The Project Gutenberg EBook of Die erste Stunde nach dem Tode, by Max Brod This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Die erste Stunde nach dem Tode Eine Gespenstergeschichte Author: Max Brod Release Date: March 15, 2013 [EBook #42337] Language: German *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE ERSTE STUNDE NACH DEM TODE *** Produced by Jens Sadowski DIE ERSTE STUNDE NACH DEM TODE EINE GESPENSTERGESCHICHTE VON MAX BROD MIT DREI ZEICHNUNGEN VON OTTOMAR STARKE LEIPZIG KURT WOLFF VERLAG 1916 Gedruckt bei E. Haberland in Leipzig-R. September 1916 als zweiunddreißigster Band der Bücherei »Der jüngste Tag« COPYRIGHT 1916 By KURT WOLFF VERLAG · LEIPZIG DER kleine absonderliche Zwischenfall ereignete sich, als Staatsminister Baron von Klumm an der Spitze einer größeren Gesellschaft hervorragender Diplomaten das Palais des Repräsentantenhauses verließ. Ein schmächtiger Mann drängte sich durch die Kette der Wachleute, lief, allen sichtbar, sehr schnell oder überpurzelte sich vielmehr die breite Prachttreppe hinauf, deren oberste Stufe der Minister eben betreten hatte, und fiel, oben angelangt, auf die Knie nieder, indem er ausrief: »Herr Minister, lassen Sie unseren Feinden Gerechtigkeit widerfahren, und wir haben den Frieden!« Baron von Klumm lächelte verbindlich und ohne jedwede Verlegenheit: »Sie heißen --?« »Arthur Bruchfeß.« »Und von Beruf sind Sie?« Der Mann warf eine blonde Haarsträhne, die ihm beim Laufen vornüber ins Gesicht gefallen war, aus der Stirne zurück: »Schornsteinfeger.« »Mein lieber Herr Bruchfeß, und wenn Sie Ihren Schornsteinen Gerechtigkeit widerfahren lassen, werden sie Sie dann weniger anschwärzen?« Da waren schon fünf, acht, fünfzehn Polizisten keuchend angelangt und legten ihre Hand auf den sehr verdutzt dreinschauenden Bittsteller. Inmitten der zusammengedrängten Schar der Würdenträger, die aus erleichtert aufatmender Brust jetzt nachträglich den Ministerwitz bekicherte, war von Klumm schon weiter hinabgeschritten. Ein braun abgebrannter hagerer Greis trat an ihn heran, hinter ihm regten sich geschäftige Gesichter: »Die Information für die Presse.« Der Minister blickte auf, sah einen Augenblick lang zögernd umher. Der Chef der Geheimpolizei erriet seine Überlegung: »O ja, man hat es allgemein gesehn und bemerkt.« »Wurde von einem schwachsinnigen Individuum attackiert« diktierte der Minister gleichsam in die Luft. »Sofort Wache. Schritt ein. Attentäter ins Irrenhaus gebracht. Ärzte konstatieren. Staatsminister erledigte wie sonst seine Tagesgeschäfte. Meinen kleinen Scherz natürlich unterdrücken. Adieu, Herr Geheimrat.« -- »Ich weiß nicht, was ich an Ihnen mehr bewundern soll,« sagte Herr von Crudenius, der Militärattaché einer verbündeten Macht, der bald hierauf mit Herrn von Klumm in dessen Wagen zur Botschaft fuhr -- die versammelte Volksmenge brach in Hochrufe aus -- »Sie stellen Ihre Verehrer vor allzu schwere Aufgaben, -- Ihre heutige Rede im Repräsentantenhaus, die ein oratorisches Meisterstück war, Ihr schlagfertiges geistvolles Aperçu an den Unbekannten oder den erstaunlich sicheren Takt, mit dem Sie die Wiedergabe dieses Aperçus sofort unterdrücken.« »Routine, lieber Herr von Crudenius, nichts als Routine. Natürlich Routine nicht im schlechten Sinne des Wortes, etwa als Gewissenlosigkeit, Herzlosigkeit. Nein, ich will mich nicht überflüssigerweise heruntermachen, bin auch durchaus nicht der Bescheidenste im Land. Ich will nur sagen: man lernt das, man gewöhnt sich daran, wie man sich an alles gewöhnt. Neunzehn Zwanzigstel unseres Lebens sind blinde bewußtlose Gewohnheit.« »Dasselbe sagten Sie eben auch im Parlament, Herr Baron. Ich staune über Ihren Mut. Den Beifall der konservativ-nationalistischen Gruppe haben Sie sich gleich anfangs verscherzt, als Sie gegen jede Prestigepolitik sprachen. Und zum Schlusse forderten Sie wiederum die sogenannten Fortschrittsparteien zum Widerspruch heraus, indem Sie das Stehenbleiben auf Sitte und Tradition rühmten.« »Nicht rühmten,« unterbrach der Baron, dessen kluger Kopf keine Spur von geistiger Abgespanntheit zeigte, wie es nach der anstrengenden fünfstündigen Sitzung eigentlich begreiflich gewesen wäre. »Ich rühmte nicht. Ich stellte nur fest. Stellte, wenn Sie wollen, sogar mit Bedauern fest. Ich bin nun einmal, so weit kennen Sie mich ja, ein fanatischer Anbeter von festgestellten Tatsachen und Wahrheiten. Ich fühle mich verantwortlich für das Wohl und Wehe des Reiches, in des Wortes schwerster Bedeutung vor meinem Gewissen verantwortlich. Als verantwortlicher Mann muß ich nüchternste Realpolitik treiben und bin ein abgesagter Feind aller Ideologien, mögen sie nun von rechts oder von links kommen, mögen sie chauvinistisch mit dem Säbel klirren oder aufgeklärt mit der Friedenspalme rasseln. Wahrhaftig, lieber Herr von Crudenius, Ideologen, Utopisten, unverantwortliche Phantasten halte ich für die Ärgsten, die einzigen Feinde der Menschheit.« Der Attaché lachte: »Und wenn man's genau nimmt, haben Sie immerfort mit solchen Leuten zu tun, Sie Bedauernswerter. Der Mann auf der Treppe -- und die Volksmänner drinnen, denen Sie die wahre sittliche Würde des Krieges erklären mußten -- ist es nicht, im Grunde genommen, immer ein und derselbe Feind. Verkehrtheit und überspannter Idealismus gegen die gesunde Menschennatur.« »In Ihre Hand würde ich den Auftrag, meine Biographie zu schreiben, mit Beruhigung legen,« sagte der Minister nicht ohne leise Ironie. »Sie haben mich sozusagen heraus. -- Mit der einen Einschränkung vielleicht: Ich bin kein Freund Ihres Handwerks.« Er zeigte auf den troddelgeschmückten Säbelgriff seines Nebensitzenden. »Wiewohl ich heute manches derartige gesagt habe, weil ich es sagen muß. Ich bin überhaupt nichts weniger als ein Freund dieses Krieges, der nun schon das zwanzigste Jahr lang andauert.« »Aber Sie sagten, unter dem Entrüstungssturm der Sozialdemokraten, daß man sich an den Krieg gewöhnt hat.« »Das sagte ich, weil es wahr ist, einfach unbestreitbare Tatsache. Bester Beweis: ebendieselben Sozialisten bewilligen uns jedes Jahr glatt unsere Kriegskredite. Aber zwischen Gewohnheit, und Freundschaft liegt doch wohl noch so manches, nicht wahr? Man hat auch üble Gewohnheiten, und ich stehe nicht an, den Dauerkrieg als eine solche üble Gewohnheit Europas zu bezeichnen. -- Aber wer wagt es ernstlich zu bestreiten, daß wir den Krieg restlos in die Reihe unserer sozusagen instinktiven Lebensfunktionen mit eingereiht haben? Kein Wunder, die meisten von unserer repräsentativen Generation waren noch schulpflichtige Kinder, als der Krieg begann. Wir sind mit dem Krieg aufgewachsen und werden zweifellos nicht so lange leben wie er. Die heutige Jugend weiß gar nicht, was dieser sagenhafte Zustand »Frieden« bedeutet, den sie nie erlebt hat. Ja, wenn man es genau nimmt, hat es eigentlich noch niemals Frieden gegeben, so wie es meiner festen Überzeugung nach auch nie einen geben wird. Es war nur Nicht-Krieg, ein durch geschäftsmännische Heuchelei und künstlich errechnete Verträge überkleisterter Zustand gegenseitiger Feindschaft und übelsten Ressentiments zwischen den Staaten. Ein Schriftsteller, der den Ausbruch des Krieges als reifer Mann miterlebt hat, also die Zustände vorher und nachher als Zeitgenosse wohl miteinander vergleichen konnte, ich meine Max Scheler -- der auf meine Anordnung hin jetzt in den Schulen gelesen wird -- hat das damals sehr gut dargestellt. Der Unterschied zwischen dem versteckten und offenen Krieg, der dann nur das vorhandene Haßverhältnis enthüllte, ist nach diesem Autor gar nicht so bedeutend gewesen. Ich stimme ihm in diesem Punkte vollständig bei. Anders wäre es ja auch gar nicht erklärbar, daß wir den Krieg so gut vertragen und ihm unsere Organisation wirklich lückenlos anpassen konnten. Es war eben immer Krieg, seit die Welt besteht. Krieg ist der natürliche Zustand der Menschheit, nur seine äußere Form wechselt. Schauen Sie doch um sich, lieber Herr von Crudenius. Sieht diese belebte Straße, dieser Andrang vor dem Theater, diese Menschenströmung um die Warenhäuser herum und in sie hinein wie etwas Abnormales aus? Unsere Wirtschaftsmaschine arbeitet nach Überwindung einiger anfänglicher Störungen, die uns heute kindlich anmuten, tadellos. Der Export hat aufgehört, der innere Markt hat sich dafür erschlossen. Und mit welchem Erfolg, das sagen Ihnen die nie dagewesenen Dividendenhöhen unserer Aktiengesellschaften. Die Vernichtung von Werten wird durch die angeregte Erfindertätigkeit und Nutzbarmachung neuer Rohstoffe mehr als wettgemacht. Wir nähern uns dem