Aus meinem Leben

By Melchior Vischer

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Title: Aus meinem Leben

Author: Melchior Vischer

Editor: Max Bergmann

Release date: January 7, 2025 [eBook #75055]

Language: German

Original publication: Berlin: Verlag von Julius Springer, 1922

Credits: Peter Becker, Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS MEINEM LEBEN ***



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                    Anmerkungen zur Transkription:

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen;
lediglich offensichtliche Druckfehler sind korrigiert worden.

Gesperrt gedruckter Text ist ~so gekennzeichnet~.

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                    [Illustration: _Emil Fischer_]


                             EMIL FISCHER
                           GESAMMELTE WERKE

                     HERAUSGEGEBEN VON M. BERGMANN




                           AUS MEINEM LEBEN


                          MIT DREI BILDNISSEN


                            [Illustration]


                                BERLIN
                    VERLAG VON JULIUS SPRINGER
                                 1922




                           AUS MEINEM LEBEN

                                  VON

                             EMIL FISCHER


                            [Illustration]


                                BERLIN
                    VERLAG VON JULIUS SPRINGER
                                 1922




            ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG
                   IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN.
             COPYRIGHT 1922 BY JULIUS SPRINGER IN BERLIN.




                       Vorwort des Herausgebers.


Der Unterzeichnete steht im Begriff, die wissenschaftlichen Schriften
~Emil Fischers~ zu einer Gesamtausgabe zusammenzufassen. Ihr mögen
gleichsam als Einleitung einige persönlich gehaltene Worte des
Forschers vorausgeschickt werden, seine Lebenserinnerungen. Das
Manuskript verdanke ich der Freundlichkeit seines Sohnes, Dr. ~Hermann
Fischer~. Die vorliegende Fassung ist im Jahre 1918 während zweier
Genesungsreisen nach Locarno und Karlsbad unmittelbar niedergeschrieben
worden mit der Absicht, weitere Arbeitspausen zur Fortsetzung zu
benutzen. Dazu ist es aber nicht mehr gekommen.

So mag das vorliegende Bändchen den Freunden ~Emil Fischers~ als
letzter Gruß des Scheidenden gelten. Ich bin gewiß, es wird im Verein
mit dem Lebensbild, das Professor ~K. Hoesch's~ Künstlerhand soeben
gezeichnet hat, dem verstorbenen Meister neue Freunde gewinnen.

~Berlin~, im November 1921.

~M. Bergmann.~


                 Geschrieben in dem Unglücksjahre 1918




                          ~Aus meinem Leben~




  Mußt Du Gram im Herzen tragen
  Und des Alters schwere Last,
  Rufe Dir aus jüngeren Tagen
  Die Erinnerung zu Gast!

  (~Kußmaul~)


In der fruchtbaren Ebene, die nach Süden vom Vorgebirge der Eifel und
im Osten von dem Villegebirge begrenzt ist, liegt die kleine Kreisstadt
Euskirchen, mein Geburtsort, nur wenig entfernt von dem Erftfluß, der
in der Eifel entspringt und zu Neuß in den Rhein mündet.

Die Stadt wird durchflossen von mehreren Bächen, die den dort
heimischen Industrien sehr zustatten kommen und uns Knaben reichlich
Gelegenheit zur Übung von Wasserkünsten gaben.

Sie zählte vor 60 Jahren etwa 3500 Einwohner, von denen wohl die Hälfte
vom Ackerbau lebte, der sich in der fruchtbaren Umgebung lohnte.
Außerdem gab es eine alte Tuchindustrie, die vorzugsweise für den
Heeresbedarf arbeitete und die in den Kriegsjahren 1864/66 und 1870
durch die zahlreichen »Kommiß«-Lieferungen der Stadt viel Wohlstand
brachte. Weniger lohnend war der Betrieb mehrerer Gerbereien, welche
die in den benachbarten Wäldern reichlich vorhandene Eichenrinde
verarbeiteten. Endlich war die Stadt der Mittelpunkt des Kleinhandels
für die ländliche Umgebung und hatte den Vorzug, auf 30 km ohne
Konkurrentin zu sein. Diese günstige Lage hat Euskirchen später
zum Eisenbahnknotenpunkt gemacht und ihm eine rasche vorzugsweise
industrielle Entwicklung gebracht. Der Bau der ersten Eisenbahn, die um
das Jahr 1862 eröffnet wurde, war für die ganze Bevölkerung und nicht
am wenigsten für die Jugend ein staunenerregendes Ereignis. Dasselbe
galt für die Anlage der Gasbeleuchtung, die ungefähr in die gleiche
Zeit fiel.

Die Stadt war in früheren Jahrhunderten befestigt und die alten Mauern
mit Türmen, Wällen und Wassergräben waren in meiner Jugend noch
teilweise erhalten. Sie haben uns viel Kurzweil bei unseren Spielen
verschafft. Besonders vertraut war uns der sogen. Judenwall, wo wir
uns spielend und auch den Boden durchwühlend öfters herumtrieben und
von wo aus wir staunend Einblick in den Betrieb einer tiefer gelegenen
Gerberei hatten.

Mein Elternhaus lag einige Minuten vor der alten Stadt, an der nach
Cöln führenden Landstraße. Der Gebäudekomplex bestand aus zwei
geräumigen Wohnhäusern, wovon das eine von meinem Onkel bewohnt war,
einem Geschäftshause, verschiedenen kleinen technischen Betrieben und
einigen bescheidenen landwirtschaftlichen Baulichkeiten, die einen
großen Hof umschlossen.

Dieses Ganze war umgeben von Gärten, die auf der einen Seite an einen
Bach grenzten und von einem kleinen Wassergraben durchzogen waren.

Hier bin ich am 9. Oktober 1852 geboren als letztes und achtes Kind
meiner Eltern. Von meinen Geschwistern waren ein Knabe und ein Mädchen
vorher gestorben, alle anderen waren Schwestern, von denen die älteste
mir um 14 Jahre voraus war.

Man kann sich denken, daß unter diesen Umständen meine Ankunft den
Eltern viel Freude gemacht hat, und daß mir auch später ein gewisser
Vorzug gewährt wurde.

Die Schwestern haben ihr Interesse an dem einzigen Bruder, den sie nur
den »Jungen« nannten, in der mannigfaltigsten Weise bekundet, und ich
habe mich ihrer Erziehungskünste des öfteren erwehren müssen, so daß
eine gewisse Abneigung gegen junge Damen bei mir über die Knabenjahre
hinaus hängen blieb.

Glücklicherweise waren die Verhältnisse in dem Hause meines Onkels, das
nicht allein durch den Hof, sondern auch durch den Speicher und einen
besonderen Korridor mit unserm Hause in direkter Verbindung stand,
gerade umgekehrt; denn es gab dort fünf Söhne und eine Tochter, die
merkwürdigerweise wie ich die Jüngste war.

Wenn mir die allzu weibliche Behandlung im eigenen Hause zu viel wurde,
so zog ich mit Erlaubnis der Eltern für einige Tage ins Nachbarhaus,
bis ich dort durch reichliche Prügel von seiten der stärkeren Vettern
belehrt, wieder in die mildere Atmosphäre des eigenen Heims gerne
zurückkehrte.

Mein Vater ~Laurenz Fischer~ betrieb zusammen mit seinem Bruder
~August~ ein kaufmännisches Geschäft, hauptsächlich in Kolonialwaren,
Wein und Spirituosen. Außerdem besaßen sie eine Wollspinnerei, die aber
auf einem Dorfe Wißkirchen, etwa eine Stunde von Euskirchen, gelegen
war und ursprünglich mit Wasserkraft, später mit Dampf betrieben wurde.

An dem gesamten Geschäft war noch ein anderer Onkel, ~Friedrich Arnold~
beteiligt, der in Flamersheim, dem Stammsitz der Familie, wohnte und
dort das vom Großvater her stammende Anwesen verwaltete.

In der eben geschilderten Umgebung zu Euskirchen habe ich eine
überaus glückliche Jugend verlebt. Der Betrieb des kaufmännischen
Geschäfts, das die Krämer der Umgegend bis weit in die Eifel hinein
mit Waren versorgte, brachte reges Leben mit sich. Der Verkehr im
Kontor, den Lagerräumen und auf dem Hofe hat mich lebhaft erinnert
an die Schilderungen, die ~Gustav Freytag~ in dem Roman »Soll und
Haben« von dem Kaufmannshause zu Breslau entwarf. Allerdings waren die
Verhältnisse bei uns trotz des Wohlstandes der Firma bescheidener.
Aber dafür war das Ganze in sehr viel heiterere Farben gekleidet.
Die lebhafte Art der rheinischen Bevölkerung und die glückliche
humoristische Veranlagung der Geschäftsinhaber gaben sich trotz
der sehr geordneten, nach den strengen Grundsätzen kaufmännischer
Ehrbarkeit geregelten Geschäftsführung in zahlreichen munter und
scherzhaft geführten Gesprächen kund.

Ein kleiner landwirtschaftlicher Betrieb, der im wesentlichen die
Bedürfnisse des eigenen Hauswesens befriedigte, trug dazu bei, das
Gesamtbild mannigfaltiger und für uns Kinder interessanter zu gestalten.

Man denke sich dazu zwölf jugendliche Personen, die auf dem Hof und
in den Gärten eine einzige Familie bildeten und die später, als meine
Schwestern verheiratet waren, noch durch Enkel vermehrt wurden, und man
wird sich eine Vorstellung machen können von der vielfachen Kurzweil,
die wir alle in diesem Kreise gefunden haben.

In der früheren Jugend waren es Spiele verschiedener Art, vom Ballspiel
bis zum Indianerwigwam, vom Fisch- und Vogelfang bis zum Bivouak, dann
Kämpfe der verschiedensten Art unter uns Knaben oder in geschlossener
Phalanx gegen feindliche Kräfte. Die Schlachten, in denen man sich
nicht allein der Fäuste und Stöcke, sondern auch des Steinwurfs und der
Schleuder bediente, arteten zuweilen bis zur Lebensgefährlichkeit aus
und mußten dann durch den Eingriff von erwachsenen Personen beendet
werden.

Mit dem zahlreichen Dienstpersonal, besonders mit den Knechten,
standen wir auf vertrautestem Fuße, und die Unterhaltung wurde hier
ausschließlich in dem derben niederrheinischen Dialekt geführt.
Selbstverständlich hatten wir alle Spitznamen. Ich wurde »Baron«
genannt, ob wegen des üppigen Ernährungszustandes oder wegen der
besseren Kleidung, ist mir immer ein Geheimnis geblieben.

Von Verzärtelung war weder in körperlicher noch seelischer Beziehung
die Rede. In leichtester Kleidung schlugen wir uns tapfer durch den
Winter, und die einzigen Schmerzen, deren ich mich aus der frühen
Jugend erinnere, kamen von Panarizien an verletzten Fingern oder von
erfrorenen Füßen oder von Stiefeln, die durch Schneewasser hart und eng
geworden waren.

Beim Eissport bin ich mehrmals eingebrochen, einmal sogar in eine
Jauchengrube bis über den Kopf eingetaucht, und als ich in diesem
Zustande nach Hause kam, stark beschmutzt und übel duftend, wurde ich
trotz der scharfen Kälte außerhalb des Hauses ausgezogen. Alles das
ging ohne Schaden vorüber.

Ein anderes Mal fiel ich von einem mit Wollballen beladenen Wagen
kopfüber auf das Pflaster des Hofes und kam mit einer ziemlich tiefen,
stark blutenden Kopfwunde ins Haus. Dort begrüßte man mich mit den
tröstlichen Worten: »Besser ein Loch im Kopf als in der Hose.«

Allerdings gab es auch ernstere Unfälle. Beim Spielen mit Pulver wurde
ich durch den Leichtsinn eines Kameraden im Gesicht und am Kopf stark
verbrannt. Diesmal gab es einen größeren Schrecken, denn als ich mit
geschlossenen Augen, geführt von einer alten Frau vor meiner Mutter
erschien, hielt sie mich für erblindet und brach in lautes Schluchzen
aus. Glücklicherweise ging aber das Unglück wiederum bei guter
ärztlicher Behandlung ohne dauernden Schaden vorüber, und ich hatte
noch die Genugtuung, bei hartnäckigem Schweigen keinen Mitschuldigen
verraten zu haben. Das Gefühl der Solidarität war bei uns Knaben
überhaupt in hohem Maße entwickelt, besonders galt das auch in der
Schule, wo jede Lüge in unseren Augen gerechtfertigt war, wenn sie dazu
diente, Kameraden vor der Strafe zu schützen.

Es war damals Sitte, die Kinder schon mit fünf Jahren zur Schule zu
schicken, und dasselbe Schicksal wurde auch mir zuteil; denn einen Tag
nach meinem 5. Geburtstage wurde ich von meinen älteren Schwestern mit
zur Schule genommen.

Da die Volksschule meiner Vaterstadt unter dem Einfluß der
katholischen Geistlichkeit stand und über den kirchlichen Übungen
der eigentliche Unterricht vernachlässigt wurde, so hatte mein
Vater eine protestantische Privatschule ins Leben gerufen und dafür
glücklicherweise einen ausgezeichneten Lehrer, Herrn ~Vierkoetter~
gewonnen. Dieser unterrichtete die Kinder von 5 bis 14 Jahren in einem
Raum. Eine strenge Einteilung in Klassen gab es nicht. Trotzdem war der
Unterricht in allen Elementarfächern ausgezeichnet, sodaß sowohl meine
Schwestern wie ich beim Eintritt in andere Schulen den Altersgenossen
im Wissen voraus waren. Der Lehrer ging sogar so weit, die begabteren
Schüler und Schülerinnen in euklidischer Mathematik zu unterrichten,
und es erregte in späteren Jahren große Heiterkeit, als meine
Schwester ~Fanny~ ihrem Gatten, einem Holzhändler, in dessen Geschäft
die Ausziehung einer Kubikwurzel unerwarteterweise nötig wurde, aus
der Verlegenheit half, indem sie diese Aufgabe nach den bei Herrn
~Vierkoetter~ erworbenen Kenntnissen löste.

Der gute Unterricht, den wir hier genossen, war allerdings nur möglich
bei der geringen Zahl der Schüler, die kaum 20 überstieg; denn die
Schule wurde ursprünglich nur von Kindern der wenigen protestantischen
Familien und einigen Judenkindern besucht. Erst später baten auch
einzelne aufgeklärte Katholiken um die Erlaubnis, Kinder dorthin
schicken zu dürfen. Das war zu der damaligen Zeit schon ein kleines
Wagnis; denn der Gegensatz zwischen den beiden Konfessionen war
recht stark und machte sich namentlich auch für uns Kinder häufig
in recht unangenehmer Weise bemerkbar. Als sogen. Blauköpfe, auch
kalvinische Kalbsköpfe, wie wir Protestanten genannt wurden, haben
wir Fischer-Jungen manche Prügel einstecken müssen, wenn die Überzahl
der katholischen Knaben eine erfolgreiche Verteidigung aussichtslos
erscheinen ließ.

Bei anderer Gelegenheit, wo wir nicht vereinzelt, sondern als
gesammelte Macht auftreten konnten, ist uns aber auch mancher Sieg
zuteil geworden. Bei diesen Heldentaten spielte in der Regel die
Hauptrolle mein Vetter ~Lorenz Fischer~, der später auch im Kriege
1870 als Soldat und außerdem im Zivilleben als Jäger hervorragende
Leistungen aufwies.

Als ich 9 Jahre alt wurde, gab der Lehrer ~Vierkoetter~ seine Stellung
in Euskirchen auf, weil ihm der viel einträglichere Posten eines
Inspektors an der Besserungsanstalt zu Brauweiler übertragen wurde.

Ich trat deshalb in die höhere Bürgerschule meiner Vaterstadt
über, welche, wie die damaligen Progymnasien, 4 Jahresklassen mit
lateinischem, griechischem und französischem Unterricht umfaßte. Sie
war in den Nebenräumen der Klosterkirche untergebracht und stand unter
Leitung katholischer Priester. Der Rektor, Kaplan ~Heine~, war eine
ausgeprägte Persönlichkeit, tyrannisch, jähzornig, aber trotz alledem
ein recht guter Lehrer, der auch auf seine Kollegen anregend wirkte und
damit der Schule in bezug auf Leistungen eine ebenbürtige Stellung mit
den staatlichen Gymnasien verschaffte.

Die Handhabung der Schuldisziplin war allerdings recht willkürlich, und
mir passierte eine Ungerechtigkeit, die mir zum erstenmal den großen
Wert väterlichen Schutzes zum Bewußtsein brachte.

Ein Mitschüler, namens ~Flecken~, bekannt durch Gewalttätigkeit,
hatte mir ohne jeden Grund ein Spielzeug entrissen und in den Schmutz
geworfen. Ich beantwortete diese Herausforderung, indem ich ihm die
Mütze vom Kopfe riß und in denselben Schmutz hineinwarf. Er ließ sie
trotzig liegen und erstattete dann beim Rektor ~Heine~ die Anzeige
meiner angeblichen Missetat. Meine Entschuldigung, daß ich der
Angegriffene gewesen sei, wurde kaum angehört, und ich erhielt den
Befehl, die Mütze in ordnungsmäßigem Zustand wieder herbeizuschaffen.
Das war aber nicht möglich, da sie inzwischen von fremder Hand
entwendet war. Infolgedessen erhielt ich zunächst eine Arreststrafe, so
daß ich nicht zum Mittagessen gehen konnte und den ganzen Tag hungernd
in der Schule bleiben mußte. Als am nächsten Tage die Mütze noch
immer nicht zur Stelle war, wurde ich von dem Herrn Rektor nach Hause
geschickt mit der Bemerkung, ich sei von der Schule entlassen.

Jetzt hielt mein Vater es an der Zeit, einzugreifen, und sandte mich
am nächsten Tage mit einem Brief an den Herrn Rektor zur Schule
zurück. Ich habe den Inhalt desselben niemals kennen gelernt,
aber es mag manches kräftige Wörtlein drin gestanden haben von
willkürlicher Behandlung des kindlichen Streites und vom Appell an
die Staatsregierung, falls der Rektor seinen ganz ungesetzlichen
Ausweisungsbefehl aufrechterhalte.

Die Wirkung dieses Briefes war in der Tat erstaunlich. Ich konnte ruhig
meinen Platz in der Schule wieder einnehmen und habe mich seitdem einer
guten und gerechten Behandlung erfreut. Ja, ich kann sogar sagen,
daß ich mit dem Herrn Rektor später auf recht gutem Fuße stand; denn
er liebte wie ich die Mathematik und er freute sich, mir schwierige
Probleme klar zu machen. Ich habe ihm ein besseres Gedenken bewahrt als
den meisten anderen Lehrern aus der Gymnasialzeit.

Noch nicht 13 Jahre alt wurde ich aus der Tertia der letzten Klasse
der Schule mit einem guten Zeugnis entlassen und mußte nun auf ein
Gymnasium übertreten.

Bis dahin waren alle Söhne der Familie, die sich höheren Studien
zuwenden wollten, in das Gymnasium der früheren Universitätsstadt
Duisburg eingetreten, da es unter protestantischer Leitung stand, einen
guten Ruf genoß und auch nicht allzu weit von unserer Heimat entfernt
war.

Aber unglücklicherweise war es kurz vorher meinem Vetter ~Ernst
Fischer~ auf der Sekunda dieses Gymnasiums schlecht ergangen; er war
bei einem kleinen Verstoß gegen die Schulregeln ertappt und zu einer
verhältnismäßig hohen Karzerstrafe verurteilt worden.

Da die Strafe auch von unseren Eltern als zu hart angesehen wurde,
so nahm man ihn von der Schule weg und diese kam dann überhaupt
für unsere Familie in Verruf. Es wäre nun für uns am einfachsten
gewesen, ein Gymnasium in Köln, Bonn oder Aachen zu wählen, aber
meine Eltern und ganz besonders meine Mutter legten Wert darauf, daß
wir eine protestantische Schule besuchten, und so fiel die Wahl auf
Wetzlar, obschon diese Stadt eine volle Tagereise von unserer Heimat
entfernt war. Um sicher zu gehen und um unseren starken Drang nach
Selbständigkeit zu schonen, rieten uns die Eltern selbst, zuvor Wetzlar
anzusehen und ein passendes Quartier auszusuchen.

So reiste ich denn in den Herbstferien 1865 mit meinem Vetter ~Ernst
Fischer~, der 4 Jahre älter war, und in Begleitung von Vetter ~Lorenz~
über Cöln nach Wetzlar. Die altertümliche Stadt gefiel uns. Wir
fanden auch bald ein nach unserem Begriff gutes und vor allen Dingen
freiheitliches Quartier bei einem Bürger, der den größeren Teil seines
Hauses an Gymnasiasten und einjährigfreiwillige Soldaten, die im
dortigen Jägerbataillon standen, vermietete.

Nach der raschen Beendigung der geschäftlichen Angelegenheit setzten
wir vergnügt unsere Reise fort über Gießen nach Frankfurt a. M. Diese
alte Stadt mit ihren vielen Sehenswürdigkeiten und historischen
Erinnerungen hat auf uns einen großen Eindruck gemacht. Aber unser
Aufenthalt erfuhr eine jähe Unterbrechung, veranlaßt durch einen Besuch
in einem Mädchenpensionat, wo meine jüngste Schwester ~Mathilde~ als
17-jähriger Backfisch zur jungen Dame erzogen wurde. Sie war außer sich
vor Freude, den Bruder und die Vettern so unerwartet wiederzusehen und
bestürmte uns sofort mit der Bitte, sie in einen Zirkus zu führen, der
damals in Frankfurt gastierte.

Die Leiterin der Pension gab nach einigem Widerstreben ihre
Einwilligung, stellte aber die Bedingung, daß wir außer der Schwester
noch eine zweite junge Dame und eine Lehrerin zur Aufsicht mitnehmen
und dann den ersten Platz besuchen müßten.

Mit vornehmer Ritterlichkeit gingen wir auf diese Bedingungen ein.
Aber die Auslagen waren für unsere bescheidene Reisekasse zu groß, und
am nächsten Morgen beeilten wir uns, die schöne aber teure Stadt zu
verlassen. Das übrig gebliebene Geld reichte noch gerade aus, um auf
den billigsten Plätzen über Mainz, dann mit dem Schiff rheinabwärts
über Bonn nachhause zurückzukehren. Es war meine erste größere Reise,
hatte 7 Tage gedauert und hinterließ bei mir einen so günstigen
Eindruck, daß die Reiselust mir bis ins Alter treu geblieben ist.

Bald darauf kam der Abschied vom Elternhause, in das ich nun viele
Jahre hindurch nur noch in den Schulferien zurückkehrte. Der
glücklichste Teil der ersten Jugend war vorüber; denn ich habe es
draußen niemals so gut gehabt, wie unter dem Schutze und in der
fröhlichen Atmosphäre des Vaterhauses.

Trotz des Wohlstandes, der von dem erfolgreichen Betrieb des Geschäftes
herstammte, war unser materielles Leben zwar recht behaglich, aber
doch einfach. Verwöhnt waren wir nur durch die gute, kräftige und
wohlschmeckende Nahrung, auf deren Zubereitung man im Rheinland damals
viel größeren Wert legte als in den meisten übrigen Teilen Deutschlands.

Auch der Wein floß reichlich in unserem Hause, in dem häufig Gäste
verkehrten. Aber es war strenge Regel, daß wir Kinder unter 14 Jahren
von dem Genuß aller geistigen Getränke ausgeschlossen wurden. Vor allen
Dingen stand das Familienleben im Zeichen der Fröhlichkeit, die durch
das Wesen meiner Eltern und ihre glückliche Ehegemeinschaft bedingt
war.




                              Die Eltern


Mein Vater ~Laurenz Fischer~ wurde am 4. November 1807 in Flamersheim
geboren, war also fast 45 Jahre älter wie ich. Seine Geburtsurkunde
ist in französischer Sprache ausgefertigt; denn damals stand das linke
Rheinufer unter französischem Regiment und die Funktionen der heutigen
Standesämter waren schon damals dem »Maire« übertragen.

Flamersheim ist ein kleiner Ort am Fuße der Eifelberge, aber noch in
der fruchtbaren Ebene gelegen, etwa 7 km von Euskirchen entfernt.

Es besaß eine alte protestantische Gemeinde mit dem Sitz des Pastors,
der zu meiner Zeit auch die kleine Gemeinde in Euskirchen mitbesorgte.
Die Protestanten waren wie überhaupt in dem katholischen Rheinlande
durchgehend gebildeter und betriebsamer als die katholische Volksmasse
und erfreuten sich deshalb auch eines verhältnismäßig großen
Wohlstandes. Ihre geschäftlichen Unternehmungen hatten auch dem Ort
Flamersheim eine über seine Einwohnerzahl weit hinausgehende Bedeutung
verschafft. Dazu kam, daß der größte Grundbesitz des Ortes, die sogen.
Burg mit dem stattlichen schloßähnlichen Wohnhause, hübschen Park und
reichen Ländereien dauernd im Besitz eines protestantischen Herrn blieb.

Der Überlieferung nach war diese Burg aus einer Meierei Karls des
Großen hervorgegangen. Sie soll zahlreiche Vorwerke gehabt haben, von
deren speziellen Aufgaben Sachverständige die Namen der umliegenden
Dörfer, wie Schweinheim (Schweine), Stotzenheim (Stuten), Roitzheim
(Rosse), Buellesheim (Bullen), Kuchenheim (Kühe) ableiteten. Ob diese
Interpretation historisch berechtigt oder ob sie ein Erzeugnis der
lebhaften rheinischen Phantasie ist, vermag ich nicht zu sagen.

Genug, dieses Flamersheim war mehrere Jahrhunderte der Sitz meiner
Vorfahren; der älteste in den Kirchenbüchern genannte ist ~Johann
Fischer~, der im Jahre 1695 fast gleichzeitig mit seiner Ehefrau geb.
~Hermany~ zu Flamersheim starb.

Mit meinem Großvater wäre beinahe der männliche Stamm erloschen.
Denn er hat erst mit 49 Jahren geheiratet, und die Familiensage
berichtet, daß diese Ehe ein zufälliges Ereignis gewesen sei. Er
lebte nämlich mit einer unverheirateten Schwester zusammen, die ihn
offenbar tyrannisierte und ihm eines Tages den Schlüssel zum Weinkeller
versagte, als er unerwartet einen Gast mitgebracht hatte. Darauf soll
er den Entschluß gefaßt haben, sich durch Heirat selbständig zu machen.
Seine Wahl fiel auf Fräulein ~Helene Conrads~ aus Mülheim am Rhein,
ebenfalls einer Kaufmannsfamilie entsprossen. Die Ehe war mit vier
Söhnen und einer Tochter gesegnet.

Mein Vater war das zweite Kind. Die beiden letzten, mein Onkel ~August~
und Tante ~Elisabeth~ kamen 1812 als Zwillinge zur Welt. Ihre Geburt
hat der Mutter das Leben gekostet. Auch der Vater ist verhältnismäßig
früh mit 61 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben.

Die fünf verwaisten Kinder würden wahrscheinlich ein trauriges
Lebenslos gehabt haben, wenn sich nicht die unverheirateten Geschwister
der Mutter, zwei Brüder und eine Schwester, ihrer in rührender Weise
angenommen hätten.

Der älteste, Onkel ~Hermann Conrads~, gab seine behagliche Tätigkeit
in Mülheim auf und zog nach Flamersheim, um den Kindern das väterliche
Geschäft zu erhalten. Er behielt die beiden jüngsten Kinder (Zwillinge)
bei sich. Die drei anderen Brüder ~Friedrich Arnold~, mein Vater und
~Otto Fischer~ kamen nach Mülheim am Rhein und wurden hier vorzugsweise
von der Tante erzogen. Diese Frau spielte in den Jugenderinnerungen
meines Vaters eine große Rolle. Sie war ungewöhnlich begabt, verkehrte
nur mit Männern, am liebsten im Disput mit Studierten, besonders
Theologen. Sie hatte sich mit der lateinischen Sprache vertraut gemacht
und wollte im Alter sogar noch Hebräisch lernen, um die Bibel im Urtext
zu lesen, ob schon sie als geistiges Kind der französischen Revolution
ganz atheistisch dachte.

Sie führte hauptsächlich das Geschäft in Mülheim und nicht minder das
Regiment im Hause, wo der gute Onkel ~Heinrich~, ein ungewöhnlich
starker Mann, nichts zu sagen hatte.

Die drei Knaben, die ihrer Obhut anvertraut waren, wurden in
keiner Beziehung verwöhnt, sondern frühzeitig abgehärtet und zur
Selbständigkeit angehalten.

Als sie bereits erwachsen und verheiratet waren, pflegte die Tante sie
noch immer mit »Burschen« anzureden und jeden Widerspruch gegen solche
Titulatur oder ihre scharf ausgeprägten Ansichten auf das lebhafteste
zu bekämpfen.

Trotzdem waren die Knaben ihr in Dankbarkeit zugetan, genau so, wie sie
die beiden Oheims als ihre Beschützer verehrten. Mein Vater und sein
älterer Bruder ~Friedrich Arnold~ waren von vornherein zum Kaufmann
bestimmt, und das entsprach, besonders bei meinem Vater, durchaus
der Veranlagung. In der Schule hatte er keinen großen Erfolg, verließ
sie deshalb schon mit 14 Jahren und wurde als Lehrling in einem
kaufmännischen Geschäft in Luettringhausen bei einem Herrn ~Moll~
untergebracht.

Hier erhielt er frühzeitig Gelegenheit, sich als Verkäufer auf Reisen
zu betätigen, was ganz seinen Neigungen und auch der folgenden mehr als
70-jährigen Geschäftstätigkeit entsprach.

In späteren Jahren pflegte er oft scherzhaft zu sagen, er habe mehr im
Wirtshaus als in der Schule gelernt. Aber er war doch klug genug, die
Lücken der Schulbildung zu empfinden und hat sich deshalb später durch
Privatunterricht im Französischen und in der Beherrschung der deutschen
Sprache, sowie in rechtlichen und gewerblichen Dingen ansehnliche
Kenntnisse erworben.

Im Alter machte er noch den Versuch, Englisch zu lernen, da er öfter
zum Ankauf von Wolle nach London fahren mußte. Aber dazu war es doch zu
spät; sein Englisch hat niemand verstanden.

Bei der Prüfung für den einjährig-freiwilligen Militärdienst, der
damals schon in Preußen eingerichtet war, fiel er durch, aber ein
vermeintlicher körperlicher Schaden, der sicherlich nichts weiter
als eine falsche ärztliche Diagnose war, bewahrte ihn vor der
Notwendigkeit, drei Jahre Soldat zu sein. In Wirklichkeit war er ein
Mann von ungewöhnlich kräftiger Konstitution und Gesundheit. Es wird
davon später noch die Rede sein.

Als er 18 Jahre alt geworden war, übergab der Onkel ~Conrads~ ihm und
dem Bruder ~Friedrich Arnold~ das väterliche Geschäft zu Flamersheim
und zog sich nach Mülheim a. Rh. zurück.

Die beiden jungen Leute waren sich ihrer Verantwortung wohl bewußt
und haben mit großem Fleiß und kaufmännischem Geschick die für ihre
Jahre doch ziemlich schwierige Aufgabe in Angriff genommen. Es ist ein
schönes Zeichen geschwisterlicher Eintracht, daß der Geschäftsgewinn
nicht den beiden Brüdern allein, sondern allen fünf Geschwistern
gleichmäßig zufiel.

Der dritte Bruder ~Otto~ war ein ausgezeichneter Schüler, bekundete
frühzeitig die Neigung zum Studieren und wurde nach Absolvierung des
Gymnasiums zu Duisburg Mediziner. Nach Erledigung des medizinischen
Staatsexamens, das damals in Berlin abgelegt werden mußte, ging er auf
1 Jahr nach Paris und entschloß sich dazu, Chirurge zu werden. Nicht
lange nachher wurde er der leitende Arzt in der chirurgischen Abteilung
des städtischen Hospitals zu Cöln.

Einen später an ihn ergangenen Ruf als Professor der Chirurgie
nach Bonn lehnte er ab, weil ihm die dortigen Hilfsmittel und das
Krankenmaterial zu dürftig erschienen.

In seiner Stellung zu Cöln hat er sich während einer mehr als
40jährigen Tätigkeit durch glänzende Operationen und überaus
sorgfältige Nachbehandlung der Kranken großen Ruf erworben und war ein
paar Jahrzehnte hindurch wohl der gesuchteste Arzt am Niederrhein.
Selbst aus Holland, Belgien und Frankreich wurde seine Hilfe in
Anspruch genommen.

Als Persönlichkeit war er ein Original, ein Volksmann im besten Sinne
des Wortes, um den die geschäftige Phantasie der cölnischen armen Leute
eine Reihe von Legenden geflochten hat.

Der vierte Bruder ~August~ erhielt auch eine gute Schulbildung. Nachdem
er die kaufmännische Lehre durchgemacht und bei dem Pionierbataillon
zu Cöln als Einjähriger seiner Dienstpflicht genügt hatte, trat er
ebenfalls in das Geschäft zu Flamersheim ein.

Ungefähr um dieselbe Zeit heiratete die Zwillingsschwester ~Elisabeth~
einen Herrn ~Dilthey~ aus Rheydt. Ursprünglich gewillt, Theologe zu
werden, war dieser durch den frühzeitigen Tod seines Vaters genötigt
worden, mit seinem Bruder ~Wilhelm~ das väterliche Geschäft, Seiden-
und Sammet-Fabrikation, zu übernehmen, und aus dieser Ehe stammt die
zahlreiche Familie ~Dilthey~ in Rheydt und Umgegend. Von seinen sechs
Söhnen und drei Töchtern sind nur der Jurist ~Richard Dilthey~ und eine
Schwester unverheiratet geblieben. Alle übrigen erfreuten sich einer
zahlreichen Nachkommenschaft, und als meine Tante im hohen Alter von 87
Jahren starb, waren etwa 40 Enkel vorhanden. Die alte Frau bildete bis
zum Ende den Mittelpunkt der Familie und erfreute sich infolge ihrer
Klugheit, Tatkraft und Güte allgemeiner Verehrung.

Das Geschäft in Flamersheim war durch die gemeinsame Arbeit der Brüder
in Blüte gekommen. Mein Vater sorgte durch vielfache Reisen für
Vergrößerung des Absatzes und durch die Aufnahme neuer Artikel für
Erweiterung des Betriebes. So erzählte er öfters mit Befriedigung,
daß er nur wenige Jahre nach Erfindung der Schnellessigfabrikation
einen Betrieb dieser Art in Flamersheim angelegt und damit viel Geld
verdient habe. Auch eine kleine Mälzerei wußte er schon damals dem
Geschäft anzugliedern. Aber gerade durch diese Erweiterungen und durch
die Erfahrungen auf seinen Reisen kam er auch zu der Überzeugung, daß
Flamersheim nicht der richtige Ort für ein Großgeschäft sei, und er hat
wiederholt den Plan erwogen, dieses nach Cöln zu verlegen. Seine Brüder
waren aber durchaus dagegen, aus Abneigung gegen die Großstadt und das
vergrößerte Risiko. Dagegen setzte er durch, daß das Hauptgeschäft nach
Euskirchen, welches gerade zu der Zeit schon gute Landstraßen nach
Cöln, Bonn und der Eifel erhalten hatte, verlegt wurde. So entstand,
allerdings erst allmählich, der Gebäudekomplex, den ich früher
geschildert habe.

Die beiden Haupthäuser wurden, wenn ich nicht irre, im Jahre 1835/36
errichtet. Von der Zeit an ist Euskirchen der Hauptsitz der Firma
»~Gebrüder Fischer~« gewesen. Nur der Onkel ~Friedrich Arnold~ blieb
in Flamersheim, aber die alte Kompagnie hat noch etwa 30 Jahre
fortgedauert und sich auch auf andere Geschäfte, z. B. den Ankauf eines
schönen Waldes bei Flamersheim, erstreckt.

Mein Vater und seine Brüder ergänzten sich auf das glücklichste. Er
liebte nicht die Kleinarbeit im Kontor und den Lagerräumen, die aber
von den beiden anderen Geschäftsinhabern mit allergrößter Sorgfalt und
Sachkenntnis besorgt wurde.

Andererseits ging er gerne auf Reisen, wobei er nicht allein verkaufte,
sondern auch in früheren Jahren Geld einkassierte und Gelegenheiten
nach neuen Geschäften aufspürte. Er nannte sich deshalb scherzhaft den
Minister des Äußern.

Zu seinen Aufgaben gehörte natürlich die Vertretung der Firma bei
Gerichten, Verwaltungsbehörden, bei öffentlichen Verkäufen usw.

Seiner Initiative war es auch in der Regel zuzuschreiben, wenn neue
Unternehmungen begonnen wurden, unter denen an Bedeutung der schon
erwähnte Waldankauf hervorragte.

Die Gemeinde Flamersheim besaß in dem benachbarten Vorgebirge der Eifel
einen schönen, meist aus Eichen und Buchen bestehenden Hochwald, aus
dem sie bei dem damaligen Betriebe nur geringe Einkünfte bezog. Die
Mitglieder der Gemeinde hatten sogen. Gerechtsame, die ihnen Anrecht
auf den Bezug von Bau- und Brennholz gaben, das damals nur wenig Wert
hatte. Infolgedessen ging der allgemeine Wunsch auf eine Teilung des
Gemeindewaldes hinaus, konnte aber erst wegen des Widerstandes der
königl. Regierung im Jahre 1848/49 durchgesetzt werden. Der Wald wurde
dann öffentlich versteigert und der Erlös in bar an die einzelnen
Gerechtsamen verteilt.

Von diesem Walde kaufte mein Vater für die Firma ein ansehnliches
Stück, etwa 750 Hektar.

Da einige Jahre später infolge des Baues von Eisenbahnen der Preis des
Eichenholzes außerordentlich stieg, so wurde der Wald bald abgeholzt,
die schönen Eichenstämme meist zu Eisenbahnschwellen verarbeitet und
auf dem Boden Eichenschälwald zur Gewinnung von Lohe gezogen. Durch
die Anstellung eines Försters sorgte mein Vater rechtzeitig für
forstmäßigen Betrieb des schönen Besitzes.

An diesem Walde haben auch wir jüngeren Mitglieder der Familie viel
Freude gehabt. Er war reich an Wild, namentlich an Rehen, Sauen und
Waldschnepfen. Zur Bequemlichkeit wurde darin ein kleines Jägerhaus
auf dem schön gelegenen Heidberg mit prächtigem Blick in die Eifelberge
errichtet. Wir haben dorthin manchen Ausflug, meist zu Jagdzwecken,
unternommen, konnten auch über Nacht bleiben. Ein gut ausgestatteter
Weinkeller sorgte für fröhlichen Trunk, und unser Förster war ein
vortrefflicher Koch, der die meist von Euskirchen mitgebrachten
Fleischspeisen zusammen mit Bratkartoffeln, Butterbrot und Kaffee
zu einem köstlichen Mahle zu vereinigen wußte. Den Höhepunkt des
Jagdbetriebes bildeten die Treibjagden, die im November und Dezember
stattfanden, zu denen mein Vater zahlreiche Einladungen ergehen
ließ, und die mit einem höchst lustigen Mahl in einem Gasthause zu
Flamersheim zu schließen pflegten.

Nach mehr als 50jährigem Besitz hat mein Vater den Wald mit gutem
Nutzen wieder verkauft, und zwar an die Familie ~Haniel~, weil niemand
von unserer Familie sich um den Besitz mehr kümmern konnte.

Ein anderes Unternehmen, das für die Wahl meines Berufes mitbestimmend
geworden ist, war der Erwerb einer kleinen Wollspinnerei, die in
Wisskirchen, einem etwa 4 km von Euskirchen entfernten Dorfe, lag.
Meinem Vater, der von dieser Industrie nichts verstand, gelang es,
in Aachen einen ausgezeichneten Spinnmeister, Herrn ~Allmacher~, zu
gewinnen, und da die Firma auch keine Mittel scheute, um die Fabrik
mit den besten Maschinen auszustatten, und anstelle der Wasserkraft
Dampfbetrieb einzuführen, so gehörten die Erzeugnisse der Firma an
Garn bald zu den besten des Bezirks. Ihr Verbrauch blieb nicht auf die
Tuchindustrie in Euskirchen beschränkt, sondern die Garne gingen auch
nach dem Bezirk München-Gladbach-Rheydt, wo sie zu halbwollenen Waren
verarbeitet wurden.

Den Einkauf der Rohmaterialien, vor allen Dingen der Wolle besorgte
natürlich mein Vater, ursprünglich bei den Schafzüchtern der Umgegend
und besonders der Eifel. Ich habe in jungen Jahren solche Wollfahrten
hier und da mitgemacht. In den armen Dörfern der Eifel wurde das
Geschäft zuerst mit dem Pastor abgeschlossen. Sobald das geschehen war,
kamen die Bauern von selbst mit ihrer Ware. Diese wurde sofort taxiert,
abgewogen, in bar bezahlt und auf den mitgenommenen Wagen geladen. Aber
bald reichten die heimischen Quellen für die vergrößerte Fabrik nicht
mehr aus, auch waren sie für feinere Tuche zu grob. Damals begann der
Import der überseeischen Wolle, besonders aus der Kapkolonie und aus
Brasilien. Deutsche Händler besorgten dieses Geschäft, natürlich mit
einem entsprechenden Preisaufschlag. Der Markt für diese Wolle war
London, wo sie auf grossen Auktionen verkauft wurde.

Sobald dies meinem Vater bekannt geworden war, reiste er nach London,
wo er mit Hilfe eines Agenten seinen Wollbedarf deckte. Er gehörte
mit zu den ersten Fabrikanten in Euskirchen, die den direkten Bezug
des Rohmaterials ausnutzten. Für eine weitere Verbilligung der Garne
war die Anlage einer Färberei erforderlich. Auch das hat mein Vater in
die Hand genommen, ist dabei aber auf recht erhebliche Schwierigkeiten
gestoßen.

Die Teerfarben kannte man damals noch wenig und das Färben mit den
natürlichen Farbstoffen wie Indigo, Krapp, Gelbholz, Blauholz war rein
empirisch. Es gab zwar einige recht dürftige Bücher der praktischen
Färberei und man konnte auch Rezepte von den Färbern kaufen, aber
in der Praxis pflegte das alles zu versagen, und die Leitung einer
Indigoküpe galt geradezu als eine schwierige Kunst, die nur durch
langjährige Übung erworben werden konnte.

Es war darum begreiflich, daß in der neu angelegten Färberei zu
Wisskirchen, von der unser sonst so trefflicher Spinnmeister nichts
verstand, viele Mißerfolge eintraten und nicht allein zu Verlusten,
sondern auch zu ärgerlichen Verhandlungen mit den Kunden führten.

Mein Vater, der von jeher die Selbsthilfe hoch eingeschätzt hatte,
fing deshalb eine kleine Versuchsfärberei in Euskirchen an, wo er die
von verschiedenen Färbern gekauften Rezepte eigenhändig prüfte und es
dabei an Variationen besonders im Beizen nicht fehlen ließ. Aber er
spürte doch bei diesen Versuchen bald, wie hinderlich ihm der Mangel
an chemischen Kenntnissen war, und er pflegte öfters zu sagen, wenn
einer von uns Jungen Chemie studierte, so würden alle Schwierigkeiten
spielend überwunden werden. Seine Achtung vor der Chemie steigerte sich
noch, je mehr er mit der aufblühenden rheinischen Industrie, besonders
der Fabrikation von Eisen und Zement in Berührung kam. Ich erwähne das
ausdrücklich, da es die Wahl des Berufes sowohl bei mir, wie bei meinem
Vetter ~Otto~ beeinflußt hat.

Die bisher besprochenen Geschäfte wurden alle mit den Mitteln und
zugunsten der Firma »~Gebrüder Fischer~« geführt. Als aber die
Unternehmungslust meines Vaters mit dem wachsenden Wohlstande sich
steigerte, während die konservativer gestimmten beiden Onkel mit
zunehmendem Alter jedes größere Risiko vermeiden wollten, blieb er
zwar Mitglied der Firma, beteiligte sich aber an anderen Geschäften
auf eigene Rechnung. So hat er zusammen mit Cölner Kaufleuten größere
Landgüter, die wegen nachlässiger Wirtschaft der in Konkurs geratenen
Besitzer öffentlich versteigert wurden, angekauft und in kleinen Teilen
an die umliegenden Bauern wieder verkauft.

Die Zeit war damals für die Landwirtschaft am Rhein recht günstig, und
die meisten Ankäufer konnten aus dem Verdienst in 9jährigen Terminen
die Ankaufsumme für den neuerworbenen Acker bezahlen. Das geschah fast
durchweg in barem Silbergeld, welches die Bauern persönlich brachten
und das ganze Geschäft vollzog sich nicht in dem Kontor der Firma,
sondern in unserm Wohnhause. Da mein Vater vielfach verreist war, so
wurde es von meiner Mutter besorgt mit einer Pünktlichkeit in der
Buchführung, die jedem Kontoristen Ehre gemacht haben würde.

In der Abschätzung von Grundstücken sowie im An- und Verkauf hatte
mein Vater solche Übung erlangt, daß man mit vollem Vertrauen seinem
Urteil glauben konnte. Er erkannte auch rechtzeitig die allgemeine
wirtschaftliche Gefahr, die im Rheinland in den 70er Jahren der
Landwirtschaft durch den Wettbewerb des überseeischen Getreides
erwuchs. Er pflegte mit aufrichtigem Bedauern für die Bauern häufig zu
sagen: »Mit der Landwirtschaft ist nichts mehr zu verdienen«, und er
hielt schon damals einen staatlichen Schutz in Form von Getreidezöllen
für nötig.

Seine Geschäftsinteressen wandten sich deshalb immer mehr der Industrie
zu. An kleinen Unternehmungen in der Eifel, die auf die Gewinnung
von Eisenerzen gerichtet waren, erlebte er wenig Freude. Dasselbe
galt bezüglich des finanziellen Ergebnisses für eine Beteiligung an
einer Zementfabrik in Obercassel bei Bonn. Sie war gegründet von Dr.
~Bleibtreu~, einem ehemaligen Schüler von ~A. W. Hofmann~ in London.
Er hatte in England die Herstellung von Portlandzement kennen gelernt
und die erste derartige Fabrik in Deutschland bei Stettin ins Leben
gerufen. Eine zweite Gründung war das Werk in Obercassel. Es würde
wahrscheinlich ebenso wie die Stettiner Anlage guten Gewinn gebracht
haben, wenn es nicht mit anderen unrentablen Unternehmungen verknüpft
worden wäre. Damals war die Rente der Aktiengesellschaft »Bonner
Bergwerks- und Hüttenverein« recht bescheiden, aber mein Vater hat
selten eine Aufsichtsratssitzung in Bonn versäumt, da er dort immer mit
einer Reihe guter Freunde aus Köln und Düsseldorf zusammentraf und man
den oft ärgerlichen Geschäftssitzungen ein fröhliches Mahl im Gasthof
Stern folgen ließ. Ich durfte daran zu meiner großen Freude öfters
teilnehmen, als ich das Gymnasium in Bonn besuchte, und der Chemiker
Dr. ~Bleibtreu~, der nicht allein Zement machen konnte, sondern auch
ein Meister im Ansetzen von Pfirsichbowlen war, hat mir bei solchen
Gelegenheiten immer zugeredet, Chemiker zu werden.

Die markantesten Persönlichkeiten in diesem Aufsichtsrat waren
der Freund meines Vaters, ~Albert Poensgen~, Großindustrieller in
Düsseldorf, und ein Herr ~Muehlens~ aus Cöln, Fabrikant von Eau de
Cologne, ein hervorragender Spaßmacher.

An der Tafel, wo der Aufsichtsrat in Gesellschaft von zwei meiner
Schwestern eines Tages Platz genommen hatte, speiste auch das
studentische Corps Borussia, dem damals die beiden Söhne Bismarcks
angehörten. Die Herren schienen keinen großen Hunger zu haben; denn
sie begannen das Mahl mit Sekttrinken und zündeten dazu Zigarren an.
Das war den alten rheinischen Herren denn doch zu burschikos, und mit
weitschallender Stimme gab Herr ~Muehlens~ dem Oberkellner den Auftrag,
er sollte den jungen Herren sagen, es sei hierzulande nicht Sitte,
in Gesellschaft von Damen das Mahl mit Tabakrauchen zu beginnen. Der
Kellner entledigte sich seines Auftrages. Das ganze Corps erhob sich
sofort und schritt, dicke Tabakwolken verbreitend, aus dem Saal heraus.
Herr ~Muehlens~ sah ihnen belustigt zu und begleitete den Durchzug mit
den Worten »Sehr gut gemacht«. Auch mein Vater war geneigt, solche
Verstöße gegen gute Sitten vor aller Öffentlichkeit zu rügen.

Ende der 60er Jahre hatte sich mein Vater mit einer erheblichen Summe
an einem Geschäft beteiligt, das ihm zwar viel Sorge und Ärger, aber
auch später sehr viel Freude bereitet hat. Es war die Gründung einer
Brauerei in Dortmund. Die Anregung dazu ging aus von einem Ingenieur
~Heinrich Herbertz~, der in Dortmund eine große Kokerei besaß und aus
dem Aufblühen der anderen dortigen Brauereien den Schluß zog, daß hier
noch ein gutes Geschäft zu machen sei. Er war verwandt und befreundet
mit meinem Schwager ~Mauritz~ und dessen Bruder ~Heinrich~.

Nachdem mein Vater die nötigen Erkundigungen eingezogen hatte, ging
er auf den Vorschlag ein, und so entstand die Brauerei ~Herbertz~ &
Co., an der mein Vater ursprünglich der meist beteiligte war. Sie war
von Anfang an ein gutes Geschäft, denn das dort erzeugte Bier erfreute
sich bald des besten Rufes und der Absatz stieg mit dem steigenden
Wohlstand, besonders nach dem deutsch-französischen Krieg.

Leider wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft verwandelt
und hat dann infolge schlechter Leitung böse Zeiten durchgemacht.
Seine Sanierung wurde nötig und mit dem völligen Wechsel der leitenden
Persönlichkeiten trat auch bald wieder ein ordnungsmäßiger Betrieb und
allmählich eine Rentabilität ein.

Die Aktien sind noch jetzt zum größeren Teil im Besitz der Familien
~Fischer~ und ~Mauritz~, und das Unternehmen hat seit etwa 40 Jahren
recht gute geschäftliche Erfolge gehabt.

Mein Vater war mehrere Jahrzehnte Vorsitzender des Aufsichtsrats. Er
hat auch lange Zeit den Einkauf von Hopfen für die Brauerei besorgt,
und zur Zeit meines Aufenthalts in Erlangen bin ich mehrmals mit ihm
auf dem Hopfenmarkt in Nürnberg gewesen. Mit großer Sicherheit wußte
er aus rein empirischen Proben, wie Farbe, Geruch, Gefühl die sehr
verschiedene Qualität des Hopfens abzuschätzen und jede Übervorteilung
von seiten der Händler zu vermeiden.

Auch sonst war er für das Wohl der Brauerei in hohem Maße interessiert
und tätig, besonders was den technischen Betrieb anging. Er pflegte
immer zu sagen, »Vor allem muß das Erzeugnis gut sein«, und schon bei
der Legung des Grundsteins hat er seine Wünsche für die Zukunft in
einen hübschen Vers gekleidet, »Brau gutes Bier, das rat ich Dir«.
Durch seine Vermittlung habe auch ich einige Gelegenheit gehabt, der
Brauerei kleine Dienste zu leisten.

In den ersten Jahren meines Aufenthaltes zu München hatte ich zufällig
von neuen Eismaschinen des Professor ~Linde~ und ihrer Verwendung
in der Brauerei von ~Sedlmeier~ gehört. Ich erzählte dies bei einem
Ferienbesuch meinem Vater, und er beauftragte mich sofort, genauere
Erkundigungen einzuziehen. Diese fielen sehr günstig aus und wurden
bestätigt durch die Firma ~Meister, Lucius & Brüning~ zu Höchst a.
Main, welche die ~Linde~sche Maschine in dem Betrieb für Azofarbstoffe
verwendete. Die Folge davon war, daß die Dortmunder Brauerei sofort
mit der von ~Linde~ gegründeten Gesellschaft in Verbindung trat und
meines Wissens als erste norddeutsche Brauerei in den Besitz einer
~Linde~schen Maschine und später auch einer damit betriebenen sehr
zweckmäßigen Kellerkühlung gelangte.

Wohl nicht minder wichtig war eine Belehrung, die ich dem Braumeister
in bezug auf den Gärprozeß geben konnte.

Während des Wintersemesters 1876/77 hielt ich mich wieder in Straßburg
auf und lernte dort durch Dr. ~Albert Fitz~ das Buch von Pasteur
»Études sur la bière« kennen, das kurz vorher erschienen war. Der
geniale Forscher hatte darin seine Erfahrungen über die Verunreinigung
der Bierhefe durch andere Mikroorganismen und deren schädlichen Einfluß
auf die Beschaffenheit des Bieres niedergelegt. Als ich davon meinem
Vater berichtete, bat er mich dringend, die Materie gründlich zu
studieren, und da diese mich auch wissenschaftlich interessierte, so
erklärte ich mich gerne dazu bereit. Ein feines Mikroskop wurde sofort
angeschafft und mit Hilfe von Dr. ~Fitz~ und dem Botaniker Prof. ~de
Bary~ habe ich dann in Straßburg Studien über Schimmel-, Sproß- und
Spaltpilze angestellt, die mir später bei den Zuckerarbeiten sehr
zustatten gekommen sind. Zunächst mußte ich aber die neuen Kenntnisse
praktisch verwerten. Darum bin ich mit meinem Mikroskop für einige
Wochen nach Dortmund gezogen, um den Beamten der Brauerei die neuen
Errungenschaften klar zu machen. Wahrscheinlich war ich der erste
Chemiker in Deutschland, der diesen Versuch unternahm, und ich muß
gestehen, daß ich bei den Männern der Praxis auf großes Mißtrauen
stieß. Man bemühte sich auf alle mögliche Weise, mich irre zu führen,
besonders mit falschen Angaben über den Ursprung und die Beschaffenheit
der zu prüfenden Hefesorten.

Als ich aber mit Hilfe des Mikroskops ohne Mühe die verdorbenen
Hefesorten herausfand, wurde man ernster. Es ist mir zwar nicht
gelungen, einen der Männer zum richtigen Gebrauch des Mikroskops
heranzubilden und dadurch eine dauernde Kontrolle der Hefe
einzurichten. Aber meine Belehrung über die Art, wie gute Hefe und
damit auch das Bier verdorben werden kann, fiel doch auf guten Boden.
Z. B. befanden sich direkt neben dem Kühlschiff, wo die fertige Würze
an offener Luft abgekühlt wurde, der Pferdestall und ein stattlicher
Dunghaufen. Auf meine Vorstellung hin ist hier bald Wandel geschaffen
worden. Auch die von mir als besonders wichtig gepredigte Sauberhaltung
aller Gefäße, mit denen die kalte Würze und das Bier in Berührung
kommen, hat dem verständigen Braumeister gefallen, weil sie mit seinen
Erfahrungen in der Praxis wohl übereinstimmte.

Etwa 30 Jahre später bin ich bei einer Jubelfeier des Instituts für
Gärungsgewerbe in Berlin zu dessen Ehrenmitglied ernannt worden,
und der Leiter des Instituts, Professor ~Max Delbrück~, hat bei
dieser Gelegenheit die Wahl nicht allein durch meine chemischen
Arbeiten motiviert, sondern auch scherzhaft auf meine Bemühungen in
der Dortmunder Brauerei und das dadurch bekundete Interesse für das
praktische Braugewerbe hingewiesen.

Was ich damals als ~Pasteur~'sche Lehre zu verbreiten suchte, war
inzwischen durch die Studien von Professor ~Ch. Hansen~ in Kopenhagen,
der auch dem Jubelfeste beiwohnte und zum Ehrenmitglied des Instituts
ernannt wurde, außerordentlich vervollkommnet worden und hatte für das
Braugewerbe eine grundlegende Bedeutung erlangt.

Wie schon erwähnt, gehörte mein Vater zum Aufsichtsrat der
Aktienbrauerei und hat viele Jahre das Amt des Vorsitzenden geführt.
Auch andere Aktiengesellschaften, z. B. der Bonner Bergwerks- und
Hüttenverein, das Röhren- und Eisenwalzwerk Poensgen in Düsseldorf,
eine Glashütte in Stolberg, eine Röhrenkesselschmiede zu Kalk a. Rh.
und die Versicherungsgesellschaft Concordia in Cöln wählten ihn in den
Aufsichtsrat. Und wenn er wegen zunehmender Schwerhörigkeit irgendwo
seinen Austritt erklären wollte, so pflegte man den verständigen und
stets heiteren, originellen alten Herrn zur Beibehaltung des Amtes
aufzufordern.

So kam es, daß er nach Überschreitung des 90ten Lebensjahres sich
scherzhaft rühmen konnte, das älteste Aufsichtsratsmitglied in Preußen
zu sein.

Wie die vorangehende Schilderung seiner geschäftlichen Unternehmungen
zeigt, war mein Vater ein vielseitiger, kluger Kaufmann, der die
Möglichkeiten des gewerblichen Lebens richtig abschätzte und selten ein
schlechtes Geschäft begonnen hat.

Den Mangel der Schulbildung hat er später durch die Erfahrungen der
Praxis auszugleichen gewußt. Er war kein rascher Denker, aber wenn
er eine Angelegenheit, die seinem Ideenkreis nicht zu fern lag,
durchstudiert hatte, so konnte man sicher sein, daß er sie völlig
erfaßt und auch in den Konsequenzen durchschaut hatte.

Ich habe es mit erlebt, daß er Notaren Verträge oder
Verkaufsbedingungen für öffentliche Auktionen diktierte, weil ihre
eigenen Entwürfe nicht klar genug waren. Das letzte Beispiel dieser Art
bot sein autographisches Testament, das durch dieselbe Klarheit der
Form und der Gedanken ausgezeichnet war, wie alle seine Schriftstücke.
Kurz vor seinem Tode war es auf seinen Wunsch durch einen Berliner
Notar in ein amtliches Dokument umgewandelt worden. Als ich dann
für die Erbteilung dieses Schriftstück meinen Schwägern vorlegte,
erklärten sie einstimmig, »das hat Großpapa nicht verfaßt; denn so
unklar hat er sich niemals ausgedrückt«. Die Verwirrung war durch die
Bearbeitung des Notars und seine juristischen Redewendungen entstanden.
Glücklicherweise konnte ich durch Vorlage des autographischen
Testaments alle Zweifel über den Sinn des notariellen Schriftstückes
beseitigen.

Mit der Klarheit des Geistes war bei ihm eine ungewöhnliche körperliche
Rüstigkeit verbunden, die schon dem scharfen Auge seiner Mutter nicht
entgangen war; denn wie er selbst gerne erzählte, hatte diese in einem
Brief an ihre Schwester ~Conrads~ über den kleinen Lor berichtet: »Er
scheint etwas dumm zu sein, aber es ist ein wahres Vergnügen, seinen
kräftigen Körper anzuschauen«. Es ist deshalb auch kein Wunder, daß
er allen körperlichen Künsten zugetan war. Reiten, Tanzen, Turnen,
Schießen waren ihm wohl vertraut und die Jagd hat er bis ins höchste
Alter getrieben. Hand und Auge waren so leistungsfähig geblieben, daß
er mir noch mit 93 Jahren einen selbstgeschossenen Hasen schicken
konnte. Dazu kam eine große Heiterkeit des Gemütes, die auch durch
herbe Verluste nur vorübergehend gestört werden konnte. Alltäglich
Bewegung in frischer Luft und abends 1 bis 2 Stunden Geselligkeit im
Gasthause oder Casino bei einem Glase Wein und einer Cigarre oder
einer Pfeife Tabak waren ihm Bedürfnis. Und wenn er dann nach Hause
kam, so war seine Fröhlichkeit geradezu ansteckend für den ganzen
Familienkreis. Das Gelächter in unserem Hause war häufig so laut und
anhaltend, daß Passanten auf der Straße erstaunt Halt machten.

Selbstverständlich übte er mit besonderer Freude eine freie
Gastfreundschaft, und meine Mutter hatte manchmal Mühe, die plötzlich
in großer Zahl herbeigeführten Gäste zu versorgen. Besonders hoch
und lustig ging es her an Familienfesten, z. B. bei den Hochzeiten
meiner Schwestern. Es sind ihrer nicht weniger als 7 in unserem Hause
gefeiert worden, sechs bei meinen Schwestern, von denen eine zum
zweiten Mal heiratete. Und als das einzige Töchterlein meines Onkels
im Nachbarhause in die gleiche Lage kam, wurde nach alter Gewohnheit
das Fest auch von meinem Vater in unserem Hause veranstaltet; nur mußte
der Onkel, wie billig, die Kosten tragen. Bei solcher Gelegenheit ließ
mein Vater alle Quellen seiner Fröhlichkeit springen. Obschon er keine
besondere Rednergabe besaß, so erweckten doch seine Tischreden, die
manchmal mit kleinen lustigen Versen geschmückt waren, stets großen
Jubel.

Sein rheinischer Humor und seine Freude an Späßen führten ihn auch
ziemlich regelmäßig zur Karnevalsfeier nach Cöln. In hohem Alter hat er
einmal zu solcher Gelegenheit eine große Gesellschaft von Verwandten
und Freunden in ein Gasthaus zu Cöln eingeladen. Niemand wußte, zu
welchem Zwecke, bis der Gastgeber in seiner Tischrede das Rätsel löste.
»Alle Welt feiert jetzt Jubiläen«, so begann er, »Drum habe auch ich
geglaubt, eine solche Feier veranstalten zu müssen; denn heute ist es
das fünfzigste Mal, daß ich an dem Cölner Karneval teilnehme«. Man kann
sich denken, welche Stimmung bei diesem Feste geherrscht hat.

Noch charakteristischer und für Nichtrheinländer schwer verständlich
war ein karnevalistischer Einfall, den er bald nach dem Tode seines von
ihm sehr verehrten Bruders ~Otto~, des Arztes in Köln verwirklichte.
Obschon er damals fast 80 Jahre alt war, glaubte er doch dem Fasching
nicht ganz entsagen zu dürfen. Er ging deshalb auf den Maskenball, aber
zum Zeichen der Trauer in der Maske eines Mohren. Diese beschränkte
sich allerdings auf die Schwärzung des Gesichts, die mit einem
angebrannten Korken hergestellt war.

Unvermeidliche Dinge, wie den Tod seiner vier Geschwister, mit denen
er in treuester und stets hilfsbereiter Freundschaft gelebt hatte, und
die alle erst im hohen Alter starben, überwand er sehr leicht. Viel
schwerer hat ihn der Tod meiner Mutter getroffen, mit der er 46 Jahre
in glücklicher Ehe verbunden war und die er 20 Jahre überlebte. Nach
ihrem Tode hat er noch 10 Jahre in Euskirchen verbracht, dann wurde
er plötzlich auf eine eigentümliche Art veranlaßt, nach 57-jährigem
Aufenthalt diesen Wohnsitz aufzugeben.

Im Jahre 1892 war für die preußische Einkommensteuer die obligatorische
Selbstangabe des Einkommens eingeführt worden. Im Kreise Euskirchen
stellte sich bei dieser Gelegenheit heraus, daß mein Vater das höchste
Einkommen im Kreise besaß, was man nach seiner einfachen Lebensweise
nicht erwartet hatte.

Die erhöhte Einkommensteuer kam bei der in Preußen üblichen
Veranlagung auch der Gemeinde zugute und der Prozentsatz, in welchem
die Gemeindesteuer bis dahin erhoben wurde, hätte vernünftigerweise
ermäßigt werden müssen. Das hatte auch mein Vater angeregt; aber
statt dessen wurde nur die Gewerbesteuer herabgesetzt. Als mein Vater
das als ungerecht bezeichnete und die Möglichkeit andeutete, daß
vermögende Leute, die kein Gewerbe mehr betrieben, bei der nunmehr
recht hohen Gemeindesteuer die Stadt verlassen könnten, entgegnete man
ihm spöttisch: Ein Mann wie er, der im Alter von 84 Jahren stehe, würde
sich nicht mehr zu einem Wechsel des Wohnsitzes entschließen können.
Dieser Appell an seine Altersschwäche ärgerte ihn, und um den Leuten
das Gegenteil zu beweisen, entschloß er sich sofort, Euskirchen zu
verlassen. Ohne einem seiner Kinder ein Wort davon zu sagen, löste er
den Haushalt auf und verließ die Stadt und Preußen und zog im Sommer
1892 nach Straßburg i. Els. Kurz vorher machte er bei mir noch einen
Besuch in Würzburg, wovon später die Rede sein wird. Es war aber damals
schon zu spät, seinen Entschluß zu ändern.

Der endgültige Umzug ist in den einfachsten Formen erfolgt. Ein
Verwandter traf den alten Herrn zu Cöln am Bahnhof, im primitivsten
Anzug, die Jagdflinte auf dem Rücken, den Hund an der Strippe und
in der anderen Hand einen bescheidenen Handkoffer. Auf die Frage:
»Nun, Herr ~Fischer~, wo geht's hin?« erfolgte die knappe Antwort:
»Domizilveränderung nach Straßburg«. Hier wohnte er zuerst im Gasthaus
und später bei meinem Vetter ~Ernst Fischer~, dem außerordentlichen
Professor der Chirurgie, der in seinem geräumigen alten Hause in der
Küfergasse eine Privatklinik eingerichtet hatte und dessen Frau aus
einer elsässischen Bauernfamilie einen einfachen aber guten Haushalt
führte.

Mein Vater hat hier rasch einen ihm zusagenden Bekanntenkreis gefunden,
besonders unter den Jägern. Nach wenigen Monaten war er an einer Jagd
beteiligt und hatte, wie er lachend erzählte, auch schon einen Prozeß,
den er richtig gewann. In späteren Zeiten hatte er Fühlung mit den
Offizieren der Garnison und wurde zu deren Treibjagden eingeladen.
Wegen seines hohen Alters erhielt er dann den Ehrenplatz neben dem
Höchstkommandierenden, und es machte ihm großen Spaß, diesem die Hasen
fortzuschießen, was die jüngeren Offiziere sich nicht erlauben durften.
Den Verkehr mit Offizieren war er übrigens gewohnt, da in der Umgebung
von Euskirchen sehr oft im Herbst militärische Übungen stattfanden.
Zweimal wurde sogar das Kaisermanöver dort abgehalten und dann waren
immer hohe Offiziere in unserem Hause einquartiert. Auch an Hirsch- und
Saujagden in den Vogesen hat er sich beteiligt.

Häufige Reisen führten ihn von Straßburg nach dem Niederrhein und auch
nach Berlin, um geschäftliche Dinge, besonders die Teilnahme an den
Aufsichtsratssitzungen zu erledigen.

Als er 90 Jahre alt wurde, entschloß er sich zur Rückkehr nach Preußen.
Aber bezüglich der Steuern hatte er sich inzwischen feste Grundsätze
zurechtgelegt, die nicht ganz leicht zu verwirklichen waren. Die
Staatssteuer, so hörte man ihn öfters sagen, wolle er gerne bezahlen,
weil der Schutz des Staates für jedermann unentbehrlich sei. Dagegen
die Gemeinde habe er nicht mehr nötig und er sehe nicht ein, daß er
für diese viel bezahlen solle. Er wolle deshalb den Wohnsitz in einer
Gemeinde wählen, die durch niedere Steuern ausgezeichnet sei. So kam er
zuerst im Sommer 1898 zu mir nach Wannsee bei Berlin, wo damals nur 40%
Zuschlag zur Staatssteuer erhoben wurden. Als er aber aus der ersten
Steuerrechnung ersah, daß noch 30% Kreissteuer dazukamen, meldete er
sofort seinen Wegzug an.

Die nächste Wahl fiel auf einen kleinen Ort im Harz, wo sein ältester
Enkel ~Heinrich Mauritz~ als königl. Bergbeamter tätig war.

Der Zuzug des wohlhabenden Mitbürgers erschien nun den anderen
Gemeindeangehörigen als eine günstige Gelegenheit, alle möglichen
neuen Bedürfnisse der Gemeinde zu befriedigen, und die Steuern
gingen im folgenden Jahre erstaunlich in die Höhe. Sofort war der
alte Herr wieder verschwunden und jetzt fand er einen Wohnsitz in
Griethausen, einem Dorfe in der Nähe von Cleve, wo man auf die
Ausbeutung des Zugvogels verzichtete. Er mietete sich ein Zimmer bei
dem Gemeindediener und behielt das Domizil bis zu seinem Tode, obschon
er kaum 24 Stunden sich dort aufgehalten hatte.

Statt dessen wohnte er abwechselnd bei seinen Kindern oder
Schwiegersöhnen oder Enkeln in Rheydt, Uerdingen, Berlin oder Herdt
bezw. Dortmund, durfte aber nirgends länger bleiben als 89 Tage, weil
er sonst nach dem Gesetz zur Zahlung von Gemeindesteuern verpflichtet
gewesen wäre. Den übrigen Teil des Jahres, namentlich die Sommermonate
verbrachte er auf Reisen und machte dabei noch alle möglichen
Bekanntschaften. So schrieb er mir eines Tages, daß er in einem
Gasthaus zu Heidelberg ~Robert Bunsen~ zufällig getroffen und sich ihm
als Vater eines Chemikers vorgestellt habe. Dieser sei zwar jünger,
aber noch schwerhöriger wie er selbst. Trotzdem habe sich ein langes
und interessantes Gespräch zwischen ihnen entwickelt.

Im Winter 1900/01 hat er zum letzten Mal an der Jagd teilgenommen, weil
das früher so gute Auge versagte. Das kam von einer leichten Trübung
der Linse, während der Sehnerv noch ganz intakt geblieben war. Im
übrigen erfreute er sich im Frühjahr 1902 noch voller Gesundheit, wenn
man von der Schwerhörigkeit absehen will. Er hat damals noch in Frack
und weißer Binde einer Abendgesellschaft in meinem Hause beigewohnt.
Als aber die üblichen 89 Tage vorüber waren, zog er mit der gewohnten
Pünktlichkeit nach Rheydt zu seinem Schwiegersohn ~Arthur Dilthey~.
Hier soll er bei häufigem Verweilen in den Gasthäusern, besonders
in jugendlicher Gesellschaft dem Bier- und Weingenuß über das Maß
der Zuträglichkeit gehuldigt haben. Dem war das alte Herz nicht mehr
gewachsen und das erste Zeichen seiner Insuffizienz gab sich kund in
der Schwellung der Beine. Die Mahnung des Arztes, seine Lebensweise
zu ändern und den Genuß alkoholischer Getränke zu vermeiden,
beantwortete er mit der Frage: »Wieviel Leute in meinem Alter haben
Sie schon behandelt?« Er blieb also bei seinen Gewohnheiten. Die
Wassersucht wurde im Laufe des Sommers schlimmer, ohne ihn aber stark
zu belästigen, und Anfangs Oktober kam er in Begleitung seines Enkels
~Alfred Dilthey~ als schwer kranker Mann zu mir nach Berlin. Ohne
besonders zu leiden ist er hier am 16. Oktober 1902, 18 Tage vor seinem
95. Geburtstage sanft verschieden.

Einen Tag vor seinem Tode hat er nochmals das Bett verlassen, und 5 bis
6 Stunden auf die Vervollständigung seines Hauptbuches, das er stets
auf Reisen mit sich führte, verwendet. Die spätere Prüfung des Buches
ergab nur einen einzigen Fehler, der an diesem letzten Tage begangen
war.

An seinem Todestage hat er in einem Gespräch mit mir die Bilanz seines
Lebens gezogen und sich sehr befriedigt darüber geäußert. Eine Stunde
vor seinem Tode trank er noch ein großes Glas Bier, offenbar mit Genuß;
denn seine letzten Worte waren: »Es ist ein Glück, daß der gemeine Mann
für billig Geld einen so guten Trank haben kann«. Er starb, wie er
gelebt hatte, als vollkommener Atheist, aber in treuer Anhänglichkeit
an Frau und Kinder, an die weitere Familie und an zahlreiche Freunde.
Politisch war er früher rheinischer Fortschrittsmann, später
nationalliberal und immer in scharfer Opposition zur ultramontanen
Partei.

Obschon ganz im kapitalistischen Zeitalter groß geworden, hatte er
doch Sinn und Verständnis für die soziale Bewegung der Neuzeit. Vom
sozialistischen Zukunftsstaat wollte er gar nichts wissen, aber von
den Bestrebungen der Arbeiter pflegte er zu sagen: »Die Leutchen haben
ganz recht, wenn sie versuchen, ihre Lage zu verbessern«. In der
großen Öffentlichkeit ist er weder als Redner noch als Schriftsteller
hervorgetreten. Dagegen hat er als langjähriger Stadtverordneter und
als Mitglied mancher Kommissionen an der Verwaltung von Gemeinde
und Kreis teilgenommen, und wenn es sich darum handelte, allgemein
wirtschaftliche Zwecke, wie den Bau von Eisenbahnen in der dortigen
Gegend zu fördern, so war er gewöhnlich Mitglied der Abordnungen,
die nach Cöln oder Berlin zur Verhandlung mit der königl. Regierung
geschickt wurden.

Trotz seiner Tatkraft in allen geschäftlichen Dingen war er von
Charakter gutmütig und huldigte dem Grundsatz: »Leben und leben
lassen«. Gegen Frau und Kinder war er nicht allein sehr gütig, sondern
auch rücksichtsvoll und überließ die strenge Seite der Erziehung ganz
der Mutter. Meine Schwestern konnten mit einigen Schmeichelworten fast
alles von ihm erreichen. Nur in ernsten Dingen, z. B. in der Wahl des
Gatten, mahnte er dauernd zur Vorsicht und Vernunft, und phantastischen
Heiratsplänen wäre er sicherlich mit großer Entschiedenheit
entgegengetreten. Er hat dann auch wirklich das Glück gehabt, mit allen
Schwiegersöhnen sehr zufrieden sein zu können.

Ich selbst erinnere mich nicht, von ihm gestraft worden zu sein.
Ja, ich habe kaum ein böses Wort von ihm gehört. Zwar hat er
öfters sein Bedauern darüber ausgesprochen, daß ich kein Interesse
an kaufmännischen Dingen und dem Erwerb von materiellen Gütern
besitze, aber er ließ mich doch ruhig meinen Weg gehen und sprach
nur Anderen gegenüber mit Bedauern darüber, daß der Sohn die Kunst
des kaufmännischen Rechnens nicht besitze. Leider hat er es nicht
mehr erlebt, daß dieser unpraktische Gelehrte den Nobelpreis für
Chemie erhielt, und sich später durch einige kleine Erfindungen
Jahreseinkünfte verschaffte, wie er selbst sie niemals gehabt hat.

Wesentlich verschieden von dem Vater war trotz der sehr glücklichen
Ehe in Charakter, Anschauungen und Neigungen meine Mutter. Sie stammte
aus der zweiten Ehe des Eisenfabrikanten ~Johann Abraham Poensgen~
in Schleiden (Eifel) mit ~Wilhelmine Fomm~ und war am 19. Februar
1819 geboren. Wie ich einer recht gut geschriebenen und im Druck
erschienenen Geschichte der Familie ~Poensgen~ entnahm, haben meine
Vorfahren mütterlicherseits Jahrhunderte lang als Erzeuger von Eisen
und Eisenwaren im Schleidener Tal gewirkt und vielleicht habe ich von
ihrer Seite die Freude an chemischen und technischen Prozessen geerbt.
Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß ich jetzt im Alter durch die Kaiser
Wilhelm Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften mit der Kohlen-
und Eisenindustrie wieder in nähere Berührung gekommen und in jüngster
Zeit sogar Kuratoriumsmitglied des großartig geplanten Kaiser Wilhelm
Instituts für Eisenforschung geworden bin.

Da meine Großmutter nach dem Tode des ersten Mannes den Arzt Dr. ~Fuß~
zu Gemuend im Schleidener Tal heiratete, so hat meine Mutter dort den
größten Teil ihrer Jugend verlebt. Zur Vollendung ihrer Ausbildung kam
sie mit etwa 16 Jahren in die Erziehungsanstalt der Herrnhutergemeinde
in Neuwied a. Rhein und daher stammte wohl die tiefe religiöse
Überzeugung, der sie während ihres ganzen Lebens treu blieb.

Sie war sehr klug und wissensdurstig und von dem vielen Lesen hatte
sie schon in der Jugend eine ziemlich starke Myopie erworben, die
ich von allen ihren Kindern allein geerbt habe. Sie wäre heutzutage
wahrscheinlich eine gelehrte Frau geworden, aber das Frauenstudium war
zu ihrer Zeit noch nicht üblich. Da sie schon mit 18 Jahren heiratete
und in den nächsten 15 Jahren 8 Kinder zur Welt brachte, so war ihre
Zeit durch andere Pflichten ausgefüllt. Sie wurde eine tüchtige
Hausfrau und half meinem Vater auch in geschäftlichen Dingen. Sie wußte
sich überall in Respekt zu setzen und niemand von den Kindern oder dem
Dienstpersonal hätte es gewagt, ihre Anordnungen zu mißachten. Sie war
ernster wie mein Vater, konnte aber doch recht herzlich über seine
Späße lachen. Nur wo sie rohen oder gemeinen Äußerungen begegnete, gab
sie ihrer Entrüstung so deutlichen Ausdruck, daß jedermann in ihrer
Gegenwart gezwungen war, sich anständig zu benehmen. Bei alledem war
sie eine liebevolle Mutter, voller Fürsorge für ihre Kinder und später
auch für deren Familien.

In ihrer tiefen Religiosität ließ sie sich durch den Unglauben meines
Vaters und seinen gelegentlichen Spott über Kirche und Pfaffen nicht
irre machen.

Ebenso selbständig waren ihre politischen Anschauungen, und als eifrige
Protestantin verehrte sie Preußen als die Vormacht des evangelischen
Glaubens in Deutschland.

