Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch Fuer Freie Geister

By Nietzsche

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by Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Title: Menschliches, Allzumenschliches

Author: Friedrich Wilhelm Nietzsche

Release Date: January, 2005  [EBook #7207]
[This file was first posted on March 26, 2003]

Edition: 10

Language: German

Character set encoding: ISO Latin-1

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, MENSCHLICHES, ALLZUMENSCHLICHES ***




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Menschliches, Allzumenschliches

Ein Buch für freie Geister

Friedrich Nietzsche




Inhalt

    An Stelle einer Vorrede
    Von den ersten und letzten Dingen
    Zur Geschichte der moralischen Empfindungen
    Das religiöse Leben
    Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller
    Anzeichen höherer und niederer Cultur
    Der Mensch im Verkehr
    Weib und Kind
    Ein Blick auf den Staat
    Der Mensch mit sich allein
    Ein Nachspiel




Menschliches, Allzumenschliches.

Ein Buch für freie Geister

Erster Band




An Stelle einer Vorrede.

- eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen
sich die Menschen in diesem Leben überlassen und machte den Versuch,
die beste von ihnen auszuwählen. Aber es thut nicht noth, hier zu
erzählen, auf was für Gedanken ich dabei kam: genug, dass für meinen
Theil mir Nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem
Vorhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens
darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der
Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte,
nachzugehen. Denn die Früchte, welche ich auf diesem Wege schon
gekostet hatte, waren der Art, dass nach meinem Urtheile in diesem
Leben nichts Angenehmeres, nichts Unschuldigeres gefunden werden kann;
zudem liess mich jeder Tag, seit ich jene Art der Betrachtung zu
Hülfe nahm, etwas Neues entdecken, das immer von einigem Gewichte und
durchaus nicht allgemein bekannt war. Da wurde endlich meine Seele so
voll von Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr Nichts mehr anthun
konnten.

Aus dem Lateinischen des Cartesius.




Vorrede.

1.

Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt
worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen
Schriften gäbe, von der "Geburt der Tragödie" an bis zum letzthin
veröffentlichten "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie
enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze
für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte
Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter
Gewohnheiten. Wie? Alles nur - menschlich-allzumenschlich? Mit diesem
Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art
Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht
und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen:
wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat
meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der
Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit.
In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals jemand mit einem
gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als
gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch
zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den
Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den
Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte
Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird
auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum
zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte - in
irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder
Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was
ich brauchte, es mir künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zurecht
dichten musste (- und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu
wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am
nöthigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das
war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, -
ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und
Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit
zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen,
Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und
Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte
mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken
könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die Augen vor
Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer
Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; insgleichen dass
ich mich über Richard Wagner's unheilbare Romantik betrogen hätte, wie
als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen über die
Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft - und es
gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen?
- gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem Grunde mir
vorgerückt, was wisst ihr davon, was könntet ihr davon wissen, wie
viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut
in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, - und wie viel Falschheit
mir noch noth hut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner
Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das Leben
ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es
lebt von der Täuschung... aber nicht wahr? da beginne ich bereits
wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und
Vogelsteller - und rede unmoralisch, aussermoralisch, "jenseits von
Gut und Böse"? -


2.

- So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die
"freien Geister" erfunden, denen dieses schwermüthig-muthige Buch mit
dem Titel "Menschliches, Allzumenschliches" gewidmet ist: dergleichen
"freie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, - aber ich hatte sie
damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben
inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia,
Unthätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man
schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und
die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, - als ein
Schadenersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister
einmal geben könnte, dass unser Europa unter seinen Söhnen von Morgen
und Uebermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird,
leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als
Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte ich am wenigsten
zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und
vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich
zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf
welchen Wegen ich sie kommen sehe? -


3.

Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus "freier Geist"
einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein
entscheidendes Ereigniss in einer grossen Loslösung gehabt hat, und
dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an
seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten? welche
Stricke sind beinahe unzerreissbar? Bei Menschen einer hohen und
ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie
der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und
Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen, für
die Hand, die sie führte, für das Heiligthum, wo sie anbeten lernten,
- ihre höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden,
am dauerndsten verpflichten. Die grosse Loslösung kommt für
solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele
wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, - sie
selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang
waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch
erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige
gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert
in allen ihren Sinnen. "Lieber sterben als hier leben" - so klingt die
gebieterische Stimme und Verführung: und dies "hier", dies "zu Hause"
ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken
und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen
Das, was ihr "Pflicht" hiess, ein aufrührerisches, willkürliches,
vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde,
Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die
Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick rückwärts,
dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth
der Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich,
dass sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern,
in dem sich ein Sieg verräth - ein Sieg? über was? über wen? ein
räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg
immerhin: - dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur
Geschichte der grossen Loslösung. Sie ist eine Krankheit zugleich,
die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und
Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum
freien Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden
Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste
sich nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht! Er
schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er
erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen; er
zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er
verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie
diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt. Es ist Willkür und Lust an
der Willkür darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet,
was bisher in schlechtem Rufe stand, - wenn er neugierig und
versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines
Treibens und Schweifens - denn er ist unruhig und ziellos unterwegs
wie in einer Wüste - steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren
Neugierde. "Kann man nicht alle Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht
Böse? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels? Ist Alles
vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind
wir nicht eben dadurch auch Betrüger? müssen wir nicht auch Betrüger
sein?" - solche Gedanken führen und verführen ihn, immer weiter fort,
immer weiter ab. Die Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer
drohender, würgender, herzzuschnürender, jene furchtbare Göttin und
mater saeva cupidinum - aber wer weiss es heute, was Einsamkeit
ist?...


4.

Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher
Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren
überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit
selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der
Erkenntniss, bis zu jener reifen Freiheit des Geistes, welche
ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege
zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt -, bis zu jener
inneren Umfänglichkeit und Verwöhnung des Ueberreichthums, welche die
Gefahr ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen
Wege verlöre und verliebte und in irgend einem Winkel berauscht
sitzen bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, ausheilenden,
nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das
Zeichen der grossen Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien
Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, auf den Versuch hin leben und
sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht
des freien Geistes! Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung
liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen,
beherrscht und am Zügel geführt durch einen zähen Willen zur
Gesundheit, der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu
verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein
Mensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist: ein
blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühl von
Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes, in dem
sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein "freier Geist"
- dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe. Man
lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne ja, ohne
Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend,
ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor fliegend; man ist
verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei unter sich
gesehn hat, - und man ward zum Gegenstück Derer, welche sich um Dinge
bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen
nunmehr lauter Dinge an - und wie viele Dinge! - welche ihn nicht mehr
bekümmern...


5.

Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nähert
sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast
misstrauisch. Es wird wieder wärmer um ihn, gelber gleichsam; Gefühl
und Mitgefühl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn weg.
Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen für das Nahe
aufgiengen. Er ist verwundert und sitzt stille: wo war er doch?
Diese nahen und nächsten Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt!
welchen Flaum und Zauber haben sie inzwischen bekommen! Er blickt
dankbar zurück, - dankbar seiner Wanderschaft, seiner Härte und
Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und Vogelflügen in kalte Höhen.
Wie gut, dass er nicht wie ein zärtlicher dumpfer Eckensteher immer
"zu Hause", immer "bei sich" geblieben ist! er war ausser sich: es
ist kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst -, und welche
Ueberraschungen findet er dabei! Welche unerprobten Schauder! Welches
Glück noch in der Müdigkeit, der alten Krankheit, den Rückfällen des
Genesenden! Wie es ihm gefällt, leidend stillzusitzen, Geduld zu
spinnen, in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich ihm auf
das Glück im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer! Es sind die
dankbarsten Thiere von der Welt, auch die bescheidensten, diese dem
Leben wieder halb zugewendeten Genesenden und Eidechsen: - es giebt
solche unter ihnen, die keinen Tag von sich lassen, ohne ihm ein
kleines Loblied an den nachschleppenden Saum zu hängen. Und ernstlich
geredet: es ist eine gründliche Kur gegen allen Pessimismus (den
Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt -) auf die
Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank
zu bleiben und dann, noch länger, noch länger, gesund, ich meine
"gesünder" zu werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die
Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen.


6.

Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den plötzlichen Lichtern
einer noch ungestümen, noch wechselnden Gesundheit, dass dem freien,
immer freieren Geiste sich das Räthsel jener grossen Loslösung zu
entschleiern beginnt, welches bis dahin dunkel, fragwürdig, fast
unberührbar in seinem Gedächtniss gewartet hatte. Wenn er sich lange
kaum zu fragen wagte "warum so abseits? so allein? Allem entsagend,
was ich verehrte? der Verehrung selbst entsagend? warum diese Härte,
dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden?" - jetzt wagt
und fragt er es laut und hört auch schon etwas wie Antwort darauf. "Du
solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden.
Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge
neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für
und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder
einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das
Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen - die
Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und
was Alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in
Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle
Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du
solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider
begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben,
das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine
Ungerechtigkeit. Du solltest vor Allem mit Augen sehn, wo die
Ungerechtigkeit immer am grössten ist: dort nämlich, wo das Leben am
kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und
dennoch nicht umhin kann, sich als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen
und seiner Erhaltung zu Liebe das Höhere, Grössere, Reichere heimlich
und kleinlich und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen, -
du solltest das Problem der Rangordnung mit Augen sehn und wie Macht
und Recht und Umfänglichkeit der Perspektive mit einander in die Höhe
wachsen. Du solltest" - genug, der freie Geist weiss nunmehr, welchem
"du sollst" er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er jetzt
erst - darf...


7.

Dergestalt giebt der freie Geist sich in Bezug auf jenes Räthsel
von Loslösung Antwort und endet damit, indem er seinen Fall
verallgemeinert, sich über sein Erlebniss also zu entscheiden. "Wie es
mir ergieng, sagt er sich, muss es jedem ergehn, in dem eine Aufgabe
leibhaft werden und `zur Welt kommen` will." Die heimliche Gewalt
und Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen einzelnen
Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, - lange,
bevor er diese Aufgabe selbst in's Auge gefasst hat und ihren Namen
weiss. Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie noch nicht
kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt. Gesetzt,
dass es das Problem der Rangordnung ist, von dem wir sagen dürfen,
dass es unser Problem ist, wir freien Geister: jetzt, in dem Mittage
unsres Lebens, verstehn wir es erst, was für Vorbereitungen, Umwege,
Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem nöthig hatte, ehe
es vor uns aufsteigen durfte, und wie wir erst die vielfachsten und
widersprechendsten Noth- und Glücksstände an Seele und Leib erfahren
mussten, als Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die
"Mensch" heisst, als Ausmesser jedes "Höher" und "Uebereinander", das
gleichfalls "Mensch" heisst - überallhin dringend, fast ohne Furcht,
nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend, alles vom
Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend - bis wir endlich sagen
durften, wir freien Geister: "Hier - ein neues Problem! Hier eine
lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen
sind, - die wir selbst irgend wann gewesen sind! Hier ein Höher, ein
Tiefer, ein Unter-uns, eine ungeheure lange Ordnung, eine Rangordnung,
die wir sehen hier - unser Problem!" -


8.

- Es wird keinem Psychologen und Zeichendeuter einen Augenblick
verborgen bleiben, an welche Stelle der eben geschilderten Entwicklung
das vorliegende Buch gehört (oder gestellt ist -). Aber wo giebt es
heute Psychologen? In Frankreich, gewiss; vielleicht in Russland;
sicherlich nicht in Deutschland. Es fehlt nicht an Gründen, weshalb
sich dies die heutigen Deutschen sogar noch zur Ehre anrechnen
könnten: schlimm genug für Einen, der in diesem Stücke undeutsch
geartet und gerathen ist! Dies deutsche Buch, welches in einem weiten
Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewusst hat - es
ist ungefähr zehn Jahr unterwegs - und sich auf irgend welche Musik
und Flötenkunst verstehn muss, durch die auch spröde Ausländer-Ohren
zum Horchen verführt werden, - gerade in Deutschland ist dies Buch am
nachlässigsten gelesen, am schlechtesten gehört worden: woran liegt
das? - "Es verlangt zu viel, hat man mir geantwortet, es wendet sich
an Menschen ohne die Drangsal grober Pflichten, es will feine und
verwöhnte Sinne, es hat Ueberfluss nöthig, Ueberfluss an Zeit, an
Helligkeit des Himmels und Herzens, an otium im verwegensten Sinne: -
lauter gute Dinge, die wir Deutschen von Heute nicht haben und also
auch nicht geben können." - Nach einer so artigen Antwort räth mir
meine Philosophie, zu schweigen und nicht mehr weiter zu fragen; zumal
man in gewissen Fällen, wie das Sprüchwort andeutet, nur dadurch
Philosoph bleibt, dass man - schweigt.

Nizza, im Frühling 1886.




Erstes Hauptstück.

Von den ersten und letzten Dingen.

1.

Chemie der Begriffe und Empfindungen. - Die Philosophischen Probleme
nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage
an, wie vor zweitausend Jahren.- wie kann Etwas aus seinem Gegensatz
entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes
aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus
begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus
Irrthümern? Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese
Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus
dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen
Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des "Dinges
an sich" heraus. Die historische Philosophie dagegen, welche gar
nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist, die
allerjüngste aller philosophischen Methoden, ermittelte in einzelnen
Fällen (und vermuthlich wird diess in allen ihr Ergebniss sein), dass
es keine Gegensätze sind, ausser in der gewohnten Uebertreibung der
populären oder metaphysischen Auffassung und dass ein Irrthum der
Vernunft dieser Gegenüberstellung zu Grunde liegt: nach ihrer
Erklärung giebt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln,
noch ein völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur
Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint
und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist.
- Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der
einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der
moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen,
ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der
Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben: wie,
wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschlösse, dass auch auf diesem
Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen
gewonnen sind? Werden Viele Lust haben, solchen Untersuchungen zu
folgen? Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge
sich aus dem Sinn zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um
den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren? -


2.

Erbfehler der Philosophen. - Alle Philosophen haben den gemeinsamen
Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch
eine Analyse desselben an's Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich
schwebt ihnen "der Mensch" als eine aeterna veritas, als ein
Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge
vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber
im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss über den Menschen eines sehr
beschränkten Zeitraumes. Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler
aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste
Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter
Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als
die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen,
dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen
geworden ist; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus
diesem Erkenntnissvermögen sich herausspinnen lassen. - Nun ist
alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich
gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungefähr
kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert haben.
Da sieht aber der Philosoph "Instincte" am gegenwärtigen Menschen und
nimmt an, dass diese zu den unveränderlichen Thatsachen des Menschen
gehören und insofern einen Schüssel zum Verständniss der Welt
überhaupt abgeben können; die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass
man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem ewigen
redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine
natürliche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es giebt keine
ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. -
Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit
ihm die Tugend der Bescheidung.


3.

Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten. - Es ist das Merkmal einer
höhern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit
strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die
beglückenden und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen und
künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen. Zunächst hat man
gegen erstere den Hohn auf den Lippen, als könne hier gar nichts
Gleichberechtigtes gegen einander stehen: so bescheiden, schlicht,
nüchtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese, so schön, prunkend,
berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber das mühsam
Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb für jede weitere Erkenntniss
noch Folgenreiche ist doch das Höhere, zu ihm sich zu halten ist
männlich und zeigt Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit an.
Allmählich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte
Menschheit zu dieser Männlichkeit emporgehoben werden, wenn sie
sich endlich an die höhere Schätzung der haltbaren, dauerhaften
Erkenntnisse gewöhnt und allen Glauben an Inspiration und
wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat. - Die Verehrer
der Formen freilich, mit ihrem Maassstabe des Schönen und Erhabenen,
werden zunächst gute Gründe zu spotten haben, sobald die Schätzung der
unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche Geist anfängt zur
Herrschaft zu kommen: aber nur weil entweder ihr Auge sich noch nicht
dem Reiz der schlichtesten Form erschlossen hat oder weil die in jenem
Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht völlig und innerlich von
ihm durchdrungen sind, so dass sie immer noch gedankenlos alte Formen
nachmachen (und diess schlecht genug, wie es jemand thut, dem nicht
mehr viel an einer Sache liegt). Ehemals war der Geist nicht durch
strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen
von Symbolen und Formen. Das hat sich verändert; jener Ernst des
Symbolischen ist zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden; wie
unsere Künste selber immer intellectualer, unsere Sinne geistiger
werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilt,
was sinnlich wohltönend ist, als vor hundert Jahren: so werden auch
die Formen unseres Lebens immer geistiger, für das Auge älterer Zeiten
vielleicht hässlicher, aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das
Reich der inneren, geistigen Schönheit sich fortwährend vertieft und
erweitert und in wie fern uns Allen der geistreiche Blick jetzt mehr
gelten darf, als der schönste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk.


4.

Astrologie und Verwandtes. - Es ist wahrscheinlich, dass die Objecte
des religiösen, moralischen und ästhetischen Empfindens ebenfalls nur
zur Oberfläche der Dinge gehören, während der Mensch gerne glaubt,
dass er hier wenigstens an das Herz der Welt rühre; er täuscht sich,
weil jene Dinge ihn so tief beseligen und so tief unglücklich machen,
und zeigt also hier denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese
meint, der Sternenhimmel drehte sich um das Loos des Menschen; der
moralische Mensch aber setzt voraus, Das, was ihm wesentlich am Herzen
liege, müsse auch Wesen und Herz der Dinge sein.


5.

Missverständniss des Traumes. - Im Traume glaubte der Mensch in den
Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine zweite reale Welt kennen
zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum
hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch
die Zerlegung in Seele und Leib hängt mit der ältesten Auffassung des
Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes, also
die Herkunft alles Geisterglaubens, und wahrscheinlich auch des
Götterglaubens. "Der Todte lebt fort; denn er erscheint dem Lebenden
im Traume": so schloss man ehedem, durch viele Jahrtausende hindurch.


6.

Der Geist der Wissenschaft im Theil, nicht im Ganzen mächtig. - Die
abgetrennten kleinsten Gebiete der Wissenschaft werden rein sachlich
behandelt: die allgemeinen grossen Wissenschaften dagegen legen, als
Ganzes betrachtet, die Frage - eine recht unsachliche Frage freilich
- auf die Lippen: wozu? zu welchem Nutzen? Wegen dieser Rücksicht auf
den Nutzen werden sie, als Ganzes, weniger unpersönlich, als in ihren
Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei der Spitze
der gesammten Wissenspyramide, wird unwillkürlich die Frage nach dem
Nutzen der Erkenntniss überhaupt aufgeworfen, und jede Philosophie hat
unbewusst die Absicht, ihr den höchsten Nutzen zuzuschreiben. Desshalb
giebt es in allen Philosophien so viel hochfliegende Metaphysik und
eine solche Scheu vor den unbedeutend erscheinenden Lösungen der
Physik; denn die Bedeutsamkeit der Erkenntniss für das Leben soll
so gross als möglich erscheinen. Hier ist der Antagonismus zwischen
den wissenschaftlichen Einzelgebieten und der Philosophie. Letztere
will, was die Kunst will, dem Leben und Handeln möglichste Tiefe und
Bedeutung geben; in ersteren sucht man Erkenntniss und Nichts weiter,
- was dabei auch herauskomme. Es hat bis jetzt noch keinen Philosophen
gegeben, unter dessen Händen die Philosophie nicht zu einer Apologie
der Erkenntniss geworden wäre; in diesem Puncte wenigstens ist ein
jeder Optimist, dass dieser die höchste Nützlichkeit zugesprochen
werden müsse. Sie alle werden von der Logik tyrannisirt: und diese ist
ihrem Wesen nach Optimismus.


7.

Der Störenfried in der Wissenschaft. Die Philosophie schied sich von
der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: welches ist diejenige
Erkenntniss der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am
glücklichsten lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen:
durch den Gesichtspunct des Glücks unterband man die Blutadern der
wissenschaftlichen Forschung - und thut es heute noch.


8.

Pneumatische Erklärung der Natur. - Die Metaphysik erklärt die Schrift
der Natur gleichsam pneumatisch, wie die Kirche und ihre Gelehrten es
ehemals mit der Bibel thaten. Es gehört sehr viel Verstand dazu, um
auf die Natur die selbe Art der strengeren Erklärungskunst anzuwenden,
wie jetzt die -Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben: mit
der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber
nicht einen doppelten Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen. Wie aber
selbst in Betreff der Bücher die schlechte Erklärungskunst keineswegs
völlig überwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft
noch fortwährend auf Ueberreste allegorischer und mystischer
Ausdeutung stösst: so steht es auch in Betreff der Natur - ja noch
viel schlimmer.


9.

Metaphysische Welt. - Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt
geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen
alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht
abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt
noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Diess ist ein
rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen
Sorgen zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen
werthvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat,
ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten
Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben
lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen
Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt.
Dann bleibt immer noch jene Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man
gar Nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben
von den Spinnenfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte.
- Denn man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als
ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein; es
wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. - Wäre die Existenz einer
solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest, dass die
gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre: noch
gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von
der chemischen Analysis des Wassers sein muss.


10.

Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zukunft. - Sobald die Religion,
Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man
sie vollständig sich erklären kann, ohne zur Annahme metaphysischer
Eingriffe am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu nehmen,
hört das stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom
"Ding an sich" und der "Erscheinung" auf. Denn wie es hier auch stehe:
mit Religion, Kunst und Moral rühren wir nicht an das "Wesen der Welt
an sich"; wir sind im Bereiche der Vorstellung, keine "Ahnung" kann
uns weitertragen. Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser
Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt
unterscheiden könne, der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte
der Organismen und Begriffe überlassen.


11.

Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft. - Die Bedeutung der
Sprache für die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der
Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen
er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln
zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch
an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch
lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz
angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich
in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner
war nicht so bescheiden, zu glauben, dass er den Dingen eben nur
Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste
Wissen über die Dinge mit den Worten aus; in der That ist die Sprache
die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Der Glaube an
die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten
Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich -jetzt erst - dämmert
es den Menschen auf, dass sie einen ungeheuren Irrthum in ihrem
Glauben an die Sprache propagirt haben. Glücklicherweise ist es zu
spät, als dass es die Entwickelung der Vernunft, die auf jenem Glauben
beruht, wieder rückgängig machen könnte. - Auch die Logik beruht auf
Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht,
z.B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität
des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit: aber jene
Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es
dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es
mit der Mathematik, welche gewiss nicht entstanden wäre, wenn man
von Anfang an gewusst hätte, dass es in der Natur keine exact gerade
Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Grössenmaass gebe.


12.

Traum und Cultur.- Die Gehirnfunction, welche durch den Schlaf am
meisten beeinträchtigt wird, ist das Gedächtniss: nicht dass es
ganz pausirte, - aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit
zurückgebracht, wie es in Urzeiten der Menschheit bei jedermann am
Tage und im Wachen gewesen sein mag. Willkürlich und verworren, wie es
ist, verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten
Aehnlichkeiten: aber mit der selben Willkür und Verworrenheit
dichteten die Völker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende
zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit neigt, wie
sein Geist nach kurzer Anspannung des Gedächtnisses hin und her zu
taumeln beginnt und er, aus blosser Erschlaffung, Lügen und Unsinn
hervorbringt. Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden; das
schlechte Wiedererkennen und irrthümliche Gleichsetzen ist der Grund
des schlechten Schliessens, dessen wir uns im Traume schuldig machen:
so dass wir, bei deutlicher Vergegenwärtigung eines Traumes, vor
uns erschrecken, weil wir so viel Narrheit in uns bergen. - Die
vollkommene Deutlichkeit aller Traum-Vorstellungen, welche den
unbedingten Glauben an ihre Realität zur Voraussetzung hat, erinnert
uns wieder an Zustände früherer Menschheit, in der die Hallucination
ausserordentlich häufig war und mitunter ganze Gemeinden, ganze Völker
gleichzeitig ergriff. Also: im Schlaf und Traum machen wir das Pensum
früheren Menschenthums noch einmal durch.


13.

Logik des Traumes. - Im Schlafe ist fortwährend unser Nervensystem
durch mannichfache innere Anlässe in Erregung, fast alle Organe
secerniren und sind in Thätigkeit, das Blut macht seinen ungestümen
Kreislauf, die Lage des Schlafenden drückt einzelne Glieder, seine
Decken beeinflussen die Empfindung verschiedenartig, der Magen verdaut
und beunruhigt mit seinen Bewegungen andere Organe, die Gedärme winden
sich, die Stellung des Kopfes bringt ungewöhnliche Muskellagen mit
sich, die Füsse, unbeschuht, nicht mit den Sohlen den Boden drückend,
verursachen das Gefühl des Ungewöhnlichen ebenso wie die andersartige
Bekleidung des ganzen Körpers, - alles diess nach seinem täglichen
Wechsel und Grade erregt durch seine Aussergewöhnlichkeit das gesammte
System bis in die Gehirnfunction hinein: und so giebt es hundert
Anlässe für den Geist, um sich zu verwundern und nach Gründen dieser
Erregung zu suchen: der Traum aber ist das Suchen und Vorstellen der
Ursachen für jene erregten Empfindungen, das heisst der vermeintlichen
Ursachen. Wer zum Beispiel seine Füsse mit zwei Riemen umgürtet,
träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse umringeln: diess ist
zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleitenden
bildlichen Vorstellung und Ausdichtung: "diese Schlangen müssen die
causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende, habe", -
so urtheilt der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene nächste
Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart. So
weiss jeder aus Erfahrung, wie schnell der Träumende einen starken
an ihn dringenden Ton, zum Beispiel Glockenläuten, Kanonenschüsse in
seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm hinterdrein erklärt, so
dass er zuerst die veranlassenden Umstände, dann jenen Ton zu erleben
meint. - Wie kommt es aber, dass der Geist des Träumenden immer so
fehl greift, während der selbe Geist im Wachen so nüchtern, behutsam
und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt? so dass ihm
die erste beste Hypothese zur Erklärung eines Gefühls genügt, um
sofort an ihre Wahrheit zu glauben? (denn wir glauben im Traume an den
Traum, als sei er Realität, das heisst wir halten unsre Hypothese für
völlig erwiesen). - Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume
schliesst, so schloss die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende
hindurch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas,
das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte ihm und galt als
Wahrheit. (So verfahren nach den Erzählungen der Reisenden die Wilden
heute noch.) Im Traum übt sich dieses uralte Stück Menschenthum in
uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich
entwickelte und in jedem Menschen sich noch entwickelt: der Traum
bringt uns in ferne Zustände der menschlichen Cultur wieder zurück und
giebt ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen. Das Traumdenken
wird uns jetzt so leicht, weil wir in ungeheuren Entwickelungsstrecken
der Menschheit gerade auf diese Form des phantastischen und wohlfeilen
Erklärens aus dem ersten beliebigen Einfalle heraus so gut eingedrillt
worden sind. Insofern ist der Traum eine Erholung für das Gehirn,
welches am Tage den strengeren Anforderungen an das Denken zu
genügen hat, wie sie von der höheren Cultur gestellt werden. - Einen
verwandten Vorgang können wir geradezu als Pforte und Vorhalle des
Traumes noch bei wachem Verstande in Augenschein nehmen. Schliessen
wir die Augen, so producirt das Gehirn eine Menge von Lichteindrücken
und Farben, wahrscheinlich als eine Art Nachspiel und Echo aller
jener Lichtwirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen. Nun
verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im Bunde) diese an
sich formlosen Farbenspiele sofort zu bestimmten Figuren, Gestalten,
Landschaften, belebten Gruppen. Der eigentliche Vorgang dabei ist
wiederum eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache; indem
der Geist fragt: woher diese Lichteindrücke und Farben, supponirt
er als Ursachen jene Figuren, Gestalten: sie gelten ihm als die
Veranlassungen jener Farben und Lichter, weil er, am Tage, bei
offenen Augen, gewohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindrucke eine
veranlassende Ursache zu finden. Hier also schiebt ihm die Phantasie
fortwährend Bilder vor, indem sie an die Gesichtseindrücke des
Tages sich in ihrer Production anlehnt, und gerade so macht es die
Traumphantasie: - das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der
Wirkung erschlossen und nach der Wirkung vorgestellt: alles diess mit
ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler
eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich
wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander
ausnehmen kann. - Wir können aus diesen Vorgängen entnehmen, wie
spät das schärfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache
und Wirkung, entwickelt worden ist, wenn unsere Vernunft- und
Verstandesfunctionen jetzt noch unwillkürlich nach jenen primitiven
Formen des Schliessens zurückgreifen und wir ziemlich die Hälfte
unseres Lebens in diesem Zustande leben. - Auch der Dichter, der
Künstler schiebt seinen Stimmungen und Zuständen Ursachen unter,
welche durchaus nicht die wahren sind; er erinnert insofern an älteres
Menschenthum und kann uns zum Verständnisse desselben verhelfen.


14.

Miterklingen. - Alle stärkeren Stimmungen bringen ein Miterklingen
verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie wühlen gleichsam
das Gedächtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird
sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst. So bilden sich
angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche
zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal
mehr als Complexe, sondern als Einheiten empfunden werden. In diesem
Sinne redet man vom moralischen Gefühle, vom religiösen Gefühle, wie
als ob diess lauter Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Ströme mit
hundert Quellen und Zuflüssen. Auch hier, wie so oft, verbürgt die
Einheit des Wortes Nichts für die Einheit der Sache.


15.

Kein Innen und Aussen in der Welt. - Wie Demokrit die Begriffe Oben
und Unten auf den unendlichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben,
so die Philosophen überhaupt den Begriff "Innen und Aussen" auf Wesen
und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit tiefen Gefühlen komme man
tief in's Innere, nahe man sich dem Herzen der Natur. Aber diese
Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse
complicirte Gedankengruppen regelmässig erregt werden, welche wir tief
nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für
tief halten. Aber der tiefe Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr
fern sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom
tiefen Gefühle die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das
starke Gefühl übrig, und dieses verbürgt Nichts für die Erkenntniss,
als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht
die Wahrheit des Geglaubten beweist.


16.

Erscheinung und Ding an sich. - Die Philosophen pflegen sich vor das
Leben und die Erfahrung - vor Das, was sie die Welt der Erscheinung
nennen - wie vor ein Gemälde hinzustellen, das ein für alle Mal
entrollt ist und unveränderlich fest den selben Vorgang zeigt: diesen
Vorgang, meinen sie, müsse man richtig ausdeuten, um damit einen
Schluss auf das Wesen zu machen, welches das Gemälde hervorgebracht
habe: also auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund
der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen haben
strengere Logiker, nachdem sie den Begriff des Metaphysischen scharf
als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt
hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der
metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede gestellt:
so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich
erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von
beiden Seiten ist aber die Möglichkeit übersehen, dass jenes Gemälde
- Das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst - allmählich
geworden ist, ja noch völlig im Werden ist und desshalb nicht als
feste Grösse betrachtet werden soll, von welcher aus man einen Schluss
über den Urheber (den zureichenden Grund) machen oder auch nur
ablehnen dürfte. Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden mit moralischen,
ästhetischen, religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft
oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten des
unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt
allmählich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll
geworden, sie hat Farbe bekommen, - aber wir sind die Coloristen
gewesen: der menschliche Intellect hat die Erscheinung erscheinen
lassen und seine irrthümlichen Grundauffassungen in die Dinge
hineingetragen. Spät, sehr spät - besinnt er sich: und jetzt scheinen
ihm die Welt der Erfahrung und das Ding an sich so ausserordentlich
verschieden und getrennt, dass er den Schluss von jener auf dieses
ablehnt - oder auf eine schauerlich geheimnissvolle Weise zum Aufgeben
unsers Intellectes, unsers persönlichen Willens auffordert: um dadurch
zum Wesenhaften zu kommen, dass man wesenhaft werde. Wiederum haben
Andere alle charakteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung - das
heisst der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns
angeerbten Vorstellung von der Welt - zusammengelesen und anstatt den
Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache
dieses thatsächlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt
und die Erlösung vom Sein gepredigt. - Mit all diesen Auffassungen
wird der stetige und mühsame Process der Wissenschaft, welcher zuletzt
einmal in einer Entstehungsgeschichte des Denkens seinen höchsten
Triumph feiert, in entscheidender Weise fertig werden, dessen Resultat
vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: Das, was wir jetzt
die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und
Phantasien, welche in der gesammten Entwickelung der organischen Wesen
allmählich entstanden, in einander verwachsen [sind] und uns jetzt als
aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, - als
Schatz: denn der Werth unseres Menschenthums ruht darauf. Von dieser
Welt der Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsächlich
nur in geringem Maasse zu lösen - wie es auch gar nicht zu wünschen
ist -, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung
nicht wesentlich zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der
Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählich und schrittweise
aufhellen - und uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen Vorgang
hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines
homerischen Gelächters werth ist: dass es so viel, ja Alles schien und
eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist.


17.

Metaphysische Erklärungen. - Der junge Mensch schätzt metaphysische
Erklärungen, weil sie ihm in Dingen, welche er unangenehm oder
verächtlich fand, etwas höchst Bedeutungsvolles aufweisen: und ist er
mit sich unzufrieden, so erleichtert sich diess Gefühl, wenn er das
innerste Welträthsel oder Weltelend in dem wiedererkennt, was er so
sehr an sich missbilligt. Sich unverantwortlicher fühlen und die
Dinge zugleich interessanter finden - das gilt ihm als die doppelte
Wohlthat, welche er der Metaphysik verdankt. Später freilich bekommt
er Misstrauen gegen die ganze metaphysische Erklärungsart, dann sieht
er vielleicht ein, dass jene Wirkungen auf einem anderen Wege eben
so gut und wissenschaftlicher zu erreichen sind: dass physische und
historische Erklärungen mindestens ebenso sehr jenes Gefühl der
Unverantwortlichkeit herbeiführen, und dass jenes Interesse am Leben
und seinen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird.


18.

Grundfragen der Metaphysik. - Wenn einmal die Entstehungsgeschichte
des denkens geschrieben ist, so wird auch der folgende Satz eines
ausgezeichneten Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen:
"Das ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects
besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in
seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also
selbstexistirenden und im Grunde stets gleichbleibenden und
unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen." Auch dieses
Gesetz, welches hier "ursprünglich" genannt wird, ist geworden:
es wird einmal gezeigt werden, wie allmählich, in den niederen
Organismen, dieser Hang entsteht, wie die blöden Maulwurfsaugen dieser
Organisationen zuerst Nichts als immer das Gleiche sehen, wie dann,
wenn die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerkbarer
werden, allmählich verschiedene Substanzen unterschieden werden, aber
jede mit Einem Attribut, das heisst einer einzigen Beziehung zu einem
solchen Organismus. - Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil;
dessen Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker, im
Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die Empfindung des Angenehmen
oder Schmerzhaften in Bezug auf das empfindende Subject. Eine neue
dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen
Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form. - Uns
organische Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als
sein Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. Zwischen den
Momenten, in welchen wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den
Zuständen des Empfindens, liegen solche der Ruhe, des Nichtempfindens:
da ist die Welt und jedes Ding für uns interesselos, wir bemerken
keine Veränderung an ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter
nicht merkt, dass jemand an ihm vorbeigeht). Für die Pflanze sind
gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus
der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube
vererbt, dass es gleiche Dinge giebt (erst die durch höchste
Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der
Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass
die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist. - Am fernsten liegt für
jene Urstufe des Logischen der Gedanke an Causalität: ja jetzt noch
meinen wir im Grunde, alle Empfindungen und Handlungen seien Acte des
freien Willens; wenn das fühlende Individuum sich selbst betrachtet,
so hält es jede Empfindung, jede Veränderung für etwas Isolirtes, das
heisst Unbedingtes, Zusammenhangloses: es taucht aus uns auf, ohne
Verbindung mit Früherem oder Späterem. Wir haben Hunger, aber meinen
ursprünglich nicht, dass der Organismus erhalten werden will, sondern
jenes Gefühl scheint sich ohne Grund und Zweck geltend zu machen, es
isolirt sich und hält sich für willkürlich. Also: der Glaube an die
Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irrthum alles Organischen,
so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existiren; der Glaube
an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein
ursprünglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber
alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens
abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche
von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es
Grundwahrheiten.


19.

Die Zahl. - Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des
ursprünglich schon herrschenden Irrthums gemacht, dass es mehrere
gleiche Dinge gebe (aber thatsächlich giebt es nichts Gleiches),
mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein "Ding"). Die Annahme
der Vielheit setzt immer voraus, dass es Etwas gebe, das vielfach
vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrthum, schon da fingiren
wir Wesen, Einheiten, die es nicht giebt. - Unsere Empfindungen von
Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, consequent geprüft, auf
logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen
rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Grössen: aber
weil diese Grössen wenigstens constant sind, wie zum Beispiel unsere
Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft
doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange
mit einander; man kann auf ihnen fortbauen - bis an jenes letzte
Ende, wo die irrthümliche Grundannahme, jene constanten Fehler,
in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der
Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme eines "Dinges"
oder stofflichen "Substrats", das bewegt wird, gezwungen, während die
ganze wissenschaftliche Procedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles
Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir scheiden auch
hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen
aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem
Wesen von Alters her verknotet ist. - Wenn Kant sagt "der Verstand
schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser
vor", so ist diess in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr,
welchen wir genöthigt sind, mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als
Vorstellung, das heisst als Irrthum), welcher aber die Aufsummirung
einer Menge von Irrthümern des Verstandes ist. - Auf eine Welt, welche
nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich
unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt.


20.

Einige Sprossen zurück. - Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung
ist erreicht, wenn der Mensch über abergläubische und religiöse
Begriffe und Aengste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die
lieben Englein oder die Erbsünde glaubt, auch vom Heil der Seelen zu
reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er
auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik
zu überwinden. Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nöthig: er muss
die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen
Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung
der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine
solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen
Menschheit berauben würde. - In Betreff der philosophischen Metaphysik
sehe ich jetzt immer Mehrere, welche an das negative Ziel (dass jede
positive Metaphysik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch Wenige,
welche einige Sprossen rückwärts steigen; man soll nämlich über die
letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr
stehen wollen. Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sich
von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie
zurückzusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut,
um das Ende der Bahn herumzubiegen.


21.

Muthmaasslicher Sieg der Skepsis. - Man lasse einmal den skeptischen
Ausgangspunct gelten: gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische
Welt und alle aus der Metaphysik genommenen Erklärungen der uns einzig
bekannten Welt wären unbrauchbar für uns, mit welchem Blick würden
wir dann auf Menschen und Dinge sehen? Diess kann man sich ausdenken,
es ist nützlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches
wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal
abgelehnt würde. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit,
sehr gut möglich, dass die Menschen einmal in dieser Beziehung im
Ganzen und Allgemeinen skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie
wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer
solchen Gesinnung, gestalten? Vielleicht ist der wissenschaftliche
Beweis irgend einer metaphysischen Welt schon so schwierig, dass die
Menschheit ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man
gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt es im Ganzen und Grossen
die selben Folgen, wie wenn sie direct widerlegt wäre und man nicht
mehr an sie glauben dürfte. Die historische Frage in Betreff einer
unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden Fällen die
selbe.


22.

Unglaube an das "monumentum aere perennius". - Ein wesentlicher
Nachtheil, welchen das Aufhören metaphysischer Ansichten mit sich
bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze
Lebenszeit in's Auge fasst und keine stärkeren Antriebe empfängt,
an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen;
es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, den es pflanzt,
und desshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen, welche eine
Jahrhundert lange gleichmässige Pflege erfordern und welche lange
Reihenfolgen von Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn
metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte
endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle
Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen genöthigt sei;
der Einzelne fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein
Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der
Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der
Seele. - Kann die Wissenschaft auch solchen Glauben an ihre Resultate
erwecken? In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen als
treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der
unantastbaren, das heisst alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen
überdauernden Wahrheiten so gross werden (zum Beispiel in der Diätetik
der Gesundheit), dass man sich daraufhin entschliesst, "ewige" Werke
zu gründen. Einstweilen wirkt der Contrast unseres aufgeregten
Ephemeren-Daseins gegen die langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter
noch zu stark, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der
einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere und äussere
Entwickelungen, als dass er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich
dauerhaft und ein für alle Mal einzurichten wagt. Ein ganz moderner
Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein
Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern
wolle.


23.

Zeitalter der Vergleichung. - je weniger die Menschen durch das
Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der
Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe,
das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen.
Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich
und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch
etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander
nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der
Sitten, der Culturen. - Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung
dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten,
Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was
früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht
möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen
Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen
Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden
Formen entscheiden: sie wird die meisten, - nämlich alle, welche durch
dasselbe abgewiesen werden, - absterben lassen. Ebenso findet jetzt
ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit
statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren
Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das
ist sein Stolz, - aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir
uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche
das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so
wird uns die Nachwelt darob segnen, - eine Nachwelt, die ebenso sich
über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als
über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als
auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt.


24.

Möglichkeit des Fortschritts. - Wenn ein Gelehrter der alten Cultur
es verschwört, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den
Fortschritt glauben, so hat er Recht. Denn die alte Cultur hat ihre
Grösse und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen,
zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein
unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei
nöthig, um diess zu leugnen. Aber die Menschen können mit Bewusstsein
beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während
sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt
bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung,
Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch
verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen
und einsetzen. Diese neue bewusste Cultur tödtet die alte, welche, als
Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt
hat; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, -er ist
möglich. Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu
glauben, dass der Fortschritt nothwendig erfolgen müsse; aber wie
könnte man leugnen, dass er möglich sei? Dagegen ist ein Fortschritt
im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur nicht einmal denkbar. Wenn
romantische Phantastik immerhin auch das Wort "Fortschritt" von ihren
Zielen (z.B. abgeschlossenen originalen Volks-Culturen) gebraucht:
jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr
Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalität.


25.

Privat- und Welt-Moral. - Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass
ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite und, trotz aller
anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich
hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze
Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die
Kant's, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen
Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein jeder
ohne Weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der
Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth
seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend,
dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des
Besserwerdens von selbst ergeben müsse. Vielleicht lässt es ein
zukünftiger Ueberblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus
nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln,
vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken
der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse
Aufgaben zu stellen sein. - Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich
nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten
soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss
der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für
ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe
der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts.


26.

Die Reaction als Fortschritt. - Mitunter erscheinen schroffe,
gewaltsame und fortreissende, aber trotzdem zurückgebliebene
Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal
heraufbeschwören: sie dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen,
welchen sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, dass Etwas
an ihnen fehlt: sonst würden sie jenen Beschwörern besseren Widerpart
halten. So zeugt zum Beispiel Luther's Reformation dafür, dass in
seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch
unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht
ihr Haupt erheben. Ja, die gesammte Renaissance erscheint wie ein
erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in
unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer's Metaphysik, dass auch
jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kräftig genug ist: so
konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und
Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauer's Lehre, trotz der
längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine
Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein,
aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte
"metaphysische Bedürfniss". Es ist gewiss einer der grössten und ganz
unschätzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er
unsere Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der
Welt und Menschen zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein
Pfad führen würde. Der Gewinn für die Historie und die Gerechtigkeit
ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen
möchte, ohne Schopenhauer's Beihülfe dem Christenthum und seinen
asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was
namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christenthums aus unmöglich
ist. Erst nach diesem grossen Erfolge der Gerechtigkeit, erst nachdem
wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung
mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben,
dürfen wir die Fahne der Aufklärung - die Fahne mit den drei Namen:
Petrarca, Erasmus, Voltaire - von Neuem weiter tragen. Wir haben aus
der Reaction einen Fortschritt gemacht.


27.

Ersatz der Religion. - Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes
nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion für das Volk
hinstellt. In der That bedarf es in der geistigen Oekonomie
gelegentlich überleitender Gedankenkreise; so ist der Uebergang
aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer,
gefährlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. Insofern hat
man mit jener Anempfehlung Recht. Aber endlich sollte man doch auch
lernen, dass die Bedürfnisse, welche die Religion befriedigt hat und
nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese
selbst kann man schwächen und ausrotten. Man denke zum Beispiel an die
christliche Seelennoth, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die
Sorge um das Heil, - alles Vorstellungen, welche nur aus Irrthümern
der Vernunft herrühren und gar keine Befriedigung, sondern Vernichtung
verdienen. Eine Philosophie kann entweder so nützen, dass sie jene
Bedürfnisse auch befriedigt oder dass sie dieselben beseitigt; denn
es sind angelernte, zeitlich begränzte Bedürfnisse, welche auf
Voraussetzungen beruhen, die denen der Wissenschaft widersprechen.
Hier ist, um einen Uebergang zu machen, die Kunst viel eher zu
benutzen, um das mit Empfindungen überladene Gemüth zu erleichtern;
denn durch sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten, als
durch eine metaphysische Philosophie. Von der Kunst aus kann man dann
leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft
übergehen.


28.

Verrufene Worte. - Weg mit den bis zum Ueberdruss verbrauchten Wörtern
Optimismus und Pessimismus! Denn der Anlass, sie zu gebrauchen, fehlt
von Tag zu Tage mehr: nur die Schwätzer haben sie jetzt noch so
unumgänglich nöthig. Denn wesshalb in aller Welt sollte jemand
Optimist sein wollen, wenn er nicht einen Gott zu vertheidigen hat,
welcher die beste der Welten geschaffen haben muss, falls er selber
das Gute und Vollkommene ist, - welcher Denkende hat aber die
Hypothese eines Gottes noch nöthig? - Es fehlt aber auch jeder Anlass
zu einem pessimistischen Glaubensbekenntniss, wenn man nicht ein
Interesse daran hat, den Advocaten Gottes, den Theologen oder
den theologisirenden Philosophen ärgerlich zu werden und die
Gegenbehauptung kräftig aufzustellen: dass das Böse regiere, dass die
Unlust grösser sei, als die Lust, dass die Welt ein Machwerk, die
Erscheinung eines bösen Willens zum Leben sei. Wer aber kümmert sich
jetzt noch um die Theologen - ausser den Theologen? - Abgesehen von
aller Theologie und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, dass die
Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste oder die
schlechteste ist, und dass diese Begriffe "gut" und "böse" nur in
Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der
Weise, wie sie gewöhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der
schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in
jedem Falle entschlagen.


29.

Vom Dufte der Blüthen berauscht. - Das Schiff der Menschheit, meint
man, hat einen immer stärkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man
glaubt, je tiefer der Mensch denkt, je zarter er fühlt, je höher er
sich schätzt, je weiter seine Entfernung von den anderen Thieren wird,
- je mehr er als das Genie unter den Thieren erscheint, - um so näher
werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen:
diess thut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er meint
diess noch mehr durch seine Religionen und Künste zu thun. Diese sind
zwar eine Blüthe der Welt, aber durchaus nicht der Wurzel der Welt
näher, als der Stengel ist: man kann aus ihnen das Wesen der Dinge
gerade gar nicht besser verstehen, obschon diess fast jedermann
glaubt. Der Irrthum hat den Menschen so tief, zart, erfinderisch
gemacht, eine solche Blüthe, wie Religionen und Künste,
herauszutreiben. Das reine Erkennen wäre dazu ausser Stande
gewesen. Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns Allen die
unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich,
sondern die Welt als Vorstellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich,
tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoosse tragend. Diess
Resultat führt zu einer Philosophie der logischen Weltverneinung:
welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie
mit deren Gegentheile vereinigen lässt.


30.

Schlechte Gewohnheiten im Schliessen. - Die gewöhnlichsten Irrschlüsse
der Menschen sind diese: eine Sache existirt, also hat sie ein Recht.
Hier wird aus der Lebensfähigkeit auf die Zweckmässigkeit, aus der
Zweckmässigkeit auf die Rechtmässigkeit geschlossen. Sodann: eine
Meinung beglückt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also
ist sie selber gut und wahr. Hier legt man der Wirkung das Prädicat
beglückend, gut, im Sinne des Nützlichen, bei und versieht nun
die Ursache mit dem selben Prädicat gut, aber hier im Sinne des
Logisch-Gültigen. Die Umkehrung der Sätze lautet: eine Sache kann sich
nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie unrecht; eine Meinung quält,
regt auf, also ist sie falsch. Der Freigeist, der das Fehlerhafte
dieser Art zu schliessen nur allzu häufig kennen lernt und an
ihren Folgen zu leiden hat, unterliegt oft der Verführung, die
entgegengesetzten Schlüsse zu machen, welche im Allgemeinen natürlich
ebenso sehr Irrschlüsse sind: eine Sache kann sich nicht durchsetzen,
also ist sie gut; eine Meinung macht Noth, beunruhigt, also ist sie
wahr.


31.

Das Unlogische nothwendig. - Zu den Dingen, welche einen Denker
in Verzweifelung bringen können, gehört die Erkenntniss, dass das
Unlogische für den Menschen nöthig ist, und dass aus dem Unlogischen
vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der
Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in Allem, was dem
Leben Werth verleiht, dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit
diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. Es sind nur die allzu
naiven Menschen, welche glauben können, dass die Natur des Menschen
in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es aber Grade der
Annäherung an dieses Ziel geben sollte, was würde da nicht Alles auf
diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der vernünftigste Mensch
bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heisst seiner
unlogischen Grundstellung zu allen Dingen.


32.

Ungerechtsein nothwendig. - Alle Urtheile über den Werth des Lebens
sind unlogisch entwickelt und desshalb ungerecht. Die Unreinheit des
Urtheils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich
sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet
wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials
wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar diess mit voller
Nothwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen,
stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein
logisches Recht zu einer Gesammtabschätzung desselben hätten; alle
Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maass,
womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Grösse, wir haben
Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein
festes Maass kennen, um das Verhältniss irgend einer Sache zu uns
gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man
gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur leben könnte, ohne
abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! - denn alles
Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles
Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl
davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche,
ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth
des Zieles, existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein
unlogische und daher ungerechte Wesen, und können diess erkennen:
diess ist eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des
Daseins.


33.

Der Irrthum über das Leben zum Leben nothwendig. - Jeder Glaube an
Werth und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist
allein dadurch möglich, dass das Mitgefühl für das allgemeine Leben
und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist.
Auch die seltneren Menschen, welche überhaupt über sich hinaus denken,
fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegränzte Theile
desselben in's Auge. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich
auf Ausnahmen, ich meine auf die hohen Begabungen und die reinen
Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen
Weltentwickelung und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den
Werth des Lebens glauben, weil man nämlich die anderen Menschen dabei
übersieht: also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen
in's Auge fasst, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die
weniger egoistischen, gelten lässt und sie in Betreff der anderen
Triebe entschuldigt: dann kann man wiederum von der Menschheit im
Ganzen Etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben: also
auch in diesem Falle durch Unreinheit des Denkens. Mag man sich aber
so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine Ausnahme unter
den Menschen. Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen
das Leben, ohne erheblich zu murren, und glauben somit an den Werth
des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich jeder allein will und
behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles
Ausserpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als ein schwacher
Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens für
den gewöhnlichen, alltäglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt,
als die Welt. Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht,
dass er sich nicht in andere Wesen hineinfühlen kann und daher so
wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt. Wer dagegen
wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am Werthe des Lebens
verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in
sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das
Dasein zusammenbrechen, - denn die Menschheit hat im Ganzen keine
Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes,
nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweifelung.
Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit
der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den
Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als
Individuum) ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Blüthe
von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. - Wer
ist aber desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen
sich immer zu trösten.


34.

Zur Beruhigung.- Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie?
Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage
scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu
wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben könne? oder, wenn
man diess müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen
giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja
durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion. Die
Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden
bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne für
Wahrheit auseinandersetzen? Auch sie berühren sich ja mit Irrthümern
(insofern, wie gesagt, Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten
Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen). Das ganze
menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der Einzelne
kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner
Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine
gegenwärtigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu finden und den
Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben
hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. Ist es wahr, bliebe
einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebniss
die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung
nach sich zöge? - Ich glaube, die Entscheidung über die Nachwirkung
der Erkenntniss wird durch das Temperament eines Menschen gegeben:
ich könnte mir eben so gut, wie jene geschilderte und bei einzelnen
Naturen mögliche Nachwirkung, eine andere denken, vermöge deren ein
viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entstünde, als das
jetzige ist: so dass zuerst zwar die alten Motive des heftigeren
Begehrens noch Kraft hätten, aus alter vererbter Gewöhnung her,
allmählich aber unter dem Einflusse der reinigenden Erkenntniss
schwächer würden. Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich
wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie
an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten
hatte. Man wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung des
Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht
weiter empfinden. Freilich gehörte hierzu, wie gesagt, ein gutes
Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele,
eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf
der Hut zu sein brauchte und in ihren Aeusserungen Nichts von dem
knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge, - jenen bekannten
lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der
Kette gelegen haben. Vielmehr muss ein Mensch, von dem in solchem
Maasse die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dass er
nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf Vieles, ja
fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid
und Verdruss verzichten können, ihm muss als der wünschenswertheste
Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten,
Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen. Die
Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit und er hat vielleicht
nichts Anderes mitzutheilen, - worin freilich eine Entbehrung, eine
Entsagung mehr liegt. Will man aber trotzdem mehr von ihm, so wird
er mit wohlwollendem Kopfschütteln auf seinen Bruder hinweisen,
den freien Menschen der That, und vielleicht ein Wenig Spott nicht
verhehlen: denn mit dessen "Freiheit" hat es eine eigene Bewandtniss.




Zweites Hauptstück.

Zur Geschichte der moralischen Empfindungen.

35.

Vortheile der psychologischen Beobachtung. - Dass das Nachdenken über
Menschliches, Allzumenschliches - oder wie der gelehrtere Ausdruck
lautet: die psychologische Beobachtung - zu den Mitteln gehöre,
vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern könne, dass
die Uebung in dieser Kunst Geistesgegenwart in schwierigen Lagen und
Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass
man den dornenvollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen
Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein Wenig wohler fühlen
könne: das glaubte man, wusste man - in früheren Jahrhunderten. Warum
vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in Deutschland, ja
in Europa, die Armuth an psychologischer Beobachtung durch viele
Zeichen sich zu erkennen giebt? Nicht gerade in Roman, Novelle
und philosophischer Betrachtung, - diese sind das Werk von
Ausnahmemenschen; schon mehr in der Beurtheilung öffentlicher
Ereignisse und Persönlichkeiten: vor Allem aber fehlt die Kunst der
psychologischen Zergliederung und Zusammenrechnung in der Gesellschaft
aller Stände, in der man wohl viel über Menschen, aber gar nicht über
den Menschen spricht. Warum doch lässt man sich den reichsten und
harmlosesten Stoff der Unterhaltung entgehen? Warum liest man nicht
einmal die grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? - denn,
ohne jede Uebertreibung gesprochen: der Gebildete in Europa, der La
Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten gelesen hat, ist
selten zu finden; und noch viel seltener Der, welcher sie kennt und
sie nicht schmäht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser ungewöhnliche
Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener Künstler
ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend,
die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er
nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat. Man nimmt,
ohne solche practische Belehrung, dieses Schaffen und Formen für
leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reizvolle nicht
scharf genug heraus. Desshalb haben die jetzigen Leser von Sentenzen
ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen, ja kaum einen
Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht, wie den
gewöhnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil sie nicht
lieben können und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber
noch, fortzulaufen.


36.

Einwand.- Oder sollte es gegen jenen Satz, dass die psychologische
Beobachtung zu den Reiz-, Heil- und Erleichterungsmitteln des Daseins
gehöre, eine Gegenrechnung geben? Sollte man sich genug von den
unangenehmen Folgen dieser Kunst überzeugt haben, um jetzt mit
Absichtlichkeit den Blick der sich Bildenden von ihr abzulenken? In
der That, ein gewisser blinder Glaube an die Güte der menschlichen
Natur, ein eingepflanzter Widerwille vor der Zerlegung menschlicher
Handlungen, eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf die Nacktheit
der Seele mögen wirklich für das gesammte Glück eines Menschen
wünschenswerthere Dinge sein, als jene, in einzelnen Fällen hilfreiche
Eigenschaft der psychologischen Scharfsichtigkeit; und vielleicht hat
der Glaube an das Gute, an tugendhafte Menschen und Handlungen, an
eine Fülle des unpersönlichen Wohlwollens in der Welt die Menschen
besser gemacht, insofern er dieselben weniger misstrauisch machte.
Wenn man die Helden Plutarch's mit Begeisterung nachahmt, und einen
Abscheu davor empfindet, den Motiven ihres Handelns anzweifelnd
nachzuspüren, so hat zwar nicht die Wahrheit, aber die Wohlfahrt der
menschlichen Gesellschaft ihren Nutzen dabei: der psychologische
Irrthum und überhaupt die Dumpfheit auf diesem Gebiete hilft der
Menschlichkeit vorwärts, während die Erkenntniss der Wahrheit
vielleicht durch die anregende Kraft einer Hypothese mehr gewinnt, wie
sie La Rochefoucauld der ersten Ausgabe seiner "Sentences et maximes
morales" vorangestellt hat: "Ce que le monde nomme vertu n'est
d'ordinaire qu'un fantôame formé par nos passions, à qui on donne un
nom honnête pour faire impunément ce qu'on veut." La Rochefoucauld
und jene anderen französischen Meister der Seelenprüfung (denen sich
neuerdings auch ein Deutscher, der Verfasser der "Psychologischen
Beobachtungen" zugesellt hat) gleichen scharf zielenden Schützen,
welche immer und immer wieder in's Schwarze treffen, - aber in's
Schwarze der menschlichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen,
aber endlich verwünscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der
Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine
Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die
Seelen der Menschen zu pflanzen scheint.


37.

Trotzdem.- Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte: in
dem gegenwärtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist
die Auferweckung der moralischen Beobachtung nöthig geworden, und der
grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer
und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Denn hier
gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der
sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten
die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu lösen
hat: - die ältere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und
ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der moralischen
Empfindungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege gegangen.
Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen,
nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der
grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen
Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen
haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis, zum Beispiel
der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich
aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches
Unwesen zu Hülfe genommen werden, und endlich die Schatten dieser
trüben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung
hineinfallen. Steht es aber fest, dass die Oberflächlichkeit der
psychologischen Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen
die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem
legt, so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde
wird, Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu häufen, so bedarf
es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen
Arbeit nicht zu schämen und jeder Missachtung derselben Trotz zu
bieten. Es ist wahr: zahllose einzelne Bemerkungen über Menschliches
und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft zuerst
entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht der
wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht
jede Art von Opfern darzubringen; und fast unlösbar hat sich der
Duft jener alten Heimath der moralistischen Sentenz - ein sehr
verführerischer Duft - der ganzen Gattung angehängt: so dass
seinetwegen der wissenschaftliche Mensch unwillkürlich einiges
Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken lässt.
Aber es genügt, auf die Folgen zu verweisen: denn schon jetzt beginnt
sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem Boden der
psychologischen Beobachtung aufwachsen. Welches ist doch der Hauptsatz
zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des
Buches "Ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen" vermöge
seiner ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns
gelangt? "Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen
(metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch."
Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der
historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgendwelcher
Zukunft, als die Axt dienen, welche dem "metaphysischen Bedürfniss"
der Menschen an die Wurzel gelegt wird, - ob mehr zum Segen, als zum
Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu sagen? - aber
jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und
furchtbar zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend,
welches alle grossen Erkenntnisse haben.


38.

Inwiefern nützlich. - Also: ob die psychologische Beobachtung mehr
Nutzen oder Nachtheil über die Menschen bringe, das bleibe immerhin
unentschieden; aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die
Wissenschaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber kennt
keine Rücksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur
sie kennt: sondern wie diese gelegentlich Dinge von der höchsten
Zweckmässigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so
wird auch die ächte Wissenschaft, als die Nachahmung der Natur in
Begriffen, den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja
vielfach, fördern und das Zweckmässige erreichen, - aber ebenfalls
ohne es gewollt zu haben. Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen
Betrachtungsart gar zu winterlich zu Muthe wird, der hat vielleicht
nur zu wenig Feuer in sich: er möge sich indessen umsehen und er wird
Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschläge noth thun, und Menschen,
welche so aus Gluth und Geist "zusammengeknetet" sind, dass sie
kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug für sich finden.
Ueberdiess: wie allzu ernste Einzelne und Völker ein Bedürfniss nach
Leichtfertigkeiten haben, wie andere allzu Erregbare und Bewegliche
zeitweilig schwere niederdrückende Lasten zu ihrer Gesundheit nöthig
haben: sollten wir, die geistigeren Menschen eines Zeitalters, welches
ersichtlich immer mehr in Brand geräth, nicht nach allen löschenden
und kühlenden Mitteln, die es giebt, greifen müssen, damit wir
wenigstens so stetig, harmlos und mässig bleiben, als wir es noch
sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter
als Spiegel und Selbstbesinnung über sich zu dienen? -


39.

Die Fabel von der intelligibelen Freiheit. - Die Geschichte der
Empfindungen, vermöge deren wir jemanden verantwortlich machen, also
der sogenannten moralischen Empfindungen verläuft, in folgenden
Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne
alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen oder
schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser
Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rücksicht
auf deren Folgen, die Eigenschaft "gut" oder "böse" innewohne: mit
demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als
hart, den Baum selber als grün bezeichnet - also dadurch, dass man,
was Wirkung ist, als Ursache fasst. Sodann legt man das Gut- oder
Böse-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als
moralisch zweideutig. Man geht weiter und giebt das Prädicat gut oder
böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen eines
Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich,
herauswächst. So macht man der Reihe nach den Menschen für seine
Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und
endlich für sein Wesen verantwortlich. Nun entdeckt man schliesslich,
dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern
es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den Elementen und
Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge concrescirt: also dass
der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist, weder für sein
Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen.
Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass die Geschichte der
moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums
von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum von der
Freiheit des Willens ruht. -Schopenhauer schloss dagegen so: weil
gewisse Handlungen Unmuth ("Schuldbewusstsein") nach sich ziehen, so
muss es eine Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmuth wäre
kein Grund vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit
Nothwendigkeit verliefe - wie es thatsächlich, und auch nach der
Einsicht dieses Philosophen, verläuft -, sondern der Mensch selber
mit der selben Nothwendigkeit sein ganzes Wesen erlangte, - was
Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Unmuthes glaubt
Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu können, welche der Mensch
irgendwie gehabt haben müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen,
aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also, so oder so zu sein, nicht
so oder so zu handeln. Aus dem esse, der Sphäre der Freiheit und
Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das operari, die Sphäre
der strengen Causalität, Nothwendigkeit und Unverantwortlichkeit.
Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das operari - insofern
sei er irrthümlich -, in Wahrheit aber auf das esse, welches die That
eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums,
sei; der Mensch werde Das, was er werden wolle, sein Wollen sei
früher, als seine Existenz. - Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass
aus der Thatsache des Unmuthes die Berechtigung, die vernünftige
Zulässigkeit dieses Unmuthes geschlossen wird; und von jenem
Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz
der sogenannten intelligibelen Freiheit. Aber der Unmuth nach der That
braucht gar nicht vernünftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn
er ruht auf der irrthümlichen Voraussetzung, dass die That eben nicht
nothwendig hätte erfolgen müssen. Also: weil sich der Mensch für
frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und
Gewissensbisse. - Ueberdiess ist dieser Unmuth Etwas, das man sich
abgewöhnen kann, bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen
gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden.
Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwickelung der Sitte und Cultur
geknüpfte Sache und vielleicht nur in einer verhältnissmässig kurzen
Zeit der Weltgeschichte vorhanden. -Niemand ist für seine Thaten
verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als
ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst
richtet. Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier
jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht
vor den Folgen.


40.

Das Ueber-Thier. - Die Bestie in uns will belogen werden; Moral
ist Nothlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die
Irrthümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch
Thier geblieben. So aber hat er sich als etwas Höheres genommen und
sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat desshalb einen Hass gegen
die der Thierheit näher gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige
Missachtung des Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu
erklären ist.


41.

Der unveränderliche Charakter. - Dass der Charakter unveränderlich
sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heisst dieser beliebte
Satz nur so viel, dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen
die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um
die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte
man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man
an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine
Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte.
Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrthümlichen
Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.


42.

Die Ordnung der Güter und die Moral. - Die einmal angenommene
Rangordnung der Güter, je nachdem ein niedriger, höherer, höchster
Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt über das
Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein. Ein niedriges Gut (zum Beispiel
Sinnengenuss) einem höher geschätzten (zum Beispiel Gesundheit)
vorziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit
vorziehen. Die Rangordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten
feste und gleiche; wenn jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so
ist er nach dem Maassstabe einer früheren Cultur moralisch, nach dem
der jetzigen unmoralisch. "Unmoralisch" bezeichnet also, dass Einer
die höheren, feineren, geistigeren Motive, welche die jeweilen neue
Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug
empfindet: es bezeichnet einen Zurückgebliebenen, aber immer nur dem
Gradunterschied nach. - Die Rangordnung der Güter selber wird nicht
nach moralischen Gesichtspuncten auf- und umgestellt; wohl aber wird
nach ihrer jedesmaligen Festsetzung darüber entschieden, ob eine
Handlung moralisch oder unmoralisch sei.


43.

Grausame Menschen als zurückgeblieben. - Die Menschen, welche jetzt
grausam sind, müssen uns als Stufen früherer Culturen gelten, welche
übrig geblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die
tieferen Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen. Es sind
zurückgebliebene Menschen, deren Gehirn, durch alle möglichen Zufälle
im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet
worden ist. Sie zeigen uns, was wir Alle waren, und machen uns
erschrecken: aber sie selber sind so wenig verantwortlich, wie ein
Stück Granit dafür, dass es Granit ist. In unserm Gehirne müssen sich
auch Rinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung entsprechen,
wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an
Fischzustände finden sollen. Aber diese Rinnen und Windungen sind
nicht mehr das Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer
Empfindung wälzt.


44.

Dankbarkeit und Rache. - Der Grund, wesshalb der Mächtige dankbar
ist, ist dieser. Sein Wohlthäter hat sich durch seine Wohlthat an der
Sphäre des Mächtigen gleichsam vergriffen und sich in sie eingedrängt:
nun vergreift er sich zur Vergeltung wieder an der Sphäre des
Wohlthäters durch den Act der Dankbarkeit. Es ist eine mildere Form
der Rache. Ohne die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, würde der
Mächtige sich unmächtig gezeigt haben und fürderhin dafür gelten.
Desshalb stellt jede Gesellschaft der Guten, das heisst ursprünglich
der Mächtigen, die Dankbarkeit unter die ersten Pflichten.

- Swift hat den Satz hingeworfen, dass Menschen in dem selben
Verhältniss dankbar sind, wie sie Rache hegen.


45.

Doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse. - Der Begriff gut und böse
hat eine doppelte Vorgeschichte: nämlich einmal in der Seele der
herrschenden Stämme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes
mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Vergeltung übt, also
dankbar und rachsüchtig ist, der wird gut genannt; wer unmächtig ist
und nicht vergelten kann, gilt als schlecht. Man gehört als Guter
zu den "Guten", einer Gemeinde, welche Gemeingefühl hat, weil alle
Einzelnen durch den Sinn der Vergeltung mit einander verflochten
sind. Man gehört als Schlechter zu den "Schlechten", zu einem Haufen
unterworfener, ohnmächtiger Menschen, welche kein Gemeingefühl haben.
Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub. Gut
und schlecht ist eine Zeit lang so viel wie vornehm und niedrig, Herr
und Sclave. Dagegen sieht man den Feind nicht als böse an: er kann
vergelten. Der Troer und der Grieche sind bei Homer beide gut. Nicht
Der, welcher uns Schädliches zufügt, sondern Der, welcher verächtlich
ist, gilt als schlecht. In der Gemeinde der Guten vererbt sich das
Gute; es ist unmöglich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche
hervorwachse. Thut trotzdem Einer der Guten Etwas, das der Guten
unwürdig ist, so verfällt man auf Ausflüchte; man schiebt zum Beispiel
einem Gott die Schuld zu, indem man sagt: er habe den Guten mit
Verblendung und Wahnsinn geschlagen. - Sodann in der Seele der
Unterdrückten, Machtlosen. Hier gilt jeder andere Mensch als
feindlich, rücksichtslos, ausbeutend, grausam, listig, sei er vornehm
oder niedrig; böse ist das Charakterwort für Mensch, ja für jedes
lebende Wesen, welches man voraussetzt, zum Beispiel für einen Gott;
menschlich, göttlich gilt so viel wie teuflisch, böse. Die Zeichen der
Güte, Hülfebereitschaft, Mitleid, werden angstvoll als Tücke, Vorspiel
eines schrecklichen Ausgangs, Betäubung und Ueberlistung aufgenommen,
kurz als verfeinerte Bosheit. Bei einer solchen Gesinnung des
Einzelnen kann kaum ein Gemeinwesen entstehen, höchstens die roheste
Form desselben: so dass überall, wo diese Auffassung von gut und böse
herrscht, der Untergang der Einzelnen, ihrer Stämme und Rassen nahe
ist. - Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der herrschenden
Stämme und Kasten aufgewachsen.


46.

Mitleiden stärker als Leiden. - Es giebt Fälle, wo das Mitleiden
stärker ist, als das eigentliche Leiden. Wir empfinden es zum Beispiel
schmerzlicher, wenn einer unserer Freunde sich etwas Schmähliches zu
Schulden kommen lässt, als wenn wir selbst es thun. Einmal nämlich
glauben wir mehr an die Reinheit seines Charakters, als er; sodann
ist unsere Liebe zu ihm, wahrscheinlich eben dieses Glaubens wegen,
stärker, als seine Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein
Egoismus mehr dabei leidet, als unser Egoismus, insofern er die
übelen Folgen seines Vergehens stärker zu tragen hat, so wird das
Unegoistische in uns - dieses Wort ist nie streng zu verstehen,
sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks - doch stärker durch
seine Schuld betroffen, als das Unegoistische in ihm.