Ideal des Fichteschen geschlossenen Handelsstaates. Die Umschichtung der Berufe ist leicht und radikal vor sich gegangen. Der Mann ist Krieger, die Frau zu jeder Art bürgerlicher Arbeit erzogen, mit ihr das Heer der Alten und Untauglichen. Gewiß bedauert es niemand mehr als ich, daß jährlich einige hunderttausend junge Leute an der Grenze fallen müssen, aber ist denn im sogenannten »Frieden« niemand gestorben? Wir haben es ja durch eine zielbewußte Bevölkerungspolitik, durch energische Kinderversorgung im Staatswege, Aufhebung der Monogamie, regulierte Mannschaftsurlaube zu Fortpflanzungszwecken, durch Bodenreform, Einfamilienhaus, Kriegerheimstätte, Gartenstadt und andere vernünftige Maßnahmen, deren Durchsetzung man früher für einen Traum hielt, dahin gebracht, daß die Bevölkerungszahl sogar einen prozentuell höheren Jahreszuwachs zeigt, als jemals und daß der allgemeine Gesundheitszustand sich konstant bessert. Infolge Rückgangs der Säuglingssterblichkeit ist sogar die jährliche absolute Sterbeziffer samt allen Kriegsverlusten um etwas, allerdings nicht viel, kleiner, als die vor dem Kriege. Bitte, das ist statistische Tatsache. Wir züchten heute sozusagen Volk, während der Staat früher unbegreiflicherweise geradezu volksfeindliche Tendenzen wie den Großgrundbesitz und unhygienische Fabrikationsmethoden begünstigte.« »Und wie erklären Sie dann trotzdem diese allgemeine Unzufriedenheit, dieses nicht überhörbare dumpfe Grollen in der Welt, das sich zum Beispiel in solchen peinlichen Auftritten wie heute entlädt?« »Gewohnheit ist noch nicht Zufriedenheit. Sagte ich es nicht schon vorhin? Der Mensch gewöhnt sich auch ohne jede Zufriedenheit an das Furchtbarste, weil ihm keine andere Wahl bleibt. Wir haben uns ja sogar an den Tod gewöhnt. Lachen Sie nicht. Ich meine das ganz im Ernst. Wir als Geschlecht, als genus humanum, machen uns gar nichts mehr aus dem Tod. Und doch ist es, wenn man so allein, als Einzelner darüber nachdenkt, ein entsetzlicher, ja unfaßbarer Gedanke, zu sterben, von einem bestimmten Moment an nichts mehr zu fühlen, nichts zu denken, einfach für alle Ewigkeit, nicht etwa vorübergehend, nicht mehr zu existieren. Wie mag es eine Stunde nach dem Tode in unserem Kopfe ausschaun? Und fünf hunderttausend Jahre nachher? Und dabei ist dieser unendlich lange Zustand des Nichtseins doch für jeden von uns sicher, unausweichlich, nicht etwa ein böser Zufall, dem man vielleicht entgehen könnte, wenn man Glück hat, und diese absolute, unbedingte Sicherheit des Sterbens eben ist das Gräßlichste an der Sache.« Der junge Offizier errötete vor Bewegung. »Ich danke Ihnen, Herr Baron. O wieviel Dank schulde ich Ihnen schon, seit Sie sich in der fremden Stadt meiner angenommen haben. Sie machen mich zu einem Menschen. Ohne Sie könnte ich nicht mehr leben.« »Sie haben sich nur an mich gewöhnt, lieber Freund. Alles ist Gewohnheit!« »Nein, ich liebe Sie, Sie sind meine einzige Stütze« erwiderte Crudenius feurig. »Ich habe es schwer ertragen, schwerer als Sie ahnen, aus meiner Heimatstadt herausgerissen zu werden, von meinen Eltern weg, die ich verehre, aus dem Kreis lieber Kameraden, hierher an einen, sagen wir es offen, steifen, zeremoniösen Hof, dessen Sprache ich kaum verstand. Sie haben mich oft dieser Sentimentalität wegen ausgelacht . . .« »Ja, das tue ich noch heute. Die Welt ist doch gleich, hier wie dort, die moderne Welt zumindest. Überall gibt es Schlafwagen, Badezimmer, Untergrundbahnen, Beton, Asphalt, dieselben eleganten Damenkostüme, sogar dieselben Parfüms. Der moderne Mensch findet überall das, was seinen Gewohnheiten entspricht. Ich sehe, von geographischer Länge und Breite abgesehen, gar keine Unterschiede zwischen unseren heutigen Großstädten.« »Aber doch zwischen den Völkern. Sonst gäbe es ja keinen Krieg.« Der Minister warf sich mit humoristischem Schreck in seinem Sitz herum: »Wehe mir! Sind das die Erfolge meines Nüchternheitskursus, den ich Ihnen seit Monaten vordoziere? -- Auch Sie fallen also immer noch auf solche Phrasen herein, wie die vom verschiedenen Geist der Völker, verschiedenen Ethos der Rassen? Nein, nein, gerade gegen solche Unterstellungen zu protestieren, das ist ja der bescheidene, aber doch vielleicht nicht ganz unwesentliche Sinn meines Lebens. Lernen Sie doch endlich, mein Herr, daß die Notwendigkeit dieses Krieges nicht beruht auf Völkerverschiedenheiten, die ich ja in mikroskopischen, wirkungslosen Ausmaßen zugebe, sondern gerade auf der unerbittlichen Gleichheit aller Völker, die mit ihren identischen Lebensnotwendigkeiten einander immanenterweise den Raum, die Entfaltungsmöglichkeit streitig machen müssen. Gleiche Bedürfnisse widerstreben einander eben, solange die Erdoberfläche nicht mehrmals übereinander, wie Orgelklaviaturen, solange sie nicht so oft, als es Völker gibt, vorhanden ist. Weil jedes Volk in einem fernen Zeitpunkt die ganze Erdoberfläche für sich allein brauchen wird. Und das umso schneller, je besser und stärker es ist, je entwicklungskräftiger, je sittlicher. Und dann kommt irgend so ein armer Teufel gesprungen und verlangt von mir emphatisch, ich solle »den Feinden Gerechtigkeit widerfahren lassen«. Das tue ich ja, habe ich stets getan. Meinen Sie, ich billige die abscheulich verhetzende und unanständige Sprache, die unsere Tagespresse gegen die Gegner führt? Höchstens als Kampfmittel, um die Energie unseres Volkes wachzuhalten, na ja, da ist sie unentbehrlich, ebenso unentbehrlich wie Minen und Flammenwerfer, die ja an sich auch nicht gerade sympathische Dinge sind. Aber es ist doch naiv zu glauben, daß wir von der Regierung aus das auch wirklich denken, was wir da über »Barbaren« und »Heuchler« schreiben lassen. Nein, wir sind gerecht, wir erkennen den Wert und das Recht der Feinde vollkommen an. Aber eben je gerechter wir sind, desto klarer erkennen wir ohne jeden Haß und jede Verbitterung, daß auch wir Wert und Recht auf unserer Seite haben, daß es eben, Gott sei es geklagt, nicht ein Recht, sondern zwei und mehrere Rechte auf der Welt gibt, daß unsere realen handgreiflichen Interessen (und nur auf die kommt es an, nicht auf irgend welche Erdichtungen) mit den ebenso handgreiflichen Interessen der Feinde kollidieren, daß die Völker kämpfen müssen, weil sie atmen müssen und solange sie eben atmen wollen. Ebenso wie auch der gerechteste und gutmütigste Schornstein nicht umhin kann, Ruß zu erzeugen. Ist denn wirklich jemand so kurzsichtig, der das nicht einsieht, diese ganz reale, unumstößliche _Tragik des menschlichen Daseins_? Ich muß sagen, wer das nicht einsieht, der ist auch ein schlechter Christ. Der Leim, aus dem wir gebildet sind, ist schon verdammlich, sagt Luther. Die Essenz des Menschseins ist nun eben nichts als böse Begierde, ist Erbsünde, und mir erscheint sehr oberflächlich, wer den traurigen Zustand der Menschheit auf ephemere Regierungsfehler, Unehrlichkeit, Beschränktheit, Eroberungssucht einzelner zurückführen will, statt auf diesen dunklen Urgrund alles Menschlichen, auch des bestgemeinten und wohlwollendsten. Sehn wir doch der Wirklichkeit ganz sachlich ins Auge! Der Kirchenmann entsagt der ganzen Welt auf einmal. Das ist ein Weg. Der Staatsmann aber, dem dieser Weg nicht erlaubt ist, weil er ja das Weltliche in der Welt lenken soll, und der dabei ein ebenso guter Christ sein will, wie der weltflüchtige Asket, muß sich ganz klar darüber sein, daß seine Maßnahmen niemals Aufhebung des Krieges, überhaupt des menschheitlichen Leidens und Unglücks bezwecken können, sondern nur -- wie soll ich es nennen -- eine bessere intensivere Organisation des Unglücks. Mehr nicht.« Sie waren am Botschaftspalast angelangt. Der Offizier verabschiedete sich. -- »Ich muß sagen« schloß der Minister »mich hat gerade der Krieg dieses richtige, tödlich ernste Christentum gelehrt, die erhabene Religion des Leidens. -- A propos, Sie kommen doch heute nach zehn Uhr noch zu meiner Bridgepartie? Die schöne Gabriele wird da sein, auch Ihr Nannerl hab ich eingeladen.