Als unter der Ministerpräsidentenschaft ~Otto von Bismarcks~ der böse
Konflikt zwischen der preußischen Regierung und dem Abgeordnetenhause
im Jahre 1863/64 tobte, und fast alle Rheinländer, unter ihnen auch
mein Vater, zur Oppositionspartei gehörten, war sie ganz auf Seiten
Bismarcks: »Jetzt hat Preußen wieder einen Minister, der seiner würdig
ist und ihr seid viel zu dumm, diesen Mann zu begreifen«. So sprach
sie wohl zu ihren Kindern und auch meinem Vater machte sie in ihren
politischen Urteilen so lebhafte Opposition, daß er sie scherzhaft
»Frau Bismarck« nannte.

Dabei war sie eine recht hübsche Frau, besonders ausgezeichnet durch
das üppige tiefschwarze Haar und durch die großen klugblickenden Augen.
Als einziger Sohn habe ich mich besonders ihrer Liebe und Fürsorge
erfreut. Sie hat auch stets meine Neigung zu wissenschaftlichen Studien
gefördert, nur von der Wahl der Chemie als Berufsstudium war sie
enttäuscht, weil ihr das zu sehr nach Apotheke schmeckte. Sie hätte es
viel lieber gesehen, daß ich Jurist oder Mediziner geworden wäre.

Im allgemeinen erfreute sie sich einer guten Gesundheit, und noch mit
59 Jahren reiste sie nach Meran, um meiner dort zur Kur weilenden
kranken Schwester ~Mathilde~ während des Winters Gesellschaft
zu leisten. Von München aus habe ich sie damals während der
Weihnachtsfeiertage besucht. Die Fahrt machte ich in Gesellschaft
meines Freundes Dr. ~Tappeiner~, dessen Vater in Meran der bekannteste
Arzt war.

Als wir von Bozen in einem besonderen Mietwagen abends nach Meran
fuhren, war die Kälte so groß, daß wir uns recht unbehaglich fühlten,
und bei unserer Ankunft in Meran war die Temperatur unter 12° gesunken.
Ich habe damals meine optimistische Ansicht über das warme Klima der
südlichen Alpenorte geändert und bei mancher anderen Fahrt nach dem
Süden dieses Urteil bestätigt gefunden. In Meran war der Berg hinter
der Stadt so mit Eis inkrustiert, daß man mit gewöhnlichen Schuhen
kaum auf die Höhe steigen konnte. In dem Gasthause »Erzherzog Johann«
fand ich das Wasser in der Waschschüssel am nächsten Morgen gefroren.
Für die Kranken wurde allerdings durch fortwährende Ofenheizung besser
gesorgt.

Von Meran kehrte meine Mutter Mitte Februar nach Deutschland zurück,
um ihren 60. Geburtstag zuhause zu feiern. Sie besuchte mich noch in
München und freute sich, einige meiner Freunde als ihre Gäste im Hotel
»Bayrischer Hof« kennen zu lernen.

Aber diese lange Reise bei damals noch recht ungenügender Heizung der
Eisenbahnen und selbstverständlich ohne Schlafwagen trug ihr einen
heftigen Bronchialkatarrh ein. Die dadurch erschwerte Zirkulation in
Verbindung mit den seelischen Sorgen um das Schicksal meiner Schwester
haben wahrscheinlich bei ihr eine Herzkrankheit ausgelöst, die im
Frühjahr 1879 begann und nach 3½jährigem, recht schweren Leiden
am 14. September 1882 den Tod herbeiführte. Sie starb in Uerdingen im
Hause meines Schwagers ~Mauritz~ unter der sorgfältigen Pflege meiner
Schwester ~Bertha~. Sie ist ebenso wie mein Vater beerdigt auf dem
kleinen protestantischen Friedhof zu Uerdingen in der Familiengruft
~Mauritz-Fischer~. Der Friedhof lag früher ganz hübsch auf freiem
Felde, ist aber jetzt leider infolge der raschen industriellen
Entwicklung des Ortes von hohen und unschönen Gebäuden umgeben.

Von meinen Schwestern ist schon vorher wiederholt die Rede gewesen. Die
kleine Abneigung, die der Bruder bei der Abwehr ihrer Erziehungskünste
früher manchmal empfunden hatte, war im Laufe der Zeit ins gerade
Gegenteil umgeschlagen, und ein wirklich freundschaftliches Verhältnis
hat mich dann sowohl mit meinen Schwestern, wie auch mit ihren Männern
verbunden.

Die älteste Schwester ~Laura~ habe ich als Mädchen wenig gekannt, da
sie bereits im Jahre 1858 einen jungen Kaufmann, ~Friedrich Mauritz~
aus Uerdingen a. Rhein heiratete. Infolgedessen wurde mir schon
mit 7 Jahren die Würde eines Onkels zuteil, was mir von seiten der
Altersgenossen manchen Spott eingetragen hat.

Durch diese Heirat wurde zwischen den Familien ~Fischer~ und ~Mauritz~
eine Verbindung geschaffen, die sich im Laufe der Zeit erweiterte und
vertiefte. Mein Schwager war ein prächtiger, frischer Mann, tüchtig
in seinem Geschäft, einem Kohlenhandel, und mein Vater ist zu ihm in
ein besonders herzliches Verhältnis getreten. Er liebte es, im Alter
monatelang im Hause des Schwiegersohnes zu wohnen, hatte mit ihm
mancherlei Geschäfte, z. B. die Brauerei in Dortmund begonnen, ging
gerne zusammen mit ihm auf Reisen und hat sich oft dahin geäußert, der
Fritz sei ihm so lieb wie sein eigener Sohn.

Ich selbst habe bei dem Schwager als Knabe in den Schulferien mich
öfters aufgehalten und in der mir neuen Umgebung des mächtigen Stromes,
des eigentümlichen Geschäftsbetriebes und der weit verzweigten und
kinderreichen Familie ~Mauritz~ viel Unterhaltung und Freude erlebt.
Leider starb meine Schwester ~Laura~, eine gesunde und kräftige Frau,
bald nach der Geburt des dritten Kindes ~Alfred~, der jetzt als
Direktor der Aktienbrauerei, als Stadtverordneter und auch sonst in der
Öffentlichkeit vielfach tätiger Mann in Dortmund eine sehr angesehene
Stellung hat. Sie scheint das Opfer einer Infektion gewesen zu sein,
über deren Natur ich aber keine bestimmte Auskunft erhalten konnte.
Fünf Jahre später, mitten im Kriege 1870 heiratete der Witwer meine
dritte Schwester ~Bertha~, die dem Gatten auch drei Söhne schenkte. Sie
starb leider auch früh an einer Lungenentzündung 1888. Mein Schwager
~Fritz~ ist ihr etwa 10 Jahre später im Tode gefolgt, was für meinen
Vater im hohen Alter ein besonders schmerzlicher Verlust war.

Von seinen 6 Kindern sind nur noch 2 übrig geblieben, der eben erwähnte
Brauereidirektor und aus der zweiten Ehe der Sohn ~Otto~, der in
Nürnberg als Ingenieur in einer großen Maschinenfabrik tätig ist.

Meine zweite Schwester ~Emma~ hat ebenfalls ziemlich früh geheiratet
und zwar einen Arzt Dr. ~Albert Winnertz~ in Krefeld, den sie durch
meinen Schwager ~Mauritz~ kennen lernte.

Der Doktor war ein sehr kluger und liebenswürdiger Mensch, aber
leider krank und starb schon nach 3½jähriger Ehe an Tuberkulose.
Die junge Witwe kehrte dann mit 2 Kindern, ~Hedwig~ und ~Clara~, ins
Elternhaus nach Euskirchen zurück, und blieb dort fast 10 Jahre. Das
ist der Grund, warum ich sie am besten von allen meinen Schwestern
kennen gelernt habe und ihr besonders nahe getreten bin. Sie war
hübsch, liebenswürdig und sehr gewandt, sodaß mein Vater sie immer
Salondame nannte. Sie spielte recht gut Klavier. Ich erinnere mich
manchen Abends, wo ich stundenlang ihrem Spiel zuhörte, weil sie meist
klassische Sachen auf einem guten Piano vortrug. Ich glaube, daß ihr
Spiel mich hauptsächlich bewogen hat, ebenfalls Musik zu treiben. Im
Jahre 1872 entschloß sie sich nach langem Zögern, eine zweite Ehe mit
meinem Vetter ~Carl Fischer~ einzugehen, der in treuer Geduld um sie
geworben hatte. So kam sie nach Rheydt, wo schon zwei andere Schwestern
von ihr verheiratet waren. Ich habe sie dort öfter besucht und sie
kam wiederholt nach Würzburg und Berlin. Auch sind wir in späteren
Jahren häufig zusammen gereist. Sie trieb ihre Freundschaft für den
Bruder manchmal so weit, daß ihr Gatte eifersüchtig wurde und sich
über Zurücksetzung beklagte. Sie starb im Jahre 1901 am Typhus in
Nassau, und mein Schwager ~Carl~ überlebte sie um 14 Jahre. Sie hatte
den Schmerz, drei Söhne im jugendlichen Alter zu verlieren. Die vier
Töchter, zwei ~Winnertz~ und zwei ~Fischer~, haben sämtlich geheiratet
und sind mir liebe Nichten geblieben.

Meine dritte Schwester ~Berta~ war eine recht originelle Person, im
Grunde ihres Herzens sehr gutmütig, aber als Mädchen voller Launen,
gegen die Männer häufig recht unliebenswürdig, aber sehr tüchtig.
Nachdem sie im Alter von 29 Jahren meinen Schwager ~Mauritz~ geheiratet
hatte, wurde sie in Uerdingen wegen ihrer ungewöhnlichen Kunst im
Kochen und der Erziehung von Dienstboten, sowie wegen der Originalität
ihres Wesens eine bekannte Frau. Besonders jungen Leuten, z. B.
den Söhnen aus erster Ehe und deren Freunden war sie eine richtige
Kameradin, mit denen sie Karten spielte, Wein trank und Ausflüge
machte, fast wie ein Student. Ihr leider so früher Tod ist schon
erwähnt.

Die vierte Schwester ~Fanny~ war von kräftigem Körperbau, aber wenig
schön von Gesicht. Sie zeichnete sich in der Jugend durch Vorliebe für
Turnen, Tanzen und sogar Pistolenschießen aus. Sie zog als Gattin des
Holzhändlers ~Max Friedrichs~ im Jahre 1865 nach Rheydt, und ist hier
im Jahre 1912 im Alter von 70 Jahren gestorben. Sie war klug und als
Schülerin ebenso tüchtig, wie später als Hausfrau. Wie schon erwähnt,
konnte sie mit den bei Herrn ~Vierkötter~ erworbenen mathematischen
Kenntnissen noch im Alter eine Kubikwurzel ausziehen. Auch als
Dichterin besaß sie in der Verwandtschaft einen gewissen Ruf. Hübsche
Gelegenheitsgedichte und kleine Festspiele, um die sie von manchen
Seiten gebeten wurde, konnte sie in unglaublich kurzer Zeit verfassen.
Von ihren Kindern leben noch zwei Söhne, ~Ernst~ und ~Max~, die das vom
Vater ererbte bedeutende Holzgeschäft weiterführen, und zwei Töchter,
~Helene~ und ~Adele~, die auswärts verheiratet sind. Vom Schwager ~Max
Friedrichs~ wird später noch ausführlich die Rede sein.

Die jüngste Schwester ~Mathilde~ war nur 4 Jahre älter wie ich und
hat mir deshalb in der frühen Jugend am nächsten gestanden. Sie war
ein liebes, sehr gutmütiges, recht hübsches Mädchen, geistig nicht
besonders begabt, aber liebenswürdig und deshalb überall gerne
gesehen. Ihr Wesen hat ihr manche Huldigung von seiten der Offiziere
eingebracht, die während der Manöver oder während des Krieges 70/71 bei
uns im Quartier lagen, aber sie zog es doch vor, beim Zivil zu bleiben
und heiratete meinen Vetter ~Arthur Dilthey~ in Rheydt. Nach der Geburt
des dritten Kindes erkrankte sie und starb im Herbst 1879 in Rheydt
nach einer vergeblichen Kur in Meran. Es war nicht allein für meinen
Schwager, dem sie zwei Söhne und eine Tochter hinterließ, sondern auch
für meine Eltern und ganz besonders für meine Mutter ein schwerer
Schlag, der sehr ungünstig auf ihren eigenen Gesundheitszustand
zurückwirkte.

Ich habe dieser lieben »~Tilla~« ein dankbares und warmes Gedenken
bewahrt. 5 Jahre später ging mein Schwager eine zweite Ehe ein mit
~Frieda Weuste~, und diese hat es verstanden, den drei Kindern eine
wirkliche zweite Mutter zu sein. Das Ehepaar ~Arthur Dilthey~ lebt
jetzt noch in voller Rüstigkeit in Bonn. Von den drei Kindern ist
leider der Jüngste ~Alfred~ als Opfer des unseligen Krieges 1915 in
Rußland gefallen. Von meinem Schwager ~Arthur~, mit dem mich dauernde
Freundschaft verbunden hat, wird später die Rede sein.

Fast ebenso nahe wie die Schwestern standen mir in früher Jugend die
Vettern und die Kusine im Nebenhause. Der Älteste, ~Heinrich Fischer~,
5 Jahre älter wie ich, der als einziger Vertreter der Familie in
Euskirchen zurückgeblieben ist, war als Junge geneigt, sich von dem
übrigen Kreise etwas abzusondern. Er ist unverheiratet geblieben und
hat mehr und mehr die Gewohnheiten eines Originals angenommen.

Er wohnt jetzt in unserem früheren Hause und betreibt mehr zu seinem
Vergnügen das alte Spinnereigeschäft, aber in beschränktem Umfange.

Von den Vettern ~Ernst~ und dem Jüngsten ~Otto Fischer~ werde ich
später noch Manches zu berichten haben.

Vetter ~Lorenz~ ist früher schon wegen seiner hervorragenden
Eigenschaften als Jäger und Krieger erwähnt worden. In der Schule war
er weniger tüchtig, und infolge unvernünftiger Lebensführung ist er
im Alter von 35 Jahren an Tuberkulose gestorben. Sein jüngerer Bruder
~Hermann~ war ebenfalls für körperliche Leistungen besser veranlagt als
für geistige Tätigkeit. Er war ein sehr hübscher Mann, guter Turner und
Reiter und übersiedelte bald nach dem Tode seines Vaters nach Cöln.
Er wurde der Stammvater einer kriegerischen Familie; denn seine beiden
Söhne ~Kurt~ und ~Walter~ sind Berufsoffiziere geworden und seine durch
Schönheit ausgezeichneten Töchter sind beide glücklich verheiratet und
wohnen in Groß-Berlin.

Auch die drei Söhne meines Onkels in Flamersheim kamen bei der geringen
Entfernung von Euskirchen durch häufige wechselseitige Besuche vielfach
mit uns in Berührung. Die beiden ältesten ~Karl~ und ~August~ wurden
Kaufleute und haben später ein Geschäft in Baumwollgarn in Rheydt
geführt. Dort sind sie auch beide gestorben. Wie schon erwähnt, wurde
~Karl~ der zweite Gatte meiner Schwester ~Emma~. Er war trotz ziemlich
dürftiger Schulbildung ein kluger und geschäftsgewandter Mann, den man
gern in praktischen Dingen um Rat frug und mit dem ich häufig einen
Teil der Osterferien in Territet am Genfer See verbrachte.

Der zweite Sohn ~August~ war körperlich ungewöhnlich stark, ein
trefflicher Jäger und ein gutmütiger, zur Heiterkeit hinneigender
Gesellschafter. In geschäftlichen Dingen folgte er gern der größeren
Autorität seines Bruders Karl.

Ganz anders als die Brüder war der jüngste Flamersheimer Vetter
~Julius~, ein sehr gescheidter und kritischer Kopf, der am meisten
die geistige Regsamkeit und die Originalität seines Vaters geerbt
hatte. Er wurde Jurist, schlug die Richterlaufbahn ein und starb
verhältnismäßig früh an vernachläßigtem Diabetes in Cöln, wo er Richter
beim Oberlandsgericht war. In seinem früheren Aufenthaltsort Cleve
hat er sich verheiratet. Aus der Ehe stammt ein Sohn, der die Tochter
eines Großschafzüchters in Australien heiratete und dort eine neue
Heimat gefunden hat. Ich hoffe, daß er durch Naturalisation und durch
den Schutz des Schwiegervaters den Unbilden entgangen ist, die unsere
Landsleute während des Krieges in den englischen Kolonien erdulden
müssen. Die einzige Tochter hat einen ~Hans von Eicken~ aus Hamburg
geheiratet, den Sohn meiner Kusine ~Helene~ geb. ~Fischer~ aus Köln.

Der Vetter Julius besaß nicht allein Begabung für geistige Arbeit,
sondern hatte auch das besondere Talent, Erkundigungen einzuziehen.
Schon als Junge wußte er alles, was sich in der näheren und weiteren
Umgebung zutrug. Auch geschäftliche Dinge interessierten ihn. Man
konnte kaum etwas Komischeres hören, als wie eine Unterhaltung zwischen
ihm und seinem Vater, der von den Gaben des Sohnes sehr hoch dachte
und im vertraulichen Kreise nicht selten die Äußerung tat, »der »Jul«
wird noch Minister«. Im Alter hatte sich der Erwerbs- und Sparsinn
des Vaters bis ins Groteske hinein gesteigert, und er würde direkt
materiellen Mangel gelitten haben, wenn nicht der Sohn ~Julius~
zusammen mit seinen Brüdern im geheimen die Hauptkosten des Haushaltes
getragen hätten. Charakteristisch ist folgende Geschichte. Eines
Tages vermißte der Vater auf seinem kleinen Kontor die Hälfte eines
Hunderttalerscheines, und er kam auf den Verdacht, daß ein kleiner
Hund, der Liebling vom Sohn ~Julius~, diese Hälfte gefressen habe.
Er entschloß sich sofort, das Tier aufschneiden zu lassen und hatte
schon einen Operateur bestellt, als Julius von der Gefahr für seinen
Liebling Kenntnis erhielt. Es gelang ihm auch, den Vater zu beruhigen,
indem er ihm den Hund für 100 Taler abkaufte. Das Geschäft konnte
glücklicherweise bald nachher rückgängig gemacht werden, da sich die
zweite Hälfte des unglücklichen Hunderttalerscheines wieder vorfand.

Ich bin dem Vetter ~Julius~ in meiner Bonner Studienzeit näher
getreten. Er war damals Assessor beim Landgericht, und wir haben
hier und da im Rheinischen Hof eine gute Flasche Wein zusammen
getrunken. Ich mußte immer sein besonderes Talent bewundern, eine
Sache, die an und für sich ganz klar schien, von einer anderen
Seite zu betrachten, und Möglichkeiten zu entwickeln, an die ein
Laienverstand gar nicht denken konnte. Diese Art, die Welt in einem
besonderen Spiegel anzusehen, war für mich sehr anziehend, so daß ich
nach dem Doktorexamen im Herbst 1874 den Vetter zu einer Reise nach
der Schweiz aufforderte. Obschon zum Reisen wenig aufgelegt, ging er
darauf ein, und ich habe selten so viel gelacht, wie auf dieser Tour.
Schon bei der Abreise ließen ihn die landschaftlichen Schönheiten des
Oberrheintals, die lieblichen Bergzüge des Odenwaldes und Schwarzwaldes
ziemlich gleichgültig. Dagegen kontrollierte er aufs Genaueste den
fahrplanmäßigen Gang des Zuges und registrierte jede Minute Verspätung.
Zu dem Zweck hatte er gleich nach Besteigung des Zuges Krawatte,
Hemdenkragen und Rock ausgezogen und dafür einen Regenmantel angelegt.
Das sei die beste Methode, um sich gegen den Staub und Schmutz zu
schützen, den er für ungesund und unästhetisch hielt. In Basel machten
wir zuerst Station. Die Stadt und die Bewohner interessierten ihn
lebhaft, aber aus den Sehenswürdigkeiten und der Landschaft machte
er sich nicht viel. Er proklamierte damals für Reisen gleich den
Grundsatz: Die öffentlichen Gebäude von außen, die Berge von unten und
die Gasthäuser von innen anzuschauen. Ich habe später auch von anderen
Mitreisenden, z. B. meinem Freunde ~Wilhelm Königs~ ähnliche Worte
vernommen, aber sie wurden doch niemals so gewissenhaft durchgeführt,
wie von Vetter ~Julius~. Gegen die Abendstunde hatte er immer das
Bedürfnis, ein Glas Wein zu trinken, und beim Hinschlendern durch die
Stadt war sein Augenmerk auf die Entdeckung eines geeigneten Weinhauses
gerichtet. Dem Reisehandbuch traute er gar nicht, ebensowenig den
Aussagen der Hotelbedientesten, aber plötzlich entdeckte er auf der
Straße einen Mann mit einer ungewöhnlichen großen und feuerroten Nase.
»Der muß es wissen« sagte er sofort, und die Auskunft, die wir von dem
Herrn erhielten, bewies in der Tat, daß wir uns an die richtige Adresse
gewandt hatten.

Von Basel ging's nach Luzern, wo wir in einem Gasthause zweiten Ranges,
einem echten Schweizer Hause Quartier nahmen. Den Vetter interessierte
es besonders, mit der einheimischen Bevölkerung Fühlung zu nehmen, ihre
Sitten, Einrichtungen und Anschauungen kennen zu lernen. Es gelang ihm
auch rasch, mit einheimischen Stammgästen ins Gespräch zu kommen. Das
alles war begleitet von dem Konsum ziemlich ansehnlicher Weinmengen.
Der Reiseweg von dort aus war von ihm auf das genaueste festgestellt
und ist auch bis in Kleinigkeiten hinein inne gehalten worden. Er ging
zunächst über Flüelen, Andermatt und das Wallis zum Genfer See. Als wir
morgens das Schiff bestiegen hatten, um über den Vierwaldstätter See
in einer Landschaft, die wirklich des Sehens lohnt, nach Flüelen zu
fahren, fiel der Vetter, trotz prächtigen Wetters und des sehr schönen
Platzes auf dem Deck gleich nach der Abfahrt in tiefen Schlaf und
erwachte erst am Ende der Fahrt. Er schaute sich dann ganz befriedigt
um und sagte trocken: »Die Leute müssen denken, ich sei oft hier
gewesen«. Von Flüelen hatten wir die Wahl, nach Andermatt entweder mit
der Post oder auf Schusters Rappen zu kommen. Vetter ~Julius~ entschied
sich kurz für letzteres. Es war ein schwüler Tag und die Landstraße
von der Mittagsonne recht heiß und staubig. Das Gepäck hatten wir
der Post übergeben, die später abfuhr und zogen nun los. Der Vetter
meinte, der Mantel trage sich am bequemsten, wenn man ihn anziehe. Das
geschah, und trug nicht wenig dazu bei, den üppig genährten und an
körperliche Anstrengungen durchaus nicht gewöhnten Vetter in Dampf zu
versetzen. Unglücklicherweise machte um dieselbe Zeit eine Schwadron
schweizerischer Kavallerie Übungen in der Gegend. Kleine Trupps kamen
häufig an uns vorbei und entwickelten eine ungeheure Staubwolke, die
der Vetter für sehr schädlich hielt und der er zu entgehen suchte,
indem er den Straßendamm hinab ins freie Feld flüchtete. Durch all
diese Umstände war er nach 2 Stunden so erschöpft, daß ich Sorge bekam
und ihn aufforderte, in das nächste Gasthaus einzutreten und dann den
staubigen Teil des Weges mit der Post abzumachen. Er ging darauf ein
und hat nun die Post nicht mehr verlassen, bis wir an den Genfer See
gelangt waren. Ich selbst habe die schöneren Teile des Weges zu Fuß
gemacht, besonders die Strecke von Andermatt über die Furka nach dem
Rhonegletscher. Ich befand mich dabei in der Gesellschaft eines jungen
Amerikaners, dessen praktische Weise, zu reisen, mir besonders gefiel.
Er war von Kalifornien herüber gekommen und hatte kein anderes Gepäck,
als ein kleines Täschchen für Geld, Zahnbürste und Seife. Sobald er
in eine Stadt kam, kaufte er neue Leibwäsche, und verschenkte die
schmutzige. So hatte er sich schon 2 Monate in Europa herumgetrieben,
viel gesehen, sich trefflich unterhalten und hoffte den Trip noch
einige Wochen zu verlängern. Abends traf ich immer wieder mit dem
Vetter ~Julius~ im Gasthause zusammen und er wußte dann zahlreiche
Schnurren über abenteuerliche Postreisen im Gebirge und sonderbare
Reisegefährten zu erzählen. An der Teufelsbrücke hatte er sogar ein
neues physikalisches Phänomen entdeckt, d. h. einen umgekehrten
Regenbogen. Ich wollte es anfangs nicht glauben, habe mich aber später
überzeugt, daß bei Wasserfällen durch die Zerstäubung des Wassers in
kleine Tropfen bei richtigem Stand der Sonne und des Beobachters diese
Erscheinung in der Tat eintreten kann.

Von den landschaftlichen Schönheiten der Schweiz war wenig die Rede.
Dagegen interessierte ihn Genf als die Stadt Calvins und als der
Hauptsitz des schweizerischen Finanzgeschäftes. Auch hier erlebte ich
mit ihm eine komische Szene. Er behauptete, das Wasser, das er zuhause
niemals trank, sei in der Schweiz besonders heilsam, nur müßte man es
direkt aus der Naturquelle entnehmen. So liebte er es denn, bei den
vorgefundenen Brunnen direkt vom Wasserstrahl zu trinken. Das machte
er auch bei einem Brunnen in Genf, mußte sich aber, um ans Wasser
heran zu kommen, auf die gemauerte Brüstung legen und pendelte hier
nun hin und her, um den Strahl mit seinem Munde aufzufangen. Das Bild
des kleinen, stark genährten Mannes, auf der Brüstung des Brunnens
liegend und trinkend, war so überaus komisch, daß sich ein großer Kreis
von Zuschauern bildete. Als er fertig war und die versammelte Menge
erblickte, sagte er ruhig, da sehe man wieder, daß man mit wenig Mühe
den Leuten viel Spaß machen könne. Von Genf sind wir mit dem Omnibus
nach Chamonix gefahren und ich habe dort mehrere kleine Bergtouren
gemacht. Seinem Grundsatze getreu blieb Vetter ~Julius~ im Hotel; durch
fleißige Erkundigungen bei Touristen, Führern und sonstigem Volk war
er aber nachher über Bergtouren viel besser unterrichtet als die große
Zahl der Reisenden. Selbstverständlich kontrollierte er auch alle Gäste
des Hotels und berichtete eines Abends, draußen beim Wetterhäuschen sei
ein aufgeregter deutscher Professor, der die Instrumente kritisiere
und das Publikum über den bevorstehenden Wechsel des Wetters belehre.
Ich erfuhr nachher, daß es ~Rudolf Fittig~ aus Tübingen sei, der mir
als trefflicher Chemiker aus der Literatur schon bekannt war. Ich
habe damals nicht gewagt, mich ihm vorzustellen, bin aber einige Jahre
später zu ihm in ein näheres Verhältnis getreten. Unter den Fußtouren,
die ich von Chamonix unternahm, war auch die damals sehr beliebte
Überquerung des mer de glace und der Abstieg über den mauvais pas. Für
berggeübte Wanderer ist das ein Spaziergang, aber Leute ohne Erfahrung
und ohne das richtige Schuhwerk konnten doch recht leicht ausgleiten
und verunglücken. Ich habe deshalb beim Übergang über das Eis mit einem
gewissen Schrecken mich daran erinnert, daß mein Vater 5 Jahre vorher
denselben Weg mit 5 Damen, d. h. meiner Mutter, zwei Schwestern und den
beiden Kusinen ~Marie~ und ~Helene Fischer~ aus Cöln unternommen hatte.
Er erzählte auch hinterher, daß es die angstvollsten Stunden seines
Lebens gewesen seien.

Die Damen schienen sich dieser Gefahr weniger bewußt zu sein, sie
haben im Gegenteil auf dieser Schweizer Reise eine ganze Anzahl von
merkwürdigen und lustigen Erlebnissen gehabt, von denen noch lange in
unserem Hause geredet wurde.

Der Eindruck, den Vetter ~Julius~ von der Schweiz mit nach Hause nahm,
war viel nüchterner; denn als wir wieder im Rheintal waren, meinte er,
es sei nicht der Mühe wert, nach der Schweiz zu fahren, denn hier gäbe
es auch Berge und Wasser und im Winter Schnee und Eis im Überfluß.
Er hat meines Wissens nie mehr die Grenzen des deutschen Reiches
überschritten. Dagegen bin ich in späteren Jahren oft und gern in die
Schweiz und besonders an den Genfer See zurückgekehrt, habe aber das
Chamonixtal nicht mehr gesehen.




                            Gymnasialzeit.


Begleitet von meinem Vater fuhren Vetter ~Ernst~ und ich anfangs
Oktober 1865 nach Wetzlar, wo mein Vater uns bei dem Direktor des
Gymnasiums anmeldete. ~Ernst~ wurde auf Grund seines Abgangszeugnisses
von Duisburg ohne Anstand in die Prima aufgenommen. Ich mußte aber
eine Prüfung durchmachen, weil die Schule zu Euskirchen nicht als
gleichberechtigt angesehen wurde. Ich habe sie ohne Mühe bestanden und
wurde in die Untersekunda, die mit der Obersekunda in einer Klasse
vereinigt war, aufgenommen. Noch heute klingt mir das Gelächter in
den Ohren, das die Mitschüler erhoben, als ich zum ersten Mal in
meiner markanten niederrheinischen Mundart in der Klasse sprechen
mußte. Natürlich erschien mir der Wetzlarer Dialekt, der stark an das
Frankfurter Deutsch anklingt, ebenso ungewöhnlich und komisch. Ich habe
mich aber bald in dem Kreise zurechtgefunden und wurde nach ½ Jahr
sogar Primus der Untersekunda.

Die originellste Persönlichkeit unter den Lehrern war der Mathematiker
~Elstermann~. Die stark mit Kreide beschriebene Tafel pflegte er im
Eifer mit seinem langen schwarzen Rock zu reinigen, und die dabei
beschmutzten Finger steckte er in das lange buschige Haar. Er war ein
guter Mensch und ausgezeichneter Lehrer, der die schwierige Aufgabe,
mathematisches Denken in so viel jugendliche Köpfe hineinzubringen,
geradezu mit Leidenschaft betrieb.

Wenn er beim Abfragen der einzelnen Schüler auf Mangel an Verständnis
oder Interesse stieß, so pflegte er zur eigenen Beruhigung einem gerade
in Reichweite befindlichen anderen Schüler eine kleine Ohrfeige zu
versetzen. Wenn diese mit steigender Erregung heftiger wurden und der
Empfänger unwillig den Lehrer anblickte, dann pflegte er zu sagen:
»Gib sie später dem, der sie verdient hat, wieder«. Er hat es aber
mit seiner Methode erreicht, daß der mathematische Unterricht an dem
Wetzlarer Gymnasium ungewöhnlich gute Resultate brachte.

Das gerade Gegenteil von diesem Mann war der Religionslehrer, den wir
fürchteten und haßten, weil er boshaft war und in vielen Dingen den
Spion machte. Auch unser Ordinarius, ein klassischer Philologe, genoß
wenig Sympathie. Ich habe nur seinen Spitznamen »Specht« behalten. Er
war mir anfangs gewogen, entzog mir aber schon im zweiten Semester
seine Gunst, weil er mit dem Vetter ~Ernst~ in der Prima Differenzen
gehabt hatte. Der Zorn meines Vetters auf diesen Lehrer war so groß,
daß er sich zu einem dummen Streich hinreißen ließ, der ihm schweren
Schaden hätte bringen können. In Verbindung mit einem anderen Primaner
warf er nämlich in tiefer Nacht mehrere Fenster in der Wohnung des
Lehrers ein. Ich erfuhr von dieser Tat erst, als sie begangen war, und
ich bin glücklicherweise der einzige Mitwisser geblieben. Der Streich
erregte großen Lärm in der Schule und der Lehrer Specht machte in
den Klassen verlockende Versprechungen für einen Verräter, aber das
Geheimnis blieb gewahrt.

Wir lebten in Wetzlar, abgesehen von der Schulaufsicht, ähnlich
wie Studenten, denn der Hauswirt kümmerte sich um unser Tun und
Treiben gar nicht. Der Hausschlüssel lag jede Nacht in einer Rinne
im Steinsockel unter der Haustüre, und wenn wir für Schulversäumnis
Zeugnisse über Unwohlsein und dergl. nötig hatten, so unterschrieb
er alle Schriftstücke, die wir ihm vorlegten. Wir nannten ihn das
Kaffeehäubchen, wegen eines runden Käppchens, das er gewöhnlich trug.
Sein Bruder trug den Spitznamen »Der Eisbär«.

Vetter ~Ernst~ und ich hatten zusammen ein Wohn- und Schlafzimmer.
Außerdem waren noch zwei andere Gymnasiasten und ein Einjährig-
Freiwilliger in dem Hause einquartiert. Der Pensionspreis war
recht billig. Er betrug für Wohnung, Heizung und völlige Verpflegung
mit Ausnahme alkoholischer Getränke im Jahre nur 110 Taler, also
pro Tag und Person etwa 1 Mk. Man kann sich denken, daß es dafür
keine lukullischen Mahlzeiten gab. Im Gegenteil, die Kohlrübe und
Backpflaumen mit Schweinefleisch spielten dabei eine erhebliche Rolle.
Ich sehe noch immer den Eisbär in dem Bache, der an unserem Wohnhause
vorüber floß, in einer Bütte die Rüben waschen, die für unsere
Ernährung bestimmt waren. Ich habe mir damals nicht träumen lassen, daß
die Kohlrübe 50 Jahre später ein so viel gebrauchtes und ebenso viel
verwünschtes Nahrungsmittel für das deutsche Volk werden würde.

Die Kontrolle unserer Lebensweise von seiten der Schule war nicht allzu
streng. Man besuchte sich gegenseitig auf den sogen. »Buden« und unser
Haus bildete von je her einen beliebten Versammlungsort. Leider war
die Mehrzahl der Mitschüler, mit denen ich verkehren mußte, erheblich
älter als ich; denn es befanden sich darunter viele Bauernsöhne, die
erst im reiferen Alter zum Studieren bestimmt worden waren. Einer
davon, der noch in unserer Klasse saß, zählte schon 21 Jahre. Die
Gewohnheiten dieser jungen Männer waren natürlich anders, als sie für
einen Knaben von 13 Jahren paßten. Ihre Gesellschaft war deshalb nicht
gerade vorteilhaft für mich. Man bemühte sich, mir möglichst bald das
Tabakrauchen, Biertrinken und Skatspielen beizubringen und die übliche
Unterhaltung war auch in der Regel auf einen rohen und unanständigen
Ton abgestimmt. Das alles ist gewiß nicht ohne Einfluß auf meine von
Hause aus recht gute Gesundheit gewesen und ich fürchte, daß der Grund
zu meiner späteren Magenkrankheit schon damals durch Unmäßigkeit im
Rauchen und Trinken gelegt worden ist.

Glücklicherweise bot die Musik ein Gegengewicht gegen die so
ungünstigen Einflüsse. Vetter ~Ernst~ war musikalisch ungewöhnlich
begabt und hatte eine Zeitlang sogar die Absicht, Musiker von Beruf zu
werden. Auf dem Klavier war er für unsere Begriffe schon ein halber
Virtuose, aber außerdem spielte er Geige, Violoncell und Flöte. Ich
selbst war gegen ihn ein Stümper, hatte es aber durch fleißige Übung
auf dem Klavier soweit gebracht, daß ich Sonaten von Haydn, Beethoven
und Mozart usw. leidlich spielen konnte. Infolgedessen wurde ich vom
Vetter ~Ernst~ auch beim Zusammenspiel zugelassen, und da sich noch
einige Andere musikalische Mitschüler fanden, so haben wir häufig Trio
und Quartett auf unserem Zimmer gespielt. Unsere Musik war so gut, daß
manche Leute in der Nachbarschaft freudigen Anteil daran nahmen. Den
Ansprüchen der Schule konnten Vetter ~Ernst~ und ich ohne große Mühe
Genüge leisten. Eine für uns ganz erwünschte Unterbrechung erfuhr der
Schulbetrieb im Sommer 1866 durch den Krieg Preußens mit Oesterreich
und den Süddeutschen Staaten. Der preußische Kreis Wetzlar war damals
ganz umgeben von feindlichen Staaten d. h. von Hessen-Darmstadt und
Nassau.

Nachdem die preußischen Truppen ausgerückt waren, blieben wir infolge
der Unterbrechung des Eisenbahn- und Postdienstes für mehrere Wochen
ganz abgeschnitten, und dann kam noch ein viel wichtigeres Ereignis,
die Invasion feindlicher Truppen. Es war, wenn ich nicht irre, eine
Badische Division, die aus der Umgegend von Gießen in den Kreis
einrückte. Sobald wir davon Kenntnis erhielten, trieb uns die Neugier
diesen feindlichen Kriegern entgegen, und ich selbst mit einigen
Mitschülern genoß das Vergnügen, von einer Feldwache gefangengenommen
zu werden. Wir wurden regelrecht verhört und dann wieder weggeschickt.
Zu unserer ungewöhnlichen Freude ging es aber dem unbeliebten
Religionslehrer des Gymnasiums viel schlechter. Er hatte sich ebenfalls
die fremden Soldaten ansehen wollen, die aber gleich in ihm die
Spionnatur, die wir Schüler so fürchteten, erkannten und ihn mehrere
Tage festhielten. Einige Tage später rückten die Feinde auch in die
Stadt Wetzlar ein und belegten die öffentlichen Gebäude, zu unserer
Freude auch das Gymnasium. Wir hatten also etwa 8 Tage unerwartete
Schulferien und dadurch Muße genug, uns mit den feindlichen Truppen zu
beschäftigen.

Die Kriegführung war damals gemütlicher als heute. Die badischen
Soldaten ließen sich zwar gut auf Kosten der Stadt verpflegen,
betrugen sich aber sehr anständig, und das Verhältnis zwischen
ihnen und den Bürgern der Stadt und namentlich uns Gymnasiasten
war recht freundlich. Sie zogen wieder ab, weil inzwischen die
preußischen Truppen durch kräftige Schläge bei Kissingen und am Main
das Hauptheer der süddeutschen Staaten besiegt hatten. Die nächsten
Soldaten, die in die Stadt einzogen, waren leider nur Verwundete,
meist Preußen und Bayern, denen wir aufrichtige Teilnahme schenkten;
dann kam auch alte preußische Landwehr, die in den benachbarten
hessischen und nassauischen Dörfern als sogen. Fresskompagnie zur
Beruhigung der etwa rebellischen Bevölkerung verteilt wurde. Durch die
siegreichen Schlachten in Böhmen ging der Krieg bald zu Ende und der
Schulunterricht wurde nun mit verdoppelter Strenge bis zu den Ferien
wieder aufgenommen.

Die Herbstferien dieses Jahres wurden mir völlig verdorben durch
die Konfirmation, die in Flamersheim stattfand; denn ich mußte
in etwa 4 Wochen den ganzen Heidelberger Katechismus und eine
Reihe von Kirchenliedern auswendig lernen, da ich vorher an dem
Konfirmandenunterricht nicht teilnehmen konnte. Das gelang mir
infolge meines guten Gedächtnisses, aber es trug nicht dazu bei,
meinen kirchlichen Glauben, der schon vorher durch den Einfluß meiner
älteren Mitschüler in Wetzlar, durch das Lesen des Lebens Jesu von
~David Strauß~ größtenteils verloren gegangen war, zu kräftigen.
Tatsächlich bin ich als Freigeist, aber doch mit einem gewissen Gefühl
der Beschämung an den Tisch des Herrn getreten, und ich habe den
positiven Glauben, den ich in der frühen Jugend besaß, niemals wieder
gewonnen. Dagegen bin ich in späteren Jahren wieder zu der Überzeugung
gekommen, daß die Religion ein wichtiger Teil der menschlichen Kultur
ist und daß der christliche Glaube dem einzelnen Menschen großen
sittlichen Wert und inneres Glück geben kann. Meine eigene Mutter und
manche der katholischen Mitschüler oder Studiengenossen lieferten den
Beweis dafür, und ich habe später in Berlin bei meinen eigenen Söhnen
bedauert, daß der Einfluß der Großstadt und leider auch die Atmosphäre
der Berliner Schulen der Pflege religiösen Gefühls so wenig günstig
sind.

Ein zweites Jahr in Wetzlar verlief ohne politische Störung und
brachte schließlich dem Vetter ~Ernst~ das Zeugnis der Reife und
mir die Versetzung nach Prima. Ich hatte aber inzwischen Wetzlar
satt bekommen und verließ deshalb mit dem Vetter die Schule. Als
Erinnerungen an den Wetzlarer Aufenthalt sind mir geblieben die
landschaftlichen Schönheiten, die altertümliche Bauart der alten, an
einem Bergabhang gelegenen Stadt und die zahlreichen, auch von uns mit
Ehrfurcht gepflegten Goethe'schen Überlieferungen. Werthers Leiden
war selbstverständlich ein viel gelesenes Buch, ohne daß wir aber von
der krankhaften Stimmung des Helden beeinflußt worden wären. Mit den
Schulkameraden aus dieser Zeit bin ich niemals wieder in Berührung
gekommen und auch die Stadt habe ich nicht wieder gesehen.

In den Herbstferien, die ich gewöhnlich zu Hause verbrachte, wurde
als Schule für mich zunächst das Friedrich Wilhelm-Gymnasium zu Cöln
in Aussicht genommen. Mein Vater machte auch die nötige Meldung
bei dem Direktor, einem Professor ~Jäger~, der als Verfasser einer
Weltgeschichte bekannt geworden ist, und der als ausgezeichneter
Schulmann aus Württemberg nach Cöln berufen worden war. Die Schule war
wegen der guten Leitung überfüllt. Trotzdem hatte mich der Direktor
für die Prima vorgemerkt, weil er meinem Onkel, dem Chirurgen, für die
Errettung seiner Frau aus schwerer Lebensgefahr sich zu besonderem
Danke verpflichtet fühlte. Aber in der brieflichen Antwort, die er
meinem Vater schickte, war meine Aufnahme nicht klar ausgesprochen und
die Überfüllung der Schule so stark betont, daß wir das Gefühl der
Ablehnung unseres Gesuches hatten.

30 Jahre später habe ich den Direktor auf der zweiten Schulkonferenz
im Kultusministerium zu Berlin kennen gelernt. Dabei wurde das
Mißverständnis über die vermeintliche Ablehnung meiner Anmeldung
aufgeklärt, und der alte joviale Herr knüpfte daran die scherzende
Bemerkung: »Was hätte aus Ihnen werden können, wenn Sie unter meinen
Bakul gekommen wären«. Durch die Verhandlungen in Cöln war viel Zeit
verloren gegangen. Das Schuljahr hatte schon begonnen und ich mußte
nun schleunigst sehen, anderswo unterzukommen. Die Wahl fiel auf das
Gymnasium zu Bonn, wo ich auch richtig an meinem 15. Geburtstage
Aufnahme fand. Mein Einzug in die Schule vollzog sich unter scheinbar
wenig erfreulichen Auspizien. Es war gerade die Stunde der Mathematik
und als der alte Lehrer, Professor ~Zirkel~, der Vater des bekannten
Leipziger Professors der Mineralogie, mich erblickte, frug er mich
zornig nach Namen und Herkunft und erklärte dann, meine späte Ankunft
wäre eine Rücksichtslosigkeit; denn jetzt sei er genötigt, seine Liste
wieder zu ändern. Bald darauf klopfte es an der Klassentür und der
Schüler, der zum Nachsehen hinausgeschickt wurde, kam lachend zurück.
Draußen sei der Vater des neuen Primaners und lade seinen Sohn ein,
heute Mittag um 1 Uhr zum Essen im Gasthof Stern zu erscheinen. Das
brachte den Zorn des Lehrers von neuem in Wallung und er wurde zum
Jubel der ganzen Klasse in seinen Vorwürfen so heftig, daß ich im
Begriff war, die Schule wieder zu verlassen und jede Antwort auf seine
weiteren Fragen verweigerte. Da merkte er, daß er zu weit gegangen war.
Er änderte den Ton, und um mich zu versöhnen, frug er nach Euskirchen
und dem Flamersheimer Walde, den er wohl kannte. Nun wurde mir erst
klar, daß er im Grunde ein gütiger Mann war, und da er bald mein
Interesse für Mathematik entdeckte, so sind wir die besten Freunde
geworden. Wenn er sich über die anderen Primaner, von denen manche
nicht sehr ehrerbietig gegen ihn waren, geärgert hatte, so pflegte
er den Rest der Stunde mit mir allein mit Rechnungen an der Tafel zu
verbringen.

Das Gymnasium war im allgemeinen, was den Unterricht anbetraf,
der Schule in Wetzlar nicht ebenbürtig. Das lag zum Teil an dem
Übergewicht, das der Religionslehrer, ein katholischer Geistlicher
besaß. Er übte eine wahre Tyrannei aus, worunter allerdings wir
Protestanten nicht litten, wodurch aber der wissenschaftliche
Unterricht sicherlich geschädigt wurde. Der zweite Grund waren das
Alter und die Krankheit des Direktors. Er besaß von früher her als
Philologe und besonders als Horaz-Übersetzer einen recht guten Ruf.
Aber zu meiner Zeit war er kaum mehr arbeitsfähig, und ist bald
nachher gestorben. Auch seinem Nachfolger, einem kleinen Geist,
gelang es nicht, die Schule zu neuer Blüte zu bringen. Von den
Lehrern war der tüchtigste ein Herr ~Deiters~, der später in das
Provinzialschulkollegium zu Coblenz berufen wurde; aber wir haben
ihn wegen seines Sarkasmus und seiner Strenge gefürchtet. Nächst dem
Mathematiker ~Zirkel~ war der Lehrer des Deutschen Professor ~Remacly~
die originellste Persönlichkeit. In lebhafter Erinnerung ist mir auch
der Ordinarius geblieben, ein klassischer Philologe, der infolge seiner
außerordentlichen Kurzsichtigkeit große Mühe hatte, die Schuldisziplin
aufrecht zu erhalten. Als Liebhaberei betrieb er das Sammeln von alten
Münzen und man konnte ihm durch Lieferung römischer Münzen, die damals
im Rheinland vielfach gefunden wurden, die größte Freude bereiten.
Seine Neigung, alle Stücke, die man ihm zur Prüfung vorzeigte, als
Eigentum zu behalten, gab eines Tages Anlaß zu einem übermütigen
Schabernack. Zwei Spaßvögel aus unserer Klasse hatten Hosenknöpfe, die
den Namen eines Bonner Schneiders »Hannes« trugen, durch geschickte
mechanische und chemische Behandlung in einen Zustand versetzt, der sie
stark verwitterten römischen Münzen ähnlich machte. Diese Kunstprodukte
wurden dann dem Herrn Ordinarius als merkwürdige Fundstücke
überliefert. Er war aber Kenner genug, um nach einigen Studien die
Fälschung festzustellen und gab dann seiner berechtigten Entrüstung
einen sehr energischen Ausdruck. Auch für römische Inschriften besaß
er großes Interesse, und er brachte uns die Kunst bei, Abdrücke
davon in Pappe zu machen. Es hat mir Freude bereitet, diesen Mann,
dessen wissenschaftliche Bemühungen mir Achtung einflößten, Abdrücke
von einigen römischen Inschriften aus der Gegend von Zülpich, dem
angeblichen Tolbiacum der Merovinger Zeit, und Weingarten bei
Euskirchen, wo sich die Überreste eines römischen Kastells befanden, zu
liefern.

Auf der Bonner Prima habe ich zum erstenmal einen Religionsunterricht
genossen, der mich wirklich interessierte, denn der Lehrer, der
gleichzeitig protestantischer Pastor in Bonn war, ließ uns das neue
Testament in griechisch lesen und wußte die handelnden Personen so
lebendig und im Zusammenhang mit den großen historischen Ereignissen
jener Zeit zu schildern, daß ich einen Begriff bekam nicht allein von
der großen sittlichen Kraft der christlichen Lehre, sondern auch von
der gewaltigen geistigen, sozialen und politischen Bewegung, die sie
ausgelöst hat. Aus den Schilderungen dieses Mannes waren mir die alten
christlichen Gebräuche, die Katakomben zu Rom und ähnliche Dinge längst
bekannt, ehe ich sie im Original gesehen habe.

Außerhalb der Schule war ich in Bonn sehr gut aufgehoben; denn ich
wohnte bei einer Familie ~Kemp~ in der Bonngasse, wenige Schritte vom
Gymnasium entfernt, wo es eine vortreffliche Verpflegung gab. Außer
mir wohnte dort noch ein Oberprimaner ~Fischenich~, der Sohn eines
Landwirtes aus der Nähe von Flamersheim, recht musikalisch und ein
guter Kamerad. Es hat mich gefreut, daß mein Sohn ~Hermann~ mit dem
Sohn dieses alten Schulkameraden an der Schlachtfront in Lothringen
bekannt wurde und ihn etwa vor einem Jahre als Gast in Berlin mir
zuführte. Dann gab es noch zwei viel jüngere Gymnasiasten der unteren
Klassen. Wir alle waren bei den Mahlzeiten mit der Familie und den
Angestellten des Geschäfts versammelt. Der Wirt betrieb mit seinem
Sohn unter der Firma »~Paul Kemp & Sohn~« ein einträgliches Geschäft
in Galanteriewaren, studentischen Artikeln jeder Art, in Pelzwaren und
sogar zur Faschingszeit in Maskenanzügen. Das brachte einen großen
Verkehr und viele lustige Ereignisse ins Haus, und ich habe dort zwei
wirklich heitere Jahre verlebt. Mein Vetter ~Ernst Fischer~ studierte
zur selben Zeit in Bonn Medizin, und obschon seine Bude in einem
anderen Hause lag, so haben wir doch manchmal zusammen musiziert.

Selbstverständlich wurden wir auch in Bonn mit dem studentischen Leben,
seinen berechtigten und unberechtigten Eigentümlichkeiten, vertraut und
ich habe schon damals mit Eifer Unterricht im Säbelfechten auf dem
Universitätsfechtboden genommen. Die Folge davon war, daß ich später
als Angehöriger der Universität an diesen Dingen kein Interesse mehr
besaß.

Im August 1869 bestand ich in Bonn das Abiturientenexamen, und das
Abgangszeugnis beweist, daß ich kein schlechter Schüler gewesen bin.
Trotzdem habe ich zu meinem eigenen Bedauern dem Gymnasium kein
freundliches Gedenken bewahren können. Ich halte mich für verpflichtet,
das hier auszusprechen, weil ich das Gefühl habe, daß das humanistische
Gymnasium die Anforderungen nicht erfüllt, die man an es stellt, und
nicht, wie meist behauptet wird, seinen Zöglingen die allgemeine
geistige Reife gibt, die zum Besuch der Hochschule nötig ist. Ich
spreche hier nicht als Naturforscher, der es immer beklagen mußte, auf
der Schule einen ungenügenden mathematischen Unterricht genossen zu
haben. Mein Urteil bezieht sich auch auf den sprachlichen Unterricht,
der in der jetzigen Form mit der unmäßigen Betonung grammatikalischer
Kenntnisse sicherlich verkehrt ist. Wieviel kostbare Zeit haben wir
auf das unsinnige Auswendiglernen von Regeln verwenden müssen! Die
seltensten Ausnahmen von einer Deklination oder Konjugation, die selbst
dem Berufsphilologen in der Praxis kaum vorkommen, mußte man wissen,
um ein guter Schüler zu sein. Von den Schönheiten der klassischen
Literatur, von ihrem engen Zusammenhang mit der bewundernswerten
allgemeinen griechischen Kultur war beim Unterricht fast nie die Rede.
Ich bin fest überzeugt, hätten unsere Lehrer auf solche Dinge den
Hauptnachdruck gelegt, die meisten von uns wären ihnen mit Begeisterung
gefolgt, während wir so den Geschmack am klassischen Altertum geradezu
verloren haben und froh waren, mit dem Abiturium diese Studien aufgeben
zu können.

Zur Feier des Schlußexamens konnte ich die ganze Klasse in den Garten
meines Wirtes einladen, denn mein Vater hatte zu diesem Zweck ein
stattliches Faß Bier aus der Dortmunder Brauerei gestiftet.

Im Alter von 16¾ Jahren stand ich nun vor der Wahl des Berufes.
Nach meinem Geschmack wäre ich am liebsten Mathematiker und Physiker
geworden, aber mein Vater hielt diese Wissenschaften für zu abstrakt
und die Möglichkeit für zu gering, sich mit ihnen eine materiell
gesicherte Existenz zu schaffen. Er pflegte deshalb seinen Rat in die
Worte zu kleiden: »Wenn du durchaus studieren willst, so wähle die
Chemie«, deren praktisch nützliche Seite ihm von seinen geschäftlichen
Unternehmungen her bekannt sei. Im geheimen mag er aber wohl immer
noch die Hoffnung gehabt haben, daß ich mich zu einer kaufmännischen
Tätigkeit entschließen würde, da ich der einzige Sohn war und er mich
begreiflicherweise gern als Nachfolger in seinem Geschäft gehabt hätte.
Da ich zudem noch recht jung war und der unmittelbare Besuch einer
Universität für mich keinen besonderen Reiz mehr bot, so machte er mir
den Vorschlag, auf 1 bis 2 Semester in ein kaufmännisches Geschäft
einzutreten. Damit war ich einverstanden und kam deshalb im Oktober
1869 in das Holzgeschäft meines Schwagers ~Max Friedrichs~ zu Rheydt
und gleichzeitig als Pensionär zu meiner Schwester ~Fanny~, seiner Frau.

Nach den strengen Regeln des Geschäfts wurde ich als unterster Lehrling
betrachtet und behandelt. Zu meinen Funktionen gehörte das Abholen der
Post, das Zukleben der Briefe und dergl. und zur Übung mußte ich ein
kleines Geschäftsjournal, aber nur zu meiner Belehrung ohne Gültigkeit
für das Ganze führen. Hier und da wurde ich auch mit einem kleinen
Auftrage zu den Kunden, die zum großen Teil kleine Tischler waren,
geschickt.

Auf dem Holzplatz hatte ich nichts zu sagen, durfte aber den
verschiedenen Arbeiten, Sägen, Hobeln, dem Transport der Stämme, dem
Verpassen des Bauholzes usw. zuschauen. Dieses Technische, das damals
noch sehr unvollkommen war und meistens mit der Hand gemacht wurde,
hat mich mehr interessiert, wie die pedantischen Kontorarbeiten.
Aber das Ganze war doch für meinen Geschmack so langweilig, daß
ich schon nach wenigen Wochen auf Rat eines Lehrers der höheren
Schule zu Rheydt mir ~Stöckhardts~ Schule der Chemie mit den dazu
gehörigen Apparaten anschaffte und in einem leerstehenden Zimmer des
Geschäftsgebäudes ein winziges Laboratorium einrichtete. Die Versuche
waren natürlich höchst stümperhaft, endigten mit einigem Gestank oder
beschmutzten und verbrannten Fingern, und wurden dem Geschäftsinhaber
wegen der Feuersgefahr recht unbequem. Die Abende verbrachte ich mit
Klavierspielen oder im Gasthaus mit Biertrinken, Tabakrauchen und
Billardspielen.

Der Schwager war mit meinen Leistungen sehr unzufrieden, erklärte mich
für den schlechtesten Lehrling, den er je gehabt, und ließ sich einmal
im ärgerlichen Unwillen anderen Mitgliedern der Familie gegenüber zu
der Bemerkung hinreißen: »Aus dem Jungen wird nie etwas«. Er ist später
wegen dieses Urteils viel geneckt worden, aber allmählich kam auch mein
Vater zu der Überzeugung, daß die kaufmännische Laufbahn für mich nicht
das Richtige sei. Er drückte diese Meinung drastisch aus in dem Satze:
»Der Junge ist zum Kaufmann zu dumm, er soll studieren«.

Inzwischen hatte ich bei dem erwähnten Lehrer der Chemie einige
Privatstunden genommen, und mir dabei eine ganz oberflächliche Kenntnis
der Atomtheorie angeeignet. Ich kann aber nicht sagen, daß ich davon
besonders ergriffen worden wäre. In der Form, wie sie mir dargestellt
und wie ich sie auch aus einem kurzen Lehrbuch der Chemie kennen
gelernt hatte, erschien sie mir gegenüber den abgerundeten Lehren der
Physik zu dürftig und unsicher.

Im Frühjahr 1870 hatte ich das Unglück, mir, wahrscheinlich
durch Erkältung, einen Magenkatarrh zuzuziehen, der infolge von
Vernachlässigung und ungenügender ärztlicher Behandlung in einen
chronischen Zustand überging. Vorbereitet war vielleicht das Leiden
durch das unsinnige Rauchen und Biertrinken, das ich schon in jungen
Jahren in Wetzlar begonnen und seitdem dauernd beibehalten hatte. Der
akute Ausbruch der Krankheit erleichterte mir den Abschied von Rheydt
und ich kehrte nach Euskirchen zurück, um mich auszukurieren. Aber der
chronische Magenkatarrh war in der Familie etwas ganz Unbekanntes, und
auch die Ärzte verstanden damals von der Behandlung desselben recht
wenig. Mit den schönen Methoden der Jetztzeit hätte ich in 4 bis 6
Wochen meine volle Gesundheit wieder erlangen können. So aber habe ich
trotz der Ratschläge meines sonst als Arzt so ausgezeichneten Onkels
in Cöln fast 2 Jahre mich mit der Krankheit herumgeschlagen, und der
Verdauungstraktus ist niemals wieder so kräftig geworden, wie er zuvor
gewesen. Den Sommer 1870 verbrachte ich in Euskirchen, beschäftigte
mich viel im Garten und soweit es möglich war, auf der Jagd. Auf
Anraten der Ärzte ging ich Mitte Juli, am Tage der preußischen
Mobilmachung mit meiner Mutter nach Bad Ems, um das dortige alkalische
Wasser als Heilmittel für den Magen zu trinken. Es herrschte damals
eine begreifliche Unruhe im Rheinland, da man glaubte, daß Frankreich
sich für den Krieg längst vorbereitet habe und seine Truppen alsbald
in die preußischen Rheinlande schicken würde. Mein Vater hatte sich
schon darauf vorbereitet, meine unverheirateten Schwestern, sowie Geld,
Wertpapiere und andere leicht transportable Gegenstände auf das rechte
Rheinufer zu bringen. Um so merkwürdiger berührte es meine Mutter und
mich, daß wir auf der Fahrt nach Ems, wobei wir die Festung Coblenz
passierten, gar keine militärischen Vorbereitungen beobachteten. Der
einzige Soldat, den wir von der Eisenbahn aus in der Festung sahen,
war ein Offiziersbursche, der einen Kinderwagen schob. Aber im Stillen
war der preußische Mobilisierungsapparat schon im vollen Gange, und 8
Tage später sah man überhaupt fast nur noch Soldaten. Dann begannen
auch die großen Truppentransporte, von denen wir in Ems viel zu sehen
bekamen, da es an einer Haupteisenbahnlinie von Ost nach West gelegen
ist. Anfangs August fanden die siegreichen Schlachten bei Weißenburg,
Woerth, Saarbrücken statt, und in Deutschland hatte man sofort das
Gefühl, daß die Gefahr einer feindlichen Invasion beseitigt sei. Zwei
Tage vor meiner Ankunft in Ems war König Wilhelm von dort abgefahren
und von den Erinnerungen an ihn, sowie an die Verhandlungen mit dem
französischen Botschafter war in der Kurgesellschaft noch viel die
Rede. Obschon die Zahl der Gäste stark abgenommen hatte, nahm doch das
Kurleben seinen ungestörten Fortgang.

Nach 4 Wochen konnten wir ohne das geringste Hindernis nach Hause
zurückkehren, da der Eisenbahnverkehr sich wieder in normalem Zustande
befand. Für die aktive Teilnahme am Krieg war ich noch zu jung und auch
damals nicht gesund genug, da die Kur in Ems ohne Erfolg geblieben war.

Im Nebenhause waren die 3 ältesten Söhne schon dienstpflichtig und
deshalb eingezogen. Von ihnen hat aber nur der eine, Vetter ~Lorenz~,
kriegerische Lorbeeren gesammelt. Als Einjährigfreiwilliger in einem
Jägerbataillon nahm er teil an den Schlachten bei Metz. Bei Belagerung
der Festung erkrankte er an Ruhr, kehrte nach Deutschland zurück, ging
aber bald -- noch nicht ganz wieder hergestellt -- freiwillig von
neuem ins Feld, wo er an den Kämpfen des Generals Werder gegen die
Armee Bourbaki bei Dijon beteiligt war. Er wurde im Felde zum Offizier
ernannt. Aber das kriegerische Leben, das ganz seinen Neigungen
entsprach, ist ihm später zum Unglück geworden; denn es hat mit dazu
beigetragen, seine Neigung, dem Bacchus zu huldigen, ins Übermaß zu
steigern, so daß er schon im Alter von etwa 35 Jahren gestorben ist.

Vorsichtiger war der Vetter ~Heinrich~, ein gedienter Artillerist; er
kam nicht ins Feld, sondern blieb bei einem Ersatzbataillon in Coblenz.

Vetter ~Ernst~, der bereits das erste medizinische Examen bestanden
hatte, trat freiwillig als Unterarzt in das Heer ein und hatte in
dieser Eigenschaft, wie er später gern erzählte, besonders in der
Umgegend von Orléans ein recht vergnügtes und wenig anstrengendes
Feldleben geführt. Kurzum, der Krieg 70 ist nach allen Schilderungen
seiner Teilnehmer ein ganz anderer, als der jetzige gewesen. Die
Verluste auf deutscher Seite waren verschwindend gering, sind doch
nicht mehr als 28000 Mann auf unserer Seite gefallen. Auch die
Kriegführung war sehr viel humaner. Ein Teil der Truppen hat sogar mit
der französischen Bevölkerung auf ganz gutem, fast freundschaftlichem
Fuße gestanden. Dazu kam die rasche Beendigung des Krieges und als
schönster Lohn für Deutschland seine politische Einigung im deutschen
Reiche.

Den Sieg von Sedan verlebte ich in Euskirchen. Ich erfuhr die Nachricht
bei der Rückkehr von der Hühnerjagd. Man meinte damals allgemein, der
Krieg sei nun zu Ende. Das war aber ein Irrtum, da die Republik unter
Gambetta ihn hartnäckig fortzusetzen suchte. Aber die Widerstandskraft
Frankreichs war doch gebrochen, nur dauerte das kriegerische Leben auch
bei uns auf dem linken Rheinufer mit Truppenbewegung, Einquartierung
fort bis zum Waffenstillstand.

Mein Gesundheitszustand hatte sich inzwischen kaum geändert und mein
Onkel in Cöln lud mich deshalb ein, im November zu ihm zu kommen und in
seinem Hause einige Zeit zu wohnen, damit er mich dauernd beobachten
könne. Seine liebe Frau, die durch besondere Güte ausgezeichnete Tante
~Mathilde~, nahm sich des kranken Neffen in der liebenswürdigsten Weise
an. Ich bekam besonders zubereitete Speisen und durfte dazu auf Rat des
Onkels so viel guten Bordeaux-Wein trinken, wie ich glaubte vertragen
zu können.

Wohltuend wirkte auf mich die gleichmäßige Wärme des Hauses, das schon
eine Zentralheizung besaß, was man damals als ungewöhnlichen Luxus
ansah. So bin ich den ganzen Winter in Cöln geblieben und nur während
des Weihnachtsfestes auf 8 Tage nach Hause zurückgekehrt. Ich habe mich
in meinem späteren Leben immer mit großer Dankbarkeit gegen den Onkel
und die Tante an diese Zeit erinnert; denn damit trat eine Besserung in
meinem Zustande ein.

In Cöln war auch in geistiger Beziehung leichter Anregung zu finden,
als in Euskirchen. Ich habe hier Theater und Konzerte besucht. Vor
allen Dingen wurde mir aber Gelegenheit geboten, bei einem Engländer
Unterricht in der englischen Sprache zu nehmen. Da ich nichts anderes
zu tun hatte, so war es mir nicht schwer, in 2½ Monaten so weit zu
kommen, daß ich kleine englische Aufsätze schrieb und mich mündlich
leidlich ausdrücken konnte. Leider habe ich diese Übungen später nicht
fortgesetzt und auch niemals längeren Aufenthalt in England nehmen
können, so daß ich die wichtige Sprache nie vollkommen beherrschen
lernte.

Selbstverständlich bin ich in Cöln auch den Kindern meines Onkels näher
getreten. Die älteste ~Marie~ war schon an Herrn ~Eugen Coupienne~ in
Mülheim a. d. Ruhr verheiratet, kam aber öfter mit Mann und Kind zum
Besuch nach Cöln. Herr ~Coupienne~ brachte bei dieser Gelegenheit nicht
selten gefangene französische Offiziere, die in Cöln sich frei bewegen
durften, als Gäste in das Haus meines Onkels. Es machte dann meinem
Onkel besonders Freude, die französische Sprache, die er in Paris recht
gut gelernt hatte, wieder zu gebrauchen.

Die zweite Kusine ~Helene~, ein schönes wohlgenährtes Mädchen, die den
Beinamen »Dick« trug, und mir von verschiedenen Besuchen in Euskirchen
her wohl bekannt war, ist bald nachher ihrer Schwester gefolgt und
hat einen Tabakfabrikanten, ~Carl von Eicken~, ebenfalls aus Mülheim,
geheiratet. Sie lebt noch jetzt zusammen mit ihrem Gemahl in Hamburg,
in sehr glücklichen Verhältnissen, und ist die Stammmutter von 4
blühenden Kindern und einer ganzen Anzahl von Enkeln geworden. Ihr Sohn
~Karl~, jetzt ordentlicher Professor der Ohren- und Nasenheilkunde in
Gießen, war als Student öfters Gast in meinem Hause zu Berlin, und ich
hatte gleich den Eindruck, daß er die Eigenschaften eines guten Arztes
vom Großvater ~Fischer~ geerbt habe.

Die Tochter ~Helene~ lebt mit ihrem Mann Dr. ~Kroehnke~ und 4
hoffnungsvollen Söhnen in Zehlendorf und ist eine durch Liebreiz und
Güte ausgezeichnete Frau geworden.

Eine zweite Tochter des Ehepaares ~von Eicken~ ist in Hamburg
verheiratet und der zweite Sohn, ein großer Sportsmann, führt zusammen
mit dem Vater das bedeutende Tabakgeschäft. Er ist verheiratet mit der
einzigen Tochter meines Vetters ~Julius Fischer~.

Die dritte Cölner Kusine, »Tönn« genannt, war klug und wissbegierig
und erhielt in der Schule die besten Zeugnisse. Sie hat später einen
Fabrikanten Herrn ~Vorster~ aus Mülheim a. d. Ruhr geheiratet und ist
Schwiegermutter des bekannten Malers ~Petersen~ in Düsseldorf geworden.

Der einzige Sohn ~Fritz~, von den Schwestern nur »der Fischer« genannt,
wurde von ihnen viel geneckt, war 4 Jahre jünger wie ich und deshalb
noch Gymnasiast. Er war der Liebling des Vaters und pflegte sich sehr
viel in dessen Studierstube aufzuhalten. Wie leicht begreiflich, ist er
in die Fußstapfen des Vaters getreten, hat Medizin studiert und zwar
in Straßburg, wo ich wieder viel mit ihm zusammentraf. Er wurde auch
an der dortigen Universität außerordentlicher Professor der Chirurgie,
starb aber verhältnismäßig früh im Alter von etwa 50 Jahren. Er war
verheiratet mit ~Anni~ geb. ~Stinnes~ aus Mülheim a. d. Ruhr und hat
einen Sohn ~Otto~ hinterlassen, der wiederum Medizin studiert und z.
Zt. als Unterarzt im Felde steht. Er ist in den letzten Jahren meinem
lieben Sohn ~Alfred~ näher getreten, der von der Tante in Straßburg
viele Freundlichkeiten erfahren hat.

Während meines Aufenthaltes in Cöln hatte der Onkel seinen Kindern den
strengen Auftrag gegeben, den kranken Vetter in keiner Weise zu ärgern
und ihm womöglich nicht zu widersprechen, selbst wenn er in seiner
etwas aufgeblasenen Gelehrsamkeit gewagte Behauptungen aufstelle. So
schwer das auch den mundfertigen Kusinen wurde, so haben sie sich doch
alle Mühe gegeben, mir den Aufenthalt in Cöln angenehm zu machen.
Mit dem Vetter stand ich selbstverständlich als früherer Gymnasiast
auch auf gutem Fuße. So steht der Winteraufenthalt in Cöln bei mir
in bester Erinnerung und dem trefflichen Onkel, der mir nicht allein
in seiner ärztlichen Kunst, sondern auch als vornehmer Charakter und
als origineller Mensch stets ein Vorbild geblieben ist, sowie der
herzensguten Tante habe ich mich Zeit meines Lebens zu warmem Danke
verpflichtet gefühlt.

Im Frühjahr 1871 war meine Gesundheit soweit wieder hergestellt,
daß ich die Universität beziehen konnte, um Chemie zu studieren.
Das Leben im Gasthause war mir allerdings noch nicht zuträglich,
aber ich wurde in freundlicher Weise wieder aufgenommen in meinem
alten Gymnasiastenquartier. Dort waren inzwischen einige persönliche
Veränderungen vor sich gegangen. Das alte Ehepaar ~Kemp~ hatte sich
zurückgezogen und das Geschäft dem Sohn übergeben. Der hatte inzwischen
die zu meiner Zeit als Verkäuferin im Geschäft tätige Fräulein
~Marie~ geheiratet und die junge, liebenswürdige Frau erklärte sich
sofort bereit, die Verpflegung für mich ganz nach meinen Wünschen
einzurichten. Das ist auch in gewissenhafter Weise geschehen. Ich
lebte also so weiter, wie ich es in der Familie meines Onkels gewohnt
war, und der Hausherr, der sich bei seinem früheren Aufenthalt in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika infolge von Malaria und übermäßigem
Chiningenuß den Magen verdorben hatte, lernte von mir die für solche
Zustände angemessene Diät. Er wurde in der Tat auf diese Weise auch
wieder gesund und hat mir später wiederholt für die guten Ratschläge
gedankt.

Im Sommersemester 71 habe ich mich in Bonn nicht überanstrengt, sondern
in aller Behaglichkeit Vorlesungen über Physik, Botanik und nur wenig
Chemie gehört. Das botanische Kolleg von Professor ~Hanstein~ fand
schon morgens um 7 Uhr im Schloß zu Poppelsdorf statt, war sehr populär
und nur auf die Bedürfnisse eines Mediziners zugeschnitten. Systematik
und Anatomie standen im Vordergrund und die Physiologie, die mich viel
mehr interessiert hätte, spielte nur eine geringe Rolle.

Die Physik wurde von dem berühmten Thermodynamiker ~Clausius~ gelesen,
war recht langweilig und in experimenteller Beziehung geradezu dürftig.
Meine alte Vorliebe für die Physik ist dadurch etwas gedämpft worden
und erst als ich später in Straßburg den glänzenden Vortrag und das
gute Praktikum von ~Kundt~ besuchte, wurde mir erst wieder klar, welch
herrliche Wissenschaft sie ist.

Das gerade Gegenteil von ~Clausius~ war der Chemiker ~August Kékulé~,
ein ausgezeichneter Redner, guter Experimentator und eindrucksvolle
Persönlichkeit. In dem Sommersemester las er allerdings nur ein
zweistündiges Kolleg über organische Chemie, aber in dem darauf
folgenden Winter habe ich auch seine große Vorlesung über anorganische
Experimentalchemie besucht.

Nachdem ich in den Herbstferien 71 zusammen mit dem Vetter ~Lorenz~,
der inzwischen aus Frankreich zurückgekehrt und noch ganz von den
Erlebnissen des Feldzuges erfüllt war, das Seebad Blankenberghe bei
Ostende besucht hatte, war mein Gesundheitszustand wieder so gut,
daß ich im Winter 71/72 mit voller Kraft an das Studium herantreten
konnte. Zu den Vorlesungen kamen jetzt auch die praktischen Übungen
im Laboratorium. Das Institut lag in Poppelsdorf, war 1864/65 von
~Hofmann~ erbaut und machte äußerlich einen pompösen Eindruck. Viel
weniger schön waren die inneren Einrichtungen, z. B. Raumverteilung
und Beleuchtung. Besonders die Ventilation ließ sehr zu wünschen
übrig. Der Direktor hielt die großen Vorlesungen und leitete die
praktischen Arbeiten in der organischen Abteilung. Der analytische
Unterricht war dem außerordentlichen Professor ~Engelbach~ anvertraut.
Ohne irgendwelche Vorbereitung in der Anstellung von Experimenten
wurde man sofort vor die Aufgabe gestellt, nach den Tafeln von ~Will~
eine qualitative Analyse auszuführen. Dazu war ich nicht imstande
und hatte gegenüber den anderen Praktikanten, die meistens Apotheker
waren, einen schweren Stand, denn diese pflegten meist auf illegitimen
Wege die Aufgaben zu lösen, während ich ohne jede Anleitung viele
Fehler beging und dann unbarmherzig zur Wiederholung angehalten
wurde. Dazu kam, daß die Vorlesung über analytische Chemie, die ich
pflichteifrig besuchte, äußerst trocken und langweilig gehalten wurde.
Mein Eintritt in die Wissenschaft vollzog sich also unter ziemlich
ungünstigen Verhältnissen, die mich sehr niederdrückten. Und als ich
im darauffolgenden Sommer an die quantitative Analyse herankam, wurde
die Sache noch schlimmer. ~Engelbach~ war inzwischen gestorben und Th.
~Zinke~, der bisherige erste Assistent in der organischen Abteilung
und gleichzeitig Privatdozent, wurde sein Nachfolger. Er war gewiß ein
geschickter und auch schon verdienter Chemiker, aber der Unterricht
in der analytischen Chemie lag ihm nicht besonders nahe, und wenn er
sich auch große Mühe gab, und mir manchmal einen guten Rat erteilte,
so war es doch auch für ihn schwer, die Hindernisse zu beseitigen,
die der Ausführung einer guten quantitativen Analyse im Bonner
Institut entgegen standen. Schon allein die Ungenauigkeit der Waagen
war groß genug, um das Innehalten der üblichen Fehlergrenzen bei den
Analysen unmöglich zu machen. Der Gebrauch der Wasserluftpumpe, die
schon längst von ~Bunsen~ erfunden war, fand in Bonn eine ungünstige
Beurteilung und man begnügte sich noch immer mit der alten primitiven
Wäsche der Niederschläge auf einem gewöhnlichen Filter. Das waren
harte Geduldsproben. Als ich schließlich einen Niederschlag von
Aluminium- und Eisenhydroxyd, der wohl nicht unter den richtigen
Vorsichtsmaßregeln gefällt war, 8 Tage lang gewaschen hatte, ohne die
Mutterlauge ganz verdrängen zu können, war ich so verzweifelt, daß ich
die Chemie aufgeben und mich wieder der Physik zuwenden wollte. Daß ich
es nicht getan habe, ist wohl hauptsächlich dem Einfluß meines Vetters
~Ernst~ zuzuschreiben, der mir riet, es in einem anderen Institut
nochmals zu versuchen.

Inzwischen war auch Vetter ~Otto~ mit der Schule fertig geworden,
hatte ebenfalls das Studium der Chemie in Berlin begonnen und war dann
auch nach Bonn gekommen. Er nahm die Schwierigkeiten keineswegs so
tragisch wie ich, trotzdem gefiel auch ihm der Gedanke, die Hochschule
zu wechseln, nicht allein der Studien halber, sondern um in der Welt
sich umsehen zu können. So kam es, daß wir am Ende des Sommersemesters
1872 Bonn verließen und dann halb durch Zufall nach Straßburg i. E.
kamen. Das war für uns beide ein rechtes Glück, denn wir sind so mit
~Adolf Baeyer~ in Berührung gekommen, und ich wüßte nicht, was mir
Besseres hätte passieren können, um die chemische Experimentierkunst
zu lernen. Den Aufenthalt im Straßburger Laboratorium habe ich
versucht in einem kleinen Aufsatz zu schildern, den ~Baeyer~ seiner
Selbstbiographie eingefügt hat. Auf diese Art ist er in der Einleitung
zu ~Baeyers~ gesammelten Abhandlungen zum Druck gelangt. Ich habe ihm
nur wenig zuzufügen, um noch ein Bild von unserer Lebensweise und dem
Freundeskreise außerhalb des Laboratoriums zu geben.

Im ersten Semester wohnte ich mit Vetter ~Otto~ zusammen bei zwei
sehr alten Frauen in einem ebenso alten Hause, wie denn überhaupt
die ganze Stadt damals einen recht alten und verkommenen Eindruck
machte. Verschärft wurde dieser durch die starken Verwüstungen, die
von der Belagerung herstammten. So lag das sogen. Steinviertel noch
größtenteils in Trümmern.

Mein Magenkatarrh war inzwischen geheilt, aber er hatte doch eine
Empfindlichkeit des Organs hinterlassen, die mir eine gewisse
Vorsicht in der Diät auferlegte. Die gute Straßburger Küche und
der noch bessere, in großen Vorräten vorhandene französische Wein
kamen mir zugute, und ich habe im Wintersemester im badischen Hof
nach Verabredung mit dem sehr verständigen Wirt ein stattliches Faß
ausgezeichneten Burgunder konsumiert, war dadurch in einen recht guten
Ernährungszustand gekommen, so daß ich von den Professoren unter dem
Titel »der dicke Fischer« von dem Vetter unterschieden wurde.