47.

Hypochondrie.- Es giebt Menschen, welche aus Mitgefühl und Sorge für
eine andere Person hypochondrisch werden; die dabei entstehende Art
des Mitleidens ist nichts Anderes, als eine Krankheit. So giebt es
auch eine christliche Hypochondrie, welche jene einsamen, religiös
bewegten Leute befällt, die sich das Leiden und Sterben Christi
fortwährend vor Augen stellen.


48.

Oekonomie der Güte. - Die Güte und Liebe als die heilsamsten Kräuter
und Kräfte im Verkehre der Menschen sind so kostbare Funde, dass man
wohl wünschen möchte, es werde in der Verwendung dieser balsamischen
Mittel so ökonomisch wie möglich verfahren: doch ist diess unmöglich.
Die Oekonomie der Güte ist der Traum der verwegensten Utopisten.


49.

Wohlwollen.- Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und desshalb
sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr Acht zu
geben hat, als auf die grossen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen
zu rechnen; ich meine jene Aeusserungen freundlicher Gesinnung im
Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen,
von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Thun umsponnen
ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zuthat zu dem, was für
ihn Pflicht ist, hinzu; es ist die fortwährende Bethätigung der
Menschlichkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes, in denen Alles
wächst; namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, grünt und
blüht das Leben nur durch jenes Wohlwollen. Die Gutmüthigkeit, die
Freundlichkeit, die Höflichkeit des Herzens sind immerquellende
Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel mächtiger an der
Cultur gebaut, als jene viel berühmteren Aeusserungen desselben, die
man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt
sie geringzuschätzen, und in der That: es ist nicht gerade viel
Unegoistisches daran. Die Summe dieser geringen Dosen ist trotzdem
gewaltig, ihre gesammte Kraft gehört zu den stärksten Kräften. -
Ebenso findet man viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen:
wenn man nämlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des
Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedrängtesten
Menschenleben reich ist, nicht vergisst.


50.

Mitleiden erregen wollen.- La Rochefoucauld trifft in der
bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst-Portraits (zuerst gedruckt
1658) gewiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor
dem Mitleiden warnt, wenn er räth, dasselbe den Leuten aus dem Volke
zu überlassen, die der Leidenschaften bedürfen (weil sie nicht
durch Vernunft bestimmt werden), um so weit gebracht zu werden, dem
Leidenden zu helfen und bei einem Unglück kräftig einzugreifen;
während das Mitleiden, nach seinem (und Plato's) Urtheil, die Seele
entkräfte. Freilich solle man Mitleiden bezeugen, aber sich hüten, es
zu haben: denn die Unglücklichen seien nun einmal so dumm, dass bei
ihnen das Bezeugen von Mitleid das grösste Gut von der Welt ausmache.
- Vielleicht kann man noch stärker vor diesem Mitleid-haben warnen,
wenn man jenes Bedürfniss der Unglücklichen nicht gerade als Dummheit
und intellectuellen Mangel, als eine Art Geistesstörung fasst, welche
das Unglück mit sich bringt (und so scheint es ja La Rochefoucauld zu
fassen), sondern als etwas ganz Anderes und Bedenklicheres versteht.
Vielmehr beobachte man Kinder, welche weinen und Schreien, damit sie
bemitleidet werden, und desshalb den Augenblick abwarten, wo ihr
Zustand in die Augen fallen kann; man lebe im Verkehr mit Kranken
und Geistig-Gedrückten und frage sich, ob nicht das beredte Klagen
und Wimmern, das Zur-Schau-tragen des Unglücks im Grunde das Ziel
verfolgt, den Anwesenden weh zu thun: das Mitleiden, welches Jene dann
äussern, ist insofern eine Tröstung für die Schwachen und Leidenden,
als sie daran erkennen, doch wenigstens noch Eine Macht zu haben,
trotz aller ihrer Schwäche: die Macht, wehe zu thun. Der Unglückliche
gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefühl der Ueberlegenheit,
welches das Bezeugen des Mitleides ihm zum Bewusstsein bringt; seine
Einbildung erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt
Schmerzen zu machen. Somit ist der Durst nach Mitleid ein Durst nach
Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen; es zeigt den
Menschen in der ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben
Selbst: nicht aber gerade in seiner "Dummheit", wie La Rochefoucauld
meint. - Im Zwiegespräche der Gesellschaft werden Dreiviertel aller
Fragen gestellt, aller Antworten gegeben, um dem Unterredner ein
klein Wenig weh zu thun; desshalb dürsten viele Menschen so nach
Gesellschaft: sie giebt ihnen das Gefühl ihrer Kraft. In solchen
unzähligen, aber sehr kleinen Dosen, in welchen die Bosheit sich
geltend macht, ist sie ein mächtiges Reizmittel des Lebens: ebenso
wie das Wohlwollen, in gleicher Form durch die Menschenwelt hin
verbreitet, das allezeit bereite Heilmittel ist. - Aber wird es viele
Ehrliche geben, welche zugestehen, dass es Vergnügen macht, wehe zu
thun? dass man sich nicht selten damit unterhält - und gut unterhält
-, anderen Menschen wenigstens in Gedanken Kränkungen zuzufügen und
die Schrotkörner der kleinen Bosheit nach ihnen zu schiessen? Die
Meisten sind zu unehrlich und ein paar Menschen sind zu gut, um von
diesem Pudendum Etwas zu wissen; diese mögen somit immerhin leugnen,
dass Prosper Mérimée Recht habe, wenn er sagt: "Sachez aussi qu'il
n'y a rien de plus commun que de faire le mal pour le plaisir de le
faire."


51.

Wie der Schein zum Sein wird. - Der Schauspieler kann zuletzt auch
beim tiefsten Schmerz nicht aufhören, an den Eindruck seiner Person
und den gesammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst
beim Begräbniss seines Kindes; er wird über seinen eignen Schmerz und
dessen Aeusserungen weinen, als sein eigener Zuschauer. Der Heuchler,
welcher immer ein und die selbe Rolle spielt, hört zuletzt auf,
Heuchler zu sein; zum Beispiel Priester, welche als junge Männer
gewöhnlich bewusst oder unbewusst Heuchler sind, werden zuletzt
natürlich und sind dann wirklich, ohne alle Affectation, eben
Priester; oder wenn es der Vater nicht so weit bringt, dann vielleicht
der Sohn, der des Vaters Vorsprung benutzt, seine Gewöhnung erbt. Wenn
Einer sehr lange und hartnäckig Etwas scheinen will, so wird es ihm
zuletzt schwer, etwas Anderes zu sein. Der Beruf fast jedes Menschen,
sogar des Künstlers, beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von
Aussen her, mit einem Copiren des Wirkungsvollen. Der, welcher immer
die Maske freundlicher Mienen trägt, muss zuletzt eine Gewalt über
wohlwollende Stimmungen bekommen, ohne welche der Ausdruck der
Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, - und zuletzt wieder bekommen
diese über ihn Gewalt, er ist wohlwollend.


52.

Der Punct der Ehrlichkeit beim Betruge. - Bei allen grossen Betrügern
ist ein Vorgang bemerkenswerth, dem sie ihre Macht verdanken.
Im eigentlichen Acte des Betruges unter all den Vorbereitungen,
dem Schauerlichen in Stimme, Ausdruck, Gebärden, inmitten der
wirkungsvollen Scenerie, überkommt sie der Glaube an sich selbst:
dieser ist es, der dann so wundergleich und bezwingend zu den
Umgebenden spricht. Die Religionsstifter unterscheiden sich dadurch
von jenen grossen Betrügern, dass sie aus diesem Zustande der
Selbsttäuschung nicht herauskommen: oder sie haben ganz selten einmal
jene helleren Momente, wo der Zweifel sie überwältigt; gewöhnlich
trösten sie sich aber, diese helleren Momente dem bösen Widersacher
zuschiebend. Selbstbetrug muss da sein, damit Diese und jene
grossartig wirken. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen,
was ersichtlich stark geglaubt wird.


53.

Angebliche Stufen der Wahrheit. - Einer der gewöhnlichen Fehlschlüsse
ist der: weil Jemand wahr und aufrichtig gegen uns ist, so sagt er die
Wahrheit. So glaubt das Kind an die Urtheile der Eltern, der Christ
an die Behauptungen des Stifters der Kirche. Ebenso will man nicht
zugeben, dass alles jenes, was die Menschen mit Opfern an Glück
und Leben in früheren Jahrhunderten vertheidigt haben, Nichts als
Irrthümer waren: vielleicht sagt man, es seien Stufen der Wahrheit
gewesen. Aber im Grunde meint man, wenn Jemand ehrlich an Etwas
geglaubt und für seinen Glauben gekämpft hat und gestorben ist,
wäre es doch gar zu unbillig, wenn eigentlich nur ein Irrthum ihn
beseelt habe. So ein Vorgang scheint der ewigen Gerechtigkeit zu
widersprechen; desshalb decretirt das Herz empfindender Menschen immer
wieder gegen ihren Kopf den Satz: zwischen moralischen Handlungen und
intellectuellen Einsichten muss durchaus ein nothwendiges Band sein.
Es ist leider anders; denn es giebt keine ewige Gerechtigkeit.


54.

Die Lüge. - Wesshalb sagen zu allermeist die Menschen im alltäglichen
Leben die Wahrheit? - Gewiss nicht, weil ein Gott das Lügen verboten
hat. Sondern erstens: weil es bequemer ist; denn die Lüge erfordert
Erfindung, Verstellung und Gedächtniss. (Wesshalb Swift sagt: wer eine
Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt; er
muss nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.)
Sodann: weil es in schlichten Verhältnissen vortheilhaft ist, direct
zu sagen: ich will diess, ich habe diess gethan, und dergleichen;
also weil der Weg des Zwangs und der Autorität sicherer ist, als
der der List. - Ist aber einmal ein Kind in verwickelten häuslichen
Verhältnissen aufgezogen worden, so handhabt es ebenso natürlich
die Lüge und sagt unwillkürlich immer Das, was seinem Interesse
entspricht; ein Sinn für Wahrheit, ein Widerwille gegen die Lüge an
sich ist ihm ganz fremd und unzugänglich, und so lügt es in aller
Unschuld.


55.

Des Glaubens wegen die Moral verdächtigen. - Keine Macht lässt sich
behaupten, wenn lauter Heuchler sie vertreten; die katholische Kirche
mag noch so viele "weltliche" Elemente besitzen, ihre Kraft beruht
auf jenen auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche
sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und deren Blick
und abgehärmter Leib von Nachtwachen, Hungern, glühendem Gebete,
vielleicht selbst von Geisselhieben redet; Diese erschüttern die
Menschen und machen ihnen Angst: wie, wenn es nöthig wäre, so zu
leben? - diess ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick auf die
Zunge legt. Indem sie diesen Zweifel verbreiten, gründen sie immer
von Neuem wieder einen Pfeiler ihrer Macht; selbst die Freigesinnten
wagen es nicht, dem derartig Selbstlosen mit hartem Wahrheitssinn zu
widerstehen und zu sagen: "Betrogner du, betrüge nicht!" - Nur die
Differenz der Einsichten trennt sie von ihm, durchaus keine Differenz
der Güte oder Schlechtigkeit; aber was man nicht mag, pflegt man
gewöhnlich auch ungerecht zu behandeln. So spricht man von der
Schlauheit und der verruchten Kunst der Jesuiten, aber übersieht,
welche Selbstüberwindung jeder einzelne Jesuit sich auferlegt und wie
die erleichterte Lebenspraxis, welche die jesuitischen Lehrbücher
predigen, durchaus nicht ihnen, sondern dem Laienstande zu Gute kommen
soll. Ja man darf fragen, ob wir Aufgeklärten bei ganz gleicher Taktik
und Organisation eben so gute Werkzeuge, ebenso bewundernswürdig durch
Selbstbesiegung, Unermüdlichkeit, Hingebung sein würden.


56.

Sieg der Erkenntniss über das radicale Böse. - Es trägt Dem, der weise
werden will, einen reichlichen Gewinn ein, eine Zeit lang einmal
die Vorstellung vom gründlich bösen und verderbten Menschen gehabt
zu haben: sie ist falsch, wie die entgegengesetzte; aber ganze
Zeitstrecken hindurch besass sie die Herrschaft und ihre Wurzeln haben
sich bis in uns und unsere Welt hinein verästet. Um uns zu begreifen,
müssen wir sie begreifen; um aber dann höher zu steigen, müssen wir
über sie hinwegsteigen. Wir erkennen dann, dass es keine Sünden im
metaphysischen Sinne giebt; aber, im gleichen Sinne, auch keine
Tugenden; dass dieses ganze Bereich sittlicher Vorstellungen
fortwährend im Schwanken ist, dass es höhere und tiefere Begriffe von
gut und böse, sittlich und unsittlich giebt. Wer nicht viel mehr von
den Dingen begehrt, als Erkenntniss derselben, kommt leicht mit seiner
Seele zur Ruhe und wird höchstens aus Unwissenheit, aber schwerlich
aus Begehrlichkeit fehlgreifen (oder sündigen, wie die Welt es
heisst). Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und ausrotten
wollen; aber sein einziges ihn völlig beherrschendes Ziel, zu aller
Zeit so gut wie möglich zu erkennen, wird ihn kühl machen und alle
Wildheit in seiner Anlage besänftigen. Ueberdiess ist er einer Menge
quälender Vorstellungen losgeworden, er empfindet Nichts mehr bei dem
Worte Höllenstrafen, Sündhaftigkeit, Unfähigkeit zum Guten: er erkennt
darin nur die verschwebenden Schattenbilder falscher Welt- und
Lebensbetrachtungen.


57.

Moral als Selbstzertheilung des Menschen. - Ein guter Autor, der
wirklich das Herz für seine Sache hat, wünscht, dass jemand komme
und ihn selber dadurch vernichte, dass er dieselbe Sache deutlicher
darstelle und die in ihr enthaltenen Fragen ohne Rest beantworte. Das
liebende Mädchen wünscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe an
der Untreue des Geliebten bewähren könne. Der Soldat wünscht, dass er
für sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld falle.- denn in
dem Siege seines Vaterlandes siegt sein höchstes Wünschen mit. Die
Mutter giebt dem Kinde, was sie sich selber entzieht, Schlaf, die
beste Speise, unter Umständen ihre Gesundheit, ihr Vermögen. - Sind
das Alles aber unegoistische Zustände? Sind diese Thaten der Moralität
Wunder, weil sie, nach dem Ausdrucke Schopenhauer's, "unmöglich
und doch wirklich" sind? Ist es nicht deutlich, dass in all diesen
Fällen der Mensch Etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen, ein
Erzeugniss mehr liebt, als etwas Anderes von sich, dass er also sein
Wesen zertheilt und dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt? Ist
es etwas wesentlich Verschiedenes, wenn ein Trotzkopf sagt: "ich will
lieber über den Haufen geschossen werden, als diesem Menschen da einen
Schritt aus dem Wege gehn?" - Die Neigung zu Etwas (Wunsch, Trieb,
Verlangen) ist in allen genannten Fällen vorhanden; ihr nachzugeben,
mit allen Folgen, ist jedenfalls nicht "unegoistisch". - In der Moral
behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.


58.

Was man versprechen kann. - Man kann Handlungen versprechen, aber
keine Empfindungen; denn diese sind unwillkürlich. Wer jemandem
verspricht, ihn immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer
treu zu sein, verspricht Etwas, das nicht in seiner Macht steht; wohl
aber kann er solche Handlungen versprechen, welche zwar gewöhnlich die
Folgen der Liebe, des Hasses, der Treue sind, aber auch aus anderen
Motiven entspringen können: denn zu einer Handlung führen mehrere Wege
und Motive. Das Versprechen, jemanden immer zu lieben, heisst also: so
lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen;
liebe ich dich nicht mehr, so wirst du doch die selben Handlungen,
wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen: so dass
der Schein in den Köpfen der Mitmenschen bestehen bleibt, dass die
Liebe unverändert und immer noch die selbe sei. - Man verspricht also
die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung
jemandem immerwährende Liebe gelobt.


59.

Intellect und Moral. - Man muss ein gutes Gedächtniss haben, um
gegebene Versprechen halten zu können. Man muss eine starke Kraft der
Einbildung haben, um Mitleid haben zu können. So eng ist die Moral an
die Güte des Intellects gebunden.


60.

Sich rächen wollen und -sich rächen. -Einen Rachegedanken haben und
ausführen heisst einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber
vorübergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth,
ihn auszuführen, heisst ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an
Leib und Seele mit sich herumtragen. Die Moral, welche nur auf die
Absichten sieht, taxirt beide Fälle gleich; für gewöhnlich taxirt man
den ersten Fall als den schlimmeren (wegen der bösen Folgen, welche
die That der Rache vielleicht nach sich zieht). Beide Schätzungen sind
kurzsichtig.


61.

Warten-können. - Das Warten-können ist so schwer, dass die grössten
Dichter es nicht verschmäht haben, das Nicht-warten-können zum Motiv
ihrer Dichtungen zu machen. So Shakespeare im Othello, Sophokles
im Ajax: dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag noch seine
Empfindung hätte abkühlen lassen, nicht mehr nöthig geschienen
hätte, wie der Orakelspruch andeutet; wahrscheinlich würde er den
schrecklichen Einflüsterungen der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen
geschlagen und zu sich gesprochen haben - wer hat denn nicht schon,
in meinem Falle, ein Schaf für einen Helden angesehen? ist es denn
so etwas Ungeheures? Im Gegentheil, es ist nur etwas allgemein
Menschliches: Ajax durfte sich dergestalt Trost zusprechen. Die
Leidenschaft will nicht warten; das Tragische im Leben grosser Männer
liegt häufig nicht in ihrem Conflicte mit der Zeit und der Niedrigkeit
ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unfähigkeit, ein Jahr, zwei
Jahre ihr Werk zu verschieben; sie können nicht warten. - Bei allen
Duellen haben die zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die
betheiligten Personen noch warten können: ist diess nicht der Fall,
so ist ein Duell vernünftig, insofern Jeder von Beiden sich sagt:
"entweder lebe ich weiter, dann muss jener augenblicklich sterben,
oder umgekehrt." Warten hiesse in solchem Falle an jener furchtbaren
Marter der verletzten Ehre angesichts ihres Verletzers noch länger
leiden; und diess kann eben mehr Leiden sein, als das Leben überhaupt
werth ist.


62.

Schwelgerei der Rache. -Grobe Menschen, welche sich beleidigt fühlen,
pflegen den Grad der Beleidigung so hoch als möglich zu nehmen und
erzählen die Ursache mit stark übertreibenden Worten, um nur in dem
einmal erweckten Hass- und Rachegefühl sich recht ausschwelgen zu
können.


63.

Werth der Verkleinerung. - Nicht wenige, vielleicht die allermeisten
Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tüchtigkeit im
Handeln bei sich aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen
bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu
verkleinern. Da aber die geringen Naturen in der Ueberzahl sind und es
sehr viel daran liegt, ob sie jene Tüchtigkeit haben oder verlieren,
so -


64.

Der Auf brausende. - Vor Einem, der gegen uns aufbraust, soll man
sich in Acht nehmen, wie vor Einem, der uns einmal nach dem Leben
getrachtet hat: denn dass wir noch leben, das liegt an der Abwesenheit
der Macht zu tödten; genügten Blicke, so wäre es längst um uns
geschehen. Es ist ein Stück roher Cultur, durch Sichtbarwerdenlassen
der physischen Wildheit, durch Furchterregen Jemanden zum Schweigen zu
bringen. - Ebenso ist jener kalte Blick, welchen Vornehme gegen ihre
Bedienten haben, ein Ueberrest jener kastenmässigen Abgränzungen
zwischen Mensch und Mensch, ein Stück rohen Alterthums; die Frauen,
die Bewahrerinnen des Alten, haben auch dieses Survival treuer
bewahrt.


65.

Wohin die Ehrlichkeit führen kann. -Jemand hatte die üble
Angewohnheit, sich über die Motive, aus denen er handelte und die so
gut und so schlecht waren wie die Motive aller Menschen, gelegentlich
ganz ehrlich auszusprechen. Er erregte erst Anstoss, dann Verdacht,
wurde allmählich geradezu verfehmt und in die Acht der Gesellschaft
erklärt, bis endlich die Justiz sich eines so verworfenen Wesens
erinnerte, bei Gelegenheiten, wo sie sonst kein Auge hatte, oder
dasselbe zudrückte. Der Mangel an Schweigsamkeit über das allgemeine
Geheimniss und der unverantwortliche Hang, zu sehen, was Keiner sehen
will - sich selber - brachten ihn zu Gefängniss und frühzeitigem Tod.


66.

Sträflich, nie gestraft. - Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht
darin, dass wir sie wie Schufte behandeln.


67.

Sancta simplicitas der Tugend. - Jede Tugend hat Vorrechte: zum
Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen eines Verurtheilten ihr eigenes
Bündchen Holz zu liefern.


68.

Moralität und Erfolg. - Nicht nur die Zuschauer einer That bemessen
häufig das Moralische oder Unmoralische an derselben nach dem Erfolge:
nein, der Thäter selbst thut diess. Denn die Motive und Absichten sind
selten deutlich und einfach genug, und mitunter scheint selbst das
Gedächtniss durch den Erfolg der That getrübt, so dass man seiner That
selber falsche Motive unterschiebt oder die unwesentlichen Motive als
wesentliche behandelt. Der Erfolg giebt oft einer That den vollen
ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt den Schatten
von Gewissensbissen über die achtungswürdigste Handlung. Daraus
ergiebt sich die bekannte Praxis des Politikers, welcher denkt: "gebt
mir nur den Erfolg: mit ihm habe ich auch alle ehrlichen Seelen auf
meine Seite gebracht - und mich vor mir selber ehrlich gemacht." - Auf
ähnliche Weise soll der Erfolg die bessere Begründung ersetzen. Noch
jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christenthums über die
griechische Philosophie sei ein Beweis für die grössere Wahrheit des
ersteren, - obwohl in diesem Falle nur das Gröbere und Gewaltsamere
über das Geistigere und Zarte gesiegt hat. Wie es mit der grösseren
Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden
Wissenschaften Punct um Punct an Epikur's Philosophie angeknüpft, das
Christenthum aber Punct um Punct zurückgewiesen haben.


69.

Liebe und Gerechtigkeit. - Warum überschätzt man die Liebe zu
Ungunsten der Gerechtigkeit und sagt die schönsten Dinge von ihr,
als ob sie ein viel höheres Wesen als jene sei? Ist sie denn nicht
ersichtlich dümmer als jene? - Gewiss, aber gerade desshalb um so viel
angenehmer für Alle. Sie ist dumm und besitzt ein reiches Füllhorn;
aus ihm theilt sie ihre Gaben aus, an jedermann, auch wenn er sie
nicht verdient, ja ihr nicht einmal dafür dankt. Sie ist unparteiisch
wie der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung, nicht nur
den Ungerechten, sondern unter Umständen auch den Gerechten bis auf
die Haut nass macht.


70.

Hinrichtung. - Wie kommt es, dass jede Hinrichtung uns mehr
beleidigt, als ein Mord? Es ist die Kälte der Richter, die peinliche
Vorbereitung, die Einsicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt
wird, um andere abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht bestraft,
selbst wenn es eine gäbe: diese liegt in Erziehern, Eltern,
Umgebungen, in uns, nicht im Mörder, - ich meine die veranlassenden
Umstände.


71.

Die Hoffnung. - Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und öffnete
es. Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein
schönes verführerisches Geschenk und "Glücksfass" zubenannt. Da flogen
all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen
sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein
einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft: da schlug
Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu und so blieb es darin. Für
immer hat der Mensch nun das Glücksfass im Hause und meint Wunder was
für einen Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er greift
darnach: wenn es ihn gelüstet; denn er weiss nicht, dass jenes
Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war, und hält
das zurückgebliebene Uebel für das grösste Glücksgut, - es ist die
Hoffnung. - Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr
durch die anderen Uebel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe,
sondern fortfahre, sich immer von Neuem quälen zu lassen. Dazu giebt
er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der
Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.


72.

Grad der moralischen Erhitzbarkeit unbekannt. - Daran, dass man
gewisse erschütternde Anblicke und Eindrücke gehabt oder nicht
gehabt hat, zum Beispiel eines unrecht gerichteten, getödteten oder
gemarterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen feindlichen
Ueberfalls, hängt es ab, ob unsere Leidenschaften zur Glühhitze kommen
und das ganze Leben lenken oder nicht. Keiner weiss, wozu ihn die
Umstände, das Mitleid, die Entrüstung treiben können, er kennt den
Grad seiner Erhitzbarkeit nicht. Erbärmliche kleine Verhältnisse
machen erbärmlich; es ist gewöhnlich nicht die Qualität der
Erlebnisse, sondern ihre Quantität, von welcher der niedere und höhere
Mensch abhängt, im Guten und Bösen.


73.

Der Märtyrer wider Willen. - In einer Partei gab es einen Menschen,
der zu ängstlich und feige war, um je seinen Kameraden zu
widersprechen: man brauchte ihn zu jedem Dienst, man erlangte von ihm
Alles, weil er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen
mehr als vor dem Tode fürchtete; es war eine erbärmliche schwache
Seele. Sie erkannten diess und machten auf Grund der erwähnten
Eigenschaften aus ihm einen Heros und zuletzt gar einen Märtyrer.
Obwohl der feige Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit
den Lippen immer ja, selbst noch auf dem Schaffot, als er für die
Ansichten seiner Partei starb: neben ihm nämlich stand einer seiner
alten Genossen, der ihn durch Wort und Blick so tyrannisirte, dass er
wirklich auf die anständigste Weise den Tod erlitt und seitdem als
Märtyrer und grosser Charakter gefeiert wird.


74.

Alltags-Maassstab. - Man wird selten irren, wenn man extreme
Handlungen auf Eitelkeit, mittelmässige auf Gewöhnung und kleinliche
auf Furcht zurückführt.


75.

Missverständniss über die Tugend. - Wer die Untugend in Verbindung
mit der Lust kennen gelernt hat, wie Der, welcher eine genusssüchtige
Jugend hinter sich hat, bildet sich ein, dass die Tugend mit der
Unlust verbunden sein müsse. Wer dagegen von seinen Leidenschaften und
Lastern sehr geplagt worden ist, ersehnt in der Tugend die Ruhe und
das Glück der Seele. Daher ist es möglich, dass zwei Tugendhafte
einander gar nicht verstehen.


76.

Der Asket. - Der Asket macht aus der Tugend eine Noth.


77.

Die Ehre von der Person auf die Sache übertragen. - Man ehrt allgemein
die Handlungen der Liebe und Aufopferung zu Gunsten des Nächsten, wo
sie sich auch immer zeigen. Dadurch vermehrt man die Schätzung der
Dinge, welche in jener Art geliebt werden oder für welche man sich
aufopfert: obwohl sie vielleicht an sich nicht viel werth sind. Ein
tapferes Heer überzeugt von der Sache, für welche es kämpft.


78.

Ehrgeiz ein Surrogat des moralischen Gefühls. - Das moralische Gefühl
darf in solchen Naturen nicht fehlen, welche keinen Ehrgeiz haben.
Die Ehrgeizigen behelfen sich auch ohne dasselbe, mit fast gleichem
Erfolge. - Desshalb werden Söhne aus bescheidenen, dem Ehrgeiz
abgewandten Familien, wenn sie einmal das moralische Gefühl verlieren,
gewöhnlich in schneller Steigerung zu vollkommenen Lumpen.


79.

Eitelkeit bereichert. - Wie arm wäre der menschliche Geist ohne die
Eitelkeit! So aber gleicht er einem wohlgefüllten und immer neu sich
füllenden Waarenmagazin, welches Käufer jeder Art anlockt: Alles fast
können sie finden, Alles haben, vorausgesetzt, dass sie die gültige
Münzsorte (Bewunderung) mit sich bringen.


80.

Greis und Tod.- Abgesehen von den Forderungen, welche die Religion
stellt, darf man wohl fragen: warum sollte es für einen alt gewordenen
Mann, welcher die Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine
langsame Erschöpfung und Auflösung abzuwarten, als sich mit vollem
Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbsttödtung ist in diesem Falle
eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der
Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt
hat, in jenen Zeiten als die Häupter der griechischen Philosophie und
die wackersten römischen Patrioten durch Selbsttödtung zu sterben
pflegten. Die Sucht dagegen, sich mit ängstlicher Berathung von
Aerzten und peinlichster Lebensart von Tag zu Tage fortzufristen, ohne
Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch näher zu kommen, ist viel
weniger achtbar. - Die Religionen sind reich an Ausflüchten vor der
Forderung der Selbsttödtung: dadurch schmeicheln sie sich bei Denen
ein, welche in das Leben verliebt sind.


81.

Irrthümer des Leidenden und des Thäters. - Wenn der Reiche dem
Armen ein Besitzthum nimmt (zum Beispiel ein Fürst dem Plebejer die
Geliebte), so entsteht in dem Armen ein Irrthum; er meint, jener müsse
ganz verrucht sein, um ihm das Wenige, was er habe, zu nehmen. Aber
jener empfindet den Werth eines einzelnen Besitzthums gar nicht so
tief, weil er gewöhnt ist, viele zu haben: so kann er sich nicht in
die Seele des Armen versetzen und thut lange nicht so sehr Unrecht,
als dieser glaubt. Beide haben von einander eine falsche Vorstellung.
Das Unrecht des Mächtigen, welches am meisten in der Geschichte
empört, ist lange nicht so gross, wie es scheint. Schon die angeerbte
Empfindung, ein höheres Wesen mit höheren Ansprüchen zu sein, macht
ziemlich kalt und lässt das Gewissen ruhig: wir Alle sogar empfinden,
wenn der Unterschied zwischen uns und einem andern Wesen sehr gross
ist, gar Nichts mehr von Unrecht und tödten eine Mücke zum Beispiel
ohne jeden Gewissensbiss. So ist es kein Zeichen von Schlechtigkeit
bei Xerxes (den selbst alle Griechen als hervorragend edel schildern),
wenn er dem Vater seinen Sohn nimmt und ihn zerstückeln lässt,
weil dieser ein ängstliches, ominöses Misstrauen gegen den ganzen
Heerzug geäussert hatte: der Einzelne wird in diesem Falle wie ein
unangenehmes Insect beseitigt, er steht zu niedrig, um länger quälende
Empfindungen bei einem Weltherrscher erregen zu dürfen. Ja, jeder
Grausame ist nicht in dem Maasse grausam, als es der Misshandelte
glaubt; die Vorstellung des Schmerzes ist nicht das Selbe wie das
Leiden desselben. Ebenso steht es mit dem ungerechten Richter, mit
dem Journalisten, welcher mit kleinen Unredlichkeiten die öffentliche
Meinung irre führt. Ursache und Wirkung sind in allen diesen Fällen
von ganz verschiedenen Empfindungs- und Gedankengruppen umgeben;
während man unwillkürlich voraussetzt, dass Thäter und Leidender
gleich denken und empfinden, und gemäss dieser Voraussetzung die
Schuld des Einen nach dem Schmerz des Andern misst.


82.

Haut der Seele. - Wie die Knochen, Fleischstücke, Eingeweide und
Blutgefässe mit einer Haut umschlossen sind, die den Anblick des
Menschen erträglich macht, so werden die Regungen und Leidenschaften
der Seele durch die Eitelkeit umhüllt: sie ist die Haut der Seele.


83.

Schlaf der Tugend. - Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer
aufstehen.


84.

Feinheit der Scham. - Die Menschen schämen sich nicht, etwas
Schmutziges zu denken, aber wohl, wenn sie sich vorstellen, dass man
ihnen diese schmutzigen Gedanken zutraue.


85.

Bosheit ist selten. - Die meisten Menschen sind viel zu sehr mit sich
beschäftigt, um boshaft zu sein.


86.

Das Zünglein an der Wage. - Man lobt oder tadelt, je nachdem das Eine
oder das Andere mehr Gelegenheit giebt, unsere Urtheilskraft leuchten
zu lassen.


87.

Lucas 18,14 verbessert. - Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet
werden.


88.

Verhinderung des Selbstmordes. - Es giebt ein Recht, wonach wir einem
Menschen das Leben nehmen, aber keines, wonach wir ihm das Sterben
nehmen: diess ist nur Grausamkeit.


89.

Eitelkeit.- Uns liegt an der guten Meinung der Menschen, einmal weil
sie uns nützlich ist, sodann weil wir ihnen Freude machen wollen
(Kinder den Eltern, Schüler den Lehrern und wohlwollende Menschen
überhaupt allen übrigen Menschen). Nur wo jemandem die gute Meinung
der Menschen wichtig ist, abgesehen vom Vortheil oder von seinem
Wunsche, Freude zu machen, reden wir von Eitelkeit. In diesem Falle
will sich der Mensch selber eine Freude machen, aber auf Unkosten
seiner Mitmenschen, indem er diese entweder zu einer falschen Meinung
über sich verführt oder es gar auf einen Grad der "guten Meinung"
absieht, wo diese allen Anderen peinlich werden muss (durch Erregung
von Neid). Der Einzelne will gewöhnlich durch die Meinung Anderer
die Meinung, die er von sich hat, beglaubigen und vor sich selber
bekräftigen; aber die mächtige Gewöhnung an Autorität - eine
Gewöhnung, die so alt als der Mensch ist - bringt Viele auch dazu,
ihren eigenen Glauben an sich auf Autorität zu stützen, also erst aus
der Hand Anderer anzunehmen: sie trauen der Urtheilskraft Anderer
mehr, als der eigenen. - Das Interesse an sich selbst, der Wunsch,
sich zu vergnügen, erreicht bei dem Eitelen eine solche Höhe, dass
er die Anderen zu einer falschen, allzu hohen Taxation seiner selbst
verführt und dann doch sich an die Autorität der Anderen hält: also
den Irrthum herbeiführt und doch ihm Glauben schenkt. - Man muss sich
also eingestehen, dass die eitelen Menschen nicht sowohl Anderen
gefallen wollen, als sich selbst, und dass sie so weit gehen, ihren
Vortheil dabei zu vernachlässigen; denn es liegt ihnen oft daran, ihre
Mitmenschen ungünstig, feindlich, neidisch, also schädlich gegen sich
stimmen, nur um die Freude an sich selber, den Selbstgenuss, zu haben.


90.

Gränze der Menschenliebe. - Jeder, welcher sich dafür erklärt hat,
dass der Andere ein Dummkopf, ein schlechter Geselle sei, ärgert sich,
wenn Jener schliesslich zeigt, dass er es nicht ist.


91.

Moralité larmoyante. - Wie viel Vergnügen macht die Moralität! Man
denke nur, was für ein Meer angenehmer Thränen schon bei Erzählungen
edler, grossmüthiger Handlungen geflossen ist! - Dieser Reiz
des Lebens würde schwinden, wenn der Glaube an die völlige
Unverantwortlichkeit überhand nähme.


92.

Ursprung der Gerechtigkeit. - Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt
ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie diess Thukydides
(in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten)
richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt
giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da
entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen
Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der
anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern
zufrieden, indem jeder bekommt, was er mehr schätzt als der Andere.
Man giebt jedem, was er haben will als das nunmehr Seinige, und
empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung
und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen
Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der
Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. -
Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen
Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: "wozu
sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht
erreichen?" - Soviel vom Ursprung der Gerechtigkeit. Dadurch, dass die
Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gemäss, den ursprünglichen
Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen vergessen haben und
namentlich weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt
worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist
allmählich der Anschein entstanden, als sei eine gerechte Handlung
eine unegoistische: auf diesem Anschein aber beruht die hohe Schätzung
derselben, welche überdiess, wie alle Schätzungen, fortwährend noch im
Wachsen ist: denn etwas Hochgeschätztes wird mit Aufopferung erstrebt,
nachgeahmt, vervielfältigt und wächst dadurch, dass der Werth der
aufgewandten Mühe und Beeiferung von jedem Einzelnen noch zum Werthe
des geschätzten Dinges hinzugeschlagen wird. - Wie wenig moralisch
sähe die Welt ohne die Vergesslichkeit aus! Ein Dichter könnte sagen,
dass Gott die Vergesslichkeit als Thürhüterin an die Tempelschwelle
der Menschenwürde hingelagert habe.


93.

Vom Rechte des Schwächeren. - Wenn sich jemand unter Bedingungen einem
Mächtigeren unterwirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die
Gegenbedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt verbrennen und
so dem Mächtigen eine grosse Einbusse machen kann. Desshalb entsteht
hier eine Art Gleichstellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt
werden können. Der Feind hat seinen Vortheil an der Erhaltung. -
Insofern giebt es auch Rechte zwischen Sclaven und Herren, das heisst
genau in dem Maasse, in welchem der Besitz des Sclaven seinem Herrn
nützlich und wichtig ist. Das Recht geht ursprünglich soweit, als
Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und
dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch
Rechte, aber geringere. Daher das berühmte unusquisque tantum juris
habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum potentia valere
creditur).


94.

Die drei Phasen der bisherigen Moralität. - Es ist das erste Zeichen,
dass das Thier Mensch geworden ist, wenn sein Handeln nicht mehr
auf das augenblickliche Wohlbefinden, sondern auf das dauernde sich
bezieht, dass der Mensch also nützlich, zweckmässig wird.- da bricht
zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus. Eine noch höhere
Stufe ist erreicht, wenn er nach dem Princip der Ehre handelt;
vermöge desselben ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsamen
Empfindungen, und das erhebt ihn hoch über die Phase, in der nur die
persönlich verstandene Nützlichkeit ihn leitete: er achtet und will
geachtet werden, das heisst: er begreift den Nutzen als abhängig von
dem, was er über Andere, was Andere über ihn meinen. Endlich handelt
er, auf der höchsten Stufe der bisherigen Moralität nach seinem
Maassstab über die Dinge und Menschen, er selber bestimmt für sich und
Andere, was ehrenvoll, was nützlich ist; er ist zum Gesetzgeber der
Meinungen geworden, gemäss dem immer höher entwickelten Begriff
des Nützlichen und Ehrenhaften. Die Erkenntnis befähigt ihn, das
Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem
persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder
Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als
Collectiv-Individuum.


95.

Moral des reifen Individuums. - Man hat bisher als das eigentliche
Kennzeichen der moralischen Handlung das Unpersönliche angesehen; und
es ist nachgewiesen, dass zu Anfang die Rücksicht auf den allgemeinen
Nutzen es war, derentwegen man alle unpersönlichen Handlungen lobte
und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandelung dieser
Ansichten bevorstehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass
gerade in der möglichst persönlichen Rücksicht auch der Nutzen für
das Allgemeine am grössten ist: so dass gerade das streng persönliche
Handeln dem jetzigen Begriff der Moralität (als einer allgemeinen
Nützlichkeit) entspricht? Aus sich eine ganze Person machen und in
Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in's Auge fassen - das bringt
weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten
Anderer. Wir Alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen
Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet, -
gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von
ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Hülfebedürftigen
zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das geopfert
werden müsste. Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten,
aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vortheil in dieser
Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was
man als seinen Vortheil versteht; gerade das unreife, unentwickelte,
rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.


96.

Sitte und sittlich.- Moralisch, sittlich, ethisch sein heisst Gehorsam
gegen ein altbegründetes Gesetz oder Herkommen haben. Ob man mit Mühe
oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei gleichgültig, genug, dass
man es thut. "Gut" nennt man Den, welcher wie von Natur, nach langer
Vererbung, also leicht und gern das Sittliche thut, je nachdem diess
ist (zum Beispiel Rache übt, wenn Rache-üben, wie bei den älteren
Griechen, zur guten Sitte gehört). Er wird gut genannt, weil er "wozu"
gut ist; da aber Wohlwollen, Mitleiden und dergleichen in dem Wechsel
der Sitten immer als "gut wozu", als nützlich empfunden wurde, so
nennt man jetzt vornehmlich den Wohlwollenden, Hülfreichen "gut". Böse
ist "nicht sittlich" (unsittlich) sein, Unsitte üben, dem Herkommen
widerstreben, wie vernünftig oder dumm dasselbe auch sei; das
Schädigen des Nächsten ist aber in allen den Sittengesetzen der
verschiedenen Zeiten vornehmlich als schädlich empfunden worden, so
dass wir jetzt namentlich bei dem Wort "böse" an die freiwillige
Schädigung des Nächsten denken. Nicht das "Egoistische" und das
"Unegoistische" ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur
Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und böse gebracht hat,
sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon. Wie
das Herkommen entstanden ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls
ohne Rücksicht auf gut und böse oder irgend einen immanenten
kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung
einer Gemeinde, eines Volkes; jeder abergläubische Brauch, der auf
Grund eines falsch gedeuteten Zufalls entstanden ist, erzwingt ein
Herkommen, welchem zu folgen sittlich ist; sich von ihm lösen ist
nämlich gefährlich, für die Gemeinschaft noch mehr schädlich als für
den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel und jede Verletzung ihrer
Vorrechte an der Gemeinde und nur insofern auch am Individuum straft).
Nun wird jedes Herkommen fortwährend ehrwürdiger, je weiter der
Ursprung abliegt, je mehr dieser vergessen ist; die ihm gezollte
Verehrung häuft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen
wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so ist jedenfalls die
Moral der Pietät eine viel ältere Moral, als die, welche unegoistische
Handlungen verlangt.


97.

Die Lust in der Sitte. - Eine wichtige Gattung der Lust und damit
der Quelle der Moralität entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das
Gewohnte leichter, besser, also lieber, man empfindet dabei eine Lust,
und weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bewährt hat, also
nützlich ist; eine Sitte, mit der sich leben lässt, ist als heilsam,
förderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bewährten
Versuchen. Die Sitte ist demnach die Vereinigung des Angenehmen und
des Nützlichen, überdiess macht sie kein Nachdenken nöthig. Sobald
der Mensch Zwang ausüben kann, übt er ihn aus, um seine Sitten
durchzusetzen und einzuführen, denn für ihn sind sie die bewährte
Lebensweisheit. Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes
einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss: weil man sich mit
einer Sitte wohl fühlt oder wenigstens weil man vermittelst derselben
seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig, denn sie
gilt als die einzige Möglichkeit, unter der man sich wohl fühlen kann;
das Wohlgefühl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzuwachsen.
Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird
bis auf die kleinsten Einzelheiten der Sitte durchgeführt: da die
Einsicht in die wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern
und Culturen sehr gering ist, so sieht man mit abergläubischer Furcht
darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe; selbst wo die Sitte
schwer, hart, lästig ist, wird sie ihrer scheinbar höchsten
Nützlichkeit wegen bewahrt. Man weiss nicht, dass der selbe Grad von
Wohlbefinden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass selbst
höhere Grade sich erreichen lassen. Wohl aber nimmt man wahr, dass
alle Sitten, auch die härtesten, mit der Zeit angenehmer und milder
werden, und dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und
damit zur Lust werden kann.


98.

Lust und socialer Instinct. - Aus seinen Beziehungen zu andern
Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von Lust zu jenen
Lustempfindungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt; wodurch er
das Reich der Lustempfindung überhaupt bedeutend umfänglicher macht.
Vielleicht hat er mancherlei, das hierher gehört, schon von den
Thieren her überkommen, welche ersichtlich Lust empfinden, wenn sie
mit einander spielen, namentlich die Mütter mit den jungen. Sodann
gedenke man der geschlechtlichen Beziehungen, welche jedem Männchen
ungefähr jedes Weibchen interessant in Ansehung der Lust erscheinen
lassen, und umgekehrt. Die Lustempfindung auf Grund menschlicher
Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemeinsame
Freude, die Lust mitsammen genossen, erhöht dieselbe, sie giebt dem
Einzelnen Sicherheit, macht ihn gutmüthiger, löst das Misstrauen, den
Neid: denn man fühlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicher
Weise sich wohl fühlen. Die gleichartigen Aeusserungen der Lust
erwecken die Phantasie der Mitempfindung, das Gefühl etwas Gleiches zu
sein: das Selbe thun auch die gemeinsamen Leiden, die selben Unwetter,
Gefahren, Feinde. Darauf baut sich dann wohl das älteste Bündniss auf:
dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden
Unlust zum Nutzen jedes Einzelnen ist. Und so wächst der sociale
Instinct aus der Lust heraus.


99.

Das Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen. - Alle "bösen"
Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch
genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des
Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse. "Schmerz
bereiten an sich" existirt nicht, ausser im Gehirn der Philosophen,
ebensowenig "Lust bereiten an sich" (Mitleid im Schopenhauerischen
Sinne). In dem Zustand vor dem Staate tödten wir das Wesen, sei es
Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen
will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir
es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere
thun würden. - Die bösen Handlungen, welche uns jetzt am meisten
empören, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns
zufügt, freien Willen habe, also dass es in seinem Belieben gelegen
habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben
erregt den Hass, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung
der Phantasie, während wir einem Thiere viel weniger zürnen, weil
wir diess als unverantwortlich betrachten. Leid thun nicht aus
Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung - ist Folge eines falschen
Urtheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne kann im
Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur Abschreckung andere
Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche
abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der
Gewaltthätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher
sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt
noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches
diess hindern kann. Es kann erst dann der Boden für alle Moralität
zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein
Collectiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die
Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in
einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie
selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung
der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam,
endlich beinahe Instinct: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und
Natürliche mit Lust verknüpft - und heisst nun Tugend.


100.

Scham.- Die Scham existirt überall, wo es ein "Mysterium" giebt; diess
aber ist ein religiöser Begriff, welcher in der älteren Zeit der
menschlichen Cultur einen grossen Umfang hatte. Ueberall gab es
umgränzte Gebiete, zu welchen das göttliche Recht den Zutritt
versagte, ausser unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz
räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fusse der Uneingeweihten
nicht zu betreten waren und in deren Nähe Diese Schauder und Angst
empfanden. Diess Gefühl wurde vielfach auf andere Verhältnisse
übertragen, zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verhältnisse, welche
als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blicken der
Jugend, zu deren Vortheil, entzogen werden sollten: Verhältnisse, zu
deren Schutz und Heilighaltung viele Götter thätig und im ehelichen
Gemache als Wächter aufgestellt gedacht wurden. (Im Türkischen heisst
desshalb diess Gemach Harem "Heiligthum", wird also mit demselben
Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe der Moscheen üblich ist.) So
ist das Königthum als ein Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt,
dem Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham: wovon
viele Nachwirkungen noch jetzt, unter Völkern, die sonst keineswegs
zu den verschämten gehören, zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze Welt
innerer Zustände, die sogenannte "Seele", auch jetzt noch für alle
Nicht-Philosophen ein Mysterium, nachdem diese, endlose Zeit hindurch,
als göttlichen Ursprungs, als göttlichen Verkehrs würdig geglaubt
wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham.


101.

Richtet nicht. - Man muss sich hüten, bei der Betrachtung früherer
Perioden nicht in ein ungerechtes Schimpfen zu gerathen. Die
Ungerechtigkeit in der Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung
von Personen und Völkern ist nicht mit unserem Maasse zu messen. Denn
damals war der Instinct der Gerechtigkeit noch nicht so weit gebildet.
Wer darf dem Genfer Calvin die Verbrennung des Arztes Servet
vorwerfen? Es war eine consequente aus seinen Ueberzeugungen
fliessende Handlung, und ebenso hatte die Inquisition ein gutes
Recht; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und ergaben eine
Consequenz, welche uns hart erscheint, weil uns jene Ansichten
fremd geworden sind. Was ist übrigens Verbrennen eines Einzelnen im
Vergleich mit ewigen Höllenstrafen für fast Alle! Und doch beherrschte
diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel grösseren
Schrecklichkeit der Vorstellung von einem Gotte wesentlich Schaden
zu thun. Auch bei uns werden politische Sectirer hart und grausam
behandelt, aber weil man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben
gelernt hat, so empfindet man hier die Grausamkeit nicht so sehr wie
dort, wo wir die Anschauungen verwerfen. Die Grausamkeit gegen Thiere
bei Kindern und Italiänern geht auf Unverständniss zurück; das Thier
ist namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit
hinter den Menschen zurückgesetzt worden. - Auch mildert sich vieles
Schreckliche und Unmenschliche in der Geschichte, an welches man kaum
glauben möchte, durch die Betrachtung, dass der Befehlende und der
Ausführende andere Personen sind: ersterer hat den Anblick nicht und
daher nicht den starken Phantasie-Eindruck, letzterer gehorcht einem
Vorgesetzten und fühlt sich unverantwortlich. Die meisten Fürsten
und Militärchefs erscheinen, aus Mangel an Phantasie, leicht grausam
und hart, ohne es zu sein. - Der Egoismus ist nicht böse, weil die
Vorstellung vom "Nächsten" -das Wort ist christlichen Ursprungs
und entspricht der Wahrheit nicht - in uns sehr schwach ist; und
wir uns gegen ihn beinahe wie gegen Pflanze und Stein frei und
unverantwortlich fühlen. Dass der Andere leidet, ist zu lernen: und
völlig kann es nie gelernt werden.


102.

"Der Mensch handelt immer gut." - Wir klagen die Natur nicht als
unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass
macht: warum nennen wir den schädigenden Menschen unmoralisch?
Weil wir hier einen willkürlich waltenden, freien Willen, dort
Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein Irrthum.
Sodann: selbst das absichtliche Schädigen nennen wir nicht unter allen
Umständen unmoralisch; man tödtet z.B. eine Mücke unbedenklich mit
Absicht, blos weil uns ihr Singen missfällt, man straft den Verbrecher
absichtlich und thut ihm Leid an, um uns und die Gesellschaft zu
schützen. Im ersten Falle ist es das Individuum, welches, um sich zu
erhalten oder selbst um sich keine Unlust zu machen, absichtlich Leid
thut; im zweiten der Staat. Alle Moral lässt absichtliches Schadenthun
gelten bei Nothwehr: das heisst wenn es sich um die Selbsterhaltung
handelt! Aber diese beiden Gesichtspuncte genügen, um alle bösen
Handlungen gegen Menschen, von Menschen ausgeübt, zu erklären: man
will für sich Lust oder will Unlust abwehren; in irgend einem Sinne
handelt es sich immer um Selbsterhaltung. Sokrates und Plato haben
Recht: was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das heisst:
Das, was ihm gut (nützlich) scheint, je nach dem Grade seines
Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vernünftigkeit.


103.

Das Harmlose an der Bosheit. - Die Bosheit hat nicht das Leid des
Andern an sich zum Ziele, sondern unsern eigenen Genuss, zum Beispiel
als Rachegefühl oder als stärkere Nervenaufregung. Schon jede Neckerei
zeigt, wie es Vergnügen macht, am Andern unsere Macht auszulassen und
es zum lustvollen Gefühle des Uebergewichts zu bringen. Ist nun das
Unmoralische daran, Lust auf Grund der Unlust Anderer zu haben? Ist
Schadenfreude teuflisch, wie Schopenhauer sagt? Nun machen wir uns
in der Natur Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Ablösen von Steinen,
Kampf mit wilden Thieren und zwar, um unserer Kraft dabei bewusst zu
werden. Das Wissen darum, dass ein Anderer durch uns leidet, soll hier
die selbe Sache, in Bezug auf welche wir uns sonst unverantwortlich
fühlen, unmoralisch machen? Aber wüsste man diess nicht, so hätte man
die Lust an seiner eigenen Ueberlegenheit auch nicht dabei, diese kann
eben sich nur im Leide des Anderen zuerkennen geben, zum Beispiel bei
der Neckerei. Alle Lust an sich selber ist weder gut noch böse; woher
sollte die Bestimmung kommen, dass man, um Lust an sich selber zu
haben, keine Unlust Anderer erregen dürfe? Allein vom Gesichtspuncte
des Nutzens her, das heisst aus Rücksicht auf die Folgen, auf
eventuelle Unlust, wenn der Geschädigte oder der stellvertretende
Staat Ahndung und Rache erwarten lässt: nur Diess kann ursprünglich
den Grund abgegeben haben, solche Handlungen sich zu versagen. -
Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum Ziele, als, wie
gesagt, die Bosheit den Schmerz des Andern an sich. Denn es birgt
mindestens zwei (vielleicht mehr) Elemente einer persönlichen Lust in
sich und ist dergestalt Selbstgenuss: einmal als Lust der Emotion,
welcher Art Mitleid in der Tragödie ist, und dann, wenn es zur That
treibt, als Lust der Befriedigung in der Ausübung der Macht. Steht uns
überdiess eine leidende Person sehr nahe, so nehmen durch Ausübung
mitleidvoller Handlungen uns selbst ein Leid ab. - Abgesehen von
einigen Philosophen, so haben die Menschen das Mitleid, in der
Rangfolge moralischer Empfindungen immer ziemlich tief gestellt: mit
Recht.


104.

Nothwehr.- Wenn man überhaupt die Nothwehr als moralisch gelten lässt,
so muss man fast alle Aeusserungen des sogenannten unmoralischen
Egoismus' auch gelten lassen: man thut Leid an, raubt oder tödtet, um
sich zu erhalten oder um sich zu schützen, dem persönlichen Unheil
vorzubeugen; man lügt, wo List und Verstellung das richtige Mittel der
Selbsterhaltung sind. Absichtlich schädigen, wenn es sich um unsere
Existenz oder Sicherheit (Erhaltung unseres Wohlbefindens) handelt,
wird als moralisch concedirt; der Staat schädigt selber unter diesem
Gesichtspunct, wenn er Strafen verhängt. Im unabsichtlichen Schädigen
kann natürlich das Unmoralische nicht liegen, da regiert der Zufall.
Giebt es denn eine Art des absichtlichen Schädigens, wo es sich nicht
um unsere Existenz, um die Erhaltung unseres Wohlbefindens handelt?
Giebt es ein Schädigen aus reiner Bosheit, zum Beispiel bei der
Grausamkeit? Wenn man nicht weiss, wie weh eine Handlung thut, so ist
sie keine Handlung der Bosheit; so ist das Kind gegen das Thier nicht
boshaft, nicht böse: es untersucht und zerstört dasselbe wie sein
Spielzeug. Weiss man aber je völlig, wie weh eine Handlung einem
Andern thut? So weit unser Nervensystem reicht, hüten wir uns vor
Schmerz: reichte es weiter, nämlich bis in die Mitmenschen hinein, so
würden wir Niemandem ein Leides thun (ausser in solchen Fällen, wo
wir es uns selbst thun, also wo wir uns der Heilung halber schneiden,
der Gesundheit halber uns mühen und anstrengen). Wir schliessen aus
Analogie, dass Etwas jemandem weh thut, und durch die Erinnerung
und die Stärke der Phantasie kann es uns dabei selber übel werden.
Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen dem Zahnschmerz und
dem Schmerze (Mitleiden), welchen der Anblick des Zahnschmerzes
hervorruft? Also: bei dem Schädigen aus sogenannter Bosheit ist der
Grad des erzeugten Schmerzes uns jedenfalls unbekannt; insofern aber
eine Lust bei der Handlung ist (Gefühl der eignen Macht, der eignen
starken Erregung), geschieht die Handlung, um das Wohlbefinden
des Individuums zu erhalten und fällt somit unter einen ähnlichen
Gesichtspunct wie die Nothwehr, die Nothlüge. Ohne Lust kein Leben;
der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der Einzelne
diesen Kampf so kämpft, dass die Menschen ihn gut, oder so, dass sie
ihn böse nennen, darüber entscheidet das Maass und die Beschaffenheit
seines Intellects.


105.

Die belohnende Gerechtigkeit. - Wer vollständig die Lehre von der
völligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte
strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den
Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht,
dass man jedem das Seine giebt. Denn Der, welcher gestraft wird,
verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt, um
fürderhin von gewissen Handlungen abzuschrecken; ebenso verdient Der,
welchen man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht anders
handeln, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn nur den Sinn einer
Aufmunterung für ihn und Andere, um also zu späteren Handlungen ein
Motiv abzugeben; das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen,
nicht Dem, welcher am Ziele ist. Weder Strafe noch Lohn sind
Etwas, das Einem als das Seine zukommt; sie werden ihm aus
Nützlichkeitsgründen gegeben, ohne dass er mit Gerechtigkeit Anspruch
auf sie zu erheben hätte. Man muss ebenso sagen "der Weise belohnt
nicht, weil gut gehandelt worden ist", als man gesagt hat "der Weise
straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht
schlecht gehandelt werde". Wenn Strafe und Lohn fortfielen, so fielen
die kräftigsten Motive, welche von gewissen Handlungen weg, zu
gewissen Handlungen hin treiben, fort; der Nutzen der Menschen
erheischt ihre Fortdauer; und insofern Strafe und Lohn, Tadel und Lob
am empfindlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt der selbe
Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit.


106.

Am Wasserfall. - Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den
zahllosen Biegungen, Schlängelungen, Brechungen der Wellen Freiheit
des Willens und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig,
jede Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den
menschlichen Handlungen; man müsste jede einzelne Handlung vorher
ausrechnen können, wenn man allwissend wäre, ebenso jeden Fortschritt
der Erkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit. Der Handelnde selbst
steckt freilich in der Illusion der Willkür; wenn in einem Augenblick
das Rad der Welt still stände und ein allwissender, rechnender
Verstand da wäre, um diese Pausen zu benützen, so könnte er bis in die
fernsten Zeiten die Zukunft jedes Wesens weitererzählen und jede Spur
bezeichnen, auf der jenes Rad noch rollen wird. Die Täuschung des
Handelnden über sich, die Annahme des freien Willens, gehört mit
hinein in diesen auszurechnenden Mechanismus.


107.

Unverantwortlichkeit und Unschuld. - Die völlige Unverantwortlichkeit
des Menschen für sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste
Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war,
in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines
Menschenthums zu sehen. Alle seine Schätzungen, Auszeichnungen,
Abneigungen sind dadurch entwerthet und falsch geworden: sein tiefstes
Gefühl, das er dem Dulder, dem Helden entgegenbrachte, hat einem
Irrthume gegolten; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn es ist
ungereimt, die Natur und die Nothwendigkeit zu loben und zu tadeln. So
wie er das gute Kunstwerk liebt, aber nicht lobt, weil es Nichts für
sich selber kann, wie er vor der Pflanze steht, so muss er vor den
Handlungen der Menschen, vor seinen eignen stehen. Er kann Kraft,
Schönheit, Fülle an ihnen bewundern, aber darf keine Verdienste darin
finden: der chemische Process und der Streit der Elemente, die Qual
des Kranken, der nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste,
als jene Seelenkämpfe und Nothzustände, bei denen man durch
verschiedene Motive hin- und hergerissen wird, bis man sich endlich
für das mächtigste entscheidet - wie man sagt (in Wahrheit aber, bis
das mächtigste Motiv über uns entscheidet). Alle diese Motive aber, so
hohe Namen wir ihnen geben, sind aus den selben Wurzeln gewachsen, in
denen wir die bösen Gifte wohnend glauben; zwischen guten und bösen
Handlungen giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens
des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte böse; böse Handlungen sind
vergröberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums
nach Selbstgenuss (sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen)
befriedigt sich unter allen Umständen, der Mensch mag handeln, wie er
kann, das heisst wie er muss: sei es in Thaten der Eitelkeit, Rache,
Lust, Nützlichkeit, Bosheit, List, sei es in Thaten der Aufopferung,
des Mitleids, der Erkenntniss. Die Grade der Urtheilsfähigkeit
entscheiden, wohin Jemand sich durch diess Verlangen hinziehen lässt;
fortwährend ist jeder Gesellschaft, jedem Einzelnen eine Rangordnung
der Güter gegenwärtig, wonach er seine Handlungen bestimmt und die der
Anderen beurtheilt. Aber dieser Maassstab wandelt sich fortwährend,
viele Handlungen werden böse genannt und sind nur dumm, weil der Grad
der Intelligenz, welcher sich für sie entschied, sehr niedrig war. Ja,
in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch alle Handlungen dumm,
denn der höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht
werden kann, wird sicherlich noch überboten werden: und dann wird,
bei einem Rückblick, all unser Handeln und Urtheilen so beschränkt
und übereilt erscheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen
zurückgebliebener wilder Völkerschaften beschränkt und übereilt
vorkommt. - Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber
darnach giebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen.
Der Schmetterling will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er
zerreisst sie: da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das
Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit
fähig sind - wie wenige werden es sein! - wird der erste Versuch
gemacht, ob die Menschheit aus einer moralischen sich in eine weise
Menschheit umwandeln könne. Die Sonne eines neuen Evangeliums wirft
ihren ersten Strahl auf die höchsten Gipfel in der Seele jener
Einzelnen: da ballen sich die Nebel dichter, als je, und neben
einander lagert der hellste Schein und die trübste Dämmerung. Alles
ist Nothwendigkeit, - so sagt die neue Erkenntniss: und diese
Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die
Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust,
Egoismus, Eitelkeit nothwendig zur Erzeugung der moralischen Phänomene
und ihrer höchsten Blüthe, des Sinnes für Wahrheit und Gerechtigkeit
der Erkenntniss, war der Irrthum und die Verirrung der Phantasie das
einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmählich zu diesem
Grade von Selbsterleuchtung und Selbsterlösung zu erheben vermochte -
wer dürfte jene Mittel geringschätzen? Wer dürfte traurig sein, wenn
er das Ziel, zu dem jene Wege führen, gewahr wird? Alles auf dem
Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im
Flusse, es ist wahr: - aber Alles ist auch im Strome: nach Einem Ziele
hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrthümlichen Schätzens,
Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluss
der wachsenden Erkenntniss wird sie schwächer werden: eine neue
Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens,
Ueberschauens, pflanzt sich allmählich in uns auf dem selben Boden
an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein,
um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen
(unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmässig hervorzubringen, wie
sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewussten Menschen - das
heisst die nothwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem -
hervorbringt.




Drittes Hauptstück.

Das religiöse Leben.

108.

Der doppelte Kampf gegen das Uebel. -Wenn uns ein Uebel trifft, so
kann man entweder so über dasselbe hinwegkommen, dass man seine
Ursache hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf unsere
Empfindung macht, verändert: also durch ein Umdeuten des Uebels in
ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich sein wird.
Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich,
auf die Aenderung der Empfindung zu wirken, theils durch Aenderung
unseres Urtheils über die Erlebnisse (zum Beispiel mit Hülfe des
Satzes: "wen Gott lieb hat, den züchtigt er"), theils durch Erweckung
einer Lust am Schmerz, an der Emotion überhaupt (woher die Kunst des
Tragischen ihren Ausgangspunct nimmt). Je mehr Einer dazu neigt,
umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird er die Ursachen des
Uebels in's Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung
und Narkotisirung, wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz gebräuchlich
ist, genügt ihm auch in ernsteren Leiden. Je mehr die Herrschaft der
Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen
die Menschen die wirkliche Beseitigung der Uebel in's Auge, was
freilich schlimm für die Tragödiendichter ausfällt - denn zur Tragödie
findet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des unerbittlichen,
unbezwinglichen Schicksals immer enger wird -, noch schlimmer aber
für die Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisirung
menschlicher Uebel.


109.

Gram ist Erkenntniss. - Wie gern möchte man die falschen Behauptungen
der Priester, es gebe einen Gott, der das Gute von uns verlangte,
Wächter und Zeuge jeder Handlung, jedes Augenblickes, jedes Gedankens
sei, der uns liebe, in allem Unglück unser Bestes wolle, - wie gern
möchte man diese mit Wahrheiten vertauschen, welche ebenso heilsam,
beruhigend und wohlthuend wären, wie jene Irrthümer! Doch solche
Wahrheiten giebt es nicht; die Philosophie kann ihnen höchstens
wiederum metaphysische Scheinbarkeiten (im Grunde ebenfalls
Unwahrheiten) entgegensetzen. Nun ist aber die Tragödie die, dass man
jene Dogmen der Religion und Metaphysik nicht glauben kann, wenn man
die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe hat, andererseits
durch die Entwickelung der Menschheit so zart, reizbar, leidend
geworden ist, um Heil- und Trostmittel der höchsten Art nöthig zu
haben; woraus also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der
erkannten Wahrheit verblute. Diess drückt Byron in unsterblichen
Versen aus:

    Sorrow is knowledge: they who know the most
    must mourn the deepst o'er the fatal truth,
    the tree of knowledge is not that of life.

Gegen solche Sorgen hilft kein Mittel besser, als den feierlichen
Leichtsinn Horazens, wenigstens für die schlimmsten Stunden und
Sonnenfinsternisse der Seele, heraufzubeschwören und mit ihm zu sich
selber zu sagen:

    quid aeternis minorem
    consiliis animum fatigas?
    cur non sub alta vel platano vel hac
    pinu jacentes -

Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermuth jeden Grades besser,
als eine romantische Rückkehr und Fahnenflucht, eine Annäherung an das
Christenthum in irgend einer Form: denn mit ihm kann man sich, nach
dem gegenwärtigen Stande der Erkenntniss, schlechterdings nicht mehr
einlassen, ohne sein in intellectuales Gewissen heillos zu beschmutzen
und vor sich und Anderen preiszugeben. Jene Schmerzen mögen peinlich
genug sein: aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem Führer und
Erzieher der Menschheit werden; und wehe Dem, welcher diess versuchen
möchte und jenes reine Gewissen nicht mehr hätte!


110.

Die Wahrheit in der Religion. - In der Periode der Aufklärung war man
der Bedeutung der Religion nicht gerecht geworden, daran ist nicht zu
zweifeln: aber ebenso steht fest, dass man, in dem darauffolgenden
Widerspiel der Aufklärung, wiederum um ein gutes Stück über die
Gerechtigkeit hinausgieng, indem man die Religionen mit Liebe, selbst
mit Verliebtheit behandelte und ihnen zum Beispiel ein tieferes,
ja das allertiefste Verständniss der Welt zuerkannte; welches die
Wissenschaft des dogmatischen Gewandes zu entkleiden habe, um dann
in unmythischer Form die "Wahrheit" zu besitzen. Religionen sollen
also - diess war die Behauptung aller Gegner der Aufklärung - sensu
allegorico, mit Rücksicht auf das Verstehen der Menge, jene uralte
Weisheit aussprechen, welche die Weisheit an sich sei, insofern alle
wahre Wissenschaft der neueren Zeit immer zu ihr hin, anstatt von ihr
weg, geführt habe: so dass zwischen den ältesten Weisen der Menschheit
und allen späteren Harmonie, ja Gleichheit der Einsichten walte und
ein Fortschritt der Erkenntnisse - falls man von einem solchen reden
wolle - sich nicht auf das Wesen, sondern die Mittheilung desselben
beziehe. Diese ganze Auffassung von Religion und Wissenschaft ist
durch und durch irrthümlich; und Niemand würde jetzt noch zu ihr sich
zu bekennen wagen, wenn nicht Schopenhauer's Beredtsamkeit sie in
Schutz genommen hätte: diese laut tönende und doch erst nach einem
Menschenalter ihre Hörer erreichende Beredtsamkeit. So gewiss man aus
Schopenhauer's religiös-moralischer Menschen- und Weltdeutung sehr
viel für das Verständniss des Christenthums und anderer Religionen
gewinnen kann, so gewiss ist es auch, dass er über den Werth der
Religion für die Erkenntniss sich geirrt hat. Er selbst war darin ein
nur zu folgsamer Schüler der wissenschaftlichen Lehrer seiner Zeit,
welche allesammt der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufklärung
abgeschworen hatten; in unsere jetzige Zeit hineingeboren, würde er
unmöglich vom sensus allegoricus der Religion haben reden können; er
würde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte,
mit den Worten: noch nie hat eine Religion, weder mittelbar, noch
unmittelbar, weder als Dogma, noch als Gleichniss, eine Wahrheit
enthalten. Denn aus der Angst und dem Bedürfniss ist eine jede
geboren, auf Irrgängen der Vernunft hat sie sich in's Dasein
geschlichen; sie hat vielleicht einmal, im Zustande der Gefährdung
durch die Wissenschaft, irgend eine philosophische Lehre in ihr System
hineingelogen, damit man sie später darin vorfinde: aber diess ist ein
Theologenkunststück, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon an
sich selber zweifelt. Diese Kunststücke der Theologie, welche freilich
im Christenthum, als der Religion eines gelehrten, mit Philosophie
durchtränkten Zeitalters, sehr früh schon geübt wurden, haben auf
jenen Aberglauben vom sensus allegoricus hingeleitet, noch mehr
aber die Gewohnheit der Philosophen (namentlich er Halbwesen, der
dichterischen Philosophen und der philosophirenden Künstler), alle
die Empfindungen, welche sie in sich vorfanden, als Grundwesen
des Menschen überhaupt zu behandeln und somit auch ihren eigenen
religiösen Empfindungen einen bedeutenden Einfluss auf den Gedankenbau
ihrer Systeme zu gestatten. Weil die Philosophen vielfach unter
dem Herkommen religiöser Gewohnheiten, oder mindestens unter der
altvererbten Macht jenes "metaphysischen Bedürfnisses" philosophirten,
so gelangten sie zu Lehrmeinungen, welche in der That den jüdischen
oder christlichen oder indischen Religionsmeinungen sehr ähnlich
sahen, - ähnlich nämlich, wie Kinder den Müttern zu sehen pflegen,
nur dass in diesem Falle die Väter sich nicht über jene Mutterschaft
klar waren, wie diess wohl vorkommt, - sondern in der Unschuld ihrer
Verwunderung von einer Familien-Aehnlichkeit aller Religion und
Wissenschaft fabelten. In der That besteht zwischen der Religion und
der wirklichen Wissenschaft nicht Verwandtschaft, noch Freundschaft,
noch selbst Feindschaft: sie leben auf verschiedenen Sternen. Jede
Philosophie, welche einen religiösen Kometenschweif in die Dunkelheit
ihrer letzten Aussichten hinaus erglänzen lässt, macht Alles an sich
verdächtig, was sie als Wissenschaft vorträgt: es ist diess Alles
vermuthlich ebenfalls Religion, wenngleich unter dem Aufputz der
Wissenschaft. - Uebrigens: wenn alle Völker über gewisse religiöse
Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, übereinstimmten (was,
beiläufig gesagt, in Betreff dieses Punctes nicht der Fall ist), so
würde diess doch eben nur ein Gegenargument gegen jene behaupteten
Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes sein: der consensus
gentium und überhaupt hominum kann billigerweise nur einer Narrheit
gelten. Dagegen giebt es einen consensus omnium sapientium gar nicht,
in Bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der
Goethe'sche Vers spricht:

    Alle die Weisesten aller der Zeiten
    lächeln und winken und stimmen mit ein:
    Thöricht, auf Bess'rung der Thoren zu harren!
    Kinder der Klugheit, o habet die Narren
    eben zum Narren auch, wie sich's gehört!

Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet: der
consensus sapientium besteht darin, dass der consensus gentium einer
Narrheit gilt.


111.

Ursprung des religiösen Cultus'. - Versetzen wir uns in die Zeiten
zurück, in welchen das religiöse Leben am kräftigsten aufblühte, so
finden wir eine Grundüberzeugung vor, welche wir jetzt nicht mehr
theilen und derentwegen wir ein für alle Mal die Thore zum religiösen
Leben uns verschlossen sehen: sie betrifft die Natur und den Verkehr
mit ihr. Man weiss in jenen Zeiten noch Nichts von Naturgesetzen;
weder für die Erde noch für den Himmel giebt es ein Müssen; eine
Jahreszeit, der Sonnenschein, der Regen kann kommen oder auch
ausbleiben. Es fehlt überhaupt jeder Begriff der natürlichen
Causalität. Wenn man rudert, ist es nicht das Rudern, was das Schiff
bewegt, sondern Rudern ist nur eine magische Ceremonie, durch welche
man einen Dämon zwingt, das Schiff zu bewegen. Alle Erkrankungen,
der Tod selbst ist Resultat magischer Einwirkungen. Es geht bei
Krankwerden und Sterben nie natürlich zu; die ganze Vorstellung vom
"natürlichen Hergang" fehlt, - sie dämmert erst bei den älteren
Griechen, das heisst in einer sehr späten Phase der Menschheit, in der
Conception der über den Göttern thronenden Moira. Wenn Einer mit dem
Bogen schiesst, so ist immer noch eine irrationelle Hand und Kraft
dabei; versiegen plötzlich die Quellen, so denkt man zuerst an
unterirdische Dämonen und deren Tücken; der Pfeil eines Gottes muss
es sein, unter dessen unsichtbarer Wirkung ein Mensch auf einmal
niedersinkt. In Indien pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem
Hammer, seinem Beil und den übrigen Werkzeugen Opfer darzubringen;
ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die
Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter
seinen Pflug in gleicher Weise. Die ganze Natur ist in der Vorstellung
religiöser Menschen eine Summe von Handlungen bewusster und wollender
Wesen, ein ungeheurer Complex von Willkürlichkeiten. Es ist in Bezug
auf Alles, was ausser uns ist, kein Schluss gestattet, dass irgend
Etwas so und so sein werde, so und so kommen müsse; das ungefähr
Sichere, Berechenbare sind wir: der Mensch ist die Regel, die Natur
die Regellosigkeit, - dieser Satz enthält die Grundüberzeugung, welche
rohe, religiös productive Urculturen beherrscht. Wir jetzigen Menschen
empfinden gerade völlig umgekehrt: je reicher jetzt der Mensch sich
innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger
wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen mit Goethe
in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne
Seele, wir hören den Pendelschlag der grössten Uhr mit einer Sehnsucht
nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses
Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst
erst kommen könnten. Ehemals war es umgekehrt: denken wir an rohe,
frühe Zustände von Völkern zurück oder sehen wir die jetzigen Wilden
in der Nähe, so finden wir sie auf das stärkste durch das Gesetz, das
Herkommen bestimmt: das Individuum ist fast automatisch an dasselbe
gebunden und bewegt sich mit der Gleichförmigkeit eines Pendels. Ihm
muss die Natur - die unbegriffene, schreckliche, geheimnissvolle
Natur - als das Reich der Freiheit, der Willkür, der höheren Macht
erscheinen, ja gleichsam als eine übermenschliche Stufe des Daseins,
als Gott. Nun aber fühlt jeder Einzelne solcher Zeiten und Zustände,
wie von jenen Willkürlichkeiten der Natur seine Existenz, sein Glück,
das der Familie, des Staates, das Gelingen aller Unternehmungen
abhängen: einige Naturvorgänge müssen zur rechten Zeit eintreten,
andere zur rechten Zeit ausbleiben. Wie kann man einen Einfluss auf
diese furchtbaren Unbekannten ausüben, wie kann man das Reich der
Freiheit binden? so fragt er sich, so forscht er ängstlich: giebt
es denn keine Mittel, jene Mächte ebenso durch ein Herkommen und
Gesetz regelmässig zu machen, wie du selber regelmässig bist? - Das
Nachdenken der magie- und wundergläubigen Menschen geht dahin, der
Natur ein Gesetz auf zulegen -: und kurz gesagt, der religiöse Cultus
ist das Ergebniss dieses Nachdenkens. Das Problem, welches jene
Menschen sich vorlegen, ist auf das engste verwandt mit diesem: wie
kann der schwächere Stamm dem stärkeren doch Gesetze dictiren, ihn
bestimmen, seine Handlungen (im Verhalten zum schwächeren) leiten? Man
wird zuerst sich der harmlosesten Art eines Zwanges erinnern, jenes
Zwanges, den man ausübt, wenn man jemandes Neigung erworben hat.
Durch Flehen und Gebete, durch Unterwerfung, durch die Verpflichtung
zu regelmässigen Abgaben und Geschenken, durch schmeichelhafte
Verherrlichungen ist es also auch möglich, auf die Mächte der Natur
einen Zwang auszuüben, insofern man sie sich geneigt macht: Liebe
bindet und wird gebunden. Dann kann man Verträge schliessen, wobei
man sich zu bestimmtem Verhalten gegenseitig verpflichtet, Pfänder
stellt und Schwüre wechselt. Aber viel wichtiger ist eine Gattung
gewaltsameren Zwanges, durch Magie und Zauberei. Wie der Mensch mit
Hülfe des Zauberers einem stärkeren Feind doch zu schaden weiss und
ihn vor sich in Angst erhält, wie der Liebeszauber in die Ferne wirkt,
so glaubt der schwächere Mensch auch die mächtigeren Geister der Natur
bestimmen zu können. Das Hauptmittel aller Zauberei ist, dass man
Etwas in Gewalt bekommt, das jemandem zu eigen ist, Haare, Nägel,
etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein Bild, seinen Namen. Mit
solchem Apparate kann man dann zaubern; denn die Grundvoraussetzung
lautet: zu allem Geistigen gehört etwas Körperliches; mit dessen Hülfe
vermag man den Geist zu binden, zu Schädigen, zu vernichten; das
Körperliche giebt die Handhabe ab, mit der man das Geistige fassen
kann. So wie nun der Mensch den Menschen bestimmt, so bestimmt er auch
irgend einen Naturgeist; denn dieser hat auch sein Körperliches, an
dem er zu fassen ist. Der Baum und, verglichen mit ihm, der Keim,
aus dem er entstand, - dieses räthselhafte Nebeneinander scheint
zu beweisen, dass in beiden Formen sich ein und der selbe Geist
eingekörpert habe, bald klein, bald gross. Ein Stein, der plötzlich
rollt, ist der Leib, in welchem ein Geist wirkt; liegt auf einsamer
Haide ein Block, erscheint es unmöglich, an Menschenkraft zu denken,
die ihn hierher gebracht habe, so muss also der Stein sich selbst
hinbewegt haben, das heisst: er muss einen Geist beherbergen. Alles,
was einen Leib hat, ist der Zauberei zugänglich, also auch die
Naturgeister. Ist ein Gott geradezu an sein Bild gebunden, so kann
man auch ganz directen Zwang (durch Verweigerung der Opfernahrung,
Geisseln, in-Fesseln-Legen und Aehnliches) gegen ihn ausüben. Die
geringen Leute in China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes
zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich gelassen hat, mit
Stricken, reissen es nieder, schleifen es über die Strassen durch
Lehm- und Düngerhaufen; "du Hund von einem Geiste, sagen sie, wir
liessen dich in einem prächtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich
hübsch, wir fütterten dich gut, wir brachten dir Opfer und doch bist
du so undankbar." Aehnliche Gewaltmaassregeln gegen Heiligen- und
Muttergottesbilder, wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel
ihre Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch während dieses
Jahrhunderts in katholischen Ländern vorgekommen. - Durch alle diese
zauberischen Beziehungen zur Natur sind unzählige Ceremonien in's
Leben gerufen: und endlich, wenn der Wirrwarr derselben zu gross
geworden ist, bemüht man sich, sie zu ordnen, zu systematisiren,
so dass man den günstigen Verlauf des gesammten Ganges der
Natur, namentlich des grossen Jahreskreislaufs, sich durch einen
entsprechenden Verlauf eines Proceduren-Systems zu verbürgen meint.
Der Sinn des religiösen Cultus' ist, die Natur zu menschlichem
Vortheil zu bestimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit
einzuprägen, die sie von vornherein nicht hat; während in der jetzigen
Zeit man die Gesetzlichkeit der Natur erkennen will, um sich in sie zu
schicken. Kurz, der religiöse Cultus ruht auf den Vorstellungen der
Zauberei zwischen Mensch und Mensch; und der Zauberer ist älter,
als der Priester. Aber ebenso ruht er auf anderen und edleren
Vorstellungen; er setzt das sympathische Verhältniss von Mensch zu
Mensch, das Dasein von Wohlwollen, Dankbarkeit, Erhörung Bittender,
von Verträgen zwischen Feinden, von Verleihung der Unterpfänder, von
Anspruch auf Schutz des Eigenthums voraus. Der Mensch steht auch in
sehr niederen Culturstufen nicht der Natur als ohnmächtiger Sclave
gegenüber, er ist nicht nothwendig der willenlose Knecht derselben:
auf der griechischen Stufe der Religion, besonders im Verhalten zu den
olympischen Göttern, ist sogar an ein Zusammenleben von zwei Kasten,
einer vornehmeren, mächtigeren und einer weniger vornehmen zu denken;
aber beide gehören, ihrer Herkunft nach, irgendwie zusammen und sind
Einer Art, sie brauchen sich vor einander nicht zu schämen. Das ist
das Vornehme in der griechischen Religiosität.


112.

Beim Anblick gewisser antiker Opfergeräthschaften. - Wie manche
Empfindungen uns verloren gehen, ist zum Beispiel an der Vereinigung
des Possenhaften, selbst des Obscönen, mit dem religiösen Gefühl zu
sehen: die Empfindung für die Möglichkeit dieser Mischung schwindet,
wir begreifen es nur noch historisch, dass sie existirte, bei den
Demeter- und Dionysosfesten, bei den christlichen Osterspielen und
Mysterien: aber auch wir kennen noch das Erhabene im Bunde mit
dem Burlesken und dergleichen, das Rührende mit dem Lächerlichen
verschmolzen: was vielleicht eine spätere Zeit auch nicht mehr
verstehen wird.


113.

Christenthum als Alterthum. - Wenn wir eines Sonntag Morgens die alten
Glocken brummen hören, da fragen wir uns: ist es nur möglich! diess
gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte,
er sei Gottes Sohn. Der Beweis für eine solche Behauptung fehlt. -
Sicherlich ist innerhalb unserer Zeiten die christliche Religion
ein aus ferner Vorzeit hereinragendes Alterthum, und dass man jene
Behauptung glaubt, - während man sonst so streng in der Prüfung von
Ansprüchen ist -, ist vielleicht das älteste Stück dieses Erbes. Ein
Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt; ein Weiser, der
auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber
auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zu achten; eine
Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer
annimmt; jemand, der seine jünger sein Blut trinken heisst; Gebete
um Wundereingriffe; Sünden an einem Gott verübt, durch einen Gott
gebüsst; Furcht vor einem jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist;
die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die
Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt, - wie
schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter
Vergangenheit, an! Sollte man glauben, dass so Etwas noch geglaubt
wird?


114.

Das Ungriechische im Christenthum. - Die Griechen sahen über sich die
homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als
Knechte, wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der
gelungensten Exemplare ihrer eigenen Kaste, also ein Ideal, keinen
Gegensatz des eigenen Wesens. Man fühlt sich mit einander verwandt, es
besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch
denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Götter giebt, und stellt
sich in ein Verhältniss, wie das des niedrigeren Adels zum höheren
ist; während die italischen Völker eine rechte Bauern-Religion haben,
mit fortwährender Aengstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber
und Quälgeister. Wo die olympischen Götter zurücktraten, da war auch
das griechische Leben düsterer und ängstlicher. - Das Christenthum
dagegen zerdrückte und zerbrach den Menschen vollständig und versenkte
ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gefühl völliger Verworfenheit
liess es dann mit Einem Male den Glanz eines göttlichen Erbarmens
hineinleuchten, so dass der Ueberraschte, durch Gnade Betäubte, einen
Schrei des Entzückens ausstiess und für einen Augenblick den ganzen
Himmel in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Excess des
Gefühls, auf die dazu nöthige tiefe Kopf- und Herz-Corruption wirken
alle psychologischen Erfindungen des Christenthums hin: es will
vernichten, zerbrechen, betäuben, berauschen, es will nur Eins nicht:
das Maass, und desshalb ist es im tiefsten Verstande barbarisch,
asiatisch, unvornehm, ungriechisch.


115.

Mit Vortheil religiös sein. - Es giebt nüchterne und gewerbstüchtige
Leute, denen die Religion wie ein Saum höheren Menschenthums
angestickt ist: diese thun sehr wohl, religiös zu bleiben, es
verschönert sie. - Alle Menschen, welche sich nicht auf irgend ein
Waffenhandwerk verstehen - Mund und Feder als Waffen eingerechnet -
werden servil: für solche ist die christliche Religion sehr nützlich,
denn die Servilität nimmt darin den Anschein einer christlichen Tugend
an und wird erstaunlich verschönert. - Leute, welchen ihr tägliches
Leben zu leer und eintönig vorkommt, werden leicht religiös: diess ist
begreiflich und verzeihlich, nur haben sie kein Recht, Religiosität
von Denen zu fordern, denen das tägliche Leben nicht leer und eintönig
verfliesst.


116.

Der Alltags-Christ. - Wenn das Christenthum mit seinen Sätzen vom
rächenden Gotte, der allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und
der Gefahr einer ewigen Verdammniss, Recht hätte, so wäre es ein
Zeichen von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, nicht Priester,
Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am
eigenen Heile zu arbeiten; es wäre unsinnig, den ewigen Vortheil gegen
die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen. Vorausgesetzt,
dass überhaupt geglaubt wird, so ist der Alltags-Christ eine
erbärmliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei
zählen kann, und der übrigens, gerade wegen seiner geistigen
Unzurechnungsfähigkeit, es nicht verdiente, so hart bestraft zu
werden, als das Christenthum ihm verheisst.


117.

Von der Klugheit des Christenthums. - Es ist ein Kunstgriff des
Christenthums, die völlige Unwürdigkeit, Sündhaftigkeit und
Verächtlichkeit des Menschen überhaupt so laut zu lehren, dass die
Verachtung der Mitmenschen dabei nicht mehr möglich ist. "Er mag
sündigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich
von mir: ich bin es, der in jedem Grade unwürdig und verächtlich
ist," so sagt sich der Christ. Aber auch dieses Gefühl hat seinen
spitzigsten Stachel verloren, weil der Christ nicht an seine
individuelle Verächtlichkeit glaubt: er ist böse als Mensch überhaupt
und beruhigt sich ein Wenig bei dem Satze: Wir Alle sind Einer Art.


118.

Personenwechsel. - Sobald eine Religion herrscht, hat sie alle Die zu
ihren Gegnern, welche ihre ersten jünger gewesen wären.


119.

Schicksal des Christenthums. - Das Christenthum entstand, um das Herz
zu erleichtern; aber jetzt müsste es das Herz erst beschweren, um es
nachher erleichtern zu können. Folglich wird es zu Grunde gehen.


120.

Der Beweis der Lust. - Die angenehme Meinung wird als wahr angenommen:
diess ist der Beweis der Lust (oder, wie die Kirche sagt, der Beweis
der Kraft), auf welchen alle Religionen so stolz sind, während sie
sich dessen doch schämen sollten. Wenn der Glaube nicht selig machte,
so würde er nicht geglaubt werden: wie wenig wird er also werth sein!


121.

Gefährliches Spiel. - Wer jetzt der religiösen Empfindung wieder in
sich Raum giebt, der muss sie dann auch wachsen lassen, er kann nicht
anders. Da verändert sich allmählich sein Wesen, es bevorzugt das dem
religiösen Element Anhängende, Benachbarte, der ganze Umkreis des
Urtheilens und Empfindens wird umwölkt, mit religiösen Schatten
überflogen. Die Empfindung kann nicht still stehen; man nehme sich
also in Acht.


122.

Die blinden Schüler. - So lange Einer sehr gut die Stärke und,
Schwäche seiner Lehre, seiner Kunstart, seiner Religion kennt, ist
deren Kraft noch gering. Der Schüler und Apostel, welcher für die
Schwäche der Lehre, der Religion und so weiter, kein Auge hat,
geblendet durch das Ansehen des Meisters und durch seine Pietät gegen
ihn, hat desshalb gewöhnlich mehr Macht, als der Meister. Ohne die
blinden Schüler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines
Werkes gross geworden. Einer Erkenntniss zum Siege verhelfen heisst
oft nur: sie so mit der Dummheit verschwistern, dass das Schwergewicht
der letzteren auch den Sieg für die erstere erzwingt.


123.

Abbruch der Kirchen. - Es ist nicht genug an Religion in der Welt, um
die Religionen auch nur zu vernichten.


124.

Sündlosigkeit des Menschen. - Hat man begriffen, "wie die Sünde in
die Welt gekommen" ist, nämlich durch Irrthümer der Vernunft, vermöge
deren die Menschen unter einander, ja der einzelne Mensch sich selbst
für viel schwärzer und böser nimmt, als es thatsächlich der Fall ist,
so wird die ganze Empfindung sehr erleichtert, und Menschen und Welt
erscheinen mitunter in einer Glorie von Harmlosigkeit, dass es Einem
von Grund aus wohl dabei wird. Der Mensch ist inmitten der Natur
immer das Kind an sich. Diess Kind träumt wohl einmal einen schweren
beängstigenden Traum, wenn es aber die Augen aufschlägt, so sieht es
sich immer wieder im Paradiese.


125.

Irreligiosität der Künstler. - Homer ist unter seinen Göttern so zu
Hause: und hat als Dichter ein solches Behagen an ihnen, dass er
jedenfalls tief unreligiös gewesen sein muss; mit dem, was der
Volksglaube ihm entgegenbrachte - einen dürftigen, rohen, zum Theil
schauerlichen Aberglauben - verkehrte er so frei, wie der Bildhauer
mit seinem Thon, also mit der selben Unbefangenheit, welche Aeschylus
und Aristophanes besassen und durch welche sich in neuerer Zeit
die grossen Künstler der Renaissance, sowie Shakespeare und Goethe
auszeichneten.


126.

Kunst und Kraft der falschen Interpretation. - Alle die Visionen,
Schrecken, Ermattungen, Entzückungen des Heiligen sind bekannte
Krankheits-Zustände, welche von ihm, auf Grund eingewurzelter
religiöser und psychologischer Irrthümer, nur ganz anders, nämlich
nicht als Krankheiten, gedeutet werden. - So ist vielleicht auch das
Dämonion des Sokrates ein Ohrenleiden, das er sich, gemäss seiner
herrschenden moralischen Denkungsart, nur anders, als es jetzt
geschehen würde, auslegt. Nicht anders steht es mit dem Wahnsinn und
Wahnreden der Propheten und Orakelpriester; es ist immer der Grad
von Wissen, Phantasie, Bestrebung, Moralität in Kopf und Herz der
Interpreten, welcher daraus so viel gemacht hat. Zu den grössten
Wirkungen der Menschen, welche man Genie's und Heilige nennt, gehört
es, dass sie sich Interpreten erzwingen, welche sie zum Heile der
Menschheit missverstehen.


127.

Verehrung des Wahnsinns. - Weil man bemerkte, dass eine Erregung
häufig den Kopf heller machte und glückliche Einfälle hervorrief, so
meinte man, durch die höchsten Erregungen werde man der glücklichsten
Einfälle und Eingebungen theilhaftig: und so verehrte man den
Wahnsinnigen als den Weisen und Orakelgebenden. Hier liegt ein
falscher Schluss zu Grunde.


128.

Verheissungen der Wissenschaft. - Die moderne Wissenschaft hat als
Ziel: so wenig Schmerz wie möglich, so lange leben wie möglich, -
also eine Art von ewiger Seligkeit, freilich eine sehr bescheidene im
Vergleich mit den Verheissungen der Religionen.


129.

Verbotene Freigebigkeit. - Es ist nicht genug Liebe und Güte in der
Welt, um noch davon an eingebildete Wesen wegschenken zu dürfen.


130.

Fortleben des religiösen Cultus' im Gemüth. - Die katholische Kirche,
und vor ihr aller antike Cultus, beherrschte das ganze Bereich von
Mitteln, durch welche der Mensch in ungewöhnliche Stimmungen versetzt
wird und der kalten Berechnung des Vortheils oder dem reinen
Vernunft-Denken entrissen wird. Eine durch tiefe Töne erzitternde
Kirche, dumpfe, regelmässige, zurückhaltende Anrufe einer
priesterlichen Schaar, welche ihre Spannung unwillkürlich auf die
Gemeinde überträgt und sie fast angstvoll lauschen lässt, wie als wenn
eben ein Wunder sich vorbereitete, der Anhauch der Architektur, welche
als Wohnung einer Gottheit sich in's Unbestimmte ausreckt und in allen
dunklen Räumen das Sich-Regen derselben fürchten lässt, - wer wollte
solche Vorgänge den Menschen zurückbringen, wenn die Voraussetzungen
dazu nicht mehr geglaubt werden? Aber die Resultate von dem Allen sind
trotzdem nicht verloren: die innere Welt der erhabenen, gerührten,
ahnungsvollen, tiefzerknirschten, hoffnungsseligen Stimmungen ist den
Menschen vornehmlich durch den Cultus eingeboren worden; was jetzt
davon in der Seele existirt, wurde damals, als er keimte, wuchs und
blühte, gross gezüchtet.


131.

Religiöse Nachwehen. - Glaubt man sich noch so sehr der Religion
entwöhnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass
man nicht Freude hätte, religiösen Empfindungen und Stimmungen ohne
begrifflichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der Musik; und wenn
eine Philosophie uns die Berechtigung von metaphysischen Hoffnungen,
von dem dorther zu erlangenden tiefen Frieden der Seele aufzeigt und
zum Beispiel von "dem ganzen sichern Evangelium im Blick der Madonnen
bei Rafael" spricht, so kommen wir solchen Aussprüchen und Darlegungen
mit besonders herzlicher Stimmung entgegen: der Philosoph hat es hier
leichter, zu beweisen, er entspricht mit dem, was er geben will, einem
Herzen, welches gern nehmen will. Daran bemerkt man, wie die weniger
bedachtsamen Freigeister eigentlich nur an den Dogmen Anstoss nehmen,
aber recht wohl den Zauber der religiösen Empfindung kennen; es thut
ihnen wehe, letztere fahren zu lassen, um der ersteren willen. -
Die wissenschaftliche Philosophie muss sehr auf der Hut sein, nicht
auf Grund jenes Bedürfnisses - eines gewordenen und folglich auch
vergänglichen Bedürfnisses - Irrthümer einzuschmuggeln: selbst Logiker
sprechen von "Ahnungen" der Wahrheit in Moral und Kunst (zum Beispiel
von der Ahnung, "dass das Wesen der Dinge Eins ist"): was ihnen doch
verboten sein sollte. Zwischen den sorgsam erschlossenen Wahrheiten
und solchen" geahnten" Dingen bleibt unüberbrückbar die Kluft, dass
jene dem Intellect, diese dem Bedürfniss verdankt werden. Der Hunger
beweist nicht, dass es zu seiner Sättigung eine Speise giebt, aber er
wünscht die Speise. "Ahnen" bedeutet nicht das Dasein einer Sache in
irgend einem Grade erkennen, sondern dasselbe für möglich halten,
insofern man sie wünscht oder fürchtet; die "Ahnung" trägt keinen
Schritt weit in's Land der Gewissheit. - Man glaubt unwillkürlich, die
religiös gefärbten Abschnitte einer Philosophie seien besser bewiesen,
als die anderen; aber es ist im Grunde umgekehrt, man hat nur den
inneren Wunsch, dass es so sein möge, - also dass das Beseligende auch
das Wahre sei. Dieser Wunsch verleitet uns, schlechte Gründe als gute
einzukaufen.


132.

Von dem christlichen Erlösungsbedürfniss. - Bei sorgsamer Ueberlegung
muss es möglich sein, dem Vorgange in der Seele eines Christen,
welchen man Erlösungsbedürfniss nennt, eine Erklärung abzugewinnen,
die frei von Mythologie ist: also eine rein psychologische. Bis jetzt
sind freilich die psychologischen Erklärungen religiöser Zustände und
Vorgänge in einigem Verrufe gewesen, insoweit eine sich frei nennende
Theologie auf diesem Gebiete ihr unerspriessliches Wesen trieb: denn
bei ihr war es von vornherein, sowie es der Geist ihres Stifters,
Schleiermacher's, vermuthen lässt, auf die Erhaltung der christlichen
Religion und das Fortbestehen der christlichen Theologen abgesehen;
als welche in der psychologischen Analysis der religiösen "Thatsachen"
einen neuen Ankergrund und vor Allem eine neue Beschäftigung gewinnen
sollten. Unbeirrt von solchen Vorgängern, wagen wir folgende Auslegung
des bezeichneten Phänomens. Der Mensch ist sich gewisser Handlungen
bewusst, welche in der gebräuchlichen Rangordnung der Handlungen tief
stehen, ja er entdeckt in sich einen Hang zu dergleichen Handlungen,
der ihm fast so unveränderlich wie sein ganzes Wesen erscheint. Wie
gerne versuchte er sich in jener anderen Gattung von Handlungen,
welche in der allgemeinen Schätzung als die obersten und höchsten
anerkannt sind, wie gerne fühlte er sich voll des guten Bewusstseins,
welches einer selbstlosen Denkweise folgen soll! Leider aber bleibt es
eben bei diesem Wunsche: die Unzufriedenheit darüber, demselben nicht
genügen zu können, kommt zu allen übrigen Arten von Unzufriedenheit
hinzu, welche sein Lebensloos überhaupt oder die Folgen jener
böse genannten Handlungen in ihm erregt haben; so dass eine tiefe
Verstimmung entsteht, mit dem Ausblicke nach einem Arzte, der diese,
und alle ihre Ursachen, zu heben vermöchte. - Dieser Zustand würde
nicht so bitter empfunden werden, wenn der Mensch sich nur mit anderen
Menschen unbefangen vergliche: dann nämlich hätte er keinen Grund, mit
sich in einem besonderen Maasse unzufrieden zu sein, er trüge eben
nur an der allgemeinen Last der menschlichen Unbefriedigung und
Unvollkommenheit. Aber er vergleicht sich mit einem Wesen, welches
allein jener Handlungen fähig ist, die unegoistisch genannt werden,
und im fortwährenden Bewusstsein einer selbstlosen Denkweise lebt,
mit Gott; dadurch, dass er in diesen hellen Spiegel schaut, erscheint
ihm sein Wesen so trübe, so ungewöhnlich verzerrt. Sodann ängstigt
ihn der Gedanke an das selbe Wesen, insofern dieses als strafende
Gerechtigkeit vor seiner Phantasie schwebt: in allen möglichen kleinen
und grossen Erlebnissen glaubt er seinen Zorn, seine Drohung zu
erkennen, ja die Geisselschläge seines Richter- und Henkerthums schon
vorzuempfinden. Wer hilft ihm in dieser Gefahr, welche durch den
Hinblick auf eine unermessliche Zeitdauer der Strafe an Grässlichkeit
alle anderen Schrecknisse der Vorstellung überbietet?


133.

Bevor wir diesen Zustand in seinen weiteren Folgen uns vorlegen,
wollen wir es doch uns eingestehen, dass der Mensch in diesen Zustand
nicht durch seine "Schuld" und "Sünde", sondern durch eine Reihe von
Irrthümern der Vernunft gerathen ist, dass es der Fehler des Spiegels
war, wenn ihm sein Wesen in jenem Grade dunkel und hassenswerth
vorkam, und dass jener Spiegel sein Werk, das sehr unvollkommene Werk
der menschlichen Phantasie und Urtheilskraft war. Erstens ist ein
Wesen, welches einzig rein unegoistischer Handlungen fähig wäre,
noch fabelhafter als der Vogel Phönix; es ist deutlich nicht einmal
vorzustellen, schon desshalb, weil der ganze Begriff "unegoistische
Handlung" bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt. Nie hat ein
Mensch Etwas gethan, das allein für Andere und ohne jeden persönlichen
Beweggrund gethan wäre; ja wie sollte er Etwas thun können, das ohne
Bezug zu ihm wäre, also ohne innere Nöthigung (welche ihren Grund doch
in einem persönlichen Bedürfniss haben müsste)? Wie vermöchte das
ego ohne ego zu handeln? - Ein Gott, der dagegen ganz Liebe ist, wie
gelegentlich angenommen wird, wäre keiner einzigen unegoistischen
Handlung fähig: wobei man sich an einen Gedanken Lichtenberg's, der
freilich einer niedrigeren Sphäre entnommen ist, erinnern sollte:
"Wir können unmöglich für Andere fühlen, wie man zu sagen pflegt; wir
fühlen nur für uns. Der Satz klingt hart, er ist es aber nicht, wenn
er nur recht verstanden wird. Man liebt weder Vater, noch Mutter, noch
Frau, noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns
machen", oder wie La Rochefoucauld sagt: "si on croit aimer sa
maîtresse pour l'amour d'elle, on est bien trompe'." Wesshalb
Handlungen der Liebe höher geschätzt werden, als andere, nämlich nicht
ihres Wesens, sondern ihrer Nützlichkeit halber, darüber vergleiche
man die schon vorher erwähnten Untersuchungen "über den Ursprung der
moralischen Empfindungen". Sollte aber ein Mensch wünschen, ganz wie
jener Gott, Liebe zu sein, Alles für Andere, Nichts für sich zu thun,
zu wollen, so ist letzteres schon desshalb unmöglich, weil er sehr
viel für sich thun muss, um überhaupt Anderen Etwas zu Liebe thun zu
können. Sodann setzt es voraus, dass der Andere Egoist genug ist, um
jene Opfer, jenes Leben für ihn, immer und immer wieder anzunehmen:
so dass die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem
Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten haben,
und die höchste Moralität, um bestehen zu können, förmlich die
Existenz der Unmoralität erzwingen müsste (wodurch sie sich freilich
selber aufheben würde). - Weiter. die Vorstellung eines Gottes
beunruhigt und demüthigt so lange, als sie geglaubt wird, aber
wie sie entstanden ist, darüber kann bei dem jetzigen Stande der
völkervergleichenden Wissenschaft kein Zweifel mehr sein; und mit der
Einsicht in jene Entstehung fällt jener Glaube dahin. Es geht dem
Christen, welcher sein Wesen mit dem Gotte vergleicht, so, wie dem
Don Quixote, der seine eigne Tapferkeit unterschätzt, weil er die
Wunderthaten der Helden aus den Ritterromanen im Kopfe hat; der
Maassstab, mit welchem in beiden Fällen gemessen wird, gehört in's
Reich der Fabel. Fällt aber die Vorstellung des Gottes weg, so
auch das Gefühl der "Sünde" als eines Vergehens gegen göttliche
Vorschriften, als eines Fleckens an einem gottgeweihten Geschöpfe.
Dann bleibt wahrscheinlich noch jener Unmuth übrig, welcher mit
der Furcht vor Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, oder vor der
Missachtung der Menschen, sehr verwachsen und verwandt ist; der Unmuth
der Gewissensbisse, der schärfste Stachel im Gefühl der Schuld, ist
immerhin abgebrochen, wenn man einsieht, dass man sich durch seine
Handlungen wohl gegen menschliches Herkommen, menschliche Satzungen
und Ordnungen vergangen habe, aber damit noch nicht das "ewige Heil
der Seele" und ihre Beziehung zur Gottheit gefährdet habe. Gelingt es
dem Menschen zuletzt noch, die philosophische Ueberzeugung von der
unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer völligen
Unverantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen,
so verschwindet auch jener Rest von Gewissensbissen.


134.

Ist nun der Christ, wie gesagt, durch einige Irrthümer in das
Gefühl der Selbstverachtung gerathen, also durch eine falsche
unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen,
so muss er mit höchstem Erstaunen bemerken, wie jener Zustand der
Verachtung, der Gewissensbisse, der Unlust überhaupt, nicht anhält,
wie gelegentlich Stunden kommen, wo ihm dies Alles von der Seele
weggeweht ist und er sich wieder frei und muthig fühlt. In Wahrheit
hat die Lust an sich selber das Wohlbehagen an der eigenen Kraft, im
Bunde mit der nothwendigen Abschwächung jeder tiefen Erregung, den
Sieg davongetragen; der Mensch liebt sich wieder, er fühlt es, - aber
gerade diese Liebe, diese neue Selbstschätzung, kommt ihm unglaublich
vor, er kann in ihr allein das gänzlich unverdiente Herabströmen eines
Gnadenglanzes von Oben sehen. Wenn er früher in allen Begebnissen
Warnungen, Drohungen, Strafen und jede Art von Anzeichen des
göttlichen Zornes zu erblicken glaubte, so deutet er jetzt in seine
Erfahrungen die göttliche Güte hinein: diess Ereigniss kommt ihm
liebevoll, jenes wie ein hülfreicher Fingerzeig, ein drittes und
namentlich seine ganze freudige Stimmung als Beweis vor, dass Gott
gnädig sei. Wie er früher im Zustande des Unmuthes namentlich seine
Handlungen falsch ausdeutete, so jetzt namentlich seine Erlebnisse;
die getröstete Stimmung fasst er als Wirkung einer ausser ihm
waltenden Macht auf, die Liebe, mit der er sich im Grunde selbst
liebt, erscheint als göttliche Liebe; Das, was er Gnade und Vorspiel
der Erlösung nennt, ist in Wahrheit Selbstbegnadigung, Selbsterlösung.


135.

Also: eine bestimmte falsche Psychologie, eine gewisse Art von
Phantastik in der Ausdeutung der Motive und Erlebnisse ist die
nothwendige Voraussetzung davon, dass Einer zum Christen werde und das
Bedürfniss der Erlösung empfinde. Mit der Einsicht in diese Verirrung
der Vernunft und Phantasie hört man auf, Christ zu sein.


136.

Von der christlichen Askese und Heiligkeit. - So sehr einzelne Denker
sich bemüht haben, in den seltenen Erscheinungen der Moralität,
welche man Askese und Heiligkeit zu nennen pflegt, ein Wunderding
hinzustellen, dem die Leuchte einer vernünftigen Erklärung in's
Gesicht zu halten, beinahe schon Frevel und Entweihung sei: so stark
ist hinwiederum die Verführung zu diesem Frevel. Ein mächtiger Antrieb
der Natur hat zu allen Zeiten dazu geführt, gegen jene Erscheinungen
überhaupt zu protestiren; die Wissenschaft, insofern sie, wie früher
gesagt, eine Nachahmung der Natur ist, erlaubt sich wenigstens gegen
die behauptete Unerklärbarkeit, ja Unnahbarkeit derselben Einsprache
zu erheben. Freilich gelang es ihr bis jetzt nicht: jene Erscheinungen
sind immer noch unerklärt, zum grossen Vergnügen der erwähnten
Verehrer des moralisch-Wunderbaren. Denn, allgemein gesprochen: das
Unerklärte soll durchaus unerklärlich, das Unerklärliche durchaus
unnatürlich, übernatürlich, wunderhaft sein, - so lautet die Forderung
in den Seelen aller Religiösen und Metaphysiker (auch der Künstler,
falls sie zugleich Denker sind); während der wissenschaftliche Mensch
in dieser Forderung das "böse Princip" sieht. - Die allgemeine erste
Wahrscheinlichkeit, auf welche man bei Betrachtung der Askese und
Heiligkeit zuerst geräth, ist diese, dass ihre Natur eine complicirte
ist: denn fast überall, innerhalb der physischen Welt sowohl wie in
der moralischen, hat man mit Glück das angeblich Wunderbare auf das
Complicirte und mehrfach Bedingte zurückgeführt. Wagen wir es also,
einzelne Antriebe in der Seele der Heiligen und Asketen zunächst zu
isoliren und zum Schluss sie in einander uns verwachsen zu denken.


137.

Es giebt einen Trotz gegen sich selbst, zu dessen sublimirtesten
Aeusserungen manche Formen der Askese gehören. Gewisse Menschen
haben nämlich ein so hohes Bedürfniss, ihre Gewalt und Herrschsucht
auszuüben, dass sie, in Ermangelung anderer Objecte, oder, weil es
ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf verfallen, gewisse
Theile ihres eigenen Wesens, gleichsam Ausschnitte oder Stufen ihrer
selbst, zu tyrannisiren. So bekennt sich mancher Denker zu Ansichten,
welche ersichtlich nicht dazu dienen, seinen Ruf zu vermehren oder zu
verbessern; mancher beschwört förmlich die Missachtung Anderer auf
sich herab, während er es leicht hätte, durch Stillschweigen ein
geachteter Mann zu bleiben; andere widerrufen frühere Meinungen
und scheuen es nicht, fürderhin inconsequent genannt zu werden: im
Gegentheil, sie bemühen sich darum und benehmen sich wie übermüthige
Reiter, welche das Pferd, erst wenn es wild geworden, mit Schweiss
bedeckt, scheu gemacht ist, am liebsten mögen. So steigt der Mensch
auf gefährlichen Wegen in die höchsten Gebirge, um über seine
Aengstlichkeit und seine schlotternden Kniee Hohn zu lachen; so
bekennt sich der Philosoph zu Ansichten der Askese, Demuth und
Heiligkeit, in deren Glanze sein eigenes Bild auf das ärgste
verhässlicht wird. Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott über
die eigene Natur, dieses spernere se sperni, aus dem die Religionen so
viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit.
Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hierher: der Mensch hat
eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu
vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele
nachher zu vergöttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch
einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen
Theil zu diabolisiren. -


138.

Der Mensch ist nicht zu allen Stunden gleich moralisch, diess ist
bekannt: beurtheilt man seine Moralität nach der Fähigkeit zu grosser
aufopfernder Entschliessung und Selbstverleugnung (welche, dauernd
und zur Gewohnheit geworden, Heiligkeit ist), so ist er im Affect am
moralischsten; die höhere Erregung reicht ihm ganz neue Motive dar,
welcher er, nüchtern und kalt wie sonst, vielleicht nicht einmal fähig
zu sein glaubte. Wie kommt diess? Wahrscheinlich aus der Nachbarschaft
alles Grossen und hoch Erregenden; ist der Mensch einmal in eine
ausserordentliche Spannung gebracht, so kann er ebensowohl zu
einer furchtbaren Rache, als zu einer furchtbaren Brechung seines
Rachebedürfnisses sich entschliessen. Er will, unter dem Einflusse der
gewaltigen Emotion, jedenfalls das Grosse, Gewaltige, Ungeheure, und
wenn er zufällig merkt, dass ihm die Aufopferung seiner selbst ebenso
oder noch mehr genugthut, als die Opferung des Anderen, so wählt er
sie. Eigentlich liegt ihm also nur an der Entladung seiner Emotion;
da fasst er wohl, um seine Spannung zu erleichtern, die Speere
der Feinde zusammen und begräbt sie in seine Brust. Dass in der
Selbstverleugnung, und nicht nur in der Rache, etwas Grosses liege,
musste der Menschheit erst in langer Gewöhnung anerzogen werden;
eine Gottheit, welche sich selbst opfert, war das stärkste und
wirkungsvollste Symbol dieser Art von Grösse. Als die Besiegung des
schwerst zu besiegenden Feindes, die plötzliche Bemeisterung eines
Affectes, - als Diess erscheint diese Verleugnung; und insofern gilt
sie als der Gipfel des Moralischen. In Wahrheit handelt es sich bei
ihr um die Vertauschung der einen Vorstellung mit der andern, während
das Gemüth seine gleiche Höhe, seinen gleichen Fluthstand, behält.
Ernüchterte, vom Affect ausruhende Menschen verstehen die Moralität
jener Augenblicke nicht mehr, aber die Bewunderung Aller, die jene
miterlebten, hält sie aufrecht; der Stolz ist ihr Trost, wenn der
Affect und das Verständniss ihrer That weicht. Also: im Grunde sind
auch jene Handlungen der Selbstverleugnung nicht moralisch, insofern
sie nicht streng in Hinsicht auf Andere gethan sind; vielmehr giebt
der Andere dem hochgespannten Gemüthe nur eine Gelegenheit, sich zu
erleichtern, durch jene Verleugnung.


139.

In mancher Hinsicht sucht sich auch der Asket das Leben leicht zu
machen, und zwar gewöhnlich durch die vollkommene Unterordnung unter
einen fremden Willen oder unter ein umfängliches Gesetz und Ritual;
etwa in der Art, wie der Brahmane durchaus Nichts seiner eigenen
Bestimmung überlässt und sich in jeder Minute durch eine heilige
Vorschrift bestimmt. Diese Unterordnung ist ein mächtiges Mittel, um
über sich Herr zu werden; man ist beschäftigt, also ohne Langeweile,
und hat doch keine Anregung des Eigenwillens und der Leidenschaft
dabei; nach vollbrachter That fehlt das Gefühl der Verantwortung und
damit die Qual der Reue. Man hat ein für alle Mal auf eigenen Willen
verzichtet, und diess ist leichter, als nur gelegentlich einmal
zu verzichten; sowie es auch leichter ist, einer Begierde ganz zu
entsagen, als in ihr Maass zu halten. Wenn wir uns der jetzigen
Stellung des Mannes zum Staate erinnern, so finden wir auch da, dass
der unbedingte Gehorsam bequemer ist, als der bedingte. Der Heilige
also erleichtert sich durch jenes völlige Aufgeben der Persönlichkeit
sein Leben, und man täuscht sich, wenn man in jenem Phänomen das
höchste Heldenstück der Moralität bewundert. Es ist in jedem Falle
schwerer, seine Persönlichkeit ohne Schwanken und Unklarheit
durchzusetzen, als sich von ihr in der erwähnten Weise zu lösen;
überdiess verlangt es viel mehr Geist und Nachdenken.


140.

Nachdem ich, in vielen der schwerer erklärbaren Handlungen,
Aeusserungen jener Lust an der Emotion an sich gefunden habe, möchte
ich auch in Betreff der Selbstverachtung, welche zu den Merkmalen der
Heiligkeit gehört, und ebenso in den Handlungen der Selbstquälerei
(durch Hunger und Geisselschläge, Verrenkungen der Glieder,
Erheuchelung des Wahnsinns) ein Mittel erkennen, durch welches jene
Naturen gegen die allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (ihrer
Nerven) ankämpfen: sie bedienen sich der schmerzhaftesten Reizmittel
und Grausamkeiten, um für Zeiten wenigstens aus jener Dumpfheit und
Langenweile aufzutauchen, in welche ihre grosse geistige Indolenz
und jene geschilderte Unterordnung unter einen fremden Willen sie so
häufig verfallen lässt.


141.

Das gewöhnlichste Mittel, welches der Asket und Heilige anwendet,
um sich das Leben doch noch erträglich und unterhaltend zu machen,
besteht in gelegentlichem Kriegführen und in dem Wechsel von Sieg
und Niederlage. Dazu braucht er einen Gegner und findet ihn in dem
sogenannten "inneren Feinde". Namentlich nützt er seinen Hang zur
Eitelkeit, Ehr- und Herrschsucht, sodann seine sinnlichen Begierden
aus, um sein Leben wie eine fortgesetzte Schlacht und sich wie ein
Schlachtfeld ansehen zu dürfen, auf dem gute und böse Geister mit
wechselndem Erfolge ringen. Bekanntlich wird die sinnliche Phantasie
durch die Regelmässigkeit des geschlechtlichen Verkehrs gemässigt,
ja fast unterdrückt, umgekehrt, durch Enthaltsamkeit oder Unordnung
im Verkehre entfesselt und wüst. Die Phantasie vieler christlichen
Heiligen war in ungewöhnlichem Maasse schmutzig; vermöge jener
Theorie, dass diese Begierden wirkliche Dämonen seien, die in ihnen
wütheten, fühlten sie sich nicht allzusehr verantwortlich dabei;
diesem Gefühle verdanken wir die so belehrende Aufrichtigkeit ihrer
Selbstzeugnisse. Es war in ihrem Interesse, dass dieser Kampf in
irgend einem Grade immer unterhalten wurde, weil durch ihn, wie
gesagt, ihr ödes Leben unterhalten wurde. Damit der Kampf aber wichtig
genug erscheine, um andauernde Theilnahme und Bewunderung bei den
Nicht-Heiligen zu erregen, musste die Sinnlichkeit immer mehr
verketzert und gebrandmarkt werden, ja die Gefahr ewiger Verdammnis
wurde so eng an diese Dinge geknüpft, dass höchstwahrscheinlich durch
ganze Zeitalter hindurch die Christen mit bösem Gewissen Kinder
zeugten; wodurch gewiss der Menschheit ein grosser Schade angethan
worden ist. Und doch steht hier die Wahrheit ganz auf dem Kopfe:
was für die Wahrheit besonders unschicklich ist. Zwar hatte das
Christenthum gesagt: jeder Mensch sei in Sünden empfangen und geboren,
und im unausstehlichen Superlativ-Christenthume des Calderon hatte
sich dieser Gedanke noch einmal zusammengeknotet und verschlungen,
so dass er die verdrehteste Paradoxie wagte, die es giebt, in dem
bekannten Verse:

    die grösste Schuld des Menschen
    ist, dass er geboren ward.

In allen pessimistischen Religionen wird der Zeugungsact als schlecht
an sich empfunden, aber keineswegs ist diese Empfindung eine
allgemein-menschliche; selbst nicht einmal das Urtheil aller
Pessimisten ist sich hierin gleich. Empedokles zum Beispiel weiss gar
Nichts vom Beschämenden, Teuflischen, Sündhaften in allen erotischen
Dingen; er sieht vielmehr auf der grossen Wiese des Unheils eine
einzige heil- und hoffnungsvolle Erscheinung, die Aphrodite; sie gilt
ihm als Bürgschaft, dass der Streit nicht ewig herrschen, sondern
einem milderen Dämon einmal das Scepter überreichen werde. Die
christlichen Pessimisten der Praxis hatten, wie gesagt, ein Interesse
daran, dass eine andere Meinung in der Herrschaft blieb; sie brauchten
für die Einsamkeit und die geistige Wüstenei ihres Lebens einen immer
lebendigen Feind: und einen allgemein anerkannten Feind, durch dessen
Bekämpfung und Ueberwältigung sie dem Nicht-Heiligen sich immer
von Neuem wieder als halb unbegreifliche, übernatürliche Wesen
darstellten. Wenn dieser Feind endlich, in Folge ihrer Lebensweise
und ihrer zerstörten Gesundheit, die Flucht für immer ergriff, so
verstanden sie es sofort, ihr Inneres mit neuen Dämonen bevölkert zu
sehen. Das Auf- und Niederschwanken der Wagschalen Hochmuth und Demuth
unterhielt ihre grübelnden Köpfe so gut, wie der Wechsel von Begierde
und Seelenruhe. Damals diente die Psychologie dazu, alles Menschliche
nicht nur zu verdächtigen, sondern zu lästern, zu geisseln, zu
kreuzigen; man wollte sich möglichst schlecht und böse finden, man
suchte die Angst um das Heil der Seele, die Verzweiflung an der eignen
Kraft. Alles Natürliche, an welches der Mensch die Vorstellung des
Schlechten, Sündhaften anhängt (wie er es zum Beispiel noch jetzt
in Betreff des Erotischen gewöhnt ist), belästigt, verdüstert die
Phantasie, giebt einen scheuen Blick, lässt den Menschen mit sich
selber hadern und macht ihn unsicher und vertrauenslos; selbst seine
Träume bekommen einen Beigeschmack des gequälten Gewissens. Und doch
ist dieses Leiden am Natürlichen in der Realität der Dinge völlig
unbegründet: es ist nur die Folge von Meinungen über die Dinge. Man
erkennt leicht, wie die Menschen dadurch schlechter werden, dass sie
das unvermeidlich-Natürliche als schlecht bezeichnen und später immer
als so beschaffen empfinden. Es ist der Kunstgriff der Religion und
jener Metaphysiker, welche den Menschen als böse und sündhaft von
Natur wollen, ihm die Natur zu verdächtigen und so ihn selber schlecht
zu machen: denn so lernt er sich als schlecht empfinden, da er das
Kleid der Natur nicht ausziehen kann. Allmählich fühlt er sich,
bei einem langen Leben im Natürlichen, von einer solchen Last von
Sünden bedrückt, dass übernatürliche Mächte nöthig werden, um
diese Last heben zu können; und damit ist das schon besprochene
Erlösungsbedürfniss auf den Schauplatz getreten, welches gar keiner
wirklichen, sondern nur einer eingebildeten Sündhaftigkeit entspricht.
Man gehe die einzelnen moralischen Aufstellungen der Urkunden
des Christenthums durch und man wird überall finden, dass die
Anforderungen überspannt sind, damit der Mensch ihnen nicht genügen
könne; die Absicht ist nicht, dass er moralischer werde, sondern dass
er sich möglichst sündhaft fühle. Wenn dem Menschen diess Gefühl nicht
angenehm gewesen wäre, - wozu hätte er eine solche Vorstellung erzeugt
und sich so lange an sie gehängt? Wie in der antiken Welt eine
unermessliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist,
um die Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren: so ist in der
Zeit des Christenthums ebenfalls unermesslich viel Geist einem andern
Streben geopfert worden: der Mensch sollte auf alle Weise sich
sündhaft fühlen und dadurch überhaupt erregt, belebt, beseelt werden.
Erregen, beleben, beseelen, um jeden Preis - ist das nicht das
Losungswort einer erschlafften, überreifen, übercultivirten Zeit? Der
Kreis aller natürlichen Empfindungen war hundertmal durchlaufen, die
Seele war ihrer müde geworden: da erfanden der Heilige und der Asket
eine neue Gattung von Lebensreizen. Sie stellten sich vor Aller
Augen hin, nicht eigentlich zur Nachahmung für Viele, sondern als
schauderhaftes und doch entzückendes Schauspiel, welches an jenen
Gränzen zwischen Welt und Ueberwelt aufgeführt wurde, wo Jedermann
damals bald himmlische Lichtblicke, bald unheimliche, aus der Tiefe
lodernde Flammenzungen zu erblicken glaubte. Das Auge des Heiligen,
hingerichtet auf die in jedem Betracht furchtbare Bedeutung des kurzen
Erdenlebens, auf die Nähe der letzten Entscheidung über endlose neue
Lebensstrecken, diess verkohlende Auge, in einem halb vernichteten
Leibe, machte die Menschen der alten Welt bis in alle Tiefen
erzittern; hinblicken, schaudernd wegblicken, von Neuem den Reiz des
Schauspiels spüren, ihm nachgeben, sich an ihm ersättigen, bis die
Seele in Gluth und Fieberfrost erbebt, - das war die letzte Lust,
welche das Alterthum erfand, nachdem es selbst gegen den Anblick von
Thier- und Menschenkämpfen stumpf geworden war.


142.

Um das Gesagte zusammenzufassen: jener Seelenzustand, dessen sich
der Heilige oder Heiligwerdende erfreut, setzt sich aus Elementen
zusammen, welche wir Alle recht wohl kennen, nur dass sie sich unter
dem Einfluss anderer als religiöser Vorstellungen anders gefärbt
zeigen und dann den Tadel der Menschen ebenso stark zu erfahren
pflegen, wie sie, in jener Verbrämung mit Religion und letzter
Bedeutsamkeit des Daseins, auf Bewunderung, ja Anbetung rechnen
dürfen, - mindestens in früheren Zeiten rechnen durften. Bald übt der
Heilige jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter der
Herrschsucht ist und auch dem Einsamsten noch das Gefühl der Macht
giebt; bald springt seine angeschwellte Empfindung aus dem Verlangen,
seine Leidenschaften dahinschiessen zu lassen, über in das Verlangen,
sie wie wilde Rosse zusammenstürzen zu machen, unter dem mächtigen
Druck einer stolzen Seele; bald will er ein völliges Aufhören aller
störenden, quälenden, reizenden Empfindungen, einen wachen Schlaf,
ein dauerndes Ausruhen im Schoosse einer dumpfen, thier- und
pflanzenhaften Indolenz; bald sucht er den Kampf und entzündet ihn
in sich, weil ihm die Langeweile ihr gähnendes Gesicht entgegenhält:
er geisselt seine Selbstvergötterung mit Selbstverachtung und
Grausamkeit, er freut sich an dem wilden Aufruhre seiner Begierden,
an dem scharfen Schmerz der Sünde, ja an der Vorstellung des
Verlorenseins, er versteht es, seinem Affect, zum Beispiel dem der
äussersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen, so dass er in den
der äussersten Erniedrigung übergeht und seine aufgehetzte Seele durch
diesen Contrast aus allen Fugen gerissen wird; und zuletzt: wenn es
ihn gar nach Visionen, Gesprächen mit Todten oder göttlichen Wesen
gelüstet, so ist es im Grunde eine seltene Art von Wollust, welche er
begehrt, aber vielleicht jene Wollust, in der alle anderen in einen
Knoten zusammengeschlungen sind. Novalis, eine der Autoritäten in
Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct, spricht das ganze
Geheimniss einmal mit naiver Freude aus: "Es ist wunderbar genug, dass
nicht längst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit
die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und
gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat."


143.

Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das, was er in den Augen der
Nicht-Heiligen bedeutet, giebt ihm seinen welthistorischen Werth.
Dadurch, dass man sich über ihn irrte, dass man seine Seelenzustände
falsch auslegte und ihn von sich so stark als möglich abtrennte, als
etwas durchaus Unvergleichliches und fremdartig-Uebermenschliches:
dadurch gewann er die ausserordentliche Kraft, mit welcher er die
Phantasie ganzer Völker, ganzer Zeiten beherrschen konnte. Er
selbst kannte sich nicht; er selbst verstand die Schriftzüge seiner
Stimmungen, Neigungen, Handlungen nach einer Kunst der Interpretation,
welche ebenso überspannt und künstlich war, wie die pneumatische
Interpretation der Bibel. Das Verschrobene und Kranke in seiner Natur,
mit ihrer Zusammenkoppelung von geistiger Armuth, schlechtem Wissen,
verdorbener Gesundheit, überreizten Nerven, blieb seinem Blick ebenso
wie dem seiner Beschauer verborgen. Er war kein besonders guter
Mensch, noch weniger ein besonders weiser Mensch: aber er bedeutete
Etwas, das über menschliches Maass in Güte und Weisheit hinausreiche.
Der Glaube an ihn unterstützte den Glauben an Göttliches und
Wunderhaftes, an einen religiösen Sinn alles Daseins, an einen
bevorstehenden letzten Tag des Gerichtes. In dem abendlichen Glanze
einer Weltuntergangs-Sonne, welche über die christlichen Völker
hinleuchtete, wuchs die Schattengestalt des Heiligen in's Ungeheure:
ja bis zu einer solchen Höhe, dass selbst in unserer Zeit, die nicht
mehr an Gott glaubt, es noch genug Denker giebt, welche an den
Heiligen glauben.


144.

Es versteht sich von selbst, dass dieser Zeichnung des Heiligen,
welche nach dem Durchschnitt der ganzen Gattung entworfen ist, manche
Zeichnung entgegengestellt werden kann, welche eine angenehmere
Empfindung hervorbringen möchte. Einzelne Ausnahmen jener
Gattung heben sich heraus, sei es durch grosse Milde und
Menschenfreundlichkeit, sei es durch den Zauber ungewöhnlicher
Thatkraft; andere sind im höchsten Grade anziehend, weil bestimmte
Wahnvorstellungen über ihr ganzes Wesen Lichtströme ausgiessen: wie es
zum Beispiel mit dem berühmten Stifter des Christenthums der Fall ist,
der sich für den eingeborenen Sohn Gottes hielt und desshalb sich
sündlos fühlte; so dass er durch eine Einbildung - die man nicht zu
hart beurtheilen möge, weil das ganze Alterthum von Göttersöhnen
wimmelt - das selbe Ziel erreichte, das Gefühl völliger Sündlosigkeit,
völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft
Jedermann sich erwerben kann. - Ebenfalls habe ich abgesehen von
den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem
christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und
insofern keinen reinen Typus darstellen: die Erkenntniss, die
Wissenschaft - soweit es eine solche gab -, die Erhebung über die
anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung des Denkens
wurde bei den Buddhaisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso
gefordert, wie die selben Eigenschaften in der christlichen Welt, als
Kennzeichen der Unheiligkeit, abgelehnt und verketzert werden.




Viertes Hauptstück.

Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller.

145.

Das Vollkommene soll nicht geworden sein. - Wir sind gewöhnt, bei
allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen: sondern
uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauberschlag
aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen wir hier noch
unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen Empfindung. Es
ist uns beinahe noch so zu Muthe (zum Beispiel in einem griechischen
Tempel wie der von Pästum), als ob eines Morgens ein Gott spielend aus
solchen ungeheuren Lasten sein Wohnhaus gebaut habe: anderemale als
ob eine Seele urplötzlich in einen Stein hineingezaubert sei und
nun durch ihn reden wolle. Der Künstler weiss, dass sein Werk nur
voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine
wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er
wohl dieser Illusion nach und führt jene Elemente der begeisterten
Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Träumens
beim Beginn der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um
die Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, dass sie an das
plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt. - Die Wissenschaft
der Kunst hat dieser Illusion, wie es sich von selbst versteht,
auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und
Verwöhnungen des Intellects aufzuzeigen, vermöge welcher er dem
Künstler in das Netz läuft.


146.

Der Wahrheitssinn des Künstlers. - Der Künstler hat in Hinsicht auf
das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität, als der Denker;
er will sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens
durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne, schlichte
Methoden und Resultate. Scheinbar kämpft er für die höhere Würde
und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die für seine
Kunst wirkungsvollsten Voraussetzungen nicht aufgeben, also das
Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das
Symbolische, die Ueberschätzung der Person, den Glauben an etwas
Wunderartiges im Genius: er hält also die Fortdauer seiner Art des
Schaffens für wichtiger, als die wissenschaftliche Hingebung an das
Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht.


147.

Die Kunst als Todtenbeschwörerin. - Die Kunst versieht nebenbei
die Aufgabe zu conserviren, auch wohl erloschene, verblichene
Vorstellungen ein Wenig wieder aufzufärben; sie flicht, wenn sie diese
Aufgabe löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren
Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein Scheinleben wie über
Gräbern, welches hierdurch entsteht, oder wie die Wiederkehr geliebter
Todten im Traume, aber wenigstens auf Augenblicke wird die alte
Empfindung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst
vergessenen Tacte. Nun muss man wegen dieses allgemeinen Nutzens
der Kunst dem Künstler selber es nachsehen, wenn er nicht in
den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden
Vermännlichung der Menschheit steht: er ist zeitlebens ein Kind oder
ein Jüngling geblieben und auf dem Standpunct zurückgehalten, auf
welchem er von seinem Kunsttriebe überfallen wurde; Empfindungen der
ersten Lebensstufen stehen aber zugestandenermaassen denen früherer
Zeitläufte näher, als denen des gegenwärtigen Jahrhunderts.
Unwillkürlich wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu
verkindlichen; diess ist sein Ruhm und seine Begränztheit.


148.

Dichter als Erleichterer des Lebens. - Die Dichter, insofern auch sie
das Leben der Menschen erleichtern wollen, wenden den Blick entweder
von der mühseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart durch
ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen, zu neuen
Farben. Um diess zu können, müssen sie selbst in manchen Hinsichten
rückwärts gewendete Wesen sein: so dass man sie als Brücken zu ganz
fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden oder abgestorbenen
Religionen und Culturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich
immer und nothwendig Epigonen. Es ist freilich von ihren Mitteln
zur Erleichterung des Lebens einiges Ungünstige zu sagen: sie
beschwichtigen und heilen nur vorläufig, nur für den Augenblick;
sie halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung
ihrer Zustände zu arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der
Unbefriedigten, welche zur That drängen, aufheben und palliativisch
entladen.


149.

Der langsame Pfeil der Schönheit. - Die edelste Art der Schönheit
ist die, welche nicht auf einmal hinreisst, welche nicht stürmische
und berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel),
sondern jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt mit sich
fortträgt und die Einem im Traum einmal wiederbegegnet, endlich aber,
nachdem sie lange mit Bescheidenheit an unserm Herzen gelegen, von uns
ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Thränen, unser Herz mit Sehnsucht
füllt. - Wonach sehnen wir uns beim Anblick der Schönheit? Darnach,
schön zu sein: wir wähnen, es müsse viel Glück damit verbunden sein. -
Aber das ist ein Irrthum.


150.

Beseelung der Kunst. - Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen
nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter
Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber
tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung
mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte. Der zum Strome
angewachsene Reichthum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus
und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende Aufklärung hat
die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen
eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der
religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst; in einzelnen Fällen
auch auf das politische Leben, ja selbst direct auf die Wissenschaft.
Ueberall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere
Färbung wahrnimmt darf man vermuthen, dass Geistergrauen,
Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängen geblieben sind.


151.

Wodurch das Metrum verschönert. - Das Metrum legt Flor über die
Realität; es veranlasst einige Künstlichkeit des Geredes und
Unreinheit des Denkens; durch den Schatten, den es auf den Gedanken
wirft, verdeckt es bald, bald hebt es hervor. Wie Schatten nöthig ist,
um zu verschönern, so ist das "Dumpfe" nöthig, um zu verdeutlichen. -
Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich, dadurch dass sie
den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt.


152.

Kunst der hässlichen Seele. - Man zieht der Kunst viel zu enge
Schranken, wenn man verlangt, dass nur die geordnete, sittlich im
Gleichgewicht schwebende Seele sich in ihr aussprechen dürfe. Wie in
den bildenden Künsten, so auch giebt es in der Musik und Dichtung eine
Kunst der hässlichen Seele, neben der Kunst der schönen Seele; und die
mächtigsten Wirkungen der Kunst, das Seelenbrechen, Steinebewegen und
Thierevermenschlichen ist vielleicht gerade jener Kunst am meisten
gelungen.


153.

Die Kunst macht dem Denker das Herz schwer. - Wie stark das
metaphysische Bedürfniss ist und wie sich noch zuletzt die Natur den
Abschied von ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, dass noch
im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen hat,
die höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange
verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen, sei
es zum Beispiel, dass er bei einer Stelle der neunten Symphonie
Beethoven's sich über der Erde in einem Sternendome schweben fühlt,
mit dem Traume der Unsterblichkeit im Herzen: alle Sterne scheinen um
ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer hinabzusinken. - Wird er
sich dieses Zustandes bewusst, so fühlt er wohl einen tiefen Stich
im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene
Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe. In
solchen Augenblicken wird sein intellectualer Charakter auf die Probe
gestellt.


154.

Mit dem Leben spielen. - Die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit der
homerischen Phantasie war nöthig, um das übermässig leidenschaftliche
Gemüth und den überscharfen Verstand des Griechen zu beschwichtigen
und zeitweilig aufzuheben. Spricht bei ihnen der Verstand: wie herbe
und grausam erscheint dann das Leben! Sie täuschen sich nicht, aber
sie umspielen absichtlich das Leben mit Lügen. Simonides rieth seinen
Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen; der Ernst war ihnen
als Schmerz allzubekannt (das Elend der Menschen ist ja das Thema,
über welches die Götter so gern singen hören) und sie wussten, dass
einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genusse werden könne. Zur
Strafe für diese Einsicht waren sie aber von der Lust, zu fabuliren,
so geplagt, dass es ihnen im Alltagsleben schwer wurde, sich von Lug
und Trug frei zu halten, wie alles Poetenvolk eine solche Lust an
der Lüge hat und obendrein noch die Unschuld dabei. Die benachbarten
Völker fanden das wohl mitunter zum Verzweifeln.


155.

Glaube an Inspiration. - Die Künstler haben ein Interesse daran, dass
man an die plötzlichen Eingebungen, die sogenannten Inspirationen
glaubt; als ob die Idee des Kunstwerks, der Dichtung, der Grundgedanke
einer Philosophie, wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte. In
Wahrheit producirt die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers
fortwährend, Gutes, Mittelmässiges und Schlechtes, aber seine
Urtheilskraft, höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt aus, knüpft
zusammen; wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethoven's ersieht,
dass er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen und aus
vielfachen Ansätzen gewissermaassen ausgelesen hat. Wer weniger streng
scheidet und sich der nachbildenden Erinnerung gern überlässt, der
wird unter Umständen ein grosser Improvisator werden können; aber die
künstlerische Improvisation steht tief im Verhältniss zum ernst und
mühevoll erlesenen Kunstgedanken. Alle Grossen waren grosse Arbeiter,
unermüdlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten,
Umgestalten, Ordnen.


156.

Nochmals die Inspiration. - Wenn sich die Productionskraft eine Zeit
lang angestaut hat und am Ausfliessen durch ein Hemmnis gehindert
worden ist, dann giebt es endlich einen so plötzlichen Erguss, als ob
eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten,
also ein Wunder sich vollziehe. Diess macht die bekannte Täuschung
aus, an deren Fortbestehen, wie gesagt, das Interesse aller Künstler
ein wenig zu sehr hängt. Das Capital hat sich eben nur angehäuft,
es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. Es giebt übrigens auch
anderwärts solche scheinbare Inspiration, zum Beispiel im Bereiche der
Güte, der Tugend, des Lasters.


157.

Die Leiden des Genius' und ihr Werth. - Der künstlerische Genius will
Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so
fehlen ihm leicht die Geniessenden; er bietet Speisen, aber man will
sie nicht. Das giebt ihm ein unter Umständen lächerlich-rührendes
Pathos; denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen
zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber Niemand will tanzen: kann das
tragisch sein? - Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Compensation
für diese Entbehrung mehr Vergnügen beim Schaffen, als die übrigen
Menschen bei allen anderen Gattungen der Thätigkeit haben. Man
empfindet seine Leiden übertrieben, weil der Ton seiner Klage lauter,
sein Mund beredter ist; und in mitunter sind seine Leiden wirklich
sehr gross, aber nur desshalb, weil sein Ehrgeiz, sein Neid so gross
ist. Der wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist für gewöhnlich
nicht so begehrlich und macht von seinen wirklich grösseren Leiden und
Entbehrungen kein solches Aufheben. Er darf mit grösserer Sicherheit
auf die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen; während
ein Künstler, der diess thut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt,
bei dem ihm wehe um's Herz werden muss. In ganz seltenen Fällen,
- dann, wenn im selben Individuum der Genius des Könnens und des
Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen - kommt zu den
erwähnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu, welche als
die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen sind: die ausser-
und überpersönlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesammten
Cultur, allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen: welche ihren
Werth durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen
Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig werth). - Aber
welchen Maassstab, welche Goldwage giebt es für deren Aechtheit? Ist
es nicht fast geboten, misstrauisch gegen Alle zu sein, welche von
Empfindungen dieser Art bei sich reden?


158.

Verhängniss der Grösse. - Jeder grossen Erscheinung folgt die
Entartung nach, namentlich im Bereiche der Kunst. Das Vorbild des
Grossen reizt die eitleren Naturen zum äusserlichen Nachmachen
oder zum Ueberbieten; dazu haben alle grossen Begabungen das
Verhängnissvolle an sich, viele schwächere Kräfte und Keime zu
erdrücken und um sich herum gleichsam die Natur zu veröden. Der
glücklichste Fall in der Entwickelung einer Kunst ist der, dass
mehrere Genie's sich gegenseitig in Schranken halten; bei diesem
Kampfe wird gewöhnlich den schwächeren und zarteren Naturen auch Luft
und Licht gegönnt.


159.

