Der Mensch ist gut

By Leonhard Frank

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Title: Der Mensch ist gut

Author: Leonhard Frank

Release Date: January 9, 2014 [EBook #35176]

Language: German


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Produced by Jens Sadowski





                          Europäische Bücher




                            Leonhard Frank
                          Der Mensch ist gut


                   Sechstes bis fünfzehntes Tausend

                   Max Rascher, Verlag, Zürich, 1918

             Copyright 1918 by Max Rascher, Verlag, Zürich

                      Den kommenden Generationen

                  Geschrieben 1916 bis Frühling 1917




I. Der Vater


   Ihr Otterngezüchte, wer hat denn euch gewiesen,
   daß ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet?

   Es ist schon die Axt an die Wurzel gelegt.
   Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringt,
   wird abgehauen und ins Feuer geworfen.

      Ev. Matth. Kap. III

Robert war Servierkellner in einem deutschen Hotelrestaurant. Gewöhnlich.
Blond. Und wenn er, in devoter Verbeugung erstarrt, vor dem Gaste stand und
eine Bestellung entgegennahm, kroch der Gedanke durch sein Gehirn: jeder
andere Beruf verträgt sich eher mit der Menschenwürde.

Auf ihn wirkte das hingeschobene Trinkgeld wie eine Ohrfeige, für die man
sich bedanken mußte. Und wenn das Trinkgeld von einem Gaste kam, der ärmer
als der Empfangende war, stieg aus Roberts verletzter Menschenwürde
sichtbar die Verachtung empor, steigerte sich manchmal zu Rachsucht und
Frechheit. Es kam vor, daß Robert solch einem Gaste das Trinkgeld
zurückschob. Vornehmen Gästen Kredit zu gewähren, war ihm eine Erlösung.

Im Jahre 1894 bekam seine Frau den lange vergeblich erwarteten Sohn. Und
Roberts Liebe stürzte sich auf dieses Kind. Das bekam alles: ein
Kinderzimmer, sterilisierte Kindermilch, einen federnden Kinderwagen, einen
weißlackierten Stall, Hampelmänner. Später Dampfmaschinchen, Eisenbahnen,
Luftballons, Trommeln, Säbel, Schießgewehrchen, Bleisoldaten. Später ein
Spazierstöckchen, einen Matrosenanzug mit einer Mütze, auf der stand »S. M.
S. Hohenzollern«, einen rindsledernen Bücherranzen, eine Rechenmaschine mit
roten und weißen Kugeln, einen polierten Griffelkasten.

Der Sohn bekam Geigenstunden, mußte Klavierspielen lernen. Und durfte das
Gymnasium besuchen. Er sollte studieren. Nicht Kellner werden. Schon mit
zehn Jahren besaß der Sohn ein Fahrrad. Und gehörte mit zwölf Jahren der
patriotischen Jugendvereinigung an.

Roberts Leben erschöpfte sich im Dasein des Sohnes. Und der Satz: jeder
Arbeiter ist seines Lohnes wert, war ihm zur Weltanschauung geworden.
Robert flog, die Bestellungen auszuführen, verbeugte sich, dankte fürs
Trinkgeld, verbeugte sich, dankte, sparte, scharrte zusammen, rechnete,
strebte, wurde Zimmerkellner, dann Oberkellner, wies heimlichen
Liebespärchen stille Zimmer an für ein paar Stunden, drückte Augen zu, sank
in einen Abgrund der Liebe für seinen Sohn, schickte ihn auf die
Universität, bekam graue Haare, war selig im Dienen, selig in seinem Sohne,
besaß hundert Photographien von ihm, hatte die Kinderkleidchen aufgehoben,
das Spielzeug: die Säbelchen, die Gewehrchen, die Bleisoldaten. Das
Mützchen, auf dem stand »S. M. S. Hohenzollern«.

Der Sohn war zwanzig Jahre alt. Er bekam die Einberufung an einem Dienstag,
bekam ein halbes Jahr später das eiserne Kreuz.

Und im Sommer 1916 bekam Robert die Nachricht, daß sein Sohn gefallen war.
Auf dem Felde der Ehre.

Eine Welt war erschlagen.

Der Erschlagene las immer wieder: »Gefallen auf dem Felde der Ehre«. Den
Zettel trug er bei sich in der Brieftasche, zwischen den Banknoten. Er las
ihn, wenn ein Fremder kam und ein Zimmer verlangte, wenn er an der
Billardecke stand und Bestellungen erwartete, wenn er, von der Glocke
gerufen, durch den langen Gang lief, las ihn, bevor er das Zimmer betrat
und nachdem er, die bezahlte Rechnung und das Trinkgeld in der Hand, das
Zimmer wieder verlassen hatte. Er las ihn in der Küche, im Weinkeller, auf
dem Klosett. »Gefallen auf dem Felde der Ehre«. Ehre. Das war ein Wort und
bestand aus vier Buchstaben. Vier Buchstaben, die zusammen eine Lüge
bildeten von solch höllischer Macht, daß ein ganzes Volk an diese vier
Buchstaben angespannt und von sich selbst in ungeheuerlichstes Leid
hineingezogen hatte werden können.

Das Feld der Ehre war nicht sichtbar, nicht vorstellbar, war Robert nicht
begreifbar. Das war kein Feld, kein Acker, war keine Fläche, war nicht
Nebel und nicht Luft. Es war das absolute Nichts. Und daran sollte er sich
halten. Sein ganzes Leben lang. Hinter ihm lag nichts und vor ihm lag
nichts. Robert stand in der Mitte auf dem Nichts.

Seine Hände servierten, quittierten, empfingen Trinkgelder. Wofür? Es gab
keine Banknoten mehr. Und sein Sparkassenbuch war für ihn das Feld der
Ehre. Und das Feld der Ehre war nicht begreifbar.

Robert gab die besten Zimmer auf Wunsch um die Hälfte des festgesetzten
Preises ab, gab noch einen Salon dazu, ein Badezimmer. Wurde zum
Servierkellner degradiert. Gab im Restaurant ohne Widerstreben die teueren
Speisen und Weine billiger ab, wenn den Gästen die Rechnung zu hoch
erschien. Wurde daraufhin nur noch zur Mithilfe herangezogen, wenn im
großen Hotelsaal ein Fest, eine Versammlung war.

Gab es etwas Gleichgültigeres, als aus der Lebensstellung verdrängt worden
zu sein? Das alles war nur das Feld der Ehre. War ein absolutes Nichts.

Oft fand er sich in seines Sohnes Zimmer, wohin er während des Krieges die
Photographien, Kinderkleidchen, Säbelchen, Trommelchen, Gewehrchen,
Bleisoldaten zusammengetragen hatte, und empfand nichts beim Betrachten
dieser vergilbten und verkratzten Überbleibsel, ging, automatisch wie er
eingetreten war, wieder hinaus.

Dieser Zustand, in dem Robert sich nur noch wie eine Maschine bewegte,
dauerte wochenlang, bis eines Tages der Mensch in ihm die Kraft fand, sich
dem Schmerze zu stellen. Seiner Hand entfiel die Photographie des Söhnchens
-- in Infanterieuniform, mit präsentiertem Gewehrchen --, und Robert
sauste, von einem Dampfhammerschlag getroffen, hinunter in den Abgrund, das
Herz bloßgelegt dem Schmerze und der Liebe. Robert schrie. Nur einmal. Und
ganz kurz.

Von etwas Unnennbarem berührt, wich er der Erlösung, die im Schmerze liegt,
aus.

Und als seine Frau ihn trösten wollte mit den Worten, die sie von dem unter
dem gleichen Leide stehenden Kolonialwarenhändler, Bäcker, von der
Nachbarin übernommen hatte: jetzt müsse man sich halt damit abfinden,
schrak sie zurück vor Roberts gefährlich blickenden Augen und schwieg
fernerhin.

Auch Robert schwieg, tat die Arbeit, die man ihm zuwies. Und da man ihn,
der wiederholt Gäste fortlaufen ließ, ohne daß sie bezahlt hatten, nur noch
als Wasserträger im Hotelcafé verwenden wollte, erklärte er sich auch
hierzu bereit.

Robert wußte, daß etwas geschehen werde. Deshalb ertrug er weiter diese
gefährliche Ruhe. Denn wie konnte es möglich sein, daß nichts geschah durch
ihn, der nichts mehr verlieren konnte, da er alles schon verloren hatte?
Der von einer dünnen Kellnerhaut überzogen war, unter welcher der Mensch
schrie, entsetzlich lautlos der Schmerz, die Liebe schrieen? Durch den
geringsten Anlaß konnte die Haut zerspringen. Dann stieg der Schrei.

Die Kindergewehrchen und Säbelchen hatte er, sich aus den Augen, hinüber
ins Hotel getragen und hinter das Klavier gesteckt. Denn wenn er dieses
Spielzeug nur anblickte, brannte ihn die Schuld. Aber wenn er einen mit dem
Kriegsorden verzierten Leutnant bediente, zitterten seine Hände nicht.

Und als eines Tages ein patriotischer Jugendverein -- halbwüchsige Jungen
unter Gewehr -- die Straße herauf und am Hotel vorbei das Lied trug: »Kann
dir die Hand nicht geben, dieweil ich eben lad' . . .«, fraß sich das
Schuldbewußtsein glühend in Robert hinein. Denn auch er hatte seinen Sohn
solche Lieder gelehrt und lehren lassen und voll Vaterstolz ihm zugehört.

In wilder Spannung stand er unterm Hotelportal und fühlte, daß sein Sprung
auf die vorbeimarschierenden, schlecht beratenen Jünglinge ein Sprung in
die Luft sein würde. Denn hinter den Jünglingen und hinter dem Kampfliede
stand etwas, das nicht zu greifen war: ein unsichtbarer, unkörperlicher
Gegner. Gott hielt ihn zurück von dem Sprunge. Gott hob ihn auf für die
Minute, da der Feind greifbar werden würde, fühlte Robert.

Und eines Tages hatte er den Feind, der im Menschen selbst und nicht außer
ihm ist, so scharf erkannt, daß seine Augen die eines schuldbewußten
Mörders wurden. Da geschah es, daß Tränen wilden Zornes ihm hinter die
Augen traten, wenn er ein Mädchen sah, das ihren Bräutigam, eine Frau, die
ihren Mann, ein Elternpaar, das seinen Sohn verloren hatte und doch lächeln
und wie immer das Glas Bier bestellen konnte.

Einer Mutter, der ihre Stütze fürs Alter, ihre Hoffnung, der Zentralpunkt
all ihrer Liebe -- ihr einziger Sohn zerstampft worden war auf dem Felde
der Ehre und die zu Robert sagte, >jetzt muß man sich halt damit abfinden<,
griff er wild an den Hals.

Gott strich über des Kellners Hände und legte dessen plötzlich von Liebe
durchbebten Finger der Mutter sanft auf die Schulter. Denn nicht die Frau
war schuld, nicht sie war der Feind und nicht ihre Worte, sondern das, was
hinter den Worten stand. Und das war etwas, das nicht da war. Es war das
Nichtvorhandensein der Liebe.

Das mörderische Schuldbewußtsein brannte die kleine Vaterliebe weg, so daß
das Urgefühl der großen Liebe aufstehen konnte in ihm.

In tiefster Demut, in deren Mittelpunkt die unversiegbare Kraft der Liebe
stand, verrichtete er die Arbeit des Pikkolos, trug den Gästen Wasser zu,
spülte Gläser aus, ging, als die Glocke ihn rief, in den großen Hotelsaal.

Schlosser, Maurer, Schreiner, Spengler, Tapezierer, Glaser -- zerarbeitete
Männer, die haarigen, abschreckend häßlichen Tieren mit Menschenaugen
glichen -- füllten den großen Hotelsaal: die Bauarbeitervereinigung hielt
ihre Jahresversammlung ab.

Robert brachte dem Redner, der auf dem Podium stand, eine Flasche voll
Wasser und hörte, ans Klavier gelehnt, hinter dem die Säbelchen und
Schießgewehrchen steckten, dem Redner zu.

Der erklärte, daß Unterstützungsgelder an arbeitslose und kranke Mitglieder
dieses Jahr nicht ausbezahlt werden könnten. Denn es seien so gut wie keine
Beiträge eingelaufen. Zudem habe man den Mitgliedern, die im Felde standen
-- und die gingen allen andern vor -- fortlaufend Unterstützungsgelder
geschickt. »Die Reserven sind aufgebraucht. Die Kasse ist leer.« Es frage
sich nun, ob die Mitglieder, die noch gesund seien und Verdienst hätten,
über ihren Beitrag hinaus zusammensteuern wollten für die kranken und
arbeitslosen Mitglieder. Wenn nicht, dann bleibe nur noch übrig, die seit
fünfzig Jahren bestehende Bauarbeitervereinigung samt der
Krankenunterstützungskasse aufzulösen. »Sozusagen den Konkurs anzumelden.«

Siebenhundert Augenpaare von siebenhundert dumpf schweigenden Menschen
blickten ratlos auf den Redner. Die Frauen, deren Küchentöpfe leer waren,
und die Frauen, deren Männer im Felde standen oder schon gefallen waren,
hatten rotgefleckte Wangen bekommen. Die Eisenplatte, die seit zwei Jahren
über ganz Europa lag, lag sichtbar auch über diesen siebenhundert in Leid
und Not verkrampften Lasttieren.

Ein kleiner Junge hatte das Kinderschießgewehr hinterm Klavier, das auf dem
Podium stand, hervorgezogen und zielte, den Schaft an der grauen Backe,
hinunter auf die siebenhundert reglosen Männer und Frauen. Alle blickten
auf das Loch des Rohrlaufes aus Weißblech.

Und draußen standen, den Gewehrschaft an der Backe, in Schuld und Sünde
Millionen Menschen gegenüber Millionen Menschen, die in Schuld und Sünde
standen.

Da tat Robert den Sprung. Es war ein ganz langsamer Sprung. Er ging
traumwandlerisch sicher auf den Jungen zu, nahm ihm das Spielzeug von der
Backe weg und trat vor, bis an den Rand des Podiums.

Und während der Redner Wasser trank und seine Abrechnungslisten
zurechtlegte, sagte Robert:

»Das hier ist ein Schießgewehr. Das habe ich . . . ich selbst habe das
meinem Jungen gekauft. Damit hat er gespielt. Damit hat er sich unmerklich
die Liebe aus seinem Herzen hinausgespielt. Damit hat er schießen gelernt.
Ich habe ihn das Schießen, habe ihn das Morden gelehrt. Mein Sohn ist
gefallen. Er ist tot. Ich bin sein Mörder . . . Vaterstolz, Ruhmsucht,
Gedankenlosigkeit und Gewohnheit haben mich zum Mörder werden lassen. Und
doch habe ich nur getan, was auch ihr getan habt. Auch von euch hat mancher
seinen Sohn . . . verloren.«

Robert hieb das Gewehrchen gegen die Knie und legte die zwei Stücke ruhig
zu seinen Füßen nieder. »Das hätte ich vor fünfzehn Jahren tun müssen
. . . Habt ihr es getan? . . . Also seid auch ihr Mörder.

Unsere Männer und unsere Söhne erschießen Männer und Söhne. Und jene Männer
und Söhne erschießen unsere Männer und Söhne. Und jeder Daheimgebliebene
hofft: mein Mann, mein Sohn kommt zurück; mögen die anderen fallen und
sterben.

Solches kann nur ein Wahnsinniger wünschen . . . Ich frage euch: ist der
kein Mörder, der ein unschuldiges Kind so erzieht, daß es erst zum Mörder
werden muß, bevor es selbst ermordet wird? Wird der so erzogene
Unschuldige, wenn er einen gleichfalls schlechtberatenen Unschuldigen
erschießt, nicht zum Mörder? Es gibt heute in Europa keinen Menschen mehr,
der nicht ein Mörder wäre! . . . Wir sind verblendet und Mörder, weil wir
den Gegner außer uns suchen und zu finden glaubten. Nicht der Engländer,
Franzose, Russe und für diese nicht der Deutsche, sondern in uns selbst ist
der Feind. Und wir sehen deshalb in anderen Menschen den Feind, weil der
tatsächliche Feind in uns etwas ist, das nicht da ist. Das
Nichtvorhandensein der Liebe ist der Feind und die Ursache aller Kriege.
Ganz Europa weint, weil ganz Europa nicht mehr lieben kann. Ganz Europa ist
wahnsinnig, weil es nicht lieben kann.

Oder ist es nicht Wahnsinn, wenn ihr euch freut über die Notiz: zweitausend
französische Leichen lagen vor unserer Linie? Ist die Einwohnerschaft von
Paris nicht wahnsinnig, wenn sie sich freut über die Notiz: zweitausend
deutsche Leichen lagen vor unserer Linie?

Wir schreien vor Schmerz oder die Augen bleiben trocken vor Schmerz, wenn
unser Sohn fällt. Solange wir nicht ebenso vor Schmerz schreien, wenn ein
Franzose fällt, lieben wir nicht. Solange wir nicht fühlen: ein Mensch, der
uns nichts getan hat, fiel und starb, so lange sind wir Wahnsinnige. Denn
dieser Mensch, der fiel und starb, hatte eine Mutter, einen Vater, eine
Frau, die vor Schmerz schreien. War ein Mensch. Wollte so gerne leben. Und
mußte sterben. Wofür? Warum? Er mußte sterben, weil er nicht liebte. Und
wir, seine Mörder, ließen ihn sterben, weil wir nicht lieben.«

Robert machte während des Sprechens ganz kleine Bewegungen mit der Hand,
daß die weiße Serviette baumelte. Es war so schwer, auch den anderen
mitzuteilen, was man selbst fühlte und erkannt hatte. Und dabei war das
Ganze doch so einfach, so selbstverständlich. Aber die Menschen hatten sich
von der Selbstverständlichkeit weggestellt. Sie hatten die Liebe einfach
vergessen, wie man seinen Schirm stehen läßt.

»Man braucht ja nur zu lieben, dann fällt kein Schuß mehr. Dann ist der
Friede da. Kinder sind wir dann auf unserer Erde . . . Der ganze Erdteil
weint. Daran merkt man doch, daß der Erdteil fähig ist zur Liebe. Ganz
hoffnungslos wäre erst dann alles, wenn Europa lachen würde, weil ganz
Europa blutet. Aber es gibt kein Haus in Europa, in dem nicht die Tränen
fließen. Das ist die Liebe, die aus den Menschenaugen heraus weint, weil
sie vertrieben worden ist aus den Herzen der Menschen.

Was tut ihr, wenn jetzt im Augenblick ein euch fremder Mensch in den Saal
hereintritt und einem von euch, den er nie gesehen hat, das Bajonett in den
Leib stößt? Ihr würdet den Wahnsinnigen nicht begreifen. Genau dasselbe tun
eure Männer und Söhne; auch sie stoßen Männern und Söhnen, die sie nie
gesehen haben, das Bajonett in den Leib, daß der Durchstoßene aufschreit,
sich krümmt und fällt. Was hat er eurem Sohne getan? Und was hat euer Sohn
dem getan, der ihm das Bajonett in den Leib stieß? . . . Habt ihr euch
schon einmal vorgestellt, auf welche Weise euer junger Sohn, der so gerne,
ach so gerne noch hätte leben mögen, sterben mußte? . . . Mädchen,
vergegenwärtige dir den letzten Blick deines Bräutigams, der verwundet,
dürstend sechs Stunden lang in der Sommerhitze im Stacheldraht hing. Stelle
dir seinen letzten, furchtbar langen Blick vor.

Frau«, sagte Robert zu einer Erbleichenden, leise, daß es alle
Siebenhundert hörten, »was hat dein Mann, den du liebtest, der dir Brot und
Kinder gab, dem getan, der ihm das Bajonett in den Leib stieß?«

Die Frau wimmerte, ihr Kopf sank dem neben ihr Sitzenden auf die Schulter.

»Die Menschen sind wahnsinnig, wirklich und wahrhaftig wahnsinnig, weil sie
die Liebe vergessen haben. Und weil sie die Liebe vergessen haben, glauben
sie, es müsse alles so sein, wie es ist . . . Unser Volk, wie wir es sehen,
besteht nur noch aus Krüppeln und elend aussehenden Kindern, Frauen und
Greisen. Wenn man jetzt noch die Arme und Beine, die losgetrennten
Körperteile, die Millionen zerrissener Leichen, unter denen auch eure Söhne
und Männer sind, von den Schlachtfeldern holen und auf eure Straßen werfen
würde, euch vor die Augen, würdet ihr auch dann noch sagen: man muß sich
halt damit abfinden? Oder würdet ihr endlich bereit sein zum Lieben, was
auch dabei herauskomme? Würdet ihr dann endlich sagen: ich will nicht
leben, wenn ich nicht lieben darf? Würdet ihr einsehen, daß diejenigen, die
euch das Lieben verbieten, Feinde sind? Feinde des Menschen! Volksfeinde!
Seht ihr nicht die Berge zerrissener Menschenleiber? Sie liegen vor euren
Augen, liegen auf euren Straßen, daß kein Wagen mehr fahren kann und ihr
keinen Schritt mehr machen könnt. Eure Söhne! Eure Söhne! Eure Männer!
Väter! Blutig! Zerrissen! Unkenntlich!«

Ein Schrei stieg aus der Saalmitte empor. Hinten, beim Saaleingang, erklang
ein tierisches Stöhnen. Einem alten Manne fiel die Stirn in die Hand. Ein
Mädchen verließ die Stuhlreihen; sie hatte große Augen bekommen und stürzte
in die Kniee.

»Wir dürfen uns nicht länger belügen und sagen: nur der Zar, der Kaiser,
der Engländer ist schuld.« Robert legte langsam die Hand mit der Serviette
an die Brust: »Ich bin schuld. Und du bist schuld. Und du und du . . . Denn
auch wir hatten, ebenso wie der Zar, der Engländer, der Kaiser, der
Millionär und der Milliardär, die Liebe vergessen. Nehmt die Schuld auf
euch, damit ihr der Liebe wieder teilhaftig werden könnt. Denn nur wer hier
sich schuldig fühlt, kann entsündigt werden und wieder lieben.

Und jetzt wisset: die Liebe trägt in sich ein hartes Gebot. Die Liebe sagt:
wer nicht liebt, ist schuldig und böse und soll weichen, damit der Liebe
auf Erden keine Schranken mehr gesetzt werden können. Wir wollen fallen und
sterben dafür, daß der Liebe die Regierung Europas übergeben werde.«

Die Menschengesichter unten im Saale waren aufgelöst.

Weitersprechend stieg Robert vom Podium herunter. Alle waren aufgestanden,
drängten ihm nach.

»Das Gebot der Liebe ist: wer sich nicht schuldig fühlt, die Schuld nicht
auf sich nimmt, liebt nicht, ist unser Feind und muß weichen. Das ist
Gesetz. Neues Gesetz! Ihr, die ihr nichts mehr verlieren könnt, da ihr
alles schon verloren habt . . .«

Roberts Worte gingen unter in den hundertstimmig wiederholten Worten:
»Alles verloren! Wir haben nichts mehr zu verlieren! Wir, die wir nichts
mehr zu verlieren haben . . . Nichts! Nichts!«

Die Nachricht hatte sich schon verbreitet, als sie durch die Straßen zogen.
Voran der Kellner, ohne Hut, im schmierigen Smoking, die Serviette in der
Hand. »Die wollen Frieden machen. Die wollen Frieden machen.«

Verkäuferinnen -- verwaiste Bräute -- verließen den Ladentisch und
schlossen sich an. Zwei Schaufensterreiniger, alte Männer, ließen die
Leiter stehen und schlossen sich an. Der Wagenführer der Elektrischen hörte
das Wort »Friede«, erstarrte und sprang vom Wagen herunter, schloß sich an.
Die Fahrgäste schlossen sich an. In wenigen Minuten hatte sich die Menge
verdreifacht. Und verzehnfachte sich, als Robert, auf dem Platze angelangt,
auf der Brunnenschale stand und sprach. Sein Mund zeichnete den letzten
Satz in weithin sichtbaren Buchstaben an den Himmel: »Es ist schon die Axt
an die Wurzel gelegt. Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird
abgehauen und ins Feuer geworfen.«

Eine junge Frau stand da und tat nichts als lächeln und »Friede« sagen.
Reisende, die vom Bahnhof kamen, vergaßen alles und schlossen sich an, als
die Menge weiterzog. Flammend. Schnell. Entzündet vom Glauben. Eine Schar
Urlauber, feldmarschmäßig ausgerüstet, das Gewehr quer über dem Rücken und
das Grauen des Schlachtfeldes in den Augen, schloß sich an. Alte Mütterchen
kamen kaum mit. Kinder bekamen schmale Gesichter vor Staunen und ahnten das
Große. Ein alter Polizeiwachtmeister mit grauem Spitzbart, das Trauerband
am rechten Arme, bekam fanatische Augen und schloß sich an. Menschen, die
dem Zuge entgegenkamen, machten kehrt, vom Feuer ergriffen. Radfahrer
sausten durch die Straßen. »Die wollen Frieden machen!« Die Wirtshäuser
entleerten sich. Werkstätten, Baustellen entleerten sich. Transmissionen
standen still. Eine Abteilung Soldaten unter Gewehr wurde mitgerissen.
Gesänge der Liebe ertönten im Marschtempo. Kranke stiegen aus den Betten,
schleppten sich ans Fenster. Kilometerlange Linien von Frauen, schräg
bewegt, trieben aufeinander zu, stießen zum Zuge.

Ein Zwanzigjähriger -- Fanatismus und Geist auf der Stirn -- sprang aus
einer menschengefüllten Seitengasse heraus, auf den Kellner zu, küßte ihn.
Und sein heißer Blick öffnete die Herzen.

Die ganze Stadt war aufgestanden und schrie ein Wort. Friede! Das so
gesprochene Wort wurde zu vieltausendstimmigem, gewaltigem Gesange. Alle
Kirchenglocken läuteten.




II. Die Kriegswitwe


Ihr Mann war Versicherungsagent gewesen, war gefallen, gestorben.
Kopfschuß.

»Die Kugel hätte ihn auch in die Brust treffen können, ins Herz, in die
Lunge. Die Kugel hätte ebensogut . . . den Magen meines Mannes zerfetzen
oder die Wirbelsäule zersplittern können. Der eine stirbt so, der andere
so. Das ist ganz gleich. Tot ist tot . . . Oder ein Bajonettstich in seinen
Unterleib, daß mein Mann seine Gedärme, die er nie gesehen hatte, noch ein
paar Minuten lang hätte betrachten können.«

Unwillkürlich legte die Frau schützend die Hand auf ihren hohen Unterleib:
das Kind des toten Vaters bewegte sich.

»Versicherungsagent . . . Er hätte ebensogut irgend ein Handwerker,
Kaufmann, Arbeiter, Beamter, Gelehrter sein können, ganz gleich was, die
Kugel hätte ihn doch getroffen . . . Sauste auf meinen Mann zu und machte
keinen Bogen um ihn herum, machte natürlich keinen Bogen um den armen
Versicherungsagenten herum. Die Kugel wählt ja nicht aus. Trifft jeden
. . . Ich, eine Versicherungsagentenwitwe, könnte ebensogut eine Beamten-
oder Arbeiterwitwe sein. Zwischen mir und allen anderen gibts keinen
Unterschied. Ich bin eine Kriegswitwe. Wie alle. Eine Kriegswitwe . . . Und
wenn meinen Mann eine Granate so zerfetzt und in die Luft gesprengt hätte,
daß nicht ein Teilchen seines Körpers mehr zu finden gewesen wäre? Ganz
gleichgiltig! Tot ist tot . . . Mein Schicksal ist das Schicksal von
Millionen Frauen. Einen Unterschied gibts gar nicht zwischen mir und allen
anderen Frauen . . ., zwischen mir und der Nachbarin, die an der Ecke wohnt
und seit drei Wochen auch keinen Mann mehr hat, zwischen mir und den
. . . Ja wieviel Frauen sinds denn? Zwei Millionen vielleicht, die in ihrem
Zimmer sitzen und, wie ich, an ihren toten Mann denken? Zum Fenster
hinaussehen und an ihren toten Mann denken, Staub wischen, Kinder warten,
Strümpfe stricken, kochen, auf die Arbeit gehen und an ihren toten Mann
denken, an ihren toten Mann denken, toten Mann denken. Sich abends ins Bett
legen und an ihren toten Mann denken. Zwei Millionen vielleicht? Zwischen
all denen und mir gibt es keinen Unterschied. Unsere Männer sind tot
. . . Der Nachbarin ihr Mann ist in einem Lazarett gestorben. Meiner durch
Kopfschuß. War sofort tot. Ganz gleichgiltig . . . Kopfschuß! In die Stirn?
Vielleicht bei der Nasenwurzel hinein? Oder durchs Auge hinein? Durch sein
Auge? Ja aber, was geschah mit seinem Auge? Mit seinem lieben Auge. Mit dem
Auge meines lieben Mannes . . . Ist ja ganz gleichgiltig; es ist ganz
gleichgiltig, ob das Auge, die Brust, die Lunge, das Gehirn, der Unterleib
zerfetzt wird. Tot ist tot . . . Millionen Kriegswitwen sitzen wie ich da
und stellen sich vor, wie der Mann eigentlich gestorben sein mag. Es ist
aber ganz gleich, wie er den Tod fand. Fand? Sucht man denn den Tod?
. . . Und ob er jetzt Schlosser oder Student, Fabrikarbeiter oder Bauer,
Gelehrter oder Beamter gewesen wäre, ganz gleich. Das ist ganz gleich
. . . Es geht Millionen Frauen so wie mir. Gott sei Dank.«

>Wieso denn Gott sei Dank?<

Sie stand schwerfällig auf; die Hand blieb auf die Tischkante gestützt.
»Das lindert.« >. . . Was lindert?< ». . . Doch, das lindert. Es ist doch
ein Unterschied, daß es nicht mir allein, sondern Millionen Frauen so geht.
Ein bedeutender Unterschied. Der Unterschied ist sehr groß. Und es lindert.
Ich würde es einfach nicht ertragen, wenn es mir allein so ginge. Sich das
nur vorzustellen! Könnte ich es denn ertragen? Ich ganz allein! Das wäre
unmöglich . . . Es geht Millionen Frauen so wie mir.«

Schon eine Weile hatte sie gedankenversunken in den Spiegel gesehen; jetzt
erst bemerkte sie die Miene befriedigter Rachgier in ihrem Gesicht. Und sah
ganz plötzlich Millionen Frauengesichter, schmerzbehangen.

»Das läßt einen das Unglück leichter ertragen, ertragen . . . Es geht eben
allen so wie mir. Wir müssens ertragen, wir Frauen.«

»Und wenn du einen Menschen leiden siehst, so verdopple sich dein eigener
Schmerz«, heißts, glaube ich, in der Bibel. Ganz im Gegenteil. Das lindert.
Entweder lügt die Bibel oder wir Kriegswitwen lügen. Alles ist auch nicht
wahr, was in der Bibel steht. Wir Kriegswitwen lügen nicht. Wer behauptet,
daß wir Kriegswitwen lügen! Wir haben unsere Männer dem Vaterlande
geopfert. Auf dem Altare des Vaterlandes geopfert. »Al . . . tar des Vater
. . . landes«, schmeckte sie mit der Zunge, sah fernhin, versuchte, sich
den Altar des Vaterlandes vorzustellen. Das gelang ihr nicht.

Immer wieder sah sie den Altar, vor dem sie als Mädchen das erste Abendmahl
genommen hatte, sah Kerzen und das Christusbild. »Aber Altar des
Vaterlandes? Gibts denn das überhaupt?«

Da machte ihr Wesen einen blitzschnellen Sprung zurück zu dem Glauben: »Ich
habe meinen Mann auf dem Altare des Vaterlandes geopfert . . ., wie alle
andern Kriegswitwen auch.«

»Der Altar steht allerdings nicht in einer Kirche, sondern ist ein mit
Elektrizität geladener Stacheldrahtzaun, in dem dein Mann hängen geblieben
ist«, versuchte der Schmerz zu flüstern, »also müßte man eigentlich sagen:
geopfert im Stacheldrahte des Vaterlandes.«

Es gelang ihr, den noch ganz undurchlittenen Schmerz um den toten Mann
wegzuhalten mit den Worten: »Er starb den Heldentod fürs Vaterland.«

Stolz glitt mit diesem Worte in ihr armes Herz hinein.

»Die Befriedigung, daß es Millionen Frauen so geht, und die Worte:
>Geopfert auf dem Altare des Vaterlandes, Er starb für eine heilige Sache,
Er starb für den Sieg unserer Waffen<, sind Betäubungsmittel gegen den
Schmerz um deinen geliebten Mann; aber nicht immer kannst du
Betäubungsmittel nehmen; einmal wirken sie nicht mehr«, flüsterte der
Schmerz, der empfunden sein wollte und so fest in Worte eingepackt war, daß
seine Stimme von der Kriegswitwe nicht gehört wurde.

Die Abzementierung des Gefühls, des Schmerzes war undurchdringlich; so
undurchdringlich war die einzementierte Wortplatte -- von den noch im
dunkelsten Geiste alter Jahrhunderte Stehenden einzementiert in das
empfängliche, gedankenlos-gläubige Gehirn des Volkes --, daß der noch
undurchlittene Schmerz nicht eine Sekunde lang in ihr Herz vordringen
konnte.

Der Gesichtsausdruck der Witwe wurde, da Gefühl und Schmerz nicht fließen
konnten, von Tag zu Tag steinerner. Die Tränen wurden nicht vom Herzen
geschickt; sie liefen von oben weg.

Und der immer steifer werdende Haß gegen den Feind machte sie im Traume zur
Mörderin.

Ein verspäteter Brief des toten Mannes kam an. Der Schmerz setzte sich in
den Brief hinein, wollte mit jedem Worte, das die Frau las, ihr ins Herz
springen.

Das war abzementiert.

Er erzählte vom Schützengraben, vom Feuer des Feindes, vom Essen. »Ich
rauche jetzt viel, das tut gut«, schrieb der tote Mann. »Und wann werde ich
dich wiedersehen? Sende mir eine wollene Unterjacke; es ist kalt geworden.
Und bleib mir treu.«

Die einzementierte Platte rückte; Schmerz schoß heiß auf. Ganz kurz. Dann
saß die Platte wieder fest. Das eine Sekunde lang ungeheuer verändert
gewesene Witwengesicht wurde wieder steinern.

In ihrem Kopfe war verwirrender Nebel zurückgeblieben, von dem sich vage
der Gedanke loslöste: »Zwei solche wollene Unterleibchen müssen doch noch
da sein, Trikotleibchen. Da könnte er immer das eine waschen, wenn er das
andere anhat . . . Müssen doch noch da sein.«

Der Schrank öffnete sich. Das Unterleibchen wurde bei den zwei Ärmelenden
gefaßt, untersucht. »Nur den Knopf, muß ich annähen.«

Der Schmerz hatte sich im Unterleibchen versteckt; sein Sprung ins
Witwenherz wurde vom Nebel in ihrem Gehirn verhindert.

Während sie den Knopf annähte, packte sie in Gedanken das Unterleibchen
schon ein, trugs zur Post: es rollte an die Front, wurde vom toten Mann
ausgepackt, angezogen.

Da verschwand der Nebel. Und ihr ganzes Wesen flüchtete hinein in das Wort:
»Ich habe meinen Mann auf dem Altare des Vaterlandes geopfert, für eine
heilige Sache . . ., wie alle andern Frauen auch, wie viele Frauen, wie
zwei Millionen Frauen. . . . Es geht mir nicht allein so.«

Sie trug das Leibchen in den Schrank zurück. Da hing eine alte Hose. Bei
den Knien war die Hose etwas heller und herausgedrückt, als seien die Kniee
des Mannes noch in der Hose.

Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen das herausgedrückte Hosenknie, in dem
der Schmerz saß, lauernd, sprungbereit.

Und flüchtete, den Blick auf die schaukelnde Hose gerichtet, in die kleine
Befriedigung hinein: »Die hätte er doch nicht mehr lange tragen können.«

Automatisch ging sie fort, um Einkäufe zu machen für den Haushalt. »Lange
hätte er die nicht mehr tragen können . . . Wenn er zu den Leuten geht, um
sie zu überreden, sich versichern zu lassen, und ist nicht gut angezogen,
wer läßt sich da von ihm in die Versicherung aufnehmen . . ., wenn er
schlecht angezogen ist. Die Leute sind ja gleich so mißtrauisch.«

Sie hatte ein schwarzes Kleid an. Ihr Gesicht war leblos, weiß, das Auge
leblos: nicht starr, nicht ruhig, nicht glänzend; es sah tot aus. Die Witwe
sah tot aus. Wie ein Gipsabguß. Mechanisch bewegte sich ihr Körper
vorwärts, in den Kolonialwarenladen hinein.

»Aber wenn er abends heim kam, und es waren ihm ein paar Abschlüsse
gelungen. Wie schön! Die Prozente! . . . Da sind ein paar ganz Hartnäckige.
Gott, wie oft war er schon bei denen! Die sind sehr reich; die Versicherung
wäre sehr hoch; und wenn ihm der Abschluß gelingt . . . Die Prozente! Wenn
er vielleicht jetzt noch einmal hinginge, wer weiß? . . . Er soll doch noch
einmal hingehen.«

Der alte, nach Petroleum riechende Kolonialwarenhändler bediente die
Kriegswitwe mit besonderer und bedeutsamer Zartheit.

Und ihr stieg schmerzhaft schnell die unabänderliche Tatsache wieder ins
Bewußtsein, daß ihr Mann zu den paar Hartnäckigen, die so reich waren, gar
nicht mehr gehen konnte, weil er ja nicht mehr lebte.

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich; und der Kolonialwarenhändler, von
ihrer Miene zum stärkeren Bezeugen seines Mitleids aufgefordert, zeigte
deutlicher, daß er wohl wisse, was es für eine Frau bedeute, den Mann
verloren zu haben. Seine gespannte Bereitwilligkeit, wie er ihre
Bestellungen entgegennahm, tat ihr wohl. Mit einem leisen Druck legte er
die gefüllte Düte vor sie hin, sah ihr, Oberkörper vorgebeugt, ins Auge.

Und die Hausfrau in ihr versuchte, das Zartgefühl des Kolonialwarenhändlers
zu benützen: ob sie den Kaffee noch einmal zum alten Preis bekommen könne.

Da hob er die Schultern: das täte ihm leid.

Sofort verschloß sich ihr Gesicht. Und wie ein Grammophon >Die Wacht am
Rhein<, spielte ihr wundes Gehirn automatisch: >Ich habe meinen Mann auf
dem Altare des Vaterlandes geopfert, für die Verteidigung des Vaterlandes,
des heimatlichen Herdes hingegeben; er ist auf dem Felde der Ehre gefallen,
damit dieser schmutzige Krämer weiter sorglos seine Kaffee verkaufen kann,
und mir gibt er ihn nicht zum alten Preis.<

Der Kolonialwarenhändler hob das Klappbrett des Ladentisches, schlüpfte
vor, öffnete höflich die Tür: »Die enormen Einkaufspreise jetzt. Nicht zu
sagen.« Es täte ihm ja wirklich sehr leid, aber da sei nichts zu machen.