Bei dem nächsten Besuch während der Osterferien erregte mein Aussehen
bei der Mutter große Freude, während der erfahrene Vater mich mit den
Worten begrüßte: »Du hast einen ziemlich vertrunkenen Kopf gekriegt.«
Infolgedessen habe ich das Burgundertrinken aufgegeben und mich dem
guten aber viel unschuldigeren Elsasser Landwein zugewandt. Auch
die Mehrzahl der Kollegen, die vielfach aus dem Rheinland stammten,
besuchten die Weinhäuser. Zwar gab es auch Bier in mannigfaltiger
Qualität, sowohl einheimisches, in dem Orte Schiltigheim gebraut,
wie auch bayerisches, aber diese Häuser pflegten wir nur im Sommer
zu besuchen, der in Straßburg ungewöhnlich heiß ist und deshalb zum
Bierverbrauch anregt.

Das studentische Leben, wie es auf anderen deutschen Hochschulen üblich
ist, war zu unserer Zeit wenig entwickelt. Es gab zwar einige Corps,
aber sie spielten keine große Rolle, weil ihnen der Resonanzboden in
der Bevölkerung und der ganzen Tradition der Stadt fehlte. Dagegen war
der zwanglose Verkehr der Studenten in den Gasthäusern und auch in
den Vorlesungen sehr angenehm. Die vielen fremdländischen Elemente,
Russen, Polen und andere Ausländer störten denselben nicht. Die
Elsässer hielten sich anfangs zurück, kamen aber doch in den späteren
Semestern in die Institute. Es waren darunter manche fein gebildete
junge Männer mit sehr angenehmen Umgangsformen. Mit den gebildeten
Familien in Straßburg sind wir nicht in Berührung gekommen, wohl
aber habe ich das Volk und speziell auf mancherlei Ausflügen in die
Vogesen die Landbevölkerung kennen gelernt und einen recht guten
Eindruck erhalten. Mit Ausnahme vom Südelsaß, wo die Tuchindustrie
sehr entwickelt und in ihren geschäftlichen Interessen auf das übrige
Frankreich angewiesen war, verriet sich in der Bevölkerung durchweg
die alte deutsche Abstammung. Die Leute sprachen ihr Elsasser Deutsch,
vermischt mit französischen Brocken, waren aber zum erheblichen Teil
garnicht imstande, französisch zu sprechen. Sie waren zwar nichts
weniger als deutsch-freundlich und schimpften gerne auf die »Schwoben«.
Aber wenn man die Politik beiseite ließ, so konnte man mit ihnen recht
gut auskommen. Es ist mir ein Rätsel, daß die deutsche Verwaltung es
nicht fertiggebracht hat, in 40 Jahren bei dieser im Grunde gutmütigen,
allerdings demokratisch gesinnten Bevölkerung mehr Sympathie zu
erwerben.

In Straßburg selbst waren noch manche Überreste französischer
Einrichtungen und Sitten geblieben. In öffentlichen Tanzlokalen
belustigte man sich noch am Cancan, und es war drollig anzusehen, wie
selbst auf dem Lande beim sonntäglichen Tanz einzelne Bauernburschen
die beim Cancan üblichen Sprünge versuchten, aber selten einen
durchschlagenden Erfolg erzielten. Auch im sittlichen Verkehr zwischen
den beiden Geschlechtern herrschte für deutsche Begriffe eine zu freie
Form.

Der Verkehr zwischen Studenten und Professoren, die fast alle noch
im jugendlichen Alter standen, war behaglicher und anziehender als
auf irgendeiner anderen Hochschule. Besonders profitierten davon
die Naturforscher und die Mediziner. Da auch die Institute von der
deutschen Regierung reichlich mit Geld ausgestattet wurden und die
Zahl der Studierenden in den ersten Jahren gering blieb, so war der
praktische Unterricht ausgezeichnet und gab sich auch bald in den
wissenschaftlichen Leistungen kund. Dieser Vorzug von Straßburg übte
allmählich seine Anziehungskraft aus, und wenn nicht die Stadt als so
teuer verschrieen gewesen wäre, so würde auch bald die Studentenzahl
derjenigen der altdeutschen Universitäten gleichgekommen sein.

Unsere Schilderungen von dem akademischen Leben an der jungen
Universität in der alten Reichsstadt haben auch in der eigenen Familie
ihre Werbekraft ausgeübt. Schon nach einigen Semestern kam der Vetter
~Ernst Fischer~ dorthin, nachdem er das medizinische Staatsexamen
bestanden und einige Zeit als Assistent in der chirurgischen Abteilung
des Cölner Bürgerhospitals tätig gewesen war. Er besuchte in Straßburg
nicht allein die chirurgische Klinik, die unter Leitung von Professor
~Luecke~ stand, sondern interessierte sich auch für Studien auf der
Anatomie bei ~Waldeyer~ und auf der pathologischen Anatomie bei ~von
Recklinghausen~. Bei dieser Gelegenheit hat er eine kleine Erfindung
gemacht, mit der sein Name wohl dauernd verbunden bleiben wird, und die
ich erwähnen will, weil ich dazu die Anregung geben durfte. Damals war
das Färben von anatomischen Präparaten, das von meinem Schwiegervater
~Josef von Gerlach~ mit der Anwendung des Carminrots in die
Wissenschaft eingeführt wurde, schon allgemein üblich. Aber die Zahl
der benutzten Farbstoffe war gering. Als ich davon durch den Vetter
~Ernst~ hörte, riet ich ihm, das Eosin zu versuchen, das kurz zuvor
von ~Baeyer~ und ~Caro~ entdeckt worden war und das ich bei meiner
Doktorarbeit über Fluorescein nicht allein als chemisches Präparat,
sondern auch an meinen Händen als prächtiges Färbemittel für tierische
Gewebe kennen gelernt hatte. Die Versuche vom Vetter fielen dann auch
so gut aus, daß er den Farbstoff in die anatomische Praxis einführen
konnte, worin er sich bis jetzt erhalten hat.

Nebenher interessierte er sich besonders für die Antisepsis in der
chirurgischen Praxis, die durch den ~Lister~'schen Verband schon eine
hohe praktische Bedeutung erlangt hatte. Er bemühte sich, diesen zu
verbessern und war schon damals der Ansicht, daß der Antisepsis in
der Chirurgie die Asepsis folgen würde. Zunächst bemühte er sich
aber, anstelle der Carbolsäure unschuldigere Antiseptica zu finden
und so kam er auf das Naphtalin, dessen Giftigkeit für Ungeziefer
man schon kannte. Er hat für den medizinischen Gebrauch dieses
Kohlenwasserstoffes Propaganda gemacht und es auch bei der damals in
Frankreich so stark wütenden Phylloxera (Reblaus) empfohlen, ohne aber
in der Praxis durchzudringen.

An diese Bemühungen knüpfte sich eine andere Erfindung, deren
Zustandekommen wie eine Anekdote anmutet. Infolge der Empfehlung des
Naphtalins als Antiseptikum von ~Ernst Fischer~ kamen 2 Assistenten
der Klinik für innere Medizin zu Straßburg auf den Gedanken, den
Kohlenwasserstoff zur Desinfektion des Darms im krankhaften Zustande
zu verwenden. Sie bestellten das Mittel bei einer Straßburger
Drogenhandlung mit dem Bemerken, daß es ganz rein sein müsse, und sie
erhielten dann auch ein Präparat, vom dem das Geschäft behauptete, es
sei so rein, daß es keinen Geruch mehr habe. Als sie nun dieses Mittel
bei fiebernden Darmkranken anwendeten, beobachteten sie das rasche
Sinken der Temperatur. Glücklicherweise war der eine Mediziner, ein
Bruder des Chemikers ~Eduard Hepp~, auch chemisch gut gebildet, und er
kam bald zu der Überzeugung, daß das von ihnen angewendete Mittel kein
Naphtalin sei. Die chemische Untersuchung durch ~Eduard Hepp~ ergab
dann auch, daß es sich um Acetanilid handelte, welches der Drogist
offenbar durch Verwechselung der Flaschen als Naphtalin geliefert
hatte. So ist das Acetanilid unter dem Namen Antifebrin ein bekanntes
und noch jetzt namentlich in Ostasien viel gebrauchtes Fiebermittel
geworden. In Europa wurde es verdrängt durch das Phenazetin, das
im wesentlichen ein modifiziertes Antifebrin ist, und die gleiche
fieberstillende Atomgruppe besitzt.

Es scheint mir nützlich, solche Zusammenhänge zu schildern, nicht
allein aus historischen Gründen, sondern auch als neues Beispiel dafür,
daß häufig der Zufall bei Erfindungen mitspielt.

Vetter ~Ernst~ hat sich später wieder ausschließlich der Chirurgie
zugewandt, ist Privatdozent und außerordentlicher Professor an der
Universität geworden und besaß eine chirurgische Privatklinik in
der Küfergasse, von der früher schon die Rede war. Er starb während
des Krieges an Typhus und Lungenentzündung. Bald nachher ist sein
einziger Sohn an der Westfront gefallen. Zwei von seinen Töchtern sind
in Frankreich verheiratet. Seiner Frau und seinen Kindern zuliebe
ist ~Ernst~ zum Katholizismus übergetreten. Daß dabei religiöse
Überzeugung mitgewirkt hat, glaube ich nicht; denn ich habe ihn nur als
vollkommenen Freigeist gekannt.

Etwas später kam noch ein zweiter Vetter ~Fritz Fischer~, Sohn des
Chirurgen in Cöln als Student der Medizin nach Straßburg. Gleich
nach Beginn seiner Studien erkrankte er nicht unbedenklich an
Scharlachfieber, wahrscheinlich infolge einer Infektion auf der
Anatomie. Wie schon erwähnt, ist er ebenfalls dort geblieben und auch
als außerordentlicher Professor der Chirurgie gestorben.

Von den sonstigen studentischen Bekannten muß ich noch erwähnen ~Josef
von Mering~, mit dem zusammen ich später mehrere chemisch-medizinische
Arbeiten ausgeführt habe. Er war schon damals ein Original, als echter
Sohn Cölns ein Freund des Humors, mit ungewöhnlicher Körperkraft
ausgestattet und als gefährlicher Säbelfechter gefürchtet.

Die Sommermonate waren in Straßburg ungewöhnlich heiß und brachten
infolge der durch Ill und Rhein stark versumpften Umgebung eine
recht lästige Mückenplage. In diesem Sumpf gediehen auch die Frösche
ausgezeichnet und diese waren zweifellos wieder die Vorbedingung
für die Existenz der zahlreichen Störche, die auf den hohen Giebeln
der alten Häuser ihre Nester angelegt hatten. Es war ein drolliger
Anblick, wenn man von der Plattform des Straßburger Münsters auf die
Stadt herabschaute und in das Getriebe von Hunderten von Storchnestern
Einblick erhielt. Die warmen Sommer und die Lage der Stadt im
Rheintal zwischen Schwarzwald und Vogesen brachten auch ungewöhnlich
schwere Gewitter mit sich, und ich habe oft von meiner Wohnung in
der Kalbsgasse, die ganz nahe beim Münster lag, das elektrische
Wechselspiel zwischen dem Blitzableiter am Münsterturm und den
Gewitterwolken bewundert. An solchen heißen Tagen fuhren wir gerne nach
Kehl, um dort im Rhein zu baden und später in einem guten Gasthaus
badischen Landwein zu trinken. Hier haben wir Chemiker auch im Juli
1875 ein kleines Abschiedsfest für Professor ~Baeyer~ veranstaltet,
bei dem ich meine erste Tischrede hielt und glücklich stecken blieb.
Das erregte großen Jubel, war aber für mich eine Mahnung, bei späteren
Gelegenheiten mich besser vorzubereiten.

Das Baden im Rhein war übrigens keine ungefährliche Sache; denn die
Strömung betrug in der Mitte des Stromes 3 m in der Sekunde und das
Geschiebe der schweren Kieselsteine am Boden war so stark, daß man es
im Wasser leicht belauschen konnte.

Im Sommer verlockte die schöne Umgebung Straßburgs verführerisch zu
Ausflügen. Wir haben sie meistens nach dem Badischen ausgeführt.
Schwarzwald und Odenwald sind mir auf diese Weise früh bekannt
geworden. Zweimal führte mich der Weg auch nach der Schweiz. Die eine
Reise, die ich mit Vetter ~Julius~ unternahm, ist früher geschildert.
Ein Jahr zuvor hatte ich aber schon zusammen mit Vetter ~Otto Fischer~
und einem Studierenden der Pharmazie aus Bayern eine lustige Tour
durch das Berner Oberland gemacht. Den Schluß dieser Rundfahrten in
der Süd-Westecke Deutschlands machte ein Besuch der südlichen Vogesen
in Gesellschaft von Vetter ~Ernst Fischer~. Wir sind dabei auf dem
Kamm des Gebirges, der die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich
bildet, marschiert und kamen schließlich in die Schlucht beim großen
Belchen, wo sich ein sehr gutes Gasthaus gleichen Namens befand. Hier
war eine große, rein französische Gesellschaft versammelt, die einen
Ausflug über die Grenze gemacht hatte. Bei Tisch blieben wir ziemlich
isoliert. Die Unterhaltung mit der Nachbarschaft beschränkte sich
auf einige höfliche Phrasen. Aber plötzlich erkrankte eine Dame der
Gesellschaft an einer Unterleibsblutung und man verlangte dringend nach
einem Arzt. Da kein anderer in der Gesellschaft zugegen war, so bot
Vetter ~Ernst~ seine Hilfe an und hatte rasch die Gefahr beseitigt. Von
nun an war die Stimmung der Gesellschaft gegen uns wie umgewandelt.
Man lud uns ein, an den Spielen teilzunehmen und überbot sich in
Liebenswürdigkeiten gegen uns. Aber bald mußten wir uns verabschieden,
um unser Ziel, die Stadt Mülhausen, noch am gleichen Tage zu erreichen.

                    [Illustration: MÜNCHENER ZEIT]

Am nächsten Tage trennte ich mich von Vetter ~Ernst~, der die
Krankenhäuser in Mülhausen kennen lernen wollte, und fuhr allein nach
Straßburg zurück. Bei der Gelegenheit habe ich auf komische Art die
Bekanntschaft von ~Otto N. Witt~ gemacht. Er saß in der Eisenbahn
mir gegenüber und richtete nach kurzer Zeit an mich die Frage: »Mein
Herr, sie sind gewiß Chemiker?« Ich bejahte das und meinte lachend,
er habe das wohl an meinen stark gefärbten Händen gesehen, er selbst
scheine aber auch nicht weit vom Handwerk entfernt zu sein. Die
Diazokörper, mit denen wir beide vorher gearbeitet hatten, waren die
Verräter und brachten uns in kollegiale Verbindung. Wir stellten uns
vor und erzählten uns gegenseitig von unseren Arbeiten. Ich war mit dem
Phenylhydrazin beschäftigt gewesen und ~Witt~ hatte damals gerade das
Chrysoidin entdeckt. Er kam von Zürich und fuhr nach England, um dort
seine Entdeckung praktisch zu verwerten. Ich lud ihn ein, in Straßburg
Station zu machen, worauf er auch einging und wir haben dann einen sehr
vergnügten Tag zusammen verlebt. Als ich viele Jahre später nach Berlin
kam, war es mir ein Vergnügen, diese alte Bekanntschaft zu erneuern. Am
nächsten bin ich ihm getreten, als wir beide Kurgäste in Kissingen im
Sanatorium von ~Dapper~ waren und genug Muße fanden, uns in zwanglosen
Gesprächen nicht allein über wissenschaftliche Dinge gegenseitig zu
belehren und zu belustigen. ~Witt~ war eine Künstlernatur, sehr gewandt
in Schrift und Sprache, humoristisch veranlagt und eine impulsive
Natur. Nur mußte man sich sehr in acht nehmen, seine Eigenliebe zu
verletzen. Begleitet war er damals von seiner ebenso hübschen wie
liebenswürdigen Gattin, einer Engländerin.

Einige Wochen nach der Vogesenfahrt habe ich Straßburg verlassen und
mit Vetter ~Ernst~ eine Fahrt durch Süddeutschland gemacht, wobei
wir zuerst Tübingen, Stuttgart und dann München kennen lernten, und
viele lustige Erlebnisse hatten. In Tübingen herrschten damals noch
patriarchalische Zustände. Als wir in ein Weinhaus eingekehrt waren,
setzte sich sofort das Wirtstöchterlein zu uns, um uns über die Stadt
und das städtische Treiben Auskunft zu geben. Ebenso ging es uns im
chemischen Institut, dessen Leiter Professor ~R. Fittig~ schon als
Nachfolger von ~Baeyer~ nach Straßburg berufen war. Als wir dort
nach einem Assistenten frugen, der uns das Institut zeigen könne,
meldete sich eine junge Dame, die im Hause von ~Fittig~ tätig war. Sie
wußte so gut Bescheid im Institut wie ein Fachchemiker und machte in
liebenswürdigster Weise den Führer.

In Stuttgart gab es natürlich sehr viel mehr an Merkwürdigkeiten zu
sehen, und in der bayerischen Hauptstadt trafen wir Professor ~Baeyer~,
der schon einige Wochen vorher übergesiedelt war. Es machte ihm
besonderen Spaß, uns abends in einige originelle Wirtshäuser zu führen,
um namentlich mir die Stadt sympathisch zu machen. Ich erinnere mich
noch, daß eine der Kneipen den klassischen Namen »Orlando di Lasso«
führte und in der Nähe des Hofbräuhauses gelegen war.

Die Kunstschätze Münchens haben wir natürlich gewissenhaft angeschaut,
aber ich muß offen gestehen, daß im Gegensatz zu dem großen Eindruck,
den ich von den Bildern der Pinakothek hatte, die bemerkenswerten
Skulpturen der Glyptothek mich ziemlich kalt ließen. Auch zum
Kunstgenuß müssen die meisten Menschen erzogen werden. Die Bedeutung
der Antike für Skulptur und Architektur ist mir erst bei späteren
Besuchen Italiens klar geworden. Was mich damals am meisten in München
interessierte, waren doch das wissenschaftliche und das materielle
Leben; denn es handelte sich um die Frage, ob ich meinem Lehrer
folgen und mich für längere Zeit dort binden sollte. Meine Eltern und
besonders meine Mutter waren entschieden dagegen, weil München damals
in gesundheitlicher Beziehung einen recht schlechten Ruf genoß. Der
Typhus war so verbreitet, daß junge Leute aus dem Rheinlande, falls sie
nicht durch vorherige Erkrankung immunisiert waren, ziemlich sicher
darauf rechnen konnten, in München infiziert zu werden. Und zwei Jahre
vorher, im Jahre 1873 hatte dort auch die Cholera sehr stark gehaust.
Zudem war das Klima der hochgelegenen Stadt mit rasch wechselnden
Temperaturen im Rheinland gefürchtet.

Über alle diese Dinge beruhigte mich aber Professor ~Baeyer~ und
versprach mir den hygienischen Schutz der ~Pettenkofer~'schen Schule.
Das ist auch später in ausgiebigem Maße der Fall gewesen. Wir lernten
durch ~Baeyer~ die Assistenten Pettenkofers kennen, unter ihnen
besonders Dr. ~Forster~, einen sehr liebenswürdigen und kenntnisreichen
Mann, der später Professor der Hygiene in Amsterdam und zuletzt in
Straßburg i. Els. war. Er besaß eine Typhuskarte der Stadt, in der
nicht allein die verdächtigen Straßen, sondern die einzelnen Häuser mit
Typhuserkrankung bezeichnet waren. Wir haben nach dieser Karte unser
Quartier in der gesunden Umgebung des chemischen Instituts gewählt und
sind auch sonst immer dem hygienischen Rat von ~Forster~ gefolgt.

Als ich damals von München aus weiter reiste, war ich entschlossen, im
Spätherbst dorthin zurückzukehren, um im ~Baeyer~'schen Laboratorium
meine Studien über Hydrazinverbindungen fortzusetzen.

Zunächst ging ich allein über Salzburg nach Wien, von dessen Vorzügen
die österreichischen Studiengenossen in Straßburg so viel erzählt
hatten. Meine Erwartungen sind in der Tat nicht enttäuscht worden. Die
prächtige Lage in der Nähe des mächtigen Stroms und am Fuße lieblicher,
bewaldeter Berge, die an historischen Erinnerungen reiche Altstadt
und die prächtigen Neubauten am Ring, die großen Kunstschätze und
die ausgezeichneten Theater, dazu das liebenswürdige naive Wesen des
Volkes, die vielen schönen Frauen und die gute Natural-Verpflegung
waren wohl geeignet, einen jungen Menschen wie mich zu bestechen, und
ich würde vielleicht München gegen Wien ausgetauscht haben, wenn nicht
der Besuch des chemischen Instituts mich ernüchtert hätte. Es war zwar
ein Neubau kostspieliger Art, machte aber in keiner Beziehung den
Eindruck der Zweckmäßigkeit. Viel besser gefielen mir die Menschen,
die darin auch in den Ferien beschäftigt waren. Zunächst wandte ich
mich an einen alten Bekannten, den Straßburger Studiengenossen Dr. ~O.
Zeidler~, der mich dann den anderen Assistenten vorstellte. Unter ihnen
ragte hervor Dr. ~Zdenko Skraup~, mit dem ich mich sofort befreundete.

Beim Mittagstisch lernte ich noch Professor ~Weidel~ kennen, der aber
10 bis 15 Jahre älter war als wir, und im Verkehr mit jungen Leuten
sich ziemlich zurückhaltend zeigte. Professor ~A. Lieben~, der die eine
Abteilung des Instituts leitete, habe ich nur aus der Ferne gesehen.
Erst später bin ich mit diesem fein gebildeten und liebenswürdigen
Fachgenossen in nähere Berührung gekommen.

~Skraup~ und ~Zeidler~ waren die Führer in denjenigen Teilen des Wiener
Lebens, das in die Nachtzeit fällt und nicht in den Reisebüchern
beschrieben wird. Wir haben aber auch zwei kleine Ausflüge in die
Umgebung Wiens gemacht und mit ~Skraup~ zusammen besuchte ich die große
Oper. Er war durch seine materielle Lage zu bescheidener Lebensweise
gezwungen, und wir gingen deshalb in das billige Stehparkett, was mir
auch sehr sympathisch war.

Vernünftigerweise durften auch die Offiziere dorthin gehen, und sie
hatten sogar den Vorzug, nur die Hälfte des Eintrittspreises zu
bezahlen. Da ~Skraup~ Reserveoffizier war, so erklärte er sofort aus
Sparsamkeitsgründen die Uniform für diesen Theaterbesuch anlegen zu
wollen. Dazu mußte er sich aber rasieren. Da die Zeit sehr knapp war,
so erklärte ich mich bereit, ihm diesen Liebesdienst zu erweisen.
~Zeidler~ lieh dazu sein Rasiermesser, das, wie er später gestand,
von ihm für viel niederere Zwecke benutzt wurde. Als ich nun meine
Barbieroperation noch nicht zur Hälfte ausgeführt hatte, erklärte
~Skraup~ schimpfend, er wolle sich lieber einen Zahn ausziehen lassen,
als solche Tortur länger zu dulden, sprang auf und lief halb rasiert
und noch mit Seife beschmiert zum ziemlich weit entfernten nächsten
Rasierladen. Seitdem habe ich nie mehr Leibesoperationen an anderen
Menschen vollzogen. Nach etwa achttägigem höchst befriedigendem
Aufenthalt kam der Abschied von Wien, wohin ich später noch zweimal zum
Besuch von Naturforscherversammlungen zurückgekehrt bin. Die Rückreise
ging über Nürnberg, Würzburg, Frankfurt a. M. nach Euskirchen, wo
ich noch einige Wochen meinen Vater in der Hühner- und Hasenjagd
unterstützen konnte. Gleichzeitig suchte ich meinen Eltern klar
zu machen, daß ich mit dem Phenylhydrazin eine hübsche Entdeckung
gemacht hätte und daß es mein Wunsch wäre, diese weiter zu verfolgen
in dem Münchener Laboratorium als freier Privatgelehrter. Obschon
mein Vater behauptete, die Sache nicht zu verstehen, und überhaupt
die Nützlichkeit dieser Erfindung, die man nicht praktisch verwerten
könne, anzweifelte, so ließ er mir doch vollkommen freie Wahl.
Zudem hatte er mich schon selbständig gemacht; denn sobald ich mit
Vollendung des 21. Lebensjahres mündig geworden war, übergab er mir
dieselbe Summe, die meine Schwestern als Heiratsgut erhalten hatten.
Die Zinsen reichten bei meinen nicht übertriebenen Ansprüchen zum
Lebensunterhalt vollkommen aus. Das Kapital überließ ich gerne meinem
Vater zur Verwaltung, und er hat diese auch noch später weiter geführt,
bis ich 40 Jahre alt wurde und nach Berlin übersiedelte. Dann meinte
er, ich sei nun alt genug, um solche Dinge selber zu besorgen. Die
Bedenken meiner Mutter bezüglich der gesundheitlichen Gefahren ließen
sich beschwichtigen und so zog ich Mitte Oktober nach München. Das
Laboratorium, in dem ~Baeyer~ sich provisorisch eingerichtet hatte, war
nach den Plänen von ~Liebig~ 20 Jahre früher erbaut worden.

Bei seiner Berufung nach München hatte der große Forscher ausdrücklich
die Verpflichtung abgelehnt, praktischen Unterricht an Studierende
zu erteilen. Er hielt deshalb nur die großen Vorlesungen über Chemie
und im Laboratorium widmete er sich ausschließlich seinen eigenen
Forschungen. Die Zeit der großen Experimental-Untersuchungen war
übrigens bei ihm schon vorüber und die Münchener Zeit hat er mehr
literarischen Arbeiten gewidmet. Infolgedessen war das Laboratorium, in
dem sich auch die Wohnung ~Liebigs~ befand, recht klein. Mit dem Einzug
von ~Baeyer~ wurde die Dienstwohnung geopfert und im alten Gebäude ein
provisorisches Laboratorium eingerichtet. Gleichzeitig begannen die
Vorarbeiten für den Neubau des Instituts.

Von Straßburg waren die Assistenten Dr. ~E. Hepp~ und Dr. ~C.
Schraube~, ferner der Inspektor ~Kamps~ und der Diener ~Gimmig~ mit
übergesiedelt. Als einzigen früheren Insassen des Instituts trafen wir
den außerordentlichen Professor an der Universität ~Jacob Volhard~. Er
hatte seit vielen Jahren seinem Onkel ~Liebig~ sowohl als Vertreter
bei den Vorlesungen, als auch bei der Redaktion der Annalen der Chemie
Hilfe geleistet. Er war ein kluger, feingebildeter Mann und eine
anziehende Persönlichkeit. Durch ungewöhnliche Größe und körperliche
Schönheit ausgezeichnet, formgewandt und humoristisch veranlagt,
hatte er sich namentlich im Verkehr mit Künstlern einen flotten, von
jeder Pedanterie freien Umgangston angeeignet. Seine offene Art, sich
auszusprechen, die im allgemeinen Vertrauen erweckte und namentlich
uns jungen Leuten sympathisch war, konnte sich aber auch zu heftiger
Grobheit steigern. Das geschah, wenn er in Jähzorn geriet, wovon ich
selbst eine Probe erfahren sollte. Eines Tages traf er mich nämlich
bei der Ausführung einer Elementaranalyse und begann eine gemütliche
Plauderei, bis sein Blick auf eine Pipette fiel, die mir von einem
Diener als wertloses Stück übergeben und zu niederen Zwecken benutzt
worden war. In Wirklichkeit gehörte sie zu einem Satz von Pipetten,
die ~Volhard~ sich eigens für analytische Zwecke kalibriert hatte. Und
nun erfolgte ein so plötzlicher und furchtbarer Zornesausbruch, daß
ich fürchten mußte, es würde zu Tätlichkeiten kommen, und mich deshalb
in Verteidigungszustand setzte. Glücklicherweise ging der Anfall
bald vorüber. Die Heftigkeit tat ihm dann leid, wir haben uns leicht
versöhnt und sind von da an immer gute Freunde geblieben. Ich bin sogar
zweimal, in München und auch in Erlangen, sein Nachfolger geworden.

Die Vorlesungen, die Professor ~Baeyer~ rechtzeitig in München begann,
erfreuten sich von Anfang an eines recht guten Besuches. Auch in der
kleinen analytischen Abteilung des Instituts, deren Leitung Professor
~Volhard~ übernommen hatte, herrschte ziemlich reges Leben. Bescheiden
blieb dagegen im ersten Semester der Besuch der organischen Abteilung.
Außer mir gab es vielleicht 6 Praktikanten. An die einzelnen Personen
kann ich mich nicht mehr erinnern, aber wenn ich nicht irre, waren
~Paul Friedländer~ und ~Wilhelm Königs~ darunter. Dieser präsentierte
sich gleich als eine originelle Persönlichkeit; denn er erschien im
Institut mit einem Schuh und einem Pantoffel bekleidet und blieb auch
bei dieser Ausrüstung wochenlang, obschon scheinbar kein zwingender
Grund dazu vorhanden war. Leute, die sich so wenig um die Verwunderung
anderer Menschen kümmern, haben mir von jeher gefallen und so habe ich
denn auch die Bekanntschaft von ~Königs~ gerne gesucht, wobei sich
noch das erfreuliche Resultat ergab, daß er als Cölner ein Landsmann
von mir sei. Die äußere Hülle war bei ihm nicht schön, sie umschloß
aber eine um so schönere Seele. Mir sind nicht viele Leute im Leben
begegnet, die bei hervorragendem Verstand und ausgesprochener Begabung
für Witz eine so vornehme Denkweise und ein so mildes Urteil über die
Fehler ihrer Mitmenschen hatten. Dieser Eigenschaft verdankte er auch
die allgemeine Beliebtheit und ich selbst habe ihn immer gerne zu
meinen Freunden gezählt.

~Theodor Curtius~ hat ihm eine liebenswürdige Biographie gewidmet, aber
das kann mich nicht abhalten, auch hier seiner zu gedenken und einige
gemeinsame Erlebnisse zu schildern. ~Königs~ besaß einen offenen Kopf,
hatte für wissenschaftliche Dinge volles Verständnis und war keineswegs
arm an guten experimentellen Ideen. Dagegen fehlte ihm die praktische
Gewandtheit. Wie er selbst öfter beklagte, war es ihm nicht möglich,
verschiedene Versuche zu gleicher Zeit anzustellen oder auch nur zu
beaufsichtigen. Dazu kam eine gewisse Langsamkeit in der praktischen
Arbeit, an der zum Teil wohl seine frühere chemische Erziehung schuld
war. Er kam nämlich von Bonn, wo er auch promoviert hatte und wo das
rasche Arbeiten offenbar nicht sehr gepflegt wurde. So erzählte er bei
seiner Ankunft, daß er zu einer Elementaranalyse in Bonn gewöhnlich
2 bis 3 Tage gebraucht habe. Als ich ihm darauf lachend erwiderte,
daß ich 5 an einem Tage machen könne, wollte er es nicht glauben, bis
ich ihm den tatsächlichen Beweis dafür lieferte. Allerdings ist dafür
doppelte Apparatur erforderlich. Ohne die Langsamkeit des Experiments
hätte ~Königs~ bei seiner Begabung und seinem Ideenreichtum der
Wissenschaft noch viel größere Dienste leisten können.

In der Geselligkeit junger Leute wurde ~Königs~ durch seinen
schlagfertigen Witz rasch der Mittelpunkt. Daneben besaß er die Gabe,
recht hübsche Gelegenheitsgedichte und kleine Festspiele zu verfassen.
Manche davon hätten wohl verdient, im Druck zu erscheinen. Sie würden
zweifellos, ähnlich den Werken des Berliner Chemikers ~Jacobsen~ eine
wertvolle Bereicherung der humoristischen chemischen Literatur bilden.

Dem Inhalt, leider nicht dem Wortlaut nach ist mir ein Gedicht in
Erinnerung geblieben, das er zu einem kleinen Feste der chemischen
Gesellschaft in München bei meinem Abschied von dort beisteuerte. Es
war dem Guanolied von Scheffel nachgebildet und bezog sich auf die von
mir aufgefundene Bereitung des Kaffeins aus dem Xanthin und Guanin.
Die Kunde davon war durch ein Heft der Berichte zu den Vögeln an der
Guanoküste gedrungen. Um nun der deutschen Konkurrenz die Spitze zu
bieten, macht ein alter Vogel zur Beruhigung der jungen Kollegen
den Vorschlag, »von nun an in homologen Reihen zu scheißen«, und
»wenn dann schließlich gelungen, das homologe Produkt, so wird eine
besondere Probe Herrn ~Fischer~ zu Ehren gedruckt«. Diesem Liedchen
fügte der Dichter noch einem Spottvers zu: »So sangen 2 muntere Vögel
auf Kosten des Herrn Präsident und tranken dazu von dem Weine, den nie
vor Anderen er nennt«. Damit hatte es folgende Bewandnis: ~Königs~ und
ich wohnten damals bei derselben Wirtin im gleichen Stock und besuchten
uns spät abends häufig, um gemeinsam ein Glas Wein zu trinken. Kurz
vor dem Feste traf ich ~Königs~ bei meiner Heimkehr auf seinem Zimmer
in Gesellschaft eines jungen Chemikers, beide offenbar etwas betroffen
durch meinen Eintritt. ~Königs~ hatte nämlich eben das Guanolied
verfaßt und sich dazu aus meinem Weinkeller eine der besten Sorten
kommen lassen, die bei meiner Ankunft aber rasch durch Kutscherwein
ersetzt worden war. Der junge Fachgenosse war der Conkneipant; denn
~Königs~ hatte beim Dichten Wein und Gesellschaft nötig und ließ sich
von solchen Assistenten den Versfuß vortreten, um nicht zu entgleisen.
Als ich mich dann entfernt hatte, fügte er dem Gedicht noch den oben
erwähnten Vers hinzu.

Meine Weinvorräte waren damals nicht ganz gering und es befanden sich
darunter einige recht gute Sorten. Beim Umzug nach Erlangen Ostern 1882
hatte ich der Wirtin den Auftrag gegeben, denselben nachzuschicken.
Der Wein kam aber nicht und eine Anfrage ergab, daß ~Königs~ ihn mit
seinen Freunden getrunken hatte. Statt dessen erschien ein großes Faß
Münchener Hofbräu als Ersatz für den verschwundenen Wein. Er wußte
genau, daß ich über den Spaß ebenso lachen würde, wie er es im gleichen
Fall getan haben würde.

Mit ~Königs~ bin ich auch wiederholt gereist, das letzte Mal 1902 nach
Nervi an der Riviera di Levante. Der dritte in unserem Bunde war ~S.
Gabriel~, ebenfalls ein richtiger Witzbold. Wenn wir abends zusammen
bei einem Glase Bier saßen, so bemühten die beiden Kollegen sich in
Witzen zu überbieten. Es ging wie ein Raketenfeuer und ich hatte
stundenlang nichts weiter zu tun, als zu lachen. Fast noch komischer
als die Witze war das außerordentliche Vergnügen, das die beiden
Herren an ihren gegenseitigen Produkten hatten. Es waren heitere Tage,
die wir zu prächtigen Fußwanderungen in dieser herrlichen Landschaft
benützten. Auch hierbei passierten komische Dinge. Eines Tages kehrten
wir auf einem sehr steilen, gepflasterten Fußweg nach der Stadt zurück
und begegneten dabei drei italienischen Knaben im Alter von ungefähr
10 bis 12 Jahren, die sofort ihre Bemerkungen über die Forestiere
machten, ohne zu ahnen, daß wir etwas von der Sprache verstanden. »Che
banda senile« meinte der erste, »gleich wird er hinfallen« meinte
der zweite, und dann schlossen sie sofort eine Wette, wen von den
dreien dieses Schicksal treffen würde. Es dauerte auch nur noch wenige
Sekunden, da saß ~Gabriel~ wirklich auf dem Boden, was der jungen Bande
natürlich einen unbändigen Spaß machte. An der Heiterkeit hat sich aber
auch die alte Bande gründlich beteiligt.

Eine andere Italienfahrt, die ich mit ~Königs~ von München aus machte,
führte bis Neapel. Infolge seines roten Haares und seiner doppelten
Brille wurde er von Droschkenkutschern, Bettlern und ähnlichem Volk
schon aus weiter Ferne als Fremder erkannt und dementsprechend
bestürmt. Das führte auch zuweilen zu komischen Auftritten. Die
Droschkenkutscher hatten damals in Neapel die üble Angewohnheit,
den Fremden nicht allein zur Benutzung ihres Fahrzeuges einzuladen,
sondern auf offener Straße zu folgen und überall in den Weg zu
fahren, wo man eine Straße kreuzen wollte. Unserem Freund ~Königs~
schien das eine Gelegenheit, die Zudringlichkeit mit einer Neckerei
zu erwidern. Er stieg also ruhig in das Fahrzeug hinein und auf der
anderen Seite ebenso rasch wieder hinaus. Wenn der Kutscher dann los
fuhr, war der Wagen leer. Kaum aber hatte er dieses Experiment einige
Male ausgeführt, als die Kutscher auch schon eine Gegenlist erfanden.
Sobald er nämlich seinen Fuß in den Wagen hineinsetzte, war dieser auch
schon in Bewegung, dann gab es ein großes Gelächter und ~Königs~ mußte
bezahlen.

Über solchen Dummheiten wurde aber doch der Hauptzweck der Reise
niemals versäumt, denn ~Königs~ war gebildet genug, um für die
ungeheuren Kunstschätze Italiens und für die Fundstätten der antiken
Kultur Verständnis zu besitzen. Für gute Bilder konnte er sich sogar
begeistern. Dazu mag auch wohl das Beispiel seines einen Bruders
beigetragen haben, der in Berlin Bankier war und seine stattlichen
Einkünfte für den Ankauf von guten Bildern verwendete. Der größte Teil
der wertvollen Sammlung ist nach dem frühzeitigen Tode des Bankiers von
den Geschwistern der Nationalgalerie geschenkt worden.

In späteren Jahren hat ~Königs~ mich in Berlin regelmäßig wenigstens
einmal im Jahre besucht und dann manchmal mit seinen Geschwistern,
besonders mit seiner klugen und fein gebildeten Schwester Fräulein
~Elise Königs~ in Berührung gebracht, die den Berliner Gelehrten
als weiblicher Mäcen wohl bekannt ist und von der Akademie der
Wissenschaften durch Verleihung der goldenen Leibniz-Medaille geehrt
wurde.

Eine ganz andere Natur als ~Königs~ war ~Paul Friedländer~, der Sohn
eines Universitätsprofessors in Königsberg, mit dessen Persönlichkeit
meine Münchener Erinnerungen auch eng verknüpft sind. Er kam als
Student in das ~Baeyer~'sche Laboratorium, wurde aber wegen seiner
Begabung auch von uns älteren Chemikern als gleichberechtigt angesehen.
Nebenher war er sehr musikalisch und konnte recht schwierige klassische
Sachen auf dem Klavier aus dem Gedächtnis vortragen. Durch seine
späteren Arbeiten über Thio-Indigo und über den antiken Purpur, den
er als Dibromindigo erkannte, hat er sich in der Wissenschaft einen
geachteten Namen geschaffen. Auch mit ihm habe ich mehrere Reisen nach
Italien gemacht, sogar meine erste, die über Verona, Venedig, Padua,
Florenz und Mailand ging und bei der er mir wegen seiner besseren
Sprachkenntnisse ein wertvoller Führer war. Er ist 6 Jahre jünger wie
ich und noch in voller Rüstigkeit an der technischen Hochschule zu
Darmstadt tätig. Ich bin durch die Kriegswirtschaft, woran er sich auf
Veranlassung von Professor ~Haber~ beteiligte, wieder öfter mit ihm in
Berührung gekommen.

Im Frühjahr 1876 kehrte auch der Vetter ~Otto Fischer~ in ~Baeyers~
Laboratorium zurück, nachdem er das Wintersemester bei ~Liebermann~
über Methylanthracen gearbeitet hatte, und wir haben bald nachher
die gemeinsame Untersuchung über Rosanilin begonnen, wovon später
ausführlich die Rede sein wird.

Ungefähr um dieselbe Zeit gesellte sich zu unserem Kreise als älterer
Student der Chemie ~Hans Andreae~ aus Dresden, dessen Mutter eine
geborene ~Dilthey~ aus Rheydt und deshalb meine Kusine war. Der Vater,
ein Kunstmaler, stammte aus der rheinischen Familie ~Andreae~, die in
Mülheim a. Rh. eine große, sehr bekannte Sammetfabrik hatte. Dieser
~Hans~ war ein frischer, lustiger Geselle, aber stark verbummelt und
dem Gambrinus ergeben. Gearbeitet hat er in München kaum, aber sehr
viel Bier getrunken, Skat gespielt und Späße gemacht. Bei seiner
unvernünftigen Lebensweise waren Unfälle nicht selten. Schon in Leipzig
hatte er bei einer Rauferei einen Messerstich in die Lunge bekommen.
In München zog er sich eine langwierige Verrenkung des Fußknöchels zu
und ein Semester später erkrankte er an einem schweren Typhus. Da er
auch nach dieser Krankheit die alte Lebensweise beibehielt, so riet ich
seinem Vater, der sich an mich gewandt hatte, ihn wieder ins Elternhaus
zurückzunehmen und auf der technischen Hochschule zu Dresden seine
Studien fortsetzen zu lassen. Das war seine Rettung; er wurde nun
vernünftig, machte seine Examinas und ist dann wohlbestallter Fabrikant
in Burgbrohl in der vulkanischen Eifel geworden, wo er eine natürliche
Kohlensäurequelle ausnutzt und hauptsächlich zur Bereitung von
Alkalibicarbonat verwendet. Sogar zum kirchlichen Würdenträger hat er
es gebracht, denn bei seinem letzten Besuche in Berlin erzählte er mir,
daß er als Vertreter der niederrheinischen Synode an einer kirchlichen
Versammlung teilnehme.

In dem provisorischen Laboratorium zu München haben wir es trotz
mancherlei Mängel der Einrichtungen recht behaglich gehabt; denn die
Arbeiten waren von Erfolg begleitet, wie ich in einem besonderen
Kapitel noch ausführen werde, und Professor ~Baeyer~ tat alles, uns zu
fördern und den Aufenthalt angenehm zu machen. Ebenso wie in Straßburg
habe ich mich auch hier seiner besonderen Gunst erfreut. Obschon ich
nur einfacher Praktikant ohne jede Verpflichtung gegen das Institut
war, so räumte er mir doch mancherlei Rechte ein, die sonst nur den
Assistenten zustanden. Auch im persönlichen Verkehr sind wir uns näher
getreten. Er lud mich öfters zu Gesellschaften in seiner Familie und im
Sommer, wo diese frühzeitig auf das Land ging, sind wir auch manchmal
zusammen ins Gasthaus gegangen. Aus den hier geführten Gesprächen
habe ich manches gelernt, das außerhalb des wissenschaftlichen
Ideenkreises lag. Einer Unterhaltung aus dem Sommer 1876 erinnere ich
mich noch deutlich, weil ich ~Baeyer~ darin meine Absicht kund gab,
bei der wissenschaftlichen Laufbahn zu bleiben. Zu dem Zweck wollte
ich im nächsten Winter wieder nach Straßburg gehen, um bei Rose den
analytischen Unterricht näher kennen zu lernen. Er hielt das für ganz
vernünftig, weil ~Robert Bunsen~ doch wohl schon zu alt sei, knüpfte
daran aber lachend die Bemerkung, daß ich mit großer Überlegung auf
mein Ziel lossteuere.

Zunächst habe ich aber die Herbstferien 76 zu einer Reise nach
Berlin, Kopenhagen und Hamburg benutzt, die sehr genußreich und zum
Schluß belehrend für mich ausfiel. Der erste Teil der Reise ging über
Dresden und Leipzig. Mein Begleiter war Vetter ~Otto~. Die sächsische
Hauptstadt hat uns durch die schöne Lage, die prächtigen Bauten und die
wunderbaren Kunstsammlungen sehr imponiert. Wir hörten auch manches
über die Bewohner durch die dort ansäßige und früher erwähnte Familie
~Andreae~, ein Ehepaar mit 10 Kindern, das uns Vettern sehr freundlich
aufnahm.

Leipzig hat uns nicht allein als Universität, sondern auch als
Handelsstadt gut gefallen. In Berlin, wo wir uns 8 Tage aufhielten und
mit ~Wilhelm Königs~ zusammentrafen, der sich dann als Reisegefährte
anschloß, konnten wir noch viel mehr Interessantes sehen und erleben,
da der Bekanntenkreis von ~Königs~ dort groß war und wir durch ihn
auch in die nächtlichen Geheimnisse der Großstadt rasch eingeweiht
wurden. Trotzdem war der Gesamteindruck, den die Stadt mir hinterließ,
nicht besonders freundlich. Infolge der Gründerperiode war sie in
einem Umwandlungsprozeß begriffen, der sich durch gewaltiges Wachstum
und viele häßliche Bauten auszeichnete. Aber auch von den unschönen
Einrichtungen des alten Berlins war manches übrig geblieben, und ich
erinnere mich noch jetzt mit Schaudern, nächtlicherweile in einen
Rinnstein gefallen zu sein, der wenigstens ⅓ m tief und mit keiner
angenehmen Flüssigkeit gefüllt war. Auch der Grundzug der Bevölkerung,
ihre schnarrende und schnoddrige Redeweise, mit dem befehlshaberischen,
an das Militär erinnernden Ton, waren mir recht ungewohnt.

Die chemischen Institute, die wir ansahen, konnten ebenso wenig unseren
Beifall erwecken, und wenn mir jemand damals prophezeiht hätte, daß ich
einmal nach Berlin berufen würde, so hätte ich sicherlich in Gedanken
ein solches Angebot energisch abgelehnt. Von dort ging die Reise weiter
über Stettin, wo wir sofort das Schiff nach Kopenhagen bestiegen.
Vetter ~Otto~ trennte sich für diese Zeit von uns und fuhr in der
zweiten Kajüte, weil er annahm, daß hier die Gesellschaft besser sei.
Es war meine erste Meerfahrt, und sie ist mir dauernd im Gedächtnis
geblieben, weil sie recht stürmisch verlief. Schon auf dem Haff wurden
viele Personen seekrank, und als wir auf das offene Meer kamen, geriet
das kleine Schiff in bedenkliche Schwankungen. ~Königs~ und ich
haben uns tapfer gehalten, bis wir am späten Abend, durch die Kälte
gezwungen wurden, in die Kajüte zu gehen. Hier haben wir dann ebenfalls
Neptun unser Opfer bringen müssen, und als wir am nächsten Morgen in
Kopenhagen ankamen, war die ganze Schiffsgesellschaft in ziemlich
trostlosem Zustand.

Der Aufenthalt in der prächtig gelegenen und durch die große Kunst
Thorwaldsens geweihten dänischen Hauptstadt hat uns für die erlittene
Mühsal reichlich entschädigt.

Die Dänen sind ein sehr höfliches Volk und trotz der politischen
Abneigung, die sie damals gegen Deutschland hegten, haben sie uns mit
großer Zuvorkommenheit behandelt. Nur einmal stießen wir mit ihrem
Vorurteil zusammen. In einem Caféhaus, wo wir die einzigen Gäste waren,
zog ~Königs~ ein Kartenspiel hervor, das er immer auf Reisen mitführte,
und wollte ein kleines unschuldiges Skatspiel beginnen. Dagegen
erhob aber der Wirt entschiedenen Widerspruch, weil in den besseren
Gasthäusern der Stadt das Kartenspiel Anstoß errege.

Natürlich haben wir auch die schöne Umgebung von Kopenhagen, das Seebad
Klampenborg, die kleine Stadt Helsingoer, mit dem alten aus Hamlet
bekannten Schlosse, und endlich das im Innern gelegene prächtige
Schloß Frederiksborg besucht. Ich bin später nicht mehr nach Dänemark
gekommen, habe aber dem schönen Seeland eine dauernde freundliche
Erinnerung bewahrt.

Die Überfahrt über Korsoer nach Kiel ging ohne Zwischenfall von
statten, da die See ruhig war. Kiel machte damals den Eindruck einer
kleinen schmutzigen, ziemlich unbedeutenden Seestadt. Von der großen
deutschen Marine mit den gewaltigen Werftanlagen der Neuzeit war
noch sehr wenig vorhanden, dagegen hatten wir bei der Einfahrt, die
früh morgens erfolgte, das Vergnügen, die prächtige Kieler Bucht zu
bewundern.

Ebenso gab uns die Eisenbahnfahrt von Kiel nach Hamburg willkommene
Gelegenheit, das hübsche und freundliche Holstein'sche Land mit manchen
kleinen Seen und prächtigen Waldungen zu sehen. Hamburg war damals noch
nicht die gewaltige Handelsstadt wie heute. Aber als Seeplatz nahm es
doch schon den ersten Rang in Deutschland ein, und das Leben im Hafen
bot für uns Landratten viele Überraschungen. Auch die Stadt selbst mit
den schönen Bauten an der Alster, mit der prächtigen Kunsthalle und
den guten Theatern war wohl geeignet, die Aufmerksamkeit des Reisenden
zu erwecken. Als junge Leute, die den ganzen Tag auf der Schau sein
konnten, haben wir das alles in ein paar Tagen gesehen.

Inzwischen hatte die Tagung der deutschen Naturforscher und Ärzte
begonnen, an der wir als Mitglieder teilnahmen. Die chemische Sektion
war nicht sehr besucht, aber ich habe doch einige für mich interessante
Bekanntschaften gemacht. Zunächst ~A. Ladenburg~, damals Professor der
Chemie an der Universität Kiel, dann der außerordentliche Professor
~Michaelis~ von Karlsruhe, der gerade aus England kam und sich ebenso
durch einen ungeheuren Bart wie durch einen altersschwachen Cylinderhut
auszeichnete. Endlich Dr. ~E. Noelting~, ein Freund und späterer
Schwager von ~Witt~. Er interessierte sich besonders für Farbstoffe und
interpellierte mich sofort über das Rosanilin, über das ich mit dem
Vetter ~Otto~ eine kleine Publikation gemacht hatte. In einer Sitzung
der chemischen Abteilung habe ich meinen ersten wissenschaftlichen
Vortrag gehalten. Er war ziemlich kurz und handelte von dem
asymmetrischen Diphenylhydrazin, das ich kurz vorher gefunden hatte,
und dessen Isomerie mit dem Hydrazobenzol interessante Vergleiche
gestattete. Der Präsident der Sitzung, Professor ~Ladenburg~, hat mir
dazu einige freundliche Worte der Anerkennung gewidmet.

Von den allgemeinen Sitzungen, die wir ebenfalls besuchten, ist mir nur
ein Vortrag des Zoologen ~Moebius~ aus Kiel in Erinnerung geblieben,
weil er ein chemisches Kuriosum brachte. Es war die Identität des
mysteriösen Urschleims (Bathybius Haeckelii) mit amorphem Gyps, der
beim Vermischen von Seewasser mit Alkohol ausfällt.

Die Stimmung der Naturforscher, die im Hamburger Volksmund »die
forschen Naturen« hießen, war die denkbar beste, gehoben durch das
prächtige Herbstwetter, die vielen Vergnügungsgelegenheiten der
Seestadt und die flotte Gastfreundschaft der Hamburger Bürgerschaft.
Von den Festlichkeiten ist mir in Erinnerung geblieben eine
Dampferfahrt nach Blankenese. Bei der Rückkehr hatten wir Gelegenheit,
die Ausgelassenheit und Rohheit der Hafenbevölkerung kennen zu lernen.
Es war schon halb dunkel und Scharen von halbwüchsigen Burschen
vergnügten sich nun damit, unserer Gesellschaft und besonders den Damen
kleine, aber doch scharf explodierende Feuerwerkskörper unter die Füße
zu werfen. Anderwärts hätte man sich über diesen Unfug entrüstet, die
Hamburger aber waren daran gewöhnt und blieben ganz gelassen.

Von Hamburg sind wir drei ohne Unterbrechung an den Rhein gefahren, und
ich habe mich dann im Oktober von den beiden anderen für ein Semester
getrennt, da ich nach Straßburg ging, um bei meinem früheren Lehrer
Professor ~F. Rose~ in der analytischen Chemie und ganz besonders
im Unterricht der Anfänger Erfahrungen zu sammeln. Angemeldet hatte
ich mich natürlich schon während des Sommers und dabei den Wunsch
ausgesprochen, als Volontärassistent von Rose in der analytischen
Abteilung des Laboratoriums zu Straßburg mitwirken zu dürfen. Der
Direktor des Instituts Professor ~Fittig~ ließ mir aber sagen, er
könne meinen Wunsch nur erfüllen, wenn ich die Stelle eines bezahlten
Assistenten annehme. Das habe ich auch getan, mußte nun aber nach
einigen Monaten die Überraschung erleben, daß mein schon an und
für sich recht bescheidenes Gehalt herabgesetzt wurde. Es war eine
Maßregel, die aus Verwaltungsgründen vielleicht gerechtfertigt war,
aber es hat doch auf die anderen Angestellten des Instituts, besonders
die Diener einen merkwürdigen Eindruck gemacht, weil sie es als eine
Degradation für mich ansahen. Ich habe natürlich darüber gelacht,
aber es passte zu der Persönlichkeit von ~Fittig~, der durch seine
Anordnungen, ohne es zu wollen, andere Leute leicht vor den Kopf stieß.
Ich hatte vor ~Fittig~ wegen seiner ausgezeichneten Arbeiten die
größte Hochachtung, aber bei näherem Verkehr mit ihm merkte ich doch
den großen Unterschied im Vergleich zu ~Baeyer~. Trotz seiner scharfen
Beobachtungsgabe und seiner Geschicklichkeit im Experimentieren sowie
seiner gesunden Kritik, entbehrte er der Genialität und war neuen
Ideen, z. B. der Stereochemie und den physikalischen Lehren schwer
zugänglich. Obschon ein guter Lehrer für Anfänger, besaß er auch nicht
die Fähigkeit, ältere Chemiker an sich zu fesseln und dadurch eine
größere wissenschaftliche Schule zu bilden. Von Tübingen her war er
gewöhnt, auch den Unterricht in der chemischen Analyse zu erteilen.
Das hätte er am liebsten auch in Straßburg getan, wenn nicht die von
~Baeyer~ schon getroffene Organisation, die den Extraordinarius ~Rose~
zum selbständigen Leiter in der Abteilung machte, vorhanden gewesen
wäre. Ich war als Assistent nur in dieser Abteilung beschäftigt.
Leider blieb mir dabei eine gewisse Enttäuschung auch nicht erspart.
Der Unterricht von ~Rose~, dem ich als Student so viel verdankte,
erschien mir jetzt mehr wie eine einseitige, allerdings mit den vielen
praktischen Erfahrungen des ~Bunsen~'schen Laboratoriums geschmückte
Dressur. Neue Methoden, die in der Literatur erschienen, wurden
garnicht versucht und die geringste Abweichung von der Schablone galt
als Fehler. Trotzdem ist mir das, was ich in bezug auf Unterricht bei
~Rose~ lernte, später sehr zustatten gekommen, als ich selbst die
analytische Abteilung des Münchener Laboratoriums übernehmen mußte.

Die Zahl der Studierenden im Straßburger Laboratorium war nicht so
groß, daß meine Zeit durch den Unterricht ganz in Anspruch genommen
worden wäre. Es blieb mir deshalb die Möglichkeit, nebenher andere
Dinge zu treiben. So habe ich mich ziemlich regelmäßig an dem
physikalischen Kolloquium bei ~Kundt~ beteiligt, und vor allen Dingen
konnte ich einige Studien über die Morphologie und Physiologie der
niederen Pilze machen. Wie früher schon erwähnt, erhielt ich die
Anregung dazu von Dr. ~A. Fitz~, der mir von früher her flüchtig
bekannt war, und dem ich jetzt auch persönlich näher treten durfte.
Er war ein wohlhabender Weingutsbesitzer aus der Pfalz, schon in
reiferen Jahren, unverheiratet und führte damals interessante Versuche
über Spaltpilzgärung aus, durch die er sich in der Geschichte der
Gärungschemie einen geachteten Namen gemacht hat. Durch ihn lernte
ich einige Schriften von ~Pasteur~, vor allem das Buch ȃtudes sur
la bière« kennen. (Welche praktische Folge das für eine Brauerei in
Dortmund gehabt hat, ist früher geschildert). Die Pilzchemie hat mich
damals so interessiert, daß ich bei längerem Aufenthalt in Straßburg
sicherlich eigene Forschungen auf diesem Gebiete angestellt hätte.
Zunächst war es aber für mich nötig, morphologische Kenntnisse
zu erwerben und Übung in der Handhabung des Mikroskops und der
Pilzkulturen zu bekommen. Die Gelegenheit dazu bot das botanische
Institut, das unter Leitung von ~de Bary~ stand, der einer der besten
Kenner der niederen Pilze in Deutschland war. Mit geringer Mühe habe
ich dort eine Reihe von Schimmelpilzen und Hefearten kennen gelernt,
die meist auf trockenen Nährböden wie Kartoffeln, Rüben, Möhren gezogen
wurden. Es ist mir deshalb immer ein Rätsel geblieben, daß erst
Jahre nachher für die Kultur der Spaltpilze ~Robert Koch~ die festen
Nährböden in die Mykologie einführen mußte, und seitdem als Erfinder
dieser Methode angesehen wird. Tatsächlich hat ~Pasteur~ die Kultur von
Mikroben immer nur in Flüssigkeiten, d. h. in seinem bekannten Kolben
angestellt und auch seine Nachfolger wie ~Fitz~ usw. waren nicht auf
den Gedanken gekommen, den festen Nährboden zu benutzen.

Außerhalb der Laboratorien hat es mir an Unterhaltung und Gesellschaft
in Straßburg nicht gefehlt, und als junge Leute durften wir uns
auch hier und da kleine Streiche erlauben. So erinnere ich mich
eines Spaßes, wobei wir Dr. ~C. Wurster~, der damals in Straßburg
sein einjährigfreiwilliges Jahr abdiente, und bei einer nächtlichen
Kneiperei den Urlaub überschritten hatte, vor der Festnahme durch eine
Patrouille schützen mußten, indem wir ihn auf der Straße rasch in einen
Zivilisten verwandelten.

Von neuen Bekanntschaften, die ich in ziemlich großer Zahl machte,
will ich nur zwei erwähnen. Einmal den Vorstand der Apotheke am
Bürgerhospital Dr. ~Musculus~, ein Freund von ~Mering~. Er war
erheblich älter wie wir, ein geborener Elsässer, ein liebenswürdiger
Gesellschafter und guter Chemiker. Ihm verdankt man die erste Synthese
künstlicher Dextrine aus Traubenzucker, mit denen ich mich 15 Jahre
später eingehend beschäftigt habe. Noch viel origineller als Mensch
war der Physiker Dr. ~Fuchs~, ein Kneipgenie und nebenher ein Mann
von umfassender Bildung. Er hatte ursprünglich Philologie studiert
und war dann Mediziner geworden. Nach Abschluß aller dazu nötigen
Examinas hatte er kurze Zeit als Nervenarzt praktiziert, war dann
aber zur Physiologie übergegangen. Als auch diese Wissenschaft ihm
noch nicht exakt genug erschien, wurde er Physiker, und infolge
der Unterhaltungen, die er öfters mit mir führte, bekam er Lust,
auch noch Chemiker zu werden. Dazu ist es aber nicht mehr gekommen,
weil inzwischen sein bescheidenes väterliches Erbe zur Neige ging,
und er genötigt war, Geld zu verdienen. Er hat sich später in Bonn
habilitiert und ist, wie ich zu meinem großen Vergnügen hörte, zum
Schluß als Pseudoleibarzt zu ~Friedrich Krupp~ in Essen gekommen.
Ich kann mir denken, daß es diesem Schöpfer des größten deutschen
Industrieunternehmens am Schluß eines arbeitsreichen Lebens
Vergnügen bereitet hat, mit dem vielseitig gebildeten, witzigen und
kindlich-naiven Gelehrten zu verkehren.

Im Frühjahr 1877 hatte ich meinen Zweck in Straßburg erreicht und
kehrte schleunigst nach München zurück, um die liegengebliebenen
Arbeiten über die Hydrazinverbindungen und das Rosanilin fortzusetzen.
Dort war inzwischen der Neubau des Instituts mächtig gefördert worden
und man bereitete sich schon darauf vor, im Herbst desselben Jahres den
Umzug aus dem alten Hause zu bewerkstelligen.

Der Sommer verlief wie sein Vorgänger für uns als eine zweckmäßige
Kombination von fleißiger Arbeit und heiterem Leben. Die Zahl der
Studierenden und der älteren Chemiker war gewachsen und auch unser
gesellschaftlicher Kreis hatte sich dementsprechend vergrößert. Wir
waren alle inzwischen gute Münchener geworden und hatten uns dem
Bierleben ganz angepaßt. Besonders unterhaltend waren die Abende auf
den sogen. Bierkellern, d. h. den Ausschanken der großen Brauereien
in hübschen Gärten, die zum Teil auf der Theresienwiese, zum Teil auf
dem rechten Isarufer lagen. Hier herrschte ein gemütliches Treiben,
eine aus allen Teilen der Bevölkerung zusammengesetzte Gesellschaft
erfreute sich an dem köstlichen Bier. Das Abendessen dazu brachte man
sich mit, indem man unterwegs in einem Fleischer- und Bäckerladen
die nötigen Einkäufe machte. Ganze Familien, von kleinen Kindern bis
zum Greise konnte man hier versammelt sehen. Das Bierleben bot auch
sonst manche Merkwürdigkeiten. So gab es in gewissen Stadtlokalen
eine Bierbettelei, d. h. einzelne Leute, die behaupteten, kein Geld
zum Ankauf von Bier zu besitzen zogen mit einem leeren Krug umher, um
ihn von mildtätigen Menschen in kleinen Beiträgen füllen zu lassen.
Der sonderbarste Auswuchs von Biergemütlichkeit entwickelte sich aber
beim Ausschank des Salvatorbiers, das von einer einzigen Münchener
Brauerei hergestellt wurde und gewöhnlich in 5 bis 6 Wochen auf dem
Salvatorkeller ausgetrunken wurde. Meinen ersten Besuch machte ich dort
gemeinschaftlich mit Professor ~Baeyer~. Es war ein fürchterlicher
Betrieb. Trotz der kalten Jahreszeit lagen die Menschen dutzendweise
betrunken im Garten und an den Abhängen des Berges. Das Hereinkommen
in den ungeheuren geschlossenen Raum bot erhebliche Schwierigkeiten,
weil fortwährend Ruhestörer oder Betrunkene hinausgeworfen wurden.
Als wir schließlich drin waren, wurden wir durch eine Persönlichkeit,
die ~Baeyer~ kannte, aufgefordert, in einem reservierten Zimmer Platz
zu nehmen. Dort war eine sonderbare Gesellschaft versammelt, die man
für Leute niederen Standes hätte halten können. Auch die Unterhaltung
belehrte darüber zunächst nicht. Ich erinnere mich noch, daß einer der
Männer einen alten stark riechenden Käse aus der Tasche zog, mit dem
dolchartigen Messer, das die Bayern immer tragen, zerlegte und dann
seinen Nachbarn zum Konsum anbot. Auf meine Erkundigung nach seiner
Person erfuhr ich, daß es ein hoher Offizier sei. Mein Nachbar, den
ich nach dem Äußeren auch sehr unterschätzt hatte, war der bekannte,
feinfühlige Dichter ~Lingg~. Und so entpuppte sich allmählich die ganze
Gesellschaft als hochgeachtete Männer, Künstler, Gelehrte, Offiziere,
hohe Staatsbeamte, Großkaufleute usw. Ich bin damals zu der Überzeugung
gekommen, daß kein Mittel in der Welt existiert, welches ähnlich dem
Bier alle Standes- und sozialen Unterschiede verwischt und die Menschen
gleich macht.

Ein großer Vorzug von München ist die Nähe des Gebirges. Man konnte
schon damals mit der Eisenbahn in einigen Stunden nach Tegernsee
oder in die Nähe des Walchensees gelangen, und wir haben die in
Bayern recht häufigen katholischen Feiertage des Sommers vielfach
zu kleinen Touren in die Berge benutzt. In den Pfingstferien, die
länger dauerten, führte uns der Weg in der Regel nach Tirol, weil dort
Küche und Wein erheblicher besser waren. Großer Bergsteiger bin weder
ich, noch die anderen Mitglieder unseres Kreises gewesen, aber auf
mittlere Höhen, wie auf Herzogenstand, Wendelstein haben wir uns öfters
hinaufgetraut. Daß auch hier durch ungünstige Umstände Gefahr entstehen
kann, hat mich die Besteigung des Kitzbüchlerhorns während eines
Pfingstausfluges gelehrt. Die Spitze des Berges war noch mit ziemlich
viel Schnee bedeckt. Unsere Gesellschaft bestand aus etwa 5 Personen.
Glücklicherweise hatten wir einen Träger, der gleichzeitig als Führer
diente. Als wir oben angekommen waren, erkrankte Dr. ~Boesler~, von dem
später noch die Rede sein wird, an Bergkrankheit so stark, daß er sich
nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Wir haben ihn in unsere Mäntel
gewickelt und in den Schnee legen müssen und uns dann selbst in dem
eisigkalten Wind durch starke Bewegung, Freiübungen usw. warm halten
müssen. Da die Sorge entstand, daß der Patient nicht mehr imstande
sein würde, den Heimweg anzutreten, so richteten wir an den Führer
die Frage, was nun zu tun sei. Er erwiderte kaltblütig, daß er den
Herrn in den Rucksack stecken und bergabwärts tragen werde. Vor dieser
sicherlich wenig bequemen Beförderungsweise blieb aber glücklicherweise
Dr. ~Boesler~ verschont, weil er sich bald wieder so weit erholte, daß
er mit unserer Unterstützung den Rückweg machen konnte.

Derartige Ausflüge haben mich im Laufe der 7-jährigen Münchener Periode
fast nach allen schönen Punkten von Oberbayern und Südtirol geführt.
Manche davon sind mir noch in Erinnerung. Besonders eine Bergfahrt,
die ich zusammen mit dem Physiologen Dr. ~Tappeiner~, dem Zoologen
Dr. ~Graf~ und einem Professor der Anatomie an der tierärztlichen
Hochschule zu München Dr. ~Frank~ unternahm. Sie ging zunächst per
Eisenbahn über den Starnberger See bis Pensberg, wo sich das einzige
Kohlenbergwerk in Bayern befindet, und von dort zu Fuß nach Kochel.
Hier gerieten wir in die Herbstmanöver bayerischer Truppen, welche
die Gegend gänzlich ausgegessen hatten. Es gab schon kein Brot mehr,
wohl aber noch reichlich Bier. Quartier mußten wir auf dem Heuboden
in Gesellschaft von Soldaten nehmen, wobei es mir passierte, daß ich
nachts durch das Heuloch sanft in den darunter gelegenen Kuhstall
hinabfiel. Am Abend vorher hatte sich im Gasthause vor unseren Augen
eine charakteristische Szene aus dem bayerischen Volksleben abgespielt.
In unserer Nähe saß ein Mann, wahrscheinlich Holzfäller, der, wie
später bekannt wurde, den Versuch gemacht hatte, die Kellnerin zu
betrügen. Diesem Mann flog plötzlich, ohne daß ein Wortwechsel
stattgefunden hatte, vom Ausschank her ein leerer Maßkrug an den Kopf.
Gleichzeitig trat ein starker Mann aus derselben Ecke hervor -- es
war der sogen. Zapfbube -- prügelte den Getroffenen mit gewaltigen
Schlägen und verschwand dann wieder ganz ruhig in die dunkle Ecke des
Ausschankes. Der Geprügelte verließ ebenso ruhig die Gaststube und die
Sache war erledigt.

Am nächsten Morgen sind wir, nachdem am Brunnen flüchtig Toilette
gemacht war, den Kochelberg hinauf, zum Walchensee und von dort immer
per pedes bis nach Partenkirchen. Den Führer der kleinen Gesellschaft
machte Professor ~Frank~; denn er hatte vor seiner akademischen
Laufbahn lange hier als Tierarzt gewirkt und war deshalb mit Land und
Leuten auf das Genaueste vertraut. So kamen wir mit der Bevölkerung
in enge Fühlung und ich habe damals einen recht guten Eindruck von
dieser frischen, tatkräftigen und sich sehr natürlich und frei gebenden
Rasse gehabt. Leider ließ die Küche, namentlich in den Gasthäusern
zweiten und dritten Ranges, wohin ~Frank~ uns führte, viel zu wünschen
übrig und die Folge davon war, daß ich mir schon am vierten Tage in
Partenkirchen den Magen und Darm gründlich verdarb und allein nach
München zurückkehren mußte.

Eine andere Fahrt, die für mich besser verlief, habe ich zusammen
mit Dr. ~Fluegge~ gemacht, der jetzt Professor der Hygiene an der
Universität Berlin ist. Er war vorher praktischer Badearzt gewesen,
hatte sich aber dann der frisch aufblühenden Hygiene zugewandt und war
nach München gekommen, um bei ~Pettenkofer~ zu arbeiten. Wir haben
auf der langen Fußtour, die von Tegernsee über den Achensee nach dem
Inntal und von dort über Mittenwald, Partenkirchen, Walchensee und
Herzogenstand nach Benedictbeuren ging, uns trefflich unterhalten.
Er war ein lustiger Gesellschafter, flotter Fußgänger mit offenen
Augen für landschaftliche Schönheiten und Eigentümlichkeiten
der Bevölkerung. Auch an wissenschaftlichen Gesprächen hat es
nicht gefehlt, und ich habe mich damals bemüht, ~Fluegge~ von
der Wichtigkeit der ~Pasteur~'schen Untersuchungen und von der
Bedeutung der Stoffwechselprodukte der pathogenen Mikroben bei den
Infektionskrankheiten zu überzeugen.

Im September desselben Jahres fand die Versammlung der deutschen
Naturforscher und Ärzte in München statt. ~Baeyer~ hatte die
Organisation der chemischen Abteilung übernommen und die Folge davon
war, daß ich zusammen mit Dr. ~Wilhelm von Miller~ von der technischen
Hochschule zum Schriftführer ernannt wurde. Die Geschäftsführung
geriet aber in einige Schwierigkeiten, weil Frau ~Baeyer~ während
eines Ferienaufenthaltes im bayerischen Gebirge gerade zu jener Zeit
den Herrn Gemahl mit einem Söhnchen, dem jetzigen Professor der
Physik zu Berlin ~Otto von Baeyer~ beschenkte und infolgedessen der
Gatte mit einer kleinen Verspätung bei der Versammlung erschien. Die
Tagung war für uns Chemiker recht interessant, weil ungewöhnlich viele
Fachgenossen zusammengeströmt waren. Ich wurde hier zuerst bekannt mit:
~Victor Meyer~, ~C. Liebermann~, ~J. Wislicenus~, ~F. Tiemann~, ~C.
Scheibler~, ~C. A. Martius~ und ~Peter Gries~. Dieser war unstreitig
die originellste Persönlichkeit in unserem Kreise, wie man nach dem
allerliebsten Nekrolog, den ~A. W. Hofmann~ ihm später gewidmet hat,
gerne glauben wird. Wegen Überfüllung stieß er in München auf allerlei
Unbequemlichkeiten, besonders bei den festlichen Veranstaltungen. Er
pflegte dann stumm eine Weile in den Wirrwarr hineinzuschauen und
hinterher seinem Gefühl im richtigen kurhessischen Dialekt mit den
Worten Luft zu machen: »Die Leute verstehen keine Massen zu bewältigen«.

In der chemischen Sektion wurde er mit großer Aufmerksamkeit behandelt
und auch zum Vorsitzenden gewählt. Hinterher hat ihm die Münchener
Universität noch den Titel eines Dr. phil. h. c. verliehen, denn es war
gerade die Blütezeit der Benzolchemie und die von ~Gries~ aufgefundenen
Reaktionen wurden in ausgiebigster Weise zur Lösung von Stellungsfragen
benutzt. Zudem hatte eben die Industrie der Azofarben einen großen
Aufschwung genommen. Endlich waren Leute, die wie ~Gries~ in einem
praktischen Berufe stehen und trotzdem in den Mußestunden vortreffliche
wissenschaftliche Untersuchungen anstellen, in Deutschland eine große
Seltenheit.

Von den Vorträgen der chemischen Sektion ist mir keiner in Erinnerung
geblieben, wie denn überhaupt solche Versammlungen für die Publikation
von fachwissenschaftlichen Dingen keine große Rolle spielen. Ihre
Bedeutung liegt vielmehr in dem persönlichen Verkehr der Teilnehmer,
und in dem Austausch von Erfahrungen, die man der öffentlichen Rede
oder Abhandlung nicht anvertraut. Dann geben sie auch den jüngeren
Gelehrten eine willkommene Gelegenheit, sich den Alten zu präsentieren
und ihre Kunst im Vortrag zu zeigen. Ich bin in späteren Jahren
häufig auf die Naturforscherversammlungen gegangen hauptsächlich zu
dem Zwecke, jüngere Fachgenossen kennen zu lernen. Bei dem zwanglosen
Verkehr wird auch der Grund zu mancher Freundschaft gelegt. Von der
Münchener Versammlung her datieren z. B. meine freundschaftlichen
Beziehungen zu ~Victor Meyer~ und ~F. Tiemann~.

In der ersten allgemeinen Sitzung der Tagung erregte ein Vortrag
von ~Haeckel~ großes Aufsehen, weil er aus den Fortschritten der
Biologie weitgehende Schlüsse für das ganze geistige und sittliche
Leben der Welt zog, und mit scharfen Angriffen auf Kirche und
staatliche Unterrichtsanstalten verband. Wenige Tage darauf, in
der zweiten allgemeinen Sitzung antwortete ihm ~Virchow~ und führte
in interessanter und geschickter Weise die Theorien und Forderungen
~Haeckels~ auf das legitime Maß zurück. Man hatte allgemein den
Eindruck, daß nur wenig deutsche Gelehrte in der kurzen Frist von
einigen Tagen eine so musterhafte wissenschaftliche Kritik in Form
einer populären Rede abfassen könnten.

Natürlich fehlte es bei einer so großen Versammlung in München nicht
an mannigfachen Festlichkeiten. Unter anderem hatte der Magistrat der
Stadt im alten Rathause eine zwanglose Begrüßung veranstaltet. Dabei
wurde auch das politische Gebiet gestreift, was sonst bei diesen
Tagungen nicht gerade üblich ist. Ein alter bayerischer Professor hieß
nämlich die in ziemlich großer Zahl erschienenen Deutschschweizer
herzlich willkommen, knüpfte aber daran die politische Aufforderung,
sich von dem Welschtum abzuwenden und dem im neuen Reiche geeinten
Deutschtum anzuschließen. Das wurde von den Schweizern höflich, doch
recht entschieden abgelehnt mit der zutreffenden Bemerkung, daß die
Schweiz nach ihrer politischen und kulturellen Struktur, sowie nach
der geschichtlichen Entwicklung es für ihre Pflicht ansehen müsse, mit
allen benachbarten Völkern und Staaten in einem freundschaftlichen
Verhältnis zu bleiben.

In der chemischen Sektion wurden mein Vetter und ich privatim öfters
nach dem Stande unserer Arbeit über das Rosanilin gefragt, mußten
aber mit einer gewissen Beschämung gestehen, daß wir darin seit einem
Jahre nicht vorwärts gekommen seien. Das mag wohl unsere weiteren
Bemühungen in dieser Frage beschleunigt haben; denn im darauffolgenden
Wintersemester ist uns tatsächlich ihre Lösung geglückt. Nebenher
hatte ich die Untersuchung über die Hydrazinverbindungen zu einem
gewissen Ende gebracht, so daß sie als zusammenfassende Abhandlung
in Liebigs Annalen erscheinen konnte. Die direkte Veranlassung dazu
war meine bevorstehende Habilitation als Privatdozent. Ich wurde dazu
von Professor ~Baeyer~ geradezu gedrängt, weil inzwischen das neue
Institut fertig geworden und bezogen war und deshalb das Bedürfnis nach
Privatdozenten deutlicher zutage trat. Zudem hatte ein anderer Kollege,
Dr. ~Aronstein~ seine Absicht kund getan, Privatdozent in München zu
werden. Da er aber ein Mann von nur mittleren Fähigkeiten war, so lag
Professor ~Baeyer~ viel daran, ihn nicht als ersten Privatdozenten
mit dem neuen Institut verbunden zu sehen. Um das zu vermeiden, wurde
ich vorgeschoben, obschon ich viel lieber noch eine Weile in meiner
unabhängigen Stellung als Privatgelehrter geblieben wäre. Meine
Habilitation fand statt am Ende des Wintersemesters im Frühjahr 1878.
Da die Universität München den anderwärts erworbenen Doktortitel nicht
als vollberechtigt anerkannte, so mußte ich zuvor noch eine Prüfung
in Form eines Kolloquiums zur sogen. Nostrifikation des Doktortitels
ablegen. Als Examinatoren waren bestellt ~Baeyer~ und ein zweiter aus
der ~Liebig~'schen Zeit herstammender Professor der Chemie Dr. ~Vogel~,
ein sehr unbedeutender Mann.

Da für ~Baeyer~, der mich seit Jahren kannte, die Prüfung nur eine
Formfrage war, so stellte er scheinbar in vollem Ernste an mich die
Frage: »Herr Doktor, können Sie mir einiges über Hydrazinverbindungen
mitteilen?« Für den Entdecker der Hydrazine war die Antwort nicht
schwer. Und dann stellte ~Baeyer~ mit demselben Ernste an den Kollegen
~Vogel~, der offenbar von den Hydrazinen nie etwas gehört und auch
meine Habilitationsschrift nicht gelesen hatte, die Frage: »Sind Sie
zufrieden?« Das war der Fall. ~Vogel~ ergänzte dieses Geständnis noch
durch einige ziemlich törichte Fragen, womit die Prüfung schloß.