Die Kunst dem Künstler gefährlich. - Wenn die Kunst ein Individuum
gewaltig ergreift, dann zieht es dasselbe zu Anschauungen solcher
Zeiten zurück, wo die Kunst am kräftigsten blühte, sie wirkt dann
zurückbildend. Der Künstler kommt immer mehr in eine Verehrung der
plötzlichen Erregungen, glaubt an Götter und Dämonen, durchseelt die
Natur, hasst die Wissenschaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen,
wie die Menschen des Alterthums, und begehrt einen Umsturz aller
Verhältnisse, welche der Kunst nicht günstig sind, und zwar diess mit
der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der
Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen
bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kommt noch,
dass er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht
zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichalterigen
Menschen seiner Periode und ein trübes Ende; so wie, nach den
Erzählungen der Alten, Homer und Aeschylus in Melancholie zuletzt
lebten und starben.


160.

Geschaffene Menschen. - Wenn man sagt, der Dramatiker (und der
Künstler überhaupt) schaffe wirklich Charaktere, so ist diess eine
schöne Täuschung und Uebertreibung, in deren Dasein und Verbreitung
die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam überschüssigen Triumphe
feiert. In der That verstehen wir von einem wirklichen lebendigen
Menschen nicht viel und generalisiren sehr oberflächlich, wenn wir
ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben: dieser unserer sehr
unvollkommenen Stellung zum Menschen entspricht nun der Dichter, indem
er ebenso oberflächliche Entwürfe zu Menschen macht (in diesem Sinne
"Schafft"), als unsere Erkenntniss der Menschen oberflächlich ist. Es
ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen Charakteren der Künstler;
es sind durchaus keine leibhaftigen Naturproducte, sondern ähnlich wie
die gemalten Menschen ein Wenig allzu dünn, sie vertragen den Anblick
aus der Nähe nicht. Gar wenn man sagt, der Charakter des gewöhnlichen
lebendigen Menschen widerspreche sich häufig, der vom Dramatiker
geschaffene sei das Urbild, welches der Natur vorgeschwebt habe, so
ist diess ganz falsch. Ein wirklicher Mensch ist etwas ganz und gar
Nothwendiges (selbst in jenen sogenannten Widersprüchen), aber wir
erkennen diese Nothwendigkeit nicht immer. Der erdichtete Mensch, das
Phantasma, will etwas Nothwendiges bedeuten, doch nur vor Solchen,
welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer rohen,
unnatürlichen Simplification verstehen: so dass ein paar starke, oft
wiederholte Züge, mit sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten
und Halbdunkel herum, ihren Ansprüchen vollständig genügen. Sie
sind also leicht bereit, das Phantasma als wirklichen, nothwendigen
Menschen zu behandeln, weil sie gewöhnt sind, beim wirklichen Menschen
ein Phantasma, einen Schattenriss, eine willkürliche Abbreviatur für
das Ganze zu nehmen. - Dass gar der Maler und der Bildhauer die "Idee"
des Menschen ausdrücke, ist eitel Phantasterei und Sinnentrug: man
wird vom Auge tyrannisirt, wenn man so Etwas sagt, da dieses vom
menschlichen Leibe selbst nur die Oberfläche, die Haut sieht; der
innere Leib gehört aber eben so sehr zur Idee. Die bildende Kunst will
Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen; die redende Kunst
nimmt das Wort zu dem selben Zwecke, sie bildet den Charakter im Laute
ab. Die Kunst geht von der natürlichen Unwissenheit des Menschen über
sein Inneres (in Leib und Charakter) aus: sie ist nicht für Physiker
und Philosophen da.


161.

Selbstüberschätzung im Glauben an Künstler und Philosophen. - Wir Alle
meinen, es sei die Güte eines Kunstwerks, eines Künstlers bewiesen,
wenn er uns ergreift, erschüttert. Aber da müsste doch erst unsere
eigene Güte in Urtheil und Empfindung bewiesen sein: was nicht der
Fall ist. Wer hat mehr im Reiche der bildenden Kunst ergriffen
und entzückt, als Bernini, wer mächtiger gewirkt, als jener
nachdemosthenische Rhetor, welcher den asianischen Stil einführte und
durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte? Diese Herrschaft über
ganze Jahrhunderte beweist Nichts für die Güte und dauernde Gültigkeit
eines Stils; desshalb soll man nicht zu sicher in seinem guten Glauben
an irgend einen Künstler sein: ein solcher ist ja nicht nur der
Glaube an die Wahrhaftigkeit unserer Empfindung, sondern auch an die
Unfehlbarkeit unseres Urtheils, während Urtheil oder Empfindung oder
beides selber zu grob oder zu fein geartet, überspannt oder roh sein
können. Auch die Segnungen und Beseligungen einer Philosophie, einer
Religion beweisen für ihre Wahrheit Nichts: ebensowenig als das Glück,
welches der Irrsinnige von seiner fixen Idee her geniesst, Etwas für
die Vernünftigkeit dieser Idee beweist.


162.

Cultus des Genius' aus Eitelkeit. - Weil wir gut von uns denken,
aber doch durchaus nicht von uns erwarten, dass wir je den Entwurf
eines Rafaelischen Gemäldes oder eine solche Scene wie die eines
Shakespeare'schen Drama's machen könnten, reden wir uns ein, das
Vermögen dazu sei ganz übermässig wunderbar, ein ganz seltener Zufall,
oder, wenn wir noch religiös empfinden, eine Begnadigung von Oben. So
fördert unsere Eitelkeit, unsere Selbstliebe, den Cultus des Genius':
denn nur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein miraculum,
verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose, nannte Shakespeare
seinen Stern der fernsten Höhe; wobei man sich jenes Verses
erinnern mag: "die Sterne, die begehrt man nicht"). Aber von jenen
Einflüsterungen unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint die
Thätigkeit des Genie's durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes
von der Thätigkeit des mechanischen Erfinders, des astronomischen
oder historischen Gelehrten, des Meisters der Taktik. Alle diese
Thätigkeiten erklären sich, wenn man sich Menschen vergegenwärtigt,
deren Denken in Einer Richtung thätig ist, die Alles als Stoff
benützen, die immer ihrem innern Leben und dem Anderer mit Eifer
zusehen, die überall Vorbilder, Anreizungen erblicken, die in der
Combination ihrer Mittel nicht müde werden. Das Genie thut auch
Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es
immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thätigkeit
des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie's:
aber keine ist ein "Wunder." - Woher nun der Glaube, dass es allein
beim Künstler, Redner und Philosophen Genie gebe? dass nur sie
"Intuition" haben? (womit man ihnen eine Art von Wunder-Augenglas
zuschreibt, mit dem sie direct in's "Wesen" sehen!) Die Menschen
sprechen ersichtlich dort allein von Genius, wo ihnen die Wirkungen
des grossen Intellectes am angenehmsten sind und sie wiederum nicht
Neid empfinden wollen. Jemanden "göttlich" nennen heisst "hier
brauchen wir nicht zu wetteifern". Sodann: alles Fertige, Vollkommene
wird angestaunt, alles Werdende unterschätzt. Nun kann Niemand beim
Werke des Künstlers zusehen, wie es geworden ist; das ist sein
Vortheil, denn überall, wo man das Werden sehen kann, wird man etwas
abgekühlt. Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken
an das Werden ab; es tyrannisirt als gegenwärtige Vollkommenheit.
Desshalb gelten die Künstler der Darstellung vornehmlich als genial,
nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In Wahrheit ist jene
Schätzung und diese Unterschätzung nur eine Kinderei der Vernunft.


163.

Der Ernst des Handwerks. - Redet nur nicht von Begabung, angeborenen
Talenten! Es sind grosse Männer aller Art zu nennen, welche wenig
begabt waren. Aber sie bekamen Grösse, wurden "Genie's" (wie man
sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel Niemand gern redet,
der sich ihrer bewusst ist: sie hatten Alle jenen tüchtigen
Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Theile vollkommen zu bilden,
bis er es wagt, ein grosses Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit
dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen
hatten, als an dem Effecte eines blendenden Ganzen. Das Recept zum
Beispiel, wie Einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu
geben, aber die Ausführung setzt Eigenschaften voraus, über die man
hinwegzusehen pflegt, wenn man sagt "ich habe nicht genug Talent". Man
mache nur hundert und mehr Entwürfe zu Novellen, keinen länger als
zwei Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, dass jedes Wort darin
nothwendig ist; man schreibe täglich Anekdoten nieder, bis man es
lernt, ihre prägnanteste, wirkungsvollste Form zu finden, man sei
unermüdlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und Charaktere,
man erzähle vor Allem so oft es möglich ist und höre erzählen, mit
scharfem Auge und Ohr für die Wirkung auf die anderen Anwesenden, man
reise wie ein Landschaftsmaler und Costümzeichner, man excerpire sich
aus einzelnen Wissenschaften alles Das, was künstlerische Wirkungen
macht, wenn es gut dargestellt wird, man denke endlich über die Motive
der menschlichen Handlungen nach, verschmähe keinen Fingerzeig der
Belehrung hierüber und sei ein Sammler von dergleichen Dingen bei Tag
und Nacht. In dieser mannichfachen Uebung lasse man einige zehn Jahre
vorübergehen: was dann aber in der Werkstätte geschaffen wird, darf
auch hinaus in das Licht der Strasse. - Wie machen es aber die
Meisten? Sie fangen nicht mit dem Theile, sondern mit dem Ganzen an.
Sie thun vielleicht einmal einen guten Griff, erregen Aufmerksamkeit
und thun von da an immer schlechtere Griffe, aus guten, natürlichen
Gründen. - Mitunter, wenn Vernunft und Charakter fehlen, um einen
solchen künstlerischen Lebensplan zu gestalten, übernimmt das
Schicksal und die Noth die Stelle derselben und führt den zukünftigen
Meister schrittweise durch alle Bedingungen seines Handwerks.


164.

Gefahr und Gewinn im Cultus des Genius'. - Der Glaube an grosse,
überlegene, fruchtbare Geister ist nicht nothwendig, aber sehr häufig
noch mit jenem ganz- oder halbreligiösen Aberglauben verbunden, dass
jene Geister übermenschlichen Ursprungs seien und gewisse wunderbare
Vermögen besässen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse auf
ganz anderem Wege theilhaftig würden, als die übrigen Menschen. Man
schreibt ihnen wohl einen unmittelbaren Blick in das Wesen der Welt,
gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung, zu und glaubt,
dass sie ohne die Mühsal und Strenge der Wissenschaft, vermöge dieses
wunderbaren Seherblickes, etwas Endgültiges und Entscheidendes über
Mensch und Welt mittheilen könnten. So lange das Wunder im Bereiche
der Erkenntniss noch Gläubige findet, kann man vielleicht zugeben,
dass dabei für die Gläubigen selber ein Nutzen herauskomme, insofern
diese durch ihre unbedingte Unterordnung unter die grossen Geister,
ihrem eigenen Geiste für die Zeit der Entwickelung die beste Disciplin
und Schule verschaffen. Dagegen ist mindestens fraglich, ob der
Aberglaube vom Genie, von seinen Vorrechten und Sondervermögen für
das Genie selber von Nutzen sei, wenn er in ihm sich einwurzelt. Es
ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn den Menschen jener
Schauder vor sich selbst überfällt, sei es nun jener berühmte
Cäsaren-Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder;
wenn der Opferduft, welchen man billigerweise allein einem Gotte
bringt, dem Genie in's Gehirn dringt, so dass er zu schwanken und sich
für etwas Uebermenschliches zu halten beginnt. Die langsamen Folgen
sind: das Gefühl der Unverantwortlichkeit, der exceptionellen Rechte,
der Glaube, schon durch seinen Umgang zu begnadigen, wahnsinnige
Wuth bei dem Versuche, ihn mit Anderen zu vergleichen oder gar ihn
niedriger zu taxiren und das Verfehlte seines Werkes in's Licht zu
setzen. Dadurch, dass er aufhört, Kritik gegen sich selbst zu üben,
fällt zuletzt aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der
anderen aus: jener Aberglaube gräbt die Wurzeln seiner Kraft an und
macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm
gewichen ist. Für grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich
nützlicher, wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur
Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen
Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände
hinzutraten - also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung
zu einzelnen Zielen, grosser persönlicher Muth, sodann das Glück einer
Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden frühzeitig
darbot. Freilich, wenn ihr Ziel ist, die grösstmögliche Wirkung zu
machen, so hat die Unklarheit über sich selbst und jene Beigabe eines
halben Wahnsinns immer viel gethan; denn bewundert und beneidet hat
man zu allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, vermöge deren sie
die Menschen willenlos machen und zum Wahne fortreissen, dass
übernatürliche Führer vor ihnen her giengen. Ja, es erhebt und
begeistert die Menschen, jemanden im Besitz übernatürlicher Kräfte
zu glauben: insofern hat der Wahnsinn, wie Plato sagt, die grössten
Segnungen über die Menschen gebracht. - In einzelnen seltenen Fällen
mag dieses Stück Wahnsinn wohl auch das Mittel gewesen sein, durch
welches eine solche nach allen Seiten hin excessive Natur fest
zusammengehalten wurde: auch im Leben der Individuen haben die
Wahnvorstellungen häufig den Werth von Heilmitteln, welche an sich
Gifte sind; doch zeigt sich endlich, bei jedem "Genie", das an seine
Göttlichkeit glaubt, das Gift in dem Grade, als das "Genie" alt
wird: man möge sich zum Beispiel Napoleon's erinnern, dessen Wesen
sicherlich gerade durch seinen Glauben an sich und seinen Stern und
durch die aus ihm fliessende Verachtung der Menschen zu der mächtigen
Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen modernen Menschen
heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in einen fast
wahnsinnigen Fatalismus übergieng, ihn seines Schnell- und
Scharfblickes beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde.


165.

Das Genie und das Nichtige. - Gerade die originellen, aus sich
schöpfenden Köpfe unter den Künstlern können unter Umständen das ganz
Leere und Schaale hervorbringen, während die abhängigeren Naturen,
die sogenannten Talente, voller Erinnerungen an alles mögliche Gute
stecken und auch im Zustand der Schwäche etwas Leidliches produciren.
Sind die Originellen aber von sich selber verlassen, so giebt die
Erinnerung ihnen keine Hülfe: sie werden leer.


166.

Das Publicum. - Von der Tragödie begehrt das Volk eigentlich nicht
mehr, als recht gerührt zu werden, um sich einmal ausweinen zu können;
der Artist dagegen, der die neue Tragödie sieht, hat seine Freude an
den geistreichen technischen Erfindungen und Kunstgriffen, an der
Handhabung und Vertheilung des Stoffes, an der neuen Wendung alter
Motive, alter Gedanken. Seine Stellung ist die ästhetische Stellung
zum Kunstwerk, die des Schaffenden; die erstbeschriebene, mit
alleiniger Rücksicht auf den Stoff, die des Volkes. Von dem Menschen
dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder Volk noch Artist und weiss
nicht, was er will: so ist auch seine Freude unklar und gering.


167.

Artistische Erziehung des Publicums. - Wenn das selbe Motiv nicht
hundertfältig durch verschiedene Meister behandelt wird, lernt das
Publicum nicht über das Interesse des Stoffes hinauskommen; aber
zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten, neuen Erfindungen in
der Behandlung dieses Motives fassen und geniessen, wenn es also das
Motiv längst aus zahlreichen Bearbeitungen kennt und dabei keinen Reiz
der Neuheit, der Spannung mehr empfindet.


168.

Künstler und sein Gefolge müssen Schritt halten. - Der Fortgang von
einer Stufe des Stils zur andern muss so langsam sein, dass nicht nur
die Künstler, sondern auch die Zuhörer und Zuschauer diesen Fortgang
mitmachen und genau wissen, was vorgeht. Sonst entsteht auf einmal
jene grosse Kluft zwischen dem Künstler, der auf abgelegener Höhe
seine Werke schafft, und dem Publicum, welches nicht mehr zu jener
Höhe hinaufkann und endlich missmuthig wieder tiefer hinabsteigt. Denn
wenn der Künstler sein Publicum nicht mehr hebt, so sinkt es schnell
abwärts, und zwar stürzt es um so tiefer und gefährlicher, je höher es
ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar, aus dessen Fängen die
in die Wolken hinaufgetragene Schildkröte zu ihrem Unheil hinabfällt.


169.

Herkunft des Komischen. - Wenn man erwägt, dass der Mensch manche
hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der Furcht
zugängliches Thier war und dass alles Plötzliche, Unerwartete ihn
kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst später,
in socialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem
Herkommen in Meinung und Thätigkeit beruhte, so darf man sich nicht
wundern, dass bei allem Plötzlichen, Unerwarteten in Wort und That,
wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen
wird, in's Gegentheil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde,
zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit, - der
Mensch lacht. Diesen Uebergang aus momentaner Angst in kurz dauernden
Uebermuth nennt man das Komische. Dagegen geht im Phänomen des
Tragischen der Mensch schnell aus grossem, dauerndem Uebermuth in
grosse Angst über; da aber unter Sterblichen der grosse dauernde
Uebermuth viel seltener, als der Anlass zur Angst ist, so giebt es
viel mehr des Komischen, als des Tragischen in der Welt; man lacht
viel öfter, als dass man erschüttert ist.


170.

Künstler-Ehrgeiz. - Die griechischen Künstler, zum Beispiel die
Tragiker dichteten, um zu siegen; ihre ganze Kunst ist nicht ohne
Wettkampf zu denken: die hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem
Genius die Flügel. Nun verlangte dieser Ehrgeiz vor Allem, dass ihr
Werk die höchste Vortrefflichkeit vor ihren eigenen Augen erhalte,
sowie sie also die Vortrefflichkeit verstanden, ohne Rücksicht auf
einen herrschenden Geschmack und die allgemeine Meinung über das
Vortreffliche an einem Kunstwerk; und so blieben Aeschylus und
Euripides lange Zeit ohne Erfolg, bis sie sich endlich Kunstrichter
erzogen hatten, welche ihr Werk nach den Maassstäben würdigten, welche
sie selber anlegten. Somit erstreben sie den Sieg über Nebenbuhler
nach ihrer eigenen Schätzung, vor ihrem eigenen Richterstuhl, sie
wollen wirklich vortrefflicher sein; dann fordern sie von Aussen her
Zustimmung zu dieser eigenen Schätzung, Bestätigung ihres Urtheils.
Ehre erstreben heisst hier "sich überlegen machen und wünschen, dass
es auch öffentlich so erscheine". Fehlt das Erstere und wird das
Zweite trotzdem begehrt, so spricht man von Eitelkeit. Fehlt das
Letztere und wird es nicht vermisst, so redet man von Stolz.


171.

Das Nothwendige am Kunstwerk. - Die, welche so viel von dem
Nothwendigen an einem Kunstwerk reden, übertreiben, wenn sie Künstler
sind, in majorem artis gloriam, oder wenn sie Laien sind, aus
Unkenntniss. Die Formen eines Kunstwerkes, welche seine Gedanken zum
Reden bringen, also seine Art zu sprechen sind, haben immer etwas
Lässliches, wie alle Art Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine
Züge hinzuthun oder weglassen: ebenso der Darsteller, sei es ein
Schauspieler oder, in Betreff der Musik, ein Virtuos oder Dirigent.
Diese vielen kleinen Züge und Ausfeilungen machen ihm heute Vergnügen,
morgen nicht, sie sind mehr des Künstlers als der Kunst wegen da,
denn auch er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung, welche
die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert, gelegentlich des
Zuckerbrodes und der Spielsachen, um nicht mürrisch zu werden.


172.

Den Meister vergessen machen. - Der Clavierspieler, der das Werk eines
Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben, wenn er
den Meister vergessen liess und wenn es so erschien, als ob er eine
Geschichte seines Lebens erzähle oder jetzt eben Etwas erlebe.
Freilich: wenn er nichts Bedeutendes ist, wird jedermann seine
Geschwätzigkeit verwünschen, mit der er uns aus seinem Leben
erzählt. Also muss er verstehen, die Phantasie des Zuhörers für
sich einzunehmen. Daraus wiederum erklären sich alle Schwächen und
Narrheiten des "Virtuosenthums".


173.

Corriger la fortune. - Es giebt schlimme Zufälligkeiten im Leben
grosser Künstler, welche zum Beispiel den Maler zwingen, sein
bedeutendstes Bild nur als flüchtigen Gedanken zu skizziren oder zum
Beispiel Beethoven zwangen, uns in manchen grossen Sonaten (wie in der
grossen B-dur) nur den ungenügenden Clavierauszug einer Symphonie zu
hinterlassen. Hier soll der späterkommende Künstler das Leben der
Grossen nachträglich zu corrigiren suchen: was zum Beispiel Der thun
würde, welcher, als ein Meister aller Orchesterwirkungen, uns jene,
dem Clavier-Scheintode verfallene Symphonie zum Leben erweckte.


174.

Verkleinern. - Manche Dinge, Ereignisse oder Personen, vertragen
es nicht, im kleinen Maassstabe behandelt zu werden. Man kann die
Laokoon-Gruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Grösse
nothwendig. Aber viel seltener ist es, dass etwas von Natur Kleines
die Vergrösserung verträgt; wesshalb es Biographen immer noch eher
gelingen wird, einen grossen Mann klein darzustellen, als einen
kleinen gross.


175.

Sinnlichkeit in der Kunst der Gegenwart. - Die Künstler verrechnen
sich jetzt häufig, wenn sie auf eine sinnliche Wirkung ihrer
Kunstwerke hinarbeiten; denn ihre Zuschauer oder Zuhörer haben nicht
mehr ihre vollen Sinne und gerathen, ganz wider die Absicht des
Künstlers, durch sein Kunstwerk in - eine "Heiligkeit" der Empfindung,
welche der Langweiligkeit nahe verwandt ist. - Ihre Sinnlichkeit fängt
vielleicht dort an, wo die des Künstlers gerade aufhört, sie begegnen
sich also höchstens an Einem Puncte.


176.

Shakespeare als Moralist. - Shakespeare hat über die Leidenschaften
viel nachgedacht und wohl von seinem Temperamente her zu vielen einen
sehr nahen Zugang gehabt (Dramatiker sind im Allgemeinen ziemlich böse
Menschen). Aber er vermochte nicht, wie Montaigne, darüber zu reden,
sondern legte die Beobachtungen über die Passionen den passionirten
Figuren in den Mund: was zwar wider die Natur ist, aber seine Dramen
so gedankenvoll macht, dass sie alle anderen leer erscheinen lassen
und leicht einen allgemeinen Widerwillen gegen sie erwecken. - Die
Sentenzen Schiller's (welchen fast immer falsche oder unbedeutende
Einfälle zu Grunde liegen) sind eben Theatersentenzen und wirken als
solche sehr stark: während die Sentenzen Shakespeare's seinem Vorbilde
Montaigne Ehre machen und ganz ernsthafte Gedanken in geschliffener
Form enthalten, desshalb aber für die Augen des Theaterpublicums zu
fern und zu fein, also unwirksam sind.


177.

Sich gut zu Gehör bringen. - Man muss nicht nur verstehen, gut zu
spielen, sondern auch sich gut zu Gehör zu bringen. Die Geige in
der Hand des grössten Meisters giebt nur ein Gezirp von sich, wenn
der Raum zu gross ist; man kann da den Meister mit jedem Stümper
verwechseln.


178.

Das Unvollständige als das Wirksame. - Wie Relieffiguren dadurch so
stark auf die Phantasie wirken, dass sie gleichsam auf dem Wege sind,
aus der Wand herauszutreten und plötzlich, irgend wodurch gehemmt,
Halt machen: so ist mitunter die reliefartig unvollständige
Darstellung eines Gedankens, einer ganzen Philosophie wirksamer, als
die erschöpfende Ausführung: man überlässt der Arbeit des Beschauers
mehr, er wird aufgeregt, das, was in so starkem Licht und Dunkel vor
ihm sich abhebt, fortzubilden, zu Ende zu denken und jenes Hemmniss
selber zu überwinden, welches ihrem völligen Heraustreten bis dahin
hinderlich war.


179.

Gegen die Originalen. - Wenn die Kunst sich in den abgetragensten
Stoff kleidet, erkennt man sie am besten als Kunst.


180.

Collectivgeist. - Ein guter Schriftsteller hat nicht nur seinen
eigenen Geist, sondern auch noch den Geist seiner Freunde.


181.

Zweierlei Verkennung. - Das Unglück scharfsinniger und klarer
Schriftsteller ist, dass man sie für flach nimmt und desshalb ihnen
keine Mühe zuwendet: und das Glück der unklaren, dass der Leser
sich an ihnen abmüht und die Freude über seinen Eifer ihnen zu Gute
schreibt.


182.

Verhältniss zur Wissenschaft. - Alle Die haben kein wirkliches
Interesse an einer Wissenschaft, welche erst dann anfangen, für sie
warm zu werden, wenn sie selbst Entdeckungen in ihr gemacht haben.


183.

Der Schlüssel. - Der eine Gedanke, auf den ein bedeutender Mensch, zum
Gelächter und Spott der Unbedeutenden, grossen Werth legt, ist für ihn
ein Schlüssel zu verborgenen Schatzkammern, für jene nicht mehr, als
ein Stück alten Eisens.


184.

Unübersetzbar. - Es ist weder das Beste, noch das Schlechteste an
einem Buche, was an ihm unübersetzbar ist.


185.

Paradoxien des Autors. - Die sogenannten Paradoxien des Autors, an
welchen ein Leser Anstoss nimmt, stehen häufig gar nicht im Buche des
Autors, sondern im Kopfe des Lesers.


186.

Witz. - Die witzigsten Autoren erzeugen das kaum bemerkbarste Lächeln.


187.

Die Antithese. - Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich
am liebsten der Irrthum zur Wahrheit schleicht.


188.

Denker als Stilisten. - Die meisten Denker schreiben schlecht, weil
sie uns nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken
mittheilen.


189.

Gedanken im Gedicht. - Der Dichter führt seine Gedanken festlich
daher, auf dem Wagen des Rhythmus': gewöhnlich desshalb, weil diese zu
Fuss nicht gehen können.


190.

Sünde wider den Geist des Lesers. - Wenn der Autor sein Talent
verleugnet, blos um sich dem Leser gleich zu stellen, so begeht er die
einzige Todsünde, welche ihm Jener nie verzeiht: im Fall er nämlich
Etwas davon merkt. Man darf dem Menschen sonst alles Böse nachsagen:
aber in der Art, wie man es sagt, muss man seine Eitelkeit wieder
aufzurichten wissen.


191.

Gränze der Ehrlichkeit. - Auch dem ehrlichsten Schriftsteller entfällt
ein Wort zu viel, wenn er eine Periode abrunden will.


192.

Der beste Autor. - Der beste Autor wird der sein, welcher sich schämt,
Schriftsteller zu werden.


193.

Drakonisches Gesetz gegen Schriftsteller. - Man sollte einen
Schriftsteller als einen Missethäter ansehen, der nur in den
seltensten Fällen Freisprechung oder Begnadigung verdient: das wäre
ein Mittel gegen das Ueberhandnehmen der Bücher.


194.

Die Narren der modernen Cultur. - Die Narren der mittelalterlichen
Höfe entsprechen unseren Feuilletonisten; es ist die selbe Gattung
Menschen, halbvernünftig, witzig, übertrieben, albern, mitunter nur
dazu da, das Pathos der Stimmung durch Einfälle, durch Geschwätz zu
mildern und den allzu schweren, feierlichen Glockenklang grosser
Ereignisse durch Geschrei zu übertäuben; ehemals im Dienste der
Fürsten und Adeligen, jetzt im Dienste von Parteien (wie in
Partei-Sinn und Partei-Zucht ein guter Theil der alten Unterthänigkeit
im Verkehr des Volkes mit dem Fürsten jetzt noch fortlebt). Der ganze
moderne Litteratenstand steht aber den Feuilletonisten sehr nahe, es
sind die "Narren der modernen Cultur", welche man milder beurtheilt,
wenn man sie als nicht ganz zurechnungsfähig nimmt. Schriftstellerei
als Lebensberuf zu betrachten, sollte billigerweise als eine Art
Tollheit gelten.


195.

Den Griechen nach. - Der Erkenntniss steht es gegenwärtig sehr im
Wege, dass alle Worte durch hundertjährige Uebertreibung des Gefühls
dunstig und aufgeblasen geworden sind. Die höhere Stufe der Cultur,
welche sich unter die Herrschaft (wenn auch nicht unter die Tyrannei)
der Erkenntniss stellt, hat eine grosse Ernüchterung des Gefühls
und eine starke Concentration aller Worte vonnöthen; worin uns
die Griechen im Zeitalter des Demosthenes vorangegangen sind. Das
Ueberspannte bezeichnet alle modernen Schriften; und selbst wenn
sie einfach geschrieben sind, so werden die Worte in denselben noch
zu excentrisch gefühlt. Strenge Ueberlegung, Gedrängtheit, Kälte,
Schlichtheit, selbst absichtlich bis an die Gränze hinab, überhaupt
An-sich-halten des Gefühls und Schweigsamkeit, - das kann allein
helfen. - Uebrigens ist diese kalte Schreib- und Gefühlsart, als
Gegensatz, jetzt sehr reizvoll: und darin liegt freilich eine neue
Gefahr. Denn die scharfe Kälte ist so gut ein Reizmittel, als ein
hoher Wärmegrad.


196.

Gute Erzähler schlechte Erklärer. - Bei guten Erzählern steht oft
eine bewunderungswürdige psychologische Sicherheit und Consequenz,
soweit diese in den Handlungen ihrer Personen hervortreten kann,
in einem geradezu lächerlichen Gegensatz zu der Ungeübtheit ihres
psychologischen Denkens: so dass ihre Cultur in dem einen Augenblicke
ebenso ausgezeichnet hoch, als im nächsten bedauerlich tief erscheint.
Es kommt gar zu häufig vor, dass sie ihre eigenen Helden und deren
Handlungen ersichtlich falsch erklären, - es ist daran kein Zweifel,
so unwahrscheinlich die Sache klingt. Vielleicht hat der grösste
Clavierspieler nur wenig über die technischen Bedingungen und die
specielle Tugend, Untugend, Nutzbarkeit und Erziehbarkeit jedes
Fingers (daktylische Ethik) nachgedacht, und macht grobe Fehler, wenn
er von solchen Dingen redet.


197.

Die Schriften von Bekannten und ihre Leser. - Wir lesen Schriften von
Bekannten (Freunden und Feinden) doppelt, insofern fortwährend unsere
Erkenntniss daneben flüstert: "das ist von ihm, ein Merkmal seines
inneren Wesens, seiner Erlebnisse, seiner Begabung", und wiederum eine
andere Art Erkenntniss dabei festzustellen sucht, was der Ertrag jenes
Werkes an sich ist, welche Schätzung es überhaupt, abgesehen von
seinem Verfasser, verdient, welche Bereicherung des Wissens es mit
sich bringt. Diese beiden Arten des Lesens und Erwägens stören sich,
wie das sich von selbst versteht, gegenseitig. Auch eine Unterhaltung
mit einem Freunde wird dann erst gute Früchte der Erkenntniss
zeitigen, wenn Beide endlich nur noch an die Sache denken, und
vergessen, dass sie Freunde sind.


198.

Rhythmische Opfer. - Gute Schriftsteller verändern den Rhythmus
mancher Periode blos desshalb, weil sie den gewöhnlichen Lesern nicht
die Fähigkeit zuerkennen, den Tact, welchem die Periode in ihrer
ersten Fassung folgte, zu begreifen: desshalb erleichtern sie es
ihnen, indem sie bekannteren Rhythmen den Vorzug geben. - Diese
Rücksicht auf das rhythmische Unvermögen der jetzigen Leser hat schon
manche Seufzer entlockt, denn ihr ist viel schon zum Opfer gefallen. -
Ob es guten Musikern nicht ähnlich ergeht?


199.

Das Unvollständige als künstlerisches Reizmittel. - Das Unvollständige
ist oft wirksamer als die Vollständigkeit, so namentlich in der
Lobrede: für ihre Zwecke braucht man gerade eine anreizende
Unvollständigkeit, als ein irrationales Element, welches der
Phantasie des Hörers ein Meer vorspiegelt und gleich einem Nebel
die gegenüberliegende Küste, also die Begränztheit des zu lobenden
Gegenstandes, verdeckt. Wenn man die bekannten Verdienste eines
Menschen erwähnt und dabei ausführlich und breit ist, so lässt diess
immer den Argwohn aufkommen, es seien die einzigen Verdienste. Der
vollständig Lobende stellt sich über den Gelobten, er scheint ihn zu
übersehen. Desshalb wirkt das Vollständige abschwächend.


200.

Vorsicht im Schreiben und Lehren. - Wer erst geschrieben hat und die
Leidenschaft des Schreibens in sich fühlt, lernt fast aus Allem, was
er treibt und erlebt, nur Das noch heraus, was schriftstellerisch
mittheilbar ist. Er denkt nicht mehr an sich, sondern an den
Schriftsteller und sein Publicum; er will die Einsicht, aber nicht zum
eigenen Gebrauche. Wer Lehrer ist, ist meistens unfähig, etwas Eigenes
noch für sein eigenes Wohl zu treiben, er denkt immer an das Wohl
seiner Schüler und jede Erkenntniss erfreut ihn nur, so weit er sie
lehren kann. Er betrachtet sich zuletzt als einen Durchweg des Wissens
und überhaupt als Mittel, so dass er den Ernst für sich verloren hat.


201.

Schlechte Schriftsteller nothwendig. - Es wird immer schlechte
Schriftsteller geben müssen, denn sie entsprechen dem Geschmack
der unentwickelten, unreifen Altersclassen; diese haben so gut ihr
Bedürfniss wie die reifern. Wäre das menschliche Leben länger, so
würde die Zahl der reif gewordenen Individuen überwiegend oder
mindestens gleich gross mit der der unreifen ausfallen; so aber
sterben bei Weitem die meisten zu jung, das heisst es giebt immer viel
mehr unentwickelte Intellecte mit schlechtem Geschmack. Diese begehren
überdiess, mit der grösseren Heftigkeit der Jugend, nach Befriedigung
ihres Bedürfnisses, und sie erzwingen sich schlechte Autoren.


202.

Zu nah und zu fern. - Der Leser und der Autor verstehen sich häufig
desshalb nicht, weil der Autor sein Thema zu gut kennt und es beinahe
langweilig findet, so dass er sich die Beispiele erlässt, die er zu
Hunderten weiss; der Leser aber ist der Sache fremd und findet sie
leicht schlecht begründet, wenn ihm die Beispiele vorenthalten werden.


203.

Eine verschwundene Vorbereitung zur Kunst. - An Allem, was das
Gymnasium trieb, war das Werthvollste die Uebung im lateinischen Stil:
diese war eben eine Kunstübung, während alle anderen Beschäftigungen
nur das Wissen zum Zweck hatten. Den deutschen Aufsatz voranzustellen,
ist Barbarei, denn wir haben keinen mustergültigen, an öffentlicher
Beredtsamkeit emporgewachsenen deutschen Stil; will man aber durch
den deutschen Aufsatz die Uebung im Denken fördern, so ist es gewiss
besser, wenn man einstweilen von Stil dabei überhaupt absieht, also
zwischen der Uebung im Denken und der im Darstellen scheidet. Letztere
sollte sich auf mannichfache Fassung eines gegebenen Inhaltes beziehen
und nicht auf selbständiges Erfinden eines Inhaltes. Die blose
Darstellung bei gegebenem Inhalte war die Aufgabe des lateinischen
Stils, für welchen die alten Lehrer eine längst verloren gegangene
Feinheit des Gehörs besassen. Wer ehemals gut in einer modernen
Sprache schreiben lernte, verdankte es dieser Uebung (jetzt muss man
sich nothgedrungen zu den älteren Franzosen in die Schule schicken);
aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit und
Schwierigkeit der Form und wurde für die Kunst überhaupt auf dem
einzig richtigen Wege vorbereitet, durch Praxis.


204.

Dunkles und Ueberhelles neben einander. - Schriftsteller, welche im
Allgemeinen ihren Gedanken keine Deutlichkeit zu geben verstehen,
werden im Einzelnen mit Vorliebe die stärksten, übertriebensten
Bezeichnungen und Superlative wählen: dadurch entsteht eine
Lichtwirkung, wie bei Fackelbeleuchtung auf verworrenen Waldwegen.


205.

Schriftstellerisches Malerthum. - Einen bedeutenden Gegenstand wird
man am besten darstellen, wenn man die Farben zum Gemälde aus dem
Gegenstande selber, wie ein Chemiker, nimmt und sie dann wie ein
Artist verbraucht: so dass man die Zeichnung aus den Gränzen und
Uebergängen der Farben erwachsen lässt. So bekommt das Gemälde Etwas
von dem hinreissenden Naturelement, welches den Gegenstand selber
bedeutend macht.


206.

Bücher, welche tanzen lehren. - Es giebt Schriftsteller, welche
dadurch, dass sie Unmögliches als möglich darstellen und vom
Sittlichen und Genialen so reden, als ob beides nur eine Laune, ein
Belieben sei, ein Gefühl von übermüthiger Freiheit hervorbringen, wie
wenn der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte und vor innerer Lust
durchaus tanzen müsste.


207.

Nicht fertig gewordene Gedanken. - Ebenso wie nicht nur das
Mannesalter, sondern auch Jugend und Kindheit einen Werth an sich
haben und gar nicht nur als Durchgänge und Brücken zu schätzen sind,
so haben auch die nicht fertig gewordenen Gedanken ihren Werth. Man
muss desshalb einen Dichter nicht mit subtiler Auslegung quälen und
sich an der Unsicherheit seines Horizontes vergnügen, wie als ob der
Weg zu mehreren Gedanken noch offen sei. Man steht an der Schwelle;
man wartet wie bei der Ausgrabung eines Schatzes: es ist, als ob ein
Glücksfund von Tiefsinn eben gemacht werden sollte. Der Dichter nimmt
Etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg
und macht uns damit begehrlich, so dass wir nach diesem haschen;
der aber gaukelt an unserm Kopf vorüber und zeigt die schönsten
Schmetterlingsflügel - und doch entschlüpft er uns.


208.

Das Buch fast zum Menschen geworden. - Jeden Schriftsteller überrascht
es von Neuem, wie das Buch, sobald es sich von ihm gelöst hat, ein
eigenes Leben für sich weiterlebt; es ist ihm zu Muthe, als wäre der
eine Theil eines Insectes losgetrennt und gienge nun seinen eigenen
Weg weiter. Vielleicht vergisst er es fast ganz, vielleicht erhebt
er sich über die darin niedergelegten Ansichten, vielleicht selbst
versteht er es nicht mehr und hat jene Schwingen verloren, auf denen
er damals flog, als er jenes Buch aussann: währenddem sucht es sich
seine Leser, entzündet Leben, beglückt, erschreckt, erzeugt neue
Werke, wird die Seele von Vorsätzen und Handlungen - kurz: es lebt wie
ein mit Geist und Seele ausgestattetes Wesen und ist doch kein Mensch.
- Das glücklichste Loos hat der Autor gezogen, welcher, als alter
Mann, sagen kann, dass Alles, was von lebenzeugenden, kräftigenden,
erhebenden, aufklärenden Gedanken und Gefühlen in ihm war, in seinen
Schriften noch fortlebe und dass er selber nur noch die graue Asche
bedeute, während das Feuer überall hin gerettet und weiter getragen
sei. - Erwägt man nun gar, dass jede Handlung eines Menschen, nicht
nur ein Buch, auf irgend eine Art Anlass zu anderen Handlungen,
Entschlüssen, Gedanken wird, dass Alles, was geschieht, unlösbar fest
sich mit Allem, was geschehen wird, verknotet, so erkennt man die
wirkliche Unsterblichkeit, die es giebt, die der Bewegung: was einmal
bewegt hat, ist in dem Gesammtverbande alles Seienden, wie in einem
Bernstein ein Insect, eingeschlossen und verewigt.


209.

Freude im Alter. - Der Denker und ebenso der Künstler, welcher sein
besseres Selbst in Werke geflüchtet hat, empfindet eine fast boshafte
Freude, wenn er sieht, wie sein Leib und Geist langsam von der Zeit
angebrochen und zerstört werden, als ob er aus einem Winkel einen Dieb
an seinem Geldschranke arbeiten sähe, während er weiss, dass dieser
leer ist und alle Schätze gerettet sind.


210.

Ruhige Fruchtbarkeit. - Die geborenen Aristokraten des Geistes sind
nicht zu eifrig; ihre Schöpfungen erscheinen und fallen an einem
ruhigen Herbstabend vom Baume, ohne hastig begehrt, gefördert, durch
Neues verdrängt zu werden. Das unablässige Schaffenwollen ist gemein
und zeigt Eifersucht, Neid, Ehrgeiz an. Wenn man Etwas ist, so braucht
man eigentlich Nichts zu machen, - und thut doch sehr viel. Es giebt
über dem "productiven" Menschen noch eine höhere Gattung.


211.

Achilles und Homer. - Es ist immer wie zwischen Achilles und Homer:
der Eine hat das Erlebniss, die Empfindung, der Andere beschreibt
sie. Ein wirklicher Schriftsteller giebt dem Affect und der Erfahrung
Anderer nur Worte, er ist Künstler, um aus dem Wenigen, was er
empfunden hat, viel zu errathen. Künstler sind keineswegs die Menschen
der grossen Leidenschaft, aber häufig geben sie sich als solche in
der unbewussten Empfindung, dass man ihrer gemalten Leidenschaft mehr
traut, wenn ihr eigenes Leben für ihre Erfahrung auf diesem Gebiete
spricht. Man braucht sich ja nur gehen zu lassen, sich nicht zu
beherrschen, seinem Zorn, seiner Begierde offenen Spielraum zu gönnen,
sofort schreit alle Welt: wie leidenschaftlich ist er! Aber mit der
tiefwühlenden, das Individuum anzehrenden und oft verschlingenden
Leidenschaft hat es Etwas auf sich: wer sie erlebt, beschreibt sie
gewiss nicht in Dramen, Tönen oder Romanen. Künstler sind häufig
zügellose Individuen, soweit sie eben nicht Künstler sind: aber das
ist etwas Anderes.


212.

Alte Zweifel über die Wirkung der Kunst. - Sollten Mitleid und Furcht
wirklich, wie Aristoteles will, durch die Tragödie entladen werden, so
dass der Zuhörer kälter und ruhiger nach Hause zurückkehre? Sollten
Geistergeschichten weniger furchtsam und abergläubisch machen? Es ist
bei einigen physischen Vorgängen, zum Beispiel bei dem Liebesgenuss,
wahr, dass mit der Befriedigung eines Bedürfnisses eine Linderung und
zeitweilige Herabstimmung des Triebes eintritt. Aber die Furcht und
das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Bedürfnisse bestimmter Organe,
welche erleichtert werden wollen. Und auf die Dauer wird selbst jeder
Trieb durch Uebung in seiner Befriedigung gestärkt, trotz jener
periodischen Linderungen. Es wäre möglich, dass Mitleid und Furcht
in jedem einzelnen Falle durch die Tragödie gemildert und entladen
würden: trotzdem könnten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung
überhaupt grösser werden, und Plato behielte doch Recht, wenn er
meint, dass man durch die Tragödie insgesammt ängstlicher und
rührseliger werde. Der tragische Dichter selbst würde dann nothwendig
eine düstere, furchtvolle Weltbetrachtung und eine weiche, reizbare,
thränensüchtige Seele bekommen, desgleichen würde es zu Plato's
Meinung stimmen, wenn die tragischen Dichter und ebenso die ganzen
Stadtgemeinden, welche sich besonders an ihnen ergötzen, zu immer
grösserer Maass- und Zügellosigkeit ausarten. - Aber welches Recht
hat unsere Zeit überhaupt, auf die grosse Frage Plato's nach dem
moralischen Einfluss der Kunst eine Antwort zu geben? Hätten wir
selbst die Kunst, - wo haben wir den Einfluss, irgend einen Einfluss
der Kunst?


213.

Freude am Unsinn. - Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben? So
weit nämlich auf der Welt gelacht wird, ist diess der Fall; ja man
kann sagen, fast überall wo es Glück giebt, giebt es Freude am Unsinn.
Das Umwerfen der Erfahrung in's Gegentheil, des Zweckmässigen in's
Zwecklose, des Nothwendigen in's Beliebige, doch so, dass dieser
Vorgang keinen Schaden macht und nur einmal aus Uebermuth vorgestellt
wird, ergötzt, denn es befreit uns momentan von dem Zwange des
Nothwendigen, Zweckmässigen und Erfahrungsgemässen, in denen wir für
gewöhnlich unsere unerbittlichen Herren sehen; wir spielen und lachen
dann, wenn das Erwartete (das gewöhnlich bange macht und spannt)
sich, ohne zu schädigen, entladet. Es ist die Freude der Sclaven am
Saturnalienfeste.


214.

Veredelung der Wirklichkeit. - Dadurch, dass die Menschen in dem
aphrodisischen Triebe eine Gottheit sahen und ihn mit anbetender
Dankbarkeit in sich wirkend fühlten, ist im Verlaufe der Zeit
jener Affect mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen und dadurch
thatsächlich sehr veredelt worden. So haben sich einige Völker,
vermöge dieser Kunst des Idealisirens, aus Krankheiten grosse
Hülfsmächte der Cultur geschaffen: zum Beispiel die Griechen, welche
in früheren Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art der
Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen Typus
der Bacchantin herausgebildet haben. - Die Griechen besassen nämlich
Nichts weniger, als eine vierschrötige Gesundheit; - ihr Geheimniss
war, auch die Krankheit, wenn sie nur Macht hatte, als Gott zu
verehren.


215.

Musik. - Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für
unser Inneres, so tief erregend, dass sie als unmittelbare Sprache des
Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie
hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und
Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie spräche direct
zu in Inneren und käme aus dem Inneren. Die dramatische Musik ist erst
möglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbolischer
Mittel erobert hat, durch Lied, Oper und hundertfältige Versuche der
Tonmalerei. Die "absolute Musik" ist entweder Form an sich, im rohen
Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener
Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum
Verständniss redende Symbolik der Formen, nachdem in langer
Entwickelung beide Künste verbunden waren und endlich die musicalische
Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist. Menschen,
welche in der Entwickelung der Musik zurückgeblieben sind, können das
selbe Tonstück rein formalistisch empfinden, wo die Fortgeschrittenen
Alles symbolisch verstehen. An sich ist keine Musik tief und
bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom "Willen", vom "Dinge an sich";
das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen, welches den
ganzen Umfang des inneren Lebens für die musicalische Symbolik erobert
hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang
hineingelegt, wie er in die Verhältnisse von Linien und Massen bei der
Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat, welche aber an sich
den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist.


216.

Gebärde und Sprache. - Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von
Gebärden, welches unwillkürlich vor sich geht und jetzt noch, bei
einer allgemeinen Zurückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten
Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht
nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen können (man kann
beobachten, dass fingirtes Gähnen bei Einem, der es sieht, natürliches
Gähnen hervorruft). Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der
nachahmte, zu der Empfindung zurück, welche sie im Gesicht oder Körper
des Nachgeahmten ausdrückte. So lernte man sich verstehen: so lernt
noch das Kind die Mutter verstehen. Im Allgemeinen mögen schmerzhafte
Empfindungen wohl auch durch Gebärden ausgedrückt worden sein, welche
Schmerz ihrerseits verursachen (zum Beispiel durch Haar ausraufen,
die-Brust-schlagen, gewaltsame Verzerrungen und Anspannungen der
Gesichtsmuskeln). Umgekehrt: Gebärden der Lust waren selber lustvoll
und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen des Verständnisses
(Lachen als Aeusserung des Gekitzeltwerdens, welches lustvoll ist,
diente wiederum zum Ausdruck anderer lustvoller Empfindungen).
- Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine
Symbolik der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte über eine
Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton
und Gebärde (zu der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton
hervorbrachte. - Es scheint sich da in früher Zeit das Selbe oftmals
ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der
Entwickelung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich
geht: während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus
(Gebärdensprache), leeres Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung
an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen
Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe
des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht
mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht. Man redet dann
von absoluter Musik, das heisst von Musik, in der Alles ohne weitere
Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird.


217.

Die Entsinnlichung der höheren Kunst. - Unsere Ohren sind, vermöge der
ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwickelung
der neuen Musik, immer intellectualer geworden. Desshalb ertragen wir
jetzt viel grössere Tonstärke, viel mehr "Lärm", weil wir viel besser
eingeübt sind, auf die Vernunft in ihm hin zu horchen, als unsere
Vorfahren. Thatsächlich sind nun alle unsere Sinne eben dadurch, dass
sie sogleich nach der Vernunft, also nach dem "es bedeutet" und nicht
mehr nach dem "es ist" fragen, etwas abgestumpft worden: wie sich eine
solche Abstumpfung zum Beispiel in der unbedingten Herrschaft der
Temperatur der Töne verräth; denn jetzt gehören Ohren, welche die
feineren Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen cis und des, noch
machen, zu den Ausnahmen. In dieser Hinsicht ist unser Ohr vergröbert
worden. Sodann ist die hässliche, den Sinnen ursprünglich feindselige
Seite der Welt für die Musik erobert worden; ihr Machtbereich,
namentlich zum Ausdruck des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnissvollen,
hat sich damit erstaunlich erweitert; unsere Musik bringt jetzt Dinge
zum Reden, welche früher keine Zunge hatten. In ähnlicher Weise haben
einige Maler das Auge intellectualer gemacht und sind weit über Das
hinausgegangen, was man früher Farben- und Formenfreude nannte. Auch
hier ist die ursprünglich als hässlich geltende Seite der Welt vom
künstlerischen Verstande erobert worden. - Was ist von alledem die
Consequenz? je gedankenfähiger Auge und Ohr werden, um so mehr kommen
sie an die Gränze, wo sie unsinnlich werden: die Freude wird in's
Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das
Symbolische tritt immer mehr an Stelle des Seienden, - und so gelangen
wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem
anderen. Einstweilen heisst es noch: die Welt ist hässlicher als je,
aber sie bedeutet eine schönere Welt als je gewesen. Aber je mehr
der Ambraduft der Bedeutung sich zerstreut und verflüchtigt, um so
seltener werden Die, welche ihn noch wahrnehmen: und die Uebrigen
bleiben endlich bei dem Hässlichen stehen und suchen es direct zu
geniessen, was ihnen aber immer misslingen muss. So giebt es in
Deutschland eine doppelte Strömung der musicalischen Entwickelung:
hier eine Schaar von Zehntausend mit immer höheren, zarteren
Ansprüchen und immer mehr nach dem "es bedeutet" hinhörend, und dort
die ungeheuere Ueberzahl, welche alljährlich immer unfähiger wird, das
Bedeutende auch in der Form der sinnlichen Hässlichkeit zu verstehen
und desshalb nach dem an sich Hässlichen und Ekelhaften, das heisst
dem niedrig Sinnlichen, in der Musik mit immer mehr Behagen greifen
lernt.


218.

Der Stein ist mehr Stein als früher. - Wir verstehen im Allgemeinen
Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir
Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren
herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwöhnt
sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom
ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen
oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar
in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer
unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem
zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System
hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch
Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen;
Schönheit milderte höchstens das Grauen, - aber dieses Grauen war
überall die Voraussetzung. - Was ist uns jetzt die Schönheit eines
Gebäudes? Das Selbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau:
etwas Maskenhaftes.


219.

Religiöse Herkunft der neueren Musik. - Die seelenvolle Musik entsteht
in dem wiederhergestellten Katholicismus nach dem tridentinischen
Concil, durch Palestrina, welcher dem neu erwachten innigen und
tief bewegten Geiste zum Klange verhalf; später, mit Bach, auch im
Protestantismus, soweit dieser durch die Pietisten vertieft und von
seinem ursprünglich dogmatischen Grundcharakter losgebunden worden
war. Voraussetzung und nothwendige Vorstufe für beide Entstehungen ist
die Befassung mit Musik, wie sie dem Zeitalter der Renaissance und
Vor-Renaissance zu eigen war, namentlich jene gelehrte Beschäftigung
mit Musik, jene im Grunde wissenschaftliche Lust an den Kunststücken
der Harmonik und Stimmführung. Andererseits musste auch die Oper
vorhergegangen sein: in welcher der Laie seinen Protest gegen eine
zu gelehrt gewordene kalte Musik zu erkennen gab und der Polyhymnia
wieder eine Seele schenken wollte. - Ohne jene tief religiöse
Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst-erregten Gemüthes
wäre die Musik gelehrt oder opernhaft geblieben; der Geist der
Gegenreformation ist der Geist der modernen Musik (denn jener
Pietismus in Bach's Musik ist auch eine Art Gegenreformation). So
tief sind wir dem religiösen Leben verschuldet. - Die Musik war die
Gegenrenaissance im Gebiete der Kunst, zu ihr gehört die spätere
Malerei des Murillo, zu ihr vielleicht auch der Barockstil: mehr
jedenfalls als die Architektur der Renaissance oder des Alterthums.
Und noch jetzt dürfte man fragen: wenn unsere neuere Musik die
Steine bewegen könnte, würde sie diese zu einer antiken Architektur
zusammensetzen? Ich zweifle sehr. Denn Das, was in dieser Musik
regiert, der Affect, die Lust an erhöhten, weit gespannten Stimmungen,
das Lebendig-werden-wollen um jeden Preis, der rasche Wechsel der
Empfindung, die starke Reliefwirkung in Licht und Schatten, die
Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven, - das hat Alles
schon einmal in den bildenden Künsten regiert und neue Stilgesetze
geschaffen: - es war aber weder im Alterthum noch in der Zeit der
Renaissance.


220.

Das Jenseits in der Kunst. - Nicht ohne tiefen Schmerz gesteht
man sich ein, dass die Künstler aller Zeiten in ihrem höchsten
Aufschwunge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung
hinaufgetragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind
die Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrthümer der
Menschheit, und sie hätten diess nicht sein können ohne den Glauben an
die absolute Wahrheit derselben. Nimmt nun der Glaube an eine solche
Wahrheit überhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die
äussersten Enden des menschlichen Erkennens und Wähnens: so kann
jene Gattung von Kunst nie wieder aufblühen, welche, wie die divina
commedia, die Bilder Rafael's, die Fresken Michelangelo's, die
gothischen Münster, nicht nur eine kosmische, sondern auch eine
metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzt. Es wird eine
rührende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen
Künstlerglauben gegeben habe.


221.

Die Revolution in der Poesie. - Der strenge Zwang, welchen sich die
französischen Dramatiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit der
Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl
der Worte und Gedanken, war eine so wichtige Schule, wie die des
Contrapuncts und der Fuge in der Entwickelung der modernen Musik oder
wie die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredtsamkeit. Sich
so zu binden, kann absurd erscheinen; trotzdem giebt es kein anderes
Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, als sich zuerst auf
das allerstärkste (vielleicht allerwillkürlichste) zu beschränken.
Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen
schreiten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken, und bringt die
höchste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute mit heim: wie die
Geschichte der Musik vor den Augen aller Jetztlebenden beweist. Hier
sieht man, wie Schritt vor Schritt die Fesseln lockerer werden, bis
sie endlich ganz abgeworfen scheinen können: dieser Schein ist das
höchste Ergebniss einer nothwendigen Entwickelung in der Kunst.
In der modernen Dichtkunst gab es keine so glückliche allmähliche
Herauswickelung aus den selbstgelegten Fesseln. Lessing machte die
französische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum
Gespött in Deutschland und verwies auf Shakespeare, und so verlor
man die Stetigkeit jener Entfesselung und machte einen Sprung in den
Naturalismus - das heisst in die Anfänge der Kunst zurück. Aus ihm
versuchte sich Goethe zu retten, indem er sich immer von Neuem wieder
auf verschiedene Art zu binden wusste; aber auch der Begabteste bringt
es nur zu einem fortwährenden Experimentiren, wenn der Faden der
Entwickelung einmal abgerissen ist. Schiller verdankt die ungefähre
Sicherheit seiner Form dem unwillkürlich verehrten, wenn auch
verleugneten Vorbilde der französischen Tragödie und hielt sich
ziemlich unabhängig von Lessing (dessen dramatische Versuche er
bekanntlich ablehnte). Den Franzosen selber fehlten nach Voltaire auf
einmal die grossen Talente, welche die Entwickelung der Tragödie aus
dem Zwange zu jenem Scheine der Freiheit fortgeführt hätten; sie
machten später nach deutschem Vorbilde auch den Sprung in eine Art von
Rousseau'schem Naturzustand der Kunst und experimentirten. Man lese
nur von Zeit zu Zeit Voltaire's Mahomet, um sich klar vor die Seele zu
stellen, was durch jenen Abbruch der Tradition ein für alle Mal der
europäischen Cultur verloren gegangen ist. Voltaire war der letzte der
grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den grössten
tragischen Gewitterstürmen gewachsene Seele durch griechisches Maass
bändigte, - er vermochte Das, was noch kein Deutscher vermochte, weil
die Natur des Franzosen der griechischen viel verwandter ist, als die
Natur des Deutschen -; wie er auch der letzte grosse Schriftsteller
war, der in der Behandlung der Prosa-Rede griechisches Ohr,
griechische Künstler-Gewissenhaftigkeit, griechische Schlichtheit
und Anmuth hatte; ja wie er einer der letzten Menschen gewesen ist,
welche die höchste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings
unrevolutionäre Gesinnung in sich vereinigen können, ohne inconsequent
und feige zu sein. Seitdem ist der moderne Geist mit seiner Unruhe,
seinem Hass gegen Maass und Schranke, auf allen Gebieten zur
Herrschaft gekommen, zuerst entzügelt durch das Fieber der Revolution
und dann wieder sich Zügel anlegend, wenn ihn Angst und Grauen vor
sich selber anwandelte, - aber die Zügel der Logik, nicht mehr des
künstlerischen Maasses. Zwar geniessen wir durch jene Entfesselung
eine Zeit lang die Poesien aller Völker, alles an verborgenen Stellen
Aufgewachsene, Urwüchsige, Wildblühende, Wunderlich-Schöne und
Riesenhaft-Unregelmässige, vom Volksliede an bis zum "grossen
Barbaren" Shakespeare hinauf; wir schmecken die Freuden der Localfarbe
und des Zeitcostüms, die allen künstlerischen Völkern bisher
fremd waren; wir benutzen reichlich die "barbarischen Avantagen"
unserer Zeit, welche Goethe gegen Schiller geltend machte, um die
Formlosigkeit seines Faust in das günstigste Licht zu stellen. Aber
auf wie lange noch? Die hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile
aller Völker muss ja allmählich das Erdreich hinwegschwemmen, auf dem
ein stilles verborgenes Wachsthum noch möglich gewesen wäre; alle
Dichter müssen ja experimentirende Nachahmer, wagehalsige Copisten
werden, mag ihre Kraft von Anbeginn noch so gross sein; das Publicum
endlich, welches verlernt hat, in der Bändigung der darstellenden
Kraft, in der organisirenden Bewältigung aller Kunstmittel die
eigentlich künstlerische That zu sehen, muss immer mehr die Kraft
um der Kraft willen, die Farbe um der Farbe willen, den Gedanken um
des Gedankens willen, ja die Inspiration um der Inspiration willen
schätzen, es wird demgemäss die Elemente und Bedingungen des
Kunstwerks gar nicht, wenn nicht isolirt, geniessen und zu guterletzt
die natürliche Forderung stellen, dass der Künstler isolirt sie ihm
auch darreichen müsse. Ja, man hat die "unvernünftigen" Fesseln der
französisch-griechischen Kunst abgeworfen, aber unvermerkt sich daran
gewöhnt, alle Fesseln, alle Beschränkung unvernünftig zu finden; - und
so bewegt sich die Kunst ihrer Auflösung entgegen und streift dabei
- was freilich höchst belehrend ist - alle Phasen ihrer Anfänge,
ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse
und Ausschreitungen: sie interpretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre
Entstehung, ihr Werden. Einer der Grossen, auf dessen Instinct man
sich wohl verlassen kann und dessen Theorie Nichts weiter, als ein
dreissig Jahre Mehr von Praxis fehlte, - Lord Byron hat einmal
ausgesprochen: "Was die Poesie im Allgemeinen anlangt, so bin ich, je
mehr ich darüber nachdenke, immer fester der Ueberzeugung, dass wir
allesammt auf dem falschen Wege sind, Einer wie der Andere. Wir folgen
Alle einem innerlich falschen revolutionären System, - unsere oder die
nächste Generation wird noch zu der selben Ueberzeugung gelangen." Es
ist diess der selbe Byron, welcher sagt: "Ich betrachte Shakespeare
als das schlechteste Vorbild, wenn auch als den ausserordentlichsten
Dichter." Und sagt im Grunde Goethe's gereifte künstlerische Einsicht
aus der zweiten Hälfte seines Lebens nicht genau das Selbe? - jene
Einsicht, mit welcher er einen solchen Vorsprung über eine Reihe von
Generationen gewann, dass man im Grossen und Ganzen behaupten kann,
Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen?
Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen
Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete, was
Alles indirect durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden,
Aussichten, Hülfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der
Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandelung
und Bekehrung so viel: sie bedeutet, dass er das tiefste Verlangen
empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den stehen
gebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie
des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten,
wenn die Kraft des Armes sich viel zu schwach erweisen sollte, zu
bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstören nöthig waren. So
lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst: sein
Dichten war zum Hülfsmittel der Erinnerung, des Verständnisses alter,
längst entrückter Kunstzeiten geworden. Seine Forderungen waren zwar
in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerfüllbar; der
Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die Freude aufgewogen,
dass sie einmal erfüllt gewesen sind und dass auch wir noch an
dieser Erfüllung theilnehmen können. Nicht Individuen, sondern mehr
oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine
allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast
Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige
Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die
einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden,
pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem
artistischen Sinne wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und
Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender
Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe
später verstand, so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übten.


222.

Was von der Kunst übrig bleibt. - Es ist wahr, bei gewissen
metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel grösseren Werth,
zum Beispiel wenn der Glaube gilt, dass der Charakter unveränderlich
sei und das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen
fortwährend ausspreche: da wird das Werk des Künstlers zum Bild des
ewig Beharrenden, während für unsere Auffassung der Künstler seinem
Bilde immer nur Gültigkeit für eine Zeit geben kann, weil der Mensch
im Ganzen geworden und wandelbar und selbst der einzelne Mensch
nichts Festes und Beharrendes ist. - Ebenso steht es bei einer andern
metaphysischen Voraussetzung: gesetzt, dass unsere sichtbare Welt
nur Erscheinung wäre, wie es die Metaphysiker annehmen, so käme die
Kunst der wirklichen Welt ziemlich nahe zu stehen: denn zwischen der
Erscheinungswelt und der Traumbild-Welt des Künstlers gäbe es dann gar
zu viel Aehnliches; und die übrigbleibende Verschiedenheit stellte
sogar die Bedeutung der Kunst höher, als die Bedeutung der Natur,
weil die Kunst das Gleichförmige, die Typen und Vorbilder der Natur
darstellte. - Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung
bleibt nach dieser Erkenntniss jetzt noch der Kunst? Vor Allem hat sie
durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse und Lust auf das
Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung so weit zu
bringen, dass wir endlich rufen: "wie es auch sei, das Leben, es
ist gut." Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das
Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als
Gegenstand gesetzmässiger Entwickelung anzusehen, - diese Lehre ist in
uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfniss des
Erkennens wieder an's Licht. Man könnte die Kunst aufgeben, würde
damit aber nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüssen: ebenso wie
man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen
Gemüths-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und
die Musik der Maassstab des durch die Religion wirklich erworbenen
und hinzugewonnenen Gefühls-Reichthumes ist, so würde nach einem
Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und
Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern.
Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des
künstlerischen.


223.

Abendröthe der Kunst. - Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und
Gedächtnissfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im
Verhältniss einer rührenden Erinnerung an die Freuden der Jugend.
Vielleicht dass niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll
erfasst wurde, wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen
scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche
an Einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter
Wehmuth und Thränen darüber, dass immer mehr die ausländische Barbarei
über ihre mitgebrachten Sitten triumphire; niemals hat man wohl das
Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher
Wollust geschlürft, als unter diesen absterbenden Hellenen. Den
Künstler wird man bald als ein herrliches Ueberbleibsel ansehen und
ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit
das Glück früherer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nicht
leicht Unseresgleichen gönnen. Das Beste an uns ist vielleicht
aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf
unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon
hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet
noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.




Fünftes Hauptstück.

Anzeichen höherer und niederer Cultur.

224.

Veredelung durch Entartung. - Aus der Geschichte ist zu lernen, dass
der Stamm eines Volkes sich am besten erhält, in welchem die meisten
Menschen lebendigen Gemeinsinn in Folge der Gleichheit ihrer gewohnten
und undiscutirbaren Grundsätze, also in Folge ihres gemeinsamen
Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tüchtige Sitte, hier wird die
Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit
schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr
dieser starken, auf gleichartige, charaktervolle Individuen
gegründeten Gemeinwesen ist die allmählich durch Vererbung gesteigerte
Verdummung, welche nun einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt.
Es sind die ungebundneren, viel unsichereren und moralisch schwächeren
Individuen, an denen das geistige Fortschreiten in solchen Gemeinwesen
hängt: es sind die Menschen, welche Neues und überhaupt Vielerlei
versuchen. Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen, ohne sehr
ersichtliche Wirkung zu Grunde; aber im Allgemeinen, zumal wenn sie
Nachkommen haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem
stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser
wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas
Neues gleichsam inoculirt; seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug
sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren.
Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein
Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im Grossen muss eine
theilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen halten den
Typus fest, die schwächeren helfen ihn fortbilden. - Etwas Aehnliches
ergiebt sich für den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung,
eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine körperliche
oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite.
Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines
kriegerischen und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, für sich
zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der Einäugige wird
Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in's Innere schauen
und jedenfalls schärfer hören. Insofern scheint mir der berühmte Kampf
um's Dasein nicht der einzige Gesichtspunct zu sein, aus dem das
Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklärt
werden kann. Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen: einmal die
Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und
Gemeingefühl; sodann die Möglichkeit, zu höheren Zielen zu gelangen,
dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise
Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade
die schwächere Natur, als die zartere und freiere, macht alles
Fortschreiten überhaupt möglich. Ein Volk, das irgendwo anbröckelt und
schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die
Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben.
Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung so: ihn so
fest und sicher hinzustellen, dass er als Ganzes gar nicht mehr aus
seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm
Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlägt,
zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfniss entstanden
sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles
inoculirt werden. Seine gesammte Natur wird es in sich hineinnehmen
und später, in ihren Früchten, die Veredelung spüren lassen. - Was den
Staat betrifft, so sagt Macchiavelli, dass "die Form der Regierungen
von sehr geringer Bedeutung ist, obgleich halbgebildete Leute anders
denken. Das grosse Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche
alles Andere aufwiegt, indem sie weit werthvoller ist, als Freiheit".
Nur bei sicher begründeter und verbürgter grösster Dauer ist stetige
Entwickelung und veredelnde Inoculation überhaupt möglich. Freilich
wird gewöhnlich die gefährliche Genossin aller Dauer, die Autorität,
sich dagegen wehren.


225.

Freigeist ein relativer Begriff. - Man nennt Den einen Freigeist,
welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft,
Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden
Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister
sind die Regel; diese werfen ihm vor, dass seine freien Grundsätze
ihren Ursprung entweder in der Sucht, aufzufallen, haben oder gar auf
freie Handlungen, das heisst auf solche, welche mit der gebundenen
Moral unvereinbar sind, schliessen lassen. Bisweilen sagt man auch,
diese oder jene freien Grundsätze seien aus Verschrobenheit und
Ueberspanntheit des Kopfes herzuleiten; doch spricht so nur die
Bosheit, welche selber an Das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit
schaden will: denn das Zeugniss für die grössere Güte und Schärfe
seines Intellectes ist dem Freigeist gewöhnlich in's Gesicht
geschrieben, so lesbar, dass es die gebundenen Geister gut genug
verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei sind
redlich gemeint; in der That entstehen auch viele Freigeister auf die
eine oder die andere Art. Desshalb könnten aber die Sätze, zu denen
sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlässiger sein, als
die der gebundenen Geister. Bei der Erkenntniss der Wahrheit kommt es
darauf an, dass man sie hat, nicht darauf, aus welchem Antrieb man sie
gesucht, auf welchem Wege man sie gefunden hat. Haben die Freigeister
Recht, so haben die gebundenen Geister Unrecht, gleichgültig, ob die
ersteren aus Unmoralität zur Wahrheit gekommen sind, die anderen aus
Moralität bisher an der Unwahrheit festgehalten haben. - Uebrigens
gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere
Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkömmlichen
gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Misserfolg. Für gewöhnlich
wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der
Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gründe, die
Anderen Glauben.


226.

Herkunft des Glaubens. - Der gebundene Geist nimmt seine Stellung
nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel
Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und
die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er ist Engländer, nicht weil er
sich für England entschieden hat, sondern er fand das Christenthum und
das Engländerthum vor und nahm sie an ohne Gründe, wie jemand, der in
einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Später, als er
Christ und Engländer war, hat er vielleicht auch einige Gründe zu
Gunsten seiner Gewöhnung ausfindig gemacht; man mag diese Gründe
umwerfen, damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man
nöthige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Gründe gegen die
Bigamie vorzubringen, dann wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer
für die Monogamie auf Gründen oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung
geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben.


227.