« Im Ministerium harrte eine lange Reihe vortragender Räte. -- Baron von Klumm, dessen Fleiß und Sorgfalt geradezu sprichwörtlich waren, pflegte nach Parlamentsitzungen die verlorene Zeit, wie er sagte, nachzuholen und gönnte sich dann oft bis spät in die Nacht keine Ruhe. So lösten einander auch an diesem Abend in seinem Büro Referenten, Konzipienten, telephonische Anrufe und Diktate ab. Eine Abordnung aus dem eroberten Gebiete wurde empfangen, brachte Bitten und Wünsche vor. Der Baron notierte einige Bücher und Broschüren, die hiebei mehrmals erwähnt worden waren. Noch um neun Uhr nachts schickte er den Diener in die Ministerialbibliothek und endlich, auf der Heimfahrt in seinem Auto, versenkte er sich noch in die Lektüre eines der empfohlenen Werke, das die schwierigsten Geld- und Währungsfragen behandelte. Gabriele, erste Tänzerin der Hofoper, wartete bereits mit den übrigen Gästen in der Privatvilla des Barons und entzückte die Tafelrunde durch die lustige Unbefangenheit, mit der sie sich die Rolle der Hausfrau angemaßt hatte. Die Gesellschaft war reichlich gemischt: Schauspieler, die unaufgefordert für Unterhaltung sorgten, indem sie mehr oder minder gewürzte Anekdoten zum besten gaben, ein paar Landräte, in ewige Jagdgeschichten vertieft, zwei bis drei ironische Causeure aus der Diplomatie, ein jüdischer Schriftsteller, der zu allererst betrunken war und sich dann in revolutionären Reden gefiel, worüber man sich sehr belustigte. Nannerl, eine offensichtlich aus dem untern Volke stammende, noch gar nicht entdeckte Chansonette, entzückte den Militärattaché durch ihren feschen Dialekt, den er bezaubernd natürlich fand, obwohl ihm jede Redewendung erst in die Schriftsprache übersetzt werden mußte, worauf er sie, von niemandem angehört, nur für sich, in die Sprache seiner Heimat übertrug und in Erinnerungen an die Felder und Bäuerinnen zu Hause schwelgte. Seiner bei diesem schleppenden Umweg des Gefühls erklärlichen Schüchternheit half der Minister durch eine geschäftsmäßige Feststellung ab. Schließlich glich der Kartentisch alle Leidenschaften aus. Gabriele, für die stets einige Zimmer in der Villa vorbereitet waren, hatte sich schon längst zu Bett begeben, als die letzten Gäste über knisternde Scherben der Champagnergläser hinweg, von schlaftrunkenen Lakaien unterstützt, sich zur Türe hinaustasteten. -- Baron von Klumm ließ sich von seinem Leibdiener eine kalte Kompresse um die Stirn winden. Er wollte, ehe er sich zu Gabriele begab, noch ein wenig arbeiten. Die von dem ökonomischen Buche angeregten Gedanken hatten ihn während des ganzen Soupers nicht verlassen, wie es überhaupt eine seiner Haupteigenheiten war, stets vollständig von gewichtigen Dingen bis zum Rande ausgefüllt zu sein, auch mitten in seichter Unterhaltung. Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Das Arbeitszimmer war, wie eben in einem rechten Junggesellenheim, sehr weiträumig und zentral gelegen. Es füllte mit seiner Front von vier Fenstern den größten Teil des ersten Stockwerkes, eigentlich mehr ein Saal als ein Zimmer zu nennen. Drei hohe Wände, bis zur Decke mit Bücher- und Aktenrücken austapeziert, verloren sich im Dunkel, vor den Fenstern breitete sich im sausenden Nachtwind die mondbeschienene Schneekette des nahen Hochgebirges aus. »Du hast hereinschneien lassen, Peter.« Der Baron wies auf einen hellen weißen hügeligen Fleck auf dem Parkettboden. Der Diener zuckte verständnislos die Achseln, griff an die Fensterklinken, um zu zeigen, daß alle geschlossen waren, strich aber dann trotzdem mit einem rasch herbeigeholten Wischfetzen über den Fußboden an der vom Baron immer noch mit ausgestrecktem Finger bezeichneten Stelle hin, allerdings mit der gekränkten Miene eines Mannes, dem ein schrullenhaft umständlicher Auftrag erteilt wird und der ihn nur aus Gutmütigkeit ausführt. Dann ging er. Der Baron begann zu lesen, bald aber störte ihn ein leises Knistern. Trat er immerfort noch auf Scherben? Er sah auf. -- Zu seinem größten Erstaunen war der weiße Fleck im Zimmer, der übrigens ganz jenseits des Mondlichtstreifens im Schatten eines Kastens lag, nun zu einem richtigen Hügel emporgewachsen, ja er rückte wie ein unnatürlich aufschießender Pilz sichtlich weiter in die Höhe. -- Nein, das war allerdings kein Schneehaufen, das bewegte sich ja. -- Plötzlich kam die Erkenntnis. Das ist ein menschlicher Kopf. Im Augenblick hatte sich der Baron gefaßt, den Revolver ergriffen, den er immer bei sich trug, und auf den Kopf abgefeuert. »Ich wußte gar nicht, daß es Falltüren in meiner Villa gibt.« Er repetierte. Sechs Schüsse, dann war der Revolver leer. Die Schüsse hatten offenbar nicht getroffen, sondern brachten eine andere ganz unerwartete Wirkung hervor. »Ja, jetzt gehts« rief eine wie aus dem Schlaf gesprochene, ungelenke, verschleimte Stimme, und sofort schwebte mit einem Ruck wie ein straff gefüllter Gasballon die ganze, sehr lange Gestalt der Erscheinung empor, merkwürdigerweise ohne den Fußboden dabei merklich weiter aufzureißen. Es war ein stattlicher weißhaariger alter Herr, der mit geschlossenen Augen, die Arme fest an die Seiten des Körpers gepreßt, emporstieg. Der befreiende Auftrieb schien aber plötzlich nachzulassen, so daß die Füße und Unterschenkel des seltsamen Wesens unter dem Fußboden stecken blieben, ohne daß dies auf den Beschauer oder auf das Wesen selbst eine besonders befremdende Nebenwirkung ausgeübt hätte. Dem Baron sträubten sich die Haare unter der Kompresse. Er fiel in seinen Lehnsessel zurück, aus seinen Beinen war jede Kraft, ja jedes Gefühl entwichen, so daß er sich wie mit eisernen Reifen um die Hüften in eine Art sitzender oder halbliegender Stellung festgeklammert fühlte, ohne ein Glied rühren zu können. Er war aber nicht der Mann, sich ohne Widerstand durch ein Gespenst oder vielmehr durch irgendeinen übermütigen Bubenstreich aus der Fassung bringen zu lassen. Gewohnheitsmäßig rang er nach einem einleitenden Gesprächsthema, doch über seine Lippen kam nur etwas Speichel, dann ein Gurgeln und Labern wie es Säuglinge ihren ersten Artikulationsversuchen vorausschicken. Endlich konnte er sich verständlich machen: »Ihr Name ist . . .?« Die Erscheinung hatte jetzt ihre Augen geöffnet, große schöne braune, gar nicht unheimliche Augen, mit denen sie freundlich und still ungefähr in der Richtung auf den sich abquälenden Minister herabsah. Der Minister erwiderte, wie er es stets zu tun pflegte, diesen Blick mit Strenge und Festigkeit, trotz seiner kraftlos ausgestreckten Lage im Sessel, zwischen dessen Lehnen seine obere Körperhälfte wie auseinandergeworfen, ungeordnet, gleichsam auf den Misthaufen hingeschmissen herumlag. »Ihr Name ist . . .« sagte er nun schon sicherer und machte den Versuch, durch heftiges Augenzwinkern die Herrschaft über seine erstarrten Glieder wiederzuerlangen. Schließlich aber sah er die Aussichtslosigkeit dieses Versuches ein und wurde ganz still, da er fürchtete, sich vor dem Geist lächerlich zu machen. Daß er es mit einem wirklichen und nicht bloß gespielten Geiste zu tun hatte, war inzwischen seinem rastlos arbeitenden Gehirn klar geworden. -- Schon die Dimensionen der Erscheinung sprachen dafür. Sie war nämlich mehr als zweimal so groß wie ein irdischer Mensch, überragte also sogar die üblichen Panoptikumriesen, dabei gaben ihre Proportionen den gewohnten an Ausgeglichenheit nicht nach, hatten also durchaus nicht das Gewaltsame, Rohe, das uns jene Monstren auf dem Jahrmarkt so unheimlich macht. Unheimlich war hier nur, daß die seltsame Gestalt, wie zum Ausgleich für ihre Größe, aus einer merkwürdig lockeren Materie zu bestehen schien, durch welche man das hinter ihr liegende Fenster und sogar den das Mondlicht widerspiegelnden Gebirgskamm in der Ferne ganz matt durchschimmern sah. Ein erstaunlicher Anblick, der, wie sich von Klumm mit wissenschaftlicher Präzision eingestand, durch keinerlei Hokuspokus hervorgebracht sein konnte. Das Unerklärlichste aber blieb dabei, daß die Figur langsam und ganz allmählich einzuschrumpfen, in sich zusammenzusinken schien, wobei sie auch immer festeren Inhalt bekam, ohne übrigens ihre Umrisse oder Gesichtszüge im mindesten zu verzerren. Es wurde nur alles zierlicher, vertraulicher, gleichsam menschlicher an ihr. Überhaupt schien es dem Phantom, wie man jetzt deutlich merkte, durchaus nicht darum zu tun, Schrecken einzujagen. Es machte vielmehr (vielleicht war dies Sinnestäuschung, vielleicht aber eine richtige Beobachtung des immer mehr zur Besinnung kommenden Staatsmannes) ganz im Gegenteil den Eindruck, als wolle es Vertrauen gewinnen, ja binnen kurzem bot es den ganz unglaublichen Anblick eines Gespenstes, das sich selbst am meisten fürchtet, das bescheiden und ängstlich in die Ecke treten möchte, um nicht zu stören, und nur leider nicht von der Stelle kann, wodurch es in eine recht verlegene und verwirrte Stimmung gerät. Der Minister raffte sich nun zusammen und setzte sich gewaltsam gerade auf. Seine erste Bewegung war, die Kompresse abzunehmen, die für sein Gefühl den guten Ton einer Privataudienz gröblich verletzte. Dann sagte er, schon ganz kaltblütig geworden: »Sie müssen mir aber Ihren Namen nennen, Ihren Namen.