Sehr viel schwerer waren die Anforderungen für den Habilitationsakt
selbst, denn die Fakultät stellte ein Thema, das nach einer Pause von
3 Tagen in freier etwa ¾stündiger Rede behandelt werden mußte. Mein
Thema lautete: »Die heutigen Aufgaben der Chemie«. Da ich bis dahin
niemals einen größeren öffentlichen Vortrag gehalten hatte, so kann man
sich denken, daß ich in der 3tägigen Frist angestrengt arbeiten mußte,
um eine brauchbare Rede zustande zu bringen. Dabei ist mir mein gutes
Gedächtnis zustatten gekommen, denn ich konnte den Schriftsatz später
in der Aula der Universität fast wörtlich ohne Manuskript vortragen.
Außer der Fakultät waren natürlich alle Bekannte aus dem Institut dort
versammelt und viele davon haben mich hinterher beglückwünscht, daß
ich ohne Stocken den Vortrag zu Ende führen konnte. Diesem folgte noch
eine Diskussion über von mir aufgestellte Thesen, an der sich aber nur
die Mitglieder der Fakultät beteiligten. Dabei hatte ich einen kleinen
Zusammenstoß mit dem Senior der Fakultät, dem Mineralogen ~Kobell~, der
aber nach einer kleinen Konzession meinerseits zu einer Einigung führte.

Bei dieser Gelegenheit will ich nicht unterlassen darauf hinzuweisen,
daß in München die philosophische Fakultät vernünftigerweise in
zwei Sektionen geteilt war, und daß für alle Geschäfte, die uns
Naturforscher betrafen, nur die mathematisch-naturwissenschaftliche
Sektion in Betracht kam. Ich halte das für einen großen Vorzug
gegenüber den preußischen Universitäten, wo die philosophischen
Fakultäten nicht geteilt sind und deshalb in toto alle Geschäfte
erledigen müssen. Das bringt z. B. in Berlin, wo die Zahl der
Ordinarien das halbe Hundert längst überschritten hat, eine recht
mühsame Geschäftsführung mit sich, die zahllose, langdauernde Sitzungen
nötig macht, und führt von Zeit zu Zeit zu heftigen und sehr
überflüssigen Auseinandersetzungen über prinzipielle Fragen zwischen
den Vertretern der Natur- und Geisteswissenschaften.

So war ich denn glücklich Privatdozent der Chemie und zwar als
Erster der neuen Ära an der Universität München geworden, und im
Sommersemester trat die Verpflichtung an mich heran, eine Vorlesung
zu halten. Ich wählte als Thema die Teerfarbstoffe und hatte das
Glück, eine ziemlich große Anzahl von Zuhörern zu bekommen, weil
solche speziellen Vorlesungen damals in München etwas Seltenes waren.
Der Vortrag selbst hat mir anfangs rechte Mühe gemacht. Obschon ich
an die freie Rede nicht gewöhnt war, habe ich prinzipiell von Anfang
an auf die Benutzung eines Manuskripts verzichtet. Das war aber nur
möglich, wenn ich vorher den Vortrag vollständig ausarbeitete und ihn
dann gut memorierte. Auf diese Weise ist es mir gelungen, schon nach
einem Semester eine so große Übung in der freien Rede zu erhalten,
daß ich mir später nur noch den Inhalt und die Gedankenverbindung
zurecht zu legen brauchte, dagegen die Form in der Vorlesung selbst
erfinden konnte. Da man mir häufig gesagt hatte, daß mein Vortrag klar
und den Bedürfnissen des Zuhörers angepaßt sei, so glaube ich, das
von mir eingeschlagene Verfahren jungen Dozenten empfehlen zu können.
Daß man die Materie beherrschen muß, ist ja selbstverständlich, aber
das gedankliche Gerippe muß auch dem Redner klar vor Augen stehen.
In reiferen Jahren hat es mir auch Freude gemacht, das Mienenspiel
der Zuhörer zu beobachten, um herauszufinden, ob der Gegenstand
interessiere und ob der Ton richtig gewählt sei. Ferner schien es mir
im Eifer der Rede manchmal erlaubt, freie Exkursionen im Nachbargebiete
zu unternehmen oder Ideen zu entwickeln, die ich mir selbst von
ungelösten Fragen gemacht hatte, und die ich nur als Hypothese
darbieten konnte. Wenn der Zuhörer merkt, daß der Redner nicht nur von
allgemein anerkannten Dingen, sondern auch von seinen eigenen geistigen
Produkten Einiges hergibt, so wird die persönliche Fühlung mit dem
Redner enger, die Aufmerksamkeit gespannter und der geistige Gewinn
größer.

In der ersten Vorlesung zu München ist mir allerdings der Erfolg dieser
Fühlungnahme mit der Zuhörerschaft zunächst nicht beschieden gewesen;
denn nach einigen Stunden erschien eine Abordnung bei mir, die in
wohlwollendem Ton mir erklärte, daß sie weder den Sinn noch die Worte
verstanden hätten wegen allzu starkem Dialekt des Redners. Ich habe
über diese Kritik herzlich gelacht und versucht, mich zu bessern, und
die Zuhörer haben es mir gelohnt dadurch, daß sie in verhältnismäßig
großer Zahl bis zum Ende des Semesters erschienen.

Als zweite Vorlesung habe ich ein viel schwereres Thema gewählt,
nämlich ausgewählte Kapitel der theoretischen Chemie. Damals war
gerade das bekannte Buch »Moderne Theorien der Chemie« von ~Lothar
Meyer~ in neuer Auflage erschienen und als glückliche Ergänzung dazu
hatte sein Bruder, der Physiker eine ziemlich populäre Darstellung der
kinetischen Gastheorie herausgegeben. Diese Bücher habe ich fleißig
studiert und versucht, den Inhalt meinen Zuhörern in gedrängterer und
noch etwas populärer Form wieder zu geben. Das schien auch zu gelingen,
aber in der Folge habe ich einen großen Fehler begangen, indem ich
die vorgetragenen Lehren einer Kritik unterzog, um das Bleibende als
gesetzmäßig Erkannte zu trennen von allem hypothetischen Beiwerk.
Das Ganze lief auf eine Kritik der Atomtheorie nach den damaligen
Kenntnissen hinaus. Für mich selbst war dieser Versuch sicherlich sehr
belehrend, aber bei meinen Zuhörern habe ich Unheil angerichtet und
einige davon konnten bittere Klagen darüber nicht verschweigen: »Wo
soll das hin«, sagten sie zu mir, »wenn man nach den Darlegungen eines
Professors sich solche theoretischen Kenntnisse mühsam erwirbt, und
hinterher erfahren muß, daß vieles doch noch zweifelhaft ist«. Ich habe
daraus die Lehre gezogen, daß man in Vorträgen für Studierende mit der
Kritik sehr vorsichtig sein muß und am besten nur Dinge bringt, die als
sicherer oder vermeintlich sicherer Besitz der Wissenschaft gelten.

Im Frühjahr 1879 wurde Professor ~Volhard~, der Leiter der analytischen
Abteilung, als Ordinarius nach Erlangen berufen und auf Vorschlag von
~Baeyer~ bot das Kultusministerium in München mir eine außerordentliche
Professur an der Universität an, wenn ich gewillt sei, die Funktionen
von ~Volhard~ im chemischen Institut zu übernehmen. Ich habe mich
gerne dazu bereit erklärt und bin am 1. April desselben Jahres zum
außerordentlichen Professor in der philosophischen Fakultät mit einem
Gehalt von Mk. 3160.-- angestellt worden.

Die Kunde von dieser festen Position und dem ersten Geldverdienst des
teuren Sohnes hat in Euskirchen großen Jubel erweckt und mein Vater
schrieb sofort einen Glückwunschbrief mit der Bemerkung, daß er mit der
Mutter zusammen das Ergebnis mit einer feinen Flasche Wein gefeiert
habe. Zugleich erkundigte er sich aber angelegentlich, ob bei der neuen
Professur auch auf ein ansehnliches Honorar für Vorlesungen zu rechnen
sei, da ihm das Gehalt nicht übermäßig hoch vorkam. Im bayerischen
Kultusministerium war man in diesem Punkte allerdings anderer Ansicht;
denn der Referent Ministerialdirektor Dr. ~Voelk~ hatte mir gesagt, daß
man bei diesem glänzenden Gehalt von mir außerordentliche Anstrengung
in bezug auf den Unterricht erwarte. Ich habe das alles lachend
versprochen, konnte aber die Bemerkung nicht unterdrücken, daß es für
den Chemiker Gelegenheit gäbe, sehr viel mehr Geld zu verdienen, als in
der akademischen Laufbahn.

Durch die Übernahme der neuen Stellung, die ich natürlich in erster
Linie dem Wohlwollen von ~Baeyer~ verdankte, erfuhr meine Tätigkeit
im Institut eine radikale Änderung. Bis dahin war ich freier Forscher
gewesen, ohne jede Verpflichtung für den Unterricht. Dadurch war es mir
möglich gewesen, alle für meine wissenschaftlichen Arbeiten nötigen
Experimente allein auszuführen. Nur bei der Rosanilinarbeit war ich mit
dem Vetter ~Otto~ verbunden, und dieses Zusammenarbeiten hatte sich
sehr glatt abgespielt. Von nun an konnte ich in dieser Weise nicht mehr
wirtschaften, da der größte Teil meiner Zeit durch den praktischen
Unterricht in der chemischen Analyse beansprucht war. Die Hilfe von
Assistenten auch für die Privatuntersuchungen wurde unentbehrlich.
Einen schwachen Versuch dieser Art hatte ich allerdings schon ein
Semester vorher gemacht, als ich Dr. ~Erhardt~ einlud, mit mir zusammen
die gemischten Azoverbindungen, speziell das Phenyl-Azoäthyl zu
bearbeiten. Aber von dieser Hilfe habe ich wenig Freude gehabt, da sie
in allen entscheidenden Dingen versagte und ich schließlich das Ganze
fast allein machen mußte. Ich bin deshalb mit einem gewissen Zagen an
die Wahl neuer Mitarbeiter herangegangen und habe auch das Unglück
gehabt, bei der Wahl des ersten Privatassistenten einen Mißgriff zu
tun; denn ich ließ mich damals durch Empfehlung bewegen, einen Herrn
von auswärts, den ich nicht kannte, Dr. ~Troschke~ aus Berlin als
Assistenten anzunehmen, war aber froh, ihn nach etwa einem Jahre
wieder los zu werden, denn er hat mich eher gehindert, als gefördert.
Von da an ist mir das Glück hold gewesen. Fast ausnahmslos sind meine
Privatassistenten tüchtige, fleißige und gewissenhafte Männer gewesen,
deren Hilfe ich mit wärmsten Dank anerkennen muß. Ihre Reihe beginnt
mit ~Magnus Boesler~ aus Königsberg, einem vortrefflichen Menschen,
der mir zunächst bei der Kaffein-Arbeit geholfen und gleichzeitig
seine Doktorarbeit über das Anisoin und Cuminoin unter meiner Leitung
ausführte. Bald kam dazu Emil ~Besthorn~ aus Frankfurt a. M., ein
humoristisch angelegter Herr, den sich deshalb ~Königs~ bald für
seinen engeren Kneipkreis ausersah. Erheblich größer war die Zahl der
Unterrichtsassistenten, die ihren Platz in den großen Arbeitssälen
hatten. An ihrer Spitze stand der leider so früh verstorbene ~Clemens
Zimmermann~, ein talentvoller und außerordentlich strebsamer Chemiker,
auch für den Unterricht in hohem Maße begabt. Er hatte seine Studien
unter ~Volhard~ absolviert und fing eben mit eigenen Untersuchungen an,
als ich in die analytische Abteilung eintrat.

Das periodische System der Elemente kam damals in der anorganischen
Chemie immer mehr zur Anerkennung, und so war es natürlich, daß
~Zimmermann~ sich Aufgaben zuwandte, die damit im Zusammenhang standen.
Dahin gehört die Bestimmung der Dichte des Urantetrachlorids und der
spezifischen Wärme des metallischen Urans. Bei besserer Gesundheit
hätte er sicherlich die Mineralchemie um viele hübsche Entdeckungen
bereichert.

Zwei andere Unterrichtsassistenten, die unter mir ihre Doktorarbeiten
anfertigten, waren die Herren ~Lehnert~ und ~Renouf~. Der erste hat
sich später als Angehöriger des Patentamts in Berlin eine einflußreiche
Stellung verschafft und der zweite ist Professor an der ~John Hopkins~
Universität in Baltimore geworden. Er war in mancher Beziehung ein
Original und durch so große Vergesslichkeit ausgezeichnet, daß ich ihm
häufig sagen mußte, welche Präparate in seinen verschiedenen Flaschen
und Schalen enthalten seien. Er war einige Jahre älter als ich und
mit einer amerikanischen Landsmännin verheiratet, der er alle Sorge
um die Behütung der beiden Kinder abnahm, wenn sie Lust bekam, allein
einen Ausflug ins Gebirge zu machen. Aber auch er liebte die Berge und
hatte einmal das Unglück, bei einer allein unternommenen Besteigung
zu stürzen und ein Bein zu brechen. Er blieb 2 Tage dort ohne Hilfe
liegen und die Folge war, daß bei der nachträglichen Heilung das Bein
eine erhebliche Verkürzung erlitt. Das hat seine Freude am Bergsport
aber keineswegs abgekühlt; denn er wurde nun Mitglied des Alpenvereins,
schaffte sich Kniehosen an und humpelte eifriger denn je in den Bergen
umher.

Zuletzt war auch ~Krüss~, ein Sprosse der bekannten Hamburger
Optikerfamilie, in der Abteilung tätig. Er ist ebenso wie ~Zimmermann~
frühzeitig zugrunde gegangen und zwar an einer pernitiösen Anämie, die
bei jungen Männern in Deutschland außerordentlich selten vorkommt.
Ich vermute deshalb, daß es sich mehr um eine chronische Vergiftung
handelte, wahrscheinlich durch Schwefelwasserstoff; denn die
Ventilation im Institut ließ zu wünschen übrig und bei der großen Zahl
von Praktikanten herrschte in der analytischen Abteilung recht häufig
eine schlimme Atmosphäre.

Da an der Universität München nur ein einziges chemisches Institut
bestand, so wurde dasselbe nicht allein von Chemikern, sondern noch
viel mehr von Apothekern und Medizinern in Anspruch genommen. Das galt
namentlich für den anorganischen Teil. Zu meiner Zeit betrug die Zahl
der Praktikanten, die allerdings meistens nur halbtägig arbeiteten,
in dieser Abteilung etwa 150. Da mir die Aufsicht über das Ganze
anvertraut war, so konnte ich dem einzelnen Studierenden immer nur
einige Minuten widmen und selbst mit dieser Einschränkung dauerte der
Rundgang durch beide Säle etwa zwei Tage. Mein Hauptaugenmerk mußte
darauf gerichtet sein, die Assistenten zu einer verständigen Tätigkeit
anzuhalten. Außerdem habe ich nicht selten einen größeren Kreis von
Studierenden um mich versammelt und ihnen einen kleinen Vortrag
gehalten, oder eine Prüfung improvisiert. Besonders die Mediziner waren
dafür sehr dankbar. ~Zimmermann~ hat dieses System angenommen und mit
großer Geschicklichkeit weiter ausgeführt.

Nur eine kleine Zahl der damaligen Schüler ist mir dauernd im
Gedächtnis geblieben. Dazu gehören in erster Linie ~Ludwig Knorr~
und ~Reisenegger~, von denen noch die Rede sein wird, dann ein Herr
~Ehrensberger~, den ich einige Versuche über die Bestimmung von Arsen
in Nahrungsmitteln nach der von mir ausgearbeiteten Methode und über
die Bestimmung der Salpetersäure als Stickoxyd anstellen ließ. Der
junge Mann hatte durch Verstand, Frische und lebhaftes Interesse
für wissenschaftliche Dinge auf mich einen besonders guten Eindruck
gemacht, und als er die Absicht kund gab, Gymnasiallehrer zu werden,
entgegnete ich ihm lachend: Dafür sei er zu schade, er solle bei der
Chemie bleiben, und wenn er zu frühzeitigem Verdienst gezwungen sei, so
möge er in die Industrie gehen.

Er ist diesem Rate gefolgt und kam durch Vermittlung eines Onkels in
den Dienst der Firma ~Friedrich Krupp~. Hier hat er eine rühmliche
Laufbahn gemacht; denn er war später ein sehr einflußreiches
Mitglied des Direktoriums und hat wesentlich mit dazu beigetragen,
die Stahlfabrikation bei ~Krupp~ zur höchsten Leistungsfähigkeit
zu bringen. Als ich ihn 30 Jahre nach der Münchener Studienzeit in
Essen besuchte, konnte er mir mit aufrichtigem Stolze einen Teil der
Fabrikation und vor allen Dingen das imposante wissenschaftliche
Laboratorium für chemische und physikalische Untersuchungen zeigen.
Ich war ihm schon vorher bei den Vorbereitungen zur Errichtung
einer chemischen Reichsanstalt begegnet, wo er nicht allein sein
persönliches, sondern auch das Interesse seiner Firma an der Förderung
der wissenschaftlichen Chemie stets betonte. Er selbst hat sich jetzt
von der industriellen Arbeit zurückgezogen und will auf seinem Landsitz
in Traunstein (Oberbayern) die Muße des Alters für astronomische
Beobachtungen benutzen. Als Student kam er eines Tages von einer
kleinen Reise nach seinem Heimatsorte Berchtesgaden stark zerschunden
in München wieder an, und als ich ihn scherzhaft frug, ob er sich an
einer Rauferei beteiligt habe, erwiderte er, daß er beim Blumensuchen
mit einer jungen Dame einen nicht ganz ungefährlichen Absturz erlitten
habe. Als ich bei der Wiedererneuerung unserer Bekanntschaft mich nach
dem Schicksal dieser jungen Dame erkundigte, erwiderte er lachend, sie
sei seine Frau geworden und habe ihn mit einer großen Anzahl prächtiger
Kinder beschenkt.

Ein anderer Lehramtskandidat, ~G. Brandl~, ersuchte mich um ein
Thema für eine kleine Arbeit, die er beim Lehrerexamen einreichen
wollte. Da ich damals gerade von dem Professor der Mineralogie zu
Bonn ~G. vom Rath~ ersucht worden war, einige von ihm gesammelte
Fluormineralien zu analysieren, so ließ ich durch ~Brandl~ das
alte ~Wöhler~'sche Verfahren für die Bestimmung des Fluors durch
Umwandlung in Siliciumfluorid und dessen Absorption in gewogenen
Gefäßen vervollkommnen, und wir konnten dann mit gutem Erfolge die
gewünschten Analysen durchführen. Das Resultat ist in einer Abhandlung
der bayerischen Akademie der Wissenschaften publiziert. Dieser Herr
~Brandl~ hat mir später, ohne daß ich es wußte, einen wertvollen
Gegendienst geleistet, indem er mich dem Führer der ultramontanen
Landtagsmehrheit in München Dr. ~Daller~ bestens empfahl und dadurch
die Bewilligung eines Neubaues für das chemische Institut zu Würzburg
stark beeinflußte.

Auch unter den Medizinern, die ich damals unterrichtete, war einer, der
durch Begabung und Interesse für chemische Arbeiten meine besondere
Aufmerksamkeit erregte. Er hat sein Verständnis für chemische Probleme
später durch eine beachtenswerte Untersuchung über die Mucine bewiesen
und ist jetzt der berühmte Professor der inneren Medizin an der
Universität München, ~Friedrich Müller~. Für die eigenen Untersuchungen
stand mir ein sehr schönes Privatlaboratorium mit Nebenräumen zur
Verfügung, in der Größe genau entsprechend den Räumen, die ~Baeyer~
benutzte. Hier habe ich alle freie Zeit, die mir der Unterricht ließ,
zugebracht, nicht selten auch die Sonntage, wo man im Winter wegen
Stillstand der Zentralheizung tüchtig frieren mußte. Dagegen waren die
Abende meistens der Erholung gewidmet; denn wer den ganzen Tag über
experimentell tätig gewesen ist, pflegt abends zu müde zu sein, um
literarische Studien zu treiben.

Die Stadt und die mit ihr eng verknüpfte Behaglichkeit des Lebens
lud auch gebieterisch zu Geselligkeit und lustiger Unterhaltung
ein. Eine Zeitlang hatten wir sogar im kleinen Kreise die englische
Tischzeit angenommen und speisten als Quartett, d. h. Dr. ~Königs~,
Dr. ~Tappeiner~, mein Vetter und ich, in dem als vornehm verschrieenen
Restaurant ~Schleich~. Die Gesellschaft außer uns bestand aus
zwei serbischen Prinzen und dem Präsidenten der bayerischen
Reichsratskammer. Wir wurden wegen dieser Gewohnheit als Protzen
angesehen. In Wirklichkeit aber war es eine Maßnahme der Zeitersparung;
denn wir blieben den ganzen Tag meistens von morgens 8 Uhr bis 5½
Uhr im Institut, und ich half mir über den Hunger mit einem Butterbrot
oder durch vermehrten Tabakgenuß hinweg. Auf die Dauer war aber
diese Zeiteinteilung doch zu anstrengend, und wir sind zu der in
Deutschland üblichen Mittagsstunde zurückgekehrt. Ja, ich habe diese
Gewohnheit sogar in Berlin beibehalten; denn wer mit anstrengender
Experimentalarbeit, die meist im Stehen verrichtet wird, Morgens
zwischen 8 und 9 Uhr beginnt, hat um 1 oder 2 Uhr das Bedürfnis, eine
Ruhepause zu machen, die am besten mit der Hauptmahlzeit verbunden
wird. Dann kann man von neuem 4 bis 5 Stunden arbeiten, und das ist
nach meiner Erfahrung für den Chemiker die beste Ausnutzung des Tages,
da man in der Mittagszeit eine Reihe von Operationen gehen lassen
kann, die lange dauern und keine besonders sorgfältige Beaufsichtigung
verlangen.

Der Wechsel der Tischzeit brachte für mich auch einen Wechsel der
Tischgesellschaft mit sich. In dem Verein der Privatdozenten, der
sich von Zeit zu Zeit in behaglichen Zusammenkünften betätigte, hatte
ich zahlreiche Vertreter anderer Wissenschaften kennen gelernt und so
bin ich zu einer neuen Gesellschaft im Künstlerhause gekommen. Zu ihr
gehörten der Philosoph ~Jodl~, der später Professor in Wien war und
sich einen guten Ruf in seiner Wissenschaft verschafft hat, dann die
beiden Historiker ~Stieve~ und ~von Druffel~, beide Westfalen. Auch
diese waren wohl unterrichtete und wissenschaftlich verdiente Männer,
deren Anschauungen und Ziele mich in mancher Beziehung interessiert
haben. Zudem besaß ~Stieve~ ein wunderbares Talent, humoristische Reden
(sogen. Bierreden) in beliebiger Länge zu halten. Sein sarkastischer
Witz und seine Neigung, den alten Professoren etwas am Zeuge zu
flicken, trugen viel zur Belustigung unseres jungen Kreises bei. Wir
waren alle unverheiratet, bis ~Stieve~ sich eines Tages mit einer
Bonnerin verlobte und uns dann zuweilen einlud. Durch die beiden
Historiker bin ich auch mit der Malerfamilie ~Kaulbach~ in Berührung
gekommen, wo es höchst lustig zuging. Als ich mich später in Würzburg
verheiratet hatte, war der erste, der auf dem Plan erschien, Freund
~Stieve~, um einmal nach dem Rechten zu sehen, wie er sich ausdrückte.
Sie sind jetzt alle drei tot.

Zeitweise habe ich auch, um ganz einfache zuträgliche Nahrung zu
bekommen, wieder in einem Bierhaus gegessen, dem sogen. Abentum, wo
es gut und billig war, und wo Hunderte von jungen Leuten, besonders
viele Künstler, verkehrten. An unserem Tisch war eine kunterbunte
Gesellschaft versammelt, Künstler, Gelehrte, Techniker, junge
Kaufleute, ja es befand sich sogar ein echter deutscher Prinz darunter.
Hier bin ich in nähere Berührung mit zwei Kunstgelehrten gekommen. Der
eine war der Privatdozent der Archäologie Dr. ~Julius~. Sein Eifer,
die Chemiker in kunstverständige Männer zu verwandeln, steigerte sich
soweit, daß er für einen kleinen Kreis von uns in der Glyptothek
eine Privatvorlesung hielt. Das hatte sogar praktische Folgen. Ein
Künstler, der dazu gehörte, entschloß sich, eine berühmte, aber stark
beschädigte Nike zu restaurieren, und ich selbst bin indirekt dadurch
mit dem Gipsformator der Museen in Berührung gekommen. Er bat mich
um ein Mittel, schwarze Flecke, die spontan beim Aufbewahren seiner
Gipsfiguren entstanden, zu beseitigen. Ein Mittel dafür fand ich in der
Wirkung des Chlorgases, welches die Flecken, die von Pilzen herrührten,
zerstörte, ohne die Figuren sonst zu beschädigen. Der Formator hat
das Verfahren im großen Maßstabe angewandt, wozu er sich eine kleine
Bude für die Operationen mit dem Chlorgas errichten mußte. Wie lange
das Verfahren im Gebrauch geblieben ist oder ob es später von einem
besseren ersetzt wurde, vermag ich nicht zu sagen.

Der zweite Kunstgelehrte an dem Biertisch war Dr. ~Dehio~, ein Balte
aus Reval. Er ist später durch seine großen und prächtig ausgestatteten
Werke über die Geschichte der Architektur ein berühmter Mann geworden,
war zuletzt Professor in Straßburg, lebt aber seit einigen Jahren im
Ruhestand. Es hat mich sehr gefreut, ihn im letzten Herbst 1917 in
Baden-Baden nach langer Pause wiederzusehen und zu erfahren, daß seine
Gemahlin eine Schwester von ~Paul Friedländer~ sei. Die kriegerischen
Ereignisse im Osten hatten ihn so stark bewegt, daß er sich gerade
damit beschäftigte, eine öffentliche Propaganda für die Loslösung des
Baltenlandes von Rußland und seinen Anschluß an Deutschland ins Werk zu
setzen.

Durch den vielfachen Verkehr mit Künstlern und Kunstgelehrten habe
ich mehr und mehr Verständnis für die bildende Kunst gewonnen, und
mehrfache Reisen nach Italien waren wohl geeignet, diese Einflüsse
zu verstärken. Äußerlich gab sich das kund sowohl bei mir, wie auch
bei anderen Mitgliedern unseres chemischen Kreises durch fleißigen
Besuch der Kunstausstellungen, die im Glaspalast, der direkt neben
unserem Institut lag, veranstaltet wurden, und in den letzten Jahren
des Münchener Aufenthaltes bin ich auch ziemlich regelmäßig Sonntags
nachmittags in den Ausstellungsraum des Künstlervereins unter den
Arkaden des Hofgartens gegangen. Man wurde dort recht gewahr, welch'
günstige Atmosphäre in München für die Künstler herrschte. Der
größte Teil der gebildeten Einwohnerschaft interessierte sich für
ihre Werke, nahm teil an ihrer Entwicklung und ihren persönlichen
Schicksalen, vermied es aber, sie durch übertriebene Lobhudelei oder
durch protzenhafte Heranziehung zu Diners und dergl. zu verderben. Auch
das Leben, das die Künstler untereinander führten, bot mannigfache
Vorteile. Im allgemeinen hörte man die Lehrer loben, wenn auch
die Ansichten der Jungen in bezug auf die Ziele und Mittel der
Kunst nicht selten ganz andere waren. Die realistische und in der
Freilichtmalerei häufig bis zur Karikatur übertriebene Malweise, die,
wenn ich nicht irre, von Frankreich herkam, begann gerade in München
Fuß zu fassen, und ich erinnere mich noch des Aufsehens, das ein Bild
des jugendlichen ~Max Liebermann~, »Christus im Tempel«, auf einer
Ausstellung in München erregte. Bei denjenigen Leuten, die am alten
System festhielten, galt es für eine Verirrung, und von kirchlich
gesinnten Organen wurde es als eine Blasphemie bezeichnet. Aber eine
große Zahl der jungen Künstler und von ihnen wohl nicht unbeeinflußt
auch wir jungen Chemiker sahen darin das ernste Bestreben, die Malerei
mehr der Wirklichkeit anzupassen und die geistige Durchdringung des
Gegenstandes nicht in einer übertriebenen Idealisierung der Figuren zu
suchen.

Mit Recht berühmt waren in München die öffentlichen, von der gesamten
Künstlerschaft veranstalteten Festlichkeiten. Ich habe zwei davon
besucht, ein Feldlager aus der Zeit des 30-jährigen Krieges, das
in dem Walde von Großhesselohe sich abspielte und ein köstliches
Bild der bewaffneten Macht vor 400 Jahren gab. Das zweite war ein
Maskenfest in München, das leider infolge eines Brandunglücks einen
tragischen Abschluß erfuhr. Einer der größten Säle Münchens war
durch außerordentlich geschickte Ausbauten in eine Art Jahrmarkt
verwandelt, wo man alles genießen konnte, was an Sehenswürdigkeiten
bei solcher Gelegenheit geboten zu werden pflegt. Da der Zutritt nur
Herren gestattet wurde, die natürlich zum großen Teil durch Masken in
Frauen jeden Kalibers verwandelt waren, so hatte die künstlerische
Phantasie sich ohne jede Einschränkung bis in die wunderlichsten
Auswüchse austoben können. Ich habe nicht einmal in Cöln solche tolle
karnevalistische Ausgelassenheit gesehen wie bei diesem Feste, an
dem die Künstler bis ins höchste Alter hinein ziemlich vollständig
versammelt waren. Eine köstliche Maskenidee in vortrefflicher
Ausführung ist mir in Erinnerung geblieben. Der bekannte Maler
~Piglheim~ machte einen Prinzen natürlich mit Gefolge und ließ sich
von dem Komitee rundführen, selbstverständlich ganz in der Form, wie
sie bei solchen prinzlichen Besuchen üblich ist. Kurze Zeit darauf
erschien ein wirklicher bayerischer Prinz, der genau ebenso empfangen
wurde. Zum großen Spaß der ganzen Versammlung stießen nun die beiden
Züge zusammen. Der wirkliche Prinz hatte aber Humor genug, den
Pseudokollegen freundlich zu begrüßen und sie setzten zusammen die
Besichtigung fort. Leider wurde das Fest in ziemlich später Stunde
durch ein furchtbares Unglück gestört. Etwa ein Dutzend Schüler der
Akademie der Künste machten eine Eskimogruppe. Sie hatten sich für den
Zweck eine besondere Hütte gebaut und Eskimoanzüge angelegt, die ganz
aus Werg hergestellt waren. Leichtsinnigerweise hatte man versäumt,
diesen Stoff chemisch zu imprägnieren und dadurch unbrennbar zu machen.
Auch die Hütte selbst war mit brennbaren Stoffen jeder Art erfüllt. Mit
ähnlichem Leichtsinn war übrigens die Mehrzahl der Bauten errichtet
und da überall geraucht wurde, so hatten wir Chemiker sofort das Gefühl
der höchsten Feuersgefahr, und ich erinnere mich, daß wir uns ziemlich
frühzeitig in einen geschützten Bierkeller zurückzogen und nur von Zeit
zu Zeit wieder das Treiben im Hauptsaale uns anschauten. Plötzlich
hieß es, die Eskimos sind am Brennen, und in der Tat sahen wir diese
armen Menschen brennend herumlaufen. Sie wurden zwar außerhalb ihrer
Hütte ziemlich rasch gelöscht, und einige davon glaubten sich nach der
überstandenen Gefahr durch einen reichlichen Trunk Bier entschädigen
zu sollen, aber die Verwundungen waren doch so schwer, daß sie meines
Wissens in den nächsten Tagen alle gestorben sind. Glücklicherweise
konnte das Feuer in der Eskimohütte gelöscht werden. Hätte es um sich
gegriffen und die benachbarten sehr brennbaren Gegenstände erfaßt,
so wären viele Hunderte von Menschen umgekommen; denn die Zugänge
zum Saal waren sämtlich durch die Ausbauten so beengt, daß die große
Menschenzahl unmöglich sich hätte retten können.

Bei allen solchen Festlichkeiten sollten die Aufsichtsbehörden in
rigoroser Weise stets verlangen, daß alle zur Bekämpfung einer etwaigen
Feuersgefahr nötigen Maßregeln getroffen sind. Das Publikum ist
geneigt, in derartigen Anordnungen der Behörde Willkür und kleinliche
Belästigung zu erblicken; aber wer einmal ein Brandunglück wie damals
auf dem Maskenfest in München erlebt hat, und wer wie wir Chemiker die
rasche Entwicklung eines Brandes kennt, der wird meiner Ansicht gerne
beipflichten.

Neben der bildenden Kunst spielten in München auch Musik und Theater
eine große Rolle, und ich muß gestehen, daß ich viel Genuß von beiden
gehabt habe.

Das Klavierspiel hatte ich leider schon in Straßburg vernachlässigt,
und in München wagte ich nicht, wieder anzufangen, weil in unserem
Hause ein Professor der Musik wohnte, der als Virtuose galt. Dazu kam
das Bewußtsein, daß man in großen Mietshäusern durch mittelmäßiges
Spiel vielen Leuten zur rechten Plage werden kann. Ich zog es deshalb
vor, gute Musik von Zeit zu Zeit anzuhören durch den Besuch der
ausgezeichneten Odeonkonzerte oder der königlichen Oper. Diese verfügte
damals über vorzügliche Kräfte. Besonders gepflegt wurde die Wagnersche
Musik, und obschon die alten klassischen Werke von Mozart, Beethoven,
Maria von Weber, Lortzing usw. meinem Verständnis näher lagen, so haben
mir doch die großen Opern Wagners z. B. der Ring der Nibelungen in
der vortrefflichen Münchener Darstellung gewaltigen Eindruck gemacht.
Dieser steigerte sich noch bei einem Besuch in Bayreuth, den ich mit
mehreren Freunden später von Erlangen aus unternahm, und wo wir einer
Aufführung des Parsival beiwohnten.

In München glänzte damals in den Wagner-Opern das Ehepaar ~Vogel~ am
meisten, aber auch den alten ~Kindermann~ mit seinem unverwüstlichen
kräftigen Bariton, der mit dem Münchener Publikum wie mit alten
Bekannten verkehrte, wird kein Zuhörer vergessen haben.

Noch mehr Genuß als von der Oper habe ich gehabt vom guten Schauspiel,
wie es ebenfalls in München gepflegt wurde. Es bestand an der
Münchener Bühne die gute Gewohnheit, von Zeit zu Zeit eine Reihe von
Dichtungen desselben Meisters zu ermäßigten Preisen aufzuführen.
Eine solche Serie, welche die Königsdramen Shakespeares umfaßte, war
in ihrer Wirkung so gewaltig für uns junge Leute, daß darüber die
Experimentalarbeit im Laboratorium für mehrere Wochen eine ernstere
Störung erhielt. Ich wurde von manchen Szenen so ergriffen, daß mir
die hellen Tränen über das Gesicht flossen, und daß ich die Umgebung
gänzlich vergaß. Diese starke Empfindung für dramatische Reize ist mir
bis ins reifere Alter geblieben, und meine spätere Frau hat mir mehr
als einmal gesagt, mein Mangel an Selbstbeherrschung im Theater sei für
sie direkt unbequem.

Bei den Besuchen von Theater, Konzerten und ähnlichen Lokalen, wo die
Menschen dicht zusammen sitzen, kann es dem Chemiker leicht passieren,
daß er Anstoß erregt durch die schlechten Gerüche, die sich in seinen
Kleidern oder auch in Haar und Haut festgesetzt haben. Auf den billigen
Plätzen, die wir als junge Leute besuchten, ist mir das nie verübelt
worden, aber einen Parkettplatz in der Münchener Oper habe ich einmal
aufgeben müssen, weil die Nachbarschaft zu stark durch die von mir
ausströmenden Dünste belästigt wurde. Auch in Privatgesellschaft sollte
der Chemiker auf diese Möglichkeit achten und falls er gerade mit
starkriechenden Stoffen zu tun hat, auf die Reinigung des Körpers und
des Anzugs besondere Sorgfalt verwenden.

Leider kam der Sport bei der Münchener Lebensweise zu kurz. Wir
hatten dazu keine Zeit und waren auch abends zu müde. Einen gewissen
Ausgleich boten allerdings die Herbstferien, die ich teilweise stets
in Euskirchen zubrachte und zusammen mit meinem Vater fleißig für die
Feldjagd ausnutzte.

Im geselligen Verkehr, soweit er sich in der Familie abspielte, habe
ich niemals viel geleistet, teils aus Bequemlichkeit, teils wegen einer
gewissen Ungeschicklichkeit im Verkehr mit Damen. Gelegenheit dazu
war übrigens in München genug gegeben; denn Frau ~Baeyer~ führte ein
großes Haus, veranstaltete von Zeit zu Zeit hübsche Feste und gab sich
die größte Mühe, uns junge Chemiker dazu heranzuziehen. Sie spielte
bis zu gewissem Grade überhaupt die Mutter des Laboratoriums und war
stets zur Hilfe bereit, wenn jemand von uns durch Krankheit oder andere
Ursachen in Not geriet. Im Hause bei ihr habe ich auch eine große
Anzahl interessanter Menschen kennen gelernt. Vor allen Dingen lud sie
uns immer zu Tisch, wenn auswärtige Chemiker zu Besuch kamen. Nach Art
hilfreicher und tatkräftiger Damen hätte Frau ~Baeyer~ uns auch gar zu
gerne verheiratet, worauf sie um so mehr glaubte rechnen zu dürfen, als
sie einen Kreis von hübschen und liebenswürdigen jungen Damen um sich
zu versammeln wußte. Soweit ich unterrichtet bin, ist es ihr aber nicht
gelungen, außer der eigenen Tochter eine dieser Fräuleins an einen
chemischen Mann zu bringen. Die junge um Frau ~Baeyer~ versammelte
Chemie war damals durchgängig unbeweibt, und es sind auch auffallend
viele von ihnen in diesem Zustand geblieben, nicht zum Nutzen ihrer
eigenen Person oder der Wissenschaft.

Meine Arbeiten über die Hydrazine und das Rosanilin hatten auswärts
Anerkennung gefunden. Das zeigte sich zuerst in einem Ruf, den ich im
Frühjahr 1880 an das Polytechnikum zu Aachen erhielt. ~Landolt~ war von
dort an die Landwirtschaftliche Hochschule in Berlin berufen worden
und an seiner Stelle sollten zwei Ordinarien für anorganische und
organische Chemie ernannt werden.

Die anorganische Lehrstelle mit der großen Experimentalvorlesung
hatte man nach dem Beschlusse des Aachener Lehrerkollegiums dem
langjährigen Assistenten des Instituts Professor ~Classen~ zugedacht
und die Professur für organische wurde mir vom Kultusministerium in
Berlin angeboten. Um mich genau über die Stelle zu unterrichten, reiste
ich nach Aachen hin und verhandelte mit den Fachgenossen Professor
~Stahlschmidt~ und Professor ~Classen~, sowie mit dem Direktor des
Polytechnikums Herrn ~von Kaven~. Selbstverständlich besuchte ich auch
~Landolt~, der mich im Bett empfing, weil er an starkem Podagra litt.
Für das chemische Institut war gerade ein prächtiger Neubau errichtet
worden, weil die Aachen-Münchener Feuerversicherungsgesellschaft
große Mittel zur Verfügung gestellt hatte. Aber die Betriebsmittel
waren verhältnismäßig gering. Man wollte mir in dieser Beziehung in
Aachen keine Sicherheit gewähren, und die ganze Atmosphäre an dem
Polytechnikum erschien mir so wenig anziehend, daß ich trotz des
lebhaften Wunsches meiner Mutter, mich wieder in der Nähe zu haben,
den Ruf kurzweg ablehnte. Nun erlebte ich das Höchstsonderbare, daß
nach etwa sechs Wochen der Ruf von Berlin aus erneuert wurde und daß
der betreffende Referent im Kultusministerium Dr. ~Wehrenpfennig~ mir
schrieb, ich habe gewiß die Absicht des Ministeriums nicht richtig
verstanden. Wie ich später erfuhr, hatte er inzwischen mit seinem
Freunde Dr. ~von Brüning~ aus Frankfurt a. M. über meine Berufung
gesprochen und sich beklagt, daß ich den schönen Ruf in so kühler
Weise abgelehnt habe. Als dieser ihm aber erwiderte, daß ich größere
Ansprüche machen könne, als man mir geboten habe, entschloß man sich
zu einem zweiten Versuch, mich zu gewinnen. Ich wurde dann auch in
Berlin sowohl von ~Wehrenpfennig~ wie von ~Landolt~, der inzwischen
übergesiedelt war, in der liebenswürdigsten Weise empfangen und man
versprach, allen meinen Wünschen entgegenzukommen. Aber die Abneigung
gegen Aachen war bei mir einmal vorhanden, und da auch ~Baeyer~ mir
nicht im geringsten zur Übersiedlung an das Polytechnikum riet, so habe
ich zum zweiten Male abgelehnt und diesen Entschluß auch keinen Tag
bereut. Statt meiner ist dann Professor ~Michaelis~ dorthin gekommen.

Zwei Jahre später wurde die chemische Professur an der Universität
Erlangen wieder frei, weil ~Volhard~ als Nachfolger von ~Heinz~ nach
Halle ging. Ich erhielt den Ruf und nahm ihn an. Der Ort hatte zwar
wenig Anziehendes, aber es handelte sich doch um ein Ordinariat
an einer Universität und das Institut war durch einen Neubau
verhältnismäßig gut ausgestattet.

Ich bin bei einem Erkundigungsbesuch in Erlangen auch von den Kollegen
sehr freundlich empfangen worden, und ~Volhard~ gab sich alle Mühe, mir
die Vorteile der neuen Stellung klar zu machen.

Bevor man mich in München entließ, mußte ich natürlich einige
Festlichkeiten über mich ergehen lassen. So veranstaltete die Chemische
Gesellschaft, deren Präsident ich war, einen schlichten Abschiedsabend,
für den ~Königs~ das früher erwähnte Guanolied dichtete. Aber auch
die Studierenden wollten sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen,
einen Kommers abzuhalten. Nach den Erfahrungen gelegentlich des Rufes
nach Aachen, wo ich von betrunkenen Chemikern beinahe Prügel erhalten
hatte, war ich nicht sehr geneigt, mich dieser Möglichkeit nochmals
auszusetzen und erst die Drohung, daß ich durch Ablehnung die chemische
Jugend, mit der ich auf sehr gutem Fuße stand, vor den Kopf stoßen
würde, machte mich williger. So fand denn wirklich ein Kommers auf
einem Bierkeller statt, der für mich ohne unbequemen Zwischenfall
verlief, weil ich mich frühzeitig empfahl. Aber am nächsten Morgen
mußte ich doch erfahren, daß man einige junge Leute, die mit mir nach
Erlangen gehen wollten, feierlich aus dem Lokal hinausgeworfen hatte.

Ich zog nun anfangs April an die fränkische Hochschule und der Zufall
wollte, daß in Nürnberg in dasselbe Abteil des Schnellzuges, wo ich
saß, Fräulein ~Agnes Gerlach~, meine spätere Frau, mit ihrem Vater
einstieg, und wir also zusammen in Erlangen ankamen.

Die Einquartierung in Erlangen war nicht ganz leicht. Zunächst fehlte
es an einer passenden Wohnung, und auch die Gasthäuser der armen Stadt
boten kein bequemes Unterkommen. Ich habe mich deshalb zuerst in dem
geräumigen Sprechzimmer des chemischen Instituts niedergelassen, wo
ein sehr brauchbarer Laboratoriumsdiener namens ~Griesinger~ für meine
Sachen sorgte. Mit der Beköstigung war ich allerdings auf das Gasthaus
angewiesen, wo ein größerer Kreis von Professoren und Privatdozenten
sich zu einer Tischrunde vereinigt hatte. Da ich inzwischen aber zehn
Jahre Gasthausleben hinter mir hatte, so fühlte ich das Bedürfnis,
einen eigenen Haushalt zu beginnen. Zu dem Zweck hatte ich mir schon
in München die Möbel bestellt. Um mich dabei vor Übervorteilung zu
schützen, war meine Schwester ~Emma~ mit ihrer Tochter ~Hedwig~
eigens von Rheydt nach München gekommen und von Frau ~Baeyer~, bei
der sie Besuch machten, sofort als Logiergäste aufgenommen worden.
Das Wohnungsprovisorium in Erlangen dauerte nicht allzu lange. Nach
etwa zwei Monaten trafen alle Möbel ein und mit ihnen auch meine erste
Haushälterin, eine Witwe aus Westfalen, die von meiner Schwester
~Bertha~ und meiner Mutter ausgesucht worden war. So zog ich denn in
die erste mit einem selbständigen Haushalt eingerichtete Wohnung in
eines der wenigen vornehmen Häuser Erlangens, die früher den Beamten
des markgräflichen Hofes gedient hatten. Die Wohnung enthielt einen
großen Saal mit Marmorfußboden und Stuckwerk im Rococostil. Er wird
später noch bei der Besprechung meiner Arbeiten zu Ehren kommen; denn
ich habe darin die Riechversuche mit Mercaptan ausgeführt.

Inzwischen hatten die Arbeiten im Laboratorium und die Vorlesungen
begonnen. Zum Glück waren mir von München zwei prächtige junge Männer,
~Knorr~ und ~Reisenegger~, gefolgt, die zwar noch nicht promoviert
hatten, denen ich aber ohne Bedenken Assistentenstellen übertragen
konnte. Wir sind rasch Freunde geworden, und da es mir zu langweilig
war, allein zuhause zu essen, so habe ich diese beiden jungen Herren
eingeladen, wenigstens mittags meine Tischgenossen zu sein. Sie haben
das gerne getan, weil meine Haushälterin als Köchin Vortreffliches
leistete und auch an gutem Wein kein Mangel herrschte.

Beide hatten ihre analytische Ausbildung unter meiner Leitung in
München erhalten, und ~Knorr~ war auch schon mit der Anfertigung
einer Dissertation über das Piperylhydrazin beschäftigt, als wir
in Erlangen einzogen. ~Reisenegger~ hat bald nachher von mir als
Thema für die Dissertation »Die Reaktion zwischen Phenylhydrazin und
den Ketonen« erhalten. Beide wurden in Erlangen mit gutem Erfolg
promoviert. ~Reisenegger~ ist noch einige Zeit als Assistent geblieben,
ging aber dann in die Industrie und zwar zu Meister Lucius & Brüning
in Höchst a. M. Er stammt aus Oberbayern, wenn ich mich recht
erinnere, aus Murnau, wollte ursprünglich Offizier werden und hatte
das Kadettenhaus in München absolviert. Infolge eines körperlichen
Schadens war er aber zur Chemie übergegangen. Er ist in Höchst
durch alle Stufen des technischen Chemikers bis zum Mitglied des
Direktoriums hindurchgegangen und jetzt im reiferen Alter vor einigen
Jahren als Professor der Technologie an der technischen Hochschule zu
Charlottenburg der Nachfolger von ~Witt~ geworden.

Länger ist ~Ludwig Knorr~ bei mir geblieben, da er von vornherein
sich für die akademische Laufbahn entschied. Er entstammt einer
Münchener wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus dem bekannten Geschäft
von ~Angelo Sabadini~ in der Kaufingerstraße und war schon in der
Jugend nicht allein durch Klugheit, experimentelle Geschicklichkeit
und Redegewandtheit, sondern auch durch besondere persönliche
Liebenswürdigkeit ausgezeichnet. Nebenher huldigte er allem möglichen
Sport, tanzte vorzüglich und spielte schon während der Münchener
Zeit in der dortigen Gesellschaft z. B. auch im Hause ~Baeyers~ eine
bedeutende Rolle. Unter anderem gelang es ihm trotz seiner Jugend und
seiner noch unfertigen Laufbahn, das hübsche, viel umworbene Fräulein
~Elisabeth Piloty~, Tochter des großen Historienmalers in München zu
gewinnen. Diese wurde schon im Frühjahr 1884 seine Gattin. Das Ehepaar
ist dann später mit mir nach Würzburg übergesiedelt, und da ich von
ihnen bis heute viel herzliche Freundschaft erfahren habe, so werde ich
später auf sie zurückkommen.

In Erlangen trafen wir im Laboratorium den Privatdozenten der Chemie
Dr. ~Vongerichten~, einen geborenen Pfälzer, der vorher eine Zeitlang
im ~Baeyer~'schen Laboratorium gearbeitet hatte und mir deshalb gut
bekannt war. Es hat mich gefreut, ihm einen Platz in dem hübsch
eingerichteten Privatlaboratorium überlassen zu können, wo er seine
wichtigen Versuche über die Verwandlung des Morphins in Phenanthren
ausführte und damit für die Chemie des Alkaloids eine neue Periode
eröffnete. Auch zu ihm bin ich in ein recht freundschaftliches
Verhältnis getreten. Aber nach etwa drei Semestern verließ er
die Universität und trat gleichfalls in die chemische Fabrik von
Meister Lucius & Brüning in Höchst a. M. ein, wo er zunächst im
wissenschaftlichen Laboratorium Verwendung fand. Seine Anstellung hat
sich für die Fabrik sehr gelohnt, denn sie ist dadurch indirekt in den
Besitz des Antipyrinpatentes gelangt.

Studierende aus der früheren Zeit waren sehr wenig im Institut
vorhanden, da ~Volhard~, dem man allzu große Strenge in den Examinas
nachsagte, nicht anziehend gewirkt hatte.

Die Abhaltung der großen Experimentalvorlesungen hat mir zuerst
ziemlich viel Mühe gemacht; denn die zahlreichen Versuche, die dabei
unentbehrlich sind, erfordern sehr genaue Vorübung, sowohl für den
Professor wie für den Assistenten, und obschon das gute Buch von ~K.
Heumann~ über Vorlesungsexperimente schon existierte, so habe ich es
doch für nötig gehalten, noch ein besonderes derartiges Buch für meine
Vorlesungen mit allen Einzelheiten anzulegen. Das ist dann mitgezogen
nach Würzburg und Berlin und selbstverständlich im Laufe der Zeit
immer reichhaltiger geworden. Auch im Laboratorium lag der ganze
Unterricht auf meinen Schultern, da mir nur junge und wenig geübte
Assistenten zur Verfügung standen. Dazu kamen noch die Prüfungen und
die Fakultätsgeschäfte und außerdem selbstverständlich die eigenen
Untersuchungen.

Leider waren die technischen Einrichtungen des Instituts, vor
allen Dingen die Ventilation ungenügend und sowohl ich, wie meine
Assistenten haben besonders bei den häufigen Arbeiten mit Chlorphosphor
darunter sehr gelitten. Ich werde auf diese Ventilationsfrage bei
der Besprechung des Würzburger und Berliner Neubaues ausführlich
zurückkommen.

Im Laufe von einigen Semestern wurde der Besuch des Laboratoriums
wieder befriedigend. In der analytischen Abteilung hatten sich ziemlich
viele Apotheker, einige Mediziner und auch Chemiker eingefunden und die
kleine organische Abteilung war schon nach zwei Semestern so überfüllt,
daß ich einen außer Betrieb gesetzten Teil des alten Gebäudes wieder in
Benutzung nehmen mußte.

Von den neu hinzugekommenen Chemikern verdienen drei besondere
Erwähnung, Dr. ~Ernst Täuber~, ein Schlesier, der mir als
Privatassistent bei der Bearbeitung der Acetonbasen geholfen hat; dann
~Kužel~, der zuletzt Unterrichtsassistent in der analytischen Abteilung
war, und mit dem ich über die Hydrazine der Zimtsäure, das Indazol
und Benzoylaceton gearbeitet habe; endlich ~Julius Tafel~, der erst
die Isomerie von Indazol und Isindazol untersuchte und in Würzburg an
meinen Zuckerarbeiten teilnahm.

~Täuber~ kam später an das technologische Institut zu Berlin und ist
auch Mitglied des Patentamtes geworden. ~Kužel~, ein sowohl körperlich
wie geistig bevorzugter Mann, hat in der Fabrik von Meister Lucius &
Brüning eine recht erfolgreiche Tätigkeit ausgeübt, ist aber später
nach seiner Heimatstadt Wien zurückgekehrt und hat sich in der
Elektrotechnik durch die Darstellung von Metallfäden aus kolloidalem
Metall einen Namen gemacht.

~Julius Tafel~ ist der akademischen Laufbahn treu geblieben. Er wurde
in Würzburg Privatdozent und später als Nachfolger von ~Hantzsch~
ordentlicher Professor und Direktor des Instituts. Leider zwang ein
Lungenleiden ihn frühzeitig, seine erfolgreichen wissenschaftlichen
Arbeiten, besonders die elektrolytische Reduktion organischer
Verbindungen, aufzugeben und ausschließlich seiner Gesundheit zu leben.

Von sonstigen Mitarbeitern erwähne ich noch ~O. Bülow~, den
Vorlesungsassistenten ~Koch~, der das Trimethylendiamin und die
Synthese von Harnstoffen aus solchen Diaminen bearbeitete, ferner
~Elbers~, der die ersten Hydrazinosäuren darstellte und ~Hess~, der an
der Synthese von Indolderivaten aus Hydrazin teilnahm, dann ~Hegel~,
einen Enkel des Philosophen, jetzt Mitglied des Patentamtes, ~Roese~
und endlich ~Antrick~, z. Zt. Direktor der chemischen Fabrik auf
Aktien vormals Schering Berlin. Ein gewisse Ausnahmestellung nahmen
ein ~C. Paal~ und ~O. Hinsberg~, weil sie über Thematas arbeiteten,
die nicht von mir gestellt waren, aber dabei gerne theoretischen
und experimentellen Rat und Hilfe von mir annahmen. Der erste hat
damals seine interessanten Versuche über das Acetonyl-Aceton und
seine Verwandlung in Furanderivate ausgeführt, ist später in Erlangen
und dann auch in Leipzig als Nachfolger von ~E. Beckmann~ Professor
für pharmazeutische und angewandte Chemie geworden. ~Hinsberg~ kam
von Göttingen und hat in Erlangen die Chinoxaline entdeckt. Seine
Publikation, die aus dem Erlanger Institut datiert war, hat mir einen
Angriff von ~G. Körner~ in den Abhandlungen der römischen Akademie
eingetragen. ~Körner~ behauptete dort, er habe das Chinoxalin vor
~Hinsberg~ dargestellt und mir bei einem Besuche in Mailand davon
mündliche Mitteilung gemacht. Ich habe auf den Vorwurf ~Körners~, der
viel zu spät zu meiner Kenntnis kam, öffentlich nicht geantwortet, wohl
aber habe ich an ihn privatim geschrieben und ihn darauf aufmerksam
gemacht, daß seine Klage durchaus unberechtigt sei. Ich selbst konnte
mich in keiner Weise an eine solche Mitteilung ~Körners~ erinnern; aber
selbst wenn diese wirklich geschehen ist, so hätte ~Körner~ mehrere
Jahre Zeit gehabt, seine Beobachtungen zu publizieren. Nach einer so
langen Frist aber auf eine angeblich private Äußerung hin, die sich
in keiner Weise prüfen läßt, einen Prioritätsanspruch zu gründen und
auch noch eine Anklage wegen Indiskretion gegen einen Fachgenossen zu
erheben, ist eine sehr bedenkliche Art der Polemik, die gewiß kein
vernünftiger Naturforscher anerkennen wird. Ich kann hier nur bezeugen,
daß die Arbeit von ~Hinsberg~ auch nicht im geringsten durch die
angebliche ~Körner~'sche Beobachtung beeinflußt war.

Wenn ich noch zufüge, daß ich in Erlangen die Osazone der Zucker
auffand und damit die Grundlage für meine weiteren Zuckerarbeiten
schuf, daß ich ferner durch Behandlung der Methylharnsäuren mit
Chlorphosphor die ersten Oxypurine erhielt, daß ferner ~L. Knorr~ das
Antipyrin entdeckte, wobei er die schon von mir flüchtig beschriebene
Reaktion zwischen Phenylhydrazin und Acetessigäther in sehr sinnreicher
Weise benutzte, so wird man den Eindruck bekommen, daß wir fleißig bei
der Arbeit waren. Nur die Abende blieben der Geselligkeit vorbehalten.

Die Stadt bot wenig, hier und da ein Konzert, das von musikliebenden
Männern veranstaltet wurde. Wir hatten einmal bei solcher Gelegenheit
das Vergnügen, ~Bülow~ mit seinem vortrefflichen Orchester in Erlangen
zu hören. Dann gab es zuweilen auch eine Vorstellung in dem alten
markgräflichen Theater, das jetzt der Stadt gehörte und wo eine
Nürnberger Truppe zu gastieren pflegte. Wollte man mehr von diesen
Genüssen haben, so mußte man nach dem nahe gelegenen Nürnberg fahren.

Die Enge der kleinen Stadt führte die Angehörigen der Universität zu
innigem Zusammenschluß. Der Familienverkehr wurde eifrig gepflegt. Ich
selber habe bei meinem Freunde ~Wilhelm Leube~ und seiner Gemahlin
~Natalie~, einer Tochter des ausgezeichneten Chemikers ~Adolf
Strecker~, viel davon profitiert. Selbstverständlich verlangte Frau
~Leube~ von ihren Freunden auch, wenn es nötig war, tätige Hilfe bei
geselligen Veranstaltungen, und so mußte ich bei einem Ball, den
~Leube~ als Prorektor der Universität gab, die Herstellung einer
Riesenbowle übernehmen. Ich habe die Gelegenheit benutzt, um einen
karnevalistischen Aufzug zu veranstalten, der auf eine Verherrlichung
des Weines hinauslief. Die Hauptfigur war dabei der starke, blühende
Diener des Instituts ~Griesinger~, der als Küfermeister auftrat und
die Bowle in einem stattlichen Faß auf geschmücktem Handwagen in
den Ballsaal hineinfuhr. Auf dem Faß saß als Bacchus verkleidet ein
hübscher zehnjähriger Knabe, der Sohn des Chirurgen ~Heinecke~, und
um das Faß verteilt saßen die drei Töchter ~Leubes~ als Nymphen.
Beim Umzug der Gruppe stimmte die ganze Gesellschaft das bekannte
Rheinweinlied an: »Bekränzt mit Laub den lieben, vollen Becher .....«
Die Bowle, die ich aus 150 Flaschen Wein komponiert hatte, fand Beifall
und war in wenigen Stunden ausgetrunken.

Am häufigsten trafen wir Unverheirateten uns natürlich im Gasthaus, wo
ein sehr behaglicher Ton herrschte.

Von den jungen Medizinern sind mir am nächsten getreten die beiden
Assistenten ~Leubes Penzoldt~ und ~Fleischer~. Mit dem ersten habe
ich auch einige Versuche ausgeführt, besonders diejenigen über die
Empfindlichkeit des Geruchsinns. Er ist jetzt ordentlicher Professor
der inneren Medizin in Erlangen. Weniger glücklich hat sich das
Schicksal von ~Fleischer~ gestaltet.

Unter den älteren Medizinern war ~Leube~ wohl die hervorragendste
Persönlichkeit. Sein Ruf als Arzt bei Krankheiten des Verdauungstraktus
führte zahlreiche Patienten, darunter manche interessante Menschen, in
die Erlanger Klinik.

Gerne erinnere ich mich auch an die anderen Mediziner, den
pathologischen Anatomen ~Zenker~, den Physiologen ~Rosenthal~, den
Chirurgen ~Heinecke~, den Frauenarzt ~Zweifel~ und vor allem an den
Senior der Fakultät, den Anatom ~J. v. Gerlach~, meinen späteren
lieben Schwiegervater. Er spielte in der medizinischen Fakultät eine
große Rolle nicht allein wegen seines wissenschaftlichen Ansehens und
seiner Verdienste als Lehrer, sondern auch wegen seiner liebenswürdigen
Persönlichkeit und seiner Bemühungen um das Wohl und Ansehen der
Fakultät.

Uns Chemikern recht nahe stand der außerordentliche Professor der
Pharmakologie ~Filehne~, der die fieberstillende Wirkung des Antipyrins
zuerst feststellte und seine Einführung in die praktische Medizin
besorgte.

Von den Juristen ist Professor ~Marquardsen~ als Politiker in der
Öffentlichkeit am bekanntesten geworden. Er gehörte viele Jahre sowohl
zum Reichstag, wie zum bayerischen Landtag. Ich habe später wiederholt
in Berlin die Ehre und das Vergnügen gehabt, den alten erfahrenen,
klugen und lebenslustigen Herrn in meinem Hause zu sehen. Solange meine
Frau lebte, brachte er auch zuweilen seine Familie mit, die in Erlangen
mit Gerlachs sehr befreundet war. Der zweite Jurist, mit dem ich öfter
in Berührung kam, war der Schwabe ~Hoelder~, der später nach Leipzig
gekommen ist.

Die Theologie war in Erlangen nur durch eine evangelische Fakultät
vertreten, und diese betonte mit größter Entschiedenheit ihren rein
lutherischen Charakter, so daß sie einem Vertreter der pfälzischen
reformierten Gemeinden die Mitgliedschaft versagte. Die Fakultät genoß
in der kirchlichen Welt einen guten Ruf. Zeugnis davon gab die große
Anzahl junger Theologen aus Norddeutschland, die hier wenigstens
einen Teil ihrer Studien absolvierten und gleichzeitig von der sehr
billigen, aber auch sehr einfachen Lebensweise in der süddeutschen
kleinen Stadt Nutzen zogen. Die Gewohnheit junger Theologen, sich
frühzeitig zu verloben, wirkte anziehend auf heiratslustige Mädchen,
und so war Erlangen das Refugium von mehr als 100 Pfarrerswitwen
geworden, die hofften hier ihre Töchter an den Mann zu bringen. Um sich
darüber lustig zu machen, hatte eine lose Verbindung von alten, etwas
verbummelten Korpsstudenten, die glaubten in Erlangen leichter das
Examen bestehen zu können, sich den Namen »Pfarrerstöchter« zugelegt.

Die philosophische Fakultät war im Gegensatz zu Würzburg und München
nicht geteilt und ließ sich ohne sichtbares Widerstreben von ihrem
Senior, dem Historiker ~Hegel~, Sohn des Philosophen, in wichtigen
Dingen gerne leiten. Von den Naturforschern erwähne ich den Physiker
~Lommel~, einen verständigen und behaglich veranlagten Pfälzer,
ferner den Botaniker ~Rees~, der unter ~de Bary~ eine vortreffliche
Arbeit über die Hefen ausgeführt hatte, aber in Erlangen sich auf
die Lehrtätigkeit und auf gesellige Bemühungen beschränkte, dann den
talentvollen und witzigen Zoologen ~Selenka~, der später mit seiner
Frau große Reisen auf Java ausführte, den sehr verdienten Mathematiker
~Noether~, seinen äußerst komischen Spezialkollegen ~Jordan~ und
endlich den Professor der Pharmazie und angewandten Chemie ~Albert
Hilger~. Dieser stand mir natürlich am nächsten, und wir haben auch
zusammen ein chemisches Kolloquium eingerichtet. ~Hilger~ besaß damals
den Ehrgeiz, sich mit rein chemischen Problemen zu befassen und
hatte für den Zweck auch eine neue Auflage des bekannten Werkes von
~Husemann~ über Pflanzenstoffe herausgegeben. Da ich aber bald zu der
Überzeugung kam, daß für diese Dinge seine Begabung und Ausbildung
nicht ausreichten, so riet ich ihm, sich mehr auf praktische Dinge,
namentlich auf die Nahrungsmittelanalysen zu werfen. Er hat das auch
getan und besten Erfolg gehabt; denn seinen Bemühungen ist es wohl
mit zuzuschreiben, daß in Bayern die Nahrungsmitteluntersuchung den
Instituten für angewandte Chemie an den drei Landesuniversitäten
übertragen wurde und daß dadurch die Kontrolle der Nahrungsmittel in
Bayern viel früher und besser geordnet war, als in Norddeutschland,
besonders in Preußen. ~Hilger~ war musikalisch und sorgte mit seiner
klugen Frau, einer Holländerin, für die Pflege des musikalischen
Lebens in Erlangen. Er ist später an die Universität München gekommen,
wo er in der Nähe des ~Baeyer~'schen Laboratoriums einen Neubau für
pharmazeutische und angewandte Chemie errichtete.

Die Studenten spielten in Erlangen natürlich die Hauptrolle, weil
ein erheblicher Teil der Einwohner von ihnen lebte. Auch das
Verbindungswesen blühte in ungewöhnlicher Weise, und damit im
Zusammenhang stand das Duellwesen, das trotz des gesetzlichen Verbots
von jedermann als etwas Selbstverständliches und Nötiges angesehen
wurde. Ja, ich selbst habe mich mit ~Penzoldt~, ~Knorr~ und einigen
anderen jungen Leuten noch an einem Kursus von Säbelfechten beteiligt,
natürlich nur aus Freude an körperlicher Übung, während wir später
zu unserer Überraschung hörten, daß es für ~Knorr~ eine Vorübung
zu einer Säbelmensur war, die er mit Dr. ~Friedländer~ in München
auszufechten hatte. Da ich außerdem wegen der Freude am Schwimmen
die Universitätsbadeanstalt öfters besuchte, so widerfuhr mir die
unerwartete Ehre, daß ich vom Senat zum Mitglied der Fecht- und
Badekommission ernannt wurde und als solches tätigen Anteil an der
Auswahl eines neuen Fechtmeisters nehmen konnte.

Im Jahre 1883 fand in der Direktion der Badischen Anilin- und
Sodafabrik eine Personalveränderung statt. Vor allen Dingen wollte
Dr. ~Heinrich Caro~, der damalige Leiter des wissenschaftlichen
Laboratoriums, in den Ruhestand bzw. Aufsichtsrat der Fabrik eintreten.
Seinem Einfluß war es wohl zuzuschreiben, daß der Hauptaktionär der
Fabrik und Vorsitzender des Aufsichtsrates Herr ~Sigl~ aus Stuttgart
mir den Vorschlag machte, Nachfolger von ~Caro~ zu werden. Obschon
diese Stellung materiell sehr viel mehr einbrachte, wie jede Professur
in Deutschland, so war mir doch die akademische Tätigkeit mit der
vollen Freiheit wissenschaftlicher Arbeit sympathischer. Ich lehnte
deshalb ab, nahm aber eine Einladung zu mehrwöchentlichem Besuch der
Fabrik gerne an, teils aus Interesse für die Industrie der Teerfarben,
teils in der Hoffnung, mir Rohmaterialien für meine Untersuchungen
in großer Menge bereiten zu können. So bin ich denn im August 1883
nach Ludwigshafen-Mannheim gezogen. Der 14-tägige Aufenthalt war eine
glückliche Kombination von eifriger Arbeit und fröhlicher Unterhaltung.
Zunächst wurde ich durch die ganze Fabrik geführt und in jeder
Abteilung von dem betreffenden Leiter in vertraulicher, aber sehr
weitgehender Weise über die Einzelheiten der Betriebe unterrichtet.
Das war eine Begünstigung, die nur selten wissenschaftlichen Chemikern
zuteil wird, und ich verdankte sie wohl dem Wunsche der Direktion,
dauernd mit mir in Verbindung zu bleiben. Gleichzeitig begannen
im technischen Laboratorium größere Versuche zur Methylierung von
Harnsäure nach der Vorschrift, die ich dafür in Erlangen ausgearbeitet
hatte.

Als Rohmaterial hatte ich mir mehrere Kilo Schlangenexcremente aus
Amsterdam durch Vermittlung von Professor ~Forster~ verschafft. Auf
meine Erkundigung, weshalb das Material so teuer sei, erhielt ich
die überraschende Antwort, daß es in Holland für die Herstellung von
medizinischen Geheimmitteln verwendet werde und deshalb einen richtigen
Marktpreis besitze. Die Überwachung der Methylierungsversuche, die wohl
10 Tage in Anspruch nahmen, hatte mein früherer Privatassistent Dr.
~Boesler~ übernommen, so daß ich mich darum kaum zu kümmern brauchte.
Anders war es mit einem zweiten Präparat, der Orthoaminozimtsäure,
die ich aus einem in der Fabrik vorrätigen Material, der
Orthonitrozimtsäure, durch Reduktion mit Eisenvitriol und Ammoniak
nach ~Tiemann~ darstellte. Die Operation mußte in stark verdünnter
Lösung vorgenommen werden und erforderte die Filtration eines dicken
Schlammes von Eisenhydroxyd. Zu dem Zweck wurde mir eine richtige
Betriebsapparatur der Azofarbenfabrik zur Verfügung gestellt. Bei
dieser Arbeit, die ich selbst übernehmen mußte, war mir das strenge
Rauchverbot innerhalb des Fabrikgebäudes recht schmerzlich, aber
wenn der alte ~Engelhorn~, Mitglied der Direktion, zum Plaudern mich
besuchte, dann zündeten wir uns beide heimlich eine Zigarre an. Einmal
erwischte uns dabei der Betriebsführer Dr. ~Burkhardt~, ein alter
Münchener Bekannter von mir. Es gab nun ein großes Donnerwetter und wir
wurden mit unseren Zigarren rücksichtslos vor die Türe gesetzt.

Den Nachmittag benutzte ich entweder zu kleinen Ausflügen oder zur
Ausübung der Hühnerjagd in der frucht- und wildreichen Umgebung von
Ludwigshafen, wohin mich das Direktionsmitglied Dr. ~Karl Klemm~ in
freundschaftlicher Weise mitnahm. Die Abende verbrachte ich regelmäßig
im großen chemischen Kreise im Pfälzerhof zu Mannheim, der sich durch
den Ausschank vortrefflichen Pfälzer Weines auszeichnete. Die Herren
aus der Technik waren dankbar dafür, daß ich ihnen neben mancherlei
Schnurren auch über die Fortschritte der Wissenschaft in breiterer
Form als sie sonst es erfahren konnten, Auskunft gab, und es wurde
scherzhaft der Vorschlag gemacht, mich dauernd als »Vortragenden Rat«
der Fabrik anzugliedern. In der Tat machte mir zum Schluß meines
Aufenthaltes das Direktorium den Vorschlag, gegen ein mittleres
Jahresgehalt in ein Vertragsverhältnis zur Fabrik zu treten, wobei
ich nur die Verpflichtung übernehmen sollte, bei Erfindungen auf dem
Gebiete der Teerfarben und Heilmittel der Fabrik das Verkaufsrecht
einzuräumen. Dasselbe Angebot richtete man an ~Victor Meyer~ und ~Adolf
von Baeyer~. Es ist aber nicht verwirklicht worden, weil bald nachher
ein großer Personenwechsel in der Direktion der Fabrik stattfand.

Nach Erledigung meiner Arbeiten reiste ich von Mannheim nach
Euskirchen, um meinem Vater bei der Hühnerjagd zu helfen. Hier hatte
ich das Vergnügen, den Besuch von ~Victor Meyer~ zu empfangen. Er hatte
etwa ½ Jahr vorher im ~Baeyer~'schen Hause den Wunsch geäußert, auch
die Jagd kennen zu lernen, da dieser Sport ihm bisher fremd geblieben
sei. Daraufhin lud ich ihn ein, während der Herbstferien zu uns an den
Niederrhein zu kommen. Seine Zusage löste er nun ein. Leider hatte
er kurz vorher anstrengende Hochgebirgstouren im Gebiete des Bernina
gemacht und kam nun direkt aus dieser frischen Höhe ziemlich abgehetzt
nach der warmen Ebene. Infolgedessen reichten seine körperlichen
Kräfte nicht mehr aus, mit Genuß an der immerhin etwas anstrengenden
Hühnerjagd teilzunehmen. Während mein Vater und ich ohne Ermüdung 6 bis
8 Stunden durch die Kartoffeläcker stiefeln konnten, lag er gewöhnlich
nach 2 Stunden ermüdet hinter einem Busche. Leichter und interessanter
war ihm deshalb eine kleine Jagd, die ich für ihn im Flamersheimer
Walde veranstaltete. Er hatte dabei das auffallende Glück, im Laufe von
etwa 2 Stunden von einem Rehbock und 5 Wildsauen angelaufen zu werden.
Allerdings fehlte ihm die Übung, um eins der Tiere zu erlegen. Bei der
Rüstung des Mittagsmahles, das unser Förster besorgte, mußten sich
alle Mitglieder des kleinen Kreises am Kartoffelschälen beteiligen mit
der Maßgabe, daß jeder so viel zu schälen habe, als er beabsichtige zu
essen. Über diese eigenartige Sitte hat ~Meyer~ besonders gelacht und
dazu das Geständnis abgelegt, daß er bisher nie in seinem Leben eine
Kartoffel geschält habe.

Der Tag war wenig anstrengend, und diese Art der Jagd hat ihm besser
gefallen, als das Ablaufen des freien Feldes. Da er aber offenbar
jetzt seine Erfahrungen auf der Jagd für ausreichend hielt, so schlug
ich ihm einen Ausflug nach der vulkanischen Eifel vor. Er war damit
gerne einverstanden, und wir sind nun teils zu Wagen, teils zu Fuß
über Rheinbach nach dem Ahrthal, von dort abwärts an den Rhein und
dann durch das landschaftlich hübsche und geologisch sehr interessante
Brohlthal nach dem lieblichen Laacher See, einem der schönsten Maare
der vulkanischen Eifel gereist. Das hat ~Meyer~ natürlich in hohem
Grade interessiert, und um ihm noch eine der charakteristischen
Kohlensäurequellen dieser Gegend zu zeigen, führte ich ihn am nächsten
Tage nach Burgbrohl zu dem aus der Münchener Zeit mir wohl bekannten
Vetter Dr. ~Hans Andreae~, der hier nach einer stürmischen Studienzeit
als Fabrikant und Familienvater gelandet war. Er erzeugte hauptsächlich
reine Alkalibicarbonate und benutzte dafür die natürliche Kohlensäure,
die als sogen. Mofette in mächtigem Gasstrom aus der Erde kam und für
die Zwecke der Fabrik durch ein Metallrohr gefaßt war. Die Quelle
dient jetzt zur Herstellung von flüssiger Kohlensäure, die seitdem ein
bedeutender Handelsartikel geworden ist.

Selbstverständlich statteten wir auch dem am See gelegenen schönen
Jesuitenkloster Marialaach unseren Besuch ab und kehrten dann, immer
bei herrlichstem Wetter, wieder nach Euskirchen zurück, wo ~Meyer~ von
meinem Vater, mit dem er sich rasch angefreundet hatte, Abschied nehmen
wollte.

Inzwischen war von ~Wilhelm Königs~ eine Einladung an uns eingelaufen,
ihn in Cöln zu besuchen, wo er ~Meyer~ die vielen Schönheiten der alten
Handelsstadt zeigen wollte. Sie wurde angenommen. Auf der Fahrt empfing
uns ~Königs~ schon in Kierberg bei Brühl mit der Einladung, Station in
dem Landhaus seines Bruders, des Cölner Bankiers zu machen. Den Auftrag
dazu hatte er von seiner Schwägerin, einer geistig sehr angeregten
Frau, erhalten, weil sie die beiden Professoren kennen lernen wollte.
Mit der Lebendigkeit der Rheinländerin wußte sie uns bei einem lustigen
Frühstück ziemlich ausführlich über unsere wissenschaftlichen Ziele
auszufragen. Sie belohnte uns dafür durch reichliche Bewirtung und
durch das Vorzeigen ihrer eigenen Kunstwerke, einer Reihe von leidlich
gemalten Ölbildern. Bei dieser Gelegenheit habe ich zum ersten Mal
meinen späteren Schüler ~Ernst Königs~, der jetzt Privatdozent in
Breslau ist, als Knaben gesehen.

~Meyer~ und ich haben uns dann getrennt, und er ist über Cöln nach
Berlin zum Besuch seiner Eltern gefahren.

Zuvor hatten wir in Euskirchen auf seinen Vorschlag Duzbrüderschaft
geschlossen, und ich muß gestehen, daß er mir dauernd ein lieber
Freund geblieben ist. Bei ~Meyer~ war körperliche Anmut mit
ungewöhnlicher geistiger Begabung in glücklicher Weise vereinigt.
Dazu kam eine natürliche Liebenswürdigkeit des Wesens und eine große
Geschicklichkeit, sich der Umgebung anzupassen, so daß ihm die
Sympathien der Menschen rasch zuteil wurden.

Sein Bruder ~Richard~ hat ihm eine ausführliche Lebensbeschreibung
gewidmet und ein weiteres Denkmal durch die Herausgabe seines
Briefwechsels gesetzt. Aber trotzdem erscheint es mir nicht allein
gerechtfertigt, sondern wie eine Art von Freundespflicht, auch hier
eine kurze Charakteristik von ihm zu geben. Er war ein rascher Denker
und verfügte infolge seiner Belesenheit und seines ausgezeichneten
Gedächtnisses über ebenso gründliche wie ausgedehnte Kenntnisse.
Drum schossen bei ihm die Ideen wie ein frischer und unversiegbarer
Sprudel hervor, ohne daß er dabei die gesunde Kritik verloren
hätte. So erklären sich auch seine außerordentlichen Erfolge in
der Experimentalchemie, wo schöpferische Phantasie mit nüchterner
Auswahl der lösbaren Probleme und der einfachsten Versuchsbedingungen
verbunden sein muß. Sehr interessant war es, ihn über Fachgenossen
reden zu hören, deren Vorzüge er gerne anerkannte und deren Schwächen
er mit Freimut, aber ohne jede Bosheit, mehr im humoristischen Sinne
beleuchtete.

Nebenher steckte in ihm ein gutes Stück Künstler mit aufrichtiger
Freude an Musik, Deklamation, Schauspiel und Dichtkunst im weitesten
Sinne. Das alles brach bei ihm spontan und mit natürlicher Anmut
von Zeit zu Zeit hervor, so daß es, chemisch gesprochen, wie eine
Transmutation vom Naturforscher zum Künstler aussah. Leider war damals
sein Nervensystem schon durch übermäßige Arbeit, vielleicht auch durch
zu reichlichen Genuß der Lebensfreuden, erschüttert, so daß er 1 Jahr
später in Zürich zusammenbrach und Urlaub nehmen mußte. Es war um
dieselbe Zeit, als ich aus anderen Gründen die Laboratoriumstätigkeit
aufgeben mußte. Glücklicherweise haben wir beide eine Art von
Renaissance erlebt, die allerdings bei ~Meyer~ nur etwa 12 Jahre
dauerte.

