Zur freundlichen Erinnerung

By Oskar Maria Graf

Project Gutenberg's Zur Freundlichen Erinnerung, by Oscar Maria Graf

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Title: Zur Freundlichen Erinnerung

Author: Oscar Maria Graf

Posting Date: September 21, 2012 [EBook #7985]
Release Date: April, 2005
First Posted: June 9, 2003

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUR FREUNDLICHEN ERINNERUNG ***




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ZUR FREUNDLICHEN ERINNERUNG--ACHT ERZÄHLUNGEN

von

OSCAR MARIA GRAF







INHALT

Zwölf Jahre Zuchthaus.
Sinnlose Begebenheit.
Die Lunge.
Ohne Bleibe.
Etappe.
Michael Jürgert.
Ein dummer Mensch.
Ablauf.




ZWÖLF JAHRE ZUCHTHAUS


I.

Weit hatte es der Schlosser Peter Windel im Laufe einer beinahe
zwanzigjährigen Arbeitszeit bei der Motorenfabrik Jank gebracht. Als
blutjunger Geselle trat er damals in den Dienst und heute war er
erster Werkmeister. Seine stumpfe, schweigende Energie, sein
fanatischer Lerneifer und seine fast pedantische, aber keineswegs
devote Pünktlichkeit hatten ihm Respekt und Achtung verschafft, bei
den Arbeitern sowohl, wie bei den Vorgesetzten. Beliebt war er nicht,
aber es war keiner in der ganzen Fabrik, der auf ein einmal
gesprochenes Wort von Windel nichts gab. Es dauerte allerdings lange,
bis er mehr als das Allernotwendigste sprach. Verschlossen, wortkarg
und mit jener stoischen Strenge im Gesicht, die schon nahe an der
Grenze des Mißmuts steht--so kannte man ihn seit Jahr und Tag. Noch
dazu war er keineswegs eine Erscheinung. Von Gestalt klein und nicht
gerade kräftig, etwas vornübergebeugt, mit langem Hals, auf dem ein
unförmiger, zu großer Kopf mit borstigen, kurzen, schon etwas
angegrauten Haaren und weitwegstehenden Ohren saß. Das lederne,
scharfe Gesicht machte einen überreizten Eindruck. Die tiefliegenden,
unruhigen Augen waren von vielen blutunterlaufenen Äderchen
durchzogen. Aus dem schroffen Tal der Backen hob sich die plumpe,
unregelmäßige Nase wie ein spitzer Hügel. Griesgrämig griff die
massige, verfaltete Stirne von einer Schläfenbucht zur andern.

Das Merkwürdigste an diesem Antlitz aber war der untere Teil. Er
schien fast von einem anderen Menschen zu sein, hatte etwas so
Hilfloses und Schüchternes, daß man den Eindruck des Mädchenhaften
nicht losbrachte, wenn nicht hin und wieder der geöffnete kleine,
aufgeworfene Mund die eingerissenen, stark mitgenommenen Zähne gezeigt
hätte. Kam noch hinzu ein ungewöhnlich kurzes, fast in den Hals
gefallenes und nur durch einen ganz kleinen Ballen angedeutetes Kinn,
aus dem ein spröder Knebelbart spritzte wie eine Rettung. Sonst hätte
man buchstäblich der Meinung sein können, nach dem Hals ginge der Mund
an.

Man sagt im allgemeinen, Pedanten, die ihr Dasein fast abgezirkelt
genau ableben, hätten ein sorgfältig gepflegtes Erinnerungsvermögen
und vergäßen die kleinste Kleinigkeit oft jahrelang nicht.

Peter Windel hatte keine Erinnerung.

Schließlich, daß man irgendwie zur Welt kommt, aufwächst und
allmählich auf einen Namen hört, dann, in der Schule, noch auf einen
zweiten; in die Lehre kommt, etliche Stellen wechselt; daß es einem
schlecht oder besser geht, daß man auf einem Gottesacker unter anderen
Leuten um ein Grab steht und den Kies auf den Sarg einer toten Mutter
oder eines verstorbenen Vaters, eines Bruders oder einer Schwester
fallen hört und endlich Hinterlassenschaftspapiere, Notariatszimmer
und Pfandbriefe zu sehen bekommt,--das erlebt so ziemlich jeder Mensch
auf die eine oder andere Weise.

Ein schepperndes Weckerläuten. Es ist noch tiefste Nacht draußen, die
Fenster sind gefroren und hoch herauf verschneit, man hört auf den
weiten, überschneiten Straßen nur seine eigenen Schritte knirschen.
Aus Schnee und Dunkelheit kommt langsam eine flimmernde Straßenbahn,
dann hinter einer gelben Fensterscheibe ein verschlafenes, ärgerliches
Pförtnergesicht, üher einen Hof viele, dumpf trommelnde Schritte und
ineinanderschwimmende Laute, endlich einen glatten Hebel in der Hand,
--herumgezogen--und ratsch! ein ganzer Hauskoloß surrt bebend
auf, die Riemen klatschen, ächzen, es hämmert, feilt, quietscht,
kracht, klingt, braust--das wußte Peter Windel seit ewiger Zeit.
Zwischendurch freilich auch Sommertage. Ein offenes Fenster, Kühle und
Dämmerung und etliche schüchterne Vogeltriller beim Erwachen. Das
meiste der zwanzig Jahre--: Nächte über technischen Büchern,
Sonntagnachmittage über dem Zeichenblock und manchmal ein Zählen des
ersparten Geldes. Öfters als wünschenswert Streitigkeiten, Zänkereien
mit der halbtauben, beschränkten Logisfrau können noch hinzugezählt
werden. Das war alles. Peter Windel hatte keine Erinnerung. Er kannte
nur Interessen.

Wenn nicht--

Und hier beginnt diese Geschichte.


II.

"Sie sind eine Sau! Vier Wochen kein frisches Handtuch, zwei Monate
keine Bettwäsche gewechselt! Wenn das nicht aufhört, ziehe ich!"
schrie Peter Windel an einem Sonntag seine Logisfrau an.

Wie immer. Das Weib blieb stehen, glotzte ihn an, verzog das Gesichtzu
einer weinerlichen Grimasse und winselte ein paar unverständliche
Worte heraus. Und weinte erst leise, dann immer unerträglicher.

Das Fenster stand offen. Es war Sommer. Klar fiel die Sonne in den
Hof. Windel riß die Schranktüre auf, nahm seinen Regenmantel, schob
die Frau beiseite und ging.

Vierzig Mark für ein Zimmer ist nicht viel und die Frau schnüffelte
nicht, war uralt, hockte den ganzen Tag in der dumpfen Küche und
lispelte Gebete. Unreinlich war sie nur von Zeit zu Zeit. Man mußte
sie dann grob anschreien.--

Auf der Treppe fiel Peter ein, daß er "Die Elektrizität als Nutzkraft"
vergessen hatte. Er drehte sich rasch um und ging zurück. Immer noch
stand das Weib in der Zimmermitte, fast unbeweglich und wimmerte.
Einen Augenblick maß sie Peter verärgert. Dann stampfte er mit dem Fuß
auf den Boden.

"Herrgott nochmal!" stieß er heraus, warf seinen Mantel hin, riß die
Bettlaken herunter, zog in aller Eile Decke und Kopfkissen ab und warf
die ganze Wäsche der Frau vor die Füße, samt dem schmutzigen Handtuch.
"Gehn Sie doch in die Küche mit Ihrem Lamentieren und legen Sie mir
die Bettwäsche dann herein, ich mach's mir selber!" sagte er noch,
nahm vom Nachtkasten das vergessene Buch und schmiß wütend die Türe
zu.

"Meine Lies' ... heut wird's das zweite Jahr!" wimmerte die Frau noch.
Und fiel wieder in ihr wimmerndes Weinen.--

Als Peter Windel tief in der Abendstunde nach Hause kam, lag sie quer
auf dem Zimmerboden, den Kopf auf die Waschtischkante geschlagen, eine
ziemlich große Wunde auf der Stirn--reglos, steif.

Eine kleine Lache geronnenes Blut umgab den Kopf. Die Tote mußte sich
in den hingeworfenen Bettüchern mit den Füßen verwickelt haben und
dann hingefallen sein.

Peter Windel stand und stand. Er fühlte das Brennen des angesteckten
Streichholzes nicht auf den Fingern. Erst als es wieder dunkel war,
zuckte er ein wenig, steckte schnell ein neues an und ließ es wieder
verglimmen. Stand und stand.

Plötzlich gab er sich einen Ruck und lief wie ein Irrer davon, ließ
die Türen offen, polterte die Treppen hinunter, rannte hastig und
totenbleich an Leuten vorbei und meldete das Geschehene auf der
Polizeiwache. Als er mit zwei Schutzleuten und dem Polizeiarzt
zurückkam, waren schon Leute aus den Türen gekommen und musterten ihn,
trippelten nach und blieben an der Eingangstüre stehen mit gereckten
Hälsen, brummten, lispelten.

Der eine der Schutzleute schloß endlich die Türe. Man machte Licht in
Peters Zimmer, schaute eine Zeitlang auf die Tote, nahm die zwei oder
drei schwarzen, verkohlten Streichholzköpfe auf ein Papier und sagte
zu Windel, der säulenstarr dastand: "Setzen Sie sich."

Der Arzt beugte sich üher die Tote, ein Schutzmann prüfte die
Waschtischkante. Der Arzt nickte.

"Setzen Sie sich!" sagte ein Schutzmann strenger.

Peter brach endlich in einen Stuhl.

Die drei lispelten in der Ecke.

Der Arzt steckte seine Instrumente ein, hustete und stellte sich neben
die Tote.

Ein Schutzmann nahm neben Peter Platz, einer blieb an dessen Seite
stehen.

"Wann haben Sie die Frau verlassen?" fragte der Schutzmann und
notierte.

Fragte weiter, mit einer gewissen hämischen Herausforderung:

"Haben Sie Beziehungen zu der Hullinger gehabt?"

"Nein."

"Wie lange wohnen Sie hier?"

"Und haben schon öfters solche Streitigkeiten mit der Hullinger gehabt?"

"Ja," sagte Peter.

"Und diesmal?"

"Weil sie mir schon vier Wochen keine frische Bettwäsche mehr gab."

"Sie waren also grob zu ihr?"

"Ja."

Und noch, was er Gehalt hätte, was er bezahlen müsse für Logis, ob die
Hullinger vielleicht eine größere Hinterlassenschaft in bar irgendwo
aufbewahrt, beziehungsweise ob ihm bekannt wäre, in welchen Verhältnissen
die Hullinger gelebt habe.

Peter antwortete meistens mit Ja oder Nein. Seine Stimme klang
zerbrochen und schwer.

"Dann muß ich im Hotel schlafen ... Herr Schutzmann ... wenn die Leiche
hier liegenbleiben muß," sagte er endlich hilflos. Er hatte diese
Anordnung vom Arzt gehört.

Da stand der Schutzmann selbstbewußt auf, sagte: "Sie kommen mit!"-Alle
Menschen waren noch auf dem dunklen Hof, und entsetzte Blicke fielen auf
die Davongehenden.


III.

Wegen dringenden Verdachts, seine Logisfrau ermordet zu haben, wurde
Peter Windel in Untersuchungshaft genommen und in einer Einzelzelle
untergebracht. Vier hohe, glatte, mit kahler, graugrüner Ölfarbe
gestrichene Wände umgaben ihn von nun ab. Unter der Lichtluke stand
die hölzerne Pritsche, daneben der Abort. Auf dessen Deckel konnte man
bei den Mahlzeiten den Eßnapf oder die blecherne Wasserkanne stellen.

Die erste Nacht lehnte Peter schlaflos an der kalten Tür. Als die
Wärter in der Frühe aufschlossen, mußten sie fest drücken, bis seine
steife Gestalt nachgab und endlich, als sie wütend fluchten, mechanisch
etliche Schritte in den Raum machte. Während die Wärter die Brotration
auf die Pritsche legten und den Kaffee in die blecherne Tasse gossen,
stand der Gefangene die ganze Zeit unbeweglich und zusammengeschrumpft
da. Sie achteten nicht weiter darauf und schlossen geräuschvoll wieder
die Tür.--

Jetzt war Licht. Die Gefängnisuhr schlug sieben.

Peter schaute schüchtern im Raum herum und begann zu gehen. Ging
stoisch die Wände lang. Immer zehn Schritte der Länge nach und zwölf
Schritte der Breite nach. Den ganzen Tag, ohne innezuhalten, wenn man
Essen oder Abendbrot brachte.--

Erst als das Licht beim Hereinbruch der zweiten Nacht verlosch, legte
er sich auf die Pritsche, zog die rauhe Decke üher sich und schlief
wie immer. Jäh erwachte er in der anderen Frühe. Es war stockdunkel.
Er griff in die Gegend des Abortes, als suche er etwas oder wolle
Licht anstecken und stieß dabei so hastig an die Wand der Wasserkanne,
daß dieselbe mit einem Knall auf den Boden fiel und klatschend die
Flüssigkeit aus ihr peitschte. Erschreckt schwang sich Peter von der
Pritsche, hielt seine aufgeknöpften Kleider raffend zusammen und
lauschte aufmerksam.--

Jetzt schlug es fünf. Er atmete auf und begann unsicher und vorsichtig
umherzutasten. Auf einmal fühlte er die Nässe an seinen Füßen.

"Herrgott! Herrgott!" brummte er mürrisch und besann sich. Aber in
diesem Augenblick räkelte wer an der Tür. Ein Atmen wurde vernehmbar,
das Licht in der hohen Decke flammte auf und wieder standen die kahlen
Mauern ringsherum, das kleine Loch glotzte in den totenstillen Raum.

"Was machen Sie denn da?!... Sind Sie ruhig!" brüllte der Wärter
draußen ärgerlich. Peters Finger streckten sich und ließen von den
Kleidern. Seine Hose fiel langsam herab. Ein Zittern schüttelte seinen
ganzen Körper.

"Es ist schon fünf Uhr vorbei, ich muß weg!" hauchte er gedämpft.
--Aber es war schon wieder dunkel. Und still.--

Erst nach einer Weile brachte Peter die Kraft auf, seine Hose
hochzuziehen, und tastete sich zur Pritsche, legte sich darauf. Sein
Herz schlug hörbar und mit jedem Uhrenschlag erregter. Um sechs Uhr
schwang er sich empor und blieb dann hölzern sitzen.

Das Licht griff endlich wieder von der hohen Decke in den Raum. Die
Tür öffnete sich unter dem Knarren der Schlüssel. Ein Wärter stellte
das Frühstück herein und der andere an der Tür warf den Aufwischlumpen
her und beide brummten und schimpften wegen des Wasserumschüttens,
hießen Peter aufwischen. Fast froh darüber ergriff dieser den Lappen,
kniete hin und wollte alles möglichst in die Länge ziehen. Aber die
Wärter zeterten und trieben zur Eile.

"Vorwärts! Vorwärts! Glauben Sie, wir sind zu Ihrer Unterhaltung da!
... Marsch! Marsch! ... So ... fertig!"

Sie rissen ihm den Lumpen aus der Hand und waren schon draußen. Wieder
wich die Tür in die Wand zurück. Die Schlüssel knirschten. Das Guckloch
starrte wie ein gräßliches, ausgestochenes Auge in den kahlen Raum.

Peter kniete benommen da. Lange.

Es war still! Still!!

Fürchterlich still!

Wie ein aufgescheuchtes Tier hob der Kniende plötzlich den Kopf,
schaute scheu um sich und sprang mit einem Satz an den Abort, hob den
Deckel und schloß ihn hastig wieder, hob und schloß.

Die Spülung rauschte. Auf und zu klappte der Deckel. Es krachte,
rauschte. Immer hastiger, schneller, motorisch riß Peter auf und zu,
auf und zu, immerfort, immerzu, nur um die Stille nicht mehr zu hören,
hob und deckte zu, es rauschte, rauschte--bis der Wärter schrie:
"Sie!! ... Sie! Sind Sie verrückt geworden!!--Passen Sie auf! ... Man
ist schon mit anderen fertig geworden! ... Warten Sie, Sie!!"

So erschrocken war Peter, daß er noch lange zitterte, dann ging er
hastig wieder die zehn und die zwölf Schritte. Den ganzen Tag.--

Viele, viele Tage, jedesmal um fünf Uhr früh, erwachte Peter so jäh.
Immer griff er hinüber zum Abortdeckel, wollte Licht anstecken, sprang
auf, brachte seine Kleider in Ordnung,--machte etliche Schritte, stieß
an die kalte Tür und prallte zurück.

Neunzehnunddreiviertel Jahre gleichmäßiges Aufstehen lassen sich
schließlich nicht aus der Gewohnheit auslöschen.

Um sechs Uhr pfiff es. Wenn er am Hebel stand undihn herumriß, fing
der mächtige Koloß der Fabrik zu surren an, die Riemen klatschten,
quietschten, es krachte, bebte, hämmerte....

Peter war so mit dem Kopf an die Tür gestoßen, daß er taumelnd
zurückfiel, glatt auf den Boden und liegenblieb.--

Wo!? Wo war man denn? Wo denn! Wo!!?

Auf der Welt? In der Hölle? Tief in der Erde?--

Es war still!

Nirgends war man! Nirgends! Gar nirgends!

In einem Grab, in einem luftleeren, steinernen Sarg! In einer
fressenden Stille! Und durfte langsam, ganz langsam sterben. Niemand
wußte, sah und hörte etwas. Es war still! Still!!--Still!!!

Doch--man hörte etwas, zeitweilig ein ganz fernes Klopfen, ein Kratzen
in den Wänden. Aus einer anderen Gruft vielleicht?!--Nein! Es waren
Holz--oder Mauerwürmer, die nagten, nagten, weil sie einen Kadaver
witterten.--

Die dann herabfielen wie Tropfen und langsam in den Leibbohrten,--nagten,
nagten und alles auffraßen!--

Das Licht kam wieder. Peter Windel stand auf, ging zehn und zwölf
Schritte. Er aß jetzt auch.--


IV.

Endlich nach fünfzehn Wochen Haft fand die Verhandlung gegen Peter
statt.

Stupid folgte der Gefangene den Wärtern durch lange Gänge, dann fühlte
er Luft und bekam Angst, atmete sparsam.

Und dann saß er in einem Saal, sah Gestalten, sah starre Augen und
hörte Redegeräusche um sich herum und aus sich heraus.

Zuerst saß er da wie eine leblose Puppe. Dann, mit jedem gehörten
Wort, kam mehr und mehr das Leben in ihn. Sein Gesicht bewegte sich,
als öffne es sich aus einer Erstarrung--und dann lag ein Lächeln die
ganze Zeit auf seinen stoppeligen Falten und blieb.--

Die Dienstmagd vom Vorderhaus sagte aus. Einfach klangen ihre Worte.
Sie sprach nicht zu viel und nicht zu wenig.

Das Geräusch der Worte war erst undeutlich, dann wurde es klarer und
klang.--

Am fraglichen Sonntag nachmittags zwei Uhr vernahm diese Dienstmagd
ein Wimmern aus dem offenen Fenster des Windelschen Zimmers. Dem
folgte ein grobes, kurzes Schimpfen. Dann sah sie den Angeklagten auf
der Treppe, wie er plötzlich innehielt und wieder umkehrte. Und wieder
hörte sie das Wimmern, noch deutlicher sogar und ein wütenden Schimpfen,
dann einen Türzuschlag und Windel mit grimmigem Gesicht die Treppe
hinunterrennen.

Wie ruhig sie das sagte: "Und dann, gleich darauf, habe ich einen
dumpfen Knall und einen kurzen, nicht recht lauten Schrei, der eher
ein Stöhnen war, gehört und das Wimmern hat auf einmal aufgehört. Ich
weiß nicht mehr genau, war's gleich nach dem Türzuschlagen oder ein
wenig später. Ich bin dann zu meiner Schwester gegangen, weil ich
Ausgang hatte.... Die Leute im Vorderhaus und im Hinterhaus? ... Ja
... soviel ich gesehen habe, die waren fast alle weggegangen ... schon
mittags.... Es war ja auch so schönes Wetter."

Peter Windel saß da und lauschte. Es klang!--

Er begann auf einmal langsam--dann aber stoßweise zu schluchzen. Eine
Bewegung kam in den Saal. Eine Glocke läutete. Lauter rief wer!
Ja!--Ja! Das konnte der Vesperruf in der großen Halle sein! Das war
dasselbe, dünne, schrille Läuten.--

Dann klangen wieder Stimmen hin und her.

Der Chef, die Arbeiter und Angestellten und die frühere Logisfrau
sagten günstig über den Angeklagten aus. Die letztere weinte sogar
buchstäblich und sprach erregt, daß der Staatsanwalt sich verpflichtet
fühlte, sie zu fragen, wie lange Windel sie kenne, ob er sie zuletzt
noch aufgesucht und ob sie zu ihm in näherer Beziehung gestanden habe.

Die dicke Frau wurde darob sehr schrill, schrie und es läutete
abermals. Peter Windel war wieder ruhig geworden und lächelte
wieder.--

Lächelte, trotz der furchtbaren Anklagerede des Staatsanwalts,
lächelte starr in den Raum, als der Rechtsanwalt redete und redete.--

Man fand keine Absicht in dieser Tat. Die Beweise waren zu mangelhaft.
Der Angeklagte war ein unbescholtener Mensch. Bis in die Schulzeit
hatten die eifrigen Nachforschungen der Behörden zurückgegriffen,
nichts ließ auf einen jähzornigen, böswilligen Menschen schließen,
sondern eher auf einen schüchternen, scheuen, dem das Leben stark
mitgespielt hatte.--

"Alles, was die tote Frau Hullinger hinterlassen hat, fand man
unberührt. Sie haben ein Zeugnis aus der weitaus überwiegenden
Mehrzahl der Aussagenden, daß der Angeklagte nie zu einer solchen Tat
fähig sei. Wie kann man annehmen, daß ein solcher Mensch wegen einer
geringfügigen Unreinlichkeit einfach eine alte Frau dermaßen an den
Waschtisch wirft, daß sie augenblicklich tot ist!" rief der Verteidiger.
Und viele nickten. Man hörte deutlich ein Aufatmen, als der Freispruch
bekanntgegeben wurde und sah aufgeheiterte, fast erlöste Gesichter.--

Peter Windel war frei.

"Kommen Sie nur gleich wieder!" hatte sein Chef gesagt, als er ihm
beim Weggehen die Hand drückte. Und der Rechtsanwalt hatte einen Blick
wie ungefähr: "Na, das hätten wir wieder durchgedrückt!"

Nach fünfzehn Wochen spürten Peters zögernde

Schritte wieder Straßen, hörten seine Ohren Trambahnrattern, sahen
seine Augen Menschen, Farben, Fenster, und er wußte selber nicht, wie
und weshalb er plötzlich an einen Schalter herantrat und sagte:
"Dritter Klasse! Ja!"

Er stieg auf den Zug und ging nicht in die Kupees. Eine Nacht lang
stand er auf dem eisernen, ratternden Vorplatz eines Wagens und
atmete.--

Der Wind pfiff. Der Zug sauste, riß die Luft auseinander, zog
vorbeifliegende Lichter in die Länge, bohrte hemmungslos in eine
dunkle, ungewisse Ferne.

Keine Wand mehr, keine zehn und zwölf Schritte, kein Ende--das Toben
und Brausen wieder! Nur diesmal wie ein Flug durch einen unermeßlichen
Raum.--


V.

Aber--es ist nicht wahr! Man kann nichts wegtrinken, nichts vergessen
machen, nichts auslöschen! Man trägt es mit sich wie ein unsichtbares
Schneckenhaus und zuletzt!?--

Es sind immer wieder die kahlen, glatten Mauern, die Tür mit dem
ausgestochenen Aug' in der Mitte, die zehn und zwölf Schritte....

Es klopft.--

Es kratzt in den Wänden. Die Würmer nagen. Sie warten und fallen
plötzlich in einer Nacht wie schwere Tropfen herab, bohren sich ins
Fleisch, nagen--nagen.--

Peter Windel hatte eine wilde Flucht hinter sich. Durch Städte und
Dörfer war er gefahren, in Hotels und in Wirtschaften, in
Animierkneipen oder am Leib eines Weibes hatte er die Nächte
verbracht. Er trank, warf das Geld weg, aß, saß in den Theatern und
den Kinos, in den Bars und Vergnügungslokalen jeder Klasse.

Es war immer wieder die Stille, das Stockdunkle, das Grab!--

Er floh und kehrte endlich wieder zurück zu Jank, nahm die Arbeit
wieder auf und wurde ruhiger. Es trat die alte Regelmäßigkeit in sein
Leben. Ereignislos verliefen die Jahre. Er wurde alt. Gebückt ging er.

Der Chef nahm ihn in die Abteilung für technische Angelegenheiten ins
Bureau. Da saß er nun jeden Tag auf seinem Drehstuhl und rechnete,
schlug das Buch zu, kam am ändern Tag wieder und rechnete.

Neben ihm saß das Schreibmaschinenfräulein, weiter am Fenster vorne
der Ingenieur und manchmal auch der Chef.

Jahre.--

Plötzlich an einem Nachmittag gegen drei Uhr warf Peter Windel die
Feder weg, riß sich fast soldatisch herum, ging an den Schreibtisch
des Ingenieurs und sagte mit hohler, kalter Stimme: "Die Sache
liegt vollkommen glatt. Für den Verlust mache ich Sie keinesfalls
haftbar."

Steif stand er einen Augenblick vor dem verblüfften Herrn und drehte
sich rasch um, rannte zur Tür und war weg.

Schon nach der Mittagspause hatte er sich den Hut unter den
Schreibtisch gelegt. Und jetzt war er froh, daß kein ihm bekannter
Straßenbahner den Wagen führte, in den er stieg.

Nach der fünften Haltestelle stieg er aus. Er war mitten in der Stadt.
"Das Urteil im Heinold-Prozeß! Zwölf Jahre Zuchthaus!" schrien die
Zeitungsverkäufer und flatterten mit den Extrablättern herum.

Wichtige, gesprächige Gesichter tauchten auf, gedrängte Gruppen
stauten sich um die Anschlagssäulen.

Peter bohrte seine Augen spähend in die staubige Luft. Nach einem
regen Ausschreiten blieb er auf einmal stehen, murmelte etliche Worte
heraus, drehte sich mechanisch herum und ging in den Blumenladen,
vor dem er jetzt stand. Nach einer langen Weile kam er mit einem
großen, auffallend schönen Rosenstrauß heraus, und ein kaltes Lächeln
lag auf seinen störrischen Zügen.

"Lebenslänglich in einem Grab ... da schon lieber gleich weg," hatte
er gestern beim Treppenhinaufgehen gehört, und dann sagte eine andere
Frau superklug: "Beantragt erst. Es hängt noch vom Gericht ab."

Heute war niemand im Treppenhaus. Auch die Wohnung war leer. Die
Logisfrau war wahrscheinlich zum Putzen gegangen und ihr Mann kam erst
gegen sieben Uhr abends von der Arbeit.

Peter öffnete rasch und schritt behend in sein Zimmer, legte behutsam
den Rosenstrauß auf den Tisch und holte sich in der Küche warmes Wasser
zum Rasieren.--

Als er bereits im Gebrock vor dem Spiegel stand, überfiel ihn auf
einmal ein maßloses Zittern, und eine Totenblässe überzog sein
Gesicht. Mit Gewalt straffte er seine Füße. Dann nahm er endlich den
Strauß und verließ die Wohnung.

Es war schon dunkel, als er vor der Tür des Staatsanwalts Petersen
stand und läutete.

"Ich möchte gern ... wenn es erlaubt ist ... dem Herrn Staatsanwalt
diese Blumen bringen ... und--und gratulieren," stotterte er dem
Mädchen ins Gesicht. Das ließ ihn ein und führte ihn in ein
Empfangszimmer. Nach ganz kurzer Zeit tat sich die Mitteltür auf, und
Peter stand vor dem Staatsanwalt. Einen Augenblick hatte der Mann eine
steinern ernste Miene, dann flossen alle Falten in ein Wohlwollen und
er lächelte geschmeichelt.

Mit vielen unbeholfenen Verbeugungen reichte ihm Peter den Rosenstrauß
und stotterte devot: "Für ... für den außerordentlichen Eindruck, den
ich von Ihrer Anklagerede empfing ... nur eine kleine Erkenntlichkeit
meiner Wenigkeit, Herr ... Herr Staatsanwalt, Herr....!"

Der Staatsanwalt nahm ihm mit aller Freundlichkeit der Herablassung
den Strauß aus der Hand, führte ihn an die Nase und sog in vollen
Zügen den Duft ein, hob den Kopf wieder, sagte: "Ah ...!" und drehte
sich lächelnd um, zur anderen Tür schreitend: "Das muß ich gleich
meiner Frau sagen...."

Jetzt, da er ihm den Rücken zugewendet hatte, rief Peter plötzlich mit
schneidender Hast: "Eins, zwei, drei! ... einen Augenblick ..." und er
lächelte, wie um sich zu besinnen ... "sind drei ... aber nein, nein!
Das stimmt nicht! ... Zehn und zwölf, verstehn Sie ... sind?"