« »Namen«, wiederholte das Gespenst, als suche es mit aller Anstrengung sich etwas klarzumachen. »Namen . . . Namen . . . Was ist das nur; Namen?« Die Stimme klang jetzt nicht mehr verschlafen, sondern rein und hoch, nur etwas zu vibrierend, um menschlichen Stimmbändern anzugehören. Ein Unterton von großer Schüchternheit und Demut war in ihr unverkennbar. Der Baron sah wieder an der Gestalt empor, musterte sie von Kopf bis zu Fuß, vielmehr bis zum Knie -- denn sie stak immer noch teilweise unter dem Parkett. Wiederum trat eine Pause ein, in welcher nicht nur der Baron sich bequemer zurechtsetzte, sondern auch die Erscheinung zum erstenmal zu erkennen schien, daß sie Arme habe, -- zumindest sah sie jetzt mit erstauntem Blick an ihren Seiten herab und löste, ungläubig und zögernd, die Gliedmaßen von den Hüften, hob sie ein wenig und ließ sie wieder sinken. Dabei schien sie auch über die Bewegung ihres Kopfes, die sie jetzt zum erstenmal machte, in Staunen, sogar in Schrecken geraten zu sein, denn ihr Gesichtsausdruck wurde von Minute zu Minute ängstlicher, und die Starrheit der Kontur verfestigte sich nach diesen Bewegungsversuchen für die nächste Weile nur noch mehr. Der Baron konnte, wie es seine engeren Parteifreunde nannten, unter Umständen »ganz ekelhaft madig« werden. Ein solcher Moment der Offensität war auch jetzt gekommen. Als wolle er sich für die knapp überwundene Kleinmütigkeit schadlos halten, fuhr er den Gast mit voller Stimme an: »Nun, zum Teufel, Sie müssen doch wissen, wie Sie heißen, wer Sie sind, was Sie hier wollen und wie Sie eigentlich hergekommen sind.« Bei dem rauhen Klang dieser Worte schien sich die Erscheinung nun energisch zusammenzunehmen. Ein alter Mann, der sich auf etwas besinnen will, der ängstlich die weißen Augenbrauen zusammenzieht -- nicht viel anders sah das Gespenst jetzt aus. Doch brachte es nicht mehr hervor als die gezwitscherten Worte: »Ich glaube, ich bin eben hier hereingestorben.« »Hereingestorben, -- was ist denn das?« Wieder eine Pause. »Sie -- was das ist, frage ich.« »Ja, wenn ich das selbst wüßte, mein Herr« erwiderte der Greis. »Haben Sie Mitleid mit mir. Ich bin erst soeben gestorben, vor einem kleinen Weilchen, und ich habe so viele Sünden begangen. Wie soll ich mich da schon auskennen. Ich bin ja noch ganz benommen. Glauben Sie mir, eine Kleinigkeit ist es nicht.« Und nach diesen ersten wenigen zusammenhängenden Sätzen schloß er wieder die Augen, gleichsam ganz erschöpft von so viel Anstrengung. »Merkwürdig« sagte der Baron »ganz eigentümlich . . . hm, hm. Das ist mir ganz neu.« Wie hilfesuchend griff er um sich und packte den Schirm seiner Schreibtischlampe. Diese Berührung schien ihn auf einen Einfall zu bringen. Den Schirm wie einen Stützpunkt festhaltend, drehte er sich im Sitzen herum, in den grellen Lichtkreis der Stehlampe und entzog damit zum erstenmal wieder das Gespenst seinem Blick. Plötzlich begann er krampfhaft zwischen den aufgehäuften Papieren und Büchern zu wühlen. Das waren doch seine ganz normalen Arbeiten, seine gewohnten Gedanken und Vorstellungen. Er suchte sich an einzelnen Worten und Ziffern, die er las, anzukrallen, festzusaugen, -- doch sie verschwammen vor seinem aufgeregten Blick, nichts konnte er entziffern. Immerhin dachte er nach einer Weile sich so weit zur Vernunft gebracht zu haben, daß er sich wieder ins Zimmer hinter sich umschauen zu dürfen glaubte. Langsam wagte er es und wandte sich wieder in die vorige Richtung. Da lag der dunkle, ins Unendliche verschwimmende Saal, in dem die elektrische Lampe nur den nächsten Umkreis, nahezu nur bis zu seinen Füßen, erhellte. Und knapp vor ihm schon wieder dieser langaufgeschossene Patron, der übrigens, was wirklich grauenhaft aussah, die Zwischenpause nicht dazu benützt hatte, um sich in eine bequeme Stellung zu arrangieren, sondern statt dessen starr und mit tiefem Ernst, wie in völliger Selbstvergessenheit eine Antwort des Ministers abzuwarten schien. »Nun, Sie sagen also . . . Sie sind also gestorben . . . Und doch leben Sie . . . Was bedeutet das? Ich meine, können Sie sich nicht vernünftiger ausdrücken? Sind Sie also eigentlich gestorben oder sind Sie hier?« »Ich bin hierhergestorben . . . wegen meiner Sünden.« Der Baron schüttelte den Kopf. »Wegen Ihrer Sünden, das sagten Sie schon. Was für Sünden? Sie sind ein Mörder, nicht wahr?« Eine heftige Bewegung des Abscheus ging durch den Leib des Gespenstes, es schüttelte sich von oben bis unten und, immer noch etwas unbeholfen, aber mit unbewußter Energie, hob es jetzt die Arme hoch empor und schlug sogar die Hände über dem Kopf zusammen, indem es jammervoll rief: »Ein Mörder! Ich, ein Mörder! -- Nein, Gott sei Dank, davon habe ich mich zeitlebens weit entfernt gehalten. Mordgedanken kann ich auch bei peinlichstem Nachforschen in meinem Gemüt, wie es damals war und wie es jetzt ist, nicht entdecken.« »Also haben Sie gestohlen, betrogen, Schiebungen gemacht, Gaunereien -- oder sind unehrlich gewesen, nicht?« »Unehrlich -- ja das vielleicht. Ich habe nicht immer und nicht bei jedem Schritt an die ewige Wahrheit der Dinge gedacht, obwohl ich immer und immer wieder diesen festen Vorsatz hatte.« »Und das war Ihre ganze Unehrlichkeit?« lachte der Baron auf. »O eine Sünde -- die allerärgste Sünde! Deshalb erlebe ich ja zur Strafe diese furchtbare Versetzung in eine andere Welt, deshalb ist ja meinem Sterben nicht ein Aufstieg in die höhere Sphäre gefolgt, sondern das entsetzliche Ausgestoßensein in eine beigeordnete, wo nicht tiefere Entwicklungsstufe.« »Unfaßbar. -- Sie beharren also wirklich darauf, daß Sie gestorben sind?« »Natürlich, das ist es ja, ich erlebe soeben das, wovor man sich am meisten fürchten soll, oder besser gesagt, was man als Zeichen der göttlichen Gerechtigkeit am meisten ehrfürchten soll, -- ich erlebe die erste Stunde nach meinem Tode.« »Das muß wirklich interessant sein«, fuhr es unbedacht aus dem Mund des Barons heraus. »Das heißt . . . ich wollte sagen . . . Bitte, möchten Sie nicht Platz nehmen? Davon müssen Sie mir mehr erzählen. Wie ist denn das, in der ersten Stunde nach dem Tode? Sie müssen wissen, mit diesem Gedanken, das heißt damit, mir diesen Zustand auszumalen, habe ich mich schon oft in müßigen Stunden beschäftigt. Ich habe ja immer viel zu tun, leider, leider. Aber manchmal, sehn Sie, zwischen den wichtigen Staatsgeschäften fällt einem doch etwas so Abstruses ein, ja ich muß es abstrus nennen, denn wie kann ein lebender Mensch wissen oder sich richtig vorstellen, wie es nach seinem Tode in ihm zugehen mag. Das ist ja schlechterdings eine Unmöglichkeit, eine Absurdität. Nun, item, ich habe ein gewisses Maß von Vorliebe für diese Sache, ich behalte ständig diese Angelegenheit im Auge . . .« Unwillkürlich geriet er, je mehr er in Eifer kam, in die feingedrechselten Redensarten, mit denen er seit Jahren Petenten und Deputationen mechanisch abzufertigen pflegte. So sehr hatte dieses Gespräch schon den Charakter des Absonderlichen und Geisterhaften für ihn verloren, so sehr betrachtete er es als eine gar nicht mehr gruslige Konversation. »Kurz und gut, ich denke mir in dieser ersten Stunde . . . hehe, wenn ich so sagen darf, alles recht finster und leer und öde um einen herum. Das Nichts, verstehen Sie, das Nichts in des Wortes allerschärfster Bedeutung. So stelle ich mir es vor. Natürlich fällt es mir gar nicht ein, meine Erfahrungen mit den Ihrigen zu messen oder gar in eine Reihe stellen zu wollen. Verzeihen Sie meine Schwatzhaftigkeit. Ich werde mit weit größerem Vergnügen Ihren Ausführungen lauschen, als ich gesprochen habe. So, ich bin schon ganz Ohr. Bitte, setzen Sie sich, hier . . .« Das Gespenst hatte ziemlich ratlos seine Augen umherwandern lassen, jetzt hefteten sie sich auf den Klubfauteuil, den der Minister heranrückte. Die Worte schienen von ihm verstanden worden zu sein, denn nun setzte es sich gehorsam und so schnell, als es seine immer noch festgeklammerten Füße zuließen, wobei es allerdings eine gewisse Unvertrautheit mit dem Gebrauch einer Sitzgelegenheit verriet, denn es ließ sich über beide Armlehnen zugleich nieder. Allerdings hätte es seine immer noch riesenhaften Körperformen nur schwer in den breiten Fauteuilgrund einzwängen können. »Reden Sie also, erzählen Sie mir etwas von diesem Paradies, das unsere Pfaffen so gut zu kennen vorgeben.« »Vom Paradies!« erwiderte das Gespenst mit einem Seufzer. »Wie sollte ich niedriges Wesen Ihnen etwas vom Paradies erzählen können, in das ich vielleicht nach Billionen Jahren, vielleicht niemals Zutritt erlangen werde.