Im Oktober 83 trafen wir für kurze Zeit in München bei ~Baeyer~
zusammen und erfuhren hier die freudige Überraschung, daß uns ~Baeyer~
in einer behaglichen Plauderstunde gleichfalls die Duzbrüderschaft
anbot. Wir beide verehrten in ihm den ausgezeichneten und lieben Lehrer
und hatten nun das Recht erhalten, ihn in besonders trauter Weise
»Freund« nennen zu dürfen. Soviel ich weiß, sind wir die einzigen
Chemiker geblieben, die sich dieses Vorrechts rühmen durften.

In unserem Junggesellenkreise zu Erlangen gab es kein interessanteres
Ereignis als die Verlobung einzelner Mitglieder. Im Winter 1883/84
erlebten wir das dreimal, bei ~Ludwig Knorr~, ~Leo Gerlach~ und
dem schon 40jährigen Mediziner ~Kieselbach~. Sie wurden natürlich
feierlich aus unserem Kreise entlassen und dafür haben wir an
den Hochzeiten teilgenommen. Die erste von ~Leo Gerlach~ fand in
den Osterferien 84 in Nürnberg statt, weil die Braut der dort
altangesessenen Familie ~Seitz~ angehörte. Sie wurde mit dem großen,
etwas steifen Pomp der alten Kunststadt abgehalten. Die zweite Hochzeit
war in den äußeren Verhältnissen, besonders in der Zahl der Teilnehmer,
bescheidener, aber mit feinem künstlerischen Geschmack hergerichtet.
Sie fand statt in dem Hause des Direktors der Akademie der Künste
~Piloty~ zu München. Bei dem Festmahl war die Braut so gesetzt, daß das
prächtige blonde Haar, welches dem Vater als Modell bei der Idealfigur
der Thusnelda in dem bekannten Bild »Der Triumphzug des Germanikus«
gedient hatte, allein von der Sonne beleuchtet und deshalb von einer
Art Glorienschein umgeben war. Meine Nachbarinnen bei dieser Hochzeit
waren die durch Schönheit ausgezeichnete Schwester der Braut ~Johanna~,
die spätere Frau von ~Hefner-Alteneck~, und die gewandte redefertige
Baroneß ~L. von Hornstein~, die spätere zweite Frau von ~Lenbach~.

Wegen meiner freundschaftlichen Beziehungen zu ~Knorr~ mußte ich eine
Rede auf das Brautpaar halten und die Glückwünsche der jungen Erlanger
Gesellschaft mit einem stattlichen Album von Photographien überbringen.
Ich hatte mir die Rede natürlich vorher überlegt und eine Einleitung
ausgedacht, die an die Namen ~Knorr~ und ~Piloty~ anknüpfte. Es war
ein Schiffsvergleich, und nun wollte es der Zufall, daß gerade vor mir
auf der Tafel ein prächtiges, in Silber gehaltenes Segelschiff stand,
von dem ich jetzt natürlich ausging. Dadurch bekam die Rede einen ganz
improvisierten Zug und am Schluß erklärte mir der Hochzeitsvater, dem
seine Rede recht sauer geworden war, daß wir Professoren den Künstlern
im Schwätzen doch über seien.

Von diesen beiden Hochzeiten kam ich mit einem Katarrh, der durch das
2jährige Arbeiten mit Chlorphosphor in dem schlecht ventilierten
Privatlaboratorium vorbereitet und durch eine akute Erkältung verstärkt
war, nach Hause zurück, reiste dann aber bald, ohne mich darum zu
kümmern, zum Besuch meines Vaters und Schwagers nach Uerdingen. Hier
habe ich mir wahrscheinlich auf der Jagd eine kleine Verletzung des
Darms zugezogen, zu deren Beseitigung ich mich an den Chirurgen
Professor ~Bardenheuer~ im Cölner Bürgerhospital wandte. Ich wurde
dort operiert und mußte 14 Tage zu Bett liegen. Leider stellte sich
ziemlich hohes Fieber ein und infolge dieser ungünstigen Umstände
entwickelte sich mein Bronchialkatarrh zu einem tüchtigen Husten. Aus
dem Spital entlassen, bin ich statt nach dem Süden törichterweise nach
Euskirchen gegangen, habe dort an der Jagd teilgenommen und mich neuen
Erkältungen ausgesetzt. Jetzt nutzte auch ein 14tägiger Aufenthalt in
Wiesbaden, wo abends immer ziemlich stark gekneipt wurde, nichts und so
hat der Katarrh allmählich eine chronische Form angenommen. Am meisten
beschädigt waren Nase, Hals und Trachea, und über den Nasenkatarrh
war ich besonders unglücklich, weil mein sonst so feiner Geruchssinn
völlig aufgehoben war und ich fast ½ Jahr kein Geruchsempfinden
gehabt habe. Daran mögen zum Teil auch die Riechversuche, auf die ich
später zurückkommen werde, schuld gewesen sein. Trotz des Katarrhs
habe ich im Sommer Vorlesungen und Praktikum in Erlangen abgehalten,
weil ich glaubte, daß in den Herbstferien die Krankheit geheilt werden
könnte. Aber ich hatte noch immer nicht die richtige Lebensweise
angenommen, denn das Rauchen, dem ich leidenschaftlich ergeben war,
konnte ich nicht lassen, und im Weintrinken habe ich auch vielleicht
damals mehr geleistet als gut war. Zudem ließ ich mich im August von
~Fleischer~ und ~Penzoldt~ überreden, mit nach Pontresina im Engadin
zu gehen. Die Reise dahin fing schon mit einem Wagenunglück an, das
recht böse Folgen hätte haben können. ~Fleischer~ und ich hatten
nämlich, um die überfüllte Post zu vermeiden, in Chur einen Privatwagen
gemietet, ohne über die Eigenschaften der Pferde und des Kutschers
uns zu unterrichten. Nach einigen Stunden leidlicher Fahrt begegneten
wir einem italienischen Orgeldreher, der seinen Leierkasten mit einer
buntgefärbten Decke überzogen hatte. Davor scheute das eine Pferd,
der Kutscher verlor die Herrschaft über die Tiere, und wir stürzten,
nachdem das schlechte Geländer durchbrochen war, von der Straße etwa 5
m bergab, glücklicherweise auf eine Wiese. Ich hatte das Unglück kommen
sehen, war aufgestanden und wollte aus dem Wagen herausspringen. Es war
aber zu spät und ich flog in weitem Bogen aus dem Gefährt heraus in
die Wiese hinein. Ich bin niemals in meinem Leben vom Boden so rasch
wieder aufgesprungen, weil ich fürchtete, daß der Wagen nachkommen
würde. Der war aber inzwischen ganz umgeschlagen und stark beschädigt
liegen geblieben. Auch ~Fleischer~ war herausgeflogen und hatte sich
einen Arm ziemlich stark verstaucht. Merkwürdigerweise blieben die
Schuldigen, d. h. der Kutscher und die Pferde, ganz unverletzt. Der
Absturz war auf etwa 500 m Entfernung von den Gästen eines kleinen
Schwefelbades Alvaneu beobachtet worden, und als wir dort einkehrten,
um uns durch ein Mittagsmahl von dem Schrecken zu erholen, wollte
die Tischgesellschaft es nicht glauben, daß Männer, die soeben einer
wirklichen Lebensgefahr entgangen waren, Lust zum Essen haben
könnten. Ich hatte nun die Freude am Wagenfahren verloren. Wir gaben
deshalb unsere Koffer auf die Post und machten den Rest des Weges nach
Pontresina zu Fuß. Hier bin ich nur einige Wochen geblieben, weil der
Aufenthalt in der trockenen und abends kalten Luft, das Unternehmen
verschiedener kleiner Gletschertouren und das abendliche stundenlange
Verweilen in einer rauchigen Bierkneipe meinem Katarrh nur schädlich
waren. Ich zog es deshalb vor, nach dem niedriger gelegenen Kurort
Flims in Graubünden zu gehen, wo ich mit Freund ~Königs~ zusammentraf
und einige vergnügte Wochen verbrachte. Hier habe ich auf eigentümliche
Art den Präsidenten des Schweizer Schulrats ~Kappler~ kennen gelernt.
In dem mit dem Hotel verbundenen Bierhause war nämlich allabendlich
eine Gesellschaft von älteren Schweizer Herren versammelt, die sich mit
dem in der Schweiz üblichen Kartenspiel »Jass« vergnügten. In diesem
kleinen Kreise zeichnete sich durch Lebhaftigkeit, originelles Äußere
und kräftige Witze ein alter Herr so sehr aus, daß wir uns nach seinem
Namen erkundigten. Es war Herr ~Kappler~, den alle jungen Dozenten
der Naturwissenschaften in Deutschland dem Ruf nach kannten. Unsere
Neugierde war dem alten Herrn verraten worden. Er hat sich dann auch
erkundigt, und als wir am nächsten Tage bei Tisch saßen, schickte
er den Kellner zu mir mit der Frage, ob ich der ~Otto~ oder der
~Emil~ wäre; denn er war über die jungen Naturforscher in Deutschland
ausgezeichnet unterrichtet. Wir sind dann in persönliche Berührung
gekommen, und er sprach sofort den Wunsch aus, daß ich die Professur
der Chemie am Polytechnikum in Zürich übernehmen möchte, da ~Victor
Meyer~ am Ende des nächsten Wintersemesters nach Göttingen übersiedeln
werde. Als ich ihm erwiderte, daß ich augenblicklich leidend sei und
erst meinen Katarrh kurieren müsse, wollte er mit Rücksicht auf mein
gesundes Aussehen nichts davon wissen und wiederholte mehrere Wochen
später das Angebot brieflich, nachdem er seinen Kollegen im Schulrat
Bericht erstattet hatte. Der Ruf war sehr verlockend, da ein prächtiges
neues Institut für Chemie gebaut werden sollte, wozu die Pläne von
~Victor Meyer~ und ~Lunge~ in Verbindung mit einem ausgezeichneten
Baumeister schon fertiggestellt waren. Auch hätte es für mich einen
Reiz gehabt, der Nachfolger ~Meyers~ zu werden, aber ich war doch zu
unsicher, ob ich bei meinem Gesundheitszustand den Anstrengungen der
Züricher Professur gewachsen sein würde, denn ~Meyer~ war doch zuletzt
auch zusammengebrochen und hatte lebhafte Klage über das aufreibende
Leben und Treiben in Zürich geführt. So lehnte ich denn wieder ab.

Auf der Rückreise von Flims drohte mir wieder die Gefahr eines
Wagenunglücks, denn als ~Königs~ und ich von dort in einem Zweispänner
nach Chur fuhren, stürzten unmittelbar vor dem Hotel auf dem glatten
Pflaster beide Pferde zur Erde. Glücklicherweise blieben wir im Wagen
unversehrt, aber meine Abneigung gegen Wagenfahrten ist durch den
Vorfall noch verstärkt worden.

Den Rest der Ferien verbrachte ich in Südtirol, Brixen und Meran,
wo aber infolge der Hitze und des Staubes der Bronchialkatarrh auch
nicht völlig ausheilte. Die Folge davon war, daß ich bei einem kurzen
Aufenthalt in München mir sofort einen neuen akuten Katarrh zuzog und
kränker nach Erlangen zurückkehrte, als ich es im August verlassen
hatte. Ich kam deshalb zu der Überzeugung, daß eine längere ernsthafte
Kur nötig sei und nahm langen Urlaub, der mir vom Ministerium in
München in der freundlichsten Weise gewährt wurde. Damit aber das
Institut nicht ganz verwahrlost bleiben sollte, so schlug ich der
Fakultät vor, meinen Vetter ~Otto Fischer~, der in München Privatdozent
der Chemie war, als provisorischen Vertreter für die Zeit der Krankheit
anzunehmen. Das ist auch geschehen, und hat dann zur Folge gehabt, daß
er ein Jahr später, als ich nach Würzburg übersiedelte, definitiv mein
Nachfolger wurde. Der Vetter hat nicht allein meine Vorlesungen und die
Leitung des Laboratoriums, sondern sogar die Wohnung einschließlich
der Haushälterin für die Zeit meines Urlaubs übernommen. Ich bin noch
bis Ende November in Erlangen geblieben, um ihn in alle Geschäfte
einzuführen, und während dieser Zeit hatte ich das besondere Vergnügen,
Herrn Kappler aus Zürich nochmals zu sehen. Nach meiner Ablehnung
hatte er sich trotz seines hohen Alters und seiner schlechten Augen
entschlossen, eine Rundfahrt durch Deutschland zu machen, um die jungen
Dozenten der Chemie kennen zu lernen. Begleitet von seiner Tochter
erschien er auch in Erlangen, um die Bekanntschaft meines Vetters zu
machen und seine Vorlesungen zu besuchen. Ich lud ihn zu Tisch, und als
wir vergnüglich getafelt hatten und er mich in guter Laune glaubte,
machte er einen letzten Versuch, mich zu gewinnen. Er behauptete dabei,
daß ich gar nicht so krank sei, er riskiere es ruhig mit mir und
dann setzte er mit erstaunlicher Beredsamkeit die Vorzüge von Zürich
auseinander, wobei er besonders die Annehmlichkeiten betonte, welche
dort einem Junggesellen durch die Freiheit der Sitten geboten seien.
Da er aber bald einsehen mußte, daß er mit mir kein Geschäft machen
könne, so beschränkte er sich schließlich darauf, mir eine Reihe von
interessanten Begebenheiten aus seinem Leben, vermischt mit köstlichen
Schnurren, zu erzählen. Er war ein vortrefflich unterrichteter, sehr
kluger Mann, mit allen guten Eigenschaften des Schweizers ausgestattet,
der keine Mühe scheute, seinem geliebten Polytechnikum die
bestmöglichen Lehrkräfte zuzuführen. Die große Blüte dieser Schule ist
damals sicherlich zum erheblichen Teil das Werk von ~Kappler~ gewesen.
Als ich ihm 4 Jahre später von Würzburg meine Verlobung anzeigte,
schrieb er mir einen ebenso liebenswürdigen wie interessanten Brief.
Das einzige, was ihm leid tue, sei, daß die Verlobung nicht in Zürich
erfolgte. Dann kam eine lange Auseinandersetzung über die Bemühungen
der Schweiz, auf dem weiten Gebiete des Unterrichts verhältnismäßig
mehr zu leisten, als die europäischen Großstaaten, wo so viel geistige
Kräfte durch die Politik und das Militär in Anspruch genommen seien.

Als er in Erlangen von mir Abschied nahm, sagte er: da ich nicht zu
haben sei, so werde er sich jetzt um keinen fremden Rat mehr kümmern
und einfach seiner Nase nachlaufen, um einen möglichst guten Nachfolger
für ~Meyer~ zu gewinnen. Seine Wahl ist dann auf ~Hantzsch~ gefallen.

Anfangs Dezember verließ ich Erlangen, und da mir der dauernde
Aufenthalt in den Kurorten zuwider geworden war, so ging ich zuerst
zu meinem Schwager ~Arthur Dilthey~ in Rheydt, der ein behaglich
eingerichtetes, mit Zentralheizung versehenes Haus besaß und mich
ebenso liebenswürdig wie scherzhaft zur Kur in der Winterfrische
zu Rheydt eingeladen hatte. Hier habe ich drei vergnügte Monate
zugebracht. Der Tag wurde zu größeren Spaziergängen benutzt, und abends
spielte ich, angeblich um die Stimme zu schonen, mit dem Schwager und
~August Fischer~ Skat. Dabei passierten aber so komische Dummheiten,
daß wir aus dem Lachen nicht herauskamen, und da auch fleißig Wein
getrunken wurde, so war es nicht gerade die Kur, die für die Heilung
des Katarrhs nötig gewesen wäre. Aber er wurde auch nicht schlimmer und
meine Gemütsverfassung hatte sich in dem lustigen rheinischen Kreise
außerordentlich gebessert. Selbstverständlich kam ich auch mit meinen
anderen Schwägern und den Schwestern häufig zusammen, und die alte
Tante »~Lisettchen~« ließ es sich ebenfalls nicht nehmen, den Neffen
von Zeit zu Zeit einzuladen.

In der Weihnachtswoche kam es bei meinem Schwager zu einem kleinen
Brand, der recht üble Folgen hätte haben können. Der in der trockenen
Luft der Zentralheizung ganz ausgedörrte Christbaum wurde auf Wunsch
der Kinder nochmals angezündet. Dabei fingen die harzreichen Nadeln
Feuer und in kurzer Zeit war der ganze Baum am Brennen. Mir selbst
war das kein ungewohntes Schauspiel, da man im Laboratorium ja öfters
solche raschen Brände erlebt. Aber auf die Familie meines Schwagers,
besonders auf die Kinder machte es einen ganz lähmenden Eindruck, und
die Erzieherin der Kinder war so außer Fassung, daß sie direkt in das
Feuer hineinlaufen wollte, um zu löschen. Mir blieb nichts anderes
übrig, als sie und die Kinder mit einiger Gewalt vor die Tür zu setzen,
und dann das Kommando auszugeben: »Ruhig ausbrennen lassen.« Das war
in einer halben Stunde geschehen, einige Vorhänge waren mitverbrannt,
einige Bilder und Teppiche beschädigt. Dem Umgreifen des Feuers hatten
wir mit ein paar Eimern Wasser gewehrt und die Sache war erledigt.
Ich habe seitdem immer davor gewarnt, Christbäume in Häusern mit
Zentralheizung nach mehrtägigem Stehen nochmals anzuzünden.

Bei der Weihnachtsbescherung passierte eine schnurrige Geschichte, die
bezeichnend ist für den Kunstsinn der Kinder. Mein Schwager hatte als
Geschenk einen Gipsabguß der Büste der Venus von Milo bekommen, die von
den Kindern wegen der abgeschnittenen Glieder nicht sehr freundlich
kritisiert wurde. Plötzlich erhebt die kleine ~Else~ die Frage:
»Was hat die da für Buckel auf der Brust?«, worauf der noch jüngere
sechsjährige ~Alfred~ ihr antwortete: »Wie dumm, Else, das sind doch
Furunkel.«

Im Februar 1885 entschloß ich mich, das Frühjahr am Mittelmeer zu
verleben, und mein Freund ~Victor Meyer~, der inzwischen ebenfalls
nervös erkrankt war und an heftiger Neuralgie litt, riet mir nach
Ajaccio auf Corsica in den Schweizer Hof der Frau Dr. ~Müller~ zu
gehen. Niemals ist mir ein besserer Rat bezüglich eines Kurortes
erteilt worden. Die Reise ging über Paris und Marseille. Als ich in
Paris abends einen kleinen Spaziergang auf dem Boulevard machte, verlor
ich meine goldene Uhr und merkte es erst, als ich etwa 20 Schritte
weiter gegangen war. Ich kehrte natürlich sofort um und hatte auch das
Glück, die Uhr noch auf dem Boden zu finden, obschon eine ganze Reihe
von Menschen die Stelle passiert hatten.

In Marseille kam ich mit einem großen Kreditbrief eines Cölner
Bankhauses an, der auf eine ziemlich hohe Summe ausgestellt war, weil
ich die Absicht hatte, an den Aufenthalt in Corsica eine Seereise
nach Brasilien anzuschließen. Als ich mit diesem Brief in dem
Geschäftshause, auf das es ausgestellt war, einige 1000 Frcs. abheben
wollte, erklärte man mir, die Kasse enthielte so viel nicht. Es gab
ein großes Gelächter, und ich mußte warten, bis das Geld von der Bank
herbeigeschafft war. Marseille, das ich schon kannte, hat mir wegen
seiner prächtigen Lage und der hübschen Hafenbauten immer von neuem
sehr gefallen.

Die Seefahrt nach Ajaccio, die etwa 20 Stunden dauerte, ist mir noch
in freundlicher Erinnerung. Die Franzosen waren bei der Tafel von
ausgezeichneter Höflichkeit. Auf dem Schiff befanden sich auch eine
Reihe von Sträflingen, die in Corsica eine längere Gefängnisstrafe
abbüßen sollten. Sie unterhielten sich gegenseitig in der lauen,
sternenklaren Nacht bei ganz ruhiger See mit Gesang und übermütigen
Scherzen. Von dieser Fröhlichkeit wurde die ganze übrige Gesellschaft
beeinflußt, und bei mir kam das angenehme Gefühl hinzu, daß die milde
feuchte Luft des Mittelmeers für die erkrankten Schleimhäute meiner
Atmungswege das richtige Kurmittel sei.

Früh morgens sahen wir schon die Schneeberge Corsicas winken und bei
der Einfahrt in Ajaccio bot sich uns ein so prächtiger Anblick, wie ihn
nicht viele Orte des Mittelmeeres gewähren.

Im Gasthof wurde man besonders freundlich empfangen, da der Besuch
infolge der Choleraepidemie des vergangenen Sommers noch recht schwach
war.

Corsica hat in den Monaten März und April so gute klimatische
Verhältnisse, wie wenige Orte am Mittelmeer, sehr viel Sonne und
mittags die kühle frische Seebrise, abends bei Sonnenuntergang nochmals
eine kurze Periode der Abkühlung und dann gleichmäßige Temperatur
bis tief in die Nacht hinein. Da man außerhalb der Stadt wohnte,
blieb man auch von jedem Staub verschont, der an der Riviera die
Menschen so stark belästigt; denn es gab in Corsica wohl Straßen,
aber keine Fuhrwerke darauf. Unter diesen günstigen Bedingungen
ist mein Bronchialkatarrh in 8 Wochen geheilt. Es blieb aber eine
Neigung zu akuten Rückfällen, die mich noch einige Jahre nötigte,
Erkältungen und auch die schädlichen Gase des Laboratoriums so weit
wie möglich zu vermeiden. Erst nach 33 Jahren bin ich wieder von einem
influenzaartigen Bronchialkatarrh überfallen worden, der nicht heilen
wollte, und nach sechs Wochen zu einer Lungenentzündung führte. Diese
doppelte Erkrankung war dann der Grund, im April und Mai 1918 zur
Erholung sechs Wochen in Locarno am Lago Maggiore zuzubringen, und
die unfreiwillige Muße habe ich benutzt, um den ersten Teil dieser
Erinnerungen niederzuschreiben.

Corsica ist ein wildes Gebirgsland, dessen höchste Spitzen, der Monte
d'Oro und Monte Rotondo, ewigen Schnee und sogar kleine Gletscher
tragen. Der Hauptgebirgsstock besteht aus Granit, der hier durch den
am Mittelmeer überwiegenden Kalk durchbrochen ist. Von der Wildheit
der Natur ist etwas auf die Einwohner übergegangen; denn sie sind
bekannt als kühne Krieger und rühmen sich gerne als die Landsleute
von Napoleone Buonaparte. Seit Jahrhunderten üben sie die Blutrache,
und noch zu meiner Zeit gab es ein Dorf in entlegener Gegend, das
fast ausschließlich von solchen Mördern bewohnt war, die sich hierher
geflüchtet hatten und der französischen Gendarmerie nicht selten
bewaffneten Widerstand entgegensetzten. Die barbarischen Sitten des
Landes sind in dem bekannten Buche von ~Gregorovius~ genau geschildert,
und wer sie in anmutiger Schilderung kennen lernen will, der lese die
vortreffliche Novelle von ~Prosper Merimée~ »Colomba«. Die Wahrung
der Familienehre erschien den Corsen seit Jahrhunderten als erste
Pflicht. Wir haben davon ein treffliches Beispiel miterlebt. In einem
benachbarten Hotel hatte ein Rechtsanwalt aus Zürich versucht, ein
corsisches Dienstmädchen zu gewinnen. Der Erfolg war negativ. Aber
nach kurzer Zeit erschienen zwei Verwandte des Mädchens, Bauern aus
der Umgegend, natürlich bis an die Zähne bewaffnet, und ersuchten den
Rechtsanwalt um eine Unterredung. Dieser war klug genug, zu erklären,
er habe dem Mädchen einen ehrlich gemeinten Heiratsantrag gemacht.
Das wirkte beruhigend und die beiden Männer entfernten sich, nachdem
sie noch den dringenden Rat erteilt hatten, er möge das Mädchen nicht
weiter belästigen. Nach der Aussage von Sachverständigen würden diese
Männer den Rechtsanwalt, falls er nicht eine der Familienehre genügende
Erklärung abgegeben hätte, im Hotel niedergeschossen haben.

Geschossen wurde überhaupt in Corsica viel zu viel; denn die Jagd
war frei und jeder erwachsene Mann hielt sich für verpflichtet,
davon Nutzen zu ziehen. Bei weiteren Spaziergängen mußte man in der
Tat einige Vorsicht gebrauchen, um nicht von leichtsinnigen Jägern
angeschossen zu werden. Für die friedliche Arbeit scheinen die
Corsen wenig geschaffen zu sein; denn die Landeskultur war durchweg
vernachlässigt, und wo fleißige Arbeiter am Werk waren, konnte man
sicher sein, daß es geworbene Italiener vom Festlande waren.

Da mein Katarrh geheilt war und mir die Nachricht zuging, daß durch
den Tod von ~Kolbe~ demnächst eine Verschiebung der Professuren der
Chemie stattfinden werde, so gab ich die Reise nach Südamerika auf
und kehrte über die Schweiz nach Erlangen zurück. Auf der Durchreise
habe ich in Genf ~Carl Graebe~ besucht, der mir das neue, mit großem
Geldaufwand gebaute Universitätslaboratorium zeigte. Wir sind später
noch öfter während der Ferien in der Schweiz oder im Schwarzwald
zusammengetroffen, und ich werde noch mehr über diesen vortrefflichen
Mann zu sagen haben.

Da mein Urlaub bis zum Herbst lief, so habe ich mich nur einige
Wochen in Erlangen aufgehalten, um meinen Vetter ~Otto~ und die
anderen Freunde zu begrüßen, und bin dann zum längeren Aufenthalt
nach Badenweiler in den Schwarzwald gegangen. Auf der Hinreise machte
ich kurze Rast in Frankfurt und besuchte die Höchster Farbwerke,
den dort tätigen Freund ~Vongerichten~ und vor allem auch Herrn Dr.
~Lucius~, Mitinhaber der Firma, der mir vorher einen Besuch in Erlangen
abgestattet hatte. Ich wurde nicht allein in der Fabrik, sondern auch
in der Familie ~Lucius~ auf das Freundlichste aufgenommen und bin mit
dem Hausherrn bis in die Berliner Zeit hinein in Verkehr geblieben.

In Badenweiler mit seiner prächtigen Umgebung habe ich das
Schlaraffenleben von Corsica etwa noch 5 Wochen fortgesetzt, bis
eines Tages eine Depesche von dem Würzburger Professor ~Semper~
eintraf, der mich zu einer Unterredung nach Heidelberg einlud. Es
war mir bereits bekannt, daß ~J. Wislicenus~ als Nachfolger von
~Kolbe~ nach Leipzig berufen war, und daß die Würzburger Professur
für Chemie neu besetzt werden mußte. Daß man an mich denken würde,
hielt ich für unwahrscheinlich, da ich wegen Krankheit mich in Urlaub
befand und solche Dinge gerüchtweise immer stark übertrieben werden.
In der Tat hatte auch die Fakultät in Würzburg auf mich verzichtet
und ~O. Wallach~ dem Ministerium zu München vorgeschlagen. Ehe aber
dort die Entscheidung fiel, hatte Fräulein ~Bertha Strecker~ aus
München, die Schwester von Frau ~Leube~, in Erlangen erfahren, daß ich
wieder gesund sei und diese Nachricht nach Würzburg überbracht. Das
veranlaßte Professor ~Semper~, Mitglied der philosophischen Fakultät,
die Möglichkeit meiner Berufung wieder in Erwägung zu ziehen, und zu
dem Zweck die Zusammenkunft mit mir zu veranstalten. Sie fand statt
im Hotel Schlieder zu Heidelberg, und, wie ich bald merkte, lief
sie hinaus auf eine Prüfung meines Gesundheitszustandes, wozu sich
offenbar ~Semper~ als Zoologe besonders geeignet hielt. Als später
die Sache in Würzburg ruchbar wurde, erzählten sich die Leute dort,
man habe mich von einem Tierarzt untersuchen lassen. Genug, ~Semper~
machte mir den Vorschlag, einen Spaziergang zum Schloß zu unternehmen.
Obschon er viel älter war als ich, schlug er absichtlich einen raschen
Schritt an, so daß er ganz atemlos oben ankam, während ich, an das
Bergsteigen damals gewöhnt, mich bei dem Tempo sehr behaglich fühlte.
Dann kam die zweite Probe, ~Semper~ schlug vor, eine Flasche Sekt
zu trinken. Auch das war mir nicht unsympathisch, da der Genuß von
Wein zu meinen Gewohnheiten gehörte. Der Erfolg dieses Frühstücks
war dann auch, wie man erwarten konnte, eine leichte Betrunkenheit
des älteren Herrn ohne Mitleidenschaft des jüngeren Kollegen. Das
Examen war bestanden. ~Semper~ reiste nach Würzburg zurück, erklärte
seinen Fakultätsgenossen, »der ~Fischer~ ist ein ganz starker,
leistungsfähiger Mann, der uns alle überleben wird«, worin er auch
recht behalten hat. Infolgedessen ging ein neuer Vorschlag der Fakultät
nach München und etwa einem Monat später erhielt ich wirklich vom
Ministerium den Ruf nach Würzburg. Um ~Wallach~ hat es mir leid getan,
denn er war über den ersten Vorschlag der Fakultät unterrichtet. Aber
ich konnte deshalb nicht zurücktreten, und da mir der Wechsel nach
Würzburg außerordentlich sympathisch war, so nahm ich das Angebot des
Ministeriums gerne an.

Zuvor hatte ich einen mehrwöchigen Aufenthalt in Homburg v. d. Höhe
genommen, von dem mir zwei Ereignisse in Erinnerung geblieben sind.

Zunächst wieder ein Wagenunglück. Ich besuchte die mir von Lebzeiten
ihres Gemahls her wohlbekannte Frau Dr. ~von Brüning~, geb. ~Spindler~
aus Berlin auf ihrem prächtigen Landsitz bei Homburg und sie lud mich
zu einer Wagenfahrt ein. Ich suchte das abzulehnen mit der Motivierung,
daß das Wagenfahren für mich zu viele Gefahren bringe. Sie ließ diese
Bedenken aber nicht gelten, weil Pferde und Kutscher bei ihr durch
langjährige Dienste bewährt seien. Wie fuhren also in Begleitung ihres
Sohnes nach der nahegelegenen Saalburg im Taunus. Als wir uns glücklich
wieder auf dem Rückweg und auf der ebenen Landstraße befanden, stieß
plötzlich der Kutscher einen Schrei aus und fiel bewußtlos vom Bock.
Die Zügel schleiften natürlich an der Erde. Glücklicherweise trabten
die alten Pferde ruhig weiter, bis der junge ~Brüning~ vom Wagen auf
den Bock klettern und dort die Zügel fassen konnte. So ging die Sache
ohne Schaden für uns vorüber. Der kranke Kutscher wurde nun in den
Wagen gesetzt und nach Hause gefahren. Wir folgten zu Fuß und Frau
~von Brüning~ war doch etwas erschüttert durch das prompte Eintreffen
meiner Unglücksprophezeiung. Sie hat daraus die Konsequenz gezogen, in
Zukunft neben den Kutscher stets noch einen Diener auf dem Bock sitzen
zu lassen.

Zufälligerweise hatte auch die Familie ~Meister~ in Homburg eine
Sommerwohnung bezogen und auf meinen Besuch hin wurde ich zu einer
Abendgesellschaft zugezogen, an der die Fürstin Bismarck und ihr Sohn
Herbert teilnahmen. Es war mir natürlich sehr interessant, die nächsten
Angehörigen des großen Reichskanzlers kennen zu lernen. Sie gaben sich
als einfache natürliche Menschen. Besonders galt das von der Fürstin,
die in fast burschikoser Weise von ihrer eigenen Person redete.

Frau ~Meister~ war die Schwester von Frau ~Lucius~ und beide waren
wieder die Töchter eines Kunstmalers aus Frankfurt a. M., in dessen
Haus Bismarck verkehrt hatte, als er preußischer Gesandter beim
Bundesrat in Frankfurt war. Daher stammte die Freundschaft zwischen
den beiden Damen und der Familie Bismarck, und das hatte mir die
unerwartete Ehre eingetragen, mit der Fürstin und ihrem Sohn
zusammenzutreffen.

Inzwischen war der Würzburger Ruf eingetroffen. Ich ging deshalb
nach Erlangen, um den Umzug vorzubereiten und machte bald nachher
einen Besuch bei ~J. Wislicenus~ in Würzburg, um mich bei ihm über
die dortigen Verhältnisse, insbesondere auch über die Einrichtungen
des Instituts zu unterrichten. Wir kannten uns schon von den
Naturforscherversammlungen und von festlichen Veranstaltungen der
Universitäten Würzburg und Erlangen.

Er war eine sympathische Persönlichkeit, von sehr würdiger äußerer
Erscheinung und liebenswürdigem Wesen. In seiner kinderreichen
Familie herrschte er wie ein Patriarch. Von seinen Schülern wurde er
allgemein verehrt als wohlwollender Lehrer und vornehmer Charakter.
Die Universität Würzburg hatte ihn zweimal zum Rektor gewählt, und
als solcher hat er das 300jährige Jubiläumsfest der Hochschule in
mustergültiger Weise geleitet. Sein Lebenswerk ist in einer von
~Beckmann~ verfaßten Biographie geschildert und niemand wird die
Verdienste leugnen wollen, die ~Wislicenus~ durch seine Arbeiten über
Milchsäure, die Acetessigester-Synthese und namentlich später durch die
vielen Anregungen auf stereo-chemischem Gebiete erworben hat. Aber als
Chemiker und Naturforscher repräsentierte er doch einen ganz anderen
Typ wie ~Baeyer~, ~Hofmann~ oder ~Liebig~ und ~Wöhler~. Ihm kam es mehr
darauf an, vorgefaßte theoretische Ansichten durch ein Experiment zu
prüfen, als empirisch den Erscheinungen zu folgen und auf unerwartete
Vorgänge zu fahnden. Untersuchungen, wo große experimentelle
Schwierigkeiten zu überwinden waren, hätte er wahrscheinlich nicht
anstellen können. Dem entsprach auch die ziemlich dürftige Einrichtung
des Würzburger Instituts, das von ~Scherer~ 20 Jahre früher erbaut
worden war, ohne an die Bedürfnisse unserer rasch fortschreitenden
Wissenschaft zu denken. Das erste, was ich in Würzburg tat, war der
Vorschlag, die ganz ungenügende Ventilation durch Anlage neuer Abzüge
zu verbessern. ~Wislicenus~ hat mich dabei in liebenswürdigster
Weise unterstützt und bei dem Verwaltungsdirektor der Universität,
Professor ~Risch~, der aus den Einkünften der Hochschule ziemlich große
Mittel zur Verfügung hatte, meine Forderung warm befürwortet. Die
Verhandlungen endigten denn auch mit einer Bewilligung von etwa 6000
Mk. Dafür verlangte ~Risch~ von mir das feierliche Versprechen, daß ich
niemals mehr die Mittel der Universität in Anspruch nehmen würde. Ich
gab dasselbe lachend mit der Bemerkung, daß ich es bei der nächsten
Gelegenheit brechen würde. Das ist schon nach einigen Jahren geschehen,
und ich muß zu Ehren des Kollegen ~Risch~ zufügen, daß er für meine
Wünsche immer eine offene Hand gehabt hat. Die kleinen Neueinrichtungen
im Institut wurden während der Ferien ausgeführt, so daß Ende Oktober
alles für die Arbeit bereit war. Für die Anlage der Abzüge hatte ich
ein sehr einfaches System ausgedacht. Tonröhren, wie man sie für Aborte
verwendet, wurden an die Wände gelegt, mit eisernen Schellen befestigt,
über Dach geführt und dort durch einen zweckmäßigen Aufsatz gegen die
schädliche Wirkung des Windes geschützt. Unten, im Arbeitsraum war
ein Kniestück eingesetzt, um das Herabfallen des Schmutzes aus den
Röhren zu verhindern. Um diese untere Öffnung des Rohres wurde dann der
eigentliche Abzug in Holz und Glas gebaut. Eine Lockflamme in dem Rohr
besorgt den nötigen Luftzug. Diese einfache Form des Abzuges läßt sich
in jedem Gebäude anbringen und ist deshalb höchst empfehlenswert, wo
es sich darum handelt, provisorische Laboratorien in fertigen Häusern
einzurichten.

Von Erlangen waren mit übergesiedelt ~J. Tafel~ und die Familie
~Knorr~, die jetzt außer dem jungen Ehepaar noch einen Sohn zählte. Da
sich für letztere keine passende Wohnung fand, so machte es mir ein
Vergnügen, sie in die große Dienstwohnung des Instituts aufzunehmen,
bis sie im Frühjahr ein Quartier außerhalb fand.

Die alten Assistenten des Instituts waren ~J. Wislicenus~ nach Leipzig
gefolgt. Dagegen hatte er mir seinen Sohn ~Wilhelm~ zurückgelassen,
dem ich gerne eine Assistentenstelle anvertraute, und der mir auch ein
sehr lieber Freund geworden ist. Er konnte ebenfalls noch im Institut
Quartier nehmen.

~Knorr~, der schon in Erlangen sich habilitiert hatte, wurde auf meinen
Antrag ohne weiteres von der Würzburger Fakultät als Privatdozent
übernommen und von mir mit der Leitung der analytischen Abteilung im
Institut betraut. Für diese war der einzige große Arbeitssaal des
Hauses reserviert, während die organische Abteilung sich mit einem
kleinen Anbau und dem darunter befindlichen Keller begnügen mußte.
Alles das war recht dürftig und auch recht unpraktisch angelegt. Der
Hörsaal war ziemlich geräumig, weil man ihn von vornherein auf die
große Zahl von Medizinern berechnet hatte, aber auch seine Einrichtung
ließ viel zu wünschen übrig.

Mein Privatlaboratorium bestand aus einem einzigen einfachen
Wohnzimmer, und als Raum für Wägungen und optische Untersuchungen
mußten wir das danebenliegende Sprechzimmer benutzen. Trotzdem sind
hier die experimentell recht schwierigen Zuckerarbeiten ausgeführt
worden. Zunächst begann ich aber mit der Ausbildung der schon in
Erlangen begonnenen Synthese von Indolderivaten aus Phenylhydrazonen.
Daran nahmen auch die meisten Doktoranden teil, wodurch das Institut
gleich in einen recht schlechten »Geruch« kam; denn der Hauptstänker,
das Skatol, das wir in recht stattlichen Mengen darstellen konnten,
wurde von den Praktikanten in die Gast- und Wohnhäuser der Stadt
hineingetragen und gab zu mancherlei Klagen Anlaß. Von der Haftbarkeit
seines Geruches habe ich selbst ein drastisches Beispiel erlebt.
In den Osterferien 1886 unternahm ich nämlich eine zweite Reise
nach Corsica und führte dabei die Lodenjoppe mit, die ich während
des Winters im Laboratorium getragen hatte und die mir bei kleinen
Bergtouren auf der Insel dienen sollte. Als mein Koffer an der
französischen Grenze vor der Zollbehörde geöffnet wurde, verweigerte
der Beamte mit einer Gebärde der Entrüstung die weitere Durchsicht und
verlangte schleunige Schließung des Koffers; denn aus diesem war ein
starker Skatolgeruch aufgestiegen und hatte offenbar bei dem Beamten
den Eindruck hervorgerufen, daß in dem Koffer sehr stark mit Kot
beschmutzte Wäsche enthalten sein müßte. Noch schlimmer ging es mir in
dem Schweizer Hof in Ajaccio. Ich hatte dort ahnungslos meine Kleider
im Zimmer aufgehängt. Aber nach einigen Tagen erschien die Wirtin und
richtete an mich die ängstliche Frage: »Um Gotteswillen, was fangen
Sie auf Ihrem Zimmer an, die Nachbarschaft beschwert sich über den
schlechten Geruch, der von dort kommt?« Jetzt wußte ich sofort, wo die
Schuld lag, und die fatale Joppe wurde nun 14 Tage ins Freie in die
corsische Sonne gehängt. Als ich sie aber wieder einpackte und nach
Deutschland zurückkehrte, war der Geruch zwar stark vermindert, aber
noch keineswegs verschwunden.

In Würzburg hatte ich von vornherein das Glück, daß mir eine Reihe
tüchtiger junger Doktoranden zuzogen. Ich erwähne zunächst ~A.
Schlieper~, Sohn des Kattundruckers ~Adolf Schlieper~ in Elberfeld, der
30 Jahre vorher durch seine Beobachtungen in der Harnsäuregruppe ~Adolf
Baeyer~ Veranlassung gab, sich mit diesen Stoffen zu beschäftigen.
Der Sohn ist sein Nachfolger geworden und steht, wenn ich nicht irre,
noch an der Spitze des Geschäftes ~Baum & Co.~ Eine ebenso rühmliche
Laufbahn hat ~C. Steche~ gemacht, der zur selben Zeit nach Würzburg
kam. Er ist jetzt der Leiter der großen Riechstofffirma ~Heine & Co.~
in Leipzig. Dann ~Ahrheidt~, später Beamter der Badischen Anilin- &
Sodafabrik. ~Friedrich Ach~ aus Würzburg, ein ebenso begabter wie
fleißiger Chemiker, der nebenher auch ein eifriger Corpsstudent
war und mit dazu beitrug, daß seine Corpsbrüder die Vorlesungen
nicht vernachlässigten. Er ist nach Beendigung der Studien in
die Alkaloidfabrik von ~C. F. Böhringer & Söhne~ in Waldhof bei
Mannheim eingetreten und hat dort als Leiter des wissenschaftlichen
Laboratoriums großen Anteil an der technischen Ausarbeitung der
Kaffeinsynthese genommen. Darüber werde ich aus der Berliner Zeit noch
berichten. Leider ist er frühzeitig an Psoriasis und Nephritis zugrunde
gegangen.

Ferner ~Jacob Meyer~, der später selbständig das Tannigen entdeckte,
jetzt seit einer Reihe von Jahren im Berliner Institut technische
Probleme verschiedenster Art bearbeitet und mir bei der Verwaltung des
Instituts eine wesentliche Hilfe leistet.

Im Sommer 86 wandte ich mich wieder den schon in Erlangen entdeckten
Osazonen der Zucker zu und es gelang mir, mit Unterstützung von ~W.
Wislicenus~, der damals mein Privatassistent war, das Isoglucosamin zu
gewinnen. Bald darauf, nachdem die Indolarbeiten abgeschlossen waren,
begannen die Synthesen in der Zuckergruppe, die mich bis zum Ende der
Würzburger Periode vorzugsweise beschäftigt haben. Die Zahl meiner
Mitarbeiter ist hier so groß gewesen, daß ich sie nicht alle anführen
kann, aber ich halte mich doch für verpflichtet, drei besonders zu
nennen. Zuerst ~J. Tafel~, der an der Oxydation der mehrwertigen
Alkohole und der Verwandlung von Glycerose oder Acroleindibromid in
den ersten synthetischen Zucker mit 6 Kohlenstoffatomen, die Acrose,
teilgenommen hat. Das waren sehr mühsame und zum Teil auch recht
gesundheitsschädliche Arbeiten.

Um genügende Mengen von Acrose in Form von Osazon zu gewinnen, haben
wir einige Wochen zusammen in den Farbwerken Meister Lucius & Brüning
zu Höchst a. M. mit den großen Hilfsmitteln der Fabrik Acrolein und
sein Dibromid dargestellt. Das große Gefäß, aus dem das Acrolein
destilliert wurde, befand sich im Freien, und die öfter wiederholte
Operation wurde an windigen Tagen ausgeführt, um dem furchtbaren Geruch
des Acroleins zu entgehen. ~Tafel~ ist einmal durch Versehen in eine
Acroleinwolke hineingeraten und bekam ein so heftiges Nasenbluten, daß
mir um seine Gesundheit bangte. Als etwas später die Schwierigkeiten
bei der Zuckerarbeit sich immer mehr auftürmten und eine glückliche
Lösung des Problems erst in weiter Ferne möglich schien, hat
~Tafel~, der für die beabsichtigte wissenschaftliche Laufbahn auch
selbständige Resultate nötig hatte, sich anderen Aufgaben zugewendet.
An seine Stelle sind dann eine Reihe von anderen Herren getreten,
unter denen ich besonders ~Josef Hirschberger~, jetzt in Brooklyn,
und ~Heller~, jetzt in Leipzig, nennen muß. Bei der speziellen
Synthese von kohlenstoffreichen Zuckern durch das Blausäure-Verfahren
haben besonders der Engländer ~Passmore~, der jetzt angesehener
Handelschemiker in London ist, und ~Lorenz Ach~ aus Würzburg, von dem
später noch die Rede sein wird, teilgenommen.

Unabhängig von mir waren die älteren Assistenten mit eigenen Problemen
beschäftigt. ~Knorr~ hatte in Erlangen schon den großen praktischen
Erfolg mit dem Antipyrin gehabt und wissenschaftlich nicht allein die
Pyrazole, sondern auch die eleganten Synthesen von Pyrrolderivaten aus
1,4-Diketonen entdeckt. Diese Funde sind in Würzburg in weitestem Maße
ausgenutzt worden. Dazu gesellte sich die Synthese des Morpholins,
von dem der Entdecker annahm, daß es den Stickstoffring des Morphins
enthalte.

Einen ebenso glücklichen Griff machte ~Wilhelm Wislicenus~ mit der
Ausdehnung der Acetessigestersynthese auf andere Ester, z. B. den
Oxalester. Wäre ihm ~L. Claisen~ nicht mit gleichzeitigen Beobachtungen
in die Quere gekommen, so hätte er damals sicherlich das ganze große
Gebiet der Kondensation von Estern untereinander oder mit Ketonen
und Aldehyden erobert. Eine andere sehr niedliche Beobachtung von
ihm war die Bildung von Natriumazid aus Stickoxydul und Natriumamid.
Um dieselbe Zeit fand ~Tafel~ die Reduktion der Hydrazone zu Aminen
mit Natriumamalgam und er hätte diese Reaktion sicherlich auch auf
die Oxime ausgedehnt, wenn nicht ~Goldschmidt~ alsbald nach ~Tafels~
Publikation solche Versuche rasch angestellt und veröffentlicht hätte.

Von den Würzburgern Schülern verdient noch besonders Erwähnung ~Oscar
Piloty~. Nachdem er im Münchener Verbandsexamen keinen Erfolg gehabt
hatte, kam er in etwas gedrückter Stimmung nach Würzburg, fand aber
rasch das Selbstvertrauen wieder, als er bei seiner Doktorarbeit
über die kohlenstoffreichen Zucker aus Rhamnose sein experimentelles
Geschick beweisen konnte. Er hat dann auch mit Erfolg promoviert
und nachher an der recht schwierigen Verwandlung der Zuckersäure
in Glucuronsäure teilgenommen. Er durfte jetzt auch ~Baeyers~
einzige Tochter ~Eugenie~, mit der er schon längst einig war,
heiraten. Das junge Paar kam nach Würzburg und dem Ehemann passierte
dabei das Unglück, daß er auf der Hochzeitsreise die militärische
Kontrollversammlung vergaß und dafür mit einer kleinen militärischen
Freiheitsstrafe belegt wurde. Zu meiner großen Freude entschloß
er sich, mit mir nach Berlin überzusiedeln, um dort fast 7 Jahre
als Assistent und später als selbständiger Leiter der analytischen
Abteilung zu wirken. Als sich aber eine Gelegenheit bot, eine
Professur an dem Münchener Laboratorium zu erhalten, zog die alte
Sehnsucht nach der bayerischen Heimat sowohl ihn wie die Gemahlin
unwiderstehlich dorthin, obschon er ein Vierteljahr später an dem neuen
Berliner Institut die gleiche Stellung, vielleicht unter noch besseren
Bedingungen, hätte haben können.

Die schönen wissenschaftlichen Leistungen ~Pilotys~, die von einem
anderen Fachgenossen in einem ausführlichen Nekrolog geschildert werden
sollen, haben mein ursprüngliches Urteil über seine experimentelle
Begabung durchaus bestätigt, und ich habe mich darüber um so mehr
gefreut, als sein Schwiegervater diese Meinung anfangs nicht teilen
wollte.

Zu Anfang des unseligen Krieges hatte ~Piloty~ das wehrpflichtige
Alter schon überschritten. Trotzdem meldete er sich aus
patriotischer Begeisterung als Freiwilliger, und ich konnte noch
durch eine Empfehlung an die bayerische Militärbehörde seine
Beförderung zum Leutnant d. R. erleichtern. An der Spitze einer
Maschinengewehrabteilung ist er in der Sommeschlacht gefallen, tief
bedauert nicht allein von der Familie, sondern auch von Freunden und
Fachgenossen, die von ihm noch manche schöne wissenschaftliche Leistung
erwarteten.

Im letzten Jahr der Würzburger Periode kam auch ein junger Däne Dr.
~Fogh~ dorthin, um eine thermochemische Arbeit, hauptsächlich über
die Verbindungen der Zuckergruppe, auszuführen. Er hatte sich zuvor
bei ~M. Berthelot~ in Paris mit den thermochemischen Methoden bekannt
gemacht und auch eine Reihe von Instrumenten von dort mitgebracht. Nur
die Verbrennungsbombe fehlte ihm, aber in den Ferien konnte er nach
Paris reisen und dort die kalorischen Verbrennungsversuche ausführen.
Die Arbeit ist in den »Comptes rendus« erschienen. Dr. ~Fogh~ ist
ebenfalls mit mir nach Berlin gegangen und dort eine Zeitlang Assistent
in der anorganischen Abteilung gewesen. Aber aus Gesundheitsrücksichten
mußte er bald Urlaub nehmen und ist schließlich nach Kopenhagen
zurückgekehrt, von wo er mir nur noch eine Verlobungsanzeige geschickt
hat. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.

In der großen Experimentalvorlesung über Chemie bildeten die Mediziner
den größten Teil der Zuhörerschaft, dann kamen die Apotheker und erst
in dritter Linie die Chemiker. Ich habe mich bemüht, dem gerecht zu
werden und die eigentliche Vorlesung so einfach und populär zu halten,
wie es ohne Gefährdung des wissenschaftlichen Charakters möglich ist.
Aber hinterher gab ich häufig eine Ergänzung für die Fachchemiker,
wobei nicht allein schwierigere theoretische Fragen, sondern auch
manche speziellen experimentellen Methoden zur Sprache kamen. Soweit
ich in Erfahrung bringen konnte, war diese Form des Vortrages den
Studierenden recht willkommen. Leider ist sie für den Dozenten sehr
anstrengend.

Der kollegiale Verkehr unterschied sich in Würzburg nicht unwesentlich
von den Erlanger Sitten durch die freie, meist ganz ungeschminkte
Äußerung der Meinungen und durch die Schlichtheit der Formen. Von dem
Schaugepräge akademischer Würde, wie sie in Erlangen sowohl vom Senat
als auch von der Fakultät geübt wurde, war in Würzburg wenig zu spüren,
was mich als Rheinländer besonders sympathisch berührte.

Die philosophische Fakultät bestand wie in München aus zwei Sektionen.
Unsere mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung zählte nur 6
Ordinarien, aber darunter waren mehrere durch hohes wissenschaftliches
Ansehen ausgezeichnete Personen. Das galt besonders für den
Physiker ~Friedrich Kohlrausch~ und den Botaniker ~Julius Sachs~.
Zu ~Kohlrausch~ bin ich bald in ein freundschaftliches Verhältnis
getreten; denn er war ein ebenso verständiger wie wohlwollender
Kollege und jederzeit bereit, vernünftige Wünsche zu unterstützen.
Seine ausgezeichneten Untersuchungen über das elektrische Leitvermögen
von Lösungen und seine physikalischen Konstantenbestimmungen, sowie
das von ihm verfaßte vortreffliche Lehrbuch der »Praktischen Physik«
brauche ich hier nicht näher zu besprechen, da sie den Naturforschern
genügend bekannt sind. Ich habe mit ihm an schönen Sommertagen manchen
Spaziergang unternommen und auch in seiner Familie, besonders von
seiten der liebenswürdigen Gattin, freundliche Aufnahme gefunden.

Ganz anders geartet war ~Sachs~, der berühmte Pflanzenphysiologe,
der in Würzburg eine große Schule von Botanikern geschaffen und auch
als wissenschaftlicher Schriftsteller durch ein großes Lehrbuch und
die ausführliche Geschichte der Botanik Hervorragendes geleistet
hat. Charakteristisch für seine kühne Kritik ist das vernichtende
Urteil über das von ~Linné~ aufgestellte rein schematische System der
Pflanzen. Er pflegte zu sagen, dieses System sei wie ein Pesthauch über
die Botanik gegangen und habe die schon vorhandenen gesunden Keime
eines natürlichen Systems auf lange Zeit zerstört. Zu meiner Zeit
war ~Sachs~ schon ein kranker Mann mit überreiztem Nervensystem, der
seine Launen in heftiger Weise auslassen konnte. Trotzdem ist es mir
gelungen, mit ihm einen freundschaftlichen Verkehr zu pflegen, und ich
habe bei öfteren Besuchen in seinem Institut manches gelernt, was mir
für eigene Arbeiten auf physiologisch-chemischem Gebiet Nutzen brachte.

Fremder blieb mir der Mineraloge ~Fridolin Sandberger~, ein ebenfalls
verdienter Gelehrter und ein wohlwollender Mensch, aber ein Sonderling,
der noch ungern das Deutsche Reich anerkannte und auch von der modernen
Chemie nichts wissen wollte. Er brachte das drastisch zum Ausdruck
mit der Redensart: »Chemie ist, was knallt und stinkt.« Mindestens
ebenso originell war der Zoologe ~Karl Semper~, der eine so große
Rolle bei meiner Berufung gespielt hat. Seine wissenschaftliche
Blütezeit lag auch schon eine Weile zurück. Als junger Mann hatte
er zu wissenschaftlichen Zwecken weite Reisen gemacht und über die
Philippinen und die Palaoinseln, wo er sich jahrelang aufhielt und auch
seine spätere Gemahlin kennen lernte, wertvolle Bücher geschrieben. Zu
meiner Zeit beschäftigte ihn am meisten der Plan eines Neubaues für
das zoologische Institut. Da die Bewilligung der Gelder in München
auf Schwierigkeiten stieß, so versuchte er die sonderbarsten Mittel,
um die Notwendigkeit des Baues allen Leuten klar zu machen. So hatte
er im alten Institut, das im vierten Stock des Universitätsgebäudes
untergebracht war, große Aquarien angelegt, die eines Tages schadhaft
wurden und alle darunter gelegenen Räume unter Wasser setzten. Es
blieb also nichts anderes übrig, als einen Neubau am Pleicher Ring zu
errichten, und die Einweihungsfeier wurde von ~Semper~ so eindrucksvoll
inszeniert, daß sie sicherlich jedem Teilnehmer in der Erinnerung
geblieben ist; denn zum Schluß führte er die ganze Gesellschaft, unter
der sich die Spitzen der Universitäts- und Verwaltungsbehörden sowie
eine Reihe von Damen befanden, in das Warmhaus, wo Pflanzen und Tiere
in bunter Abwechselung versammelt waren, und das mit einer ausgiebigen
Berieselungsanlage versehen war. Als die Gesellschaft sich bei Bier
und Würstchen in einer behaglichen Feststimmung befand, trat plötzlich
bei geschlossenen Türen die Berieselung in Tätigkeit, bis die ganze
Versammlung von einem tropischen Regen total durchnäßt war.

Einige Zeit später kam der Kultusminister Dr. ~Müller~, der eben sein
Amt angetreten hatte, zur Besichtigung der Universität nach Würzburg.
Sein Besuch war auch den einzelnen naturwissenschaftlichen Instituten
angekündigt, verzögerte sich aber aus irgendwelchem Grunde weit über
die angesetzte Zeit. ~Semper~, dem das Warten zu lang wurde, hatte sich
ein Frühstück von Wurst und Bier kommen lassen und war eben mit dessen
Vertilgung beschäftigt, als der Minister eintrat. Dieser begrüßte den
schmausenden Professor mit den jovialen Worten: »Ihnen scheint es
heute gut zu schmecken«, worauf die prompte Antwort erfolgte: »Wenn
Sie so lange wie ich vergeblich auf den Minister gewartet hätten,
würden Sie auch Hunger bekommen haben.« Diese freimütige, keineswegs
durch Ehrerbietung ausgezeichnete Antwort gab dem Minister Anlass,
sich bald wieder zu empfehlen. Das sind nur ein paar Proben von den
zahlreichen Schnurren, die ~Semper~ geliefert hat. Andererseits war
er ein prächtiger Mann von würdigem Äußern, voll lustiger Einfälle,
aller geselligen Unterhaltung zugetan und frei von jeder gelehrten
Pedanterie. Man spürte bei ihm die Abkunft aus der durch hervorragende
Künstler z. B. den berühmten Architekten ~Gottfried Semper~
ausgezeichneten Familie.

Ein weiteres Original war der Mathematiker ~Prym~, der aus einer
reichen Fabrikantenfamilie zu Düren stammte. Er hatte zwar Mathematik
studiert, war aber dann in ein Bankgeschäft zu Wien eingetreten,
und von dort durch ~Kappler~ als Ordinarius der Mathematik an das
Polytechnikum zu Zürich berufen worden. Obschon mit Glücksgütern
sehr gesegnet, führte er in Würzburg mit seiner Familie ein ziemlich
einfaches Leben. Mit dem Lehramt nahm er es sehr genau. Die Vorlesungen
waren auf das gewissenhafteste vorbereitet, und es kam nicht selten
vor, daß er säumige Studenten durch seinen Wagen aus der Wohnung
abholen und in die Universität fahren ließ. Als Teilhaber an manchen
industriellen Unternehmungen interessierte er sich für Chemie und hat
mich später auch in Berlin mehrmals besucht.

Ein zweiter Ordinarius für Chemie war in Würzburg nicht vorhanden.
Das Institut für angewandte Chemie wurde von dem außerordentlichen
Professor ~L. Medicus~ geleitet, der nicht allein bei ~Wislicenus~,
sondern schon bei dessen Vorgänger ~A. Strecker~ Assistent gewesen
und deshalb der Hauptträger der chemischen Tradition in Würzburg
war. Große wissenschaftliche Interessen haben ihn niemals geplagt,
aber er war bei den Studenten wegen seiner Jovialität recht beliebt
und in unserem chemischen Kreise wegen seines köstlichen Humors und
seiner freundlichen Lebensauffassung ein gern gesehenes Mitglied.
Auch ich bin mit ihm aufs beste ausgekommen. Nach meinem Weggang ist
er zum Ordinarius befördert worden und vor einigen Jahren auch schon
zu den Vätern gegangen. Am Feldzug 1870 hatte er als bayerischer
Offizier teilgenommen und war bei Orléans verwundet in Gefangenschaft
geraten. Seine Schilderungen über die schlechte Behandlung und
gehässige Verhöhnung von seiten der französischen Bevölkerung
stimmte genau mit dem überein, was man heute über die Behandlung
deutscher Kriegsgefangener in Frankreich hört, obschon der damalige
Krieg so rasch zu Ende ging und die Volksleidenschaft keineswegs so
aufpeitschte, wie der jetzige. Die philologisch-historische Klasse
der philosophischen Fakultät zählte außer dem klassischen Philologen
und Archäologen ~Urlich~ wenig hervorragende Männer. Ganz anders war
es in der medizinischen Fakultät, zu deren Mitgliedern ich vielerlei
Beziehungen hatte. Von Erlangen mit uns übergesiedelt, war ~Wilhelm
Leube~ der Nachfolger des nach Berlin berufenen Professors ~Gerhardt~
in der inneren Klinik des Julius-Hospitals geworden; er verstand es,
die große Tradition dieser Stelle in jeder Beziehung zu wahren. Neben
ihm stand der Chirurg ~Maass~, ein geschickter Operateur, anregender
Lehrer und trefflicher Gesellschafter. Leider ist er in ziemlich frühem
Alter gestorben. Als Senior stand an der Spitze der Fakultät der
Anatom ~Albert Kölliker~, ein geborener Schweizer. Er genoß in seiner
Wissenschaft durch die Fülle wertvoller Untersuchungen großes Ansehen.
Seinem Einfluß war es zuzuschreiben, daß die Anatomie äußerlich das
schönste Institut hatte und in dem Unterricht der Mediziner eine
überragende Rolle spielte. Nebenher war er ein ungewöhnlich schöner
Mann, mit feinem Gesicht, weißem Lockenhaar, klugen dunklen Augen und
einer zarten, fast frauenhaften Hautfarbe. Auf die Chemie muß er früher
einen kleinen Pik gehabt haben; denn es wurde von ihm der Ausspruch
kolportiert, den dümmsten seiner Söhne lasse er Chemiker werden, wozu
die boshaften Würzburger den Zusatz machten, er habe tatsächlich auch
den richtigen ausgesucht.

Mir ist er immer nur mit Freundlichkeit begegnet. Sein Prosektor war
der außerordentliche Professor ~Stöhr~, ein geborener Würzburger, ein
sehr behaglicher und liebenswürdiger Mann, der auch Nachfolger von
~Kölliker~ geworden ist. Durch Originalität zeichnete sich aus der
Polikliniker ~Geigel~, ein Meister in der Abfassung von feinen und
leicht ironischen Gutachten, deren sich die Fakultät stets bediente,
wenn sie unbequeme Zumutungen des Ministeriums in München bekämpfen
wollte. Er war das Haupt einer Musikbande, die aus Würzburger
Professoren oder Bürgern z. B. den beiden Brüdern ~Stöhr~ und dem
Pharmakologen ~Kunkel~ bestand. Während der Herbstferien hauste diese
Gesellschaft zu Ammerland am Starnberger See und gab täglich kleine
Konzerte, wobei das Hornblasen die Hauptrolle spielte.

Als Geburtshelfer fungierte damals noch der einst so berühmte
~Scanzoni~, er starb aber bald und wurde durch ~Hofmeier~ ersetzt.
Ganz besonders muß ich aber erwähnen den Augenarzt ~Julius Michel~,
einen lustigen Pfälzer, der vor meiner Zeit auch in Erlangen gewesen
war und mit dem ich mich recht befreundet habe. Obschon er es mit
seiner ärztlichen Kunst und auch der Wissenschaft sehr ernst nahm, und
sowohl als Arzt wie als Gelehrter einen guten Ruf genoß, so war ihm
das Reißen von losen Witzen ein richtiges Lebensbedürfnis geworden. In
der Gesellschaft bildete er deshalb ein belebendes Element, und wir
haben in dem gastfreien Hause ~Leube~ nicht selten stundenlang seinen
Späßen mit Vergnügen zugehört. Auch in ernsten Augenblicken konnte er
Witze nicht unterdrücken, und seine Vorlesung war in dieser Beziehung
etwas Besonderes. Ich will nur ein Beispiel anführen: Eines Tages hatte
er einen Kandidaten der Medizin namens ~Jerusalem~ zu prüfen. Das
Resultat war ungenügend, und nun verkündete er der Schar der Freunde
des Kandidaten das Resultat mit den Worten: »Israel weine, Jerusalem
ist gefallen.« Boshafte Leute haben allerdings hinterher behauptet, er
hätte den Kandidaten nur durchfallen lassen, um diesen Witz machen zu
können. Er war unverheiratet, führte aber einen trefflich geleiteten
Haushalt und gab kleine Feste, bei denen ausgelassene Fröhlichkeit
herrschte.

Ich hatte einmal mit einem Assistenten zusammen das kleine Unglück,
daß uns ein stark gefärbtes chemisches Präparat beim Platzen
eines Preßsackes ins Gesicht flog und die Augen nicht allein ganz
verschmierte, sondern auch reizte. Wir hatten nichts Eiligeres zu
tun, als die Universitätsklinik aufzusuchen. Freund ~Michel~ hat uns
sofort sorgfältig gesäubert. Als aber die Harmlosigkeit der Sache
festgestellt war, machte es ihm ein besonderes Vergnügen, in dem
Buch der Poliklinik ein ausführliches Protokoll über diesen seltenen
Fall niederzuschreiben, wobei er durch eine ganze Reihe von langen
chemischen Namen seine wissenschaftliche Bedeutung zu illustrieren
wußte. Ich habe später in Berlin, wohin er etwa 10 Jahre nach mir
berufen wurde, seine Hilfe nochmals in Anspruch nehmen müssen,
ebenfalls mit bestem Erfolg. Ich wurde damals von leichtem, aber
anhaltendem Kopfschmerz geplagt, der sich bis zur Übelkeit steigern
konnte, und die Ärzte, die ich frug, stellten ganz besorgte Diagnosen
auf Zirkulationsstörungen und dergl. Da ich aber die Beobachtung
machte, daß der Zustand am schlimmsten war, wenn ich tags zuvor
stundenlang gelesen hatte, so kam ich schließlich auf die Vermutung,
daß das von mir benutzte Augenglas, das ich mir einstmals selbst beim
Optiker ausgesucht und dann länger als 20 Jahre unverändert getragen
hatte, Schuld daran haben könne. Ich ging deshalb zum Freund ~Michel~,
und nachdem er die Augen sowie das Glas untersucht hatte, faßte er sein
Urteil in folgende Worte zusammen: »Die Kopfschmerzen hätten Sie längst
verdient, man sagt doch, Sie seien sonst nicht so dumm.« Er verschrieb
mir dann die richtige Brille, und die Kopfschmerzen, die mich viele
Wochen geplagt hatten, waren wie weggeblasen. Niemals ist bei mir eine
Kur von so glänzendem und raschem Erfolge begleitet gewesen.

Von den Juristen sind mir außer dem schon erwähnten Verwaltungsdirektor
~Risch~ der Pandektist ~Burkhardt~ und der Nationalökonom ~Schanz~
im Gedächtnis geblieben. Auch an einige Theologen erinnere ich mich
gerne. Es waren katholische Herren, aber keineswegs vom Kaliber der
sogen. Hetzkapläne, sondern zum Teil sehr gebildete, feinfühlige und
joviale Herren. Mit dem Senior der Fakultät, den sie den Bischofsmacher
nannten, bin ich öfters auf dem alten Glacis der Stadt, das so hübsche
Spaziergänge bot, zusammengetroffen, und wir haben uns stundenlang in
freiester Weise über Kirche, Staat und Gesellschaft unterhalten. Er
war im Collegium Germanicum in Rom erzogen, hatte ein lesenswertes
Buch über Kirche und Staat geschrieben, und ich habe von ihm vieles
über die Institutionen der katholischen Kirche, besonders über die
praktische Seelsorge gehört, was mich in höchstem Grade interessieren
mußte. Ob dieser Verkehr mir in den katholischen Kreisen trotz meiner
protestantischen Abstammung Vertrauen verschaffte, kann ich nicht
sagen, aber ich erlebte doch eines Tages die Überraschung, daß etwa 25
katholische Theologen als eingeschriebene Hörer meine Vorlesung über
anorganische Chemie besuchten. Auf meine Frage, wie die Herren dazu
kämen, wurde mir die Antwort, der Bischof von Speyer habe es befohlen.
Wahrscheinlich hatte dieser kirchliche Würdenträger den Wunsch, daß der
in seiner Diözese tätige Klerus gewisse chemische Kenntnisse besitze,
um besser mit den Arbeitern der zahlreichen chemischen Fabriken in der
dortigen Gegend sich verständigen zu können. Auch der Religionslehrer
des katholischen Gymnasiums war mein Zuhörer, und er erklärte
mir eines Tages, er könne die Lehren der modernen Chemie in dem
Religionsunterricht vortrefflich verwerten. Ich habe daraus den Schluß
gezogen, daß Naturwissenschaft und Religion keine grundsätzlichen
Gegner zu sein brauchen.

In Würzburg bestehen zwei wissenschaftliche Gesellschaften, an deren
Arbeiten ich mich gerne beteiligt habe. Die ältere und allgemeinere
führte den Namen physikalisch-medizinische Gesellschaft; ihre
Mitglieder waren meistens Professoren und Dozenten. Die jüngere
chemische Gesellschaft war erst von ~J. Wislicenus~ gegründet worden.
Zu ihr gehörten selbstverständlich die Professoren und Assistenten
der beiden chemischen Institute, aber die Mehrzahl der Mitglieder
waren doch ältere Studenten. Auch hier wurden Originalvorträge, jedoch
häufiger große Referate über fremde Arbeiten gegeben und daneben
spielte die Geselligkeit eine Hauptrolle. Den Höhepunkt erreichte diese
bei den alljährlichen Stiftungsfesten, zu denen viel frühere Mitglieder
von auswärts und auch zahlreiche Professoren der philosophischen und
medizinischen Fakultät erschienen. Gewöhnlich gab es dabei außer
witzigen Tischreden und Vorträgen auch ein Festspiel. Mir sind zwei
in Erinnerung geblieben. In dem einen wurde das Doktorexamen eines
Chemikers auf die Bühne gebracht mit sehr komischen und drastischen
Ausfällen gegen die bekannte Prüfungsweise einzelner Professoren, so
daß der Dekan der Fakultät, ein Philologe, unwillig den Saal verließ,
während das übrige Publikum sich köstlich unterhielt. Die zweite
Aufführung war eine Operette »Der Chemikado« mit den Melodien des
Mikado und einem sehr witzigen Text von Dr. ~Reitzenstein~. Die Kostüme
und die Haartrachten hatte das Stadttheater geliehen. Der Mikado war
mein früher erwähnter, lieber Neffe ~Alfred Mauritz~, der damals in
Würzburg Chemie studierte, und von dem ich in späteren Jahren noch viel
Freundschaft erfahren habe. Er trug meinen Laboratoriumsanzug und Hut,
sprach den niederrheinischen Dialekt und trat als einziger Europäer
in der japanischen Gesellschaft um so mehr hervor. Ich besitze eine
Photographie der Schauspieler, deren Anblick mich noch jetzt zum Lachen
bringt.

Die chemische Gesellschaft hat auch nach meiner Zeit ihre Tradition
zu wahren gewußt und von Dr. ~Reitzenstein~ ist noch manches hübsche
Festspiel verfaßt worden. Wegen Zeitmangel habe ich leider an den
Stiftungsfesten von Berlin aus nicht teilnehmen können, aber beim
25-jährigen Jubiläum hielt ich mich für verpflichtet, meine Absage in
gereimte Form zu kleiden, und da es eins der wenigen Gedichte ist, die
ich verfaßt habe, so will ich das Telegramm hier anführen.

~Chemische Gesellschaft Würzburg.~

  »Zum fröhlichen Feste
  Glückwünsch ich das Beste.
  Blüh' immer so weiter
  Und bleib auch stets heiter,
  Grüß' alle Bekannte
  Und chemisch Verwandte
  Vom alten Giftmischer
  Aemilius Fischer.«

Als Antwort der Gesellschaft traf prompt ein liebenswürdiger Vers von
Dr. ~Reitzenstein~ ein.

Daß in Würzburg Fröhlichkeit und Humor blühten, war kein Wunder.
Die freundliche Stadt mit dem prächtigen Schlosse, dem lieblichen
Flusse, den schönen Glacis-Anlagen und den rebenbekränzten Bergen,
die behagliche unterfränkische Bevölkerung und die alte Tradition des
Krummstabes waren wohl geeignet, die an und für sich schon heitere
Stimmung der akademischen Gesellschaft zu verstärken. Der Verkehr
der Professoren untereinander und auch mit den Studenten war leicht
und gemütlich und nahm nur zeitweise, z. B. bei den Prüfungen eine
ernstere Form an. Trotzdem herrschte unter der Studentenschaft ein
guter Geist; denn es wurde im allgemeinen in Würzburg ziemlich viel
gearbeitet und in dem chemischen Laboratorium konnte man sich über
Mangel an Fleiß nicht beklagen. Der größere Teil der Studentenschaft
bestand aus Norddeutschen. Dasselbe galt von den Professoren, und von
dem Partikularismus, der der bayerischen Regierung öfters bei Berufung
der Professoren vorgeworfen wurde, war in Würzburg nichts zu merken.
Hatte man doch an die Universität der alten Bischofsstadt, die nur eine
katholisch-theologische Fakultät besaß, als Lehrer des Kirchenrechts
einen Protestanten berufen! Eine Einmischung in Berufsgeschäfte ist
allerdings von der ultramontanen Kammermehrheit öfters versucht,
aber vom damaligen Kultusminister Dr. ~Lutz~ meist erfolgreich
zurückgewiesen worden. Auch der Familienverkehr wurde in Würzburg in
anmutiger Form zwischen den verschiedenen Fakultäten gepflegt und im
ersten Winter war die Erlanger Kompagnie, d.h. die Ehepaare ~Leube~ und
~Knorr~ sowie meine Wenigkeit, bei den üblichen Abendessen das Objekt
einer feierlichen Begrüßung. Die Antwort darauf haben wir abwechselnd
gegeben, und diese erste Tischrede ist nicht selten für die akademische
Gesellschaft der kritische Maßstab, den sie an neue Mitglieder anlegt.
Ich mußte bei Kohlrauschs reden und hatte mir einen launigen Toast
überlegt. In ihm spielte zum Schluß die Elektrizität eine Rolle,
indem ich die einzelnen Damen den damals frisch erfundenen Glühlampen
verglich und für die Hausfrau die Bogenlampe reservierte. Nun glaubte
alle Welt, daß ich mich in diesem Bilde wie in einem Spinnetz
verwickeln und höchstens durch einen brutalen Riß wieder befreien
könnte. Aber glücklicherweise fiel mir ein, daß von der Bogenlampe zur
Sonne rhetorisch nur ein kurzer Sprung nötig sei, und damit hatte ich
das poetische Bild gewonnen, um die Hausfrau würdig zu preisen und die
Zustimmung der Tischgesellschaft zu einem Hoch zu gewinnen.

Dauernden Familienverkehr habe ich aber nur bei ~Knorrs~ und ganz
besonders bei dem lieben Ehepaar ~Leube~ gehabt. Die Woche mindestens
einmal sind wir dort zusammengekommen. Gewöhnlich waren ~Michel~ und
noch einige andere Freunde mit dabei, und wir haben bei einfachem
Abendmahl überaus lustige Stunden verlebt. ~Leube~ war ein prächtiger
Gesellschafter, klug, wissenschaftlich gut unterrichtet und mit den
reichen Erfahrungen des erfolgreichen Arztes versehen. Er kannte eine
große Anzahl von Menschen, die seinen ärztlichen Rat in Anspruch
nahmen, hielt schöne Reden und machte allerliebste Gelegenheitsgedichte.

Seine liebe Frau ~Natalie~ fühlte sich mir chemisch verwandt; denn sie
war, wie ich schon früher erwähnte, die Tochter von ~Adolf Strecker~,
der als Professor der Chemie in Würzburg starb. Sie selbst hatte
sich in dem chemischen Institut als 18-jähriges Fräulein mit ihrem
~Wilhelm~ verlobt. Dazu kam, daß ich zufälligerweise bei mehreren
chemischen Arbeiten, z. B. bei den Hydrazinen und dem Coffein der
wissenschaftliche Erbe von ~Strecker~ geworden war. Kurz nach meiner
Verheiratung hat das Ehepaar ~Leube~ mir die Duzfreundschaft angeboten,
und wir stehen noch jetzt, wo ~Leubes~ in Stuttgart ein behagliches
Alter verleben, in freundschaftlichem Briefwechsel. Die älteste
Tochter ~Lilly~ hat den Gynäkologen ~Bumm~, der jetzt ebenfalls an der
Berliner Universität tätig ist, geheiratet. Die drei anderen Töchter
sind die Frauen von Offizieren geworden. ~Leube~ hat mir auch in
Krankheitsfällen wertvolle Dienste geleistet und meinen ältesten Sohn
~Hermann~ in frühester Jugend bei einem schweren Darmkatarrh geradezu
vor dem Tode bewahrt.

Frau ~Leube~ hatte schon in Erlangen die gute Absicht, mir eine Frau zu
verschaffen und glaubte das geeignete Mädchen dafür in Fräulein ~Agnes
Gerlach~ in Erlangen gefunden zu haben. Aber meine Gleichgültigkeit in
Sachen der Liebe und die Überhäufung mit wissenschaftlichen Problemen
waren ihren Plänen nicht günstig gewesen, und schließlich trat noch
als zweites Hindernis meine Erkrankung und die Befürchtung eines
Rückfalles dazwischen. Aber Frauen geben so leicht ihre Lieblingsideen
nicht auf, und so wußte sie das durch Liebreiz ausgezeichnete Fräulein
wiederholt zu Besuchen in Würzburg zu veranlassen. Sie wurde dabei auf
das kräftigste unterstützt von Frau Dr. ~Knorr~, die sich ebenfalls
mit Fräulein ~Gerlach~ angefreundet hatte. Bei einem dieser Besuche
ist es dann auch wirklich zur Verlobung zwischen dem Fräulein und
mir gekommen. Es war am 1. Dezember 1887, wo ich selbst 35 Jahre und
meine Braut 26 Jahre alt war. Die Hochzeit fand statt in Erlangen
am Sonnabend den 22. Februar 1888, kurz vor Karneval, so daß ich 4
Tage Ferien hatte, um mich in den neuen Zustand hineinzugewöhnen. Wir
mußten noch einige Wochen in Würzburg bleiben und haben dann Mitte März
bei Beginn der Osterferien eine vierwöchentliche Reise nach Italien
gemacht. Über diese Dinge will ich aber nicht Näheres berichten, weil
die Schließung des Ehebundes eine zu intime Sache ist. Ich kann nur
sagen, daß meine liebe Frau ein durch körperliche Schönheit, Reinheit
der Seele und Sanftmut ausgezeichnetes Wesen war. Ihre Eltern hatten
sie auf den Händen getragen und dadurch vielleicht zu sehr verwöhnt;
denn die Pflichten der Ehe und die Führung eines großen Haushaltes
haben ihr namentlich in Berlin den ruhigen Lebensgenuß stark verkürzt
und eine gewisse Gleichgültigkeit gegen ihre eigene Wohlfahrt erzeugt,
die bei ihrer letzten Krankheit einen unglückseligen Einfluß ausübte
und vielleicht mit an ihrem Tode schuld gewesen ist. Sie starb
am 12. November 1895 in Berlin an einer Meningitis infolge einer
Mittelohrentzündung, wahrscheinlich weil die rettende Operation wegen
des Widerstandes der Patientin zu spät ausgeführt wurde. In Würzburg
hat sie mir zwei Söhne geschenkt.

