aus diesem ruhenden Leib. Die Luft strömte ein. Feucht glänzten
die weißen Zähne. Er bettelte in höchster Bestürzung; jetzt war er
verloren; seufzte, sich an sie pressend: „Nun ist gut, Marion. Nun hab
ich dir gegeben, was du wolltest. Geh jetzt weg. Lebwohl. Nicht wahr, du
gehst, du wirst gehen, gleich aus diesem Zimmer. Ich habe viele
Geschäfte, wir sitzen hier. Oh, Marion, geh doch. Warum sitzest du hier,
was sitzest du hier.“ Dabei hielt er sie gepreßt. Von einem Dunst fühlte
er sein Gesicht überzogen, als wenn es auftaute. Seine Hände schwollen
schwer und heiß an, wuchsen zusammen. Die blonde Divoise richtete sich
auf, löste seine Hände von ihrem Hals ab, lächelte, von ihm abrückend,
ihm zugewandt, mit kaum gehobenen Lidern: „Jetzt werde ich gehen? Jetzt
werde ich gehen? Wohin soll sie denn gehen, die Divoise, Marion. Sie
weiß nicht. Komm her, Marduk, steh auf. Steh auf. Deine Beine sind nicht
stark, aber stehen kannst du. Da stehst du. Warum soll sie denn gehen.
Sie will nicht gehen.“ „Was willst du denn. Du sollst gehen.“ „Ich
bleibe.“ Da war er von dem glühenden Hauch überströmt, der Sturm raste
durch ihn, er stand da und sah zu, knirschte: „Bleib hier.“ Und sie
ruhig: „Ich bleibe. Da bist du. Bist du nicht da.“ Er sie umschlingend,
die stand, er stöhnte lachte wütete: „Ich bin da. Da hast du mich. Da
hast du mich.“ Sein ganz offenes glührotes Gesicht, sein Kopf, der hin
und her schleuderte, die Mienen aufgelöst.

„Du, Marduk, sieh mich an. Ich habe schon viele Männer gehabt, weiße und
farbige. Ich möchte mit dir eine Wette eingehen. Ich weiß, du willst mit
mir kämpfen. Ich werde mit dir kämpfen. Wenn du mich zur Lust bewegst,
wenn du Lust in mich bringst, wenn ich erliege –“ – Sie hatte ihm das
Gesicht voll zugewandt, ihre Augen flimmerten, sie warf sich lachend auf
die Bank, klatschte die Hände zusammen, ganz leise klang ihr Lachen.
„Was ist dann?“ „Wer erliegt, Marduk, der muß weg.“ „Was meinst du?“ „Es
ist eine große Wette.“ Ihre blaugrauen Augen flimmerten und drehten
sich. In ihm schluchzte schlingerte es hin und her. Er war ihr dankbar;
ah, sie war ein Weib. „Nimmst du den Kampf auf?“ „Wohl, wohl, Marion.“

Sie standen in Umschlingung, sie kicherte zitterte: „Wir müssen die
Wette schließen. Ich glaube nichts. Ich weiß nichts. Dies ist die
Seligkeit, die ich habe. Wenn ich lache, so mußt du nicht glauben, daß
ich selig bin, weil ich am Ziel bin. Ja, ich bin selig, – und auch, weil
hier mein Kampfplatz ist. Weil du mein Kampfplatz bist. Hier bin ich zu
Haus. Dich wollte ich. Ich habe, habe dich unendlich gehaßt, ganz ohne
Maß. Mein Haß war mein Rückgrat. Jetzt hast du dich gestellt. Ich kann
dich nicht loslassen, ohne daß ich dich ganz bis in mein Mark hinein
gefühlt habe. Ohne daß du mit mir gekämpft hast. Wenn du mich nicht
zwingst, mußt du weg. Wer erliegt, muß weg.“ „Ja.“ „Verstehst du das;
der muß weg. So will ich es. Wenn ich dir erliege, wenn ich an dir
vergehe, sollst du mich bei der Kehle nehmen und umbringen. Oder was du
willst. Das soll geschehen. Es gibt keine Gnade. – Ich bin schon da.“

Sie hatte den Lichtknopf geschlagen, das Licht war erloschen, das Kleid
raschelte von ihr. „Ich bin da, Marduk, wo bleibst du.“ Eine ganz andere
Stimme klang aus ihm, er hörte sie nicht: „Du sollst nicht auf mich
warten.“ Sie griffen sich im Dunkeln an, warfen sich auf sein Bett. Das
hilflose Geschrei in ihm war verstummt, er hatte sichere Arme, er
wunderte sich nicht, woher er sie hatte, seine Hände waren fest wie sein
Nacken. „Du hältst das wohl für ein Spiel“, stöhnte sie, „mein Lieber,
da irrst du. Du glaubst wohl, ich sei ein verliebtes Weib, das sich
hinwirft. Du irrst. Ich habe Dutzende Männer gehabt, sage ich dir,
farbige und weiße, schöne zarte und starke. Die haben mich alle angefaßt
wie du. Ihr seid mir nichts. Ich habe sie weggeworfen. Ich gebe dir
meinen Schoß, du brauchst mich nicht zu zwingen. Du brauchst nicht
danach zu drängen. Ich rate dir, Marduk, habe Geduld, dir liegt daran zu
leben. Nicht wahr, du möchtest in diesem Zimmer sitzen, die Tafeln da
blinken auf, du gibst deine Zeichen, du hast deine Waffen, man kann
nichts gegen dich. Das – ist – in drei Minuten vorbei, Marduk!“ Der
Mensch, der sich sonst Marduk nannte, gab zurück: „Ich habe keine
Geduld. Du wagst es nicht.“ „Ich wag es nicht. Ich wag es nicht.
Vielleicht will ich mir noch den Augenblick verlängern mit dir. Zittere
ich etwa. Mit dir will ich ringen. Mit dir werde ich ringen.“ „Du hast
das Licht ausgeschlagen.“ Sie hatte seinen Mund gepackt, ihr Mund lag
auf seinem; sie stammelte zwischen seinen Zähnen. „Ich will mit dir
ringen, nicht mit dir sprechen. Du dummes Mannstier. Du, was bist du
denn. Haha, ich fühle dich, zottiger Kerl, bist du stolz auf diese wüste
Brust, daß dir ein Bart an den Lippen wächst. Laß dich in den Bart ganz
einhüllen. Ich habe schönere Dinge als du. Ich habe einen Busen, an dem
Kinder getrunken haben. Meine Haare sind lang. Fein und lang und weich
sind sie. Ich hab überall glatte Haut. Wenn ich gehe, auf meinen schönen
festen Schenkeln, sehen die dicken unflätigen Mannstiere hinter mir
her.“ „Warum hast du das Licht ausgeschlagen?“ „So ist es. Du kannst
sprechen, was du willst.“ „Ich werde dir sagen, wer ich bin. Laß meinen
Mund frei. Ich küsse dich nicht.“ „So sag es mir, so lang du noch
lebst.“ „Du Unband, du weiches warmes Wesen, ich hab nicht nötig dir zu
sagen wer ich bin. Du willst dich vor mir verstecken.“ Eine rasende
Angst zuckte, dunkelte in ihr auf: „Mein Gott, wer spricht da, mit wem
hab ich mich eingelassen? Was hab ich getan? Das wollte ich nicht.“ Und
dann wieder flutend: „Das wollte ich doch. Das will ich. Das willst du,
o Marion Divoise.“ Sie flehte: „Bist du, Marduk, der den Saal vertrieben
hat, ich will es hören.“ „Du weißt es.“ „Und willst du nicht fragen,
Marduk, o Marduk, wer ich bin. Willst du es nicht?“ „Balladeuse, wer du
bist, die Dutzende Männer gehabt hat, farbige und weiße, starke und
zarte, werde ich bald erfahren haben.“

Da schrie sie. Und wie er seine Lippen zwingend gegen ihren Mund preßte,
umschlang sie ihn. Eine dunkle wallende Verschwommenheit war in ihm, war
Marduk. Und in dem Weinen Toben Grimmen war die Gnade, die Seligkeit aus
der Balladeuse genommen. Sie hielten sich bewegungslos. „Ich habe dich,
Marduk. Du hast mich. Du willst es so. Wir entgehen einander nicht. Ich
habe dir die Wette angeboten; ich werde dich nicht um Gnade anflehen.
Ich bin gewappnet. Du möchtest mich mit deinen Knochen zermalmen. Du
mußt nicht glauben, daß du stärker bist als ich, du feiger Marduk,
schwacher Marduk; mich begnadigst du nicht.“ „Wenn ich dich sehen
könnte, Balladeuse. Wie gut, daß ich deine Stimme höre. Sprich nur
weiter.“ „Wie gut, daß ich dich höre, Marduk. Ich besinne mich wieder.
Daß ich dich nicht vergesse. Weißt du schon, warum ich dich
herausgefordert habe? Um dich zu demütigen. Um dich erbärmlich zu sehen.
Es wird mir in drei Minuten gelungen sein. Jetzt erschreckst du mich
nicht. Jetzt reiße ich den Vorhang von dir herunter.“ „Sprich nur
weiter, Balladeuse.“ „Jetzt willst du meinen Mund. Weil du ein Mörder
bist. Weil du nur Mord kennst. Und mich ersticken willst. Mein Mund ist
nicht für dich. Du möchtest träumen.“ „Ich werde aufstehen und einen
Dolch gegen deine feigen Worte nehmen.“ Sie jubelte: „Darauf wartete ich
schon. Darauf wartete ich. Marduk, tus doch. O tus doch.“ Er schlug mit
der Faust gegen die Wand; leiser Lichtschein kam von der Tür her.

Sein großer zerwühlter Kopf erhob sich, schnaubend, das verzerrte
Gesicht, die brennenden sie suchenden Augen. „Wer, wer will träumen,
Divoise? Wer träumt?“ Ihr Blick wurde starr. Dies war er, Marduk. An
diesem Leib hing sie. Diesen Rumpf hielten ihre Arme.

Und sie. Die Feueresse sie, die stumme überflutete, sagte nicht
„Seligkeit“; der heiße Atem strömte langsam aus ihr, aus diesem ruhenden
Leib, die Luft strömte ein, feucht glänzten die weißen Zähne. Weg riß es
ihn im Nu. Er schmolz. Das blitzrasch im Zickzack durch die grauen
Wolken irrende Flugzeug. Was ist Leben und Sterben. Sein Mund stand
offen. „Jetzt stirbst du, Marduk.“ „O Marion“, sagte es aus dem heraus,
der Marduk geheißen hatte, „ich werde jetzt sterben. Du – bist die
Seligkeit. Gott verzeih uns beiden.“

Nichts hörte und sah sie. Ein Zittern durchfloß sie, ein Schwirren
Dröhnen durch ihren Kopf. Er fühlte nicht, wie ihre Hände ihn von sich
stemmten, wie eine Kraft in ihre Muskeln trat, die sie nie gezeigt
hatten. Der dunkle brennende Kopf, der schnaubende sich erhebende Kopf,
Marduks Kopf war vor ihren Augen stehengeblieben. Ihre erblindeten Augen
hielten nur ihn fest. Die Seligkeit überstieg überschritt durchbrach es.
Der Kopf senkte sich über ihren Hals, an ihre Brust, durch die Rippen,
in ihre Brust hinein. Hinein in ihre Brust. Sie biß sich die gefühllose
Lippe durch. Schluckte schluchzte kurz auf. Dies war die Wette. Der
Schauer. Der Graus. Die Arme fielen von ihr. Tiefe Schwärze. Die
furchtbare eisenklirrende zerreißende Qual der Lust. Die streckte sie
auf das Laken hin.

Sie saß neben Marduk auf. Sie schüttelte sich. Im Dunkeln tastete sie
sich an die Bank. Marduks Stimme: „Wer geht?“ „Ich. Ich sitze hier. Ich
sitze auf der Bank.“ Nein, sie war nicht vor Marduk erlegen. Das, das
mußte etwas anderes sein. Das war etwas anderes, Entsetzliches. Sie sank
vor der Bank auf die Knie, sank flach über den Boden hin. In den Händen
etwas zu haben, etwas Weiches eine Puppe ein Kind. Sie streichelte den
Boden. „Auf, auf“, weinte es in ihr; „ich will nicht leben.“

Sie taumelte, ging sehr leise auf den nackten Sohlen.

„Wer geht da? Du, sieh dich vor an den Wänden.“ „Ich will nur an das
Fenster gehen.“ Am Fenster aber stand sie, winselte schluchzte die
Balladeuse im geschlossenen Mund, trommelte mit den Fäusten gegen die
Wand. Wimmernd ächzend riß sie das Fenster gegen die schwarze Nacht auf,
lag mit dem Leib halb über der Umrahmung; tauchte, den Kopf voran, sich
tiefer. Hob die Beine an, kreischend. Als Marduk anlief, kippte sie;
schlugen die Beine hoch. Das schwarze große Fenster war leer.

                   *       *       *       *       *

Marduk stand mitten im Zimmer. Schüttelte den Kopf. Ging zum Fenster,
strich am Brett. Schüttelte an sich. Dann. Runzelte die Stirn, hob die
Fäuste, zog sich, das Kinn anhebend, knirschend auf den Boden ein. Er
bückte sich mit dem Mund auf den Boden, drückte den Mund an. Sein
Kreischen drang durch. Die Wache lief an auf dem Gange. Der Hauptmann
der Wache klopfte schlug an die Tür, öffnete trat ein. Hob Marduk,
zuspringend, auf, der mit gerunzelter Stirn an ihm hing, vor sich
stierte und schrie. Er setzte ihn auf das Bett, kleidete ihn an. Führte
den schüttelnden zitternden drängenden Mann durch das Zimmer. Der ging
nur bis zur Zimmermitte und dann rasch zurück, fragte immer: „Was tu ich
hier.“ Plötzlich krampfte er sich zusammen, machte sich steif, ließ den
Hauptmann los, schrie die Arme weitend: „Wache, Wache!“ „Konsul, ich bin
hier.“ „Lärm. Lärm. Ich will Lärm.“ Und gegen die Metallrückwand seines
Tisches schlug er mit der Faust: „Ich will Lärm. So. Lärm.“

Er stürzte neben dem Hauptmann auf den nächtigen Hof. Man hatte die
Zerschmetterte fortgetragen. Er schüttelte brüllte: „Lärm, Lärm.“ Die
Soldaten schlugen gegen Blechschirme. Sie schmetterten mit Eisenstäben
gegen die Platten. Es war nicht genug. In einem schwarzen engen, immer
dichteren Kreis Männer stand er, die die Platten schlugen. Wehklagend,
die Arme hochstreckend stürzte er über sich. Sie durften den Rest der
Nacht nicht nachgeben. Gespannt stand er in dem Kreis, zitterte schrie
näherte sich den Männern im Zickzack. Das Tosen scholl in die Stadt
hinein.

Als es hell wurde, ließ er ein Bett in ein leeres Zimmer tragen. Da lag
er bis zum Mittag; der schwarze stille Hauptmann wartete bei ihm. Diesen
Mann ließ Marduk nicht aus dem Zimmer. Vor ihm weinte keuchte lechzte er
sich aus ohne Scham. Am Mittag verließen sie das Zimmer.

Die schneeige Gestalt Jonathans an der ersten Treppe. Jonathan stürzte
an Marduk, der die Zähne zusammenbiß, herunter, hielt sein Knie umfaßt.
Es war, wie er den Kopf anlegte, als ob er um Verzeihung oder Gnade
flehte. Ungeduldig bewegte der Mann oben die Knie, dachte nicht, warum
der junge Mensch niederfiel. Den Umhang raffend stieg er auf sein
Zimmer. „Wir werden – arbeiten“ sagte er mit übergroßen glasigen Augen
zu dem Hauptmann. Sprach empfing ordnete. Dachte zwischendurch: „Ich
höre nichts. Ich sehe nichts. Was geht vor.“

Leichenblaß matt schlich gegen Abend Desir, der sanfte Freund der
Balladeuse, in das Gebäude. Er wollte nicht zu Marduk. Als der von ihm
hörte, ließ er ihn holen. Sie standen sich gegenüber. Dem stummen Desir
quollen die Tränen aus den Augen. Er ging zum Fenster, aus dem sie
gefallen war, streichelte das Brett daran, warf sich am Fenster auf die
Knie, schluchzte von Marduk abgewandt. „Du denkst, Desir“ zischte er
plötzlich, „ich hätte Marion umgebracht.“ Der stammelte: „Ich weiß
nicht, was ich denken soll.“ „Komm her, Desir, komm.“ Und wie er
anschlich, betrachtete ihn Marduk lange, hielt sich, den Mann
umschlingend, an ihm fest, murmelte: „Sie, sie – war gut zu dir. Du hast
ihr wohlgetan. Es war gut, Desir.“ „Warum ist sie gestorben?“ „Nicht
fragen, Desir. Nicht fragen.“ Und hatte den andern schon losgelassen,
war schüttelnd auf den Boden gefallen, schrie stopfte sich hilflos ein
Tuch in den Mund; Desir hielt ihn kniend, selber weinend.

Am nächsten Morgen wurde der zerbrochene Körper der Balladeuse
verbrannt. Marduk mit dem schwarzen Hauptmann und Desir wohnten der
Verbrennung bei. „Ich möchte dir etwas Gutes antun“ preßte, wie sie die
Halle verließen, Marduk hervor neben dem leichenähnlichen Desir. „Du
wirst dann, ich möchte dich darum bitten, die Stadt verlassen. Geh weit
weg, mit dem Kinde. Ich werde es dir ermöglichen.“ „Was habe ich dir
getan, Marduk?“ „Nichts. Du wirst mir die Liebe antun, da dich nichts an
die Stadt bindet, wegzugehen. Du machst mir eine Freude, Desir. Du wirst
es tun.“ Der blickte den Konsul an, der obwohl er starr ging, so weich
zu ihm sprach wie nie. An der Treppe des Ratsgebäudes stürzte Desir an
Marduk herunter: „Mir ist ein großes Leid geschehn.“ „Ich weiß, ich
weiß“ flüsterte Marduk „aber du wirst die Stadt verlassen.“ Er nahm den
andern beim Arm. Im Vorraum, in der einsamen blumenbestellten Glashalle,
drückte er ihn an sich, hauchend: „Jetzt ist sie weg, weg, Desir. Die
Balladeuse ist weg. Jetzt ist es leer. Sie ist Asche. Asche. Asche. Zu
mir ist sie gekommen.“ Er zitterte fror knirschte mit den Zähnen: „Warum
ist sie zu mir gekommen? Was hab ich ihr getan, daß sie – wegging? Ich
habe ihr nichts getan. Sag mir, du hast sie gekannt: was hat sie von mir
gewollt. Sie hat mich zerbrochen und dann ist sie weggegangen. Warum,
warum?“ „Sie sagte, daß sie dich haßte, Marduk.“ „Ich habe ihr nichts
getan. Sie ist dagewesen. Sie hätte gehen können.“ Marduk hatte den
andern losgelassen, schüttelte mit den Armen: „Geh weg, Desir. Ich will
gar keine Antwort. Steh hier nicht.“ Desir mit verträumten Augen wankte
zur Tür. Marduk rang sich hinter ihm ab: „Desir. Trage es mir nicht
nach. Komm noch einmal. Komm.“ Er umarmte ihn. „Du hast sie nicht
geschickt. Meine Feinde haben sie nicht geschickt, Desir. Was war in
ihr. Warum mußte sie davongehen. Und du hast sie lieb gehabt. Lieb.
Lieb. Bist jahrelang bei ihr gewesen.“ „Was hast du mit ihr gemacht,
Marduk?“ „Nichts, nichts, ich schwöre. Ich bin ja zerbrochen,
zerbrochen. Siehst du es nicht.“ Und das hilflose Zittern. Desir löste
sich, ging. Verließ die Stadtlandschaft, wanderte im Westen herum. Man
hörte sehr früh davon, daß er gegen den verbrecherischen Marduk
agitierte.

Die Politik des geschlagenen Marduk änderte sich nicht. Schwächer fühlte
man ein Jahr lang seine Hand über der Stadt. In grämlicher Bitterkeit
vegetierte er, fast von Monat zu Monat stärker ergrauend. Er schien ohne
innere Anteilnahme, nur aus Gewohnheit die Dinge weiterzutreiben. Die
näher bei ihm waren, wußten, daß er auf seinem Zimmer oft verzweifelt
winselte. Einige hatten damals den Eindruck, es genüge, ihm auf die
Finger zu schlagen, um seine Richtung zu verändern. Man vernachlässigte
herausfordernd den Abbau der Mekifabriken, betrieb die Niederlegung von
Gebäudereihen, den Aufschluß der Bodenerträge.

Er hatte schon lange nichts von Jonathan gehört. In dem Zorn seiner
Tätigkeit hatte er nicht mehr den Hinweis auf diesen Schmerz bedurft.
Breiter schwerer war Marduk geworden, mit eingezogenem Kopf, kleinen
zwinkernden Augen, grauen Haarbüscheln an den Schläfen. „Ich bin schon
grau, Jonathan, findest du. Und du, laß dich sehen.“ Schlank und reif
Jonathan, im langen Silbermantel; zögernd leicht furchtsam bot er dem
Älteren die Hand. „Du sollst mir helfen, Jonathan. Ich hab wenig Hilfe.“
Ob er bedroht sei. „Nein, man bedroht mich nicht.“ Lächelnd matt setzte
sich Marduk; seine Zimmerwand schimmerte weißlich, als sei sie mit Blech
beschlagen: „Was treibst du Jonathan, den Tag über, den Monat über.“
„Den Tag über?“ Er arbeitete wie viele andere an einem Moor; es sei
keine kleine Arbeit. „Du machst mir einen Vorwurf. Du meinst, es sei
eigentlich nicht nötig, ich könnte die Fabriken erweitern.“ „Nicht,
Marduk. Ich meine das nicht.“ „Hast du andere Wünsche?“ Als Jonathan
schwieg, ihn staunend ansah, saß Marduk schweigend matt da. Die Wache
öffnete die Tür; ein bräunlicher Mann, Senator einer westlichen
Stadtschaft, trat ein, verneigte sich tief vor Marduk, wagte kaum, sich
aufzurichten. Marduk fragte ihn in seiner grämlichen Art nach Namen
Absichten. Er wollte nur Marduk sehen, sich vor ihm verneigen. „So“
lächelte Marduk bitter „dazu kommst du her. Das nützt mir nichts, mein
Freund. Das stört mich. Ihr braucht euch vor mir nicht sehen zu lassen.
Ich will dir etwas sagen: ihr taugt nichts.“ Und als der gegangen war,
murrte er, er werde sich in Stein aushauen lassen: dann hätten sie den
Stoff, der sie seien, und sie könnten sich davor verbeugen, soviel sie
wollten. Es ereignete sich, daß nach Jahren zum erstenmal Marduk in
einer Senatssitzung erschien, unangemeldet, ohne ein Wort zu sprechen
saß und wieder ging. Öfter kam er, horchte ging. Sein sorgenvolles
ruheloses Umherwandern in der Stadtschaft. Er wurde einmal auf eine
ungeklärte Weise, wahrscheinlich durch ein ungesehenes Gas, im Nordteil
der Stadt betäubt und noch rechtzeitig von der ihm nachspürenden Wache
aufgefunden. Als Jonathan ihn besuchte, seine helle Verzweiflung: „Sitz
ich nicht wie in einer Falle. Wie lange dauert es und sie schlägt zu.
Sie belauern mich von allen Seiten. Sie haben Waffen. Sie arbeiten. Ich
kann nichts tun. Nicht einmal das kann ich.“

Und immer wieder: „Nicht einmal das.“ Er drängte Jonathan plötzlich
ängstlich zu sehen, ob jemand vor der Tür sei, und als Jonathan
zurückkam, brach er in einen Weinkrampf aus. „Sie können nichts. Ich
wache über sie. Vor dem Uralischen Krieg war es nichts und jetzt ist es
nichts. Wir sollen alle verderben. Weißt du, daß ich dich schon lange
nicht gesehen habe. Weißt du, welchen Tag wir heut schreiben.“ Er
studierte, auf dem Bett sitzend, Jonathans Gesicht. „Heute ist der
Jahrestag meines Einzugs in die Stadt.“ „Ja.“ „Komm näher, Jonathan. Was
war noch damals. Laß mich besinnen. Damals ließ ich dich rufen, ich ließ
dich nicht fesseln. Dann habe ich mit dir eine – Ehe geschlossen.“ „Laß
das, Marduk.“ „Ich weiß es noch gut. Es tut mir wohl daran zu denken,
lieber Bruder. Es war eine finstere schreckliche Zeit. Aber sie war gut.
Ich war der Nachfolger Markes.“ „Ich will gehen, Marduk, ich will gehen.
Ich bitte dich, laß mich gehen.“ Marduk der Graubärtige zitterte. Er sah
begierig bang den Jungen an, fühlte, daß er sich den Tod wollte, daß er
ihn schon halb litt. Sein Körper schüttelte; er murmelte: „Wie die
Versuchung sich mir immer wieder nähert. Jetzt kommt sie von dieser
Seite. Ich hab es nicht erwartet.“ Stark atmend schob er an einer Vase
hin und her, drückte sie dann klammernd fest auf den Tisch. Jonathans
zarthäutiges Gesicht loderte, die linke Hand hielt er sich vor die
Stirn. „Es ist gut, Jonathan, laß nur sein. Ich will dir zu Hilfe
kommen. Ich will dir zeigen, warum du nicht gut von mir denkst.“ Er zog
ihn durch die Tür über den Gang ans Fenster: „Hier siehst du es. Da
liegt die Stadt. Du denkst, wie die Straßen früher gefüllt waren. Wie
die Häuser aussahen und was ich alles angerichtet habe. Dies ist die
Stadt. Sie versumpft verwahrlost verfällt. Das ist Marduks Gesicht. Sag
es mir geradeheraus. Ich bin ein geduldiger Zuhörer.“ Stiller blickte
ihn der Jüngere an, wie auf den bitteren bartumwucherten Mund ein
grellroter Sonnenstrahl fiel. „Was du denkst, Jonathan, ist mir keine
Neuigkeit. Ist kein Geheimnis. Viele denken es. Wenn ich keine Waffen
hätte, wäre ich seit Jahren verschwunden. Sie beschuldigen mich, daß ich
sie zugrunde richte, weil ich sie auf die Äcker treibe.“ „Ich
beschuldige dich nicht, Marduk. Ich bitte dich ja, daß du mir
verzeihst.“ „Ja ich weiß, du hattest mich schon einmal um Verzeihung
gebeten. Auf der Treppe. Oder was war es. Damals. Du fielst, glaub ich,
vor mir nieder. Laß gut sein.“ Er zog sich vom Fenster zurück, in das
Zimmer, hielt eine Stuhllehne stumm eine Zeit gepackt; aus seinem Mund
kam dann: „Ich sage dir, ich bin nicht schuld an dieser Erbärmlichkeit.
Nicht ich. Ich kann nicht mehr tun. Wie ich den Stuhl in das Zimmer
werfe, so sind die Menschen: sie können nichts als poltern und
hinfallen, wenn man sie anfaßt. Uns fehlt etwas. Was fehlt uns. Mir ist
ja nichts mehr gegeben, Jonathan. Ich kann ja nicht mehr. Sie sind schon
zu Tausenden weggelaufen. Zum Schluß werden sie meinen Kopf nehmen. Als
wenn sie dann etwas hätten. Ich bin imstande ihnen nachzugeben. Aber –
ich tu es nicht. Bin ich schlecht, so gibt es noch Schlechteres als
mich. Ich irre herum, aber über ihnen bin ich doch. – Ich bin schlecht,
nicht wahr Jonathan?“ Er legte hauchend seine Stirn auf die Schulter des
andern. „Du bist nicht schlecht. Wenn ich wüßte, wie ich helfen könnte.“
„Du zwingst dich. Du sagst mir etwas Gutes, Jonathan, weil ich dir leid
tue. Im Grunde meinst du etwas anderes. Bleib bei mir stehen. Du mein
Bruder, der mich haßt.“ „Ich möchte dir helfen, Marduk, mit allem, was
ich kann. Du mußt mir zeigen. Ich will zu dir kommen und neben dir
sitzen, Marduk, halt mich nicht für ein Kind. Ich bin dir nicht gram.
Ich finde, wahrhaft, in mir nichts an Gram gegen dich. Ich habe dir
vieles abzubitten. Gib mir Gelegenheit, Marduk, mich dir gut zu
erweisen. Wer bist du, wer bist du, du armer Mensch.“ „Nicht so
sprechen, nicht so sprechen“, zitterte der andere, „bleib immer so
stehen bei mir. Hab ich mich vor dir enthüllt als Armer. Es sind alle
arm. Nicht ich allein. Wir verderben alle. Wo ist Rettung.“ Er löste
sich von Jonathan. Mit vibrierendem Gesicht, zwinkernden Augen, bösen
kleinen Blicken auf den Jungen ging er um den runden Tisch, stierte von
drüben den andern an: „Es ist etwas faul bei mir. Ich bleibe noch eine
Weile hier im Haus. Das ist mein Mauseloch. Ich helf mir schon.
Jonathan, ich helf mir schon allein. Sieh meine grauen Haare an. Vor
einigen Jahren waren sie wellig und glatt. Jetzt stehen sie wie Borsten
auf. Das ist das Schicksal dieses Landes. Man wird mich vielleicht bald
aus dem Haus heraustragen. – Es ist genug jetzt. Ich fürchte, ich werde
zum Schluß meines Lebens noch sehr böse.“

Als Jonathan ihm zum Abschied die Hand gab, hielt Marduk diese glatte
warme Hand eine Weile mit seinen beiden fest. Mit einer leichten
zwangmäßigen Gegenbewegung entzog sie ihm der Jüngere. „Ich werde ihn
nicht mehr besuchen“, dachte Jonathan, als er frierend die Treppe
herunterstieg. Entschlossen in tiefer Seele war er. „Niemals, niemals
mehr werde ich ihn besuchen. Und wenn er mich tötet, mich ins Gefängnis
steckt, alle Martern an mir vollstrecken läßt. Ich werde ihn nie
besuchen.“ Ein riesengroßer Abscheu vor Marduk ging durch ihn. Er war
hingerissen von der Gewalt dieses Abscheus. Und als er draußen war, lief
er seitlich in stille Parkanlagen. Lief weinte schlug sich die Brust vor
Widerwillen Empörung grenzenloser Scham. „Die Schmach“, dachte er, „die
mir dieser Mensch angetan hat.“ Ein Ekel schwamm in seinem Mund. Er spie
es von sich. Drängte langsamer zum Park hinaus. Als er wieder Menschen
sah, konnte seine Brust tief und voll atmen. Er verachtete Marduk. „Ich
gehe niemals zu ihm. Es wäre wirklich gut, man beseitigte diesen
Graukopf. Der Staat könnte nur gewinnen. Alle könnten dabei gewinnen.“

In der Tat wankte Marduk damals. Er, der sonst einsam auf den Zentralen
saß, ging mit deutlicher Unsicherheit herum, sah hier zu, dort zu,
fragte. Es geschah oft, daß er von seinen Wachen gebeten wurde, auf sich
zu achten, weil er sich in schlimme Lagen begab. Man sah den Konsul mit
einem Hund durch die Straßen gehen, einem großen starken Wesen. Das
Verschwinden des Tieres beendete diese gefährliche Epoche Marduks. Da
verließ er die Straßen. Er war der alte immer Entschlossene, dem, wie
viele sagten, an nichts so gelegen war wie an der raschen Entvölkerung
der Stadtlandschaft.




                             Viertes Buch.

                              Die Täuscher


Weich und schlank, mit einer gebundenen, oft sprühenden, leicht sich
erhebenden Freudigkeit ging Jonathan durch das Ratsgebäude. Bänder und
Federn hingen an ihm. Er galt als der Trabant Marduks. Etwas von dem
Schrecken, den der Konsul einflößte, ging auf ihn über. Es machte ihm
Freude, den Schrecken zu gebrauchen. Wenn er in der Dämmerung durch die
Straßen schlenderte, die leerer lichtloser lärmloser waren als früher,
fiel ihm öfter seine Mutter ein. Vor seinem stolzen in sich gekehrten
Blick stand sie, nicht mehr mit klaffenden Schultern, bewegungslos
hängenden Armen. Unter seinen stolzen schmelzenden Blicken, unter den
leidenden schmerzgesättigten heischenden bewußten Blicken gab sie nach.
Von seinem Mund, seinen Wangen floß es her: sie war eine ferne sich weit
hinbreitende grüne Landschaft, Wipfel Äste und Laub, Himmel darüber. Das
war, er fühlte gesättigt, seine Mutter.

Als er einmal dem Ratsgebäude sich näherte, – der Ernst umschwebte ihn,
seinen silbernen Mantel hatte er eng an sich gezogen, – saß da eine
gelbbraune junge Person, die geschlafen hatte und ihn gerade auf sich
zukommen sah. In einem jähen unsinnigen Schrecken wollte sie in das
Gebäude. Das war verschlossen. Sie lief im Augenblick, stürzte die
Straße entlang. Erst da achtete Jonathan auf, sah sich nach allen Seiten
um, wer das Mädchen verfolgte. Verblüfft sah er nichts. Er war es
selbst. Er rannte halb hinter ihr her ohne zu wollen. Straßen nach
Straßen. Das Mädchen lief angstvoll, schrie. Seitlich Gehende erkannten
Jonathan, blieben lachend stehen. Er stürzte lang hin. Sie stand im
Augenblick erschreckt, rannte zaghaft, sich oft umdrehend, weiter. Er
war verärgert, sein Knie brannte. Er verstand das Ganze nicht. Jäh
stürzte er nach. Sie lief langsamer im Kreise. Er warf sie von rückwärts
auf das Pflaster. Erbittert bückte er sich über sie, die auf dem Gesicht
lag, zog sie an dem Kragenausschnitt hoch. Sie wehrte sich nicht, hielt
den Arm vor das Gesicht. Er schrie, was sie am Ratsgebäude zu tun gehabt
hätte. Sie wimmerte, ohne das Gesicht zu zeigen, daß sie Hausgehilfin
sei und den Hund der Frau beschädigt hätte und die Frau hätte
geschworen, sie gehe direkt zu Marduk und werde Anzeige erstatten.
Jonathan fiel es ein zu sagen, die Frau hätte schon Anzeige erstattet
und er werde sie vor Marduk führen. Sie kam nicht von der Stelle,
bettelte, zeigte ihr fremdländisch faltenlos linienlos glattes Gesicht,
die leicht abgeplattete Nase, einen weiten törichten Mund. Er verbat
sich ihr Reden, sie mußte mit. Mit heimlicher Freude führte er sie
streng durch die Straßen. Dann gab er sie in ihrem Hause ab, wo er
Furcht erregte durch die Bemerkung, er sei von Marduk geschickt. Wie es
dem Hunde gehe. Die Leute zeigten furchtsam das Tier, das hinkte. Er
erklärte, daß Marduk sein Augenmerk neuerdings stark auf Hunde richte.
Man dürfe nicht glauben mit dem Vieh umzugehen, als sei es beliebiges
Sacheigentum. Einige Tage ging er noch hin, ließ sich, scheinbar
sachverständig, den Hund zeigen. Einen Heilkundigen brachte er mit. Der
katzbuckelte vor Jonathan, konstatierte an dem Tier mehrere Krankheiten;
Jonathan wünschte, daß er das Tier behandle.

Abende und Nachmittage verbrachte Marduks Freund jetzt in dieser
Gesellschaft. Eine ganze Zahl zerlumpter Frauen und Männer saßen da
zusammen, rauchten diskutierten. Es waren Leute, die sich nicht der
schweren Arbeit zuwenden wollten, nicht den Entschluß aufbrachten
auszuwandern, auch viele Kranke. Solche Ansammlungen waren viel in der
Stadt. In den Jahren von Marduk war die Stadtlandschaft ein halbes
Feldlager. Es kam wenig zu Gewalttätigkeiten; Marduks Horden zogen stark
durch die Anlagen.

Damals trat Berlin, das sonst in Häusern und Fabriken hockte, ganz auf
die Felder und Plätze. Die Menschen nahmen Fühlung zueinander. Ein
Gefühl der Unsicherheit und Unwirklichkeit lag auf allen.

In diesem Jahr erlebte Jonathan Dinge von einer Schönheit und Süße, wie
er sie nie gekannt hatte. Er nahm Elina, das Mädchen, das er verfolgt
hatte, zu sich, verließ mit ihr die Stadt. Durch Hamburg Frankfurt Genf,
die südlichen Stadtlandschaften fuhr er. Die erregtere Luft. Die
heftigen ungebundenen umeinander wallenden Menschen. Spöttisch hörte er
überall die tiefe Ehrfurcht vor Marduk. Mit ängstlicher Neugier wurde er
nach den Dingen Berlins befragt. Von dem Augenblick an, wo das junge
zahme Wesen, Elina, sich an ihn hielt, hatte er keinen Sinn mehr für die
Dinge der Stadt. Er war nach einem Monat, als er am Mainufer mit ihr
saß, erschüttert von dem Gedanken an die Ereignisse, die hinter ihm
lagen, von dem Segen, der sich an ihm erfüllte. „In was für Schrecken
hat er mich hineingezwungen“, flüsterte er, während sie in der
sommerlichen Luft sich neben ihm auf der Uferwiese ausstreckte und seine
Hand mitzog, „ich kann sie kaum ausdenken, Elina. Sag, Elina, kommt es
wohl vor, daß Menschen aus der Hölle entlassen werden, in ein anderes
Stück der Ewigkeit, und daß sie das Gedächtnis an das Frühere behalten?
So geht es mir.“ „Aber du vergißt doch schon, Jonathan.“ „Ja, es scheint
mir ganz unglaubhaft, was ich getrieben habe, Elina. Laß mich einmal die
Augen zumachen; gib mir auch deine andere Hand. Es ist wunderschön hier.
Wie ist es möglich, daß solche Dinge geschehen wie die, die ich erlebt
habe! Wie können Menschen sich so bewegen! Ich! Ich verstehe nichts,
nichts mehr davon. Daß ich in der Stadt bleiben konnte, daß ich mit ihm
umging. Wahrhaftig, er hat recht: ich wollte ihn sogar umbringen. Was
ging er mich nur an. Ich brauchte doch nur ein paar Schritt
vorbeizugehen.“ „Sprich doch nicht von ihm. Warum sprichst du nur von
ihm, Jonathan. Ich kann dir viel schöne Dinge erzählen. Ich werde dir
erzählen – von der armen dummen Elina, die einmal auf einer Steintreppe
saß und an einen Hund dachte.“ „Nein, es ist nicht nötig, Elina. Es ist
ja alles vorbei. Wie vorbei. Ich traure ja beinah um ihn. Er ist noch
drin, in der Hölle.“ „Leg dich zu mir herunter. Du bist viel schöner als
ich bin. Sag mir, was ich bin. Erzähl mir von mir. Ich möchte etwas von
mir hören.“ Jonathan, dem sie den Kopf auf den Schoß legte, lachte
herunter: „Wir sitzen wie ein Märchen auf der Wiese.“ „Wie heißt das
Märchen?“ „Ich weiß noch nicht. Früher habe ich oft mit Frauen gespielt.
Es war nicht wie mit dir.“ „Ich bin anders, ich bin besser?“ „Viel
besser. Warum siehst du mich an. Du glaubst es nicht. Die Frauen –“
„Nun? Sie waren viel schöner als ich.“ „Ich kann mich nicht mehr
besinnen, wie sie waren. Aber du bist wie eine Glocke in einer Kirche am
Sonntag. Man sieht sie nicht, man hört nur etwas Luftartiges von ihr.
Man sagt, es ist die Glocke, die läutet. Und wer fromm ist, geht drauf
zu, wo der Klang herkommt. Und selbst wenn man in der Kirche sitzt,
sieht man die Glocke nicht, die läutet, kann eigentlich gar nicht sagen,
daß es die Glocke ist, die läutet. Du bist da, ich höre und sehe dich;
ich sitze auf der Wiese am Main. Ich kann dich genau beschreiben. Das
bist du.“

Sie richtete sich auf, zog die Unterlippe herunter, nahm ihre Hände weg:
„Im Grunde ist es dir dann gleich, wer ich bin. Brauchst dich doch nicht
um mich kümmern. Bimmele dir etwas vor, und du sagst: es bimmelt und
bist zufrieden.“ „Eben.“ „So kann ich sagen was ich will? Auch nichts
sagen? Vielleicht auch weggehen?“ „Nicht weggehen. Du kannst dich rühren
und bewegen und du erfreust mich. Gott, sagt der und der, hat jedes Haar
auf dem Kopfe gezählt. Ich auch. Komm her. Ich habe jedes Haar, jede
Strähne gezählt, kenne sie ganz genau, besser als der Gott, denn sie
sind mein. Und deine Nase und dein Mund und deine Füße in roten
Strümpfen und dein Kleid: das bist alles du und ich brauch gar nicht
drüber nachdenken.“

„Von dir aber kann ich sagen, Jonathan, wer du bist.“ „Ach tu es nicht.“
„Warum nicht. Ich kann es doch. Ich kann es dir mit zwei drei Worten
ganz genau beschreiben. So genau, daß jeder gleich weiß, wer es ist und
sagt, das bist du.“ „So sag.“ „Du bist Elinens liebster Mensch. Du bist
meine Freude. Mein trüber Himmel und mein sonniger Himmel. Mein Jäger
mein Räuber mein Wald mein Haus meine Stube mein kleines Kissen. Meine
zerbrochene Scheibe, meine ganze Scheibe. Ich kann dich streicheln und
du gehörst zu meiner Haut zu meiner Hand. Mein Auge mein Ohr meine Stirn
meine Brust. Du alles. Nun weißt du, wer du bist.“ Sie hielten sich. Er
lächelte, während sie die Linien seines feinen Gesichts mit Küssen
nachzog und über seinen Augen lange stillhielt. „Mach die Augen auf“,
rief sie, „du träumst ja schon wieder.“ „Nur schöne Dinge, Elina. Ich
dachte, wie du mich in das Haus gesperrt hast, als die Leute auf mich
losgingen, weil sie Marduks Freund nicht wollten. Da hast du den
Schlüssel verloren und mußtest mir zum Fenster hinaushelfen. Ich bin
statt auf deine Schulter zu steigen an dir vorbeigesprungen, auf meinen
Arm.“ „Der wieder gut ist.“ „Damals habe ich mich zum ersten Male, in
deinem Zimmer, nach dir gesehnt. Du solltest kommen, dacht ich mir;
Marduk verdirbt mich. Jetzt ist die Stunde für dich, die mich schon
eingesperrt hat für sich. Aber es war still. Du kamst nicht.“ „Ich hab
die Schlüssel nie wiedergefunden.“ „Und ich freute mich, wie ich dich
weinen und betteln hörte draußen. Kein Wort hab ich gesagt. Mit dem
Gesicht lag ich an dem Türholz. Eingesperrt war ich, aber frei. Freier
Jonathan. Nach einigen Stunden war er auch frei.“ „Nun sind die Augen
wieder auf.“

Sie wohnten nahe dieser Wiese in einem Gehölz, zwei Tage, in einem
künstlichen Haus, wie es Lustreisende damals viel brauchten. Das Haus
oder Zelt bestand aus gazeartigen Tüchern, die man an einem Gestell
befestigte, das nicht dicker als ein Streichholz war. Das Gestell war
aus leichtestem starken Metall. Sie setzten, wo es ihnen wohlgefiel, aus
ihren Tornistern das Gestell auf den Boden. Eine Gasflasche wurde
angeschraubt und leicht erwärmt. Die doppelwandige Gaze prallte Seite an
Seite hoch, stand fest und hart wie aus Beton. Fußboden und Decken
wurden so errichtet. Fenster und Türen, schwarz oder durchsichtig,
konnten eingefügt werden. Das einzimmrige Häuschen wurde wie ein Schiff
verankert. Und überall in schönen Gegenden fand man Pflöcke mit Ketten
und Zeichen, die die nächsten Ankerplätze angaben. Aus Fußboden und Wand
konnten bei manchen dieser Häuser Betterhebungen vorgetrieben werden aus
polsterartiger Substanz, Schrankvertiefungen Bankerhöhungen.

Jonathan wohnte da mit Elina. Sie trug an ihrem Körper mit Freuden ein
Hemd, das sie sich in Frankfurt gekauft hatte. Sie hatte es unbemerkt
vor Jonathan gekauft. Es war in der Stadtschaft als ein zauberhafter
feiner Stoff von den Frauen geheimnisvoll angepriesen. Ein weicher Stoff
war es, vom Aussehen dünnster Fischschuppen, ein lebendes Gewebe, das
man wie Perlen auf warmer feuchter Haut trug, mit deren Atmung es
gedieh. Dann teilten sich die Zellen, Myriaden. Eine Haut unter der
ersten erschien, dichter enger an der menschlichen Haut, der sie auflag,
über der sie kaum ablösbar hing. Die obere Haut trocknete ein, stäubte
ab. Weiß war die Farbe des Hemdes, das man kaufte. Nach einer Woche trat
unter dem Ergrauen und Abschilfern des Mutterhemdes eine grüne Farbe
hervor. Dann vollzog sich der Vorgang, der ein Generationswechsel war,
weiter; rot trat hinzu, violettes Schillern. Die Moosstoffe, aus
botanischen Versuchsstätten, waren sehr sorgsam zu pflegen.

Er saß bei ihr am Bett. „Elina, komm nach Berlin.“ Elina war heißer und
fremder geworden. „Ich mag nicht. Es ist hier viel schöner. Du brauchst
längere Zeit, um alles zu vergessen.“ „Komm Elina.“ „Ich mag nicht. Was
forderst du von mir;“ sie warf den Kopf zurück. „Hätte ich die Reise
nicht mit dir gemacht.“ Sie lachte gurrend: „Seid Ihr ängstlich, daß Ihr
Euch nicht in fremde Städte wagt. Du und Marduk. Aber Marduk weiß noch,
was er tut. Er hat seine Waffen seine Maschinen. Von uns fordert er
Dummheit. Werdet wie die Kinder. Ich mag nicht nach Berlin.“ Sie trug
über dem fremdartigen Hemd ihr eigenes aus Leinen. Die Haut ihrer bloßen
schlanken Arme war bräunlich; die Härchen darauf schimmerten golden. Und
wie sie den Arm abhob, das weite Hemd zurückfiel, die Schulter freigab,
bückte sich Jonathan vor: „Was hast du da? Was trägst du für eine
Jacke?“ „Eine Jacke? Ach!“ Sie lachte; zugleich wurde ihr Hals rot. „Es
ist mein Hemd. Du hast es noch nicht gesehen. Ich habe es in der Stadt
gekauft.“ „Ein grünes Hemd. Du hast es gekauft. Ich sagte, ich mag es
nicht.“ „Jetzt ist es grün. Dann wird es rot, vielleicht blau. Das Obere
schilfert immer mehr ab. Weißt du, es legt sich immer dichter an. Als
wenn es mit Gummi angeklebt wird. Man merkt es gar nicht. Es wächst fast
an.“ „Ach.“ Er staunte. Sie saß hoch, ihre Brust lächelnd entblößend. Er
ging still herum. Am Abend wurde er heftiger und sie gab nach. Sie
dachte an nichts, freute sich über seine Gereiztheit: „Bist du ein Kind.
Ich soll hier weg. Es beißt uns keiner.“ „Ja, ja“, er schüttelte sich,
„ich bitte dich, ich flehe, komm weg.“

Sie legten das Haus zusammen. Und wie sie nach Berlin geflogen waren, in
seinem Zimmer saßen, zog er ihr die Armspange ab, küßte die Spange,
legte sie an seine Wange, band sie sich um. Ihre Schuhe knöpfte er auf,
die Strümpfe zog er herunter, rieb die kalten Füße zwischen seinen Knien
mit den Händen warm. Sie sah vergnügt, zum Kichern geneigt, von oben zu.
Den Rücken machte sie krumm, die Arme schlug sie sich vor Lust an den
Hals, als er ihr das Mieder öffnen wollte. Sie sprang davon. Lag im
Bett, zugedeckt bis an die Ohren. Und als er „Elina“ rief, sang sie
unter der Decke: „Ich höre nichts. Leg dich schlafen.“ Sie trällerte
„Jonathan“, als er sich neben sie hinstreckte, ihren Hals umschlang.
Seine Hand lag auf ihrem Nacken. „Was hast du an?“ „Ein Hemd.“ „Das ist
das Hemd.“ „Das grüne. Vielleicht ist es schon rot.“ „Wozu hat es denn
Farben, wenn ich sie nun nicht sehen soll. Du bist so lustig geworden.“
„Nicht? Und das ist doch schön.“ „Warum bist du so lustig?“ „Weil ich’s
sein will. Mein Hemd zeig ich dir nicht.“ Sein Arm zog sich zurück,
traurig sagte er: „Wie bist du zu mir.“ Und wie seine Stimme verklungen
war, horchte sie, ob er noch etwas sagte. Aber er schwieg von da. Sie
tastete mit ihrer Hand nach ihm. Er lag auf dem Rücken. Sie fuhr über
sein Gesicht, fühlte das Zwinkern seiner Lider. Welchen Ausdruck er
haben mochte. Erinnerungen? Sie wälzte sich an ihn, drückte ihr Gesicht
an seins. Da hoben sich seine Arme wieder, heftig preßte er ihren Kopf
an seinen, stammelte „Braunes“ in ihren Mund. Und als sie ihre Wonne
ausgeatmet hatten und ihre Rücken zurücksanken, streichelte Elina sein
warmes Gesicht. Ihre kleinen Finger biß er; sie summte: „Möchtest du
mein Hemd sehen.“ „Was soll mir dein Hemd. Was geht mich dein Hemd an.
Du bist Elina.“ „Warum willst du es nicht sehen, Jonathan. Es ist
schön.“ „Es ist schön. Ich glaub dir’s. Du bist viel schöner.“ „Ich
will’s dir zeigen, Jonathan.“ Sie hatte sich im Bette aufgesetzt,
tastete um sich. „Was suchst du denn?“ „Das Licht.“ Es flammte schon
weiß um und über ihnen. „Ich zeig dir’s. Da. Du kannst es sehen.“ Sie
saß auf der Bettkante, drehte den Kopf nach ihm. Die braunen Haare
hingen dicht von ihr herab. Um Brust Leib Schultern schlang es sich. Als
wenn es naß oder aus zartestem Gummi wäre. Grünlich blau schillerte es
an den Flanken; an manchen Partien des Rückens und der Brust war es
stumpf, mehlig weiß. Sie lächelte eitel, strich an sich. Es glitzerte
leicht; der Glanz über den Schultern war opalen. Er hielt sich unter
einem Schmerz die Hand vor die Augen. Lecker flüsterte sie: „Ich will es
ausziehen. Ich werde es dir zeigen.“ Und sehr vorsichtig rollte sie sich
das Hemd vom Leibe hoch. Es drehte sich, als wenn es eine Gummihaut
wäre. An den Hals rollte sie es, langsam, aufmerksam zog sie den rechten
Arm, den linken Arm heraus, bog sich. Beim Rollen wickelten sich
Achselhaare ein; sie kreischte, streckte die rote Zungenspitze ängstlich
heraus. Er machte sie frei; sie schrie sofort: „Gib her. Du drückst es.“
Ihre Tränen flossen; er hatte es schon hinter sich auf die Erde
geworfen, über ihre rote leichtgeschwollene Haut strich er. „Bitte,
lieber Jonathan, bitte. Es kann keine Viertelstunde liegen, keine
Minute. Ich habe dich doch gern.“ „Hast du mich gern, so laß es liegen.“
„Du gibst es her. Du gibst es.“ „Und wenn ich es zerdrücke. Wenn. Sieh
einmal, Elina.“ Sie war so blaß, so süchtig; rote Flecken auf dem
Gesicht. Er liebte sie plötzlich eigentümlich. So daß er mit der Rechten
ihr den Stoff gab, mit der Linken, während er niedersaß, sich die Augen
beschattete; er öffnete den Mund. Sehnsüchtig inbrünstig liebte er sie,
während er neben ihr saß, Tränen stiegen ihm in die Augen. Er drückte
sie an sich, die ihn abwehrte. Und wie sie glücklich war, als sie das
raschelnde Gewebe, das leicht wie ein Blatt war, in den Händen hielt, es
gleich an ihre Brüste drückte, es tief anhauchte. Aus dunkel umränderten
Augen blickte sie Jonathan an; ihre Backenknochen traten sonderbar
schattenhaft hervor. Sie kniete im Bett, während sie sich die Haut
überrollte; unter den Stößen ihres kurzen erregten Kicherns erzitterten
ihre Flanken und die vorgewölbte Magengrube. Dann streckte sie sich,
atmete aus: „Ich bin froh.“

In der Nacht wachte Jonathan auf. Er hatte von einem sehr leichten
Federball geträumt, den er greifen wollte: er sprang vom Boden aber
rastlos auf und ab, von selbst, es war ein unsäglich mühsames Begehren.
Der Ball ging springend vor ihm weg, einem Fenster zu, das sehr helles
Licht warf. Der Ball war weiß, immer schwächer zu sehen, blinkte nur
noch an der Decke, am Fußboden, und er mußte ihn fassen, diesen
lautlosen Federball. Er horchte aufwachend im Dunkeln. Sein Herz schlug
wuchtig. Mit jedem Schlag trieb es einen Feuerschein vor seine Augen,
stieß einen Hammer gegen seine Kehle. Die Decke schob er zurück. Elina
stöhnte laut. Elina stöhnte. Sie griff um sich. Jonathan drückte auf den
Lichtknopf. Ihre flammende Röte. „Elina, hast du Schmerzen?“ „Oh mir ist
gut.“ Und warf den Kopf beiseite, krümmte sich. Er sprang auf. Sie
verfolgte ihn mit fliegenden Blicken, als er sich anzog. „Was willst du
tun, Jonathan. Ich habe gar keinen Schmerz.“ „Ich will dir zu trinken
holen. Du fieberst.“ „Ich habe keinen Schmerz. Ich will keinen Arzt.“
„Ich bleibe.“ „Mir fehlt nichts. Mir ist ganz gut. Komm her. Bleib bei
mir.“ Ihre zurückgesunkenen angstvoll suchenden Augen. „Dein Hemd ist
es.“ „Laß mich los. Ich befehle es dir. Wenn du mir mein Hemd nimmst,
lauf ich weg. So wie ich bin.“ „Ich tu’s ja nicht.“ „Du schwörst es
mir.“ „Ja.“ „In die Hand.“ „Ja.“ „Jetzt küsse mich.“ Ihre Münder lagen
aufeinander. Er weinte vor unausfühlbarer Sehnsucht. Ihm fuhr durch den
Kopf, wie der Federball sprang und blinkte am weißen Fenster.

Fünf Tage diente Jonathan seiner Geliebten. Er hörte aus ihren Träumen:
wie sie sich zusprach; es werde alles gut werden; sie fürchtete sich zu
sterben. Das Hemd senkte seine feinsten Sprossen in ihre Haut, wieder
schilferte eine Lage, bläulich schimmerte die neue. Während sie in
tiefem dauerndem Schlaf lag, zog ein leuchtendes Meeresblau über ihre
Schulter und Brust. Ihre Atmung wurde ruhiger.

Elinas Augen blitzten seit der Zeit. Ihre Bewegungen waren glatt,
schmeichelnd erregt. Ihr Lachen härter. Und wenn er sie umhalste, so
fühlte er sich tief bewegt, nie beruhigt, nie gesättigt. An seiner
Unterlippe sog sie sich im Kuß fest, hielt sich ganz dicht an ihn, die
Knie zitterten unter ihr. Als wenn sie aus dem Schlaf erwachte, öffnete
sie die Augen, lachte, gab ihm einen Schlag auf die Schulter, ließ ihn
stehen.

                   *       *       *       *       *

Spöttisch durchstreifte sie mit Jonathan die Stadtlandschaft. Sie fuhren
auf drolligen schaukelnden und springenden Wagen. Die Gefährte hatten
unter ihren Sitzkästen stengelartig lange Beine, die spiralig mit Metall
umwickelt waren. Sanft knickten und schnurrten diese Beine bei der
Berührung mit dem Boden ein, um gleich darauf völlig zusammensinkend
aufzuschwirren und schräg nach vorn zu schießen. Heuschrecken hießen die
Gefährte, weil sie wie Heuschrecken kräftige lange Hinterbeine mit einem
starken Scharniergelenk hatten. Zum Aufsetzen dienten vorn zwei wenig
nachgiebige Vorderbeine und seitlich elastische Streben, wie Tastorgane,
um einen Anprall abzuschwächen. Elina und Jonathan unter bunten Tüchern
tänzelten in ihrem Gefährt über den Waldboden, waren im Begriff, sich zu
senken, um einen Bach zu überqueren, der dicht hinter einem niedrigen
Gehölz floß. Sie überblickten die Landschaft nicht, und wie sie
aufsetzten, tönte ein Schrei unter ihnen. Schon schwirrte der Apparat
wieder hoch, Jonathan beugte sich vornüber, um zu sehen. Sie machten
einen Sprung, sich drehend, zurück; die Bremse schlug an; hart setzten
sie an der Stelle des Schreis auf. Da schleppte ein Mann eine Frau an
den Bach. Sie trugen beide dunkelgrüne Kleider, nur wenn sie sich
bewegten, unterschieden sie sich vom Gras. Jonathan sprang aus dem
Gestell; Elina, die nachspringen wollte, mußte er zurückhalten, bis er
die Füße des Apparats verschraubt hatte; der gewicht- und führerlose
Apparat wäre davongetänzelt und an einem Baum zerschellt.

Der Frau, die am Bach lag, hatte der Mann das Kleid über dem weißen
Rücken aufgerissen. Eine krallenartige Fleischwunde spritzte da rotes
helles Blut. Der Kopf der Frau lag schräg über dem Uferabfall, gelbweiß
ihr Gesicht; der Mensch hantierte mit einem grünen Tuchfetzen. Er
murmelte, wie Jonathan neben ihn trat: „Was habt Ihr gemacht. Was soll
ich tun.“ Jonathan stammelte: „Ihr liegt hier im Gras. Wir haben Euch
nicht gesehen. Ihr habt kein Zeichen gegeben.“ Elina: „Sie stirbt ja,
Jonathan.“ Sie warf sich über die Frau, öffnete ihr Kleid, drückte ihre
Brust an die Wunde. „Mein Hemd ist lebendig, das hilft.“ Blut
überrieselte ihre Brust. Sie kniff in Ekel und Schauer die Lippen ein.
Mit starren Mienen lag sie da. Als die Äste unter dem Wind knackten,
drehte sie den Kopf: „Sieh zu, Jonathan, daß keiner kommt“, und zupfte
an ihren Röcken, die über die Waden aufgeschoben waren. Nach einer Weile
hob sie sich sachte von der Frau. Ihr Gesicht erhellt; das Blut spritzte
nicht mehr. Bis an den Hals war sie blutbelaufen; Oberlippe und Stirn
trugen Spritzer.

Der Mann trug, als Jonathan auf ihn einredete, die Frau in den Apparat.
Jonathan löste die Verschraubungen, sprang ein. Der Mann trat zurück;
der Apparat streckte die Beine, zog sie an, streckte sie, schwirrte mit
hohem Metallgesang auf. Zierlich schwebte er in Manneshöhe über dem
Bach, wendete in einem Kreis, flog wippend über die Unglücksstelle den
Häusern der großen Stadt zu.

Elina hatte sich zwanzig Schritt aufwärts der Stelle am Bach gewaschen,
gebeugt über dem Wasser kniend. Hand um Hand schöpfte sie Wasser, das
sie erst anhauchte, als wenn sie es wärmen wollte, goß es gegen die
Brust. Sie strich zu dem grünen Mann hin: „Ich möchte meinen Freund hier
nicht erwarten. Wenn Sie wollen, gehen wir in die Stadt und sehen, wie
es der Kranken geht.“ Der lag am Wasser. „Kommen Sie. Suchen Sie etwas?“
Mißtrauisch blickte er sie von unten an: „Ich werde noch hier bleiben.
Wenn der Herr wiederkommt, werde ich hören, was sie macht.“ „Sie wollen
also warten.“ An einem Baum stehend betrachtete Elina den Mann. Sie
zweifelte nicht, als sie eine Weile gestanden hatte, daß er etwas suchte
am Wasser und daß er an seiner Brust etwas verbergen wollte. Sie
schlenderte seitlich zurück. Und als sie langsam summend wiederkam, ging
er ihr entgegen. Da wußte sie, es war ein Vertriebener, der heimlich
zurückgekehrt war und Versuche machte, ein Täuscher. „Mein Fleisch, mein
Blut“ zitterte es in ihr, mit einem verborgenen stachelnden Entzücken.
Ein fürchterlicher Haßblick aus seinem traurigen Gesicht traf sie. Sein
grünes blutgesprenkeltes Kleid war von Art der Bergleute; eine Kappe
hatte er über die Ohren und tief in die Stirn gezogen. Stämmig und breit
trabte er. Sie war immer einige Schritte hinter ihm: „Laufen Sie doch
nicht so; ich komme nicht mit.“ Er zwang sich, ging langsamer. Sie
trieben durch das Buchenholz. Der Boden war braun. Und wie Elina den
Mann suchte zwischen den Stämmen, fand sie ihn nicht. Sie lief. Da ging
ein Mann, ein brauner, er ging ganz dicht bei ihr, sie hatte ihn nicht
gesehen. Aber wo war der grüne. Sie wollte an dem braunen vorbeilaufen,
da drehte sie sich zurück. Er hatte die Kappe ins Gesicht gezogen wie
der grüne. Sie stand angewurzelt, als sie das vergrämte stumme Gesicht
sah. Das war der grüne. Sie hastete hinter ihm. Das war sein Schritt.
Der kurze stämmige Körper. Was war das. Wenn sie stehen blieb und er
sich entfernte, erkannte sie ihn nicht zwischen Stämmen und brauner
Erde. Sie rieb ihre Augen, lief an ihn heran. Das geradeausblickende
Gesicht des Mannes. „Sagen Sie, ich bin erschrocken. Ich glaubte, Sie
hatten eben ein grünes Kleid an.“ Er drehte ihr seine Augen zu: „Ja.
Und?“ „Jetzt?“ Er fuhr zusammen. Blieb stehen, sah an sich herunter. Er
hob die Fäuste vor die Augen, stöhnte: „Jetzt laufen Sie. Verraten Sie
mich. Was für einer ich bin. Was ich für ein Kleid trage. Ich heiße
Lorenz. Und Sie?“ „Elina.“ „Elina, Sie dürfen nicht weiter. Sie haben
mich in der Hand; ich muß mich schützen.“ „Sie wollen mich halten?“ „Ich
sagte es schon.“ „Ich sehe nichts ein, Lorenz. Aber ich trage auch
etwas.“ Sie lachte ihn siegreich an. „Sie glauben, man müsse ein
farbiges Kleid tragen, um ein Täuscher zu sein. Ich täusche auch so.
Dicht neben Marduk. Glauben Sie’s nicht? Sehen Sie meine Schulter.“ Sie
zog, dicht an ihn tretend, ihren Brustausschnitt zurück; bläulich war
die Schulter überlaufen. Er blickte noch hin, als sie die Schulter schon
wieder bedeckt hatte. „Sie wundern sich. Werden Sie mich angreifen?“ Er
griff nach ihrer Hand, drängte sich an sie, das Staunen hatte sein
Gesicht geöffnet, langsam brachte er heraus: „Nein. Ich kenne Sie nicht.
Heißen Sie wirklich Elina. Ich weiß nicht, was Sie treiben. Seit wann
sind Sie hier. Wo sind Sie.“ „Ich bin Jonathans Freundin. Er ist mein
Freund. Er ist doch nicht Marduk. Fürchten Sie sich nicht. Ich bin froh,
ich bin glücklich, daß ich Sie gefunden habe.“

Sanft flog Jonathan mit der ächzenden Frau durch Waldlichtungen, über
Wiesen Alleen. Sie lag hinter ihm unter Elinas Schal. Zierlich erhob
sich die Heuschrecke, abwechselnd schnurrten und klangen die spiralenen
Beinchen. Er wagte sich kaum nach ihr umzusehen; er fürchtete, sie
könnte sterben. In wachsender Besorgnis fuhr er, verbog die Hebel, aber
immer gleichmäßig schwebte und taumelte die Heuschrecke. Die Kinder
lachten auf den Chausseen dem ansummenden Liebesgefährt zu. Er seufzte,
als wenn ihm selbst eine Gefahr drohe. Das kleine rosa Krankenhaus auf
einer baumumstandenen Wiese. Als die Schwestern die Frau herausgehoben
hatten, blieb Jonathan lippenkauend bei seinem Apparat, stieg dann
langsam die Treppe nach. „Sie werden sagen, sie ist tot. Sie werden aus
einer Tür, aus einem Aufzug hervortreten und mir erklären, daß sie
nichts mehr tun können.“ Er stellte sich an ein Fenster. „Es kommt
niemand heraus. Ich kann hier lange stehen. Wie viele Menschen haben
hier gestanden und die Bäume drüben angesehen. Die Bäume abgezählt.
Sechs in einer Linie, fünf dahinter. Es sind gar nicht die Bäume, die
sie gesehen haben; sie haben etwas anderes gesehen; die Bäume sind nur
darin eingetragen, wandeln darin herum, kommen und gehen.“ Er stemmte
den Kopf gegen den Fensterrahmen, stöhnte: „Ich wollte nicht nach
Berlin. Ich wollte nicht hierher. Wenn ich hier weg wäre. Oh, wenn es
eine Kraft in der Welt gäbe, die mir helfen könnte. Die mich forttrüge
und dies alles rasch beendete. Daß ich die Bäume nicht mehr zu sehen
brauch, daß ich dieses Haus vergesse und wie ich hier stehe. O du große
Kraft, gib, daß hier nichts geschehen ist, hilf mir. Sie soll nicht
sterben, es soll alles wieder gut sein, ich will ja weg von Berlin.“ Und
hinter seinen Gedanken tauchte schon, er wußte nicht wie, Marduk auf,
finster beängstigend, und hinter ihm, mit ihm noch Schlimmeres, so
Schlimmes Dunkles Verhülltes. Gebunden stand er; er drohte ohne sich zu
bewegen: „Wenn ich diesmal frei komme, kommen sie nicht so leichten
Kaufs davon. Dann soll etwas geschehen. Ich will es nicht leiden. Ich
will nicht. Ich will nicht. Ich setze mich zur Wehr.“ Er rekelte sich,
er wußte nicht was er tat, keuchte mit vortretenden Augen, rang sich von
dem Alp los. Eine Schwester rauschte sanft und tief ihn anblickend,
neben ihn. Sie stand erst stumm vor dem Entsetzten, dann: die Frau sei
durch den Blutverlust geschwächt; in zwei drei Wochen werde sie
hergestellt sein. Finster wortlos zog sich Jonathan die Treppe herunter.
Dann stürzte er, lief. Als er in seiner Heuschrecke saß und flog, schrie
er und tobte, brüllte und weinte, während er auf und ab flirrte, wußte
tränengeblendet nicht warum. „Es ist wieder gut“ ging es schwellend
betäubend durch ihn, „es ist ja wieder gut. Jonathan, sei still. Jetzt
fährst du ja zu ihr, zu Elina. Es geht vorüber. Jetzt ist alles vorbei.“
Und wie er ihren purpurroten Rock im Gehölz wehen sah an dem Wege, den
sie hergefahren waren, streckte er aus dem Fahrzeug den Arm nach ihr
aus: „Elina! Elina!“ Sie hielten sich umschlungen. Dachten nicht an den
Mann, der stumm zur Seite blickte. Stammelten sich Liebesworte zu, als
hätten sie sich monatelang nicht gesehen und fänden sich nach einer
schrecklichen Trennung wieder. Sie wurden glücklich und matt zum
Umsinken. Zu Füßen eines Baumes ließen sie sich nieder. Erst jetzt
fühlte Jonathan, was ihm Elina war. Er sonnte sich an ihrem Gesicht.
„Jonathan.“ Elina drehte den Kopf nach oben, „du hast nicht gesehen, wer
da steht.“ Er blickte auf, erkannte den Mann, dessen Kleid bräunlich
war. Elina beobachtete lächelnd Jonathan, flüsterte ihm ins Ohr: „Es ist
ein Täuscher. Er ist verbannt.“ „Sonderbar.“ Jonathan blickte ihn weiter
an, „ich hab es mir gedacht.“ Er stand auf: „Der Frau geht es nicht
schlecht. Sie wird in einigen Wochen wieder gesund sein. Man braucht
nicht für sie zu fürchten.“ Elina trat vor Jonathan: „Er glaubt, du
verrätst ihn. Du sagst ihm etwas.“ Lange wiegte sich Jonathan hin und
her; er fühlte: „So rasch erfüllt sich alles.“ „Ich bin Ihnen einiges
schuldig. Ich werde Sie gewiß nicht verraten.“ „Zwingen Sie sich nicht,
Jonathan. Ich brauche keine Hilfe. Es genügt mir, wenn Sie mir
versprechen, mich nicht zu verraten.“ „Nein. Warum lachst du, Elina?“
„Ich freue mich über dich, weil du zu ihm gesprochen hast. Wie ich dir
danke. Du bist mein Jonathan.“

                   *       *       *       *       *

Nicht lange darauf wurde von einer Anzahl rachsüchtiger Verbannter
Magdeburg zum bewaffneten Standquartier gegen Berlin gemacht. Marduk,
der finstere Herumlungerer, schlug mit Wut zu. Rapide und mit rasender
Verachtung der Verbannten organisierte er den Angriff. Man erzählte sich
in der Stadtschaft, er hätte nur auf die Verräter gewartet. Sie hätten
kommen müssen, die Esel die erbärmlichen Gerippe die Strohköpfe. Es war
sicher, daß es ihm eine Freude machte, auf sie loszuschlagen, und daß es
ihn, der schon halb hingesunken war, wieder erhob. Während er in Berlin
hielt, ließ er Lucio Angelelli, den schwarzen stillen Hauptmann seiner
Wache, auf Magdeburg. Die Fernbrenner machte er wirkungslos, gegen seine
Besen, die menschenverdrängenden Lichter, kamen sie nicht auf. Nach dem
Auseinanderfall des großen Staatenkreises bestand keine Einheitlichkeit
in den Kampfmitteln. Der Austausch, die gegenseitige Beobachtung war
mangelhaft, man konnte wieder kämpfen. Lucio Angelelli fuhr mit den
gefangenen Hauptverschwörern, über fünfhundert Männer und Frauen, rund
um und quer durch die Stadtlandschaft. Zwei Wochen lang wanderte er
durch Straßen Alleen, über Plätze Berge, fuhr Flüsse ab, rief auf Äckern
und in Anlagen die Menschen zusammen. In dem Fatamorganarauch der
Markezeit zeigte er überall, wie er eine Verschwörergruppe am Tage zuvor
beseitigt hatte. Darauf vollzog er sein Gericht an der nächsten, während
in der ganzen Stadtschaft die metallenen Stiersäulen ununterbrochen
brüllten. Auf die einfache Köpfung, das Zerschlagen der Glieder, die
Erstickung kamen andere Methoden. Einzeln ließ er sie in die Luft
sprengen, aus führerlosen Flugzeugen zerschmettern. Er übte die langsame
Vereisung durch sprühenden Regen, der auf Schulter und Hals und nach und
nach alle Gliedmaßen des Delinquenten fiel. Er, die rechte Hand Marduks,
wies, im Besitz welcher Macht man war. Er war es, der auf offenem Platz
vor seinem Zelt eine der hingebrochenen vereisten weißen Figuren auf
unerhörte Weise sich bewegen ließ. Sie zog ein Bein an, das andere, den
Rumpf schräg aufrichtend schwankend; unter tiefer Stille ließ er sie auf
sich zu spazieren; sie schlug den schneeigen Kopf rückwärts, neigte ihn
vor ihm, senkte sich auf die Knie und lag auf der Seite, kollernd auf
dem Rücken, eine weiße vereiste Menschenfigur, ein Toter, eine Tote. Er
ließ sie aufschnellen, drohend gegen die auseinanderstiebenden Menschen
anwandern.

Um diese Zeit hatte Marduk es für nötig gehalten, um Ackerflächen zu
erlangen, das Gebiet der Stadtlandschaft Berlin nach Norden gegen
Mecklenburg hin über Güstrow Demmin Anklam hinzuziehen. Schon kurze Zeit
darauf erachtete der Senat, der mit ihm Hand in Hand arbeitete, es für
ratsam, über Demmin Anklam hinauszustoßen und sich über die sehr
fruchtbare brache Gegend von Stralsund bis Anklam auszudehnen. Erst
damals trat bei Marduk und dem Senat der Gedanke mehr in den
Vordergrund, wie willkürlich geschnitten das Gebiet der Stadtlandschaft
war, wie ungeheure Landmassen bis zu den Nachbarstadtschaften ungenützt
dalagen. Mächtig wogte südlich der Elbe die Stadtschaft Leipzig.
Westlich von Magdeburg folgten Stadtreste auf Stadtreste, abgebaute
ausgeleerte Städte, ehemals Sonderstädte überwundener Industriezweige.
Hannover neben Hamburg war die nächste westliche Stadtschaft, im Besitz
eigener Mekianlagen, stärkster Kraftapparate, gefüllt von erschlaffenden
erlahmenden Millionen Menschen, unter der Obhut von eifersüchtigen
Senatsgruppen, Abkömmlingen der großen Herrengeschlechter, jeder bedacht
auf Errichtung einer Tyrannei. Während die Masse des Volkes vergnüglich
höhnisch und fast verächtlich ihre Herren beobachtete wie einen gemeinen
Spaß. Ohne gehemmt zu werden griff der Berliner Senat bis dicht vor
Hannover, das Braunschweig und Wolfenbüttel, Hildesheim und Celle
überlagerte. Die im Westen ließen es fast mit Neugier geschehen, wie vom
Osten her Menschen die leeren Landstriche besiedelten und arbeiteten,
als gäbe es keine Mekifabriken, keine Kraftapparate.

Damals stieß man auf die längst verlassenen Kohlenbergwerke einer
vergangenen Periode. Die schwarzen Halden und Schächte, die offen
liegenden Gruben umwanderten die Männer und Frauen, die das Land
bestellten; Stiere Kühe Schafe konnten hier nicht weiden; Weizen Roggen
Hafer konnte nicht wachsen; von dem mächtigen finsteren Gelände wandten
sie sich ab. Aber hinter ihnen zogen prüfend und beobachtend Marduks
Gehilfen. Sie hatten noch nicht gedacht, auch die Kraftzufuhr abzubauen.
Mit unsäglicher Kraft lockte sie augenblicklich die schwarze Grube und
der Abgrund. Dahinunter Menschen zu werfen, hier, auf der Stelle, die
Last herauftragen zu lassen, wo sie gewachsen war: weg von den
Wasserfällen Skandinaviens.

Wie ein Wunder staunten die Menschen, die mit ihren Tieren herumzogen,
die glitzernden zerbröckelnden Steinlagen an, aus denen sich Wärme und
Licht schlagen ließ. Die Stadtlandschaft war groß und menschenarm. „Wir
werden sie zwingen. Wer friert sucht Wärme. Sie werden in der Nacht
sitzen.“ Sie zerschnitten Teile der Riesenkabel von den skandinavischen
Wasserfällen, die fanatischen Feinde der Apparate. Sie sprengten
Gerüchte aus, man wolle sie zwingen, in den neu sich bildenden
Völkerkreis einzutreten.

Die märkische Stadtlandschaft warf sich dann auf das anlagernde Straßen-
und Fabrikungetüm Hannover. Rasierte in wenigen Tagen weg, was diese
Stadt mächtig machte. Sprengte verwüstete vertrieb Zehntausende.
Braunschweig Hildesheim Wolfenbüttel Celle durchschritten die Grauen und
Abscheu erregenden märkischen Männer und Frauen, die von der Kultur der
Umländer nichts hatten als Bewaffnung und Sprengstoffe. Hunger und Tod
gingen mit ihnen in die überfluteten Stadtlandschaften. Sie waren nicht
viel, aber ausgesucht stark an Muskeln und Knochen, grob bekleidet. In
verfallenden Städten lebten sie. Ihre Gesinnung roh. Trübe Geschöpfe,
aus vielen Rassen, durch Markes Marduks Regiment eine Art geworden. Die
aus westlichen Stadtschaften sich ihnen näherten, erkannten: sie waren
bekümmert finster, zu Streit geneigt, eine gärende furchteinflößende
Menschenmasse. Die Lüneburger Heide, Aller und Weser entlang wanderten
ritten fuhren die Märkischen. Überwältigten Menschenhaufen selten mit
Waffen und Apparaten, die sie hinter sich schleppten, liebten Listen
Verwegenheiten roheste Kraft. In dieser Zeit überließ der Berliner Senat
die Gewalt an Hordenführer.

                   *       *       *       *       *

Die Stadtschaften des Kontinents waren im siebenundzwanzigsten
Jahrhundert allgemein in wilde Bewegung geraten. Was in Berlin unter
Markes Konsulat begann, die Abtrennung von den Umstaaten, die
Sprengung der Zentralen, erfolgte gleichzeitig in den westlichen
Stadtlandschaften, hier intensiver, dort sehr oberflächlich. Immer
blieben starke Verbindungen mit den Umstaaten bestehen, wenn sie auch
nicht zahlreich waren, das Skelett des Riesengebäudes stürzte nicht mit
ein. Ungeheuer die Schicksale von Stadtschaften im Süden und Westen in
der Folgezeit; Vernichtungen Verderben großer Menschenmassen,
verzweifelte Bündnisse von Staaten gegen andere tyrannische. Aber
überall setzten rückläufige Bewegungen ein. Kluge bedenkenlose aktive
Männer und Frauen in London verstanden die Bewegung auf dem Kontinent in
Fluß zu erhalten. Es konnte sich, als zwanzig dreißig Jahre nach dem
Uralischen Krieg vergangen waren, nur darum handeln, einen
Völkerzusammenhang in neuer Weise herzustellen.

London suchte den gefährlichen Marduk zu gewinnen. Er, selber durch
technische Gehilfen in Verbindung mit den anderen Kapitalen, genoß bei
den schwer kämpfenden Senaten des Kontinents das größte Ansehen. Die
Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen lag allen vor Augen. Als er aber
das Gebiet seiner Stadtschaft ausdehnte, wuchs die Furcht. Francis
Delvil und Nelson Pember aus dem Londoner Senat suchten ihn zusammen mit
Frau White Baker auf. Alle drei starke und verschlagene Menschen, im
Kampf mit einer gefährlichen Bevölkerung aufgewachsen, begierig, Marduk
auf ihre Seite zu ziehen, nicht aber, seine Gewalt zu dulden. Sie fanden
in dem staatartig weiten Gebiet der Stadtlandschaft Berlin nicht, wie
sie erwarteten, eine unterjochte kleine waffenlose Bevölkerung,
mürrische stumpfe Knechte. Man sprach mit Stolz und Liebe von ihm. Das
gefahrvolle Feuer, das von den Grenzen ins Land strahlte, weckte ein
anderes Feuer im Land. Wie die drei Fremden das Land überflogen, sahen
sie unter sich eine Reihe festungsartiger Lager, dazu eine Anzahl
eigentümlicher ihnen unbekannter Vorkehrungen, die zweifellos
kriegerischen Absichten dienten. Längst brüllten nicht mehr in anderen
Stadtschaften die metallenen Stiere, die im Gefolge des Uralischen
Krieges aufgekommen waren; hier grollten sie rechts und links, war die
Zeit stehen geblieben. Nur geringe Haufen der verkommenden Müßiggänger,
der teilnahmslosen und abenteuernden Menschen gab es. Das dünn
bevölkerte Gebiet zwischen Elbe und Oder durchzogen erstaunlich
energische Männer und Frauen, die sich den fanatischen Ansichten Marduks
angepaßt hatten, seine Tyrannei nicht empfanden, denen er unbedenklich
Waffen anvertraute.

Im Ratsgebäude, das kriegerische Männer erfüllten, traten sie dem
grauhaarigen großen Menschen gegenüber, der wie immer in dem berühmten
Empfangsraume des Konsuls Marke stand neben der Schädelpyramide, vor den
Wandgemälden vom Uralischen Flammenkrieg. Francis Delvil meinte, auf die
Schädel weisend, es scheine, man vergesse hier im Lande nicht. Marduk,
ihm die magere Hand reichend, lächelte kalt; es läge nicht an ihnen,
wenn sie nicht vergäßen. Er trug ein braunes Wams, um den Hals einen
bauschig gebundenen Seidenschal, der ihm breit über die Brust fiel. So
wenig das Braun hier jemals vergäße, wenn das Licht auf das Wams fiele,
braun zu sein, so wenig vergäße er, wenn er aufwache, der vergangenen
Dinge. Aber das Braune blasse ab, – Francis Delvil schlug, wie sie sich
setzten, die Arme zusammen, – es werde grau, auch der Tuchstoff
zerfiele. „So bin ich kein Mensch, wenn ich tun müßte wie sie“
gleichmütig und ohne aufzublicken der Konsul. Und nach einer Weile,
während sie zu viert auf die schreckliche Wand der Flammenbergwerke
blickten, Marduk wieder: „Und wenn ich es könnte, vergessen: wofür
sollte ich vergessen. Ihr seid gekommen, um mir zuzusprechen. Wozu wollt
ihr mich überreden?“ Delvil: „Es ist etwas, dich zu sehen, Marduk.“
„Nein, nicht so“ knirschte unterbrechend den Arm ausstreckend Marduk.
Delvil: „Marduk. Wir sind durch die ganze Stadtschaft geflogen. Man hat
uns nirgends gehindert zu sehen, was wir wollten. Du hast die Grenzen
deines Gebiets erweitert. Wir sahen Männer und Frauen arbeiten. Es hat
uns ergriffen. Nur eins haben wir nicht verstanden: wozu dies ist. Du
bist klug. Das alles ist vergeblich. Wir haben dich und diese Leute
bedauert. Wir sehen keinen Sinn in dem, was ihr tut.“ „Sprich weiter.“
„Was in Marseille Florenz Chicago geschehen ist, die dauernden Kämpfe,
dieses Hin und Her von Ausruhen und Losspringen, das ist dir bekannt.
Wie wir uns ja immer gefreut haben, daß du in Fühlung mit uns geblieben
bist und gar nicht so abgeschlossen für dich gelebt hast, wie andere
berichten. Sind diese Kämpfe nun gut? Welches Mittel willst du uns
dagegen sagen?“ „Wodurch seid ihr legitimiert für Chicago und Florenz zu
sorgen?“ Frau White Baker bat Delvil sprechen zu dürfen: „Ich will dir
antworten, Marduk. Gewiß nicht sind wir dadurch legitimiert, weil wir
Chicago und Florenz beherrschen, vielleicht vernichten können. Die
Städte ruinieren sich. Man kann sie sich nicht selbst überlassen.“ „So
laß sie sich ruinieren. Hast du, White Baker, nicht davon gehört, daß es
einen Tod gibt? Wie stellst du dir den Tod vor? Unter welchen
Erscheinungen tritt Tod ein, wie ist Sterben? Sieh diese Städte an, und
andere, die du nicht genannt hast, die die schlimmsten schwersten
Todeszeichen noch nicht zeigen. So sieht Tod aus. Laßt sie sterben.“ Die
stämmige breite rotgesichtige Frau trat auf Marduk zu: „Es richtet sich
zuletzt gegen uns. Wir können uns doch gegen den Tod wehren.“ Marduk
schlug auf den Tisch: „So wehr dich doch. Ihr könnt es nicht. Keiner von
uns kann es. Selbst wenn ich zu euch trete, kann ich es nicht. Ich dreh
es nicht zurück. Ich kurbele nicht ab. Ich will nicht.“ „Du meinst, wir
liegen im Sterben. Nein, du, du Marduk, bist hilflos. Hier ist der Tod.“
„Das meinst du. Ich glaube nicht einmal, daß dus meinst.“ Die Frau
richtete, sich bezwingend, auf: „Du mußt nicht lachen, Marduk. Du
siehst, daß wir zusammen hier sind.“ „Um mir zu helfen? Ihr seid meine
Gäste. Ich habe euch gewiß nicht gerufen.“ „Die Welt schließt sich
zusammen.“ „Um mich auf die Knie zu kriegen? Nur zu.“ „Wir sind nicht
dazu da, für die Ewigkeit zu sorgen. Vielleicht hast du recht, wenn du
sagst, wir tragen Todeszeichen an uns. Wir sehen sie nicht, fühlen sie
nicht, helfen uns von heute auf morgen weiter. Laß dich von uns bitten,
Marduk, an unserer Arbeit teilzunehmen, wenn sie auch sehr vergänglich
ist. Und – Delvil lacht so freudig: sprich du für mich.“ „Ich halte es
nicht für Kleinarbeit, was wir tun, Marduk. Ich freue mich der Dinge,
wie sie jetzt laufen. Wir sind Schwärmer, wir drei. Gut werden die Dinge
laufen, gut.“ „Delvil, Pember, Baker, ich danke euch, daß ihr gekommen
seid, mir das zu sagen. Ihr werdet an mir Widerstand finden, ich sage es
euch heraus, so daß die Dinge nicht gut laufen.“

Delvil senkte den Kopf, erhob sich langsam. Marduk ging schon rückwärts.
„Wir werden keinen Krieg gegen dich führen, Marduk. Es ist nicht nötig,
daß wir mit dir Krieg führen. Du erliegst ohne Krieg.“ „Dessen bist du
sicher, Delvil.“ „Ja.“ Marduk trat dicht vor Delvils Stuhl heran: „Wie
kommst du dazu, dies zu mir zu sagen. Durchschaust du mich so, achtest
du mich so wenig, daß du so sprichst.“

Die Fremden waren weiter in den Saal getreten. Marduk hatte sich
umgewandt, war sich verneigend an seinen alten schützenden Platz
zwischen den Flammenbergwerken zurückgewichen.

Pember, der spitzbärtige schlanke, der mit den andern geschwiegen hatte,
pfiff vor dem Ratsgebäude: „Er ist verrückt. Habt ihr ihn gesehen. Er
ist vollkommen hin. Was wollen wir mit ihm. Zieh in Frieden, liebe
Seele.“ Die Frau zog sich einen braunen Schleier vor das verfinsterte
Gesicht: „Pember, es gibt da nichts zu lachen. Er ist ein böser Mensch.
Wir dürfen ihn nicht lassen.“ „Was willst du tun, liebe Freundin.“ „Er
fürchtet sich vor uns und wird gegen uns ausfallen. Er ist ein Bube, ein
Barbar.“ Delvil lachte und streichelte den Arm der Frau: „Ich zweifle,
daß er Dummheiten machen wird. Sie würden uns auch nur nützen.“ Die
breitschultrige stand still, blickte Delvil glühend hinter ihrem
Schleier an.

Der krümmte den linken Arm, wog ihn wie ein Boxer: „Ich täusche mich
über nichts. Ist dies Land still, so sind wir ein Regen, der es begießt
und ihm wohltut. Wir sind ruhig und sanft. Will der Konsul es anders, so
kann er es haben. Wir können auch Gewitter spielen. Ich hab keine Sorge,
daß wir ihn nicht in die Hand bekommen.“

Im Befehlszimmer Marduks standen am Morgen die Senatoren. Der Konsul,
Wachen vor sich, gestikulierte über die Schweigenden: „Man will uns
ausrotten. Man wird uns offen und geheim bekriegen. Sie wollen uns in
ihren neuen Völkerkreis hinein. Ich rate allen, die ihrer Sache unsicher
sind, das Land zu verlassen. Ich warne die Lauen im Land zu verbleiben.“
Das Gerücht von der Absicht der kontinentalen Beherrscher hatte er
verbreiten lassen. In die Höfe des Ratsgebäudes waren Menschen
eingeströmt. Grüne Fahnen, darauf goldene Ähren, wurden ihnen
vorausgetragen. Der Gesang „Ein friedlich Volk“ hallte gegen die
Fenster, feierlich durch die heiße Luft. „Wir werden siegen. Man will
uns vernichten“ es kam aus Marduk, tobte im Saal, auf den Höfen, durch
die gewölbeartigen Räume. Er selbst riß sich aus dem Lärm. Das Gesicht
der drei Abgesandten stand vor seinen Augen, die Macht des halben
Erdkreises hinter ihnen. Unten auf dem Haupthof preßte man sich dichter.
Völlige Stille trat ein. Plötzlich ein Tosen Zittern Armeausstrecken.
Marduk am Tor des Hofes, ohne Hut. Schweißperlen auf der Nase. Sein
Gesicht von einer bläulichen Weiße. Er machte einen erschöpften
Eindruck. Seine Stimme war undeutlich. Er werde von jetzt ab das
Ratsgebäude offen halten; der Schutz des Gebäudes werde aufgegeben.
Seine linke Hand fuhr rasch nach dem Kopf; sie schien eine Hutkrempe
herabziehen zu wollen, blieb dann, das Haar berührend, auf der Schläfe
liegen.

„Ich werde mit ihnen gehen“ war es durch den grauen Mann gezuckt, „es
ist auch meine Sache.“ Mit Macht schrie das durch ihn, war da. Er fühlte
eine Schwäche; aber er war es, der es schrie. Er sah Delvil vor sich,
dachte: „Er ist mein Feind. Ich werde mich diesen Jubelnden hingeben.“
Es bebte in ihm fern, wie damals, als die Balladeuse ihn anfaßte. Und
während das gleichmäßige Singen wieder begann, stieg er allein die
Treppe zum fünften Raum im Turm hinauf. Neben ihm, durch das Fenster,
zitterten feine starre Drähte hinaus. Er sah unten die schwarze Masse,
die bunten Fahnen: „Gewalt, Marduk! Sieh deinen Boden, Marduk! Dein
Leben! Willst du dich hinunterstürzen?“

Seine Verwirrung Verzweiflung merkte niemand, wie er stark die Anlagen
und Posten im Lande beging, fast täglich mit dem Senat sich besprach.
Ein furchtbarer Abscheu stieg mit Gewalt von Zeit zu Zeit in ihm auf,
vor dem Ratsgebäude der Schädelpyramide dem Senat dem Volk. Ein zum Ekel
gesteigerter Widerwille vor sich und aller Welt, den er mit äußerster
Anstrengung herunterdrückte. Inzwischen strahlte er nach außen und
strömte Kraft aus. Als er eines Nachts einen Traum von einem Spiegel
hatte, – er blickte in einen Spiegel, sah mit Schrecken seine weißen
Lippen, die in der Mitte geplatzt waren, Blut verspritzten; er näherte
sich der Spiegelfläche, rieb sie, daß sie warm würde, das Blut stünde, –
verlangte ihn nach Jonathan. Er sprach sich vor: es fängt alles von vorn
an. Plötzlich ganz unvermutet erhob sich vor ihm mit Gewalt das Bild
Jonathans: er konnte nicht verstehen, welche tiefe Inbrunst ihn erfüllte
und wie er mit tiefer Inbrunst an Jonathan dachte. Die Dinge liefen so
schlimm in der Stadtschaft, dachte er, das wußte Jonathan, mußte er
wissen: dies war sein Freund, er erfuhr nichts von ihm, er sollte ihm
zur Seite stehen. Er zog sich an, einen hellgelben Überwurf trug er mit
Silber bestickt. So erwartete er stundenlang Jonathan; an die Wand
seines Befehlszimmers gelehnt, der graubärtige Mann. Er empfand
zwischendurch einen Grimm auf sich, daß er die englischen Abgesandten
frei aus dem Land gelassen hatte; man hätte sie zerschmettern hinwerfen
massakrieren müssen. Jonathan, Jonathan würde kommen.

Trompetenblasen von unten. Das Land bewegte sich. Wie Marduk auf das
Blasen sich vorwärts bewegte, stand der weiße jünglinghafte Mensch vor
ihm. So unversehens stand Jonathan vor ihm, daß Marduk Sekunden anhielt,
auf den blau und schwarz gemusterten Teppich blickte und dann die Augen
auf die Menschenfigur gleiten ließ, weil er nicht sicher war, ob dies
ein lebender oder ein aus seinen Träumen gequollener Jonathan war.
Weißgekleidet wie immer stand Jonathan im Zimmer mitten unter einem
Lichtträger, mit zartblauen Stickereien an Kragen und Ärmeln, die Arme
gekreuzt und sich verneigend, blühend lächelnd, die Augen dunkel, die
Brauen schwärzlich dicht, als ob Raupen im Bogen über die Lider krochen.
Da setzte sich der Gelbgekleidete in den Schatten. Nahm eine schwarze
zusammengelegte Samtdecke von der Lehne des Sessels, zog sie sich über
die Knie, betrachtete den Menschen. Und länger immer länger starrte er
diese bewegliche Erscheinung an, blühende Wangen, weißen umgebogenen
Seidenkragen. Bewegte die Lippen: „Ich habe an dich gedacht, Jonathan.“
„Du erlaubst, daß ich mich setze.“ „Was treibst du, Jonathan.“ „Wir
haben uns lange nicht gesehen, Marduk. Ich habe nicht das Gefühl gehabt,
als ob du Verlangen nach mir hattest.“ „Ich freue mich, dich zu sehen.
Wie herrlich jung du geblieben bist.“ „Mein Tag vergeht einer wie der
andere. Ach, wenn ich mich hier umblicke –“ „Blick dich nur um.“ „Ich
kann hier stehen gehen mich umblicken: es beunruhigt mich nichts.“ „So
fern bist du mir. Das willst du mir sagen.“ „Ich bin dir Freund wie noch
nie. Ich kann dich jetzt erst ansehen. Ich sehe dich jetzt zum ersten
Male. Ich bin dir dankbar, daß du mich hast rufen lassen, daß ich dies
fühle.“ „Dies willst du mir sagen.“ Und Marduks Inbrunst wuchs, wie er
das hörte. „Auch ich, Jonathan, bin dir noch nie so wohlgesinnt gewesen
wie jetzt. Ich freute mich schon seit Stunden dich zu sehen. Ich glaube,
ich habe heute nacht von dir geträumt.“ „Soll ich dir sagen, wovon ich
heute nacht geträumt habe, Marduk. Ich träumte von Elina, meiner
Freundin. Ich hätte sie wochenlang nicht gesehen, sie sei mir entrissen,
oder ist sie selbst fortgegangen. Ich traf sie schwebend über einer
Straße, die ich selbst ging; sie konnte nicht herunterkommen. Ich ging
und ging, streckte die Arme nach ihr aus, sie glitt weiter. Aber da
wurden meine Arme lang, wie Ballons wurden sie, die mich zogen und
trugen. Erst hing ich unter und hinter ihr, dann wurde ich höher
gezogen. Sie hatte sich zu mir umgedreht. Und wie ich gerade aufwachte,
in Frieden und Glück –“ „Was war, Jonathan?“ Der schwieg, lächelte zu
Boden. Leise Marduk: „Ich weiß doch, was war. Da lagst du an ihrer
Brust. An der Brust dieser Frau.“ Freundlich lächelte Jonathan. „Was
erzähl ich dir da.“ „Ich wollte nichts anderes von dir.“ Sie sprachen
noch eine Weile weiter; Marduk wurde einsilbig, aber er ließ die Augen
nicht von Jonathan. Er schien aufzuatmen, als der Jüngere sich erhob.
Das Sprechen beim Abschied schien ihm schwer zu werden, sein
Gesichtsausdruck war ganz unkenntlich, ein Lächeln kämpfte mit einer
Erstarrung.

Und kaum der weiße selige Mensch, freudestrahlend rosengesichtig,
gegangen war, schlug Marduk, sich gegen die Wand pressend wild um sich
starrend, von seinem Drang überwältigt, die Glocke. Die Wache erschien
lautlos. „Jonathan soll eine Stunde zurückgehalten werden. Man soll in
seine Wohnung schicken. Eine Frau ist da, ich will sie sehen.“

Nach einer halben Stunde senkten sich Flieger vor dem kleinen
hügelversenkten Haus Jonathans, fragten nach der Frau. Als Elina sich
verwundert, eine Rose in den Mund nehmend, vor das Tor begab, baten sie
sie im Namen Marduks, ins Ratsgebäude zu folgen. Sie geleiteten die
Verwirrte, die an dem Blumenstengel wortlos kaute, schon hinaus.

Im selben Raum, wo Jonathan, wie aus Träumen quellend, glückselig weiß
gekleidet vor ihm aufgetaucht war, empfing sie Marduk, der graue, sein
zitronengelbes Kleid dicht um sich ziehend, sah ihr entgegen: „Du bist
die Frau, die Jonathans Freundin ist.“ „Ja. Ich heiße Elina.“ „Du
ängstigst dich vor mir ohne Grund. Da ist ein Sessel, setze dich.“ „Ist
Jonathan hier.“ „Er war hier. Ich habe mit ihm gesprochen. Er ist mein
Freund. Er hat mir von dir erzählt.“ Sie saß, blickte an sich herunter.
Nach einer Weile strich sie das Kleid unter ihren Knien zurecht: „Ist
Ihre Neugierde nun befriedigt?“ „Nein, Elina. Ich weiß, Jonathan wird
mir zürnen. Ich kann mir nicht helfen. Man hätte dir Zeit lassen sollen,
dich anzuziehen. Du frierst. Du bleibst heute bei mir?“ „Was.“ Mit
tiefer Sicherheit gab Marduk von sich: „Ja. Es bleibt nichts übrig. Du
brauchst nicht zu widersprechen. Du bleibst hier. Sei nur still, Elina.
Nichts geschieht dir, was dich ängstigen muß. Fürchte dich gar nicht vor
mir.“ Stürmisch erhob sie sich: „Ich bleibe nicht.“ „Jonathan weiß, wo
du bist. Er wird es erfahren. Du mußt hierbleiben. Sei nur nicht
erregt.“ „Laß mich hinaus. Marduk. Du bist schlecht. Ich hab es schon
gewußt, daß du schlecht bist. Du hast mit ihm gesprochen, daß du mich
holst?“ „Nein, Elina.“ „Siehst du, wie niederträchtig du bist.“

Sie rüttelte an der Tür. Die bewegte sich nicht. Sie stand, die Fäuste
hebend, einen Schrei ausstoßend, vor ihm, rüttelte an seinen Schultern:
„Laß mich hinaus.“ Er bewegte sich nicht.

Das Fenster riß sie auf. Da zuckte er hoch, wich zurück, hob den Arm vor
die Augen. Sie rief am Fenster: „Ich tue es, Marduk. Wenn du mich nicht
fortläßt, ich tue es.“ Tiefblaß war er plötzlich geworden, seine
Gesichtsmuskeln zuckten, die Augen geschlossen. Er brachte seine Lippen
zu einer Bewegung; seine Stimme tonlos: „Elina. Tu es nicht. Tu es
nicht.“ Sie wurde stiller, warf sich zu Boden, wimmerte, sonderbar
verwirrt und angerührt: „Ich will fort. Ich will Hilfe. Jonathan, hilf
mir!“ Langsam ließ Marduk seinen Arm herunter. Er öffnete seine Augen,
sie lag ausgestreckt da. „Ich hab dich nicht hingeworfen. Du hast es
allein getan.“

Er sah sie nicht mehr an. Sie suchte, wie sie sich aufrichtete und
stand, seinen immer abgewandten Blick zu haschen. Ein unsicheres Gefühl
war in ihr, als hätte sie ein Unrecht getan. Nichts sagte sie mehr. Ein
leiser Schmerz war in ihrer Brust, als er sich stumm zur Tür bewegte.
Sie war bestürzt, aber leicht befriedigt, als sie hörte, wie er leise
sagte, den Blick am Boden: „Sei unbesorgt. Es geschieht dir nichts. Man
wird dich auf ein Zimmer bringen.“ Und noch während sie von einer Wache
hinausgeleitet wurde, flüsterte er: „Keine Angst. Es geschieht dir
nichts.“

Auf dem Zimmer, auf dem die Balladeuse gewartet hatte, die Decke
zerzupfend, mit Jonathan sprechend, wartete Elina zwei lange Tage. Sie
weinte, hatte Sehnsucht nach Jonathan, nachts wilde Angst. Stundenlang
dachte fühlte sie über Marduk nach und war gequält. Zwei Tage lang kam
Marduk nicht.

Aber was war das für ein Mensch, der den dritten Morgen ihre Türe
öffnete, an der Wand stehen blieb, sich ihr näherte, im gelben langen
geschnürten Mantel, den grauen Kopf senkend, sanft: „Elina, willst du
mir gestatten, daß ich hier sitze.“ Sie hatte unendliche Furcht vor ihm.
„Du wirst in einer Stunde das Haus verlassen können. Und wirst hingehen,
wo du willst. Nimm einen Gruß an Jonathan mit. Grüß ihn von mir. Er war
ohne Grund besorgt um dich. Ich habe mich vergriffen. Ich habe es schon
erkannt.“

Sie fühlte sich, auf dem Bettrand sitzend, bewegt, zu sagen, er möge
doch nicht stehen. Es sei sein Zimmer, er möge sich setzen. Da fing er
aus seinen großen braunen Augen sie betrachtend an: „Du liebst Jonathan.
Sag mir, wie liebt ihr euch?“ Sie blickte erstaunt, dann lächelte sie
auf ihren Schoß herunter: „Er ist ja mein. Ich bin ihm von Herzen
zugetan. Willst du das wissen? Seit ich ihn habe, ist mir die Erde
schöner geworden. Seit ich ihn habe, ist alles gut geworden. Ich selbst
bin gut geworden. Er brauchte es nicht werden, Jonathan, er war immer
gut. Was soll ich dir sagen, Marduk. Ich vermisse ihn jede Stunde.“ Er
hielt den Kopf gesenkt: „Kannst du noch mehr sprechen.“ „Von Jonathan?
Immerfort könnte ich von ihm sprechen. Du glaubst gewiß nicht, was ich
sage.“ „Sprich doch weiter, Elina.“ „Du kennst ihn ja selber. Du mußt
nicht glauben, daß ich seiner unwert bin. Aber er weiß es selbst. Wenn
man sich liebt, glaubt man das nicht. Ich liebe ihn nicht von gestern
auf heute, und morgen ist nichts mehr. So innig, so innerlich bin ich
ihm zugetan, daß ich mir gar nicht denken kann, daß dies erlischt. Ja,
daß dies mit mir und Jonathan stirbt. Du magst lachen, Marduk; ich
glaube, wenn du mich umbringst mit Jonathan –“ „Was ist dann? Sprich
nur. Ich bring euch gewiß nicht um.“ Sie saß mit geschlossenen Augen,
flüsterte nach einem Schweigen: „Die Welt wird dann schöner werden. Die
Erde wird dann schöner. Wir werden nicht mehr zwei Menschen sein, die an
einem Fleckchen, in einem Zimmerchen sind. Wir werden wandern, hier
beseelen, da beseelen, wie eine Wolke. Wir werden viele glücklich
machen. Wir sind auch vielleicht bei dir. Ich dachte schon manchmal,
wessen Glück auf mich übergegangen ist, welchem süßen Abgeschiedenen ich
zu danken habe.“

Tränen liefen ihr aus den Augen. Er fragte nicht. „Ich weine um ihn,
Marduk. Was hat er in diesen Tagen gelitten. Du bist nicht schlimm. Wie
ist es ihm gegangen, bevor wir uns fanden. Er hat solche Kraft zu
leiden.“ „Ich habe sie früh an ihm erkannt. Sie wird nicht absterben wie
die andere Kraft, von der du sprichst.“ Sie lächelte: „So viele Menschen
haben Liebe, Marduk. Auch Tiere und Vögel und Schmetterlinge. Sogar
Löwen und Bären.“ Er lächelte nicht, als sie ihn anlächelte. „Du machst
einen Scherz mit mir, Marduk? Ich weiß nicht recht, was du mit mir
tust.“ „Geh jetzt, Elina. Ich danke dir, daß du zu mir gesprochen hast.
Du bist mir nicht böse.“ „Nein, nein. Und ich kann jetzt gehen.“ „Ich
öffne dir.“ Sie gab ihm die Hand, blickte ihn von der Seite an:
„Lebewohl, Marduk. Leb’ recht wohl. Wovon bist du so grau? Und warum
trägst du einen Bart?“ „Jonathan soll mir nicht grollen.“

Wie sie im Hause ihres Freundes war und sie sich besänftigt hatten,
drang Jonathan in sie: „Flieh mit mir.“ Sie konnte nicht. „Du, Elina,
ich sehe mein Geschick.“ „Was ist das?“ „Es ist das des flüchtigen
Desir, des Freundes der Marion Divoise. Er haßt mich jetzt. Er will mich
treffen. Er hat sich geschämt; er war zu rasch, er war zu deutlich. Aber
er will mich treffen, mit dir, meiner Geliebten.“ „Ich werde nie zu ihm
gehen. Ich bin nicht die Balladeuse. Ich habe nur dich, ich habe es ihm
gesagt, er hat es gehört. Mit dir zusammen sein ist mein Leben. Er weiß
es und es ist wahr. An ihm – ist etwas Schauerliches. Zuerst hielt ich
ihn sogar für schändlich. Ich weiß nicht, wie du sein Freund sein
konntest. Du, mein wonniger Jonathan.“ „War ich sein Freund? War ichs
oder bin ichs? Er hat meine Mutter gemordet, ich habe es dir erzählt. So
fing sein Konsulat an. Da stand er und wußte nicht weiter. Er schwankte,
er schwankte noch oft; er wollte immer weg von seinem Konsulat; an mich
hat er sich gehalten. Dazu war ich sein Freund. Den Schmerz in mir hat
er gezüchtet, um nicht zu verzagen, nachdem er alles vernichtet hatte,
woran er selbst hing, seine Pflanzen seine Bäume, die wunderbaren Dinge,
die er trieb. Was will Marduk von mir? Ich bin ihm einer der Stiere, der
Metallstiere Markes: ich soll ihn erinnern. Ich soll brüllen. Vor
Schmerz brüllen. Sonst wird alles sinnlos, was er treibt. Sein Konsulat
fällt ihm aus den Händen. Vielleicht treibt ihn jetzt die Gewalt allein
und er merkt, daß er überhaupt gar nichts mehr ist. Daß er mitmachen
muß, mitheulen muß. Und er möchte ja nicht, ich sage es dir, Elina,
darum verfällt er auf alles mögliche, darum hat er das Land ausgedehnt
und was sonst. Was wollte er denn mit dir? Die Maus in der Falle!“ Elina
wich von ihm, hob die Hände: „Wie ist mein Jonathan böse! Das bist du ja
gar nicht.“ „Ich bin es doch. Ich kann auch böse sein. Ich ohne
Schleier. Er hat mir Schleier vorgelegt, mich nach seinem Willen
gezüchtet. Ich ohne Schleier. Vor Schmerz habe ich brüllen müssen, an
der Ostsee hab ich fast sterben müssen, und später gab es fast keine
Woche, wo ich nicht einen halben Tag mit dem Tode rang. Das wußte er und
das tat ihm wohl. Der Uralische Krieg war ich. Den preßte er in mich
hinein und sättigte sich daran. Die Bilder genügten ihm nicht, Markes
Schädelpyramide reichte nicht. Sieht er mich, brülle ich, so weiß er
etwas, so hat er Sättigung, so kann er seinen Wahnsinn leichter
herunterschlucken. Dann schmeckt er ihm.“

Sie hing ängstlich an ihrer Stuhllehne, schaute ihn mit großen Augen an:
„Von dem, was du sagst, verstehe ich das meiste nicht. Aber du mußt weg
hier. Das seh ich. Warum bist du nur solange hiergeblieben mit mir?“ Der
weiße Jonathan stand still; langsam ließ er den Kopf sinken. Leise
Elina, einen Schritt näher zu ihm: „Doch seinetwegen.“ Er schwieg, den
Kopf vor der Brust, die Hände gefaltet vor die Stirn drückend. „Ich weiß
es doch, Jonathan; seinetwegen.“ Er ließ die Hände, blitzschnell warf er
den Kopf zurück, war er bei ihr, umschlang sie: „Ich habe dich. Ich
liebe dich. Komm. Du bist mein Leben und mein Licht. Ihr Haare seid mein
Glück. Die süße Haut. Du nasser Mund. Mein Hals. Du feine Brust; ich
krieche in dich hinein. Und nun küß mich. Ich habe dich wieder, Elina.
Elina.“ Seine Knie knickten ein: „Ich bete.“ Sie sank zu ihm herunter:
„Jonathan. Nichts kann ich dir sagen. Ich bin dir ja so nahe.“

Sie gingen nach dieser Stunde wie sonst nebeneinander. Fester drückten
sich ihre Arme aneinander.

                   *       *       *       *       *

Zerstreute Menschenherden schoben sich über die öden Flächen der
Kontinente. Ein besonderes trübes Verlangen trieb Massen aus gestopft
vollen Stadtschaften nach Osten in die russische verwüstete Ebene. Auf
dem ungeheuren Schlachtfeld des Feuers der Gifte der Ströme kletterten
sie über Schuttberge, umgingen grünlich behäutete Sümpfe, hoben Reste
von Menschen- und Tierknochen auf. Die weite Tiefebene hauchte nicht
mehr Gas. Regen Wind Schnee Sonne hatten lange Jahre gearbeitet. Über
einen abenteuerlichen dünn übergrünten Friedhof fuhren und gingen sie.
Gerste Roggen wuchs in wilden Halmen. In das verstümmelte Riesengebiet,
das von Wassern sprudelte, über das der Wolgastrom der Don Dnjepr
ausgekentert war, waren Pflanzenkeime, leicht schlafende Wesen, den
Menschen und Tieren vorausgeeilt. Pilze, kurze stämmige Boviste und
Erdsterne hatten sich an den südlichen Flußmündungen, an den Meeren und
Sümpfen geöffnet, Herbststürme trugen die leichten Kugeln in das wüste
nördliche Land, streuten ihr Sporenpulver auf den losen nackten Boden.
Die Kiefern und Lärchen des Südens schickten geflügelte Samen her.
Gräser tanzten mit Flügeln wolligem Bausch Haarschöpfen, auf Windsäcken
lautlos her von dem bewachsenen Abhang des Ural, aus der Krim und von
Astrachan, von Polen Galizien, in das zerwirbelte zerknirschte russische
Land trieb sie die Luft; sie stiegen und sanken mit Wärme und Kälte.
Drehten sich, schleierten über den Boden. Flogen mit drehenden Scheiben
Platten Walzen Schrauben, waren Staubkörner, zogen hoch über endlose
Strecken mit Schirmen und Segeln. Sie fielen; Blumen Gräser Halme
keimten aus der behauchten Erde. Von den grünen Grenzen drangen die
Pflanzen Blumen und Bäume tiefer und tiefer in das tote Innere. Die
Sprengkraft der furchtbaren Flammenbergwerke hatte das Erdfundament
nicht erschüttert. Die uralte Erde lag da, atmete empfing. Die
wandernden Bergwerke hatten die Sonne nicht erreicht; die zog morgens
vom Uralgebirge her, wärmte vergoldete die Wolken. Der Mond, oft rot,
oft tief vergilbend, weiß wie ein angestrahlter Spiegel zog in den
Nächten hinter der Sonne her, in der schwarzblauen Unermeßlichkeit des
sternezitternden Himmels. Es gab noch alles. Die scharfen Klüfte, die
die Flammenbergwerke in den Boden gerissen hatten, flachten ab, sanken
zusammen. Die Schwaden verdunsteten. Und mehr und mehr zogen sich bunte
Tupfen die Flüsse entlang. Als aus griechischen und rumänischen
Stadtschaften kleines Menschenvolk, wagenführend, mit Kindern und Vieh
suchend das holprige rissige abgründige Gebiet durchzog, stießen sie auf
Menschen, die sie noch nicht gesehen hatten. Wesen, die sich wie sie
bewegten, den Pflug führten, Pferde und Rinder trieben, Hunde neben
ihnen, Männer und Frauen mit breiten gelben Gesichtern; sie beobachteten
einander, taten sich nichts. Oft stießen sie auf solche Menschen.
Chinesen Burjaken Mongolen, die die Pässe des Ural durchwandert hatten.
Griechen und Rumänen besiedelten neben ihnen das Land.

An der Nordsee zog sich die ungeheure Stadtschaft Hamburg hin, schloß
Lübeck Itzehoe im Norden, Bremen im Süden ein. Sie hatte, mit London
verbunden, keine Umwälzung in sich geduldet, die Gewalt ihrer
Herrengeschlechter nach einigen Revolten stärker befestigt. Die große
Seelandschaft erschauerte bei der Annäherung der Märker. Ihre trägen
Massen verlangten nach einem Wall im Westen und Süden; man sollte die
feindselig Andrängenden rasch attackieren und zurückschleudern. London
sah die Gefahr Hamburgs, aber die englischen senatorischen Sippen
liebten die Männer und Frauen der neuen Art. Vergeblich schickte London
Botschaften an Marduk, den Senat, die Führer einzelner Horden. Die
britische Zentrale wollte die Märker vor einem Angriff Hamburgs
bewahren. Dann verfiel man darauf, sich der Frondeure und Täuscher im
märkischen Gebiet zu bedienen. Sie waren geheim vom Ausland mit Material
versorgt, die Mekilaboratorien waren mit ihnen auf Weisung der fremden
Senate in Zusammenhang geblieben. Früh fingen diese Täuscher, die großen
gestürzten Geschlechter, an, sich zu bewaffnen. Wie Marduks Regiment
wider Erwarten sich befestigte, eine unglaubliche Energie das Volk in
Bewegung setzte, mischten sich die Täuscher unter die Horden. Sie
bildeten eigene Gruppen, bei der allgemeinen Lockerung wenig beobachtet.

Nahe dem im Hannöverschen gelegenen Quartier des Täuschers und
Hordenführers Lorenz landeten Flugzeuge. Englische Männer suchten ihn.
Mit ihnen ein gigantisches Wesen, von negerischem Aussehen,
schwarzbrauner Hautfarbe. Während die blassen Engländer unter Ten Kates
mit dem märkischen Bandenführer verhandelten, zwischen Tannen
herumgingen, mittags an einem Wasser lagerten und eine zähe barbarische
Speise einzunehmen gezwungen wurden, Schenkel geschossenen Wilds,
bewegte sich der Schwarze, den sie nicht ins Gespräch zogen, unauffällig
unter ihnen, saß mit halb geschlossenen Augen auf dem Sandboden, die
Beine untergeschlagen, schien nur begierig, eine von den schweren bunten
Felddecken an sich zu ziehen, die die Engländer um sich ausbreiteten.
Die nahmen lächelnd und dankend die derben Kupferschalen und
Mörserkeulen an, die man ihnen bot, als sie vergeblich mit ihren
schwachen Kiefern, bröckligen schwarzen Zahnstummeln das gesottene
Muskelgewebe zu zerreißen suchten. Zerschnitten stampften es zu einem
Brei, den sie schluckten. Den Märkern, die ihnen zuschauten, blitzten
die Augen. Sie kauten bissen schnalzten; sie knackten Knochen. Nicht
einmal dann mischte sich der Schwarze, der Fleisch wie die Märker
schlang, ins Gespräch, als Ten Kates bei Sonnenuntergang von der Erde
sich erhob und beim Herumschlendern mit den andern, den schmalen Lorenz
umfassend, auf Zimbo zeigte: sie würden den hier lassen, er würde ihnen
gut zur Hand gehen.

Wie ein Krokodil, das lautlos an der Oberfläche des lauwarmen Wassers
treibt, sich der Sonnenwärme freut, gleichmütig von der Strömung über
und über gerollt wird, in der Nähe und von weitem wie ein
grünlichbrauner abgedrehter Baumstamm, am Sandufer trocknend grau und
rauh wie eine Steinmasse, so unkenntlich trieb Zimbo zwischen den
andern. Abends, wie die Engländer abflogen, hatte er sich entfernt. Am
Morgen klopfte er an Lorenz’ Haus, setzte sich, eingelassen ungeschickt
auf einen Stuhl, den man ihm bot. Legte den linken Arm auf den Tisch,
fragte, womit man hier schösse. Sein Arm blutete. Lorenz bückte sich
über den Tisch; der Schwarze war an einen Posten geraten, der mit Schrot
schoß. Der plattnasige Mann murmelte: „Es sticht“ ließ sich verbinden.
Er fragte mit seiner baßtiefen gurgelnden und rieselnden Stimme, was sie
hier täten. Das Weiße seiner Augen ließ er aufschimmern. Er lachte und
nickte, als Lorenz erzählte, sie hielten sich zum Schein für einen
Angriff bereit, spionierten inzwischen, sorgten dafür, daß nicht zu viel
in den neuen Gebieten demoliert wurde. Sie gossen sich Branntwein
hinter. Was der Konsul Marduk täte, wo er sei; gibt es einen Senat. Der
elastische Weiße schloß die Tür; Marduk hielte sich im Hintertreffen: zu
trauen sei ihm nicht, er schiene gleichgültig zu sein, aber der Mann sei
gefährlich. Wieder knurrte Zimbo, zeigte das blutig durchlaufene Weiß
seiner Augen. Lorenz drang auf rasche englische Hilfe. Zimbo blickte ihn
nur zwischen den verquollenen Augenlidern an, schlich die gelben starken
Zähne zeigend, hinaus. Eine ganze Woche hörten die Gruppen der Täuscher,
die glaubten, ihre Stunde schlüge bald, nichts von dem englischen
Funktionär. Dann erfuhren sie, er triebe sich in der alten Innenstadt
herum, habe sich einmal an Marduk herangemacht, sei bei den Bergwerken
in der Lausitz. Wie die Zeit vorrückte und Lorenz schon verzagte,
erschien Zimbo im Arbeiterkittel, von der Verden-Celler Straße her, in
die sich die äußersten märkischen Posten schoben. Wieder lungerte er nur
herum.

Der hamburgische Vorstoß setzte ein. Ein trüber Septembermonat. Der
hamburgische Senat hatte sich nach der Infiltration der Lüneburger Heide
neu konstruiert und folgte dem Druck seiner Bevölkerung, die durch
Schreckensnachrichten über die Natur der östlichen Angreifer gepeinigt
wurde. Man glaubte in der Seestadt rasch mit den Östlichen fertig zu
werden. Heimlich vor den beobachtenden englisch-kontinentalen Freunden
schickte der Senat eine Handvoll technischer Truppen mit
Angriffseinrichtungen vor, die den früheren Brandmasten ähnelten,
transportabel waren und kleinere Flächen bestrichen. Diese Truppen, von
Bremen vorgehend, erreichten in wenigen Tagen eine radikale Säuberung
der durchschrittenen Landstreifen. Nicht sehr tief und nicht in großer
Breite gingen sie vor, denn man dachte durch Abschreckung das Weitere zu
erreichen. Die Truppen aber, nachdem sie die schreckliche restierende
Ergiebigkeit ihrer Einäscherer sahen, waren nicht zu halten. In Hamburg
schlug sich der Senat noch den zweiten Tag über die Frage der
Kriegsverlängerung, die Art seiner Weiterführung herum. Da legten die
angreifenden Techniker schon wieder die Drähte an die großen Fernkabel,
stellten die Transformatoren Blenden Konzentratoren auf die kreisrunden
Wagengestelle, stießen auf ihnen nach Nordosten in die Heide hinein. Die
herumvagierenden nördlichen Horden der Märker wurden vernichtet,
dahinterstehende wichen gegen die Aller nach Hannover zu aus. Der
Außenteil der Heide war von der östlichen Invasion befreit. Die
Seelandschaft Hamburg erzitterte. Die Herrschenden stellten sich
kriegerisch um; die Märker sollten ganz ausgerottet werden. Auf Hannover
Hildesheim Braunschweig zogen sich die märkischen Banden zurück. Es
wurde, da eine größere Zahl Männer und Frauen sich unter Waffen stellte,
damals nötig, daß die Mekifabriken der künstlichen Nahrung stärker
arbeiteten. Mit Widerwillen mußten sie die schon halb entwöhnte zarte
mästende Nahrung nehmen. Mit Schmerz konstatierte der Senat, daß die
Äcker und Kohlenbergwerke durch den Krieg ihrer Menschen beraubt wurden;
er stellte auch mit Stolz und Zuversicht fest, daß man diese Periode
überwinden werde.

Wie sie sich auf Hannover und östlicher zurückzogen, hielten die
Täuscher den Augenblick für gekommen zu einem Schlag. An ihnen lag es,
eine furchtbare rasche Aushungerung des Landes vorzunehmen. Und damit
begannen sie. Fünfzehnhundert Menschen waren es, die in den Fabriken der
synthetischen Nährstoffe drei Wochen nach dem Hamburger Rückschlag die
Fabriken verließen, bei einer Kampftruppe auftauchten und zu erkennen
gaben, daß ihre Kriegsbegeisterung sie nicht in den Fabriken dulde. Sie
suchten damit Zeit zu gewinnen und ihr Leben zu retten; die Katastrophe
konnte bei den geringen Vorräten nicht lange ausbleiben. Einzeln wurden
sie vor den verblüfften Senat gestellt, der sie halb durchschaute. Bei
den Horden erregte ihr Erscheinen im ersten Augenblick Jubel. Dann kamen
die warnenden Aufklärungen des Senats.

Und schon war Marduk selbst auf dem Plan erschienen. Der graue Konsul
trat in diesem Moment auf, als hätte er sein Stichwort abgewartet. Seine
alten Feinde, die Männer und Frauen der Apparate, der hohen
Wissenschaft, wollten dem Land an die Gurgel, sein Werk zerstören. Sein
Ansehen und seine Wache verschafften ihm sofort die Führung im Senat. Er
fragte die Gefangenen aus, sagte ihnen, daß sie zu den versteckten
Täuschern gehörten und was sie planten. Alle fünfzehnhundert aus den
Fabriken Entflohenen ließ er dann in Linden bei Hannover
zusammentreiben. In Gegenwart von Abordnungen aller Horden ließ er
hundert von ihnen grausam auf einer herbstlichen Wiese foltern. Dies zog
er einen Nachmittag hin.

Als sie am folgenden Vormittag und den Nachmittag nicht eingestanden,
gab er sie den Kriegern am Abend zum Mord frei. Man hat von diesem Mord
im Ausland nichts gehört, nur nach Hamburg sickerte es durch. Es ist
Tatsache, daß an diesem Abend auf dem europäischen Kontinent wieder
Menschenzähne Menschenfleisch zerrissen und Menschenlippen Blut tranken.
Das Rasen der Krieger um die Gefangenen, die sie sich zu entreißen
suchten, war beispiellos. Die Tötung wurde lange hingezogen. Die
afrikanische Durchflutung des europäischen Blutes wurde deutlich. Aus
zertrümmerten Schädelschalen tranken Krieger, Männer und Frauen, noch am
nächsten Tage. Unter den benachbarten Horden wuchs mit der Kriegswut ein
wollüstiger Drang, der sie schwächte und Marduk veranlaßte, andere
Methoden gegen die lebenden Gefangenen anzuwenden. Es ist sicher, daß
sich damals der Konsul Marduk, der als grauer matter Mann aufgetaucht
war, verjüngte. Er ließ die Gefangenen fesseln. Die Lebensmittel waren
zu strecken, Krieger, wo es anging, hatten auf die Äcker zurückzukehren.
Den Horden und Häuptlingen gab er Kenntnis vom Stand der Dinge und gab
ihnen Auftrag: da wo sich Hunger einstellte, sollten sie sich Nahrung
holen. Der Hauptteil seiner bewaffneten Wache ging an die Grenze.

Es waren nicht alle Flüchtige aus den Mekifabriken, die Marduk fesseln
und töten ließ. Nahe der Horde Lorenz lag in der Nähe von Ülzen an der
Ilmenau die Truppe Jan Lubbocks, und nördlich davon, in der Gegend des
alten Bewensee, die stark mit Weibern durchsetzte Truppe der Angela
Castel, einer stillen harten Frau, die zu den Liebhaberinnen der
Balladeuse gehört hatte, der Marion Divoise, von der es hieß, daß Marduk
sie in Liebesscham zum Fenster hinausgeworfen hatte. Die hellbraune
glattgescheitelte kleine Castel war die einzige Frau, die sich in der
männlich verwandelten märkischen Stadtlandschaft unter den Führern
hielt, sie, die sich und ihre Truppe mit Tannenzweigen an der Brust
schmückte und verbitterte Frauen unter sich versammelt hatte. Spott lag
auf dieser Schar; man ließ sie gewähren. Sie hielt die Flüchtigen aus
den Mekifabriken mit Stolz bei sich. Und als klar wurde aus Bewegungen
südlicher und östlicher Gruppen, daß der gehaßte Marduk gegen sie etwas
im Schilde führte, brach sie los. Sie schuf sich erst Platz durch einen
Angriff auf die Hamburger im Norden. Dicht an Lauenburg drang sie heran.
Gegen die Hamburger wandte sie zum erstenmal ihre eigenen Fernwaffen.
Zuerst den Wolkenbläser. Dies war ein Vergaser, der eine schwere
schwarze wie kohlegesättigte Luftmasse von sich gab, die sich auch unter
Wind kaum vom Boden und der eingeschlagenen Triebrichtung entfernte.
Ohne giftig zu wirken und zu schädigen, hüllte die schwarze anschwebende
bodenentlang kriechende Wolke jeden Menschen Gegenstand Baum Weg Berg
Wagen Pferd dicht ein, so daß augenblicklich alles, was in ihren
finstern Bereich kam, genötigt war halt zu machen, von tiefer Angst
erfüllt. So dick war die Schwärze, daß Menschen, die sich bei den Händen
berührten, sich nicht sahen, daß sie Auge an Auge drängend in Nacht
hilflos dastanden.

Das Unheil, das unter den Gegnern entstand, als die erste Wolke, die sie
für giftig hielten, bei Lauenburg am Boden in undurchdringlichen
meterhohen Schwaden bauchig sich vorwölbend gegen sie anschwoll und sie
überwogte, sie versenkte. Fahrende Wagen suchten zu entkommen; schrill
und dumpf stießen sie Warnrufe aus. In Nacht vorrasend fuhren sie gegen
laufende irrende stehende Menschen, rannten an Bäume Häuserwände auf,
wuchteten zerschmetterten aneinander. Pferde auf den Weideplätzen
brachen los, galoppierten hell und heiß wiehernd, warfen Menschen
nieder, stürzten Stufen herunter, bissen entsetzt nach anderen Tieren,
nach schlagenden Menschen, an Baumstämme, die vor ihnen nicht auswichen.
Die Menschen, wo sie betroffen wurden, in Häusern auf Straßen auf Wiesen
suchten zu entkommen. Liefen, riefen sich an, faßten sich, sahen sich
nicht, tasteten blind weiter. Dann rasten Tiere und Wagen unter sie. Sie
warfen sich hin. Wo sie ein Erdloch fanden, krochen sie hinein. Auf
Geräusche lauschten sie nach allen Seiten, um zu wissen, wohin sie
flüchten sollten. Und wie sie ruhig anhielten, in die Nacht gebannt,
hatte sie die feindliche Truppe gefaßt. Wie man Sand in einem Sieb
schüttelt, wurden sie von den Feinden ergriffen, mit Kugeln und
Geschossen von oben und den Seiten durchlöchert. Blitze ließ man durch
sie laufen. Einen brennenden, einen tötenden Augenblick war Licht unter
ihnen.

Vor Lauenburg schickte die hellbraune Castel gegen eine dichtbesiedelte
truppenbesetzte Landschaft einen Flußlauf. Das Wasser der Elbe, breit
fließend, viele Meter tief in die Erde eingegraben, erhob sich wie
abgerahmt aus seinem Bett, übersetzte in meterbreiter Ausdehnung den
baumbestandenen steingefaßten Uferrand, stäubte spritzte hin wie
unwillig, dann heftiger, schwemmte brauste mächtig wogend in die wiesen-
park- straßenbezogene Landschaft. Flach ausgebreitet wälzte sie sich
südwärts in die offene Heide ein. In die Häuser Zimmer, durch die
Fenster sprang der Strom, Menschen Geräte Tiere Zäune aufhebend. Gärten
Ställe Fabriken demolierte er, unablässig weiter schwellend, getrieben
von der bald lautlosen bald orkanartig heulenden gegen das Flußbett
gerichteten Gewalt, die das Wasser angefallen hatte. Man erfuhr später,
daß Frauen der Gruppe Castels im Besitz der Erfahrungen waren, die bei
der Insel Jan Mayen in so ungeheure Erscheinung traten und einen neuen
Abschnitt in der Bezwingung des Wassers darstellten. Die Elbe war
abgeschnitten bis zur halben Tiefe durch die sprühenden vergasenden
Ketten, die ins Wasser tauchten aus starr überhängenden Drähten. Sie
floß flach unterhalb dieser Sperre. Jenseits der Sperre aber wuchs sie
wie geschleust mauerartig hoch, überlief, die schwere schlammwälzende
Elbe, das Land, füllte es klatschend.

Die Castel legte um ihre bis zur Elbe vorgebrachte Truppe einen
Verteidigungsgürtel mit Fernwaffen, wartete die Wirkung ihres Vorgehens
auf Marduk ab. Wie der bei Ülzen stehende Jan Lubbock und Lorenz, über
die Tat der schweigsamen Castel entsetzt nach Zimbo suchten, erschien
der schwarze schmalköpfige Zimbo bei Lauenburg, fragte die Castel, die
ihn kannte, nach ihren Absichten. Die gab ihm zurück, sie werde genau
das tun, was sie erreichen könne. Er wollte bei ihr eintreten, die
weiteren Operationen leiten. Sie lehnte ohne eine Miene zu bewegen ab.
Zimbo röchelte einen Augenblick in Wut vor ihr, dann schlug er sich auf
die Brust, nahm ihre geschlossene Hand, als sie lächelte, wünschte ihr
Glück. Während die Castel sich um Lauenburg befestigte, hielt Zimbo
Lorenz und Lubbock in der Gewalt, daß sie davon absahen, sich der
gefährlichen Frau anzuschließen. Sie taten, was der schlaue Mann vom
Kongo ihnen vorschrieb. Lieferten die siebzig Flüchtigen aus den
Mekifabriken nach Berlin an Marduk ab, der sie zu den übrigen tat,
versteckten ihre Waffen, gebärdeten sich unterwürfig gegen den grauen
Konsul und den Senat. Der graue hohe Marduk legte sich wieder die Waffen
an, die er im Beginn seines Konsulats trug. Die Wache des Ratsgebäudes
und um ihn verstärkte er um Hunderte. Der schwarze schweigende Lucio
Angelelli bezog seinen alten Posten.

Das weite Land, das die Stadtschaft an sich gerissen hatte, überflog
Marduk mit Angelelli. Die wieder vorstoßenden Brandwerfer der Lüneburger
Heide sahen sie, die Flammen in Celle, das Wallen und Schwemmen der Elbe
am Standort der verräterischen Angela Castel, im Land verstreut halb
aufgelöste plündernde Horden, Ackerbauern, die sich gegen Nachbarn
verteidigten. Warnende Nachrichten erreichten sie in Hannover: die
verfemte Castel bereitete einen Angriff auf Berlin vor, Hamburg und
England stünden hinter ihr. Ein weiblicher Bote von ihr kam in Hannover
an auf der Suche nach Marduk; in einem kurzen Brief ermahnte die Castel
den Konsul, seine Waffen niederzulegen und sich außer Landes zu begeben;
sie sei nicht die einzige gegen ihn in der märkischen Landschaft. Das
wußte Marduk. Es kam ihm nicht darauf an. Er war, und ebenso Angelelli,
sein stiller schwarzer Gefährte, geschüttelt von einem heftigen Gefühl,
als er das schneebedeckte Land sah, die Flächen, die schon zum Acker
aufgebrochen waren, Menschen beim Bohren von Brunnen, niedergebrochene
Häuser und Fabriken und hinter dem stummen sich bäumenden Land die
westlichen Riesenstadtschaften, die eindringenden Flammenschießer in der
Heide, die Überschwemmung bei Lauenburg. Wie von einem Blitz war er
getroffen, als er dies sah. Ein Schmerz und Glück: sein Werk!