Aus den Folgen auf Grund und Ungrund zurückgeschlossen. - Alle Staaten
und Ordnungen der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, die Erziehung,
das Recht, alles diess hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben
der gebundenen Geister an sie, - also in der Abwesenheit der Gründe,
mindestens in der Abwehr des Fragens nach Gründen. Das wollen die
gebundenen Geister nicht gern zugeben und sie fühlen wohl, dass es
ein Pudendum ist. Das Christenthum, das sehr unschuldig in seinen
intellectuellen Einfällen war, merkte von diesem Pudendum Nichts,
forderte Glauben und Nichts als Glauben und wies das Verlangen nach
Gründen mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens
hin: ihr werdet den Vortheil des Glaubens schon spüren, deutete es
an, ihr sollt durch ihn selig werden. Thatsächlich verfährt der
Staat ebenso und jeder Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn:
halte diess nur für wahr, sagt er, du wirst spüren, wie gut diess
thut. Diess bedeutet aber, dass aus dem persönlichen Nutzen, den
eine Meinung einträgt, ihre Wahrheit erwiesen werden soll, die
Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellectuelle Sicherheit und
Begründetheit Gewähr leisten. Es ist diess so, wie wenn der Angeklagte
vor Gericht spräche: mein Vertheidiger sagt die ganze Wahrheit, denn
seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen. -
Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben,
so vermuthen sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen Ansichten
ebenfalls seinen Nutzen suche und nur Das für wahr halte, was ihm
gerade frommt. Da ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu nützen
scheint, was seinen Landes- oder Standesgenossen nützt, so nehmen
diese an, dass seine Grundsätze ihnen gefährlich sind; sie sagen oder
fühlen: er darf nicht Recht haben, denn er ist uns schädlich.


228.

Der starke, gute Charakter. - Die Gebundenheit der Ansichten, durch
Gewöhnung zum Instinct geworden, führt zu dem, was man Charakterstärke
nennt. Wenn jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven
handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse Energie; stehen
diese Handlungen im Einklange mit den Grundsätzen der gebundenen
Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen nebenbei in Dem, der sie
thut, die Empfindung des guten Gewissens. Wenige Motive, energisches
Handeln und gutes Gewissen machen Das aus, was man Charakterstärke
nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntniss der vielen
Möglichkeiten und Richtungen des Handelns; sein Intellect ist unfrei,
gebunden, weil er ihm in einem gegebenen Falle vielleicht nur zwei
Möglichkeiten zeigt; zwischen diesen muss er jetzt gemäss seiner
ganzen Natur mit Nothwendigkeit wählen, und er thut diess leicht und
schnell, weil er nicht zwischen fünfzig Möglichkeiten zu wählen hat.
Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen, indem sie
ihm immer die geringste Zahl von Möglichkeiten vor Augen stellt. Das
Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas
Neues sei, aber eine Wiederholung werden solle. Erscheint der Mensch
zunächst als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas
Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt
man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das
Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister
stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der
Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem Staate oder
Stande nützlich.


229.

Maass der Dinge bei den gebundenen Geistern. - Von vier Gattungen der
Dinge sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle
Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche
uns nicht lästig fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche
uns Vortheil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, für welche
wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklärt zum
Beispiel, wesshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen
wurde, mit Begeisterung fortgeführt wird, sobald erst Opfer gebracht
sind. - Die Freigeister, welche ihre Sache vor dem Forum der
gebundenen Geister führen, haben nachzuweisen, dass es immer
Freigeister gegeben hat, also dass die Freigeisterei Dauer hat,
sodann, dass sie nicht lästig fallen wollen, und endlich, dass sie
den gebundenen Geistern im Ganzen Vortheil bringen; aber weil sie von
diesem Letzten die gebundenen Geister nicht überzeugen können, nützt
es ihnen Nichts, den ersten und zweiten Punct bewiesen zu haben.


230.

Esprit fort. - Verglichen mit Dem, welcher das Herkommen auf seiner
Seite hat und keine Gründe für sein Handeln braucht, ist der Freigeist
immer schwach, namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive
und Gesichtspuncte und hat desshalb eine unsichere, ungeübte Hand.
Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch verhältnissmässig stark zu
machen, so dass er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zu
Grunde geht? Wie entsteht der starke Geist (esprit fort)? Es ist diess
in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius'.
Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit
welcher der Einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle
Erkenntniss der Welt zu erwerben trachtet?


231.

Die Entstehung des Genie's. - Der Witz des Gefangenen, mit welchem
er nach Mitteln zu seiner Befreiung sucht, die kaltblütigste und
langwierigste Benützung jedes kleinsten Vortheils kann lehren, welcher
Handhabe sich mitunter die Natur bedient, um das Genie - ein Wort, das
ich bitte, ohne allen mythologischen und religiösen Beigeschmack zu
verstehen - zu Stande zu bringen: sie fängt es in einen Kerker ein und
reizt seine Begierde, sich zu befreien, auf das äusserste. - Oder mit
einem anderen Bilde: jemand, der sich auf seinem Wege im Walde völlig
verirrt hat, aber mit ungemeiner Energie nach irgend einer Richtung
hin in's Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen
Niemand kennt: so entstehen die Genies, denen man Originalität
nachrühmt. - Es wurde schon erwähnt, dass eine Verstümmelung,
Verkrüppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs häufig die
Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut
entwickelt, weil es seine eigene Function und noch eine andere zu
versehen hat. Hieraus ist der Ursprung mancher glänzenden Begabung zu
errathen. - Aus diesen allgemeinen Andeutungen über die Entstehung
des Genius' mache man die Anwendung auf den speciellen Fall, die
Entstehung des vollkommenen Freigeistes.


232.

Vermuthung über den Ursprung der Freigeisterei. - Ebenso wie die
Gletscher zunehmen, wenn in den Aequatorialgegenden die Sonne mit
grösserer Gluth als früher auf die Meere niederbrennt, so mag auch
wohl eine sehr starke, um sich greifende Freigeisterei Zeugniss
dafür sein, dass irgendwo die Gluth der Empfindung ausserordentlich
gewachsen ist.


233.

Die Stimme der Geschichte. - Im Allgemeinen scheint die Geschichte
über die Erzeugung des Genius' folgende Belehrung zu geben:
misshandelt und quält die Menschen, - so ruft sie den Leidenschaften
Neid, Hass und Wetteifer zu - treibt sie zum Aeussersten, den Einen
wider den Andern, das Volk gegen das Volk, und zwar durch Jahrhunderte
hindurch, dann flammt vielleicht, gleichsam aus einem bei Seite
fliegenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf
einmal das Licht des Genius' empor; der Wille, wie ein Ross durch den
Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und springt auf ein
anderes Gebiet über. - Wer zum Bewusstsein über die Erzeugung des
Genius' käme und die Art, wie die Natur gewöhnlich verfährt, auch
praktisch durchführen wollte, würde gerade so böse und rücksichtslos
wie die Natur sein müssen. - Aber vielleicht haben wir uns verhört.


234.

Werth der Mitte des Wegs. - Vielleicht ist die Erzeugung des Genius'
nur einem begränzten Zeitraume der Menschheit vorbehalten. Denn man
darf von der Zukunft der Menschheit nicht zugleich alles Das erwarten,
was ganz bestimmte Bedingungen irgend welcher Vergangenheit allein
hervorzubringen vermochten; zum Beispiel nicht die erstaunlichen
Wirkungen des religiösen Gefühles. Dieses selbst hat seine Zeit gehabt
und vieles sehr Gute kann nie wieder wachsen, weil es allein aus
ihm wachsen konnte. So wird es nie wieder einen religiös umgränzten
Horizont des Lebens und der Cultur geben. Vielleicht ist selbst der
Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes
möglich, mit der es, wie es scheint, für alle Zukunft vorbei ist. Und
so ist die Höhe der Intelligenz vielleicht einem einzelnen Zeitalter
der Menschheit aufgespart gewesen: sie trat hervor - und tritt hervor,
denn wir leben noch in diesem Zeitalter -, als eine ausserordentliche,
lang angesammelte Energie des Willens sich ausnahmsweise auf geistige
Ziele durch Vererbung übertrug. Es wird mit jener Höhe vorbei sein,
wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr gross gezüchtet werden.
Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der
mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher, als am
Ende. Es könnten Kräfte, durch welche zum Beispiel die Kunst bedingt
ist, geradezu aussterben; die Lust am Lügen, am Ungenauen, am
Symbolischen, am Rausche, an der Ekstase könnte in Missachtung kommen.
Ja, ist das Leben erst im vollkommenen Staate geordnet, so ist aus der
Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es würden
allein die zurückgebliebenen Menschen sein, welche nach dichterischer
Unwirklichkeit verlangten. Diese würden dann jedenfalls mit Sehnsucht
rückwärts schauen, nach den Zeiten des unvollkommenen Staates, der
halb-barbarischen Gesellschaft nach unseren Zeiten.


235.

Genius und idealer Staat in Widerspruch. - Die Socialisten begehren
für möglichst Viele ein Wohlleben herzustellen. Wenn die dauernde
Heimath dieses Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht
wäre, so würde durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der grosse
Intellect und überhaupt das mächtige Individuum wächst, zerstört sein:
ich meine die starke Energie. Die Menschheit würde zu matt geworden
sein, wenn dieser Staat erreicht ist, um den Genius noch erzeugen
zu können. Müsste man somit nicht wünschen, dass das Leben seinen
gewaltsamen Charakter behalte und dass immer von Neuem wieder wilde
Kräfte und Energien hervorgerufen werden? Nun will das warme,
mitfühlende Herz gerade die Beseitigung jenes gewaltsamen und wilden
Charakters, und das wärmste Herz, das man sich denken kann, würde eben
darnach am leidenschaftlichsten verlangen: während doch gerade seine
Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charakter des Lebens ihr
Feuer, ihre Wärme, ja ihre Existenz genommen hat; das wärmste Herz
will also Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst,
das heisst doch: es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent.
Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in einer
Person beisammen sein, und der Weise, welcher über das Leben das
Urtheil spricht, stellt sich auch über die Güte und betrachtet diese
nur als Etwas, das bei der Gesammtrechnung des Lebens mit abzuschätzen
ist. Der Weise muss jenen ausschweifenden Wünschen der unintelligenten
Güte widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus' und an dem
endlichen Entstehen des höchsten Intellectes gelegen ist; mindestens
wird er der Begründung des "vollkommenen Staates" nicht förderlich
sein, insofern in ihm nur ermattete Individuen Platz haben. Christus
dagegen, den wir uns einmal als das wärmste Herz denken wollen,
förderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der
geistig Armen und hielt die Erzeugung des grössten Intellectes auf:
und diess war consequent. Sein Gegenbild, der vollkommene Weise
- diess darf man wohl vorhersagen - wird ebenso nothwendig der
Erzeugung eines Christus hinderlich sein. - Der Staat ist eine kluge
Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegen einander: übertreibt man
seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschwächt,
ja aufgelöst, - also der ursprüngliche Zweck des Staates am
gründlichsten vereitelt.


236.

Die Zonen der Cultur. - Man kann gleichnissweise sagen, dass
die Zeitalter der Cultur den Gürteln der verschiedenen Klimate
entsprechen, nur dass diese hinter einander und nicht, wie die
geographischen Zonen, neben einander liegen. Im Vergleich mit der
gemässigten Zone der Cultur, in welche überzugehen unsere Aufgabe
ist, macht die vergangene im Ganzen und Grossen den Eindruck eines
tropischen Klima's. Gewaltsame Gegensätze, schroffer Wechsel von Tag
und Nacht, Gluth und Farbenpracht, die Verehrung alles Plötzlichen,
Geheimnissvollen, Schrecklichen, die Schnelligkeit der
hereinbrechenden Unwetter, überall das verschwenderische Ueberströmen
der Füllhörner der Natur: und dagegen, in unserer Cultur, ein heller,
doch nicht leuchtender Himmel, reine, ziemlich gleich verbleibende
Luft, Schärfe, ja Kälte gelegentlich: so heben sich beide Zonen gegen
einander ab. Wenn wir dort sehen, wie die wüthendsten Leidenschaften
durch metaphysische Vorstellungen mit unheimlicher Gewalt
niedergerungen und zerbrochen werden, so ist es uns zu Muthe, als
ob vor unsern Augen in den Tropen wilde Tiger unter den Windungen
ungeheurer Schlangen zerdrückt würden; unserem geistigen Klima fehlen
solche Vorkommnisse, unsere Phantasie ist gemässigt, selbst im Traume
kommt uns Das nicht bei, was frühere Völker im Wachen sahen. Aber
sollten wir über diese Veränderung nicht glücklich sein dürfen, selbst
zugegeben, dass die Künstler durch das Verschwinden der tropischen
Cultur wesentlich beeinträchtigt sind und uns Nicht-Künstler ein
Wenig zu nüchtern finden? Insofern haben Künstler wohl das Recht,
den "Fortschritt" zu leugnen, denn in der That: ob die letzten drei
Jahrtausende in den Künsten einen fortschreitenden Verlauf zeigen,
das lässt sich mindestens bezweifeln; ebenso wird ein metaphysischer
Philosoph, wie Schopenhauer, keinen Anlass haben, den Fortschritt
zu erkennen, wenn er die letzten vier Jahrtausende in Bezug auf
metaphysische Philosophie und Religion überblickt. - Uns gilt aber die
Existenz der gemässigten Zone der Cultur selbst als Fortschritt.


237.

Renaissance und Reformation. - Die italiänische Renaissance bar -
in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur
verdankt - also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten,
Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, - Begeisterung für die
Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen,
Entfesselung des Individuums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und
Abneigung gegen Schein und blosen Effect (welche Gluth in einer ganzen
Fülle künstlerischer Charaktere hervorloderte, die Vollkommenheit in
ihren Werken und Nichts als Vollkommenheit mit höchster sittlicher
Reinheit von sich forderten); ja, die Renaissance hatte positive
Kräfte, welche in unserer bisherigen modernen Cultur noch nicht
wieder so mächtig geworden sind. Es war das goldene Zeitalter dieses
Jahrtausends, trotz aller Flecken und Laster. Dagegen hebt sich
nun die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest
zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters
noch keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung, die
ausserordentliche Verflachung und Veräusserlichung des religiösen
Lebens, anstatt mit Frohlocken, wie sich gebührt, mit tiefem Unmuthe
empfanden. Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit
die Menschen wieder zurück, erzwangen die Gegenreformation, das heisst
ein katholisches Christenthum der Nothwehr, mit den Gewaltsamkeiten
eines Belagerungszustandes und verzögerten um zwei bis drei
Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der
Wissenschaften, als sie das völlige In-Eins-Verwachsen des antiken
und des modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten. Die
grosse Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu Ende gebracht werden,
der Protest des inzwischen zurückgebliebenen deutschen Wesens (welches
im Mittelalter Vernunft genug gehabt hatte, um immer und immer wieder
zu seinem Heile über die Alpen zu steigen) verhinderte diess. Es lag
in dem Zufall einer ausserordentlichen Constellation der Politik, dass
damals Luther erhalten blieb und jener Protest Kraft gewann: denn der
Kaiser schützte ihn, um seine Neuerung gegen den Papst als Werkzeug
des Druckes zu verwenden, und ebenfalls begünstigte ihn im Stillen der
Papst, um die protestantischen Reichsfürsten als Gegengewicht gegen
den Kaiser zu benutzen. Ohne diess seltsame Zusammenspiel der
Absichten wäre Luther verbrannt worden wie Huss - und die Morgenröthe
der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit schönerem Glanze, als
wir jetzt ahnen können, aufgegangen.


238.

Gerechtigkeit gegen den werdenden Gott. - Wenn sich die ganze
Geschichte der Cultur vor den Blicken aufthut als ein Gewirr von bösen
und edlen, wahren und falschen Vorstellungen und es Einem beim Anblick
dieses Wellenschlags fast seekrank zu Muthe wird, so begreift man, was
für ein Trost in der Vorstellung eines werdenden Gottes liegt: dieser
enthüllt sich immer mehr in den Verwandelungen und Schicksalen der
Menschheit, es ist nicht Alles blinde Mechanik, sinn- und zweckloses
Durcheinanderspielen von Kräften. Die Vergottung des Werdens ist ein
metaphysischer Ausblick - gleichsam von einem Leuchtthurm am Meere
der Geschichte herab -, an welchem eine allzuviel historisirende
Gelehrtengeneration ihren Trost fand; darüber darf man nicht böse
werden, so irrthümlich jene Vorstellung auch sein mag. Nur wer, wie
Schopenhauer, die Entwickelung leugnet, fühlt auch Nichts von dem
Elend dieses historischen Wellenschlags und darf desshalb, weil er von
jenem werdenden Gotte und dem Bedürfniss seiner Annahme Nichts weiss,
Nichts fühlt, billigerweise seinen Spott auslassen.


239.

Die Früchte nach der Jahreszeit. - Jede bessere Zukunft, welche man
der Menschheit anwünscht, ist nothwendigerweise auch in manchem
Betracht eine schlechtere Zukunft: denn es ist Schwärmerei, zu
glauben, dass eine höhere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzüge
früherer Stufen in sich vereinigen werde und zum Beispiel auch die
höchste Gestaltung der Kunst erzeugen müsse. Vielmehr hat jede
Jahreszeit ihre Vorzüge und Reize für sich und schliesst die der
anderen aus. Das, was aus der Religion und in ihrer Nachbarschaft
gewachsen ist, kann nicht wieder wachsen, wenn diese zerstört ist;
höchstens können verirrte, spät kommende Absenker zur Täuschung
darüber verleiten, ebenso wie die zeitweilig ausbrechende Erinnerung
an die alte Kunst: ein Zustand, der wohl das Gefühl des Verlustes, der
Entbehrung verräth, aber kein Beweis für die Kraft ist, aus der eine
neue Kunst geboren werden könnte.


240.

Zunehmende Severität der Welt. - je höher die Cultur eines Menschen
steigt, um so mehr Gebiete entziehen sich dem Scherz, dem Spotte.
Voltaire war für die Erfindung der Ehe und der Kirche von Herzen dem
Himmel dankbar: als welcher damit so gut für unsere Aufheiterung
gesorgt habe. Aber er und seine Zeit, und vor ihm das sechszehnte
Jahrhundert, haben diese Themen zu Ende gespottet; es ist Alles, was
jetzt Einer auf diesem Gebiete noch witzelt, verspätet und vor Allem
gar zu wohlfeil, als dass es die Käufer begehrlich machen könnte.
Jetzt fragt man nach den Ursachen; es ist das Zeitalter des Ernstes.
Wem liegt jetzt noch daran, die Differenzen zwischen Wirklichkeit und
anspruchsvollem Schein, zwischen dem, was der Mensch ist und was er
vorstellen will, in scherzhaftem Lichte zu sehen; das Gefühl dieser
Contraste wirkt alsbald ganz anders, wenn man nach den Gründen sucht.
Je gründlicher Jemand das Leben versteht, desto weniger wird er
spottet, nur dass er zuletzt vielleicht noch über die "Gründlichkeit
seines Verstehens" spottet.


241.

Genius der Cultur. - Wenn jemand einen Genius der Cultur imaginiren
wollte, wie würde dieser beschaffen sein? Er handhabt die Lüge,
die Gewalt, den rücksichtslosesten Eigennutz so sicher als seine
Werkzeuge, dass er nur ein böses dämonisches Wesen zu nennen wäre;
aber seine Ziele, welche hie und da durchleuchten, sind gross und gut.
Es ist ein Centaur, halb Thier, halb Mensch und hat noch Engelsflügel
dazu am Haupte.


242.

Wunder-Erziehung. - Das Interesse in der Erziehung wird erst von dem
Augenblick an grosse Stärke bekommen, wo man den Glauben an einen Gott
und seine Fürsorge aufgiebt: ebenso wie die Heilkunst erst erblühen
konnte, als der Glaube an Wunder-Curen aufhörte. Bis jetzt glaubt aber
alle Welt noch an die Wunder-Erziehung: aus der grössten Unordnung,
Verworrenheit der Ziele, Ungunst der Verhältnisse sah man ja die
fruchtbarsten, mächtigsten Menschen erwachsen: wie konnte diess doch
mit rechten Dingen zugehen? - jetzt wird man, bald auch in diesen
Fällen, näher zusehen, sorgsamer prüfen: Wunder wird man dabei niemals
entdecken. Unter gleichen Verhältnissen gehen fortwährend zahlreiche
Menschen zu Grunde, das einzelne gerettete Individuum ist dafür
gewöhnlich stärker geworden, weil es diese schlimmen Umstände vermöge
unverwüstlicher eingeborener Kraft ertrug und diese Kraft noch geübt
und vermehrt hat: so erklärt sich das Wunder. Eine Erziehung, welche
an kein Wunder mehr glaubt, wird auf dreierlei zu achten haben:
erstens, wie viel Energie ist vererbt? zweitens, wodurch kann noch
neue Energie entzündet werden? drittens, wie kann das Individuum jenen
so überaus vielartigen Ansprüchen der Cultur angepasst werden, ohne
dass diese es beunruhigen und seine Einartigkeit zersplittern, -
kurz, wie kann das Individuum in den Contrapunct der privaten und
öffentlichen Cultur eingereiht werden, wie kann es zugleich die
Melodie führen und als Melodie begleiten?


243.

Die Zukunft des Arztes. - Es giebt jetzt keinen Beruf, der eine so
hohe Steigerung zuliesse, wie der des Arztes; namentlich nachdem die
geistlichen Aerzte, die sogenannten Seelsorger ihre Beschwörungskünste
nicht mehr unter öffentlichem Beifall treiben dürfen und ein
Gebildeter ihnen aus dem Wege geht. Die höchste geistige Ausbildung
eines Arztes ist jetzt nicht erreicht, wenn er die besten neuesten
Methoden kennt und auf sie eingeübt ist und jene fliegenden Schlüsse
von Wirkungen auf Ursachen zu machen versteht, derentwegen die
Diagnostiker berühmt sind: er muss ausserdem eine Beredtsamkeit haben,
die sich jedem Individuum anpasst und ihm das Herz aus dem Leibe
zieht, eine Männlichkeit, deren Anblick schon den Kleinmuth (den
Wurmfrass aller Kranken) verscheucht, eine Diplomaten-Geschmeidigkeit
im Vermitteln zwischen Solchen, welche Freude zu ihrer Genesung nöthig
haben und Solchen, die aus Gesundheitsgründen Freude machen müssen
(und können), die Feinheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die
Geheimnisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu verrathen, - kurz
ein guter Arzt bedarf jetzt der Kunstgriffe und Kunstvorrechte aller
andern Berufsclassen: so ausgerüstet, ist er dann im Stande, der
ganzen Gesellschaft ein Wohlthäter zu werden, durch Vermehrung guter
Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch Verhütung von bösen
Gedanken, Vorsätzen, Schurkereien (deren ekler Quell so häufig
der Unterleib ist), durch Herstellung einer geistig-leiblichen
Aristokratie (als Ehestifter und Eheverhinderer), durch wohlwollende
Abschneidung aller sogenannten Seelenqualen und Gewissensbisse: so
erst wird er aus einem "Medicinmann" ein Heiland und braucht doch
keine Wunder zu thun, hat auch nicht nöthig, sich kreuzigen zu lassen.


244.

In der Nachbarschaft des Wahnsinns. - Die Summe der Empfindungen,
Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so
gross geworden, dass eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkräfte
die allgemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der
europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer
grösseren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerückt ist. Nun
kommt man zwar der Gesundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in
der Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefühls,
jener niederdrückenden Cultur-Last vonnöthen, welche, wenn sie selbst
mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen
Hoffnung einer neuen Renaissance Spielraum giebt. Man hat dem
Christenthum, den Philosophen, Dichtern, Musikern eine Ueberfülle tief
erregter Empfindungen zu danken: damit diese uns nicht überwuchern,
müssen wir den Geist der Wissenschaft beschwören, welcher im Ganzen
etwas kälter und skeptischer macht und namentlich den Gluthstrom des
Glaubens an letzte endgültige Wahrheiten abkühlt; er ist vornehmlich
durch das Christenthum so wild geworden.


245.

Glockenguss der Cultur. - Die Cultur ist entstanden wie eine Glocke,
innerhalb eines Mantels von gröberem, gemeinerem Stoffe: Unwahrheit,
Gewaltsamkeit, unbegränzte Ausdehnung aller einzelnen Ich's, aller
einzelnen Völker, waren dieser Mantel. Ist es an der Zeit, ihn jetzt
abzunehmen? Ist das Flüssige erstarrt, sind die guten, nützlichen
Triebe, die Gewohnheiten des edleren Gemüthes so sicher und allgemein
geworden, dass es keiner Anlehnung an Metaphysik und die Irrthümer
der Religionen mehr bedarf, keiner Härten und Gewaltsamkeiten als
mächtigster Bindemittel zwischen Mensch und Mensch, Volk und Volk?
- Zur Beantwortung dieser Frage ist kein Wink eines Gottes uns
mehr hülfreich: unsere eigene Einsicht muss da entscheiden. Die
Erdregierung des Menschen im Grossen hat der Mensch selber in die Hand
zu nehmen, seine "Allwissenheit" muss über dem weiteren Schicksal der
Cultur mit scharfem Auge wachen.


246.

Die Cyklopen der Cultur. - Wer jene zerfurchten Kessel sieht, in denen
Gletscher gelagert haben, hält es kaum für möglich, dass eine Zeit
kommt, wo an der selben Stelle ein Wiesen- und Waldthal mit Bächen
darin sich hinzieht. So ist es auch in der Geschichte der Menschheit;
die wildesten Kräfte brechen Bahn, zunächst zerstörend, aber trotzdem
war ihre Thätigkeit nöthig, damit später eine mildere Gesittung hier
ihr Haus aufschlage. Die schrecklichen Energien - Das, was man das
Böse nennt - sind die cyklopischen Architekten und Wegebauer der
Humanität.


247.

Kreislauf des Menschenthums. - Vielleicht ist das ganze Menschenthum
nur eine Entwickelungsphase einer bestimmten Thierart von begränzter
Dauer. so dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder
zum Affen werden wird, während Niemand da ist, der an diesem
verwunderlichen Komödienausgang irgend ein Interesse nehme. So wie mit
dem Verfalle der römischen Cultur und seiner wichtigsten Ursache, der
Ausbreitung des Christenthums, eine allgemeine Verhässlichung des
Menschen innerhalb des römischen Reiches überhand nahm, so könnte auch
durch den einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdcultur eine viel
höher gesteigerte Verhässlichung und endlich Verthierung des Menschen,
bis in's Affenhafte, herbeigeführt werden. - Gerade weil wir diese
Perspective in's Auge fassen können, sind wir vielleicht im Stande,
einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen.


248.

Trostrede eines desperaten Fortschritts. - Unsere Zeit macht den
Eindruck eines Interim-Zustandes; die alten Weltbetrachtungen, die
alten Culturen sind noch theilweise vorhanden, die neuen noch nicht
sicher und gewohnheitsmässig und daher ohne Geschlossenheit und
Consequenz. Es sieht aus, als ob Alles chaotisch würde, das Alte
verloren gienge, das Neue nichts tauge und immer schwächlicher werde.
Aber so geht es dem Soldaten, welcher marschiren lernt; er ist eine
Zeit lang unsicherer und unbeholfener als je, weil die Muskeln bald
nach dem alten System, bald nach dem neuen bewegt werden und noch
keines entschieden den Sieg behauptet. Wir schwanken, aber es ist
nöthig, dadurch nicht ängstlich zu werden und das Neu-Errungene etwa
preiszugeben. Ueberdiess können wir in's Alte nicht zurück, wir haben
die Schiffe verbrannt; es bleibt nur übrig, tapfer zu sein, mag nun
dabei diess oder jenes herauskommen. - Schreiten wir nur zu, kommen
wir nur von der Stelle! Vielleicht sieht sich unser Gebahren doch
einmal wie Fortschritt an; wenn aber nicht, so mag Friedrich's des
Grossen Wort auch zu uns gesagt sein und zwar zum Troste: Ah, mon cher
Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette race maudite, ä laquelle
nous appartenons.


249.

An der Vergangenheit der Cultur leiden. - Wer sich das Problem der
Cultur klar gemacht hat, leidet dann an einem ähnlichen Gefühle wie
Der, welcher einen durch unrechtmässige Mittel erworbenen Reichthum
ererbt hat, oder wie der Fürst, der durch Gewaltthat seiner Vorfahren
regiert. Er denkt mit Trauer an seinen Ursprung und ist oft beschämt,
oft reizbar. Die ganze Summe von Kraft, Lebenswillen, Freude, welche
er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft mit einer tiefen
Müdigkeit: er kann seinen Ursprung nicht vergessen. Die Zukunft sieht
er wehmüthig an, seine Nachkommen, er weiss es voraus, werden an der
Vergangenheit leiden wie er.


250.

Manieren. - Die guten Manieren verschwinden in dem Maasse, in welchem
der Einfluss des Hofes und einer abgeschlossenen Aristokratie
nachlässt: man kann diese Abnahme von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich
beobachten, wenn man ein Auge für die öffentlichen Acte hat: als
welche ersichtlich immer pöbelhafter werden. Niemand versteht mehr,
auf geistreiche Art zu huldigen und zu schmeicheln; daraus ergiebt
sich die lächerliche Thatsache, dass man in Fällen, wo man gegenwärtig
Huldigungen darbringen muss (zum Beispiel einem grossen Staatsmanne
oder Künstler), die Sprache des tiefsten Gefühls, der treuherzigen,
ehrenfesten Biederkeit borgt - aus Verlegenheit und Mangel an Geist
und Grazie. So scheint die öffentliche festliche Begegnung der
Menschen immer ungeschickter, aber gefühlvoller und biederer, ohne
diess zu sein. - Sollte es aber mit den Manieren immerfort bergab
gehen? Es scheint mir vielmehr, dass die Manieren eine tiefe Curve
machen und wir uns ihrem niedrigsten Stande nähern. Wenn erst die
Gesellschaft ihrer Absichten und Principien sicherer geworden ist, so
dass diese formbildend wirken (während jetzt die angelernten Manieren
früherer formbildender Zustände immer schwächer vererbt und angelernt
werden), so wird es Manieren des Umgangs, Gebärden und Ausdrücke des
Verkehrs geben, welche so nothwendig und schlicht natürlich erscheinen
müssen, als es diese Absichten und Principien sind. Die bessere
Vertheilung der Zeit und Arbeit, die zur Begleiterin jeder schönen
Mussezeit umgewandelte gymnastische Uebung, das vermehrte und
strenger gewordene Nachdenken, welches selbst dem Körper Klugheit und
Geschmeidigkeit giebt, bringt diess Alles mit sich. - Hier könnte man
nun freilich mit einigem Spotte unserer Gelehrten gedenken, ob denn
sie, die doch Vorläufer jener neuen Cultur sein wollen, sich in der
That durch bessere Manieren auszeichnen? Es ist diess wohl nicht der
Fall, obgleich ihr Geist willig genug dazu sein mag: aber ihr Fleisch
ist schwach. Die Vergangenheit ist noch zu mächtig in ihren Muskeln:
sie stehen noch in einer unfreien Stellung und sind zur Hälfte
weltliche Geistliche, zur Hälfte abhängige Erzieher vornehmer Leute
und Stände, und überdiess durch Pedanterie der Wissenschaft, durch
veraltete geistlose Methoden verkrüppelt und unlebendig gemacht. Sie
sind also, jedenfalls ihrem Körper nach und oft auch zu Dreiviertel
ihres Geistes, immer noch die Höflinge einer alten, ja greisenhaften
Cultur und als solche selber greisenhaft; der neue Geist, der
gelegentlich in diesen alten Gehäusen rumort, dient einstweilen nur
dazu, sie unsicherer und ängstlicher zu machen. In ihnen gehen sowohl
die Gespenster der Vergangenheit, als die Gespenster der Zukunft um:
was Wunder, wenn sie dabei nicht die beste Miene machen, nicht die
gefälligste Haltung haben?


251.

Zukunft der Wissenschaft. - Die Wissenschaft giebt Dem, welcher in
ihr arbeitet und sucht, viel Vergnügen, Dem, welcher ihre Ergebnisse
lernt, sehr wenig. Da allmählich aber alle wichtigen Wahrheiten
der Wissenschaft alltäglich und gemein werden müssen, so hört
auch dieses wenige Vergnügen auf: so wie wir beim Lernen des so
bewunderungswürdigen Einmaleins längst aufgehört haben, uns zu freuen.
Wenn nun die Wissenschaft immer weniger Freude durch sich macht und
immer mehr Freude, durch Verdächtigung der tröstlichen Metaphysik,
Religion und Kunst, nimmt: so verarmt jene grösste Quelle der Lust,
welcher die Menschheit fast ihr gesammtes Menschenthum verdankt.
Desshalb muss eine höhere Cultur dem Menschen ein Doppelgehirn,
gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann
um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: neben einander liegend, ohne
Verwirrung, trennbar, abschliessbar; es ist diess eine Forderung der
Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der
Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss
geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den
bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt
werden. - Wird dieser Forderung der höheren Cultur nicht genügt,
so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwickelung fast mit
Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren hört auf, je weniger
es Lust gewährt; die Illusion, der Irrthum, die Phantastik erkämpfen
sich Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren
ehemals behaupteten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das
Zurücksinken in Barbarei ist die nächste Folge; von Neuem muss die
Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es,
gleich Penelope, des Nachts zerstört hat. Aber wer bürgt uns dafür,
dass sie immer wieder die Kraft dazu findet?


252.

Die Lust am Erkennen. - Wesshalb ist das Erkennen, das Element des
Forschers und Philosophen, mit Lust verknüpft? Erstens und vor Allem,
weil man sich dabei seiner Kraft bewusst wird, also aus dem selben
Grunde, aus dem gymnastische Uebungen auch ohne Zuschauer lustvoll
sind. Zweitens, weil man, im Verlauf der Erkenntniss, über ältere
Vorstellungen und deren Vertreter, hinauskommt, Sieger wird oder
wenigstens es zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch
so kleine neue Erkenntniss über Alle erhaben und uns als die Einzigen
fühlen, welche hierin das Richtige wissen. Diese drei Gründe zur
Lust sind die wichtigsten, doch giebt es, je nach der Natur des
Erkennenden, noch viele Nebengründe. - Ein nicht unbeträchtliches
Verzeichniss von solchen giebt, an einer Stelle, wo man es nicht
suchen würde, meine paraenetische Schrift über Schopenhauer: mit deren
Aufstellungen sich jeder erfahrene Diener der Erkenntniss zufrieden
geben kann, sei es auch, dass er den ironischen Anflug, der auf jenen
Seiten zu liegen scheint, wegwünschen wird. Denn wenn es wahr ist,
dass zum Entstehen des Gelehrten "eine Menge sehr menschlicher Triebe
und Triebchen zusammengegossen werden muss", dass der Gelehrte
zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und "aus einem
verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht":
so gilt doch das Selbe ebenfalls von Entstehung und Wesen des
Künstlers, Philosophen, moralischen Genie's - und wie die in jener
Schrift glorificirten grossen Namen lauten. Alles Menschliche verdient
in Hinsicht auf seine Entstehung die ironische Betrachtung: desshalb
ist die Ironie in der Welt so überflüssig.


253.

Treue als Beweis der Stichhaltigkeit. - Es ist ein vollkommenes
Zeichen für die Güte einer Theorie, wenn ihr Urheber vierzig Jahre
lang kein Misstrauen gegen sie bekommt; aber ich behaupte, dass es
noch keinen Philosophen gegeben hat, welcher auf die Philosophie, die
seine Jugend erfand, nicht endlich mit Geringschätzung - mindestens
mit Argwohn - herabgesehen hätte. - Vielleicht hat er aber nicht
öffentlich von dieser Umstimmung gesprochen, aus Ehrsucht oder - wie
es bei edlen Naturen wahrscheinlicher ist - aus zarter Schonung seiner
Anhänger.


254.

Zunahme des Interessanten. - Im Verlaufe der höheren Bildung wird dem
Menschen Alles interessant, er weiss die belehrende Seite einer Sache
rasch zu finden und den Punct anzugeben, wo eine Lücke seines Denkens
mit ihr ausgefüllt oder ein Gedanke durch sie bestätigt werden
kann. Dabei verschwindet immer mehr die Langeweile, dabei auch die
übermässige Erregbarkeit des Gemüthes. Er geht zuletzt wie ein
Naturforscher unter Pflanzen, so unter Menschen herum und nimmt sich
selber als ein Phänomen wahr, welches nur seinen erkennenden Trieb
stark anregt.


255.

Aberglauben im Gleichzeitigen. - Etwas Gieichzeitiges hängt zusammen,
meint man. Ein Verwandter stirbt in der Ferne, zu gleicher Zeit
träumen wir von ihm, - also! Aber zahllose Verwandte sterben und wir
träumen nicht von ihnen. Es ist wie bei den Schiffbrüchigen, welche
Gelübde thun: man sieht später im Tempel die Votivtafeln Derer, welche
zu Grunde giengen, nicht. - Ein Mensch stirbt, eine Eule krächzt,
eine Uhr steht still, alles in Einer Nachtstunde: sollte da nicht ein
Zusammenhang sein? Eine solche Vertraulichkeit mit der Natur, wie
diese Ahnung sie annimmt, schmeichelt den Menschen. - Diese Gattung
des Aberglaubens findet sich in verfeinerter Form bei Historikern und
Culturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen Nebeneinander, an dem
doch das Leben der Einzelnen und der Völker so reich ist, eine Art
Wasserscheu zu haben pflegen.


256.

Das Können, nicht das Wissen, durch die Wissenschaft geübt. - Der
Werth davon, dass man zeitweilig eine strenge Wissenschaft streng
betrieben hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen: denn diese
werden, im Verhältniss zum Meere des Wissenswerthen, ein verschwindend
kleiner Tropfen sein. Aber es ergiebt einen Zuwachs an Energie, an
Schlussvermögen, an Zähigkeit der Ausdauer; man hat gelernt, einen
Zweck zweckmässig zu erreichen. Insofern ist es sehr schätzbar,
in Hinsicht auf Alles, was man später treibt, einmal ein
wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein.


257.

Jugendreiz der Wissenschaft. - Das Forschen nach Wahrheit hat jetzt
noch den Reiz, dass sie sich überall stark gegen den grau und
langweilig gewordenen Irrthum abhebt; dieser Reiz verliert sich immer
mehr; jetzt zwar leben wir noch im Jugendzeitalter der Wissenschaft
und pflegen der Wahrheit wie einem schönen Mädchen nachzugehen; wie
aber, wenn sie eines Tages zum ältlichen, mürrisch blickenden Weibe
geworden ist? Fast in allen Wissenschaften ist die Grundeinsicht
entweder erst in jüngster Zeit gefunden oder wird noch gesucht; wie
anders reizt diess an, als wenn alles Wesentliche gefunden ist und nur
noch eine kümmerliche Herbstnachlese dem Forscher übrig bleibt (welche
Empfindung man in einigen historischen Disciplinen kennen lernen
kann).


258.

Die Statue der Menschheit. - Der Genius der Cultur verfährt wie
Cellini, als dieser den Guss seiner Perseus-Statue machte: die
flüssige Masse drohte, nicht auszureichen, aber sie sollte es: so warf
er Schüsseln und Teller und was ihm sonst in die Hände kam, hinein.
Und ebenso wirft jener Genius Irrthümer, Laster, Hoffnungen,
Wahnbilder und andere Dinge von schlechterem wie von edlerem Metalle
hinein, denn die Statue der Menschheit muss herauskommen und fertig
werden; was liegt daran, dass hie und da geringerer Stoff verwendet
wurde?


259.

Eine Cultur der Männer. - Die griechische Cultur der classischen Zeit
ist eine Cultur der Männer. Was die Frauen anlangt, so sagt Perikles
in der Grabrede Alles mit den Worten: sie seien am besten, wenn
unter Männern so wenig als möglich von ihnen gesprochen werde. -
Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen war in einem,
unserem Verständniss unzugänglichen Grade die nothwendige, einzige
Voraussetzung aller männlichen Erziehung (ungefähr wie lange Zeit alle
höhere Erziehung der Frauen bei uns erst durch die Liebschaft und Ehe
herbeigeführt wurde), aller Idealismus der Kraft der griechischen
Natur warf sich auf jenes Verhältniss, und wahrscheinlich sind junge
Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so durchaus in
Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden, wie im sechsten und
fünften Jahrhundert, - also gemäss dem schönen Spruche Hölderlin's
"denn liebend giebt der Sterbliche vom Besten". Je höher dieses
Verhältniss genommen wurde, um so tiefer sank der Verkehr mit der
Frau: der Gesichtspunct der Kindererzeugung und der Wollust - Nichts
weiter kam hier in Betracht; es gab keinen geistigen Verkehr, nicht
einmal eine eigentliche Liebschaft. Erwägt man ferner, dass sie selbst
vom Wettkampfe und Schauspiele jeder Art ausgeschlossen waren, so
bleiben nur die religiösen Culte als einzige höhere Unterhaltung der
Weiber. - Wenn man nun allerdings in der Tragödie Elektra und Antigone
vorführte, so ertrug man diess eben in der Kunst, obschon man es im
Leben nicht mochte: so wie wir jetzt alles Pathetische im Leben nicht
vertragen, aber in der Kunst gern sehen. - Die Weiber hatten weiter
keine Aufgabe, als Schöne, machtvolle Leiber hervorzubringen, in denen
der Charakter des Vaters möglichst ungebrochen weiter lebte, und damit
der überhand nehmenden Nervenüberreizung einer so hochentwickelten
Cultur entgegenzuwirken. Diess hielt die griechische Cultur
verhältnissmässig so lange jung; denn in den griechischen Müttern
kehrte immer wieder der griechische Genius zur Natur zurück.


260.

Das Vorurtheil Zu Gunsten der Grösse. - Die Menschen überschätzen
ersichtlich alles Grosse und Hervorstechende. Diess kommt aus der
bewussten oder unbewussten Einsicht her, dass sie es sehr nützlich
finden, wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich
gleichsam Ein monströses Organ macht. Sicherlich ist dem Menschen
selber eine gleichmässige Ausbildung seiner Kräfte nützlicher und
glückbringender; denn jedes Talent ist ein Vampyr, welcher den übrigen
Kräften Blut und Kraft aussaugt, und eine übertriebene Production kann
den begabtesten Menschen fast zur Tollheit bringen. Auch innerhalb der
Künste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit;
aber es ist auch eine viel geringere Cultur nöthig, um von ihnen sich
fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem,
was Macht haben will.


261.

Die Tyrannen des Geistes. - Nur wohin der Strahl des mythus fällt, da
leuchtet das Leben der Griechen; sonst ist es düster. Nun berauben
sich die griechischen Philosophen eben dieses Mythus': ist es
nicht, als ob sie aus dem Sonnenschein sich in den Schatten, in die
Düsterkeit setzen wollten? Aber keine Pflanze geht dem Lichte aus
dem Wege; im Grunde suchten jene Philosophen nur eine hellere Sonne,
der Mythus war ihnen nicht rein, nicht leuchtend genug. Sie fanden
diess Licht in ihrer Erkenntniss, in dem, was jeder von ihnen seine
"Wahrheit" nannte. Damals aber hatte die Erkenntniss noch einen
grösseren Glanz; sie war noch jung und wusste noch wenig von allen
Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Pfade; sie konnte damals noch
hoffen, mit einem einzigen Sprung an den Mittelpunct alles Seins
zu kommen und von dort aus das Räthsel der Welt zu lösen. Diese
Philosophen hatten - einen handfesten Glauben an sich und ihre
"Wahrheit" und warfen mit ihr alle ihre Nachbarn und Vorgänger nieder;
jeder von ihnen war ein streitbarer gewaltthätiger Tyrann. Vielleicht
war das Glück im Glauben an den Besitz der Wahrheit nie grösser in
der Welt, aber auch nie die Härte, der Uebermuth, das Tyrannische und
Böse eines solchen Glaubens. Sie waren Tyrannen, also Das, was jeder
Grieche sein wollte und was jeder war, wenn er es sein konnte.
Vielleicht macht nur Solon eine Ausnahme; in seinen Gedichten sagt er
es, wie er die persönliche Tyrannis verschmäht habe. Aber er that es
aus Liebe zu seinem Werke, zu seiner Gesetzgebung; und Gesetzgeber
sein ist eine sublimirtere Form des Tyrannenthums. Auch Parmenides gab
Gesetze, wohl auch Pythagoras und Empedokles; Anaximander gründete
eine Stadt. Plato war der fleischgewordene Wunsch, der höchste
philosophische Gesetzgeber und Staatengründer zu werden; er scheint
schrecklich an der Nichterfüllung seines Wesens gelitten zu haben, und
seine Seele wurde gegen sein Ende hin voll der schwärzesten Galle. Je
mehr das griechische Philosophenthum an Macht verlor, um so mehr litt
es innerlich durch diese Galligkeit und Schmähsucht; als erst die
verschiedenen Secten ihre Wahrheiten auf den Strassen verfochten, da
waren die Seelen aller dieser Freier der Wahrheit durch Eifer- und
Geifersucht völlig verschlammt, das tyrannische Element wüthete jetzt
als Gift in ihrem Körper. Diese vielen kleinen Tyrannen hätten sich
roh fressen mögen; es war kein Funke mehr von Liebe und allzuwenig
Freude an ihrer eigenen Erkenntniss in ihnen übrig geblieben. -
Ueberhaupt gilt der Satz, dass Tyrannen meistens ermordet werden
und dass ihre Nachkommenschaft kurz lebt, auch von den Tyrannen des
Geistes. Ihre Geschichte ist kurz, gewaltsam, ihre Nachwirkung bricht
plötzlich ab. Fast von allen grossen Hellenen kann man sagen, dass
sie zu spät gekommen scheinen, so von Aeschylus, von Pindar, von
Demosthenes, von Thukydides; ein Geschlecht nach ihnen - und dann ist
es immer völlig vorbei. Das ist das Stürmische und Unheimliche in der
griechischen Geschichte. Jetzt zwar bewundert man das Evangelium der
Schildkröte. Geschichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob zu
allen Zeiten nach dem Satze Geschichte gemacht worden wäre: "möglichst
wenig in möglichst langer Zeit!" Ach, die griechische Geschichte läuft
so rasch! Es ist nie wieder so verschwenderisch, so maasslos gelebt
worden. Ich kann mich nicht überzeugen, dass die Geschichte der
Griechen jenen natürlichen Verlauf genommen habe, der so an ihr
gerühmt wird. Sie waren viel zu mannichfach begabt dazu, um in jener
schrittweisen Manier allmählich zu sein, wie es die Schildkröte
im Wettlauf mit Achilles ist: und das nennt man ja natürliche
Entwickelung. Bei den Griechen geht es schnell vorwärts, aber eben so
schnell abwärts; die Bewegung der ganzen Maschine ist so gesteigert,
dass ein einziger Stein, in ihre Räder geworfen, sie zerspringen
macht. Ein solcher Stein war zum Beispiel Sokrates; in einer Nacht
war die bis dahin so wunderbar regelmässige, aber freilich allzu
schleunige Entwickelung der philosophischen Wissenschaft zerstört.
Es ist keine müssige Frage, ob nicht Plato, von der sokratischen
Verzauberung frei geblieben, einen noch höheren Typus des
philosophischen Menschen gefunden hätte, der uns auf immer verloren
ist. Man sieht in die Zeiten vor ihm wie in einer Bildner-Werkstätte
solcher Typen hinein. Das sechste und fünfte Jahrhundert scheint aber
doch noch mehr und Höheres zu verheissen, als es selber hervorgebracht
hat; aber es blieb bei dem Verheissen und Ankündigen. Und doch giebt
es kaum einen schwereren Verlust, als den Verlust eines Typus', einer
neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten Möglichkeit des
philosophischen Lebens. Selbst von den älteren Typen sind die meisten
schlecht überliefert; es scheinen mir alle Philosophen von Thales bis
Demokrit ausserordentlich schwer erkennbar; wem es aber gelingt, diese
Gestalten nachzuschaffen, der wandelt unter Gebilden von mächtigstem
und reinstem Typus. Diese Fähigkeit ist freilich selten, sie fehlte
selbst den späteren Griechen, welche sich mit der Kunde der älteren
Philosophie befassten; Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im
Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht. Und so scheint es,
als ob diese herrlichen Philosophen umsonst gelebt hätten oder als ob
sie gar nur die streit- und redelustigen Schaaren der sokratischen
Schulen hätten vorbereiten sollen. Es ist hier, wie gesagt, eine
Lücke, ein Bruch in der Entwickelung; irgend ein grosses Unglück muss
geschehen sein und die einzige Statue, an welcher man Sinn und Zweck
jener grossen bildnerischen Vorübung erkannt haben würde, zerbrach
oder misslang: was eigentlich geschehen ist, ist für immer ein
Geheimniss der Werkstätte geblieben. - Das, was bei den Griechen sich
ereignete - dass jeder grosse Denker im Glauben daran, Besitzer der
absoluten Wahrheit zu sein, zum Tyrannen wurde, so dass auch die
Geschichte des Geistes bei den Griechen jenen gewaltsamen, übereilten
und gefährlichen Charakter bekommen hat, den ihre politische
Geschichte zeigt - diese Art von Ereignissen war damit nicht
erschöpft: es hat sich vieles Gleiche bis in die neueste Zeit hinein
begeben, obwohl allmählich seltener und jetzt schwerlich mehr mit dem
reinen naiven Gewissen der griechischen Philosophen. Denn im Ganzen
redet jetzt die Gegenlehre und die Skepsis zu mächtig, zu laut. Die
Periode der Tyrannen des Geistes ist vorbei. In den Sphären der
höheren Cultur wird es freilich immer eine Herrschaft geben müssen, -
aber diese Herrschaft liegt von jetzt ab in den Händen der Oligarchen
des Geistes. Sie bilden, trotz aller räumlichen und politischen
Trennung, eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich
erkennen und anerkennen, was auch die öffentliche Meinung und die
Urtheile der auf die Masse wirkenden Tages- und Zeitschriftsteller
für Schätzungen der Gunst oder Abgunst in Umlauf bringen mögen. Die
geistige Ueberlegenheit, welche früher trennte und verfeindete, pflegt
jetzt zu binden: wie könnten die Einzelnen sich selbst behaupten
und auf eigener Bahn, allen Strömungen entgegen, durch das Leben
schwimmen, wenn sie nicht ihres Gleichen hier und dort unter gleichen
Bedingungen leben sähen und deren Hand ergriffen, im Kampfe eben so
sehr gegen den ochlokratischen Charakter des Halbgeistes und der
Halbbildung, als gegen die gelegentlichen Versuche, mit Hülfe der
Massenwirkung eine Tyrannei aufzurichten? Die Oligarchen sind einander
nöthig, sie haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre
Abzeichen, - aber trotzdem ist ein jeder von ihnen frei, er kämpft und
siegt an seiner Stelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen.


262.

Homer. - Die grösste Thatsache in der griechischen Bildung bleibt doch
die, dass Homer so frühzeitig panhellenisch wurde. Alle geistige und
menschliche Freiheit, welche die Griechen erreichten, geht auf diese
Thatsache zurück. Aber zugleich ist es das eigentliche Verhängniss
der griechischen Bildung gewesen, denn Homer verflachte, indem er
centralisirte, und löste die ernsteren Instincte der Unabhängigkeit
auf. Von Zeit zu Zeit erhob sich aus dem tiefsten Grunde des
Hellenischen der Widerspruch gegen Homer; aber er blieb immer
siegreich. Alle grossen geistigen Mächte üben neben ihrer befreienden
Wirkung auch eine unterdrückende aus; aber freilich ist es ein
Unterschied, ob Homer oder die Bibel oder die Wissenschaft die
Menschen tyrannisiren.


263.

Begabung. - In einer so hoch entwickelten Menschheit, wie die jetzige
ist, bekommt von Natur Jeder den Zugang zu vielen Talenten mit. Jeder
hat angeborenes Talent, aber nur Wenigen ist der Grad von Zähigkeit,
Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein
Talent wird, also wird, was er ist, das heisst: es in Werken und
Handlungen entladet.


264.

Der Geistreiche entweder überschätzt oder unterschätzt. -
Unwissenschaftliche, aber begabte Menschen schätzen jedes Anzeichen
von Geist, sei es nun, dass er auf wahrer oder falscher Fährte ist;
sie wollen vor Allem, dass der Mensch, der mit ihnen verkehrt, sie gut
mit seinem Geist unterhalte, sie ansporne, entflamme, zu Ernst und
Scherz fortreisse und jedenfalls vor der Langenweile als kräftigstes
Amulet schütze. Die wissenschaftlichen Naturen wissen dagegen, dass
die Begabung, allerhand Einfälle zu haben, auf das strengste durch den
Geist der Wissenschaft gezügelt werden müsse; nicht Das, was glänzt,
scheint, erregt, sondern die oft unscheinbare Wahrheit ist die Frucht,
welche er vom Baum der Erkenntniss zu schütteln wünscht. Er darf,
wie Aristoteles, zwischen "Langweiligen" und "Geistreichen" keinen
Unterschied machen, sein Dämon führt ihn durch die Wüste ebenso wie
durch tropische Vegetation, damit er überall nur an dem Wirklichen,
Haltbaren, Aechten seine Freude habe. - Daraus ergiebt sich, bei
unbedeutenden Gelehrten, eine Missachtung und Verdächtigung des
Geistreichen überhaupt, und wiederum haben geistreiche Leute häufig
eine Abneigung gegen die Wissenschaft: wie zum Beispiel fast alle
Künstler.


265.

Die Vernunft in der Schule. - Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe,
als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen
zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht für
diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der Religion. Sie
kann ja darauf rechnen, dass menschliche Unklarheit, Gewöhnung und
Bedürfniss später doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens
abspannen. Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie Das erzwingen,
was das Wesentliche und Auszeichnende am Menschen ist- "Vernunft
und Wissenschaft des Menschen allerhöchste Kraft" - wie wenigstens
Goethe urtheilt. - Der grosse Naturforscher von Baer findet die
Ueberlegenheit aller Europäer im Vergleich zu Asiaten in der
eingeschulten Fähigkeit, dass sie Gründe für Das, was sie glauben,
angeben können, wozu Diese aber völlig unfähig sind. Europa ist in die
Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss
immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden
und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueberzeugungen aus eigener
Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus Phantasien stammen. - Die
Vernunft in der Schule hat Europa zu Europa gemacht: im Mittelalter
war es auf dem Wege, wieder zu einem Stück und Anhängsel Asiens zu
werden, - also den wissenschaftlichen Sinn, welchen es den Griechen
verdankte, einzubüssen.


266.

Unterschätzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. - Man sucht den
Werth des Gymnasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort
gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in
denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit
Widerwillen aneignet, um sie, so schnell er darf, von sich
abzuschütteln. Das Lesen der Classiker - das giebt jeder Gebildete
zu - ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Procedur:
vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von
Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen
Mehlthau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Werth, der
gewöhnlich verkannt wird, - dass diese Lehrer die abstracte Sprache
der höhern Cultur reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen,
wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; dass Begriffe,
Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend
vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und
auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hören, so wird ihr
Intellect zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich
präformirt. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt
von der Abstraction als reines Naturkind herauszukommen.


267.

Viele Sprachen lernen. - Viele Sprachen lernen füllt das Gedächtniss
mit Worten, statt mit Thatsachen und Gedanken, aus, während diess ein
Behältniss ist, welches bei jedem Menschen nur eine bestimmt begränzte
Masse von Inhalt aufnehmen kann. Sodann schadet das Lernen vieler
Sprachen, insofern es den Glauben, Fertigkeiten zu haben, erweckt und
thatsächlich auch ein gewisses verführerisches Ansehen im Verkehre
verleiht; es schadet sodann auch indirect dadurch, dass es dem
Erwerben gründlicher Kenntnisse und der Absicht, auf redliche Weise
die Achtung der Menschen zu verdienen, entgegenwirkt. Endlich ist es
die Axt, welche dem feineren Sprachgefühl innerhalb der Muttersprache
an die Wurzel gelegt wird: diess wird dadurch unheilbar beschädigt und
zu Grunde gerichtet. Die beiden Völker, welche die grössten Stilisten
erzeugten, Griechen und Franzosen, lernten keine fremden Sprachen. -
Weil aber der Verkehr der Menschen immer kosmopolitischer werden muss,
und zum Beispiel ein rechter Kaufmann in London jetzt schon sich in
acht Sprachen schriftlich und mündlich verständlich zu machen hat, so
ist freilich das Viele-Sprachen-lernen ein nothwendiges Uebel; welches
aber zuletzt zum Aeussersten kommend, die Menschheit zwingen wird,
ein Heilmittel zu finden: und in irgend einer fernen Zukunft wird es
eine neue Sprache, zuerst als Handelssprache, dann als Sprache des
geistigen Verkehres überhaupt, für Alle geben, so gewiss, als es
einmal Luft-Schifffahrt giebt. Wozu hätte auch die Sprachwissenschaft
ein Jahrhundert lang die Gesetze der Sprache studirt und das
Nothwendige, Werthvolle, Gelungene an jeder einzelnen Sprache
abgeschätzt!


268.

Zur Kriegsgeschichte des Individuums. - Wir finden in ein einzelnes
Menschenleben, welches durch mehrere Culturen geht, den Kampf
zusammengedrängt, welcher sich sonst zwischen zwei Generationen,
zwischen Vater und Sohn, abspielt: die Nähe der Verwandtschaft
verschärft diesen Kampf, weil jede Partei schonungslos das ihr so gut
bekannte Innere der anderen Partei mit hineinzieht; und so wird dieser
Kampf im einzelnen Individuum am erbittertsten sein; hier schreitet
jede neue Phase über die früheren mit grausamer Ungerechtigkeit und
Verkennung von deren Mitteln und Zielen hinweg.


269.

Um eine Viertelstunde früher. - Man findet gelegentlich Einen, der mit
seinen Ansichten über seiner Zeit steht, aber doch nur um so viel,
dass er die Vulgäransichten des nächsten Jahrzehnts vorwegnimmt. Er
hat die öffentliche Meinung eher, als sie öffentlich ist, das heisst:
er ist einer Ansicht, die es verdient trivial zu werden, eine
Viertelstunde eher in die Arme gefallen, als Andere. Sein Ruhm pflegt
aber viel lauter zu sein, als der Ruhm der wirklichen Grossen und
Ueberlegenen.


270.

Die Kunst, zu lesen. - jede starke Richtung ist einseitig; sie nähert
sich der Richtung der geraden Linie und ist wie diese ausschliessend,
das heisst sie berührt nicht viele andere Richtungen, wie diess
schwache Parteien und Naturen in ihrem wellenhaften Hin- und Hergehen
thun: das muss man also auch den Philologen nachsehen, dass sie
einseitig sind. Herstellung und Reinhaltung der Texte, nebst der
Erklärung derselben, in einer Zunft jahrhundertelang fortgetrieben,
hat endlich jetzt die richtigen Methoden finden lassen; das ganze
Mittelalter war tief unfähig zu einer streng philologischen Erklärung,
das heisst zum einfachen Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt,
- es war Etwas, diese Methoden zu finden, man unterschätze es nicht!
Alle Wissenschaft hat dadurch erst Continuität und Stetigkeit
gewonnen, dass die Kunst des richtigen Lesens, das heisst die
Philologie, auf ihre Höhe kam.


271.

Die Kunst, zu schliessen. - Der grösste Fortschritt, den die Menschen
gemacht haben, liegt darin, dass sie richtig schliessen lernen. Das
ist gar nicht so etwas Natürliches, wie Schopenhauer annimmt, wenn er
sagt: "zu schliessen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig", sondern
ist spät erlernt und jetzt noch nicht zur Herrschaft gelangt.
Das faische Schliessen ist in älteren Zeiten die Regel: und
die Mythologien aller Völker, ihre Magie und ihr Aberglaube,
ihr religiöser Cultus, ihr Recht sind die unerschöpflichen
Beweis-Fundstätten für diesen Satz.


272.

Jahresringe der individuellen Cultur. - Die Stärke und Schwäche
der geistigen Productivität hängt lange nicht so an der angeerbten
Begabung, als an dem mitgegebenen Maasse von Spannkraft. Die meisten
jungen Gebildeten von dreissig Jahren gehen um diese Frühsonnenwende
ihres Lebens zurück und sind für neue geistige Wendungen von da an
unlustig. Desshalb ist dann gleich wieder zum Heile einer fort und
fort wachsenden Cultur eine neue Generation nöthig, die es nun
aber ebenfalls nicht weit bringt: denn um die Cultur des Vaters
nachzuholen, muss der Sohn die angeerbte Energie, welche der Vater
auf jener Lebensstufe, als er den Sohn zeugte, selber besass, fast
aufbrauchen; mit dem kleinen Ueberschuss kommt er weiter (denn weil
hier der Weg zum zweiten Mal gemacht wird, geht es ein Wenig schneller
vorwärts; der Sohn verbraucht, um das Selbe zu lernen, was der Vater
wusste, nicht ganz so viel Kraft). Sehr spannkräftige Männer, wie zum
Beispiel Goethe, durchmessen so viel als kaum vier Generationen hinter
einander vermögen; desshalb kommen sie aber zu schnell voraus, so
dass die anderen Menschen sie erst in dem nächsten Jahrhundert
einholen, vielleicht nicht einmal völlig, weil durch die häufigen
Unterbrechungen die Geschlossenheit der Cultur, die Consequenz der
Entwickelung geschwächt worden ist. - Die gewöhnlichen Phasen der
geistigen Cultur, welche im Verlauf der Geschichte errungen ist,
holen die Menschen immer schneller nach. Sie beginnen gegenwärtig in
die Cultur als religiös bewegte Kinder einzutreten und bringen es
vielleicht im zehnten Lebensjahre zur höchsten Lebhaftigkeit dieser
Empfindungen, gehen dann in abgeschwächtere Formen (Pantheismus)
über, während sie sich der Wissenschaft nähern; kommen über Gott,
Unsterblichkeit und dergleichen ganz hinaus, aber verfallen den
Zaubern einer metaphysischen Philosophie. Auch diese wird ihnen
endlich unglaubwürdig; die Kunst scheint dagegen immer mehr zu
gewähren, so dass eine Zeit lang die Metaphysik kaum noch in einer
Umwandelung zur Kunst oder als künstlerisch verklärende Stimmung
übrig bleibt und fortlebt. Aber der wissenschaftliche Sinn wird immer
gebieterischer und führt den Mann hin zur Naturwissenschaft und
Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens,
während der Kunst eine immer mildere und anspruchslosere Bedeutung
zufällt. Diess Alles pflegt sich jetzt innerhalb der ersten dreissig
Jahre eines Mannes zu ereignen. Es ist die Recapitulation eines
Pensums, an welchem die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre
sich abgearbeitet hat.


273.

Zurückgegangen, nicht zurückgeblieben. - Wer gegenwärtig seine
Entwickelung noch aus religiösen Empfindungen heraus anhebt und
vielleicht längere Zeit nachher in Metaphysik und Kunst weiterlebt,
der hat sich allerdings ein gutes Stück zurückbegeben und beginnt
sein Wettrennen mit anderen modernen Menschen unter ungünstigen
Voraussetzungen: er verliert scheinbar Raum und Zeit. Aber dadurch,
dass er sich in jenen Bereichen aufhielt, wo Gluth und Energie
entfesselt werden und fortwährend Macht als vulcanischer Strom aus
unversiegbarer Quelle strömt, kommt er dann, sobald er sich nur
zur rechten Zeit von jenen Gebieten getrennt hat, um so schneller
vorwärts, sein Fuss ist beflügelt, seine Brust hat ruhiger, länger,
ausdauernder athmen gelernt. - Er hat sich nur zurückgezogen, um
zu seinem Sprunge genügenden Raum zu haben: so kann selbst etwas
Fürchterliches, Drohendes in diesem Rückgange liegen.


274.

Ein Ausschnitt unseres Selbst als künstlerisches Object. - Es ist ein
Zeichen überlegener Cultur, gewisse Phasen der Entwickelung, welche
die geringeren Menschen fast gedankenlos durchleben und von der Tafel
ihrer Seele dann wegwischen, mit Bewusstsein festzuhalten und ein
getreues Bild davon zu entwerfen: denn diess ist die höhere Gattung
der Malerkunst, welche nur Wenige verstehen. Dazu wird es nöthig, jene
Phasen künstlich zu isoliren. Die historischen Studien bilden die
Befähigung zu diesem Malerthum aus, denn sie fordern uns fortwährend
auf, bei Anlass eines Stückes Geschichte, eines Volkes - oder
Menschenlebens uns einen ganz bestimmten Horizont von Gedanken,
eine bestimmte Stärke von Empfindungen, das Vorwalten dieser, das
Zurücktreten jener vorzustellen. Darin, dass man solche Gedanken- und
Gefühlssysteme aus gegebenen Anlässen schnell reconstruiren kann, wie
den Eindruck eines Tempels aus einigen zufällig stehen gebliebenen
Säulen und Mauerresten, besteht der historische Sinn. Das nächste
Ergebniss desselben ist, dass wir unsere Mitmenschen als ganz
bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener Culturen
verstehen, das heisst als nothwendig, aber als veränderlich.
Und wiederum, dass wir in unserer eigenen Entwickelung Stücke
heraustrennen und selbständig hinstellen können.


275.

Cyniker und Epikureer. - Der Cyniker erkennt den Zusammenhang zwischen
den vermehrten und stärkeren Schmerzen des höher cultivirten Menschen
und der Fülle von Bedürfnissen; er begreift also, dass die Menge von
Meinungen über das Schöne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebenso
sehr reiche Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen
musste. Gemäss dieser Einsicht bildet er sich zurück, indem er viele
dieser Meinungen aufgiebt und sich gewissen Anforderungen der Cultur
entzieht; damit gewinnt er ein Gefühl der Freiheit und der Kräftigung;
und allmählich, wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise erträglich
macht, hat er in der That seltnere und schwächere Unlustempfindungen,
als die cultivirten Menschen, und nähert sich dem Hausthier an;
überdiess empfindet er Alles im Reiz des Contrastes und - schimpfen
kann er ebenfalls nach Herzenslust; so dass er dadurch wieder hoch
über die Empfindungswelt des Thieres hinauskommt. - Der Epikureer hat
den selben Gesichtspunct wie der Cyniker; zwischen ihm und jenem ist
gewöhnlich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der
Epikureer seine höhere Cultur, um sich von den herrschenden Meinungen
unabhängig zu machen; er erhebt sich über dieselben, während
der Cyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in
windstillen, wohlgeschützten, halbdunkelen Gängen, während über ihm,
im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm verrathen, wie heftig
bewegt da draussen die Welt ist. Der Cyniker dagegen geht gleichsam
nackt draussen im Windeswehen umher und härtet sich bis zur
Gefühllosigkeit ab.


276.

Mikrokosmus und Makrokosmus der Cultur. - Die besten Entdeckungen
über die Cultur macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei
heterogene Mächte waltend findet. Gesetzt, es lebe Einer eben so sehr
in der Liebe zur bildenden Kunst oder zur Musik als er vom Geiste der
Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unmöglich an,
diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung
der anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur übrig, ein so grosses
Gebäude der Cultur aus sich zu gestalten, dass jene beiden Mächte,
wenn auch an verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen können,
während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte, mit überwiegender
Kraft, um nöthigen falls den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre
Herberge haben. Ein solches Gebäude der Cultur im einzelnen Individuum
wird aber die grösste Aehnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen
Zeitperioden haben und eine fortgesetzte analogische Belehrung über
denselben abgeben. Denn überall, wo sich die grosse Architektur der
Cultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden
Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammelung der
weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie desshalb
zu unterdrücken und in Fesseln zu schlagen.


277.

Glück und Cultur. - Der Anblick der Umgebungen unserer Kindheit
erschüttert uns: das Gartenhaus, die Kirche mit den Gräbern, der Teich
und der Wald, - diess sehen wir immer als Leidende wieder. Mitleid
mit uns selbst ergreift uns, denn was haben wir seitdem Alles
durchgelitten! Und hier steht jegliches noch so still, so ewig da:
nur wir sind so anders, so bewegt; selbst etliche Menschen finden wir
wieder, an welchen die Zeit nicht mehr ihren Zahn gewetzt hat, als
an einem Eichenbaume: Bauern, Fischer, Waldbewohner - sie sind die
selben. - Erschütterung, Selbstmitleid im Angesichte der niederen
Cultur ist das Zeichen der höheren Cultur; woraus sich ergiebt, dass
durch diese das Glück jedenfalls nicht gemehrt worden ist. Wer eben
Glück und Behagen vom Leben ernten will, der mag nur immer der höheren
Cultur aus dem Wege gehen.


278.

Gleichniss vom Tanze. - Jetzt ist es als das entscheidende Zeichen
grosser Cultur zu betrachten, wenn jemand jene Kraft und Biegsamkeit
besitzt, um ebenso rein und streng im Erkennen zu sein als, in
andern Momenten, auch befähigt, der Poesie, Religion und Metaphysik
gleichsam hundert Schritte vorzugeben und ihre Gewalt und Schönheit
nachzuempfinden. Eine solche Stellung zwischen zwei so verschiedenen
Ansprüchen ist sehr schwierig, denn die Wissenschaft drängt zur
absoluten Herrschaft ihrer Methode, und wird diesem Drängen nicht
nachgegeben, so entsteht die andere Gefahr eines schwächlichen Auf-
und Niederschwankens zwischen verschiedenen Antrieben. Indessen: um
wenigstens mit einem Gleichniss einen Blick auf die Lösung dieser
Schwierigkeit zu eröffnen, möge man sich doch daran erinnern, dass
der Tanz nicht das Selbe wie ein mattes Hin- und Hertaumeln zwischen
verschiedenen Antrieben ist. Die hohe Cultur wird einem kühnen Tanze
ähnlich sehen: wesshalb, wie gesagt, viel Kraft und Geschmeidigkeit
noth thut.