Tief beleidigt und scharfen Haß in den Augen, verließ sie den Laden.

Ein Schaufensterspiegel zeigte ihr, daß sie gebeugter ging, als es ihr
momentaner Seelenzustand verlangt hätte. Bewußt brachte sie den
Gesichtsausdruck in Übereinstimmung mit ihrer Körperhaltung und ging
gebeugt und langsam weiter,

vorüber an einem spielenden Kinde, das, seinen mit Ahnung gefüllten Blick
zu ihr emporgerichtet, im Halbkreise auswich und ihr nachsah.

Daß sie eine Kriegswitwe war, konnte jeder sehen. Auch die Leute im
Trambahnwagen fühlten das sofort, schlossen jedoch die Augen. Denn da war
nichts zu machen. Krieg ist Krieg. Und dabei fallen Männer. Alles Mitleid
nützt nichts. Mitleid ist hier Schwäche. Außerdem gehts vielen so. Die
Kriegswitwe stierte wie ein Mensch, der in seinem Blute liegt. Und alle
gehen vorüber. Sie steckten die Gesichter in die noch feuchten Zeitungen,
lasen die neueste Siegesnachricht: wieviel Feinde gefangen, wieviel
gefallen waren, freuten sich und nahmen sich konzentriert vor: >Mich solls
nicht packen . . . Aber denen werden wirs zeigen!<

»Siebentausend!« las laut ein gutmütig aussehender alter Mann und sah die
Kriegswitwe an. »Siebentausend Gefangene! Ungeheuer blutige Verluste! Berge
von feindlichen Leichen!«

Gesichter glänzten. Freudenworte sprangen durch den Wagen. Hände
flatterten. Befriedigter Haß saß auf den Bänken.

Die bisher tot und blau gewesenen Augen der Agentenwitwe waren schwarz
geworden vor befriedigter Rachgier. »Was steht da? Berge von feindlichen
Leichen? Berge?«

Da trat, gleich einem Fremden, der unerwartet und unerwünscht in eine
geschlossene Gesellschaft eindringt, von der Plattform aus der Kellner in
den Türrahmen: »Über was freut ihr euch denn so? Über was? . . . Weil jetzt
wieder einige tausend Euresgleichen auf dem Felde der . . . Ehre liegen?
Blutig und zerfetzt! Noch atmend oder schon tot! . . . Vielleicht ist auch
Ihr Sohn unter den zerstampften Opfern. Und liegt seit der gestrigen
Schlacht ohne Hilfe schwer verwundet zwischen Toten und glotzt zu seinem
Beine hin, das zwei Meter von ihm entfernt liegt. Glauben Sie denn, daß Ihr
Sohn den wahren Grund gekannt hat, der ihn veranlaßte, zum Mörder zu
werden, bevor er selbst ermordet wurde?« fragte er, mühsam seine Erregung
bändigend, den gutmütig aussehenden alten Mann,

in dessen Gesicht die Siegesfreude fassungslosem Staunen wich.

Der Zwanzigjährige, der seit dem Tage, da der Kellner in seiner Heimatstadt
die Herzen für die Liebe aufgerissen hatte, mit durch das Land und durch
die Städte fuhr und, scheinbar ganz unbeteiligt, auf der Plattform stand,
machte plötzlich einen schnellen Schritt in den Wagen hinein, auf den
Offizier zu, der abweisende Glasaugen bekam: »Steht auf gegen den Krieg.
Protestiert! Alle! Alle!«

»Sie sind ruhig jetzt! Hier wird nicht so gesprochen«, sagte der Schaffner.

»Bleibt nicht sitzen in eurer Freude darüber, daß Ochsen und Kälber humaner
als Menschen, humaner als eure Männer und Söhne geschlachtet werden.«

Sekundenlang stand das Schreckgespenst der Wahrheit im Wagen.

»Wenn man's richtig überlegt, sind das natürlich auch Menschen . . . die
Feinde«, sagte jemand und wunderte sich, daß er diese Worte gesprochen
hatte.

Da wurden alle erlöst vom gutmütigen alten Manne, der sich schon wieder
beruhigt hatte: »Ja, Menschen! Warum haben sie uns dann überfallen? . . .
Hätten wir uns nicht verteidigen sollen?«

Das Leben kehrte zurück: Köpfe nickten. Augen blickten glänzend und hart.
Die Agentenwitwe richtete sich straff auf.

Der Kellner blickte hilflos wie ein Toter.

Der gutmütige Alte stieß mit dem Zeigefinger auf seine Zeitung und rief,
hassend und frohlockend: »Unsere Verluste sind ja ganz gering. Hier steht's
ja.«

»Immer heißt es: >Unsere Verluste sind gering<. Wie steht's dann damit, daß
wir bis jetzt schon mehr als zwei Millionen Tote haben? Und wie viele sind,
so wie ich, für das ganze Leben ruiniert?« fragte ein invalider Soldat, in
einem Tonfalle, der aus einer anderen Haßquelle kam, und starrte
unbekümmert dem Offizier ins Gesicht.

»Berge von feindlichen Leichen!« wiederholte der Alte und faltete die
Zeitung zusammen.

Der Schmerz um den toten Mann war von einem Leichenhaufen zugedeckt. Erregt
vom befriedigten Hasse, schritt die Agentenwitwe aus dem Wagen hinaus, die
Mundwinkel in die Wangen zurückgezogen, daß die Lippen verschwunden waren
und ihr mit Rachgier gefülltes Gesicht voller erschien.

Die Zeit ging hin. Mit Hilfe des Glaubens, daß ihr Mann für eine heilige
Sache, für den endlichen Sieg gestorben sei, auf dem Felde der Ehre, und
mit der lindernden Tatsache, daß es Millionen Frauen so ging wie ihr, hielt
sie den Schmerz auch noch während der nächsten Wochen von sich weg.

Gläubiger schickten Rechnungen, dann Mahnungen, dann Drohbriefe, in denen
noch der Satz stand: die Zeiten seien schlecht, jetzt brauche jeder sein
Geld; dann kurze Mitteilungen, in denen die Pfändung unverschleiert
angekündigt wurde.

Das hatte die Kriegswitwe, deren Mann doch auf dem Felde der Ehre gefallen
war, nicht für möglich gehalten. Diese Rücksichtslosigkeit und
Ungerechtigkeit übertraf alles, was ihr bisher widerfahren war, übertraf,
wenn sie genau überlegte, sogar die Ungerechtigkeit, daß ihr Mann, gerade
ihr Mann, der arme Versicherungsagent, der doch, weiß der liebe Gott, schon
vor dem Kriege in Not und Krieg gestanden war, in den Krieg hatte ziehen
und fallen müssen.

Monatelang trug sie noch das Gefühl und das gepeinigte Gesicht eines
unschuldig verfolgten Menschen herum, bis sie, täglich und durch
verschiedenerlei Erlebnisse immer wieder daraufgestoßen, einsehen mußte,
daß das Leben keine Rücksicht auf ihr Schicksal nahm, das ja schließlich
das Schicksal von Millionen Kriegswitwen war, sondern offenbar kraß
weiterschritt, ganz unverändert, was die Geld- und Selbstsucht anlangte.

Dieser bitteren Erkenntnis setzte sie anfangs soviel Härte und dunkle Wut
entgegen, wie in einem Menschenkörper Platz hat.

Aber das Leben war noch härter und mürbte täglich und mit mörderischer
Monotonie weiter, bis die Witwe dieser aussichtslosen Wut müde wurde.

Der noch undurchlittene Schmerz hatte Zeit, konnte warten, bis die
Schutzwehren -- der Altar des Vaterlandes, das Feld der Ehre und die
lindernde Tatsache, daß es zwei Millionen Frauen so erging -- ins Nichts
zurückstürzten und das Herz der Kriegswitwe bloßgelegt war für den Sprung
des Schmerzes, hinein ins Witwenherz.

Und was dem Tage nicht ganz gelang, vollbrachten die Träume. Dem Tage, da
ein Bekannter es sich wohl sein ließ bei der Bemerkung: »Liebe Frau, die
Zeit lindert jedes Leid«, folgte die Traumnacht, in der der Schmerz
erstaunlich deutlich erklärte: »Aber den noch undurchlittenen Schmerz kann
die Zeit nicht lindern. Kann Liebe vergehen, bevor sie da war und empfunden
worden ist? . . . Erst muß der wahnsinnig singende, mörderische Schmerz
empfunden worden sein, ehe die Zeit ihn lindern kann.«

In derselben Nacht träumte die Witwe: der Mann kommt zu spät nach Hause.
Sie liegt schon lange im Bett. Sie ist böse, schimpft: »Wo bleibst du
denn!« »Je, je, ich kann mich doch auch einmal ein bißchen unterhalten.«
»So! Und ich?«

Er zieht sich aus (jede seiner Bewegungen ist ihr genau bekannt), legt sich
neben sie ins Ehebett. Sie beobachtet alles durch die Wimpern, hört seinen
Erleichterungsseufzer und wartet auf des Mannes verlangende Hand, hüstelt,
um ihm die Annäherung zu erleichtern, bewegt den Körper, lockt, bis der
Mann zu ihr schlüpft.

Alles könnte schön sein, wenn sie nicht plötzlich merkte, daß nicht ihr
Mann, sondern ein Fremder sie umfangen will.

»Es erfährts ja niemand«, sagt der Fremde. Und sie denkt: das ist wahr, es
erfährts ja niemand. Ist bereit. Und alles wäre in Ordnung, wenn nicht im
Rebenzimmer ein Mensch herumginge, der jeden Moment ins Schlafzimmer kommen
konnte. Dieser Mensch ist der Schmerz um den toten Mann, hat eine feldgraue
Uniform an, das Gewehr quer über dem Rücken.

Jetzt steht er unterm Türrahmen, ist aber nicht mehr der Schmerz in
Uniform, sondern der Fremde, während bei ihr im Bett der Schmerz liegt, der
zugleich ihr Mann ist.

Sie will ihren Mann zu sich nehmen und kann nicht, weil der im Türrahmen
stehende Fremde nicht wegsieht. Und wie der Fremde endlich geht, die Tür
hinter sich zuschlägt und die Treppe hinunterpoltert, kann der Mann seine
Uniform nicht ausziehen. Und immer ist das Gewehr zwischen ihm und der
Frau.

»Das Gewehr könnte losgehen«, sagt sie, »nimm das Gewehr weg.« Sie will ihm
helfen.

Und erwacht. Ruft nach ihrem Manne, horcht. Und tastet das Ehebett ab. »So
eine Gemeinheit! Jetzt ist er noch nicht heimgekommen.« Sie schimpft:
»Dieser Lump!«

Der Mann lacht: »Schon seit zwei Stunden liege ich neben dir, und, du hast
es nicht bemerkt.«

Sie ist froh, lacht auch. Er zieht sich aus, kommt zu ihr. Und wieder liegt
das Gewehr, in dessen Rohrlauf ein Blumenstrauß steckt, hindernd zwischen
ihnen. »Nimms doch weg . . . Warte, ich drehe das Licht an.«

Die Hand am Schalter, erwacht sie diesmal wirklich, dreht das Licht an,
sucht neben sich im leeren Bett. »Der gemeine Kerl ist noch nicht da.«

Jetzt erst ergreift eine dunkle Faust das Herz. Und wie sie dem Schmerze
entfliehen will aus den Worten: »Er ist den Heldentod gestorben«, preßt die
Faust das Herz zusammen.

»Wie allen andern Frauen auch, geht es mir«, will sie flüstern. Und ihre
Lippen formen diese Buchstaben nicht. Die Begriffe >Altar des Vaterlandes,
Heldentod, Feld der Ehre< zerflattern, sinken ins Nichts zurück vor der
entsetzlichen Wirklichkeit, daß der Mann niemals mehr zu ihr kommen kann.

Und wie ein Mensch, der ein auf seiner Handfläche liegendes Brettchen unter
die Bohrmaschine hält, schmerzlos das monotone Wühlen des Bohrers fühlt,
empfand sie, starren Auges, noch schmerzlos, das rapide, unabänderlich
näherkommende Bohren, bis plötzlich der Schmerz das letzte Hindernis
durchstoßen hatte und, wie der Bohrer in die Handflüche, hineinsauste ins
Herz der noch schlaftrunkenen Kriegswitwe.

Sekündlich und mit der ganzen Kraft ihres Wesens versuchte sie, die
Begriffe >Heilige Sache, Altar, Feld der Ehre, Heldentod< als
Betäubungsmittel dem Schmerze wieder entgegenzustemmen.

Es gelang ihr nicht mehr, diese Begriffe wie bisher mit Glauben an sie, mit
falscher Empfindung, mit irgend einer Bedeutung zu füllen. Da löste sich
auch der Haß gegen den Feind in nichts auf.

Und der Schmerz um den toten Mann war, in den Zeitraum weniger Sekunden
zusammengepreßt, ganz plötzlich so unmenschlich furchtbar, daß die Witwe,
wollte sie nicht im Augenblick Besinnung und Verstand einbüßen, mit einem
gewaltigen innerlichen Sprung von ihrem Leben der Lüge, Gedankenlosigkeit
und Selbstsucht heraus -- ins höhere Menschentum hineinspringen mußte. Sie
hatte das tief entsetzliche Gefühl, die Kraft ihres Wesens reiche nicht aus
zum Sprunge, umklammerte, aufrecht im Bette sitzend, mit beiden Händen den
Hals, den Wahnsinnsschrei abzuwürgen, der gurgelnd hervorquirlte. Flog aus
dem Bett in den Rock hinein. Und raste, halb angekleidet, durch die
Straßen. Suchte sich eines Menschen zu entsinnen, der, vom gleichen
Seelenschlag zertrümmert, ihren vom Wahnsinn schon bedrohten Zustand
begreifen könnte. Und fand keinen in ihrer Welt. Alle trösteten sich selbst
und wollten sie trösten mit dem Altare des Vaterlandes, mit dem Felde der
Ehre.

Plötzlich sprang aus diesen trostlosen Worten der Kellner heraus und in den
Türrahmen der Straßenbahn: >Steht auf! Auf! Protestiert! Alle! . . . Glaubt
ihr denn, daß eure Söhne, eure Männer den wahren Grund kannten, der sie
veranlaßte, Menschen zu morden, bevor sie selbst ermordet wurden? . . .
Bleibt nicht sitzen in eurer Freude darüber, daß Ochsen und Kälber humaner
als Menschen, humaner als eure Söhne und Männer geschlachtet werden.<

Dunkel stieg der Protest in ihr auf.

Gegen Abend traf sie im Laden des Kolonialwarenhändlers mit der an der Ecke
wohnenden jungen Arbeiterwitwe zusammen, deren Mann im Lazarett verendet
war.

Die war in den wenigen Monaten eine alte Frau geworden; ihre Augen, durch
das Weinen blutrot und um die Hälfte verkleinert, glichen nicht mehr
Menschenaugen, sondern furchtbaren Wunden, die sich tief in die Höhlen
hineingefressen hatten. Ihr Mann war erschlagen. Ihre Welt war erschlagen.
Sie war erschlagen. Lebte nicht mehr.

Ihrem tödlichen Schicksale unterstellt, lehnte sie zermürbt und verbraucht
am Ladentisch.

Und als der Kolonialwarenhändler den Tagesbericht vorlas: »Unsere
todesmutigen Helden verteidigten mit bewunderungswürdiger Tapferkeit
. . . jeden Handbreit Boden«, bat sie mit dünner Stimme, er möge ihr doch
die drei Düten zusammen in eine Düte geben, so sei's leichter zu tragen.

»Handbreit Boden! Handbreit!« schrie die Agentenwitwe und erblickte, von
Wut und Abscheu in die Vision hochgerissen, ein nur handgroßes Stück Erde,
auf dem sich eine ungeheure Pyramide von hunderttausend zerfetzten Siegern
und Besiegten erhob.

Der alte Kolonialwarenhändler erschrak, als seinem beifallslüsternen
Patriotenblick ein von Mordwut verzerrtes, wildes Frauenantlitz
entgegengestellt wurde. Instinktiv flüchtete er in das Wort hinein: »Sie
sterben den Heldentod, auf dem Felde der Ehre.«

»Ja, Feld der Ehre! Ihr habt meinen Mann erschlagen. Mein Mann ist tot.
Tot!«

»Aber Frau! Und die Heimaterde? Die muß doch schließlich verteidigt werden.
Unsere heiligsten Güter stehen auf dem Spiele.«

Die Gedankenfetzen: >Güter, heilig . . . Güterschuppen steht auf dem
Spiele, Heimat . . . Börsenspiel mit Heimaterde<, passierten das
Witwengehirn. Sie schleuderte die gefüllte Düte zurück. »A was! Heiligste
Güter! Mein Mann war mein heiligstes Gut. Er lebte, hatte Augen, verstehen
Sie -- Augen! Hatte Arme, die er um mich herumlegen konnte, und hatte
. . . hatte, hatte, hatte -- war mein Mann. Ja, glotzen Sie mich nur an,
ist mir gleichgiltig. Was sind denn eigentlich die heiligsten Güter? Wo
denn? Ich hab sie nicht. Ich habe keine. Heiligste Güter! Heilig! Nichts
als Lüge und Schwindel. Schwindel! Ah . . . ihr Hunde!«

»Aber Frau! Sie machen sich ja unglücklich, werden eingesperrt. Sie werden
eingesperrt, das prophezeie ich Ihnen, wenn Sie so über . . . unsere
heiligsten Güter sprechen.«

»Ich, eingesperrt?«

Unvermittelt fühlte der Kaufmann die Macht der Kriegswitwe, legte einen
geradeliegenden Notizblock gerade.

Alter Schmerz hatte der anderen Kriegswitwe die Brauen hochgezogen, daß die
Stirn nur noch aus drei dicken Querfalten bestand. Aus ihren Wunden liefen
zwei Tränen heraus, glitten schnell in die Wangenlöcher, in den offenen
Mund hinein. Ob sie noch etwas Malzkaffee dazu bekommen könne. Ihre
langsame Hand schob das Geldstück hin.

»Wieviel Kaffeemalz? Ah so, es gibt keinen mehr.«

»Einsperren? Das wollen wir sehen, ob die mich auch noch einsperren.«

»Liebe Frau, hier dürfen Sie nicht so reden, hier bei mir . . . Sie müssen
sich trösten, müssen sich trösten. Da hilft alles nichts. Vielen geht es so
wie Ihnen. Ja, es geht Millionen so.«

»Dann halt adieu, wenn Sie keinen Malzkaffee haben«, sagte die andere
Kriegswitwe. Das Tränenwasser lief in den gewohnten Bahnen herunter,
schaukelte am Kinn. Die mit den drei kleinen Düten gefüllte große Düte in
die konkave Brust hineingepreßt, ging sie langsam hinaus.

»Was gehen mich die andern an. Und wenn es zehn Millionen so geht. Das gibt
mir meinen Mann nicht zurück.« Der Schmerz hockte und hüpfte in ihrem
zuckenden Gesicht. »Mein Mann ist fort, tot, weg, kommt nie mehr, nie mehr.
Verstehen Sie: nie mehr!«

»Ist ja wahr, aber warum sagen Sie denn mir das alles? Habe ich den Krieg
gemacht? Warum sagen Sie mir das alles?«

»Warum?« fragte sie in ungeheuerem Erstaunen. »Warum kommen Sie mir mit
Ihrem Felde der Ehre, mit Ihrem Heldentod, mit Ihren heiligsten Gütern
daher? Sie . . . stehen da und verkaufen Ihr Zeug.«

»Wir werden siegen«, sagte der Mann einfach. »Dann ist der Krieg aus.«

Als hatte er ihr eine weißglühende Eisenstange wie eine Längsachse in den
Körper gestoßen, bei der Schädeldecke hinein und beim Unterleib heraus,
drehte sie sich einmal blitzschnell um sich selbst, herumgeschleudert vom
höllischen Schmerze, der ihr Herz gesprengt hatte mit der Vorstellung: der
Krieg ist aus, alle Menschen freuen sich grenzenlos . . ., und mein Mann
ist tot, kommt nicht zurück. Kommt nie mehr! »Und was wird dann mit mir?
He? Sie! He, was wird dann mit mir? He! He!«

»Sagen Sie mal, bin ich denn schuld daran? Sie tun ja gerade, als ob ich
. . . Was kann ich dafür.«

Von einem Blitze der Intuition grellweiß erleuchtet, erkannte sie: »Ja, du
bist schuld, du, du . . . ihr Hunde! Ihr alle seid schuld daran. Alle!«

Da konnte der Kaufmann nur die Schultern heben, wie er tat, wenn er eine
Ware nicht billiger abgeben wollte.

Und als sie schon hinausgerast war auf die verkehrsreiche Straße, sprach er
noch: »Sie werden todsicher eingesperrt. Sie sperrt man ja glatt ein.« Sah
die Banknote liegen. »Und ihr Geld vergißt sie auch noch. Die scheint
endgiltig närrisch zu sein . . . Was wünschen Sie?«

Die Kundin wünschte Petroleum, stellte die Kanne auf den Ladentisch.

»Na, jetzt das ist mir aber eine«, begann er und erzählte der neuen Kundin
die ganze Sache. ». . . Was sagen Sie dazu?«

»Recht hat sie«, erklärte die Frau mürrisch. »Was haben denn wir davon,
wenn die Land erobern. Wir haben nichts davon.«

»Ist Ihr Mann auch im Krieg?«

»Schon tot ist er, wenn Sie's wissen wollen.«

»Er starb für unsere gerechte Sache, Frau, müssen Sie sich sagen.«

»Ja, Sache«, sagte die Frau, dumpf wie ein Hund, der verhalten knurrt. Dann
sagte sie noch, was sie jedem sagte: »Sie haben seinen Kopf nicht gefunden.
Nur das Andere. Die Erkennungsmarke war weg; deshalb wollten sie mir erst
keine Unterstützung geben.«

»Aber jetzt bekommen Sie doch, wie?«

»Meine zwei Söhne sind auch schon verreckt. Im Westen.«

»Jetzt bekommen Sie doch?«

»Ich pfeif darauf. Verdiene mir selbst mein Geld. Will nichts haben von
diesen . . .«

Der vorsichtige Kolonialwarenhändler schnitt das Gespräch ab; denn neue
Kunden waren eingetreten. »Nun, was sollst du holen?«

Das Kind streckte sich, legte das in Papier eingewickelte Geld auf den
Ladentisch.

»Da vorne auf dem Platz ist eine Menschenansammlung. Jemand spricht gegen
den Krieg«, erzählte ein grauer Alter, der Zigarren verlangte. »Und
plötzlich kommt eine Frau gesprungen. Ganz außer sich. Die schreit und
schimpft nicht schlecht . . . Was will der Schutzmann machen: -- es ist
eine Kriegswitwe.«

»So, schreit sie? Die wird natürlich eingelocht . . ., wenn sie solche
Sachen daherredet.«

»Nun, so ohne weiteres kann man eine, die ihren Mann im Kriege verloren
hat, auch nicht einsperren . . . Wenn sie doch ihren Mann verloren hat. Das
ist keine Kleinigkeit.«

»Aber das Vaterland ist doch schließlich auch keine Kleinigkeit. Und
. . . unsere Kultur, was?«

Während der Alte seine Zigarre anzündete: »Schon recht, gewiß . . .
Vaterland . . . gewiß . . ., aber wenn eine ihren Mann . . .«

»Na ja, da haben Sie auch wieder recht.«

». . . verloren hat, kann sie schon rabiat werden. Das ist zu verstehen
. . . Es ist ein Riesenmenschenauflauf. Dreitausend Menschen, schätze ich.
Können auch viertausend sein. Die Frauen schreien . . . Gerade als ob sie
am Kreuz hingen, als ob jede an einem Kreuz hinge. Der Redner kann nicht
mehr weitersprechen . . . Ich bin weggegangen. Will nichts zu tun haben mit
so was. Bin ein alter Mann.« Übrigens habe er sich schon lange gewundert,
daß bis jetzt nicht mehr Kriegswitwen . . .

»Ja, es ist schon am besten, man kümmert sich nicht darum.«

Auch manche von den Männern, die um die schreiende Agentenwitwe, um den
verstummten Kellner herumstanden, dachten das. Die Frauen dachten das
nicht; es waren viele Kriegswitwen darunter und Mütter, die ihre Söhne
verloren hatten.

Der Schutzmann sagte: »Schreien Sie jetzt nicht mehr.«

Die Agentenwitwe schrie: »Ich schreie!«

Ein Bürger dachte: man kann's ihr nicht verdenken. Und ging nach Hause.

Die Trambahnwagen konnten nicht weiterfahren. Droschkenkutscher standen auf
den Böcken, Fahrgäste streckten die Oberkörper, schief wie gotische
Gestalten, aus den Wagenfenstern heraus. Die Menge vergrößerte sich rapid.
Auch die Seitengassen, die zum Platze führten, waren schon schwarz von
Menschen.

Der Schutzmann faßte die Kriegswitwe am Arme: »Gehen Sie jetzt heim.«

»Loslassen! Loslassen!«

»Heim? Habe ich denn ein Heim?« Ihr Lachen war Tiergebrüll, riß
Hohngelächter aus tausend Frauenmündern heraus. Sie hatte sich mit einem
kurzen Ruck losgemacht von der Schutzmannsfaust.

Ein Frauengesicht, höhnisch und gefährlich, schoß dem Schutzmann vor die
Augen: »Gehen Sie einmal nach Hause in ein Heim, in dem niemand mehr ist.«

»Auseinander jetzt!« rief der Schutzmann. »Macht euch nicht unglücklich.«

Das war für alle Kriegswitwen zum Lachen.

»Bin schon unglücklich. Mehr kann ichs nicht werden«, schrie die
Agentenwitwe, immer mit dem gleichen schmerzdurchtobten Tiergebrüll.

Dieselbe Gefühlswelle bewegte gleichzeitig alle Witwenleiber. Und alle
Münder schrien dem Schutzmann und einander zu: »Wir sind schon unglücklich.
Unglücklich!«

Die Macht der Frauen war sehr groß.

Der Schutzmann sah plötzlich wie ein hilfloses Kind aus.

Da krachte ein Schuß. Knapp neben dem Zwanzigjährigen.

Menschenohren horchten, daß es nachtstill wurde. Dann stieg der
tausendfache, wilde und ganz wortlose Schrei. Das klang in der Ferne wie
Kirchengesang.

Johlen. Gebrülle. Die Menge war ein einziger, langsam bewegter Riesenkörper
geworden. Der Schuß hatte die Gemüter von Zwang und Ordnung entbunden und
in anarchische Freiheit hineingestellt.

Der Schutzmann drückte sich, seitwärts gedreht, durch die drohend enge
Menschengasse durch und verschwand.

Jetzt erst bemerkten der Zwanzigjährige und die Nächststehenden, daß nicht
ein Schuß gefallen, sondern ein Automobilschlauch geplatzt war.

Die Agentenwitwe machte mit den Händen ganz kleine, gebundene Bewegungen,
die mit den Zuckungen ihres Gesichtes korrespondierten, und bemühte sich,
den andern zu erklären, wie qualvoll es sei, wenn ihr ein alter Anzug, ein
Trikotleibchen, eine gebrauchte Hose des toten Mannes vor die Augen komme.
»Ich sehe den Stuhl an, auf dem sonst mein Mann gesessen war, sehe den
Stuhl an . . . Und wenn ich unsern Sekretär ansehe, vor dem oft mein Mann
gestanden war, ist das gar kein Sekretär mehr . . .«

Alle sahen in der Zimmerecke den lackierten Muschel-Sekretär stehen, der
die unabänderlich sich gleich bleibende Einsamkeit war und jede aufkeimende
Hoffnung erschlug. Qualvolle Hilflosigkeit strich lautlos über die
Menschengesichter und erzeugte bei allen den toten Blick.

Da griff der Kellner auf den Grund der Sehnsucht und rief: »Wir wollen
Frieden machen!«

Sofort öffneten sich die Menschengesichter; eine Wolke heißen Gefühles
ballte sich zusammen und platzte: das Wort >Friede< donnerte hoch,
umdonnerte minutenlang den Kellner, der auf einem leeren Lastwagen stand
und sich unter tiefer Qual den Entschluß abrang, in die plötzlich
entstehende, offene, fruchtbare Stille die kalte Wahrheit hineinzustoßen:

»Aber wir können nur dann helfen, Frieden zu machen, wenn wir wissen und
zugeben, daß auch wir den Krieg mitverschuldet haben.«

»Was sagt der? Was?« Die Agentenwitwe war vor Empörung und Staunen gelähmt.

»Nur wer denkt und die Menschen liebt, kann ihnen den Frieden bringen
. . . Wir denken nicht und lieben nur uns selbst.«

Die Gesichter veränderten, verschlossen sich; eine leere Fläche entstand
zwischen der Menge und dem Kellner.

Der sagte: »Schon vor dem Kriege war die Liebe tot in uns. Wir waren
gedankenlose, meinungslose Maschinen. Deshalb hat jeder Einzelne von uns
den Krieg mitverschuldet.«

»Krieg mitverschuldet? Wir haben den Krieg nicht gewollt. Das Volk nicht!
. . . Wir nicht!« Eine Welle des Zornes bewegte die Menge.

»Laßt euch das sagen. Das müßt ihr euch sagen lassen. Wir müssen erst
umkehren zur Wahrheit: wir hatten das Gute -- die Liebe -- vergessen; wir
hatten uns gar nicht überlegt, was gut ist; wir haben überhaupt nichts
überlegt, überhaupt nicht gedacht und Zeit unseres Lebens das Böse wachsen
lassen, bis es uns zur Gewohnheit geworden war, und wir mit entsetzlicher
Selbstverständlichkeit glaubten, daß das Böse -- Egoismus, Gewalt, Macht,
Erfolg, Geld und Autorität -- das Erstrebenswerteste im menschlichen Dasein
sei. Und dieses zur Selbstverständlichkeit gewordene, kalte, mörderische
Prinzip jeden Europäers, den Mitmenschen übervorteilen zu wollen, mußte die
Menschen dazu führen, daß sie am Ende einander erschlagen . . . Dann wird
von Ehre, Heldenmut, Heldentod, von einem Felde der Ehre gesprochen.«

Da flog, die Zustimmungsrufe auseinanderschneidend, die Agentenwitwe durch
die vor ihren geballten Händen entstehende Menschengasse durch, bis zum
Wagen. Ihr Schmerz hatte sich gegen den ersten gedreht, der anderer Meinung
war als sie. »Krieg mitverschuldet? Wir? Mein Mann? Mein Mann wollte nur
leben«, schrie sie fassungslos. Kletterte hinauf. Wurde heruntergezogen.
Kletterte wieder halb hinauf. Erleben, das keinen Widerstand mehr fand,
durchströmte und befreite sie.

Noch bevor sie vom Wagen wieder losgerissen werden konnte, beugte sich der
Kellner herab und berührte mit seiner Hand sanft ihren zerrauften Scheitel.

»Red du nicht so weiter«, drohte ein Arbeiter.

Johlende, halbwüchsige Burschen, zum Kriege noch nicht tauglich, klebten
auf den Mauervorsprüngen.

»Wir alle haben rücksichtslos nach nichts anderem gestrebt, als so viel
Erfolg wie nur möglich zu haben, unbekümmert, daß wir dadurch das Bild
unserer Seele zerstörten, unbekümmert, ob dadurch ein Mitmensch ins Leid
und in das Elend sank. Wie ich, habt auch ihr die erfolgreichsten
Gewalttätigen, die am meisten Macht, Besitz und Autorität auf sich
vereinigen, gedankenlos als Autoritäten anerkannt und bewundert . . . Wir
alle waren stolz, wenn unsere schlecht beratenen Kinder patriotische Kampf-
und Mordlieder sangen. Und als die mächtigen Autoritäten die Truppen
marschieren ließen, jubelten wir und waren begeistert. Wir jubelten, als
die ersten Siegesnachrichten einliefen. Wir jubelten. Und kümmerten uns
nicht darum, daß beim Erstürmen einer Festung fünfzigtausend Menschen
zerrissen werden. Zerrissen werden mußten, damit durch diesen ungeheuer
verbrecherischen Gewaltakt die Erfolgreichsten noch mehr Macht, die
Besitzenden noch mehr Besitz bekommen können. Wir kümmerten uns nicht
darum, weil wir selbst nichts anderes als das Verlangen nach Erfolg, Besitz
und Macht in uns trugen. Und dieses Verlangen logen wir um in Patriotismus.
Wir müssen den Frieden bringen. Wir haben den Krieg mitverschuldet. Wir
sind Mörder. Wir müssen uns entsündigen.«

Gefährliches Murren wuchs an, verdichtete sich zu einzelnen Zornrufen, die
sich schnell aneinanderreihten, bis zuletzt ein einziger langer Schrei, so
dick wie der Platz, zum Himmel stieg.

Den Tumult durchstach die sich überschlagende Stimme der Agentenwitwe: ihr
Mann sei kein Mörder gewesen. »Kein Mörder! Mein Mann nicht! Kein Mörder!«
Ihr Wort >Mörder< tanzte messerscharf und hoch über das zusammengeballte
Brüllen der Menge hin. Sie taste, streckte ihre Hände, halb flehend und
halb würggespreizt, zum Kellner hoch.

Der trug in den Gesichtszügen die Kühnheit eines Menschen, welcher infolge
übergroßen persönlichen Leides persönliche Gefahr nicht mehr fürchtet und
persönliches Leid nicht mehr kennt.

Ein junger Mensch, fanatisiert und bleich, klärte erregt die
Nächststehenden auf: das sei ein Mensch, der's gut meine.

»Ja, gut meine! Krieg mitverschuldet! Mein Mann Krieg mitverschuldet!«

»Ruhe jetzt! . . . Ruhe!« Das Wort wurde von dieser Gruppe weitergegeben,
lief in Diagonalen kreuz und quer. Und erzeugte schnell erwartungsvolle
Stille für den Sprecher.

»Wir haben erst dann das Recht, nach dem Frieden zu rufen, wenn wir nicht
mehr, wie bisher, gedankenlos und meinungslos falsche Pflichten erfüllen.
Und wir können erst dann den Frieden auf Erden verwirklichen, wenn wir
aufhören, die großen Nichtigkeiten in den Mittelpunkt des Lebens zu
stellen, wenn wir keine entseelten, gewohnheitsmäßig funktionierenden
Besitzanhäufungs-Automaten mehr sind, sondern Wesen mit dem göttlichen
Wissen, daß jeder Mensch unser Bruder ist, daß alle Menschen dieser Erde
Träger der ewigen Seele sind, und daß das Wort: >In dem Augenblicke, da du
dir vornimmst, einem Menschen zu schaden, hast du schon dir selbst
geschadet<, unumstößliches, göttliches Gesetz ist.

Nur der Mensch, der sich zu seiner Seele bekennt, die ihm verbietet, dem
Bruder zu schaden, ist reich, steht ununterbrochen im glühenden Fluß der
Gefühle. Wir sind ganz verarmt . . . Das gewohnheitsmäßige Übervorteilen
des Mitmenschen, das Verlangen nach Besitz und die gewohnheitsmäßige
Anhäufung von Besitz, weswegen die Europäer heute einander erschlagen
müssen, haben uns ganz erniedrigt, gemein und arm gemacht . . . Die
Kathedrale der Seele ist zusammengebrochen im Europäer. Deshalb wird er
Offizier, Staatsbeamter, Börseaner, deshalb ist er habgierig, brutal,
elegant, schuftig, gebildet, deshalb stiehlt er, raubt und wuchert, wird
reich, bleibt arm, mordet, duelliert sich, macht Kriege und Geschäfte, läßt
Erfolglosere für sich arbeiten, so schwer für sich arbeiten, daß der großen
Mehrzahl des Volkes nicht eine Minute Zeit zur Selbstbesinnung bleibt, so
daß auch diese Armen nicht mehr an die Liebe im Menschen glauben können,
und ihr ganzes entgöttlichtes Streben darauf richten müssen, ebenfalls in
die Klasse der Besitzenden aufzurücken.

Wir alle -- Reiche und Arme -- sind brutal wie Mörder, schamlos und gierig
wie harte Wucherer, wir alle sind Offiziere und Börseaner, auch wenn wir
erfolglose Sklaven geblieben sind . . . Glückliche, unendlich reiche Kinder
könnten wir sein auf unserer unendlich reichen Erde, und sind erfolggierige
Geldmenschen, bedauernswerte, erlebnisarme Schurken, die zu staatlich
sanktionierten Mördern wurden. Der Krieg ist durch den Krieg nur sichtbarer
geworden.«

Die Menge, berührt vom Worte des Kellners, war schwankend geworden; nie
empfundene Gefühle standen auf, gerieten in Schwingung, erklangen und
verdichteten sich zu vereinzelten Zustimmungsrufen.

Da schrie die Agentenwitwe einen Satz, der die Nächststehenden in den
Mittelpunkt des Gefühles traf und, mit Zusätzen versehen und von Mund zu
Mund weitergegeben, die Menge durchlief, so daß den Kellner plötzlich die
tausendfach gebrüllten Schreifetzen umtosten: »Ganze Volk! Leid gestürzt!
. . . Millionen Tote! . . . Hunger! Kriegsgewinne! Hallunken!«

Im tiefsten Grunde des Brüllens klang ein ferner Jubel mit.

Mit der ganzen Kraft seines Wesens versuchte der Kellner, die Menge erst
auf der Irrtumsspirale zurückzuführen bis zum Ausgangspunkt, wo die
Wahrheit steht, während die Agentenwitwe ohne Besinnen mit den Irrtümern
vorwärtsstürmen wollte und die ganze Menge geschlossen hinter sich hatte.

Noch einmal gelang es ihm, die anarchisch bewegte Menge aufzuhalten und
still werden zu lassen, da er sagte: »Unsere Autoritäten konnten uns
marschieren lassen, jeden Einzelnen von uns als Menschenmetzger anstellen
und ganz Europa in ein Menschenschlachthaus verwandeln, weil unsere
Lebensauffassung entsetzlich genau ihrer Lebensauffassung entspricht. Weil
wir, in notwendiger Folge unserer Gedankenlosigkeit, Meinungslosigkeit,
unseres Verlangens nach Geachtetwerden, nach Besitz, Stellung und Macht,
bisher immer nur die Luft geatmet, die Worte gesprochen, die Gedanken
gedacht und nach den Gefühlen gehandelt haben, die uns von der Autorität
geliefert worden sind . . . Von der Autorität, die mit dem gleichen Munde,
mit dem sie den Befehl zum Feuern auf Menschen gibt, uns von Zivilisation
spricht. Bedeutet das nicht, von allem Anfang an in der Lüge ertrunken
sein, von Zivilisation zu sprechen, solange noch durch jede Straße Europas
Menschen gehen, die an der Seite Messer hängen haben, dafür bestimmt, in
Menschenleiber hineingebohrt zu werden? Zivilisation!