Der Staatsanwalt hatte sich erschreckt umgedreht, stand unschlüssig.
Peters Mund bewegte sich fieberhaft. Schaum stand auf seinen Lippen:
"Verstehn Sie ... zehn und zwölf Schritte! Den ganzen Tag! Den ganzen
Monat--ein Jahr--zwei!--drei!--vier--zwölf Jahre! Zwölf Jahre!!"

Und noch ehe der Staatsanwalt auf ihn zustürzen konnte, stieß ihm
Peter mit aller Wucht sein feststehendes Messer in die Brust, daß er
lautlos zusammenbrach und vornüber hinfiel. Dumpf hallte es. Der
Körper warf sich etliche Male zuckend und blieb dann steif liegen.

Peters Mund ging auf und zu: "Zehn und zwölf Schritte--einen Tag,
einen Monat--ein Jahr--zwölf Jahre, zwölf----"

Die Tür ging auf. Hoch stand ihr Dunkel. Etwas Buntes, Weißes
flimmerte dazwischen! Peter schrie in einem Schrei:

"Für den Verlust mache ich Sie keinesfalls haftbar,--Zwölf Jahre Grab!
Verstehn Sie ... Das ausgestochene Aug'! Die Würmer! Zwölf Jahre ...
Verstehn Sie! Zwölf Jahre Nirgends! Nicht Hölle! Nicht Welt! Zehn und
zwölf Schritte ... die Wü-ü-ürmer!"....

Nach der irren Hast der ersten Worte spaltete sich die Stimme,
überschlug sich und klang zuletzt wie ein keuchendes, ersticktes
Stöhnen. Jetzt hielt er inne.

Die hohen Türen standen offen da. Schwarz und düster. Gegen ihn
gerichtet wie drohende Rachen.

Die Gestalten und Gesichter waren fort. Es war still. Still!--Mit weit
aufgerissenen Augen starrte Peter in diese Leere. Sein Körper begann
zu schlottern, aber er riß sich zusammen. Er wich zurück. Sein Kopf
stieß dumpf an den Fenstergriff. Erschrocken wandte er sich herum. Die
Helle brach üher ihn. Er öffnete rasch.

Jetzt befiel ihn wieder das Zittern. Sein Gesicht verzerrte sich. Er
wollte umsehen und wagte es nicht. Seine Arme umklammerten das
Fensterkreuz.

Furchtbar schrie er: "Hilfe! Hi-ilfe!"

Er schwang sich plötzlich mit einem wilden Satz aufs Fenster und
sprang in die Tiefe.--




SINNLOSE BEGEBENHEIT


Um es ohne Umschweife zu sagen--: Michel Zöll hatte heute einen guten
Tag.

Vorgestern, als er stumpfsinnig in der Wärmestube der Arbeitsvermittlung
saß und an dem nassen, verfilzten Zigarrenstummel saugte, den er auf dem
Hergang in der Frühe gefunden hatte, kam sein Weib herein und sagte zu
ihm: "Dein Alter ist gestorben ... Vom Elektrizitätswerk haben sie
hergeschickt, daß er auf der Straße umgefallen ist.--Schau nach!"

Es stimmte.

Jetzt lag der Tote unter der Erde.

"Ich komm schon!--Nachher!" sagte Michel zu seinem Weib nach dem
Begräbnis und schickte es heim, während er zur Logisfrau des
Verstorbenen ging.--

Wie oft hatte Michel es nicht gehört, wenn Fußtritte auf ihn traten,
wenn er in eine Ecke flog, wenn die Fäuste seines Vaters auf seinen
Kopf niedersausten oder eine Eisenstange, ein Teller, eine Bürste:
"Knochen, verstockter!--Der Teufel soll mich kreuzweis' holen, wenn
ich dir einen Pfennig hinterlaß'! Ertränkt sollte man dich im ersten
Bad haben, du Nichtsnutz!"

Mit sechszehn Jahren noch, als Michel schon im letzten Lehrjahr stand
und eigentlich keine Last mehr war, wollte der Alte den Jungen
wegräumen und übergoß ihn beim Heimkommen mit siedendem Kartoffelwasser,
weil er das Vogelfutter für den Kanarienvogel mitzubringen vergessen
hatte.

Michel mußte damals ins Krankenhaus gebracht werden und sah zum
erstenmal, wie ein Bett aussah.

Es war schön in diesen hellen Räumen. Man sah viele fremde Menschen,
die allerhand erzählten. Michel faßte Mut da und ging nach seiner
Entlassung mit dem was er auf dem Leibe trug, auf die Wanderschaft,
schlug sich auf alle mögliche Art und Weise durchs Leben.

Mutter--?! Ein komischer Begriff!

Michel hatte noch so etwas wie eine abgemagerte Frau in einem Haufen
Lumpen im Gedächtnis. Ein Paar spindeldürre Arme wie Stöcke. Und
Hüsteln.

Und das, was er nun seit ungefähr zwei Jahren unausgesetzt ablebte:
Eben ein Zimmer voll Gerumpel, mit erstickender Luft und einem
Vogelbauer im staubigen Fenster.

Nur--daß Michels Weib zwei Kinder hatte und hin und wieder zum Putzen
ging, daß das jetzige Zimmer keinen Vogelbauer hatte, ein klein wenig
heller war, aber enger als das frühere.

Vor zwei Jahren war es etwas anders. Damals arbeitete Michel noch in
der Motorenfabrik. Es war guter Verdienst. Aber wie der Teufel sein
wollte, die Firma machte Bankrott, kam noch hinzu, daß das damalige
Haus, in dem Michel mit Weib und Kindern in einer Zweizimmerwohnung
hauste, in ein Warenhaus umgewandelt wurde, und die Leute nach langem
Hin und Her auf die Straße gesetzt wurden.

Weshalb soviel Aufhebens machen! Die Entwicklung der Dinge läßt sich
leicht denken. Die Hauptsache war immer: Man hatte zur Not ein Dach
üher dem Kopf bekommen. Man wußte, wo man hingehörte.--

Nun, es ist etwas Wahres dran an dem Sprichwort: "Wo die Not am
größten, ist Hilfe am nächsten."

Trotzdem der Verstorbene sich vielleicht geschworen haben mochte, nie
und nimmermehr für Michel etwas zu hinterlassen, fiel dem Sohn jetzt
die ganze erraffte Habschaft des Alten zu.--

Es war erst fünf Uhr nachmittags. Michel konnte in aller Ruhe das
Zimmer des Verstorbenen durchstöbern und alles mitnehmen. Er fand
außer baren fünftausend Mark einige Anzüge, von denen er den besten
sogleich anzog, einen Überzieher, den er ebenfalls umlegte, und
allerhand Gerumpel, das er dem Tändler Finsterhofer verkaufte.

Er war gut aufgelegt, der Michel, lachte und gab schließlich dem
drängenden Tändler auch das ganze andere Geschleppe, die übrigen
Anzüge und was da noch war.

Die Tasche voll Geld schritt er in die dämmernde Stadt.

"Ist doch gut, wenn man weiß, wer einen auf die Welt gebracht hat,"
brummte er aufgeheitert und ging in eine der bekannten Wirtschaften
inder Bahnhofsnähe, um noch ein paar Gläser zur Feier des Tages zu
trinken.

Es kam ihm merkwürdig vor, als er so unter den anderen Arbeitern,
Zuhältern, Herumlungerern und alten Huren saß.

Einige kannten ihn und maßen ihn von der Seite.

"Hast das große Los gezogen, Michel! He ... gibst was aus?" rief ihm
ein Tisch zu und in jedem Blick war ein konstatierendes Zwinkern.

Michel setzte sich. Es tat ihm wohl, daß soviel Freundlichkeit ihn
umgab. Auf seinem Gesicht war sogar eine Art Gönnerhaftigkeit.

"Meinetweg'n ...," rief er und lachte, "trinkt. Mein Alter hat ins
Gras gebissen! Es kommt mir nicht drauf an....!"

Und die Gesichter um ihn zäunten sich enger, fingen zu glänzen an.
Man trank sich kameradschaftlich zu.

"Erste Runde ... wer bezahlt!" schrie der martialische Kellner und
Ordnungsmann in den Tisch.

"Daher!" schrie Michel und griff in seine Hosentasche, zog die Scheine
heraus.

"Da gehn schon noch ein paar Runden, Michel?!" riefen mehrere.

"Kameradschaft bleibt Kameradschaft!" bekräftigte ein anderer.

Und Michel legte einen Hundertmarkschein auf den Tisch: "Soviel soll
genug sein!"

Der Tisch war zufrieden, wurde laut, man brachte Bier und ließ Michel
leben!

Dann stand Michel endlich auf. Einige wollten ihn noch halten,
bettelten. Aber ein paar andere mischten sich ein und riefen: "Nein
... richtig gesagt, sind wir zufrieden ... der Michel kommt wieder!"

Und jeder drückte Micheln die Hand.

"Ein kreuzguter Mensch!" hörte dieser noch, als er die Tür hinter sich
zuzog und seine Schritte eiliger straffte.

Die großen Bogenlampen leuchteten schon durch den nachtdurchwobenen
Nebel. Aus den Kaffeehäusern griffen die Lichter, die Straßenbahnen
flimmerten, surrten und läuteten.

Michel stieg nicht ein. Er ging zufrieden dahin und lächelte manchmal.
Es schien, als wolle er noch einmal, ganz für sich allein, das eben
zuteil gewordene Glück auskosten.

Er griff nach seinem Geld. Er griff hastiger. Nichts.

Seine Knie begannen zu schlottern, sein Herz stand jäh still. Er griff
nochmal.

Das ganze Geld war weg. Man hatte es ihm gestohlen.

Er taumelte an eine Hauswand. Griff, suchte--suchte alle Taschen
durch, vorsichtig, zitternd, furchtbar.

Nichts mehr.

Einen Augenblick stand er starr.

Die Trambahn surrte vorbei. Ganz dünner Schnee fiel. Die Lichter
flimmerten. Es rauschte, rauschte--und war doch grauenhaft still. So
als ob alles wie ein fließendes Wasser leise um ihn herumflösse. Er
hörte es nicht und hörte es doch, hörte es wie ein verborgenes, leises
Kichern....

Der Schnee fiel. Michel bewegte sich nicht von der Stelle.

Lange.--

Endlich gab er sich einen Ruck, rannte in die Wirtschaft zurück, auf
den Tisch zu.

Es war keiner mehr da. Er fuhr den Ordnungsmann an. Fragte, flehte,
weinte. Vergebens.

In sich zusammengesunken verließ er die Wirtschaft. Machte sich auf
den Heimweg. Als er vor dem Haus stand, in dem er wohnte,--hielt er
inne. Er griff nochmal in alle Taschen.

Dann, als er die Treppen emporstieg, schien es, als hätte sein Gang
wieder die gewöhnliche Ruhe und Gleichgültigkeit, mit der er sonst
dahinschritt. Der Dunst des Zimmers schlug ihm ätzend entgegen. Es war
still und düster. Die zwei Kinder lagen im Korb, in einem Berg von
Lumpen, und schliefen. Anna saß am Tisch, die Petroleumlampe flammte
ärmlich und bläulich üher ihre Hände.

Gleichgültig schaute das Weib vom Sockenstopfen auf und rief: "Hast
was gefunden?"

Michel schwieg, drehte sich umständlich um und schloß die Tür. Dann,
seinem Weib wieder zugewendet, sagte er: "Zuwas stopfst' Socken? ...
Brauchst bloß Licht."

"Hast denn solang braucht?" fragte Anna und fixierte nunmehr die
ungewohnte Kleidung ihres Mannes.

"Ja ...," sagte Michel und zog seinen Überzieher aus, "ist eine schöne
Strecke gewesen...."

"Ist ein schönes Stück Gewand," sagte Anna wieder, als Michel näher
ans Licht getreten war und sich auszuziehen begann, "sonst hat er also
nichts gehabt?"

Der Michel schnaubte ein paarmal auf. Dann rief er einsilbig: "Geh,
leg dich nieder ... für uns wär's besser gewesen, man hätt' uns im
ersten Bad ertränkt ... leg dich nieder, Alte!"

Und plumpsig ließ er sich ins Bett fallen, daß die Federn knarzten.
Bald darauf lag auch Anna an seiner Seite.

Am ändern Tage trug Michel den Überzieher aufs Leihamt und gab Anna
das Geld.

Wieder wie immer hockte er stumpfsinnig in der Wärmestube der
Arbeitsvermittlung.--




DIE LUNGE


Die Arbeiterin Manztöter ist der Lungenschwindsucht erlegen. Sie war
eine stille, fleißige Person. Sie schaffte sich auch etwas.

Vor vier Jahren trat sie in die Zigarettenfabrik Zuccalisto ein.
Bauernmagd war sie vorher gewesen. Eine von den vielen, die die Stadt
anzog, der Verdienst und die Aussicht auf eine baldige, einigermaßen
erträgliche Ehe vielleicht.

Die Männer auf dem Lande waren plump und bedacht auf offene manchmal
in den Stall, faßten sie an der Brust, packten ihr Kinn, leckten ihre
Wangen. Ein rothaariger Knecht setzte ihr aufdringlich zu, stand und
stand überall und schlug einmal sinnlos auf sie ein. Daraufhin floh sie
in die Stadt.

Sie änderte sich nicht, sparte, arbeitete und war fromm ohne
Bigotterie. Noch immer las sie das Wochenblatt jedesmal aus und den
Roman und hielt sich außerdem "Die christliche Dienstmagd". Unter dem
vielen Gemisch von afrikanischen Missionsberichten, fand sie eines
Tages die Geschichte eines Farmers in Südwestafrika, leis überhaucht
von friedlich-fleißigem Eheidyll.

Einem solchen sparte sie das Geld vielleicht.

Vierhundert Mark hatte sie schon auf der Sparkasse. Noch vielleicht
zwei Jahre oder längstens drei und es wären tausend gewesen. Tausend
Mark!--

Das ist schließlich nur Angewohnheit, daß man zur Vesper für fünfzig
Pfennig Käse oder ein Stück Wurst haben muß mit Bier. Kaffee mit einer
Semmel geht auch oder Gerstenauflauf von Mittag. Machte schon wieder
zwanzig Pfennig weniger.--

Außerdem kann man sich wöchentlich zweimal zu den Überstunden melden.
Sind auch wieder drei Mark fünfzig Pfennig für je eine Stunde. Man
macht jedesmal drei, sind zusammen wöchentlich einundzwanzig Mark.
Eineinhalb Tagelohn mehr. Dann, wenn man heimkommt, ist's meistens
schon dunkel, man braucht kein Licht mehr, legt sich einfach gleich
ins Bett und schläft ein, hat gar keinen Hunger mehr.--

Zuletzt waren es schon sechshundert Mark. Sechshundert!

Und da kam die Lunge.

Und kurz darauf hätte es eine allgemeine Aufbesserung gegeben, weil
die Zigarettenfabrik Zuccalisto fünfundvierzig Prozent Dividende
verteilen konnte dieses Jahr und auch was tun wollte für ihre Arbeiter.




OHNE BLEIBE


Es war schneidend kalt.--

Der Schutzmann an der Ecke sah einem angeheiterten Doppelpaar
grießgrämig nach und knurrte mürrisch.

Durch den Gedanken, daß diese Leute nun in ihre warmen Stuben heimgingen
und vor dem Zubettgehen vielleicht noch heißen Tee tranken und eine
Kleinigkeit zu sich nahmen, hatte er sich davon abbringen lassen, weiter
auf und ab zu gehen und seine durchfrorenen Beine durch zeitweiliges
Stampfen einigermaßen warm zu erhalten. Jetzt stach die Kälte doppelt
quälend in allen seinen Gliedern.

Er knirschte verdrossen, zog seinen Kopf noch tiefer in den
aufgestülpten, starren Mantelkragen, bog mit sichtlicher Überwindung
die steifgewordenen Knie und ging wieder weiter.--

Die Stimmen der Spätlinge verschwammen mehr und mehr. Es wurde wieder
still. Wie ausgestorben dehnte sich das verlassene Geviert aus. Düster
und drückend ragten die Hauswände empor. Der Schnee fiel dicht und
sehr ruhig.--

Mißmutig schwenkte der Schutzmann in eine breitere Straße ein. Durch
die gleichmäßiger verteilte Schneefläche schien es hier heller und
weiter zu sein. Er blickte erleichtert in die weiße Eintönigkeit. Eine
strichhaft hagere Gestalt kam auf ihn zu. Der Mann schien weder Kopf
noch Arme zu haben. Nur die Beine warf er mechanisch nach vorne wie
ein aufgezogenes Gespenst. Als er kaum noch fünf Schritte von ihm
entfernt war, hustete der Schutzmann sehr vernehmlich und hob sein
verärgertes Gesicht.

"Sie!" rief er dem Herankommenden gehässig laut entgegen und warf sich
in straffere Haltung.

Die Gestalt blieb stocksteif stehen. Nur der Frost schüttelte sie.

"Haben Sie Papiere?" fragte der Schutzmann, noch einen Schritt
machend, und musterte den Mann.

Der rührte sich nicht.

"Sie!!" brüllte der Schutzmann wie fluchend und leuchtete dem Fremden
mit der Taschenlaterne entgegen. Alles an ihm war wieder in bester
dienstlicher Ordnung.

Ein harkiger, abgerissener, verdorrter Baumstamm oder eine arg
ramponierte Säule konnte es sein, was da im Lichtkreis stand. Raschen
Blicks überflog sie der Polizist.

"Ihre Papiere!--Sind Sie denn taub!" schrie er abermals, wütend über
das Aufgehalten werden bei solcher Kälte, und setzte schnell, wie
witternd hinzu: "Oder haben Sie keine?"

Der Fremde zog endlich seine erstarrte Hand aus der tiefen Hosentasche
und reichte ihm die schmutzigen, durchnäßten Ausweise.

"Karl Pruvik, Klempnergehilfe" stand auf der überleuchteten
Invalidenkarte. Herkunft, Geburts--und letzter Dienstort und Datum
waren verzeichnet. Abgestempelte Marken klebten auf der ersten Hälfte.

Der Schutzmann steckte das Papier unter den blauen Militärpaß und
schlug diesen auf.

"Infanterist Pruvik, Karl.--14. Regiment" orientierte die erste Seite.

"Verwundet bei Luneville (Armschuß rechts), desgleichen bei Tarnopol
(Knieschuß links), verwundet bei Verdun (Schulterschuß links)" war im
Anhang eingetragen, und so und soviele Gefechte und Schlachten erwähnte
das nächste Blatt.

Das Gesicht des Schutzmanns verlor mehr und mehr die stiere Härte, hob
sich etwas höher aus dem Mantelkragen.

"Hm!--Auch Kriegsteilnehmer? ... Ohne Bleibe, was?" sagte er mit
zufriedener Ruhe und streckte dem regungslos Dastehenden die Papiere
him. Dessen Gestalt schwankte ein klein wenig nach vorne.

"Hundekälte das! Warten Sie, es geht schon!" rief da der Schutzmann
noch loyaler und steckte dem Mann die Papiere hilfsbereit in die
Rocktasche: "Ist ja noch nicht so spät. Noch alles offen in der Stadt.
Sie kommen sicher unter!"

"So," sagte er eben, als in nächster Nähe die Uhr zehn schlug. Einen
Augenblick horchte er auf, nickte und entfernte sich eilsamen
Schritts. Schon von weitem erspähte er die Ablösung.

Karl Pruvik riß sich fest zusammen und schritt wieder weiter.

Der Schnee fiel und fiel.

Nach einer langen Weile wurde es endlich etwas lichter. Menschen
stapften vorüber. Grelle Autolaternen glotzten üher einen freien
Platz. Üher einem mächtigen Säulenportal leuchteten groß die
Buchstaben "Schauspielhaus".

Vielleicht vom Licht angezogen verschnellerte Karl Pruvik unwillkürlich
seine Schritte, eilte geraden Wegs auf den Theaterausgang zu. Eben
strömte die Besucherschar aus den großen, glitzernden Toren. Er befand
sich im Nu mitten im dichtesten Gemeng und drängte sich vorwärts. Eine
warme Duftwelle schlug ihm entgegen, starkgeschminkte Gesichter tauchten
auf und seltsam kühne Reflexe warf das grelle Licht auf glänzende,
rauschende Damentoiletten. Überschnell schwirrten geschäftige Stimmen
ineinander, Seidenrauschen, Lächeln, Autohupen und das fadendünne Zirpen
süßlicher Tonfälle vermischten sich zu einem betäubenden Geräusch.
"Einfach glänzend!" rief wer. "Rührend, wie die Hohlmann spielt!--Nein,
einfach entzückend!" zwitscherte eine überhelle Stimme. "Huw, dieses
Schweinewetter!-Kommt schnell ins Auto!" ließ sich zwischendurch vernehmen.
Und wieder: "Kritisch gewertet--: Eine Glanzleistung in Regie und Spiel!"
Dann das laute, aufdringliche Gekicher der Backfische: "Dieses herrliche
Rüschenkleid, Mama!--Hast du gesehen,--den Sonnenschirm!--und das
Biedermeierkostüm im dritten Akt? Entzückend!--Du Lilly, weißt du was!
So gehen wir heuer im Fasching!--Gell Mammi! Gell!"

Es plätscherte fort und fort, oben, unten, überall. Abschiednehmen,
Handküsse, Einladungen für das morgige Festessen, Lachen, Autovor--und
Abfahren--alles wie ein flimmernder Hexentanz!--

Karl Pruvik war mittlerweile unbemerkt bis an das Eingangstor
gelangt. Noch eine geschickte Finte und er hatte für heute nacht
ein Dach über dem Kopf. Sein Herz schlug heftig. Es war wieder Leben
in seine froststarren Glieder gekommen. Behende glitt er an den
aufeinandergedrängten Gestalten vorbei und fühlte auf einmal Raum und
Wärme. Er lugte spähend nach dem betreßten Portier, duckte sich mehr
noch zusammen, hielt den Atem an, arbeitete sich an der Wand entlang.

Im selben Augenblick aber stockte die Bewegung des Menschentrupps. Er
zerteilte sich und jäh brachen die Reden ab. Durch eine glotzende
Gaffergasse hastete der Portier mit steinernem, finster drohendem
Gesicht auf ihn zu.

"Was suchen Sie denn da?--He! Sie! Sie!" schrie der Türhüter. Karl
Pruvik zog wie ein gezüchtigter Hund die Schultern hoch und verbarg
den Kopf völlig in seiner schlotternden Brust.

"Was Sie wollen, frag' ich!?" bellte der Portier hinter ihm und packte
ihn heftig am Arm, riß ihn zurück. Ohne Wort und ohne Abwehr ließ sich
der Eingedrungene von dem belfernden Türhüter und zwei inzwischen
herbeigeeilten Logendienern ins Freie schieben. "Hm, sowas?--Sich ins
Theater einzuschleichen!" sagte jemand von den Stehengebliebenen und
schüttelte den Kopf. Der ins Stocken geratene Menschenhaufe bekam
wieder Bewegung und drängte sich durch den Ausgang. Die Tore schlossen
sich finster. Schwätzendtrabten die letzten Paare vorüber.

Karl Pruvik stand zögernd und benommen im glitzernden Schneegeflock.
Einen Augenblick hatte es den Anschein, als straffe sich sein Körper,
als hole er zu einem Satz aus und wolle in die vorbeigleitenden,
duftenden, rauschenden, geschwätzigen Menschen springen, aber
schließlich torkelte er doch üher die verschneite Freitreppe hinunter
und bog in die Seitengasse ein, die vom Theaterplatz abzweigte. Ein
letztes Auto surrte weg. Die Stimmen verloren sich in der Ferne. Die
erleichternde Helligkeit, die die Beleuchtung des Theaterpalastes nach
allen Seiten him verbreitet hatte, verlosch lautlos. Es war wieder
ringsherum die fahle, unwirkliche Düsternis der Winternacht.--

Karl Pruvik hob den Kopf hilflos. Eine knappe Wurfweite vor ihm ragte
etwas Schwarzes aus dem Schnee und bewegte sich wie schwebend von der
Stelle. Willenlos und ohne Grund folgte er der Erscheinung.

Lange ging er so.

Es mußte schon tief nach Mitternacht sein. Trist gähnten die
menschenleeren Straßen und Plätze.

Man stand am Rande des Stadtparkes. Die kerzengerade Gestalt verschwand
zwischen den Bäumen.

In der aufgeworfenen Bahn der Spur schritt Karl Pruvik weiter. Es war
viel dunkler hier. Die schneebeladenen Baumäste lasteten schwer herab.
Nur zeitweilig gab sich eine hellere, freiere Stelle und undeutlich
ließen sich eingemummte Bänke erkennen. Auf einer solchen hockte die
zusammengekauerte Gestalt nun, der er die ganze Zeit gefolgt war.
Stoisch ließ sich Karl Pruvik neben ihr nieder und legte wie aus einer
plötzlichen Eingebung heraus seinen steifen Arm um nasse, scharfe
Schultern. Lahm schmiegten sich die beiden Körper aneinander. "Kalt,"
murmelte es kaum hörbar aus dem Kopf, der haltlos auf seine Brust
herabglitt.

"Kalt," brummte Pruvik ebenso leise und schloß seine Augen. Auch sein
Kopf sank herüber auf das Genick des anderen.

Kein Schnee fiel mehr. Es war seltsam--: Jetzt, da man schonungslos
der Kälte ausgeliefert war, wußteman nicht mehr, war's eine rasende
Hitze oder eine gänzliche Eisigkeit, was in den Gliedern brütete. Der
ganze Körper hatte das Gewicht verloren. Es schien als schwebe er
durch eine unsäglich friedliche Stille.... Auf einmal drückte etwas
Hartes an den Arm, umklammerte, zerrte. Es schrie wie durch
Nebelschwaden, dann näher. Es rüttelte stärker. Das Geschrei schwoll.
Der Kopf' an der Brust bewegte sich stumm.

Karl Pruvik öffnete die Augen. Das grelle Licht einer Taschenlaterne
stach ihm ins Gesicht, blendete, schmerzte.

"He!--He! Was ist da!!" schrie ein Schutzmann, riß erregt am Arm.

"Was ist denn das! Auf! Auf!!"

Alles tat wieder weh. Die zerfrorenen Knochen rührten sich, schmerzten,
als seien sie alle einzeln abgeschlagen und bewegten sich wie in einem
geplatzten Gipsverband klappernd von dannen.

Erst in der Stube der Polizeistation sah Karl Pruvik, daß noch einer
neben ihm stand, genau so reglos und stumpf wie er. Auf den redeten
die zwei Schutzleute ein, fragten, schrien ihn an.

Endlich nach einer Weile schritt man durch eine Tür und das Licht war
aus den Augen. Die beiden lagen auf einer Pritsche, in warme Decken
gewickelt. Die Glieder bewegten sich ohne Schmerz. Wärme kam langsam.
Von Zeit zu Zeit berührten sich Arm oder Fuß.

Nach langer Zeit hörte Karl Pruvik wieder polternde Stimmen und kalte
Luft huschte üher sein Gesicht. Die Pritsche knarrte und Schritte
dumpften. Eine Tür fiel zu. Jetzt war es leer neben ihm.--

Es fiel gläseriges Tageslicht durch die vergitterte Luke, als er die
Augen öffnete.

Ein etwas ins Rundliche gehender Schutzmann mit gemütlichem, wohlig
gerötetem Gesicht stand vor ihm und sagte in friedlichem Baß: "Sie
können sich wieder fertig machen. Es liegt nichts vor gegen Sie!"

Karl Pruvik hob seinen übermüdeten Oberkörper auf der Pritsche.

"Haben Sie denn den andern gekannt?" fragte der Schutzmann.

Pruvik schüttelte dumpf den Kopf.

"Hat ein paarmal eingebrochen," erzählte der Polizist beiläufig und
redete weiter: "Stehn Sie dann auf und kommen Sie. Sie können wieder
gehen."

Karl Pruvik sah ihn verständnislos an.

"Eine harte Zeit jetzt--und hundekalt diesen Winter!" brummte der
Schutzmann und bat Pruvik abermals aufzustehen.

Der erhob sich endlich und ging mit ihm durch die Tür in die
Polizeistube hinaus.

Ein Wachtmeister saß am Tisch und hatte seine Papiere in der Hand, sah
ohne Arg, beinahe mitleidig auf Pruvik.

"Sie können wieder gehen," sagte er in dienstlichem Brustton und
reichte ihm Invalidenkarte und Militärpaß.

Karl Pruvik stand zögernd da und machte keine Bewegung.

"Es liegt nichts vor gegen Sie!--Daß einer keine Bleibe hat, kann
jedem einmal passieren," sagte der Wachtmeister menschlich.

Pruvik nahm mechanisch seine Papiere.

"Grüß Gott," sagten die beiden Polizisten und nickten dem Gehenden zu.

Einer öffnete freundlich die Tür.

Karl Pruvik ging.

Es schneite nicht mehr auf den Straßen. Das Bleich des Tages tat den
Augen weh. Ein Wind hatte sich erhoben und pfiff schonungslos um die
scharfen Hausriffe. Es war kalt. Es war wirklich grausam kalt....




ETAPPE


I.

