Der deutsche Roman seit Goethe

By Martin Schian

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Title: Der deutsche Roman seit Goethe

Author: Martin Schian

Release date: July 29, 2025 [eBook #76588]

Language: German

Original publication: Görlitz: Rudolf Dülfer, 1904

Credits: Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER DEUTSCHE ROMAN SEIT GOETHE ***



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                     Anmerkungen zur Transkription.

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des
Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
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Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.

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                          Der deutsche Roman
                             seit Goethe


                            [Illustration]


                      Skizzen und Streiflichter

                                 von

                            Dr. M. Schian


                            [Illustration]




                             Görlitz 1904

                            Rudolf Dülfer




                          Inhaltsverzeichnis.


                                                   Seite

  Vorwort                                              3

  Die Bedeutung des Romans                             5

  Aus der Vorgeschichte des modernen Romans           10

  Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans   16

  Roman und Novelle der Romantik                      32

  Die Volkserzählung                                  53

  Der tendenziöse Zeitroman                           75

  Der objektivere Zeitroman                           99

  Der historische Roman                              121

  Die Stimmungsdichtung                              143

  Der naturalistische Roman                          167

  Der Problem- und Gesellschaftsroman                188

  Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman               211

  Rückblick                                          224

  Register                                           232




                               Vorwort.


Die folgenden Blätter geben eine Reihe von Vorträgen wieder, welche
ich im eben vergangenen Winter im Damenlyzeum zu Görlitz und --
in kürzerer Gestalt -- vor einer aus Damen und Herren gebildeten
Zuhörerschaft in Lauban gehalten habe. Der Wunsch, die Vorträge
gedruckt zu sehen, wurde mir aus beiden großen Zuhörerkreisen so
häufig und so dringend nahe gebracht, daß ich, wennschon nicht ohne
Bedenken, doch nicht umhin konnte, ihm zu entsprechen.

Die Form der Vorträge ist belassen; nirgends habe ich wesentlich
geändert. Nur was ich der drängenden Zeit wegen beim mündlichen
Vortrag hier und da auslassen mußte, ist jetzt wieder eingefügt. So
werden namentlich die Hörer aus Lauban erheblich mehr finden, als ich
ihnen mündlich bieten konnte.

Der Zweck, welchem diese Veröffentlichung dient, braucht hiernach
kaum näher dargelegt zu werden. Ich maße mir nicht entfernt
an, die Wissenschaft der Literaturgeschichte irgend bereichern
zu wollen. Meine Absicht war nur die, ihre Ergebnisse für ein
wichtiges Einzelgebiet in leichterer Form, als das für gewöhnlich
geschieht, einem weiteren Kreis von Gebildeten zu vermitteln. Daß
ich dabei überall dankbar und freudig von den wissenschaftlichen
literaturgeschichtlichen Darstellungen gelernt habe, ist ganz
selbstverständlich. Aber ebenso selbstverständlich war mir, daß ich
auf ein eigenes Urteil nicht verzichten konnte.

Aus dem Zweck der Vorträge ergab sich nicht nur die Form der
Darstellung, sondern auch die Begrenzung und die Auswahl des Stoffs.
Auf jeden Versuch der Vollständigkeit mußte ich von vornherein
verzichten; es schien mir viel besser, Einzelnes gründlich zu
behandeln als eine Fülle von Namen und Titeln zu nennen. Nur
vom deutschen Roman wollte ich reden; es blieb kein Raum, um
Verbindungslinien nach anderen Literaturgebieten zu ziehen und die
Einwirkung fremder Einflüsse deutlich zu machen. Die Vorträge wollen
lediglich auf die Entwickelung des deutschen Romans seit Goethe ein
paar Streiflichter werfen und vor allem auf das hinweisen, was in
dieser Zeit Bleibend-Wertvolles geschaffen ist, um so zugleich den
Kreisen der Romanleser ein bequemes Hilfsmittel für richtige Wahl und
richtige Schätzung ihrer Lektüre zu sein.

Es wäre mir eine Freude, wenn das Buch sich in dieser Richtung als
praktisch und brauchbar erweisen sollte.

  ~Görlitz~, den 28. März 1904.

                                                      +Martin Schian.+




                      Die Bedeutung des Romans.


Wer läse heutzutage nicht Romane? Gewiß, es gibt Romanverächter.
Aber sie sind weiße Raben. Jeder Gebildete liest sie, Mann wie Frau.
Leihbibliotheken, Romanzeitungen, Familienblätter aller Arten und
Richtungen machen den Roman leichter zugänglich als irgend eine andere
Literaturgattung. Und zu der Masse der minder Gebildeten findet der
Roman seinen Weg durch die Riesenauflagen der Tageszeitungen und der
Gegenstände der Kolportageliteratur.

Man liest Romane, aber -- man studiert nicht den Roman. Ich rede nicht
von den Fachmännern der Literaturgeschichte. Den gebildeten Romanleser
klage ich an.

Wer beschäftigt sich mit der Geschichte des Romans? Das Wichtigste aus
der Geschichte des Liedes und des Dramas gehört zum eisernen Bestand
des Wissens-Inventars eines gebildeten Menschen; und schon die Schule
legt den Grund dazu. Aber wie viele haben ein geschultes Urteil über
die Bedeutung der wesentlichen Romanerscheinungen?

Wir forschen nach der Ursache dieses merkwürdigen Kontrastes zwischen
der ungeheuren Nachfrage nach dem Roman selbst und der geringen
Neigung, sich wissenschaftlich mit ihm zu befassen. Es gibt nur eine
Erklärung: ~man unterschätzt den Roman~. Das ist ja psychologisch
zu verstehen. Für unendlich viele ist er nichts als ein Mittel
zur Vertreibung der Langeweile. Sie verlangen nichts anderes von
ihm, als daß er sie unterhalte. Sie wählen daher aus dem Leichten
das Leichteste. Unreife Geister suchen in ihm ein Mittel pikanten
Genusses. Stunden, die für harte Pflichten bestimmt sind, werden der
Lektüre geopfert. So verbindet sich für nicht wenige Leser mit dem
Begriff Roman so etwas wie schlechtes Gewissen. Und das beeinflußt
wieder das Urteil über den Roman selbst.

Aber was hat der Roman als Literaturgattung damit zu schaffen, wenn
ihn Unreife als Weg zum falschen Zweck gebrauchen? Wenn sie das
Seichte aus seinen Schätzen heraussuchen und das Gehaltvolle liegen
lassen? Schon um des unermeßlichen Einflusses willen, den er auf
breite Schichten übt, ist der Roman aller Beachtung wert. Aber auch
nach seinem Eigenwert steht er nicht zurück. Er ist anerkannt als
~vollberechtigtes Glied der epischen Dichtung~. Man streitet
darüber, ob die Prosaform zu seinem Wesen gehöre oder nicht. Nun, es
gibt Romane in Versform. Was sind jene Gedichte der höfischen Zeit
des 12. Jahrhunderts mit ihren Heldenpaaren Floris und Blancheflur,
Tristan und Isolde, dazu jene Erzählung vom Grafen Rudolf, der in den
Kreuzzug geht, anderes, als Liebesromane nach französischem Muster?
Aber trotzdem wird freilich festzuhalten sein, daß die Prosaform die
für den Roman normale, ja für den ausgebildeten Roman einzig mögliche
ist. In seinem Werte verliert er dadurch nicht; denn die Prosa ist
Kunstform, gerade so gut wie der Vers. Was aber dem Roman seine
ganz besondere Bedeutung verleiht, das ist gerade ~seine Eigenart
innerhalb des Gebietes der epischen Dichtung~.

Haben Sie schon einmal versucht, mit kurzen Worten das Wesen des
Romans zu bestimmen? Nun, jedenfalls schwebt uns allen eine Art
Definition des Romans vor: wir denken ihn als ~komplizierte
Erzählung~. Kompliziert ist er nach Form und Inhalt: das
scheidet ihn von der einfachen, schlichten ~Erzählung~, von
der kunstvollen, aber knappen, nur einem Faden der Entwickelung
folgenden ~Novelle~. Komplizierte Erzählung muß er sein, nicht
etwa um der erhöhten Spannung willen, sondern weil er nur so seiner
Aufgabe genügen kann. ~Diese Aufgabe aber ist, ein Stück Weltbild
zu geben~, sei es in engerem oder in weiterem Rahmen. +Nil
humani a me alienum puto+, sagt der Roman. Nichts Menschliches
ist ihm fremd. Was das Getriebe der Welt ausmacht, was der Zeit ihr
Gepräge gibt, die geschichtlichen Verhältnisse, die Kulturzustände,
die gesellschaftliche Gliederung, die inneren bewegenden Fragen, die
gesamte Weltanschauung, vor allem die Menschen, die in all diesen
Verhältnissen mitten darin stehen, sie bestimmend und doch wieder
durch sie bestimmt, -- das alles gehört zum Apparat des Romans.
Ein Weltbild gibt der Roman; darum kann er nie zeitlos sein, wie
denn auch die Menschen nie zeitlos sind. Darum steht er in so engem
Verhältnis zur Wirklichkeit; Roman einerseits -- Märchen, Sage,
Phantasie andererseits sind Gegensätze wie Feuer und Wasser. Er kann
aus dem Weltbild, das er zeichnet, je nach Absicht recht verschiedene
Züge vorzugsweise herausarbeiten -- entweder mehr die innere
Entwickelung der handelnden Personen oder mehr das Milieu, in dem die
Menschen stehen. Er kann mehr Geschichte oder mehr Kultur oder mehr
Weltanschauung geben -- je nachdem. Aber er muß immer konkret sein in
der Gestaltung, klar und scharf in der psychologischen Erfassung, fein
und wahr in der Verknüpfung aller in sein Gebiet gehörenden Elemente.
Er kann ein Weltbild der Vergangenheit darzustellen suchen, dann
wird er zum historischen Roman. Oder er kann der Gegenwart den Puls
fühlen. Ja, wenn er will, kann er tastend in die Zukunft greifen;
freilich nicht ohne die akute Gefahr einer Grenzüberschreitung. Denn
über das, was einst wirklich sein wird, haben wir im besten Fall
begründete Vermutungen. Ob er in Vergangenheit oder Gegenwart weilt,
-- es steht ihm jedesmal frei, auf das äußere oder das innere Leben
den Hauptakzent zu legen. Nur wird der historische Roman immer auch
die äußeren Konturen der Zeitverhältnisse breiter schildern müssen
als der moderne Roman, der vieles als bekannt voraussetzen kann. Auch
nach der Methode, wie der Dichter seinen Gegenstand behandelt, müssen
wir Unterschiede machen. Der eine schließt in zartem Empfinden von der
Erzählung manches aus, was auch im Leben mit einem Schleier bedeckt zu
werden pflegt; der andere steigt in die Tiefe und malt schonungslos
und rücksichtslos Häßliches so gut wie Schönes, ja das Häßliche
vielleicht mit noch größerer Liebe. Und wiederum: während mancher
Roman nichts will als schildern, nichts als photographieren, legen
andere in ihr Bild der Wirklichkeit Gedanken und Tendenzen hinein --
politische, religiöse, sittliche. Sie zeichnen im Ausschnitt ein Stück
Welt, auf dem sich gerade ein Problem zusammenballt, das seiner Lösung
harrt; und sie geben solche Lösung oder predigen resignierten Verzicht
auf solche Lösung. In all diesem aber gilt, welcher Art der Roman auch
sei, ob welthistorisch, kulturhistorisch oder modern durch und durch,
-- ob idealistisch oder naturalistisch, -- ob er mehr äußeres oder
mehr inneres Erleben bringe, -- ob er den Knoten im äußeren Laufe der
Dinge sich schürzen läßt oder ob er Probleme der Weltanschauung wälzt,
-- in alledem gilt, daß der Roman ~von der wirklichen Welt nicht
loskommen kann und nicht loskommen darf~. Ein wirkliches Weltbild
zu geben ist seine Aufgabe. Und diese Aufgabe gibt ihm einen hohen
Wert. Nicht ~allein~ nach dem Grad, in welchem er dieser Aufgabe
genügt, bestimmt sich seine Qualität; denn auch die künstlerische
oder unkünstlerische Form hat da mitzusprechen. Aber vornehmlich ist
es der Maßstab der Wirklichkeit, der an den Roman anzulegen ist. Der
Wert aber, den er so gewinnt, besteht in der Kraft, mit der er den
Blick schärft, in der weiten Umschau, die er über den eigenen engen
Gesichtskreis hinaus dem Leser ermöglicht, in der Energie, mit welcher
er zwingt, Fragen zu durchdenken, die sonst undurchdacht bleiben
würden, endlich in der feinen, festhaltenden Form, in welcher er all
dies vermittelt.

Ich brauche nicht erst zu erklären, daß es auch wertlose Romane gibt.
Aus der Charakteristik des Romans, die ich zu bieten versuchte,
erhellt das ganz von selbst. Ein Roman, der seiner ganzen Art
nach nichts anderes kann, als Spannung der Nerven erzielen, ist
wertlos. Aber man pflegt ja auch den Wert des lyrischen Gedichts
nicht nach den Ergüssen der Friderike Kempner zu beurteilen. Also
schätze man den Roman nicht ein nach dem platten Liebesroman, in dem
sie sich schließlich aus alle Fälle kriegen, auch nicht nach dem
pikant-lüsternen oder naturalistisch-frivolen Unterhaltungsroman
und erst recht nicht nach dem haarsträubenden Hintertreppenroman!
~Der wirkliche Roman, der sich zur Aufgabe setzt, in möglichst
vollendeter Darstellung ein Weltbild zu geben, ist jedenfalls als ein
Bildungsmittel ersten Ranges zu werten.~




                               Aus der

                  Vorgeschichte des modernen Romans.


Man hat dem 19. Jahrhundert tausend Titel gegeben, um seine neuen
Errungenschaften anzudeuten. Es ist das Jahrhundert der Technik, das
Jahrhundert der Naturwissenschaften. Aber es ist auch das Jahrhundert
des Romans, dieses so beschriebenen Romans. Freilich die Anfänge des
Romans, ja eine Art Vorblüte desselben sind schon älteren Datums.

Was ists, das in mittelalterlicher Zeit Singen und Sagen des deutschen
Volkes regiert? Ritterliches Wesen, kraftvolles Heldentum, ruhmreiche
Taten beherrschen die Phantasie. Wer wagt es, von Bürgerleben oder
harter Bauernarbeit viel zu reden? Rittertum, etwa noch mit Weisheit
verbunden, füllt mit seinem Glanze die Welt. Dies Weltbild reflektiert
sich in jenem ältesten poetischen Roman unserer Literatur, den ein
Mönch, dessen Namen wir nicht kennen, etwa um die Mitte des 11.
Jahrhunderts im bayrischen Kloster Tegernsee geschrieben hat. Noch
kleidet sich seine Dichtung in das fremdländische Gewand lateinischer
Hexameter. Aber der Held ~Ruodlieb~ ist ein deutscher Ritter.
Ein König, in dessen Heer er große Taten getan, gibt ihm zwölf
Weisheitslehren; und Ruodlieb hat sie im Lauf der Erzählung
wahrscheinlich alle zwölf selbst erprobt; -- sicher ist es nicht, weil
nur Bruchstücke des Werkes auf uns gekommen sind.

Lange bleibt Ruodlieb in seiner Art allein; aber als dann ähnliche
Schöpfungen zahlreicher erwachsen, ist es noch immer das Rittertum,
welches die Situation beherrscht. Freilich nicht mehr allein das
ritterliche Heldentum, sondern zugleich die ritterliche Liebe.
Kreuzzugsabenteuer spiegeln sich wieder in den deutschen Versen von
~Floris und Blancheflur~. Der heidnische Königssohn Floris
entbrennt in Liebe zu Blancheflur, der Tochter eines christlichen
Kriegsgefangenen. Blancheflur wird in ein anderes Land verkauft;
Floris sucht und findet sie bei einem Fürsten der Sarazenen. Er weiß
in den Turm zu gelangen, in dem sie gefangen gehalten wird, und
erfreut sich ihrer Liebe bis -- zum Tag der Entdeckung. Ihre treue
Liebe siegt auch über den Grimm des Fürsten, der sie vereint zur
Heimat ziehen läßt. Dies Liebespaar, in deutschen Versen besungen,
ist typisch für jene Zeit und für zahlreiche andere ähnlich gefeierte
Paare. ~Tristan und Isolde~ werden von Eilhart von Oberge, in
vollendeter Gestalt von Gottfried von Straßburg besungen. Was für ein
Bild jener suchenden und fragenden, religiös-ernsten und zugleich
naiv-heldenmäßigen Ritterzeit gibt Wolfram von Eschenbachs berühmter
~Parzival~!

Die Wandlung der Zeiten läßt sich trefflich in den Wandlungen der
romanartigen Dichtung verfolgen. Das Rittertum tritt zurück; aber die
naive Freude am Äußerlich-Großen und Wunderbaren nicht. Freilich, man
zehrt im 14. und 15. Jahrhundert von der Vergangenheit; noch ist das
Neue nicht in klarem Werden. Diese Epoche ist die Zeit der sogenannten
»~Volksbücher~«. Die Stoffe der höfischen Epen verarbeiten
sie in ungebundener Rede, aber auch andere Gegenstände ziehen sie
herbei, -- freilich mehr neue Namen als neue Gedanken. Sie greifen,
um ihre Helden zu wählen, in die fernste Vergangenheit zurück, bis
in die Zeiten des trojanischen Kriegs oder Alexanders des Großen.
Aber sie verschmähen zum gleichen Zweck auch nicht die Gestalten
der Karolingerzeit; und schließlich fehlen Helden wie Fortunatus
mit seinem Glückssäckel nicht. Wunderbare Taten gewaltiger Männer,
traurige und fröhliche Schicksale tugendhafter Frauen werden immer
wieder behandelt. Alles in allem kein Fortschritt, vor allem nicht in
der Schärfe der Zeichnung des gegenwärtigen Weltbildes; eher verflacht
der Roman, weil die Neigung zum Abenteuerlichen die zum Wirklichen
überwiegt.

Das Bürgertum tritt mit dem ausgehenden Mittelalter viel stärker
hervor als je zuvor. Erst fühlt es sich noch in der Notwendigkeit,
den eigenen Wert und die eigene Geltung gegenüber den Ritterbürtigen
zu erzwingen. Aber bald wird es zum ausschlaggebenden Faktor.
So lassen denn die Romane des Reformationszeitalters -- genannt
seien vor allem die des ~Jörg Wickram~ -- jene Kluft zwischen
Rittertum und Bürgertum noch hervortreten; aber die Liebenden
pflegen, wenn Standesunterschiede sie trennen, eben diese Kluft
glücklich zu überwinden. Und in manchem Roman dieser Zeit hat das
Bürgertum allein die führende Rolle! Neue Gegenstände gewinnt so die
Dichtung: bürgerliches Familienleben, Schule und Beamtenlaufbahn,
des Kaufmannsstandes Leiden und Freuden. Eine neue Betrachtungsweise
beherrscht sie: diejenige der gutbürgerlichen Moral, deren höchste
Kleinodien eine glückliche Ehe, sorgsame Kindererziehung und gute
Nachbarschaft sind. Auch diese Art hat mannigfache Spielarten: neben
Jörg Wickram steht der Straßburger ~Johann Fischart~ mit seiner
humoristisch-satirischen Kraft, seinem deutsch-patriotischen Sinn
und seiner urwüchsig originalen Art, fremdländische, namentlich
französische Stoffe selbständig zu verarbeiten. Von seinen Schöpfungen
sei wenigstens das humoristische Prosawerk genannt, welches Rabelais'
Gargantua und Pantagruel zum Vorbild hat.

Das leidvolle 17. Jahrhundert weist wohl auch eine Romandichtung
auf, die ernst und klar in die schweren Zeiten hineinschaut: der
~Simplizissimus~ von Grimmelshausen ist zugleich ein Kind
und ein Bild jener Zeit. Aber sonst gewinnt es den Anschein, als
wolle die Dichtkunst die lastentragenden Zeitgenossen vor allem
aus ihrer eigenen harten Zeit herausführen. Die ungeheuerlichen
Fabelgeschichten, welche das Gerippe der erzählenden Prosaschöpfungen
bilden, das sich breitmachende und im Roman an den Mann gebrachte
ethnographische Wissen, die gelehrte Umständlichkeit, mit der
französische Galanterie sich merkwürdig paart, -- das alles zeigt
dem forschenden Leser freilich doch das Wesen der Zeit, in der jene
Romanschreiber lebten.

Und wie prägt sich erst die ganz besondere Art des Jahrhunderts der
Aufklärung in der weitverästeten Romanliteratur desselben aus! Der
Blick weitet sich; neue soziale und kulturelle Probleme tun sich
auf. Robinson Krusoe kommt diesem Ausbreitungstrieb entgegen; der
~Reiseroman~ fängt an, das Feld zu beherrschen. Aber mit wieviel
moralischer Lehrhaftigkeit und kleinkrämerischem Wissensdünkel
verbindet sich in dem philosophischen Jahrhundert das Ahnen der
neuen Zeit! Wie sehr verdrängt die Künstelei die einfache, klare
Nüchternheit, die Reflexion die Natur, die Empfindelei das schlichte
Gefühl! Es war ein Jahrhundert, das in Empfindungen und Gefühlen, in
Gedanken und Philosophemen, in Theorien und Plänen schwelgte. Der
Roman bildet ein Ragout aus allen diesen Zutaten; und die Moral ist
die keineswegs immer schmackhafte Sauce, mit der er angerührt ist. Wir
sind kaum imstande, von diesem Roman aus eine gerade Verbindungslinie
nach dem modernen Roman des 19. Jahrhunderts zu ziehen. Zum mindesten
gilt das vom Durchschnittsroman der Aufklärungszeit. Aber es gilt
doch zu einem großen Teile auch noch von den Romanen des gefeierten
~Wieland~. Den Pulsschlag der neuen Zeit spüren wir frisch und
lebenskräftig erst bei Goethe.

Allerdings, ein Literaturhistoriker wie Max Koch läßt den neueren
deutschen Roman von Wieland ausgehen. Ein solches Urteil respektieren
wir, zumal wenn es sich mit Lessing verbündet, der Wielands Roman
»Agathon« als »den ersten und einzigen deutschen Roman für den
denkenden Kopf von klassischem Geschmacke« bezeichnet hat. In
~einer~ Hinsicht fällt es auch dem Modernen nicht schwer, dies
Urteil zu unterschreiben. Der »Agathon« ist wirklich ein Roman für
den ~denkenden~ Kopf. Das dritte Buch gibt ja eine vollkommene
»Darstellung der Philosophie des Hippias.« Es ist die Philosophie des
»echten Materialisten«, die Lehre vom skrupellosen Genuß, die hier in
nicht weniger als fünf Kapiteln ausführlich dargelegt wird. Und diese
Theorie des Materialismus bildet nicht etwa einen Fremdkörper in dem
Roman; im Gegenteil, sie dient als notwendiges Glied dem einen Zweck,
der Erziehung des Agathon durch alle Lebenslagen hindurch, bis er zu
der gefestigten Erkenntnis kommt, daß »wahre Aufklärung zu moralischer
Besserung das einzige ist, woraus sich die Hoffnung besserer Zeiten,
das ist, besserer Menschen, gründet.« Zu denken also ist hier genug;
es fragt sich nur, ob die Philosophie nicht in zu reichlicher Dosis
gegeben ist, -- reichlicher, als es sich für den Romancharakter
schicken will. In der Tat liegt in der ziemlich äußerlichen Verbindung
von Handlung und Lehre der Hauptfehler des »Agathon«. Er ist eine
lange und breite moralische Erzählung, aber kein Roman. Eine Anhäufung
einzelner moralischer Geschichten und Lebensläufe (des Agathon, der
Danae) bringt noch keine in sich geschlossene Handlung heraus. Und
schließlich leidet Handlung wie Moral unter der Einkleidung ins Gewand
des griechischen Altertums. Da mögen sich sehr feine Parallelen
ergeben, und mancher Vergleich reizt den geistreichen Schriftsteller.
Aber durch die Vermischung moderner Abzweckung und antiker Einkleidung
fällt doch auch die Möglichkeit dahin, mit der Wirklichkeit Ernst zu
machen. Es kommt nicht zu tiefgreifender psychologischer Erfassung;
die Erzählung bleibt im oberflächlichen moralischen Schema, das ein
paar unmoralische Zwischenstadien übrigens nicht ausschließt. Das
Ganze wird schemenhaft, aber nicht lebensvoll. Wieland verstand es
nicht, volles Menschenleben zu greifen; er blieb in philosophischen
Kategorien stecken. Und darum geht der neuere deutsche Roman trotz
allem nicht von Wieland aus. Sein Schöpfer ist Goethe.

                            [Illustration]




                         Goethe der Schöpfer

                    des modernen deutschen Romans.


Wodurch ist Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans
geworden? Durch »Werthers Leiden«, durch »Wilhelm Meisters
Lehrjahre« und durch desselben »Wanderjahre« oder durch die
»Wahlverwandtschaften«? -- Durch keins dieser Werke allein, aber durch
sie alle zusammen.

Merkwürdig, wie verschieden unter sich diese Prosadichtungen des
Meisters sind! Da ist keine Schablone und kein Schema. Da ist jedesmal
aufs neue frisches Leben. Da ist lebendige Entwickelung von Werk zu
Werk, Entwicklung in Sprache und Gedanken.

Die »~Leiden des jungen Werthers~« sind der einzige Roman des 18.
Jahrhunderts, der heute noch gelesen wird. Das Neue in ihm hat das
Alte vergessen lassen. Auch aus dem Werther redet ja der empfindsame
Geist der Aufklärungsepoche. Der »Held«, dieser leidende Werther, hat
eigentlich unendlich wenig Männliches. Es geht ihm wie den Schiffen im
Märchen vom Magnetberg, dessen er selbst sich entsinnt. »Die Schiffe,
die zu nahe kamen, wurden auf einmal alles Eisenwerks beraubt, die
Nägel flogen dem Berge zu, und die armen Elenden scheiterten zwischen
den übereinander stürzenden Brettern.« Lotte ist der Magnet, der das
letzte Bischen Kraft aus dem liebenden Werther zieht. Der Freund rät:
»Suche einer elenden Empfindung los zu werden, die alle deine Kräfte
verzehren muß!« Aber das Übel hat ihm die Kräfte schon verzehrt. Was
für ein haltloses Klagen und Zagen! Wieviel Tränen und Kniefälle! Wie
lang gesponnene Ergüsse! Die Leidenschaft ist als schwere Krankheit
geschildert:

  »Die menschliche Natur ... hat ihre Grenzen; sie kann Freude, Leid,
  Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde,
  sobald ~der~ überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob
  einer schwach oder stark ist? sondern ob er das Maß seines Leidens
  ausdauern kann.«

Und diese Krankheitsgeschichte ist noch dazu breit erzählt; Gespräche,
Reflexionen, Schilderungen, die nur lose zur Sache selber gehören,
sind eingestreut. Vor allem aber: es ist fast nichts als eben
Krankheitsgeschichte. Wie wenig plastisch treten die Menschen hervor,
die neben dem Helden ein bischen mithandeln! Jene Hofgesellschaft
wird freilich beschrieben, die Menschen, deren ganze Seele auf dem
Zeremoniell ruht, deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht,
»wie sie um einen Stuhl weiter hinauf bei Tische sich einschieben
wollen.« Jener Graf wird gezeichnet, -- der edle, feingebildete
Mann der wirklich großen Welt. Aber das sind Beigaben; die Welt des
Romans ist eng; sie beschränkt sich im letzten Grund auf das Herz des
Liebeskranken.