„Angelelli, du kennst die Castel. Das ist ein anmaßliches Weib, die
nichts vorhat, als die verruchte Frauenherrschaft über uns zu verhängen.
Ihr liegt nichts an dem Land. Sie versteht nichts. Noch weniger als die
Londoner, die doch etwas ahnen. Aber wenn sie für nichts, für ihre
dummen Pläne sich der Vernichtung durch mich und die andern aussetzt,
soll ich mich beschämen lassen. Willst du dich beschämen lassen, Lucio
Angelelli.“ Der legte seinen strengen Kopf nach rückwärts: „Ich nicht,
Marduk.“ Marduk hob die Arme: „Und ich!“

Ein Teil seiner Wache flog ihm nach auf Hannover. Als Marduk sie sich
westlich von den letzten Ausläufern der Stadt setzen hieß, wurde
Jonathan bei ihm gemeldet. In einem qualmigen mit Kohle geheizten Raum
einer halb abgebrannten Fabrik stand Marduk, den ruhigen ernsten Blick
gegen den blassen weichen Mann. „Marduk, ich suche dich seit drei Tagen.
Ich freue mich, dich zu treffen.“ „Auch ich, Jonathan.“ „Du fragst, was
ich will.“ „Nein, ich frage nicht. Du kommst doch zu mir.“ „Ich will
nichts von dir, Marduk. Ich habe früher nichts gewollt und will jetzt
nichts. Ich möchte dich warnen.“ Jonathan verschattete sich die Augen
mit der Linken. „Von der Castel war ein Bote schon bei mir.“ Der Blasse
flüsterte: „Kann sein. Du scheinst dich nicht darum zu kümmern. Geh
außer Landes.“ „Gehörst du auch zu den Täuschern?“ Der jüngere verstörte
zitterte wenig, dann bezwang er sich, richtete sich auf: „Ja.“ Marduks
Hände hingen schlaff herunter. Die Augen in seinem Kopf waren
geschlossen. Er stand eine Weile, als ob er schlief. Wie er die Augen
öffnete, stand Jonathan noch da. Der Mann, sein einziges Glück einmal,
war drängend näher an ihn gekommen. Marduk schüttelte den Kopf: „Du
sagst mir keine Neuigkeit, Jonathan. Willst du mich warnen vor dir?“
„Ich weiß, daß du keine Furcht vor mir hast.“ „Nein.“ „Ich warne dich.
Geh außer Landes.“ Marduk faßte den Jungen um die Brust: „Du willst mir
das anbieten? So erbärmlich denkst du von mir? So fremd bist du mir?“
„Ich muß es tun.“ Marduk hauchte wie gelähmt: „Ein Täuscher. Es lohnte
nicht, daß ich ein Wort an ihn verliere. Die Castel ist frech. Er,
seinen Namen sprech ich nicht aus.“ „Marduk, ich hasse dich ja nicht.“
„Sitzt du bei deinen Maschinen gegen mich? Geht es dir gut dabei.
Jonathan. Aber leb wohl! Du! Leb recht herzlich wohl.“ „Mir nützt es
nicht, was du sagst. Darum kam ich nicht. Ich warne dich, Marduk! Wir
sind viele.“ Marduk grimmig: „Laß mich los. Sprich nicht mehr zu mir.
Ich verachte mich, wenn ich dich sehe.“ „Marduk.“ „Weg, weg! Es
schüttelt mich. Daß du mir unter die Augen trittst! Daß du es wagst.
Warum? Das heißt nicht, mich vor dem Tod bewahren. Du hast doch eine
Geliebte. Geh zu ihr.“ „Ich will dir sagen, Marduk: erst hast du meine
Mutter getötet, ich bin dir gefolgt, dann mußte ich von dir gehen. Ich
warne dich jetzt. Schmäh mich nicht.“ „Sag mir du, bist du gekommen, um
mir das von deiner Mutter zu erzählen? Weil es deine ganze Armut,
Jonathan, deine ganze Trostlosigkeit enthüllt. Du hättest um deiner
Mutter willen jetzt schweigen sollen. Von deiner Mutter hättest du
nichts sagen sollen. Ich weiß, sie hat dich mit mir verbunden. Sie ist
jetzt – gegen dich!“ Jonathan faßte sich an den Hals, wie gewürgt
stöhnend, die Augen waren ihm vorgetreten: „Sprich nicht weiter,
Marduk.“ „Ich spreche schon nicht. Warum erlöst du mich nicht? Warum
gehst du nicht.“ „Ich habe mich schwer hergezogen, Marduk. Ich habe mich
gewunden und geschämt herzukommen. Ich habe um dich und durch dich
grenzenlos gelitten, Marduk. Du weißt es. Ich hänge an dir. Ich kann
dich nicht loslassen. Ach ich warne dich, Marduk. Stirb nicht und stirb
nicht mit meiner Hilfe. Ich bitte dich, flieh. Ich flehe dich an, hör
auf mich. Ich flehe. Ich flehe. Marduk.“

Der wandte ihm den Rücken. „Du wirst außer Landes gehen, Marduk?“ Lucio
Angelelli trat neben Marduk. „Du wirst meinem Rat folgen, Marduk? Gib
mir eine Antwort.“ Dessen Augen blickten auf den Hauptmann. Der griff
von hinten Jonathan um den Leib, schleppte den wimmernden aufheulenden
schlagenden vor die Tür, warf ihn auf die Treppe. Ein zuspringender
Krieger lähmte den Hingestürzten durch einen Kolbenschlag. Marduk,
selbst vor die Tür tretend, wehrte dem Krieger, der zurückwich.

Wieder wurde der Konsul, wie er am nächsten Tage die Wache beging,
verzaubert von den Schneefeldern. Über Ruinen legte sich der endlos
rieselnde Schnee. Hing weiß an Vorsprüngen und Kanten der Gemäuer wie
ein Vogelnest, wölbte sich zum Balkon, floß Stufen herunter, überlagerte
in einem breiten leichten Schwung Mauerreste Treppen Erdboden. Die
Flocken stiebend vom grauen Himmel. Verschüttete Bäume Häuser Wege. Der
Anblick rührte Marduk, wie er im dicken schwarzen Lederumhang neben dem
Hauptmann ging, heftiger und heftiger: „Es ist die Frage, Angelelli, ob
wir feige sein wollen und unsere Zeit abwarten oder ob wir standhalten.
Ich will deine Antwort nicht herausfordern. Ich habe keine Lust noch
irgendetwas abzuwarten. Ich bin vollkommen da.“ „Sie müssen uns das Land
aus den Zähnen herausziehen.“

Angelelli ordnete für die Horde eine Feierlichkeit an, die von England
herübergekommen an die indianische Sitte des Medizintanzes erinnerte.
Die dreißig kräftigsten Männer der Truppe suchte er aus; sie hatten
einen nahgelegenen Berg zu umkreisen und zu überqueren, bis sie
erschöpft zusammenbrachen. Zwei Tage und zwei Nächte gingen die Männer
ohne Speise und Trank; ein großer Teil der Truppe lagerte, bald stumm,
bald singend an dem Wege. Zwei Tage und zwei Nächte hatten die Führer
vorgeschrieben. Kein einziger der dreißig Männer, die sich zuletzt
schleppten und wanden, kaum die Füße hoben, mit stieren Blicken, die
Köpfe hängend, sich über die weiße Fläche, selbst schneebeladen,
vorwärtsschoben, keiner versagte unter dem letzten Schmettern der
Bläser, dem Brausen des Männergesangs auf den begangenen Wegen.

Der schwarze Zimbo stand unbeachtet an einem dieser Wege. Grübelnd
schlenderte er am Abend des letzten Tages davon, pfiff vor sich. Er
schnellte mit den Füßen Steine hoch. Das war bei der Horde ein schönes
Spiel gewesen. An den Yellalafällen hatte er so eins gesehen. Er lachte
und knurrte vergnügt. Eine junge Birke faßte er mit beiden Händen an,
bog den Stamm hin und her. Die Männer hatten schöne Muskeln. Und Lungen.
Wie sie sich fortschleppten, als hätten sie einen Tritt ins Kreuz
bekommen; aber es ging; sie machten es. Warum sollte man ihnen etwas
tun. Er bog und drehte vergnügt an der Birke. Herr Delvil und die
Brüsseler gingen ihn nichts an. Die Dicken in ihren Städten, die
Dickköpfe. Sie wackelten mit den Köpfen, hatten Kürbisse oben; sie
mußten behutsam laufen, sonst fielen sie ihnen herunter. Er kicherte:
wenn ein Sturm kommt, fliegen ihnen die Hüte mit den Köpfen zusammen
herunter. Sie müssen sich einen Haken am Kopf machen und eine Kette,
damit sie ihren wiederfinden. Die Birke ließ er hin und her schießen.
Welchen Grund hatte er, sich für die Glotzaugen und Kürbisse
anzustrengen. Die Läufer gefielen ihm. Mit denen konnte man den anderen
schon um die Nase blasen. Er trollte weiter in den Abend, rieb sich die
Hände, sah sich nach der schmächtigen Birke um, die noch schwankte, nahm
Steinchen zielte nach ihr, warf. Da war bloß noch Marduk. Er brüllte vor
Vergnügen, warf eine ganze Hand Steine. Das war ein dummer verzagter
Kerl. Den muß man umlegen. Das wird nicht schwer halten. Ladung auf
Ladung gegen das Stämmchen.

                   *       *       *       *       *

Marduks Ende begann mit dem Vorstoß der unbezähmten Castel. Offen zeigte
sie die Fahne der Täuscher, die verhaßte westliche der brennenden Erde.
Das halbleere von Hungernden Räubern Flüchtigen durchstreifte Land
südöstlich Lauenburgs durchzog sie rasch. Ülzen, wo die intakten Horden
Lubbocks und Lorenz’ sich gesammelt hatten, ließ sie in ihrem Rücken
liegen. Sie war im Besitz von Brandwerfern, die sie den Hamburgern
abgenommen hatte. Weder Boten noch Briefe liefen zwischen ihr und den
beiden früher befreundeten anderen Täuschergruppen. Überall übte sie,
durch das Schneegebiet wandernd, die Methode der schwarzen Einkesselung:
Einhüllung der gefahrdrohenden Gegenden in Wolken, darauf Vergasung oder
Veräscherung. Über Salzwedel stieß sie. Auf ihren Wegen zertrümmerte sie
zweitausend Menschen, rechts und links hinschießend, die metallenen
Stiere, das Zeichen der märkischen Revolution, die brüllenden bronzenen
Wesen mit der aufgerissenen Flanke, die der blinde Konsul Marke
aufgerichtet hatte. Zum Hohn umstellten männliche und weibliche
Streifkommandos die Metallsäulen, warteten den Augenblick des
furchtbaren langhingezogenen sich wiederholenden Klageschreis. Mitten im
Schrei, im grausigsten Sterbelaut zerriß eine Granate den starren
Riesenleib, warf zum Entsetzen, zum Abscheu der zugelaufenen
Landbevölkerung Säulen und Erzstücke dumpfend auf den Boden. Das
Sprengen der heiligen Stiersäulen fachte eine stumme Wut in den
Umwohnern an. Ihre Tannenzweige breiteten Kolonnen nach der
Zertrümmerung der Säulen über die Bruchstücke aus. Sie hätten schon,
wenn sie nicht immer stürmisch abgerückt wären, schon eine Stunde später
überall das Feuer an den Sprengorten sehen können, von den Holzhaufen,
auf denen die trauernden Menschen die feindlichen grünen Nadelzweige
verbrannten, nachdem sie inbrünstig, oft unter Weinen, die Bruchstücke
aus Erz und Stein zusammengetragen und in den Boden vergraben hatten.

Zu ihrer Befremdung sah die sehr sichere kleine Castel, wie die
Menschen, die sie zu kennen glaubte, vor ihrer Schar finster auswichen.
Die durch Einzelläufer hingetragenen Worte von Befreiung und allgemeinem
Zusammenschluß der westlichen Menschen fruchteten nichts. Sie erlebte
dasselbe Erstaunen, das die Anhänger der alten Herrengeschlechter nach
dem Tode Markes vor dem Einbruch Marduks erlebt hatten: der zuckende
tiefe Widerwille der Masse vor den Apparaten, ihr zäher Hang an Markes
Maßnahmen und seinem Weg. Die Bevölkerung hatte keine Möglichkeit, die
Castelsche Horde anzufassen, aber in Irreführung auf Landwegen,
massenhaften Einzelschikanen machten sie sich Luft. In der sehr
männlichen Masse wechselte Spott auf die freche Weiberhorde der Castel
mit Ausbrüchen der Erbitterung. Die Erinnerung an alte Weiberherrschaft
lebte noch, reizte die vor den Pflug gejagten Männer aufs Blut. Die
Horde der Castel, vorrückend, war wie von Spürhunden umgeben. Die Märker
belauerten sie, warteten auf menschliche Beute. Die Frauen und Mädchen
dieser Männer haßten die Castelschen Weiber am wildesten; blutgierig
lauerten sie auf sie, griffen Zurückbleibende und sich Verirrende an.
Zerschlugen sie, taten ihnen Schande an, sperrten sie in Ställe. In
zynischer Weise vergriffen sie sich an jungen Geschöpfen, die kurz
hinter Salzwedel, durch scheinbare Neugier der Umwohner verlockt, sich
darauf einließen, vor ihnen zu sprechen. Kaum war der Hauptzug außer
Sicht, warfen sich Frauen auf die Fremden, entkleideten sie vor den
hohnlachenden Männern, zogen ihnen knappe Knabenhosen an, die in der
Schamgegend geöffnet waren. Vorgebunden war da kein Feigenblatt, sondern
eine derbe rote Rübe mit grünem Kraut. Die Hände wurden ihnen auf den
Rücken gebunden; so mußten sie zu ihrem Hauptzug durch den Schnee. Und
als ein Straftrupp zurückkam, die nahegelegenen Häuser verbrannte, da
liefen hinter dem rückkehrenden Trupp, der keine Menschenbeute machen
konnte, eine Schar Rinder her. Auf ihnen waren Leichen von gefangenen
Kriegerinnen gebunden; den schamlosen Rübenschmuck hatte man zwischen
ihre blanken Schenkel gepflanzt. Getrieben wurden die Rinder von zwei
Frauen, die die Hände auf dem Rücken hatten. In kurzen Knabenhosen mit
den schwankenden Rüben gingen auch sie, aber nicht stumm mit gesenkten
Köpfen wie die früher losgelassenen: ihre Brüste waren entblößt, in
einem Sack hatte man rechts und links an ihren Rumpf kleine wimmernde
Schweine angebunden, deren Schnauzen hervorsahen und gegen die Brüste
schnappten.

Die Castel wurde nicht unsicher gemacht. Bei Stendal näherte sie sich
der Peripherie der alten Stadtschaft Berlin. Von zwei Seiten war sie
belauert, von Marduk, der selbst bei Hannover stand, während sein
Hauptmann die Hälfte der Wache in der alten Stadtschaft selbst
befehligte, und vom schwarzen schmalköpfigen Zimbo. Und während noch der
Hauptmann Marduks von Magdeburg heraufzog, um sie anzufallen, erschien
Zimbo mit der Horde des Lorenz unerwartet bei Stendal neben der weit
ausschwärmenden Horde der Frau, die sofort Halt machen ließ. Zimbo
verlangte noch einmal offen die Führung bei der ganzen Aktion als
Beauftragter des Völkerkreises. Dann führte er eine Unterredung herbei
mit dem hellbraunen starken Weib, während er zugleich durch Ausbreitung
seiner Horde die gegnerische zwang sich auszudehnen. Und wie die
siegessichere Castel mit Zimbo verhandelte, ihren Tannenzweig in der
linken Hand, wurde ihr Schicksal besiegelt.

Plötzlich, im Gehen und Fahren durch die knietiefen Schneefelder, war
der Horde Castels, als ob alles vor ihnen und um sie auswiche umböge. Es
war, als ob sie plötzlich in ein Element wie Wasser eingetaucht waren,
in dem sie keine Fähigkeit, zu blicken und sich zurechtzufinden, hätten.
Die in den schwarzen Rauch der Castel Gehüllten konnten, wenn sie sich
Auge um Auge aneinanderdrängten, sich nicht sehen; jetzt hoben die
Menschen, die Einzelläufer oder die in Gruppen, die hinter Wagen oder
neben fahrenden Maschinen, Schnee auf, und die Hand, die den weichen
kalten zusammenballbaren Schnee griff, – näherte sich ihnen nicht. Die
Hand schien in Riesengröße ungeheuer weit entfernt. Sie zogen daran;
ungeheuer und langsam, den halben Horizont bedeckend rückte sie näher.
Etwas Schwarzes reckte sich vor den Menschen auf, die an den Apparaten
standen. In den Himmel gewachsen waren sie. Die Menschen betasteten die
Treppenstufen, die zu der Plattform der Apparate führten und die ein
halbes Haus hoch schienen; mit mächtigen Händen konnten sie Stufe um
Stufe angreifen, die Füße stellten sie, ängstlich, immer ängstlicher
auf, sie konnten die Stufen hochsteigen und oben türmten sich die
Apparate wie Kathedralen auf. Sie gingen am Boden wankend vorwärts. Sie
hatten das Gefühl, die Erde wiche unter ihren Füßen aus, riesig ragte
ihr Kopf in die Luft; ein fremder schwarzer Riesenkopf schwankte zu
ihnen her. Die Menschen stöhnten in fürchterlicher Bangigkeit, rieben
und kneteten an ihren wie gequollenen Armen, an ihrem Kopf, glaubten,
sie müßten an sich schieben, sich zurechtdrücken und zusammenrecken. Wie
die Menschen in den schwarzen Wolken standen sie da oder warfen sich
hin, hielten sich die Augen zu. Sie riefen einander zu, hörten, daß
andere in der nächsten Nähe waren, aber wagten nicht hinzuschauen. Und
während sie lagen standen, entsetzt wieder zu blicken und schreiten
versuchten, immer in Abgründe hinein, auf Felsgebirge hinauf, über
Häuser her, liefen die Männer Zimbos, gegen die verzerrenden
Lichtstrahlen geschützt, zwischen ihnen, stießen sie wie plumpe Hammel
beiseite, nahmen ihnen die Wagen und Apparate weg, die sich an sie
klammerten und brüllend um Gnade flehten.

Drei lange Stunden währte die Unterredung der hellbraunen Angela Castel
mit den Führern der gegnerischen Täuschergruppe. Da trat ohne ein Wort
zu sprechen der schlanke ernste Lorenz mit einer kleinen Zahl Männer in
das Zelt der Castel. Die stand auf, wies die Männer hinaus. Lorenz, den
Türausgang haltend, nickte Zimbo, der auch aufgestanden war, stumm zu.
Da ging der Neger, der eine lose Pelzjacke trug, auf die befehlende
stirnrunzelnde Frau zu, nahm ihr, die zurückwich und den Mund öffnete,
den Tannenzweig aus der Hand, tat ihn mit zärtlichem Gebaren unter seine
Jacke und knurrte lachend. Die Frau wollte zur Tür mit den anderen
Frauen. Zimbo machte ihr selbst am Ausgang Platz. Die Castel schrie
noch, warum ihre Wache, die versteinert schien, die Fremden nicht
angriff, da stand sie neben Zimbo in der weißen Landschaft. Männer auf
Männer zogen vorbei, schoben und trugen ihre eigenen Kriegsgeräte. Man
trieb eine kleine Schar Frauen vorbei, die entgeistert blickten; allen
waren die Hände auf den Rücken gebunden. Zimbo grinste; seine Leute
hatten einigen schon das Rübenzeichen angesteckt. Angela Castel, tief
erblassend, verbarg das Gesicht hinter ihren Händen.

Sie knirschte: „Du bist ein niederträchtiger Betrüger.“ „Was macht es.“
„Wirst du auch mich fesseln.“ „Ich weiß noch nicht. Ich werde wohl
genötigt sein es zu tun.“ Sie atmete, die Hände herunternehmend: „Dann
bitte ich, daß ich bald getötet werde.“ „Vielleicht wird das geschehn.“
„Ich will es selbst tun.“ Er wiegte den Kopf: „Überleg, Angela Castel,
ob das gut für mich ist. Wie soll ich denn Marduk meine Ergebenheit und
Treue beweisen. Ich kann es doch nicht besser, als wenn ich – dich zu
ihm schicke.“ Sie sah ihn, vor Raserei vergehend, an. „Komm lieber ins
Zelt, Angela Castel. Meine Leute sehen uns. Sie bringen dir vielleicht
eine zudringliche Ovation. Sie haben noch Rüben übrig. Binde sie,
Lorenz. Sei ruhig, Angela. Marduk wird mir sehr danken für meine sinnige
Aufmerksamkeit.“

Und sofort benachrichtigte Zimbo den von Magdeburg anrückenden
Angelelli, daß er die Aufrührerbande der Castel entwaffnet und
gefangengenommen habe. Die Castel und drei Unterführerinnen schickte er
mit einer sehr kleinen Bedeckung gegen Hannover zu Marduk. In einem
Begleitbrief erklärte er, er stelle sich, im Besitz starker Waffen, die
er den Aufrührern durch List abgenommen hätte, zu Marduks Verfügung. Er
schüttelte sich freudig, als der Transport mit der Castel sich von ihm
verabschiedete: „Du bekommst keine Rübe, Angela Castel. Du bist für
Höheres ausersehn. Laß dir von Marduk das Fenster zeigen, durch das die
Balladeuse gesprungen ist.“

                   *       *       *       *       *

Wie Jonathan wiedererwachte, war sein leichter Metallflieger
zertrümmert. Er mußte in tagelangem Marsch durch das gefährliche
winterliche Land. Im Mecklenburgischen war sein Sitz. Er wanderte
zuletzt auf den Wegen, die die Castelsche Horde von Lauenburg her
genommen hatte; den Treibjagden der Bauern auf verdächtige Menschen sah
er zu. In ein weißes Schafsfell gehüllt wanderte der stille Mann;
geängstigt wie unter einer Verfolgung war er. Die Flüche der Leute
hetzten ihn. In einer dunklen Weise kam ihm vor, daß er mit diesen
Bauern verbunden war, und er wollte sie nicht lassen. Und zitternd
fühlte er, daß er sie verraten hatte. Ein Verhängnis hatte ihn bewogen,
sich den Täuschern an die Brust zu werfen. Er sah sich plötzlich in
Gedanken laufen von den Rathausstufen hinter einem zerlumpten Mädchen:
Elina. Mit ihr fing es an. Dann die Flucht, die Reise mit ihr, die
Verlockungen, die Liebe zu ihr. Er blieb, kaum eine Stunde von seinem
Haus entfernt, bei einem befreundeten Täuscher, einem alten Mann, der
verwundert um ihn herumging, weil er bedrückt war, während ihnen die
Stadtschaft schon zufiel. Giftig entfernte sich Jonathan aus seinem
Zimmer, schloß sich in einer Versuchskammer ein. Er saß auf einer Kiste,
saß von Mittag bis in die Finsternis. In der Nacht zuckte er, wie er nur
eine unruhige Stunde geschlafen hatte, auf und saß hoch: Flammen waren
vor seinen Augen, in den Flammen brannten Teile von Menschen, Schultern
Arme, ein sich windender Leib mit bloßem Nabel: das regte sich, loderte
grellrot. Seine Mutter. Seine Mutter brannte. „Zu Marduk, zu Marduk“,
schrie es in ihm. „Ich muß hin. Ich kann nicht. O Hilfe.“ Und wie er
sich ankleidete mit klammen Fingern, wimmerte er: „O Hilfe.“ Er lief aus
dem Haus. Im Finstern fand er sich nicht zurück. Er wollte nach Hause.
In einer Ackerfurche mußte er in der tiefen Finsternis zwei Stunden
warten, bis das graue Licht am Himmel erschien. Da begann er zu stampfen
und zu wandern. Er schlug gegen die Tür seines Hauses: „Ist wer da? Ist
wer da?“ Und immer brüllte er, ohne die Antwort abzuwarten: „Ist wer
da?“ Auch noch als Elina erschrocken heraustrat, schrie er und schlug
gegen die Tür: „Ist wer da?“ Hereingezogen hörte er nicht auf zu rufen,
bis sie ihm mit der Hand den Mund verschloß, ihn auf eine Bank
herunterzog, wo er stier saß und die Fäuste ballte, ohne zu sprechen.
Sie hatte nur einen dünnen Überwurf an; wie sie seinen Kopf an ihre
Brust zog, fühlte er die Wärme, bog sich ab, murmelte wieder fremd: „Wer
ist da?“ Und ging stürmisch mit wilden Blicken herum. „Bleib sitzen“ bat
er sie nach einer Weile, wie er einen Schemel heranziehend sich vor sie
setzte, die auf der Bank das Gesicht verhüllte. „Ich bin ohne Hilfe,
Elina. Ich weiß, wenn ich mit dir spreche, auch du kannst mir nicht
helfen. Marduk hat mich, als ich zu ihm kam, ergreifen lassen. Man hat
mich hochgehoben. Ich bin betäubt worden.“ Sie weinte auf, er ließ sie
nicht an sich kommen. „Wo soll ich jetzt hin, Elina. Ich kann nicht
allein sein. Ich muß zu ihm.“ „Was hast du ihm gesagt, Jonathan.“ „Daß
ich ein Täuscher bin. Es mußte heraus aus mir. Ich schämte mich meiner.
Es ist heraus. Es ist gut. Ich habe mit den Täuschern nichts zu tun. Ich
hatte nie etwas mit ihnen zu tun. Nie. Ich verfluche sie.“

Seine Augen brannten fremd und feindlich gegen sie. „Und Marduk?“ „Hat
an mir getan, was recht ist. Nur nicht genug. Gepeitscht und gebrannt
hätte ich werden müssen. Das hätte mir zugestanden. Oder mich
auslöschen. Jetzt bin ich ohne Hilfe. Oh. Oh.“ „Du bist doch bei mir,
Jonathan. Wir wollen fort aus dem Land.“ „Ich will nicht. Ich trag mich
ja nicht weg. Ich geh nicht von ihm. Ich geh nicht weg von ihm. Ich –
kann auch nicht. Jetzt weißt du’s.“ „Ich hab es schon immer gewußt.“
„Jetzt weißt du’s.“ Sein Gesicht hob sich leidend vor ihr: „Und was
sagst du, Elina?“ „Du willst ja keine Hilfe von mir. Ich bin ja deine
Feindin.“ „Nein. Sag das nicht. Komm doch wieder her zu mir. Laß mich
vergessen.“

Er war aufgestanden. Er hatte sie umschlungen, die mit einem abwesenden
suchenden Ausdruck ihr nasses Gesicht an seins lehnte. Er flüsterte:
„Ich habe dir von meiner Mutter erzählt. Die hat er umgebracht. Aber mir
ist nie, als ob er sie umgebracht hätte. Nein, sag nichts dazu, lach
mich nicht aus. Mir ist, als ob er mit ihr zusammen etwas wäre, als ob
er mit meiner Mutter verbunden wäre, wie mein Vater, den ich nicht
kannte! Er. Er. So ist er mit ihr zusammen. Ich kann nur bei ihm ruhig
werden. Bin ich von ihm, bin ich zerrissen.“ Sie flüsterte zur Seite
blickend: „Und wie stehst du zu mir.“ „Ich weiß nicht, Elina. Mir ist
jetzt wohl bei dir.“ „Es geht wohl zu Ende mit Marduk?“ „Sag das nicht,
ich fleh dich an, sag das nicht.“ Er ließ sie los, schlenderte im Zimmer
herum, stand am Fenster. Rotes Licht blitzte über den grauen Himmel.

Wie er eine Zeit ruhig stand und nicht sprach, hatte sie ein Knie auf
den Stuhl geschoben, den Kopf gesenkt und gesonnen. Ohne ihre Haltung zu
verändern, rief sie: „Jonathan.“ „Ja.“ „Jonathan, ich weiß einen Rat.“
Er drehte sich rasch um, schritt auf sie zu, die sich nicht bewegte,
griff an ihre Schultern: „Nichts sagen, Elina. Ich bitte dich, nicht
auch du. Gib mir keinen Rat. Quäl mich du nicht auch.“ Sie gab klar von
sich: „Du brauchst einen Rat. Du brauchst Hilfe. Ich quäle dich doch
nicht.“ „Ich sehe, ich sehe, jetzt wirst du dich gegen mich erheben.“
„Ich weiß einen Rat, Jonathan. Aber ich bitte dich, mich tun zu lassen,
was nötig ist.“ „Du glaubst, ich muß allein sein. Du willst mich
verlassen.“ „Nein, ich werde zu Marduk gehen.“ Er ließ von ihren
Schultern, bückte sich, suchte ihr von unten in das herabhängende
Gesicht zu sehen. Er hauchte zurückweichend: „Zu Marduk willst du
gehen.“ „Ja.“ „Weil ich geschlagen bin?“ „Jonathan, ich werde es tun.
Laß mich es tun.“

Er ging an die Wand. Auf eine Fensterbank ließ er sich nieder: „Marduk
hat mich greifen lassen und fortgestoßen. Jetzt du.“ „Was soll ich
sagen. Ich kann dir keine klare Antwort geben. Ich bin – dir innig gut.
Mich schmerzt es, daß ich dich so sehe. Ich glaube, ich will, ich will –
an ihm tun, was du wolltest.“ Und den Kopf hebend, immer sinnend, in die
Ferne mit einem Lächeln hörend, atmete sie: „Ich muß zu ihm. Glaubst du
nicht, daß er jetzt auf mich wartet? Es war mir sicher, daß er dich
zurückweisen würde. Ich helfe ihm. Du kommst – dann noch einmal zu ihm.
Wenn du noch einmal kommst und ich bin es, so wird er dich nicht
zurückweisen.“ Sie lockte Jonathan: „So ist es. Komm doch, Jonathan.
Komm. Sieh, ob ich nicht du bin. Ob ich dich nicht zu ihm tragen kann
mit meinem Körper. Komm, habe doch keine Furcht vor mir. Wir haben ja
hundertmal zusammengelegen.“ Und sie ging ihm entgegen, der sich
verwirrt erhoben hatte, umschlang ihn: „Mein Jonathan. Meine Wonne.
Umschling mich, damit ich ganz du bin. Mir ist mit einmal so wohl. Gib
mir. Halt nicht zurück. Mach deine Lippen auf, mach deine Augen auf. Ich
bin Elina. Ach! Ich habe Sehnsucht Sehnsucht Sehnsucht nach dir.
Namenlose Sehnsucht.“ Er hatte den Kopf auf ihrer Schulter, flüsterte:
„Wie bist du sonderbar.“ Fester hielt er sie. „Jonathan, ich bin dein
Hafen. Du bist ruhig. Es geschieht dir nichts. Du bist wohl bei mir.“ „O
wie bist du.“ „Komm, ich muß dich küssen. Ich bin sehnsüchtig nach dir.
Deinen Mund. Deine Augen. Wie liebe ich dich. Halte dich nicht zurück.“
„Ich tu es nicht. Ich halte mich nicht zurück vor dir.“ „Erkennst du
mich wieder. Elina, deine Freude. Und du bist meine Glückseligkeit. Ich
kann dir gar nichts schenken. Ich muß deine Hände küssen. Deine Füße.“
„Nicht, Elina.“ „Bin ich nicht deine Elina?“ „Du bist so rasend.“ „Nach
dir. Ich kann dich nicht stehen sehen. Ich möchte dich ganz verschlingen
in mich. Jeden Teil, den ich von dir sehe, beneide ich um dich. Deine
Jacke, deine Haare, ich kann sie nicht außer mir dulden. Ach küsse mich
auch. Bin ich nicht deine Elina?“ „Du bist es und bist es nicht. So wild
bist du.“ „Mir kommt vor, als hätte ich dich nie geliebt. Jetzt liebe
ich dich erst. Zum erstenmal. Als hätte ich bis jetzt mit dir gespielt.
So unersättlich unersättlich, Jonathan, so unersättlich bin ich nach
dir. Komm. Die Sonne geht auf. Es ist so hell. Leg dich zu mir.“ „Ich
weiß nicht, wie mir ist, wenn ich dich sehe.“ „So steh nicht still.
Liebst du mich nicht?“ „Ich ängstige mich, nein, mich graust es vor
dir.“ „Vor mir, vor mir?“ sie lachte, ihn heftig umschlingend, „aber ach
sprich nicht so, ich habe solche Sehnsucht nach dir.“

Er wollte sich von ihr lösen, aber sie hielt ihn fester. Er bettelte:
„Süße Elina, was ist dir. Habe ich dich gekränkt. Hab’ ich dir weh
getan.“ „Ich bin gut. Mehr als gut. Wie du süß bittest. Peinige peinige
mich nicht.“ „Nicht peinigen. Meine Elina. Deine übermüdeten Augen.“
„Jetzt bist du mein Jonathan.“ Sie warfen sich auf ihr noch offenes noch
warmes Bett. Unersättlich war sie in ihrer Raserei. Sie weinte immer:
„Ich habe dich so entbehrt.“ Er tröstete sie; es tat ihm tief wohl sie
zu trösten.

Nach Stunden, am hellen Vormittag, stand sie vor ihm, der geschlafen
hatte. Er zog sich rasch an. Sie küßte ihn, während er sich anzog; er
mußte sie abwehren. Sie bat und drängte, er möchte sie doch lassen. Und
als sie vor dem schneebedeckten Garten standen, die winterlichen Felder
rechts und links, erblaßte sie, klammerte sich an ihn. „Jetzt geh’ ich
bald weg.“ „Nicht zu Marduk.“ „Ich muß.“

Sie ließ ihn los, stürzte ins Zimmer. Wie sie im weißen Pelzmantel, die
Pelzkappe auf dem Haar, neben ihm war, blickte sie ihn an, dem der Kopf
auf die Brust gesunken war. Sie hob die Arme: „Ich kann nicht.“ Sie
lief, während er sich nicht bewegte, durch den weißen Garten weg auf die
Allee, schluchzend: „Ich kann nicht.“

Und erst, als sie eine Stunde gelaufen war, hörte sie auf zu weinen. Sie
sah die schneebeladenen Bäume, die endlos weiten Felder. Matter war sie.
Sie atmete tief. Sie fühlte: „Ist dies schön!“ Und dann immer: „Ich geh’
zu Marduk.“

                   *       *       *       *       *

Die Horden bildeten in den Lagern ihre barbarischen Sitten aus. Sie
zwangen sich zu hungern, in der Kälte sich halbnackt zu bewegen, gröbste
Ackerdienste zu tun. Die Äcker der Krieger, von Tag zu Tag neu mit
Steinen besät, waren berüchtigt. Folterspiele, die dicht an den Tod des
Gefolterten führten, waren im Schwange. Laufen über spitze Kiesel mit
nackten Sohlen leitete ein. Dann nächtiges unerwartetes Kämpfen mit
einem starken Menschen, der die Schlafenden überfiel. Keiner kam dem
Schreienden zu Hilfe; bis zum Tode hatte er sich zu behaupten und oft
führte die Wildheit des Kampfes zum Tode eines, meist des Neulings. In
den Horden hatte man verschiedene Abzeichen, aber nirgends herrschte
despotischer Gehorsam. Die Gesiebten führten eine Art Ratsversammlung,
wobei sie finsteren Ernst bewahrten, über Neulinge berichteten,
Aufnahmen bestimmten. Vor diesen Versammlungen fanden auch die
sogenannten „Zeichnungen“ der Neuen statt. Das waren in den Horden, je
nach dem Vorwiegen barbarischer oder weißer Elemente, verschiedene
Prozeduren; man wechselte auch in den Horden selbst damit: Einbrennen
von Brustschildern, Zertrümmerung einer oder beider kleinen Zehen,
Ausschlagen von Zähnen. Bisweilen wurden diese Maßnahmen abseits
vollzogen, in der Regel vor der schweigenden Ratsversammlung, die in
erhaltenen Lagerräumen, alten noch kostbar ausgeputzten
Vergnügungsbauten stattfand. Sitten dieser Art waren seit dem Umschwung
im Märkischen nach dem Uralischen Krieg allgemein geworden. Die
„verlängerte Taufe“ war eine Prozedur, die viele Mütter an ihren
Neugeborenen übten: Unterwasserhalten der Säuglinge bis zu einem
gegebenen Zeichen. Diese „Taufe“ forderte zahlreiche Opfer und war ein
Mittel, überflüssige und ungewünschte Kinder, besonders weibliche, aus
der Welt zu schaffen. An „Tölpelspielen“ übten sie sich, höchst
gefährlichen Spielen, bei denen Gefangene an nicht sehr wirksame
Nahapparate gestellt wurden. Den Gefangenen gab man zu ihrem Erstaunen
solche Apparate in ihr Gefängnis, das sie burgartig ausrüsten durften.
Aber rasch erlebten sie, was man mit ihnen vorhatte: nächtliches
Fortnehmen der Apparate durch Männer, die sich einschlichen; denn sie
hatten ihre Gefängnisse selbst zu bewachen; an Ausbruch dachte niemand
bei der Nähe der stärksten und listigsten Menschen und der nicht weit
entfernten schweren Fernapparate, Nebelwerfer Wolkenentwickler
Verzauberer Veräscherer. Plötzlich stand jemand neben ihnen, tat, als
wenn er sie besuchen wollte, vielleicht verräterische Freundschaft mit
ihnen anknüpfen. Und bald stieß er das gelle Hordengeschrei aus, lag auf
dem erbeuteten unscheinbaren, mit Hebeln Knöpfen Schiebern versehenen
Kasten, blitzte durch den Raum. Bisweilen kam es zu Schlachten in
größeren Gefängnissen. Die Angreifer mußten sich durch Sprünge aus dem
Fenster retten, büßten ihre Kühnheit mit dem Leben. Von außen kam ihnen
niemand zu Hilfe.

In solch Gefängnis, im Hordenbereich bei Linden, wurde Angela Castel mit
ihren Frauen und einer Anzahl Täuscher verbracht. Die hellbraune
Führerin glaubte, Marduk werde sie vernehmen; ganz leise hoffte sie,
Marduk werde sich ihrer bedienen gegen Zimbo. Aber er kam nicht. Nur in
beschämender Weise wurden ihre Frauen vor Hordenversammlungen gezogen,
Selbstmorde fanden statt. Darauf setzten die Überfälle ein, die zuerst
in dem Gefängnis niemand verstand, und die Ausrüstung der Gefängnisse
mit Nahwaffen. Eine Ermahnung an die Gefangenen kam: sie seien selbst
Hüter ihres Lebens, es würde ihnen in Gefahr niemand beistehen. Dann
wurde klar: die Horde betrachtete sich in Kriegszustand mit den
Gefangenen. Entwürdigungen der Frauen ließen nach; man bewahrte sie für
Kämpfe auf. Da begann die Castel mit ihren Frauen sich auf Krieg
einzurichten. Nach zwei Wochen galt ihr Gefängnis als unnahbar. Die
Castel wußte, daß sie unter der Aufsicht von Fernwaffen stand, aber daß
sie vor ihnen unbesorgt sein konnte. Die Frauen im Gefängnis waren von
der größten Wachsamkeit, das Gerücht von dieser Festung lief zu
entfernten Gruppen. Starke Überfälle wurden auf diese Burg verabredet;
viele Männer kamen um; nur List und waffenlose Gewalt war den Männern
erlaubt.

Da erschien Marduk, wie Tauwetter eintrat, mit seiner Wache auf dem
Platz vor dem Gefängnis am späten Nachmittag, ließ Frauen und Männer
heraustreiben. Er fragte nach der Castel. Ging schon, als man sie rief,
zwischen dem Haufen hindurch, betrachtete die Menschen, die stumm die
Arme hängen ließen oder sich mit einem Gruß verbeugten. Blasse
schwächliche und starke Frauen; wilde südliche Gesichter, feine weiße
Züge der Menschen aus den alten Herrengeschlechtern, zornige und kalte
herausfordernde, weichliche Mienen, Augen, die keine Kenntnis von ihm
nahmen. Er kannte sie, die aus den heimlichen Versuchsstätten
hergescheucht waren; besser als seine jahrzehntelange Beobachtung hatte
der westliche Vorstoß, der Krieg, ihre Hoffnung sie herausgetrieben. Sie
konnten ihrem hochmütigen Drang nicht entsagen; es war ihnen recht, daß
sie hier standen. Ein Hauptmann ging neben Marduk durch die Schar, die
sich überall rasch öffnete und um ihn weit Platz ließ. Sie schienen, wie
die Blicke, die sie sich zuwarfen, das rasche Anstoßen mit den Schultern
zeigten, Furcht vor einem unvermuteten Angriff zu haben. Aber Marduk
ging, während die Castel ihn seitlich erwartete, durch die Schar. „Was
willst du?“ hob Marduk die pelzbeladenen Schultern, als die Castel sich
vor ihn stellte, klein, mit strengem ernsten Ausdruck. „Du hast nach mir
gefragt. Ich bin Angela Castel.“ Marduk, den ein Windstoß traf, drehte
sich um; er ging hustend mit ihr zwei Schritt seitwärts: „Es ist eine
Frau ins Lager gekommen, eine Täuscherin wie du, oder doch die Gefährtin
eines Täuschers. Sie heißt Elina.“ „Ich kenne sie nicht.“ „Sie ist
wahrscheinlich selbst eine Täuscherin, obwohl sie aus irgendwelchen
Gründen behauptet es nicht zu sein. Ich habe Veranlassung sie
festzuhalten. Sie kommt in dein Gefängnis.“ Dann drehte er sich ihr voll
zu: „Im übrigen habe ich gehört, daß ihr euch bei Überfällen gut haltet.
Ich möchte dir raten, es nicht zu weit zu treiben.“

Die Castel gab den andern, über die sie Gewalt wie früher hatte, keine
Auskunft über das Gespräch mit Marduk. Während sie ins Gefängnis
zurückkehrte, mit zusammengepreßten Lippen, war ihr klar, daß Marduk
wegen dieser Frau gekommen war und ihm an ihr gelegen war. Sie ballte
die Faust. Und als Elina nach einer Stunde eingebracht wurde, erfuhr
Angela Castel, daß dies die Gefährtin Jonathans, Marduks Freundes, aus
dem Mecklenburgischen sei: So hatte man Jonathan, den leichtsinnigen von
allen geliebten, auch entdeckt. Viele weinten an dem Abend im Gefängnis.
Elina, bei der Castel sitzend, sah es mit Verwunderung und leiser
Freude. „Wir werden Opfer sein. Was kann sich der kleine Marduk gegen
die Welt behaupten“ weinten sie trotzig. Elina dachte: „Ich könnte nicht
über Jonathan weinen, selbst wenn er eingesperrt wäre. Dabei bin ich ihm
gut. Was tut Marduk mit mir.“

Sie erlebte noch in derselben Nacht einen furchtbaren Angriff der
Barbaren auf die Gefangenen. Sie hörte das Todesröcheln einer erwürgten
Frau in ihrer Nähe, das Knattern der kleinen Glutschleuderer, sah die
erleuchteten tobenden entdeckten Männer, halbnackte, mit bloßen Füßen,
über deren Körper die entzündete Masse wie ein Schleier lief. Unter
trockene Lederschürzen warf man sich; sie lag neben der Castel. „Muß ich
das oft erleben“ fragte sie am grauen Morgen die Castel. Die lächelte
böse, noch liegend: „Solange es den Hunden gefällt, uns anzugreifen.“
„Weiß Marduk davon?“ „Gut, mein Hühnchen. Schlaf noch, damit du in der
Nacht munter bist.“ „Was hat er mit mir vor?“ sann Elina. „Er hat mich
wie eine Fremde angesehen.“ Sie mußte tagsüber dauernd zusehen, wie man
tote Männer zum Fenster hinauswarf. Die Zahl der Frauen verminderte
sich. Nacht um Nacht, Tag um Tag wurden welche geraubt erwürgt
erschlagen, kamen von Nachbarapparaten um. Die angreifenden Horden
liebten es Gefangene zu machen; es galt als besondere Ehre eins von den
starken Weibern lebend zu fesseln. Zum Hohn wurden sie vor dem Gefängnis
mit Stricken geschlagen, um die Gebäude herumgejagt, an einen erhöhten
Pfahl mit geschlitzten Röcken und eingepflanztem Rübenkraut gebunden.
Regelmäßig endete dieser Vorgang mit einer gewaltsamen echt märkischen
Prozedur: mit Ketten hingen die Gefangenen, während ein Feuer lohte, an
dem Eisenpfahl in der Mitte des Platzes. Sie setzten sich der Erstickung
oder Verbrennung aus, wenn sie sich nicht losrissen. Die Ketten aber
endeten nicht an den Händen Füßen Knien Leibern der Gefangenen, sondern
gingen in Roßhaare aus, die durch die Zunge Armmuskeln Brustmuskeln
gezogen waren. Es war Sache des Mutes oder der Todesangst der Gefangenen
sich loszureißen, das Fleisch zu zerreißen. Mit Bewunderung
oder Verachtung sahen die Männer dem kämpfenden schreienden
zusammenbrechenden oder davonstürzenden, blutend hinrollenden Wesen zu.

Die Apparate in den Gefängnissen wurden weniger. Und als es klar wurde,
daß man zu Ende war, fingen die Frauen an, ihr Augenmerk auf Elina zu
richten. Die Castel hielt sie immer dicht bei sich, beobachtete sie.
Elina hatte sich nie für eine Täuscherin ausgegeben. Die Weiber haßten
sie, die Castel mußte sie schützen. Jetzt bestürmte sie Elina; sie sei
eine Freundin Marduks, sie solle ihnen beistehen. Elina wich aus; sie
sei von Marduk nur eingesperrt worden.

Da fingen die Weiber an sie zu martern. An ein Fensterkreuz banden sie
sie, damit die Krieger draußen sie sähen. Die draußen kannten Elina
nicht, wußten aber, daß der Konsul sie hergeführt hatte. Sie faßten die
Marterung Elinas so auf: die Weiber wollten den Konsul verspotten. Man
machte besondere Jagd auf Elina.

Eine Horde hatte sich bei Linden festgesetzt; deren junge Mannschaft
setzte sich die Ausräumung des Weibergefängnisses als Ziel. List bei
Überfällen gab es nicht mehr. Türen und Fenster waren mit den letzten
Apparaten verbarrikadiert; unter den Fenstersimsen lagen die
haßgepeitschten Weiber. Es geschah in diesen grausigen Tagen, daß sie
unerwartete Hilfe bekamen: Männer aus der Angreiferhorde selbst,
fanatische, die im halben Einverständnis mit ihrer Horde sich hatten
überwältigen lassen und mörderisch ringend gegen die Angreifer
vorgingen. Der Kampf war hier schwer: das lockte sie. Die Angreifer
hatten es auf die zarte, allen bekannte, Tag um Tag ans Fensterkreuz
gebundene Elina abgesehen. Bei den wütenden Angriffen erlag Weib um
Weib; zu Angela Castel und Elina drangen sie nicht vor.

Als noch ein kleiner Haufen Weiber übrig war, erbittert eiskalt schwer
erschöpft, kaum imstande die Apparate zu bedienen, kaum stark genug, in
der üblen Luft die Leichen der Männer und Frauen fortzutragen, gaben sie
zuerst den zugekommenen Männern auf, sich zu entfernen; sie wollten sie
nicht mehr. Darauf hieß es mit der Angela Castel und Elina fertig
werden. Es war, da die Castel sich weigerte, Elina freizugeben,
unzweifelhaft, daß man beide beiseite bringen mußte. Die Castel war
täglich auf die stumme Elina eingedrungen; sie sollte zum Konsul, nicht
um gegen den Tod zu protestieren, aber gegen die beispiellose Barbarei.
Sie hatte nur einmal eine Antwort bekommen. Aus gequälten Augen hatte
sie die zarte Person angesehen, ihre Hand genommen: „Er ist kein Mensch;
er ist ja selbst ein Tier.“ Die vertrocknete kleine Angela gab sie nicht
frei.

Als die Führerin das Gewisper unter den andern merkte und beunruhigt
verzweifelnd, selbst vorschlug, nach den Männern vor dem Ende noch dies
Weib hinzustrecken, war es schon zu spät. Die Frauen erfuhren kurz
darauf den letzten vernichtenden Angriff. Die Horden waren, wie man von
den Fenstern schon bemerkt hatte, seit Tagen in ständiger Bewegung,
deren Ursache unbekannt war. Neue Haufen zogen durch den Ort. Geräte und
Fernwaffen wurden vorbeigefahren. Kleine Reiterabteilungen trabten
durch. Die Horde selbst, in deren Bereich das Gefängnis lag, brannte
rückwärts liegende Häuserreihen ab. Ihre jüngste Mannschaft überfiel vor
dem Abrücken noch das Gefängnis, das eine vorüberziehende Truppe mit
einer Fernwaffe hatte ersticken oder einäschern wollen. In wilder
Trunkenheit drangen sie einzeln vor Nacht ein, nachdem sie unter Gebrüll
auf dem Platz vor der Halle einen riesigen Strick vorbereitet hatten.
Daran banden sie herausstürzende verzweifelt angreifende
niedergezwungene Weiber eins neben dem andern an den Haaren. Kein
Verlust konnte die sinnlos brüllenden, glotzäugig geifernden, steigenden
kletternden drängenden zurückhalten. Alles was die Truppe hatte quoll
ein. Über das Dach und durch hohe Fenster stiegen sie. Hinter den
verbarrikadierten, zwischen ihnen tauchten sie auf.

Der Strick war auf dem finsteren Platz zwischen zwei Steinpfeilern
ausgespannt, wartete. Aber die drin waren vom Blutrausch befallen,
Männer wie Weiber, kannten und wollten kein Erbarmen. Das Ringen Würgen
Stöhnen Niederkrachen. Die Männer standen, als sie keinen Gegner mehr
fanden und noch eine Handvoll Weiber für den Strick hinausgetrieben
wurden, da, tobten, schäumten herum, zerschlugen was sie fanden, Betten
Geräte, sprangen aus dem Fenster, zündeten Türen Fensterrahmen an.

Im lohenden Licht des Feuers unter den stiebenden Funken die Gefangenen.
Dazwischen die halbtote Elina, die schon sterbende Castel, der der Bauch
aufgerissen war, auf der lehmigen Erde. Der Strick war zwischen sechs
Pferden an beiden Enden ausgespannt. Er hing am Mundzaum der zerrenden
Tiere. Finstere Nacht zwischen den Ruinen bei Linden. Ein Trupp von
berittenen peitschenbewaffneten Kriegern machte sich auf, während die
Horde johlend abzog, die Gefangenen zu Marduk zu treiben. Auf die sechs
Pferde setzten sich Krieger. Mit Hott und Hüh, bald langsam, bald im
Galopp, über Straßen Baumwurzeln ging der Weg.

                   *       *       *       *       *

Marduk hatte seine gefährliche Situation erkannt. Er sah die rätselhafte
Haltung Zimbos, des Mannes, den England im Land abgesetzt hatte, und der
sich der feindlichen Triebkräfte in der Mark bediente. Und zum erstenmal
in seinem langen Konsulat hatte er gefühlt, daß Markes Werk und seines
gut war; es sollte nicht untergehen.

In dem starken Menschen war ein Wohlgefühl aufgebrochen: Freude an dem
Land. Der böse Rest aus seiner Vergangenheit, Jonathan, einmal in
schwerer dunkler nicht zu durchdringender Zeit, – niemand sollte daran
rühren – sein Freund, war zu ihm gekommen, hatte ihn angespien. Ein
Grabstein war darüber zu wälzen. Dieser Jonathan der sanfte
schmerzliche, hatte zuletzt geglaubt, einen Giftpfeil auf ihn richten zu
müssen, hatte die Elina geschickt. Einmal hatte ihn etwas zu dieser
liebenden Frau gelockt; sie blickte ihn, wie die Horden sie auf der
Straße aufgriffen und herschleppten, sonderbar zage an. Sie wußte nichts
zu sagen, als er sie fragte, was sie wolle. Sie durchschaute offenbar
das Spiel, zu dem sie der rachsüchtig triumphierende Jonathan
mißbrauchte. Vielleicht hatte sie sich selbst dazu hergegeben. Wie böse
dieser Jonathan geworden war. Ein Grabstein über Jonathan. Die Frau weg.
Ins Gefängnis. Zu den anderen Weibern. Martern über sie.

Zu einem Zeitpunkt, wo niemand es erwartete, knüpfte der Konsul des
machtvollen märkischen Stadtreiches Verhandlungen mit London an. Nach
Frankfurt Bordeaux London ließ er Boten fliegen, die seine
Bereitwilligkeit zu einem Waffenstillstand kundgaben. Er werde das
Vordringen seiner Männer aufhalten, die Feindseligkeiten von drüben
seien einzustellen. Eine zustimmende, fast freudige Antwort wurde ihm.
Zimbo, erfuhr Marduk noch aus London, war nicht sicher in der Hand des
neuen Völkerkreises. Wie Marduk seine Verhandlungen den Hordenführern
bekanntgab, wurde er mit Stummheit und Widerspruch angehört. Mit Kälte
erklärte er, er sei noch im Besitz seiner Garde und unüberwindlicher
Apparate. Senat und Hordenführer vergaßen es ihm nicht.

Sie verbreiteten trotz seines Verbots die Nachricht von den
Verhandlungen mit den Westlichen. Auch seine Worte gegen sie machten sie
bekannt. Unerwartet erfolgten da geheime, dem Konsul bald nicht
verborgene Besprechungen bei den Horden. Eine auffällige Zahl von
Kampfspielen fand statt. Und dann ein Loswandern aus dem westlichen
Gebiet, ein wachsendes spontanes Fortziehen aus dem Hannoverschen, eine
um sich greifende Unruhe, ein panisches Strömen ostwärts. Marduk hatte
eben erst Kenntnis von den ersten Abwanderungen der Horden und kleinen
Gruppen nach Osten bekommen, da flossen Massen bis herauf zur
hamburgischen Grenze wie eine Schneeschmelze auf Berlin zu. In einem
Sturm, unter Verbrennen aller rückwärtigen Gebäude, Verschütten der
Straßen, bewegten sie sich auf dieses Zentrum.

Eine Warnung zu Beginn der Bewegung kam von Angelelli. Er hieß Marduk
sich seiner Wache versichern. Dann hörte die Verbindung mit Angelelli
auf. Schwere Waffen mußten die Horden an sich gerissen haben. Marduk
wollte mit einem Teil seiner treuen Wache auf Berlin fliegen. Die
Avantgarde geriet an eine Strahlensperre. Es konnte Tage dauern, bis sie
aufgedeckt war.

Wie Marduk aus seinem Flugzeug bei Hannover auf die nasse kalte Erde
stieg, hielt an seinem Haus eine kleine unbekannte Reiterschar. Eine
Zahl unberittener Pferde hinter ihr. Auf einem schmutzigen
flankenschlagenden Pferd saß Angelelli, der schwarze Hauptmann, sprang
ab, folgte Marduk ins Haus. Er drängte heftig mit ungewohnter Erregtheit
Marduk zu fliehen. Ein großer Teil seiner eigenen Schwerwaffen hielte
nicht mehr zu ihm. Marduks Fernwaffen und seine Wache sei, soweit sie
nicht dicht um ihn sei, verloren. Der eigenen Leibwache Marduks sei
nicht zu trauen. Der Besieger der Castel, Zimbo, der Schwarze, führe
selbst Täuscherhorden. Dies sei nun erwiesen. Er zeige ein doppeltes
Gesicht; gegen seine Krieger das eines Täuschers wie sie selbst, gegen
Fremde das eines Freundes Marduks. Die Horden strömten Zimbo zu, der
Marduks Verrat trompete. Die panisch verwirrten Horden lockte er an
sich. Marduk solle fliehen. Draußen ständen Pferde. Er, Angelelli,
fliehe.

In dem leeren abendlichterhellten Zimmer warf Marduk seinen schweren
Ledermantel auf den Boden. Auch die Lederkappe mit dem Stierzeichen des
Konsuls zog er ab und warf sie hin. Die Jacke knöpfte er sich langsam
auf. Er atmete die Hitze seiner Brust aus. Dies hatte Jonathan gesagt, –
mit einmal brannten die verschleierten Augen dieses jünglinghaften
schrecklichen Menschen wieder vor ihm –: er solle fliehen. Die Horden
zogen einen Reifen um sich und liefen diesem Zimbo in die Arme. Hart sah
er an dem schwarzhaarigen Hauptmann vorbei: wohin er flüchte und wozu.
Der, sehr leise, achselzuckend: wir können nur das Leben retten; sie
müßten nach London. Da entließ Marduk den Hauptmann, nachdem er gefragt
hatte, ob man bis morgen warten könne.

Kurz darauf, in der rasch niederfallenden Dunkelheit, wurde
Pferdetrappeln und Gejohl vor dem Haus laut. Der Hauptmann klopfte an
das Zimmer, in dem Marduk, sein Herz zerreißend, lag. Marduk möchte
herauskommen, dies draußen sehen. Schnaufend, krank und lahm, mit
halbgeschlossenen Augen schleppte sich Marduk an die Tür, ließ sich, wie
gerichtet, kaum vom Boden aufsehend, ins Freie führen. Fackeln brannten.
Es waren Männer einer Horde. Zwischen ihnen Pferde, die sie, wie Marduk
sichtbar wurde, auseinanderscheuchten. Ein Strick wurde sichtbar
zwischen den Pferden. Daran hingen ein paar Dutzend Weiberkörper.
Langgezogenes Klagen Wimmern. Die meisten hingen stumm. Ein Kerl rief
von seinem Pferd herunter: dies seien die letzten aus dem Gefängnis von
Linden; sie seien mit der bloßen Hand, ohne Waffen, gefaßt worden. Ein
anderer schrie: die Castel und die vom Konsul seien dabei. Die hingen in
der Mitte, sagten aber gar nichts mehr. Marduk stöhnte, sein Gesicht
eine tote Bitterkeit. Man solle die Kerls verjagen. Den Strick
losmachen. Die Pferde weg.

Die Castel war tot. Man brachte nach einer halben Stunde auf den Gang
ihre völlig zerbrochene und zertretene Leiche; sie war völlig
ausgeweidet, der Kopf, zertreten, begann erst in der Mitte der Nase.
Dann legte man drei Körper hin, die zusammenhingen. Die beiden außen
waren tot oder sterbend. Ihre Rümpfe von innen mit ihren eigenen
Kleidern zusammengebunden und verknotet; drin zwischen ihnen hing Elina,
zwischen den weichen triefenden Massen eingekauert. Sie schrie, wie man
die Körper trennte, das Bündel öffnete. Ihr einer Arm hing. Sie war
blutbegossen, das Haar vor ihrem Gesicht und an Mund und Nase lehmig
angebacken. Die stark gekrümmten Beine konnte sie nicht strecken.

Marduk im langen Schafspelz bloßhäuptig stand an der Tür, nahm mit
weiten Augen Kenntnis von den Dingen in dem trüben Gang. Das war ein
Zeichen der abziehenden Horden. Hohn, Hohn wollten sie ihm antun.

Elina wurde aufgehoben; von draußen liefen Männer herein, trugen sie
fort. Bevor Marduk ins Zimmer ging, blickte er Angelelli an: „Ich habe
gesagt: bis morgen. Nicht wahr?“ „Es wird morgen noch möglich sein.“

Im Mondlicht bückte sich nach Mitternacht Marduk über das Strohlager
Elinas, neben der eine junge Frau wachte. Der pelzvermummte Mann
betrachtete sie stumm, suchend, suchend, suchend. Er stöhnte auf dem
Stuhl neben dem Bett; die junge Frau ging ins Dunkel.

Draußen klapperten die Pferde. Der Wächter gab ihm auf seinen Anruf ein
braunes schweres Tier. Zwischen den Häuserreihen, die niedergebrannt,
gesprengt waren, jagte auf dem Tierrücken auf und ab gestoßen Marduk. Im
Norden der Stadt, auf einem Feld, das die Märker angelegt hatten, hielt
er.

Sehr helles gelbweißes blankes gießendes Mondlicht durch die Luft auf
den Boden. Neben dem braunen Tier ging Marduk. Stöhnte noch immer. Hätte
er Täuscher werden sollen, hatte Jonathan recht? Die Täuscher siegten,
England und Amerika siegten? Er griff in die kalte bröcklige Nässe der
Erde. Legte sie sich beruhigend auf die Lippen, leckte daran. Das Pferd
neben ihm, der Braune. Der Braune und er standen zusammen. Er war nicht
verloren. Nicht er war verloren. Marduks Zähne knirschten. Sein Kopf
wurde an den Pferdehals gedrückt. Dies alles Neueroberte, Land und Tier
und Mondschein, hatten die Krieger stehen lassen. In Zimbos, eines
gerissenen Betrügers, Netz liefen sie. Ah, die tobsüchtigen Apparate
mußten weg. Ganz weg. Marduk schwang sich auf seinen Braunen und pfiff.
Die tobsüchtigen Apparate mußten ewig weg.

Angelelli blieb noch einen Tag, suchte den Konsul. Abends floh er,
westwärts, überzeugt, Zimbo hatte den Konsul wegführen lassen, Marduks
eigene Wache hätte dabei geholfen.

                   *       *       *       *       *

Auf Wittenberg Stendal Magdeburg schoben sich die Banden. Zimbos Boten
empfingen sie auf den Wegen, die von der Elbe herführten: der Konsul
Marduk hat die Stadtlandschaft und die Sache der Mark verraten wollen;
Angelelli ist flüchtig; er werde das Land beschützen.

Die Horden lagen mißtrauisch am linken Elbufer. Zimbo kämpfte in seinem
Lager mit der stärkeren, schon kaum zu bändigenden Erregung seiner
Krieger. Sie waren in Wut über die infame Behandlung, die die Castel bei
Marduk erfahren hatte; Zimbo hatte sie ihm ausgeliefert; sie verlangten:
Zimbo solle sein englisches Mandat ausüben und nicht länger hinter dem
Zaun halten. Zimbo sandte Kuriere zu den Horden; dann erschien er selbst
zu einer Führerversammlung bei Wittenberg. Den Hordenführern war der
Kamm geschwollen, seitdem die schweren Apparate Marduks, die
gefährlichsten des Kontinents, in ihrer Hand waren. Sie verlangten von
ihm Beweise, daß er sie nicht verriet und sich ihnen unterwerfe, bevor
sie sich mit ihm zusammentaten. Er flog, finster sinnend, zurück,
bereit, seiner Truppe den Willen zu tun und sie rasch zu überfallen.

Da erfolgten in seinem eigenen Lager und im engeren Umkreis Berlins
furchtbare Dinge. Eine teuflische Verräterschar schien es auf den
Untergang der ganzen Stadtlandschaft abgesehen zu haben. Große Teile der
Mekifabriken, sowohl leere wie eben wieder in Gang gesetzte, flogen in
die Luft, wurden durch künstliche Blitze eingeäschert. Rätselhafte
Überfälle auf Apparate innerhalb des Lagers fanden statt, mit
gelegentlicher Vernichtung wichtigster Teile. Und dieses Unheil betraf
sowohl Zimbo wie die Horden jenseits der Elbe. Es mußten Teile der
Marduk treu gebliebenen Wache sein, Zimbo fürchtete in manchen
Augenblicken, es war ein neuer und zuverlässiger Delegierter des
Völkerkreises. Er ließ den Führern geheim sagen: der Völkerkreis wolle
sie kirr machen, man müsse sich bald einigen. Inzwischen ließ er Jagd
auf die Unwesen machen.

Aber Marduk selbst mit zwei Dutzend Ergebener leistete alles. Sie hatten
Apparate Spiegelkleidung Blender. Marduk kämpfte für seine Sache. Er
vertraute auf die Besinnung seiner Horden. England würde ihnen nichts
antun, die Not würden sie überwinden. Er kämpfte mit einer ihn selbst
durchschauernden Kraft. Die alten Namen Targuniasch und Zuklati, der
makkabäerhaften Kämpfer früherer Jahrhunderte gegen die Apparate, wurden
in ihm wach; er sprach sie aus. Jetzt erkannte er sie. Auf diesem Boden
stand er. Ihm war, als wenn Schuppen von seinen Augen fielen. Wie ein
Werkzeug, ein störrisch widerstrebendes, ein Hobel über einem Knollen
und Baumstrunk hatte er sein Konsulat geführt. Alles war gut daran. Er
hatte gelitten, nicht gewußt, wie wohl er tat.

Er dachte immer an die Menschen, die sich in die Maschinen gestürzt
hatten, um sie zu vernichten, die Toten von Calais, Targuniasch und
Zuklati.

Hart sicher und rasch handelte er. Strenger Frost. Zwischen den sich
belauernden Reihen der märkischen Horden und Zimbos schlug sich Marduk
mit seinen Leuten durch, immer zurück ins Hannoversche kehrend, in sein
Quartier. Diese Ortschaften waren verödet, wenige Menschen hausten noch
hier, die Landschaft fiel in ihre alte Versunkenheit. Zwei Wochen nach
der Flucht Angelellis und dem Abfall seiner Wache ritt er zum erstenmal
in die Moore südlich des Grinderwaldes. Nach zehn Tagen kam er das
zweite Mal. Rechts und links hatte sich in die Einöde, bei seinem alten
Standort, die Kunde von seiner Anwesenheit verbreitet. Seine Mannschaft
suchte zuverlässige Gefährten, verheimlichte sich nicht. Marduk selbst
erklärte, man müsse Menschen sammeln, nicht verzagen.

Und er suchte und sammelte in der Gegend seines alten Standortes. Ein
dunkles Gefühl hielt ihn fest, ließ ihn nicht erschlaffen, trieb ihn
weiter. Was war es. Er mußte es vollenden. Jonathan fiel ihm in stillen
Augenblicken ein. Die Treppe heruntergestürzt. Und gleich hinterher
Elina. Diese Frau bei den Pferden, zwischen den Pferden, an einem Strick
hängend. Die Pferde geiferten, die Krieger höhnten. An dem Strick die
Leiche der Castel, der verruchten, zwischen zwei Toten die andere, die
noch zappelte. Das Haus, in das man die Opfer der Horde gebracht hatte,
war ausgestorben; auf den Gängen braunschwarze Blutspuren.

Wie einmal Marduk, die großen Augen nach innen gerichtet, leicht
verdunkelt, den langen goldweißen Theatersaal betrat, den sich ein
flüchtiger Herr hier hatte bauen lassen, jetzt mit Proviant Flaschen
Kisten Röhren gefüllt, klang neben ihm die Stimme eines Mannes, der
einen Gürtel in der Hand trug: ob sie Frauen annehmen dürften. „Nein“
schüttelte Marduk den Kopf; nicht mehr Frauen, nicht mehr dies. Sie
wollten aufbrechen, sie sollten das Quartier verlegen, östlicher, an die
Elbe heran, sie sollten sich beeilen. Er ging, ohne den weißen Gürtel
anzusehen, den der Mann ihm vorhielt.

Marduk stand auf dem Hügel, auf dem hartgefrorenen Boden, vor dem
starren geborstenen Riesenskelett einer Esche. Die eisige Luft flog in
Stößen über ihn. „Alle Dinge in der Welt müssen einmal beendet sein“,
dachte er, „ich will aufbrechen.“ Er packte im Haus an einer Bank seinen
Tornister. Da hatte ihm der Mann den Gürtel hingelegt, den er vorhin in
der Hand hielt. Marduk wollte schon die Lippen öffnen, den Mann zu
rufen, da führte er die linke Hand zum Mund, bedeckte ihn. Wessen,
wessen, wessen Gürtel war das: weiß, mit silbernem Zierat. Das war, –
seine Augen erweiterten sich – Jonathans Gürtel. „Woher hast du den
Gürtel?“ „Eine Frau gab ihn mir; ich sollte ihn dir zeigen; sie wollte
uns helfen.“

Nach einer Stunde Ritt hielten sie in einer Häuserreihe, die durch Brand
und Sprengungen verschüttet war, vor einem niedrigen Gebäude, auf dessen
flachem Dach Geröll eines niedergestürzten Nachbarturmes lag. Der Schutt
häufte sich vor dem Eingang. Sie umgingen den Trümmerberg, ein Hund fiel
sie an. Während der Krieger das bellende bissige starke Tier schlug, –
es geiferte zuletzt oben auf den ungangbaren Steinmassen – rüttelte
Marduk an der verschlossenen Tür. Neben der Tür war ein kleines Fenster.
Marduk, im Gefühl, daß ihn seitlich einer anblicke, zuckte zusammen.
Eine Frau streckte den zerzausten Kopf heraus. Ein blasses mageres
Gesicht, das sich verzerrte und aufflammte. Im Augenblick zog sie den
Kopf zurück. Marduk trommelte gegen die Füllung: „Mach auf.“ Zwischen
dem Hundegekläff hörte er drin rumoren und dann dicht an der Tür eine
leise Stimme: „Du meinst, ich mach dir auf. Ich mach dir nicht auf.“
„Mach auf.“ Jetzt erkannte er, es war Elina. „Warum willst du nicht
aufmachen?“ „Glaubst du, ich werde mich noch einmal von dir in ein
Gefängnis stecken lassen, du Hund. Ich bin da, damit du mich quälen
kannst?“ „Mach auf, Elina.“ „Ja mach auf. Mach selber auf. Es wird dir
gut bekommen. Versuch es.“ „Ich will dich sprechen, Elina.“ „Warte, ich
will dich auch sprechen. Geh von der Tür zurück.“ „Was soll ich. Jag
deinen Hund weg.“ „Geh von der Tür weg. Geh bis an den Schutt.“

Marduk trat, während der Krieger mit dem Hund kämpfte, der blitzschnell
um den Haufen herumsauste, an den Rand der Steinmasse. Die Tür sprang
auf. In der Öffnung wurde ein mannshohes schmales Gestell sichtbar, das,
auf Rädern geschoben, metallen und gläsern blitzte. Ein Angriffsapparat.
Die Hand an einem Glasgriff bewegte sich das Weib neben ihn; gerunzelte
Stirn, sprühende Augen, ein Mund, der den Atem zwischen abgezogenen
Lippen, zubeißenden Zähnen entweichen ließ und einsog. Der linke Arm
hing schlaff. Sie trug ein weißes verschnürtes Schaffell wie Marduk.

„Nun, Marduk? Wie ist Ihnen jetzt? Da stehen Sie. Sie wollen mich etwas
fragen. Sie sind wohl geneigt, erst mir zu antworten.“ Durch Marduk lief
der Gedanke: Schade. Sie ist eine Täuscherin. Ich bin in eine Falle
gegangen. So muß ich enden. „Ich wollte dich fragen, was mit diesem
Gürtel ist.“ „Jetzt ist Ihnen bang, Marduk. Aber mich haben Sie in das
Gefängnis gesteckt, zur Castel. Ihren Banden haben Sie befohlen, mit uns
zu tun, was sie wollen. Sie wissen, wie es ausgelaufen ist.“ „Man ist
wild mit Euch umgesprungen.“ „Ist man das? Feige sind Sie also auch. Hat
es Ihnen nicht eine Freude gemacht, als man uns anbrachte, am Strick,
hinter Pferden. War das nicht ein besonderes Vergnügen für Sie? Da
hingen wir. Gestehen Sie’s.“ Das Schreien des Kriegers, das Heulen des
Hundes war so stark, daß beide schwiegen. „Du bist eine Täuscherin,
Elina. Du kommst von Jonathan. Ich bedaure nichts. Ich mußte dich
festsetzen.“ „Weiter.“ „Was dann geschah, ist nicht meine Sache.“ „Was
sprichst du von Jonathan. Seinen Namen, Bestie, Bestie.“ Und nahm die
Hand von dem Griff, weinte laut in ihre Höhlung. Der linke Arm krümmte
sich im Ellbogen; seine Finger drückten an die Brust.

Diesen Augenblick während des ununterbrochenen Tier- und Menschentobens
zwischen ihnen benutzte Marduk, um im raschen Anlauf den Apparat zur Tür
herauszureißen. Der rollte polterte die fünf Stufen herunter, stürzte
vornüber, krachte, Glas- und Metallplättchen streuend. Elina hatte den
rechten Arm sinken lassen, war zwei Stufen dem Apparat nachgesprungen,
stand schlaff da, blickte entsetzt auf Marduk; die Tränen quollen noch
aus den Augen. „So. Also das hast du erreicht.“ Marduk, der gebückt
angelaufen war, richtete sich auf, einen Fuß auf der untersten Stufe:
„Wir können so besser verhandeln.“ „Erst Jonathan. Dann mich. Daß
Menschen wie du geschaffen werden.“ „Was wolltest du mit diesem Gürtel.“
„Jetzt fragst du. Ich habe es dir sagen lassen.“ „Du wolltest dich mir
anschließen. Sag selbst, Elina, verdienst du nicht, daß ich dich
umbringen lasse.“

Stumm blickte sie ihn lange an, sie weinte nicht mehr; ihr Kopf bewegte
sich wie unwillkürlich auf und ab. Mit leiser Stimme: „Ich will dich
nicht auffordern, in das Haus zu kommen. Warte. Ich will mir eine Kappe
aufsetzen.“ Gleich erschien sie wieder; lächelte leicht, als sie Marduk
nicht an der Treppe sah. Er rief hinter der Schuttmasse: „Heb deine Arme
hoch, Elina.“ Sie ging die Stufen herunter: „Einen will ich hochheben,
wenn es dir Spaß macht. Den andern hast du mir festgebunden. Komm nur
vor.“ Sie ging, während die beiden Männer auswichen, frei an ihnen
vorbei in der kalten Luft. Marduk hinter ihr: „Du hast nichts?“ Sie ging
mit gesenktem Kopf weiter: „Komm. Geh mit.“ Erst nach einer Anzahl
Schritte war er neben ihr. „Du willst wissen, Marduk, was ich mit dem
weißen Gürtel wollte. Weißt du, was – ich – überhaupt – von dir wollte?“
„Wann?“ „Als ich in dein Quartier kam. Schick den Mann weg. Ich habe
keine Waffen. Wenn du mich umbringen willst, kannst du es zur Not auch
allein.“ Er ließ den Mann, der den Hund getötet hatte und den blutigen
Körper an einem Strick hinter sich herzog, ein Stück zurück. „Du weißt
nicht, warum ich kam, Marduk“, sie sprach seitwärts in ihren Pelz sich
verkriechend, immer von ihm wegsehend, „es ist auch nicht nötig.“
„Jonathan hat dich geschickt.“ „Nicht sprechen, nicht sprechen“ ihr Kopf
fuhr herum, ihre Augen glühten, „ich hab dir gesagt, du sollst ihn nicht
nennen. Du sollst es nicht. Nein, du sollst es nicht.“ Und wie sie
bitter krampfhaft den Mund schloß, füllten sich ihre Augen wieder. Sie
sah weg, schluchzte.

„Wo führst du mich hin?“ „Komm.“ Der Straßenweg war zu Ende. Über einer
gefrorenen Wiese, – das Eis, über Tümpel ausgespannt, knisterte – gingen
sie. Ein lichter schmaler lang hingezogener Wald kam. „Hier. Laß den
Mann draußen. Er kann auf der Wiese warten. Er darf mit dem toten Tier
nicht her.“ Sie wanderten zwischen den Stämmen, unter dem Liniengewirr
der Äste. An einer kleinen mit trockenen braunen Blättern überschütteten
Bodenwelle stand Elina. „Komm.“ „Bist du müde? Willst du dich setzen?“
Elina den Kopf tief auf die Brust gedrückt zog sich die Kappe ins
Gesicht. Sie hauchte: „Gib den Gürtel.“ „Hier.“ „Nein. Leg ihn selbst
hin.“ „Wo soll ich ihn hinlegen?“ Elinas Knie sanken; sie drückte den
Kopf in das kalte herunterraschelnde Laub. „Was denn, Elina?“ Sie weinte
unten ganz leise, ihre Hände griffen in die Blätter: „Ja hierhin.“

Marduk seufzte, zwischen die Stämme blickend: „Was ist mit Jonathan?“
„Du siehst es ja. Dein Freund. Unser Freund. Mein Freund. Mit dem weißen
Gürtel. Du trugst immer den weißen Gürtel. Einen weißen Mantel, deinen
weißen Mantel trugst du immer so gern.“ „Was ist mit Jonathan?“ Sie
schluckte unten, hell weinte wimmerte sie, zog die klagende Stimme:
„Nicht fragen. Oh, oh. Nicht fragen.“

Er erzitterte, es überlief ihn. Vom Kopf bis zu den Füßen lief das
Zittern. Er wehrte sich. Es rollte von den Knien und Schultern, es warf
ihn hoch, zog ihn herunter. Er schüttelte seine Arme, wirbelte und riß
an seinen Ellbogen, stieß seine leeren greifenden Hände nach vorn und
rückwärts. Wie er den Kopf nach hinten bog, um seine übervolle Kehle zu
entladen, schleuderte es ihn auf den Boden, dicht neben die
klagesingende wimmernde sich einwühlende Elina, schräg über den
Grabhügel. Laubwolken flogen über sie beide. Und da lag im weißen Pelz
der große grauhaarige Marduk; die Kappe rollte den Hügel herunter. Er
tobte, streckte die Arme aus: „Nein, nein, nein.“ Flehte zu Jonathan,
rief ihn mit Kosenamen, suchte ihn. Auf den Rücken warf er sich herum;
die Blätter hatte er in den Händen, rieb sein glühendes aufgedunsenes
Gesicht. Er warf sich auf, am Fuß des Hügels kniete er auf dem
Waldboden, den Rumpf hin und her biegend, im Flüstergespräch mit dem
Hügel, den Kopf immer wieder tief einpressend. Und Marduk pries
Jonathan, umarmte ihn, ließ den Sand das Moos das trockene Laub nicht
los.

Sein Zittern ließ nach, den Kopf hob er, die Hände nahm er von dem
blattbedeckten aufgerissenen zuckenden Gesicht. Elina, leeren Blicks,
stand neben ihm, ein Knie gebeugt auf dem Hügel, hielt ihm die Hand hin,
daß er aufstehe. „Nimm den Gürtel vom Grabe weg.“ Er suchte sie zu
erblicken. „Komm, häng ihn hier auf. Neben dem – andern da.“ Marduk ließ
sich zehn Schritt führen. Da war eine Eiche. Von einem knorrigen Ast
hing ein kurzer Strick herunter. „Hierher ist er gegangen, Marduk. Ich
weiß nicht wann. Ich lag noch bewußtlos in dem Haus. Er soll am Haus
nach mir gefragt haben. Und nach dir. Du – warst auf der Flucht. Ich
konnte nichts sagen.“ „Er hat sich – erhängt.“

Ihre klangreiche ruhige Stimme: „Er sprach bevor ich wegging, von dir.
Und von seiner Mutter. Darum ist er zu dir gekommen. Er sagte, er könne
dich nicht lassen. Er ist in den Wald gegangen, als du ihn nicht
annahmst.“ „Wie sah er aus, als man ihn fand?“ „Ich weiß nicht genau. –
Ich habe sein Gesicht noch gesehen. Es war – Marduk, Marduk, – als wenn
– ein Mensch – im Feuer brennt.“ Ihre Schultern zuckten, sie stieß
wieder die hohen Töne aus: „Er brannte. Es ist wahr. Ich konnte ihm
nicht helfen. Ich habe ihm nicht geholfen. Hätte ich ihm doch geholfen.
Und du.“ Marduk stand still. Er hatte die Augen geschlossen.

Den Gürtel hielt er in der Hand. Als er die Augen geöffnet hatte, hatte
er einen gebundenen zärtlichen Ausdruck. Er schlang den Gürtel um den
Ast, seine Muskeln waren ganz fest, die Augen hielt er starr auf den
Strick, die Finger hielt er zusammengekrampft. So stand er. Als er den
Mund öffnen konnte, flüsterte er mit noch unbeweglichen Augen: „Und
jetzt ist alles vorbei, Jonathan. Jetzt ist es vorbei.“ Er wiederholte
es tonlos. Den Hals konnte er bewegen, das starre Gesicht Elina
zuwenden. Da fiel er gegen ihre Schulter. Sie hielt ihn mit ihrem
rechten Arm, drängte sich mit der Brust gegen ihn. Er sank sank gegen
ihre Brust; sie mußte sich anstrengen, den weichen absinkenden Körper
hochzuziehen. Er war wie ein Schlafsüchtiger.

Sie ließ ihn vorsichtig auf die Erde herunter, sein Rumpf hielt am Stamm
des Baumes nicht aus, streckte sich lang neben den pendelnden Armen auf
den eisigen Waldboden. Schwer lag er. Atmete gleichmäßig, seine Züge
lose. Elina neben ihm kniend sprach ihm zu. Dann öffnete er die Augen;
die blickten ins Leere. Sie stützte seinen Kopf, rückte seine Kappe
zurecht. Er ließ sich hochziehen, ging gleich. Sie führte ihn.

Sie kamen zu der Wiese. Der Mann mit dem Hund stand noch da. Stumm
gingen sie über dem knackenden Eis an ihm vorbei. Kein Wort sprach
Marduk, der noch zu schlafen schien, zu Elina, die seinen linken Arm
festhielt. Die Reihe der demolierten Häuser. Der Mann mit dem toten Hund
schurrte hinter ihnen.

Wie sie um den Schutthaufen vor Elinas Hause gingen, sprang der Mann
warnend vor sie, stellte sich vor Marduk: „Wohin gehst du?“ Der sah ihn
suchend lange an: „Warte hier draußen. Warte auf mich.“ Sehr langsam
stieg er die Stufen hinauf, Elina hinter ihm.

Lange Minuten schwieg Marduk auf der Polsterbank an der Wand. Er schien,
den Kopf zurückgelegt, immer wieder einzuschlafen. Der Kopf sank ihm auf
die Schulter. Dann suchten seine großen Augen sie. Sie saß seitlich von
ihm am Fenster. „Du, Elina.“ „Was, Marduk?“ „Was tust du, was tust du
hier?“ „Ich wohne hier.“ „Es wohnt sich hier nicht schön.“ Er suchte
einen Gedanken: „Der Schutt liegt so hoch. Es ist kalt. Sehr kalt ist
es. Der Winter hört nicht auf. Was tust du eigentlich hier, Elina.“ „Ich
wohne hier.“ „Du wohnst hier. Du müßtest hier nicht wohnen. Du müßtest
das Haus abbrechen lassen. – Jonathan ist tot. Also auch. Das war ein
schöner Jüngling, den ich kannte. Und du hast ihm verziehen, Elina. Du
hast ihm verziehen.“ Sie sah fragend zu ihm herüber. „Du hast ihm
verziehen. Sag’ ja.“ „Ich hatte nichts zu verzeihen.“ „Er wußte nicht,
was er tat, bevor er starb. Als er dich wegschickte.“ „Er hat mich nicht
weggeschickt.“ „Doch. Du sagtest, – sagtest du nicht, er ist allein
gestorben.“ „Ja.“ „Dann hat er dich doch weggeschickt.“ „Nein.“ „Er
wußte nicht, was er tat, Elina.“

„Er hat mich nicht weggeschickt.“ Marduk hob den Hinterkopf von der Wand
ab, unsicher: „Du bist doch zu mir gekommen. Bist du nicht –?“ „Ja. Du
hast mich dann ins Gefängnis gesteckt.“ „So bist du doch zu mir
gekommen.“ „Ja, aber er hat mich nicht weggeschickt.“ „Und was ist denn
geschehen?“ „Ich – bin – selbst fortgegangen.“ „Von ihm? Wie er – wie
sagtest du noch – wie er brannte? Bist du fortgegangen. Nein, Elina, das
sagst du nur.“ „Ich bin fortgegangen, Marduk. Ich sag’ es dir. Ich
verberg es nicht.“ „Du hast ihn verlassen“ er stierte sie an. Jetzt
bebte sein Mund. Er stützte die Arme auf die Knie. Er hob beide Arme
über sich: „Das hast du ihm angetan. Du hast ihn verlassen. Wider seinen
Willen.“ Sie knirschte: „Ja.“

Ihre Finger krallten sich, ihre Augen funkelten zu ihm herüber; in Grimm
und Schmerz war ihr Mund verzogen: „Hätte ich es nicht getan! Hätte ich
es nicht getan.“ Ihre Füße stießen sie hoch; sie drängte an die Tür,
preßte sich an den Pfosten, stöhnte zum Boden: „Weißt du, Marduk. Weißt
du. Es ist gut, daß das Haus feststeht. Und daß ich kein Riese bin und
es umreißen kann. Ich würde es jetzt machen. Ich würde, ich müßte das
Haus anfassen, und – und – umreißen. Und über mich schütten. Über mich.
Und – über dich – auch.“ Sie griff in das Holz des Pfostens. Er sah ihr
rasendes Gesicht an, sie schluchzte: „Hin. Hin.“

Dann lief sie in kleinen Schritten, immer wieder anhaltend, in das weite
Zimmer.

Marduk fühlte, wie ihn etwas hochschob. Eine ferne Angst zuckte pucherte
über sein Herz. Er wankte hinter ihr her, er mußte hinter ihr herwanken.
Ungleichmäßig, traumbefangen atmete er. Der Schlaf in allen seinen
Bewegungen. Wollte sich nicht ein alter wohlbekannter Schleier über ihn
legen. „Lauf mir nicht weg, Elina. Warum tust du das. Ich bin kein
Mörder. Ich habe, habe keine Waffen. Ich tue dir nichts. Halt einen
Augenblick still. Ich komme nicht mit. Damit ich dich sehen kann. Ich tu
dir nichts. Lauf nicht. Ich muß dir etwas sagen. Du mußt mir etwas
sagen. So. Du stehst. Du stehst, du. Setz dich. Ich kann nicht stehen.“
In ihm klirrte es ganz dunkel. Scheiben einer Stadt bei einer fernen
Schlacht. Aber es hielt nicht an. Es war wie hinter einem Berg. Es wurde
keine Qual.

„Laß mich dein Gesicht sehen, Elina.“

„Was willst du von meinem Gesicht.“ „Ich muß dein Gesicht sehen.“ In ihm
klirrte es nicht mehr. Er fühlte die Ruhe seiner Muskeln, die
abweichende Beängstigung, die tiefe fast drückende Besänftigung seines
Herzens. Wie sanft der Schlaf war, der sich über ihn ausbreitete. Er
nahm ihn hin; er wehrte sich nicht gegen ihn. Er konnte neben ihr
sitzen. Er konnte neben ihr sitzend, die ihm den Rücken zuwandte,
träumen. Es träumte in ihm: „Ich habe schon einmal bei dir gesessen,
Elina. Auf meiner Burg. In der Stadt. Ich war Konsul. Wenn du dich an
mir rächen willst, tu es. Ich kann es nicht verhindern. Lehne dich an
mich. O lehne dich an mich.“ Sie drehte sich langsam um. Tief erzitternd
murmelte sie: „Warum? Warum soll ich mich an dich lehnen.“

Und dann beugte sie ihren Kopf gegen seine Brust, zitterte und stöhnte
stärker. „Lehn dich an mich, Elina.“ „Ich kann es nicht, Marduk. Warum
soll ich mich an dich lehnen. Ich kann, ich kann dich – ja – umfassen.“

Und preßte sich an ihn. Drückte seinen Kopf von rückwärts an ihren. Er
unverändert hielt sie schlaff, blinzelte in ihr Haar: „Das tust du. Das
tust du.“ „Das – ja jetzt. Und du bist da. Du läßt dich von mir
umfassen.“ „Ich will nicht. Es hat keinen Sinn.“

„Hab Gnade mit mir, Marduk. Blick mich an.“ Es war schwarz über seinen
Nacken und seinen Kopf heraufgelaufen. Sein Gehirn wurde von einer
dichten, immer dichteren Schwärze erfüllt. Seine blassen Lippen sprachen
halbbewußte Worte: „Zum Fenster hinaus. Ich bin zum Fenster
hinausgesprungen. Halt mich. Fest. Ich falle.“

Sie schüttelte an ihm. Sein Körper war weich. Der Kopf lag auf ihrer
Schulter. Sie fühlte, wie sie hintastete, Nässe auf ihrer Schulter. Es
war geschehen, daß Marduk auf ihrer Schulter weinte.

Sie konnte seinen Kopf nicht hochheben. Durch ihn träumte es: „Ich
falle. Radspuren entlang. Einen Feldweg entlang.“

Er bewegte sich. Richtete sich auf. Sie sah ihm in die weiten Augen. Er
wußte, daß er auf ihrer Spur gewesen war seit dem Lager in Linden, seit
er sie ins Gefängnis schickte.

Sie hielt ihn ganz fest, studierte sein bartüberwuchertes erloschenes
Gesicht. Hauchte drängte: „Marduk. Verzeihung. Sieh mich an.“ „Ich
sehe.“ Seine harte Wange an ihrer, sein Hals gab weiter nach:
„Versucherin.“ „Nicht Versucherin. Ich bin keine Schlange. Hab Erbarmen
mit dir. Hab Gnade mit dir. Du, mit dir.“

Er machte sich los. Sah ihr gespannt in die Augen. Stand auf, stotterte
tief erblassend, zu ihr herunterblickend: „Jetzt, jetzt, jetzt, – Elina!
Jetzt falle ich um!“

Und schwankte vorwärts rückwärts. Polterte, ohne einzuknicken, nach
hinten über einen Schemel, riß ihn seitwärts mit sich hin. Er lag
ausgestreckt am Boden, auf der Schemellehne. Tief bewußtlos. Sie zog den
Schemel unter ihm weg. Hielt die Hand an seinen Mund; der warme Hauch
kam. Fahl seine Backen, der Mund offen.

Zum zweiten Male lag er da. Sie tastete unter seinen Kopf. Kein Blut.
Die Mütze schob sie ihm unter.

Sie hastete zusammenfahrend an die Tür, lauschte. Der Krieger stand
draußen unbeweglich am Schutthaufen, er hatte nichts gehört.

Und wie sie Schritt für Schritt zurückkehrte, ihn liegen sah, das graue
bärtige Gesicht, den langen Körper im weißen Fell, auf der Diele ihres
Hauses, warf sie sich, den Kopf zurückbiegend, die Arme aufhebend, in
wilder überflutender Wonne auf ihn. Den Pelz riß sie von sich. Die
Jacke, das Hemd riß sie von ihrer Brust, drückte die nackte Haut an sein
kaltes feuchtes Fell. Eng preßte sie sich mit Leib, Armen, Beinen an
ihn, umschnürte, überwogte ihn. Sie achtete nicht, was mit ihm war.
Herzte seine Hände, deckte das Fell auf, küßte sein Knie. Sie öffnete
zerrte den Pelz von seiner Brust. Küßte die Reihe seiner Rippen entlang,
wühlte rieb ihre Brust gegen seine.

Sie sprang glühend auf, an das Fenster. Das öffnete sie still rasch,
nahm eine Hand voll Schnee, klemmte das Fenster zu, wärmte den Schnee an
ihrem Mund, blies ihn an, rieb ihn, hinlaufend auf Spitzen, über Marduk
kniend gegen seine Stirn Augen seine Lippen.

Es war ihr eine zerreißende Süße, als er im Traum seine Lippen spitzte,
an dem Schnee sog. Sie ließ ihn saugen. Hielt den Schnee in ihrem Mund.
Er sog an ihrem Mund.

                   *       *       *       *       *

Nach einer Stunde schob sich Marduk aus der Tür, schickte den Mann weg.
Er selbst ging langsam mit Elina die Straße hinter dem Mann. Es
dämmerte. Die Wiese den Wald durchzogen sie. Am Waldausgang, sie sahen
den Mann kaum, wurden Marduks Knie weich. Er ließ sich herunter auf den
Boden. Nebel in Schwaden von dem nahen Flusse her. Trübe kleine Augen
machte Marduk, den Kopf drehte er beiseite. „Schönes Leben“ flüsterte
er, „schöne Bäume, schöne Nebel.“ Sie hob ihn, er strich über ihre
Schultern: „Warum stierst du mich an, Marduk?“ „Das ist mehr, als ich
für möglich hielt.“ Sie hatte leuchtende Augen; er hatte noch immer den
Hang, in Schwindel zu verfallen, sah von ihren gefährlichen Augen weg.
„Schöner Nebel, schöner Baum“, er hielt sie an sich, „schöner Mensch.
Schöner Mensch. Menschenhaare. Menschenfinger. Menschenohren.
Menschenhals.“ „Sie waren immer da.“ „Menschenhaare. Menschenhand.
Kranke Schulter. Was hab ich gesündigt.“ „Ich habe noch eine Schulter,
Marduk.“ „Gute Schulter, armes Gelenk, Marduk bittet euch ab.“

In den Mooren südlich des Grinderwaldes begann Marduk wieder seine
Arbeit. Die Truppe hatte sich, wegen der Gefährlichkeit der Arbeit und
des verdächtigen Namens des Konsuls in dieser Landschaft nicht vermehrt.
Sollte ein Resultat erzielt werden, mußte jetzt rasch Zimbo und die
Horden ihrer Waffen beraubt werden. Marduks hannoversche Truppe war
einer Anzahl von Unglücksfällen ausgesetzt. Der Erfolg ging hin und her.
Die zarte Elina kämpfte mit.

Bei dem großen Vorstoß, der von Marduk geführt, mit der Zertrümmerung
fast aller schweren Waffen bei den ostelbischen Banden, der alten Horde,
endete, rüstete Marduk, der stark und kalt wie ein Hirsch herumging,
Elina selbst aus. Spiegelkleider trugen sie alle, an hellen sonnigen
Tagen mußten sie vorgehen.

Wie Marduk die Spiegelfacetten am Gewand Elinas ordnete, die
dachziegelartig übereinandergeschobenen blechernen Streifen, die nach
dem Licht auseinandergezogen und wie Segel gedreht werden mußten,
häkelte sie mit ihrer Hand an ihrem schon geschlossenen Kragen, warf die
gesichtverhängende Kappe hoch. „Steh ruhig“, bat Marduk.

Sie hob die Kappe ab, zog sich von Marduk weg, schloß die Tür seiner
Kammer: „Nicht das Kleid. Nicht das Kleid. Mich.“ „Wir kämpfen, Elina.“
„Kämpfen. Aber wir. Und wofür kämpfen wir.“ „Du weißt es.“ Sie hauchte
dicht bei ihm: „Ich noch – um dich. Du mußt mich kennen.“ „Nicht jetzt,
Elina.“ „Jetzt oder wann sonst. Jetzt.“

Wie sie sich im Stroh umarmten, sah er die ersten Augen Arme. Sie, den
harten sehnigen behaarten Leib umklammernd, stammelte: „Nichts an mir,
was nicht dir gehörte. Laß nichts an mir. Alles, nimm alles weg. Laß
nichts zurück.“ Sie tauchte in ihm unter, erweichte verwehte. Er atmete:
„Sag nicht Marduk zu mir. Wer ist das.“

Sie starb fast in der Umarmung, wünschte zu sterben. Er stammelte an
ihrem Hals: „Ich lebe ewig. Ich lebe ewig.“

                   *       *       *       *       *

Der große Vorstoß, der auf die Gegend von Helmstedt und Gardelegen
erfolgte und den abtrünnigen Banden den Verlust fast aller schweren
Waffen brachte, verminderte die Zahl der Mitläufer Marduks um die
Hälfte. Hier kam Elina um. Wie sie, selbst unsichtbar, einen unbewacht
stehenden Riesenbrandwerfer, von der Art derer aus dem Gefängnis, auf
eine dicht vorüberziehende Führergruppe der Horde richtete, – im
Übermut, denn nichts hinderte sie an der Zerstörung des Apparates, –
schlug die Flamme auf sie zurück, äscherte sie mit den Männern ein.

Marduk spornte die Zurückkehrenden an. Man mußte sich beeilen. Nun war
Zimbo, noch im Besitz von Waffen, ungeheuer den Horden überlegen und
konnte sie in die Knie zwingen. Wenig Apparate hatte man beim letzten
Vorstoß erbeutet, die Spiegelhüllen sehr beschädigt. Es war ein
verzweifeltes Wagnis, das Lager Zimbos, der sich mit starken Sicherungen
versehen hatte, anzugreifen.

Der Versuch mißlang. Mit selbstmörderischem Mut kämpften die
überfallenden Männer, kaum fünfzig, die noch zu Marduk hielten. Wie eine
Maschine, eine Lokomotive nicht an eigenen Schutz denkt, sondern auf
ihren Schienen losrast, sich und fremde Züge zerschmettert, so drangen
sie tollkühn, oft deutlich in ihren zerrissenen Masken sichtbar, an,
zertrümmerten mit Hieben und Schüssen die empfindlichen Eingeweide der
Apparate, die sie erwischten. Der Hauptteil dieser Leute verendete unter
dem Strahlenschutz vor den feindlichen Apparaten, gegen die keine Maske
half.

Marduk lief in den Bereich einer Maschine, deren Anwesenheit er aus den
eigentümlichen Kappen und Schutzmänteln der herumspürenden Männer
erschlossen hatte. Nicht weit entfernt von dieser Maschine stand aber
eine zweite, die er nicht erkannte.

Plötzlich, aufrecht über den gefrorenen Lehmboden schleifend, fühlte
sich der lange unerbittliche Mensch an den Beinen gehindert, seine Knie
zurückgedrängt, die Füße auf den Boden gedrückt. Weiter drängte er vor,
schob sich an, suchte, sich drehend mit der Flanke durchzubrechen. Dann
ablassend, machte er einen Ruck, um sich loszureißen und loszuprallen
oder zu entweichen. Er fühlte sich federnd, dann starrer pressender
festgehalten. Er senkte den Kopf, trieb keilte das Knie abwärts. Das
gelang. Gesicht und Hals glühten und schwollen ihm unter der Anstrengung
auf. Und langsam langsam konnte er das eine Knie krümmen. Konnte langsam
langsam, als wollte er schweben und fliegen, den Arm vom Rumpf
abspreizen. Er arbeitete wie gegen Stein. Das andere Knie krümmte er, um
sich auf den Boden herunterzulassen. An der Brust war er festgehalten.
War oben so eng gewaltig verklammert, daß er ringend dagegen die Füße
vom Boden abhob, beide Füße vom Boden abzog. Quer gedreht erblickte er
sie unten und ächzte; quer hingen seine Füße unten handbreit über dem
harten Lehm. Ein Schuh hing über der Erde, vom Fuß abgezogen; er stand
deutlich sichtbar in der Luft, auf der Spitze, unter dem nackten weißen
Fuß, unter leicht spielenden Zehen. Marduk schwebte. Er sackte langsam
abwärts. Und wie er sich auch mühte durch Stunden zähen Wühlens
Schlagens Stemmens, er drückte seinen Rumpf nicht auf die Erde herunter.

Vornüber mit Hals und Rumpf schwebte er über dem Boden wie im Sturz,
nach dem Boden drängend, den er nicht erreichte. Die Arme, gekrümmt
erlahmend erschlaffend, lagen wie auf Kissen, und doch fest wie zwischen
Zangen. Nicht die Finger der flach hingestreckten Hände vermochte er zu
krümmen. Und als er sich im Beginn neuen Anringens wütend um sich selbst
werfen wollte, hielt er unter schrecklichem Schmerz inne. Er suchte auf
seine linke Hand zu blicken. Von da, da kam der brennende heulende
Schmerz. Die Finger, er sah sie, standen unnatürlich gestreckt, nach
oben abgebogen über dem Handrücken, so wie sie vorher gestanden hatten.
Sie waren gebrochen umgeknickt. Leise stöhnte Marduk.

Er rang mit seinen Augenlidern. Die Hornhäute vertrockneten ihm, die
Lider, die Lider waren nicht zu schließen. Oh sie schließen können. Er
hielt seinen Rumpf still, er kämpfte nur mit diesen kleinen Muskeln, den
Lidern. Millimeter um Millimeter drückte er sie herunter, bis nur noch
ein Spalt da war. Jetzt, das Glück, er sah nichts mehr.

Hinter seiner Stirn taumelten Gedanken: „Sie, sie, sie haben mich. Zimbo
hat mich. Ich bin verloren. Die Verbrecher haben mich. Alles war
umsonst.“ Heißer wütender namenloser Schmerz über ihn. Hinter den
blinkenden Streifen des Spiegelschutzes erzitterte sein blau
anlaufendes, dick hochschwellendes Gesicht. Die Lidspalten füllten sich
mit Tränen. Der Brustkorb, der Hals suchte zu schluchzen. Aber nur ein
Heulen Röcheln kam durch die gepreßten Zähne. Elina war gestorben. Warum
war er nicht mit ihr zur Seite gegangen, nach Westen, nach Süden, und
lebte mit ihr. Warum wollte er nicht mit ihr leben. Die süße Elina war
hingegangen, für nichts, ins Dunkle Leere, und er ging nach. Jonathan,
auch der war gestorben.

Die Gedanken schwollen wirr hinter seiner Stirn. Ein wachsender Wald war
da, Pferde mit gefangenen Frauen an einem Strick; man schleifte sie
durch die Luft herunter, an dem endlos langen Strick, über Feldspuren.

Mühsam zog er Luft ein. Der Spiegelschutz scharrte gegen seine Kehle. Er
wollte ihn abreißen. Rüttelte, zuckte gegen seine schon toten Hände,
konnte nicht zu ihnen hinfinden. Wollte seinen schwarzen Hauptmann,
Angelelli, rufen. Die Zunge rührte sich nicht.

Eingeschlossen eingespannt in einen Sarg war er.

Er weinte bewußtlos immer wilder um Elina. Durcheinander stürzten über
einen Wasserfall, ein Rad, seine Gedanken. Das Rathaus Schnee-Ebenen
Pferde. Und immer wieder Elina.

Sein Mund lutschte. Er sog, wärmer summend brummend knurrend schnalzend
an etwas, das man ihm in den Mund steckte. Elina steckte ihm etwas in
den Mund, gab ihm zu trinken. Er sog schnarchte im Schlaf.

In tiefster Betäubung der hängende, langsam abgleitende Körper, als auch
der Brustkorb sich nicht mehr erweitern konnte, im Innern das Herz seine
Schläge verlangsamte.

Es war Nacht. Der Schuh hing mit der Spitze neben dem gekrümmten Bein.
Da froren die langsam abwärts geronnenen Tränen über dem verhängten
unbeweglichen Gesicht, froren die Lider zu. Die beiden dünnen Eislagen
senkten sich über die Lippe in den klaffenden Mund. Die Zunge umwuchsen
sie. Den Rachen kleideten sie aus.

Gegen Morgen prüften Männer des Zimbo den Apparat, verschoben ihn. Da
dumpfte und knallte im Nebel der Körper des zweiten Konsuls auf die
gefrorene Erde. Sein Kleid zersprang. Die aufhorchenden Männer Zimbos
sahen auf dem Feld eine schwarze Masse liegen. Und wie sie näher
schlichen, war es ein Menschenkörper, wie ein Tier starr auf Knien und
Händen unbeweglich am Boden. Vom Kopf hingen ihm metallene Bänder. Ganz
langsam sickerten Blutstropfen aus dem offenen Mund.

Eine schwarze Lache unter ihm.

                   *       *       *       *       *

Das Gerücht von Marduks Tod wurde von Zimbo unterdrückt. Als er die
Waffenlosigkeit der märkischen Horden festgestellt hatte, ließ er einen
starken Teil seiner bewaffneten Krieger gegen das märkische Lager nahe
Magdeburg marschieren. Er selbst zog unbemerkt hinter ihnen mit seiner
Horde her. Und als die Krieger sich in einem langen sumpfigen Tal
unterhalb des Lagers der märkischen Führer sammelten, – Zimbo war schon
unter den Führern – gab er seine eigenen Truppen den Horden in die Hand.
Er ließ zu, daß seine Männer, die vertrauensselig folgten, entwaffnet,
gefangengenommen wurden. Am Abend trieb man sie auf einen Haufen, wollte
sie zum Hohn an Marduk schicken. Zimbo hielt da an und warf seinen
Trumpf. Er zeigte ihnen den gefrorenen Körper Marduks.

Tief erschreckt standen sie mit Fackeln vor der Leiche, vor dem
sonderbar und unheimlich verbogenen Leib, an dem Zimbo die Kraft seiner
Apparate demonstrierte.

Sie kamen in Beratungen der ganzen Nacht zu keinem Resultat. Finster
forderten sie zurückkehrend von Zimbo, er solle den größten Teil der
Waffen vernichten oder ihnen übergeben. Sie haßten Zimbo, weil er Marduk
getötet hatte. An ihm sich zu vergreifen war nicht seine Sache. Sie
sprachen nicht viel mit dem schwarzen Plattnasigen, der sich in seinem
Zelt hinter seiner Horde und einem unbezwinglichen Waffenschutz
versteckte. Er fühlte, daß sie knirschten. Die Waffen versprach er ihnen
lächelnd. Nur sei es, mit Rücksicht auf die Gefahr von Hannover und
Hamburg, unklug, sie zu zerstören.

Zwischen Stendal und Wittenberg wurden große Hordenversammlungen
veranstaltet, bei Stendal eine Führerversammlung. Zimbo, nur selten um
sich aus engen Lidspalten blickend, erschien hier demütig ruhig glatt
wie immer. Die märkischen Führer staunten seine List und seinen
Riesenkörper an. Er murmelte, er verlange keine Unterwerfung, sondern
seine Wahl zum Konsul. Er sei von England geschickt, um das Land für den
Völkerkreis zu gewinnen, habe umgelernt. Er werde die Politik Markes und
Marduks weiterführen.

Marduks Körper war einbalsamiert worden. Bei Stendal mußte Zimbo auf den
eisigen Körper schwören, – der war in der gekrümmten Haltung balsamiert,
wie er auf dem Feld verendet war –: er werde die nachuralische Tradition
fortführen, die Ausbreitung der Märker betreiben, die Mekifabriken
sobald als möglich vernichten. Das Murren unter den Horden hörte auch
nach dem Schwur und den Besprechungen nicht auf. Bis Zimbo sich durch
zwei Handlungen legitimierte: rasches brutales Niederwerfen
eingedrungener Hamburger in der Lauenburger Gegend, und nach der
Rückkehr Beseitigung von zwanzig widerstrebenden Hordenhäuptlingen.

                   *       *       *       *       *

Vor Ausgang des Winters bezog Zimbo das Ratsgebäude der Stadtschaft
Berlin. Er war der dritte Konsul der Stadtschaft, der erste, der nicht
hier aufgewachsen war. Zu der Zeit, wo der listige herrschsüchtige
Afrikaner den Saal des Ratsgebäudes betrat und den Raum mit der
Schädelpyramide bewohnte, die er mit den Knochen der getöteten Täuscher
und Hordenführer erhöhte, lösten sich die kriegerischen Märker aus dem
engeren Felde der Stadt, schwemmten wieder über Stendal Wittenberg ins
Hannoversche, reinigten durch Überfälle die Lüneburger Heide. Noch im
Winter zogen Siedlermassen, die sich ins Ausland unter den Schutz der
Mekifabriken geflüchtet hatten, hinter ihnen her. Zimbo selbst besetzte
die restlichen Mekifabriken mit Männern und Frauen, die ihm durch den
Feldzug gefolgt waren, und hielt sie in Stand, so daß eine große Zahl
Menschen, die sich vergrämt und zur Arbeit auf die östlichen Äcker
geworfen hatte, für den Westen frei wurde und Kriegsdienst tat.

Das gefahrdrohende Treiben an der Grenze der hamburgischen Seelandschaft
hatte wieder begonnen. Statt des fanatischen zum Ausgleich geneigten
Marduk saß ein Renegat des Völkerkreises, ein machtdurstender listiger
falscher brutaler Mann im Zentrum des märkischen Reichs.

Die kontinentalen großen Zentralen südlich und westlich Berlins
verlangten Ausrottung der märkischen Pest, Beruhigung des Erdteils. Ihr
Aufbäumen war angstvoll, aber lahm. Es war der hitzige Trieb erliegender
Wesen.




                             Fünftes Buch.

                        Das Auslaufen der Städte


Unaufhaltsam auf allen Kontinenten des Völkerkreises der nachuralische
Drang. Die Kämpfe der Stadtschaften gegeneinander waren lärmvoll und
gefährlich gewesen; in der Tiefe und Breite liefen andere mächtige
Wünsche. Der heiße afrikanische Kontinent, von einer unbeständigen
Menschenmasse erfüllt, zuckte zuerst auf. Überfälle, wie in der Mark auf
die westliche Umgebung, erfolgten hier auf die Zentren von allen Seiten.
Die Riesenländer Ebenen Gebirge Haine Flußufer waren nie völlig leer
geworden. Immer tauchten neue Menschenmassen aus ihnen hervor; die
Städte entleerten in die überreichen Steppen und Urwälder ihre Massen,
die gefährlich stöhnend von Zeit zu Zeit zurückkehrten. Die Schwächung
und Entartung der Stadtmassen gelang nie tief; unterlaufen durchrieselt
waren die afrikanischen Küstenzentralen im Westen Osten Süden, an der
Mittelmeerküste von den Männern und Frauen aus dem wilden Hinterland.

Die Brotbäume Ölpalmen Wassermelonen hatten nie Erholung gebraucht,
jetzt wuchsen sie in toller Üppigkeit. Das große Nilland trieb wuchernd
Felder von Reis Weizen sechszeiliger Gerste. Das Sorghumkorn schoß hoch
von Ägypten bis zum Kapland. Die Tiere, Störche Rohrdommeln Papageien
Reiher Halsvögel flogen in Scharen herum, Leoparden und Löwen trieben
sich herum, das rötliche Buschschwein Antilopen hausten zwischen den
Bananen. Die Rudel grauweißer Elefanten; sie fraßen die gelben runden
Palmfrüchte. Ein Heer von gierigen Affen hockte auf den Bäumen. Regen
Stürme Hitze. Die trägen, von Haschisch Opium, neuen Giften geschwächten
Herren schüttelten sich vor diesen Menschentieren, die aus den Wäldern
und Wüsten unter ihnen auftauchten. Suchten sie zurückzujagen, wollten
sie gefügig machen, nahmen sie auf, ließen die Städte vor ihnen
beschützen. Zentrale auf Zentrale wurde von den Unwesen zerstört. Die
aus den Wäldern herangetriebenen Geschöpfe gingen satanisch mit den
schwachen hilflosen Massen um. Es gab Städte, die sich den starken
listigen Stämmen rasch ergaben, und ebenso rasch zerrissen und
zertrümmerten die bösen stolzen Geschöpfe das Gerüst der
vertrauensseligen Städte. Dann irrten Hunderttausende in die offene
Wildnis hinein, erlebten eine kurze Zeit Tag Nacht Sturm Hitze wilde
Tiere, ehe sie verkamen. Auf dem stürmisch lebenden heißen Erdteil waren
längst die Stadtschaften auf das wuchernd reiche Land ausgelaufen, als
in den nördlichen westlichen Kontinenten die Stadtschaften noch dumpf
zerfallen nebeneinanderlagen und nach sich griffen. In Süd- und
Nordamerika tosten die großen Stadtschaften, voll des höchsten
Schmuckes, zugleich lecke Fässer, die ihren Inhalt nicht mehr hielten.
Überall kämpfend oder getragen Senate Herrengeschlechter Tyrannen, die
die Zügel hielten und nicht wußten, wohin sie lenken sollten.

                   *       *       *       *       *

An der gebirgigen Nordwestküste Nordamerikas loderte es um die Zeit, wo
der alte Kontinent auf die märkischen Konsulate blickte. Von den
Japanischen Inseln her, Kiuschiu Schikoku Hokkaido Sachalin Formosa
waren in dem Uralischen Krieg asiatische Scharen, angreifende Mongolen
und Sibirier über das Riesenwasser gefahren. Sie hatten, nur wenige
Tausend, die alte westliche Stadtlandschaft Franzisko und nördlicher
Portland am Kolumbiafluß besetzt, waren, rasch überfallend, über den
Salzsee nach Cheyenne und Denver gedrungen. Die überraschten Senate
hatten kaum Widerstand geleistet. Was an geübten Männern und Frauen zu
den Städten gehörte, stand zwischen Ural und Wolga, flog und fuhr mit
dem Geschwader.

Die Japaner, die Herrschaftssippen verjagend ausrottend, verließen beim
Erlöschen des Krieges nicht den Kontinent. Sie saßen da, nicht im
Auftrag ihrer Völker, auf eigene Faust, zum Hohn den Westlichen, unter
Billigung ihrer Völker, durchschauten das ihnen fremde eigentümliche
Gefüge dieser großen Städte mit Neugier. Und wie die Asiaten unter dem
Schutz ihrer Waffen einige Jahre durch die lungernden schlaffen
läppischen Volksmassen geschlichen waren, dachten sie die Städte und um
die Städte herum alles zu verderben. Sie waren frei von der Sorge der
westlichen Senate. Die Völkerstämme, die in diese großen Stadtreiche des
Westens eingeströmt waren, arbeitend genießend schmarotzend sich
vermehrend, stammten aus den Prärien von Nebraska Dakota Nevada, – Reste
von Weißen Mestizen Zambos Negerabkömmlingen indianischen Mischlingen.
Es wäre nach dem Zerreißen des alten Völkerkreises in den Städten alles
neu einzurichten gewesen. In diesen pazifischen Zentralen unter
mongolischer Oberhoheit stockte bald alles. Die Asiaten setzten die
Selbstverwaltungen von Franzisko Portland und die im Hinterland
Okkupierten unter Druck. Die letzten großen Sippen, deren Familiengut
technische Mysterien waren, hielten noch die Mekifabriken in Betrieb,
suchten Zusammenhang mit den Massen. Die Städte, desorganisiert hungernd
sich stärker zersetzend, gärten. Man saß gefangen in einer fremden
Festung, in einer Belagerung; der Feind mitten unter ihnen. Eine
wutgeheizte unbeschäftigte Masse trieb sich in den Riesenstraßen herum,
spärlich aufgeklärt über die Dinge, die draußen abliefen, auf der Suche
nach Bundesgenossen.

In der Masse herrschte der alte indianische Glaube von einer guten und
bösen Macht; das Volk befragte Erde Aschen Vogelknochen. Es traten in
Dakota – und wurde rasch über die Westküste verbreitet – Gerüchte auf:
man müsse ausbrechen aus den Städten, nach Norden, ins Kanadische, ins
Land der Irokesen, an die zerklüftete Küste, auf den Archipel der großen
Inseln, in das Yukonbergland. In den Anlagen von Franzisko erschienen
Männer aus westlichen Städten, die rote runde fremdartige Steine aus
ihren Bergen mit weißen zerschlugen, aus den Splittern überraschend über
die nächsten Vorkommnisse aussagten, den Durchbruch nach Norden
prophezeiten. Wie in der märkischen Landschaft warfen die Gefesselten in
diesen Städten sich auf Ringen Jagen Anschleichen List und Wildheit,
bildeten kriegerische Geheimbünde. Der Krieg Marduks mit dem Völkerkreis
wurde dunkel bekannt; der Name Marduk lief als Geheimzeichen um. Die
Asiaten hörten ihn, lachten verspotteten die Städter: „Marduks!“

Sie wurden still, als eines Tages die angesammelten Lebensmittelvorräte,
auch ihre eigenen, in Franzisko und Portland Flammen zum Opfer fielen.
Sie standen vor der Frage, ob sie Millionen verhungern lassen sollten
oder ihre Herrschaft aufgeben. Sie warfen Funken nach Westen in ihre
Heimat. Man beruhigte sie: ob sie Furcht hätten oder Sachwalter
amerikanischer Wilder seien. Sie verdoppelten die Massensicherung um die
Städte.

Drei Wochen nach der ersten Vernichtung der Nahrungslager erfolgte in
Franzisko und Portland am gleichen Tage das Niedersengen der Fabriken
selbst. Geheim eingeführte Sprengstoffe wurden verwandt. Zugleich
erfolgte ein Angriff auf die Wohnsitze der mongolischen Eroberer, der
sich zu einem Sturm der ganzen Stadt auf diese Wohnsitze gestaltete. Nur
eine Stunde war nach der Sprengung der Fabriken vergangen, als die
ersten geängstigten, das Leben wagenden Menschenmassen von der
Brandstätte der Fabriken gegen die Strahlenbarriere der Fremden um das
Ratsgebäude liefen. Sie waren halbnackt verwahrlost dem Tode nah,
Menschenfresser, gehässig auf sich. Sie erstickten in den Strahlen,
fielen auf den gelben welken Wiesenflächen um die Gebäude. Neue Massen
stürmten. Ein Teil der Haufen kam spät, wollte nach der Peripherie, sah
sich gefangen wie sonst, setzte sich gegen das Zentrum in Bewegung. Um
die Gebäude der Mongolen bildete sich ein Ring von Toten, der sich von
Minute zu Minute erhöhte. Die schmierigen Menschen, Weiber, die noch
Kinder trugen, die gereizten rasenden Männer, wußten, daß es kein
Erbarmen für sie gab und daß das Mildeste, das sie gegen sich tun
konnten, war, hier zu verenden. Die gefährdeten Krieger, die Mitglieder
der Geheimbünde, hielten noch im Hintergrunde, hetzend: „Fangt sie,
fangt sie!“ Ihr Geschrei brauste in Wellen stundenlang gegen die stummen
Gebäude der Mongolen. Schon war der Berg der Leichen auf allen Seiten um
die freiliegenden Gebäude so hoch, daß man ihn nur auf Leitern
erklettern konnte.

Da begannen unbemerkt Klansbündler sich unter die Menschen zu mischen.
Plötzlich in der Raserei ein Krach: Krach und Schlag. Krieger, einzeln
vorgehend, den Berg als Deckung vor sich, warfen Sprengstoffe herunter,
herüber, wie sie sie morgens gegen die Fabriken gebraucht hatten. Die
Mongolen, gereizt, verloren ihre Ruhe nicht. Jetzt war ihnen sicher, die
Unterworfenen wollten Entscheidung.

Da rollten sie die eisernen Tore der Gebäude auseinander. Die
Unterjocher traten sichtbar für die, die oben auf dem Leichenwall
verendeten, heraus. Nur für Sekunden sichtbar. Sie wechselten ihre
Farben mit dem Boden, den sie berührten, mit dem Hintergrund.
Schillernde graugrünliche Körper, von rollenden blitzenden und
flimmernden Gestellen umgeben. Sehr rasch, kaum den Boden berührend,
fuhren sie über die welke Wiesenebene vor dem Gebäude. Bei ihrer
Annäherung rauchte der Leichenwall, schwelte schmolz. Die Andrängenden
hinter ihm wichen. Aber nur die nächsten. Hinter ihnen lebte die ganze
Stadt. Durch den rauchenden fließenden Leichenwall, durch die brandenden
Menschen gingen die Japaner, die grünlich schillernden Körper, ab und zu
anhaltend und sich vermindernd unter einem Donnerschlag, aber immer
rascher sich bewegend, nach allen Seiten zuckend. Räumten die Stadt fast
aus, leerten die Straßen. Flogen über die Straßenzüge, schleuderten
Feuer herunter. Sie besänftigten die Menschen nicht, die ihnen
nachliefen, neu auf den dampfüberlagerten Plätzen auftauchten.

Die glitzernden Körper fuhren bis zum Abend. Im Dunkeln sausten sie über
die schwelenden Anlagen hinunter, tauchten in das Ratsgebäude.

Die Kleider warfen sie ab, stiegen in die heißen Badebassins. Sie
kicherten, machten Späße. Ihre Frauen erschienen mit Wein bei ihnen; sie
liefen durch das Haus her, umarmten die Männer. Und als sie sich
voneinander gelöst hatten, schlug ein Tamtam. Sie gingen in bunten
langen Kleidern langsam, Blumen auf den Händen in die große Halle des
Erdgeschosses, den Sitzungssaal. Ein farbiges Buddhabild hing an der
Wand. Sie legten die Blumen vor sich, verneigten sich auf den Boden,
gingen hinaus. Ernst stumm saßen sie im geschmückten Speisesaal an
niedrigen Tafeln, tranken aßen. Der beizende beklemmende Rauch zog von
dem mächtigen Platz herein, obwohl Fenster und Türen geschlossen waren.
Nach halbstündigem Schweigen wies der am Kopf der Tafel sitzende
Kahlkopf die beiden Sängerinnen hinaus, die mit ihren Lauten eintraten.

Das Kinn auf die Hand stützend blickte er die Männer in seiner Nähe an:
„Wie alt sind meine Freunde? Sehr jung. Ist es schade, daß sie die
Heimat verlassen haben, über das Wasser hergeflogen sind? Sie sind sehr
jung; da ist nichts schade. Wann sind Dinge schade, die man in der
Jugend begeht? Wenn sie zu lange dauern.“ Nach erneutem Schweigen
blickte der untersetzte Yari an sich herunter: „Dank, daß du gesprochen
hast. Ich hab’ ein buntes Kleid an; das trägt der Sieger. Ich möchte
Sieger bleiben. Du hast gesagt, was ich tun muß.“ Sie murmelten und
nickten an den Tischen. Nach und nach standen alle auf. Waren nicht mehr
ernst. Lächelten sich an. Einer rief: „Mögen die Sängerinnen kommen.“
Der Kahlköpfige strahlte. Und als fünf Mädchen, zierlich, mit roten
Schärpen, augenglitzernd zwischen den Tischen gingen, faßten die jungen
Männer sie bei den Händen. Vor dem zusammengedrängten Saal, der sich
kaum ruhig halten konnte, der summte flüsterte kicherte, sangen sie zu
zweien dreien fünfen.

Im Vollmondlicht durchschnitten sie nach zwei Stunden die Luft über der
dumpfen flammenerhellten Stadtschaft. Lautlos zerstörten sie die Sperre
an der Peripherie, wogten nach Westen, gegen das uralte rauschende Meer.

Wellen, Wellen, mondbeschienene flinkernde rollende sich verschlingende
Flächen, schwellender tragender Wind. In diesen Tagen verzogen sich die
asiatischen Besatzungen aller amerikanischen Stadtschaften.

Die Küste aber entlang ergossen sich nach Norden in das Gebirge hinein
die noch lebenden Menschenmassen, die die zurückgelassenen Städte
zuletzt verwüstet hatten. Führer der jetzt nicht mehr geheimen Bünde
rissen die Massen in das freie Land. Nevada Washington Oregon Idaho
ließen sie hinter sich, in Columbia traten sie wandernd ein, erfüllten,
Städte auf Städte nach sich ziehend, die Flächen zwischen der
inselreichen Küste und den felsigen öden Rocky Mountains. Bis nach Yukon
herauf, wo sich der Eisgipfel des gewaltigen Eliasberges reckte,
schwollen sie. Manche überstiegen die Pässe des Gebirges nach Osten,
sahen Athabaska vor sich liegen. Tausende versagten unterwegs und
schlugen sich rückwärts. Vorn trieben und zogen die anfeuernden Steine
und Erde befragenden Führer unaufhaltsam. Ohne Mißtrauen, oft freudig
wurden sie von den Resten der an der Nordwestküste hausenden
Muttervölker, den in kleinen Dörfern hausenden Tlinkit Haidas
Tschimssiwas Biballas empfangen gepflegt geleitet. Viele verelendeten
verunglückten in den nächsten Jahren. Der jähe Übergang aus der Fürsorge
der Riesenstädte an die wilde Kraft des Meeres, an den Kampf mit Tieren
war gnadenlos. Holzfällen, Jagd auf Lachse mit Speeren und Fallen, Fang
von Dorsch Stint Heilbutten zwischen Inseln, an der Dixoneinfahrt, in
der Chatamstraße, Bärenjagden hieß jetzt das Leben. Trinken von rohem
warmen Blut, Essen von rohen Lebern wurde heilig. Marduk war schon tot,
der machtdürstende Zimbo saß in dem Ratsgebäude der märkischen
Stadtlandschaft, als die ersten dumpfen Warnungen und Drohungen von
diesen indianisierten unter Propheten stehenden Horden der
amerikanischen Nordwestküste ausgingen.

                   *       *       *       *       *

Der Völkerkreis aber, sich schließend und eben erst festigend,
bewältigte diese beiden Feuer, das märkische und westamerikanische,
nicht. Im Londoner Senat erschienen amerikanische Vertreter. Sie waren
in der schwelenden Landschaft des Nordwestens zu Hause. Man hatte sie in
Washington ausgewählt zu sprechen. Klokwan war der älteste dieser vier
langsamen Menschen, die in Wolldecken auf den Bänken der Londoner saßen,
die Straßen stumpf betrachteten. Sie hockten stundenlang. Erst bei ihrem
Stäbchenspiel, dem die Östlichen verwundert zusahen, wurden sie
lebendig. Sklaven hatten sie bei sich, Mestizen, und eine Anzahl
tabakkauender Frauen, die hinter ihnen herliefen, bei den Besprechungen
auf Matten an der Erde lagen, mit Otterfellen bedeckt, den Kopf auf
einen Arm stützend. Man mußte sich mit ihnen in Gärten, im Park
unterhalten. Geschlossene Räume, besonders die Londoner Riesentürme,
ängstigten sie.

Francis Delvil, der Londoner Senator, ließ ihnen oft zum Wärmen Weine
reichen. Der hagere wohlwollende Mann hatte ein schlaffes müdes Gesicht
bekommen. Sie saßen im herbstlichen Park von Aldershot zusammen. Seine
englischen Freunde lächelte er melancholisch an, kniff die Lider: „Seh
ich recht, sind wir in derselben Lage wie – soll ich es sagen? – zu
einer schlimmen Zeit. Wie damals als Rallignon, der große Franzose
Rallignon, und Leuchtmar über das Festland fuhren. Dann kam der Krieg am
Ural.“ „Wer ist unser Feind?“ der rundgesichtige Klokwan, mit
tiefbraunem welken Laub spielend, das man vor ihm aufhäufte, wischte
sich die langen grauen Haarsträhnen von der Nase zurück. „Der Feind,
Klokwan, gewiß, den zu bestimmen ist jetzt schwer. Du hast es gefunden.“

„Ich weiß nicht, ob es das Schwerste ist. Wir kommen aus Amerika, wir
flogen auch an der Westküste von Afrika entlang. Wir sahen da nichts
anderes als bei uns, vielleicht schärfer, es ging wild zu. Die
Stadtschaften brennen, sie schlagen sich. Viele stehen halb leer. Die
Menschen sehen ihr Verderben. Sie fürchten sich davor. Das Mekibrot das
Mekifleisch schmeckt ihnen nicht.“

„Sie wollen sich in der Wildnis von den Tieren zerreißen lassen?“ „Es
scheint, Delvil. Ich weiß es nicht. Es geht in Dakota am Mississippi in
Mexiko am Salzsee und ganz im Süden bei uns nicht anders. Ich meine: man
muß dies nicht vergessen. Wie soll man diese Menschen halten. Sie kommen
nicht mehr zu uns. Es liegt eigentlich, verzeih mir, gerade umgekehrt
wie zu der Zeit Rallignons und Leuchtmars, die einen Krieg anstifteten
um ihre Menschen wegzuschleudern, – es ist doch so? Wir wissen aber
nicht, wie sie festhalten.“

Delvil riß finster an seiner starken Halskette: „Also wo liegt der
Fehler? Welchen Fehler machen wir?“

Die stämmige breite rotbäckige White Baker: „Erinnerst du dich, Delvil,
und – wo ist Pember? ah du, – du Pember, unseres Besuchs bei Marduk? In
diesem sonderbaren Stadthaus in der Mark, an der Schädelpyramide, vor
den schrecklichen Bildern. Mich schauert, wenn ich daran denke. Marduk
wollte nicht nachgeben. Wir sagten ihm, es sei kein Sinn in dem, was er
täte. Er blieb hart. Zuletzt riet ich zum – zum Zugreifen. Delvil, da
warst du es, der den Arm wie ein Boxer krümmte und sagte: Ist das Land
still, so sind wir auch still und sanft. Wir begießen es wie Regen. Das
sagtest du. Ich erinnere mich gut. Will der Konsul aber anders, so
können wir auch Gewitter spielen. Sagtest du. Wir halten den Marduk
zwischen den Fingern.“ „Das sagte ich. Was willst du damit?“ „Nichts,
Delvil, über deinen Irrtum und über Pember. Was nützt es jetzt. Wir
haben darüber oft gesprochen. Aber ich wiederhole nun dasselbe wie
damals: zugreifen.“ Delvil bog wieder den Arm: „So hab’ ich damals
gemacht, White Baker, nicht wahr? Aber unser Freund Klokwan hat schon
die entscheidende Frage gestellt. Und sag’ du mir: wo, wenn ich schieße
und schlage, wo ist das Ziel?“ „Es gibt nur den Völkerkreis oder die
anderen. Delvil und ihr, ihr könnt doch nicht daran zweifeln. Und daß
sie uns an den Hals wollen. Daß wir im Begriffe sind, vernichtet
aufgelöst zu werden.“

Klokwan hatte seine Decke fallen gelassen, gespannt zugehört: „Ich frage
die Frau nochmal, wie der Herr Delvil, wohin sie ihren Bogen richtet.
Francis Delvil, mein großer Freund, meinte zuerst, wir stünden wie
unsere Voreltern vor dem Uralischen Krieg. Ich sagte nicht so. Wir
stehen schlimmer. Er sieht es selbst. Weil wir doch den Feind nicht
haben.“ White Baker lachte stolz: „Unsere Voreltern hatten auch keinen
Feind. Wahrhaftig sie hatten ihn nicht. Sie machten ihn. Es ist leicht
Menschen zu Feinden zu machen, wenn man überlegen ist. Sie hatten einen
Schmerz in der Brust und dann schlugen sie – auf die andere Brust!“ Die
Frauen auf den Matten lachten ihr mit blinkenden Augen zu. Klokwan hob
seine Decke wieder, blickte stumm über die Frauen. Seine drei männlichen
Gefährten saßen verhüllt, die Decken über dem Kopf, nur Mund und Nase
freilassend. Klokwan: „Und ihre eigene Brust? Der Schmerz in ihrer
eigenen Brust war dann vergangen?“ White Baker: „Ja.“

Einer der Männer neben Klokwan hatte seine Decke auf die Schulter
heruntergezogen. Er tuschelte mit einer Frau zu seinen Füßen; der Mann
flüsterte dann mit Klokwan. Alle in dem kleinen winddurchhauchten Zelt
blickten ihn an. Klokwan senkte den Kopf zu seinem Nachbarn, bat dann
sprechen zu dürfen. Eine Frau seiner Sippe, die Ratschenila, wüßte
etwas, sie möchte es erzählen.

Die Frau am Boden spuckte den Tabak neben sich, richtete sich auf,
strich sich ihr schwarzes Haar glatt, redete leise und langsam, während
sie die Hände bald auf dem Schoß hielt, bald rechts und links an ihren
Ohrringen. Sie blickte nur die Frauen neben sich an. Man erzähle bei
ihnen in den amerikanischen Städten eine Geschichte aus der Zeit, wo
noch ihr Volk in den Bergen jagte. Es seien einmal mehrere Mädchen zum
Früchtesuchen in den Wald gegangen, die Tochter eines Vornehmen war
dabei. Sie kamen an einer Tierspur vorbei und da lag Losung eines Bären.
Die Tochter des Vornehmen fing da an, über das wilde Tier zu spotten: es
sei ein langsamer blinder dicker dummer Gesell. Gegen Abend gingen sie
wieder zurück. Da fiel der Häuptlingstochter der Korb mit den Früchten
aus der Hand. Sie schüttete sie aus, sammelte sie ein; die Gefährtinnen
halfen ihr. Aber nach hundert Schritt fiel ihr wieder der Korb weg, und
nach hundert Schritt wieder. Da wurden die anderen Mädchen ärgerlich,
gingen weiter, ließen sie allein sammeln. Und wie die Häuptlingstochter
zuletzt die Früchte wieder eingesammelt hatte, waren ihr die anderen aus
den Augen gekommen. Sie stand allein an einem Baum, in der Dämmerung,
fand nicht den Weg. Da kam von der Seite ein junger schlanker Mann auf
sie zu, in einer schwarzen Pelzkappe, ein ernster ruhiger Mann. Der bat
sie, ob er von ihren Früchten essen könne. Sie gab ihm, erzählte, wie es
ihr ginge und daß sie sich verlaufen hätte. „Warum hast du dich denn
verlaufen.“ „Die andern sind so rasch gegangen, sie haben mir nicht
geholfen.“ Und gleich erzählte sie von der Bärenspur und der Losung am
Weg, lachte und spottete wieder. Der Jüngling aß nicht mehr von ihren
Früchten, kaute an seinen Nägeln, sagte er wisse den Weg, sie solle
kommen. Sie gingen lange; es war schon ganz dunkel. Da fragte der
hübsche Mann nach einiger Zeit, ob sie noch den Korb trage, und dann
nahm er ihn und warf ihn weg. Sie schlug nach ihm, weinte. Er sagte, man
könne so besser und rascher gehen, es sei noch weit. Sie wollte
weglaufen. Er nahm sie aber bei der Hand. Da bekam sie Angst, weil sie
jetzt erst merkte, wie er sonderbar ging, der junge Mann, plump und
langsam, so wacklig watschlig. Sie schrie, sie hätte Herzstiche, sie
könne nicht mehr gehen. Und dann: der Leib täte ihr weh vom Beerenessen.
Er sagte, sie solle nur kommen; sie seien bald da. Da wo das Licht
brenne, sei seine Wohnung. Er sagte aber nicht Wohnung, er sagte: Wohne.
Sie kicherte, faßte ihn an seine Brust, sah ihn an: es heiße doch nicht
„Wohne“, es heiße „Wohnung“. „Doch. Wir sagen Wohne.“ „Das ist ja
Unsinn. Wer seid Ihr denn?“ „Wir? Du kennst uns doch. Du wirst gleich
sehen. Komm nur rasch.“

Und da war schon ein riesiger gespaltener Baumstamm da, ein alter toter
Ahorn. Aus dem kam rotes Licht und Qualm. Sie stiegen wie in eine
Dachluke ein, gingen vorsichtig tief herunter, bis sie zu den Wurzeln
unter der Erde kamen. Ein kleines Feuer brannte. Zwei schwarze
Grislybären schliefen da nebeneinander, ein junger und ein alter. Die
schnarchten. Ein großer alter aber kam grunzend mit aufgehobenen
Vorderpfoten auf den jungen Mann und die Häuptlingstochter zu. Die
schrie, wollte kreischend weglaufen. Der Mann hielt sie fest; sie
stürzte über eine Wurzel und riß die Erde herunter. Davon erwachten auch
die beiden anderen Bären. Standen brummend auf, rieben sich die Augen,
schüttelten schwarze Erde von sich, fragten: wer ihnen ihre Wohne
zerstöre. Sie schrien: „Wer zerstört unsere Wohne?“ Das Mädchen lachte,
trotz seiner Angst, über den Ausdruck, das tölpische Knurren Getue der
Grislys. Der junge Mann nahm da rasch ihren Fuß, warf sie um. Die beiden
Bären taperten an. Da wurde sie ohnmächtig. Und wie sie aufwachte, saß
bei dem Freund ein alter Mann und eine alte Frau. Die hatten traurige
Gesichter. Der junge hübsche Mann saß neben ihnen, aß Fisch. Die
Häuptlingstochter fragte, wo sie sei. Sie sah ihren Korb, wollte ihn
haben und nach Hause gehen. Der alte Mann und die alte Frau blickten sie
aber so traurig an und sagten, sie sei zu ihnen gegingt in ihre Wohne;
ob sie nicht bei ihnen bleiben wolle. Sie sprachen falsch wie kleine
Kinder, stießen mit der Zunge an. Der hübsche junge Mann gab ihr den
Korb zurück. Sie solle die Früchte mit ihm zusammen futtern. Die Eltern
hätten auch schon davon gefuttert, er ließe sie nicht fort. Sie wollte
erst nicht, weinte. Sie sah, daß das die dummen schwarzen Grislys von
gestern waren, und der hübsche junge war nur ein junger Bär. Aber sie
konnte nicht weg. Der junge Bär nahm sie zu seiner Frau. Und – und – und
–: sie blieb da wohnen.