279.

Von der Erleichterung des Lebens. - Ein Hauptmittel, um sich das Leben
zu erleichtern, ist das Idealisiren aller Vorgänge desselben; man
soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisiren
heisst. Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht zu genau, zu
scharf zusehe, er zwingt ihn in eine gewisse Ferne zurück, damit
er von dort aus betrachte; er ist genöthigt, eine ganz bestimmte
Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen; ja er muss
sogar ein ebenso bestimmtes Maass von Schärfe des Auges bei seinem
Betrachter annehmen; in solchen Dingen darf er durchaus nicht
schwanken. Jeder also, der sein Leben idealisiren will, muss es
nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse
Entfernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel
Goethe.


280.

Erschwerung als Erleichterung und umgekehrt. - Vieles, was auf
gewissen Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer
höheren Stufe als Erleichterung, weil solche Menschen stärkere
Erschwerungen des Lebens kennen gelernt haben. Ebenso kommt das
Umgekehrte vor: so hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes
Gesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinaufblickt, um von ihr sich
seine Last und Noth abnehmen zu lassen, oder auf sie hinabsieht, wie
auf die Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die
Lüfte steige.


281.

Die höhere Cultur wird nothwendig missverstanden. - Wer sein
Instrument nur mit zwei Saiten bespannt hat, wie die Gelehrten, welche
ausser dem Wissenstrieb nur noch einen anerzogenen religiösen haben,
der versteht solche Menschen nicht, welche auf mehr Saiten spielen
können. Es liegt im Wesen der höheren vielsaitigeren Cultur, dass sie
von der niederen immer falsch gedeutet wird; wie diess zum Beispiel
geschieht, wenn die Kunst als eine verkappte Form des Religiösen gilt.
Ja Leute, die nur religiös sind, verstehen selbst die Wissenschaft als
Suchen des religiösen Gefühls, so wie Taubstumme nicht wissen, was
Musik ist, wenn nicht sichtbare Bewegung.


282.

Klagelied. - Es sind vielleicht die Vorzüge unserer Zeiten, welche
ein Zurücktreten und eine gelegentliche Unterschätzung der vita
contemplativa mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich,
dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten, dass Pascal, Epictet,
Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiss -
sonst im Gefolge der grossen Göttin Gesundheit - mitunter wie eine
Krankheit zu Wüthen scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken
fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt
sich, sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens
wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen
gewöhnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von
der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbständige und vorsichtige Haltung
der Erkenntniss schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab, der
Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an
seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gründlichkeit und ihren
Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der
Wissenschaft bannen möchten: während er die ganz andere und höhere
Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen
Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen
und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen. - Eine solche
Klage, wie die eben abgesungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben
und von selber einmal, bei einer gewaltigen Rückkehr des Genius' der
Meditation, verstummen.


283.

Hauptmangel der thätigen Menschen. - Den Thätigen fehlt gewöhnlich die
höhere Thätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte,
Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen thätig, aber nicht
als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht
sind sie faul. - Es ist das Unglück der Thätigen, dass ihre Thätigkeit
fast immer ein Wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem
geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit
nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein
rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. - Alle Menschen zerfallen,
wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer
von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er
sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.


284.

Zu Gunsten der Müssigen. - Zum Zeichen dafür, dass die Schätzung des
beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt
mit den thätigen Menschen in einer Art von hastigem Genusse, so dass
sie also diese Art, zu geniessen, höher zu schätzen scheinen, als
die, welche ihnen eigentlich zukommt und welche in der That viel mehr
Genuss ist. Die Gelehrten schämen sich des otium. Es ist aber ein edel
Ding um Musse und Müssiggehen. - Wenn Müssiggang wirklich der Anfang
aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der nächsten
Nähe aller Tugenden; der müssige Mensch ist immer noch ein besserer
Mensch als der thätige. - Ihr meint doch nicht, dass ich mit Musse und
Müssiggehen auf euch ziele, ihr Faulthiere? -


285.

Die moderne Unruhe. - Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit
immer grösser, so dass den Amerikanern die Bewohner Europa's
insgesammt sich als ruheliebende und geniessende Wesen darstellen,
während diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinander fliegen.
Diese Bewegtheit wird so gross, dass die höhere Cultur ihre Früchte
nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf
einander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine
neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thätigen, das heisst die
Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört desshalb zu den nothwendigen
Correcturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss,
das beschauliche Element in grossem Maasse zu verstärken. Doch hat
schon jeder Einzelne, welcher in Herz und Kopf ruhig und stetig ist,
das Recht zu glauben, dass er nicht nur ein gutes Temperament, sondern
eine allgemein nützliche Tugend besitze und durch die Bewahrung dieser
Tugend sogar eine höhere Aufgabe erfülle.


286.

Inwiefern der thätige faul ist. - Ich glaube, dass jeder über jedes
Ding, über welches Meinungen möglich sind, eine eigene Meinung haben
muss, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu
allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt.
Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thätigen liegt,
verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu
schöpfen. - Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der
Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein
gültiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu
seiner Gesundheit nöthig hat, ist für ein anderes schon Grund zur
Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen
höher entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten.


287.

Censor vitae. Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet für eine
lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen, welcher frei in seinem
Urtheile über das Leben werden will; er vergisst nicht und trägt den
Dingen Alles nach, Gutes und Böses. Zuletzt, wenn die ganze Tafel
seiner Seele mit Erfahrungen voll geschrieben ist, wird er das Dasein
nicht verachten und hassen, aber es auch nicht lieben, sondern über
ihm liegen bald mit dem Auge der Freude, bald mit dem der Trauer, und,
wie die Natur, bald sommerlich, bald herbstlich gesinnt sein.


288.

Nebenerfolg. - Wer ernstlich frei werden will, wird dabei ohne allen
Zwang die Neigung zu Fehlern und Lastern mit verlieren; auch Aerger
und Verdruss werden ihn immer seltener anfallen. Sein Wille nämlich
will Nichts angelegentlicher, als Erkennen und das Mittel dazu, das
heisst: den andauernden Zustand, in dem er am tüchtigsten zum Erkennen
ist.


289.

Werth der Krankheit. - Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt
mitunter dahinter, dass er für gewöhnlich an seinem Amte, Geschäfte
oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit
über sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Musse, zu
welcher ihn seine Krankheit zwingt.


290.

Empfindung auf dem Lande. - Wenn man nicht feste, ruhige Linien am
Horizonte seines Lebens hat, Gebirgs- und Waldlinien gleichsam, so
wird der innerste Wille des Menschen selber unruhig, zerstreut und
begehrlich wie das Wesen des Städters: er hat kein Glück und giebt
kein Glück.


291.

Vorsicht der freien Geister. - Freigesinnte, der Erkenntniss allein
lebende Menschen werden ihr äusserliches Lebensziel, ihre endgültige
Stellung zu Gesellschaft und Staat bald erreicht finden und zum
Beispiel mit einem kleinen Amte oder einem Vermögen, das gerade zum
Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben; denn sie werden sich
einrichten so zu leben, dass eine grosse Verwandelung der äusseren
Güter, ja ein Umsturz der politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit
umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie möglich an
Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und gleichsam
mit einem langen Athem in das Element des Erkennens hinabtauchen.
So können sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund
zu sehen. - Von einem Ereigniss wird ein solcher Geist gerne nur
einen Zipfel nehmen, er liebt die Dinge in der ganzen Breite und
Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht: denn er will sich nicht in
diese verwickeln. - Auch er kennt die Wochentage der Unfreiheit, der
Abhängigkeit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit muss ihm ein
Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das Leben nicht aushalten.
- Es ist wahrscheinlich, dass selbst seine Liebe zu den Menschen
vorsichtig und etwas kurzathmig sein wird, denn er will sich nur,
so weit es zum Zwecke der Erkenntniss nöthig ist, mit der Welt der
Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muss darauf vertrauen, dass
der Genius der Gerechtigkeit Etwas für seinen Jünger und Schützling
sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen
sollten. - Es giebt in seiner Lebens- und Denkweise einen verfeinerten
Heroismus, welcher es verschmäht, sich der grossen Massen-Verehrung,
wie sein gröberer Bruder es thut, anzubieten und still durch die
Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. Was für Labyrinthe er auch
durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig
durchgequält hat - kommt er an's Licht, so geht er hell, leicht und
fast geräuschlos seinen Gang und lässt den Sonnenschein bis in seinen
Grund hinab spielen.


292.

Vorwärts. - Und damit vorwärts auf der Bahn der Weisheit, guten
Schrittes, guten Vertrauens! Wie du auch bist, so diene dir selber
als Quell der Erfahrung! Wirf das Missvergnügen über dein Wesen ab,
verzeihe dir dein eignes Ich, denn in jedem Falle hast du an dir eine
Leiter mit hundert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntniss steigen
kannst. Das Zeitalter, in welches du dich mit Leidwesen geworfen
fühlst, preist dich selig dieses Glückes wegen; es ruft dir zu, dass
dir jetzt noch an Erfahrungen zu Theil werde, was Menschen späterer
Zeit vielleicht entbehren müssen. Missachte es nicht, noch religiös
gewesen zu sein; ergründe es völlig, wie du noch einen ächten Zugang
zur Kunst gehabt hast. Kannst du nicht gerade mit Hülfe dieser
Erfahrungen ungeheuren Wegstrecken der früheren Menschheit
verständnisvoller nachgehen? Sind nicht gerade auf dem Boden, welcher
dir mitunter so missfällt, auf dem Boden des unreinen Denkens, viele
der herrlichsten Früchte älterer Cultur aufgewachsen? Man muss
Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, - sonst kann
man nicht weise werden. Aber man muss über sie hinaus sehen, ihnen
entwachsen können; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie
nicht. Ebenso muss dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige
Spiel mit den Wagschalen: "einerseits-andererseits". Wandle zurück, in
die Fussstapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren leidvollen
grossen Gang durch die Wüste der Vergangenheit machte: so bist du am
gewissesten belehrt, wohin alle spätere Menschheit nicht wieder gehen
kann oder darf. Und indem du mit aller Kraft vorauserspähen willst,
wie der Knoten der Zukunft noch geknüpft wird, bekommt dein eigenes
Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast
es in der Hand zu erreichen, dass all dein Erlebtes: die Versuche,
Irrwege, Fehler, Täuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine
Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest aufgehn. Dieses Ziel ist, selber
eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser
Nothwendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen
Cultur zu schliessen. Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den
Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse
zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen
Sternbilder zukünftiger Culturen sichtbar werden. Glaubst du, ein
solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu mühevoll, zu ledig aller
Annehmlichkeiten? So hast du noch nicht gelernt, dass kein Honig
süsser als der der Erkenntniss ist und dass die hängenden Wolken der
Trübsal dir noch zum Euter dienen müssen, aus dem du die Milch zu
deiner Labung melken wirst. Kommt das Alter, so merkst du erst recht,
wie du der Stimme der Natur Gehör gegeben, jener Natur, welche die
ganze Welt durch Lust beherrscht: das selbe Leben, welches seine
Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem
milden Sonnenglanz einer beständigen geistigen Freudigkeit; beiden,
dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf Einem Bergrücken des
Lebens, so wollte es die Natur. Dann ist es Zeit und kein Anlass zum
Zürnen, dass der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu - deine letzte
Bewegung; ein jauchzen der Erkenntniss - dein letzter Laut.




Sechstes Hauptstück.

Der Mensch im Verkehr.

293.

Wohlwollende Verstellung. - Es ist häufig im Verkehre mit Menschen
eine wohlwollende Verstellung nöthig, als ob wir die Motive ihres
Handelns nicht durchschauten.


294.

Copien. - Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen; und
den Meisten gefallen, wie bei Gemälden, so auch hier, die Copien
besser als die Originale.


295.

Der Redner. - Man kann höchst passend reden und doch so, dass alle
Weldt über das Gegentheil schreit: nämlich dann, wenn man nicht zu
aller Welt redet.


296.

Mangel an Vertraulichkeit. - Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden
ist ein Fehler, der nicht gerügt werden kann, ohne unheilbar zu
werden.


297.

Zur Kunst des Schenkens. - Eine Gabe ausschlagen zu müssen, blos weil
sie nicht auf die rechte Weise angeboten wurde, erbittert gegen den
Geber.


298.

Der gefährlichste Parteimann. - In jeder Partei ist Einer, der durch
sein gar zu gläubiges Aussprechen der Parteigrundsätze die Uebrigen
zum Abfall reizt.


299.

Rathgeber des Kranken. Wer einem Kranken seine Rathschläge giebt,
erwirbt sich ein Gefühl von Ueberlegenheit über ihn, sei es, dass sie
angenommen oder dass sie verworfen werden. Desshalb hassen reizbare
und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als ihre Krankheit.


300.

Doppelte Art der Gleichheit. - Die Sucht nach Gleichheit kann sich so
äussern, dass man entweder alle Anderen zu sich hinunterziehen möchte
(durch Verkleinern, Secretiren, Beinstellen) oder sich mit Allen
hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem Gelingen).


301.

Gegen Verlegenheit. - Das beste Mittel, sehr verlegenen Leuten zu
Hülfe zu kommen und sie zu beruhigen, besteht darin, dass man sie
entschieden lobt.


302.

Vorliebe für einzelne Tugenden. - Wir legen nicht eher besonderen
Werth auf den Besitz einer Tugend, bis wir deren völlige Abwesenheit
an unserem Gegner wahrnehmen.


303.

Warum man widerspricht. - Man widerspricht oft einer Meinung,
während uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde,
unsympathisch ist.


304.

Vertrauen und Vertraulichkeit. - Wer die Vertraulichkeit mit einer
anderen Person geflissentlich zu erzwingen sucht, ist gewöhnlich nicht
sicher darüber, ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher
ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth.


305.

Gleichgewicht der Freundschaft. - Manchmal kehrt, im Verhältniss
von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der
Freundschaft zurück, wenn wir in unsre eigene Wagschale einige Gran
Unrecht legen.


306.

Die gefährlichsten Aerzte. - Die gefährlichsten Aerzte sind die,
welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit
vollkommener Kunst der Täuschung nachmachen.


307.

Wann Paradoxien am Platze sind. - Geistreichen Personen braucht man
mitunter, um sie für einen Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form
einer ungeheuerlichen Paradoxie vorzulegen.


308.

Wie muthige Leute gewonnen werden. - Muthige Leute überredet man
dadurch zu einer Handlung, dass man dieselbe gefährlicher darstellt,
als sie ist.


309.

Artigkeiten. - Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten,
welche sie uns erweisen, zum Vergehen an.


310.

Warten lassen. - Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen
böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen.
Diess macht unmoralisch.


311.

Gegen die Vertraulichen. - Leute, welche uns ihr volles Vertrauen
schenken, glauben dadurch ein Recht auf das unsrige zu haben. Diess
ist ein Fehlschluss; durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.


312.

Ausgleichsmittel. - Es genügt oft, einem Andern, dem man einen
Nachtheil zugefügt hat, Gelegenheit zu einem Witze über uns zu geben,
um ihm persönlich Genugthuung zu schaffen, ja um ihn für uns gut zu
stimmen.


313.

Eitelkeit der Zunge. - Ob der Mensch seine schlechten Eigenschaften
und Laster verbirgt oder mit Offenheit sie eingesteht, so wünscht doch
in beiden Fällen seine Eitelkeit einen Vortheil dabei zu haben: man
beachte nur, wie fein er unterscheidet, vor wem er jene Eigenschaften
verbirgt, vor wem er ehrlich und offenherzig wird.


314.

Rücksichtsvoll. - Niemanden kränken, Niemanden beeinträchtigen wollen
kann ebensowohl das Kennzeichen einer gerechten, als einer ängstlichen
Sinnesart sein.


315.

Zum Disputiren erforderlich. - Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu
legen versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Streites begeben.


316.

Umgang und Anmaassung. - Man verlernt die Anmaassung, wenn man sich
immer unter verdienten Menschen weiss; Allein-sein pflanzt Uebermuth.
Junge Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit Ihresgleichen um,
welche alle Nichts sind, aber gerne viel bedeuten.


317.

Motiv des Angriffs. - Man greift nicht nur an, um jemandem wehe zu
thun, ihn zu besiegen, sondern vielleicht auch nur, um sich seiner
Kraft bewusst zu werden.


318.

Schmeichelei. - Personen, welche unsere Vorsicht im Verkehr mit ihnen
durch Schmeicheleien betäuben wollen, wenden ein gefährliches Mittel
an, gleichsam einen Schlaftrunk, welcher, wenn er nicht einschläfert,
nur um so mehr wach erhält.


319.

Guter Briefschreiber. - Der, welcher keine Bücher schreibt, viel denkt
und in unzureichender Gesellschaft lebt, wird gewöhnlich ein guter
Briefschreiber sein.


320.

Am hässlichsten. - Es ist zu bezweifeln, ob ein Vielgereister irgendwo
in der Welt hässlichere Gegenden gefunden hat, als im menschlichen
Gesichte.


321.

Die Mitleidigen. - Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hülfreichen
Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der
Anderen haben sie Nichts zu thun, sind überflüssig, fühlen sich
nicht im Besitz ihrer Ueberlegenheit und zeigen desshalb leicht
Missvergnügen.


322.

Verwandte eines Selbstmörders. - Verwandte eines Selbstmörders rechnen
es ihm übel an, dass er nicht aus Rücksicht auf ihren Ruf am Leben
geblieben ist.


323.

Undank vorauszusehen. - Der, welcher etwas Grosses schenkt, findet
keine Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu
viel Last.


324.

In geistloser Gesellschaft. - Niemand dankt dem geistreichen Menschen
die Höflichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der
es nicht höflich ist, Geist zu zeigen.


325.

Gegenwart von Zeugen. - Man springt einem Menschen, der in's Wasser
fällt, noch einmal so gern nach, wenn Leute zugegen sind, die es nicht
wagen.


326.

Schweigen. - Die für beide Parteien unangenehmste Art, eine Polemik zu
erwidern, ist, sich ärgern und schweigen: denn der Angreifende erklärt
sich das Schweigen gewöhnlich als Zeichen der Verachtung.


327.

Das Geheimniss des Freundes. - Es wird Wenige geben, welche, wenn
sie um Stoff zur Unterhaltung verlegen sind, nicht die geheimeren
Angelegenheiten ihrer Freunde preisgeben.


328.

Humanität. - Die Humanität der Berühmtheiten des Geistes besteht
darin, im Verkehre mit Unberühmten auf eine verbindliche Art Unrecht
zu behalten.


329.

Der Befangene. - Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht sicher
fühlen, benutzen jede Gelegenheit, um an einem Nahegestellten, dem sie
überlegen sind, diese Ueberlegenheit öffentlich, vor der Gesellschaft,
zu zeigen, zum Beispiel durch Neckereien.


330.

Dank. - Eine feine Seele bedrückt es, sich Jemanden zum Dank
verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich Jemandem.


331.

Merkmal der Entfremdung. - Das stärkste Anzeichen von Entfremdung der
Ansichten bei zwei Menschen ist diess, dass beide sich gegenseitig
einiges Ironische sagen, aber keiner von beiden das Ironische daran
fühlt.


332.

Anmaassung bei Verdiensten. - Anmaassung bei Verdiensten beleidigt
noch mehr, als Anmaassung von Menschen ohne Verdienst. denn schon das
Verdienst beleidigt.


333.

Gefahr in der Stimme. - Mitunter macht uns im Gespräche der Klang der
eigenen Stimme verlegen und verleitet uns zu Behauptungen, welche gar
nicht unserer Meinung entsprechen.


334.

Im Gespräche. - Ob man im Gespräche dem Andern vornehmlich Recht giebt
oder Unrecht, ist durchaus die Sache der Angewöhnung: das Eine wie das
Andere hat Sinn.


335.

Furcht vor dem Nächsten. - Wir fürchten die feindselige Stimmung des
Nächsten, weil wir befürchten, dass er durch diese Stimmung hinter
unsere Heimlichkeiten kommt.


336.

Durch Tadel auszeichnen. - Sehr angesehene Personen ertheilen selbst
ihren Tadel so, dass sie uns damit auszeichnen wollen. Es soll uns
aufmerksam machen, wie angelegentlich sie sich mit uns beschäftigen.
Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel sachlich nehmen
und uns gegen ihn vertheidigen; wir ärgern sie dadurch und entfremden
uns ihnen.


337.

Verdruss am Wohlwollen Anderer. - Wir irren uns über den Grad, in
welchem wir uns gehasst, gefürchtet glauben: weil wir selber zwar gut
den Grad unserer Abweichung von einer Person, Richtung, Partei kennen,
jene Andern aber uns sehr oberflächlich kennen und desshalb auch nur
oberflächlich hassen. Wir begegnen oft einem Wohlwollen, welches uns
unerklärlich ist; verstehen wir es aber, so beleidigt es uns, weil es
zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug nimmt.


338.

Sich kreuzende Eitelkeiten. - Zwei sich begegnende Personen, deren
Eitelkeit gleich gross ist, behalten hinterdrein von einander einen
schlechten Eindruck, weil jede so mit dem Eindruck beschäftigt war,
den sie bei der andern hervorbringen wollte, dass die andere auf
sie keinen Eindruck machte; beide merken endlich, dass ihr Bemühen
verfehlt ist und schieben je der andern die Schuld zu.


339.

Unarten als gute Anzeichen. - Der überlegene Geist hat an den
Tactlosigkeiten, Anmaassungen, ja Feindseligkeiten ehrgeiziger
Jünglinge gegen ihn sein Vergnügen; es sind die Unarten feuriger
Pferde, welche noch keinen Reiter getragen haben und doch in Kurzem so
stolz sein werden, ihn zu tragen.


340.

Wann es rathsam ist, Unrecht zu behalten. - Man thut gut, gemachte
Anschuldigungen, selbst wenn sie uns Unrecht thun, ohne Widerlegung
hinzunehmen, im Fall der Anschuldigende darin ein noch grösseres
Unrecht unsererseits sehen würde, wenn wir ihm widersprächen und etwa
gar ihn widerlegten. Freilich kann Einer auf diese Weise immer Unrecht
haben und immer Recht behalten und zuletzt mit dem besten Gewissen
von der Welt der unerträglichste Tyrann und Quälgeist werden; und was
vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft
vorkommen.


341.

Zuwenig geehrt. - Sehr eingebildete Personen, denen man Zeichen von
geringerer Beachtung gegeben hat, als sie erwarteten, versuchen lange,
sich selbst und Andere darüber irre zu führen und werden spitzfindige
Psychologiker, um herauszubekommen, dass der Andere sie doch genügend
geehrt hat: erreichen sie ihr Ziel nicht, reisst der Schleier der
Täuschung, so geben sie sich einer um so grösseren Wuth hin.


342.

Urzustände in der Rede nachklingend. - In der Art, wie jetzt die
Männer im Verkehre Behauptungen aufstellen, erkennt man oft einen
Nachklang der Zeiten, wo dieselben sich besser auf Waffen, als auf
irgend Etwas verstanden: sie handhaben ihre Behauptungen bald wie
zielende Schützen ihr Gewehr, bald glaubt man das Sausen und Klirren
der Klingen zu hören; und bei einigen Männern poltert eine Behauptung
herab wie ein derber Knüttel. - Frauen dagegen sprechen so, wie Wesen,
welche Jahrtausende lang am Webstuhl sassen oder die Nadel führten
oder mit Kindern kindisch waren.


343.

Der Erzähler. - Wer Etwas erzählt, lässt leicht merken, ob er erzählt,
weil ihn das Factum interessirt oder weil er durch die Erzählung
interessiren will. Im letzteren Falle wird er übertreiben, Superlative
gebrauchen und Aehnliches thun. Er erzählt dann gewöhnlich schlechter,
weil er nicht so sehr an die Sache, als an sich denkt.


344.

Der Vorleser. - Wer dramatische Dichtungen vorliest, macht
Entdeckungen über seinen Charakter: er findet für gewisse Stimmungen
und Scenen seine Stimme natürlicher, als für andere, etwa für
alles Pathetische oder für das Scurrile, während er vielleicht
im gewöhnlichen Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos oder
Scurrilität zu zeigen.


345.

Eine Lustspiel-Scene, welche im Leben vorkommt. - Jemand denkt
sich eine geistreiche Meinung über ein Thema aus, um sie in einer
Gesellschaft vorzutragen. Nun würde man im Lustspiel anhören und
ansehen, wie er mit allen Segeln an den Punct zu kommen und die
Gesellschaft dort einzuschiffen sucht, wo er seine Bemerkung machen
kann: wie er fortwährend die Unterhaltung nach Einem Ziele schiebt,
gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt, endlich den
Augenblick erreicht: fast versagt ihm der Athem - und da nimmt ihm
Einer aus der Gesellschaft die Bemerkung vom Munde weg. Was wird er
thun? Seiner eigenen Meinung opponiren?


346.

Wider Willen unhöflich. - Wenn jemand wider Willen einen Andern
unhöflich behandelt, zum Beispiel nicht grüsst, weil er ihn nicht
erkennt, so wurmt ihn diess, obwohl er nicht seiner Gesinnung einen
Vorwurf machen kann; ihn kränkt die schlechte Meinung, welche er bei
dem Andern erzeugt hat, oder er fürchtet die Folgen einer Verstimmung,
oder ihn schmerzt es, den Andern verletzt zu haben, - also Eitelkeit,
Furcht oder Mitleid können rege werden, vielleicht auch alles
zusammen.


347.

Verräther-Meisterstück. - Gegen den Mitverschworenen den kränkenden
Argwohn zu äussern, ob man nicht von ihm verrathen werde, und diess
gerade in dem Augenblicke, wo man selbst Verrath übt, ist ein
Meisterstück der Bosheit, weil es den Andern persönlich occupirt
und ihn zwingt, eine Zeit lang sich sehr unverdächtig und offen zu
benehmen, so dass der wirkliche Verräther sich freie Hand gemacht hat.


348.

Beleidigen und beleidigt werden. - Es ist weit angenehmer, zu
beleidigen und später um Verzeihung zu bitten, als beleidigt zu werden
und Verzeihung zu gewähren. Der, welcher das Erste thut, giebt ein
Zeichen von Macht und nachher von Güte des Charakters. Der Andere,
wenn er nicht als inhuman gelten will, muss schon verzeihen; der
Genuss an der Demüthigung des Anderen ist dieser Nöthigung wegen
gering.


349.

Im Disput. - Wenn man zugleich einer anderen Meinung widerspricht und
dabei seine eigene entwickelt, so verrückt gewöhnlich die fortwährende
Rücksicht auf die andere Meinung die natürliche Haltung der eigenen:
sie erscheint absichtlicher, schärfer, vielleicht etwas übertrieben.


350.

Kunstgriff. - Wer etwas Schwieriges von einem Andern erlangen will,
muss die Sache überhaupt nicht als Problem fassen, sondern schlicht
seinen Plan hinlegen, als sei er die einzige Möglichkeit; er muss
es verstehen, wenn im Auge des Gegners der Einwand, der Widerspruch
dämmert, schnell abzubrechen und ihm keine Zeit zu geben.


351.

Gewissensbisse nach Gesellschaften. - Warum haben wir nach
gewöhnlichen Gesellschaften Gewissensbisse? Weil wir wichtige Dinge
leicht genommen haben, weil wir bei der Besprechung von Personen
nicht mit voller Treue gesprochen oder weil wir geschwiegen haben,
wo wir reden sollten, weil wir gelegentlich nicht aufgesprungen und
fortgelaufen sind, kurz weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als
ob wir zu ihr gehörten.


352.

Man wird falsch beurtheilt. - Wer immer darnach hinhorcht, wie er
beurtheilt wird, hat immer Aerger. Denn wir werden schon von Denen,
welche uns am nächsten stehen ("am besten kennen"), falsch beurtheilt.
Selbst gute Freunde lassen ihre Verstimmung mitunter in einem
missgünstigen Worte aus; und würden sie unsere Freunde sein, wenn sie
uns genau kennten? - Die Urtheile der Gleichgültigen thun sehr weh,
weil sie so unbefangen, fast sachlich klingen. Merken wir aber gar,
dass Jemand, der uns feind ist, uns in einem geheim gehaltenen Puncte
so gut kennt, wie wir uns, wie gross ist dann erst der Verdruss!


353.

Tyrannei des Portraits. - Künstler und Staatsmänner, die schnell
aus einzelnen Zügen das ganze Bild eines Menschen oder Ereignisses
combiniren, sind am meisten dadurch ungerecht, dass sie hinterdrein
verlangen, das Ereigniss oder der Mensch müsse wirklich so sein,
wie sie es malten; sie verlangen geradezu, dass Einer so begabt, so
verschlagen, so ungerecht sei, wie er in ihrer Vorstellung lebt.


354.

Der Verwandte als der beste Freund. - Die Griechen, die so gut
wussten, was ein Freund sei, - sie allein von allen Völkern haben eine
tiefe, vielfache philosophische Erörterung der Freundschaft; sodass
ihnen zuerst, und bis jetzt zuletzt, der Freund als ein lösenswerthes
Problem erschienen ist - diese selben Griechen haben die Verwandten
mit einem Ausdrucke bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes
"Freund" ist. Diess bleibt mir unerklärlich.


355.

Verkannte Ehrlichkeit. - Wenn jemand im Gespräche sich selber citirt
("ich sagte damals", "ich pflege zu sagen"), so macht diess den
Eindruck der Anmaassung, während es häufiger gerade aus der
entgegengesetzten Quelle hervorgeht, mindestens aus Ehrlichkeit,
welche den Augenblick nicht mit den Einfällen schmücken und
herausputzen will, welche einem früheren Augenblicke angehören.


356.

Der Parasit. - Es bezeichnet einen völligen Mangel an vornehmer
Gesinnung, wenn Jemand lieber in Abhängigkeit, auf Anderer Kosten,
leben will, um nur nicht arbeiten zu müssen, gewöhnlich mit einer
heimlichen Erbitterung gegen Die, von denen er abhängt. - Eine solche
Gesinnung ist viel häufiger bei Frauen als bei Männern, auch viel
verzeihlicher (aus historischen Gründen).


357.

Auf dem Altar der Versöhnung. - Es giebt Umstände, wo man eine Sache
von einem Menschen nur so erlangt, dass man ihn beleidigt und sich
verfeindet: dieses Gefühl, einen Feind zu haben, quält ihn so, dass
er gern das erste Anzeichen einer milderen Stimmung zur Versöhnung
benützt und jene Sache auf dem Altar dieser Versöhnung opfert, an der
ihm früher so viel gelegen war, dass er sie um keinen Preis geben
wollte.


358.

Mitleid fordern als Zeichen der Anmaassung. - Es giebt Menschen,
welche, wenn sie in Zorn gerathen und die Anderen beleidigen, dabei
erstens verlangen, dass man ihnen Nichts übel nehme und zweitens,
dass man mit ihnen Mitleid habe, weil sie so heftigen Paroxysmen
unterworfen sind. So weit geht die menschliche Anmaassung.


359.

Köder. - "Jeder Mensch hat seinen Preis", - das ist nicht wahr. Aber
es findet sich wohl für Jeden ein Köder, an den er anbeissen muss. So
braucht man, um manche Personen für eine Sache zu gewinnen, dieser
Sache nur den Glanz des Menschenfreundlichen, Edlen, Mildthätigen,
Aufopfernden zu geben - und welcher Sache könnte man ihn nicht geben?
- Es ist das Zuckerwerk und die Näscherei ihrer Seele; andere haben
anderes.


360.

Verhalten beim Lobe. - Wenn gute Freunde die begabte Natur loben, so
wird sie sich öfters aus Höflichkeit und Wohlwollen darüber erfreut
zeigen, aber in Wahrheit ist es ihr gleichgültig. Ihr eigentliches
Wesen ist ganz träge dagegen und um keinen Schritt dadurch aus der
Sonne oder dem Schatten, in dem sie liegt, herauszuwälzen; aber
die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie
betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute.


361.

Die Erfahrung des Sokrates. - Ist man in einer Sache Meister geworden,
so ist man gewöhnlich eben dadurch in den meisten andern Sachen ein
völliger Stümper geblieben; aber man urtheilt gerade umgekehrt, wie
diess schon Sokrates erfuhr. Diess ist der Uebelstand, welcher den
Umgang mit Meistern unangenehm macht.


362.

Mittel der Verthierung. - Im Kampf mit der Dummheit werden die
billigsten und sanftesten Menschen zuletzt brutal. Sie sind damit
vielleicht auf dem rechten Wege der Vertheidigung; denn an die dumme
Stirn gehört, als Argument, von Rechtswegen die geballte Faust. Aber
weil, wie gesagt, ihr Charakter sanft und billig ist, so leiden sie
durch diese Mittel der Nothwehr mehr als sie Leid zufügen.


363.

Neugierde. - Wenn die Neugierde nicht wäre, würde wenig für das Wohl
des Nächsten gethan werden. Aber die Neugierde schleicht sich unter
dem Namen der Pflicht oder des Mitleides in das Haus des Unglücklichen
und Bedürftigen. - Vielleicht ist selbst an der vielberühmten
Mutterliebe ein gut Stück Neugierde.


364.

Verrechnung in der Gesellschaft. - Dieser wünscht interessant zu sein
durch seine Urtheile, jener durch seine Neigungen und Abneigungen,
der Dritte durch seine Bekanntschaften, ein Vierter durch seine
Vereinsamung - und sie verrechnen sich Alle. Denn Der, vor dem das
Schauspiel aufgeführt wird, meint selber dabei das einzig in Betracht
kommende Schauspiel zu sein.


365.

Duell. - Zu Gunsten aller Ehrenhändel und Duelle ist zu sagen, dass,
wenn Einer ein so reizbares Gefühl hat, nicht leben zu wollen, wenn
Der und Der das und das über ihn sagt oder denkt, er ein Recht hat,
die Sache auf den Tod des Einen oder des Andern ankommen zu lassen.
Darüber, dass er so reizbar ist, ist gar nicht zu rechten, damit
sind wir die Erben der Vergangenheit, ihrer Grösse sowohl wie ihrer
Uebertreibungen, ohne welche es nie eine Grösse gab. Existirt nun ein
Ehren-Kanon, welcher Blut an Stelle des Todes gelten lässt, so dass
nach einem regelmässigen Duell das Gemüth erleichtert ist, so ist
diess eine grosse Wohlthat, weil sonst viele Menschenleben in Gefahr
wären. - So eine Institution erzieht übrigens die Menschen in Vorsicht
auf ihre Aeusserungen und macht den Umgang mit ihnen möglich.


366.

Vornehmheit und Dankbarkeit. - Eine vornehme Seele wird sich gern zur
Dankbarkeit verpflichtet fühlen und den Gelegenheiten, bei denen sie
sich verpflichtet, nicht ängstlich aus dem Wege zu gehen; ebenso wird
sie nachher gelassen in den Aeusserungen der Dankbarkeit sein; während
niedere Seelen sich gegen alles Verpflichtet werden sträuben oder
nachher in den Aeusserungen ihrer Dankbarkeit übertrieben und allzu
sehr beflissen sind. Letzteres kommt übrigens auch bei Personen von
niederer Herkunft oder gedrückter Stellung vor: eine Gunst, ihnen
erwiesen, deucht ihnen ein Wunder von Gnade.


367.

Die Stunden der Beredtsamkeit. - Der Eine hat, um gut zu sprechen,
jemanden nöthig, der ihm entschieden und anerkannt überlegen ist, der
Andere kann nur vor Einem, den er überragt, völlige Freiheit der Rede
und glückliche Wendungen der Beredtsamkeit finden: in beiden Fällen
ist es der selbe Grund; jeder von ihnen redet nur gut, wenn er
sans gêne redet, der Eine, weil er vor dem Höheren den Antrieb der
Concurrenz, des Wettbewerbs nicht fühlt, der Andere ebenfalls desshalb
angesichts des Niederen. - Nun giebt es eine ganz andere Gattung von
Menschen, die nur gut reden, wenn sie im Wetteifer, mit der Absicht zu
siegen, reden. Welche von beiden Gattungen ist die ehrgeizigere: die,
welche aus erregter Ehrsucht gut, oder die, welche aus eben diesen
Motiven schlecht oder gar nicht spricht?


368.

Das Talent zur Freundschaft. - Unter den Menschen, welche eine
besondere Gabe zur Freundschaft haben, treten zwei Typen hervor. Der
Eine ist in einem fortwährenden Aufsteigen und findet für jede Phase
seiner Entwickelung einen genau zugehörigen Freund. Die Reihe von
Freunden, welche er auf diese Weise erwirbt, ist unter sich selten im
Zusammenhang, mitunter in Misshelligkeit und Widerspruch: ganz dem
entsprechend, dass die späteren Phasen in seiner Entwickelung die
früheren Phasen aufheben oder beeinträchtigen. Ein solcher Mensch
mag im Scherz eine Leiter heissen. - Den andern Typus vertritt Der,
welcher eine Anziehungskraft auf sehr verschiedene Charaktere und
Begabungen ausübt, so dass er einen ganzen Kreis von Freunden gewinnt;
diese aber kommen dadurch selber unter einander in freundschaftliche
Beziehung, trotz aller Verschiedenheit. Einen solchen Menschen
nenne man einen Kreis: denn in ihm muss jene Zusammengehörigkeit
so verschiedener Anlagen und Naturen irgendwie vorgebildet sein. -
Uebrigens ist die Gabe, gute Freunde zu haben, in manchem Menschen
viel grösser, als die Gabe, ein guter Freund zu sein.


369.

Taktik im Gespräch. - Nach einem Gespräch mit jemandem ist man am
besten auf den Mitunterredner zu sprechen, wenn man Gelegenheit hatte,
seinen Geist, seine Liebenswürdigkeit vor ihm im ganzen Glanze zu
zeigen. Diess benutzen kluge Menschen, welche jemanden sich günstig
stimmen wollen, indem sie bei der Unterredung ihm die besten
Gelegenheiten zu einem guten Witz und dergleichen zuschieben. Es wäre
ein lustiges Gespräch zwischen zwei sehr Klugen zu denken, welche
sich gegenseitig günstig stimmen wollen und sich desshalb die schönen
Gelegenheiten im Gespräch hin und her zuwerfen, während keiner sie
annimmt: so dass das Gespräch im Ganzen geistlos und unliebenswürdig
verliefe, weil Jeder dem Andern die Gelegenheit zu Geist und
Liebenswürdigkeit zuwiese.


370.

Entladung des Unmuthes. - Der Mensch, dem Etwas misslingt, führt diess
Misslingen lieber auf den bösen Willen eines Anderen, als auf den
Zufall zurück. Seine gereizte Empfindung wird dadurch erleichtert,
eine Person und nicht eine Sache sich als Grund seines Misslingens
zu denken; denn an Personen kann man sich rächen, die Unbilden des
Zufalls aber muss man hinunterwürgen. Die Umgebung eines Fürsten
pflegt desshalb, wenn diesem Etwas misslungen ist, einen einzelnen
Menschen als angebliche Ursache ihm zu bezeichnen und im Interesse
aller Höflinge aufzuopfern; denn der Missmuth des Fürsten würde sich
sonst an ihnen Allen auslassen, da er ja an der Schicksalsgöttin
selber keine Rache nehmen kann.


371.

Die Farbe der Umgebung annehmen. - Warum ist Neigung und Abneigung so
ansteckend, dass man kaum in der Nähe einer stark empfindenden Person
leben kann, ohne wie ein Gefäss mit ihrem Für und Wider angefüllt zu
werden? Erstens ist die völlige Enthaltung des Urtheils sehr schwer,
mitunter für unsere Eitelkeit geradezu unerträglich; sie trägt da
gleiche Farbe mit der Gedanken- und Empfindungsarmuth oder mit der
Aengstlichkeit, der Unmännlichkeit: und so werden wir wenigstens dazu
fortgerissen, Partei zu nehmen, vielleicht gegen die Richtung unserer
Umgebung, wenn diese Stellung unserm Stolze mehr Vergnügen macht.
Gewöhnlich aber - das ist das Zweite - bringen wir uns den
Uebergang von Gleichgültigkeit zu Neigung oder Abneigung gar
nicht zum Bewusstsein, sondern allmählich gewöhnen wir uns an die
Empfindungsweise unserer Umgebung, und weil sympathisches Zustimmen
und Sichverstehen so angenehm ist, tragen wir bald alle Zeichen und
Parteifarben dieser Umgebung.


372.

Ironie. - Die Ironie ist nur als pädagogisches Mittel am Platze, von
seiten eines Lehrers im Verkehr mit Schülern irgend welcher Art: ihr
Zweck ist Demüthigung, Beschämung, aber von jener heilsamen Art,
welche gute Vorsätze erwachen lässt und Dem, welcher uns so
behandelte, Verehrung, Dankbarkeit als einem Arzte entgegenbringen
heisst. Der Ironische stellt sich unwissend und zwar so gut, dass die
sich mit ihm unterredenden Schüler, getäuscht sind und in ihrem guten
Glauben an ihr eigenes Besserwissen dreist werden und sich Blössen
aller Art geben; sie verlieren die Behutsamkeit und zeigen sich, wie
sie sind, - bis in einem Augenblick die Leuchte, die sie dem Lehrer
in's Gesicht hielten, ihre Strahlen sehr demüthigend auf sie selbst
zurückfallen lässt. - Wo ein solches Verhältniss, wie zwischen Lehrer
und Schüler, nicht stattfindet, ist sie eine Unart, ein gemeiner
Affect. Alle ironischen Schriftsteller rechnen auf die alberne Gattung
von Menschen, welche sich gerne allen Anderen mit dem Autor zusammen
überlegen fühlen wollen, als welchen sie für das Mundstück ihrer
Anmaassung ansehen. - Die Gewöhnung an Ironie, ebenso wie die an
Sarkasmus, verdirbt übrigens den Charakter, sie verleiht allmählich
die Eigenschaft einer schadenfrohen Ueberlegenheit: man ist zuletzt
einem bissigen Hunde gleich, der noch das Lachen gelernt hat, ausser
dem Beissen.


373.

Anmaassung. - Vor Nichts soll man sich so hüten, als vor dem
Aufwachsen jenes Unkrautes, welches Anmaassung heisst und uns jede
gute Ernte verdirbt; denn es giebt Anmaassung in der Herzlichkeit,
in der Ehrenbezeigung, in der wohlwollenden Vertraulichkeit, in der
Liebkosung, im freundschaftlichen Rathe, im Eingestehen von Fehlern,
in dem Mitleid für Andere, und alle diese schönen Dinge erwecken
Widerwillen, wenn jenes Kraut dazwischen wächst. Der Anmaassende, das
heisst Der, welcher mehr bedeuten will als er ist oder gilt, macht
immer eine falsche Berechnung. Zwar hat er den augenblicklichen Erfolg
für sich, insofern die Menschen, vor denen er anmaassend ist, ihm
gewöhnlich das Maass von Ehre zollen, welches er fordert, aus Angst
oder Bequemlichkeit; aber sie nehmen eine schlimme Rache dafür,
insofern sie ebensoviel, als er über das Maass forderte, von dem
Werthe subtrahiren, den sie ihm bis jetzt beilegten. Es ist Nichts,
was die Menschen sich theurer bezahlen lassen, als Demüthigung. Der
Anmaassende kann sein wirkliches grosses Verdienst so in den Augen der
Andern verdächtigen und klein machen, dass man mit staubigen Füssen
darauf tritt. Selbst ein stolzes Benehmen sollte man sich nur dort
erlauben, wo man ganz sicher sein kann, nicht missverstanden und
als anmaassend betrachtet zu werden, zum Beispiel vor Freunden und
Gattinnen. Denn es giebt im Verkehre mit Menschen keine grössere
Thorheit, als sich den Ruf der Anmaassung zuzuziehen; es ist noch
schlimmer, als wenn man nicht gelernt hat, höflich zu lügen.


374.

Zwiegespräch. - Das Zwiegespräch ist das vollkommene Gespräch, weil
Alles, was der Eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine
begleitende Gebärde in strenger Rücksicht auf den Anderen, mit dem
gesprochen wird, erhält, also dem entsprechend, was beim Briefverkehr
geschieht, dass ein und der selbe zehn Arten des seelischen Ausdrucks
zeigt, je nachdem er bald an Diesen, bald an Jenen schreibt. Beim
Zwiegespräch giebt es nur eine einzige Strahlenbrechung des Gedankens:
diese bringt der Mitunterredner hervor, als der Spiegel, in welchem
wir unsere Gedanken möglichst schön wiedererblicken wollen. Wie aber
ist es bei zweien, bei dreien und mehr Mitunterrednern? Da verliert
nothwendig das Gespräch an individualisirender Feinheit, die
verschiedenen Rücksichten kreuzen sich, heben sich auf; die Wendung,
welche dem Einen wohlthut, ist nicht der Sinnesart des Andern gemäss.
Desshalb wird der Mensch im Verkehr mit Mehreren gezwungen, sich auf
sich zurückzuziehen, die Thatsachen hinzustellen, wie sie sind, aber
jenen spielenden Aether der Humanität den Gegenständen zu nehmen,
welcher ein Gespräch zu den angenehmsten Dingen der Welt macht. Man
höre nur den Ton, in welchem Männer im Verkehr mit ganzen Gruppen von
Männern zu reden pflegen, es ist als ob der Grundbass aller Rede der
sei: "das bin ich, das sage ich, nun haltet davon, was ihr wollt!"
Diess ist der Grund, wesshalb geistreiche Frauen bei Dem, welcher
sie in der Gesellschaft kennen lernte, meistens einen befremdenden,
peinlichen, abschreckenden Eindruck hinterlassen: es ist das Reden
zu Vielen, vor Vielen, welches sie aller geistigen Liebenswürdigkeit
beraubt und nur das bewusste Beruhen auf sich selbst, ihre Taktik und
die Absicht auf öffentlichen Sieg in grellem Lichte zeigt: während
die selben Frauen im Zwiegespräche wieder zu Weibern werden und ihre
geistige Anmuth wiederfinden.


375.

Nachruhm. - Auf die Anerkennung einer fernen Zukunft hoffen, hat nur
Sinn, wenn man die Annahme macht, dass die Menschheit wesentlich
unverändert bleibe und dass alles Grosse nicht für Eine, sondern für
alle Zeiten als gross empfunden werden müsse. Diess ist aber ein
Irrthum; die Menschheit, in allem Empfinden und Urtheilen über
Das, was schön und gut ist, verwandelt sich sehr stark; es ist
Phantasterei, von sich zu glauben, dass man eine Meile Wegs voraus
sei und dass die gesammte Menschheit unsere Strasse ziehe. Zudem: ein
Gelehrter, der verkannt wird, darf jetzt bestimmt darauf rechnen, dass
seine Entdeckung von Anderen auch gemacht wird, und dass ihm besten
Falls einmal später von einem Historiker zuerkannt wird, er habe diess
und jenes auch schon gewusst, sei aber nicht im Stande gewesen, seinem
Satz Glauben zu verschaffen. Nicht-anerkannt-werden wird von der
Nachwelt immer als Mangel an Kraft ausgelegt. - Kurz, man soll der
hochmüthigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden. Es giebt
übrigens Ausnahmefälle; aber zumeist sind es unsere Fehler, Schwächen
und Narrheiten, welche die Anerkennung unserer grossen Eigenschaften
verhindern.


376.

Von den Freunden. - Ueberlege nur mit dir selber einmal, wie
verschieden die Empfindungen, wie getheilt die Meinungen selbst unter
den nächsten Bekannten sind; wie selbst gleiche Meinungen in den
Köpfen deiner Freunde eine ganz andere Stellung oder Stärke haben, als
in deinem; wie hundertfältig der Anlass kommt zum Missverstehen, zum
feindseligen Auseinanderfliehen. Nach alledem wirst du dir sagen:
wie unsicher ist der Boden, auf dem alle unsere Bündnisse und
Freundschaften ruhen, wie nahe sind kalte Regengüsse oder böse Wetter,
wie vereinsamt ist jeder Mensch! Sieht Einer diess ein und noch dazu,
dass alle Meinungen und deren Art und Stärke bei seinen Mitmenschen
ebenso nothwendig und unverantwortlich sind wie ihre Handlungen,
gewinnt er das Auge für diese innere Nothwendigkeit der Meinungen aus
der unlösbaren Verflechtung von Charakter, Beschäftigung, Talent,
Umgebung, - so wird er vielleicht die Bitterkeit und Schärfe jener
Empfindung los, mit der jener Weise rief: "Freunde, es giebt keine
Freunde!" Er wird sich vielmehr eingestehen: ja es giebt Freunde, aber
der Irrthum, die Täuschung über dich führte sie dir zu; und Schweigen
müssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben; denn fast immer
beruhen solche menschliche Beziehungen darauf, dass irgend ein paar
Dinge nie gesagt werden, ja dass an sie nie gerührt wird; kommen diese
Steinchen aber in's Rollen, so folgt die Freundschaft hinterdrein und
zerbricht. Giebt es Menschen, welche nicht tödtlich zu verletzen sind,
wenn sie erführen, was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen
wissen? - Indem wir uns selbst erkennen und unser Wesen selber als
eine wandelnde Sphäre der Meinungen und Stimmungen ansehen und
somit ein Wenig geringschätzen lernen, bringen wir uns wieder in's
Gleichgewicht mit den Uebrigen. Es ist wahr, wir haben gute Gründe,
jeden unserer Bekannten, und seien es die grössten, gering zu achten;
aber eben so gute, diese Empfindung gegen uns selber zu kehren. -
Und so wollen wir es mit einander aushalten, da wir es ja mit uns
aushalten; und vielleicht kommt jedem auch einmal die freudigere
Stunde, wo er sagt:

"Freunde, es giebt keine Freunde!" so rief der sterbende Weise;
"Feinde, es giebt keinen Feind!" - ruf' ich, der lebende Thor.




Siebentes Hauptstück.

Weib und Kind.

377.

Das vollkommene Weib. - Das vollkommene Weib ist ein höherer Typus
des Menschen, als der vollkommene Mann: auch etwas viel Selteneres.
- Die Naturwissenschaft der Thiere bietet ein Mittel, diesen Satz
wahrscheinlich zu machen.


378.

Freundschaft und Ehe. - Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste
Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft
beruht.


379.

Fortleben der Eltern. - Die unaufgelösten Dissonanzen im Verhältniss
von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes
fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus.


380.

Von der Mutter her. - Jedermann trägt ein Bild des Weibes von der
Mutter her in sich: davon wird er bestimmt, die Weiber überhaupt zu
verehren oder sie geringzuschätzen oder gegen sie im Allgemeinen
gleichgültig zu sein.


381.

Die Natur corrigiren. - Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man
sich einen anschaffen.


382.

Väter und Söhne. - Väter haben viel zu thun, um es wieder gut zu
machen, dass sie Söhne haben.


383.

Irrthum vornehmer Frauen. - Die vornehmen Frauen denken, dass eine
Sache gar nicht da ist, wenn es nicht möglich ist, von ihr in der
Gesellschaft zu sprechen.


384.

Eine Männerkrankheit. - Gegen die Männerkrankheit der Selbstverachtung
hilft es am sichersten, von einem klugen Weibe geliebt zu werden.


385.

Eine Art der Eifersucht. - Mütter sind leicht eifersüchtig auf die
Freunde ihrer Söhne, wenn diese besondere Erfolge haben. Gewöhnlich
liebt eine Mutter sich mehr in ihrem Sohn, als den Sohn selber.


386.

Vernünftige Unvernunft. - In der Reife des Lebens und des Verstandes
überkommt den Menschen das Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn
zu zeugen.


387.

Mütterliche Güte. - Manche Mutter braucht glückliche geehrte Kinder,
manche unglückliche: sonst kann sich ihre Güte als Mutter nicht
zeigen.


388.

Verschiedene Seufzer. - Einige Männer haben über die Entführung ihrer
Frauen geseufzt, die meisten darüber, dass Niemand sie ihnen entführen
wollte.


389.

Liebesheirathen. - Die Ehen, welche aus Liebe geschlossen werden (die
sogenannten Liebesheirathen), haben den Irrthum zum Vater und die Noth
(das Bedürfniss) zur Mutter.


390.

Frauenfreundschaft. - Frauen können recht gut mit einem Manne
Freundschaft schliessen; aber um diese aufrecht zu erhalten - dazu
muss wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen.


391.

Langeweile. - Viele Menschen, namentlich Frauen, empfinden die
Langeweile nicht, weil sie niemals ordentlich arbeiten gelernt haben.


392.

Ein Element der Liebe. - In jeder Art der weiblichen Liebe kommt auch
Etwas von der mütterlichen Liebe zum Vorschein.


393.

Die Einheit des Ortes und das Drama. - Wenn die Ehegatten nicht
beisammen lebten, würden die guten Ehen häufiger sein.


394.

Gewöhnliche Folgen der Ehe. - Jeder Umgang, der nicht hebt, zieht
nieder, und umgekehrt; desshalb sinken gewöhnlich die Männer etwas,
wenn sie Frauen nehmen, während die Frauen etwas gehoben werden. Allzu
geistige Männer bedürfen eben so sehr der Ehe, als sie ihr wie einer
widrigen Medicin widerstreben.


395.

Befehlen lehren. - Kinder aus bescheidenen Familien muss man eben
so sehr das Befehlen durch Erziehung lehren, wie andere Kinder das
Gehorchen.


396.

Verliebt werden wollen. - Verlobte, welche die Convenienz
zusammengefügt hat, bemühen sich häufig, verliebt zu werden, um über
den Vorwurf der kalten, berechnenden Nützlichkeit hinwegzukommen.
Ebenso bemühen sich Solche, die ihres Vortheils wegen zum Christenthum
umlenken, wirklich fromm zu werden; denn so wird das religiöse
Mienenspiel ihnen leichter.


397.

Kein Stillstand in der Liebe. - Ein Musiker, der das langsame Tempo
liebt, wird die selben Tonstücke immer langsamer nehmen. So giebt es
in keiner Liebe ein Stillstehen.


398.

Schamhaftigkeit. - Mit der Schönheit der Frauen nimmt im Allgemeinen
ihre Schamhaftigkeit zu.


399.

Ehe von gutem Bestand. - Eine Ehe, in der Jedes durch das Andere ein
individuelles Ziel erreichen will, hält gut zusammen, zum Beispiel
wenn die Frau durch den Mann berühmt, der Mann durch die Frau beliebt
werden will.


400.

Proteus-Natur.- Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in
der Vorstellung der Männer, von denen sie geliebt werden, leben.


401.

Lieben und besitzen. - Frauen lieben meistens einen bedeutenden
Mann so, dass sie ihn allein haben wollen. Sie würden ihn gern in
Verschluss legen, wenn nicht ihre Eitelkeit widerriethe: diese will,
dass er auch vor Anderen bedeutend erscheine.


402.

Probe einer guten Ehe. - Die Güte einer Ehe bewährt sich dadurch, dass
sie einmal eine "Ausnahme" verträgt.


403.

Mittel, Alle zu Allem zu bringen. - Man kann Jedermann so durch
Unruhen, Aengste, Ueberhäufung von Arbeit und Gedanken abmatten und
schwach machen, dass er einer Sache, die den Schein des Complicirten
hat, nicht mehr widersteht, sondern ihr nachgiebt, - das wissen die
Diplomaten und die Weiber.


404.

Ehrbarkeit und Ehrlichkeit. - Jene Mädchen, welche allein ihrem
Jugendreize die Versorgung für's ganze Leben verdanken wollen und
deren Schlauheit die gewitzigten Mütter noch souffliren, wollen ganz
das Selbe wie die Hetären, nur dass sie klüger und unehrlicher als
diese sind.


405.

Masken. - Es giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein
Inneres haben, sondern reine Masken sind. Der Mann ist zu beklagen,
der sich mit solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden
Wesen einlässt, aber gerade sie vermögen das Verlangen des Mannes auf
das stärkste zu erregen: er sucht nach ihrer Seele - und sucht immer
fort.


406.

Die Ehe als langes Gespräch. - Man soll sich beim Eingehen einer Ehe
die Frage vorlegen: glaubst du, dich mit dieser Frau bis in's Alter
hinein gut zu unterhalten? Alles Andere in der Ehe ist transitorisch,
aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dem Gespräche an.


407.

Mädchenträume. - Unerfahrene Mädchen schmeicheln sich mit der
Vorstellung, dass es in ihrer Macht stehe, einen Mann glücklich zu
machen; später lernen sie, dass es so viel heisst als: einen Mann
geringschätzen, wenn man annimmt, dass es nur eines Mädchens bedürfe,
um ihn glücklich zu machen. - Die Eitelkeit der Frauen verlangt, dass
ein Mann mehr sei, als ein glücklicher Gatte.


408.

Aussterben von Faust und Gretchen. - Nach der sehr einsichtigen
Bemerkung eines Gelehrten ähneln die gebildeten Männer des
gegenwärtigen Deutschland einer Mischung von Mephistopheles und
Wagner, aber durchaus nicht Fausten: welchen die Grossväter (in ihrer
Jugend wenigstens) in sich rumoren fühlten. Zu ihnen passen also - um
jenen Satz fortzusetzen - aus zwei Gründen die Gretchen nicht. Und
weil sie nicht mehr begehrt werden, so sterben sie, scheint es, aus.


409.

Mädchen als Gymnasiasten. - Um Alles in der Welt nicht noch unsere
Gymnasialbildung auf die Mädchen übertragen! Sie, die häufig aus
geistreichen, wissbegierigen, feurigen jungen - Abbilder ihrer Lehrer
macht!


410.

Ohne Nebenbuhlerinnen. - Frauen merken es einem Manne leicht an,
ob seine Seele schon in Besitz genommen ist; sie wollen ohne
Nebenbuhlerinnen geliebt sein und verargen ihm die Ziele seines
Ehrgeizes, seine politischen Aufgaben, seine Wissenschaften und
Künste, wenn er eine Leidenschaft zu solchen Sachen hat. Es sei denn,
dass er durch diese glänze, - dann erhoffen sie, im Falle einer
Liebesverbindung mit ihm, zugleich einen Zuwachs ihres Glanzes; wenn
es so steht, begünstigen sie den Liebhaber.


411.

Der weibliche Intellect. - Der Intellect der Weiber zeigt sich als
vollkommene Beherrschung, Gegenwärtigkeit des Geistes, Benutzung aller
Vortheile. Sie vererben ihn als ihre Grundeigenschaft auf ihre Kinder,
und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des Willens dazu. Sein
Einfluss bestimmt gleichsam Rhythmus und Harmonie, mit denen das
neue Leben abgespielt werden soll; aber die Melodie desselben stammt
vom Weibe. - Für Solche gesagt, welche Etwas sich zurecht zu legen
wissen: die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüth und die
Leidenschaft. Dem widerspricht nicht, dass die Männer thatsächlich es
mit ihrem Verstande so viel weiterbringen: sie haben die tieferen,
gewaltigeren Antriebe; diese tragen ihren Verstand, der an sich etwas
Passives ist, so weit. Die Weiber wundern sich im Stillen oft über die
grosse Verehrung, welche die Männer ihrem Gemüthe zollen. Wenn die
Männer vor Allem nach einem tiefen, gemüthvollen Wesen, die Weiber
aber nach einem klugen, geistesgegenwärtigen und glänzenden Wesen bei
der Wahl ihres Ehegenossen suchen, so sieht man im Grunde deutlich,
wie der Mann nach dem idealisirten Manne, das Weib nach dem
idealisirten Weibe sucht, also nicht nach Ergänzung, sondern nach
Vollendung der eigenen Vorzüge.


412.

Ein Urtheil Hesiod's bekräftigt. - Ein Zeichen für die Klugheit
der Weiber ist es, dass sie es fast überall verstanden haben, sich
ernähren zu lassen, wie Drohnen im Bienenkorbe. Man erwäge doch, was
das aber ursprünglich bedeuten will und warum die Männer sich nicht
von den Frauen ernähren lassen. Gewiss weil die männliche Eitelkeit
und Ehrsucht grösser als die weibliche Klugheit ist; denn die Frauen
haben es verstanden, sich durch Unterordnung doch den überwiegenden
Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern. Selbst das Pflegen der Kinder
könnte ursprünglich von der Klugheit der Weiber als Vorwand benutzt
sein, um sich der Arbeit möglichst zu entziehen. Auch jetzt noch
verstehen sie, wenn sie wirklich thätig sind, zum Beispiel als
Haushälterinnen, davon ein sinnverwirrendes Aufheben zu machen:
so dass von den Männern das Verdienst ihrer Thätigkeit zehnfach
überschätzt zu werden pflegt.


413.

Die Kurzsichtigen sind verliebt. - Mitunter genügt schon eine stärkere
Brille, um den Verliebten zu heilen; und wer die Kraft der Einbildung
hätte, um ein Gesicht, eine Gestalt sich zwanzig Jahre älter
vorzustellen, gienge vielleicht sehr ungestört durch das Leben.


414.

Frauen im Hass. - Im Zustande des Hasses sind Frauen gefährlicher, als
Männer; zuvörderst weil sie durch keine Rücksicht auf Billigkeit in
ihrer einmal erregten feindseligen Empfindung gehemmt werden, sondern
ungestört ihren Hass bis zu den letzten Consequenzen anwachsen lassen,
sodann weil sie darauf eingeübt sind, wunde Stellen (die jeder Mensch,
jede Partei hat) zu finden und dort hinein zu stechen: wozu ihnen ihr
dolchspitzer Verstand treffliche Dienste leistet (während die Männer
beim Anblick von Wunden zurückhaltend, oft grossmüthig und versöhnlich
gestimmt werden).


415.

Liebe. - Die Abgötterei, welche die Frauen mit der Liebe treiben, ist
im Grunde und ursprünglich eine Erfindung der Klugheit, insofern sie
ihre Macht durch alle jene Idealisirungen der Liebe erhöhen und sich
in den Augen der Männer als immer begehrenswerther darstellen. Aber
durch die Jahrhundertelange Gewöhnung an diese übertriebene Schätzung
der Liebe ist es geschehen, dass sie in ihr eigenes Netz gelaufen sind
und jenen Ursprung vergessen haben. Sie selber sind jetzt noch mehr
die Getäuschten, als die Männer, und leiden desshalb auch mehr an der
Enttäuschung, welche fast nothwendig im Leben jeder Frau eintreten
wird - sofern sie überhaupt Phantasie und Verstand genug hat, um
getäuscht und enttäuscht werden zu können.


416.

Zur Emancipation der Frauen. - Können die Frauen überhaupt gerecht
sein, wenn sie so gewohnt sind, zu lieben, gleich für oder wider zu
empfinden? Daher sind sie auch seltener für Sachen, mehr für Personen
eingenommen: sind sie es aber für Sachen, so werden sie sofort deren
Parteigänger und verderben damit die reine unschuldige Wirkung
derselben. So entsteht eine nicht geringe Gefahr, wenn ihnen die
Politik und einzelne Theile der Wissenschaft anvertraut werden (zum
Beispiel Geschichte). Denn was wäre seltener, als eine Frau, welche
wirklich wüsste, was Wissenschaft ist? Die besten nähren sogar im
Busen gegen sie eine heimliche Geringschätzung, als ob sie irgend
wodurch ihr überlegen wären. Vielleicht kann diess Alles anders
werden, einstweilen ist es so.


417.

Die Inspiration im Urtheile der Frauen. - Jene plötzlichen
Entscheidungen über das Für und Wider, welche Frauen zu geben pflegen,
die blitzschnellen Erhellungen persönlicher Beziehungen durch ihre
hervorbrechenden Neigungen und Abneigungen, kurz die Beweise der
weiblichen Ungerechtigkeit sind von liebenden Männern mit einem Glanz
umgeben worden, als ob alle Frauen Inspirationen von Weisheit hätten,
auch ohne den delphischen Kessel und die Lorbeerbinde: und ihre
Aussprüche werden noch lange nachher wie sibyllinische Orakel
interpretirt und zurechtgelegt. Wenn man aber erwägt, dass für jede
Person, für jede Sache sich etwas geltend machen lässt, aber ebenso
gut auch Etwas gegen sie, dass alle Dinge nicht nur zwei-, sondern
drei- und vierseitig sind, so ist es beinahe Schwer, mit solchen
plötzlichen Entscheidungen gänzlich fehl zu greifen; ja man könnte
sagen: die Natur der Dinge ist so eingerichtet, dass die Frauen immer
Recht behalten.


418.

Sich lieben lassen. - Weil die eine von zwei liebenden Personen
gewöhnlich die liebende, die andere die geliebte Person ist, so
ist der Glaube entstanden, es gäbe in jedem Liebeshandel ein
gleichbleibendes Maass von Liebe: je mehr eine davon an sich reisse,
um so weniger bleibe für die andere Person übrig. Ausnahmsweise kommt
es vor, dass die Eitelkeit jede der beiden Personen überredet, sie sei
die, welche geliebt werden müsse; so dass sich beide lieben lassen
wollen: woraus sich namentlich in der Ehe mancherlei halb drollige,
halb absurde Scenen ergeben.


419.

Widersprüche in weiblichen Köpfen. - Weil die Weiber so viel mehr
persönlich als sachlich sind, vertragen sich in ihrem Gedankenkreise
Richtungen, die logisch mit einander in Widerspruch sind: sie pflegen
sich eben für die Vertreter dieser Richtungen der Reihe nach zu
begeistern und nehmen deren Systeme in Bausch und Bogen an; doch
so, dass überall dort eine todte Stelle entsteht, wo eine neue
Persönlichkeit später das Uebergewicht bekommt. Es kommt vielleicht
vor, dass die ganze Philosophie im Kopf einer alten Frau aus lauter
solchen todten Stellen besteht.


420.

Wer leidet mehr? - Nach einem persönlichen Zwiespalt und Zanke
zwischen einer Frau und einem Manne leidet der eine Theil am meisten
bei der Vorstellung, dem anderen Wehe gethan zu haben; während jener
am meisten bei der Vorstellung leidet, dem andern nicht genug Wehe
gethan zu haben, wesshalb er sich bemüht, durch Thränen, Schluchzen
und verstörte Mienen, ihm noch hinterdrein das Herz schwer zu machen.


421.

Gelegenheit zu weiblicher Grossmuth. - Wenn man sich über die
Ansprüche der Sitte einmal in Gedanken hinwegsetzt, so könnte man
wohl erwägen, ob nicht Natur und Vernunft den Mann auf mehrfache
Verheirathung nach einander anweist, etwa in der Gestalt, dass er
zuerst im Alter von zwei und zwanzig Jahren ein älteres Mädchen
heirathet, das ihm geistig und sittlich überlegen ist und seine
Führerin durch die Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz, Hass,
Selbstverachtung, Leidenschaften aller Art) werden kann. Die Liebe
dieser würde später ganz in das Mütterliche übertreten, und sie
ertrüge es nicht nur, sondern förderte es auf die heilsamste Weise,
wenn der Mann in den dreissiger Jahren mit einem ganz jungen Mädchen
eine Verbindung eingienge, dessen Erziehung er selber in die Hand
nähme. - Die Ehe ist für die zwanziger Jahre einnöthiges, für die
dreissiger ein nützliches, aber nicht nöthiges Institut: für das
spätere Leben wird sie oft schädlich und befördert die geistige
Rückbildung des Mannes.


422.

Tragödie der Kindheit. - Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass
edel- und hochstrebende Menschen ihren härtesten Kampf in der Kindheit
zu bestehen haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen einen
niedrig denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater
durchsetzen müssen, oder fortwährend, wie Lord Byron, im Kampfe mit
einer kindischen und zornwüthigen Mutter leben. Hat man so Etwas
erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen,
wer Einem eigentlich der grösste, der gefährlichste Feind gewesen ist.


423.

Eltern-Thorheit. - Die gröbsten Irrthümer in der Beurtheilung eines
Menschen werden von dessen Eltern gemacht: diess ist eine Thatsache,
aber wie soll man sie erklären? Haben die Eltern zu viele Erfahrung
von dem Kinde und können sie diese nicht mehr zu einer Einheit
zusammenbringen? Man bemerkt, dass Reisende unter fremden Völkern nur
in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes die allgemeinen unterscheidenden
Züge eines Volkes richtig erfassen; je mehr sie das Volk kennen
lernen, desto mehr verlernen sie, das Typische und Unterscheidende an
ihm zu sehen. Sobald sie nah-sichtig werden, hören ihre Augen auf,
fern-sichtig zu sein. Sollten die Eltern desshalb falsch über das Kind
urtheilen, weil sie ihm nie fern genug gestanden haben? - Eine ganz
andere Erklärung wäre folgende: die Menschen pflegen über das Nächste,
was sie umgiebt, nicht mehr nachzudenken, sondern es nur hinzunehmen.
Vielleicht ist die gewohnheitsmässige Gedankenlosigkeit der Eltern der
Grund, wesshalb sie, einmal genöthigt über ihre Kinder zu urtheilen,
so schief urtheilen.


424.