Aber all dies Alte tritt in den Hintergrund gegenüber dem Neuen. Und
dies Neue ist die trotz alledem ~packende und einheitlich klare
Zeichnung des Innenlebens eines Liebenden~. Wir mögen im einzelnen
hunderterlei einzuwenden haben, mancher Leser wird sicher ganze Seiten
überschlagen; -- das Ganze faßt uns immer wieder an. Und nicht bloß,
weil es den Sentimentalen genugtut und die Seele mit üppigem Mitleid
füllt. Nicht bloß, weil der schaurige Ausgang, wunderbar knapp, wie er
beschrieben ist, uns mit Grausen erfüllt. Sondern den Ausschlag gibt
etwas anderes. Goethe hat es selber später gesagt:

»Gehindertes Glück, gehemmte Tätigkeit, unbefriedigte Wünsche sind
nicht Gebrechen einer besonderen Zeit, sondern jedes einzelnen
Menschen, und es müßte schlimm sein, wenn nicht ~jeder einmal in
seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der Werther vorkäme, als
wäre er bloß für ihn geschrieben~.«

Ich glaube ja, daß es nicht die Schilderung von gehemmtem Glück und
unbefriedigten Wünschen im allgemeinen ist, welche immer wieder
neue Leser im Werther sich selber finden läßt. Im Roman sind
diese unbefriedigten Wünsche doch sehr konkret in einen einzigen
zusammengefaßt: in das leidenschaftliche Begehren des Mannes nach
dem Weib seiner Liebe. Freilich seufzt Werther, nachdem der Anlauf
zu amtlicher Tätigkeit fehlgeschlagen: »Damals sehnte ich mich in
glücklicher Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich
für mein Herz so viele Nahrung, so vielen Genuß hoffte, meinen
strebenden, sehnenden Busen auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt
komme ich zurück aus der weiten Welt -- o mein Freund! mit wie viel
fehlgeschlagenen Hoffnungen, mit wie viel zerstörten Plänen!« Aber
auch dies Intermezzo der amtlichen Tätigkeit wirkt erst dadurch, daß
es die große Leidenschaft zum Hintergrund hat. Im übrigen trifft es
gewiß zu: es hat mancher seine Zeit im Leben, wo es ihm vorkommt, als
sei der Werther nur für ihn geschrieben. Gerade die unglückliche,
aussichtslose Leidenschaft mit ihren feinen Konsequenzen, mit
ihren unsinnigen und doch von dem einen Mittelpunkt her völlig
verständlichen Äußerungen ist aus der Seele nicht ~eines~
Menschen, sondern der Menschheit heraus geschildert. Wer aber auch
jene Zutaten mitwägt, jene uns fremd anmutenden Besonderheiten, der
muß zugeben, daß dies ~Allgemein-Menschliche zugleich mit den
charakteristischen Farben einer bestimmten Zeit geschildert~
ist. Und unter diesem Gesichtspunkt wird auch das wertvoll, was
sonst beiseite bliebe: jene Neigung, den herrschenden Begriffen
über Sitte und Recht den Krieg zu erklären, die Sünden in Schutz zu
nehmen, welche die herkömmliche Moral verurteilt. In der Empörung
der Leidenschaft gegen die nüchterne Urteilsweise der »vernünftigen
Leute« nimmt Werther in Schutz, was sonst überall verurteilt wird:
den Dieb, welcher stiehlt, um sich und die Seinigen vom Hungertod zu
erretten, den Ehemann, der im gerechten Zorn sein untreues Weib und
deren Verführer aufopfert, den Unglücklichen, der sich entschließt,
die sonst angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Mit dieser
leidenschaftlichen Auflehnung gegen die geltende Moral verbindet
sich eine herbe Kritik der »fatalen bürgerlichen Verhältnisse«, der
Art, wie der Unterschied der Stände betont wird, der Hohlheit und
Umständlichkeit des Amtsverkehrs und der Regierungsmaschinerie.
Nicht bloß die unbändige Leidenschaft spricht, sondern zugleich die
revolutionäre neue Zeit.

Ist der »Werther« alles in allem die Geschichte einer Leidenschaft, so
sind »~Wilhelm Meisters Lehrjahre~« die Geschichte der Bildung
ihres Helden, -- Bildung im weitesten Sinne genommen. Im Werther alles
Gefühl, alles Empfindung, alles Leidenschaft; im Wilhelm Meister
alles Überlegung, alles Gedanke, alles Berechnung. Grundverschieden
sind beide Schöpfungen; aber jede traf eine Saite in dem Herzen der
Menschheit des 18. Jahrhunderts. Denn die Erziehung durch das Leben,
wie die Fragen der Erziehung überhaupt, gehörte zum eisernen Bestand
des Nachdenkens der damaligen aufgeklärten Welt.

Haben Sie Wilhelm Meister auch nur in den Lehrjahren einmal ganz
gelesen? Es ist das nicht jedermanns Sache. Es verlangt Energie
und Beharrlichkeit. Und das liegt nicht bloß an der Wucht der
Gedanken. Seitenweise sind Sentenzen zusammengestellt, deren jede
einzelne angespanntestes Nachdenken fordert. Es liegt aber auch an
der Form und der Einkleidung des Romans. Gestehen wir es uns doch
offen, daß die geringfügige, magere Handlung unter den unzähligen
eingeschobenen Reflexionen fast erstickt. Da finden sich ausgesponnene
Selbstschilderungen wie die »Bekenntnisse einer schönen Seele«, da
breit wiedergegebene Unterhaltungen, die lediglich eine bestimmte
Ansicht entwickeln sollen, ob sie auch für den Gang des Ganzen wenig
oder nichts bedeute, da jene Sammlungen tiefsinniger Aussprüche,
die so ziemlich alle Lebensfragen in ihren Bereich ziehen. Das
Bischen Handlung, das wir herausschälen, ist wieder noch unendlich
verzettelt, dazu manchmal mehr als zufällig aufgereiht, ganz ohne
notwendigen äußeren Zusammenhang. Wilhelm Meister, eines Kaufmanns
Sohn, geht auf Geschäftsreisen aus, verliert aber den eigentlichen
Zweck seiner Sendung ganz aus dem Auge und läßt sich erst fast
willenlos, nachher halb absichtlich, von Erlebnis zu Erlebnis, von
Abenteuer zu Abenteuer, von Bekanntschaft zu Bekanntschaft, von Ort
zu Ort treiben. Erst bildet seine Umgebung eine Schauspielertruppe
mit mannigfachen und wechselnden Gestalten; dazu die geheimnisvollen
Erscheinungen Mignons und des alten Harfners. Neben seiner ersten
Angebeteten, Marianne, und neben der leichtfertigen Philine lernt er
in Aurelie eine leidvoll-ernste Frau kennen; und die ganz ohne äußeren
Zusammenhang eingeschalteten »Bekenntnisse einer schönen Seele« lassen
ihn in ein innig frommes, fast skrupulös gewissenhaftes Herz blicken.
Allerhand sonderbare Geschicke führen ihn in ein gräfliches Haus und
später für länger in adlige Kreise, zugleich zu einer großen Zahl
neuer, für ihn bedeutungsvoller Persönlichkeiten. In dieser Umgebung
gewinnt er endlich eine Lebensgefährtin in der zu diesen Kreisen
gehörigen Natalie.

Es ist nicht leicht, das Wirrwarr all dieser Erlebnisse zu sichten.
Das Ergebnis ist ja auch kein befriedigendes: äußerlich genommen ists
ein Labyrinth, durch das Goethe uns führt. Keine klare Entwickelung,
kein straffer Gang der Erzählung. Allerdings soll nach des Dichters
Absicht dies alles doch nicht wie zufällig sein. Vielmehr ist eine
geheimnisvolle Macht mit im Spiele, die sogenannte Gesellschaft des
Turms, die an dem Helden Interesse genommen hat und deren Glieder je
und je in bedeutungsvollen Augenblicken, meist als Größe X, in sein
Leben eingegriffen haben. Ihr Zweck war seine Bildung. Sie haben ihre
Absicht aber so verfolgt, wie der Grundsatz es eingab: »Nicht vor
Irrtum zu bewahren ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern
den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern
ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum
nur kostet, hält lange damit Haus, er freuet sich dessen als eines
seltenen Glücks; aber wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn kennen
lernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.«

Uns Heutigen kommt, wenn wir Wilhelm Meisters Irrwege betrachten,
nicht bloß die Frage, die ihm selber sich auf die Lippen drängt:

»Wenn so viele Menschen an dir teilnahmen, deinen Lebensweg kannten
und wußten, was darauf zu tun sei, warum führten sie dich nicht
strenger? warum nicht ernster? warum begünstigten sie deine Spiele,
anstatt dich davon wegzuführen?«, sondern uns erscheint dieses ganze
geheimnisvolle Walten der Gesellschaft vom Turm als in hohem Grade
sonderbar. Goethe hat damit eine Einkleidung des Romans gewählt, die
seiner Zeit nahe lag und vertraut war, die aber zu dem Gut seiner Zeit
gehörte, das am schnellsten veralten mußte. Jedenfalls bringt uns
diese die Vorsehung spielende Gesellschaft den Roman nicht näher.

Wenn Wilhelm Meisters Lehrjahre trotzdem einen hohen Wert als
Fundamentstein für den Bau des modernen deutschen Romans beanspruchen
können, so danken sie das dem tiefen und reichen Gedankenmaterial,
welches sie bergen. Wilhelm Meisters ~Bildungsgang~ ist ihr
Thema. Alles Einzelne, was er erlebt, auch jeder Irrtum, den er
begeht, dient seiner Bildung. In der Schauspielerzeit lernt er:
»Man soll sich vor einem Talente hüten, das man in Vollkommenheit
auszuüben nicht Hoffnung hat.« Aber er trägt auch anderen Gewinn
davon. Er hat gelernt die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen
haben kann. Auch äußerlich hat er sich ausgebildet: er hat »viel von
seiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt«, seine Sprache und Stimme
ausgebildet. Aber sein Bildungstrieb geht weiter. Ihm schwebt jene
»harmonische Ausbildung« vor, die ihm seine Geburt versagt zu haben
scheint, weil sie nach der herrschenden Verfassung der Gesellschaft
nur dem Edelmann, nicht dem Bürger zukommt. »Ein Bürger kann sich
Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden;
seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er
will.« Dem Edelmann dagegen ist eine gewisse allgemeine, personelle
Ausbildung möglich; »er darf überall vorwärts dringen, anstatt daß
dem Bürger nichts besser ansteht, als das reine, stille Gefühl der
Grenzlinie, die ihm gezogen ist.« Goethe läßt seinen Helden durch den
Umgang mit jenen Adelskreisen, schließlich durch die Heirat mit einer
Adligen in dieses Sperrgebiet harmonischer Ausbildung eindringen.
So gewinnt der Roman zugleich soziale Bedeutung; der dritte Stand,
der sich in der französischen Revolution so nachdrücklich in die
Weltgeschichte eingeführt hatte, pocht mit starker Hand an die ihm
bisher verschlossenen Pforten. Goethe öffnet ihm das Paradies der
Bildung; und in der schließlichen engen Verbindung des Bürgers-
und des Adelsstandes, einer Verbindung, die noch durch zwei andere
Ehebündnisse dokumentiert wird, läßt er in prophetischer Voraussicht
Schranken fallen, die vielen dazumal noch als unüberwindlich galten.

Neben diesen Grundgedanken ist in dem breiten Gedankenstrom der
Lehrjahre noch manches Tiefe und Wertvolle auf uns gekommen, teils
in engerem, teils in loserem Zusammenhang mit der Hauptidee. Ich
schätze diesen Reichtum des Werkes höher als etwa die Art seiner
Charakterschilderung. So sehr die bunte Reihe kaleidoskopartig
auftauchender und wieder verschwindender Figuren benützt wird, um
Wilhelm Meister zu bilden, -- klar und scharf herausgearbeitet sind
die wenigsten von ihnen. Ja es zeigt sich gerade in diesen Gestalten
ein ganz eigentümlicher Mangel an konkreter Darstellung. Mehr als
eine von ihnen ist sozusagen ohne Zusammenhang mit der umgebenden
Welt. Ihr Wesen wird nur in ein paar wichtigen Zügen der inneren Art
gezeichnet; alles andere bleibt im Dunkel. Der Mensch kann aber nicht
ortlos, zeitlos, geschichtslos geschildert werden. Infolgedessen
bleiben manche der Goetheschen Personen geradezu Gerüste, die mit
ein paar gerade erforderlichen Eigenschaften behängt sind. Die
Methode der Namengebung paßt ganz zu diesem Verfahren. Da kommt der
Graf, der Prinz, der Marchese; wo aber wirklich ein bestimmter Name
einem bestimmten Träger gegeben wird, bleibt es für gewöhnlich beim
Vornamen: Lothario, Friedrich, Marianne, Philine, Natalie usw.

All dies hängt aufs engste mit der Art zusammen, wie Goethe im Wilhelm
Meister bestimmte geschichtliche Einzeichnung in eine klar erkennbare
Zeit vermeidet. Seine Zeit ist natürlich die Zeit des Romans. Manche
Einzelheiten lassen das erkennen. Der prinzliche Heerführer ist z. B.
Prinz Heinrich von Preußen. Aber das sind Einzelheiten; und auch sie
geben nur zufällige Winke. Rings um die handelnden -- oder vielmehr
meist nicht handelnden -- Personen brauen wallende Nebel, wogt
ungewisses Dämmerlicht. Allenfalls die Theaterverhältnisse sind klarer
beschrieben; aber auch hier ist die Zeichnung nicht scharf. Nur in
Einem ist das Wesen der Zeit klar wiedergegeben: in Stimmungen und
Gedanken über die innersten Fragen menschlicher Charakterentwickelung,
wie das oben zu schildern versucht wurde. --

Ich darf »~Wilhelm Meisters Wanderjahre~« hierfüglich übergehen.
Sie sind nichts als eine Folge von Novellen; der einheitliche
Romancharakter fehlt ganz. Sie stehen noch viel mehr wie die Lehrjahre
im Banne des reinen, abstrakten Gedankens; und noch viel stärker
als in diesen verblaßt in den Wanderjahren alles Persönliche, alles
Konkret-Zeitliche, alles Individuelle. Liebhaber tiefer und feiner
Gedanken, die sich nicht scheuen, solche unter schwerverständlicher
Symbolik mühsam zu ergründen, finden selbstverständlich auch hier ihre
Rechnung. Aber ein Roman sind die Wanderjahre nicht. Dagegen muß an
dritter Stelle hier die Rede sein von den Wahlverwandtschaften, -- ob
man dies Werk nun als Novelle oder, wozu seine umfassende Anlage doch
wohl berechtigt, als Roman bezeichnet.

Auch die »~Wahlverwandtschaften~« zeigen, wieviel Goethe für
die erzählende Prosadichtung der ~Gedanke~ bedeutete. Auch
hier wieder die langen Unterhaltungen über allerhand allgemeine
Gegenstände. Auch hier die eingestreuten Sentenzen, in Bündel
gesammelt in den Abschnitten aus Ottiliens Tagebuche. Man hat den
Eindruck, daß Goethe vielmehr daran lag, diese wertvollen Gedanken und
feinen Aperçus unterzubringen, als eine bestimmte Handlung einheitlich
und geschlossen durchzuführen. Auch hier wieder jene undeutliche
Umzeichnung des Erzählungsgebiets, jene Zeit- und Geschichtslosigkeit
des Ganzen. Eduard ist ein reicher Baron. Aber wann? Und wo? Eduard
zieht in den Krieg. Aber in welchen? Endlich auch hier jene
Unpersönlichkeit mancher Persönlichkeiten, z. B. des lediglich nach
seiner Vermittelungsleidenschaft benannten Mittler, aber auch anderer:
des Grafen, der Baronesse, ja bis zu einem gewissen Grade selbst der
Hauptpersonen.

Auf der anderen Seite aber stehen für den Roman doch nicht bloß
eine große Zahl feiner Einzelgedanken und tiefsinniger Gespräche,
auch nicht allein die viel stärker hervortretende Kunst in der
Charakterisierung der wichtigsten Personen. Äußerlich genommen, fehlt,
wie angedeutet, manches, um sie zu klar umrissenen Persönlichkeiten
zu machen; aber ihr Inneres ist mit ganz anderer Kraft und Liebe
gezeichnet, als das von den Personen im Wilhelm Meister gelten
konnte. Genannt sei nur Ottilie, die mit feinster Seelenkunde und
mit wunderbarer Liebe geschildert ist. Wichtiger aber noch ist mir
an den »Wahlverwandtschaften«, wie in ihnen ~Gedanke und Handlung
zu einem Ganzen verschmolzen sind~. Die Handlung ist nicht mehr
die Gelegenheit, eine Reihe von Gedanken, die man sonst nicht gut
plazieren kann, auf gute Manier loszuwerden; sondern sie ist die
Durchführung des Gedankens selbst. Die Gedanken gehen nicht mehr neben
der Entwickelung her, sondern sie prägen sich in ihr aus. ~Die
Handlung ist der Ausdruck des Gedankens, der Gedanke die Seele der
Handlung.~ Damit ist der gewaltigste Schritt in der Entwickelung
des Romans getan.

Eduard und Charlotte, die sich erst in reiferem Alter, aber durchaus
infolge von Neigung und Liebe zur Ehe verbunden, leben auf stattlichem
Schlosse, beide mit der Absicht, allein für einander zu leben. Aber
sie gewähren bald noch zwei Nahestehenden die Teilnahme an ihrer
Häuslichkeit, dem Hauptmann und Ottilien. Charlotte hat dieser
Gewährung nicht ohne Bedenken zugestimmt. Und in der Tat: es kommt
hier mit den vier auf engem Raum vereinigten Menschen, wie es in
der Chemie mit verwandten Substanzen zu geschehen pflegt. Da sind
diejenigen Fälle des gegenseitigen Sichanziehens und Sichscheidens
die merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses
Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz wirklich darstellen
kann, wo vier, bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Berührung
gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue
verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen
und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man
traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu, und hält das
Kunstwort Wahlverwandtschaften für vollkommen gerechtfertigt.

Es kommt mir hier nicht darauf an, den Gang der Erzählung
wiederzugeben; dazu sind Goethes Dichtungen zu allgemein bekannt. Nur
das Problem, das der Roman behandelt, soll herausgestellt werden.
Es geschieht, was in dieser Beschreibung des chemischen Prozesses
angedeutet ist: Eduard faßt eine tiefe und erwiderte Neigung zu
Ottilie; und Charlotte und der Hauptmann finden sich gleichfalls in
gegenseitiger Liebe. Die weitere Entwickelung verläuft nicht ohne
Berücksichtigung der Eigenart jeder in Betracht kommenden Person.
Der Hauptmann und Charlotte wissen sich zu beherrschen; nicht
ebenso Eduard und Ottilie. Eduard entbrennt zu heftiger, auch durch
lange Entfernung nicht gemilderter Leidenschaft. Ottilie ihrerseits
verzichtet erst, nachdem Eduards und Charlottes ihr anvertrautes Kind
nicht ohne ihre Schuld den Tod gefunden hat, das Kind, das durch
seine Gesichtszüge der Zeuge der Liebe ist, die jedes der Eltern, die
ihm sein Leben gegeben, für einen andern als den Ehegatten gefühlt.
Eduard, völlig haltlos seiner Leidenschaft hingegeben, geht an ihr
zugrunde. Das Problem hat seine Lösung gefunden. Die Menschen haben
Wahlverwandtschaft gefühlt, wie jene chemischen Substanzen sie haben.
Aber sie haben sich nicht willenlos wie diese verhalten. Wenn auch
durch unendlich viel Weh hindurch, -- die ursprüngliche, durch die
Ehe gegebene Gemeinschaft ist aufrecht erhalten. Das ist die völlig
einheitliche, in allen Verwickelungen klar durchgeführte Absicht:
die Heiligkeit, die Unlösbarkeit der geschlossenen Ehe soll gezeigt
werden. Und -- vom Wert dieser These hier gar nicht zu reden -- die
Konsequenz, mit welcher dieses eine Thema behandelt wird, und zwar
nicht nur disputatorisch und abstrakt, sondern wie die Geschehnisse
selbst es behandeln, -- diese Art macht die Wahlverwandtschaften zum
ersten Roman, der -- obschon mit manchen Schwächen -- der Idee des
Romans voll entspricht. Sie gestaltet ihn zu einem einheitlichen,
in der Handlung selbst und nach den scharf erfaßten Gesetzen
seelischer Anlagen das Leben abbildenden und die Gedanken des Lebens
wiedergebenden Kunstwerk. --

Lassen Sie mich, nachdem ich die drei Hauptwerke Goethes auf dem
Gebiete der erzählenden Dichtung in Kürze gewürdigt habe, mit ein
paar Sätzen zusammenfassend die ~Bedeutung Goethes für den modernen
deutschen Roman~ skizzieren!

Diese Bedeutung beruht ~zunächst~ auf der tiefen ~psychologischen
Kraft~, mit welcher Goethe Menschen seiner Zeit erfaßt und dargestellt
hat. Was seinen Romanen auch auf dem Gebiete der Psychologie
Unbefriedigendes anhaftet, ist genügend erwähnt. Aber die Tatsache wird
davon nicht berührt, daß ~er der Erste war, der es verstand, Menschen
bis in die Tiefe der Seele zu schauen~. Was ist hier Wieland gegen
Goethe? Ein Stümper gegenüber dem Meister. Wie bleibt bei Wieland, auch
in seinem Agathon, jeder psychologische Ansatz auf der allerobersten
Oberfläche! Und wie tief greift der Werther! Wie tief auch die
Wahlverwandtschaften, ja in vielem auch Wilhelm Meister! Es bleibt ja
dabei, daß wir auch von ihm keine allseitig ausgeführten, nach den
mannigfachen Verzweigungen menschlicher Interessen hin weitergeführten
Charakterbilder erhalten. Die psychologische Kraft konzentriert sich
stets nur auf ein enges Gebiet: im »Werther« auf die wahnsinnige
Leidenschaft des Mannes zum Weibe, im »Meister« auf das Streben eines
glücklich beanlagten Bürgerlichen nach der harmonischen Ausbildung
seiner ganzen Persönlichkeit, in den »Wahlverwandtschaften« auf die
gegenseitigen Beziehungen der durch Ehe oder Wahlverwandtschaft mit
einander verbundenen Personen. Aber in dieser Beschränkung bewundern
wir den ungeheuren Reichtum, die fein pointierte Einzelkraft seiner
psychologischen Wiedergabe.

~Zum andern~ muß trotz aller Einwendungen, die erhoben wurden,
doch gelten, daß Goethe auch in der ~Art, wie seine Romane zum
Zeitbild werden~, alle Vorgänger weit hinter sich gelassen hat.
Allerdings, man wird es ja so, wie geschehen, formulieren müssen. Sie
~wollen~ kaum ein Zeitbild sein; sie ~werden~ es nur. Hätten
sie es gewollt, sie würden den Leser ganz anders in die Welt Goethes
eingeführt haben, als sie es tun. Goethe hat diese Aufgabe dem Roman
nicht klar gestellt. Trotzdem hat er dieselbe wenigstens angefaßt.
Wir sahen, wie der »Werther« in die sozialen und in die moralischen
Stimmungen der Zeit hineinleuchtet. Wir sahen, wie »Wilhelm Meister«
nicht etwa bloß die Theaterverhältnisse beschreibt, sondern wie er
die gesamte aufstrebende Bildungssehnsucht des deutschen Bürgers
samt den ihn begegnenden Hindernissen versinnbildlichte. Und auch
die »Wahlverwandtschaften« lösen ein Zeitproblem: die Ehe und den
Ehebruch. Und daß so nicht irgendwelche erkünstelte Altertümelei,
sondern einfach das Wesen der Zeit seine Prosaschöpfungen beseelt, das
hat ihnen weitreichende Wirkung verschafft.

~Endlich~ -- indem ich von der Fülle trefflicher Gedanken,
welche Goethes Romane bergen, hier nicht nochmals besonders rede
-- beruht Goethes Bedeutung für den modernen deutschen Roman auf
der ~Kunst, mit welcher er durch die Entwickelung der Handlung
selbst zu reden weiß~. Handlung ohne Gedanken hat auch der
Schauerroman, Gedanken ohne Handlung bilden gar keinen Roman; und
eine Handlung, in die Gedanken gesprächsweise lose eingefügt sind,
schafft ein Zwitterwesen, aber kein Kunstwerk. Der »Werther« und
vor allem die »Wahlverwandtschaften« haben alle diese Klippen
-- im ganzen genommen -- überwunden. Hier haben die Handlungen
selber Gedanken. Und indem die Handlung zugleich den Gesetzen des
psychologischen Geschehens folgt, verlieren auch die Gedanken den
Charakter des Zufällig-Herangebrachten. Hier, vor allem in den
»Wahlverwandtschaften«, haben wir ein, wenn auch nicht vollkommenes,
aber doch meisterhaftes Vorbild für die eigentliche Kunstform des
modernen Romans.

Wir haben von Goethe selbst einige Äußerungen theoretischer Art über
das Wesen des Romans. Im »Werther« sagt Lotte:

»... Der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde,
bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so
interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das
freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher
Glückseligkeit ist.«

Und im »Wilhelm Meister« vergleicht er Roman und Drama:

»Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. Der
Unterschied beider Dichtungsarten liegt nicht bloß in der äußeren
Form ... Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten
vorgestellt werden, im Drama Charaktere und Taten. Der Roman muß
langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sei auf
welche Weise es wolle, das Vordringen des Ganzen zur Entwickelung
aufhalten. ... Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht in hohem
Grade wirkend sein; von dem Dramatischen verlangt man Wirkung und Tat
....«

Es ist deutlich, daß diese Bestimmungen wertvolle Elemente für die
Erkenntnis des Wesens des Romans enthalten. Bis zu einem gewissen
Grad stellt der Leser mit Recht den Anspruch, im Roman seine Welt
wiederzufinden. Wenn es im Roman so »zugeht wie um mich«, so ist
damit ein gut Teil Realistik, ein ernstes Stück Wirklichkeitskraft
verlangt. Und daß der Roman Gesinnungen und Begebenheiten darstelle,
trifft gleichfalls zu. Aber gerade diese letzte Definition bedarf
der Korrektur. Es darf kein Gegensatz konstruiert werden zwischen
Gesinnungen und Begebenheiten einerseits, Charakteren und Taten
anderseits. Gesinnung und Charakter gehören so gut zusammen wie
Begebenheiten und Taten. Wenn der Romanheld wirklich leidend sein
müßte, dann kämen allerdings dem Roman nur Begebenheiten zu, nicht
Taten. Aber er muß handeln ~und~ leiden, wie das Leben handeln
und leiden läßt. Übrigens sind die Wahlverwandtschaften bereits
über den Rahmen dieses Programms hinausgegangen; es sind doch schon
Charaktere und in gewissem Sinne auch Taten, die hier den Handelnden
beigelegt werden. Nicht auf diesen Sätzen über den Roman, sondern auf
den Schöpfungen selbst ruht Goethes Bedeutung.

Daß Goethe seinerseits auf Vorgängern fußte, will ich hier nur
andeuten. Die »+Nouvelle Héloise+« Rousseaus ist das Vorbild des
Werther gewesen: es sollte nicht das letzte Mal sein, daß französische
Romandichtung die deutsche beeinflußte. Aber was in Goethes Romanen
wirkte, das ist doch eben von ihm selber hineingelegt gewesen. Und sie
haben gewirkt! »Werther« hat eine ganze Literatur an Streitschriften
wie an Nachahmungen hervorgerufen. »Wilhelm Meister« ist bahnbrechend
geworden für den vielgepflegten Bildungsroman des 19. Jahrhunderts,
dem er geradezu das Schema geschaffen hat. Aber es sind nicht bloß
diese direkten, augenfälligen Wirkungen gewesen, welche von Goethes
Romandichtung ausgegangen sind. Nein, in alledem, was als die Kraft
dieser seiner Dichtung bezeichnet wurde, hat er Spätere tief und
nachhaltig beeinflußt: ~in der Tiefe der psychologischen Einsicht,
in der unbeirrten Wiedergabe des Zeitempfindens, in der Kunst, welche
Handlung und Gedanken in eins schuf. Durch all dies ward Goethe der
Schöpfer des modernen deutschen Romans.~




                   Roman und Novelle der Romantik.


Goethe ist der Schöpfer des modernen deutschen Romans. Der Gesamtlauf
des 19. Jahrhunderts bestätigt diesen Satz. Der Anfang des 19.
Jahrhunderts allein kann ihn nicht erschüttern.

Merkwürdig allerdings, daß die ersten Jahrzehnte desselben
unmittelbar nach Goethes großen Romanen, ja unter seinen Augen eine
Prosadichtung heranwachsen lassen, deren innerstes Wesen von jener
Wirklichkeitskraft Goethes, die das eigentliche Schöpferisch-Neue in
seinen Romanen bildet, so gut wie unberührt war! Spuren Goethescher
Einwirkung findet man freilich auch in den Romanen und Novellen
der Romantik. ~Novalis~ »Heinrich von Ofterdingen« behandelt
wie »Wilhelm Meisters Lehrjahre« eine Bildungs-Entwickelung,
~Schlegels~ »Lucinde« gibt gleichfalls eine Art Lehrjahre. Aber
nicht die abgeklärte psychologische Kraft aus »Wilhelm Meister«
finden wir hier wieder, -- vielmehr eher das, was den »Werther«
gegenüber allem Späteren als ein Werk jugendlichen Sturmes und Dranges
kennzeichnet: den Überschwang, die Maßlosigkeit, die Krankhaftigkeit
der Gefühle. Es war mehr die Form, die Leitidee, die man Goethe
entnahm; sein Geist war in der Romantik nicht lebendig.