Zehn Millionen Menschen sind jetzt verendet. Warum? Für was sind diese zehn
Millionen Menschen gestorben? Hat ein einziger von euch darüber
nachgedacht, weshalb die Europäer ihre Jugend, ihre Jünglinge abschlachten?
Warum dieser Krieg ausgebrochen ist? Ausbrechen mußte!« Er wartete. Lange,

bis ein abgearbeiteter Mann die für ihn selbst verbraucht und nicht mehr
überzeugend klingende Antwort gab: »Unser Volk ist angegriffen worden und
mußte sich verteidigen.«

Getroffen von diesem oft vernommenen Satze, rief der Kellner: »Und ich sage
euch, so lautet -- und mit mindstens demselben Recht wie bei unserem Volke
-- die Antwort von jedem Volke, von jedem Einzelnen jeden Volkes; von den
neunzigjährigen Greisinnen, die nur noch lallen können, bis zum
Premierminister jeden Volkes lautet die Antwort: >Wir sind angegriffen
worden und mußten uns verteidigen.< . . . Wie kommt das? Wo ist die
Wahrheit?

Die Wahrheit ist, daß ein meinungsloses, kritikloses Volk gar nicht wissen
kann, ob es angegriffen wurde oder angegriffen hat, und daß nichts leichter
war, als es glauben zu machen, es sei angegriffen worden. Die furchtbare
Wahrheit ist, daß die falschen Ideale, deren vollkommener Sieg den Tod der
Ideale -- der Menschlichkeit, der Liebe -- bedeuten würde, daß diese
Lügenideale -- Macht, Gewalt, Erfolg, Autoritätsglaube, Heldentum,
Weltherrschaft, Vaterlandsverteidigung -- im Gehirne jeden Europäers ein
solch mächtiges Eigenleben führten, daß jeder zum Schießen bereit war.

Ich sage euch: die Kultur eines Volkes ist unabhängig von der
Besitzanhäufung. Die Größe eines Volkes liegt nicht in seinen
Interessensphären, nicht bei seinen Rohstoffquellen, nicht auf seinen
Absatzgebieten. Größe, Kultur, Glück und Zukunft eines Volkes liegen
niemals auf dem Wasser. Aber der geistige Tod eines Volkes liegt in seinen
Geldschränken. Der Geist Europas, die Menschlichkeit und die Liebe sind im
Gelde erstarrt. Und das bedingt mit entsetzlicher Sicherheit das Elend, die
Zukunftslosigkeit, den Untergang des europäischen Menschen.«

Auch die Agentenwitwe war erstarrt. Auch die Menge war erstarrt und quälend
still.

Die robuste Kriegswitwe, von deren Mann der Kopf und die Erkennungsmarke
nicht hatten gefunden werden können, stellte ihre Petroleumkanne auf den
Wagen, zu Füßen des Kellners. Alle Fenster, rund um den Platz, waren
schwarz von Menschen.

Der Kellner, tief leidend unter dem Gesetze, daß die Liebe hart sein muß,
weil sie das Herz der Wahrheit ist, redete eindringlich hinunter zum
düsteren Gesicht: »Wir haben zugesehen, wie Kampfparteien gebildet wurden;
wir haben Kanonen, Schiffe, gewaltige Menschenmordmaschinen erfunden,
gebaut. Bezahlt. Bewundert! Trotzdem wir hatten wissen können, daß die von
uns bezahlten, bewunderten Massenmordmaschinen eines Tages sich gegen die
Menschheit und auch gegen die Brust unserer Männer, Söhne, Väter richten
würden. Das war unausbleiblich . . . Dann wird gesagt und geglaubt, von den
meinungslosen, gedankenlosen, von den immer noch gedankenlosen Volksmassen
geglaubt: wir sind angegriffen worden und müssen das Vaterland verteidigen,
unsere Kultur schützen. Es wird von Heldentum und von einem Felde der Ehre
gesprochen . . . War alle Ehre nicht schon tot, noch bevor der Krieg
begonnen hatte? Ist es eine Ehre, ist es Heldentum, um Besitz und Macht und
für falsche Ideale Menschen zu erschlagen? Wenn das Ehre ist, dann wollen
wir ehrlos sein, um wieder ehrenvoll leben zu können. Wenn das Heldentum
ist, dann wollen wir Feiglinge sein, damit der Mut in dieser Welt nicht
aussterbe . . . Man spricht von Zivilisation. Ist das Zivilisation, daß
ganz Europa schon vor dem Kriege ein einziger großer Fabriksaal war, in dem
nicht Menschen lebten, sondern Maschinen automatisch sich bewegten?
Maschinen aus Fleisch und Blut, die nicht mehr denken, keine Meinung haben,
keine Erinnerung mehr daran haben, daß sie einmal Menschen waren, sondern
wie die Maschinen aus Stahl, die sie bedienen, betrieben werden? Betrieben
werden von der Notdurft, von dem Verlangen nach Achtung der Mitmaschinen,
vom Verlangen nach Besitz, betrieben von Gewohnheit, Egoismus und Lüge.
Lüge, in der die europäische Menschheit ertrunken ist, so daß es keinen
Europäer mehr gibt, der eine eigene Meinung hätte, keinen, der das Feuer
der Wahrheit in den Augen trüge . . . Wenn das Vernunft ist, dann wollen
wir unvernünftig sein, dann wollen wir wahnsinnig sein, damit die
Weltvernunft sich in uns am Leben erhalten kann. Wenn das nützlich ist,
dann wollen wir unnütze Menschen sein. Wenn das Resultat der Organisation
und Ordnung ist, daß die Menschheit verelendet, blutet und sich abwürgt,
dann wollen wir diese mörderische Ordnung sprengen mit Unordnung, damit der
Sinn des Lebens sich wieder manifestieren kann. Wenn Organisation, Ordnung,
Gewalt, Macht, Gewohnheit, Meinungslosigkeit, Lüge, Besitz und Egoismus
. . . Zivilisation ergibt, dann wollen wir Wilde sein, wollen wir die Liebe
im Herzen tragen und das Gesetz: jeder liebe jeden, so wird jeder von allen
geliebt . . . Das wollt ihr nicht? Habt den Mut, Menschen zu erschlagen und
nicht den Mut, Menschen zu lieben? Weil ihr lieben würdet, aber die anderen
euch nicht lieben, sondern ausnützen und erdrücken würden? Wollt nicht
Märtyrer sein? Da Märtyrer ausgenützt, erdrückt, eingesperrt und
hingerichtet werden . . ., weil sie lieben? Es fliege die Frage donnernd
über den Erdball: was ist menschenwürdiger und ehrenvoller, Menschen, die
uns nichts angetan haben, im Kriege zu erschlagen und selbst zu sterben,
oder dafür zu leiden und zu sterben, daß der Liebe die Regierung der Erde
übergeben werde?«

Der Blick der schweigenden Menge fragte dumpf zurück. Zwei Equipagenpferde,
zwischen Menschen eingekeilt, bewegten sich. Die Agentenwitwe fühlte
körperlich, wie, von ihrer Seele überglänzt, die Finsternis in ihr zur
blendend weißen Fläche wurde. Ihr Gesicht war plötzlich tränennaß.

Der Kellner warf die Hand an den Hals, die andere in den Nacken; seine
Augen wurden groß und sahen:

»Zehn Millionen Leichen! Zehn Millionen Menschen sind jetzt verendet. Das
fließende Blut dieser zehn Millionen Ermordeten -- vierzig Millionen Liter
dampfendes Menschenblut -- könnte einen ganzen Tag lang die riesenhafte
Wassermenge des Niagarafalles ersetzen und durch seine Sturzkraft den
elektrischen Strom für eine ganze Weltstadt liefern . . . Sämtliches
Rollmaterial der Eisenbahnen von ganz Preußen würde nicht ausreichen,
allein die losgetrennten Köpfe dieser zehn Millionen Ermordeten auf einmal
zu transportieren. Zivilisation! . . . Stellt euch den phantastisch langen
Eisenbahnzug vor: es steht der erste Wagen schon in München, im Berliner
Hauptbahnhof noch der letzte, und alle sind gefüllt mit blutigen
Menschenköpfen. Zivilisation! . . . Man lege die zehn Millionen armen
ermordeten Mörder Kopf an Kopf, Fußsohlen an Fußsohlen! Das gibt eine
sechzehntausend Kilometer lange, lückenlose Leichenlinie, ein
sechzehntausend Kilometer -- nicht Meter -- Kilometer langes Grab, das ganz
Deutschland umspannt. Sechzehntausend Kilometer Leichen! Zivilisation!«

Ein wildes Schluchzen, das wie das Bellen eines Hundes klang. Aufgelöste
Gesichter drehten sich einander zu. Weit offene Augen. Wortloses Fragen.
Die Agentenwitwe sah Farben kreisen. Und taumelte dem Nächststehenden an
die Brust.

Das Gesicht der Menge leuchtete wieder weiß auf.

»Ich sage euch: von diesem Zeitalter der Nützlichkeit, Ordnung,
Organisation und Vernunft, von diesem Zeitalter des Egoismus, des Geldes,
der Macht, Gewalt, Lüge und Autorität wird nichts übrig bleiben als ein
Grauen davor und für die noch späteren Geschlechter ein Gelächter.«

Da spannte er weit die Arme aus, daß hinter ihm der von der Abendsonne
rosig beleuchtete Kirchturm zum riesenhaften Kreuzespfahl wurde:

»Wir wollen uns jetzt endlich besinnen. Wollen denken. Uns daran erinnern,
daß der Mensch gut und unser Bruder ist. Wir wollen endlich herausreißen
aus unseren Herzen: die Gewohnheit, die Lüge, die Gewinnsucht, die
Bewunderung der Gewalt, Autorität und Macht, damit nicht auch der Same der
noch ungeborenen Geschlechter den Keim in sich trage zu neuem Morde.«

Plötzlich klang Kraft und großes Flehen in seiner Stimme:

»Jeden Tag werden zehntausend Menschen getötet, die so gerne, ach so gerne
noch hätten leben wollen. Und doch sitzt der Schuster wie sonst in seiner
Werkstatt, besohlt Stiefel, macht der Schreiner Möbel, steht der
Fabrikarbeiter vor der Maschine, den ganzen Tag, der Kaufmann hinterm
Ladentisch; es schreibt der Beamte Kanzleibogen voll und der Buchhalter
rechnet, der Kellner bedient . . ., während jeden Tag zehntausend Menschen
fallen und verenden, die vorher selbst Menschen töten mußten. Welch ein
wahnwitziger, gedankenloser Egoismus! Wenn wir das Recht nicht verlieren
wollen, uns noch Menschen zu heißen, dann müssen wir ohne Besinnen von den
Hämmern, Hobeln, Schreibpulten und Maschinen weglaufen auf die Straße, den
Nächstbesten am Arme packen, ihn packen, und unsere Stimme muß ihm das Herz
durchgellen: >Es werden jeden Tag zehntausend Menschen erschlagen. Was
sollen wir tun? Wie dürfen wir arbeiten, unserem Verdienste nachgehen,
schlafen, essen, während jeden Tag zehntausend Menschen ermordet werden?
Das darf nicht sein. Was sollen wir tun?< . . . Ich rufe euch zu, ich trage
die Worte in euere Herzen hinein: wer heute, da täglich zehntausend
Menschen grauenvoll verenden, seine Hand hebt zur Arbeit, ist ein Mörder.
Denn er läßt Menschen töten und fragt nicht: was soll ich tun, daß sie
nicht erschlagen werden.«

Da erbrach, ihre Petroleumkanne schwingend, die robuste Kriegswitwe ein
wildes Gelächter.

Und die Sätze: »Man muß doch leben; was bleibt uns übrig; wir müssen doch
verdienen, essen«, sprangen, von ihr zuerst geschrien, aus tausend Mündern
heraus, dem verstummten Redner entgegen. Es schwoll der Tumult, vom Hasse
in ein Ganzes zusammengeschmolzen, und stieß den Schrei ab und zum Himmel
empor: »Was sollen wir denn tun! Was? Was sollen wir tun?«

Das war eine furchtbare Frage. Eine Frage, rund umstellt von grinsenden
Ungeheuern, die eine Antwort nicht hereinlassen wollten.

>Wenn ich ihnen sage: jede Arbeitsleistung fügt sich in das Getriebe ein,
das die Fortsetzung des täglichen Massenmordes ermöglicht, deshalb wird der
Schlosser, der heute eine Schraube dreht, praktisch zum Mörder, wie auch
der Bäcker, der heute Brot backt, rufen sie: wir müssen doch verdienen,
leben, essen und deshalb arbeiten.<

>Aber das dürft ihr nicht. Arbeiten dürft ihr nicht. Arbeiten ist heute
Mord.<

Das weiße Gesicht der Menge war eine Frage, die gleich einer Lichtreklame
selbsttätig die blutrote Antwort »Revolution« langsam, Buchstabe nach
Buchstabe, an den dunklen Himmel schrieb.

Die tödlich bedrohte Liebe, die dem Untergange nahe Menschlichkeit, die den
Kellner gewählt, ihn aus dem mörderischen Wahnsinn dieses Zeitalters
herausgehoben und ihm das Wort auf die Lippen gegeben hatte, erleuchtete
ihn, so daß die ewige Seele, für alle sichtbar, ihm in die weitgeöffneten
Augen trat:

»Wir wollen nicht das Unmögliche versuchen: die Gewalt mit Gewalt
auszurotten. Wir wollen nicht töten. Aber von dieser Sekunde an soll alle
Arbeit ruhen. Denn alle Arbeit würde noch im Dienste dieses Zeitalters des
organisierten Mordes stehen. Das Zeitalter des Egoismus und des Geldes, der
organisierten Gewalt und der Lüge hat in dieser weißen Sekunde, hat in uns
eben sein Ende erreicht. Zwischen zwei Zeitalter schiebt sich eine Pause
ein. Alles ruht. Die Zeit steht. Und wir wollen über die Erde, durch die
Städte, durch die Straßen gehen und im Geiste des kommenden neuen
Zeitalters, des Zeitalters der Liebe, das eben begonnen hat, jedem sagen:
>Wir sind Brüder. Der Mensch ist gut.< Das sei unser einziges Handeln in
der Pause zwischen den Zeitaltern. Wir wollen mit solch überzeugender Kraft
des Glaubens sagen: >Der Mensch ist gut<, daß auch der von uns
Angesprochene das tief in ihm verschüttete Gefühl >der Mensch ist gut<,
unter hellen Schauern empfindet und uns bittet: >Mein Haus ist dein Haus,
mein Brot ist dein Brot.< Eine Welle der Liebe wird die Herzen der Menschen
öffnen im Angesichte der ungeheuerlichsten Menschheitsschändung.

Und wenn der Zehnmillionenmord, den jeder Einzelne von uns mitverschuldet
hat, Martyrium von uns verlangt, wenn die Menschheitsfeinde Gewalt gegen
uns anrollen lassen, so wollen wir uns sagen: >Wir haben erschlagen,
gelitten, geblutet, gearbeitet für falsche, lügenhafte Ideale, sind
schuldig, sind Mörder geworden; wir wollen uns entsündigen, wollen den
gegen uns gehetzten Brüdern, dem Heere der Gewalt, uns als stilles,
unüberwindlich starkes Heer des Geistes und der Verbrüderung
entgegenstellen, bereit zum Leiden für das ewig unverrückbare Ideal der
Menschheit: für die Liebe.< Und unsere Brüder werden, bezwungen von unserem
Glauben an das Gute im Menschen, in ihren Augen plötzlich die Frage tragen,
die zugleich die Antwort ist: der Mensch ist gut.

Der Mensch ist gut. Er ist gut. Geht hin, jeder durch seine Straße, in die
Häuser, läutet, klopft an. Und verkündet den Satz des neuen Zeitalters:
>Der Mensch ist gut.< . . . Es stehen die Transmissionen! Es stehen die
Maschinen! Die Arbeit ruhe! Die Zeit steht. Heutige Gesänge der Liebe
durchfliegen die Städte, öffnen die Herzen, die Tore der Paläste, die
Magazine. Und Menschenarme, die dem Morde dienten, umfangen jetzt den
Bruder . . . Und wenn wir dann in diesem Geiste wieder zu arbeiten
beginnen, wird unsere Arbeit nicht mehr Mord sein, sondern Geschenk für den
Bruder, und seine Arbeit Geschenk für uns . . . Jetzt ruhe die Arbeit. Die
Zeit steht. Die Pause zwischen zwei Zeitaltern ist da.«

Das Gesicht der Agentenwitwe war von wilder Hingabe zerklüftet; das Kind in
ihrem Leibe bewegte sich.

Da geschah etwas Unerwartetes: ein bärtiger Herr sprang aus seiner
eleganten Equipage heraus, stand auf dem Bock und brüllte: »Landesverräter!
Vaterlandsverräter! Herunter mit dem Schuft, der den Sieg, der das
Durchhalten unseres Volkes verhindern will!« Wutspeichel spritzte aus
seinem Munde heraus.

Das weiße Profil der Menge drehte sich dem Bärtigen zu.

Der warf die Fäuste vor und bewegte sie, in großem Bogen die Menge
überdachend, wagrecht über die Köpfe weg, stieß sie himmelwärts und knallte
sie auf seine Brust:

»Mein einziger Sohn ist gefallen. Auf dem Felde der Ehre! Ist tot. Und
dieser bleiche Schuft wagt es, das Volk gegen das Vaterland aufzuhetzen.
Tausendfachen Tod diesem bestochenen Hundsfott, der den Sieg verhindern
will! Umsonst wäre mein Sohn gestorben. Umsonst wären alle Söhne und Väter
gestorben. Millionen wären umsonst gefallen. Alles Blut würde umsonst
geflossen sein, wäre der Sieg nicht unser.« Er riß den Browning aus der
Hintertasche.

So still war es auf einem Platze nie gewesen.

Der Kellner sagte: »Mein junger Sohn ist gefallen. Umsonst wäre sein und
alles Todesblut geflossen, wenn in diesem dampfenden roten Meere auch
diesmal das Prinzip des Egoismus, der Gewalt und der Macht nicht verlöschen
würde, umsonst, wenn die Liebe auch nach diesem Kriege das Menschenherz
nicht berühren könnte. Umsonst die den Himmel verdunkelnde
Menschheitsschändung, wenn aus Lüge, Macht, Gewalt, wenn aus Mord . . .
Sieg hervorgeht, der den neuen Krieg in sich tragen muß. Nicht Demütigung
für ein Volk sei das Ende und der neue Anfang, sondern Demut aller Völker
. . . Demut, die tiefen Glanz, Stille, Menschlichkeit und Lebensfreude in
sich schließt.«

Der Bärtige war fassungslos. »Schuft! Und das Vaterland? Unser heiliges
Vaterland? Unsere heiligsten Güter? Unser Vaterland!«

Dunkle, unbezähmbare Wut war urplötzlich in der robusten Kriegswitwe
entstanden. Da stieg, von ihr entladen, ein vielstimmiger Protestschrei,
der erst an seinem Ende in helles Gelächter und in den Hohnruf: »Heiligste
Güter!« zersplitterte.

Die Morgenröte einer kommenden Zeit traf das Gesicht des verblüfften
Bärtigen; er legte den Browning neben sich auf den Bock.

Der Kellner sagte weich: »Das Vaterland ist eine Gasse, in der wir als
Kinder am Abend gespielt haben, ist ein von der Petroleumlampe sanft
beleuchtetes Tischrund, ist das Schaufenster des Kolonialwarenhändlers im
Nachbarhause; das Vaterland ist im Garten der Nußbaum, auf dessen Früchte
wir gewartet haben, ist ein Flußtal, die Biegung eines Flußtales; das
Vaterland ist eine altersgraue Holzpforte an der Rückseite des Gartens, ist
der Geruch von Äpfeln, die auf dem Ofen brieten, ist Kaffee- und
Kuchengeruch im durchwärmten Elternhause, durch Wiesen ein schmaler Pfad,
der zur Stadt zurück oder aus der Stadt hinausführt, ist ein Gang auf
diesem Pfade, das Verklingen eines Kinderliedes, das Abendläuten an einem
bestimmten Tage unserer Kindheit . . . Nicht der Staat -- die Organisation
der Lüge, Macht, Gewalt und Autorität -- ist das Vaterland für den
Menschen, sondern die Erinnerung an freundliche Minuten der Kinderzeit, die
Erinnerung an die von Hoffnung noch verschönten Blicke ins zukünftige
Leben.«

In diesem Momente, da er das Gesicht der Menge ansah, erkannte er
entsetzlich klar, daß bei der großen Mehrzahl auch diese Erinnerungen vom
ununterbrochenen Lebenskampfe, von den Leiden des Krieges, vom Hasse gegen
seine Entfeßler aufgefressen worden waren, und fühlte, daß ein Wort der
Liebe jetzt noch nicht vordringen konnte bis zu diesen verarmten,
haßverkrampften Witwenherzen. Nur bei wenigen war der suchende Kinderblick
wieder erwacht und zum Rückblick auf das vergangene Leben geworden.

Und als der Bärtige der Witwen nicht mehr vorhandene Gefühle für das
Vaterland erneuern wollte mit dem Worte »national«, stieg aus des Kellners
plötzlicher Hoffnungslosigkeit, die Liebe in die Herzen führen zu können,
Zorn auf, der zur Menge hinunter den Satz trug: »International ist alles
Große: die Kunst, der Gedanke, der Glaube, die Sinne, das Leben, der Tod.«

Und der Zwanzigjährige schrie zurück: »Es gibt National-Banken,
National-Speisen, National-Registrierkassen, National-Hymnen.«

Vor Wut verlor der Bärtige die Sprache, konnte das Gegenargument, daß auch
die Sprache national sei, nicht finden und griff automatisch zum Browning,
um mit dem zu argumentieren.

Der robusten Witwe mit der Petroleumkanne waren der Bärtige und sein
Gefährt zu elegant. Noch bevor er den Mund wieder öffnen und den Browning
heben konnte, rief sie unwirsch: »Halt's Maul, du!« Und ihr Wort war von
einer Armgebärde begleitet, die hundert Fäuste mit in die Höhe riß. Sie
stürzte zum Bock, kletterte hinauf.

Sein Wutschrei: »Verräterisches Pöbelpack! Man wird euch einsperren. Alle
einsperren!« gab das Signal für alle zum Sturze auf den Bärtigen, so daß
der Browningschuß, der dem Kellner gegolten hatte, schräghoch ging und den
Kirchturm traf.

Ein Schrei dauerte minutenlang.

»Uns könnt ihr nicht einsperren. Zwei Millionen Kriegswitwen könnt ihr
nicht einsperren.«

Der Petroleumstrahl schoß farblos durch die Luft.

Hochgebäumte Pferde. Die Equipage brannte hell und farbig. Wurde von den
rasenden Pferden zerstörerisch schnell über den Platz und die Straße hinauf
getragen, von der stürmenden Menge verfolgt.

Die robuste Kriegswitwe stand, ringend mit dem Bärtigen, flammenumloht auf
dem Bocke.

Eine Anzahl Witwen und Mütter, im Blick noch das große Fragen, blieben
zögernd zurück.

Die Agentenwitwe trug im schmerzdurchwirkten, aufgelösten Gesicht den
unbegreiflich tiefen Glanz stiller Bereitschaft, als sie zum Kellner trat,
der in der Dämmerung erschöpft an der Hausmauer lehnte und auf das in der
Ferne verklingende, fanatische Triumphgebrüll der Kriegswitwen lauschte. Er
glaubte, den anhaltenden, zündenden Schrei der robusten Witwe
herauszuhören.

Teile von Gedanken, für die er vorhin Worte nicht gefunden hatte, kehrten
wieder: >Die Gewalt, den Menschen gelehrt und aufgezwungen, untersteht dem
furchtbaren Gesetze alles Bösen, muß weiter wirken . . . Wer in dieser Welt
der Schmerzen das Leid nicht auf sich nehmen kann, bleibt böse.<

Er blickte zur Agentenwitwe hin, die in ungeheurer Befreiung vor dem neuen
Anfang stand, entrückt, wie vor einer Wiege, in der sie selbst lag. Horchte
auf das ganz ferne Knallen mehrerer Schüsse. (Das stärker werdende ferne
Gebrüll wurde wieder hörbar, schwach, wie das Summen einer Fliege.)

>Revolution steht auf den Stirnen der Menschen; und was auf den Stirnen der
Menschen steht, wird Ereignis.<

Von schwarzen Blitzen durchzuckt, brach aus seinem Herzen lautlos donnernd
die entscheidende Menschheitsfrage heraus: >Werden Wille und Sehnsucht die
Gewalt sprengen, die Finsternis durchstoßen, den Geist befreien und sich
von ihm führen lassen in das Land der Seele, wo die tiefste, die radikalste
Revolution, die Revolution der Liebe zum Ereignis werden kann? Oder wird
auch jetzt die Gewalt weiter bestehen und weiter siegen über Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit, die der Menschheitszukunft in ewigem Flusse
immer neu geboren werden vom tiefsten Sinne der Welt: von der Liebe?<

Der Platz, vom Tumulte verlassen, sah verbraucht aus.

Dämmerung, Luft und Sein gebaren auf ihm eine stille Sekunde.




III. Die Mutter


Ihr Sohn war nicht als Freiwilliger an die Front gefahren.

Wenn die Mutter aus dem Bette stieg, um sechs Uhr morgens, sah sie ihren
Sohn. Sah ihn, wenn sie in der noch kalten Küche stand. Sah ihn im
Hausflur. In der Holzlage. Im Keller. Auf der Straße. Immer.

Durch ihren Schlaf schreitet der Sohn durch; er marschiert durch. Wird
kleiner, nebelig, verschwindet. Und marschiert trotzdem ununterbrochen
durch. Durch jeden Schlaf. Durch jede Nacht und jeden Traum.

Der Sohn sitzt auf einem Stuhle, an der verschwimmenden Peripherie des
schweren Angsttraumes, der an ihr Bett den harten Hauswirt stellt: »Jetzt
endlich das Geld für die Miete!«

Drohender Hauswirt, alle Qual der Pfennigsorgen, alle Mühe und Not der
Täglichkeiten werden gewichtlos, verdunsten; denn der Stuhl mit dem Sohne
rückt in den Mittelpunkt des Traumes, ihr auf die Brust.

Sie wischt den Staub von den lackierten Muschelmöbeln; der Sohn steht neben
ihr, begleitet sie: vom Schrank zur Kommode, vom Bett zum Tisch.

Sie sieht ihn und sich hinauswandern zur Kaserne. Viele junge Männer, noch
in Zivilkleidern. Ärmliche Köfferchen und Pappschachteln. Viele Menschen
stehen vor der Kasernenhofmauer: Frauen, Kinder, Bräute, Mütter. Machtlos.

Diese entsetzlich kalte, mitleidlose Eisenkonstruktion der Bahnhofshalle.
Stumme und weinende Mütter und Frauen. Trockene Gaumen. Zerrissenes Lächeln
der jungen Soldaten. Wie Leichen mit Blumen geschmückt. Wilde, mit Blumen
geschmückte Machtlosigkeit.

Der Zug fährt ab. Er fährt. Fährt. Verschwindet.

Einsames, furchtbares Nachhausegehen.

Zwischen der Mutter Hand und den Deckel des Kochtopfes schiebt sich die
graue Gestalt des Sohnes. Die Überlegung, ob das Gemüse noch etwas Salz
brauche, wird zerschnitten vom Sohne, der in den Schützengraben springt.
Immer wieder rasend schnell in den Schützengraben springt, aus dem heraus
die Bajonette nach ihm stoßen.

Jeder Gedanke wurde vom Denken an ihren Sohn durchschnitten.

Während der Bäcker das Brot für sie einwickelte, entdeckte sie in einer von
weißen Schußwölkchen bösartig still belebten, öden Flachlandschaft, die sie
nie gesehen hatte, den Sohn, wie er mit der ihm eigenen Handbewegung sich
über das rechte Auge streicht.

Und in dem Moment, da sie sagte: »Frisches Brot wäre mir lieber gewesen«,
streckt der Sohn den Kopf zu weit aus dem Schützengraben heraus.

Entsetzt ließ sie das Brot auf den Ladentisch zurückfallen, preßte beide
Fäuste an die Wangen und starrte; sieht, wie der feindliche Soldat auf den
Kopf des Sohnes zielt.

»Jesus! Kind, wie kannst du mir . . .«

Sohn beugt sich zum Kameraden hinab.

». . . das antun.«

Der feindliche Soldat senkt das Gewehr.

»Morgen gibt es wieder frisches Brot.«

Die Mutter verließ die Bäckerei, den Blick stier auf der Szene: der
gegnerische Soldat lugt, das Gewehr wieder schußbereit an der Backe, zum
hinabgebeugten Sohn hinüber.

»Wenn er sich jetzt aufrichtet. Mein Gott, wenn er sich aufrichtet . . .
Allmächtiger Gott, lasse den Kameraden eine Geschichte erzählen, damit mein
Sohn zuhört, sich nicht aufrichtet. Lasse den Kameraden eine Bitte
aussprechen, die mein guter Sohn erfüllen wird, so daß er sich nicht
aufrichtet.«

Das feindliche Gewehr sinkt.

Da steigt des Sohnes Kopf: das feindliche Gewehr hebt sich zur
entsetzlichen Wagrechten.

Ein Schrei der Mutter.

Sie glotzte auf die zwei langhaarigen Hunde, die knapp vor ihr aufeinander
losfuhren. Gefletschte Zähne. Ineinander verbissene Mäuler.

(Graue Gestalten verlassen den Graben, huschen farblos über die farblose
Fläche. Wildes, entsetzlich lautloses Handgemenge.)

Die Mutter stürzte sich zwischen die zwei kämpfenden Hunde, die der Sohn
und der gegnerische Soldat sind. Mit ihren alten, von der Lebensarbeit
stumpf gewordenen Händen riß sie die Hunde auseinander, die knurrend in
entgegengesetzten Richtungen forttrabten. (Die farblosen Gestalten huschen
in die Gräben zurück.)

Die Mutter lehnt atmend an der Hausmauer und vernimmt das lautlose Stöhnen,
das aufsteigt vom tiefsten Urgrund des Weiblichen, vom mystischen Punkt:
Mutterliebe.

Die Mutter hat während der drei Kriegsjahre gelernt, vollkommen lautlos zu
stöhnen. Denn würde ihr und aller Mütter Stöhnen Ton, ganz Europa würde Tag
und Nacht ununterbrochen klingen von wildklagendem, dumpfem Stöhnen, für
das noch keine Sprache Worte gefunden hat.

Über Europa lastet Stille, das qualvollste Leid: das >Leid Machtlosigkeit<.
Furchtbarste Stille, unter der Menschenherzen sich krümmen. Lebendem Wurme
am Angelhaken ist kein Ton gegeben.

Und an den Fronten zucken, in geistschänderischem Kreise aufgestellt, die
Rohrläufe der Geschütze vor, gleiten zurück, zucken, vor, zurück, werden
heiß: ein Donnerkreis. Kreis von Blut. Zerfetzten Menschenleibern.
Losgetrennten Armen, Beinen. Ein Riesen-Kreis-Grab umspannt das stille
Europa. Grab-Blut-Geschützdiagonalen durchschneiden es, grenzen stille
Leidbezirke ab, in denen die Mutter Europas bebend kniet, nicht atmen kann.
Denn sie hört den Schuß krachen, sieht die Kugel fliegen, auf den Sohn zu,
sieht Milliarden Kugeln fliegen. Denn sie sieht beständig eine Kugel
fliegen. Auf den Sohn zu.

Das Herz tut ihr weh. Tag und Nacht. Schon drei Jahre lang. Drei
Ewigkeiten.

Die Mutter -- ein wandelndes, verzerrtes Herz, das Antlitz, Gehirn und
Augen bekommen hatte, die kopflose Mutter, die nur noch mit dem Herzen
dachte und sah, deren Gefühl die Last, die Angst, die Schmerzen, das Leid,
den Jammer ganz Europas trug, die europäische Mutter eilte, das Brot gegen
die schlaffen Hautsäcke ihrer Brust gedrückt, nach Hause, den Feldpostbrief
zu erwarten, der den krachenden, blutigen Kreis des Menschenmordens --
»vielleicht, vielleicht doch nicht, vielleicht doch« -- verlassen haben und
mit der nächsten Post in der verdüsterten Vorstadtwohnung eintreffen
konnte.

Sie eilte. Ihre Gedanken, alle vom Herzen gedacht, eilen voraus: sehen den
Briefträger.

Der winkt. >Ich habe etwas für Sie<, sucht, reicht ihr einen Brief. >Halt,
noch etwas.< Reicht ihr noch zwei. Noch fünf. Reicht ihr eine Hand voll
Briefe. Alle sind vom Sohne. Sie rennt mit den Briefen die Treppe hinauf.

Und biegt in die leere Gasse ein. Blickt: >Kein Briefträger.<

Während sie die Treppe hinaufsteigt, sieht sie den Sohn, wie er vor dem
Leutnant steht.

Der sagt: >Wenn ich noch einmal bemerke, daß Sie absichtlich nicht
schießen, melde ich Sie. Dann werden Sie erschossen.<

Von wilder Angst befallen, bleibt die Mutter auf dem Treppenabsatze stehen
und fleht: »Schieße!«

Der Sohn hebt das Gewehr, zielt auf den Franzosen.

Die Mutter sieht die französische Mutter, die in Paris am Fenster sitzt und
an ihren Sohn denkt, auf den in diesem Augenblicke gezielt wird vom Sohne.

Die Mutter schreit: »Schieße nicht!«

Der Leutnant: >Schießen! Oder Sie werden erschossen.<

Fleht die Mutter: »Schieße! O Gott, schieße!« Sieht die französische
Mutter. »Nicht! Schieße nicht!«

Läßt das Gewehr sinken. >Ich schieße nicht, Herr Leutnant.<

>Ihn sofort abführen<, befiehlt der Leutnant.

Und die Mutter brüllt: »Um Gotteswillen! Schieße! Schieße!«

Da reißt der Sohn das Gewehr an die Backe, zielt: der Franzose wirft die
Hände hoch, krümmt sich und stürzt aufs Gesicht.

Die Mutter preßt die Hand aufs Herz, deutet entsetzt mit der Rechten nach
Paris zum Fenster, wo die französische Mutter sitzt, eben den amtlichen
Brief öffnet und liest: »Ist gefallen.« Sieht, wie die französische Mutter
aufschreit, gläsern glotzt.

Langsam, wie mit einer furchtbaren Mordtat belastet, steigt die Mutter die
zweite Treppe hinauf, und ihr sehendes Herz verfolgt den mörderischen Lauf
der Kugel, die durch den Franzosen durch und weiter fliegt, nach Paris, der
französischen Mutter ins Herz.

Aber der Sohn lebt, wird nicht erschossen, weil er erschossen hat, auf das
Flehen der Mutter hin.

Immerzu sieht das Herz der Mutter, wie die Kugel ihres Sohnes den Franzosen
durchschlägt, weitersaust, bis nach Paris: der französischen Mutter ins
Herz.

Schritte klingen auf der Gasse. Blitzschnell fährt ihr Oberkörper durchs
Fenster: >Nicht der Briefträger.<

Ungedacht, ungewollt, dunkel steigt vom Urgrund des Seins schicksalhaft das
Gesetz »Schuld und Sühne« auf und stellt die Mutter vor die tödliche
Gewißheit: der zum Mörder gewordene Sohn wird ermordet werden.

Ihr Oberkörper fährt durchs Fenster. Der Blick blitzt die Gasse hinunter,
die Gasse hinauf. Kein Briefträger.

Und wie sie den Blick zurückzieht: -- Landschaft mit künstlich
aufgeworfenen Hügeln. Schutzwehre, Dämme, Hecken. Ausgetretene, lehmige
Pfade.

>Wir schleppen die mit Munition gefüllten Bastkörbe an die vorderste Linie.
Über uns zeichnen Granaten drohende Bogen an den Himmel. Weiße Explosionen.
Links und rechts, vor und hinter uns. Erdwolken. Leichen. Menschenteile.
Unermeßlich furchtbar<, hatte der Sohn geschrieben.

Die Mutter sieht, wie weiter rückwärts, noch in Sicherheit vor den
einschlagenden Granaten, der Sohn und der Kamerad den Munitionskorb
hochheben, ihn vorschleppen in die rote Feuerwolke.

Und kann den Sohn nicht zurückhalten, ihn nicht zurückreißen, ist machtlos.

>Hat es geläutet?< Sie zerrt die Tür auf. Stiert in den leeren Hausflur.

Und als die Wohnungsglocke später wirklich läutete und das Aufreißen der
Tür den Briefträger zeigte, griff die Hand der Mutter nach einer Postkarte,
auf der stand: >Den verehrlichen Mitgliedern zur Kenntnis, daß der
Gesangverein >Frohsinn< bis auf weiteres die Singproben ausfallen lassen
muß, da immer mehr Sänger dem Rufe des Vaterlandes gefolgt sind und es
keinen Zweck mehr hat. Der Schriftführer<.

Sie legte die Karte auf den Tisch, neben den Suppenteller des Vaters.
»Nächste Post . . . Jetzt kann vor vier Stunden kein Brief kommen.« Vom
Sohne,

der in diesem selben Augenblicke, da seine Mutter das in Angst, Qual und
Machtlosigkeit dachte, im Schützengraben auf einer Munitionskiste saß.

Seine lehmgelbe Hand hielt einen Brief, den er selbst vor länger als einem
Jahre in einem Schützengraben in Rußland an eine imaginäre Person
geschrieben, abgesandt und jetzt, machtlos eingemauert in einen
Schützengraben der Westfront, zurückbekommen hatte, mit der Aufschrift:
Adressat unbekannt.

Als er beginnen wollte, zu lesen, brüllte das tausendfache Brüllen der
Geschütze ihm zu, er brauche nicht den Brief zu lesen, er könne die
Wirklichkeit ablesen, die entsetzlich genau der an der Ostfront gleiche.

Er hob den Blick: eine weite, öde, gelbliche, leere Fläche, stellenweise
dicht bedeckt mit alten und frischen Leichen, langsam sich bewegenden
Verwundeten, die nicht geholt werden konnten und langsam starben.

>Alles geschieht nahe der Erde. Niedrig, tückisch, gefährlich, flächig,
farblos, grau . . . Frischfröhliche Reiterattacken, nach denen wir uns auch
vor dem Kriege nicht gesehnt hatten, gibt es nicht mehr<, las er. Und sah
hinaus: der Brief aus gelber Erde lag flach aufgeschlagen vor ihm.

Zwischen dem feindlichen Graben und dem des Sohnes lagen sie: flach, schon
halb in die Erde versunken. Tote. Eigentlich nur Uniformfetzen; Gesichter
und Hände waren schon der Erde gleich geworden. Eine zweite Erdschicht, die
aus Toten bestand. Ganz nahe beim Sohn lag ein Toter und glotzte blau. Auch
der konnte, obwohl er kaum zwei Meter entfernt lag, nicht geholt werden.
Denn hob sich nur ein Kopf, so hoben sich zehn feindliche Gewehre. Der Tote
lag schon sechs Wochen vor dem Graben, glotzte und stank. Das Wimmern des
Verwundeten, der neben dem Toten lag, hörte nie auf. Horte seit drei Tagen
und seit drei langen Nächten nie auf.

>Brand- und Leichengestank ist unsere Luft. Seit drei Jahren<, las der
Sohn.