Die Frau lachte die andern an, legte sich auf ihren Arm am Boden zurück.
Der grauhaarige Klokwan sah zu ihnen herunter: „Und nun spottet ihr
nicht mehr über den dicken dummen schwarzen Bär. Er war doch nicht so
dumm.“ „Eine sonderbare Geschichte, die du uns erzählt hast“, lächelte
nach einem Schweigen Francis Delvil. Dann sah er zu White Baker herüber,
die ihr ernstes Gesicht keinen Augenblick verzogen hatte, ja deren
Gesicht während der Erzählung tiefrot aufgeblüht war: „White Baker.“
„Was willst du?“ „Ich möchte dich hören.“ „Wir sprechen ein andermal.“
„Du kannst ruhig hier sprechen. Wir sind noch bei unserer Frage von
vorhin.“ Sie hob abwehrend beide Arme, schüttelte den Kopf: „Laß,
Delvil.“ „Ja, wo ist das Ziel, auf das ich schießen soll. Blick doch
hin, unsere eigene Brust.“ White Baker stand auf. Sie war blaß geworden.
Die Art der fremden Frau hatte sie offenbar verwirrt.

Als sie später draußen mit Delvil allein ging, sagte sie stockend, diese
Männer und Frauen könne sie nicht als Vertreter Amerikas anerkennen. Es
seien mehr Angehörige der gefährlichen Wilden aus der Yukon- und
Alaskagegend als Amerikaner. Sie redete erregt und unklar. „Das mag
sein“, fand Delvil sie anblickend, „aber Washington und Neuyork hat sie
ausgesucht und läßt uns durch sie informieren. Das will allerdings
verstanden sein. Es heißt, so sind schon unsere Leute. Wir sind dankbar
für den Wink. Wir sehen. Es ist dieselbe Nuß, die unseren Zähnen
Schwierigkeiten macht.“ White Bakers Augen blitzten: „Zuschlagen, sage
ich. Ich bleibe dabei. Abtrennen. Ja oder nein. Marduk oder wir. Glaubst
du“, und sie stemmte die Arme in die Hüften, sah ihn erschreckt an, „ja
ich glaube, du torkelst in den toten Baum, in den Ahorn, zu den Bären.“

Bei den Unterhaltungen mit Klokwan und in Ferngesprächen mit Washington
und Neuyork wurde klarer, daß man dort schon keine Möglichkeit für einen
neuen Völkerkreis sah. Die Vorgänge an der Westküste hatten ungeheuren
Eindruck gemacht. Die fürchterliche Bewegung stand noch nicht. Das
Auslaufen ganzer großer Stadtschaften in Afrika erregte Europa und
Amerika aufs tiefste. Die amerikanische Deputation, immer geneigt
abzureisen, wurde von den ängstlich gewordenen Engländern in London
festgehalten. Ein heftiger Streit begann zwischen London und Neuyork.
London ließ durchblicken, daß nach seiner Ansicht drüben den Industrien
und Senaten Männer und Frauen vorstünden, die aus schwächlichen Sippen
wären. Die alte Tradition sei unterbrochen. Sie fochten mit Worten über
dem Meer hin. Die tücherbehangene Deputation der Männer Frauen und
Sklaven spazierte indessen in den Anlagen der Stadt, drängte: sie könne
nichts weiter sagen und was sie nach ihrem Kontinent melden sollten.

Es war in diesen kritischen Monaten, in denen der Völkerkreis schon
wieder sich zu lösen begann, wo eben dieselbe White Baker, die kluge und
tatkräftige Frau, umschwenkte, sich auf seiten Delvils stellte. Aufs
heftigste waren Delvil wie Pember ergriffen, als sehr blaß und still die
White Baker eines Morgens zu ihnen in das Senatszimmer trat, jene
bräunliche tuchverhängte Ratschenila an der Hand, sich setzte und lange
nicht sprach. Die Ratschenila lachte die weiße Frau an, streichelte ihr
die Backen, lehnte den Scheitel an ihren Hals. White Baker sah wie ein
verschämtes junges Mädchen auf ihren Schoß und ließ es sich gefallen.
Auch als sie mit den beiden Männern sprach, hielt sie die
ringgeschmückte Hand der fremden Frau fest. Ratschenila lächelte die
Männer an: „Glaubt ihr, ich sei schuld, daß White Baker trübe ist und
anders redet? Man erzählt bei uns, es habe einer, ein Mann einen andern,
der Jelch den Kanuk, ärgern wollen und ihm in der Nacht Hundekot unter
die Decke geschoben. Er weckte ihn und sagte: es stinkt hier. Du Kanuk,
steh auf, du hast dich schmutzig gemacht. Ich – hab’ der White Baker
nichts getan.“ Die weiße Frau drückte ihr fester die Hand, machte kleine
Augen: „Wie kommt es, Delvil, daß ihr schon viel früher wußtet als ich,
was man tun soll? Wie seid ihr Männer. Oder liegt es nur an mir. Ich bin
jetzt“, und sie senkte den starken braunhaarigen Kopf, „fast bin ich
jetzt mehr geneigt, zu Marduk, zu Zimbo zu gehen als in London zu sein.“
Der ruhige Pember klopfte ihr Knie: „Es ist gut, daß es so ist. Man
kämpft besser, wenn man weiß, wie stark der Feind ist.“ „Ich sehe keinen
Feind, Pember.“ „Doch. Heute nicht und morgen doch.“

Von nichts war die White Baker, die in diesen Tagen einen kranken
gebrochenen Eindruck machte, getroffen worden, als von der Berührung mit
den Frauen dieser Deputation. Zu ihrer Art, ihren Gesprächen Spielen
wurde sie unter Widerstreben, zu ihrer eigenen Verblüffung gezogen. Als
die Ratschenila die wachsende Neugier und Zugänglichkeit der weißen Frau
sah, näherte sie sich ihr und fesselte fällte sie mit einigen
Liebkosungen. White Baker, deren Backen plötzlich eingefallen waren und
die langsamer sprach, bat, Delvil in seinem Haus aufsuchend, Delvil
Pember und die andern möchten auf sie keine Rücksicht nehmen. Möchten
sich gar nicht von ihr beeinflussen lassen. Sie sei ein pathologischer
Fall. Sehr nachsichtig streichelte ihr der schlanke Delvil oft die Hand:
„Wie denn, White Baker, bist du ein pathologischer Fall. Wir sind alle
pathologische Fälle. Sieh dir Klokwan an, deine Freundin Ratschenila,
die junge gelbe Kaskon neben ihr: es wackelt bei allen. Warum bist du
ein pathologischer Fall. Es ist nichts weiter, als daß du, soll ich es
sagen, etwas rückständig warst. Ja, White Baker; jetzt heißt du mit
Recht White. Aber ich schenke dir rote Nelken, rote Tulpen: da spiegelst
du dir wieder deine Farbe an.“ „Warum war ich rückständig, Delvil?“ „Ja.
Du warst ein Anachronismus. Wir weniger als du. Aber auch wir noch ein
klein bißchen. Es heißt, sich immer in die Zeit einfinden. Sonst ist man
töricht störrisch widerspenstig. Es nützt auch gar nichts. Man ist so
nur Stoff für Tragödien.“ „Ich hätte doch stark bleiben müssen. Marduk
war stark.“ Delvil umschlang ihre Schultern: „Undankbare. Fabelhaftes
Seeungeheuer Walfisch, der immer unter der Oberfläche schwamm und sich
jetzt wundert, wie es oben aussieht. Was hättest du damit geschafft. Du
bist nicht schwach, weil du gelernt hast, deine Augen zu benutzen. Ich
will dir sagen: Marduk war stark. Seine Bäume und Zimbos wachsen nicht
in den Himmel. Wer sehen kann, White Baker, schwimmt gern mit dem Strom.
Der Strom hat aber seine Grenzen; es gibt Klippen, der Strom hat auch
einmal ein Ende.“ „Ich kann jetzt gar nichts hören, Delvil.“ Die Frau
löste sich von seinem Arm: „Mir kommt vor, als wenn ich gar nicht aus
dem Wasser an die Oberfläche gekommen bin, sondern umgekehrt. Aber ich
muß vielleicht meine Augen erst gewöhnen.“ Und sie ging langsam fort.
Trübe blieb Delvil sitzen.

Der einige Londoner Senat, des Widerstandes der starken Frau entledigt,
trat von diesem Zeitpunkt an härter gegen die unsicheren amerikanischen
Kapitalen auf. „Nicht die Zügel verlieren, nicht nachgeben“ fühlten sie;
man durfte nicht ausgleiten hinrutschen.

                   *       *       *       *       *

Auf den britischen Inseln breitete sich damals, nach dem Zurücktreten
der großen Eingottreligionen, aus den Kreisen der Herrschenden her die
Vorstellung von guten und bösen Gewalten aus, die man erkunden und
geschickt benutzen mußte. Es beteten noch vereinzelte und ganze
Landschaften zum alten Eingott, aber großes Ansehen genossen auf den
Inseln wie in zahlreichen Stadtschaften des europäischen Kontinents
schlaue Männer, die sich den Schein von Zauberern gaben und eine Technik
der Zukunftserforschung ausgebildet hatten. Schon die früheren fremd und
halbwild hin- und herflottierenden Massen waren dem zauberischen Wesen
zugetan, das sich mit dem imposanten Schein wissenschaftlichen
Geheimnisses umgab. Die jetzt stagnierenden Massen, bald träge, bald
geängstigt, durch ihr eigenes Verkommen, die barbarischen Ereignisse in
der Mark und an der amerikanischen Nordwestküste erschreckt, jedem Krieg
abhold, heimgesucht von einem tiefen Drang sich von der künstlichen
Nahrung, von Maschinen, senatorischer Obhut und Entmündigung zu
entfernen, verlangten nach Wissen um die Zukunft, vor der sie sich
fürchteten. Und um so mehr fürchteten, je weniger sie ihre Lage zu
verändern wagten.

Totenbefrager Orakelkünder aus Aschen Erden Trankmischungen saßen
damals, als wären sie Priester, in tempelartigen Häusern, wo sie mit
Gehilfen kultartige Handlungen vollzogen, Heilungsversuche vornahmen. In
lautlosen Räumen unter Tier- und Pflanzenzeichen saßen sie in kleinen
Treibhäusern, flache Wasserbecken vor sich mit Schilf, horchten, den
Wind einlassend, auf das Geräusch der Halme, die scharrten. Sie hatten,
auf Hügeln gelegen, hinter den Tempeln offene Hallen. Den Boden
bedeckten sie mit silberunterlegtem Glas. Auf die blanke Fläche warfen
sie gleichmäßig dünnen Sand, ließen an bestimmten Tagen den frei
herkommenden Wind darüber. Sagten aus Linien und Anhäufungen wahr.
Träume trug man ihnen zu. Diese Beschwörer und Zeichendeuter hörten die
Träume an, dachten darüber nach, spürten den Mächten nach, die in die
Träume hineinragen, wie eine Walfischherde, die das Meer beunruhigen,
wenn sie hochgehen, und kleine Boote zum Schwanken bringen. Erfüllt
waren um diese Zeit die Städte vom Glauben an Geister. Je sicherer die
herrschenden Sippen in der Bewältigung der Naturkräfte wurden und ihre
Kenntnisse zu Geheimnissen machten, um so üppiger wucherten
phantastische Vorstellungen.

Von den Schamanen, die sich in ihren finsteren Kapellen astrologisch, in
phosphoreszierenden, oft flammenden Röcken und langen Haaren,
lilienartig weiten Hüten, gaben, in Vogel- Tier- Pflanzentracht dumpf
orakelten, wurden abenteuerliche Gedanken in die unruhigen Stadtschaften
geworfen. Wagen mit den Ballen Fässern Säcken der Mekinahrung fuhren aus
den unterirdischen Schächten noch täglich in alle Häuser. Arbeitsgruppen
lösten sich ab. Gedunsene fette schwache Menschen, Gemische weißer und
roter Stämme, Scharen dunkler Bastarde trieben sich herum, kleideten
sich prächtig, verlumpten. Die ängstlichen Menschen waren von Geistern
umgeben. Die Schamanen wisperten: In den Riesenanlagen der Mekifabriken
ginge es abenteuerlich grauenhaft zu: man triebe Steine Sand Erde Salze
in die Höfe der Anstalten. Mahl- und Zertrümmerungsmaschinen arbeiteten
da; in die Häuser wird Wind geblasen; an ungeheure Becken mit halbtoten
Pflanzen, Moos und Algen werden die Stoffe geschlämmt, über sterbende
Tiere gerieselt. Die lebten immer weiter, immer weiter. Schon seit der
Zeit vor dem Uralischen Krieg lebten Pflanzen, die grünen Lagen über den
Teichen der Anlagen, zwischen die man Salze und Erde leitete. Da liegen
und zucken Glieder von Menschen, von Negern und Weißen, die hundert
Jahre alt seien und noch älter. Von dem Geist dieser halb toten und
sterbenden Moose Algen Tiere Menschen, dieser fettzeugenden Därme Lebern
Fischrümpfe Schafsmägen, lebten sie. Wie könnten aus Steinen Erde Salzen
Kreiden Kieseln Wasser Säuren Luft – Speisen werden, die sie aßen. Die
halbtoten, nicht sterbenden hätte man in den Mekifabriken aufbewahrt.
Kein Licht Mond Sonne scheint drin. Kein Regen fällt. Es gibt nicht
Frühling Sommer Herbst Winter. Nur gläserne Apparate, brennende Öfen,
Schlammtröge, Marmor- und Metallbecken, auf denen unsichtbare Strahlen
liegen, und drin zwingen sie die Stoffe zusammen. Aber die nicht
sterbenden Pflanzen und Tiere werden immer gejagt zu arbeiten und nicht
nachzugeben. Wie ein Müder, ein rippendürres Geschöpf noch zu Laufen
Laufen Laufen gepeitscht wird, es läßt sich treiben, wimmert mit
eingesunkenen Augen schon nicht mehr unter den Schlägen, so arbeiten
diese erlahmenden Geister. Ob sie nicht schmeckten, wie bitter diese
Speisen an manchen Tagen seien. Und doch sei dieser Geist das einzige,
was sonst in sie käme. Sonst fräßen und söffen sie Erde Sand Salz Luft.
Inzwischen ginge es ihnen nicht anders wie jenen gefesselten Pflanzen
und Tieren. Was nicht lebt, kann nicht sterben. Sterben ist eine
Fähigkeit wie Leben. Sterben können ist eine Kraft, die nur jemand hat,
der leben kann.

Und nun kam das Hauptstück der schamanischen Lehre. Es sei von ihnen
beobachtet und auf tausenderlei Weise festgestellt, daß die
Stadtschaften, Häuser Anlagen Plätze Straßen Treppen Wege Dächer, über
und überfüllt von Geistern seien. Wenn sie, die Schamanen, sich mit
ihren Tüchern einhüllten, so daß sie nicht geschädigt würden, und dann
zu bestimmter Stunde durch die Straßen zögen und die alten indianischen
Worte: „Oh Igak-chuati“ riefen, „für dich!“ dann könnten sie unter ihren
Gläsern es um sich wimmeln sehen. Im Tempel, auf dem Hof, vor der Tür
drängten sich die Geister immer. In der Nähe der Tempel mehr als
sonstwo. Hingen da an den Türpfosten wie Handtücher; lang wie Würmer
ziehen sie sich durch die Schlüssellöcher; wie Rauch fließen sie in die
Wände. Man hält sie für Dampf, durch den man schreiten könne. Aber das
regt sich so kalt unheimlich, kritzelt und kriebelt, läßt Feuchtigkeit
und Nässe auf der Haut zurück; man kann schwer atmen zwischen ihnen.
Sind zahllose Geschöpfe, Menschen Weiße Mischlinge Farbige Kinder Männer
Mädchen, auch Hunde Ziervögel Katzen. Geht man die Straßen, so werden es
Tausende. In den Parks ist ihr Getümmel furchtbar. Sie verschlingen
sich, hängen schaukeln um Baumkronen. Im Herbst kriechen sie in die
Spalten der Rinden, in Erdlöcher, suchen an die Wurzeln heranzukommen.
Manche Bäume sind von ihnen überlagert wie von einem Bienenschwarm. Nur
wenn die Schamanen kommen, lösen sie sich ab, schwirren ab, mit einem
Geräusch ganz hoch, als wenn man eine Saite mit einem feuchten Finger
herunterfährt.

„Rufen wir ‚Für dich, für dich!‘ sind sie still, tun so, als wenn wir
nicht da wären, sind emsig wie Ameisen. Was sind das für Menschen Hunde
Ziervögel Katzen? Wir haben welche erkannt von ihnen. Manche sind nicht
von hier, sind weither gewandert geflattert geschwommen. Aus fremden
Stadtlandschaften, östlichen südlichen Ländern. Viele müssen über das
Meer gekommen sein, wie muß ihnen die Fahrt beschwerlich geworden sein.
Mußten sich an Schiffsmasten hängen, vom Wind sich werfen lassen, in das
salzige Meerwasser schütten und wieder erheben. Uralte sind dabei. Die
Luft und der Drang scheint vom Süden und Osten zum Westen
herüberzugehen. Wir haben Geister, Schatten aus dem Uralischen Krieg in
großen ungeheuren Zügen angetroffen. Es hat niemand in den westlichen
Städten gemerkt, was da war, das ihn bewegt verstimmt hat. Sie haben
überall, wo sie vorbeigezogen sind, die Menschen schwach gemacht, ihre
Seelen auf Tage gelähmt. Sie irren immer weiter westlich, über den
Ozean, nach Amerika, auf die großen Gebirge, über Prärien, durch die
Städte. Kein asiatischer Mensch, kein asiatisches Tier ist bei ihnen,
obwohl die die halbe russische Ebene bevölkern. Wir sind so nah am
mittleren Europa, aber wir haben noch nie einen Menschen gesehen, einen
Geist, der aus Marduks oder Zimbos Land war. Was sind das für Geister?
Nicht sterbende, nicht lebende! Geister von Wesen, wie wir, die nur
geboren sind, nie gediehen sind.“

Und sie zeigten auf ihre Gläubigen, die dünne Muskeln hatten, lange
trockene Arme. Die Haare fielen ihnen aus, sobald sie einige Jahre
mannbar waren. Die Zeit einer heftigen überhitzten Brunst war da. Sie
verbrannten und konnten nach fünf Jahren nicht mehr zeugen. Wie die
Weiber in ihrem Fett schmolzen und kaum ein Kind austrugen. Nur dreißig
Jahre verdämmerten sie, dann fielen sie. Ihre Geister, die Geister ihrer
eigenen Eltern Voreltern Geschwister sind es, die die Städte drängend
drückend erfüllen, die sich nicht von den Mauern Türen Straßen lösen
können, wie sie sich schon bei Lebzeiten nicht lösen konnten. Auf die
Bäume fliegen sie, an die Teiche Seen. Aber die Stadt bringt immer neue
hervor.

So schreckten die Schamanen in den Städten. Steigerten die Angst, die
alle vor dem Wohnen Kränkeln Siechen in diesen Städten hatten. Die
Menschen weinten. Vor Jahrzehnten weinten einzelne, jetzt klagewinselten
ganze Städte. Sahen sich sterben und verwesen. Ihr Leben wurde kürzer.
Ihre Leiber hinfällig. Die Zähne konnten sie mit zwanzig Jahren
schmerzlos mit zwei Fingern aus den Kiefern heben. Die Menschen wuchsen
nicht zur Größe derer, von denen sie abstammten. Riesig wölbten sich nur
überall die Köpfe; die Stirnen der späten Generationen waren
vorgetrieben, die Augen wichen darunter zurück. In manchen Gegenden
wuchsen die Menschen übermäßig hoch, trieben ihre Knochen zwei Meter
auf; dünne platte Muskeln klebten daran; ihr Gang war langsam; das Herz
sehr klein; diese zerbrachen besonders früh.

Die Menschen, die die Zwanzig überlebten, setzten übermäßig Fett an. Es
gab in den westlichen Landschaften Menschen, die magere große Köpfe
hatten, deren Hals zwischen Fettwampen schwankte, aber an Arme Beine
hängte sich das Fett in förmlichen Kloben und Säcken, die über ihre
Finger und Zehen quollen, schwerbeweglich zum Gehen Greifen machte. Bei
manchen wuchs das Fett wie ein bösartiger Parasit über sie her, mit
zunehmender Gewalt von oben nach unten: der Hals und die Brust blieben
noch schmal, freundlich und hilflos blickte oben ein Kopf her. Von den
Brüsten ab schwollen sie an, dicker polsterten sich die Fettschwarten
auf; der Leib warf sich auf den dreifachen Umfang der Brust, schwankte
nicht bei Bewegungen, stand prall in seiner Masse. Schenkel und Füße
paketartig zementiert, von Wülsten umwickelt. Darin stampften die
Menschen, stöhnten starrten wie Fleischpyramiden. Nach ihren Rassen
setzten sie an oder blieben dünn, wuchsen hoch; Negerabkömmlinge
verfetteten am raschesten. Es wuchsen welche auf in einigen Gegenden mit
kolbenartigen Anschwellungen und Knoten der Gelenke wie Pflanzen.
Schlanke zarte Glieder bewegten sich in ungeheuren kuglig runden
Scharnieren, zitterten daran. Knotig dick die Ellbogen, kleinen
Fingergelenke, Knie, die Knöchel der Füße und Hände. Rasch konnten sich
diese Menschen bewegen, ihre Muskeln waren die stärksten, aber stockten
erlahmten erstarrten rasch. Sie fühlten alle, dies mochte von den süßen
sonderbaren reichen Speisen kommen, die man ihnen zutrug, nach denen
ihre Eltern und Voreltern verlangt hatten, von der Untätigkeit, dem
Lungern in geschützten Häusern, auf verdeckten Plätzen und Straßen. Aber
es war wie ein Pferd, das durchging. Man konnte es nicht aufhalten.

Um die Zauberer herum standen Menschen, weinten, die von Lähmungen
befallen waren, die keiner deuten und heilen konnte. In Massen waren sie
gelähmt. Arme und Beine wurden schlaff, die Augenlider konnten sie nicht
anheben, zuletzt lallten sie, andere fütterten sie. Sie fühlten die
Speisen nicht im Mund, verschluckten sich, erstickten. Es gab keine
Ärzte für diese Menschen. Die Ärzte gehörten den senatorischen Kreisen
an, schwiegen. Hingerissen hörten die Kranken Verelendeten die Mysterien
der Zauberer an. In langen Zügen fuhren und flogen sie auf die Hügel, wo
die Tempelchen standen. Wie Vögel im Winter um die Näpfe sammelten sie
sich hier. Zeigten sich ihre Arme und Beine. Schrecklich unter dem
grellen Tageslicht die Körper und Blicke. Bei diesen Begegnungen starben
manche. Manche ließen sich nicht zurücktragen. Die Zauberer mußten nahe
Siedler rufen, die Hütten für diese Verzweifelten errichteten. Manche
erholten sich. Wie sich die Menschen, aus den warmen künstlichen Städten
hergestiegen, auf den Feldern und Hügelchen ansahen, war ihre Trübsal
groß. Auch grimmige leise und fäusteschüttelnde Anklagen wurden
ausgestoßen gezischt geschluckt.

Bei Bedford sang und schrie eine Frau: „Ich bin ein Weib. Meine Eltern
haben in London gewohnt, meine Großeltern haben in London gewohnt. Sie
kamen aus Afrika oder Amerika, waren stark. Dann wurde ein Zauber auf
sie geübt. Sie waren schwach. Sie gingen in das Haus der Zauberer. Sie
brauchten keine Furcht mehr haben, zu verdursten und zu verhungern, es
konnte sie keiner mehr über den Haufen rennen. Keiner konnte sie mehr
mit Lanzen Dolchen Gewehren umbringen. Seht meine Finger, meinen Hals,
meine Brüste. Ich bin ein Weib. Zwanzig Jahr. Zwei Kinder hatte ich.
Sind beide gestorben. Und bin ich lebendig? Jetzt bringt mich kein
Gewehr um. Aber was nun. Bin ich fett? Bin ich ein Mensch? Muß ich jetzt
verenden? Ich will sterben, ich möchte nicht so leben. Ich verfluche
mich, wenn ich mich jeden Morgen sehe. Wer hat mich so gemacht? Ich
selbst. Ich selbst. Ich habe es nicht besser gewußt. Die Herren in den
Städten wissen was sie tun. Sie sind die Bösen. Die Bösen an mir, an
allen. Vor Jahrzehnten haben sie einen Krieg gemacht. Jetzt führen sie
Krieg gegen mich. Und sagt, ob sie nicht siegen und böse sind. Böse sind
sie. Böse sind sie.“ Die Frau stammelte, lag bei einem Siedler auf dem
Boden, schluckte grünes Gras: „Wären wir alle in die Erde gesunken mit
den Menschen, die in den Krieg zogen. Welches Leiden ist das. Wäre ich
mit meinen Kindern in die Erde gesunken. Nichts bin ich. Nicht fruchtbar
bin ich, nicht laufen kann ich, nicht greifen kann ich, nicht kann ich
schlucken. Ich bin lebendig begraben. Ich schreie. Ich schreie.“

Und doch wie die Menschen sich hinwarfen: ihre Angst war groß, sie
könnten die Städte verlieren, müßten aus den Häusern heraus, man brächte
ihnen keine Nahrung mehr, triebe sie, für den Tag selbst zu denken.
Nicht mehr erregt zu Wildheiten wie die voruralischen Menschen waren
sie. Sondern weich zärtlich frühreif gedankentief, von Empfindungen
durchstrudelt, nach Reizen gierig, prunksüchtig demütig. Zur Anbetung,
zum Dienen bereit, flatternd von Stunde zu Stunde, lecker, wollüstig am
Leben hängend. Von Zeit zu Zeit liefen Vorstellungen über die
Kontinente, die Verfolgungsideen waren, unter denen sich diese Menschen
bogen, die sie entsetzt nachsprachen, nach einiger Zeit von sich
abschüttelten, schreckhaft vertiefter als vorher.

Und immer neue Menschen unter ihnen. Der Hang des afrikanischen
Erdteils, seine Kinder herüberzuschicken nach Norden und Westen hatte
nicht aufgehört. Der südliche Erdteil, der seine Häusersiedlungen fast
vernichtet hatte, strömte Menschen aus wie die Sonne Wärme.

Vom westlichen Afrika kamen damals die Menschen, die am tiefsten und
eigentümlichsten in den Städten Europas wirkten. Das waren Fulbe aus der
Gegend der Guineaküste, waren Mandarah Bagirmi Wadey Ibo Yoruba, kleine
Pilgergemeinden aus Kordofan und Samoa. Sie waren von zierlichem Wuchs
mit gewölbter hoher Stirn, großen offenen ausdrucksvollen Augen, rötlich
braun bis zum Gelblichen die Hautfarbe, immer auf Taten aus, spielerisch
wild, sonderbar gebrochene Charaktere, bald weich schmelzend, bald
unnachgiebig. Diese waren in alle Städte rasch eingedrungen; ihre
Anwesenheit gab dem ganzen Leben der Städte ein besonderes Gepräge. Bald
wollte niemand den Glanz und die Munterkeit, die unbezwingliche Naivität
dieser rötlichen und braunen Menschen entbehren, die sich gar nicht
geneigt zeigten zu streiten. Sie hielten sich in Europa auf, als wären
sie Regentropfen, die selbstverständlich da sind, waren betrübt über die
Angriffe, versteckten sich für einige Zeit, kamen wieder hervor. Wie
diese Männer und Frauen von Mandarah und Bagirmi zu singen und zu
erzählen verstanden, war den Europäern unerhört. Die Lieblichkeit ihrer
Erzählungen und Lieder schmolz alle Herzen. Sie sangen und sprachen wie
vor vielen Jahrhunderten Gaukler und Spielleute im südlichen Frankreich
und der Po-Ebene. Von Bäumen, vom Himmel, den Lüften, der Liebe zu
Weibern, von kleinen Kindern, den Regenröhren, Hirschen, Tigern, Löwen,
der Kälte und Wärme, Schlingpflanzen, bösem Zauber. Von Wasserfällen
Pelikanen Krokodilen. Dazu von der Schönheit der großen Städte, in die
sie eingetreten waren und die sie alle mit Namen benannten, was sehr
sonderbar wirkte. Sie umgaben die Straßen Schaufenster Kostüme
Automobile Flugzeuge elektrische und magnetische Apparate der Städte die
Speisen mit Zärtlichkeit, brauchten für sie Ausdrücke, die den Städtern
zuerst lächerlich erschienen, weil man solche Worte nur an verschollene
Dinge zu richten pflegte. Aber ihre Art enthielt süße Lockung. Man ließ
sie ihr Herz auszwitschern. Sie waren eitel, überaus glücklich, wenn man
ihnen Gelegenheit gab sich zu zeigen. Männer und Frauen strahlten vor
Glück, wenn man ihnen zuklatschte. Dann waren sie nach einiger Zeit
überall zu finden. Und wie sie überall grasartig ausgewuchert waren,
hatten sie ein neues noch nicht faßbares Element in die klappernden,
schon lahmen, noch brausenden heulenden maschinengewaltigen Weststädte
getragen. Die Männer und Frauen, die die Technik fortführten, die
Industrien leiteten, die stark zusammengeschmolzenen und selbst
erlahmenden Geschlechter an den Mekiwerken, wurden bewegt von diesen
jugendartigen Wesen, um die herum alles wogte.

Aber bald sollten sie, die Herrscher und Leiter, Seelen dieser sich
windenden, schlagartig erzuckenden, weich nachlassenden
Riesensiedlungen, ein anderes Gefühl vor diesen drolligen Menschen
haben. Bei London Havre Hamburg bauten die schauspielernden Fulbe ihre
kleinen Theater. Bauten sie, von den Lehren ihrer Priester geängstigt,
abseits der Städte, in Wäldern, spielten eindringend und zart, unter
ihren Zuhörern und Zuschauern, Komödien Zauber- und Liebesmärchen. Sehr
selten kam es zu jubelnden lachenden, auch angstvollen Ausbrüchen. Denn
diese zierlichen Fremden wurden langsam mitergriffen von der allgemeinen
Furcht in den riesigen Stadtkörpern.

                   *       *       *       *       *

Sie spielten das Geschick eines großen Königs. Er bezwang alle
Nachbarkönige und trieb sie schwerleibig mit Siegestrompeten in sein
Haus, gekettet. Die Flüsse und Bäche konnte er bändigen. Sie mußten
laufen, wohin er wollte, mußten seine Steppe bewässern, daß Palmen und
Brotbäume da wuchsen, mußten gegen Felsen laufen, bis sie sie unterwühlt
und weggespült hatten, wie er ihnen befahl, mußten in seine Häuser
steigen, durch enge Röhren kriechen, alle seine Stuben durchkriechen,
die wilden Gewässer von den Katarakten. Zuletzt hatte er soviel Gold und
Geschmeide aufgestapelt von seinen Siegen und Beutezügen, Spangen Ringe
Wagen, daß seine Speicher und Schuppen nicht ausreichten. Die zierlichen
Fulbe, die spielenden braunen Männer und Mädchen, die kraushaarigen,
zeigten, was dann geschah.

Wie der große Herrscher in der Halle seiner Palastwohnung saß und die
Dinge ihm auf den Leib rückten, weil er sie nicht weglassen wollte, sie
immer sehen mußte, um sich in seiner Macht zu spiegeln. Sie schilderten
das Paradies dieses Mombuttilandes im Innern Afrikas, die sanft
gewellten Talniederungen, deren Gehänge Bananen und Ölpalmen bedeckten,
die Haine, unzähligen Quellen. Dicht wuchs in den Uferwaldungen
Zuckerrohr, süße Bataten auf den sonnenbeschienenen höheren
Hügelflächen, Erdnuß Sesam Tabak auf den weiten Äckern. Der König aber,
wulstiges schwarzbärtiges Gesicht, die großen Ohrmuscheln mitten von
dicken blanken Kupferstäben durchbohrt, riesig der Hut mit Pfauen- und
Papageienfedern schaukelnd auf dem Kopf, nackt die frauenhaft weiche
Brust, darüber die Zentnerlast der Gold- und Silberketten, Kupferringe,
geschnitzten Amulette, schwere Kupferschienen an den prallen
flachliegenden Unterarmen, um die quellenden aderstrotzenden Waden; in
der herabhängenden Rechten der sichelförmige ziselierte perlenbesetzte
Säbel, – Mansu, der König, hinter seinem Pallisadenzaun ging nicht mehr
aus seinem Palast. Fetter und fetter wurde er in seinem Prunkstuhl.
Seine Frauen massierten ihn. Jeden Tag mußte eine neue kommen. Es machte
ihm Spaß um sich Bewegung zu schaffen, sie zu köpfen, wenn sie mit ihrer
Arbeit fertig waren und er sich zufrieden fühlte auf seinem Stuhl. Die
Schmuckgehänge wurden dichter und dichter um ihn aufgestapelt, Reißzähne
von Löwen, Civetten- und Hewattrenfelle in hohen Lagen,
Giraffenschwänze. Neben seiner Halle waren die Vorratskammern und
Kornmagazine, seinem Blick gegenüber seitlich vom Gang zur Tür die
Rüstkammer mit Lanzenspitzen Dolchen Schilden Säbelklingen Hackmessern.

Immer mehr schwoll er, Mansu. Unbeweglich wuchtete und hing er auf
seinem geflochtenen Stuhl, der sein Bett und sein Tisch geworden war.
Immer neue Schmucksachen ließ er sich um den Nacken an Riemen binden. An
seinen Zähnen, jedem einzelnen hing ein Kupferring an einem Hanffaden.
Unter seinem Hut ließ er das Haar in kleinen Strähnen drehen, an jede
Strähne ein krankheitsbannendes Amulett. Die Haut der Oberarme und der
Schenkel war durchbohrt; Riemen hatte er sich durchziehen lassen für die
Köpfe der Nachbarkönige, die seine Krieger erlegt hatten. Sein enger
Thronsaal, festgezimmert, nur mit einem Fenster und einer Tür geöffnet,
wurde finster durch die Reichtümer, mit denen er vollgestopft war. Nur
eine kleine Gasse durfte man freilassen.

Da schwang eines Morgens der feiste König Mansu, wie er gähnend erwachte
und den Palmwein neben sich schluckte, sein Sichelschwert, schrie nach
seinen Frauen. Es war noch Dämmerung draußen. Hinter den Bergen der
Löwenzähne und Felle hörte er seine Horn- und Flötenbläser spielen und
die Weiber singen: „Ih, ih, Mansu tschupi, tschupi ih.“ Er rief wartend,
wieder schluckend, blau vor Wut auflaufend, sich umwerfend, noch einmal.
Vor ihm schwangen in der Luft die großen hängenden Fliegenwedel, runde
Büsche roter Papageienfedern. Hinter den Fellen tönte das Blasen und
Singen weiter.

Aber plötzlich bewegte sich etwas in dem Gang. Durch den engen Gang kam
ein kleiner zierlicher Mann langsam gegangen. Er zog hinter sich einen
Wagen. Verbeugte sich: er hätte Geschenke von den Babukern zu bringen,
die ihm dienstbar wären, wie der große König wüßte. Und er holte von dem
Wägelchen große runde Klötze herunter, in Blätter gewickelt. Die legte
er neben den König auf die Stapel. Der richtete sich hoch, stierte ihn
an, brüllte: „Ich will meine Frauen“ hieb mit dem Messer seitlich nach
dem niedrigen Mann, der geschickt wegsprang, ruhig einen Klotz nach dem
andern ablud. „Käse. Es sind Käse“ flüsterte er, „wir sind arme Leute,
Ziegenhirten: die Massansa haben mehr, die Maoggu haben mehr; wir sind
nur Ziegenhirten. Es ist Ziegenkäse, er wird dir wohlschmecken.“ Mansu
halbaufgerichtet öffnete luftschnappend den Mund, riß an seinen
Amuletten. Immer sangen die Weiber nebenan hinter den Civettenfellen
noch das grelle: „Ih, ih, Mansu tschupi, tschupi ih“. Und wie der
schweißtriefende König vor Gram halb betäubt ein Amulett an die Stirn
drückte, verschwand der niedrige Mann, meckerte: „Sie schmecken gut, du
mußt sie essen. Die Babuker sind dir treu.“

Die Fliegenwedel bewegten sich vor dem König. Er riß die Augen auf,
rief. Hinter den Federn wankte nach links und rechts sich wiegend in dem
Gang ein alter Mann, eine große Strohmatte über Kopf und Leib, die nur
seine Augen und seine Nase freiließ. Er hatte das Aussehen den Gang die
Stimme des Zauberers des Königs. Wollte nicht näher kommen, obwohl Mansu
es befahl. „Du bist krank, Mansu“ flüsterte er von weitem, warf sich hin
aufs Gesicht. „Bring mir einen Trank, daß ich gesund werde. Sonst schlag
ich dich tot.“ Der Zauberer flüsterte an der Erde: „Ich habe den Trank.
Ich habe gewußt, daß du krank bist. Ich hab ihn mitgebracht. Hier ist
er, an meiner Brust. Vor einer Stunde habe ich ihn im Tempel gemischt.“
„Gib.“ „Ich kann nicht.“ „Gib. Gib her. Ich schlage dir den Kopf ab.“
„Du mußt ihn am Wasser trinken, bei Sonnenaufgang, draußen am Tempel.“
„Gib ihn her. Ich will nicht draußen.“ „Komm“ lockte der Zauberer, der
zurückgewichen war, „er wirkt sonst nicht.“ Prustend erhob sich der
König, schrie Hilfe nach seinen Weibern. „Du mußt kommen“, flüsterte der
im Strohmantel am Boden. „Die Sonne geht bald auf, der Trank verdirbt,
du kannst sterben.“ „Warte, warte“ drohte Mansu stehend, fuchtelte vom
Thronsitz heruntertorkelnd sein Sichelschwert. Der Zauberer lockte:
„Komm, komm. Ich stell dir den Trank hierher. Neben die Tür. Hier. Du
kannst ihn sehen.“

Da war Mansu die Stufe des Thronsessels heruntergestolpert. Er raffte
sich auf. Die schweren Riemen mit dem Prunkgehänge wollte er sich
abreißen. Es gelang ihm nicht. Sein Arm verhäkelte sich in den Massen
der Ringe und Ketten. „Hier steht der Trank. Neben der Tür. Beeil’ dich.
Die Sonne geht bald auf.“ Der König ächzte, der Gang war zu eng. Die
Löwenzähne rissen ihm seinen hohen Hut herunter, schlugen ihm vor den
Mund. Er drehte sich zur Seite, er war zu dick, er kam nicht durch. Er
brüllte nach dem Zauberer, nach seinen Weibern: „Ich kann nicht durch.“
Der Zauberer war verschwunden. Ganz lustig und leise summten sie hinter
den Fellbergen die Hymne; sie klapperten; der König hörte es gern im
Halbschlaf. Er rang mit den Massen der Tierfelle und Schwänze, die auf
ihn niederrollten. Mit seinem Sichelschwert schlug er auf sie ein. Er
focht mit ihnen. Immer neue fielen herunter. Er schob an ihnen. Der
Trunk war da, die Tür war nicht weit. Er ließ sein Sichelschwert fallen.
Die linke Hand war ihm im Halsgehänge gefangen; er bekam sie nicht ab.
Da drang er wütend kreischend, mit den Beinen stampfend nach vorn vor.
Mit dem Kopf wollte er sich durch die Berge wühlen. Er drehte sich um
sich. Die schwere Masse der Giraffenschwänze rollte knatternd über ihn.
Er machte sich frei, taumelte in einen Haufen getrockneter Bananen. Und
wie er um sich griff, riß er die Riemen mit den Löwenzähnen und einen
starken Elfenbeinzahn von der Decke. Die schlugen drückten auf ihn
herunter. Sein Kopf wurde festgepreßt. Die Bananen zerpreßte sein Hals
sein schreiendes Gesicht. Das weiche sämige Mehl quoll neben seinen
Ohren hoch, rann in seine blasenden Nasenlöcher, stopfte seinen weit
aufgerissenen Mund aus. Er schluckte, schluckte dran, spie, spie, wollte
es mit den Händen wegräumen; die waren neben den Knien festgeklemmt, er
fühlte sie nicht. Den Kopf warf er noch wie ein zappelnder Fisch hin und
her. Dann überrieselte ihn das süße Mehl. Seine Kiefer standen still;
der Krampf in seinen Augen ließ nach. Er erstickte zwischen den mehligen
Früchten, in die seine tretenden Beine sich wie in ein Moor einwühlten.
Seine Frauen fanden ihn nach Stunden, wie sie mit Flöten anzogen, völlig
vergraben in der weichen zerwühlten Masse. Die Frauen, die Söhne priesen
seinen Tod; sie weinten: es sei der Tod eines Königs gewesen.

Und die braunen Spieler holten den Erstickten aus seinem gelbweißen
Sarg, stäubten ihn ab, stellten ihn auf seine Beine. Er stülpte sich
seinen Riesenhut auf. Sie tanzten zusammen um den Hüttenbau herum,
bliesen das Mehl fort. Der König war in einem Lachen, wie er auf seinen
Fettbeinen tanzte.

                   *       *       *       *       *

Auf den waldigen Hügeln im Südteil der Stadtschaft London, bei Guildford
am Wayriver, und bei Tunbadge, östlich davon, spielten sie. Viele kamen
zu ihnen heraus. Bald zogen sie südlicher, ganz außerhalb der
Stadtschaft. Im Westen der Stadt machten sich die kleinen von vielen
geliebten Bühnen auf. Sie trugen die Possenstreiche des Hubeane vor.

Das waren Szenenreihen, bei denen die Spieler improvisierten. Der Knabe
Hubeane zeigte seine Wunderlichkeit. Seine Mutter geht über ein Feld,
den Krug auf dem Kopf. Da schläft in den Schoten eine Antilope, das
kleine Tier. Sie nimmt einen Stein, erschlägt das Tierchen. Singend
schlendert Hubeane an, schießt mit Schotenkörnern nach der Mutter. Sie
schimpft. Er solle die Erbsen wenigstens essen, wenn er so junge Schoten
abbreche. Da meint er erstaunt, deswegen schieße er ja nach der Mutter;
er traue sich nicht Dinge zu essen, die nicht bei der Mutter gewesen
sind. Sie gab ihm ihren Tragkorb, zeigte ihm die junge Antilope:
„Hubeane, mein Kind, hilf mir die Antilope in den Korb legen. Und hole
Schoten, damit wir sie ganz zudecken können.“ Er brachte einen Berg von
Schoten, und ob man einem jungen Tier wirklich so viel Schoten geben
solle. Die Mutter sagte, sie wollten das Wild damit bedecken. Sonst
sähen es die Leute und nähmen es ihnen weg. „Trag die Antilope nach
Hause. Und wenn du Leuten begegnest, die dich fragen, was du trägst, so
sage: Ich trage meiner Mutter Schoten. Aber in deinem Herzen ist es eine
Puti-Antilope.“ Hubeane nahm den Korb, wanderte los. Es kamen Leute, die
fragten, was er trage. Er guckte einen nach dem andern an, lachte,
lachte immer heftiger. Sie fragten, warum er lache. „Ihr habt wohl meine
Mutter getroffen. Euch hat meine Mutter geschickt.“

„Deine Mutter ist mit einem Krug über das Feld zum Wasserholen.“ „Euch
hat meine Mutter geschickt. Sie hat mir gleich gesagt, daß ich Leute
treffen werde, die mich fragen, was ich in dem Korb trage.“ Und er
schüttelte ihnen die Hände, freute sich über die Klugheit seiner Mutter.
Die Leute gingen ihm aufmerksam nach: „Was trägst du in dem Korb.“ „Ich
trage meiner Mutter Schoten. Aber in meinem Herzen ist es eine
Puti-Antilope.“ Die Leute lachten; was der Junge für Zeug rede. Dann
strichen einige Böse hinter ihm her, deckten die Schoten ab, sahen das
junge Wild, wollten es ihm aus dem Korb nehmen. Er ließ es aber nicht
zu. „Ich muß sie nach Haus tragen.“ „Trag sie doch zu uns nach Haus.“
Das wollte er gern. „So, jetzt habe ich die Puti-Antilope nach Haus
gebracht“ seufzte er beruhigt und zufrieden, als er den Korb bei ihnen
absetzte. Sie taten das Wild an den Spieß. Er durfte ein Stück mitessen,
dankte oft. Eine Banane gaben sie ihm in die Hand. Seiner Mutter ging er
entgegen: „Mutter, diese halbe Banane ist für dich, weil du so klug bist
und alles vorausgewußt hast. Vielleicht, ja vielleicht gibst du sie mir
aber wieder, damit ich sie den Leuten bringe. Sie ließen mich ja auch
von der Puti-Antilope mitessen. Unsere Schoten, sagten sie höflich,
schmeckten so schön.“

Man gab Hubeane Schafe. Er sollte immer an einem Stein sitzen, sie
hüten. Einmal lag auf dem Wiesenplan ein totes Zebra. Am Abend trieb er
die Schafe heim. Die Männer fragten ihn, wo er gehütet habe. Er dachte
nach: „Heute – hab’ ich bei einem Stein gehütet, der lauter bunte
Streifen hat.“ Die Leute lachten; einen buntstreifigen Stein gab es in
der Nachbarschaft nicht. Am nächsten Morgen zog Hubeane wieder auf die
Weide, setzte sich zu dem toten Zebra. Das war inzwischen angefault.
Hyänen sprangen um den Kadaver. Und als der Junge abends nach Hause kam,
sagte er, heute habe er am Hyänenstein gehütet. Die Männer wunderten
sich, wie er spreche: gestern vom buntstreifigen Stein, heute vom
Hyänenstein. Sie gingen mit ihm aufs Feld, fanden das faulende Zebra.
Die Hyänen sprangen davon. Sie schüttelten den Kopf: „Was tust du,
Hubeane. Das ist ein Wild, das gut schmeckt. Wenn du es liegen siehst,
und es ist gefallen, so mußt du rasch Zweige abhauen, damit es keiner
wegnimmt, damit es der Geier und die Hyänen nicht holen. Und dann lauf
rasch nach Haus und schreie. Schreie. Wir kommen dann und holen es.“ Der
Junge spitzte den Mund pfiff dankte. Und wie ein kleiner lahmer Vogel
vor seinen Füßen sprang auf der Weide, setzte sich Hubeane auf ein
Schaf, den schweren Stecken in der Hand, trieb es mit Gejohl auf das
Vögelchen, Motantasana genannt, zu. Das Wild wollte er erlegen. Aber das
Schaf wollte nicht rennen. Da trat ihm Hubeane in die Weiche, sprang ab,
warf eine kleine Grube auf, versteckte sich hinter Laubwerk, das er
abgebrochen hatte, und drang brüllend vor auf das lahme Vögelchen, das
in die Grube hüpfte. Hubeane stieß ein Triumphgebrüll aus. Er stand
schreiend vor der Grube, schlug blind hinein, schaufelte Erde mit den
Händen in das Loch, warf seine Zweige hin, lief nach Hause. Aus vollem
Halse johlte er: „Das Wild! Das Wild! Ich hab das Wild getötet. Mit
eigener Hand getötet. Kommt. Tragen! Bringt. Tragen!“ Die Männer liefen
mit Messern an, die Frauen schleppten Körbe, liefen auf den Wiesenplan
hinter dem stolz hüpfenden Hubeane. „Hier ist es. Hier liegt es. Unter
den Zweigen. Da!“ Die Männer arbeiteten, Zweig auf Zweig räumten sie
weg. Die Frauen standen mit Tragkörben, warteten freudig. Hubeane
johlte, kommandierte: „Alle Zweige weg! Und die Erde müßt ihr wegraffen.
Ich habe das Wild in die Grube gescheucht. Es hat mich nicht gesehen.
Hinter dem Laub war ich versteckt. In die Grube hab ichs gehetzt, hab es
erschlagen und erstickt.“ Und von der Erde, die sie wegräumten, fielen
Steine um Steine. Hubeane haschte nach jedem Stein: „Das ist es nicht.
Das ist es nicht.“ Das Vögelchen fiel. Er juchzte tanzte: „Da, es zuckt.
Da ist es. Es lebt noch. Nehmt die Messer! Schlagt es tot.“ Die Männer
ließen die Hände sinken. Sahen ihn an, wie er mit seinem Stecken sprang
focht. Sahen sich an. Betrübt schlenderten sie zurück. Die Mutter nahm
ihn beiseite: „Kind. Das ist ein Vögelchen. Das ist ja kein Wild. Wenn
man ein Vögelchen fängt oder man hat es getötet, so sagt man gar nichts,
ruft gar nicht. Man bringt es ganz still abends nach Haus.“ Er stand mit
gespitzten Ohren: „Ich will es tun, Mutter.“

Und einmal kam ein großer Lämmergeier aus der Luft, warf sich auf ein
junges Tier, Hubeane sah freundlich zu unter seinem Baume, wie der Geier
das Tierchen packte und davonflog. Er lachte über das schreiende
Lämmchen: „Warum schreit das Lämmchen. Jetzt fliegt es mit dem Vögelchen
durch die Luft und schreit noch.“ Der Geier kam nachmittags wieder.
Strich sehr nahe über Hubeanes Sitz. Da dachte der: „Ich fang ihn.“
Machte seinen Gürtel ab, hielt den dicken Stecken in der Hand, schlug
zweimal dreimal auf den herunterstoßenden Geier, schlug ihn nieder. Dann
band er ihn an seine Jacke. Der Geier an der Schnur fuhr hackend gegen
ihn an, zerbiß ihm die Arme, riß ihm die Kleider entzwei. Hubeane
kämpfte den ganzen Nachmittag, erschöpfte sich. Er hatte Mühe abends,
mit dem Raubtier springend fallend und es niederdrückend, seine Herde
nach Hause zu treiben. Die Hunde liefen bläffend um ihn. Kreischend
empfingen ihn, der blutete, die Kleider zerrissen hatte, die Frauen am
Eingang des Dorfes. Er, immer schlagend, keuchte stürzte: „Es ist
nichts. Es ist nichts. Ein Vögelchen. Man darf nicht schreien. Ich hab
es angebunden.“ Und ließ sich auch nachher nicht davon abbringen, als
man ihm sagte, daß der Vogel ein Lämmchen davongetragen und ihn fast
umgebracht hatte. „Das Vögelchen?“ Hubeane ließ sich staunend verbinden,
betrachtete vorwurfsvoll seine Mutter.

Der Vater hatte seine bösen Streiche über, nachdem Hubeane ihn vor der
Dorfgemeinde durch Übermittelung falscher Aufträge, durch Berichte von
nie stattgehabten Vorfällen lächerlich gemacht hatte. Er suchte sich
Hubeanes zu entledigen. Er nahm ihn auf einer Tigerjagd mit, versteckte
ihn, als man das Tier umzingelt hatte, in einem ausgehöhlten
Termitenhügel, hoffte, der Tiger würde gejagt in den Hügel stürzen und
Hubeane zerreißen. Das gereizte Tier wurde gegen den Hügel gedrängt. Der
Vater brüllte scheinbar entsetzt: „Hubeane, Hubeane. Der Tiger!“ Hubeane
kam nicht. Auch der Tiger war in dem großen Bau verschwunden. Die Männer
drangen nach einiger Zeit unter Getrommel gegen den Bau vor. Über und
über mit Erde bedeckt zeigte sich da in der Öffnung des Baus Hubeane.
„Der Tiger ist nicht drin, ich habe gewartet, daß er hereinkommen würde.
Hab ihm auf der anderen Seite ein Loch gegraben. Und wie er
hereinstürzte, sah er das Loch. Flitz, schoß er gegen das Loch. War
hinaus.“ Er gab dem Vater und den anderen dankend die Hand: „Wie habt
ihr schön gebrüllt. Hättet ihr nicht so gebrüllt, so wäre er in der
Höhle geblieben und hätte mich gefressen.“

Der Vater ließ nicht nach. Trieb ihn aufs Feld, verkleidete sich als
Fuchs, der Hubeane angriff. Aber Hubeane riß aus, lockte, ließ den
nachsetzenden Fuchs in eine Mistgrube. Wie der Fuchs drin zappelte, rief
Hubeane die Leute zusammen, schlug von oben auf das Tier ein: „Ein
Teufel!“ Bis die Männer den halberstickten Mann mit Stangen herauszogen
und der Sohn ihn streichelte: „Es war ein Teufel, seine Haut schwimmt
da, er hatte dich verschluckt. Nächstes Mal schlage ich ihn ganz tot.“

Um die Zeit des Vollmonds kam das Ende. Da stellte der Vater, der sich
vor Wut nicht halten konnte, eine Leiter an die Hütte, in der Hubeane
schlief, blickte durch ein Loch in den finsteren Raum herunter. Ein
gelbes riesiges Mondgesicht hatte sich der Vater vorgebunden, das
verhüllte seinen Kopf und die ganze Brust. In den Händen hielt er
verborgen ein Bündel Speere. Grimmig war der Vater; mühsam stieg er die
Leiter hinauf, noch lahm von den Schlägen des Sohnes. Er murrte drohend:
„He! Da unten! Herauf! Herauf! Hubeane!“ Der richtete sich zitternd im
Stroh auf: „Wer ist da.“ „Der Mond vom Himmel. Willst du nicht kommen,
mich anbeten.“ „Der Mond. Zu mir! Oh ich fürchte mich. Ich will ihn
nicht sehen.“ „Komm, daß du mich siehst.“ Und wie Hubeane aus dem Stroh
langsam ankroch, sauste die erste Lanze gegen ihn. Er fuhr kreischend
zurück. Der Mond dröhnte: „Her zu mir! Willst du mich anbeten! Das sind
meine Strahlen. Meine Strahlen. He! Heran. Sonst verschlucke ich dich.“
„Ich fürchte mich nicht vor dir, guter Geist. Gewiß nicht. Ich komme
gleich. Ich hole mir nur einen Schirm, weil deine Strahlen so brennen.“
„Sie brennen nicht. Komm heran.“ Der Vater lauerte, lugte herunter, sah
den Sohn nicht. Er blies durch ein Horn herunter, drohte: „Auf! Auf!
Steh auf, Hubeane!“ Da fühlte er die Leiter unter sich zittern. Sie
schwankte. Und wie er sich umdrehte, hielt ihn einer an den Armen fest,
umschlang ihm von rückwärts den Brustkorb. Der Vater schrie: „Hilfe!
Hilfe!“ „Schrei nicht, lieber Mond. Die Leute bekommen Angst.“
„Hubeane.“ „Du kennst mich bei Namen, lieber Mond. Du siehst alle,
kennst alle Menschen aus unserem Dorf, alle Hühner, alle Hunde. Ich hab
meinen Schirm nicht finden können. Kann dich nur von hinten betrachten;
von vorn brennst du so. Geh solang in meine Hütte, bis ich meinen Schirm
habe.“ Und hob den um sich schlagenden Mann auf der Leiter hoch, stürzte
ihn durch das Loch in die finstere Hütte, riß ihm im Fall das
Lanzenbündel aus der Hand. „Jetzt will ich Licht machen, lieber Mond,
damit du meinen Schirm suchen kannst. Du liegst auf dem Gesicht. Ich
leuchte.“ Und schleuderte Speer auf Speer senkrecht herunter, raffte
Steine, schmetterte sie durch das Loch in die Hütte: „Hier neue
Strahlen. Sieh jetzt! Kannst du sehen. Noch nicht. Noch nicht.“

Er holte sich vom Nachbarhaus eine Strohmatte, kehlte ächzte die Leute
zusammen: „Der Mond ist in meiner Hütte. Ihr sollt ihn verehren. Nehmt
einen Schirm mit. Die Strahlen sind scharf.“ Verwundert liefen sie aus
den Häusern, mit Laternen und Fackeln. Hubeane winkte vor der Hütte:
„Nehmt einen Schirm mit. Er liegt drin auf dem Gesicht. Der Mond. Durch
das Loch ist er vom Himmel in meine Hütte gefallen. Wenn er sich
umdreht, brennt er.“

Und wie sie in die Hütte eindrangen, an Hubeanes Possen gewöhnt, doch
ängstlich, lag da angespießt, von Steinen zertrümmert auf dem Gesicht
ein Mann in einer großen Mondmaske. Sie machten den Blutbegossenen los,
wandten ihn um. Der Tote war Hubeanes Vater, die Brust durchbohrt, der
Schädel zerbrochen. Hubeane stand stumm, ließ heulend geifernd den Kopf
hängen: „Ach, mein Vater.“ Sie faßten ihn: „Du hast ihn totgeschlagen,
Hubeane.“ Er zeigte die Zähne, schlug die Leute: „Es war der Mond. Es
war nicht mein Vater. Wenn mein Vater lebte, würde er es euch bezeugen.
Der Mond hat mich mit Strahlen gebrannt. Er wollte mich verbrennen.“ Die
Männer wußten, wie die Sache verlaufen war. Hubeane hockte in der Ecke,
zerkratzte sich die Brust: „Was wird meine Mutter sagen. Sie wird mich
vor dem Mond schützen.“ Sie taten ihm, der nach ihnen die Fäuste hob,
nichts mehr von da ab.

                   *       *       *       *       *

Zu Spielen dieser Art, Tänzen, erregter Geselligkeit auf den Wiesen, in
den Wäldern, erschienen große Massen aus den Städten. Teile kehrten
nicht in ihre Häuser zurück, hielten sich erst tagelang in der Nähe der
Spiel- und Unterhaltungsstätten auf, siedelten sich dann an. Hatten die
Städte noch im Rücken, aber bewegten sich gefesselt in diesen
Landschaften, in denen es Tag und Nacht wurde, von deren dunkelblauem
Himmel nachts die wimmelnde Unzahl der Sterne herunterblickte. Sie sahen
die früheren Siedler, Zügel in der Hand hinter Pferden und Ochsenwagen
fahren, Vieh treiben. Die Felder waren gleichmäßig mit einer Waldung von
Ähren bewachsen, aus denen die Menschen sich Brot machten. Immer das
flache Land Forsten Seen Wiesen überflogen von dem stoßenden Wind.
Regengüsse Wolken in der hohen Luft.

In der Londoner Stadtlandschaft herrschte während der Neuorganisation
des Völkerkreises straffe Arbeitswirtschaft. Neue Fabrikanlagen wurden
geschaffen, große Scharen von Arbeitern benötigt, wachsende Mengen von
Monat zu Monat. Um diese Zeit war es, wo das Fluten der Menschen an die
Peripherie und über die Grenzen hinaus zunahm. Im Londoner Senat wurde
festgestellt: es sind nicht genug Menschen für die projektierten Anlagen
da. Delvil sprach mit Empörung. Es sei beispiellos, was jetzt geschehe.
Man füttere dreiviertel der Bevölkerung. Im Augenblick, wo man ihrer
Kraft, nur teilweise ihrer Kraft bedarf, weigern sie sich. Es kam in
dieser und den folgenden Beratungen zwischen Delvil, der empfindlich
geworden war, und der breitschultrigen White Baker zu ernsthaften
Zusammenstößen. Sie hatte, wie man argwöhnte, um die gefährlichen
Bewegungen dicht an die Stadt heranzuziehen, ihre eigenen Liegenschaften
Siedlungsgruppen zur Verfügung gestellt. Ohne den Senat zu befragen oder
ihm Mitteilung zu machen, hatte sie die Förderung von wichtigen Erden
und Kalksalzen aus ihren Gruben untersagt und den Mekianstalten
Schwierigkeiten gemacht. Sie verteidigte die Untätigen, die durch die
lange Muße schlaff geworden wären; man könne sie nicht im Moment
umschaffen. Delvil brauste: sie seien nicht schwach, seien erbärmlich,
ohne Gefühl für das, was der Gesamtheit nottue.

Und seiner Macht und Kraft gemäß beschloß der Londoner Senat, wie er
erklärte, im Bewußtsein seiner Verantwortung für die westliche
Menschheit, die an neue Aufgaben heranginge: der Senat fordert die ganze
Bevölkerung auf, am Wiederaufbau der durch Krieg und die allgemeine
Resignation verfallenen Stadtlandschaft mitzuarbeiten. Man müsse ein
Vorbild, ein fortreißendes Beispiel den andern Gliedern des neuen
Völkerkreises geben. Hinter den Stadtschaften, die schon aufgerichtet
seien, dürfe man nicht zurückstehen. Treulose und Entartete müssen
wissen, daß der Senat über Machtmittel verfügt. Der Beschluß wurde von
allen Senatoren unterschrieben bis auf die White Baker, die damals zum
letztenmal im Senat erschien. Man trauerte nicht hinter der
Eigenbrödlerin; nur Delvil war besorgt.

Mit Spott und Grimm wurde die senatorische Verfügung aufgenommen.
Agitatoren Priester Landsiedler, in die Stadt eindringend, nahmen
höhnend den Beschluß vor: „Was faselt der Senat von Verantwortung an der
westlichen Menschheit. An welche Aufgaben soll die westliche Menschheit
geführt werden. Man hat vielleicht in den Laboratorien eine Handvoll
neuer Erfindungen, die an den Menschen exekutiert werden sollen. Der
Uralische Krieg ist ergebnislos verlaufen? Wer das sagt! Er hat ein
Ergebnis gehabt! Herrengeschlechter, senatorische Gewalten, Völkerkreise
haben ihre Ohnmacht bewiesen. Und sie glauben, man hat es vergessen.
Konnten es mit Marduk nicht aufnehmen, obwohl sie Waffen hatten und ihn
hätten ausrotten können. Aber wagten es nicht. Hätten die Auswanderer
nach Yukon und Alaska zerschmelzen und zerblasen können. Aber haben die
Yukon- und Alaskamänner gelassen! Warum? Weil sie im Innersten gelähmt
sind. Das Gewitter wird mit Hagelschlag und Donner auf sie fallen. Was
können sie als drohen, ihre Angst verbergen!“

White Baker ließ dem Senat erklären, sie verzichte auf die senatorischen
Rechte, die sich aus ihrem Besitz und ihrer Herkunft ableiteten. Sie
hatte die Ratschenila bei sich. Die amerikanische Kommission war noch in
London. Delvil äußerte in Unruhe, die Kommission möchte abreisen. Aber
die Fremden sahen mit Vergnügen die Schwierigkeiten der Europäer, die
Träger des Gedankens an einen neuen Völkerkreis waren. Sie gingen nicht
einmal, als Delvil sie vernachlässigte. Der alte Klokwan sprach mit
Neuyork: London werde niemanden zum Völkerkreis zwingen; die
herrschenden Geschlechter Londons hätten Gelegenheit, ihre Kraft zu
zeigen; man könne sie jetzt dabei beobachten.

White Baker, die nicht mehr junge Frau, schien gebrochen. Den Verzicht
auf den Senatsitz, die Übergabe ihrer Liegenschaften an die Spieler und
Siedler faßte man im Senat als eine träumerische franziskanische
Handlung auf. Immer aber ging die kleine stolze elastische Ratschenila
neben ihr, vorstehende Backenknochen, feurige dunkelbraune tiefliegende
Augen unter schwarzen dünnen Brauen, pechschwarze Haare mit rötlichem
Schimmer im Licht, die schlicht auf den Nacken fielen. Die Ränder der
Ohrmuscheln vierfach durchbohrt; in den Löchern hingen Silberringe mit
Federn Perlmutterstücken. Sie liebte ihr rundes Kinn rot zu färben,
zinnoberrote Ringe um die Augen zu ziehen. Wo sie ging, trug sie über
dem blauen Hemd, dem Oberkleid aus feinem gezackten Leder, eine bunte
Wolldecke, ein breites Tuch, das sie bald um die Hüften, bald um die
Schultern wickelte. Sie nahm nichts von den Schmuckstücken an, die ihr
White Baker schenken wollte; nur hob sie der englischen Frau selbst
einmal eine Perlenkette vom Hals, bat, sie behalten zu dürfen. Und
lachte und drohte, als die Europäerin sie ihr freudig umlegte: man dürfe
Perlen nicht leicht weggeben; man verliere etwas mit ihnen; sie sind
versteinertes Wasser; in ihrer Höhle sitzen Geister, die von dem
Menschen etwas mitnehmen. White Baker blieb aber glücklich; sie freute
sich, ihre Perlen über Ratschenilas Brust zu sehen. Aus weißer Seide
machte die Fremde für White Baker ein langes faltiges hemdartiges
Gewand, hing ihr ein kleines Knochenstück von der Gestalt eines
Krähenschnabels an einer Lederschnur um.

Nach Ashdown Forest, in den Bergen südlich der Stadtlandschaft, zog
White Baker und die Ratschenila. Eine kleine Menschengruppe wohnte hier.
Sie trugen oberhalb des linken Schuhs auf dem Strumpf oder am bloßen
Knöchel schlangenförmige Metallringe, nach denen sie sich die
„Schlangen“ nannten. Diese Schlangen suchten sich auszugleichen. Wie
ihre Blicke hilflos staunend entzückt über Hügel, neu gerodete Äcker,
Bäume liefen, wie sie sich in Arbeit erschöpften, so hatten sie
angefangen sich selbst zu betrachten, einer den andern. Stumpf und mit
überscharfer gereizter Erregung hatten sie in den Stadtschaften
aneinander gehangen, kaum Mann, kaum Weib. Dann hatte sie das Wunder des
Männlichen Weiblichen entzückt; sie waren, die „Schlangen“ in den
Ashdownbergen, aus der Stadt gezogen, hatten sich zärtlich und ganz ohne
Hohn offen das Zeichen der verführenden Paradiesesschlange angelegt. Sie
hatten warme Hütten, aus Holz gebaut; die standen unter besonderer Hut
der Schlangen. In denen trafen sich männliche und weibliche Schlangen,
nackt und bekleidet, betrachteten sich, lagen sich in den Armen,
berührten bestrichen einander die Haut. Auf hohen Blatt- und Heulagern,
in Helle und Dunkelheit, erzitterten sie liegend in der tief
geheimnisvollen Verwirrung, die ein warmer Leib in den andern warf. Und
wie sie sich wanden, waren sie verschwunden, auf einer Reise oder
Wanderung, wie sie sagten, von der sie seufzend wiederkehrten, liegend
auf Blättern, in den Armen eines Menschen, der wie sie seufzte. Wegen
dieser Wanderschaft ehrten die Schlangen einander aufs tiefste. Nichts
wurde für heiliger von ihnen erachtet. In entlegener Forststille,
abseits, standen die festgebauten Holzstätten, in die sich die
Menschenpaare zurückzogen, die fühlten, daß sie auf die geheime Fahrt
geschickt werden sollten. Wo ein Mensch ihnen begegnete, warf er Blumen
Blätter hin, ließ sich von ihnen berühren.

In die Absonderung dieser Schlangen tauchten White Baker und Ratschenila
ein. Die beiden Frauen küßten sich: „Wie bin ich glücklich dich gefunden
zu haben, Ratschenila. Und daß wir herfanden.“ „Liebst du keinen Mann,
White Baker?“ „Ich weiß nicht. Dich liebe ich. Deine Haare deine Zähne
deine Zunge deinen Gaumen deine Wangen deine Finger deine Zehen, was
alles an dir ist. Wenn du atmest, die Augen aufmachst und sie schließt.
Dein Kleid deine Ketten. Ich muß dir wie ein glücklich demütiges Tier
nachlaufen und bin selig, wenn du mich anfaßt. Du glaubst nicht,
Ratschenila, wie es mir wohltut, daß du meine Perlen trägst.“ „Ich sehe,
White Baker. Daß du dich gar nicht fürchtest.“ „Wovor.“ Ratschenilas
Mundwinkel zuckten, ihre dunkelbraunen Augen bewegten sich. Sie zog ihre
Schultern zurück: „Ich würde es zu Hause und in London nicht sagen.
Hier, bei den Schlangen, ist eine gefährliche Luft.“

„Ja.“ „Du sagst so erwartungsvoll ‚ja‘, White Baker. Sieh, es könnte
doch sein, daß ich auch –“ Die kreischte leise, wollte ihre Arme um den
Hals der rötlichen Frau legen, die auswich: „Nicht, Baker. Wenn du dich
nicht fürchtest, könnte ich mich doch fürchten.“ White Baker gurrte:
„Wirst dich nicht fürchten vor mir.“ „Nicht vor dir. Vor dir.“ „Vor dir.
Meine Freundin. Herzensfreundin.“ Die rötliche Frau drückte die Augen
zu, ihre Knie zitterten. Hing mit geschlossenen Augen, tiefatmend an dem
Hals der weißen starken Frau, der glücklichen, die ihr Gesicht mit
Küssen bedeckte, liebestammelte. „Ach in die nächste Hütte,
Ratschenila.“ „Ich fürchte mich. Daß ich dir etwas antue.“ „Meine
Freundin, meine Geliebte.“ „White Baker. Bin ich das, deine Geliebte?“

Inbrünstig umschlang White Baker sie. Ratschenila ließ es sich gefallen;
ja die Hände krallte sie in White Bakers Gesicht und Hals, die Augen
nicht öffnend. Mund lag auf Mund. Es waren die versunkensten und
hellsten Wochen der White Baker. Sie und Ratschenila ließen sich Äcker
bei den Schlangen zuweisen. Mit Lachen nahmen alle das Locken und Drohen
des Senats auf, in die Stadt zu kommen. Glücklich war White Baker. Sie
sah die Freundin nicht. Bemerkte ihre Starre, ihre Kühle, ihr träumendes
böses und fremdes Gesicht nicht; sie hatte sie. Die Fremde ächzte viel
für sich, ging doch zu der Weißen, war hilflos sanft zu ihr. Eines Tages
fand White Baker die rötliche Frau nicht in ihrem Blockhaus. Sie suchte
in der Nacht, fragte. Sie erfuhr, Ratschenila war zu dem weiblichen
Führer der Schlangen gelaufen. Und von der blonden sehr jungen schönen
Frau hörte die erschauernde White Baker, Ratschenila hat gebeichtet und
sich beschuldigt, nicht an den Sitten der Schlangen teilzunehmen. Sie
beschuldigt sich, Sklavin einer andern Frau zu sein. Sie wolle frei
sein, sie müsse sonst Gewalt gebrauchen. Die helle schöne Frau
streichelte die kalten Hände ihrer Besucherin. Ratschenila hätte
geweint, sie könne nicht anders, sie ginge nach London zurück zu ihren
Landsleuten.

Die langen Tage, die Baker verwirrt und sich zerreißend im Haus dieser
Führerin lag, immer nach Ratschenila verlangend, wachträumend von ihrem
Gesicht ihren Händen Füßen Brüsten Lippen, an dem knöchernen
Krähenschnabel kauend. Die rötliche Frau hatte die Siedlung verlassen,
war allein in ihre amerikanische Heimat zurückgekehrt. Die Führerin, die
schöne helle Frau saß bei Baker, mit in ihr Schluchzen gerissen. Ja,
furchtbar sei die Gewalt, die in ihnen allen lebe. Es sei gut, sie zu
verehren und zu besänftigen. Sie fragte nach Wochen die ruhigere
ernstblickende blasse Baker, ob sie sie verlassen wolle. Die drückte
ihre Hand: „Ich habe dir zu danken, euch Schlangen zu danken. Ich will –
lieber nicht zurückkehren. Ich will – gewiß nicht zurückkehren. Sicherer
und bestimmter bleibe ich hier als ich herkam. Wenn du mich hier läßt.“
„Das ist wahr, White Baker?“ Die war gezwungen sich auf die Knie
herunterzulassen, an den streichelnden Händen der Frau entlang. Sie
küßte den Boden zu ihren Füßen: „Und wenn ich, du Junge, bei euch nichts
weiter gefunden hätte, als mein Verlangen, mich vor dir niederzulassen,
und daß mich einer anspricht wie du, so bliebe ich hier.“

Es hielt White Baker, die die weißen Seidenkleider, die bunten
Wolltücher der Ratschenila nicht ablegte, aber nicht bei den Schlangen.
Sie wanderte mit einem jungen braunschwarzen Mann, der ihr als Kutscher
diente, im Süden und Westen der Stadtschaft London herum. Die Insel war
schon weit nach Norden von Menschen besiedelt. Immer neue Gruppen,
Absonderungen. Massen, die kriegerisch wie Marduks Barbaren übten, viel
Fleisch aßen. Gruppen dann nur aus Weibern bestehend, die auf den
Feldern arbeiteten, noch Mekispeisen nahmen, und alles Unheil auf die
Übermacht der Männer schoben; faustgroße Steine trugen sie am Hals zum
Zeichen, daß sie sich unfrei fühlten. Im Norden, ganz zerstreut wohnend,
Schweiger; Menschen, die sich jede Sprache versagten, nur frühmorgens
sangen nach dem Sonnenaufgang; bei einer gewissen Höhe der Sonne begann
das demütige Verstummen. Sie waren mit Erde beschmiert, wuschen sich nur
einmal in der Woche, gingen Fremden aus dem Wege.

Die Befehle der Stadtherren wurden dringender. Da sammelten sich bei
Bedford am Ouseriver eine Anzahl der Fulbe, spielten neue Possenstreiche
des Tolpatsches Hubeane. Dann in wechselnden Gegenden, am Rande von
Wäldern, auf Bergplateaus, auf Brachfeldern begannen sie ihre
Liebesspiele. Eine dichte Menschenmenge um sie; fröhliche Schlangen,
finstere fellbehangene Krieger, schmutzige Schweiger, trübe schlaffe
Städter, Ängstliche, die die Zauberer herumgejagt hatten. White Baker
unter ihnen. Die braunen zärtlichen Menschen spielten in Masken.

                   *       *       *       *       *

Das war die Fabel vom Löwen und dem wilden Hund. Das Haus eines
Häuptlings war mit Stroh bedeckt. Vor der Tür saß der festlich
geschmückte Mann mit einem jungen rottätowierten Mädchen, einem schönen
Wesen, seiner Tochter. Eine kleine Schar Menschen um sie. Der Häuptling
nahm die Hand vor den Mund, machte sie hohl: „Dies ist meine Tochter
Mutiyamba. Ich will sie verheiraten an den stärksten und schönsten Mann.
Ich bin reich. Er braucht mir nichts zahlen. Ihr sollt überall ausrufen,
in der Steppe, am Fluß, in den Bananengebüschen, auf der Sandinsel: der
Häuptling Kassangi will seine Tochter Mutiyamba dem Schönsten und
Stärksten geben.“ Da war ein zarter Jüngling, Liongo, ein Waisenkind,
der liebte das Mädchen. Er trug einen Lendenschurz aus Stroh, die Lanze
konnte er nicht werfen. Ging mit in die Steppe, an den Fluß, in die
Bananengebüsche, auf die Sandinsel, zu rufen, daß Kassangi die schöne
schlanke Mutiyamba dem Schönsten und Stärksten geben wolle. Er tröstete
sich, sang vor sich. „Die Fasern meines Herzens schwirren. Warum? Ich
habe eine hohe Nelke gesehen; eine weiße Ameise zersticht sie an der
Wurzel. Ich muß die hohe Nelke heilen.“ Er ging, der Zarte, den übrigen
Trommlern voraus. An den Regenteichen, zwischen den lianenumstrickten
großen Bäumen im Buschwald, unter Butterbäumen, auf denen kleine Affen
sprangen, an den lederblättrigen Feigenbäumen, an Schluchten, aus denen
dunkle Fledermäuse und dicke Wespen surrten, im wildaufgeschossenen
tiefdurchstreiften Dickicht des Sorghumgrases, vor grünen Sümpfen, an
denen wilde Kürbisse und Luffagurken ihr Gewinde trieben, von Würmern
und Schnecken überlaufen, sang der arme Liongo schmetternd das Lob
Mutiyambas, um die Stärksten und Schönsten zu locken. Besang die
Bemalung ihres Körpers. „Wie junge Zwiebelknollen sind ihre Brüste; kein
Baum trägt soviel Früchte wie sie Kleider trägt. Am Kopf, an den Ohren,
den Lippen, den Armen hängt Schmuck, wie Blitze aus einem Gewitter
zucken. Ihr Blick ist sanft und schmachtet. Ihre Beine sind schlank wie
Kupfernadeln. Man kann sie nicht ansehen, ohne von Sehnsucht nach ihr
verzehrt zu werden. Die Augen muß man schließen, als hätte man in einen
Topf mit heißen Dämpfen geblickt. Und wenn man sie geschlossen hat,
findet man keine Ruhe, weil die Augen weiter brennen. Wer Mutiyamba
sieht, muß zeigen, daß er ein starkes Herz hat. In ein Gefängnis ist er
geworfen, mit ihrem Bild allein. Sein Herz muß stark sein, um die Türen
zu zerbrechen und sich zu ihr zu retten. Hundert werden um sie werben!
Kassangi ist ein mächtiger Häuptling, einen starken Pfahlbau hat er um
sie erbaut. Nur wer Schultern wie ein Berg, Hunger wie ein Schakal hat,
kann den Pfahlbau einrennen.“

In der Steppe hörte den Gesang Liongos ein junger gelber Löwe. Und wie
Liongo an der Fledermausschlucht das Mädchen pries, kroch auch ein
wilder Hund hervor. Als der zarte Bote des Häuptlings vor seinen Palast
zurückkehrte, waren schon viele Jünglinge dagewesen, hatten Proben ihrer
Kraft abgelegt, waren von Kassangi verworfen. Mit dem armen heiseren
Liongo zogen der Löwe und der wilde Hund an. Der Löwe warf die beiden
stärksten Jünglinge um, übersprang mit einem Satz die höchste Einzäunung
von Kassangis Gehöft, einen Eimer Palmwein soff er in einem Zuge,
nachher schritt er gerade wie vorher. Kassangi gab ihm die Tochter; der
prächtige gelbmähnige Löwe setzte sich neben sie. Mutiyamba erschrak,
als das aufgrollende Untier ihr Mann geworden war. Aber sie war stolz
über seine Kraft.

Tags darauf feierten sie Hochzeit in Kassangis großem Haus. Der wilde
Hund Kri hatte sich nicht vor den Häuptling gewagt, als der gelbe Löwe
erschien. Nun kauerte er im Saal neben dem jungen Löwen, der sich nicht
wohl zwischen den Menschen an der Tafel fühlte. „Du kennst die Sitten
hier nicht, Löwe. Du mußt den Brei zu dir herüberziehen, wenn du essen
willst“, flüsterte der Hund herauf. Hintatzte der Löwe nach dem großen
Napf, in der Mitte des Tisches, schlang ihn herunter. Die Gäste, die
zulangen wollten, blickten betreten vor sich. Kassangi, der Häuptling,
ließ sich nichts merken, befahl einen neuen Napf. Er nahm, schob ihn vor
die Tochter, den jungen Bräutigam. Kri lauerte auf den Hinterbeinen: „Du
bist Bräutigam. Du mußt Geschenke machen. Jedem Gast mußt du zur
Erinnerung einen Löffel Brei in die Hand schütten.“ Der Löwe wischte
sich das Maul, erhob sich, drückte sich den großen Napf vor die Brust,
und die Tafel abwandernd goß er jedem Gast einen Löffel Hirsebrei auf
die Hand oder klatschte ihn ihm plump vor die Brust. Die ersten hielten
still, die nächsten warteten nicht. Sie liefen vor die Tür, platzten ihr
Lachen heraus, schüttelten sich über das Untier, das zaghaft zu ihnen
herübersah. Finster runzelte Kassangi auf seinem Platz die Stirn. Die
Gäste ließ er säubern; die von draußen hereinrufen. Stumm verlief das
Mahl. „Eine alberne Gesellschaft“, flüsterte Kri, als sie allein saßen,
„du mußt dich nicht daran stoßen. Sie sind neidisch.“

Der Brautzug fuhr durch das Dorf. Neben Mutiyamba saß der prächtige
Bräutigam auf dem bändergeschmückten Ochsenwagen. Man blies vor und
hinter ihnen und trommelte. Sie kamen vor Kassangis Haus, wo der
Häuptling mit seinen Frauen stand und winkte. Einen Satz von rückwärts
auf den Wagen machte der wilde Hund, kletterte auf die Planke zwischen
dem Paar: „Mutiyamba, dein Bräutigam ist so finster. Streichle mich,
liebkose mich, ich bin sein Freund. Das wird ihn erheitern.“ Und sie
umarmte Kri, küßte seine Schnauze, blickte ihn zärtlich an. Im Zug
kicherte man, Kassangi erschrak. In seinem Zimmer nahm der Löwe rasch
den Hund beiseite. „Wie hast du es gemacht, daß dich Mutiyamba, meine
Braut, geküßt hat. Sie hat mich noch nie geküßt.“ „Sei nicht traurig
Löwe. Tu ihr nichts. Ich will dir das Geheimnis verraten, aber du
versprichst zu schweigen. Sieh her, ich habe mir beim Laufen einen
Vorderfuß verstaucht. Das hat sie gesehen, Mutiyamba die Schöne. Sie ist
so mitleidig, so zart. Da hat sie mich Armen gestreichelt und geküßt.“

Kassangi mit den Gästen erwartete den Bräutigam zum Trunk. Da hinkte der
junge Löwe, der starke prächtige, zur Tür herein. Hinkte rechts, hinkte
links. Und wie er bei Mutiyamba stand, quollen ihm die Tränen aus den
Augen: „Ich habe mir die Beine verrenkt, beide Hinterbeine, gestern als
ich dir zu Ehren sprang.“ Er blickte sie kläglich an. Sie zog das
Brusttuch über das Gesicht, flüsterte beschämt dem Vater etwas zu,
huschte, ihre beiden Mädchen hinter sich, aus dem Saal. Die qualmenden
Männer rümpften die Nasen, schnitten spöttische Mienen, spuckten in die
Luft. Da bot der Häuptling dem Bräutigam den Krug: „Trink, Löwe. Meine
Tochter Mutiyamba, das schönste Mädchen, ist dir zugefallen. Wir
wünschen dir Glück. Du hast keinen Kaufpreis zu zahlen. Deine Füße
werden wieder heilen. Aber Geschenke wirst du ihr machen. Das ist Sitte
bei uns.“ Der Löwe auf der Matte nahm den Trunk, verbeugte sich stumm
vor dem Häuptling, stieg hinaus. Er wanderte durch das Dorf, in die
Steppe, Kri hinter ihm. „Löwe, was läufst du so weit? Du mußt doch
hinken, sonst erbarmt sich die Braut deiner nicht. Hinke hinter mir her
ins Dorf zurück, gleich, damit der König sieht, wie demütig du bist,
obwohl du Schultern wie Berge hast, wie der arme Liongo sang.“ „Und was
soll ich ihr schenken, ihr und dem Vater Kassangi?“ „Daß du darüber
nachdenkst. Zeige nur nicht, daß du reich bist, sonst ist er und das
ganze Dorf beschämt. Bring ihm keine Antilopen, sonst fürchten sie sich
vor denen. Was läufst du überhaupt so weit in die Steppe. Mach am Boden
hier – deinen Kot hin. Ja deinen Kot. Ich will ein Körbchen aus Gras
flechten, da tun wir den Kot hinein. Die Körbchen trage ich vor Kassangi
und Mutiyamba. Sie haben gesehen wie stark und schön du bist; sie müssen
deine Demut sehen und daß du sie gar nicht beschämen willst.“ Der Löwe
setzte sich neben dem Feldrain in einen Acker Jams und preßte seinen Kot
aus. Der Hund wühlte Jamsknollen aus dem Boden, die Zehen wie ein
Menschenfuß hatten, raffte Blätter zusammen, schichtete den warmen Kot
über Blätter und Knollen, glättete ihn, bedeckte ihn gegen Fliegen. Dann
flocht er zwei Graskörbchen, hob den geschmückten Kot hinein, spazierte
ins Dorf. Hinkend, den mächtigen gelben Kopf senkend, folgte der Löwe,
stieß ab und zu einen jämmerlichen Ruf aus. Würdevoll knurrend betrat
der wilde Hund die Halle Kassangis. Auf seinen Wink blieb der Löwe am
Türpfosten, schielte hinein. Die Körbchen überreichte Kri mit strengem
undurchdringlichem Ausdruck. In Weinen brach Mutiyamba aus. Vor dem
Löwen, der sich ihr zärtlich näherte, floh sie. Der Häuptling warf das
Körbchen von sich. Lächelnd und bescheiden anschleichend verneigte sich
der Löwe. Unsicher setzte er sich auf seinen beschmutzten Platz. Saß
noch allein, als Kassangi und die Gäste die Halle verlassen hatten.

Sie berieten draußen, was gegen den Löwen zu tun sei, der so stark war
und dem die Braut schon zugesprochen war. Bewaffneten sich mit Speeren,
wollten ihm sagen: er müsse nach Sitte dieses Dorfs noch einmal die
Probe bestehen, und dann am dritten Tag noch einmal, um zu zeigen, daß
ihm kein Zauberer beigestanden habe. Sie dachten, er würde das Spiel bei
seinen kranken Gliedern verlieren. Den Hund Kri, der unter ihnen war,
überhäuften sie mit Schimpfworten wegen seines Freundes. Er redete
gewandt, warf hin, es werde alles zu ihrer Zufriedenheit ablaufen,
zeigte ein gelehrtes geheimnisvolles Wesen: „Die Weisheit, wo sitzt sie?
Im Auge? Nein, im Kopf. Herr Kassangi weiß das jetzt. Er wußte es nicht.
Ich, Kri, bin nur ein Küchlein, aber man braucht mir das Scharren nicht
beibringen.“ Die Männer waren erstaunt über seine Klugheit. „Warum seid
ihr betrübt, liebe Herren? Hoffnung ist die Säule der Welt. Auf dem
Grunde der Geduld ist der Himmel.“ Sie sollten, verwies er sie, ihren
Plan jetzt nicht ausführen. Er bat sie im Vertrauen: er werde den Löwen
besiegen. Sie schüttelten die Köpfe: „Er wird bezahlen, wenn die Vögel
Zähne bekommen.“ Aber Kassangi reichte dem sehr würdigen Kri die Hand.

Und als am nächsten Tag Kri und der Löwe ihr Zelt verließen, war der
Löwe erstaunt, wie alle sich vor Kri verneigten, Platz vor ihm machten,
ihn selbst aber nicht beachteten und das Gesicht verzogen. „Du siehst,
Löwe, was in meiner Macht steht und wer ich bin.“ „Kri, wie hast du das
angestellt. Ich bin dein Freund, du wirst mich nicht im Stich lassen.“
Der Hund zog ihn zwischen zwei Zelte. Da stellte er sich hin, zuckte
zappelte mit seinem Leib. Verwundert der Löwe: „Was machst du?“ „Merkst
du nichts? Hör, jetzt, hör einmal.“ Der Löwe trat näher: „Ich höre
nichts, ich höre nichts, Kri.“ „Du mußt auf meinen Bauch hören. Alle
hören es. Darum verneigen sie sich vor mir. Ich habe über Nacht bewirkt,
daß mich alle wie einen König begrüßen.“ „Was hast du gemacht?“ „Du
hörst es noch nicht.“ Der Hund zappelte, sprang weiter hoch, „aber du
wirst es bald hören, dein furchtbares Brüllen hat dich schwerhörig
gemacht. Ich habe ja eine Glocke in meinem Leib.“ „Eine Glocke.“ „Eine
klingende Glocke. Bei jedem Schritt schlägt sie an. Darum verneigen sie
sich vor mir.“ „Wo hast du die Glocke her, Kri?“ „Kassangi, lach nicht,
Kassangi, dem hab ich sie selbst gestohlen. Er weiß es noch nicht“ und
Kri kicherte, der Löwe brüllte freudig mit, „nun habe ich seine Glocke
im Leibe und er merkt es nicht. Drei, vier habe ich ihm gestern
gestohlen. Die Häuptlingsglocken. Noch drei hab ich. Aber zeig mich
nicht an. Ich vertraue dir.“ „Ich habe dir vertraut, du kannst auch mir
vertrauen.“ „Nun wollen wir weiter gehen.“ Aber der Löwe hielt Kri
zurück: „Sag mir, Kri, könntest du mir auch die Glocke einsetzen.“ Kri
zuckte die Schultern, tat mürrisch, wiegte zweifelnd den Kopf; der Löwe
werde die Schmerzen nicht aushalten, wenn man ihm die Glocke in den Leib
versenke. Der Löwe bettelte: „Oh doch“, versprach ihm hohe Ehrungen,
erklärte, er gebe die Glocken, die zwischen den Zelten standen, nicht
zurück. Da ließ sich Kri herbei, nachdem sie sich geschworen hatten,
sich gegenseitig nicht zu verraten. Er versprach heute nacht mit einigen
Vertrauten die Glocke in den Bauch des Löwen zu versenken. Und beglückt
zogen sie auf die Dorfstraße.

Mittags im Zimmer erklärte Kri, der sich schon siegesgewiß spreizte, dem
die schöne Mutiyamba zulächelte: der Löwe müsse ihm vor Nacht noch einen
Beweis seiner Widerstandskraft geben. Der Löwe fand sich zu allem
bereit. Und als man zu Tisch in der großen Halle Matten ausgebreitet
hatte und mit Perlschnüren und Brustgehängen beim Fleisch saß, verlangte
Kri von Kassangi eine glühende Eisenstange. Dann mußte der Löwe, seine
Angst verbeißend, sich Kri nähern. Ein zorniges Bellen ausstoßend schlug
Kri ihm das heiße Eisen über die Hinterbeine. Nur einen kleinen
Augenblick heulte Entsetzen verbreitend der Löwe, sperrte den Rachen
gegen den Hund, der zur Tür huschte, dann zog er den Leib krumm,
lächelte fade unter Schmerzen winselnd gegen Kri, der langsam
näherkroch. Die Gäste, Kassangi und seine Tochter, sahen den beiden mit
Staunen zu.

Von diesem Augenblick an war das Gesicht des Löwen verändert. Die
Zuschauer bei den Spielen in Bedford sahen es. Sie fühlten sich tief
berührt. Sie wußten nicht worin die Veränderung lag. Ihnen selbst war
dieser Löwe ähnlich geworden. Wie ein Städter wackelte er hilflos mit
dem großen Kopf, schnaufte nach wenigen Schritten ohne Atem. Seine Füße
zitterten: grauenvoll und besorgt blickte er nach allen Seiten. Und der
Hund war nicht mehr Kri. Er trug eine rote Kappe, von der goldene Bänder
über Ohren und Hinterkopf herabhingen, die senatorische Kappe.

Still hockte der Löwe auf der Matte. Man bot ihm zu essen an. Er blickte
mit schlaff hängenden Lippen nur auf Kri, der ihn ansah. Da schlang der
Löwe gequält und wieder lächelnd seinen Teil herunter. Höhnisch boten
ihm die Gäste mehr. Er wollte sich zurückziehen, um seine Schmerzen
auszubrüllen, wollte trinken, hatte furchtbare Trockenheit im Rachen.
Aber über den kleinen Krug hinaus bot man ihm nichts. Man spielte,
speiste lustig, beachtete ihn nicht. Und bevor man aufstand, flüsterte
Kri wieder mit Kassangi. Ein Diener brachte die glühende Stange. Der
Löwe sah sie nicht, dumpf lag er über seiner Matte. Da schlug das Feuer
auf sein Vorderbein. So brüllte er, so warf er aus dem Rachen sein
Donnerrollen, daß im Augenblick der Saal geleert war. Er wollte
springen. Er konnte nicht. Da erst erinnerte er sich, daß dies eine
Probe Kris war. Er biß sich die Zunge, schielte um sich, lahmte zur Tür,
sank platt hin. Die Gäste näherten sich lange nicht. Kri wischte
seitlich herein, horchte auf das Stöhnen des Freundes, das Flüstern:
„Kri! Kri! Nicht böse sein. Komm näher. Ich war nicht vorbereitet. Es
ging so plötzlich. Sonst hätte ich nicht gebrüllt. Ich hätte es nicht
getan. Verlaß dich drauf! Kri, verlaß dich drauf!“

Dies war eine Stelle im Spiel, wobei die Hörer in Wut gerieten. „Verlaß
dich drauf, Kri. Hund, Hund!“ Drohten um sich, ihre Augen funkelten.
Manche weinten.

Kri ließ sich herbei. Die Gäste vor der Tür sahen, wie der Löwe sanft
den Kopf an dem elenden grauen Hund rieb. Ihre Angst legte sich, sie
fingen wieder zu kichern an. Der Löwe beachtete es nicht, dachte an
heute Nacht und die Glocken. Es waren auch Glocken, die im letzten Teil
des Stücks ununterbrochen geläutet wurden. Unter den Gästen aber, die
langsam mit Kassangi und Mutiyamba zurückkehrten, demütig vom Löwen
begrüßt, der für seine Unart um Verzeihung bat, lachte einer nicht mit,
der zarte arme Liongo. Ihm ging durch den Kopf: „Trüb ist mein Sinn. Die
Fasern meines Herzens schwirren. Warum? Ich habe die stolze Nelke
gesehen. Eine weiße Ameise zerbeißt zersticht ihre Wurzel. Die stolze
Nelke ist bald hin.“ Liongo, wie es Abend geworden war und die Gäste mit
dem frechen Kri schmausten, trat in das dunkle Gemach des Löwen,
verneigte sich vor ihm. Der empfing ihn freudig in seiner trauervollen
Einsamkeit. Der Löwe erkannte in Liongo den jungen Sänger des
Häuptlings, der das Lob der schönen Mutiyamba in der Steppe Menschen
Tieren Bäumen und Seen verkündet hatte. Er schüttelte seine Hand. Nicht
zu viel hätte er verkündet von Kassangis Tochter; er sei ihm
wohlgesinnt. Liongo strich ihm die Mähne: Ob er sich nicht wohl befinde.
Er brachte ihm zwei Krüge kalten Wassers, in die der Löwe wonnig
grunzend die Pfoten steckte. „Man hat nicht wohl an dir getan, Löwe.“
„Oh“ schüttelte der das Haupt, schwieg dann, denn er erinnerte sich
seines Versprechens. So sehr Liongo in ihn drang, sich ihm zu
offenbaren, der Löwe ging nicht aus sich heraus. Er zeigte dem jungen
Menschen mit Lächeln und Worten seine Dankbarkeit. Er werde nicht
vergessen, wie schön Liongo die Braut gepriesen hatte, wies
geheimnisvoll auf die kommende Nacht hin.

Da wagte Liongo von Kri deutlicher zu werden, tuschelte: was Kri wohl
jetzt täte, wer jetzt bei der schönen Mutiyamba säße, sie streichele,
welcher schlaue schmutzige Steppenhund, der in Schluchten neben
Fledermäusen Wespen Schakalen schnüffele. Der Löwe grunzte gleichgültig,
zog dann die Stirn zusammen, blickte seitlich auf Liongo. Der gab nicht
nach, warnte vor Schelmen. Versunken der Löwe: er wüßte, was er selbst
gesehen hätte. Er hielte sich nicht für klug, aber Kri sei sein Freund.
Da fragte Liongo bitter, ob sich der Löwe auch töten lassen würde, wenn
Kri es befehle; gebrannt hätte er ihn schon, gelähmt hätte er ihn schon.
„Proben, Proben“ murmelte der Löwe. „Was will er mit dir probieren,
Löwe?“ „Was mir Freude und Ehre bringt.“

„Er wird dich beseitigen. Mutiyamba will er. Für ihn habe ich nicht
gesungen.“ „Ach meine Braut“ sonnte sich der Löwe „ich nehme alles auf
mich für sie.“ „Morden wird er dich.“ „Gib mir Wasser. Morgen redest du
anders.“ Weinend ließ ihn Liongo im Dunkel.

Mit Sehnsucht erwartete der Löwe den wilden Hund. Finsternis. Die
verging. Der Löwe drehte sich um. Mit einer Fackel stand Kri da.
Flüsterte an der Tür, ohne sich zu nähern: „Löwe! He! Wie geht’s, Löwe?“
„Gut, Kri. Ich erwarte dich. Komm doch herein.“ „Ich komm schon. Wo sind
die Glocken?“ Der Hund taumelte, hatte lange mit dem Häuptling und den
Gästen pokuliert. Lallte: „Da sind sie ja. Die lieben Glocken. Wird eine
schöne Sache werden. Wird alles gehen wie geschmiert. Was meinst du,
Löwe? Tun dir noch die Pfoten weh?“ „Nicht sehr.“ Kri lachte schrill:
„Siehst du, wie es ging. Herrlich. Die Stange genommen, hupp, auf die
Pfoten: eins hupp, zwei hupp, drei hupp!“ „Da stehn die Glocken.“ Kri
kraute ihm rülpsend die Schulter: „Halt still, mein Söhnchen. Liebes
strammes Söhnchen. Wir werden alles machen.“ Und er sang: „Mutiyamba,
Mutiyamba. Kein Baum trägt Früchte wie du Kleider trägst. Wer dich
ansieht, Mutiyamba, muß die Augen schließen, aus Sehnsucht nach dir, als
säße er vor einem Topf mit heißen Dämpfen.“ „Was singst du von meiner
Braut.“ „Kein Baum trägt so viel Früchte wie sie Kleider trägt. Ihre
Beine sind feine feine schlanke Kupfernadeln. – Kommt herein zu mir,
hupp, ihr lieben Freunde.“ Er wirtschaftete im Raum, legte Stricke hin:
der Löwe sah ihm beklommen zu.

Durch die Tür trippelten Menschen, hielten sich an der Wand. „Was wollen
die bei uns.“ „Das sind meine Freunde, allesamt. Sie haben mit mir
geschluckt den ganzen Tag. Geschluckt gespuckt gekotzt. Ein herrlicher
Nachmittag. He, war es kein herrlicher Nachmittag?“ „Und ein herrlicher
Abend.“ „Und erst die Nacht. Ihr werdet staunen, was Kri kann. He, Löwe,
aufgesessen.“ „Was redest du so grob mit mir.“ „Wird mir der Dickschädel
vorschreiben, wie ich mit ihm zu reden habe.“ Den Atem hielt der Löwe
an. Aufbrüllte er. Der Hund torkelte an die Tür, die Menschen schoben
sich zusammen. „Dickschädel, ich Dickschädel?“ Kri kniff den Schwanz
ein, machte sich Mut, torkelte an: „Löwe, wir verstehen uns.“ Er konnte
seine Gedanken nicht zusammenhalten, knurrte wütend: „Jetzt angefangen.
Man wird fertig mit Essen, mit Reden. Heran. Du willst doch, Löwe.“ Der
blickte ihn lange an: „Ja.“ Der Hund böse: „Also.“

Die Gäste trugen Holzpflöcke unter den Armen, die spitz zuliefen,
schlugen sie mit Beilen in den dröhnenden Boden der Hütte. Der Löwe
erschauerte, seine Lippen wurden schlaff: „Was machen sie?“ Kri
nachäffend: „Was machen sie? Was machen sie? Stöcke her. Glocken her.
Beeile dich.“ Aus Liongos Krügen zog der Löwe die Pfoten, schleppte sich
näher. Kri schnupperte an den Krügen: „Wer hat die hergebracht?“
„Liongo.“ „Ah, Liongo. Der. Der zarte. Der Schuft.“ Wieder hielt der
Löwe den Atem an, brüllte grauenhaft. Der Raum war leer. Kri hielt sich
an der Schwelle, zitterte vor Angst, daß er am Umsinken war. Scham und
Wut hielten ihn fest. Herankriechend bettelte er süß verlogen: „Also
dies sind die Pflöcke für die Pfötchen, dies die Stricke, in die du die
Beine steckst. Kommt nur, der Löwe weiß, daß Ihr verschwiegen seid. Er
wird solche Glocke im Bauch haben, wie ich, die Klingkling macht, wenn
man geht. Ihr werdet vor ihm hinfallen. Und Mutiyamba, oh!“

Die Fackeln brannten in dem Raum. Die Leute lüstern eifrig. Der Löwe
schleppte sich zwischen die Pflöcke. Senkte den ungeheuren
mähnewallenden Kopf. An Mutiyamba dachte er. Dieser schlaue widrige Kri,
der wilde Hund, würde machen, daß sie ihn küßte. Den hatte sie im Wagen
geküßt, auf die Schnauze den. Den Kopf seitlich drehend weinte der Löwe
im Finstern. Wo war Liongo? Der Löwe stand zwischen den Pflöcken. Das
Ohr des Hundes zog er zu sich heran: „Tu mir nicht zu weh.“ Der Hund
grinste heimtückisch, wedelte streichelte ihn.

Mit Seilen umschlangen sie die Beine des Löwen. Er legte sich auf die
Seite, rollte auf den Rücken. Mit Gewalt rissen sie seine Beine
auseinander nach vorn und hinten. Er knurrte, warf sich vor Angst. Die
Gäste glucksten vor Freude, wie sie den weißen nackten Bauch des jungen
Löwen sahen; die Angstwellen liefen über ihn. Betrunken warfen sie die
Hälse zurück, torkelten um das liegende Untier. So laut war ihr
Hohngelächter, daß Kassangi und Mutiyamba vor dem Haus erschienen und
die Köpfe durch das Fenster steckten. Kri sprang herum, wetzte das
Messer. Der Löwe, wie er das Scharren hörte, wilder vor Angst: „Und was
tust du jetzt? Kri. Und was tust du jetzt? Und was jetzt?“ „Merkst du
was?“ „Nein.“ „Jetzt was?“ „Nein.“ „Jetzt was?“ „Nein.“ „Jetzt?“ „Was
tust du?“ Da hatte der Hund das Messer scharf. Mit einem Satz sprang er
dem Löwen auf die Brust, knirschte: „Jetzt, jetzt Mut, Löwe.“

Und im Augenblick hieb er das Messer in den Leib, schlitzte stieß
wühlte. Das heiße helle Blut spritzte ihm ins Gesicht, daß er spie und
geblendet war. Unter ihm der Löwe wühlte sich, zerrte nach rechts, nach
links. Liongo war am Kopf des Löwen: „Löwe auf! Sie töten dich! Löwe, er
tötet dich.“ „Er tötet mich. Er tötet mich. Es ist wahr“ tobte es durch
den Kopf des Löwen. Er schleuderte sich herum, die Pflöcke brach er ab.
Das Fell riß er sich von den Füßen. Sein markerschütterndes Wehgebrüll.
Kri erschlagen! Kri zerreißen! Kri mußte er erschlagen. Er toste, Seile
und Pflöcke nach sich wirbelnd, in den Haufen der Gäste. Schlug
erdrückte knackte riß biß. War Kri schon hin. Es war stockfinster in der
Gasse. Mehr töten. Kassangi, Kassangi, den sah er fliehen. Schnapp ihm
am Rücken, schnapp ihm ins Genick, stürzte ihn aus dem Leben.

Der Jubel das Weinen der Zuschauer! Jetzt weg, Löwe, aus dem Dorf, in
die Steppe, weite grüne Steppe.

Sein rollendes unaufhörliches Brüllen. Er hatzte gegen die Pfahlmauer.
Er kam nicht herauf. Was floß floß ihm heiß aus dem Leib, was hielt ihn
zurück, was schleppte er zwischen den Beinen. Das schmerzte. Oh. Er trat
darauf. Vor Schmerz, vor schwerem Weh verstummte er. Er trat auf die
eigenen Därme. Noch einen furchtbaren Satz machte er. Grausiges
abschnappendes Gebrüll. Auf den Pallisadenspitzen blieb er hängen.
Stöhnend drehte und zerrte er da. Seine Augen rollte er; sie waren
blind. Speere von unten gegen ihn. Er verblutete. Die Zuschauer weinten,
als sie den jungen prächtigen Löwen oben auf den Pallisadenspitzen den
sterbenden aufgerissenen Leib strecken sahen. Sie warfen Steine, als die
Beerdigung der Opfer stattfand. Kassangi war tot. Den Hund schleppte man
am Schwanz durch das Dorf. Eselskot hatte man in seinen Bauch getan; die
rote senatorische Kappe mit den goldenen Bändern trug er vor dem Maul.
Mutiyamba, die weinte. Allen Schmuck hatte sie abgelegt. Sie trat aus
ihrem Haus. Ein neuer Häuptling stieß sie hinaus. Liongos Füße wollte
sie hilfeflehend küssen. Er nahm sie in seine Hütte, auf sein Feld. Die
Häuptlingstochter hörte nicht auf zu weinen. Er sang: „Erst hast du mich
vergiftet, jetzt kann ich dich essen. Erst hast du meine Augen verbrüht,
jetzt kann ich dich ansehen. Hast mich nicht schlafen lassen. Jetzt
schlafe ich bei dir. Ich schwankte wie ein Boot, Mutiyamba, du hältst
mich fest. Du hast keine Armspangen Brustgehänge Ohrringe. Mein Mund ist
für dein Ohr, mein Mund für die Brust, mein Mund für die Arme.“

                   *       *       *       *       *

Sie spielten am Ouseriver sanfte Szenen vom Scheiden und Wiederfinden,
die alte festländische Fabel von Melise von Bordeaux und ihrer Freundin
Betise. Mit Schmerz und Wonne gingen die Fabeln in White Baker ein. Die
Augen verhüllte sie. Sie sprach sich vor: dies ist das Leben.

Ohnmächtig der Senat bei dem Auslaufen der Stadtschaft. Die ersten Fälle
von Eindringen der Siedler in die Stadt ereigneten sich, ungeklärte
Brände von Fabriken. Delvil, belauert von der amerikanischen Deputation,
schickte nach White Baker. Sie ließ sagen, daß das Fahrzeug nicht gebaut
sei, das sie zurück trüge. Sie lockte Städter aufs Land, trieb
Kampforganisationen bei allen Absonderungen zusammen. Verzweifelt höhnte
Delvil im Senat: „Der weibliche Marduk!“ Man kam nicht weiter, war in
der Defensive.

Aus amerikanischen Stadtschaften hatten sich nach Canada und Labrador
Menschenmassen ergossen, von starken Männern und Frauen geführt. In
Labrador entwickelte sich ein ländliches Reich an der Ungavabucht.

Die Menschen strömten aus den Stadtschaften Neuyork Quebec Ohio. Ein
merkwürdiger Drang bestimmte alle Wanderer nach Norden; die großen Seen
ließen sie hinter sich, östlich der Hudsonbai schoben sie sich vor. Ganz
ohne Lärm vollzog sich die Bewegung auf dem nordamerikanischen
Kontinent, nirgends sah man fanatischwilde Figuren wie Marke und Marduk.
Aus dem Zentrum Europas drang Zimbo vor; die böhmischen Stadtschaften,
die deutschen Nürnberg und Frankfurt schickten ihm aufgelockerte Massen
zu.

Keine Bewegung machten die großen Senate. Aus London reiste während der
sturzartigen Vorgänge die Kommission des Klokwan schweigend ab, nicht
mehr lächelnd. In London Glasgow Newcastle, auf den festländischen
Toulouse Nantes Lyon, die ruhig geblieben waren, wurden Straßenzüge
leer, erfroren verdorrten in den Treibhäusern die Blumen, fielen die
durchsichtigen Straßenbekleidungen; Wind Regen sauste wieder über die
Plätze. Flugzeuge Wagen standen herum, als wäre ein Feind im Anmarsch.
Eine Lähmung breitete sich über die westlichen Stadtschaften aus;
unkenntlich, was ihre Ausbreitung beförderte. Sie wirkte in die Senate
hinein. Es war eine zum Grauen auftreibende Erschütterung, als der
schwarze Zimbo ohne Waffen zu gebrauchen mit rohen Schwärmen in der
Hamburg-Bremer Landschaft und ruhig fortziehend am Meer erschien, Senate
vertrieb, Lager und Anlagen zerstörte. Er drohte über den Kanal. Die
Menschen der Seelandschaft bedeckten die Küste bis ins Holländische zum
Zuidersee, wurden nach Westfalen, zum Rhein herunter gestoßen.

Der belgische Senat trat in Brüssel zusammen. Diese Stadtschaft
bröckelte nicht. Man sah das Hungerverderben der über das Land
Geschütteten Schwachen nichts als Willigen Sehnsüchtigen, ihr
Liegenbleiben Erfrieren, das Wüten der Seuchen. Die Senatoren riefen
lächelnd nach England. Betrübt zogen die Londoner sich aus dem Orkan
ihres Landes, standen mit matten Gliedern in dem strahlenden Ratsgebäude
der Belgier. Durch die Luft zuckten hier Fahrzeuge, buntes lärmvolles
bewußtloses Wimmeln in den breiten winterlichen Straßen Brüssels. Die
blassen Lippen verzog Delvil, als er aus dem überheizten Saal
herunterblickte. Den Arm des breitschultrigen Belgiers Ten Keir drückte
er: „Wie sieht die Welt bei Euch aus! Noch! Noch!“

„Noch lange! Noch immer!“ „So hat auch White Baker gesprochen. Es sind
nicht viel Jahre her: Marduk müsse erschlagen werden, die Mark
ausgeräuchert. Wo ist White Baker?“ „Ihr, Delvil! Wascht Eure Wäsche bei
Euch.“

„Bin ich schlaff? Ist keine Schwäche, jetzt schlaff zu sein. Wenn ich
deine Häuser und diese Menschenscharen sehe, so sehe ich sie und – sehe
sie schon nicht mehr.“ Ten Keir machte sich von ihm los, betrachtete aus
seinem kantigen Kopf den seufzenden Londoner, ließ ihn am Fenster. Die
Belgier, zwanzig Männer und Frauen aus frisch heraufgekommenen
Geschlechtern, nicht einheitlich in Rasse, nahmen auf die Engländer
keine Rücksicht.

Von den durchwandernden Hamburger Flüchtlingen und Siedlern griffen sie
welche auf, abgemagerte zerlumpte, stellten sie vor die Engländer. Ten
Keir lachte: „Euer Ideal, liebe Gäste. Wie gefallen sie euch? Habt ihr
Lust, eine Luftreise über Holland, an der Küste entlang zu machen? Ihr
könnt etwas sehr Altes und Neues sehen. Kampf aller gegen alle. Das
Spiel ist wieder aufgenommen: man genießt es, als sei es heute erfunden.
Wozu gibt es Elend Tod Hunger? Doch nicht bloß für Erzählungen
Geschichten Theateraufführungen. Heran an das Leben! Dichter, Dichter!
Man lebt nur einmal und dann gründlich. Wer sich nicht zehn Zehen
erfroren hat, weiß nicht, was Leben ist. Wer nicht morgens aufwacht im
Wagen, – aber er liegt nicht in seinem Wagen, den Wagen hat einer über
Nacht gestohlen, er liegt zwischen den Radspuren im Lehm, einen dösigen
leicht angestoßenen Schädel hat, einen kleinen Schädelbruch, der
versteht sich auf das Dasein nicht. Hat die Fülle der Existenz nicht
durchdrungen. Steht, huhu, als Bettler vor dem Tor.“ Er wies mit beiden
Händen auf die Aufgegriffenen, die blauen weiten Ärmel wehten zur
Schulter zurück: „Hier haben wir Bewohner des Paradieses! Des
wiedergeöffneten wiedereroberten Paradieses! Preis uns, die sie sehen!
Der liebe Gott, von dem unsere Ureltern gesprochen haben, hat sich
erweichen lassen. Er hat eine Ausnahme gemacht. Sie hat er wieder
aufgenommen. Und nun: wie geht es euch, liebe Damen? Liebe Herren? Wie
sieht der liebe Gott aus, nach so langer Zeit, befindet er sich wohl,
donnert er sympathisch, hat er euch in seine Arme geschlossen? War es im
ganzen großen ein schönes Wiedersehen? Gedeckter Tisch, wohlige Heizung?
Was sagt ihr englischen Freunde, Delvil du, zu unsern Paradiesbewohnern?
Es ist doch reizend, daß sie sich herbeigefunden haben, ein Stündchen
bei uns zu verweilen. Uns zu beglücken. Sie hatten Mitleid mit uns,
wollten erzählen. Aber ich errate alles, auch ohne daß sie sprechen.
Diese Geheimnisse! Diese ätherische Schönheit der Gesichter, betrachtet
sie, dieser perlmutterartige Glanz der Haut, an den Füßen Händen, im
Gesicht. Sie haben dicken Schmutz aufgelegt, um uns nicht weh zu tun,
durch ihren Anblick. Sie sind feinfühlig. Das ist Schmutz als Schminke.
Ihr meint, sie tragen Lumpen? Delvil, Lumpen? Paradiesesbewohner und
Lumpen! Haha! Ihr glaubt, sie sehen wie Skelette aus, wie Menschen, die
seit Wochen Stoppeln von den Feldern, oder Baumborke essen und reichlich
Flußwasser trinken. Und da nicken sie auch, unsere Gäste aus dem
Paradies. Ach diese Feinfühligkeit! Die Übertreibung der Empfindungen!
Warum seid ihr so bescheiden. Wir sind kräftige Männer und Frauen; wir
vertragen schon einen Stoß. Ihr kommt aus dem Paradies. Habt unsere
erbärmlichen Stadtschaften verlassen, in denen wir euch totregieren mit
Essen, Trinken, mit überlebten Erbärmlichkeiten wie Essen Trinken, in
denen wir euch geschunden haben mit wochenlangem Ruhen. Ihr seid ins
Paradies zum leibhaftigen – nicht wegzuradierenden lieben Gott gegangen,
fort aus den Nichtswürdigkeiten dieses städtischen Daseins, mit seinen
bunten Lichtern Waren Flugzeugen Spielen Soßen, hundertfachen Speisen,
Weinen, dem ganzen sonstigen Ekel und Folterzeug, auf dem ihr euch
gewunden habt von Morgen bis Abend. Und es nahm kein Ende. Unerträgliche
Pein, unerträgliche Pein. Das Paradies ging auf, die Straßen brannten
ab, die Herren flogen in die Luft, explodierten Freudenfeuerwerk zum
großen Einzuge. Ein bibelwürdiges Ereignis. Ihr habt es umschlungen, das
Paradies! Habt alles wiedergefunden, wie es Adam stehen gelassen hat.
Die ganze Einrichtung habt ihr übernommen. Man sieht euch an, wie ihr
vor Rührung schluchztet bei dem Einzug. Eure Augen sind noch ganz rot.
Wie habt ihr den Regen begrüßt, die Nässe, unermeßliche Nässe vom
Himmel, an die Sintflut erinnernd, vom wirklich richtigen nicht gemalten
Himmel. Nässe, die fiel, echt war, mehr, immer mehr. Es wurde euch
wonnig klar, daß der Mensch aus dem Wasser stammt und ihr erschauertet!
Ihr wolltet Tag und Nacht nicht aus dem Wasser heraus, ihr Glücklichen
schwammt, plätschertet darin. An Gräsern und Halmen habt ihr gebissen.
Wie hat es geschmeckt. Endlich, endlich eine Speise, unmittelbar wie aus
dem Handteller aus der Erde, der alles tragenden gebärenden. Sie ist und
bleibt eben die Urmutter! Sie wird es ewig bleiben! Weh dem, der es
vergißt. Und dann immer mehr für euch. Krank seid ihr geworden, krank
durftet ihr werden. Die Wohltat des Fiebers, die Gnade der Schmerzen,
der Schlaflosigkeit kam. Diese Wonne! Kein Mensch, kein Herr, keine
Fabrik hat sie euch in solcher Fülle und Ausgewachsenheit schicken
können. Ihr wart selig im Gefühl: ich kann nicht schlafen, ich zittere
vor Fieber, der Schmerz zerreißt meinen Kopf, mein Kinn, meine Knochen.
Wie gut: niemand hilft mir, auf mich selbst bin ich gestellt, ich bin
ein Mensch, im Paradies, an der Brust der Natur. Und ich selbst, Ten
Keir, was hab ich Verbrecher getan? Ich laß euch aufgreifen! Verzeiht
mir, liebe Freunde. Wir hatten Sehnsucht nach euch! Wir geben euch bald
wieder hin an das Zauberreich. Denkt an uns Arme, die gesund und kräftig
sind, zu essen, zu trinken haben, warm angezogen sind. Die dies alles
erleiden müssen.“

Frau Atorai, füllig und ruhig, in rotem Samt, nickte, während man noch
lachte: „Wir haben sehr Entsetzliches verbrochen.“ Der unerschöpfliche
Ten Keir sprudelte: „Gott will uns strafen mit Milch und Honig. Die
Strafmethoden haben sich im Lauf der Jahrhunderte geändert. Die Menschen
haben sich auf Pech und Schwefel nicht gebessert, jetzt versucht es Gott
so.“ Frau Atorai unverändert ernst: „Und er hat recht. Wir bessern uns
schon. Aber noch nicht genug. Die Kur muß intensiver durchgeführt
werden. Ich fürchte, er wird gegen uns nicht vor dem Äußersten
zurückschrecken.“ „Was ist das, Atorai?“ Sie verdrehte die Augen,
spitzte den Mund: „Ich möchte gerne, – ich möchte gerne – je nach Laune
– Mann oder Frau sein.“ Sie tosten ein Gelächter. „Kommt!“ „Man hat
schon etwas läuten hören.“ Und im Lachen immer ernst Frau Atorai, den
Mund vorwurfsvoll spitzend: „Läuten! Ich möchte doch in diese Kirche
gehen. Bin so sündig.“

Die gute Laune der Belgier schlug um, als später der stille Londoner
Pember sprach. Es sei, gab der dicke von sich, über diese Leute nicht
nur zu lächeln. Man müßte in der Tat ihre Haut, ihre Köpfe, die Leiber
ansehen. Die seien nicht nur von der kurzen jämmerlichen Flucht so
ruiniert. Wovon seien diese Menschen wohl so ruiniert. „Nun“ forderte
ihn Ten Keir heraus. Pember schüttelte den Kopf: „Du mußt nicht so wild
und sicher sein. Wir haben in London die Dinge näher betrachtet als ihr.
Nicht freiwillig, sie kamen an uns heran. Ihr hättet sehen und hören
sollen, was sich am Ouseriver ereignete. Trübsal, die ich nicht
beschreiben kann. Fragt, ob die Menschen recht hatten betrübt zu sein.“
„Und?“ „Das ist alles. Wie können wir das Elend beenden?“ Ten Keir
breitete hohnlachend, die Schultern hebend, die Arme aus: „Dazu sind wir
hier versammelt, den Jammer der Leute zu diskutieren! Wir werden sie
bitten, uns lyrische Gedichte vorzutragen mit Lautenbegleitung und Chor.
Dazu sind wir versammelt. Und unsere Städte? Wir, was wir treiben,
unsere Stadtschaften, das ist Schund! Was? Nichts! Nichts!“

Delvil und Pember schwiegen vor dem unerschütterlichen harten Belgier.
Auch die amerikanische Kommission, die von London den Engländern
nachgereist war, hielt vor den Belgiern still. Stachelnde Worte der
Brüsseler standen sie aus, Wutausbrüche des unbeherrschten Ten Keir, der
ein Pferd in einem Gespann war, in dem er nicht mitziehen wollte. Sein
Groll auf die Stadtflüchtigen. Die beiden Kommissionen hieß er jeden Tag
gehen, wo sie hingehörten. Die Fremden zitterten beim Gedanken an eine
Begegnung mit ihm.

Man führte sie durch die Straßen Brüssels. Nach Norden die Häuserreihen
Anlagen Waldungen bis an die Schelde, das alte Antwerpen ausschließend,
die Schelde, die Brüssel im Westen bei der Vorstadt Oudenaarde
erreichte. Nivelles und Soignies die südlichen Ausläufer der
Stadtschaft. Man war nicht fern von dem Zentrum Mons. Halb widerwillig
ließen sich die Fremden über das prunkende Gebiet tragen; den Belgiern
weitete sich das Herz. In Sänften wurden die Fremden stundenlang durch
die gewaltigen Hallen getragen, ausgesucht demütige Menschen neben sich,
Bewaffnete im Zug. So fest war die Herrschaft der Belgier, daß sie sich
von Schultern auf Schultern in voller Sicherheit gleiten lassen konnten.
Dies Land hatte wenig Acker und Weide, Entartende Schwächliche wurden
rasch beseitigt; in das Land strömten immer Fremde. In den Hallen lagen
die erheiternden beglückenden Dinge. Es waren berauschende Schauhäuser.
Und was auslag stand jedem der Menschen zur Verfügung, die sich den
Herrschenden unterwarfen. Sie hatten außer den Gesetzen nichts
anzuerkennen als die wechselnde Arbeit und die langen Pausen. Damit
erhielten sich die Stadtschaften, erzeugten wie tropische Bäume ihre
Früchte im Überfluß. Die senatorischen Herren und Frauen blickten, durch
die Menge getragen, wenig auf die ausweichenden Menschen. Kundige
gewandte junge Wesen gingen neben ihnen, traten zu ihnen, Einpeitscher
und Einpeitscherinnen, Erforscher und Erfinder von Bedürfnissen, Wesen,
die Aussicht hatten, selbst Herren zu werden. Die Lichtmassen Teppiche
Kleider, erregende und einschläfernde Getränke, die Speisemischungen
Speiseerfindungen der Mekifabriken, Badewasser mit erregender treibender
einschläfernder Wirkung, Streichler Haucher für die Stirn die Backen die
Brust die Arme. Forschend und kalt fuhren die Augen der herrschenden
Männer und Frauen über die Dinge. Die Menschen standen gefangen davor,
lösten sich von dem Anblick schwer, als wären ihre Blicke angebannt. Der
stolze Ausdruck Ten Keirs, des üppigen, gegen Delvil und Pember. Der
Ausdruck hieß: „Welche Pracht, welche Wonne für Menschen.“ Delvil
dachte: „Was haben sie im Westen Londons geschrien, als sie die Hallen
abbrannten? Hin die Kerker, Festungen der Herren. So haben Schweiger
Krieger Schlangen gerufen.“

Am Abend dieser Fahrt hielten sie in einem unterirdischen Gewölbe nahe
einer Aufschließungsstelle der synthetischen Fabriken. Hier wurde
physikalisch und theoretisch gearbeitet. Mehrere der Senatoren hatten
ihren Platz, begrüßten die arbeitenden schweigenden erschreckt
auffahrenden Männer und Frauen, die von ihnen adoptiert wurden, wenn sie
kenntnisreich stark und stolz genug waren. An den Wänden waren magische
runde Lichtflecken, die von schwarzen Blenden umschlossen waren, Augen
bunten Lichts, die man verkleinerte verstellte verschob schloß.
Kristalle studierte man hier. Gesteinsstaub lag über den schwarzen
Tischen. Große Tafeln mit merkwürdigen Zeichen Pfeilen Zahlen hingen von
den Decken. Rasch schritt man durch, an niedrigen Türen vorbei, die in
tiefere Keller führten zu ganz abgesonderten, der Oberflächenbewegung,
den Wärme- und Lichtstrahlungen der Gestirne entzogenen Kammern.

An einer bezifferten Tür hielt Ten Keir. Sie fuhren auf einem Fahrstuhl
abwärts. „Es braucht niemand zu wissen“ erklärte der sehr ruhig
gewordene Ten Keir in dem völlig leeren Raum, an dessen Wand eine Zahl
ungeöffneter flacher und hoher Kisten standen, „braucht niemand zu
hören, was wir besprechen. Vielleicht äußern die englischen und
amerikanischen Freunde, was sie zu sagen haben.“ Man kauerte sich hin in
dem Raum, dessen Schwärze von einem Lichtbüschel durchzogen war, das wie
aus einem Loch aus der Wand von einem Lichtfleck kegelförmig
ausgestrahlt wurde. Als nicht gleich einer sprach, fuhr Ten Keir, neben
dem Lichtfleck im Dunkeln stehend, fort: „Ich wiederhole, was ich gesagt
habe: freiwillig danken wir nicht ab. Man wird uns zwingen müssen. Wie
man das tun wird, will ich erwarten.“ Delvil: „Es wird dich und uns alle
niemand zwingen.“ „Dann bleiben wir.“ Seufzte Delvil, ließ die Schultern
sinken: „Es geht nicht. Wir kommen nicht weiter.“ „Wir kommen weiter.
Seht auf uns und ihr kommt weiter.“ Bittend sah sich noch Delvil nach
beiden Seiten um: „Will nicht ein anderer sprechen. Und will nicht, –
verzeih mir, Ten Keir, – ein anderer Ten Keir ablösen.“ „Für mich
braucht niemand zu sprechen. Meine Auffassung ist die der anderen.“
„Aber wir kommen nicht weiter.“ Schrie Ten Keir, fuchtelte: „Delvil,
Euch ist nicht zu helfen. Wo stehst du eigentlich. Bist du auch ein
halber Paradiesbruder? Wo ist dein Herz?“ „Mäßige dich, Ten Keir“ bat
auch Frau Atorai. „Warum mäßigen? Ihr meint es ja auch. Delvil ist ein
hoffnungsloser Fall. Er zerrt und zieht. Er weiß nicht, was er will. Er
ist hilflos. Es ist ein Verbrechen, Delvil, in dieser Zeit hilflos zu
sein. Wenn du hilflos bist, tu wie White Baker.“ Heiser Delvil: „Rate
mir nicht. Laß mich aus dem Spiel.“ „Ich kann niemanden aus dem Spiel
lassen, der hier ist.“ Heiser Delvil: „Ich will, daß du mich aus dem
Spiel läßt.“ „Ah du grollst. Das ist ja recht. So kommst du zur
Besinnung. Ich denke, so wird es den andern Paradiesbrüdern auch gehen.
Dann werden sie sich wehren und dann wird sich zeigen, wer der Stärkere
ist.“ „Wer der Stärkere ist. Wer der Stärkere ist. Es ist nichts damit
geschafft, daß einer der Stärkere ist.“ „Weggerafft ist der andere. Und
damit ist es geschafft!“ „Nein es ist nichts geschafft.“ Ten Keir trat
an Delvil heran: „Was suchst du eigentlich hier. Bist du ein Spion?“
„Sei still, Ten Keir. Ich bin bewaffnet wie du. Du tust mir nichts.“ „Du
bist in meinem Haus.“ Pember trennte sie mit seinem schwarzen kurzen
Körper. Als wäre nichts geschehen, näselte er phlegmatisch: „Wir sind
einig darüber, worin die Not besteht. Wollen wir nun unsere Stellung
dazu verhandeln.“ Delvil hob die Hand: „Ich bin schon ruhig, Pember. Wir
sind uns nicht darüber einig, worin die Not besteht. Wir sind uns nicht
darüber einig.“ Erstaunt wich der schwere Mann zurück, blickte hin und
her zwischen Delvil und dem andern. Triumphierend Ten Keir: „Laß ihn
also ausreden.“ Pember: „Ja. Willst du die Schlangen und die Schweiger
und wie sie heißen?“ Frau Atorai schlank und ruhig überlegen an der Wand
gegenüber Delvil, öffnete die lächelnden Augen: „Er will ja die
Schlangen.“ Mit plötzlich erschlaffendem Gesicht, klagend Delvil: „Das
weißt du nicht. Das wißt ihr doch nicht.“ Er sank auf die Knie, hielt
den gesenkten Kopf in den Händen; man hörte ihn schluchzen.

Grimmig kehrte Ten Keir zu dem Lichtfleck zurück, knurrend: „Da ist es.
Er ist hin.“ Lächelnd und gleichgültig durch die Stille Frau Atorai:
„Laßt ihn sich ausweinen.“

Ein Mann bewegte sich neben Ten Keir seitlich von der Lichtquelle,
stellte die Iris des Strahls enger. De Barros, ein erst aufgenommener
Wärmeforscher, leicht eingedrückte Nase, aufgeworfene Lippen, dunkle
Hautfarbe. Er redete hart, ohne einen anzublicken: „Ich sehe, was Delvil
will. Die Dinge, die er bezweifelt, bezweifle ich nicht. Die Führung
durch die Stadtschaft sollte ihm zeigen, was wir verteidigen. Das ist
mißglückt. Wir geben uns aber nicht auf. Und dann: Es sind Hunnen vor
zwei Jahrtausenden gekommen, die alles wegrafften. Dann war Jammer und
alles begann von vorn. Wir lieben das nicht. Warum nicht? Wir wollen
nicht.“ „Eine einfache Rede, De Barros“, lächelte unverändert Frau
Atorai. Pember bemühte sich um den hingesunkenen Delvil: „Es scheint,
wir müssen unsere Unterhaltung abbrechen.“

Am frühen Morgen suchte Delvil Ten Keir auf, in dessen Haus schon De
Barros saß. Beide Herren finster. Delvil gab Ten Keir die Hand: „Ich bin
in deinem Wohnhaus und bin waffenlos.“ „Setz dich.“ Ten Keir wanderte,
stellte sich vor Delvil, hob die gefalteten gepreßten Hände vor die
Stirn: „Also – kapitulieren sollen wir? Kapitulieren. Weißt du, ich bin
nicht weit entfernt davon, mit dir die Rolle zu tauschen.“ Und knirschte
stampfte am Fenster, lachte gallig: „Gut, daß du gekommen bist. Hast du
dich nach den Amerikanern erkundigt? Sie schwiegen gestern so
ausdrucksvoll. Sie sind abgereist.“ Delvil zuckte: „Ach.“ „Was gibt’s zu
ächzen? Kannst jauchzen. Du wolltest den neuen Völkerkreis machen. Lauf
ihnen nach. Ich habe sie gleich erkannt. Sie sind reif.“ „Wozu.“ „Zum
Abdanken. Zum Kapitulieren. Eure White Baker sitzt ihnen in den Knochen.
Das sind keine Herren. Nicht einmal Diener. Das sind Hunde. De Barros,
ich schäme mich.“ Der stand, schloß vor Erregung die Augen: „Und ich.
Sie haben es nicht verdient an unserm Tisch zu sitzen. Es scheint, daß
nur wenig es verdienen. Dann müssen die wenigen Mut haben, die Tafel zu
säubern. Ja. Und den Platz zu behaupten.“ Ten Keir höhnte: „Eine große
Zeit, ein kleines Geschlecht. Nein, wir sind kein kleines Geschlecht. De
Barros, wir sind nicht klein. Jevaroz ist nicht klein, Frau Atorai ist
nicht klein. Für Gras werf ich kein Jahrtausend Gedanken hin. Wir können
die Zähne zusammenbeißen und kämpfen. Ich kann auch sterben.“ „Es wird
eine Schlacht geben.“ „De Barros, wir sind noch fest. Man wird versuchen
uns zu unterhöhlen. Wir werden es nicht so weit kommen lassen.“ Delvil
saß mit aufgestütztem Kopf: „Was wollt Ihr tun?“ „Der Uralische Krieg im
Land, Herr Delvil! Delvil“ er schüttelte ihn „die Augen auf. Es bleibt
nichts weiter übrig.“

Öfter trieb es Delvil und Pember durch die Versuchsanstalten der
Belgier. Sie sahen die Schar starker Männer und Frauen, gingen neben De
Barros. In manchen Augenblicken kam es Delvil vor, als wenn er träume
von einer Gefahr. Wie weit war White Baker, wie unbegreiflich, widerlich
diese Schlangen, Krieger, Barbaren, Marduks, Zimbos. Ob es nicht
wirklich richtig war sie niederzurennen. Aber auch hier schon das
Wimmeln auf den überdachten Straßen. Die vielen Tempel und Zauberer. Von
draußen schlugen Flüchtige Verirrte hinein.