Viel eher kann man in den romantischen Erzählungen die Nachwirkungen
eines Anderen, dazumal Hochgefeierten und doch sehr viel Kleineren
spüren, des unendlich fruchtbaren ~Jean Paul~. Er ist 1825
gestorben; aber seine Zeit ist die des 18. Jahrhunderts, dessen Ende
die Entstehung seiner bedeutendsten Romane sah. Erwarten Sie hier
keine ausführliche Darlegung über seinen »Titan«, seinen »Siebenkäs«
oder seine »Flegeljahre«! Sie gehören alle zusammen dem zu Grabe
gegangenen Zeitalter an. Ich leugne nicht, daß in ihnen Tiefes,
Schönes, Ergreifendes steht. Ich leugne noch weniger, daß zahlreiche
Unterhaltungsschriftsteller, die sich im Übrigen ganz der modernen
Schule zurechnen, in ihrem ganzen Leben auch nicht einen einzigen
Gedanken von der Tiefe und der Anmut aufgebracht haben, welche
unzählige Stellen in Jean Pauls Romanen aufweisen. Vielleicht schlagen
Sie einmal das 58. Kapitel der »Flegeljahre« auf, das den Titel
»Erinnerungen« führt:

»Ich möchte wohl Tage lang über die kleinen Frühlingsblümchen der
ersten Lebenszeit reden und hören. Im Alter, wo man ohnehin ein
zweites Kind ist, dürfte man sich gewiß erlauben, ein erstes zu sein
und lange zurückzuschauen ins Lebens-Frührot hinein. Da offenbar'
ichs gern, daß ich mir höhere Wesen, z. B. Engel, ordentlich weniger
selig aus Mangel an Kindheit denken kann, wiewohl Gott vielleicht
keinem Wesen irgend eine Kindheits- oder Vergißmeinnichtszeit mag
abgeschlagen haben, da sogar Jesus selber ein Kind war bei seiner
Geburt. Besteht denn nicht das gute Kinderleben nur aus Lust und
Hoffnung, Bruder, und die Frühregen der Tränen fliegen darüber nur
flüchtig hin?« -- -- --

Aber bei allem Tiefen und Feinen und Zarten, das in diesen Romanen
steckt, fehlt ihnen doch ein wichtiges Erfordernis gerade des
Romans: Klarheit und Schärfe in der Erfassung und in der Darstellung
des wirklichen Lebens. Charakteristische Streiflichter, treffende
satirische Bemerkungen, brillante Humoristika, auch einmal frappante
Zeichnungen irgend welcher Originalfiguren, -- das alles haben sie.
Aber eben dies alles bleibt eine Summe von beigegebenen Einzelheiten.
Die Kraft des Ganzen ist Gemüt und Geist, aber nicht Wahrheit. Tausend
Lichter und Schatten huschen über die ruhige, klare, nüchterne
Menschenwelt. Warum sie sehen, wenn die Beleuchtung die objektivste
Betrachtung ermöglicht? Warum nicht lieber, wenn die Dämmerung die
Umrisse etwas gefälliger macht oder wenn Nacht und Mond das Nüchterne
phantastischer gestalten? Warum Interesse nehmen am Gewöhnlichen,
Alltäglichen und nicht lieber am Besonderen, Seltenen, Sonderbaren, --
und wenn es gleich verschroben wäre? Warum die Menschen sehen, wie sie
dem Auge sich bieten? Warum nicht lieber aus ihrer Seele verborgensten
Winkeln ihre Merkwürdigkeiten herausholen? -- Und endlich hat
Jean Paul noch eins nie verstanden: nämlich warum der Dichter die
prosaische Pflicht haben solle, einfach nach der Ordnung der Dinge
in Reih und Glied zu erzählen. Ihm paßt es viel besser, Ruhepunkte
einzuschieben, die zu beschaulichen Betrachtungen Gelegenheit geben,
Seitensprünge zu machen, die angenehme Abwechslung bringen. Aber was
bei alledem herauskommt, das ist schließlich eine seltsame Mischung
von ein wenig Wahrheit mit viel Dichtung, von wenig Zusammenhang
und vielen einzelnen Schönheiten, von manchem Natürlichen und
unendlich viel Schrulligem, von Ernst und Humor, von Wirklichkeit und
Phantastik. Weltbilder, Menschenbilder geben diese Romane nicht, nur
ein Bild einer reichen, tiefen, wennschon seltsamen Seele, nämlich der
des Verfassers.

Dieses Mannes Einfluß auf seine Zeitgenossen ist nicht zu
unterschätzen. In ~Börne's~ Denkrede nach seinem Tod hieß es:
»Fragt ihr, wo er geboren, wo er gelebt, wo seine Asche ruhe? Vom
Himmel ist er gekommen, aus der Erde hat er gewohnt, unser Herz
ist sein Grab.« Kein Wunder, daß auch die Dichtkunst sich von ihm
bestimmen ließ. In manchem Phantastischen und Bizarren, in manchem
Poetisch-Feinen, vor allem aber in der Unbesorgtheit um die wirkliche
Welt, wie die romantische Schule sie zeigt, erkennen wir -- bei aller
sonstigen Eigenart Jean Pauls -- doch eben Geist von seinem Geist.

Die ~Romantik~ war es, welche in den ersten Jahrzehnten des 19.
Jahrhunderts auch Roman und Novelle weithin beherrscht hat. Was ist
die Romantik? Eine Stimmung, die überall sein kann, nur da nicht,
wo scharfes, helles Licht die Dinge in ihrem Wirklichkeitsbestand
zu sehen zwingt. Aber sie gedeiht, wo Helldunkel herrscht, wo das
Licht einen farbigen, milderen Ton bekommt, wo die Sonnenstrahlen nur
durch dichtes Strauchwerk spärlichen Schein werfen können, wo hohe
Kirchenfenster ihnen eine feierliche Weihe geben. Und noch besser
wächst sie empor, wo Dämmerung herrscht, wo die Schatten der dunkeln
Nacht zu regieren beginnen. Es ist klar, wo diese Stimmung ihre Feinde
sucht. Der klare Geist, der denkende Geist, der philosophische Geist,
der protestantische Geist sind ihr fremd; aber dem poetischen Zauber,
der Welt des Traums, dem katholischen Kultus, dem Wunder ist sie hold.

Diejenige dichterische Schule, der man den Namen der romantischen zu
geben pflegt, ist in Roman, Erzählung und Novelle fruchtbar genug
gewesen. Hier soll keine Registratur von Namen und Titeln ihren Platz
finden. Aber an ~Novalis~, ~Friedrich von Schlegel~ und ~Ludwig Tieck~,
an ~Eichendorff~ und ~Brentano~, an ~Friedrich de la Motte-Fouqué~ und
~Kleist~ muß wenigstens in Kürze erinnert werden. Einiger bedeutenderer
Werke aus dieser Zeit und von dieser Art wird im Folgenden besondere
Erwähnung getan werden. Denn wie läßt sich das, was die Romantik auf
diesem Gebiet geschaffen, besser darstellen als durch die Einführung in
einige ihrer charakteristischen Werke? Wie lassen sich die wunderbar
mannigfaltigen Arten dieser Gattung klarer überschauen, als wenn man
versucht, die wichtigsten derselben wenigstens in ~einer~ Dichtung zu
erfassen?

Im Roman der Romantik regiert die Stimmung des ~Dichters~. Und
zwar des Dichters im besonderen, eigentümlichsten Sinn. Manche können
Dichter und Träumer nicht unterscheiden; soweit die Romantik in Frage
kommt, haben sie Recht. So ists denn kein Zufall, daß der einzige
Roman des gefeierten ~Novalis~, der unvollendet gebliebene
»~Heinrich von Ofterdingen~«, eine Dichtung über den Dichter
ist. Novalis hat nach Ludwig Tiecks Bericht noch sechs andere Romane
schreiben wollen, um darin seine Ansichten über Physik, bürgerliches
Leben, Handlung (d. h. Handel), Geschichte, Politik und Liebe
niederzulegen, so wie in Heinrich von Ofterdingen die über Poesie. Mit
der Poesie begann er; sie lag ihm am nächsten.

Im Mittelpunkt des Romans steht der bekannte mittelalterliche
Minnesänger Heinrich von Ofterdingen. Aber Novalis hat sich weder
genau an die Person noch an die Zeit desselben gehalten. Er läßt
Heinrich als eines Handwerkers Sohn zu Eisenach geboren sein. Der
Jüngling reist mit der Mutter nach Augsburg ins großväterliche Haus.
Die Reisegesellschaft bilden Kaufleute, die das gleiche Ziel haben.
Unterwegs machen die Reisenden die Bekanntschaft eines Bergmanns, der
sie in eine mächtige Höhle führt. In dieser Höhle findet man Friedrich
von Hohenzollern als Einsiedler hausen. Die Reise wird fortgesetzt;
in Augsburg lernt Heinrich den Dichter Klingsohr und seine Tochter
Mathilde kennen. Mit der Verbindung Heinrichs mit Mathilde schließt
der erste Teil: »Die Erwartung«. Im zweiten Teil, der den Titel
»Die Erfüllung« tragen sollte, wird Heinrich in einem Kloster von
den Priestern des heiligen Feuers in jungen Gemütern über Tod und
Magie unterwiesen; dann befindet er sich in Italien im Krieg, in
Griechenland in Gesprächen über Kunst und Moral, im Morgenland, wo er
dessen Leben in Vergangenheit und Gegenwart kennen lernt, in Rom,
in Deutschland am Hof Kaiser Friedrichs. Nach wunderbarem Wettgesang
erlebt er seine Verklärung.

So arm an Handlung der erste Teil ist, so reich an Abwechslung
sollte danach der zweite werden. An Abwechslung, aber auch er nicht
an Handlung. Verschiedene Schauplätze, aber an jedem nicht viel
anderes als Gespräche, Märchen, Sagen, Phantasien. Die Ausführung
wäre gewiß in derselben Art gehalten worden wie in dem fertig
gestellten Bruchstück. Dessen Charakter ist freilich ausgeprägt
genug. Seine Welt ist die Wunderwelt. Die Gesetze des Geschehens
existieren in ihr nicht. Die auftretenden Personen kommen gar nicht
als Personen in Betracht, geschweige denn als besondere, individuelle
Menschen; sie sind nichts als das Sprachrohr für sinnvolle Märchen,
tiefe Belehrungen. Es werden auch nicht etwa die gleichen Personen
festgehalten, sondern sie kommen und gehen, ja sie selbst sind
urplötzlich wieder andere Personen. Novalis lebt in der Welt des
Traums, des phantastischen Märchens. Seine einzige Absicht ist, »das
eigentliche Wesen der Poesie auszusprechen und ihre innerste Absicht
zu erklären«. Ihm wandelt sich alles in Poesie; denn sie ist der
Geist, der alle Dinge belebt. Eben in diesem Wesen der Poesie liegt
es ihm beschlossen, daß in seiner Dichtung Zeit und Raum aufhören.
~Tieck~, dessen Worte ich eben schon mehrfach benützt habe, weiß
diese Denkart trefflich zu schildern:

»Dem Dichter, welcher das Wesen seiner Kunst im Mittelpunkt ergriffen
hat, erscheint nichts widersprechend und fremd, ihm sind die Rätsel
gelöst, durch die Magie der Phantasie kann er alle Zeitalter und
Welten verknüpfen, die Wunder verschwinden und alles verwandelt sich
in Wunder.«

Das, was der erste Teil dieses wirklich wunderbaren Romans gibt,
ist nun freilich von gewaltiger dichterischer Schönheit. Gleich im
Eingang wird ein Traum berichtet, dessen Verlauf für die Entwicklung
des Romans bedeutsam ist; Heinrich schaut in ihm die blaue Blume der
wirklichen Dichtung. Erst durchlebte er im Traum ein unendlich buntes
Leben, starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft und
war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt. Endlich gegen
Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner
Seele; klarer und bleibender wurden die Bilder ... Nach wunderbaren
Wegen kommt er endlich zur Stätte der blauen Blume.

»Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger
Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als
das gewöhnliche; der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn
aber mit voller Macht anzog, war eine hohe, lichtblaue Blume, die
zunächst an der Quelle stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden
Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von
allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah
nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer
Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal
sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender
und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich
nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten
Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte.«

Diese blaue Blume, die Poesie, bildet das Ziel der Gesamtentwicklung
des Dichters. Am letzten Ende kommt Heinrich »in jenes wunderbare
Land, in welchem Luft und Wasser, Blumen und Tiere von ganz
verschiedener Art sind, als in unserer irdischen Natur.« »Menschen,
Tiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Elemente, Töne, Farben kommen
zusammen wie Eine Familie, handeln und sprechen wie Ein Geschlecht.
-- Blumen und Tiere sprechen über den Menschen. -- Die Märchenwelt
wird ganz sichtbar, die wirkliche Welt selbst wird wie ein Märchen
angesehen.« In diesem Land findet Heinrich die blaue Blume, --
freilich nicht ohne daß nun an diese Blume Allegorie um Allegorie
sich anschließen. Die blaue Blume ist »Mathilde, die schläft und den
Karfunkel hat; ein kleines Mädchen, sein und Mathildens Kind, sitzt
bei einem Sarge und verjüngt ihn. -- Dieses Kind ist die Urwelt, die
goldene Zeit am Ende.«

Eine Probe dichterischer Schöpfungskraft ist dieser Traum von der
blauen Blume; eine Probe wunderbar in Phantastik und Allegoristik
verschwimmender Darstellung ist die Erzählung von der Auffindung
dieser blauen Blume, wie sie eben kurz angedeutet ward. Das ist ja
eben das Wesen des ganzen Fragments: ~dichterische Herrlichkeit,
vermählt mit märchenhafter Unmöglichkeit~. Im Sinne des Dichters
ist diese Vermählung natürlich; ihm liegt die Poesie weit hinaus über
die Welt des Wirklichen. Im Sinne der Romantik ist diese Verbindung
verständlich; Novalis hat die romantische Art nur bis zur äußersten
Spitze getrieben. Alles Wirkliche, alles Tatsächliche liegt hinter
ihm in wesenlosem Scheine. Wir aber fragen, ob wirklich Poesie
und Märchenwelt untrennbar verbunden sind, ob der Haß gegen die
Tatsachen, der in dieser Liebe für das Wunderbare beschlossen ist, zum
eigentlichen Wesen der Poesie gehört. Vor allem aber ist der »Heinrich
von Ofterdingen« durch diesen Haß alles andere als ein Roman geworden.
Nichts von Welt und Zeit, nichts von Handlung und Empfindung, nichts
von Entwicklung und Psychologie. ~Der gefeiertste Roman der Romantik
ist ein mystisch-allegorisches Märchenwerk, aber nun und nimmer ein
Roman.~

Was für ein anderes Leben in einer weiteren Schöpfung der Romantik,
die gerade des Gegensatzes wegen unmittelbar neben den »Heinrich
von Ofterdingen« gestellt sein mag, -- in ~Joseph Freiherrn
von Eichendorffs~ reizender Novelle »~Aus dem Leben eines
Taugenichts~«. Dort alles ernste, tiefe, getragene Poesie; hier
alles frische, fröhliche, muntere Laune. Das Rad an der Mühle braust
und rauscht lustig, die Goldammer am Fenster ruft gleichfalls lustig:
»Bauer, behalt deinen Dienst!« und der Müllerssohn zieht mit seiner
Geige und ein paar Groschen Geld zufrieden in die weite Welt hinaus.

  »Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
  Den schickt er in die weite Welt,
  Dem will er seine Wunder weisen
  In Berg und Wald und Strom und Feld!«

Was erlebt der Wandersmann nicht alles in der weiten Welt! Ein paar
schöne Damen heißen ihn auf ihrer Kutsche aufsitzen; im Schlosse,
da sie wohnen, wird er Gärtner und huldigt der »schönen gnädigen
Frau«; und die gnädige Frau nimmt seine Huldigung an. Er avanciert
zum Zolleinnehmer und führt ein Leben in Nichtstun und Verehrung der
»schönen gnädigen Frau«. Bis er seine Angebetete einst an der Seite
eines jungen Herrn auf des Schlosses Balkon erscheinen sieht. Da läßt
er alle Bequemlichkeit im Stich und zieht wieder mit der Fiedel ins
Land. Er kommt nach Italien und in ein schönes Schloß und wird dort
gehegt und gepflegt und entflieht wieder, weil er eingesperrt wird,
und kommt nach Rom und glaubt seine »schöne gnädige Frau« zu sehen und
findet sie doch nicht. Aber auf eine Botschaft hin kehrt er zu jenem
ersten Schloß bei Wien zurück und erhält die Hand der gnädigen Frau,
-- nur daß sie keine Gräfin ist, wie er geglaubt, sondern die Nichte
des Portiers. Aber was tut das? Sie lassen die ganze andere Welt um
sich untergehn und haben sich lieb und alles, alles ist gut! Durch die
ganze Erzählung hindurch ists ja von Abenteuer zu Abenteuer gegangen;
der Taugenichts ist von Ort zu Ort und von Land zu Land gekommen und
hat nicht gewußt, wie ihm geschah und der Leser hats ebenso wenig
gewußt. Nur eins hat er gemerkt, daß es auf jeder Seite klingt wie
Lieb und Lust, wie Jubel und Jauchzen, wie Lerchenzwitschern und
wunderbar schöner Gesang. Und das hat er gelernt, daß es dem Dichter
nicht darauf ankommt, ein Stückchen zu berichten, wie es geschehen
sein könnte oder etwa noch einmal vor sich gehen möchte, sondern daß
ihm die Laune die Feder geführt und der Übermut in allen Fingern
gezuckt hat, weil er -- ob noch so wunderlich und noch so toll -- dies
allein zeigen wollte:

»Die Liebe -- darüber sind nun alle Gelehrten einig -- ist eine der
kouragiösesten Eigenschaften des menschlichen Herzens, die Bastionen
von Rang und Stand schmettert sie mit einem Feuerblicke darnieder,
die Welt ist ihr zu eng und die Ewigkeit zu kurz. Ja, sie ist
eigentlich ein Poetenmantel, den jeder Phantast einmal in der kalten
Welt umnimmt, um nach Arkadien auszuwandern. Und je entfernter zwei
getrennte Verliebte von einander wandern, in desto anständigeren Bogen
bläst der Reisewind den schillernden Mantel hinter ihnen auf, desto
kühner und überraschender entwickelt sich der Faltenwurf, desto länger
und länger wächst der Talar den Liebenden hinten nach, so daß ein
Neutraler nicht über Land gehen kann, ohne unversehens auf ein paar
solche Schleppen zu treten.«

Nun, was Eichendorff gewollt, das ist ihm trefflich gelungen. Wer
zieht nicht gern mit dem Taugenichts in die Welt? Wer singt nicht mit
ihm aus vollem Herzen:

  »Die Bächlein von den Bergen springen,
  Die Lerchen schwirren hoch vor Lust,
  Was sollt' ich nicht mit ihnen singen
  Aus voller Kehl' und frischer Brust?«

Wem wendet sich nicht das Herz um, wenn die allerschönste Dame die
Gitarre in den weißen Arm nimmt und dazu so wundersam über den Garten
hinaus singt? Wer möchte nicht mit dem Taugenichts weinen, weil
~sie~ so schön ist und er so arm und verspottet und verlassen
von der Welt? Wer säße nicht gern mit ihm auf dem Bänkchen vor seinem
Einnehmerhaus, wenn die Sonne eben untergeht und das ganze Land
mit Glanz und Schimmer bedeckt und die Donau sich prächtig wie von
lauter Gold und Feuer in die weite Ferne schlängelt und von allen
Bergen bis tief ins Land hinein die Winzer singen und jauchzen? Und
so folgen wir ihm willig auch weiter, und kein Abenteuer ist uns zu
sonderbar und kein Rätsel zu toll; es ist eben ein Dichter von Gottes
Gnaden, der uns ins Wunderland führt. Es bedarf ordentlich erst
des Zwanges der Selbstbesinnung, um von dem holden Traum, den wir
mitgeträumt, zu erwachen. Ists nicht besser, weiter zu träumen -- ins
Unendliche hinein? Hat die Dichtung nicht ihre Aufgabe gelöst, wenn
sie uns die harte Wirklichkeit vergessen lehrt? Für die Romantiker:
ja. Von ihrem Standpunkt aus bedeutet die liebenswürdige Novelle
Eichendorffs einen Wurf von hoher Vollendung. Für uns andere aber
beginnt mit dem Erwachen auch die harte Pflicht des Zweifels. Nicht
etwa des Zweifels an der poetischen Schönheit und Lieblichkeit. Aber
des Zweifels, ob ein Werk den Namen Novelle mit Recht trage, welches
vielmehr ein Märchen ist denn eine Erzählung. Es bedarf ja keines
weiteren Wortes darüber: von der wirklichen Welt, in der wir leben,
führt uns Eichendorffs lustige Laune gerade so weit ab wie Novalis
mystische Allegorienfreude. Und wenn man der erzählenden Dichtung,
dem Roman wie der Novelle, das Gebiet der wirklichen Welt zuweist,
mit der Bestimmung, sie mit dichterischer Kunst zu durchdringen und
darzustellen, dann liegt auch Eichendorffs »Aus dem Leben eines
Taugenichts« weit, weit ab vom klar gezeichneten Wege.

Es ist nicht möglich, ein vollständiges Bild der romantischen
Prosadichtung zu geben, ohne in die Schilderung wenigstens eine
knappe Skizze von ~Friedrich von Schlegels~ »~Lucinde~«
aufzunehmen. Diese Sammlung von Fragmenten zu einem Roman hat zu
viel Anlaß zu Streit und Widerstreit, zu Begeisterung und deutlicher
Ablehnung gegeben, sie ist zugleich allzu charakteristisch für weite
und breite Strömungen innerhalb der romantisch gestimmten Kreise,
als daß sie hier übergangen werden könnte. ~Schleiermacher~ hat
einst, bald nach ihrem 1799 erfolgten Erscheinen, in »Vertrauten
Briefen über Schlegels Lucinde« sie ein »ernstes, würdiges und
tugendhaftes Werk« genannt. Aber auch ~Schleiermacher~ stand
damals im Bann der Romantik; und sein Urteil war kein objektives.
Max ~Koch~ nennt das Buch sehr treffend eine »kraft- und
formlose Empfehlung der freien Liebe«. Aber lassen wir das Urteil
vom Standpunkt der Moral einmal ganz beiseit, wie wir auch bisher
nicht den Maßstab bestimmter Anschauungen angelegt haben! Was ists
eigentlich um die »Lucinde«?

Eine Reihe von äußerlich nicht zusammenhängenden Skizzen zieht am
Leser vorüber; gemeinsam ist ihnen der Titel: Bekenntnisse eines
Ungeschickten. Es sind Briefe, Phantasien, eine »Allegorie von der
Frechheit«, eine »Idylle über den Müßiggang«, Betrachtungen und,
unter dem Titel »Lehrjahre der Männlichkeit«, eine zusammenhängende
Schilderung. Julius ist der Held derselben. Ein völlig zerrütteter,
haltloser, dekadenter Charakter. »Eine Liebe ohne Gegenstand brannte
in ihm und zerrüttete sein Inneres. Bei dem geringsten Anlaß brachen
die Flammen der Leidenschaft aus; aber bald schien diese aus Stolz
oder aus Eigensinn ihren Gegenstand selbst zu verschmähen, und wandte
sich mit verdoppeltem Grimm zurück in sich und auf ihn, um da am Mark
des Herzens zu zehren.« »Es war ihm, als wollte er eine Welt umarmen
und könne nichts greifen. Und so verwilderte er denn immer mehr und
mehr aus unbefriedigter Sehnsucht, ward sinnlich aus Verzweiflung am
Geistigen, beging unkluge Handlungen aus Trotz gegen das Schicksal
und war wirklich mit einer Art von Treuherzigkeit unsittlich.« Die
Art, wie er liebt, bildet den Stoff der weiteren Erzählung. Er liebt
ein edles Mädchen, aber er kommt in dem Augenblick zur Besinnung, wo
er den Blütenkranz der Unschuld mutwillig hatte zerreißen wollen. Er
wirft sich an ein Weib weg, das am freiesten lebt und am meisten in
der guten Gesellschaft glänzt. Als er mit ihr bricht, gibt sie sich
den Tod. Er findet zuletzt in Lucinde eine gleichgestimmte Seele.
»Lucinde hatte einen entschiedenen Hang zum Romantischen, er fühlte
sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeckte immer
mehrere. Auch sie war von denen, die nicht in der gemeinen Welt
leben, sondern in einer eignen, selbstgedachten und selbstgebildeten.
Nur was sie von Herzen liebte und ehrte, war in der Tat wirklich
für sie, alles andere nichts; und sie wußte, was Wert hat. Auch sie
hatte mit kühner Entschlossenheit alle Rücksichten und alle Bande
zerrissen und lebte völlig frei und unabhängig.« Beide finden sich
in schrankenloser, nun aber dauernder Liebe, deren Beschreibung auch
in den Briefen und Skizzen immer wieder den Grundton abgibt. Sie
sammeln um sich eine Zahl Ähnlichdenkender, eine freie Gesellschaft
oder eine große Familie. Aber die volle Harmonie findet Julius auch in
der Anregung seines Geistes »allein in Lucindens Seele, wo die Keime
alles Herrlichen und alles Heiligen nur auf den Strahl seines Geistes
warteten, um sich zur schönsten Religion zu entfalten.«

Aber diese Inhaltsangabe stellt noch nicht die ganze Art des
merkwürdigen Buches klar. Seine Eigentümlichkeit besteht nicht in
dem Bruchstückartigen, nicht in den beschriebenen Liebesbegebnissen,
sondern in der Schilderung selbst. In ihr einen sich Schwärmerei und
Sinnlichkeit zu einem schwülstigen Ganzen. Es fehlt dem Helden an
jeder Selbstbeherrschung, an jeder Selbstzucht. Phantasie wie Wünsche
sind bei ihm gleich ausschweifend. Er verabscheut die entfernteste
Erinnerung an bürgerliche Verhältnisse, -- womit natürlich die Ehe
gemeint ist, -- wie jede Art von Zwang. Er ist dem kaum der Kindheit
entwachsenen Mädchen gegenüber einfach gewissenlos; aber auch im
Verkehr mit Lucinde spielt ungezügelte Sinnlichkeit eine erschreckende
Rolle. Umwoben aber sind alle diese Schilderungen mit einem Schwulst
von überschwänglichen Worten, von himmelstürmenden Tiraden.

Ich verzichte auf eingehendere Beschreibung. Lucinde durfte nicht
übergangen werden: diese leidenschaftliche, in schöngeistiges
Gewand gehüllte Sinnlichkeit ist ja eben bezeichnend auch für die
romantische Dichtung. Zugestanden mag sein, daß Lucinde etwas mehr
mit der Wirklichkeit zu schaffen hat als der Heinrich von Ofterdingen
und als Eichendorffs Taugenichts. Die Lucinde ist nicht ohne
psychologische Ansätze. Sie hat Ähnlichkeiten mit Werther. Aber sie
hat das Ungesunde von ihm hergenommen und ins Unreine hin verzerrt.
Werther mit seiner krankhaft gesteigerten Leidenschaft steht immer
noch hoch über ~der~ Leidenschaft, mit welcher Schlegel seinen
Julius alle Moral, allen Anstand, alle Sitte beiseite werfen läßt. Es
sind nicht Lehrjahre der Männlichkeit, wie er selber sie nennt; die
»Allegorie von der Frechheit« ist viel bezeichnender für das Ganze.
Und schließlich ist, trotz der unfraglich vorhandenen Berührung mit
der Wirklichkeit, auch die Lucinde ein Buch der Unwirklichkeit: von
Menschen redet sie, die nichts zu tun haben, die kein Zwang des Berufs
fesselt und die jeden anderen Zwang bewußt abschütteln.

Die romantische Prosadichtung ist reich an Spielarten. Eine Spielart,
wie sie der vielgelesene, von Ostpreußen nach Berlin verpflanzte Ernst
Theodor ~Amadeus Hoffmann~ vertrat, den man wohl den genialsten
Erzähler der Romantik genannt hat, darf bei ihrer Charakterisierung
nicht außer Betracht bleiben. Amadeus Hoffmann ist ein Vielschreiber
gewesen; und seine Erzählungen tragen längst nicht alle den gleichen
Stempel. Er war wirklich genial; und seine Genialität zeigte sich
auch in vielseitiger Kraft. Satire, Ironie, Humor, Realistik sind ihm
nicht fremd; und wo von diesen Gottesgaben etwas sich findet, da ist
er noch heut zu bewundern. Aber den Grundton seiner Schöpfungen geben
sie alle nicht an. Im Innersten sind sie durch und durch phantastisch.
Aber nicht phantastisch im Sinne von Novalis, der in die wundervolle
Märchenwelt führt, nicht phantastisch in der Art der sonnigen,
unbekümmerten Fröhlichkeit Eichendorffs, auch nicht nach der Methode
der geistig-sinnlichen Überschwänglichkeit Schlegels. Seine Phantastik
trägt den Sondercharakter des Geheimnisvollen, Schauerlichen,
Unheimlichen. Wohl knüpft er überall an die Verhältnisse des
wirklichen Lebens an, darin ganz anders verfahrend als Novalis
und auch als Eichendorff. Wohl spielen die sehr natürlichen
Leidenschaften auch bei ihm eine große Rolle; und seine Menschen sind
in ~dieser~ Hinsicht eben Menschen, wirkliche Menschen. Aber er
verknüpft mit diesem Tatsächlichen soviel Grauenhaft-Unnatürliches,
daß ihm der Beiname »Teufels-Hoffmann« nicht mit Unrecht gegeben
worden ist.

Beispielshalber wenigstens eine kurze Skizze eines seiner
Teufels-Werke, der »~Elixiere des Teufels~«. Ein Klosterbruder
bewahrt unter den Klosterreliquien auch eine Flasche, die einst der
Teufel selbst aus seinem Mantel dem heiligen Antonius zurückgelassen.
Wer von dem in dieser Flasche enthaltenen Elixier kostet, der
ergibt sich dem Teufel und seinem Reiche. Der Bruder Medardus ist
ein Prediger, zu dessen Predigten die Leute in Haufen strömen. Da
erscheint ihm mitten in begeisterter Rede eine furchtbare Gestalt, in
der er den »fremden Maler« zu erkennen glaubt, der vor langen Zeiten
die Kirche seiner Geburtsstätte mit wunderbaren Bildern geschmückt.
Wie er nun die Gestalt an einem Eckpfeiler lehnen sieht, will
Medardus nicht hinschauen. Aber ob er will oder nicht, er ~muß~.