Und betrachtete seinen links neben ihm hockenden Kameraden, der
gesund-rote, dicke, feste Backen hatte und, vollkommen gleichgiltig
gegenüber all dem Entsetzlichen, das um ihn herum geschah, vor sich hin
glotzte. Apathisch. Stumpf. Entseelt.

>So weit bin ich noch nicht. Ich schreibe noch Briefe. An die Mutter. An
die Mutter. Schreibe alles Elend, alle Schmach, alles Grauen aus mir
heraus, um atmen zu können. An die Mutter . . . Und dann kann die Mutter
nicht atmen.<

Ein qualvolles Lächeln der Selbstverachtung zog seinen linken Mundwinkel
herunter, bei der Erinnerung, daß er, damit seine seit drei Jahren im
Zeichen von Blut-, Brandstiftungs- und Morddunst stehenden Gefühle nicht
ganz unkontrolliert bleiben, ihm die Seele nicht auf Lebenszeit verhärten
sollten, immer wieder Briefe geschrieben hatte. Viele Briefe. An die
Mutter. Beichten. Anklagen. Selbstanklagen. Schreie. An fingierte
Adressaten. Nicht mehr an die Mutter. Um die Mutter zu schonen. Briefe.
Briefe. Um sich mitzuteilen. Um nicht zu vergessen. Um sich der
Furchtbarkeiten bewußt zu bleiben. Um nicht ein ebenso vollkommen
fatalistischer, vollkommen abgestumpfter, gegen alle Entsetzlichkeiten
gleichgiltig gewordener, maschinierter Mörder zu werden, wie sein neben ihm
hockender armer Kamerad, der sich die Seele aus dem Leibe hinausgemordet
hatte. Der auf Befehl geschossen hatte. Geschossen hatte. Weiter schoß,
schoß, schoß. Automatisch wie ein automatisches Gewehr.

>Hinter uns, mörderisch genau eingestellt, kracht die Geschützkette,
schleudert Granaten über uns weg in die feindlichen Stellungen.
Ununterbrochen. Ununterbrochen Mord! Tag und Nacht. Zahllose Granaten, die
den ununterbrochen herüberfliegenden Granaten begegnen. An der ganzen Front
entlang. Laut meckerndes Maschinengewehrfeuer. Menschen fallen und sind
still. Menschen fallen, stöhnen, brüllen, wimmern, bellen. Fernes
Maschinengewehrfeuer. Gegnerisches Maschinengewehrfeuer. Bomben und Minen
platzen. Schußwölkchen. Zahllose Schußwölkchen, soweit ich sehen kann
. . . Alles flach, grau, farblos, tückisch.<

Der Sohn sah auf: sah alles, was er gelesen hatte. Und sein vor Entsetzen
kranker Blick traf heute zum tausendsten Male den Soldaten, der schwer
verwundet und lebendig seit fünf Tagen und fünf langen Nächten im
Stacheldrahte hing, grauenhaft langsam die Glieder bewegte. Ganz lautlos.
Immer matter. Manchmal schrie er. Immer den gleichen Ton, für den noch
keine Sprache das Wort gefunden hat.

»Ein Mensch schreit«, fühlte des Sohnes ganzes Wesen. »Ein Mensch schreit.«

>Menschen, Millionen Menschen, Menschen schießen aufeinander, ermorden,
erschlagen, erwürgen, zerfetzen einander. Seit drei Jahren. Warum?<

Interesse und gleichzeitig Staunen darüber, daß er sich für einen Gedanken
noch interessierte, berührte den Sohn, als er las:

>Aber nicht gegen das, was hier im Felde geschieht, muß gekämpft werden.
Denn diese paradoxe Menschenschlächterei ist nur vordergründlich, ist nur
die Oberflächenwirkung des gemeinen Geistes im Lande. Wenn dieser
räuberische Geist, der als das lügenhafte Ideal »Nationalismus« gepredigt
und gefeiert wird, überwunden ist, verrosten die Geschütze von selbst.

   Wir wollen uns opfern,
   wollen lieben,
   denkend die Gefühle sieben,
   daß der Präsident der Erde
   Präsident der Liebe werde.<

Der Leutnant, den Revolver in der Knabenfaust, schritt gebeugt durch den
Graben, vorbei am Sohne, vorbei am Kameraden, der zielte und schoß.

Lautlos, ununterbrochen und qualvoll langsam bewegte der im Stacheldraht
hängende Soldat die Glieder.

Der Sohn suchte die Sätze, die er vor einem halben Jahre geschrieben hatte.
>Gestern ist ein Kamerad neben mir Mensch geworden. Er legte das Gewehr
weg, sah uns an, lächelte beseligt. Und als der Vorgesetzte befahl: »Nicht
lachen! Schießen!« lächelte der Mensch ihn an und schüttelte den Kopf. Mit
welch kindlicher, grenzenloser Liebe lächelte er uns an. Er hatte durch
eine mystische Kraftkurve den Geist der Disziplin, der Knechtschaft, den
Geist des Militarismus überwunden, war wieder Mensch: war wahnsinnig
geworden. Er wurde ins Irrenhaus gebracht. Es hieß, er würde wieder gesund
werden, wieder schießen können. Vielleicht schießt er jetzt auf dem
Balkan.<

Das Geschützfeuer war immer wilder geworden, hatte sich vervielfacht, stieg
rasend an. Die einschlagenden Granaten rissen Unterstände, Ballen und
Menschen auseinander. Trotzdem verließen, vom Befehle vorgestoßen, lange,
dichte Reihen lehmiger Gestalten die gegnerischen Gräben, wurden vom
flankierenden Maschinengewehrfeuer glatt auf die Erde gestrichen.

Heulen. Schreie. Wimmern, zuckende Körper. Augen glotzten tot. Ungezählte
frische Leichen lagen auf den alten Leichen.

Und nach dem abschließenden wilden Grabenkampfe las der Sohn:
>Hunderttausende überwinden den Militarismus durch den Wahnsinn. Zehn
Millionen verwesen. Zehn Millionen sind Krüppel. Und von den übrigen werden
die meisten als präzis funktionierende Mordmaschinen heimkehren. Wie den
Kindern das ABC, hat man ihnen den Geist der Gewalt eingepflanzt. Der
sitzt. Muß weiter wirken. Mein neben mir hockender einfacher Mordkamerad,
der reine Repräsentant seiner Millionen einfacher Mordkameraden, wird in
der Heimat automatisch jeden niederstechen wollen, der Recht vor Gewalt zu
setzen versucht. Auch der wildeste Schmerzensschrei berührt die im täglich
gleichen Laufe von drei Jahren gegen alle Entsetzlichkeiten abgestumpften
reinen Träger der Gewalt nicht mehr. Wie auch euch in der Heimat das Leid
der Menschen nicht mehr trifft, da ihr, ohne den Verstand zu verlieren, in
der Zeitung lesen könnt: dreißigtausend sind gefallen.<

Da erlebte der Sohn etwas, dem er sich nicht entziehen konnte: er fühlte,
wie seine rechte Körperhälfte dagegen war, diesen Brief doch noch an die
Mutter zu senden; und fühlte gleichzeitig, wie die Herzseite ihn zwang, den
Brief abzuschicken an die Mutter: das einzige europäische Wesen, das
niemals abgestumpft und gleichgiltig werden konnte gegenüber dem Leide der
Menschen, die alle von Müttern geboren wurden.

Vergebens versuchte er, das immer noch von Sekunde zu Sekunde rasend
ansteigende Artilleriefeuer nicht zu hören. Die Erde knallte. Seine Ohren
knallten. Sein Gehirn knallte. Er sah, wie der Hammer des neben ihm
hängenden Telephons trommelte, las von des Leutnants Lippen das auf die
Membrane gebrüllte Wort »Jawohl« ab. Und wußte, daß die Todesstunde
gekommen war für die Grabenbesatzung, die zum Sturmangriffe vorgeschickt
wurde.

Fäuste packten die Gewehre. Bajonette starrten. Graue Gestalten, im Graben
eng zusammengedrängt. Das waren keine Menschengesichter mehr. Gesichter aus
Glas. Augen aus Glas. Das Denken, jede Überlegung war aus dem Sein der
Soldaten hinausgefallen.

Auch der Sohn steckt das Bajonett auf den Rohrlauf, denkt noch: >Und dann
kann die Mutter nicht atmen, wenn sie den Brief bekommt.< Denkt: >Falle
ich?< Und wurde vom Befehle vorgestoßen,

während die Mutter machtlos am Eßtische stand und des Vaters Suppenteller
füllte.

Ihr abwesender Blick traf die farbige Photographie des beliebtesten
Heerführers, die der Vater gekauft und an die Wand gehängt hatte. Der lange
Perpendikel der höher hängenden Schwarzwälderuhr schwang über dem Gesichte
des Heerführers hin und her.

Genau senkrecht unter dem beständig überquerten Heerführergesicht saß der
Vater und las zur Suppe >Ein kühnes Patrouillenstückchen< in der Zeitung.

Die Mutter wußte nicht, ob sie sich den Sohn hinter der Front oder in der
vorderen Linie denken sollte,

während in dieser Sekunde der Sohn, von geschwungenen Gewehrkolben und
wildglotzenden Menschengesichtern überdacht, im feindlichen Graben ins Knie
glitschte.

>. . . und machte ihn kurzerhand nieder<, las der Vater zu Ende. ». . . Was
gibts denn?«

»Es ist wieder kein Brief gekommen.«

»Nein, was du zu essen hast . . . Wird schon kommen. Ist ja noch immer
gekommen.«

Dann las er den Leitartikel, in dem geschrieben stand, daß das Volk, in
unerschütterlichem Vertrauen zu seiner bewährten Regierung, ausharren und
infolge seiner Einigkeit neugestärkt aus diesem blutigen Ringen hervorgehen
werde. Angefangen bei den geistigen Spitzen und durch alle Volksschichten
durch, wisse jeder Soldat, jeder Heim-Krieger, jedes Schulkind, daß dieser
Krieg, ein uns aufgezwungener Krieg sei, und daß das Vaterland in Gefahr
war.

Das las er der Mutter vor. Und sagte: »Da ist wieder einmal alles ganz klar
auseinandergesetzt . . . Diese ausländischen Sakramentslumpen!«

Die Mutter hätte nicht sagen können, weshalb sie unter die Uhr trat und den
Perpendikel anhielt, so daß er das Gesicht des beliebten Heerführers in
zwei Teile schnitt. Sie sagte müde: »Woher soll denn ein Schulkind wissen,
ob uns der Krieg aufgezwungen worden ist . . . Und auch wir gewöhnlichen
Leute, was wissen denn wir davon.«

»Das weiß doch jeder Mensch. Und die Kinder . . ., für was sind denn die
Schullehrer da. Und wir, wir könnens doch jeden Tag in der Zeitung lesen
. . . Was gibts denn?«

». . . Nur diese Karte ist gekommen . . . Iß halt noch einen Teller Suppe.
Vor dem Metzgerladen sind zwei Polizisten und vielleicht dreihundert Frauen
gestanden. Ich habe nichts mehr bekommen.«

»Hättest eben früher dort sein müssen . . . Wenn nur dieser Saukrieg einmal
ein Ende hätte . . . Diese ausländischen Sakramentslumpen!«

Hungerschwäche und Angst um den Sohn, den sie plötzlich lautlos auf das
Gesicht stürzen sah, verdunkelte der Mutter den Blick. Und als sie wieder
sehen konnte und den alten Vater betrachtete, der schwer arbeiten mußte und
stark abgemagert war, weil er oft nur eine Wassersuppe vorgestellt bekam,
schob sie ihm ihren Teller hin. »Das Vaterland war in Gefahr? Nun und
jetzt? Eine größere Gefahr für das Vaterland ist überhaupt nicht möglich.
Jetzt ist das ganze Volk in Gefahr. Ich weiß ja nicht -- ich brauche aber
nur in seinem Briefe nachzulesen --, wieviel schon gefallen sind, und
wieviel Krüppel sind und wieviel im Lande krank werden und sterben, weil
sie so wenig zu essen haben. Und die Kinder, die so aufwachsen! Schau sie
nur einmal an. Und daß sie jahrelang nur von Mord reden hören. Was werden
denn das für Menschen. Von uns alten Leuten will ich ganz schweigen. Und
von den Soldaten draußen sollen ja so viele krank sein. Du weißt schon
wie.«

»Was der dir immer schreibt.«

»Daß das Volk jetzt in allergrößter Gefahr ist, das kann man leicht wissen.
Das weiß jeder. Dazu braucht man nicht viel Verstand zu haben . . . Der
Krieg wäre auch sicher gar nicht gekommen, wenn die vorher gewußt hätten,
was jetzt daraus geworden ist. Die haben sich einfach verrechnet. Und
grauenhafter Weise nicht wie der Kaufmann nur um eine Geldsumme, sondern um
das Blut von Millionen. Um das Blut unserer Söhne. Jetzt würden sie nicht
mehr anfangen . . . In seinem letzten Briefe schreibt er: >Der Schuß, der
den Einzelnen trifft, hat das ganze Volk in die Brust getroffen.< Und so
ist es.«

»Brust getroffen! Wenn wir doch siegen!«

»Was gibts da noch zu siegen, wenn die Lebenskraft, ja, >die beste
Lebenskraft des Volkes<, schreibt er, >versiegt ist durch den Tod von
Millionen junger Männer; wenn das Volk nur noch aus Verrohten und aus
Krüppeln, Kranken, Irrsinnigen, verhungerten Kindern und Frauen und aus
ganz alten Leuten besteht<.«

»Ja warum nicht gar.« Er klammerte sich an seine Zeitung an, las die
neueste Siegesnachricht des Kriegsberichterstatters: in sein sofort wieder
beruhigtes Gehirn ließ sich ein Ausschnitt leichenbedeckte Erde nieder. >.
. . in einer seitlichen Ausdehnung von mindestens 500 Metern, bei reichlich
achtzig Meter Tiefe . . . Von unseren sturmerprobten Stoßtruppen im
Handgemenge unter auffallend geringen Verlusten mit einer Bravour genommen,
die . . .<

»Lies das, dann kommst du gleich auf andere Gedanken.«

»Ja, ich will die Zeitung gar nicht mehr lesen.« In der des Denkens
ungewohnten Mutter löste sich ein Gefühl los und sank bleischwer in die
Worte hinein: ». . . Wenn nur alle einmal nicht mehr daran denken wollten,
was in der Zeitung steht; wenn nur alle einmal an die Menschen denken
wollten, die jetzt da sterben müssen.«

»Das ist ja Unsinn.« Der Vater packte die Zeitung fester, sah den leeren
Suppenteller an, sah die danebenliegende Postkarte. »Und was ist denn das?«

». . . Nur diese Karte ist gekommen.«

. . . »daß der Gesangverein >Frohsinn< bis auf weiteres die Singproben
ausfallen lassen muß, da immer mehr Sänger dem Rufe des Vaterlandes gefolgt
sind und es keinen Zweck mehr hat.«

Eine schwarze, durch nichts auszufüllende Lücke tat sich auf in seinem
Leben. Er suchte in der Zeitung nach Fettgedrucktem.

»Keinen Zweck mehr hat. Unsinn!«

Plötzlich schrie er wütend die verstört blickende Mutter an: »Warum hältst
du denn die Uhr auf«, begann noch einmal, >Ein kühnes Patrouillenstückchen<
zu lesen.

»Dann ist ja gar kein Zusammenhalt mehr, wenn die Proben jetzt ganz
ausfallen . . . Singen hätten wir immer noch können«, sagte der Vater,

während der Sohn, verdreckt, mit Menschenblut bespritzt und vor Grauen und
Entsetzen gläsern glotzend, mit den wenigen noch übriggebliebenen,
verdreckten und mit Menschenblut besudelten Kameraden über die gefallenen
Kameraden weg, wieder zurück in den Graben taumelte.

Die Artillerie arbeitete weiter. Die Schüsse krachten in rasender Folge.
Der Sohn fiel sofort in Schlaf.

Die Mutter trat unter die Uhr: der Perpendikel schwang weiter hin und her
über dem Gesichte des beliebten Heerführers. Das sah in dem düstern
Hofzimmer aus, als hätte der Heerführer an Stelle des Gehirns eine
Maschinerie, die unabänderlich weiterging, wenn nicht ein Mensch vortrat
und sie aufhielt.

Wenn nicht ein Mensch oder Gott selbst vortrat.

So eine wunderschöne, unbeschreiblich süße, herrlich durch den Weltenraum
schwingende Musik hatte der Sohn noch nie gehört. Wer sie vernahm, wurde
gut. Scharfrichter warf das Beil weg, stürzte in die Knie zu dem am Blocke
knieenden Mörder. Und beide begriffen ihr früheres Leben nicht mehr.

Der Sohn fragte den guten Herrn, der ihn in den deckenlosen, vom
Sternenfirmament blau überdachten Saal geführt hatte, wer diese Musik
geschrieben habe.

Der gute Herr mit den traurigen Augen flüsterte: »Diese Musik hätte ein
Soldat geschrieben, der gefallen ist.«

»Ach«, flüsterte der Sohn, fühlte aber im selben Augenblicke, wie sein
ganzes Wesen sich in weißfließendes Glück verwandelte. Denn plötzlich sah
er >Die einfache Stadt<: Gebäude von solch unsäglich durchseelter
Architektur, daß, im Angesichte dieser göttlichen Klarheit, alle schweren,
dunklen Gefühle aus den Menschen hinaus- und in das Nichts zurückfielen.
Der Sohn stand so im Glücke, daß er kaum wagte, es zu betasten mit der
Frage: »Wer hat diese Stadt gebaut?«

Die Lippen des guten Herrn bebten.

»Nein! Schweig«, flüsterte der Sohn, entsetzt, wie nie in seinem Leben.

»Wahrlich, diese Stadt hätte ein Soldat gebaut, der gefallen ist.«

Da verschwand die Stadt. Und der Sohn hielt >Das Buch der
Menschheitszukunft< in der Hand. Und las in einer Sekunde das ganze Buch
von Anfang bis zu Ende. Denn öffnete man es, so flossen alle seine Bilder
und Gedanken zusammen in ein einziges Wort. Und wessen Seele von diesem
Wort berührt wurde, der war erlöst und gut. Liebe stand auf seinem
Angesichte. »Da brauchen wir dieses herrliche, allmächtige >Buch der
Menschheitszukunft< ja nur vor das Auge der Menschheit zu legen, und die
Welt ist von allem Bösen erlöst und der milden Regierung der Liebe
heimgegeben. O, fließende Verschwisterung«, flüsterte der Sohn. »Wer hat
denn dieses Buch geschrieben?«

»Das hatte ein junger Dichter geschrieben, der gefallen ist.«

Schwarzer Donner klang von fernher.

Von seiner klagenden Seele getragen, flog der Sohn erbebend vor die dunkle
Frage hin: »Welcher Nation gehörten diese Toten an?«

Das Gesicht des guten Herrn wurde zu zwei trostlos weinenden Augen, deren
Blick langsam und deutlich die Worte sprach: »Das weiß man nicht.«

Plötzlich sah, mit allen grausigen Einzelheiten, der Träumende, was er vor
einer halben Stunde beim Sturmangriff wirklich erlebt und gesehen hatte:
das leinenweiß gewordene Gesicht des jungen Franzosen, der in das Bajonett
des Sohnes hineingerannt war.

Und er brüllte in der ewigen Sekunde, die zwischen Schlaf und Wachsein
stand, dem zum Unteroffizier werdenden guten Herrn in unermeßlichem
Entsetzen zu: »Aber ich weiß es. Ich!«

»Auf! Noch ein Sturmangriff!« schrie der Unteroffizier, der den Sohn
wachgerüttelt hatte.

»Ich! . . . Ich weiß es.«

»Warum schlafen Sie denn dann?«

Der ganze Himmel donnerte. Von Menschenblut noch durchnäßte Soldaten, im
Graben eng zusammengedrängt. Gesichter aus Glas. Augen aus Glas.

Die Welle entseelter Menschen wurde vom Befehle vorgestoßen. Und das zu
einem einzigen ungeheuren, erderschütternden Knall zusammentönende Knallen
der mit rasender Schnelligkeit feuernden Geschützkette wurde mild
überflüstert von des Sohnes Seele, die ihm gebot, zu sühnen, indem er
sterbe, damit er lebe.

Er stand reglos, umtobt von den in wildem Kampfe ineinander Verbissenen.
Hier, im Mittelpunkte des Knallens, war es totenstill. Es wurde
handwerklich und ganz lautlos gemordet.

Eine nachkindliche, zweite Naivetät beseelte ihn mit der Frage: »Weshalb
tun die Menschen das? Das darf kein Mensch befehlen. Kein Mensch darf
diesem Befehle folgen.«

Die Sekunde gebar ihm ein letztes, noch irdisches Bild: er sah den ganzen
Erdball sich zu einer Trommel ordnen, auf der der Militarismus mit Granaten
einen Wirbel schlug.

>Menschen, die einander nie gesehen, einander nichts getan haben, Menschen,
die sich lieben, ja, sich lieben, Kameraden, Kameraden erschlagen
einander<, fühlte er noch, vom Jenseits schon berührt. Und das schon nicht
mehr gedachte, nicht mehr gefühlte, als zerfließendes, jenseitiges Bild
geschaute Ahnen besuchte ihn: >Die Seele, die den ganzen Umfang dieser
Furchtbarkeiten sähe, müßte sterben; die Seele macht das Auge zu.<

Die Augen des Sohnes, der inmitten von mordenden und fallenden Menschen
reglos stehen blieb, waren weit geöffnet.

Das Bajonett fuhr unterm Kinn beim Halse hinein, durch den Kopf: sein
Körper schlug, wie der Akrobat, einen Bogen nach rückwärts, daß die
Fußsohlen und die Handflächen die Erde berührten, und verharrte tot, von
Leichen gestützt, in dieser Stellung, einem Brückenbogen gleich.

Die Mutter, die unter der Haustür stand und auf den Briefträger wartete,
baute sich das Glück auf, daß der Sohn leicht verwundet und auf diese Weise
dem Unausdenkbaren entronnen sei. Er befindet sich schon auf der Heimreise.
Er kommt sogar mit einem früheren Zuge an, als die Mutter erwartet hat.
>Gut, daß ich früher da war<, fühlt sie. Und steht in der Bahnhofshalle, an
das Gitter gelehnt, blickt hinaus, die Schienen entlang, auf denen der Zug
eben einläuft. >Entronnen<, fühlt sie, >entronnen<, sieht, wie der Sohn aus
dem Zuge herausspringt und schon von ferne den verwundeten Arm grüßend
hebt. >Eine kleine, ganz ungefährliche Verwundung, sonst könnte er den Arm
ja nicht heben. Glücklich dem Tode entronnen<, fühlt immerzu die Mutter,
fühlt gleichzeitig immerzu das schwarze Gespenst, daß ja alles nur ein
Wunsch von ihr war. Und springt, lautlos jubelnd, in das Glück hinein: dem
Sohne an die Brust.

Der Postbote bog langsam um die Ecke, den sortierenden Blick auf die Briefe
in seiner Hand gerichtet. Und die Mutter stürzte in die Wirklichkeit
zurück: dem lächelnden Postboten entgegen, der ihr den seit vierzehn Tagen
und vierzehn Nächten erwarteten Brief gab; einen der Beruhigungsbriefe des
Sohnes, in denen er, gepeinigt von Selbstanklagen und in Angst um die
Mutter, seine mit Schrecknissen angefüllten Beichtbriefe wirkungslos zu
machen versuchte.

>Eigentlich, genau besehen, weißt Du, geht es mir ausgezeichnet. Ich war
körperlich nie so gesund wie jetzt. Denk an, körperlich nie so gesund wie
jetzt<, schrieb der tote Sohn. >Und wenn ich zurückkomme, dann gehen Du und
ich zusammen einige Wochen aufs Land. Einmal sind wir vornehm und gehen
auch aufs Land. So viel Geld habe ich gespart. Wir wohnen an einem Flusse.
Direkt, am Flusse. Du in einem sonnigen Zimmer, ich daneben; es ist eine
Verbindungstür da. Unsere Fenster gehen auf den Fluß hinaus. Hinter dem
Flusse sind die Hügel, steht der Wald. Es wird gerade Frühling sein, wenn
ich zurückkomme. Solltest mich sehen: so gesund wie jetzt war ich nie<,
wiederholte der Sohn, der, von Leichen gestützt, als toter, verwesender
Brückenbogen zwischen den Schützengräben stand.

Das Glück floß breit in der Mutter.

Wie immer, wenn sie einen Brief erhalten hatte, war ihr der Sohn so nahe,
daß sie seine körperliche Anwesenheit fühlte, mit ihm sprach, ihm
Ratschläge erteilte, solche von ihm annahm, ihm Vorwürfe machte. >Jetzt
setze dich einmal dorthin, dort in die Kanapee-Ecke.<

>Nun, also jetzt sitze ich.<

>Sieh mal, du weißt doch, daß der Vater für nichts Interesse hat, als nur
für seine Zeitung und für seinen Gesangverein.<

>Aber das kann ja vielleicht gar nicht anders sein, Mutter. Er ist
fünfundsechzig Jahre alt und steht seit fünfzig Jahren täglich von früh
sechs bis abends sechs an der Hobelbank. So ist er aufgewachsen; so ist er
alt geworden. Deshalb hat er nichts als seine Zeitung und seinen
Gesangverein.<

>Aber er konnte sich doch denken . . .<

>Er hat längst vergessen müssen, daß er ein Mensch ist, Mutter. Abgerackert
und totmüde ist er seit fünfzig Jahren am Feierabend. Er darf nicht denken;
denn sonst würde er sich vielleicht daran erinnern, daß er einmal ein
Mensch war.<

>Davon wollte ich überhaupt gar nicht reden. Ich wollte ja . . .<

Der Sohn saß nicht mehr in der Kanapee-Ecke. Er war, vom Tode bedroht, in
der vordersten Linie.

>Ich wollte ja den einundneunzigsten Psalm beten<, dachte die Mutter, die
im Laufe eines Lebens immer sich gleichgebliebener grauer Not und absoluter
Aussichtslosigkeit, daß jemals eine Besserung eintreten könnte, ihren
Glauben verloren und das Beten verlernt hatte; die fünfundsechzig Jahre
unter der Eisenplatte geatmet hatte, unter der die europäischen Träger der
Armut stehen und vergehen, und durch die sie hoffnungslos getrennt bleiben
vom Geiste, vom Lichte, vom Leben, vom Menschentum. Nur wenn der Sohn auf
dem wüsten Wege, der, durch die Eisenplatte, empor zum Geiste führt, von
einer Gefahr bedroht gewesen war, hatte die Mutter den einundneunzigsten
Psalm gebetet.

Sie mußte nicht suchen: die Bibel, immer nur und oft an dieser Stelle
gebraucht, tat sich beim einundneunzigsten Psalm auf. Und die Mutter sah,
wie die auf ihren Sohn zusausenden Kugeln, vom Gebete in ihrem mörderischen
Fluge aufgehalten, vor des Sohnes Brust senkrecht zu Boden fielen, als sie
die mit Bleistift unterstrichenen Stellen wiederholte:

»Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt, und unter dem Schatten des
Allmächtigen bleibt,

der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf
den ich hoffe.

. . . Seine Wahrheit ist Schirm und Schild,

daß du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen,
die des Tages fliegen,

vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die im
Mittage verderbt.

Ob tausend fallen zu deiner Seite, und zehntausend zu deiner Rechten, so
wird es doch dich nicht treffen«,

betete die Mutter. Und blieb, in Hoffnung und in düstere Angst gespalten,
sitzen und war nicht erlöst.

Denn die Welt war nicht erlöst, da nicht alle Menschen gleich den Müttern
und nicht alle Mütter . . . Mütter waren.

Der Brief, den der Sohn in Rußland an eine imaginäre Person geschrieben,
nach einem halben Jahre an der Westfront zurückerhalten und doch noch an
die Mutter geschickt hatte, traf erst Wochen nach dem Tode des Sohnes ein,
zu einer Zeit, in der die Mutter noch immer nicht wußte, daß der Sohn schon
gefallen war. Von den fetten Schützengrabenratten schon halb aufgefressen
war.

Der Sohn hatte vergessen, die Überschrift zu ändern; die bebende Mutter
las:

»Sehr geehrter Herr, erlauben Sie mir, Ihnen den Seelenzustand meines
Freundes zu schildern. Es ist Ihnen gewiß auch schon widerfahren, daß Sie
beim Hinabsteigen einer Ihnen seit Jahren vertrauten Treppe, im Dunkeln vor
der letzten Stufe irrtümlich vermuteten, schon ganz unten zu sein: Ihr zum
Ausschreiten vorgestrecktes Bein findet keinen Boden. Sie kennen diese
körperliche Erschütterung, die so plötzlich eintritt, daß Dunkelheit und
Tiefe, in die Ihr Bein versinkt, in die Höhe und in das überraschte Gehirn
hineinsausen und einen seelischen Schreck verursachen. Stellen Sie sich
vor, Sie würden drei Jahre lang, so ununterbrochen wie Sie atmen, in diese
unerwartet vor Ihnen sich auftuende Tiefe hineintreten, drei Jahre lang
ununterbrochen diesen kleinen Seelenschreck erleben. Und stellen Sie sich
jetzt, wenn Sie können, diese beständige Seelenerschütterung millionenfach
gesteigert vor.

Dagegen gibt es, wie unglaublich Ihnen das auch erscheinen mag, ein
Hilfsmittel. Die Gewohnheit. Die meisten Menschen vermögen an Stelle ihrer
Seele die Gewohnheit zu setzen. Das tun die Millionen entseelten Soldaten,
die dann gewohnheitsmäßig weiterschießen, weiter ihre Gewehrkolben in
feuchte Menschengehirne hineinschlagen, weiter das leise zischende Bajonett
in weiche Unterleiber hineinstoßen und nicht erschüttert werden, weil der
sich Krümmende genau so glotzt wie der, der sich gestern krümmte und fiel.

Es gibt, sehr geehrter Herr, noch ein Mittel. Den Wahnsinn. Diesen Vorgang
brauche ich Ihnen nicht näher zu erklären; ich brauche Ihnen einstweilen
(denn ich werde Ihnen noch viele Briefe schreiben) nur zu sagen, daß die
Träger einer stärkeren Seele, eines empfindlicheren Gewissens sich in die
Gewohnheit nicht hineinzuretten vermögen und deshalb natürlich wahnsinnig
werden müssen.

Ich habe versucht, Ihnen die Seelenerschütterung begreiflich zu machen, die
ein drei Jahre lang uns unterbrochen treppab steigender Mensch empfände,
der drei Jahre lang bei jeder Stufe ununterbrochen mit dem zum Ausschreiten
vorgestreckten Bein in die nicht erwartete Tiefe sänke. Und habe gesagt,
daß diese beständige Seelenerschütterung beim Frontsoldaten millionenfach
gesteigert ist. Setzen Sie beispielsweise an Stelle der nicht mehr
erwarteten Treppenstufe folgenden unwahrscheinlichen Vorgang (auch die
Menschenschlächterei ist absolut unwahrscheinlich): Sie mieten ein
möbliertes Zimmer im vierten Stock und öffnen zum erstenmal die Balkontür,
treten hinaus, um sich an der schönen Fernsicht zu erfreuen, und stürzen
hinunter, weil hinter der Tür kein Balkon ist. Stellen Sie sich vor allem
den Moment vor, in dem Ihr überraschtes Bewußtsein in blitzartiger
Erschütterung erkennt, daß kein Balkon da ist und daß Sie rettungslos
hinunter in die Tiefe stürzen müssen. Da der Mensch Mitgefühl mit seinem
Nächsten hat, werden Sie, auch wenn Sie nicht dieser Unglückliche sind,
sondern unten auf der Straße stehen und zusehen, wie ein Mensch vom vierten
Stocke herabstürzt, ebenfalls diese plötzliche Seelenerschütterung erleben.
Und wenn Sie eine Woche lang ununterbrochen zusehen müßten, wie Menschen
aus dem vierten Stocke herabstürzen, würden Sie endlich zu lachen beginnen,
das heißt, wahnsinnig werden. Oder Sie würden die Augen zumachen, das
heißt, sich allmählich daran gewöhnen, daß Menschen vom vierten Stocke
herabstützen.

Vergegenwärtigen Sie sich jetzt, wenn Sie können, diesen Seelenschlag in
unausrechenbarer Steigerung und ununterbrochen drei Jahre lang erfolgend,
dann werden Sie begreifen, daß die große Mehrzahl meiner armen Kameraden
sich in die Gewohnheit und die übrigen sich in den Wahnsinn hinein retten
müssen.

Und nun bitte ich Sie, eine Seele schreit in Todesnot, ich bitte Sie, raten
Sie mir, was soll mein Freund tun, der nicht wahnsinnig und auch nicht eine
gewohnheitsmäßig funktionierende Mordmaschine werden kann, da er, göttlich
auserkoren, Träger eines beständig wachen Gewissens, Träger einer beständig
fließenden Seele ist.

Ich bitte Sie, verschieben Sie jede noch so wichtige Tätigkeit und
beantworten Sie mir erst diese Frage, wenn Sie eine Antwort auf diese Frage
haben. Legen Sie diese Frage allen Ihren Freunden und Bekannten, legen Sie
diese Frage der ganzen Menschheit vor. Eine Seele wartet auf Antwort.

Sollte jedoch Ihre Antwort sein, daß meine Ausführungen die
gefühlsmathematische Notwendigkeit ergeben, solch einem Menschen bleibe
nichts anderes übrig, als zu fallen und zu sterben, dann brauchen Sie mir
nicht zu antworten, da ich selbst schon seit langer Zeit diese Antwort auf
die Frage meines Freundes bereithalte. Sollten Sie und die Welt dieselbe
Antwort haben, so würde die Erfahrungstatsache, daß unter den Gefallenen
immer die Besten des Volkes sind, zu der seelischen Gesetzmäßigkeit erhoben
werden, daß unter den Gefallenen die Besten des Volkes sein müssen. Daß die
erkorenen, jungen Träger der Wahrheit fallen müssen. Daß die jungen,
feurigen Träger des ewig unverrückbaren Menschheitsideales >Liebe< fallen
müssen. Daß die jungen Dichter nicht zurückkehren können. Daß bei ihnen
allen einmal der Augenblick kommen muß, in dem sie ganz bei sich selbst
angelangt sind, ihr Körper sich bedingungslos der Seele unterordnet und
ohne Gegenwehr den Todeshieb empfängt . . .«

Weiter las die Mutter nicht. Die Möglichkeit, weiter zu lesen, war nicht
mehr vorhanden; die Denkfähigkeit war aus der Mutter hinausgefallen. Und
ihr Gefühl war abgekapselt. Sie saß ganz unbewegt am Tische und sah
interesselos den zweiten Brief an, den sie noch nicht geöffnet hatte, weil
die Adresse nicht vom Sohne geschrieben war.

Dieses amtliche Schreiben enthielt die kurze Nachricht, daß der Sohn
gefallen sei. »Auf dem Felde der Ehre«. Die ahnungslose Mutter ließ das
Schreiben uneröffnet liegen.

Plötzlich und schnell, als dürfe nicht eine Sekunde Zeit verloren werden,
wurde ihr Körper vor die Kommode gestellt; sie nahm aus dem Drahtkörbchen,
das einen bemalten Porzellanboden hatte, den alten Trostbrief heraus und
las:

>Eigentlich, genau besehen, weißt Du, geht es mir ausgezeichnet. Ich war
körperlich nie so gesund wie jetzt. Denk an, körperlich nie so gesund wie
jetzt . . . Zurückkomme, dann gehen Du und ich einige Wochen aufs Land
. . . In einem sonnigen Zimmer, ich daneben . . . Verbindungstür da . . .
Gerade Frühling sein . . .<

Neue Hoffnung durchbrach die Kruste. Und in der Mutter stand ein ungeheurer
Wille auf, den Sohn aus der Todesgefahr heraus-, in diese Frühlingswochen
hineinzureißen, wo nur noch Glanz und Liebe war.

Ihr werde es gelingen, bis zum Kaiser vorzudringen. Und wenn es nicht
anders ginge, sie werde hinauslaufen an die Front, in den Schützengraben
und ihren Sohn holen. Sie werde sagen: >Das ist mein Sohn. Mein! Mein
Sohn!< »Es gibt Mittel und Wege. Mittel und Wege. Viele Mittel und Wege.
Ich werde totkrank, damit der Sohn Urlaub bekommt. Was auch geschieht, ich
lasse ihn nicht mehr fort. Ich werde ihn einsperren. Ich werde ihn
verstümmeln. Verstecken. Keller. Wald. Meinen Sohn in meinen Leib
zurücknehmen.«

Automatisch öffnete sie das amtliche Schreiben. Las: >Feld der Ehre
gefallen<.

»Wer denn? Wer?« Sah auf.

Die glänzende Kante des lackierten Kleiderschrankes, das Gesicht des
beliebtesten Heerführers, der hin- und herschwingende Perpendikel stürzten
auf sie zu.

Ohne den Bruchteil einer Sekunde zu warten, machte sie eine blitzschnelle
Drehung türwärts. Und flog schreilos aus dem Zimmer, den dunklen Gang vor,
aus der Wohnung hinaus, die Treppe hinunter, die Gasse hinunter, die breite
Asphaltstraße hinunter. Immer in der Mitte: schwarz, vornüberstürzend,
lautlos. Sie hatte Filzschuhe an.

Passanten blieben stehen; es bildeten sich Gruppen. »Was hat sie?« Das
selten berührte Gefühl gedankenlos lebender Menschen wurde von etwas
Unbegreiflichem getroffen. Kein einziger wußte, daß es die absolute
Ziellosigkeit war, die sie erschüttert aus dem Rennen der Mutter
herausfühlten. Und als ein junger Arbeitet das amtliche Schreiben, das er
gefunden und aufgehoben hatte, vorlas, sanken die Worte in die
aufspringenden Herzen hinein. Junge Leute galoppierten der Mutter nach.

Sie hetzte durch Stadtviertel, dem Schrei entgegen, der zusammengeballt in
ihrem Halse saß und nicht durch konnte.

In allen Straßen bildeten sich Gruppen betroffener Menschen, die von den
Nachspringenden über das Unglück der Mutter aufgeklärt wurden, sich ihnen
anschlossen.

Eine Kompanie junger Soldaten, feldmarschmäßig ausgerüstet,
blumengeschmückt, singend auf dem Wege zum Bahnhof, sauste auf die Mutter
zu und im Fluge an der Rasenden vorbei.

». . . dir die Hand nicht geben . . .«

Ein Lastfuhrwerk. Ein Schutzmann zu Pferde.

». . . dieweil ich eben lad' . . .«

Schon weit hinter ihr verklingend.

Erst Minuten später sprengte das von ihrer Seele im Fluge aufgenommene
Mordlied den Schrei, der sich im Halse zusammengeballt hatte.

Der Schrei platzte. Die Mutter schrie und rannte. Schrie länger als ein
Atemzug reicht. Stolperte. Fiel nicht. Holte Atem. Schrie weiter.

Das war kein Klagegeschrei. Rennen und Schrei kamen aus einer Quelle und
verschmolzen in Eins. Stille auf der ganzen Erde. Nur die europäische
Mutter schrie. Schrie jetzt die unterdrückten Schreie dreier Jahre.