« »Also erzählen Sie meinetwegen von der Hölle«, warf der Minister mit einer verbindlichen Handbewegung wie einen kleinen Konversationsscherz hin. »Der Hölle scheine ich ja allerdings, wenn mich nicht alles trügt, entronnen zu sein«, erwiderte die Erscheinung mit einem nicht gerade zuversichtlichen Blick rundum, doch schien ihr schon dieser Blick eine Vermessenheit zu bedeuten, denn sie verbesserte sich sofort mit stiller Bescheidenheit. »Sie dürfen übrigens nicht glauben, daß das etwas Besonderes ist. Die Extreme, volle Erlösung und volle Verdammnis sind wahrscheinlich, so vermute ich mindestens, im ewigen Sein ebenso seltene Ausnahmen wie im sterblichen Leben. Die Mittelstufen mit ihren tausendfältigen Abschattierungen überwiegen weitaus. So eine Mittelstufe scheint auch, obwohl ich mir darüber durchaus nicht klar bin, mein Los zu werden.« »Nun, ich danke, für meinen Geschmack würde das Nichts, das absolute Nichts nach dem Tode schon Hölle genug bedeuten.« »Das Nichts?« »Nun, das Nichts, von dem ich vorhin sprach, der Wegfall aller sinnlichen Empfindungen, aller Wünsche und Freuden und Leiden.« »Verzeihen Sie, da habe ich Sie wohl schon vorher nicht ganz richtig verstanden. Sie müssen mit mir Nachsicht haben, ich gebe mir die allergrößte Mühe, aber ich bin von all dem Neuen, das ich erlebe, so aus der Fassung gebracht, so betäubt, daß ich Ihnen trotz Ihrer Freundlichkeit nur schwer folgen kann. -- Ein Nichts nach dem Tode, sagten Sie? Da hätte ich eigentlich sofort widersprechen müssen. Gerade das Gegenteil davon trifft ja zu. Eine solche Fülle frischer ungeahnter Eindrücke fällt nach dem Tode über einen her. Es kostet die größte Anstrengung, sich dieses Ansturms zu erwehren . . .« »Neue Eindrücke . . . im Momente des Todes?« »Nicht gerade im Momente des Todes. Da gibt es allerdings einen kleinen Augenblick von gemindertem Bewußtsein, in dem man nichts fühlt als einen heftigen Riß, eine vorher ganz unbekannte starke, aber ganz kurze Empfindung, mit der sich die Seele vom Körper löst, ein Zucken, von dem ich nicht sagen könnte, ob es der Lust oder dem Schmerz verwandter ist. Aber wie gesagt, das dauert nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Dann ist die Seele von Materie frei, ganz rein und losgebunden. Das aber ist gerade das Anstrengende. Wie soll ich es nur beschreiben? Unser ganzes Leben lang hatten wir damit zu tun, unsere Materie, die ja, seien wir aufrichtig, den Schwerpunkt unseres Daseins bildete, mit Geistigem und Gefühltem, mit seelischem Leben vollzusaugen, das wir aus den wogenden Lebensströmen rings um uns für unseren Gebrauch entnahmen. Plötzlich ist unsere Seele frei, bildet gleichsam einen materielosen Hohlraum, eine luftleere Blase mitten in der Materie. Die Materie aber, die gewohnt ist, sich am Seelischen zu nähren, gleichsam vollzusaufen, stürzt natürlich von allen Seiten mit rasender Begierde auf diesen Hohlraum zu und versucht sich einzudrängen. Alle Arten von Stofflichkeiten, auch solche der tiefsten Lebensformen, möchten von der eben freigewordenen Seele Besitz ergreifen, möchten sich an ihr nähren und emporpäppeln. Diese ersten Minuten sind schrecklich. Ich kann ja sagen, mir ist es dabei noch ganz gut gegangen, ich hielt mein kleines Bündel Seelensubstanz tüchtig beisammen. Viele Seelen aber werden schon in diesen ersten Augenblicken ihres neuen Daseins in Stücke gerissen, einfach zerfetzt, und es graut mir geradezu, wenn ich mir ausmale, was eine solche in Atome zerbrochene Seele zu leiden hat, die ja doch noch bei all dem ihr einheitliches Ichbewußtsein behält und nun zu gleicher Zeit in einem Regenwurm, einem Baumblatt und vielleicht in ein paar Bazillen darauf, die einander gegenseitig vertilgen, weitervegetieren muß. Ich nehme an, daß gerade das der Zustand ist, den man Hölle nennt.« »Nicht ausgeschlossen«, unterbrach der Baron mit dem Lächeln, das er für ertappte Gegner zu verwenden pflegte. »Nur möchte ich wissen, woher Sie nicht nur über Ihr eigenes Schicksal, sondern auch noch zum Überfluß über das anderer Seelen so genau Auskunft zu geben wissen. Ohne Ihnen nahetreten zu wollen, -- sind Sie sich klar darüber, daß Sie sich hier auf ein Gebiet begeben haben, auf dem allen Phantasien und Täuschungen, insbesondere Selbsttäuschungen, Türe und Tor geöffnet ist? Haben Sie sich in dieser Hinsicht ernstlich genug geprüft? Sind Sie Ihrer so vollständig sicher, daß eine kleine . . . ich will nicht Lüge sagen . . . eine kleine Übertreibung oder Entstellung der Wahrheit ganz ausgeschlossen erscheint?« Der Greis war gar nicht beleidigt, im Gegenteil, er schien für jede Ermahnung dankbar und verfiel sofort, nachdem er das Vorige in gewissermaßen ruhigem Ton geäußert hatte, in seine anfängliche reuige Zerknirschung: »O, Sie haben recht. O, wie recht Sie haben. Offenbar sind Sie mir als Richter bestimmt, vor dem ich mich zu verantworten, nein, nicht verantworten, vor dem ich meine Verfehlungen zu beichten habe. -- Ja, es ist wahr, ich habe mich durchaus nicht genügend geprüft und habe mich, obwohl es mein ernstlicher Wille war, auch vor eitlen Selbsttäuschungen nicht hinreichend gehütet. Meine Einsieht, wenn ich die erbärmlichen Resultate meines Lebens so nennen darf, reichte gerade noch aus, um mich die erste Prüfung nach dem Tode, die Attacke der Materie, bestehen zu lassen. Ich verstand in diesem Moment mit wirklich merkwürdiger Hellsichtigkeit nicht nur alles, was mit mir, sondern auch was mit anderen eben Gestorbenen rings um mich vorging. Schreckliches habe ich da in wenigen Minuten gesehen, noch Schrecklicheres ist mir wie in Ahnungen klar geworden. Ganz rein konnte ich mich übrigens trotz meiner verzweifelten Gegenwehr doch nicht erhalten. Ich sehe, daß da schon wieder allerlei Fremdes an mir herumhängt, was mit unsterblicher Substanz nichts gemein haben dürfte.« Bei diesen Worten betastete er traurig seine Rockknöpfe und zog das Jackett, das er trug, mit einer Bewegung über dem Magen zusammen, der man anmerkte, daß ihm dieses Kleidungsstück etwas ganz Unerklärliches war, daß er es vielleicht für einen Körperteil hielt. »Trösten Sie sich, alle Kleidungen haben etwas Groteskes« beruhigte ihn der Minister mit Herablassung. »Kleidung nennen Sie das . . . Ach so, nun verstehe ich. Unsere Kleidung sah allerdings ganz anders aus. In der sylphischen Sphäre, aus der ich stamme, besteht die Kleidung in einer gewissen, sehr hohen Geschwindigkeit, mit der sich die Individuen beständig kreiselförmig um sich selbst drehen.« »Eine Sylphe sind Sie also, eine Sylphide.« Eine ganz schwache Erinnerung an die schöne Gabriele und ihren Sylphentanz im letzten Ballett schwebte am Baron vorbei, »Sylphen stellen wir uns allerdings ganz anders als in Ihrer Figur vor.« »Sie sind auch ganz anders, wahrhaftig, und leben auch ganz anders als ich es jetzt tue. Ich bin schon auf dem Übergang in Ihre Welt begriffen, lebe schon halb und halb, so gut ich es kann, als Mensch. Das ist ja eben die zweite schwerere Prüfung, die ich durchzumachen habe: man wird plötzlich in eine ganz andere Welt unter ganz neue Bedingungen versetzt, alle Gewohnheit des Alltags, alle Routine fällt infolgedessen von einem ab, und gerade das ist der Prüfstein, an dem sich zeigt, wieviel wirkliche, für alle nur irgend möglichen Welten geltende Realität man in dem einen Leben zu erwerben gewußt hat . . .« »Sie sind also gar kein toter Mensch, sondern aus einer andern Welt?« fragte der Baron und lehnte sich, wiederum etwas fassungslos geworden, zurück. »Ich bin aus einer andern Welt hier hereingestorben«, wiederholte das Gespenst geduldig. »Vom Mond etwa oder vom Sirius?« »Nein, aus einem ganz andern Weltsystem, wie ich schon sagte.« »Aus der Milchstraße also oder dem Orionnebel?« »Wenn Sie in Ihrer Körperwelt noch so weit gehen, unendlich weit, so können Sie meine Heimat trotz allem nicht finden. Meine Heimat ist ein Reich anderer Sinne oder war es vielmehr bis heute, ich zähle mich aber noch ein wenig zu ihr. Wir Sylphen sehen nicht, wir hören und riechen nicht und werden nicht gehört und gesehen. Wir haben dafür andere Organe, eine andere Schwere und andere Naturgesetze. Dem Raume nach aber leben wir unter euch Menschen, mitten unter euch. Es gibt eben unendlich viel Welten, die sind aber ineinandergeschoben, nicht nebeneinander laufend, und trotz ihres unmittelbaren Beisammenseins wissen sie nichts von einander. -- Auch mir war bisher eure Welt samt Sternenhimmel und Milchstraße und allem, was eure Sinne fassen, vollständig verborgen. Ich bin völlig überrascht, daß ich, ohne mich von der Stelle gerührt zu haben, nur gleichsam durch eine innere Umschaltung der Organe in eine so völlig ungeahnte neuartige Umgebung versetzt bin.