»Wie von einer fremden, zauberischen Gewalt getrieben, mußte ich immer
wieder hinschauen, und immer starr und bewegungslos stand der Mann
da, den gespenstischen Blick auf mich gerichtet. So wie bitterer Hohn
-- verachtender Haß, lag es auf der hohen, gefurchten Stirn, in dem
herabgezogenen Munde. Die ganze Gestalt hatte etwas Furchtbares, --
Entsetzliches! -- Ja! -- es war der unbekannte Maler aus der heiligen
Linde. Ich fühlte mich, wie von eiskalten grausigen Fäusten gepackt --
Tropfen des Angstschweißes standen auf meiner Stirn -- meine Perioden
stockten -- immer verwirrter und verwirrter wurden meine Reden -- es
entstand ein Flüstern -- ein Gemurmel in der Kirche -- aber starr und
unbeweglich lehnte der fürchterliche Fremde am Pfeiler, den stieren
Blick auf mich gerichtet. Da schrie ich auf in der Höllenangst
wahnsinniger Verzweiflung: »Ha Verruchter! Hebe dich weg! -- hebe dich
weg -- denn ich bin es selbst! -- ich bin der heilige Antonius!««

Von dieser Stunde an ist die Kraft des Bruder Medardus gebrochen.
Sie wiederzugewinnen, trinkt er endlich vom Teufelselixier. Neues
Leben strömt nun durch seine Adern. Aber es ist ein Leben, in dem
der Böse Herrschaft hat. Er läßt Kloster und Möncherei, er gerät
in die wildesten Abenteuer, er wird zum Ehebrecher und Mörder; ein
Wahnsinniger ahnt in ihm den Bösen; mitten in fröhlicher Gesellschaft
starren ihm wieder die Züge jenes fürchterlichen Unbekannten entgegen;
er trifft in ländlichem Försterhaus in einsamer Stille einen
wahnsinnigen Kapuziner, der nichts anderes ist als sein Doppelgänger,
dessen Erscheinung sein eigenes Ich in verzerrten, gräßlichen Zügen
reflektiert. Äußerlich macht er sein Glück: des Bösen Gewalt läßt ihn
auf der Jagd treffen, ohne daß er gezielt, läßt ihn am Fürstenhof im
Glücksspiel fabelhafte Gewinne einheimsen. Dann wird er erkannt,
man stellt ihn vor Gericht; aber alle Verbrechen häuft man auf jenen
gräßlichen Doppelgänger, während Medardus selber frei ausgeht. Und so
geht es weiter zwischen den grauenvollsten Schrecklichkeiten durch;
Wahnsinn, Visionen, Leidenschaft, Verbrechen, Mysterien aller Art
führen einen wilden Reigen auf. Medardus kehrt endlich nach langer
Buße ins Kloster zurück und stirbt dort nach einem wahren Hexentanz
von gespenstischen Ungeheuerlichkeiten eines frommen Todes.

Diese Inhaltsangabe gibt nur ein ganz, ganz mageres Gerippe des
vielverschlungenen Romans. Aber sie läßt doch erkennen, wie alles in
demselben aufs Grauenhaft-Phantastische angelegt ist. Der Boden der
Wirklichkeit ist ganz und völlig verlassen. In anderen Erzählungen
tritt eine andere Methode hervor, ~wie~ die Wirklichkeit verzerrt
wird; aber verzerrt wird sie überall. Ob es mehr lustige Tollheit
ist, die ihn mit seinen Figuren umspringen läßt, als seien sie
nicht an die Gesetze dieser Welt gebunden, ob es mehr phantastische
Karikaturkunst ist, die seiner Satire dienen muß, -- überall ists das
Gegenteil klarer Wirklichkeit, was regiert. Er hat es verstanden,
nervenspannende, ja nervenerschütternde Wirkungen zu erzielen; -- ich
rate noch heute Niemandem, der über schwache Nerven verfügt, mit ihm
nähere Bekanntschaft zu machen. Er ist unerschöpflich in Erfindung
und unübertroffen in Plastik der Darstellung; aber das alles kann das
Urteil nicht ändern, daß auch seine Romane und Erzählungen von der
Aufgabe des Romans, ein Bild der Welt zu zeichnen, himmelweit entfernt
sind.

Auch die bekannte Erzählung ~Heinrich von Kleists~: ~Michael
Kohlhaas~ gehört ins Gebiet der Romantik. Auch sie sucht ihre
Wirkung im starken, auch im erschütternden Eindruck. Aber Michael
Kohlhaas ist doch von ganz anderem Holz als die Spukgestalten des
Teufels-Hoffmann. Der Roßhändler Kohlhaas ist eines Schulmeisters
Sohn und das Muster eines guten Staatsbürgers. Die Kinder, die ihm
sein Weib schenkt, erzieht er in der Furcht Gottes zur Arbeitsamkeit
und Treue. Er läßt gezwungenermaßen als Pfand für einen zu lösenden
Paßschein ein Paar Rappen im Gewahrsam des Junkers von Tronka. Die
Pferde werden ihm malträtiert, der Knecht, der sie besorgen soll,
wird mißhandelt. Die herabgekommenen Rappen nimmt Kohlhaas nicht an;
er legt sich jetzt aufs Prozessieren und beschließt, da er nirgends
Recht bekommen kann, endlich, sich selber Recht zu schaffen. Und nun
wird er zum Räuber und Mordbrenner, der das Schloß des Junkers in
Flammen aufgehen läßt, der mehr als eine Stadt, in welche der Junker
geflüchtet, einäschert, der den Schrecken der ganzen Gegend bildet.
Luther selbst legt sich ins Mittel, um den Unhold zu bändigen; aber
auch seine Mühe ist vergeblich. Kohlhaas führt Krieg mit Fürst und
Staat und Gesellschaft. Endlich wird ihm sein Recht; und nun geht er
ruhig in den Tod, der seine Freveltaten lohnt.

Es ist nicht zu verkennen, daß die Romantik in diesem Buch wesentlich
andere Bahnen einschlägt als in den vorher skizzierten Dichtungen.
Auch hier dominiert das Außerordentliche, das Furchtbare. Aber wenn
es auch allzu gehäuft und ins Gräßliche übertrieben ist, es bleibt
durchaus im Zusammenhang mit dem wirklichen Geschehen. Bis auf ein
paar mysteriöse Züge, ohne die es freilich nicht abgeht, ist alles
Geschilderte in roher, gewalttätiger Zeit durchaus möglich. Die
Erzählung sucht die Verbindung mit dem Leben festzuhalten. In der
ganzen Absicht derselben aber liegt gewiß auch jene romantische
Neigung, sich selber gegen Sitte und Brauch, gegen Mehrheit und Zwang
durchzusetzen, -- eine Neigung, der wir in der Lucinde so gut begegnen
wie in vielen anderen Dichtungen jener Zeit. Aber diese Neigung tritt
hier weniger im Gewand der Selbstverständlichkeit auf; nicht als
Führerin ins holde Traumland, in dem sich jeder seine Welt selber
zimmert, sondern als bewußte, klare, in alle Konsequenzen durchführte
Auflehnung gegen die Gesellschaft. Und endlich: es ist im Kohlhaas
nicht subjektive Willkür, welche ihn zu dieser Auflehnung treibt,
sondern es ist ein heiliges, eingeborenes und schließlich doch auch
vom Dichter als allgemeingültig anerkanntes Rechtsgefühl, welches
ihn zum Räuber und Mörder macht. Was er will, ist ja der Schutz der
Gesetze. Wer ihm diesen versagt, der gibt ihm die Keule in die Hand,
die ihn selbst schützt. Diese Besonderheit will wohl beachtet werden;
das Trotzen auf sein Recht steht doch sicher höher als die zügellose,
rasende Leidenschaft. Und dennoch bleibt es richtig: auch im Michael
Kohlhaas ist der Mensch das Maß aller Dinge. Der Einzelne stellt sich
außerhalb aller Ordnung, weil diese Ordnung ihn in einer einzigen
Angelegenheit nicht schützt. Schließlich ist sein Verhalten in dem
Plakat, welches Kleist von Luther erlassen sein läßt, doch richtig
gezeichnet:

»Kohlhaas, der du dich gesandt zu sein vorgibst, das Schwert der
Gerechtigkeit zu handhaben, was unterfängst du dich, Vermessener, im
Wahnsinn stockblinder Leidenschaft, du, den Ungerechtigkeit selbst
vom Scheitel bis zur Zehe erfüllt? Weil der Landesherr dir, dem du
untertan bist, dein Recht verweigert hat, erhebst du dich, Heilloser,
mit Feuer und Schwert und brichst wie der Wolf der Wüste in die
freundliche Gemeinheit, die er beschirmt.« --

Die nähere Beziehung jedoch, die Kleists Novelle zu den
Tatsachen unterhält, zeigt sich auch in ihrer Schreibart. Nichts
Unklar-Verschwommenes, nur massiv und prägnant Herausgearbeitetes.
Keine wortreichen Ergüsse; die Tatsachen schaffen die Stimmung. Es
kann kein Zweifel darüber sein, daß gerade diese von der strengsten
Romantik sich entfernende Art dem Michael Kohlhaas ein gut Teil seiner
Wirkung gesichert hat.

Noch enger werden die Beziehungen der romantischen Dichtung zur
Geschichte in dem Roman »~Die Kronenwächter~« von Achim ~von
Arnim~. Indes wir werden von diesem farbenprächtigen, wunderschön
und wunderreich geschmückten Roman in dem Vortrag noch zu sprechen
haben, der den historischen Roman behandeln wird.

Die Romantik -- das hat auch meine knappe Skizze zu zeigen versucht
-- ist nicht auf eine einheitliche Formel zu bringen. Sie geht
sehr mannigfaltige Wege und verfügt über eine reiche Zahl von
verschiedenen Farben. Was ist das Gemeinsame aller ihrer Schöpfungen?
~Daß nirgend das klare, freie, helle Tageslicht der Wirklichkeit
herrscht.~ »Heinrich von Ofterdingen« lebt ganz in einer anderen
Welt; ~diese~ Welt ist nur dazu da, daß der Dichter zu seiner
Vollendung komme. Von diesem Extrem aus führen viele Stufen zur
Wirklichkeit hinab. Aber auch wo die Geschichte, die Tatsache stark
mitspricht, wird sie doch nicht dargestellt, wie sie ist; überall wird
sie ein wenig ins Geheimnisvolle getaucht, ins Poetische verklärt oder
ins Ungeheuerliche vergrößert. Die Phantasie ist die Hauptkraft der
Romantik.

Nur eine kleine Zahl von Typen der romantischen Dichtung konnte ich
skizzieren. Aber das Bild würde sich nicht wesentlich verändern, wenn
ich weitere Werke zu zeichnen suchte. Vielleicht würde ihm zu größerer
Deutlichkeit hie und da noch ein Strich hinzugefügt werden können.
Wilhelm ~Hauff~, dessen »~Lichtenstein~« noch in anderer
Umgebung zu nennen sein wird, hat in seinen »Memoiren des Satans«
und sonst dem Sonderbaren und Unheimlichen durch feinen Humor alles
Schreckliche genommen; die nervenerschütternden Gräßlichkeiten des
Amadeus Hoffmann fehlen, und wir verkehren selbst mit dem Satan ganz
gern, ohne daß ein Schauder uns überkommt. Von jener Literatur der
neuerwachten Ritter- und Räuberromane, die das Romantische vergröberte
und zugleich der dichterischen Verklärung beraubte, sei hier erst
gar nicht gesprochen.

Goethe schuf zwischen dem Roman und der wirklichen Welt deutlichen
Zusammenhang. Die Romantik ist andere Wege gegangen. Diesen
Zusammenhang hat sie gelockert, gelöst, ignoriert. Sie hat es im
Namen einer höheren Macht getan, der Poesie. Aber es war doch ein
Irrtum, daß sie glaubte, Poesie und Wirklichkeit vertrügen sich nicht.
Und dieser Irrtum hat die Romantik unfähig gemacht, einen Roman im
Vollsinn des Wortes zu schaffen. Sie schuf Märchen und Allegorien und
Phantasien und Schauergeschichten und -- im besten Fall -- liebliche
Traumbilder, aber keine Romane. Sie machte Gedanken und Stimmungen und
maßlose Leidenschaften zu ihrem Thema, aber das eigentliche Leben, das
vielverzweigte, blieb ihr fremd.

Man glaubt manchmal, der Roman habe das zum Stoff, was im gewöhnlichen
Wortverstand, der eben schon ein Mißverstand ist, »romanhaft« sei.
Die Romantik scheint diesen Irrtum zu bestätigen, wenn anders man
in ihr den Maßstab für das Wesen des Romans sucht. Aber gerade das
wäre falsch. Richtig werden wir ihr Verhältnis zum Roman und zugleich
dessen Verhältnis zum Romanhaften so formulieren:

~Die Romantik pflegte das Romanhafte und schuf deshalb keinen
Roman.~




                         Die Volkserzählung.


Die romantische Dichtung ließ ihre Helden ausziehen, damit sie in
geheimnisvollem Zauberland die blaue Blume suchten. Eine blaue Blume
im Zauberland -- das ist ihr die Poesie. Wir wundern uns nicht, daß
die Novalisnaturen sie nicht anders zu verstehen vermochten. Wo sollte
zur Zeit, da Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen schrieb, die
Dichtung anders wohnen als im Zauberland? Im Land der Wirklichkeit
wohnte ja die Aufklärung, wohnten die schön plattgetretenen Ideen von
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, wohnte die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft. Im Lande der Wirklichkeit regierte das
grelle, pralle Sonnenlicht der vernünftigen Überlegung. Kein Wunder,
daß mancher da lieber ein Quantum mystisches Dunkel in Kauf nahm, als
daß er sich von diesem Sonnenglanz Gemüt und Phantasie ausdörren ließ.
Die größten unter den Dichtern verstanden es freilich, mitten in der
Welt zu bleiben und doch Dichter zu sein. Aber die Kleineren mußten
ihre Dichtkunst ins Zauberland retten.

Die Zeiten, da der Schlüssel Vernunft alle Schlösser schloß, gingen
vorüber. Die Menschen, die nach der blauen Blume suchten, fanden durch
die Not der Zeit wichtigere Aufgaben einer schleunigen Lösung harrend.
Schon hatten die harten Kriegsjahre mit eherner Faust an die Pforten
geschlagen, hinter denen die Weltflüchtigen ihren Träumen nachgingen.
Manch einer blieb wach; andere fielen wieder in ihre Träume zurück.
Auch nachdem das napoleonische Ungewitter ausgetobt hatte, war ihnen
die lebendige Welt noch nicht schön genug, um darin zu leben. Und
sie begriffen noch nicht, daß auch der Dichter, wenn ihn der Zeit
Lauf nicht fröhlich stimmte, Besseres tun konnte als träumen. Aber
je mehr das neunzehnte Jahrhundert voranging, um so klarer erwachte
das ~Wirklichkeitsbewußtsein~. Und wie durchs ganze deutsche
Volk immer klarer ein Geist der Kritik am Bestehenden und ein Geist
des sehnenden Schaffens am Neuen zog, so auch durch die Dichtung, und
nicht zum mindesten durch die Prosadichtung, die am ersten berufen
ist, der Wahrheit ins Angesicht zu sehen, zu tadeln und zu mahnen.

Dieser neuerstandene Wirklichkeitsgeist aber betätigte sich alsbald
nach drei sehr verschiedenen Richtungen hin. Zum ersten als ~Zeit-
und Tendenzroman~, der ungestüm genug das Alte niederzureißen
und ein Neues zu schaffen unternahm, der aber im Lauf der Zeiten
ruhiger und objektiver geworden ist. Zum zweiten suchte eine starke
Strömung bisher schier unbekannte Welt- und Menschengebiete zu
erforschen und darzustellen; namentlich der ~Bauernstand~, ~das
Landleben~ bot jungfräuliches Land. Und endlich griffen andere in
die Wirklichkeit vergangener Zeiten zurück; es galt ihnen, früher
Geschehenes der Gegenwart als Spiegel vorzuhalten oder auch einfach,
in den abgründigen Tiefen der Geschichte Menschen zu studieren: der
~historische Roman~. Es sind die drei großen Formen des modernen
Romans, die alle um das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts Wurzel
zu schlagen begannen, und die späterhin dann noch manche weitere
Sonderart haben aus sich erwachsen lassen.

Ich beginne hier mit der an zweiter Stelle genannten, mit der
~Volkserzählung~.

Nicht Entwicklung und Beziehungen will ich ausdeuten; es liegt
mir auch hier nur eins an: die Haupttypen an den anschaulichsten
Beispielen darzustellen. Und so greife ich drei Dichter heraus,
denen ein vierter und fünfter ein wenig abseits sich zugesellen
sollen. ~Immermanns~ Oberhof nenne ich zuerst: da haben wir
die Volkserzählung in der Wiege. Jeremias ~Gotthelf~ und
Berthold ~Auerbach~ folgen: zwei Haupttypen der ausgebildeten
Volkserzählung. Ein wenig abseits stehen dann Otto ~Ludwig~ und
Fritz ~Reuter~.

Von ~Immermann~ besitzen wir große Zeitromane: die »Epigonen«
und »~Münchhausen~«: letzterer stammt aus dem Jahre 1839. Es
ist ein Roman von hergebrachtem Zuschnitt; der Nebentitel: »Eine
Geschichte in Arabesken« ist bezeichnend. Nach Hebbels Urteil hat
Immermann die fratzenhaften und nichtigen Bewegungen der Zeit, die
sich doch ernsthaft geberden, abgespiegelt. Das Urteil ist ganz
richtig; aber man darf jene Dorfnovelle nicht vergessen, die mitten
in den Roman hineingestellt ist, mit ihm zwar verwoben, aber doch
in jener lockeren Art, die es ermöglicht, das Stück vom Ganzen zu
lösen, wie es denn weitaus den Meisten nur in dieser Loslösung
unter dem Sondertitel »~Der Oberhof~« bekannt ist. Im Oberhof
haben wir klare, scharfe Wirklichkeitszeichnung. »Nun das muß wahr
sein,« heißt es einmal darin, »die Idyllenschreiber haben uns die
Bauernwelt arg verzeichnet! Sowohl die schäferlich-zarten, als die
knolligen Kartoffelpoeten. Sie ist eine Sphäre, so mit derber Natur,
wie mit Sitte und Zeremonie ausgefüllt, und gar nicht ohne Anmut und
Zierlichkeit, nur liegt letztere wo anders, als wo sie in der Regel
gesucht wird.« Der Schauplatz der Erzählung ist das westfälische
Land, »der Boden, den seit mehr als tausend Jahren ein unvermischter
Stamm trat,« ein westfälischer Hof, ein Richthof oder Oberhof, der
älteste und vornehmste Hof einer westfälischen Bauerschaft. Um den
Hof breitet sich alles Besitztum, welches eine große ländliche
Wirtschaft nötig hat, aus: Feld, Wald, Wiese, unzerstückelt, in
geschlossenem Zusammenhange. Auf diesem Hofe regiert der Hofschulze,
eine Gestalt, deren Geltung zwar von den Mächten der Gegenwart nicht
anerkannt wird, welche aber für sich selbst und bei ihres Gleichen
einen längstverschwundenen Zustand auf einige Zeit wiederherstellt.
In seinem Besitz ist das alte Waffenstück, welches er mit eiserner
Festigkeit für das Schwert Karls des Großen erklärt, von dem es dem
ersten Besitzer des Richthofs zum Zeichen der Investitur gegeben sei.
Wie ein Fürst sitzt der Hofschulze auf seinem Oberhof; heimliche
Vehmgerichte fällen unter seiner Leitung immer noch ihre Urteile.
Seine Dienstboten weiß er patriarchalisch und energisch unter seiner
Leitung zu halten: -- ich erinnere an die klassische Szene, in der
jedes der Knechte und Mägde nach der Mittagsmahlzeit seinen Spruch
erhält und des Abends die Gedanken mitteilen muß, die es sich darüber
gemacht hat. Fest und unerschütterlich steht er auf dem alten Recht
und der alten Sitte. Der Küster heischt vom Oberhof einen zweiten
Käse; aber der Hofschulze, der auf reichem Hof, zwischen vollen
Scheuern, vollen Böden und Ställen lebt, will von dieser Forderung
nichts wissen: auf seinem Hof haftet nur ~ein~ Käse. Bei den
Hochzeitsbräuchen, bei Einladung und Essen muß alles nach der alten
Art gehen; weh dem, der, wie der Hochzeitbitter, etwas davon versäumt!
Gegen Nachbarn, Freunde, Gevattern ist er zu allem bereit, aber sie
müssen ihm auch immer etwas dafür leisten, und wäre es irgend ein
kleiner Dienst von geringfügiger Bedeutung. Ein Freund der »Moralen«
ist der Hofschulze. Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den
Kindern! Der Mensch sündigt jederzeit, wenn er sich wider etwas setzt,
was Herkommens ist bei Seinesgleichen. Im Ehestand ist garzuviel
Liebe schädlich. Auf den Haus- und Ehestand verläßt sich aller
Handel und Wandel, Nachbarhilfe und Ansprache, Christentum, Kirchen-
und Schulzucht, Haus und Hof, Rind und Kind. Das sind Moralsätze
des Hofschulzen; und wenn sie auch, wie der Jäger Oswald sagt,
ziemlich hausbacken klingen, -- es ist doch ein gut Stück gesunden
Menschenverstandes darin. Freilich, derselbe Hofschulze, dem das Recht
ein so hochheiliges Ding ist, trägt ein Rechtsgefühl in der Brust,
das dem des Michael Kohlhaas verzweifelt ähnlich sieht. Wenn ihm das
Wild des benachbarten Grafen die Felder verwüstet, dann ist es kein
Unrecht, auch ohne das Jagdrecht mit der Flinte Selbstschutz zu üben.

»Was ist das überhaupt für ein Verbrechen, sein Eigentum gegen die
Ungetüme, die es fressen und zu grunde richten, zu verdefendieren!
rief er, indem plötzlich der lachende Ausdruck seines Gesichts in den
des loderndsten Zornes überging. Die Stirnadern schwollen ihm an, das
Blut trat dunkelrot in seine Wangen, die Augäpfel verloren ihr Weißes
und wurden rötlich; man hätte vor dem Alten erschrecken können!«

Der Hofschulze steht im Mittelpunkt der Oberhofnovelle. Aber auch, was
sich um seine Gestalt herumrankt, ist gleich deutlich geschildert.
Derb und wahr zeichnet Immermanns Stift; er beschönigt nichts und
idealisiert nicht; die Sünden der Landbewohner kommen so gut zur
Sprache wie ihre Tugenden. Ein kraftvolles, erdgewachsenes Geschlecht
ists, das er abschildert, markig und zäh, steif und fest. Aber er hats
mit alledem getroffen. Hier weht keine philosophische Luft; hier weben
sich keine Träume, hier geschehen keine Wunder. Hier verschleiert die
Poesie nichts, hier meidet sie nicht schamhaft das minder Schöne. Hier
ist ihr ein heiliges Ahnen aufgegangen, wie sie im innersten Wesen
verbunden ist mit der wahren und wirklichen Welt, die ihr Kraftquell
und ihr Jungbrunnen zugleich ist.

Ein ~Ahnen~ nur; wie sonderbar flechten sich die Oberhofkapitel
in die Gänge des großen Romans mit seinen zerfahrenen Modegestalten
ein! Ein vereinzelter Meisterwurf war diese Dorfnovelle; anderen war
es vorbehalten, ihr in ihrer Eigenart zum Eigenrecht gesonderter
Existenz zu helfen. Die beiden Dichter, denen dieser Ruhm gebührt,
sind Jeremias Gotthelf und Berthold Auerbach.

~Jeremias Gotthelf~ ist unserer Zeit lange ein Fremder geblieben.
Erst neuerdings lernt man ihn besser würdigen. Nicht das geringste
Verdienst an dieser besseren Erkenntnis hat Adolf ~Bartels~, dem
die wärmsten Töne nicht warm genug scheinen, wenn er auf Gotthelf
zu sprechen kommt. Daß er uns schwerer nahkommt als andere Dichter,
liegt ja zum Teil an der schweizerischen Sprache. Albert Bitzius, ein
Pfarrer aus dem Kanton Bern, versteckt sich bekanntlich hinter dem
Pseudonym, das auf dem Titel seiner Bücher steht. Aber es liegt an
der Sprache nicht allein; Fritz Reuters Sprache ist nicht leichter zu
erfassen als die von Albert Bitzius. Es liegt wohl neben allerhand
Zufälligkeiten auch daran, daß die Welt, die er so meisterhaft
schildert, uns doch eben fremder ist, als die Welt eines Reuter.

Schweizervolk schildert Jeremias Gotthelf wie in seinem Erstlingswerk
»Der Bauernspiegel«, das zwei Jahre vor dem Immermannschen »Oberhof«
das Licht der Welt erblickte, so in allen seinen späteren Erzählungen,
von denen hier nur einige genannt sein mögen: »Uli der Knecht«, »Uli
der Pächter«, »Leiden und Freuden eines Schulmeisters«, »Käthi die
Großmutter«, »Elsi die seltsame Magd«, »Wie Joggeli eine Frau sucht«.
Ganz scharf prägt sich seine Erzählweise bereits im »Bauernspiegel«
aus. Da berichtet er aus seiner eigenen Jugend: vom wohlhabenden Hof
des Großvaters, auf dem er die ersten Jahre verbracht, vom harten
Mühen des Vaters in eigener Pacht, wie er nach des Vaters Tod von der
Gemeinde vergeben wird und was für verschiedene Bauernhäuser er so
kennen lernt, wie er dann zum Knecht emporwächst und im Ausland sein
Heil sucht, schließlich aber nach der Julirevolution ins Vaterland
zurückkommt. Fast alle Themata, welche er später behandelt, sind in
diesem, das gesamte Leben des Schweizer Bauern umspannenden Roman
schon angerührt; nur daß einzelne Seiten desselben dann in besonderen
Erzählungen gründlicher und breiter besprochen werden. Aber überall
regiert das Heimatsleben, die Schweizer Art, das Bauernwesen. Und
eben darin liegt Jeremias Gotthelfs Kraft. Seine Erzählungen sind
gar nicht reich an Handlung; kein größerer Gegensatz als der zwischen
seiner ruhigen Nüchternheit und den phantastischen Schreckgeschichten
eines Amadeus Hoffmann! Sie entbehren der spannenden Verwicklung;
er verschmäht es, allerhand Knoten zu knüpfen, in deren Lösung der
Dichter alsdann besondere Fingerfertigkeit aufweisen könnte. Wie
einfach und schlicht geht der »Bauernspiegel« seinen Weg! Jede
Episode im Leben des Kindes macht einen Abschnitt aus; jeder neue
Bauernhof, auf den er für ein oder zwei Jahre kommt, ist als kleines
Kabinettstück für sich gezeichnet. Keine Spannung, die nicht lediglich
aus der Sache selber käme, aus der Anteilnahme an dem Menschenkind,
das von sich berichtet und das von jung auf so mühsam durchs Leben
gehen muß, und aus dem Interesse, welches die Menschen einflößen, mit
denen es zu tun hat. Und alle diese Personen sind Alltagsmenschen,
Durchschnittsgeschöpfe; da ist kein verwickeltes psychologisches
Problem, da ist nichts Geheimnisvolles; im Gegenteil, alles ist
sonnenklar. Wo ja etwas dunkel wäre, da leuchtet der Erzähler sicher
alsbald dahinter, -- wie z. B. hinter das lichtscheue Treiben jenes
guten Ehepaars, das mit Botengängen und Vermittlerdiensten, mit ein
bischen Aberglauben und einem guten Teil Unredlichkeit sein Leben
liederlich, aber angenehm zu fristen versteht. Die Schilderung mag
manches Mal schier gar zu sehr in die Breite gehen; sie ist auch
sicher nicht selten allzu nüchtern, vor allem wirkt sie zu stark
moralisierend. Das ist vielleicht überhaupt die größte Schwäche des
trefflichen Gotthelf, daß er den Leser die Moral nicht selber ziehen
läßt, sondern daß er sie ihm aufdrängt. Der Hofschulze in Immermanns
»Münchhausen« zog auch Moralen; und der Jäger nennt sie hausbacken.
Aber sie sind doch noch poetischer als die erziehlichen Anwandlungen
des Schweizer Erzählers.