Niemand wagte den Versuch, sie aufzuhalten. Denn hier schrie nicht ein
Mensch; hier schrie die Menschheit. Alle fühlten das.

Und eher könnte es einem neben dem Geleise Stehenden gelingen, den
heransausenden D-Zug mit dem Zeigefinger aufzuhalten, als daß es aller
Macht der Welt zusammen gelänge, Schweigen zu erzwingen, wenn die
getroffene Menschheit schreit.

Der Schrei wurde gehört. In Paris, London, Rom, in Amerika, in Kasernen und
in Dachkammern. Er wurde in Petersburg gehört. Er sauste hinein in die
Herzen. Und er riß die Herzen der Menge auf, die der springenden Mutter
straßenentlang folgte.

Die ganze Stadt fühlte zum ersten Male plötzlich den Tod der Millionen
Söhne, das Leid der Millionen Mütter, da sie das Leid dieser einen Mutter
sah.

Ihr Schrei war schon nicht mehr der einer Frau; er war tief und rauh
geworden, geschlechtlos: ein Menschenschrei, unterbrochen von kurzen
Atempausen, in denen das horchende Herz der Menschheit stockte.

Ein junger Schutzmann überholte galoppierend die gewaltige Menge und packte
den Arm der schreienden Mutter, die mit dem Schutzmann weitersprang, als
habe sie einen brüderlichen Leidensgenossen bekommen. Seine Hand wurde lahm
und sank, als er, beim Blick in ihr Gesicht, fühlte, daß er dem Schmerze
der Menschheit ins Gesicht sah.

Jetzt erst stieg der tausendstimmige Entrüstungsschrei der Menge, getragen
wie ein Choral, und der junge Schutzmann ahnte, von diesem Tone tief
getroffen, daß hier nicht Sensation, sondern der unbesiegbare Geist der
Menschlichkeit sich kundtat.

Hemmungslos, blind für alle Hindernisse, sprang die vornüberstürzende
Mutter wie eine schwarze Kegelkugel die Asphaltstraße, die vom Dome
abgeschlossen war, hinauf, durch das offene Portal in die Kirche hinein,
lautlos weiter geradeaus, durch den Mittelgang, bis vor den Altar,

über dem der Sohn am Kreuze hing und hinuntersah zum Priester, der, von
Kindheit an in der Lüge versunken und ertrunken, eben zum schmerzverzerrten
Gesicht empor log:

». . . der du unseren Waffen deinen göttlichen Beistand schenktest, Lob und
Preis und Dank sei dir, der du unsere Waffen gesegnet und mit Sieg gekrönet
hast.«

Sie rannte die drei Stufen hinauf, prallte gegen den Priester.

Durch alle Türen drängte die Menge herein. Und die Veranlassung dazu
verbreitete sich schnell unter den Kirchenbesuchern: fast nur alten Frauen,
von denen die meisten ihrer Söhne beraubt waren. Mütter, die, von tödlicher
Verzweiflung getrieben, ihre letzte Zuflucht bei Gott suchten, und von
Gott, von der Liebe getrennt blieben durch die Lügenmauer, die der um Sieg
und Segen für unsere Waffen und um Verderben und Tod für den Feind bittende
Priester vor ihren Seelen auftürmte.

Die Mutter vernahm seine letzten Worte und stand, wie von Gott gesandt,
eine ewige Sekunde aufgerichtet vor dem Priester. Da flog das von Gott
selbst ihr auf die Lippen gegebene Wort »Lüge!« durch die Kirche und zerriß
die ungeheure Spannung.

Sie warf in einem wilden Schwung die Hände empor zum schmerzverzerrten
Sohne. Der geängstigte Priester wollte die Mutter wegreißen. Während des
kurzen Kampfes prallten beide gegen den Altar:

der Sohn schwankte und neigte sich und sank nach vorne in die empfangenden
Arme der Mutter.

Der entsetzte Priester trat zurück.

Ein Hauch zog durch die Kirche, verdichtete sich zu vielstimmigem Geflüster
und wurde ein Ton, den die Orgel aufnahm und motivisch mit dem melodisch
ansteigenden Vorspiele verband.

Die erhöhte Mutter stand, das Gesicht den Gesichtern zugedreht, den
umschlungenen Sohn an der Brust, reglos vor dem Altare, entschlossen zum
Sturme gegen Gewalt und Mord. Und alle sahen, daß sie das persönliche Leid
hinter sich gelassen hatte und nach dem wilden Schmerzenslauf durch die
Stadt in dieser Sekunde den dunklen Mächten entronnen und eingetreten war
in die weißfließende Liebe.

Ganz in ruhevollem Glanze versunken, stieg die Verklärte die drei Stufen
herunter, ging langsam durch den Mittelgang.

Und die unglücklichen Mütter brachen, vom Unnennbaren berührt, los von der
Lüge und folgten. Es wurde kein Wort gesprochen, und nicht ein Mensch blieb
zurück.

Nur noch der Priester stand seitwärts neben dem Altare, die weitgeöffneten
Augen auf die einmütig Abziehenden gerichtet. Da brach sein Kopf auf die
Brust, als habe er einen Hammerschlag in den Nacken bekommen. Er hob das
nicht wieder zu erkennende Gesicht und folgte

dem Zuge, der schweigend und mit göttlicher Selbstverständlichkeit die
Stadt durchzog und von Minute zu Minute mächtiger anschwoll, beständig
vergrößert durch die plötzlich Sehendgewordenen.

Drei Jahre, gefüllt mit Begeisterung, mit Blut, mit zehnmillionenfachem
Morde, mit Glauben an die Lüge, mit Standhaftigkeit, Arbeit, Hunger, mit
Leid und Leid und Leid waren durchschritten. Nichts war unversucht
geblieben; alles war ertragen worden. Vergebens. Der blutige Kreis hatte
keinen Ausweg.

Jetzt schritten die Menschen geschlossen und still in den Ausweg: in die
Wahrheit hinein. Ohne Worte der Erklärung. Die Neuhinzukommenden fragten
nicht. Niemand sprach ein Wort. Die Wahrheit braucht nicht den Ton. Die
Wahrheit ist still.

Der für die Menschen am Kreuze gestorbene Sohn, von der Mutter Europas dem
Kriege vor das Mordgesicht gehalten, öffnete von neuem die Herzen für die
Liebe, deren weißglühender Strom den kilometerlangen Zug beständig
durchfloß und allen Widerstand der noch von dunklen Mächten Gefesselten
verbrannte.

Aus den Augen eines reitenden Schutzmannes, der den Zug begleitete, brach
plötzlich das innere Licht. Er stieg ab.

Und das Pferd, getrennt von seinem Herrn, ganz verbunden mit den Menschen,
schritt mit und blickte tief, kindlich und gut.

Stumpfe Menschen, vom Leide ausgehöhlt, empfingen den Keim neuen Lebens.
Väter, Mütter, Kriegswitwen, Krüppel, in den mildglänzenden Augen die
unmeßbar tiefe Freude von Menschen, die alles hingegeben und verloren
hatten und nun plötzlich zusammen mit Brüdern gingen.

Von Zweifel und Frage nicht berührt, dicht hintereinander, fast am Platze
marschierend, dem Ziele zu, das alle im Herzen trugen.

Ein endloser, schweigender Zug von Brüdern, dem Menschheitsziele entgegen,
über den Untergang hinaus, hinein in das neue Zeitalter, das im Zeichen der
Wahrheit, der Freiheit und der Liebe steht.

Sie schritten ganz langsam eine breite, unabsehbar lange Asphaltstraße
hinunter und nahmen, tief vertraut mit der Atmosphäre der großen Zeitwende,
in der die Ereignisse ohne Frage und Antwort begriffen werden, mit
göttlicher Selbstverständlichkeit wahr, daß ihrem Zuge ein gewaltig langer
Bruderzug entgegenkam. Ganz langsam und schweigend.

Voran der Kellner, auf dessen von Mund zu Mund getragenes Wort Millionen
horchten.

Neben ihm die Versicherungsagentenwitwe, die vom Kellner dem Hasse
entrissen und in den tieferen, in den radikalsten Protest gegen den Mord:
in die Liebe gestellt worden war.

Der von diesen beiden angeführte Revolutionszug der Liebe traf mit dem
unabsehbar langen Revolutionszug der Liebe, den die Mutter und der
Gekreuzigte anführten, bei einer asphaltierten, breiten Querstraße
zusammen.

Keine Frage. Keine Erklärung. Kellner und Agentenwitwe und die Mutter mit
dem gekreuzigten Sohne blieben voreinander stehen, Auge in Auge.

Die Seitwärtsgehenden beider Züge bogen links und rechts in die Querstraße
ein: ordneten sich zu einem riesenhaft großen, schwarzen Menschenkreuz, zu
dessen Mittelstück das neben der Mutter stehenbleibende, reiterlose Pferd
des Schutzmannes wurde.

Unvermittelt kam die Erleuchtung über abgearbeitete, vom Hunger geschwächte
Menschen. Sie lösten sich los, standen plötzlich auf Balkonen.

Und sprachen hinunter zum schwarzen Menschenkreuz, in dessen Mitte der
gekreuzigte Sohn ragte.

Das zu den Rednern emporgerichtete Gesicht der verbrüderten Menge leuchtete
weiß. Und die Worte des neuen Zeitalters sanken, wie vor zweitausend
Jahren, hinein in die durch mörderisches Leid wieder für die Liebe bereit
gewordenen Menschen.




IV. Das Liebespaar


Früh um fünf Uhr läutete die Wohnungsglocke langgezogen in den Traum des
Rechtsanwaltes hinein.

Der Schlaftrunkene tappte durch den dunklen Wohnungsflur zur verschlossenen
Tür. »Wer ist da?«

»Die Polizei.«

Sofort fiel ihm ein, daß er am Tage vorher in einer Gesellschaft gesagt
hatte: »Der Hotelkellner, der die revolutionären Friedensdemonstrationen
verursacht und dabei den Leuten erklärt, daß militärische Eroberungen
menschenunwürdig und militärische Siege nicht maßgebend sind für den
inneren Wert einer Nation, leistet für die Zukunft des Volkes mehr als
unser berühmtester Heerführer.«

Und jetzt lassen mich die Scharfrichter der Menschlichkeit verhaften,
dachte der Rechtsanwalt und öffnete. »Wen suchen Sie?«

»Der bin ich selbst.«

»Sie möchten ins Leichenschauhaus kommen, Herr Doktor. Dort ist ein
Selbstmörder eingeliefert worden, bei dem nur Ihre Visitenkarte gefunden
wurde. Sonst nichts.«

»Sonst nichts? . . . Ich meine, sonst liegt nichts vor?«

»Sie möchten feststellen, wer der Selbstmörder ist.«

Noch Morgenstille in Berlin. Dämmerung in den Asphaltstraßen.

Eine leicht bewegte, in Viererreihen streng geordnete Menschenmenge steht
an der Markthalle entlang. Grau, spukhaft und ungeheuer bedrückt.

»Auf was warten die Leute?« fragte der Anwalt einen alten Arbeiter, der
zerrissene, mit Bindfaden geflickte Lackschuhe anhatte.

»Es gibt städtische Fische . . . Um ein Uhr mittags beginnt der Verkauf.«

»Und da stehen die Leute jetzt schon hier? Früh um fünf Uhr?«

Wie die Worte klingen in der Stille, dachte er.

»Wir stehen schon seit gestern abend um zehn Uhr hier . . . Die
Rückwärtigen, die erst gegen Mitternacht gekommen sind, kriegen
wahrscheinlich nichts . . . Vielleicht aber doch; wahrscheinlich aber
nicht.«

Der Anwalt ging mit dem Schutzmann weiter. >Man hat diesem wunderbaren,
geistig entsetzlich ruinierten Volk die Pflicht, für den Staat zu leben und
zu sterben, eingegeben, und an diesem Brocken würgen die siebzig Millionen
-- daheim und an den Fronten -- so lange, bis sie erstickt sein werden im
Dienste eines Staates, dessen Geist -- vorsichtig gesprochen -- schwer
mitschuldig ist am Kriege. Millionen sind schon an dieser falschen Pflicht
erstickt. Wann wird dieses Volk ebenso stoisch für die Freiheit dulden?<

»Hier ist das Leichenschauhaus.«

»Danke. Ich schreibe den Bericht heute noch an das Polizeipräsidium.« >Wenn
täglich Tausende an der Front krepieren, weshalb da nicht täglich Hunderte
in der Stadt für die hohe Idee? Für die Freiheit? Für die Verbrüderung?
. . . Wo ist der Idealismus dieses Volkes geblieben?<

Der lag im Leichenschauhause, in Gestalt von momentan zwanzig
Selbstmördern, die, ohne zu revoltieren, protestlos die Kulturgemeinschaft
verlassen hatten.

Ein mit den letzten Errungenschaften der Hygiene ausgestatteter Raum: große
Glasscheiben, große Ventilatoren, große Eisblöcke, die langsam schmolzen
und die Leichen frisch erhielten. Kein Gestank. Peinlichste Ordnung,

etwas gestört, dadurch, daß fünf Selbstmörder, für welche Pritschen nicht
übrig geblieben waren, auf dem reingewaschenen, weißen Steinplattenboden
lagen.

>Jetzt, beim Morgengrauen, wird an den Fronten die phantastisch wilde
Mörderei armer Menschen schon wieder begonnen haben<, dachte der Anwalt und
betrachtete die zwei Erhängten, die, schief und steif, in der Ecke hockten,
nebeneinander: ein Ehepaar, dem der Krieg zum Stricke geworden war. Aus den
weitaufgerissenen Mündern heraus strotzten die zwei Zungen: dick, steif,
lang, blau.

>Und wieviele Mütter, Bräute und Väter Europas liegen in dieser Sekunde
wachend in den Betten, mit starr offenen, sehenden Augen? . . . Es gibt
städtische Fische<, dachte der Anwalt. >So beginnt der Tag.<

Beim Fenster lag ein Haufen blutiger Dreck, Gedärme, Knochen: ein alter
Mann, der vom vierten Stocke aus hinunter auf das Pflaster gesprungen war,
nachdem sein Sohn den Heldentod gefunden hatte.

Auf dem niedrigen, breiten Fenstersims, in das die Dampfheizung eingebaut
war, lag langgestreckt eine sehr elegante, leichtgeschminkte alte Dame, die
Gift genommen hatte und mit ihren toten Augen einen toten Jüngling
anstarrte, dessen Lippen leises Erstaunen offen hielten.

>Und wie haben der alte Mann und die alte Dame und der Knabe gelitten,
bevor sie den letzten Schritt taten? Und wie die Millionen Soldaten, bevor
sie ins Nichts stürzten?<

Die übrigen sechzehn Kriegsselbstmörder lagen langgestreckt oder
krampfkrumm, blutig oder giftbleich auf den abwaschbaren, weißlackierten
Pritschen, über denen die drei großen Horizontalventilatoren kreisten. Auch
in die Fenster waren sausende Ventilatoren eingebaut, die das Wort >Krieg<
Tag und Nacht in die Länge zogen.

Der Leichenwärter führte den Anwalt zu dem vierzigjährigen Manne, der, von
links gezählt, auf der fünften Pritsche lag und ein ungeheuer klagendes,
zart hellblaues Gesicht hatte.

Der Anwalt erkannte in der Leiche sofort den Philosophen, dessen
Einleitungsband einer >Gegensatzphilosophie< erst kürzlich erschienen war.

Schrecken und Zorn wechselten in schneller Folge in den Augen des Anwaltes,
beim Erblicken dieses hellblauen Gesichtes, das erstarrt war in der Klage
darüber, daß ein dreist-materialistisches, ungeistiges Zeitalter nicht
erlaubt hatte, das Lebenswerk aufzubauen und zu vollenden.

»Weshalb hat er sich denn umgebracht? Weshalb denn?«

»Weiß nicht. Aber gewöhnlich liegt die Einberufung zum Militärdienst auf
dem Tische; oder die Nachricht, daß der Mann gefallen ist, der Sohn . . .
Bei dem Mädchen dort wars der Bräutigam.« Er deutete auf das Mädchen, das,
von links gezählt, auf der sechsten Pritsche neben dem Philosophen lag und
wie er ein zart hellblaues Gesicht hatte.

Beide hatten sich mit Gas vergiftet.

»Weshalb griff er denn dem Schicksal vor? Er hätte sich doch sagen können:
nicht alle fallen an der Front.«

»So habe ich bis vor zwei Jahren auch gedacht; seither habe ich mit vielen
Angehörigen gesprochen . . . Es ist bei vielen nicht die Furcht vor dem
Tode; es ist die Furcht vor der Kaserne. Es gibt Leute, die den Kasernenhof
. . . und so weiter, nicht ertragen.« Der Leichenwärter setzte sich,
stützte den Ellenbogen auf eine Bahre, auf der eine Wasserleiche lag: ein
schlammiges, grünes Etwas ohne Nase und Augen. Der Bauch war hoch
aufgetrieben. Wasser tropfte immer noch gleichmäßig von der reinen, weißen
Bahre hinunter auf den reinen, weißen Boden. Die Leiche war drei Wochen
lang geschwommen.

>Ist das Leichenschauhaus auch ein Feld der Ehre, auf dem Menschen liegen,
die gestorben sind für des Reiches Größe und Weltmachtstellung?< ». . . Wer
ist dieser Ertrunkene?«

»Das weiß man nicht. Zurzeit werden siebzehn Leute in Berlin vermißt. Einer
von diesen ist er . . . Man kommt gar nicht mehr zu sich.« Der
Leichenwärter war stark abgemagert, sah übermüdet und schwindsüchtig aus
und trug ein offenes Hemd mit Schillerkragen.

»Viel zu tun?« . . . >Weshalb frage ich ihn das?<

»Es geht ununterbrochen. Ununterbrochen! Jeden Tag werden durchschnittlich
acht bis zehn Selbstmörder eingeliefert . . . Vor dem Kriege einer,
höchstens zwei im Tage.«

»Jeden Tag acht? Allein in Berlin?« Dabei werden längst nicht alle
Selbstmörder ins Leichenschauhaus gebracht, weiß ich aus Erfahrung, dachte
der Anwalt. »Elektrisches Licht ist auch hier?« >. . . Weshalb frage ich
das?<

Ein paar Sekunden blieb es still im Schauhause. Die Morgendämmerung lag
noch über den Leichen, schmolz sie zusammen zu einer dunklen Masse.

»Ja, auch elektrisches Licht . . . Und rollbare Pritschen. Elektrische
Weckapparate. Dynamoventilatoren. Überhaupt das Allerneueste auf diesem
Gebiete . . . Dieses Luftsaugröhrensystem ist ganz neu.« Er stand müde auf,
drehte am Schalter; drei Bogenlampen zischten, spritzten grellweißes Licht:

die zwanzig Leichen schienen lebendig geworden zu sein. Stille und wilde
Gesichter. Manche sahen aus, als wollten sie etwas sagen.

»Auch ein Sauerstoffapparat für die mit Gas Vergifteten ist da. Und ein
kleines Wartezimmer für die Angehörigen. Nebenan wohne ich.«

»Wohnen Sie? . . . Alles tadellos.« >. . . Was geschieht mit diesem Volke?
Warum ruiniert man dieses Volk? Dieses geduldige, fleißige, tüchtige,
temperamentlose, gründliche Volk, das protestlos alle Qualen des Daseins
trägt und protestlos stirbt, an der Front und in der Stadt. Dieses
Duldervolk, dem mit Hilfe des denkbar raffiniertesten Systems das Denken
und damit schon von vornherein jeder Einzelprotest unmöglich gemacht worden
ist . . . Wenn es endlich einmal protestiert, wird sein Protest geduldig,
fleißig, temperamentlos und ungeheuer gründlich, ungeheuer blutig sein
. . . falls seine Herren in dem von Gott gesetzten Augenblick nicht
freiwillig gehen.<

Ohne gefragt worden zu sein, sagte der Wärter: »Ich führe eine Statistik
der Todesarten Berliner Selbstmörder. Momentan habe ich drei Erhängte, fünf
Wasserleichen, zwei Giftleichen, sieben Gasleichen, drei, die sich aus dem
Fenster gestürzt haben, und nur einen, der sich erschossen hat; einen
Soldaten, der auf Urlaub war. Dort liegt er . . . Die Pritschen reichen
nicht mehr aus. Am häufigsten sind die Gasleichen.«

»Weiß man, weshalb sich der Soldat erschossen hat?«

»Wird seine Frau nicht so vorgefunden haben, wie sich das gehört. Oder er
wollte nicht mehr hinaus. Viele wollen nicht mehr hinaus . . . Der Mann
bringt sich wegen seiner Frau um. Und die Frauen bringen sich um, weil die
Männer gefallen sind. So löscht kreuzweise Eines das Andere aus.« Er
deutete auf das Mädchen, das neben dem Philosophen lag: »Das ist eine
Ladnerin; bei ihr wars der Bräutigam.«

»Das haben Sie mir schon gesagt.« >. . . Und jetzt liegt der Philosoph
neben der Ladnerin. Der Knabe neben der alten Dame. Die Wasserleiche neben
der Giftleiche. Und am häufigsten sind die Gasleichen. Und an der Front
liegen Millionen Leichen. Und in Berlin lebt, siegt und verdient man
weiter. Die Elektrischen fahren. Und in den Theatern wird gespielt. Und
darauf ist man stolz. Denn das ist ein Zeichen von Kultur.< »Haben Sie von
der revolutionären Friedensdemonstration gehört?«

Der Leichenwärter gab keine Antwort; er wischte wieder das Wasser auf, das
von der Leiche heruntergetropft war auf den weißen Steinplattenboden.

Plötzlich zerbrach ein letzter Widerstand, eine letzte Vorsicht im Anwalt:
er entschloß sich, sofort den Hotelkellner aufzusuchen.

Unwillkürlich drehte er beim Abschiednehmen das Licht aus. Die Leichen
schwammen wieder zu einer dunklen Masse zusammen.

Die Rechnung des Leichenwärters war einfach: >Da sich in Berlin, das drei
Millionen Einwohner hat, in den letzten drei Jahren achttausendfünfhundert
Menschen wegen des Krieges umgebracht haben, werden sich in ganz
Deutschland, das siebzig Millionen Einwohner hat, wohl
hundertneunzigtausend Menschen wegen des Krieges das Leben genommen haben
. . . Und wieviele sind aus Gram über den Heldentod ihrer Angehörigen
allmählich eingegangen? Und wieviele sind wahnsinnig geworden? Und wieviele
Protestler sitzen im Zuchthause? Wieviel Schwache, Widerstandsunfähige sind
krank geworden und eingegangen, bei denen der Befund des Arztes nur hätte
lauten können: eigentlich sind sie verhungert?<

Der Wärter war ein vorsichtiger Mann; er stand in seinem Privatzimmer vor
dem Tisch und wog seine Tagesbrotration pedantisch genau ab; er wollte
nicht verhungern; er wollte den Krieg überleben; er war interessiert, zu
erfahren, welches positive Resultat das Leid und der Tod so vieler Menschen
nun eigentlich haben werde.

>Das sind die Hinterlandkriegstoten: bis jetzt, vorsichtig gerechnet,
hundertneunzigtausend Kriegsselbstmörder in Deutschland. Macht mindestens
eine Million Selbstmörder in allen kriegführenden Nationen zusammen. Kommen
hinzu die zehn Millionen Heldentote. Total: elf Millionen Tote . . . Kommen
hinzu die zehn Millionen lebens- und arbeitsunfähig gewordenen Krüppel. Und
fünfhundert . . . nein achthundert, nein tausend verpulverte Milliarden,
für die den Zins zu erschuften, den arbeitenden Massen überlassen werden
wird . . . Wenn ich nun noch das leider nicht zahlenmäßig errechenbare
Seelenleid der Hinterbliebenen als unbekannte Pauschalgröße hinzunehme,
habe ich ein Recht, auf das positive Resultat, das dieser ungeheure
Gesamteinsatz zeitigen wird, neugierig zu sein.<

Er betrachtete, mit diesem Gedanken beschäftigt, das von einer mächtigen
elektrischen Glocke überdachte Klappensystem, das -- wie das Klappensystem
in einer Telephonzentrale mit den Teilnehmern -- durch elektrische
Drahtleitung mit den Toten verbunden war. Gift- und Gasleichen und solche,
bei denen die Todesursache nicht bekannt war, lagen drei Tage unter Kontakt
mit dem Weckapparat. Ein Erwachungsseufzer, die winzigste Fingerbewegung
löste den Kontakt aus.

Eine Weile saß der Wärter ganz reglos am Tische; er hörte nur das Rauschen
der Ventilatoren in der Leichenhalle, glitt immer tiefer in einen
Gefühlstrichter hinunter und kam wieder zu dem alles zusammenfassenden
Schlusse: >Wenn man sich überlegt, daß alle, daß auch die kompliziertesten,
phantastischesten Scheußlichkeiten, die sich ein Menschengehirn auszudenken
vermag, in diesem Kriege begangen worden sind, daß man sich keine
Grausamkeit, keine Ungerechtigkeit, keine Niedertracht ausdenken kann, die
nicht begangen worden wäre, und daß, außer diesem Vorstellbaren zahllose
Schandtaten geschehen sind, die man sich gar nicht ausdenken kann, ist
Jeder, der im Angesichte dieser Bluttatsache nicht als Protestler im
Zuchthause sitzt, nicht irrsinnig wird oder sich das Leben nicht nimmt, ein
robustes, gemeines, erbärmliches Individuum. Ein anständiger Mensch, ein
Mensch erträgt das Leben nicht, in dem solches möglich ist und auch noch
als Heldentum gefeiert wird . . . Unter den hundertneunzigtausend
Kriegsselbstmördern waren -- und in den Irrenhäusern und Zuchthäusern sind
-- die anständigsten, edelsten Menschen unseres Volkes.<

Da riß das markerschütternde Läuten der Totenglocke den Wärter aus der
Tiefe des Gefühlstrichters heraus. Im selben Moment sah er, daß eine Klappe
gefallen war, sah die Zahl 6. »Einer aufgewacht!« Stürzte hinüber in die
Leichenhalle.

Und wurde, trotz seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung: >tot ist
tot; und lebendig ist lebendig<, von einem gewaltigen Schrecken in den
Türrahmen festgenagelt:

denn zwei Wiedererwachte, der Philosoph und die Ladnerin, die erst vor
einer Stunde kurz hintereinander eingeliefert worden waren, saßen aufrecht
auf den Pritschen.

Schneller, als die Frage: >Sind die Gasleichen vielleicht infolge der ganz
besonders frischen Ventilatoren- und Eisluft wieder zu sich gekommen?< in
seinem Kopfe entstand, sprang er zum Sauerstoffapparat, mit den roten
Schläuchen zu den zwei Wiedererwachten, schob ihnen die Mundstücke zwischen
die Lippen. »Tief einatmen!« Und rannte zum Apparat zurück, drehte die
Kurbel.

Die mächtige Totenglocke läutete weiter.

Ein Lächeln, so winzig und fein, als habe er es aus der endlosen Ferne des
Todes mit herüber ins Leben gebracht, saß zwischen den halbgeschlossenen
Augenlidern des Philosophen.

Die weißgesichtige Ladnerin hatte das klare Gefühl, daß sie wieder bei
Bewußtsein war, noch nicht erlangt.

»Tief . . . gleichmäßig und tief . . . einatmen und ausatmen . . . und
einatmen«, bat der kurbelnde Wärter.

Die summenden Horizontalventilatoren bestimmten das Atemtempo. Die achtzehn
nicht wiedererwachten Leichen umgaben -- wie an den Fronten die Heldentoten
ihre noch mordenden Kameraden -- bleich und blau, steif und krumm, blutig,
totenstill und ungeheuer interesselos die zwei Atmenden.

Der Philosoph war schon bei dem Gedanken angelangt: >Ich hatte die
Einberufung bekommen, hatte mich konsequenterweise umgebracht, war . . .
tot im Leichenschauhause gelegen. Das ist ein Vorteil. Jetzt werden sie
mich wohl in Ruhe lassen. Werden doch wenigstens einen, der von den Toten
auferstanden ist, in Frieden lassen. Werden doch nicht zum zweiten Male
versuchen, einen konsequenten Geist in den Kasernenhof zu stellen, um ihn
für den Menschenmord brauchbar zu drillen. Man hat doch auch Christus,
nachdem er gestorben und wieder auferstanden war, nicht noch einmal
gekreuzigt.< Das ferne, kleine Lächeln der Befriedigung steckte noch immer
zwischen seinen halbgeschlossenen Augenlidern.

Während er folgsam atmete, saß er in Gedanken schon wieder am Schreibtisch
bei seinem unvollendeten Lebenswerke, dessen Geist und Idee dem
Kasernenhofgeist entgegengesetzt waren.

»Einatmen! Ausatmen! Tief atmen!« Der Wärter schaltete den Strom für den
elektrischen Betrieb des Sauerstoffapparates ein,

sprang hinüber in sein Privatzimmer, um einen leichten Tee für die
Wiedererwachten zu kochen.

Die Totenglocke trommelte immer noch: rufend, alarmierend, ohrenbetäubend.

Elementarster Lebenswille stand auf in der entsetzten Ladnerin, als sie die
dunkelvioletten Zungen der Erhängten, die aufgetriebene Wasserleiche, den
Haufen blutigen Drecks, Gedärme und Knochen erblickte.

Vom Grauen wurde ihr Oberkörper auf die Pritsche zurückgedrückt; sie wandte
hilfesuchend die Augen weg vom Tode, nach links, wo das Leben aufrecht auf
der Pritsche saß, streckte ihre flehende Hand aus.

Und plötzlich lagen die vom Tode umgebenen zwei Lebenden Hand in Hand und
senkten Jeder den Blick auf den Seelengrund des Andern: der Philosoph aus
Freundlichkeit und deshalb, weil ihm zur Schärfung seiner
Erkenntnisfähigkeit die Menschheitsschande nicht erst plakatiert zu werden
brauchte, die Ladnerin, um auf dem Grauen nicht in den Wahnsinn
hineinzugleiten.

Der Wiedererwachte legte den Schlauch weg; als Philosoph ohne Verdienst und
Privatvermögen hatte er sich daran gewöhnen müssen, körperliche Schläge
schnell zu überwinden. Er beobachtete aufmerksam seine wieder folgsam ein-
und ausatmende Leidensgenossin: eines der geduldigen, ältlichen Mädchen,
die, damit ihre glücklicheren Schwestern gepflegt, sorgenlos und mit
äußerlichem Glanze umgeben im Leben stehen können, sich für einen
Monatsgehalt von hundertzwanzig Mark in die Tretmaschine der ewig gleichen
Täglichkeiten einspannen lassen müssen und sich ihre Brautausstattung --
einmal drei Hemden, im nächsten Jahre die Bettstellen, dann die Matratzen,
hin und wieder ein Stück von der Kücheneinrichtung -- allmählich anschaffen
und endlich, wenn die Haut grau, das Blut schon still geworden ist und die
Sehnsucht nach dem Wunder schon im Sterben liegt, dem Bräutigam in eine nur
etwas anders geartete Tretmaschine folgen.

Dieses kleine, armselige Lebensziel hatte der Krieg gefressen: der
Bräutigam war zerstampft worden.

>Auf dem Felde der Ehre. Für Deutschlands Weltmachtstellung. Für Kaiser und
Reich und Erzgruben und Eisenbahnkonzessionen<, dachte der Leichenwärter.

Und der Philosoph dachte: >Zwei sehen einander, werden miteinander bekannt.
Und heiraten, ohne einander zu kennen. Dreißig Jahre später kennen sie
einander auch noch nicht. Und wenn der eine stirbt, weiß der andere immer
noch nicht, mit wem er eigentlich verheiratet gewesen war. Denn jeder gibt
sich sein Leben lang die größte Mühe, nur ja nicht zu erfahren, wie und wer
er selbst ist. Wie könnte er da die Fähigkeit besitzen, zu erkennen, wer
ein Anderer ist? . . . Wenn aber zwei tot im Leichenschauhause
zusammentreffen, miteinander wieder aufwachen, sozusagen als Geschwister
von der >Allmutter Nichts< neu geboren werden --<

Der Philosoph betrachtete die Dampfheizung, die Warmwassereinrichtung mit
den vernickelten Hähnen und der großen, weißglasierten Schüssel darunter.
>Diesen Komfort werden wir allerdings nicht haben in unserer Wohnung.<

Der Wärter kam mit dem Tee zurück. »Sie atmen nicht?«

»Sagen Sie mir«, fragte der Philosoph dagegen, »für was ist denn eigentlich
die Dampfheizung nötig in diesem Hause, wo doch für einen glatten Betrieb
die erste Grundbedingung ist, daß alles . . . frisch bleibt?«

»Ganz leichter Tee. Und ohne Zucker muß er getrunken werden . . . Wenn ich
in einem kalten Winter die Temperatur von wenigstens ein Grad über Null
nicht beibehalten könnte, müßte ich ja die Wasserleichen von den Pritschen
loseisen.«

»Also alles bedacht! Hier wenigstens ist für alles gesorgt, wie?«

»Ja, hier fehlt nichts . . . Die Organisation für die Toten ist bei uns
einwandfrei. Und die Organisation für das Massensterben ist, wie wir jetzt
zugeben müssen, bei uns ebenfalls einwandfrei.«

»Sie sind also auch gegen den Krieg?« Der Philosoph betrachtete die
achtzehn Selbstmörder, die blauzüngig, starrgesichtig und stumm gegen den
Krieg protestierten. ». . . Dieses Leichenschauhaus ist ja geradezu ein
pazifistischer Schlupfwinkel.« Er stieg von der Pritsche herunter.

Die Ladnerin hatte das Mundstück noch zwischen den Lippen, sah aus wie ein
Kind, das in ein Spielzeug bläst.

>Am allermeisten, mehr als die graue Not ihres Lebens und mehr als ihr
Selbstmordversuch, rührt mich an ihr die Spitzen-Halskrause: dieses
schüchterne, mißglückte Bestreben, schön zu erscheinen<, dachte der
Philosoph.

                   *       *       *       *       *

Die Truppen näherten sich im Laufschritt. Der vorauswippende Leutnant, mit
geschultertem Degen, schien nur aus einer Brust zu bestehen.

»Ob sie schießen werden?« Der Rechtsanwalt riß den Philosophen in ein Haus.
»Hat noch einen Ausgang. Durch die andere Tür kommen wir auf den Platz und
näher an das Denkmal heran.«

Eine gewaltige Menschenmenge. Auf dem Sockel des Denkmals stand der
Kellner.

Die beiden verstanden keines seiner Worte. Hörten nur das fanatische
Bravogebrüll von der anderen Seite herüberklingen.

Hoch auf dem Maste, knapp unter dem weißviolett leuchtenden
Bogenlampen-Dreistern, hing der Zwanzigjährige. Mit wilder Körpergebärde.

»Den werden sie herunterknallen.«

In der Allee stand eine lange Reihe Fuhrwerke, die den Platz nicht
überqueren konnten.

Plötzlich hing an Stelle des Zwanzigjährigen hoch am Lampenmaste ein
flatternder, roter Fetzen.

Das tausendfache Jauchzen wurde von den im Laufschritt ankommenden Truppen
auseinandergeschnitten. Die Menge -- junge Burschen und hauptsächlich
Frauen mit aufgelösten Gesichtern -- wich durch das dreiteilige Tor und in
die Parkanlage zurück.

Eine knabenhaft hohe Kommandostimme. Klatschen auf Gewehrkolben. Drohendes
Gelächter. Fliehende, dunkle Rücken.

Eine Frau mit loderndem Antlitz trat vor: »Schießt! Schießt!« Sie wurde
verhaftet.

Der Kellner stand dicht beim Leutnant und sah ihm in die Augen.

Als der Philosophiedoktor und der Rechtsanwalt den Platz schon verlassen
hatten und sich umwandten, sahen sie, wie ein Soldat am Lampenmaste
emporkletterte und die Hand nach dem roten Fetzen ausstreckte.

»Es ist doch nicht unmöglich, daß die revolutionäre Geistigkeit das letzte,
entscheidende Wort haben wird«, sagte der Anwalt.

Sie gingen eilig durch eine menschenleere Geschäftsstraße; nur in der Ferne
rannte ein dunkler Frauentrupp davon.

»Leider ist die revolutionäre Geistigkeit, bis auf zwei oder fünf
halbverhungerte Vertreter, die gleich Irrsinnigen in einem Blut- und
Lügenmeere ohne Balken machtlos herumschwimmen, schon in den Massengräbern
oder in den Zuchthäusern. Das muß zu ihrer Ehrenrettung den kommenden
Generationen gesagt werden . . . Hier! Sehen Sie, hier!«

Das Schaufenster war eingeschlagen; der Lebensmittelladen leergeplündert.
Frauen hatten die Gelegenheit, daß Polizei und Truppen auf dem Platze
beschäftigt waren, schnell benutzt.