« »Warten Sie, nicht so schnell! -- Ich muß das erst fassen«, rief von Klumm und preßte die Hand an die von pochenden Adern schmerzhaft durchpulste Stirn. »Es ist Ihnen also alles ganz neu? . . . Nun immerhin, das muß ich sagen . . . vorausgesetzt, daß das alles wahr ist, was Sie da erzählen, . . . immerhin benehmen Sie sich, wenn Ihnen wirklich alles neu ist, anerkennenswert korrekt und sicher. Es ist mancher so vor mir gesessen, wie Sie jetzt hier sitzen, und hat vor Verlegenheit nicht ein noch aus gekonnt. Sie müssen wissen, ich bin -- das darf ich ohne Selbstüberhebung sagen -- ein ziemlich einflußreicher Mann, und seltsamerweise sagt man mir nach (ich weiß selbst nicht, wie ich zu diesem Ruf komme), daß mein Auftreten etwas Imponierendes an sich hat und daß es auch für den Mutigsten und Frechsten schwer ist, die Contenance zu bewahren, wenn er mir gegenübersteht.« Hier gab das Gespenst, das bisher die Unterredung mit ebenderselben Spannung geführt hatte wie der Baron, zum erstenmal ein Zeichen von Interesselosigkeit von sich, ein recht deutliches Zeichen sogar, indem es seinen Blick auf eines der Fenster heftete und die Landschaft draußen mit sichtlichem Vergnügen zu betrachten begann, wobei es den Kopf reckte und sich sogar halb von seinem Sitz erhob. Der Minister war Weltmann genug, dies nicht zu bemerken. »Die schönen Berge«, sagte das Gespenst, und ein sehnsuchtsvolles Aufatmen hob seine Brust. »Auch unsere irdischen Berge erkennen Sie also sofort«, sagte der Minister im Ton einer gewissen kühlhöflichen Galanterie. »Ich mache Ihnen mein Kompliment über Ihr schnelles Orientierungsvermögen. -- Gibt es denn auch in Ihrer Welt so etwas wie Berge?« »Nein. Bei uns drückt sich alles (oder vielmehr: drückte sich alles) in elektrischen Wellen, rotierenden Lufttrichtern und Wirbeln aus.« »Und dennoch . . .« »Aber natürlich gibt es auch in dieser Materie Naturschönheiten, erhabene Erscheinungsformen der ewigen Kräfte, des Wachsens und Vergehens. -- Da ich nun mein ganzes Leben lang, so oft ich in die freie Natur hinaus kam (es geschah bei meinem abscheulichen Berufe selten genug) . . ., da ich vielleicht gerade deshalb, weil es mir so ungewohnt war, die Herrlichkeiten der Natur mit einem wahren Durst und Entzücken in mich aufnahm und jedesmal dabei in mir ohne weiteres das Gefühl wach wurde, daß ich in diesem Genuß irgendwie an ein Ewiges, Allgemeingiltiges, ganz unerschütterlich Wirkliches rührte, eben deshalb bin ich möglicherweise jetzt befähigt, in allem, was Naturschönheit betrifft, auch in der neuen Welt mich schnell auszukennen und sofort zu fühlen, wo ich auch hier auf ein Wesentliches in dieser Beziehung stoße.« »Höchst sonderbar. Mache ich Ihnen nicht nach, wahrhaftig . . . Wenn ich aus einem Alpenpanorama von lauter Luftwirbeln käme . . . pardon, so sagten Sie doch . . . aus lauter Seifenblasen, nicht wahr, also ohne Steine, ohne Schnee, ohne Pflanzen, ohne Farbe . . . natürlich auch ohne Farbe . . . das muß ich sagen, dann wäre ich beim Anblick der wirklichen Berge so verblüfft, so verblüfft . . .« Der Baron versank in Brüten, endlich fuhr er auf. »Mit einem Worte, ich wäre verblüfft.« »Sie wollen mich verspotten«, klagte das Gespenst. »Bin ich am Ende noch zu wenig verblüfft und verwirrt? Nur gerade der freien Gottesnatur gegenüber fühle ich etwas mehr Vertrauen.« »O nein, auch in anderem kennen Sie sich ganz erstaunlich aus. Ja, es scheint mir sogar, in den Hauptsachen. Sie wissen genau, ich muß direkt sagen, unnatürlich genau Bescheid darüber, woher Sie kommen und wohin Sie gehen.« »O ich weiß es nicht, mein Herr, ich weiß es nicht.« Der Baron fuhr unbeirrt fort: »Sie sind sich sogar dessen bewußt, daß Sie sich in einem Übergangsstadium befinden. Sie haben einen Begriff von den Prüfungen, denen Sie entgegengehen, von einem gewissen Gerichtsverfahren und von den Verdiensten, die Sie vor diesem Gericht geltend machen können. Dabei macht Ihnen unsere Sprache, unsere Begriffsbildung in diesem doch recht schwierigen Thema merkwürdigerweise gar keine Schwierigkeiten. Sie reden wie gedruckt und Sie reden dabei von der ewigen Gerechtigkeit, wie wenn Sie mit ihr verwandt wären, Sie reden ebenso von Gott und Tod und Hölle und Teufel und ich weiß nicht, wovon noch . . .« Der Baron war geradezu wütend geworden und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. »Ja, glücklicherweise habe ich mich gerade mit diesen Dingen auch in meinem sterblichen Leben einigermaßen befaßt«, sagte das Phantom mit äußerster Zaghaftigkeit, »wenn auch lange nicht genug. Und nicht, daß ich sie verstanden hätte. Aber eine gewisse Sehnsucht zog mich immer wieder zu ihnen hin, und auch da hatte ich das Gefühl, daß es um ewige unumstößliche Wirklichkeiten gehe, die überall gelten müssen . . . Ach, leider habe ich dafür anderes vernachlässigt, und das rächt sich jetzt bitter an mir . . .« »Sie schweigen?« rief der Baron unwillig, da eine kleine Pause eintrat. »Gerade auf das wäre ich besonders neugierig. Was ist es nun eigentlich, was sich an Ihnen rächt? Worin haben Sie gesündigt? . . .« »Ich war«, kam es stockend, beschämt hervor, ». . . ich war, wie soll ich es sagen, in Kleinigkeiten sehr ungeschickt. Das heißt: ich hielt sie für Kleinigkeiten. Jetzt aber sehe ich, daß auch sie bedeutungsvoll sind und daß auch sie, wenn man sie mit der richtigen Sorgfalt anpackt, einen verehrungswürdigen Kern von Realität enthalten. Denn jetzt fehlen sie mir. Das ist eben das besondere Gesetz, unter dem wir Gestorbenen in der ersten Stunde nach dem Tode stehen. Aktion und Reaktion sind vollständig vertauscht. Das, was wir im sterblichen Leben ehrfürchtig, mit Schauder und Staunen bewundert haben, das ist uns jetzt vertraut. Was wir aber dort wegwerfend behandelt und zu einer seelenlosen gewohnheitsmäßigen Hantierung herabgewürdigt haben, das mutet uns hier fremd und unverständlich an. So geht es mir hier . . .,« er stockte wieder, »mit der Kleidung. Ich habe sie, offen gesagt, sehr vernachlässigt. Überhaupt, Etikettefragen verstand ich nie. Mit einem gewissen Hochmut setzte ich mich über sie hinweg und glaubte, infolge meiner sonstigen höheren Neigungen sogar ein Recht auf diesen Hochmut zu haben. Für ihn werde ich jetzt bestraft. Denn gewiß liegt auch in der Etikette, überhaupt im geregelten gesetzlichen Verkehr zwischen den Geschöpfen, im Maßhalten und Distanzgefühl etwas Allgemeingültiges und von Gott Gewolltes. Mag sein, daß dieses Distanzhalten übertrieben wird, daß nur ein Körnlein Wahrheit und sehr viel Lüge in ihm liegt. Aber eben auch dieses Körnlein Wahrheit zu finden war ich verpflichtet, und noch so arge Lüge, die es verhüllte, ist keine genügende Entschuldigung dafür, daß ich mich von dieser Hülle abschrecken ließ . . . Zur Strafe bin ich jetzt in allem derartigen ganz ratlos. Bedenken Sie nur, wie peinlich es für mich ist, daß ich immer noch nicht herausbringen konnte, in welcher Gestalt Sie vor mir stehen. Ich sehe Sie gar nicht. Ich glaube zwar, daß Ihre Stimme aus diesem schönen leuchtenden Körper kommt,« dabei zeigte er auf die Schreibtischlampe weit hinter dem Baron, der bei diesen Worten (vielleicht zum erstenmal in seinem Leben) ein eigentümliches Gefühl von Kleinheit und Unbedeutendheit empfand, was jedoch seine Erbitterung nur steigerte, »und ich, halte irgendwie dieses Licht für das Zentrum, der Persönlichkeit, mit der ich mich unterhalte. Im übrigen aber hebt sich für mich leider keine deutliche Gestaltung aus der Umgebung hervor. Und auch mit meiner eigenen Figur kann ich nicht ins Reine kommen, so sehr ich mich meiner neuen Welt anpassen möchte. Bald zuckt es in mir zusammen, bald fließt es auseinander. In allen Poren fühle ich ein Unbehagen. Glauben Sie mir, mir fehlt jedes Raumgefühl, alles torkelt mir schwindlig durch den Kopf. Ich kann die richtige Ebene nicht finden, in der ich mich zu bewegen hätte. Alles sehe ich schief.« »Das merke ich nun wirklich«, fuhr von Klumm mit höhnischem Lachen auf. »Jetzt erst merke ich, zu spät, wie recht ein Freund hatte, der mir immer von seinem Heimweh erzählte. Er war nur aus einer andern Stadt, nicht etwa aus einer ganz andern Welt zu uns gekommen, und immer wieder klagte er, wie unheimlich, ja geradezu wie bestraft er sich fühle. Was sich nämlich zu Hause unter einer Hülle lieber Gewohnheiten, in der Wärme des Körper-an-Körper-Sitzens im Familienkreis verborgen hatte, das trat jetzt nackt zu Tage: eine gewisse innere Leerheit und Sinnlosigkeit seines Lebens.