Die belgischen Senate gaben die Parole aus, heimlich zuverlässige
Stadtschaften zu gewinnen, sie sich anzuschließen, wo man sie finde,
schwächliche Senate durch Handstreiche zu stürzen, auf dem Festland,
später in Amerika; auch die afrikanischen Küsten zu besetzen. Ihre aufs
stärkste bewaffneten Vertrauensleute wiegelten französische spanische
italienische süddeutsche westdeutsche Stadtschaften auf. Man hörte von
Revolten in einigen dieser Städte, von Umsturz der Herrschaft, dem
Aufkommen neuer Senatsgeschlechter, die von den Belgiern geschützt
waren. In Brüssel Antwerpen Mons setzte die Erweiterung der
Mekifabriken, die Vervollkommnung der Waffen, Aufstapelung großer
Waffenmengen ein. Es gab Augenblicke, wo Delvil und Pember, die immer
wieder nach Brüssel zurückkehrten, unter den frischen Impulsen
aufatmeten. Die Belgier sprachen dann offen mit den Londonern. Ten Keir
hatte nichts weniger vor als die Besetzung Londons. Er verlangte mit
Einverständnis der belgischen Senate von Delvil eine bestimmte Erklärung
über die Maßnahmen, die gegen die drohende Vernichtung der britischen
Stadtschaften und zur Säuberung der englischen Inseln getroffen würden.

London hatte diesen Schritt längst erwartet. Man konnte nicht
verhindern, daß geübte Scharen aus Belgien und Holland überführt wurden,
die am Bau neuer Fabriken und Waffenherstellung arbeiteten. Zeit
verlief. Delvil war nur fest in dem Entschluß geworden, nicht zu fallen
wie White Baker, die in London erschienen war und ihn ermahnt hatte,
sein Amt niederzulegen, das Rad des Geschicks nicht aufzuhalten. Sie
sahen sich an. Noch immer trug die sehr mager gewordene Frau weiße
Stoffe und wollene schwere Schultertücher, wie jene Ratschenila; der
knöcherne Krähenschnabel hing an ihrem Hals; sanft, ungewohnt zart
sprach sie zu Delvil, dessen Hand sie lange hielt. Er fühlte sich durch
Stunden verwirrt und unruhig nach den leise eindringlichen Reden, dem
Schweigen der früher so stolzen starken White Baker, die zum Krieg gegen
Marduk gerufen hatte. Unter Trauer wurde ihm klar: sie begriff nichts
von den Dingen, die auf dem Spiele standen, erinnerte sich nicht mehr.
Sie hätte die starken strengen belgischen Menschen und ihre Werke sehen
müssen.

Schon verbreitete sich zu den Massen des englischen Landes im Westen und
Norden, was vorging. Sie berührten sich mit den eingeführten Völkern.
Die Angst der Siedler. Nur die kriegerischen Gruppen hörten mit Lust,
was der Senat bereitete; London wurde reif, wühlte sich sein Grab. Sie
sangen Lieder vom Schicksal Hamburgs Hannovers, von dem feinen
mißglückten Plan mit Zimbo, der märkischer Konsul geworden war.
Brandstifter schlichen zwischen die Häuserreihen. Die fremden Belgier
hatten so listige rohe Menschen noch nicht gesehen. Man war in einem
lautlosen von Woche zu Woche sich steigernden Krieg.

                   *       *       *       *       *

Damals trugen die friedlichen Schlangen eine Fabel mit sich herum. Es
gab ein fernes Land, das unter warmem Himmel mit fruchtbaren Bäumen in
tiefster Ruhe lag. Die Menschen glänzten und verblichen wie
Sonnenstrahlen. In diesem Land lebte ein großes sanftes Tier. Dicht und
schwarz war es von einem Pelz umhüllt. Es lagerte träge, ein Bär, in
seiner Höhle. Da drangen Ungetüme mit Wut, Wagen Waffen Geräte hinter
sich, in das Land. Mit Keulen und Beilen schlugen die Ungetüme auf das
träge sanfte Tier. Sein Fell war so dick, daß er nicht einmal knurrte.
Man stieß es und zwickte es mit feurigen Zangen: es zitterte, hob sich
auf. Als man die Höhle um den Bären zum Einsturz brachte, machte er sich
auf die Wanderung. Schleppte sich davon. An ein brausendes großes Wasser
kam er. Da konnten die wütenden Verfolger nicht nach. Das Tier war fast
blind, die scharfe Seeluft hatte es geschnuppert, warf sich aufs Wasser,
schwamm. Schwamm, bis es Klippen berührte und gegen eine Insel stieß.

Und wie es in der Schlucht lag, fingen über ihm die Felsen zu wanken an.
Blöcke polterten in die Schlucht. Der Bär kroch hoch, kroch herum,
duckte sich, wußte nicht was war. Die fremden Ungetüme hatten die
Ameisen bestochen den Sand von dem Berg zu schleppen, die Felsen zu
untergraben. Ein junges Wiesel schlüpfte zwischen den Trümmern auf, lief
dem Bär voraus. Der Bär hielt den zappelnden Schwanz des Tierchens
zwischen den Lippen, das Wiesel kroch ans Meer, setzte sich steuernd auf
den Rücken des Bären. Der schwamm, schwamm. Bäume sah das Wiesel, eine
neue Insel tauchte auf. Sie gruben sich zwischen Schilf in die nasse
Ufererde ein. Am Abend dampfte es um sie, die Erde fing an warm zu
werden, von Stunde zu Stunde blies heißere Luft herunter. Das Wiesel
zuckte, warf sich quiekend um das große schwarze Tier. Das schnappte
lechzte stöhnte beengt. Die Ungetüme waren zum Himmel aufgestiegen,
hatten sich mit Leitern und Haken der gewaltigen Sonne bemächtigt, sie
gezwungen, die Insel zu erhitzen. Die schmolz schon dahin. In einem
feurigen Brei lag der Bär. Mit trockenem Rachen, nach Luft beißend,
schob er sich hoch. Sein Fell flammte. Er brach die Grube auf. Sprang
und rannte. Wo war das Wasser, das Wasser. Das Wiesel lief nicht mit,
der Bär hatte es nicht retten können, hatte es selbst von seinem Rücken
in die Glut aufgeschleudert. Brüllend trieb er vorwärts, drehte sich,
stand auf den Hinterbeinen vor Schmerz. Die Glut hetzte ihn. Der kalte
Wind fuhr an. Da war der Wind. In das Meer stürzte das große Tier von
einem Felsen. Winselte im Fall, wollte nicht mehr schwimmen, wollte
hinuntertauchen auf den Meeresgrund, ertrinken.

Ein grüner Wassergeist sprudelte auf, wie er das Meer berührte.
Bespritzte sein Fell. Die Schmerzen des Bären ließen nach. „Ich will dir
zeigen“ sang der Wassergeist, „wohin du schwimmen sollst. Du kannst
allein hinfinden. Du mußt weiter schwimmen, nach Norden, wo es eiskalt
ist, wo kein Sand ist, wo auch nichts wächst. Wo die Sonne nicht scheint
und immer Nacht ist, dahin mußt du schwimmen.“ Der Bär grunzte müde und
lahm. Er lag auf dem Wasser, ließ sich treiben. Sein schwarzer dicker
Pelz wuchs wieder, wie ihn die Wellen trugen Woche auf Woche. Es war
finster vor seinen halbblinden Augen. Jetzt spürte er manchmal eine
leichte Helligkeit. Er schwamm ihr nach. Vom weißen unermeßlichen Eis
ging die Helligkeit aus. Er stieg aus dem Meer, schüttelte sich.
Trottete, den Kopf abwärts, über die Eisplatte, vor eine Grotte, die
eben zufror. Da kroch er hinein, legte sich. Er lag völlig ruhig. Keinen
Schritt kam er über das Eis. Nur wenn er Hunger hat, bricht er ein Loch
in die Grotte, fängt sich Fische auf dem Meer.

                   *       *       *       *       *

Die Siedler trugen das Märchen herum. Es mochte mit dem bewunderten Zug
der Stadtflüchtigen Amerikas nach Labrador, an die kalte Hudsonbai
zusammenhängen. Sie wollten fort von den Stadtschaften. Krieger griffen
London an, andere Siedler suchten sie zu hindern. Die Furcht vor einer
zerstörenden Entladung der Stadtschaft wuchs. Währenddessen trieb sich
Delvil, bitter, ratlos, auf den Chittern-Hills herum. Die Sehnsucht, der
angstgetriebene Wunsch nach einer Ferne, Fremde war allgemein. Diese
Menschen ernst, sanft, viele krank und entstellt, stumme Arbeiter,
fröhliche Beter. Von Marduk sprachen sie zueinander, aber nicht von dem
gefährlichen Konsul; nur von seinem Ringen mit der armen hilflosen
Balladeuse, von seiner Freundschaft mit dem weißen Jonathan, und der
Liebe zu der süßen rettenden Elina.

Eines Mittags, wie Delvil aus dem verschneiten Bedford aufbrach, um in
die Stadt zurückzukehren, lief eine weiße Katze im Sonnenschein vor
seinen Füßen. Lief den Feldweg hin und her, im Blitzen des Lichts, saß
leckte sich das Fell. Sie mußte sich verlaufen haben. Oft verschwand
sie, dann kehrte sie zu ihm mit langen Sätzen zurück. Sie schnurrte
putzte sich am Boden zu seinen Füßen. Es zuckte in ihm auf. Seine Augen
weiteten sich. Ein Frost lief über ihn. Man mußte die Menschen
wegführen, wo sie Ruhe hatten. Man mußte sie weit weg in Sicherheit
bringen. Mit einmal dachte es so in ihm. Die weiße Katze saß auf seinem
Stiefel. Er stand still, bückte sich zögernd herunter, strich über ihr
Fell. Sie krümmte den Buckel hoch, blieb ruhig. Vorsichtig richtete er
sich auf. Sie huschte davon. Er schleifte ihr nach. Man mußte die
Menschen in eine ferne Sicherheit bringen.

In London sprach er es aus. Man verstand ihn schwer; was sollte man mit
lächerlich humanitären Gedanken, während man bedroht war. Nur Pember,
der schwere, achtete auf. In Brüssel hörten sie ruhiger zu. Man konnte
die Städte von den Neuerern befreien. Man konnte den Städten ein
Abflußbassin verschaffen. Ein sehr entlegenes Abflußbassin, ein Land für
Deportationen. Delvil hatte volle Sicherheit; seine Krise hatte er in
Bedford überwunden. Er zeigte den Belgiern: die Stadtschaften verlangten
nach Bewegung Aufschwung. Von der Beseitigung der Unruhe, der Bedrohung
zu schweigen. Sie könnten jetzt ihre Kraft zeigen. Anders als im
Uralischen Krieg. Das Land, das fern von den westlichen Städten liegt
und den Siedlern alle Ruhe gibt, sollten die Stadtschaften selbst
schaffen. Es mußte ein Becken für neue kraftvolle Menschenrassen werden.
Wohin also, zweifelten die Brüsseler. Delvil: Man könne sie nicht
führen, wohin sie nicht wollten. Man müsse ihren Sinn ergründen. Es gäbe
eine Fabel unter ihnen. „Der schwimmende Bär“ schmunzelten die
Senatoren. Sie wollten, sie drängten nach Norden; dort müsse man ihnen
ein großes Land schaffen. Die Belgier blieben im Staunen. Es war ein
Experiment, das der Londoner zeigte. Delvil war in Nöten. Sein Plan war
kurios, aber nicht schlecht.

Und der schlanke Mann brachte mehr Menschen in sein Netz. Er sprach erst
von Rußland, das man den Siedlern geben sollte. Dann wurde er
phantastischer, und nun wurde er allen, die ihm von den wegekundigen
Fachleuten, den Kopf stützend, zuhörten, erregend. Er wies auf ein Land,
das man an einer hochnördlichen Stelle des Stillen Ozeans westlich vom
amerikanischen Kontinent aus dem Meer graben müßte. Es müsse ein neuer
Erdteil geschaffen werden. Die Stadtreiche werfen dahin ihren
Menschenüberfluß und ihr krankes Material ab. Die Belgier waren
fasziniert: Einen Erdteil, ein ganzes Land aus dem Ozean graben; das war
ein Plan. Er wirkte so stark, daß die Brüsseler, als sie die Sache
verzaubert unter sich erörterten, Kontinentale aus anderen Stadtreichen
herbeiriefen. Wollten die der Wirkung dieses kolossalen Einfalls
aussetzen. Und auch hier Staunen Erregung Blendung.

Zu den Siedlern auf dem Kontinent, den britischen Inseln lief das
unglaubliche Gerücht, von Brüssel her verbreitet. Wie die Siedler
erschraken. Das war der Angriff; es war die Art, wie die Senate sich den
Frieden dachten. Aber dann sah man: Sie wollten die Siedler schonen. Man
würde bewahrt werden vor ihren Waffen. Man konnte ausgerottet werden;
die Stadtreiche dachten an Siedlung. Die grausamen Senate suchten die
Gedanken der Neuerer selbst zu denken. Es war ein Nachgeben, Erweichen
der Senate.

Noch ehe Bestimmtes bekannt wurde, schliefen die Überfälle auf die
Londoner Außenstädte ein. Und über die Stadtreiche legte sich ein Bann.
Man wurde träge mit der Waffenherstellung, der Ausdehnung, dem Aufbau
alter Fabriken. Wartete auf etwas Neues Geheimnisvolles. Man spannte
sich. Ein eigentümliches Hin und Her zwischen den friedlichen Zentren
den Stadtschaften und den weiteren Siedlungen, begann. Man trat fragend
zueinander. Erregt horchten die nomadenhaft Wandernden. Die träumende
Erzählung der Schlangen von dem Tier in der fernen Eishöhle wehte über
die britischen Inseln nach dem Kontinent. Die Senate sannen. Sie
fühlten, eine glückliche, ja wunderbare Lösung gefunden zu haben. Man
stand an einem Wendepunkt. Das Siechtum der nachuralischen Zeit würde
beendet werden.

Man war noch im ungewissen über Einzelheiten des neuen Plans. Als eines
Tages bei einer Beratung zu London das Wort Grönland fiel und
augenblicklich die Seelen bezwang. Der Schleier war gefallen. Das
Zauberland. Wer das Wort ausgesprochen hatte, war bald vergessen. Delvil
hatte es im Moment ergriffen, als erster die Fahne geschwungen. Er war
vom Augenblick an, wo bei Bedford das weiße verirrte Kätzchen vor ihm
sprang und ihn erlöst hatte, der entschlossenste von allen. Er sprach zu
den aktionsgierigen Gruppen seines Senats: man wisse nun, dies werde das
Ziel sein. Man werde es erforschen. Man werde einen langen Anlauf dahin
nehmen müssen. Das Ziel sei da, für die Senate und die Feinde der
Städte. Der Federball sei auf den Boden geworfen, er werde springen. Der
Völkerkreis würde auf neuer Grundlage entstehen. Der Glanz einer
heldenhaften Arbeit werde sie vereinen. Die Städte würden den Erdteil
Grönland schaffen. Man werde sehen, was der neuerstarkte Menschengeist
leisten könne. Seine ursprüngliche Glorie würde der in den Stadtschaften
eingekrustete Menschengeist beweisen. Nie hätte er es dringender nötig
gehabt, sie zu beweisen. Aber von dem, was jetzt geschehen würde, würden
Jahrtausende sprechen. In Hader hätten alle Menschen seit dem Uralischen
Krieg gelegen. Ihre Kräfte seien inzwischen, das wisse er, nicht
verkümmert, nur geschwiegen hätten sie. Sie würden auf eine nie geahnte
Art den Mund öffnen.

Und über die Siedler ergoß sich Frieden. Wenig mißtönende warnende
höhnende Stimmen; sie wurden unterdrückt. Das Lachen der Krieger: man
hätte Land genug. White Baker erschien in London bei Delvil; sie war
erregt. Faßte den Mann bei den Schultern: „Was wollt Ihr tun? Das Meer
ablassen, die Gletscher zertrümmern? Ich trau’ es Euch zu. Es ist
entsetzlich. Wer drängt Euch dazu? Doch nicht wir! Wir sind es nicht,
Delvil, sag nein.“ „Es geschieht für Euch.“

Sie rang die Arme: „Sag nein. Beim Himmel, bei der Erde, Delvil, sag
nein. Es ist entsetzlich. Laß die Erde ruhen. Sieh doch an, was habt Ihr
schon –, ich mit –, an den Menschen getan. Wie sehen sie aus, wie gehen
sie zugrunde. Wie geht Ihr zugrunde. Was habt Ihr im Krieg in Rußland
getan.“ „Es ist nicht dasselbe.“ „Dasselbe, Delvil. Es ist abscheulich,
grausig, was Ihr vorhabt. Tut es nicht, rede es ihnen aus. Nicht für
uns.“ Delvil finster: „Es gibt nichts anderes. White Baker, du weißt
nichts. Es gibt nur: zurück zu Euch oder der neue Plan.“ „So schlag doch
zu. Töte doch alle. Glaubst du, du rettest – Euch damit?“ „Uns?“ „Ja, es
ist nur für Euch, was Ihr plant! Uns nennt Ihr nur. Wir wollen Euch gar
nicht. Wir brauchen Euch nicht. Und es nützt Euch doch nichts.“ Delvil
zog sich murmelnd mit hängendem Kopf von ihr zurück: „Ich dachte, du
würdest anders zu mir sprechen.“ „Du sollst uns töten. Greif Zimbo und
Alaska an. Ihr könnt es doch.“ „Still, White Baker.“ „Ihr seid
erbärmlich. Ihr wollt Euch unter zehntausend Pyramiden begraben. Wären
die Städte schon weg.“

Leise Delvil: „Geh. Geh.“

Unter der starken Herrschaft des schwarzen Zimbo stand das
märkisch-norddeutsche Land. Nie war hier Bangigkeit gewesen. Von rohen
Menschen war das große Gebiet erfüllt, längst kannte man keine
Mekispeisen mehr. Mit Verwunderung und Verachtung vernahmen sie hier von
den Träumen der britischen Siedler, der Sehnsucht nach dem fernen
Paradies, hörten die sonderbare Fabel. Die fremden herrschsüchtigen
Senate sahen sie sich straffen. Sie spitzten die Ohren, warnten die
Horden auf den britischen Inseln, rieten ihnen zum Krieg. Unbemerkt von
London trat Zimbo, in dem die Wut kochte, bei Bedford im Frühjahr selbst
vor White Baker und Diuwa, die Führerin der Schlangen. Fragte vorher
nach Männern; man wies ihn an diese Frauen. Grollend mußte er mit ihnen
verhandeln. White Baker weinte bei der Besprechung, aber sie waren zu
nichts bereit. Sie zeigten auf die furchtbare Stärke der Belgier, auf
die bewiesene grausame Entschlossenheit und ihre eigene Hilflosigkeit.
Ob man es auf einen ganz aussichtslosen Waffenkampf ankommen lassen
sollte. Zimbo brüllte: „Ja ja“; die Senate würden unterliegen; sie seien
schon erlegen in Amerika, da liefen sie den Stadtflüchtigen nach. Man
müsse sie unterwühlen, zuletzt erliegen sie hier auch. Und immer
dieselbe bettelnde Entgegnung: „Wir sind nicht stark genug, wir sind
keine Krieger. Nur Schwache Kranke sind bei uns. Es braucht Jahrzehnte,
bis wir uns bewegen können.“

Mit Abscheu sah Zimbo, wie er sich von den trüben Frauen trennte, daß
sie recht hatten. Er überlegte, ob er einige seiner tapferen Freunde
hier einsetzen sollte. Aber wie er das sanftmütige hingegebene Gebaren
in den Gruppen beobachtete, zog er sich angewidert zurück. Diese
Menschen mußten durch eine harte Schule gehen. Die Herrschaft eines
Marke und Marduk war ihnen erst nötig. Er flog nach Hamburg. So stark
war damals das märkisch-norddeutsche Land, so verändert die Bevölkerung,
daß nur noch Zimbo und seine Gehilfen westliche Waffen um sich hatten.
Das Volk war rüstig kriegerisch gefürchtet. Was sie nicht in Schmiede
und Zimmerwerkstätten mit der Hand und dem Feuer hervorbrachten,
verachteten sie. Zimbo ließ alle aufklären über die drohenden Gefahren.
Keinen Schrecken sah er. Die jetzt nicht mehr brüllenden metallenen
Stiersäulen wurden mit frischem Laub bekränzt. Vor der Steinnische, in
der angekleidet der Leib des großen weißgesichtigen Konsul Marduk mit
einem Holzszepter saß, wurden bunte Wimpel aufgezogen. Zimbo selbst
legte unauffällig zwischen den einsinkenden Stadtresten von Hamburg und
Hannover Waffenlager an.

Die Massen der westlichen Erdteile horchten auf. Die Fahrt nach Grönland
sollte beginnen. Im Norden lag das große ruhige Land, der neue
Kontinent, der für sie aus dem Eis, dem triefenden Ozean, der schweren
Nacht gehoben wurde. Friedlich würden sie dorthin ziehen erstarken
genesen. Die Herren, die Gewaltigen der Apparate, ließen von ihnen.
Ungestört würden sie sich über die weichen aufgetauchten Bodenflächen
bewegen, unter aufsprießenden Bäumen Pflanzen, zwischen Tieren,
flatternden Vögeln, das Licht der alten Gestirne vom Himmel.

Die Stadtschaften trafen ihre ersten Vorkehrungen.




                             Sechstes Buch.

                                 Island


Der Plan der Enteisung Grönlands wirkte wie ein Bergsturz erschütternd
auf die Städter. Ein an Grausen grenzendes Staunen warf die Gedanken um.
Ingenieure Physiker vertieften sich in den Plan. Die Senate nahmen
überall vollzählig an den Erörterungen teil. Man hatte das Gefühl vor
einer Entscheidung der ganzen Existenz zu stehen. Die Senate spannten
sich, waren auf der Hut, wie bei der Freigabe der synthetischen
Ernährung.

Die Fachleute hatten vor, die beispiellose Gewalt der schmelzenden
Gletscher für sich arbeiten zu lassen. Sie griffen weiter aus; man
wollte bei der Enteisung Grönlands nicht stehen bleiben, sondern eine
klimatische Änderung der ganzen nördlichen Halbkugel herbeiführen. Man
mußte im Verlauf der grönländischen Affäre zu ungewöhnlichen
ausgedehnten Heizmaßnahmen greifen; es lag kein Grund vor, sie auf
Grönland zu lokalisieren. Man konnte die Attacken ausdehnen auf die Zone
der arktischen Länder mit Spitzbergen Nowaja Semlja Baffinland
Grantland, den Perryinseln. Delvils physikalischer und hydrographischer
Berater, Escoyez, ein aus Spanien gebürtiger Mann mit berberischem
Einschlag, ein halbes Wasserwesen, der in selbstkonstruierten Gehäusen
abenteuerliche ozeanische Tiefen durchsuchte, schlug eine Änderung im
Salzgehalt der atlantischen Gewässer vor. Er hatte die Golfstromdrift an
der englischen und skandinavischen Küste studiert. Er meinte: der warme
Golfstrom ist reicher an Salz als das Meereswasser, das er durchfließt.
Die treibende Kraft der Golfstromdrift selbst ist der Wechsel der
Jahreszeiten: die sommerliche Wärme dehnt das Salzwasser aus, schwemmt
es, gießt es über das kalte. Das ist alles, das ist die Drift.
Salzwasser reißt aber Salzwasser, eine Zähigkeit die andere mit. Man
möge die warme Wassermenge, die vom Äquator dem Norden zuströmt,
vermehren, indem man das große ozeanische Flußbett selbst mit Salz
anreichert und zwar vom Boden aus. Die Meeresböden in der Nachbarschaft
der großen Drift werden in weiten Abständen aufgesprengt, das
hochgehende Gestein zertrümmert. Der Auslaugungsstoff, Chlornatrium
Magnesium Magnesiumsulfat schwefelsaurer Kalk Chlorkalium kohlensaurer
Kalk, geht in das Wasser über. Man hat das Bett des Golfstroms durch
solche salzspürende Sprengungen systematisch zu erweitern, von den
Küsten Kubas Floridas Neufundlands an. Der sommerliche Andrang, die
Überschwemmung mit warmem salzreichen Wasser, die Transgression, das
benachbarte Salzwasser mitreißend, wird an Umfang verzehnfacht, wird
sich weit über die Nordsee und Neufundland erstrecken. Escoyez, das zähe
braune Wasserwesen, erklärte: man hätte eigentlich nur nötig, den
äquatorialen Kochtopf zu vergrößern. Wenn die Leutchen in Grönland bis
jetzt frieren und auf Spitzbergen kalte Nasen hätten, so dürften sie
sich darüber nicht wundern. Wer glaubt, die Natur ließe den Menschen
gebratene Krammetsvögel in den Mund fliegen, irre sich. Freilich zeuge
es im Grunde nur von der fürchterlichen Stupidität des Menschen, daß er
sich mit Klima und anderen irdischen Dingen wie mit göttlichen
Verordnungen abfinde. Es gibt auch eine göttliche Verordnung, daß man
verhungert, wenn man sich sein Brot nicht holt. Es gibt auch eine
göttliche Verordnung, daß man seinen Verstand gebraucht. Wie man sich
bettet, so liegt man. Der Spottvogel meinte: das gelte auch vom Fluß in
seinem Bett. Aber nur bis jetzt. Man kann göttliche Verordnung beim
Flußbett des Golfstroms spielen. Der Golfstrom werde nicht schlauer sein
als die Menschen. Man streut ihm Salz auf den Schwanz, und dann kommt er
schon und macht piep. Hinter den Scherzen Escoyez’ stand kalter Ernst.
Man ließ ihn und seine Mitarbeiter Karten entwerfen, Schürfungen
vornehmen. Vor allem, man ließ ihn das bezaubernde Gerücht von der
Veränderung des nördlichen Klimas verbreiten.

Die Augen anderer Männer hingen an Grönland, an den niedergehenden
Gletschern. Ihnen war gleichgültig, was aus dem neuen Erdteil wurde und
was von dem ganzen Plan gelang. Sie dachten nur daran, wie sie die
entbundenen Gewalten angreifen sollten. Die Gewalten, die sie sich gar
nicht ungeheuer genug vorstellen konnten. Sie stellten Rechnungen an
über Umfang und Gewicht der niedergehenden Gletscher, der zu Tal
steigenden Lawinen, über ihren Inhalt an drängender Wassermasse. Die
rasch ins Meer stürzende Menge mußte ein abenteuerliches Gefälle, ein
noch unausdenkbares Triebwerk darstellen. Techniker der Kraft warfen
sich über Pläne zur Ausnützung der grönländischen Gefälle. Sie erregten
den Kreis der Senate leidenschaftlich. Man kannte Lawinen,
Lawinenstücke, die niedergehend durch den bloßen Luftdruck starke Wälder
umbrachen. Hier sollte im Umfang eines Erdteils, der Australien
gleichkam, zu etwa gleicher Zeit ein Lawinenfeld niedergerissen werden,
wie es kein Kontinent hatte. Das Gefälle durfte nicht verpuffen; es war
absurd, Lawinen und ganze Meere unbezwungen in den Ozean stürzen zu
lassen. Sie mußten gefaßt werden, ihre Kräfte hergeben. Es war
gleichgültig für welche Zwecke sie sie hergaben. Niemand im Brüsseler
Senat, dem der alte phlegmatische Danois aus der Gruppe der
Krafttechniker berichtete, fragte danach. Niemand dachte an das Wogen
und Träumen der Siedler. Gewiß war, daß man die ungeheuren Gefälle rings
um den grönländischen Kontinent bezwingen mußte. Das Pferd durfte nicht
aus der Wildnis jagen ohne gebändigt zu werden, mochte man auch Überfluß
an Kräften haben.

Ehe noch ein Plan durchgearbeitet war, fühlte man in den Stadtschaften
den ängstlichen Drang, alles von sich zu geben und über die benachbarten
Völker hinzubreiten. Es war wie eine Sicherung, ein Verlangen sich
anzuschließen, ein hinsinkendes Gefühl: wir wollen nicht allein sein.
Über die Stadtschaften der nördlichen Kontinente flitzten Agenten der
Senate; heftiges immer wiederholendes Erzählen Berichten Ausmalen Hin-
und Herhorchen. Überall leuchteten Augen auf. In Algerien lösten sich
aus der Landschaft um Konstantin und südlich des Atlasgebirges vom
Gestade des Schottdjerid magnetisch gezogene arabische Scharen, zogen
nach dem Norden. Aus Sizilien, aus der noch wimmelnden Stadt Raha
südlich der saharischen See am Niger stiegen dunkle Gandus auf; mit
ihren Flugwagen durchschnitten sie die Luft, ließen sich in London
nieder. Ein Zucken ging durch sie, wie sie sich niederließen, genauer
hörten, was geplant wurde.

                   *       *       *       *       *

Vor der schottischen Nordküste zackten übersprühte wüste Steininseln aus
einem tobenden Meer: dort war der Sammelplatz der Schiffe Maschinen
Menschen. In London Brüssel zentrierten sich die Ingenieure Mathematiker
Physiker Geologen und ihre Gehilfen. Sie wehten immer von neuem Pläne
über die Menschen, lockten erregten. Alle sahen die Erscheinung
Grönlands, des Erdteils, der hinter Meeresbergen stand. Die Meeresberge
waren niederzuwerfen wie Quadern einer Burg. Grönland war eine
verwunschene Prinzessin, von Drachen umgeben. Die Berge sanken; etwas
Stolzes, ein Fabelbild würde sichtbar werden. Niederbrechen von Eis auf
tausenden Quadratmeilen, Auftauchen einer alten verhüllten Erde.

Schon begannen im Frühjahr die ersten vorbereitenden Arbeiten, die auch
den letzten Teil des kommenden großen Kampfes bedachten. Sie fingen an,
in Talsenken von Wales, im Flachland bei dem belgischen Nivelle Fabriken
anzulegen, in denen sie Kraftspeicher bauten für die elektrischen und
neustrahligen Kräfte, die aus dem niedergehenden Eisland zu gewinnen
waren. Käfige für Vögel, die gefangen werden sollten; Riesennetze; die
Schmetterlinge sollten vom Ozean herübergejagt werden; Europa und die
Hitze würden über sie kommen. In die lehmige holländische Erde gruben
sie Wälle Dünen Betonkanäle, als hätte man vor, für Untiere Fallen zu
bereiten. Sprengten an der Irischen See in den Berwynbergen dem Deefluß
folgend Gänge Höhlen, kilometerlange unterirdische Läufe in die Felsen
zur Aufnahme der Unwesen, die man fesseln wollte. Wie Garben auf dem
Felde wuchsen Gebäude in Chester Stafford Dembigh. Zwischen den
Siedlungen der Stadtflüchtigen zogen sie sich hin, die sie mit Blättern
Steinen geheimnisvollen Sprüchen schmückten. Im Brabanter Tiefland, an
der wühlenden Maas, neben dem feuchten Flußbett des breiten
wasserwälzenden Rheins wurden versenkte Gewölbe, flache Anlagen
errichtet.

Zu einer Hochzeit bereitete man sich. Man warf sich in Plänen. Die lange
düster enthaltsame Zeit hatte eine Unmasse Erfindungen reif gemacht. Das
Einfache umging man; Kräfte wollten sich zeigen; man machte Proben auf
die Dinge, die man vorhatte. In den Stadtschaften erinnerten sie sich
des Märchens vom ägyptischen Pharao: sieben Kühe magere Jahre, sieben
Kühe fette Jahre. Es galt Vorratshäuser für eine endlose Zeit zu bauen.
Neue Kräfte würde man finden. Jetzt würde das menschliche Vermögen
entbunden werden, sich unerhört über die Erde tummeln und die Arme
wiegen.

                   *       *       *       *       *

Das atlantische Wasser schwemmte zwischen den langgezogenen Küsten
Amerikas und denen der östlichen Kontinente. In die ungeheure Spalte
zwischen den auseinandergezerrten Erden warf es seine flüssigen Massen.
Die Gneisgebirge von Kanada und Labrador jenseits waren gelöst von den
schottischen Bergen. Zerfetzt zerbröckelt standen die Inseln an der
schottischen Spitze, Shetland und Orkney. Hundert Inseln die Shetlands.
Sie stiegen aus dem bleiernen rollenden Wasser auf der unterseeischen
Scholle auf, die die irische Erde, das gebirgebestandene englische
Hochland, die Ebenen des Südens trug. Nach den Shetlands nahmen die
Schiffe der westlichen Stadtreiche ihren Kurs. Am sechzigsten
Breitengrad in den Buchten des Mainlandes legten sie an. Immer neue
Fahrzeuge liefen ein. Hohe Flut rollte über die spitzen Schären. Die
Ebbe entblößte die Tausende schwarzen Klippeninseln, die ihre Zähne, ihr
Steingebiß zeigten. Dann begrub sie das anspielende anwankende türmende
überkippende überprasselnde Wasser, Gischt über sie wehend. Über den
stein- und muschelrollenden Strand, die wilden Felsstapel der Ufer warf
sich die Brandung. Es war eine Haarsträhne des Meers, das draußen seine
Brust zeigte, sich zur finsteren Erde niederbuckelte. Klirrend schlug
das Wasser mit Steinschotter gegen das entblößte Land, wusch rieb
knirschte wühlte mahlte. Es zermürbte die Vorsprünge Kanten Ecken
Zungen, um draußen im Freien sich huldvoll zu wiegen, hin und her,
Ozean, breites hundertmeiliges atlantisches Wasser, schwarzes
festverbundenes Wesen, in sich vergittert wellenüberlaufen sich hebend.
Am Rand der kleinen Klippen Inseln Festländer nahm es sich hundert Meter
Tiefe zum Hinwogen und Wühlen, dann stieg es tausende Meter in das
Lichtlose herab, hing an den Rändern der Steinsockel der Erde herunter,
gleichmäßiges rieselndes schiebendes Wasser, vom dünnen Wind überzogen
gekräuselt gedrängt, von fliegenden pfeifenden Tieren überflattert, von
Fahrzeugen geritzt, von Schrauben Rudern Rädern gestreichelt. Menschen
über seinem Rücken. Mit der Luft war es im Gespräch. Donner und Heulen
um Riffe, Wirbeln um Schiffe. Drohendes Murren Rollen Strudeln Gurgeln
Klatschen Schlingen Schlenkern Bersten Zerknattern Zerschellen loderndes
Zerknallen unter der wolkenverhüllten Sonne, Plätschern Peitschen
Schwingen an der Sonne, Aufheben in die Wärme, Aufdunsten Schmelzen
wolkiges Vergehen an der weißen hochstrahlenden Sonne.

An einem Maitage gab Kylin, ein Mann, der an den skandinavischen Fjorden
aufgewachsen war, das grüne Lichtzeichen vom Hauptmaste seines hohen
Schiffes. Da ließen die zweihundert ersten Fahrzeuge den sechzigsten
Meridian, die steilen Abhänge des Simburg Haad. Nach einer Stunde
verschwand der Gipfel des Rona auf Mainland. Das Surren und Schwirren
der letzten Vogelberge verklang. Hinter ihnen lagen Munkle Roon und
Toul, die zackigen Inseln Yell Haskosea Samphyra Fellar Uya Umst.

Eingehüllt waren sie, schwebend auf zweihundert Schiffen, Boden aus Holz
und Stahl, in das sanfte Sausen des Windes. Plätschern klang herauf.
Murren aus der Ferne.

Eingehüllt, eingerundet waren sie. Oben schoben sich dünne flattrige
Wolkenbänke. Die weiße mit Blitzen im Wasserspiegel aufgefangene Sonne.
Im Flinkern Glitzen Scheinen schwebten sie.

                   *       *       *       *       *

Sechzig Kilometer Sauerstoff-Stickstoffwellen, Meilen Wasserstoff
wirbelte der Erdball durch den schwarzen kraftdurchfluteten hauchfeinen
Äther. Der höchste Saum der gasigen Masse schlierte, verlor sich wie
Dunst einer Fackel. Kein Ohr hörte das Schlürfen Schleifen, das seidig
volle Wehen an dem fernen Saum. Geschüttelt wurde die Luft im Rollen und
Stürzen der Kugel, die sie mitschleppte. Lag gedreht an der Erde,
schmiegte sich gedrückt dem rasenden Körper an, wehte hinter ihm wie ein
aufgelöster Zopf.

Der Unband von Feuer, die einäschernde Hölle alles Kriechenden
Fliegenden Hüpfenden, die Sonne in abenteuerlicher Ferne durch den
eisigen Äther hin. Das weiße wallende Flammenmeer. Durch die Wolkenbänke
flimmerte es, wärmte. Das feuertosende weiße Flammenchaos stand wie eine
brennende Stadt in der Ferne still, Brand, der nicht ausbrannte. Die
Erde zog um das Chaos herum. Gasmassen, sternenweit dunstend, strahlend,
warf die kochende Sonne von sich, zog sie wieder an. Eine klirrende
Geistererscheinung stand sie, in der Finsternis, die von ihr abwich,
geballt andrang. Metalle brannten in ihrem Leib, metallene Wolken fielen
auf sie zurück, Zink Eisen Nickel Kobalt, die sich durch die Gesteine
der erstarrten Erde zogen, Barium Natrium. In Schlacken fielen sie
zurück. Fackeln brunsteten auf; im Wirbel wurden sie aus dem Flammenmeer
herausgekehlt, gestoßen in den vibrierenden Äther, glühender
Wasserstoff. Siebzigtausend Meilen erhob er sich. Der Sonnenleib
spritzte nicht, wenn die Güsse in ihn zurückschossen, wiederschmelzend
aufglühend. Wie ein Ährenfeld unter dem Regen beulten sich die
empfangenden stehenden Flammen, strafften sich. Kein Donnern ging von
den Urgewalten aus. Kein Bergsturz und Orkan bringt solch Geräusch
hervor wie die lebend hinziehende Sonne. Das rasende Flammenmeer,
gleichmäßig brodelnd und siedend, explodierend und Garben werfend, – bei
seiner Annäherung würden die Planeten veraschen und verdunsten, – mit
seinem Tönen verschlang es jedes ferne und nahe Geräusch. Dies
millionenfach gesteigerte Zischen und Zirpen von Zikaden. Dieses
Zwitschern der Metalle. Dazwischen das nie verhallende Klatschen
Trommelwirbeln, das sich rasselnd über erdweite Glutmassen fortpflanzte
und hinter allem Gebrüll lagerte. Strontium, das hell purpurrote,
Magnesium, gequetscht unter den schweren Gebirgen der Erde, Gluthauch
neben Gluthauch, frei blühend und lodernd die Urwesen Helium Mangan
Kalzium, leuchtend weiß blendend in Lichtern, für die keine Augen sind,
unter denen die Farben auslöschen. Strahlend gasend das hunderttönig
zwitschernde Feuermeer, die fackelschleudernde Urwelt im Äther.

Fern von den Wallungen Stürzen Strömungen Bränden der Sonne die kleine
graue Erde. Wie ein Wiesel über das Feld lief sie. Von Dünsten, nassen
Dämpfen war sie umgittert, von einer Schlackenkruste ihre Glut umfaßt,
von Meeren Flüssen Eis belagert. Keine Wolken der glühenden Metalle
prasselten, von ihrer Wildheit geprescht, auf sie nieder. So wie ein
Glaser den Kitt mit Gewalt auf das Holz und das Glas drückt und sie
halten fest, wie eine Faust den Schnee ballt, zwischen gekrümmten
Fingern und Handteller umschließt, zu einem harten Ball preßt, der
Schnee flattert nicht mehr: so war die Erde verglühend, sich hilflos
abstrahlend von dem Äthereis angefaßt, gab knirschend nach. Im Innern
das Sieden und Glühen; der Leib unter Aschen verfestigt.

Dies ist die Erde. Die leuchtende brennende Urwelt geht über ihr auf und
unter. Ein welliger Mantel aus Gesteinen bedeckt ihren Rumpf. Tausend
Meter tief und tausend hoch geht das Gestein. Kontinente und Inseln
strecken Gebirge Ebenen Steppen Wüsten aus. Das Wasser bricht in Quellen
aus den Bergen. Meere überfluten die Talmulden. Schwer schwimmen Gebirge
Gneis Schiefer auf der schmelzflüssigen glühheißen Masse, die von Zeit
zu Zeit die steinerne Kruste durchbricht, sie mit Stichflammen erweicht
und hin und her wiegt.

Breit besetzt der Leib Asiens die nördliche Hälfte der Erde, mit
einhundertvierundsechzig Längengraden und siebenundachtzig
Breitengraden. Mit Gondwana, Angara, der Scholle Chinas hat es sich über
den Spiegel der großen Ozeane erhoben, seine Seen ließ es versickern.
Sein Rückgrat ist der Altai, das Massiv des Himalaya vom Chingan nach
Pamir, vom Karakorum bis Bhutan und zur Krümmung des Dihung. Die
kaspische und uralische Senkung hat das Meer verlassen; sie saugt den
Ural und die Wolga an, schlammt sich mit ihnen voll. Gletscher bedecken
den Kuenlun. Umrandet von den Schneegebirgen sind die östlichen
Sandwüsten, das Tibet der Jaks, die grünen Hügel und Lößflächen Chinas,
mandschurische Wiesen. Das steile Gebirge stürzt nach Süden zu den
sumpffeuchten Ebenen Hindostans ab, zum warmen bengalischen Boden.
Blühende Gestade Indiens, Reisfluren, Felder des Zuckerrohres, Sago und
Kokospalmen. Die Sumpfwaldungen, der Sunderban, das Tarai durchlaufen
von den bunten Königstigern, langohrigen Elefanten, vierhändigen
Gibbons. Flüsse auf Flüsse nach Norden ins Eismeer durch die sibirischen
Grasflächen, morastige Tundren frierende Steppen. Bis zur Lena streift
der langhaarige Panther von Kaschgar.

Hängend am Massiv der Ostfeste das vielgliedrige kleine Europa. Die
jungen aufragenden Alpen, Horste der alten Gebirge in Thrazien Korsika
Spanien. Gesteinsdecken in die Höhe gepreßt, von Trümmern überwälzt.
Versunkenes Land im Süden; eingestürzt das Mittelmeer in das klaffende
Becken.

Von Regengüssen Sonnenhitze wird Afrika belagert. Neunundzwanzig
Millionen Quadratkilometer wächst der Boden hin, platt liegt die Tafel
des Landes. Reis Durra Kaffee Mais feurige Gewürze schießen aus der
Erde. Unverhüllt erheben sich die Massen des alten Granits und
Glimmerschiefers, zieht sich eine Sandsteindecke hin. Unter dem Brand
der Sonne zerfallen die Gesteine zu Schutt, zersetzen sich in Erde und
Lehm, den das Eisen rot färbt. Der Tanganjika- und Njassasee füllen die
Gruben des Hochlandes, Vulkanreihen besetzen die Ränder der Spalte. Zehn
große Seen speisen den Kongo Niger Sambesi. Savannenflächen treiben
ungeheure Hochgräser. Galeriewälder entlang den Ufern. Lemuriden und
Affen, das zierliche Zebra, Okapi in den Wäldern. Die baumartige Staude
der Banane treibt sechs Meter lange Blätter; scheidenartig umschließen
sich die mächtigen Blätter; dicht gedrängt hängen die großen
Beerenfrüchte herunter.

Vom Kap Murchison bis Kap Horn auf Feuerland die amerikanische
Westfeste. Eine hartgefaltete Gebirgsschwelle durchzieht den Kontinent
von der Südspitze bis zum Mackenziefluß, eine Flachlandmulde vom Eismeer
zum warmen Mexikanischen Golf. Mit fünf großen Seen vertieft sich das
nördliche Land. Die Ebene durchwallt nach Süden der starke Mississippi,
hinter sich her den Ohio von den Appalachen, den Missouri von den
Kordilleren ziehend. Ihre Falten hat die starre Erdhaut im Westen
aufgerollt; die Doppelkette der Gebirge begleitet wie eine Mauer im
Westen den Ozean. Urwälder umgeben den Amazonenstrom; erst heißt er
Tunguragua, dann Marañon. Die Erde gibt ihn aus dem Laurikochasee her;
zweihundert Flüsse, schwarz und weiß von Kalk- und Eisenflächen hat er
mitgenommen, bis er in den Ozean taucht.

In den Meeren haben sich die Urwesen verfestigt, Wasserstoff und
Sauerstoff. Sie überströmen den Ball, arktisches atlantisches
pazifisches Gewässer. Wasser, gleichmäßig hinfließendes Gebilde,
lastendes schwingendes Wesen, das spritzt dunstet, Wolken bildet, im
Schnee weht, zitterndes Wesen vor den Flachküsten, dröhnende schwarz
zottige Erscheinung der Orkane und Sturmfluten. Mit Salzen saugt es sich
voll, Chlornatrium Magnesium Kalk, macht sich schwer, färbt milchweiß
den Golf von Guinea, zimtfarben den Busen von Kalifornien, gelbbraun den
Indischen Ozean. Warme und kalte Ströme durchwallen die Ozeane, farbige
Bänder; Silbernebel erheben sich über ihnen, wo sie sich mischen.

Die Urwesen hauchen um den Erdball, brennen und fließen in seinem Rumpf,
überlasten ihn in festen und beweglichen Massen, sind Spannungen
Schwerkraft Hitze Licht, sind Schwefel Chrom Mangan Silizium Phosphor.
Sie sind Erde Sand. Sind stumme Kristalle, aufdrängende keimende Blumen,
Flechten über dem Boden, Blütenpflanzen, schwimmende Fische, Vögel die
pfeifen und sich locken, anschleichende Raubtiere, hämmernde und
kämpfende Menschen, Schneckengehäuse an Seeufern, Bakterien
Schlingpflanzen erstorbene Bäume, faulende Wurzeln, Würmer, eierlegende
Käfer.

Vom sechzigsten Meridian brachen die zweihundert Schiffe Kylins auf,
ließen die Shetlandsinseln hinter sich, schwebten über dem Ozean. Sie
fuhren in dem warmen Driftstreifen, der Norwegen bespülte, das Eis
Finnmarkens schmolz. Unter ihnen zog sich lang durch den Atlantik ein
unterseeischer Bergrücken, zog nach Süden, wurde breit bei den Inseln
Ascension und Sankt Helena, zweigte eine Kette nach Amerika und Afrika
ab. Schweigendes Meer lag über den Tälern und Bergen, ins Schwarze waren
sie versenkt. Der Ozean fiel unter den Schiffen dreitausend Meter tief
ab. Über dem sausenden Wasser, im Wind schwirrten die Vögel neben den
Riesenschiffen, die tierischen Geschlechter, mit Augen Knochen Därmen
wie die Menschen. Die Sturmschwalben, die auf zappelnde Fische stießen,
Silbermöwen mit gezackten Schwänzen, spitzen Flügeln. Das Wasser, das
sich unter den schwebenden Riesenschiffen hob, die schwarzgrüne glasige
zerlaufene Masse, quoll von Tieren und Pflanzen, folgte den Schiffen mit
jedem Meter. Schleimklümpchen der Urtiere klebten an den Wänden der
Schiffe, hingen an den Schrauben, befuhren mit ihnen das Meer,
fadenförmige Füßchen ausstreckend. Wie Schmetterlinge stiegen
Ruderschnecken aus der nassen Finsternis am Abend auf, die unermeßlichen
Scharen der Klio, sanken mit dem Tageslicht herab. Am Meeresboden
lauerten und lagen fest mit Saugern die Scheibenbäuche. Zarte Seewalzen,
Schwänze wuchsen auf tiefen Riffen, neben Klipprosen. Skelette
hingesunkener Tiere kleideten den Meeresboden mit Schlamm aus;
kleinäugige Borstenwürmer, schlanke Glyzeriden krochen darauf herum
zwischen Tangbüscheln. An der beschienenen Oberfläche zogen
Rippenquallen ihren Weg, stumme gefräßige Geschöpfe, Siphonophoren, die
wie Blumengirlanden leuchteten, Städte von glasartig durchsichtigen
unzähligen Tieren, an einen Faden gereiht, der sie nährte. Lachse
schossen unter dem Kiel der Schiffe herum, auf der Haut, an den Kiemen
feine Krebse, die sich anklammerten. Das Geschwader übersetzte die
unterseeische Schwelle, den stillen Thomsenrücken. Es nahm den zehnten
östlichen Meridian.

                   *       *       *       *       *

Island war eine Insel unter dem fünfundsechzigsten Breitengrad an dem
fünfzehnten östlicher Länge; der Polarkreis schnitt ihre nördlichen
Vorsprünge. Zwei Inseln hatten Laven aus Vulkanen werfend diese bergige
Platte geschaffen, die ihre zerrissenen Wände, Scheren eines
Riesenkrebses, in das neblige brandende Meer streckte. Die Menschen auf
den Schiffen näherten sich ihr. Sie hatten vor, die Vulkane der Insel zu
zerreißen, ihr Feuer über Grönland zu tragen.

Vergletschert lag der Süden der Insel. Hekla und Skapeterjökul hießen
die Berge, die Schwefeldämpfe aus ihren Spalten von sich gaben. Der
Mückensee dunstete im Norden mit vierunddreißig schwarzen Lavainseln; an
ihm warfen aus weiten Bassins der Krabla und Leirhukr tiefblaue und
honiggelbe Massen. Haushoch schossen die, prasselten in den Krater
zurück, wälzten sich, gasten über die Abhänge. Meilenweit war die Wüste
der Insel; Lavafelder, runzlig erstarrte Steinströme, nackte braune
Blöcke, zerborstene Felsen. Verbrannte tote Ebene. In den Klüften der
Laven standen spiegelnde Wasser. Springquellen warfen heiße
Wassermassen. Am südlichen Rand der Wüste standen der Geysir und
Strocker; in ihren weiten Wannen trugen sie helles grünes Wasser, das
pulsierte. Von Zeit zu Zeit tosten die Wannen. Blasenwerfend richtete
sich das Wasser auf, wölbte sich über den Rand der Krater, warf sich
schluchzend zurück.

Als die Kolonne des ruhigen blonden Schweden Kylin an der Spitze des
Eyjafjords landete und die Insel überflog, – Wirbelwinde gingen über das
Land, die brennenden Berge, die narbigen Felder, – fanden sie
Menschenansiedlungen in der Nähe der Küste. Nahe dem Landungsplatz war
eine Siedlung; Schafe und kleine Rinder wanderten auf Hügeln. Man mußte,
was man vorhatte, ohne sie verrichten. Es war vorauszusehen, daß sie der
Expedition feindlich gegenüberstanden. Kylin und seine Begleiter
umschwärmten den Krabla am Mückensee. Er war tätig; auf Meilen dröhnte
die Insel unter den Schlägen, mit denen das heiße Magma den felsigen
Untergrund durchbrach. Die Beben rollten über die Insel. An toten
Bergwänden sahen die hochkreisenden Flieger plötzlich Schlünde und lange
schwarze Kluftreihen sich auftun. Oft mußten sie sich senken, von dünnen
Schwaden eingewickelt, blitzrasch aufzucken unter dem erstickenden
Andrang der Schwefelgase. Mit Wonne umflogen sie das stampfende gähnende
Untier, das sich da unter ihnen am See hingesetzt hatte, das Land
aufwühlte, die Oberfläche des Wassers wiehernd prustend zum Schäumen
brachte. In diesen Schlünden wogte die unermeßliche Glut, nach der sie
begehrten, die sie herausschaffen mußten. Um sie über Grönland zu
werfen, auf den weißen bergetiefen Eispanzer, der trübe anlaufen dampfen
zerreißen würde, die Gletscher vom Kap Grival, der Kangardlutsuak, die
Aggasinsel. Island brannte. Es mußte stärker brennen. Eine
wolkenschleudernde donnerlohende Feueresse war für sie bereitet.

Wie Kylin östlich drehend in abendlichem Dunkel sich der Gegend des
Landungsplatzes näherte, flammten und erloschen an der Küste kleine wie
wimmernde Warnungszeichen. Zweieinehalbe Stunde sah Kylin mit seinen
Gefährten, unruhig fliegend, auf einer Schutthalde landend, wieder
hochjagend, die zitternden Signale aus der Nacht. Dann erloschen sie. In
langer Kette, langsam, sehr hoch fliegend näherten sich die Kundschafter
rauschend den schwarz im Mondlicht ragenden Klippen des Fjords. Die
Wellen murrten herauf. Bei den schimmernden Zelthäusern des
Landungsplatzes, auf einer sanft geneigten Wiese faßten sie Fuß. Sie
liefen in der Helligkeit bergab. Stürzten über weiche Körper. Wie sie
sich bückten zugriffen, die Leiber drehten, blickten sie auf dicke
unbewegliche fremde Gesichter. Die Zähne waren zum Lachen entblößt, die
Zungenspitze vorgestreckt. Losgelassen fielen die Körper zurück, rollten
auf den Rücken, die andere Schulter. Eine Gestalt löste sich von einem
Zelt, lief auf sie zu, führte sie abwärts. Die Eingeborenen des nahen
Dorfes waren zudringlich geworden, hatten nach den Absichten der
Expedition gefragt, hatten vier Seefahrer weggeführt als Geiseln, daß
nichts geschehe und die Fremden rasch wieder abführen. Da hätten die
Seeleute zum Schein die Schiffe bestiegen, die Geiseln zurückgenommen
und bei Einbruch der Dunkelheit mit dem balearischen Licht die Küste
abgetastet. Das war das Licht, das durch die Haut der Menschen drang,
sie wie eine Schellackmasse umgab und abschloß. Von ungeheurem Hunger
nach Sauerstoff wurde das Blut erfüllt. Ins Zittern gerieten die
Menschen, ihr Herz stürmte, die Atmung vermochte nicht zu folgen. Sich
selbst verzehrend, während das Blut aus den Gefäßen trat, hellrot,
rosarot aus Mund und Nase, stürzten die Menschen hin in die Blutlachen,
die noch am Boden quirlten, Blasen warfen und nicht gerinnen wollten. Am
Morgen nach dieser Nacht warf man die fünfhundert Leichen, dazu Kadaver
der Rinder und Schafe in den plätschernden Fjord. Finster saß der blonde
Kylin vor seinem Zelthaus, den Blick auf den purpurnen Boden, hörte das
endlose Traben der Leute, die immer wieder Körper vorbeischleppten,
jetzt Säuglinge und Kinder aus dem Dorf, die sie von einer Klippe im
Schwung in das aufspritzende Wasser sausen ließen. Als ein Windstoß ihm
spitzen Sand ins Gesicht warf, den flachen Hut seitlich hinlegte, stand
Kylin auf, rief Begleitung, schlenderte seewärts. Von den Schiffen
stiegen neue Menschen herauf. Kylin lief in Zorn und Widerwillen. Der
starke Prouvas fing ihn bei den Schultern auf.

„Kylin“ brüllte der lustige Mann, „das ist ein Tag. Ihr seid noch am
Leben. Wir glaubten, Ihr seid die ersten, die über den Feuertopf
stolpern werden. Noch vor dem schönen Grönland.“ „Prouvas, ich bin nicht
lustig.“ „Es scheint. Wärest uns auch beinah in das Licht geflogen.“ Ein
noch fetterer ganz in schwarzes Leder gehüllter Mann umarmte Kylin:
„Huah. Wind auf Island. Der Boden wackelt erbärmlich. Auf den Schiffen
ist es lustiger. Wir freuen uns, daß du lebst.“ Kylin konnte nicht vom
Boden aufsehen: „Wie ist das gekommen, Prouvas. Mit dem Licht. Wer hat
befohlen, das Licht anzuwenden.“ Prouvas trat erstaunt zurück: „Das
Licht? Hat es nicht gewirkt? Sie schleppen schon den ganzen Morgen. Komm
rüber.“ Der im schwarzen Leder: „Keine Maus ist davon. Kylin scheint
eine kleine Ladung abbekommen zu haben.“ „Ich bin nicht im Bereich des
Lichts gewesen, Prouvas und Wollaston. Es sind sehr viele umgekommen.
Das ganze Dorf.“ „Allesamt. Tiere mit. Das Licht hat keine Augen, sucht
nicht aus.“ Kylin reckte sich, legte beide Arme über das Gesicht,
schüttelte sich, spie. Leise gab er von sich: „Pfui. Es ist gut.“ Die
beiden anderen schmetterten ihr langes Lachen heraus: „Nun ja, Kylin. Es
ist gut.“ „Es war roh.“ Prouvas umfaßte den im Leder: „Da haben wir
Marduk den Zweiten. Gründe ein Königreich, mein Sohn, aber nimm die Arme
herunter.“

Der ließ sie sinken: „Erst kommt weg. Wieviel werden sie noch
herausschleppen.“ Prouvas: „Du hättest es ansehen sollen. Es war mit den
Scheinwerfern gut zu sehen. Eine Minute rannten sie, als wenn sie niesen
wollten. Dann setzten sie sich ganz ganz langsam, einer wie der andere.
Ich glaubte, sie weinten oder das Wasser lief ihnen aus den Augen. Und
dann waren sie tot.“ Wollaston: „Sind es fünfzig, die hin sind, sind es
fünfzig. Sind es hundert, sind es hundert. Sind sie tot, sind sie tot.
Dableiben konnten sie nicht.“ Blinzelnd Kylin aus seinen grünblauen
Augen: „Ich habe die Leitung.“ „Freut uns zu hören.“ „Ich habe die
Leitung.“ „Es freut uns.“ „Ich habe von Menschenausrottung nichts
gesagt.“ Brüllend Wollaston: „Haben wir es uns vorgenommen? Ich? Oder
Prouvas? Haben wir Menschen ausgerottet? Die Leute mußten weg. Sie
werden die letzten nicht sein. Wenn du schwach wirst, gib die Leitung
ab.“ Ruhig Kylin: „Was meinst du, Prouvas?“ „Nicht Wort für Wort wie
Wollaston. Aber ich habe die Lichtröhren bedient.“ Der im wattierten
Fliegeranzug öffnete die Hände: „Einen halben Tag. Vertretet mich.“

Gegen Abend flog Kylin an das draußen liegende Geschwader. Seine
Schwester, die mit der Expedition fuhr, hatte den Tobenden beruhigt, der
immer beteuerte, er ekle sich, hätte sich mit Vieh eingelassen; er
schließe sich den englischen Siedlern an, gehe zu Zimbo. Auf Stunden war
Kylin der Sinn der Expedition entschwunden. Er heulte, es sei Lüge, was
sie trieben. Beim ersten Schritt, den sie täten, sei es klar geworden.
Wie er vor seinem Flugzeug stand, faßte er sich fragend lächelnd an die
Stirn: „Schwester, sie müßten mich in Brüssel sehen. So müßten sie mich
sehen. Wie einem in den Knochen steckt, was Marduk und die andern sagen.
Treiben wir Unfug?“ Aber die Schwester umfaßte ihn, ihre Augen
funkelten: „Es ist vielleicht ein Unfug, Brüderlein. Aber auch noch
mehr. In manchen Augenblicken weißt du es auch. Nachher wirst du es
wieder wissen. Hörst du die Vulkane? Sieh sie an. Wir werden sie fassen.
Denk, Brüderlein, wir werden sie fassen.“ Sie schob ihn auf seinen Sitz,
griff nach dem Steuer, lachte: „Gönn mir die Freude zu steuern.“

Die Schiffe umfuhren Island in nordwestlicher Richtung. In der Höhe der
stoßenden Krabla und Leirhukr ankerten sie weit in See. Der Anblick
labte das Geschwader. Die Küste von Ingolfs-Höfdi bis herauf nach
Glettinge Nes strichen die Flieger ab. Ufer Inseln Hinterland waren frei
von Menschen, die Lavawüste südlich rauchüberschwemmt. Von den
Mutterschiffen jagten die Flieger auf, maskengeschützt, darunter
Dutzende Frauen, immer in Gefahr, von dem aufblasenden Feuer verbrannt
oder gesengt zu werden. Sie nahmen Bilder der furchtbaren Landschaft an
der wirbelnden See auf, durchsegelten mit ihren Metallflügeln die Lohe,
senkten sich in Pausen herab, schossen davon. Weiter südlich stellten
sie neue Schwefeldämpfe Kraterbildungen an Punkten des Mittellandes
fest. Springquellen stellten ihre Tätigkeit ein. Statt dessen rieselte
schmauchte Gas aus Rissen Klüften; dazu Rumoren, dumpfes hohles Rollen.
Kylins Expedition konnte ohne Furcht vor menschlicher Störung angreifen.
Es war sicher, der Vulkan stand über einem ungeheuren feurigen
Magmaherd. Man brauchte sich nicht drum zu bekümmern, ob die Herde
abgekapselt in der harten Erdrinde, in einer Höhle steckten, eine Blase
des großen schmelzflüssigen Magmas, oder ob das Erdmagma selbst, der
Nickelstahl des Erdleibs das ihn umkrustende, auf ihm schwimmende
Siliziummagnesium durchbrach. Man mußte darauf losstoßen.

Und die Erde kam ihnen entgegen; das Geschwür war im Begriff zu platzen.
Man verständigte sich mit den nachfolgenden Geschwadern. Unter dem
Brüllen des gähnenden Krabla, zischendem Aschenregen fand am Hunafjord
in einer Bucht eine Begegnung der Führer der Kolonnen statt. Kylin hielt
sich zurück. De Barros vom zweiten Geschwader wies in die Richtung des
Krabla: „Da hört euch das Ding an und meine Stimme. Können die beiden
gegeneinander aufkommen? Nein. Seht meinen Kopf an oder meine Hand und
den Krabla. Oha, der ist groß, der Krabla. Schluckt sechstausend, sechs
Millionen Menschen und wird davon nicht dicker. Wir wollen mit dem
Goliath reden. Er wird prahlen mit seinem Kopf, mit dem Wanst, wird
toben. Indianergeschrei. Eins in die Flanken und er ist hin. Bleibt
nichts von ihm wie ein Schutthaufen.“ Der biegsame Kylin, der lange
elastische oft finstere Hauptführer der Expedition, hatte sich wieder
gefunden. Er war ein stolzes klares Wesen. Er zog, auf den Rauch
schielend, die glatte kurze Oberlippe hoch: „Dies wird der Anfang sein.
Es ist gut, ja es ist gut, daß wir uns zusammengefunden haben. Schlimm,
so weit von den Kontinenten. Aber kein Schade. Wir werden vielleicht
selber – wie Vulkane uns über die schlafenden und blödsinnigen
Kontinente machen, samt ihrem Inhalt und ihrer Auflagerung.“ Und er
träumte: Besinnung, endlich, bei Island.

In der Breite von sechzig Kilometer Luftlinie nahmen die Arbeitsschiffe
Stellung an der Nordostküste der Insel. In den Tistillfjord fuhr eine
östliche Gruppe. Vor der Halbinsel Rifstangi angesichts des kahlen
Svalbardberges ankerten Kylins Mannschaftsschiffe. Bis zum Eyjafjord
unter den Schneestürzen des Rimar dehnte sich die westliche Gruppe. Der
Sturm peitschte unablässig das Meer. Die Schiffe waren Kolosse von der
Höhe eines Berges. Rückwärts und getrennt von ihnen schwankten flachere
runde kleinere: hier lagerten Maschinen Apparate Vorräte Erden
Sprengmaterialien Metalle; dies waren die technischen Beischiffe. Die
Geschwader entnahmen ihre Antriebskräfte den gewaltigen Kabeln, die die
Arbeitsschiffe selbst auf ihrem Weg hinter sich herzogen und von
Skandinavien über den Schelf des Festlandes, den Abgrund der Tiefsee,
die arktisch-schottische Bodenschwelle gespannt hatten. Die Kabel, in
Isolatoren gebettet, trugen von Strecke zu Strecke Entnahmewülste. Der
Draht, der von oben nach ihm suchte, das Kabel abtastete, in der
Flachsee von Booten geführt, hakte und haftete mit seinem Kopf in dem
Wulst fest. Wühler und Reiniger liefen dem Ladedraht vorauf, schoben die
Sandmassen vor dem Draht beiseite, glitten anhebend an dem Kabel
entlang. Ein Ladestrom vom Ort eröffnete den Wulst. Und schon schwollen
die Energien der fernen Länder, die Gewalt der Katarakte in dem
erzitternden Kabel hoch, warfen sich über die aufschmetternden
Maschinen, tosten durch die Schiffe.

Nördlich vom schwarzen aschenbestreuten Myvatn, dem Mückensee, raste und
fauchte unsichtbar der Krabla. Und neben ihm Leirhukr. Jubelnd blickte
Prouvas von der Höhe des Svalbard über die Schnellen und Wirbel des
klippenversenkten Jakutsa zu dem Vulkan herüber. Zur selben Zeit lachte
zehn Meilen von ihm am Rimar, auf der Höhe des stummen staubbesäten
Myrkarrgletschers der breite Wollaston. Er trampelte auf dem Boden, bis
das Weiß des Schnees hervorkam. Stieß mit seinem Stock in den Schutt:
„Daß du herauskommst, Gletscher! Myrkarr, großer Myrkarr! Daß du uns
ansiehst. Es gibt ein Spektakel. Seitdem du auf den Beinen bist, hast du
so eins nicht gesehen. Der Krabla spuckt noch. Bald ist es kein Spucken
mehr. Er streckt die Zunge aus dem Hals. Hat sich ausgejagt.“ Er
erstickte fast im Qualm: „Bald sieht keiner was von euch, Krabla und
Leirhukr.“

Als das mittlere Geschwader zum Brückenbau schritt, hatte der Sturm
aufgehört, Windstille mit Regen war gekommen. Die Insel rollte wie
sonst. Der Qualm zog hoch nach Osten ab. Die Feuersäulen leuchteten
durch die Nacht. Sie schlugen Brücken von Axarfjord herauf zur Höhe des
Burfell, von der Spitze der Rimarhalbinsel über die Hügel weg auf den
Gipfel des Rimar, von der Rifstangihalbinsel am Tistillfjord auf den
Svalbard. Die Brücken stiegen schräg auf aus der Meeresbrandung, dann
schwangen sich die weiten lichten Fluchten der Viadukte ins Land, über
Bäche die von Bergen schäumten, über Geröllhalden Moore tote Laven,
durch die nebeldurchzogene regenverhangene kühle Luft zum hohen
Svalbard, zum großen Myrkarrgletscher, zum zackigen Rimargipfel.

Die Pfeiler und Widerlager rammten sie nicht in den Boden. Metallflieger
stiegen auf, ließen sich zu zwanzig dreißig auf den Klippen, an den
Abhängen nieder. Sie schlugen grob Schutt und Steine beiseite, wühlten
mit Spitzhacken und Hämmern, brannten flache Löcher in dem Felsen frei.
Da hinein legten sie die dünnen Platten, die, unscheinbare blaugrüne
leichte Scheiben handgroß viereckig, kleine Schilder, vor ihrem
Brustleder hingen. Die Scheiben schlossen sie zum Laden an den Zweig des
Kabeldrahtes an, den sie mit sich führten. Und schon, wenn es in den
Platten knackte, ließen sie sie los, auf das flache Loch fallen,
schwirrten davon. Die Platten, aufeinander gepreßte Blätter, glühten.
Das oberste geladene Blatt strahlte schmolz. Und wie sich seine Masse
mit der des zweiten Blattes mischte, stieg ihre Hitze. Die brünstig
ineinander brennenden ersten und zweiten rissen das starre dritte in den
Brand. Knisternd spaltete sich das, tropfte seitlich und an der
Bruchstelle, um plötzlich erweichend mit einem Schrei sich in das Feuer
zu geben, das weiß niedrig immer bläulich durchsichtiger wurde. Und wie
die pfeifenden keuchenden streng und starr sengenden saugenden sich rund
rollten, bog sich das letzte Blatt, streckte sich wie in einem Krampf,
schlug sich um, gezogen gespannt zu einem haarfeinen Glas, einer
schillernden Haut um die singenden drei. Die Kugel wuchs hoch, weiß,
blauweiß, hellblau, dehnte sich, dehnte sich. Schmelzend zersprang sie
und im Augenblick war jede Farbe aus dem armhohen Brand verschwunden.
War nichts da als ein strenger starrer befehlender Hauch, ein Röcheln.
Und schon war alles weggerutscht von der Felsplatte, abwärts gesunken in
den Fels hinein, metertief gestürzt. Sein Leben im Brand von sich gebend
verdampfte verstöhnte es in der Tiefe, während über ihm gallertig der
geschmolzene Fels auslief.

Die kreisenden Flieger stießen auf die schmelzenden wieder gerinnenden
Felsen herunter. Rammwagen fuhren an die gischenden Öffnungen, bohrten
hochausholend Pfeiler in die schmorende Masse, hielten sie, bis das
Zittern der Luft nachließ, der Felsbrei glasartig die Pfeilerfüße
umklammerte.

Pfeiler auf Pfeiler wurden über das Land im Gestein gegründet. Eine
Pfeilerreihe vom Lager Kylins überquerte den Jakutsa. Eine Reihe stieg
vom Axarfjord über den Burfell. Eine Reihe wuchs gewaltig vom Rimar her,
griff über den Myrkarrgletscher, stieß zum Skjalfanda; auf dem
qualmschweren Odadablachfeld machte sie halt. Es war ein breites
steingegossenes Wesen, das hier wuchs; Nachbarstück berührte
Nachbarstück. Über dem Fundament waren aufgepflanzt ringförmige
Trommelträger, die Rollenlager trugen. Von Strecke zu Strecke konnte das
bewegliche Tragwerk, eine Pfeilergruppe bedeckend, auf seinem Drehtisch
hereingeschwenkt herumgeworfen werden, das Fahrgut gerettet, die Pfeiler
entblößt werden. Mit mächtiger Lichtweite übersetzten die fliegenden
Brücken das Gebiet von dem tosenden Meer bis zum schwarzen Myvatn, dem
See. Unter ihnen lagen tief im Rauchschwall die gespaltenen graublauen
Gletscher, die Geröllebenen, Täler mit schmaler Sohle und felsig
abstürzender Lehne. Furchtlos rannten die Pfeiler vor gegen das speiende
Plateau der Vulkane.

Es war keine Woche um, da sausten die ersten Wagen auf Schienen, die sie
selbst um sich warfen, über die glatte Fahrbahntafel. Überrollt war der
Zug und unterrollt von dem bogenförmig langgespannten, hoch vor- und
zurückgedehnten Paar Schienen, die als langgezogenes Oval die
Wagenreihen zu Häupten und Füßen überrundeten. Zwei Ringe umsauste sie
der Zug, der die stählernen um sich drehte, immer neu überrannte, von
oben her zu seinen tretenden Füßen herabriß. So überdonnerten sie die
Brücken, blendende Lichter vor sich werfend, bei Tag und in der völligen
Finsternis des Rauchs und der Nacht, den magnetisch in die Brückentafel
eingetragenen Spuren folgend. Unter den frisch einsetzenden Böen wurden
aus den Schiffsbäuchen der drei Geschwader geschleppt, auf Wagen
geschoben und montiert die Maschinen, vor denen vergehen sollten der
Krabla, der gurgelnde Vulkan, und der Leirhukr, das dampfende
bergezerreißende gasende Unwesen.

Kylin hatte in die Maschinen neue Kräfte eingespannt. Er war aus Marduks
Schule. Wie Marduk die Bäume auftrieb, ihr Leben in furchtbarster Weise
reizte, so zu tosendem Wuchs und Überwuchs zwang, so hatte der
schwedische Schüler die Gesteine und Kristalle bewältigt. Er hatte das
Futter gefunden, mit dem man Gesteine speist. In hingerissenen Stunden
hatte er das Sprießen und Sichfügen der Kristalle geschaut. Das Wachsen
der Schneenadeln der Eisblumen auf der Glasscheibe aus dem hauchenden
Atem war sein erstes Wunder gewesen. Und wie er den langen großen
Marduk, den Botaniker, mit trockenem Samen Keimlingen langhaarigen
Wurzeln Reisern abgeschnittenen Laubblättern arbeiten sah, – unter dem
Anhauch der Nährgase und Reizlösungen streckten sich in den Stengeln die
Gewebsstränge, Siebe und Gefäße, die Vegetationskegel der blassen
Tannennadel trieben ihre Wülste aus, Zellhaut legte sich über Zellhaut,
– überfiel Kylin der Wunsch, auch mit seinen Steinen und Kristallen so
zu spielen. Es war etwas Üppiges Freches Niedriges in dem Wunsch, aber
es zog ihn dahin; das hitzig trübe Gefühl lag über ihm. Ja, er fühlte
sich, vor den Schwemmkästen und Heizröhren liegend, in die er seine
Kristalle eingespannt hatte, herausgefordert; sie gediehen nicht wie er
wollte; er mußte Herr werden. Mußte sie wie Tiere jagen können; ist ein
Stein mehr als ein Pferd? Hitze, wechselnde Lösungen, elektromagnetische
Kräfte verhängte er über sie. Bis hier und da etwas anfing in ihnen
biegsam zu werden. Dann tastete er sie mit Strahlen ab, die von ihnen
abprallten, die sie durchließen, sie kalt ließen, zum Erhitzen brachten.
Er erkannte, daß diese Steine empfindlich waren und sich auswählen
ließen von Hitze Druck und Strahlen wie Tierrassen von einem Blutserum.
Es kam nicht auf die zufällige Kristallgestalt an, sondern auf die
kleinsten Teile, auf die Urwesen, die sich in den Kristallen gefesselt
hatten, auf die Art, wie sie sich verschränkt, gelagert, gebunden
hatten. So konnte man sie auftreiben, ihre Verwandlung durchspüren, wie
man wollte.

Auf den rundlaufenden, brummend anziehenden, höher und höher singenden
Schienen jagten an einem Nebelmorgen die schlanken Maschinen über die
weitgespannten Brücken. Kaum zwei Meter hoch waren die Maschinen, flach
und lang wie die Wagen, auf denen sie montiert waren. Sie hatten am Kopf
Durchbohrungen, Augenlöcher, die sich mit dem Kopf zur Seite, nach oben
und unten wenden konnten. An fünfzig erwählte Männer und Frauen lagen an
jeder Maschine. Die Luft war von schwirrenden Fliegern erfüllt, die
weder der Aschenregen noch die Furcht vor dem Kommenden zurückhielt. Der
Jökulsafluß mit seinen Schnellen brauste in seinem sandigen Bett.
Weither von einem Laufgletscher kam er, schmutziggrau wälzte er sein
Wasser an dem tobenden Krabla vorüber. Wenn sich der Rauch vom Myvatn,
dem See, hob, wurde die Linie des dunklen Lachsflusses sichtbar, der wie
ein gepeitschter schreiender geifernder Dämon aus dem See fuhr,
hochgebäumt, von Lavabomben überschüttet. Er überrannte zertrat sie,
ließ sie seitwärts fallen. Man hörte bis zur Höhe das kehlige Röcheln
des rüttelnden Wassers, sah die ingrimmige Gischt über die Blöcke
spritzen. Schwarz und still lagen hinter ihnen die Spitzen der
Fiski-Ebene. Die Berge ruhten um die Vulkane.

Da kam, während sie eben noch ruhten, ein sonderbares Leben über sie.
Als zuckten sie leicht mit den Wimpern, schlossen die Lider, zuckten
wieder mit den Wimpern. Der Krabla begann. Und bald fing der Leirhukr
an. Ihre Ostwand Nordwand Westwand verschob sich, ihre Lasten ruckten,
ruckten höher, als jucke sie etwas. Ihre schweren Wände, den zierlichen
Brückenpfeilern zugewandt, wurden überrieselt von einem Steinsturz, der
nicht nachließ, der die Wände mit einem Nebel umhüllte. Der Nebel nahm
zu. Und während er sich im Kreis ausdehnte, von den Bergen wegwuchs,
hörten sie auf den Brücken ein Krachen, das über alles irdische Ausmaß
war. Ein unendliches Schurren Grollen Dröhnen, das mit seinem
gleichmäßigen Anwachsen das Schnattern und Prasseln des Vulkans
überscholl überstieg, so überstieg, daß niemand wußte, wie es zum Himmel
aufwuchs, aus welcher Richtung es kam. Es brummte und brüllte aus Süden
Westen Osten Norden, und doch brüllte es nur von den Wänden der Vulkane,
die hinter den Steinstürzen langsam in die Höhe stiegen, als höben sie
sich, von einem Beben gehoben, aus dem weichen Boden empor. So wuchsen
die Wände, wie wenn einer langsam den Finger hebt. Wie ein Schlafender
sich aufrichtet, langsam den Rücken gerade biegt, die Arme aufstemmt,
den Blick noch nach unten, träumend; die Zunge drückt er an den Gaumen
und schmatzt.

Unter den Blicken von Kylins Maschinen wuchsen sie, von ihnen gesteigert
gebläht. Hinter den wallenden immer tieferen Steinschleiern, an den
hebenden Wänden stürzten die toten Lavablöcke, die die Blicke nicht
anfaßten, rannen abgeschüttet die gefalteten krustigen Lavaströme,
zerbrechend, wie Schiefer polternd, knirschend, sich an sich selbst
zerreibend. Die Wände dehnten sich hoch und hoben sich von einem
unsichtbaren Kern ab wie Blasen.

Der Krabla, der träge, bekam Beine. Sein Steinmantel überrieselte schon
den schmutzigen Jakutse, der von dem Askjagletscher abschmolz und
heranfloß. Die Steine und Laven, die schwarzen porösen Auswürflinge
tanzten noch eben über die Wasserfläche, wühlten die sprühende Fläche
auf, und schon hatten sie den Fluß in Kilometerbreite überlaufen, ihn
bedeckt, schon wulsteten die Steinmassen aus dem Flutendrang empor, war
der Fluß verschüttet, verbarrikadiert, vom Meer abgeschnitten. Im Norden
und Westen umging der Steinschleier die Bergwände. Westlich des Krabla
rauchten die Wände des Leirhukr. Die Löcher in den alten Schuttfeldern
stopfte der Steinregen aus, drückte und trümmerte nieder die mannshohen
Tuffhöhlen.

Da knickte die Spitze des Krabla, stürzte ab. Keinen Laut hörte man
davon unter dem gleichmäßigen Brüllen und Rollen der sich dehnenden
Berge. Und zugleich erlosch der steile Feuerstrahl des Krabla. Schwarzer
Qualm wirbelte an seiner Stelle, der sich heftiger und heftiger ballte,
in rauschenden Stößen hochschnellte, meilenhoch den erstickten Krabla
überlagerte. Da waren zugleich die Wände des Vulkans, die wachsenden,
immer höher sich hebenden, von neuem abstürzenden, hinter den
Steinschleiern schattenschwarz in ein Wiegen und Rollen gekommen, wie
ein Laken, an das der Wind schlägt. Diese Berge wandernd waren keine
Berge mehr. Wuchsen in die Höhe, rückten in das Land, über die
splitternden Lavafelder, an die Ufer des Myvatn. Dampften und flammten.
Flämmchen, bläulich und grün, erschienen zauberhaft verstreut auf ihnen.
Das blitzte wie Bergmannslampen auf, erlosch, blitzte wieder. Darunter
wogte rollte die Wand des Vulkans, des wolkenhohen Riesenschiffs, das in
das schwarze Land einbrach. Häufiger, massenhaft, während die Berge sich
dehnten, züngelten die Flämmchen; oben neigte sich von neuem die
aufgetriebene aufgetürmte Bergmasse, stürzte in den Krater, den
qualmbrodelnden, lautlos ab.

Urplötzlich mischte sich in das ungeheure Dröhnen und Murren ein
tiefurtiefes abgrundtiefes bodenentstandenes Schnauben Hauchen. Ein
Schmauchen Blasen wie aus einem Kessel. Langsam ließ es nach, lähmend
schwoll es an. Dabei flammten ununterbrochen die grünblauen Lichter auf
den schreitenden Bergwänden. Gelbe Flammen brachen zwischen den grünen
hervor, zuckten stachen geradeaus, drehten sich um sich selbst.
Ungeheuer schwarz wirbelte der Rauch über den verschütteten Vulkanen.

Da Riß Schlag Schlag Knall.

Zerschleudert die Bergmasse, zerstäubt Krabla und Leirhukr.

Glühendes erdweites Auflohen, feuriges Anblaffen des Himmels.

Fliegende Basalt- und Granitblöcke, auf- und abschießende Lavabomben.
Unter Tosen Absinken der Bergmassen.

Es war niemand mehr von den Menschen in der Nähe. Die Züge
zurückgerasselt, die Brücken abgeschwenkt. Der Krabla und Leirhukr waren
noch eben zwei Vulkane; der Erdboden zwischen ihnen war verschwunden.
Ein Feuersee lag zutage. Ein Spalt war in der Erdhaut. Der Feuersee lief
in den Myvatn, ihn auszudörren. Aus dem Riß der Erde ergossen sich
Glutströme, geschmolzenes Gestein aus dem Erdinnern, dazu der brennende
Leib der zerrissenen Vulkane. Brüllend nahmen die Flammenströme ihren
Weg ins Land. Im Süden standen noch schwankende angestrahlte Wände der
Vulkane, zerklüftet verstümmelt. Sie bröckelten stürzten über, legten
sich in das heiße saugende Bett. Nach Süden überrannte der Feuerstrom
das Land bis zum Fuß des mächtigen Blaffjal. In den schwarzen Myvatn
wälzte sich der Feuerstrom; drang in das Wasser bis auf die Tiefe des
Sees, die er entlang kroch, ohne zu erlöschen. Das Wasser faßte er mit
seinen Zähnen an, verschluckte es. Es siedete und verdampfte auf seinem
Rücken. Er sprang am Boden des Sees herum. Zerschleuderte zerfaserte
zerpaffte sengte, was ihm in den Weg kam. Blutrot sein langer
Schlangenleib. Er raste durch die ganze Seenbreite an das südliche Ufer.

Während an dem verfinsterten Himmel der Glutschein sich ausbreitete,
weißer und weißer wurde, sammelten sich die Führer auf dem Schiffe De
Barros’ an der Nordküste im Axarfjord. De Barros grunzte vor Freude,
umarmte Kylin, den blonden schweigenden: „Kylin, die Welt wird von dir
reden. Die Erde redet schon von dir. Hör diesen Dialekt. Bist du noch
traurig über die Weiblein und Kindlein?“ Das harte glatte Gesicht des
Schweden: „Ich bin nicht traurig, De Barros.“ De Barros tanzte mit dem
dicken Prouvas: „Kylin, was ist mehr: ein Mensch oder ein Berg? Ein
Mensch oder ein Vulkan? Ist ein Vulkan nichts? Wir klagen dich an des
Mordes! Haha! Des Mordes an zwei Vulkanen. Alsdann an einem niedlichen
schwarzen See, ferner an einem ausgewachsenen Fluß.“

„Laß das, De Barros.“ „Ich bin für Ordnung und Gerechtigkeit. Und
wieviel Tiere hast du geröstet erstickt erdrückt verstümmelt und läßt
sie unbeerdigt und bringst ihnen keine Hilfe. Da sind die Spinnen, die
in den Bergritzen saßen, eine halbe Million an der Zahl.
Sechsunddreißigtausend junge und erwachsene Fliegen, nebst ihrer noch
lebendigen Vor- und Nachkommenschaft. Familien, Mütter. Hingemordet,
erloschen. Wie konntest du das, wer konnte das! Und in den Flüssen die
Lachse, die Mücken auf dem See, und der Farn, Moos, das Gras auf dem
Boden: vorbei. Ruchlosigkeit, Ruchlosigkeit. Haha! Kylin, vor dem Gott
der Mücken wirst du einst erscheinen, vor dem Gott der Lachse der
Fliegen der Spinnen.“ „Ich lach’ ja gar nicht, De Barros“, Kylins
Schwester blickte glückselig auf den flammenden Himmel, nach rückwärts
sich überbiegend. Sie lachte, ohne Kylin anzusehen, stolz: „Ja, was ist
mehr, ein Vulkan oder ein Mensch?“ „Ein Vulkan.“

Den Tag über quollen die weißen heißen Massen aus dem Leib der Erde in
Bächen und überschwappenden Katarakten. In wütendem Rasseln übergossen
sie die alten starren Lavafelder am Skalfandafluß. Die kurze fauchende
Nacht verging. Das fahle Sonnenlicht war wieder am Rand der schwarzen
und braunroten Wolken. Durch die rote und schwarze Finsternis der Insel
schlugen die brennenden Aschen, rieselten durch die heiße schwefel- und
ammoniakgeschwängerte Luft. In den Eyjafjord versteckten sich die
menschlichen Angreifer. Von den Felswänden begannen Lawinen zu rutschen,
das Meer aufzupeitschen. In die Luft mit Masken aufsteigend warfen die
Angreifer Böen vor sich, unter sich gegen die verstümmelte heulende
Erde. Weggerissen wurden die trägen Rauchwolken vom Boden; sie sahen und
maßen die Weite der nackten Feuerschlote unten, der zackigen
Riesenschlünde, die senkrecht in die Tiefe des geborstenen Bodens
führten.

Die Insel zitterte, schüttelte sich angstvoll, gepeinigt. Zwischen dem
ausgedörrten Myvatn und dem atemlos hintosenden von Schmelzwasser
überladenen Skalfanda tat sich, während sie flogen, plötzlich ein
meilenlanger, das alte Seebett durchquerender Spalt auf, neben dem
niedrige Kegel in Reihen hochstiegen, wie von einer Faust aufgetrieben.
Braunen Schlamm und Dampf keuchten sie. Das Wogen Stoßen des Bodens ließ
nicht nach. Knarren und Knistern rollte die Spaltenränder entlang. Sie
sanken wie schmollende Lippen ein. Die Kegel gaben minutenlang keinen
Atem von sich. Und während die Spalte sich wurmartig warf, wuchs
geräuschlos an ihr ein Kegel auf, breit, breiter, nahm an seinen
steigenden Wänden die anderen mit, überstieg mit seinem Fuß die
ausgefüllte Spalte. Das Land zog der unaufhörlich getriebene Kegel
rechts vom Ufer des Salmflusses mit. Und hundert Meter, tausend Meter
ansteigend, schwefeldampfumhellt, zerriß die Spitze des neuen Vulkans,
wie ein Kanonenrohr zerreißt. Der Himmel heulte, gelb und schwarz, mit
einem viertelstundenlangen Schrei, von Laven- und Feuerauswurf in
mächtigen senkrechten Strahlen angespritzt. Der Salmfluß verdampfte in
den Lavaströmen, wie der Jökulsa östlich vom Myvatn verdampfte. Der
gewaltige Skalfandafluß, von den ewigen Gletschern des Trölladyngja
genährt, warf seine breiten eisigen Massen gegen die neuen Feuerläufe:
auflohte der Strom zu weißem Dampf. Das Feuer lief sein Bett entlang;
sie fuhren dem gewaltigen Strom in den Rachen und machten ihn hin. Er
staute sich, vom Meer abgesperrt, nicht auf zu einem See. Als Luft jagte
er in die Höhe; die unauslöschliche Hitze trieb ihn, er mochte stürzen
wie er wollte, kilometerhoch über sich; der eisige Sturm oben trug ihn
nach Westen an die ungeheure See.

Island war verschwunden vom Jökulsa bis zum Skalfanda. Vor den beiden
tobsüchtig anzüngelnden Strömen aber war das heiße Erdinnere
hochgestiegen. Hatte wie ein Riese erst einen Fuß auf die Treppe
gesetzt; die tastende Hand war sichtbar, er war im Begriff höher zu
steigen, durch die Luke zu treten, sich sprengend nach allen Seiten
Platz zu machen.

Noch war nicht ein Tag vergangen, seit die kleinen fleischernen
Angreifer die Berge Krabla und Leirhukr zusammengestürzt hatten. Da
lohte Island auf Meilen im Geviert aus zwei strahlenden Riesenbecken,
östlich und westlich des Skalfanda.

                   *       *       *       *       *

Das Odadahraun, das Lavafeld der Missetaten, lag zwischen den
strahlenden Becken. Es war hundert Quadratmeilen groß, zog sich im Süden
des schwarzen Myvatn zwischen dem Skalfanda und Jökulsa hin.
Kohlschwarze Lava war sein Boden. Schwarzer vulkanischer Sand überflog
ihn. Die Brandschlacken waren wie Eisschollen übereinander verschoben.
Stumm standen in seinem Süden die Krater des Dyngjafjölls und das weite
Gebirgstal Askja mit einem dunkelgrünen See. Die Krater des Dyngjafjölls
murrten schon längst; das Tal Askja hatte seinen See verschluckt. Dafür
war Feuer aus seinem Boden getreten, der Schein erlosch manchmal, in das
wüste Odadahraun zischten dünne Aschen herunter.

Die Geschwader verließen die Nordküste, gingen von Osten die Vulkane des
Odadahraun an, in das die Feuerströme der geborstenen Krabla und
Leirhukr sich entleerten. Der Vopnafjord schnitt tief ins Land; aus dem
Vopnafjord warfen sich die ersten Brückenreihen vor. Die Brücken hatten
einen ungeheuren Weg zu durchlaufen. Von Süden kamen andere hervor, aus
dem Mjosifjord, aus dem Reidarfjord. Die Menschen drangen, während die
Insel unter dem Schlagen der Vulkane erzitterte, über die Gletscher der
Ostküste, deren Höhen von Aschen bestreut waren. Vulkan neben Vulkan zog
sich in nördlich-nordöstlicher Richtung nach dem lebenden Lavafeld der
Missetaten. Erwacht waren der große Dyngja Herdubreid Tögl. Der große
Dyngja hatte einen Krater von sechzehnhundert Meter im Durchmesser, den
sein eigenes Geröll verstopfte. Er brannte aus einem Schlot in der
Mitte. Freistehend mit steilen dunklen Wänden der breitschultrige
Herdubreid. Mit einem Schneedach war der Bergriese belegt; Flüsse
rannten daraus hervor. Der uralte Skjaldbreidur; sein Krater
schachtelförmig, maß zweihundert Fuß im Durchmesser; er war seit einem
Erdzeitalter erloschen; Eis hatte sich über ihn gelegt, von dem waren
Wasserfluten zu Tal gefahren. Der Berg schnob und gurgelte. Er hatte die
Lava hergegeben, aus dem das schwarze gewaltige unheimliche Odadahraun
geschaffen war. Er zischte, aus Rissen seiner östlichen Wände kamen
lange Rauchfäden. Er rollte und stieß.

Die Angriffszüge überrollten die eisigen aschendurchwehten östlichen
Bergketten. Die Brücken waren untereinander verbunden; alle Züge
konnten, wenn Brücken hinter ihnen zerrissen oder verschüttet wurden,
Nachbargleise suchen. Die Angreifer hatten einen Schutz der Wagen und
kostbaren Maschinen vor den heißen Auswürflingen geplant. Aber man sah,
daß auf dem wogenden flammenbergenden Boden weder Pfeiler noch Wagen
ernsthaft zu schützen waren. Die Schiffe zentrierten sich nach Ablassen
der Zerstörerzüge südlich des Vopnafjords hinter Gebirgsvorlagerungen in
der Heraldsbucht. In diese Bucht wälzte sich schmutziggrau herunter der
Brückenfluß. Aus drei Gletscherquellen gespeist zwang er sich durch die
Klüfte; Bäche stürzten von rechts her in sein Bett, Sand häufte er neben
sich auf; sandig glatt waren seine Ufer, wo er sich dem Meer im Osten
näherte. Neben ihm lief der Lagarfluß, aus einem viertausend Meter hohen
Gletscher quoll sein milchig weißes Wasser. In Katarakten ergoß er sich,
seenbreit erweiterte er sich, schüttete, wie er in die Heraldsbucht
trat, Gletscherkies und Lehm von sich. Vor die weiten Mündungen der
beiden Flüsse legten sich die Schiffe der Geschwader, warfen nicht
Anker; ihre Antriebsmaschinen blieben in voller Arbeit. Der Wind ging
scharf vom Land her. Der feine Aschenstaub flog über das Gebirge an das
Wasser.

Weit hinten in See dämmerte der Morgen. Mit Ruck und Stoß betraten die
Wagen ihren gezeichneten Weg auf den Brückentafeln. Krachend zogen sie
an, schmetterten Pfeiler auf Pfeiler ab. Die Schiffe in der finsteren
Heraldsbucht steuerten langsam ostwärts in See hinaus.

                   *       *       *       *       *

Das Gestein der Berge jenseits der Küstengletscher, im Süden des
schwarzen zitternden Odadahrauns, trank noch gierig die Säfte, die ihm
der Schnee eingab, der mit Tonnengewichten auf ihm lag. Die Quellen der
Ströme ließen sie über sich herlaufen; die Kraft, die aus der Erde kam,
schüttelte an ihnen, tot lagen sie, verwitterten; unendlich lange Zeit
hatten sie, dünne Dämpfe ringelten zwischen ihren Körpern hoch. Da war
den Steinen, als wäre jeder von ihnen bei seinem Namen aufgerufen.

Basalt war die mächtige Decke, die über dem Boden des Atlantischen
Meeres erstarrt war. Sie bedeckte fünfhunderttausend Quadratkilometer.
Schottland Island Grönland erhoben sich auf ihr, tausend Meter war sie
dick. In Treppen und Bänken lagerte sie hin, mit verkittetem
zertrümmertem Tuff bestreut. Sturm und Wasser verwitterten ihre
Oberfläche zu brauner gelber Wacke. Auf Island, der Insel des
fünfundsechzigsten Breitengrades, hatte sie die Kegel und Kuppen der
Berge gebildet, Gjaus, die Spalten gezogen, die von Süden nach Nordosten
strichen, der steilwandige Spalt am Myrdalsjökull, die Lakispalten mit
hundert Kratern. So standen die Berge da, Gemenge geknetet mit Gemenge
wie eine Wiese, über die ein Sämann hundert Keime von hundert Arten
wirft, die aufschießen, sich verfilzen. Die Gesteine waren
zusammengeknirscht, zusammengeschauert, nachdem das Feuer sie
losgelassen hatte. Nichts wuchs in dem wüsten Gemenge; sie wucherten
noch unmerklich leise, das langsam lösende Wasser tat mit ihnen, Hitze
und Kälte, der Druck der Schwere über ihnen, um sie. Chalcedon und
Zeolith lag in den Blasenräumen des Basaltes. Seine dunklen Massen,
meterdicke Kugeln Platten Fächer hielten fest die zerdrückten
grünschwarzen Olivine, das Titaneisenerz, den eingewühlten Augit,
Plagioklas. In den Bändern der tiefen Gesteinsgänge verschränkten sie
sich glasig ineinander.

Jetzt kam über die geronnenen Wesen etwas, das von Art der Flamme war.
Wie wenn ein Mensch, der jahrzehntelang in der Fremde herumgeworfen
wurde, um die bittere Notdurft des Lebens Tag um Tag rang und nichts als
das Ringen Rudern Schlagen unter den Fremden mehr kennt, eines Mittags
einem unbekannten Mann begegnet. Der übergibt ihm einen Brief von Hause,
spricht ihn in der heimatlichen Sprache an und fragt ihn, was er so
lange getrieben habe, er möge doch wiederkommen.

Oder wie eine ungeliebt verheiratete Frau, die lange Zeit neben dem
widerspenstigen rohen Mann lebt, ihm Kinder auf Kinder trägt, schon
selber stumpf und gehässig ist, wie wenn sie sich plötzlich in einer
Krankheit eines Jugendfreundes besinnt. Und er kommt, – es ist einer da,
oh Wunder, der ihr die Bettdecke zurechtrückt, der ihr die Schnabeltasse
an den Mund hält, während er mit der rechten Hand den schwachen Rücken
stützt. Sie atmet stürmisch, und wie sie gesund wird, ist eine Stunde
da, wo sie inmitten der kleinen Kinder in der Stube sich dem fremden
Onkel an die Brust drückt, ihn küßt, ruhig küßt, und er führt sie mit
den Kindern aus der Tür hinaus.

Wie ein Volk, das vor Jahrhunderten besiegt und zerschlagen wurde,
dessen Männer und Frauen sich zerstreuten, die Sprache wurde verboten,
der Volksstamm verhöhnt, seine Sitten lächerlich gemacht; als Sklaven
gingen die Männer in fremde Dienste, ließen sich in fremde Kriege
führen. Und eine Anzahl fiel ab, glänzte in den fremden Völkern, die sie
verachteten. Wie in einem solchen Volk heimlich junge Männer und Frauen
auftreten, halbe Kinder; die treten zornig leidenschaftlich den Alten
ihres Volkes unter die Augen in geheimen Zimmern und sagen: sie hätten
genug von ihrer Feigheit, von den Beschwichtigungen, womit man sie
füttere, von dem Beschimpftsein und Getretensein. Sie würden ihr Leben
gegen die Schande einsetzen. Und sie wandern herum, verteilen Blätter,
reden heimlich. Ein Rauschen geht durch das Volk, durch alle kleinen
Familien, durch die Mädchen, die fremde Stuben sauber machen müssen und
den fremden Männern zum Opfer fallen. Und eines Tages ist ein Krieg da.
Und eines Tages sind die Straßen frei. Und eines Tages weht eine Fahne
von den Dächern, eine neue Fahne. Und durch die Straßen jubeln Züge in
einer Sprache, – in welcher Sprache, – in der verspotteten siegreichen
Sprache. Und alles weint hinter den Fenstern und auf den Straßen. Dies
ist eine Stunde, wo die Toten der vergangenen Jahrhunderte ein Zittern
befällt. Und sie flattern zu den Lebenden aus ihren wüsten
unbezeichneten Gräbern in ungeheuren Scharen und sie ziehen mit in dem
singenden Zug. Tausende, Tausende singen mit, fliegen den Fahnen voran
und halten die Fahnenbänder und küssen den jungen Marschierenden die
schmutzigen Stiefel und die Mützen.

Wie diese, Männer und Frauen und Volk, wurden die Felsen Bergkämme
Krater Höhenzüge die todesstummen eisbedeckten riesigen Häupter
ergriffen. Wurden angefaßt wie das Schloß von dem Schlüssel und mußten
gehorchen. Folgten summend und alles wurde im Bersten licht um sie.

Erweicht wurden der große Dyngja Herdubreid Tögl Skjaldbreidur.

Und wie murrend der Einsturz der Berge begann, die Angreiferzüge die
Berge losließen, Brückenweite auf Brückenweite überflogen, war es auch
schon zu spät. Die Luft, noch schwarz und eisig hauchend, wurde rot
aufgespalten. Glut und Blockauswürfe. Finsternis von tiefster Schwärze
legte sich über die Hochflächen. Rütteln Rollen Wallen der Erde. In der
Schwärze unter sich sahen die fliehenden Züge noch die braun
überschütteten Schneefelder vor dem Senorfjall sich heben und senken,
von Wasser schäumen wie einen schlammigen See. Dann zerriß die Insel vom
Fuß des Herdubreid nach Osten bis zur Heraldsbucht. Das Sandtal zwischen
Brücken- und Lagarfluß sank. Das Meer durchsetzte die meilenweite Fläche
von der Heraldsbucht bis zum Kyarkfjöll vor dem Angesicht des gewaltigen
Vatnagletschers, begrub sie in einem einzigen Schwall. Verschlungen die
Züge, die von den Kyarkfjöll und Askja die Heraldsbucht erreichen
wollten. Mit Brücken Pfeilern Trommelträgern Fahrbahntafeln ins Meer
gefahren.

Das Beben lief über die Heraldsbucht hinaus. Lief, eine mauerhohe
meilenweite Flutwelle hochbäumend, einen Orkan vor sich drängend, über
die springende eiskäuende See. Zwanzig Längengrade lief es nach Osten,
drang in die aufdonnernden skandinavischen Fjorde ein. Das Wasser
stürmte schwarz in Bänken mit ungeheurer Geschwindigkeit. Lautlos
versanken in dem Schäumen und Rasen Teile der Fär Öer. Die häuserhohe
Flutwelle schlug an die schottische und irische Küste, brüllte gegen
Dänemark, staute in den Kanal laufend die Elbe auf. Sie rollte um
Jütland durch das Kattegatt. Die flache Ostsee schwankte bis in die
Finnische Bucht. Der schrille aschenwerfende Wirbelwind strandete vor
den skandinavischen Bergen.

Über Island aber war die Finsternis vergangen. Der Feuerstrahl, der aus
den Herzen der Dyngja Herdubreid Askja fuhr, ließ es sich nicht genug
sein, das weite nördlich hingedehnte dem Skalfanda angelagerte
Odadahraun zu verbrennen. Die westlichen Gletscher des Hofjoküll und des
Langjoküll hauchte er an. Und wie ihr Eis zu Tal fuhr, riß, durch Dämpfe
gelockert, der schwere Basalt über ihnen. Sie lohten wie der Krabla und
Leirhukr. Ihre schwer wankenden Köpfe stürzten ab in die vom Meer
aufberstende Spalte.

                   *       *       *       *       *

In der Stunde, wo die Insel vom Fuß des Vatnagletschers bis zur
Heraldsbucht aufriß, wußten die Männer und Frauen auf dem europäischen
Kontinent, daß etwas Ungeheures Vernichtendes geschehen war. In dieser
Stunde liefen plötzlich die Maschinen, die Kraft in die untermeerischen
Kabel warfen, leer. Die Kabel, die die Expedition versorgten,
zerbröckelten auf Kilometer unter dem aufkommenden Tiefengestein der
See, von untermeerischen Lavamassen zerrieben. Wie ein Stier mit
aufgeschnittener Kehle, mit peitschendem Schwanz daliegt und noch
fürchterlich röchelt, so hauchten die Kräfte aus den Kabeln über die
kantigen Steine und das Wasser. Milchig quoll vom Boden das Wasser hoch.
Pflanzen Quallen Fische lähmte der Strahl. Es röchelte in der Tiefe aus
dem Kabel, beruhigte sich nicht.

Einen Tag war Totenstille in den festländischen Stadtschaften. Da wurden
in Höhe Kopenhagens die ersten Flieger gesichtet. Sie kamen, schwarz von
dem vulkanischen Staub, der in großer Höhe über Europa getragen wurde,
forderten neue Schiffe Flugzeuge Menschen. Angst hatte sich der Senate
und städtischen Völker bemächtigt, wie das See- und Erdbeben anlief, der
finstere Staub unablässig aus großen Höhen herabrieselte und es nicht
Tag werden wollte. Die Boten schlugen die Furcht nieder. Kaum
berichteten sie von den Vorgängen. Sie sprachen für Kylin De Barros
Prouvas, die alle drei noch lebten. Die Senatoren waren verblüfft von
der strengen verschlossenen Art der Boten. Sie waren selbst kampfgierig;
der kalte Ernst der Boten beunruhigte sie leise.

Ein neues Geschwader verließ die Shetlandsinseln. Das
schlackenschwemmende Meer überfahrend, in die Schwefeldünste einlaufend
längs der Ostküste Islands, – eine dampfende, grün und gelb zuckende
Masse im Ozean, – gerieten sie in eigentümliche neue Strömungen und
Strudel. In der Höhe des fünfundsechzigsten Breitengrades, bei der
zwölften Länge wurde das Wasser flach, Riffe Klippen ragten über den
Spiegel. Sie bogen östlich aus. Heiße Luftströme schlugen in die
gleichmäßige Meereskühle ein. Meilenweit bogen sie aus, nach Norden
dringend, schwankten unter ständigem Sandregen vorsichtig westlich,
umfuhren eine unbekannte breite Bodenwelle, die ihnen bankartig den Weg
sperrte. Mühsam tasteten sie sich nordwestlich vor. Der Sockel der Insel
hatte sich unregelmäßig gehoben, dabei dünenartig ins Meer verbreitert.
Nördlich der unglücklichen Heraldsbucht trieben sie. Vergeblich hielten
sie Umschau nach Trümmern des letzten Angriffsgeschwaders. Der
finsterrote Brand durchbrach den schweren Qualm, leuchtete ihnen die
Nächte, die immer länger wurden. Obwohl der Mond schien, von dem die
mitfahrenden Boten sagten, er leuchte auf Island fast so hell wie
Sonnenlicht, war eine zum Schneiden dicke Finsternis um sie ohne die
Vulkanfackel. Dünste zogen ohne Nachlaß von der Insel ab über das Meer.

Sie wollten von dem Vorgebirge Langanes, der nordöstlichen Ecke der
Insel mit einem schwachen Kabel, das sie hinter sich zogen, Funkzeichen
und Worte nach dem Festland geben. Da merkten sie, daß das Entsenden der
Sprachzeichen durch die veränderte Luft nicht gelang. Antwortzeichen
trafen nicht ein; schon bei Proben auf wenige Kilometer verstanden sie
sich selbst nicht. Die Luft war nahe den heißen Ascheausbrüchen, den
vulkanischen Feuerstürzen von Strahlen durchwirbelt. Sie mußten Flieger
aussenden aufs offene Meer, die viele Meilen ostwärts flogen, ehe sie
die rings die Insel umflutende Spannungszone durchbrachen und Standorte
für Meldungen nach dem Kontinent ermittelten. Die Schiffe suchten die
gebrochenen großen Energiekabel ab. Jenseits des Ozeans ließen die
Menschen Kraft in die Kabel einlaufen. Langsam mußten von Süden die
Sucherschiffe das Kabel abtasten; sie stießen, im Norden es ergreifend,
auf die Sandbank, die sie umfahren hatten. Ohne Zeichen verströmte die
eingeworfene Kraft jetzt in die Bodenwelle. Eingeklemmt gewürgt
gebrochen lag das große Kabel zwischen den Tiefengesteinen, glühte
zerfraß den Sand. Die Sucherschiffe, von Süden vordringend, brannten mit
eigener Kraft das Kabel aus dem Gestein, daß das hochsteigende Wasser
sie von der Bruchstelle abtrieb. Zogen dann in weiten Bogen um die
Insel, das Kabel verlängernd, bis sie westlicher des Langanesvorsprungs
in den ruhigen Thistillfjord kamen, wo De Barros den Rest des
Geschwaders massiert hatte.

Die neuen Schiffe hatten erwartet, man würde ihnen entgegenfahren.
Einsilbig fanden sie Führer und Mannschaften bei der Ausbesserung von
Schiffen und Maschinen, bei der Zählung der Vorräte; sachliche Worte
wurden gewechselt. Die Gesichter dieser Islandfahrer waren völlig
schwarz, verschwollen. Das kleine pulverförmige Steinpigment, das die
Vulkane von sich gaben, hatte sich in die bloßliegende Haut der Arme
Hände Gesichter wie Tusche an tätowierenden Nadeln eingebohrt. Heftige
Entzündungen waren davon ausgegangen. Am furchtbarsten waren die
betroffen, die in den ersten Angriffstagen ungeschützt durch den Staub
geflogen waren. Sie lagen und standen in den Schiffsbäuchen, stöhnend im
Finstern; Backen Stirnen Lippen wulstig dick, Augenlider zugeschwollen.
Und wo einige die Lider offen hatten, war die Hornhaut schwarz wie das
Gesicht; die Bindehaut mit dem Steinstaub gespickt. Sie wagten nicht zu
zwinkern, rissen sich mit dem Lidschlag das Innere der Lider wund; in
den Augenwinkeln standen ihnen Blutstropfen.

Das zweite Geschwader erfuhr, daß die Insel in ostwestlicher Richtung
von der Heraldsbucht bis zum Kyarkfjöll, dann in südwestlicher von der
Vopnabucht bis an das Vulkanfeld des Dyngja aufgerissen war. Das
dazwischenliegende keilförmige Stück war überflutet. Die Vulkane hatten
im Zentrum der Insel um das Odadahraun herum das Grundgebirge
durchbrochen, mit Spalten Sprengtrichtern Explosionsgräben ihre Schlote
riesenhaft erweitert. Die alten Krater waren eingeebnet. Neue Lavenkegel
entstanden und versanken unaufhörlich. Die Kundschafter des alten
Geschwaders hatten festgestellt, daß schon dickere Lavakrusten sich über
das bloßgelegte Feuer breiteten. Wie Blut aus spritzenden Gefäßen gerann
das Feuer. Aber aus der Tiefe der Insel und dem benachbarten Meer wurden
immer wieder brennende losbrechende Massen ausgeschleudert.

Die Geschwader teilten sich. Gruppen der alten und neuen Islandfahrer
wurden unter neu gegliederte Züge gemischt. Eine Möglichkeit das
zentrale Inselfeuer nach Westen zu erweitern bestand nicht. Der im
Thistillfjord zurückbleibende Schiffstrupp übernahm die Aufgabe, die
stärkere Verkrustung des ausgeworfenen Magmas zu verhüten, durch
Aufsprengung das Feuerfeld zugänglich zu machen, das flammende Land zu
überwachen zwischen Myvatn Odadahraun und Vatnagletscher.

Anfang Juni verließ das Südgeschwader, geführt von dem strengen Kylin,
den ruhigen Thistillfjord, ostwärts, dann südlich umbiegend. Hart und
stumm war der blonde Kylin wie die andern. Hätte man ihn nach seinen
Worten und Klagen bei der Beseitigung der Eingeborenen gefragt, er hätte
sich nicht darauf besonnen. Die Wimpel, bunten Kostüme, mit denen die
neuen angefahren kamen, waren abgelagert. Still waren die Transporter.
Auf den technischen Schiffen fauchten die Maschinen. Maskierte
rußbedeckte Menschen gingen herum auf dem ruhenden und fahrenden
Geschwader. In Schlamm verwandelte sich das Wasser, das sie im Freien
trinken wollten. Wenn einer ein Stück Brot im Freien in den Mund
steckte, war es mit den spitzen Nadeln der Vulkane besetzt. Sie spien
beim Essen. Aus den Schiffsbäuchen wimmerte es; die Blinden Hautkranken,
dann die, die von den Schwefeldämpfen und der Einatmung des Staubes
erkrankt waren, sich schmerzvoll die Brust faßten, husteten, husteten,
Blut unter Räuspern und Winden aus sich warfen. Niemand sprach vom
Kontinent. Man hielt stumm, sich verhärtend zusammen.

Die Schiffe des Südgeschwaders passierten in langsamer Fahrt weit
außerhalb der Rauchlinie der Vulkane die Höhe der Heraldsbucht. Sie
sahen – die Masken nahmen sie nicht ab – die glühende Sonne am Horizonte
aufstehen, von einem Ring umgeben. Mit blendendem Gold stieg sie hoch.
Wolken loderten unter ihr in wilden Farben. Die Menschen schwebten über
dem unermeßlichen stahlgrauen Meer. Und erkannten es nicht wieder. Es
war nicht das Wasser, das sie auf der Herfahrt genommen hatten, das sie
unter die Kiele ihrer Schiffe geworfen hatten. Sie spannten ihre Blicke
auf das Wasser, das riesengroße wellige Ungetüm, suchten seine Tiefe zu
durchbohren. Und schwiegen. Wenn die Nässe sie anspritzte, lachten sie
nicht. Wischten sich ab, zogen sich zurück. Im Innern der Schiffe
hockten sie, Männer und Frauen, die mit den furchtbaren Kräften der
Maschinen umzugehen verstanden, träumten spielten schliefen. Ein
aufschnellender Fisch erschreckte sie, machte sie nachdenklich, böse.

Von Osten her umringten sie die Insel. Das Tosen hatte sich
abgeschwächt. Es war, als ob sie hinter einer großen Schutzmauer liefen.
Eine weiße Masse schimmerte Island herüber, in die wagerecht
hinziehenden Wolken verlief es, das Meer trug diese weiße hingedehnte
Masse. Dies war das Eisgebirge des Vatna; es hielt alle Schwärze und den
Schall der Vulkane ab, der Staub überschritt seinen Grat nicht. Die
Fahrzeuge der stummen Menschen westwärts steuernd näherten sich im
aufschäumenden Wasser der Küste. Die Luft fing wieder an zu vibrieren.
Aus den Schiffsbäuchen stiegen die Menschen. Die Zähne beißend hörten
sie das entfernte Grollen.

Flaches tiefbuchtiges Land. Das gelbe Sonnenlicht trübe umflossen. Ein
eigentümliches fremdes Rot, das die Herzen der Menschen mit Trotz und
Wildheit erfüllte, mischte sich, ohne zu weichen, im Nordwesten in die
wechselnde Farbe der Wolken. Und wie die Dunkelheit einsetzte, stand
allein dieses düstere erregende Rot am Himmel, das alle Menschen auf das
Deck lockte, immer größer weiter heller, je westlicher sie fuhren. Die
Fäuste ballten sie, wie sie das Rot sahen. Mit Triumphgefühl
betrachteten sie das Wasser; sie zitterten, spannten sich, hatten die
Zähne aufeinander. Ein wirbelnder Landwind jagte Wolken nach Süden, die
Rauch von den Feuerherden schleppten.

Nacht. Da scholl das tiefe Murren und Rollen an ihr Ohr, das sie seit
dem aschenverhüllten Thistillfjord nicht gehört hatten. Brustbeklemmend,
daß sie aufhörten zu lächeln, klein herumgingen, den Atem langsam
entließen und einnahmen, so fiel sie das Murren an. Sie hatten es fast
vergessen. Sie wurden herumgetragen durch die Kraft der
schraubendrehenden Schiffe und ihren eigenen Willen. Und wollten näher
heran. Da war es schon kein Rollen mehr. Es sprang knallend an, fiel
polternd hin. Rummste an unsichtbaren Orten am roten Horizont. Aber von
Zeit zu Zeit verschwand es hinter einem erstickenden, alles
überschattenden, Schiff Meer Meer Feuerschein in Nichts verwerfenden
Aufkrachen, hinter einem aufwühlenden grundgeborenen Getose, das nicht
aufhörte, Meer und Land minutenlang rüttelte. Und wie es abbullerte,
ließ es Meer und Land in Betäubung. Tobsüchtiges Klatschen der Brandung,
grauer zuckender Himmel. An Deck geklammert, neben Masten Drähten
Maschinengittern, sahen sie das Zusammenziehen der Küste, sahen, wie das
Land aufhörte, Land zu sein. Die Ufer, langgestreckte Hügelreihen, der
flache Strand tauchten in das anrasende Meer ein, das sich turmhoch
aufhob, in einer schnurgraden schwarzen Flutlinie über sie
herschmetterte, unter Johlen der fortgerissenen Luft. Dann war das
schwarze nackte Land wieder da; die Hügel rollten von seinem Rücken
herunter; der Boden zuckte, glättete sich gegen das Wasser hin.

Die Schiffe drehten stärker seewärts. Als die Nacht vorüber war, waren
sie in die Zone der Hekla und Katla getreten, der Feuerberge des
Südwestens. Sie wurden ihrer nur angesichtig, wenn ein Seewind die
Schwärze des Rauchs zerteilte. Heimvayz hieß eine von den vierzehn
klippigen Westmannsinseln; vor dem seenartigen Erguß des Markerflusses
ins Meer lag sie. Heimvayz war die größte der Inseln, eine halbe
Quadratmeile im Umfang. Sie war früher von Menschen bewohnt; unter
Schutt, zwischen den Lavabomben lagen zerschmetterte Hütten, eine Kirche
stand weit offen da, die Türen unversehrt, der Dachstuhl eingebrochen,
das Innere von Geröll wie ein Kasten erfüllt. In den Buchten Heimvayz’,
einige Meilen vor der isländischen Südküste, schoben sich die hohen
schweren Transporter obdachsuchend, in stickiger Luft.

Dann stießen leichte Angriffsschiffe gegen die Küste vor. Der
Myrdalsjökull stand ihnen gegenüber, das Sumpftalgebirge, achtzehn
Quadratmeilen bedeckend, einstmals unter einer Eisschicht verborgen.
Mächtig stand der Myrdal da, eine erwachte Vulkanmasse. Seine Rippen
klafften, nach allen Seiten war der Bergblock aufgerissen. Dampf und
Aschesäulen spie er und verhüllte sich. Die Katla hinter ihm im Land
flammte düster; oft versank sie in ihrem Qualm. Sie brauchten nicht
viele Brücken zu schlagen. Die Küste entlang schwärmend, von den heiß
aschigen schwelenden Ufern drangen sie vor. Nahmen sich zum Ziel die
feuerbrünstige Reihe der Vulkane am Skaptarfluß, vom Rand des Vatnaeises
bis zum Thjorsar, wo die achtkuppige Hekla ihre Mauern und Terrassen,
Schlund bei Schlund aufbaute. Der Herkules, der nahte, kam nicht um den
Drachen zu ersticken, ihm anspringend nicht ermüdend Kopf um Kopf
abzuschlagen, ihn unter die Füße zu nehmen, zu zerschlitzen, die
geblähten Eingeweide in die Luft zu streuen. Er wollte das Untier
reizen, Mäuler um Mäuler aufzusperren, Hals um Hals hochzustrecken.
Seine Wut sollte es zeigen für ihn, seine Kraft wollte er ihm entlocken.
Er hielt es an einem Band fest, zog es hinter sich her. Und eines
Morgens machten sich die Transporter von der kleinen Heimvayzinsel los,
setzten sich meerwärts in Fahrt. Zugleich richteten sich die stillen
Augen von Kylins Apparaten auf die Gebirge.

Die Hekla, den Kopf in den Wolken, machte einen Sprung, als wollte sie
sich ins Meer stürzen. Ihre Wände, die sich getrieben aufgestellt
hatten, die Mauern des Marklidar, die höheren Hilfall Grefjöll Malfall
wurden zur Seite geschleudert. Über das brennende Land flog der
Marklidar, der Bjölfall Grefjöll Malfall. Da versank der Torissee.
Umgeschleudert wurde in derselben Stunde die Katla. Den Tjörsarfluß
bedeckte der Tungna. Als am Vatnarand der Öräfaberg sich in seinem
eigenen Feuer bog und drin verschmolz, stand keiner der Menschen, die
das Geschwader um die Insel getragen hatte, mehr auf seinen Füßen, weder
von denen, die jenseits der Westmannsinseln ins Meer flohen, noch von
denen, die das Gestade entlang fuhren. Die auf den flüchtigen Schiffen
wurden gegen Drähte Gestänge gestoßen, flogen über Bretter. Mit Masten
Seilen Treppen, an die sie sich hielten schwirrten sie über die Böden.
Die Schiffe machten plötzlich einen Satz nach vorwärts und dann noch
einen, und einen zur Seite, wie ein Hund, der nach einem vorgehaltenen
Bissen schnappt. Ihre Hinterleiber schnellten aus dem platten Wasser,
die Schrauben surrten leer in der Luft, die Spitzen wühlten mit den
Nasen in der See. Wühlten bei den landnahen Schiffen so tief in der See,
daß die Leiber rückwärts sich schräg, fast senkrecht hochstellten, sich
seitlich und nach vorwärts überschlugen, Menschen Tonnen Balken im
Strudel hinterdrein. Die See hob sich auf den Druck der zerrissenen Luft
langsamer, breit am Boden schleppend, schwer schwer über der Untiefe
hängend. Die Schaumkämme der Wellen wurden angefaßt. Von den Ufern
weggeblasen rollte sich die See wie ein Wurm zusammen, wulstete sich
riesenhoch, lief, während es nächtig wurde, ein Schatten durch die Nacht
auf das Land zu, loderte über Klippen, entblößten Strand, breite
kochende Lavaströme, streckte sich über sie, zog sich entladen
auseinander, gab alles frei, rollte sich wieder ein und, Trümmer Blöcke
Geröll Aschen an sich nehmend, stellte sie sich auf, gebäumt höher höher
wachsend, schlagprasselte in einem wallenden Sturz über das geifernde
Land.

Die Menschen, die von Europa aus den wimmelnden Stadtschaften
herübergekommen waren und, um das Feuer aus den Vulkanen zu holen, auf
den Angriffsschiffen die Küste entlang fuhren mit den zauberhaften
Apparaten, in der Stille hergestellten listigen Maschinen, wandten sich
ostwärts im Augenblick, als die Feuersäulen der Vulkanschlote erloschen.
Da wurden ihre zarten Schiffe, Gebilde aus Stahl und Holz, während ein
Urlaut vom Firmament herunterscholl, im Wirbel um sich gedreht. Auf die
fluchtbereiten Flugzeuge warfen sich die kleinen taumelnden
Menschenwesen, die der europäische Kontinent geschickt hatte. Sie flogen
auf dem winzigen arbeitenden Gerät über den drehenden Schiffsrand
seewärts, ostwärts, dem unbewegt stehenden Eisgebirge des Vatna zu. Sie
fühlten noch über dem Wasser schwebend, wie sie etwas anfaßte, rückwärts
seitwärts, an Hals und Nacken. Blitzrasch waren sie geknickt, wie Bälle
in die Luft geworfen, hochgeweht zwischen die flirrenden knatternden
heißen Gesteine. Von den rotglühenden Backen der Bomben zerdrückt, vom
spitzen Sand zerknabbert durchlöchert. Auf den Vatnajökull, nach dem sie
verlangten, wurden viele gesprengt, gebunden an ihre lustig laufenden
Apparate. In das blauweiße Eis des Gletschers wurden die verschobenen
verknäulten Leiber getrieben, fellgeschützte Hände, durch die noch ein
Zittern lief, weitgeöffnete Augen Ohren, die nach jenem Urlaut nichts
mehr hören wollten. Das Eis sprang unter dem schußartigen Anprall der
ungestümen Menschengäste auf. Die Gäste, zu blutenden Kugeln
zusammengepreßt, machten sich selbst einen metertiefen Gang, an dessen
Ende sie ausruhten. Steine Aschen stopften sich neben sie. Auf Brücken
hatten fünftausend Menschengeschöpfe, die Europa hervorgebracht hatte,
den Lakivulkan, den Katlaberg, die Hekla wachsen, sich mit einem
Steinregen umgeben sehen, wachsen, sich erweitern, wachsen, sich heben,
zerbersten. Sie waren vom Feuer verschlungen worden. Sie lagen, als die
Nacht um sie zerfetzt wurde von einem überweißen Schein, greller als
nahes Sonnenlicht, sekundenlang rechts und links bei ihren Maschinen,
gekrampft verschrumpelt, in sich geschlüpft. Brauchten dann ihre Muskeln
nicht mehr. Schwebten wie Dampfsäulen auf mit Pfeilern Brückentafeln
Rollenträgern Fahrgut Schienenwerk. Wurden von dem Feuer angenommen,
ihrer Gedanken, menschlichen Natur, Leiblichkeit entkleidet, waren nach
drei Sekunden nichts anderes als die gasende Lava: Wasserdampf
Kohlensäure glühender Kalk.

Das Land war in dem Augenblick, den Himmel Meer Schiffe Brücken
Menschenwesen mit Tosen und rasenden Verwandlungen erfüllt hatten,
antwortend auf die Frage der großen Glut, zu einem Feuersee geworden.
Der See floß von der Linie des Tjörsarflusses bis zu dem Lakivulkane im
Osten, nach Norden zum flammenden Tröllardyngar. Eingesunken in Flammen
die Hekla, siebenhundert Quadratkilometer bedeckend, das ewige
Schneefeld, von schwarzen Schlackenmauern gefeldert, in fünf
Hügelreihen, sechs Terrassen sich aufbauend, Felsmauern längs der
Vestri-Ranga, der Marklidar, dahinter der höhere Bjölfall der Malfall
Grefjöll der Hauptgrat, die braunen verwitterten Schlünde. Der
Raudukambur am rechten Ufer der Tjörsar versunken. Das Haupt des
Myrdalsjökull. Der schreckliche Eyafjallarjökull.

In die Katla hatte sich einmal eine Hexe geworfen. Da war der Vulkan
ausgebrochen, hatte das Gletschereis zum Schmelzen gebracht. Das Land
unter dem Katlagletscher war fruchtbar, Kühe weideten, kleine Pferdchen
überschritten die Furten, schüttelten sich, warfen sich in den Sand. Der
Berg hatte seine Sand- und Bimssteinmassen und die schwarzen toten
Landschaften geschaffen, das Myrdalssandur, das Kötlisandur. Dann
brodelten warme Schlammflüsse von ihm herunter, zuletzt löste sich das
Eis selber, rasierte die grünen südlichen Hügel, schwenkte sie in die
See. In Flammen eingesunken die Katla, Fjorde Buchten Seen verdampften,
mit Schmelzfluß ausgefüllt.

Der Brand überlief zwei Breitengrade, rauchte von der Skalfandabucht bis
zum südlichen Vorgebirge am Myrdalsjökull. Die feurigen Massen gluteten
im Osten den gewaltigen Vatna an, stießen ihren Hauch an die Ostküste,
wo der Brücken- und Lagerfluß im Meer ertrunken war.

                   *       *       *       *       *

Als die Stöße der Luft nachließen, die Wasser gurgelten und richtungslos
pendelten, warfen die nach Süden vorgestoßenen Führerschiffe Flammen und
Farbensignale über das Meer. Durch den Hagel der Steine, die schweren
Schatten der Aschengüsse leuchteten die Zeichen. Vergeblich. Weiter in
See sausend, ihre Schiffe suchend, die farbigen Rufe in aufhellender
Luft wiederholend, sahen sie eine Gruppe von Schiffen sich ihnen von
Süden her nähern. Sie wurden aufgeklärt von der Flottille, daß weiter
westlich nur ein kleiner Haufen Schiffe zu sichten sei, schwer durch
Blöcke verletzte Gefährte, die mit den Wellen kämpften. Die Führer gaben
Weisung, mit ihnen in Fühlung zu bleiben, stürzten südwärts, entsetzt
über die Verluste. Sandten Flieger vor sich. Die berichteten nach kurzem
Suchen: eine ganze Abteilung Schiffe fahre in Kiellinie ihnen voraus,
biege eben westsüdwestlich um. Eine zweite Meldung lautete: es sind
unbeschädigte Schiffe des Geschwaders, Transporter und technische
Schiffe. Mit Flammensignalen Sirenenrufen suchten Führer und Flieger das
wildfahrende vordere Geschwader zu verständigen, daß es zu halten habe,
um in Fühlung mit den Führern zu treten. Das Geschwader antwortete
nicht, raste gejagt mit höchster Kraft vorwärts. Da warfen die
Führerschiffe ihre geübtesten Flugzeuge aus, die nach wenigen Minuten
das vordere Geschwader kreuzten, sich in laufender Fahrt auf Schiffe
niederließen. Die Flieger, die Weisung hatten nach erfolgter Erkundung
und Abgabe von Befehlen Bericht zu erstatten, kehrten nicht zurück. Die
Schiffe wandten nicht. Das Tempo der Fahrt verringerte sich nicht. Ein
Einzelflieger, ein Kapitän, von den bestürzten Führern bestimmt, ein
Raketensignal zu geben, wenn ihm irgend etwas bei der abgesprengten
Flotte rätselhaft oder verdächtig erschiene, gab eine lange Stunde nach
seiner Ankunft kein Zeichen; dann brannte das Signal auf. Die Flotte
vorn war auf der Flucht.

Die Führer versammelten sich auf De Barros’ Schiff. Der schwere De
Barros erfuhr vom Zustand seines eigenen Geschwaders. Die Menschen,
Männer und Frauen, vom Entsetzen betäubt. Sie standen herum, weinten,
lagen apathisch, krochen in die Kabinen, zitterten sperrten die Münder
auf. Eine kleine Anzahl war frisch, beriet sich überall flüsternd. Sie
erklärten, als der Verdacht der Flucht der Südflotte bekannt wurde, sie
gingen nicht davon; sie würden die Fliehenden zurückholen. Prouvas,
still wie die anderen Führer, vernahm Wendungen wie nach dem Unglück in
der Heraldsbucht und noch gesteigert: man werde die Arbeit verrichten,
man ließe davon nicht los. Er hörte sie einen nach dem andern an; er
prüfte sich selbst; ihre Worte kamen ihm übertrieben und nicht ganz
richtig vor. Er zitterte nicht, fand sich gewillt nicht loszulassen,
aber etwas war nicht ausgesprochen. Besser war der Satz eines der
Männer: er ginge nicht von dem Feuer, er wolle zurück. Das war etwas.
Ingrimmig bestimmte De Barros: die südliche Flotte wird nicht nach
Europa entweichen. Man war weit in See, hatte die Rauch- und Aschenzone
verlassen. Es war möglich über den östlichen Verbinderschiffen, dem
Standort für Kontinentalmeldungen, sich mit dem Geschwader im
Thistillfjord zu verständigen, beruhigende Aufklärung zu geben, zugleich
um Hilfe beim Einfangen und Abriegeln des flüchtigen Geschwaders zu
bitten. Wie man weiter vorwärtsstieß, lag vor ihnen eines der großen
Transportschiffe der Flüchtigen, leck, im Begriff zu sinken. Der Kapitän
dieses Fahrzeuges gab Zeichen: man solle sie nicht verfolgen; die
Bemannung hätte selbst das Leck gebohrt. De Barros betrat das Schiff.
Die Gebrochenen hatten die Oberhand. Die Menschen bewegten sich wie
Betrunkene. Niemand weinte hier. Sie blickten von den neu Ankommenden
weg oder stierten sie ausdruckslos an. Einige waren geneigt jeden, der
sie fragte und berührte, anzufallen. Viele standen grinsend, manche
gähnten. Es stank auf Deck und auf den Treppen: Überall lagen Haufen
braunen und gelben frischen Menschenkots; die Menschen rochen nach Kot.
Einige standen in Urintümpeln und hockten darin; aus ihren Hosen, über
die Schuhe lief es. De Barros fragte, wer das Leck gemacht hätte. Der
Kapitän schloß die Augen: „Ich. Mit anderen.“ „Warum?“ „Es ging nicht
anders.“ De Barros trat näher an ihn: „Es ging nicht? Es geht. Sieh mich
an.“ Der junge Mensch machte die Augen nicht auf. „Ich will, ich will
nicht.“ De Barros wurde gedrängt ihn zu nehmen und zu umfassen: „Du
willst doch.“ „Nein, ich will nicht. Ich ertrag nichts mehr. Nicht
nochmal.“ „Wir ertragen es alle. Sag, ob du willst.“ Mit den Stumpfen
fast Vertierten konnte De Barros nichts anfangen. Er mußte sich
vorsehen, daß man ihn nicht niederschlug wie vorher seine Flieger. Er
hielt den Kapitän am Arm: „Sie haben eins auf den Kopf gekriegt. Sie
haben nichts ausgehalten. Sieh nicht hin.“ Der ging entsetzt mit ihm.

Das Gros der fliehenden Schiffe hatte inzwischen weiten Vorsprung und
war im Begriff sich mit den Sprechstationen Skandinaviens und des
Festlands in Verbindung zu setzen. Angriffsschiffe De Barros’ flogen
hinter ihnen her. Die Angreifer warnten durch Zeichen: „Ergebt Euch!“ De
Barros trieb die Angreifer in Wut vor. Neue Warnungszeichen. Und dann
sahen die Todmüden Verwirrten auf den fliehenden Schiffen das ruhige
Meer, das sie eben nach Frieden lechzend befuhren, sich gegen sie
erheben. Es knatterte auf der Wasseroberfläche; der trübe Himmel
erleuchtete sich hinter ihnen. Nach einer zuckenden Erhellung sahen sie,
das Grauen der Vulkane noch im Blut, eine schwarze breite Wolkenmasse
über dem Wasser begehrlich auf sich zu ringeln. Das Meer, eben ihre
Zuflucht, war klirrend von De Barros aufgerührt; die Wolken auf das Meer
heruntergebogen rasten schwarz und steinern, Schaum vor sich rollend an.
Dieses Meer, das sie trug, schüttelte an ihnen. In der schweren
Finsternis warfen sich die Flüchtlingsschiffe. Erduldeten das dröhnende
kerzengrad in Strudeln um sie aufstehende Wasser. Durch die brausende
Finsternis schlichen, Helligkeit um sich streuend, die Erkunderboote De
Barros’. In einer knappen Stunde war das Geschwader besetzt. Scharen der
Besatzung sprangen kopfüber in die See. Mehrere Schiffe sanken, bevor
man sie erreichte.