Der Stab für das Eisenbahnbauwesen der Ostarmee lag vor Dünaburg. Es
ging die Rede von einem russischen Durchbruchsversuch. Die Baukompagnie
14 geriet ins Feuer. Es gab Verluste. Der Bau der Feldeisenbahn kam ins
Stocken. Die Verbindung mit der Kampffront blieb auf Tage unterbrochen.
Vom Oberkommando der Armee lief eine Beschwerde beim Stab ein. Drängende
Befehle peitschten zur Beschleunigung. Der Major hatte wieder jenen
gehässigen Ärger auf seinem finsteren Gesicht, der an den Brückenbau in
Kowno vor der Ankunft des Kaisers erinnerte.

Zwei Tage vorher bereits überwölbte das fertiggebaute, riesige hölzerne
Mittelstück die gesprengte Memelbrücke damals. Die Belastungsprobe war
glatt verlaufen. Allenthalben sah man entspannte, befriedigte Gesichter.
Die ermüdete Mannschaft trat schon zum Heimmarsch in die Quartiere
zusammen. Plötzlich murrte ein langgezogenes, ruckendes Grollen über
den nebeligen Fluß. Die Brückenmitte hatte nachgegeben, war fast um
einen halben Meter tiefer gesunken. Eine Totenstille herrschte minutenlang.
Dann bellten abgehackte Befehle durch die Luft. Die erschöpften
Abteilungen schwärmten wankend auseinander, wieder auf die Brücke und
ins eisige Wasser. Die ganze Nacht hämmerte, ächzte, krachte, schob und
schrie es aus dem spärlich beleuchteten Gerüst des Notbaues und aus der
Flußtiefe. Fieberhaft, mit verdrossenem, verbissenem Grimm wurde
gearbeitet.

Wie Rudel totgehetzter Ziehtiere trotteten die Kolonnen am Morgen in
die zerschossene Stadt.

Zwanzig Stunden wurde am darauffolgenden Tage gearbeitet. Zweiundzwanzig
ununterbrochen am andern. Die Ruhr brach aus unter der Mannschaft.

Mehr als vierzig Mann starben, fünf ertranken in der Memel.

Als der Kaiser ankam, erhielt der Major das Eiserne Kreuz erster
Klasse.

"Herr Major,--hoffentlich ist es uns allen noch gegönnt, daß wir den
Pour le merite ebenso vergnügt mit Ihnen feiern dürfen," sagte damals
der geschnürte, glatzköpfige Stabsadjutant piepsend.

Und zerschlissen freundlich lächelte der Major: "Wenn Petersburg fällt!"
--Damals ging es unaufhaltsam vor.

Nun stockte es erstmalig während des ganzen Feldzugs.--

Die Russen funkten sehr nahe. Die zurückgetriebenen Eisenbahnbaukompagnien
verpendelten die Zeit mit nutzlosen Appellen. Vom Hauptquartier kam Befehl
auf Befehl. Die Offiziere flitzten nervös und gewichtig herum. Bei der
Mannschaft gab es Arreste.

Unübersehbare Mengen Baumaterialien stapelten sich und mußten
liegenbleiben.

Der Major ritt die Bauzüge ab, schrie, polterte, teilte Strafen aus.

Fünfzehnhundert Russen, die an der Front gefangengenommen worden waren,
trafen ein. Befehl zur Aufnahme des Weiterbaues der Feldeisenbahn erging.

Langsam rollten die stehengebliebenen Bauzüge vorwärts, in die tristen
Schneefelder hinein. Vor, vor--immer noch vor ging es! Bis zu der Stelle,
wo die Arbeit aufgegeben werden mußte.

Die Geschosse schwirrten hoch in der schneeigen Luft. Ganz nahe.

Schnee, Schnee. Kälte, Kälte.

Die Baukompagnie 14, 15 und die Russen marschierten auf die
Arbeitsstellen.

"Mist!--Humbug!--Unsinn!" knurrte von Zeit zu Zeit irgendeiner halblaut.

In kilometerweiter Entfernung schlugen die Geschosse ein, warfen
Kotfontänen.

Schlaggg!--lag alles am Boden.

Man lag die halbe Zeit in Deckung. Die Arbeit machte kaum wesentliche
Fortschritte.

Meldung erging an den zurückliegenden Stab.--

Der Ordonnanzreiter Peter Nirgend ritt durch den peitschenden Schnee.
Das Pferd dampfte. Die Lenden spritzten Blut. Fiebernd bog sich der
furchtsame Rücken im Galopp.--

Hauptmann und Oberleutnant der Baukompagnienempfingen den Heransprengenden
mit mürrischen Gesichtern.

"Meldung vom Stab der Eisenbahntruppen!" keuchte Nirgend. Nur mit Mühe
konnte er sich stramm halten.

Hastig öffnete der Hauptmann den Umschlag, überflog mit unterdrückter
Entrüstung das Papier und sah auf den Oberleutnant, reichte es ihm.

"Hm!" brummte er kopfschüttelnd. "Hm!" machte der Oberleutnant
gleichfalls achselzuckend und ratlos.

Dann stiegen beide in den Kanzleiwagen.

Peter Nirgend führte sein schweißtriefendes Pferd auf und ab. Aus den
Quartierwagen der Mannschaft glotzten mißmutige Gesichter.

"Geht's vor?" fragte einer.

"Der Hund!" knurrten etliche dumpf, als Nirgend nickte. Der
Kanzleiunteroffizier rief aus dem Wagen, übergab ihm die Rückmeldung
an den Stab. Der gefrorene Boden klapperte unter den ausgreifenden
Hufen des Pferdes. Schneewolken staubten auf und nichts mehr sah
man.--

Ein abermaliger Befehl des Stabes bestimmte unverzügliche Aufnahme der
Arbeit und sofortige Herstellung der Verbindungslinie mit den Fronten.

Schon tags darauf meldeten die vorgeschickten Kompagnien schwere
Verluste. Die fünfzehnhundert Russen weigerten sich, aus ihrem Bauzug
zu gehen. Man prügelte sie heraus. Aber am selben Abend noch mußten
die Züge zurückrollen. Viele Wagen waren zerstört. Die Eisenbahnlinie
überall ramponiert.

Die ganze Nacht schrie es die Züge entlang. Neue Wagen wurden
eingeschoben. Unaufhörlich wurde rangiert.--

Am andern Mittag raunte es von Ohr zu Ohr: "Es geht wieder vor!" Es
ging ein Gerücht herum von einem scharfen Aufeinanderprallen zwischen
Major und Hauptmann. Kurz darauf hieß es: "Antreten zum Appell!" Vor
den gepferchten Reihen der zum abermaligen Vorrücken bestimmten
Truppen hakte ein fremder Offizier auf und ab und hielt eine
schwunghafte Rede. "Das deutsche Wesen darf nicht untergehen! Hurra!
Hurra! Hurra!" schloß er und alles brüllte mit. Wie ein einziger
Tierlaut klang's.

"Fürs Vaterland!" murrte einer zynisch beim Auseinandergehen.

"Für den Pour le mérite!" brummte ein bärtiger Kerl und sah
herausfordernd auf die lethargischen Gesichter der Kameraden.

"Kotze!--Sich den Schwanz verbrennen ist die einzige Rettung!"
murmelte der Mannschaftskoch stoisch.

"Nulpe! Wo denn?--Wenn weit und breit kein Puff ist!?" warf ihm der
Vagabund Tümpel hin und spuckte in großem Bogen durchs offene Fenster.

Tief am Nachmittag ächzten die Bauzüge abermals finster in die
schneeige, verlassene Gegend hinaus.

Am zweiten Tag, als Nirgend von den Kompagnien zum Stab zurückritt,
knallten Schüsse hinter ihm her. Einer davon streifte leicht seinen
rechten Arm.

"Hu-u-und!" surrte es langgedehnt durch die kalten Nebelschwaden und
lief ihm nach wie ein unterirdisches Grollen.

Gegen Morgen tauchten auf einmal die gelben Lichter der Bauzuglokomotiven
auf und kamen zischend näher. Die vierzehnte Kompagnie war his auf zirka
hundert Mann aufgerieben, und die fünfzehnte hatte gleichfalls zahlreiche
Verwundete und Tote. Die Russen hatten in der allgemeinen Panik des
Zurückflutens die Fluchtergriffen und irrten rudelweise in den
Schneefeldern herum.--

Nirgend trat dumpf ins Leutnantszimmer des Stabsbureaus, straffte
seine Glieder und sagte: "Zur Stelle!"

Der schmächtige, elegante Offizier drehte sich wippend, etwas nervös
herum, maß den Hereingetretenen von oben his unten und fragte: "Na,--und?"

"Man hat mich angeschossen," sagte Nirgend unvermittelt.

"Ja--und?"

"Es waren welche von uns, Herr Leutnant."

Die gepflegten, spitzen Augenbrauen des Offiziers griffen zuckend in
die plötzlich streng gefaltete Stirn.

"Quatsch!--Woraus schließen Sie denn das;" rief er wegwerfend.

"Weil jeder wütend ist," sagte der Meldereiter einfach.

"Halten Sie Ihr Maul, Sie Lümmel!--Was bilden Sie sich eigentlich
ein!" belferte der Leutnant drohend und schnellte auf.

"Ich rede nicht um meinethalben," erzählte Nirgend ruhig und schaute
dem Schimpfenden entschlossen ins Gesicht, "aber um den Pour le merite
geht keiner mehr vor. Ich reite nicht mehr!"

"Wasss!!" zischte es durch die warme Zimmerluft.

Matratzenfeder. Die Tür des anderen Zimmers wurde ruckhaft aufgerissen.

"Wasss!--Was ist da!?" schnarrte der Major und machte einen Schritt
auf Nirgend zu. Schon riß sich der Leutnant schlank und stramm herum,
wollte melden. Aber der Soldat kam ihm zuvor, sagte, zum Major
gewendet, mit der gleichen, einfachen Ruhe: "Ich reite nicht mehr,
Herr Major! Um einen Pour le mérite geht keiner mehr vor, sagen alle!"

Einen Moment fielen die beiden Offiziere fast auseinander. Dann
schrien sie, bellten drohend: "Hinaus! Hi-naus! Sie Schweinehund!"

Ganz korrekt drehte sich Nirgend um und ging aus dem Zimmer. In der
angrenzenden Schreibstube wurde fieberhaft gearbeitet. Jeder saß
geduckt da und kaum einer wagte aufzuschauen. Nur einige ängstliche
Blicke trafen den Hindurchschreitenden. Der Stab nistete in einem
einstöckigen Gelehrtenhaus. In den unteren Räumen waren die Bureaus,
oberhalb die Schlafzimmer der Offiziere und auf dem Dachboden hausten
die Mannschaften. Dort angelangt, legte Nirgend sich so wie er war
aufs Stroh und zündete sich eine Zigarette an.

Es war merkwürdig, heute kam keiner zu Bett. Düster glomm der spärlich
helle Kreis der brennenden Zigarette im Dunkel. Wie in einer
verlassenen Totengruft lag man hier. Langsam fielen die Minuten von
der Decke herab.

Eine lange Zeit verging.

Dann knarrten Schritte die Treppe herauf, kamen näher. Es mußten
mehrere Leute sein. Peter Nirgend rührte sich nicht.

Die Tür wurde geöffnet. Im Lichtkreis einer Taschenlaterne tauchte
undeutlich die Gestalt des Leutnants auf. Dahinter mußten noch einige
Leute stehen. Zwei Seitengewehre funkelten zur Höhe.

Nirgend erhob sich ohne Hast. Irgendeine dunkle, breite Gestalt tappte
herein, tastete herum und entzündete die Lampe. Jetzt traten der
Leutnant und die zwei Soldaten mit den aufgepflanzten Seitengewehren
an den Tisch, wo der Unteroffizier, der Licht gemacht hatte, stand.
Der Leutnant verlas etwas von sofortiger Inhaftierung und Überweisung
an ein Kriegsgericht, faltete den Bogen wieder, sah Nirgend flüchtig
an und sagte zum Unteroffizier: "Wenn er in fünf Minuten nicht folgt,
wenden Sie Gewalt an!"

"Zu Befehl, Herr Leutnant!" antwortete der strammgestandene Korporal.

"Naja!" sagte der Leutnant und ging.

Einige Augenblicke standen sich die Soldaten schweigend gegenüber.

"Kamerad!--Mensch?" brachte der Unteroffizier endlich heraus, stockte
aber plötzlich und sagte dumpfer: "Packen Sie Ihre Sachen zusammen und
kommen Sie."

"Seid ihr Vierzehner?" fragte Nirgend unbeweglich. Keine Antwort.
Keine Bewegung der anderen. Starr standen die drei.

"Gestern nacht habt ihr auf mich geschossen--einer von eurer Kompagnie
war's!--Weil ich den Befehl zu euch brachte zum Vorrücken.--Einen
Denkzettel habt ihr dem Major geben wollen--jetzt macht ihr drei
wieder die Handlanger der Ordensjäger!" stieß Nirgend heraus.

Keine Bewegung. Schweigen. Starr standen die drei. Wie glatte, finstere
Glassturze. Alles rutschte an ihnen herab.

Man stand selber unter einem solchen Glassturz. Gespannt his aufs
äußerste mußte man an sich halten. Eine einzige Bewegung--und alles
konnte zusammenfallen, klirrte herab. Und--?

Und man stand ohnmächtig, ausgeliefert und vereinsamt zwischen den
anderen. Die nackten Arme halfen nichts. Nicht einmal zu einer
Umschlingung, denn man rutschte ab. Fiel hin und war ein Häuflein
nichts.

Und was war geschehen?

Nichts!

Die nackten Arme halfen nichts! Gar nichts!

Nur die Kartätschen der Feinde, Hekatomben auseinandergerissener Leiber.
Das Unerträgliche. Die Sinnlosigkeit führte zum Sinn zurück.

"Wollen Sie den Befehl befolgen?!" rief der Unteroffizier jetzt.

"Ja!" schrie Nirgend fast überlaut: "Ja--am liebsten würde ich wieder
hinausreiten zu euch. Immer vor! Immer vor müßtet ihr--für den Pour le
mérite!"

"Los--los!" plapperte der Unteroffizier verärgert, "reden Sie nicht!
Los!"

"Ja!" bellte Nirgend abermals, "das ist das deutsche Wesen!"

"Marsch!" brüllte der Unteroffizier: "Vorwärts jetzt!" Und zog ihn in
die Mitte.

Man ging.--


II.

Der Schnee lag tief. Langsam ging es vorwärts.

"Was macht man eigentlich mit mir?" fragte Peter Nirgend auf einmal
steif stehenbleibend. Es antwortete niemand.

"Los--los!" brummte der Unteroffizier vorne wie für sich. Die Soldaten
schoben den Gefangenen weiter.

"Er hat euch geschunden his aufs Blut.--Ihr habt es selbst gesagt, daß
ihr nicht mehr mitmachen wollt," sagte Peter beharrlich und stemmte
sich gegen die schiebenden Hände.

"Los--los! Wir möchten auch zur Ruh kommen!" stieß der Unteroffizier
abermals murmelnd heraus und machte eine halbe Wendung.

Einer der Soldaten setzte dem Häftling das Knie in den Rücken.

"Gibt doch bloß Arrest, Mensch!" sagte der Unteroffizier beiläufig.

Peter Nirgend ließ nach. Man watete wieder weiter.

Die lange, geschwertete Linie eines spärlichen Lichtes stach durchs
Dunkel. Das war das Gemeindehaus, wo der Arrest abgesessen wurde.
Landstürmler versahen dort den Dienst.

"Ihr kriecht, bis man euch die Kugel in den Leib jagt!" knirschte
Peter.

Schweigen.

Der Unteroffizier schlug mit der Faust an die Gemeindehaustür. Mit
hochgehobener Petroleumlampe erschien der verschlafene Sergeant in
ihrem Rahmen. Der Trupp trat in die wohligwarme Wachstube. Zwei
Landstürmler hoben schläfrig ihre Oberkörper auf den Pritschen, rieben
sich die Augen. Einer davon stieg herab und nahm den Schlüsselbund,
winkte Peter.

"Kommt vors Kriegsgericht! Befehlsverweigerung!" sagte der Unteroffizier
zum Sergeant, der den Einlieferungsschein unterschrieb. Eine leise
Verachtung schwang mit den Worten mit. Der Landstürmler führte den
Häftling in die letzte Zelle. "Kamerad, leg dich gleich hin und wickle
dich fest ein. Es ist kalt," sagte er und trat aus der Zelle, schloß ab.

Peter Nirgend blieb lauschend stehen.

Jetzt hörte man die Leute vorne im Korridor. Er ging an die Tür, schlug
fest mit den Fäusten an dieselbe, schrie: "Ich muß dem Herrn Unteroffizier
noch was ausrichten!"

Und sein ganzer Körper zitterte.

Der Trupp kam den Korridor entlang, öffnete.

"Was ist's denn?" fragte der Unteroffizier ärgerlich und trat ein. Die
anderen blieben draußen.

"Werde ich erschossen?" fragte Peter unvermittelt.

"Quatsch! Festung wird's geben!" räsonierte der Unteroffizier: "Was
wollen Sie denn?"

"Da--da ist eine Blutlache!" rief Peter hastig und deutete auf die
Bodenfläche hinter der Pritsche. Der Unteroffizier trat einen Schritt
näher heran und beugte sich vornüber, hinter die Pritschenecke. Jetzt
war der Lichtkreis der Taschenlaterne nur noch ganz klein in der
Nische. Peter machte einen ruckhaften Satz, stemmte blitzschnell sein
Knie auf den Rücken des Korporals und schnitt mit aller Gewalt in
dessen Hals, tiefer--tiefer. Das warme Blut rann üher seine Finger.
Der Körper des Ermordeten gab nach, hing schräg üher die Pritsche.

Die anderen stürzten herein und warfen sich auf Peter, schlugen auf
ihn ein, his er liegenblieb.

Ihn überleuchtend, sagte ein Soldat zum Gefesselten: "Hund! Morgen
stehst du an der Wand!"

Peter Nirgend schloß die Augen.

Nach einer ziemlichen Weile wurde die Tür wieder aufgeriegelt. Wieder
erschien der hochgehobene Arm des Sergeanten mit der Petroleumlampe,
nur diesmal sehr zitternd. Offiziere traten ein. Einer beugte sich
über den Toten am Boden. Dann trugen zwei Soldaten die Leiche hinaus.

"Was haben Sie denn da gemacht!?" fragte der Major Peter.

Der schwieg. Kopfschütteln. Ein Soldat trat ein, stand stramm, erzählte
den Hergang.

"Sowas heißt sich deutscher Soldat!" schnarrte der Leutnant beflissen.

Inzwischen trug man ein Tischchen herein. Die Lampe wurde daraufgestellt
und der Gerichtsoffizier nahm das Protokoll auf. Nach der Vernehmung des
gänzlich gebeugten, zusammengefallenen Sergeanten und des anderen Soldaten,
trat der Leutnant abermals an Peter heran, stieß ihn: "Und Sie?"

"Was haben Sie anzugeben?" rief der Gerichtsoffizier gleichfalls über
den Tisch.

Keine Antwort kam.

"Kerl!"

Schweigen.

Das Protokoll wurde verlesen.

"Geben Sie das zu?" fragte der Gerichtsoffizier den Angeklagten.

Dieser nickte stumm.

Kopfschüttelnd verließen die Offiziere den Raum. Zwei Soldaten der
Baukompagnie 14 mit bajonettbepflanzten Gewehren blieben zurück. Der
Tisch mit der Petroleumlampe gleichfalls.--

"Schuft!" knurrte einer der Wächter und versetzte Peter einen Stoß in
den Leib. "Du sollst unsere Überstunden schmecken, Hund!" fluchte der
andere und schlug ihm die Faust ins Gesicht.

Müde geworden, setzten sich die zwei Wachhabenden auf das trockene
Flecklein des Bodens und zündeten sich Zigaretten an.

"Kamerad! Einen Zug! Einen Zug!" wimmerte mit einem Male Peter
flehend.

"Ah?" rief der Raucher hämisch, ging an den Gefesselten heran und
hielt ihm die rauchende Zigarette unter die Nase: "Riecht gut, Herr
Halsabschneider, hm?"

"Laß ihn doch! Er ist nicht wert, daß man ihn anschaut!" brummte der
andere Soldat. Aber der Angesprochene ließ sich nicht abhalten.

Da reckte sich Peter stemmend, schrie: "Hasenfüße!"

"Halt die Fresse, Hund!" fielen die beiden ihn an und warfen ihn
zurück, daß die Pritsche knarrte. "Hasenfüße!" plärrte Peter wilder.

Die beiden hielten die Gewehrläufe drohend auf ihn gerichtet: "Noch
ein Wort und wir knallen dich nieder!"

"Hasenfüße!" schrie Peter noch greller. Die Wächter schlugen sinnlos
auf ihn ein.

"Hasenfüße!" bellte der Gefesselte aus Leibeskräften: "Hasenfüße!
Hasenfüße!"

Da schossen sie. Das Gehirn peitschte an die Wand.

Als der Sergeant und die Landstürmer schlotternd angestürmt kamen,
standen sie wie geistesabwesend stramm. Erst als kurz darauf der
Leutnant eintrat, meldeten sie zugleich: "Melden Herrn Leutnant, daß
wir ihn erschossen haben, weil er uns Hasenfüße genannt hat."

Der Leutnant warf einen flüchtigen Blick auf die Leiche, drehte sich
herum und sagte befehlsmäßig: "Gut! Abtreten!"--

Tags darauf diktierte er dem Kanzleiunteroffizier folgende Meldung an
das Oberkommando der östlichen Streitkräfte in die Maschine:

"Meldereiter Peter Nirgend, zugeteilt dem Stab der Eisenbahntruppen,
wurde wegen Befehlsverweigerung inhaftiert. Weiterleitung des Verfahrens
war dem Kriegsgericht der Etappenkommandantür übergeben. Nirgend
ermordete kurz nach seiner Einlieferung in die Arrestanstaltin seiner
Zelle den Unteroffizier der Eisenbahnbaukompagnie 14 Joseph Thiele durch
Durchschneidung des Halses. Sofortige Protokollaufnahme durch den
Gerichtsoffizier ergab Mord. Exekution wurde auf andern Tag 9 Uhr
festgelegt. Infolge fortgesetzter Widersetzlichkeiten gegen die
Wachhabenden und Verhöhnung des Feldheeres, mußten die Pioniere
Traugott Schloch und Otto Flemming von der Eisenbahnbaukompagnie 14
von der Waffe Gebrauch machen, was den Tod des Nirgend zur Folge
hatte."--

Wegen Nachlässigkeit im Dienst wurde der Arrestsergeant strafversetzt.--

Einige Wochen später stand in einem Tagesbericht des Oberkommandos:
"Wegen pflichtmäßiger Ausführung eines Befehls wurden ausgezeichnet
mit dem Militärverdienstkreuz zweiter Klasse laut Beschluß des O.K.d.
O.A.: der Pionier Traugott Schloch bei der Eisenbahnbaukompagnie 14,
der Pionier Otto Flemming bei der Eisenbahnbaukompagnie 14."




MICHAEL JÜRGERT


I.

"Alle Dinge sind eitel." Immer kehrt dieses Wort wieder, wenn der Name
Michael Jürgert in meiner Erinnerung auftaucht. Viele Male habe ich
nachdenkend dieses Leben umschritten wie einen verfallenen, traurigen,
rätselhaften Garten. Unruhig suchte ich nach dem Sinn dieses Ablaufs,
trachtete danach, all die widerstrebenden Geschehnisse folgerichtig
aneinanderzureihen, um möglicherweise ein erklärendes Bild zu finden,
einen Abschluß, eine befriedigende Lösung.

Es gelang nicht.

Hoffend, daß mir vielleicht eine Stunde doch noch die Erleuchtung
bringt, habe ich--so gut es ging--vorerst nur das nackte Tatsächliche
aus diesem Leben aufgeschrieben, alles so, wie es sich zugetragen hat.
Und hier ist es:

Michael Jürgert kannte seinen Vater nicht. Als er sieben Jahre alt
war, erfuhr er von seiner Mutter so etwas wie ein Gestorbensein durch
einen merkwürdigen Unfall. Und einmal beim Maitanz warf ein Knecht in
sein Ohr, daß sein Vater "im Suff ertrunken sei". Darum, so hieß es,
säße ja seine Mutter schon all die Jahre im Gemeindehaus und wisse
nicht, von was sie leben sollte.

Der Bruder von Michaels Vater, der wegen einer Weibergeschichte "ins
Amerika durch sei", hüte sich wohlweislich, etwas von sich hören zu
lassen, raunten sich die Dörfler zu, wenn die Rede von den Jürgerts
ging.--

Nach seiner Schulentlassung kam der etwas schwächliche Knabe als
Knecht in den Reinaltherhof. Es waren vier Knechte und zwei Mägde da.
Fünf Jahre stählten den wachsenden Körper, ergossen versteckten und
offenen Spott auf Michael.

Auf Maria Lichtmeß, als er zwanzig Jahre zählte, wechselte er seinen
Dienstplatz und trat beim Peter Söllinger ein, dessen Gehöft auf der
runden Anhöhe vor dem Dorfe lag.

Rechts vom Söllingerhof, nah am Waldrand, hockte die baufällige Hütte
des Gütlers Johann Pfremdinger, den man im ganzen Umkreis den "Letzten
Mensch" hieß, weil er die bigotte alte Pfanningerin zur Haushälterin
hatte und im allgemeinen sehr schlecht auf die Weiber zu sprechen war.
Wenn man ihn ärgern wollte, brauchte man bloß eine junge Dorfmagd oder
Bauerstochter des Sonntags an seinem Haus vorbeigehen zu lassen.--

Rundherum lagen die Felder Söllingers, weit verstreut die zwei Tagwerk
Pfremdingers und oft, wenn der alte Häusler zur Erntezeit schwerfällig
und mühsam auf den Fußwegen durch die Wiesen des Bauern ging, um auf
seine Grundstücke zu gelangen, sagte der letztere mürrisch zu ihm:
"Bist saudumm!--Wennst tauschen tätst mit mein' Rainacker, hättst
alles ums Haus ... Aber mit dir kann man ja nicht reden!"

"Auf'm Rainacker wachst das nicht wie bei mir," gab ihm der "Letzte
Mensch" stets mit der gleichen Beharrlichkeit zurück und trottete
weiter.--

Die Jahre gingen, schwiegen. Der Peter Söllinger wurde unterdessen zum
Bürgermeister gewählt und kam eines Tages in den Stall zu Michael,
sagte: "Das geht jetzt nimmer, daß die Gemeinde deine Mutter aushält.
Bist ein Mordstrumm Mannsbild worden und kannst selber für sie
aufkommen. Der 'Letzt' Mensch' wird sterben. Die Pfanningerin müssen
wir ins Gemeindehaus tun."

Michael nickte stumm.

"Da draußen kann's nicht bleiben, die Pfanningerin," fuhr der Bauer
fort, indem er eine verächtliche Geste in die Gegend des
Pfremdingerhauses machte, "die alte Kalupp' paßt grad noch für ein'
Heustadel."

Und wieder nickte Michael stumm.

"Herrgott, bist du ein Stock!" stieß der Bauer heraus und ging
kopfschüttelnd und brummend aus dem Stall. Die Knechte lachten.--

Michael ging nach Feierabend zu seiner Mutter ins Gemeindehaus und
brachte ihr die Nachricht. Die alte Frau sah ihm nur in die Augen.
Dann sagte sie: "Ja ja, ist ja auch wahr, die alte Pfanningerin ist ja
auch älter als ich."--

Spät, nachdem seine Mutter längst schlief, zählte Michael sein
erspartes Geld. Zählte, zählte. Dachte, dachte. Rechnete, rechnete.

Am andern Tag, während der Arbeit, hielt er manchmal inne und schaute
starr ins Leere. Des öfteren sah man ihn jetzt am Abend in die
Pfremdinger-Hütte gehen. "Was er nur immer beim 'Letzten Mensch'
anfängt, das Hornvieh!? Möcht wohl gar Häusler werden?" spöttelten die
Knechte, und Söllinger schaute dem fast furchtsam Davonschleichenden
mit finsterem Blick nach.--

Die Sterbeglocken klangen dünn durch die Luft. Mit dem alten
Pfremdinger ging es zu Ende. Die Pfanningerin, der Pfarrer--und
Michael Jürgert standen in der niederen Kammer um das Bett. Dann kam
noch die Jürgertin.

Ganz zuletzt erst wälzte sich der Häusler nochmal herum. Schon drehten
sich seine Augen.

"Er soll's haben, Hochwürden! Aber die Hälft' gehört der Kirch'!"
hauchte er schon röchelnd mit letzter Kraft heraus.

"In Ewigkeit, Amen," murmelte sich bekreuzigend die alte Pfanningerin.
und der Pfarrer sah Michael an, nickte ihm zu.

"Hab's denkt, daß er's kriegt, wenn er fleißig in die Kirch' rennt und
um den Pfarrer herumscharwenzelt recht bigott! Sowas tragt immer was
ein!" war ungefähr die übliche Bauern-Nachrede, als es verlautbarte,
daß Michael das Pfremdinger-Anwesen vom "Herrn Hochwürden zudiktiert"
bekommen habe.