»Das ist nackter Hunger. Kein revolutionärer Geist«, sagte der Philosoph.
Und hob einen geräucherten Fisch von der Straße auf. ». . . Wegen des
Fisches und auch aus Kameradschaftlichkeit.«

Er schob ihn unter seinen schwarzen Havelock. »Dieses rapid ins
Geldverdienen hineingeratene Volk hat, aus einem öden Materialismus heraus,
vor dem Kriege >Hoch< geschrien, bei Kriegsausbruch nichts, als >Hoch<
geschrien. Und jetzt schreit es nur deshalb nicht mehr >Hoch<, weil der
Magen schreit.«

»Wenn aber in jenem entscheidenden Moment die Führer nicht abgeschwenkt
wären, in das Lager, das sie bis dahin bekämpft hatten? Dann würden
wenigstens die . . . organisierten Massen schon lange in den Protest
hineinmarschiert sein, ebenso geschlossen, wie sie in den Krieg marschiert
sind.«

»Und ebenso ahnungslos, wie sie in den Krieg marschiert sind . . . Daran
können Sie das menschenunwürdige und überaus gefährliche System einer
Organisation erkennen, die ihre Mitglieder nur für den Klassenkampf um
materielle Vorteile drillt, sie in allen Städten jährlich in
dreihundertfünfundsechzig Parteiversammlungen nur zum Durchbringen von
Resolutionen im politischen Parteiinteresse benutzt, anstatt sie . . .
geistig zu befreien, sie zu denkenden Menschen eigener Entschlußfähigkeit
für das Gute zu machen . . . Da braucht sich im entscheidenden Moment nur
der Hauptführer als Dummkopf zu erweisen, braucht nur der Hauptführer zum
Verräterchen zu werden, und die . . . organisierten, denkunfähigen Massen
schwenken mit ab, folgen ihm in den Krieg, ebenso geschlossen, wie sie ihm
in den Protest gefolgt wären . . . Die Geistigkeit ist verurteilt, untätig
am Rande dieses Krieges zu verharren. Denn zwischen ihr und dem Volke
besteht nicht der geringste bewußte Kontakt. Und selbst der Tod der
Millionen konnte bei den Hinterbliebenen nicht den geringsten
geistesverwandten Gefühlsprotest auslösen. Nur der Magen protestiert. Das
ist Materialismus. Christus und Kant, Schiller und Goethe sind vor dem
Kriege für eine Leberwurst, für drei Mark Wochenlohn mehr, für eine Wohnung
mit Dampfheizung, für das Aufrücken in die ungeistige bürgerliche
Lebenshaltung, oder für das Verharren in ihr hingegeben worden.
Materialismus: angefangen beim entseelten, maschinierten Fabrikarbeiter,
über den vor Bequemlichkeit stinkenden Kanapeebürger und über den
Kapitalisten, den modernen Philosophen und Dichter weg, bis hinunter zum
ersten Diener des Staates. Hier haben Sie die Ursache des Krieges . . .
Dieser gewaltige Block von Egoismus, Gemeinheit und granitener Dummheit
kann schwerlich von heute auf morgen gesprengt werden.«

»Und deshalb, meinen Sie, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als den
Gashahn zu öffnen, wenn die Einberufung kommt?«

»Es gäbe noch etwas anderes: ich könnte (>weg von meinem Werke, weg von
meinem Werke<) den Sprung in die blutnasse Gegenwart, den Sprung ins
blutnasse Volk machen und, gleich den vielen dunklen Volksexistenzen, die
vom Gifte der Organisation verschont geblieben sind und deshalb
protestierend auf die Straße steigen konnten, zusammen mit den, vor
Machtlosigkeit schon irrsinnig gewordenen, wenigen jungen Dichtern, die
noch leben, unter beständiger Todesgefahr versuchen, das wegzureden, was
seit Jahrzehnten in das Volk hineingeredet worden ist . . . Der dritte Weg,
den der Stellungsbefehl dem Untertanen aufreißt, existiert für mich nicht.
Da das tiefste Wort von Jesus Christus: >Jede Sünde kann euch vergeben
werden, nur die Sünde wider den Geist nicht<, sich mit meiner
Weltanschauung scharf deckt, kann ich nicht in den Kasernenhof gehen, oder
ins Kriegspresseamt, oder in irgend ein Ernährungsamt . . . Ich bin mit
einer Ladnerin und mit meiner Philosophie verheiratet. Und kann zur Not in
ein Christushoch, in ein Sokrateshoch, in ein Kanthoch einstimmen. In ein
Hindenburghoch oder in ein Kaiserhoch kann ich nicht einstimmen; denn ich
bin kein Sozialdemokrat.«

Das Sprechen hatte ihn angestrengt und erregt; ein Abglanz geistiger
Heiterkeit war nie ganz aus seinem Gesichte verschwunden.

Und entstand wieder, als er, heftig atmend im vierten Stocke angelangt,
seine Frau begrüßte.

Die scheintot gewesene Ladnerin hatte sich wenig verändert; die
Spitzenkrause schmückte noch ihren kindlich-dünnen Hals. Und in ihren Augen
stand der innere Blick, den Menschen haben, die halb dem Tode gehören.

Behutsam führte er seine schon schwangere Frau in den niedrigen,
schiefdeckigen Raum, der Wohn-, Schlaf-, Arbeitszimmer und Küche in einem
war.

Und sah plötzlich, daß auf dem weißgescheuerten Küchentisch, den er auch
als Schreibtisch benutzte, wieder ein Stellungsbefehl lag.

Der ungeheure Schrecken, gepaart mit augenblicklichem Erkennen seiner
Situation, riß ihn sofort auf die reine Fläche, wo alle Dinge und Gedanken
im schärfsten Lichte stehen, so daß keinerlei Ausflucht, Vorspiegelung,
Selbstbelügung mehr möglich ist.

Da fühlte er wieder das furchtbare innere Weinen, das nicht bis in sein
geistesstarr werdendes Gesicht vordrang. Es glich dem kalten Antlitz
Gottes, als er dachte:

>Es gibt zwei Pole: das korrumpierte, krummgenagelte Weltgeschehen und das
höchste, herrlichste Ziel für den Menschen: das >Reine Ich< und eine
menschliche Gemeinschaft, für die er als Reines Ich handeln, leben und auch
sein Leben hingeben kann. Diesem Ziele kann der Mensch nur so lange
zustreben, solange er mit der Korruption, der Lüge, dem Zwange, dem
Ungeiste unablässig kämpft. In dem Moment, da er eine Handlung begeht, die
zu diesem Streben im Widerspruche steht, ist die Linie gebrochen. Der
Mensch, der für eine, für seine Idee kämpft und stirbt, ist groß, denn er
kämpft und stirbt auf dem Wege zu sich, stirbt im Kampfe um sein Reines
Ich. Der Mensch, der sich zwingen läßt, zu handeln, zu kämpfen, zu sterben
für eine Idee, die zu dem Streben nach seinem Ich im Widersprüche steht,
ist der Ärmste der Armen; denn er verliert das Kostbarste, das einzige, das
der Mensch in Wahrheit besitzen kann: verliert sein Ich, verliert sich, ist
nicht mehr, wird von den andern, die selbst nicht sind, besessen.<

In Gedanken las er das Wort >Stellungsbefehl<.

>. . . Wenn ich dieser Aufforderung, mich zu stellen -- wem stellen? ich
habe mich nur mir selbst, nur der reinen Idee zu stellen, und einer
menschlichen Gemeinschaft nur dann, wenn sie das Streben der Menschen nach
ihrem Ich als berechtigt anerkennt und fordert -- wenn ich dieser
Aufforderung folge, werde ich, zusammen mit einer Reihe von Menschen,
vermutlich zuerst im Kasernenhof aufgestellt, in dem der Grundsatz
herrscht: >Du hast keine eigene Meinung zu haben<. Und der Grundsatz:
>Macht und Gewalt stehen über Geist und Recht<. Ein Unteroffizier, ein
Vorgesetzter -- nur das Reine Ich ist mein Vorgesetzter -- ein
Unteroffizier, ein Mensch, der sich, der sein Selbst aufgegeben hat, also
nicht mehr ist, ein Etwas wird im Auftrage derer, die ihn besitzen, sagen:
>Das dürft ihr nicht tun; und das müßt ihr tun.< Ich werde also gezwungen,
irgend etwas zu tun, oder nicht zu tun. Gezwungen! Das heißt: ich werde
schlecht behandelt, eingesperrt, oder erschossen, wenn ich mich diesem
Zwange nicht füge. Mit andern Worten: ich werde erschossen, wenn ich weiter
gehe auf dem Wege, der zur Wahrheit, zum Geiste, zu Gott, zum Reinen Ich
führt . . . Ich werde erschossen, wenn ich mich bemühe, so zu sein, wie ich
bin!<

Der Philosoph rief seine Frau, die im Hintergrunde des Zimmers reglos am
kalten Gasherd saß, vom Dunkel schon halb verschlungen.

»Weißt du, was Militarismus ist?«

Sie wollte antworten: >Wenn uns das Einzige, das Liebste, das wir haben,
genommen, erschlagen wird.< Und sagte: »Du meinst die Schiffe, die Kanonen
. . . die Rüstungen.« Sie konnte nicht weinen.

»Nein, diese Sachen aus Stahl und Eisen, die dem Volke so viel Geld und
Arbeitsschweiß kosten, sind ungefährlich, verglichen mit dem, was
Militarismus ist. Gefährlich und tötlich ist der geistige Zwang, der
negative Geist, der konservierende Kollektiv- und Staatsgeist, der sich
gegen den Geist richtet . . . Ich werde dir an einem Vorfall erklären, was
Militarismus ist.«

>Er will mir nur deshalb erklären, was Militarismus ist, um mir begreiflich
zu machen, daß ihm nichts anderes übrig bleibe, als sich umzubringen<,
fühlte die Frau und sah schon jetzt ihre armen Einwände zerflattern.

»Was ich dir jetzt erzähle, denke ich mir nicht zurecht. Alle Zeitungen
haben das berichtet:

Ein deutscher Soldat, der ein Stück der Grenze zwischen Deutschland und der
Schweiz zu bewachen hatte, sah, wie ein Mensch über die Grenze sprang. Die
Pflicht dieses Soldaten war, hörst du, seine Pflicht war, gut zu zielen und
sofort auf diesen Menschen zu schießen, diesem Menschen dadurch, daß er ihn
verwundete oder erschoß, das Passieren der Grenze unmöglich zu machen. Das
war seine . . . Pflicht. Aber sein Wesen, sein eigenes Ich stand dunkel auf
gegen diese . . . Pflicht. Er wollte nicht schießen und . . . schoß. Sah,
wie der Getroffene fiel, sich bäumte und verröchelte. Und wurde . . .
wahnsinnig. Der Widerstand gegen das Morden muß also sehr stark gewesen
sein; aber die Disziplin war noch etwas stärker . . . Hier hast du auf der
einen Seite, repräsentiert durch diesen Soldaten, die guten Eigenschaften
des Volkes, und auf der andern Seite, gleichfalls repräsentiert durch
diesen Soldaten, den Militarismus.«

Die Frau bewegte die trocken gewordenen Lippen.

»Du meinst«, sagte der Philosoph, »der Soldat hätte ja nur so zu tun
brauchen, als ziele er, hätte in die Luft schießen können. Das wäre dann
sozusagen nur eine kleine Notlüge gewesen. Aber selbst dies lassen die
Disziplin und das falsche Pflichtbewußtsein, die seit Generationen mit
allen erdenklichen Mitteln in das Volk hineingepaukt worden sind, nicht zu
. . . Außerdem trieb den Soldaten auch noch der Wunsch, von seinen
Kameraden nicht für empfindlich und schwächlich gehalten zu werden. Dieses
falsche Ehrgefühl, das sich allmählich beim ganzen Volke herausgebildet
hat, ist das Allergefährlichste. Einem Menschen ohne Besinnen einen
gutgezielten tötlichen Treffer in den Kopf hineinzujagen, ist eine Ehre;
ihn nicht zu treffen, ist ein wenig ehrenrührig . . . Dieser arme,
bedauernswerte Mann will nicht schießen, zielt schnell und genau, schießt,
trifft gut und wird wahnsinnig. Das ist Militarismus.«

»Du mußt hingehen. Vielleicht kommst du nur in ein Bureau.« Das hatten nur
ihre Lippen gesprochen.

»Nein! . . . Höre, ein vielleicht noch klareres Beispiel dafür, was
Militarismus ist: ein Soldat bekommt den Befehl, einen siebzigjährigen
Bauern zu erschießen. Das war in Serbien. Der Soldat weiß nicht einmal,
weshalb der Alte erschossen werden soll. Der Soldat bekam nur den Befehl,
in dem stand, daß er den Alten in das zwei Stunden entfernt liegende Dorf
zu führen und dort zu erschießen habe . . . Sein ganzes Wesen, das heißt,
sein eigenes Wesen empört sich dagegen, diesen vollkommen wehrlosen alten
Mann zu erschießen, dessen Verbrechen er nicht einmal kennt, und der auf
dem Wege zwei Stunden lang seine Unschuld beteuert in einer Sprache, die
der Soldat nicht versteht, und mit Tränen und Gebärden, die der Soldat
ungeheuer versteht. Zwei Stunden lang kämpft der Soldat, während er neben
dem Opfer über Feld geht, mit seinem Gewissen, hinter dem starr die Pflicht
und die Disziplin stehen. Dieser Soldat hat für sich persönlich folgende
Lösung gefunden: er schoß zuerst den Alten nieder, und dann erschoß er sich
selbst . . . Jetzt meinst du vermutlich wieder: wenn sein Gewissen, der
dunkle, wilde Drang nach Wahrheit, nach seinem eigenen Ich, nicht zuließ,
den Alten zu erschießen, ohne auch sich selbst zu erschießen, hätte er doch
wenigstens nur sich selbst erschießen und den Alten laufen lassen sollen
. . . Aber das wäre ja gegen die Disziplin, wäre ja eine Pflichtverletzung
und wäre ehrenrührig gewesen. Das eben ist Militarismus. Nicht die Kanonen,
sondern der negative Geist des Zwanges ist der Militarismus, den der
Grenzsoldat und dieser Soldat als gegen den Geist, gegen das Gewissen,
gegen ihr eigenes Ich gerichtet empfunden haben, und den gleich ihnen noch
viele empfinden. Diese erleiden ein tragisches Schicksal; denn sie erkennen
dunkel das vor Gott und den Menschen sündhafte dieses Geistes, leiden unter
diesem Geiste. Und können sich nicht vor ihm retten. Millionen andere --
nicht nur die Soldaten, sondern das Volk in seiner großen Mehrzahl --
haben, zwar nicht vor Gott, aber vor ihrem, allerdings nur scheinbar
vorhandenen, eigenen Selbst -- das Recht, im Dienste dieses Geistes zu
kämpfen, Menschen zu ermorden und selbst zu sterben; denn sie morden in dem
guten Glauben, nicht zu morden, sondern für ein Ideal zu kämpfen, für ein
Vaterland, für den Staat, für eine Gemeinschaft, die wert ist, beschirmt
und erhalten zu werden. Man hat sie von ihrer frühesten Kindheit an mit
diesem Geiste getränkt und gefüttert, ihr eigenes Wesen, ihr Ich in diesem
Geiste total ertränkt. Sie sind für ihre Handlungen nicht verantwortlich zu
machen. Denn sie konnten zu eigenem Denken, zu der Fähigkeit, sich
moralisch zu entscheiden, konnten zu sich selbst, zu ihrem Ich nie kommen;
sie sind nicht, sind nicht vorhanden, sind keine Menschen, sondern
denkunfähige, seelenlose, unverantwortliche Automaten, die funktionieren
. . . Verstehst du jetzt, daß es sehr schwer sein wird, den Militarismus
umzubringen?«

Er bekam keine Antwort; die Frau war ganz plötzlich, von einer Sekunde zur
andern, eingeschlafen.

Unter dem Philosophen versank die Welt. Sein Wesen wurde grau vor
Einsamkeit.

Erst Minuten später betrachtete er wieder das Gesicht der Schlafenden, das
den Ausdruck furchtbarster Trauer und Klage trug.

Sie sieht aus wie ein ungeborenes Wesen, das klagt, weil es nicht geboren
werden kann, dachte der Philosoph. Und wußte plötzlich: >Sie ist
eingeschlafen, weil sie erkannt hat, daß sie selbst eines dieser Wesen ist,
die zu eigenem Denken, zu eigenem Leben, zu sich selbst nicht kommen
durften.<

Wilde Liebe und schmerzdurchtobtes Erbarmen drückte des Philosophen Kopf
auf die Tischplatte. Vor seinem inneren Gesicht stand klar der Gedanke:
>Für eine Gemeinschaft zu handeln, deren Geist die Mitglieder zwingt, nicht
zu denken, kein eigenes Leben, kein eigenes Ich, kein warnendes Gewissen zu
haben, sondern seelenlose, unverantwortliche Automaten zu sein, die, wenn
sie nicht jede befohlene Schandtat willenlos ausführen, eingesperrt oder
erschossen werden, für eine solche Gemeinschaft zu handeln, ist ein
Verbrechen wider den Geist, das nicht vergeben werden kann. Es bleibt die
sittliche Pflicht gegen Gott, gegen unser reines Ich, diese Gemeinschaft zu
bekämpfen und damit für die Möglichkeit zu arbeiten, daß einmal eine
Gemeinschaft entstehe, in welcher der Mensch . . . gut sein darf, in
welcher der Mensch er selbst, ein Ich, ein für seine Handlungen moralisch
verantwortliches Ich und als solches . . . gut, das bedeutet: für die
Gemeinschaft sein kann.<

»Vielleicht kommst du nur in ein Bureau.«

Der Philosoph hob den Kopf; die Frau hatte aus dem Schlafe gesprochen. Ihr
Gesicht war tränennaß. Durch eine leise Berührung erwachte sie sofort.

Er sprach eindringlich und sanft: »Nehmen wir einmal an, ich käme nur in
ein Bureau. Und müßte nur ganz untergeordnete Arbeiten verrichten . . .
Vielleicht nur Stellungsbefehle ausfüllen, mit den Namen derer, die
daraufhin, meinungslos-pflichtbewußt oder vielleicht gegen ihren Willen,
sich einfinden und, nach der Ausbildung, Menschen erschlagen oder selbst
sterben würden für eine Gemeinschaft, deren Geist schwer mitschuldig ist an
diesem Kriege.«

»Ich weiß nichts mehr.« Die Frau hätte schwören können, daß sie diese vier
Worte nicht gesagt habe.

»Es könnte aber auch sein, daß ich, eingefügt als meinungsloser Handlanger
in die Maschinerie dieses höllischen Geistes, den Befehl schreiben müßte:

>Sie haben den Mann, namens so und so, serbischer Staatsangehörigkeit,
siebzig Jahre alt, nach . . . zu führen und ihn dort zu erschießen.<

Was sollte ich dann tun?«

Nach minutenlanger Stille fragte er noch einmal: »Was sollte ich dann tun?«

Die Frau wußte und gab auch diesmal keine Antwort. Aus ihren Augen heraus
fragte stumm das ganze Volk: >Was sollen wir denn tun?<

In der Stube stand schon die Finsternis. Und in ihr die dunkle Gewalt, die
den Körper töten kann.

Da fühlte plötzlich der Philosoph, wie im tiefsten Urgrund seiner Seele, im
mystischen Punkt, die Flamme entstand, die rapid zur Feuersbrunst wurde und
seine Bereitschaft, sich wieder protestlos ins Leichenschauhaus zu legen,
sekündlich verbrannte.

In ihm stand ein ungeheurer Wille auf: die Bereitschaft eines tödlich
verzweifelten reinen Geistes, sich der Notdurft der Gegenwart
anheimzugeben.

Von dieser Stunde an begann der stürmische Pilgergang.

Die schwangere Frau hatte nur ein wollenes Brusttuch mitgenommen aus ihrer
Wohnung, in die sie nicht mehr zurückkehrten. Der Stellungsbefehl lag auf
dem Tische.

Aus der unvermittelt in ihm entstandenen wilden Hoffnung, daß das unmeßbare
Leid dreier Kriegsjahre den Aufstieg des Menschenrechtes ermöglicht habe,
wuchs dem Philosophen die Kraft zu dem Versuche, den vergewaltigten
Menschen zu erklären, weshalb ihr Ausharren und ihre Arbeit Mord und gegen
sie selbst gerichtet sei.

Seine Stimme hallte durch die Stadtviertel, in denen der Gestank der Armut
und des Hungers stand.

Die >Unbekannten<: dunkle Existenzen, aus dem nie versiegbaren Behälter der
Volksseele plötzlich emporgestoßen in die ewige Freiheitsidee, stiegen auf
die Straße. Volk, dem Zwange entrissen, ins Menschentum hochgerissen, stieg
auf die Straße.

Und während die Führer des Volkes in blutüberströmter Bescheidenheit weiter
über kleine Reformen resultatlos diskutierten, weiter unverdrossen neue
besetzte Länder, neue Versenkungen und neue Kriegserklärungen buchten,
neuen Zwangserlassen gegen das gemarterte Volk und neuen Dankadressen an
die Sieger zustimmten, während so das Volk zu Millionen im Blute ersoff,
versuchten in der überreif gewordenen Zeit der Philosoph und seine
Anhänger, zusammen mit dem Kellner und dem Zwanzigjährigen, die gequälten,
vergewaltigten Herzen für die Idee der Freiheit und der Liebe aufzureißen.
Versuchte mit letzter Hingabe der Philosoph, dem Volke zu zeigen, auf
welcher Seite im Lande der Feind, die Brutalität und die Dummheit waren.

Das Netz maßlosen Leides und dunklen Aufruhrs lag über der Stadt.

Erst bei der wuchtigen Massenerhebung gegen den Raubrittergeist einiger
zehntausend mittelalterlicher Existenzen, gegen den Raubrittergeist, der
den Krieg losgebunden hat, traf die Gewalt den Philosophen, als er in der
Menschengasse, die von herangaloppierenden Schutzleuten in die Menge
hineingeritten worden war, das Recht des Menschen proklamierte; vor dem
Leutnant,

der den Befehl zum Feuern gab.

Die Frau ging langsam auf den Ermordeten zu: schritt langsam hinein in die
zweite Gewehrsalve junger Soldaten, die, bleich und im Herzen schon empört,
noch in der falschen Pflicht standen. Die vierzig- und fünfzigjährigen
Landsturmmänner hatten sich geweigert, ins Volk und damit sich selbst ins
Herz zu schießen.

Am andern Morgen lagen der Philosoph und die Ladnerin, als Repräsentanten
des Volkes, wieder im Leichenschauhause, nebeneinander.

Die Idee, die nicht erschossen werden kann, brach in Millionen Herzen ein.

Der Wärter stand vor dem Paare. Und plötzlich rückte er die zwei Pritschen
dicht zusammen. >Man liebt doch die Menschen. Liebt doch die Menschen
. . . Die armen Menschen.<

Das Leichenschauhaus war vergrößert, die Wand, die das Zimmer des Wärters
und das Wartezimmer für die Angehörigen abgesondert hatte, war
herausgebrochen, der weiße Steinplattenboden fortgesetzt und die Pritschen
um sechzehn Stück vermehrt worden.

Der Bruch war, wie bei Typenmöbeln, die glatt aneinander gefügt werden
können, nicht zu bemerken.

Ein vierter, neuer Horizontalventilator kreiste zusammen mit den drei alten
über den zweiunddreißig Leichen.




V. Die Kriegskrüppel


>Die Metzgerküche< ist ein sehr großer Raum, doppelt so lang wie breit, und
so niedrig, daß der Stabsarzt, im langen, von frischem und altem
Menschenblute steifgewordenen Operationsmantel, die Handfläche an die Decke
legen kann.

>Ein Kino hätte man hier nicht einrichten dürfen. Ein Kino nicht<, fällt
ihm immer wieder ein. Denn schließlich sind alle seine Wünsche
zusammengeflossen in den einen unerfüllbaren Wunsch, wieder einmal ruhig in
einem Kino sitzen zu dürfen.

Auf dem Steinplatten-Boden Strohsack neben Strohsack. Auf jedem Strohsack
ein Mensch; auf jedem Strohsack das, was von einem Menschen übriggeblieben
ist. Zugedeckt bis zum Kinn.

Die abgesägten Hände, Arme, Füße, Beine schwimmen in Blut, Watte und Eiter
in einem meterhohen, zwei Meter breiten, fahrbaren Kübel, der bei der Tür
in der Ecke steht und jeden Abend ausgeleert wird. Tadellose Ordnung. Kein
Strohhalm auf den nur zwanzig Zentimeter breiten Zwischengängen und im
Mittelgang. Fünf Reihen Strohsäcke.

Der mit Zinkblech beschlagene Operationstisch steht im Mittelgang.

Die Fenster werden geschlossen. Und drei Minuten später steht wieder der
dicke, warme Gestank von faulenden, brandigen Wunden, Eiter, altem Blute,
Todesschweiß, Schmerzausdünstung, Karbol und Lysol in der Metzgerküche, so
daß ein gesunder, kräftiger Mensch, der, an frische Luft gewöhnt,
hereintritt, eine Minute später Farben vor seinen Augen kreisen sieht und
den Boden unter seinen Füßen schwanken fühlt.

In der Metzgerküche, knapp hinter der Front, wird die erste Hilfe gewährt.
Schnell. Keine Sekunde Zeitverlust. Hier wird amputiert. In die
Metzgerküche werden, direkt vom Schlachtfeld weg, die
Amputationsbedürftigen geschleppt, wahllos: Offiziere und Soldaten. Eine
Viertelstunde Zeitverlust kann den Tod bedeuten.

Diejenigen Amputierten, die nicht bewußtlos sind, nicht schlafen und doch
reglos liegen, ganz unbeweglich und lautlos liegen, glänzende Fieberkugeln
im Gesicht, sind verloren, entschweben schon.

Die andern brüllen, schmeißen sich hoch, krümmen, winden sich, wimmern wie
neugeborene Katzen, lachen im Fieberirrsinn, oder bewegen die verstümmelten
Körper ganz langsam, aber ununterbrochen.

Das Leben der Glücklichsten besteht abwechselnd darin, daß sie aus der
Ohnmacht erwachen und wieder ohnmächtig werden. Dazu trägt der dicke
Gestank bei. Es ist nicht sehr hell in der Metzgerküche.

Der Stabsarzt muß nach ein bis zwei Amputationen, muß nach jeder halben
Stunde hinaus in die Luft, damit ihm während der nächsten Amputation die
Säge, das Messer nicht aus der Hand fällt.

Jeden Tag werden vier bis sechs Tote hinausgetragen.

Frisches Stroh, frische Leintücher. Frische Verwundete. Kein Halm auf den
Zwischengängen. Ordnung. Der Gliederkübel in der Ecke füllt sich. Und leert
sich pünktlich um sechs Uhr abends. Die Strohsäcke liegen genau
ausgerichtet in linealgeraden Reihen.

Der Stabsarzt sägt.

In die Metzgerküche kommt keine Zeitung. Hier wird gelitten. Hier
interessiert man sich nicht für Siegesnachrichten. Hier interessiert man
sich für das Bein, das abgesägt wurde und vom Sanitäter eben in den Kübel
geworfen wird. Man will sein Bein wieder haben. Es noch einmal in die Hände
nehmen. Betrachten. Sehr genau betrachten.

»Mein Bein! Es ist mein Bein. Meines! Mein Bein!« Zuerst schreit er nach
seinem Beine, dann bettelt er: »Gib her. Komm, gib her. Gib mirs.«

Der Bettelnde liegt nicht in den Fensterreihen; er liegt in der dunklen
Reihe, im vierten Bett, von der Rückwand aus gezählt. Er muß doch wieder
schreien, das Schmerzgebrüll, Gewimmer, Geheule überschreien, damit der
Sanitäter ihn hört.

»So ein Unsinn! Verfluchter Unsinn!« schimpft der erschöpfte Sanitäter. Und
trägt dem Bettelnden ein langes Bein hin, das zwischen dem Knie und der
Schnittfläche am Schenkel ein furchtbares, tiefes, brandiges, stinkendes
Loch hat. Legt es ihm wagrecht auf die gierig ausgestreckten Hände.

Der Soldat betrachtet, die Augen weit aufgerissen, von einem mystischen
Schauer durchjagt, das lange, schwere Bein, das zwanzig Jahre ihm gehört
hat, hält es weg von sich, immer weiter weg, weicht mit dem Oberkörper
immer weiter zurück. Und schmeißt das Bein, plötzlich von tödlichem Ekel
geschüttelt, in den Mittelgang. Brüllt: »Das ist nicht mein Bein.«

Es war nicht sein Bein. Der erschöpfte Sanitäter hatte ein falsches Bein
aus dem Kübel herausgezogen.

Der Mann im vierten Bett ist jetzt ruhig. Er ist ohnmächtig geworden.

Der neben ihm Liegende, der auch nur noch ein Bein hat, dreht das Gesicht
zum Ohnmächtigen hin und sagt zu ihm: »Du schläfst ein, Lieber, und hast
zwei Beine, und wenn du aufwachst, hast du nur noch ein Bein.« Dabei
lächelt er: ein Lächeln, das dafür zeugt, daß die gramvollste
Hoffnungslosigkeit mit einem Lächeln ausgedrückt werden kann. »Schläfst
ein, Lieber, und hast zwei Beine, und wenn du aufwachst, hast du nur noch
ein Bein.« Diesen Satz hat er gefunden und sagt ihn immer wieder.

Das vierte Bett in der dunklen Reihe, von der Rückwand aus gezählt, quält
den Stabsarzt. Mit diesem vierten Bett hat er Unglück. Entweder sterben ihm
die Inhaber des vierten Bettes unter der Säge, oder sie führen sich ganz
besonders wild auf.

>Wieder das vierte Bett<, denkt der Stabsarzt, krank vor Überarbeitung,
wirft einen Blick auf das Bein, das noch im Mittelgang liegt und die
tadellose Ordnung stört. Dann einen Blick zur niedrigen Decke. >Ein Kino
hätte man hier nicht einrichten dürfen. Ein Kino nicht.< Und sägt
vorsichtig und mit Kraft den Oberarmknochen knapp unterm Schulterblatt
durch.

Der Soldat auf dem Operationstisch, ein uniformierter Knabe, hat nur eine
blutnasse Hose an. Der Oberkörper ist mager. Schmale Brust. Unausgewachsen.
Der Knabe ist bewußtlos. Die blauen Lippen sind fest aufeinandergepreßt.
Nur beim rechten Mundwinkel ist ein kleines, ganz rundes Loch offen
geblieben, wie bei einem total erschöpften Wettläufer, der durch einen
Mundwinkel die Luftmassen hinausstößt.

Manchmal schreien und stöhnen gleichzeitig alle Verwundeten wilder auf, als
würden in dieser Sekunde alle Wunden von einem bösen Weltgeist betastet.
Dann werden die Mittel angewandt.

Es werden verschiedene Mittel angewandt, um den Schmerz erträglicher zu
machen. Der eine hat gefunden, daß der Schmerz geringer wird, wenn er die
Zunge herausstreckt, mit all seiner Kraft die Zunge so weit wie nur irgend
möglich herausstreckt. Noch einen Millimeter weiter. Er hockt aufgerichtet
im Strohsack, die Zunge lang und blau gebläkt, und keucht.

Ein anderer kann sich nur helfen, wenn er »Uu!« schreit. Er hat das
Alphabet durchprobiert. E hilft ihm nicht. I hilft ihm nicht. Nur U. Er
brüllt mit der ganzen Kraft seiner Lungen: »Uu!«

Der Stabsarzt sägt.

Einer muß, die Muskeln angespannt, den Arm senkrecht emporrecken und die
Luft zurückhalten, so lange zurückhalten, bis der Schrei als
wildansteigendes »O!« aus seinem Munde herausplatzt. Das hilft ihm.

Der Stabsarzt sägt.

Langsam und unaufhörlich schwingt einer den Oberkörper hin und her. Wenn er
das nicht tut, kann er den Schmerz nicht aushalten.

Ganz feines Wimmern neugeborener Katzen.

Einer schlürft, als habe er einen zu heißen Bissen im Munde.

Bewegung bei der Tür: zwei Amputationsbedürftige werden hereingetragen.

»Ganz unmöglich! Kein Platz!« Dabei sägt er weiter, ein dünnes Handgelenk
durch.

Die Bahrenträger bleiben stehen. Ratlos.

»Tragt sie hinüber in den >Tanzsaal<.«

»Zu Befehl! Aber in den Tanzsaal haben wir eben sechs getragen. Man hat uns
hierher geschickt. Der Tanzsaal ist überfüllt.«

»Uu . . . . . . . . . .!«

»Hier auch! Voll! Voll! Alles voll! Kein Platz mehr!«

Ganz feines Wimmern neugeborener Katzen.

Der Oberkörper kreist langsam und ununterbrochen.

Es wird Platz gemacht: die Strohsäcke werden noch enger zusammengeschoben,
so daß auch die Zwischenräume von zwanzig Zentimetern nicht mehr da sind.
Ein einziges, langes, genau ausgerichtetes, brüllendes, stöhnendes,
wimmerndes, ordentliches Schmerzenslager.

Als wild ansteigendes »O!« platzt der Schrei aus dem Munde heraus, während
die Bahrenträger gehen.

Die Zunge bläkt lang und blau. Warmer, dicker Gestank.

Die Metzgerküche ist nur eine kleine Nebenabteilung vom immer vollen
>Tanzsaal<, der fünfmal mehr Strohsäcke faßt als die Metzgerküche.

>Und wieviel >Tanzsäle< gibt es in Europa? Wie viele, in denen erste Hilfe
gewährt wird? Und wie viele, in denen solche liegen, die in Schmerzen auf
die Heilung warten? Wie viele Schmerzenslager gibt es knapp hinter der
Front? Und wie viele in allen Städten und Städtchen des Heimatlandes? Wie
viele in Rußland, Frankreich, England, Italien? Wie viele Schmerzenslager
gibt es in Europa?

Für was, für wen leiden diese Millionen ihre Schmerzen? Warum müssen
Millionen Menschenbeine, Millionen Arme abgesägt werden? Für was wird
gekämpft und ermordet? Und verstümmelt und gesägt und gelitten? Für was ist
dieser Krieg? Für was?< denkt der Stabsarzt und schneidet erst sauber und
exakt ein Pfund Menschenfleisch aus einem Oberschenkel heraus, bevor er zu
sägen beginnt. >. . . Viel zu niedrig für ein Kino.< Farben kreisen vor
seinen Augen.

Den Gekreuzigten in der Metzgerküche ist es ganz gleichgiltig, ob sie knapp
hinter der Front, oder in der Heimatstadt, oder gefangen im Feindesland,
oder in einem indischen Urwald sich winden, »Uu« schreien, »O«, die Zunge
bläken, fein wie neugeborene Katzen wimmern. Und wer den Krieg gewinnt, das
ist ihnen so gleichgiltig wie der Schneefall von vorgestern.

>Der Bürgermeister irgend eines kleinen Dorfes soll ganz allein den
Weltkrieg gewinnen, wenn dadurch meine Schmerzen nur um einen Grad geringer
werden. Und wenn ich mein Bein wieder hätte<, denkt der plötzlich ganz
schmerzlos und gefährlich still liegende, zwanzigjährige Dichter, der schon
entschwebt, >mein weißes, langes, hunderttausend Kilometer langes Bein mit
dem herrlichen Knie wieder hätte, würde ich das Leben lieben so ewig wie
. . . die Sonne

   tönt, nach alter Weise,
   In Brudersphären Wettgesang,
   Und ihre vorgeschriebne Reise
   Vollendet sie mit Donnergang.<

>Mein Bein! das heißt, wenn ich mein Bein wieder hätte, wäre ja überhaupt
gar nicht Krieg . . . Krieg ist ja gar nicht möglich. Krieg gibt es nicht.
Krieg ist Einbildung. Ist Lüge. Mein Bein allein ist die Wahrheit.< »Die
Wahrheit«, sagt er laut und deutlich in die Metzgerküche hinein. Und
schließt die Augen.

Fünf Minuten später wird er tot hinausgetragen.

Frisches Stroh. Frische Leintücher. Kein Strohhalm im Mittelgang. Ordnung.
Eine Fußsohle ragt über den Rand des Gliederkübels heraus.

Der andere Beinlose dreht sich um und sagt zum frischen, leeren Strohsack:
»Du schläfst ein, Lieber, und hast zwei Beine, und wenn du aufwachst, hast
du nur noch ein Bein.«

Die Augen des jungen, kräftigen Bauschlossers im Nebenbett glotzen glanzlos
und wütend. Er hat keinen rechten Arm mehr. Mächtiger Brustkasten. Gesundes
Blut. Mächtige Muskeln, gewölbt, glatt. Wie geölt. Er weiß, daß er alles
überstehen wird, knirscht den Schmerz nieder. Und grübelt in seine Zukunft
hinein: >Ein Tübelloch werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr schlagen
. . . Künstlicher Arm? . . . Ist Scheiße. Mit einem künstlichen Arm schlägt
keiner ein Tübelloch in harten Stein . . . Ein Bein, meinethalben ein Bein;
warum fehlt nicht das rechte Bein, anstatt des rechten Armes. Das Bein! Das
Bein!<

Im ersten Bett der Fensterreihe, bei der Tür, liegt ein junger Offizier,
der kein Bein mehr hat. Seine Gedanken steigen auf, über sich windende,
brüllende Menschen weg, bis zum Strohsack des Schlossers, und schieben sich
zwischen dessen Verzweiflungsgrübelei als gedachte Gegenreden hinein: >Wenn
nur ein Arm fehlen würde. Ein Arm! Ich würde mir einen weiten Mantel machen
lassen. Weite Ärmel. Künstliche Hand in der Tasche. Und auf der Straße
würde kein Mensch etwas bemerken. Auch mit den Frauen wäre es nicht so arg,
lange nicht so arg. Aber wenn ein Bein fehlt. Bei einer Frau sein . . . und
nur ein Bein.<

>Mir kann doch niemand weismachen, daß einer, der einen künstlichen rechten
Arm hat, mit der Schrubbfeile arbeiten kann. Aber ohne Bein geht das
alles.<

>Und reiten? Mit einem Bein?<

>Oder schmieden und schweißen kann . . .<

>Bei einer Frau liegen, mit nur einem Bein.<

>. . . oder nieten, oder eine Schloßfalle feilen, die genau passen muß
. . . mit einem künstlichen Arm? Ja, Scheiße . . . Warum fehlt nicht ein
Bein? Ein Bein!<

>Tanzen ohne Bein? . . . Ausgetanzt . . . Ohne Arm kann man tanzen . . .
Alles ist aus.<

>Ohne Arm . . . Mein ganzes Geschäft ist futsch.<

Beide haben während der letzten Tage alle Möglichkeiten abgegrübelt. Und
plötzlich stellen sie sich der Wahrheit: gestehen sich ein, daß es sich im
Grunde ja gar nicht um das nicht mehr Tanzen-, Reiten-, Feilen-,
Schmiedenkönnen handelt, sondern nur um das schöne Bein, einzig und allein
um den prachtvollen, dicken Arm. Um mein, mein, mein Bein, meinen Arm,
meinen, meinen Arm. Um meinen! Meinetwegen nie mehr tanzen, nie mehr
reiten, und mögen sich die Weiber zweibeinige Männer nehmen, wenn ich nur
mein schlankes Bein wieder hätte . . . Ich scheiße ja auf das ganze
Schlosserhandwerk; ich werde Landstreicher; wenn ich nur meinen Arm wieder
hätte, wieder hätte, wieder hätte.

>Meinetwegen blind sein.< Beinahe gleichzeitig steigt diese Überlegung in
beiden auf. >Nur das Bein, nur den großen, starken Arm wieder haben. In
Gottes Namen blind sein; aber die Glieder beisammen haben<, denken sie
tausendmal im Tag, tausendmal in der Nacht. >Lieber blind sein.<

Und der neben dem Gliederkübel liegende blinde Soldat, dessen schwere
Schenkelwunde überraschenderweise verheilte, so daß die Amputation nicht
nötig ist, denkt ununterbrochen und wird sein ganzes Leben lang denken:
>Meinetwegen beide Beine weg, beide Arme weg. Nur nicht blind sein. Nicht
blind sein. Nie mehr sehen . . . Ich werde meine Frau nie mehr sehen. Nie
. . . mehr . . . meine Frau sehen . . . Und wer führt mich? . . . Und nie
mehr eine Straße sehen . . . Wie sieht ein Pferd aus? Braun. Es gibt auch
Schimmel . . . Und die Hunde? Wie laufen sie? Wie laufen die Hunde? Und und
und und . . .< Tausend Gegenstände stürzen vorbei. Zuletzt versucht er
krampfhaft, sich vorzustellen, wie das Gepäcknetz in einem Eisenbahnwagen
aussieht. Das gelingt ihm nicht. Er schläft darüber ein. Und sieht sofort
wieder alles. Strahlender Helligkeit weicht die Finsternis, die, begleitet
von einem wild ansteigenden O-Schrei, von langgezogenem U-Gebrüll, von ganz
feinem Wimmern neugeborener Katzen, von der Erdkugel hinunterstürzt.