Man wandte zurück nach Nordwesten. Das Winseln auf den gefesselten
Schiffen. So brüllten die gebundenen widerspenstigen Menschen unter
Deck, daß De Barros auf offener See halten ließ und mit einer Handvoll
Männer und Frauen die tobsüchtigen Fahrzeuge betrat. Er mußte eine
Anzahl erbitterter Menschen ins Meer stürzen lassen. Den Unterführern
gab er Befehl, weiter Ordnung zu schaffen. In Haufen wurden die
Weinenden und Verängstigten, zusammengebunden, auf zwei besondere
Transporter geschleppt. Inmitten des Geschwaders fuhren die beiden
Transporter unter weißen Fahnen.

In die Zone der glühenden tosenden Insel traten sie wieder ein. In
steigender Erregung umfuhren sie die Ostküste Islands. Sie wußten, was
sie beim letzten Angriff bezahlt hatten; sie wollten den Gewinn kennen.
Schweigend begegneten sich an der Nordostküste die Hauptmassen beider
Flotten. Keine Kenntnis nahmen die Zurückgebliebenen von den beiden
weißbeflaggten beiseite in einen Fjord gesteuerten Schiffen. Und wie sie
noch von Schiff zu Schiff Mitteilungen austauschten, wurde von der
norwegischen Küste gemeldet, es seien einige hundert Lastflugzeuge mit
Besatzung unterwegs; und darauf: eine neue Flotte verläßt eben die
Häfen.

Das Festland hatte in den Stadtschaften mit Schmerz Zittern Verwirrung
die alarmierenden Rufe der fliehenden Südflotte empfangen. Die Senate
nahmen den Tod der Führer an. Einsilbige Meldungen der Nordflotte unter
Kylin klärten sie dann auf; nichts als neues Menschen- und Sachmaterial
wurde gefordert. Befreit und doch zögernd gaben sie es her. Man wußte
nicht, was dort oben vorging. Großartige halberfundene Gerüchte von der
isländischen Operation streuten sie aus. Von den Stadtflüchtigen ballten
sich mehr und mehr in Erwartung in den Zentren. Die Senate selbst hatten
das Gefühl, daß die Ereignisse im Norden trotz aller Verluste die
Gerüchte noch übertrafen. Aber der zitternde Schrei des flüchtenden
Islandgeschwaders lähmte sie, und tiefer erregte sie, wie die Führer und
die Masse der Expedition sich jetzt verhalten würde. Heimlich hofften
sie, sie würden mit fortgerissen werden, diese gefährlich
Stillgewordenen würden weggeschwemmt werden. Da kamen die Rufe der
unerschüttert weiter drängenden Nordflotte. Das neue Geschwader ging ab.
Die Senate fingen an, auch schweigsam zu werden.

Bei der Nachricht von der Ankunft der neuen Schiffe gab De Barros
Befehl, die beiden Weißflagger sich zu überlassen, jede Berührung mit
ihnen zu vermeiden; und dann: er habe an diesen beiden Schiffen kein
Interesse. Die Unterführer begriffen die Gefahr, die von den
entgeisterten anklagenden wirren höhnenden Menschenrufen ausging. Sie
entfernten die bewachende Mannschaft von den Fahrzeugen. Eines Nachts
waren beide Schiffe im Thistillfjord verschwunden; man hörte nichts mehr
von ihnen.

                   *       *       *       *       *

Turmalin hießen die Steingeschlechter, die der grobkörnige Granit in
Gängen und Adern hielt. Magnesium nahmen sie auf, dann wurden sie braune
Dravite; pechschwarz unter dem Eisen zu Schörlen; gelb blaßgrün waren
sie Achroite, die Natrium in sich trugen. Sie lagerten im
Albanygranitgebiet, in Neuhampshire, am Dach des englischen Dartmoor.
Bor Kieselsäure und andere Urwesen hatten sich in ihnen angesiedelt und
mit ihnen auf dem Erdboden niedergelassen und hingebreitet. Wenn Wasser
Dämpfe Gase auf diese Geschöpfe eindrangen, verwandelten sie sich in
hellen Glimmer, wucherten über Saphire weg. Man kannte die säuligen
langgestreckten streifigen Glieder dieser Geschlechter, wie sie aus den
Felsgängen kamen, gebogen geknickt spröde brechend, mit Pyramiden an den
Enden ihrer Körper. Strahlenförmig hatten sie sich im Gestein
versammelt; oft saßen sie lose eingesprengt neben den Familien der
Topase und Quarze. Sie waren von eigentümlicher Empfindlichkeit und
Reizbarkeit. Die Wärme ließ sie elektrisch aufzittern; dies hatte man
schon lange beobachtet; über die Enden ihrer Leiber dehnte sich die
strahlende Spannung. Man war darauf gekommen, sich der Turmaline zu
bedienen um Wärme, die lose verschwimmende flüchtige Kraft, in die
strengere feste der Elektrizität zu drängen. In Texas Brasilien, auf den
britischen Inseln hatten die Stadtschaften für die Grönlandexpedition
Felsen abgetragen, Ganggranite sprengen, Turmalinlager aufstapeln lassen
zur Verarbeitung bei dem belgischen Mons. Das zertrümmerte Gestein wurde
gereinigt, die getrennten Bergarten geschmolzen, umkristallisiert. Man
fertigte schleierartige Gebilde aus ihnen an. Die Völker der Turmaline
hingen, Geschöpf neben Geschöpf, elastisch schwingend da aneinander, in
schlanken Säulen; fremdes Mineral trennte Kristall von Kristall. Sie
waren es, die das strahlende Feuer der Vulkane an sich saugen sollten,
ihre Glut in den Fluß der Elektrizität verwandeln, den sie dann später
wieder auf Grönland in lockerer Glut aushauchen sollten. Schleier auf
Schleier des Gewebes wurde bei Mons gegossen. Die Lager der
zertrümmerten Ganggranite verminderten sich. In die Hallen ungeheurer
Schiffe wurden die elastischen scheckigen Kristallgespinste verfrachtet.
Sie konnten jedes Feuer der Erdoberfläche fassen. In den Frachtern, die
nach Island fuhren, hingen sie ausgespannt.

Eine gabelförmige Spalte teilte auf, was von Island übriggeblieben war.
Sie zog von Süden zum Trölladyngja, legte sich nach Norden dem
Skalfandar entlang, nach Osten parallel dem Kyarkjöll. Wo der Krabla und
Leirhukr gestanden hatten, im Süden die achtkuppige Hekla, die
entsetzliche Katla wogte ein Feuersee. Unregelmäßig schossen aus
seitlichen Explosionsgräben Feuergarben. Die ganze zu Tag liegende Masse
hob und senkte sich gleichmäßig; sie pulsierte, wogte dröhnend, den
frischen Steinpanzer zerreißend, lavengischend, stieg rieselnd in die
Erde zurück, schwarze Klüfte freilegend. Lichtweiße Dampfballen traten
an die Oberfläche, die wie flüssiges Metall gelbrot gelbbraun schwer
wallte. Mit den Dampfballen tanzten glühende Lavastücke auf dem See.
Eine Weile trieben sie über dem verhüllten Spiegel, nach Süden und
Norden. Dann während sie rechts und links zerflossen, ballten sie sich
an einer Stelle, blieben stehen, wurden dichter höher, schwollen zu
Bergumfang an; der ganze See erzitterte, der Boden der Insel schwankte.
Der See erhob sich wie ausgebeult unter dem weißen Dampfberg.
Tumultuarisch regte er sich, peitschenartig schlugen fliegende Steine
aneinander. Zu ihrem hellen Getön trat Poltern, Rücken, orgeltiefes
Murren. Mit einem Donnerlaut platzte die Dampfmasse auseinander, wurde
über den See und die Berge der Insel getrieben. Lavamassen stürzten aus
dem rüsselförmig aufgestürtzten See; in Säulen und Garben wurden sie
hochgetrieben, fächerartig ausgedehnt. Das wogende Feuer sank, mit
weißen Wölkchen spielend, wieder ein.

Die Geschwader beim Thistillfjord und südlichen Myrdalsjökull ankernd,
die Frachtschiffe mit den Turmalinnetzen hinter sich, vermochten unter
den Bombenauswürfen, den Gas- und Lavaexplosionen der glühenden See sich
nicht seiner Oberfläche zu nähern. Man schickte von verschiedenen Seiten
Fliegerflottillen gegen den See vor, die ihn erst ohne Last, dann mit
ausgespanntem Turmalinschleier kreuzten. Von Rifstangi im Norden drangen
Flottillen vor, aus der Vopnabucht von Osten in die Gegend des alten
Herdubreid, dessen randliche Trümmermassen in das Feuer absickerten. Die
Flieger hatten schreckliche Verluste; jedoch litt niemand zum Verzagen
darunter. Zu jeder Tätigkeit drängten sich die Männer und Frauen; die
Verluste waren schmerzlich, wurden aber fast begierig zur Kenntnis
genommen. Alte und neue Islandfahrer waren in einem Gefühl
zusammengeschweißt. Die Schleier, über der wühlenden Erde, dem
aufberstenden und zurückfallenden See durch keine Pfeiler ausspannbar,
mußten über die Oberfläche feuernah geschleift werden. Sie zerrissen,
tauchten ein und schmolzen, stürzten mit den Fliegern ab. Dazu
veränderten sich schon Seeteile in beängstigender Weise. Die Vulkane,
erst erfüllte einheitliche Feuerbecken, zogen Schlackenmauern zwischen
sich, häuften Wälle im See auf. Es schien als ob in der Tiefe Reste der
alten Vulkane lagerten, die im Begriff waren ihre Leiber neu aufzubauen.
Die Einbruchsfelder der Berge traten um den Myvatn in verschwommenen
Linien schon wieder hervor. Unabsehbar weit ergossen sich die Lavaströme
über das Land. Durch die Dämmerung des Tages quollen sie schwarzblau,
die Nächte durchstrahlten sie weiß. Sie liefen sich in steinernen Säcken
fest, die sie selbst um sich legten. Teile des alten Thistillgeschwaders
rissen die Säcke auf, trieben Gase unter die Sackhaut, mit denen sich
die glutende Lava freisprengte. Und wie die Ströme quollen, meilenbreite
Bänder, über die sich neue schoben bis zur Höhe mehrerer Häuser, so daß
der Boden im durchflossenen Gebiet sich anhob, versahen sich die
Fliegergeschwader mit Böenbomben, die ihnen den Rücken gegen Aschen und
Blöcke freimachen mußten, und mit Eis dunstenden Masken.

Sie zogen ein Netz von Pfeilern am Skalfandar entlang nach Süden, über
den Hofsjökull, parallel dem verschütteten Tjörsarfluß nahe der
gestürzten Hekla. Eine zweite Pfeilerreihe richteten sie am
Gletscherwestabhang des Vatnamassivs auf, nach Norden über den
Kyarkfjöll das Meer erreichend, wo es aus der Heraldsbucht den Lauf des
alten Lagarflusses bedeckte. Eine dritte Pfeilerreihe lief im Halbkreis
vom Axarfjord im Norden zur Gegend des Myvatn, am Dyngjafjöll,
Herdubreid vorbei. Sie hatten den Feuersee mit den Pfeilern allseitig
dicht umspannt. Es begann die fürchterliche todheischende Arbeit über
der dampfenden immer wieder aufspringenden Masse, den kochenden See mit
den Schleiern geschwaderweise zu überfliegen, die Schleier an den
Pfeilern aufzuhängen. Blitzrasch mußte man vorgehen, besondere
Augenblicke an jedem Ort abwarten bei dem Vorstoß von Westen zu den
Pfeilern nach Osten, von der Myvatngegend zu den Pfeilern am
Vatnanordabhang und am Kyarkfjöll. Häuserhoch schwebte der ausgespannte
blinkende Kristallschleier über dem Magmasee. Darunter fuhren zu seinem
Schutz, Böen um sich schleudernd, die Menschen der alten Nordflotte,
sprengten erweichten die grauen rahmartigen Schalen, daß der weiß und
gelb gleitende Strom zutage trat. Und schon zuckten von den Pfeilern die
Gurte mit den Turmalinvölkern herunter, wie Möwen auf den Fisch, der an
der durchsichtigen Oberfläche schwimmt, schnellten gedehnt geschwellt
knisternd hoch, wurden seewärts von den Pfeilern abgezogen, schwebten
auf kaltes Land und auf Schiffe, während schon neue Fluggeschwader sich
zum Vorstoß anschickten. Aschen und Gase brunsteten aus dem
Feuerabgrund, die weißen Wolken perlten auf ihm wie Schweißtropfen,
zerflossen unter den Böen.

Jenseits der Pfeilerreihen, in Meeresnähe, hatte man Hallen zur Aufnahme
der geladenen Turmaline erbaut. So groß war die Spannung der geladenen
Schleier, daß die ersten abschwirrenden nicht gesicherten Flieger mit
ihnen gelähmt ins Meer stürzten. Die Schleier sprühten auf dem nur
minutenlangen Weg durch die Kälte einen Teil ihrer Spannung wieder aus.
Man blies, wie sie die Feuerregion verließen, aus Drahtnetzen, auf denen
sie beim Fliegen lagen, Hitze auf sie; die Netze verdampften bei der
Berührung mit den geladenen Schleiern. Man mußte die Hallen sehr nah den
Vulkanen legen. Dahinein rauschten die Kraft um sich streuenden
Schleier. Klingen und Schwirren ging von ihnen aus. In eine trägflüssige
zitronengelbe Masse wurden sie gestürzt, in die Riesenwannen der Hallen.
Bis auf den Wannengrund war die Masse durchsichtig, sie opalisierte;
apfelgroße Blasen stiegen langsam in ihr auf. Schwere wallende Schlieren
legten sich wie Fäden eines Strickwerkes um den eingehängten Schleier.
Er war, wie er das heiße dickölige Bad verließ, in allen Maschen
graugelb umzogen, verglast. Sein Schwirren hatte aufgehört; man konnte
ihn ruhig berühren, die klebrigen Anhängsel abstreichen.

In gleichen Abständen liefen inzwischen weiter die Frachtschiffe mit
Turmalinen vom Kontinent herüber, befuhren das große atlantische Wasser.
Eingehüllt wurden sie in das Sausen des Windes, Plätschern klang herauf,
Murren aus der Ferne. Fuhren in der wolkendurchflatterten Luft,
Sturmschwalben Silbermöwen mit gezackten Schwänzen, Stoßtaucher neben
sich. Das Meer fiel dreitausend Meter tief unter ihnen. Mit Fischen
Algen Quallen Schleimtieren war es gefüllt. Es warf sich in Ebbe und
Flut. In Glitzern und Scheinen schwebten die Schiffe.

                   *       *       *       *       *

Der Kontinent wünschte von den geladenen Schleiern zu haben. Brüssel und
London waren gleichzeitig darauf gekommen. Sie waren auf der Suche nach
neuen Machtmitteln, fürchteten, die Islandfahrer könnten sich selbst
diese Schleier aneignen, die man nicht kannte, die aber gefährlich
schienen. Sie schickten mit jedem neuen Schiff Vertrauensleute, die die
geladenen Schleier zählten, über ihren Verbleib berichteten. Als der
Kontinent Schleier für sich forderte, lehnten Kylin De Barros Wollaston
Prouvas es ohne Erklärung ab. Die Senate, stärker beunruhigt, nach außen
nichts von sich gebend, beauftragten darauf neue Führer, für sie
Schleier zu beschaffen. Ein stark ausgerüstetes Geschwader erschien vor
Island. De Barros verstand, es tagelang irrezuführen. Er drohte den
neuen Führern. Die Islandflotte erhielt Kenntnis von den Vorgängen; sie
stand auf Seiten Kylins und De Barros’. Heftige Schmähworte auf die
Senate hörten die neuen ahnungslosen Männer; ungehemmt äußerten Führer
und Besatzungen ihre Verachtung für die Senate, ja für die Stadtschaften
selbst, so daß die Abgesandten verwirrt wurden und nicht faßten, wen sie
vor sich hatten. Sie berichteten zurück; die Senate bedeuteten ihnen,
sich um die Ladung der Schleier zu kümmern und dann Island zu verlassen,
im übrigen Kylin und De Barros zu erkennen zu geben, daß man sie ohne
Zufuhr lassen würde, wenn sie die Beschlüsse der Senate ignorierten.
Erbittert gaben Kylin und De Barros nach. Spät erst dämmerte ihnen, die
Stadtschaften könnten Furcht vor ihnen haben. Und sie staunten, und
ihnen wurde klar, wie merkwürdig es dabei war, daß sie staunten.
Vielleicht hatten die Senate doch Grund, sich vor ihnen zu fürchten.
Nein, sie hatten keinen Grund sich zu fürchten. Wer waren, wie fremd,
weit abgelegen waren diese Senate, diese Stadtschaften, die sie
hergeschickt hatten.

Als Kylin an die Tür seines Zelthauses trat und durch die Rauchschwaden
die ersten städtischen Flieger sich um die Pfeiler bemühen sah mit
Schleiern und Böen, hatte er Tränen in den Augen. Beschmutzt kam sich
das ganze alte Geschwader vor. Man beschleunigte die Arbeiten. Die
beiden Flotten suchten keine Berührung zueinander. Gefahrvollen
Böswilligkeiten wurden die städtischen ausgesetzt. Die alten Flotten
hatten schon die ungeheuren Turmalinmassen in ihren Schiffen verstaut,
deren sie bedurften, als sie noch untätig bei der brüllenden Insel
hielten, die neuen beobachteten und sich zu einem Entschluß durchrangen.
Sie zerstörten eines Tages alle Pfeiler, zerstörten die Hallen mit den
Isoliereinrichtungen, vertrieben die neuen, jagten sie mit ihren
Schiffen über das Meer. Die ließen sich auf keinen Kampf mit den
erbitterten ein. In Kopenhagen Hamburg empfingen die Senate die
Rückkehrerflotte mit scheinheiliger Gelassenheit. Sie dankten den
Führern für ihre Mühe, lachten über die Klagen gegen De Barros, taten
übermäßig beglückt durch die mitgebrachten schon geschickten Schleier.
Sie ließen verbreiten, die abgesandten Unterführer hätten sich
ungeschickt gegen Kylin und De Barros benommen, aber es sei gleich: man
hätte die geheimnisvollen Schleier in der Hand. Ihre Kräfte würden jetzt
studiert. Dies ließen sie bald auf Umwegen an die Islandflotte gelangen:
man hätte durch einige Prozeduren eine merkwürdige Kraft aus dem
beschickten Turmalin isoliert. In der Tat warfen sich angstvoll die
Physiker und Techniker der Senate an die geladenen Kristallgewebe, ob
etwas Bedrohliches in ihnen stecke.

Die Islandflotte aber nahm wenig Kenntnis von den Gerüchten des
Kontinents. Nach der Halbinsel Rifstangi im Norden zogen sich um das
dröhnende wolkenschleudernde Island die Schiffe aller Geschwader. Von
Rifstangi über den schmierigen Svalbard waren die ersten Angriffe gegen
die Insel auf Brücken vorgetragen worden. Alle Schiffe setzten kleine
Scharen in Boote, die die Klippen umfuhren. Auf einem Schneefeld des
aschebestreuten Svalbard wurde die Totenfeier für die Opfer der Angriffe
abgehalten. Es geschah, daß nach den Worten Kylins, der gegen den
Sandwirbel sich die braune Pelzmütze vor die Augen hielt, die
zweitausend Menschen in den Schnee knieten. Sie griffen die Asche unter
sich an, tasteten in den schmelzenden Schnee. Viele krampften die Hände
beim Gedanken an die beiden traurigen grausigen Schiffe mit den weißen
Flaggen. Sie träumten stumm. Kopfgesenkt, bei den Händen angefaßt ging
man, langsam, zu den Booten herunter. Und langsam umfuhren die Schiffe
ohne Verabredung die ganze Insel. Der Thistillfjord kam, in dem eine
Flotte lange gelegen hatte, das Vorgebirge Langanes, der Vopnafjord, die
Vulkane schütterten herüber, schwarze qualmgedrehte Riesenwirbel
Spiralen, rot durchzuckt, von unten aufgeblafft. Da war die Sandbank,
die sich nach Osten schob; man mußte sie umfahren; das Unglück in der
Heraldsbucht hatte sie aufgeworfen. Die Insel trat wieder hervor;
Buchten und Vorgebirge, der Eiskoloß des Vatna, strahlend breit aus dem
Meer aufsteigend, die lohende menschenverlassene Südküste, kleine tote
Inseln, die Ostküste und noch einmal der Rimarberg, der Myokarrjökull im
Norden, die Bucht des verdampften Skalfandar, Rifstangi die Halbinsel,
der Thistillfjord. Hinter Bergsätteln, langgezogenen Graten fuhren sie,
der Wind trug nichts herüber, der Schall der Vulkane war gedämpft. Sie
bogen oft aus, der Meeresboden schien sich zu heben und dampfte.
Lavenstürze drängten sie vom Land ab. Sie näherten sich immer wieder der
Insel, willig gespannt hingegeben.




                            Siebentes Buch.

                        Die Enteisung Grönlands


Sehr zögernd lösten sich die Schiffe von Island. Sehr langsam kreuzten
sie das starke atlantische Wasser. Das dumpfe abgründige Schollern
füllte noch ihre Ohren. Sie hörten es, als wenn eine Muschel auf ihren
Ohren läge. Lagen auf dem Meer, das sie vor Monaten, endlos langen
Monaten betreten hatten, von den Shetlandinseln her am sechzigsten
Breitengrad. Das Meer, mit Steinschotter die Küsten schlagend, Ozean,
breites hundertmeiliges Wasser, schwarzes wellenüberlaufenes Wesen, von
dünnen Winden geschoben, überflattert von fliegenden pfeifenden Tieren.
Sie hatten einmal Mukla Ron und Foul, das Mainland, die zackigen Inseln
Yall, Samphyra, Uya, Umst verlassen, Vogelberge waren verschwirrt. Die
Sonne sahen sie wieder, mit fremden großen forschenden Augen, Unband von
Feuer, einäschernde Hölle alles Kriechenden Fliegenden Hüpfenden, das
weiße wallende Flammenmeer, metallene Wolken von sich werfend, die in
Schlacken zurückfielen. Zwitschernde Metalle, Gluthauch an Gluthauch,
die Urwesen frei blühend, Helium Mangan Kalzium Strontium. Sie gingen
hin und her zwischen Deck und Kajüten, spürten dem Aufblasen des kalten
Nordostwindes nach, staunten die Wellen an. Unklar erinnerten sie sich,
was hinter ihnen lag. Sie waren aus Brüssel London, südlichen
Stadtreichen gekommen; man hatte sie gesammelt. Man hatte Brücken über
Island geworfen. Die Städte, sie erinnerten sich der Städte. Wie
sonderbar die Siedler. Ihretwegen hatte man sie hergeschickt. Das Meer
floß unter ihnen. Gut, daß es da lief. Sie wollten nicht in die Städte.
Wie merkwürdig alles durchhellt wurde, Senate Stadtschaften Fabriken
Apparate. In der Mark hatte Marduk, der große Tyrann, gekämpft; Zimbo
kam nach ihm. Die Stadtschaften hatten den Siedlern nachgeben müssen;
darum schickte man sie her, nach Island, Grönland. Was für Menschen
waren da hinten. Nichts hören. Weiter Meer fahren. Grönland, nach
Grönland.

Das arktische Mittelmeer lagerte auf zwei Tiefenmulden. Zwischen
Spitzbergen und Grönland sank die Nordmeertiefe fünftausend Meter tief
ein. Eine unterseeische Bodenschwelle, die kaum dreihundert Meter unter
dem Wasserspiegel verlief, der Thomsonrücken, trennte breit die
Nordmeertiefe vom Atlantischen Ozean. Von Ostgrönland lief die Schwelle
auf Island. Im Nordosten trennte eine Schwelle die Nordmeertiefe von der
Meeressenke um die neusibirischen Inseln. Der grönländischen Ostküste
fern folgend fuhren die Schiffe der Stadtschaften über das eisige Meer.
Die warme tropische Golfstromdrift, die den Ozean hinter sich hatte,
sandte ihr Wasser herüber auf Island, umkreiste die Insel, lief an der
Südspitze Grönlands vorbei. Von Norden und Osten schwamm neben ihm,
bedeckte ihn, mit Treibholz und Eis beladen, der Ostgrönlandstrom; der
eisige Labradorstrom kam von Westen, vereinigte sich mit ihm. Sie fuhren
über die schweigenden Untiefen.

Und plötzlich wurden sie der Turmalinschiffe, der schwimmenden Fracht
unter sich gewahr. In den Bäuchen der Schiffe ruhten die Schleier, die
mit der Glut der Vulkane geladen waren. Im Stoß den rasenden hauchenden
Feuerflächen entrissen. Da fuhr mit ihnen das dröhnende geliebte Island.
Die achtkuppige Hekla, sprudelnd die Lava von der Thorsar bis zum
aufgischenden Meer. Die Schiffe des Myvatngeschwaders fuhren mit ihnen.
Sie hatten die Gruppe der Turmalinschiffe nach den Vulkanen benannt,
denen ihre Kraft entstammte. Das war die Klasse der Leirhukrschiffe. Der
breitschultrige Herdubreid, der schreckliche Dyngja. Die Katla, am
Südhang des Vatnagletschers der gigantische Öräfa. Es war, wie die
Menschen es bedachten, ein Widerwillen in ihnen nach Grönland zu fahren,
diese Schleier, dies Leben und Blut wegzugeben, über das Land zu breiten
nach dem Befehl der Stadtschaften. Herdubreid Katla Hekla Myvatn fuhren
mit ihnen; sie waren ihrer Obhut übergeben. Kein Führer erriet, daß eine
Anzahl der Menschen, die mit ihnen über dem Meer, dem südwärts
treibenden Ostgrönlandstrom hingen, im Kopf hatten, die Turmalinschiffe
mit ihrer Liebe zu decken. Sie wollten die Frachthallen sprengen.
Geschützt von den Menschentransportern fuhren die Turmalinklassen, in
langem Zug. Leichte Fahrzeuge bahnten ihnen den Weg durch das Packeis.
Vorsichtig zwischen Eisbergen führten sie sie hindurch. Aus allen
Schiffen umschwärmten die Turmalingebäude immer Boote; immer waren sie
ihnen nahe wie die Hand einer Pflegerin. Da kam, nachdem sie ziellos
eine Woche gekreuzt hatten, unerwartet der Befehl, alle Maschinen
anzusetzen und sich nach einem Plan um Grönland zu verteilen, vom
Melvilleland jenseits des achtzigsten Breitengrades bis zum Kap Farwel
unter der sechzigsten Breite. Sie sollten die Dänemarkstraße im Osten
durchziehen, im Westen die Baffinbai bis zum Ellesmereland. Es kam auch
der Befehl, nur wenige Schutzschiffe für die Turmalinschiffe zu stellen,
niemand sollte sich zu dicht den großen Frachtern nähern. Die an die
Versenkung der Frachter gedacht hatten, fühlten sich im Augenblick
ertappt. Sie erfuhren bald, was die Führer zu der Warnung bewogen hatte.

Ruhig schwammen die Hallen mit der Last der Vulkangluten über dem
Wasser. Die Schiffe begannen eine merkwürdige Gesellschaft zu bekommen.
Bald hinter Island bemerkten die Menschen der Begleit- und Wachtschiffe
die große Zahl von Fischen, die sich um die Flotte sammelte. Sie schoben
es auf die besonderen Fahrrinnen, die sie gerade nahmen. Schon nach zwei
drei Tagen erkannten sie, daß die Fische hinter den Turmalinfrachtern
her waren. Der braune Tang löste sich nicht von dem Schiffskörper.
Wellen schlugen ihn nicht ab. Wenn Eisschollen eben einen Teil des Bugs
glatt gescheuert hatten, so hingen fast im Augenblick, wie magnetisch
gezogen, fast wie aus dem Schiffe sprießend, neue Tangbüschel an seinem
schweren Rumpf. Die Turmalinfrachter zogen den Tang wie Barthaare hinter
sich. Bei langsamer Fahrt waren die Schiffsleiber von den braunen
grünlichen nassen Büscheln ungeheuer umwallt. Die Schrauben schmetterten
und schlugen sich ihre Drehflächen frei; aber in den langen
Schraubentunnel wucherten die Pflanzen ein, tauchten in den dunklen
engen Kanal am Boden der gewaltigen Fahrzeuge, umwanden die schweren
glatten rollenden Metallbalken. Die Männer mußten herunter in die
eisigen Räume, mit Haken und Messern die bunten Büschel abziehen, die im
Begriff waren, das Schiff zu ersticken. Sie brachten zum Erstaunen der
Besatzungen den schweren Pflanzenfilz herauf. Es waren nicht die
gallertigen Gebilde der zierlichen Algen, die auf den Wellen unter ihnen
schaukelten, wiesenartig dicht beieinander, das Meer olivgrün färbend.
Sondern armdick quellende Sträucher, vielfach verästelt, mit zollangen
scharfgezähnten Blättern; apfelgroße Beeren trieben sie, die ihnen als
Schwimmblasen dienten; wie Köpfe erhoben sie sie. Reinigungskommandos
traten auf allen Frachtern in Tätigkeit. Mit Besen mußten sie die
Algenbüschel von den Treppen herunterstoßen; mit Stöcken schlugen sie
sie vom Gestänge ab. Um die Turmalinfrachter, als wären sie durch
Signale, durch einen Ton, einen Geruch bezeichnet, schwammen Wale. In
wellenförmigem Auf- und Absteigen begleiteten sie die großen Frachter,
drängten sich blind durch die Wachschiffe. Man sah sie mit offenem
Rachen schwimmen, von den rasch stoßenden Schwanzflossen getrieben.
Sensenförmig gebogene lange schmale Zähne standen zu Hunderten honiggelb
auf den großen Kiefern; das Wasser quoll zwischen den Zähnen in den
Schlund; wurde in Springbrunnen weiß aus den Nasenlöchern auf den
schwarzen Scheitel gespritzt. Das Gewimmel der glänzenden dunklen
Rücken, die hohen Wasserstrahlen. Die scheuen Tiere fuhren wie verbissen
hinter den Transportern her. Als die Begleitschiffe Boote gegen sie
aussetzten mit Harpunen, die sie sich zur Unterhaltung anfertigten,
wichen die Tiere aus. Wie man ihnen aber den Weg hinter den Frachtern
verstellte, gingen sie schwanzschlagend mit Zorn auf die Boote los. Die
Lichtanlagen und der Verständigungsdienst von den Frachtern wurde in
diesen Tagen schwächer. Die Ingenieure erkannten, daß die Vulkanschiffe
die Störung in sich selbst tragen mußten. Keine Hitze strömten die Berge
der Steinschleier aus. Man beging die Hallen, durch deren ganze Weite
die Schleier ausgespannt waren. Die ölige Isolierung war nirgends
durchbrochen. Es waren andere Substanzen, unbekannte, die ausgeströmt
wurden. Düster brannten nachts die Vulkanschiffe, hinter einem Nebel
fuhren sie; die Lampen zuckten erloschen zu manchen Stunden. Da gaben
die Führer, in Unruhe geratend, die Weisung, das ziellose Kreuzen zu
beenden, alles bereit zu halten, den Angriff auf Grönland vorzunehmen.

Die Vulkanschiffe aber, schwer sich durch die Eiswüste wälzend, waren
von einem Zauber berührt. Sie fuhren, als wollten sie im Eis versinken.
Eine Nacht langsamer Fahrt genügte, um die Schiffe wie mit Tauen an das
Meer zu fesseln. Der schwimmende abgerissene sterbende Tang wuchs auf,
trieb neue Stiele und Blätter. Die Kanten der Eisschollen waren mit den
Algenvölkern überzogen, die sich an die Schiffsleiber mit langen
Stengeln, palmblattartigen Organen hefteten und die Schiffe mit dem Eis
verklammerten. Mit Brennen und Sprengen wurden die Frachter freigemacht.
Die Menschen auf den Schiffen selbst und in ihrer Nähe wurden
eigentümlich mitgenommen. Nur für wenige Tage konnten Menschen zu den
Turmalinfrachtern abkommandiert werden. Nach kaum einem Tag gingen sie
in einer Müdigkeit herum, die zwangsartig war und die sie vergeblich
durch Bewegungen Waschen von sich entfernten. Wie Opiumraucher setzten
sie sich hierhin, dorthin, taten mühselig ihre Arbeit. Es wurde ihnen
schwer das Gesicht zu bewegen. Mit diesem maskenartigen Ausdruck brach
der Zustand aus. Dabei war ihr Inneres süß bewegt; sie blickten oft
zwischen den Leitern Türen hindurch die Wände Decken, den Himmel an,
sahen Landschaften, in denen sich Bäume überpurzelten, die Wolken sich
lang auszogen, warm heruntertropften, ihnen auf die Brust, die Lippen;
sie leckten, schluckten. Ein heftiges bald unbezwingbares
Liebesempfinden durchlief sie. Die Männer zitterten im Frost der
Erregung, die Frauen schüttelten sich, gingen zuckend langsam. Jedes
Glied an ihnen war mit Wollust geladen, jede Bewegung brachte sie dem
ausbrechenden Taumel näher. Sie umschlangen sich, und wenn sie ihre
Leiber vermischt hatten und voneinander ließen, waren sie ungesättigt.
Sie küßten und umarmten Seile, rieben und schlugen Arme und Beine, den
Rumpf an Treppenstufen. Über Bord ragten die mächtigen Algenstiele; die
zogen sie her, zu denen fühlten sie Verlangen. Das wonnige Wimmern, das
ratlose Seufzen, angstvolle Stöhnen der Nichtzuberuhigenden. Dann
lachten sie wieder, ließen sich und die Dinge los, taten dämmernd eine
Arbeit. Aber der Speichel lief ihnen aus dem Mund, es drehte so weich
hinter ihren Stirnen; sie warfen die Köpfe in den Nacken. Man mußte beim
Fortgang der Eisfahrt schon am Ende des zweiten Tages die Menschen von
Bord reißen. Alle entbehrlichen Kräfte wurden von den Vulkanschiffen
genommen. Die Flotten stürmten durch den Ozean ihren Bestimmungsorten
zu.

Jetzt sah man schon nachts mit bloßen Augen, was in den Riesengebäuden
der Vulkanfrachter lag. Wenn die Sonne versank, Lichter auf den andern
Schiffen aufflammten, fuhren die Hekla Leirhukr Dyngja Katla Myvatn, als
wären sie, auf denen keine Lampe brannte, in ein dünnes Licht gehüllt.
Man konnte die Schiffe im schwarzen Wasser im ganzen Umfang bis zum Kiel
herab erkennen; Schrauben Masten Seile, die andrängenden Pflanzenmassen
zitterten ein feines weißes Licht. Von Stunde zu Stunde wuchs die
Intensität des Hauches. Im Finstern sah man, daß das Wasser viele Meter
um die Schiffe leuchtete. Weiter und weiter entfernten sich die
Menschentransporte und Begleitschiffe von den schwimmenden Speichern;
nur für Stunden wagten sich kleine Mannschaften herüber. Ein Schrecken
hatte alle befallen. Sie lagen zerknirscht auf den Schiffen herum. Was
sollten sie tun? Was sollte man tun mit den schrecklichen Vulkanhallen,
die man hinter sich herzog, die wie Ungeheuer über sie herwuchsen.
Keiner dachte mehr an Sprengung. Die Führer wurden angefleht, die
Turmalinhallen in das hohe Eis hinaufzuführen und dann zu fliehen. Aber
was würde geschehen mit den Schleiern. Die Speicher konnten lostauen,
ins Meer nach Süden getrieben werden, ihre Isolierung konnte zerbrechen;
sie konnten als furchtbare Flammen- und Strahlenwesen gegen die
Kontinente vorgehen. Man mußte sich ihrer entledigen, aber man konnte
nicht fliehen. Nach Grönland. Und die Führer und Besatzungen zitterten,
was geschehen würde, wie es verlaufen würde. Man fuhr. Metallisch
blitzten im Wasser die Scharen der Fische auf. Die Lachse blaugrau mit
dunklen wedelnden Flossen. Der Schwarm der scheuen Makrelenhechte
gefolgt von Thunen und aufspringenden jagenden Boniten. Es war, als wenn
sich die Pflanzenwiesen vom Meeresboden hochhoben losrissen, an die
Schiffskörper hingen. Mit ihrem lebenden Gewichte beschwerten sie die
riesigen Turmalinfrachter. Die schienen nichts davon zu fühlen. Ihr Bug
hob sich von Stunde zu Stunde höher aus dem spritzenden Ozeanwasser. In
den Nächten liefen sie wie glühende Wesen über dem Wasser. Das
Mittschiff folgte, das Achterschiff. Die Schiffe schienen sich bereit zu
machen über den Ozean zu fliegen. In nicht ausdenkbarer Weise, ein Graus
der begleitenden Menschenflotte, überragten die Vulkanklassen die
anderen Schiffe. Mit Bug und Steven, entblößter Außenhaut, liefen sie
ohne zu schwanken auf der Meeresoberfläche wie auf Schienen. Bald mußte
der Kiel die Wasserlinie erreicht haben, die Schiffsschrauben leer in
die Luft schlagen. Und wie sie bergig hoch über den andern in den
Geschwadern rollten, begannen ihre Rümpfe zu torkeln. Wild und brünstig
hoben sich die Schiffe an. Toben und Klatschen war um sie; die Maschinen
in ihren Leibern arbeiteten; eine todesmutige alle Angst verbeißende
Besatzung, stündlich wechselnd, hielt sie in Gang. Die seilartigen
Stiele der Pflanzen, die sich über die Planken und Masten legten, rissen
die fahrenden Schiffe entzwei. Die Eismassen, die sich an ihre Leiber
schmiegten, sich mit ihnen verlöteten, schüttelten sie von sich.
Kilometerweit um die Frachter stießen Vögel auf sie zu; sie fielen über
die Gebäude her, setzten sich auf die kriechenden Algen, auf Stengeln
Blättern an der Außenverschalung krabbelten sie pfeifend zwitschernd
schreiend herum. Tausende von Eistauchern, hell schreiend, flatterten
auf Drähten Tauen, durch die Luken Deckfenster, bedeckten mit ihren
zuckenden befiederten Leibern die Außenbordstreppen, unbehilflich
springend, hielten sich dicht über dem Kiel am Schiffsrumpf
angeklammert. Andrängende aufschnellende Fische jagten sie hoch, der
starke Strahl der Wale wirbelte sie betäubend in die Luft. Über das Eis
von Grönland kamen Vögel herübergeweht.

Es waren keine Schiffe mehr. Es waren Berge Wiesen. Und die Schiffe
klangen. Sie klangen mit demselben hohen Ton, den die Schleier von sich
gegeben hatten, als die Fluggeschwader sie von den Feuerseen Islands
abzogen. Durch das Flügelschlagen Krächzen Zwitschern drang unheimlich
der helle gleichmäßige Ton, der leise sanft aufsurrte, wie der Dampf aus
den Düsen einer Turbine.

Das Land, das die Seefahrer zwischen dem dreißigsten und vierzigsten
Längengrad suchten, war nicht zu sehen. Eine starke Eisbarriere hatte es
um sich gelegt. Aus der Richtung, in der es lag, schwoll scharfe Kälte
und immer neues weißes Eis. Das helle glasige Eis schob sich über die
ozeanische Fläche in Blöcken Schollen Bergen. Je mehr sich die
Geschwader auf der östlichen und westlichen Seite dem grönländischen
Erdteil näherten, um so höhere Berge hatten sie zu umwandeln. Von
Küsten, die man nicht sah, segelten die weißen und bläulichen Massen an.
Eisschollen flogen vor dem Nordsturm her, mit Höckern und Zacken,
drehten sich, knirschten und krachten gegeneinandergeschoben, eine auf
die andere getürmt, kippten überlastet um, schwappten im offenen Wasser
auf und ab. Burgen und Zinnen näherten sich, übereinander gerammte hohe
Stockwerke der Schollen. Durch die Nächte schimmerten sie. Das Wasser,
aus dem sie entstanden waren, spülte an ihnen hoch, troff von ihnen
herunter. Es fiel im Schwall über sie, nagte Spalten in sie hinein. Sie
zogen durch die dämmrigen Nächte wie Fabelwesen, armlange Zapfen hingen
an ihren Balkons, gläsern klirrten sie; mit einem Schlag fielen die
zerbrechlichen Galerien auf die treibenden Schollen.

Die Seefahrer suchten Grönland. Sie waren, wie sie hinter den
sprengenden und rammenden Hilfsschiffen fuhren, schon im Bereich des
Landes; das waren die Vorboten der Gletscher. Wie ein reicher alter Baum
wachsend Jahr um Jahr seine Früchte trägt, die Äpfel, die immer neu aus
diesem Boden steigen, von demselben Stamm, demselben Wesen gebildet und
geboren werden, so lag Grönland jenseits in der Dämmerung, Millionen
Meter breit, trächtig, auf dem schwarzen Meer; Eis wuchs auf ihm, das
Land schüttelte sich nicht. Schweigend, aus der Überfülle glitten die
Massen ins Meer.

Im Osten hinter der breiten Eisbarre trat die Küste, wildes Alpenland
hervor. Dunkle Wasserspiegel der Fjords, schwarze Berggipfel. Von allen
Bergstufen stiegen Gletscher in die Tiefe der Felsgassen. Über die
Gebirgskämme schoben sich Eispyramiden. Die Talfurchen von den weißen
Trümmern gefüllt. In Gaal Hanikas Bai am vierundsiebzigsten Breitengrad
fuhr ein Geschwader ein, in panischer Furcht vor den Turmalinfrachtern,
die sie eskortierten. Sie hatten nur das rasende Gefühl, vor diesen
Schiffen fliehen zu müssen. Sich der Turmaline um jeden Preis
entledigen. Insel Clavering lag in der Bai, gebirgig vergletschert wie
das Land. In den Felsboden der Küste brannten diese Menschen, ihrer
Sinne nicht mächtig, hohe leichte Stangen und Pfeiler ein. Auf Klippen
des flachen Wassers nahe der Küste setzten sie Hilfsträger. Über Pfeiler
Stangen Träger warfen sie die Kristallschleier ihrer Schiffe,
verbrannten augenblicklich die Frachter, die sie entleert hatten. Sie
waren wie Menschen, die Blut an den Fingern nach einem Mord haben und
sich keinen Rat wissen, als sich rasch die Finger abzuhacken. Unter die
Schleier breiteten sie fiebernd die Platten zur Aufnahme der
elektrischen Spannung; zweigten, sich überstürzend, Drähte von dem
großen Kabel ab, das die Expedition hinter sich zog. In einer Nacht fuhr
der Strom aus dem Kabel über die Platten. Die Isolierung der Schleier
schmolz. Weißrote Grelle. Erderschütterndes Donnern. Die Insel warf
weiße Wolken hoch, Dampf rot von unten angeglüht; er schoß wild in
unablässigem Sprudeln auf. Die Anlage zerstört, Pfeiler und Hilfsträger
geschmolzen. Der Schleier quer wirr auf dem Gletscher, fraß sich in ihn
ein. Der hielt nicht still, riß Spalten auf, der Schleier senkte sich in
die Schluchten. Der Gletscher stürzte über den Schleier; das Eis
verdampfte. Dann aber wogten zwei Berghäupter gegen den Schleier an, der
von den angeglühten niedergehenden Gletscherblöcken eingerissen war. Und
wie sie über den lohenden surrenden Kristallen, in das Wolkengebrodel
klafterten und sich breit schleudernd über das Gewebe senkten, wie ein
Ringkämpfer über die Brust des niedergeworfenen Gegners, zersprangen
verbrausten die Kristalle. Die Bergmassen rutschend begannen sich zu
bewegen, als wäre etwas Lebendiges unter ihnen. Sie drückten die
knisternden Schleiertrümmer herunter, rollten überschoben sich fielen
zusammen. Krachend öffneten sie sich über dem begrabenen erloschenen
Gewebe; wie aus einem Schlot gischten Dämpfe aus ihnen. Stundenlang
gischten die weißen und schwarzen Schmelzdünste über der Insel in hohen
auf- und abschwellenden Strahlen. Die besinnungslose nahe Mannschaft des
Geschwaders war mit ihren Schiffen über die Bai geworfen, auf die
Klippen, zwischen die Schollen gestaucht.

Um die Zeit des Vorgehens dieser Schiffe schien eine Panik sich bei
allen Flotten auszubreiten. Man drängte trotz des schweren Ausgangs der
Affäre in Gaal Hanikas Bai auf zahlreichen Schiffen zu ähnlichen
gewaltsamen Akten. Rückwärtsbewegung einzelner Flottenteile,
zersprengtes Vordringen auf das Festland wurde gemeldet. Steinern
blieben De Barros Kylin Wollaston; sie erschienen unter den Besatzungen,
die nach einem Halt suchten. Beschwörend bezaubernd gingen Frauen mit
ihnen über die Flotte; griffen die Verwirrten an: „Denkt an den Myvatn,
an den Herdubreid. Denkt, was ihr schon verrichtet und bewältigt habt,
was hinter euch liegt. Wir geben nicht nach. Niemand von uns wird
nachgeben. Wir erliegen nicht. Ihr vergeßt nicht, wer ihr seid.“ Die
keuchenden Menschen schluckten bissen die Zähne zusammen. Eine
entsetzliche Zeit verlief bis zur Ankunft der Ölwolkenschiffe.

                   *       *       *       *       *

An dem europäischen Sammelplatz der Geschwader, den Shetlandinseln und
Färöer, wurde der Gedanke gefaßt, der die Fortführung der Expedition und
die Ausbreitung der Turmalinschleier erst ermöglichte. Hier arbeiteten
auf den technischen Schiffen, in ihren Laboratorien, Männer, die den
Gedanken der märkischen Angela Castel nachgingen, der Erfinderin der
kriegerischen Rauchbläser. Sie hatte zuerst im großen die trägen Wolken
hergestellt, die sie zur Einhüllung und Fesselung von Heeresmassen
brauchte. Diese schwarzen schweren und violetten Rauchmassen der Castel
waren ohne Zähigkeit; sie zerflossen nach einiger Zeit; Tragkraft
besaßen sie nicht; die Castel hatte sich sehr bemüht, aber vergeblich,
die Massen so kompakt zu machen, daß sie die eingehüllten und gefangenen
Heeresteile zugleich erstickten. In diesen Wochen nun, während die
westlichen Physiker Biologen Chemiker schon schlaff herumgingen unter
den schweren Ereignissen auf Island, unter den gefährlichen Nachrichten
von der Flotte, wurde die Sache des trägen Rauches durch den Londoner
Holyhead, der bald verscholl, weit vorwärts getrieben. Er kam durch
besondere Antriebe dazu, das eigentümliche Gemisch zu finden, das
luftähnlich gasartig sich in der Luft bewegte, sehr zäh zusammenhing wie
eine Gallerte, und mit eigener spezifischer Spannung den Raum erfüllte,
in einer bestimmten Lufthöhe verblieb, ein Zwischending von Gas und
Flüssigkeit.

Ein Syrier Bou Jeloud war auf die erregende Nachricht von dem Plan
dieser Expedition mit Leuten seiner Sippe in den Bereich der nördlichen
Stadtschaften geflogen. Er kam aus der Steppe südlich von Damaskus. Die
Wüsten Il Horra, Il Ledscha und Diret il Filul hatten ihn getragen. Über
die flachen Kegel, schwarzen Blöcke der trockenen heißen Landschaft war
er mit den Anaze, seinem Stamme, dessen Reste sich erhoben hatten, im
Sommer wie ein Vogel geschossen. Im Winter ritten sie durch die Steppe
nach Arabien, die Ortschaften zu brandschatzen. Er war nur einmal an ein
Wasser gekommen, an das Tote Meer. Nur Pferde und Kamele hatte er
bestiegen. Die braungelben Männer, sehnig, mit spärlichen schwarzen
Bärten, fuhren mit Entzücken über das sturmbestrichene Meer nach dem
Sammelort, den nördlichen Shetlands. Sie zeigten sich die Wellen am Bug
ihres Schiffes, die Streifen an den Seiten, die Gischt am Ruder. Es war
die Wüste, eine andere Wüste. Nicht satt zu sehen an diesem Rieseln
Überschaukeln Sichdurchkreuzen Schwingen. Dünen, die der Wind schnob und
ebnete. Sie verstanden sie gut, die Wellen. Dann tauchten Quallen im
Wasser auf, braunschwarze vielarmige Kopffüßler, Fischschwärme
zickzackten. Sie hatten keinen Wunsch, dies zu ändern. Auf den
Schiffdecks stehen gefiel ihnen, und die Sucht unten zu sein, auf dem
Wasser selbst, das der Wind strich.

Gäbe es ein Pferd, ein Kamel, das darauf reiten könnte, über das Wasser
weg. Und die braungelben Männer, wie sie sich im weißen Burnus über das
Eisengeländer legten, kniffen die Augen, lächelten: „Die schwarzen
Steppen von Diret il Filul. Ah, die Luft ist hier kalt. Ei, es wäre
schön, schön, über das Wasser zu reiten in einer langen Linie.“ Sie
summten unter sich.

Holyhead, ein stiller Londoner Ingenieur, lächelte Bou Jeloud an: „Ich
mache dir Eis. Dann kannst du über dem Wasser reiten, soweit du willst.“
„Weißt du, was ich will?“ „Ich blase dir Sand unter die Füße. Ich streue
Sand auf das gefrorene Wasser. Ihr könnt, wenn ihr wollt, zu Fuß oder
reitend nach Grönland.“

„Du machst mir Mondlandschaften vor. Hah! Was seid ihr für Krämer. Will
ich Theater! Ich glaube schon, daß ihr alles könnt. Aber mir liegt
nichts an dem, was ihr könnt. Nicht soviel.“

Holyhead lächelte ernst und freundlich, als die Gelbbraunen feierlich
davongegangen waren. In seinem Innern aber schwieg etwas. Er hatte den
Wunsch, dem schlanken Bou Jeloud wohlzutun. Welche kindlichen schönen
Wesen sie waren. Er wollte ihnen gewähren schenken, was er konnte. Sie
sollten ihn wieder anlächeln. Holyhead, der plumpe schwarzbärtige
melancholisch über sich hängende Mann, war schon gelähmt wie viele auf
den Schiffen, die sich ansammelten. Das Schweigen der Senate über den
Verlauf der Expedition täuschte ihn nicht. Die furchtbaren Vorgänge auf
Island, das menschenverschlingende geheimnisvolle Geschehen
erschütterte, schwächte ihn, machte ihn müde. Was war noch das Leben. Er
fuhr auf sein Arbeitsschiff. Bou Jeloud sollte lächeln.

Er traf eines Morgens die Beduinen in ihrer gewohnten Haltung, neugierig
freundlich zärtlich an dem Geländer ihres Schiffes liegen. Das Wasser
flutete unten, Wind floß um sie. Eisschollen von Norden angetrieben. Bou
Jeloud schob die Hände unter seinen Gürtel: „Nicht auf dem Schiff sein.
Wir warten noch eine Woche, vielleicht zwei, bis unsere Flotte zusammen
ist. Das soll ich ertragen. Und dann die Seefahrt.“ Der ältere breite El
Irak: „Wir werden Geduld haben.“ „Wozu, El Irak? Niemand zwingt uns
Geduld zu haben.“ „Was meinst du?“ „Es ist nicht meine Sache. El Irak,
ich bin ein Gefangener. Ich steh am Gitter und blicke herunter. Ich mag
ein Schiff nicht.“ „Nun, Jeloud.“ „Ich bleibe nicht lange hier.“ Sie
flüsterten finster zusammen. Plötzlich war der auflachende El Irak
verschwunden. Und wie sich der weiße Holyhead dem jungen Jeloud näherte,
starrte der schlanke Mann im Burnus gespannt auf das Wasser, schrie,
warf die Arme hoch: „Seht! Da! Da Irak! El Irak! El Irak!“ Das Geländer
umsäumt von gurrenden schwatzenden Menschen. Unten ein leeres Boot. Auf
einer Eisscholle gebückt der breite Irak, Wasser schöpfend; er spritzte
es hoch um sich. Er spazierte lachend am Rand, der Scholle entlang.
Glücklich kreischend winkten sie ihm von oben, traten mit den Füßen. Die
Scholle fuhr, umfuhr eine Klippe. Rasch entfernte sie sich seitwärts.
Sie streckten die Hälse. Da wurde wieder Irak auf der Scholle sichtbar;
er war gestürzt, kletterte hoch. Mit dem abgerissenen Burnus winkte er
nach dem Schiff herüber angstvoll. Die Beduinen schrien. Auf dem
Hinterdeck machte sich ein Flieger los. Da hatte sich auf dem freien
Wasser der Scholle Iraks eine möwenbesetzte zweite Scholle genähert,
eine kantige bergartige. Iraks überflutete Eisplatte krachte gegen den
trägen weißen Berg, schob sich splitternd an ihm hoch; die Möwen
schossen pfeifend auf. Unter den gläsernen Trümmern El Irak
verschwunden. Flieger Boote im Wasser. Schollenlager und Eisbröckel
segelten feierlich im Meer. Die Möwen senkten sich, liefen die
Randlinien des Blocks ab.

Holyhead verbarg sich die nächsten Tage vor den Syriern, die stundenlang
auf einem umzäunten Deckteil Gebete verrichteten. Eine Frau mit vollen
braunen Armen stand bei dem finsteren Jeloud. „Dir ist nicht wohl bei
uns, Djedaida. Du möchtest lieber in Il Horra sein.“ „Ach, Jeloud, ich
möchte lieber in Il Horra sein.“ „Ich auch, Djedaida. Wir sind eine
Handvoll Esel. Die Stadtschaften wollen einen neuen Erdteil machen. Was
geht es mich an.“ Djedaida warf die üppigen Lippen auf: „Der Wind ist
schön. Das Wasser könnte so schön sein. Es ist nicht sehr kalt.“ Die
Fäuste ballte Jeloud: „Ich geh vom Schiff. Wir wollen von den Schiffen.
Ich laß mich nicht verhöhnen und versuchen wie El Irak. Ich fahre nach
Hause. Spring ins Wasser. Ich hasse das Schiff. Vielleicht wollen sie
uns verführen, daß wir ins Wasser springen. Ich lieg nicht wie ein
angebundenes Pferd. Es ist genug, Djedaida.“ Sie machte trübe Augen. Das
Meer klatschte rollte schwer, züngelte über Riffe.

„Ich will ihn zum Lächeln bringen“, dachte der schwarzbärtige Holyhead.
Djedaida von Damaskus, in ihrem gelben Kleid, das feine gelbe Gesicht
blickte ihn verächtlich an; sie zog den Schleier über den Mund. „Auch
sie ist lieblich, diese Djedaida. Sie trauern. Oh, wenn sie nicht
weggehen. Wieviel schöner ist es, ihnen wohlzutun, als an Grönland zu
denken.“

Der weiße Ingenieur berührte den Arm Bou Jelouds, der sich ihm zudrehte.
„Ich habe dich seit dem Unglück El Iraks nicht gesehen, Jeloud. Gehst du
mir aus dem Wege?“ „Dir? Wer bist du?“ „Es macht dir keine Freude,
sagtest du, wenn ich dir Sand unter die Füße blase, auf dem gefrorenen
Wasser. Daran liegt dir nicht, sagtest du.“ Bou Jeloud legte den Arm um
den Hals Djedaidas: „Sieh diesen Mann an, Djedaida. Er wird Grönland
enteisen. Mit mir will er spaßen.“ Die Frau den Blick zu Boden: „Komm.
Wir gehen von Deck.“ Auch der Weiße blickte zu Boden: „Ich konnte El
Irak nicht retten, Jeloud. Aber ich möchte dich fragen, ob du Geduld
haben willst. Willst du Geduld haben, Jeloud, und du, Djedaida?“ Der
gelbbraune Syrier, die Augen gelangweilt schließend: „Was will der
gelehrte Mann aus London?“ Holyhead hob den Blick; er freute sich über
den Schmerz Jelouds: „Komm auf mein Arbeitsschiff, Bou Jeloud. Ich will
dir etwas zeigen.“ Djedaida hielt zuckend Jelouds Arm: „Geh nicht.“ „Ich
komme nicht, Holyhead. Du willst mich verführen, ins Wasser zu springen,
wie Irak.“ „Ich bin euch wohlgesinnt, dir und deiner Frau Djedaida. Mir
liegt nicht viel an Grönland. Die Sache der großen Stadtschaften, wem
ist sie noch etwas. Komm, und wenn du willst, du auch, Djedaida. Wir
wollen etwas tun, damit ihr eure Sehnsucht nach der Wüste El Horra
verliert. Das Meer ist auch schön. Ihr werdet froher sein.“ „Ich will
dir etwas sagen, Holyhead, weißer schlauer Ingenieur. Du glaubst, ich
bin ein brauner Tölpel und mit zehn Worten zu verwirren. Ich werde auf
dein Schiff kommen. Ich fürchte mich nicht.“ Djedaida ließ seinen Arm
los. „Ja, ich werde auf dein Schiff kommen. Ich fürchte dich nicht. Ich
fürchte mich nicht vor ihm, Djedaida. Er hält mich für den und jenen.
Ich komme mit, Holyhead.“ Djedaida war zurückgetreten. Sie hielt den
Kopf gesenkt, den Arm über der Brust gekreuzt. Flüsterte: „Versprich
mir, Holyhead, daß ihm nichts geschieht.“ Der schwarzbärtige Ingenieur:
„Komm doch mit, Djedaida.“ „Versprich mir, daß ihm nichts geschieht.“

Mit dem beglückten im Innersten erzitternden Weißen ging Bou Jeloud.
Seine Stammesgenossen sahen ihn ganze Tage nicht. Er warf sich eines
Abends vor Djedaida, grub seinen Kopf in ihren Schoß. Drückte seinen
Mund gegen ihre Brust, rieb sein Gesicht an ihren kalten Wangen,
stöhnte. Es ging ihm gut. „Süße Heimat. Liebe Wüste. Lieber Felsen.
Lieber Sand. Wir kommen, Djedaida, auf die Wellen, die Wellen, denk dir,
die Wellen. Es wird geschehen.“ Sie sah zu ihm herunter: „Was hat er aus
ihm gemacht.“ Aber Bou Jeloud zog sie in seine Kammer, umarmte sie, bis
sie schmolz. Er schlief stundenlang in der Kammer bei ihr, fest wie nie
seit sie auf dem Schiffe waren.

Sie ließ ihn, wie er schlief, liegen, huschte zu Holyhead: „Was ist mit
Jeloud?“ „Sag du, Djedaida.“ „Er stöhnt. Er ist wild. Er liegt in seiner
Kammer.“ „Er war froh. Er klagt mich nicht an.“ „Du hast mir
versprochen, es soll nichts mit ihm geschehen. Ich – freue mich nicht
über ihn.“ Sie ging in die Kammer zurück, wo er noch schlief, legte sich
zögernd neben ihn. Als sie seine Atmung belauscht hatte, drückte sie
sich an ihn. „Djedaida“, flüsterte er träumend in der Finsternis, „ich
werde über das Wasser reiten. Das Wasser treten wir mit den Hufen. Wir
können es. Das Wasser. Wir werden nach Grönland reiten.“ Sie wand sich.

Bou Jeloud lag nur noch im Schiff des Ingenieurs. Einmal schlich die
Frau herüber, ihn zu beobachten. Da stand dünner Rauch vor einer Tür.
Der Rauch war zerflossen wie ein Spinngewebe, aber er verschob Djedaidas
Schleier über dem Scheitel. Sie faßte hinein. Er war wie Gummi,
widerstrebend, ließ sich hochdrängen, stellte sich nachgiebig wieder
her. Der schwarzbärtige weiße Holyhead trat im Arbeitsmantel vor die
Tür, sah, die Lippen verziehend, der Frau zu. Er faßte, die Frau
anblickend, mit zwei Bewegungen hinauf, zog den Rauch, als wäre es ein
sanfter tierischer Körper, zu sich herunter an die Brust, wo er ihn wie
eine Katze drückte und verwahrte. Kleine Fetzen hatten sich bei dem
raschen Zugriff gelöst, die zog seine linke hohle Hand sanft nach, schob
sie gegen seine Brust. „Komm, Djedaida. Jeloud ist hier. Wir freuen uns,
dich zu sehen. Wir verbergen dir nichts.“ Sie blieb unsicher vor der
Tür, die er offen hielt, blickte in die Luft, an Holyheads Brust: „Was
war das? Der Rauch. Was war das?“ „Komm, Djedaida, wir bitten dich zu
uns. Bleibe nicht vor der Tür.“ „Was ist der Rauch? Was machst du damit?
Du hast ihn an der Brust.“ Der Weiße lächelte: „Ja, siehst du. Das ist
der Rauch, und das ist kein Rauch. Wir haben es gemacht. Jeloud und ich.
Es ist schön, nicht wahr? Aber komm herein zu uns.“ Die gelbbraune,
schmalschultrige Frau stand da, bekam den Blick nicht frei von seiner
Brust, die Stirne hochgezogen. Tonlos stieß sie hervor: „Ich danke. Ich
will gehen. Ich kam ja nur für einen Augenblick.“ Und als Jelouds Stimme
aus dem brodelnden Raum sang, drehte sie sich rasch um, rannte die
Treppe hinauf, neben einem Rauchballen, vor dem sie schreiend abwich.
Zwei Seeleute machten Jagd auf diesen Ballen. Sie haschten ihn. Er
schwebte plötzlich unbeweglich über einer Stufe. Die lachenden Männer
suchten ihn zu zertreten, höher zu pressen. Mit den Schultern drängten,
schoben sie an ihm. Djedaida, stehengeblieben in einem unbezwinglichen
Drang, angstbeklommen, einer Verwirrung nahe, sah ihnen von oben zu,
beide Hände an dem verschleierten Hals, sah, wie sie spaßend mit einem
Brecheisen auf den Rauchballen schlugen, das Eisen von unten in die
weiche Masse stießen, die Stange gegen die Treppenstufe stemmten. Wie
ein Pendel bewegte sich das Eisen ohne Stütze mit den Schwankungen des
Schiffes. Vor Lachen schütteten sich die Männer aus, auf die Knie
gebückt, winkten der Frau herunter. Sie hastete über das Deck.

Jeloud, der junge stolze Beduine, ihr Mann, fragte nicht nach ihr, sah
sie wenig. Glühend prahlend stand er unter den anderen Beduinen. Wild
freudig, mit schweifenden Augen wie ein Betrunkener lief er manchmal der
Frau nach, suchte sie zu fangen, die sich ganz verschleiert hatte. Sie
rang von ihm ab, bat hinterhältig leise: er möchte sich doch nicht
seinem Werk entziehen, er möchte sich doch nicht unwürdigen
Zerstreuungen hingeben. Jeloud klatschte in die Hände: „Habt ihr gehört?
Mein Werk hat Djedaida gesagt. Ja, es ist mein Werk und Holyheads auch.
Du bist süß, meine Frau Djedaida. Bald werden alle alle sehen, was wir
geleistet haben.“ „Wer sind ‚wir‘?“ „Holyhead, mein Freund Holyhead und
ich. O, er kann viel. Wir werden etwas Wunderwunderbares schaffen.“ Sie
hauchte: „Ja, ich bin stolz auf dich.“ Ihre Zähne knirschten. „Wir
werden über das Meer reiten, Djedaida. Das wird geschehen. Was meinst
du. Ich füttere schon mein Pferd unten im Schiff mit doppelter,
dreifacher Ration. Es soll sich mit mir freuen auf die große Stunde. Da,
sieh das Wasser an.“ „Ich sah es schon, Jeloud.“ „Nimm den Schleier
herunter. Du kannst durch den Schleier nicht sehen.“ „Ich kann durch den
Schleier sehen.“ „Nein, nicht genug. Gib doch, gib doch. Siehst du, da
ist er. Nun wirst du sehen. Sieh da, Djedaida, meine süße Frau, mein
Honig, mein Labsal, dies sind die Wellen. Das sind sie. Die grauen und
grünen und weißen. Sie sind noch schöner als unser Sand in Il Horra. Da
werde ich eines Tages heruntersteigen, mein Pferd mit mir. Denk dir, das
wird geschehen. Wie El Irak werde ich heruntersteigen, aber nicht
stürzen. Ich nicht. Bei Allah, ich nicht. Auf meinen Braunen werde ich
springen, auf meinem Sattel werde ich sitzen, wie damals, Djedaida, als
ich dich holte. – Aber warum weinst du?“ „Ich weine? Gib mir meinen
Schleier wieder.“

„Du meinst, ich stürze, Djedaida? Ich stürze, es geht mir wie El Irak!
Oha! Keine Furcht, du Süße. Ich werde nicht stürzen. Wie schön du bist.
Weine doch nicht. Wir erproben alles gut, Holyhead und ich.“ „Gib mir
meinen Schleier!“ sie schrie, „gib mir meinen Schleier. Du bist mein
Mann. Du kannst mir meinen Schleier nicht verweigern.“ „Was ist,
Djedaida?“ „Meinen Schleier. Ich bitte dich.“ „Da. Da ist er. Da hast du
ihn. Ich wollte dir das Meer zeigen. Nun habe ich dich gekränkt? Was
habe ich getan? Jetzt seh ich dein Gesicht nicht. Jetzt muß ich träumen,
wie lieblich du bist.“ Sie ließ ihm ihre Hand. Ihre Schultern zitterten
heftig. Er aber warf, als sie ging, selig die Arme hoch: „Sie trauert!
Sie hat Furcht um mich! Und ich werde es doch können!“

Ein neuer Menschentransport nach Grönland war abgegangen. Holyheads
Versuchsschiffe blieben zurück. An dem Sammelplatz wurde bekannt, daß
Holyhead, dem Engländer, etwas Besonderes Unerhörtes geglückt sei, ein
Syrier sei sein Gehilfe gewesen. Eines Nachmittags ordneten sich Boote
vor Holyheads Arbeitsschiff von allen Fahrzeugen. Die Luken von
Holyheads Sitz wurden mittschiffs geöffnet, dicht über der Wasserlinie
weite schornsteinartige Röhren aus den Luken geschoben. Aus ihren
trichterartigen Mündern quollen in breiten vollen Lagen weiße
Dampfmassen, die sich, wie sie die Trichter verließen, senkten,
auseinandergingen, über dem Wasser sich ausbreiteten, die
Wasseroberfläche überzogen. Flach und dicht legte sich der Dampf auf das
Wasser, an das Wasser. Mit den Schlägen des Meeres hob er sich. Nach den
Seiten quoll und flatterte die schwebende Watte, der Nebel in Fetzen
auseinander; die Boote in der Nähe schob der Dunst unwiderstehlich
beiseite. Sie schlugen mit Rudern gegen ihn; als wenn sie auf starken
Kautschuk oder Kork schlügen, prallten die Hölzer von dem weißen
andrängenden Hauch ab.

Eine schräge Holzbahn wurde auf das Wasser geworfen. Ein Pferd
heruntergejagt, stand angstvoll wiehernd, im Kreis um sich springend,
auf der nicht weichenden, sich dellenden Nebellage. Ein gelbbrauner Mann
im Burnus mit bunten Bändern am Gürtel stolzierte winkend die Holzbahn
herunter. Streichelte das scheue Tier, das sich hinwarf, zog es auf,
bestieg es, ritt einen Kreis auf der Nebellage. Jubelndes Pfeifen,
Sirenenschreie von den Schiffen.

Glücklich hielt am Abend der ernste Holyhead die Hand des Syriers.
Jeloud umarmte ihn. Es war fast mehr, als der Weiße ertrug. Sie feierten
die Nacht durch. Jeloud wollte am Morgen von Schiffen begleitet seinen
Plan ausführen: über das Meer reiten; wenn es ging, wenn es ging bis an
das arktische Wasser.

Am Morgen dieses Tages verließ Djedaida, die sich eingeschlossen hatte,
ihre Kammer. Suchte Holyhead, der noch von der Nacht schlief. Sie
wartete geduldig auf dem Deck seines Schiffes. Um Mittag sah sie ihn,
zog ihn, im Gang beiseite: „Wie lange denkst du noch zu leben, Holyhead?
Schwarzbärtiger Teufel, was hast du noch vor? Du hast keine Furcht vor
mir.“

„Djedaida, ich kann nicht hinter deinen Schleier sehen, ob du ernst
bist.“ „Ich mache solchen Spaß mit dir, wie du mit mir gemacht hast.“
„Djedaida.“ „Der Name ist nicht für dich bestimmt. Der ist nicht für
dich.“ Wortlos betrachtete Holyhead die Zitternde. Heiser, sich an die
Brust fassend: „Komm auf meine Kammer. Steh nicht hier.“ Sie schlich
hinter ihm, schloß die Tür, warf tief atmend den Schleier über die
Schulter ab, an der Wand stehend. Er kauerte auf einem Schemel: „Was
habe ich getan? Habe ich dich gekränkt? Indem ich Jeloud diese Freude
bereitete?“

„Du bist ein Teufel, dem ich keine Antwort schuldig bin. Man sollte dich
zurückjagen in deine Stadtschaft. Aber jetzt hast du dich verfangen.
Jetzt ist es vorbei.“ Holyhead betrachtete sie, betrachtete seine Hände,
seufzte: „Oh bin ich traurig.“ „Sprich nichts. Deine verfluchte sanfte
Stimme. Du Heuchler. Hinterlistiger Bösewicht. Verführer,
Menschenverderber, wie die Weißen alle.“ „Frau des Jeloud, wenn ich dich
bitten könnte, mir zu verzeihen.“ „Höhne, höhne nur, Holyhead. Ich
ertrag es. Bereuen wirst du, bereuen, bei Allah.“

Er hob den bärtigen Kopf, seine Hände fielen neben die Knie: „Was soll
geschehen?“ Sie glühte aus dem Winkel: „Ich betrachte dich noch. Hab
Geduld.“ Durch die Kammer lief sie, der Schleier fiel hinter ihr. Sie
suchte mit den Händen auf dem Tisch; in dem Wandschrank: „Was hast du
hier? Du hast doch eine Waffe. Womit du mich vergiften oder verwirren
oder verführen oder erschlagen willst. Zeig. Wo hast du sie?“ Sie lief
auf ihn zu, zerrte ihn hoch: „Du hast sie auf der Brust. Mach auf. Nimm
das Leder weg. Da.“ Sie griff die revolverartige Waffe, drehte sie. Er
hielt die Augen geschlossen. Sie wartete. Er öffnete sie nicht. Sie
schüttelte sich verächtlich: „Was hattest du gegen mich vor?“ Die Waffe
fiel vor seine Füße. Da sank Holyhead noch tiefer zusammen, öffnete
seine ganz fernen nicht sehenden Augen, die in die äußeren Außenwinkel
auseinanderwichen, bückte sich nach der Waffe: „Ich werde mich
auslöschen.“ Ihre Hände krampften sich: „Tu’s. Du verdienst es.“ Er
stand, hauchte, das Metall in der Hand: „Ich verdiene es. Wer weiß etwas
davon? Im Leben vom Tode umschlungen. Ich weiß nicht, ob ich den Tod
verdiene. Nun habe ich auch mit dir eine Berührung gehabt.“ Sie irrte
durch seinen Raum: „Was hat er hier? Was hat er hier? Maschinen zum
Verführen, zum Verzaubern. Zeig sie mir. Mach mir die Schränke auf, ich
will alles sehen. So. Das hat Jeloud gesehen. Muß ich jetzt ins Wasser
springen? Das hast du alles gemacht. Laß dich ansehen.“ Sie stierte ihn
an, suchte in das fremde Gesicht einzudringen: „Allah. Ein Weißer mit
einem langen Bart. Ich muß zu Jeloud.“ Sie ächzte, lehnte matt an einem
Schrank, wimmerte: „Ich bin verloren. Was soll ich tun?“ Und winselte
eine Zeitlang, bis sie plötzlich innehielt, ihr Gesicht leer wurde;
gedankenlos lächelte sie: „Was tu ich. Es ist ja schon gut.“ Und
wiederholte: „Es ist schon gut. Gut. Ja, es ist schon gut.“ Unter einem
öden Gefühl, einer aufsteigenden Finsterheit, einer Furcht, – was für
einer Furcht –, bewegte sie den heißen Kopf. Holyhead stand an der Tür.
„Ich will dir sagen, Holyhead, was jetzt geschehen wird. Du hast ihn
verführt. Warum hast du das getan? Warum hast du ihn von unserem Schiff
geholt?“ „Er sollte mich anlächeln.“ „Und ich?“ „Was?“ „Ich war seine
Frau.“ „Ich habe dir nichts genommen. Bin ich ein Weib?“

„Gut!“ schrie sie, „das hast du gut gesagt. Hast du ihn gesehen? Hast du
Jeloud nicht gesehen? Ein stolzer Beduine, ein Anaze, ha! Glühend,
tanzend; auf Wolken reitend! Hast du gesehen, bist du selbst verzaubert?
Das war mein Mann. Ich bin auch kein Weib. Gut hast du gesprochen. Ich
hasse, hasse ihn. Morgen wird er mit seinem Pferd unten reiten. Er
füttert es selbst. Wenn es ihm vorher krepiert. Wenn das Brett bricht,
auf dem sie herunterlaufen. Wenn deine Nebel nichts taugen und er
verschlungen wird mit dem Pferd und weg ist.“

Sie hielt sich den Schleier vor das Gesicht. Holyhead atmete heftig,
stützte sich am Tisch: „Ich will gehen. Oh ich mag nicht mehr. Ich will
gehen, Djedaida.“

Sie schluchzte krümmte sich über dem Boden, zerriß sich die Haare: „Ich
kann nicht leben.“ „Oh. Ich gehe schon.“ Sie hielt ihn an den Händen,
zog sich an ihm hoch, winselte stöhnte: „Warte einen Augenblick, sanfter
Tiger. Ich sehe dich noch an, sanfter Tiger. Lauf mir nicht weg. Du hast
mich arm gemacht. Du bist mir von ihm zurückgeblieben. Bereu, was du
getan hast.“ „Ich kann nicht bereuen. Ich kann jetzt nicht lügen. Er war
mir ein Glück. Eine süße Freude.“ „Siehst du. Das sagst du mir noch.
Wirst du tun, was ich will?“ „Ja, Djedaida.“ „Alles?“

„Alles.“ „Willst du den Jeloud umbringen?“ „Du bist irrsinnig.“ „Den
Jeloud umbringen.“ „Nein.“ „Tu es“, sie keuchte, „ja tu es.“ „Ich tu es
nicht.“

„Für mich, Holyhead, bring ihn um. Ich bitte dich drum. Du kannst alles.
Du hast die Wolken gemacht. Bring ihn um, mach ihn weg. Für mich.“ „Ich
tue es nicht.“ Erst brach ihr Schluchzen hemmungslos auf. „Für mich. Für
mich.“ Dann griff sie ihm an den Bart. Haßstarre Züge, leere nicht
sehende Augen. Sie preßte seine Hände: „Du mußt, – du mußt mit, mit mir.
Es bleibt nichts übrig. Dann mußt du mit mir. Dann laß ich dich nicht
los. Dann kommst du mit. Was – sagst du?“ „Du verlangst, ich soll mit
dir.“ „Ja du kommst mit. Wir fahren heute. Oder morgen. In meine Heimat.
Du wirst Jeloud nicht mehr sehen.“

Und am Abend verabschiedete sich Holyhead von seinen Ingenieuren
Technikern Physikern. Die Shetlandinseln bekämen ihm nicht gut. Er ginge
sich erholen. Nicht mehr brachte er hervor. Verfallen, wie vergiftet sah
er aus; vielleicht hatte er zuviel mit den neuen Stoffen gearbeitet. Als
am Vormittag Bou Jeloud, der Syrier, von Booten und Schiffen begleitet,
den ersten Ritt über dem Meere antrat, – nach allen Stadtschaften der
Kontinente wurden die stolzen erschütternden Bilder geleitet, – flogen
Djedaida und Holyhead schon über die deutsche Tiefebene. Nach Süden und
Osten flogen sie. Die Menschenansammlungen und Riesenstädte wurden
seltener. Das blaue warme Meer kam, kleine Inseln. Die Küsten eines
neuen Landes tauchten auf, gelbe Berge, weite leere Sandflächen. Bei
Damaskus bestiegen sie Pferde. Während der ganzen Fahrt hatte der Weiße
nicht das Gesicht Djedaidas gesehen. Als ein Trupp schwärmender Beduinen
sie auf der steinigen Hochebene anhielt, Djedaida sich nannte, wurde der
Weiße von ihr getrennt, zwischen die Männer genommen. Anaze mit
Djedaidas Sippe lagerten bei Ed Daba.

Die Frau bestellte ein Gericht, erklärte vor dem Scheich: „Bou Jeloud,
meinen Mann, wollt ihr sehen. Ich hab’ ihn nicht. Er hat sich mit Wolken
beschäftigt, auf denen er reiten will. Er hält nicht mehr zu uns. Ist
kein Anaze.“ „Wo ist er jetzt?“ „Ich hoffe, er ist tot. Er wollte nach
Island reiten, wo die Städte die Erde zerreißen. Ich hoffe, er ertrinkt
mit seinem Pferd oder er verbrennt.“ „Du haßt ihn sehr.“ „Ich war seine
Frau. Er hat mich verraten.“ Der Richter blickte Holyhead an: „Berühr
den Sand mit der Stirn, bevor du sprichst. Wer ist der Mann?“ „Der
Jeloud verführt hat. Ein Wesen –“ sie brach in leidenschaftliches Weinen
aus – „ich wünschte, das Meer hätte ihn verschlungen, bevor wir ihm
begegneten. Wir hatten nichts als die Reise vor, Jeloud war neugierig,
ich konnte ihn nicht zähmen. Der Mann hat sich Jelouds bemächtigt und
sich alles Schlechten in Jeloud bedient. Bis er nicht mehr mein Mann
war, sondern sein Diener, dieses Affen Diener, dieses Affen, der Spiegel
für sein häßliches ziegenbärtiges Gesicht. Du Hund, sag belle, warum ich
dich hergebracht habe. Bring es heraus, wenn du es fertig kriegst. Da
steht der Richter.“

Holyhead, die Hände auf den Rücken gebunden, zwischen zwei
Lanzenträgern, betrachtete aus leeren braunen Augen die Frau. Sprach
nichts. Sie warf sich auf den Boden: „Gib ihn mir. Ich will mich rächen.
Muß ich mich nicht schämen, an diesen habe ich Jeloud verloren.
Seinetwegen hat er mich verlassen. Gebt ihn mir.“ Der Richter flüsterte
lange mit den Männern: „Djedaida. Es tut uns leid, daß du ohne Bou
Jeloud zurückgekehrt bist und uns nicht berichten kannst, wie lächerlich
sich die Städter benehmen. Und wie die große Expedition nach Grönland,
von der sie solch Aufhebens machen, verläuft. Deine Brüder sagen, es
würde dich trösten, wenn du diesen Mann umbringst. Wir wollen ihn gar
nicht ausfragen. Es lohnt nicht zu hören, was ein Ungläubiger sagt. Nimm
ihn. Was du willst, tu mit ihm.“

Darauf stellten die Brüder der Djedaida zwei Mann, die ritten und
Trommeln an ihren Sätteln hatten. Auf einen Klepper hoben und banden sie
Holyhead. Mit ihm ritten sie durch die Wüste und Hochebene, nach
Südosten in der Richtung auf Beni-Sochr, trommelten durch die Ansiedlung
und Lagerplätze.

Djedaida in Witwentracht ritt neben ihnen. Der gebundene Weiße stöhnte.
Einen Mundschleier trug er, fast nie öffnete er die Augen. Verlangte
nichts zu trinken und zu essen. Schräg nach vorn abgesunken saß er, die
Beine mußte man ihm unten zusammenbinden, das Pferd schaukelte ihn hin
und her, kippte ihn fast um. Man flößte ihm abends Wasser und breiige
Datteln ein. Er schlief nicht. Kniete halbe Nächte, verfluchte sich,
Holyhead, sein Schicksal, die Städte, in denen er gelebt hatte, seine
Eltern, seinen Leib und seine Seele. Der schwarze Bart wuchs ihm lang,
die Backen fielen ihm ein. Wenn er sich zerrissen hatte, strömten ihm
Tränen über das Gesicht. Bei Tag rüttelte ihn Djedaida wach, betrachtete
ihn. Er sah nicht, daß sie manchmal von ihm weglief, sich versteckte,
Gesicht und Brust schlug, sich in die Finger biß und nicht zum Weinen
kam. Wenn er sich wie einen Klotz rütteln ließ und torkelnd dastand,
zischte sie: „So will ich dich nicht. Was ist mit dir? Bist du ein Mann?
Ha, du. Wir reiten weiter. Sieh mich an.“ Aber er sah sie nicht an. Man
trieb ihn auf den Klepper. Die Frau ritt neben dem zerlumpten hängenden
Weißen. Kinder auf den Lagerplätzen warfen Sand und Hölzer nach ihm. Der
Haß der Beduinenfrauen war groß, sie ohrfeigten ihn, hetzten ihn
aufzuhängen, bespritzten ihn mit Pferdejauche. Wie sein Schatten
Djedaida neben ihm. Bewachte jede Bewegung, die an ihm geschah.
Mißtrauisch, die Lider senkend, drohend still.

Die Männer von Beni-Sochr, als sie das hängende stumme Menschengerüst
auf dem Klepper sahen, wollten ein Ende machen, die unersättlich
rachsüchtige Frau von ihm unter einem Vorwand entfernen und ihn
beseitigen. Djedaida fiel das Flüstern und Abseitsstehen auf. Sie hockte
mit einem Hund in der Nacht vor dem Zelt, in dem der Weiße lag. Da
wagten sich die Männer nicht an sie heran, wurden erbittert. Sie hielten
sie durch falsche Wegangaben einige Tage in ihrer Nähe. Durch einen
Trommler erfuhr die Frau, man hatte sich verabredet, den Weißen bei Tal
Reinah zu erschießen. „Erschießen. Von weitem erschießen. Das glaub ich.
Die Räuber.“ Wie es finster war, weckte sie die Trommler, sie sollten
die Pferde rüsten. Sie tastete sich im Dunkeln zu Holyheads Lager,
schüttelte ihn. Er stammelte: „Wer schüttelt mich. Ich bin ja wach.“
„Holyhead. Ich bins, – Djedaida. Steh auf. Wir müssen weg.“ „Was ist?“
„Auf. Wir müssen weg. Sie wollen dir ans Leben.“ „Wer bist du?“
„Djedaida. Oh Allah. So hör doch. Mach dich auf. Wir sind in einem
Räubernest.“ „Sie wollen mich töten? Sie wollen mich töten?“ „Die
Minute, die Minute, komm rasch Holyhead, wir können nicht warten. Wer
weiß, was dir geschieht.“ „Sie wollen mich töten? Oh guter Ort! Oh
liebreicher Ort. Meine Segensstunde. Meine selige Nacht.“ Er kniete in
dem Sand. Sie packte seine Hand, griff an seine Schulter, faßte über
seinen Mund! „Ich will nicht. Oh Allah. Erheb dich. Schrei nur nicht,
Holyhead. Nur nicht. Nur nicht. Du wirst nicht schreien. Sie horchen. Du
bist im Fieber, du weißt nicht, was ist und was du sprichst. Du wolltest
nie essen; jetzt bist du so schwach. Sie wollen dich erschießen, es sind
Anaze, aber Räuber, von fernher erschießen. Ich weiß nicht warum und
wann. Vielleicht weil du ein Weißer bist. Sie sind schlecht. Mach dich
auf.“ „Ich will nicht! Ich will nicht. Ich werde nicht.“ „Komm.“ „Ich
will nicht.“ „Warum willst du nicht? Allah, Allah, was soll ich tun?“
Sie lag auf dem Boden im Finstern, warf Sand über sich. Er tastete mit
den gefesselten Händen nach ihr, die Haare hingen ihr verklebt vor dem
Gesicht. Er stammelte, seine Stimme gebrochen, er lallte fast: „Das
Spiel ist aus. Soll ich jetzt lachen? Jetzt läßt du mich los. Jetzt ist
es zu Ende. Sie werden mich erschießen. Und ich soll dir helfen, daß
alles weiter geht. Du bist süß, bist süß, Djedaida. Jetzt mußt du mich
loslassen. Sie werden mich erschießen. Du kannst es nicht verhindern. Da
fühl mich an. Ich bin es noch: Holyhead aus London, das ist er,
Ingenieur Physiker, der die Ölwolken gemacht hat. Bald liegt er, war
nichts, wie seine glänzenden Städte. Aber ich freue mich doch. Ich kann
befehlen. Wenn ich schreie: Eins zwei drei, – bin – ich erschossen.“ Er
tastete nach der Zeltwand, stellte sich ganz auf die Beine: „Und du –
bist gesättigt, meine Djedaida?“

Sie ließ sich von ihm hochziehen, murmelte zitterte: „Schreckliches hat
Allah über mich verhängt. Ich kann nicht von dir lassen. Ich kann nicht.
Ich kann nicht. Du mußt leben. Ich muß dich bei mir behalten.
Schreckliches hat Allah mit mir vor.“ Er schwankte stöhnte: „Was ist
das, mein Gott. Ich sagte, es ist aus. Du willst mich nicht loslassen.“
Und er zog an der Zeltdecke, riß den Mund auf, mit gräßlich
überschlagender Stimme gröhlte er: „Ich – will – nicht.“

Da war die Raserei durch die Frau gezuckt, aus dem Herzen in ihre Arme
und Beine gestürzt. Ächzend schnellte sie sich hoch, gegen den
schaukelnden Rumpf des Mannes, rang stieß riß ihn um, zappelte winselnd
an ihm: „Schrei nicht. Du kommst mit mir. Ich kann dich nicht lassen.
Und wenn ich dich ersticke.“ Sie stopfte ihren Schleier in seinen Mund,
während sie ihn preßte: sie weinte streichelte küßte: „Allah, hilf mir.
Verzeih mir, was ich tue. Allah, hilf. Komm mit, komm mit, sag ja. Du
bist ja meine Seele. Du bist es. Schlag mich nicht. Ich will dich nicht
töten. Allah, hilf.“

Den Trommler holte sie, auf ein Pferd trugen sie den gebundenen Mann.
Die Pferdehufe umwickelte sie. Durch die Nacht wehten sie davon.

Zwei Tage irrten sie auf der Steinebene herum. Bis sie den El Habis
hinter sich hatten, die Häuser von Damaskus auftauchten.

Und so verängstigt war die Frau, in Furcht vor den Anaze, die ihr den
Mann rauben konnten, daß sie noch lange in dem mächtigen Stadtreich
herumzog, das Quartier wechselte, bis sie der Trommler zu dem Freund
ihres Bruders führte.

Einen Halbtoten hatte sie von Beni-Sochr nach Damaskus gebracht. Er lag
verwirrt auf dem Zimmer, das sie ihm bereitete. Amulette von ihr aus
blauen Perlen, Zauberfische Zauberschwerter um den Hals. Sie durfte sich
ihm nicht nähern, der Trommler pflegte ihn. Sein Gebrüll, wenn sie
eintrat: „Da kommt sie, da kommt sie.“

Als er stehen, klar blicken konnte, wandte er eines Morgens das
geisternde Gesicht auf sie, wie sie an der Türspalte erschien:
„Djedaida! Djedaida! Komm herein. Bin ich gefangen? Hältst du mich
gefangen?“ Sie, eintretend, sich verneigend, murmelte, hell erblassend:
„Du kannst gehen, wohin du willst.“ „Ich kann. Ist das wahr?“ Und
schleppte sich, mit Stöcken stampfend, an ihr vorbei, die Stufen
herunter, ohne ein Wort. Wild weinend knirschend winselnd lag sie
zertreten auf der Schwelle.

Wie er nach Tagen anklopfte, hatte sie den breiten Kragen ihres dunklen
Mantels über den Kopf geschlagen, begrüßte ihn demütig. Stumm nahm er es
an, saß am Fenster. Er war versteinert. Sie zaghaft bettelnd hängte sich
an ihn, trieb ihn zum Leben zurück. Riß an ihm. Eine Wonne, fast von Art
eines Schreckens, dämmerte in ihm auf. Wie sie den schwarzbärtigen
braungebrannten Mann in seinem Stuhl betrachtete, zitterte durch sie –
sie mußte den Kopf senken – das Bild des Lagers der Anaze und wie er auf
den Klepper gebunden war, bei den Tieren lag, wie er geschrien hatte,
sterben wollte in der Nacht. Und das durch sie. Was war sie? Sie konnte
den qualvoll süßen Gedanken nicht abweisen. Und Bou Jeloud selber kam
herauf, der schöne stolze Anaze, den dieser Mann geliebt hatte. Kam er
nicht über das Meer, war er das nicht? Wie schwoll es über ihr Herz.
Jeloud, der junge kindliche, über dem Wasser. Er ritt zu ihr, er kam:
sie war bei ihm, sie waren verbunden, Jeloud und sie, ritten in eins,
umschlungen verschmolzen nach Damaskus, wo etwas Dunkles, gewalttätig
Wonniges saß, sie erwartete, das Ungetüm von Freude, das sie verschlang.

An den Hüften des langbärtigen Weißen hing sie: „Lieb mich, Holyhead.
Wie du Jeloud geliebt hast. So lieb mich auch. Ich will dir geben, was
er dir gegeben hat. Ich will dir sein, was er dir gewesen ist. Lieb
mich, wie du ihn geliebt hast. Geradeso. Umarme mich!“

Und während er sie umfaßte, stöhnte sie selig: „Gut. Gut. Das erleiden
wir von dir. Wie gut du lieben kannst. Wie süß du uns bestrafst.“

Mit Beben nahm der Mann aus den großen westlichen Stadtschaften ihre
Zärtlichkeiten an, vertiefte sich in ihr Gesicht, tastete ihre schmale
Gestalt ab: „Zwei Arme, zwei Brüste, zwei Schenkel. Wessen Arme, wessen
Brüste? Eines Menschen. Zwei Arme, ein Hals, nichts als dies. Und das
ist Sättigung bei den Menschen.“

Und dann ging sie auf den Straßen herum, seine Sklavin. Eine spitze
vergoldete Kappe hatte er ihr geschenkt, über die sie einen weißen Schal
zog. Eine farbige Jacke trug sie über dem weißen Musselinhemd. Die
Messingwalze zwischen sanften dunklen Augen. Sie blickte auf ihre feinen
Sandalen, kniete neben die Nachbarn hin, zeigte lächelnd ihre blitzenden
Zahnreihen, atmete tief: „Ach Bahdudah, ich bleibe hier, ich wandere
nicht mehr. Schenk mir noch ein Pferdehaar, daß mir nichts geschieht.
Ach, Bahdudah, es ist nichts Süßeres, als einem Mann dienen zu können.“

                   *       *       *       *       *

Grönland, das Massiv aus Gneis und Granit, schob sich, ein Keil, vom Pol
in das atlantische Wasser. Zwei Millionen Quadratkilometer Fläche
bedeckte es. Das Urgebirge seines Körpers hatten der Wind, strömende
Wasser, Kälte, schauernde Gletscher verstrichen. Die mächtigen Falten
waren abgetragen eingeebnet. Weiter rissen die Elemente an dem starken
Rumpf. Einen Eisschild von tausend Fuß Dicke trug das Land. Seinen
Ostrand umzog ein hoher Bergkamm, Eisdrift versperrte die Küste; Bäche
stürzten über die Talboden die Gehänge. Im Westen stand ein Bergland mit
scharfen Gipfeln und Graten. Ungeheure Gletscher drangen über die Berge
an die Küsten. Durch Talkrümmungen wanden sie sich herunter, stiegen
zerklüftet über Steilstufen. Wulstig wellenförmig ihre Oberfläche. Aus
den Firnmulden flossen sie ab, langsam wie Schnecken bewegten sie sich
zum Meer, brachen in die Fjorde ein, verstopften die Buchten.

Zwölf Kilometer breit, sechzig lang, stieß der Frederikshaabgletscher in
den Ozean; seine Schuttfläche warf er breit vor sich auf.

Der Store Karajak. Er hatte eine Geschwindigkeit von zwölf Metern am
Tag.

Unter dem siebzigsten Grad der Jakobshavngletscher, der Uparmwick unter
dem dreiundsiebzigsten, Ullaksoak unter dem achtundsiebzigsten.

Der Torsukatak Assatak Tuarparsuk Tasarmiant Umartorsik Kangardluksuak
Itliarsuak Alangordlak.

Die Erde schoben sie in Dämmen vor sich, warfen den Abbruch der Berge,
Schutt ihres Grundes, in Moränen um sich auf, schliffen Felsen ab. Unter
ihnen kamen weiße Flüsse zum Vorschein, ließen Lehm und Kies auf die
Böden der Fjorde sinken.

Mit dieser Aufschwellung der Erde am Nordpol hatte sich das Wasser
vermählt; es hatte das Land nicht wie die andern Kontinente losgelassen
und sich zur Meeresfläche zurückgezogen. Es wühlte hämmerte riß an dem
uralten Gestein. Fiel wirbelnd unaufhörlich aus der dunklen und
erhellten Luft, Schnee, Milliarden flimmernder sechsstrahliger Kristalle
Sternchen Stäubchen, überschütteten erdrückten lautlos weich die
riesigen starren Kuppen Zacken Mulden. Und wie sie sinterten und
gefroren, geronnen sie, wurden zusammenzementiert zu dem grünlichen
glasigen Eis, das die alte Eisdecke überschichtete. Und durch seine
Spalten floß neues Wasser, gefror weiter in der Tiefe. Das Eisgebirge
wuchs. Überall wuchs still Eis auf dem großen öden Land. Eiswüsten
breiteten sich über das Inland hin. Schwarze Berggipfel, die Nunataks,
ragten aus dem gefrorenen großen Wasser auf. Das stieg an und gedieh
in den Firnen, auf den Hochflächen, zog nach den Fjorden,
gletscherschiebend, ab. Nach Norden buckelte sich die Ebene des Eises
hoch. Wellig unermeßlich zog sie sich hin vom sechzigsten bis über den
achtzigsten Breitengrad, zwischen der zwanzigsten und sechzigsten Länge.
Sie überdeckten Schneebreiflächen, trockene Schneewüsten, auf Höhenzügen
das Höckereis. Wassergefüllte Senken waren in sie eingetragen, im Kreis
von Haufen des wilden tiefen Schnees umgeben. In ihre Seen entleerten
sich Gletscherbäche und tosten über Rissen des Eises in bodenlose Klüfte
Brunnen, deren blaue Wände senkrecht abfielen.

Weißblau der Himmel über diesem Kontinent. Der glühende Gasball der
Sonne belichtete wärmte hier nur wenige Monate. In einer Dämmerung lag
das Land, durch die der stumme Mond und die fernen zuckenden Sterne
blickten, in der märchenhaft das wechselnde Nordlicht tanzte. Winde
wurden über Gebirge Ebenen Gletscher des Landes geworfen, Föhne mit
Wärme, Nordweststürme, die den Schnee zu Wolken peitschten, ihn wie
einen Vorhang vor sich trieben. Der fegende Sturm schmolz Kehlen in die
Firne und Gletscher, modellierte die Eismassen, zog Dünen in sie ein mit
flachen Böschungen. Den gefrorenen Boden hobelte er zu einer Platte
glatt.

Tiere und Pflanzen wagten sich in die Einöde vor. Tangwälder wuchsen in
den Tiefen des polaren Meeres. Der bellende Eisfuchs, wandernde
Renntiere, braun im Sommer, Eisbären, die auf den Inseln nach Vogeleiern
suchten, Lemminge Eulen der zottige Moschusochse Robben Alken Lumme.

Als Rasen krochen Moose an windfreien Abhängen über den Boden. Graue
Flechten hingen an den Felsen. Den Schnee, die Sternchen Stäbchen des
Wassers, überzogen Völker einzelliger Algen; grau braun rosa violett
färbten sie den Boden.

Von Europa kamen, von der belgischen und britischen Küste in nicht
endendem Zug die Meeresstraßen herauf die schwarz beteerten
Arbeitsschiffe, die schwimmenden Fabriken, Ölwolkenschiffe, stampften
durch den Ozean. Eisbrecher ihnen zur Seite und voraus. Schweigend
schoren sie das Wasser. Sie verteilten sich, das brennende Island
passierend, nach Norden und Süden, umringten Grönland. Und wie das Eis
Grönland mit einer Barriere umzog, umzogen sie es mit ihren schwarzen
tiefeintauchenden Gebäuden. Immer neue quollen nach. Sie bliesen, wie
sie an ihren Standorten hielten, empfangen von der schweigenden
Besatzung der Islandflotte, aus ihren Luken den schweren Rauch von sich,
den Ölhauch Holyheads, in dem sich mit einer weißen Masse grünliche
blaue rote Schwaden vermischten. Die Schiffe setzten versuchend bald von
dieser, bald von jener Schwadenart zu. Langsam und kaum vom Wind zur
Seite getrieben erhob sich der Rauch, dem immer neuer nachquoll,
verstärkte sich, blieb, als wenn er ein Tier wäre, das vor seinem Stall
ist, gleichmäßig in einer Höhe stehen. Die farbigen Gasmassen stiegen
senkrecht auf, verlangsamten mit zunehmender Höhe ihre Bewegung, dann
bei einer bestimmten Höhe war ihr Auftrieb erlahmt. Sie sammelten sich
an, breiteten sich wagerecht allmählich aus, als wären sie Öl auf einer
Wasserschicht.

Am Scoresbysund der Ostküste, an der Südspitze, an der Diskobai im
Westen wurden Proben für die Höhe der Ölwolken bestimmter
Zusammensetzung gemacht. Sie sollten die höchsten Gletscher überragen,
annähernd gleichmäßig den ganzen Kontinent bedecken. Als das Gemisch der
Gase bestimmt war, begann der um Grönland versammelte Ring der Schiffe
seine Arbeit. Ohne auf Föhne und kalte Stürme Rücksicht zu nehmen,
stießen sie die dunkelfarbigen Dämpfe aus, die sich in der ungeheuren
Höhe ansammelten, von den nachfolgenden über das Land hingetrieben
wurden. Die seewärts drängenden Wolken dirigierten Fliegerreihen mit
Böenbomben. Die zusammengeschleuderten Gasballen hingen zähklebig
aneinander. Flächig plattenartig lagerten sich immer dunklere Massen
hin, wurden fester, je dichter sie sich anhäuften. Sie waren ein
unnachgiebiges den Raum erfüllendes Zwischending von Gas und starrem
Körper. Regen, der über sie fiel, konnte die starken aufwachsenden
Wolkenbänke nicht durchdringen. Wasser Schnee lagerte sich in Buchten
des Gases, stürzte in der randlichen Schiffsgegend herab, vermochte aber
das Gas nicht herunterzudrücken. Das seitliche Ausweichen blieb die
größte Gefahr. Scharen von Fliegern und Frachtluftschiffen wurden in der
grausigen Höhe stationiert, die immer in Gefahr waren, von den
aufrollenden Wolken erfaßt zu werden, zu kentern und abzustürzen. Eine
ganze ununterbrochene Barre von Explosionen mußte man um die Gaszone
legen, das Verschwimmen Zerkrümeln Verbröckeln der Dämpfe aufzuhalten.
Die Furcht der Ingenieure, die Auftriebskraft der Gase könnte in der
Höhe allmählich nachlassen, die Wolkenmasse sich langsam senken,
bestätigte sich nicht. Die dunkle gewaltige Luftbank über Grönland blieb
in ihrer Höhe; man konnte ihr vertrauen, Flöße wie auf ein Meer auf sie
werfen.

Mit ihrer finsteren stummen Entschlossenheit gingen die Islandfahrer an
diese Arbeit in der Luft. Von dem Grauen der leuchtenden Turmalinschiffe
sahen sie weg; keiner rührte mit einem Wort daran. Die Schiffe lagen
fest. Die Neuanfahrenden hielten die Ungetüme nicht für Schiffe, wie sie
überwuchert waren von baumartigen bunten Algengewächsen, von
Vogelscharen belagert. Dicht beieinander hatte man an den Standorten die
Turmalinfrachten geschoben, abseits von dem übrigen Geschwader,
als wären sie verseucht. Die ruhenden Gebäude waren längst
zusammengewachsen: die Gewächse hatten Brücken zwischen ihnen
geschlagen, die nur selten von segelnden Eisblöcken zerrissen wurden.
Vögel spazierten und nisteten auf den grauen roten Brücken, in denen
sich Mollusken und Fische fingen, spielten und verendeten. Wie besäte
Hügel wuchsen die ruhenden Schiffe in der eisigen Luft auf. Wie sie
nebeneinander lagerten in den Buchten, am Eingang der Fjorde, schienen
sie steile und bucklige Inseln zu sein. Man sah manchmal die grauen und
roten Massen zucken und schaukeln.

Die Islandfahrer warfen Planken von riesiger Breite auf die Ölwolken
herab. Und wie sie sie bestiegen, zogen sie benachbarte heran, richteten
sie auf, nieteten sie zusammen. Bisweilen schwankten die Flöße, auf die
sie sprangen, sanken schräg abwärts in ein Wolkenloch, stellten sich
hoch, kenterten. Im grauen rosa violetten Rauch zappelten die
abgerutschten Menschen. Sie suchten sich aus dem gallertartigen
schwammigen morastigen Gewebe hochzuarbeiten, schlugen um sich,
hangelten, unfähig sich abzustoßen, nach den Brettern. Neue Gasmassen,
von seitwärts anschwebend, schoben sich um sie, über sie. Sie wurden
eingebettet verkittet, griffen sich nach Brust Nase Mund, aus denen Blut
schoß; wurden japsend den Kopf zur Seite legend, erdrückt. Dort oben
stolperten im Beginn viele, lagen schräg mit hängenden Armen über dem
prallen Gas. Das dunkle Quellen schob an ihren Leibern, klemmte hier ein
Glied fest, riß es vom Körper; dehnte, wie die Hände zugriffen, die Füße
tretend eingetrieben waren, die Leiber mit sich, länger, länger. An den
Grenzen zog sich das Gewebe auseinander; da fiel ein erstickter Flieger,
schwarzgesichtig, ein abgerissener abgedrehter Körperteil auf das Eis
oder in das Wasser. Sie liefen oben, warfen Planken neben Planken.

Der Kampf gegen die Winde begann. Der Nordoststurm, mit Nebel und
dichtwirbelndem Schnee, riß an den Außenseiten der wachsenden
Wolkenbänke, jagte Fetzen. Kleine Scharen und Einzelne segelten mit den
Abrissen über das abgrundtief liegende Land, verkamen. Auf den Platten
standen sie, taumelten; es war schlimmer als auf der See. Schwankten mit
den Brettern meterweit auf und nieder, hin und her. Es hieß in
furchtbarer Eile Platte neben Platte auf den dampfenden ins Land
wachsenden Boden werfen. Besinnungslos standen sie oft oben, warfen sich
hin, erbrachen, geschaukelt zerwirbelt, von den flutenden rollenden
Brettern getragen, die manchmal wie ein Spiel sich voneinander
entfernten, von einem Wolkenknäuel übereinandergehoben und
aufeinandergeklatscht wurden. Sie hingen an den Rändern über dem
unermeßlichen Eisland. Dunkel lagen die Wasserspiegel der Fjorde unter
ihnen, im Osten stiegen die Gipfel todesstarr bis dicht unter sie, die
Kämme der Gebirge berührten sie fast. Der Eishauch der Firne wehte zu
ihnen auf. Die blauweißen Gletscher bewegten sich träge nach unten in
die weiße Ebene, durch die eingerissenen Felsgassen. Ihre Trümmer und
Lawinen hingen über Bergstufen quer wie Riesenleichname. Wie sie auf
Island Brücken von der Küste warfen am Myvatn Krabla Leirhukr, an der
Eyafsbucht, von der unglücklichen Heraldsbucht her, auf den
schmetternden Brücken in der ascheschwirrenden Luft schwebten, über dem
Jökulsa, an der Fiski-Ebene, über den Gletschern des Ostens, wie sie den
gewaltigen Vatna erklommen, bevor sie von den himmelzerreißenden
auflohenden Vulkanen verbrannt und zerblasen wurden, so stiegen sie
jetzt über das stumme Land. Die Winde tobten über dem Eis. Das Land
ruhte, wie ein Blinder, über den ein Geschick heraufzieht. Von allen
Küsten schwollen sich sehnsüchtig die Wolkenschichten entgegen. Die
Menschen wollten die wogenden Massen bis auf eine inselartige Lücke
gegeneinander vortreiben.

An der Diskobucht, über dem Onemokfjord erschienen unter den finsteren
Bänken der Ölgase bläuliche ovale Wolken, die ein Föhn vor sich trieb.
Die auffahrenden Frachtflieger sahen sie. Die Luft wurde still und warm.
Die Gasmassen senkten sich, erst langsam, dann im Sturz. Wie auf Kähnen,
die in einer wilden Strömung fahren, die Schiffer mit langen Stangen
stehen, sich von den gefährlichen Ufern abstoßen, sich unten abstemmen,
hin und her springen, so warfen sich die himmelhoch schwebenden Arbeiter
auf die Planken, hielten sich mit Balken frei, preßten die
Nachbarplatten zur Seite. Auf und ab stiegen die Gasmassen, auf und ab
taumelten rollten die Menschen. Die Schichten noch nicht schwer und
dicht genug, beulten sich. Die Menschen hin- und hergerissen schlugen
sich mit den Planken. Auf dem Boden tief unter ihnen bewegte es sich.
Der dicke ballige Schnee geriet ins Laufen, er wich dem blasenden Föhn
aus. An der Eisfläche arbeitete etwas mit großer wachsender Gewalt,
schrubberte die Fläche Stoß auf Stoß, Schub auf Schub. In kleinen großen
unregelmäßigen Würfen flog der Schnee. Die Schnee-Ebene brandete.
Dampfartig stieg es vom Boden auf und zerwehte. Wie sie sich oben
verklammerten. Wie von den Arbeitsschiffen an der Küste der träge Qualm
herblies, hilflos langsam, herüberblies, abgebogen wurde in der
trommelnden Luft, sich spiralig um sich selbst drehte und abgeknickt
wurde. Am Rand oben wurden zersprengt die himmelhoch schwebenden
Wolkenballen, über den Himmel im Föhn schossen sie hin wie kleine
Lämmerwolken, wurden rettungslos geschleudert. Der Föhn hetzte die
dünnen sich verflüchtigenden Gasschichten auf das Meer. Die Platten,
lose aufgeworfen, abgehoben wirbelten wie Papier im Sturm. Menschen
Balken Bretter trieb der Sturm geradewegs vor sich, trug sie auf dem
zergehenden Gas kilometerweit wie ein Löwe im Maul mit sich fort, ließ
sie dann unter sich fallen in das tosende schwarze Wasser, auf die
jagenden Eisschollen. Flieger zuckten hinterher, raketenartig stiegen
sie auf, wurden vom Wind zur Seite gestoßen. In dem Tosen hob sich noch
aus den Arbeitsschiffen der armselige Rauch, den der Sturm brach. Die
Schiffe selbst wurden gerüttelt gehoben ergriffen gedrängt. Krochen
erzitternd um sich, stellten sich hin, wehrten sich, während oben der
bleierne Himmel sichtbar wurde, in dessen Leere rote und blauschwarze
Wolken, bunte Fetzen blitzten und sich auflösten. Zerblasen die
Wolkenbank der Diskobucht, im Süden Norden; die Bänke bis tief ins Land
aufgeschlitzt. Draußen torkelten die Menschen, glitten ab, wurden an
Beinen schlagenden Armen kneifenden Augen züngelnden beißenden
spuckenden Mündern von dem Gas überzogen. Wie eine Haut streiften
stießen sie es weg. In der Luft, im heulenden Föhn, balgten sie sich mit
dem Gas herum, waren eingewickelt darin, rund wie ein Igel
zusammengebogen. Sie sausten abwärts, auf Eis, legten sich langsam, vom
Eis entlassen, hin.

Von den Färöer und Shetlands stampften neue Ölwolkenschiffe herüber,
zogen einen zweiten Ring um das grönländische Massiv. Meterdick lag über
dem Land schon die schillernde Wolkenmasse, leicht auf und ab pendelnd,
in sich verbacken. Die Stürme pfiffen wie an Steinmauern dagegen. Über
der Bank ging wie seit Jahrtausenden für wenige Stunden die Sonne auf.
Ihr Licht drang nicht mehr durch. Der Kontinent war von dem alten weißen
Himmel, dem stummen Mond, dem sprühenden Nordlicht, den kleinen
funkelnden Gestirnen abgeschnitten. Die Wasserdämpfe des Landes
sammelten sich an der Unterfläche der Wolkenbank, zerstreuten sich sehr
langsam, entleerten sich im Schneegestöber, in Schlammregen. Sie konnten
nicht abziehen; mit schwerem Wasserdunst bedeckte sich das Land, die
Temperatur stieg. Zugleich wuchs die Finsternis. Der Tiere bemächtigte
sich eine Unruhe. Renntiere zogen in Scharen über das Eis, ihre
Weideplätze verließen sie, sie irrten umher. Die Scharen fanden keine
Führung, Rudel trieben zusammen, ängstlich hielten sie auf den
Küsteninseln. Die Bären und Füchse wurden aus ihren Höhlen gejagt. Ihnen
war beklommen, sie liefen und schnupperten, fanden nichts verändert,
waren nicht beruhigt. Das ängstliche Schreien der Raben. Glatte Robben
tauchten auf, zogen sich über das Eis, suchten neues Wasser. Die Tiere
wurden wachsamer eins auf das andere, griffen sich, wo sie sich
befeindeten, gereizter an. Über den Gebirgen und Eiswüsten schwamm von
Osten Süden Westen Wolkenschicht auf Wolkenschicht zu. Fetzen von der
Gegenseite flatterten schon an. Auf losgelösten Wolken fuhren einzelne
verunglückte Plankenwerfer über das Land, kamen unbeschädigt auf der
Bank jenseits an. Als die aber auf den Platten im Westen und Osten sich
mit bloßen Augen sahen, schrien sie nicht auf, winkten nicht. Manche
sanken schlaff hin.

Die Gasschiffe verstärkten die Wolken. Gegen Ende August zogen sie sich
zurück. Die menschenverlassenen Turmalinschiffe mußten angefaßt werden.
Es machte keine Schwierigkeiten, von allen Geschwadern Menschen zu ihnen
zu kommandieren; straff, wie unter einer Blendung, taten die
Grönlandfahrer alles was nötig war, ohne Befehl.

Aber das überstürzende Grauen, wie sie sich auf kleinen Schiffen den
bunten schwirrenden Inseln näherten. Keine Umrisse von Schiffen waren zu
erkennen. Wale erschwerten die Annäherung an die Inseln. Man mußte
Sprengstoffe gegen sie werfen; das Wasser rötete sich gräßlich; die
dunklen Leiber schwammen eine Weile auf dem Wasser. Wie das Fangnetz
eines Schleppers hingen Tangmassen um die Inseln. Man mußte sich
schneidend hauend brennend durch sie arbeiten. Boote zogen die
abgelösten Stiele und Geflechte ins offene Meer. Schritt für Schritt
rissen sie das wuchernde Kraut los; Schicht auf Schicht mußten sie
abtragen. Die Boote wechselten stundenweise; es gab immer wieder
Menschen, die den Trieb nicht überwanden sich hinzugeben und mit Gewalt
zurückgeführt werden mußten. Man drang schließlich, nach Sprengung der
Algenbrücken und Reinigung des Wassers, an die Schiffsrümpfe heran. Wie
sonderbar sie verändert waren. Die Außenhaut der Frachter legte man oben
bloß; man sah schon, wie die Brücken und schwersten Tangmassen beseitigt
waren, daß die Frachter wie befreit heftig zuckten, sich langsam von der
Stelle bewegten, ruckweise zerrende Bewegungen nach oben machten. Schon
glitten die Schiffe leicht, die Boote hinterher; man mußte fürchten, daß
sie sich über das Wasser, aus dem Wasser herausheben würden. Oben am
Bordrand waren alle Bleche gelöst, die Verschalungen geborsten. Von
außen, von innen trieben Sprossen Äste dünne Balken durch die
Schiffswand. Die wenigen Kabinen des Oberdecks waren von einem Dampf
erfüllt; aber das schien nur so, als man die Türe öffnete. Sie waren
ausgefüllt von einer Art Spinngewebe. An ihrem Rand, den Aufhängseln der
grauweißen Gewebe hatten sich die wuchernden Hölzer der Wände, die Äste
der Türen Luken selbst beteiligt, mit einem Flechtwerk von Fasern. Man
sah aber keine Spinnen in den Räumen. Und wie man das dünne Gewebe mit
der Hand und Stöcken zerriß, erkannte man es als feinste haarartige
grasartige Austreibung der gequollenen Blätter, Röhren Stränge der
Hölzer der Spinde der Decken des Bodens. Außerhalb der Hölzer und weit
von ihnen entfernt hatten die Pflanzen mauerartige Organe gebildet. Jede
Kabine war hauchdünn wie Mark aufgelockerter Stämme; in längerer Zeit
mußte der Raum zuquellen verholzen. Man ging auf schaukelnden Lagen. Wie
man den Boden aufschlug, um in die Speicher zu kommen, schlugen stickige
Gase heraus. Schwammartig erweicht und verwoben waren die Decken. Aus
den tiefen Knorren der Masten sprangen frische wulstige Äste hervor, die
sonderbar behaarte samtene Blätter trugen; sie schlossen sich oft dicht
blütenartig zusammen. Wimmelnde Käfer und Ameisen. Man brauchte nicht
nach den Speichern suchen. Von ihnen aus den Tiefen der Schiffe ging das
intensive ruckweise sich verstärkende Leuchten aus, das oft blendende
Aufglimmen, das in der allgemeinen gleichmäßigen Dunkelheit das
Kabellicht überflüssig machte. Die Decke zu den Hallen schlugen sie ein,
mit Beilen Sägen Feuer brachen sie durch; seitlich rissen sie die Wände
des ganz verfilzten Gebäudes ein. Ins Wasser wurden Balken und Bleche
geworfen, die Fische schwammen hinter den Hölzern her, bewegten sie mit
den Mäulern vorwärts, kauten an ihnen, trugen sie auf ihren Rücken in
See.

Frei lagen die Berge der Netze. Zauberhaft ihr Anblick, wie sie sich
durch die Buchten der Schiffe spannten. Mit glattem gewalzten Metall
waren die Wände der Hallen bekleidet gewesen. Märchenhaft hatte sich das
Metall bewegt. Seine ebene Glätte war verschwunden. Wellig hatte es sich
geworfen, Beulen Wülste Kugeln vorgewölbt. Aus der Ebene der Wellen und
Wölbungen stachen strahlige glitzernde Kristalle lang vor, die das
Metall um sich aufzogen, so daß um sie die Platten rissig wurden. Das
Eisen blühte von den Wänden den leuchtenden Schleiern entgegen. Der
schreckliche Glanz der Schleier. Ihr Verdunkeln Aufstrahlen. Der
Modergeruch, die anschwellende Wärme. Die Haken der Flieger griffen nach
ihnen, die ruhig hingen, wie man sie aufgehängt hatte. Schleier um
Schleier wurde durch die dunkle regentriefende Luft hochgetragen. Auf
den Ölwolken lagen schon die Platten, die sie zum Glühen bringen
sollten.

Von den Schiffen herauf wurden an Hunderten Punkten die Drähte auf das
Wolkenlager gezogen, die das große Kabel mit den Schleiern verbanden.
Man arbeitete stürmisch, war der Erschöpfung nahe. Anfang September
waren die Turmalingebäude entleert. Die leeren Frachter waren schon
wieder verfilzt; manche zerfielen.

Da rissen sich die Ölwolkenschiffe Menschentransporter von den Küsten
des finsteren eisumlagerten eisdrängenden Landes, sausten süd- west-
ostwärts. Stoben ab von Grönland, das sie in schwere Nacht geworfen
hatten, das einsam mit seinen wimmernden unruhigen Tieren hinter ihnen
lag unter der Ölwolkenbank und den glimmenden Schleiern. Scharen der
Flieger und Luftschiffe rasten wild den Meeresschiffen voraus. So rasch
mußte man den Ozean überqueren, wie man konnte. Zwei Tage fuhren die
Meeresschiffe; die Küste des Baffinlandes streiften die westlichen, die
im Osten hatten den zehnten Längengrad überschritten.

In der Nacht zum dritten Tag wurde der Kabelstrom auf die Isolierung der
Schleier losgelassen. In diesem Augenblick verlangsamten alle
Meeresschiffe ihre Fahrt, die Flieger ließen sich auf die Decks und auf
das schäumende Wasser nieder. Erschauern Zittern ging durch die
Menschen, die sich über die finsteren Decks scharten, aus den Kabinen
rannten.

Es war zu Ende. Man hatte den Krabla Leirhukr Herdubreid Katla Hekla
gesprengt. Island zerrissen, die Feuer der Erde geöffnet. Auf den
beweglichen Brücken waren viele hundert Menschen, wie sie, die auf den
Decks standen, verascht zerblasen über die Gletscher gestoßen ertrunken.
Neue Schiffe Menschenmassen waren vom Festland hergestampft. Man hatte
nicht geruht. Die Insel gab ihre Glut her. Die Schleier wurden gefüllt.
Die schrecklichen Turmaline strahlten sangen. Die Fische Vögel Algen im
Meer lockten sie und wollten fliegen. Zuletzt kam Grönland jenseits des
Wassers. Man mußte Wolken über das Land legen, Planken auswerfen. Wie
viele verkamen, stürzten ab. Als jetzt die Sirenen schrien, standen sie
auf den Decks über dem rollenden Meer. Es bebte trommelwirbelte
schleuderte sich hinter ihren Hälsen herum, daß sie ächzten und ihre
Füße weich wurden. Ihre Lider wurden angstvoll aufgerissen, die Augen
standen ihnen weiß barbarisch auf. Die Mundwinkel wurden krampfhaft
heruntergezogen, die Lippen gespitzt. Sie bogen sich. Es wogte mit Hitze
über ihren Leibern, schauerte über Rücken und Nacken. „Unglück. Welch
Unglück. O, lieber Himmel, welches Unglück. Was haben wir geduldet. Was,
was! Süße Nacht, süßes Leben. Liebe Stangen, liebes Geländer, Erbarmen.
Liebe Menschen Bretter Seile Masten Bleche. Liebe Jacke, rauhe Wolle,
Erbarmen. Meine Finger, mein Leib, lieber Arm, lieber Hals. Mein Hals,
mein Hälschen, meine Haut, mein Kinn, Erbarmen. Ah, welches Unglück.“
Und dann wurden sie wie von einer Hand hingedrückt, zappelten in sich.
Jetzt geschah es hinten.

Das Meer blieb glatt. Eine Welle von Licht schritt über den Horizont
fort. Sie lagen auf den Gesichtern. Entsetzen Schmerz in den Brüsten.
Alle Kehlen geklemmt. Winselten vor Schreck haltlos, als die Lohe am
Horizont unbändig höher höher höher höher schritt. Zugleich zuckte in
ihnen die Sehnsucht: Dahin! Sehnsucht nach dem Feuer! Das Feuer Islands!
Das furchtbare geliebte Land! Leirhukr Myvatn Krabla: das war es. Das
Feuer höher höher. Nach der Insel wollten sie. Ohne Maß ihre Sehnsucht:
„Was ist das Leben. Unser Feuer. Unser Feuer.“

Und manche lagen, wollten nicht zu dem blendenden Licht aufsehen,
wollten das Licht nicht sehen. Wenn es doch verschwände. Ihre fressende
wahnsinnsnahe Angst. Wenn man es wegwischen könnte. Sie hatten schuld
daran. Das furchtbare Lohen weg.

Auch die Führer, Männer und Frauen, wandten sich ab, standen zitternd,
verfluchten sich. Kneteten sich die Brust: „Ich bin nicht daran schuld.“
Ihre Zähne klapperten knirschten, Ohren und Nasen kalt, sie fühlten ihre
Finger nicht. Schluckten; schlenkerten die toten Füße über die Bretter,
stampften, um sich nicht zu verlieren. Öffneten schlossen im hilflosen
Takt die Augen. Aber dann hielten sie sie fest. Nach dem Licht hin. Das
Licht, das Feuer höher höher höher über das unendliche Himmelsgewölbe.
Das sollten die Augen sehen. Auf das blendend weiße hochtreibende Licht
die Augen hin. Man mußte es einschlucken mit weitem Mund wie ein
Ertrinkender das Wasser. Den ganzen Wasserschwall mit offenem
Walfischrachen nehmen, und immer schlucken, schlucken. Muskeln
festhalten, Augen hinhalten, den Boden mit den Beinen festhalten. Und
sie konnten es ertragen, die Augen kniffen nicht zu. Es ging. Was da
brannte, war der Turmalinschleier. Man mußte es benennen. Die Turmaline
waren vom Festland herübergeschickt; es waren gegossene gesponnene
Gesteine, eine geschickte Arbeit. Auf den Ölwolken lagen sie. Das war
keine neue Erfindung. Schon Angela Castel hatte sie im Krieg verwandt.
Das waren ihre Dampfbläser. Was man alles machen kann. Die Füße wurden
fühlbarer, man konnte die Zehen bewegen, sich umdrehen, die Schultern
herunterlassen. Die Aufgabe in Grönland war gelöst. Jetzt langsam Luft
schöpfen, einatmen, einatmen, ausatmen. Sie blickten neben sich, ihre
Köpfe hingen noch. Um sie lag man, die Hände vor dem Gesicht. Die
Gelähmten Erschütterten. Jetzt nicht sprechen.

Die Schiffe trieben stundenlang in den erhellten Gewässern steuerlos.
Dann regten sich die Menschen. Hoben die Köpfe von der Brust, als nähmen
sie ein Urteil an. Die Maschinen schlugen von unten durch den
Schiffskörper, es ging rhythmisch durch ihre Glieder. Finster blickte
man an dem andern vorbei, prüfte zweifelnd das Wasser. Über dem Wasser
lag ein nicht wegzulöschender, alles überschüttender Schein, von dem die
Wellen flinkerten. Der Himmel, die nördliche Wölbung, wurde verschlungen
von ihm. Was war geschehen. Man stampfte weiter, strich an den Kleidern,
spie. Grimmiges Stieren. An die Arbeit.

                   *       *       *       *       *

Vor den Färöer und Shetlands sammelten sich die Geschwader. Sie
unternahmen tagelang nichts. Während sich die Menschen brütend um
einander bewegten, kam die Weisung von den Flottenführern, ein
Beobachtungsgeschwader zusammenzustellen. Man beschleunigte die
Ausführung nicht. Man drängte die finsteren lethargischen nicht. Man
beobachtete wie in Island und um Grönland, daß trotz der Erschlaffung,
trotz des immer wieder aufschwellenden Entsetzens und der Erschütterung
keiner auf das Festland zurückverlangte.

Nach zwei Wochen setzten sich dann leichte Fahrzeuge in Bewegung. Von
wenigen Fliegern wurden sie begleitet. Sie steuerten den alten Weg
nordwärts.

Der wachsenden Helle, vor der sich ihre Gemüter stumm neigten, fuhren
sie entgegen. Von Breitengrad zu Breitengrad wurde die Helle stärker. Es
war ein rosafarbenes, fast weißes Licht, das über den nördlichen Himmel
und Ozean ausgebreitet war. Wenn der flammende Sonnenball hinter der
westlichen Horizontlinie verschwand, war schon im Norden das rötliche
Weiß aufgezogen, von Minute zu Minute strahlender, zu betäubender
Helligkeit wie eine Blume sich öffnend. Und als sie in Höhe des
fünfundsechzigsten Breitengrades fuhren, war das Sonnenlicht unsichtbar
geworden. Es war vergangen unter der nördlichen Helle, wie die Sterne,
die bei Tag unsichtbar sind. In dem neuen rosigen Licht schwammen sie
auf dem angestrahlten Ozean. Ein Brausen nahm sie auf und
umgab sie, eine gigantische Musik, fernes dumpfes und helles
Durcheinanderschmettern, das von klirrenden klingenden hohen Tönen
durchsetzt war. Über ihnen kein Himmel, nur das gleichmäßige rosigweiße
Licht. Zuzeiten war Dämmerung und Dunkelheit hinter ihnen: das mußte
Abend und Nacht auf der übrigen Erde sein. Zuzeiten teilte sich die
Dunkelheit unter einem weichen Dunst auf, schleierartig, im Süden: diese
dünne bläßlich graue Aufhellung mußte der Tag der Erde sein.

Sie standen auf den Decks. Auf Booten fuhren sie, frei ernst glücklich,
von Stunde zu Stunde glücklicher. Dachten nicht, es war in ihnen
ausgewischt, wie dies gekommen war, – was brannte, – was geschah. Sie
fühlten sich in das Klirren hohe Singen Orgelbrausen hineingesogen.
Beseligend das Licht, an dem sie sich weideten, sich nicht sättigten.
Sie fuhren schon in der Region, die sonst mit Eisbergen gefüllt war. Es
fiel ihnen nicht mehr auf, wie besänftigt das Wasser floß: die Luft ging
kühl, oft kalt, wie immer. Aber als wenn sie in den Tropen wären, fuhren
viele in Booten nackt bis auf den Gürtel, fühlten sich wohl, versagten
es sich, in den Kabinen zu schlafen.

Über dem weiten Ozean geriet der Wind in eine sonderbare Bewegung. Der
grönländische Feuerherd übte seine Wirkung. Alle Windrichtungen waren
verändert. Der sonnenartige Brand am Pol zog wie ein Äquator die
Luftströme an; sie wehten nach Norden in einem heftigen oft zu Böen
gesteigerten Drang. Die auf dem Wasser schleifenden tiefen Luftmassen
züngelten in den Schwelch der nördlichen Glut. Die Stärke ihres Dranges
wuchs von Breitengrad zu Breitengrad. Zu dem auf und ab wiegenden
Brausen Schmettern Klingen traten die sanften Geräusche des Verdehnens
der Luft, das Stöhnen Rufen Singen. Die Luft schlürfte an der
Meeresoberfläche hin, riß spielend den Wellen die Kämme ab, wühlte sich
mit Stößen ein, Trichter in das Wasser bohrend, riß sich schreiend los,
flutete toste hin und konnte nicht widerstehen. Rascher und rascher
mußte sie fahren. Die Massen aller Windschichten wühlten ineinander; sie
mußten hin. Senkrecht und schräg aufrecht fuhren sie, bogen aus. Sie
streckten sich lang lang hin. Im Sturz, im Zug schwanden sie. Waren
davongezischt, hart über die Fläche schießend, das Meer abplattend,
niederdrückend, daß es eingedämmt hinter ihnen in häuserhoher Flut
einherwallte und sich wieder zurechtfand.

Während die Menschen auf dem Meer schwammen, die Schiffe starke Kräfte
in die Maschinen warfen, um dem ziehenden Drang nach Norden zu
widerstehen, oft rückwärts fuhren, den pfeifenden Wind zerteilten,
verfinsterte sich gelegentlich die Luft unter einem Rauch. Eine Brunst
unerhörter Hitze schnob um sie. Lachend nahmen sie sie an. So freudig
waren die Menschen des Beobachtungsgeschwaders, daß sie unter dem
siebzigsten Breitengrad nicht zu bewegen waren, weiter zu dringen. Der
Küste Grönlands sollten sie sich nähern. Aber sie wollten nun nichts als
in dem wonnigen Wasser ausruhen.

                   *       *       *       *       *

Zu dem Geschwader gehörte eine Zahl Schiffe, die für Gefahren besonders
ausgerüstet waren. Sie waren mit Vorkehrungen gegen das ozeanische
Wasser versehen. Sie sollten gewaffnet sein, in der Nähe Grönlands, nahe
den niedergehenden Lawinen, dem Absturz des ungeheuren Islandeises, dem
Schwall der Wasserberge zu widerstehen. Die Menschen dieser Schiffe
gingen jetzt, von der Glückseligkeit des Wassers gelöst und benommen,
vom rosigen Licht, dem sanft wühlenden Winde bezaubert, eigene Wege. Der
gewaltigen Ausrüstung bedienten sie sich für ihre Zwecke. Sie wollten,
beschlossen sie, hier bleiben, sich auf dem Meeresboden tummeln. Sie
wollten nicht mehr, nie wieder zurückkehren. Sie wollten auch nicht nach
Grönland fahren, die Schönheit des neuen Kontinents abwarten. Gleich auf
der Stelle, hier im Augenblick hatten sie ihr Land. Kräftig und mutig
fühlten sie sich. Der Mischling Mutumbo führte sie. Nach Jan Mayen unter
der zehnten westlichen Länge, nördlich der siebzigsten Breite waren sie
vorgestoßen. Sie loteten eine gebirgsartige Aufstufung des Meeresbodens.
Hier in die Flachsee, unter dem beseligenden Licht, ließen sie sich
nieder. Noch einmal, verkündete der Führer, möchten die verruchten
Kräfte der großen Stadtschaften für sie arbeiten.

Mit zweiundzwanzig Schiffen und Beischiffen umschloß Mutumbo die Stelle,
begann sich wie ein Stier mit den Hörnern in den Wiesenboden, in den
flüssigen Ozean einzugraben. Umgeben waren die Vorderschiffe mit
flammenfesten, aneinandergefügten Basaltmänteln, die die Kräne
schnaubend aus den Laderäumen hochangelten, schiefrig grauen Platten,
die sich wie starre Visiere vor die Schiffshaut legten. Die Platten
legten sich um nach rückwärts, schoben sich balkonartig als Plattform
über das Vorderdeck. Auf allen zweiundzwanzig Fahrzeugen waren Maschinen
montiert, an die heran ein Gewirr von Kabeln aus den Schiffsbäuchen
lief. Die Maschinen glichen Reihern und Kranichen. Lange magere Hälse,
die sich auf den plumpen, festgenieteten Rümpfen drehten, streckten sie
nach vorn über die Schiffsspitze, tauchten sie an den grauen
Basaltmänteln herunter in die grün-weiße Meeresströmung. An ihren Hälsen
hing ein dickes, meterlanges, kettenschleuderndes Gezottel von Seilen
und Drähten, als wären es Mähnen. Tauchten die Mähnen in das salzige
Wasser, berührten sie die spritzenden Wellenkämme, so schrie das Meer,
als wäre es ein schlafendes Tier, dem ein Skorpion zwischen die offenen
Lippen und die Zähne kneifend in den Rachen kriecht. Es warf sich,
wachte auf, brüllte. Und im Moment gab es ein Brodeln; das Wasser stieg
als warmer Schwall, weiße, zitternde, unruhige Wolke von der tosenden
Fläche auf, jagte, wild um sich schlagend, blind wühlend hoch. Und immer
neues, nicht nachgebendes Beißen und Herabstoßen der Reiher, Knallen und
Aufklatschen der Mähnen, wütendes Brodeln Kreischen Spritzen, dampfendes
Abweichen Keuchen, meterhohes Aufzischen, brüllende Gischt.
Kilometerdick eine weiße Wolkenmasse, ein Wolkengebirge über dem
Schiffskreis, bereit, auf das dampfende Loch unter sich
herunterzustürzen.

Die Böen jagten hinter ihnen her. Der Dampfschwall flutete in die Höhe
der Stratuswolken; kaum fühlte er die Kälte, so brausten,
mittschiffsentlassen, die Böen hinter ihnen. Aus dem Kreuzfeuer der
explodierenden kopfgroßen schwarzen Inulitbomben, die donnernd aus
winzigen Mörsern aufschossen und sprengend die Luft mit einem ungeheuren
Ruck zerteilten. Die weichen zitternden Wolken fühlten sich im Rücken
angepackt und im Nu meilenweit fortgeschleudert, davongeschoben wie ein
Teller von einem Tisch, ein Hund von einem Napf, an dem er kläfft. Und
dann schnoben sie, die weißen zerrissenen flattrigen Massen
durcheinandergewirbelt in einem einzigen Regenguß, einem losen weiten
unermeßlichen Regenguß, grau und schwarz in das hochspringende Wasser
zurück. Stürzten rasch und unablässig, daß sie Scharen von Möwen fort-
und herunterrissen, ihre nasse Hand auf die dünnen anstrebenden
abschlüpfenden Leiber drückten; kein Flattern Hälserecken
spitzschnäbliges Aufdringen half. Und selbst wenn die Vögel noch eben
Kraft zum Flug hatten, so wurden sie erstickt von den blanken Quellen,
die über sie aus der übersättigten Luft fielen. Der Himmel, sonst zum
Fliegen geeignet, dünn leicht wonnig von Sonnenstrahlen und flimmerndem
Nordlicht erfüllt, der Himmel von einem Vulkan zerrissen, ein
wasserspeiender Krater, warf ausbrechend seine Massen nach unten, riß
alles herunter auf die Meeresfläche.