Sie werden zugeben, daß ich die äußere Erzählungskunst Gotthelfs
nicht allzu rosig geschildert habe. Aber je weniger man sie rühmen
kann, um so klarer werden seine eigentlichsten Vorzüge, oder, wie man
mit gutem Grund sagen kann, sein eigentlicher Vorzug. Der besteht in
der wunderbar engen Beziehung, in welcher er zum wirklichen Leben
des Schweizer Bauern steht. Im ganzen Gotthelf nichts Unnatürliches,
Gemachtes, Künstliches, Aufgebauschtes, Übertriebenes; überall nichts
als Wirklichkeit, nichts als Natur. Seine einzige Kunst ist die, die
Natur wiederzugeben; aber ~diese~ Kunst hat er aus dem Grunde
verstanden. Er greift bis in die Tiefen der Natur, auch bis in die
Tiefen des Gemüts. Er zeigt Roheit und Feinheit auf, Hartherzigkeit
und Gutmütigkeit, Keuschheit und Reinheit, aber auch Sünde und
Schande. Er schont seine Bauern nicht; von der Bauernidylle, die
Immermann verabscheut, ist auch er himmelweit entfernt. Um das alles
deutlicher zu machen, greife ich ein paar Bilder heraus, in denen
Gotthelf Mädchentypen zeichnet. Da ist das Vreneli, das wunderliche,
das mit dem Uli Hochzeit machen will und doch keinen Tag findet,
an dem es ihm recht wäre, zum Pfarrer zu gehen, um die Hochzeit zu
bestellen. Am Montag hatte das Vreneli seine Schuhe noch nicht vom
Schuhmacher, am Dienstag schien ihm der Mond zu heiter. Alle Leute
würden es ja kennen durch das ganze Dorf, sagte es. Am Mittwoch
war das Zeichen im Kalender -- es war der Krebs -- ihm nicht gut
genug, auch sei der Mittwoch ja eigentlich kein Tag, behauptete es.
Es ziehe an diesem Tag ja kein Dienstmädchen ein, und so sei das
Hochzeitangeben noch wichtiger als einen Dienst anzutreten, wo man
ja das ganze Jahr daraus könne, wenn man wolle. Schließlich gehen
sie denn am Donnerstag in fürchterlichem Schneegestöber, an einem
Abend, wo der Wind schaurig pfeift und die Nacht dick und finster
zu den Fenstern einkam. Und der Pfarrer sagt ihnen das treffende
Wort: »Was von Gott kommt, das läßt sich alles tragen, wenn zwei in
Gott eins sind, aber wenn der Eigensinn oder die Wunderlichkeit oder
die Leidenschaft von Mann oder Weib Unglück über eine Ehe bringen,
Ärgernis und Elend, und das Unschuldige muß mit aus dem bitteren Kelch
trinken, muß bei jedem Zuge denken: daran ist mein Gatte schuld;
wenn er nicht wäre oder anders wäre, so wäre das auch nicht, da
wird das Leben ein Wermutstrank und der Gang durchs Leben ist noch
viel ungestümer als euer heutiger Gang.« -- Da ist ferner Elsi, die
seltsame Magd. »Elsi verrichtete, was sie zu tun hatte, nicht nur
meisterhaft, sondern sie sah auch selbst, was zu tun war, und tat
es ungeheißen, rasch und still, und wenn die Bäuerin sich umsah, so
war alles schon abgetan, als wie von unsichtbaren Händen, als ob die
Bergmännlein dagewesen wären.... Daneben hielt Elsi nichts auf Reden,
hatte mit niemandem Umgang, und was sie sah im Hause oder hörte, das
blieb bei ihr, keine Nachbarsfrau vernahm davon das Mindeste, sie
mochte es anstellen, wie sie wollte. Mit dem Gesinde machte sich Elsi
nicht gemein. Die rohen Späße der Knechte wies sie auf eine Weise
zurück, daß sie dieselben nicht wiederholten, denn Elsi besaß eine
Kraft, wie sie selten ist beim weiblichen Geschlechte, und dennoch
ward sie von denselben nicht gehaßt.« -- Da sind die fünf Mädchen,
»die im Branntwein umkommen«, freilich nicht anziehend, aber doch
nach der Natur beschrieben, wie sie in der Schenke sitzen. »Die
Wirtin brachte die Maß, die Mädchen schenkten ein; aber es sah aus
wie Branntwein, es roch wie Branntwein, sie tranken es, wie man den
Branntwein trinkt; ja wahrhaftig, es war Branntwein!« Unter ihnen ist
Marei mit dem unverschämten Gesicht, dessen Züge nichts als Frechheit
ausdrücken, da ist Elisabeth, unbeholfen und schwammig. »Stüdeli
wurde das dritte genannt; es hatte ursprünglich schöne Züge, von
der Seite sogar etwas Nobles. Aber erdfarb war seine Haut, blaß die
Lippen, zahnlos und krankhaft groß der Mund und glanzlos die großen,
tiefblauen Augen. Es war lang und hager, reinlich angezogen und tat
zimperlich. Man sah ihm von weitem an, daß es eine Näherin war.
Manchmal dünkte es Einem, als flackere etwas Besseres in ihm auf und
als gieße es den Branntwein nur herunter, um das Bessere zu dämpfen,
sich zu betäuben. Das gab ihm etwas Träumerisches, das aber immer mehr
in etwas Stierendes ausartete, je länger es trank.«

Doch genug der Einzelbilder! Jeremias Gotthelf ist groß in ruhiger,
nüchterner, aber plastisch wahrer Wirklichkeitskunst. Erzählungen
haben wir von ihm, nicht Romane: dazu fehlt seinen Schöpfungen die
umfassende, vielseitige Art, die Kraft fortschreitender Handlung,
die Spannung, welche in der Lösung von Fragen des Lebens und der
Psychologie liegt. Die Helden dieser Erzählungen erleben mancherlei,
tun mancherlei, aber das ist nicht die Hauptsache. Für Gotthelf dreht
sich alles und jedes um die Frage: Wie ~sind~ die Menschen? Was
tun sie, weil sie so geartet sind, weil diese Sitten sie binden? Mit
anderen Worten: es ist ~keine Romankunst, aber Naturkunst~. Die
Wirklichkeitswiedergabe aber ist überall von ernsten sittlichen Ideen
getragen. Man hat gemeint, daß seine Kunst naturalistisch sei. Gewiß
ist sie das; derb genug ist sie auch. Wäre sie es weniger gewesen, so
wäre sie nicht wahr gewesen. Aber er ist nirgends bloß-naturalistisch;
durch jede Schilderung auch des Schlimmen will er wirken, will er
bessern.

Neben Jeremias Gotthelf stelle ich unmittelbar Berthold ~Auerbach~,
den Verfasser der »~Schwarzwälder Dorfgeschichten~«, deren erste 1843
erschienen sind. Sie sind ja weithin bekannt geworden, bekannter als
Jeremias Gotthelfs Schweizergeschichten. Ein paar Titel mögen hier
Platz finden: Der Tolpatsch, Die Kriegspfeife, Des Schloßbauers Wefele,
Befehlerles, Sträflinge, Luzifer, Die Frau Professorin. In Anlage
und Umfang sind sie recht verschieden; manche sind kurz, skizzenhaft
ausgeführte Anekdoten, andere wie die drei zuletzt genannten sind
reicher ausgeführt, werfen Fragen auf und führen in Konflikte hinein.
Es scheint mir möglich, Auerbachs Art an einer dieser Erzählungen zu
veranschaulichen; andere mögen zur Vergleichung herangezogen werden.
Ich wähle als die hiefür geeignetste: »Die Frau Professorin«.

Der Maler Reinhard und der Collaborator Reihenmaier durchstreifen den
Schwarzwald und machen im Gasthaus beim reichen Wadeleswirt Halt. Dort
gehn sie jeder seine eigenen Wege. Der Collaborator ist ein Schwärmer
für Natur und Volk und sucht beides kennen zu lernen; dafür dienen
ihm Streifzüge in den frischen Wald und in die Sagenwelt, die in den
Köpfen rumort. Reinhard dagegen freut sich mehr praktisch mit dem Volk
und an dem Volk. Ihm hats des Wadeleswirts Töchterlein Lorle angetan,
von der des Collaborators Wort sagt:

»Solch ein Mädchen ist wie ein Lied, das ein ferner Dichter geschaffen
und zu dem ein anderer die Melodie findet, die Alles und hundertfältig
mehr daraus offenbart.«

Reinhard und Lorle wollen zusammen gehören. Lorle sagts ihrem Vater:
»Der Herr Reinhard hat mich gern und ich ihn auch, und er will mich
und ich will ihn und keinen andern aus der ganzen Welt.« Und der
Wadeleswirt gibt, wennschon zögernd, nach. Lorle wird des Malers
Braut und Frau, -- des Malers, der als Professor und Inspektor der
Gemäldegalerie in der fürstlichen Residenz in nahen Beziehungen zum
Hof stehen muß. Wohl hat Reinhard selber sichs vorgenommen, daß
sie das frische Naturkind bleiben soll mitten im Trubel der Stadt:
»Sie bedarf keiner anderen Welt, ich bin ihre ganze Welt.« Aber sie
wird nicht seine ganze Welt, er für sich allein läßt sich in das
gesellige Leben der Gesellschaft ziehen, und Lorle vereinsamt. Sie
kann sich sowieso schwer in die Stadt schicken; die himmelhohen Häuser
bedrücken sie, die Klatscherei der Kaffeekränzchen stößt sie ab, die
steifen Formen des Umgangs sind und bleiben ihr fremd. So tritt die
gegenseitige Entfremdung ein. Reinhard kommt doch nicht darüber weg,
daß sie ein echtes Naturkind geblieben ist, daß sie die heimische
Art nicht lassen kann, daß sie frei öffentlich vor dem Schloß mit
einem schlichten Jungen aus der Heimat spricht, der als Tambour in
der Residenz steht. Und es paßt ihm erst recht nicht, daß sie, selbst
in der Audienz bei dem Prinzen, gleich »den Sack umkehrt, mit Kraut
und Rüben«. Und Lorle fühlt immer stärker das Heimweh, je mehr er
sie vernachlässigt. Endlich kommt die Katastrophe. Durch mißliebige
Erfahrungen auch im Beruf geärgert, betäubt sich der Professor im
Trunk, und Lorle gewinnt, als sie das merkt, die Kraft zum Entschluß,
in die Heimat zurückzukehren.

Am Beispiel dieser Erzählung möchte ich versuchen, Vorzüge und
Schwächen der Auerbachschen Dorfgeschichten kurz darzulegen. Ich
fasse, was zu sagen ist, in einige Sätze zusammen:

1. Auerbach wählt hier wie auch sonst das ~Dorfleben~ zum Stoff
seiner Geschichten. Aber er will es nicht bloß schildern; er verfolgt
eine deutlich hervortretende ~Absicht~. Er ~vergleicht~
Dorf und Stadt, Bauer und Städter. Und er ~entscheidet zu gunsten
des Dorfs~. Freilich, wenn der Prinz die naive Meinung ausspricht,
daß die Bauern die glücklichsten Menschen auf der Welt seien, so
widerspricht ihm Lorle: »Man muß ja schaffen wie ein Tagelöhner und
Steuern zahlen mehr als ein Baron.« Aber in der Stadt -- wieviel
Gemachtes, Gezwungenes, Geheucheltes, Unnatürliches! Viel höher
steht die natürliche Kraft und Einfachheit des Dorflebens! Das ist
Auerbachs ~Tendenz~. Sie tritt nicht überall so stark hervor wie
in »Die Frau Professorin«. Aber sie klingt überall mit. Sie macht ihn
zu Immermanns Genossen; ähnlich wollte ja der ganze »Münchhausen« das
Bauerntum als Kraftquelle gegenüber der Verbildung preisen. Aber sie
scheidet ihn von J. Gotthelf, der nichts anderes will, als seinen
Landsleuten den Spiegel vorhalten, damit sie sich bessern.

2. In dieser Tendenz liegt eine große Gefahr: diejenige ~einseitiger
Schilderung~. Gotthelf brauchte diese Versuchung nicht zu bestehen,
weil er die Tendenz gar nicht hatte. Immermann hat sie überwunden.
Auerbach ist ihr erlegen. Nicht überall sind seine ländlichen
Gestalten so ideal, wie in »Die Frau Professorin«. »Diethelm von
Buchenberg« beschreibt den Entwicklungsgang eines Bauern, der, um
Hab und Gut, Ansehen und Stellung zu wahren, zum Verbrecher wird.
Im »Lehnhold« schafft der felsenharte Bauerneigensinn tausendfaches
Unheil und Elend. Trotz alledem kann ihm der Vorwurf nicht erspart
werden, daß er idealisiert. Die schlimmen Charaktere haben bei
ihm leicht gleich etwas Ausnahmsweises, ihre Fehler sind wohl gar
Übertreibungen berechtigter Eigenheiten. Man mag sie jedenfalls
nicht so recht zur Charakterisierung des Typus verwenden. Die guten
Charaktere aber verlieren vor lauter Engelsgüte den Boden der
Wirklichkeit unter den Füßen. Von Lorle heißt es: »In Demut entfaltete
Lorle eine Fülle des Liebesreichtums, daß Reinhard staunend und
anbetend vor ihr stand. Der Schluß ihrer Rede aber war fast immer.
»Ach Gott! ich bin dich nicht wert!«« Ausdrücke wie »herrliche,
einzige Frau«, »Naturschatz« sind gar nicht selten. Ähnlich die anderen
Personen: der Wadeleswirt in seiner Derbheit und Bravheit, der
Wendelin in seiner stillen Schwärmerei, die Bärbel in ihrer rührenden
Treue. Das sind Lichtgestalten, aber darum noch keine Naturgestalten.

3. Schwerer fällt zu Auerbachs Ungunsten ins Gewicht, daß er, selbst
von der Neigung zu idealisieren abgesehen, in der Zeichnung seiner
Bauern doch ~nicht ganz die rechten Farben getroffen hat~. Ein
neuerer Beurteiler nennt seine Erzählungen »treuherzig und mit jenem
gesättigten Humor im Ton, welcher dem Bauernverstand eine gewisse
Überlegenheit gibt«. Das mag stimmen, aber es genügt nicht, um den
Eindruck der Echtheit zu erwecken. Adolf ~Bartels~ konstatiert
z. B. bei der Geschichte »Ivo, der Hairle«, daß die Entwickelung in
den Hauptzügen richtig gegeben ist; »ein letztes Etwas fehlt einem
aber doch«. Was ist dies letzte Etwas, das übrigens keineswegs allein
bei dieser einen Erzählung fehlt? ~Bartels~ selbst erklärt: »In
den letzten Gründen weiß er nicht immer Bescheid, er legt unter und
deutelt hinein und erreicht nicht die absolute Echtheit, die Jeremias
Gotthelf bis in die letzte Gebärde und den geheimsten Seelenvorgang
aufweist.« Aber auch dies bedarf wieder der Begründung. Woran liegts,
daß Auerbachs Dorfgestalten nicht absolut echt sind? Meiner Meinung
nach an einem Dreifachen: Zunächst an der ~geringeren Bedeutung,
welche Sitte und Brauch für seine Geschichten haben~. Theoretisch
hat er die ganz richtige Einsicht gehabt: »Nicht die Sittlichkeit
regiert die Welt, sondern eine verhärtete Form derselben: die
Sitte. Wie die Welt nun einmal geworden ist, verzeiht sie eher eine
Verletzung der Sittlichkeit als eine Verletzung der Sitte«. Hier
liegt tatsächlich der Schlüssel für das Verständnis des Bauern. Mit
diesem Satz hat Auerbach den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber
in der Ausführung tritt die Sitte ganz zurück. Denken wir an eine
einzige kleine Szene bei Gotthelf wie z. B. an die, wo Vreneli den
Gang zum Pfarrer wieder und wieder aufschiebt. Jeder Satz zeigt die
Verknüpfung von Sitte und Tun. Am Mittwoch geht sie nicht, weil das
als Unglückstag gilt; kein Dienstbote zieht da an. Am Dienstag ist
das Zeichen des Kalenders nicht recht: die Welt des Aberglaubens tut
sich auf. Am Montag scheint der Mond zu hell; die Mädchen mögen
bei diesem wichtigen Gang sich nicht gern anstaunen lassen. Und so
gehts fort. Das ist ein Meisterstück in der engsten Gründung von
Rede und Handlung auf Brauch und Sitte. Wo fände sich ähnliches bei
Auerbach? Es ginge ja auch so, daß schlichte, ruhige Schilderung der
Heimatsart des Bauern die Erzählung trüge. Im »Oberhof« hat sich
Immermann gar nicht gescheut, ziemlich lange Episoden zu geben, die,
mit der Handlung nur lose verbunden, eben die Welt beschreiben, in
welcher der Bauer lebt. Auerbach hat auch das verschmäht, bis auf
dürftige Ansätze, bei denen zudem der Bauer immer gleich mit dem
Städter verglichen wird. Der Hintergrund ist bei den »Schwarzwälder
Dorfgeschichten« nicht genügend ausgearbeitet. Warum nicht etwas mehr
Brauch und Sitte bei der Hochzeit von Reinhard und Lorle? Was für
eine schemenhafte Schilderung des Sonntagmorgens im Dorf am Anfang
der »Sträflinge«! Es fehlt am Hintergrund. Wir sehen und hören die
Bauern, aber wir erleben nicht ihren naturwüchsigen Zusammenhang
mit ihrer Scholle, mit Arbeit und Erholung, mit Ordnung und Sitte.
Damit hängt dann ein Anderes eng zusammen: auch ~die Denkweise
der Schwarzwälder Bauern ist keineswegs echt~. In ihre eigensten
Gebiete führt Auerbach überhaupt nicht ein. Was er sie sonst reden
läßt, das hat einen Anstrich von liberalen Zeitideen, der ja dazumal,
in den vierziger Jahren, sich auch beim Bauernstand gefunden haben
mag, der aber jedenfalls Anstrich ist, auch durchaus nichts, was die
~Eigenart~ des Bauern zu bezeichnen geeignet wäre. Es sind gute
Menschen, die er vorführt, und es mögen ganz schöne Ideen sein, die
sie da vorbringen. Aber Bauerngedanken sinds nicht. Schließlich
trägt auch die ~Sprache~ Schuld, welche Auerbachs Schwarzwäldler
reden. Helmuth ~Mielke~ erklärt sie für eine »schlichte und warme
Sprache, die den Mundatem des Volkes selbst bekundet!« Das Gegenteil
ist richtig. Die Worte sollen getrost für echt gelten, die Sprache ist
darum doch nicht echt. Was z. B. das Lorle in der Audienz beim Prinzen
alles zusammenschwatzt, das ist ganz und gar nicht dörflich schlicht;
das ist forciertes, gemachtes Bauerntum. Kurz, Auerbachs Dorfgestalten
haben keinen Erdgeruch; es sind Salondörfler.

4. Zur Charakteristik seiner ganzen Erzählweise mag an vierter
Stelle die Art erwähnt sein, ~wie er Stoffe wählt und Probleme
gestaltet~. Auch diese Art ist nicht schlicht natürlich. Gerade
»Die Frau Professorin« liefert dafür den glänzendsten Beweis. Ein
Künstler, der in nächster Beziehung zur Hofgesellschaft steht,
heiratet ein schlichtes Gastwirtskind vom Lande. Noch dazu ein
Mann, der sich gar keine Mühe gibt, ein warmes Familienleben zu
gründen, bei dem es dem verpflanzten Dorfkind wohl sein kann. Und
das Dorfkind seinerseits bleibt so stocksteif auf der alten Art, die
doch eigentlich nur in der Negation sich zeigt, daß man wirklich ein
bißchen mehr Verständnis, ein klein wenig mehr Akkommodationsfähigkeit
erwarten dürfte. Das ist kein typisches Sittenbild; das ist
die Geschichte einer Torheit, welche durch die Narrheit der
Hauptbeteiligten auf die Spitze getrieben wird! Aber auch in anderen
Erzählungen bleibt Auerbach ungern beim rein, intim Dörflichen.
Überall spielt das Städtische hinein. In »Die Frau Professorin«
tritt das Dörfliche nirgends für sich auf, vielmehr durchweg nur in
Verbindung mit den Erlebnissen des Malers und des Collaborators. Die
»Sträflinge« bringen ein ganz fremdartiges Element ins Dorfleben
hinein: die aus Barmherzigkeit aufgenommenen entlassenen Gefangenen.

Ich fasse mein Urteil über Auerbach kurz dahin zusammen: Er
verherrlicht das Landleben, den Bauernstand. Er entnimmt dem
bäuerlichen Leben seine Stoffe und seine Probleme. Aber ~er geht
nicht genug in die Wurzeltiefe dörflicher Art hinein, er nimmt den
Bauern nicht im Zusammenhang mit seiner Scholle. Und so lernt man den
Bauernstand selbst durch ihn nicht kennen.~

                  *       *       *       *       *

Gehören die beiden, die ich nun nenne, auch noch zu den
Dorfgeschichtenschreibern? ~Otto Ludwig~, meine ich, mit
seiner »~Heiterethei~« und seinem »~Zwischen Himmel und
Erde~« und dann der allbekannte, reichlich gelesene und
vielgeliebte ~Fritz Reuter~? Otto Ludwig kann man den Titel
des Dorfgeschichtenverfassers mit guten Gründen abstreiten. »Himmel
und Erde« ist eine städtische Geschichte; das Dachdeckerhandwerk
bildet ihren Mittelpunkt. Zudem liegt es ihrem Schöpfer gar nicht
am Herzen, Sitte und Art zu zeichnen; keine Erzählung, die tiefer
ins Psychologische ginge und weniger über das Psychologische
hinausginge als diese. Ein Meisterstück an Feinheit, Geschlossenheit,
Entwicklung, Spannung und Kraft! Wer sie noch nicht las, sollte sie
eilig zur Hand nehmen! Aber eine Dorfgeschichte? -- Nein. Und auch
die »Heiterethei« liegt ein Stück ab vom Oberhof und von Jeremias
Gotthelf; am wenigsten vielleicht von Auerbach. Nicht das Dorf ist
ihr Schauplatz; ein Städtchen ist der Tummelplatz ihrer Gestalten.
Hier leben der hustende Weber, der Schneider, der trotz seiner dreißig
Jahre von seiner baumlangen Stiefmutter als der »Jung« betrachtet und
bis zu den handgreiflichsten Konsequenzen auch so behandelt wird, der
Morzenschmied, der ein Schabernack ist, obwohl er immer so duchsig
tut. Hier hausen und klatschen die wichtigen und die minder wichtigen
Weiber, die Gringelwirts Valtinessin, die das Recht hat, von allen
Frauen am vornehmsten zu träumen, und vor deren Übelnehmen die anderen
alle sich fürchten, -- die Frau Tüncherin, die der Valtinessin gleich
gern zugesteht, daß der Hahn, den sie im Traum hat krähen gehört, kein
rechter Luckenbacher gewesen ist, weil er ander Wetter gekräht hat,
was die Valtinessin doch nicht wahrhaben will, -- da ist die Weberin
und die Schmiedin, die, während ihr Mann ihr halb wider Willen etwas
Neues berichtet, schon immer im Geist beim Kaffeeklatsch ist und
sich selber sieht, wie sie unter allgemeiner Spannung die Neuigkeit
weitererzählt. Im Städtchen Luckenbach aber hausen vor allem auch die
beiden Hauptpersonen, die Dorle mit dem blonden Zopf und den vollen
Lippen, die so munter ist, daß man sie Heiterethei genannt hat: »Der
Name tanzt ordentlich wie das Mädle selber.« Ein Prachtmädel, diese
Heiterethei! Kein braver Mädel im ganzen Städtel; aber auch keins
mit einem flinkeren Mund. Mit dem Schiebkarren fährt sie zum Markt;
auf dem kräftigen Karren ruht ein tüchtiger Strick. Nun fragt der
Schneider:

Aber was willst du dir nur holen damit?

Einen Mann, lachte der Schmied.

Einen Schmied, entgegnete das Mädchen ernsthaft. Die muß man mit
Stricken binden, wenn sie vom Markt heim nicht in jedem Wirtshaus
einkehren sollen.

Die Schneider nicht? fragte der Schneider fast neidisch.

Auch, sagte das Mädchen, nicht wegen der Wirtshäuser, nur, daß sie der
Wind nicht vom Schiebkarren bläst.

Du mußt den Holder-Fritz frein, hustete der Weber. Wenn ihr einen
Jungen kriegt, der jagt den Kirchturm von der Kirch' und zur Stadt
hinaus.

Das käm' zu spät, sagte das Mädchen ruhig. Bis dahin habt ihr ihn
hinausgehustet.

Wo stellt ihr ein auf dem Markt, Annedorle? fragte der Schmied.
Heimwärts führen wir uns.

Ihr werdet wohl einen brauchen, der euch führt, sagte das Mädchen; ich
nicht. --

Und neben der Heiterethei steht der Holder-Fritz, der flotte und
lustige Holder-Fritz, der nachher mit einem Mal anders wird. Wie der
Holder-Fritz und die Heiterethei, beide starke, trotzige Seelen, sich
mögen und sich trotzen und endlich sich einigen, das beschreibt alles
die »Heiterethei«.

Eine Dorfgeschichte ist das nicht, aber weit davon ists auch nicht.
Das Städtchen ist ja eins von denen, in deren Tätigkeit Ackerbau und
Gewerbe sich teilt. Und eine Volkserzählung ists ganz gewiß. Nur
nicht so schlicht, wie die von J. Gotthelf; der kann einem hiergegen
beinahe pedantisch vorkommen. Und auch nicht so gravitätisch wie der
Oberhof. Nein, viel flotter, lustiger, leichter geschürzt. Und doch
viel mehr Kompositionskunst, viel mehr Entwicklungsenergie, viel
mehr psychologische Feinmalerei als nüchterne Beschreibung. Eine
Volkserzählung, die den Titel »Novelle« vollauf verdient, weil sie ein
sorgsam bedachtes Kunstwerk ist. Der Realismus ist freilich nicht mehr
Alleinherrscher; er hat den Humor und die Satire zur Seite.

Ein prächtiges Gegenstück zu dieser Art bildet unser lieber ~Fritz
Reuter~. Was brauche ich da Titel aufzuzählen? Ihn kennt ja
ein jeder. Freilich, vor allem meine ich und denke ich an seine
»Stromtid«, dies Buch, das dem deutschen Volk, wenigstens dem
gebildeten Teil desselben, so ganz zu eigen geworden ist. Auch Fritz
Reuter ist Volkserzähler. Seine Dichtung wurzelt mit tausend Wurzeln
im mecklenburgischen Land, im norddeutschen, ja im ganzen deutschen
Volk. Hawermann und seine Lowise, Unkel Bräsig, die lütte Fru Pastern,
Jochen Nüßler und die Madam Nüßlern, die Druwäppel Mining und Lining,
sind das nicht wundervolle ländliche Charaktergestalten? Giebts nicht
desgleichen Pomuchelsköppe sowohl wie Rambows, Kandidaten wie Rudolf
und Gottlieb, Eleven wie den famosen Triddelfitz überall im deutschen
Land? Und blickt man nicht tief, tief hinein in des Landmanns Last und
Lust, in der Fru Pastern Freud und Leid, in der Tagelöhner Arbeit und
Sorgen? Ja, Reuter greift tief hinein ins Leben des Volks, ins Herz
des Volks. Er ist zugleich in alledem klar, treu und wahr. Und darum
gehört, was er geschrieben, zur Volkserzählung. Und es gehört unter
ihren Schöpfungen nicht an den letzten Platz.

Nur bleibt dem, der die Eigenart der Erscheinungen gegen einander
abwägt, doch die Pflicht, seiner Art innerhalb der Volkserzählung
ihren ganz besonderen Platz anzuweisen. Reuter steht Otto Ludwig und
seiner »Heiterethei« der Art nach am nächsten, wie er übrigens auch
der Zeit nach mit ihm eng zusammengehört. Die »Heiterethei« erschien
1854, »Zwischen Himmel und Erde« 1856, während Reuters literarische
Tätigkeit 1853 mit den »Läuschen un Rimels« begann und dann bis
1862-64, der Zeit der »Stromtid«, währte. Wie Ludwig führt auch er nur
nebenbei in alle die Sitten und Zustände ein, in Volkes Sonderwesen
und Eigenbräuche. All das spielt hinein, aber es klingt nur leise
mit. Ein Milieudichter ist Reuter nicht, ein naturalistischer --
trotz ein paar derber Stellen -- erst recht nicht. Ihm hebt sich aus
allem der Mensch heraus; der bleibt ihm die Krone, die alles andere
zurücktreten läßt. Und das hat zur Folge, daß die Heimatsfarbe, der
Erdgeruch minder deutlich wird. Sobald der Dichter den Menschen vor
allem als Menschen nimmt und nicht als Schweizer oder Schwarzwälder
oder Mecklenburger, sobald werden die Konturen der Zeichnung blasser.
Reuter und Ludwig haben das getan. Und wie Ludwig hat auch Reuter
mindestens in der »Stromtid« die einfach fortschreitende Form der
Erzählung verlassen; ja, die »Stromtid« ist noch in anderem Sinn ein
formgerechtes Kunstwerk als die »Heiterethei«. Sie steht in dieser
Hinsicht am besten mit »Zwischen Himmel und Erde« zusammen. Nur
daß dies durch und durch Novelle ist, während die »Stromtid« ebenso
durch und durch Romancharakter hat. Wir mögen sie nur deshalb nicht
gern so nennen, weil wir bei dem Wort Roman jenen fatalen Nebensinn
mitzudenken gewohnt sind, der doch gar nicht dazu gehört und der zu dem
Einfachen, Schlichten, Volkstümlichen in Reuter nicht stimmen will.
Aber an der Tatsache ändert das nichts: die »Stromtid« ist in Anlage
und Durchführung, in Vorbereitung, Konflikt und Lösung ein volles,
rundes Meisterwerk der künstlerisch gestalteten Prosadichtung. Und
auch das gibt ihr neben der schlichten Volkserzählung ihre besondere
Stellung. Endlich aber, und das ist das Beste, merkt man es Reuter
ganz deutlich an: ihm liegt am bloßen Malen überhaupt herzlich wenig.
Ihm ist des Dichters Aufgabe anders gefaßt: nicht einen Spiegel hält
er den Menschen vor, sondern er zieht sie mit all ihrem Denken,
Wollen und Fühlen hinein in das Menschengeschick, das er vor den
Lesern sich aufrollen läßt. Ihm darf der Leser nicht objektiv über
dem Stoffe stehen bleiben, kein Beobachter sein, der sich freut, wie
gut die lieben Menschenkinder von da und von dort abkonterfeit sind.
Hier müssen sie miterleben, mitfühlen, mitjauchzen, mittrauern, ja
unbedingt auch mitweinen! Wir wissen alle, wie trefflich ihm das
gelungen ist; wer hat nicht selber mit durchgemacht, was die Leutlein
alle dort im mecklenburgischen Dorf erlebt haben! Reuter hat es
wie kein Zweiter verstanden, den Menschen bei ~der~ Seite zu
fassen, bei der er am ehesten kühle Zurückhaltung, kritische Laune
und objektiven Stolz verliert: beim ~Gemüt~. Lustig sein und
traurig sein, beides mag das deutsche Gemüt gern. Reuter hat ihm
beides gegönnt; so herzinnig lachen und so herzbrechend weinen, wie
bei der Lektüre der »Stromtid«, kann man kaum bei einem anderen
Buch. Vielleicht hat er die Gemütssaite ~zu~ oft angeschlagen?
Ich will nicht streiten; aber rührselig ist er doch nicht geworden.
Es dominieren doch der stille Ernst und der fröhliche, selige,
goldene Humor. Fritz Reuter muß man lesen, wenn die Menschen, die
sich lieb haben, um den Lampenschein traulich zusammengerückt sind;
am allerbesten zur Weihnachtszeit, wenn das Herz ein bischen stärker
klopft, als es sonst wohl tut.