Der bärtige Bauer hockt aufgerichtet in seinem Strohsack und winkt den
Sanitäter heran, in ungeheurer Spannung. Er winkt, macht: »Pst!«

»Nun, was denn?«

»Es mußte also nicht abgenommen werden? Aber furchtbare Schmerzen habe ich
in der Wade.«

Der Sanitäter hat gehört, daß es Reflexgefühle gibt. Er sagt beruhigend:
»Das sind nur Reflexschmerzen.«

Des Bauern Bein mit der schmerzenden Wade liegt schon seit zwei Stunden im
Gliederkübel.

»Aber die Wade zieht und brennt und reißt . . . So, nur Reflexschmerzen?«
fragt er noch einmal und steigt zu kirchturmhohem Glück empor; denn jetzt
weiß er ja ganz bestimmt, daß er sein Bein noch hat. Und sinkt beseligt in
Ohnmacht.

Aus der er wieder erwachen wird.

Der fiebernde Stabsarzt kann nicht mehr; er sieht den reglos und
langgestreckt auf dem Operationstisch liegenden Menschenkörper doppelt.
>Und wenn ich den Arm erst heute abend abnehme, stirbt der Mann vielleicht.
Und wenn ich den Arm erst morgen früh abnehme, stirbt der Mann sicher.< Der
Stabsarzt beginnt. Sein kleiner, leichenblasser Unterarzt taumelt schon wie
ein leicht Angetrunkener.

Der Stabsarzt schneidet und denkt: >Krieg<.

Er denkt: >Dieses Wort >Krieg< offenbart den gedankenlosen Menschen nicht
den billionsten Teil von der unmeßbaren Menge Ungeheuerlichkeiten, die mit
dem Worte >Krieg< bezeichnet werden . . . Das Wort selbst ist schwach wie
der Atemzug eines Säuglings; und verglichen mit dem Inhalte des Wortes
>Krieg<, ist ein Taifun, der Schiffe und Städte und Inseln verschlingt, nur
der Atemzug eines Säuglings . . . >Krieg< ist ein Wort von fünf Buchstaben.
Und wenn es ohne e geschrieben würde, hätte es nur vier Buchstaben<, denkt
der fiebernde Stabsarzt. Dabei operiert er.

Der Stabsarzt hat in einer klinischen Wochenschrift einen Artikel über
Staatenbevölkerungs-Politik gelesen: einen statistischen Bericht, in dem
als >Minimalzahl< zehn Millionen Gefallene angegeben sind.

»Als Minimalzahl . . . Minimalzahl zehn Millionen Tote. Das ergibt die
Minimalzahl, vorsichtig angenommen, die Minimalzahl . . . nur ja sehr
behutsam und vorsichtig«, flüstert lautlos der Stabsarzt sich selbst zu und
legt sehr behutsam und vorsichtig mit dem Messer den Oberschenkelknochen
frei, »die Minimalzahl von fünf Millionen Amputierten.«

»Uu . . . . . . . . .! Uu . . . . . . . . .!«

Der Stabsarzt richtet sich auf, betrachtet den nackten Mann, übersieht mit
einem Blicke den eingeschrumpften Geschlechtsteil, die abgebundenen
Hauptadern, den für die Säge freigelegten Knochen. >Sieht aus wie eine
Stange des Lebens . . . Er liegt so still, so langgestreckt. Seine Lippen
sind so blau. Himmelblau . . . Und draußen donnern die Geschütze. Donnern
seit drei Jahren die Geschütze. Warum? Wann wird man darüber nachzudenken
beginnen? . . . Donnern stille und langgestreckt liegende Menschen zu mir
in die Metzgerküche herein.<

Er betrachtet die Sägezinken, die ganz eng beieinander und schon stumpf
sind. >Knochenmehl vom Arme mischt sich mit dem Knochenmehl vom Bein.<
Betrachtet den eingeschrumpften Geschlechtsteil. >Das Leben schrumpft ein
. . . Minimalzahl fünf Millionen Amputierte. Minimalzahl . . . Jeden Tag,
seit drei Jahren, von früh bis in die Nacht hinein, jeden Tag: sägen,
sägen, sägen . . . und wenn das Wort mit e geschrieben würde, hieße es:
Segen . . . Säge ich Arme, Beine, Hände ab. Sägte fünf Millionen Beine,
Arme, Hände ab. Ich allein, der Stabsarzt von Europa.<

Er legt, wie der Schreiner an das Brett, den Daumennagel an den Knochen,
setzt die Säge an, sägt und rechnet: >Siebzig Zentimeter lang ist ein
Menschenbein. Der Arm nur sechzig.<

>Die Länge der abgeschnittenen Hände, Arme, Beine ineinander gerechnet,
ergibt -- vorsichtig . . ., sehr . . . vorsichtig . . . sein --, eine
Minimaldurchschnittslänge von fünfzig Zentimeter für das amputierte Glied.
Fünf Millionen amputierte Glieder mit einer Durchschnittslänge von je
fünfzig Zentimeter ergeben zweimillionenfünfhunderttausend Meter . . . sind
gleich zweitausendfünfhundert Kilometer Menschenglied.<

»Uu . . . . . . . . .!«

>Der Herr segne und behüte euch Amputierte, er lasse sein Angesicht
leuchten über euch. Segen, Segen . . . sägen, sägen, absägen.
Zweitausendfünfhundert Kilometer Menschenglied absägen . . . Bei der
Peripherie von Berlin das Menschengliedgeleise begonnen: die zwei ersten
Arme in Geleisespannweite niedergelegt. Dann zwei Beine, dann zwei Arme,
dann zwei Beine, Arme, Beine, Arme, zwischenraumlos zusammengefügt, als
Geleise gelegt, bis nach Essen. Um Essen herum. Und -- vorbei an Dörfern,
Städten, vielen Dörfern, bergauf, bergab, Flußläufe, Wälder, Felder entlang
-- flach nach Berlin zurück und herum, bis die Hände der zwei letzten Arme
die Hände der zwei ersten Arme fassen können . . . Ein Geleise von
blutigen, brandigen, stinkenden, amputierten, jungen Menschengliedern,
durch Schwellen abgeschnittener Menschenhände verstärkt und
zusammengehalten. Ein Gliedergeleise, herumgelegt um den Militarismus: ein
Menschengliederkranz, der umgelogen wird in einen Lorbeerkranz.<

»Uu . . . . . . . . .!«

>Wer fährt auf diesem Geleise? Wer setzt sich diesen Gliederlorbeerkranz
aufs Haupt?< grübelt der sägende, fiebernde Stabsarzt. >Wer? Wer setzt ihn
auf? Will ihn am düsteren Ende vielleicht doch niemand aufsetzen?<

Der Spalt klafft; der Knochen ist durchgesägt. Er rückt das Bein bis ans
Ende des Operationstisches, so daß der Soldat plötzlich ein kurzes und ein
sehr langes Bein hat. Denn der Stabsarzt sieht den Zwischenraum nicht; er
sieht nur noch Beine, Millionen Beine, alle von ihm allein abgesägt. Sieht
Farben: Rot, das in Violett übergeht und zu einer gelbumrandeten,
giftgrünen Scheibe wird, in deren Mittelpunkt klar und scharf der Gedanke
steht: >Die Herren, die mit einem Worte, mit einem Wunsche, mit einem
Traume, mit einem Gedanken, mit einem Befehle dazu beigetragen haben, daß
dieser Krieg kam, müssen an Ketten gelegt werden.<

Plötzlich weiß er mit lautlos donnernder Gewißheit: >Werden an Ketten
gelegt werden<, und beugt sich tief und treu zu seiner blutigen Arbeit
hinunter.

Bewegung bei der Tür: acht Krankenträger marschieren hintereinander herein,
mit vier Bahren, auf denen zwei ganz stille Männer liegen, ein brüllender
und einer, dessen zersplittertes Bein, nur noch durch die Haut gehalten,
verdreht am Rumpfe hängt. Die Ferse steht nach oben.

Der Stabsarzt sagt sehr ruhig: »Hier ist kein Platz mehr.«

Der bärtige Bauer erwacht aus der Ohnmacht, hat unerträgliche Schmerzen im
Bein, das er nicht mehr hat. Und ist ungeheuer glücklich. Schiebt die Hand
vorsichtig unter die Decke zum schmerzenden Beine, greift behutsam an die
Schmerzen und greift doch kein Bein.

»Diesmal müßt ihr die Leute in den Tanzsaal hinübertragen.«

Der blonde Soldat hockt aufgerichtet im Bett, bläkt die Zunge lang und blau
und keucht. Sein Nachbar kreist den Oberkörper, langsam und ununterbrochen.
Der O-Schrei platzt.

»Zu Befehl! Aber der Tanzsaal ist überfüllt.«

»Uu . . . . . . . . .!«

Ganz feines Wimmern neugeborener Katzen.

»Uu . . . . . . . . .!«

»Drüben beim Tanzsaal ist ein großes Klosett; legt die Leute ins Klosett.«

Der mit Glück, Schmerzen und Zuversicht ausgefüllte bärtige Bauer wundert
sich über seine Ungeschicklichkeit, das Bein nicht zu finden, das ihm so
entsetzlich wehtut. Er greift resoluter an die Schmerzzentrale und langt
immer ins Leere. Tastet den wütenden Schmerz der ganzen Länge nach ab und
hat dabei ganz unbegreiflicherweise doch die Empfindung, immerzu in die
Luft zu langen, trotzdem er den Schmerz gleichsam in der Hand hält.

»Auch das Klosett ist besetzt, Herr Stabsarzt.«

»Uu . . . . . . . . .!«

Der Stabsarzt, tief und treu bei der Arbeit, und innerlich erleuchtet von
der Gewißheit: >Werden alle an Ketten gelegt werden<, sagt weich: »Meine
Kollegen dürfen halt das Klosett nicht benützen; sie müssen hinters Haus
gehen.«

Der bärtige Bauer winkt: »Pst!«

»Das sind nur Reflexschmerzen«, beruhigt der Sanitäter.

Ein Lächeln wächst in der Metzgerküche, wächst im Gesicht des ersten
Bahrenträgers: »Nicht so besetzt, Herr Stabsarzt. Von Kranken besetzt. Es
liegen zehn Kranke im Klosett . . . Überall. Ganz überfüllt.«

Welcher Mensch weiß, woher das Lachen kommt? Der Stabsarzt erinnert sich,
daß er bei seiner Konfirmation in dem Moment, da ihm der Pfarrer den Kelch
mit dem Blute des Herrn an die Lippen ansetzte, gelacht hat, lachen mußte,
in das Blut des Herrn hineingelacht hat.

Der Stabsarzt lacht. Das Lachen donnert unterirdisch in ihm, quirlt zum
Halse empor. Und platzt heraus. Er lacht und sägt. Er meckert, brüllt,
winselt, lacht in allen Tongraden. Und sägt.

Sprechen kann er nicht. Nur seine Hand, die das Messer hält, sagt: >Bitte,
abstellen. Stellt nur ab.<

Der bärtige Bauer sieht plötzlich wie ein Christus aus, schlägt, den Blick
noch geradeaus auf die Wand geheftet, die Decke zurück, senkt den Blick.
Und sieht, daß da, wo die ungeheuren Schmerzen sind, kein Bein ist.
Blitzschnell saust er vom kirchturmhohen Glück herunter, kommt ins Bett zu
hocken und schaut. Sieht den großen, weißen Verbandstumpf an, der knapp
unterm Rumpfe sitzt. In seinem Gehirn ist gar nichts. Nicht der fernste
Abglanz eines Gedankens ist in seinem Gehirn. Das Gehirn ist leer. Er
gleitet in die Ohnmacht hinein.

Die vier Bahren werden in den Mittelgang gestellt. Verstellen den
Mittelgang.

»Ja aber! Ja aber!« schreit der Stabsarzt auf und springt, das blitzende
Messer in der Hand, zur ersten Bahre, trennt mit einem schnellen Schnitt
das ganz lose hängende Bein vom Rumpfe. »Ja aber! Ja aber! Der Mann . . .«
>verblutet ja<, will er sagen, und sagt: ». . . ist ja schon tot.«

Aus den Hauptadern tropft noch das wunderbar rote Blut heraus. »Ist
verblutet . . . Den könnt ihr gleich wieder mitnehmen«, sagt der Stabsarzt,
reicht dem Sanitäter das Bein. Und wird plötzlich zur Karussellachse der
Welt, die sich schwankend um ihn zu drehen beginnt. Farben kreisen. Grün
herrscht vor. Vorbei gleiten der Pfarrer mit dem Kelche, der bärtige Bauer,
der Gliederkübel. Die Geschütze donnern. Die lang und blau gebläkte Zunge
gleitet vorbei und verlängert sich aus sich selbst heraus, wird ungeheuer
lang, saust aus sich heraus und vorwärts, unbegreiflich schnell hinaus an
die Peripherie der Welt, rundet sich zum weltumspannenden
Menschengliederkranze, in dessen Mitte ganz allein der Stabsarzt steht und
schwankt und sanft und weich in Ohnmacht gleitet. Alles gleitet.

»Uu . . . . . . . . .!«

                   *       *       *       *       *

Der Lazarettzug mit Irren, die durch das Grauen oder durch eine
Schußverletzung in das gewaltige Heer der Lebendig-Toten eingereiht worden
sind, mit Blinden, deren feste Arbeitshände sich in kraftlose,
durchsichtige Krankenhände verwandelt haben, mit Amputierten, mit
Schwerverwundeten, kriecht langsam durch die Landschaft, bohrt sich ganz
langsam vorwärts in die heimatliche Landschaft hinein. Frühherbst.

»Zweiundzwanzig«, sagt das Kind, das an der Landstraßenschranke steht und
dem Zuge nachsieht.

Es sind nur zwanzig Wagen; das Kind hat die Lokomotive und den Tender
mitgezählt. In jedem Wagen zwanzig Kranke, langgestreckt und unbeweglich in
den übereinander befestigten Betten.

Die Blinden stehen im Laufgang an den Fenstern und schauen hinaus in die
wunderbare, schimmernde Herbstlandschaft. Sie fühlen die Sonne und sehen
die Finsternis.

Die Irrsinnigen sind beisammen in einem Wagen. Eine Bank an den vier Wänden
entlang. Genügend viel Sitzplätze. Aber alle Irren hocken am Boden, in
einem dreifachen Kreise, und lachen, lächeln, schwätzen, schweigen,
schütteln schlau den Kopf. Nur einer steht. Er betrachtet die Wand. Er
betrachtet seit sechzig Stunden die Wand.

Im Wagen hinter dem Tender ist die Apotheke und das Operationszimmer, mit
dem Zinkblechtisch in der Mitte. Im vorletzten Wagen schlafen die
Sanitätssoldaten. Im letzten Wagen des Zuges liegen die, die während der
Reise verendet sind. Der letzte Wagen füllt sich allmählich.

Niemand weiß den Grund, auch der Stabsarzt weiß nicht, weshalb die Irren,
die kurz vorher noch lachend und schwätzend in dreifachem Kreise am Boden
gehockt sind, jetzt ganz still an den vier Wänden entlang auf der Bank
sitzen. Einer dicht neben dem andern. Aufrecht. Schweigend. Blicklos. Alle
Hände liegen auf den Schenkeln. Ernste Puppen.

Ein Irrsinniger, ganz unverwundet, ein dreißigjähriger Mensch, in dessen
ernstem Gesicht noch die Züge früheren Geistes zu sehen sind, steht auf,
streckt ein geöffnetes, leeres Streichholzschächtelchen dem Stabsarzt hin
und sagt: »Sehn Sie, hier sind die Augen meiner Mutter. Meine Mutter hat
sich um mich die Augen herausgeweint und sie mir in diesem Schächtelchen
zugeschickt . . . Braune Augen. Sie hat sie sich herausgeweint.«

»Ja, das stimmt«, sagt der Stabsarzt, der in vielen >Metzgerküchen< und
>Tanzsälen< drei Jahre lang knapp hinter der Front amputiert hat und, von
einem Plane, von einem Entschlusse, von einer scharf umrissenen Absicht
plötzlich erleuchtet, sofort nach dem Erwachen aus der Ohnmacht Urlaub
verlangt und erhalten hat.

Der Stabsarzt liebt die Nebenwege und Winkelzüge nicht. Nach seiner Meinung
sind das herrschende europäische Winkelzugsystem, die Halbheiten, der
Lügenknäuel mitschuld am Kriege.

>Wenn mich der Oberst fragt, warum ich Urlaub haben will, antworte ich
nicht: >Weil ich überarbeitet bin<, sondern ich sage zu ihm: >Ich habe drei
Jahre lang Soldatenbeine und -arme abgesägt; jetzt habe ich die Absicht,
dafür zu wirken, daß Soldatenbeine nicht mehr abgesägt werden. Dazu muß ich
ins Land zurück.<

In zwei Ecken erheben sich ganz gleichzeitig zwei Irre; sie hocken auf den
Boden nieder. Und unversehens steht der Stabsarzt wieder im Mittelpunkt
eines dreifachen Kreises von Irren, die am Boden hocken, lächeln, lachen,
schweigen, schwätzen. Einer schreit lustig und ausdauernd »Bö!« zur
Wagendecke empor. Dabei schließt er die Augen; seine Nase bekommt Runzeln
und der gespitzte Mund wird klein und rund. »Bö!«

Der Stabsarzt wird von der Alarmglocke aus dem Wagen der Irrsinnigen
herausgerissen. Und springt, schneller als der Zug fährt, in der
Fahrtrichtung den Gang vor, in einen Wagen. Und hinein in die Blutlache am
Boden.

Der von den Schmerzen auf die Pritsche festgenagelte, reglos liegende
Soldat kann nur mit seinen Augen den Stabsarzt aufmerksam machen auf den
Kameraden, für den er geläutet hat.

Der Kamerad hat den Verband von seiner zerfetzten Hüfte heruntergerissen,
ist dabei aus dem Bett gestürzt, macht ein sehr befriedigtes Gesicht, und
ist schon tot. Er wird, vorbei an den Blinden, die fragend und tot blicken,
hintergetragen in den Leichenwagen. Ein armlanger, scharfzackiger Fetzen
von einem großen Geschoß hat ihm die rechte Bauchwand eingedrückt, die
Hüfte zersplittert und die Hoden weggerissen. Zehn Tage und zehn lange
Nächte hat er gebraucht zu dem Entschlusse, den Verband herunterzureißen.

Alle liegen, von den Schmerzen auf die Pritschen festgenagelt, reglos wie
Tote. Jeder fühlt dem nächsten Stoß entgegen, der bei jeder
Schienenverbindung erfolgt. In jeder Sekunde ein Stoß, hinein in die
Schmerzzentrale.

Das schmale, lange, rollende Spital, gefüllt mit dickem Karbol- und
Wundgestank, tastet sich, von frischer Luft umspielt, durch die
schwerfarbige, schimmernde Herbstlandschaft, vorüber an den Grenzdörfern,
deren Bewohner an den Schranken stehen, Hüte und Taschentücher schwenken,
»Hurra!« schreien. Viele Militärzüge, mit Truppen, die an die Front oder in
Urlaub fahren, passieren diese Gegend.

Der Sanitäter steht am Fenster und schüttelt den Kopf, winkt mit der Hand
ab; die schon zum Hurraschreien aufgerissenen Münder bleiben rund und
lautlos offen. Langsam kriecht der Zug vorüber an den Verstummten, die nur
die Hinterköpfe der liegenden Soldaten sehen. Die Kolbenstange der
Lokomotive steigt, greift vorsichtig und behutsam wie die Hand eines
Taschendiebes vor, sinkt, zieht zurück, stiehlt sich vor. Langsam.

Der Stabsarzt kann den Grad der Gefühlsverfeinerung der Dorfbewohner am
Aussehen und an der Lage des Dorfes erkennen, am Baustil der Kirche, an der
Profillinie der umliegenden Wälder und Hügel; daran, wie das Dorf in die
Landschaft hineinkomponiert ist, erkennt der Stabsarzt: >Die werden nicht
hurra schreien.< Der Stabsarzt macht über viele Gedankenzwischenglieder weg
einen Sprung zu dem Gedanken: >Die Landschaft ist das Vaterland für den
Menschen.<

>Die schönen Felder, die schönen Felder, o, das Vaterland<, denkt der
Soldat, der für den Kameraden geläutet hat und hinaussieht auf die Felder,
die, langsam und sanft einen Bogen beschreibend, an seinen Augen
vorüberziehen. Er hat seit langer Zeit die heimatliche Erde nicht gesehen.
Und in die Weichheit seines Herzens brennt sich tief das unabänderliche
Unglück ein: »Was sind für mich die schönen Felder, die Wälder, das
Vaterland . . . Mein Arm, den ich nicht mehr habe, ist mein Vaterland
. . ., das ich nicht mehr habe.«

Und der Bauer, im Bett über ihm, weiß, daß kräftige Beine vor Müdigkeit
singen, wenn man einen kilometerlangen Acker Furche neben Furche umgelegt
hat, und weiß, daß er nie mehr pflügen wird, da er nur noch ein Bein hat.

>Schön, schön, wunderbar, aber nicht für mich<, ist der Gedanke, der in
jedem Wagen von zwanzig auf Lebenszeit ins Siechtum gestellten Soldaten
gedacht wird, von dreihundertfünfzehn Soldaten gedacht wird. Fünf sind
während der Reise gestorben. Und die fünfundzwanzig Irren leben auf einem
anderen Planeten.

>Das Unikum<, ein Soldat, dem beide Arme und beide Beine fehlen, auch
dieser Rumpf denkt noch; er denkt: >Schön, schön, wunderbar, aber nicht für
mich.<

>Was nützen mir die schönen Auen.< Diese Verszeile, die am Morgen ein irrer
Soldat in den Wagen hineingerufen hat, entsteht immer wieder im Gehirn des
Unikums. Meistens schläft er; er schläft ein mit der Verszeile: >Was nützen
mir die schönen Auen.<

Er ist nicht der einzige, dem der Stabsarzt beide Arme und beide Beine
amputiert hat; aber alle anderen sind gestorben. Das Unikum ist am Leben
geblieben.

Der Stabsarzt schlägt die Decke zurück, betrachtet das Unikum und denkt:
>Wie schmal ist der Zug im Vergleiche zu der weiten Breite der Landschaft,
durch die er fährt . . ., deshalb fährt auch die Landschaft nicht durch den
schmalen Zug, sondern der Zug fährt durch die breite Landschaft.<

Derartig überspitzte Gedanken hat der Stabsarzt oft in der letzten Zeit.
Mit ihnen will er die Realität festhalten. Die Realität, die er im Laufe
von drei Jahren, ausgefüllt mit Gliederabschneiden, in einer solchen
Furchtbarkeit kennen gelernt hat, daß er oft stundenlang an das
Vorhandensein der Realität nicht glauben kann. Aber er rechnet mit ihr,
will mit ihr rechnen. Seine Absicht, wegen der er Urlaub genommen hat,
veranlaßt ihn, sich die Realität nicht entgleiten zu lassen. Er will die
furchtbare Realität in den Dienst seiner Absicht stellen.

Deshalb erlöst er auch das Unikum nicht mit einer Dosis Morphium, obwohl
er, der Träger eines tiefen, von eigener Meinung diktierten
Verantwortungsgefühls, schon viele, die nicht so elend waren, durch
Morphium erlöst hat.

Knapp unter den Schulterblättern, knapp unter dem Rumpfe starren die
Gliederstumpfe. Rosaviolett. Nach obenhin braungrüne Ränder. Die Spitzen,
zusammengedrehte Mißgewächse aus Muskelsträngen und Haut, sind grau.

Wie der Säugling im Kinderwagen, ist der Rumpf auf die Bettpritsche
festgeschnallt. Dem Rumpfe wird das Gesicht gewaschen. Dem Rumpfe wird die
Nase geputzt. Der Rumpf wird gefüttert. Der Rumpf wird auf das Klosett
gesetzt. Wird dabei gehalten. Der Rumpf hat noch einen Geschlechtsteil, hat
Augen, in denen die Seele steht, hat einen Mund, mit dem er sagt:

»Bitte, Herr Stabsarzt, sagen Sie mir, wie soll ich leben? Was soll ich
tun? Was soll ich tun?«

>Diese Frage soll einer von den Herren beantworten, die an Ketten gelegt
werden<, denkt der Stabsarzt. Und schweigt; denn er weiß die Antwort nicht.

»Hurr . . . . . . a!«

Der langgezogene Schrei eleganter Sommerfrischler, die an der Schranke
stehen, trifft die Ohren von dreihundertfünfzehn still- und langgestreckt
liegenden Schwerverwundeten, trifft die Ohren des Rumpfes.

»Was soll ich tun, Herr Stabsarzt?«

Der Sanitäter steht am Fenster, schüttelt den Kopf, versucht, mit der
abwinkenden Hand die Begeisterungsschreie in die Münder zurückzudrücken.

»Hurr . . . . . . a!«

Der Stabsarzt zieht den Blick von dem Stück angeschnallten Menschenfleisch
zurück; er sieht die weiche, schmachtende Hüftlinie der schönen Blondine,
deren hochgestreckte Hand mit dem Spitzentüchlein winkt, vorübergleiten.
Und weiß die Antwort nicht. >Diese entzückende Körperlinie . . . Wie schön.
Wunderschön. Aber dumm, so dumm.<

». . . . . . a!«

Die behutsam vorgreifende Kolbenstange der Lokomotive zieht den Zug am
anhaltenden Schrei vorüber. Langsam.

»Schmeckt Ihnen das Essen?« fragt der Stabsarzt. Und wendet sich weg. Denn
er fühlt wieder, daß ihm der Glaube an das Vorhandensein der Realität
entgleiten will, beim Anblick des Rumpfes.

»Zu Befehl, Herr Stabsarzt!«

>Zu Befehl! . . . Das ist nicht möglich. Nicht möglich! Daß er >zu Befehl<
gesagt hat<, schreit innerlich der tief entsetzte Stabsarzt. >Nicht
möglich! . . . Der seelenmordende Herrengeist, der Geist der Knechtschaft,
Disziplin, Unterordnung und der falschen Pflicht, der selbst diesen Rumpf
noch sagen läßt >zu Befehl<, hat den Krieg mitverschuldet.<

Der Stabsarzt denkt noch brennend scharf, daß dieser Geist mit Halbheiten,
mit kleinen oder großen Reformen nicht überwunden werden kann; und wird von
einer Empfindung, die vom tiefsten Urgrunde des Seins aufsteigt, plötzlich
zum Rumpfe zurück und auf die Knie gerissen.

Unbewußtes Zartgefühl veranlaßt ihn, die Hände nicht zu gebrauchen, da ja
auch der Rumpf Hände nicht gebrauchen kann in dieser großen Sekunde, in der
das Wort »Bruder« wiedergeboren, neugeboren, der Wahrheit und der
Menschheit zurückgegeben wird vom Stabsarzt, der, die Hände auf dem Rücken,
die Augen, die Stirn, die Wangen des Rumpfes küßt und in wilder Hingabe:
»Bruder« sagt. »Wir sind Brüder. Du und ich sind Brüder.«

Zwanzig erschütterten Soldaten wird das verarmte Herz berührt von dem Worte
»Bruder«. Nicht mehr erhofftes Glück steht groß im Wagen.

Der Stabsarzt steht in der Mitte und verkündet allen das neue, das wieder
erneute Gesetz der Liebe: »Ich sage euch: wir sind Brüder.« Er sagt das
Wort laut, nicht weich. Die Wahrheit klingt im Tonfall seiner Stimme.

Finsternis reißt entzwei; die Morgenröte der neuen Zeit steigt, trifft und
verklärt die zwanzig Soldatengesichter.

Verkünde einem zu lebenslänglichem Zuchthause Verurteilten, der schon zehn
Jahre, Nacht um Nacht, dreitausendfünfhundert lange Tage in der gleichen
Zelle geatmet hat, und der weiß, daß er diese Zelle nie verlassen wird,
verkünde ihm plötzlich, er sei frei, könne gehen, könne jetzt sofort
hinausgehen in die Freiheit, so wird er noch eine halbe Stunde in seiner
Zelle bleiben wollen. Das plötzliche Glück ist so ungeheuer groß, daß es
ihn zu verbrennen droht.

Auch der Rumpf wagt nicht, sich dem Glücke sofort zu überlassen. Schon
allein die ihn plötzlich durchfließende Gewißheit, daß es da ist, daß auch
für ihn ein Glück noch möglich ist, kann seine Seele verwirren. Er wagt
noch nicht, das Wort »Bruder« zu flüstern, und weiß, daß er es flüstern,
sprechen, beten wird. »Bruder.« So schläft er ein. Und träumt sofort die
wunderbare Antwort, die ihm der Stabsarzt gab auf die Frage: »Was soll ich
tun? . . . Bruder.«

Der Geist durchdringt den Zug, dringt in alle Wagen, in die Herzen aller
Soldaten ein. Und wird von der Lokomotive langsam in das Innere des Landes
getragen, der Absicht des Stabsarztes zu dienen, der im Gange bei den
Blinden steht, vor einem Soldaten, der kein Gesicht mehr hat.

Von der Stelle, wo das Kinn war, bis zum Haaransatz bei der Stirn: -- eine
Fläche. Oben verbreitert durch die Ohren. Kein Mund. Keine Zähne. Keine
Nase. Keine Augen. Alles ist weg. Zwei Löcher, wo die Nase war. Ein
kleines, lippen- und formloses, narbiges, schiefes Loch, wo der Mund war.
Die Augenlider, die Augenbrauen, die Augen sind ganz weg: eine grauenvolle
Fläche, entstellt durch farbige Narben und Mißgewächse aus Haut.

Der Stabsarzt sieht die flache, leere Riesennarbe an und fragt: »Sagen Sie,
Lieber, erkennen Sie Ihre Bekannten schon an der Stimme?«

Der Soldat macht eine ungeheure Anstrengung, ein Wort zu formen. Die rote
Zungenspitze durchstößt immer wieder das schiefe, lippenlose Loch. Er
gestikuliert mit den Händen.

Jetzt erst erinnert sich der Stabsarzt, daß der Mann nicht sprechen kann,
weil er keinen Mund, keine Zähne mehr hat. Und drückt in grenzenloser Liebe
die Narbe an seine Wangen.

Der Gefühlssturm, der den Soldaten durchfliegt, wird nicht sichtbar, da der
Soldat kein Antlitz hat. In wilder Erregung tastet er nach der
Menschenhand, preßt sie. Und steht im Glücke, das nicht sichtbar werden
kann.

Der Stabsarzt verkündet den Blinden das neue, das erneute Gesetz.

Herzen ziehen sich zusammen. Krampfhaft. Schmerzlich.

Und öffnen sich weit.

Die Alarmglocke ruft. Zusammen mit dem aufgeregt winkenden Sanitäter
springt der Stabsarzt in den Wagen der Irrsinnigen hinein.

Das in der Lokomotive über dem Manometer angebrachte Telephon klingelt. Der
Lokomotivführer wird hastig aufgefordert, schneller zu fahren und im
nächsten Dorfe zu halten.

Ein Irrer hat sich unterm Knie die Sehnen, die Hauptadern, die
tieferliegenden Arterien durchschnitten, die ganze Wade weggeschnitzt. Bis
zum Knochen. Das Blut strömt. Niemand weiß, woher er die kleine
Gilletterasierklinge hat.

Alle Irren sitzen dicht nebeneinander an den vier Wänden entlang, reglos
auf der Bank. Ernstes Publikum. Der Schwerverwundete wird hinausgetragen.
An den Blinden vorbei. In den Operationswagen.

Die Apfelbaumallee gleitet schnell nach rückwärts. Schneller. Saust nach
rückwärts. Die Stöße erfolgen schneller, heftiger. Schmerzensschreie werden
laut.

Telegraphenstangen, ein vereinzelt stehendes Haus, ein pflügender Bauer,
eine Scheune stürzen nach rückwärts. Die weiße Landstraße saust mit dem
Zuge.

Der Irre ist schon entkleidet. Liegt auf dem Operationstisch. Wehrt sich
wütend. Kann schwer gehalten werden.

Donnernd über eine Brücke, Wasser blitzt auf.

Das Blut strömt dick. Wird vom Herzen stoßweise zu den offenen Adern
hinausgepumpt. Der Stabsarzt kann die Adern des Wütenden nicht abbinden.
Läßt ihn festschnallen. Äthermaske.

Der Turm der Dorfkirche erscheint gleichzeitig mit dem Ertönen des
langgezogenen Warnungspfiffes.

Die Mütze des herbeieilenden Stationsvorstandes leuchtet rot auf. Und
während der Zug einläuft und, unter Schmerzen für die Verwundeten, heftig
stoßend allmählich auf ein Nebengeleise rangiert wird, ist der Stabsarzt
schon mitten in der blutigen Arbeit.

Der Zug steht.

Jetzt erst vernehmen die still werdenden Bauernkinder das laute,
vielstimmige Stöhnen.

Der Stabsarzt arbeitet hastig. Die obere Gesichtshälfte des Narkotisierten
gewährt den Anblick eines friedlich Schlafenden; der ganz schmal geöffnete,
starre Mund lächelt ein spitziges, bewußt boshaftes Lächeln. >Ich sterbe
doch.<

>Ich muß das Bein retten . . . Gerade dein Lächeln veranlaßt mich, das Bein
zu retten<, denkt der Stabsarzt, während er mit der Sonde arbeitet, mit der
Pinzette die Arterien zurechtlegt in ihre anatomische Ordnung, die Arterien
und die Hauptadern abklemmt, die durchschnittene, zurückgeschnellte Sehne
hervorzerrt. Schnell, exakt, fast schon automatisch. >Wärst du unheilbar
irr, dann würdest du mir nicht dieses schadenfrohe Lächeln zeigen können,
das deiner Tat so genau entspricht. Bist heilbar. Und kannst deine Beine
brauchen!<

Dabei sieht er, so oft er den Kopf hebt, über die Bauernkinder, die auf den
Zehenspitzen stehen und doch nur die blutigen Arzthände sehen können,
schnell hinweg und zur Güterhalle, wo eine Menschenansammlung ist, die sich
beständig vergrößert: Weiber, Bauern, einige Soldaten, die auf Urlaub sind.
Die rote Mütze des Stationsvorstehers. Auf einer Kiste steht ein Mensch und
spricht.

Satzfetzen dringen bis zum Stabsarzt herüber.

Ein kleiner Bauernjunge neigt sich zu einem andern, flüstert, deutet mit
dem Zeigefinger. Er hat ein Instrument aufblitzen sehen. Sein Mund bleibt
offen.

». . . und wenn im Kriege fremdes Land erobert wird, dann ist das gar keine
Ehre, sondern Raub«,

hört der Stabsarzt, wundert sich, daß jetzt das boshafte Lächeln
verschwunden ist.

»Wenn ein Bauer glaubt, er könne, nur weil er kräftiger ist, einem
schwächeren Bauern Land wegnehmen, dann ist er kein Ehrenmann, sondern
einfach ein Räuber.«

Der Stabsarzt vernimmt zustimmende Antworten. Und einen lauten Zuruf. Sein
Staunen wird zu Befriedigung. Seine Absicht steht groß und ausführbar vor
ihm.

». . . natürlich, da haben Sie ganz recht, natürlich ist der Bauer außerdem
noch dumm. Denn er wird gestraft. Muß gestraft werden.«

>Werden an Ketten gelegt werden.<

»Es wird einen Prozeß geben. Streit und Haß . . . Ebenso ist es, wenn im
Kriege Land erobert wird: Haß, Vergeltung. Ein neuer Krieg.«

>Ist denn das wirklich eine Frau? Eine Frau?< denkt der Stabsarzt und hört
sie sagen:

»Mein Mann war Versicherungsagent . . .«

Die Glocke der Dorfkirche beginnt zu läuten, übertönt die weiteren Worte.
Der D-Zug saust durch die Station. Der Operierte wird vorsichtig vom Tische
heruntergehoben.

Die Art, wie die Bauersleute um die Sprechende herumstehen, zuhören, kommt
dem Stabsarzt bekannt vor. >Das Ganze sieht improvisiert aus.< Der
Stabsarzt möchte hingehen. >Und vielleicht fünf Minuten lang sprechen
. . . Drei Minuten Zeit könnte ich mir vielleicht nehmen.<

Das Stöhnen der dreihundertfünfzehn Soldaten klingt zusammen in einen Ton.
Im Wagen der Irrsinnigen platzt eine Lachsalve.

Der Stationsvorsteher springt von der Menschenansammlung weg zum
Lazarettzug: der Schnellzug sei durch; der Lazarettzug müsse jetzt
weiterfahren, damit die Strecke frei werde.

>Tatsächlich, der Vorsteher läuft gleich wieder hin. Interessiert sich.<
Das freut den Stabsarzt sehr. Jetzt erst erinnert er sich, daß er, wenn der
Zug langsam an den Dörfern vorübergefahren war, vor den Kneipen, vor den
Kirchen, vor den Rathäusern schon öfters solche improvisiert aussehenden
Gruppen herumstehender Bauern bemerkt hat, die aussahen, als warteten sie
auf etwas.

>Hat die alte Ordnung, Zucht und Meinungslosigkeit Risse bekommen? Ist auf
unkontrollierbaren Wegen der neue Geist schon bis zu den Bauern gedrungen?
. . . Die Bewohner vieler Dörfer haben nicht hurra geschrien, sind stumm
und nachdenklich an den Schranken gestanden, im auffallenden Gegensatze zu
den noch hurra schreienden Bewohnern der Grenzdörfer.<

Der Zug hat nach mehrfachem Vor- und Rückwärtsfahren, unter Pfiffen und
Pufferstößen und unter Wimmern, Stöhnen und Keuchen der Verwundeten das
Hauptgeleise wieder erreicht. Und rollt.

Während der Stabsarzt zurückblickt und sieht, wie der Weichensteller aus
dem Hebelhäuschen schnell heraus und auch auf die Gruppe zuläuft, stoßen
seine Gedanken vor in die kommende Zeit. Er empfindet das erstemal in
seinem Leben, mit einer ihn tief berührenden Feierlichkeit, daß der Gedanke
Macht und Wirkung erlangt hat; daß die Untertanen, die bisher als
meinungslose, gedankenlose Einzelzellen dem nationalen
Riesenuniversalgehirn willen- und machtlos zugeteilt und untergeordnet
waren, begonnen haben, sich loszureißen, Einzelwesen mit eigenem Gehirn,
eigener Meinung zu werden.

>Sie beginnen, zu denken. Das ungeheure Leid hat die Verkalkung zerbrochen.
Der Geist zieht über das Land. Das Alte bricht auseinander, getroffen vom
Leide und von der wilden Sehnsucht nach Freiheit. Der Einzelne will sein
Schicksal selbst gestalten. Der Einzelne beginnt, zu denken.<

Mit feierlicher Gewißheit weiß der Stabsarzt, daß der Anbruch des neuen
Zeitalters, in dem der Mensch gut sein darf, nahe herbeigekommen ist.
Frohlockend fühlt er, daß seiner Absicht, der neuen Zeit, dem neuen Geiste,
dem revolutionären Geiste der Liebe zum Durchbruch zu verhelfen, die
Ereignisse entgegenkommen.