Acht Tage nach dem Begräbnis fuhr Michael auf einem Schubkarren die
spärliche Habschaft seiner Mutter ins Pfremdingerhaus und am
darauffolgenden Tag die Sachen der alten Pfanningerin ins Gemeindehaus.
Hinter manchem Fenster stand ein spöttischspitzes Gesicht und sagte
ungefähr: "Der hat's leicht. Kann sein Zeug auf dem Schubkarren fahren."

Gut ein Vierteljahr war Stille.

Wenn die Mäher beim Morgendämmern auf die Felder gingen, sang immer
schon die Sense Michaels unter dem flinken Schleifstein.--

Dann kam das Unglück.

Die einzige Kuh, die im Jürgertstall stand, ging ein. Notschlachtung
mußte vorgenommen werden.

Die Bauern kamen, musterten das Fleisch mißtrauisch, kauften,
schimpften: "Ob er vielleicht nicht wisse, daß die Suppenbeine als
Zuwag' dreingingen?" Und einige wieder sagten in beinahe mitleidigem
Tonfall: "Ja, mein Gott, Bauer sein ist nicht so einfach! ... Sonst
tät's ja jeder machen."

Drei Wochen nachher begrub man die alte Jürgertin.

"Wärst' Knecht geblieben, wär gescheiter gewesen," sagte Söllinger zu
seinem ehemaligen Knecht, "wenn's einmal angeht, hört's nicht mehr
auf."--

Michael stürzte sich in die Arbeit. Der Pfarrer kam ein paarmal ins
Haus, sah nach.

"Eine Kuh halt, eine Kuh, Herr Hochwürden!" murmelte Michael hin und
wieder dumpf.

"Der Herr hat's gegeben--der Herr hat's wieder genommen," antwortete
der Geistliche nur.--

Und Michael verkaufte Heu und die zwei letzten Säcke Korn. Droben auf
dem schmalen Streifen, über den Söllingerfeldern, hatte er dieses im
letzten Jahr noch gebaut. Vom Reinalther lieh er sich damals den
Fuchsen und den Pflug, ackerte. Und seine Mutter humpelte hinterdrein
und säte.--

Es war Ferkelmarkt in Greinau. Die ganzen Bauern aus der Umgegend
standen gruppenweise auf dem Platz vor der Gastwirtschaft "Zur Post",
handelten hartnäckig herum mit den Händlern und kauften endlich. Die
eingepferchten Jungschweine machten einen Heidenlärm, die Pferde
scharrten ungeduldig und wurden unsanft zurückgerissen. Die Wirtsstube
war vollbesetzt. Aus und ein ging man, redete, schmauste, und knarrend
und knirschend, in scharfem Trab, rollten die Wägelchen davon.

Schüchtern kam tief am Nachmittag Michael an. Die Bauern stießen
einander, zwinkerten, tuschelten spöttisch.

"Jesus! Jesus! Jetzt wird's besser, der Michl kauft Ferkel!" lachte
der pralle Postwirt aus einer Gruppe und alle richtetengeringschätzige
Blicke auf den Häusler. Schweigsam und scheu umschritt der die
Ferkelsteigen. Es wurde schon leerer auf dem Platz.

"Paß fein auf, daß sie dir nicht im Sack ersticken, Michl!" warf der
Söllinger rülpsend auf den Wagen steigend Michel zu, als er sah, daß
dieser zwei lautgrunzende Jungschweine in seinen Sack zog. Sein
hämisches Lachen schnitt die Luft auseinander.--

Dämmer stieg schon von den Feldern auf. Nacht sickerte gelassen vom
Himmel. Michael schritt beschwerlich aus. Die Schweine rumorten
immerzu im Sack auf seinem Rücken. Er mußte fest zuhalten, daß ein
lahmer Krampf langsam in seine Arme rieselte. Aber die bogen sich wie
aus Eisen von der Brust über die Schulter.--

Die Schritte hallten vereinsamt.

Stille.--

Jetzt waren auch die Schweine still geworden, ganz still. Auf einmal
merkte es Michael. Ein Schreck durchfuhr ihn. Jähe Mattigkeit fiel
bleischwer in seine Kniegelenke. Er rüttelte den Sack vorsichtig, fast
wie einer, der zwischen Hoffnung und Angst vor der Gewißheit schwankt
und nicht mehr aus noch ein weiß.

Nichts.

Er rüttelte stärker.

Nichts.--

Inzwischen war er an der schmalen Brücke, nah vor dem Hügel angelangt,
auf dem das Söllingergehöft mit gelben Augen saß.

Der Bach murmelte gleichmäßig versunken.

Schweißtriefend zerrte Michael den Sack auf die Brücke, wollte--in
unseliger Verzweiflung blitzhaft an den Spott Söllingers denkend
--nachsehen. Da--da--wupp!--fiel der Sack in die Tiefe. Es platschte.
Breite Ringe warf das Wasser und jetzt plärrten plötzlich die Schweine
heulend auf. Es gurgelte etliche Male und war jäh grauenhaft still.

Mit einem furchtbaren Aufschrei sprang Michael ins Wasser, tappte wie
ein schwimmender Hund ungelenk auf der Oberfläche herum, weinte,
hustete, tauchte, schrie, brüllte.--

Am ändern Tage fischten die zwei Knechte des Bürgermeisters den leeren
zerrissenen Sack mit den Heugabeln aus dem Wasser und spießten ihn auf
einen Zaunpfahl vor Michaels Häuschen. Dann klopften sie. Aber niemand
gab an.--

Das ganze Dorf lachte knisternd.

Als man drei Tage niemanden aus--und eingehen sah beim Jürgert, schickte
Söllinger den Nachtwächter und Gemeindediener Peter Gsott hinaus. Der
klopfte wieder und wieder, drohte mit wütenden Flüchen, als niemand
angab und holte dann den Schmied zum Türöffnen.

Die beiden fanden Michael in der Schlafkammer ganz starr auf dem
Bettrand sitzend und wie irr ins Leere glotzend. Einen Augenblick
zwang ihnen dieser Zustand Schweigen ab. Endlich sagte der Schmied:
"Was hast' denn, daß' dich einsperrst, Michl?"

Aber der Angesprochene machte nur mit der Hand eine lahme, wegwerfende
Geste. "Deinen leeren Sack haben die Söllingerknecht' gefunden! Die
Ferkel selber sind ersoffen," sagte dann der Gemeindediener. Als beide
sahen, daß Michael beharrlich mit der gleichen Apathie antwortete,
gingen sie und meldeten dem Bürgermeister, daß der "spinnerte Kerl"
schon noch lebe. Er sei, meinten sie, nur ein wenig irr noch.--

Im Dorf ging daraufhin die Rede: "Der Michl hat's Spinnen angefangen
wegen der ersoffenen Ferkel."

Michael sah man nur ganz selten seit diesem Vorfall. Höchstenfalls bog
er einmal scheu ums Hauseck und eilte dem Wald zu.--

Um diese Zeit kam zum Bürgermeister Söllinger eine seltsame Nachricht
aus Amerika, betreffend die Familie Jürgert und deren Nachkommen. Der
Bauer, der sich, wie er sich ausdrückte, "darin nicht rechtauskannte",
schickte zum Pfarrer und dieser entzifferte endlich, daß die Familie
Jürgert (Überlebende oder Nachkommen) infolge des Todes eines Bruders
des verstorbenen Vaters Michaels zur Generalerbin einer außerordentlich
hohen Hinterlassenschaft in barem Geld eingesetzt sei und den Betrag
von einer Bank in Hamburg einverlangen könnte, sobald der Nachweis der
Erbberechtigung erbracht sei.--

Als der Pfarrer, der selber ein wenig zitterte, dies dem Söllinger
auseinandersetzte, erbleichte dieser sichtlichund sank wie vom Schlag
getroffen in einen Stuhl.

"Ruhig beibringen, ist das beste. Ich geh' selber zu ihm hinaus,"
sagte der Geistliche nach einigem Schweigen, nahm seinen Hut, steckte
das Papier zu sich und begab sich zu Michael.

Ins Haus getreten, bemerkte er diesen dösig neben dem Herd hockend,
und als der geistliche Herr in sanftem, vorsichtigem Tonfall seinen
Namen rief, sprang er plötzlich auf, schlüpfte, so schnell es nur
ging, furchtgepackt in das rußige Holzloch unter dem Ofen und gab
keinen Laut von sich. Eine gute Weile stand der Geistliche ratlos da.
Endlich fand er wieder zum Entschluß zurück.

"Geh heraus, Michl," sagte er sanft, "wir wollen wieder eine Kuh kaufen
und Ferkel."

Michael räkelte sich erst und schlüpfte dann vollends aus dem Loch.
Seine Blicke waren mit einer schmerzvollen Bitthaftigkeit auf den
Pfarrer gerichtet.

"Und dein Häusl, Michl, das werden wir auch wieder richten lassen. Es
ist arg baufällig," ermunterte dieser den Zögernden. Und als Michael
endlich aufrecht stand, nahm ihn der Gottesmann mild am Arm und zog
ihn sacht hinaus ins Freie.

Frische Frühe lag üher den Feldern. Die Wiesen dufteten schwer. Die
Sonne stieg langsam in die Mittagshöhe.--

Wie zwei Kranke schritten die beiden dahin. Der Söllinger wagte nicht
herauszutreten, als sie vorbeikamen. Er lugte nur schweigend durchs
Fenster.

Im Pfarrhaus angekommen, sagte der Geistliche zu Michael: "Du mußt
jetzt eine Zeitlang bei mir bleiben. Die Marie wird dir ein Zimmer
einrichten, bis dein Häusl fertig ist. Bis dahin ist auch wieder
Viehmarkt in Greinau."

Und als verstünde er von alledem nichts, als höre er nur eine
erleichternde Melodie aus den Worten, stand Michael da und schwieg.
Allmählich glättete sich sein bangvolles Gesicht und eine aufatmende
Ruhe glänzte in seinen Augen.

Drei stille Wochen glitten him. Jeden Tag saßen die zwei zusammen in
der Pfarrstube oder gingen wohl manchmal im Garten umher. Langsam
wurde Michael ruhiger. Aber von Zeit zu Zeit konnte man ein böses
Aufblitzen auf seinem knöchernen, schweigend gefalteten Gesicht
wahrnehmen. Die väterliche Arglosigkeit seines Pflegers aber machte
ihn nach und nach etwas zutraulicher und offener. Manchmal des Abends,
wenn der Geistliche aus einem Betbuch laut einige Stellen vorlas, hob
der Häusler den Kopf und lauschte sichtlich aufmerksamer. Ein
friedlicher Hauch hob Stück für Stück von dem Feindseligen ab, das
hinter den Falten brütete, und lebendiger kreisten seine Augen.

Endlich nach einem Monat eröffnete der Pfarrer seinem Pflegling die
Nachricht aus Amerika.

Michael hörte stumm zu. Er schien anfänglich nicht zu begreifen. Dies
erkennend, legte der Geistliche das Papier auf den Tisch.

"Du bist jetzt ein reicher, sehr reicher Mann geworden, Michl," sagte
er, "du kannst dir hundert Kühe kaufen, ein Haus und soviel Ferkel,
als du willst. Es ist von jetzt ab keiner mehr im ganzen Umkreis, der
nur ein Drittel soviel Geld hat wie du. Begreifst du? Gott hat dir
geholfen. Es geht alles seinen gerechten Gang, wenn er es will."

Michael schien die letzten Worte nicht mehr zu hören. Seine Augen
waren auf einmal weit geworden. Eine Gier flackerte in ihnen und der
ganze Ausdruck seines Gesichts war plötzlich völlig verändert.

"Ich--ich kann also auch das Söllingerhaus und das vom Reinalther
kaufen?" fragte er hastig und gedämpft.

"Das kannst du, wenn sie wollen," nickte der Geistliche, "du kannst
zehn solche Häuser kaufen, wenn du willst."

"Zehn....!?" stieß Michael lauernd heraus und bohrte seine Blicke in
die Augen des Pfarrers.

"Es ist sehr viel Geld," gab der zurück.

"Und," fuhr Michael noch leiser, fiebernd vor Unruhe, scheu, als
lausche an den Wänden irgendein ungebetener Gast, fort: "Und ich
krieg' das ganze Geld in die Hand. Ich brauch' nur schreiben lassen?"

"Ja, wenn Du willst."

"Ja ...!! Ja, gleich! Gleich! Ich will!" schrie Michael verhalten.

"Gut," sagte der Pfarrer und ging an den Tisch, "ich schreibe."

"Und ... und die Häuser vom Söllinger und--und vom Reinalther?" fragte
Michael beharrlich.

"Die ...? Ich kann mit ihnen reden," antwortete der Geistliche, während
er schrieb. Dann ließ er Michael unterzeichnen.--


II.

Im Dorf ging ein Schweigen um. Langsam verbreitete sich die Kunde von
Michaels Erbschaft. Betroffenen Gesichts raunten sich die Bauern die
Neuigkeit zu.--

Der Baumeister von Greinau, Michael Lindinger mit Namen, wurde ins
Pfarrhaus geladen. Michael lächelte schräg, als der Mann eintrat und
beauftragte ihn, einen Plan für ein neues Haus zu bringen. Trotz der
Einwendungen des Pfarrers wurde der Umbau des alten Anwesens abgelehnt.

Michaels Rede war jetzt sicher geworden, fast bestimmt.

"Ein neues Haus muß her!" sagte er beharrlich.

Und der andere Michael erwiderte pfiffig: "Ja--schon lieber was Neues
als Flickwerk. Das taugt ein paar Jahr', dann geht's wieder von vorn'
an."

Diese Beipflichtung entwaffnete den Geistlichen. Der Plan wurde
gefertigt. Der Auftrag gegeben. Die ehemalige Pfremdinger-Hütte
krachte zusammen mit allem, was sie barg. So hatte es Michael
gewünscht, steif und fest. Alles Dawider des Pfarrers nützte nichts.

Krachte zusammen.

Und die Dörfler standen herum, schwiegen, staunten, starrten. Vom
Pfarrhausfenster aus überschaute Michael den Vorgang.

Auf einmal begann der Hausrist zu wanken, bröckelte, krachte. Die
Herumstehenden rannten auseinander und zuletzt war minutenlang eine
ungeheure Staubwolke. Dann, als es wieder lichter geworden war, lag
ein riesiger Trümmerhaufen da.

Deutlich sah Michael, wie einige die Köpfe schüttelten. Eine Weite
dehnte seine Brust.

"Das ist nicht recht," rief der Pfarrer hinter ihm. Michael hatte ihn
nicht eintreten hören und riß sich erschrocken herum. Reglos und stumm
standen sich die beiden gegenüber.--

Seitdem begegnete Michael seinem Pfleger mit verstocktem Schweigen.
Mied ihn.--

Der Bau wurde begonnen. Jeden Abend kam Lindinger ins Pfarrhaus und
berichtete über den Stand, machte Vorschläge, legte Rechnungen vor.

Sein fast beteuerndes, sich immer wiederholendes: "S'ist wahnwitzig
teuer, die Sach', wahnwitzig teuer," ließ Michel lächeln.

"Macht nichts, macht gar nichts," erwiderte er stets.

"Ja--es ist gut, daß' wieder Arbeit gibt," meinte dann der
Maurermeister meistens und ging. Kaum war er draußen, schrumpfte
Michaels Gestalt im Lehnstuhl zusammen. Das Kinn schob sich vor. Nur
die Pupillen kreisten im Raum.--

An einem der Abende, als eben der Maurermeister das Zimmer Michaels
verlassen hatte, trat der Pfarrer ein. Michael erhob sich und wandte
ihm den Rücken zu.--

"Gelobt sei Jesus Christus!" brachte der Geistliche nach einigem
Schweigen heraus.

Ohne sich umzuwenden, nickte Michael. Dann ging er ans Fenster,
deutete in die Talmulde, die der erste Mond silbern bestrich.

"Hähähä--hä! Wird hoch der Turm, hoch!" keuchte er, reckte den Kopf
störrisch vor, nahe an die Scheibe: "Wenn man ganz droben ist, müssen
schon die Wolken angehen!"

Unschlüssig stand der Geistliche. Schwieg.

"Zum Söllinger kann ich hinunterschaun und aufs ganze Dorf!" redete
Michael weiter, ohne ihn zu achten.

"Die zwei Kirchenfenster?" fragte endlich der Geistliche fast
schüchtern und hielt plötzlich mitten im Wort inne, als sich Michael
nunmehr hastig umwandte.

"Zwei ...?! Sechs! Sechs Fenster ...--und neue Glocken, damit ich's
hör' in der Früh!" überflügelte dieser ihn, "da muß die Luft zittern,
wenn die läuten!--Schafft sie an! Morgen! Gleich! Gleich! Und drei
neue Meßgewänder!--Müssen fertig sein zum Jahrtag meiner Mutter!
Bestellt's! Bestellt's auch gleich!--Gleich!"

Wie von einem wilden Strudel dahergetragen stürzten die Worte
heraus.--

Mit sehr ernstem Gesicht verließ der Pfarrer fast traumwandlerisch das
Zimmer. Lange noch hörte ihn die Marie im Zimmer auf- und abgehen und
laut beten.

Klare, kalte Märztage zeigten das hereinbrechende Frühjahr an.

Michael ging manchmal aus. Selten suchte er den Bau auf. Nie beschritt
er ihn. Immer bog er scheu ums Dorf und stapfte auf die Sandgrube zu,
aus der man den Kies für sein Haus holte. Es schien ihn dort etwas zu
interessieren. Er stand meistens oben am Rand und überschaute die
zackige Mulde.

Böhmen und Italiener arbeiteten auf Taglohn dort und sprengten hin und
wieder einen Felsen, wenn an einer Stelle der Kies ausging.--

Eben lud man wieder. Michael war ganz nah herangekommen, stand wie
witternd, mit spähendem, vorgebeugtem Kopf da und sah aufmerksam auf
jede Bewegung des Lademeisters.

"Und das--das reißt alles ein?--Mit einem Krach?" fragte er diesen
gespannt. Der Mann nickte und murmelte ein paar unverständliche Worte.

Dann entzündete er ein Streichholz und steckte die Zündschnur an.
Alles rannte aus der Grube, wartete bis es knallte.

Als dies geschehen war und die Leute wieder in die Grube zurückgingen,
sah man Michael im Türrahmen des Werkmeisterhauses stehen. Er ließ
sich das Pulver zeigen, rieb es merkwürdig lange auf seiner flachen
Hand und sagte harmlos zum Werkmeister: "Und so ein Staub hat's
drinnen, daß alles in die Luft fliegt?--Hm--hm--hm!" Ging wieder.--

Der Nachtwächter Peter Gsott glaubte bemerkt zu haben, daß eine
männliche Gestalt am Rand der Sandgrube auftauchte, sich schwarz vom
bleichen Mondhimmel abhob, dann aber plötzlich, wie in den Erdboden
gesunken, verschwand.

Der Werkmeister schimpfte die Sprenger, daß sie soviel Pulver
brauchten. Es entstand ein Streit. Ein Italiener brüllte, daß die
ganze Grube hallte. Auf einmal kam man ins Handgemenge. Ein
furchtbares Raufen entstand. Der Werkmeister bekam einen Schlag auf
den Kopf und mußte ins Krankenhaus gebracht werden. Am ändern Tag
verhafteten die Gendarmen von Greinau zwei Böhmen und einen Italiener,
der beim Söllinger auf der Tenne logierte. Er hatte sich im
Taubenschlag verkrochen und als man ihn herunterholte, stieß er
furchtbare Drohungen auf den Bürgermeister aus, die aber niemand
verstand. Anscheinend glaubte er, die Leute hätten ihn verraten.

Michael begegnete der Haftkolonne und sah sich die drei Burschen sehr
genau an. Später trat er ins Bürgermeisterhaus und öffnete die
Stubentür hastig. Der Söllinger war im Augenblick so erstaunt, daß er
förmlich aufschrak und kein Wort fand. Säulenstarr stand er da und
heftete seinen Blick auf den nähertretenden Michael. Gemessen kam
dieser heran, ganz nahe und eine ungeheure Spannung lag in seinem
Gang.

"Gibst dein Haus nicht her?" fragte er den stummen Bauern lauernd.

"Nicht?" wiederholte er, als der verneinte und maß ihn scharf von der
Brust bis zur Stirn.

"Ich ...!?" fand endlich der Söllinger das Wort.

"Ja?"

"Solang ich leb' nicht!" schrie der Bürgermeister schroff, als wolle
er sagen: "Was willst denn du auf einmal bei mir?"

"Es paßt mir nicht vor meinem Turm," sagte Michael tonlos und spröde
und lächelte höhnisch in sich hinein. Draußen, vor der Tür, hörte er
noch den Schlag der Söllingerfaust auf die Tischplatte.


III.

Richtig, der eine von den Böhmen lud damals den Felsen, erinnerte sich
Michael. Und der Italiener, der aus Söllingers Taubenschlag geholt
worden war, stand neben ihm, als es krachte. Dem konnte man nichts
nachweisen und mußte ihn nach vier Tagen wieder aus dem
Amtsgerichtsgefängnis entlassen. Nun strolchte er mit finsterem
Gesicht herum, und da bei den Bauern von alt her der Aberglaube
herrschte, daß solche Kerle mit ihren Verwünschungen kraft einer
innewohnenden dämonischen Macht Schaden und Unglück anrichten könnten,
so wagte keiner etwas gegen sein Kampieren in Heustädeln und Tennen
einzuwenden.--

An einem Aprilnachmittag traf ihn Michael auf der Waldstraße, ging
entschlossen auf ihn zu und sprach ihn an.

"Habt's keine Arbeit mehr kriegt?"

Offenbar verstand der Angesprochene dies, denn er nickte finster.

"Geht's zu meinem Bau. Verlangt's den Lindinger und sagt's, ich hab
Euch geschickt," sagte Michael.

Am ändern Tag schleppte der Italiener auf dem Bau Mörtel.--

Das Haus wuchs. Der Turm der Vorderfront bedurfte nur noch des
Dachstuhls. Beim Söllinger wurde eingebrochen. Man nahm wieder den
Italiener fest, obwohl ihn niemand angezeigt hatte. Da man ihm aber
nichts nachweisen konnte, entließ man ihn abermals. Michael traf ihn
am Pfarrhaus, nickte schon von weitem grüßend und hatte ein Lächeln
wie ungefähr: "Gut so!" Und wieder arbeitete der Italiener auf dem
Bau, finster gegen jedermann, verschlossen und wortkarg, nur etwas
aufgetaner zu Michael.--Die Kirche war nun jeden Sonntag drückend
voll. Die sechs Fenster strahlten ihren vielfarbigen Prunk über die
Köpfe der Betenden. Einen Monat später erschollen die neuen Glocken
erstmalig. Und in der Luft schwang ein Surren weithin. Wenn man jetzt
Michael sah, lag über seinem Gesicht etwas wie ein leuchtender,
verschwiegener Triumph.

Der April zerging in Regen, Schneegestöber und flüchtigen Sonnentagen.
Die ersten Maitage ließen die grauweißen Wände des Neubaus sehr
schroff leuchten. Man konnte Michael manchmal mit dem Baumeister durch
die Räume schreiten sehen. Die Schreiner brachten Möbel. Es ging dem
Vollenden zu.

Es war wahr, was der erste Knecht vom Reinalther sagte: "Einen solchen
Stall trifft man so schnell nicht mehr." Und: "Eine Lust müsse es
sein, dort zu arbeiten."

Aber der Söllinger warf verächtlich hin: "Was hilft ihm das schöne
Haus und alles, wenn er kein Grundstück hat!"

Und aus den Reden der Dörfler am Biertisch konnte man deutlich
heraushören, daß keiner bereit war, auch nur ein Tagwerk von seinen
Gründen abzugeben.

"Unser Heu bleibt unser Heu," sagte der Gleimhans. Und alle nickten.

"Der kommt schon und will einen Grund!--Aber da bleibt ihm der
Schnabel sauber!" brummte der Reinalther.

Der Söllinger blickte düster drein und schwieg.--

Pfarrer und Ministrant gingen mit Michael durch die Räume des neuen
Hauses, beweihräucherten und besprenkelten alles. Eine Woche später
trieben drei Viehtreiber wohl an die zwanzig Kühe auf der Straße von
Greinau her ins Dorf und lieferten sie bei Michael ab. Der wohnte
schon vier Tage in seinem Haus. Zwei fremde Mägde, ein Knecht und
jener Italiener, den man von der Sandgrube davongetrieben und
verhaftet hatte, waren da. Und Heufuhren kamen an. Ganz fremde
Gesichter blickten von den leeren Wagen herunter, die durchs Dorf
ratterten.

"Wenn er jeden Pfifferling kaufen muß, wird die Herrlichkeit bald ein
End' haben," brummten die Bauern, "mit den paar lumpigen Wiesen kann
er grad' eine Kuh füttern."

Nach etlichen Wochen kam eine Magd Michaels zum Reinalther und zum
Gleimhans und richtete aus, die Bauern sollten zu ihm kommen.

"So--!? Sonst nichts....?!" rief der Reinalther höhnisch und schaute
das dralle Frauenzimmer hämisch an, "sagst, er soll sich einen ändern
Dummen suchen!"

Und--: "Der hat grad so weit zu mir her!" fertigte der Gleimhans die
Botschaftbringerin ab.--

Gleichsam, als hätte man sie ohne jeden Grund persönlich beleidigt,
kam die Magd zurück und berichtete Michael das Verhalten der beiden
Bauern.

"Geh!--Ist schon gut!" schnitt dieser ihr das Wort ab, als sie
gesprächiger werden wollte. Seine Züge veränderten sich nicht. Nur
seine Augen glommen einmal funkelnd auf.--

In der Wirtsstube Simon Lechls herrschte diesen Abend ein belebteres
Gespräch.

"Jetzt wird er langsam angekrochen kommen und Gründ' wollen," brummte
der Reinalther.

"Da kann er alt werden!" erwiderte der Gleimhans. Und alle nickten.
"Mit seinem Geldhaufen ist er gar nichts!" sagte der Lechlwirt:
"Gründ' machen den Bauern!"

"Das ist's!" bestätigte der Söllinger.

Und wieder nickten alle.--


IV.

Die Jahre verstrichen. Das kahle, grell leuchtende Haus am Waldrand
nahm mehr und mehr eine verwitterte Farbe an. Bisweilen, wenn die
Scheune leer war, sah man die schwarze Kutsche Michaels in scharfem
Trab aus dem Dorf rollen, Greinau zu. Vorne auf dem Bock saß der
Italiener mit finster gefaltetem Gesicht und schaute nicht nach links
und nicht nach rechts.

An den darauffolgenden Tagen knarrten dann meistens schwerbeladene
Heufuhren auf der Greinauer Straße daher und fuhren durchs Hoftor
Michaels.

"Nette Wirtschaft!" brummten die Bauern: "Jeden Büschel Futter muß er
kaufen!" Und halb war es Mißmut, halb Schadenfreude, was auf ihren
Gesichtern stand. Die Ernten in dieser Gegend waren mehr als
überreichlich. Die Aufkäufer, die aus der Stadt kamen, hatten es
leicht und konnten anmaßend sein. Sie minderten die Preise, wo und wie
immer es nur ging. Die Transportkosten his zum Bestimmungsort mußten
die Bauern tragen. Es kostete stets einen ganzen Tag Zeit, wenn ein
Dörfler seinen verkauften Hafer, sein Korn oder Heu nach Greinau auf
den Bahnhof fuhr und dort in den Waggon lud. In die "Ferkelburg" aber,
wie man Michaels Haus nannte, fuhren fremde Heuwagen!--

Michael war fast nie zu sehen. Er saß in seiner Turmkammer und sann.
Grübelte, als warte er auf etwas. Gleichmäßig und ereignislos verlief
die Zeit.

Durch irgendeinen findigen Kopf angeregt, war die ganze Dörflerherde
um Greinau darauf gekommen, daß eine Eisenbahnlinie gerade in dieser
Gegend notwendig sei. Eine Vereinigung bildete sich, wurde "Lokalverband
der Eisenbahninteressenten" genannt. Eine Eingabe um die andere
bestürmte das Ministerium. Die Regierung nahm endlich Kenntnis davon,
der Landtag sprach sich befürwortend aus. Die Eisenbahnlinie wurde
genehmigt.--

Michael verfolgte die Berichte im "Greinauer Wochenblatt" eifrig. Man
sah ihn jetzt öfters am Gemeindekasten vor dem Bürgermeisterhaus
stehen und die Anschläge lesen. Vom Söllingerhügel aus konnte man das
ganze hingebreitete Land übersehen.

Da stand er auch.

Und nicht selten. Oft sogar lange.--

An jenem Tag, da die amtliche Bekanntmachung von der Genehmigung der
Eisenbahnlinie angeschlagen war, wandte er sich behend, wie von einer
verhaltenen Freude ergriffen, herum und überblickte die Weiten.

"Hm!--Jetzt!" stieß er plötzlich heraus, nickte etliche Male und ging
zuversichtlicher von dannen.