Aber ich breche ab. Was hab' ich gewollt? Die Volkserzählung aus
der Mitte des Jahrhunderts galt es zu charakterisieren. Von 1839,
da Immermanns »Münchhausen« erschien, sind wir bis zum Anfang der
sechziger Jahre gewandert, in denen Fritz Reuter die »Stromtid«
schuf. Zwei reichliche Jahrzehnte, gerade die Mitte des Jahrhunderts
ausfüllend! Für literarische Entwicklung doch eine kurze Spanne Zeit.
Trotzdem ist gerade auf diesem Gebiet Reichliches in ihr geschehen. Wo
blieb die träumende Romantik? Der Geruch der Scholle vertrieb sie. Die
einfache, derbe, nüchterne Wirklichkeit heischte ihr Recht. Man packte
sie, wo sie am wirklichsten war, im Bauernleben. Man wollte nichts
haben als Wirklichkeit. Wer viel Süßes gegessen, hungert nach einem
Bissen Brot! ~Was Kunstform und Problem? Was Konflikt und Lösung?
Leben! war die Losung, nur Leben.~ Aber auch diese Forderung hatte
ihre Zeit. Zwar ins schlichte Leben hineingreifen, nicht bloß ins
wunderbare, das wollte man auch weiter. Aber der Mensch, die Seele,
das Gemüt ward wichtiger als die Natur. Und die Kunstform stellte sich
wieder ein. Sie hatte an Schlichtheit von ihrem Gegenstand gewonnen;
und sie half so auch der Volkserzählung zur künstlerischen Vollendung.
Aber Kunst und Natur vertragen sich schwer; auch hier trat die Natur
ins zweite Glied. Immerhin, man hatte gelernt, zu sehen und Gesehenes
zu zeigen. Man blieb wahr und man blieb nüchtern. ~Die Romantik war
tot; die Wirklichkeit hatte gesiegt.~




                      Der tendenziöse Zeitroman.


Der Roman tritt in gewollte, neue, enge Verbindung mit der
Wirklichkeit. Goethe wirkt, nicht die Romantik. Nicht in der
Volkserzählung allein geschieht das: warum sollte man nur das
»Volk« beachten und nicht die Welt in ihrer ganzen Breite und Weite
nehmen? Lagen denn nicht tausend Anlässe vor, ihre Zustände zu
ergründen, zu durchforschen, zu kritisieren? War denn nicht eine
Zeit hereingebrochen, in der der Blick sich weitete und schärfte?
Die Sturmesgewalten der Revolution waren im Anzug; und ihnen voraus
gingen Windstöße, die alte, festgewurzelte Anschauungen aufwühlten
und zu neuen Bildungen Anlaß gaben. Was Wunder, daß die öffentlichen
Angelegenheiten, daß die Fragen der Politik und Gesellschaft, des
Staats und der Kirche, der Aristokratie und der Demokratie in jenen
Jahren vor den Stürmen von 1848 und ebenso in den folgenden Zeiten
auch die Dichter nicht ruhen ließen? Auch ihr Interessengebiet wurde
weit und groß: es erstreckte sich über alles das, was die Zeit
bewegte. Der Roman war nicht die einzige Form der Dichtung, welche
den Pulsschlag der Zeit spüren ließ. Wie hell klangen die Sturmlieder
eines Herwegh und Freiligrath! Aber ~auch~ im Roman pulsierte die
Zeit; er ward zum ~Zeitroman~.

Konnte es anders kommen, als daß die Betrachtung der Zeit in
der Dichtung zunächst alles andere war, nur nicht ruhig, kalt,
unparteiisch und objektiv? Wir verstünden es nicht, wäre es anders
gewesen. Eher ist die Dorferzählung mit ihrer darstellenden Art
ihrer Zeit fremd als der tendenziöse Roman. Genau betrachtet,
zahlt übrigens auch die Dorfgeschichte der Zeit ihren Tribut. Der
»~Oberhof~« ist ja ein Kompositum einzelner Kapitel aus einem
Zeitroman; er gibt Wirklichkeit, aber eben mit dieser Schilderung
der Wirklichkeit verfolgt sein Verfasser eine bestimmte Absicht. In
~Auerbachs~ Erzählungen wirkt eine ganz ähnliche Tendenz; das
Land wird gegenüber dem städtischen, höfischen Wesen verherrlicht.
Auch die politischen Ideen spielen hier hinein. Und die ruhigsten,
objektivsten Dorfgeschichten, die überhaupt geschrieben worden sind,
stammen nicht aus dem vielbewegten deutschen Land, sondern aus der
Schweiz, wo der Kampf um Fürstenrecht und Volkesrecht nur mitgefühlt
und so miterlebt, aber damals nicht ebenso mitgekämpft wurde!

~Der Zeitroman ward also zum Tendenzroman.~ Er hat Stadien
erlebt, in denen die Tendenz darin fast die Zeit tötete, d. h. in
welchen die Darstellung des Bestehenden gegenüber den Plänen zum
Kommenden kaum zur Geltung kam. Hierher gehören die ~jungdeutschen
Romane~ aus den dreißiger Jahren. Unter ihnen ragen die Werke
Heinrich ~Laubes~ und Karl ~Gutzkows~ hervor. Heinrich
~Laube~ schuf damals (1833) den ersten Teil des Romans »~Das
junge Europa~«, dessen später erschienene Teile viel abgeklärtere
Art tragen. Die einzelnen Bände haben Sondertitel; Bd. +I+:
Die Poeten; Bd. +II+: Die Krieger; Bd. +III+: Die Bürger.
Nicht das, was erzählt wird, fesselt; in der Handlung fehlt jede
Einheitlichkeit, Entwicklung und Geschlossenheit. Es dreht sich
alles um Liebesabenteuer der jungen Poeten, und zwar um solche, die
der theoretisch verfochtenen Freiheit in Religion und Sittlichkeit
vollkommene praktische Folge geben. Aber die Hauptsache sind die
Ansichten, die breit und gründlich zur Aussprache und zum Siege über
andere Ansichten gelangen. Der Gegensatz gegen die Romantik kommt zum
scharfen Ausdruck; die gesunde Natur wird gepriesen, zugleich aber
auch ihre völlige Ungebundenheit. Keine Vorschrift der Religion und
keine der Moral wird anerkannt; die Natur hat Recht, auch mit ihrer
Sinnlichkeit. In der Politik aber gilt selbstverständlich allein das
Volk, ja sogar das Volk in verschwommener Allgemeinheit; nicht als
Einzelvolk, als Nation, sondern als Summe von Weltbürgern.

Es ist nicht meine Absicht, alle Romane jener jungdeutschen Epoche
hier zu charakterisieren. In allen herrscht der gleiche, gärende
Geist, die gleiche Auflehnung des Einzelnen gegen die hergebrachte
Ordnung wie der Masse gegen das Gefüge des Staats und der Kirche.
Im übrigen sind sie verschieden genug. Da ist Karl ~Gutzkows~
»~Maha Guru~« (1833), dessen Schauplatz weitab in Tibet liegt,
dessen Angriffsobjekt aber doch das Christentum ist; da ist aus dem
Jahre 1835 desselben ~Gutzkow~ »~Wally, die Zweiflerin~«,
eine Fortsetzung dieses Kampfes gegen das Kirchentum. Die Heldin
zweifelt an allem, insbesondere auch an jeder Religion. Religion ist
ihr ein »Produkt der Verzweiflung«. Sie gibt sich schließlich selbst
den Tod. Der Roman knüpft an an die wunderbare Tatsache, daß Karl
Gutzkows Gattin Charlotte sich selbst den Tod gegeben hatte, um durch
diese Tat ihren Garten mit neuer dichterischer Kraft zu erfüllen.
Und wie diese Tat, welche das Werden des Romans mitbestimmte, so
ist die gesamte Ideenwelt desselben outriert, überleidenschaftlich,
schließlich unwahrscheinlich. Nicht vergessen soll werden, daß in
»Wally, die Zweiflerin« zugleich die Frau als Frau neue Geltung
beanspruchte. Die enge Verbindung, in welche hier Emanzipation der
Frau und Emanzipation von aller Religion, überhaupt von allem Gewissen
traten, ist für die Zukunft nicht ohne Einfluß geblieben.

Aber wir eilen vorwärts. Gutzkows »~Seraphine~« (1838), sein
Erziehungsroman »~Blasedow und seine Söhne~« (1838), die anderen
jungdeutschen Kraftromane können nur genannt werden. Aus der Sturm-
und Drangperiode des Zeitromans, die man etwa bis zur Revolution
datieren kann, retten wir uns in die Periode des ~abgeklärteren
Zeitromans~. Auch hier Tendenz, überall Tendenz. Aber die Tendenz
macht nicht mehr die Zeitdarstellung tot; sie läßt dieser größeren
Raum und größere Ruhe. Der Grad dieser Ruhe ist freilich verschieden.
Zwei Klassen des Zeitromans bilden sich, jenachdem die Tendenz
stärker oder schwächer ist, jenachdem die Darstellung weniger oder
mehr objektiv geraten ist. Wohl gehen beide Gattungen in einander
über, wohl kann man schwanken, welcher von beiden der eine oder
der andere Roman zuzuteilen ist. Aber es sei dennoch gewagt, die
~Unterscheidung~ festzuhalten ~zwischen dem tendenziösen und
dem objektiven~, oder, um vorsichtiger zu sein, zwischen dem mehr
tendenziösen und dem mehr objektiven ~Zeitroman~.

Die Zahl der Zeitromane der ersteren Art ist groß, zumal wenn
man nun alsbald auch in die späteren Jahrzehnte des Jahrhunderts
hineingreift. Gegen die Titanen der Revolution nimmt Stellung
A. ~Widmann~: »~Der Tannhäuser~«, gegen die irreligiöse Weltanschauung
Elisabeth ~Cantz~: »~+Eritis sicut Deus+~« (1854). Stark tendenziös
sind die Romane von ~Spiller von Hauenschild~ (Pseud.: Waldau),
von denen nur der 1851 erschienene »~Nach der Natur~« genannt sein
mag. Proletarisch-sozialistische Tendenzen verfolgt Robert Prutz
(besonders »~Engelchen~« 1851). Bedeutender sind die schon minder
stark tendenziösen späteren Romane von Karl ~Gutzkow~: »~Die Ritter
vom Geist~« (1850/51) und »~Der Zauberer von Rom~« (1856/61),
die Schöpfungen Friedrich ~Spielhagens~, von denen insbesondere
»~Problematische Naturen~« (1860/61), »~Die von Hohenstein~« (1863),
»~In Reih und Glied~« (1866) hierher zu rechnen sind, und von noch
späteren Werken diejenigen von Paul ~Heyse~: »~Die Kinder der Welt~«
(1873) und »~Im Paradiese~« (1885). Zu eingehenderer Betrachtung
greife ich heraus: Gutzkow »Die Ritter vom Geist«, Spielhagens
»Problematische Naturen« und Heyses »Kinder der Welt«.

~Gutzkows~ »~Ritter vom Geist~« geben sozusagen das Programm
des gesamten Zeitromans der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Ein
ausführliches Vorwort gibt darüber Auskunft. Der Roman erlebt eine
neue Phase. Er soll mehr werden, als der Roman von früher war. »Der
Roman von früher .... stellte das ~Nacheinander~ kunstvoll
verschlungener Begebenheiten dar. Diese prächtigen Romane mit ihrer
klassischen Unglaubwürdigkeit! .... Oder wer sagte Euch denn, ihr
großen Meister des alten Romans, daß die im Durchschnitt erstaunlich
harmlose Menschenexistenz gerade auf ~einem~ Punkte soviel
Effekte der Unterhaltung sammelt, daß ohne Lüge, ohne willkürliche
Voraussetzung sich alle Bedingungen zu Eurem einzigen behandelten
kleinen Stoffe zuspitzen konnten?« Der alte Roman ist unwahr geworden,
weil er die lebenslangen Strecken, welche zwischen einer Tat und ihren
Folgen liegen, beiseite warf. Er ließ dadurch die alte Wahrheit von
der -- unwahren, erträumten Romanwelt siegen. »Der neue Roman ist der
Roman des Nebeneinander. Da liegt die ganze Welt, da ist die Zeit wie
ein ausgespanntes Tuch ...... Nun fällt die Willkür der Erfindung
fort. Kein Abschnitt des Lebens mehr, der ganze runde, volle Kreis
liegt vor uns; der Dichter baut eine Welt und stellt seine Beleuchtung
der Wirklichkeit gegenüber. Er sieht aus der Perspektive des in
den Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich
ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, eigentümlich, leider
polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengerückt.«

Von diesem Programm verspricht sich Gutzkow Gewaltiges. »Resultat:
Durch diese Behandlung kann die Menschheit aus der Poesie wieder
den Glauben und das Vertrauen schöpfen, daß auch die moralisch
umgestaltete Erde von einem und demselben Geiste doch noch könne
göttlich regiert werden.« Diese hochfliegenden Pläne lassen wir
beiseite. Ihre Haltlosigkeit liegt auf der Hand. Was aber das eben
nach der Vorrede zu den »Rittern vom Geist« entwickelte Programm
betrifft, so ist es, wie gesagt, in der Tat dasjenige des neuen
Zeitromans geworden. Keine unwahrscheinliche Verknüpfung eines
Nacheinander von Ereignissen, die in Wirklichkeit doch nicht
nacheinander kommen, sondern ein Gesamtbild der bestehenden Welt in
ihren mannigfachen Einzelerscheinungen soll seinen Inhalt bilden: ein
Querschnitt, nicht ein Längsschnitt soll er sein. Allerdings, so sehr
Gutzkow mit der Polemik gegen das ~unnatürliche~ Nacheinander
Recht hat, so wenig kann der Roman nur ein ~Neben~einander geben:
er müßte ja sonst auf jede Handlung verzichten. Und dann: so gewiß
das Nebeneinander trefflich dazu dienen wird, ein Welt- und Zeitbild
im großen Stil zu geben, -- man braucht doch nicht zu fordern, daß
jeder Roman die ~ganze~ Welt schildere; warum soll er nicht ein
Einzelbild herausgreifen? Mehr Natürlichkeit! Mehr Wirklichkeit! Mehr
umfassende Weltdarstellung! Mit diesen Forderungen hatte und behielt
er Recht. Aber der Roman muß, weil er Erzählung ist, auch Handlung
geben, und er muß diese Handlung aus den handelnden Menschen ableiten.
Dies ~Ineinander~, nicht bloß Nebeneinander, von Welt, Mensch und
Handlung hat Gutzkow zu fordern vergessen.

Die »Ritter vom Geist«, welchen Gutzkow dies kräftige Vorwort
mitgegeben hat, bilden denn auch keineswegs ein absolutes
Nebeneinander. Vielmehr bringen sie durchaus auch fortschreitende
Handlung. Sie vergessen auch keineswegs, daß Menschenwille und
-Charakter die wichtigsten Faktoren bei allem Geschehen sind; die
Psychologie spielt in ihnen keine geringe Rolle. Die Aufgabe, die
Welt im Querdurchschnitt zu zeigen, erfüllt dieser Roman vollauf;
nur daß er hierin sogar des Guten zuviel getan hat. Neun Bücher! Und
keineswegs kurze! Wahrlich, es war nötig, daß der Verfasser am Anfang
der Vorrede dem Leser zurief:

»Es wird eine lange, weite Wanderung werden, lieber Leser, zu der ich
dich auffordere! Rüste dich mit geschäftslosen Sonntagsvormittagen und
einem guten, aushaltenden Gedächtnis! .... Werde nicht müde, wenn du
unabsehbare Ebenen erblickst, sich der Weg zwischen gefahrvolle, nicht
endende Gebirgspässe zwängt, oder die Landstraße plötzlich sich wie in
die Wolken zu verlieren scheint!«

Diese unsagbare Breite dieses Romans, wie auch des folgenden »~Der
Zauberer von Rom~«, hat es denn glücklich zu Wege gebracht, daß
kein Mensch mehr sie liest. Ein halbes Jahrhundert -- und sie sind
vergessen!

Soll ich Ihnen die Fabel der »Ritter vom Geist« darzustellen
versuchen? Sie macht die Bedeutung des Romans nicht aus. Im Gegenteil;
sie ist neben der ungeheuerlichen Breite seine Schwäche. Die Handlung
angesehen, ist man versucht, dem Werk schlankweg den Titel des
Abenteurerromans zu geben. Vor allem ists nicht ~ein~ Faden,
den der Dichter verfolgt, sondern eine ganze Zahl. Nr. 1: Die Brüder
Wildungen glauben Anspruch auf Besitztum zu haben, das in Händen
des Templerordens war. Der eine der Beiden entdeckt die beweisenden
Urkunden, verschlossen in einem hölzernen Schrein. Eben dieser wird
ihm gestohlen. Er sucht ihn und erlebt auf der Suche Abenteuer um
Abenteuer. Er wird eines verkleideten Prinzen nächster Freund und
Duzbruder, wird selbst für eben diesen Prinzen gehalten, verliebt sich
in dasselbe Mädchen, welches der Bruder liebt. Endlich, endlich kommt
der Schrein zum Vorschein, der Prozeß wird gewonnen. Inzwischen ist
aber der eine Bruder ins Gefängnis geworfen, aus dem er abenteuerlich
befreit wird. Ein Feuer, das im Wirtshaus ausbricht, vernichtet den
Schrein. -- Nr. 2: Das Fürstentum Hohenberg ist vakant; der Erbe lebt
im Ausland, mag auch die Erbschaft nicht antreten, weil die Passiva
größer sind als die Aktiva. Als Handwerksbursch verkleidet, kommt er
doch in die Heimat, ins fürstliche Schloß. Dort will er sich eines
Bildes bemächtigen, in welchem wichtige Familienpapiere aufbewahrt
sind. Als Dieb wird er in den Turm geworfen. Jener Wildungen, der
dieses Prinzen Duzfreund so rasch geworden ist, nützt, um ihm das Bild
zu verschaffen, die Liebe seiner Angebeteten aus. Diese benützt listig
ein Rendezvous mit einer Exzellenz im Möbelwagen als Mittel, das
Bild zu beschaffen. Es kommt in die Hände des Prinzen; der Prinz ist
aber gar nicht der legitime fürstliche Erbe, sondern der Sproß eines
illegitimen Verhältnisses der Fürstin. Sein richtiger Vater ist gerade
aus Amerika heimgekehrt ... Der Pseudoprinz wird späterhin Minister.
Nr. 3: Im Haus eines angesehenen Justizrats wird ein Junge erzogen,
der, gleichfalls von illegitimer Geburt, Sohn einer vornehmen Dame und
eines Verbrechers, allerhand gefährliche Instinkte besitzt. Er bringt
die Tochter des Justizrats in Gefahr, er macht kostbare Pferde rasend,
indem er ihnen Spitzkugeln in die Ohren praktiziert, er nachtwandelt
in allen möglichen Situationen, erschreckt die justizrätliche Familie,
besonders jene Tochter; schließlich kommt er in eben jenem Brande
um, in welchem der Schrein sein Ende findet. Und an diese Nummern
1-3 könnte ich leicht weitere knüpfen. Aber zur Charakteristik des
Ganzen genügt es, wenn allenfalls noch hinzugefügt wird, daß die
Verwechselungen, die Mißverständnisse und endlich die Aufklärungen
der Handlung an mehr als einer Stelle auf die Sprünge helfen müssen.
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß mit dieser Handlung kein Staat zu
machen ist. Was Gutzkow am alten Roman aussetzte, hat er selbst nicht
vermieden: klassische Unglaubwürdigkeit, farbenreiche Gebilde des
Falschen, Unmöglichen, willkürlich Vorausgesetzten. Er selber nannte
die Menschenexistenz im Durchschnitt erstaunlich harmlos. Und was für
Merkwürdigkeiten hat er dann -- nicht nacheinander, aber doch eng
nebeneinander -- gehäuft!

Die Bedeutung des Romans -- er besitzt solche trotz alledem --
liegt also anderswo. Sie liegt lediglich in dem Zeitbild, welches
er in bisher ungekannter Gründlichkeit gibt. Es entbehrt nicht der
Tendenz; hatte doch schon das Vorwort gesagt, der Dichter stelle
seine Beleuchtung der Welt derjenigen der Wirklichkeit gegenüber.
»Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu,
eigentümlich, ~leider~ polemisch.« Die eigene Stellung des
Dichters läßt aber doch auch die anderen Strömungen zu ihrem Rechte
kommen. Um das Preußen nach 1848 handelt sichs. Die Reaktion ist oben
auf; sie wird verdeutlicht durch den »Reubund«. Der hat es sich zur
Aufgabe gesetzt, durch Einwirkung auf die öffentliche Meinung dem
Fürstenhaus zu erkennen zu geben, daß das Volk die revolutionären
Stürme bereue. Die kirchliche Reaktion stellt Propst Gelbsattel
dar, ein Mann von konservativster Gesinnung, ein Bewunderer der
Jesuiten, die mit ihrer Organisationskunst und ihrer Lebenskraft
sich die Aufgabe gestellt haben, die geistige Herrschaft der Kirche
zu retten. Neben diesen prinzipiellen Vertretern der Reaktion stehen
Typen eines praktischen Realismus: an ihrer Spitze der Justizrat
Schlurck, der wohl »Anfälle von Aberglauben, ja von Mystik« hat, im
Grund aber ein völlig grundsatzloser Zweifler ist. »Die Staatsformen
wechseln, aber die Forellen bleiben,« das ist sein Grundsatz. »Ein
Mann in meiner Stellung, .... was kann der tun, wenn man ihm sagt:
Das Interesse des Staats verlangt jetzt auch Ihre Beihülfe! Auch
Sie müssen teilnehmen an der Wiederherstellung der Monarchie und
des sicheren Kraftgefühls der Regierung! .... Sehen Sie, schon das
ist ja etwas wert, wenn es die Reaktion durchsetzt, daß Einer mit
Behaglichkeit wieder in ein Bad reisen kann.« »Ich war Mitglied aller
Bibelgesellschaften, aller Missions-, aller Gustav-Adolfvereine. Ich
hielt mich anfangs zum konstitutionellen Angstklub, ich bin jetzt
Reubündler; was soll ich mich dabei aufhalten, den Leuten zu sagen,
warum .... ich es nicht bin.« Dem gleichen politischen Realismus
huldigt auch Pauline von Hardenberg, eine Schriftstellerin nach
Art der Jungdeutschen, dann plötzlich übertriebene Monarchistin,
Hauptanstifterin kontrerevolutionärer Schläge, schließlich aber
wieder Führerin der Fronde, weil ihr glühender Ehrgeiz nicht erfüllt
wird, zu den kleinen Zirkeln zu kommen, die sich um das Herrscherpaar
versammeln und in denen »das System« gemacht wird. Ihnen allen
gegenüber stehen die Ideen des jungen Prinzen, die er allerdings nicht
in die Praxis umsetzt. Auch er ist Neuerungen nicht abhold. »Solange
nicht die Arbeit selbst an den Thron für sich redend tritt und die
Bureaukratie aufhört, der Dolmetscher der Interessen der Arbeit
zu sein, kann es nicht besser werden. Es fehlen uns Staatsmänner,
die ihre Schule im Volke gemacht haben.« Der Staat darf sich nicht
nur auf die Institutionen der Gewalt stützen; er muß sich durch
den Schutz der Arbeit, der Industrie, des Handels, des Ackerbaus
befestigen. Der Adel ist nicht aufzuheben, sondern ihm ist das
natürliche Nachwuchssystem zu belassen. In manchem verwandt und doch
viel radikaler sind die Anschauungen Dankmars Wildungen, die des
Dichters eigene wiedergeben. Er vertritt die Demokratie. Fort mit den
Vorrechten des Adels nicht nur, sondern fort mit diesem selbst! Sonst
ist kein Heil für die Menschheit. Dies Heil liegt in der Fortbildung
der Freiheit. Mit dem Bestand von Dynastien könnte er sich aussöhnen,
wenn er darin diese Fortbildung gesichert sähe. Aber die Monarchie ist
ein Hindernis der Freiheit, denn sie züchtet durch Ehrenzeichen und
Titel die Eitelkeit. Anderseits will auch er keine Revolutionen, keine
allgemeine Zerstörung. Darum predigt er eine andere Gleichheit als die
der Volksversammlungen, als die des Pöbels. Die besonnene Demokratie
schwebt ihm als Ideal vor, und in ihrem Namen ruft er die Ritter vom
Geist zum Bund gegen die Reaktion auf. Die Einzelheiten dieses Bundes
sind etwas romantisch gedacht, aber wir können sie getrost beiseit
lassen.

Wir sehen: die Gedankenwelt des Romans führt uns tief, sehr tief
in die Politik. Ein Bild der politischen Zustände und Meinungen
gibt Gutzkow, das allseitig orientiert und mit staunenswerter Treue
durchgeführt ist. Das Preußen nach der Revolutionszeit, die Zustände
am Hof Friedrich Wilhelms +IV.+, die politischen Strömungen,
die Geistesrichtungen -- das alles ist scharf erfaßt und klar
wiedergegeben. Und das ist es, was diesen Roman vor vielen anderen
auszeichnet. Er ist in der Anlage der Handlung mißglückt, durch seine
unendliche Breite ungenießbar, er ist weitab von der Kunst, Handlung
und Mensch wirklich in Eins zu setzen und so die Handlung aus den
Menschen hervorgehen, die Menschen aus ihrem Handeln klarwerden zu
lassen. Aber er betont mit all seiner Einseitigkeit wirkungsvoll die
Aufgabe des Romans, ein wahres Weltbild zu geben. Und darum darf er
nicht vergessen sein.

Wir überspringen genau ein Jahrzehnt. Aus den Jahren 1860/61 bezw.
1863 stammt ein anderer, gleichfalls weitberühmter politischer
Tendenzroman, der aber in seiner Eigenart nicht nach den Gutzkowschen
beurteilt werden darf: ~Friedrich Spielhagens~ erster großer
Roman: »~Problematische Naturen~«, dessen Fortsetzung dann die
Bände »Durch Nacht zum Licht« bilden. Das Werk führt auf die Insel
Rügen, in die Kreise des Landadels. Ins Schloß Grenwitz kommt als
Hauslehrer Oswald Stein, ein idealistisch gerichteter Demokrat und
Adelshasser. Ihm schließt sich eng der ältere seiner Schüler an, ein
Verwandter des Hauses, namens Bruno. Oswald bewährt noch eine andere
merkwürdige Anziehungskraft: die Frauen fliegen ihm zu wie die Motten
dem Licht. Frau Melitta von Berkow, deren Mann in geistiger Umnachtung
lebt, wirft sich ihm in schrankenloser Liebe an den Hals, die jungen
adligen Damen reißen sich um ihn, endlich wendet sich ihm auch das
Herz der schönen Tochter des Hauses, Helene, zu. Diese Helene aber
soll einen verlebten Verwandten, Felix von Grenwitz, heiraten. Sie
schlägt ihn aus; die jungen Adligen provozieren zugleich einen Streit
mit Oswald, der sie im Pistolenschießen und bei den Damen aussticht.
Im Duell verwundet er Felix schwer. Bruno stirbt in gleicher Nacht und
Oswald verläßt das Haus. Oswald ist aber, wie durch den leichtsinnigen
Geometer Timm herauskommt, niemand anders als der uneheliche Sohn des
früheren Herrn von Grenwitz, der berechtigte Erbe zweier Güter des
Grenwitzschen Besitzes. Soweit die Erzählung in den »Problematischen
Naturen«. »Durch Nacht zum Licht« führt in die Revolution hinein, der
auch Oswald Stein zum Opfer fällt.