« »Dasselbe hat heute der Militärattaché gesagt«, murmelte der Baron, mit gespanntem Mißtrauen. »Wenn man«, fuhr die Erscheinung ruhig fort, »in einem trügerischem Schein von ewigem Beschäftigtsein sein Leben hinbringt, immerfort fleißig und strebsam ist, immerfort sogenannte »ernste« Dinge treibt, die meist nur der banalen Notdurft des Tages dienen, seine Muße wiederum mit einem »Unernst« vergeudet, der jenem Ernst an Irrealität gleichwertig ist, -- kurz, wenn man nirgends die befreiende absolute Wahrheit sieht, sondern überall nur eine trübselige Notwendigkeit und Gewohnheit . . .« »Das ist zuviel,« schrie der Baron, und ging mit geballten Fäusten auf das Phantom los, »jetzt reden Sie gar von mir!« »Nein, von meinem Freund«, schrie die Erscheinung und wich mit dem Oberleib zurück. »Haha, -- der sah also nirgends absolute Wahrheiten? Hören Sie, da laß ich ihn schön grüßen und ihm sagen, daß er ein ausgezeichneter Kerl ist, dieser Freund, und mein Mann. Genau so bin ich nämlich auch. Die nüchternen Tatsachen des Lebens erkenne ich an, relative Vernünftigkeiten, Zweckmäßigkeiten. Aber was Sie davon allgemein giltiger Realität faseln . . . Donnerwetter, gerade gegen solche törichte Ideologien anzukämpfen, darin sehe ich den bescheidenen, aber vielleicht doch nicht ganz unwesentlichen Sinn meines Daseins. Zum Teufel, ist denn jemand so kurzsichtig, der das nicht einsieht? Es gibt kein Recht für alle und keine Gerechtigkeit, weil jeder recht hat, jeder einzelne. Deshalb muß es ewig Krieg geben, Zwietracht von Mann zu Mann und Krieg der Völker untereinander . . .« Kaum hatte der Minister diese Worte ausgesprochen, als das Gespenst sich mit einem Male wie umgewandelt gebärdete. War es bisher eines von der weinerlichen Sorte, sogar nahezu temperamentlos gewesen, so geriet es jetzt in einen zornigen Eifer, der dem des Barons in nichts nachstand. »Halloh, das ist ja Unsinn«, rief es und schien alle Zimperlichkeit mit einem Schlage vergessen zu haben: »Es gibt kein Muß und es gibt keine bloß relative Vernünftigkeit! Mit solchen Ansichten stecken Sie ja in einer ganz gewaltigen Verblendung.« »Ich -- Verblendung? Ich, der anerkannt sachlichste Realpolitiker der Gegenwart? Selbst von den Gegnern als sachlich anerkannt? Und solch ein Phantast, solch ein Utopist wie Sie will das behaupten? Wissen Sie, daß ich Leute Ihres Schlages für die ärgsten, ja die einzigen Feinde der Menschheit halte?« Der Baron hatte die Erscheinung beim Arm ergriffen und zerrte sie hin und her, die Empörung hatte ihn vollständig übermannt. Doch auch die Erscheinung war wild geworden. Erregt tappte sie um sich, allerdings sehr ungeschickt, so daß sie den Baron verfehlte. »Ja, für einen solchen Feind« schrie dieser, indem er zur Seite sprang, »daß ich mir gar kein Gewissen daraus mache, Sie selbst samt Ihren läppischen Erfindungen jetzt auf der Stelle über den Haufen zu schießen.« Er war an den Schreibtisch geeilt, öffnete eine Kassette und begann mit zitternder Hand, den Revolver von neuem zu laden. Dabei aber schrie und zankte er ununterbrochen weiter und seine Stimme klang vor Wut und Aufregung immer heiserer: »Mit Ihrem albernen Gerede von ewiger Gerechtigkeit . . ., begreifen Sie gar nicht, daß Sie sich an dem heiligsten Gute der Menschheit versündigen? Wenn es nur _ein_ Recht und _eine_ Wahrheit gäbe, wo bliebe dann . . . die immanente Mißlungenheit, die Sinnlosigkeit alles Irdischen, die doch gerade darin besteht, daß alle, die aufeinander gegenseitig loshauen, alle, alle zugleich im Rechte sind, wo bliebe das Christentum, die Religion des Leidens, wo bliebe die ganze metaphysische Tragik des Erdenwallens?« »Sie erbärmlicher Wicht«, schrie nun auch der Geist aus voller Kehle und in seine Stimme rollte etwas wie unterirdischer Donner, ja auch aus den Wänden und Fenstern schien es dunkel mitzusprechen, der Wind draußen setzte mit stärkerer Wucht ein und brachte vom Hochgebirg ein eigentümliches leises Pfeifen und Knistern mit, als lösten sich irgendwo in der Ferne die Fugen des uralten Gesteins und bereiteten sich vor, in feinen Staubbächen herabzurieseln. »Sie erbärmlicher Wicht«, schrie gleichsam die ganze sichtbare Natur in ihrer Empörung auf. »Ist es Ihre Sache, Gott ins Handwerk zu pfuschen, und die Tragik seines Werkes gönnerhaft besorgt zu protegieren, für die vielleicht genug und mehr als genug geschehen ist, wenn er solch schädliche Würmer wie Sie in seiner unendlichen Güte überhaupt nur weiterexistieren läßt, statt sie zu vertilgen?« -- Bei diesen Worten bog sich das Gespenst ganz zurück, als wolle es einen Anlauf nehmen, um das Menschlein einfach mit der Wucht seines Leibes niederzustoßen und dann zu erdrücken. Durch diese heftige Bewegung aber hatte es sich unversehens aus dem Parkett, in dem es noch immer bis zum Knie gefangen stand, frei gemacht. Es stieg nun vollends wie aus einer Versenkung empor, erstaunlicherweise jedoch hielt es mit dem Aufstieg nicht ein, als es die Ebene des Fußbodens unter den Sohlen hatte, sondern wie im Schwunge seines Ausholens erhob es sich weiter und fuhr nun frei in die Luft empor, doch nicht geradeaus, sondern schräg, als schwebe es eine unsichtbare Treppe hinauf. In dieser Bewegung kam es wie in einem eisigen Luftzug dicht am Baron vorbei, so daß es ihn also wieder verfehlt hatte. »Wehe mir«, schrie es jetzt mit kläglich-schneidendem Laut, indem es plötzlich etwa in halber Höhe des Zimmers einhielt und fast unbeweglich, nur mit leichtem Pendelschlag schwingend blieb. »Meine Sünde! Meine Sünde!« Der Baron war zitternd in die Knie gestürzt, in weitem Bogen entfiel die Waffe seiner Hand und klirrte zu Boden. Nicht so sehr die Rede des Geistes als der furchtbare Anblick des in der Luft wie an einem imaginären Galgen hängenden Leibes, der an Gespenstigkeit all das Merkwürdige, was er an diesem denkwürdigen Abend bereits erlebt hatte, weit überbot, warf ihn aus seiner mühsam erkünstelten Fassung. Nun rührten die bebenden Worte von oben, die wie unmittelbar aus einem gequälten Herzen hervorgestoßen schienen, an einen Nerv seiner Seele, der schon lange nicht, vielleicht seit seinen ersten Kinderjahren nicht geschwungen hatte. »Meine Sünde! Meine Sünde!« wimmerte nun auch er und verdrehte die Augen. Denn weinen konnte er nicht mehr. Das hatte er in all den vielen Jahren ganz verlernt. Eine Weile schrien nun beide jammervoll durch das Zimmer und erweckten den schaurigen Widerhall der leise knarrenden Möbel. Der Mond war untergegangen, völliges Dunkel herrschte außerhalb des Lampenscheines. Jetzt erst bemerkte man, daß ein ganz zartes, flimmernd bläulich-weißes Licht von den Konturen des Phantoms ausging, wie von einem Kamm, der knisternd durch Haare streicht. Es machte wirklich den Eindruck, als sei jedes Fäserchen im Kleide des Geistes bis zur Wurzel hinab schmerzlich aufgeregt und erschauere in dem fremden widerspenstigen Medium des irdischen Luftraumes, der sich bei der geringsten Bewegung als unangenehm krankhafte Reibung bemerkbar machte. »Was ist Ihnen denn? Herr des Himmels, was ist Ihnen?« rief der Minister, dessen Wut völlig verraucht war und der nur noch Mitleid fühlte, Mitleid mit der armen verirrten Spukgestalt, noch mehr Mitleid aber mit sich selbst, denn er begann zu ahnen, daß sein Schicksal in jener unausweichlich gewissen Stunde nach dem Tode dem des Geistes verwandt, aber noch viel, viel entsetzlicher sich gestalten müsse. »Sehn Sie denn nicht«, erklang es jämmerlich von oben. »Ich habe keinen Raumsinn, das ist es. Ich erkenne zwar, daß es hier Zimmer und Stockwerke, eine gewisse gesetzmäßige Anordnung von Oben und Unten, von Rechts und Links gibt. Aber ich kann diese merkwürdige Anordnung nicht in mein Gefühl aufnehmen, ich kann sie nicht von innen heraus empfinden . . . Und jetzt weiß ich auch schon, für welchen besonderen Vorfall meines Lebens diese Heimsuchung mich treffen soll.« »O, es ist schrecklich«, wehklagte der Minister. »Was war es denn, was Sie verbrochen haben? Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Wenn es in meiner Macht liegt, seien Sie überzeugt, daß ich nichts unversucht lassen werde . . .