Erst nachdem er in der Tür der Ferkelburg verschwunden war, trat der
Bürgermeister aus seinem Haus und heftete die Bekanntmachung der
großen Versammlung im Gasthaus "Zur Post" in Greinau in den Kasten.

Am darauffolgenden Sonntag war der Tanzsaal der Postwirtschaft zum
Bersten voll. Die Bauern aus der Ganzen Umgebung waren zusammengeströmt.
Die bejahende Entschließung der Regierung wurde bekanntgegeben. Die
ganze Versammlung brüllte und klatschte begeistert.

"Eine Bahn muß her!" erscholl von allen Seiten. Es gab schwere
Räusche.--

Schon nach einer knappen Woche erschienen die Vermessungsbeamten im
Dorf und wurden mit ehrwürdiger Neugier empfangen, durchschritten die
Felder, steckten weiß-rote Stangen auf, kamen immer näher an die
Häuser heran, zogen eine Linie durch Reinalthers Garten, über das
Gehöft Söllingers hinweg.--

Die Hände in den Hosentaschen, schweigend und gewichtig, sahen ihnen
die Bauern erst zu.

"Also so ging's?" fragte der Gleimhans einen Vermesser.

"Jawohl, ganz so," erwiderte dieser und war schon wieder weiter.

"Hm!" brummte der Gleimhans, hob den Kopf und sah den Reinalther
verwundert an.

"Müßt also mein halber Garten weg?" sagte dieser und sah den Geometern
nach. Die entfernten sich mehr und mehr. Weiter ging es--über das
Gehöft Söllingers hinweg.

"Hoi--Hoi! Da wär demnach das ganze Bürgermeisterhaus im Weg!" stieß
jetzt der Reinalther fast entsetzt heraus und sah betroffen, mit
offenem Maul, auf Gleimhans.

"Das wird sauber!--Gibt's nicht!" schrie dieser wütend und straffte
seine Gestalt.

"Und--schau nur!--durch meine schönsten Gründ' gings'!" rief der
Reinalther, als eben die Vermesser die Linie durch seine Weizenlande
zogen, fäustete seine Hände drohend und polterte gleichfalls: "Gibt's
nicht!"

Und auf der Stelle gingen die beiden zum Söllinger hinauf und erhoben
lebhaften Einspruch gegen dieses Vermessen.

"Dein Haus soll weg! Dein Haus, Söllinger! Und unsere schönsten Gründ'
wollen's!" schrie der Reinalther aufgebracht. Und der Gleimhans, der
sich schon wieder ermannt hatte, sagte drohend: "Sollen kommen und mir
durch meinen Acker bauen!"

Der Bürgermeister war wutrot his hinter die Ohren, schlug gewaltig in
den Tisch und rief ebenfalls: "Gibt's nicht! Gleich morgen fahren wir
zum Bezirksamtmann!"

Als die beiden Bauern aus dem Bürgermeisterhaus traten, stand Michael
am Rande des Hügelrückens und sah den Vermessern gespannt nach.

"Hm,--der Michl!" brummte erstaunt der Reinalther.

"Den freut's, weil's ihm keine Gründ' nehmen können!" stieß der
Gleimhans wütend heraus.--

Das ganze Dorf war am nächsten Tag in Aufruhr. Man riß überall die
weiß-roten Stangen heraus, zerbrach sie. In aller Frühe schon fuhren
Söllinger, der Gleimhans und Reinalther nach Greinau zum Bezirksamtmann
und verlangten schimpfend eine sofortige Regelung der Angelegenheit.
Sie schrien, fluchten und drohten zuletzt auf das gefährlichste. Der
Bezirksamtmann rannte erregt in seinem Arbeitszimmer auf und ab,
gewann aber dann die Ruhe wieder und zuckte mit den Achseln: "Ja,
meine Herren, wenn keiner durch seinen Acker die Linie laufen läßt,
dann gibt es eben keine Bahnstrecke!"

"Wir pfeifen auf eine!" riefen die drei Bauern zugleich.

Der Bezirksamtmann machte ihnen klar, daß der Beschluß der Regierung
nicht rückgängig gemacht werden könne, daß doch angemessen entschädigt
werde und daß "die Herren der betreffenden Instanzen doch keine
Kindsköpfe seien und doch--"

"Das ist uns gleich! Die Bahn kommt nicht! So nicht!" fuhr ihm der
Söllinger ins Wort und vertrat starrköpfig den Standpunkt seiner
Begleiter.

Schließlich nach langem Hin und Her wurde beschlossen, eine Versammlung
der "Eisenbahninteressenten" einzuberufen.--

Bis auf die Straße heraus standen am nächsten Sonntag die Bauern, die
sich beim Postwirt in Greinau zusammengefunden hatten. Zeitweilig
entstand ein gefährliches Gedränge nach der Saaltür. Furchtbar
stürmisch ging es zu. Ein Regierungsvertreter war erschienen. Er wurde
niedergeschrien, als er betonte, daß "wenn die Abgabe der Gründe nicht
gutwillig geschähe, einfach abgeschätzt würde."

Einfach abgeschätzt!--Einfach abgeschätzt!!! Was sollte denn das heißen?
Etwa gar, daß einem einfach die Äcker genommen würden!?

Die Bauern wurden wild, standen auf, richteten sich drohend gegen die
Tribüne. Die auf der Straße Stehenden zwängten sich gewaltsam herein.

"Gibt's nicht!" schrie der ganze Chorus. Ein ungeheurer Lärm erhob
sich. Alles machte Miene anzugreifen. Der Bezirksamtmann fuchtelte
völlig ratlos mit den Armen. Der Assessor schwang wehrlos die Glocke.
Es half alles nichts. Der Lärm wurde nur noch ärger.

"'naus!--'naus! 'naus aus unserm Gau!" brüllte der ganze Saal. Saftige
Grobheiten flogen den Herren da droben an den Kopf.

Als nichts mehr auf die tobende Schar einwirken konnte, schrie der
Bezirksamtmann heiser: "Die Versammlung ist geschlossen!" und
verschwand eiligst mit dem Herrn von der Regierung. Die rebellischen
Bauern wurden allmählich wieder ruhiger, betranken sich weidlich und
hielten die Sache für gewonnen.

Ohne besonderen Zwischenfall verliefen die nächsten Tage.--

In seinem Turmzimmer ging Michael auf und ab, blieb hie und da stehen,
hob rasch den Kopf und lächelte schmal. Und früh am Morgen, him und
wieder, schritt er üher die nebeligen Felder.--

Inzwischen wurde der Bau der Eisenbahn im Landtag zum Beschluß erhoben.
Soweit ließ man sich noch ein, daß man Söllingers Haus umkreiste.
Dafür aber lief jetzt die Linie durch seine besten Getreideäcker.
Und war beschlossene Sache! Nächstes Frühjahr sollte die Strecke in
Angriff genommen werden.

Beim Söllinger liefen die amtlichen Schriftstücke über die
abzutretenden Grundstücke ein. Die Bauern standen vor den Anschlägen
mit verbissenen Gesichtern, brummten und fluchten. Eine furchtbare
Erbitterung hatte das ganze Dorf ergriffen. Aber es half alles nichts.
Alles nichts!

Und die Schätzpreise waren spottniedrig.

Es gab kein Zurück mehr. Mißmutig fügten sich die Bauern.

"Eine Bahn! Eine Bahn! hat alles geschrien!--Jetzt haben wir's!"
polterte der Gleimhans beim Lechl; "ich hab's immer schon gesagt: es
kommt nichts Besseres nach! Wo man mit der Regierung zu tun hat, ist
Schwindel!"

Und die anderen, die am Tisch saßen, sahen ihn finster an. Finster und
besiegt, überlistet und ratlos.

"Müssen ja doch! Hilft uns alles nichts!" brummte der Reinalther und
spuckte wütend aus. Und manchmal sagte ein Verärgerter: "Ach was,--ich
verkauf mein ganzes Zeug dem Jürgert und mach' ihm einen saftigen Preis!
Dann kann der sich mit der Regierung herumstreiten!"

Kaum einer--so schien es--hörte darauf. Aber dann wiederholte es sich
des öfteren. Schüchtern klang es erst. Allmählich erzeugte es
nachdenkliche Gesichter und dann--dann sah man eines Tages den
Reinalther aus der "Ferkelburg" herausgehen. Keiner fragte nach dem
Grund dieses Besuches. Zwei-, dreimal wiederholte er sich und wieder
einmal fuhr die schwarze Kutsche aus dem Tor der "Ferkelburg".
Reinalther und Michael saßen hinten drinnen, der Italiener auf dem
Bock. Es ging Greinau zu.

"Warum hast deine Alte nicht mitgenommen?" fragte Michael im
Dahinfahren.

"Brummt und brummt bloß! Hat keinen Verstand für so was!" antwortete
der Bauer mit leichtem Ärger.

"Hat's doch schön jetzt! Kann sich in die Stub'n sitzen und
privatisieren!" meinte Michael fast ermunternd.

"Freilich! Das hab ich ihr doch schon hundertmal gesagt! Aber sie
meint halt immer: 'Der Feschl! Der Feschl--wenn er von der Fremd'
kommt--könnt' eine schöne Metzgerei aufmachen und hat jetzt auf einmal
keine Heimat mehr!" redete der Reinalther in die Luft, als spräche er
mit sich selbst.

"Aber Geld hat er! Einen Batzen Geld!" erwiderte Michael darauf. Und
der Bauer nickte: "Das mein' ich eben auch!"

Nachdem sie das Notariat verlassen hatten, lag auf Michaels Gesicht
eine freudig erregte Farbe. Er lud den Reinalther sogar zu einem
richtigen Schmaus ein und der wurde nach dem zweiten Krug schon
gesprächig.

"Wären noch andere im Dorf, die ihr Zeug anbringen möchten, sag ich
dir, Michl, brauchst dich bloß dranmachen," schwatzte er vertraulich
über den Tisch.

"Brauchen bloß kommen,--alle nimm' ich!" gab ihm Michael zurück.

Über Reinalthers Gesicht huschte eine wohlige Röte. Offen und richtig
freundschaftlich betrachtete er seinen ehemaligen Knecht.

"Weiß dich noch, wie'st mein Knecht warst, Michl," erzählte er,
"hätt'st dir auch den Buckl krumm gearbeit', wenn dein Amerikaner
nicht ins Gras 'bissen hätt'!"

Und Michael nickte und schloß mit einem: "Jaja, so ist's auf der Welt
hie und da!" Dann fuhren sie wieder ins Dorf zurück.

Der Reinalther durfte in seinem Haus bleiben und saß von jetzt ab Tag
für Tag beim Simon Lechl in der Wirtsstube. Oft kam er angeheitert
nach Hause. Dann brummte sein Weib: "Wirst noch grad so wie der
ersoffene Jürgert."

"Hab'ns doch, Alte! Hab'ns doch!" gröhlte dann der Bauer bierselig
heraus.--


V.

Wie immer bei solchen Gelegenheiten, griff die Veränderung der Sachlage
mehr und mehr in das Leben eines Teiles der Dörfler ein. Die Kleinhäusler
fristeten hierzulande ein hartes Dasein. Ihre kärglichen Feldstreifen
trugen wenig. Jeder von ihnen war gezwungen, zur Erntezeit und während
des Winters, beim Holzen, bei den Bauern auf Taglohn zu arbeiten. Dieser
Verdienst war, wie man sich auszudrücken pflegte, "zum Leben zu wenig
und zum Sterben zu viel."

Diesen Leuten kam der Bahnbau gelegen. Es gab erträgliche Löhne dort.

"Da hab ich meinen Batzen Geld, basta!--Und brauch' nicht bitten und
betteln bei den Bauern," äußerte sich der Fendt, dessen baufällige Hütte
am Dorfausgang stand. "Ich bleib' überhaupt nicht mehr da," sagte der
Rieminger, "ich verkauf mein Häusl dem Jürgertmichl und mach' eine
Wäscherei auf in der Stadt. Da hab' ich auf niemand aufzupassen!"

Und so geschah's auch.

Kaum ein halbes Jahr rann him, da hatte Michael auch das Fendthäusl
und den baufälligen Reishof gekauft. Die beiden Häusler bekamen eine
saftige Summe und konnten in ihren Häusern bleiben. Michael verlangte
nicht einmal Mietzins von ihnen. Das trug sich herum von Ohr zu Ohr.
Mit einer gewissen Achtung sprach man davon.--

Der Bahnbau war in vollem Gange. Durch Gleimhansens Äcker trampelten
die Arbeiter, dicht hinter dem Söllingergehöft, in den Weizenlanden
wühlten sie den Kot aus der Erde. Mit verbissenen Gesichtern schauten
die Bauern auf ihre verwüsteten Äcker. Viel Fremdvolk war unter den
Arbeitern. Italiener und Böhmen. Es gab Einbrüche, nächtliche
Raufereien und Messerstechereien.--

Die Söllingerin bekam die letzte Ölung. Nach einigen Tagen starb sie.
Das ganze Dorf und viele Bauern aus der Umgebung standen um das Grab.
Die Glocken trugen ihr Läuten durch die Luft.

Der Reinalther sagte beim Leichenschmaus im Wirtshaus zum Söllinger:
"Was hast' von dei'm Leben, Bürgermeister? Deine zwei Söhn' sind ja
doch schon städtisch, da will keiner mehr an die Mistgabel und an den
Pflug!"

Finster sah der Söllinger ins Leere und erwiderte kein Wort. Seine
zwei Söhne, der Martin und der Joseph, saßen da und schwiegen
gleichfalls. Zwei flotte Burschen waren sie, sahen gar nicht mehr
bäurisch aus, studierten in der Stadt und hatten runde, selbstbewußte
Gesichter, auf denen ein überheblicher Stolz glänzte.

Der Bürgermeister stand auf einmal auf und ging.

Es war Erntezeit. Die Straße führte an den ehemaligen Reinaltherfeldern
vorbei und an der Breite des Ignatz Reis. Da arbeiteten die Knechte
Michaels und der Italiener beaufsichtigte sie. Er war ein schweigsamer,
finsterer Geselle mit unheimlich tiefglimmenden Augen. Wenn er wo
auftauchte, griffen alle unwillkürlich hastiger zu. Der Söllinger blieb
einen Augenblick stehen, biß die Zähne aufeinander und schlug,
weitergehend, den Hirschgriffstock fester auf den Boden.--

Den Michael sah man jetzt tagsüber fast nie. Nur am Abend stelzte er
üher den Söllingerhügel, blieb manchmal stehen und sah wie prüfend der
Bahnlinie nach. Gebückt ging er. Er trug meistens einen breiten Mantel
und hielt einen Stock in der Rechten.

Manchmal wenn ein Heimkehrender an ihm vorbeiging, lag ein verglommenes
Lächeln auf seinen faltigen Zügen. Plötzlich aber verfinsterten sie sich,
sein Kopf senkte sich und hastig trottete er weiter.

Einmal traf es sich, daß er dem Söllinger begegnete. Er blieb fest
stehen und sah dem Bauern lauernd in die Augen. Es war gerade an der
Stelle, wo der Bahndamm sich hob, nah' am Bachbrücklein.

"Grad' deine schönsten Äcker haben's hergenommen," sagte Michael.

"Hm!" nickte der Bürgermeister und wußte nicht, wo er hinschauensollte.

"Wirst alt jetzt, Söllinger! Gib's her, dein Anwesen!" begann Michael
wieder.

Der Bauer schüttelte nur den Kopf störrisch und ging wortlos weiter.
Aber dieses Mal sah Michael noch tief in der Nacht die Stubenfenster
im Bürgermeisterhaus leuchten.

Einige Tage später geriet der Heustadel hinter dem Söllingerhof in
Brand und nur mit Mühe konnte die Feuerwehr das Überschlagen der
Flamme aufs Bauernhaus verhindern.

Der Italiener Rotti und der Böhme Zdrenka hatten es auf die
Bürgermeister-Magd abgesehen. In einer Nacht erstach der Böhme den
Italiener. Zwei Gendarmen von Greinau kamen. Unruhig wurde es im
Söllingerhaus.

Der Bürgermeister schlug wütend auf den Tisch: "Ich mag nicht mehr!"
Und resolut rannte er zur Tür hinaus, geradewegs auf die "Ferkelburg"
zu.

Michael empfing ihn freundlich und ruhig. Er bot eine Summe, daß der
Bauer seine Augen weit aufriß.

Der Handel kam zustande.

Der Söllinger gab sein Bürgermeisteramt auf und zog zum Schmied.

"Verkauf deine Kalupp'!" sagten jetzt jeden Abend der Reinalther und
er in der Lechlstube zum griesgrämigen Gleimhans.

"Hast deine Ruh' und einen schönen Batzen Geld und der Michl läßt dich
drinn, solang als du willst!" bekräftigte der Lechlwirt.

"Solang' ich leb, nicht!" gab der Gleimhans einsilbig zurück und
schüttelte beharrlich den Kopf.--

Michael kaufte das Schmiedanwesen. Der Schmied zog in die Stadt.--

"Kauft das ganze Dorf," brummte der Gleimhans, "und hat uns zuletzt
alle in der Mausfall'n!"

"Soll er, wenn's ihm gefällt!--Er kann sich's leisten, zahlt gut und
ist nicht zuwider!--Läßt mit sich reden!" verteidigten der Wirt und
der Reinalther den Herrn von der "Ferkelburg". Und dumpf nickte der
Söllinger.--

Aber am nächsten Tag trat Michael ins Reinaltherhaus. Der Bauer
empfing ihn aufgeräumt und freundlich, ohne jegliches Arg.

"Im Frühjahr müßt's raus! Hab' einen Pächter," sagte da auf einmal
Michael kurz.

Dem Bauern gab es einen Ruck. Er sah ihn groß an.

"Bringt aber sein Zeug schon übernächst's Monat!" sagte Michael wieder
und wandte sich zum Gehen.

Der Reinalther wurde jäh bleich. Sein Kinn bebte. Seine Unterlippe
rutschte etwas herunter.

Hilflos und bittend sah er auf Michael.

"Geht's gar nicht, daß wir die paar Kammern hinten kriegen könnten und
bleiben dürfen!" brachte er kleinlaut heraus.

Michael schüttelte schweigend den Kopf.

"Gar nicht?"

Michael drehte sich um, sah ihn kalt an: "Könnt's ja am End zum Schmied
einzieh'n. Obenauf sind noch drei Kammern. Nachher seid's mit'm Söllinger
beieinand! Überleg' dir's und laß mir's wissen!"

Und ehe der Bauer etwas erwidern konnte, war er draußen.

Eine Weile stand der Reinalther wie besinnungslos da. Dann ging er zum
Lechlwirt hinüber.

Der Gleimhans und der Söllinger saßen da. Schüchtern und ganz von außen
herum erkundigte sich Reinalther nach den Räumlichkeiten im Schmiedhaus.

"Mußt' raus?" fragte der Lechl.

Stumm nickte der Befragte.

"Ins Schmiedhaus?"

"Schier," erwiderte der Bauer und setzte hinzu: "Hat einen Pächter fürs
Frühjahr."

Gleimhansens Augen glänzten listig. Er hob den Kopf und lächelte
schadenfroh.

"Vom Schmiedhaus ist gar nicht mehr weit ins Gemeindehaus!" warf er
boshaft him.

Der Söllinger rückte sein Gesicht empor.

"Ja--!" sagte der Gleimhans, ihn messend, "samt eurem Geld jagt er
Euch in die Mausfall'n, wenn's ihm paßt!"

Die beiden anderen Bauern saßen dumpf da und starrten schweigend ins
Leere. Der eine erhob sich, und der andere. Und beide gingen ohne ein
Wort.--


VI.

Wiederholte Male hatte Michael zum Gleimhans geschickt. Er selbst kam,
der Italiener kam, die Magd kam. Es half alles nichts. Der Bauer gab
sein Anwesen nicht her.

"Wenn nochmal einer kommt, kann er seine Knochen vor der Tür
zusammenkratzen!" brüllte er das letztemal wild. Es kam keiner mehr.

Michael hatte nach und nach das ganze Dorf aufgekauft. Die Gehöfte und
Häuser lagen brach und still da. Die ehemaligen Besitzer waren entweder
fortgezogen, gestorben oder arbeiteten gegen Taglohn auf der Bahnstrecke.
Die Grundstücke wurden von den Ferkelburgleuten beackert, bebaut und
bewirtschaftet.

Im ehemaligen Reishof logierte eine Hausiererin und führte einen
Kramladen. In den sonstigen Häusern wohnten Arbeiter oder auch die
früheren Besitzer, gingen in der Frühe heraus und abends hinein. Die
Mauern bröckelten ab, die Gärten verwahrlosten, alles lag verödet und
ruinenhaft da.

Michael selbst saß den ganzen Tag in seinem Turmzimmer, üher die
Protokolle und Urkunden gebeugt, die er beim jedesmaligen Kauf eines
Anwesens vom Notariat ausgehändigt bekam. Nur der Italiener und die
Magd, die ihm das Essen brachte, sahen ihn. Alt und verfallen sah er
aus. Zusammengeschrumpft war seine Gestalt.

Nachts, wenn der Mond silbern üher die Talmulde glitt, stand er am
Turmfenster und überschaute seinen Besitz. Dann glomm manchmal in
seinen Augen etwas wie Triumph. Nur wenn sein Blick auf das
Gleim-Anwesen fiel, wurde es finster auf seinem Gesicht.--

Aus der Erde brach der Frühling. Die Magd kam zum Reinalther und
brachte die Botschaft, der Bauer solle sich zum Ausziehen
bereitmachen.

"Jaja, in Gott's Nam'! Sagt's nur, ich will ins Schmiedhaus!" gab ihr
der Bauer als Antwort mit in die "Ferkelburg".

Am selben Tag trottete Michael eilsam auf den Kramladen zu und
verschwand scheu in dessen Tür. Die Krämerin schrak förmlich zusammen,
als er so dastand.

Aus einem grauenhaft gelben Gesicht starrten verkohlte Augen auf sie.

"Gib mir zwei Kalbstrick, Irlingerin, aber gute!" sagte Michael kurz.

Die Krämerin legte einen Packen Stricke hin.

Michael prüfte sorgfältig einen um den andern.

"Die!" stieß er hastig heraus, warf das Geld him und nahm zwei
Stricke.

"Tragen denn gleich zwei Küh' diesmal?" fragte die Krämerin endlich.

Aber Michael nickte nur und ging. Eilig stelzte er durchs Dorf.

Als er die Tür seines Turmzimmers zuschloß, zog er die Stricke aus
seiner Brusttasche, prüfte sie nochmal und legte sie in den Schrank,
schloß ab. Offenbar befriedigt atmete er auf, trat an den Schreibtisch
und las wieder die Urkunden.--

Gegen Abend kam der Pfarrer, der lange nicht mehr dagewesen war, in
die Ferkelburg. Mißtrauisch und etwas verwirrt empfing ihn Michael.

"Das Kloster Sankt Marien möchte den Söllingerhof, Michl?" sagte nach
einer Weile Schweigens der Geistliche.

Michael schüttelte den Kopf.

"Ist nicht recht, daß alles so tot daliegt, Michl!" ermahnte der Pfarrer.

"So?" sagte Michael hartnäckig, und seine Falten zuckten fast höhnisch.

"Wirst ein alter Mann, Michl! Was tust mit den vielen Häusern!" murmelte
der Geistliche hilfloser.

"G'richt halten!" stieß Michael gedämpft heraus und heftete seine Blicke
funkelnd auf den Pfarrer. Der stand beklommen da und atmete schwer.

"Unser Herrgott wird dir Dank wissen, Michl!" fand er endlich das Wort
wieder und erinnerte abermals an den Söllingerhof.

"Steht zu arg in der Sonn'", murmelte Michael noch leiser und
unheimlich heraus, "und wirft mir den ganzen Schatten in die unteren
Stuben!"

Er stand gespannt da, bewegte sich nicht. Der Geistliche wurde
plötzlich blaß, als er das eingeschrumpfte, gelbe Gesicht im matten
Licht sah.

Jetzt funkelten Michaels Augen wieder und seine Lippen gingen auf und
zu:

"Hat einmal meinem Vater gehört, nicht?! ... Und der Söllinger hat es
ihm abgekauft, nicht?! ... Und--der Gleimhans hat ihm Geld 'geben.
--Vieh hat er dazumal geschachert, der Söllinger, nicht?! Und-und
hat's meinem Vater langsam abgekauft--langsam, nicht?! ... War ja ein
Hüttl, damals--nicht!?--"

Er hielt inne. Der Pfarrer stand wortlos da.

"Und nachher hat er das Saufen angefangen, mein Vater, nicht?!"
keuchte Michael fortfahrend heraus: "Und dann haben's meine Mutter ins
Gemeindehaus, und--und nachher haben sie sie auslogiert--ist
gestorben, weil unsere Kuh krepiert ist! Hat's nicht mehr erleben
können ... nicht!?"--

Jetzt stockte er plötzlich, hielt die Worte zurück und erbleichte.
Wieder bohrte er seine mißtrauischen Blicke in das Gesicht des
Pfarrers. Eine Unruhe fieberte auf seinen Falten.

Auf einmal, ohne des Pfarrers zu achten, stieß er heraus: "So dunkel
ist's da unterm Turm wie im Gemeindehaus bei meiner Mutter
dazumal....!?"--

"Michl!" rief der Pfarrer nur mehr. Dann ging er.--

Michael stand eine Zeitlang in der gleichen Haltung da, dann zuckte er
erschreckt zusammen und brach in seinen Lehnstuhl.

Später rief er den Italiener. Es war schon Nacht draußen. Er steckte
die Kerze an und zog die dichte Gardine vor.

"Hast immer geladen in der Sandgrube, nicht?" fragte er den Italiener.

Der nickte.

"Bist krank, Guisepp'! Mußt Ruh' haben," redete Michael gut auf ihn
ein und ließ ihn nicht aus den Augen.

Guiseppe stand verlegen und verständnislos da.

"Das Söllingerhaus da drüben, Guisepp', das soll dir gehören, wenn'st
--wenn'st nochmal sprengst, bloß mehr dies einzige Mal!" sagte Michael
aschfahl und öffnete seinen Schreibtisch, legte drei Pulversäcke aufs
Pult.

Der Italiener starrte ihn groß und schweigend an.

Als dies Michael bemerkte, sprudelte er fast bittend und hastig
heraus: "Haben dich nie erwischt, Guisepp', nie! Hast dich immer
rausgemacht--wirst's auch diesmal fertigbringen!"--

Und dann setzte er ihm den Plan auseinander.

Mitten im Gespräch horchte er jäh auf. Fern aus dem Dorf hörte man
Wagengeknatter und "Hü"-Rufe. Der Gleimhans fuhr die Habe Reinalthers
ins Schmiedhaus.

"Geh!" sagte Michael hastig zum Italiener. Mechanisch verließ dieser
das Zimmer.--

Bis tief in die Nacht hinein schleppten der Gleimhans, der Söllinger
und die Reinalther-Eheleute die Möbel in die wackeligen Kammern im
ersten Stock des Schmiedhauses.

Es war eine windige, unruhige, stockdunkle Nacht. Manchmal trug eine
Windwelle Laute und abgerissene Sätze herüber zur "Ferkelburg".

Michael ging zitternd im Turm auf und ab. Auf und ab. Von Zeit zu Zeit
neigte er sich über den Schreibtisch und schrieb noch ein Wort oder
einen Satz auf einen aufgeschlagenen Bogen Papier.

Jetzt riß der Wind die Schläge der Kirchturmuhr auseinander. Michael
tappte ans Fenster, hob die Gardine ganz schmal beiseite und band den
Strick an den Fenstergriff.

Und sah scharf und spähend ins Dunkel hinaus.

Da krachte es furchtbar. Ein riesiger Feuerklumpen brach in der Gegend
des Schmiedhauses schleudernd in die Schwärze der Nacht.--

Und um die runde Anhöhe hetzte eine lange Gestalt auf die Ferkelburg
zu.

Michael faßte den Strick und legte seinen Hals in die Schlinge. Dann
brach er ins Knie und hob seine ineinandergerungenen Hände zur Höhe.
Sank.--

Mit jener grauenhaften Blässe, die oft jäh von furchtbarer Ahnung
Erschütterte befällt, sagte der Pfarrer am andern Tag vor der Leiche
des Erhängten: "Alle Dinge sind eitel!" Und hob den Blick gen Himmel.

Auf dem Schreibtisch lag ein Testament, das Guiseppe die ganzen
Besitzungen und Hinterlassenschaften Michaels zuerkannte.--




EIN DUMMER MENSCH


I.

Seltsam sind Menschenwege. Kalt ist der Winter, heiß der Sommer, die
Zeit läuft weg und Alter und Verbitterung hocken in den Knochen, eh'
man sich richtig umsieht. Und schließlich--was ist's gewesen, wenn man
nachdenkt?--

Misere, Misere, Misere!

Zufall ist alles--und nichts.--

Vor zweieinhalb Monaten noch--hol der Teufel diese kalten, widerwärtig
regnerischen Herbsttage!--trottete Adam Högl verdrießlich durch die
dumpfen Straßen, überlas ein um das anderemal die Karte des
Arbeitsamtes, die ihm anbefahl, daß er sich beim Kranenwerk als
Erdarbeiter zu melden hätte, zerknüllte sie ebensooft in der Tasche
und trat gedankenlos in die Kneipe der engagementslosen Artisten "Zur
wilden Rosa."