Tagelang hoben und senkten sich die Reiherköpfe, brannte das Meer, jagte
in weißem blähendem Schwall auf. Tagelang schlugen die zweiundzwanzig
Schiffe wie Pferde mit den Hufen nach hinten aus, das wiedereinstürzende
Meer zurückzuhalten. Als mauere man Balken in die Erde, triebe
Eisenträger in Lehm, schaufle Sand aus Gruben, so hieben die Schiffe
nach rückwärts, drängten das Wasser ab. Sie hatten ihre Flanken mit
bloßem Stahl gerüstet. Doch über den Stahl, armweit entfernt, von
Stützen gehalten, war ein Netz gebreitet, senkrecht von oben nach unten
ins Wasser abfallend, den ganzen Hinterbug umgebend, von Schiff zu
Schiff sich hinziehend, ein einziges riesenhaftes Netz, kaum sichtbar,
nicht dichter und nicht schwerer als ein Haarnetz. Es hatte das stumpfe
Weiß des Bleis, an einzelnen Maschen mit bräunlichen bis schwarzen
Flecken. Die rührten von verbrannten Tieren und Menschen her, die dieses
Netz geknüpft hatten. Substanzen, aus bituminösem Schiefer gewonnen,
bildeten den Hauptbestandteil der Masse, die zu Fäden ausgespannt wurde.
In den Anlagen hatte man erkannt, daß zur Fesselung dieser Stoffe, die
der Schiefer aus früheren Erdperioden, aus zerfallenden schmelzenden
Leibern hergab, lebende Organismen, ihre Berührung besser waren als tote
Körper. Aus dem Boden gerissen, der Luft preisgegeben, auf Holz und
Eisen ausgebreitet, sammelte sich die Substanz zu langsam, verpuffte.
Pflanzen, saftreiche, fette Tiere und Menschen waren der beste Boden,
auf dem sich der Stoff anreichern ließ. Die aber griff es schwer an. Es
ätzte sie. Dann fühlten sie, die das Netz auf Armen Schultern und Knien
trugen –, nachts legte man es auf Stiere und Pferde, deren Fell
kahlgeschoren war – Verbrennungen. Die Verletzten ersetzte man durch
neue. Die fünf letzten Tage des Maschenknüpfens, das in weiten Hallen in
Mecklenburg geschah, waren das Opfern einer Hekatombe. Nur stundenweise
konnten sich die Menschen dem weißen schrecklichen Gespinst nähern. Man
sorgte dafür, daß aus entfernten Gegenden Arbeiter und Arbeiterinnen in
Flugzeugen herankamen. Wer frisch ankam, unmittelbar in die Hallen
gebracht wurde, erlag am raschesten. Ältere, die schon müde knoteten,
hielten sich bis zu sechs Stunden. Dann lagen sie ohnmächtig da, mit
kalten Händen, kleinen Pulsen, eingesunkenen Backen. Die Meister lösten
sie mit mächtigen Glashaken von dem Gewebe, rollten sie heraus. Der
letzte Tag war es, der in das Gewebe die braunen und schwarzen Flecken
eintrug. Da war das Netz, das kilometerlange und -breite, aus seinen
fünf großen Einzelteilen zusammenzuknüpfen. Und als hätte sich die Kraft
des Netzes, seiner Ausdehnung folgend, verhundertfacht, geschah eine
Vernichtung der Lebewesen in seiner Nähe von einer Intensität und
Raschheit, die den Zusammenschluß des Netzes überhaupt unmöglich gemacht
hätte, wenn es sich nur um einen Tag mehr gehandelt hätte. Es betraten
morgens um sechs Uhr die ersten achtzig Menschen die Hallen. Um zwölf
Uhr mittags lagen auf den Wiesen hinter den Hallen schon dreihundert
Leichen. Aber um fünf Uhr nachmittags, als das Netz fertig war und von
siebzig Kränen frei in die Luft gezogen wurde, lagen nicht viel mehr als
diese dreihundert Leichen und Sterbende da. Denn von Mittag ab verließ
keiner, der das Netz berührte, mehr lebend den Raum.

In einer Zeit, die sich von zwölf ab immer mehr verkürzte, zuletzt bis
auf eine Viertelstunde, vergasten die Menschen, wie alles Feuchte an dem
Stoff. Vergasten, nachdem sie einen kleinen Schrei von sich gegeben
hatten. Ihre Finger griffen in das Gewebe, verkohlten da. Sechs Meister
knüpften die letzten Maschen, hatten die trockenen heißen Pelzmäntel an,
die dichten Pelzhandschuhe, die am sichersten schützten. Die starre
Trockenheit ließ das Gewebe nicht knoten; sie mußten ihre nassen
Fingerspitzen hergeben. Zu einem Griff. Und wollten sie den zweiten
machen, so rieselte es schon durch sie. Beim dritten sanken sie in ihren
Pelzpanzern um. Dunsteten verhauchten aus den Fellröhren. Leere Gehäuse
am Boden, dampfende Halsöffnungen Rauchrieseln.

Man hatte armdicke Glasbalken wie Fahnenstangen schräg nach rückwärts in
die Luft hinaus gebaut. Daran hing, leicht, auf zehn Schritt nicht mehr
sichtbar, das bleiweiße Netz. Es hing straff herunter. Bildete um die
zweiundzwanzig Schiffe eine Wand. Da, wo das Netz das Meer berührte, war
– kein Meer. Sondern auf Meterweite leerer Raum. Von einer Luft erfüllt,
die zu beiden Seiten des Netzes durchsichtiger war als die übrige und im
Sonnenlicht stärker leuchtete. Weder Insekten noch Vögel konnten sich
diesem leeren Raum nähern. Das Wasser, der unermeßliche Ozean, stand wie
Stein, gierig die Lücke zu füllen, auf die Schiffsreihe zu stürzen, die
sich langsam senkte.

Die Schiffsreihe senkte sich. Immer mehr Wasser baggerten die Verdampfer
aus dem Innensee, schleuderten es hoch. Die Spitze der ozeanischen Bank,
von mächtigen Salz- und Tanglagern bedeckt, stieg höher, je mehr das
Kesselwasser sich verdichtete.

In geschlossener Runde wie Kinder, die sich an den Händen fassen,
schaukelten die Kolosse. Am Vordersteven die saugenden beißenden
speienden Kraniche. Im Rücken das hauchartige Netz, wie ein feines
Lächeln vor dem eisernen gebannten Meer, dem schwarzen wallenden
stöhnenden, in allen Fugen krachenden Wogenberg. Der Ozean hing bald wie
ein Gebirge über ihnen, über den freudigen Menschen. Die Wassermassen
stürzten schräg abwärts. Schäumend weiß standen sie vor dem Netz hoch,
wie Pferde vor dem Stallmeister; vor dem Netz, das unberührt unbeweglich
höher und höher geschoben wurde, schon häuserhoch über dem Deck der
zweiundzwanzig Schiffe. Und so hoch umgab sie der schwarzanspülende sich
beulende stöhnende Berg des Wassers. Nach fünf Tagen hatten sie Platz in
dem luftstillen Kessel. Das wonnige rosafarbene Licht füllte ihn. Die
Menschen lachten. Da setzten sie Boote aus. Mutumbo gab das Zeichen,
Brücken auf die Sandlager herüberzuschlagen.

                   *       *       *       *       *

Von den Führern getrieben steuerte das Erkundungsgeschwader zurück,
südlich. Man mußte einer Schwäche, dem Zusammenbruch entfliehen. Die
Menschen bettelten die Führer an, fielen in sich. Sie drängten: man
hätte doch die Aufgabe nach Grönland zu fahren; man mußte nördlich. Aber
die Führer hatten Furcht und nur soviel Besinnung, um kehrtzumachen. Da
ging die Fahrt wieder in die Dämmerung, das Grau hinein. Das Grau,
dieses schimmernde staubige, oft stumpfe schwarze des Südens, näherte
sich, wurde höher breiter tiefer. Es kam gewaltig wie eine Höhle auf sie
zu. Die Erde, die sonderbare, war wieder da. Sie blickten ächzend nach
Norden, in Flammen schaukelte das Meer; wie grell das Rosenlicht
brannte. Wie es labte, sie nicht losließ. Die Führer selbst stellten
sich an die Maschinen, überwachten die Steuerung. Die Schiffe fuhren
schleppten die widerstrebenden Seelen mit. In die Dämmerung war man
schon eingesunken; tiefer und ohne nachzugeben drangen die Schiffe in
den weißlich schwebenden fremden Dunst ein. Kälter wurde es. Die Fahrer
staunten: hier waren sie zu Hause. Es gab Expeditionen, sie gehörten zu
der Expedition, die Grönland angegriffen hatte. Es gab die Shetlands
Eisberge Färöer Kontinent Stadtschaften. Was war das für eine wonnige
Gewalt, in deren Bereich sie gekommen waren. Die im Norden leuchtete.
Sie trieben klagend hin. Das Meer war heftig bewegt. Das große Feuer
brannte über Grönland. Tief überschauerte es sie; das heilige Feuer, das
sie aus der Vulkaninsel gehoben hatten. Es war der Brand der Vulkane,
der dies gekonnt hatte: sie entzücken, fast bis zur Verwandlung. Die
Flammenberge hatten gestampft, schrecklich die Lohe, die sie über das
ferne Grönland hinhauchten –, aber diese Wonne. Diese Wonne. Verstrickt
träumten sie, sehnten sich; ließen sich nach den Färöer und Shetlands
schleppen.

Bebend sahen die Massen sie da kommen. Mit einem Schreck, einer ins Herz
zuckenden Angst und Süße, wurden sie gewahr die freudigen stillen
Gesichter, erfuhren von Mutumbo, der seine Reiher und Pelikane dazu
verwandt hatte, um sich einen Platz auf dem Meeresboden zu schaffen und
nicht, niemals, bis zu seinem Tod nicht fortzugehen von diesem Licht.

Kylin schwankte, beriet mit De Barros und den Unterführern. Dann kam man
zu dem Entschluß, sich nicht voneinander zu trennen, das ganze
Geschwader, wie es Island und Grönland erlitten hatte, nach Norden zu
werfen und gemeinsam das Neue zu bestehen, was es auch sei. Die
Besatzung des ersten Erkundungsgeschwaders sollte mit einem Rest der
Flotte bei den Inseln zurückbleiben. „Habt keine Furcht“ trauerten die
Zurückbleibenden, „wie gern kämen wir mit. Ihr habt Angst von hier zu
gehen; nachher werdet Ihr nicht zurückwollen. Ach, was Ihr sehen werdet.
Denkt an uns.“

Das große Geschwader in die wachsende Helle hinein. Tag und Nacht
verschwunden. Leises Schwingen, Erzittern der Luft, fernes Brummen. Dann
immer deutlicher eine weit schwebende Musik, hohe Töne, mit Klirren
Schmettern untermischt. Die eigentümliche süße Freude, die alle überkam,
je nördlicher sie fuhren. Diese Glätte des rosig angestrahlten Wassers.
Was waren das für himmlische Dinge. Sie fuhren Boot, kleideten sich aus,
seufzten, waren glücklich. Man möchte zu Mutumbo, der bei Jan Mayen saß.
Wie klug dieser Mutumbo war, man mußte zu ihm, ihn umarmen. Wärmer wurde
die Luft, sie fuhren nördlicher. Weißrosa der Himmel und die Luft um
sie. In der Richtung Grönlands war das Licht und seine Farbe stärker,
mit Rot und Blau gemischt. Man sah ein Blitzen, Auf- und Abschwellen der
Helligkeit wie unter Flammen, kupferrotes Aufglühen, bläuliches
Verdunkeln, Schwälen Flackern. In dem warmen Wind heiße Luftfäden.
Strich- und rauchartig zogen die Luftfäden über das Geschwader,
ringelten das Meer. Sie brachten dann und wann einen schweren bittern
Qualmgeruch mit.

Bald traten erstaunliche Dinge vor die Augen der Seefahrer. Federn von
Möwen Sturmtauchern wurden von Windzügen auf die Decks der Schiffe und
in die Boote getragen. Die Federn waren von ungewöhnlicher Weiche, als
wenn sie von ganz jungen Tieren stammten, aber ihre Größe und ihr Bau
war der der ausgewachsenen. Sie waren meist verbogen, wie von Hitze
geschrumpft und gekräuselt. Dann flogen Blattreste durch die Luft, stark
gerippte behaarte Blätter, die man nicht kannte, auch unverständliche
kleine Pflanzenteile, die vielleicht Flugapparate von Samen waren. Der
tiefe Wind riß unverändert nach Grönland hin, die Meeresströmungen
schien er aber nicht abzulenken. Auf dem Wasser schwammen neben den
Booten farbige, grüne braune rote Massen, über die man sich freute. Man
hielt sie für flottierende Algenkolonien, losgerissenen Tang, in den
sich Medusen verfangen hatten. Wie sie aber an einigen Stellen mit den
Rudern dazwischen stießen, die Lagen fischten, glitten bunte Federn die
Ruderstangen herunter. Man griff nach dem paketartigen gleitenden
Gewebe. Es war Tang mit lebenden Moostierchen, Nacktschnecken, aber auf
ihm lagen Vögel, unversehrte tote Tiere, groß und ausgewachsen, die mit
den Füßchen wie Beeren aneinanderhingen. Und wie man sie noch
betrachtete, waren auf die Schiffe selbst lebende Vögel gefallen;
ineinandergekrampfte Scharen schlanker und runder Vogelkörper. Meist
waren sie erschöpft, starben rasch, wenn man sie nur aufhob. Bisweilen
kamen so viele, daß es um die Schiffe regnete. Die Federn der Tiere
waren wie die einzelnen, die die Luft hergetragen hatte, von
merkwürdiger Weiche; schillerten in Grün Gold Violett Braun. Manche
Vögel glühten in Farben wie Schmetterlinge; trugen blendendes Blau an
den Flügeln mit goldener Sprenkelung; Rumpf und Hals über den weißen
glatten Beinen purpurbehaucht. Die Schwingen der Tierchen waren meist
versengt, ja an einzelnen Flächen völlig verkohlt; diese Vögel mußten
fast nur durch den Luftstrom hergetragen sein.

Von Osten und Süden fuhr man auf Grönland zu, näherte sich sehr langsam
dem klirrenden Feuerherd. Der Wind, bisher wechselnd stark nach Norden
und Westen auf den sonnenartigen Brand züngelnd, ließ nach. Sein
Schlürfen Singen Stöhnen schlief ein; wie ein Gummiband erlahmte sein
Zug; nur eine gelegentliche zuckende Anspannung fühlte man. Das Dröhnen
und Hämmern trat ungehindert hervor. Unruhig blies es um sie. Sie mußten
die spielenden schaukelnden Boote verlassen. In Schüben wurden weiße
Wolkenmassen über den Himmel gestoßen. Öfter verdunkelte sich die Luft.
Sanfter Regen. Während sich die Luft stärker verschattete, stürzten
Wasserschauer über das Geschwader. Gossen, in Pausen nachlassend, bald
so dicht, daß die Menschen blind herumgingen. Sie lächelten wie vorher;
die Freude in ihnen war wie aus Erz gegossen. Sie durchfuhren die
Regenwand. Windstille trat ein, der Himmel war aufgerissen vor
Helligkeit. Aber von Grönland her, dort, von wo das weißeste Licht mit
Blau und Rot gemischt über den Himmel floß, näherte sich ihnen, die sich
in Kreuzseen bewegten, in einem strudelnden klatschenden Auf und Ab,
näherte sich ihnen etwas. Eine Dunkelheit zwischen den bläulichen
Flammen. Ein runder Fleck, der sich langsam ostwärts südwärts bewegte,
sich her bewegte, sich um sich bewegte. Ein Buckel, von tiefer immer
tieferer Schwärze, der im Norden anwuchs herwuchs, gegen sie herstieg.
Lautlos die See. Lautlos die wasserdampfenden Schiffe. Die Dunkelheit,
eben noch als Schatten heraufziehend, war aus einem Sack, einem
Kellergewölbe über das stumme Meer entlassen. Und jetzt war im Süden,
weit im Rücken der Schiffe ein Flimmern und Leuchten sichtbar,
goldgelbes durchstäubtes Licht; es war Tag hinten. Dies war der sonst
dunkle Tag über den Färöerinseln. Ganz klein erschien er wie ein
Kindergesicht am Fenster. Sie nahmen es auf den Schiffen stumm mit
Wundern an, wandten sich träumend dem Westen zu.

Der Wolkenschild, lichtverhüllend, von Grönland sich nähernd, hatte sich
mit einem Glimmerschein umgeben. Am Rand der allerschwärzesten Nacht,
die herantrieb, tanzte das Glimmerlicht. Rascheln, böiges Aufsausen,
Wühlen, stoßweises Auftoben des Meeres. Durch die anlaufende eindeckende
Schwärze zuckende Lichter, blendende Blitze. Donnermassen über dem Meer
zerbrechend. Mit jedem Blitz neue Donner zerknisternd. Zwei Pauken: das
Meer, der Himmel; hundert Schlägel auf und ab fahrend prallend. Der
Himmel zottig schwarz über dem Wasser hängend, stöhnend am Meer.
Brüllendes Ringen. In der Verfinsterung Verdampfung des Kampfes, nur ab
und zu grelles Äugen. Wogende Seen. Sie hatten die Höhe eines Berges.
Trugen in ihrer ganzen aufgesteilten Breite grünliche Kämme, als wären
sie bemoost. Der Kamm stürzte nieder; das Grün glitt weiß zerschellend
über den eingezogenen Bauch der Welle. Stürzend vergehend wuchs im
Vorwärtsdonnern der Kamm. Grün schimmernd, mit ausgebreiteten Armen fuhr
die See, das Wellengebirge über das Meer. Lief mit dem Orkan und ihm
voraus. Der drehende Wirbel schob sich, das Glimmerlicht vor sich, über
den Ozean. Der Körper des Wirbels, zwischen Meeresfläche und
Himmelsschwärze donnernd, nahm seine Straße nach Süden. Mit zwanzig
Kilometer Geschwindigkeit lief er. Er mähte. Seine Kraft war größer als
irgendeine, die vor ihm erschien. Er wälzte den Ozean häusertief auf,
schleuderte die Wasserlage vor sich in die Luft, zerriß zerstäubte sie.

Er kam über einen Teil des Geschwaders. Wie er die Schiffe nur mit dem
anrollenden Saum seines eisernen Kleides berührte, drängte er sie unter
die Meeresoberfläche, erschlug sie mit den aufgehobenen Wassermassen,
wallte fluttoste über sie.

Das Glimmerlicht am Rande, Gewitter vor sich, fuhr der Wirbelsturm über
das Atlantische Meer an der skandinavischen und britischen Küste
entlang, bog nach Westen um, kreuzte den Ozean in seiner ganzen Breite,
erreichte die amerikanische Nordküste, zerbrach, über Neufinnland
fahrend, Gebäude zerstörend, Bäume wie aus Geschützen schleudernd, an
den Randbergen Labradors. Auf seiner Zugstraße verbreitete sich
Dämmerung, der Himmel färbte sich kupferrot.

Das grönländische Geschwader kämpfte sich durch. Zyklon auf Zyklon
schickte der heiße Kontinent her. Dann traten sie in eine Gewitterzone.
Immer von neuem brannte das rosafarbene Licht auf. Unter Katarakten der
Regengüsse schlugen sie sich vorwärts. Das süße sehnsüchtige Gefühl
erlosch nicht in ihnen. Sie nahmen die Wirbelstürme, Zerbrechen der
Schiffe hin. So wenig Mutumbo die Gegend dieses Lichtes verlassen
wollte, wollten sie es. Sie erinnerten sich ihres früheren Daseins. Wie
störrisch hart sie gewesen waren. Sie weinten, hatten keine Furcht hier
zu sterben. Wenn der dunkle Schleier am Firmament erschien, der einen
neuen Zyklon anzeigte, – Ringe drehten sich in dem Schleier –, so
rüsteten sie ihre Fahrzeuge. Aber im grausigsten Wirbel waren sie, die
herumsprangen und lavierten, nicht geängstigt.

Die Gewitterzone überwanden sie. Sie waren schon nahe dem Land, in einer
Meeresgegend, die sonst durch Eis versperrt war. Schwüle warme Luft.
Blendende Helle, grelles Aufflackern Tag und Nacht. Grüne und braune
Massen schwammen auf dem Wasser. Da hörten Schiffe öfter Schreien
Schnauben Stöhnen vom Meer herauf. Einzelne Wachen berichteten: sie
hätten eine zusammenhängende Bewegung unter dem Meeresspiegel bemerkt,
die sich zögernd näherte und in der Nähe der Schiffe endete. Einmal
wurde eine Gruppe Fahrzeuge alarmiert. Die Menschen sahen von den Decks
eine abgegrenzte meterlange Strecke des Meers stürmisch aufgerührt. Ein
Geräusch wurde vernehmbar zwischen dem Klatschen des Wassers: Schlingern
Speien Ächzen. Sie ließen Boote herunter, stießen darauf los. Da ließ
die Bewegung nach; sie fanden nur Schaum und zerrissenen Tang auf dem
Meer. Nördlich der siebzigsten Breite in Höhe der Shemoninsel trieb das
Gros des Geschwaders. Die Ostgrönlanddrift floß hier neben der östlichen
Spitzbergenströmung. Große sonderbare Baumstämme von tropischem
Charakter trug das Wasser. Ein- zweimal schwamm eine ganze offenbar
losgerissene Bauminsel an ihnen dicht vorüber. Die Bäume darauf waren
geknickt verbrannt; einige wie frisch angenagt. Man fand, sie umfahrend,
Blattreste, die von palmenartigen Gewächsen zu stammen schienen.
Lebhafter machte man auf den Schiffen Jagd auf die Wesen, die die
sonderbaren Meeresgeräusche häufiger und häufiger verursachten. Es
mußten unbekannte schnell schwimmende Tiere sein, Wale, die aber keinen
Wasserstrahl warfen. An der Spitze des Geschwaders wurde einmal das
Röhren und Schnauben ungewöhnlich heftig. Sechs Schiffe fuhren darauf
zu. Motorboote wurden von von Deck gelassen, sausten nach der bewegten
Meeresstelle. Dort stieg Wasser auf, jedoch nicht senkrecht wie aus
Spritzlöchern der Wale. Sondern was sich bewegte, spie schwallartig
wagerecht Ladungen Wasser von sich. Die Boote rannten gegen die
sprudelnde Wassermasse. Da waren sie schon gekentert. Aus dem Meer aber
wand sich der Rücken eines braungrünen schuppenglänzenden Untiers, eines
Reptils mit langem Schnabel, seitwärts gestellten blicklosen Vogelaugen,
das an seinen dünnen Vorderbeinen eine lappige schwere Haut schleppte.
Auf dem Wasser rudernd schlug es die Vorderbeine über dem Rücken hoch.
Die wampige Haut spannte sich. Der Schnabel fuhr schnappend hoch, der
Rumpf ringelte sich aus dem Wasser auf, das Untier schlackerte mit
seinen Flügeln. Stieg unbehilflich wie eine Gans, mit Ächzen und Speien,
in die Luft, dicht über der gischenden Wasseroberfläche; verschwand
gurgelnd über dem Meer.

Man zog die Verunglückten aus dem wieder glatten Wasser. Das Gerücht von
den Tieren verbreitete sich über das Geschwader. Unsägliches Grauen lag
auf den Menschen, die das furchtbare Geschöpf gesehen hatten. Es war
sicher: man war von Wesen dieser Art umringt. Sie waren es, vielleicht
noch andere, die seit Tagen das Geschwader beunruhigten, zwischen den
Schiffen ruderten stöhnten verschwanden. Entsetzen fiel auf alle. Die
Menschen hatten nicht mehr die Starre der Islandkämpfer. Sie waren in
den Wochen, die sie unter dem wonnigen Licht fuhren, aufgelockert
worden; Weinen und Lachen kam ihnen leicht. Jetzt wimmerten sie, das
Schluchzen fuhr ihnen aus dem Hals, verkrochen sich an den Schiffen,
wollten nicht weiter. Was sollte kommen. Jetzt in dem Entsetzen
erinnerten sie sich Islands, der stampfenden tobsüchtigen Vulkane. Die
waren es, die über Grönland brannten, diese Wesen erzeugten. Weg von
ihnen, es war genug. Was taten die Stadtschaften; diese verruchten
Stadtschaften, was machten sie mit ihnen. Sie umgingen zitternd die
Führer, die sich selbst kaum aufrechthielten, drängten, daß man nach
Süden drehe. Und doch war in die Angst vor den Untieren eine andere
Angst gemischt: fort zu müssen aus diesem Meer, totes Leben sollte
wieder beginnen. Sie fürchteten sich vor der Rückkehr. Die Führer
wandten das Geschwader nicht. In wärmere und wärmere Luft ließen sie es
treten. Stoßweise ergoß sich Glut über die Menschen, die wieder ganz von
jener Furcht gebunden waren, die sie in Island stumm gemacht hatte. Sie
suchten sich mühsam starr zu machen; aber das rosafarbene Licht zehrte
an ihnen.

Das Wasser floß blaugrün unter ihnen. Ein Quirlen und Quellen, Wühlen
und Spritzen überall. Abgerissene Bauminseln umgaben sie von allen
Seiten, trieben zwischen den Schiffen hindurch, die ihnen auswichen,
kein Boot mehr nach ihnen aussetzten. Zusammenfahrend, die Fäuste vor
der Brust, sah man Vögel über sich fliegen, bunte singende tirilierende,
in ganzen Scharen. Niemand dachte, sie zu jagen. Man stierte auf sie,
ohne einen Eindruck zu empfangen, stand in Erwartung, halber Bannung.
Das Wasser war von den grünen braunen Massen streckenweise so bedeckt,
daß sie sie umfahren mußten. Manchmal mußten sie die dicken Schichten
aufreißen. Tierische Körper waren eingesponnen, mit ihnen verfilzt: tote
Ungeheuer, deren Köpfe über den Meeresspiegel traten, lammäßig ruhige
Gesichter mit Bärten, blau überspült vom Wasser. Und auf Stunden, wie
sich nichts ereignete, wurden die Menschen wieder von dem alten
Glücksgefühl überflutet. Alles blieb still bis auf das helle
Vogelgeschrei.

In ein Meer von dunkelroter Färbung fuhren sie jetzt. Ganz langsam
bewegten sich die Schiffe. Stundenlang ließen sie sich nur treiben. Die
Wärme war groß; kein Wind bewegte sich. Über sich an dem strahlenden
Himmel sahen sie in großer Höhe schattenhafte Wolkenmassen ostwärts
schwimmen. Die Oberfläche des Meeres, burgunderfarben leuchtend,
spritzte manchmal Schaum, aber zog sonst gleichmäßig als ein loser und
dichter Rasenteppich nach Westen. Der Teppich, aus Meerespflanzen
gebildet, war straffer als der braungrüne, den sie durchfahren hatten.
Es waren Wiesen, die aus der Tiefe heraufwucherten, bisweilen glitzernd
über dem Wasserspiegel hervorragten und Land vortäuschten. Die Wiesen
lagen ruhig; bisweilen sah man sie wie Falten eines Kleides sich
hochbauschen und wieder glätten. Mit leiser Bangnis blickten die
Seefahrer darauf hin, immer in Furcht, daß da ein Riesentier das Meer
aufwürfe. Die bunten Vögel, die die Masten besetzten, hockten und
sprangen auf der purpurnen Tangwiese unten. Handgroße Steine und
Eisenstücke, die man herunterwarf, blieben auf der Wiese liegen. Kleine
Tiere, die sonst nicht das Meer bevölkerten, Fledermäuse, sah man sich
auf den Rasen senken; leichte weiße Schmetterlinge, die über dem nassen
Kraut sich schaukelten, in Scharen die Wiese weißfleckten. Dann lief und
ruderte ein schwärzliches Gewimmel durch die Röte. Kleine Tiere, eine
Art Ratten, mit bunten Schöpfen auf den Scheiteln. Sie pendelten im
Wasser, schwammen dicht beieinander, hielten sich an den Stielen der
Algen fest, blickten mit kleinen schwarzen Augen, den Schopf kammartig
aufgestellt, um sich. Zwischen ihnen blaue glänzende Zikaden, die
sprangen, aber auch Flügel zu entfalten schienen. Von ihnen stammte das
feine durchdringende Piepsen, das, zwischen dem großen gleichmäßigen
fernen Rollen und Wühlen, aus den Pflanzenmassen herkam. Auf die Schiffe
kletterten die Tiere, vor den Menschen wichen sie aus. Die Menschen
selbst flüchteten vor ihnen; sie schrien; ein Hauch von Entsetzen wehte
sie an, aber sie lachten wieder, kamen sich wie Kinder vor.

Der rote Teppich zerteilte sich manchmal, dann quoll er wieder zusammen.
Immer mehr kleine Tiere überschlüpften die Schiffe, Schmetterlinge und
Vögel belagerten Decks und Masten. Im Wasser, wenn der Rasen zerriß, sah
man größere gelbe und blauschwarze Wesen schwimmen. Sie ähnelten nicht
Fischen, mehr mit ihren blanken glatten Leibern Robben; sie kämpften
miteinander und mit mächtigen Weichtieren, Nacktschnecken, die an der
Oberfläche des Wassers hingen und da atmeten. Die beiden vorderen Fühler
dieser Schnecken waren zu starken warzenbesetzten Armen ausgewachsen;
mit denen griffen sie nach unten hängend nach den gelben schwimmenden
Tieren, drückten, während sie sie hielten, ihre Saugfüße den
schnellenden robbenartigen Wesen an den Leib, die rasch die Farbe
verloren. Das Wasser um die Schnecken schlierte immer bunt und trübe.

Erstickende wilde Hitze schlug durch die Luft. Gegen eine Benommenheit
rangen die Menschen auf den schwankenden Schiffen. Sie hielten sich an
den Masten und Geländern fest, stierten lächelten um sich. Sie waren am
Hinsinken. Sie träumten: laß kommen, was will. Ihre Brüste beklemmt. Da
zitterte vor ihnen die Luft auf. Das Zittern verschwand, stellte sich in
anderer Richtung wieder ein. Es schien nichts weiter zu sein, als das
Vibrieren der Luft in der Hitze; sie kannten es von Island her, von dem
Hauch über dem Glutmeer und über den Lavaströmen. Das Vibrieren erschien
bald neben ihnen, die Hitze wuchs aber nicht. Die Flächen der purpurnen
Tangwiese, die dichten Büsche des Meerkrauts, barsten manchmal; das
meterhohe Zittern der Luft erschien dann, wanderte; überall auf dem Wege
dieses Schwirrens wich das Tangfeld auseinander, schnellte hinter ihm
wieder zusammen.

Plötzlich stand einmal die zitternde Luftmasse vor einem seitlich auf
der Wiese umherirrenden Schiffe, das verschlafen stand. Die Menschen auf
seinem Deck betrachteten ohne Bewegung die sonderbaren Luftwellen. Ein
Surren umlief die eigentümlich wallende Luftmasse. Da schnüffelten die
Menschen verwundert: ein Geruch nach Teer und Salzlake wehte in Pausen
stoßend über das Schiff. Sie sahen, wie sich die vibrierende Masse ihnen
langsam näherte, daß sie aus dem Meer aufwuchs, daß sie geadert war, ja
durchpulst. Sie schwankte in sich. Das Luftwesen –, nun sahen sie es,
staunten und erschraken nicht –, schwamm wie ein Haus hoch im Meer. Von
schwarzen kleinen Massen, die sich auflösten, war es erfüllt; es mußten
Algen und Lebewesen sein, die es in seinen Darm aufgenommen hatte.
Vögel, Schmetterlinge hatten bei Annäherung des durchscheinenden
gallertigen Gebäudes das Schiff verlassen, pfeifend sprangen ihm
abgewandt die blauen Zikaden und buntschöpfigen Mäuse ins Wasser. Das
bergehohe Wesen aber blies stärker über das Schiff seinen tranigen Atem.
Veränderte –, erstarrt standen jetzt die Menschen, fielen bewußtlos um
–, wechselte seine Haltung, drehte sein Oberstes nach vorn. Da hatte es
wie ein Pflanzentier, eine Mundöffnung, von einem Kranz flimmernder
Bänder umgeben, eine wogende gläserne Wölbung, aus der der strenge
Salzhauch in Stößen drang. Die Bänder rollten auf, über Deck, schlangen
sich um Masten Balken Menschen. Die Bänder drehten das Schiff quer,
zogen es hin vor den tief gesenkten Mund des Tiers. Vor dem tief
gesenkten Mund des Tiers kenterte das Schiff. Es senkte sich ins Wasser,
wurde von der gallertigen Wölbung aufgefangen, die sich über die Masten
und die Decks schob, sich über ihnen schloß. Die Luftmeduse richtete
sich auf. Ihre Bänder spielten aufrecht in der Luft. Die Schiffsbalken
wurden von ihren krampfenden Eingeweiden, mit Eisenmassen Lebewesen hoch
und sichtbar über dem Meer schwebend, aufgelöst, zerflossen in ihr.
Schwarze Flecken rannen durch die feine Äderung; der Mantel warf heftig
Falten. Das Flirren und Flimmern der Luft ließ nach. Das Tier senkte
sich. Tauchte ins Meer ein, zur Seite gedreht, Wasser schlürfend. Die
purpurne Tangwiese rollte über ihm zusammen.

Auf der roten heißen Fläche endeten fünfzehn Schiffe. Die Hauptmasse des
Geschwaders floh. Ein Teil raste durch das Krautmeer, blieb von Getier
erfaßt, im Pflanzenwust verbacken hängen. Ostwärts südwärts stürzten die
Schiffe.

                   *       *       *       *       *

Grönland, zwei Millionen Quadratkilometer Fläche bedeckend, vom Pol in
den Atlantischen Ozean ragend, lag unter dem Schleier, den die Menschen
ausgespannt hatten. Der Strom aus dem atlantischen Kabel der Menschen
schoß über das Netz. Es rauschte aus den tragenden Ölwolken hoch, in
deren Buchten und Beulen es sich verschoben hatte. Steif und starr
wagerecht in der Spannung stand es. Schwang und zitterte wie ein Tier,
das zu dem Bändiger mit der Peitsche und den scharfen Blicken aufsieht.
Abschnitte des Netzes zuckten unter Pulsschlägen. Barsten. Funken
sprangen aus ihnen. Um die aufgebrochenen Stellen spritzte knatterte es.
Stichflammen meterhoch schenkeldick, blau dann weißer, rötlich surrten
spiralig auf, jäh sanken sie zusammen nach allen Seiten abfließend. An
allen Stellen schmolz das Netz. Die Flammen dehnten sich aus. In
Kreisen, die sich schußschnell erweiterten, flog das Feuer nach außen.
Überrieselt von einer dünnen Flammenschicht war der hundert Meilen weite
Erdteil. Ihr Licht durchdrang die schwarzen Ölwolken kaum; schwach waren
die Gebirgskuppen beleuchtet. Da begannen sich die Platten unter dem
umsponnenen Turmalinschleier zu biegen. Sie schmolzen. Meter über Meter
nach oben und unten vertiefte sich die Lichtmasse, verstärkte sich die
Glut. Plötzlich schwoll brünstig haushoch eine Flammenflut von Meer zu
Meer über Land und Gebirge, schwoll und wuchs wie eine Mauer in sich
zusammen. Die Gaswolken wurden zerrissen, die hängenden Wetterwolken
verdunstet. Tagesheller fremdartiger Schein. Tausendfacher Donner schlug
in die Lichtzone ein. Durch die rosaweiße Luft zackten Blitze. Die Luft
schüttete ihre Wassermassen zur Erde. Sturm fuhr in die Feuersglut ein;
den schwellenden Brand konnte er nicht umfassen; er prallte von ihm
zurück, rieselte warm, besänftigt auf. Über dem Meer lagen die
Stützpunkte des Schleiers, Netzteile, die den Gluten widerstanden. Auf
den Ölwolken dieses schmalen Randes ruhte das ganze Netz.

Die Hitze, das ungeheure losgelassene Wesen, tauchte in den Abgrund des
Eislandes. Hauchte das Land an wie der Atem eine Glasscheibe. Die Luft
unten trübte sich neblig, Dunst erhob sich. Das Land wogte unter grauen
und weißen Wolken, die unmerklich dann wrasenartig vom Boden aufstiegen,
in Schwaden über die Schnee-Ebenen, an den Berghängen sich hinkrümmten,
ringelten brodelten. Wirbelnd schwollen sie, in ganzen Strudeln sich
drehend, milchig verdichtet, das Land verbergend, ein aufsteigendes
gasiges Meer. In Fäden tastete der Dunst nach der Glut. Die blanke
Platte des Inlandeises beschlug sich mit Nässe. Auf dem Eis wollte das
hintropfende Wasser wieder gerinnen, aber die Hitze hielt es, hielt es
weich. Mehr mußten die Eisplatten die Höcker hergeben. Wasserrinnsal
über die Ebene hin. Der Schnee der Wüsten sinterte. Die meilenweite
Schneebreifläche wurde von der Glut geschoren. Sie plattete ab. Ihr
reines weißes Gesicht, ihre duftige Weiche verschwand. Dunkler färbte
sich das Land. Die Bäche verbreiterten sich, die Klüfte des Eises, in
denen Ströme mit Tosen zogen. Es knatterte knarrte dumpf in der
ungeheuren Platte des Islandeises. Es surrte auf, schoß. Spalten taten
sich auf.

Die große Kraft saß oben. Ein Funken des Kabelstroms hatte sie gerufen.
Für die Augen war sie kenntlich: strömte rötliche Helle, die sich nicht
mehr steigerte. Die Berge, die reißenden Flüsse, die blauen Firnen,
Schneewüsten, Gletscherläufe, augenlos ohrenlos gefühllos, nahmen sie im
Innersten wahr. Die große Kraft, die Glut, saß nicht oben, sie drang
nach oben, unten, den Seiten, schob sich in Starres und Loses ein. Wie
eine Krankheit und Liebe fiel sie die Dinge an; sie erlagen und sanken.
Das Größte Kleinste Festes Flüssiges griff sie an, war wie ein Ruf ins
Tal: von allen Seiten hallte es wider. Wie die große Kraft sich auf das
Land herabließ, lief sie in die Adern der Dinge, erweichte sie, blähte
sie auf. Kein Wesen war stärker als sie. Sie wußte nichts von Fjorden
Gletschern Küstengebirgen Eisplatten Bächen Schneeflächen, war blind für
das Riesige Ausgedehnte; an das Feinste wandte sie sich und da fand sie
den Zugang. Erkannte im Store Karajak Gletscher das Wasser, das Dunst
werden konnte. Die Breite der schwer schiebenden Assatak Tuarparsuk
Atlaksoak machte ihr nichts. Blau war das Eis der Firne, die Spalten der
Räume spielten grünlich, die Schneebreiebenen zogen weiß durch das
Inland: dies war Wasser. Und konnte Dunst werden. In die Spalten des
Eises der Berge der Gletscher, in die unsichtbaren Spalten des
fließenden Gewebes der Ströme Seen Bäche Brunnen senkte sich die Hitze.
Jagte sie auf zu Gas Dunst Wolke.

Ein Massiv aus Granit und Gneis lagerte Grönland, von kalten
Meeresströmungen umflossen, über den siebzigsten Breitengrad, zwischen
der zwanzigsten und achtzigsten Länge. Die Wesen, die glühend aus dem
Erdkern stiegen, Kieselsäure Magnesium Aluminium Sauerstoff, hatte die
finstere Urgewalt, die Kälte, angefaßt und nicht losgelassen. Sie war
die größte Macht, Herrin der Unermeßlichkeit, erfüllte den Äther. War
Formerin, Gebärerin der Gestalten, die das Feuer verlodern ließ.
Ungeheuer trug die Finsternis und Kälte die Gestirne, die nur Strudel in
ihr waren.

Das Flackerlicht des Schleiers über Grönland nahm mit ihr den Kampf auf.
Über das Ruhende Milde kam das Tosende Rasende. Hohes Singen des
flammenbrünstigen Netzes; die Flamme schien alle Dinge, Luft Eis
Gebirge, zu ihresgleichen zu machen. Wasser liefen über dem Gesicht des
Eises. Die Felsklippen im Eis, die Nunataks, gaben ihre dünnen
Schneelagen her, enthüllten bis zum Fuß ihre schwarzen Wände. In die
Fugen des steinartigen Baus der Firne und Gletscher stieg die Hitze.
Überrieselt wurden die Eislager, die langsam drängenden Ströme. Wie Wein
einem Betäubten wurde den Bergen die strahlende Kraft eingeflößt. Sie
nahmen sie mit verklemmtem Mund auf. Aber die Hitze rieselte in ihre
Eingeweide. Durch die lastenden eisigen Kolosse lief die Wärme, und
alles was in ihnen war, fühlte sich angefaßt. Zum Aufbeben waren sie
gebracht, wie die neue Gewalt über sie kam, die sie von Urzeiten
kannten. Die Firne stemmten sich auseinander, Luft saugten sie auf. Ihre
Hohlräume, von Wasser plätschernd, erweiterten sich wie Lungen. Von
Röhren Gängen wurden sie durchlöchert, Gewölbe unterminierten sie. Es
floß von ihnen ab, Wasser, zu dem sie sich verwandelten erweichten. Das
lustige weiße klingende Wasser. Schäumende Läufe in den Leibern der
Firne; Schellen und Schlittenfahrt. Aus weiten Gletschertoren stürzten
die Gewässer entbunden hervor. Nagend umspülten sie die blauweißen
Säulen der Gletscherhallen, erwärmte schmelzende drängende Wasser.
Gewölbe Firne zitterten unter der hebenden Wucht. Lechzend wühlten sich
die Quellen durch das Eis, schnitten in die weißen Gemäuer ein. Von den
gedehnten sturzsüchtigen Säulen troff weißes Wasser, immer neues Wasser.
Im Klingen Klirren des Wolkenschleiers das Puffen Erdröhnen der
sterbenden hinsinkenden Gletscher und Firne. Durch ihre Leiber, in den
Eisfelsen wirbelte ein unregelmäßiges Auf und Ab von Trommelschlägen,
bohrendes erregtes Wasser. Der Dunst lag bergehoch über dem Land.

Die Küstengletscher glitten rascher hin. Sie drängten in die Fjorde; von
rückwärts, aus dem Inland wurden sie gestoßen. Über ihre Köpfe, ihre
Rücken herauf stiegen Eismassen. Ein brandendes Eismeer war im Inland
entstanden. Schollen und Schichten drängten sich zusammen, türmten sich
aneinander auf, rannten sich splitternd fest. Das Inlandeis, die Firne
hatten sich auf die Wanderschaft begeben. Sie schwammen auf dünnen
Schichten des leckenden Wassers. Die Gewölbe unter sich hatten sie
zerknickt, das Wasser aber hatten sie nicht pressen können. Das lief vor
ihnen her, und wie es quoll, trug es sie. Unterschmolzen wurden die
Massen; sie mußten gleiten schwimmen. Auf dem sanften biegsamen Wasser
schwammen sie. Ihre Wucht war in Jahrtausenden gewachsen, in der
Finsternis, zwischen langen Wintern, kurzen Sommern. Schnee auf Schnee
war über sie gefallen, von Stürmen zugetragen, war geschmolzen vereist.
Der Wind hatte den Schnee nicht mehr abgeblasen, immer mehr Schnee wurde
an das Eis geheftet, das Gebirge konnte ihn nicht abschütteln, die
Eismassen umschnürten die Felsen, wuchsen von den Hügeln auf, belagerten
sie. Dann war das Land nichts als eine Fußbank unter ihnen. Sie
quetschten es breit, zerrieben seine Fältelung. Jetzt waren sie
erschüttert. Unsicher ließen sie ihren Sitz los. Und sie waren nicht
allein. Hinter sich fühlten sie es sich schieben. Sie wurden gehoben,
von ihrem Platz geschleudert, von unten herauf gehebelt. Unsichtbar noch
die Bergwände Täler, die versunkenen stillen, die die Erde hochgetrieben
hatte und die das umwallende Meer nicht hatte übersteigen können. Aber
die Last über ihnen schwand. Die Talmulden wurden von dem wandernden Eis
ausgefüllt, die Grate erklettert übertürmt. Da wogten die Gletscher aus
dem Inland gegen die Küsten heran. Wie eine Frau, die die Kleider
anrafft und den Straßenstaub aufrührt, peilten die trägen Grundlawinen
den Boden aus, zerschrammten Felsen, mischten sie in ihre Masse. Ihre
drängenden Haufen umflossen die Nunataks, knickten sie, rollten;
zerrieben ihre Trümmer.

Wasser, das große Element, am wildesten von der Hitze und Kälte
umkämpft, war auf dem Plan. Triefende weiße trübe Massen; dieses
Schwemmen Lösen Schleppen Hinstürzen Zerplätschern. Das Wasser sprang
zehnmal an, glitt ab, warf zuletzt um, eilte weiter. Es drang mit der
Hitze in die Gletscher die Erde, lockerte auf. Die Nebelschleier, gasige
feuchte Meere stürzten nieder. Erst regnend, dann in Flüssen kamen die
Wassermassen auf das Land zurück. In der Nässe zergingen die letzten
Schneefelder. Die Firne und Gletscher, die nicht ihre Lawinen ins Meer
gestürzt hatten, blieben schwer liegen. Zersprangen zerflossen, vom
weichen Wasser geschaukelt.

Die Berge Hügel Ebenen des zerdrückten uralten Landes zeigten,
überschwemmt, von meilenweiten Seen bedeckt, katarakterfüllt, ihr
verwüstetes Gesicht. An den Küsten drängten sich noch die Gletscher, die
Gebirge übersteigend; ruckten sackten ins Land zurück. Blind dröhnend
rannten noch Gletscher vorwärts, mit zerknisternden Decken, dann schon
überflutet, von der Nässe gelähmt, standen vor Felsen, taumelten,
mauerten sich an ihnen hoch, sanken ab, schnurrten, wurden kleiner
grauer, wogten als Schollen.

In eine Wüste von Blöcken hatte sich das Land verwandelt. Die Seen
dampften und schwenkten Eisbröckel. In den Tiefen wühlten die letzten
Gletscherreste. Das Inland gleichmäßig glatt und ruhig unter der
glutenden Luft, mit wenigen dunstenden Hügeln bestanden. Nach den Küsten
stürzten Wasser; da hatte sich ein Wall gebildet aus den Trümmern und
Erdlasten, die die Gletscher fortgetragen hatten; die Wasser mußten sie
durchwühlen.

Es war an dem Tage, an dem die ersten Erkundungsschiffe der Menschen
über den Ozean fuhren, da bewegte sich die Erde. In großer Ruhe stieg
Grönland, das Erdmassiv, das vom Pol in das Atlantische Meer ragte, auf.
Stieg wie ein Korken auf, der tief in das Wasser gedrückt ist und den
der Finger losläßt. Von der gebirgsschweren Last der Firne Gletscher des
Inlandeises war das Land befreit. Es hob sich leicht. Hob sich über der
schweren flüssigen Masse des Erdinnern, die es trieb, bis an seinen
neuen Ort. Das Land, Berge Ebenen Hügel Küsten, schob sich in die Höhe
und zerriß von Norden nach Süden.

In wenigen Tagen war alles ausgeglichen. Grönland, noch eben ein
Erdteil, war zu zwei großen Inseln geworden, die meilenweit durch ein
flaches Meer getrennt waren. Rauchende Inseln wuchsen langsam aus dem
Wasser. Inseln verschwanden wieder. In die westliche große ergoß sich
eine tiefe Meeresstraße.

                   *       *       *       *       *

In dem riesigen Umkreis der Flammen, wo das Licht matter schien, die
Glut nachließ, begab die Erde sich auf die Wanderschaft, um dem heißen
Eiland näherzukommen. Die Welt um Grönland, als wollte sie das Feuer
löschen, wucherte in die Flammenzone ein. Ein Wall bewegte sich auf die
grönländischen Inseln hin, so dicht, daß das Meer fast abgemauert wurde.
Aus dem Randgebiet kam ein Riesenlager von Lebendigen dem Glutenherd
näher. War wie Flamme und Wasser, bereit alles zuzuschütten. Die Luft
durchdrang es. Bald war es ein Rasen, eine meilenweite tiefe Wiese, bald
ein Wald über dem Meer, ein grünes Meergebirge, das vordrang. Was unten
nicht heftig genug wuchs, trieb oben vor, schickte ungefesselte Tiere,
die liefen schwammen flogen. Kilometerdick waren die Pflanzenschichten,
die purpurn grün braun das Meer überschaukelten. Wo sie sich den
heißesten Strahlen näherten, waren sie so dicht, daß das Wasser sie nur
in Kanälen durchdrang, daß sie oben trocken lagen, Sturzwellen sie nur
gelegentlich überschlugen.

Im Westen wuchsen aus wallenden Laminarien Bäume auf; Lassonien
mannsdick, mit scharlachroten Blattkronen geschmückt, ließen Zweige
herabhängen. In diesen wasserdurchzogenen Wiesen, lustigen Wäldern
wuchsen verkamen zahllose Tiere. Verstrickten sich in den Maschen der
Pflanzenwelt. Es trieb sie in Scharen in die Lager. Die schwimmende
Wiese hob und senkte sich, straffte sich, erschlaffte. Mit jedem Anheben
wurden wie durch Ausatmung Tausende Keime und Tiere herausgepreßt,
strudelten in das Wasser. Sie wurden geschnappt von denen, die eben
anschwammen, gebannt lauerten. Zu einem einzigen hauchenden Wesen
wuchsen Wälder und Wiesen des Meeres ineinander. Fische Würmer Krebse
suchten sich durch die Blätter und Stengel durchzusägen; aber die Last
der Wiese war ungeheuer. Die Tiere wurden zusammengepreßt, ihr Saft
troff, mischte sich mit dem weißen der geknickten Stengel, ausgelaugten
Blätter.

Es gab in dem Grönland umziehenden Gewebe nicht zu unterscheiden
Lebendes und Totes, Pflanzen Tier und Boden. Pflanze legte sich an
Pflanze, hielt langsam schwimmende anschnellende Tiere mit Ranken,
stützenden Blüten fest, die Tiere wurden ihre Teile. Diese Pflanzen
hatten selbst Saugwurzeln Stützwurzeln von allen Stellen her. Ihre
Blütenhaare Ranken bildeten sie zu Saugern Füßen Kiefern aus; waren
Tiere und Pflanzen in eins.

Auf Blumen saßen krebsartige Wesen. Saßen ganz still. Mit ihren
Schwanzfächern schlugen sie von Zeit zu Zeit Ranken ab, die sich um sie
legten. Mit den beiden gekrümmten säbelartigen Raubfüßen bohrten sie in
dem Blütengrund, rissen Wunden in den Schaft, schoben ihre Kauladen an,
sogen. Manche Pflanzen trieben Röhrenblüten; in den Hüllkelchblättern
saßen graue Krebse; in die Fruchtknoten hatten sie ihre feinen Kauladen
getrieben; aus den Saftröhren des Pflanzenwesens floß ihnen Nahrung. Sie
ließen manchmal auf freieren Wiesen den Blütengrund mit den Füßen los:
als wären sie ein Pflanzenteil ragten und flottierten sie, mit wallendem
Schwanzfächer, über dem Kelch im Wasser, um gleich, wenn sie verdrängt
und abgerissen wurden, mit kurzen drehenden und wühlenden Bewegungen
sich neu einzubohren.

Da saßen Geschöpfe an den Pflanzen, waren Spinnen. Unter den
Blattachseln wuchsen sie hervor, schickten ihre Spinnfäden heraus, die
sich fest um Nachbarstengel rankten. Tintenfische, ungeheure Leiber, mit
vielen Armen, hatten ihre Augen geschlossen. Der muskelstarke Mantel
hielt still, war straff gebläht, das Pflanzengewebe hatte seine
Fortsätze in seine Höhlung getrieben, die großen Adern hatte es
umwuchert, das Tier war nicht tot. Sein Herz schlug; in seinen Darm
mündeten die Spalträume der Pflanzen; das Herz trieb träge den Saft
anderen Tieren, anderen Pflanzen zu. Stengel Blätter Knospen wurden
abgeschnürt, Glieder von Medusen Seesternen; die Teile wurden hier
aufgesogen, dort waren sie schon wieder von einem Wesen gefangen, das
sich dem losen Medusenarm anpaßte, ihn zu seinem Rüssel Stachel
Deckblatt Saftröhre machte.

Feine Algen durchwuchsen Nacktschnecken, es war keine Schnecke mehr: ein
Algenbusch schaukelte über dem weichen Bett.

Auf den rosig bestrahlten grönländischen Inseln hatte sich nach der
großen Erderhebung alles verändert. Ihr Boden war gestaucht verworfen.
Bloßgelegt waren Erdschichten und Gesteinsmassen einer uralten Erdzeit.
Die Tiertrümmer Samen Pflanzen, Splitter einer jahrmillionenfernen Zeit
waren wieder dem Licht preisgegeben, jetzt einem anderen Licht. Diese
Sonne, die über Gebirge Ebenen Seen jetzt übertropische Wärme warf, war
von wilderer Gewalt als der ferne alte Gasball. Unter dieser Sonne, die
dicht über ihnen lag, erhob sich das Begrabene und Tote. Die Sonne riß
es hoch. Wie die Maschinen, die die Islandfahrer auf den Brücken
vorgeschoben hatten, die bröckligen Steinswesen bezauberten, Verbannten
ähnlich, die man auf der Straße in ihrer Muttersprache anredet, einer
Frau ähnlich, die verdorrt und eine Umarmung, ein sanftes Wort erfährt,
oder wie Völker, die man unterjocht hat und die sich finden, – das Glück
bringt sie zum Weinen, – so drang das heiße rosige Licht auf die Trümmer
der alten Erde, umfloß umspülte bewältigte sie stürmisch. Schoß in ihr
Herz.

Es kam ein Schmachten Wüten in die Dinge, daß sie sich bogen und
streckten. Langsam regten sich die Gesteine. Die Ebenen des Landes hoben
sich, überall wuchsen die Lager aus, drängten hoch, schoben sich
übereinander. Rascher waren die Moose Algen Farne Gräser Fische
Schnecken Würmer Eidechsen großen Säuger. Keine neuen Keime flogen über
die See herüber. Die zermürbten Trümmer der Kreidezeit, Knochen
Pflanzensplitter fanden wieder Leben. Dies wütende Licht backte zu
Leibern zusammen, was es fand. Die Knochenwirbel, die zertrümmerten
Skelette tranken in dem Lehm die Gletschernässe, zogen sich aneinander.
Aus dem Lehm strömten ihnen Stoffe zu, die sie zu ihren Leibern machten,
die sie um sich legten; Erde, quellendes Wasser, Salze. Es wandelte sich
in ihnen und an ihnen schon um zur Art ihrer Körper.

Um alle Reste und Trümmer ballte sich die Erde zu Lebendigem, quoll auf.
So wild war der Drang zu Leibern zu finden, zueinander zu fließen und
sich zu bewegen, daß überall auf den Inseln das bloßliegende Land in
ganzen Strichen barst, sich hier zusammenrollte zu einer wimmelnden
Masse, dort wie vom Regen getroffen aufwucherte unter baumartigen
Gebilden. Es waren keine Wesen, wie sie die Erde früher getragen hatte.
Um bloßliegende Glieder, Köpfe Knochen Zähne Schwanzstücke Wirbel, um
Farnblätter Stempelteile Wurzelstümpfe sammelten sich die Wasser Salze
Erden; oft wuchs es sich zu Geschöpfen aus, die den alten dieser Erdzeit
ähnelten, oft drehten sich sonderbare Wesen, sogen an der Erde, tanzten.
Das waren Köpfe Schädel, deren Kiefer Beine geworden waren, der Rachen
ein Darm, die Augenlöcher Münder. Rippen rollten sich als Würmer. Um
eine Wirbelsäule strömte zusammen die lebendige Erde, befestigte sich.
Es war, als wenn ein Adergeflecht nach allen Seiten ausschoß von den
Knochenresten, als wären sie Kristalle Keimpunkte in der übersättigten
Lösung. Und was um die Wirbelwesen lag, von den Adern berührt wurde,
faßte es an, zog es zu sich her, ob es selbst Leib gewinnen wollte oder
nicht. Die Würmer, die sich um die Rippen gebildet hatten, zog, wenn sie
nicht flohen, das Wirbelwesen an seinen Mund, pflanzte sie sich neben
seine Lippen ein; sie schluckten vorverdauten für ihn.

Kuglige Wesen rollten von Hügeln ins Land. Sie hatten die Art von
Lawinen. Um sie spielte das Geäder unersättlich; wie sie rollten,
backten sie an ihren Leib, was sie fassen konnten, versenkten die Adern
in das Ergriffene. Auf Hügeln blieben manche dieser sich blähenden Wesen
hängen; wuchsen in die Hügel ein, um sie herum. Unter ihnen hatte ihr
spürendes Geäder ganze Lager kleiner Wesen erfaßt, die sich im
Schneckengehäuse, um Korallenstäbchen geballt hatten; mit denen
panzerten sich die Kugelreste. Die Felsen wurden von der wuchernden
Kraft der Samen zersprengt. Es gab Geschöpfe, die sich riesengroß
schwerfällig fortbewegten, ganze Hügel in ihrem Leib. Bröckel
ungeformter und sich selbständig bewegender Erde schleppten sie mit
sich, sie träufelten es von sich ab, zogen eine Bahn Lebens. Niemand war
bedacht auf Angriff und Verteidigung; sie schleppten sich auf, trieben
aneinander, rieben sich, verschlackten sich, wurzelten zusammen, über-
und untereinander.

Die Trümmer der Gräser Laubbäume der Palmen Oleander Nadelhölzer wurden
von dem Licht berührt. Sie zogen ihre Nachbarschaft an sich, die rollte
auf sie zu, wie ein Blatt, das sich unter der Flamme kräuselt. Reste
verdorrter und erstickter Lorbeerbäume lagen auf geöffneten
Sandsteinplatten, zwischen dem Schutt der Felsen, die die Sonne
zersprengt hatte. In ihre Blattrippen, zwischen ein Netzwerk der Nerven
wurde die lebendige Erde gesogen. Von den Blattrippen, den Nerven ging
die Lockung aus; zwischen Blattrippen und Nerven senkte sich, gerissen,
die Erde ein, schichtete sich um Spalten, wurde durchädert, farbige
Pflanze. Blätter erhoben sich von den Felsplatten wie Kuchen aus ihren
Pfannen; breit und dick. Sich aufrichtend wuchsen sie zur Höhe von
Büschen, immer im Wirbel von den Seiten den Erdstoff ansaugend, der wie
schweres Öl floß. Prall standen die Blätter, die riesigen gemästeten
Gebilde. Oft fingen sie an sich zu bewegen. Denn unter ihnen wuchsen
gepanzerte Schildkröten, auf deren Rücken sie verankert waren. Und auf
dem Rücken der Tiere wandelten sie ins Land.

Und weithin die Landschaften der Schopfbäume mit dichtgedrängter
Belaubung. Überall wuchsen sie auf den Spuren von Tieren, die die Samen
der Bäume mit sich vergossen. Baumartige Gräser schossen hoch, in
dichten Gebüschen, undurchdringliche Klumpen, Stamm auf Stamm aus einer
Wurzel; die Spitzen der Gräser hingen bogenförmig über wie hohe
Trauerweiden.

Oft rissen sich Bäume und Tiere nicht ganz aus dem Boden, blieben drin
stecken, waren ein Mittelding zwischen wuchernden Erdstoffen und
lebendigen Wesen.

Oft schleppten sie wie einen Eidotter Erdmasse mit sich fort, Beutel,
ganze Säcke, an Strängen wie Nabelschnüre und fielen hin, andern zum
Opfer, wenn der Dottersack leer war.

Oft fuhren Gebüsche drohend wie Arme gegeneinander, schienen sich
ersticken zu wollen. Dann brachen ihre Äste bei der Berührung; sie
schmolzen zusammen; gemeinsam flutete ihre Nahrung in alle; ein großes
Wesen erhob sich.

Zwischen den Gingko Tulpenbäumen trieben Lianen auf. Sie nahmen sich
keine Zeit zur Ausbildung von Blättern. Matt an die Bäume gelehnt, um
sie herumklimmend wuchsen sie über die Stämme hinaus. Die fremden
Blätter umwickelten sie mit ihren Windungen. Sie waren gefräßige und
strenge Wesen. In die Bäume wuchsen sie heimlich ein; die waren ihr
Mutterkuchen. Den Saft der Erde bekamen sie vorverdaut. Während die
Bäume unter ihnen verdorrten, ließen sie ihre Blüten bunt wie Fahnen
über sie hängen.

Schweigsames Düster der Wälder. Säulen völlig grade astlos aufstrebender
Stämme, ununterbrochenes Laubdach; Linien rosigen Lichts durchfallend.
Korkzieherartig umwanden sie die Holzseile der Gastpflanzen. Von Stamm
zu Stamm zogen sich die Drähte, über die tierische Geschöpfe krochen,
von denen sie wie Fledermäuse herabhingen. Die Tiere rissen sich von den
Bäumen und dem Boden los, schrien durch die Wälder.

Platanen der heißen Ebenen, Mangroven Brotfruchtbäume. Die Riesenfarne,
die wie unerschöpfliche Mütter und Väter dastanden und zeugten. Ihre
Blätter strahlenförmig im Kreis wie Speichen eines Rades. Lebendig
gebaren diese Pflanzen; der Keimling entwickelte sich schon an der
Kehrseite der starken Blätter; seine Sprossen hingen in Fäden von den
Blättern herab.

Das unaufhörliche Niederpreschen der Stämme. Sie brachen oft ganz mit
Belaubung und tierischer Last zusammen und quollen über den Boden. Zum
Teil vermochten sie nicht zu fallen; Leichname standen rechts und links;
kräftigere Wesen verschlangen sie. In der Dämmerung und Dunkelheit
wuchsen neue auf, trugen ihre Schirme über die Wipfel und Baumkronen,
breiteten neues raschelndes Blattwerk aus.

Die Wälder, Tiere beschützend, schoben sich wie Schilde hoch. Unter der
Glühhitze flammte die bunte Holzmasse oft auf. Sie krümmte sich brennend
am Boden. Schlürfte und schlüpfte schon wieder auf, warf neue Dunkelheit
unter sich.

Verwüstend brachen durch die Wälder die Riesentiere. Die aus den Seen
auftauchenden wandernden Gallerten, die sich an Küsten ansiedelten,
Bäume und Wiesen verschlangen. Wäßrige Geschöpfe, die ganze Flußläufe
überbrückten, den Fluß durch ihren Leib laufen ließen, sich
zusammenkrampfend ihn absperrten und von sich spritzten. Teiche wurden
aufgehoben und wanderten samt Reptilien und Pflanzen in ihnen; sie
schaukelten im Wanst eines keuchenden schluckenden augenlosen
Riesenwesens, das sich drehte tastete sich lang flaschenartig auszog
nach dem Licht.

Die grönländische Insel, von dem Rosenlicht begossen, in der tropischen
Wärme, war kaum mehr Land, das dalag und Wesen erzeugte. Die Inseln
glichen, wie sie zum Licht schäumten, einem langsam aufdrängenden halb
erstarrten Meer, das bald grüne, bald purpurne Wellen übergipfelten.
Durch die Wellen schoß manchmal eine Flamme; dann sank das Meer schwarz
und qualmend ab. Die Flammenbrunst lief in irren Linien über die Inseln,
übersprang die Meeresstraßen. Ganze kleine im Meere lagernde Landmassen
hüllte sie ein; wie der Dampf verblasen war, wallte die Erde schon
wieder bunt auf. Dieses Feuer war oft nicht von außen in die Berge
Waldungen, herangetragen worden. Es brach, wenn das Wüten dieser
lebendigen Wellen zu hoch gestiegen war, die Baumkronen himmelhoch über
dem Boden aufgewuchert waren, aus den rastlosen Leibern selbst aus. Aus
Ästen Knospen stachen züngelten die kleinen Flammen. Die Lianen reckten
sich im Licht auf; aus ihren Stielen warfen sie keine schweren Blüten,
sondern zischelnde Flammen, die den Leib der Pflanzen nicht angriffen,
sondern von unten wurden die Flammen genährt, brausten weiter und länger
aus. Bis ein furchtbarer Streit zwischen der Flamme und dem
Pflanzenwesen Baumwesen entstand. Heftiger wütete der Baum, bissiger
trieb die Flamme abwärts. Die Wut des Baumes speiste die Flamme. Weg
mußte der Baum und die Pflanzen um ihn mit. Ihr Rasen nährte die Flamme.
Die Bäume verkeuchten sich in Feuer. Wüteten Flammen in Flammen,
verbrausten in die Luft.

Eine Flucht kleiner Vögel und Insekten machte sich aus den Steinlagern,
den uralten Kreidemassen auf. Die Papageien grellbunt und üppige Fasane
flogen hin, schnappten schrieen. Kopffüßler Schwämme Schnecken erhoben
sich neben ihnen aus der Erde, glitten in die Wasser, mischten sich mit
anderen Wesen, die über sie kamen.

Straßenlange Schlangenleiber ringelten Echsen über die Felsen, stürzten
sich ins Wasser, die erst blassen, dann schwärzlichbraun anlaufenden
Wesen, denen Stacheln aus den schmalen bezahnten Schädeln wuchsen und
die unten im Wasser brünstig grunzend mit ihren breiten Schwimmschaufeln
wateten. Wie diese Tiere das Wasser durchschwammen, kämpften sie mit
anderen, mußten sich in dem Wust des aufkommenden, sie selbst
durchrieselnden, über sie zusammenschlagenden Lebens behaupten. Von
Felsenplatten, von der kochenden umdunstenden Erde lösten sich die
abenteuerlichen Wesen ab, die sich zuerst nicht entschieden, ob sie mit
dem Schwanz und den Füßen in der Erde wurzeln wollten, die dann ihre
Glieder vom Boden wie von einem Teig abzogen und schon dumpf um sich
blickten, die Bäume betrachteten, mit ihren Riesenkiefern in die weichen
Stämme hieben. Schwer standen sie auf der wühlenden Erde, den muskulösen
Schwanz angestemmt, mit den beiden Stirnhörnern Bäume rammend und
fällend. Die Bäume nahmen sie wie Gräser in die Mäuler, zermahlten sie
mit den Kronen Gastpflanzen und hängendem Getier.

Langhalsige gebuckelte Ungeheuer zogen sich einzeln und in Gruppen durch
die lärmerfüllten Täler, über das Flachland. Vor ihrem donnerartigen
Gewieher erschraken sie selbst. Von einer Doppelreihe hoher
Knochenplatten war ihr Rücken bestanden, ein Knochenkragen schützte den
Hals, aber vorn bewegten sie menschenähnliche trübe gewaltige Häupter
langsam hin und her. Wasser lief aus ihren Augen. In Wälder brachen sie
ein. Aber sie zitterten, standen still, warfen sich um sich, als sie von
fuchsartigen roten Tieren in Scharen überlaufen wurden, die sich in ihre
Augenhöhlen Ohren zwischen ihren Zähnen festzusetzen suchten, die sie
abschüttelten zertraten. Aber immer liefen die Füchse von rückwärts und
über die Füße an, stürzten von den Bäumen herunter, in deren Seilgewirr
die Ungeheuer sich verstrickten. Sie wieherten in Schmerzen. Ganze Haine
verwüsteten sie, sich hinwälzend. In Flußläufen suchten sie sich zu
kühlen. Da zerschellten viele. Aber die Erde blieb in einer einzigen
Erregung. Und wie sie zerschellten, strömte und ballte sich schon das
Leben wieder um ihre Glieder und trieb durch das Land.

Von den Felsen der höchsten Berge stürzten sich Vogelwesen in die
lebendige Brandung. Mit Hälsen wie Giraffen, die Flügel breit werfend,
trugen sie auf ihren langen Krokodilsköpfen ganze Wiesen und Bäume mit
sich. Maulwurfsartige Wesen, die zwischen ihren Flügelfedern nisteten,
verließen sie auch im Fluge nicht. Diese zähnefletschenden Vogelechsen
brauchten keine Hörner zum Rammen und Spießen. Die Hügelteile, die sie
auf ihren Köpfen mit sich trugen, trieben Spitzen hervor, die die Härte
der Steine hatten. Die großen Meuchler erschienen, diese schlagenden
krallenden stürzenden Wesen über der Brandung Grönlands. Sie wüteten
schlimmer als die Flammen, schlitzten die wandelnden Gallerten auf,
zerquetschten sich senkend Tiermassen.

Nach oben zuckte das Leben der Inseln. Nun begann es bedrängt
überquellend nach außen zu fluten. Der Schwall der Vögel setzte sich in
Bewegung. Die Lauftiere flüchteten vor den schwirrenden zerschmetternden
Unwesen. Sie suchten das Wasser zu überschwimmen. Liefen über die
Tangwiesen. Nach Süden Osten Westen quollen die Tiermassen.




                              Achtes Buch.

                              Die Giganten


Über der Westküste Skandinaviens erschienen die Untiere gegen Ende des
Jahres. Etwas später befuhren sie die britischen Gewässer, tauchten vor
Jütland und der Bretagne auf. Die Stadtschaften, die noch in der Hand
starker Senate waren, hatten beim Zurückfluten des großen
Expeditionsgeschwaders die Grenzen gegen Norden und Westen gesperrt. Von
dem Expeditionskorps lief nur ein versprengter, rasch gefangengesetzter
Teil die europäische Küste nördlich Stavangers am Bukafjord an; die
Hauptmasse stürzte nach Süden an den alten Sammelplatz der Färöer und
Shetlands. Britische Kommissare hatten schon im Herbst durch Schottland
eine Verteidigungslinie gegen das verdächtige Geschwader gezogen, von
der Lorne zur Moraybucht südlich des Kaledonienkanals; Vorpostenschiffe
deckten die Nordsee und den Zugang zur Irischen See. Von niemandem
gehindert, von niemandem erwartet brachen die grönländischen Untiere
ein, diese abenteuerlichen, den Menschen gräßlichen Wesen,
Mißschöpfungen einer unmäßigen Kraft, die über Grönland aus dem
schrecklichen Flammenschleier blies.

Rudel der keuchenden blasenden Wesen ruderten flogen über den Ozean,
straßenlange Reptilien, schwarzbäuchig, manche schillernd beschuppt,
manche mit scheckiger Haut und breiten stumpfen Mäulern, manche wie
Krokodile gepanzert. Dann Vogeltiere mit langen spitzen Zähnen, die in
Doppelreihen standen. In Haufen zogen sie an, einzeln wie Festungen und
Schiffe, eine Masse von Felsen Baumwaldungen Tieren mit sich schleppend.
Sie schwärmten an, verhüllt unter den Waldungen auf ihren Rücken; mit
den Füßen rissen sie sich die Moose und Schachtelhalme ab, die über ihre
Augen wucherten. Bisweilen stürzten sich fliegende Echsen in die See, um
die Flammen zu löschen, die an ihren Hälsen, auf ihren Rücken
entstanden. Mit der Angst gejagter Wesen flohen sie. Zwischen ihren
Zehen, auf ihren rollenden aderdurchzogenen Flughäuten wurden Schlachten
zwischen den Geschöpfen geschlagen, die sie mitschleppten. Sie
klammerten sich an die Krallen der Ungetüme an, hingen an deren
geblähten Halswampen in Reihen Ketten Girlanden. Tauchten die Tiere in
See, so wurde der größte Teil der Bevölkerung von ihnen abgeschwemmt,
schwamm an der Oberfläche, suchte die großen Tiere wieder zu fassen,
wenn sie hoch kamen. In die See tauchend spülten sich die wandernden
Tierriesen die zerfallenden Leichen ab. Aber mit sich selbst, unter sich
schleppten sie Leichen. Sie kämpften miteinander, sobald sie sich
berührten, schlangen zerrissen sich. Und je mehr sie sich von Grönland
entfernten, um so größer wurde ihre Not. Über See erschlugen sie sich;
hungrig, aber oft konnten sie sich von den Besiegten nicht losreißen,
die sich an ihren Rüsseln Borsten Hornplatten verklammert hielten. Mit
der triefenden Masse wankten sie weiter, die Sprossen in sie
hineintrieb. Und wie die Untiere die offenen, von dem rosenfarbigen
grönländischen Licht nicht beschienene Meere befuhren, die Kälte über
sie kam, wurden sie unsicher. Zuckten zwischen Meer und Himmel auf und
ab, flüchteten vom Meer in die Wolken, die sie nicht wärmten. Sie
konnten wenig sehen unter dem trüben Sonnenlicht. Verwirrt kehrten viele
um. Aber die Geschwader der neu abfliegenden Tiere kamen über sie; diese
Tiervölker zerrissen sie, schleppten sie nach Süden weiter. Unaufhörlich
wie ein Blütenbaum seinen gelben Sonnenstaub warf Grönland seine
lebendigen Massen von sich.

Auf Skandinavien schmetterten sie nieder; dies war das erste Land, auf
das sie stießen. Fjorde mit Granitklüften, wenige Wiesen, Schneeberge im
Hintergrund. Hunger Beklemmung trieb die wandernden Untiere von Tag zu
Tag stärker. Da prasselten sie über die Klippen, bedeckten kleine
Menschensiedlungen. Im Sturz zerschellten viele, die sich über das Land
warfen, als wären es Wellen. Die lebend herunterkamen, fingen an am
Boden, an den Klippen zu beißen zu kauen zu schlingen. Zerrissen sich
die Gaumen, ihre Zähne splitterten. Dröhnend drohend erhoben sie sich
von ihren felsigen Opfern, schlugen mit den Klauen auf ihnen herum,
schluckten mit blasenden Nüstern Steinbröckel Kiesel, griffen sich nach
dem Rücken, stopften sich Farne, die sie abknickten, hinterher. Die
Steine zerschrammten schlitzten ihnen den Darm. Speiend drehten sie sich
im Kreise.

Nach Bergen kam ein Rudel vogelartiger Echsen mit den Rückenhöckern von
Dromedaren, langen Hälsen, zweifüßige beflügelte Unwesen, die ein helles
Schreien bei ihrer Annäherung ausstießen, das sich wie Kichern anhörte.
Sie zerdrückten eine Zahl von Straßen und Anlagen. Mit den Haustrümmern
stopften sie sich Menschen in den Schlund. Brände brachen um sie in der
Stadtschaft aus. Die Waldungen von Farnen Bärlappbäumen auf den
Tierrücken wurden ab und zu von dem Feuer ergriffen. Zerstörend warfen
sich die flammenden Tiere um, wälzten sich durch die Stadt.

Eine eigentümliche Art Fischwesen war gleichzeitig bei Bergen aus dem
Meer aufgestiegen, Wesen von außerordentlicher Länge, die noch die der
Echsen übertraf. Sie waren übermäßig wurmartig schmal gewachsen, hatten
ein Wirbelskelett, das mit Schädel Rippen Wirbelkörper deutlich an dem
fleischlosen Leib sichtbar war. Diese Tiere schienen sinnlos vor Hunger
zu sein, waren halbblind. Wie Schlangen ringelten sie tonlos die Klippen
vom Meer herauf; ihre Leiber nahmen kein Ende. Sie schnauften mühsam,
paßten sich der Luft an. Aber eine ganze Zahl schnellte zu rasch aus dem
Wasser hoch; ihre schmächtigen Leiber schwollen plötzlich an, zuckten
hingen über den Klippen; die Därme quollen ihnen aus den Schnauzen. An
ihnen schlangen die Vogelechsen.

Sie kamen alle nicht weit. Flogen etwas, senkten sich wieder auf den
Boden. Es schien, als ob der Rest ihrer Kraft sie bei der Berührung mit
den kalten Steinmassen der Erde verließ. Keines der skandinavischen
Tiere, obwohl von niemandem verfolgt, kam über den sechzigsten
Breitengrad auf dem Landweg nach Süden. Sie fraßen Bäume Ackererde. Dann
lagen sie lahm. Warfen sich, schnellten wie in einem Anlauf hoch,
verkamen. Die Waldungen Gärten Vögel Weichtiere hatten sie schon
verschlungen, oder sie waren verbrannt. In die Erde fraßen sich die
grönländischen Untiere ein, wie sie starben. Wuchsen dann sonderbar in
ihre Gräber. Wo sie reglos lagen, wucherte die Erde, die sie
verschlungen hatten, in ihren Mäulern, zwischen ihren Vogelkiefern, in
den Schlundröhren, Eingeweiden aus, durchdrangen die Weichteile in
langen spitzen Kristallen, sogen die Weichteile nach. Und um die Leiber
herum, in den Bodenhöhlungen zitterte die Erde, ließ feine
Kristallbündel sprießen, so daß die Riesenleichen in zackigen Nestern
lagen. Die Körper der Untiere selbst aber vom Boden verschlungen, waren
nichts als eigentümliche Bodenerhebungen, die sich wie Tierrümpfe über
den Berghängen, über Ackerflächen hinzogen, von blitzenden Steinen
begleitet.

Die Untiere, die weiter den Süden erreichten, Jütland bestiegen, sich
nahe Hamburg zeigten, waren Quallen und Medusen mit Armen, die sich
untereinander zu starken Schwimmflossen verbanden. Auf das flache Land,
über die sandigen Küsten wälzten sich in einem wilden Trieb, in
zitternder Verwirrung die riesenstarken gallertigen Wesen. Ihre Körper,
unter dem grönländischen Licht blühend durchsichtig, hatten in der Kälte
der Meere die Gelbröte des Dotters angenommen; blutige geschwollene
Stränge durchliefen sie. Sie rollten fauchten; dellten sich krampfhaft
zusammen, sprangen flogen vorwärts. Sie spritzten Schleim um sich,
sanken mehr in sich zusammen. Über Flüssen hingen sie, pumpten Wasser in
sich. Aber dies Wasser war nur eine Erinnerung an das Wasser, in dem sie
gediehen waren; war schweres kaltes liebloses Wasser. Sie soffen mehr,
spien es im Wirbel aus. Ihre Arme hangelten nach Blöcken an den Wegen,
würgten sie sich in die Mundöffnung. Diese Blöcke konnten sie nicht
zerknirschen; die stürzten ihnen durch die Darmwindungen. Über die
Landschaften sanken die schattenhaften Wesen hin. Bräunlich und violett
tröpfelte Blut von ihnen; sie fielen wie mächtige Spinngewebe über die
jütischen Ebenen.

Wen die Fasern des Gewebes berührten, was von dem dampfenden
blasenwerfenden Blut bespritzt wurde, veränderte sich im Augenblick.
Schafherden leckten übergischt an dem Blut. Die Zunge quoll ihnen über
die Zähne weg, fiel auf das Gras, sich verbreiternd verdeckend. Die
Tiere standen da, zerrten an den fürchterlichen Organen, an denen sie
sofort erstickten. Andere zogen glitzernd blökend an den roten
Fleischmassen, die ihnen unaufhaltsam aus den Mäulern wuchsen; zugleich
schwoll ihnen auch der Gaumen, Rachen, den der Saft berührt hatte. Die
dehnten, wölbten sich. Riesenschädel, den ganzen Rumpf in Umfang und
Gewicht übertreffend, trugen sie auf den Hälsen, die zu schwach für die
Last waren. Die Schafe wurden auf den Boden hingezogen, zappelten mit
dem kleinen Anhang ihrer Rümpfe. Rasch kamen eine Anzahl Tiere um, die
gierig an dem Blut der Medusen geschluckt hatten und deren Leib Rippen
Rückgrat von den anschwellenden Eingeweiden in Stunden zersprengt
wurden. Bei Hamburg erfolgte das erste große Verderben der Menschen.
Siedler und Einwohner der Stadtschaft wurden betroffen. In die Häuser
hinein wurden im Bogen das Blut und der Schleim der verendenden Urtiere
gesprenkelt. Menschen, die am Kopf oder den Gliedmaßen begossen wurden,
verloren im Augenblick die Besinnung. Ihre wuchernden Organe
erdrosselten sie selbst. In den Zimmern wurden Menschen, denen eine Hand
bespritzt war, von den schweren wuchernden Fleischmassen aufgesogen; die
Hand die Finger füllten den ganzen Raum, kleiner kleiner schrumpften
Arme Beine der Rumpf dahinter. Das Herz schlug nicht mehr, die Menschen
lagen weiß tot, nicht größer als eine Faust, manchmal wie ein Apfel, ein
Karton einlaufend unter dem dunstenden Riesenorgan, dessen Haare wie
Spieße aufrecht standen, die an den starren Wänden geknickt wurden. Die
tolle Szene in der kleinen Bauernsiedlung, wo eine Bäuerin den Hahn
gefaßt hatte, um ihn in den Stall zu tragen. Der Kopf des krähenden
Vogels, seine bespritzten Füße jäh anwachsend machten sich nicht los von
den Armen und der Schürze der Frau. Die Frau wurde von der Last
hingeworfen; die Krallen des Vogels durchwuchsen die Arme der
schreienden gellenden schlagenden bald ohnmächtigen. Das Tier lag auf
dem Weib, wuchs auf ihm, über Menschengröße. Der Kopf und die Füße
wuchsen. Der Rumpf aber hatte noch Leben, so dürftig er auch war; denn
die Füße waren in das starke fette Weib verwurzelt. Aus der sogen die
Organe ihre Stoffe. Das Weib rann in ihren Kleidern ein. War längst tot,
ihr Kopf schon hinter ihrem Halskragen, unter dem Brustausschnitt
verschwunden. Leere Hüllen der Ärmel; der Kalk der Knochen wurde
aufgesogen. Nach langen Stunden erlosch an dem Vogel das schreckliche
Wachstum. Das Tier war selbst schon tot, von seinen Gliedern aufgezehrt.
Man sah Schweinsohren, Ochsenschnauzen durch die Dachsparren ihrer
Ställe wachsen; noch kläglich brüllten die, dann verstummten sie. Es
waren überall bewußtlose sterbende Wesen, die so wuchsen.

An der Westgrenze Hamburgs an der See verwüsteten die anwandernden
Untiere ganze Stadtteile. Die starken Sicherungen des Senats nutzten
nichts, sie fielen nur zum Verhängnis der Stadtschaft aus. Durch die
brennenden Würfe, die Strahlen wurden die Tiere zerrissen, ihre Teile
aber, Flüssigkeit spritzend, schleppten sich verendend und andere
aufsprießende Wesen mit sich schleppend in die Straßen und Anlagen. Die
grausigsten Mißformen wurden da sichtbar. Verbackene Bäume, aus deren
Wipfeln lange Menschenhaare herausragten, übergipfelt von
Menschenköpfen, toten entsetzlichen häusergroßen Gesichtern von Männern
und Frauen. Die Schwanzflossen eines Seetiers in eine Siedlung vor der
Stadt fallend sammelten um sich Haufen toten Materials, Eggen Wagen
Pflüge Bretter. In die wandernde sprießende dampfende Masse gerieten
Kartoffelfelder, laufende Hunde, Menschen. Das wallte wie ein Kuchen
auf, quoll hoch, zappelte über die besäte Ebene, rollte sich wie eine
Lavamasse verheerend langsam vorwärts. Und überall wuchsen aus der sich
rundenden schlagenden Masse Stämme, stockhohe Blätter hervor. Die Arme
Beine, die sich aus dem flirrenden dunklen Gewebe vorstreckten, waren
aus Fleisch und Knochen, oft dunkel umborkt, mit Zehen und Fingern, die
sich zu Blattfächern ausbreiteten. Lange Haarmähnen fluteten über die
Oberfläche des weichtierartigen Wesens, der dünstenden schlingenden
Schnecke; Ranken und Häuserbalken waren in die Haare verfilzt. Über den
Tälern und Erhebungen der wallenden Masse rasten Gespanne, Pferde mit
Wagen, abspringende Menschen. Sie liefen rissen sich los, bis sie
einsanken festklebten, die Pferde an den Wagen, Menschen treibend
daneben. Die Pferde wurden durchflutet, von den Hufen den Hinterbeinen
hochwachsend, scheinbar sich aufbäumend, aber nur aufgespannt
aufgerichtet. Ihr Wiehern Geifern erlosch, die Augen, die ängstlichen
blutüberlaufenen Kugeln, sanken zurück. Sie zappelten mit den
Vorderbeinen. Waren sie Stämme? Fraßen sie das Laub, die Halme Stauden,
die ihnen aus den Mäulern wuchsen? Aus den Rippen quollen ihnen die
Wagenbalken. Der Kutscher wuchs aus seinem Sitz, von den drängenden
Stämmen getragen, mit ihnen verschmolzen. Dann erweichte alles, was das
Urgeschöpf trug, verbreitete sich, quoll zusammen, ebnete sich in seine
Decke ein.

Über das Wattenmeer der Friesischen Inseln drangen Einzeltiere, die noch
kraftvoll waren. Sie stürmten gereizt gegen die Flammenmassen, die ihnen
über den Jadebusen entgegengeworfen wurden. Das war ein vulkanisches
Brausen, als die breiten springenden Reptilien das Feuer durchzogen. Aus
ihnen selbst kam grünes Feuer, das das weiße Menschenfeuer zu dämpfen
schien. Sie erreichten das Land, zerknickten die Maschinen am Land und
kauten sie. Aber waren selbst zerbrochen. Sie tobten schleppten sich
Meilen landeinwärts. Dann stießen aus den schwarzen plumpen vergeblich
sich mühenden Leibern, aus den Augen Nüstern, zwischen den Schuppen des
Leibes grüne steile Flammenbüschel. In denen verbrauste die Kraft der
Tiere, die schnappten verzuckten. Von den brennenden puffenden Körpern,
die sich wanden, machten sich Teile los. Unter den Flammen sprangen und
spritzten von den Rümpfen ab die Zehen, Krallen der Zähne, Schuppen; die
Flügel zerbrachen. Die Teile, Zehen Schuppen Hautfetzen rollten ins
Land, die Weser entlang, mischten sich mit Grashalmen Birken Tannen.
Riesenbäume wanderten da; die Erde unter ihnen wuchs mit ihnen, schwoll,
als wäre sie flüssig gallertig und schäumte, an ihnen hoch. Die Bäume
zogen ihre Wurzeln aus der Erde, schritten vorwärts, wackelnd, sich
drehend, zogen im Zickzack hin, schlossen nahe Bäume in sich ein, rissen
sie mit. Die Bäume schnaubten aus vielen Poren. Verlangsamten ihren
Gang, standen gelähmt, schaukelten schwach ihre Kronen.

                   *       *       *       *       *

Der Einfall der grönländischen Untiere dauerte den Winter durch. Eine
panische Flucht von den Küsten setzte ein. Die Ostsee war von Schiffen
überladen. In wenigen östlichen Stadtzentralen verloren auch die Senate
die Führung. Die Herren der großen westlichen Stadtschaften machten sich
stark. Die einströmenden durchströmenden Massen der Siedler erhoben
gegen sie ihr anklagendes Geschrei; der Boden der Stadtschaften zitterte
unter dem Grauen vor den grönländischen Wesen. Gelähmt waren große Teile
der Bevölkerung, auch der Führer. Und neben der Angst wütete unter den
Menschen ein unbestimmtes finsteres Schuldgefühl. Ihm konnten sich auch
die Wissendsten nicht entziehen unter dem Schauer der Dinge, die sie
erlebten.

In London hatte Delvil mit Pember die senatorische Gewalt in Händen. Mit
sechs anderen Männern und Frauen teilten sie sich in eine Diktatur. Von
Brüssel rief Ten Keir, der kleine belgische Führer, sie herüber. Nichts
wankte in den belgischen Stadtschaften. Aber der furchtbare Schwarm der
Urtiere ließ nicht nach, die Brüsseler Vorstädte im Westen und Norden
waren in Trümmer gelegt. Zu dem Entsetzen, das hier die Menschen
zusammenballte, kam rasch Haß auf die Siedler, die zu der
Grönlandexpedition getrieben hatten, und auf die englischen Führer.

In seiner unterirdischen Arbeitskammer empfing Ten Keir glühend den
schmächtigen Delvil. Er dachte Zorn und Gift auf ihn loszulassen, schrie
höhnisch, wie der nur die Tür öffnete: „Sieg! Sieg! Grönland ist
enteist! Wir sind befreit! Wir laden Menschen auf die Schiffe.“ „Sieg!“
schrie Delvil entgegen, „wir haben gesiegt. Wer hat nicht gesiegt?“ „Wie
sieht dein Sieg aus, Delvil? Du hast dich über den Kanal gewagt. Du bist
nicht verschluckt worden. Ich wünsche dir Glück zu dem großen Sieg.“
Delvil schmetterte die Tür zu. Kalt und ruhig setzte er sich auf einen
Schemel: „Wer die Nerven hat, hat gesiegt. Du siehst, ich bin über den
Kanal geflogen. Ich habe die Bestien geifern sehen. Habe auf sie
gespuckt.“ „Glückwunsch, o Held! Sieh dir Gent an. Hast du Kortryk
gesehen? Kortryk im Westen, du mußt es gesehen haben; seit zehn Tagen
verwest es.“ „Ten Keir, es scheint, wir spielen mit verkehrten Rollen.
Mir kann es recht sein.“ „Und was tust du?“ „Ich bin Delvil. Ein Mensch.
Glaubst du, Ten Keir, weil ich schwach bin, ich bin kein Mensch? Die
Bestien mögen nur kommen. Jetzt, jetzt kann ich sie nicht besiegen. Im
Augenblick nicht. Wir sind nicht darauf vorbereitet. Warte einen Tag,
fünf Tage.“ „Das glaubst du, Delvil? Es sind ja nicht nur Tiere.“ „Es
sind Tiere. Es sind Tiere; nichts weiter als das. Es sind schon andere
Dinge an die Menschen herangetreten und sie haben sie bezwungen.“ Delvil
stand. Er war blaß; sein Gesicht verbissen: „Ich bin ein Mensch. Du
wirst mich nicht vom Gegenteil überzeugen. Ich kam her, mit Pember, um
dich zu fragen, Ten Keir, welcher Meinung du bist. Gibst du es auf, so
sag es mir. Ich muß wissen, woran ich bin.“ „Ich hab mir im Grunde keine
Fragen stellen zu lassen. Wenn du erbittert bist und wir entsetzt sind
und unsere Stadt schon zur Hälfte verwüstet ist, so weißt du, wer daran
schuld ist.“ „Ich will wissen, woran ich bin. Hier ist kein Gericht. Ich
habe die Tiere nicht gerufen.“ „Das ist Grönland. Das ist der Zug der
Siedler nach dem neuen Erdteil. Unsere Befreiung. Unsere Rettung vor dem
Untergang.“ „Das ist die Rettung vor dem Untergang. Ich habe es nicht
gewollt. Aber es ist recht. Wir wissen, woran wir sind.“

Delvil flüsterte: „Sag ja, Ten Keir. Ich warte auf dich.“ „Sprich lieber
nichts. Spitz die Ohren, was über uns geschieht. Vielleicht bewegen sich
die Wände. Man weiß nicht was geschieht.“ „Sag ja oder sag nein. Ich bin
fünfzig Jahr alt. Jahrtausende haben für uns gearbeitet. Gedacht. Du
hast es mir einmal klar gemacht. Ich habe es nun sehen gelernt. Ich bin
ein Mensch. Ich gebe nicht auf, es zu glauben. Und du?“ „Ich auch
nicht.“ „Dann gib mir deine Hand.“ „Was soll das.“ „Das ist deine Hand.
Jetzt wirst du rasend grimmig heiß kalt wie ich werden. Laß sie mir. Laß
nur. Du fühlst es schon. Jetzt wirst du in der Nacht auch nicht schlafen
können wie ich, vor Wut und Verzweiflung! Du wirst bald röcheln in der
Nacht. Ten Keir, hörst du! Du wirst mir Wut und Scham kennen. Du wirst
dich verfluchen, wie ich mich, daß die Bestien das können, Städte
verwüsten, unsere Städte, in unsere Anlagen fallen, daß die Siedler uns
auslachen. Ich verfluche mich. Verfluche mich aber nicht lange.“ Delvil
zog seine Hand zurück, schüttelte sie als wenn sie zu schwer wäre,
blickte Ten Keir an, wich gegen die Wand, wo das Lichtauge blickte.

„Was habt Ihr vor. Was hast du vor, Delvil?“ „Du hast meine Hand
berührt. Du weißt es. Es gibt nur zweierlei: die Bestien und wir. Die
Bestien will ich nicht.“ „Und?“ „Nicht: und sie werden nicht sein.“ Die
Fäuste hob Delvil über seinen Kopf, atmete: „Ich will sie nicht. Aus
tiefstem tiefstem Herzen sag ich dir: ich will sie nicht. Sie sind schon
jetzt nicht mehr da. Sie sind weg. Sie sind schon – vernichtet, von mir,
weil ich es will. Ich flüchte nur zum Schein vor ihnen und verstärke
mich. Sie leben nicht mehr, Ten Keir. Wir haben sie besiegt. Laß ihnen
eine Gnadenfrist von ein paar Tagen, ein paar Wochen. Gönn ihnen das.
Sie sollen sich diese Welt noch anschauen. Unsere Welt. Dann ist es aus
für sie. Aus! Delvil sagt es. Dann hat er genug. Der Tisch wird rein.
Glatt. Blank. Spiegelblank. Hauchblank. Kein Stäubchen darauf!“ Ten Keir
in dem Lichtkegel; ganz weiß die Vorderseite des blinzelnden Manns: „Ich
will es glauben.“

Der Brüsseler suchte den starken Delvil in der Stadt zurückzuhalten. Der
kehrte auf die britischen Inseln über den Kanal zurück. In die
Kellerräume stürzten die Menschen. Man hatte gesehen, daß die weiche
Erde, die offene Luft gefährlich waren; auf die schweren Betonplatten,
Höhlen in sehr massiven Felsgründen erstreckte sich die Wirkung der
Bestien nicht. In das Innere der Insel flüchteten Haufen von Menschen.
Delvil sah sie mit Hohn und Gram. Es war sein erster Akt, als er von
Brüssel zurückkehrte, daß er den Westrand der Londoner Stadtschaft mit
schweren Waffen bestückte. Feuer und Strahlen ließ er in die chaotische
Menge schleudern. Seine Megaphone schrien über sie: Er sei der Drache,
der Drache käme. Und schon war der heiße Atem über ihnen, nicht aber aus
den Mäulern der Riesenlurche, sondern aus seinen Maschinen. Und sie
wurden angeglüht gebrüht gebrannt. Delvil ließ sie zu Kohle werden.
Seinen Haß richtete er auf die Siedler, die Triumph über die Städter
sangen; was hätten die westlichen Senate in Grönland erreicht, wo sei
der neue Erdteil, welche Wüste sei geschaffen, schlimmer als die im
Uralischen Krieg. Und wie fiele es jetzt auf die Städte zurück: kein
neues Land, aber sogar das alte werde vernichtet. Die Wut Delvils
schwang Peitschen über sie. Sie hatten vor den Drachen und Delvil zu
flüchten. Er verband sich eine Schar von Männern und Frauen, die er
fanatisiert hatte und die zu der Sache der Städte hielten. „Erretter“
nannten sie sich. Im Bereich der britischen Städte trieben sie die
Menschen in die Keller und Höhlen, zwangen die Senate den Boden überall
zu unterwühlen, die Betonblöcke zu schaffen, in denen die Menschen
hausten. „Erretter“gruppen formierten sie in allen Städten hinter sich,
sobald sie abzogen.

In das offene Land, auf die schottische Hochfläche aber drangen sie ein
mit doppelter Inbrunst. Delvil hatte ihnen das mitgegeben: „Die Bestien,
die scheusäligen Lurche und Drachen sind ein Unglück. Wir haben sie
nicht gerufen. Man hat uns gezwungen nach Grönland zu gehen. Wir wußten
keinen Ausweg. Man wollte eine Barbarei aus unserm Land machen. Wir
waren schon am Erliegen. Jetzt kommen die Reptilien, die Untiere,
verderben uns. Rache an denen da, die sie uns geschafft haben. Rache an
den Verbrechern. Tötet sie! Säubert unser Land!“ Und mit Lachen, mit
schwingendem seligen Zwerchfell sah er sie zu Haufen fallen, die Hetzer,
die großartigen Lehrer neuer Weisheit, diese Erretter der Menschen. Es
gab noch wirkliche Erretter. Nach dem Kontinent und nach Amerika gab
Delvil diese Meinung: man möge den Augenblick benützen, um sich das
Gesindel vom Hals zu schaffen, das ihnen allen das Leben schwer gemacht
habe. Man möge den Ausgang der Grönlandfahrt richtig verstehen. Sie sei
glücklich ausgefallen. Sie habe es ermöglicht, die westliche Menschheit
neu zu befestigen und die Parasiten von ihr abzuschlagen. Man habe freie
Ellbogen gesucht; jetzt habe man sie.

Inzwischen blickten er und seine Freunde darauf, Waffen gegen die
Untiere zu finden. Sie waren von einem kalten Haß aufgerührt. Alle
Strahlen durchbrachen die Tiere. Das Zerreißen der Mißgeschöpfe nutzte
nichts; ihre Teile übten mehr Schaden als ihr unversehrter Leib. Wer
diese Wesen anfassen und hinmachen könnte. Es war eine heftige und
unerträgliche Scham, die Delvil und seine Mitkämpfer erfüllte, daß sie
wie ein Urvolk, wie ein Buschmann vor einem Tiger dastanden und keine
Rettung wußten.

Es war nicht Delvil, sondern ein unbenannter Mann aus Christiania, der
Hilfe brachte. Der, aus einem Sturz der Reptilien gerettet unter Verlust
des rechten Armes und der Schulter, fand einen überraschenden Weg. Unter
ein sterbendes schon erstarrendes Tier war er geraten. Der vom heißen
Blut angespritzte Arm war ihm gewuchert; keinen Schmerz hatte er
empfunden, nur ein sonderbares Fluten und Zucken durch den ganzen Leib,
ein Blitzen von Lichtern vor den Augen, besonders ein rosa Leuchten, das
ihm Wohligkeit und Süße eingab und fast wehrlos machte. Aber das Wallen
und Zucken im Rumpf, in der Wirbelsäule, an den Knien und Hüftgelenken
nahm plötzlich eine furchtbare drängende Stärke an. Er sagte: so müsse
wohl eine Frau fühlen, die gebäre, in den Wochen liege und das
heraustreibende Kind stemme ihr den Leib auseinander. Unter dem dumpfen
grausamen Schmerz hatte er sich, schon träumend, in der schwimmenden
Süßigkeit verloren, hatte seinen Körper nicht frei bekommen. An einem
entsetzlichen Stiel hing sein Körper, es war sein Arm, ein Riesenarm,
eine weiße geblähte Fleischmasse. In Ekel griff er nach seinem Messer,
schnitt hinein, wo er konnte mit dem Arm. Hieb in sich, um die gräßliche
Fleischmasse von sich abzutrennen. Die Schnitte und Stiche schmerzten
nicht, er hieb wie in ein fremdes Wesen, dicht an seiner Schulter. Und
plötzlich stürzte er ab und war bewußtlos. Dieser Mann aus einer
Mekifabrik war nach zwei Tagen von einer Rettungskommission gefunden
worden, wurde da er noch atmete nach Christiania transportiert. Wo man
ihm unter den größten Vorsichtsmaßregeln die Schulter entfernte, die
noch nach der Selbstamputation des Mannes zu einer sackartigen
Geschwulst gewuchert war. Der Mann war wie ein Kind klein geworden,
seine Glieder gummiartig weich; ungeheuer hatte noch nach der
Selbstamputation der parasitäre Stummel an ihm gezehrt. Sehr schwer war
es ihn zu ernähren, die richtigen Stoffe in ihn zu werfen; der braungelb
bis schwärzlich gefärbte Mensch schien ein völlig verändertes Blut zu
haben. Sogar seine Augen, die Iris seiner früher blauen Augen hatte
einen grauschwarzen Ton angenommen. Soviel er auch in einem Heißhunger
verschlang und soviel er trank, er gedieh schwer, fror in seinem Bett,
dieses Wunder eines Wesens, das die Urtiere nicht vernichtet hatten. Da
erzählte er, dessen Geist nicht verworren war, aber immer unter einer
Betäubung lag; von Blitzen die durch ihn gegangen wären, von dem Wallen
und Zucken im Rumpf, als ihn das Untier berührte, dies Recken und Reißen
und Schneiden in den Finger- und Kniegelenken, in den Wirbeln. Er hatte
es jetzt nicht mehr. Noch wie der Stumpf an ihm sog, hatte er es
gefühlt. Der träumende, mit dem Gespenst der Tiere ringende Mann meinte,
ihm fehle etwas. Er wolle nicht mehr essen, es hätte keinen Sinn. Man
müsse ihm das geben, was die Tiere hätten. Dann würde er gesund. Immer
wieder drang er, halb bewußtlos, darauf. Die Ärzte, mit Elektrizität und
vielen Strahlen arbeitend, konnten den Zustand nicht ändern. Als der
Mensch immer trieb und bat, man möchte ihn nach Grönland bringen, an das
rosa Licht, von dem die Schiffer berichteten, verfiel man darauf nach
den Schleiern zu forschen, die die westlichen Senate für sich von
Grönland geholt hatten. Es war ganz still von ihnen geworden. Sie waren
in unterirdischen Riesengewölben an der belgischen Nordseeküste und in
walisischen Bergen vergraben; niemand kümmerte sich um sie. Von zwei
abenteuerlustigen Männern begleitet flog der Skandinavier über die
Nordsee. An den flämischen Bänken fauchten Riesenlurche unter ihnen.
Fast wonnig atmete der dem Tode nahe Skandinavier schon hier. Und als
man ihn auf die grüne Wiese an der flandrischen Küste setzte in der Nähe
des Tunnels, der zu den Turmalingewölben führte, veränderte sich sein
Blick; er lächelte, suchte sich aufzurichten. In Eile schoben ihn die
beiden Männer mit einem Speisevorrat an den Eingang des Tunnels, dem sie
sich nicht zu nahen wagten; sie selbst schwirrten vor den nahenden
Lurchen nach Osten.

Vor den belgischen Senat wurde nach zwei Wochen dieser Skandinavier
geführt. Ein Schwarm von Menschen, aus ihren Kellern gelockt, begleitete
ihn. Er predigte von dem Wunder der Turmalinnetze. In ihnen stecke die
Seele des Lebendigen. Er war fast so groß wie ein Mann seines Alters,
schwankte aber, war übermäßig erregt, blickte frisch; die Haut vorher
schwärzlich, war durchsichtig blaß; man sah fast das Blut darunter
fluten. Die Haut schilferte, die Haare waren blond, übermäßig lang, auf
die Schultern heruntergewachsen. Ten Keir hörte im Keller des Rathauses
von Brüssel nur kurze Zeit den sonderbaren phantasierenden einarmigen
Skandinavier an, ordnete an, ihn nach Hause zu befördern. Er brachte im
Augenblick die entsetzlichen Lurche mit den Schleiern zusammen: ob man
gegen die Bestien mit dieser Waffe vorgehen könnte. Am selben Tage war
sein Bericht in Delvils Händen.

Von seinem Verwüstungsfeldzug unter den Siedlern heimgekehrt saß der in
London. Am Abend dieses Tages waren die beiden Männer einig, daß die
Gewölbe der Turmaline besonders zu schützen seien; niemand war an sie
heranzulassen, es durfte auch nichts nach außen gelangen von den Kräften
der Turmaline und daß die Schleier noch wirksam waren. Den Skandinavier
ließ Ten Keir in der Nacht fassen und einsperren. Die schon
auftauchenden Gerüchte, von der sonderbaren Wiederherstellung des
Mannes, den die Lurche fast getötet hatten, ließ er als Phantastereien
zerstreuen. Eine Kommission von Physikern und Biologen prüfte die
walisischen Netze. Delvil gehörte ihr an. Ein wütender Gedanke hielt ihn
fest: in diesen Netzen waren die Kräfte, mit denen man Bestien
Widerstand leisten konnte, und nicht nur den Bestien! Delvil war
innerlich verhakt. Er haßte diese Welt, die Erde, die ihm dies antat,
die phantastische blöde schreckenlose Macht, die sich vor ihm aufstellte
und ihn wie ein wilder Bulle umwarf. Man hatte nicht dazu die Äcker
verachten gelernt, das Korn weggeworfen, das der Boden gab, das Vieh,
das sich selbst fortpflanzte, um dies zu erdulden. Es steckte eine Rache
der Erde dahinter, die ihr aber nicht bekommen sollte. Wie hatten die
Berge in Island dagestanden, wie hatten die Vulkane sich mit Donnern und
Lava-Ausbrüchen gebärdet, man hatte sie aufgerissen. So hatte man sie
behandelt wie die stolzen Flieger, die man segeln ließ, aber die Luft
riß man unter ihnen weg – was nutzte das große starke Flugzeug; und wie
die Schiffe, die mit einmal nicht mehr fahren konnten, weil kein Meer da
war. Das waren Erlebnisse für Schiffe und Flieger.

In die unterirdischen Arbeitsräume ließ Delvil Schleier der Turmaline
bringen. Die Physiker, obwohl den herrschenden Familien angehörig, ließ
er unter Todesdrohung an die gefahrvolle Arbeit treiben; alle Gewalt war
bei ihm. Den Männern und Frauen blieb nichts übrig, nachdem sie dem
Schicksal oberirdischer Vernichtung durch die Urtiere entgangen waren,
sich den Netzen zu nähern, den eigentlichen Gebärerinnen des Unglücks.
Delvil, in wenigen Wochen ganz ergraut, mit magerem Gesicht, forderte
sie täglich vor sich. Sie berichteten. Von seinem Haß auf die Urtiere
war in allen; aber sie grollten ihm auch. Sie wußten nicht, wie er sie
täglich rufen ließ, daß er sie beobachtete prüfte, ob sie nicht schon
etwas gefunden hätten, womit sie sich zum Herrn über ihn aufwerfen
könnten. Er sprach nur von seiner Wut auf die Tiere, von der
Notwendigkeit, die Städte die Einrichtungen die Menschen zu schützen.
Kein Wort sagte er davon, daß er auf Rache und Vernichtung aus war.
Vermöchte er zu tun, wie der Skandinavier Kylin an den Bergen getan
hatte: sie erschüttern, anschwellen machen, bis sie platzten. So
Grönland von der Wurzel bis zur Spitze, kreuz und quer aufreißen. Einmal
hatte ein persischer König das Meer peitschen lassen, weil es seine
Brücke zerbrach: wie gut er den König verstand.

In Pausen, die sonderbar und unverständlich waren, kamen die Bestien von
Norden. Das Meer verseuchten ihre Leichen. Unter der Erde arbeitete in
London Delvil mit seinen Gehilfen. Sie brauchten Tiere und Menschen zu
ihren Versuchen. Delvil war glücklich, als man so weit war, ohne Schaden
die Schleier zu zerkleinern, und sie in kleinen Ausschnitten Kreisen
Blättern auf Lebewesen tat. Er brüllte: „Die Bestien! Die Kreidezeit!
Die ganze Kreidezeit! Was machts aus. Sie sollen kommen. Je mehr, desto
besser. Sie sollen es fühlen.“

Ten Keir wagte sich über den Kanal. Delvil empfing ihn zwischen den
Physikern, umarmte ihn wild; flüsterte: „Ich schäme mich nicht mehr. Die
Krise geht vorüber. Gott, was war das für eine Zeit. Ich habe nicht
gelebt, Ten Keir. Sieh mich an, wie mein Gesicht ist: zwanzig Jahre in
zwei Monaten. Sie sollen es büßen. Ich werde wieder gesund. Gesunder als
ich gewesen bin.“ „Ihr seid schon weit, Delvil?“ „Wir wollen Brüder
werden“; er zog den Brüsseler beiseite; sie gingen durch die
straßenähnlichen unterirdischen Anlagen; „ich vergesse dir nichts. Weißt
du, Ten Keir, wie du mich behandelt hast, als ich einmal bei dir war,
vor der Grönlandexpedition? Nein, es war gut. Du hast mich gut
behandelt. Ich hatte ja noch mit den Siedlern geliebäugelt. Du hast mich
zurecht gestaucht. Gut, Ten Keir. Ich vergesse es dir nicht. Ich war im
Begriff mich zu verlieren. Ich war im Begriff mich unter die Hunde zu
begeben. Wie hätte ich jetzt geheult über Lurche und Echsen. Ich brauche
mich nicht mehr zu schämen. Du auch nicht, Ten Keir, Bruder Ten Keir.
Wir wollen Brüder sein. Es kommt der Tag. Glücklich, daß ich dafür
aufbewahrt bin. Ich habe Grönland auf dem Gewissen, Island. Ich will
noch mehr auf dem Gewissen haben. Sie sollen mich fürchten.“ „Wer denn,
Delvil. Wir werden sie bezwingen. Und gut.“ „Nein, nicht gut. Das sagst
du, nicht ich. Was mir geschehen ist –“ Delvils Augen blickten starr;
Ten Keir erinnerte sich seiner Worte in Brüssel, wie er die Fäuste hob,
auf dem Schemel saß und stöhnte: „Ich will sie nicht. Aus tiefstem
tiefstem Herzen sage ich dir: ich will sie nicht. Sie sind schon jetzt
nicht mehr da.“ Delvil zwang die Dinge. Er haßte sie. Durch Ten Keirs
Kopf zuckte einen Augenblick der Gedanke: dieser Delvil hatte selbst
etwas von den grauen und grauenhaften Urtieren an sich. Wie sein Gesicht
sich wirklich verändert hatte, seit er ihn gesehen hatte; die Züge
schwer beweglich, tief eingetragen, die Haut von der Aschfarbe des
Betons, zwischen dem er lebte, die Bewegungen langsam und drängend, kein
Zucken; seine Stimme selbst ohne Modulation. „Es kann mir nicht genug
sein, Ten Keir, daß ich die Lurche besiege. Wir werden sehen, was die
Versuche ergeben. Ich will sie an dem Ort aufsuchen, wo sie entstehen.
Ich gehe ihnen entgegen. Sie werden nicht leben. Der Boden, der sie
geboren hat, wird nicht leben.“ Ten Keir suchte ihm in die Augen zu
blicken. Delvil ging weiter: „Wir werden sehen. Unsere Arme werden
wieder frei, Bruder Ten Keir. Mein ist die Rache, spricht der Herr.“ Er
merkte nicht, daß der Belgier mit gekreuzten Armen unbeweglich dastand.

                   *       *       *       *       *

Als im Sommer der Schwall der grönländischen Urtiere nachließ, war den
Helfern Delvils das erste gelungen. Vor die Südspitze von Skandinavien,
Jütland, über die Nordsee, auf die schottischen Berge südlich des Moray
Firth legte man die neuen Waffen. Das war das Sonderbarste
Schrecklichste, was die Erde bisher gesehen hatte. Man errichtete im
Ozean auf den stärksten Schiffen, im schottischen Gebirge auf dem
tausend Meter hohen Carrin Gorm, dem Meall Thonail, Creay Meaghaidh,
hohe turmartige Gebilde. Von weitem waren es schlanke Felsen mit
unregelmäßigen Auswüchsen. Aber wer sie lange Zeit beobachtete,
bemerkte, daß sie ihre Umrisse veränderten, hier breiter wurden als da,
dort einen Auswuchs höher trugen als vorher, unten einsanken, in die
Höhe sich streckten. Dunkel waren die Gebilde wie großflockiger Porphyr,
Partien schienen runzlig wie eine Haut, andere warfen die Lichtstrahlen
zurück, glänzten wie Fell.

Auf dem Boden der Schiffe, den Kuppen der schottischen Berge hatte man
diese Unwesen errichtet, mit Hilfe der Turmalinschleier. Man hatte
Steine und Stämme zusammengehäuft und sich vermählen lassen. Wie sie
unter dem Feuer der Strahlungen ins Wachsen gerieten und bevor sie
erloschen, schüttete man wie auf glimmende Kohlen Schichten Tierleiber
Pflanzen Gräser auf sie. In diesen Boden trug man zuletzt Menschen ein.
Die Biologen und Physiker der Mekifabriken waren mit den Techniken am
lebenden Organismus vertraut; sie hatten rasch gesehen, die Strahlungen
der Schleier stellten unbändige zuerst gar nicht dosierbare Reizstoffe
für die lebende Substanz dar. Die Trieb- und Wachstumskraft, die in dem
einzelnen geformten Tier- Pflanzen- Steinkörper begrenzt war, die die
Tierkörper reifen, dann aber altern und sterben ließ, strömte massiv und
wie ein Katarakt aus den Gefäßen der Turmalinkristalle und ohne Ende.
Man hatte rein in Händen dieses im Feuer der Erde und Gestirnen hausende
Urwesen. Sie konnten die Nähr- und Reizlösungen entbehren, die noch
Glossing und Marduk für ihre Versuche an Pflanzen und Bäumen verwandt
hatten. Das fürchterlich Zerstörende dieser Gewalt wurde bei den
Versuchen klar: sie zersprengte jeden Zusammenhang, trieb Teile hervor,
unter Vernichtung des Organismus. Sie war wie eine Flamme gleichgültig
gegen Bewegtes Ruhendes Hartes Weiches. Es gelang in Pflanzen-, dann in
Tierversuchen, die strömende Reizmasse auf die Drüsen und Strangsysteme
zu richten, die den Organismus von sich aus zum Wachsen bringen. Die
Jugend der Organismen wurde verlängert. Der Körper wurde nicht zerstört.
Dann hatte man Siedler aufgegriffen und zu Menschenversuchen verwandt.
Die Menschen, die man jetzt auf den Stein- und Baumfundamenten
einpflanzte, waren Anhänger der Senate selbst. Delvil hatte sich
angeboten, man hatte ihn zurückgehalten. In den Scharen, die mit ihm auf
die Vernichtungszüge gegen die britischen Siedler gezogen waren, fanden
sich dann genug, die sich hergaben.

Gerüste wurden auf den Schiffen und Bergen errichtet; Türme aus lebenden
Stoffen gebaut. Zum erstenmal standen Menschen da auf Gerüsten Galerien
Plattformen um die Fundamente, dirigierten, dosierten Schleierteile,
dämpften mischten arbeiteten das tierische und pflanzliche Leben aus dem
Material heraus. Ihr Entzücken; Ingenieure Biologen Physiker blickten
auf Delvil, der streng gespannt wie immer beobachtete und wanderte. Er
hatte den Skandinavier, der den Urtieren entronnen war, gefragt, ob er
von den Gewölben an der flandrischen Küste schweigen werde. Dieser Mann,
der verneinte, war auf den Meall Thonail in Schottland geschleppt
worden, in die unterste Masse der Steine und Balken eingebacken worden:
„Es macht dir ja nichts aus“ lächelte den Mann Delvil an, wie man ihn
aufs Gerüst brachte; „du hast schon einmal unter den Lurchen gelegen. Es
wird dich nicht überraschen. Du lebst selber von Gnaden der Schleier. Du
wirst einem nützlichen Zweck dienen.“ Der langhaarige Skandinavier
heulte vor Entsetzen, auf den wuchernden Teig schauend, auf den rechts
und links Moos Erde Bretter geworfen wurde. „Das geschieht, unser
Freund, damit die anderen, die oben sind, unsere Männer und Frauen, euch
verzehren. Willst du schweigen.“ Dessen Züge waren gequält, aber
strahlend frisch wie vorher: „Wenn ich deinen Turm sehe, Delvil, so
preise ich die Macht der Erde. Du wirst sie nicht besiegen. Ich preise
die große Macht. Ich fühle mich in ihr. Es ist keine Grenze zwischen ihr
und mir. Ich fürchte mich nicht. Ihr werdet mich auflösen. Laß nur. Ich
will dahin.“ Und wie man ihn faßte, nackt, die Riesenzange aus Kristall
ihn unter dem Rippenbogen packte, über den Teig hielt, sang er dämmernd
und lallend sein Loblied auf die Erde. Dann wucherten seine
herabhängenden Hände und Füße, von der aufdrängenden Bewegung gefaßt,
wulstig klobig in den Teig. Die Zange ließ ihn. Er stand, fiel auf die
Hand. Bog sich, als wolle er sich hochbuckeln, vom Boden losmachen; aber
aus seinem Rücken stachelten die Wirbelfortsätze; wie eine Tonne wölbte
sich sein Brustkorb. In die Bodenmasse versenkt sein Kopf; Balken, Äste
treibend, schlossen ihn in ihren Filz ein.

Etagenweise wurde der Bau aufgerichtet. Dann wurde der Turm mit den
ausgewählten Menschen, den Anhängern der Senate, beschickt. Wochenlang
dauerte ihr Einpflanzen, das Zementieren eines einzelnen Menschen. Auf
den erlöschenden Nähr- und Stützteig wurden sie gestellt, die noch
armselig kleinen nackten Mannes- und Frauenkörper auf den knisternden
begierigen Brei. Die Ausläufer und Zacken des Unterturms senkten sich
langsam und immer wieder von den Leitern gehemmt in die Beine und Arme
der Menschenkörper. Je mehr Ranken und Sprossen des Unterturmes sich an
den Körper legten, mit ihrer Haut verschmolzen, um so stärker trieb man
die Leiber der sich Opfernden auf. Man verständigte sich mit ihnen: Die
Sprache der Opfer wurde schwerfälliger lallend, dem Wachsen der Zunge
entsprechend. Man mußte warten, bis sich der Körper der Schädel die
Kiefer angepaßt hatten. Man band mächtige Schalltrichter vor die Münder
der Opfer; bald erwies sich, daß man sie nicht benötigte. Die Opfer auch
fürchteten, die Trichter würden mit ihnen zusammenwachsen und rissen sie
sich ab. Ihre Stimme dröhnte tief, klang dabei fern unklar verschollen.
Die Errichter der lebenden Türme mußten alles daran setzen, die Opfer
bei Bewußtsein zu erhalten. Das knochentreibende gehirnweitende
Wachstum, wenn auch langsam mit Nachlaß und Pausen getrieben, gefährdete
immer wieder die Besinnung der Turmmenschen. Sie waren oft im Begriff,
ihren Geist und ihr Menschenwesen aufzugeben und ins bloße Wuchern und
Wachsen einzudämmern. Bis man wieder ihre Stimme hörte, ihre Augen,
deren quellende Lider zugefallen waren, sich öffneten, trübe fragende
Blicke nach den Galerien gingen, wo die kleinen Menschen des Experiments
standen und winkten, – mit grellen Fahnen, später mit Lichtzeichen, weil
die Turmmenschen nahe und nackte Gegenstände nicht unterschieden.

Ihre Augäpfel waren größer als ein lebender Mann; sturmartig blies der
Atem aus ihrem Mund, den sie offen hielten, als wenn sie schrien. Die
Kiefer waren ihnen im Anfang zu schwer und hingen. Wenig und selten
wurde Nahrung in ihren Mund, über die hängenden Kiefer gefahren und
gestürzt; die Riesenwesen, mühselig gurgelnd und schluckend, wurzelten
in dem Tier- und Pflanzenboden. Ihre Beine waren von den Hüftgelenken,
dem Becken an knollig versteift; breit standen die Beine, verbreiterten
sich massig nach abwärts, gingen in Stränge aufgelöst, ihren
Fleischcharakter verlierend, in die Bodenmasse über. Von da strömten
Säfte und Nährmassen in ihren Leib. Durch ihre Bauchdecken, in die
Weichen wucherten Baumstämme und Tierrümpfe in sie, breiteten sich in
dem Gekröse aus, brachen in die Därme ein, verlöteten mit ihnen.
Tierblut, Pflanzensäfte ergossen sie in die Därme, die sich langsam
hoben senkten, wurmartig zusammenzogen und streckten. Dies war die
Bewegung, die man in halber Höhe der Menschentürme sah: das langsame Hin
und Her der Därme, die sich versteiften hoben und ihren Krampf lösend
wieder herunterstiegen. Mit sich zogen sie jedesmal den schwankenden
lockeren Abhang an sich, den aufklimmenden Wald, die hingedehnten, aus
dem Wald sprießenden Tierleiber: die übergroßen Pferde, die aufrecht
standen, die Vorderbeine in den Leib des Tiermenschen vergraben, mit
ihren Hälsen sich aus seinem Leib windend und bewußtlos an den Blättern,
dem weichen Baumholz kauend. Die Rinder, die aus der Bauchhöhle des
Menschenriesen zu springen schienen, ganz wie wollüstig im Freßdrang in
die Gräser des Waldbodens unten gewühlt; aber ihre Körper bogen sie nach
hinten hoch auf; was sie fraßen, fraßen sie nicht für sich; ihre Hüften
und Hinterschenkel sah man nicht mehr; sie waren im Bauch der
Turmmenschen verschwunden und mit ihm verbacken. Sie waren mahlende
Rinder und ein Mund, den der Riese über ihnen öffnete, eine Röhre aus
der er sog. Die Hoden der Männer verschmolzen mit Baumwipfeln und
Blüten; die strömten ihren Saft in die runden Körper, die sie wie Beeren
trugen. Oft sah man die Riesen unter der Überfülle der Säfte sich
biegen, stöhnen und ihren Samen vergießen. Immer wieder dämpften die
Leiter die gefährlichen traumhaft ausfahrenden Bewegungen. Über die
nackte Haut der Rümpfe, die erstarren konnte, warf man Hühner Schwäne.
Schafe mit dicker Wolle breitete man über die Arme. Man wagte es an
einer skandinavischen Insel, zwei starkmähnige Löwen, die an der
afrikanischen Nordküste gefangen waren, aus Käfigen lebend auf die
Schultern des Turmmenschen springen zu lassen. Sie bissen sich, krallten
sich, während der Riese – es war einstmals Quick Baker, ein Sohn der
Siedlerin White Baker – zwinkerte, an seinem Hals fest. Das war der Ort,
den man ihnen zugedacht hatte, den sie decken sollten. Sie zogen die
Zähne nicht mehr aus der bluttriefenden Haut. Die Tatzen ließen sie los;
aber schlaff hingen die gelben Körper über dem rotüberrieselten Nacken;
ihr Fell schmiegte sich an den Riesen; ihre Beine waren nur Wülste auf
der Menschenhaut. Über ihnen pulsierte der meterhohe Kopf des
Turmwesens, von langen buschigen Haaren überschaukelt. Dumpfe fast
stumme Wesen, unbeweglich luftschnaufend waren sie. Unendlich träge ihre
Bewegungen. Nach Menschenart die Bildungen des Mundes der Nase der
Ohren, aber verstrichen wie mit Stein und Holz gemauert. Das Blut der
Steine und Pflanzen wallte auch in ihnen.

Man hatte, als man die Türme errichtet, die Gerüste abgebrochen hatte,
auf den Schiffen, die eigentlich verankerte Flöße waren, noch nötig, das
Meerwasser durch die untersten Steinmassen aus Röhren laufen zu lassen,
von Zeit zu Zeit neue Erde und Pflanzenhaufen über den Fuß des Turmes zu
schaufeln. Dann konnte man den Riesenmenschen sich, dem Wind, dem Regen,
der Wärme Kälte überlassen. Die Wesen auf den Bergspitzen Schottlands
speiste man mit Quellen.

Eine Zahl dieser Türme wurde schon während des Baus von den Untieren
vernichtet. Die Gründung der Seetürme nahm man dann an versteckten
Stellen der Irischen See vor. Fast hundert stellte man her, dann noch
zweihundert. Die schleppte man nach Norden vor die schottische Küste. In
ihrem Rücken, unter ihrem Schutz vollendete man den Bau der Bergtürme.
Eine Verteidigungslinie wurde mit den Giganten vom Sognefjord nach Süden
um die jütische Küste über die Nordsee zu den Britischen Inseln gezogen.
Im Ozean, auf den Gebirgen standen die Menschentürme. Ihre Arme hingen
schlaff herab. Vor der Brust, die man geschützt hatte, trugen sie
lose weiße Netze bis herab zum Nabel; das war ein Stück des
Turmalinschleiers. Und wie die Lurche, die Riesenvögel mit den bezahnten
Kiefern, die schwimmenden Drachen, wandernden Gallerten sich ihnen
näherten, fühlten sie sich von den Menschentürmen gelockt. Wonne ging
von dem Schleier aus. Was im Umkreis an gejagtem und verendendem
grönländischen Getier sich bewegte, drängte auf sie, lechzte gegen das
Floß, schob sich schnuppernd schlurfend gegen die Brust des
Menschenturms. Von der Seite zuckten rascher und rascher die Arme des
menschlichen Gebäudes vor. Die trüben Augen oben zwinkerten, die Stirnen
legten sich in finstere Querfalten. Da konnten die Arme die Lurche Vögel
Quallen Gallerten fassen. Hungrig war immer das Turmwesen. Dumpf stöhnte
es. Quetschte mit der Kante des Ellbogens das anklimmende Tier. Das Maul
sperrte es. Der Kopf bog sich herunter. Das japsende Tier zergriffen
zerpflückten die Finger, die Hände wühlten in dem Sud, stopften
triefende Stücke in den Abgrund des Rachens, der dampfte. Und die Lippen
Wangen Halswampen zitterten dem Unwesen, dem Menschenbaum, als wollte es
lachen. Seine Augen schloß und öffnete es rasch einigemal.

Der Turm in den Bergen schmetterte die Lurche, die gierigen Drachen
unter sich. Unten wuchs sein Boden, neue Säfte stiegen in ihm auf; er
zwinkerte, das Wasser troff aus seinem Mund. Traurig dumpf brüllte das
Wesen.

                   *       *       *       *       *

Sehr eng und fest schlossen sich unter dem Unheil in den Stadtschaften
die Menschen zusammen. Die Senate, schon während der Grönlandexpedition
sehr auf der Hut und fast Bündnissen genähert, machten sich keine Sorge
mehr um die Menschen. Die Stadtschaften waren ihnen gleichgültig. Sie
waren kindisch gewesen, daß sie sich um das Auslaufen der Städte, um die
Siedler bekümmert hatten. Angst, daß die Menschen über sie fallen
würden, kannten die Senate nicht mehr. Sie waren bis auf die Zähne
bewaffnet, die Maschinen konnten nur sie bauen; die Anlage, den Sinn,
die Bedienung der feinen Apparate, der Elementumsetzer Kraftverwandler
Kraftspeicher kannten nur die Männer und Frauen ihres Kreises; sie
konnten die Mekifabriken still legen und alle verhungern lassen. Und nun
ragten die Menschentürme!

Wegweiser der Senate war der gigantische haßgetragene Delvil. In London
Brüssel Paris Lyon Hamburg Christiania Kopenhagen standen die Senate:
„Laßt sie verkommen, die Stadtschaften. Machen wir uns Platz.“ Die
Ereignisse vor der Grönlandexpedition hatten schon an den Senaten wie an
einem Sieb geschüttelt. Jetzt fielen die letzten schwankenden nieder.
Sicherheitskonvente nannten sich die Senate. Die Worte, die sie
gebrauchten, waren die alten: „Errettung der Stadtschaften“, aber sie
waren jetzt nicht mehr passiv für ihre eigene Sache wie vor der
Expedition. Escoyez in Barcelona sagte: „Autonom sind wir. Niemandes
Diener. Niemandes Sachwalter. Wer in unserem Schatten ruhen will, gut.
Wer nicht, nicht. Wer die Macht hat, hat die Freiheit. Wir haben die
Freiheit. Wir wissen, wem wir Verantwortung schulden. Niemand wird uns
bewegen, anderen Zwecken zu dienen als unseren. Verrucht ist, wer etwas
anderes mit uns vorhat.“ Wie in längst vergangenen Jahrhunderten gingen
Mitglieder der Senate verschleiert und unsichtbar unter den Menschen der
Stadtschaften. Was Delvil nördlich Londons im großen übte, das Verjagen
und Vernichten der Siedlertruppen, wurde im kleinen überall geübt. Die
einzelnen Männer und Frauen in den Senaten waren von großer Wildheit
Raschheit. Es gab Spannungen unter ihnen; man wußte auch, daß eine
kleine Gruppe hinter Ten Keir stand, der von Delvil an die Wand gedrückt
wurde, – hinter Ten Keir, der den alten Weg der Ausbreitung der
Stadtschaften gehen wollte. Aber die neue revolutionäre Schicht der
Herrengeschlechter ließ ihn nicht aufkommen.

Von dem Boden unter die Erde wurden die Massen der westlichen
Stadtschaften getrieben; unter der Erde konnte sich die ganze und
alleinige Kraft der Herren entwickeln. Nachdem die Fliehenden die
einfachen Wohnsitze vorläufig unter den Boden verlegt hatten, legten die
Herren, stolz und freudig, Fabriken Apparate Waffen unter die Erde. Die
Mekifabriken waren in Hamburg und Christiania von Bestien vernichtet
worden: das war das Stichwort, alles an Anlagen unter die Erde zu
werfen. Jubel der Herren überall, wo dies geschah; man konnte zeigen,
was man war.

In die Erde wühlten sich die Menschenmassen ein, vor den verderbenden
Untieren und getreten von den stolzen Männern und Männinnen. Wie ein
Baum, ein Wald mit den Wurzeln nach oben wuchsen die Städte in die
Tiefe. Meterdicke Beton- und Felsplatten bedeckten die Stellen der
früheren Plätze und Straßen, oder sie lagen wüst. Als die Mekifabriken
vor Jahrhunderten aufkamen, hatte man Äcker und Wälder verlassen, sie
ihrer menschenlosen Wildnis zurückgegeben, sich in den Stadtreichen
zusammengezogen; wie Fliegen an der Honigstange hingen die Menschen an
den Apparaten. Jetzt gab man noch den Platz der Stadtschaften frei.
Wohnte, wie man konnte, nicht wie ein Ameisenhaufen, der sich nach dem
Boden richtet. Man konnte die Erde aufreißen, schuf Stück für Stück von
dem, was man brauchte, mit eigener Hand. Nistete sich in die Erde ein
wie eine Käferfamilie in tiefer Baumborke; wühlte sich tiefer und tiefer
ein.

Einige Monate nach den ersten betäubenden Überfällen war, getrieben von
den Racheausbrüchen Delvils, der nächst dem Kanal gelegene Teil Londons,
die Gegenden Colchester Ipswich, später die südlichen Vorstädte Hastings
Ramsgate Dover von der Erdoberfläche verschwunden, auf der sie viele
Jahrhunderte gestanden hatte. Zwischen den gesprengten Häusern bewegten
sich die Wildnis und der Wald. Die Betonplatten ließ man frei liegen
unter dem Licht; Moos und grüne Flechten überzogen sie. In den Platten
waren verdeckte Öffnungen gelassen für Luft und die Einfuhr der
Rohstoffe. Zwischen die wechselnden Schichten der Erde trieb man
Schächte wie in ein Bergwerk. Man baute an einem Korallenstock. Von
vielen Stellen zugleich stieß man vor, dann berührte man sich in der
Tiefe. Die Sande Schotter des Alluvium und Diluvium durchsetzte man;
tiefliegendes Grundwasser drängte man ab, in die Lagen undurchlässigen
Tons schnitt man sich ein. Ruhig gewaltig dehnten sich abgrundtief unter
der Erde die neuen Städte mit den Menschen, das Lebendige von London
Oxford Reading Colchester Hastings Ramsgate Luton Hartford Aldershot. In
den Boden eines alten abgeschwemmten Meeres ließen sie sich herunter,
zwischen Mergel und Kalke, rumorend zwischen den stummen Resten der
dünnschaligen Muscheln einer vergangenen Erdperiode, den Trümmern
jahrtausendalter Kopffüßler. Sie bogen Erdwände auseinander, wo einmal
mit der Hochflut Myriaden Flügelschnecken, Generation auf Generation,
gespielt hatten, kristallklare Wesen mit starken Ruderfüßen, die sie
beim Schwimmen durch das schäumende Wasser wie Flügel auf und ab
bewegten.