Aus der Zukunft der Ehe. - Jene edlen, freigesinnten Frauen, welche
die Erziehung und Erhebung des weiblichen Geschlechtes sich zur
Aufgabe stellen, sollen einen Gesichtspunct nicht übersehen: die Ehe
in ihrer höheren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft zweier
Menschen verschiedenen Geschlechts, also so, wie sie von der Zukunft
erhofft wird, zum Zweck der Erzeugung und Erziehung einer neuen
Generation geschlossen, - eine solche Ehe, welche das Sinnliche
gleichsam nur als ein seltenes, gelegentliches Mittel für einen
grösseren Zweck gebraucht, bedarf wahrscheinlich, wie man besorgen
muss, einer natürlichen Beihülfe, des Concubinats; denn wenn aus
Gründen der Gesundheit des Mannes das Eheweib auch zur alleinigen
Befriedigung des geschlechtlichen Bedürfnisses dienen soll, so wird
bei der Wahl einer Gattin schon ein falscher, den angedeuteten Zielen
entgegengesetzter Gesichtspunct maassgebend sein: die Erzielung der
Nachkommenschaft wird zufällig, die glückliche Erziehung höchst
unwahrscheinlich. Eine gute Gattin, welche Freundin, Gehülfin,
Gebärerin, Mutter, Familienhaupt, Verwalterin sein soll, ja vielleicht
abgesondert von dem Manne ihrem eigenen Geschäft und Amte vorzustehen
hat, kann nicht zugleich Concubine sein: es hiesse im Allgemeinen zu
viel von ihr verlangen. Somit könnte in Zukunft das Umgekehrte dessen
eintreten, was zu Perikles' Zeiten in Athen sich begab: die Männer,
welche damals an ihren Eheweibern nicht viel mehr als Concubinen
hatten, wandten sich nebenbei zu den Aspasien, weil sie nach den
Reizen einer kopf- und herzbefreienden Geselligkeit verlangten, wie
eine solche nur die Anmuth und geistige Biegsamkeit der Frauen zu
schaffen vermag. Alle menschlichen Institutionen, wie die Ehe,
gestatten nur einen mässigen Grad von praktischer Idealisirung,
widrigenfalls sofort grobe Remeduren nöthig werden.


425.

Sturm- und Drangperiode der Frauen. - Man kann in den drei oder vier
civilisirten Ländern Europa's aus den Frauen durch einige Jahrhunderte
von Erziehung Alles machen, was man will, selbst Männer, freilich
nicht in geschlechtlichem Sinne, aber doch in jedem anderen Sinne. Sie
werden unter einer solchen Einwirkung einmal alle männlichen Tugenden
und Stärken angenommen haben, dabei allerdings auch deren Schwächen
und Laster mit in den Kauf nehmen müssen: so viel, wie gesagt, kann
man erzwingen. Aber wie werden wir den dadurch herbeigeführten
Zwischenzustand aushalten, welcher vielleicht selber ein paar
Jahrhunderte dauern kann, während denen die weiblichen Narrheiten und
Ungerechtigkeiten, ihr uraltes Angebinde, noch die Uebermacht über
alles Hinzugewonnene, Angelernte behaupten? Diese Zeit wird es sein,
in welcher der Zorn den eigentlich männlichen Affect ausmacht,
der Zorn darüber, dass alle Künste und Wissenschaften durch einen
unerhörten Dilettantismus überschwemmt und verschlammt sind, die
Philosophie durch sinnverwirrendes Geschwätz zu Tode geredet, die
Politik phantastischer und parteiischer als je, die Gesellschaft in
voller Auflösung ist, weil die Bewahrerinnen der alten Sitte sich
selber lächerlich geworden und in jeder Beziehung ausser der Sitte zu
stehen bestrebt sind. Hatten nämlich die Frauen ihre grösste Macht in
der Sitte, wonach werden sie greifen müssen, um eine ähnliche Fülle
der Macht wiederzugewinnen, nachdem sie die Sitte aufgegeben haben?


426.

Freigeist und Ehe. - Ob die Freigeister mit Frauen leben werden? Im
Allgemeinen glaube ich, dass sie, gleich den wahrsagenden Vögeln des
Alterthums, als die Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden der Gegenwart es
vorziehen müssen, allein zu fliegen.


427.

Glück der Ehe. - Alles Gewohnte zieht ein immer fester werdendes Netz
von Spinneweben um uns zusammen; und alsobald merken wir, dass die
Fäden zu Stricken geworden sind und dass wir selber als Spinne in der
Mitte sitzen, die sich hier gefangen hat und von ihrem eigenen Blute
zehren muss. Desshalb hasst der Freigeist alle Gewöhnungen und Regeln,
alles Dauernde und Definitive, desshalb reisst er, mit Schmerz, das
Netz um sich immer wieder auseinander: wiewohl er in Folge dessen an
zahlreichen kleinen und grossen Wunden leiden wird, - denn jene Fäden
muss er von sich, von seinem Leibe, seiner Seele abreissen. Er muss
dort lieben lernen, wo er bisher hasste, und umgekehrt. Ja es darf
für ihn nichts Unmögliches sein, auf das selbe Feld Drachenzähne
auszusäen, auf welches er vorher die Füllhörner seiner Güte ausströmen
liess. - Daraus lässt sich abnehmen, ob er für das Glück der Ehe
geschaffen ist.


428.

Zunahe. - Leben wir zu nahe mit einem Menschen zusammen, so geht es
uns so, wie wenn wir einen guten Kupferstich immer wieder mit blossen
Fingern anfassen: eines Tages haben wir schlechtes beschmutztes Papier
und Nichts weiter mehr in den Händen. Auch die Seele eines Menschen
wird durch beständiges Angreifen endlich abgegriffen; mindestens
erscheint sie uns endlich so, - wir sehen ihre ursprüngliche
Zeichnung und Schönheit nie wieder. - Man verliert immer durch den
allzuvertraulichen Umgang mit Frauen und Freunden; und mitunter
verliert man die Perle seines Lebens dabei.


429.

Die goldene Wiege. - Der Freigeist wird immer aufathmen, wenn er sich
endlich entschlossen hat, jenes mutterhafte Sorgen und Bewachen, mit
welchem die Frauen um ihn walten, von sich abzuschütteln. Was schadet
ihm denn ein rauherer Luftzug, den man so ängstlich von ihm wehrte,
was bedeutet ein wirklicher Nachtheil, Verlust, Unfall, eine
Erkrankung, Verschuldung, Bethörung mehr oder weniger in seinem
Leben, verglichen mit der Unfreiheit der goldenen Wiege, des
Pfauenschweif-Wedels und der drückenden Empfindung, noch dazu dankbar
sein zu müssen, weil er wie ein Säugling gewartet und verwöhnt wird?
Desshalb kann sich die Milch, welche die mütterliche Gesinnung der ihn
umgebenden Frauen reicht, so leicht in Galle verwandeln.


430.

Freiwilliges Opferthier. - Durch Nichts erleichtern bedeutende Frauen
ihren Männern, falls diese berühmt und gross sind, das Leben so sehr,
als dadurch dass sie gleichsam das Gefäss der allgemeinen Ungunst
und gelegentlichen Verstimmung der übrigen Menschen werden. Die
Zeitgenossen pflegen ihren grossen Männern viel Fehlgriffe und
Narrheiten, ja Handlungen grober Ungerechtigkeit nachzusehen, wenn
sie nur Jemanden finden, den sie als eigentliches Opferthier zur
Erleichterung ihres Gemüthes misshandeln und schlachten dürfen. Nicht
selten findet eine Frau den Ehrgeiz in sich, sich zu dieser Opferung
anzubieten, und dann kann freilich der Mann sehr zufrieden sein, -
falls er nämlich Egoist genug ist, um sich einen solchen freiwilligen
Blitz-, Sturm- und Regenableiter in seiner Nähe gefallen zu lassen.


431.

Angenehme Widersacher. - Die naturgemässe Neigung der Frauen zu
ruhigem, gleichmässigem, glücklich zusammenstimmendem Dasein und
Verkehren, das Oelgleiche und Beschwichtigende ihrer Wirkungen auf
dem Meere des Lebens, arbeitet unwillkürlich dem heroischeren inneren
Drange des Freigeistes entgegen. Ohne dass sie es merken, handeln die
Frauen so, als wenn man dem wandernden Mineralogen die Steine vom
Wege nimmt, damit sein Fuss nicht daran stosse, - während er gerade
ausgezogen ist, um daran zu stossen.


432.

Missklang zweier Consonanzen. - Die Frauen wollen dienen und haben
darin ihr Glück: und der Freigeist will nicht bedient sein und hat
darin sein Glück.


433.

Xanthippe. - Sokrates fand eine Frau, wie er sie brauchte, - aber auch
er hätte sie nicht gesucht, falls er sie gut genug gekannt hätte: so
weit wäre auch der Heroismus dieses freien Geistes nicht gegangen.
Thatsächlich trieb ihn Xanthippe in seinen eigenthümlichen Beruf immer
mehr hinein, indem sie ihm Haus und Heim unhäuslich und unheimlich
machte: sie lehrte ihn, auf den Gassen und überall dort zu leben,
wo man schwätzen und müssig sein konnte und bildete ihn damit zum
grössten athenischen Gassen-Dialektiker aus: der sich zuletzt selber
mit einer zudringlichen Bremse vergleichen musste, welche dem schönen
Pferde Athen von einem Gotte auf den Nacken gesetzt sei, um es nicht
zur Ruhe kommen zu lassen.


434.

Für die Ferne blind. - Ebenso wie die Mütter eigentlich nur Sinn und
Auge für die augen- und sinnfälligen Schmerzen ihrer Kinder haben, so
vermögen die Gattinnen hoch strebender Männer es nicht über sich zu
gewinnen, ihre Ehegenossen leidend, darbend und gar missachtet zu
sehen, - während vielleicht alles diess nicht nur die Wahrzeichen
einer richtigen Wahl ihrer Lebenshaltung, sondern schon die
Bürgschaften dafür sind, dass ihre grossen Ziele irgendwann einmal
erreicht werden müssen. Die Frauen intriguiren im Stillen immer gegen
die höhere Seele ihrer Männer; sie wollen dieselbe um ihre Zukunft, zu
Gunsten einer schmerzlosen, behaglichen Gegenwart, betrügen.


435.

Macht und Freiheit. - So hoch Frauen ihre Männer ehren, so ehren sie
doch die von der Gesellschaft anerkannten Gewalten und Vorstellungen
noch mehr: sie sind seit Jahrtausenden gewohnt, vor allem Herrschenden
gebückt, die Hände auf die Brust gefaltet, einherzugehen und
missbilligen alle Auflehnung gegen die öffentliche Macht. Desshalb
hängen sie sich, ohne es auch nur zu beabsichtigen, vielmehr wie
aus Instinct, als Hemmschuh in die Räder eines freigeisterischen
unabhängigen Strebens und machen unter Umständen ihre Gatten aufs
Höchste ungeduldig, zumal wenn diese sich noch vorreden, dass Liebe es
sei, was die Frauen im Grunde dabei antreibe. Die Mittel der Frauen
missbilligen und grossmüthig die Motive dieser Mittel ehren, - das ist
Männer-Art und oft genug Männer-Verzweiflung.


436.

Ceterum censeo. - Es ist zum Lachen, wenn eine Gesellschaft von
Habenichtsen die Abschaffung des Erbrechts decretirt, und nicht minder
zum Lachen ist es, wenn Kinderlose an der praktischen Gesetzgebung
eines Landes arbeiten: - sie haben ja nicht genug Schwergewicht in
ihrem Schiffe, um sicher in den Ocean der Zukunft hineinsegeln zu
können. Aber ebenso ungereimt erscheint es, wenn Der, welcher die
allgemeinste Erkenntniss und die Abschätzung des gesammten Daseins zu
seiner Aufgabe erkoren hat, sich mit persönlichen Rücksichten auf eine
Familie, auf Ernährung, Sicherung, Achtung von Weib und Kind, belastet
und vor sein Teleskop jenen trüben Schleier aufspannt, durch welchen
kaum einige Strahlen der fernen Gestirnwelt hindurchzudringen
vermögen. So komme auch ich zu dem Satze, dass in den Angelegenheiten
der höchsten philosophischen Art alle Verheiratheten verdächtig sind.


437.

Zuletzt. - Es giebt mancherlei Arten von Schierling, und gewöhnlich
findet das Schicksal eine Gelegenheit, dem Freigeiste einen Becher
dieses Giftgetränkes an die Lippen zu setzen, - um ihn zu "strafen",
wie dann alle Welt sagt. Was thun dann die Frauen um ihn? Sie werden
schreien und wehklagen und vielleicht die Sonnenuntergangs-Ruhe des
Denkers stören: wie sie es im Gefängniss von Athen thaten. "O Kriton,
heisse doch jemanden diese Weiber da fortführen!" sagte endlich
Sokrates. -




Achtes Hauptstück.

Ein Blick auf den Staat.

438.

Um das Wort bitten. - Der demagogische Charakter und die Absicht,
auf die Massen zu wirken, ist gegenwärtig allen politischen Parteien
gemeinsam: sie alle sind genöthigt, der genannten Absicht wegen, ihre
Principien zu grossen Alfresco-Dummheiten umzuwandeln und sie so
an die Wand zu malen. Daran ist Nichts mehr zu ändern, ja es ist
überflüssig, auch nur einen Finger dagegen aufzuheben; denn auf
diesem Gebiete gilt, was Voltaire sagt: quand la populace se mêle de
raisonner, tout est perdu. Seitdem diess geschehen ist, muss man sich
den neuen Bedingungen fügen, wie man sich fügt, wenn ein Erdbeben die
alten Gränzen und Umrisse der Bodengestalt verrückt und den Werth des
Besitzes verändert hat. Ueberdiess: wenn es sich nun einmal bei aller
Politik darum handelt, möglichst Vielen das Leben erträglich zu
machen, so mögen immerhin diese Möglichst-Vielen auch bestimmen, was
sie unter einem erträglichen Leben verstehen; trauen sie sich den
Intellect zu, auch die richtigen Mittel zu diesem Ziele zu finden,
was hülfe es, daran zu zweifeln? Sie wollen nun einmal ihres Glückes
und Unglückes eigene Schmiede sein; und wenn dieses Gefühl der
Selbstbestimmung, der Stolz auf die fünf, sechs Begriffe, welche ihr
Kopf birgt und zu Tage bringt, ihnen in der That das Leben so angenehm
macht, dass sie die fatalen Folgen ihrer Beschränktheit gern ertragen:
so ist wenig einzuwenden, vorausgesetzt, dass die Beschränktheit nicht
so weit geht, zu verlangen, es solle Alles in diesem Sinne zur Politik
werden, es solle jeder nach solchem Maassstabe leben und wirken.
Zuerst nämlich muss es Einigen mehr als je, erlaubt sein, sich der
Politik zu enthalten und ein Wenig bei Seite zu treten: dazu treibt
auch sie die Lust an der Selbstbestimmung, und auch ein kleiner Stolz
mag damit verbunden sein, zu schweigen, wenn zu Viele oder überhaupt
nur Viele reden. Sodann muss man es diesen Wenigen nachsehen, wenn
sie das Glück der Vielen, verstehe man nun darunter Völker oder
Bevölkerungsschichten, nicht so wichtig nehmen und sich hie und da
eine ironische Miene zu Schulden kommen lassen; denn ihr Ernst liegt
anderswo, ihr Glück ist ein anderer Begriff, ihr Ziel ist nicht von
jeder plumpen Hand, welche eben nur fünf Finger hat, zu umspannen.
Endlich kommt - was ihnen gewiss am schwersten zugestanden wird, aber
ebenfalls zugestanden werden muss - von Zeit zu Zeit ein Augenblick,
wo sie aus ihren schweigsamen Vereinsamungen heraustreten und die
Kraft ihrer Lungen wieder einmal versuchen: dann rufen sie nämlich
einander zu wie Verirrte in einem Walde, um sich einander zu erkennen
zu geben und zu ermuthigen; wobei freilich Mancherlei laut wird, was
den Ohren, für welche es nicht bestimmt ist, übel klingt. - Nun,
bald darauf ist es wieder stille im Walde, so stille, dass man das
Schwirren, Summen und Flattern der zahllosen Insecten, welche in, über
und unter ihm leben, wieder deutlich vernimmt. -


439.

Cultur und Kaste. - Eine höhere Cultur kann allein dort entstehen,
wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft giebt: die der
Arbeitenden und die der Müssigen, zu wahrer Musse Befähigten; oder
mit stärkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der
Frei-Arbeit. Der Gesichtspunct der Vertheilung des Glücks ist nicht
wesentlich, wenn es sich um die Erzeugung einer höheren Cultur
handelt; jedenfalls aber ist die Kaste der Müssigen die
leidensfähigere, leidendere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre
Aufgabe grösser. Findet nun gar ein Austausch der beiden Kasten statt,
so, dass die stumpferen, ungeistigeren Familien und Einzelnen aus
der oberen Kaste in die niedere herabgesetzt werden und wiederum die
freieren Menschen aus dieser den Zutritt zur höheren erlangen: so ist
ein Zustand erreicht, über den hinaus man nur noch das offene Meer
unbestimmter Wünsche sieht. - So redet die verklingende Stimme der
alten Zeit zu uns; aber wo sind noch Ohren, sie zu hören?


440.

Von Geblüt. - Das, was Männer und Frauen von Geblüt vor Anderen voraus
haben und was ihnen unzweifelhaftes Anrecht auf höhere Schätzung
giebt, sind zwei durch Vererbung immer mehr gesteigerte Künste: die
Kunst, befehlen zu können, und die Kunst des stolzen Gehorsams. - Nun
entsteht überall, wo das Befehlen zum Tagesgeschäft gehört (wie in
der grossen Kaufmanns- und Industrie-Welt), etwas Aehnliches wie jene
Geschlechter "von Geblüt", aber ihnen fehlt die vornehme Haltung im
Gehorsam, welche bei jenen eine Erbschaft feudaler Zustände ist und
die in unserem Cultur-Klima nicht mehr wachsen will.


441.

Subordination. - Die Subordination, welche im Militär- und
Beamtenstaate so hoch geschätzt wird, wird uns bald ebenso unglaublich
werden, wie die geschlossene Taktik der Jesuiten es bereits geworden
ist; und wenn diese Subordination nicht mehr möglich ist, lässt sich
eine Menge der erstaunlichsten Wirkungen nicht mehr erreichen, und
die Welt wird ärmer sein. Sie muss schwinden, denn ihr Fundament
schwindet: der Glaube an die unbedingte Autorität, an die endgültige
Wahrheit; selbst in Militärstaaten ist der physische Zwang nicht
ausreichend, sie hervorzubringen, sondern die angeerbte Adoration
vor dem Fürstlichen wie vor etwas Uebermenschlichem. - In freieren
Verhältnissen ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, in Folge
gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes.


442.

Volksheere. - Der grösste Nachtheil der jetzt so verherrlichten
Volksheere besteht in der Vergeudung von Menschen der höchsten
Civilisation; nur durch die Gunst aller Verhältnisse giebt es deren
überhaupt, - wie sparsam und ängstlich sollte man mit ihnen umgehen,
da es grosser Zeiträume bedarf, um die zufälligen Bedingungen
zur Erzeugung so zart organisirter Gehirne zu schaffen! Aber wie
die Griechen in Griechenblut wütheten, so die Europäer jetzt
in Europäerblut: und zwar werden relativ am meisten immer die
Höchstgebildeten zum Opfer gebracht, Die, welche eine reichliche und
gute Nachkommenschaft verbürgen; Solche nämlich stehen im Kampfe
voran, als Befehlende, und setzen sich überdiess, ihres höheren
Ehrgeizes wegen, den Gefahren am meisten aus. - Der grobe
Römer-Patriotismus ist jetzt, wo ganz andere und höhere Aufgaben
gestellt sind, als patria und honor, entweder etwas Unehrliches oder
ein Zeichen der Zurückgebliebenheit.


443.

Hoffnung als Anmaassung. - Unsere gesellschaftliche Ordnung wird
langsam wegschmelzen, wie es alle früheren Ordnungen gethan haben,
sobald die Sonnen neuer Meinungen mit neuer Gluth über die Menschen
hinleuchteten. Wünschen kann man diess Wegschmelzen nur, indem man
hofft: und hoffen darf man vernünftigerweise nur, wenn man sich und
seinesgleichen mehr Kraft in Herz und Kopf zutraut, als den Vertretern
des Bestehenden. Gewöhnlich also wird diese Hoffnung eine Anmaassung,
eine Ueberschätzung sein.


444.

Krieg. - Zu Ungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Sieger
dumm, den Besiegten boshaft. Zu Gunsten des Krieges: er barbarisirt in
beiden eben genannten Wirkungen und macht dadurch natürlicher; er ist
für die Cultur Schlaf oder Winterszeit, der Mensch kommt kräftiger zum
Guten und Bösen aus ihm heraus.


445.

Im Dienste des Fürsten. - Ein Staatsmann wird, um völlig rücksichtslos
handeln zu können, am besten thun, nicht für sich, sondern für einen
Fürsten sein Werk auszuführen. Von dem Glanze dieser allgemeinen
Uneigennützigkeit wird das Auge des Beschauers geblendet, so dass er
jene Tücken und Härten, welche das Werk des Staatsmannes mit sich
bringt, nicht sieht.


446.

Eine Frage der Macht, nicht des Rechtes. - Für Menschen, welche bei
jeder Sache den höheren Nutzen in's Auge fassen, giebt es bei dem
Socialismus, falls er wirklich die Erhebung der Jahrtausende lang
Gedrückten, Niedergehaltenen gegen ihre Unterdrücker ist, kein Problem
des Rechtes (mit der lächerlichen, weichlichen Frage: "wie weit soll
man seinen Forderungen nachgeben?"), sondern nur ein Problem der Macht
("wie weit kann man seine Forderungen benutzen?"); also wie bei einer
Naturmacht, zum Beispiel dem Dampfe, welcher entweder von dem Menschen
in seine Dienste, als Maschinengott, gezwungen wird, oder, bei Fehlern
der Maschine, das heisst Fehlern der menschlichen Berechnung im Bau
derselben, sie und den Menschen mit zertrümmert. Um jene Machtfrage
zu lösen, muss man wissen, wie stark der Socialismus ist, in welcher
Modification er noch als mächtiger Hebel innerhalb des jetzigen
politischen Kräftespiels benutzt werden kann; unter Umständen müsste
man selbst Alles thun, ihn zu kräftigen. Die Menschheit muss bei jeder
grossen Kraft - und sei es die gefährlichste - daran denken, aus ihr
ein Werkzeug ihrer Absichten zu machen. - Ein Recht gewinnt sich
der Socialismus erst dann, wenn es zwischen den beiden Mächten, den
Vertretern des Alten und Neuen, zum Kriege gekommen zu sein scheint,
wenn aber dann das kluge Rechnen auf möglichste Erhaltung und
Zuträglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem
Vertrag entstehen lässt. Ohne Vertrag kein Recht. Bis jetzt giebt es
aber auf dem bezeichneten Gebiete weder Krieg, noch Verträge, also
auch keine Rechte, kein "Sollen".


447.

Benutzung der kleinsten Unredlichkeit. - Die Macht der Presse besteht
darin, dass jeder Einzelne, der ihr dient, sich nur ganz wenig
verpflichtet und verbunden fühlt. Er sagt für gewöhnlich seine
Meinung, aber sagt sie einmal auch nicht, um seiner Partei oder der
Politik seines Landes oder endlich sich selbst zu nützen. Solche
kleine Vergehen der Unredlichkeit oder vielleicht nur einer
unredlichen Verschwiegenheit sind von dem Einzelnen nicht schwer zu
tragen, doch sind die Folgen ausserordentlich, weil diese kleinen
Vergehen von Vielen zu gleicher Zeit begangen werden. Jeder von Diesen
sagt sich: "für so geringe Dienste lebe ich besser, kann ich mein
Auskommen finden; durch den Mangel solcher kleinen Rücksichten mache
ich mich unmöglich". Weil es beinahe sittlich gleichgültig erscheint,
eine Zeile, noch dazu vielleicht ohne Namensunterschrift, mehr zu
schreiben oder nicht zu schreiben, so kann Einer, der Geld und
Einfluss hat, jede Meinung zur öffentlichen machen. Wer da weiss, dass
die meisten Menschen in Kleinigkeiten schwach sind, und seine eigenen
Zwecke durch sie erreichen will, ist immer ein gefährlicher Mensch.


448.

Allzu lauter Ton bei Beschwerden. - Dadurch, dass ein Nothstand
(zum Beispiel die Gebrechen einer Verwaltung, Bestechlichkeit und
Gunstwillkür in politischen oder gelehrten Körperschaften) stark
übertrieben dargestellt wird, verliert zwar die Darstellung bei
den Einsichtigen ihre Wirkung, aber wirkt um so stärker auf die
Nichteinsichtigen (welche bei einer sorgsamen maassvollen Darlegung
gleichgültig geblieben wären). Da diese aber bedeutend in der Mehrzahl
sind und stärkere Willenskräfte, ungestümere Lust zum Handeln in sich
beherbergen, so wird jene Uebertreibung zum Anlass von Untersuchungen,
Bestrafungen, Versprechen, Reorganisationen. - Insofern ist es
nützlich, Nothstände übertrieben darzustellen.


449.

Die anscheinenden Wettermacher der Politik. - Wie das Volk bei Dem,
welcher sich auf das Wetter versteht und es um einen Tag voraussagt,
im Stillen annimmt, dass er das Wetter mache, so legen selbst
Gebildete und Gelehrte mit einem Aufwand von abergläubischem
Glauben grossen Staatsmännern alle die wichtigen Veränderungen und
Conjuncturen, welche während ihrer Regierung eintraten, als deren
eigenstes Werk bei, wenn es nur ersichtlich ist, dass jene Etwas davon
eher wussten, als Andere, und ihre Berechnung darnach machten: sie
werden also ebenfalls als Wettermacher genommen - und dieser Glaube
ist nicht das geringste Werkzeug ihrer Macht.


450.

Neuer und alter Begriff der Regierung. - Zwischen Regierung und
Volk so zu scheiden, als ob hier zwei getrennte Machtsphären, eine
stärkere, höhere mit einer schwächeren, niederen, verhandelten und
sich vereinbarten, ist ein Stück vererbter politischer Empfindung,
welches der historischen Feststellung der Machtverhältnisse in den in
eisten Staaten noch jetzt genau entspricht. Wenn zum Beispiel Bismarck
die constitutionelle Form als einen Compromiss zwischen Regierung
und Volk bezeichnet, so redet er gemäss einem Princip, welches seine
Vernunft- in der Geschichte hat (ebendaher freilich auch den Beisatz
von Unvernunft, ohne den nichts Menschliches existiren kann). Dagegen
soll man nun lernen - gemäss einem Princip, welches rein aus dem Kopfe
entsprungen ist und erst Geschichte machen soll -, dass Regierung
Nichts als ein Organ des Volkes sei, nicht ein vorsorgliches,
verehrungswürdiges "Oben" im Verhältniss zu einem an Bescheidenheit
gewöhnten "Unten". Bevor man diese bis jetzt unhistorische und
willkürliche, wenn auch logischere Aufstellung des Begriffs Regierung
annimmt, möge man doch ja die Folgen erwägen: denn das Verhältniss
zwischen Volk und Regierung ist das stärkste vorbildliche Verhältniss,
nach dessen Muster sich unwillkürlich der Verkehr zwischen Lehrer und
Schüler, Hausherrn und Dienerschaft, Vater und Familie, Heerführer und
Soldat, Meister und Lehrling bildet. Alle diese Verhältnisse gestalten
sich jetzt, unter dem Einflusse der herrschenden constitutionellen
Regierungsform, ein Wenig um - sie werden Compromisse. Aber wie müssen
sie sich verkehren und verschieben, Namen und Wesen wechseln, wenn
jener allerneueste Begriff überall sich der Köpfe bemeistert hat! -
wozu es aber wohl ein Jahrhundert noch brauchen dürfte. Hierbei ist
Nichts mehr zu wünschen, als Vorsicht und langsame Entwickelung.


451.

Gerechtigkeit als Parteien-Lockruf. - Wohl können edle (wenn auch
nicht gerade sehr einsichtsvolle) Vertreter der berrschenden Classe
sich geloben: "wir wollen die Menschen als gleich behandeln, ihnen
gleiche Rechte zugestehen"; insofern ist eine socialistische
Denkungsweise, welche auf Gerechtigkeit ruht, möglich, aber wie gesagt
nur innerhalb der herrschenden Classe, welche in diesem Falle die
Gerechtigkeit mit Opfern und Verleugnungen übt. Dagegen Gleichheit
der Rechte fordern, wie es die Socialisten der unterworfenen Kaste
thun, ist nimmermehr der Ausfluss der Gerechtigkeit, sondern der
Begehrlichkeit. - Wenn man der Bestie blutige Fleischstücke aus der
Nähe zeigt und wieder wegzieht, bis sie endlich brüllt: meint ihr,
dass diess Gebrüll Gerechtigkeit bedeute?


452.

Besitz und Gerechtigkeit. - Wenn die Socialisten nachweisen, dass die
Eigenthums-Vertheilung in der gegenwärtigen Menschheit die Consequenz
zahlloser Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist, und in summa die
Verpflichtung gegen etwas so unrecht Begründetes ablehnen: so sehen
sie nur etwas Einzelnes. Die ganze Vergangenheit der alten Cultur ist
auf Gewalt, Sclaverei, Betrug, Irrthum aufgebaut; wir können aber uns
selbst, die Erben aller dieser Zustände, ja die Concrescenzen aller
jener Vergangenheit, nicht wegdecretiren und dürfen nicht ein
einzelnes Stück herausziehen wollen. Die ungerechte Gesinnung steckt
in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als
die Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht, denn irgend
wann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen. Nicht gewaltsame neue
Vertheilungen, sondern allmähliche Umschaffungen des Sinnes thun noth,
die Gerechtigkeit muss in Allen grösser werden, der gewaltthätige
Instinct schwächer.


453.

Der Steuermann der Leidenschaften. - Der Staatsmann erzeugt
öffentliche Leidenschaften, um den Gewinn von der dadurch erweckten
Gegenleidenschaft zu haben. Um ein Beispiel zu nehmen: so weiss ein
deutscher Staatsmann wohl, dass die katholische Kirche niemals mit
Russland gleiche Pläne haben wird, ja sich viel lieber mit den Türken
verbünden würde, als mit ihm; ebenso weiss er, dass Deutschland alle
Gefahr von einem Bündnisse Frankreichs mit Russland droht. Kann er es
nun dazu bringen, Frankreich zum Herd und Hort der katholischen Kirche
zu machen, so hat er diese Gefahr auf eine lange Zeit beseitigt. Er
hat demnach ein Interesse daran, Hass gegen die Katholiken zu zeigen
und durch Feindseligkeiten aller Art die Bekenner der Autorität des
Papstes in eine leidenschaftliche politische Macht zu verwandeln,
welche der deutschen Politik feindlich ist und sich naturgemäss mit
Frankreich, als dem Widersacher Deutschlands, verschmelzen muss: sein
Ziel ist ebenso nothwendig die Katholisirung Frankreichs, als Mirabeau
in der Dekatholisirung das Heil seines Vaterlandes sah. - Der eine
Staat will also die Verdunkelung von Millionen Köpfen eines anderen
Staates, um seinen Vortheil aus dieser Verdunkelung zu ziehen. Es ist
diess die selbe Gesinnung, welche die republicanische Regierungsform
des nachbarlichen Staates - le désordre organisé, wie Mérimee sagt -
aus dem alleinigen Grunde unterstützt, weil sie von dieser annimmt,
dass sie das Volk schwächer, zerrissener und kriegsunfähiger mache.


454.

Die Gefährlichen unter den Umsturz-Geistern. - Man theile Die, welche
auf einen Umsturz der Gesellschaft bedacht sind, in Solche ein, welche
für sich selbst, und in Solche, welche für ihre Kinder und Enkel Etwas
erreichen wollen. Die Letzteren sind die Gefährlicheren; denn sie
haben den Glauben und das gute Gewissen der Uneigennützigkeit. Die
Anderen kann man abspeisen: dazu ist die herrschende Gesellschaft
immer noch reich und klug genug. Die Gefahr beginnt, sobald die Ziele
unpersönlich werden; die Revolutionäre aus unpersönlichem Interesse
dürfen alle Vertheidiger des Bestehenden als persönlich interessirt
ansehen und sich desshalb ihnen überlegen fühlen.


455.

Politischer Werth der Vaterschaft. - Wenn der Mensch keine Söhne hat,
so hat er kein volles Recht, über die Bedürfnisse eines einzelnen
Staatswesens mitzureden. Man muss selber mit den Anderen sein Liebstes
daran gewagt haben; das erst bindet an den Staat fest; man muss das
Glück seiner Nachkommen in's Auge fassen, also vor Allem Nachkommen
haben, um an allen Institutionen und deren Veränderung rechten,
natürlichen Antheil zu nehmen. Die Entwickelung der höhern Moral hängt
daran, dass Einer Söhne hat; diess stimmt ihn unegoistisch, oder
richtiger: es erweitert seinen Egoismus der Zeitdauer nach, und
lässt ihn Ziele über seine individuelle Lebenslänge hinaus mit Ernst
verfolgen.


456.

Ahnenstolz. - Auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zum Vater
herauf darf man mit Recht stolz sein, - nicht aber auf die Reihe;
denn diese hat jeder. Die Herkunft von guten Ahnen macht den ächten
Geburtsadel aus; eine einzige Unterbrechung in jener Kette, Ein
böser Vorfahr also hebt den Geburtsadel auf. Man soll jeden, welcher
von seinem Adel redet, fragen: hast du keinen gewaltthätigen,
habsüchtigen, ausschweifenden, boshaften, grausamen Menschen unter
deinen Vorfahren? Kann er darauf in gutem Wissen und Gewissen mit Nein
antworten, so bewerbe man sich um seine Freundschaft.


457.

Sclaven und Arbeiter. - Dass wir mehr Werth auf Befriedigung der
Eitelkeit, als auf alles übrige Wohlbefinden (Sicherheit, Unterkommen,
Vergnügen aller Art) legen, zeigt sich in einem lächerlichen Grade
daran, dass jedermann (abgesehen von politischen Gründen) die
Aufhebung der Sclaverei wünscht und es auf's Aergste verabscheut,
Menschen in diese Lage zu bringen: während jeder sich sagen muss,
dass die Sclaven in allen Beziehungen sicherer und glücklicher leben,
als der moderne Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig Arbeit im
Verhältniss zu der des "Arbeiters" ist. Man protestirt im Namen
der "Menschenwürde": das ist aber, schlichter ausgedrückt, jene
liebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleich-gestelltsein, das
Oeffentlich-niedriger-geschätzt-werden, als das härteste Loos
empfindet. - Der Cyniker denkt anders darüber, weil er die Ehre
verachtet: - und so war Diogenes eine Zeitlang Sclave und Hauslehrer.


458.

Leitende Geister und ihre Werkzeuge. - Wir sehen grosse Staatsmänner
und überhaupt alle Die, welche sich vieler Menschen zur Durchführung
ihrer Pläne bedienen müssen, bald so, bald so verfahren: entweder
wählen sie sehr fein und sorgsam die zu ihren Plänen passenden
Menschen aus und lassen ihnen dann verhältnissmässige grosse Freiheit,
weil sie wissen, dass die Natur dieser Ausgewählten sie eben dahin
treibt, wohin sie selber Jene haben wollen; oder sie wählen schlecht,
ja nehmen was ihnen unter die Hand kommt, formen aber aus jedem
Thone etwas für ihre Zwecke Taugliches. Diese letzte Art ist
die gewaltsamere, sie begehrt auch unterwürfigere Werkzeuge;
ihre Menschenkenntniss ist gewöhnlich viel geringer, ihre
Menschenverachtung grösser, als bei den erstgenannten Geistern, aber
die Maschine, welche sie construiren, arbeitet gemeinhin besser, als
die Maschine aus der Werkstätte jener.


459.

Willkürliches Recht nothwendig. - Die Juristen streiten, ob das
am vollständigsten durchgedachte Recht oder das am leichtesten
zu verstehende in einem Volke zum Siege kommen solle. Das erste,
dessen höchstes Muster das römische ist, erscheint dem Laien
als unverständlich und desshalb nicht als Ausdruck seiner
Rechtsempfindung. Die Volksrechte, wie zum Beispiel die germanischen,
waren grob, abergläubisch, unlogisch, zum Theil albern, aber
sie entsprachen ganz bestimmten vererbten heimischen Sitten und
Empfindungen. - Wo aber Recht nicht mehr, wie bei uns, Herkommen ist,
da kann es nur befohlen, Zwang sein; wir haben Alle kein herkömmliches
Rechtsgefühl mehr, desshalb müssen wir uns Willkürsrechte gefallen
lassen, die der Ausdruck der Nothwendigkeit sind, dass es ein Recht
geben müsse. Das logischste ist dann jedenfalls das annehmbarste, weil
es das unparteilichste ist: zugegeben selbst, dass in jedem Falle
die kleinste Maasseinheit im Verhältniss von Vergehen und Strafe
willkürlich angesetzt ist.


460.

Der grosse Mann der Masse. - Das Recept zu dem, was die Masse einen
grossen Mann nennt, ist leicht gegeben. Unter allen Umständen
verschaffe man ihr Etwas, das ihr sehr angenehm ist, oder setze ihr
erst in den Kopf, dass diess und jenes sehr angenehm wäre, und gebe
es ihr dann. Doch um keinen Preis sofort: sondern man erkämpfe es mit
grösster Anstrengung oder scheine es zu erkämpfen. Die Masse muss den
Eindruck haben, dass eine mächtige, ja unbezwingliche Willenskraft
da sei; mindestens muss sie da zu sein scheinen. Den starken Willen
bewundert jedermann, weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt,
dass, wenn er ihn hätte, es für ihn und seinen Egoismus keine Gränze
mehr gäbe. Zeigt sich nun, dass ein solcher starker Wille etwas
der Masse sehr Angenehmes bewirkt, statt auf die Wünsche seiner
Begehrlichkeit zu hören, so bewundert man noch einmal und wünscht sich
selber Glück. Im Uebrigen habe er alle Eigenschaften der Masse: um so
weniger schämt sie sich vor ihm, um so mehr ist er populär. Also: er
sei gewaltthätig, neidisch, ausbeuterisch, intrigant, schmeichlerisch,
kriechend, aufgeblasen, je nach Umständen alles.


461.

Fürst und Gott. - Die Menschen verkehren mit ihren Fürsten vielfach in
ähnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst
der Repräsentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese
fast unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und
ist viel schwächer geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet
sich an mächtige Personen, überhaupt. Der Cultus des Genius' ist ein
Nachklang dieser Götter-Fürsten-Verehrung. Ueberall, wo man sich
bestrebt, einzelne Menschen in das Uebermenschliche hinaufzuheben,
entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher und
niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind.


462.

Meine Utopie. - In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die
schwere Arbeit und Noth des Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am
wenigsten durch sie leidet, also dem Stumpfesten, und so schrittweise
aufwärts bis zu Dem, welcher für die höchsten sublimirtesten Gattungen
des Leidens am empfindlichsten ist und desshalb selbst noch bei der
grössten Erleichterung des Lebens leidet.


463.

Ein Wahn in der Lehre vom Umsturz. - Es giebt politische und sociale
Phantasten, welche feurig und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen
auffordern, in dem Glauben, dass dann sofort das stolzeste Tempelhaus
schönen Menschenthums gleichsam von selbst sich erheben werde. In
diesen gefährlichen Träumen klingt noch der Aberglaube Rousseau's
nach, welcher an eine wundergleiche, ursprüngliche, aber gleichsam
verschüttete Güte der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen
der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld jener
Verschüttung beimisst. Leider weiss man aus historischen Erfahrungen,
dass jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die längst
begrabenen Furchtbarkeiten und Maasslosigkeiten fernster Zeitalter
von Neuem zur Auferstehung bringt: dass also ein Umsturz wohl eine
Kraftquelle in einer mattgewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr
aber ein Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen
Natur. - Nicht Voltaire's maassvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen
zugeneigte Natur, sondern Rousseau's leidenschaftliche Thorheiten und
Halblügen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen,
gegen den ich rufe: "Ecrasez l'infame!" Durch ihn ist der Geist der
Aufklärung und der fortschreitenden Entwickelung auf lange verscheucht
worden - sehen wir zu - ein Jeder bei sich selber - ob es möglich ist,
ihn wieder zurückzurufen!


464.

Maass. - Die volle Entschiedenheit des Denkens und Forschens, also
die Freigeisterei, zur Eigenschaft des Charakters geworden, macht im
Handeln mässig: denn sie schwächt die Begehrlichkeit, zieht viel von
der vorhandenen Energie an sich, zur Förderung geistiger Zwecke, und
zeigt das Halbnützliche oder Unnütze und Gefährliche aller plötzlichen
Veränderungen.


465.

Auferstehung des Geistes. - Auf dem politischen Krankenbette verjüngt
ein Volk gewöhnlich sich selbst und findet seinen Geist wieder, den
es im Suchen und Behaupten der Macht allmählich verlor. Die Cultur
verdankt das Allerhöchste den politisch geschwächten Zeiten.


466.

Neue Meinungen im alten Hause. - Dem Umsturz der Meinungen folgt der
Umsturz der Institutionen nicht sofort nach, vielmehr wohnen die neuen
Meinungen lange Zeit im verödeten und unheimlich gewordenen Hause
ihrer Vorgängerinnen und conserviren es selbst, aus Wohnungsnoth.


467.

Schulwesen. - Das Schulwesen wird in grossen Staaten immer höchstens
mittelmässig sein, aus dem selben Grunde, aus dem in grossen Küchen
besten Falls mittelmässig gekocht wird.


468.

Unschuldige Corruption. - In allen Instituten, in welche nicht
die scharfe Luft der öffentlichen Kritik hineinweht, wächst eine
unschuldige Corruption auf, wie ein Pilz (also zum Beispiel in
gelehrten Körperschaften und Senaten).


469.

Gelehrte als Politiker. - Gelehrten, welche Politiker werden, wird
gewöhnlich die komische Rolle zugetheilt, das gute Gewissen einer
Politik sein zu müssen.


470.

Der Wolf hinter dem Schafe versteckt. - Fast jeder Politiker hat unter
gewissen Umständen einmal einen ehrlichen Mann so nöthig, dass er,
gleich einem heisshungrigen Wolfe, in einen Schafstall bricht: nicht
aber um dann den geraubten Widder zu fressen, sondern um sich hinter
seinen wolligen Rücken zu verstecken.


471.

Glückszeiten. - Ein glückliches Zeitalter ist desshalb gar nicht
möglich, weil die Menschen es nur wünschen wollen, aber nicht haben
wollen und jeder Einzelne, wenn ihm gute Tage kommen, förmlich um
Unruhe und Elend beten lernt. Das Schicksal der Menschen ist auf
glückliche Augenblicke eingerichtet - jedes Leben hat solche -,
aber nicht auf glückliche Zeiten. Trotzdem werden diese als "das
jenseits der Berge" in der Phantasie des Menschen bestehen bleiben,
als Erbstück der Urväter; denn man hat wohl den Begriff des
Glückszeitalters seit uralten Zeiten her jenem Zustande entnommen, in
dem der Mensch, nach gewaltiger Anstrengung durch Jagd und Krieg, sich
der Ruhe übergiebt, die Glieder streckt und die Fittige des Schlafes
um sich rauschen hört. Es ist ein falscher Schluss, wenn der Mensch
jener alten Gewöhnung gemäss sich vorstellt, dass er nun auch nach
ganzen Zeiträumen der Noth und Mühsal eines Zustandes des Glücks in
entsprechender Steigerung und Dauer theilhaftig werden könne.


472.

Religion und Regierung. - Solange der Staat oder, deutlicher, die
Regierung sich als Vormund zu Gunsten einer unmündigen Menge bestellt
weiss und um ihretwillen die Frage erwägt, ob die Religion zu erhalten
oder zu beseitigen sei: wird sie höchst wahrscheinlich sich immer für
die Erhaltung der Religion entscheiden. Denn die Religion befriedigt
das einzelne Gemüth in Zeiten des Verlustes, der Entbehrung, des
Schreckens, des Misstrauens, also da, wo die Regierung sich ausser
Stande fühlt, direct Etwas zur Linderung der seelischen Leiden des
Privatmannes zu thun: ja selbst bei allgemeinen, unvermeidlichen und
zunächst unabwendbaren Uebeln (Hungersnöthen, Geldkrisen, Kriegen)
gewährt die Religion eine beruhigte, abwartende, vertrauende Haltung
der Menge. Ueberall, wo die nothwendigen oder zufälligen Mängel der
Staatsregierung oder die gefährlichen Consequenzen dynastischer
Interessen dem Einsichtigen sich bemerklich machen und ihn
widerspänstig stimmen, werden die Nicht-Einsichtigen den Finger Gottes
zu sehen meinen und sich in Geduld den Anordnungen von Oben (in
welchem Begriff göttliche und menschliche Regierungsweise gewöhnlich
verschmelzen) unterwerfen: so wird der innere bürgerliche Frieden und
die Continuität der Entwickelung gewahrt. Die Macht, welche in der
Einheit der Volksempfindung, in gleichen Meinungen und Zielen für
Alle, liegt, wird durch die Religion beschützt und besiegelt,
jene seltenen Fälle abgerechnet, wo eine Priesterschaft mit der
Staatsgewalt sich über den Preis nicht einigen kann und in Kampf
tritt. Für gewöhnlich wird der Staat sich die Priester zu gewinnen
wissen, weil er ihrer allerprivatesten, verborgenen Erziehung der
Seelen benöthigt ist und Diener zu schätzen weiss, welche scheinbar
und äusserlich ein ganz anderes Interesse vertreten. Ohne Beihülfe
der Priester kann auch jetzt noch keine Macht "legitim" werden: wie
Napoleon begriff. - So gehen absolute vormundschaftliche Regierung und
sorgsame Erhaltung der Religion nothwendig mit einander. Dabei ist
vorauszusetzen, dass die regierenden Personen und Classen über den
Nutzen, welchen ihnen die Religion gewährt, aufgeklärt werden und
somit bis zu einem Grade sich ihr überlegen fühlen, insofern sie
dieselbe als Mittel gebrauchen: wesshalb hier die Freigeisterei ihren
Ursprung hat. - Wie aber, wenn jene ganz verschiedene Auffassung des
Begriffes der Regierung, wie sie in demokratischen Staaten gelehrt
wird, durchzudringen anfängt? Wenn man in ihr Nichts als das Werkzeug
des Volkswillen sieht, kein Oben im Vergleich zu einem Unten, sondern
lediglich eine Function des alleinigen Souverains, des Volkes? Hier
kann auch nur die selbe Stellung, welche das Volk zur Religion
einnimmt, von der Regierung eingenommen werden; jede Verbreitung von
Aufklärung wird bis in ihre Vertreter hineinklingen müssen, eine
Benutzung und Ausbeutung der religiösen Triebkräfte und Tröstungen zu
staatlichen Zwecken wird nicht so leicht möglich sein (es sei denn,
dass mächtige Parteiführer zeitweilig einen Einfluss üben, welcher
dem des aufgeklärten Despotismus ähnlich sieht). Wenn aber der Staat
keinen Nutzen mehr aus der Religion selber ziehen darf oder das Volk
viel zu mannichfach über religiöse Dinge denkt, als dass es der
Regierung ein gleichartiges, einheitliches Vorgehen bei religiösen
Maassregeln gestatten dürfte, - so wird nothwendig sich der Ausweg
zeigen, die Religion als Privatsache zu behandeln und dem Gewissen
und der Gewohnheit jedes Einzelnen zu überantworten. Die Folge ist zu
allererst diese, dass das religiöse Empfinden verstärkt erscheint,
insofern versteckte und unterdrückte Regungen desselben, welchen der
Staat unwillkürlich oder absichtlich keine Lebensluft gönnte, jetzt
hervorbrechen und bis in's Extreme ausschweifen; später erweist sich,
dass die Religion von Secten überwuchert wird und dass eine Fülle
von Drachenzähnen in dem Augenblicke gesät worden ist, als man die
Religion zur Privatsache machte. Der Anblick des Streites, die
feindselige Bloslegung aller Schwächen religiöser Bekenntnisse lässt
endlich keinen Ausweg mehr zu, als dass jeder Bessere und Begabtere
die Irreligiosität zu seiner Privatsache macht: als welche Gesinnung
nun auch in dem Geiste der regierenden Personen die Ueberhand
bekommt und, fast wider ihren Willen, ihren Maassregeln einen
religionsfeindlichen Charakter giebt. Sobald diess eintritt, wandelt
sich die Stimmung der noch religiös bewegten Menschen, welche früher
den Staat als etwas Halb- oder Ganzheiliges adorirten, in eine
entschieden staatsfeindliche um; sie lauern den Maassregeln der
Regierung auf, suchen zu hemmen, zu kreuzen, zu beunruhigen, so viel
sie können, und treiben dadurch die Gegenpartei, die irreligiöse,
durch die Hitze ihres Widerspruchs in eine fast fanatische
Begeisterung für den Staat hinein; wobei im Stillen noch mitwirkt,
dass in diesen Kreisen die Gemüther seit der Trennung von der Religion
eine Leere spüren und sich vorläufig durch die Hingebung an den Staat
einen Ersatz, eine Art von Ausfüllung zu schaffen suchen. Nach diesen,
vielleicht lange dauernden Uebergangskämpfen entscheidet es sich
endlich, ob die religiösen Parteien noch stark genug sind, um einen
alten Zustand heraufzubringen und das Rad zurückzudrehen: in welchem
Falle unvermeidlich der aufgeklärte Despotismus (vielleicht weniger
aufgeklärt und ängstlicher, als früher) den Staat in die Hände
bekommt, - oder ob die religionslosen Parteien sich durchsetzen und
die Fortpflanzung ihrer Gegnerschaft, einige Generationen hindurch,
etwa durch Schule und Erziehung, untergraben und endlich unmöglich
machen. Dann aber lässt auch bei ihnen jene Begeisterung für den
Staat nach: immer deutlicher tritt hervor, dass mit jener religiösen
Adoration, für welche er ein Mysterium, eine überweltliche Stiftung
ist, auch das ehrfürchtige und pietätvolle Verhältniss zu ihm
erschüttert ist. Fürderhin sehen die Einzelnen immer nur die Seite an
ihm, wo er ihnen nützlich oder schädlich werden kann, und drängen sich
mit allen Mitteln heran, um Einfluss auf ihn zu bekommen. Aber diese
Concurrenz wird bald zu gross, die Menschen und Parteien wechseln zu
schnell, stürzen sich gegenseitig zu wild vom Berge wieder herab,
nachdem sie kaum oben angelangt sind. Es fehlt allen Maassregeln,
welche von einer Regierung durchgesetzt werden, die Bürgschaft ihrer
Dauer; man scheut vor Unternehmungen zurück, welche auf Jahrzehnte,
Jahrhunderte hinaus ein stilles Wachsthum haben müssten, um reife
Früchte zu zeitigen. Niemand fühlt eine andere Verpflichtung gegen
ein Gesetz mehr, als die, sich augenblicklich der Gewalt, welche ein
Gesetz einbrachte, zu beugen: sofort geht man aber daran, es durch
eine neue Gewalt, eine neu zu bildende Majorität zu unterminiren.
Zuletzt - man kann es mit Sicherheit aussprechen - muss das Misstrauen
gegen alles Regierende, die Einsicht in das Nutzlose und Aufreibende
dieser kurzathmigen Kämpfe die Menschen zu einem ganz neuen
Entschlusse drängen: zur Abschaffung des Staatsbegriffs, zur Aufhebung
des Gegensatzes "privat und öffentlich". Die Privatgesellschaften
ziehen Schritt vor Schritt die Staatsgeschäfte in sich hinein:
selbst der zäheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens
übrigbleibt (jene Thätigkeit zum Beispiel welche die Privaten gegen
die Privaten sicher stellen soll), wird zu allerletzt einmal durch
Privatunternehmer besorgt werden. Die Missachtung, der Verfall und
der Tod des Staates, die Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich
zu sagen: des Individuums) ist die Consequenz des demokratischen
Staatsbegriffes; hier liegt seine Mission. Hat er seine Aufgabe
erfüllt - die wie alles Menschliche viel Vernunft und Unvernunft im
Schoosse trägt -, sind alle Rückfälle der alten Krankheit überwunden,
so wird ein neues Blatt im Fabelbuche der Menschheit entrollt, auf dem
man allerlei seltsame Historien und vielleicht auch einiges Gute lesen
wird. - Um das Gesagte noch einmal kurz zu sagen: das Interesse der
vormundschaftlichen Regierung und das Interesse der Religion gehen mit
einander Hand in Hand, so dass, wenn letztere abzusterben beginnt,
auch die Grundlage des Staates erschüttert wird. Der Glaube an eine
göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der
Existenz des Staates ist religiösen Ursprungs: schwindet die Religion,
so wird der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren
und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souveränität des Volkes, in
der Nähe gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben
auf dem Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen; die moderne
Demokratie ist die historische Form vom Verfall des Staates. - Die
Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall ergiebt, ist aber
nicht in jedem Betracht eine unglückselige: die Klugheit und der
Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten
ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser Kräfte der Staat nicht mehr
entspricht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine
noch zweckmässigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege
über den Staat kommen. Wie manche organisirende Gewalt hat
die Menschheit schon absterben sehen, - zum Beispiel die der
Geschlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende lang viel mächtiger
war, als die Gewalt der Familie, ja längst, bevor diese bestand, schon
waltete und ordnete. Wir selber sehen den bedeutenden Rechts- und
Machtgedanken der Familie, welcher einmal, so weit wie römisches Wesen
reichte, die Herrschaft besass, immer blasser und ohnmächtiger werden.
So wird ein späteres Geschlecht auch den Staat in einzelnen Strecken
der Erde bedeutungslos werden sehen, - eine Vorstellung, an welche
viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken
können. An der Verbreitung und Verwirklichung dieser Vorstellung zu
arbeiten, ist freilich ein ander Ding: man muss sehr anmaassend von
seiner Vernunft denken und die Geschichte kaum halb verstehen, um
schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen, - während noch Niemand die
Samenkörner aufzeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher
gestreut werden sollen. Vertrauen wir also "der Klugheit und dem
Eigennutz der Menschen", dass jetzt noch der Staat eine gute Weile
bestehen bleibt und zerstörerische Versuche übereifriger und
voreiliger Halbwisser abgewiesen werden!


473.

Der Socialismus in Hinsicht auf seine Mittel. - Der Socialismus ist
der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den
er beerben will; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstande
reactionär. Denn er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur
je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene
dadurch, dass er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt:
als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und
durch ihn in ein zweckmässiges Organ des Gemeinwesens umgebessert
werden soll. Seiner Verwandtschaft wegen erscheint er immer in der
Nähe aller excessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische
Socialist Plato am Hofe des sicilischen Tyrannen; er wünscht (und
befördert unter Umständen) den cäsarischen Gewaltstaat dieses
Jahrhunderts, weil er, wie gesagt, sein Erbe werden möchte. Aber
selbst diese Erbschaft würde für seine Zwecke nicht ausreichen, er
braucht die allerunterthänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem
unbedingten Staate, wie niemals etwas Gleiches existirt hat; und da er
nicht einmal auf die alte religiöse Pietät für den Staat mehr rechnen
darf, vielmehr an deren Beseitigung unwillkürlich fortwährend arbeiten
muss - nämlich weil er an der Beseitigung aller bestehenden Staaten
arbeitet -, so kann er sich nur auf kurze Zeiten, durch den äussersten
Terrorismus, hie und da einmal auf Existenz Hoffnung machen. Desshalb
bereitet er sich im Stillen zu Schreckensherrschaften vor und treibt
den halb gebildeten Massen das Wort "Gerechtigkeit" wie einen Nagel in
den Kopf, um sie ihres Verstandes völlig zu berauben (nachdem dieser
Verstand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat) und ihnen
für das böse Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu
schaffen. - Der Socialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller
Anhäufungen von Staatsgewalt recht brutal und eindringlich zu lehren
und insofern vor dem Staate selbst Misstrauen einzuflössen. Wenn seine
rauhe Stimme in das Feldgeschrei "so viel Staat wie möglich" einfällt,
so wird dieses zunächst dadurch lärmender, als je: aber bald dringt
auch das entgegengesetzte mit um so grösserer Kraft hervor: "so wenig
Staat wie möglich".


474.

Die Entwickelung des Geistes, vom Staate gefürchtet. - Die griechische
Polis war, wie jede organisirende politische Macht, ausschliessend
und misstrauisch gegen das Wachsthum der Bildung, ihr gewaltiger
Grundtrieb zeigte sich fast nur lähmend und hemmend für dieselbe. Sie
wollte keine Geschichte, kein Werden in der Bildung gelten lassen; die
in dem Staatsgesetz festgestellte Erziehung sollte alle Generationen
verpflichten und auf Einer Stufe festhalten. Nicht anders wollte es
später auch noch Plato für seinen idealen Staat. Trotz der Polis
entwickelte sich also die Bildung: indirect freilich und wider Willen
half sie mit, weil die Ehrsucht des Einzelnen in der Polis auf's
Höchste angereizt wurde, so dass er, einmal auf die Bahn geistiger
Ausbildung gerathen, auch in ihr bis in's letzte Extrem fortgieng.
Dagegen soll man sich nicht auf die Verherrlichungsrede des Perikles
berufen: denn sie ist nur ein grosses optimistisches Trugbild über den
angeblich nothwendigen Zusammenhang von Polis und athenischer Cultur;
Thukydides lässt sie, unmittelbar bevor die Nacht über Athen kommt
(die Pest und der Abbruch der Tradition), noch einmal wie eine
verklärende Abendröthe aufleuchten, bei der man den schlimmen Tag
vergessen soll, der ihr vorangieng.


475.

Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen. - Der Handel
und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit
aller höheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft,
das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, - diese Umstände
bringen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der
Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen
allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des
europäischen Menschen, entstehen muss. Diesem Ziele wirkt jetzt
bewusst oder unbewusst die Abschliessung der Nationen durch Erzeugung
nationaler Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener
Mischung dennoch vorwärts, trotz jener zeitweiligen Gegenströmungen:
dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der
künstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen
ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über
Viele verhängt ist, und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in
Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Völker),
wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter
Fürstendynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der
Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man diess einmal
erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben
und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei
die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, Dolmetscher und
Vermittler der Völker zusein, mitzuhelfen vermögen. - Beiläufig: das
ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten
vorhanden, insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere
Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht
angehäuftes Geist- und Willens-Capital, in einem neid- und
hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die
litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt -
und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden -, die Juden als
Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur
Schlachtbank zu führen. Sobald es sich nicht mehr um Conservirung
von Nationen, sondern um die Erzeugung einer möglichst kräftigen
europäischen Mischrasse handelt, ist der Jude als Ingredienz ebenso
brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest.
Unangenehme, ja gefährliche Eigenschaften hat jede Nation, jeder
Mensch; es ist grausam, zu verlangen, dass der Jude eine Ausnahme
machen soll. Jene Eigenschaften mögen sogar bei ihm in besonderem
Maasse gefährlich und abschreckend sein; und vielleicht ist
der jugendliche Börsen-Jude die widerlichste Erfindung des
Menschengeschlechtes überhaupt. Trotzdem möchte ich wissen, wie viel
man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, welches,
nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen
Völkern gehabt hat und dem man den edelsten Menschen (Christus), den
reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste
Sittengesetz der Welt verdankt. Ueberdiess: in den dunkelsten Zeiten
des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer
über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte
und Aerzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen
Unabhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwange festhielten und
Europa gegen Asien vertheidigten; ihren Bemühungen ist es nicht am
wenigsten zu danken, dass eine natürlichere, vernunftgemässere und
jedenfalls unmythische Erklärung der Welt endlich wieder zum Siege
kommen konnte und dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit
der Aufklärung des griechisch-römischen Alterthums zusammenknüpft,
unzerbrochen blieb. Wenn das Christenthum Alles gethan hat, um den
Occident zu orientalisiren, so hat das judenthum wesentlich mit
dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren: was in einem
bestimmten Sinne so viel heisst als Europa's Aufgabe und Geschichte zu
einer Fortsetzung der griechischen zumachen.


476.

Scheinbare Ueberlegenheit des Mittelalters. - Das Mittelalter zeigt
in der Kirche ein Institut mit einem ganz universalen, die gesammte
Menschheit in sich begreifenden Ziele, noch dazu einem solchen,
welches den - vermeintlich - höchsten Interessen derselben galt:
dagegen gesehen, machen die Ziele der Staaten und Nationen, welche die
neuere Geschichte zeigt, einen beklemmenden Eindruck; sie erscheinen
kleinlich, niedrig, materiell, räumlich beschränkt. Aber dieser
verschiedene Eindruck auf die Phantasie soll unser Urtheil ja nicht
bestimmen; denn jenes universale Institut entsprach erkünstelten,
auf Fictionen beruhenden Bedürfnissen, welche es, wo sie noch nicht
vorhanden waren, erst erzeugen musste (Bedürfniss der Erlösung); die
neuen Institute helfen wirklichen Nothzuständen ab; und die Zeit
kommt, wo Institute entstehen, um den gemeinsamen wahren Bedürfnissen
aller Menschen zu dienen und das phantastische Urbild, die katholische
Kirche, in Schatten und Vergessenheit zu stellen.


477.

Der Krieg unentbehrlich. - Es ist eitel Schwärmerei und
Schönseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar: erst
recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu führen.
Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden
Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersönliche
Hass, jene Mörder-Kaltblütigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame
organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze
Gleichgültigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und
das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele
ebenso stark und sicher mitgetheilt werden könnte, wie diess jeder
grosse Krieg thut: von den hier hervorbrechenden Bächen und Strömen,
welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich wälzen und
die Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nachher unter
günstigen Umständen die Räderwerke in den Werkstätten des Geistes mit
neuer Kraft umgedreht. Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und
Bosheiten durchaus nicht entbehren. - Als die kaiserlich gewordenen
Römer der Kriege etwas müde wurden, versuchten sie aus Thierhetzen,
Gladiatorenkämpfen und Christenverfolgungen sich neue Kraft zu
gewinnen. Die jetzigen Engländer, welche im Ganzen auch dem Kriege
abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um
jene entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen: jene gefährlichen
Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletterungen, zu
wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst, unternommen, in Wahrheit,
um überschüssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach
Hause zu bringen. Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges
ausfindig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass
eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie
die der jetzigen Europäer, nicht nur der Kriege, sondern der grössten
und furchtbarsten Kriege - also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei
- bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr
Dasein selber einzubüssen.


478.

Fleiss im Süden und Norden. - Der Fleiss entsteht auf zwei ganz
verschiedene Arten. Die Handwerker im Süden werden fleissig, nicht aus
Erwerbstrieb, sondern aus der beständigen Bedürftigkeit der Anderen.
Weil immer Einer kommt, der ein Pferd beschlagen, einen Wagen
ausbessern lassen will, so ist der Schmied fleissig. Käme Niemand, so
würde er auf dem Markte herumlungern. Sich zu ernähren, das hat in
einem fruchtbaren Lande wenig Noth, dazu brauchte er nur ein sehr
geringes Maass von Arbeit, jedenfalls keinen Fleiss; schliesslich
würde er betteln und zufrieden sein. - Der Fleiss englischer Arbeiter
hat dagegen den Erwerbssinn hinter sich: er ist sich seiner selbst und
seiner Ziele bewusst und will mit dem Besitz die Macht, mit der Macht
die grösstmögliche Freiheit und individuelle Vornehmheit.


479.

Reichthum als Ursprung eines Geblütsadels. - Der Reichthum erzeugt
nothwendig eine Aristokratie der Rasse, denn er gestattet die
schönsten Weiber zu wählen, die besten Lehrer zu besolden, er gönnt
dem Menschen Reinlichkeit, Zeit zu körperlichen Uebungen und vor Allem
Abwendung von verdumpfender körperlicher Arbeit. Soweit verschafft er
alle Bedingungen, um, in einigen Generationen, die Menschen vornehm
und schön sich bewegen, ja selbst handeln zu machen: die grössere
Freiheit des Gemüthes, die Abwesenheit des Erbärmlich-Kleinen, der
Erniedrigung vor Brodgebern, der Pfennig-Sparsamkeit. - Gerade diese
negativen Eigenschaften sind das reichste Angebinde des Glückes für
einen jungen Menschen; ein ganz Armer richtet sich gewöhnlich durch
Vornehmheit der Gesinnung zu Grunde, er kommt nicht vorwärts und
erwirbt Nichts, seine Rasse ist nicht lebensfähig. - Dabei ist aber zu
bedenken, dass der Reichthum fast die gleichen Wirkungen ausübt, wenn
Einer dreihundert Thaler oder dreissigtausend jährlich verbrauchen
darf: es giebt nachher keine wesentliche Progression der
begünstigenden Umstände mehr. Aber weniger zu haben, als Knabe zu
betteln und sich zu erniedrigen, ist furchtbar: obwohl für Solche,
welche ihr Glück im Glanze der Höfe, in der Unterordnung unter
Mächtige und Einflussreiche suchen oder welche Kirchenhäupter werden
wollen, es der rechte Ausgangspunct sein mag. (- Es lehrt, gebückt
sich in die Höhlengänge der Gunst einzuschleichen.)


480.

Neid und Trägheit in verschiedener Richtung. - Die beiden gegnerischen
Parteien, die socialistische und die nationale - oder wie die Namen
in den verschiedenen Ländern Europa's lauten mögen - sind einander
würdig: Neid und Faulheit sind die bewegenden Mächte in ihnen beiden.
In jenem Heerlager will man so wenig als möglich mit den Händen
arbeiten, in diesem so wenig als möglich mit dem Kopf; in letzterem
hasst und neidet man die hervorragenden, aus sich wachsenden
Einzelnen, welche sich nicht gutwillig in Reih und Glied zum Zwecke
einer Massenwirkung stellen lassen; in ersterem die bessere,
äusserlich günstiger gestellte Kaste der Gesellschaft, deren
eigentliche Aufgabe, die Erzeugung der höchsten Culturgüter, das Leben
innerlich um so viel schwerer und schmerzensreicher macht. Gelingt es
freilich, jenen Geist der Massenwirkung zum Geiste der höheren Classen
der Gesellschaft zu machen, so sind die socialistischen Schaaren
ganz im Rechte, wenn sie auch äusserlich zwischen sich und jenen zu
nivelliren suchen, da sie ja innerlich, in Kopf und Herz, schon mit
einander nivellirt sind. - Lebt als höhere Menschen und thut immerfort
die Thaten der höheren Cultur, - so gesteht euch Alles, was da lebt,
euer Recht zu, und die Ordnung der Gesellschaft, deren Spitze ihr
seid, ist gegen jeden bösen Blick und Griff gefeit!


481.

Grosse Politik und ihre Einbussen. - Ebenso wie ein Volk die grössten
Einbussen, welche Krieg und Kriegsbereitschaft mit sich bringen, nicht
durch die Unkosten des Krieges, die Stauungen im Handel und Wandel
erleidet, ebenso nicht durch die Unterhaltung der stehenden Heere - so
gross diese Einbussen auch jetzt sein mögen, wo acht Staaten Europa's
jährlich die Summe von zwei bis drei Milliarden darauf verwenden -,
sondern dadurch, dass Jahr aus Jahr ein die tüchtigsten, kräftigsten,
arbeitsamsten Männer in ausserordentlicher Anzahl ihren eigentlichen
Beschäftigungen und Berufen entzogen werden, um Soldaten zu sein:
ebenso erleidet ein Volk, welches sich anschickt, grosse Politik zu
treiben und unter den mächtigsten Staaten sich eine entscheidende
Stimme zu sichern, seine grössten Einbussen nicht darin, worin man
sie gewöhnlich findet. Es ist wahr, dass es von diesem Zeitpuncte ab
fortwährend eine Menge der hervorragendsten Talente auf dem "Altar
des Vaterlandes" oder der nationalen Ehrsucht opfert, während früher
diesen Talenten, welche jetzt die Politik verschlingt, andere
Wirkungskreise offen standen. Aber abseits von diesen öffentlichen
Hekatomben, und im Grunde viel grauenhafter als diese, begiebt
sich ein Schauspiel, welches fortwährend in hunderttausend Acten
gleichzeitig sich abspielt: jeder tüchtige, arbeitsame, geistvolle,
strebende Mensch eines solchen nach politischen Ruhmeskränzen
lüsternen Volkes wird von dieser Lüsternheit beherrscht und gehört
seiner eigenen Sache nicht mehr, wie früher, völlig an: die täglich
neuen Fragen und Sorgen des öffentlichen Wohles verschlingen eine
tägliche Abgabe von dem Kopf- und Herz-Capitale jedes Bürgers:
die Summe all dieser Opfer und Einbussen an individueller Energie
und Arbeit ist so ungeheuer, dass das politische Aufblühen eines
Volkes eine geistige Verarmung und Ermattung, eine geringere
Leistungsfähigkeit zu Werken, welche grosse Concentration und
Einseitigkeit verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht.
Zuletzt darf man fragen: lohnt sich denn all diese Blüthe und Pracht
des Ganzen (welche ja doch nur als Furcht der anderen Staaten vor
dem neuen Coloss und als dem Auslande abgerungene Begünstigung der
nationalen Handels- und Verkehrs-Wohlfahrt zu Tage tritt), wenn
dieser groben und buntschillernden Blume der Nation alle die edleren,
zarteren, geistigeren Pflanzen und Gewächse, an welchen ihr Boden
bisher so reich war, zum Opfer gebracht werden müssen?


482.

Und nochmals gesagt. - Oeffentliche Meinungen - private Faulheiten.




Neuntes Hauptstück.

Der Mensch mit sich allein.

483.

Feinde der Wahrheit. - Ueberzeugungen sind gefährlichere Feinde der
Wahrheit, als Lügen.