Wie Gutzkows »Ritter vom Geist« die Zeit ~nach~ 1848, so
schildern die »Problematischen Naturen« die Zeit ~vor~ 1848.
Aber das Bild, das sie geben, ist weder so umfassend noch so wahr.
~Nicht so umfassend~: denn wenn auch die wichtigsten Schichten
der Gesellschaft ihre Repräsentanten finden, so ist doch bei ihrer
Zeichnung viel stärker als bei Gutzkow das persönliche, individuelle
Moment betont. Gutzkow gibt Typen bestimmter Anschauungen,
charakteristischer politischer Richtungen. Ihn interessiert der
Mensch fast nur, soweit er politische Anschauungen hat. Spielhagen
geht viel tiefer ins Psychologische hinein. Er vergißt nicht,
daß der Mensch in erster Linie als Einzelwesen, und erst sehr in
zweiter Linie als ζῶον πολιτικὸν in Frage kommt. Eben darum vermag
er es nicht, derart umfassend, wie Gutzkow getan, die Zeit zu
schildern. Wenn aber Gutzkows Forderung, daß der Roman den ganzen
Weltteppich zu schildern habe, unberechtigt ist, so liegt eben in
Spielhagens Selbstbeschränkung Kunst und Einsicht. Ein Zeitbild
gibt er ja trotzdem: es beschäftigt sich vor allem mit den Kreisen
des Landadels. Daneben stehen aber auch Typen des Bürgertums: der
Universitätsprofessor, der Landpastor, Landärzte, ein Kandidat der
Theologie, der umsattelt und Mediziner wird, ein Geometer, eine
Haushälterin, endlich eine Zigeunerin und ein paar Landleute. Das Bild
ist kleiner als das Gutzkowsche; groß genug ists immerhin.

Schwerer wiegt, daß es ~nicht so wahr~ ist wie dasjenige
Gutzkows. Ich rede hier nicht von der ländlichen Umgebung, die
freilich, soweit sie nicht in Meer, Kreidefelsen und Wäldern besteht,
kein Leben gewinnt. Die paar Gestalten, welche hier auftauchen, geben
keine Anschauung vom Landvolk. Gut, das hat Spielhagen auch nicht
gewollt. Auch davon will ich nicht sprechen, daß der Bürgerstand wohl
in einigen Exemplaren vorgeführt wird, daß aber auch seine Art, sein
Wesen, seine Gesamtexistenz im Dunkeln bleibt. Den braven Bemperlein
in allen Ehren, den +Dr.+ Braun nicht minder, -- sie bleiben
doch, losgelöst von ihrer Umgebung, wie sie vorgeführt werden, allzu
vereinzelt, um einen Eindruck vom Ganzen zu gewähren. Wo aber der
Bürgerstand Spielhagen nicht sympathisch ist, da wird schon hier
die Zeichnung geradezu unwahr. Das Bild des Pastors Jaeger ist eins
der Pastorenzerrbilder, die bei Spielhagen auch sonst herumspuken,
-- immer unwahr und immer schief. Aber das Hauptgewicht fällt auf
den Adel. Wie steht es da um die Wahrheit? Helmut Mielke sagt mit
bezug hierauf: »Man hat den Dichter der Übertreibung gescholten und
ihm damit Unrecht getan; seine Schilderung z. B. des Ballfestes der
Junkergesellschaft hinterläßt eher den Eindruck, daß er häßliche
Details der Wirklichkeit unterdrückt als ans Licht gezogen hat.«
Hier widerspreche ich entschieden. Das Bild ist unwahr durch und
durch. Dieser Cloten z. B. ist so unglaublich albern, daß er in ein
Karikaturenblatt gehört. Melitta von Berkow, Emilie von Breesen
beginnen +sans façon+ allerliebste Liebschaften mit dem
Hauslehrer eines anderen Hauses: lauter völlig verzeichnete Szenen.
Die ganze Stellung Oswalds in dieser Umgebung ist einfach unmöglich.
Ist der Hochmut und die Arroganz des Adels so groß, wie er beständig
gemacht wird, dann nimmt eben der Hauslehrer nicht an allen Bällen
teil, dann wird er eben nicht Liebling aller Frauen, Intimus eines
Barons. Ich führe das nicht weiter aus; nur bezüglich des Ballfestes
bei den Barnewitz halte ich gleichfalls ausdrücklich den Vorwurf der
Übertreibung aufrecht.

Indes der Titel des Romans deutet an, daß dem Dichter der
Hauptnachdruck weniger auf dem Milieu, als auf den einzelnen
»problematischen Naturen« gelegen hat. Problematische Naturen!
+Dr.+ Braun nennt sie »eine in unseren Tagen ziemlich weit
verbreitete Spezies +generis humani+, Nachkommen des weiland vom
Teufel geholten Doktor Faustus, +Faustuli posthumi+, so zu sagen,
die den langen Dozentenbart abgeschnitten, auch nicht im romantischen
Ritterkostüm, sondern einfach im modernen Frack einherspazieren; im
übrigen aber auf gut faustisch von Begierde zu Genuß taumeln und im
Genuß nach Begierde verschmachten.« Sie haben das Größte vor, die
+aurea mediocritas+ ist für sie umsonst gepredigt, aber sie
erreichen das Ziel nie, weil es ihre Kräfte überragt. Sie haben vor
sich die »blaue Blume«. »Wissen Sie, was das ist? Das ist die Blume,
die noch keines Sterblichen Auge erschaute und deren Duft doch die
ganze Welt erfüllt. Nicht alle Kreatur ist fein genug organisiert,
diesen Duft zu empfinden; aber .... all die närrischen Menschen waren
es und sind es, die früher und jetzt in Prosa und Versen dem Himmel
ihr Weh und Ach klagten und klagen, und noch Millionen dazu, denen
kein Gott gab, zu sagen, was sie leiden, und die in ihrer stummen
Qual zum Himmel blicken, der kein Erbarmen mit ihnen hat. Ach, und
aus dieser Krankheit ist keine Rettung, -- keine als der Tod. Wer
nun einmal den Duft der blauen Blume eingesogen, für den kommt keine
ruhige Stunde mehr in diesem Leben!«

Und wirklich, in der Art, wie Spielhagen diese problematischen,
rätselhaften Naturen geschildert hat, liegt auch der Hauptwert seines
Buchs. Er hat damit ein Problem der Seelenkunde angerührt, das zu
den dankbarsten gehört. Indem er sich diesem Problem zuwandte, hat
er freilich die Wahrscheinlichkeit seiner Darstellung nicht erhöht;
mag auch in der Zeit vor den 1848er Märztagen diese Spezies von
Naturen nicht rar gewesen sein; sie finden sich hier doch ein wenig
zu zahlreich. Da ist Oswald selbst, der die kühnsten Pläne, die
stolzesten Ideen hat, der aber in der größten Gefahr ist, um des
Weibes, besser um der Frauen willen, den von ihm gehaßten Junkern
frappant ähnlich zu werden, der den Genuß in jeder Gestalt zu
würdigen, ja sogar raffiniert auszukosten weiß, und der doch solche
melancholischen Anfälle hat, daß ihm das Leben wie ein dumpfer,
beängstigender Traum erscheint, der eines Freiherrn Blut in seinen
Adern hat, aber sein Leben der Sache der Freiheit opfert. Neben ihm
ist die am meisten problematische Natur der Baron Oldenburg, der
einzige Gescheute und Edle in der ganzen Junkergesellschaft, der seine
Standesgenossen verspottet, den Hauslehrer zu seinem Freund macht, im
Grund aber immer ein Aristokrat bleibt, der alle Genüsse ausgekostet
hat und jeden neuen Genuß mitnimmt, aber immer unbefriedigt, immer
sehnsuchtsvoll bleibt. Da ist Melitta von Berkow, die Schöne und
Kluge und Stolze, die doch so unendlich rasch Herz und Zurückhaltung
verliert. Gewiß, interessante Rätselgestalten, die dem Roman ein
eigenes Gepräge geben!

Über die »Problematischen Naturen« urteilt Bartels: »Im Grunde hat
Spielhagen dies Werk nicht übertroffen und ist auch ein Darsteller
problematischer Naturen geblieben; fast in allen späteren Romanen
wirkt er in der Hauptsache mit denselben Ingredienzien; die Anschauung
wurde im ganzen nicht reifer und freier, die inneren Erlebnisse aber
fielen weg.« Ich möchte hinzufügen: er ist späterhin in manchen, nicht
in allen seinen Prosadichtungen auf eine niedere Stufe gesunken,
auf die des Salonromans. Die »Problematischen Naturen« aber geben ein
Bild der Schattenseiten und der Vorzüge seiner Romane. Ihr größter
Ruhm ist eine Kunst der Darstellung, welche mannigfache Fäden zieht,
aber alle mit einander verwebt und so eine spannende, einheitlich
gefaßte und mehr und mehr konzentrierte Handlung zu wirkungsvollem
Abschlusse bringt. Hierin übertrifft er ~alle~ Vorgänger.
Zugleich gewinnen seine Personen ein wirklich persönliches Leben, und
dies psychologische Moment verbindet er mit dem Gange der Handlung.
Allerdings ist diese Verbindung nicht überall eng: Geschichten wie
diejenigen von der Entdeckung der freiherrlichen Abstammung des Helden
Oswald bilden einen geradezu störenden romantischen Einschlag in
die naturgemäß verlaufende Handlung, wie denn auch sonst zahlreiche
Unwahrscheinlichkeiten in Kauf zu nehmen sind. Ferner bemüht er sich
ernstlich, ein lebendiges Bild der Zeitverhältnisse, in denen seine
Menschen leben, zu entwerfen. Nur daß das Wort »Zeitverhältnisse«
vielleicht schon zu weit greift; Zeit~stimmungen~ liegen ihm mehr
noch als äußere Umstände, als das eigentliche Milieu. Immerhin, was
gab er für Revolutionsschilderungen! Hier lag sein eigenstes Gebiet.
Hier war ja auch ein Handeln, das zugleich ganz und gar Stimmung war.
Endlich muß man im Gedächtnis behalten, daß er Tendenzschriftsteller
war: in ihm loderte die adelhassende demokratische Gesinnung. Warum
sollte er nicht solche Tendenz zum Ausdruck bringen? Der Wert seiner
Werke sinkt für das objektive Urteil dadurch keineswegs. Aber, wie
ausgeführt, die Tendenz ließ keine absolut wahre Schilderung zu.

Auch die späteren Romane Friedrich Spielhagens kranken z. T. an diesem
Übermaß von Tendenz. »~Die von Hohenstein~« (1863) setzen den
Kampf gegen den Adel mit einseitiger Ausschließlichkeit fort, »~In
Reih und Glied~« steht unter dem Zeichen Lassalles. Der Anspruch
des empordrängenden vierten Standes macht sich energisch bemerkbar.
Aber das Problem wird nicht sachlich durchgeführt: der Held, eine
heroische Natur, geht eigene Wege und diese eigenen Wege führen zu
einer höchst persönlichen Katastrophe, -- ganz wie beim wirklichen
Lassalle. Die politischen Einschläge des Romans, Prinz wie Adel und
Militär, zeigen auch hier den fast fanatischen Haß des Oppositionellen
gegen jene führenden Klassen. »~Hammer und Amboß~« endlich will
die soziale Frage lösen, freilich nur in der Idee. Die Lösung liegt
in den Herzen der Menschen. Warum sind die Einen nur Hammer, die
anderen nur Amboß? In Wirklichkeit ist doch »jedwedes Ding und jeder
Mensch in jedem Augenblick beides zu gleicher Zeit.« Was die Welt
verschlechtert, ist »die Wut zu befehlen und die sklavische Gier, sich
befehlen zu lassen.«

Es sind z. T. Meisterwerke in Kraft und Spannung, die uns hier
begegneten. Politisch-tendenziös sind sie alle. Auch in anderem Sinn
soll uns Spielhagen später begegnen. Inzwischen aber lassen wir nach
den »Problematischen Naturen« wieder ein Jahrzehnt vergehen, um
einem anderen Typus des tendenziösen Zeitromans näher zu treten. Die
Politik hat aufgehört zu herrschen; die Fragen der Weltanschauung
dominieren. Das entspricht nur dem Gange der Zeit. Um die Mitte des
Jahrhunderts absorbierte die Politik die besten Kräfte, eine Unsumme
von Interesse. Da griff auch der Romandichter ins politische Leben
hinein, es zu beschreiben und -- zu beurteilen. Aber nun war das neue
deutsche Reich gegründet; die eminentesten Lebensfragen der deutschen
Nation waren gelöst. Es wäre sicher eine Unmöglichkeit gewesen, mit
einem eigentlich politischen Roman derart auf die ~allgemeine~
Teilnahme zu stoßen, wie man das ein oder erst recht zwei Jahrzehnte
früher erwarten mußte. Um so mehr traten die Fragen der Weltanschauung
hervor. Nicht sie allein; Spielhagens »~Sturmflut~« geißelt
als einen Schaden der Zeit den Gründerschwindel. Aber die
Weltanschauungsfragen, dazu die des im Anzug begriffenen Sozialismus
waren jedenfalls Fragen der Zeit. ~Paul Heyse~ wagte den Wurf,
sie in großem Zeitroman zu erörtern. Er schrieb 1873 »~Die Kinder
der Welt~« und ließ später ähnliche Versuche folgen. »~Im
Paradiese~« (1876) schildert das Münchener Künstlerleben; »~Der
neue Merlin~« (1892) polemisierte gegen die Modernen in der
Literatur. Am umfassendsten ist das Zeitbild, welches »~Die Kinder
der Welt~« entrollen. Es muß genügen, bei ihm ein wenig länger zu
verweilen.

Den Gang der Handlung dieses Romans ausführlich wiederzugeben, kann
ich mir ersparen. Alles dreht sich um das Lebensgeschick eines jungen
Privatdozenten der Philosophie, der mit seinem kränklichen Bruder,
der ein wenig Drechslerei treibt, in einem Berliner Hinterhaus eine
Stube primitiver Art, die sogenannte »Tonne«, bewohnt. Er verliebt
sich sterblich in eine problematische Schöne, genannt Toinette,
natürliche Tochter eines Fürsten. Sie kann nicht lieben und darum auch
ihn nicht lieben; als das klar ist und gleichzeitig auch der Bruder,
der in idealer Hingebung ihr Herz für den Helden Edwin gewinnen
wollte, stirbt, wird er krank und heiratet dann die Tochter eines
christlichen Malers und einer jüdischen Mutter, Lea König, nicht ohne
sie ernstlich zu lieben. Er wird Gymnasiallehrer, um einen Hausstand
zu gründen. Auf einer Ferienreise begegnet er wieder seiner Toinette.
Sie hat, ihrem Hang zu »herzoglichem« Auftreten nachgebend, inzwischen
einen gräflichen Anbeter erhört und lebt als stolze Gräfin auf
stattlichem Schlosse. Doch nun ist in ihr die »Fähigkeit der Liebe«
wachgeworden; und die Folge ist die, daß sie ihren Grafen völlig
ignoriert, als Edwin aber kommt, diesem gehören will. Da kämpft Edwin
einen schweren Kampf; Liebe zu Toinette und Liebe zu Lea streiten
in ihm. Die Treue siegt; er flieht Schloß und Versuchung. Toinette
will ihm folgen, findet aber nicht ihn, nur seine Gattin, und gibt
sich, besiegt von deren Liebe, selbst den Tod. Edwin und Lea finden
dauerndes Glück.

Muß ich um Verzeihung bitten, wenn diese Inhaltsangabe ein ganz klein
wenig ironischen Beigeschmack hat? Ich glaube, das hat in der Sache
selbst seinen Grund. Was für sonderbare Dinge mutet Paul Heyse dem
Leser zu! Der Privatdozent mit dem drechselnden Bruder in ~einer~
Stube des Hinterhauses; dürftig gekleidet, kaum den Anstand wahrend.
Ja, kommt denn nie ein Student zu diesem Dozenten? Lea, sonderbarer
Weise gerade der Sproß einer christlich-jüdischen Mischehe! Toinette,
das übliche illegitime hochgeborene Wesen, wie solches in diesen
Tendenzromanen feststehendes Requisit ist: eine ganz sonderbare
Leidenschaft, immer Existenzen in den Mittelpunkt zu stellen, an denen
irgend etwas unklar ist! Und nun gar die merkwürdigen Eigenschaften
dieser Toinette, die eine Art Geburtsfehler sein sollen: weil ihre
Mutter ohne Neigung zu jenem Fürsten nur auf Druck und Zwang hin
seinen Anträgen Folge gegeben, so hat sie ein kaltes Herz mitbekommen
--; aber sie hats doch wieder nicht als unveräußerliche Eigenschaft
erhalten, sondern nur auf Zeit. In Summa: es sind keine Gestalten von
Fleisch und Blut, die in den »Kindern der Welt« umhergehen, sondern
Schemen aus der Welt der Ideale. Dieser Edwin, seine Lea, vor allem
sein Bruder Balder, -- erdentrückte Traumgestalten!

Vielleicht habe ich bei den äußeren Vorgängen schon zu lange verweilt.
Sie sind dem Dichter wirklich nicht die Hauptsache. Im Gegenteil; sie
sind ihm in erster und letzter Linie nur die Träger seiner Ideen.
Auf der Gedankenwelt, welche sie äußern und glücklicherweise bis
zu einem gewissen Grad auch betätigen, liegt alles Gewicht. Zwei
große Heerlager stehen einander gegenüber: die »Kinder der Welt«
und die »Kinder Gottes«. Einige Typen der »Kinder Gottes« mögen
voranstehen. Die Professorin Valentin ist das Muster einer streng
christlichen, in der Liebestätigkeit unermüdlich tätigen Dame.
Zahllose Vereine absorbieren ihre Zeit. Aber auch in der Liebe ist
sie sittenrichterlich streng. Ein gefallenes Mädchen, das sie früher
beschäftigt, findet bei ihr keine Arbeit mehr; wohl aber bekommt es
ein paar Taler und eine Empfehlung an ein Asyl. Dogmatisch denkt
sie sehr eng; jede freie Richtung ist ihr verhaßt; ein heiliger
Bekehrungseifer, rege Sorge um anderer Seelenheil mischt sich
mit inniger persönlicher Anteilnahme am Geschick Nahestehender.
Heuchlerischer Frömmigkeit gegenüber fehlt ihr unterscheidende
Menschenkenntnis. Ein Typus, der zu den gelungensten des Romans
gehört, wenngleich mancher Einzelzug gemildert werden müßte. -- Ein
braver, edler Mensch und Christ ist der Maler König, Leas Vater.
Schlichte, demütige Frömmigkeit scheint Heyse in ihm verkörpern
zu wollen. Und zwar verbindet sie sich mit der wärmsten Liebe zu
den Seinen. Sollte in diesem Charakter angedeutet werden, wie die
christliche Demut zu weit gehn kann? Aber wir dürfen doch jene andere
Szene nicht vergessen, da die Familie mit einem für Lea in Aussicht
genommenen frommen Schwiegersohn im öffentlichen Gartenlokal durch
die Witzeleien der am Nachbartisch die schöne Lea beobachtenden
Offiziere getränkt wird. Der Bewerber findet den Mut zur Abwehr nicht,
aber König selber findet ihn und erringt in vornehm-ruhiger Abwehr den
entschiedenen Sieg. -- Von anderem Schlage ist der Kandidat Lorinser,
dem seine mystische Frömmigkeit Deckmantel der abgefeimtesten
Bosheit ist, der an Aufdringlichkeit, Heuchelei und Scheußlichkeit
das Menschenmögliche leistet, dem keine Reinheit unberührbar und
keine Wohltätigkeit unbetrügbar ist. Soll dieses Scheusal von einem
Menschen die Theologen versinnbildlichen? Es scheint fast, daß er als
bezeichnend für einen Teil derselben gelten soll; sonst findet sich
nur noch das flüchtig hingeworfene Porträt eines zweiten Geistlichen,
der ~gegen~ den Wunsch des Angehörigen (man staune!) am Grabe von
Edwins herrlichem Bruder Balder erscheint und nichts als harte Worte
über Unglauben und ähnliches zu reden weiß. Gänzlich verzeichnete,
völlig verunglückte Charakterbilder! -- Endlich noch ein »Kind
Gottes«, eine Fürstin, ein »Kindskopf«, der theologisiert, eine
reizende blonde Gauklerin, ohne Charakter, die aber beständig von
Calvinismus, Irvingianismus und Herrnhutern peroriert; alles in allem
eine wenig wahrscheinliche Figur.

Den »Kindern Gottes« stehen die »Kinder der Welt« gegenüber. Gott sei
Dank! So wird dem Leser doch ordentlich wohl! Es sind ja auch ein paar
Leute darunter, die ihre Schwächen haben. Der Arzt Marquardt z. B.,
dessen sittliches Leben ein bischen zügellos ist und der eigentlich
auch den Luxus etwas weit treibt. Und dann jene Leutnants, die eine
ehrbare Dame beleidigen. Aber das sind ja selbstverständlich nur ein
paar Ausnahmen. Selbst jener Marquardt ist doch ein aufopfernder,
hilfsbereiter, selbstloser Freund. Und die anderen »Kinder der Welt«,
-- in deren Nähe wird jedem heimisch. Was für ein Prachtexemplar von
einem jungen Gelehrten, dieser Edwin! Welche Anspruchslosigkeit,
Bescheidenheit! Welch gänzlicher Mangel an Strebertum! Geld,
Gehalt, Avancement, Anstellung, alles Nebensache. Geld hat er auch
nie; trotzdem fährt er übrigens beständig Droschke, statt zu Fuß
zu gehen. Gegen den Bruder ist er von zärtlichster Fürsorge, von
freundschaftlichster Offenheit, von tiefster Liebe, wennschon die
eigenen Herzensangelegenheiten ihn zeitweis das Leiden des Bruders
fast vergessen lassen. Er ist von tadelloser sittlicher Reinheit;
seine eheliche Treue besiegt auch die schwerste Versuchung; er wird
stets ein musterhafter Gatte und Vater sein. Bei alledem ist er ein
Freidenker, ohne Glauben an Gott und Ewigkeit, ein Philosoph, der mit
jedem Glauben gebrochen hat. -- Weniger gelehrt, aber ebenso ungläubig
ist sein Bruder Balder, der anziehendste aller dieser Charaktere,
ein Mensch von völliger Reinheit, von zartester Empfindung, von
selbstverleugnender Bruderliebe. Er stirbt jung; und das ist ein Zug
richtigen dichterischen Taktes. Menschen von solcher überirdischen
Art gehören auf die Erde nicht. -- Edwins Gattin Lea kann gleichfalls
nicht glauben. Sie ist ein tief angelegtes, grüblerisches Gemüt. In
der Liebe zu Edwin verzehrt sie sich; erst als er den Weg zu ihr
findet, lebt sie wieder auf. Dann wird sie eine verständnisvolle
Gattin, eine beglückte, liebende Mutter. -- Eine problematische Natur
ist Toinette, über deren äußere Verhältnisse schon die Skizze des
Inhalts das Nötigste gesagt hat. Sie ist ein Zwitter von fürstlicher
Hoheit und Großartigkeit einerseits, von bürgerlicher Liebe und Treue
anderseits. Ihr fester Wille ist: nur in der Liebe gehören einem
Mann. Daß sie dennoch dem Grafen folgt, den sie ~nicht~ liebt,
findet freilich kaum eine halbe Erklärung. Aber dann kehrt sie, zumal
nach des einzigen Kindes Tod, zur Treue gegen sich selbst zurück. »Es
gibt nur eine Vornehmheit, sich selber treu zu bleiben«. Sie ist ein
»tapferes, freigeborenes Herz«.

Übergehen wir die anderen »Kinder der Welt«, die aufopfernden
Freunde Mohr und Franzelius, die einsame und dann doch in der Ehe
glückliche Christiane, das Reginchen und wie sie sonst heißen! Wir
wollen auch nicht untersuchen, ob die einzelnen Charaktere nach dem
Leben gezeichnet sind; eine Anzahl Fragezeichen wären da allerdings
zu machen. Nur eins soll konstatiert werden: in der Zeichnung und
Gegenüberstellung der »Kinder Gottes« und der »Kinder der Welt«
zeigt sich kein Ablauschen der Wirklichkeit, sondern faustdicke
Tendenzmalerei. Dem Dichter lag alles dran, seine Weltanschauung von
recht vielen möglichst sympathischen Personen tragen und aussprechen
zu lassen. Und diese Weltanschauung ist die der »Kinder der Welt«. So
spricht Toinette sie einmal aus:

-- »Wie soll sie verstehen, was mich den Gedanken, alles, was ich
leide, sei die Veranstaltung eines allwissenden, allmächtigen und
doch allerbarmenden Vaters, mit Hohn oder Abscheu zurückweisen läßt!
Wenn die Elemente meines Wesens, die mich vom Glück ausschließen,
durch eine große, blinde Fügung des Weltlaufs sich gefunden und
vereinigt haben und ich an dieser schlimmen Konstellation zugrunde
gehen muß, -- so ist das fatal, aber kein unerträglicher Gedanke. Ein
Gottvater, der mich unsägliches Geschöpf +de coeur léger+ oder
auch aus pädagogischer Weisheit so traurig zwischen Himmel und Erde
herumlaufen ließe, um mir später einmal für die verpfuschte Zeit eine
Gratifikation in der Ewigkeit zukommen zu lassen, -- nein, lieber
Freund, alle durchlauchtige und undurchlauchtige Theologie kann mir
das nicht plausibel machen.«

Zur Ergänzung dienen die Worte, mit denen das Buch schließt:

»Ist da (in unseren Menschenschicksalen) nicht Wonne und Weh
untrennbar verbunden und in den höchsten Augenblicken zu einer reinen
Stimmung verklärt, in der wir uns über unser kleines Selbst erheben,
der Schmerzen spotten und zu groß und feierlich empfinden, um uns zu
freuen? O Liebste, eine Welt, in der wir uns bis zu diesem Triumph
über das Schicksal, das eigene und das unserer Geliebten, aufschwingen
dürfen, in der das Tragische vom Hauch der Schönheit verklärt wird und
mitten im Schauder über den Tod die höchste Lebenswonne uns durchbebt,
bis Tränen unsere Brust erleichtern -- eine solche Welt ist nicht
trostlos. Komm, wir wollen ins Leben zurück, zu unserm Kind, zu den
Freunden. Wie sagt mein alter Freund Catull? »Laß uns leben, Geliebte,
laß uns lieben!««

Nicht um Recht oder Unrecht dieser Weltanschauung handelt es sich
hier, sondern darum, daß Heyse zwischen Freunden und Gegnern dieser
Anschauung Licht und Schatten in unerträglich parteiischer Weise
verteilt hat. Dort fast alles Licht und blendendes Licht, hier fast
nur Schatten. Dort Engel, hier Teufel. Dagegen protestiert die
Wahrheit. Sein Roman ist von Bartels völlig richtig charakterisiert
als »eine sittliche Tat, ein unerschrockenes Glaubensbekenntnis, aber
freilich zugleich ein Zeugnis, wie fremd Heyse allezeit dem wirklichen
Leben gegenüberstand, und als Kunstwerk verfehlt.«

Drei recht verschiedene tendenziöse Zeitromane führte ich auf,
verschieden an Inhalt und an Kunstwert. In der ~Form~ dieser
Art Romane hat Spielhagen das Vollendetste geschaffen; an Umfang und
Treue der Zeichnung steht er hinter Gutzkow zurück. Heyse aber liegt
noch stärker im Banne der Tendenz. Aber es gibt auch einen Zeitroman
im großen Stile, der der Objektivität den Vorrang vor der Tendenz
zugesteht. Und erst in ihm erringt der Zeitroman seine höchste Blüte.




Der objektivere Zeitroman.


Schon die Erwägungen, welche der vorige Vortrag anstellte, führten zu
der vorsichtigeren Unterscheidung von mehr oder minder tendenziösen
Romanen oder von Romanen, bei denen die Tendenz über die Wirklichkeit
siegt, und von solchen, in denen die Wirklichkeit oberster Richter
bleibt. Man kann dieselbe Unterscheidung auch mit anderen Worten
auszudrücken versuchen, indem man das Unterscheidungsmerkmal dahinein
setzt, ~ob der Dichter sich über seinen Stoff zu erheben weiß oder
nicht~. Wo haben wir solche?

Ein Zeitroman, der ganz Zeit und ganz Person und doch nicht ganz
Tendenz ist, ist ~Gottfried Kellers~ »~Der grüne Heinrich~«
vom Jahre 1854. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß »Der grüne
Heinrich« die persönlichsten Erlebnisse Kellers wiedergibt. Das trifft
gewiß in weitem Umfang zu. ~Lediglich~ solche persönlichen
Erfahrungen hat er aber nicht gegeben; Wahrheit und Dichtung
sind künstlerisch verwoben. Und in dem Persönlichen ist zugleich
Allgemeines dargestellt; wer in seiner Zeit mitlebt, ist ja in der
Regel ein Spiegelbild der Strömungen dieser Zeit. Auch Gottfried
Kellers Persönlichkeit ist das gewesen; und eben dadurch ist es auch
sein »Grüner Heinrich« in hohem Grade geworden. Das Persönliche aber,
welches diesem Werk anhaftet, gibt ihm nicht nur seinen eigenen Reiz,
sondern es ermöglicht auch jene schlichte Natürlichkeit, welche wir
bei Spielhagen und bei Heyse so sehr vermissen, jene Einfachheit, die
den Zeitromanen Gutzkows so ganz abgeht. Die klassische Ruhe, die
dem Ganzen den Charakter des Abgeklärten und Reifen gibt, ist durch
dies persönliche Moment keineswegs in Frage gestellt. Keller spricht
nicht als ein Suchender, dessen Seele von den aufgeworfenen Fragen
noch bewegt würde, sondern als einer, der gefunden hat. Und was er
durchlebt hat, ist wohl mit Anteilnahme an der eigenen Erinnerung, mit
einem Anhauch eigensten Mitempfindens erzählt, aber doch so, daß man
keinen Augenblick darüber im Zweifel bleibt: Es liegt ~hinter~
ihm und es liegt ~unter~ ihm.