Der älteste ~Hermann Otto Lorenz~ wurde geboren am 16. Dezember 1888
und war von Anfang an ein kräftiges gesundes Kind. Dem entsprach auch
seine spätere Entwicklung. Er hat nur eine gefährliche Krankheit mit
zwei Jahren durchgemacht, einen Magen- und Darmkatarrh, da der Hausarzt
törichterweise von vornherein ein Stopfmittel gab und dadurch einen
hartnäckigen, gefährlichen Darmverschluß herbeiführte. Das Kind wäre
sicher gestorben und zwar an Verdurstung, wenn wir ihm nicht auf Rat
von ~Leube~ zuguterletzt per anum eine große Menge Wasser hätten
zuführen können.

Die Geburt des zweiten Knaben, die am 5. Juli 1891 stattfand, war
verfrüht und das Kind infolgedessen schwach. Es hat sich zwar später
ziemlich rasch erholt. Aber als wir nach Berlin übersiedelten, hatte
der jetzt ganz kräftige Knabe unter der schlechten Milch der Großstadt
zu leiden. Er bekam infolgedessen im Juni 93 einen anhaltenden
Darmkatarrh und im Herbst desselben Jahres das Scharlachfieber,
gefolgt von einem sehr häßlichen Bronchialkatarrh. Diese Umstände
haben vielleicht ungünstig auf das Nervensystem des Kindes gewirkt.
Trotzdem entwickelte er sich zu einem großen, starken und geistig
regsamen Jüngling, der mit Leichtigkeit die Schule absolvierte und
mit 18 Jahren die Universität bezog. Ohne sich eine Erholungspause
nach dem Gymnasium zu gönnen, stürzte er sich mit Feuereifer auf das
Studium der Medizin. Alles sprach bei ihm für eine hoffnungsvolle
Zukunft, als der Sommer 1910 eine jähe Schädigung der Gesundheit
brachte. Er hatte hartnäckig auf der Absicht bestanden, in dem Sommer
als Mediziner das vorgeschriebene halbe Jahr mit der Waffe zu dienen
und geriet zu seinem Unglück in ein Infanterieregiment zu Jena. Durch
den forcierten Militärdienst des Sommers ist der noch nicht genug
entwickelte, ungewöhnlich große junge Mann überanstrengt worden. Er
bekam Herzbeschwerden und wurde vom Militär entlassen. Die Krankheit
war an und für sich wohl nicht schlimm, aber sie übte auf das Gemüt
des jungen Mannes einen verderblichen Einfluß aus, denn er sah, wie
es bei jungen Medizinern nicht selten ist, die Krankheit in einem
besonders düstern Bilde. Er setzte zwar seine Studien fort und
bestand im Frühjahr 1912 in Heidelberg mit Auszeichnung die ärztliche
Vorprüfung, studierte dann zwei Semester in Würzburg und kam wegen
militärischer Dinge im Sommer 1913 wieder nach Berlin. Aber hier brach
er nervös zusammen. Seine Arbeitskraft war erschöpft. Er glaubte immer
kränker zu werden, ließ sich im Herbst nach Nauheim, später nach Meran
schicken und verfiel in eine tiefe Melancholie. Weder ich noch die
behandelnden Ärzte haben seinen Zustand richtig erkannt, sonst hätte
man vielleicht der fortschreitenden geistigen Erkrankung vorbeugen
können. So aber kam es im November in Meran zum offenkundigen Ausbruch
der Geisteskrankheit. Durch einen mehrmonatlichen Aufenthalt bei
~Binswanger~ in Jena gelang eine zeitweise Heilung. Er blieb noch den
Sommer als Studierender in Jena. Obschon aus dem Militärverhältnis
entlassen, hatte er sich auf eine Anfrage der Militärmedizinalbehörde
verpflichtet, im Kriegsfalle ärztlichen Hilfsdienst zu leisten.
Dementsprechend wurde er im September 1914 als Unterarzt an ein
Lazarett zu Erfurt kommandiert. Diese Tätigkeit hat ihm anfangs
zugesagt und gutgetan, aber nach 5 Monaten kam er in Streit mit
dem Vorgesetzten und im Anschluß daran erfolgte ein neuer Ausbruch
seiner Krankheit. Er ist dann wiederholt bei ~Binswanger~ gewesen,
ohne aber seine Arbeitskraft wiederzugewinnen. Manchmal schien es,
als sei die Krankheit ganz gehoben, so ruhig und vernünftig wußte
er sich zu geben. Als ich im August 1916 mit ihm einen mehrwöchigen
Aufenthalt in St. Blasien genommen hatte, war ich voller Hoffnung, daß
die Heilung anhalte. Aber plötzlich kam ein Rückfall, schlimmer als
die vorhergehenden. Wir kehrten nach Wannsee zurück, und er ging dann
bald wieder zu seinem Freund Binswanger. Hier verschlimmerte sich der
Zustand, er mußte in eine geschlossene Anstalt aufgenommen werden und
das Bewußtsein, nun aller Wahrscheinlichkeit nach ein verlorener Mensch
zu sein, hat ihn im Zustand tiefer Depression zu dem Entschluß geführt,
freiwillig in den Tod zu gehen. Er ist am 4. November 1916 im Alter von
25 Jahren gestorben und ruht auf dem kleinen Friedhof zu Wannsee. Ein
lieber, guter Sohn, ein talentvoller und strebsamer junger Mann ist mit
ihm dahingegangen.

Mein dritter Sohn ~Alfred Leonhard Joseph~ wurde geboren am 3. Oktober
1894 zu Ambach am Starnberger See. Ich war damals bereits in Berlin und
meine Frau wollte nur für einige Wochen ihre Eltern in Ambach besuchen.
Da sie in hoffnungsvollem Zustand war und schon früher einmal Unglück
gehabt hatte, so hielt ich die Reise für zu gewagt. Aber mit Rücksicht
auf das hohe Alter ihres Vaters ließ sie sich nicht abhalten. Die
Folge war, daß sie sich in Ambach gleich zu Bett legen und 5 Monate
bis zur Geburt des Knaben liegen mußte. Auch dieser kam sehr zart auf
die Welt. Er wurde später ebenfalls ein kräftiger Mann, hatte aber
eine sehr empfindliche Haut und litt von Zeit zu Zeit an nervösen
Kopfschmerzen. In frühester Jugend hatte er im Sommer in Wannsee
zweimal hintereinander einen malariaartigen Zustand durchgemacht, bis
wir unseren Wohnsitz dort auf die Höhe verlegten. Auch er war begabt,
fleißig und ein guter Schüler, verließ mit 18 Jahren das Gymnasium und
wollte wie der älteste Bruder Chemiker werden. Ich riet ihm aber davon
ab wegen der großen Empfindlichkeit seiner Haut und seiner Kopfnerven.
Er studierte deshalb zunächst Physik, verließ diese aber schon nach
zwei Semestern und wurde Mediziner. Während er in Heidelberg studierte,
brach der Krieg aus. Er meldete sich zunächst freiwillig, wurde aber
zurückgestellt. Im Januar 15 trat er bei einem Artillerieregiment in
Berlin ein. Nach erfolgter Ausbildung ging er im September desselben
Jahres ins Feld und fand bei der Munitionskolonne, bei der sein Bruder
~Hermann~ Leutnant war, als Sanitätsgefreiter Verwendung. Hier wurde er
bald zum Unteroffizier befördert. Im Juli 1916 hat er während seines
letzten Urlaubs in Heidelberg die ärztliche Vorprüfung mit Auszeichnung
bestanden. Im August desselben Jahres wurde er mit der Munitionskolonne
nach Rumänien geschickt, und die beiden Brüder haben damals den
Vormarsch in der Dobrudscha mitgemacht. Hier wurde er zum Feldunterarzt
befördert. Während der ältere Bruder nach einer 6-wöchentlichen
Ausbildung in Berlin Gasschutzoffizier wurde und dann als solcher
den Vormarsch der deutschen Armee in Rumänien im Hauptquartier von
Falkenhayn mitmachte, kam ~Alfred~ in verschiedene Spitäler und zuletzt
zu seinem Unglück in ein Seuchenlazarett zu Bukarest, wo die sanitären
Verhältnisse nach seiner eigenen Schilderung recht schlecht waren.
Hier hat er sich an fleckfieberkranken Türken infiziert und ist nach
14-tägiger Krankheit am 29. März 1917 gestorben. Er wurde auf dem
Ehrenfriedhof zu Bukarest beerdigt, und sein Bruder ~Hermann~, der
damals in Focsani stand, konnte ihm mit kurzem Urlaub die letzte Ehre
erweisen. Er war ebenfalls ein sehr lieber, verständiger und begabter
Mensch von vornehmer Gesinnung und sehr geschickt im Verkehr mit dem
Volke. Wahrscheinlich wäre er ein ausgezeichneter Arzt, vielleicht auch
ein erfolgreicher Forscher geworden.

Im Sommer 1888 war der hochbetagte ~Robert Bunsen~ vom Lehramt
zurückgetreten. Die Professur wurde zunächst ~Victor Meyer~ angeboten,
der aber nach einigem Zögern ablehnte und in Göttingen bleiben
wollte. Darauf erhielt ich den Ruf und der betreffende Referent des
badischen Ministeriums kam zur Unterhandlung mit mir nach Würzburg.
Die Bedingungen waren im allgemeinen recht günstig und obschon ich
gerne in Würzburg war, hatte Heidelberg doch für mich und noch mehr
für meine Frau eine gewisse Anziehungskraft. Wir sind deshalb zusammen
im Frühjahr 89 nach Heidelberg gefahren, um uns über alle Einzelheiten
zu unterrichten. Im Hotel trafen wir bereits Exzellenz ~Bunsen~, der
seine Dienstwohnung aufgegeben und einstweilen Quartier im Gasthaus
genommen hatte. Der verehrungswürdige alte Herr empfing uns mit
großer Höflichkeit und suchte uns die Vorzüge der Heidelberger Stelle
möglichst klar zu machen.

Als ich nach der ersten Unterredung meine Frau frug, welchen Eindruck
sie von dem großen Chemiker empfangen hatte, erwiderte sie lachend:
»Erst möchte ich ihn waschen und dann küssen; denn er ist ein gar
lieber Mann.«

Am nächsten Morgen zeigte uns ~Bunsen~ das von ihm erbaute und so
lange benutzte Laboratorium am Wredeplatze. Er war ganz verliebt in
das alte Haus, das allerdings die Weihe einer großen Tradition und
gewaltigen wissenschaftlichen Arbeit trug. Aber die Hilfsmittel waren
doch im Vergleich zur Neuzeit recht bescheiden. Die Ventilation wurde
noch wie in den alten Alchemistenküchen durch einen großen Rauchfang
besorgt und auf meine Frage, ob das genüge, erklärte der alte Herr:
»Wir haben hier die reine Gartenluft.« Im Gegensatz dazu meinte dann
der Assistent, an den ich mich noch vertraulich wandte, daß der Gestank
meist unausstehlich sei.

Als wir zum Schluß auch die Dienstwohnung besichtigen wollten, führte
uns zwar ~Bunsen~ bis zur Eingangstür, zog dann aber einen riesigen
Schlüsselbund hervor und prüfte jeden einzelnen Schlüssel, ob er zum
Schloß passe. Der Versuch fiel negativ aus und das Resultat wurde bei
mehrmaliger Wiederholung nicht besser, so daß ich schließlich den
alten Herrn bitten mußte, seine Bemühungen einzustellen. Hinterher
habe ich erfahren, daß die Operation mit dem Schlüssel eine Komödie
war. ~Bunsen~ wollte uns einfach die Wohnung nicht zeigen, weil er
fürchtete, sie würde meiner Frau ebenso wie Frau ~Meyer~ mißfallen
und einen Grund zur Ablehnung des Rufes bilden. Darin hatte er sich
allerdings geirrt. Nicht die Wohnung, sondern die Maßregeln, die man
zur Erweiterung des Instituts getroffen hatte, und die nach meiner
Ansicht nur eine Flickerei bedeuteten, waren für mich bestimmend, in
Würzburg zu bleiben, nachdem man mir dort einen Neubau des Instituts
in Aussicht gestellt hatte. Inzwischen war bei ~Meyer~ ein gründlicher
Stimmungswechsel eingetreten, er bedauerte außerordentlich, nicht
nach Heidelberg gegangen zu sein und besuchte mich umgehend in
Würzburg, um mich darüber aufzuklären. Wir wurden rasch einig; denn
mir war es lieb, absagen zu können, ohne daß der alte ~Bunsen~ und
die Heidelberger Fakultät sich über mangelnde Schätzung der dortigen
Professur zu beklagen hätten. Mit dem Ministerium zu Karlsruhe wurde
die Angelegenheit telegraphisch erledigt und ~Meyer~ ist dann, wie
bekannt, nach Heidelberg gegangen. Das alte ~Bunsen~'sche Laboratorium
blieb im Betrieb, wurde aber durch einen Neubau für die organische
Abteilung ergänzt. Ich habe mir später das vergrößerte Laboratorium
angesehen und die Überzeugung gewonnen, daß meine ursprüngliche Ansicht
richtig war. Man hätte mit demselben Gelde einen sehr viel größeren und
zweckmäßigeren Neubau 10 Minuten vor der Stadt errichten können.

Die Universitätsverwaltung zu Würzburg und das Kultusministerium zu
München gaben ihren Dank für mein Bleiben sofort zu erkennen; denn
sie beantragten den Neubau des chemischen Instituts, wofür die Stadt
einen prächtigen Bauplatz am Pleichering für die Überlassung des alten
Gebäudes in der Maxstraße zur Verfügung stellte. Außerdem wurde für
mich eine Gehaltszulage von 1000 Mk. in Aussicht gestellt, ohne daß ich
in diesem Punkt eine Forderung gestellt hatte. Aber beide Positionen
bedurften der Genehmigung durch den bayerischen Landtag. Sie wurden
von der ultramontanen Mehrheit in schroffer Weise abgelehnt und die
Gehaltszulage sogar zum zweiten Male, als die Kammer der Reichsräte
die kleine Summe in den Etat wieder eingestellt hatte. Der Grund
dieser schlechten Behandlung ist mir erst einige Jahre später bekannt
geworden. Zum Trost dafür wurde mir zunächst ein bayerischer Orden
verliehen und bald nachher auch die Gehaltszulage gewährt, nachdem die
Mittel dafür durch einen Sterbefall frei geworden waren. Die Forderung
für den Neubau mit 650000 M. mußte allerdings um 2 Jahre, d. h. bis zur
nächsten Haushaltsperiode verschoben werden. Die Sache nahm dann einen
sehr lustigen und für bayerische Verhältnisse so charakteristischen
Verlauf, daß ich sie hier in den Einzelheiten mitteilen will.

Um die von der Regierung betonte Notwendigkeit eines Neubaues
für das chemische Institut an Ort und Stelle zu prüfen, erschien
eine Kommission des Landtages in Würzburg. Sie bestand aus dem
Ministerialbeamten Dr. ~Bumm~, dem Vertreter der ultramontanen
Mehrheit Dr. ~Daller~ und dem Vertreter der liberalen Minderheit Dr.
~Schauß~. Letzterer hatte die Freundlichkeit, mich vor der offiziellen
Besichtigung im Institut aufzusuchen, da er mich von der Münchener Zeit
her persönlich kannte. Er eröffnete die Unterredung mit der Frage: »Wie
kommen Sie als gut katholischer Mann dazu, Ihre Kinder protestantisch
taufen zu lassen?« Auf meine Erklärung, daß ich stets protestantisch
gewesen sei, erwiderte er: »Herrgott, dann ist Ihnen ja vor zwei
Jahren schweres Unrecht geschehen«, wobei er die schlechte Behandlung
von seiten des bayerischen Landtages im Auge hatte. Als ich aber dann
zufügte, daß meine Frau katholisch sei, erklärte er lachend: »Nun, das
ist noch viel schlimmer, dann haben Sie also die Strafe von damals
redlich verdient.«

Bald nachher hatten wir die Ehre, die Kommission zu empfangen. Damit
das in würdiger Weise geschehe, waren nach Verabredung mit den
Assistenten und Studenten Vorbereitungen getroffen, nicht mit Blumen
oder weißgekleideten Jungfrauen, sondern auf viel wirksamere Weise
mit den stärksten Riechstoffen der Chemie. Brom, Schwefelwasserstoff,
Ammoniak, Mercaptan, Skatol, Isonitril, Kakodyl hatten dazu gedient,
die verschiedenen Räume des Instituts mit einer infernalischen
Atmosphäre zu erfüllen, um den Mitgliedern der Kommission die
ungenügende Größe und schlechte Ventilation überzeugend ad nasum zu
demonstrieren. Ich sehe noch die erstaunten Gesichter der Herren, die
sich tapfer durch die Gerüche durcharbeiteten, und als wir schließlich
im Keller angelangt waren, atmete die ganze Gesellschaft auf und
erklärte, daß hier die Luft bei weitem am besten sei.

Meine Aufgabe war es selbstverständlich, Herrn Dr. ~Daller~ für den
Neubau zu gewinnen, und ich bot dafür alle mir zu Gebote stehende
Beredsamkeit auf. Als kluger Mann hielt er sich für verpflichtet, auch
billigere Möglichkeiten, z. B. einen Umbau des alten Instituts, zu
erwägen.

Als ich diesen Gedanken zurückwies, weil das Haus in der Grundlage
verfehlt sei, stellte er die überraschende, aber gewiß nicht
unberechtigte Frage: »Wer garantiert uns denn dafür, daß solche Eselei
nicht wieder passiert?« Ich war selbstbewußt genug, für meine Person
die Eselei entschieden abzulehnen und hatte den Eindruck, daß sowohl
Dr. ~Daller~, wie die beiden anderen Herren von meinen Darlegungen
befriedigt seien. In der Tat wurde mehrere Wochen später die Summe für
den Neubau von dem Landtag ohne jeden Abstrich bewilligt, und ich war
auf diesen scheinbaren Erfolg meiner Bemühungen ziemlich stolz.

Als ich aber ein halb Jahr später ~Adolf von Baeyer~ in München
besuchte und ihm den Verlauf der Verhandlungen über den Neubau des
Würzburger Instituts erzählte, erfuhr ich mit einem gewissen Gefühl
der Enttäuschung, daß der Gesinnungswechsel bei Dr. ~Daller~ nicht
durch meine Beredsamkeit und sonstige Veranstaltungen herbeigeführt
worden wäre, sondern durch den Eingriff eines meiner alten Schüler
aus der Münchener Periode, Dr. ~Brandl~, durch den ich die früher
erwähnte kleine Arbeit über die Bestimmung des Fluors in Silicaten
hatte ausführen lassen. Dieser Herr war mit Dr. ~Daller~ engbefreundet
und hatte ihm ernste Vorwürfe wegen der schlechten Behandlung gemacht,
die mir von Seiten des bayerischen Landtages zwei Jahre vorher zuteil
geworden war. Das war der Grund, warum Dr. ~Daller~ nunmehr für den
Neubau des Instituts eintrat und die ungekürzte Bewilligung der
Bausumme befürwortete.

Für die Begründung der Forderung an den Landtag hatten der
Universitätsbaumeister ~von Horstig~ und ich einen provisorischen
Bauplan entworfen und erhielten nun von der Regierung in München
plötzlich den überraschenden Auftrag, diesen mit der vom Landtag
bewilligten Summe auszuführen. Ich erklärte darauf kurzweg der
Universitätsverwaltung, daß der Plan durchaus unreif sei und erst durch
ein neues, nach jeder Richtung hin durchdachtes Projekt ersetzt werden
müsse. Aber dazu hatte der Universitätsbaumeister keine rechte Lust,
weil ihm inzwischen auch die Aufgabe zugefallen war, ein neues Haus für
die gesamte Universität zu bauen. Es mußte also für das Institut ein
besonderer Baumeister gesucht werden. Diese Aufgabe fiel wieder mir zu,
und durch fleißige Erkundigungen bei Sachverständigen gelang es mir
auch, einen im bayerischen Staatsdienst stehenden, jungen tüchtigen
Baumeister zu ermitteln. Mit meinem Vorschlag, diesem Herrn unter
günstigen Bedingungen den Institutsbau in Würzburg anzuvertrauen, fand
ich beim Kultusministerium in München größtes Entgegenkommen. Aber
die Bauverwaltung glaubte sich durch mein Vorgehen in ihren Rechten
beeinträchtigt und schlug meine Bitte rundweg ab. Infolgedessen wandte
ich mich im Einverständnis mit der Universitätsverwaltung in Würzburg
an den hervorragenden Architekten Professor ~Hase~ in Hannover, mit
dem ich vorher in einem Briefwechsel über seinen Sohn, der in Würzburg
Chemie studierte, gestanden hatte. Er empfahl uns einen tüchtigen
jungen Baumeister aus dem Kreise seiner Schüler, und es kam mit dem
Herrn ein Vertrag zustande. Als dieser aber zur Genehmigung den
Behörden in München vorgelegt wurde, entstand dort eine große Aufregung
über die Wahl eines preußischen Baumeisters und über das eigenmächtige
Vorgehen von Professor ~Fischer~. Der Vertrag wurde annulliert und
die Münchener Baubehörde sandte, da sie selbst keinen geeigneten
Mann zur Verfügung hatte, einen jungen schwäbischen Baumeister nach
Würzburg, der sich aber hinterher als unfähig erwies. Der ganze Streit
mit der Baubehörde zu München hatte aber das Gute, daß auf ihre
ernsten Vorstellungen hin sich nun der tüchtige Universitätsbaumeister
~von Horstig~ noch bereit erklärte, auch den Neubau des chemischen
Instituts zu übernehmen. Mit ihm zusammen habe ich dann einen neuen
Plan ausgearbeitet, der nach meinem Gefühl gründlich durchdacht war und
sowohl in den Raumverhältnissen, wie in den technischen Einrichtungen
dem Bedürfnis der Universität Würzburg entsprach. Mit kleinen
Abänderungen ist er auch wirklich ausgeführt worden, allerdings erst
nach meinem Weggange von Würzburg, und ich glaube, daß auch heute
noch das Würzburger Institut zu den besteingerichteten Laboratorien
Deutschlands gehört.

Nach alter Gewohnheit habe ich in Würzburg die Ferien regelmäßig zu
kürzeren oder längeren Reisen benutzt. Ostern ging es meistens nach
dem Süden. Die Reise nach Corsica 1886, wo der Skatolgeruch mich
begleitete, ist früher schon erwähnt. Nach 14-tägigem Aufenthalt in
Ajaccio erhielt ich den Besuch von ~W. Königs~ und ~R. von Pechmann~,
die von Nizza kamen und nach einer stürmischen Nacht in ziemlich
erschütterter Verfassung auf der Insel landeten. Einige Tage später
sind wir zusammen auf einem Privatwagen von Ajaccio quer durch die
Insel über Corte nach Bastia gefahren. Es ist eine Strecke von etwa
120 km, und die Fahrt dauerte zwei Tage. Es war für die beiden kleinen
corsischen Pferde eine achtungswerte Leistung; denn die schöne
Straße führte über eine beträchtliche Paßhöhe von mehr als 1000 m.
Eisenbahnverbindungen gab es damals noch nicht auf der Insel.

Wegen der Armut des Landes kamen wir etwas verhungert in Bastia an,
von wo es noch in der gleichen Nacht weiter nach Livorno ging. Hier
sind wir für die kleinen Entbehrungen der sonst genußreichen Landfahrt
entschädigt worden durch ein opulentes Mahl, das ~Pechmann~ zusammen
mit dem Chef de cuisine des Hotels zusammengestellt hatte; denn er war
nicht allein ein guter Chemiker, sondern auch in der Kochkunst wohl
unterrichtet. Ich bin später noch einige Male mit diesem verdienten
Fachgenossen auf Reisen zusammengetroffen. ~Königs~ hat ihm einen
trefflichen Nekrolog gewidmet. Ich kann hier nur bestätigen, daß er
ein sehr angenehmer Reisegesellschafter war, der gerne das Amt des
Reisemarschalls übernahm und dessen Anordnungen man ruhig vertrauen
konnte, wenn man nicht aufs Sparen angewiesen war.

Im nächsten Jahre verbrachte ich die Osterferien zu Bordighera an
der Riviera di Ponente in Gesellschaft von ~Baeyer~ und später bin
ich dort wiederholt mit ~Baeyer~ und einmal auch mit ~Victor Meyer~
zusammengetroffen. Zu unserm Kreise gesellte sich auch der Dichter
~Ludwig Fulda~, der uns bei Tisch mit allerlei Späßen und Schnurren
trefflich unterhielt. Der Tag diente dann regelmäßig für Spaziergänge
und Ausflüge in die prächtige Umgebung, und die Abende verbrachten
wir ebenso regelmäßig in der Bierstube des Hotels mit Glücksspiel,
wobei der höchste Einsatz allerdings auf 2 Soldi normiert war.
~Baeyer~ galt als der Sachverständigste, da er in jungen Jahren einmal
einen mehrwöchentlichen Aufenthalt in Monaco gehabt und dort mit den
Croupiers der Spielbank verkehrt hatte. Er war deshalb der Bankhalter,
und es machte ihm großen Spaß als solcher an manchen Abenden einen
Gewinn von 4 bis 5 Frs. einzustreichen. Ich bin selbst immer ein Feind
des Spiels gewesen, weil es von meinem Vater als eines der schlimmsten
Laster so oft gerügt worden war. Aber an die Spielabende in Bordighera,
bei denen allerdings die Leidenschaft nicht allzu sehr erregt wurde,
denke ich doch mit Vergnügen zurück.

Für manche Leute ist freilich ein solches Spiel mit dem Spiele ein
gefährliches Ding. So hat unser Freund ~Pechmann~ schwer darunter
gelitten; denn der größere Teil seines Vermögens war der Spielbank zu
Monte Carlo zum Opfer gefallen, und auch in späteren Jahren, wenn er
in die Gegend der Bank kam, bedurfte es sorgfältiger Überwachung durch
seine Freunde, wenn die Reisekasse nicht gefährdet sein sollte. Auch
unter meinen späteren Berliner Kollegen habe ich solche Spielfreunde
kennen gelernt, die im übrigen sehr kluge und vernünftige Leute waren.
Denn die Leidenschaften sind von dem Verstande ziemlich unabhängig.

Selbstverständlich fehlte es auch bei dem Zusammenleben an der
Riviera, besonders auf den Spaziergängen, nicht an wissenschaftlichen
Gesprächen, und es gab wohl kaum ein wichtiges Problem der Chemie, das
wir nicht behandelt hätten.

In besonderer Erinnerung ist mir eine stereochemische Frage geblieben.
Im voraufgegangenen Winter 1890/91 hatte ich mich mit der Aufgabe
beschäftigt, die Konfiguration der Zucker aufzuklären, ohne ganz
zum Ziele zu gelangen. Da kam mir in Bordighera der Gedanke, die
Entscheidung über die Konfiguration der Pentosen durch ihre Beziehungen
zu den Trioxyglutarsäuren zu treffen. Leider konnte ich wegen Mangel
eines Modells nicht feststellen, wieviel solcher Säuren nach der
Theorie möglich seien, und ich legte deshalb die Frage ~Baeyer~ vor.
Er griff solche Dinge mit großer Wärme auf und konstruierte gleich aus
Zahnstochern und Brotkügelchen Kohlenstoffatommodelle. Aber nach langem
Probieren gab auch er die Sache auf, angeblich, weil es ihm zu schwer
wurde. Es ist mir erst später in Würzburg durch lange Betrachtung von
guten Modellen gelungen, die endgültige Lösung zu finden.

Später bin ich mit ~Baeyer~ in den Osterferien wiederholt an den Genfer
See, nach Territet bei Montreux gegangen, wo wir einigemale auch mit
~Carl Graebe~, der damals Professor in Genf war, zusammentrafen.
Bei Sonnenschein war der Aufenthalt am Genfer See außerordentlich
erfrischend und die herrliche Umgebung gab reichlich Gelegenheit
zu schönen Spaziergängen und größeren Ausflügen. ~Graebe~ war ein
belebendes Element in unserem Kreise, und wenn an der langen Tafel
des Grand Hotels sein helles, lautes Lachen ertönte, so wurde die
Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft dadurch geweckt. Durch sein
heiteres Wesen, seine gefälligen Umgangsformen, das kluge Urteil in
wissenschaftlichen und auch rein menschlichen Dingen hat er mir so
gut gefallen, daß ich mich gerne um seine Freundschaft bewarb und mit
ihm wiederholt noch in späteren Jahren während der Herbstferien im
Schwarzwald zusammengetroffen bin.

Mit 65 Jahren verließ er Genf, wo er mehr als ein Vierteljahrhundert
als Professor der Chemie gewirkt hatte, und zog sich nach seiner
Vaterstadt Frankfurt a. M. zurück, wo er jetzt noch hochbetagt,
aber in körperlicher und geistiger Frische weilt. Seine großen
wissenschaftlichen Arbeiten gehören der Geschichte an. Aber auch
jetzt noch ist er schriftstellerisch tätig, und im vergangenen Herbst
erfuhr ich zu meiner großen Freude in Baden-Baden von ihm, daß er eine
Geschichte der organischen Chemie geschrieben habe, welche sicherlich
das gleichartige vortreffliche Buch von ~Ed. v. Hjelt~ in glücklicher
Weise ergänzen wird und von der ich hoffe, daß der Druck durch die
Kriegszeit nicht verhindert wird.

Im Anschluß an einen Aufenthalt in Territet haben ~Baeyer~ und ich 1892
an dem internationalen Kongreß der Chemiker zur Reform der Nomenklatur
der Kohlenstoffverbindungen in Genf teilgenommen. Er unterschied
sich in vorteilhafter Weise von den lärmenden und verwirrenden
internationalen Zusammenkünften wissenschaftlicher oder technischer
Art, die in den letzten 20 Jahren stattfanden und die ich, wenn irgend
möglich, vermieden habe. Der in Genf versammelte bestand aus etwa
60 Personen, die alle im gleichen Hotel untergebracht waren und die
wie eine große Familie mehrere Tage zusammen verlebten. Auch mehrere
Damen, u. a. auch meine eigene Frau nahmen an den bescheidenen, aber
behaglichen, geselligen Veranstaltungen teil.

An der Spitze des Kongresses stand ~Charles Friedel~ aus Paris, ein
geborener Elsässer und ein sehr sympathischer Mann; ich kannte ihn
schon von einem früheren Besuch in Paris. Er begrüßte mich mit der
ruhigen Freundlichkeit, die seinem Wesen eigen war. Wir haben uns lange
unterhalten, weil ich ihm viel von seiner Vaterstadt Straßburg erzählen
konnte, wobei er bis zu Tränen gerührt die Abtrennung seiner Heimat von
Frankreich beklagte.

Auch die meisten anderen europäischen Länder waren vertreten. Eine
Hauptrolle bei den Verhandlungen spielte ~Adolf Baeyer~, der ebenfalls
sich mit Nomenklaturfragen schon vielfach beschäftigt hatte und
durchweg mit seinen Vorschlägen durchdrang. Über die Einzelheiten zu
berichten, habe ich um so weniger Veranlassung, als die Verhandlungen
ziemlich ausführlich in den chemischen Zeitschriften geschildert sind.

Von dem Ergebnis des chemischen Kongresses ist manches geblieben
und wohl dauerndes Eigentum der chemischen Sprache geworden. Aber
die konsequente Durchführung einer rationellen Nomenklatur nach der
chemischen Konstitution hat sich doch als unmöglich erwiesen, da sie
schließlich zu Namen führte, die wegen ihrer Länge unbrauchbar sind.
Auch das, was man vorzugsweise ins Auge gefaßt hatte, die Registrierung
der Kohlenstoffverbindungen mit Hilfe solcher Namen, ist, wie man
weiß, inzwischen abgelöst worden durch die praktische einfachere
Registrierung nach der empirischen Formel, wie sie von ~M. M. Richter~
zuerst angewandt wurde. Aber auch hier wächst die Zahl der unter
gleicher Formel aufgeführten Isomeren mit erschreckender Schnelligkeit,
und schon muß man daran denken, neben der empirischen Formel noch ein
zweites Registrierungsmittel zu finden, um die Aufsuchung der einzelnen
Stoffe zu erleichtern.

Die Tage des Genfer Kongresses werden trotzdem allen Teilnehmern in
bester Erinnerung geblieben sein; denn er war in seinem harmonischen
Verlauf und dem behaglichen Verkehr seiner Mitglieder ein würdiges
Abbild der gemeinsamen Interessen, welche die Vertreter der
Wissenschaft in allen Ländern miteinander verbinden sollte. Nach den
traurigen Erfahrungen des Weltkrieges rufe ich mir diese besseren
Zeiten gerne ins Gedächtnis zurück und hoffe, daß mit der Rückkehr
des Friedens auch die Vernunft und das Gefühl der Solidarität bei den
Gelehrten und ganz besonders bei den Naturforschern zurückkehren wird.

Während der Würzburger Periode bin ich in den Herbstferien meist
nach einem Seebad in Belgien oder Holland und später nach Norderney
gegangen. An einer solchen Badereise nach Scheveningen 1889 nahm auch
meine Frau teil, und wir haben dort mit ~Arthur Dilthey~ und seiner
Frau mehrere vergnügte Wochen zugebracht und hinterher die größeren
holländischen Städte besucht. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch
meiner Frau Euskirchen und Umgebung gezeigt und sie unserer zahlreichen
Familie am Niederrhein vorgestellt. Gewöhnlich aber ging sie in den
Herbstferien mit den Kindern nach Ambach am Starnberger See zu ihren
Eltern.

Zu der Jagd in Euskirchen, der ich früher so viel Erfrischung
verdankte, bin ich seit meiner Erkrankung in Erlangen nicht mehr
gekommen, weil ich mich nicht neuen Erkältungen aussetzen wollte. Statt
dessen habe ich im September wiederholt die Naturforscherversammlung
besucht, während der Würzburger Zeit diejenige zu Berlin 1886 und
Heidelberg 1889. Letztere stand im Zeichen der Physik und Chemie; denn
~Heinrich Hertz~ und ~Victor Meyer~ hielten die beiden Hauptvorträge,
der erste über seine große Entdeckung der elektrischen Wellen und der
andere über allgemeine Probleme der Chemie.

Auch ~H. von Helmholtz~ und ~Werner von Siemens~ kamen in Gesellschaft
von ~Edison~, der gerade den Phonographen erfunden hatte und dieses
merkwürdige Instrument durch einen Gehilfen vorführen ließ. Ferner habe
ich hier den Physiker ~Bolzmann~ aus Wien zuerst sprechen hören. Er
hatte die merkwürdige Gewohnheit, jeden Satz in der höchsten Stimmlage
zu beginnen und im tiefsten Bariton zu beenden. Das war so anstrengend,
daß ihm schon nach einigen Minuten der Schweiß über das Gesicht rann,
und wir Zuhörer hatten trotz der großen Achtung vor dem Redner Mühe,
unsere Heiterkeit zu verbergen.

~Bunsen~ war nicht anwesend. Wahrscheinlich hatte er noch genug von den
Strapazen der 500-jährigen Jubelfeier der Universität Heidelberg, die
einige Jahre zuvor im August 1886 stattgefunden und an der ich auch
teilgenommen hatte.

In Gesellschaft von ~Baeyer~ machte ich damals meinen ersten Besuch
bei ~Bunsen~, der uns sehr freundlich und mit Bergen von Zigarren
empfing, aber in der Unterhaltung wohl wegen seiner Schwerhörigkeit
zurückhaltend war. Wir trafen dort Sir ~Henry Roscoe~, der von England
herübergeeilt war, um seinem alten Lehrer und Freunde ~Bunsen~ die
Repräsentation während dieser Festtage zu erleichtern. ~Roscoe~ war ein
sehr liebenswürdiger Mann, der sich uns jungen Fachgenossen schnell
anzupassen wußte und uns durch die Erzählung von Schnurren aus seiner
Heidelberger Studienzeit oder von seinen Erlebnissen in England viel
Spaß machte. Ich habe ihn noch mehrmals in England selbst wiedergesehen
und er hat mir auch einige sehr freundlich gehaltene Briefe geschickt.

Natürlich fehlte es damals in Heidelberg nicht an den üblichen
Festen auf dem alten Schloß, an einem gewaltigen Kommers, dem der
Großherzog in eigener Person präsidierte, und ähnlichen akademischen
Veranstaltungen.

Die Naturforscherversammlung in Berlin vom Jahre 1886, die erste in
der neuen Reichshauptstadt, war außerordentlich stark besucht. Sie
trug einen anderen Charakter wie in Heidelberg, verlief aber für uns
Chemiker auch sehr interessant; denn die Verhandlungen in unserer
Sektion waren reich an wissenschaftlichem Inhalt und die einheimischen
Mitglieder der chemischen Gesellschaft gaben sich alle Mühe, durch
behaglichen geselligen Verkehr und Veranstaltungen von lustigen Festen,
z. B. einem Bierabend der durstigen chemischen Gesellschaft unter dem
Vorsitz von ~C. Scheibler~, den auswärtigen Fachgenossen den Aufenthalt
in Berlin zu verschönern. Hier habe ich ~A. W. von Hofmann~ von neuem
kennen gelernt und seine große Gewandtheit in geschäftlichen und
repräsentativen Dingen bewundert.

Die chemische Gesellschaft hatte bei dieser Gelegenheit eine
Ausstellung von wissenschaftlichen Präparaten veranstaltet, zu der
ich neben anderen Dingen die frisch bereiteten synthetischen Indole
beisteuerte. Darunter befand sich eine stattliche Menge von ganz
reinem Skatol, und der Entdecker dieses Stoffes, Professor ~Brieger~,
war sehr befriedigt, daß auch mein Präparat den von ihm geschilderten
üblen Geruch besaß; denn ~A. von Baeyer~ hatte einige Zeit vorher
mitgeteilt, daß reines Skatol nicht unangenehm rieche. Er war offenbar
der nicht seltenen Täuschung zum Opfer gefallen, die durch die ganz
verschiedene Wirkung von Riechstoffen in konzentrierter oder verdünnter
Form auf das Geruchsorgan entstehen kann.

Im Anfang des Jahres 1890 konnte ich in den Berichten der chemischen
Gesellschaft die Synthese der Mannose und Lävulose mitteilen. Die
Folge davon war eine Einladung des Vorstandes, einen zusammenfassenden
Vortrag über die Kohlenhydrate in Berlin zu halten. Dieser fand
statt am 23. Juli 1890, und ich konnte, unterstützt von meinem
Mitarbeiter Dr. ~J. Tafel~, die wichtigsten Phasen der Untersuchung
durch Experimente illustrieren. Es war das erste Mal, daß ich in
der chemischen Gesellschaft sprach, und als Dank dafür erntete ich
von Seiten des Vorsitzenden, Herrn ~A. W. von Hofmann~, einige sehr
freundliche Worte der Anerkennung. Hinterher fand dann, wie es Sitte
war und auch geblieben ist, ein in einfachen Formen gehaltenes
Abendessen zu Ehren des Vortragenden statt.

Als ich nach Würzburg zurückkehrte und meine Frau, die neugierig auf
den Verlauf des Vortrages war, mich danach fragte, habe ich mir eine
kleine Neckerei erlaubt und ihr gesagt, die Leute hätten bei den
Hauptstellen der Rede »Au« gerufen. Darauf gewaltige Entrüstung und
Vorwürfe gegen die unhöflichen Preußen, wozu sie sich als Bayerin
völlig berechtigt fühlte; denn auch mich selbst hat sie zuweilen im
Zorn als Preußen tituliert. Ich habe sie allerdings hinterher über den
Scherz aufgeklärt, aber die gute Laune war doch verdorben.

Die erste Synthese der natürlichen Zucker hat mir auch die erste
öffentliche Anerkennung von Seiten des Auslandes eingetragen; denn
ich erhielt bald nachher von der Chemical Society zu London die
Davy-Medaille und wurde von der wissenschaftlichen Gesellschaft zu
Upsala zum korrespondierenden Mitglied gewählt.

Obschon Würzburg nicht an gerade der großen Heerstraße lag, so ist mir
doch mancher liebe Besuch von Fachgenossen dort zuteil geworden; so kam
~Eduard Hjelt~ eines Tages als früherer Studierender der Universität,
später ~Victor Meyer~, dann ~Otto N. Witt~, ~H. W. Perkin~ jun. und
mancher andere. Am meisten überraschte mich ~Ernst Haeckel~ aus Jena,
der früh morgens mit der Reisetasche und in aller Eile erschien, um
sich nach ~Ludwig Knorr~ zu erkundigen. Aus der kurzen, aber sehr
lebhaften Unterhaltung ist mir ein Ausspruch ~Haeckels~ im Gedächtnis
geblieben: »Wenn Ihr Chemiker synthetisch das richtige Eiweiß macht,
dann krabbelt's.« ~Knorr~ erhielt einige Monate später in der Tat einen
Ruf nach Jena und ist im Herbst 1889 dahin übergesiedelt. Es sind
jetzt nahezu 30 Jahre, daß er ein angesehenes Mitglied der Thüringer
Hochschule bildet.

Die sonderbarsten Besuche erhielt ich aus Amerika. Eines Tages erschien
ein Professor der Physiologie, der von einem reichen Mann Geld erhalten
hatte, um eine Universität in Worcester U. S. A. zu gründen. Er hatte
die romantische Idee, ein ganzes Schiff mit europäischen Professoren,
Assistenten, Instrumenten, Präparaten und ähnlichen Dingen zu beladen
und mit diesem Apparat dann seine Universität auszustatten. Die
Unterhaltung mit mir eröffnete er mit der Frage: »Wollen Sie mit mir
als Professor nach Amerika gehen?«, worüber ich so überrascht war,
daß ich das Ganze für einen Scherz hielt, bis er sein ausführliches
Programm entwickelte. Er war übrigens ein gebildeter und weitgereister
Mann, der viel Interessantes zu erzählen wußte.

Bald nachher erschien eine amerikanische Dame, die sich als Miss
~Helene Abott~ und Fachgenossin vorstellte. Zu ihrem besonderen Schutze
hatte sie sich ein zweites weibliches Wesen mitgebracht, das sich
bei näherer Besichtigung als eine Negerin entpuppte. Sie erklärte in
Würzburg wissenschaftlich arbeiten zu wollen und war erstaunt, daß
Frauen noch nicht zu den Vorlesungen zugelassen seien. Ich habe ihr
dann das Laboratorium gezeigt und sie den jüngeren Herren, ~Knorr~,
~Wislicenus~, ~Tafel~ vorgestellt. Sie machte ganz verständige
Bemerkungen und zeigte, daß sie keine schlechten theoretischen
Kenntnisse besaß. Nach ihrem Weggang wurde Kriegsrat gehalten, ob wir
ihr vom Senat der Universität den Zutritt in das Laboratorium erwirken
sollten. Einzelne waren mit Begeisterung dafür, aber die bedächtigen
Elemente konnten die Befürchtung nicht unterdrücken, daß sie in dem bis
dahin so gut harmonierenden Kreise leicht Verwirrung anrichten könne.
Entsprechend dem Majoritätsbeschluß habe ich ihr dann abgeschrieben
und erhielt darauf von ihr eine zwar höfliche, aber ziemlich energisch
gehaltene Antwort, worin sie die Rückständigkeit Deutschlands in bezug
auf das Frauenstudium rügte. Sie ist später die Gattin von ~Arthur
Michael~ geworden, aber sie sind, soweit ich unterrichtet bin, nach
einiger Zeit wieder auseinander gegangen.

Im Frühjahr 1892 mußte ich wegen eines Anfalls von Influenza einige
Tage zu Bett liegen und meine Frau las mir gerade aus den eben
erschienenen Berichten der chemischen Gesellschaft den Nekrolog von
~Peter Gries~ vor, von dem ich selbst den wissenschaftlichen Teil
geschrieben hatte. Aber viel interessanter war der persönliche Teil
von ~A. W. von Hofmann~ verfaßt und mit köstlichem Humor gewürzt.
Wir haben darüber gerade herzlich gelacht, als ein Telegramm von
~Tiemann~ einlief, das den plötzlichen Tod von ~Hofmann~ meldete. Ich
konnte wegen meiner Krankheit nicht zur Beerdigung hingehen, was ich
um so mehr bedauerte, da ich dem Vorstand der chemischen Gesellschaft
angehörte und von ~Hofmann~ bei meinem letzten Besuch in Berlin so
freundlich empfangen worden war.

Mein Gesundheitszustand war damals nicht befriedigend. Wie sich
hinterher herausstellte, war ich das Opfer einer chronischen Vergiftung
durch Phenylhydrazin geworden. Während manche meiner Mitarbeiter und
auch einige Diener sehr empfindlich gegen die Base waren, und darauf
mit nervösen Beschwerden oder mit starken Anschwellungen von Hand
und Arm reagierten, schien ich sehr widerstandsfähig gegen das Gift
zu sein; denn seine schädliche Wirkung hatte sich bis 1891 auf ein
Ekzem der Finger und inneren Handflächen beschränkt. Um so schlimmer
gestaltete sich die chronische Vergiftung, die im Herbst 1891 auftrat
und in sehr lästigen Störungen der Darmtätigkeit, namentlich in
nächtlichen Koliken und Durchfällen sich äußerte. Die Krankheit
erreichte im Winter 1891/92 ihren Höhepunkt und spottete aller normalen
ärztlichen Behandlung. Erst die Anwendung von Prießnitzumschlägen
brachte mir Erleichterung und den lang entbehrten Schlaf zurück. Die
Vergiftung ist zum Teil durch Dämpfe, aber wie ich später feststellen
konnte, noch viel mehr durch die Haut, d. h. von den Händen aus,
zustande gekommen. Ich habe darunter viele Jahre gelitten und
schließlich hat sich eine Idiosynkrasie gegen Phenylhydrazin und
ähnliche Stoffe herausgebildet. Es war die zweite Schädigung, die
von meinem Beruf kam, und ich wäre ihr wahrscheinlich erlegen, wenn
nicht die Ursache erkannt worden wäre und ich dann die Berührung mit
der schädlichen Base möglichst vermieden hätte. Die Vergiftung hatte
natürlich auch recht schlecht auf mein Nervensystem eingewirkt und
der Aufenthalt in der Dienstwohnung des Würzburger Instituts, die
fortwährend mit der Laboratoriumsatmosphäre erfüllt und außerdem
ungewöhnlich heiß war, wurde mir im Sommer 1892 so unangenehm, daß ich
meinen Haushalt in ein gemietetes Landhaus vor der Stadt mit großem
Garten verlegte.

Hier erschien an einem schönen Junitag plötzlich Geheimrat ~Friedrich
Althoff~ vom Kultusministerium in Berlin. In scheinbar ganz naiver
Form erzählte er mir, er habe einen zufälligen Aufenthalt in
Würzburg nur benutzen wollen, unsere Bekanntschaft von der Berliner
Naturforscherversammlung zu erneuern. Er sprach sich sehr erfreut über
die einfache süddeutsche Lebensweise aus, über die Bescheidenheit der
Professoren hierzulande, kam dann auf die Berliner Verhältnisse, das
dortige chemische Institut und die Absicht des Kultusministers, für
die Pflege der Chemie in Preußen möglichst viel zu tun. Es würde
ihn interessieren, auch meine Ansicht darüber zu hören, worauf ich
ihm freimütig erklärte, daß das von ~Hofmann~ erbaute Institut den
Bedürfnissen der Gegenwart keineswegs mehr genüge. Erst zum Schluß
stellte er an mich die Frage, ob ich den nötigen Neubau als Nachfolger
von ~Hofmann~ nicht selbst besorgen wolle. Die Fakultät habe mich neben
~Kékulé~ und ~Baeyer~ vorgeschlagen, aber den Wunsch ausgesprochen,
daß mit Rücksicht auf das hohe Alter der beiden Erstgenannten ich
tatsächlich berufen würde. Über das Angebot, das an und für sich ja
recht ehrenvoll war und auch in so entgegenkommender Form gemacht
wurde, war ich selbst keineswegs erfreut; denn nun stand ich vor der
Notwendigkeit, zwischen Würzburg, wo ich mich so glücklich fühlte, und
Berlin, wovor mir graute, zu entscheiden.

Mein Entschluß wäre rasch gefaßt gewesen und zugunsten von Würzburg
ausgefallen, wenn ich allein gestanden hätte und nur meinem Gefühl
gefolgt wäre. Aber meine Frau war ehrgeiziger und ich mußte ~Althoff~
wenigstens das Versprechen geben, nach Berlin zu kommen, um die
Verhältnisse an Ort und Stelle kennen zu lernen. Das geschah auch
8 Tage später. Im Ministerium zu Berlin war man in jeder Beziehung
entgegenkommend. Der Minister Exzellenz ~Bosse~ empfing mich wegen
Zeitmangel Sonntags morgens um 8 Uhr, um mir zu versichern, daß er
alles tun würde, meine Bedingungen, insbesondere auch den Neubau des
Instituts zu erfüllen. Auch die Berliner Fachgenossen haben mir stark
zugeredet, den Ruf anzunehmen. Dazu noch keineswegs entschlossen, fuhr
ich nach München, wohin mich der dortige Minister eingeladen hatte.
Ich war erstaunt über die wenig geschickte Art, in der er mich zur
Ablehnung des Berliner Rufes bereden wollte. Zunächst mußte ich 1½
Tage warten, bevor er mich überhaupt empfing und dann behauptete er,
ich wäre durch die Bewilligung des Neubaues in Würzburg verpflichtet,
dort zu bleiben. Ich antwortete ihm, daß der Bau doch nicht mir
persönlich bewilligt sei, wenn das aber zuträfe, so könne man ihn ja
aufgeben, da er noch garnicht begonnen sei. Kurzum ich kam von München
etwas verstimmt nach Würzburg zurück. Inzwischen war dort mein alter
Vater eingetroffen, der von dem Berliner Ruf gehört und sich sofort
aufgemacht hatte, um mir zuzureden, ein so gutes Geschäft nicht
leichtfertigerweise auszuschlagen. Zum zweiten Mal würde mir die Stelle
in Berlin nicht mehr angeboten. Andererseits könne ich ja, wenn es mir
dort nicht gefiele, jederzeit wieder wechseln.

Die Vorzüge Berlins konnte auch ich mir nicht verhehlen. Das rege
wissenschaftliche Leben der Reichshauptstadt und die in Aussicht
gestellten großen Mittel, die Möglichkeit, einen größeren Kreis
von Schülern um mich zu versammeln, hatte in der Tat für einen
Mann in meinem Lebensalter (ich war noch nicht 40 Jahre alt) viel
Verlockendes. So kam ich denn nach 8-tägigem Schwanken zu dem
Entschluß, meine persönliche Neigung beiseite zu setzen und den Ruf
anzunehmen. Ich bin dann zum zweiten Mal und zwar in Begleitung
meiner Frau nach Berlin gefahren, um eine Wohnung zu mieten, da die
Dienstwohnung von Frau ~von Hofmann~ noch bis zum Mai 1893 besetzt
war, und um im Institut eine Reihe von kleinen baulichen Änderungen zu
vereinbaren, die in den Herbstferien getroffen werden sollten.

Nachdem ich nunmehr fest gebunden war, redeten schon einige Kollegen
offener über die Berliner Zustände, und mein alter Lehrer ~Kundt~
überraschte mich mit der Bemerkung: »Na ~Fischer~, Sie werden sich
wundern über den Pack Arbeit, den man hier einem Professor aufladet.«
Als ich darauf etwas erschrocken an ihn die Frage richtete, warum er
mir das nicht vor 14 Tagen gesagt hätte, als ich ihn im Vertrauen auf
die alte Freundschaft um Aufklärung über die Berliner Zustände gebeten
hatte, erwiderte er lachend: »Ja, dann wären Sie nicht gekommen.«

Bei diesem letzten Aufenthalt genoß ich auch die erste Probe von
dem geselligen Verkehr im Berliner Gelehrtenkreise; denn Frau
~von Helmholtz~ hatte Kunde von unserem beabsichtigten Besuch in
Berlin erhalten und telegraphisch meine Frau und mich zu einer
Abendgesellschaft eingeladen. Diese fand statt in der prächtigen
Dienstwohnung der physikalisch-technischen Reichsanstalt zu
Charlottenburg, und wir trafen dort einen interessanten Kreis von
Leuten, darunter auch den alten ~Werner von Siemens~, mit dem ich
mich lange über technisch-elektrochemische Probleme unterhielt,
und der hinterher meine Frau durch besondere Liebenswürdigkeit
auszeichnete. Hier mußte ich meine erste Berliner Tischrede halten
als Antwort auf einige Worte der Begrüßung, die ~Helmholtz~ an meine
Frau und mich richtete. Ausgehend von dem ~Keppler~'schen Gesetz der
Planetenbewegung und ihrem Einfluß auf die Entwicklung der Physik
konnte ich ein astronomisches Abbild der Gesellschaft entwickeln, in
dessen Mittelpunkt Frau ~von Helmholtz~ als Sonne kam. Scheinbar habe
ich dadurch ihre Gunst gewonnen; denn sie ist mir später immer in sehr
freundlicher Weise entgegengekommen.

Bei der Abreise von Berlin war ich in sehr gedrückter Stimmung,
hervorgerufen durch den schlechten Zustand des chemischen Instituts
und durch manche überraschende Auskunft über die Verpflichtungen,
die den Nachfolger von ~Hofmann~ erwarteten. Wenn ich mich nicht
geschämt hätte, mein Wort zu brechen, so würde ich auf dieser Rückfahrt
telegraphisch bei dem Kultusministerium in Berlin meine Zusage
widerrufen haben. Aber dazu war es jetzt zu spät, besonders auch, weil
ich das Gefühl hatte, daß man im Ministerium zu München über meine
Annahme des Berliner Rufes verschnupft war.

Mein Vater war inzwischen von Würzburg wieder abgereist, ganz
befriedigt von dem Erfolge seiner Überredungskunst. Für ihn selbst war
eine Veränderung des Wohnsitzes eine Kleinigkeit; denn er hatte sich ja
gerade zu der Zeit entschlossen, Euskirchen nach 56-jährigem Aufenthalt
zu verlassen und nach Straßburg i. Els. überzusiedeln.

Für mich begann nun eine unbehagliche Zeit, die Vorbereitungen des
Umzuges nach Berlin; denn ein Professor der Chemie wandert nicht nur
mit seiner Gelehrsamkeit und den Büchern, sondern auch mit Präparaten,
Apparaten und Assistenten. Als letztere folgten mir Dr. ~Oscar Piloty~,
der früher erwähnte Däne Dr. ~Fogh~ und Dr. ~Lorenz Ach. Wislicenus~
war inzwischen außerordentlicher Professor geworden und als solcher in
Würzburg gebunden. Auch für ~Julius Tafel~, den ich gerne mitgenommen
hätte, konnte in Berlin keine passende Stellung geschaffen werden.
Dagegen war es mir lieb, den Diener ~J. Wetzel~, der sich später durch
einige zweckmäßige Glasapparate bekannt gemacht hat, als Präparator
nach Berlin verpflanzen zu können. Mit dem Umzug des Haushalts hatte
ich nichts zu tun, weil meine Frau ihn als ihr Recht und ihre Pflicht
in Anspruch nahm.

Der Abschied von der lieben Stadt Würzburg, den Kollegen und Studenten
war herzlich aber kurz. Die beiden Kinder kamen zu den Großeltern an
den Starnberger See und ich selbst zog mit meiner Frau und einer Köchin
in ein kleines, allerliebstes Holzhaus, 10 Minuten von Berchtesgaden am
Untersberg in prächtiger Umgebung gelegen. Hier haben wir wie auf der
Hochzeitsreise ganz für uns gelebt und bei herrlichem Wetter 6 Wochen
zugebracht. Es war die richtige Vorbereitung für die kommende Berliner
Periode. Zwar hatte mir die deutsche chemische Gesellschaft für die
Feier ihres 25-jährigen Bestehens im November d. J. die Gedächtnisrede
auf ~A. W. von Hofmann~ übertragen. Aber es kam mir bald zum
Bewußtsein, daß ~F. Tiemann~ als Freund und Schüler des Verstorbenen
viel mehr für diese Aufgabe berufen und auch gerne bereit sei, sie zu
übernehmen. Nach Vereinbarung mit dem Vorstande der Gesellschaft haben
wir deshalb getauscht, und die Entbindung von der Rede war, offen
gestanden, für mich eine angenehme Erleichterung.




                             Berliner Zeit


Mitte September ging meine Frau nach Würzburg zurück, zur Anordnung
des Umzugs nach der Berliner Wohnung, die wir im Hause eines Dr. ~von
Dechend~, Mitarbeiter von ~Tiemann~ bei den Berichten, in der Königin
Augustastraße nahe beim Tiergarten für ein Jahr gemietet hatten. Ende
September verließ auch ich Berchtesgaden und traf in Berlin meine Frau
ganz erschöpft und in Tränen, hervorgerufen durch die Widerwärtigkeiten
im Verkehr mit den Berliner Umzugsleuten. Als Süddeutsche war sie mit
diesen rohen Menschen nicht fertig geworden, und erst der Hilfe von
Dr. ~Piloty~, der durch seine gewaltige Körpergröße und seine Energie
auch den Berliner Packern imponierte, hatte sie es verdankt, daß sie
mit ihren Wünschen und Anordnungen durchdrang. Dazu kam die gedrückte
Stimmung, die damals auf der Reichshauptstadt lastete wegen der
großen Choleraepidemie in Hamburg, die eine strenge Beaufsichtigung
des Personenverkehrs nötig machte. Die geschickte Bewältigung
dieser sanitären Aufgabe, welche Berlin trotz einigen 100 Fällen
eingeschleppter Cholera vor der Epidemie bewahrte, hat mir hinterher
sehr imponiert. Aber für alle Leute, die damals namentlich aus den
einfachen süddeutschen Verhältnissen heraus Berlin zuwanderten, war
es eine unbehagliche Zeit. Meine Frau wurde zum zweiten Male davon
betroffen, als sie gleich hinterher die Kinder von den Großeltern am
Starnberger See abholte; denn die Kinderfrau, die sie mitbrachte,
konnte das Eisenbahnfahren nicht vertragen, erkrankte unterwegs und
wurde von Leipzig an dauernder Aufsicht unterstellt.

Die Eingewöhnung des Haushaltes und der Familie in die Berliner
Verhältnisse ging Dank der Hilfe unserer Freunde rascher und besser von
statten, als wir gedacht. Auch die kleinen Umbauten im Laboratorium,
die besonders auf eine bessere Ventilation gerichtet waren, wurden
rechtzeitig fertig. Und in der letzten Woche des Oktobers konnte das
Institut für den regelmäßigen Betrieb wieder eröffnet werden.

~Tiemann~, der bis dahin die Leitung des Praktikums in Händen gehabt
hatte, zog sich davon ganz zurück, blieb aber im Institut als
Privatgelehrter zur Fortsetzung seiner erfolgreichen wissenschaftlichen
Studien und hielt auch noch eine kleine Spezialvorlesung.

Mit ~S. Gabriel~ und den übrigen von ~Hofmann~ ererbten Assistenten
Dr. ~Pulvermacher~ und Dr. ~Richter~ konnte ich mich leicht über die
Verteilung der Arbeiten einigen. Die von mir mitgebrachten beiden
Assistenten ~Piloty~ und ~Fogh~ übernahmen den Unterricht in dem
Hauptsaal, der der analytischen Chemie eingeräumt war, ~Gabriel~
blieb in der organischen Abteilung und ich selbst übernahm außer den
beiden großen Experimentalvorlesungen die Aufsicht über das Ganze.
Als Privatassistent bei meinen eigenen Untersuchungen stand mir Dr.
~Lorenz Ach~, der schon in Würzburg dieselbe Stellung bekleidet hatte,
zur Seite. Von den Würzburger Studierenden war nur der Engländer
~Crossley~, der später in London Professor an dem pharmazeutischen
Institut wurde, mit übergesiedelt.

Die Wintervorlesung über anorganische Chemie habe ich mit einem
kurzen Nachruf auf meinen großen Vorgänger begonnen, aber nach einem
ganz anderen, schon in Würzburg benutzten Schema gehalten, weil
diese Form für eine vorzugsweise aus Medizinern, Apothekern und
Oberlehrern zusammengesetzte Zuhörerschaft nach meiner Erfahrung
leichter verständlich und auch dem Entwicklungsgang unserer
Wissenschaft mehr angepaßt war. Es machte mir aber besondere Freude,
dabei die Hilfe von Dr. ~C. Harries~, der schon bei ~Hofmann~
Vorlesungsassistent gewesen war, zu haben; denn ich konnte nun viele
der von ~Hofmann~ ausgebildeten Experimente zusammen mit den schon von
mir gebrauchten dem Vortrag angliedern. So ist das reichhaltige Buch
von Vorlesungsversuchen entstanden, das mit zweckmäßigen Ergänzungen
seitdem in Berlin gebraucht wird und das auch manchem jüngeren
Fachgenossen als Muster gedient hat.

Kaum war der Betrieb des Instituts voll im Gange, so brach eine kleine
Revolte bei den Dienern aus. Sie erklärten plötzlich, die Arbeit
nicht leisten zu können und zu wollen. Offenbar hatten sie die etwas
zu freundliche Umgangsform, die ich von Süddeutschland her gewöhnt
war, mißverstanden und hielten nun eine Machtprobe mir gegenüber für
angebracht. Zudem waren sie durch das vorangegangene Regiment in bezug
auf Arbeitsleistung etwas verwöhnt. Ich mußte nun den Ton wechseln,
habe einen Diener, der kündbar war, sofort entlassen, einen anderen,
der leider schon festangestellt war, durch den Minister pensionieren
lassen, und mir im Handumdrehen andere Aushilfen verschafft. Das war
für Berlin die richtige Methode, und ich habe später mit den Dienern,
für die ich übrigens auch nach bestem Können sorgte, niemals mehr
ernste Zerwürfnisse gehabt. Im Gegenteil, ich muß sagen, daß sie
bei richtiger Behandlung brauchbarer und leistungsfähiger als in
Süddeutschland waren.

Das nach den Anordnungen von ~A. W. Hofmann~ erbaute chemische
Laboratorium in der Georgenstraße, das den Beinamen »I. Chemisches
Institut der Universität« führte, zum Unterschied von dem durch
~Rammelsberg~ geplanten und später von ~Landolt~ benutzten »II.
Chemischen Institut« in der Bunsenstraße, galt in bezug auf Architektur
und Fassade als Sehenswürdigkeit, war aber für chemische Zwecke recht
unpraktisch gebaut. Überall fehlte es an Luft und Licht und ein
großer Teil des bebauten Raumes bestand aus dunklen und unbenutzbaren
Korridoren. Nur die beiden Hauptarbeitssäle im ersten Stock nach der
Georgenstraße und das geräumige Privatlaboratorium konnten als normale
Arbeitsräume angesehen werden. Dagegen war der große Vorlesungssaal so
dunkel, daß selbst mittags von 11 bis 12 meist künstliche Beleuchtung
angewandt werden mußte. Ganz ungenügend war auch die Ventilation, und
meine erste Sorge war deshalb, gerade so wie im Würzburger Institut,
die Anlage einer ganzen Reihe von Kapellen, in der einfachen Form,
wie sie früher geschildert wurde. Um ihnen genügenden Zug zu sichern,
wurde eine besondere Luftzufuhr durch ein in die Wand geschlagenes Loch
und einen im Innern der Säle über Manneshöhe nach aufwärts geführten
Holzkanal angelegt.

Selbst die Heizung befand sich in einem traurigen Zustand; denn die
dafür vorhandenen Torföfen funktionierten so schlecht, daß ein Teil
der Studenten sich Privatgasöfen angeschafft hatte, die natürlich dem
Institut durch den Gasverbrauch teuer zu stehen kamen. Sie mußten durch
neue Kohlenöfen ersetzt werden.

Der laufende Etat, der vorher etwa 15000 M. betrug, war infolge meiner
Forderung auf 20000 M. vom Minister erhöht worden. Auch zwei neue
Assistenten wurden bewilligt, aber wie ich später zu meinem Bedauern
erfuhr, dem chemischen Institut zu Göttingen abgeknappst.

Für die Ergänzung des Inventars hatte ich ebenfalls eine bescheidene
Summe -- wenn ich nicht irre, waren es 15000 M. -- bei der Berufung
ausbedungen. Als ich diese aber in Anspruch nehmen wollte, gab es einen
heftigen Zusammenstoß mit Geheimrat ~Althoff~ im Kultusministerium. Die
Summe schien ihm nachträglich zu hoch, und er verstieg sich sogar zu
der Forderung, daß ich diese Anschaffungen aus eigener Tasche machen
sollte. Es kam dann zu einer Aussprache, die Herrn ~Althoff~ darüber
belehrte, daß ich nicht im geringsten gesonnen sei, mich schlecht
behandeln zu lassen und auf irgend eine Bedingung der Berufung zu
verzichten. Wir haben später noch manche Meinungsdifferenz miteinander
gehabt, aber unsere Unterhaltung spielte sich von da ab immer in
gemäßigter Form ab. Allmählich gewöhnte er sich auch daran, bei mir
in chemischen Dingen Rat zu holen. Er hatte leider die unbequeme
Gewohnheit, die Besucher in einem recht unbehaglichen Vorzimmer
stundenlang warten zu lassen. Als mir das zum zweiten Mal passierte,
bin ich weggegangen und auf seine spätere Anfrage, warum ich das getan,
erklärte ich ihm ganz offen, er könne mich wohl warten lassen, wenn ich
von ihm etwas erreichen wolle; wenn er aber meine Hilfe beanspruche,
so müsse er mich gleich empfangen, denn meine Zeit sei ebenso kostbar
und ebenso knapp wie die seine. Das hat er eingesehen, und je länger
ich mit ihm in Verkehr stand, umsomehr habe ich ihn schätzen gelernt.
Er war ein sehr kluger, ideenreicher Mann, der für jeden noch so
verfahrenen Karren ein Mittel der Fortbewegung zu finden wußte. Dazu
kam eine außerordentliche Arbeitskraft und Ausdauer in der Verfolgung
seiner Pläne. Zudem ließ er sich bei allen wichtigen Entscheidungen nur
von sachlichen Rücksichten bestimmen. Mit den äußeren Formen nahm er es
nicht genau, und er hat manche Angehörige der preußischen Hochschulen
durch sein suburbanes Wesen stark vor den Kopf gestoßen. Trotzdem bin
ich der Ansicht, daß seine Tätigkeit für die Blüte der preußischen
Hochschulen, insbesondere auch für ihre Ausstattung mit Instituten,
Bibliotheken, Seminaren von größter Bedeutung gewesen ist.

Trotz der äußeren rauhen Form war er im Grunde genommen ein gütiger
Mann, der überall half, wo er nur konnte. Das bewies seine Fürsorge für
Witwen und Waisen, für altersschwache Professoren und Diener und die
wenig bekannte Tatsache, daß er einen großen Teil seines Vermögens für
solche Zwecke verschenkt hat.

Als meine Frau im jugendlichen Alter starb, hatte er solches Mitleid
mit den drei kleinen hinterlassenen Kindern, daß er wohl ein
Jahrzehnt hindurch diese alljährlich besuchte und ihnen auch vom
Kultusministerium öfter durch Übersendung von hübschen Büchern eine
Überraschung bereitete. Die Jungens waren darüber immer hocherfreut,
weil sie glaubten, daß der Kultusminister in eigener Person ihnen
auf diese Weise seine Anerkennung für gute Leistungen in der Schule
aussprechen wollte. In Übereinstimmung mit vielen Kollegen habe ich
~Althoff~ damals für die bedeutendste Persönlichkeit im preußischen
Kultusministerium gehalten.

Auch mit seiner Frau, einer geb. ~Ingenohl~ aus Neuwied, deren Mutter,
eine geb. ~von der Leyen~, aus der Gegend von Flamersheim stammte und
eine Jugendfreundin meines Vaters war, bin ich genau bekannt geworden,
besonders während eines Aufenthaltes in Meran, von dem später noch die
Rede sein wird. Sie ist eine liebe, kluge Frau und lebt trotz eines
schweren Herzleidens noch jetzt hochbetagt in Steglitz. Das Andenken
ihres Mannes hat sie durch eine sehr geschickte Lebensbeschreibung mit
vielen interessanten Originalbriefen des Verstorbenen geehrt.

Die Professur der Chemie war schon von meinem Vorgänger her mit vielen
Nebenämtern verbunden, die auch mir übertragen wurden. Dahin gehörte
zunächst ein Lehrstuhl an der sogen. Pepinière, der jetzigen Kaiser
Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen. Sie wird
mit einem kleinen Gehalt honoriert und die Studierenden der Akademie
besuchen, wie die übrigen Mediziner die regelmäßigen Vorlesungen
über Experimentalchemie. Außerdem besteht an der Akademie ein
Wissenschaftlicher Senat, in den ich ebenfalls gewählt wurde, und dem
ich jetzt noch angehöre. Hier werden unter dem Vorsitz von Exzellenz
~von Schjerning~ militärärztliche Fragen verschiedenster Art in
akademischer Form besprochen und daran schließt sich ein heiteres, auch
von mir stets gerne besuchtes Abendmahl in den prächtigen Kasinoräumen
der Akademie.

Das zweite medizinische Nebenamt erhielt ich in der wissenschaftlichen
Deputation für das Medizinalwesen, die damals dem Kultusministerium
angegliedert war. Die Aufgabe der Deputation war recht mannigfaltig.
Sie besorgte die Prüfung der preußischen Kreisärzte und galt für die
preußische Zivil- und Gerichtsverwaltung als höchste sachverständige
Instanz in allen medizinischen Fragen. Als Mitglieder gehörten ihr
an die meisten Kliniker, dann der Hygieniker und der Chemiker der
Universität. Für alle medizinischen Fragen war also ein Fachmann
vorhanden. Was außerhalb der engeren Medizin lag, fiel dem Chemiker zu,
und so habe ich Gutachten der verschiedensten Art erstatten müssen,
manchmal über Dinge, die mir recht fern lagen, und für die ich mir erst
die richtigen Sachverständigen suchen mußte. Im Gedächtnis geblieben
ist mir ein Gutachten über die Königin Louisen-Quelle, den sogen.
Gesundbrunnen, der in früherer Zeit weit außerhalb der Stadt lag, und
wohin damals die Berliner Bevölkerung bei schönem Wetter in Scharen
pilgerte, um das berühmte Wasser zu trinken.

Das Wasser dieser Quelle war um die Mitte der 90er Jahre von einem
Apotheker als Tafelwasser unter der Bezeichnung »Natürliches
Mineralwasser« auf den Markt gebracht worden. Da er aber dem Wasser
Kohlensäure zugeführt hatte, so erfolgte die Anzeige bei der Behörde
wegen Betrugs. Der Mann wurde vom Gericht zu einer kleinen Geldstrafe
verurteilt, aber was viel schlimmer war, der Polizeipräsident erließ
eine öffentliche Warnung vor dem Tafelwasser, das nichts weiter
als gewöhnliches Brunnenwasser sei. Dadurch wurde das Geschäft in
kürzester Zeit ruiniert. In seiner Not wandte sich der Besitzer an
das Ministerium des Innern. So kam die Sache an die wissenschaftliche
Deputation, und ich wurde zum Berichterstatter bestellt. Die
Darlegungen des Klägers waren so ungeschickt, daß ich anfänglich
glaubte, er sei im Unrecht. Ich entschloß mich aber zu einer lokalen
Besichtigung der Quelle und sicherte mir dafür die Hilfe eines Beamten
von der geologischen Landesanstalt. Nach langem Suchen fanden wir
die ehemals so berühmte Quelle, die einem ganzen Stadtteil Berlins
den Namen gegeben hat, die aber sehr wenig Leute noch kannten, in
dem Kellergeschoß eines großen Mietshauses. Wir erkannten alsbald,
daß es sich hier um eine wirkliche, aus ziemlich großer Tiefe
kommende starke Quelle handelte, deren Wasser sehr wohlschmeckend und
sicherlich hygienisch ganz unbedenklich war. Auch die Sättigung mit
Kohlensäure wurde in sachverständiger und sauberer Weise ausgeführt.
Dementsprechend fiel mein Gutachten über die Quelle günstig aus. Der
Polizeipräsident mußte sein abfälliges Urteil widerrufen und das
Tafelwassergeschäft war gerettet.

Aus diesem Beispiel habe ich ersehen, wie zweckmäßig es ist, sich
bei solchen Gutachten nicht auf die Akten zu verlassen, sondern die
tatsächlichen Verhältnisse, womöglich durch Augenschein gründlich
kennen zu lernen.

In der Regel aber waren meine Gutachten für die Deputation recht
langweilig und auf Kleinigkeiten, z. B. Zänkereien zwischen Apothekern
und Drogisten beschränkt. Ich zog es deshalb vor, nach Ablauf meiner
5-jährigen Amtszeit aus der Deputation auszutreten. Mein Nachfolger
wurde ~Landolt~. Später, als ~Althoff~ der Vorsitzende der Deputation
geworden war, hat er mich nochmals halb zwangsweise als Mitglied in
diese berufen, aber nach einigen Jahren bin ich wieder ausgetreten und
die Stelle ist dann dem Pharmakologen aus der medizinischen Fakultät
übertragen worden.

Die Einführung in die philosophische Fakultät, die anfangs November
1892 stattfand, vollzog sich in einfachster Form, hatte aber gleich
einen Haufen von Geschäften zur Folge; denn die Chemiker werden durch
die zahlreichen Promotionsprüfungen besonders stark in Anspruch
genommen. Bei der mündlichen Prüfung der Chemiker waren ~Landolt~ und
ich immer gleichmäßig beteiligt, aber in der schriftlichen Beurteilung
der Dissertationen fiel mir meistens das Hauptreferat zu, weil die
große Mehrzahl Themata aus der organischen Chemie behandelten.

Von der Schwerfälligkeit der Geschäftsführung war ich in hohem
Grade überrascht. Da die Fakultät ungeteilt ist und damals etwa 50,
jetzt aber weit mehr als 60 ordentliche Mitglieder hat, so kann man
sich denken, welche ausführlichen Debatten entstehen, wenn sogen.
prinzipielle Fragen behandelt werden. Dazu kommt noch die Gewohnheit,
nicht allein alle kleinen Geschäfte, sondern sogar die Abstimmung
über das Resultat jeder einzelnen Doktorprüfung durch die gesamte
Korporation vorzunehmen.

Das hängt zusammen mit der Einrichtung der sogen. Sedecim, d. h. mit
dem Rechte der 16 ältesten anwesenden Mitglieder, die Promotionsgelder
unter sich zu teilen. Für den Eintritt in diesen Kreis der
Auserwählten ist aber nicht das Lebensalter, sondern die Zahl der
Jahre maßgebend, die der Betreffende als Ordinarius an irgend einer
deutschen Universität zugebracht hat. Daß dieser patriarchalische
Verteilungsmodus der Billigkeit entspricht, kann niemand behaupten.
Ich habe die ganze Einrichtung immer für ein Haupthindernis bei allen
Reformvorschlägen in dem Geschäftsgang der Fakultät angesehen. Das
Festkleben an Satzungen und Traditionen tritt überhaupt in dieser
Körperschaft so stark hervor, daß es häufig an den Zopf erinnert und
zuweilen geradezu lächerlich wirkt. Z. B. galten noch bei meinem
Eintritt in die Fakultät die deutschen Bundesstaaten als Ausland und
dementsprechend konnte ein Angehöriger dieser Staaten ohne Abiturium in
Berlin promovieren. Erst ein Jahr später wurde nach einem Antrage des
Physikers ~Kundt~ dieser Unsinn abgeschafft.

Die Größe der Körperschaft bringt natürlich eine Unmenge von Geschäften
mit sich, deren Erledigung viel kostbare Zeit in Anspruch nimmt. Der
philosophische Dekan ist deshalb ein viel geplagter Mann, und die
Fakultät hält während des Semesters in der Regel jede Woche eine
Sitzung ab, die für die Prüfungen 2 Stunden und für die geschäftlichen
Dinge ungefähr die gleiche Zeit dauert. Wer vorher an der Sitzung
der Akademie der Wissenschaften teilnimmt, und bei den Prüfungen
beschäftigt ist, hat das Vergnügen, jeden Donnerstag von 4 bis 10 Uhr
sitzen zu müssen. Dazu kamen für mich noch die zahlreichen Prüfungen
von Medizinern, Apothekern und Lehramtskandidaten. Ich habe die ersten
12 Jahre meines Berliner Aufenthaltes über nichts so sehr geseufzt,
wie über den Verlust an Zeit und Arbeitskraft, der auf diese Weise
entstand. Später ist es mir gelungen, von der Mehrzahl dieser lästigen
Geschäfte entbunden zu sein.

Wegen der Größe der Fakultät müssen alle wichtigen Angelegenheiten
und namentlich die Berufungsgeschäfte besonderen Kommissionen
überwiesen werden. Ich habe im Laufe der Zeit vielen angehört und mich
immer gefreut über die rein sachliche, von jedem Klickenwesen weit
entfernte Art der Verhandlung. Dagegen konnte ich mich manchmal des
Eindrucks nicht erwehren, daß die Berufungsgeschäfte nicht mit der
sorgfältigen Liebe behandelt werden, wie das an kleinen und mittleren
Universitäten geschieht, wo jeder Einzelne an der Person des neuen
Kollegen ein direktes Interesse hat. So erklärt sich auch die, nach
meiner Auffassung falsche Gewohnheit, nach Berlin Männer zu berufen
hauptsächlich nach dem wissenschaftlichen Ansehen, aber in einem Alter,
wo man von ihnen keine großen Dienste weder für die Wissenschaft,
noch für den Unterricht zu erwarten hat. Das gilt besonders für die
Naturforscher, die früher verbraucht sind, als die Vertreter der
Geisteswissenschaften, und ich habe mich immer wieder verpflichtet
gefühlt, Bedenken gegen die Berufung alter Personen zu erheben.