« Die gewohnten Diplomatenphrasen kamen tonlos, nur so kopfüber aus seinem blassen Munde gestürzt. Der Geist antwortete auf sein Anerbieten gar nicht, er schien ganz in Erinnerung zu versinken und nur zu sich selbst zu sprechen: »Ein vornehmer Mann, ich glaube, er war Staatsminister, besuchte mich einmal, vielleicht in der besten Absicht, von lauterstem Wohlwollen erfüllt, in meiner armseligen Dachkammer. Er wollte von mir lernen, sagte er, wollte meine originelle Lebensweise, meinen Eigenbau in Weltanschauungen, so nannte er es wörtlich, mit eigenen Sinnen nachprüfen. Da ritt mich der Satan der Aufgeblasenheit, der richtige Proletarierstolz, und ich warf ihn eigenhändig die Treppe hinunter, wobei ich triumphierend ausrief: >Damit Sie wirklich sehen und am eigenen Leib fühlen, daß es bei mir kein Hoch und Niedrig, kein Oben und Unten gibt.<« »Kein Oben und Unten. -- Und deshalb hängen Sie Unglückseliger jetzt in der Luft? -- Nun, aber es war damals wirklich nicht schön von Ihnen.« »Ja, das schrie ich ihm damals nach, mit vollem Brustton und in der Überzeugung, etwas Großartiges ausgeführt zu haben. Leider bin ich ja so jähzornig, Sie haben vorhin eine Probe davon erlebt. Und es kam mir damals so naheliegend vor, so selbstverständlich, den Mann einfach am Kragen zu packen und hinunterzuwerfen. Nachher noch freute ich mich lange darüber, daß ich diesen glänzenden Einfall gehabt hatte, er schien mir aus meinem Innersten gekommen zu sein, ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß die Sache anders hätte ausfallen sollen und dürfen. -- Jetzt aber fühle ich ganz genau, eben diese scheinbare Selbstverständlichkeit und Insichgeschlossenheit, diese handgreifliche Massivität und Sicherheit der Dinge ist die ärgste Gefahr, die ärgste Versuchung für die Sterblichen. Es kann gar nicht anders sein, denkt man, oder denkt gar nichts, beruhigt sich einfach dabei, daß es so ist, daß es Elend und Heuchelei und Massenmord und Verkümmerung gibt. Es ist nichts zu ändern und zu bessern, denkt man, und vergißt ganz, daß man bei sich selbst den Anfang machen könnte . . .« Der Baron unterbrach ihn, zähneklappernd, mit dem Ausbruch seiner höchsten Angst: »Aber bedenken Sie, Liebster, wie wird es erst mir ergehen, wenn Sie schon wegen einer einmaligen geringfügigen Verfehlung oder vielmehr nur Vierschrötigkeit soviel auszustehen haben? In Etikette und Distanzfragen zwar werde ich mich auskennen. Aber in den vielen anderen und, wie es scheint, wichtigeren Dingen, die ich alle nur als Gewohnheiten gelten ließ und die sich infolgedessen alle gegen mich empören werden? Sogar an den Tod, pflegte ich zu sagen, haben wir uns gewöhnt. Also wird mir alles in der verdrehten Welt . . ., im Jenseits, wollte ich sagen, ganz überraschend neu und unerklärlich erscheinen, nicht wahr?« »Ja, jetzt ergreift es mich«, rief das Gespenst in diesem Augenblick frohlockend aus, ohne sich um den von Entsetzen geschüttelten Staatsmann zu kümmern, »jetzt, jetzt weicht das Verhängnis von mir. Jetzt fühle ich, daß mir verziehen wird. Eine unvergleichliche Harmonie ergreift mich, erfüllt meine Glieder . . .« Freudetränen glänzten in den Augen des Greises, der verstummt war und mit einem sanften Lächeln auf seinen Zügen langsam zum Fußboden niederschwebte. Er hatte jetzt auch schon nicht mehr als die Größe und Gestalt eines normalen Menschen, das spitzige Nadelglitzern rings um seinen Körper war verschwunden. Nun hatte er das Parkett berührt. Sofort lösten sich auch seine Füße aus der unnatürlichen marionettenhaften Gebundenheit, und frei schritt er jetzt auf den Baron zu, den er auch schon richtig von seiner Umgebung zu unterscheiden schien. Er bemerkte jetzt, daß dieser auf der Erde kniete. »Stehn Sie auf«, sagte er freundlich und half ihm nach, indem er den Ächzenden emporhob. »Niemand ist unrettbar verloren . . . Mich aber reißt es jetzt mit Macht anderswohin. Welche andere Prüfungen sind mir noch beschieden? Oder stehe ich schon am Ende und bin für die höchste Ebene geläutert? Ich weiß es nicht. Ich fühle nur, daß meine Zeit in dieser terrestrischen Welt um ist, daß ich wieder in eine neue Sphäre auftauche, vielleicht -- o die Ahnung schon beseligt -- in eine reinere, als diese hier und als die meine es waren. Leben Sie wohl!« »Nein, bleiben Sie«, rief der Baron verzweifelt, »Bleiben Sie bei mir. Sprechen Sie noch. Sie tun mir so wohl. Und damit will ich nicht sagen, daß ich mich nur an Sie gewöhnt habe. Nein, es ist etwas Wesenhaftes, Wirkliches, wenn Sie bleiben.« Die Erscheinung schüttelte ernst den Kopf: »Ich darf es nicht.« »Und wenn ich Sie kniefällig bitte. Wenn ich Ihnen sage, daß Ihre Worte von unendlicher, ausschlaggebender Bedeutung für mein Seelenheil sein können, daß meine unsterbliche Erlösung in Ihrer Hand liegt.« »Ein höheres Gesetz zwingt mich, zu gehen.« In einer Demut, die er nie vorher gekannt hatte, neigte der Minister das Haupt. Die Erscheinung reichte ihm sanft die Hand. »Dann sagen Sie mir wenigstens noch das eine: Welche erschütternden Erfahrungen, hohen Studien, welche Gelehrsamkeit und großartige Unterweisung haben Sie in Ihrer Sylphenwelt durchgemacht, um sich zu einer so hohen Erkenntnisstufe emporzuringen, daß Ihnen nach dem Tode wenig mehr als eine kleine Peinlichkeit beschieden war? Gewiß waren Sie Philosophenschüler und selbst Philosoph, waren ein großer verkannter Künstler, oder gar ein Apostel, ein Prophet, ein Religionsstifter?« »Nein«, erwiderte die Erscheinung mit eigentümlich verhaltenem Lächeln. »Ich habe gelebt wie jeder andere. Ein Unrecht habe ich niemals geduldet, das ist wahr, aber zum Studieren hatte ich nur wenig Zeit. Mein Beruf freilich war sozusagen ein philosophischer. Oft mußte ich nämlich allein sein, in einer ganz engen finstern Kammer, fern von allen Menschen und nur auf mich angewiesen. Soetwas lädt zum Nachdenken ein. Ich war Schornsteinfeger.« Der Minister zuckte zusammen. »Schornsteinfeger -- Schornsteinfeger« -- wiederholte er lallend. Als er aufsah, war die Erscheinung spurlos verschwunden. -- -- -- Plötzlich schrie er auf und stürzte ans Telephon: »Hallo -- Irrenanstalt, Irrenanstalt.« Der Nachtinspektor meldete sich. »Ist Arthur Bruchfeß dort? Der Schornsteinfeger, der heute das Attentat auf mich verübt hat? Ist er nicht gerade vor einer halben Stunde gestorben?« Der Minister glaubte nichts anderes, als daß er die eben beendete Unterredung mit dem Spirit dieses Mannes gehabt hatte. »Ich werde sofort selbst nachsehn, Exzellenz.« Nach einer Weile, deren Spannung sich ins Unerträgliche ausdehnte: »Nein, Inhaftat Bruchfeß lebt, ist sogar auffallend ruhig und heiter. Er hat sich nicht zur Ruhe gelegt, sondern geht, ein Liedchen trällernd, in seiner Zelle auf und ab. Die Ärzte haben nicht die geringste Spur von geistiger Umnachtung feststellen können, nicht einmal eine besondere Erregung des Nervensystems.« »Lassen Sie den Mann laufen, sofort« keuchte der Minister »die ganze Affäre wird niedergeschlagen. Man muß das alles anders machen, die ganze Justiz, die ganze Welt, alles . . . Haben Sie verstanden? Sofort in Freiheit setzen.« »Zu Befehl, Eure Exzellenz.« Schwer atmend fiel der Minister in seinen Sessel nieder, ununterbrochen versetzte er seinem Kopf leichte Schläge, wie um sich aufzurütteln und das Unsagbare zu fassen. Da raschelte es in der Türe. Die schöne Gabriele war eingetreten. Das laute Gespräch vorhin hatte sie nicht geweckt, wohl aber jetzt das Klingeln des Telephons. »Wann kommst Du endlich?« rief sie und spitzte schmollend ihre Lippen. So blieb sie, leicht erschauernd, stehn, denn sie trug nichts als ihr dünnes halbdurchsichtiges Nachthemdchen, das nur zwei hellblaue Seidenbänder über den glänzenden Schultern festhielten. Man sah ihr einfaches junges Gesicht, die zarten runden Arme und jene leichte apfelglatte Wölbung des kleinen Busens, die mehr als alles in der Welt selbstverständlich ist und zu vertraulichheimischem Vergessen, zur süßen Gewohnheit eines bewußtlosen Ausruhens verleitet. Auch ein Stärkerer als der Baron hätte diesem mit sanfter Gewalt berauschenden Anblick nicht widerstanden. Im nächsten Augenblick war er bei ihr. »Wie lang soll ich noch allein warten?« hauchte sie zärtlich, während er sie schon umfangen hielt und sich, mit stürmischer Freude, aus tiefster Brust aufatmend, der süßen mütterlichen Schlaflauheit, die von ihrem Körper ausging, und dem sachten Schlag überließ, mit dem ihn eine ihrer losgelösten Haarsträhne wie eine unendlich feine, melodisch aufklingende Zaubergerte an der Wange berührte. ENDE Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. End of Project Gutenberg's Die erste Stunde nach dem Tode, by Max Brod *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE ERSTE STUNDE NACH DEM TODE *** ***** This file should be named 42337-8.txt or 42337-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/2/3/3/42337/ Produced by Jens Sadowski Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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