Als Stockwerk auf Stockwerk in die Tonmassen gestoßen waren, immer
größere Höhlen aufgerissen, die Erdmassen, gesprengten Felsen zwischen
den oberirdischen Häuserreihen zu Schutthalden aufgestapelt, hatte
niemand mehr ein Furchtgefühl. Sie flohen nicht vor den Urtieren. Sie
waren auf einer neuen gewaltigen Expedition. Die Senate riefen: „Von der
Erde weg“ und sie gruben sich wonnig ein; das Wunder des menschlichen
Könnens, das die Grönlandfahrer erlebt hatten, erlebten sie jetzt
selbst.

Noch einmal übten damals die westlichen Stadtschaften Europas ihre
ungeheure Saugkraft aus. Das von Furcht eingeleitete, von Rachegefühl
befeuerte Vorgehen der Westlichen faszinierte die anwohnenden
Menschenmassen. Man hatte nicht mehr daran gedacht, Rücksicht auf die
Siedler zu nehmen; keine Wirkung hatte man mit der großen
Polarexpedition erzielt. Jetzt, im Haß gegen die Siedler gekehrt,
verführte man sie. Von Westen und Norden waren Menschen auf der Flucht
vor den anwandernden sterbenden Tierscharen, vor der Tierlava, die der
grönländische Vulkan um sich schüttete. Zugleich wallten Massen von
Süden und Osten an die Küsten, Haß, heiße Freude über das Verderben der
stolzen Stadtschaften in ihnen, dann die Lust, den Kampf zu sehen. Aber
zuletzt wurden sie betört, selber eingestrudelt. Die Riesenstädte, vor
die sie kamen, waren wie von Bränden Erderschütterungen zerwühlt. Die
schrecklichen, sich über sie erhebenden zusammengewachsenen Reste der
Leiber von Urtieren Häuserbalken Wäldern Menschen, die verfaulenden
Stadtteile, ein einsinkender Morast von Verwesung, der seine
grünschwärzliche Brühe, ammoniakalischen und schwefeldunstenden Wust
durch leere Straßen rieseln ließ. Auf diesen schwärzlichen
kilometerlangen haushohen Morasten, die absanken, wie Gletscher troffen,
ihre Lachen vergossen, hockten schwarze Schwärme von Raben ein,
geschwollene starke Tiere. Weit hörten die aufziehenden Menschen das
Geschrei der nistenden Vogelvölker. Die Menschen, die von Süden
heraufzogen, glaubten Gas Rauch zu sehen; wie sie sich näherten,
wirbelten die Vögel auf, die sich mästeten. Die Urtiere, über den
Stadtlandschaften der Nordseeküste, der Ostsee, des westlichen
Frankreichs und Deutschlands liegend und zerfallend, hatten über die
Häuser Anlagen Plätze den grünbraunen quellenden Boden eines Sumpfes
getragen. Sie hatten, sich bewegend wachsend zerschnitten und
auseinanderrollend, Häuser Erde und Lebendiges ineinander gemahlen; ein
neuer Boden war gebildet; der Wind rührte schon daran, Waldtiere rückten
gegen ihn vor. Ein Schwall östlicher Menschen trieb über die deutsche
Tiefebene hin; durch Süddeutschland bewegten sie sich, die starkbewehrte
Mark berührten sie und lösten Menschen aus den Hordenverbänden. Asiaten
waren unter ihnen, Mischlinge aus den russischen Steppen. Sie setzten
sich auf die Trümmer der alten Städte. Fuhren in die Schächte ein.

Erst waren die Mekifabriken unter die Erde gestiegen neben die großen
Laboratorien, die man schon seit langen Jahrzehnten in die Erde
geschoben hatte. Die Apparate Fabriken folgten. Zuletzt kamen die
Menschenmassen, die sich eine Weile in vorläufigen Betonhöhlen versteckt
hatten oder nach Osten geflohen waren.

Sie waren abgetrennt von dem Himmel. In diesen meilenweiten warmen
Bezirken in der Erdrinde gab es nicht Tag und Nacht. Keine Vögel sangen;
Gräser Pflanzen Bäume wuchsen nicht. Man hatte keinen Schnee, keinen
Hagel Regen Wind. Die Jahreszeiten wechselten nicht. Betonplatten
sperrten die seitlich und von oben andrängenden Erdmassen zurück. In den
Buchten Gewölben, den meilenweiten Gängen die Häuser Fabriken Plätze
Alleen. Die Schächte und Höhlen waren in die Erde gebrannt. Den
Sauerstoff der Luft stellten sie mit Maschinen her, trieben ihn in diese
Gänge und Schluchten, die wie Blasen in der Erde waren. Das Wasser der
Themse zwangen die Londoner in ihre Gruft herunterzusteigen; durch die
Alleen ließen sie den Fluß ziehen, Brücken schlugen sie über ihn. In
großem Bogen wand sich der Fluß durch die Betonstadt in dem Bett, das
man ihm gezogen hatte. Zuletzt ließ man ihn anschwellen; er stürzte eine
Betonwand herunter in ein Tal, das nicht ausgekleidet war. In diese Ton-
und Kalkmassen sickerte er ein, konnte nicht zurückschlagen; seine
schäumenden, immer wieder polternden Reste wurden um die Stadtanlagen im
Kreis herumgeführt, bis sie sich in Sand und Schotter erschöpften.

Das Sonnenlicht kam nicht herunter. Aber die starken Londoner ließen es
herabsteigen. Da stand der glühende Gasball, die Sonne, in
abenteuerlicher Ferne im Äther, das gelbweiße Flammenmeer, das mit dem
Eis des Äthers kämpfte; die Menschen auf der britischen Insel fingen
sein Licht zum Hohn in Spiegeln auf, warfen es in die Tiefe über die
lachenden herumvagierenden Massen. Da war es dünn bleich blutlos wie
Mondschein am Tage, starb neben dem weißen brillierenden
farbenspritzenden Lichtgewoge an den Decken der Gewölbe.

In die Felslager der großen Tiefe nahe dem Meer, an der Südküste im
Gebiet der South Downs, öffnete man weite Hallen für Vergnügungen. In
diesen Steinhöhlen wuchs die Messingstadt, so genannt nach dem Behang
der Häuser Theater. Im Dunkel lagen große Teile dieser Stadt; mit
Riesenscheinwerfern erhellte man sie. Der Ort hatte seine eigene Polizei
wegen der außerordentlichen Zahl Verbrechen, die hier Tag um Tag verübt
wurden. Hierhin fluteten dauernd Massen. Berüchtigt war besonders bei
den Siedlern dieser Ort, der die Menschen verführte. Aber auch die
Senate, so gleichgültig ihnen das Einzelschicksal war, sahen sich
veranlaßt, von ihren Waffen an die Polizei der Messingstadt abzugeben,
weil hier das Chaos drohte. Die Menschen der westlichen Rassen, die in
die Erdstädte einströmten, waren bald von einer unerhörten Hitzigkeit.
Sie lagen nicht mehr schlaff herum; die Wildheit und Spannung der Senate
schien auch auf sie geflossen zu sein. Die fremden begierigen Haufen
vermehrten die Erregung. In den Vergnügungsbauten und Gewölben, in denen
Männer und Frauen umgingen, kam es zu strudelnden Kämpfen. Die
Vergnügungen, die die Menschen sich boten, genügten ihnen nicht; Kampf
war eine Steigerung. Die Männer des Senats mußten eingreifen; mit
kleinen elektrisch geladenen Stäbchen schlugen sie im Gedränge auf die
Hände Stirnen Ohren der Kämpfenden, betäubten sie. Oder machten sich mit
ihren Silberreifen Platz. Auf einen starken Druck der geballten Faust
schoß aus dem silbernen Fingerreif eine zungenartige Spitze, nicht
länger als ein Nagelglied. Die Spitze war ein durchbohrtes Röhrchen,
eine Kanüle. Die stießen sie während des Ringens dem Gegner in eine
beliebige Stelle seines Leibes, Brust Schenkel Hals, lähmten ihn mit dem
Tropfen, den die Kanüle entleerte. Zogen sie den Ring nicht rasch
zurück, so töteten sie den Gegner mit einem Stich. Sonst erwachte der
Betäubte nach Tagen, kam aber nicht mehr zum vollen Gebrauch seiner
Glieder; der gestochene Arm blieb lahm, die getroffene Brust wurde
kurzatmig. Die Polizisten waren mehr gefürchtet als die Senatoren, die
nur ab und zu unsichtbar erschienen, sich nie einmischten, nur
beobachteten. Man sagte, diese Männer und Frauen des Senats erschienen
in der Messingstadt, um die Leidenschaften zu erregen, ihre Polizisten
zu gefährden und sich an den Kämpfen zu delektieren.

In der Messingstadt war die große Arena Londons. Man führte Stier- und
Löwenkämpfe ein. Bisweilen wurden auch von unsichtbaren Händen über die
Zuschauer Menschen in die Arena geworfen, zum wonnigen Entsetzen der
Zuschauer. Es hieß, dies seien Verbrecher oder Attentäter auf Senate;
man erfuhr nie Sicheres, weil kein Mensch die Arena lebend verließ. Die
Tierkämpfe fanden immer in völliger Dunkelheit statt. In völliger
Finsternis ließ man die Stiere in die Arena, über die gelegentlich ein
Licht huschte. Das starke Tier aber war blendend hell. Blendend hell
stürmte es, sich selbst leuchtend, in den schwarzen Raum. Stirn Nacken
Beine waren mit einem besonderen Lichtgemisch bestrichen. Das war ein
Stoff, dessen sich Schauspieler bedienten und von dem man ein
wunderbares Gerede machte. Der Stoff, sehr verschieden von dem
Lichtgemisch, welches die Leuchtfarben der Wände und der ganzen
Erdstädte erzeugte, übertrug sich leicht, blieb an Fingern Kleidern
hängen. Mit Stillschweigen und Angst saßen die Zuschauer. Die tierischen
Körper liefen leuchtend durch den Raum, der unter ihren Tritten
phosphoreszierend aufdämmerte. Die Erinnerung an Geschichten, die man
sich zutrug, wurde in den Massen wach. Von einem belgischen ehemaligen
Siedler wußte man, der sich Ibis nannte und nach der britischen Erdstadt
London sich hatte locken lassen.

Der war mit einer jungen Frau gekommen, Laponie, die er einem andern
entrissen hatte. Sie war wie er lustvoll in die unterirdische
Stadtschaft gestürzt, hatte von dem Lichtgemisch gehört, das die
Schauspieler auf den Bühnen verwandten. Und hatte sich’s verschafft. Sie
strich es sich nicht auf das Gesicht und die Hände wie der Schauspieler,
dem sie es abgekost hatte. Sondern auf die Spitzen ihrer Brüste und über
ihre geheimen Organe. Wollte ihren Mann berauschen. Und wie es Nacht war
und er sich ihr nähern wollte im finsteren Zimmer, wich sie ihm aus und
hatte ihre Freude, wie sie sein Entzücken sah und hörte und fühlte. Wie
er nicht ihr nachstürzte und nicht sie sah, sondern immer nur den Schein
ihrer Brüste und das Flimmern um ihre geheimen Organe. Sie ließ ihn
nicht gar zu stürmisch an sich, damit nicht sein Gesicht von dem
Lichtgemisch empfinge. Aber dann lag er und sie; und sie schliefen in
einer unendlich wohligen Heiterkeit. Ibis aber trug an seinen
Lustorganen den Stoff mit sich fort.

Er war ein üppiger blonder Flame, der sich seiner neuen Kraft nicht
genug freuen konnte. Mußte sie zu anderen Weibern tragen, denen er
verheimlichte, von wo er sie hatte. Sie kamen mit der liebenden Laponie
zusammen, sprachen nicht von Ibis, aber ihr Geheimnis behielten sie
nicht. Da wurde Laponie von Eifersucht geplagt. Sie suchte das Gemisch
von ihren Schamlippen zu entfernen, von ihren Brüsten; es gelang ihr
nicht, so verzweifelt sie sich wusch und rieb. Und wie sich Ibis ihr
nachts näherte, wollte sie sich verdecken verstecken. Er sah sie aber,
sah ihre geheimen Organe und Brüste. Sie lief aus der Stube, in die
finstere Straße. Und da sahen die Männer und Frauen die beiden laufen,
Mann und Frau, aber nicht Mann und Frau, sondern hintereinander, bald
getrennt, bald dicht zusammen, schimmernd die Muschel eines Weibes und
Rute und Behang eines Mannes, zitternd, im Kreis herumlaufend. Laponie
sah nur Ibis, wenn sie sich umdrehte und dachte nicht an ihre Scham, er
sah nur sie und dachte nicht an seine. Sie flog in ihr Haus zurück,
wollte ihm zürnen. Aber wie sie im Finstern so dastanden, lachte sie;
sie konnte ihm nicht zürnen. Er merkte nur auf ihr Lachen. Sie fielen
sich in die Arme.

Aber doch war etwas in der Seele der zarten Laponie stecken geblieben.
Sie mochte ihren schimmernden Schmuck nicht mehr, ruhte nicht, bis sie
von dem Schauspieler, der ihr für zehn Küsse das Licht geschenkt hatte,
das Wasser erhielt, mit dem man es auslöschen konnte. Stolz lockte sie
im Dunkel den kecken Ibis, der verblüfft sich drehte, sie nicht fand.
Sie aber kicherte, schlug mit einem Stöckchen auf seine leuchtenden
Geheimnisse, daß er schrie. Und wie ein Kobold lief sie um ihn, prügelte
ihn klatschend. Er wollte sie fassen, um sie an sich zu drücken, diese
Nacht und viele folgende. Aber sie hielt sich tapfer, ließ ihn die
Schläge ihrer Eifersucht fühlen. Bis der Schauspieler, zu dem sie gern
ging und dem sie ihr Leid klagte, ihr gute Worte gab und im Lauf der
Unterhaltung ihr selbst wieder das Licht ansteckte. Zu Hause erst merkte
sie, wie sie ihr Zimmer verfinsterte und den schönen Tag bedachte, was
sie mitgebracht hatte. Konnte nicht zurücklaufen, um den Schauspieler,
den schlimmen, um das grüne Salzwasser zu bitten; Ibis war schon im
Haus. Da legte sie sich stracks in ihr Bett, ließ an sich leuchten, was
leuchten wollte. Ibis polterte draußen, öffnete die Tür. Sie lag starr,
hielt den Atem an; jetzt würde er es sehen. Und er sah es. Stand an der
Tür, klatschte in die Hände: „Da bist du ja, Laponie. Da seh ich dich.
Endlich.“ „Nein, ich bin nicht für dich da.“ „Für wen ist denn das, süße
Laponie. Und warum diesmal nur die Muschel, die kleine Muschel? Warum
nicht auch die Knospen an der Brust?“ „Es ist nicht für dich. Ich habe
mich – gerächt.“ „Was für Rache! Laponie, du leuchtest. Wenn du mich
prügelst, das ist schlimm.“

Und er hatte sie schon, die zappelte, gepackt. Sie warf sich einen
Augenblick widerspenstig, weil er nicht zürnen wollte, auf die Seite,
aber bald brannten sie zusammen.

Und es gelang ihr nicht ernst zu bleiben, wenn sie ihn abends anleuchten
sah. Ja, sie bemerkte, daß sie fröhlich und fröhlicher wurde. Und auch
er wurde von Tag zu Tag fröhlicher. Sie verbargen sich voreinander. Ibis
sagte zu Laponie: „Wir lieben uns zu sehr. Wir müssen uns eine kleine
Zeit trennen.“ Sie hielten es nur ein paar Tage aus. Sie wußten nicht,
daß der Lichtstoff sie lustig und lustiger machte. Eine himmlische
Fröhlichkeit erfüllte beide. Und so erging es den Frauen, die Ibis
berührt hatte, und die sich nicht mit dem grünen Wasser wuschen. Sie
konnten sich in ihrer Fröhlichkeit nicht lange behaupten. Fünf Monate,
und dann lebte er nicht mehr und sie nicht mehr. Und all die Zahllosen,
die sich von dem Lichtgemisch nicht getrennt hatten, die Mädchen die
Schauspieler die Giftschlucker waren hingegangen. Das Flimmern Glimmen
Glühen der bestrichenen Organe ließ nach, die Spannung verblieb. Und
während die Menschen gelb und unsicher wurden, wurden sie ausgelassen.
Trieben Possen von morgens bis abends. Es kam zur Tanzwut und
Liebesraserei. Und wenn diese Menschen, das wußte man, anfingen zu
tanzen und den Schemel unter sich nicht ertrugen, dann war ihr Ende
nahe. Im wörtlichen Sinne tanzten sie ins Grab, in das Grab, das sie
sich oft in Übermut selbst hatten schütten und schmücken lassen. Man
warf die Toten damals aus der Erdstadt auf die Oberfläche zwischen die
Schuttmassen. Diesen Tanzenden wählte man in einer besonderen
Ergriffenheit in der Unterstadt einen Platz; es war ja fast ein Spiel,
was da ablief. Es schien, als ob sie im Tanz die letzte Spur des
Lichtstoffs verbrauchten. Nach einer Stunde Raserei, allein oder zu
zweien –, so endeten Ibis und die Laponie –, konnten sie hineinstürzen,
glücklich schreiend, und schon lagen sie ganz still, ohne Farbe fast
ohne Fleisch. Und die Leute, die herumstanden, konnten staunen, welches
Nichts diese wilden Bewegungen ausgeführt hatte. Nur bei einzelnen
verschwand das Licht nicht völlig. Man sah über ihren Gräbern in der
tiefen Finsternis ein zartes Leuchten. Besonders bei denen erschien es,
die sehr früh verstorben waren. Da war auch der Fliederduft deutlich,
der sich immer bei dem Licht fand; die Toten spendeten noch Heiterkeit
um sich.

Im Zirkus sah man, in der ganz finsteren Arena, die Stiere stürmen,
Menschen, Männer und Weiber mit ihnen kämpfen. Blut spritzte aus dem
Nacken, den Flanken der Stiere. Es war ein Feuerwerk, ein brennender
Strahl. Man sah das Eindringen des Lichtstoffs in den Leib, seine innige
Vermischung mit dem Blut. Die Kämpfer und Kämpferinnen suchten dem
Strahl zu entgehen, um im Dunkel zu bleiben. Übergoß sie der Stier oder
geiferte sie an, so waren sie geliefert und nur die anderen konnten
ihnen helfen. Nicht das Einwühlen in den Sand half ihnen: sie strahlten
das hellste Licht. Waren dazu selbst geblendet, tappten in der
Sonnenflut um sich herum. Sie waren das Gaudium des Zirkus, aus Kämpfern
zu Clowns geworden. Und es lag ganz in der Hand der Mitspieler, wie das
Spiel weiter geführt wurde. Verloren waren in jedem Fall die
Übersprühten. So trieben sie im Finstern mit dem Stier und dem
strahlenden Mann, der strahlenden Frau ihr Spiel. Es war ihre
Geschicklichkeit, das Spiel lang abwechslungsreich spaßhaft und spannend
hinzuziehen und nach Laune zu beenden mit Niederrennen des Menschen oder
zum brüllenden Gelächter des Zirkus mit Abstechen des Stiers kurz vor
seinem Ziel. Das Hänseln der überlebenden strahlenden Menschen, der
Glühwürmer, folgte nach, die sich nicht zurechtfanden und zwischen
Trauer und der schon anbrechenden Heiterkeit schwankten. Es gab keine
Zirkusvorstellung, wo nicht die lustigen Glühwürmer sich zeigen mußten,
die von früheren Kämpfen übrig geblieben waren. Mit ihnen verfuhr man
später, als man jede Furcht abgelegt hatte, toll und unmenschlich; die
Glühwürmer selbst ließen mit sich tun. Es gab eine Zeit, wo in der
Londoner Messingstadt der Weg zum Zirkus und der Zirkus vor dem Beginn
nicht von den Riesenscheinwerfern beleuchtet wurde. Die glühenden Männer
und Frauen, die lebendigen Lämpchen ließ man zucken tanzen locken; wie
mit Kerzen war der ganze Umfang des Zirkus durch sie illuminiert.

Bei den Massen, die in die Ton- Kalk- Mergelschichten, in die Felslager
der britischen Inseln einströmten, war die Erinnerung an die
Grönlandexpedition nicht verraucht. Aber kein Gefühl einer Niederlage
lebte mehr in ihnen. Als die Urtiere über sie fielen, hatten sie
geschauert. Dann tobte schon der eisige Delvil unter ihnen; sie wurden
unter die Erde getrieben, von jedem Schwächegefühl befreit, als sichtbar
vor ihnen die Turmmenschen errichtet wurden, die Flotte der Turmmenschen
an der Südküste entlang den Kanal herauf nach Norden fuhr. So tief
verachtet waren die Siedler noch nie. Delvil hatte wahr zu Ten Keir
gesprochen: die Sache der Marduks und Siedler war grausam geschlagen.

Mit London hatte es begonnen. Mit Brüssel Hamburg ging es weiter.
Stadtschaft um Stadtschaft verlegte ihre Anlagen unter die Erde. Die
Menschen folgten. Kleine Kolonien blieben auf der Oberwelt zurück.
Grenzenloser Stolz trieb die Ingenieure; in grenzenlosem Stolz tauchten
die Menschen hinab. Hier hatten in den Anlagen bei dem Herabstoßen und
Ausbreiten neuer Stollen und Schächte mehr Menschen zu arbeiten als auf
der Oberwelt. Die Maschinen für Sauerstofferzeugung und Luftreinigung,
für die Beleuchtung erforderten bei der Ausdehnung der unterirdischen
Gebiete zahllose Menschen. Aber sie wurden mit vielen Lüsten bezahlt.
Die Anlagen für die Physiker Techniker Biologen breiteten sich in
abseits gelegenen Gebieten, den erdnächsten, bald über das Areal einer
kleinen Stadt aus. Hochmütig zornmütig wie nie waren diese Männer und
Frauen der Wissenschaft. Sie hatten die letzte Scham abgelegt. Die
Massen wußten das; doch gaben sie sich an alle Dinge hin, die diese
Herren ihnen boten.

In London, wo die Glühwürmchen aufgekommen waren, traten zuerst Menschen
verschiedener Rassen auf, die sich den Herren und Herrinnen in den
Anlagen als Sklaven, Leibeigene, anboten. Die Senate brauchten für die
Mekifabriken und viele Versuchseinrichtungen Menschen, die sie immer
unsichtbar sich aus den Siedlungen oder Städten selbst holten. Jetzt
aber gaben Männer und Frauen von selbst jede Verfügung über sich auf.
Sie waren in dem gepeitschten Zustand und der rauschartigen Gehobenheit
der meisten in diesen Erdschichten. Sie wollten nur noch tieferen Rausch
und wußten nicht, was mit sich anfangen. Es kamen auch schlaffe und
leise Wesen vor die Häuser und an die Türen der Senatoren. Diese
brauchten dieselben Worte wie die andern; aber man sah: sie waren
hereingeirrt, hatten an vielem teilgenommen, weigerten sich an mehr
teilzunehmen, liefen an die Schlachtbank. Hilflos sahen diese
sonderbaren Menschen, besonders Weiße des Kontinents, aus. Die Männer in
den Anlagen hörten sie an, ließen ihnen Ketten an die Füße legen und sie
entfernen. Das waren Bösartige, man sah es; sie ließen sich nur in
Verzweiflung und aus Widerwillen gegen ihre Ohnmacht versklaven. Wie in
der Zeit vor dem Uralischen Krieg die Selbstmordepidemie kam hier der
Verknechtungswahn auf. Auf Plätzen der Stadtschaften unter der Erde
standen Tag um Tag kleine Menschenhaufen an Stellen, die man bald kannte
und die diese Menschen selbst abzäunten. Dies waren die Männer und
Frauen, die sich verkauften. Sie selbst bestimmten, wen sie annahmen.
Einige gaben ein bestimmtes Geschenk an, das man ihnen zu geben hatte
und betrachteten ihren Käufer nicht. Zum Bau von neuen Menschentürmen,
zur Ernährung der alten nahm sich der Senat wöchentlich einen Haufen von
diesen. Zu den Experimenten und laufenden Arbeiten in der technischen
Stadt wurden viele verbraucht. Zahlreiche wurde von trägen
Arbeitspflichtigen für sich an die Maschinen geschickt.

                   *       *       *       *       *

Die Menschenmassen, die sich wie schäumendes Wasser in die Abgründe der
Riesenstädte gossen, wußten nicht, was die starken Männer und Männinnen,
deren Werk das alles war und von deren Hand sie lebten, über sie
verhängten. Delvil war in seinen finsteren und ungeheuren Rachegedanken,
seinen Kampfideen gegen die Gewalt, die die Urtiere geschickt hatte,
ganz versunken; er nahm an den Zusammenkünften der Senate wenig Anteil.
Ten Keir, der vierschrötige Belgier, hatte sich in den Hintergrund
gestellt; die Gespräche mit Delvil hatten erschütternd auf ihn gewirkt.
Der tapfere gesunde Mann war von Delvils Raserei abgestoßen worden. Mit
Widerwillen hatte er dem Beginn des Baus eines Riesenmenschen zugesehen,
dann sich abgewandt. Er war nicht wieder nach London geflogen. Als man
ihm von den Erfolgen der Turmriesen erzählte, war ihm Ekel den Hals
heraufgestiegen. Er konnte nicht weiter zuhören; man durfte ihm nicht
davon erzählen. Es schien, als ob ihm der Angriff der Urtiere lieber
gewesen war als diese Abwehr. Ten Keir spannte sich, als auch in Brüssel
der Drang, sich in die Erde einzugraben, wuchs. Aber er konnte es nicht
aufhalten. Erreichte nur, daß die ekstatische aus den Erdschächten
zurückquellende Masse nicht die alten Oberflächenbauten vernichtete. Er
selbst mit einer kleinen Anzahl Menschen blieb in einer unklaren
Vergrämung auf der Oberfläche; wie er sagte, um die Siedlerbewegung zu
beobachten.

In der technischen und Versuchsstadt Londons, die sich herausfordernd
Grönlandeum nannte, über den Köpfen der Riesenmassen in den Ton- und
Mergelschichten hängend, hatten sich die stärksten Herrenköpfe der
Periode zusammengezogen und alle Stoffe um sich gesammelt, mit denen
Menschen wirken können. Hier saßen in dem Bezirk Carthagon, der sich um
die Pflanzenkräfte bemühte, Atkinson, ein kalter trüber Mann, wie es
hieß Eunuch aus eigenem Willen und Weiberhaß. In Ozeana, das sich mit
dem Wasser befaßte, der Berber und Spanier Escoyez, das Wasserwesen, der
bei Beginn der Grönlandkampagne die Umleitung der Golfstromdrift geraten
hatte und die Anlegung neuer Salzzentren im Meere geplant hatte. Die
Hitze die Flammen das Feuer studierte Nadeja, eine Männin aus dem Hause
Atkinsons. In dem Bezirk Tel el-Habs, Hügel des Gefängnisses, saßen
mehrere senatorische Menschen, die man schon schwer mehr Menschen nennen
konnte. Es waren jüngere und ältere Männer und Frauen, die am Bau der
Menschentürme sich beteiligt hatten und wie Tiere, die Blut geleckt
haben, ihre Gedanken von den Dingen, die sie gesehen und erprobt hatten,
nicht ablenken konnten. Sie kehrten von den Schiffen und schottischen
Bergen mit Widerwillen in die nüchterne und dürftige Landschaft der
Menschenart, der zweibeinigen plärrenden nackthäutigen hinfälligen
Geschöpfe zurück. Atkinson war Eunuch aus Weiberhaß, auch aus
Menschenhaß geworden. Die Herren und Herrinnen von Tel el-Habs mochten
sich, nach dem Anblick der Turmmenschen, selbst nicht mehr in ihren
menschlichen Organen sehen. Was sie an den Sklaven ihrer Gefängnisse
erprobten, das taten sie auch für sich. Tribord, vom Berge Glasmaol
zurückkehrend, legte seinen alten Namen ab, nannte sich Mentusi. Er aß
nicht mehr selbst. Wie ein Wagen stillsteht und nicht vorwärts kommt
ohne das Pferd das ihn zieht, so machte er sich zum Wagen. Tiere und
Pflanzen spannte er an sich. Mentusi sagte zu der Männin Kuraggara, die
früher Frau Macfarlane gewesen war: „Meki und die Generation, die mit
ihm lebte, hat recht daran getan, die Äcker Wälder Tiere preiszugeben.
Was wir durch uns schaffen können, schaffen wir. Sie haben die großen
Fabriken gebaut, die Anlagen. Wir schleppen uns seit Jahrhunderten mit
diesen Anlagen herum. Sie erfordern Raum Bewachung. Was hängen wir nicht
für Stolz an diese Anlagen. Sie sind jetzt überflüssig. Wir müssen den
Angriffspunkt verlegen. Ich bin wieder für Äcker und Viehherden. Mag ein
Hund für mich fressen, soviel er will, wenn er nur mein Hund bleibt.
Hast du die Steine und die Eichen und Viehherden gesehen, die man den
Türmen untergeworfen hat. Die haben für die Türme fressen müssen. Ein
Hund will ich selbst sein, wenn ich noch lange in mich stopfe, was die
Fabriken brauen.“

An ihm, der auf Tel el-Habs saß, hingen Polypen. Seine Bauchwand war
durchbohrt. In die wüstliegenden Wälder hatte er seine Gehilfen
geschickt; die brachten ihm Füchse Ottern afrikanische Zebras
Schildkröten. Die uralte Schwierigkeit der Vermählung zweier Tierklassen
war überwunden; Mentusi erkannte es beim Beobachten der Turmbauten. Die
Netze mischten alle Arten zusammen. Wie er über Meki höhnte, höhnte er
über Marduk, der Bäume auftreiben konnte: „Kuraggara, das waren Yogis
und Fakire. Spaßmacher! Wir wollen sie gelten lassen. Bis zur
Grönlandfahrt waren wir nichts. Der Mann, der das Feuer und die Strahlen
aus den Vulkanen riß, ist mein Mann.“ Kuraggara hielt sich den Leib vor
Lachen: „Ich will versuchen, eine Schildkröte zu gebären.“ „Warum nicht.
Wer soll dich daran hindern.“ Sie trieben grausige unheimliche Dinge auf
Tel el-Habs, dem Hügel des Gefängnisses.

Die Giganten, die Herren der westlichen Stadtschaften, hatten die
Urtiere über sich gehen und sich nicht zerschmettern lassen. An dem
Zauberschleier von Grönland hatten sie sich nicht ergötzt, wie die
ersten Seefahrer und die Menschen der zweiten Erkundung, die in dem
Rosenlicht aus den Schiffen stiegen, sich in Boote setzten und nackt –
Wonne über Wonne – auf dem Wasser schaukelten. Die Herren und Herrinnen
der Riesenstadtschaften waren kalt und gehässig hinter der Gewalt her.
Wie Räuber sich in einem fürstlichen Park verbergen und hinter dem
Gitter die geschmückten Schönheiten auf der Wiese sich bewegen sehen,
unter leichten hellen Tüchern mit losen Haaren, die biegsamen
Spielerinnen, und wie sie sie abschätzen, ihren Augenblick abwarten und
sich auf sie stürzen, um sie zu fesseln und davonzutragen, so belauerten
die unzähmbaren Menschen von Tel el-Habs das Geheimnis der Vulkane,
ergriffen es, zwangen es unter sich.

Auf dem Hügel des Gefängnisses arbeiteten die von Tel el-Habs zusammen
mit den Menschen der Basaltstadt, die wie ein zerfallener Bergkegel
aussah. Hier bemühte man sich um die Wesen, die man Steine nannte. Roten
Rubin, violetten Apatit, Blöcke glasigen Gipses nahmen sie: Die Strahlen
Kylins, mit denen die isländischen Vulkane gesprengt waren, stellten sie
auf sie ein. Die rubintreibenden rubinformenden Kräfte richteten sie
nicht auf den Rubin, sondern auf den verwandten Korund. Sonst hielt der
still unter der Wirkung dieser Kraft, die für ihn keine Kraft war; jedes
Ding bewegte sich unter seinem eigenen besonderen Drang. Die
Basaltmenschen aber hatten die Vulkangluten selbst in den Händen. Das
schwere Geschütz dieser Gewalt richteten sie auf die Stoffe. Wie ein
Brei, ein Kuchenteig, in den man Hefe wirft, quoll die Steinmasse auf.
Die Basaltmenschen legten um die Schleierteile Röhren aus Gläsern; durch
Gase ließen sie die Urkraft laufen und sich abdämpfen. Da bewegte sich
allmählich in langen langen Stunden der Rubin, wie ein Leintuch an der
Sonne bleicht. Und immer brannte zugleich der Kylinstrahl auf ihn, noch
ohne Einfluß auf die Masse, die nur gärte. Es gab einen Punkt, den die
Basaltmenschen nach schweren Anstrengungen, unter Zuhilfenahme von
Abschwächern Dämpfern Verzögerern allmählich festhielten, den
Indifferenz- und Umschlagspunkt. Dies war der Augenblick, der im Leben
des Steinkörpers alles bedeutete. Es war der Moment, wo seine stärkste
und widerstandsfähigste Stoffverbindung gesprengt wurde, der Stein
selbst, obwohl nicht glühend im Begriff war zu zerstäuben, und von jedem
festen Nachbarkörper geschluckt und angegliedert werden konnte. Die
Kylinstrahlen brannten auf dem Stein; der Umschlag war da. Die
Nachbarkörper hatte man niederzuhalten. Wie in einer übersättigten
Lösung das eingeworfene Kristallstäubchen die ganze Masse zum Erstarren
bringt, so erstarrte der erweichte Körper, ließ sich führen zu dem
Wesen, das ihm das Kylinlicht vorzeichnete. Man hatte mühsam gearbeitet.
Einen Granitblock, den gesprenkelt der harte Quarz, dunkle Hornblende,
Glimmer, rötlicher Feldspat bildeten, hatten sie gelernt in einen
einzigen zusammenschmelzenden Block von weißem Quarz zu verwandeln.

Während noch die Menschen der Basaltstadt die Umwandlung der Urstoffe
selbst betrieben – auf Schritt und Tritt sahen sie sie sich umwandeln –,
rissen die Herren des Gefängnishügels davon an sich, was sie brauchten.
Die Tiere, die früher nicht zusammenfanden, es sei denn: eins kaute das
andere, stießen sie aneinander; auf die Mutterstoffe mußte alles
herabgezwungen werden, ins Elementare heruntergetrieben. Sie dachten
zornig und rasend, in ihre Erdfestungen versteckt, sich in Hasen Mäuse
Löwen Panther Käfer zu verwandeln. Darum fingen sie Menschen über
Menschen aus der Erdstadt und von der Oberwelt, nutzten die
Sklavenmärkte aus, verwüsteten die Menschen.

Mentusi und Kuraggara lebten in einer erwartenden Glut. Wie sie lachten.
Mentusi prahlte: „Als es Religionen gab, gab es hundert oder tausend
klare Menschen, die an den Teufel den Satan an den Himmel Gott die Engel
die Unsterblichkeit nicht glaubten. Was haben diese hundert oder tausend
klaren Menschen getan? Sie haben zeit ihres Lebens nicht geglaubt. Nicht
geglaubt: das war ihre Beschäftigung. Es gab auch welche, die haben ihr
Leben dafür hingegeben, gegen die Existenz des Satans des Himmels oder
Gottes zu kämpfen. Tröpfe, Tröpfe. Wer Wahnideen hat, mag seinen Spaß
daran haben. Ich kümmere mich um die Urtiere, die blöden Echsen nicht.
Sie kommen nicht zu uns herunter. Was meinst du, Kuraggara? Sie können
nur sterben und finden oben Platz genug. Aber – jetzt! Was meinst du?“
„Ja, ich habe auch keine Zeit für Lurche.“ „Wir wollen ihnen ein
Aquarium bauen, damit sie nicht so rasch umkommen und wollen sie schön
füttern. Es soll ihnen besser bei uns gefallen als auf Grönland. Ich geh
einmal nach Grönland und seh mir an, was da geworden ist. Vielleicht
nehme ich mir einen Drachen eine Echse mit Flügel und Schnabel, als
Pferdchen und es muß mich hinreiten. Halleluja, süßes Land. Wir reisen
nach Jerusalem.“ „Bist du nicht auch solch Kind wie die Kämpfer gegen
den Himmel oder den Satan? Mentusi, was geht mich Grönland an?
Vielleicht fahr ich auch einmal nach Grönland. Vielleicht noch lieber
nach Island, zu den Vulkanen. Aber wenn ich reise, will ich schon reisen
ohne Schiff, ohne Drachen, ohne Flugzeug.“ „Und ich!“ „Nun ja. Vogel
sein, wenn ich will. Dampf sein, wenn ich will. Ja, das will ich auch,
Mentusi. Und! Fisch sein! Und Feuer. Und nicht wie der arme
Menschenturm, den ich neulich auf Schottland besuchte. Ich flog zu
seinen Augen auf, ganz dicht und dann weiter weg, bis er mich erkannte.
Er erkannte mich. Es war mein Freund. Aber was soll mir das –, er
trauerte! Trauerte eine dunkle furchtbare Trauer. Wie er mit den Augen
zwinkerte, hatte ich das Gefühl, ich muß rasch weg, er muß mich
vergessen; ich bin ihm ein Alp im Traum. Er ist ein dumpfer schlafender
Mann, der nicht aufwachen kann. Wenn ich noch lange vor ihm gezuckt
wäre, hätte er mich wie ein Grönlandtier angefaßt und verspeist. Ist ein
dummes Kind geworden; greift tapp zu, steckt in den Mund. Aber Fuchs
sein vom Kopf bis zu den Füßen, wie ein Fuchs leben solange man will,
sich fuchsig fühlen. Ja, Mentusi.“ „Wir haben schon zu lange in unserer
Haut gesteckt. Es geht uns schließlich, Kuraggara, wie dem Hammelgetier
von Menschen hinten in London, die sich für unsere Fabriken und die
Versuche anbieten. Sie haben auch ihre Menschenhaut über. Ihnen ist
gleich, was mit ihnen geschieht. Weißt du“ –, er brüllte lachend, „wo
ich mit ihnen etwas mache. Weißt du was.“ „Ich denke mir schon.“ „Ja,
ich mache sie zu Hammeln, allesamt. Wir schicken sie auf eine Wiese,
putte putte putt. Wir machen immer hinter einem Baum putt putt. Dann
kommen sie an, wir stecken sie in einen Sack und fragen: ‚Wollt ihr,
wollt ihr gerne Hammel essen?‘ ‚Ja‘ antworten sie, ‚Hammelchen sehr
gern.‘ ‚Schön‘, sage ich, ‚soll geschehen.‘ Mache den Sack zu. Putte
putte putt. Ein Licht da, ein Dampf da ‚Ist euch gut?‘ ‚Jawohl.‘ ‚Habt
ihr Angst.‘ ‚Ein bißchen.‘ ‚Müßt gar keine Angst haben, Hühnchen. Gebe
euch gleich Hammelchen zu essen. Sie kommen schon aus dem Stall.‘ Hätte
bald gesagt: aus dem Sack. Ein Licht mehr, knack, zwei Dampfer. Immer
Geduld. ‚Wie ist euch denn, Hühnchen?‘ ‚Öh, öh.‘ ‚Ja wie redet ihr denn.
Ihr eßt wohl schon Hammel.‘ ‚Öh, öh!‘ Lach nicht, Kuraggara. Mach ich’s
nicht richtig?“ „Richtig, Mentusi! Öh! Öh!“ „Mein Hühnchen. Bald mach
ich den Stall auf. Ich will euch überraschen. Bald habt ihr die Hammel.
Aber was zappelt ihr im Sack! Was strampelt ihr. ‚Öh, öh.‘ Was ist das.
Ich habe mich vergriffen, Kuraggara. Die Hammel sind schon im Sack! Wie
ist es möglich! Wie ist es möglich.“ „Ich ersticke vor Lachen, Mentusi,
wenn du nicht aufhörst.“ „Da! Nein, Kuraggara! Hammel! Leibhaftige
beinhaftige schwanzhaftige Hammel! Fellhaftige Hammelchen. Vier Stück,
soviel ich Menschen hineintat. Und wo sind meine Menschen. Meine
Menschen sind weg. Die Hammel müssen sie aufgefressen haben. Ich habe
wohl irrtümlich Hammel mit hineingetan, die haben die Menschen
aufgefressen. Ach war ich zerstreut. Menschenfressende Hammel. Was soll
ich nun tun.“ „Nicht spotten, Mentusi. Wären wir so weit.“

Tief war die Verachtung der Giganten auf die Menschen ihrer
Stadtschaften. Die Maschinen Fabriken Anlagen ließen sie arbeiten, nur
um sich mächtig zu fühlen. Sie brauchten die Menschenmassen, um sich an
ihnen auszulassen. Es war noch der gemäßigste Gedanke, der auf Tel
el-Habs geäußert wurde, der Gedanke, den einmal Ten Keir in London
aussprach. Ohne Ausdruck war das viereckige rote Gesicht des kleinen
Belgiers; sein Entsetzen beim Betrachten der Arbeiten in den
Versuchsstädten schlang er herunter. Daß er gebrochen und geweint hatte
beim Überfliegen des Kanals, als er einen stummen Turmmenschen auf einem
Floß sah, verriet seine Begleitung nicht. Schrankenlos sprachen sich die
grauenhaft entstellten hochmütigen Wesen, Männer und Männinnen der
Versuchsstädte, zu ihm aus. Sagten, die Zeit des wirklichen Menschentums
nähere sich erst; sie ahnten sie selbst nur. Entsetzt sah er die
schlangenartigen Arme der Polypen sich an ihnen bewegen; dies wäre der
Beginn des wirklichen Menschentums. Von den Menschenwesen unter sich,
Städtern Siedlern, sprachen sie nicht, oder mit dem Gefühl der Wollust
und dem Gelächter. Ten Keir sah, was diese Giganten konnten. Sie würden
eines Tages die Menschenmassen verklumpen, wie die Drachenscharen es
getan hatten. Er sprach aus: man müsse sich hüten, daß nicht einer von
ihnen Mißbrauch mit seinen Mitteln triebe zum Schaden der andern. Es sei
gut, einen Blick auf die Menschen zu werfen; die schäumten und tobten
zum Teil, zum andern Teil wüßten sie sich keinen Rat. Man müsse da
eingreifen. Ein Versuch müsse gemacht werden, wie es die alte Wind- und
Wasserlehre wollte: die wirren verzagenden Geschöpfe wie Tiere und
Pflanzen zu vereinfachen. Vielleicht unter Verminderung ihrer Zahl. Man
müsse sehen, zu menschlichen Dauerformen zu kommen. Zu unkomplizierten
Lebewesen, die sich erhielten zeugten stürben, ihre äußere Lebensweise
jahrhundertelang jahrtausendelang gleichmäßig forttrieben. Die Last des
Einzeldaseins, die schreckliche Einzelbeseeltheit müsse ihnen abgenommen
werden.

Die Giganten von Tel el-Habs lachten darauf. Er solle sehen, was er
schaffe. Vielleicht machten sie zwischendurch auch das; es sei nicht
sehr reizvoll. Ten Keir suchte in einer schweren ihn erwürgenden Trauer
und Bangigkeit zu Delvil durchzudringen. An den kam niemand heran.
Grausige Gerüchte gingen von ihm, über Dinge, die er trieb. Tagelang
lief Ten Keir mit seiner Begleitung durch Keller Straßen dieses
erdversenkten blitzenden London. Auf Stunden ließ er sich ein Zimmer in
einem Haus freimachen. Da saß er im Finstern, weinte. Und kam nicht weg
von London. Er lief mit seinen Männern weiter herum. Sie mahnten ihn, er
würde sich erschöpfen, sahen seinen Jammer. Er konnte sich aber nicht
von der Stadtschaft loslösen. Dreimal versuchte er zu Delvil
vorzudringen. Bettelnd lag er vor Kuraggara; sie möchte ihm Zutritt bei
Delvil verschaffen, er sei sein Freund. Die wunderte sich über die
Wildheit des Mannes, konnte nichts durchsetzen. Zweimal war Ten Keir
schon in der Oberstadt, zweimal fuhr er wieder die Schächte abwärts. In
sich sagte er: „Ich muß weinen. Ich muß weinen. Viel mehr muß ich
weinen. Ich muß mich brühen wie eine Taube, der man die Federn ausziehen
will. Ich will alles sehen. Ich verdiene es.“

Aber wie er dann noch einmal die Sklavenmärkte den Zirkus die
Arbeitsstädte Versuchsorte begangen hatte, nahm er sich an der
westlichen Grenze der Stadt, wo Erde in den Tunnel einbrach, eine
Handvoll knirschender Kiesel. Stopfte sie sich in die Tasche. Während er
auffuhr, die Augen gepreßt geschlossen, drückte er die Kiesel, sie mit
der Hand umschließend, flüsterte: „Ich will mich erinnern.“

Oben blickten ihn seine Begleiter an, dachten, er würde wieder anordnen,
zurückzufahren. Aber er ließ sich ins Meer fahren. Sein Flugzeug ließ er
zurück. Auf einem kleinen Schiff fuhr er über den Kanal an die
flandrische Küste. Schwarz und grau waren die Gesteinstrümmer, die er
mit sich genommen hatte aus dem westlichen Grund Londons. Er betrachtete
sie tränend oft in der flachen Hand während der Überfahrt. Schloß die
Faust, wenn einer ihn zu beobachten schien, stopfte die Hand in die
Tasche.

                   *       *       *       *       *

Auf den Shetlands und Färöer saßen die letzten Grönland- und
Islandfahrer. Die Senate hatten gefürchtet, schon während der
Expedition, die Seefahrer würden sich gegen sie richten. Aber sie kamen
nicht, stürmten nicht gegen die Stadtschaften. Man wußte, sie waren vor
den Urtieren nach ihrem Sammelplatz, den Shetlands und Färöer, geflohen.
Unter den Katastrophen des Tierüberfalls, dem Machttaumel bei der
Versenkung der Städte vergaß man sie völlig. Wenn man später an sie
dachte, wünschte man, sie möchten kommen, zum Kampf. Sie kamen nicht.

Das war eine stumme leidende Gesellschaft, die sich auf dem felsigen
Boden dieser meerumheulten Inseln versteckte, von dem Rest des
Schiffsproviants lebte, einzeln, manchmal in Horden nach den
schottischen Bergen herüberkroch. Als ein seelenversteinerndes Grauen
waren die Urtiere über die westlichen Stadtschaften gekommen. Wie über
die Fahrer in der Zone des Rosenlichts die wüsten Gebilde fielen,
Nachbarschiffe Menschen Balken Bleche verwandelten, sank schlagartig
ihre Wonne, klagte durch alles Entsetzen schon das Gefühl: „Es ist gut.
Endlich! endlich!“ Über das Wasser schießend, in die Tageszone
eintauchend erlag die Hälfte des großen Geschwaders den Tieren. Die
überlebten, waren in dem Gefühl über das Meer getaumelt: „Nun nimmt es
ein Ende. Nun sind wir erlöst.“ Wurden auf die steinigen Inseln
hingestreckt, dachten wenig, atmeten gegen die Erde.

Die nach Schottland herüberkrochen, kehrten zurück: Schottland sei nach
Süden zu abgesperrt. Man wußte finster: „Gegen die Grönlandtiere. Und
gegen uns. Sie sperren sich gegen uns ab.“ Bitter und trostreich. Und
die Seefahrer versteckten sich tiefer in die Klüfte der Inseln. Niemand
ging zu den Schiffen. Den eisigen Winter verbrachten die Seefahrer auf
den Inseln, immer nach Schlaf verlangend, wenig zueinander findend. Das
Rauschen Schnattern der Urtiere ging noch oft über ihre Inseln. Wie von
einem Sturm angefaßt erbebten die kauernden liegenden Menschen. Die
Gesichter bedeckten sie mit ihren Armen; lagen und brüteten. Daß alles
so unwirklich war. Sie beschauten sich in den Höhlen Zelten alten
Häusern: daß der andere noch da war. Man lag selbst da, bewegte sich,
aß, trank. Dachte und fühlte. Man fühlte endlos, mochte nicht sehen.
Fühlte vergeblich, konnte sich nicht erreichen. Wie war man? Als wenn
einen ein Orkan gefaßt hätte und man wäre in die Ecke einer Höhle
geblasen. Da hing man an, ein Stäubchen an einem Spinnwebansatz, konnte
nicht hervor. Sie gingen herum, schluckten, suchten nach ihren Stimmen.
Öfter schwamm eine Beängstigung über sie, die ganze Haut befallend und
ausweitend, die Brust und Kehle bedrückend: Oh was ist uns. Sie
seufzten, ließen ihren Speichel laufen.

Einer verschwand, ein anderer verschwand. Ins Wasser, nach Schottland.
Auf Mainland verbrannte der Unterführer Good Luck die nächsten Schiffe.
Ausgemergelt wie die anderen schlenkerte er zwischen den Klippen,
steckte den rothaarigen Kopf in die Höhlen, rief hinein, suchte
Menschen. Knurrte: „Wer ist da? Ist wer da? Ha! Ich bin Good Luck.“ „Was
will Good Luck.“ „Nichts. Will euch ansehen. Wißt ihr, was ich gemacht
habe?“ „Du bist heiser.“ „Vom Rauch. Ich habe die Schiffe angesteckt.“
„Wen kümmerts.“ „Alles weg. Ihr habt recht. Ach was tue ich. Was tu’
ich.“ Und er irrte in den Höhlen herum, setzte sich ans Meer. Er lief
eines Tages wieder vor die Hütten, rief mit seiner heiseren Stimme alle,
die er traf, zusammen. Rasch sollten sie kommen. Hastete: „Schnell.
Kommt ans Wasser.“ Da setzte er sich an den Strand, nahm zwei glatte
große Steine zwischen die Knie, fing an zu reiben. Er knirschte die
Menschen an, die mit ihm gekommen waren: „Hinsetzen. Nehmt Steine. Macht
wie ich. Mahlen.“ Einige taten es. Er knirschte: „Mahlen, mahlen. Bis es
Staub ist.“ Dann ließ er die Steine fallen, hetzte: „Was machen wir
jetzt? Kiesel werfen. Übers Wasser.“ Und fing an zu schleudern. Die
anderen fluchten, zogen sich dumpf zurück. Er hängte sich an den, an
den: „Mich nicht allein lassen, mich nicht allein lassen. Was soll ich
tun.“ „Steine werfen.“ Sie liefen fort, warfen sich hin: „Ein dumpfes
Vieh.“ Ließen ihn knirschen schlucken.

Was bei Good Luck begonnen hatte, nahm bei andern seinen Fortgang. Bis
der verwilderte Kylin mit einem Boot bei Mainland erschien in der Sankt
Magnusbucht und in einer steinigen Ebene alle zusammenführte, die sich
aufbieten ließen. Von einem zum andern ging Kylin, betrachtete die
Männer und Frauen, hielt ihre Hände. „Die Vorräte sind bald zu Ende. Der
tolle Good Luck hat die besten vollsten Schiffe verbrannt. Es ist kein
Schade. Wir müssen uns nun früher entscheiden.“ Ein Gequälter höhnte, ob
er sie wieder führen wollte, vielleicht nach Grönland. „Nein. Ich
spreche den Namen des Landes, das du eben genannt hast, nicht aus. So
gewiß nicht mehr, wie Fromme früherer Zeit den Namen eines Gottes, an
die sie glaubten. Ich will euch auch nicht führen. Ja. Ich bin schuld an
diesen Dingen. Nicht am Turmalinschleier und dem letzten Unglück. Aber
an dem vorher. Das hab ich getan. Die Vulkane hab ich aufgerissen.“ Er
stand flüsternd neben einem Felsen: „Tut mit mir, was ihr wollt.“ Sie
standen herum. Kylin setzte sich auf den Boden, bedeckte sein Gesicht,
schluchzte. Keiner rührte ihn an. „Was wird nun geschehen. Ich habe mir
genau alles überlegt und alles vorher gewußt. Ihr werdet mir nichts tun.
Obwohl es mir in manchen Augenblicken lieber wäre, einer täte mir etwas
an. Aber ich bin schon darüber weg. Und darum bin ich ja hergekommen.“
Viele blickten auf. „Es kann sein, daß wir noch einen Monat, zwei Monate
auf den Inseln bleiben können. Aber ich will weg. Liebe Freunde, ich bin
auf dem Weg, von hier zu gehen und wollte es euch noch sagen. Good Luck
ist verrückt. Es werden noch manche von euch verrückt werden, wenn ihr
euch nicht entschließt und wenn nicht etwas geschieht. Ich geh weg. Ich
geh weg. Das weiß ich.“ „Und warum, Kylin. Wohin.“ „Ich spreche nicht
aus, was geschehen ist. Bleibe ich noch lange hier, so brauchen keine
Drachen zu kommen, ich werde verschlungen. Ich will nicht. Soll ich euch
sagen? Die Stadtschaften sind nicht mehr mein Feind.“ Dichter drängten
sie sich um ihn. „Die Stadtschaften haben ganz überflüssig einen Ring um
sich gegen uns gezogen. Ich werde gewiß nichts gegen sie unternehmen.“
„Wir auch nicht.“ „Freunde, wißt ihr, was ich tue? Ich, Kylin? Ich geh
meine Wege. Was soll ich hier, vor den Stadtschaften, an der Türe? Ich
geh in die Welt. Die Erde ist groß.“

Da wimmerten höhnten lachten noch manche. Aber Kylin blieb auf der Ebene
an der Sankt Magnus-Bucht. Die Verstörung verließ sie. Hunger trieb sie.
Noch rauschten Schwärme der Ungeheuer durch die Luft. Nicht in die Höhe
schauten die alten Grönland- und Islandfahrer. Auf den letzten Frachtern
drängten sie sich zusammen. Mit Seufzern und stumpf schoben sie sich auf
die Decks. Ihren Weg nahmen sie in kleinen Trupps durch die ruhige
Irische See.

Die Orkney- und Shetlandsinseln, so lange belagert von Menschenscharen,
von den westlichen Geschwadern umringt, wurden entblößt, den Wogen und
Stürmen wiedergegeben. Stumm wie sie Island verlassen hatten, gaben die
Seefahrer die Shetlands und Orkneys frei. Hier waren die Ölwolken
entstanden, Holyhead und Bou Jeloud, von hier waren die unzähligen
Schiffe ausgegangen, beladen mit den Maschinen und der Gedankenmacht der
westlichen Stadtschaften. Der Tod von Tausenden von Menschen war
gefolgt, Island war zerrissen worden. Der eisige Kontinent mit den
Gletschern tauchte auf, überwallt von Schrecknissen. Ihnen allen, die
fuhren, war dies geschehen. Sie fuhren weg, aber sie wollten sich
erinnern. Jetzt das Letzte von sich werfen, auch diese alten
Ankerplätze, auch die Schiffe verlassen. Dann auf den Kontinent. Mit
glühenden Augen hatte der so gealterte Kylin zu ihnen gesprochen: wieder
leben. Was würde kommen auf dem Kontinent. Aber sie wollten hinein. Die
Städte würden kommen.

                   *       *       *       *       *

Das Meer verwandelte sich während ihrer Fahrt. Der Nordkanal, die
Irische See. Wellen warfen sich, spielten züngelten. Ein fernes Gestirn
schien aus der Luft. Das Wasser spiegelte die Schiffskörper. Lautlos
spiegelte es die Schiffswände. Stumm zogen Algenfäden hin. Lauer Wind
legte sich an die Schiffe, drängte sie, ließ ab. Langsam fuhren sie. Um
die Scillyinseln bogen sie östlich um. Eine dunkle Linie erschien über
dem weiß glitzernden Meeresbogen. Da im Südosten, wo das Meer in das
dämmrige schimmernde Himmelsweiß überging, zeichnete sich eine
zerbröckelte Linie. Schwärzer klobiger wurden die unterbrochenen
Striche. Auf den Schiffen schlossen sie die Augen, legten sich an Balken
Geländer. Dies war der Kontinent. Rascher ließen die Führer die Schiffe
laufen. Das Meer rauschte sanft gleichmäßig unter ihnen. Schon sahen sie
die Kreidefelsen, die weißen Zacken, die Brandung davor. Da gaben sich
die Schiffe Zeichen. Verlangsamten die Fahrt, hielten auf offenem Meer.
Im Angesicht der Küste des Festlands hielten alle Schiffe. Eine stumme
Stunde verging. Plätschern Ansingen Verklagen des Windes.

Mit rauhen Kreidefelsen begann der Kontinent. Dann bog er sich glatt
hin. Einmal war ein Gebirge von Cornwall und Irland zum Festland
herübergestrichen. Die Berge hatten sich gesenkt, das Meer über sie
ergossen; das Meer umströmte jetzt die Inseln. Nach Süden und Osten
streckten sich französische Landschaften, von dem atlantischen Wasser
breit umfaßt, nach dem südlichen farbigen Meer quellend.
Jahrhunderttausende hatten Mulden Becken Platten Anschwellungen diese
Länder gebildet. Alte Meere im Norden waren abgeflossen, Vulkane
erloschen, ihre Auswürflinge lagen auf den Hochflächen. In großen
Strömen öffnete das Land seine Brust. Königlich schwollen sie zum Meer.
Mit Gebirgen weiten Ackerflächen Flußebenen Weinbergen lag das Land,
ruhte nicht bis es das Meer grüßte. Es hatte Matten Wiesen Wildbäche
Gebirgsseen entwickelt. Grüne Laubwälder ließ es aus seinem Boden
steigen, in ihren Wurzeln hob es sich zu schwarzen und silbrigen Stämmen
auf, entfaltete unter dem luftdurchflossenen Himmel Blättermassen. Die
zogen das Licht an, vermählten sich mit ihm. Mit grünen roten gelben
Farben sahen Pflänzchen um sich. Gräser standen in dichten Scharen
beieinander, spielten ließen den Wind gegen ihre Kanten pfeifen. Über
Waldböden liefen Ameisen, verschalte braune und schillernde Käfer,
betasteten Halme, drehten sie, suchten schleppten. Mücken schwammen mit
feinen Tönen in der Luft, die sie trug. Große träge Tiere beschnupperten
die Erde der Äcker und Wiesen. Schwerwampige Rinder kauten Gras; mit
muskulösen Lippen schnappten rafften sie es, warfen es sich auf die
nasse rauhe Zunge. An Pflügen von Siedlern kopfsenkende Pferde mit
großen schwarzen Augen; sie peitschten sich die Schenkel mit langen
Schweifen.

Die Erde beliefen, ihre Rinde schrammten betasteten Menschen. Ihre
Leiber trugen kein Fell wie die Rinder und Schafe; sie waren ohne
Schuppen, nahmen das Licht der fernen Sonne mit nackter glatter Haut
auf. Für die Gase der Luft hatten sie die zarten durchsichtigen
Öffnungen der Münder und Nasen. Das Gewölbe ihrer Brust, von knöchernen
Rippenbögen umspannt, machten sie zum Raum der Luft. Wie am Spinnrad hob
und senkte sich die Brust, sog Luft ein, entließ sie. Unermüdlich sogen
die Menschen sich an der Luft fest, durchtränkten sich mit unsichtbaren
Kräften. In ihre Därme ließen sie die Säfte vieler Pflanzen und Tiere
fließen, nahmen an sich und ließen sich durchlodern von den Gewalten,
die sich auf dem Erdboden niedergelassen hatten. Aus dem Wasser waren
die Tiere aufgestiegen; die Menschen ließen nicht von ihm und es ließ
nicht von ihnen, strömte durch ihre Gewebe und Häute.

Zitternd und leicht flogen die Menschen über die Wiesen Ebenen
Hochflächen, stoben unermüdlich zu den Dingen, die ihnen Leben gaben und
ihr Leben verlängerten. Sie hatten Knie, die sie hintrugen, die sich
biegen konnten mit dem Rumpf, dem Nacken, zu Quellen herunter, zum Jagen
des Wilds, das ihnen Fleisch geben sollte. Harte Knochen hatten sie aus
dem Kalk des Bodens entwickelt, mit denen sie stemmen und ziehen
konnten, Gelenke, um sich zusammenzukrümmen, das süße Leben zu
verstecken und beschützen. Sie schnalzten sogen an vielen Dingen; die
schmeckten ihnen gut, es gab Bitteres Saures Brennendes. Wie die Zähne
ihnen wohltaten, die gerne beißen krachen konnten. Das Zerrissene
rutschte den Schlund und Magen herunter, tat ihnen wohl. Und immer neue
Dinge lockten die Augen; es bewegte sich alles um sie, war Vogel
Baumwipfel Wind Sand. Die Sonne brachte Farben zum Glühen, warf bunte
Schatten; man hatte Augen; die Freude des Tages, die Wohltat der
Vermählung mit dem Licht. Die Haut war fühlsam; Glieder die sich bewegen
ließen, trugen den ganzen Körper; wohin. Wo Kühle war, Wärme, eine
Rinde, die sich abblasen ließ, und Menschliches, eine Haut, eine
Schulterplatte, eine Schenkelglätte. Mann und Weib zueinander. Dazu
hatte man Füße und Knie, konnte gehen, sich nähern. Blicke zueinander,
Hände zueinander, Münder zueinander. Und nicht nur Münder. Man hatte
einen Leib; das einzige Wühlen. Was man tastete umfing: daß man nicht
Wasser war, um mit ihm zusammenzuschmelzen. Daß man sich hielt, diese
Beruhigung Besänftigung: dies Stieren und Vergehen im Feuerschein. Daß
das Eine Brüste hatte, schweres Haar, weiche Haut, das Andere Härte und
Rauhigkeit. Die haarumbuschten schwellenden Glieder der Vermischung: der
Überschwang der Süßigkeit, den sie gaben. Fittiche, die in das andere
Land trugen. Und das hing über dem Boden, Mensch und Mensch, der Same
strömte, verdunkelt lagen sie, in Finsternis, das mütterliche Licht,
eingeschlossen.

Auf den Ackerflächen, den Gebirgen, in den Flußebenen, in den Wäldern
die Menschen. In das Land zwischen dem kalten atlantischen Wasser und
dem südlichen Meer quollen die Grönlandfahrer. Die großen Stadtschaften
umgingen sie. Sie sahen Brüssel, das nicht mehr Brüssel war, sondern
eine Häuserwüste, in der Ten Keir thronte, die er bewachte. Er war ein
Spürhund. Die Grönlandfahrer zerstreuten sich, um ihm zu entgehen. Sie
waren nach Norden gestoßen, in einem Verlangen, das Mardukreich zu
berühren, von dem niemand mehr etwas wußte. Da kamen beim alten Amiens
Männer des alten Ten Keir zu ihnen, die wie ein kleines Volk auf dem
Wege nach dem zertrümmerten Valenciennes waren. Die Männer mischten sich
unter die Grönlandfahrer, suchten sie zu erforschen. Die blieben
verschlossen. Wie sie bei den Ruinen waren, zeigte sich Ten Keir selbst.
Er nannte sich bei Namen, prüfte aufmerksam die auffällige Kleidung der
Männer und Frauen. Ob sie zu Schiff gefahren wären nach Belgien, da sie
Lederkleidung trugen. Er war, einen ganzen Tag zwischen ihnen
herumgehend, beunruhigt. Und plötzlich stieß er auf Kylin, den Mann, den
alle Senatoren dieser Landschaften kannten. Kylin saß auf einem Wagen,
verteilte Brot, das ihnen Siedler gegeben hatten, betrachtete einen
Augenblick uninteressiert den Mann, der sich vor ihm aufpflanzte. Jetzt
war dem tief erschrockenen Ten Keir der Zug klar. Dies waren
Grönlandfahrer, die die Sperre durchbrochen hatten. Aber man hatte die
Sperre verfallen lassen. Er rief Kylin bei Namen. Der ließ, den Blick in
Keirs Augen versenkend, ein Brot fallen. Ten Keir bückte sich: „Du bist
Kylin.“ „Ten Keir.“ „Ja.“ Kylin mit dem langen grauschwarzen Bart nahm
das Brot zurück: „Habe keine Furcht vor uns. Oder hast du Furcht.“
„Keine Furcht. Ich staune, Kylin. Du bist Kylin.“ „Wunderst du dich über
meinen Bart? Deine Stadtschaft ist auch nicht jünger geworden.“ „Brüssel
ist nicht meine Stadtschaft. Du siehst sie nicht. Brüssel ist unter der
Erde.“ „Ich weiß. Ich habe gehört.“ „Warum blickst du immer um dich,
Kylin. Hast du selbst Furcht vor mir?“ „Es ist schön im Land. Wir wollen
weiter ziehen. Ich will dir viel Glück wünschen.“ „Wo geht es hin,
Kylin.“ „Ich weiß nicht.“ „Sag mir doch.“ „Nach Norden. Nach Osten. Leb
wohl. Ten Keir.“

Der unruhige Kylin war gleich aufgebrochen. Ten Keir beobachtete ihren
Zug; seine Abgesandten waren an dem Weg, an dem. Der Belgier
verheimlichte vor dem Senate seiner Stadtschaft seine Begegnung;
besänftigte sich nicht: was ist mit den Grönlandfahrern, was haben sie
vor. Fühlte sich erregt; konnte sie nicht loslassen. Waren das Siedler?
Er war hilflos. Nach einigen Wochen konnten ihm seine Beobachter nichts
mehr von dem Zug melden: er hatte sich aufgelöst. Wohl aus Hunger,
tröstete sich, zweifelte Ten Keir. Die Giganten jenseits des Kanals
strotzten und regten sich; er floß blaß zusammen. Saß über der
Stadtschaft Brüssel. Die Kiesel vom Grund des schrecklichen London der
Kuraggara und Mentusi knirschten in seiner Tasche. Er war getrieben,
wußte nicht wohin.

Nach Süden in die Landschaft, die immer reicher aufblühte, bogen die
Fahrer um. In kleinen Trupps wanderten sie, hielten Berührung
miteinander. Als die schwarzen Argonnerberge vor ihnen auftauchten und
sie anfingen in der Menschenöde zu hungern, wartete Kylin eine Woche,
bis alle Trupps zusammen waren. Im Flußtal der Aire sammelten sich an
dreitausend Menschen, auf Wagen Karren Mauleseln Pferden
Ochsengespannen. Die Tannen in den Wäldern hatten hellgrüne Triebe; in
einem Wäldchen junger Nadelhölzer sprach Kylin mit einer kleinen Zahl
ehemaliger Unterführer: „Wir müssen uns trennen. Jetzt müssen wir uns
wirklich trennen. Wir haben keine Nahrung, wenn wir beieinander bleiben.
Man kann uns zusammen erschlagen. Ten Keir von Brüssel ist hinter uns.“
Er ging unter den zwanzig Männern und Frauen herum. Der junge Idatto,
ein sehr magerer Mensch, der die eigentümliche Fettsucht der Städter
überwunden hatte, hielt ihn am Arm: „Und was soll aus uns werden?“ „Du
wirst nicht wieder krank werden, Idatto.“ „Ich weiß. So nicht. So werde
ich nicht wieder krank werden.“ „Wir müssen uns trennen.“ „Aber ich will
bei dir bleiben. Ich werde wieder krank werden, kränker als vorher.“
„Glaubst du, Idatto?“ „Wir wollen uns nicht trennen, Kylin.“ „Wir
bleiben in kleinen Gruppen zusammen, das will ich ja auch. Aber so wie
bis heut können wir nicht reisen. Du weißt selbst, wie viele hungern.“
„Ich will hungern und alle wollen lieber hungern als daß wir uns
verlieren. Frage Bersihand und Magin und wen du willst. Sie wollen alle
lieber hungern als voneinander gehen.“ Kylin ließ ihn los, stand stumm,
auf den Boden blickend, bewegte die Lippen. Dann: „So sollt ihr reden.“
Und nacheinander sprachen die Männer und Frauen dasselbe wie der kranke
Idatto. Sie umringten Kylin, der sich immer wieder zurückzog. Sie wußten
nicht, und fuhren zurück, als Kylin die hellen Augen öffnete, warum er
drohte und zu schreien anfing: „Aber so tut was ihr wollt. Verhungert,
laßt euch erschlagen, bleibt zusammen. Ich hindere euch nicht. Ich hab
keine Macht euch zu hindern. Ihr habt auch keine Macht mich zu hindern.
Ich geh von euch.“ Idatto bettelte: „Warum?“ „Ja, du fragst. Du fragst.
Und daß du schon fragst, ist schlimm. Du bist jetzt gesund, Idatto: wozu
bist du gesund? Ich staune, was ihr alle aus eurer Gesundheit macht.
Nein, ich bin entsetzt, was ihr daraus macht. Ich muß es aussprechen:
ich schäme mich eurer.“

Kylin ließ sich wie müde auf den Boden, streckte sich, legte den Kopf
stumm zur Seite, schob die Hände in die weiche Erde. Es war als wenn
einige diese Bewegung verstanden. Die kraushaarige breite Damatile nahm
den unsicheren Idatto beim Arm, sah ihm ins Gesicht: „Willst du jetzt
still sein, kleiner Idatto.“ Und während sie schwiegen, stand Kylin
langsam auf. Damatile faßte ihn bei der Hand. Sie wollte sprechen. Aber
Kylin hob beide Hände, sah sie an und sah die andern an. Und jetzt
wußten alle, daß er an Grönland dachte, an die Vulkane Gletscher
Urtiere. Durch sie alle schwang und dachte es. Kylin kaute an seinen
dünnen Lippen: „Wir müssen uns trennen, Damatile, Freunde. Damit wir
nicht zugrunde gehen.“ Jetzt verstanden sie es. Der junge magere Idatto
weinte an der Erde. Kylin hörte ihm eine Weile still zu. Man hörte nur
das Weinen des jungen Menschen. „Was wollen wir weiter miteinander
sprechen, Freunde, und uns erregen. Sagt es den anderen draußen. Sagt es
ihnen deutlich. Aber sie werden schon verstehen, wofür wir leben
müssen.“

Noch tagelang blieben sie im Tal der Aire zusammen. Als bei Kylins
Gruppe vor dem Tannenwäldchen abends ein großes Lagerfeuer brannte und
die Unterführer sich bei Kylin versammelten, wußten alle Trupps, daß es
jetzt zu Ende war. Aber in keinem war mehr Leiden Graus Schmerz wie am
ersten Tage, als man von der Auflösung der Wanderschar hörte. Erst saßen
die Führer bei dem riesigen blasenden Feuer, starrten zurückgelehnt auf
dem Moosboden in den lebendigen roten Schein. Dann erhob sich Kylin,
verneigte sich vor dem Feuer, warf, immer vor sich starrend, seine
Jacke, seinen Gurt hinein. Den Kopf auf den Boden, kniend, verharrte er
eine Weile. Stand auf, schweigend von den anderen beobachtet, berührte
mit den Händen die Tannen in seiner Nähe, verneigte sich vor ihnen. Wie
er sich an seinen Platz am Lagerfeuer setzte, öffnete er die Lippen,
ohne von dem Feuer wegzusehen: „Ich hab euch das zu sagen“, – er redete
tonlos, die Hände schlaff auf den Knien, – „nein, nichts habe ich euch
zu sagen. Ihr seht es alle selbst. Dies ist, dies ist das Feuer.“ Und er
drückte den Kopf fest auf die Brust: „Ich bereue“, er lispelte, „ich
bereue.“ Unsicheres Zusammenrücken in dem Kreis. Kylin flüsterte:
„Verdeckt es euch nicht. Ich – bin – stark. Ich lasse mich nicht
zerbrechen. Ich sehe hin. Hinein. Ich sehe ihm ins Gesicht. Da. Ich
stehe auf. Ich stelle mich ihm gegenüber. Ich sehe ihm in die Augen.
Hindurch. Tiefer, in den Kopf. Tiefer, in den Hals. Ich sehe. Ich wag
es. Ich halte aus. Ich bin auf den Knien. Aber ich falle nicht um. Meine
Augen lassen nicht los. Und wenn man Beile nimmt, man schlägt mich davon
nicht ab.“ Ein Breitschultriger Dunkelhäutiger stand auf, schlurrte
schwer zu Kylin, kniete hinter ihm hin, starrte über seine Schulter mit
verbissenem Gesicht. Der fiel knirschend um, grub die Stirn in den
Boden. Sanftes Wimmern einer Frau; dann kreischte sie, die Sehnige mit
dem warmen traurigen Gesicht, den Flaum über den Lippen. Die Arme hielt
sie ausgestreckt: „Weg. Grönland Vulkan. Bestien. Weg. Weg das.“
Aufgesprungen, davongerast. Männer rückten von der Flamme zurück,
ingrimmig, dem Rasen nah. Sie sahen, das Feuer, Island, sie hatten es ja
schon erkannt. Und wie sie sich zwangen: sie würgten erbrachen bogen
ihren Hals, trieben die Augen vor, erbrachen, ließen sich zurückfallen.

Kylin saß unbewegt; die Augen hatte er in einem wüsten Grimm in das
Feuer gebohrt, an das Feuer gegeben: „Aushalten. Rühr mich keiner an.
Entweder ich brenne aus oder ich bleibe.“ Damatile, das starke
plattnasige Weib, jenseits der Flamme, schrie zu Kylin herüber: „Unser
Verderber. Du! Wir haben alles überstanden, die Turmalinschleier die
Drachen. Das schlimmste kommt zuletzt: Kylin. Das schlimmste heißt
Kylin. Er hat die Vulkane aufgerissen und jetzt sind wir dran. Nicht zur
Besinnung sollen wir kommen. Nicht genesen. Kylin, Bestie, Drachen.“ Der
stöhnte: „Immer weiter. Für mich. Das ist Grönland. Das – ist –
Grönland.“

Unter dem Erbrechen Murren Stöhnen der Männer und Frauen schleppte sich
Idatto, der junge, gegen das Feuer. Sein Blick lechzte: „Weggezogen.
Wiedergekommen. Ich komme schon. Du rückst vor mir nicht aus. Da ich,
Idatto. Ich bin Idatto. Du bist das Feuer. Du bist Grönland. Ich
knirsche nicht. Da, ich bin dicht bei dir. Komm nur, brenn nur, rase
nur, sei mein Feuer, laß dich schlucken. Ah süße Hitze. Schlucken in
meinen Rachen. Süße heiße strudelnde Luft. Hauch in meinen Hals. Ich
halte aus.“ Kylin: „Mußt aushalten, Idatto. Es ist Grönland. Es ist das
Feuer. Du darfst dich nicht entziehen.“

Der Schwarze Niedergefällte ächzte: „Kylin, du. Ich halte aus. Wie
quälst du uns. Wir waren ja schon gesund.“ „Ich mach keinen gesund,
keinen krank. Idatto, stütze mich, ich stütze dich, sei du mein Freund.
Sprich mit mir: ‚Dies ist das Feuer, dies ist das Feuer.‘“ „Was soll ich
sagen.“ „Dies ist das Feuer. Damit es nicht ausweicht, Idatto.“ „Ja, ich
will es.“ Und sie umklammerten sich beide. Das rote Feuer glutwallte vor
ihnen. Die Männer und Frauen hielten sich die Ohren zu. Die beiden
hauchten: „Das ist das Feuer. Das ist Grönland. Das Feuer. Grönland.
Grönland.“

Und die andern rafften sich auf, bewegten den Kopf abwärts, stotterten:
„Ja, ja.“ Denn Kylin und Idatto gaben nicht nach. Von dem Würgen und
Erbrechen waren die Menschen schwach. „Hier mein Tuch. Meinen Gurt“
murmelte einer matt, warf den Gurt von sich in das Feuer. Das fraß ihn,
erhob sich knatternd in Flammen, spie Rauch. „Es muß geschehen. Es gibt
keine Rettung.“ Und da stürzten schon welche vor die beiden
umschlungenen Kylin und Idatto, die sich bestärkten: „Es ist gut. Ihr
seid gut. Wir danken euch. Nehmt mich mit auf den Weg. Kylin, daß du uns
nicht hast einschlafen lassen.“ „Das Feuer. Grönland. Das Feuer.
Grönland.“ „Ich bin schwach. Ich bin nichts. Ich bete dich an.“
„Gewaltiges. Gewalt. Ach ich reiche nicht aus. Geschehe was will.“ Und
da zogen welche ihre Jacken aus, mit fliegenden Fingern, betasteten sie,
der Atem flog ihnen, sie ließen die Jacken in das Feuer fallen, hielten
sich die Ohren zu, wie es knisterte und sprühte, schluchzten hilflos,
bitter heraus: „Wo ist eine Rettung.“ Und immer riefen Kylin und Idatto,
am Lichtschein hängend, unerbittlich: „Feuer. Grönland.“ Schmeichelnd,
unter einem Zwang, nahmen manche sich die Tücher ab, Bänder, was sie
lose an sich trugen, drückten sie sich schmeichelnd an das zärtlich
entspannte Gesicht, warfen es in sanftem Bogen ab in die stolze
aufprasselnde Flamme. Sie standen in der Umschlingung der Finsternis,
vom Feuerschein überspielt, das Gesicht zogen sie nach rückwärts, dann
tauchten sie es wieder ein in das weiß-rote Licht.

Idatto hatte sich mit einem schmelzenden Lächeln von Kylin abgelöst.
Sachte bog er seine Knie, machte Schritte um das Feuer. Schlich um den
Brand. In weitem Bogen schlich er um den Brand. Die Arme hielt er
gehoben, sein Mund zum Frohlocken geöffnet, aber er sprach kein Wort.
Der junge Schmächtige blickte nicht in das Feuer, nur gerade vor sich in
die lichtdurchzuckte Luft, auf den nadelbestreuten Waldboden. Verneigte
sich alle paar Schritt. Umkreiste das Feuer. Und die, neben denen er
lief, standen auf. Seine Stimme kam: „Auf! Steht auf. Das Feuer
gepriesen. Grönland gepriesen. Die Vulkane gepriesen.“ Und die
gekrümmten Rücken, geduckten Schultern folgten. Seufzten noch,
schauderten schluchzten in ihrer Angst, aber er kreiste weiter. Kylin
kauerte am Boden. Wie sie stöhnend und flüsternd vorbeizogen, verlor er
die Besinnung, lag rückwärts gestreckt im Dunkel.

Idatto löste sich vom Feuer, lief rufend in den Wald. Vom Flußtal der
Aire stiegen einzeln, in Scharen Menschen her. Erschreckt beängstigt
mischten sie sich unter die Herumziehenden. Drängten fragten. Sie
wußten, man mußte sich trennen. Von Grönland ging das Gerede. Das Feuer
wehte streng; man schob sich an den Brand, warf beschwörend bittend
Tücher und Gürtel hinein, kaufte sich los. Wie viele knieten; die Angst
bezwungen.

Man hob Kylin auf. Er stierte in das Gewimmel, horchte auf das Raunen
Rufen Aufschreien. Idatto führte ihn. Kylin lächelte fremd: „Habt ihr
Furcht vor mir? Ich bin der, der auf Island den Herdubreid und Krabla
gesprengt hat. Ihr habt keine Furcht vor mir. Ihr seht ja, was wir
hingebaut haben: das Feuer. Das große große Feuer. Keine Furcht. Weicht
ihm nicht aus. Auch den Vulkanen und Grönland nicht. Sie sind sonst ein
Gefängnisvogt, der auf euch wartet, euch in Ketten werfen will. Keine
Furcht. Ihr müßt das Feuer ansehen, bis ihr es aushaltet. Seht das große
Feuer. Seht es an.“ „Näher, näher. Es zerreißt nicht. Ach wie es blüht.
Grüßt es. Grüßt es. Grüßt Island. Unsere Heimat. Verneigt euch. Grüßt.“
Viele stürzten hin. Die Rufe brausten durch den Wald.

Kylin trat langsam an den Brand, während die Flammen unter neuem Holz
brodelten. Die Führer um ihn wurden still, schwärmerisch verzückt
ehrfürchtig an dem Feuer hängend. Kylin ließ sein hartes Gesicht
bescheinen: „Da brennt es. Wärmt. Brennendes Flammenfeuer. Es hat die
Vulkane auf Island zerrissen. Die Gletscher gesprengt. Das ist wie
Wasser, das die Schiffe zerschlägt und die Schiffe trägt. Wohl uns, daß
wir nicht auf den Shetlands verdorrt sind. Die Angst hat uns verlassen.
Ich verneige mich schon. Du brennst, wenn wir nahe kommen. Laß dich
besänftigen. Sei uns gnädig. Sei uns allen gnädig.“ Idatto hielt Kylin
umfaßt. „Nun frage ich dich, Idatto, ob du verhungern und sterben oder
leben willst. Haben wir ein Recht zu sterben. Ein lebendiges Wesen die
Welt: das ist ungeheuer zu denken. Ist es möglich zu sterben, nachdem
wir dies wissen. Hör wie sie rufen. Sie verstehen alles wie wir. Dies
verstehen alle Menschen. Es ist keine Zaubersprache, die wir verstecken
können. Idatto, du junger. Wir werden uns bald trennen. Jeder wird
einzeln gehen. Ich muß leben, du auch, die andern. Das Feuer preisen.
Und was wir gesehen haben. Jetzt kommt das Leben.“

Damatile, die starke schwarzhaarige Frau vor ihnen, streckte wagerecht
selig die Arme hin, lächelte durch die Spalten der geschlossenen Augen.
Wie von einem Vogel lockte gluckerte ihre Stimme: „Wie kamen wir auf den
Einfall, zusammen zu bleiben, um uns totschlagen zu lassen. Wie ein Bad
ist dies, eine Wonne, in der ich liege. Eben ist uns das Bad gerichtet,
das Wasser eingelassen. Eben sind wir aufgenommen.“ Die gelbliche
langsame Schachara rief hinten: „Damatile.“ „Hier steht Damatile, macht
die Augen nicht auf.“ „Ach, da bist du. Ich bin’s.“ „Wer denn?“
„Schachara.“ „Schachara sagst du.“ „Damatile, ich kann alles
aussprechen. Das ist das Feuer, das wir in Island geholt haben. Ich bin
über den Herdubreid geflogen. Er war schon aufgebrochen. Diese Flamme.
Es war diese Flamme. Ich erkenne sie wieder.“ „Ja, Schachara. Und
schließ die Augen, sage was du dann fühlst.“ „Was?“ „Die Augen
geschlossen, Schachara?“ „Ja.“ „Leg deine Hände hinter den Kopf wie ich,
halte den Kopf zurück. Hör nicht, was sie rufen. Fühl nur. Fühl in deine
Finger, fühl in dein Gesicht, in deinen Mund, fühl in deinen Leib, deine
Beine herunter, in deine Füße. Fühlst du. Ach, ich kann nicht sprechen.
Nicht über meine Lippen. Ach Schachara, ich, ich kann es nicht
aussprechen. Es ist wieder da. Hab keine Furcht, fühl es nur. Bleib
stehen. Das Süße Sanfte Sanfte Wilde und Starke. In meinem Hals, in den
Knien, über dem Rücken, in meinen Augen. Ach. Brennt fließt. So. So. Ich
brenne selbst. Nicht zu sprechen. Nicht zu sprechen.“

Die andere lispelnd versenkt: „Nicht zu sprechen, Damatile.“

Idatto hatte einen alten Buchenstamm erklettert. Die Splitter des
Strunks umfassend hing er oben, träumte über das Wogen der Menschen
hinweg, in den immer gewaltiger angefachten Brand: „Die welken Blätter.
Die Luft. Ich laß mich fallen. Ich laß mich fallen. Oh hilf mir einer,
daß ich nicht verschwinde.“

An diesem Abend und in dieser Nacht rangen sich die Führer von der
letzten Verstörung los. Kylin zog in der Nacht die Unterführer zu sich;
er wolle, bevor sie sich trennten, ihnen etwas mitgeben. Es war ein
Zeichen, das sie festhalten sollten. Er trug einen kleinen Dolch. Das
Griffende aus Bronze zeigte hochgetrieben die Linien eines geöffneten
Berges, aus dem eine züngelnde Flamme schoß. Den Griff des Dolches
erhitzte Kylin, drückte als erster das Zeichen sich dann Idatto in den
Unterarm. Das Zeichen nahm in dieser Nacht das ganze Heer der Führer.
Sie bogen sich, wie der Schmerz in sie schoß, schlossen die Augen, waren
stiller als vorher. Bei Morgengrauen lösten sich ohne Abschied die
ersten kleinen Gruppen von der Schar. Als das Feuer mittags
zusammensinterte, war das Wäldchen und Flußtal der Aire leer.




                             Neuntes Buch.

                                Venaska


Im Südosten des Landes stand ein uraltes Rumpfgebirge. Flach gewölbt war
es, vom Wasser und Regen bis auf den Sockel zerstört. Senkte seine
Oberfläche nach Westen unter die weiten eingeebneten Beckenlandschaften.
Vulkane hatten die alten granitischen Massen durchbrochen. Dies war die
Hebung der Cevennen, das Hochland der Auvergne, Fores, Lyonnes.
Bergströme durchbrausten die welligen Plateaus, enge Felstäler, Basalt-
und Trachytkegel, Lager von Schlacken Aschen. Ein Krater senkte sich
hundert Meter ein. Von den Gletschern des Gotthard kam die Rhone
herunter. Gießbäche verstärkten sie. Sie jagte durch Engpässe, tauchte
ihr schlammiges Wasser in den sichelförmigen Genfer See. Tiefblau trat
sie aus dem Becken. Und wie sie den Jura durchbrochen hatte, kam ihr von
Norden die sanfte Saone entgegen. Wasser mischten sie mit Wasser,
rollten nach Süden. Breiter und breiter strömte der Fluß durch die
lavendel- und myrtenduftende Ebene. Die Nachbarländer schickten ihm neue
Wasser zu. Noch einmal traten die Felsen der Alpen, die ihn erzeugt
hatten, an seine Ufer. Dann öffnete sich das Stromtal. Versumpfende
Ufer. Rollkiesel über dem flachen Bett. Kieselfelder bis zum
Meeresgestade, ödes Deltaland. Die trägen Wasser schwollen verendeten im
Meer.

Garonne, der wasserwälzende Strom im Westen durch das Schwemmland,
zwischen sanften Hügeln und Weinbergen. Weiß blau rosa schimmernd im
Süden die Ketten der Pyrenäen. An der atlantischen Küste warf der Wind
einen Wall auf, die Landes; nahm Sand von der spanischen Küste, die das
Meer zernagte, häufte sie zu Dünen im Norden.

Wenige Stadtschaften trug das weite Gebiet der beiden südlichen
Flußbecken. An den Meeresufern strahlte drohten Marseille und Bordeaux.
Toulouse an der Garonne zog seinen schmetternden Kreis. Die Städte
stiegen wie die nördlichen mit der Masse ihrer Bewohner in die Tiefe.
Auf den Flächen des fruchtbaren Landes nördlich der Pyrenäen, den
Schuttablagerungen der Eiszeitgletscher, schlichen Siedler. Die palmen-
und orangenbestandene Ebene der Provence bewohnten sie, hielten sich an
den Ufern der starken Flüsse.

Noch bevor der Kampf um Grönland beendet war, verließen kleine Scharen
der britischen Siedler die Inseln, auf denen man sie ausrotten konnte.
Im Norden und um sie herum stiegen die Städte in die Tiefe, da berührten
Gruppen der wandernden Schlangen das untere platanenbewachsene Flußtal
der Garonne und das fette Weideland. White Baker stieß mit ihren Scharen
in das Land, das einmal Melise, die grausame Königin von Bordeaux,
beherrscht hatte. In das Becken zwischen den Pyrenäen, dem östlichen
Gebirgsmassiv und dem Ozean flossen sie ein. Bewegten sich in den warmen
Auen der Charente, unter grünenden Edelkastanien, dunklen Ulmen, den
Laubkronen der Nußbäume, auf Wiesen und Rebenrücken. In den Forsten,
besonnten Gauen, endlosen verwilderten Getreideflächen verloren sie sich
unter die alten halbspanischen und afrikanischen Siedler.

Von den Stadtschaften losgelassen blühten sie im Tal der Charente, um
das breite Bett der Garonne. Die Schlangen hatten von der britischen
Insel ihre dunklen Lehren von der Wanderung in der Liebesumarmung und
Entrückung mitgebracht. Um Perigueux und Bergerac bis zur Mündung der
Gironde, wo die schwelgenden Römer Wälle gebaut hatten, bewegten sie
sich, zwischen Sanftmut und Überschwang schwankend, Männer und Frauen.
Die Finsternisse Nebel kalten Winde Fröste der britischen Insel waren
nicht hier. Die Gewalten der Stadtschaften waren verschwunden. Hier war
nur der Mistral furchtbar, die schmetternden Gewitter des Frühlings und
Sommers, und die Springflut, die vom Ozean in die Mündung der großen
Gironde lief und über die Äcker hinschlug. Schlafende Wildnis,
Gartenfluren, goldener Ginster, zertrümmerte Straßenzüge. Ab und zu ein
Blitz, vor dem sie sich duckten; die Flugzeuge und Wagen der in die
Tiefe gesunkenen Stadtschaften, von der Erde rafften sie Sand- und
Steinmassen, von den weichen Felsen klöppelten sie Stücke ab, fuhren sie
in den Boden für die Mekifabriken. Die am Meer sahen auch die großen
Luftfrachter, die regelmäßig täglich die Salze Säuren Steinlasten von
Norden hertrugen. Von keinem gehindert siedelten sich die Fremden auf
dem reichen Boden an. In Gehöften siedelten sie, auf den gras- und
rebenbestandenen Fruchtäckern, den alten Sümpfen und Schwemmland, auf
pflanzenbewucherten Bodenanschwellungen, unter dem hochstämmigen
Kirschlorbeer, neben wilden dichtzweigigen Akazien, die ihre
Blattbüschel über kleine Bäche ausluden.

Und wie die Menschen über den weichen dunstenden Boden gingen, der Wein
und die Bodenwürze in sie stiegen, war ihr Drang zueinander nach der
langen Entfremdung tief. Es gingen nach den Schlangen mit White Baker
Gruppen nach Gruppen flüchtiger Siedler, britischer flandrischer
fränkischer jütischer über den Boden, und wurden wie sie ergriffen.
Dieses grenzenlos Heutige Frische Sicherneuernde. Jeder Lufthauch
erregend sich zu entäußern, umzustülpen.

                   *       *       *       *       *

Servadak saß allein unter einem sattgrünen Kirschlorbeer, der junge noch
gelbblasse Mensch, und lockte Light-for-me, Mein-Licht, die Frau, die am
Dordogneufer neben ihm siedelte. Ach sie sollte zu ihm kommen. Sie war
schon oft mit ihm in das Dickicht gegangen, wo eine heilige Hütte stand,
hatte mit ihm die süße Wanderung angetreten. Er lockte immer von neuem,
die braune Light-for-me ließ es sich gefallen. Er saß bewegungslos unter
dem knorrigen astverschlingenden Kirschlorbeer. Sie lachte zwischen den
Erbsenstauden: „Servadak, du sitzt an dem Baum, als wärst du seine
Wurzel. Sieh einmal über dich: er wächst schon so grün aus dir.“
„Light-for-me, du hast schon genug gearbeitet.“ „Sieh meine Arme,
Servadak, wie dick sie sind. Jeden Tag werden sie dicker. Sie werden
noch platzen. Ich freue mich.“ „Für wen tust du so viel.“ „Und wenn ich
Kinder bekomme, Servadak, wer wird ihnen zu essen geben.“ „Ich werde sie
füttern. Und die andern auch.“ „Ich hab Arme, Servadak, und es sind
meine Kinder. Ich sitz’ nicht unter dem Baum. Sieh meine Erbsen an.“
„Komm zu mir, Light-for-me.“ „So sagen auch die Erbsen: komm zu mir. Und
meine Hähnchen. Und die Trüffeln.“ „Komm zu mir, Light-for-me. Mein
Augenlicht. Meine Weide. Ich sitze nur hier, doch nur für dich, sehe
deinen Acker an, bin froh, daß du darüber gehst. Sieh meine Erbsen.
Taugen die nichts?“ Sie lachte: „Schlecht sind sie. Rotes Unkraut ist
dazwischen. Ich helfe dir nicht, wenn es Schoten gibt.“ „Komm näher.“
„Willst du mit mir in die Hütte gehen? Aber ich will nicht.“ „Nur näher
sollst du kommen.“ „Aber was hilft es, Servadak.“ „Mir hilft es. Mir
hilft es, wenn du nur einen Schritt näher kommst.“ „Ach, lieber Freund.
Ich bin traurig, wenn ich dich sehe. Du bist so blaß. Und wie lange sind
wir schon von Bedford weg.“ „Ich bin schon hundert Jahre von Bedford
weg. Als ich dich an der Kreideküste im Norden sah, waren die hundert
Jahre um. Das war gestern. Oder heute. Heute hab ich dich zum ersten
Male gesehen. Eben sehe ich dich zum ersten Male. Komm zu mir,
Light-for-me.“ „Ach, was rufst du nur, Servadak. Wenn ich auf mein
Erbsenfeld gehe, bist du wie die Drossel da.“ „Aber der Drossel
antwortet eine andere.“ „Ich antworte doch auch.“ „Keine Drossel bist
du. Nicht antwortest du mir.“ Er streckte einen Arm nach ihr aus. Sie
senkte den Kopf an den Stauden, weinte, zupfte an den Stöcken, lief
langsam, dann rascher zu ihm, ließ sich von ihm, der vor ihr hinfiel,
küssen, küßte ihn sanft auf Mund und Augen.

Er lockte sie wieder am andern Tag, wieder am andern Tag. Zart war sie
immer da, braunschwarzes Kräuselhaar, das schlanke Figürchen, immer
rege, leicht ermattend, der Blick erst schwach ergeben um Bäume Erden
Menschen, täglich mehr wie die Herrin strahlend und offen. Sie trug die
strenge Arbeitstracht der britischen Siedler, graue braune lange Jacke,
schwarze Frauenhosen, lose, um die Knie und Knöchel gebunden. Als sie
sich den bunten Foulard um den Hinterkopf wand, stand er unter dem
Kirschlorbeer auf. „Ja, Servadak! Und dir bringe ich etwas. Eine bunte
Jacke. Sieh doch, was sie für bunte Jacken tragen.“ „Wer trägt bunte
Jacken?“ „Die Schlangen. Die Männer. Viele.“ „Light-for-me, ich bin ja
gar keine Schlange.“ Sie erschrak, kam näher: „Sag das nicht, was sagst
du. Wir sind es doch alle.“ „Du weißt es selbst.“ „Nein, nicht weiter
sprechen. Ich will nicht hören. Mach mir nicht bange.“ „Was willst du
mir geben, ein Tuch? Eine Jacke? Wenn du willst, wenn sie von deiner
Hand ist, will ich sie tragen.“ „Ich dank dem Himmel, daß du willst. Ach
Servadak, steh doch auf von dem Baume: du wirst nicht besser unter dem
Baum. Du siehst blaß aus wie wenn du eben aus London gekommen wärst.“
„Hundert Jahre bin ich aus London weg. Es ist nicht wahr, daß ich noch
blaß bin. Ich arbeite, sieh meine Reben an, mein Licht.“ „Ich bring’ dir
die bunte Jacke.“ „Und komm du!“ Sie war bei ihm. „Was faßt du mich an,
Servadak. Sollst deinen Kittel ausziehen. Sieh, das ist grüne Wolle.
Gefällt sie dir? Sie ist schön. Ach wirst du aussehen.“ „Ich werde gut
aussehen? Zeig. So. Wie sehe ich aus?“ „Gut, gut. Herrlich. Sieh dich
doch selbst an.“ „Ich will sie immer tragen.“ „Nein, du darfst mich
nicht immer anfassen. Ich muß dich doch betrachten. Bist du nicht schön.
Wirst du mit mir morgen singen gehen?“ Und sie führte ihn fröhlich durch
seinen Acker, rief die Bohnenranken an, zeigte ihn dem Kirschlorbeer:
„Jetzt wird Servadak dir untreu, Lorbeerbaum. Jetzt sitzt er nicht mehr
bei dir. Er braucht Licht. Er will sich bewegen. Er muß stolzieren.“ Sie
führte ihn auf ihr Feld: „Das ist Servadak. Wie gefällt euch seine bunte
Jacke. Ist sie nicht schön wie mein Foulard. Komm, ich setze dir eine
frische Bohnenranke an den Hals. Nun Rankchen, was sagst du zu Servadaks
Jacke?“ „Gib mir die Ranke her.“ „Laß sie doch an deinem Hals.“ „Ich
will sie in meine Hand nehmen. Sie ist von dir. Du hast sie gepflegt.
Und wenn sie welk ist, halte ich sie zwischen den Handtellern und bis in
meine Schultern hinein lebt sie, nein lebst du.“ Sie drehte aufseufzend
den Kopf beiseite. „Was ist, mein Licht.“ „Nenne mich anders.“ „Du bist
doch mein Licht.“ „Nenne mich anders. Ich möchte Krokus heißen oder
Lüftchen oder – ich bin Majelle, wie ich immer war.“ „Du bist traurig.“
„Ja, du magst meine Ranke nicht, Servadak, magst nichts. Ich nehme sie
dir schon ab.“ „Mein Licht.“ „Sag Majelle zu mir. Du magst das Licht
doch auch nicht.“ „Oh!“ „Oh. Ja, oh, Servadak, mein Nachtfalter. Oh bist
du krank von London.“ „Ich habe so viel, so viel Menschen entbehrt,
Majelle. Jetzt habe ich dich. Sei mir nicht gram.“

Die braune Majelle blieb ganz für sich, kein Wort sagte sie bei den
großen Zusammenkünften zur Diuwa, der Führerin dieser Gruppe der
Schlangen. Oft kam Servadak, lud sie zu der Hütte ein; sie machte
glücklich und traurig die Wanderung mit ihm. Wartete, ob er sich
verändere. Aber von jeder Wanderung kam er wilder sehnsüchtiger zu ihr.
Ihr Acker lag dicht bei Servadaks. Seine Blicke lagen halbe Tage auf den
Baumstämmen dem Boden den Schoten Artischockenkraut Gewürzblumen ihres
Ackers. Immer wartete sie, ob er die Kräuter Obstbäume ansehe, ob er
sich über ihre Hühner freue. Er freute sich, aber sein Lächeln zeigte,
er freute sich über sie. Dicht bei ihren Feldern lag ein ruhiger See.
Sie schwamm wonnig in dem lauen flachen Wasser, Servadak jauchzte neben
ihr; sie ließ sich im Wasser von ihm küssen umschlingen, sah sein
glutverzehrtes Gesicht. Sie lief in ihre Hütte, warf sich: „Oh was was
was was soll ich tun! Was soll ich tun! Ist er nicht krank. Ich möchte
ihm gut sein, er ist schrecklich. Er leidet. Er verschlingt mich. Was
soll ich tun.“

Zur Diuwa, der milden glanzäugigen ließ sie sich führen. Die lachte:
„Weißt du, Majelle. Ich will dir sagen: du wohnst weit von uns allen
entfernt mit deinem Servadak. Würdest du näher wohnen und öfter zu uns
kommen, wüßtest du schon: das kommt tausendfach vor. Es ist bei Männern
und Frauen nicht sonderbar. Sie sind so froh alle, einer den andern zu
haben. Nach so langem Entbehren. Und nun überfroh.“ „Ich bejammere ihn
ja, Diuwa. Er arbeitet. Was er muß, arbeitet er. Aber nichts betrachtet
er. Er ißt, ohne zu schmecken. Ich habe es gesehen, als er bei mir saß:
es hat ihm nichts ausgemacht, ob ich ihm Gurke oder Senf oder gebackene
Trüffeln gab. Er schluckt lacht und ist froh.“ „Weil du da bist.“
Majelle weinte: „Ja weil ich da bin. Aber ist er nicht wahnsinnig.“ „Du
Kind. So sind viele.“ Majelle weinte: „Hilf mir doch, Diuwa. Er ist gut,
Servadak. Er hat grausig in London gelitten. Er kannte nichts als
Maschinen und das Spiel und Lungern. Er hat es mir erzählt. Und dann ist
er zu uns gekommen. Wie schön konnte es bei uns werden. Und es wird
nicht.“ Diuwa hielt die junge Majelle auf dem Schoß, sann: „Eins will
ich dir sagen. Als du von London kamst: dies mußt du nicht glauben, daß
du allen Schmerz zurückgelassen hast. Majelle. Der Schmerz das Unglück
ist nicht nur in London. Das kommt überall mit, wo man den Fuß hinsetzt.
Sogar hierher, wo alles weich wie ein Garten Eden ist, hier an der
Garonne.“ „Ich fürchte mich vor dem Schmerz nicht.“ „Du könntest
Servadak rasch töten, Majelle, wenn du mit ihm in der Hütte bist auf
einer Wanderung. Willst du das. Ja. Das haben schon manch andere getan,
Mädchen und Männer. Es ist keine Qual. Es ist kaum ein Schritt, du weißt
es selbst, zwischen einer Wanderung mit dem Geliebten und dem
Hinsterben. Es ist er nicht, dein Freund, dieser Servadak, das stirbt.
Wenn er entrückt ist, an deinem Leib sich zurückbiegt, sich fallen läßt,
sich verströmt, hat er nicht mehr die Seele Servadaks. Du ersparst ihm
nur die Rückkehr. Laß ihn drüben. Jetzt bist du still.“ Lange war
Majelle still, auf dem Schoß der Führerin, an ihre Brust verkrochen.
Hauchte: „Das kann ich nicht.“ „Ich weiß schon. Weil du dann selbst mit
ihm wanderst.“ Geduckt saß Majelle. „Gut, Kind. Wir wollen etwas anderes
denken.“ Majelle an ihrer Brust atmete: „Er ist so zart. Mein
Nachtfalter; kann ihm nichts tun.“ „Wir denken etwas anderes.“ Majelle
umhalste die Frau: „Du bist mir böse, Diuwa.“ „Nicht spielen, lieber
Schmetterling. Willst du mir deinen Nachtfalter überlassen?“ „Dir?“
„Vielleicht zähme ich ihn. Vielleicht ist er eine Schlange, eine
richtige mit Giftzähnen, und ich muß ihm den Ring vom Fuß nehmen.“ „Soll
ich’s tun? Tu ihm nichts. Du hilfst.“

„Servadak, Diuwa läßt dich bitten.“ „Ich gehe nie mehr zu den andern,
Majelle, mein Licht. Nie mehr. Willst du mich wegschicken.“ „Sie will
dich sehen.“ „Ach, ich darf jetzt zu dir kommen. So lange habe ich an
meinem Lorbeerbaum gesessen. Nun bin ich bei dir. Ich weiß, du hast mich
verklagt. Majelle, du bist zur Diuwa gegangen und hast um Hilfe gegen
mich gebeten. Es tut mir nicht weh. Du hast mich ja vor mir selbst so
oft angeklagt. Aber ich kann doch nicht von dir lassen. Ich muß dir ein
Geständnis machen meine Hand, mein Hals, mein Kräuselhaar, mein Planet,
meine Sonne, meine Erde, meine Nacht, mein Tag. Ich kann dir nur den
zehnten Teil sagen von dem, was ich zu dir fühle. Ich wagte es ja auch
nicht mehr. Aber ich kann es nicht rückhalten.“ „Drück mich nicht so,
Servadak, süßer Servadak.“ „Jetzt schämst du dich, weil du bei der Diuwa
meinetwegen warst.“ „Was willst du mir denn sagen, Servadak, süßer
Servadak. Du fliegst ja so.“ „Gleich.“ „Warum machst du denn die Augen
zu, Servadak, süßer Servadak.“ Er hielt sie auf der Bank fest
umklammert, den Kopf neben ihrem Kopf: „Jetzt – mache ich die Augen
nicht wieder auf. Nie wieder.“ „Ach tu’s doch. Mach sie doch auf.“ „Nie
mehr.“ „Laß mich los, Servadak.“ „Nie mehr.“ „Was soll das.“ „Nichts.
Die Gehilfen der Diuwa von den Schlangen werden mich holen. Einmal
werden sie mich doch holen. Sie haben schon andere geholt. Ich habe es
gehört.“ „So laß mich doch los.“ „Nein, Majelle, ich bin da. Da. Bei
dir. Bei deinem blauen und grünen Foulard, komm, ich wickle ihn mir noch
um den Hals. Jetzt ist dein Fleisch bei meinem. Sie müssen mich von dir
abhacken. Ich habe dich. Hier meine Knie an deinem, mein Kopf an
deinem.“ „Mich los, Servadak. Ich ersticke.“ „Ich ersticke dich nicht.“
„Ich falle.“ Und sie stürzten von der Bank, auf die weiche Graserde.
„Majelle, süßes Leben, ich weiß alles, was kommt. Es mag recht sein, was
kommt, aber ich will es nicht erdulden. Eia, eia, da bist du.“ Er
schnaubte, wühlte an ihr. Sie schrie. „Jetzt wirst du schreien, mein
Leben.“ „Was habe ich dir getan, Servadak. Ich war immer gut zu dir. Ich
habe dir im Garten geholfen. Wie oft bin ich in der Hütte mit dir
gewesen.“ „Wenn du da warst, war es gut. Wenn du nicht da warst, war es
vorbei. Jetzt ist es gut. Ich habe mich vor Sehnsucht verbrannt. Ich
fühle sie fast noch, wo ich dich umschlungen halte. Ich will sie nicht
mehr ertragen. Ich kann nicht mehr. Sei gut und ergib dich drein,
Majelle, verfluche mich nicht.“ „Ich sterbe, Servadak, in deinen Armen.
Du darfst mich hier nicht umarmen. Zerreiß meine Kleider nicht.“ Er
stöhnte litt, war im Entzücken begraben: „Der hier bei dir liegt, ist
Servadak. Dem nichts geschehen wird. Du kannst ihn töten. Greif nach
meinem Gartenmesser, bring mich um. Ich gehe nicht mehr von deinem Hals.
Ich bleibe immer hier. Immer. Immer.“ „Hilfe. Wer hilft mir.“ Sie
wimmerte nur noch. Dann zog sie mit einem hohen Seufzer die weißen
Lippen von den Zähnen hoch. Lag schlaff ohnmächtig.

Nach einer Weile erst merkte der brünstig Verwühlte ihr Verstummen. Er
stemmte sich auf, schlug sich ihren leichten Körper über die Schulter,
wanderte zu seinem Feld herüber, legte sie in seinem Holzhaus auf das
Bett. Wie sie sich aufrichtete. Wie sie um sich blickte. Er lag am
Boden, lächelte sie an. „Was ist. Wo liegst du?“ „Bei dir, Majelle.“ Sie
sprang auf, ihre Blicke durch den Raum: „Das ist dein Haus.“ „Ja.“ „Du
sollst zur Diuwa.“ „Ich sollte. Und statt dessen ist Majelle zu mir
gekommen.“ „Nein; ich will gehen.“ „Du bleibst jetzt immer bei mir,
Majelle. Immer bleibst du jetzt bei mir.“ „Ich gehe auf mein Feld.“ „Das
kannst du. Das wirst du. Es ist auch mein Feld. Dieses Haus ist dein
Haus und mein Haus. Hier wohnst du jetzt.“ „Nein.“ „Gewiß wohnst du
jetzt hier, Majelle. Ich kann nichts anderes erlauben. Du kannst nicht
verlangen, daß ich mich umbringe. Hier habe ich dich. Und behalte dich.“
„Du bist krank.“ „Es kann sein. Ich kann nicht ohne dich leben.“ „Und
ich?“ „Du bist Majelle, mein Leben, ein Stück meines Körpers. Jetzt bist
du hier und wirst immer bei mir sein. Wie ein Baum und sein Schatten
gehören wir zusammen; man kann sie nicht auseinanderreißen.“ Er
zitterte, seinen Arm hatte er um ihre Hüfte. Sie wußte nicht, wer er
war. Ihr war zum Schreien vor Schmerz. Sie drehte sich zu ihm, legte die
Hände auf seinen Kopf, zog sein Gesicht zu sich, küßte es, blickte es
an, bettelte klagte schüttelte ihn: „Nun, Servadak! Du bist doch mein
Freund. Servadak! Du bist doch mein süßer Stamm unter dem Kirschlorbeer.
Komm hin, setz dich da. Ich werde mich neben dich setzen. Du siehst zu
mir herüber. Du hörst meine Hühner gackern und rufst ihnen zu. Du wirfst
nach den Spatzen mit Steinen, damit sie meine Schoten nicht aufpicken.
Der Lindenbaum blüht neben meinem Häuschen. Servadak. Du! So wonnig ist
alles.“ „Nur du bist wonnig.“ „Sag das nicht. Hör mich doch. Oh du
ängstigst mich so. Du bist doch auch mein Glück.“ „Du bist mein einziges
Glück.“

Da schrie sie auf in Entsetzen, so gell, daß er sie ließ und stehen
blieb. Sie huschte an die Tür, drehte sich um zu ihm, der sich
entgeistert am Bett hielt, lief noch einmal zu ihm. Er murmelte mit dem
Blick eines Stiers, der den Todesschlag empfängt: „Nicht weggehen. Oh,
Majelle. Nicht weggehen“, und hob keine Hand. Sie rang sich noch ab, wie
sie ihn auf das Bett gelegt hatte, er ließ mit sich tun –: „Ich will in
mein Haus. Ich komme bald wieder zu dir.“ Und dann ging sie leise,
drückte still die Tür ins Schloß, stand horchend an der Tür, stürzte auf
ihr Feld. Auf der Wiesenfläche vor ihrem Häuschen warf sie sich zwischen
den aufflatternden Hühnern und Tauben hin, beschwor ihren Schmerz stille
zu sein, weinte schluchzte sich die Brust müde.

Und dann mußte sie ihr Kopftuch nehmen, ihr Gesicht war rot und dick:
„Diuwa, ich bin zu dir gekommen. Ich selber. Servadak, mein Freund,
wollte nicht. Ich weiß nicht, was werden soll. Heile ihn. Hilf uns. Mach
mit uns, was du willst.“ „Du hast geweint. Was willst du?“ „Ich weiß
nicht, was ich will.“ „Nun sitz ganz still. Nicht weinen. Nicht wieder
weinen, Majelle, du Feder, du Seide. Bleibe, was du bist. Kennst du den
Abenduntergang, Majelle, am Meer, nach der Gironde zu, wo drüben
Bordeaux liegt. Da sind gewaltige Farben, schwimmt alles von Gold und
Blut, braust und donnert durcheinander. Und das Meer kann nicht stille
halten; die ganze Wasserfläche zittert und die Luft; das Glühen, Purpur.
Und dann wird es stiller. Dann siehst du von deinem Hügel mit einmal
Bäume. Sind Bäume aufgetaucht aus dem Boden; die verborgenen schwarzen
Äste gegen den hellen Himmel. Waren vorhin auch da, aber du hast sie
nicht gesehen. Und während du hinschaust, wie sie verschnörkelt sind,
die dicken Stämme umfaßt, alles schwarz –, bleicht der Himmel. So
weißlich leer wird er. Aber auch das scheint nur so, im ersten
Augenblick; er ist nicht weiß. Die bläulichen zarten Farben sind schon
da, Striche und Dünste wie gehaucht –, ein rötliches Violett, es ist
schon ganz ins Weiße aufgelöst, ich sehe es Abend um Abend, wie es vom
Meer über uns hingeht. Da stehst du zuletzt und jetzt sind die Bäume
ganz da: Die Felder und Hügel liegen vor dir. Dunkel, ins Dunkle
eingerundet, und immer tiefer mit uns selbst ins Dunkle einsinkend.
Majelle, so kommt man immer zu mir: mit diesem purpurnen und goldenen
Glanz. Es gibt keine Felder, keine Bäume, keine Trüffeln Artischocken
Erbsen. Man weiß nichts von Hühnern. Nur Purpur Donnern Untergang Tod.
Was machen deine Gräser und Schoten, Majelle? Ich bin Diuwa. Wir sind an
der Garonne, von London und den britischen Inseln vertrieben.“ „Ich will
dir sagen, Diuwa, ich bin so gekränkt, daß ich mich vor mir schäme. Ich
bin durch Servadak so beleidigt und entwürdigt. Ich fühl’ es nur, ich
weiß fast nicht wodurch. O ich muß mich bezwingen.“ „Es gibt Hühner auf
dem Feld. Was machen sie? Sollen sie weglaufen und sterben. Du hattest
Artischocken gepflanzt.“ „Und meine Bäume sind gut, und die Tiere sind
gut, und der Tag ist gut. Und alles wäre gut und Servadak. Nein“, sie
winselte plötzlich, drückte sich an die Frau, die die Augen weit öffnete
– „er war gut. Tu ihn weg von mir. Es muß geschehen. Ich kann dir nicht
sagen warum. Führ ihn weg. Ich will nicht hassen. Ich verliere mich,
euch alle.“ „Aber ich will es tun, Majelle. Ist das nun das Purpur oder
das Violett und die Bäume.“ „Wegtun, Diuwa. Meinen süßen Freund, nimm
ihn. Ich kann mich nicht halten. Tu es für mich.“

Die Drosseln, die sie beide oft gehört hatten, sangen. Die Tauben
flatterten von ihren Plätzen auf. Die Boten der Schlangen traten in
Servadaks Haus, der sie schon erwartete. „Nehmt mir den Ring nicht ab“
ächzte er, als sie an seinem Fuß nach dem Schlangenabzeichen griffen.
Sie führten ihn nach Westen in eine andere Siedlung. Wie ein Brand, den
man in einen stürmischen Schornstein tut, verbrauste er. Der würzige
dunkelrote Medokwein lief durch ihn. Servadak sprang, sein Leib wurde
gedehnt. Majelle war fern, blieb fern.

Gewaltiges Blutrot über Bordeaux, zitternde, in Flammen verbrennende
verprasselnde Wasserfläche. Vergilbender Himmel, hinbleichende Luft,
große wie ein Riesenschiff aus dem Meer anwogende Nacht. Rebgelände
Bäche Menschensingen. Und durch Servadak lief der Wein. Die Sterne
glommen. Da waren Kastanien, dunstende Rosenbüsche, Magnolien. Das gab
es. Das alles gab es. Servadak bog sich in seiner Hütte auf dem Stroh.
Wann würde er die Überfahrt von London beenden. In ihm weinte es: Ganz
hinten an der Garonne gab es – wen? Light – for – me. Majelle. Sie ging
über ihren Acker, um den Kirschlorbeer, Kräuselhaar, offene braune
Augen. Nicht daran denken. Wegtun Majelle.

                   *       *       *       *       *

Um Toulouse, im heiteren Gebiet der milchweißen Magnolien, der
Jukkastauden mit den gelben hängenden Glocken, bewegte sich Venaska,
eine schlanke Frau von braungelblicher Hautfarbe und schwarzem dichten
Haar. Sie war in dieses Gebiet der Schlangen von Süden gekommen. Der
Schnitt ihrer Augen, die Modellierung ihres Gesichts war mehr malayisch
als europäisch. Manche nannten sie Mondgöttin. Sie nahm in der milden
Fruchtflur der jungen Garonne bald einen ähnlichen Platz ein wie Diuwa
im Norden. Mit ihren ruhigen sicheren langsamen Bewegungen, die ein
kühlwarmer Leib ausführte, – zierliches Knochengerüst, flaumzarte Haut –
drang sie unauffällig in alle Kreise der Schlangensiedler. Ein leicht
mokantes Lächeln um die vollen Lippen. Das Gesicht von einem stillen
Ernst bedeckt, der ganz seelenhaft war, so seelenhaft, daß die ihr
begegneten betroffen waren, zugleich beschämt und erfreut, und sich
leicht von ihr führen ließen. Mit einer kleinen Zahl Frauen und Männer,
die ihr anhingen, wohnte sie eine Zeitlang am breiten Canal du Midi, am
Flüßchen Saune. Man kannte sie nicht, wenn man sie in der sommerlichen
gelben Siedlertracht herumgehen sah, die sie anlegte, obwohl sie nichts
tat. Man arbeitete ja für sie, brachte ihr von den Fischereiplätzen
Hummer, kleine schmackhafte Sardinen, fetten Lachs. Man stritt sich, wer
ihr von seinem Feld die süßlich feine Gurke, die Aubergine bringen
sollte. Wer den Wein brachte, trank ihn mit ihr. In gelben losen
Siedlerhosen ging sie herum, mit der weiten Bluse, an der Brust grüne
und schwarze Bänder, ging umschlungen mit Männern und Frauen, sah hier
auf zu der fetten Weideflur bei den Hirten, ging lächelnd und träumend
unter dem Geplauder ihrer Begleitung die gewundenen Hügelwege, spielte
mit den langen Korallohrringen, winkte mit ihrer gelben Hand einer
Bäuerin im bunten Kopftuch. Warf ihnen schon weitergehend über die
Schulter einen Blick aus ihren dunklen aufstrahlenden Augen zu: das Herz
stand ihnen still. Wer vor ihr stand, wen sie ansprach, besonders
Frauen, war erregt gebannt. Alle hatten das Verlangen, nach der kühlen
festen immer leicht zuckenden Hand. Und war Venaska vorbei, so kam ihnen
vor, im Hals, in der Brust, als wäre ihnen etwas geschehen. Sie liefen
rasch, es war ihnen zum Ersticken in ihren Kleidern, ihre Augen
glänzten. Sie mußten sprechen schwatzen; ihre Herzen klopften rasch, sie
kamen nicht zur Beruhigung. Einmal hatte im Norden, zwischen den
Kieferwaldungen und Seen der Mark die herrische Marion Divoise gelebt,
die Balladeuse, die Mädchen und Männer an sich lockte, ohne daß sie
wußte, wie das kam, und die ängstlich sah, wie man auf sie zudrängte,
und erregt einsam blieb. Die braungelbe Venaska gab nichts von sich, was
sie nicht fühlte. Oft wenn sie mit einer fremden Frau stand, mit ihr
Blick in Blick über einem Zaun, einem Busch, die Hand hinüberstreckend,
wurde sie blaß, biß sich die Lippen, wandte sich verwirrt ab. So
schwächte sie, was sie von sich gab. Von Island fuhren durch das
arktische Meer zwischen den Schiffen des Expeditionskorps die großen
Frachter, die Hallen mit den ausgespannten leicht surrenden glimmenden
Turmalinnetzen. Fische Vögel zogen um die schwimmenden Frachter, Tang
Algen wuchsen aus dem Meeresboden; nachts leuchteten die Schiffe,
stießen sich von der Meeresoberfläche ab. So wandten sich die Menschen
auf den Hügeln und an den Ufern des Canal du Midi und der Saune von
ihrem Boden, von der Egge der schlanken aufrechten Gestalt zu, die wie
ihresgleichen war, und deren Blick Stimme ihnen mit schmerzhafter
Schärfe ins Herz zuckte.

Man hatte ihr, die aus der Marseiller Gegend heraufkam und erzählte, sie
wollte nicht mit den Stadtschaften in die Erde gehen, ein flaches
Siedlerhaus aus Buchenholz gezimmert unter einer alten Mauer.
Feigenbäume mit lockeren dunklen Kronen hielten sich an dem alten
Gestein, schüttelten jenseits die bräunlichen Zweige herüber. Dunkelgrün
waren ihre Blätter, rauh mit Borsten, an der Unterseite hell
weichhaarig. Die birnförmige violette Frucht hielt Venaska oft zwischen
den Händen, rollte sie, hob sie zum Kinn. „Das ist ein Gott, wißt Ihr,
eine Göttin. Ist so glatt außen, wird noch dunkler, braun schwarz. Und
inwendig ist grünes Fleisch, rotes Fleisch, das schmeckt wohl. Die Nüsse
hält sie damit, die Früchte. Das ist die Feige, meine Göttin.“ Sie
nestelte sich in das schwarze Haar Zweige mit der jungen Frucht,
beschenkte die anderen mit den kostbaren von ihr bestrichenen behauchten
Blättern. So ging sie an der sanft fließenden Saune, schlank und biegsam
auf hohen Beinen mit leicht vorgewölbtem Leib. Wem sie im Vorüberziehen
den Arm um die Schulter legte, ernst und sonderbar fremd, der fühlte,
verzaubert in ihr glattes Gesicht blickend: er hatte noch nie gewußt,
was ein Weib ist. Fast, was ein Mensch ist.

Sie war ohne Scham. Als wenn sie sich bedrückt fühlte, warf sie am Tag
oft ihre leichte Jacke ab, bewegte sich, ging mit nacktem wiegenden
Oberkörper, bräunliches ebenmäßiges Gebäude, umhauchte Brusthügel,
tiefdunkel flach. Und dann, in Menschennähe, waren ihre Arme nur Ranken,
die etwas suchten, worum sie sich winden sollten. Ihre Brust atmete
leise, gleichmäßig und immer glückvoll. Andere menschliche Ranken, Arme
von Männern und Mädchen, schlangen sich mit ihren zusammen. Venaska,
Blick in Blick mit dem andern ruhend, gurrte, sprach lieblich, kehlte.
Sie wußte nicht, wie streng sie wirkte. Das andere, das an ihrem Körper
hing, schauerte in Entzücken, öffnete hingegeben, schon nicht mehr
drängend, die Lippen. Hatte in rasch verschwindenden Sekunden einen
Hang, sich zu lösen, abzuziehen. Venaskas Augen fingen an, sich zu
weiten, tiefschwarz mütterlich leidend zu gluten. Ein Erliegendes hatte
sie an ihrer Brust. Dem streichelte sie die Schultern, die Ohren, den
Hinterkopf, strich über seinen Nasenrücken; ihre Augen blitzten auf. Es
kam ein Augenblick, wo das andere schlief in ihren Armen, ihre Berührung
erduldete. Was war das für ein Wesen, das seinen hingleitenden Körper
umrang, ihn befühlte, Armfläche gleitend über Rumpf und Schenkel, mit
jedem Teil seines Leibs verlangte in dem andern zu wurzeln. Als wäre
Venaska eine Blase und spritzte aus Stichen und Rissen. Dies Andrängen
Zubodenrollen Herumgleiten Herabgleiten Heraufgleiten Sichannageln
Abreißen Abwerfen. Das herrische zornige Schreien Keifen wie mit einem
Wesen, das nicht anwesend ist, das Sprudeln Stöhnen Keifen Flehen Drohen
Wüten. Und wieder Abzittern Lächeln sanftes Flüstern Betteln
schmeichelndes Umschlingen. Ruckweises Erstarren, wie wenn die Kraft
sich in ihr anstaute. Der Leib versteifte sich bis zu den gestreckten
Zehenspitzen, den gebogenen Fingern, den nach rückwärts gedrehten Armen,
als vermöchte er sich nicht zu entladen. Und dann ächzendes
erschütterndes blindes Hinbrechen, Wolken Blitze Gewitter lodernd. Das
Wesen aber an dem Körper der braunen flutenden Venaska wurde bewegt,
gehoben wie ein Schiff auf dem Meer. Sein Leben aufgewühlt. Sein Körper
rang sich zu behaupten. Der Unterschied von Tod und Leben verschwand.
Das schluckte ertrinkend stürmisch die Süße. Zuckte an der tosenden
Venaska. Ihre Leiber brausten aneinander.

Und während noch der andere Körper rauchend lag, hob sich Venaska
mähnenschüttelnd von ihm ab, stand an einem Pfosten, atmete, tiefer,
tiefer. Als wäre die Luft ein Getränk, nahm sie sie zu sich, schlenderte
auf den Hof, senkte die Hände in das dunkle Feigengebüsch, ließ die
Blätter und Äste um sich schlagen. Kam als die fließende weiche Venaska
hervor, die die schlanken Schenkel im Gehen bewegte, den glatthäutigen
wiegenden braunen Leib trug, spöttisch lächelnd. Musik sogar ihr
tonloser Ruf, Schrecken Sehnsucht um sie. Sie legte ihr
karmoisinfarbenes Hemd über, das goldgestickt war, saß im Gras, der bunt
behängte schlafende Vulkan.

Toulouse war in die Erde gestiegen. Die zerfallenden Straßentrümmer
Anlagen Forste überzogen die Siedler. In Toulouse setzte sich Venaska
nieder. Die Steine Schienen der versunkenen unterirdisch tosenden
Riesenstadt ließ sie von den Scharen, die sie mit sich zog, beseitigen.
In dieser Ebene wollte sie sitzen, die dunklen Berge der Pyrenäen sehen,
die weißgefurchten Kämme am Horizont, bei der uralten prunkenden
Serninkirche, die die Stadtschaft nicht angerührt hatte. Die Schlangen
bei ihr wußten nicht, was sie zu der Stadtruine zog. Venaska mochte gern
zwischen den stummen zersprengten Mauern, in den toten langen Straßen
gehen, ihre Schritte furchtsam behorchen. Neugierig umschlich sie
Schuttmassen der Fabriken, versteckte sich, wenn Frachtflieger der
Stadtschaft in der Luft waren. Entzückt, selig sich anschmiegend stand
sie an dem kalten Gestein der Serninkathedrale; sie liebte das gewaltig
aus dem Boden strebende Gebäude. Oft sagte sie: dies Gebäude,
seinetwegen säße sie hier, das so herrlich sei, und sie wache, daß ihm
nichts geschehe.

In den Reichen der Diuwa und Venaska dehnten sich Schlangen und fremde
Siedler aus. An der Garonne und der breiten Rhone gediehen sie. Neben
den flachen Fabrikhallen Ruinen, standen die römischen Triumphbogen mit
Inschriften über aufrührerischen Hallen. Zwei- dreitausendjährige
römische Amphitheater bauten ihre Ränge und Treppen an Hügeln auf. Beim
grauen Avignon stürzte der Domfelsen gegen die blaue Rhone ab; die
düsteren neununddreißig Türme der Papstburg oben waren zerbröckelt, von
Pinien Eichen Blütenbüschen überwachsen. Siedler, kranke genesende, aus
den brüllenden krampfenden europäischen Stadtschaften legten ihre Leiber
an das unerschöpfte Land zum Sterben oder Auflodern. Venaska zog im
karmoisinfarbenen goldbestickten Hemd durch das üppige Tal der Garonne
bis in die Gegenden, die die starke Melise beherrscht hatte. Sie weckte
die Landschaft auf. Ein Schmelzen um Venaska. War sie vorbei, so
knirschten die Menschen vor Verlangen. Etwas Blindes Schreiendes wurde
in manchen Widerstrebenden erregt; das riß sie fort. Raubsüchtig gingen
Männer und auch Frauen umher. Von der Geheimlehre der Schlangen, von der
Wanderung und ihrer Heiligkeit, wollten sie nichts wissen. Das
Niederstürzen von Mann und Weib war ihnen eine Lust. In der Gegend des
alten Bistums Perigueux sperrte ein Mann, der sich Siwri nannte, sechs
Frauen wider ihren Willen in sein Gehöft mit Hilfe seiner Mutter ein. Er
war eben genesen, stark, nicht jung; man sagte, seine Mutter hätte ihn
angespornt. Die Frauen ließ er für sich arbeiten. Andere Frauen quälte
er zu seiner Freude. Er zeigte auf Schritt und Tritt, daß er Frauen für
nichts achtete. Die Schlangen waren machtlos gegen ihn, da er sich ihnen
entzog.

Gestalten, nicht Mann und nicht Weib, zeigten sich in der
Garonnelandschaft aus mehreren der hier vagierenden Rassen. Das war die
höchste Bezauberung, die viele erfuhren. Weiße, auch gelbbraune Menschen
mit weicher Rundung der Schultern. Graziös bewegten sie sich auf den
Wegen unter dem Blütenregen der Akazien, schlenderten über die Wiesen,
stiegen in die Forste. Die Städte hatten vielen Mißwuchs begünstigt; man
hatte unter den Krankheiten und dem schweren Zugrundegehen wenig auf
Einzelnes geachtet. Jetzt warf die Landschaft üppig diese Wesen hin, die
als Mädchen gingen, wie sie aufgewachsen waren, die fülligen Becken
leicht wiegend, manche scheu und ihr Geheimnis nicht offenbarend, manche
in verwegener Mischung der Tracht: die Kappe und Feder eines Mannes auf
dem Haar, dabei Brüste, die in Wölbung und Umriß unter der straffen
Bluse hervortraten. Sie schwärmten auf Mädchen aus, die sie erst nicht
erkannten, sich launig von ihnen halsen ließen. Und im zarten Andrängen
ließen sie die Sonderbarkeit ihres Geschlechts fühlen, fühlten bebend
und heiß die Erschütterung und Bannung des Mädchens, der Frau mit, die
nicht wußte, was sie genoß, die eine Freundin und einen Geliebten
umschlang. So starke Würze hatten sie noch in keiner Umarmung empfunden.
Und junge Männer wurden heftig zu Mischwesen getrieben, die sie für
schnippische Frauen hielten. Ein fremdartiger Reiz lockte. Sie fielen
vor diesen Mädchen hin, waren erschreckt, im Geheimsten aufgerührt,
fassungslos, wie das Rätsel, der weibliche Jüngling, sich in ihren Armen
bewegte, drängend und saugend. Viele erschienen auf dem grünen Boden und
erregten die Mädchen und Jünglinge. Welche Schrecken Verwirrungen Tränen
erregte das rothaarige Wesen Tika On, das purpurn und rosa gekleidet von
der Auvergne herunter kam, nichts arbeitete, sang und das die Venaska
selbst erschütterte. Ein wildes Geschöpf war Tika On, mit heller
Knabenstimme sang sie, lachte. Über ihr Geschlecht war sie selbst nicht
klar. Sie küßte hitzig Männer und Frauen. Es genügte ihr, die Menschen
zu umschlingen, um sie in Ekstase zu bringen. Meist riß sie sich
gehässig von dem los, der von ihr mehr verlangte. Und wer gewaltsam nach
ihrem Leib griff, ließ sie selbst los, so schrecklich schrie weinte sie,
lief in stundenlanger Verstörung weiter. Als wenn das Geschlecht an ihr
eine furchtbare Wunde wäre. An Venaska hängte sie sich, die immer milde
und süß war. Schließlich mußte die Frau in Toulouse sie von sich
abreißen. Zum erstenmal sah man an der braunen zarten spöttischen Frau
ein Grauen. Ihre Beängstigung war so tief, daß sie andere zu Hilfe rufen
mußte, die bei ihr wachten, das rote Wesen, die Tika On, von ihr
fernhielten. Die keifte bei der Holzhütte an der Serinkathedrale, wo
Venaska in diesen Wochen wohnte. Die Venaska weinte: „Sie fühlt, wer sie
ist. Sie ist eben im Begriff es zu fühlen. Ihr müßt mir nicht böse sein,
ich kann ihr nicht helfen. Sie ist in der Geburt; ich kann ihr nicht
helfen.“ Tika On umschwärmte noch monatelang die Venaska, verscholl im
Norden.

Der König Karl von Valois, vor einem Jahrtausend in einer nördlichen
Landschaft begraben, riß sich lechzend aus den Wäldern los, tauchte in
das Gestrudel. Jauchzte tobte wie einstmals. Die Forsten, in denen er
einmal gejagt hatte, waren wild zugewachsen. In die Schneeberge der
Auvergne, am Plomb de Cantal, brach er zur Wildschweinhetze ein,
strudelrasselte am Talboden der Allier, suchte Händel. Seine Adlernase
glühte von Wein. Eseln schlug er die Köpfe ab.

Heiße Wesen wurden auf die Landschaft geworfen, von dem Menschengewimmel
hochgerissen. Die Bodengeister, seit Jahrhunderten in die Hölzer und
Steine getrieben, wogten wie ein Bienenschwarm über einem Kleefeld auf,
drangen, schlangen sich, quollen in das warme treibende Menschenblut,
flossen in helle und schwarze glänzende glatte Haare ein, ließen es sich
in springenden Männerknien, vollen Weibesbusen wohl sein. Nicht ein
einzelner Mensch genügte dem wüsten la Mole, der unter Steinen bleich
und dünn geworden war, nachdem ihm, wie er noch die ersten Knochen
hatte, jede Messe eine neue Geliebte geschenkt hatte –, bis ihm sein
König den Kopf abschlug. Die Jahrhunderte hatte er gelauert, schon war
er fast abgestorben. Da schwoll dieser Wolkenbruch über den verdorrten
Boden. Frenetisch schoß er auf die Leiber, die er besetzte. In sechs
Menschen lief la Mole, dem ein rasch erloschener Mann einmal den Kopf
abgeschlagen hatte. Sechs Leiber regierte er. Ein Cyklop war er, die
Leiber wechselte er. Er hauchte in ihnen, trieb sie wie einen Wagen,
ließ sie wie schlechte Maschinenteile fallen. Blaise de Montluk,
blitzjung, der Gaskogner, stieg ohne Hut aus dem Wasser der Garonne, in
der er vor einem Jahrhundert ertrunken war. Das Wasser hatte ihn nicht
verspülen können. Er zuckte über die kieferbestandenen Ufer, stolzierte
als kecke Dirne mit knappem Busen über die gelben Äcker und zwischen den
Weinbergen, suchte in die flüchtige Tika On zu fahren. Dann stürzte er
eines Mittags im prallen Sonnenschein einem schwarzen Hengst in den Hals
und jagte mit ihm. Es dünstete und schauerte über das vertrocknete Land.
Venaska zog von Flur zu Flur, die Diuwa sänftigte an der Garonne.