Im allgemeinen spielen die Naturforscher in der Berliner Fakultät
nicht die Rolle, die sie beanspruchen könnten. Die Vertreter der
Geisteswissenschaften sind zahlreicher und sicherlich zum Reden mehr
geneigt, vielleicht auch in der Form gewandter. Da sie ferner mehr
Zeit haben und die Sitzungen regelmäßiger und andauernder besuchen,
so führen sie hier das große Wort, und ich habe wiederholt gegen die
Verletzung der Interessen der Naturwissenschaften Einspruch erheben
müssen. Das hat zuweilen zu ziemlich erregten Debatten geführt und mir
wahrscheinlich bei der Gegenpartei einige Antipathie eingetragen.




                    Die Akademie der Wissenschaften


Die meisten Mitglieder der Akademie sind auch Professoren an der
Universität. Zur technischen Hochschule hat die Körperschaft erst
persönliche Beziehungen mit der Einrichtung der technischen Abteilung
in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse im Jahre 1900
erhalten.

Dazu kommen in der Regel noch einige Männer, die keine Lehrtätigkeit
ausüben, da die Akademie in der Wahl von Mitgliedern ganz frei ist.
Zu meiner Zeit war die letzte Art von Mitgliedern vertreten durch
den großen elektrischen Erfinder ~Werner von Siemens~, den Botaniker
~Pringsheim~, die Astronomen ~Auwers~ und ~Vogel~ und später durch
den Elektriker ~von Hefner-Alteneck~, sowie den Eisenbahnbaumeister
~Zimmermann~.

In der Akademie herrscht noch heute der vornehme Geist ihres Gründers
~Leibniz~, und ich habe mich während nunmehr der 25 Jahre, die
ich ihr angehöre, stets über den unparteiischen und unabhängigen
Sinn dieser Korporation gefreut. Jeder Versuch tatkräftiger Männer
aus der Staatsregierung, die Maßregeln ihrer inneren Verwaltung
zu beeinflussen, wurde einmütig abgewiesen. Auf der anderen Seite
war man natürlich, sobald materielle Wünsche in Frage kamen,
auf die Unterstützung der Staatsorgane angewiesen, und ich kann
sagen, daß die Akademie in der mir bekannten Periode von Seiten
des vorgeordneten Kultusministeriums dauernd großes Wohlwollen und
tatkräftige Unterstützung gefunden hat. Früher war es ~Althoff~ im
Kultusministerium, der ihre Geschäfte behandelte, und in den letzten 10
Jahren Fr. ~Schmidt~, der heute selbst Kultusminister ist.

Die inneren Geschäfte der Akademie wurden fast ausnahmslos in rein
sachlicher Weise und mit vornehmer Ruhe erledigt, die nicht selten
einen Anflug von Langeweile zeigt. Zu erregten Debatten kam es nur
zuweilen bei der Wahl neuer Mitglieder. Erst mit dem Krieg ist es
anders geworden. Er hat in der ersten Zeit auch verwirrend auf die
Denkweise mancher Akademiker zurückgewirkt; davon wird später noch die
Rede sein.

Obschon von ~Leibniz~ gegründet und in den Einzelheiten von ~Friedrich
dem Großen~ nach dem Muster der Pariser Akademie reorganisiert,
verleugnet die Berliner Akademie doch nicht ihren preußischen
Charakter. Das zeigt sich in der außerordentlich peinlichen, manchmal
pedantischen Form der Geschäfte und noch mehr in der Bestimmung, daß
jedes Mitglied alljährlich an einem bestimmten Tage nach der sogen.
Lesekarte einen wissenschaftlichen Vortrag zu halten hat. Es liegt auf
der Hand, daß ein solcher Zwang mit dem Wesen der wissenschaftlichen
Forschung in Widerspruch steht. Er ist auch von manchem Mitglied der
Akademie, wie mir bekannt, recht unbequem empfunden worden. Aber
wiederholte Anläufe, ihn abzuschaffen, sind gescheitert. Ebenso
überflüssig ist meines Erachtens die Bestimmung, daß Abhandlungen, die
in den Schriften der Akademie veröffentlicht sind, von dem Urheber
innerhalb der gesetzlichen Frist nur mit der Bewilligung der Akademie
anderweitig publiziert werden dürfen. Allerdings wird sie von den
Naturforschern wenig mehr beachtet, seit das Sekretariat derartige
Verstöße gegen das Statut sehr milde handhabt. Das ist sehr vernünftig,
denn der Naturforscher kann heutzutage nach einer Veröffentlichung in
der Akademie nicht 1 bis 2 Jahre warten, bevor er seine Resultate auch
in einer Fachzeitschrift mitteilt, da die Berichte der Akademie einen
zu kleinen Leserkreis besitzen. Diese könnte sich wohl damit begnügen,
die Priorität in der Veröffentlichung zu besitzen. Die erschwerten
Bedingungen der Publikation haben zur Folge gehabt, daß ich ebenso
wie die meisten anderen Berliner Naturforscher in den akademischen
Schriften nur einen kleinen Teil meiner Untersuchungen niedergelegt
habe, und das ist wohl der Grund, weshalb die Schriften der Akademie
als Publikationsorgan nicht die Bedeutung erlangt haben, wie es bei
ähnlichen ausländischen Akademieberichten der Fall ist. Im engeren
Kreise haben wir öfter die Frage erwogen, ob es zweckmäßig sei, eine
Änderung in der Redaktion der Sitzungsberichte eintreten zu lassen
in der Weise, daß über alle wichtigen Untersuchungen, die in den von
den Mitgliedern der Akademie geleiteten Instituten ausgeführt werden,
kurze Mitteilungen in die Sitzungsberichte zu machen wären. Aber die
geringe Neigung der Akademie, kurze, manchmal vorläufige Publikationen
aufzunehmen, die besonders in der philosophisch-historischen Klasse
zutage trat, ist derartigen Abänderungsplänen zu hinderlich gewesen.
Dazu kommt die bei solchen Korporationen nicht seltene Macht
der Gewohnheit, die alles Neue bekämpft, und die manchmal recht
absonderliche Formen annehmen kann. Ein kleines Beispiel mag das
illustrieren.

In dem alten Hause unter den Linden, das jetzt durch den Neubau
ersetzt ist, waren die Versammlungsräume der Akademie auf viel
kleinere Verhältnisse zugeschnitten. Beleuchtung und Heizung befanden
sich ungefähr im gleichen Zustand wie vor 100 Jahren, und die Folge
war, daß besonders in den öffentlichen Sitzungen in dem überfüllten
Saale eine entsetzliche Luft herrschte und manchem Akademiker, ebenso
wie der anwesenden Zuhörerschaft die meist zweistündige Dauer der
Sitzung zu einer kleinen Plage werden ließ. Man beschloß also eine
Änderung eintreten zu lassen, und da ich damals durch die Studien
für den Neubau des chemischen Instituts in Fragen der Heizung und
Ventilation Kenntnisse erworben hatte, so wurde ich beauftragt,
zusammen mit dem Physiker ~F. Kohlrausch~ eine solche Einrichtung
auch für den akademischen Sitzungssaal zu planen. Mit Hilfe eines
geschickten Ingenieurs war diese Aufgabe rasch gelöst. Aber als der
Plan zur Begutachtung der gesamten Akademie vorgelegt wurde und sich
dabei herausstellte, daß die Luft des Saales während der Sitzung 2
bis 3 Mal in der Stunde erneuert werden sollte, trat eine peinliche
Sorge vor Zugluft ein, und als gar ein angesehenes Mitglied der
Korporation erklärte, er würde dadurch kalte Füße bekommen, war trotz
der Versicherung, daß die eingeführte Luft angewärmt sei und durch
das Ausströmen aus zahlreichen kleinen Öffnungen den Charakter des
Zugwindes ganz verliere, unser Vorschlag nicht mehr zu retten.

Einen zweiten Mißerfolg ähnlicher Art habe ich als Mitglied einer
Kommission für den Neubau des Akademischen Hauses Unter den Linden
gehabt. Zwar sind Heizung und Ventilation hier nach unseren Vorschlägen
in vernünftiger Weise ausgeführt worden, aber bezüglich der Akustik
konnte ich nicht durchdringen. Nach meinen Erfahrungen beim Neubau
des chemischen Instituts hatte ich verlangt, daß die Sitzungssäle mit
kassetierten Holzdecken und auch mit möglichst viel Holzbekleidung an
den Wänden ausgestattet würden, da diese wie Resonanzböden wirken.
Obschon die Mitglieder der Akademie diesmal auf meiner Seite waren, ist
es mir nicht gelungen, den Eigensinn der Architekten zu überwinden.
Sie behaupteten von Akustik sehr viel zu verstehen, haben unseren Rat
in den Wind geschlagen und es auch richtig fertig gebracht, daß die
Akustik in dem Neubau recht viel zu wünschen übrig läßt.

Im Sommer 1893, bald nach meiner Aufnahme in die Akademie, habe ich in
der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse meinen ersten Vortrag
über die Synthese der Alkylglukoside gehalten, die der Ausgangspunkt
für viele andere Arbeiten geworden ist.

In der ~Leibniz~-Sitzung, die im Juli desselben Jahres stattfand, habe
ich auch meine Antrittsrede gehalten, die in den Sitzungsberichten
veröffentlicht ist und bei der ich nicht allein die Richtung meiner
eigenen Untersuchungen kennzeichnete, sondern auch in ganz kurzer
Form einen Überblick über die Entwicklung der Chemie während der
letzten 50 Jahre gab. Die Antwort darauf erteilte ~Dubois-Reymond~
und begrüßte mich als den zweiten Zuckerchemiker, gleichsam als den
Erben von ~S. Marggraff~ in der Akademie. Ich habe daraus von neuem
gesehen, welch populärer Stoff der Zucker ist, und als ich einige
Zeit später einen Vortrag über die Stereochemie der Zucker hielt, kam
~Helmholtz~ zu mir, um seiner Freude Ausdruck zu geben, daß die Chemie
derartige komplizierte Fragen des molekularen Baues behandeln könne.
Selbstverständlich war das Urteil eines solchen Mannes für mich und
meine Wissenschaft besonders ehrenvoll. Ich habe zwar gleich gemerkt,
daß er die Sache nur halb verstanden hatte, weil ihm die Tatsachen, auf
denen die Spekulation beruhte, zu fremd waren, aber mit dem Feingefühl
des Genies hatte er doch den großen Fortschritt erkannt, den die
Lehre von ~van't Hoff~ und ~Le Bel~ und ihre Spezialanwendung auf so
komplizierte Gebilde wie den Zucker der Chemie gebracht haben. Seitdem
ist mir, wie allen Mitgliedern der Akademie, alljährlich die Aufgabe
zugefallen, an einem bestimmten Tage einen Vortrag abwechselnd vor der
mathematisch-physikalischen Klasse und der gesamten Akademie zu halten.
Ich habe mich dabei stets bemüht, allgemeine, meinem Arbeitsgebiet
naheliegende Probleme in möglichst volkstümlicher Form zu behandeln
und in der Regel auch die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft gefunden.
Die in den Sitzungsberichten gleichzeitig von mir veröffentlichten
Experimentalarbeiten geben davon kein richtiges Bild, da sie nur ein
kleiner Ausschnitt aus dem Vortrag waren.

In jüngerer Zeit, wo auch das Programm der öffentlichen Sitzungen durch
wissenschaftliche Vorträge erweitert wurde, habe ich auf Einladung
der Akademie als Erster der mathematisch-physikalischen Klasse in der
Friedrichsitzung Januar 1907 über die Chemie der Proteine und ihre
Bedeutung für die Biologie gesprochen.

Die Geschäfte der Korporation werden nach den Beschlüssen der
Gesamtheit größtenteils von vier Sekretären geführt, aber wo
fachmännischer Rat nötig ist, treten auch die einzelnen Mitglieder in
Aktion, entweder für ihre Person allein, oder als Teile besonderer
Kommissionen. Wo chemischer Rat nötig war, hat die Körperschaft nie
versäumt, mich zu fragen. Einer meiner ersten Ratschläge hat leider
eine peinliche Folge gehabt.

Bei der Verleihung des Ordens pour le merite Friedensklasse an
ausländische Gelehrte wird nämlich die Akademie regelmäßig ersucht,
Vorschläge zu machen, und als es sich hierbei um die Wahl eines
Chemikers handelte, hielt ich mich für verpflichtet, in erster
Linie ~L. Pasteur~ und außerdem noch ~Frankland~ und ~van't Hoff~
vorzuschlagen. Akademie und Regierung schlossen sich dem an, und
der Orden wurde durch den deutschen Botschafter in Paris zuerst
~Pasteur~ angeboten. Dieser lehnte ab, was sein gutes Recht war. Aber
er beging gleichzeitig die Taktlosigkeit, seinen Entschluß nicht
geheim zu halten. Die Sache kam in die Öffentlichkeit und wurde von
der französischen Presse zu einer großen chauvinistischen Kundgebung
ausgenutzt. Als ich einige Jahre später Paris besuchte, um die dortigen
Laboratorien zu besichtigen und ~H. Moissan~ aufsuchte, richtete er an
mich sofort die Frage, weshalb die Berliner Akademie keinen Franzosen
mehr zum Mitglied wähle. Als ich ihm darauf antwortete, daran sei das
Benehmen von ~Pasteur~ schuld und die Sorge der Berliner Gelehrten
vor weiteren Skandalen, die der Würde der Wissenschaft nur schaden
könnten, gab er mir recht und betonte, daß auch die große Mehrheit der
französischen Forscher es für falsch halte, nationalistische Tendenzen
in der Wissenschaft gelten zu lassen. Seitdem haben eine ganze Reihe
von Franzosen, u. a. ~Marcellin Berthelot~, nach Vorschlag unserer
Akademie den Orden erhalten und angenommen.

Viel erfreulicher verlief ein anderer Antrag auf Ehrung eines
Ausländers, den ich viele Jahre später gemeinsam mit ~Walter Nernst~
stellte. Er betraf die Verleihung der goldenen Leibniz-Medaille an
Herrn ~Ernest Solvay~ in Brüssel und gleichzeitig an Herrn ~H. von
Böttinger~ als Anerkennung ihrer Verdienste um die Förderung der
Wissenschaften durch Zuwendung von reichen materiellen Mitteln. Beide
Herren erschienen in der Leibniz-Sitzung an 1. Juli 1909, um diese
Medaillen in Empfang zu nehmen, und abends hatten ~Nernst~ und ich das
Vergnügen, in den Räumen des Automobilklubs zu Ehren der beiden Herren
eine gesellige Zusammenkunft mit vielen Mitgliedern der Akademie, mit
hervorragenden Chemikern und anderen Personen des wissenschaftlichen
Berlins zu veranstalten. Mir fiel die Aufgabe zu, die beiden Herren
in einer Tischrede zu begrüßen. Das Fest verlief in harmonischer und
heiterer Stimmung, und die dabei gehaltenen Reden sind in einer kleinen
Schrift »Festmahl zu Ehren der Herren ~E. Solvay~ und ~H. v. Böttinger~
am 1. Juli 1909 im Kaiserlichen Automobilklub zu Berlin« zusammengefaßt
worden. Als Dank für die Ehrung machte Herr ~von Böttinger~ eine
Stiftung von 30000 M., die er auf meinen Rat zur Erwerbung von
Mesothorium bestimmte. Ich habe den Ankauf des Präparates besorgt und
dasselbe verwaltet, bis die Akademie den Neubau Unter den Linden wieder
bezog und dadurch die Möglichkeit erhielt, ihren gesamten materiellen
Besitz im eigenen Hause aufzuheben. Das Mesothorium ist inzwischen auf
meinen Rat von der Akademie mit großem Gewinn wieder verkauft und dafür
ein entsprechender Vorrat des viel haltbareren Radiums angeschafft
worden.

Außer dem Mesothorium habe ich auch länger als 20 Jahre die akademische
Instrumentensammlung, die in meiner Dienstwohnung zuerst in der
Dorotheenstraße und später in der Hessischenstraße untergebracht
war, verwalten müssen. Die Inventarisierung der einzelnen Objekte war
verhältnismäßig einfach, aber der Verkehr mit den Gelehrten, denen die
Instrumente überlassen wurden, brachte zuweilen unbequemen Briefwechsel
mit sich. Auch diese Verpflichtung bin ich inzwischen los geworden,
weil die Instrumentensammlung ebenfalls in das neue Haus der Akademie
übergeführt werden konnte, und jetzt von dem Archivar der Korporation
verwaltet wird.

Als Inhaber des akademisch-chemischen Laboratoriums und der damit
verbundenen Dienstwohnung in der Dorotheenstraße, einem der ältesten
wissenschaftlichen Laboratorien Berlins, das von ~S. Marggraff~
erbaut und in dem ~Achard~ zum erstenmal Rohrzucker in größerer Menge
(1700 Pf.) aus Zuckerrüben herstellte, stand ich zu der Akademie in
einem besonderen Verhältnis. Das trat besonders scharf hervor, als
der Plan eines Neubaues des chemischen Instituts gereift war, und
die Verlegung des Instituts an eine andere Stelle nötig wurde. Für
die Bewilligung der Bausumme stellte damals die Finanzverwaltung die
Bedingung, daß die Akademie auf den Besitz in der Dorotheenstraße
verzichten, und dafür einen Anteil an dem neuen Gebäudekomplex in der
Hessischenstraße erhalten soll. Es ist begreiflich, daß die Aufgabe
des alten Besitzes, der 150 Jahre der Akademie gehörte, und wo nicht
allein der akademische Chemiker, sondern zeitweise auch der Astronom
Unterkunft gefunden hatte, von manchem Mitglied der Korporation
schmerzlich empfunden wurde, und daß deshalb die Zustimmung der
Akademie zu dem neuen Plane von einer besonderen Verhandlung abhängig
gemacht wurde. Als die Stimmung zu schwanken schien, traten zwei
Männer auf das Entschiedenste für den Plan ein, der Mediziner ~Rudolph
Virchow~ und der Theologe ~Adolf Harnack~ mit der Bemerkung, daß die
Akademie verpflichtet sei, einer Wissenschaft wie der Chemie, wenn
sie in eine Notlage geraten sei, zu Hilfe zu kommen. Diese großzügige
Auffassung drang durch. Der Plan wurde einstimmig genehmigt, und ich
habe mich dauernd der Akademie für diese vornehme Handlung verpflichtet
gefühlt. Die Sympathie, die ich von Anfang an für sie gehabt habe,
ist dadurch noch um ein Erhebliches gesteigert worden. Infolgedessen
habe ich auch mit besonderer Freude eine Ehrung entgegengenommen, die
mir von der Akademie durch Verleihung der ~Helmholtz~-Medaille im
Januar 1909 erwiesen wurde. Die Medaille wird nicht nach dem Statut,
aber gewohnheitsgemäß alle zwei Jahre abwechselnd einem Physiker oder
Biologen gegeben. Demnach habe ich sie in letzter Eigenschaft erhalten,
weil meine chemischen Arbeiten die Biologie vielfach berühren. Durch
den Besitz der Medaille erhält man gleichzeitig das Recht, für neue
Verleihungen Vorschläge zu machen, und ich habe schon das nächste Mal
davon Gebrauch gemacht, um ~van't Hoff~ diese Ehre zuteil werden zu
lassen. Er empfing die Medaille einige Wochen vor seinem Tode. Es war
die letzte Ehrung, die ihm erwiesen wurde, und die ihm nach dem Zeugnis
der Gattin noch viele Freude bereitet hat. Selbstverständlich habe
ich auch immer mitgewirkt, wenn es sich um die Wahl von Chemikern zum
ordentlichen oder korrespondierenden Mitglied handelte, und mit großer
Befriedigung kann ich bezeugen, daß in allen diesen Geschäften bei den
Chemikern der Akademie volles Einverständnis leicht zu erzielen war.
Speziell erwähnen will ich die Wahl zu auswärtigen Mitgliedern, die auf
meinen Vorschlag 1900 für ~M. Berthelot~ und 1905 für ~A. von Baeyer~
stattfand. Zusammen mit ~van't Hoff~ hatte ich das Vergnügen, die
letzte Wahl bei der Feier des 70-jährigen Geburtstages ~von Baeyer~ im
Oktober 1905 in München verkünden zu können.

An der Feier des 200-jährigen Stiftungsfestes der Akademie konnte ich
leider nicht teilnehmen, weil ich wegen einer hartnäckigen Schwäche
des Stimmbandes einen längeren Aufenthalt an der Riviera nehmen
mußte. Die Feier brachte der Akademie eine Vermehrung der Mitglieder,
speziell für die mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse die
Abteilung für technische Wissenschaften, in die als erste Mitglieder
die Herren ~Müller~-Breslau, Professor an der technischen Hochschule
zu Charlottenburg, ~Martens~, Direktor des Materialprüfungsamtes zu
Lichterfelde und ~von Hefner-Alteneck~, elektrotechnischer Erfinder,
früher Beamter der Firma Siemens & Halske, gewählt wurden. Dadurch
erhielt die Akademie Gelegenheit, hervorragende auswärtige Vertreter
der Technik durch Ernennung zu korrespondierenden Mitgliedern zu ehren,
und ich habe mir wiederholt erlaubt, solche Wahlen für technische
Chemiker, z. B. für ~Ludwig Mond~, ~Ernest Solvay~ und ~Auer von
Welsbach~ anzuregen.

Die Bedeutung einer wissenschaftlichen Akademie ist selbstverständlich
in erster Linie bedingt durch das wissenschaftliche Ansehen der
einzelnen Mitglieder. Zur Zeit meines Eintritts gehörten zur Berliner
Akademie eine verhältnismäßig große Anzahl von Männern ersten Ranges.
An der Spitze der Naturforscher stand ~Hermann von Helmholtz~, ein
wissenschaftliches Universalgenie; denn er hat nicht allein in der
Physik, Physiologie und Mathematik grundlegend gewirkt, sondern auch in
der Erkenntnistheorie Achtenswertes geleistet. Wenn man von ~Alexander
von Humboldt~ absieht, so war er der vielseitigste Naturforscher des
19. Jahrhunderts, nicht allein in Deutschland, sondern wahrscheinlich
in der Welt, und diese Vielseitigkeit hat der Gründlichkeit seiner
Forschung nicht den geringsten Abbruch getan. Dazu besaß er in
hohem Maße die Gabe, naturwissenschaftliche Erkenntnis in leicht
verständlicher Form und vornehmer Sprache weiteren Kreisen zugänglich
zu machen, und ich kenne wenig naturwissenschaftliche Schriften,
die auf mich in jüngeren Jahren so anregend gewirkt haben, wie die
von ~Helmholtz~ publizierten Vorträge über verschiedene Zweige der
Physik, Physiologie und Mathematik. Vielleicht hat ~Justus Liebig~
durch seine populären Schriften über die Bedeutung der Chemie für den
Ackerbau, die Künste und Gewerbe größeren Einfluß auf die Entwicklung
des wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland
gehabt, aber an Feinheit der Darstellung und Schönheit der Form
können sie den Vorträgen von ~Helmholtz~ nach meinem Empfinden nicht
gleichgestellt werden. Zu der Zeit, als ich ~Helmholtz~ kennen lernte,
war er schon 72 Jahre alt und eine in jeder Beziehung abgeklärte
Persönlichkeit. Es war für uns Jüngere stets ein besonderes Vergnügen,
wenn er in der Fakultät oder Akademie das Wort ergriff und in ruhiger
besonnener Art seine Meinung äußerte. Ich habe wiederholt Gelegenheit
gehabt, mit ihm Privatgespräche zu führen, bei denen er stets ein
wohlwollendes Interesse an der Chemie kund gab. Diese persönliche und
innige Berührung zwischen einzelnen Mitgliedern der Akademie vollzog
sich in ungezwungener Form bei den Nachsitzungen, die in einem Kaffee
stattfanden, zuerst im Hotel de Rome und später in verschiedenen
anderen Kaffees Unter den Linden oder in der Potsdamer Straße. Diese
Nachsitzungen waren nicht selten belehrender und vor allen Dingen
unterhaltender als die amtliche Hauptsitzung. Als ~Helmholtz~ im August
1894 starb, war es mir als Vorsitzender der chemischen Gesellschaft, zu
deren Ehrenmitgliedern er gehörte, eine angenehme Pflicht, ihm einen
Nachruf zu widmen, der in den Berichten der Gesellschaft gedruckt
wurde, und in dem ich meiner Bewunderung für den großen Mann vollen
Ausdruck gegeben habe.

Eine zweite sehr interessante Persönlichkeit in dem akademischen Kreise
war ~Rudolph Virchow~, pathologischer Anatom, Hygieniker, Anthropologe
und Politiker, ein Mann von einer ungewöhnlichen Arbeitskraft, der
trotz der Zersplitterung seiner Tätigkeit alles, was er anfaßte, mit
großer Gründlichkeit und Überlegung besorgte. Noch im Alter von 80
Jahren pflegte er nicht allein den ganzen Tag, sondern auch die halbe
Nacht der Arbeit zu widmen, besaß dafür allerdings auch das Talent,
jede freie Minute sogar in den Sitzungen oder bei Gesellschaften zum
Schlaf benutzen zu können. Er war scharf in seinem Urteil und konnte
gegen Auswüchse der Medizin und Hygiene oder gegen Mißgriffe der
Staatsverwaltung in schärfster Weise auftreten. Aber ich habe stets
den Eindruck bekommen, daß er sich nur durch sachliche Gründe und
durch vornehme politische, soziale oder wirtschaftliche Grundsätze
führen ließ. Zu mir persönlich ist er immer sehr freundlich gewesen,
und seiner wirkungsvollen Unterstützung bei dem Neubau des chemischen
Instituts habe ich schon gedacht. Aus der Akademie erinnere ich mich
eines scharfen und erfolgreichen Protestes, den er gegen die Aufnahme
einer von ~S. Schwendener~ präsentierten Abhandlung eines gewissen Dr.
~Pinkus~ über den vermeintlichen Zusammenhang zwischen dem Wachstum
der Kopfhaare und dem Schicksal ihres Trägers in die Sitzungsberichte
erhob. Seine Kritik war in biologischen Kreisen gefürchtet, aber von
der großen Mehrzahl als sachlich anerkannt. Bei mir hat er einmal
an einem Abendessen teilgenommen, das ich zu Ehren von ~William
Ramsay~ veranstaltete. Als wir aus dem warmen Eßzimmer in die etwas
unterkühlten Gesellschaftszimmer übersiedelten, sagte er scherzhaft
zu mir: »Sie scheinen wie der Schah von Persien über alle Klimatas zu
verfügen«, worauf ich ihm erwiderte, daß in der Chemie die Periode der
extremen Temperaturen begonnen habe.

Ein anderer hervorragender Mediziner in der Akademie war der Physiologe
~E. Dubois-Reymond~, besonders bekannt geworden durch die zahlreichen
akademischen Reden, die er als Sekretär der Korporation gehalten hat.
Er war zweifellos auch ein geistreicher Mann und von ungewöhnlicher
formaler Gewandtheit. Von Zeit zu Zeit lese ich noch heutzutage
einzelne seiner Reden mit Genuß, wenn sich auch nicht leugnen läßt,
daß die Effekthascherei dabei eine gewisse Rolle spielt, und die
übertriebene mechanistische Tendenz einer überwundenen Periode der
Wissenschaft angehört.

Von der Chemie verstand ~Dubois-Reymond~ wenig, aber er war doch
einsichtsvoll genug gewesen, ihr in seinem neuerbauten physiologischen
Institut eine ziemlich große Abteilung mit selbständiger Leitung
zu gewähren, und wenn man sich daran erinnert, daß ~E. Baumann~
und ~A. Kossel~ als Vorsteher dieser Abteilung einen großen Teil
ihrer wissenschaftlichen Arbeiten ausgeführt haben, so muß man
~Dubois-Reymond~ zugestehen, daß er in der Wahl seiner Mitarbeiter eine
glückliche Hand gehabt hat.

Die allgemeine Vorlesung über die Fortschritte der Naturwissenschaften,
die er jahrzehntelang als Publikum gelesen hat, war berühmt nach Inhalt
und Form und wurde von den Mitgliedern aller Fakultäten gerne besucht.
Daß sie seit seinem Tode in Berlin fehlt, ist zweifellos eine Lücke in
dem naturwissenschaftlichen Unterricht der Universität, aber ich wüßte
augenblicklich niemand in unserem Kreise zu nennen, der imstande wäre,
wie ~Dubois~ diese Aufgabe zu lösen.

Unter den jüngeren Naturforschern der Akademie traf ich zwei alte
Bekannte, den Botaniker ~Engler~, der gleichzeitig mit mir Privatdozent
in München gewesen war und den Physiker ~August Kundt~, meinen lieben
Lehrer aus Straßburg, dessen ich früher schon gedacht habe. Er hatte
sich mit der ihm eigenen Energie in Berlin nicht allein in die
Aufgabe des Lehrers und Forschers, sondern auch in den Strudel des
gesellschaftlichen Lebens gestürzt. Dem war seine Gesundheit nicht
gewachsen. Ein schweres Herzleiden machte sich schon damals bemerkbar
und im Mai 1894 ist er daran gestorben. Es war mir eine angenehme
Pflicht, ihm in den Berichten der chemischen Gesellschaft einen kurzen
Nachruf zu widmen. Die Chemiker werden immer dankbar anerkennen, daß
er zusammen mit ~Warburg~ die Einatomigkeit des Quecksilberdampfes
nach seiner allgemeinen Methode der Schallgeschwindigkeit eindeutig
bewies und damit das gleiche für die später entdeckten Edelgase möglich
machte. ~Kundt~ war ein ausgezeichneter Lehrer und lieber Mensch,
der auf jüngere Naturforscher eine große Anziehungskraft ausübte und
dessen Tod eine große Lücke in unseren naturwissenschaftlichen Kreis
riß. Das zeigte sich sofort bei der Berufung eines Nachfolgers. Auf
Anregung von ~Helmholtz~ präsentierte die Fakultät dem Ministerium
nur einen Kandidaten, ~Friedrich Kohlrausch~. Aber ehe er zusagte,
starb ~Helmholtz~ und ~Kohlrausch~ wurde nun sein Nachfolger an der
physikalisch-technischen Reichsanstalt zu Charlottenburg.

Die Wahl des Physikers an der Universität mußte dann einstweilen
verschoben werden, weil keine Persönlichkeit in Deutschland vorhanden
war, die alle Beteiligten befriedigte. Infolgedessen tauchte im Laufe
des Winters der Gedanke auf, ~J. H. van't Hoff~ für die Stelle zu
gewinnen, nachdem bekannt geworden war, daß er nicht ungern Amsterdam
verlassen würde. Die Unterrichtsverwaltung ging rasch auf diesen
Plan ein, und zunächst wurde Professor ~M. Planck~ nach Amsterdam
geschickt, um mit ~van't Hoff~ die Möglichkeit einer solchen Berufung
zu überlegen. Den weiteren Verlauf der Verhandlung habe ich in einer
Gedächtnisrede auf ~van't Hoff~ geschildert, die ich bald nach seinem
Tode in der Leibnizsitzung der Akademie hielt. Er lehnte die Professur
an der Universität ab, wurde aber dafür ein Jahr später als Akademiker
nach Berlin gerufen und erhielt nun eine außerordentliche Professur an
der Universität mit dem Charakter als Honorarprofessor, um sein Gehalt
auf eine angemessene Höhe bringen zu können. An der Berufung ~van't
Hoffs~ habe ich selbstverständlich regen Anteil genommen und bin dafür
durch ein schönes Freundschaftsverhältnis belohnt worden, das bis zu
seinem Tode dauerte, und das mich mit diesem bedeutenden Naturforscher
in nahe Berührung gebracht hat. Abgesehen von einigen kleinen Schwächen
war er ein prächtiger Mann von origineller Denkart und kaum minder
originell in seinen Lebensgewohnheiten. Eine öffentliche Vorlesung über
chemische Theorien hat er regelmäßig in unserem Institut gehalten,
während er sich für seine Experimentalstudien zusammen mit ~Meyerhofer~
ein bescheidenes Privatlaboratorium eingerichtet hatte.

Nachdem ~van't Hoff~ die physikalische Professur an der Universität
abgelehnt hatte, wurde ~Emil Warburg~ berufen. Als er 10 Jahre später
als Nachfolger von ~Kohlrausch~ an die physikalisch-technische
Reichsanstalt ging, wurde ~Drude~ Professor der Physik an der
Universität, fand aber schon nach kurzer Zeit ein tragisches Ende.
Seitdem ist ~Rubens~, der Entdecker der Reststrahlen bei uns der
Vertreter der Experimentalphysik, während die theoretische Physik in
der ganzen Zeit meiner Berliner Tätigkeit in würdigster Weise von ~M.
Planck~ geleitet und gepflegt wurde. Mit allen diesen Physikern, welche
durchweg verständige, wohlwollende und ruhig denkende Menschen waren,
habe ich im freundschaftlichen Verhältnis gestanden. Besonders gilt das
von ~Friedrich Kohlrausch~, mit dem ich schon in Würzburg befreundet
war. In der großen Stadt ist zwar der ungezwungene leichte Verkehr,
wie Würzburg ihn bot, kaum möglich, aber mit ~Kohlrausch~ bin ich
doch wieder in sehr nahe persönliche Berührung gekommen durch einige
Versuche, die wir im Jahre 1898/99 miteinander ausführten, und die
nichts geringeres bezweckten, als eine Verwandlung chemischer Elemente
ineinander. Lange bevor man solche Erscheinungen bei den radioaktiven
Substanzen beobachtete, hatte ich mir die Meinung gebildet, daß auf
der Sonne und anderen Fixsternen, nach den dort herrschenden extremen
Temperaturen und den besonderen Druckverhältnissen sich elementare
Verwandlungen vollziehen und daß der wirkliche Zustand der Sonne in
bezug auf die chemischen Elemente ein Gleichgewichtszustand sei. Als
Hypothese habe ich diese Ansicht auch häufig in meinen Vorlesungen
geäußert, allerdings niemals darüber publiziert, weil ich keine
tatsächlichen Gründe dafür anführen konnte. Ich war nun weiter auf
den Gedanken gekommen, daß man vielleicht elementare Verwandlungen
erreichen könne, wenn man auf eine kleine Menge von Stoff eine
ungeheure Menge von Energie konzentriere und schlug ~Kohlrausch~ vor,
solche Versuche mit Wasserstoff in sehr verdünntem Zustand bei langer
Einwirkung von Kathodenstrahlen auszuführen. Der Gedanke schien nicht
unsinnig, und wir hatten uns einen hübschen Apparat zusammengebaut, der
es gestattete, den mit Kathodenstrahlen behandelten Wasserstoff auf
den Druck von 6 bis 8 mm zu konzentrieren und dann spektralanalytisch
zu prüfen. Speziell hatten wir die Hoffnung, den Wasserstoff ganz oder
teilweise in Edelgas überzuführen. Die Herstellung des Apparates, der
Kathodenstrahlen, der Vakuumpumpe usw. fiel natürlich dem Physiker
zu. Ich übernahm dafür die sorgfältige Reinigung der Materialien, der
Glasgefäße, des Quecksilbers und des Wasserstoffes, der zuletzt immer
aus Paladiumwasserstoff bereitet wurde. Wir haben so manchen Nachmittag
bis in die späten Abendstunden hinein zusammen gearbeitet, leider ohne
ein sicheres Resultat zu erzielen. Besondere Schwierigkeiten machten
uns die Kathodenstrahlen, weil mit der Reinheit der Kathoden der
Widerstand außerordentlich wuchs, und schließlich solche Spannungen
angewandt werden mußten, daß die Gefäße es nicht mehr aushielten. Wir
haben nichts darüber publiziert und das ist der Grund, warum ich hier
so ausführlich darüber gesprochen habe. Etwa 10 Jahre später sind
ähnliche Versuche von englischen Physikern veröffentlicht worden,
welche der Meinung waren, daß sie dabei die Entstehung von Edelgasen
sicher beobachtet hätten. Sie scheinen sich aber getäuscht zu haben;
denn später hat man von dieser Entdeckung nichts weiter als abfällige
Kritik gehört, und daß ein solcher Irrtum leicht eintreten kann, wird
jeder, der sich mit ähnlichen Versuchen beschäftigt hat, zugeben.

Eine andere kleine Arbeit habe ich viele Jahre später mit ~Heinrich
Rubens~ angestellt. Sie betraf die Prüfung der von dem Physiologen
~Rosenthal~ aufgestellten Behauptung, daß Wechselströme eine Hydrolyse
von Stärke und ähnlichen Kohlenhydraten bewirken können, wenn die
Schwingungszahl eine angemessene, aber für jeden Fall verschiedene Höhe
erreicht hat. Unsere Versuche fielen ganz negativ aus, wurden aber
nicht publiziert, weil uns die Sache nicht mehr interessierte, sobald
der Irrtum von ~Rosenthal~ festgestellt war. Einige Jahre später hat
ein Physiko-Chemiker die ~Rosenthal~'sche Behauptung auch öffentlich
widerlegt. Die Ursache des Irrtums ist ihm aber verborgen geblieben.
Ich glaube dieselbe gefunden zu haben durch die Beobachtung, daß der
verwandte Stärkekleister in der Tat reduzierende Eigenschaften annehmen
kann, wenn man ihn im offenen Gefäß einer langen Behandlung mit
Wechselstrom unterwirft; denn dann bildet sich in der umgebenden Luft
Ozon, das die Stärke in der Wärme rasch angreift und in reduzierende
Substanzen verwandelt. Man vermeidet diesen Fehler vollständig, sobald
man die den Stärkekleister enthaltenden Gefäße verschließt. Die Wirkung
des Ozons auf Stärkekleister, die meines Wissens schon in rohem Umriß
bekannt ist, verdient übrigens eine nähere Untersuchung bezüglich der
dabei entstehenden Produkte, und ich hoffe selbst noch Gelegenheit zu
haben, darüber neue Erfahrungen zu sammeln.

Mein Spezialkollege sowohl in der Akademie wie Fakultät war der
Chemiker ~Hans Landolt~, ungefähr 20 Jahre älter wie ich. Wie früher
erwähnt, hätte ich 1880 sein Nachfolger in Aachen werden können, als er
an die Landwirtschaftliche Hochschule zu Berlin übersiedelte. Von dort
wurde er als Nachfolger von ~Rammelsberg~ an die Universität berufen
und mit der Direktion des II. chemischen Instituts der Universität
in der Bunsenstraße betraut. Als Sachverständiger war er bei meiner
Berufung nach Berlin und auch bei der Aufnahme in die Akademie
besonders stark beteiligt.

~Landolt~, der Sprosse einer alten Züricher Familie, verleugnete trotz
seines langen Aufenthaltes in Deutschland nicht den Schweizer. Er war
ein kluger, kritisch veranlagter Kopf und ein Mann von aufrichtigem
angenehmen Charakter. Als Forscher nahm er keine hervorragende
Stellung ein, aber seine Bücher, besonders die großen, mit ~Börnstein~
zusammen publizierten Tabellen erfreuen sich in den Fachkreisen großer
Wertschätzung. Wir sind sehr gut miteinander ausgekommen und haben
nur äußerst selten in geschäftlichen Dingen verschiedene Ansichten
vertreten. Er war kein Führer, weder in der Wissenschaft noch in der
Berliner Gelehrtenkorporation, aber er erfreute sich wegen seines
besonnenen Urteils und seiner allgemeinen Charaktereigenschaften
in unserem Kreise allgemeiner Beliebtheit. Das zeigte sich bei der
Feier seines 70. Geburtstages, den er kurz nach einer schweren
Gallensteinoperation erlebte. Mir war es bei dieser Gelegenheit ein
Vergnügen, beim Festessen die Rede auf den Jubilar zu halten und darin
auch des schönen kollegialen Verhältnisses zu gedenken, das zwischen
uns dauernd bestanden hat. Auch zu seiner Gattin und der Tochter,
die an Professor ~O. Liebreich~ verheiratet war, bin ich in ein
freundschaftliches Verhältnis getreten. Frau ~Landolt~ hat sich ein
Verdienst um den geselligen Verkehr der chemischen Privatdozenten und
Assistenten erworben, die sie häufig zu sich einlud, und ihnen damit
den gesellschaftlichen Anschluß ermöglichte, den ich leider bei meiner
zurückgezogenen Lebensweise nicht bieten konnte.

Im Alter von 74 Jahren gab ~Landolt~ die Professur an der
Universität auf und zog sich zurück in die physikalisch-technische
Reichsanstalt zu Charlottenburg, um die subtilen Versuche über
etwaige Gewichtsveränderung der Gesamtmaße bei chemischen Reaktionen
fortzusetzen, die er während mehr als 10 Jahre im II. chemischen
Institut angestellt hat. Für diese Versuche war er besonders veranlagt.
Es machte ihm große Freude, die Wägungen immer mehr zu verfeinern und
etwaige Fehlerquellen aufzuspüren. Nach manchen Schwankungen kam er,
wie bekannt, zu dem Resultat, daß bei chemischen Vorgängen keine durch
unsere jetzigen Hilfsmittel nachweisbare Gewichtsveränderung eintritt.
Das war nichts Neues; denn derselbe Satz gehört zu den Grundlehren
der Chemie, aber es ist doch ein zweifelloses Verdienst, wenn gerade
solche fundamentalen Sätze von Zeit zu Zeit mit den fortgeschrittenen
technischen Hilfsmitteln geprüft werden, und der Name ~Landolt~ wird
sich wahrscheinlich in der Geschichte der Wissenschaft mehr an diese
Versuche knüpfen als an seine sonstigen wissenschaftlichen Arbeiten.

~Landolts~ Nachfolger an der Universität wurde ~Walter Nernst~, der
ausgezeichnete Physiko-Chemiker zu Göttingen. Bei dieser Gelegenheit
wurde das II. chemische Institut umgetauft in »Physikalisch-chemisches
Institut der Universität« und damit verlor auch das I. chemische
Institut seine I und erhielt wieder den alten einfachen Namen
»Chemisches Institut der Universität«.

Wie begreiflich wurde ~Nernst~ auch bald in die Akademie der
Wissenschaften gewählt und die Chemie war dann durch eine Gruppe von
4 Männern, ~Landolt~, ~van 't Hoff~, ~Nernst~ und mich vertreten,
die ihr in allen fachlichen Fragen den gebührenden Einfluß sichern
konnten. ~Nernst~, den ich schon von Würzburg her kannte, weil er dort
beim Doktorexamen in Chemie von mir geprüft wurde, ist mir später
ein lieber und hilfsbereiter Kollege gewesen. Sowohl in der Fakultät
wie in der Akademie haben wir fast immer einmütig zusammen gehandelt
und nur bei der Besetzung von chemischen Lehrstühlen an anderen
preußischen Universitäten standen zuweilen die Ratschläge, die wir dem
Kultusminister gaben, miteinander in Widerspruch. Am schärfsten trat
das zutage bei der Besetzung der Professur in Breslau nach dem Abgang
von ~Buchner~. Die Fakultät hatte ~Abegg~ vorgeschlagen und dieser
Kandidat fand die lebhafteste Unterstützung von ~Nernst~. Ich war aber
der Meinung, daß die Professur der Experimentalchemie und die Direktion
des chemischen Instituts einem Experimentalchemiker übertragen werden
sollte, während man für ~Abegg~ eine besondere ordentliche Professur
für physikalische Chemie schaffen sollte. Nach langem Schwanken hat
der Minister Professor ~Biltz~ aus Kiel nach Breslau berufen und damit
den von mir ausgesprochenen Grundsatz als gerechtfertigt anerkannt.
~Nernst~ soll diese Wendung der Dinge nicht allein für die Person
des Herrn ~Abegg~, sondern auch für die physikalische Chemie als
Zurücksetzung empfunden haben, wie mir allerdings nur auf Umwegen
bekannt geworden ist. Ich will hier offen bekennen, daß ich niemals der
Entwicklung der physikalischen Chemie hinderlich entgegengetreten bin,
sondern sie stets als notwendigen Bestandteil des Unterrichts und der
Forschung anerkannt und auch bei den Behörden empfohlen habe. Ich hätte
sogar in dem neuen Institut eine besondere Abteilung für physikalische
Chemie eingerichtet, wenn nicht die Herren ~van't Hoff~ und ~Landolt~
sich dagegen ausgesprochen hätten mit der Begründung, daß man ihnen
die Vertretung der physikalischen Chemie allein überlassen sollte. Die
Berechtigung dieses Wunsches lag auf der Hand, und so habe ich meine
Absicht fallen lassen, obschon es damals ziemlich leicht gewesen wäre,
Professor ~Bredig~ aus Leipzig für unser Institut zu gewinnen. Meine
Hoffnung, daß mit der Berufung von ~Nernst~ alle studierenden Chemiker
in Berlin seine Vorlesungen und Übungen besuchen und sich genügend in
physikalischer Chemie unterrichten würden, hat sich allerdings nicht
erfüllt. Die große Stadt bringt es mit sich, daß der Student sich so
weit wie möglich auf den Besuch eines Fachlaboratoriums beschränkt und
dazu kommt noch, daß im Berliner Doktorexamen die chemische Technologie
als Nebenfach gewählt werden darf, so daß für physikalische Chemie
kein Raum mehr bleibt. Ich halte das, offen gestanden, für eine Lücke
unseres Unterrichtes, und ich habe mich selbst immer bemüht, durch
die Handhabung des Doktorexamens den Studenten die Wichtigkeit der
physikalischen Chemie klar zu machen, aber ich kann mir doch nicht
verhehlen, daß es wirksamer wäre, sie obligatorisch zu machen und
hoffe, daß diese Maßregel nach dem Kriege auch getroffen wird.

~Nernst~ ist kein einseitiger Fachgelehrter, sondern interessiert sich
auch für industrielle und wirtschaftliche Dinge, wozu er durch die
Erfindung seiner elektrischen Lampe genügende praktische Gelegenheit
fand. Er ist ferner Automobilist und Landwirt, Jäger und war während
des Krieges sogar Soldat. Das entspricht ganz seinem lebhaften Geiste,
seiner großen Energie und seinem leidenschaftlichen Empfinden. Zusammen
mit seiner liebenswürdigen Gattin und seinen Kindern hat er auch ein
gastfreies Haus in Berlin eingerichtet, wo die jungen Chemiker und
Physiker leicht Aufnahme finden. Er war anfangs der Meinung, daß ich
auf seine gesellschaftlichen Bemühungen eifersüchtig werden könnte und
sprach sich darüber freimütig aus. Meine Antwort, daß ich nicht den
geringsten Wert darauf lege, gesellschaftlich eine Rolle zu spielen
und ihm nur dankbar sein könnte, wenn er sich dieser Verpflichtung
unterziehe, war für ihn ebenso überraschend wie beruhigend.

Auf unsere gemeinsame Arbeit bei dem Plane zur Errichtung einer
chemischen Reichsanstalt und bei der Gründung des Kaiser Wilhelm
Instituts für Chemie werde ich später zurückkommen. Dasselbe gilt für
die Herren ~Haber~, ~Beckmann~ und ~Willstätter~, die erst mit der
Gründung der Kaiser Wilhelm Institute nach Berlin kamen, und dann in
die Akademie aufgenommen wurden.

Zu den Mineralogen und Geologen bin ich in kein näheres Verhältnis
getreten. Zwar habe ich mich ernstlich bemüht, das Interesse der jungen
Chemiker für Kristallographie und Mineralogie zu wecken und auch eine
kleine Anzahl von Mineralien, die ich der Güte des Herrn Kollegen
~Klein~ verdankte, in einem Verbindungssaal des chemischen Instituts
aufgestellt, aber es ist mir nicht gelungen, eine rege Beteiligung der
Chemiker an kristallographischen oder mineralogischen Vorlesungen oder
Übungen zu erreichen. Das hängt zusammen mit den Verhältnissen der
Großstadt und der für Chemiker nicht zweckmäßigen Promotionsordnung der
philosophischen Fakultät.

Unter den Biologen haben mich am meisten die Physiologen ~S.
Schwendener~, ~Haberlandt~ und der Mediziner ~M. Rubner~ interessiert.
Sie waren alle drei gut unterrichtete Gelehrte und verdiente Forscher.
Ich bin mit den beiden letzteren, namentlich während des Krieges bei
mannigfachen Beratungen über Ernährung häufig zusammengekommen.

In der philosophisch-historischen Klasse der Akademie war bei meinem
Eintritt ~Theodor Mommsen~ die hervorragendste Persönlichkeit.
Trotz der demokratischen Verfassung der Akademie war sein Einfluß
in der philosophisch-historischen Klasse so groß, daß er seine
Meinung in fast allen wichtigen Fragen durchzusetzen wußte.
Am deutlichsten trat für uns Naturforscher seine Macht in die
Erscheinung, wenn er die Wahl von neuen Mitgliedern für seine Klasse
zu vereiteln suchte. Seine Machtstellung verdankte er übrigens den
ungewöhnlichen wissenschaftlichen Leistungen und der außerordentlichen
Schlagfertigkeit seiner Kritik, in der er den formgewandten und
leidenschaftlichen Verfasser der römischen Geschichte nicht
verleugnete. Wer dieses Werk gelesen hat, kann sich dem Eindruck seines
Genies und seiner gewaltigen Arbeitskraft nicht entziehen. Ich selbst
habe nur hier und da kurze Gespräche mit ihm geführt und sein Erstaunen
hervorgerufen durch die Mitteilung, daß ich als Gymnasiast auf Anregung
eines Oberlehrers selbst Abklatsche von römischen Inschriften meiner
Heimat angefertigt hatte. Noch ein zweites Mal ist es mir gelungen, ihn
in eine gewisse Aufregung zu versetzen, als ich in der philosophischen
Fakultät einen harten Kampf gegen die Promotion von russischen
Chemikern ohne ausreichende Vorbildung führte und dabei auf das frühere
Vorgehen von ~Mommsen~ gegen den allerdings viel schlimmeren Unfug der
Promotion in absentia an einigen deutschen Universitäten hinwies. Er
trat infolgedessen auch wirklich bei der Abstimmung auf meine Seite,
und ich gewann dadurch eine kleine Majorität in dem von mir um die Ehre
meiner Wissenschaft geführten Kampf.

Auch den Historiker ~Sybel~, den Verfasser der Geschichte der
französischen Revolution und der Gründung des Deutschen Reiches habe
ich in der Akademie kennen gelernt, nachdem ich seine Werke teilweise
vorher gelesen. Die letzten Vorträge, die er uns hielt, waren durch
Feinheit der Form ausgezeichnet.

~Treitschke~ kam erst später in die Akademie, nachdem ~Mommsen~
gestorben und sonstiger Widerstand durch den Erfolg seiner deutschen
Geschichte beseitigt war. Er ist selten in unserem Kreise erschienen,
weil er schon krank war und bald nachher starb. Ich kannte ihn aber
längst von der philosophischen Fakultät her. Er war damals schon so
schwerhörig, daß er von den Verhandlungen kaum ein Wort verstand,
hatte aber doch den Ehrgeiz, wenn irgend möglich, in die Diskussion
einzugreifen und ließ sich für den Zweck von einem seiner Nachbarn
Stichworte aufschreiben, die den Lauf der Debatte kennzeichnen
sollten. Ich selbst habe an einem Abend diese Aufgabe übernommen und
muß gestehen, daß sie recht schwer zu erfüllen war. Wenn ~Treitschke~
aus dem Stichwort den Stand der Verhandlung richtig entnahm, so
war ich erstaunt zu sehen, mit welcher Schnelligkeit er den ganzen
Komplex der Fragen erfasste und mit seiner großen Beredsamkeit sich
darüber verbreitete. Es kam aber auch vor, daß er durch Mißverständnis
des Stichwortes ganz falsch ging und dann über Dinge redete, die
mit der verhandelten Frage in gar keinem Zusammenhang standen.
Charakteristisch für ihn war die große Leidenschaft, mit der er alle
ihn interessierenden Dinge ergriff und mit dichterischem Schwung
besprach. Dieser Eigenschaft war zum großen Teil der starke Einfluß
zuzuschreiben, den seine Vorträge auf die akademische Jugend ausübten.

Eine ganz andere Natur war der Germanist ~Erich Schmidt~, ausgezeichnet
durch körperliche Schönheit, klangvolle Stimme und liebenswürdiges
Wesen. Er galt mit Recht als ausgezeichneter Redner und vorzüglicher
Kenner der deutschen Literatur. Von der Berliner Gesellschaft wurde
er reichlich verwöhnt, und die fast täglichen Abendessen, die er
jahrelang in dem Kreise der Hautefinance oder des hohen Beamtentums
mitmachte, haben zweifelsohne mit zu seinem verhältnismäßig frühen Tode
beigetragen.

Von der so häufigen Pedanterie des Philologen war nicht das geringste
bei ihm zu bemerken, obschon er eine gründliche fachwissenschaftliche
Bildung besaß und auch dauernd wissenschaftlich tätig blieb. In
geschäftlichen Dingen, falls sie ihn interessierten, bewies er große
Gewandtheit und Sicherheit, und ich habe ihn für den besten Dekan
gehalten, den die philosophische Fakultät während meiner 25-jährigen
Angehörigkeit besessen hat.

Da seine Frau eine geborene ~Strecker~ und Halbschwester der Frau
~Leube~ war, so bin ich mit ihm hier und da auch in gesellschaftlichen
Verkehr gekommen und kann nur sagen, daß ich ebenso wie viele andere
Menschen von seiner strahlenden Persönlichkeit eingenommen war.

In gewissem Gegensatz zu ~Erich Schmidt~ stand der klassische Philologe
~Diels~, ein prächtiger Mann, klug, wohlwollend, durchaus nicht
einseitig in Wissen und Anschauungen und sehr brauchbar als Sekretär
der Akademie. Manche Reden, die er in dieser Eigenschaft hielt, darf
man wegen der feinen Form und des gedanklichen Inhalts als Perlen
bezeichnen. Mit seinen Söhnen hat er besonderes Glück gehabt; denn sie
sind alle anerkannte Gelehrte geworden und einer von ihnen, ~Otto~, war
mir jahrelang ein lieber Schüler und Mitarbeiter.

Eine interessante Persönlichkeit war auch der Nationalökonom ~C.
Schmoller~, gleichzeitig bekannt als guter Historiker. Wenn er in
unverfälschter schwäbischer Mundart in der Akademie oder Fakultät
über wissenschaftliche oder geschäftliche Dinge sich äußerte, so
konnte man immer sicher sein, kluge und ausgereifte Dinge zu hören.
Viel stürmischer war sein Spezialkollege ~Ad. Wagner~, der aber nicht
der Akademie angehörte, und der in hohem Alter trotz körperlicher
Hilflosigkeit durch seine leidenschaftliche Sprache uns immer noch
imponierte. Allerdings habe ich sein Urteil in manchen Dingen als
befangen oder als verschroben ansehen müssen.

Unter den Vertretern der Geisteswissenschaften hat mich von Anfang an
ein Mann besonders angezogen, ehe ich wissen konnte, daß ich später
mit ihm in enge, gemeinschaftlicher Arbeit gewidmete Beziehung treten
würde. Das ist der Theologe und Historiker ~Adolf von Harnack~. In
der wissenschaftlichen Welt gilt er mit Recht als Polyhistor, denn
außer seinem Spezialfach hat er sich ausgezeichnete Kenntnisse auf
philologischem, literarischem und ethischem Gebiet angeeignet und
daneben ist es ihm noch gelungen, einen Überblick über die modernen
Naturwissenschaften zu gewinnen. Wie er mir öfter erzählte, verdankt er
das nicht so sehr der Ehe mit einer Enkelin von ~Liebig~, als vielmehr
der Kinderstube; denn seine drei Brüder haben fast gleichzeitig mit ihm
Naturwissenschaft oder Medizin in Dorpat studiert. In dieser jungen
Gesellschaft, die bei der beschränkten Wohnung der Eltern auch räumlich
immer eng vereint war, fand, wie leicht begreiflich, dauernd ein reger
Ideenaustausch statt. Infolge seines vorzüglichen Gedächtnisses hat
~Adolf von Harnack~ diese Eindrücke als dauernden Besitz bewahren
können. Mir ist er menschlich zuerst näher getreten bei dem Tode
meiner Frau, deren Familie er von seinem mehrjährigen Aufenthalt in
Erlangen her wohl kannte, insbesondere durch seine Bemühungen, eine
Erzieherin für meine Kinder zu gewinnen. Später verpflichtete er mich
zu Dank durch sein mannhaftes Eintreten für den Neubau des chemischen
Instituts, das wesentlich dazu beitrug, die Zustimmung der Akademie
zu diesem Plane zu erlangen. Für das 200-jährige Jubelfest schrieb
er die Geschichte der Akademie, die ich ziemlich fleißig gelesen
habe, weil sie mir als vortreffliche Quelle für die Geschichte des
akademisch-chemischen Laboratoriums diente. Mehr als irgend ein anderer
Vertreter der philosophisch-historischen Klasse hat ~Harnack~ sich
dauernd bemüht, auch die Interessen der Naturwissenschaften zu fördern,
und er war deshalb der berufene Mann, an die Spitze der Kaiser Wilhelm
Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften zu treten, als diese
im Frühjahr 1911 gegründet wurde. Davon werde ich später ausführlich
berichten. Auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften halte ich
~Harnack~ augenblicklich für den hervorragendsten deutschen Gelehrten,
und als Organisator wissenschaftlicher Arbeiten nimmt er sicherlich den
ersten Platz ein.

Mit der Gründung der Kaiser Wilhelm Institute für Chemie und
physikalische Chemie erweiterte sich natürlich auch der Kreis der
Chemiker, und von ihnen sind drei Männer, ~Beckmann~, ~Haber~ und
~Willstätter~ in die Akademie aufgenommen worden, über die ich später
im Zusammenhang mit der Kaiser Wilhelm Gesellschaft mich äußern werde.




                        Chemische Gesellschaft


Zur Zeit meiner Übersiedlung nach Berlin war die wissenschaftliche
Chemie hauptsächlich vertreten durch die deutsche chemische
Gesellschaft, die ~Hofmann~ gegründet und 25 Jahre in musterhafter
Weise und mit großem Erfolg geleitet hatte.

Die Feier ihres 25-jährigen Bestehens, die früher schon erwähnt
wurde, war das erste wissenschaftliche Fest, das ich in meiner neuen
Stellung miterlebte. Bald nachher begann die Alltagsarbeit, an der
ich namentlich während der ersten 10 Jahre regelmäßig teilnahm, nicht
allein, weil ich wiederholt zum Präsidenten und Vizepräsidenten gewählt
wurde, sondern weil die chemische Gesellschaft damals noch in unserem
Institut in der Georgenstraße zu Gast wohnte. Ihre Büroräume waren
nämlich die Dienstwohnung des ersten Assistenten des Instituts, auf
deren Benutzung früher ~F. Tiemann~ und später ~S. Gabriel~ zugunsten
der Gesellschaft verzichtet hatten. Für die regelmäßigen Sitzungen
diente der Hörsaal des Instituts, und die Gesellschaft bezahlte dafür
eine ganz geringe Miete und eine kleine Entschädigung für Beleuchtung
und Heizung. Da außerdem die meiste Arbeit für die Geschäfte
des Präsidiums, des Sekretariats und der Redaktion der Berichte
ehrenamtlich geleistet wurde, so waren die Ausgaben der Gesellschaft
abgesehen von dem Druck der Berichte sehr klein, und dadurch ist es
ihr möglich gewesen, im Laufe von etwa 25 Jahren durch Ersparnisse ein
Barvermögen von 200000 M. zu erwerben.

Durch den Tod von ~Hofmann~ war zunächst keine Störung der Geschäfte
eingetreten, da ~F. Tiemann~ in gewohnter Weise die beiden Ämter als
Sekretär und Redakteur fortführte. Ich selbst hielt mich anfangs
zurück und beteiligte mich nur an den Vorstandssitzungen, um die Art
der Geschäftsführung und die daran beteiligten Personen als möglichst
neutraler Beobachter kennen zu lernen. Aus demselben Grunde lehnte
ich es auch Ende des Jahres 1892 ab, für die Wahl zum Präsidenten
als Kandidat aufgestellt zu werden. Infolgedessen fiel die Leitung
der Präsidialgeschäfte an ~Landolt~. Das war allerdings ein Fehler,
wie ich hinterher eingesehen habe; denn trotz aller seiner guten
Eigenschaften war ~Landolt~ zu sorglos, und auch wegen seiner
Schwerhörigkeit in bewegter Debatte zu ungeschickt, um einem Sturm
vorzubeugen, der für die Gesellschaft zu großem Schaden hätte werden
können. Dieser wurde heraufbeschworen durch die Meinung einiger zu den
Gründern der Gesellschaft gehörigen Vorstandsmitglieder, daß ~Tiemann~
seine Ämter zu autokratisch verwalte. Den äußeren Anlaß dazu bot der
Vorschlag, ~M. Berthelot~ und ~C. Friedel~ in Paris zu Ehrenmitgliedern
zu ernennen. Ich hatte ihn zusammen mit ~Tiemann~ überlegt und er
war in einer Vorstandssitzung besprochen worden, bei der leider
die meisten Mitglieder fehlten, angeblich, weil die Ernennung von
Ehrenmitgliedern nicht auf der Tagesordnung gestanden habe. Als es dann
bei der Generalversammlung zur Wahl kam, wurde der Vorschlag von der
Opposition, die sich ganz im stillen organisiert hatte, bekämpft, und
die Wahl mußte vertagt werden. Dabei kam es zu stürmischen Szenen, die
der Vorsitzende ~Landolt~ nicht meistern konnte, und die Versammlung
schloß in recht unerfreulicher Weise mit einem Mißton, der die Gefahr
einer dauernden Spaltung im Vorstand anzuzeigen schien. In derselben
Sitzung wurde ich zum Präsidenten gewählt, nahm auch die Wahl an, aber
mit dem Gefühl höchsten Unbehagens und dem Entschluß, unter allen
Umständen ähnliche Auftritte unmöglich zu machen.

Ich habe dann mehrere Monate im stillen ziemlich schwere Arbeit tun
müssen, um die Gegensätze, die im Vorstand so stark aufeinander
geplatzt waren, wieder auszugleichen und es zu ermöglichen, daß
~Tiemann~ vorläufig Redaktion und Sekretariat behielt. Dazu war
es nötig, daß ich mich als Präsident mit dem ganzen Material der
Verwaltung, namentlich auch mit der Tagesordnung und den Protokollen
der wissenschaftlichen Sitzungen und der Vorstandssitzungen genau
vertraut machte. Das geschah im besten Einvernehmen mit ~Tiemann~,
dessen große Arbeitskraft und treue Fürsorge für die Gesellschaft ich
stets anerkannt habe. So hat sich auch ein persönliches Verhältnis
freundschaftlicher Art zwischen uns entwickelt, und als er im Herbst
1899 plötzlich starb, hielt ich mich für verpflichtet, die Gedenkrede
auf ihn zu halten[1], die später durch einen ausführlichen Nekrolog von
~Witt~ in einigen Punkten ergänzt wurde. Es ist deshalb nicht nötig,
daß ich ihm hier noch weitere Worte freundschaftlichen Gedenkens widme.

[1] Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft Bd. 32 S. 3239.

Eine unserer ersten gemeinschaftlichen Aufgaben war die Propaganda
für die Wahl von ~Berthelot~ und ~Friedel~, die bis zur nächsten
ordentlichen Generalversammlung vertagt war. Wir hielten uns dazu
um so mehr verpflichtet, als an beide Herren schon die private
Anfrage ergangen war, ob sie eine solche Wahl annehmen würden. Um die
Opposition des kleinen Kreises Berliner Fachgenossen zu beseitigen,
wandten wir uns an die große Zahl der auswärtigen Mitglieder, die
ausnahmslos dem Vorschlag zustimmten. Ende 1894 wurden dann die beiden
französischen Gelehrten zusammen mit ~Mendelejeff~ und ~Beilstein~ mit
einer ungewöhnlich großen Majorität gewählt.

Bald nachher wurde die Gesellschaft vor eine ganz neue und
weitreichende Aufgabe gestellt durch das Anerbieten des Herrn
~F. Beilstein~, ihr alle seine Rechte an dem eben in 3. Auflage
erschienenen Handbuch der organischen Chemie zu übertragen, falls
sie bereit sei, Ergänzungsbände dazu erscheinen zu lassen und später
eine neue Auflage zu veranstalten. ~Beilstein~ fühlte sich damals
schon zu alt, diese große Arbeit selbst noch zu leisten. Er hatte
sich zuerst an Herrn ~Paul Jacobson~ gewandt mit der Anfrage, ob
er die Redaktion des Buches übernehmen wollte. Obschon ~Jacobson~
durch die Herausgabe des bekannten vortrefflichen Lehrbuches der
organischen Chemie von ~Victor Meyer~ und ~Paul Jacobson~ besonders
gut vorbereitet war, so schien ihm doch die neue Aufgabe für eine
einzelne Person zu schwierig, und er machte deshalb den Vorschlag, daß
die chemische Gesellschaft sich der Sache annehmen und durch Schaffung
eines Zentralbüros für chemische Berichterstattung noch erweitern
sollte. Zugleich erklärte er sich bereit, unter passenden Bedingungen
an die Spitze eines solchen Büros zu treten. Damit gewann ein Gedanke
praktische Form, der mir schon lange vorgeschwebt und den ich auch
wiederholt mit ~Tiemann~ und anderen Fachgenossen im kleinen Kreise
besprochen hatte, Zentralisierung der bis dahin stark verzettelten
Berichterstattung für die wissenschaftliche Chemie, wodurch eine
Verbilligung und eine weitere Verbreitung der referierenden Organe
möglich werde. Bis dahin gab es den altbewährten Jahresbericht für
Chemie, von ~Liebig~ und ~Wöhler~ begründet, der seit dem Jahre
1848 regelmäßig erschien und unmittelbar an den Jahresbericht von
~Berzelius~ anknüpfte. Daneben existierte das von ~Arendt~ gegründete
Zentralblatt, das allwöchentlich erschien, jede einzelne Publikation
besonders behandelte und dadurch die Literatur den Chemikern zwar nicht
systematisch, aber nach kurzer Frist übermittelte. Etwas Ähnliches,
aber in viel unvollständigerer Form boten die Berichte der chemischen
Gesellschaft in ihrem Referatenteil. Endlich fanden sich noch solche
Referate in der Zeitschrift des Vereins zur Wahrung der Interessen der
chemischen Industrie, der Chemikerzeitung, der Apothekerzeitung und
ähnlichen Organen. Es lag auf der Hand, daß diese Zersplitterung der
Berichterstattung unzweckmäßig war, und daß mit denselben Mitteln viel
Vollkommeneres geschaffen werden könnte.

~Tiemann~ kam zu der gleichen Ansicht, und so haben wir beide 1895 den
Entschluß gefaßt, den Vorschlag von ~Jacobson~ zu verwirklichen und
dafür die Zustimmung des Vorstandes und später der Generalversammlung
der Gesellschaft zu erwirken. Das ist nicht ohne erhebliche Mühe und
Sorge gelungen. Schon im Vorstand erklärten sich einige vorsichtige
Mitglieder, z. B. der sonst so wohlwollende ~C. Liebermann~, gegen den
Plan, weil sie in dem neuen buchhändlerischen Unternehmen eine Gefahr
für das Wohlergehen und besonders für die Finanzen der Gesellschaft
erblickten. Andererseits konnten wir durch Kalkulation feststellen,
daß die chemische Gesellschaft in der Lage wäre, für das chemische
Zentralblatt und für das ~Beilstein~-Handbuch eine viel größere Anzahl
von Abnehmern zu gewinnen und dadurch eine erhebliche Herabsetzung des
Preises zu ermöglichen. Niemand konnte leugnen, daß das ein Gewinn
für unsere Wissenschaft sei und auch das Ansehen der Gesellschaft
vergrößern müsse. So mehrte sich denn rasch die Zahl der Anhänger
des neuen Planes, und in der Generalversammlung vom 13. Dezember
1895 konnte ich als Vorsitzender die erste öffentliche Ankündigung
davon machen. Die Entscheidung fiel in einer außerordentlichen
Generalversammlung vom 19. Juni 1896. Unter Leitung von Dr. ~Jaffé~
trat hier die Opposition nochmals scharf in die Erscheinung. Aber ich
konnte als Vorsitzender alle Klagen und Befürchtungen widerlegen,
und schließlich wurde die für den Plan nötige Änderung der Statuten
mit großer Majorität genehmigt. Zuvor war es notwendig gewesen, für
beide Werke von der Verlagsbuchhandlung der Firma ~Leopold Voß~ in
Hamburg das Verlagsrecht zu erwerben. Den entscheidenden Schritt dazu
hatte ich zusammen mit Schatzmeister Dr. ~Holtz~, der von Anfang
an dem Plane wohlgeneigt war und ihn jederzeit energisch gefördert
hat, in den Herbstferien 1895 getan. Im Anschluß an eine Versammlung
des Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie zu
Kiel, an der ich teilnahm, fuhr ich mit Dr. ~Holtz~ nach Hamburg
und vereinbarte dort mit dem Leiter der Firma ~L. Voß~ für das
chemische Zentralblatt einen festen Kaufpreis von 15000 M. und für die
Ergänzungsbände des ~Beilstein~ eine recht günstige Gewinnbeteiligung
der Firma. Als diese dann später zögerte, die mündliche Vereinbarung
schriftlich anzuerkennen und wir in Sorge kamen, den fertigen Vertrag
der entscheidenden Generalversammlung im Juni 1896 nicht rechtzeitig
vorlegen zu können, bat ich ~Tiemann~, die Verhandlung mit gröberem
Geschütz wieder aufzunehmen und zu Ende zu führen. Das gelang ihm auch,
indem er die widerstrebende Firma durch höchst energische Telegramme
zur Vernunft brachte.

Inzwischen waren mit ~Paul Jacobson~ und dem bisherigen Redakteur
des chemischen Zentralblattes Professor ~R. Arendt~ in Leipzig
Verhandlungen gepflogen worden. Beide traten anfangs 1897 in den
Dienst der chemischen Gesellschaft. ~Arendt~ blieb in Leipzig und
besorgte von dort aus bis zu seinem Tode die Redaktion des chemischen
Zentralblattes. ~Jacobson~ siedelte nach Berlin über und übernahm nicht
allein die Redaktion des ~Beilstein~-Handbuches, sondern löste auch
~Tiemann~ ab als Generalsekretär der Gesellschaft in der Redaktion der
Berichte und der Erledigung der Sekretariatsgeschäfte. Damit schied
~Tiemann~ aus den beiden Ämtern, die er fast 20 Jahre lang unbesoldet
verwaltet hatte, und der Vorstand fühlte sich verpflichtet, ihm seinen
wärmsten Dank durch die Überreichung einer stattlichen Adresse und
durch Veranstaltung eines Festessens auszudrücken.

Diese Neuordnung der Geschäftsführung mit den erweiterten literarischen
Aufgaben bezeichnet den Anfang einer neuen Periode in der Entwicklung
der chemischen Gesellschaft. Für die Richtigkeit der Veränderung
spricht der Erfolg. Zu den 4 Bänden der dritten Auflage des
~Beilstein~-Handbuches hat die Gesellschaft inzwischen die gleiche
Anzahl Ergänzungsbände herausgegeben und eine neue Auflage vorbereitet,
die ein Wertobjekt von mindestens 1,2 Millionen sein und an Umfang die
großen Konversationslexika erreichen wird.

Auch das chemische Zentralblatt hat sich in erfreulicher Weise
entwickelt, erst unter der Leitung von ~Arendt~ und dann nach dessen
Tode unter Führung von Professor ~A. Hesse~. Die Zahl der Abnehmer ist
auf mehr als das dreifache gestiegen, der Umfang fortwährend gewachsen
und auch die Qualität der einzelnen Referate verbessert. Erst durch
den Krieg ist in allen Punkten wieder eine Verminderung eingetreten.
Dazu hat die chemische Gesellschaft noch zwei neue Werke übernommen,
das Literaturregister der organischen Chemie, gegründet als Lexikon der
Kohlenstoffverbindungen von ~M. M. Richter~ und jetzt weitergeführt
von Professor ~Stelzner~, ferner ein ähnliches Literaturregister der
anorganischen Chemie, gegründet und geführt von Dr. ~M. K. Hoffmann~.

Die Bedeutung und Nützlichkeit dieser verschiedenen Unternehmungen
wird von keinem deutschen Chemiker geleugnet werden, und die
chemische Industrie hat dieser Überzeugung später Ausdruck gegeben
durch reiche materielle Unterstützungen. Sie begannen 1909 mit einer
Spende der Firma Cassella & Co. in Frankfurt a. M. von 60000 M. Bald
nachher folgte eine durch den neuen Schatzmeister Dr. ~F. Oppenheim~
eingeleitete Sammlung von 200000 M. als ~Beilstein~-Fond, dazu kamen
2 Sammlungen für das Lexikon der anorganischen Verbindungen und für
das Literatur-Register der organischen Chemie im Betrage von 75000
M. und 120000 M. Endlich ist während des Krieges der chemischen
Gesellschaft bei ihrem 50jährigen Jubiläum zur Sicherstellung ihrer
literarischen Bestrebungen die Riesensumme von 2½ Millionen Mark
von der Industrie und einigen Privaten gestiftet worden. Gleichzeitig
ist ein ganzer Stab von wissenschaftlichen Beamten hauptsächlich für
diese literarischen Dinge gebildet worden. Dadurch hat auch das nach
dem Gründer ~Hofmann~ benannte Haus der Gesellschaft einen würdigen
und ernsten Zweck erhalten. Der Plan seiner Gründung wurde sofort
nach ~Hofmanns~ Tode gefaßt und fand auch im Kreise der auswärtigen
Mitglieder vielfache Unterstützung. Ich selbst war für diesen Plan
anfangs recht eingenommen, und habe das auch mit einem für meine
damaligen Verhältnisse ziemlich hohen Beitrag (2000 M.) bekundet.
Als ich aber nach Berlin kam, und in die Kommission zur Gründung des
Hauses gewählt wurde, bin ich erschrocken über die nach meiner Ansicht
leichtfertige Weise, in der das Unternehmen finanziert werden sollte.
Die Sammlung hatte nur ungefähr 200000 M. ergeben und nun sollte ein
Haus errichtet werden, das einschließlich des Bauplatzes auf 800000
bis 1 Million Mark geschätzt wurde. Damit wäre nicht allein das ganze
Vermögen der chemischen Gesellschaft verbraucht worden, sondern auch
noch eine erhebliche Schuldenlast entstanden. Ich hielt mich für
verpflichtet, dagegen energisch Einspruch zu erheben, und habe es
auch fertig gebracht, daß im Vorstand die Mehrzahl der Mitglieder zu
der Ansicht kamen, das Hofmann-Haus müsse aus anderen Mitteln erbaut
und der chemischen Gesellschaft kostenlos überwiesen werden. Dadurch
ist der Bau sicherlich verzögert worden, aber das war kein Schaden,
da die Gesellschaft in unserem Institut ein zwar bescheidenes, aber
doch auskömmliches Heim besaß. Gleichzeitig wurden die Anhänger des
luxuriösen Baues genötigt, eine andere Form der Finanzierung zu finden.
Das ist auch den Bemühungen der Herren ~Holtz~, ~Krämer~, ~Martius~ und
~Tiemann~ gelungen, indem sie eine Gesellschaft m. b. H. zur Erbauung
des Hauses ins Leben riefen, dessen Mitglieder Anteile von mindestens
5000 M. zu übernehmen hatten. Ursprünglich war dafür eine Verzinsung
in Aussicht genommen, aber später haben die Herren es doch fertig
gebracht, daß die meisten Besitzer der Anteile auf jede Entschädigung
und Rückzahlung der Summe verzichteten. Ich selbst habe an diesem
Geschäft keinen Anteil genommen. Auch der Bau des Hofmann-Hauses
ist ohne meine spezielle Mitwirkung entstanden, nur bin ich, um
einem Wunsch des Herrn ~Jacobson~ und der anderen wissenschaftlichen
Beamten zu entsprechen, dafür eingetreten, daß in dem Hause ein
kleines Laboratorium eingerichtet wurde, dessen Hilfsmittel auch den
Experimentalvorträgen im großen Sitzungssaale zustatten kommen. Das
Haus wurde 1900 mit einer Festsitzung eröffnet unter dem Vorsitz des
Präsidenten ~J. Volhard~, und ~A. v. Baeyer~ hielt damals die Hauptrede
über die Geschichte des Indigos.

Die Schöpfung des Hofmann-Hauses ist in erster Linie das Verdienst
von ~J. F. Holtz~, der mit Tatkraft und Geduld die Sammlung des
Geldes betrieb und auch später im Hofmannhaus-Verein die Hauptrolle
spielte. Allerdings trug er auch die Schuld dafür, daß der Bau recht
kostspielig ausfiel und daß die ursprüngliche Bausumme um etwa 80000
M. überschritten wurde. Die Verzinsung einer Hypothek von 100000 M.
und die nicht unerheblichen Unterhaltungskosten fielen natürlich der
chemischen Gesellschaft zur Last, so daß ihr das Haus doch jährlich
12 bis 15000 M. Kosten macht. Ich habe keine Bedenken getragen, gegen
die im wesentlichen durch das Hofmann-Haus stark gewachsenen Ausgaben
der chemischen Gesellschaft Einspruch zu erheben, und es ist dadurch
zeitweise zu einer Verstimmung zwischen ~Holtz~ und mir gekommen. Da
aber die Finanzen der Gesellschaft trotz der vergrößerten literarischen
Unternehmungen sich im neuen Jahrhundert günstig gestalteten, und
durch die wachsende Zahl der Beamten der Bau immer besser ausgenützt
werden konnte, so habe ich mich zufrieden gegeben und bin jetzt über
das finanzielle Schicksal der Gesellschaft beruhigt. Aus Sparsamkeit
wurde in den ersten Jahren der obere Teil des Hauses an die chemische
Berufsgenossenschaft vermietet. Seitdem diese aber ihr direkt neben
dem Hofmann-Haus gelegenes eigenes Heim bezogen hat, werden auch die
oberen Räume nur von der chemischen Gesellschaft benutzt. Allerdings
bildet einen Teil davon die Dienstwohnung von Professor ~Jacobson~, die
ihm in Anbetracht seiner Verdienste um die chemische Gesellschaft auch
gelassen wurde, nachdem er vor einigen Monaten den größeren Teil seiner
Ämter zugunsten seines Lehrbuches aufgegeben hat. Diese Dienstwohnung
bildet aber eine Reserve an Raum, die später sicherlich zu den
geschäftlichen Aufgaben der Gesellschaft herangezogen werden wird.