484.

Verkehrte Welt. - Man kritisirt einen Denker schärfer, wenn er einen
uns unangenehmen Satz hinstellt; und doch wäre es vemünftiger, diess
zu thun, wenn sein Satz uns angenehm ist.


485.

Charaktervoll. - Charaktervoll erscheint ein Mensch weit häufiger,
weil er immer seinem Temperamente, als weil er immer seinen Principien
folgt.


486.

Das Eine, was Noth thut. - Eins muss man haben: entweder einen von
Natur leichten Sinn oder einen durch Kunst und Wissen erleichterten
Sinn.


487.

Die Leidenschaft für Sachen. - Wer seine Leidenschaft auf Sachen
(Wissenschaften, Staatswohl, Culturinteressen, Künste) richtet,
entzieht seiner Leidenschaft für Personen viel Feuer (selbst wenn sie
Vertreter jener Sachen sind, wie Staatsmänner, Philosophen, Künstler
Vertreter ihrer Schöpfungen sind).


488.

Die Ruhe in der That. - Wie ein Wasserfall im Sturz langsamer und
schwebender wird, so pflegt der grosse Mensch der That mit mehr Ruhe
zu handeln, als seine stürmische Begierde vor der That es erwarten
liess.


489.

Nicht zu tief. - Personen, welche eine Sache in aller Tiefe erfassen,
bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe an's Licht
gebracht: da giebt es immer viel Schlimmes zu sehen.


490.

Wahn der Idealisten. - Alle Idealisten bilden sich ein, die Sachen,
welchen sie dienen, seien wesentlich besser, als die anderen Sachen
in der Welt, und wollen nicht glauben, dass wenn ihre Sache überhaupt
gedeihen soll, sie genau des selben übel riechenden Düngers bedarf,
welchen alle anderen menschlichen Unternehmungen nöthig haben.


491.

Selbstbeobachtung. - Der Mensch ist gegen sich selbst, gegen
Auskundschaftung und Belagerung durch sich selber, sehr gut
vertheidigt, er vermag gewöhnlich nicht mehr von sich, als
seine Aussenwerke wahrzunehmen. Die eigentliche Festung ist ihm
unzugänglich, selbst unsichtbar, es sei denn, dass Freunde und Feinde
die Verräther machen und ihn selber auf geheimem Wege hineinführen.


492.

Der richtige Beruf. - Männer halten selten einen Beruf aus, von dem
sie nicht glauben oder sich einreden, er sei im Grunde wichtiger, als
alle anderen. Ebenso geht es Frauen mit ihren Liebhabern.


493.

Adel der Gesinnung. - Der Adel der Gesinnung besteht zu einem grossen
Teil aus Gutmüthigkeit und Mangel an Misstrauen, und enthält also
gerade Das, worüber sich die gewinnsüchtigen und erfolgreichen
Menschen so gerne mit Ueberlegenheit und Spott ergehen.


494.

Ziel und Wege. - Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal
eingeschlagenen Weg, Wenige in Bezug auf das Ziel.


495.

Das Empörende an einer individuellen Lebensart. - Alle sehr
individuellen Maassregeln des Lebens bringen die Menschen gegen Den,
der sie ergreift, auf; sie fühlen sich durch die aussergewöhnliche
Behandlung, welche jener sich angedeihen lässt, erniedrigt, als
gewöhnliche Wesen.


496.

Vorrecht der Grösse. - Es ist das Vorrecht der Grösse, mit geringen
Gaben hoch zu beglücken.


497.

Unwillkürlich vornehm. - Der Mensch beträgt sich unwillkürlich
vornehm, wenn er sich gewöhnt hat, von den Menschen Nichts zu wollen
und ihnen immer zu geben.


498.

Bedingung des Heroenthums. - Wenn Einer zum Helden werden will, so
muss die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm
sein rechter Feind.


499.

Freund. - Mit Freude, nicht Mitleiden, macht den Freund.


500.

Ebbe und Fluth zu benutzen. - Man muss zum Zwecke der Erkenntniss jene
innere Strömung zu benutzen wissen, welche uns zu einer Sache hinzieht
und wiederum jene, welche uns nach einer Zeit von der Sache fortzieht.


501.

Freude an sich.- "Freude an der Sache" so sagt man: aber in Wahrheit,
ist es Freude an sich vermittelst einer Sache.


502.

Der Bescheidene. - Wer gegen Personen bescheiden ist, zeigt gegen
Sachen (Stadt, Staat, Gesellschaft, Zeit, Menschheit) um so stärker
seine Anmaassung. Das ist seine Rache.


503.

Neid und Eifersucht. - Neid und Eifersucht sind die Schamtheile der
menschlichen Seele. Die Vergleichung kann vielleicht fortgesetzt
werden.


504.

Der vornehmste Heuchler. - Gar nicht von sich zu reden, ist eine sehr
vornehme Heuchelei.


505.

Verdruss. - Der Verdruss ist eine körperliche Krankheit, welche
keineswegs dadurch schon gehoben ist, dass die Veranlassung zum
Verdruss hinterdrein beseitigt wird.


506.

Vertreter der Wahrheit. - Nicht wenn es gefährlich ist, die Wahrheit
zu sagen, findet sie am seltensten Vertreter, sondern wenn es
langweilig ist.


507.

Beschwerlicher noch, als Feinde. - Die Personen, von deren
sympathischem Verhalten wir nicht unter allen Umständen überzeugt
sind, während uns irgend ein Grund (z.B. Dankbarkeit) verpflichtet,
den Anschein der unbedingten Sympathie unsererseits aufrecht zu
erhalten, quälen unsere Phantasie viel mehr, als unsere Feinde.


508.

Die freie Natur. - Wir sind so gern in der freien Natur, weil diese
keine Meinung über uns hat.


509.

Jeder in Einer Sache überlegen. - In civilisirten Verhältnissen fühlt
sich Jeder jedem Anderen in Einer Sache wenigstens überlegen: darauf
beruht das allgemeine Wohlwollen, insofern Jeder einer ist, der unter
Umständen helfen kann und desshalb sich ohne Scham helfen lassen darf.


510.

Trostgründe. - Bei einem Todesfall braucht man zumeist Trostgründe,
nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes zu lindern, als um zu
entschuldigen, dass man sich so leicht getröstet fühlt.


511.

Die Ueberzeugungstreuen. - Wer viel zu thun hat, behält seine
allgemeinen Ansichten und Standpuncte fast unverändert bei. Ebenso
jeder, der im Dienst einer Idee arbeitet: er wird die Idee selber
nie mehr prüfen, dazu hat er keine Zeit mehr; ja es geht gegen sein
Interesse, sie überhaupt noch für discutirbar zu halten.


512.

Moralität und Quantität. - Die höhere Moralität des einen Menschen, im
Vergleich zu der eines anderen, liegt oft nur darin, dass die Ziele
quantitativ grösser sind. Jenen zieht die Beschäftigung mit dem
Kleinen, im engen Kreise, nieder.


513.

Das Leben als Ertrag des Lebens. - Der Mensch mag sich noch so weit
mit seiner Erkenntniss ausrecken, sich selber noch so objectiv
vorkommen: zuletzt trägt er doch Nichts davon, als seine eigene
Biographie.


514.

Die eherne Nothwendigkeit. - Die eherne Nothwendigkeit ist ein Ding,
von dem die Menschen im Verlauf der Geschichte einsehen, dass es weder
ehern noch nothwendig ist.


515.

Aus der Erfahrung. - Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen
ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben.


516.

Wahrheit. - Niemand stirbt jetzt an tödtlichen Wahrheiten: es giebt zu
viele Gegengifte.


517.

Grundeinsicht. - Es giebt keine prästabilirte Harmonie zwischen der
Förderung der Wahrheit und dem Wohle der Menschheit.


518.

Menschenloos. - Wer tiefer denkt, weiss, dass er immer Unrecht hat, er
mag handeln und urtheilen, wie er will.


519.

Wahrheit als Circe. - Der Irrthum hat aus Thieren Menschen gemacht;
sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Thier
zu machen?


520.

Gefahr unserer Cultur. - Wir gehören einer Zeit an, deren Cultur in
Gefahr ist, an den Mitteln der Cultur zu Grunde zu gehen.


521.

Grösse heisst: Richtung-geben. - Kein Strom ist durch sich selber
gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und
fortführt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grössen des
Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt,
welcher dann so viele Zuflüsse folgen müssen; nicht darauf, ob er von
Anbeginn arm oder reich begabt ist.


522.

Schwaches Gewissen. - Menschen, welche von ihrer Bedeutung für
die Menschheit sprechen, haben in Bezug auf gemeine bürgerliche
Rechtlichkeit im Halten von Verträgen, Versprechungen, ein schwaches
Gewissen.


523.

Geliebt sein wollen. - Die Forderung, geliebt zu werden, ist die
grösste der Anmaassungen.


524.

Menschenverachtung. - Das unzweideutigste Anzeichen von einer
Geringschätzung der Menschen ist diess, dass man Jedermann nur als
Mittel zu seinem Zwecke oder gar nicht gelten lässt.


525.

Anhänger aus Widerspruch. - Wer die Menschen zur Raserei gegen sich
gebracht hat, hat sich immer auch eine Partei zu seinen Gunsten
erworben.


526.

Erlebnisse vergessen. - Wer viel denkt, und zwar sachlich denkt,
vergisst leicht seine eigenen Erlebnisse, aber nicht so die Gedanken,
welche durch jene hervorgerufen wurden.


527.

Festhalten einer Meinung. - Der Eine hält eine Meinung fest, weil er
sich Etwas darauf einbildet, von selbst auf sie gekommen zu sein, der
Andere, weil er sie mit Mühe gelernt hat und stolz darauf ist, sie
begriffen zu haben: Beide also aus Eitelkeit.


528.

Das Licht scheuen. - Die gute That scheut ebenso ängstlich das Licht,
als die böse That: diese fürchtet, durch das Bekanntwerden komme der
Schmerz (als Strafe), jene fürchtet, durch das Bekanntwerden schwinde
die Lust (jene reine Lust an sich selbst nämlich, welche sofort
aufhört, sobald eine Befriedigung der Eitelkeit hinzutritt).


529.

Die Länge des Tages. - Wenn man viel hineinzustecken hat, so hat ein
Tag hundert Taschen.


530.

Tyrannengenie. - Wenn in der Seele eine unbezwingliche Lust dazu rege
ist, sich tyrannisch durchzusetzen, und das Feuer beständig unterhält,
so wird selbst eine geringe Begabung (bei Politikern, Künstlern)
allmählich zu einer fast unwiderstehlichen Naturgewalt.


531.

Das Leben des Feindes. - Wer davon lebt, einen Feind zu bekämpfen, hat
ein Interesse daran, dass er am Leben bleibt.


532.

Wichtiger. - Man nimmt die unerklärte dunkle Sache wichtiger, als die
erklärte helle.


533.

Abschätzung erwiesener Dienste. - Dienstleistungen, die uns jemand
erweist, schätzen wir nach dem Werthe, den Jener darauf legt, nicht
nach dem, welchen sie für uns haben.


534.

Unglück. - Die Auszeichnung, welche im Unglück liegt (als ob es ein
Zeichen von Flachheit, Anspruchslosigkeit, Gewöhnlichkeit sei, sich
glücklich zu fühlen), ist so gross, dass wenn Jemand Einem sagt: "Aber
wie glücklich Sie sind!" man gewöhnlich protestirt.


535.

Phantasie der Angst. - Die Phantasie der Angst ist jener böse äffische
Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Rücken springt, wenn
er schon am schwersten zu tragen hat.


536.

Werth abgeschmackter Gegner. - Man bleibt mitunter einer Sache nur
desshalb treu, weil ihre Gegner nicht aufhören, abgeschmackt zu sein.


537.

Werth eines Berufes. - Ein Beruf macht gedankenlos; darin liegt
sein grösster Segen. Denn er ist eine Schutzwehr, hinter welche
man sich, wenn Bedenken und Sorgen allgemeiner Art Einen anfallen,
erlaubtermaassen zurückziehen kann.


538.

Talent. - Das Talent manches Menschen erscheint geringer als es ist,
weil er sich immer zu grosse Aufgaben gestellt hat.


539.

Jugend. - Die Jugend ist unangenehm; denn in ihr ist es nicht möglich
oder nicht vernünftig, productiv zu sein, in irgend einem Sinne.


540.

Zugrosse Ziele. - Wer sich öffentlich grosse Ziele stellt und
hinterdrein im Geheimen einsieht, dass er dazu zu schwach ist, hat
gewöhnlich auch nicht Kraft genug, jene Ziele öffentlich zu widerrufen
und wird dann unvermeidlich zum Heuchler.


541.

Im Strome. - Starke Wasser reissen viel Gestein und Gestrüpp mit sich
fort, starke Geister viel dumme und verworrene Köpfe.


542.

Gefahren der geistigen Befreiung. - Bei der ernstlich gemeinten
geistigen Befreiung eines Menschen hoffen im Stillen auch seine
Leidenschaften und Begierden ihren Vortheil sich zu ersehen.


543.

Verkörperung des Geistes. - Wenn Einer viel und klug denkt, so bekommt
nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Körper ein kluges Aussehen.


544.

Schlecht sehen und schlecht hören. - Wer wenig sieht, sieht immer
weniger; wer schlecht hört, hört immer Einiges noch dazu.


545.

Selbstgenuss in der Eitelkeit. - Der Eitele will nicht sowohl
hervorragen, als sich hervorragend fühlen, desshalb verschmäht er kein
Mittel des Selbstbetruges und der Selbstüberlistung. Nicht die Meinung
der Anderen, sondern seine Meinung von Deren Meinung liegt ihm am
Herzen.


546.

Ausnahmsweise eitel. - Der für gewöhnlich Selbstgenügsame ist
ausnahmsweise eitel und für Ruhm- und Lobsprüche empfänglich, wenn
er körperlich krank ist. In dem Maasse, in welchem er sich verliert,
muss er sich aus fremder Meinung, von Aussen her, wieder zu gewinnen
suchen.


547.

Die "Geistreichen". - Der hat keinen Geist, welcher den Geist sucht.


548.

Wink für Parteihäupter. - Wenn man die Leute dazu treiben kann, sich
öffentlich für Etwas zu erklären, so hat man sie meistens auch dazu
gebracht, sich innerlich dafür zu erklären; sie wollen fürderhin als
consequent erfunden werden.


549.

Verachtung. - Die Verachtung durch Andere ist dem Menschen
empfindlicher, als die durch sich selbst.


550.

Schnur der Dankbarkeit. - Es giebt sclavische Seelen, welche die
Erkenntlichkeit für erwiesene Wohlthaten so weit treiben, dass sie
sich mit der Schnur der Dankbarkeit selbst erdrosseln.


551.

Kunstgriff des Propheten. - Um die Handlungsweise gewöhnlicher
Menschen im Voraus zu errathen, muss man annehmen, dass sie immer den
mindesten Aufwand an Geist machen, um sich aus einer unangenehmen Lage
zu befreien.


552.

Das einzige Menschenrecht. - Wer vom Herkömmlichen abweicht, ist das
Opfer des Aussergewöhnlichen; wer im Herkömmlichen bleibt, ist der
Sclave desselben. Zu Grunde gerichtet wird man auf jeden Fall.


553.

Unter das Thier hinab. - Wenn der Mensch vor Lachen wiehert,
übertrifft er alle Thiere durch seine Gemeinheit.


554.

Halbwissen. - Der, welcher eine fremde Sprache wenig spricht, hat mehr
Freude daran, als Der, welcher sie gut spricht. Das Vergnügen ist bei
den Halbwissenden.


555.

Gefährliche Hülfbereitschaft. - Es giebt Leute, welche das Leben den
Menschen erschweren wollen, aus keinem andern Grunde, als um ihnen
hinterdrein ihre Recepte zur Erleichterung des Lebens, zum Beispiel
ihr Christenthum, anzubieten.


556.

Fleiss und Gewissenhaftigkeit. - Fleiss und Gewissenhaftigkeit sind
oftmals dadurch Antagonisten, dass der Fleiss die Früchte sauer vom
Baume nehmen will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange hängen
lässt, bis sie herabfallen und sich zerschlagen.


557.

Verdächtigen. - Menschen, welche man nicht leiden kann, sucht man sich
zu verdächtigen.


558.

Die Umstände fehlen. - Viele Menschen warten ihr Leben lang auf die
Gelegenheit, auf ihre Art gut zu sein.


559.

Mangel an Freunden. - Der Mangel an Freunden lässt auf Neid oder
Anmaassung schliessen. Mancher verdankt seine Freunde nur dem
glücklichen Umstande, dass er keinen Anlass zum Neide hat.


560.

Gefahr in der Vielheit. - Mit einem Talente mehr steht man oft
unsicherer, als mit einem weniger: wie der Tisch besser auf drei, als
auf vier Füssen steht.


561.

Den Andern zum Vorbild. - Wer ein gutes Beispiel geben will, muss
seiner Tugend einen Gran Narrheit zusetzen: dann ahmt man nach und
erhebt sich zugleich über den Nachgeahmten, - was die Menschen lieben.


562.

Zielscheibe sein. - Die bösen Reden Anderer über uns gelten oft nicht
eigentlich uns, sondern sind die Aeusserungen eines Aergers, einer
Verstimmung aus ganz anderen Gründen.


563.

Leicht resignirt. - Man leidet wenig an versagten Wünschen, wenn man
seine Phantasie geübt hat, die Vergangenheit zu verhässlichen.


564.

In Gefahr. - Man ist am Meisten in Gefahr, überfahren zu werden, wenn
man eben einem Wagen ausgewichen ist.


565.

Je nach der Stimme die Rolle. - Wer gezwungen ist, lauter zu reden,
als er gewohnt ist (etwa vor einem Halb-Tauben oder vor einem grossen
Auditorium), übertreibt gewöhnlich die Dinge, welche er mitzutheilen
hat. - Mancher wird zum Verschwörer, böswilligen Nachredner,
Intriguanten, blos weil seine Stimme sich am besten zu einem Geflüster
eignet.


566.

Liebe und Hass. - Liebe und Hass sind nicht blind, aber geblendet vom
Feuer, das sie selber mit sich tragen.


567.

Mit Vortheil angefeindet. - Menschen, welche der Welt ihre Verdienste
nicht völlig deutlich machen können, suchen sich eine starke
Feindschaft zu erwecken. Sie haben dann den Trost, zu denken, dass
diese zwischen ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe - und
dass mancher Andere das Selbe vermuthe: was sehr vortheilhaft für ihre
Geltung ist.


568.

Beichte. - Man vergisst seine Schuld, wenn man sie einem Andern
gebeichtet hat, aber gewöhnlich vergisst der Andere sie nicht.


569.

Selbstgenügsamkeit. - Das goldene Vliess der Selbstgenügsamkeit
schützt gegen Prügel, aber nicht gegen Nadelstiche.


570.

Schatten in der Flamme. - Die Flamme ist sich selber nicht so hell,
als den Anderen, denen sie leuchtet: so auch der Weise.


571.

Eigene Meinungen. - Die erste Meinung, welche uns einfällt, wenn wir
plötzlich über eine Sache befragt werden, ist gewöhnlich nicht unsere
eigene, sondern nur die landläufige, unserer Kaste, Stellung, Abkunft
zugehörige; die eigenen Meinungen schwimmen selten oben auf.


572.

Herkunft des Muthes. - Der gewöhnliche Mensch ist muthig und
unverwundbar wie ein Held, wenn er die Gefahr nicht sieht, für sie
keine Augen hat. Umgekehrt: der Held hat die einzig verwundbare Stelle
auf dem Rücken, also dort, wo er keine Augen hat.


573.

Gefahr im Arzte. - Man muss für seinen Arzt geboren sein, sonst geht
man an seinem Arzt zu Grunde.


574.

Wunderliche Eitelkeit. - Wer dreimal mit Dreistigkeit das Wetter
prophezeit hat und Erfolg hatte, der glaubt im Grunde seiner Seele ein
Wenig an seine Prophetengabe. Wir lassen das Wunderliche, Irrationelle
gelten, wenn es unserer Selbstschätzung schmeichelt.


575.

Beruf. - Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens.


576.

Gefahr persönlichen Einflusses. - Wer fühlt, dass er auf einen Anderen
einen grossen innerlichen Einfluss ausübt, muss ihm ganz freie
Zügel lassen, ja gelegentliches Widerstreben gern sehen und selbst
herbeiführen: sonst wird er unvermeidlich sich einen Feind machen.


577.

Den Erben gelten lassen. - Wer etwas Grosses in selbstloser Gesinnung
begründet hat, sorgt dafür, sich Erben zu erziehen. Es ist das Zeichen
einer tyrannischen und unedlen Natur, in allen möglichen Erben seines
Werkes seine Gegner zu sehen und gegen sie im Stande der Nothwehr zu
leben.


578.

Halbwissen. - Das Halbwissen ist siegreicher, als das Ganzwissen: es
kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung
fasslicher und überzeugender.


579.

Nicht geeignet zum Parteimann. - Wer viel denkt, eignet sich nicht zum
Parteimann: er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch.


580.

Schlechtes Gedächtniss. - Der Vortheil des schlechten Gedächtnisses
ist, dass man die selben guten Dinge mehrere Male zum Ersten Male
geniesst.


581.

Sich Schmerzen machen. - Rücksichtslosigkeit des Denkens ist oft
das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung
begehrt.


582.

Märtyrer. - Der Jünger eines Märtyrers leidet mehr, als der Märtyrer.


583.

Rückständige Eitelkeit. - Die Eitelkeit mancher Menschen, die es
nicht nöthig hätten, eitel zu sein, ist die übriggebliebene und gross
gewachsene Gewohnheit aus der Zeit her, wo sie noch kein Recht hatten,
an sich zu glauben und diesen Glauben erst von Andern in kleiner Münze
einbettelten.


584.

Punctum saliens der Leidenschaft. - Wer im Begriff ist, in Zorn oder
in einen heftigen Liebesaffect zu gerathen, erreicht einen Punct, wo
die Seele voll ist wie ein Gefäss: aber doch muss ein Wassertropfen
noch hinzukommen, der gute Wille zur Leidenschaft (den man gewöhnlich
auch den bösen nennt). Es ist nur dieses Pünctchen nöthig, dann läuft
das Gefäss über.


585.

Gedanke des Unmuthes. - Es ist mit den Menschen wie mit den
Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgeglüht haben
und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie nützlich. So lange
sie dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber
unnütz und gar zu häufig unbequem. - Die Menschheit verwendet
schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen
Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das
heisst die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen,
die sich selbst Zweck sind, - ist das die umana commedia?


586.

Vom Stundenzeiger des Lebens. - Das Leben besteht aus seltenen
einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen
Intervallen, in denen uns besten Falls die Schattenbilder jener
Momente umschweben. Die Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das
Gebirge, der Mond, das Meer - Alles redet nur einmal ganz zum Herzen:
wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben
jene Momente gar nicht und sind selber Intervalle und Pausen in der
Symphonie des wirklichen Lebens.


587.

Angreifen oder eingreifen. - Wir machen häufig den Fehler, eine
Richtung oder Partei oder Zeit lebhaft anzufeinden, weil wir zufällig
nur ihre veräusserlichte Seite, ihre Verkümmerung oder die ihnen
nothwendig anhaftenden "Fehler ihrer Tugenden" zu sehen bekommen, -
vielleicht weil wir selbst an diesen vornehmlich theilgenommen haben.
Dann wenden wir ihnen den Rücken und suchen eine entgegengesetzte
Richtung; aber das Bessere wäre, die starken guten Seiten aufzusuchen
oder an sich selber auszubilden. Freilich gehört ein kräftigerer Blick
und besserer Wille dazu, das Werdende und Unvollkommene zu fördern,
als es in seiner Unvollkommenheit zu durchschauen und zu verleugnen.


588.

Bescheidenheit. - Es giebt wahre Bescheidenheit (das heisst die
Erkenntniss, dass wir nicht unsere eigenen Werke sind); und recht
wohl geziemt sie dem grossen Geiste, weil gerade er den Gedanken der
völligen Unverantwortlichkeit (auch für das Gute, was er schafft)
fassen kann. Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht,
insofern er seine Kraft fühlt, sondern weil er seine Kraft dadurch
erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt
und zusieht, wie weit sie es aushalten. Gewöhnlich beweist diess sogar
den Mangel an sicherem Gefühl der Kraft und macht somit die Menschen
an seiner Grösse zweifeln. Insofern ist Unbescheidenheit vom
Gesichtspuncte der Klugheit aus sehr zu widerrathen.


589.

Des Tages erster Gedanke. - Das beste Mittel, jeden Tag gut zu
beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens
einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne. Wenn diess als
ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so
hätten die Mitmenschen einen Vortheil bei dieser Aenderung.


590.

Anmaassung als letztes Trostmittel. - Wenn man ein Missgeschick,
seinen intellectuellen Mangel, seine Krankheit sich so zurecht legt,
dass man hierin sein vorgezeichnetes Schicksal, seine Prüfung oder
die geheimnissvolle Strafe für früher Begangenes sieht, so macht man
sich sein eigenes Wesen dadurch interessant und erhebt sich in der
Vorstellung über seine Mitmenschen. Der stolze Sünder ist eine
bekannte Figur in allen kirchlichen Secten.


591.

Vegetation des Glückes. - Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf
seinem vulcanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen Gärten des
Glückes angelegt; ob man das Leben mit dem Blicke Dessen betrachtet,
der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder Dessen, der sich ergiebt
und resignirt, oder Dessen, der an der überwundenen Schwierigkeit sich
freut, - überall wird er etwas Glück neben dem Unheil aufgesprosst
finden - und zwar um so mehr Glück, je vulcanischer der Boden war nur
wäre es lächerlich, zu sagen, dass mit diesem Glück das Leiden selbst
gerechtfertigt sei.


592.

Die Strasse der Vorfahren. - Es ist vernünftig, wenn jemand das
Talent, auf welches sein Vater oder Grossvater Mühe verwendet hat, an
sich selbst weiter ausbildet und nicht zu etwas ganz Neuem umschlägt;
er nimmt sich sonst die Möglichkeit, zum Vollkommenen in irgend einem
Handwerk zu gelangen. Desshalb sagt das Sprüchwort: "Welche Strasse
sollst du reiten? - die deiner Vorfahren."


593.

Eitelkeit und Ehrgeiz als Erzieher. - So lange Einer noch nicht zum
Werkzeug des allgemeinen menschlichen Nutzens geworden ist, mag ihn
der Ehrgeiz peinigen; ist jenes Ziel aber erreicht, arbeitet er mit
Nothwendigkeit wie eine Maschine zum Besten Aller, so mag dann die
Eitelkeit kommen; sie wird ihn im Kleinen vermenschlichen, geselliger,
erträglicher, nachsichtiger machen, dann, wenn der Ehrgeiz die grobe
Arbeit (ihn nützlich zu machen) an ihm vollendet hat.


594.

Philosophische Neulinge. - Hat man die Weisheit eines Philosophen eben
eingenommen, so geht man durch die Strassen mit dem Gefühle, als sei
man umgeschaffen und ein grosser Mann geworden; denn man findet lauter
Solche, welche diese Weisheit nicht kennen, hat also über Alles eine
neue unbekannte Entscheidung vorzutragen: weil man ein Gesetzbuch
anerkennt, meint man jetzt auch sich als Richter gebärden zu müssen.


595.

Durch Missfallen gefallen. - Die Menschen, welche lieber auffallen
und dabei missfallen wollen, begehren das Selbe wie Die, welche nicht
auffallen und gefallen wollen, nur in einem viel höheren Grade und
indirect, vermittelst einer Stufe, durch welche sie sich scheinbar
von ihrem Ziele entfernen. Sie wollen Einfluss und Macht, und zeigen
desshalb ihre Ueberlegenheit, selbst so, dass sie unangenehm empfunden
wird; denn sie wissen, dass Der, welcher endlich zur Macht gelangt
ist, fast in Allem was er thut und sagt, gefällt, und dass selbst, wo
er missfällt, er doch noch zu gefallen scheint. - Auch der Freigeist,
und ebenso der Gläubige, wollen Macht, um durch sie einmal zu
gefallen; wenn ihnen ihrer Lehre wegen ein übeles Schicksal,
Verfolgung, Kerker, Hinrichtung, droht, so freuen sie sich des
Gedankens, dass ihre Lehre auf diese Weise der Menschheit eingeritzt
und eingebrannt wird; sie nehmen es hin als ein schmerzhaftes, aber
kräftiges, wenngleich spät wirkendes Mittel, um doch noch zur Macht zu
gelangen.


596.

Casus belli und Aehnliches - Der Fürst, welcher zu dem gefassten
Entschlusse, Krieg mit dem Nachbar zu führen, einen casus belli
ausfindig macht, gleicht dem Vater, der seinem Kinde eine Mutter
unterschiebt, welche fürderhin als solche gelten soll. Und sind nicht
fast alle öffentlich bekannt gemachten Motive unserer Handlungen
solche untergeschobene Mütter?


597.

Leidenschaft und Recht. - Niemand spricht leidenschaftlicher von
seinem Rechte, als Der, welcher im Grunde seiner Seele einen Zweifel
an seinem Rechte hat. Indem er die Leidenschaft auf seine Seite zieht,
will er den Verstand und dessen Zweifel betäuben: so gewinnt er das
gute Gewissen und mit ihm den Erfolg bei den Mitmenschen.


598.

Kunstgriff des Entsagenden. - Wer gegen die Ehe protestirt nach
Art der katholischen Priester wird diese nach ihrer niedrigsten,
gemeinsten Auffassung zu verstehen suchen. Ebenso wer die Ehre bei den
Zeitgenossen von sich abweist, wird deren Begriff niedrig fassen; so
erleichtert er sich die Entbehrung und den Kampf dagegen. Uebrigens
wird Der, welcher sich im Ganzen viel versagt, sich im Kleinen
leicht Indulgenz geben. Es wäre möglich, dass Der, welcher über den
Beifall der Zeitgenossen erhaben ist, doch die Befriedigung kleiner
Eitelkeiten sich nicht versagen will.


599.

Lebensalter der Anmaassung. - Zwischen dem sechsundzwanzigsten und
dreissigsten Jahre liegt bei begabten Menschen die eigentliche Periode
der Anmaassung; es ist die Zeit der ersten Reife, mit einem starken
Rest von Säuerlichkeit. Man fordert auf Grund dessen, was man in sich
fühlt, von Mensen, welche Nichts oder wenig davon sehen, Ehre und
Demüthigung, und rächt sich, weil diese zunächst ausbleiben, durch
jenen Blick, jene Gebärde der Anmaassung, jenen Ton der Stimme, die
ein feines Ohr und Auge an allen Productionen jenes Alters, seien es
Gedichte, Philosophien, oder Bilder und Musik, wiedererkennt. Aeltere
erfahrene Männer lächeln dazu und mit Rührung gedenken sie dieses
schönen Lebensalters, in dem man böse über das Geschick ist, so viel
zu sein und so wenig zu scheinen. Später scheint man wirklich mehr, -
aber man hat den guten Glauben verloren, viel zu sein: man bleibe denn
zeitlebens ein unverbesserlicher Narr der Eitelkeit.


600.

Trügerisch und doch haltbar. - Wie man, um an einem Abgrund
vorbeizugehen oder einen tiefen Bach auf einem Balken zu
überschreiten, eines Geländers bedarf, nicht um sich daran
festzuhalten, - denn es würde sofort mit Einem zusammenbrechen,
sondern um die Vorstellung der Sicherheit für das Auge zu erwecken, -
so bedarf man als Jüngling solcher Personen, welche uns unbewusst den
Dienst jenes Geländers erweisen; es ist wahr, sie würden uns nicht
helfen, wenn wir uns wirklich, in grosser Gefahr, auf sie stützen
wollten, aber sie geben die beruhigende Empfindung des Schutzes in
der Nähe (zum Beispiel Väter, Lehrer, Freunde, wie sie, alle drei,
gewöhnlich sind).


601.

Lieben lernen. - Man muss lieben lernen, gütig sein lernen, und diess
von Jugend auf; wenn Erziehung und Zufall uns keine Gelegenheit zur
Uebung dieser Empfindungen geben, so wird unsere Seele trocken und
selbst zu einem Verständnisse jener zarten Erfindungen liebevoller
Menschen ungeeignet. Ebenso muss der Hass gelernt und genährt werden,
wenn Einer ein tüchtiger Hasser werden will: sonst wird auch der Keim
dazu allmählich absterben.


602.

Die Ruine als Schmuck. - Solche, die viele geistige Wandlungen
durchmachen, behalten einige Ansichten und Gewohnheiten früherer
Zustände bei, welche dann wie ein Stück unerklärlichen Alterthums und
grauen Mauerwerks in ihr neues Denken und Handeln hineinragen: oft zur
Zierde der ganzen Gegend.


603.

Liebe und Ehre. - Die Liebe begehrt, die Furcht meidet. Daran liegt
es, dass man nicht zugleich von derselben Person wenigstens in dem
selben Zeitraume, geliebt und geehrt werden kann. Denn der Ehrende
erkennt die Macht an, das heisst er fürchtet sie: sein Zustand
ist Ehrfurcht. Die Liebe aber erkennt keine Macht an, Nichts was
trennt, abhebt, über- und unterordnet. Weil sie nicht ehrt, so sind
ehrsüchtige Menschen insgeheim oder öffentlich gegen das Geliebtwerden
widerspänstig.


604.

Vorurtheil für die kalten Menschen. - Menschen, welche rasch Feuer
fangen, werden schnell kalt und sind daher im Ganzen unzuverlässig.
Desshalb giebt es für alle Die, welche immer kalt sind oder sich so
stellen, das günstige Vorurtheil, dass es besonders vertrauenswerthe
zuverlässige Menschen seien: man verwechselt sie mit Denen, welche
langsam Feuer fangen und es lange festhalten.


605.

Das Gefährliche an freien Meinungen. - Das leichte Befassen mit freien
Meinungen giebt einen Reiz, wie eine Art jucken; giebt man ihm mehr
nach, so fängt man an, die Stellen zu reiben; bis zuletzt eine offene
schmerzende Wunde entsteht, das heisst: bis die freie Meinung uns in
unserer Lebensstellung, unsern menschlichen Beziehungen zu stören, zu
quälen beginnt.


606.

Begierde nach tiefem Schmerz. - Die Leidenschaft lässt, wenn sie
vorüber ist, eine dunkele Sehnsucht nach sich selber zurück und wirft
im Verschwinden noch einen verführerischen Blick zu. Es muss doch eine
Art von Lust gewährt haben, mit ihrer Geissel geschlagen worden zu
sein. Die mässigeren Empfindungen erscheinen dagegen schaal; man will,
wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte
Lust.


607.

Unmuth über andere und die Welt. - Wenn wir, wie so häufig, unsern
Unmuth an Anderen auslassen, während wir ihn eigentlich über uns
empfinden, erstreben wir im Grunde eine Umnebelung und Täuschung
unseres Urtheils: wir wollen diesen Unmuth a posteriori motiviren
durch die Versehen, Mängel der Anderen und uns selber so aus den Augen
verlieren. - Die religiös strengen Menschen, welche gegen sich selber
unerbittliche Richter sind, haben zugleich am meisten Uebles der
Menschheit überhaupt nachgesagt: ein Heiliger, welcher sich die Sünden
und den Anderen die Tugenden vorbehält, hat nie gelebt: ebensowenig
wie jener, welcher nach Buddha's Vorschrift sein Gutes vor den Leuten
verbirgt und ihnen sein Böses allein sehen lässt.


608.

Ursache und Wirkung verwechselt. - Wir suchen unbewusst die Grundsätze
und Lehrmeinungen, welche unserem Temperamente angemessen sind, so
dass es zuletzt so aussieht, als ob die Grundsätze und Lehrmeinungen
unseren Charakter geschaffen, ihm Halt und Sicherheit gegeben hätten:
während es gerade umgekehrt zugegangen ist. Unser Denken und Urtheilen
soll nachträglich, so scheint es, zur Ursache unseres Wesens gemacht
werden: aber thatsächlich ist unser Wesen die Ursache, dass wir so
und so denken und urtheilen. - Und was bestimmt uns zu dieser fast
unbewussten Komödie? Die Trägheit und Bequemlichkeit und nicht am
wenigsten der Wunsch der Eitelkeit, durch und durch als consistent,
in Wesen und Denken einartig erfunden zu werden: denn diess erwirbt
Achtung, giebt Vertrauen und Macht.


609.

Lebensalter und Wahrheit. - junge Leute lieben das Interessante und
Absonderliche, gleichgültig wie wahr oder falsch es ist. Reifere
Geister lieben Das an der Wahrheit, was an ihr interessant und
absonderlich ist. Ausgereifte Köpfe endlich lieben die Wahrheit auch
in Dem, wo sie schlicht und einfältig erscheint und dem gewöhnlichen
Menschen Langeweile macht, weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit
das Höchste an Geist, was sie besitzt, mit der Miene der Einfalt zu
sagen pflegt.


610.

Die Menschen als schlechte Dichter. - So wie schlechte Dichter im
zweiten Theil des Verses zum Reime den Gedanken suchen, so pflegen die
Menschen in der zweiten Hälfte des Lebens, ängstlicher geworden, die
Handlungen, Stellungen, Verhältnisse zu suchen, welche zu denen ihres
früheren Lebens passen, so dass äusserlich Alles wohl zusammenklingt:
aber ihr Leben ist nicht mehr von einem starken Gedanken beherrscht
und immer wieder neu bestimmt, sondern an die Stelle desselben tritt
die Absicht, einen Reim zu finden.


611.

Langeweile und Spiel. - Das Bedürfniss zwingt uns zur Arbeit, mit
deren Ertrage das Bedürfniss gestillt wird; das immer neue Erwachen
der Bedürfnisse gewöhnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber,
in welchen die Bedürfnisse gestillt sind und gleichsam schlafen,
überfällt uns die Langeweile. Was ist diese? Es ist die Gewöhnung
an Arbeit überhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes
Bedürfniss geltend macht; sie wird um so stärker sein, je stärker
Jemand gewöhnt ist zu arbeiten, vielleicht sogar je stärker Jemand an
Bedürfnissen gelitten hat. Um der Langeweile zu entgehen, arbeitet der
Mensch entweder über das Maass seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus
oder er erfindet das Spiel, das heisst die Arbeit, welche kein anderes
Bedürfniss stillen soll, als das nach Arbeit überhaupt. Wer des
Spieles überdrüssig geworden ist und durch neue Bedürfnisse keinen
Grund zur Arbeit hat, den überfällt mitunter das Verlangen nach einem
dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält, wie Schweben zum
Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit:
es ist die Vision der Künstler und Philosophen von dem Glück.


612.

Lehre aus Bildern. - Betrachtet man eine Reihe Bilder von sich selber,
von den Zeiten der letzten Kindheit bis zu der der Mannesreife, so
findet man mit einer angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde
ähnlicher sieht, als der Mann dem Jünglinge: dass also, wahrscheinlich
diesem Vorgange entsprechend, inzwischen eine zeitweilige Alienation
vom Grundcharakter eingetreten ist, über welche die gesammelte,
geballte Kraft des Mannes wieder Herr wurde. Dieser Wahrnehmung
entspricht die andere, dass alle die starken Einwirkungen von
Leidenschaften, Lehrern, politischen Ereignissen, welche in dem
Jünglingsalter uns herumziehen, später wieder auf ein festes Maass
zurückgeführt erscheinen: gewiss, sie leben und wirken in uns fort,
aber das Grundempfinden und Grundmeinen hat doch die Uebermacht und
benutzt sie wohl als Kraftquellen, nicht aber mehr als Regulatoren,
wie diess wohl in den zwanziger Jahren geschieht. So erscheint auch
das Denken und Empfinden des Mannes dem seines kindlichen Lebensalters
wieder gemässer, - und diese innere Thatsache spricht sich in der
erwähnten äusseren aus.


613.

Stimmklang der Lebensalter. - Der Ton, indem Jünglinge reden, loben,
tadeln, dichten, missfällt dem Aelter gewordenen, weil er zu laut ist
und zwar zugleich dumpf und undeutlich wie der Ton in einem Gewölbe,
der durch die Leerheit eine solche Schallkraft bekommt; denn das
Meiste, was Jünglinge denken, ist nicht aus der Fülle ihrer eigenen
Natur herausgeströmt, sondern ist Anklang, Nachklang von dem, was in
ihrer Nähe gedacht, geredet, gelobt, getadelt worden ist. Weil aber
die Empfindungen (der Neigung und Abneigung) viel stärker, als die
Gründe für jene, in ihnen nachklingen, so entsteht, wenn sie ihre
Empfindung wieder laut werden lassen, jener dumpfe, hallende Ton,
welcher für die Abwesenheit oder die Spärlichkeit von Gründen das
Kennzeichen abgiebt. Der Ton des reiferen Alters ist streng, kurz
abgebrochen, mässig laut, aber, wie alles deutlich Articulirte, sehr
weit tragend. Das Alter endlich bringt häufig eine gewisse Milde und
Nachsicht in den Klang und verzuckert ihn gleichsam: in manchen Fällen
freilich versäuert sie ihn auch.


614.

Zurückgebliebene und vorwegnehmende Menschen. - Der unangenehme
Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles glückliche Gelingen
der Mitbewerbenden und Nächsten mit Neid fühlt, gegen abweichende
Meinungen gewaltthätig und aufbrausend ist, zeigt, dass er einer
früheren Stufe der Cultur zugehört, also ein Ueberbleibsel ist: denn
die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und
zutreffende für die Zustände eines Faustrecht-Zeitalters; es ist ein
zurückgebliebener Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an
Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt, alles Wachsende und Werdende
liebevoll empfindet, alle Ehren und Erfolge Anderer mitgeniesst und
kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt,
sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist, - das ist ein
vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren Cultur der Menschen
entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo
die rohen Fundamente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren,
der andere lebt auf deren höchsten Stockwerken, möglichst entfernt von
dem wilden Thier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der
Cultur, eingeschlossen wüthet und heult.


615.

Trost für Hypochonder. - Wenn ein grosser Denker zeitweilig
hypochondrischen Selbstquälereien unterworfen ist, so mag er sich
zum Troste sagen: "es ist deine eigene grosse Kraft, von der dieser
Parasit sich nährt und wächst; wäre sie geringer, so würdest du
weniger zu leiden haben." Ebenso mag der Staatsmann sprechen, wenn
Eifersucht und Rachegefühl, überhaupt die Stimmung des bellum omnium
contra omnes, zu der er als Vertreter einer Nation nothwendig
eine starke Begabung haben muss, sich gelegentlich auch in seine
persönlichen Beziehungen eindrängt und ihm das Leben schwer macht.


616.

Der Gegenwart entfremdet. - Es hat grosse Vortheile, seiner Zeit sich
einmal in stärkerem Maasse zu entfremden und gleichsam von ihrem Ufer
zurück in den Ocean der vergangenen Weltbetrachtungen getrieben zu
werden. Von dort aus nach der Küste zu blickend, überschaut man wohl
zum ersten Male ihre gesammte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr
wieder nähert, den Vortheil, sie besser im Ganzen zu verstehen, als
Die, welche sie nie verlassen haben.


617.

Auf persönlichen Mängeln säen und ernten. - Menschen wie Rousseau
verstehen es, ihre Schwächen, Lücken, Laster gleichsam als Dünger
ihres Talentes zu benutzen. Wenn jener die Verdorbenheit und Entartung
der Gesellschaft als leidige Folge der Cultur beklagt, so liegt hier
eine persönliche Erfahrung zu Grunde; deren Bitterkeit giebt ihm die
Schärfe seiner allgemeinen Verurtheilung und vergiftet die Pfeile, mit
denen er schiesst; er entlastet sich zunächst als ein Individuum und
denkt ein Heilmittel zu suchen, das direct der Gesellschaft, aber
indirect und vermittelst jener, auch ihm zu Nutze ist.


618.

Philosophisch gesinnt sein. - Gewöhnlich strebt man darnach, für alle
Lebenslagen und Ereignisse eine Haltung des Gemüthes, eine Gattung
von Ansichten zu erwerben, - das nennt man vornehmlich philosophisch
gesinnt sein. Aber für die Bereicherung der Erkenntniss mag es höheren
Werth haben, nicht in dieser Weise sich zu uniformiren, sondern auf
die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu hören; diese bringen
ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden Antheil
am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres,
beständiges, Eines Individuum behandelt.


619.

Im Feuer der Verachtung. - Es ist ein neuer Schritt zum
Selbständigwerden, wenn man erst Ansichten zu äussern wagt, die als
schmählich für Den gelten, welcher sie hegt; da pflegen auch die
Freunde und Bekannten ängstlich zu werden. Auch durch dieses Feuer
muss die begabte Natur hindurch; sie gehört sich hinterdrein noch
vielmehr selber an.


620.

Aufopferung. - Die grosse Aufopferung wird, im Falle der Wahl, einer
kleinen Aufopferung vorgezogen: weil wir für die grosse uns durch
Selbstbewunderung entschädigen, was uns bei der kleinen nicht möglich
ist.


621.

Liebe als Kunstgriff. - Wer etwas Neues wirklich kennen lernen will
(sei es ein Mensch, ein Ereigniss, ein Buch), der thut gut, dieses
Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran
feindlich, anstössig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja
es zu vergessen: so dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den
grössten Vorsprung giebt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit
klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit
diesem Verfahren dringt man nähmlich der neuen Sache bis an ihr Herz,
bis an ihren bewegenden Punct: und diess heisst eben sie kennen
lernen. Ist man soweit, so macht der Verstand hinterdrein seine
Restrictionen; jene Ueberschätzung, jenes zeitweilige Aushängen des
kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache
herauszulocken.


622.

Zu gut und zu schlecht von der Welt denken. - Ob man zu gut oder zu
schlecht von den Dingen denkt, man hat immer den Vortheil dabei, eine
höhere Lust einzuernten: denn bei einer vorgefassten zu guten Meinung
legen wir gewöhnlich mehr Süssigkeit in die Dinge (Erlebnisse) hinein,
als sie eigentlich enthalten. Eine vorgefasste zu schlechte Meinung
verursacht eine angenehme Enttäuschung: das Angenehme, das an sich
in den Dingen lag, bekommt einen Zuwachs durch das Angenehme der
Ueberraschung. - Ein finsteres Temperament wird übrigens in beiden
Fällen die umgekehrte Erfahrung machen.


623.

Tiefe Menschen. - Diejenigen, welche ihre Stärke in der Vertiefung der
Eindrücke haben - man nennt sie gewöhnlich tiefe Menschen - sind bei
allem Plötzlichen verhältnissmässig gefasst und entschlossen: denn im
ersten Augenblick war der Eindruck noch flach, er wird dann erst tief.
Lange vorhergesehene, erwartete Dinge oder Personen regen aber solche
Naturen am meisten auf und machen sie fast unfähig, bei der endlichen
Ankunft derselben noch Gegenwärtigkeit des Geistes zu haben.


624.

Verkehr mit dem höheren Selbst. - Ein jeder hat seinen guten Tag,
wo er sein höheres Selbst findet; und die wahre Humanität verlangt,
jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der
Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum Beispiel einen
Maler nach seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen
vermochte, taxiren und verehren. Aber die Menschen selber verkehren
sehr verschieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind häufig ihre
eigenen Schauspieler, insofern sie Das, was sie in jenen Augenblicken
sind, später immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth
vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen: sie fürchten ihr höheres
Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine
geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird
desswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich
alles Andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: jenes aber ist der
Mensch selber.


625.

Einsame Menschen. - Manche Menschen sind so sehr an das Alleinsein mit
sich selber gewöhnt, dass sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen,
sondern in einer ruhigen, freudigen Stimmung, unter guten Gesprächen
mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben fortspinnen. Bringt
man sie aber dazu, sich mit Anderen zu vergleichen, so neigen sie zu
einer grübelnden Unterschätzung ihrer selbst: so dass sie gezwungen
werden müssen, eine gute, gerechte Meinung über sich erst von Anderen
wieder zu lernen: und auch von dieser erlernten Meinung werden sie
immer wieder Etwas abziehen und abhandeln wollen. - Man muss also
gewissen Menschen ihr Alleinsein gönnen und nicht so albern sein, wie
es häufig geschieht, sie desswegen zu bedauern.


626.

Ohne Melodie. - Es giebt Menschen, denen ein stätiges Beruhen in sich
selbst und ein harmonisches Sich-zurecht-legen aller ihrer Fähigkeiten
so zu eigen ist, dass ihnen jede zielesetzende Thätigkeit widerstrebt.
Sie gleichen einer Musik, welche aus lauter langgezogenen harmonischen
Accorden besteht, ohne dass je auch nur der Ansatz zu einer
gegliederten bewegten Melodie sich zeigte. Alle Bewegung von Aussen
her dient nur, dem Kahne sofort wieder sein neues Gleichgewicht auf
dem See harmonischen Wohlklangs zu geben. Moderne Menschen werden
gewöhnlich auf's Aeusserste ungeduldig, wenn sie solchen Naturen
begegnen, aus denen Nichts wird, ohne dass man ihnen sagen dürfte,
dass sie Nichts sind. Aber in einzelnen Stimmungen erregt ihr Anblick
jene ungewöhnliche Frage: wozu überhaupt Melodie? Warum genügt es uns
nicht, wenn das Leben sich ruhevoll in einem tiefen See spiegelt? -
Das Mittelalter war reicher an solchen Naturen als unsere Zeit. Wie
selten trifft man noch auf einen, der so recht friedlich und froh mit
sich auch im Gedränge fortleben kann, zu sich redend wie Goethe: "das
Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse,
und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können."


627.

Leben und Erleben. - Sieht man zu, wie Einzelne mit ihren Erlebnissen
- ihren unbedeutenden alltäglichen Erlebnissen - umzugehen wissen, so
dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht
trägt; während Andere - und wie Viele! - durch den Wogenschlag
der aufregendsten Schicksale, der mannigfaltigsten Zeit- und
Volksströmungen hindurchgetrieben werden und doch immer leicht,
immer obenauf, wie Kork, bleiben: so ist man endlich versucht, die
Menschheit in eine Minorität (Minimalität) Solcher einzutheilen,
welche aus Wenigem Viel zu machen verstehen: und in eine Majorität
Derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf
jene umgekehrten Hexenmeister, welche, anstatt die Welt aus Nichts,
aus der Welt ein Nichts schaffen.


628.

Ernst im Spiele. - In Genua hörte ich zur Zeit der Abenddämmerung von
einem Thurme her ein langes Glockenspiel: das wollte nicht enden und
klang, wie unersättlich an sich selber, über das Geräusch der Gassen
in den Abendhimmel und die Meerluft hinaus, so schauerlich, so
kindisch zugleich, so wehmuthsvoll. Da gedachte ich der Worte Plato's
und fühlte sie auf einmal im Herzen: alles Menschliche insgesammt ist
des grossen Ernstes nicht werth; trotzdem--


629.

Von der Ueberzeugung und der Gerechtigkeit. - Das, was der Mensch in
der Leidenschaft sagt, verspricht, beschliesst, nachher in Kälte und
Nüchternheit zu vertreten - diese Forderung gehört zu den schwersten
Lasten, welche die Menschheit drücken. Die Folgen des Zornes, der
aufflammenden Rache, der begeisterten Hingebung in alle Zukunft hin
anerkennen zu müssen - das kann zu einer um so grösseren Erbitterung
gegen diese Empfindungen reizen, je mehr gerade mit ihnen allerwärts
und namentlich von den Künstlern ein Götzendienst getrieben wird.
Diese züchten die Schätzung der Leidenschaften gross und haben
es immer gethan; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren
Genugthuungen der Leidenschaft, welche Einer an sich selber nimmt,
jene Racheausbrüche mit Tod, Verstümmelung, freiwilliger Verbannung
im Gefolge, und jene Resignation des zerbrochnen Herzens. Jedenfalls:
halten sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist, als ob
sie sagen wollten: ihr habt ohne Leidenschaften gar Nichts erlebt. -
Weil man Treue geschworen, vielleicht gar einem rein fingirten Wesen,
wie einem Gotte, weil man sein Herz hingegeben hat, einem Fürsten,
einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden, einem Künstler,
einem Denker, im Zustande eines verblendeten Wahnes, welcher
Entzückung über uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes
Opfers würdig erscheinen liess - ist man nun unentrinnbar fest
gebunden? Ja haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? War es
nicht ein hypothetisches Versprechen, unter der freilich nicht laut
gewordenen Voraussetzung, dass jene Wesen, denen wir uns weihten
wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vorstellung
erschienen? Sind wir verpflichtet, unsern Irrthümern treu zu sein,
selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserem
höheren Selbst Schaden stiften? - Nein, es giebt kein Gesetz, keine
Verpflichtung der Art, wir müssen Verräther werden, Untreue üben,
unsere Ideale immer wieder preisgeben. Aus einer Periode des Lebens
in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verrathes
zu machen und auch daran wieder zu leiden. Wäre es nöthig, dass wir
uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer
Empfindung hüten müssten? Würde dann die Welt nicht zu öde, zu
gespenstisch für uns werden? Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese
Schmerzen bei einem Wechsel der Ueberzeugung nothwendig sind oder ob
sie nicht von einer irrthümlichen Meinung und Schätzung abhängen.
Warum bewundert man Den, welcher seiner Ueberzeugung treu bleibt, und
verachtet Den, welcher sie wechselt? Ich fürchte, die Antwort muss
sein: weil Jedermann voraussetzt, dass nur Motive gemeineren Vortheils
oder persönlicher Angst einen solchen Wechsel veranlassen. Das heisst:
man glaubt im Grunde, dass Niemand seine Meinungen verändert, so lange
sie ihm vortheilhaft sind, oder wenigstens so lange sie ihm keinen
Schaden bringen. Steht es aber so, so liegt darin ein schlimmes
Zeugniss über die intellectuelle Bedeutung aller Ueberzeugungen.
Prüfen wir einmal, wie Ueberzeugungen entstehen, und sehen wir zu,
ob sie nicht bei Weitem überschätzt werden: dabei wird sich ergeben,
dass auch der Wechsel von Ueberzeugungen unter allen Umständen nach
falschem Maasse bemessen wird und dass wir bisher zu viel an diesem
Wechsel zu leiden pflegten.


630.

Ueberzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss
im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also
voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene
vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen;
endlich, dass jeder, der Ueberzeugungen habe, sich dieser vollkommenen
Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der
Mensch der Ueberzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen
Denkens ist; er steht im Alter der theoretischen Unschuld vor uns
und ist ein Kind, wie erwachsen er auch sonst sein möge. Ganze
Jahrtausende aber haben in jenen kindlichen Voraussetzungen gelebt
und aus ihnen sind die mächtigsten Kraftquellen der Menschheit
herausgeströmt. jene zahllosen Menschen, welche sich für ihre
Ueberzeugungen opferten, meinten es für die unbedingte Wahrheit zu
thun. Sie alle hatten Unrecht darin: wahrscheinlich hat noch nie ein
Mensch sich für die Wahrheit geopfert; mindestens wird der dogmatische
Ausdruck seines Glaubens unwissenschaftlich oder halbwissenschaftlich
gewesen sein. Aber eigentlich wollte man Recht behalten, weil man
meinte, Recht haben zu müssen. Seinen Glauben sich entreissen lassen,
das bedeutete vielleicht seine ewige Seligkeit in Frage stellen. Bei
einer Angelegenheit von dieser äussersten Wichtigkeit war der "Wille"
gar zu hörbar der Souffleur des Intellects. Die Voraussetzung jedes
Gläubigen jeder Richtung war, nicht widerlegt werden zu können;
erwiesen sich die Gegengründe als sehr stark, so blieb ihm immer
noch übrig, die Vernunft überhaupt zu verlästern und vielleicht gar
das "credo quia absurdum est" als Fahne des äussersten Fanatismus
aufzupflanzen. Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die
Geschichte so gewaltthätig gemacht hat, sondern der Kampf des Glaubens
an die Meinungen, das heisst der Ueberzeugungen. Wenn doch alle Die,
welche so gross von ihrer Ueberzeugung dachten, Opfer aller Art ihr
brachten und Ehre, Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur
die Hälfte ihrer Kraft der Untersuchung gewidmet hätten, mit welchem
Rechte sie an dieser oder jener Ueberzeugung hiengen, auf welchem Wege
sie zu ihr gekommen seien: wie friedfertig sähe die Geschichte der
Menschheit aus! Wieviel mehr des Erkannten würde es geben! Alle die
grausamen Scenen bei der Verfolgung der Ketzer jeder Art wären uns
aus zwei Gründen erspart geblieben: einmal weil die Inquisitoren vor
Allem in sich selbst inquirirt hätten und über die Anmaassung, die
unbedingte Wahrheit zu vertheidigen, hinausgekommen wären; sodann
weil die Ketzer selber so schlecht begründeten Sätzen, wie die Sätze
aller religiösen Sectirer und "Rechtgläubigen" sind, keine weitere
Theilnahme geschenkt haben würden, nachdem sie dieselben untersucht
hätten.


631.

Aus den Zeiten her, in welchen Menschen daran gewöhnt waren, an
den Besitz der unbedingten Wahrheit zu glauben, stammt ein tiefes
Missbehagen an allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu
irgendwelchen Fragen der Erkenntniss; man zieht meistens vor, sich
einer Ueberzeugung, welche Personen von Autorität haben (Väter,
Freunde, Lehrer, Fürsten), auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, und hat,
wenn man diess nicht thut, eine Art von Gewissensbissen. Dieser Hang
ist ganz begreiflich und seine Folgen geben kein Recht zu heftigen
Vorwürfen gegen die Entwickelung der menschlichen Vernunft. Allmählich
muss aber der wissenschaftliche Geist im Menschen jene Tugend der
vorsichtigen Enthaltung zeitigen, jene weise Mässigung, welche im
Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist, als im Gebiet des
theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel Goethe im Antonio
dargestellt hat, als einen Gegenstand der Erbitterung für alle
Tasso's, das heisst für die unwissenschaftlichen und zugleich
thatlosen Naturen. Der Mensch der Ueberzeugung hat in sich ein Recht,
jenen Menschen des vorsichtigen Denkens, den theoretischen Antonio,
nicht zu begreifen; der wissenschaftliche Mensch hinwiederum hat kein
Recht, jenen desshalb zu tadeln, er übersieht ihn und weiss ausserdem,
im bestimmten Falle, dass jener sich an ihn noch anklammern wird, so
wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut.


632.

Wer nicht durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist,
sondern in dem Glauben hängen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst
verfieng, ist unter allen Umständen eben wegen dieser Unwandelbarkeit
ein Vertreter zurückgebliebener Culturen; er ist gemäss diesem Mangel
an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt) hart, unverständig,
unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verdächtiger, ein Unbedenklicher,
der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar
nicht begreifen kann, dass es andere Meinungen geben müsse; er ist, in
solchem Betracht, vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und
schlaff gewordenen Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er
kräftig anreizt, ihm Widerpart zu halten: denn dabei wird das zartere
Gebilde der neuen Cultur, welche zum Kampf mit ihm gezwungen ist,
selber stark.


633.

Wir sind im Wesentlichen noch dieselben Menschen, wie die des
Zeitalters der Reformation: wie sollte es auch anders sein? Aber dass
wir uns einige Mittel nicht mehr erlauben, um mit ihnen unsrer Meinung
zum Siege zu verhelfen, das hebt uns gegen jene Zeit ab und beweist,
dass wir einer höhern Cultur angehören. Wer jetzt noch, in der
Art der Reformations-Menschen, Meinungen mit Verdächtigungen, mit
Wuthausbrüchen bekämpft und niederwirft, verräth deutlich, dass er
seine Gegner verbrannt haben würde, falls er in anderen Zeiten gelebt
hätte, und dass er zu allen Mitteln der Inquisition seine Zuflucht
genommen haben würde, wenn er als Gegner der Reformation gelebt hätte.
Diese Inquisition war damals vernünftig, denn sie bedeutete nichts
Anderes, als den allgemeinen Belagerungszustand, welcher über den
ganzen Bereich der Kirche verhängt werden musste, und der, wie jeder
Belagerungszustand, zu den äussersten Mitteln berechtigte, unter der
Voraussetzung nämlich (welche wir jetzt nicht mehr mit jenen Menschen
theilen), dass man die Wahrheit, in der Kirche, habe, und um jeden
Preis mit jedem Opfer zum Heile der Menschheit bewahren müsse. Jetzt
aber giebt man Niemandem so leicht mehr zu, dass er die Wahrheit
habe: die strengen Methoden der Forschung haben genug Misstrauen und
Vorsicht verbreitet, so dass Jeder, welcher gewaltthätig in Wort
und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind unserer jetzigen Cultur,
mindestens als ein zurückgebliebener empfunden wird. In der That:
das Pathos, dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im
Verhältniss zu jenem freilich milderen und klanglosen Pathos des
Wahrheit-Suchens, welches nicht müde wird, umzulernen und neu zu
prüfen.


634.

Uebrigens ist das methodische Suchen der Wahrheit selber das Resultat
jener Zeiten, in denen die Ueberzeugungen mit einander in Fehde lagen.
Wenn nicht dem Einzelnen an seiner "Wahrheit", das heisst an seinem
Rechtbehalten gelegen hätte, so gebe es überhaupt keine Methode der
Forschung; so aber, bei dem ewigen Kampfe der Ansprüche verschiedener
Einzelner auf unbedingte Wahrheit, gieng man Schritt vor Schritt
weiter, um unumstössliche Prinzipien zu finden, nach denen das Recht
der Ansprüche geprüft und der Streit geschlichtet werden könne.
Zuerst entschied man nach Autoritäten, später, kritisirte man sich
gegenseitig die Wege und Mittel, mit denen die angebliche Wahrheit
gefunden worden war; dazwischen gab es eine Periode, wo man die
Consequenzen des gegnerischen Satzes zog und vielleicht sie als
schädlich und unglücklich machend erfand: woraus dann sich für
Jedermanns Urtheil ergeben sollte, dass die Ueberzeugung des Gegners
einen Irrthum enthalte. Der persönliche Kampf der Denker hat
schliesslich die Methoden so verschärft, dass wirklich Wahrheiten
entdeckt werden konnten und dass die Irrgänge früherer Methoden vor
Jedermanns Blicken blosgelegt sind.


635.

Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso
wichtiges Ergebniss der Forschung als irgend ein sonstiges Resultat:
denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche
Geist, und alle Resultate der Wissenschaft könnten, wenn jene Methoden
verloren giengen, ein erneutes Ueberhandnehmen des Aberglaubens und
des Unsinns nicht verhindern. Es mögen geistreiche Leute von den
Ergebnissen der Wissenschaft lernen so viel sie wollen: man merkt es
immer noch ihrem Gespräche und namentlich den Hypothesen in demselben
an, dass ihnen der wissenschaftliche Geist fehlt: sie haben nicht
jenes instinctive Misstrauen gegen die Abwege des Denkens, welches in
der Seele jedes wissenschaftlichen Menschen in Folge langer Uebung
seine Wurzeln eingeschlagen hat. Ihnen genügt es, über eine Sache
überhaupt irgendeine Hypothese zu finden, dann sind sie Feuer und
Flamme für dieselbe und meinen, damit sei es gethan. Eine Meinung
haben heisst bei ihnen schon: dafür sich fanatisiren und sie als
Ueberzeugung fürderhin sich an's Herz legen. Sie erhitzen sich bei
einer unerklärten Sache für den ersten Einfall ihres Kopfes, der einer
Erklärung derselben ähnlich sieht: woraus sich, namentlich auf dem
Gebiete der Politik, fortwährend die schlimmsten Folgen ergeben. -
Desshalb sollte jetzt Jedermann mindestens eine Wissenschaft von Grund
aus kennen gelernt haben: dann weiss er doch, was Methode heisst und
wie nöthig die äusserste Besonnenheit ist. Namentlich ist den Frauen
dieser Rath zu geben; als welche jetzt rettungslos die Opfer aller
Hypothesen sind, zumal wenn diese den Eindruck des Geistreichen,
Hinreissenden, Belebenden, Kräftigenden machen. Ja bei genauerem
Zusehen bemerkt man, dass der allergrösste Theil aller Gebildeten noch
jetzt von einem Denker Ueberzeugungen und Nichts als Ueberzeugungen
begehrt, und dass allein eine geringe Minderheit Gewissheit will. Jene
wollen stark fortgerissen werden, um dadurch selber einen Kraftzuwachs
zu erlangen; diese Wenigen haben jenes sachliche Interesse, welches
von persönlichen Vortheilen, auch von dem des erwähnten Kraftzuwachses
absieht. Auf jene bei Weitem überwiegende Classe wird überall dort
gerechnet, wo der Denker sich als Genie benimmt und bezeichnet,
also wie ein höheres Wesen drein schaut, welchem Autorität zukommt.
Insofern das Genie jener Art die Glut der Ueberzeugungen unterhält
und Misstrauen gegen den vorsichtigen und bescheidenen Sinn der
Wissenschaft weckt, ist es ein Feind der Wahrheit und wenn es sich
auch noch so sehr als deren Freier glauben sollte.


636.

Es giebt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialität, die
der Gerechtigkeit; und ich kann mich durchaus nicht entschliessen,
dieselbe niedriger zu schätzen, als irgend eine philosophische,
politische oder künstlerische Genialität. Ihre Art ist es, mit
herzlichem Unwillen Allem aus dem Wege zu gehen, was das Urtheil über
die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine Gegnerin der
Ueberzeugungen, denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes,
Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben - und dazu muss sie es rein
erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht
um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer
Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen "Ueberzeugung" (wie Männer
sie nennen: - bei Weibern heisst sie "Glaube") geben was der
Ueberzeugung ist - um der Wahrheit willen.


637.

Aus den Leidenschaften wachsen die Meinungen; die Trägheit des Geistes
lässt diese zu Ueberzeugungen erstarren. - Wer sich aber freien,
rastlos lebendigen Geistes fühlt, kann durch beständigen Wechsel
diese Erstarrung verhindern; und ist er gar insgesammt ein denkender
Schneeballen, so wird er überhaupt nicht Meinungen, sondern nur
Gewissheiten und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten in seinem
Kopfe haben. - Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom
Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind, wollen vor der
Gerechtigkeit knieen, als der einzigen Göttin, welche wir über uns
anerkennen. Das Feuer in uns macht uns für gewöhnlich ungerecht und,
im Sinne jener Göttin, unrein; nie dürfen wir in diesem Zustande ihre
Hand fassen, nie liegt dann das ernste Lächeln ihres Wohlgefallens auf
uns. Wir verehren sie als die verhüllte Isis unsers Lebens; beschämt
bringen wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn das Feuer
uns brennt und verzehren will. Der Geist ist es, der uns rettet, dass
wir nicht ganz verglühen und verkohlen; er reisst uns hier und da fort
von dem Opferaltare der Gerechtigkeit oder hüllt uns in ein Gespinnst
aus Asbest. Vom Feuer erlöst, schreiten wir dann, durch den Geist
getrieben von Meinung zu Meinung, durch den Wechsel der Parteien, als
edle Verräther aller Dinge, die überhaupt verrathen werden können -
und dennoch ohne ein Gefühl von Schuld.


638.

Der Wanderer. - Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft
gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als
Wanderer, - wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele:
denn dieses giebt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen
dafür offen haben, was Alles in der Welt eigentlich vorgeht; desshalb
darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen; es muss
in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel
und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen
böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Thor der Stadt, welche ihm
Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch dazu,
wie im Orient, die Wüste bis an das Thor reicht, dass die Raubthiere
bald ferner bald näher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt,
dass Räuber ihm seine Zugthiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die
schreckliche Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste, und sein Herz
wird des Wanderns müde. Geht ihm dann die Morgensonne auf, glühend wie
eine Gottheit des Zornes, öffnet sich die Stadt, so sieht er in den
Gesichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wüste, Schmutz,
Trug, Unsicherheit, als vor den Thoren - und der Tag ist fast
schlimmer, als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen;
aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden
und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel
des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn
er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich
ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und
helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien
Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche,
gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise,
Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe,
sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften
Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres
Gesicht haben könne: - sie suchen die Philosophie des Vormittages.



Unter Freunden.

Ein Nachspiel.

1.

    Schön ist's, mit einander schweigen,
    Schöner, mit einander lachen, -
    Unter seidenem Himmels-Tuche
    Hingelehnt zu Moos und Buche
    Lieblich laut mit Freunden lachen
    Und sich weisse Zähne zeigen.
    Macht' ich's gut, so woll'n wir schweigen;
    Macht' ich's schlimm -, so woll'n wir lachen
    Und es immer schlimmer machen, Schlimmer machen,
    schlimmer lachen, Bis wir in die Grube steigen.
    Freunde! ja! So soll's geschehn? -
    Amen! Und auf Wiedersehn!


2.

    Kein Entschuld'gen! Kein Verzeihen!
    Gönnt ihr Frohen, Herzens-Freien
    Diesem unvernünft'gen Buche
    Ohr und Herz und Unterkunft!
    Glaubt mir, Freunde, nicht zum Fluche
    Ward mir meine Unvernunft!
    Was ich finde, was ich suche -
    Stand das je in einem Buche?
    Ehrt in mir die Narren-Zunft!
    Lernt aus diesem Narrenbuche,
    Wie Vernunft kommt - "zur Vernunft"!
    Also, Freunde, soll's geschehn? -
    Amen! Und auf Wiedersehn!




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