Widerlich, wie er jetzt auf einmal noch quälender die kalte Nässe an
seinen Gliedern herabrieseln fühlte! Und ausgerechnet mußte noch dazu
die selbstspielende Geige unausgesetzt kratzen, daß es durch Mark und
Bein ging!

Die rauchige Luft war zum Schneiden dick hier und ein Lärm herrschte
an allen Tischen wie auf einem Jahrmarkt.

Knirschend und ohne sich um die geschwätzige Gesellschaft zu kümmern,
ließ sich der Eingetretene auf einen Stuhl fallen und schwang seinen
patschnassen Hut ein paarmal derart wütend him und her, daß die
herausgepeitschten Tropfen wie aus einem Weihwasserpinsel herumflogen.

"Pilsner oder Most?" schrie der Kellner üher die Köpfe hinweg.

"Pilsner!" brummte Högl finster zurück und machte sich breit. "Hoho!"
murrte jemand beinahe drohend am Tisch, und ärgerliche Gesichter hoben
sich. Auf einmal rief eine bekannte Stimme: "Mensch! Högl!" und Adam
Högl sah verwundert auf.

"Högl! Mensch! Adam!" schrie es abermals und ein Herr mit rundem,
lachendem Gesicht tauchte an der anderen Tischseite auf, beugte sich
behend in die gedrängten Leute: "Erinnerst du dich? Krull, vierte
Kompagnie, Zimmer achtundzwanzig!? Bauchreden!" Adam Högl faltete
schnell die Stirn.

Ja, es stimmte: Im Zimmer achtundzwanzig der vierten Kompagnie lag er
neben Ferdinand Krull und betrieb als Liebhaberei die gelegentlich
erlernte Kunst des Bauchredens. Er entsann sich ganz deutlich, und
unwillkürlich, fast von selbst entquollen ihm einige Laute. Er saß
gerade aufgerichtet da, mitten im plötzlich verstummten Kreis der
Gesichter, mit geschlossenem Mund--nur der herausgedrückte Punkt
seines Halses bewegte sich etwas auf und ab--und tief unten in seinem
Bauch redete es.

"Mensch, du kannst noch!? Komm sofort mit! Du wirst meine beste
Nummer!" jubelte jetzt der ehemalige Barkellner Ferdinand Krull, und
ehe die verblüffte Schar sich's richtig versah, trabten die beiden
eilsamen Schrittes aus der Kneipe, stiegen in das bereitstehende Auto
und weg waren sie.--

Am selben Abend schon stand Adam Högl auf der grell beleuchteten,
geräumigen Bühne des Krullschen "Paradies-Kasinos" und johlte seine
Bauchstimmen-Witze in das bunte, glänzende Publikum, das sich
allabendlich hier zusammenfand.

Flüchtig zurechtgemacht, im zu großen, faltigen Frack des beleibteren
Krull, mit viel zu weitem Kragen, der sich wie ein schmaler weißer
Kummet um seinen dürren, langen Hals wand, in einer karierten,
schnürenden Weste, einer billigen gestreiften Hose und den quälend
drückenden Lackschuhen des Wirtes--so stand Adam Högl, eine beachtete,
wichtig gewordene Einzelperson,--wie aus einer tiefen sumpfigen
Finsternis plötzlich auf einen strahlenden, weithin sichtbaren Gipfel
gehoben--inmitten der sorglosen, großen, prächtigen Welt.

Musik fiel ein, säuselte süße, schmeichelnde Melodien durch den Raum,
tuschte, brach ab--der Vorhang peitschte in die Höhe. Vereinzeltes
Stühlerücken noch, leise verschwingendes Gläserklirren und andächtige
Stille minutenlang. Adam Högl riß die Augen weit auf. In der
blauüberleuchteten, abgedämpften Zuschauergruft tauchten puppige
Herrenrücken auf, kühngekleidete Damen, ebenmäßige, gepflegte,
wunderbar abgetönte Gesichter und lange, glitzernd beringte Hände
mit Elfenbeinfarbene Nacken bogen sich waghalsig.

Herausfordernde, runde, nackte Arme bewegten sich lässig
undentblößte, leicht gerötete Brüste hoben und senkten sich wie
weiche, märchenseltsame Lichtflächen, die ein fächelnder Wind
arglos um schwirrte.--

Mit Gewalt mußte Adam Högl an sich halten. Der Atem stand ihm still.
Schweiß war auf seiner Stirn. Mühsam preßte er endlich die ersten
Laute heraus.

Es räkelte.

Sein Herz klopfte auf einmal wie im Galopp. Mit ganzer Kraft straffte
er sich, gröhlte unbeholfen den ersten Witz heraus, begann ohne
Zwischenpause den zweiten.

Es räkelte schon wieder. Seine Knie begannen zu schlottern. Er biß die
Zähne fest aufeinander, preßte--preßte die Laute, die auf der Kehle
saßen, wieder zurück, hinunter in den Bauch und hatte endlich den
zweiten Witz.

Das Räkeln verstärkte sich, verflachte zu einer allgemeinen
Bewegung. Schon drohte er umzufallen--da brach ein berstender,
frenetischer Jubel üher ihn her, ein Gelächter wie aus einer
vielstimmigen Riesentrompete, ein betäubendes Klatschen, als sei hoch
auf einem Berge die Schleuse eines gehemmten Flusses mit einem Male
jäh aufgerissen worden und die ganze Wasserlast falle sausend in die
Tiefe.

Er war gerettet.

Er atmete auf, hielt inne, ließ den Jubel verrauschen und jetzt floß
sein ganzer Mut und Witz berückend sicher aus ihm heraus, hinab in die
Gruft und wieder zurück an seine schweißnasse Brust wie
verhundertfachter, brausender Dank.

Er hatte gesiegt.

Einen solchen aus allen Geleisen geratenen Beifall hatte das
"Paradies-Kasino" noch nie erlebt.--

Vollkommen erschöpft schleppte sich Adam Högl am Arm seines ehemaligen
Regimentskameraden immer wieder durch die getürmten Blumenhaufen, vor
bis an die Rampe, kaum noch fähig, sich zu verbeugen. Und immer, immer
wieder zuckte der Vorhang, fuhr sausend auseinander und in die Höhe.

Zuletzt sah es aus, als hätten sich alle Menschen da unten
übereinandergeworfen und in das wüste, kreischende Plärren mischte
sich endlich die Musik undschwoll an zu einem mächtigen Choral. Und
regelmäßiger, breit und den ganzen Raum erbeben lassend sang es aus
allen Kehlen zur Höhe: "Ooo du Pa--a--aradies! Pa--a-aradies
--Kasi--ino--o--o!" daß Adam Högl buchstäblich wie halbtot seinem
Kameraden in die Arme sank und aus tiefstem Glück erschüttert auf
johlte: "Pa--a--aradies!"--

Einige Tage später konnte er an allen Litfassäulen in halbmetergroßen
Buchstaben seinen Namen lesen und darunter stand: "Die große Nummer".
Und jeden Abend erntete er den gleichen Beifall. Schon in der Mitte
des zweiten Monats war auf allen Plakaten, quer üher "Die große
Nummer" geklebt, zu lesen: "Zum dritten Male prolongiert!"--


II.

Ohne es selber recht innezuwerden, rückte Adam Högl in eine andere
Menschen schicht hinauf. Er trug nunmehr seidegefütterte Anzüge der
besten Schneider, ging mit gelassener Selbstsicherheit durch die
Straßen und grüßte mit ausnehmender Vorliebe auffällig gestikulierend
und so geräuschvoll, daß alles stehen blieb und lachen mußte, vornehme
Gäste des "Paradies-Kasinos". Fast jeden Abend nach seinem Auftreten
saß er an irgendeinem Tisch, inmitten einer fidelen Gesellschaft,
trank je nach der Art seiner Gastgeber entweder herablassend beiläufig
oder mit einigen Brusttönen lobender Aufmerksamkeit ältesten Wein,
Bekanntesten französischen Sekt, jeden Nerv kitzelnde Liköre und sog,
immer witzgerecht, mit geübt bäuerlicher, biederer Bescheidenheit alle
Bewunderung der Gäste in sich hinein.

Seine berechnete Natürlichkeit wirkte bestechend bei Damen, alten
Lebemännern und Industriellen. Er zotete, wenn ihn ein abfälliger,
herabmindernder Witz traf, üher alles hinweg mit jenerunerschütterlichen,
nie angreifbaren, hämischen Trockenheit, die entwaffnet. Mit dem ganzen
unterdrückten Instinkt eines Menschen, demdie Angst vor dem
Wiederzurücksinken in den Sumpf Spannkraft gibt, beobachtete er, erwog
die Möglichkeiten neuer Bekanntschaften, erlistetesich notwendige
Gebärden und Manieren, machte sich gutwirkende Kniffe zunutze
und galt bald als der gewiegteste Weinkenner und großartigste,
bewunderungswürdigste Zecher, mit dem es eine Lust war, Gelage zu halten.

Freilich, es gab auch Abende ohne Einladung, wo er am Künstlertisch in
der zerwetzten Nische saß und sich mit Kollegen und Kolleginnen, die
mit ihm das Programm ausfüllten, unterhielt. Artisten aus aller Herren
Länder, dicke Sängerinnen, zierliche Chansonetten und schwergebaute
Ringkämpfer waren da. Intrigen, Neid und Intimitäten gab es da,
Vertraulichkeiten und Klatsch. Mit teilweise unverhohlenem oder auch
leisem, verstecktem, stechendem Spott sahen diese weltbereisten, mit
allen Wassern gewaschenen Leute auf den Neuling herab. Es war
unerquicklich und feindselig in dieser Nische, alles deutete zurück in
die Misere.

Draußen, im Zuschauerraum, vertrugen sich die dickaufgetragenen
Freundlichkeiten vorübergehender Kollegen fast lächerlich leicht.
Während er nicht selten, wenn er spät nachts den Künstlertisch
verlassen hatte und heimwärts ging, zukunftsbesorgt und entmutigt war,
lebte er als Gast an den Tischen der Kasinobesucher stets auf, schaute
den vorübergehenden Kollegen kühn und dreist in die Augen, warf ihnen
treffsichere Zoten zu und lächelte unverschämt, wenn er auf ihren
Gesichtern die nur schwer zurückgehaltene Wut aufsteigen sah. Hier, in
diesem Meer, dessen Wellen ihn unausgesetzt emporhoben, fühlte er sich
völlig geborgen, unverfolgbar und mächtig.

Adam Högl war kein Optimist. "Nichts dauert ewig und jeder muß sich
nach der Decke strecken," sagte er bei jeder Gelegenheit mit leiser
Ironie, doch handelte er danach.

Gelegentlich eines wüsten Gelages mit dem Millionär van Haarskerk und
seiner Gesellschaft in einem abgedämpften Hinterraum des
Paradies-Kasinos ließ er sich kaltes Wasser kübelweise üher den Kopf
schütten, spielte mit Meisterschaft den völlig Betrunkenen, trank
gesalzenen Sekt ohne eine Miene zu verziehen, ertrug zur Steigerung
des Vergnügens viele, viele Stöße in den hingehaltenen Bauch und
tanzte zuguterletzt patschig und negerhaft wie ein Eunuch im Hemd
herum, daß sich die ganze Gesellschaft vor Lachen wälzte.

Von da ab saß er jeden Abend am Tische van Haarskerks, duzte sich mit
diesem. Der Millionär war eine besondere Art von Mensch, Er hatte der
kleinen Kabarett-Diva Yvonne eine Villa draußen an der Peripherie der
Stadt gebaut und vertrieb sich die Zeit damit, mit ihren früheren
Bekannten Gelage zu halten, ausgesuchte Gerichte zu kochen und
Autotouren zu machen. Durch sein Verhältnis mit der Diva war er im
Laufe einer ganz kurzen Frist zu einer Art Stadtbekanntheit geworden.
Meistens kam er mit zwei oder drei vollbesetzten Autos im
Paradies-Kasino an. Allerhand zweifelhaft gekleidete Leute begleiteten
ihn, alles frühere Geliebte Yvonnes--: abgewirtschaftete Studenten,
die sich Dichter nannten, einige Kunstmaler, ehemalige Kabarettleute,
undefinierbare Witzbolde und schließlich noch einige Herren, die stets
neueste Mode am Leibe trugen, gepudert waren und das Einglas ins Auge
geklemmt hatten. Nach Schluß der Vorstellung fuhr man nicht selten mit
noch Hinzugekommenen, momentan die Langeweile vertreibenden
Eingeladenen nach Hause, um dort weiterzutrinken, zu diskutieren oder
Bakkarat zu spielen, his die Frühe fahl ihr Licht durch das dicke
Glasdach des Wintergartens auf die Zecher herabfallen ließ.

Adam Högl faßte festesten Fuß in diesem Hause, ja, zählte geradezu zur
Familie, lernte fabelhafte Tafeln kennen, überschüttete die gelassene
Gleichgültigkeit, mit der man hier Unsummen in die Spieltischmitte
schob und wieder wegzog, mit seinen herabmindernden Späßen, trank
ebenso wählerisch wie selbstverständlich Whisky pur wie Kognak von
1875, Mit dem ihm eigenen Geschick sekundierte er, wenn Yvonne ihre
tausendmal erzählten Bettgeschichten und anzüglichen Witze erzählte.
Sein trainiertes Gelächter riß jedesmal mit und erleichterte den nur
mit Mühe die Langeweile verbergenden, devot Beifall spendenden
Günstlingen ihre schwierige Aufgabe auf das angenehmste.

Oft und oft kam es vor, daß die überreizte Diva eine Vase durch eine
Glastür warf, Unheil stand drohend--da auf einmal trompetete das
Lachen Högls und glättete im Nu den Sturm.

Es gab Nächte in diesem Hause mit ihm, die begannen mit einem wüsten
Balgen zwischen Yvonne und van Haarskerk, mit einem Zusammenschlagen
kostbarster chinesicher Zierrate, mit einem Demolieren von Türen und
Möbeln und endeten wie etwa eine unvergleichlich lustige Sylvesterfeier.

Hier war ein reicher Fischplatz. Adam Högl warf vorsichtig seine
Angeln und Netze aus.--

"Denn nichts dauert ewig und jeder muß sich nach der Decke strecken!"


III.

Die Tage und die Nächte liefen davon. Viel zu schnell. Sie schwebten
vorbei, ohne sich voneinander zu unterscheiden. Es war ein
unaufhaltsames Fließen. Es gab keinen festen Punkt, kein Nachdenken,
keinen Widerstand.

Allmählich, mit jedem Tag bemerkbarer, ließ der Beifall nach. Es brach
jetzt kein plötzliches Gelächter mehr aus. Es war keine Stille mehr in
der Zuschauergruft, wenn Högl auftrat. Man sandte auch kein resolutes
"Pst!" mehr aus aufmerksamen, lauschenden Tischen, wenn die Kellner
servierten. Gelangweilte Gesichter sah man ringsum. Es schwätzte
jedermann während des Vertrags. Wie ein böses Gewissen rieselte durch
den erschauernden Körper jene penetrante Peinlichkeit, die immer
einsetzt, wenn man sich hilflos einer stärkeren Macht gegenübersieht
und es sich nicht eingestehen will.

Es war acht Tage vor dem Ende des dritten Monats, und nichts wieder
hatte Krull von abermaliger Prolongierung erwähnt. Adam Högl stand
benommen hinter dem eben herabgefallenen Vorhang und wischte sich den
Schweiß von der Stirn. Es klatschte mäßig. Der Vorhang zuckte fast
mitleidig und wurde rasch noch einmal hochgezogen. Es klatschte etwas
mehr, als Högl dankte. Der Vorhang fiel wieder herab. Bagg--bagg--bagg
--bagg!--schon schwammen die Redegeräusche, das Klirren der Gläser,
das Stühlerücken und Surren der Ventilatoren darüber hinweg, und alles
verebbte zu einem gleichmäßigen Geplätscher. In acht Tagen vielleicht
stand Krull, der in der letzten Zeitmerkwürdig schüchtern auswich und
sich selten sehen ließ, vor ihm und sagte ungefähr: "Adam, du weißt!
Mein Publikum will Abwechslung. Ichbin Wirt, ich muß mich nach ihm
richten."

Man war ihn satt!--Er konnte wo anders hingehen?--Schließlich--er
hatte noch etwas Geld, Anzüge. Es ging eine Zeitlang. Dann?--

Der Boden schwankte, man glitt aus, man ließ sich dahintreiben, dumpf
und verbittert auf einen nächsten jähen Zufall wartend. Die fast
märchenhafte Leichtigkeit, mit der man üher Nacht so hoch getragen
worden war, hatte die Energie vernichtet.--Adam Högl knirschte und
sah scheu rundherum. Die Angst kam von der Magengegend zur Gurgel
heraufgekrochen. Mit einem Ruck riß er sich zusammen und schritt zur
Tür. Da kam der schlanke Kellner und bat ihn in die Loge des
Millionärs. Er atmete erleichtert auf. "Ich komme gleich," sagte er
schnell und ging in die Garderobe.

Nach einigen Minuten schritt er die Logenreihen entlang und hatte
schon wieder die breitlachende, humorvolle Miene, die man an ihm
gewohnt war. Aus verschiedenen Tischen nickten ihm Leute grüßend zu,
und scheinbar ganz in seligster Wonne erwiderte er.

Die Haarskerksche Loge war wie gewöhnlich gepfropft voll. Jeder der
Herren lachte bereits das knallige Lachen Adam Högls. Das gab Mut.
Noch war man also nicht ausgelöscht.--

"Ah--haha!!" krächzte der Millionär aufstehend und machte Platz.

"Was machst du?" fragte Yvonne den Angekommenen.

"Einen schlechten Eindruck," erwiderte Högl trocken. Die Unterhaltung
belebte sich, wurde aufdringlich laut.

"Psst! Psst!" zischte es aus den gegenüberliegenden Tischen, denn eben
trat die neuengagierte Sängerin auf und trillerte die ersten Laute.

"Ah--a--a--ah--ah--a--a--aa!" sang Högl boshaft mit angestrengtester
Kopfstimme nach und der ganze Tisch kreischte hellauf.

"Psst! Psst!" Adam Högl entdeckte mit einem flüchtigen Blick drüben in
einer dunklen Ecke Krull mit finsterem Gesicht, wandte sich schnell
wieder weg.

"Ein Türteltäubchen! Ein Täubchenturtel!" gröhlte er sehr laut.

"Ru--u--uhee! Psst!" brummte es noch energischer und empört gehobene
Gesichter tauchten auf.

"Mistkäfer! Schweinebande!" knirschte Yvonne dumpf in den Tisch und
rief lauter: "Anton zahl'! Wir wollen gehen! Sofort!"

Der Kellner kam eilends herangeflitzt. Sehr geräuschvoll bezahlte der
Millionär und die ganze Loge erhob sich. Alle tappten im Gänsemarsch
knatternd auf den Ausgang zu.

"Psst! Psst! Ru--uhe!" surrte es ihnen nach. An der Tür stand Krull,
verbeugte sich devot und wollte entschuldigen.

"Schon gut! Schon gut! Wir werden's uns merken!" schrie Yvonne und
befahl resolut: "Kommt! Laßt euch nicht aufhalten!" Der Trupp stürzte
hinaus. "Ich möchte heut' nur Högl, Kotlehm und Raming, Anton! Laß die
andern nach Hause fahren! Wir wollen unter uns sein!" sagte Yvonne vor
dem Auto. Der Millionär rannte auf die anderen Begleiter zu, sagte
ihnen dies, kam wieder zurück, stieg rasch ins volle Auto und gab das
Zeichen zum Abfahren.

"So sind alle Wirte, weißt du! Pack! Pack!" schimpfte Yvonne während
des Dahinfahrens.

"Eben! Eben!" brummte Högl in tiefem Baß.

"Ein solches Miststück mit ihrem Geplärr! Na, ich danke!"

"Eben! Eben!" sekundierte Högl befriedigt.

Der Maler Kotlehm lachte gewaltsam.

"Und diese Preßsackbrüste, pw! Diese Wurstfinger, äh!" zeterte Yvonne.

"Gulasch! Gulasch mit Kartoffel!" murmelte Högl. Man lachte
allenthalben. Yvonne warf ihre Arme hingerissen um Högls Nacken und
drückte ihr kaltes geschminktes Gesicht an seine Wange, küßte ihn
breit und feucht, daß es schnalzte: "Högl, Du bist mein Mann!"

Die Stimmung war wiederhergestellt.

"Was trinken wir?" fragte van Haarskerk.

"Sekt! Sekt!--Ich möchte heute schwimmen im Sekt--und dann Whisky!"
rief Yvonne emphatisch.

Das Auto fuhr surrend durchs Tor.


IV.

Die Dienerschaft war zu Bett gegangen. Es war still. Überall herrschte
ein Geruch nach Zigaretten, Parfüm und Alkohol. Man ließ sich in die
tiefen, nachgiebigen Fauteuils um den offenen Kamin im Rauchzimmer
fallen. Jener Punkt war erreicht, wo alles öde, langweilig, dumm und
trist zu sein scheint. Die Stimmung war zweideutig und unentschieden.
Es hieß geschickt eine Krise zu vermeiden, die scharfen, vorgeschobenen
Riffe der Überreiztheit gewandt zu umsegeln. Noch zwei oder drei
schweigende Minuten und man stand vielleicht auf, gähnte dösig und ging
zu Bett--oder aber auch Yvonne stieß zufällig mit dem Fuß wo an,
knirschte gehässig und schmiß eine Vase kaputt. Es gab Skandal und alles
war verloren, verhunzt. "Ich hab' Hunger," sagte Yvonne bereits bedrohlich.

Adam Högl ergriff die Gelegenheit und brummte trocken: "Ein frugales
Mittelstück! Sehr richtig! Weder Früh--noch Nachtstück--ein Mittelstück,
ein Stück in der Mitte!" Man lachte lahm. Der Maler Kotlehm und der Lyriker
Raming bewegten sich etwas aufgefrischter: "Ja, das wäre nicht dumm!"

"Geht!" befahl Yvonne Högl und dem Millionär. Die beiden waren
aufgestanden. "Komm! Kommen Sie, Herr Küchenchef! Wir wollen--Na, die
Herrschaften, na--na!?" trompetete Högl in seinem breiten Baß, als er
mit van Haarskerk in die Küche ging. Während der Hausherr eineinhalb
Dutzend Eier kochte, schmierte Högl Butterbrote, strich Kaviar darauf,
schnitt Schinken und Seelachs.

Der Sekt war bereits abgekühlt.

Als er die Gläser und das Tablett mit den Speisen in das Rauchzimmer
trug, hatte sich Adam Högl wieder ganz in der Gewalt und bediente
behend wie ein Servierkellner. Man griff gierig zu, schmatzte. Die
Stimmung hob sich.

"Und ick?!--Ick hock mir ins Klosette rin und kotze alle Spucke
rinn!--rinn!--rinn!--" johlte Högl wie ein Grammophon mit wässerigem
Mund. Und: "--rinn!--rinn!--" wiederholte der ganze Chorus.

Zufällig warf der Millionär seine Eierschalen in großem Bogen zur
Decke. Sie fielen in den Spiegel oberhalb des Kamins und zischten
auseinander. Belustigt darüber schleuderte Yvonne ihr Ei in die
glitzernde Fläche. Benng! klatschte es spritzend auseinander. Einen
Moment gafften alle unschlüssig.

"Hoi--j! Hoi--j!" brüllte Högl unverblüfft wie ein Ausrufer und warf
ebenfalls sein Ei in den Spiegel. Das gefährliche Riff war umschifft.
Alles gröhlte mit einem Male mitgerissen. Patsch--Patsch--Patsch!
Jeder warf sein Ei in den Spiegel. Es klatschte um die Wette. Yvonne
schüttelte sich berstend. Adam Högl hüpfte vor Vergnügen. Wie doch
alles einfach ist!--"Das ist--um es richtig zu sagen--der Kampf mit
dem Spiegel oder der verspritzte Eidotter auf dem Kamingesims!"
plapperte Raming rülpsend.

"Hahaha--ha! Der Lyriker wird witzig!" stichelte der Millionär.

"Der Spiegelkrieg! Das Krieglspielchen! Das Spielchen mit dem
Kriegl-Spiegl!" gluckerte Högls Bauchstimme. Ein hemmungsloses
Gelächter peitschte auf. Man trank überschnell und mit vollstem
Behagen. Adam Högls Gesicht glänzte triumphierend. Sehr gewandt
spuckte er seinen Mund voll Sekt zur Decke. Ein dicker Strahl war's.
Im Nu folgten die ändern.

Die Stimmung hatte einen ersten Höhepunkt erreicht. Es galt, ihn zu
halten. Adam Högl begann zu zoten.

--Dem Lyriker Raming gab der Millionär seit einem Jahr ein Stipendium,
weil Yvonne dessen bastardhaft verfaltetes Gesicht gelegentlich einmal
als "angeilend" bezeichnet hatte. Des Malers Kotlehm vulgäre Schönheit
entzückte die Diva dergestalt, daß sie van Haarskerk veranlaßte, ihm
ein Atelier zu bauen. Von anderen noch wußte Adam Högl, daß sie
beträchtliche Summen wegen eines Witzes oder dergleichen erhalten
hatten.

Und er hatte sich Wasser kübelweise üher den Kopf schütten lassen.

In den Bauch treten lassen!

Und in acht Tagen?--

Raming rülpste, ließ den Kopf haltlos auf seine Brust herabgleiten,
sank zusammen und schlief ein.

"Der ausgewundene Strumpf zieht sich in die Vorhaut zurück!" rief Högl
breit, überprüfte unbemerkt die Gesichter der ändern.

"Die Inspiration kommt im Schlaf!" warf der Millionär beiläufig him.

"Weißt du, Anton," sagte die Diva schnell und aufgeräumt, "ein
Spielchen wäre jetzt richtig angebracht!"

"Ein Bakkarat?--Ja, das wär' jetzt sehr nett!" sagte der Maler Kotlehm
ebenso.

"Sehr richtig! Gewiß die Damen! Gewiß die Herren! Die Dammenherren,
die Herrendammen!" plapperte Högl und verbeugte sich wie ein Lakai:
"Adam Högl übernimmt die Saufregie, bitte, bitte meine Herrschaften,
bitte!"

Das Schnarchen Ramings sägte friedlich und gleichmäßig. Yvonne,
Kotlehm und der Millionär setzten sich um das Spieltischchen, legten
die Banknoten in die Mitte.

"Prost, Herr Kunstmaler, Herr Kotstengel!" rief Högl hämisch, hob das
volle Sektglas und schluckte hastig den ganzen Inhalt hinunter.

Van Haarskerk gab die Karten.

Högl, der nicht spielen konnte, ging auf und ab und brümmelte leise
singend vor sich him. Von Zeit zu Zeit lugte er flüchtig auf den
getürmten Haufen der Banknoten, die sich in der Tischmitte sammelten.
Lässig zog man die Scheine weg oder warf neue him.

Mattblauer Tag lag schon auf den Gesimsen. Die Gärten draußen
bleichten. Stare zwitscherten leise auf. Tau stieg von der Erde hoch.
Unbehaglich tappte Adam Högl auf und ab, schielte manchmal auf die
Spieler, dann wieder durch die Fenster.

Lästig! Die Umstände hatten einen kaltgestellt. Alles entglitt
wieder.--Jetzt verspielte Kotlehm. Erwar darauf gekommen, an jenem
Abend im abgedämpften Hinterraum des "Paradies-Kasinos", daß man auch
in den Bauch stoßen könnte. Adam Högl umspannte ihn unbemerkt mit
seinen düsteren, hassenden Blicken.

"A--ah--ach!" stieß van Haarskerk mit boshafter Befriedigung heraus,
als der Maler abermals einen Geldschein auf den Tisch warf.

"Prost!" rief Högl schadenfroh.

"Donner und Doria!" lachte der Maler etwas nervös und legte die Karte
auf den Tisch. Abermals Hundert!

Adam Högl ließ eine saftige Zote vom Stapel. Yvonne lachte.

Wie um sich zu wehren, nahm Kotlehm das Glas und schrie feldwebelmäßig:
"He! Kuli! Einschenken!" Adam Högl schoß das Blut zu Kopf. Aber er faßte
sich schnell und hob die Karaffe: "Besser zielen!--Vorbeigeschissen!" Er
zitterte ein wenig, als er eingoß und schüttete daneben.

"Hehe! Du! Kuli!" schrie Kotlehm und stieß ihn in den Bauch. Erquickt
schnellte der Millionär auf, nahm ihm die Karaffe. Adam Högl zog
verwirrt die Schultern hoch. Van Haarskerk lachte stoßweise und
schüttete den Rest über seinen geduckten Schädel. Eiskalt rann der
Sekt den Rücken herunter.

Adam Högl raffte seine letzen Kräfte zusammen. Ratlosigkeit, Wut und
Verzweiflung standen auf einmal da. Wie von schwirrenden Peitschen
umsummt brummte der zerrüttete Kopf.--

Er drohte zu fallen, drückte noch einmal mit ganzer Gewalt den Bauch
heraus und grunzte endlich wieder. Wieder bellte das Gelächter.