Der Hörsaal des Hofmann-Hauses ist durch zahlreiche Bilder verstorbener
Chemiker geschmückt. Dasjenige von ~Georg Ernst Stahl~, dem Begründer
der Phlogistontheorie, habe ich gestiftet. Es ist eine von ~Walter
Miehe~ ausgeführte Copie des im Besitz der Kaiser Wilhelm-Akademie für
kriegsärztliche Wissenschaft befindlichen Originals. Das Bild zeigt
den hervorragenden Mediziner und Chemiker, der in Berlin als Leibarzt
des Königs Friedrich Wilhelm I. eine große Rolle spielte, in der
kleidsamen Tracht des 18. Jahrhunderts, mit Sammetrock, Spitzenkragen
und einer großen Allongeperrücke. Eine zweite Copie dieses Bildes, die
ich von Fräulein ~Chales de Beaulieu~ vor 2 Jahren ausführen ließ und
für das deutsche Museum zu München bestimmt hatte, ist weniger günstig
ausgefallen, deshalb von Herrn ~Oscar von Miller~ als nicht geeignet
für das Museum erklärt worden und befindet sich noch in meinem Besitz.

An den wissenschaftlichen Sitzungen der chemischen Gesellschaft
habe ich in den ersten 8 Jahren meines Berliner Aufenthaltes, wo
wir unter demselben Dache wohnten, fast ausnahmslos teilgenommen
und auch einen großen Teil meiner wissenschaftlichen Versuche dort
vorgetragen. Die erste Mitteilung im Januar 1893 betraf die Entdeckung
des Amidoacetaldehyds. Mein Vorschlag, die physiologische Wirkung des
salzsauren Salzes zu prüfen, gab Anlaß zu einer kleinen Debatte in der
Sitzung. Es war mir aber leicht, die Opposition ad absurdum zu führen
durch die Bemerkung, daß die Pflanzen meines Wissens Lebewesen ohne
Nerven seien, und daß man alle physiologischen Fragen ohne vorgefaßte
Meinung behandeln müsse. Von da an sind die jungen Chemiker in Berlin
etwas vorsichtiger geworden, wenn sie in der chemischen Gesellschaft
meine Mitteilungen kritisierten, obschon ich immer bereit war, jede
vernünftige und in richtiger Form vorgebrachte Opposition anzuerkennen
und sachgemäß zu behandeln. Die Sitzungen waren damals fast
ausschließlich von Originalvorträgen ausgefüllt, die deshalb vielfach
in übertriebener Weise ausgesponnen und langweilig wurden, während
die von auswärts eingelaufenen zahlreichen Mitteilungen, deren Inhalt
in der Regel viel interessanter war, von dem Schriftführer mit wenig
Worten abgemacht wurden. Auf meinen Vorschlag wurde im Jahre 1896 die
Änderung getroffen, daß die auswärtigen Mitteilungen von einer größeren
Anzahl junger Chemiker in viel ausführlicherer Weise vorgetragen
wurden, wodurch die Sitzungen zweifellos an Inhalt und Interesse
gewannen. Andererseits bemühte sich der Vorstand mit vollem Rechte, die
schon einige Jahre vor ~Hofmanns~ Tode eingeführten zusammenfassenden
Vorträge über größere Arbeitsgebiete von den besten Fachleuten halten
zu lassen. An der Auswahl der Redner habe ich in den ersten 26 Jahren
ziemlich regelmäßig mitgewirkt. In besonderer Erinnerung sind mir
geblieben die Vorträge von ~van't Hoff~ über die neue Theorie der
Lösungen und von ~W. Ramsay~ über die Edelgase. ~van't Hoff~ kam bei
der Gelegenheit zum ersten Mal nach Berlin, und ich habe bei dem
kleinen Festmahl, das nach der Sitzung ihm zu Ehren veranstaltet
wurde, anknüpfend an seinen Namen »vom Hofe« ihn als einen König der
Wissenschaft gefeiert. Der Eindruck, den er damals bei uns hinterließ,
war nicht ganz ohne Einfluß auf seine spätere Berufung nach Berlin.

Noch mehr wurde ~Ramsay~ gefeiert; denn an seiner Entdeckung nahm auch
das große Publikum teil, und er konnte seinen Vortrag in modifizierter
populärer Form einerseits vor dem Kaiserpaar im Hörsaal des chemischen
Instituts und andererseits in der Urania wiederholen. An dem Vortrag
für den Kaiser nahm nur das Präsidium der chemischen Gesellschaft teil,
und es war das erste Mal, daß ich mit Wilhelm II. und der Kaiserin,
allerdings nur ganz kurz, in Berührung kam. Der Wunsch des Kaisers,
einen Vortrag von ~Ramsay~ zu hören, war uns von Professor ~Slaby~
übermittelt worden, und ich übernahm es, bei ~Ramsay~ telegraphisch
anzufragen, ob er dazu bereit sei. Darauf kam die lakonische und für
den Engländer charakteristische Antwort »Yes«. ~Ramsay~ war während
seines Berliner Aufenthaltes mein Gast, und ich bin ihm während dieser
Tage, wo wir stundenlang zusammen plaudern konnten, persönlich nahe
getreten.

Er war nicht allein ein vortrefflicher Naturforscher, sondern auch ein
allgemein gebildeter, sehr sprachgewandter, kluger und besonnener Mann.
Ein zweites Mal hat er während des internationalen Chemikerkongresses
1903 bei mir in der neuen Dienstwohnung, Hessischestraße 2 gewohnt, und
der günstige Eindruck von früher wurde dadurch nur noch verstärkt. Ich
habe ihn später in London wieder besucht und in ziemlich regelmäßigem
Briefwechsel mit ihm gestanden. Insbesondere berichtete er mir
mehrmals über seine radio-aktive Forschung. Der letzte Brief, den ich
von ihm 6 Wochen vor Ausbruch des Weltkrieges empfing, war in einem
ungewöhnlichen Ton gehalten und gab Kunde von der Leidenschaftlichkeit,
mit der er politische Fragen ergriff. Damals war er aufs höchste erregt
über die Homerulepolitik der englischen Regierung in Irland und stand
auf Seiten der Ulster-Partei, die nach seiner Meinung dem Homerule
bewaffneten Widerstand leisten müsse, und für die er entschlossen war,
persönlich alle Hilfe zu leisten. Das war der Vorläufer der maßlosen
Angriffe, die er bald nachher, veranlaßt durch den Krieg, gegen
Deutschland richtete, und auf die ich einstweilen nicht eingehen werde.

Bei seinem ersten Besuch im Dezember 1908 veranstaltete ich für ihn
eine Abend-Herrengesellschaft, zu der einige Berliner Chemiker und
eine größere Anzahl von Akademikern eingeladen wurden. ~Ramsay~ hatte
die Zeit vergessen und kam deshalb erst nachhause, nachdem die ganze
Gesellschaft längst versammelt war. Ich habe dann die Geschwindigkeit
bewundern müssen, mit der er den Straßenanzug ablegte und sich in den
Evening-dress stürzte. Ich glaube, daß die ganze Verwandlung keine 3
Minuten in Anspruch genommen hat.

Ein größeres Festmahl war ihm Tags zuvor von der chemischen
Gesellschaft gegeben worden, und ich mußte dabei die Tischrede auf
den Gast halten, die ich in eine launige Form kleiden konnte. Sie
ist gedruckt worden, und ich habe mir erlaubt, einige Exemplare an
hervorragende auswärtige Fachgenossen zu schicken. Die merkwürdigste
Wirkung hat sie in München ausgeübt; denn ~Pettenkofer~, dem ich ein
Blatt zugeschickt hatte, sandte dieses an ~W. von Miller~, der damals
schon schwer krank war und dem er einen kleinen Spaß bereiten wollte.
~Miller~, der an Darmkrebs litt, hatte den Ehrgeiz, die Vorlesung über
Chemie an der technischen Hochschule mit Aufgebot aller Energie so
lange zu halten, als seine erschöpften Kräfte es irgendwie gestatteten.
Er ließ sich zu dem Zweck zuletzt auf einer Bahre in den Hörsaal
tragen. Eine seiner letzten Vorlesungen hat er hauptsächlich mit dem
Vorlesen meiner Tischreden ausgefüllt, an die er allerdings belehrende
Bemerkungen über die Edelgase und ihre Entdeckung knüpfte. Das hat
mir verschiedene Zuschriften seiner Zuhörer, die davon sehr belustigt
waren, eingebracht.

Weitere bemerkenswerte Vorträge wurden gehalten von ~Nernst~,
~Wallach~, ~Buchner~, ~Willstätter~, ~Richards~, ~Sabatier~, ~Brunck~,
~Knietsch~ usw., die alle mit lebhaftem Interesse gehört und für die
ich zuweilen als Vorsitzender den Rednern den Dank der Gesellschaft
abstatten mußte. Einen Vortrag sonderlicher Art hielt ~R. Fittig~ über
ungesättigte Säuren, Laktone usw., sehr inhaltreich, aber in der Form
so merkwürdig, daß die Jugend sich belustigte und wir Älteren alle Mühe
hatten, den Ernst zu bewahren.

Mein erster Vortrag über Kohlenhydrate, der auf diejenigen von
~Baeyer~ und ~Victor Meyer~ folgte, ist früher schon erwähnt. Einen
zweiten habe ich im Januar 1906 über Aminosäuren, Polypeptide und
Proteine gehalten. Er erregte einiges Aufsehen unter den Fachgenossen.
Etwa 8 Tage nach dem Vortrag wurde durch eine Notiz aus Wien die
Aufmerksamkeit der Presse und des großen Publikums darauf gelenkt, und
nun erlebte ich etwas sehr Merkwürdiges. Meine vorsichtig gehaltene
Rede wurde von der Presse in der phantastischsten Weise ausgeschmückt,
die Synthese des Eiweiß als eine fertige Sache dargestellt und mit
der Lösung der Nahrungsfrage das goldene Zeitalter proklamiert. Ich
habe versucht, dagegen Einspruch zu erheben, aber ohne jeden Erfolg.
Wie eine Sturzwelle ging die Flut der Zeitungsartikel über mich und
alle Vernunft hinüber, und schließlich erhielt ich aus den Vereinigten
Staaten Amerikas Zeitungsartikel, die ganze Seiten bedeckten und durch
Bilder illustriert waren, auf denen man die Verwandlung der Kohle in
die schönsten Erzeugnisse eines eleganten Speisehauses sehen konnte.
Selbstverständlich waren alle diese Bilder von mir selbst, meinem
Laboratorium, den Versuchstieren usw. frei erfunden. Ich habe damals
vor der fürchterlichen Macht und Zügellosigkeit der Presse einen
Schrecken bekommen.

Den dritten zusammenfassenden Vortrag hielt ich im September 1913
in einer Sitzung, die von der chemischen Gesellschaft auf der
Naturforscherversammlung zu Wien veranstaltet wurde. Das Thema war die
Synthese von Depsiden, Flechtenstoffen und Gerbstoffen. Assistiert
wurde ich bei dem Vortrag von meinem Sohn ~Hermann O. L. Fischer~, der
an der Synthese der Flechtenstoffe experimentell beteiligt gewesen war.
Die Sitzung fand statt in dem Hörsaal des chemischen Instituts der
Universität Wien, das damals von ~Guido Goldschmidt~ geleitet wurde.
Der Saal war derartig überfüllt, daß mir hinter dem Experimentiertisch
kaum Raum blieb, um die zahlreichen Tabellen zu erläutern und die
Präparate zu demonstrieren. Zudem herrschte eine derartige Hitze,
daß ich nach 1½stündigem Vortrag so naß war, als hätte ich die
Donau durchschwommen. Es war die erste besondere Sitzung, welche die
chemische Gesellschaft auf einer deutschen Naturforscherversammlung
abhielt und ist bisher auch die einzige geblieben, weil infolge des
Krieges keine Naturforscherversammlung mehr zustande kam.

Als im Jahre 1900 das chemische Institut in den Neubau an der
Hessischenstraße verlegt war, wurde die bis dahin bestehende fast
tägliche Berührung der chemischen Gesellschaft und mir unterbrochen.
Auf meinen Antrag erhielt zwar die Gesellschaft vom Kultusministerium
die Erlaubnis, noch ein Jahr in den alten Räumen der Georgenstraße
zu bleiben, bis das ~Hofmann~-Haus ganz fertiggestellt war, aber mit
der räumlichen Trennung hatte ich das Gefühl, daß ich nicht mehr
im gleichen Maße wie bisher für die Schicksale der Gesellschaft
verantwortlich sei, sondern daß die Sorge für sie sich jetzt mehr
gleichmäßig auf alle Mitglieder des Vorstandes verteilen müsse.
Ich habe dementsprechend nur selten mehr die mir angetragene Wahl
zum Vorsitzenden angenommen und mich auch an den Sitzungen der
Gesellschaft in loserer Form beteiligt, als es früher der Fall war.
Nur wenn wichtige Interessen auf dem Spiele standen, habe ich mich
nicht gescheut, meinen ganzen Einfluß aufzubieten, um das, was ich für
richtig hielt, durchzusetzen.

An dem 50-jährigen Jubiläum der Gesellschaft, das im Mai d. Js.
gefeiert wurde, konnte ich mich nicht beteiligen, weil ich damals
zur Erholung von einer Lungenentzündung in der Südschweiz weilte.
Ich hatte aber vorher beim Kultusminister einen Antrag gestellt, den
wissenschaftlichen Beamten der Gesellschaft, an der Spitze Herrn ~P.
Jacobson~, durch Verleihung von Titeln eine öffentliche Anerkennung zu
erwirken. Das ist auch geschehen, und zu meiner großen Überraschung
wurde auch mir bei der Gelegenheit ein hoher preußischer Orden
verliehen. Offen gestanden hätte ich es lieber gesehen, daß das nicht
geschehen wäre.

Die von mir angeregte und auch ursprünglich übernommene Gedächtnisrede
auf ~A. von Baeyer~ hatte ich leider wegen Krankheit wieder abgeben
müssen. Sie ist dann aber von ~R. Willstätter~ in sehr würdiger Weise
gehalten worden.

Auch beim 40jährigen Bestehen der Gesellschaft war ein kleines Fest
veranstaltet worden, und ich hatte das Vergnügen, bei der Gelegenheit
Herrn Professor ~Henry Armstrong~, den Abgesandten der Chemical Society
zu London, bei mir zu Gast zu haben. Freundschaftliche Beziehungen zu
ihm hatte ich längst, teils durch seinen Sohn, der mehrere Jahre mein
Mitarbeiter war, und auch durch meinen eigenen Sohn ~Hermann~, dem er
und seine Familie während eines halbjährigen Aufenthaltes in England
viele Freundlichkeiten erwiesen hatten.




              Das chemische Institut in der Georgenstraße


Mein Einzug in das Institut, die von mir angeregten kleinen baulichen
Veränderungen, die Vermehrung der Assistenten und die Verteilung der
Arbeit unter die vorhandenen Lehrkräfte sind schon früher geschildert.
Alles war von mir nur als Provisorium gedacht, weil ich sicher damit
rechnete, daß in wenigen Jahren ein Neubau entstehen werde; denn
seine Errichtung war die erste und wichtigste Bedingung, die ich bei
der Berufung stellte, und sie war nicht allein von den Räten des
Kultusministeriums, sondern auch von dem Minister Dr. ~Bosse~ selbst
ausdrücklich bewilligt worden. Das Provisorium hat aber schließlich
7½ Jahre gedauert und bildet so einen ziemlich langen Abschnitt in
meiner Berliner Tätigkeit.

Mit Ausnahme der beiden Hörsäle und der beiden von ~Tiemann~ als
Privatlaboratorium benutzten Zimmer lagen alle benutzbaren Räume im
ersten Stock. Zwei gut erleuchtete Unterrichtssäle, getrennt durch
einen kleineren Raum, gingen nach der Georgenstraße. Die übrigen
Unterrichtszimmer mit Nebenräumen lagen in den korridorähnlichen
Seitenflügeln und dienten gleichzeitig als Durchgang. Recht hübsch
und auch ziemlich zweckmäßig eingerichtet war das aus zwei Räumen
bestehende Privatlaboratorium, das durch den Korridor und zwei
Bibliothekszimmer direkt mit dem Wohnhaus in der Dorotheenstraße in
Verbindung stand. Hier habe ich mich, unterstützt von dem aus Würzburg
mitgekommenen Privatassistenten Dr. ~Lorenz Ach~ schnell eingerichtet.
Drei junge Chemiker, die ihre Doktorarbeit ausführen wollten --
es waren die Herren ~Haenisch~, ~Kopisch~ und der von Würzburg
mitgenommene Engländer ~Crossley~ -- wurden als Gäste aufgenommen und
schon im ersten Jahr hatte ich das Glück, zwei hübsche Reaktionen,
die Bereitung des Amido-Acetaldehyds und ähnlicher Stoffe, ferner die
Synthese der Alkoholglucoside aus Zucker und Alkoholen in Gegenwart von
Salzsäure zu finden. Gleichzeitig leitete ich mehrere Doktorarbeiten
in dem zweiten organischen Unterrichtssaal und überwachte zusammen mit
dem hier tätigen Assistenten die präparativen Übungen der organischen
Anfänger nach der von mir geschriebenen »Anleitung zur Darstellung
organischer Präparate«, die sich schon in Erlangen und Würzburg bewährt
hatte. Auch um die analytische Abteilung, in der Dr. ~Piloty~ und Dr.
~Fogh~ tätig waren, habe ich mich damals, so weit es meine Zeit zuließ,
gekümmert.

                    [Illustration: IM LABORATORIUM]

Die großen Experimental-Vorlesungen hielt ich wie ~Hofmann~ im Winter
über anorganische und im Sommer über organische Chemie. Aber anstelle
des dreimal zweistündigen Vortrages zog ich es vor, 5 Mal je eine
Stunde in der Woche zu sprechen, weil dadurch die Vorbereitungen der
Experimente viel sorgfältiger werden und deshalb auch recht viel Zeit
erspart werden kann. In der Tat zeigte sich denn auch, daß ich in den 5
Wochenstunden ein erheblich größeres Pensum mit einer größeren Anzahl
von Experimenten ausführen konnte, als früher in drei Doppelstunden
geleistet wurde.

Die Zahl der Zuhörer stieg schon im zweiten und dritten Jahre sehr
erheblich und dann wurde der Zugang so groß, daß aller verfügbarer Raum
von stehenden Personen erfüllt war und meist die Zugangstüren nicht
mehr geschlossen werden konnten. Ganz ungenügend war die Kleiderablage,
in der häufig am Schluß der Vorlesung große Unordnung herrschte, und
leider auch mancher Diebstahl vorkam.

Unter den Zuhörern befanden sich in den letzten Jahren nicht allein
Chemiker, Mediziner, Apotheker und Lehramtskandidaten, sondern auch
Angehörige der juristischen und sogar der theologischen Fakultät.
Das hing wohl damit zusammen, daß ich mich bemühte, gelegentlich
die Bedeutung der Chemie für die gesamte menschliche Kultur in
philosophischer und wirtschaftlicher Beziehung darzulegen.

Auch das Laboratorium war bald überfüllt, was bei der geringen Anzahl
von Arbeitsplätzen (etwa 80) nicht überraschen konnte. Dieser Zudrang
war das beste Agitationsmittel für den Neubau des Instituts, und als
ich damit drängte, erhielt ich schon im Frühjahr 1893 den Auftrag,
ein Programm dafür auszuarbeiten. In freudiger Stimmung habe ich mich
dieser Mühe sofort unterzogen, mußte aber zu meiner Enttäuschung bald
erkennen, daß der Auftrag nur zum Schein erfolgt und daß es eines
viel gröberen Geschützes bedurfte, um das Kultusministerium in dieser
allerdings ziemlich schwierigen Frage zu energischer Handlung zu
bringen; denn die Entscheidung über alle derartigen Forderungen der
Wissenschaft in Preußen, die Geld kosten, hat in letzter Linie der
Finanzminister, und wie schwer dessen Zustimmung zu erlangen war, werde
ich erst später schildern.

Zuvor war mir vom Kultusministerium ein recht unbequemes Geschäft
aufgehalst worden, das mit der Weltausstellung zu Chicago von
1893 zusammenhing. Das Ministerium hatte es übernommen, hier
eine Ausstellung des preußischen Unterrichtswesens und der
wissenschaftlichen Forschung in Deutschland zu veranstalten. Dabei
sollte die chemische Gesellschaft beteiligt sein, und im Auftrage
des Kultusministeriums bemühte ich mich, dafür die Zustimmung des
Vorstandes zu gewinnen. Gewünscht wurde vor allen Dingen eine
Ausstellung von interessanten, in Deutschland entdeckten Präparaten.
Im Vorstand herrschte anfangs keine Neigung, auf die Wünsche des
Ministeriums einzugehen. Erst als ich den Herren klar machte, daß die
langjährige Benutzung von Institutsräumen für Zwecke der Gesellschaft
nur im Einverständnis mit dem Minister möglich gewesen sei und auch in
Zukunft davon abhänge, entschloß man sich zur positiven Mitwirkung in
Chicago durch Veranstaltung einer Sammlung von interessanten Präparaten
und Apparaten und die Vorlage eines Albums mit den Bildern deutscher
Chemiker. Ich mußte mich aber verpflichten, die Rundschreiben mit
der Aufforderung zur Beteiligung an die Mitglieder der Gesellschaft
zu entwerfen und zu versenden, sowie die Präparate in Empfang zu
nehmen. Diese Arbeit geschah mit Hilfe des Assistenten Dr. ~Richter~
in den Räumen des Instituts. Sie hat viele Wochen ärgerlicher Mühe
und manche Sorge gebracht. Ein hübscher Ausstellungsschrank wurde von
der Firma Chemische Fabrik auf Actien vormals E. Schering in Berlin
kostenlos zur Verfügung gestellt, und das Ganze hat später in Chicago
offenbar gefallen; denn die beteiligten deutschen Laboratorien wurden
mit Ehrendiplomen belohnt, und außerdem trat an uns der Wunsch der
Amerikaner heran, die Sammlung behalten zu dürfen. Darauf konnte sich
die Gesellschaft aber nicht einlassen, da die Präparate Privateigentum
der einzelnen Mitglieder geblieben waren und diese fast alle den Wunsch
äußerten, sie zurückzuerhalten. Sie sind dann auch nach Schluß der
Chicagoer Ausstellung unversehrt nach Berlin zurückgekehrt und von
hier aus an die einzelnen Besitzer verteilt worden. Ich hatte aber
von dem ganzen Geschäft so viel Unbequemlichkeiten, daß ich spätere
Zumutungen ähnlicher Art von Seiten des Kultusministeriums energisch
ablehnte. Infolgedessen ist die Organisation und Beteiligung der
wissenschaftlichen Chemie an der Ausstellung zu Philadelphia vom
Kultusministerium Herrn ~C. Harries~ übertragen worden.

Der erste Winter, den ich in Berlin zubrachte, war ungewöhnlich streng,
und da ich damals die Dienstwohnung noch nicht hatte, sondern in der
Königin Augustastraße wohnte, so mußte ich den Weg dorthin täglich 4-6
Mal machen, natürlich mit einem Wagen, der aber wegen des hohen Schnees
fast ½ Stunde fuhr. Bei der starken Kälte war ich dann am Ende der
Fahrt ganz erfroren, bis meine Frau auf den glücklichen Gedanken
kam, mir einen großen Pelzsack anzuschaffen, in den ich während der
Wagenfahrt bis unter die Arme schlüpfte.

Der Frost hatte auch im Laboratorium sehr unangenehme Folgen; denn die
Wasserleitung platzte an verschiedenen Stellen, und es entstand eine
große Überschwemmung. Da unglücklicherweise alle Röhren in die Wände
gelegt waren und von der Leitung kein Plan mehr existierte, so mußten
oft die Bauleute tagelang suchen, bis die verletzten Stellen gefunden
waren. Dadurch wurde ich in dem schon früher gefaßten Vorsatz bestärkt,
beim Neubau alle Rohrleitungen frei zu legen und leicht zugänglich zu
machen. Trotz solcher kleinen und unangenehmen Überraschungen gingen
übrigens der Unterricht und die wissenschaftliche Arbeit im Institut
ungestört vorwärts.

Nachdem Frau ~von Hofmann~ im Mai 1893 die Dienstwohnung in der
Dorotheenstraße verlassen und diese dann einer sehr notwendigen
Reparatur unterzogen war, konnte ich sie im September desselben
Jahres in Benutzung nehmen und war von nun an auch imstande, nicht
allein die Experimentalarbeit intensiver zu betreiben, sondern auch
die Gesamtaufsicht über das Institut sorgfältiger einzurichten. Das
führte alsbald zur Entdeckung von Diebstählen, die von dem verkommenen
Pförtner des Instituts begangen oder versucht wurden. Er hatte aus
der Instrumentensammlung der Akademie, die sich in einem Dachraum
des Wohnhauses befand, eine Reihe von Kupferplatten weggenommen und
verkauft. Ich wurde darauf aufmerksam, als ich die Aufsicht über die
Instrumentensammlung mit dem Einzug in die Dienstwohnung übernahm.
Außerdem hatte er während der herrenlosen Zeit den vermauerten
Kupferkessel aus der Waschküche der Dienstwohnung entfernt, um ihn
zu verkaufen, war aber dabei von dem Baubeamten überrascht worden.
Infolgedessen kündigte ich ihm die Stelle und dann hatte der Mensch
die Unverschämtheit, sich in einer Eingabe an das Kultusministerium
über die Behandlung zu beklagen, die ihm von dem neuen Direktor
des Institutes zuteil werde. Diese wurde mir vom Minister zur
Berichterstattung übersandt, und als ich darauf erwiderte, daß der
Grund der Entlassung in dem dringenden Verdacht der Diebstähle
gelegen habe, kam die prompte Anfrage, weshalb keine Strafanzeige
erfolgt sei. Ich hatte auf diese Maßregel verzichtet, weil mir der
Missetäter leid tat; denn er war zu der ungeordneten Lebensweise
und sittlichen Verkommenheit durch den Mangel an Aufsicht und auch
durch die schlechte, feuchte und dunkle Kellerwohnung gekommen. Sein
Nachfolger, ein Kupferschmied ~Prisemuth~, der durch das Tragen einer
Brille ein ganz gelehrtes Aussehen angenommen hatte, war nicht viel
besser. Zuerst hatte ich mit ihm einen unangenehmen Auftritt wegen
seiner Frau, mit der er häufig in Zwist lebte. An einem Sonnabend
Nachmittag wurde ich nämlich aus der ärztlichen Vorprüfung, die im
physiologischen Institut der Universität stattfand, nachhause gerufen,
weil mit der Frau des Pförtners ein Unglück passiert sei. Als ich im
Institut in der Georgenstraße erschien, war der Pförtner ganz ruhig
damit beschäftigt, die Korridore zu säubern, und auf meine erregte
Frage, wie es mit seiner Frau stehe, erhielt ich die Antwort: »Dumme
Eifersucht, Herr Professor, sie hat mir schon öfter blamiert«. In
Wirklichkeit hatte die Frau einen Versuch des Selbstmords durch
Trinken starker Salzsäure gemacht und dadurch eine schlimme Ätzung von
Mund, Kehlkopf und Speiseröhre davongetragen. Der Herr Gemahl zeigte
dafür nicht das geringste Mitgefühl, und als die Frau einige Monate
später aus dem Krankenhause zu ihm zurückkehrte, war er scheinbar
ganz befriedigt davon, daß sie die Stimme verloren hatte und nur noch
wispern konnte. Das war eine interne Familienangelegenheit, die mich
zu keiner amtlichen Maßregel berechtigte. Als ich aber 1½ Jahre
später erfuhr, daß der Pförtner trotz strengen Verbots Nachschlüssel
vom Haupttor des Instituts an Studenten vermietete, blieb mir nichts
anderes übrig, als ihn ebenfalls an die Luft zu setzen, obschon er als
Handwerker ganz gewandt war. Von ~Tiemann~ wurde er als Diener für
sein Privatlaboratorium noch geschätzt und gehalten, bis verschiedene
Missetaten auch hier seine Entlassung nötig machten.

Ein anderer Diener, der älteste im Hause, erwies sich ebenfalls als
wenig zuverlässig. Er log in der unverschämtesten Weise, selbst wenn
man ihn direkt überführen konnte und stand auch als Verwalter der
Glasapparate und Chemikalien in dem Ruf der Unzuverlässigkeit. Ich
habe deshalb, als er 65 Jahre alt war, seine Pensionierung beantragt,
aber es war recht schwer, ihn los zu werden, obschon die gesetzliche
Handhabe durch das Alter gegeben war. Schließlich ist er durch die
Verleihung des allgemeinen Ehrenzeichens beruhigt worden, und ich habe
an diesem Beispiel gesehen, welche große Macht den Staatsbehörden
ganz besonders auch bei den Subaltern-Beamten in der Verleihung von
Ehrenzeichen und Orden zur Verfügung steht. Die Minderwertigkeit
der alten Diener glaubte ich wenigstens zum Teil in der schlechten
Beschaffenheit ihrer im Institut befindlichen Dienstwohnung suchen
zu müssen. Ich habe deshalb beim Neubau dafür gesorgt, daß die
Wohnungen aller Unterbeamten hygienisch ganz einwandfrei und auch in
bezug auf Bequemlichkeit, Beleuchtung, Heizung und dergl. behaglich
eingerichtet wurden. Seitdem habe ich so traurige Dinge, wie die eben
geschilderten, nicht mehr erlebt, und erst während des Krieges mit
seiner demoralisierenden Wirkung sind im Verhalten der Diener wieder
einige unbequeme Züge hervorgetreten. Ich stimme deshalb dem Urteil von
einsichtigen Volkswirten, daß eine gute Wohnung die Menschen bessere
und eine schlechte sie ethisch niederdrücke, gerne zu.

Mit den Assistenten des Instituts, deren Zahl mit den Hilfsassistenten
und Privatassistenten allmählich wuchs, bin ich fast ausnahmslos recht
gut ausgekommen. Sie waren vom Minister immer nur auf zwei Jahre
angestellt, aber diese Anstellung ist bei den Herren, die sich der
wissenschaftlichen Laufbahn widmen wollten, auf meinen Antrag beliebig
oft erneuert worden. Den Wunsch auf Wiederholung der Anstellung habe
ich meines Wissens nur ein einziges Mal direkt abgeschlagen, weil der
Betreffende sich ungebührlich gegen den Minister selbst benommen hatte.

An der Spitze der Assistenten stand von Anfang an ~S. Gabriel~,
der schon unter ~Hofmann~ dem Institut 20 Jahre lang erst als
Studierender und dann als Assistent angehört hatte. Er ist mir immer
ein lieber Kollege und Freund gewesen. Ich benutze deshalb gerne
diese Gelegenheit, ihm herzlichen Dank zu sagen für die stets in
freundlicher Weise gewährte Hilfe, die er mir so oft bei Erkrankungen
oder anderen Verhinderungen sowohl in den Vorlesungen, wie auch in
der Verwaltung des Instituts gewährt hat. Da ich auch von seiner
wissenschaftlichen Tüchtigkeit überzeugt war, so hätte ich ihm gerne zu
einer selbständigen Tätigkeit verholfen, aber allen Empfehlungen zum
Trotz ist es nicht gelungen, ihm einen Ruf an eine andere Hochschule
zu verschaffen. Erst mit der Entstehung des neuen Instituts war es
möglich, ihm eine dauernde Anstellung als Abteilungsvorsteher zu
geben, und ich habe später auch dafür gesorgt, daß seine Verdienste
um das Institut und den Unterricht durch Verleihung von Orden, des
Titels Geheimer Regierungsrat und die Ernennung zum ordentlichen
Honorarprofessor in der philosophischen Fakultät anerkannt wurden. Er
ist zwar ein Jahr älter, aber mit Rücksicht auf seine gute Gesundheit
gebe ich gerne der Hoffnung Ausdruck, daß er mindestens ebenso lange
wie ich seine Tätigkeit im Institut beibehalten wird.

Die zwei anderen Assistenten, die ich aus der ~Hofmann~'schen Zeit
übernahm, Dr. ~Richter~ und Dr. ~Pulvermacher~, sind nach Ablauf von
1-3 Jahren freiwillig aus dieser Stellung geschieden. Vom ersteren
habe ich nie mehr etwas gehört. Der zweite war etwa 10 Jahre später
Generalsekretär des internationalen Chemikerkongresses zu Berlin. Viel
länger ist Dr. ~C. Harries~ geblieben. Er war schon bei ~Hofmann~
provisorisch Vorlesungsassistent. In der gleichen Eigenschaft erhielt
er bei meinem Amtsantritt eine ordentliche Assistentenstelle, wurde
später Unterrichtsassistent und im Jahre 1900 bei Eröffnung des neuen
Instituts Abteilungsvorsteher für organische Chemie. Nach dem Rücktritt
von ~Claisen~ folgte er einem Ruf nach Kiel als ordentlicher Professor
und Direktor des dortigen Instituts. Vor 1½ Jahren hat er diese
Stellung aufgegeben und sich als Privatgelehrter nach Berlin-Grunewald
zurückgezogen. ~Harries~ hat seine Doktorarbeit unter ~Tiemann~
angefertigt, aber seine selbständigen Versuche begann er zu meiner
Zeit, und bei dem dauernden persönlichen und wissenschaftlichen
Verkehr, in dem wir jahrelang standen, hat er sicherlich so viel von
mir gelernt, daß er wohl auch zu meinen Schülern gezählt werden darf.
In der Tat bezog sich auch eine seiner ersten Arbeiten auf das von
mir und ~Besthorn~ entdeckte sogen. Phenyl-Sulfocarbazin, von dem er
nachwies, daß es nicht die von uns vermutete Struktur besitze, sondern
den Schwefel im Benzolkern enthalte. Aber die endgültige Erkenntnis
seiner Struktur ist ihm auch nicht gelungen. ~Harries~ hat im Berliner
Institut seine Versuche über die Oxydation von ungesättigten Körpern
mit Ozon begonnen, die er später auf den Kautschuk ausdehnte und damit
seinen größten wissenschaftlichen Erfolg erzielte.

Die beiden von mir aus Würzburg mitgebrachten Unterrichtsassistenten
Dr. ~Piloty~ und Dr. ~Fogh~ haben verschiedene Schicksale erlebt.
Von dem Ersten ist früher schon ausführlich die Rede gewesen. Er
hat im Berliner Institut die schönen Versuche über Dioxyaceton,
über eine neue Synthese des Glycerins und eine besondere Klasse von
Nitrosoverbindungen ausgeführt.

Seine Gattin ~Eugenie~, Tochter von ~Baeyer~, war schon von Würzburg
her mit meiner Frau befreundet. Ihr erstes Kind, ein Sohn, wurde in
Berlin Weihnachten 1892 geboren, und ich hatte die Ehre, als Pate
gewählt zu werden. Er ist leider wie der Vater in dem unseligen Krieg
im Westen gefallen.

Dr. ~Fogh~, ein Däne, hat in Berlin wenig Erfolg gehabt. Die in
Paris bei ~Berthelot~ begonnenen und in Würzburg fortgesetzten
thermochemischen Versuche ließ er gänzlich liegen. Nach einigen
Semestern wurde er auch noch krank, nahm zuerst Urlaub und da es nicht
besser wurde, schied er freiwillig aus seiner Stelle. Er ist nach
Kopenhagen zurückgekehrt und außer einer Verlobungsanzeige habe ich
keine Nachricht mehr von ihm erhalten.

Viel besseren Erfolg hatte der von Würzburg mitgekommene
Privatassistent Dr. ~Lorenz Ach~, der mir bei der Untersuchung über
Amidoacetaldehyd und die Alkoholglucoside wertvolle Hilfe leistete.
Nach Aufgabe dieser Tätigkeit wurde er Unterrichtsassistent in der
organischen Abteilung und ich schlug ihm eine gemeinsame Arbeit über
die Verwandlung der 1,3-Dimethylpseudoharnsäure, die ich kurz zuvor
von einem Studenten hatte darstellen lassen, in die entsprechende
Harnsäure vor. In der Tat gelang die Reaktion zuerst durch Schmelzung
mit Oxalsäure, die sich auch für die analoge Synthese der Harnsäure als
brauchbar erwies. An diese Versuche hat sich später die erste Synthese
des Coffeins angereiht. Zuvor aber war Dr. ~Ach~ in die Technik
übergetreten und zwar in das wissenschaftliche Laboratorium der Firma
C. F. Böhringer und Söhne zu Mannheim-Waldhof, dessen Leitung seinem
Bruder, dem früher erwähnten Dr. ~Fritz Ach~, anvertraut war. Nach
dem frühzeitigen Tode des Bruders ist ~Lorenz~ an die Spitze dieses
Laboratoriums getreten und hat hier hübsche Erfolge erzielt.

Durch diese persönlichen Beziehungen bin ich auch veranlaßt worden,
derselben Firma die technische Ausarbeitung der Coffein-Synthese
anzuvertrauen. Die daraus hervorgegangenen Arbeiten werde ich erst
später im Zusammenhang mit den allgemeinen Untersuchungen über Purine
besprechen.

Nachfolger von Dr. ~Ach~ im Privatlaboratorium wurde Dr. ~Rehländer~,
ein ebenfalls sehr tüchtiger, gewissenhafter und fleißiger Chemiker.
Er hat nicht allein an der Ausarbeitung der Glucosidsynthese,
sondern auch an den umfangreichen Enzymversuchen, welche mit dem
charakteristischen Verhalten der α- und β-Glucoside gegen Emulsin
begannen, regen Anteil gehabt. Er ist später in die Fabrik von
Schering eingetreten. Gleichzeitig mit ihm fungierte Dr. ~Beensch~
als Privatassistent und ging dann wie die Brüder ~Ach~ zu der Firma
Böhringer & Söhne. Er wurde im Privatlaboratorium durch ~P. Hunsalz~
abgelöst, der länger als gewöhnlich bei mir blieb und namentlich an
den Purinsynthesen in hervorragendem Maße beteiligt gewesen ist. Er
war in Memel zuhause, stammte aus bescheidenen Verhältnissen und war
körperlich ein unansehnlicher Mann, aber klug und außerordentlich
fleißig. Seine Neigung, zu hasten und die Versuche zu überstürzen,
habe ich schon bei seiner Doktorarbeit über den Hydrazinoaldehyd
energisch und auch erfolgreich bekämpft, denn er war später ein recht
geschickter Experimentator, der besonders die Kunst sehr schnellen
Arbeitens beherrschte. Er war der erste Privatassistent, dem ich
mit Rücksicht auf seine Leistungen einen recht erheblichen Zuschuß
zum staatlichen Gehalt gewährte. Schließlich kam er auch in das
Laboratorium von Böhringer & Söhne, hat sich aber hier anscheinend
wegen des Übergewichts der beiden Brüder ~Ach~ nicht wohl gefühlt und
ist deshalb nach einigen Jahren zur Firma Schering in Berlin gegangen.
Hinterher ist mir dieser Entschluß pathologisch vorgekommen; denn er
war in Mannheim-Waldhof gut gestellt. In der Tat hat sich auch nicht
lange nachher eine Geisteskrankheit entwickelt, die mit körperlichem
Zerfall Hand in Hand ging und ihn schließlich in einen freiwilligen Tod
geführt hat. Sein trauriges Schicksal ist mir sehr nahe gegangen, weil
ich ihn gern hatte. Er selbst war aber durch die Krankheit so scheu
geworden, daß er mich während seiner Anstellung bei Schering niemals
mehr besuchte, sondern im Gegenteil jeder Begegnung auswich. Alles das
war offenbar der Vorbote der schweren Krankheit.

Ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so schweres Schicksal hatte Dr.
~Giebe~, der mehrere Jahre Assistent in der Vorlesung war und mit
dem ich eine ziemlich ausgedehnte Untersuchung über die Bildung
der Acetale aus Aldehyd und Alkohol bei Gegenwart von Salzsäure
ausgeführt habe. Er war damals schon herzkrank, hätte aber mit dem
Leiden sicherlich noch sehr lange leben können. Unglücklicherweise
besaß er den Ehrgeiz, Soldat zu werden und trat deshalb gegen den
Willen der Ärzte als Freiwilliger in ein Jägerbataillon ein. Infolge
des anstrengenden Dienstes mußte er aber schon nach mehreren Monaten
entlassen werden, und er ist etwa ½ Jahr später fast gleichzeitig
mit seinem Vater gestorben. Er war ein sehr tüchtiger, strebsamer und
hoffnungsvoller junger Mann, dessen frühzeitiges Ende mir auch sehr
leid getan hat.

Viel besser hat sich der Privatassistent Dr. ~Pinkus~ gehalten, der
anfangs Hilfsassistent, aber von 1897/98 ab ordentlicher Assistent im
Privatlaboratorium war. Er hat die Versuche über die verschiedenen
isomeren Formen des Acetaldehyd-Phenylhydrazons ausgeführt und war
mir eine besonders treffliche Hilfe in der Verwaltung des Instituts.
Als ich ihm diese anbot, erklärte er mir, daß er nicht die geringste
kaufmännische Erfahrung besitze und niemals ein Buch geführt habe.
Ich vertraute aber doch seiner Veranlagung und es zeigte sich in der
Tat, daß er all diese Dinge, man könnte sagen, instinktiv vernünftig
und zweckmäßig besorgte. Er hat das Laboratorium geradezu vor manchen
unnützen Ausgaben geschützt. Später ist er zu ~Nölting~ nach Mühlhausen
gegangen, um sich in der Farbenchemie umzusehen und dann als Chemiker
in die Actiengesellschaft für Anilinfabrikation zu Berlin eingetreten.
Er hat diese später wieder verlassen, um sich selbständig zu machen.

Einen sehr tüchtigen Nachfolger für ~Hunsalz~ erhielt ich 1897 in Dr.
~Hübner~, gebürtig aus Kreuznach, ein sehr verständiger, ruhiger und
gewissenhafter Chemiker. Er hat bei mir die schwierigen Versuche über
das freie Purin und seine Methylderivate durchgeführt und mir auch bei
der Abfassung der Biographie von ~A. W. von Hofmann~, von der ich den
wissenschaftlichen Teil übernommen hatte, in den Herbstferien 1898
während 3 Wochen stenographische Hilfe geleistet. Er bekleidet jetzt
bei den Farbwerken zu Höchst eine angesehene Stellung.

Außer den Assistenten fanden immer einige Studierende, die ihre
Doktorarbeit ausführten, im Privatlaboratorium Platz. Ich erwähne
davon den späteren Direktor einer Schwefelsäurefabrik zu Duisburg Dr.
~Haenisch~, den späteren technischen Direktor der Zellstoffabrik zu
Waldhof Dr. ~Hans Clemm~, den späteren Landwirt Dr. ~Kopisch~, den
jetzigen Professor der Pharmazie zu London Dr. ~Crossley~.

Als besondere Gäste des Privatlaboratoriums sind zu verzeichnen Dr.
~Robert Pschorr~ und Fräulein ~Hertha von Siemens~. Der erste hatte
sich schon im Jahre 1892 bei mir in Würzburg als Student angemeldet,
änderte aber seinen Entschluß, als er hörte, daß ich im Oktober nach
Berlin übersiedle, weil München und Berlin diejenigen Städte seien,
die er während der Studienzeit vermeiden müsse. Statt dessen ging
er zu ~Knorr~ nach Jena und promovierte auch dort. Im Herbst 1895
kam er aber zu mir nach Berlin, und ich konnte ihm einen gerade frei
gewordenen Platz im Privatlaboratorium überlassen. Er hat hier nach
eigenen Plänen über Synthese von Phenanthrenderivaten gearbeitet,
aber von mir doch manchen guten Rat empfangen. Nach 1½jähriger
eifriger und erfolgreicher Arbeit kündigte er mir an, daß er jetzt
zusammen mit dem jungen Dr. ~Meister~ eine Weltreise unternehmen
wolle. Ich riet davon ab mit der Begründung, daß man solche langen
Reisen wohl zu ernsten Zwecken, aber nicht nur zur Unterhaltung als
sogen. Globetrotter unternehmen solle. Da aber alle Vorbereitungen
schon getroffen waren, so ließ er sich nicht abhalten und kehrte
auch glücklicherweise unbeschädigt an Körper, Geist und Arbeitslust
nach etwa ⅔ Jahren zurück, um seine chemischen Untersuchungen
zunächst wieder im Privatlaboratorium fortzusetzen. Bald nachher
heiratete er ein Fräulein aus Frankfurt a. M. Durch den täglichen und
vertrauten Verkehr im Laboratorium habe ich ihn rasch lieb gewonnen;
denn er ist ein feiner, gut gebildeter Mann, musikalisch, auch zu
hübschen Gelegenheitsgedichten in bayerischer Mundart befähigt und
sehr bereit, anderen Leuten Hilfe zu gewähren oder eine Freude zu
machen. Bei der Übersiedlung ins neue Institut konnte ich ihm eine
Assistentenstelle anbieten, und als ~Harries~ nach Kiel berufen wurde,
übernahm er die Stelle eines Abteilungsvorstehers, bis er im Frühjahr
1914 als Nachfolger von ~Liebermann~ an die technische Hochschule zu
Charlottenburg kam. Seit Ausbruch des Krieges steht er im Felde, z.
Zt. als Major im bayerischen Heere, und bei der Jubiläumsfeier der
chemischen Gesellschaft erhielt er als früherer Redakteur der Berichte
auf meinen Antrag den Titel Geheimer Regierungsrat.

Fräulein ~von Siemens~ war die erste Frau, die als Praktikantin in
das chemische Institut aufgenommen wurde. Sie war mir von ~Anton
Dohrn~, dem Schöpfer der zoologischen Station zu Neapel, mit dem
sie befreundet war, warm empfohlen. Sie hatte schon verschiedene
naturwissenschaftliche Fächer studiert und wollte sich nun in Chemie,
besonders dem organischen Teil, unterrichten, um später in Neapel
biologische Studien anstellen zu können. Sie war damals schon 29
Jahre alt, und da sie wohl keine Zeit gehabt hatte, die Chemie von
Grund aus zu betreiben, so nahm ich sie für ein Wintersemester ins
Privatlaboratorium, wo sie organische Präparate und einige Analysen
ausführte und der speziellen Fürsorge von Dr. ~Hübner~ anvertraut war.
Sie nahm die Sache recht ernst, aber natürlich war es auch ihr nicht
möglich, im Fluge eine so schwierige Wissenschaft wie die Chemie
zu bewältigen, zumal ich sie wegen Platzmangel nicht länger wie ein
Semester im Privatlaboratorium behalten konnte. Ihren Dank für den
genossenen Unterricht brachte sie dadurch zum Ausdruck, daß sie mehrere
jüngere, unverheiratete Assistenten wiederholt in die von ihr und ihrer
Mutter bewohnte prächtige Villa zu Charlottenburg einlud. Auf diese
Weise machte sie auch die Bekanntschaft von Dr. ~Harries~, der sie im
Herbst 1899 heiratete. So ist sie der Chemie dauernd treu geblieben und
hat ihr Interesse an unserer Wissenschaft später durch reichliche Gaben
insbesondere auch zugunsten des Kaiser Wilhelm-Instituts für Chemie
bekundet. Sie ist eine vornehme Frau, die vielleicht Gutes geleistet
hätte, wenn sie früher in die Wissenschaft gekommen und dauernd dabei
geblieben wäre.

Seitdem sind viele Frauen in unser Institut gekommen und während
des Krieges haben sie sogar die Mehrheit unter den Praktikanten
erreicht. Genau so wie bei den jungen Männern sind ihre Leistungen
außerordentlich verschieden. Es gibt darunter oberflächliche, auch
leichtfertige Elemente, die sich mehr zur Schau oder zur Unterhaltung
in die Hörsäle und Institute drängen. Aber die Mehrzahl, besonders von
den deutschen Frauen denken doch ernster, und unter den Mädchen, die
in den letzten Jahren das Institut besuchten, habe ich 2 oder 3 kennen
gelernt, die guten Chemikern an Leistungen ganz gleich zu stellen
waren. Trotzdem habe ich mich von der Zweckmäßigkeit des Frauenstudiums
in der Chemie nicht überzeugen können, weil die Erfahrung lehrt,
daß die Mehrzahl der studierten Frauen und gerade die besten später
heiraten und dann gewöhnlich nicht mehr imstande sind, ihren Beruf
auszuüben. Sobald das eintritt, sind Geld und Arbeit, die für das
Studium aufgewandt wurden, verloren, und dasselbe gilt für die große
Mühe, welche die Dozenten der Chemie in den Laboratorien für den
Unterricht aufwenden müssen. Für die Zeit des Krieges und vielleicht
auch noch für einige Jahre des Friedens mag ja wohl die Hilfe der Frau
in der Chemie unentbehrlich sein, weil die Männer fehlen. Auch die
Gefahr der Verheiratung ist augenblicklich geringer geworden, aber
sobald wieder normale Verhältnisse eintreten, wird voraussichtlich
meine obige Ansicht von neuem zu Recht kommen. Ich hoffe deshalb, daß
in Zukunft das Studium der Frau sich mehr auf die Fächer beschränkt,
wo weibliche Gelehrte ein wirkliches Bedürfnis decken können. Das ist
der Fall in gewissen Zweigen der Medizin und vor allen Dingen in dem
Lehrberuf; denn ich erwarte, daß auch bei uns die Zeit kommen wird,
wo man den Unterricht in der Volksschule und Mittelschule, auch für
die Knaben bis etwa zum Alter von 11-12 Jahren, vorzugsweise der Frau
anvertraut, ohne dabei Gefahr zu laufen, eine zu feminine männliche
Jugend heranzuziehen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts traten zwei Männer in die Reihe
der Assistenten ein, die sich zu meiner Freude der anorganischen
Chemie widmen wollten, und die auch später auf diesem Gebiete die
schönsten Erfolge erzielt haben. Sie waren beide in unserem Institut
herangebildet. Der eine war der Schwabe ~Otto Ruff~, absolvierter
Apotheker, aber im Besitz des Abituriums und bei uns vollständig als
Chemiker ausgebildet. Seine Dissertation führte er als Organiker
unter ~Piloty~ aus, fand dann selbständig einen Abbau der Zucker,
der einfacher als das ältere ~Wohl~sche Verfahren ist. Etwas später
habe ich mit ihm noch eine kleine Arbeit über die Konfiguration der
Xylose und den synthetischen Übergang von der Mannit- zur Dulcitreihe
publiziert. Dann hat er sich fast ausschließlich mit anorganischen
Aufgaben beschäftigt, wozu ich ihn auch gewissermaßen verpflichtet
hatte, als er im Oktober 1897 eine Unterrichtsstelle in der
analytischen Abteilung übernahm. Er ist hier 1900 Oberassistent und im
Frühjahr 1903 Abteilungsvorsteher geworden. 1½ Jahre später wurde er
ordentlicher Professor der anorganischen Chemie an der neugegründeten
Hochschule zu Danzig und ist jetzt in gleicher Eigenschaft an der
technischen Hochschule zu Breslau tätig. ~Ruff~ ist ein begabter, sehr
fleißiger und energischer Chemiker, der keine Mühe scheut, schwierige
experimentelle Arbeiten zu unternehmen und durchzuführen. Auch als
Lehrer genießt er guten Ruf. Von seiner Neigung, für seine Überzeugung
zu kämpfen, habe ich einmal im Interesse des Instituts Nutzen gezogen.
Bei dem Neubau war nämlich bei Bestellung von kleinen Rollwagen zum
Transport von Chemikalien innerhalb des Instituts versäumt worden,
einen Kostenanschlag einzufordern. Infolgedessen lieferte die
betreffende Firma zwei für uns unbrauchbare Wagen und stellte dafür
eine übertrieben hohe Rechnung aus. Dadurch entstand ein Prozeß, den
~Ruff~ mit Vergnügen und komischer Tatkraft für das Institut führte
und auch glänzend gewann. Seine Freude am Disput hat ihn auch hier
und da in Streit mit den Altersgenossen gebracht. Ich selbst habe
in ihm aber stets einen verständnisvollen und zu jeder nützlichen
Tätigkeit bereiten Mitarbeiter gefunden. In Anerkennung seiner eifrigen
experimentellen Forschung hat es mir Freude gemacht, ihm wiederholt
Geldunterstützungen für seine Arbeiten von Seiten der Akademie der
Wissenschaften oder aus anderen Quellen zu verschaffen.

Der zweite Anorganiker war ~Alfred Stock~, der im Oktober 1898 zunächst
Vorlesungsassistent wurde. Auch er hat als Organiker promoviert, was
seiner experimentellen Ausbildung nicht schädlich gewesen ist. ~Stock~
ist ein Berliner Kind und hatte sich schon im Friedrich Werderschen
Gymnasium sehr ausgezeichnet, so daß ihm von dort ein dreijähriges
Stipendium für die Studienzeit gewährt wurde. Er war auch als
Vorlesungsassistent sehr brauchbar und darauf bedacht, neue Experimente
zu finden oder die alten zu verbessern, bezw. zu verschönern. Als seine
Neigung zur anorganischen Chemie sicher war, riet ich ihm im Herbst 99,
zu ~Moissan~ nach Paris zu gehen und verschaffte ihm für diesen Zweck
vom Kultusministerium ein Reisestipendium. Er hat auch ~Moissan~ so gut
gefallen, daß er mich im Frühjahr 1900 ersuchte, ~Stock~ ein weiteres
halbes Jahr bei ihm zu lassen. Im Spätsommer 1900 kam dann ~Stock~
von Paris zurück, dankerfüllt gegen ~Moissan~, der ihn so freundlich
aufgenommen und belehrt hatte, auch als Kenner von einzelnen Methoden
und Apparaten, die in Frankreich üblich und in Deutschland kaum bekannt
waren. Z. B. sind wir so in den Besitz der so bequemen Quecksilberwanne
gekommen, die von ~Berthelot~, ~Moissan~ und anderen französischen
Gelehrten benutzt wurde und wegen ihrer Größe ein recht bequemes
Arbeiten mit Gasen gestattet. Leider verlangt sie auch eine ziemlich
kostspielige Quecksilberfüllung.

Nach seiner Rückkehr hat sich ~Stock~ ausschließlich der anorganischen
Chemie gewidmet, durchlief die übliche Stufenleiter im Institut als
Unterrichtsassistent und Abteilungsvorsteher und wurde 1909 als
ordentlicher Professor der anorganischen Chemie an die technische
Hochschule zu Breslau versetzt. Einige Jahre später erhielt er die
Ernennung zum ordentlichen Professor und Direktor des chemischen
Instituts an der Universität zu Münster. Damit wurde nach langen
Jahren zum ersten Mal wieder eine ordentliche Professur der Chemie
einem Anorganiker anvertraut und zwar ohne die Verpflichtung, die
Elementarvorlesung über organische Chemie mitzulesen. Bevor aber
~Stock~ das neue Amt antrat, gab ~Willstätter~ seine Stellung am Kaiser
Wilhelm-Institut für Chemie auf, um als Nachfolger von ~Baeyer~ nach
München zu gehen. ~Stock~ bewarb sich nun um diese Stelle und wurde
von dem Verwaltungsrat unter denselben Bedingungen wie ~Willstätter~
ernannt. Inzwischen war der Krieg ausgebrochen und ~Stock~, der noch im
wehrpflichtigen Alter stand, übernahm alsbald kriegswissenschaftliche
Arbeiten. Auch die Räume im Kaiser Wilhelm-Institut mußte er abtreten,
da sie für den Gaskampf in Anspruch genommen wurden, und so kehrte er
denn für die Dauer des Krieges in unser Institut zurück. ~Stock~ ist
ein sehr geschickter Experimentator und im Bau von wissenschaftlichen
Apparaten dürfte er die erste Stelle unter den jüngeren Chemikern
Deutschlands einnehmen. Den Beweis dafür liefert die glänzende
Untersuchung über die Verbindungen des Wasserstoffes mit Silizium und
Bor. Zudem ist er ein ausgezeichneter Redner und ich glaube nicht,
das irgend ein anderer deutscher Chemiker ihm in der Gestaltung der
anorganischen Experimentalvorlesung gleichkommt. Es ist mir deshalb
eine große Beruhigung, daß er mich jetzt in dieser Vorlesung vertritt
und dadurch den chemischen Unterricht in Berlin vor weiterem Niedergang
schützt. Wenn ~Stock~ im zukünftigen Frieden so weiter arbeitet wie
bisher, so wird er vermutlich einer der hervorragendsten Vertreter der
anorganischen Chemie in der Welt werden.

Im Wintersemester 1899/1900, dem letzten im alten Institut, erhielt
noch ~Otto Diels~ eine Assistentenstelle. Er hatte zuvor seine
Doktorarbeit unter meiner Leitung ausgeführt und wurde Nachfolger von
~Stock~, zunächst als Vorlesungsassistent. Von ihm stammt die neue
Fassung des Vorlesungsbuches, die er als gewandter Zeichner mit vielen
hübschen Illustrationen geschmückt hat. Er ist der Sohn des klassischen
Philologen und jetzigen Sekretärs der Akademie der Wissenschaften,
und war ebenso wie seine Brüder von vornherein entschlossen, wenn
irgend möglich, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Er ist später
Unterrichtsassistent in der organischen Abteilung und nach dem Weggang
von ~Pschorr~ dessen Nachfolger als Abteilungsvorsteher geworden.
Inzwischen hat er sich in der Wissenschaft einen geschätzten Namen
durch die Entdeckung und systematische Untersuchung des Kohlensuboxyds
gemacht. Während des Krieges wurde er Nachfolger von ~Harries~ in
Kiel, nachdem ~W. Traube~ den zuvor an ihn ergangenen Ruf abgelehnt
hatte. ~Diels~ ist ein guter Experimentator und auch als Lehrer recht
beliebt. Er hat mehrere Jahre für mich die Vorlesung über anorganische
Chemie gehalten und auch einen in Berlin viel gebrauchten Grundriß der
organischen Chemie geschrieben. Mir war er alle Zeit ein lieber Schüler
und Kollege.

Mit der Eröffnung des neuen Instituts in der Hessischen Straße, das
ungefähr dreimal so viel Arbeitsplätze hatte, wie das alte Haus und
in technischer Beziehung viel vollkommener ausgestattet ist, wuchs
natürlich die Zahl der Assistenten und gleichzeitig wurden drei
Abteilungsvorsteherstellen geschaffen. Zwei davon fielen den beiden
Leitern der analytischen Abteilung zu und die dritte wurde für die
organische Chemie bestimmt. Das entsprach der räumlichen Einteilung
des Instituts in vier gleich große Unterrichtssäle, von denen einer
gleichsam als Abteilung von mir selbst besorgt worden ist.

Die ersten Abteilungsvorsteher waren ~Gabriel~ und ~Harries~. Die
dritte Stelle wurde provisorisch von ~Ruff~ verwaltet, der zu
dem Zweck die Stelle eines Oberassistenten erhielt und 1903 zum
Abteilungsvorsteher aufstieg. Unter den neuen Assistenten befanden sich
auch der früher schon erwähnte ~R. Pschorr~, ferner Dr. ~Lehmann~,
der sich namentlich um den Neubau Verdienste erwarb und später in die
Farbenfabriken vorm. F. Bayer & Co. zu Elberfeld eintrat, endlich Dr.
~A. Wolfes~ und Dr. ~Poppenberg~. ~Wolfes~ hat als mein Privatassistent
bei den Arbeiten über Aminosäuren und Polypeptide vortreffliche Dienste
geleistet. Er nahm auch teil an den Versuchen über Veronal, und das
war wohl der Grund, weshalb er im Jahre 1903 von der Firma E. Merck
in Darmstadt für das wissenschaftliche Laboratorium angeworben wurde,
nachdem er zuvor sein militärisches Dienstjahr abgeleistet hatte. In
dieser Stellung hat er sich sehr bewährt und wird von der Firma als
treuer und tüchtiger Mitarbeiter ebenso sehr geschätzt, wie das von mir
geschehen.

Während des Krieges ist er Leutnant in einem Infanterieregiment
geworden und trotz seines anscheinend nicht starken Körpers hat er die
großen Strapazen des Feldzuges an der Westfront gut vertragen.

~Poppenberg~ war Unterrichtsassistent in der analytischen Abteilung.
Er ist später Lehrer und Professor an der Artillerieschule zu
Charlottenburg geworden, hat sich auch wissenschaftlich mit Erfolg auf
artilleristischem Gebiet betätigt und während des Krieges mehrere in
sein Fach einschlagende Erfindungen gemacht. Leider verlor er in der
jetzigen Stellung bei der Ausführung einer Stickstoffanalyse durch
einen Tropfen Kalilauge ein Auge.

Im Winter 1900/01 trat auch Dr. ~Rohmer~ in die Reihe der Assistenten
ein und blieb einige Jahre in der analytischen Abteilung, wo er
verschiedene kleine Erfindungen, z. B. Verbesserung der Arsenbestimmung
durch Destillation als Arsen-Trichlorid machte. Er ist dann in den
Dienst der Höchster Farbwerke getreten und hat hier als technischer
Erfinder schöne Erfolge gehabt.

Zur selben Zeit war Dr. ~Franz~, Sohn des Wirten vom Siechenbierhause,
mein Vorlesungsassistent.

Ein Mann von besonderem Typ war Dr. ~Wolf von Loeben~, Sprosse einer
adeligen Offiziersfamilie in Sachsen. Er hatte sein Doktorexamen bei
~Behrend~ in Hannover über die γ-Methylharnsäure ausgeführt
und war dann kurze Zeit Mitarbeiter bei den thermochemischen
Untersuchungen von ~Stohmann~ in Leipzig gewesen. Er hat bei mir
zunächst eine kleine Arbeit in der Harnsäuregruppe ausgeführt und
wurde dann zunächst Hilfsassistent in der thermochemischen Abteilung,
die ich im neuen Institut eingerichtet hatte. Es war mir sehr bequem,
daß er hierfür die Erfahrungen aus dem ~Stohmann~'schen Laboratorium
mitbrachte. Die Resultate unserer gemeinsamen Versuche sind in
einigen Abhandlungen in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie
niedergelegt. ~Loeben~ war ein behaglicher Sachse, der sich persönlich
allgemeiner Beliebtheit erfreute, aber übermäßige Arbeit nicht
liebte und deshalb auch vor der chemischen Industrie zurückscheute.
Statt dessen bekam er die Stelle eines Assistenten in einer
wissenschaftlichen Versuchsanstalt des Reichsschatzamtes, die unter
Leitung des Professors ~K. von Buchka~ stand. Hier ist er kurz vor dem
Kriege infolge einer Pyämie an einer kleinen Wunde gestorben. Trotz
seiner persönlichen Gutmütigkeit war er politisch ein ausgesprochener
Chauvinist und stellte sich als solcher an die Spitze einer Opposition
in der chemischen Gesellschaft, welche die Wahl von ~Sabatier~ zum
Ehrenmitglied aus politischen Gründen bekämpfte. Ich mußte ihm damals
ziemlich scharf entgegentreten, was aber ohne Einfluß auf unser
freundschaftliches persönliches Verhältnis geblieben ist.

Neben den ordentlichen Assistenten haben im neuen Hause immer einige
Hilfsassistenten, teils besoldet, teils unbesoldet an meinen Arbeiten
im Privatlaboratorium teilgenommen. Dahin gehören die Herren Dr.
~Bethmann~ und Dr. ~Hagenbach~, ein Sohn des bekannten Professors der
Physik an der Universität Basel. Sie sind beide später in die Höchster
Farbwerke eingetreten und Dr. ~Hagenbach~ hat sich hier durch gute
Leistungen eine recht geachtete Stellung geschaffen.

In derselben Eigenschaft war Dr. ~E. Frankland Armstrong~, Sohn des
Professors ~Henry Armstrong~ in London, mehrere Jahre bei mir tätig,
nachdem er zuvor eine Untersuchung in der Puringruppe ausgeführt hatte,
und daraufhin von der Berliner Fakultät zum Dr. phil. promoviert
worden war. Er ist ein spekulativer und auch experimentell gut
veranlagter Chemiker, der bei mir ziemlich schwere Versuche über die
Synthese von Disacchariden und die Bereitung von Acetohalogen-Glucose
durchgeführt hat. Leider ist die Existenz der isomeren als α- und
β-Verbindung bezeichneten Acetochlor-Glucosen durch meine späteren
Beobachtungen sehr zweifelhaft geworden und bei der Überführung unserer
ursprünglichen Präparate in α-Methylglucosid, die als Beweis
für die Struktur des vermeintlichen α-Halogenkörpers gedient
hatte, muß entweder ein Irrtum passiert oder eine zufällige Änderung
der Konfiguration eingetreten sein.

~Armstrong~ hat später ein hübsches Büchlein über die einfachen
Kohlenhydrate geschrieben, das von Dr. ~Eugen Unna~ ins Deutsche
übersetzt wurde. Er hat ferner in London interessante Versuche über die
Spaltung der α- und β-Glucoside mit Enzymen angestellt, mußte aber,
weil er früh heiratete, wahrscheinlich aus materiellen Gründen eine
Stellung in der Industrie annehmen, was seinen rein wissenschaftlichen
Arbeiten natürlich Abbruch tat.

Von den neuen Assistenten des Wintersemesters 1901/02 sind Dr. ~Georg
Röder~ und Dr. ~Alfred Dilthey~ besonders zu nennen. Ersterer hat bei
mir die Synthese des Uracils, Thymins und ähnlicher Verbindungen nach
neuen Methoden ausgeführt. Er ist ein begabter und auch theoretisch
gut unterrichteter Chemiker, der sicherlich sehr hübsche Sachen
hätte machen können, wenn er die nötige Ausdauer besessen hätte. Er
hat es aber vorgezogen, nach einigen Semestern das Laboratorium zu
verlassen und auf Reisen zu gehen. Von Zeit zu Zeit tauchte er wieder
in Berlin auf und wußte dann Interessantes über seine Erlebnisse zu
berichten. Wenn ich nicht irre, hat er mehrere fremde Kontinente kennen
gelernt und zuletzt war er im Laboratorium von ~Piutty~ in Neapel als
Unterrichtsassistent tätig. Hier wurde er durch den Krieg verscheucht,
kehrte nach Berlin zurück und wurde dann bald Soldat. Wie ich höre, hat
er durch Vermittlung seiner chemischen Freunde bald bei einem A. O. K.
eine Anstellung gefunden, wo er trotz seines niedrigen militärischen
Ranges seine vielfachen chemischen und technischen Kenntnisse glücklich
verwerten konnte.

~Alfred Dilthey~ war der jüngste Sohn meiner verstorbenen Schwester
~Mathilde~, schon als Knabe bildhübsch und aufgeweckt. Nachdem er
ein Semester in Genf studiert hatte, kam er im Herbst 1895 nach
Berlin und blieb hier mehrere Jahre. Da er nur das Abiturium von
einer Oberrealschule hatte und die Berliner Fakultät in solchen
Fällen geneigt war, Schwierigkeiten zu machen, so ging er auf meinen
Rat zur Promotion zu ~Hantzsch~ nach Würzburg. Dann diente er als
Einjährig-Freiwilliger in Düsseldorf in einem Ulanenregiment und kehrte
1901 nach Berlin zurück. Hier nahm er im Privatlaboratorium teil an
meinen Arbeiten über die Amidbildung bei alkylierten Malonestern und
an den Synthesen von alkylierten Barbitursäuren, von denen das Veronal
ein bekanntes Schlafmittel geworden ist. Da er zur wissenschaftlichen
Laufbahn keine Lust hatte, so machte er 1902 eine Reise nach den
Vereinigten Staaten von Nordamerika und kehrte von dort ¾ Jahre
später, leider ziemlich heftig an Malaria erkrankt, zurück.

Er hat lange gebraucht, um sich zu erholen und ließ sich später in
Berlin nieder, um ein eigenes Geschäft zu gründen. Meinen Rat, in
eine der bestehenden chemischen Fabriken einzutreten oder sich an der
blühenden Baumwollspinnerei seines Vaters und Bruders in Rheydt zu
beteiligen, lehnte er ab, und bei den eigenen Geschäftsunternehmungen
blieb er ohne Erfolg. So ist es gekommen, daß dem talentvollen, klugen
und auch fleißigen jungen Mann eine richtige Lebensstellung, die
seinen Fähigkeiten und seinen materiellen Mitteln entsprochen hätte,
unerreichbar blieb. Er ist in dieser Beziehung, wenn man will, ein
Opfer seiner Vorliebe für die Großstadt geworden. Beim Ausbruch des
Krieges zog er ins Feld. Hier ist er als Offizierstellvertreter mit
seiner Kolonne im Sommer 1915 von Kosaken überfallen und niedergemacht
worden. Er ruht in polnischer Erde.

Solange er in Berlin weilte, war er regelmäßig an Sonn- und Festtagen
mein Gast und bemühte sich, die jüngeren Vettern, meine Söhne, in
allen Künsten männlicher Jugend, wie Kartenspiel, Weintrinken,
Sportgeschichten, studentische Angelegenheiten, Tanzfragen, Verkehr
mit Damen und dergl. heranzubilden. Die Jungen lauschten, besonders
solange sie noch auf der Schule waren, mit Staunen und Hochachtung
seinen Lehren und die vier jungen Leute bildeten ein durch Lustigkeit
und Eintracht ausgezeichnetes Quartett. Es kam mir manchmal so vor, als
wenn ~Alfred Dilthey~ mit zu meinen Söhnen gehörte. Von diesen vier
prächtigen Menschen ist infolge des unseligen Krieges nur einer übrig
geblieben.

Gleichzeitig mit ~Dilthey~ waren im Privatlaboratorium drei Herren, die
trotz der Verschiedenheit ihres Wesens gute Freundschaft miteinander
hielten und auch zu ausgelassenen Streichen sich öfters vereinten. Der
unternehmendste davon war Dr. ~Theodor Dörpinghaus~ aus Elberfeld, ein
schöner, durch körperliche Kraft ausgezeichneter Mann, in mancherlei
Sport geübt und zu abenteuerlichem Leben geneigt. In der Chemie
zeichnete er sich weniger durch Feinheit der Beobachtung, als durch
schnelles, energisches Anfassen der experimentellen Aufgaben aus.
Er hat die erste ziemlich mühsame Hydrolyse von Horn und ähnlichen
Proteinen durchgeführt. Später ist er auf Reisen gegangen und hat
sich nicht allein in Amerika und Asien, sondern auch ziemlich lange
in Zentral-Afrika und Marokko aufgehalten. Die Frucht der letzten
Reisen war eine Anklageschrift gegen die Verwaltung des belgischen
Kongostaates, die einiges Aufsehen erregte. Seit Ausbruch des Krieges
habe ich nichts mehr von ihm gehört, vermute aber, daß er tätigen
Anteil genommen hat und ohne Schaden davon gekommen ist; denn in
Überwindung von Gefahren hat er immer Geschick gezeigt und Glück
gehabt. In der letzten Zeit seines Berliner Aufenthaltes war er
zusammen mit seinen Freunden Dr. ~Ernst Königs~ und ~Eduard Andreae~
Besitzer eines alten Segelbootes, auf dem er alle freien Tage des
Sommers zubrachte und uns auch zuweilen auf dem Wannsee seine
Wasserkünste vorführte.

Dr. ~Peter Bergell~, der Sohn eines mecklenburgischen Landwirten,
ist Mediziner. Bevor er zu mir kam, war er Assistent an der Klinik
der inneren Medizin zu Breslau. Infolge guter Vorstudien fand er
sich rasch in unsere Arbeitsweise und hat bei mir die Isolierung der
Aminosäuren als Derivate der β-Naphtalinsulfosäure bearbeitet.
Mit Hilfe dieses Reagens gelang uns zum ersten Mal schon 1902 der
Nachweis, daß bei gemäßigter Hydrolyse des Seidenfibroins ein Dipeptid,
das Glycylalanin, entsteht. Nach dem Verlassen unseres Instituts
wurde ~Bergell~ zuerst der medizinische Berater einer Fabrik für
pharmazeutisch-chemische Präparate in Berlin. Später ist er zur reinen
Medizin zurückgekehrt und hat augenblicklich eine umfangreiche Praxis
als Spezialist für Stoffwechselkrankheiten. Seine Freunde rühmten ihm
große Gewandtheit in geschäftlichen Dingen nach.

Neuerdings ist er unter die Schriftsteller gegangen und hat ein viel
gelesenes Buch »Die linke Landgräfin« herausgegeben, in dem er das
Problem der Bigamie behandelt.

Ganz anders geartet war Dr. ~Hermann Leuchs~, eine stille
Gelehrtennatur, ausgezeichnet durch Schweigsamkeit, Ruhe und Ernst.
Er stammt aus einer Fabrikantenfamilie zu Nürnberg, kam anfangs
des Jahrhunderts nach Berlin und führte unter meiner Leitung eine
Doktorarbeit über die Synthese von Oxyaminosäuren aus. Ihre schönste
Frucht war die künstliche Bereitung des Serins und Glucosamins. Die
Geschicklichkeit und Sorgfalt, die er dabei bewies, war für mich
die Veranlassung, ihn als Privatassistenten bei den schwierigen
Arbeiten über Polypeptide zu wählen. Nachdem er hier zwei Jahre lang
vortreffliche Dienste geleistet hatte, wurde er Unterrichtsassistent in
der organischen Abteilung und schließlich nach dem Weggang von ~Diels~
dessen Nachfolger als Abteilungsvorsteher.

~Leuchs~ ist ein grundgescheiter Chemiker und sehr geschickter
Experimentator. Das beweisen seine späteren Untersuchungen besonders
über den Abbau der Strychnosalkaloide. Ich hoffe, daß sie ihm in nicht
allzu langer Zeit eine selbständige Stellung bringen werden.

Zusammen mit Dr. ~Dilthey~ haben diese drei jungen Männer im
Privatlaboratorium trotz eifriger und auch erfolgreicher Arbeit ein
vergnügtes Leben geführt, das sich zuweilen bis zu ausgelassenen
Streichen steigerte. Besonders war das der Fall, als ich im Winter
1903/04 wegen Schlaflosigkeit Berlin für mehrere Monate verließ
und mich in den Alpen herumtrieb. Da erwachte bei der Jugend ein
starkes Selbständigkeitsgefühl, das sich zuerst in Erfindungen und
Patentanmeldungen äußerte, die aber hinterher alle als wertlos
erkannt wurden. Daneben kam es zu allem möglichen Schabernack. So
wurde dem Dr. ~Bergell~ ein ganzer Waschkorb frischer Eier, die
er für einen wissenschaftlichen Versuch benutzen wollte, heimlich
gekocht und dadurch natürlich ihrem ursprünglichen Zweck entzogen.
Ferner gab es eine freundschaftliche Rauferei unter den großen, meist
sehr starken Herren, bei der Dr. ~Bergell~ einen Teil seines Bartes
verlor und ~Dörpinghaus~ durch einen Fußtritt ins Gesicht beinahe
ein Auge verloren hätte. Man wird daraus den Schluß ziehen, daß es
im Privatlaboratorium auch andere Dinge als reine Wissenschaft gab,
besonders wenn meine Abwesenheit von Berlin die Gefahr der Überraschung
ausschloß. Glücklicherweise war damals das weibliche Element noch nicht
bei uns eingedrungen. Sonst hätten schwierige Komplikationen entstehen
können.

Gleichzeitig mit den eben genannten Herren waren in der anorganischen
Abteilung zwei neue Assistenten ernannt worden, Dr. ~Blix~, ein
Schwede, und Dr. ~Arthur Stähler~, ein Berliner. ~Blix~ hatte
zuvor mit mäßigem Erfolg in Berlin promoviert, aber es wurde ihm
experimentelle Geschicklichkeit von dem Leiter der Abteilung
nachgerühmt. Dazu kam seine stattliche Persönlichkeit und sein
gewinnendes Wesen. Aber spätere Schwierigkeiten mit anderen Assistenten
zeigten doch, daß er nicht aus lauter Sanftmut zusammengesetzt war, und
er hat die Assistentenstelle vor Ablauf der üblichen zwei Jahre wieder
aufgegeben. Er ist dann nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika
gegangen und hat dort, wie ich indirekt erfuhr, in der Zuckerindustrie
eine glänzende Stellung erworben.

Dr. ~Stähler~ ist als Anorganiker bei der Wissenschaft geblieben.
Auf meinen Vorschlag wurde er vom Kultusminister 1906 zu ~Th. W.
Richards~ an die Harvard-University in Cambridge (Mass.) geschickt und
hat dort ungefähr ein Jahr an den bekannten Atomgewichtsbestimmungen
teilgenommen. Infolgedessen wurde er der vertraute Helfer von
~Richards~, als dieser im Sommer 1907 als Austauschprofessor
nach Berlin kam. Aus diesem Verkehr sind verschiedene gemeinsame
Publikationen von ~Richards~ und ~Stähler~ über Atomgewichte
hervorgegangen, und ~Stähler~ hat die Versuche später allein
fortgesetzt, sich außerdem aber mit präparativen Aufgaben der
Mineralchemie beschäftigt. Nach Ausbruch des Krieges ist er in die
Dienste der Kriegsmetall-Gesellschaft getreten und leitet seit
mehreren Jahren ein analytisches Laboratorium in Brüssel und
zuletzt in Cöln a. Rh.


            Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS MEINEM LEBEN ***


    

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