Damit, wie der Stabsarzt durch den Gang und durch die Wagen schreitet, zu
den Verwundeten spricht, sie anblickt, revolutioniert er den ganzen Zug.
Das Überzeugende liegt mehr im Tone seiner Stimme und im Ausdruck seines
Gesichtes, als in den Worten, mit denen der Stabsarzt ohne Haß und ohne
Freude den Soldaten beweist: »Die werden an Ketten gelegt werden.«

Augen glänzen. Verehrung und stürmische Liebe empfängt überall den
Stabsarzt.

Er bittet zwei Sanitäter, einen hilflosen Krüppel vom Bett herunterzuheben.
Der Krüppel soll zeigen, ob er in einem fahrenden Zuge laufen kann; er
bekommt seine zwei Spazierstöckchen in die Hand. Die Stöckchen sind nur
fünfzig Zentimeter hoch. Der Krüppel gewährt den Anblick eines
halbgeöffneten Taschenmessers. Der Krüppel ist ein rechter Winkel. Ein
Geschoß hat ihm den Rückenwirbel zersplittert. Und der Rückenwirbel ist
falsch zusammengewachsen. Der Krüppel kann sich nicht aufrichten. Kann sich
in seinem Leben nie mehr aufrichten. Er geht, ein wandelnder rechter
Winkel, am Stabsarzt vorüber, wendet sich um, langsam wie eine Kuh, hebt
mühsam das Gesicht, fragt den Stabsarzt mit den Augen. Und muß den Kopf
gleich wieder sinken lassen: das Gesicht steht wieder horizontal zum Boden.
Der Mensch mit den zwei niedrigen Spazierstöckchen sieht aus wie ein
vierbeiniges Tier.

Der Stabsarzt überlegt, was er schon während der ganzen Reise überlegte: ob
er wagen soll, den Rückenwirbel noch einmal zu brechen und den Mann
aufzurichten, damit der Wirbel richtig zusammenwachsen kann. >Es ist fast
unmöglich, eine tödliche Verletzung des Rückenmarkes dabei zu vermeiden<,
denkt der Stabsarzt. Denkt: >Werden an Ketten gelegt werden.<

Und läßt den Menschenwinkel wieder auf das Bett zurücklegen.

»Und im Grunde sind wir alle Kameraden«, sagt zu sich selbst ein Soldat,
der sich vorstellt, daß auf vielen Geleisen von Europa langsam solche Züge
fahren, gefüllt mit Krüppeln, Irren, Blinden. »Sie haben uns verwundet, wir
haben sie verwundet. Und im Grunde sind wir alle Kameraden.«

Das lange, schmale Spital schiebt sich durch die schon abendliche
Herbstlandschaft. Der Stabsarzt muß immer wieder das Wort >Auflösung<
denken, wenn er vom Fenster aus die improvisierten Gruppen herumstehender
Bauern sieht. Auch einen mit hinkenden Soldaten untermischten großen Zug
von Bauern, dem ein Kruzifix und eine rote Fahne vorangetragen werden,
überholt langsam das Spital.

An die Realität dieses Ereignisses will der Stabsarzt nicht glauben. Erst
die Einzelheiten überzeugen ihn: ein Feldarbeiter, der seine Hacke
schultert, eine Ackerfurche entlang läuft und sich dem Zuge der Bauern
anschließt; ein beinloser Soldat, der, neben der Fahne, mitkrückt; die
lange Staubwolke, die hinter dem Zuge steht.

Der rote Schein der untergehenden Sonne trifft den Zug, das Kruzifix, und
durchleuchtet rosa die Staubwolke.

>Sie trieben die Lüge auf die Spitze: sie befahlen, die Kirchenglocken in
Geschosse umzugießen, und gebrauchten zu diesem Befehle die Worte >Gott<
und >Christentum<. Sie vergaßen, daß der Untertan begonnen hat, zu denken.<

Die Hauptstraße eines Städtchens, an dem das Spital vorbeikriecht, ist
schwarz von langsam sich bewegenden Menschen.

>Das Leid zog durch das ganze Volk, ließ sich in jedem Hause nieder. Das
Leid entfesselt das Ereignis.<

Im Stabsarzt läßt sich Stille nieder, voll und schön wie die Nacht, aus der
das Frührot bricht.

Überrascht bleibt er vor dem Wagen der Irrsinnigen stehen: sie hocken nicht
am Boden in dreifachem Kreise, sitzen nicht, ernsten Puppen gleich, reglos
an den Wänden entlang, sondern gehen alle im Wagen umher, um einander
herum, in Schlangenlinien kreuz und quer, beständig und unregelmäßig,
meditierend, gestikulierend, den Blick zu Boden gerichtet. Tief mit sich
selbst beschäftigt. Der Schein der untergehenden Sonne trifft rot ihre
Gesichter.

Ein Irrer wendet sich plötzlich um, geht schnell auf den Stabsarzt zu und
sagt: »Jehovah sitzt in meinem Bauche . . . Jehovah ist eine der
Wissenschaft ganz unbekannte Masse.« Er lächelt den Stabsarzt wohlwollend,
mitleidig und mit einem Schein von Schadenfreude an, weil der davon nichts
weiß. Hebt die Schultern: »Tut mir leid, eine der Wissenschaft ganz
unbekannte Masse.«

Erst als der Stabsarzt den zweiten Alarmruf vernimmt, klingt auch der
erste, den er überhört hat, in seinen Ohren.

Der übermüdete Sanitäter, der den operierten Irren bewachen sollte, war
sitzend eingeschlafen und zu spät aus dem Schlafe aufgefahren.

Die blutigen Fetzen des Verbandes liegen auf dem Boden, im blutnassen Bett,
hängen vom Bein herunter. Fleischfetzen hängen vom Bein herunter. Der
Operierte hat die sorgfältige Arbeit des Stabsarztes zerstört. Hat die
Fingernägel in die Wunde tief hineingebohrt und alles herausgerissen. Das
Herz pumpt das Blut stoßweise zu den offenen Adern hinaus. Der Mann ist bei
Bewußtsein und keucht. Das Bein ist verwüstet. Muß amputiert werden.

Der Kranke liegt still, blickt den Stabsarzt wie aus einem tiefen Abgrunde
heraus ruhig und müde an. Und sagt plötzlich, langsam und klar: »Lassen
Sie, bitte. Will nicht.«

Der Stabsarzt bittet zögernd zwei Sanitäter, den Blutüberströmten in den
Operationswagen zu tragen.

Und wendet sich um zu einem andern Kranken, der vorgebeugt auf dem Stuhle
sitzt und, mit jedem Buchstaben mehrere Male Atem holend, »Herr Stabsarzt«
zu sagen versucht.

Der Mann hat einen Schuß in den Magen bekommen. Das Zwerchfell ist
verletzt. Luft ist in die Brusthöhle eingedrungen und komprimiert die
Lunge. Unaufhörliche schwerste Atemnot. Auch wenn er nicht spricht, muß er
ununterbrochen in rasender Folge Atem holen. Sein Gesicht ist blau. Er ist
total abgemagert. Sieht zum Stabsarzt auf mit einem Blicke, der aus Bitten,
Frage und Angst besteht. Und atmet. Und atmet. Schnell wie ein Hund, der
einem Automobil nachgerast ist. Er will am Leben bleiben. Sein bittender
Angstblick fragt, ob es ihm einmal wieder besser gehen werde.

»Ja, es wird besser werden«, sagt der Stabsarzt. Und denkt: >Im Laufe von
drei bis vier Jahren . . ., wenn nicht vorher seine Kraft schon erschöpft
und seine komprimierte Lunge nicht schon vorher abgestorben ist.<

Schon oft hat der Stabsarzt überlegt, welcher von seinen Kranken der
Beklagenswerteste sei. Und hat sich, wenn er machtlos vor diesem Atmenden
stand, der während des ganzen Tages und in den schlaflosen Nächten nie eine
Sekunde lang von seiner schweren Not zu erlösen ist, für ihn entschieden.

Und wenn er dann vor dem Rumpfe steht -- -- --

Und wenn er vor dem Menschen steht, der keine Augenbrauen, keine
Augenlider, keine Augen, keine Nase, keinen Mund, kein Gesicht mehr hat --
-- --

Und wenn er vor dem >Rechten Menschenwinkel< steht -- -- --

Und wenn er im Wagen der Irrsinnigen steht -- -- --

Langsam kriecht der Zug durch die breite Landschaft in den Abend hinein.

Der Stabsarzt steht vor dem Operationstisch. >Das Kniegelenk wenigstens
kann gerettet werden<, denkt er. Und beginnt: klemmt die Hauptadern und die
tieferliegenden Arterien ab, zerrt so weit wie möglich die Sehne vor, die
unter dem Stumpfe verwachsen und, zusammen mit der Haut und den
Muskelsträngen, das Polster für das künstliche Glied liefern soll.

Der langsam fahrende Zug klappert dazu langsam die Melodie von
>Deutschland, Deutschland über alles<, tröpfelt die Melodie in das
vergebens widerstrebende Gehirn des Stabsarztes hinein. Er will dem
langsamen Tempo des Zuges die Melodie von >Nun danket alle Gott<
unterlegen. Es gelingt ihm nicht. >Deutschland, Deutschland über alles<
behauptet sich hartnäckig. Und zu der Melodie entstehen im Gehirn des
sägenden Stabsarztes plötzlich von selbst die Worte:

   Zwang und Blut, Gewalt und Messer
   Über alles in der Welt!
   »Sieg!« schrein Land- und Menschenfresser,
   Damit nichts zusammenhält.
   Amputiert die Menschentröpfe,
   Resezieret alles mit,
   Öffnet Bäuche, Mägen, Köpfe,
   Schneidet durch den Lebenskitt!

Die furchtbare Wildheit erstarrt im Gesichte des Stabsarztes. Der Knochen
ist durchgesägt. Unterm Knie. Der Sanitäter schiebt das abgesägte Bein zur
Seite.

Der Amputierte liegt reglos. Seine Lippen sind weiß.

>Sein Mund weint . . . Kann denn ein Mund weinen?< denkt der Stabsarzt,
nimmt die Metallklemmen von den Adern ab, reinigt noch einmal sorgfältig
die blutrünstige Innenseite der aufgesparten Haut.

Und während er die Hautlappen und die durchschnittenen Muskelstränge unter
dem Stumpfe miteinander verbindet, klappert langsam der Zug weiter seine
Melodie von >Deutschland, Deutschland über alles<. Und aus dem Gehirn des
Stabsarztes fallen die Worte heraus und in sein Herz:

   Dunkle, wilde Leidenssphäre
   Hüllet die Millionen ein.
   Seht das neue Feld der Ehre:
   Kampf um Liebe, Recht und Sein!
   Die gewaltgen Krüppelheere
   Brechen in den Lichtkreis ein
   Jener großen, tiefen Lehre:
   Menschen werden Brüder sein.

Eine weithin übersehbare Ebene, die schon in abendblauer Dämmerung liegt.
Der Zug schleicht langsam weiter, vorüber an großen Reklametafeln.

Der Stabsarzt denkt: >Von allen Seiten kommen die langen, schmalen Spitale
ins Land, auf allen Geleisen tragen die Lazarettzüge die Krüppel ins Land.
Täglich seit drei Jahren. In alle Städte, in alle Städtchen, in alle
Dörfer.<

Er sieht in der Ferne die niedere, schwarze Silhouette von Berlin. Das Ziel
der Reise.

Er will nicht glauben, daß dies die Sonne ist: eine ganz kleine Scheibe,
nicht größer als eine halbierte Blutorange, dunkelrot wie eine halbierte
Blutorange, steht tief am gefleckten Himmel krank und düster hinter Berlin.

>Wie eine tödliche Wunde.<

   »Dunkle, wilde Leidenssphäre
   Hüllet die Millionen ein«,

singt der Stabsarzt im Tempo des Zuges und trocknet, den Blick auf Berlin
gerichtet, die Hände ab am Tuche, das sich rosa färbt.

                   *       *       *       *       *

»Wenn Sie den Vertrag nicht einhalten, gerate ich mit meiner ganzen Familie
ins Elend.«

»Das täte mir ja sehr leid, wirklich sehr leid . . . Aber in unserer
Branche muß, wie Sie ja wissen werden, mein Vertreter fortwährend mit in
der Regel sehr vornehmen und, sagen wir . . . empfindlichen Damen verkehren
und unterhandeln. Im Geschäftsinteresse. Er muß diese Damen unausgesetzt
mit allen möglichen Feinheiten bearbeiten. Das verlangt nun einmal das
Geschäftsinteresse. Es handelt sich in jedem einzelnen Falle um den Gewinn
oder den Ausfall von Tausenden. Sehen Sie ein, mein Vertreter muß diesen
Damen doch . . . die Hand geben können. Das zum Beispiel ist unbedingt
notwendig. Aber Sie können das nicht . . . gut, da Sie ja keine Hände haben
. . . Tut mir ja wirklich sehr leid, aber diesen Direktorposten können Sie
nicht versehen. Das ist unmöglich.«

»Das mag ja . . .«

»Wirklich unmöglich!«

». . . vor dem Kriege so gewesen sein, . . .«

»Ganz und gar unmöglich!«

». . . aber für jetzt, für diese Zeit gilt das sicher nicht mehr. Jetzt ist
doch jeder anständige Mensch in dieser Hinsicht rücksichtsvoll. Jetzt stößt
sich doch niemand daran, stößt sich doch eine noch so vornehme Dame nicht
daran, daß ein Mensch . . . keine Hände hat.«

»Jetzt? Gewiß, jetzt vielleicht noch nicht. Aber -- es tut mir ja wirklich
sehr leid, Ihnen das sagen zu müssen -- meiner Meinung nach wird das nicht
immer so bleiben. Es wird nicht einmal allzu lange so bleiben . . . Das
Leben geht weiter. Bekanntlich. Und ich brauche für mein großes,
erstklassiges Unternehmen einen repräsentativen Vertreter, der im vollen
Besitze seiner, sagen wir . . . gesellschaftlichen Fähigkeiten ist. Das
begreifen Sie. Ja wirklich leid . . . Eine entsprechende Entschädigung --
in Grenzen -- steht Ihnen natürlich gerne zur Verfügung.«

»Danke. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auf den gesetzlichen
Rechtsstandpunkt zu stellen. Ihr früherer Vertreter hat, während Sie im
Militärdienste waren und bevor er selbst einrücken mußte, einen
rechtsgültigen Vertrag mit mir abgeschlossen. Er war von Ihnen ermächtigt,
Angestelltenverträge abzuschließen. Der Vertrag ist juristisch
unanfechtbar.«

»Also tun Sie mir den Gefallen, und reden Sie nicht von Verträgen. Verträge
sind nur . . . Papier. Kanzleipapier.«

Auch der verstümmelte Herr erhebt sich. »Darin wird Ihnen kein Richter der
Welt, kein objektiver Richter recht geben. Keiner wird sagen, Verträge
seien nur Papier.«

»Möglich. Aber, sagen Sie selbst, was kann ich tun? Es handelt sich hier um
den exponiertesten, wichtigsten Posten meines ganzen Unternehmens. Halte
ich den Vertrag ein, dann wird meine Firma mit mathematischer Sicherheit
von der Konkurrenz überflügelt. Und in der Not . . . was tut ein Mensch,
der vorwärts kommen will, der etwas erreichen will, sagen wir, ein
bestimmtes Ziel erreichen will, was tut der nicht alles in der Not . . .
Wir haben in dieser Hinsicht schon ganz andere Dinge erlebt.«

Der Herr ohne Hände fragt noch ganz ruhig: »Und wenn nun alle nach . . .
diesem Prinzip handeln würden? Wenn das ganze Geschäftsleben unseres Landes
nach dem Prinzip: Verträge sind nur Kanzleibogen, gehandhabt würde?«

Der Kaufmann hebt die Schultern. »Jeder sehe, wie er fertig werde . . .
Soweit wie möglich will ich ja gerne die Sache wieder gutmachen. Zu einer
entsprechenden Entschädigung -- in Grenzen -- bin ich jederzeit bereit.«

»Ich sage Ihnen aber: Verpflichtungen müssen eingehalten werden. Verträge
müssen eingehalten werden. Das ist ein moralisches Gesetz, das in ganz
Europa sogar zum geschriebenen Gesetze erhoben worden ist.« Das Gesicht des
Verstümmelten wird dunkelrot. »Und ich sage Ihnen: es gibt im deutschen
Volke noch Menschen, die das Raubsystem nicht mitmachen. Die unser Volk
wieder rehabilitieren werden . . . Auf Kosten der Straßenräuber Ihrer Art.«

»Das ist eine Beleidigung. Ich kann Sie belangen«, schreit der Kaufmann in
falschem Zorne und freut sich.

Der Verstümmelte geht. Sein Schicksal ist das Schicksal der
Kriegsbeschädigten.

Hunderttausende werden mit ähnlichen Gründen abgefertigt von den
Unternehmern. Hunderttausende -- Schlosser, Schreiner, Spengler, Maurer,
Schmiede, Bergleute, Handlanger, Taglöhner, Erdarbeiter, Bauarbeiter --
verlassen als Abgewiesene, stillgeworden und hoffnungslos, die Fabriken,
die Werkstätten, die Baubüros. In den Arbeitsnachweisen hängen Tafeln, auf
denen steht: >Für diese Arbeiten kommen nur kräftige, unbeschädigte Leute
in Frage<. >Kräftige, unbeschädigte Leute haben den Vorzug<. >Für diese
Stellen kommen . . .<

In keinem Berliner Grandhotel sind Servierkellner angestellt, die
künstliche Hände haben. Der Anblick einer Kunsthand verschlägt Gästen, die
zehn Mark für das Diner bezahlen, den Appetit. Sie bezahlen in einem
anderen Grandhotel lieber zwölf Mark für das Diner und lassen sich dafür
von gepflegten Händen bedienen, die gewachsen sind. Das weiß der gebildete
Hotelier. Aber sein Konkurrent weiß das auch. Der Servierkellner begreift
das auch sehr schnell und wird Zuhälter oder Bordellwirt.

Kinder und Frauen, die sich während des Krieges in die Berufe eingearbeitet
haben, lassen sich nicht verdrängen, werden von den Unternehmern den
Krüppeln vorgezogen. Nur wenn große Aufträge schnell ausgeführt werden
müssen und Mangel an tüchtigen Arbeitskräften ist, stellt der Unternehmer
Krüppel vorübergehend ein. Auf Akkordarbeit. Die Entlohnung entspricht
genau der Leistung. Die Leistung bleibt weit zurück hinter der des
unbeschädigten Arbeiters. Der Krüppel wird entlassen, sobald Ersatz für ihn
zu haben ist.

Für Sentimentalität ist jetzt nicht die Zeit. Jetzt nicht. Gewaltige
Steuern. Gewaltige Konkurrenz. Gewaltige Bestellungen. Phantastisch
kurzbemessene Lieferungstermine. Atemlose Hetze des Unternehmers nach
Verdienst. Sein oder Untergang.

Das Tempo eines Kartonnagenarbeiters, der, wenn er das Allernötigste
verdienen will, jetzt nicht mehr in zwölf Minuten vierzehnhundertmal,
sondern sechzehnhundertmal in zehn Minuten denselben Handgriff machen muß,
kann der Beschädigte, auch wenn ihm nur ein halber Finger fehlt, nicht
einhalten.

Das Mitleid mit den invaliden Vaterlandsverteidigern fliegt weg. Das Wort
des Kaufmanns >Das Leben geht weiter< schlägt seinen Bogen über die
Enterbten des Lebens.

Und gegen die verkrüppelten Kopfarbeiter -- Lehrer, Wissenschaftler, Bank-,
Magistrats- und Staatsbeamten -- holt das Leben von einer andern Seite her
aus: junge, streng erzogene Bürgermädchen vertrauen einander freimütig den
Entschluß an, Krüppel zu heiraten, um versorgt zu sein, und sich dann an
den Gesunden, die zu selten und nicht zu haben sind, schadlos zu halten.
Das werde jeder Mensch begreifen.

Der verstümmelte junge Kaufmann steht noch im kostbar und geschmackvoll
eingerichteten Vorraume des Geschäftspalastes. Sieht, wie eine jener
vornehmen Damen vorfährt, vom Besitzer devot empfangen wird. Und begreift
in einer Sekunde, daß das Leben weitergeht. Sein knabenhafter Glaube an die
strömende Dankbarkeit gegenüber den tapferen Opfern des Krieges fliegt weg,
als er die Verbeugung und das zerfließende Gesicht des Geschäftsinhabers
sieht, hinter dessen Rücken das Unternehmen zittert und wackelt und die
gewaltigen Steuern und die rücksichtslos strebende Konkurrenz grinsen.

Die heimatlosen, alternden Landstreicher, die Leierkastenmänner, die
Straßensänger, die verkrüppelten Bettler, die an der Hausmauer auf dem
Pflaster hocken und den Filz vorstrecken, sind keine aussterbenden
Erscheinungen einer alten Zeit mehr, sondern zählen nach Hunderttausenden
und sind deshalb von Geldsorgen und gewaltiger Konkurrenz nicht weniger
hart bedrängt, als der Besitzer des Geschäftspalastes.

»Ich habe >Uu!< geschrien. Tag und Nacht >Uu!< geschrien. Das half mir«,
erzählt in der Stadtbahn der verstümmelte Kaufmann einem jungen Burschen.

Der Stabsarzt nennt seinen Namen. Wird erkannt. Und läßt sich die Adresse
des Verstümmelten geben. Nichts sonst wird gesprochen. >Ist auch nicht
nötig<, fühlen beide.

Es liegt in der leidgesättigten Zeit, daß Dinge, die früher erklärt werden
mußten, jetzt als Selbstverständlichkeiten ohne Erklärung von manchen
Leuten begriffen werden.

Die Absicht, die den Stabsarzt veranlaßt, in Fühlung zu bleiben mit den
dreihundertfünfzehn revolutionierten, invaliden Soldaten, die in Berliner
Irrenhäusern, Krankenhäusern und zum Teile bei ihren Angehörigen
untergebracht sind, führt ihn auch mit dem Kellner zusammen.

Der Kellner sagt unvermittelt: »Uns alle wird man hinrichten . . . vorher.«
Und das kleine Lächeln zeigt seine absolute Bereitschaft zum Sterben für
die Idee.

Die Stille steht im Zimmer.

»Sehen Sie«, sagt der Stabsarzt, »das können die Herren heute nicht mehr
wagen; sie wissen, daß für jeden Platz, der heute auf diese Weise frei
wird, sofort hundert Anwärter da sind, hinter denen Millionen Anhänger
stehen. Heute ist das so . . . Auch der mutige Sozialdemokrat sitzt nicht
umsonst im Zuchthause; dieses Ereignis bohrt in hunderttausend Köpfen.«

Der Zwanzigjährige sagt: »Zum Beispiel könnte man die ganz hartnäckigen
Untertanen auch auffordern: gut, stellt euch einmal glatt auf den
Standpunkt der Regierung: >Kriege müssen sein. Sieg bringt Macht und
Reichtum<. Und jetzt betrachtet das Resultat: Millionen Tote, Millionen
Krüppel, Elend und Leid in jedem Hause, in jeder Familie, ein
ausgehungertes Volk, hundert Milliarden Schulden, für die wir, unsere
Kinder und Kindeskinder die Zinsen erarbeiten sollen. Und die ganze Welt
gegen uns . . . Und jetzt fragt euch: hätten zwölf Männer, die aus dem
Vertrauen der Massen emporstoßen, das nicht verhindern können? Nicht
verhindern können, daß die ganze Welt gegen uns aufsteht? Besitzen diese
Männer aus dem Volke nicht soviel einfache Lebensklugheit, daß sie diesen
Krieg und den Zusammenschluß der ganzen Welt gegen uns hätten verhindern
können?«

Der verstümmelte junge Kaufmann tritt ein; er kommt von der Unterredung mit
dem Besitzer des Geschäftspalastes, erzählt sachlich, was er eben erlebt
hat. Und geht wieder.

>Solche und Milliarden ähnliche Erlebnisse, dazu der Hunger, die
phantastischen Steuern und Milliarden andere Erlebnisse<, denkt der
Stabsarzt und denkt an die >Metzgerküche<, >ballen sich zusammen . . . Und
platzen endlich.<

Jemand sagt: »Wirklich, eine Sekunde spielt jetzt labil im Raume, schwebt
jetzt labil zwischen zwei Ewigkeiten. In dieser Sekunde geschieht der neue
Anfang.«

Und der Stabsarzt denkt: >Man kann nur auf die Sekunde warten, lauern, in
der das Leid so ungeheuer geworden ist, daß das Volk nicht mehr nur leidet,
sondern auch darüber nachzudenken beginnt, was und wer dieses ungeheuere
Leid verursacht hat. Man muß fühlen, wann dieser Augenblick da ist. Dann
muß man die Sekunde aufreißen. Den letzten kleinen Stoß geben.< Er denkt
brennend an die zwischen zwei Ewigkeiten labil spielende Sekunde, der sich
die Ereignisse nähern. >Vielleicht schon morgen? In einem Monat? In einem
Jahre? In einer Woche? . . . In einer Woche?<

Der Zwanzigjährige bemüht sich, den Gedanken zu formulieren, daß die
Bewegung nicht vom Hunger -- »wenigstens nicht vom Hunger allein« -- ihren
Antrieb bekommen dürfe. »Das ist nicht durchgreifend genug und reicht nicht
weit . . . Dreht sich ins Alte zurück.«

»Der Mensch ist gut«, sagt der Kellner. »Das Gute im Menschen und das
unermeßlich furchtbare Leid werden die Bewegung verursachen.«

>Die Leidtragenden<, denkt der Stabsarzt, denkt an die
zweitausendfünfhundert Kilometer amputiertes Menschenglied.

Und der Kellner sieht die Agentenwitwe, die fanatisierten Kriegswitwen. Er
sieht die Mutter, die den gekreuzigten Sohn dem gewaltigen Zuge der Mütter
voranträgt.

Alle schweigen. Alle glauben an die Sekunde.

Und plötzlich gewähren alle den Anblick von zertrümmerten Kindheiten, von
seelisch restlos erschöpften Menschen, denen nichts mehr geblieben ist, als
ihre Idee und der Ausblick in die nahe Zukunft.

Da tritt dieser Mensch ein, über den ein Wort auszusagen, dessen Namen zu
nennen, keine Tortur der Welt von den im Zimmer Versammelten erzwingen
kann.

Und draußen in den Straßen der Millionenstadt, in allen Häusern aller
Städte, in allen Dörfern arbeitet das Leid, rundet sich die Zeit, rollt der
Sekunde entgegen.

Massenstreike, nicht nur vom Hunger verursacht, entstehen von einem Tage
zum andern, brechen aus, brauchen nicht gemacht, nicht organisiert zu
werden. Sind da. Plötzlich legen Hunderttausende das Werkzeug hin. Trotz
des raffiniert und glänzend organisierten Zwanges, ruhen die Maschinen.

Aus jedem Fenster jeden Hauses schaut dunkel das Leid heraus. Es gibt
keinen Pflasterstein mehr, der nicht schon vom Leide berührt worden ist.
Denn es gibt keinen Menschen mehr, den das Leid nicht schon getroffen hat.
Und verwandelt hat.

Und das Ungeheuerste wird zum Ereignis: es kommt vor, daß man auf der
Straße Menschen begegnet, denen man ansieht, daß sie nicht nur leiden,
sondern auch . . . denken.

Der Stabsarzt auf Urlaub, immer unterwegs, von Krankenhaus zu Krankenhaus,
von Krüppel zu Krüppel, blickt auf der Straße die Menschengesichter an und
denkt: >Der Geist bricht los. Und wo der Geist losbricht und Macht und
Wirkung erlangt, gehen die Herren der Gewalt von selbst . . ., wenn sie
klug sind.<

                   *       *       *       *       *

Seismographen, die ausschlagen, noch bevor das Erdbeben Ereignis ist, gibt
es nicht. Es gibt Seelenseismographen, Menschen, die fühlen, wann die
Sekunde da ist, in der das verhärtete, versteinerte Leid eines ganzen,
niedergehaltenen, unermeßlich gequälten Volkes plötzlich in Fluß gerät und
die Dämme des organisierten Zwanges, der Gewalt, der Lüge, der Autorität,
der falschen Pflicht sprengt.

An diesem Tage reißt der Stabsarzt die erste Sekunde des neuen Zeitalters
auf:

mit einem Krüppelzuge, der schon früh um neun Uhr aus zwanzigtausend
amputierten Soldaten besteht.

Eine halbe Stunde später fünfzigtausend; das Leid schmettert die
niedergehaltenen, plötzlich fanatisierten Arbeitermassen in den Zug hinein.
Jedes Lazarett am Wege wird vom vorüberwallenden Krüppelzuge ausgesaugt.

Blinde, die Hand auf den Schultern der Armlosen. Irre, die, ernst und
schweigend, aufgeregt sprechend, gläubig lächelnd, mitgehen. Beinlose in
Selbstfahrern. Zwischen Krücken rhythmisch baumelnde Soldatenkörper. Hinken
der Invaliden. Stampfen der Stöcke, Krücken und Kunstbeine auf dem Asphalt.

Ein grauer Zug. Stiller Zug. Endlos. Langsam durch die Straßen. Nicht einem
Ziele zu. Sie bewegen sich im Ziele. Tragen das Ziel in sich. Sind selbst
das Ziel: denkende Seelenträger.

Sie sprechen nicht. Beratschlagen sich nicht. Das verlorene Augenlicht, die
Gliederstumpfe, der entschwundene Verstand, das losgebrochene Leid des
ganzen Volkes spricht: lehrt allen leiddurchseuchten Zuschauern,
Spaziergängern und Geschäftigen in einer Sekunde das ABC: >Einander zu
erschlagen, einander zu zerfetzen, ist der Sinn des Lebens nicht.<

Bei den Zuschauern platzt die dünne Haut. Ekstase flammt. Schreie steigen.
Die Wahrheit gerät in Fluß. Die Seele tagt. Und reiht die Träger der
befreiten Seele ein in den Zug.

Kein Mensch bleibt zurück. Die durchkrückten Straßen sind leergesaugt.

Kleine Trupps stoßen aus den Nebengassen im Laufschritt auf den Zug zu.

Siebzig Fensterausschnitte eines Lazarettes, dicht ausgefüllt mit den
Köpfen heißblickender Soldaten, werden plötzlich siebzig leere, schwarze
Löcher: und dreihundert Krüppel und Invalide, noch in der blauweiß
gestreiften Anstaltskleidung, humpeln, hinken, schwanken, krücken mit dem
Zuge.

Kinder, auf dem Wege in die Schule, verlängern den Zug. Verzweifelte, auf
dem Wege zur Kirche, verlängern den Zug. Die Bewohner der engen Gassen, in
denen der Gestank der Armut steht, verlängern den Zug. Aus den
Parterrefenstern einer Fabrik springen die Arbeiter heraus.

Zwei Regimenter siebzehnjähriger Infanteristen, auf dem Wege zum
Religionsunterricht, werden geschluckt.

Dem Zuge voran fährt langsam ein flacher Lastwagen, auf dem sonst
mehlgefüllte Säcke transportiert werden. Zwölf kräftige Männer, die
zusammen fünf Arme und sieben Beine haben, stehen und sitzen auf dem Wagen.
An der Längsstange, an der sonst das zum Schutze für das Transportgut
bestimmte Segeltuch befestigt ist, hängen große, farbige Papierlampions.
Blau. Rot. Grün. Violett. Rot. Eine Reihe schaukelnder, erleuchteter
Papierlampions. Auch die Sonne leuchtet.

Der Atmende, dem ein Geschoß den Magen und das Zwerchfell verletzt hat, ist
um acht Uhr früh verendet. Sein noch uniformierter Leichnam sitzt neben dem
Kutscher auf dem Bocke. Die angebundene Leiche wackelt. Das Gesicht ist
weißlich-grün. Die toten Augen sind offen.

Von der Stange, an der die leuchtenden Papierlampions schaukeln, hängt ein
Seil herunter; und in der Schlinge, die unter den Armen um die Brust
herumgelegt ist, hängt der Soldat, der kein Kinn, keinen Mund, keine Nase,
keine Augen, kein Gesicht mehr hat. Links von ihm hängt ein Seil herunter,
das den >Rechten Menschenwinkel< hält. Er stützt sich auf seine fünfzig
Zentimeter hohen Spazierstöckchen. Die Asphaltstraße gleitet vorüber unter
seinem Gesicht, das der Krieg horizontal gestellt hat.

In der Mitte hockt der Rumpf erhöht auf einem thronartigen Aufbau mit
Rückenlehne, an welcher der Rumpf festgeschnallt ist. Der Rumpf ist nackt.
Eine Infanteristenmütze sitzt schief auf seinem Kopfe. Die inkarnierte
Liebe lebt in seinen tiefen, ruhigen Augen.

Untertanen, die ihn erblicken, bekommen weiße Lippen, erleben die Sekunde.
Menschen, die ihn erblicken, brüllen auf und brechen brüllend in die Knie.
Eine Katze faucht entsetzt den Rumpf an und rettet sich unter den Wagen.
Kinderhänden entfallen die kleinen Spielzeug-Degen, die Schießgewehrchen
aus Blech. Elegante Damen brechen im Weinen zusammen und erheben sich als
Magdalenen.

Jesus-Christus allein hat, als er am Kreuze hing und für die Menschheit
starb, im Leiden so tiefstes Glück der Liebe empfunden, wie der nackte, von
farbigen Lampions beleuchtete, auf den Thron des Krieges festgeschnallte
Rumpf empfindet.

Schutzleute erbleichen, erlahmen, erleben die Sekunde. Sein Anblick saugt
die Straße leer. Saugt die Menschen aus den Häusern heraus. Aus den
Ladengeschäften heraus. Aus der Lüge heraus. In die Wahrheit, in die Liebe
hinein.

Es gibt keinen Soldaten, der den Befehl, auf den Rumpf zu schießen,
ausführt. Die Division, die hineinschießt in den Zug der Krüppel, in den
Zug der Kameraden, gibt es nicht.

Die Rolläden der Geschäfte, an denen der Zug vorüberwallt, rasseln
herunter. Ladnerinnen, Hausdiener, Liftjungen schließen sich an. Staunende
Kommis zögern, begreifen das Ereignis, daß die vom Leide durchstürmten
Bewohner der Millionenstadt in Bewegung geraten sind, und schließen sich
an.

Der Zug schließt die Werkstätten, schließt die Büros, schließt die
Geschäfte, schließt die Fabriken. Der Zug zieht durch lange
Geschäftsstraßen, in denen er noch nicht gewesen ist. Und doch sind alle
Rolläden schon heruntergelassen. Das Ereignis fliegt dem Zuge voraus. Es
gibt in der ganzen Stadt keinen Menschen mehr, dessen Seele nicht schon
berührt worden ist von dem Ereignis.

In den Vorstädten bilden sich schnellmarschierende Züge, die zum Hauptzuge
stoßen.

Aus den letzten Fabriken brechen die Arbeiter aus: Fanatismus in den
ölverschmierten, rußigen, bleichen Gesichtern; Hämmer und kleine, spitzige
Dreikantfeilen in den Fäusten.

Dieser Mensch, der zum Kellner ins Zimmer getreten ist, spricht zu den
Arbeitern. Und sie legen, von der Macht des Geistes berührt, Hämmer und
Dolchfeilen weg, auf den Wagen, von dem der Rumpf pyramidisch aufsteigt als
nacktes Symbol des Krieges.

Gewaltige Züge leiddurchtobter Mütter, Kriegswitwen, Väter, Bräute stoßen
im Eiltempo durch die Menge, lösen sich auf, bilden sich neu.

Die Knechte der Liebe verlassen die aufspringenden Zuchthauszellen und
stoßen, geführt von dem Einen, dessen Namen die ganze Menschheit kennt und
ehrt, zum Zuge.

Die breiten, unübersehbar langen Asphaltstraßen sind zu schmal und zu kurz
für den Zug. Der Zug schwillt von Sekunde zu Sekunde. Strömt über. Steht.
Ist kein Zug mehr. Alle Straßen stehen voll Menschen.

Die entfesselten Bewohner der Millionenstadt stehen.

Um fünf Uhr nachmittags fliegt die Nachricht von Herz zu Herz, daß auch in
den großen Provinzstädten das Leid geplatzt ist und die Menschen
zusammengeschweißt hat in Züge von Frauen, die ihre Männer, von Müttern und
Vätern, die ihre Kinder, von zahllosen Kindern, die ihre Väter, von
Soldaten, die ihre Glieder, von Blinden, die das Augenlicht, von Irren, die
den Verstand verloren haben.

Das ganze vergewaltigte Volk steht.

Die uniformierte Leiche des Atmenden auf dem Bocke glotzt tot und wackelt.
An seinem Seile schwankt rhythmisch der rechte Menschenwinkel. Der Krieg
ist plakatiert auf der Riesennarbe, die an der Stelle des Menschengesichtes
grinst. Der nackte Rumpf thront erhöht und blickt die Menschheit an.

Der Anblick der hunderttausend Krüppel reißt die Untertanen hoch ins
Menschentum. Leidausströmende Freiheitsschreie ordnen sich zu
Liebesgesängen. In den Gesängen der Liebe pulst die Ekstase der
Verbrüderung und Freiheit.

Die vom Blitze der Liebe getroffene, erleuchtete und dem Zwange entrissene
Militärwache des Gebäudes, in dem der Herr und alle Machthaber versammelt
sind, wird aus der Wachstube herausgesaugt und geschluckt vom Krüppelheere
der Kameraden, in deren Augen die Freiheit brennt.

Dieser Mensch, der zum Kellner ins Zimmer getreten ist, geht ganz allein
durch das Tor. In das Gebäude hinein.

In dieser weißen Sekunde wird es vor dem Gebäude totenstill.

Die Stille wirft Wellen, breitet sich aus; eine Bewegung zieht über den
Platz:

die Menge, die Menschheit steht, steil durchstoßen und im Tiefsten berührt
von dem Triumphe, das zukünftige Geschehen in das Zeichen der großen Liebe
gestellt zu haben, und blickt empor zum Fenster, an dem, neben einer
Uniform und den Gesichtern der Machthaber, der Mensch erscheint und
herunterdeutet.

Der Atem setzt aus.

Der Mensch tritt vom Fenster zurück. Die Gesichter verschwinden. Die
Uniform verschwindet.

Verschwindet aus der Welt.

Minuten später telegraphieren die vor den Morse-Apparaten sitzenden
Beamten, die kurz vorher noch Bekanntmachungen, Erlasse, Befehle,
Zwangsverordnungen in das gemarterte Volk hineingestoßen haben, die Namen
der neuen Männer: den Aufstieg der Freiheit und der Liebe ins Land.




Inhalt:

   Der Vater                7
   Die Kriegswitwe         23
   Die Mutter              72
   Das Liebespaar         113
   Die Kriegskrüppel      146







   Von _Leonhard Frank_ erschienen
   bei Georg Müller, München:

   _Die Räuberbande_
   Roman, Zehntes Tausend

   _Die Ursache_
   Erzählung, Zehntes Tausend





End of the Project Gutenberg EBook of Der Mensch ist gut, by Leonhard Frank

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1.F.1.  Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
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Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation information page at www.gutenberg.org


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at 809
North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887.  Email
contact links and up to date contact information can be found at the
Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]

Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit:  www.gutenberg.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For forty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     www.gutenberg.org

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