Der Maler Kotlehm sprang auf und fuchtelte mit den Armen herum wie ein
peitschenschwingender Tierbändiger.

Das Spiel war zerrissen. Die neue Sensation hatte die Langeweile im Nu
ausgelöscht. Man umtanzte, umjohlte Adam Högl, der wie ein blinder Bär
herumtappte. Gutgezielte Stöße sausten in dessen Bauch. Van Haarskerk
kam mit einer gefüllten Karaffe, schüttete, goß, goß.

Adam Högls Schuhe pfiffen.

"Schurken! Sadistische Hunde!" schrie Yvonne machtlos in den
betäubenden Lärm. Raming hob schläfrig den Oberkörper und ließ sich
wieder zurückfallen. Das wüste Gebrüll zerspaltete die verrauchten
Bäume. Zwischendurch gluckste wie das Röcheln eines Verendenden Högls
Bauchstimme.--Heute noch! Noch einmal! Dann war vielleicht die
Rettung da. Man war geborgen. Eine Nacht Wasser über den Kopf--und
keine Misere mehr.--

Die Hose platzte, als er sich bückte. Kotlehm riß das Hemd heraus.

"Hoij! Hoij!" zischte es von allen Seiten. Man nahm Högl in die Mitte
und stampfte durch den Wintergarten ins Freie. Schwerfällig, plumpsig
bewegte sich der Troß an den ersten Gemüsebeeten vorbei. Der Millionär
schob hinten, Kotlehm zog und zerrte an den Armen Högls. Yvonne
kreischte unaufhörlich.

"A--ahach Mensch, laß mich doch schnaufen!" stöhnte Högl und riß
seinen Mund weit auf. Dicker Schweiß rann ihm herunter.

"Hoij! Hoij!" schrie es wieder. Zog, zerrte. Adam Högl prustete,
hauchte. Der Maler Kotlehm riß einen Rettich aus dem Gemüsebeet und
stopfte ihn mit aller Gewalt in Högls Mund.

Die Zähne krachten. Der Schlund kämpfte gegen das Ersticken. Blau lief
der Kopf an. Adam Högl stemmte sich würgend, spuckte, erhob beide Arme
furchtbar, stieß in die leere Luft. Es war auf einmal frei um ihn. Wie
Kettenlast fiel etwas ab. Der wachgewordene Körper straffte sich, als
renne er stahlhart gegen eine Wand und stieße sie durch.

So leicht atmete es sich.

Eine große Stille stand unfaßbar weiß ringsherum.--

Nach langer Zeit, als er die Augen öffnete, saugte die Kälte der
feuchten Erde an allen seinen Gliedern. Er lag langgestreckt in einem
Gemüsebeet. Schmutz und Blut klebten auf seinen zerschundenen Wangen.
Er schloß den Mund, schluckte. Die Gurgel würgte. Ein wüster Ekel
stieg vom Magen auf.--

Wie eine gemeine, grüne Qualle hockte das Haus in den zertrampelten
Beeten. Das zärtliche Rot des frühen Tages beleckte die Fenster, die
ausdruckslos vor sich hinglotzten. Es roch nach Verwesung.--

Taumelnd sprang er auf und rannte entsetzt aus dem Garten. Schwankend
wie ein Wrack trieb er über die Wiesen, der Stadt zu. Eine gräßliche
Schwäche fieberte in ihm. Angstvoll schleuderte er zuletzt seine Füße
nach vorne, lief, lief, was er konnte.

Erst als er die ersten Häuser erreicht hatte, hielt er inne und wischte
sich aufatmend Kot und Blut aus dem Gesicht.

Ruhig und nüchtern griff die Straße aus. Arbeiter gingen vorüber und
beachteten ihn kaum. Sie bewegten sich und redeten wie Menschen, die
nichts anficht. Es strömte eine seltsame Festigkeit aus ihren Gebärden
und Worten.

Verlassen, nutzlos, ein jämmerlicher Wicht stand Adam Högl da.
Unerbittlich brach die Scham der letzten Wochen aus ihm, stieg, stieg.
Bettelnd, hilflos blickte er auf alle Menschen.

Endlich gab er sich einen Ruck und ging wieder weiter. Sein Gesicht
bekam langsam eine größere Ausgeglichenheit. Fester, entschlossener,
mit dem erleicherten Ernst eines Menschen, der sich durch eine große
Erschütterung die Ruhe wieder zurückerobert hat, schritt er fürbaß.--




ABLAUF


I.

Man sagt, wenn sich die zwanziger Jahre aus einem Menschenleben
winden, fangen die Reibungen an zwischen natürlichem Denken und
dunklem Trieb. Es beginnt ein Aufruhr im Innern. Über die Dämme, die
die Erziehung notdürftig aufgebaut hat, bricht das Blut und je nach
der Festigkeit des Betroffenen folgt einer solchen Krise eine
Zerrüttung, ja nicht selten ein zeitweiser gänzlicher Zusammenbruch
und nur langsam, unter Weh und Qual, stellt sich das Gleichgewicht
wieder ein.--

Glücklich derjenige, der von früh auf Menschen, Bücher, Winke,
Erfahrungen und Anleitungen kennenlernte, die seinen Horizont
erweiterten und ihm einigermaßen dazu verhalfen, solchen
Erschütterungen nicht ganz wehrlos zu begegnen.

Alle aber, die von Kind auf nichts anderes kennenlernen, als daß
dieser oder jener geschickte Handgriff, diese Finte oder jene schwer
erlernbare Körperhaltung die Mühe der Arbeit erleichtern, haben wenig
Zeit, sich gegen solche innere Überfälle zu wappnen. Es ist wahr, auch
sie überwinden. Aber sie leiden mehr darunter und werden ärger
mitgenommen von solchen Qualen. Der Schmerz fällt hier mit schwererer
Wucht nieder auf arglose, unvorbereitete Herzen. Die Jahre verfließen
verbraucht und wenig sinnvoll für solche Menschen. Sie stehen meist
unvermerktmitten im Gestrüpp plötzlich hervorbrechender Gefühle,
kämpfen blindlings gegen ihre Dämonie, werden überwältigt davon und
fallen schließlich in gänzliche Lethargie.--

Johann Krill fiel so in den Rachen der Welt.

Sein Vater war Zimmermann auf einem Dorfe, seine Mutter Bauernmagd.
Auf einmal war dieses Kind da und man mußte notgedrungen heiraten. Man
frettete sich gerade so durch gegen Taglohn. Wenn das Akkordmähen zur
Erntezeit anfing, war es am besten. Zimmererarbeiten gab es wenig. Hin
und wieder Baumfällen und Holzspalten im staatlichen Forst, das war
ziemlich alles.

Es hieß eben: "Nicht krank sein!" und "Sich nach der Decke strecken!"
--Kinder solcher Eltern, noch dazu "ledige", haben nichts Gutes bei den
Bauern. Es heißt aufstehen mit den Knechten um vier Uhr früh, zugreifen
und den anderen an Flinkheit nichts nachgeben und den Mund halten. Die
Knochen schmerzen am Anfang, aber das verliert sich mit der Zeit.--

Nach seiner Schulentlassung kam Johann zu einem Schlosser im nahen
Marktflecken zur Lehre. Jetzt waren es Hammerstiele und Eisenstangen
oder Wellblechstücke, mit denen man warf oder zuschlug. Und wehe, wenn
der Vater eine Klage hörte! Sein Ochsenziemer, der stets neben dem
Handtuch am Ofen hing, war furchtbar.

Nun, es kam schließlich die Gesellenprüfung und der Achtzehnjährige
ging auf die Wanderschaft. Als gutgelernter, sehniger Arbeiter landete
er dann nach ungefähr fünf Jahren in dieser Stadt und fand Stellung in
einer Fabrik. Es war ein Riesenwerk, man verdiente gut und hatte keinen
schweren Posten geschnappt.

An einem Abend--es war Sommer und Samstag--kam Johann in seinem Zimmer
an, wusch sich, zog seinen Sonntagsanzug an und steckte Geld zu sich.
Er bummelte erstmalig wie ein freier Mensch in aufgefrischter Stimmung
durch die Straßen, besah sich das bunte Treiben, trank in verschiedenen
Lokalen und als diese geschlossen wurden, trottete er, auf einmal
merkwürdig überwach und unruhig, die "Fleischgasse" auf und nieder.
Diese Straße hieß eigentlich "Fleuschgasse", getauft nach dem
Namen eines verdienten Ehrenbürgers der Stadt, aber seitdem die
Polizei verfügt hatte, daß sich nur hier die professionellen
Prostituierten auf und ab bewegen durften, hatten Volksmund und üble
Nachrede den harmlosen Namen "Fleusch" in den anzüglichen "Fleisch"
umgewandelt.

Johann Krill brauchte sich nicht sonderlich anzustrengen. Schon nach
kurzer Zeit redete ihn eine süßliche Stimme an und besinnungslos
folgte er. Zum erstenmal in seinem Leben fiel der junge Mann in eine
vollkommene Verwirrung. Eine ganz fremde Luftschicht umschwelte ihn.
Er wußte nicht mehr, ging oder schwebte er. Durch all seine Glieder
flog und flammte es. Er sah alles doppelt, hörte jedes Geräusch wie
aus weiter Ferne und wußte nicht, was es war. Wie ein Hitzklumpen fiel
sein Körper auf eine schwammige Teigmasse und ertrank darin. Es biß
sich jemand fest an ihm. Es lachte.

Langsam kehrte alles wieder zurück, wurde deutlicher und war ein
grünliches Zimmer, ein Gesicht, das breit auseinandergeflossen vor ihm
lag.

Schließlich, als er die Besinnung wieder hatte, verzog auch er das
Gesicht zu einem Lachen, wollte reden, begann zu schlottern, schmiß
seinen Kopf in ihre Brust und verschluckte das Weinen.

Erquickt darüber preßte ihn das Mädchen wild an ihre Brüste, nahm
seinen zerwühlten Kopf und hob ihn auf, zog ihn kosend immer wieder an
ihren dicklippigen Mund und küßte ihn unausgesetzt, daß er zuletzt
gänzlich machtlos mit sich geschehen ließ und auf einmal weinerlich
und wimmernd anfing, sein Leben zu erzählen. Stockend kamen ihm die
Worte, so, als besinne er sich immer erst, bevor er sie über die
Lippen lasse. Und beruhigt, fast ein wenig staunend saß das halbnackte
Mädchen da und hörte zu. Aber auf einmal stockte es wieder--und endete
und wieder griffen seine Arme aus, er umspannte sie, riß und zerrte an
ihr, daß sie aufkreischte.

"Nimm alles! Tu alles!" murmelte er verhalten, als sie seine Geldbörseaus
der Hose zog, drängte es ihr auf, dieses Geld, und beleckte ungeschlacht
ihren ganzen Leib wie ein durstiger Hirsch.

Und nicht nur das. Plötzlich klang sein Gemurmel wieder weinerlich und
in einem fort stöhnte er: "Du! Du! Ich hab dich so gern! Du--du! Ich
möcht dich heiraten. Ich arbeit', ich mach' alles. Du hast es gut bei
mir! Du! Du!"

Anfänglich schien es, als belustige sich das Mädchen über ihn. Sie zog
ihn an den Haaren und kitzelte ihn lachend. Dann aber, als seine
Wildheit immer mehr anschwoll und seine Züge einen fast irren,
düsteren Ausdruck annahmen, ließ sie das Spielen. In ihren schlaffen
Körper stieg mit einem Male eine Wärme. Überwältigt, zuckend sank sie
zurück, ihn umfangend. Sie, über die vielleicht Hunderte
hinweggegangen waren, umschlang diesen plumpen, ungeschlachten
Menschen und küßte ihn mit dem ganzen, hingegebenen Ernst echter
Liebe....

In der Frühe nach dieser wüsten Nacht rannte Johann in seinen
Sonntagskleidern zur Fabrik, wankte wie betrunken durch das zufällig
offene Tor und erschrak derart, als ihn der Portier anrief und fragte,
was er denn an einem Feiertag hier wolle, daß er sich wie ein
plötzlich ertappter Dieb umdrehte und wortlos davonjagte. Er lief
durch die Straßen mit eingezogenem Kopf, ging wieder langsamer, setzte
sich in irgendeine versteckte Nische und hielt seinen erhitzten Kopf
fest. Immer wieder mündete er in die "Fleischgasse", wagte es aber
nicht, hinaufzugehen zu seiner auf so eigentümliche Weise gewonnenen
Geliebten. Der Abend kam. Die Nacht fiel herab und er stellte sich an
die Ecke, wo er sie getroffen hatte, wartete und wartete. Und es
geschah etwas, was niemand gedacht hätte, etwas, was ebenso
unglaubwürdig wie wunderlich klingt--: Anna kam nicht. Sie stand an
keiner Ecke, war überhaupt nicht auf der ganzen Straße zu sehen. Sie
lag droben--so wie er sie verlassen hatte--im Bett, verstört,
zerbrochen und bekam erst wieder völliges Leben, als er nach langem
Kampf und mit vielen Finten zu ihr gelangt war.

Aufgefrischt schwang sie sich aus ihrer Lagerstatt, streichelte ihn
zärtlich und begehrend und sagte zuletzt muttergütig: "Ja, dich möcht
ich heiraten."

Beide standen benommen voreinander, ein jedes zitterte und sagte
nichts mehr.--

Seit dieser Zeit haßte man Johann in der Fabrik. Er verhielt sich wie
völlig verstummt und hatte stetsein Gesicht, als wolle er die ganze
Welt umbringen. Er arbeitete für drei. Und jeden Tag verließ er fast
fluchtartig nach der Arbeit die Fabrik und kam zu Anna. Als es endlich
ruchbar wurde, daß er sich verheiraten wolle und man es ihm sagte, ihn
beglückwünschte und leichte Anzüglichkeiten machte, wurde er rot his
hinter die Ohren und schlug verwirrt die Augen nieder.

"Ja! Ja!" schrie er dann auf wie ein brüllendes, gereiztes Tier, daß
die Fragenden halb verärgert und halb verblüfft "Oho!" herausstießen
und sich alle mit ihm verfeindeten.

Alle wunderten sich, daß er gar keine Anstalten zur Hochzeit traf. Er
hielt bei keinem seiner Arbeitskollegen um die Brautzeugenschaft an.
Finster hockte er während der Vesperzeit da und starrte dumm ins
Leere. Niemand wußte, ob er um einen freien Tag zur Erledigung seiner
Verehelichung gebeten hatte.

Drei Tage vor seiner Hochzeit kam er nicht mehr und wurde entlassen,
weil er auch kein Entschuldigungsschreiben schickte.--

II.

Die ersten Wochen der Krillschen Ehe verliefen--wenn man so sagen
darf--unterirdisch glücklich. Mit Hilfe Bekannter fand Anna schon
einige Tage vor ihrer Hochzeit eine annehmbare, freundliche
Dreizimmerwohnung in einem anderen Viertel. Mit den Ersparnissen
Johanns wurden Möbel auf Teilzahlung beschafft und zum Schluß hatte
man, weiß Gott wie, noch Geld übrig. Man sah das Paar nicht mehr in
der alten Gegend. Außerdem vermied es Johann auf der Straße, Leuten,
die er zu kennen glaubte, zu begegnen. Furchtsam wich er aus, machte
große Bogen vor früheren Bekannten, ja, scheute sogar nicht,
ihrethalben große Umwege zu machen. Zu Hause erst, in der Verborgenheit
der vier Wände, kam Beruhigung über ihn. Mit zufriedenem Gefühl
durchtappte er immer wieder die Räume und bestaunte seine Habschaften
und am Ende stand er stets mit verschwommenen Augen vor seinem ständig
adrett gekleideten, beweglichen Weib.

Vorerst dachten die beiden nicht ans Verdienen. Mit tausend
Kleinigkeiten verzettelten sich die Tage. Es gab kein geregeltes
Dahinleben mehr, keine bestimmte Mittagszeit, kein Weckerläuten in der
frischen Frühe, keine Müdigkeit am Abend. Die Nacht war kurz, lästig
kurz und oft noch um zehn Uhr vormittags verdüsterten die
herabgezogenen Jalousien das dumpfige Schlafzimmer. Und man blieb
liegen und liegen.

Mit der bewußten Neugier, mit der wilden, noch einmal völlig
auflodernden, durstigen Liebe erfahrener Frauen, über die das zu frühe
Altern schon ihre ersten Schatten geworfen, liebte Anna Johann. Jede
ihrer Bewegungen, jedes Wort waren eine stumme, begehrende Aufforderung.
Ihre Nähe benahm den Atem, zerrüttete die eben gefaßten Gedankengänge.
Wie eine warme, unsagbar wohltuende Gischtwelle ergoß sich ihre
Atmosphäre unaufhörlich über Johann.

Er _war_ nicht mehr!

Zerschmolzen, zerronnen liefen die Zungen seiner Brunst ohne Unterlaß
üher das Meer ihres Körpers.

Die Zeit war weggeweht, alles schwirrte, rann, floh.--

Erst ganz langsam wieder festigte sich seine Gestalt, stückweise
beinahe. Und es schien, als seien es andere Teile, die sich nun
vereinigten. Ein immer klarer werdendes Begreifen keimte auf, wuchs
ohne Überstürzung, vermittelte Halt und Festigkeit. Alle Scheu, alle
Furcht und Unsicherheit wichen. Auf einmal war Johann Krill ein
anderer.

Jetzt erst kam ihm die Besinnung. Jetzt erst war er eigentlich
verheiratet, hatte ein Fundament, besaß Weib und Möbel und so weiter.

Er erinnerte sich genau. Es war nirgends anders. Im Dorf nicht. In der
Stadt nicht. Es war immer das gleiche. Der Bauer, bei dem er zuletzt
auf dem Dorfe war, hatte drei Töchter. Ringsum standen größere und
kleinere Häuser.

"Dahinein gehörst du, das ist was Handfestes," ließ er einmal beim
Abendessen fallen, der Bauer, und deutete dabei auf den mächtigen
Grillhof hinüber. Und die ältere Tochter sah ihn ohne Verblüffung an
und sagte: "Der Grillhans braucht bloß kommen." Zur Erntezeit ließ man
die ältere Tochter daheim und an einem Abend sagte sie: "Hat schon
geschnappt!" Etliche Wochen später gab es eine saftige Hochzeit.

"Ein' schöne Sach', Hans, ein schöner Hof. Der ist so einen Brocken
Weib wert," lachte der Bauer bei der Hochzeit und schaute seinem
Schwiegersohn in die Augen. Und: "Ja--ja, hast mir's ja auch leicht
gemacht," brummte der Grillhans bierselig.

Dann kamen die beiden anderen Töchter an die Reihe. Bei der einen
vollzog sich die Sache leicht, und bei der jüngsten, die etwas
hochnäsig war, ging es schwerer. "Herrgott, Rindvieh!--um so einen Hof
ziert man sich doch nicht so! Besinn dich nicht so lang', sag' ich!"
brüllte der Bauer sie an und als zufällig an einem der darauffolgenden
Abende der gewünschte Werber kam, sagte er zu diesem: "Bleib nur
beieinander mit der Zenz. Wir legen uns nieder."

Und Bauer und Bäuerin gingen schlafen.

"Ist's so weit?" fragte der Bauer beim Mittagessen andern Tags seine
Tochter. Und diese sagte nickend: "Im Frühjahr, meint er. Er will noch
den Stall bauen lassen."

"In Gottesnamen, die paar Monat' sind gleich vergangen. Meinetwegen!"
brummte der Bauer und die Sache nahm ihren gewöhnlichen Verlauf. Im
Frühjahr gab es wieder eine breite Hochzeit.--

Es war also nirgends recht viel anders. Johann Krill war mit dieser
Erkenntnis zufrieden. Das Neue, das Unerwartete, was ihn einmal in
Brand und Aufruhr gesetzt hatte, war verloschen. Ohne Staunen stand er
nunmehr auf dem Boden der Welt und achtete nichts mehr auf ihr.
Kurzum, er wurde--gemütlich. Kam eine angenehme Sache, war es gut, kam
sie nicht, war es auch gut.--

An einem Nachmittag, als sie beim Kaffeetrinken in der Küche saßen,
sagte Anna: "Es wird Zeit, daß wir wieder um Verdienst schauen."

Und Johann nickte stumm. Er begann wieder Stellung zu suchen.

Umsichtig und resolut wie sie war, machte sich aber auch Anna auf die
Suche und an einem Tag kam sie freudig an und sagte: "Die Rienken will
mich fürs Büfett. Ich kann gleich anfangen, sagt sie. S'ist ein gutes
Lokal.--Was meinst du?--Unser Geld ist weg und mit einer Stellung für
dich wird's noch eine Zeitlang dauern. Jetzt kannst du auch mit aller
Ruhe suchen."

Das leuchtete ein. Johann nickte wieder.

"Die Rienken? Wo ist denn das?" fragte er dann weiter.

Anna begann von einer Bar "Tip-Top" zu erzählen.

"In der Quergasse," berichtete sie geschäftiger, "die Rienken kenn'
ich schon lang. Ist eine nette Person. Es verkehren massenhaft Gäste
dort, nur bessere Leute. Nicht so allerhand, von Hinz bis Kunz. Lauter
Stammgäste... Na, was sag' ich--Fabrikbesitzer, Beamte und so Leute.
Wer weiß, man kann ein gutes Geld machen, braucht sich nicht
abzuschinden und kann schließlich auch für dich was ausfindig
machen,--wie meinst du?"

Johann Krill glotzte stumpf in ihre Augen.

"Na, so hör doch, du--Patsch, hör doch!--Und die Rienken ist eine gute
Person, steht zu einem," redete Anna weiter und rüttelte ihren Mann
schmeichelhaft, begann wieder ihr siegendes Lachen und küßte ihn.

"Das ist--also wieder--das Alte," sagte Johann endlich. Nachdenklich,
schwerfällig.

"A--aber geh doch, Tolpatsch! Keine Rede davon! Wer sagt denn _davon_
was! Ich bin doch nur hinterm Büfett--nu ja, nu ja, wenn schon einer
mal zu tappen anfängt und mir ein Gläschen bezahlt, Herrgott--das ist
doch kein Weltuntergang," beruhigte ihn Anna und fuhr fort: "Sieh
mal--Ware sind wir nun ein für allemal, ob so oder so--ob du in die
Fabrik gehst oder ob ich--was anderes mache. Es kommt immer nur darauf
an, daß wir uns die Sache möglichst leicht machen, daß wir noch was
wegschnappen für unseren Komfort!"

Johann Krill hatte jetzt ein wenig klarere Augen. Es war etwas wie ein
aufgegangenes Licht auf seinem Gesicht. Er nickte.

"Stimmt schon," sagte er.

"Also sag' ich der Rienken, daß ich komme?" fragte Anna.

"Ich muß dann auch was suchen," gab Johann statt jeder Antwort zurück.

"Ach, du bist ja verdreht!--Ja freilich, freilich,--sofort denkt er,
er muß nun wieder rackern von früh bis spät und für die Familie
sorgen! Ach du, du!" lachte Anna und knüllte seinen Kopf in ihre Brust.

Jeden Nachmittag um vier Uhr ging Anna nunmehr zur Bar "Tip-Top" der
Sylvia Rienke. Spät in der Nacht kam sie stets nach Hause, roch nach
Zigaretten und Alkohol. Manchmal war sie auch leicht betrunken,
brachte allerhand zu essen und zu trinken mit, und dann saßen die
beiden Eheleute nicht selten his zum Morgengrauen in der besten Laune
beisammen und ließen sich's gut gehen.--

In der letzten Zeit war Johann Krill etwas einsilbiger. Er saß meistens
in Hemdsärmeln im Schlafzimmer und schien schwerfällig immer über das
gleiche nachzudenken.--

Ja, alles war ausgelöscht. Langweilig und trist vertropften die
Stunden. Es war ungemütlich. Wenn man den ganzen Tag in der Fabrik
arbeitete, verging wenigstens die Zeit schneller.

Aber Anna zerstreute ihn immer wieder.

Wenn sie nachmittags weggegangen war, verließ auch er die Wohnung und
lungerte entschlußlos in der Stadt herum oder setzte sich in
irgendeine Kneipe. Und jetzt, da er sich alleingelassen sah,
unterhielt er sich auch wieder mit seinesgleichen.

"Maschinenschlosser?" fragte ihn eines Tages ein älterer Arbeiter am
Kneipentisch.

"Ja," antwortete Krill. "Eventuell auch zum Maschinisten zu
gebrauchen?"

"Bei Schall und Weber war ich Maschinist."

"Mensch, bei uns sucht man solche. Geh hin. Du kannst sofort
anfangen," erzählte der Arbeiter und überprüfte Krill.

Der nickte.

Etliche Tage nachher schlief Johann schon, als Anna heimkam. Sein
Gesicht war rußig. Er schwitzte. Anna wollte ihn aufwecken, aber er
drehte sich schläfrig um und schnarchte weiter. Verärgert legte sie
sich ins Bett.

In der Frühe, als plötzlich der Wecker schrillte, schrak sie empor und
sah erstaunt auf ihren Mann, der sich eben wusch.

"Arbeitest du denn wieder?" fragte sie.

"Ja."

"Dumm!--Ich hätte jetzt etwas für dich.--Ein schöner Posten," sagte
sie und richtete sich vollends auf im Bett.

Einige Augenblicke stummten sie einander an.

"Der Fabrikmensch, der immer Schwedenpunsch schmeißt, hat mir's
versprochen ... Laß doch das andere fahren, da verkommst du ja bloß,"
begann Anna wieder und wollte eben aus dem Bett springen.

"Jetzt ist's schon wie's ist!" knurrte er und ging.


III.

Es gab Ärgerlichkeiten bei Krills. Dadurch, daß nun auch Johann seiner
Arbeit nachging, vernachlässigte der Haushalt. Anna, die oft erst
gegen zwei oder drei Uhr nach Hause kam, schlief bis tief in den
Mittag hinein. Schließlich meldeten sich die Wanzen. Man putzte,
schrubbte, streute übelriechende Pulver aus. Aber es half nichts. Es
war unerträglich zuletzt.

"Das ist eine verschobene Sache, wenn du ins Geschäft gehst und hier
muß alles verkommen," sagte Johann zu Anna.

"Für wen tu' ich's denn?--" erwiderte sie, "man braucht soviel und die
Löhne sind zum Verhungern."

Sie kam schließlich auf alles zu sprechen. Daß man sich doch nicht
umsonst von unten herausgewunden habe, daß man doch nicht zu den
Nächstbesten gehöre und man müsse jetzt eine neue Wohnung haben. Was
der Umzug schon koste! Alles klang wie ein zaghafter Vorwurf.
"Warten hättest du sollen. Der Herr mit dem Schwedenpunsch ist so
nett. Du könntest da gut unterkommen."

Eine Zeitlang ging es auf solche Weise hin und her. Johann war die
ganze Rederei schon widerwärtig.

"Was du doch alles erzählst! Sind wir denn weiß der Teufel was?!"
sagte er endlich fester: "Mein Vater hat sein Leben lang gearbeitet.
Meine Mutter stand noch mit siebzig Jahren früh um vier Uhr auf--und
wir, wir bilden uns auf einmal ein, etwas Besonderes zu sein!" Während
des Redens schon bekam sein Gesicht langsam eine bestimmtere Haltung.

Schließlich, als aller Spruch und Widerspruch allmählich erlahmte,
einigte man sich aber doch, und Johann willigte beiläufig ein, sich in
der Fabrik des Herrn, der bei der Rienken jeden Abend Schwedenpunsch
bezahle, vorzustellen.

Mit jedem Tag wurde er nun auch mißvergnügter. Es gefiel ihm nicht
mehr in seiner Fabrik. Er wurde mürrisch gegen jedermann und kam
zuletzt plötzlich nicht mehr. Nach einigen Tagen stellte er sich in
dem anderen Betrieb vor. Er wurde merkwürdig freundlich empfangen und
ging besinnungslos darauf ein, Nachtschicht zu machen.

Anna behandelte ihn zärtlicher als je, wenn er frühmorgens ankam.
Nicht lange darauf fand sie auch eine Wohnung im dritten Stock des
Rienkeschen Hauses und alles machte einen glücklichen Anlauf. Sie
brachte jetzt immer mehr mit. Pasteten, kalte Hühnerschenkel, Blumen,
Zigaretten, halbe Flaschen Wein, ja zuletzt sogar Stoffe, Halsketten,
einen Ring.

Sie war in der fröhlichsten Laune jedesmal und erzählte von diesem und
jenem Herrn, von den guten Gästen bei Rienkes und konnte sich nicht
genug tun, den Chef Johanns zu loben.

"Und was ich dir sage--er ist ein Mensch, der das Leben kennt. Er ist
für die Arbeiter. Er läßt leben neben sich," plauderte sie.

Und Johann lächelte hölzern und sah auf ihre Brüste, die schwammig und
verbraucht nach unten sich sackten.

"Ist für die Arbeiter--?" sagte er und sah sie dumm an.