                   *       *       *       *       *

In den Cevennen, an dem kräuterreichen grünen Rasenkegel des Puy-de-Dôme
erschienen die ersten Islandfahrer, in das aquitanische Tiefland
sickerten sie. Kleine Gruppen lederbekleideter ernster noch matt
blickender sehnsüchtiger Menschen. Langsamer wanderten sie und trieben
ihre Pferde, wie sie unter dem blauen und blaueren Himmel den
Fruchtboden der alten verwitterten Lavaschichten betraten, meilenweite
Gärten sich auftaten, Rosenbüsche Gelb und Purpur warfen. Blühende
Touraine. Waldbedeckte Flußufer. Frischgerodete Erdfläche. Die
Islandfahrer, die Männer und Frauen, die auf den Ölwolken gestanden
hatten, schnupperten, blickten um sich, schüttelten sich unter dieser
Luft. Welches fremde Wühlen. Mißtrauisch trieben sie durch die
schimmernde Landschaft. Kylin, die grüne Loire hinter sich lassend,
stand auf dem Felsen Amboise, durchirrte die Höhlen Klüfte Gänge des
Gesteins. Gefangene nach Gefangenen waren hier versickert; sie tosten um
ihn, trieben ihn hinaus. Aufsässigen hatte man auf den strahlenden
Plätzen die Köpfe abgerissen, blauäugige Blondinen hatten dazu gelacht.
Idatto seufzte neben Kylin: „Dort hinten ist Süden. Ich möchte hier
fort. Und dort wage ich mich nicht hinein.“ „Idatto, fürchte dich nicht
vor dem Nebel. Da war Brand und Nebel im Norden, durch den wir mußten.
Da ist einer im Süden.“ „Ich sehe es. Aber es reißt an mir. Ich will
keine Versuchung.“ „Wir müssen hinein, enthalte dich nicht. Wir sind
durch Island gekommen. Fürchte dich nicht. Da war ein Nebel, und hier
ist ein Nebel.“

Langsam zogen sie durch die Landschaft. Sie waren zu Marduk nicht
durchgedrungen. An der Loire erzählte man sich von White Baker. Sie
hatte noch die Kraft gehabt, die britischen Siedler nach dem Festland
hinüberzuführen, sank dann in sich zurück. Wie ein Baum, der lange üppig
geblüht hat und dann alternd Borke um Borke ansetzt, sich selbst
vermauert, ein Visier über sein Gesicht schiebt, seine Wurzel verhölzert
versteinert, so grub sich White Baker ein, an der warmen Gironde, nahe
der Diuwa. Wie ein Käfer fiel sie in das Moos und ließ die weichen Lagen
über sich zusammenrollen. White Baker bewegte sich an dem Fluß wie die
andern, griff auf den Äckern, in den Gärten zu. Hatte aber einen leeren
großen Ausdruck, der wie Ernst schien. Rot runzellos ihr Gesicht. In der
Kammer bei der Diuwa saß sie stundenlang, blickte durch die offne Tür,
ließ den Wind um sich wehen. Die braune Siedlertracht trug sie; ihre
schwere fette Hand ruhte auf dem Tischchen, auf dem zusammengeknäult
Kräuter Halme lagen, darunter ein zerrissenes weißes Seidenkleid,
gebündelt mit einer Lederschnur. Der knöcherne Krähenschnabel
Ratschenilas hing daran. An der Wand bauschig völlig unversehrt das
brokatene Senatorenkleid. Von der Diuwa geschützt war sie. Hatte sich
zum Sitz von berauschenden Geistern gemacht, die nur sie verstand.

Nahe dem ehemaligen Montauban schwirrte die rote Tika On in Kylins
Gruppe. „Welchen Vogel hat man uns geschickt“ staunte der harte Kylin,
ließ sie gewähren. In seiner Gruppe war schon eine Unruhe, ein süß
leidendes Bedrängtsein. Kylin sah, wie man sich wehrte. Tika On, die
rothaarige, hatte einen Stachel in sich. Sie mußte sich an menschliche
Glieder hängen, sich versuchen. Als Kylin sie die Frauen seiner Gruppe
umschlingen sah, Idatto vor ihr hinfiel, zog er sich einen halben Tag
zurück. Dann tat er, als hätte er Verlangen nach ihr. Schnurrend, mit
dem Kreischen der Erregung folgte die Wilde in ein Buschwerk. Dort
erdrosselte er sie.

In dem Gesträuch zwischen gelbem Ginster und Brennesseln fanden ihn
abends Männer, die ihn suchten, bei dem kleinen verkrampften roten
Körper. Sie wollten den Körper anfassen, wegheben, um ihn zu begraben.
Kylin drohte: „Nicht anrühren. Ruft die anderen. Wo sind die Frauen.“ Er
wartete, bis Frauen und Idatto kamen. „Wer ist das? Seht! Tika On, die
rothaarige. Ein Weib oder ein Mann. Seht sie noch einen Augenblick an.
So! Seid ihr ertappt? Ins Gebüsch mit ihr!“ Er selbst rollte den Leib
tiefer ins Gebüsch, kam hervor, blaß: „Ich hab’ sie erwürgt. Weißt du,
Idatto, warum ich sie erwürgt habe.“ Idatto in Tränen, bitter mit
zuckendem Mund: „Sie war keine Verbrecherin.“ „Das ist’s. Ich wußte es.
Der Nebel. Er packt dich. Aber wir sind gegen ihn nicht wehrlos. Ich
nenne ihn bei Namen, ich sehe ihn, dann ist er weg.“ Idatto biß sich die
Lippe, weinte laut, hatte das Gesicht hinter seinen Fäusten. Eine kleine
Schwarzhaarige brach in plötzliches Schluchzen aus. Streng beobachtete
sie Kylin. Er brüllte rot anschwellend: „Habt ihr gesehen, was hier
gelegen hat? Ihr habt es noch nicht genug gesehen. Bringt sie wieder
her. Ja. Her!“ Er riß das Buschwerk zurück von dem kleinen liegenden
Körper: „Da ist sie. Ich habe sie erdrosselt. Hab’ es getan. Was habt
ihr darauf zu sagen, Idatto? Und du?“ „Bedeck sie doch, Kylin.“ „Ich
hab’ den halben Tag hier gelegen bei der Leiche; ihr habt sie noch lange
nicht genug gesehen.“

Ein bärtiger bronzefarbener Mann trat auf Kylin, nahm ihm die Zweige des
Busches aus der Hand: „Es ist nicht leicht für Idatto und für andere.
Wir wollen nicht mit ihnen rechten. Und wer weiß, wie unsere Wege gehen.
Laß ihnen Zeit.“ Da stand Kylin still, kreuzte die Arme auf der Brust:
„Das Land fordert Opfer; es kann nicht genug Menschen schlucken. Es ist
gut, ein Brandmal am Arm zu haben; es ist gut auch daran zu denken.“ Vor
ihm schluchzte trotzig Idatto an der Schulter des bärtigen Mannes: „Sage
du, war Tika On eine Verbrecherin? War sie nicht lebendig, ein Lebendes,
vor dem ich hinfallen darf?“ Kylin murmelte etwas, Flimmern in den
Augen. Er ging rasch fort. Vor Beginn der Nacht wollte man den Leichnam
verbrennen; Kylin schrie: „Die Flamme? Keine Flamme! In die Erde. Ich
sage: in die Erde.“

Eine Spannung und Entfremdung trat zwischen Kylin und seiner Gruppe ein
und wuchs, je mehr sie südlich stießen. Sie wollten sich in der
fruchtbaren Landschaft hier und da niederlassen, aber Kylin schob sie
kalt und ohne Erklärung weiter. Viele dieser gehärteten Menschen
schmolzen, wie sie sich über dem Land verbreiteten. Rechts und links
blieben sie in den Siedlungen. Sie pflügten sangen lachten mit den
Starken Wonnigen an der Garonne, im Languedoc, an den Rhoneufern. Sie
kamen sich erlöst vor. Die Urtiere verloren erst jetzt ihr Grauen,
Island ließ sie los.

Wie ein Zeichen hatte Kylin an der Schwelle des Landes den Mord an der
Tika On aufgepflanzt; es wirkte nicht. Nur eine Anzahl mit Kylin war
sicher. Man sah, daß er rang wie die anderen und litt und nicht sprechen
konnte, daß er in einem zornigen Gefühl tiefer und tiefer in das Land
hinein verlangte. Ein graublonder langer Backen- und Kinnbart war ihm
gewachsen; leicht gebückt ging er. Selten wagte ihn einer anzusprechen.

Und eines Tages hieß es bei Toulouse, daß Venaska in der Nähe sei. Die
gelbbraune Frau im karmoisinfarbenen Hemd, goldgestickten Hosen, gab ihm
auf dem Erdbeerfeld die Hand. „Venaska, du bist es. Ich irre herum. Ich
wollte dich lange sprechen.“ „Und nun hast du mich getroffen.“ „Weißt
du, wer ich bin?“ „Nein, ich werde dir einen Namen geben.“ „Laß. Ich bin
Kylin. Mit mir sind andere Männer und Frauen aus Grönland.“ „Grönland
ist weit. Nun freue ich mich, daß ich dich sehe.“ Sie strich seine
Schulter; er erschrak über ihre Sanftheit: „Venaska, ich wollte dir
erzählen, was nicht mit Grönland zusammenhängt. Wir sind bei Montauban
einer rothaarigen Frau, einem fremdartigen Wesen begegnet, Tika On. Die
habe ich erschlagen.“ Sie hielt noch ihre Hand an seiner Schulter, zog
sie zurück. Sie beugte den Kopf: „Oh.“ Auf den schwarzen Boden sah sie;
still mit schlaffen Armen stand sie, rief matt einen Namen. Zwei Frauen
erhoben sich aus dem Feld, liefen neben sie. Klagend schwach Venaska:
„Dieser Mann heißt Kylin. Er hat Tika On erschlagen. Bei Montauban ist
er ihr begegnet.“ Drohend verwirrt die Frauen. Venaskas Kopf hing auf
der Brust. Kylin: „Ich habe nichts mit diesen zu sprechen. Ich will dich
allein sehen, Venaska.“ Sie bewegte den Kopf nicht: „Das kann ich nicht.
Du wirst mich umbringen.“ „Ich bin kein Mörder.“ „Du bist es. Ich fühle
es.“ Sie nahm den Arm einer Frau: „Komm mit in den Hof. Wir wollen uns
setzen.“

In ihrem Haus ließ sie die Türen und Fenster offen. Sie setzte sich in
einen Winkel. Eine Zeitlang sprachen sie nicht. „Was willst du von mir,
Kylin? Du heißt Kylin. Du bist Hojet Sala. Der steile Absturz.“ „Ich muß
dich erfahren.“ „Was ist das.“ „Wir sind nach Grönland gefahren, weil
man uns schickte, Venaska. Die Stadtschaften, die jetzt zugrundegehen,
hatten uns geschickt. Wir waren in Island, einer Vulkaninsel, und über
Grönland. Ich selbst habe geholfen den Plan der Senate auszuführen. Das
ist das Erste. Das Zweite: es hat uns etwas Furchtbares überschüttet,
uns gerüttelt mich und die anderen, die noch leben blieben. Das war das
Zweite. Dann haben wir, habe ich zugebissen. Das habe ich, Venaska. Ich
wollte das, was mich zuschüttete. Ich habe mich ihm unterzogen. Genauer
kann ich es nicht sagen. Und weil ich das getan habe, habe ich Tika On
beseitigt. Da blieb nichts weiter übrig. Ich habe sie nicht aufgesucht,
sie ist gekommen.“ „Hojet Sala, ich höre nur den Ton deiner Worte. Was
willst du von mir.“ Kalt blickte der langbärtige Mann auf sie: „Du bist
nicht gekommen. Dich habe ich aufgesucht. Komm näher, daß ich dich
fühle.“ „Weißt du, was du sagst.“ „Ja.“ In ihm dachte es: „Dies ist der
Nebel. Ich bete an. Wenn ich erliegen soll, so soll es sein. Dann tauge
ich nichts. Es kommt nicht auf einen an.“ Sie stand in dem Winkel auf:
„Dreh mir den Rücken zu. Sieh mich nicht an.“ Er wartete, immer dachte
er: „Es kommt auf mich nicht an.“ Aber nur Sekunden. Plötzlich erweichte
er: es ist die Entscheidung; ich wage die Probe; entweder steh ich unter
Schutz oder nicht. Er drehte ihr den Rücken zu. Venaska hatte sich nicht
aus dem Winkel entfernt. Ihre sanfte Stimme: „Wohl tust du mir, daß ich
dich sehen kann. Ich habe dir Unrecht getan. Ich komme schon zu dir.“
Glitt von rückwärts zu ihm, zog ihn ans Fenster, lächelte das Mädchen
an, das in die Türe trat: „Bleib nur draußen.“ Sie drückte, in der Mitte
des kleinen Raumes stehend, ihr Gesicht an seine stumpfe zerschrammte
Lederjacke, umfaßte seinen Kopf mit den Händen. „Ich habe dich vorher
tönen hören, Hojet Sala. Jetzt mach ich mich auf die Reise nach
Grönland. Da. Mir begegnet nichts. Der steile Absturz schadet mir nicht.
Hör draußen! Unsere Vögel. Vögel! Nichts schadet!“ Sie löste sich
lächelnd, nahm summend seine Hände: „Angst habe ich doch vor dir, Hojet
Sala. Aber du tust mir nichts. In dir keimt etwas für mich. Laß es nicht
verkommen.“ „Warum gehst du?“ „Milch bringen lassen.“ Sie trank von
ihrem Glas, gab es ihm: „Tu mir die Freude. Damit ich die Angst
verliere.“ „Hätte ich etwa“ dachte es in ihm, „die Tika On nicht töten
sollen. Ich hätte sie auch so erlegt.“ Er trank aus ihrem Glas. „Und
jetzt willst du gehen, Hojet Sala?“ „Ich dachte zwei Tage bei dir zu
bleiben. Ich war auf Schlimmes gefaßt, Venaska.“ „Und jetzt?“ „Jetzt
gehe ich zurück.“ „Und kommst nicht wieder?“ Er lächelte: „Du hast noch
Furcht vor mir, Venaska. Deine Milch war gut, ich trank auch aus deinem
Glas. Ich will meinen Freunden sagen –“ „Was?“ „Ich weiß noch nicht. Daß
du mich steiler Absturz, Hojet Sala, genannt hast. Und –“ Da legte er
sich in seinem Stuhl zurück, faßte seinen Dolch, schloß die Augen. Sie
betrachtete ihn lange. Er öffnete die Augen: „Gut war es bei dir. Ich
habe keine zwei Tage gebraucht. Ich kam her, ich gestehe es dir,
Venaska, mit dir keine Gnade zu haben. Tika On, es lohnt nicht über sie
zu sprechen, mußte hin. Ich hatte vor dir Furcht, daß du zunicht machst,
was uns in Grönland – geworden ist.“ „Und jetzt? Und wieder jetzt?
Erkenne ich dich nicht, Hojet Sala? Gleich wie ich dich sah, wollte ich
dir den Namen geben.“ Sie wollte vor ihm hinfallen.

„Küß den Dolch.“ „Das ist der Dolch, mit dem du sie –“ „Nein, mit den
Händen tat ich das. Du mußt den Dolch küssen.“ Sie umarmte Kylin, weinte
an seinem Gesicht. Er murmelte finster: „Nicht das, Venaska. Küß den
Dolch.“ „Muß ich das?“ Er zitterte, machte sich von ihr los, ballte die
Faust, seine Augen waren weit: „Küß den Dolch.“ Er hielt ihr den Griff
mit dem Vulkanzeichen hin. Sie beugte den Kopf mit der Feigenblüte, zog
den Dolch an den Mund. Er keuchte noch: „Wie kannst du es wagen“, und
rührte sich nicht. „Geh nicht so, Kylin. Was hab ich getan.“ Er ging aus
der Tür, über den Hof. Venaska hinter ihm: „Verzeih mir.“ Erst an dem
Fuß des Hügels, auf dem sie wohnte, stellte sie ihn. Er blickte sie
nicht an: „Warum läufst du hinter mir?“ Dann war er ruhiger: „Wir haben
nichts zu besprechen, Venaska.“ Sie griff nach seiner Hand: „Gib mir den
Dolch.“ Sie küßte ihn lange, inbrünstig: „Möge dir jeder Kuß wohltun,
lieber Dolch. Mein Kuß wird trocken: vergiß ihn trotzdem nicht.“ Kylin
betrachtete den Dolch: „Lieber Dolch, lieber Dolch“, lächelte er,
umarmte sie. Sie standen unter einem Oleander: „Zittere nicht. Jetzt
nehme ich selber deine Küsse an. Ich weiß wieder, wie süß Menschen sind.
Du bist sicher das Süßeste von ihnen. Ruhig, Venaska.“ Sie nahm den
Feigenzweig vom Haar, gab ihn ihm. Wie sie vor ihrem Haus war, brach sie
in Weinen aus, weinte lange auf der Bank vor dem Haus, von den Frauen
gehalten. Kylin kehrte nach wenigen langsamen Schritten zu dem
Oleanderbaum zurück, den Feigenzweig an der Brust: „Gesegneter Ort.“
Streichelnd legte er den Zweig von sich an den Boden, berührte die Erde,
ging davon.

Östlich von Toulouse auf der Hochfläche von Sidobre warfen sich bei der
großen Zusammenkunft der Islandfahrer die ersten Menschen in das Feuer.
Den fünf Geopferten ging Idatto voran freiwillig in die Glut. Der Zarte
war schon lange nicht mehr bei Kylin; die schmachtenden Geister hatten
sich seiner bemächtigt. Er fand nicht den Entschluß, sich von Kylin zu
trennen; das Brandmal auf seinem Arm blickte ihn an. Und wie die Flamme
brauste auf Sidobre, süß geheimnisvoll und streng, wußte er seinen Weg.

Das Gerede von den Islandfahrern verbreitete sich in den Landschaften.
Die strengen bändigenden Feuer sah man bald überall brennen. Der Steile
Absturz, wie man Kylin nannte, blieb mit ihnen auf Sidobre. Die
Islandfahrer blieben auf Sidobre, bis sie fühlten, daß sie die
anflutenden Erdgeister bezwangen. Dann blickten sie weiter um sich. Die
reinen niederwerfenden Feuerbrände waren schon weit vor ihnen nach
Norden getragen worden. Die Siedler sammelten sich um das Licht; die
sicheren harten entschlossenen Menschen, die vom Meere kamen, heischend
sich bewegten, überwältigten sie.

Die Islandfahrer drangen durch das ganze südliche Land. Als Kylin sah,
daß die Feuer sich nach Norden bewegten, die Siedler sich
zusammenballten, verließ er Sidobre.

Er spannte frische Pferde vor seinen Wagen, lenkte ihn, sein Innerstes
stählend, auf die erdversunkenen Stadtreiche.

                   *       *       *       *       *

Aus den Erdgewölben, in denen Mentusi und Kuraggara saßen, waren neue
Wesen hervorgelaufen; die Giganten hatten sich mit ihren Gehilfen
zusammengetan, die ihnen die Türen der Versuchsgewölbe öffnen mußten.
Als Wiesel, kleine grauhuschende Mäuse fuhren sie aus den Türen.
Flitzten durch die Straßen, immer in Gefahr erschlagen zu werden,
kratzten pfiffen vor den Versuchsgewölben. Und nach Tagen flogen sie als
Reiher mit dicken Köpfen, schwerhängenden Köpfen über die Plätze der
Erdstadt, spreizten die Flügel, streckten die Hälse aus, fuhren durch
die Schächte auf. In den Laboratorien mußte man sie in Menschen
zurückverwandeln. Da standen sie dann, schüttelten sich, als kämen sie
aus dem Wasser hervor, murrten, fanden sich nicht zurecht, machten sich
zu einem neuen Sprung bereit. Dumpfer heißgewalttätiger kamen sie aus
den Verwandlungen hervor. Ihre Gehilfen und Gehilfinnen waren Männer und
Männinnen wie sie. Die Giganten fielen die Gehilfen, wie sie aus den
Bädern Feuern Spannungen der Verwandlung stiegen, oft noch in dem Drang
des Tierischen an, schlugen sie, zerstörten Apparate. Man hatte schwer
die wieder Menschgewordenen zu bändigen. Die Lust, sich in Tiere zu
verwandeln, erlosch bei vielen Giganten Londons und Brüssels, als man
einige von ihnen erschlagen und in Stücke reißen mußte, wie sie nach
ihrer Wiederkehr über die Gehilfen, kostbare Apparate fielen.

Gierig machten sich da Giganten Londons daran, Menschen aufzugreifen, in
Massen, in immer größeren Massen, um ihre Kräfte zu zeigen. Vor ihren
stierwilden Gehirnen stand die Erinnerung an die schrecklichen Gebilde,
die die fallenden zerschellenden Urtiere unter sich geschaffen hatten:
die mit Mensch Tier Pflanze Stuhl Tür aufbrausenden kochenden Häuser.
Die Fahrt nach Island und Grönland war nicht vergeblich gewesen, die
Urkraft war in ihren Händen, sie wollten sich ihrer bedienen. In zwei
Wochen vollendete Kuraggara, die Männin, selber in eine Fledermaus
verwandelt, in London ein schreckliches Werk. Sie konnte wie ein
grönländischer Drache speicheln; ein Tropfen des Speichels lief über den
Schleier, den sie, selber geschützt, an ihrem Hals trug. Schon wuchsen
unter ihr die Balken, die Eisenträger dunsteten auf und quollen,
entsetzlich dicke Menschenarme schwollen lang aus den Fenstern,
zerbrachen die Fensterrahmen. Die Gebäude wurden von Fleisch umwuchert.
Die unterirdischen Gewölbe mit Menschen, Häusern, Wagen wuchsen zu,
durchwühlten einander. Von der Erdoberfläche waren die Menschenmassen
vor den Grönlandbestien geflohen; jetzt saßen sie, hingen wie ein
Korallenstock unter der Erde. Und Kuraggara, von Tag zu Tag wieder
Mensch, jauchzte. Mentusi, Kara Ujuk, Schagitto, Dejas Tessama wurden
von ihrem Fieber angesteckt. Über die fliehenden vor Angst wahnsinnigen
Menschen im untersten Teil Londons fielen sie, surrten als Kolibri,
schrien als Goldfasan Häher Elstern, ließen sich jagen, tropften ihr
Gift. Der unterste Teil Londons, die Wasserstadt, wurde von den
täuschenden flatternden Tieren begraben, Stein Sand Mensch Eisen
ineinander gequirlt. Der Boden dort sank ein; Wasser schwemmte in die
Spalten, die Hohlräume, die sich bildeten. Delvil, der Gewaltigste von
ihnen, tat den flatternden Tieren Einhalt, erschlug einige von ihnen,
kämpfte die anderen, die wieder ihre Gestalt angenommen hatten, nieder.
Er drohte ihnen: „Das tat not, daß ich mich für euch mühte. Es tat not,
daß wir für euch Menschen nach Island schickten. Der Schleier für euch!
Nehmt euch in acht. Vier leben nicht mehr.“ Sie brüllten, was er
vorhabe. Er tatzte eisig nach ihren Gesichtern: wenn sie begriffen, was
er vorhabe, wäre es ihm recht; vorher sollten sie ihren Verstand bei ihm
legitimieren.

Mentusi und Kuraggara, die noch lebten, zwang er zu sich nach Cornwall
herüber in die Dartmoorwaldungen. Auf Tieren, die sie sich geschaffen
hatten, flachen Riesengeschöpfen, in deren Brustkorb sie saßen wie das
Herz der Tiere, flogen sie an. Er zerbrach den Tieren die Hälse:
„Kuraggara, das war dein Tier, das braune. Und das war deins, Mentusi.
Das sind eure Späße. Damit glaubt ihr mir vor die Augen treten zu
können.“ Kuraggara, wie eine Tanne hoch, hatte den Rumpf eines Menschen.
Als Baumkänguruh war sie zuletzt gesprungen; braun und behaart war noch
ihr Gesicht, schnauzenförmig verschoben Kiefer und Nase, kleine spitze
Ohren drehte sie am Hinterkopf vor. Sie stand eingesunken auf den
plumpen bekrallten Hinterbeinen, den buschigen Schwanz schlug sie vorn
um den Leib. Schläfrig hörte sie auf Delvil. Mentusi hatte den langen
rostbraunen Hals eines Gänsegeiers. Mit klatschendem Flügelschlag senkte
er sich auf den Steinboden vor Delvil, hob den spitzen Menschenkopf,
sträubte die Rückenfedern. Er hauchte dehnte sich: „Schlag nur den
Kasten tot. Wir machen uns neue.“ „Du unsauberes Tier. Sieh, was hängt
an dir, an deinem Federkragen. Das sind Därme!“ „Gut gesehen.
Pferdedärme, Delvil. Die Menschen früher hatten nicht unrecht, Tiere zu
fressen, die aus den Leibern anderer kamen. Das schmeckt mir besser als
Meki. Ich werde noch Siedler.“ Delvil patzte ihm eine Handvoll Steine an
die Stirn. Mentusi schnurrte zurück, lüftete die Schwingen, kreiste mit
eingezogenem Hals zweimal um Delvil, ließ sich krächzend nieder.

„Und du, Kuraggara, was stehst du.“ Delvil, ein Mensch von Gestalt,
haushoch sie überragend, griff sie am Nacken an: „Schläfst du. Du hast
gesehen, wen ich in London totgeschlagen habe. Willst du’s auch.
Brauchst nur sagen. Mach dich zu einer Ameise oder zu einer Laus, das
ist bequemer für mich.“ „Du bist neidisch auf uns, Delvil. Du gönnst uns
unser Vergnügen nicht.“

„Was ist euer Vergnügen.“ Mentusi flog an ihm hoch: „Ist wohl Delvil zu
guter Letzt Hüter der Menschen geworden. Was gehen dich die Menschen an.
Mich gehen die Läuse und Ameisen ebensoviel an wie die Menschen.“ „Mich
kümmern die Menschen auch nicht, du Aasfresser.“ Delvil kollerte über
das Steinfeld: „Ich und Menschen. Ich und mich um die Menschen kümmern.
Du hältst mich für einen Propheten und Führer. Ich sehe wie Marduk aus.
Das ist vorbei, Mentusi. Die kümmern mich nicht mehr. Sie mögen siedeln
oder Städte bauen oder Baumborke essen oder Schwefelsäure trinken. Aber
trotzdem seid ihr Schufte, du und Kuraggara und Schagitto und die
andern, die ich totgeschlagen habe. Ihr könnt spielen soviel ihr wollt.
Ihr treibt es zu wild.“ Kuraggara hob sich auf ihren Sohlen auf: „Da war
nichts wild. Du gönnst uns nichts.“ Delvil stieß mit dem Knie gegen sie.
Sie klapperten unter seinem Steinregen in das Dickicht.

Delvil dachte nur daran zu wachsen. Er verließ die Berge Cornwalls
selten. Eine kleine Zahl inbrünstiger Gehilfen hatte er. Dejas Tessama
schickte er nach Irland, einen Mann wie er. Sie wollten Grönland und die
Urtiere nicht vergessen. Die Kette der Turmmenschen stand noch auf dem
Gebirge, am Meer. Mit Inbrunst Weinen Haß betrachtete sie Delvil: „Das
waren meine Freunde. Sie haben die Bestien aufgehalten. Wir haben sie
opfern müssen.“ An den dunklen traurigen Wesen ging er vorüber. Er ließ
sie verfallen, man brauchte sie nicht mehr. Sie vertrockneten zwischen
den Steinen und Balken; ihr entsetzliches Gestöhn, tierartiges müdes
Blöken hallte monatelang über den einsamen Bergen, über den wüsten
Wasserflächen von Schottland nach Skandinavien. Die lockenden
Schleierteilchen senkten sich mit den schrumpfenden Riesen. Steinmassen
über Menschen- und Tierreste. Herab von den Flößen in die See.

Delvil dachte nur zu wachsen. In Cornwall hielt er wochenlang. Sehr
langsam ließ er sich auftreiben; er wollte nicht wie die Turmmenschen
mit dem Boden verkitten. Felsblöcke konnten sich um ihn werfen, Wasser
Balken. Oft wurde sein Bewußtsein dunkler und man mußte lange anhalten,
damit nicht die Geister der Steine die Oberhand über Delvil gewönnen.
Als ein ungeheures menschenähnliches Geschöpf schob sich Delvil vor
London. Hatte Füße Zehen Knie eines Menschen. Dunkelbraune fellartige
Haut. Sein schilfernder Leib trieb Warzen Beulen Brüste vor wie Erker
und Kuppeln. Ein glockenartiges armbewegendes Geschöpf stieg aus seiner
Magengrube. Aus den Weichen wuchsen schwarze und graue sich ringelnde
spielende Schlangenleiber, bewegliche augenöffnende Röhren, die sich um
seine Beine legten, um ihn zu liebkosen, die für ihn soffen und fraßen.
Die Brust oben schwoll in langsamem Takt. Bäche sogen die
Schlangenleiber auf; ihr Bett wurde leer; die Bäche liefen durch Delvils
Leib. Er sah die Siedler unter sich laufen: „Krautfresser. Menschen. Das
ist die Erlösung der Menschen. Erlösung! Kraut zu fressen! Menschen!“
Die Gräser Bäume Pferde Rinder betrachtete er mit seinem trüben Blick.
Der Wind blies um ihn. „Der Wind, das ist etwas. Der Berg.“ Er stampfte
um London, weil er sich fürchtete, den Boden zu zerbrechen. Über den
sturmbrausenden Kanal stieg er; das Brausen hielt er aus, bis es ihm den
Atem benahm. Bei Calais setzte er sich schnaufend hin, rüttelte an
Strandfelsen. Ten Keir schweifte um Brüssel. Er sah die Verfinsterung
des Himmels, den wolkenhoch anschaukelnden Giganten, hörte das
meilenweit vernehmbare Grunzen Gurgeln Wasserrieseln Pfeifen der
Schlangen. Voll Ekel floh er unter die Erde.

Trübgierig irrte Delvil über den Kanal zurück, suchte tastend den Weg
nach Cornwall. In Fudern schluckte er das Gestein. „Menschen.
Krautfresser. Das ist ihre Erlösung.“ Er dachte dunkel: „In der Erde
wurzeln. Wie die Berge. Es wird sich alles herausstellen.“ Und kaute
mahlte schloß die Augen.

                   *       *       *       *       *

Die Giganten zogen auf Jagd. Kuraggara wollte nach Grönland. „Laß mich
über das Meer fahren“ lachte sie den brütenden Mentusi an „komm mit. Ich
jage auf Wunder. Du schläfst.“ Mentusi flog auf: „Laß sehen.“

Sie waren zwei Geier, die über das Meer schossen. Sie stießen durch den
Sturm, Möwen zerrissen sie und trieben sie sich zu. Das Meer wogte, eine
schwarze schillernde Platte, unter ihnen. Sie fuhren herunter, hackten
Walen in die Köpfe. Schrie der Sturm: „hi!“ schrien sie: „hi“. Sie
durchbrachen den Wind. Eisberge, die weiße Kälte flimmerte unten auf.
Kuraggara schleuderte sich lustig in der Luft herum: „Wir sind bald da.
Mentusi, wir haben es. Es war kein Drache da. Ist keiner gekommen. Sie
sitzen im Eis fest. Wir wollen sie aufstöbern.“

Kein rosafarbenes Licht glomm mehr um sie. Das weiße Dämmern. Wallen des
Nordlichts. Da war Jan Mayen. Wo war der Mutumbo, der sich in die
Flachsee ein Loch gebrannt hatte, mit den Schiffen sich herabgelassen
hatte auf den Meeresgrund. Das tosende Wasser war über ihn gekommen. Das
Rosenlicht blühte vom Himmel, in gleichmäßiger Seligkeit machten sie
Steinchen, Hölzchen, kleine Wellen, große Wellen zu Geliebten. Dann
rollten schwarze Gewitterwolken an, Zyklone; und sie jauchzten noch. Und
dann die flimmernde gleißende Wolke der fliegenden Lurche, der
langhalsigen mit knochigen Kragen, Füchse in ihrem Gefieder. Spritzen
Gießen von Tieren. Dröhnen der durchbrochenen Schiffsmauer. In das
gewalttätige Wasser waren sie in einer Minute eingewühlt. Wie Öl die See
schillernd über den verschwundenen Schiffen. Vorbei Jan Mayen.

Bergketten tauchten im Ozean auf. „Das ist es“ jauchzte Mentusi, senkte
sich. Es waren Inselgruppen. Und neues Wasser, stärkeres Schäumen,
Brandungslinien. Weiße Gipfel, flache hüglige Ebenen. Die Geier
krächzten, die Schwingen weit entfaltet, unbeweglich, ließen sie sich
herab. „Grönland, Mentusi.“ „Kuraggara, ist das Grönland.“ Wonnig
kreischte Kuraggara: „Weißt du, was du vergessen hast die ganze Reise?
Weißt du? He? Die Drachen.“ „Die Drachen.“ „Ja, Mentusi. Jetzt greifen
wir sie an. Hast du sie gesehen. Ich keinen einzigen. Wo sind denn aber
die süßen Tiere, die uns solche Angst gemacht haben. Wo haben sie sich
denn versteckt und wollen mit uns spielen.“ Sie prustete, tanzte auf dem
Schnee, schlug mit den Flügeln, daß der Schnee stob: „Tot! Tot!
Verreckt! Krepiert! Verendet! Vernichtet! Drachentod. Komm, wir wollen
sie suchen. Ich möchte mit ihnen spielen.“ Sie sausten im Fluge die
Berge ab. Schneemassen Eisplatten überall. Durch gelles weißes Licht
schossen sie einen Tag, das Land endete nicht, dehnte sich unermeßlich
weiß hin. Wie die Schwärze vom Himmel ausgebreitet wurde, Schneegestöber
sie blendend einhüllte, lockte Kuraggara: „Ich seh eine Kluft. Wir
warten die Nacht ab.“ Müde saßen sie unter einem Fels, schliefen
träumten. Sie segelten über dem Meer, hoch in der Luft, die Flügel
ausgespannt, ohne Bewegung, und wurden getrieben.

Bei stechendem Sonnenschein wachten sie auf, Kuraggara wollte weiter
fliegen. Mentusi, die Federn gesträubt, knurrte: „Warte, ich habe etwas
geträumt. Ich will nicht in den Schnee. Wo sind die Drachen. Ich habe
geträumt, sie liegen hier.“ Und sogleich fing er an über der Kluft zu
kreisen. Der andere Geier ihm nach: „Ich sehe nichts.“ „Sie liegen hier.
Unter dem Schnee.“ Sie krallten sich in den Schnee des Abhangs ein,
schlugen mit den Flügeln um sich, wehten ihn fort, mit Klauen wühlten
und kratzten sie. Der Schnee lag locker. Das Eis war lose bröcklig; es
war ein Firn, blau weiß, der sich eben bildete. Sie warfen ihre warmen
Körper an das Eis; es rann und floß weg. Wie ihre Klauen ermüdeten,
nahmen sie die Köpfe, bohrten und hämmerten mit den Stirnen. Sie wälzten
sich wie Räder, bis sich ihre Fänge wieder erholt hatten. Da brach auf
einmal knarrend die Eis- und Schneemasse über ihnen von der
Abhangsspitze herab. Ein Stück wurden sie abwärts gerollt, fast
erstickend unter den Schneelasten. Dann schossen sie seitwärts hoch. In
der Luft trafen sie sich: „Bist du es, Kuraggara?“ „Lebst du, Mentusi.
Ich kann nicht weiter. Ich kann nicht, Mentusi.“ Sie saßen verschnaufend
in der Ebene, eine Stunde. Mentusi jagte auf, zögernd flatterte die
andere.

Kreischte Mentusi, war verschwunden. Angstvoll erhob sich die andere,
höher, höher. Sah den andern, den Riesengeier. Er hing an der Wand,
bewegte sich hackend auf und ab. Sie näherte sich, erschrak. Stieß ein
Kreischen wie Mentusi aus. Die Wand war schwarz und braun. Dünner Schnee
überrieselte sie. Da ragten die Äste einer Baumkrone hervor. Starke Äste
eines schief lagernden niedergebrochenen Baumes. Die kleine Lawine hatte
die ganze Wand des Abhangs entblößt. Mentusi lief unten eine sonderbar
gewundene Linie ab. Er schrie und hackte. Kuraggara flog herzu. „Das
sieh, Kuraggara. Was sich hier biegt. Es bewegt sich nicht. Knochen
Wirbel. Da, Rippen. Hier der Kopf, die Augenlöcher.“ „Ein Drache.“
„Einer, meinst du. Hier liegen nur Drachen. Hier liegen sie alle. Es war
ihnen zu kalt. Ist aus mit ihnen. Sind eingeregnet, eingeschneit.“ Und
sie stöberten den Abhang ab. Er war von einem Wald mit Bärlappbäumen
bestanden gewesen. In kalten modrigen Blatt- und Moosmassen rührten sie.
Zwischen Geröll Stämmen Blättern lagen Gerippe und Haufen zersplitterter
Knochen, Eis dazwischen wachsend, Schnee Wasser Erde darunter rieselnd.
Kuraggara schrie, flog auf, schaukelte sich in der Luft über dem Abhang:
„Die Drachen, die uns erschlagen wollten. Die Drachen, die die
Stadtschaften verwüstet haben. Ha! Ha!“ Mentusi schaukelte sich neben
ihr: „Kuraggara, über das Land, über das ganze Land.“ Sausten durch das
Schneegestöber durch die Böen des eisigen Windes: „Das ganze Land unsere
Fahne. Unsere Siegesfahne. Da liegen sie, da und da und da. Tausende,
Millionen! Überall, wo es weiß ist. Der Schnee tut nichts als sie
begraben. Und uns –“ Mentusi schnellte sich hoch, kreiste. Kuraggara,
lachend: „Uns haben sie ihr Leben gebracht. Gerippe auf Grönland. Leben
bei uns. Ha. Wollen noch Schnee fressen. Schnee Schnee.“ Und sie
schluckten den Schnee. Der fiel über den Erdteil, versenkte die Wälder
bis über die Baumkronen, brach die Stämme nieder, zerrieb sie, löste,
was an Tieren zwischen ihnen lag. Auch die Fetzen des verkohlten
Riesenschleiers von Turmalin, der ihn einmal beherrscht hatte.

Schrill Kuraggara: „Nun, wie gefiel dir die Fahrt, Mentusi. Ich fresse
mir den Magen mit Schnee voll; er ist unser Freund. Jetzt wollen wir
zurück. Ich hatte mich auf ein anderes Wunder gefaßt gemacht. Aber auch
das gefiel mir.“ „Und mir. Wenn ich erst zu Hause wäre. Wir müssen viel
tun, Kuraggara. Ich habe unendlichen Durst, viel zu tun. Tun, tun.“
„Komm. Ein Tag, zwei Tage, wir sind zu Hause.“

Die Berge und Eisfelder vorbei. Den Atlantischen Ozean überflogen,
Meridian auf Meridian. Das lungernde Wasser, das schlackernde wehende
Fell des schwarzen feuchten Untiers. Klippen und weiße Brandung: die
Shetlands Orkneys und Färöer. Schottische Bergketten, die Hochflächen.
Kleine Schafherden bewegten sich unten; Menschen Siedler. Tun, mehr tun.
Die beiden Geier schrien warfen sich in der Luft. Sie sausten mit
zurückgebogenem Hals, blinzelten begehrlich gradeaus: meilenweite
Trümmerfelder bis zu den Küsten; das grollende Meer im Süden. Das war
London. Die Schimmelpilze der Siedlungen hatten es am Rande überzogen.
In die Schächte und Spalten hinab die beiden Geier, den Kopf voran, die
Fänge an den Bauch. Sie krächzten.

Und da sie Delvil nicht sahen, taten sie, was sie wollten. Mit dem
Geheul von Panthern erfüllten sie die Gewölbe der Erdstadt. Sie
vervielfachten sich. Als die erschreckten Menschen die schrägen
Spaltenwände hochliefen, die Schächte auffuhren, standen die stampfenden
Mammute da. Die Rüssel schwangen sie wagerecht und senkrecht wie Keulen
Peitschen Hämmer Steine. Wie sie die Rüssel gedreht über den platten
Kopf warfen, die rote Riesenkluft der Mäuler entblößten, weiß heraus die
Balken der Stoßzähne, gähnten sie klingend und rollend hell. Der Schall
fuhr wie Meereswut über die wimmelnden Menschen, die auseinanderstoben.
Die Mammute, die grauschwarzen, tanzten. Schächte traten sie ein. Die
Menschen warfen sich aus den Erdkammern hoch. Die weiße Luft, der
neblige Himmel war da, blasender Wind und Untiere, wie aus der
Grönlandzeit. Sie ließen sich betäubt in die Stockwerke der Erde wieder
herunter. Dann hinter ihnen das gräßliche Tiergebrüll, die Giganten. Sie
waren außer Rand und Band; ihre Macht hatte sie zum Toben gebracht. Wie
konnte man fliehen. Schächte eingestürzt, der Zugang zu den Mekifabriken
verschüttet. Durch alle Risse quollen die Menschen herauf, verstopften
die Wege. Dem Geheul der Tiere lief man entgegen. Wo das Geheul war, war
eine Öffnung. Mentusi und Kuraggara, Gestalt um Gestalt wechselnd,
tosten; Glück rasselte in ihren Kehlen: „Tummtumm! tumm tumm!“

                   *       *       *       *       *

Dann ließen sie das kreischende London los, das Strudeln krabbelnder
zitternder Menschen. Es durstete sie nach Cornwall zu Delvil. Fünf
Giganten waren hinter ihnen her, die letzten, die London gemacht hatte.
Zwei hüpften als Heuschrecken, hoch wie ein Mann, rieben die glashellen
pergamentenen Flügel gegen die Hinterschenkel, daß Schrillen mit ihnen
lief. Sie schnellten sich mit dem letzten spitzwinkligen Beinpaar,
flügelausbreitend, hoch, schossen im Satz über die Gesteinshalden. Die
drei anderen flogen als gelbe Wolken von Blütenstaub. Der Staub
schwankte und löste sich manchmal, dann ballte er sich zusammen, schoß
vorwärts wie ein geworfener Stein.

Durch den Dartmoorwald ging Delvil; Cornwall verließ er eben. Eine gelbe
Wolke, wie ein Mückenschwarm singend, legte sich weich vor seine großen
dunklen Augen. Er hob einen Arm, um den Schwarm zu verjagen. Der legte
sich dichter, nach Linden duftend, an, schwoll über seinen Nasenrücken
gegen den Mund. Die Schlangen aus seinen Weichen zuckten auf, gegen eine
Wolke, die sich um die Hüften legte. Die Schlangen rissen peitschend
hochschnellend Spitzen von Tannen ab, zersplitterten Äste. Unter dem
Hagel der Baumstücke wichen die Heuschrecken, die sich schrillend
näherten, durch den schwarzen Wald. Delvil wandte seinen Rücken gegen
die Wolken, nieste wischte sich die Augen mit dem behaarten Arm. Und wie
er tief atmete hustete spie, – das Summen näherte sich von rückwärts
seinen Ohren, er beugte den Kopf, – zerriß das Gelächter Mentusis und
Kuraggaras die Luft. Ihre Flügelschläge sausten über den Tannenspitzen.
Sie krächzten; rostbraun ihre gierig vorgestoßenen fast nackten Hälse;
die Federn der Halskrempe grau; und sie flatterten in der Luft. Da
erkannte Delvil die Giganten, mit denen er kämpfte. Er war auf dem
trüben suchenden Wege wieder nach dem Festland gewesen. Er griff mit den
Fäusten nach seinen Ohren, an seinen Mund, in die kitzelnden Wolken des
Blütenstaubs. Die Massen, die auseinanderglitten, faßte er krampfend
zwischen die Finger, quetschte, zerwarf sie, stieß mit den Ellbogen die
aufdrängenden, zueinander quellenden Wolken zwischen seine Knie. Da
klemmte er sie fest. Der Staub verfärbte sich, wurde rot, glühend. Aus
dem Summen war ein rasch abbrechendes Zischen Zwirbeln wie ein
Drosselschlag geworden. Die Schlangenmäuler weit gesperrt schnappten
schlürften schluckten an der wallenden Masse.

Während die Schlangenleiber kuglig anschwollen und sich wurmartig
drehten rollten schaukelnd abplatteten, hob Delvil wieder den
mähnebeladenen Kopf, auf dem Tannenäste lagen. Langsam drehte er sich
um. Die beiden Gänsegeier, die Weißköpfe, mit schlaff hängenden Flügeln,
die Schultern hochgezogen, krächzten ihn von den Baumgipfeln übermütig
an. Brüllte Delvil: „Ihr, Kuraggara, Mentusi, ihr seid’s.“ Mentusi
lachte: „Sieh dir den Haken an meinem Schnabel an. Damit zerreiß ich dir
das Fell.“ Kuraggara: „Ich bin heut schmutzig. Heut war es nicht
Pferdeaas. Heute war es Menschenaas.“ Keuchte Delvil. Seine schwarzen
feuchten Augen traten hervor. Lange sprach er nichts. Dann brüllte und
weinte er: „Das tut ihr. Das tut ihr. Darum ist alles geschehen. Den
großen Krieg geführt. Grönland befahren. Die Drachen verjagt.“ Kuraggara
hob sich auf den blaugrauen Fängen: „Von Grönland kommen wir. Darum sind
wir lustig. Die Drachen haben wir gesehen, unter Eis. Jetzt sind wir die
Drachen.“ „Du, Kuraggara, bist. Und du, Mentusi, bist. Und Pferde freßt
ihr. Und Menschen freßt ihr.“ Und Delvil weinte. Sein Leib war in einem
furchtbaren Schütteln. Die Geier flogen rückwärts. Winselnd und leise
fauchend trat aus der Magengrube Delvils der korallenrote Riesenpolyp,
die Purpurrose; die Wimpern der hundert Fangarme schlugen heftig; die
Fangarme krümmten sich über den Mund. Und plötzlich während die
Schlangen Springbrunnen von Wasser in Stößen hochschleuderten, fuhren
Steine Baumstücke aus dem würgenden Schlund des leuchtend hochgehobenen
starken Polypen; die Arme erzitterten; wie Augen blitzte unter der
Mundscheibe ein Kranz blauer Warzen.

„Ich lebe nicht mit euch“, ächzte Delvil, „ich bin nicht von eurem Blut.
Nach dem Festland will ich. Ich will zu Marduk.“ Die Geier schrien:
„Hähä! Zu Marduk. Willst Kraut fressen. Können dich brauchen. Werden
sich freuen.“ Schon krachte und prasselte der Wald, Delvil ging. „Ich –
zu Marduk. Ich – zu Marduk.“ Er wimmerte; stürmisch watete er vorwärts.
Die Heuschrecken waren verschwunden. Der Blütenstaub lag wogend
verzuckend in dicker Schicht über dem Boden. Kuraggara und Mentusi
machten sich kreischend Mut, stoben hinter Delvil, saßen auf seinen
Schultern, schlugen sich mit den spritzenden Schlangen.

Den brausenden Kanal überschritt Delvil. An der Küste erschien er in
Wolken grünschwarz, taumelnd, schreckenerregend. Den Rhein ließ er erst
nach einem Tag. So lange tranken seine Schlangen an dem Wasser. Dann goß
er seinen Harn in einen See. Der Teutoburger Wald. Den Harz umging er.
In das Gewimmel der märkischen Landschaft geriet er; er kannte sie. Wo
war Marduk. Das himmelhohe dröhnende Unwesen stand tagelang, langsam
abblasend, im Havelland. Die Geier suchten ihn zu reizen. Er schluckte
und bewegte sich nicht. Hier hatte Marduk gelebt. Dann rülpste grollte
schrie Delvil viele Stunden, bis das Land um ihn menschenleer war. Er
ließ sich auf die Knie. Dicht drückte er sein Gesicht an den Boden. Das
Haus, in dem er Marduk gesprochen hatte mit der White Baker – wo war
White Baker – erkannte er. Einen Geier hielt er bei den Fängen fest:
„Mentusi, in diesem Haus ist Marduk. Sein Leib. Den muß ich haben.“
Widerwillig, unter dem Gelächter Kuraggaras gehorchte Mentusi. Träge
schwebte er schon wieder zu Delvil hin; in seinen Krallen schaukelte der
weiße Körper des Mannes, der die Mark zum bösen Gewissen der Städte
gemacht hatte. Unter den Strahlen Zimbos war er gestorben; den Weg zur
Erde hatte er gefunden.

Delvil, der Gigant, lag weit nach vorn gestreckt auf den Knien. Gewitter
und Sommerregen gingen über ihn nieder. Den gefrorenen Körper Marduks
wühlte er in den schlammigen Sand, drückte sich mit seiner Brust,
drückte die isländische Urkraft vor seiner Brust an ihn. Er hauchte
stöhnte tagelang über dem Boden an der Leiche. Bis sich unter ihm der
Körper zu regen begann, der Sand sich ballte, in langen Zügen, dünnen
Linien auf den Körper zulief. Wie ein Gewächs stellte sich auf, stieg
aus dem Boden der hagere graue Leib des Konsuls. Delvil hob sich. Er
häufte mit beiden Armen Sand um den ruckenden nackten Körper, dem der
Kopf fest über die Brust gebunden schien. Wie in Pulsschlägen strömten
Erdhaufen unter den Armen Delvils auf den Körper zu; die Luft wirbelte
und blitzte um ihn. Ihr eigenes Wasser spien die Schlangen Delvils auf
den Boden aus. Als die Brust des hochgestiegenen Körpers, um den die
Erde sich zu einer Grube vertiefte, zu dehnen wölben heben begann, die
Finger sich spreizten, der Leib auf den gebogenen Knien sich
aufzurichten mühte, löste Delvil, ein inbrünstiges Grunzen, tiefes
Blöken ausstoßend, augenrollend, die Arme von dem Wesen, stemmte sich
auf, blieb auf den Knien. Bis an den Hals reichte ihm Marduk, dessen
silberweiße magere Beine in dem Sand wühlten.

Delvil flüsterte, es dumpfte über die Ebene: „Marduk! Marduk!“ Er rief.
Dringender jappste er: „Marduk, Marduk.“ Das Kinn des Konsuls löste sich
von der Brust, der Scheitel stieg auf, die Nase, der Mund trat hervor.
Zwei schwarze Augen stierten blicklos auf Delvils Hals. Die Hände
bewegte Delvil rufend auf und ab. Heftiger traten unten die Füße. „Ah“
stöhnte der Mund, während der Kopf sich von links nach rechts drehte
suchte. Eine Faust schwang Delvil vor dem Gesicht des Wesens auf und
nieder. Der Kopf fing an zu folgen, senkte hob sich mit der Faust. Da
hob Delvil die Faust langsam vor den eigenen Mund, vor seine Augen. Die
Blicke des Wesens waren an Delvils Augen; er näherte sie den Augen
Marduks, bewegte sie hin und her. Zugleich drängte er, eine Hand in
Marduks Nacken gelegt: „Siehst du, du kennst mich. Marduk, du kennst
mich. Ich bin Delvil.“ „Ah“, stöhnte tiefer der Mund, die weiße
Unterlippe klappte herunter; zähes Wasser goß sich in einer Flut
herunter. Angstvoll das Dröhnen Delvils: „Du bist Marduk. Der Konsul der
Mark. Du kennst mich. Ich habe dich sprechen wollen.“ Aus dem Munde des
Wesens, das jede Bewegung von Delvils Mund und Augen verfolgte, quoll
ein langes „Ah“, dann ein ringendes „Was“ unter Erzittern der
Gesichtsmuskeln. Dann röchelte es: „Wer, wer ich.“ Zärtlich Delvil:
„Marduk bist du.“ „Ich?“ „Marduk. Ich habe dich geholt.“ „Wer – Marduk?“
„Du. Der Konsul der Mark. Wir haben hier gesprochen vor langen Jahren.
Du warst in dem Haus unten.“ „Marduk.“ Das Wesen trat heftig mit den
Füßen, blickte herunter zu den Sandstrudeln, stöhnte: „Los. Meine Füße.“
„Blick mich nur weiter an, Marduk. Du wirst wissen, wer du bist. Ich
warte auf dich.“ „Ich – weiter. Ich – weiter.“ „Wir haben unten gelegen.
Dies ist die Mark, wo du gelebt hast. Jetzt ist Zimbo hier. Der dich
beendet hat. Der Schwarze. Achte, was ich sage. Du besinnst dich. Der
Uralische Krieg war, du kamst nach Marke.“ Jetzt glättete sich das
grauweiße Gesicht des Mannes, seine Lippen schlossen, spitzten sich;
Delvil bebte: „Und nach Marke du. Die Menschen, die du geführt hast,
leben noch. Sie sind wie du. Es wird dir Freude machen. Blick unter
dich. Ist keine Stadt da.“

Der Sand schurrte um Marduk; er blickte herunter, zu Delvils dunklen
Riesenaugen zurück, lallte: „Ich kenne. Ich erkenne.“ Delvil jubelte:
„Du kennst es. Die Mark. Hier hast du gelebt. Ist keiner an dich
herangekommen. Du warst groß.“ Der andere blickte zu den Wolken auf,
lallte weniger: „Ich kenne. Ich kenne“, riß an seinen Beinen. Die waren
bis zu den Knien im Sand vergraben, mit Adern Nerven Knochen im Sand
verwurzelt: „Gehen. Weiter. Ich muß weiter.“ Lachte grunzte Delvil:
„Kannst nicht weiter. Warte. Ich mach dich bald frei. Ich bin Delvil.
Ein Riese. Du bist es auch. Es gibt kein lebendes Wesen, das ich
sprechen möchte, als dich. Ich habe Sehnsucht nach dir. Ich muß dich
hören. Du wirst mir antworten.“ „Ich bin ein Riese. Was ist das?“ „Jetzt
kann ich die Hand von dir nehmen. Du verstehst mich. Willkommen, Marduk,
mein Freund, meine einzige Seele. So erbärmlich sind die Menschen,
nichtsnutzig, ohne Stolz. Wir hatten nach Grönland schicken müssen,
Marduk, wir wußten uns keinen Rat. Das Feuer ist jetzt bei uns, Marduk,
das Feuer.“ Ohne Zucken stand der andere, der weißgraue Riesenleib, vor
dem Giganten Delvil, der noch kniete, den Rumpf aufgerichtet, dunkles
Auge in dunklem Auge. Marduk suchte mit den Blicken den wüsten wogenden
Leib Delvils ab: „Das Gesicht Delvils. Ich war einmal hier. Du sagst
Marduk zu mir.“ „Sprich weiter. Es ist deine Stimme.“ „Inzwischen.
Inzwischen. Da war Jonathan. Elina. Zimbo.“ „Das Ende. Du bist in seine
Strahlen gelaufen.“ „An der Havel.“ „Du kamst nicht heraus, hoho. Bist
erstickt. Und jetzt hier.“ „Einen furchtbaren Leib habe ich. Meine Knie
stecken im Sand. Im Sand. Ich muß weiter.“ „Tot, Marduk. Du bist wie ich
durch das Feuer. Wir haben es aus Island geholt, es kann uns nicht mehr
genommen werden.“ Marduks Brust hob sich; seine Augen irrten nach den
Seiten: „Ich – leben. Ich lebe wieder.“ „Niemand raubt dir das Leben.
Wir haben das Feuer. Für alle Zeit, für endlose Zeit haben wir das
Leben. Und nun siehst du es. Marduk, was wollen wir tun?“ Starrte ihm
Marduk auf die Stirn, knirschte gurgelte: „Was ist das? Was redest du?“

Richtete sich Delvil auf, die Schlangen soffen an einem Havelsee. Im
Wolkennebel wiegte sich, lachknurrte sein Kopf: „Feuer besitzen wir. Das
besitzen wir. Unauslöschbares Feuer. Das besitzen wir. Was die Blumen
macht, die Tiere und Menschen macht. Was den Wind und die Wolken macht.
Was die Gase treibt. Das besitzen wir. Marduk. Alles haben wir in
Händen. Ich bin kein Großmaul; ich sage: alles. Dich habe ich machen
können. Meki ist nichts; wir brauchen nicht Meki. Wir haben die Urwesen
selbst.“ Sein Atem dampfte oben.

Das Gesicht Marduks füllte spannte sich bei Delvils Worten. Die Erde
hörte auf in gleichmäßig pulsierendem Schwall auf Marduk zuzurollen,
klumpte sich, lag glatt, klatschte in seine Glieder, zu ihm auf. Marduk
atmete: „Das ist es. Sprich mehr, Delvil. Ich habe lange nicht gelebt.“
„Nicht so lange. Wir gehen rasch. Nur Jahrzehnte sind vorbei. Es gibt
dumme Tiere, deren kann man nicht Herr werden durch Gewalt oder
Weisheit. Nur durch List und durch Zufall. Wir haben nichts gesucht und
gewollt, waren selbst klein. War die Dummheit groß rechts und links.
Unser Glück war doch größer. Auf Island brannten Vulkane, holten wir
Feuer aus den Vulkanen. Wußten nicht, was wir hatten. Waren stolz
Grönland zu enteisen, die Siedler zu bewältigen. Das Land wurde enteist.
Und dann kamen die Untiere, Marduk, hoho, Untiere, zu uns herüber. Die
hast du nie gesehen. Lurche Vögel Gallerten, Formen, Formen. Das Feuer
hatte sie gemacht. Unsere Stadtschaften zerrissen sie. Die Häuser Bäume
Menschen, Totes und Lebendiges klatschten sie zusammen. Das waren
Gewaltige. Und wir verstanden noch immer nichts. Taten noch immer
nichts, als uns fürchten. Marduk, wir taten vom Morgen bis Abend nichts
als uns fürchten. Krochen unter die Erde. Haben die Küsten verlassen,
weil der Wust durch den Ozean herankam. Bis wir der Katze auf die
Krallen sahen. Marduk, hörst du. Marduk, was haben wir mit den Krallen
getan? Abgeschnitten? Wir haben sie der Katze gelassen und uns neue
gemacht, längere schärfere. Sieh mich an. Sieh dich an.“ „Ich höre,
Delvil. Ich erkenne dich. Ach, die Mark. Da sind die Seen. Die Havel.
Ich war hier erstickt. Mein Leib ist wieder lebendig.“ Delvil, das
Ungeheuer, ließ sich vorsichtig tastend wieder auf die Knie: „Und nun,
befühle dich, was will ich von dir im Havelland. Warum bin ich gekommen.
Sieh, was hinter dir fliegt.“ „Geier.“ „Ja, sie, Gänsegeier. Mentusi und
Kuraggara. Sie hacken gegen deine Füße. Sie möchten, daß du stirbst. Sie
freuen sich ihrer krummen Schnäbel. Wie sie kichern, über uns. Das sind
meine Gefährten. Giganten wie ich, Mann und Männin. Und das tun sie, das
ist ihr Spaß. Und das, das, das ist aus uns geworden, Marduk! Aus uns
Herren! Die die Apparate geschaffen haben, die die Menschen geführt
haben. Sie wissen sich nicht aus noch ein. Nach Grönland getobt. London
zertrampelt. Brüssel in Stücke. Sie spaßen. Ich, aber ich –“ wie keuchte
Delvil, wie hob er um Marduks schwachen schlanken erzitternden Leib die
beschwörenden Arme. Er sah nicht, daß Marduk schwächer schwächer wurde,
daß er sich die Füße aus der Erde zerrte; im Gesicht wurden die scharfen
alten Züge des ersten Marduk deutlich, als träte ein Licht, ein Feuer
hinter einer Papierwand hervor, die es verdecken wollte – „Ich bin
Delvil, ein Herr. Was hab’ ich in der Hand. Was ich in der Hand habe,
weiß ich. Dies ist mir zugefallen. Meine Gefährten sind das nicht.
Keinen habe ich. Marduk! Ich habe ein Amt. Und du auch. Rache fühle ich
nicht.“ „Bist du so weit, Delvil.“ Finster schluchzend Delvil: „Nicht
mißverstehen, Marduk. Du siehst jetzt anders als damals, wo ich zu dir
kam. Du bist kein gezeugter Mensch. Ich habe mehr als Apparate hinter
mir. Sieh dich und mich an. Du kannst jetzt nicht mehr reden wie damals
in deinem Rathaus. Wir haben eine Pflicht. Das Feuer ist auf uns
gefallen.“ „Die Dinge haben ihren Willen und ich habe meinen. Laß dich
jagen von deinem Feuer. Delvil, schlage die Erde entzwei.“ „Ich bin
nicht Kuraggara.“ „Die Erde entzwei. Was willst du anders.“ „Ich will
nicht die Erde entzwei schlagen.“ „Ah, du willst nicht. Delvil kommt zu
Marduk; er will nicht, was die Apparate und die Kräfte wollen. Ist etwas
geschehen mit Delvil. Er hat Marduk geweckt. Es ist etwas geschehen.
Hast du gewußt, daß du Marduk weckst?“ „Du bist es ja.“ „Hast du auch
die Antwort gewußt, die dir Marduk geben wird. Wer A sagt, sagt B. Du
brauchst mich, Delvil. Du bist kleiner als ich, du bist erlegen. Hilflos
bist du. Unter Marduk bist du herunter.“

Wilder stöhnte Delvil: „Nicht mißverstehen. Da sind Krautfresser.
Menschen, die siedeln und von dir sprechen. Das meinst du nicht. Kraut
fressen wie die Kälber, das war nicht deine Meinung. Jetzt ist sie es
sicher nicht. Was ich habe, hast du auch. Die Last ist auch deine.“
„Keine Last fühle ich. Wozu kriechst du vor mir. Wühlst mich aus dem
Grab heraus. Du mußtest aus England herauskommen und stöhnst. Das hat
dir deine Kraft gebracht. Was ist besser an dir, als an Kuraggara.“
„Schmäh nur, schimpfe.“ „Mich anzugreifen. Mich zu holen. Als ich lebte,
wagtest du es nicht. Es gelang dir nicht. Es ist dir auch jetzt nicht
gelungen. Geh weg. Hol Tote, hol Pharao, Hyäne. Husch, daß dein Feuer
dich brennt.“

Es war Nacht. Marduks Körper leuchtete. Aus seinem Mund, seinen Augen,
von seinem Finger sprühte mondhaft weißes Licht, zitterte wagerecht in
Stößen um ihn. Delvil auf den Knien und Händen vor ihm kriechend, ihn
betastend, um ihn kriechend, sah es, fragte nicht, war von Verlangen
Bängnis Bitterkeit hingerissen. Die Schlangen unruhig fahrend
überspritzten seinen heißen Leib. Das Pressen Krachen Knacken der roten
kauenden Meduse nach Pausen des Fauchens. Delvil wühlte angstvoll am
Boden. Er drückte Hügel beiseite; die umgelegten Tannen knisterten. Sein
Gesicht tauchte er von einer Sehnsucht Ahnung gezogen in Marduks Licht.
Der stand in seiner Grube, die sich nicht mehr bewegte. Die Beine
zerrten noch an der Erde, bis zu den Knöcheln hatten sie sich befreit.
Er atmete heftig, weit den Mund auf, den Kopf zurückgelegt; seine Arme
ruderten durch die Luft: „Das ist es. Das kann ich. Die Erde Luft Augen;
geht zu; meine Augen. Man hat mich hergeholt. Marduk, laß dich nicht
rufen. Dies ist schon vorbei. Auseinander. Süße Leiber auseinander. Auf
die Reise.“ Delvil suchte sich ihm mit der dampfenden, von der Urkraft
umspannten Brust zu nähern, die Hände auf Marduks Schultern zu legen.
Sie drangen nicht an. Seine Brust wurde seufzend schwer; sie wurde
zurückgeschoben. Die Hände, Hände erlahmten. Bis in die Arme, wie unter
einem Gift.

Marduk schrillte und schlürfte Luft: „Dies Kleid nicht. Marduk, auf die
Reise. Marduk, geh weg. Hin!“ Die Geier sausten jauchzend auf den Rücken
des hingestürzten Delvil. Luftziehend, in ächzender Begier schleppte,
rappelte er sich an die mondhafte Gestalt, die leiser tönte surrte sang
„Marduk, Marduk.“ Licht strömte von ihr, dehnte sich, in Punkten,
gezogenen Linien über die Landschaft. Dichtere Massen schwammen, wogten
von der Gestalt ab, überlagerten Delvils Gesicht und Rücken, bezogen die
Bäume, und den schwarz aufgerührten Boden, hauchten um die
aufflatternden Geier. „Marduk“ klang die Gestalt eintönig, wallte stob
begann sich in Funken zu drehen. In Wut und Grauen tatschte Delvil zu,
heulte, wie das Wesen leicht mit höherem Summen abwich, über den Boden
glitt. Es war kaum mehr ein Mensch, was da glitt und hinzog, ein See ein
Dampf, der sich immer mehr verbreiterte, mit einem menschenähnlichen
Kern, der sich lockerte.

Hinrollte donnerbrüllte heulte Delvil: „Heran ihr! Mentusi, hilf mir.
Kuraggara, sieh ihn an. Seinen Hals, faß ihn. Seinen Fuß, pack zu.“ In
der schwarzen hohen Luft die Fänge und Pranken streckten die Geier,
ließen sich blind über dem Wesen mit geschlossenen schlaffen Schwingen
abwärts fallen, stürzten ins Leere, brachen in die Tannen. „Faßt ihn“
raste Delvil, ganz aufgerichtet, torkelnd über die Fläche watend,
haschend, mit den schweren Beinen tretend.

Die Gestalt zerrann, hob sich wie Silberschuppen, schwach in dem
allgemeinen weißen Schein zu erkennen. In dem Schein rutschten Mentusi
und Kuraggara vom Sturz tief benommen von den zersplitterten
Tannenspitzen die Stämme abwärts. Delvils Schlangen hingen schlaff; die
rote Meduse war aus dem Leib gestiegen, schlotterte; weit offen der
Mund; ihre wulstige Wandung kehrte sie nach außen. Delvil fühlte einen
Schmerz, als würde sein Leib zerrissen. Er keuchte betäubt in das weiße
Nebelmeer. Die Geier schwankten bewußtlos mit den Tannen; die Meduse
zerrte an seinen Därmen. Da bückte er sich, riß die Tiere auf seinen
Arm, taumelte, starr aus den Wolken herunterblickend, rückwärts nach
Westen.

Schrie seine Wut gegen den schwarzen Himmel. Noch einmal jenseits der
Havel machte er halt, aus der Betäubung sich raffend. Es war nicht
denkbar, was geschehen war; auf seiner Brust hatte er den Schleier, der
Marduk erweckt hatte. Nach Osten kehrte er um; seine Hüften versagten,
schwankten nach den Seiten. Die Meduse, dem weißen Dämmer wieder
genähert, stieg, als wollte sie etwas greifen, mit ängstlichen Armen
empor, wulstete sich krampfend herunter. Über dem Havelland schwamm der
milchig weiße Dunst. Die Bäume unten schaukelten sich langsam im Wind.
Ein traumhaftes Zwitschern gaben die verborgenen Vögel von sich. In den
Hütten Häusern Scheunen schliefen die Menschen. Die Erwachsenen reckten
sich; sie gingen im Schlaf durch eine offene warme Landschaft, von einer
weichen Gestalt geführt. Die Kinder im Stroh hatten die Augen
geschlossen; ihre Münder zuckten; sie lachten. Und Delvil selber, unter
allem Brennen in seinen Därmen, während er schwankte Luft schnappte,
fühlte eine Müdigkeit. Die Lähmung war süß. Durch den blutgeschwollenen
wolkenhohen Kopf gingen ferne Gedanken, von Menschen, sommerlichen
Spaziergängen, von einem Becken mit Goldfischen. Seine Knie hatten die
Neigung sich zu krümmen. Und wie er ringend mit rückwärts gebogenem Kopf
in den Wolken Luft trank, stürzte er auf die Hüfte. Unerträglich
peitschender Schmerz. Der jagte ihn hoch. Nach Westen, nach Westen. Die
Geier raffte er auf. Er stürmte durch Hannover. Am Rhein kam er zu sich.
Zwei Tage lang schrie er.

Die Geier sausten nach Westen, kehrten in Verwirrung und Wut zu ihm
zurück. Auf seinem Kopf saßen sie, während er den Kanal überschritt:
„Mentusi, Kuraggara, was soll mir mein Schleier. Was nutzt uns unsere
Kraft. Hat er uns besiegt?“ „Er ist geflohen. Wir wollen noch einmal zu
ihm kommen.“ „Ich will nicht. Nach Cornwall. Ich greife die Erde an. Das
tue ich. Habt ihr ihn gesehen, wie er in Licht aufgegangen ist. Ich
zerreiß’ die Erde.“ Kreischend Kuraggara: „Die ganze Erde. Samt den
Menschen. Und den Felsen und Meeren.“

In Cornwall aber stand Delvil noch lange Wochen brüllend und weinend:
„Er hat Recht. Ich zerreiße die Erde.“ Von Mentusi erfuhren die
Giganten, was geschehen war. Delvil knirschte verzweifelt: „Alles heran,
was wir haben.“ Und in einem Zerstörungstaumel brachen die Geier und
Delvils Gehilfen in die nahen Festlandsstädte ein, die sie noch nicht
zertobt hatten. Die Mekifabriken verwüsteten sie. Überall wo sie Teile
des Turmalinschleiers wußten, schleppten sie sie heraus. Auf den Hügeln
von Cornwall um den stöhnenden Delvil häuften sie sie an.

Dann machten sie sich selbst zurück. Die Geierfedern warfen sie ab. In
der Dartmoorwaldung wuchs Delvil. Westlich im Bodminmoor Mentusi.
Nördlich am Tawafluß Kuraggara. Einen großen Halbkreis bildeten sie, der
nach Norden offen war. Es war Platz für die anderen Giganten. Die Berge
der Schleier hatten sie um sich. „Soll ich Grönland machen“ höhnte
Mentusi, „wollen wir die Schleier über die Erde hängen und die Erde
verklumpen. Soll ich das Meer über Europa schicken. Wollen wir den Pol
zum Äquator herunterziehen.“ Delvil dumpfte: „Nach Norden. Alle Kraft
nach Norden. Wir sind in Fahrt. Haltet die Kraft bei euch, daß ihr nicht
umgeworfen werdet.“ Vom Tawafluß Kuraggara, die aus einem Berg heraus
wuchs: „Und wenn die Erde zerreißt, so fahre ich durch die Luft.“
Delvil: „Wachst! Saugt die Erde auf. Nehmt auf die Fahrt mit, was ihr
könnt. Norden.“

Und in finsterem Haß richteten die Giganten die furchtbare Wucht ihrer
Kräfte um sich nach Norden, gegen das Meer, von wo einmal die Lurche und
die Schleier gekommen waren. „Ich schick sie wieder zurück“ schrie
Delvil.

                   *       *       *       *       *

Über den Boden aller Landschaften, auf allen Kontinenten Inseln zwischen
den aufblühenden und verwelkenden Bäumen, zwischen den schnuppernden
laufenden hungrigen und gesättigten Tieren, bewegten sich die
sterblichen Menschen. Fühlten ihre Arme, die greifen konnten, nahmen die
Säfte an, die ihnen aus der Erde zuquollen. Und dann verdorrten sie.
Alterten erschlafften ergrauten. Unheimliche Kräfte arbeiteten an ihnen.
Sie hatten nur die stolzen drängenden schwellenden gekannt; jetzt
weinten sie. Die Flüsse liefen wie vorher, die Berge mit den Wäldern
standen ruhig, die gelbe Sonne kam mit den Tagen herauf, unverändert
nachts die blaue Schwärze des Himmels: nur sie gingen hin, wurden
weggedrängt.

Es fing an, sie lautlos zu bemalen. Graue Linien wurden um ihre Augen
gelegt, die Lippen wurden bläulich blaß. Ein Meißel grub an den
Gesichtern, unterschnitt die Jochbögen, trieb sie über den schlaffen
Wangen hervor. Die Augen sanft eingesenkt, vermauerten sich, zogen sich
kalt zurück. Eine unterirdische Arbeit zerlegte die Nase, legte Gruben
über die Nüstern. Sie aßen und tranken, aber es war nichts aufzuhalten.
Aus dem feinen Grat der Nase wurde ein breiter Pfad mit starren Wänden
und dunklen feuchten Schlünden der Löcher. Die Haut, einmal flaumig,
wurde dünn wie Papier über das Gesicht gezogen, eng über das Gesicht,
bedrückend wie eine Maske; aus einer Maske sahen die Menschen armselig
hilflos hervor. Wie einem Gebäude geschah ihnen, das auf den Grundriß
demoliert wird. Sie fühlten es, schwiegen. Und die Kiefern klapperten
weiter, mahlten das Brot, zerrissen das Fleisch, taten als wüßten sie
nichts, und der Leib unten vertrocknete, verhärtete. Gelb wurden die
dünnen knorpligen Ohren; starre Haare wuchsen in Büscheln heraus. Die
Münder wurden nackt bloßgelegt, grausam die Lippen gefältet, die Lippen,
die blaßroten nassen Bänder. Vom Halse herauf zogen sich Wulste quer und
schräg zum Kinn; mit jeder Mundbewegung sich straffend. Knöchern die
Hände, die Finger knotig zitternd. Und die Menschen saßen stumpf, gingen
stumpf, erduldeten es. Bis das Letzte kam, das sie kaum mehr anrührte,
der Tod, über der Leber, über dem Herz, den Hoden, der Gebärmutter, die
der Krebs anfraß. Eine starre Ader in dem verdorrten Gehirn barst. Das
zuckte, – die Augen irrten, lagen still, – war ein Mensch.

Von der Hochfläche Sidobra bei Toulouse brachen die Menschen auf, die
Island erlebt hatten. Mit ihnen Kylin, Hojet Sala, der Steile Absturz.
Aus Toulouse, wo sie wieder die Serninkathedrale betrachtet hatte, kam
die gelbbraune glatthäutige Venaska zu ihm herüber, bat, mit ihm wandern
zu dürfen. Schon auf dem Wege durch ein Maisfeld, sah er sie starr an:
„Willst du wirklich, Venaska?“ „Laß mich mit dir.“ „Ich habe deinen
Feigenzweig unter dem Oleanderbaum weggelegt.“ „Hojet Sala, hier ist ein
neuer.“ „Ich habe deine Küsse unter dem Baum angenommen. Ich weiß, wie
süß Menschen sind.“ „Nimm mich. Ich möchte, daß du mich liebst.“ Und
während es warm durch ihn ging, summte er: „Ich will sie mitnehmen. Ich
wandere mit ihr.“ Träumte, sah auf seinen Arm, und begrub den Gedanken.

Durch die blühende Ebene der Garonne fuhren sie auf Ziegengespannen nach
Osten. Siedler und Islandfahrer begegneten ihnen auf den Roggenfeldern,
zwischen den dichten Ansammlungen der Bäume, der laubabwerfenden stillen
Wesen, die neu grünten. Wer von den Islandfahrern auf sie zukam, durfte
sie begleiten; der Steile Absturz blickte weg, als Venaska die Männer
und Frauen mit jungen Blättern auf ihre Art schmückte. Sie warfen sich
täglich vor dem Feuer hin, das auf den Feldern angezündet wurde.
Träumend stand Venaska, mit verschlafenen kleinen Augen, von den
Anbetungen auf. Der Steile Absturz, immer hart und ernst, drängte nach
Osten, zur Rhone; das Rhonetal aufwärts wollte er nach Lyon und
nördlicher nach Paas. Durch leere Felstäler stiegen sie, Gießbäche
umgingen sie. Jenseits des großen Flusses lag eine Ebene.

Da schwollen ihnen Menschen von Norden entgegen. Der Steile Absturz
schickte Männer unter die wandernden Gruppen; die ließen sich nicht
aufhalten. Über den Fluß fuhren nach Westen Menschen. Sie suchten in das
Gebirge hinauf, fragten nach Verstecken. Und dann hörten die Menschen um
Kylin –, sie waren in der Nähe der Stadtschaft Lyon –, tagelanges
nächtelanges Knattern und Schreie. Brandwolken, eine ungeheure Flamme
über Lyon, die sich ab und zu verschattete. Unter dem Brausen flüchteten
an ihnen Massen weinender erschöpfter Menschen, heller und
dunkelfarbiger, vorbei.

Der Stadtschaft Lyon hatten sich drei Giganten bemächtigt, zwei
Männinnen und ein Mann. Die anderen Herren lagen erdrosselt. Sie selbst
waren im Begriff sich in Dampfwolken zu verwandeln, um zu Delvil zu
fahren. Ihre zähen mit Felsen und Erde genährten Leiber widerstanden der
Glut. Das ganze Rhonetal hatten sie in Brand gesteckt, neue Wälder
erhitzten sie. Aus der Tiefe brannte die Stadtschaft auf. Das berghohe
Weib Tafunda stand breitbeinig über der Flamme, die an ihren Beinen
leckte, goß ihren Harn in die Flamme, zitterte nach den beiden, sie
sollten ihr helfen; aber sie schmolz nicht. Einer lag über der alten
Vorstadt Macon wie ein Riesenberg blauer Seide. Sein Leib war nicht mehr
zu erkennen, das Feuer zerfraß ihn; der Gigant kämpfte mit der Flamme,
die ihn vernichten, verblasen wollte. Er hielt mit allen Sinnen seinen
Leib, wie er sich auch streckte und wandelte, fest; das Feuer briet und
röstete, er fühlte es nicht; die Flamme mußte tun, was er wollte. Er
atmete selten, alles Feuchte hatte er von sich gegeben; aber der Wind
bewegte seine blauen Massen noch nicht. Da riß sich der dritte Gigant,
die Männin Kussussya, bis an den Hals in dem glutrasenden Erdloch Lyon
im Süden, aus dem Boden: „Wir haben Zeit? Was ist das für Feuer.“ Und
lachend tobend zerrte sie sich den Panzer der Giganten, den
Islandschleier von der Brust, zerknäulte ihn, rieb ihn gegen einen
Uferfels. Aufkrachen. Grüne Stichflammen. Ihr Leib verprasselte über den
Wolken. Die Hitze hinblasend löste den Giganten bei Macon ab von der
Erde. Er wallte wie ein blaues Lufttier. Molluskenhafte Arme streckte er
hinstreifend nach Tafunda aus, die nach ihm schnappte loderte und nicht
verbrennen konnte. Er schleppte das sich krampfende stöhnende ungeheure
Gebilde.

Kylin hatte starr auf dem Pilatberge gestanden; sie sahen in der Luft
über sich den Giganten von Macon mit dem schwarzen sich windenden
Gebilde die Berge umkreisen, nordwestwärts ziehen. In das Flußtal
wollten sie heruntersteigen; sie vermochten es nicht unter dem widrigen
stinkigen Branddunst. Der Menschenstrom hatte plötzlich nachgelassen.
Und wie sie die letzten Hügel nach Osten begingen, hielt der ganze Zug
der Fahrer an. Das Flußtal war sumpfig erweitert, Fußtapfen der
Giganten, Hügel bei dem Gigantenkampf zerrissen, von Nordwesten her das
Gebirge in das Tal gestürzt. Über die Ebene gesät Häusertrümmer, die
rauchten. Und daraus wanden sich hervor Menschen und Tiere. Auf die
Siedlungen war der Kampf und der Brand übergegriffen. Das Feuer hatte
die fliehenden Wesen wie ein Vulkanausbruch überfallen; sie lagen,
schwarzbraune Flecken, zusammengekrümmt, auf den Wegen; an manchen
absperrenden Mauern in Haufen.

Auf den östlichen Hügeln, an deren Lehnen sich der Qualm heraufzog,
zitternd und heulend warfen sich auf den Boden und verbargen sich manche
Islandfahrer, Männer und Frauen weinten; hielten sich die Ohren zu; das
Gespenst Grönlands und der Vulkane zog wieder über sie her. Die meisten
blieben starr; verbissen drängten sie weiter. Kylin hielt sich
kaltgesichtig unter ihnen, lachte, manchmal krampfhaft stolz: „Sie
bereiten sich selbst ihr Ende. Die Giganten, verfluchte Gesichter.
Verfluchte Arme, zu denen wir geholfen haben. Könnte ich sie zerreißen,
wie ich sie geschaffen habe.“ Schluchzend, jammernd hob er die Arme über
sich: „Ich will das nicht mehr sehen. Feuer, ich kann an dich denken.
Feuer auf Island, im Himmel, Feuer in meinem Leib, vernichte sie.
Verbrenne sie, schlag sie nieder. Bestraf uns nicht wieder. Sieh, wie
wir leiden.“ Er weinte laut mit den andern. Die Hügel herunter in das
Tal zog er sie. Sie mußten nach den Verbrannten Zertretenen, den
grauenhaft Zerquetschten sehen. „Sage einer“, klagte Kylin, „daß ein
Mensch ist wie ein Baum, ein Stock, ein Sandhaufen. Er ist nicht
dasselbe wie die Luft und der Stein. Die Steine sind zertrümmert, die
Riesen haben die Felsen zertreten; die Bäume jammern mich, die sie
zertreten haben. Aber dies zu sehen: die Menschen. Seht es euch an: es
sind Menschen. Es ist mehr als Muskeln und Knochen und Haut. Die Riesen
haben es nicht gesehen. Ich selbst habe es nicht gesehen. Sie haben
gelebt. Sie sind hin.“ Sie weinten um ihn: „Wir wollen von hier. Müssen
wir durch dies Jammertal?“ „Wir müssen“, der Steile Absturz erblaßte,
rote Tupfen auf seiner Stirn und Backen, „es kann nicht zuviel sein.
Dies ist das Feuer, das für uns ausgelegt ist. Kommt hinter mir her.
Biegt euch, schmelzt, zerbrecht. Es ist kein Schade. Blickt euch um, was
hinter euch nach Nordwesten zieht. Es triumphiert, es wird noch wüten,
so, so. Unsere Schande. Es kann nicht schaden, wenn wir zerbrechen. Wir
alle.“ Und wieder schluchzte er, krampfte die Fäuste, kniff die Augen
zu: „Vernichte sie, wer es auch immer sei. Feuer, vernichte, blase sie
in die Luft. Zerstäube sie. Laß nichts von ihnen übrig.“

Und durch das schreckliche Tal gingen sie weiter, bis ein Floß von Osten
eine Schar verstörter irrer verstümmelter Menschen gegen sie losließ. Da
bestiegen sie selbst das Floß, setzten über den qualmbeladenen Strom
nach dem andern Ufer über. Kylin hetzte, während sie fuhren: „Da ist
Wasser. Seht es euch an, ihr. Es gibt nichts zu weinen. Hier kann man
ertrinken. Wenn man genug gebrannt hat, hier kann man ertrinken. Weg von
der Erde.“ Es war Grausen ohne Maß, was auf den weiten Flächen des
östlichen Ufers vor sie trat. Unersättlich, geschüttelt war Kylin, mehr,
mehr zu sehen, ihnen zu zeigen. Vor die gähnende Öffnung der zackigen
Krater der Erdstadt Lyon schleppte er sie, aus der die schreckliche
lachende Männin gefahren war. Kylin lockte mit Hohn und Grausamkeit:
„Auch hier hinein kann man sich stürzen. Sie hatte nicht Asche werden
können; für uns reicht es.“

Es gelang ihnen tagelang nicht, Kylin von der furchtbaren Totenebene zu
bewegen. Schon erkrankten von den Fahrern welche. Mit Haß und Genugtuung
betrachtete der harte Kylin sie. Er hörte mit leuchtenden Augen, daß
einige davongelaufen seien, irr vor Ekel, andere unfähig die Qual zu
ertragen. „Wir müssen bleiben; wir werden sehen, wer zuletzt bleibt.“
Sie faßten ihn an: „Du willst uns opfern. Wir haben noch mehr vor.“ „Uns
kann nichts Besseres geschehen als verbrennen. Wir müssen es den
Giganten nachmachen. Wir müssen auch in einer Wolke nach London fahren.“

Wie sie herumirrten eines Abends, nach Hunden jagend, von deren Fleisch
sie lebten, stieß Kylin auf Venaska, die verschleiert und geduckt um ihn
ging, ihm auswich. Er zog an ihrem Schleier: „Ah, Venaska. Daß du mir
begegnest! Gut! Du versteckst dich vor mir. Bei uns, an der Rhone
Venaska! Ich habe nicht mehr an dich gedacht.“ „Hojet Sala. Ich gehe
hier herum. Du hast mir gestattet, mit dir zu ziehen.“ Er hielt sie am
Schleier fest: „Venaska. Ich kann es noch immer nicht glauben. Von der
Garonne, von der Loire: Venaska. Du bindest dir einen Schleier um, du
zwinkerst mit den Augen. Du mußt die Augen zumachen, die Nase zuhalten.“
„Hojet Sala, was sprichst du. Laß meinen Schleier.“ „Nein, diesen
Augenblick sollst du wenigstens sehen und hören.“ „Ich habe immer
gesehen und gehört. Vor dir hab’ ich mich versteckt. Vor deinem Anblick.
Wie bist du schrecklich geworden.“ „Sie leidet. Venaska leidet. Um mich.
Es ist nicht nötig um mich. Schämst du dich nicht so zu sprechen. Sprich
Liebesworte zu mir; dein Handwerk wird hier auch blühen. Oleanderbäume
Feigenbäume der Provence, nicht wahr, das ist nichts gegen dies. Hier
ist es süß. Das hier unten neben dir, was so stinkt, ist der Leib und
der Mastdarm eines Mannes oder eines Weibes; ich kann es von weitem
nicht unterscheiden. Und auf der braunen Haut ausgebreitet: sieh zwei
Kinderbeine; aber das Kind fehlt. Venaska, was sagst du zu diesem Kind.
Ist die Schnelligkeit des Kindes nicht bewundernswert, die Beine sind
dem Kind zu langsam gelaufen, da ist es selbst – mit wem wohl? mit den
Giganten gerannt, Rumpf Arm Kopf, hurra, hurra, hopp! Die sehen sich
jetzt von der Fußsohle eines Giganten das Meer an, vielleicht schon
London. Ein neugieriges witziges Kind. Ein Genie und so früh gestorben!
Warum unterbrichst du mich nicht, Venaska; mit Freudenausrufen oder mit
einem Gesang. Deine Kehle ist so geschickt darin. Tränen, Tränen,
vorwärts.“ „Warum wütest du gegen mich? Was beleidigst du mich?“ „Du
fielst mir nur als ein Farbenfleck in dieser Landschaft auf. Nein,
Venaska, du schleichst mit Recht herum, der Schleier ist an seinem
Platz. Du bist doch verflucht, siehst du es nicht. Ja, du. Du weißt wohl
nicht, was verflucht sein heißt. Sieh dir diesen zermatschten Darm an,
die Kinderbeine, die darauf kleben; das waren Menschen, das war ich,
ich.“ „Ich nicht, ich nicht, ich habe sie nicht zertreten. Hör auf,
Hojet Sala. Siehst du nicht, zu wem du sprichst.“ „Und weil ich dich
sehe, spreche ich so. Ich dich nicht sehen. Daß du es wagst hier zu
sein. Hier ist das Grabmal aller menschlichen Würde, du bist das
Triumphlied dabei. Unsere Schande führst du uns vor Augen, bei unserer
Schande sättigst du dich.“ Sie drängte an ihn. Er sank unter dem wilden
wütenden Druck ihrer Umarmung in die Knie. Ihre Lippen zitterten, die
Augen glühten; seinen Mund suchte sie zu küssen. „Mein Mund. Wäre ich
dir gefolgt, wenn es so wäre, Hojet Sala?“ Er stöhnte und widerstrebte
nicht: „Pfui. Umarmen! Mehr! Küssen. Hinwerfen. Deinen Schoß an meinen.
Es ist gut. Was sagst du, daß ich dich nicht kenne. Zeig mir ganz, was
ich bin.“ „Ich weine mit dir. Ich tue dir nichts. Vergrab dich nicht,
Hojet Sala.“ „Umarmen, Venaska. Mir nutzt sonst nichts.“ Er hatte sich
ganz hingeworfen: „Gurre, Venaska! Den dreckigen Boden müßte ich küssen.
Von Grönland mußte ich bis Lyon fahren, um von dir enthüllt zu werden.
Meine ganze Schande zu sehen. Deinen Schoß her. Unsere ganze
Menschenschande.“ Sie zog an seinen Armen. Todblaß stand er, knirschte:
„Komm mit Venaska.“

Er schleppte sie zwei Tage durch das grauenvolle Tal, sah sie leiden.
Dann ertrug er es nicht mehr. Sie hatte sich nicht verändert, ihre Augen
lagen in fast grünlichen Höhlen, sanft war sie geblieben. Da irrte er um
den Trichter der qualmenden Erdstadt herum, immer dichter; er schien
erst langsam zu wissen, was er wollte. Er trieb sie an eine der
gräßlichen Spalten, in denen Verwesungsgase stiegen: „Riech das mit mir,
Venaska. Das ist das Bad für uns, bevor wir Hochzeit feiern. Was bist
du?“ Schmerzlich rang sie an ihm: „Ich bin nicht anders als du.“ Sie
zitterte kreischte. „Nicht schreien, Venaska. Du bist nicht anders als
ich. Zeig es mir.“ „Ich tue nicht, was du jetzt willst.“ „Doch. Venaska.
Du bist wie ich. Du bist mein Leben. Wärst du nicht so schön, so süß.
Geh weg. Geh hinunter. Was macht es aus. Keiner von uns ist ja.“ „Ich
geh’ nicht.“ „Erreg mich nicht, Venaska. Reize mich nicht, Venaska.
Verhöhne mich nicht mit Liebe. Habe ich nicht zu büßen. Unendlich
unendlich zu büßen. Ich sterbe in diesem Gestank. Mach ein Ende.“ „Hier
hast du mich hergeschleppt. Du willst mich hineinstürzen.“ „Nein. Du
selbst sollst es tun. Du kannst es tun. Tu es, wenn du die Augen auf
hast.“ „Ich tue es nicht. Ich bleibe bei dir, Hojet Sala. Jetzt mehr als
sonst. Du wirst Reue um mich empfinden.“ „Ich will dich nicht. Sprich
mich nicht an. Dich kenne ich. Grausige. Du – bist aus dem Geschlecht
der Giganten. Du bist die letzte. Du bist selbst ein Untier, das
Grönland ausgeworfen hat. Du lebst in mir, gräßlich: meine
Besinnungslosigkeit. Laß dich anfassen, liebe Besinnungslosigkeit. Der
Steile Absturz bin ich.“ Sie wimmerte: „Ich schäme mich. Wie bin ich
geschändet. Süße Erde, nimm mich.“

In den Qualmwolken der Spalte flatterte Venaska, den Boden in ihrer
sanften Art streichend. Sie kroch weg, verschwand vor Hojet Sala, der
hinter ihr schäumte.

Am selben Tag verließen die Fahrer das Rhonetal. Der Steile Absturz
hatte vor den andern geglüht: „Venaska ist weg. Ich habe sie erkannt.
Wir sind Menschen. Sie war es nicht. Ich erkannte sie. Sie war aus dem
Geschlecht der Lurche und Riesen.“ Als man neben ihm klagte: „Stöhnt.
Schmerz her. Der Schmerz. Davon brauchen wir Eimer, Zentner jeden Tag.
Für uns Menschen ist nur die Hölle gut. Wenn das Feuer nicht ist, werden
wir zu Steinen. Nur die Hölle tut uns not. Der Schmerz ist unsere Seele,
unser Gott.“ Und leiser: „Wißt ihr, sie ist in das Feuer gegangen und
war ein Stück von mir. Gesegnet, wer Erniedrigung gibt.“

                   *       *       *       *       *

Venaska, die süße, flüchtete nach Westen. Den Dampf- und Verwesungsgasen
der Krater von Lyon war sie entkommen. In Angst schleppte sie sich,
allein. Sie weinte viel. Sie war das Glück der Entsetzten, zwischen
denen sie sich bewegte und denen sie die braunen Hände gab. Wohin ging
sie. Wohin wollte sie. Zu den Wesen Grönlands gehörte sie, hatte der
Steile Absturz gesagt. Sie wollte hin zu ihnen, nach Grönland. Und dann
kam sie im Westen unter die verzweifelten, oft kannibalischen hungrigen
Völkermassen, die sich aus Orleans und Paris rissen. Von den Riesen
sprachen sie, die sich in Cornwall versammelten. Zu den Riesen: das
wollte sie. Ein bewußtlos tiefes Verlangen befiel sie, hüllte sie ein;
sie lechzte zu den Riesen. Die hatte Hojet Sala geschmäht, die waren von
ihrem Blut. Wie jäh das ihr gewiß war. Sie verstand nicht mehr das
Klagen Heulen der Massen, das röchelnde Fluchen auf die tobsüchtigen
Giganten. Ihre eigene Verzweiflung war wie die Nacht von einer
Morgenröte ausgelöscht. Was ächzte und brüllte man. Wer nannte die
Giganten, die fernen. Sie standen in Cornwall, gräßlich ihre Taten,
grauenhaft ihre Leiber. Aber man kannte sie nicht. Nur sie allein kannte
sie durch Taten und Leiber hindurch: ihr Blut, ihre Brüder.

„Meine Brüder, meine geliebten Brüder“ seufzte es Tag und Nacht in ihr.
Die Landschaft der Loire blickte Venaska süß an: „Ich bin wieder da,
liebe Bäche, liebe Birken, liebe Gräser. Ich habe euch lange nicht
gesehen. Ich war verzaubert.“ Sie legte sich nackt in einen Bach:
„Liebes Wasser, das ist mein Leib. Er ist ganz für dich. Ich will nach
Norden. Hilf mir herüber.“ Sie stand blaß auf dem Bergabhang, ließ sich
von der Luft trocknen: „Bist kalt, lieber Wind. Das ist mein Leib, meine
Brust. Hilf mir nach England.“ Das warme Licht kam hervor: „Ach die
Sonne. Wozu hab’ ich Augen und Ohren. Ich fühle dich durch die Haut, auf
dem Rücken, am Nacken, an den Füßen. Auf meiner Wanderung kommst du
mit.“

Sie fuhr mit Menschen, die sie berückte, lange Tage bis zur Seine
hinauf. Dann wollte sie niemand mehr fahren; die Furcht vor den Riesen
war zu groß. Sie lachte ging, war voll Sehnsucht: „Geht nur. Die Riesen
sind nicht eure.“ Die Ufer der Seine lief sie entlang, über Wiesen,
durch Buschwerk. Sie war glücklich und voll Sehnsucht. Die Landschaft
hing an ihr. Je rascher sie lief, um so mehr hielten die Wesen der
Landschaft sie fest. Die Gräser wickelten sich um ihre Schuhe. Sie mußte
die Schuhe ausziehen und barfuß laufen. Die Bäume stellten sich nachts,
wenn sie schlief um sie und ließen sie nicht heraus. Sie lief, lief. Das
Buschwerk, die Gräser liefen mit ihr. Die Kastanienbäume, die Linden,
sommerlich blühend, wogten bei ihrer Annäherung auf. Duftwolken
brunsteten sie aus, dann senkten sie ihre Wipfel, griffen mit den Ästen
nach ihren Haaren. Sie kicherte, koste die Bäume: „Ach ihr! Ich muß nach
Cornwall. Laßt meine Haare frei. Helft mir nach Cornwall; ich muß zu den
Riesen, meinen Brüdern.“ Das Meer kam nicht, das Meer kam nicht. Sie
grämte sich, sie weinte. Die dichten Gräser schlossen sie ein. Venaska
war glücklich in ihrer Liebe und schluchzte vor Verlangen.

Während sie ermüdete, Schritt für Schritt ging, von dem Lande umfaßt,
streckte sie die Arme nach Norden aus. Die Tränen stürzten aus ihren
Augen. Die Tränen liefen der Venaska voraus, fielen auf die Schultern
der Giganten.

In Cornwall standen, stumme Gebirge, die Giganten im Halbkreis vom
Bodminmoor bis nach Egmoor im Norden. Die Erde um sich hatten sie
ausgehöhlt, Felsen und Wassermassen in sich aufgesogen. Mit Erzquadern
wurzelten sie in den Gabbromassiven der Tiefe. Grüne Hornblendenädelchen
durchwuchsen ihre Füße, schwarzbrauner Olivin, eisendurchzogen, schob
sich bis an ihre Brüste herauf, ein steinerner Mantel. Die
Strahlenträger, die gesponnenen Netze, hielten sie vor sich auf der
Brust, gleichmäßig alle grünschwarzen zerklüfteten wasserüberflossenen
Gesichter nach Nordwesten auf das Meer gerichtet, das Meer aufzureißen,
den Meeresboden aufzuschmelzen, die Flamme die Lava hervorbrechen zu
lassen, Länder zu verschütten. Keine jauchzende Wildheit Krampf war mehr
in den Wesen. Die Gebirgsströme brausten durch sie. Die Erdmasse lähmte
sie, wollte sie vergewaltigen; sie mußten mit allen Seelenkräften
anringen, um nicht zu versinken.

Das Meer, die grünen Wasservölker, waren längst von der Cardiganbucht
über Wales hingesprungen, durchtobten den Bristolkanal, schäumten bis zu
den Füßen der steinernen Kuraggara im Norden. Tag und Nacht wallten vom
Atlantischen Ozean mit Wut die ungeheuren hinpeitschenden Wogen an.
Irland überdonnerten sie in ganzer Breite. Rasend stieg die Flut von
Nord herunter, eine meilenbreite von schwarzen Gewittern überlagerte
Straße schiebend, wühlte gegen Cornwall. Jenseits der Hebriden rissen
die Wellen dampfend auseinander, entließen gähnend Dunstwolken. Neue
Massen schwemmten herüber, kochten füllten die Spalten. Heller und
heller von einer unsichtbaren Quelle wurde es von Woche zu Woche über
der brandenden Kampfstraße. Durch Glimmen und Dämmer fuhren unaufhörlich
die Blitze. Endloser Regenguß, brüllender Donner.

Auf Cornwall, die Erde einziehend in ihren Leib, Flüsse aufsaugend,
rangen die Giganten mit ihrem Bewußtsein. Zu dem Brüllen des Donners
gesellte sich ihr tiefes Grunzen Röcheln. Das Bewußtsein wollte ihnen
schwinden. Und wenn einer stöhnte, stöhnten die anderen mit, um ihn
durch ihren Lärm zu erwecken. Delvil, die Dartmoorwaldungen auf seinem
Rücken, bewegte nur noch die Augenlider. Die Kiefern- und Tannenstämme,
lose durch seine Adern strudelnd, bohrten sich durch die rauchschwarze
Haut. Die Felsen wie in einem Trichter in ihn schwemmend, packten sich
an seinem Hals hoch. An seinen Schultern, an der Brust trieben sie
Kanten vor, waren Abhänge Klüfte, in dem sich das gischende Wasser
verfing.

Und im Sturm, wie er stand –, woran dachte er, wollte sich erinnern –
brannte ein Schmerz an seinem Nacken. Er achtete nicht darauf, sein
bewaldeter seenwiegender Kopf sank tiefer. Da zuckten seine Finger, der
Arm krümmte sich, es brannte im Nacken; welch Schmerz. Er tastete nach
hinten. Etwas rief. Von wo rief es. Er murrte. Venaskas Tränen stürzten
gegen seine Schultern, seinen Hals entlang. Ein Rufen: „Delvil Delvil
Delvil.“ Über ihn hin dachte es: es ruft mich bei Namen. „Delvil.
Delvil.“ Mit den Tränen kam der Schrei. Seine Finger tasteten hinein,
warm waren sie; über seine Schulter rief es durch das Gewitter: „Delvil.
Hilf mir doch. Ich bin im Gras verwickelt. Ich will zu dir.“ „Sie ruft
mich bei Namen. Immer der Name. Der Name. Es ist wie damals, als Marduk
entkam.“ Er brütete erregt, stöhnte: „Ich muß den Schleier halten.“ Die
Tränen sammelten sich kitzelnd brennend hinter seinen Ohren. Es klagte;
hörten die andern es nicht. Arme griffen über seinen Mund. Das waren
Arme, über seine Augen. Er bewegte den Kopf keuchend rückwärts; ein
heller Schreck durchfuhr ihn. „Delvil, ich kann nicht zu dir. Was stehst
du hier. Heb du mich, süßer Bruder.“ „Oh“, bäumte er sich, grunzte hohl,
„weg von mir“ und stöhnte mit den übrigen: „Die Steine. Es sind die
Steine die Bäche. Sie nehmen mir das Bewußtsein.“ Das Gewitter
prasselte, Schwärze, glühender Strahl. Er preßte den Schleier. „Meine
Arme halten dich. Nun sind sie doch froh bei dir zu sein. Ich komme
bald; nichts soll mich zurückhalten. Du bist mein Blut. Nach dir habe
ich Sehnsucht. Sehnsucht, Delvil.“ Es zuckte züngelte durch sein Gehirn.
Es trieb ihn an seinen Beinen zu ziehen. Was hing an seiner Brust;
welche toten Körper waren seine Beine. „Du wirst mich nicht verwirren.
Das Meer kommt an. Die Erde reißen wir auf.“ „Mein Blut, du, und du hast
Verlangen nach mir. Ich kenne dich, wenn du dich auch wehrst. Mein Mund
ist bei dir. Da ist er. Toter Bruder, sieh das Meer, es ist schön. Du
fühlst mich, du fühlst alles. Du bist Wald Gebirge Fluß. Sieh das süße
Leben an dir. Unser süßes Leben, Wald Fluß Gebirge. Laß sie heraufkommen
zu dir. Laß sie nur kommen.“ Das Bewußtsein schwand ihm: „Ich muß
stöhnen. Sie sollen mitstöhnen. Sie soll mich wecken.“ „Mein Herz kommt
zu dir. Jetzt ist es da. Toter Bruder, blick dich um. Jetzt wirst du
lebendig.“ Sein Kopf zuckte wild nach rückwärts. Durch die Schwärze,
zwischen den Blitzen näherte sich, näherte sich ein blutendes triefendes
Gebilde. Aderspielend, glühend kam das Herz Venaskas an, lautlos
langsam. Senkte sich in den Berg. Den durchströmte es auf Sekunden warm.
Ein weiches Dunkel bodentief brodelte durch Delvil. „Warum nicht,
Delvil. Warum nicht.“ Sein Kopf war nicht mehr da, das rasende Meer war
verdämmert. „Toter Bruder, nun ist uns gut. Nun hab’ ich dich. Streck
dich aus. Du hast Beine, sink hin. Hin. Hin. Wir sinken. Ach ist es
schön zu sinken.“ Es war nicht mehr Delvil, in Berg See Wald ausgedehnt,
auseinanderfließend. Es war nicht mehr Delvil.

Und zu den andern Giganten, von Bodminmoor bis zum Egmoor am
Bristolkanal schwoll Venaska. Sie rangen, in Syenitmassen versenkt, mit
den grünen sprießenden sie durchwuchernden Augiten, den Sandmassen, die
ihre Stirnen überschütteten, den Haufen von Trümmergestein, die durch
ihre Adern türmten. Die Waldbäche strömten kühl an ihnen herauf; Quellen
brachen auf, wogten durch sie. Es zuckte in ihnen. Ihre Lippen suchten
sich zu spitzen. Flehen Singen nahe bei ihren Ohren. Sie wurden am Hals,
an den Fingern berührt. Und wie sie noch staunten aufröchelten, um sich
zu erwecken, wurden sie im Innersten beseligt und ihr Mund blieb offen.
Hin schwanden wie Dunst ihre Gedanken. Ein Traum schoß zu blendender
Helligkeit auf: bei Namen wurden sie gerufen, Kuraggara, Tafunda,
Mentusi. Tränen über die Nacken stürzend, Gurren einer Stimme. Wer war
das. Wärme Sinken. Eine erschreckend sanfte süße Stimme: Kuraggara,
Tafunda, Mentusi. Ist das der Tod. Ach was gibt es in der Welt.

Es waren nicht mehr die Giganten, auseinanderprasselnd in Wälder
Gebirge. Das donnernd sich anhebende Meer sprühte, wusch die Massen, die
abstürzten, lose Stämme, leichtes Gestein und die Schleier ab. An Felsen
zerrieb es sie, zersprengte sie in Lohe. Dann verebbte die schwarze
Meeresstraße von Norden. Das tausendarmige Gewässer zog sich nach der
Cardiganbucht zurück. Der Dampf über dem Meer verwehte. Irland hob sich
seenflutend wieder aus dem Wasser. Auf Cornwall zerkrachten abrollend
die steinernen Häupter und Arme der Giganten.

                   *       *       *       *       *

Aus den Löchern und Nestern der verschütteten Stadtschaften quollen die
Verstörten. Sie waren ohne Nahrung; Haß Kannibalismus herrschte.
Geschlossene Horden kamen von den dröhnenden britischen Inseln, Reste
von dem überschwemmten Irland, schlugen sich mordend raubend durch das
westliche Europa. Die Mekifabriken waren verschüttet, die Äcker nur
wenig durch Siedler bestellt. Wie ein Wolkenbruch, ein Hagelwetter
stürzten verheerend die Menschen, die von den Tritten der Giganten
verschont waren, auf die Landschaften. Monatelang liefen sie. Leichen
ließen sie hinter sich auf dem Boden. Was stark war, verschanzte sich in
den wüsten Wäldern, auf Äckern, einzeln, meist in Kampfgenossenschaften,
würgte was sich näherte, war hart wie Knochen, jagte Tiere. Die
Ausschüttung und Überschwemmung des europäischen Kontinents, die
ungeheure Katastrophe, war in einem Jahr in ihrem ersten Schwall
beendet. Das Verschieben der Massen, Hin- und Herdrängen, Überwallen und
neues Verschütten dauerte noch lange an.

Die Islandfahrer, im wildesten Strom, waren vorbereitet ihn zu
empfangen. Sie stellten sich den furchtbaren Massen mit nicht geringerer
Furchtbarkeit entgegen. Arbeiteten, als wenn sie über den Vulkanen
schwebten. Hielten vertierte Menschengruppen, teilten sie, trieben
andere weiter. Erschienen bewaffnet, überall miteinander im
Zusammenhang, in den belgischen Gebieten, an der Seine, der mittleren
Loire, der Rhone. Wallartig mußten sie sich vor den glücklichen
Landschaften südlich der Garonne aufbauen, um ihre Zertrümmerung zu
verhüten. Schleppten nach Calais Le Havre Antwerpen, an die
Girondemündung Schiffe, die aus der Grönlandexpedition rostend und
faulend in den nördlichen Häfen lagen. In die afrikanischen weiten und
längst aufgeschlossenen Landschaften, nach dem nördlichen und südlichen
Amerika führten sie große Massen.

Wie beim Uralischen Krieg, als die Feuerwalzen zusammenschlugen, das
Kaspische Meer, wurde die Ostsee bei der Zertrümmerung der dänischen und
skandinavischen Stadtreiche von entsetzten hungernden sterbenden
Menschenwesen überschwemmt. An der südlichen Küste dieser See dehnten
sich die Märker aus, bis nach Litauen im Osten, an den Rhein im Westen.
Sie hatten fruchtbare bestellte Gebiete zwischen sich. Hier verdarb um
diese Zeit der schwarze Konsul Zimbo, als er den Augenblick benutzen
wollte, um die märkische Macht durch Überfälle nach Norden und Westen
auszudehnen. Die bewaffneten starken ackerbauenden Horden erschlugen ihn
in Berlin während einer Beratung, öffneten ihre Grenzen nach Norden und
Westen, nahmen Scharen der Flüchtigen auf. Über die Rheingrenze gingen
damals helfend märkische Horden. Die Erhaltung des größten Teils der
späteren westlichen Bewohner war ihr Werk. Durch ihr eigenes Gebiet
führten sie nördliche Scharen über die Warthe, die Weichsel. Die
russische Tiefebene betraten sie, die wieder geglättet beruhigt begrünt
war nach dem Flammenkampf. Nomadisierende mongolische und sibirische
Stämme nahmen sich der einschmelzenden Städtereste an. Von den in die
Stadtschaften Verlockten und Verschlagenen blieben nur die Nachkommen
der älteren härteren Weißen und Dunklen auf dem Kontinent; der junge
Zufluß, der nicht verkam, verebbte nach Süden. Dünn besiedelt war das
Land, auf dem die gewaltigen Stadtschaften, die Mütter der Giganten
gewachsen waren. Es waren in der Masse Nachfahren indianischer
Mischlinge und noch nicht lange eingewanderte körperstarke Mestizen,
versprengte Reste Weißer.

Dann war die Wut des Orkans gebrochen. Auf dem europäischen Kontinent
rangen in furchtbarster drängender Arbeit die Menschen mit dem Boden.
Amerika hatte keine Gebilde entwickelt wie Delvil Tafunda Kuraggara.
Hier flossen die Stadtschaften früh aus, die Senate schwanden, Apparate
und Wissenschaften verdarben. Als der östliche Teil des einstmaligen
Völkerkreises sich selbst zerschmetternd zusammenbrach, hatte der
amerikanische Kontinent noch viele kleine fröhliche Städte innerhalb der
verfallenden, Berge und Wiesen überziehenden Reste der ungeheuren
Stadtreiche. In Dorfstaaten, oft bei den schwach besiedelten Resten der
alten Stadtschaften ballten sich in Europa die Menschen. Es kamen nicht
viel später Angriffe afrikanischer Raubhorden, die den alten Hang zum
nördlichen Kontinent nicht verloren hatten. Die Vorstöße führten zu
Gegenbewegungen, zur Festigung europäischer Stammesgebilde und
Volksgruppen und zur Ausdehnung am Mittelmeer.

Über Nordeuropa zog nach den Vorgängen in Cornwall Staub wie von
Vulkanausbrüchen, wochenlang gingen Regengüsse nieder. Man beachtete es
in der Verkrampfung und tödlichen Wut dieser Tage nicht. Und wer von den
noch Lebenden an die Giganten dachte, fürchtete sie nicht; man kannte
jetzt keine Furcht. Erst wie das Ringen zu Ende ging, besann man sich
der tobenden Giganten. Und man sah die harten ledergekleideten
Islandfahrer, die, hinter sich kleine Scharen neuer Entschlossener,
durch die Länder ritten, Fußpfade herstellten, die verfallenen Chausseen
freirissen, große Wanderscharen auseinandertrieben. Im Belgischen und am
Rhein verbreitete sich das Gerücht, dies seien Männer und Frauen der
alten Herrengeschlechter, die gegen die Senatoren rebellisch geworden
wären, sich ungeheurer Kräfte auf Island und Grönland bemächtigt hätten
und die Giganten auf den britischen Inseln niedergekämpft hätten. Seien
Männer und Frauen wie Marduk und die White Baker, nur stärkere; sie
hätten die Giganten mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Es nutzte
nichts, daß die Islandfahrer den Gerüchten entgegentraten. Sie schwiegen
zu viel, man sah ihr Vulkanzeichen und wie sie sich vor dem Feuer
demütigten. Das mußte die Gewalt sein, die sie selbst niederhielt. Ob
sie sich wieder wie die alten Herren über die Menschen erheben würden.
Und während man vor ihnen auf der Hut war, tat man den Fahrern nach,
verehrte das Feuer, um mit ihnen auf einem Boden zu stehen und auch, um
nicht eine große unbekannte Gewalt zu beleidigen. Den Islandfahrern
selbst, die mit ihnen siedelten, brachte man Ehrfurcht entgegen, fiel
vor Hojet Sala hin.

Harte Sitten der Märker, die sich nicht mehr abschlossen, zogen im
Westen und Süden ein. Wie Flugsamen verbreiteten sich aber auch bei den
stadtentlassenen Menschen auf den Feldern, in den Dörfern, auf den
Stadtresten die ernsten liebevollen und ehrfürchtigen Gedanken des
Südens. Neu fühlte man sich in das Gewitter ein, in den Regen, den
Erdboden, die Bewegungen der Sonne und Sterne. Man näherte sich den
zarten Pflanzen, den Tieren. Das Feuer der Islandfahrer stand wie der
nachuralische Metallstier in den Landschaften zur Erinnerung an die
Katastrophe. Aber schon betete man freudig und langsam atmend vor dem
flackernden Licht, vor den großen Kräften, die alle errettet hatten und
sie jetzt neu beseelte. Zeichen von Tieren, Holzbilder Idole tauchten an
vielen Gegenden auf. Man verehrte sie, stellte sich unter ihren Schutz.
Stündlich war man von geheimnisvollen Kräften umgeben; Geisterglaube
wurde sehr lebendig.

                   *       *       *       *       *

Hojet Sala träumte schwer: er irrte am Seineufer entlang; auf diesen
steppenartigen Flächen, zwischen diesen sich windenden Bäumen mußte
vorher jemand gewandert sein, Venaska. Weiter wollte er, mußte suchen.
Da war ein Dickicht. Er wollte hinein, er wollte durch. Er kam nicht
heran. Er drängte und drängte. Und wie er den Hügel mit dem Dickicht
anlief, wurde er plötzlich erhoben, über das schwere Buschwerk hinweg.
Über den Boden, die weiten süßen sehnsüchtig begehrten Flächen flog er
weg. Er wand sich, er flog. Über das brausende Wasser mußte er fliegen,
das war der Kanal, in der hohen schwarzen Luft. Den Mund öffnete er:
„Jetzt bin ich bald da.“ Da war auch die schwarze Wüstenei, Cornwall.
Die Arme wehten wie zwei Bänder vor ihm. In der steinigen
Dartmoorlandschaft ließ er sich nieder. In das knatternde Gestein senkte
er sich ein. Sein Leib wurzelte in dem Berg; ein Gigant wurde er, ein
steinerner toter Felsenriese.

Hojet Sala erhob sich von dem Traum, vom Kopf bis zu den Füßen zitternd.
Er wanderte durch die Landschaften, die von den Siedlern aufgebrochen
wurden, in denen sie sich umfluten ließen vom Atem der finsteren
Tannengeschöpfe und grünen Buchen. Er trat nach Norden in die Ebene des
alten oberirdischen Brüssel. Da saß Ten Keir.

„Ten Keir, ich suche dich. Komm von den Trümmern herunter. Du hast nur
Haut und Knochen. Schließ dich uns an. Wir sind von Island und Grönland
gekommen, du weißt es. Wir sind alle errettet.“ „Warum sprichst du zu
mir, und kommst zu mir, Hojet Sala. Es gibt genug, die sich von dir
haben brennen lassen. Warum rührst du an mir. Fürchtest du nicht, daß
ich dich verbrenne und du mein Zeichen nimmst?“ „Was für ein Zeichen?“
„Ach, du meinst du triumphierst und ich verkomme auf meiner leeren
zertretenen Stadt. Aber an mir ist nichts zu erretten. Ich beuge mich
nicht. Es gibt keinen Gott und keine Gewalt, von der ich ein Zeichen
annehme. Ich bin ein Mensch. Und du, Hojet Sala, du bist keiner.“ „Ich
bin keiner, Ten Keir?“ „Nein du nicht. Sonst würdest du sitzen wie ich.
Würdest jammern, daß die Giganten hin sind.“ „Die Giganten. Wohl uns,
daß sie hin sind.“ „Was sprichst du, du frommer Gläubiger Heiliger. Sie
sind hin. Ungeheuer sind sie gestorben. Ich weiß nicht, was sie
verschlungen hat. Du warst es nicht, rühme dich dessen nicht. Du warst
Kylin. Und jetzt bist du ein Steiler Absturz. Der Steile Absturz.
Unterworfen, hast kein Leben, du hast kein Leben und die anderen auch
nicht. Ihr seid davongelaufen vor Grönland. Ihr seid eurer Würde nicht
gewachsen gewesen, wie ich, wie wir alle. Ich sitze hier. Und schäme
mich und klage um die Giganten. Und auch du schlägst die Augen nieder.“
„Mein Wahn, Ten Keir, hat sich gelegt. Ich bin dadurch nicht schwach
geworden.“ „Dein Wahn. Das Zittern ist in euch. Ihr sinkt, ich weiß
nicht wovor, zusammen. Delvil allein ist stark geblieben. Du weißt es
selbst. Warum kommst du sonst her. Ich verfluche mich und schlage mich,
daß ich es erst jetzt sehe. Darum um mich zu foltern, nagele ich mich an
diesen Trümmern fest. Und labe mich an diesem letzten Anblick, den sie
mir hinterlassen haben. Das sind sie doch gewesen, die Riesen. Gerast
haben sie, grausig waren sie, Rache haben sie geschnoben. Aber im Recht
waren sie über euch und über mich. In aller Raserei hatten sie recht
über mich und gar über dich, Hojet Sala. Ihr seid erbärmlich,
lächerlich. Unwert der Dinge, die die Menschen geschaffen haben. Da
liegt alles zertrümmert. Triumphiert.“ „Ten Keir, wie quälst du mich. O
wie du mich quälst. Was hat die Giganten umgebracht? Es trieb sie, sich
selbst zu vernichten.“ „Damit beschwichtigst du dich nicht und mich
nicht. Sie wollten sich nicht vernichten, das sage ich dir. Ein Fehler,
ein Irrtum, eine Schwäche muß sie auf Cornwall umgerissen haben. Sie
hatten sich übernommen. Aber dir sage ich: gesteh es, blick mich doch
an. Du gehörtest zu uns, du, und zu ihnen. Besinn dich auf dich. Kylin,
denk an dich. Ich bereue, daß ich nicht Delvils Freund geblieben bin und
ihn hab hinsterben lassen. Wir bereuen. Du auch. Hilf, was noch zu
helfen ist. Es ist kein Mensch so verzweifelt gestorben wie ich, wenn
ich jetzt sterben muß, ohne Rettung gesehen zu haben. Denk Kylin, was
wir besaßen. Niemand war diesen Dingen gewachsen. Weil sie in
Räuberhände fielen, in mißbrauchende Hände, waren sie nicht weniger
unerhört. Und groß, und unser. Die Giganten hatten den Schleier; sie
haben ihn in Wut und Rachsucht verwandt. Sie haben an sich selbst
gebaut, Angst wurde mir, aber jetzt fasse ich, es war das Stolzeste,
Menschenwürdigste das jemals geschah. Es ist jetzt hin, zertrampelt.
Aber vielleicht, vielleicht Kylin, nicht zu spät. Sie konnten es nicht
beherrschen, es kam zu rasch, immer muß Lehrgeld bezahlt werden. Ach
Kylin, wir haben dich nach Grönland geschickt, um einen neuen Erdteil zu
schaffen. Was war schon Meki für ein Erdteil, den wir geschaffen haben.
Und du. Jetzt weinst du.“

„Nicht um die Giganten. Komm von den Trümmern herunter.“ „Ich will deine
Menschen nicht sehen. Weil ich mich ihrer schäme, sitze ich hier.“ „Komm
von den Trümmern, Ten Keir. Du siehst, ich weine. Du wirst nicht feige
sein. Verkriech dich nicht auf Mörtelhaufen, zwischen verbogenes Eisen,
verhungere nicht zwischen dem weißen Kalk. Bist du noch Ten Keir? Soll
ich dich nennen. Du bist Tauschan-Dagh, Hasenberg.“ „Ich werde sterben.“
„An der Berührung mit mir, fürchtest du daran zu sterben? Komm zu mir.“
Der vertrocknete kleine, in der Sonne bebende Menschenleib wand sich
herunter von den rieselnden klappernden Steinen: „Da bin ich, du.“
„Bleib bei mir.“ „Komm, Kylin, ich werde dich führen.“

Einen Tag gingen sie, einen zweiten dritten, nach Norden, durch die
Dickichte und Siedlungen. Nachts wimmerte Ten Keir; er weinte um die
Giganten. Beim Gehen blickte er nicht um sich. Das große schwarzgrüne
Wasser kam, die Nordsee. „Abschiednehmen. Es gibt keine Rettung. Auch
für dich nicht. Hier wollte ich hin. Ich nehme Abschied von dir, Kylin.“
Mit gesenktem Kopf stumm stand Hojet Sala, als der hinfällige Mann sich
von ihm löste, sich über den windgeworfenen Sand schleppte. Vor den
klatschenden anbrausenden Wellen blieb er. Er stand. Stand. Plötzlich
rutschte Ten Keir in den Sand, lag auf der Seite. Nach einiger Zeit zog
ihn der andere an der Schulter, hauchte: „Du. Ten Keir.“ Der: „Nicht
anfassen. Weg.“ Hojet Sala zog seine schweren Füße die Dünen hinauf, bis
er den andern nicht sah. Nach einer Stunde trug er sich wieder an das
langsam anwallende Meer, das sich violett und schwarzblau überzogen
hatte. Ten Keir, ein kleiner schwarzer Haufe lag in dem Sand. Still
setzte sich Hojet Sala neben ihn. Der kleine richtete nach einer Weile
den Kopf hoch, zuckte, setzte sich auf, schwieg, das Gesicht in die
Hände gedrückt. „Du hältst mich für feige, Hojet Sala. Bin ich so
erbärmlich. Ich kann nicht hier hinein. Es ist das Wasser, das sie
verschlungen hat. Das hat die Giganten verschlungen.“ „Komm fort, Ten
Keir, du hast hierher gedrängt. Ich leide sehr. Begnade auch mich. Bleib
nicht zu lange liegen.“ Wimmernd, oft sich hinsetzend, oft die Fäuste
vor den Augen, meist schlaff, folgte der ausgemergelte hohläugige dem
langbärtigen Hojet Sala.

Sie wanderten zurück durch den Bereich der nördlichen Siedlungen. In
einem Wald, in dem man rodete, lagen gefällte abgeschälte Tannenstämme.
Da setzten sie sich nebeneinander. Hojet Salas Gesicht war nach dem
Boden gekehrt, überwölkt verschlossen. Am späten Nachmittag rief er
Siedler in der Nähe an, die ihn erkannten. Sie sollten für ihn Steine
aufhäufen mitten in der Lichtung. Er half mit, die schweren Blöcke,
weiße und dunkle, heranzuschleppen. Ten Keir sah ihm eine Weile zu. Wie
ihre Blicke sich begegneten, nickte Hojet Sala: „Ja. Hilf mit.“ Und der
zerlumpte fühlte sich bewogen aufzustehen, aus dem Boden die harten
Steine zu ziehen und zu wälzen. Und während er trug, wußte er, was sie
taten: sie trugen Steine zusammen zu einem Zeichen für die Giganten.
Gegen Abend war der hohe breite Haufe fertig. Die Siedler verließen sie.
Zwei Tage lagerten Hojet Sala und Ten Keir bei dem großen steinernen
Denkzeichen in der Lichtung. Dann bewegte sich der Langbärtige, faßte
den andern bei der Hand: „Wir wollen jetzt weiter, Ten Keir.“ Sie gingen
auf Brüssel zu. Vor der Steinwüste legte der Islandfahrer zum Abschied
den Arm um die Schulter des andern: „Hier ist Brüssel, Ten Keir.“ Der
hielt seine Hand fest: „Nicht Ten Keir. Tauschan-Dagh hast du gesagt.
Laß mich nicht allein. Wir wollen um die Stadt herumgehen.“ Sie
umschlangen sich.

Die Diuwa, glanzäugig milde, fuhr auf einem Ochsengespann im Winter
durch die schneeflatternden Landschaften, suchte in der Pariser Gegend
Hojet Sala. Wollte ihm danken für den Schutz der südlichen Siedlungen,
sie litt auch um Venaska, die er bei Lyon verjagt hatte. Die volle Frau
mit dem schweren roten losen Haar vermochte aber nicht zu klagen. Hojet
Sala ging auf den beschneiten Feldern neben ihr. Vor Kindern stand er,
lachte mit ihnen, knackte trockene Zweige, sah träumerisch Krähen nach,
wiegte halb scherzhaft die Arme, als wollte er mit ihnen fliegen. In
seinem Häuschen sang er oft feierlich morgens wie die britischen
Siedler. Er faßte auf dem Feld einmal die Diuwa bei den kalten Händen
an. Ob sie ihm vorwerfen wolle, daß er nicht genug auf Schmerz sehe, daß
er keine Menschen quäle, sie nicht mehr ins Feuer schicke. „Ich habe den
Schmerz nicht vergessen. Wir haben die Giganten im Gedächtnis. Es sind
überall Steinzeichen zu ihrer Erinnerung errichtet. Und zu ihrer Feier;
sie waren gewaltige Menschen. Wir haben auch das Feuer. Es ist uns
nichts entschwunden. Wir müssen dies festhalten. Diuwa, das Land nimmt
uns, aber wir sind etwas in dem Lande. Es schlingt uns nicht. Wir haben
keine Furcht vor der Luft und dem Boden. Kennst du, Diuwa, Ten Keir? Du
kennst ihn. Er ist still geworden. Er weiß, wir haben die Kraft, das
wirkliche Wissen, und die Demut. Er ist mein Freund. Er hat unser
Zeichen genommen und geschworen, nicht von mir zu gehen. Warum? Er
sieht, wir sind reicher und stärker geworden. Wir sind die wirklichen
Giganten. Wir sind es, die durch den Uralischen Krieg und Grönland
gegangen sind. Und wir, wir sind nicht erlegen, Diuwa. Du kannst an der
Garonne und an der Rhone erzählen, was ich sage. Man wird uns bald auf
der ganzen Erde sehen.“

Er senkte die Augen, saß auf einem Feldstein, hüllte sich bis an den
Hals in sein Lammfell. Er pries Venaska; sie wäre verschwunden und wäre
nicht verschwunden. Wenn er durch das Gebüsch an der Seine gehe, wisse
er, wo sie verschwunden sei. Es werde alles aufbewahrt. Hojet Sala griff
mit der Hand in die eisige helle Luft: ihm schiene, die große Urmacht,
die sie verehrten, hätte die Giganten auf Cornwall weggerafft und sie
hätte sich Venaskas bedient. Denn es ist keine tote Macht, sondern ein
wissendes schwelgerisch tiefes Wesen. Diuwa, die sanfte Frau, drückte
sich das lose Haar an der Schläfe fest. Sie sah den Langbärtigen, wie er
aufrecht saß, ernst war, sie voll anblickte, lächelte. Sie faßte sich
ans Herz: es war etwas von Venaska an ihm.

Dem neu aufgeschlossenen ährenwiegenden weiten Land von der belgischen
Meeresküste über die Seine bis zur Loire gab Hojet Sala den Namen
Venaska.

Die fleischernen blühenden welkenden Menschenwesen lagen über dem
südlichen Faltenland Europas, den Schollen des Westens mit seinen
uralten Massiven, den jungen Tiefländern, den ebenmäßigen schwarzen
Schichten der russischen Tafel. Gebirgsmassen Höhenzüge Senken bewegte
die Erde unter ihnen und um sie. In Strömen zog das weiße Wasser hin,
füllte Seenbecken. Braune und grüne Pflanzengeschöpfe drangen aus dem
Boden. Büsche und Wälder bauten sich längs der Donau auf, längs des
Dnjepr und Don. Urwälder und Moraste von der atlantischen Küste bis zu
den südlichen Pusten. Auf ihnen girrten schluchzten starben Feldblumen
Gräser Vögel. Über die Flächen krochen schwammen mit nackten schuppigen
behaarten Leibern Tiere, gaben nicht Ruhe um sich zu greifen,
aufzunehmen, sich zu entleeren. Bis der Boden, das wandlungssüchtige
Wasser, die verzehrende Luft sie ganz wieder hatte. Die Scharen der
Menschen in Ruhe und Tod, in Werben und Brautkämpfen, unter
Vulkanausbrüchen und Ertränkungen. Hielten sich aneinander fest,
schwanden tränend hin, Schwall über Schwall, Mutter und Kind Mutter und
Kind, Geliebter und Geliebte. Und immer sehnsüchtig die Gase der Luft in
die Lungenbläschen hinein, an die kleinen Zellen, die Kerne, das weiche
Protoplasma, immer angezogen und weiter gegeben. Und wenn die Herzen
stillstanden, die Zellen sich trennten und auflösten, waren sie neue
Seelen, zerfallendes Eiweiß Ammoniak Aminosäuren Kohlensäure und Wasser,
Wasser das sich in Dampf verwandelte. Leid- und lustbegierig,
wanderungssüchtig, Seelenvereine in Schneelandschaften, in dem
pendelnden weiten Meer, in den blasenden Stürmen, den Steinvölkern, die
der Boden zu Bergen hochtrieb.

Schwarz der Äther über ihnen, mit kleinen Sonnenbällen, funkelnden
verschlackenden Sternhaufen. Brust an Brust lag die Schwärze mit den
Menschen; Licht glomm aus ihnen.


                                  Ende




                        Werke von Alfred Döblin


                      S. Fischer / Verlag / Berlin

                     Die drei Sprünge des Wang-lun
                    Chinesischer Roman / 12. Auflage

                   Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine
                           Roman / 4. Auflage

                          Der schwarze Vorhang
             Roman von den Worten und Zufällen / 3. Auflage

                              Wallenstein
                   Roman in zwei Bänden / 8. Auflage

                         Die Nonnen von Kemnade
                        Schauspiel / 2. Auflage

                  Linke Poot: Der deutsche Maskenball
                               4. Auflage


                       Bei Georg Müller, München:

                    Die Ermordung einer Butterblume
                                Novellen

                  Die Lobensteiner reisen nach Böhmen
                                Novellen


                  Auslieferung Ernst Rowohlt, Berlin:

                               Lusitania
                              Drei Szenen


                               Druck vom
                       Bibliographischen Institut
                               in Leipzig




                     Anmerkungen zur Transkription


Die experimentelle Zeichensetzung des Romans, insbesondere das Weglassen
von Kommata und Fragezeichen, wurde beibehalten. Desgleichen wurde die
variierende und von der heutigen Norm abweichende Schreibweise
geographischer Namen beibehalten.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Verwendung späterer Ausgaben, sind hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 30]:
   ... Sie werden dir dein Gesichtchen, das sein Mütterchen ...
   ... Sie werden dir dein Gesichtchen, das dein Mütterchen ...

   [S. 39]:
   ... wurde neben den Senat Londons gestellt. Carceris ...
   ... wurde neben den Senat Mailands gestellt. Carceris ...

   [S. 337]:
   ... Zone der arktischen Länder mit Spitzbergen Norwegen Semlja ...
   ... Zone der arktischen Länder mit Spitzbergen Nowaja Semlja ...

   [S. 346]:
   ... zog sich lang durch die Atlantik ein unterseeischer
       Bergrücken, ...
   ... zog sich lang durch den Atlantik ein unterseeischer
       Bergrücken, ...

   [S. 356]:
   ... zu Häupten und Füßen überrundeten. Zwei Ringe umsausten ...
   ... zu Häupten und Füßen überrundeten. Zwei Ringe umsauste ...

   [S. 372]:
   ... es nicht wieder. Es war nicht das Wasser, das sie auf der
       Heimfahrt ...
   ... es nicht wieder. Es war nicht das Wasser, das sie auf der
       Herfahrt ...

   [S. 382]:
   ... hatten die Stadtschaften für die Grönlandexpedition Felsen
       abtragen, ...
   ... hatten die Stadtschaften für die Grönlandexpedition Felsen
       abgetragen, ...

   [S. 386]:
   ... sie stand auf Seite Kylins und De Barros’. Heftige
       Schmähworte ...
   ... sie stand auf Seiten Kylins und De Barros’. Heftige
       Schmähworte ...

   [S. 394]:
   ... Springbrunnen weiß aus den Nasenlöchern auf dem schwarzen ...
   ... Springbrunnen weiß aus den Nasenlöchern auf den schwarzen ...

   [S. 409]:
   ... habe ich getan? Habe dich gekränkt? Indem ich Jeloud diese ...
   ... habe ich getan? Habe ich dich gekränkt? Indem ich Jeloud
       diese ...

   [S. 576]:
   ... Sie kicherte, koste die Bäume: „Ach ihr! Ich muß noch
       Cornwall. ...
   ... Sie kicherte, koste die Bäume: „Ach ihr! Ich muß nach
       Cornwall. ...

   [S. 576]:
   ... Laßt meine Haare frei. Helft mir noch Cornwall; ich muß zu ...
   ... Laßt meine Haare frei. Helft mir nach Cornwall; ich muß zu ...






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BERGE MEERE UND GIGANTEN ***


    

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or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org.

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