"Ist ein anständiger Mensch. Keiner von den Ausnützern, gar nicht so
eingebildet und hochnäsig--und fidel, sag ich dir, fidel,--na ich
danke, wenn der anfängt. Man kann sich schief lachen," erwiderte Anna
und lachte auf, als erinnere sie sich an etwas sehr Drolliges.

"Und--der gibt dir--so--solche Sachen?"

Annas Mund zuckte ein wenig. Sie schlug schnell die Augen nieder und
fand das Wort nicht gleich.

"Hmhm," brachte sie dann heraus und schluckte etwas hinunter, setzte
rasch hinzu: "Und die Rienken ist so nett zu mir."

"So," brummte Johann nur noch, "nu ja, es geht immer rundum."

Dann legte er sich schlafen.

Am Abend schlüpfte er in seine Sonntagskleider und ging nicht in die
Fabrik. Er durchwanderte etliche Male die Quergasse und trat dann in
die "Tip-Top"-Bar.

Es ging bereits fidel zu. Einige Herren in modischem Anzug saßen vorne
am Büfett auf den hohen Stühlen und saugten an den Strohhalmen, die in
schlanken gefüllten Gläsern mit glitzerndem Eis staken. In der einen
Ecke spielte ein Befrackter Klavier und ein hagerer Geiger begleitete
ihn. In den Nischen, die mit künstlichem Efeu zu Laubengängen
hergerichtet waren, tuschelte es und hin und wieder zirpte ein
schrilles Auflachen aus ihrem Dunkel. Eben wollte eine hochbusige
duftende Bedienerin mit zuvorkommender Freundlichkeit auf Johann
zueilen. Da auf einmal schrie es aus einer Nische: "Um Gotteswillen,
Hans!" Und ein hurtiges Getrampel und Knarren wurde hörbar.

Johann wandte schnell den Kopf dahin und sah hinter einer dichten
Weinflaschenparade das pralle, runde, kleinstirnige Gesicht seines
Chefs, die Rienken und das totenblasse, entsetzte Gesicht seiner Frau.
Die Köpfe der drei hingen auseinander wie schwere Dolden. Geradewegs
ging Johann auf sie los und ließ sich in einen der gepolsterten Stühle
an ihrem Tisch fallen.

Eine peinliche Stille trat ein. Jeder hielt jetzt fassungslos den Atem
an. Nur Johann schien sicher zu sein.

"Ich bin nicht zur Schicht gegangen, Herr Hochvogel--ich hab' einen
Höllendurst, ich könnt' ein Meer aussaufen," sagte er ohne sichtliche
Erregung und lächelte schnell. Das löste eine Entspannung aus. Man
atmete wieder und nahm langsam die gewöhnliche Haltung an. Der
Fabrikherr schnitt ein malitiöses Gesicht. Er suchte sich zu fassen
und griff zum Weinglas.

"Heiß ist's hier," sagte Johann wieder.

"Nicht zur Schicht? Aber Johann!?" brachte nunmehr Anna heraus. Die
Rienken erhob sich und verließ den Tisch.

"Das macht doch nichts, oder? Herr Hochvogel, macht das was aus?"
fragte Johann den Fabrikherrn.

"Na--wissen Sie, meinetwegen,--wir wollen einige gute Schoppen
heben--ich kann's verstehen,--ich drück' gern ein Auge zu--bei Ihnen,
Herr Krill.--Sie sind mir gut--sie arbeiten zuverlässig, da--da--da
übersieht man auch mal einen Seitensprung, Prost!" sprudelte der
Fabrikherr verlegen. Die Worte flossen schnell, fast ängstlich aus
ihm, so, als wären sie wunderliche Ziegelsteine, mit denen man im Nu
eine schützende Mauer um sich schließen könnte.

"Zu gütig," lispelte Anna bereits.

Und Herr Hochvogel goß das Glas der Rienken voll und schob es behend
dem Arbeiter hin: "Da, trinken Sie!"

Die ärgste Gefahr schien behoben zu sein. Man konnte es an den
allmählich sich wieder aufheiternden Gesichtern sehen. Auch die Wirtin
kam wieder an den Tisch und der Fabrikant bestellte in einem fort.

Johann beachtete das Getue Hochvogels mit seiner Frau auch nicht
weiter. Er trank in vollen Zügen und wurde immer lustiger, lachte und
machte hin und wieder einen dreisten Witz. Dadurch wurde auch Anna
kühner. Sie wich nicht von der Seite des Fabrikherrn und streichelte
ihn ein paarmal kosend, warf belustigte Blicke zwischen den beiden
Männern hin und her.

"Hab ich nicht gesagt, Hans, daß er ein netter Mensch ist?" sagte sie
übermütig und lachte piepsend.

"Ein netter Me--ensch! Ein sehr netter Mensch! Ein Goldmensch!"
brümmelte Johann schon etwas betrunken und summte weiter: "Verbringt
das Geld so gemütlich, so--so--so--" Er wankte bereits him und her und
rülpste ungeniert in den Tisch. Gläsern standen seine Augen. Die
anderen kicherten.

"Hat ihn schon mächtig," hörte er Hochvogels Stimme.

"Na, na! Herr Krill, na--!" rief die Rienken.

Johann hob den schweren Kopf und glotzte auf das verschwommene Gemeng
der drei, die im fahlen Lichtschimmer hinter den Weinflaschen sich hin
und her drückten.

"Ein ne--etter Mensch,--eine richtige Qualle--e--iin dummes Vieh!--Ein
geiler Orang--g--kutan, hahahaha--hat den Schwanz eingezogen, weil der
Wärter gekommen ist, haha--a--a!--" Johann sank haltlos zurück.

"Das ist zu stark!" zischte Hochvogel. Der Tisch knarrte. Die
Weinflaschen klirrten gegeneinander. Die zwei Frauen lispelten
besänftigend. Schnell, überschnell mengten sich ihre flehenden Worte
ineinander. Ein Gezerre um den Aufgestandenen begann.

Mit herabhängenden Armen, halb eingeschlafen, zerfallen hing Johann
auf dem Stuhl. "Er ist doch betrunken!" "Bitte, bitte,--er ist's doch
nicht gewohnt!" "Er meint's doch nicht übel, Herr Hochvogel!"
"Bitte!--Hier, trinken Sie. Er schläft ja schon! Seh'n Sie, seh'n
Sie!--Es passiert nie wieder. Ich sag's ihm morgen,--mein Wort, mein
Ehrenwort!" alles zerfloß ineinander, bittend, winselnd, aufgeregt,
ängstlich.

Wie ein zischendes Gezirpe umsummte dieses Geplätscher Johanns Kopf.
Als gieße irgend jemand kaltes Wasser üher ihn.

"Haha! Hat's viellleicht gestoh--lllen und--und wirft's weg,--dadas
Gellldt,--wei--weils brennt in der Tasche, haha,--das dumme Vieh,
haha--das Arschloch!" grunzte der Betrunkene lallend und lachte
ruckweise, immerfort, glucksend.

Da wurde der Tisch weggestoßen und stapfend hasteten Schritte vorbei.
Wieder das Gezwitscher. Noch geschäftiger. Dann fiel eine Tür krachend
zu.

"Hans!" schrie Anna wütend und riß ihren Mann an der Schulter.

"Saustall!" stieß die Rienken heraus.

Krill hob den Kopf und langte lahm nach Anna: "Haha--ha--es ist so
wunderschön auf der We--elt, haha--ha!"

Sein ausgreifender Arm fiel wieder herab. Er sank in die alte Haltung
zurück. Dünner Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Er schnaubte
geräuschvoll wie ein Pferd, das von der Kolik geplagt wird.

Unter wüstem Gezeter und Gejammer verließ Anna mit ihm die Bar. Sie
mußte ihn buchstäblich die Stiege hinaufschleppen.


IV.

Dieser unerquickliche Vorfall hatte schlimme Folgen. Am andern Tag,
sehr früh, schellte es. Krill schlief wie ein Sack. Anna schreckte auf
und lief halb angekleidet an die Tür. Der Ausgeher der Hochvogelschen
Fabrik brachte die Papiere und den Lohn für Johann. In einem sehr
kurzen, ärgerlichen Brief stand, daß sich Krill nicht mehr sehen
lassen sollte und entlassen sei.

"Ja, ja--ist schon recht!" sagte Anna verwirrt und warf die Tür zu.
Ohne Johann zu wecken, kleidete sie sich an und ging in die Fabrik
hinaus, um Hochvogel zu besänftigen. Auf dem ganzen Wege überlegte sie
sich die besten Worte und übte sich in der Art, wie sie den
Verärgerten wieder dazu bewegen wollte, daß er stillschweigend über
das üble Ereignis hinwegginge.--

Aber sie wurde nicht vorgelassen. Erbittert und erniedrigt trat sie
den Heimweg an.

"Da!--Das hast du gemacht mit deinen Dummheiten!" fuhr sie den
inzwischen erwachten, auf dem Bettrand sitzenden Johann an und warf
ihm das Schreiben Hochvogels him. Der blickte stumpfsinnig zu ihr auf
und sagte kein Wort. Dies erregte sie nur noch mehr. Sie stampfte
schimpfend aus dem Schlafzimmer und rannte zur Rienken hinunter.

Die Wirtin empfing sie sehr kühl.

"Herr Hochvogel hat mich wissen lassen, daß er nicht mehr kommt. Ich
kann Sie nicht mehr brauchen.--Das ist der Dank dafür, daß ich mich
so um Sie angenommen habe," schimpfte sie mit hochgehobenem Kopf. Anna
versuchte auf alle mögliche Art, sie umzustimmen. Vergebens.

"Und überhaupt--glauben Sie, ein solcher Mann wie Hochvogel läßt sich
derartige Schmutzigkeiten ins Gesicht sagen! Passen Sie mal auf,--das
hat noch ein gerichtliches Nachspiel. Und ich, was hab' ich von meiner
Gutmütigkeit?--Vor die Gerichte werde ich gezerrt. Mein Lokal verliert
den guten Ruf--ich hab' den Schaden und sitz' in der Patsche,--werden
Sie sehen, ob's nicht so kommt?--Sagen Sie es nur ihrem 'Kerl'--am
liebsten ist's mir, ihr zieht aus. Basta!" zeterte die Bienken immer
bestimmter.

Auch Anna wurde allmählich ärgerlich und schimpfte.

"Geh'n Sie bloß aus meinem Lokal, Sie--Sie! So eine krieg' ich alle
Tage!" fauchte die Wirtin wütend, rannte zur Tür und riß sie auf:
"Geh'n Sie bloß aus meinem Lokal!" "Geh'n Sie!" schrie sie, daß ihr
Kopf blau anlief: "Geh'n Sie! Sie--Sie Ludermensch!"

Auch in Anna platzte die angesammelte Wut nun vollends.

"Was sagen Sie da, was?! Sie Kupplerin, Sie dreckige!" schrie sie
schriller noch. "Solang man sich hergibt, ist man gut, dann kann man
gehen, Sie Dreckfetzen!"

"Geh'n Sie! Geh'n Sie!" pfiff die Wirtin erstickt: "Hinaus da,
hinaus!"

Keifend verließ Anna das Lokal. Zitternd vor Erregung kam sie in ihrer
Wohnung an. "Es ist Schluß mit allem! Ich mag nicht mehr!" stöhnte sie
erschöpft und sank in einen Küchenstuhl. Unter stoßweisem Weinen und
Vorwürfen erzählte sie Johann ihr Mißgeschick. Der hatte den Kopf
unter dem Hahn der Wasserleitung und ließ immerfort den kalten Strahl
üher ihn herabrinnen. Er drehte sich nicht um. Nicht im mindesten ließ
er sich stören. Annas Geduld riß völlig. Sie begann wüst zu schimpfen.

"Und du!--Du lungerst da heroben herum und läßt mich die Füße
ausrennen! Ich kann mich mit den Leuten herumschlagen und die Suppe
ausfressen, die du eingebrockt hast!" bellte sie ihn an. "Du! Du
Lump!"

Er drehte sich endlich um. Kein Wort kam aus ihm.

"So rede doch, Stock!" schrie sie, "was willst du denn jetzt machen?
Ich kann nichts mehr tun! Ich bin kaputt!" Er schwieg immer noch. Da
stand er, tatsächlich wie ein Stock. Sie zerbrach an seiner
Gleichgültigkeit und fiel in ein heftiges Weinen. Es schüttelte sie
gerade so. Johann sah ohne Niedergeschlagenheit auf ihre
zusammengekauerte, zuckende Gestalt nieder.

"Was ich tun will?" sagte er endlich leichthin, als sei gar nichts
vorgefallen,--"der wird mich schon nicht gleich herauswerfen. Ich gehe
einfach heute wieder zur Schicht und fertig. Und die Rienken--die wird
schon wieder aufhören mit ihrem Geschimpfe, wenn sie müd ist." Anna
blickte auf einmal auf zu ihm. "Ist doch ein netter Kerl, dieser
Hochvogel. Mit dem läßt sich doch reden," brummte er. Der arglose
Ernst, die Selbstverständlichkeit dieser Worte bezwangen. Tatsächlich
wurde sie vollkommen ruhig und glaubte zuletzt wirklich, daß dies der
einzig glückliche Weg sei, mit einem Schlag alles Mißliche beheben
würde.

"Herrgott, ich bin ja auch so dumm! Ich laß mich von jedem ins
Bockshorn jagen," schalt sie sich selbst, wischte sich schnell die
Tränen ab und stellte Kaffeewasser auf. Ganz munter wurde sie wieder.

Als sie dann wieder am Tisch saßen, begann sie über die Rienken zu
schimpfen und über Hochvogel und erzählte im Laufe des Gesprächs alles
mögliche von den beiden.

"Es war ganz richtig, daß du ihm mal heimgeleuchtet hast," sagte sie,
"die ganze Sippschaft glaubt immer, sie könnte Schindluder mit einem
treiben!--Was hat er mir nicht alles angetragen, wenn ich mit ihm
schlafen würde! Und wie hat die Rienken gekuppelt und jetzt--jetzt
spielt sie sich auf, diese Sau, diese alte!"

Sie blickte immer wieder wie verlegen zu Johann herüber, wurde aber,
da er vollkommen ruhig war, immer weitschweifiger und erzählte mehr
und immer mehr. Sein Gleichmut quälte sie. Sie berichtete dreister,
anzüglicher.

"Er hat das Geld gerade so weggeworfen. Die Bluse hat er mir
aufgerissen, einmal. Er hat immer seine Hand unter meinem Rock gehabt,
der Drecksack! Von den Hosen hat er einmal ein halbes Dutzend
dahergebracht und wollte, daß ich's vor ihm anziehen soll--und die
Bienken half mit und verschwand immer, wenn er anfing," sagte sie und
fuhr fort: "Einmal wollt' ich ihn schon heraufnehmen in der Frühe und
abwarten, bis du von der Fabrik kämst."

Johann verzog keine Miene.

"Jaja--das Loch und das Geld," brummte er beiläufig. "Es geht immer
rundum."

Ihre Hände bewegten sich in einem fort. Nervös zerrieb sie die
Brotkrumen mit den Fingern. Sie erzählte nichts mehr. Sie schwieg. Als
er fortgegangen war, fiel ihr Kopf auf den Tisch und ein wüstes
Schluchzen brach aus ihr.--

Johann kam ohne Hindernis durch die Fabrikpforte. Im Umkleideraum
trafen ihn bereits befremdende Gesichter. Keiner sprach ihn mehr an
und als er in den Maschinenraum hinuntersteigen wollte, kam der
Schichtmeister rasch auf ihn zu und rief: "Sie sind doch entlassen,
was wollen Sie denn noch hier?" Einige Arbeiter blieben mit
verwunderten Mienen stehen. Das rüttelte ihn aus der Fassung. Er sah
beklommen auf den Schichtmeister, auf die Arbeiter und hilflos im Raum
herum.

"Sie sind nun einmal bestimmt entlassen, das weiß ich," rief der
Schichtmeister resoluter, "ich kann gar nicht verstehen, daß Sie der
Pförtner hereingelassen hat, der hat es doch gewußt! Hat er Sie denn
nicht darauf aufmerksam gemacht?"

Johann schüttelte stumm den Kopf, blieb beharrlich stehen, dumm und
kindisch. Die beiden anderen Arbeiter trotteten weiter.

Der Schichtmeister holte den Portier. Zeternd redete er auf denselben
ein, als er mit ihm ankam.

"Wie konnten Sie denn den Mann hereinlassen. Der Chef hat's doch
ausdrücklich gesagt, daß er entlassen ist," bellte er.

Der Portier sah verärgert auf Johann und sagte ebenfalls: "Jaja, ich
hab' Sie nur nicht gesehen. Sie sind entlassen. Sie haben hier nichts
mehr zu suchen."

Johann knickte zusammen.

"Ja--ja, nu ja, dann muß ich gehn," stotterte er endlich heraus, ging
in den Ankleideraum und entfernte sich. Niedergedrückt, fast beschämt
trat er durch das große Fabrikportal ins Freie. Zermürbt kam er zu
Hause an.

"Ja," sagte er tonlos zu Anna, "man hat mich rausgesetzt!"

"Da hast du es nun!" stieß diese heraus, "Trottel!" Die Vorwürfe
begannen von neuem.

"Ich muß mich eben wieder um was anderes umsehn," brummte er
ärgerlich.

"Und ich?! Wenn die Rienken uns hinaussetzt, was ist dann! Glaubst du,
ich hab' mir umsonst meine Füße ausgerannt, daß wir ein wenig
anständiger leben konnten! Du keine Arbeit, kein Geld, ich nichts zu
tun--ich danke!" belferte sie.

"Nu ja, in Gottesnamen, es wird schon wieder werden!" schloß er und
legte sich zu Bett. Machtlos stand Anna vor diesem Stumpfsinn. Vor
Verbitterung zitterte sie am ganzen Körper und faustete in einem fort
die Hände.

"Herrgott, es ist ja zum Davonlaufen!" schrie sie auf einmal:
"Meinetwegen--ich geh!" Sie schmiß heftig die Tür zu. "Dummes
Frauenzimmer!" Er stieg aus dem Bett, rief ihr nach, aber es
antwortete niemand mehr.

Wegen solcher Dummheiten war man plötzlich aus der Ordnung
gerissen.--Er schloß die Tür wieder.

Der Nachtschlaf war auch zum Teufel.--

Er kleidete sich schließlich an und ging sie suchen.

Ohne nachzudenken, wanderte er zur Fleischgasse und fand sie auch
dort. Bereits stand ein Herr in einem hellen Regenmantel vor ihr und
lispelte. Johann trat an die beiden heran und riß Anna weg: "Unsinn!
Komm!"

"Ich mag nicht!" knirschte sie eigensinnig und wollte sich losmachen.

Der Herr im Regenmantel ergriff ihre Partei und begann zu brüllen. Er
schwang schon den Stock und wollte auf Johann einbauen. Da kam ein
Schutzmann eiligen Schrittes angeflitzt, notierte den Namen des Herrn
und nahm die beiden mit auf die Wache.

Alles Gejammer Annas half nichts. Das Erklären Johanns war vergebens.
Sie mußten mit.

Häßlich, wie das Mißgeschick die Menschen gemein macht! Auf dem ganzen
Weg überschüttete Anna Johann mit den wüstesten Schimpfworten und
schließlich riß auch diesem die Geduld.

"Halt das Maul, dummes Vieh, dummes!" fluchte er, "hilft ja doch
nichts! Was läufst du denn davon, so mitten in der Nacht! Jetzt hast
du es."

"Vorwärts! Marsch-marsch!" knurrte der Schutzmann immer wieder.

V. Der Vorfall in der Fleischgasse hatte zur Folge, daß man Johann
wegen Zuhälterei in Untersuchung behielt. Ein Verfahren wurde gegen
ihn eingeleitet. Anna entließ man nach ungefähr zehn Tagen. Sie wurde
polizeiärztlich untersucht und erhielt die übliche Erlaubniskarte der
Prostituierten wieder. Als sie zu Hause ankam, war sie nicht wenig
erstaunt. Die Rienken, nun einmal rabiat geworden, hatte die
Gelegenheit benützt und pfänden lassen. Während der Haftzeit nämlich
war der Monatserste gekommen, der Dritte, der Fünfte und der Siebente.
So waren wenigstens die ziemlich eindeutigen Briefe der Bar- und
Hausbesitzerin, die im Kasten steckten, datiert. Man sah es den
schiefen, gekratzt-hingeflitzten Buchstaben der Schrift förmlich an,
daß Sylvia Rienke das Warten auf den Mietszins satt hatte, das Warten
und diese Mieter. "Diese, wo Kerle haben, die mir meine Gäste
verjagen, können bei mir ziehen," hieß es endlich im Kündigungsbrief
vom Achten. Und Recht behielt sie, die wackere Wirtin. Anna mußte
ziehen. Sie verkaufte, was übriggeblieben war, und bezog ein Zimmer in
der Nähe der Fleischgasse.

Die drohend gereckten Fäuste, die sie am Tage ihres Abzuges, plärrend
und keifend, mit weißem Schaum vor dem Munde, der Rienken
entgegenhielt, und das hämische, restlos rachsüchtige: "Das streich
ich dir noch an, Mistvettel!" waren ein Anfang für ihr weiteres
Verhalten. Jetzt gab es fast jeden Tag kleinere oder größere
Unannehmlichkeiten in der Bar "Tip-Top". Anna hetzte Polizei und von
ihr bestochene skandalsüchtige Gäste in das Lokal.

In der ganzen Fleischgasse war sie jetzt die Fleißigste. Mit einem
Eifer, ja, mit einer geradezu fanatischen Selbstvergessenheit, wie man
sie nur bei Verzweifelten oder Bohrend-Hassenden findet, verbiß sie
sich ins Verdienen.

"Die?! Hm, die schleppt auf Rekord," ließ sich nicht selten eine
andere Prostituierte vernehmen, wenn die Rede auf Anna kam. Und es
stimmte.--

Das Merkwürdigste aber war, daß sie nunmehr alle Hebel in Bewegung
setzte, um Johann frei zu bekommen. Sie warf das Geld weg an
Rechtsanwälte, verfaßte eine Eingabe um die andere, bestürmte die
Instanzen, rannte von Pontius zu Pilatus, ja, sie faßte zu guter Letzt
sogar dem romantischen Plan, ihn mit Hilfe einiger Männer zu befreien,
die ihr das Blaue vom Himmel herunterzuholen versprachen, ihr Geld und
wieder Geld abnahmen und eines Tages verschwanden.

Und Johann?

Er lag den ganzen Tag auf der Pritsche, wurde sogar dick von dem Essen,
das sie ihm schickte, und war stets ruhig und trocken, wenn sie ihn
besuchen durfte. Als sie ihm von dem Auszug aus dem Rienkeschen Hause
erzählte, hörte er stumm zu--dann, nach einer Weile, lächelte er
und sagte: "Hml Hm,--war doch schön an dem Abend mit Hochvogel,
hmhamhm!"

Er fand nichts Schlimmes daran, daß Anna manchmal klagte.

"Es ist--man müßte so was aufmachen, wie die Rienken hat," sagte er
ein andermal wie aus einem dumpfen Gedankenkreis heraus.

Und wieder einmal, als Anna jammerte, daß alles Essen so teuer wäre,
ließ er so etwas fallen wie: "Nuja, die Bauern machen sich jetzt
gesund. Hm, die Bauern und die, die was für'n Magen verkaufen--"

Man sagt, der Weise überwindet und kommt zur vollkommenen Ruhe.

Es gibt Menschen, die ohne Empfindungsvermögen geboren werden. Und es
sind welche, die, wenn die Schmerzen und Erschütterungen ihre Seele
in zu rascher Aufeinanderfolge zermürben, zuletzt in eine völlige
Stumpfheit münden. Zu diesen gehörte Johann Krill.

"Es war doch schön an dem Abend mit Hochvogel--so gemütlich!" und "So
was wie die Rienken hat, müßt' man aufmachen." Das war er!--

Mittlerweile kam der Termin zur Verhandlung gegen ihn. Anna hetzte
noch mehr herum. Sie schlief nicht mehr, sie vergaß das Essen.

Im Gerichtssaal hustete sie die ganze Zeit. Unstet liefen die Pupillen
ihrer Augen von einem Winkel zum anderen. Auch die Rienken war als
Zeuge geladen. Dummerweise war einer von den letzten Anwälten, die
Anna genommen hatte, darauf gekommen, sie zu laden. Sie trug ein
schwarzes Seidenkleid, dessen schweres Spitzengewirr vom speckigen
Nacken kraus herabrann üher den hochgeschnürten, überquellenden Busen.
Ein blutrotes Granatkollier prangte patzig auf der gelben, welken Haut
ihres Halses, dessen blaue Äderung nur schlecht vom dick aufgetragenen
Puder verwischt war. Ihre Froschhände waren beteuernd auf den Magen
gepreßt und spielten manchmal mit dem Schildpatt-Lorgnon, das an einer
breiten goldenen Kette herabhing.

"Ich bin gleich fertig mit meinen Aussagen, Herr Amtsrichter, ich hab'
ein Geschäft und viel im Kopf," begann sie, als sie aufgerufen wurde.

"Die?!--Gott sei Dank, ich hab' immer anständige Bedienerinnen gehabt,"
fuhr sie fort, üher Anna befragt, und warf einen seitlichen, herablassenden
Blick auf diese, "aber nun, man tappt auch einmal herein.--Ich hab' es mir
aber--glauben Sie es mir, Herr Amtsrichter, ich bin fünfzehn Jahre auf dem
gleichen Platz und weiß, was der Ruf für ein Geschäft ausmacht--ich hab'
es mir geschworen: Rienken, sagt' ich mir, Rienken--von der Fleischgasse
nimmst du keine mehr, nicht um die Welt!" Sie kam immer mehr in Zug.

"Vettel!" schrie Anna schrill und wurde verwarnt. Die Rienken drehte sich
schnell um und dann wieder zum Richter. "Man soll sich nicht ärgern, Herr
Amtsrichter?" Und sie schnitt eine weinerliche Miene:

"Wie hab' ich den Leuten geholfen und was hab' ich davon!--Es ist bloß
gut, daß ich meinen Kopf nie verlier', es ist ja bloß gut, daß ich
mich nie auf die gleiche Stufe stelle mit--mit--so was."

Und endlich zur Sache gerufen, erzählte sie weitschweifig, daß Johann
die Stellung bei diesem Fabrikherrn nicht umsonst angenommen habe.
"Und Nachtschicht--er wird schon gewußt haben, warum. Man kennt
solche--Nachtschichten!" Und Herr Hochvogel?... Sie geriet etwas in
Verwirrung. Nun, der habe bald klar gesehen, ein solcher Herr ließe
sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen.

"Der muß her! Der muß Zeuge machen!" schrie Anna, und ihr Rechtsanwalt
brachte es auch fertig. Nun wurde es aber noch ungünstiger. Obwohl dem
Fabrikanten die ganze Sache äußerst unangenehm war, obwohl er sich
außerordentlich zurückhielt und nichts gegen Johann eigentlich
vorbringen konnte, als eben jenen üblen Vorfall in der Rienkeschen
Bar--es machte alles einen schlechten, sehr schlechten Eindruck
--Johann Krill wurde verurteilt.

Anna bekam einen minutenlangen Schreikrampf. Sie stürzte vor und
wollte auf die Rienken los. Es mußten sie Schutzleute mit Gewalt
wegbringen.

Johann, der ohne Erregung den Auftritten zusah, nahm alles mit Ruhe
hin. Er lächelte fast verlegen, als ihn die Richter am Schluß fragten,
ob er noch etwas zu sagen wünsche.

"Dumm," brummte er und kratzte sich hinter dem rechten Ohr, "dumm,
Herr Richter, man tappt eben hinein und--und dann passiert allerhand."

Die steinernen Amtsmienen wußten einen Augenblick lang wirklich nicht,
sollten sie lachen oder einige beruhigende Worte des Mitleids aus ihren
Lippen lassen.

Damit war es zu Ende. Anna konnte Johann nun nicht mehr besuchen. Die
beiden waren auseinander.--In ihrer Wut schlug Anna einige Tage
später die zwei großen Fensterscheiben der Rienkeschen Bar ein und
konnte mit Mühe nur überwältigt werden. Das Beil wurde ihr abgenommen
und der herbeigerufene Schutzmann nahm sie mit.

Und wieder gab es einen Prozeß. Wegen Bedrohung und Sachbeschädigung
wurde Anna Krill zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.

Hier bricht der Faden ab. Es ist nichts mehr zu berichten.

Eine Million ist viel--eine Milliarde ist mehr.--Johann Krill ist
Legion.

Vielleicht arbeitet Johann Krill wieder irgendwo oder er trinkt, oder
er hat den Halt verloren und sitzt weiter in Gefängnissen.

Anna--Sie wird eines Tages krank sein, wieder gesunden, wieder krank
werden und so fort....

Das einzige, was bestehen bleibt, solange wie diese Gesellschaft,
ist--die Rienken!

Wie lange noch?!









End of Project Gutenberg's Zur Freundlichen Erinnerung, by Oscar Maria Graf

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUR FREUNDLICHEN ERINNERUNG ***

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Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation information page at www.gutenberg.org


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at 809
North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887.  Email
contact links and up to date contact information can be found at the
Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]

Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit:  www.gutenberg.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For forty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

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