Das Moment des Einfach-Natürlichen im »Grünen Heinrich« verbindet sich
zugleich mit dem des Ehrlichen und Wahren. Man höre, wie er selbst
seine Anschauung vom Wesen des Poetischen darlegt:

»Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner Anschauung vom Poetischen.
Ich hatte mir, ohne zu wissen, wann und wie, angewöhnt, alles,
was ich in Leben und Kunst als brauchbar, gut und schön befand,
poetisch zu nennen, und selbst die Gegenstände meines erwählten
Berufes, Farben wie Formen, nannte ich nicht malerisch, sondern
immer poetisch, so gut wie alle menschlichen Ereignisse, welche
mich anregend berührten. Dies war nun, wie ich glaube, ganz in der
Ordnung, denn es ist das gleiche Gesetz, welches die verschiedenen
Dinge poetisch oder der Widerspiegelung ihres Daseins wert macht;
aber in bezug auf manches, was ich bisher poetisch nannte, lernte ich
nun, daß ~das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und
Überschwengliche nicht poetisch ist~, und daß, wie dort nur Ruhe
und Stille in der Bewegung, hier nur ~Schlichtheit und Ehrlichkeit
mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches
oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges
hervorzubringen~, mit Einem Wort, daß die sogenannte Zwecklosigkeit
der Kunst nicht mit Grundlosigkeit verwechselt werden darf.«

Mit dieser schönen Darlegung ist die Frage freilich nur eben
angerührt, welche später die Debatte über die naturalistische
Kunst, ihr Recht und ihr Unrecht, hervorrufen sollte, die Frage,
ob denn »~alle~ menschlichen Ereignisse« darstellungswürdig
und darstellungsfähig sind. Keller löst sie im Vorübergehen ganz
subjektiv: Alle Ereignisse, ~die ihn anregend berühren~, sind
poetisch, wenn sie nur schlicht und ehrlich sind. Praktisch lag darin
tatsächlich für ihn die Lösung: Unpoetisches regte ihn eben nicht an.
Von hohem Wert aber ist die ruhige Energie, mit der Keller Zweierlei
gleichsetzt: das Poetische einerseits, das Lebendige und Vernünftige
anderseits. Welche Kriegserklärung gegen alle Romantik! Vielleicht
läßt sich auch in bezug auf diese Gleichsetzung mit ihm rechten;
aber ihr Kern birgt eine heilige Wahrheit: ~Alle Dichtung muß wahr
sein!~

Der »grüne Heinrich«, so genannt nach der bevorzugten Farbe seiner
Kleidung, ist eines ehrsamen Schweizer Bürgers Sohn. Der Vater
stirbt jung; unter der Obhut der Mutter wächst er auf. Sie erzieht
ihn mit grenzenloser, aufopfernder Liebe, mit peinlichster Sorgfalt,
freilich nicht überall mit völligem Verständnis. Ich gestehe, daß
keine hohen Worte über Mutterliebe mir je so das Herz abgewonnen
haben wie die schlichte Schilderung, die der »grüne Heinrich«
vom Tun seiner Mutter gibt. Der Junge erlebt, was viele Kinder
erleben: Jugendfreundschaften, Schulfreuden und -Leiden, unnütze
Streiche. Von der Schule wird er relegiert, nicht ganz, aber doch
beinahe ohne eigene Schuld. Die bitteren Worte, die er hierüber zu
schreiben weiß, sind wohl ~zu~ bitter. Diese Entfernung von
der Schule gibt seinem Leben die Wendung. Er bummelt eine Weile
in der Mutter Heimatsdorf bei deren Verwandten; prächtige Bilder
hat er uns aus jener Zeit gegeben! Da ist das Landvolk, da ist die
Landarbeit in markigen Zügen geschildert; keine Idylle, erst recht
kein Schauerbild; schlichte Wirklichkeit, aus der Erinnerung eines
heranwachsenden Knaben, aber mit plastischer Kraft wiedergegeben. Dann
entschließt er sich, Maler zu werden. Er geht in die Lehre zu einem,
der die Malerei handwerksmäßig betreibt, lernt im Verkehr mit einem
Künstler, bei dem freilich der Wahnsinn schon vorleuchtet, manches
für seine Kunst, mehr noch in ernster Erfahrung fürs Leben, und hält
sich dann Malens halber in München auf. Die Beschreibung der Münchener
Erlebnisse in der Arbeit, im Vergnügen, im Umgang, in Entbehrung
und Verschwendung ist reichlich breit gehalten, befriedigt auch in
der Darstellung seiner Schicksale wenig. Neben dem künstlerischen
Streben geht eine innere Entwicklung her, teils von wissenschaftlichen
Vorlesungen, teils vom Leben beeinflußt. Ihren Abschluß findet diese
Weltanschauungsentwicklung, die übrigens mehr eine intellektuelle
als eine religiöse ist, im Schloß eines Grafen, in dem der »grüne
Heinrich«, ehe er nach dem Ende des Münchener Aufenthalts heimwärts
geht, längere Zeit verweilt. Zu Haus findet er die Mutter sterbend;
Reue erfaßt ihn, aber er wird endlich frei von dieser Reue und tritt,
die Kunst verlassend, in der er es zu nichts Rechtem gebracht, als
Beamter in den Dienst des Staats. Wie früher schon, so sind mit diesen
letzten Entwicklungsstadien reichliche Erörterungen politischer Art
verbunden. Endlich durchzieht das Ganze -- wie könnte es anders
sein? -- auch eine Art Entwicklungsgang der Stellung Heinrichs zu
den Frauen. Die Jugendgeliebte stirbt; in München hält er sich ihnen
im ganzen fern; jenes Grafen Töchterlein liebt er, aber er wagt die
Werbung nicht und findet es richtig, daß sie ihm verloren geht.
Mit einer merkwürdigen Frau, die ihm in der Zeit seines Dorflebens
eigentümlich nahegetreten, bleibt er in Liebe und Freundschaft nachher
innerlich verbunden, ohne daß sie äußerlich einander gehören.

Der Reichtum dieser Entwicklungsgänge, die das Allgemein-Menschliche
wie das Künstlerische, die Fragen der Weltanschauung wie der
Politik umfassen, gibt dem Buch den Charakter eines groß angelegten
Zeitromans. Wie das Hinzutreten des persönlichen Moments den Eindruck
des Ganzen fördert, das ist oben ausgeführt. Aber auch an Schwächen
fehlts nicht; und ich finde, daß sie stärker betont werden müssen, als
jezuweilen geschieht. Es fehlt an der klaren, raschen Zusammenfassung,
am straffen Gang einer einheitlich geformten Handlung. »Der grüne
Heinrich« ist mehr Memoirenwerk als Roman. Manche Partien sind zu
breit geraten; der Leser gewinnt den Eindruck, als wolle der Strom
ausufern. Die Reflexion hat nicht bloß etwas Kritisierendes; das
ist ja sehr gut und zeigt, wie Keller über seinem Stoff steht.
Sondern zuweilen kommt er ins Moralisieren, ja ins Schulmeistern im
unangenehmen Sinn des Wortes, geradezu ins Spießbürgerliche hinein.
Und dann vermissen wir diese Kritik, gerade weil sie im übrigen so
reichlich auftritt, um so mehr an anderen Punkten. Auf eins nur sei
hingewiesen. Die Art, wie Heinrich sich gegen seine Mutter verhält,
wie er sie darben und sorgen läßt für ihn und wie er das mühsamst
Abgesparte alsbald wieder losschlägt, noch mehr die Herzlosigkeit, mit
der er sie, die im Gedenken des einzigen Sohnes lebt, lange, lange
ohne jede Nachricht läßt, um sie dann nur noch sterbend anzutreffen,
diese Art ist durch die folgende Reuezeit nicht ausgeglichen. Hier
hört das Verständnis auf, völlig auf. Wie bitter spricht Keller
über die Schulbehörde, die ihm die Anstalt verwies! Aber wieviel
bitterer mußte er nun über sich selber urteilen! Hier ist er kalt,
ja hart. Und ein Alpdruck lastet von daher auf dem Leser. Auch das
Wichtigste, die religiöse Entwicklung, ist doch nicht überall mit
durchschlagender Kraft und Tiefe gezeichnet. Vielleicht nicht unwahr,
aber darum doch, wo mit halben Gedanken abgeschlossen wird, auch nicht
völlig befriedigend. Naturwissenschaftliche Erwägungen haben auf die
Gestaltung dieser Anschauungen Einfluß, aber die Entscheidung geben
persönliche Momente. Im Grafenschloß ists, wo diese Entscheidung
fällt; und die atheistische Dorothea wirkt auf ihn ein:

»Die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des Lebens, ~durch
Dortchens Augen gesehen~, ließ mir die Welt bald ebenso in einem
stärkeren und tieferen Glanze erscheinen, wie es bei ihr der Fall
war; -- ein sehnsüchtiges Glücksgefühl durchschauerte mich, wenn ich
mir nur die Möglichkeit dachte, für das kurze Leben mit ihr in dieser
schönen Welt zusammen zu sein.«

Vielleicht entspricht die Schilderung der Lebenswirklichkeit. Solche
Einflüsse entscheiden zuweilen. Aber den denkenden Leser befriedigt
solche Entscheidung darum doch nicht.

Endlich noch eins: ~die eigene Entwicklung des Helden behält etwas
Unbefriedigendes~. Und das nicht etwa bloß mit Rücksicht auf die
~äußere~ Resultatlosigkeit der langen Malerzeit daheim und in
München. Vielmehr: der Leser empfindet deutlich, wie diese äußere
Resultatlosigkeit mit Mängeln des Charakters zusammenhängt. So wie
Keller den »grünen Heinrich« schildert, ist er vom Verbummeln nicht
mehr fern. Daß aus der Malerei nichts wird, ahnt der Leser längst,
längst, ehe der »grüne Heinrich« zur gleichen Erkenntnis kommt. Ein
bischen mehr Energie, ein bischen schärfere Selbstkritik, ein bischen
mehr Zielklarheit wünschten wir ihm. Keller selbst kritisiert diese
Entwicklung fast nur durch die Art, wie er sie beschreibt, während
er an anderen Punkten deutliche Worte ausdrücklichen Urteils findet.
Die endgültige Wendung im Charakter des Helden kommt etwas spät und
-- im Verhältnis zum Ganzen -- etwas rasch. Nicht jeder Leser wird
~diese~ Schwäche des »Grünen Heinrich« völlig zu überwinden
vermögen.

Vom »Grünen Heinrich« nehmen wir Abschied. Von Keller selbst aber
können wir noch nicht scheiden. Allerdings ist es unmöglich, die Fülle
der Gesichte hier erstehen zu lassen, die seine übrigen größeren Werke
bieten: sein »~Martin Salander~«, der die politischen Fäden des
»Grünen Heinrich« weiterführt, der aber noch breiter ausführt, ohne
gleiche Kraft und Tiefe zu zeigen, und der nach meinem Empfinden
in der Darstellung erheblich weniger ansprechend, in Zeichnung und
Räsonnement erheblich trockener ist, wennschon ein Hauch von biederem
Bürgersinn den, der dafür Verständnis hat, erfrischend anweht;
so ferner seine »~Sieben Legenden~« und seine »~Züricher
Novellen~«. Wohl aber gilts, einen Augenblick zu verweilen bei
jener berühmt gewordenen Novellensammlung, welche den Titel führt:
»~Die Leute von Seldwyla~« (zuerst 1856). Ein sonderbares
Städtchen, dies Seldwyla. Leichtsinn haben seine Bewohner in gehöriger
Portion. Sie leben gemütlich und ohne sich zu überanstrengen, sie
tun überall mit, wo etwas los ist, aber sie fehlen, wo es rechter
Ernst ist, sie verstehen das Geldausgeben vorzüglich, aber das
Geldverdienen ist ihnen zu mühsam; sie machen Bankrott, wenn sie in
den besten Jahren sind, und angeln als Ausgediente zum Nahrungserwerb
und zum Zeitvertreib. Aus diesem guten Städtchen der Phrasenhelden
und Maulgrößen, der politischen Windmühlen und der moralischen
Unbesorgtheit zeichnet Keller mit scharfem Stift, mit bitterer
Satire und mit derber Moral eine Reihe von Charaktertypen. Da ist
~Pankraz der Schmoller~, ein eigensinniger und zum Schmollen
geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt
nichts tat oder lernte, der aber dann in den Lehrjahren seines
Lebens die Schmollerei verlernt. Er kommt ins Ausland; in Indien
verliebt er sich in ein kokettes Mädchen, das nicht ruht, bis seine
Liebe weißglühend geworden ist, um ihn dann ganz gehörig ablaufen zu
lassen. In Afrika hat er ein Löwenabenteuer. Stundenlang muß er,
der Waffe beraubt, dem Löwen unbeweglich fest ins Auge sehen, bis
Hilfe kommt. So wird er vom Schmollen kuriert. -- Da sind »~die
drei gerechten Kammmacher~«, wahre Ausbunde von Solidität und
Tugend, die alle drei ein Kammmachergeschäft, in dem sie arbeiten,
nach des Besitzers bevorstehendem Bankerott erwerben wollen und, um
nur bleiben zu können, sich vom Meister drücken und schinden lassen.
Sie wollen alle drei ein ebenso pedantisches Mädchen heiraten, das
einen Batzen Geld hat und das keiner dem andern gönnt. Endlich kommt
die Entscheidung; von dreien darf nur einer im Geschäft bleiben. Wer?
darüber soll ein lächerlicher Wettlauf entscheiden. Zwei schießen, in
einander verbissen, am Ziel vorüber, der dritte gibt das Laufen auf,
sichert sich das Mädchen und bekommt mit dessen Geld das Geschäft.
Da gehen die Unterlegenen hin: der eine hängt sich auf, der andere
wird ein Liederjahn. -- Da ist ferner ~Frau Regel Amrain~, eine
kluge Frau und noch klügere Mutter, die alle Schäden, an welchen
Seldwyla krankt, wohl übersieht und darum ihren Jüngsten, in dem sie
am meisten Hoffnungsgrund für zukünftige Entwicklung merkt, zu einem
Mann heranzieht, der jenen Torheiten entwächst und, statt zu werden
wie die andern, lieber fleißig, sittsam und tatkräftig sein und seiner
Familie Wohl, auch nicht zuletzt das Wohl der Allgemeinheit fördern
soll. -- Da begegnen wir »~Romeo und Julia auf dem Dorf~«, --
eine Geschichte vom Zwist zweier bäuerlicher Nachbarn, die sich um
ein Nichts verfeindet haben und nun die Fehde bis zum völligen Ruin
beider Familien fortführen. Der Sohn der einen und die Tochter der
andern Familie aber haben sich lieb und gehen schließlich gemeinsam
in den Tod, -- nicht ohne vorher in freiem Entschluß ohne den Segen
der Eltern und ohne die Ordnung der Sitte Hochzeit gefeiert zu
haben. -- Aber wozu von jeder einzelnen dieser Novellen erzählen?
Sie sind allesamt echte Kinder der Kellerschen Muse. Jeder liest
sie gern in einer Stunde, die dem Nachdenken nicht allzu abhold
sein darf. Jeder spürt in ihnen die Feinheit der Beobachtung, die
Anschaulichkeit der Darstellung, die Tiefe der Gedanken und den Ernst
des Urteils. Jeder freut sich der klaren Art, ein begrenztes Bild oder
Bildchen menschlichen Lebens und Treibens herauszuarbeiten und den
Faden der Handlung, die nur manchmal etwas sehr in die Breite geht,
festzuhalten. Es sind Novellen, die zugleich fesseln und zu denken
geben; und eine große Summe Lebensweisheit steckt in ihnen. Etwas von
den Leuten von Seldwyla findet sich ja schließlich auch sonst auf
der Welt! Immerhin will ich mit einem Bekenntnis nicht zurückhalten.
So gewiß es richtig ist, daß Keller mit den besten Stücken dieser
Sammlung gleich alles, was seine Vorgänger und Zeitgenossen auf dem
Gebiet der Novelle bisher geleistet haben, übertrifft, so wenig
kann ich ohne Einschränkung ein Urteil unterschreiben wie das, nach
welchem sie »große und freie Poesie« sind, »von einer bedeutenden,
wenn auch eigen gewachsenen Persönlichkeit getragen, von reichster
künstlerischer Durchbildung, ebenso wahr und tief wie fein.« Mag
vieles in diesem Urteil zutreffen, eins ist darin vergessen: der
moralisierende Ton, der zuweilen etwas geradezu Pedantisches hat.
»Frau Regel Amrain und ihr Jüngster« kann geradezu eine pädagogische
Novelle genannt werden. Aber auch die anderen Stücke haben diese
erziehliche Art. Und Keller hat es ~nicht~ immer verstanden,
seine Moral ins Gewand »großer und freier Poesie« zu kleiden; er wird
zum Kritiker, zum Schulmeister, zum Erzieher und vergißt dabei doch
manches Mal den Dichter. Etwas von dieser Art findet sich in allen
Werken Kellers; es hat mit dazu beigetragen, sie zu Zeitromanen und
Zeitnovellen zu machen; denn was er kritisiert, sind ja Zeitsünden,
Zeitschwächen. Aber ihren dichterischen Wert hat es nicht gehoben.

Auch »Die Leute von Seldwyla« habe ich in die Gruppe der Zeitdichtung
eingereiht: aus eben diesem jetzt angeführten Grund. Schweizer
Bürgerleben in seinen Schwächen bildet überall den Hintergrund der
Novellen. In die großen, flutenden Bewegungen der Zeit führen sie
freilich nur gelegentlich ein. Aber muß ein Zeitroman wirklich das
Ganze der Zeit umspannen? Wir warfen die Frage schon früher auf,
aus Anlaß der Vorrede zu Gutzkows »Rittern vom Geist«; und wir
beantworteten sie mit Nein. Muß ein Zeitroman auch nur die großen,
weltbewegenden oder doch staatenerschütternden Strömungen skizzieren?
Gibt er nicht auch ein Bild seiner Zeit, wenn er irgend ein konkretes
Einzelgebiet herausgreift und zu intimer, lebendig-wahrer Darstellung
bringt, selbst wenn es mit jenen politischen Strömungen nichts oder
wenig zu tun hat? Den besten Beweis, daß auch ein solcher Zeitroman
auf der Höhe stehen kann, gibt ~Gustav Freytags~ Buch »~Soll
und Haben~«, das ein Jahr später als »Der grüne Heinrich« und ein
Jahr früher als »Die Leute von Seldwyla« erschienen ist. Die Gestalten
dieses Buchs stehen Ihnen allen vor Augen; Andeutungen werden
daher zur Begründung meines Urteils ausreichen. Ins Weltgetriebe
führt Freytag mit der polnischen Insurrektion, die der Kaufmann
Schröter und Anton Wohlfart aus eigener Anschauung kennen lernen.
Aber Freytags Interesse in diesem Roman ist nirgends politisch;
auch jene polnischen Zustände kommen fast nur in ihrer Rückwirkung
auf die Geschicke der Handlung T. O. Schröter, Kolonialwaren und
Produkte, zur Geltung, daneben lediglich noch in ihrem Einfluß auf
die persönliche Charakterbildung Anton Wohlfarts selbst. Die Firma
T. O. Schröter in der Hauptstadt der Ostprovinz steht unbestritten
im Mittelpunkt. Das Großkaufhaus in Breslau -- diese Stadt ist
bekanntlich gemeint -- mit allen seinen Insassen und Angestellten
macht uns zugleich mit Lebensart und -Haltung der Kreise bekannt,
die in ihm ihren Mittelpunkt haben. -- Außerdem lernen wir in
Veitel Itzig und Ehrenthal Typen unehrlicher Geschäftspraktiken
kennen, in Hippus den Typus des abgefeimten Winkelkonsulenten,
in der Familie von Rothsattel und in dem Tanzzirkel der Frau von
Baldereck die Kreise des Landadels und des Offiziersstandes, in Fink
den weiterblickenden, amerikanisierten Weltmann, der zugleich die
strenge Lebenseinfachheit des deutschen Kaufmannsstandes aufgegeben
hat. Sabine Schröter ist ein Bild zugleich deutscher Hausfrauenart
und edler Weiblichkeit. Vielleicht ist das Gesichtsfeld des Romans
nicht allzu weit; weit ~genug~ ists auf alle Fälle. Das solide
Bürgertum der deutschen Stadt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts,
mit Konzentration aller Interessen auf Beruf und Arbeit, mit
keiner anderen Poesie als derjenigen eben dieses Berufs und dieser
Arbeit, aber darum nicht ohne Gemüt und nicht ohne Herz, wird dem
unsoliden Wuchertum wie dem glänzenden, aber minder fest auf der
Arbeit aufgebauten gesellschaftlichen Leben der aristokratischen
Kreise gegenübergestellt. Ist das kein Gegenstand, der für das Leben
einer bestimmten Zeit charakteristisch wäre? Sehen wir nicht ganzen
Schichten des deutschen Volkes ins Herz?

Die Art, wie Freytag schildert, ist ganz und gar geeignet, ein
wirkliches, klares und deutliches Bild eben dieser Schichten zu geben.
Am meisten ausgeführt ist dasjenige der Firma T. O. Schröter. Hier
ist er peinlich genau, bis ins Einzelne treu. Er erspart dem Leser
nicht die gründlichste Beschreibung der Handelsbeziehungen und des
Arbeitsbetriebs in dem großen Kaufhause. Er führt uns durch beinah
sämtliche Räume desselben, durchs Kontor, den eigentlichen Herzpunkt,
durch die Kellerräume, in denen die Waren lagern, durch die Wohn- und
Prunkräume des ersten Stockwerks, wo die Angestellten mit der Familie
des Prinzipals die Mittagsmahlzeit einnehmen, durch die Wohnzimmer
des Hinterhauses, in denen Buchhalter und Kommis ihre bescheidenen
Wohnstätten haben, durch Hof und Hausflur, wo Herr Pix die Auflader
und Hausknechte regiert. Er zeichnet Charakterbilder von jedem
Einzelnen der beteiligten Männer, von dem bescheidenen Liebold bis zum
Aufladerobersten Sturm und dem Allerweltsfaktotum Karl. Er nötigt uns,
die zeitraubenden Verhandlungen mit Schmeie Tinkeles anzuhören, und
er vergönnt uns, die Tätigkeit des ersten Buchhalters mitzuempfinden.
Wer wollte leugnen, daß ihm die Wahrheit den Pinsel geführt hat?
Vielleicht ist Sturm, der Oberste der Auflader, ein bischen zu rühr-
und redselig gezeichnet; vielleicht treten interne Psychologika,
soweit sie nicht die Entwicklung der Menschen zu Geschäftsleuten
betreffen, allzusehr zurück. Aber gerade das Geschäftsleben gewinnt
durch diese Einseitigkeit; es ist ein prächtiges Bild, das Freytag von
ihm gezeichnet hat.

Aber auch alles Andere an diesem Roman ist treu und wahr. Freytags
Liebe gehört ja ohne Frage ~diesen~ Menschen, vor allem dem
braven und treuen, fleißigen und sorgfältigen, warmherzigen und
tieffühlenden Anton Wohlfart. Um so höher ist es ihm anzurechnen,
daß er es völlig vermieden hat, um seiner Lieblinge willen die
andern Kreise zu karikieren. Man vergleiche getrost die Adelskreise
in Spielhagens »Problematischen Naturen« mit den Rothsattels bei
Freytag, ja mit der Frau von Baldereck und der Gräfin Pontak, mit
den Leutnants von Zernitz und von Tönnchen! Die jungen Herren aus
dieser Umgebung kommen nicht gerade gut weg. Aber dem jungen Kaufmann
imponiert »ihre Art zu sprechen und sich zu geberden, vor allem eine
gewisse ritterliche Atmosphäre, die sie umgab, etwas Salonduft, etwas
Stallluft und viel von dem Aroma der Weinstube.« Und als Wohlfart
später nach ernsthaft bewiesener, mutvoller Unerschrockenheit in Polen
wieder mit einem Kreis von Offizieren zusammenkommt, da freut er sich
des freien Verkehrs mit anspruchsvollen Menschen und läßt sich gern
in den Zauber eines Kreises ziehen, welcher ihm für frei, glänzend und
schön gilt. Und selbst der Leutnant von Rothsattel, der ein bischen
reichlich stolz gewesen, erhält nun noch das Prädikat: »im Grunde
ein verzogener, leichtsinniger, gutmütiger Mensch.« Und die übrige
Familie von Rothsattel, der edle Freiherr voran, die prächtige Mutter
nicht hinter ihm, die reizende, mutige, frische Lenore mit ihnen,
gibt ein treffliches Konterfei schlesischen Grundadels, wennschon
uns Jetzigen die geringe Gewandtheit des Freiherrn in geschäftlichen
Angelegenheiten recht sonderbar vorkommt. Kurz, Freytag hat den
Fehler vermieden, zu gunsten einer Menschenklasse andere ins Unrecht
zu setzen; und wenn es in der Welt seines Romans im allgemeinen
bürgerlich ordentlich, ehrbar und anständig zugeht, so hat er
doch das gute Recht, gerade solche ordentlichen Menschenschichten
zum Gegenstand seines Bildes zu machen. Die Schwächen jener
bürgerlich-kaufmännischen Lebensauffassung läßt er ja keineswegs
zurücktreten: etwas Pedantisches, etwas Philisterhaftes klebt ihr an;
frei, glänzend und schön gestaltet sie das Leben nicht; aber ernst ist
sie und reizlos ist sie auch nicht. Hören wir unsern Anton Wohlfart:

»Ich weiß mir gar nichts, was so interessant ist, als das Geschäft.
Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe von zahllosen Fäden, die
sich von einem Menschen zu dem andern, über Land und Meer, aus einem
Weltteil in den anderen spinnen. Sie hängen sich an jeden Einzelnen
und verbinden ihn mit der ganzen Welt. Alles, was wir am Leibe tragen,
und alles, was uns umgibt, führt uns die merkwürdigsten Begebenheiten
aller fremden Länder und jede menschliche Tätigkeit vor die Augen;
dadurch wird alles anziehend. Und da ich das Gefühl habe, daß auch
ich mit helfe, und, so wenig ich auch vermag, doch dazu beitrage, daß
jeder Mensch mit jedem anderen Menschen in fortwährender Verbindung
erhalten wird, so kann ich wohl vergnügt über meine Tätigkeit sein.
Wenn ich einen Sack mit Kaffee auf die Wage setze, so knüpfe ich einen
unsichtbaren Faden zwischen der Kolonistentochter in Brasilien, welche
die Bohnen abgepflückt hat, und dem jungen Bauerburschen, der sie zum
Frühstück trinkt, und wenn ich einen Zimtstengel in die Hand nehme, so
sehe ich auf der einen Seite den Malayen kauern, der ihn zubereitet
und einpackt, und auf der anderen Seite ein altes Mütterchen aus
unserer Vorstadt, das ihn über den Reisbrei reibt.«

Und so wenig der ernste Mensch über diese Poesie der Kolonialwaren
wird lächeln dürfen, so wenig kann er Antons weitere These bestreiten:

»Wer ein ehrliches Geschäft hat, kann von unserm Leben nicht schlecht
denken, er wird immer Gelegenheit haben, Schönes und Großartiges darin
zu finden.«

Was endlich an »Soll und Haben« rühmend hervorzuheben ist, das ist
die Technik des Aufbaus. In dieser Hinsicht bezeichnet der Roman
einen entschiedenen Fortschritt gegenüber Gutzkow und auch gegenüber
Keller, vielleicht in mancher Hinsicht sogar gegenüber Spielhagens
»Problematischen Naturen«. Gutzkow war breit und ließ die Handlung
in zahllose lange Gespräche zerfließen; für lange Zeiten waren die
Menschen für ihn nur dazu da, um ihre Ansichten einander möglichst
offenherzig zu erzählen. Auch bei Freytag fehlen die Gespräche nicht;
was ich eben an Urteilen über den Kaufmannsstand anführte, entstammt
einem solchen. Aber sie treten zurück gegenüber dem Handeln. Das
ist nicht immer ein Handeln im großen Stil; Ereignisse häufen sich
nicht; es ist ein Geschehen im kleinen und kleinsten Maßstab; aber es
charakterisiert und es fesselt. Bei Gutzkow Unwahrscheinlichkeiten
und Abenteuerlichkeiten im äußeren Verlauf; bei Freytag ruhige, wenn
auch nicht immer ganz folgerichtige Entwicklung auf solidem Unterbau.
Und während Kellers »Grüner Heinrich« zeitweis den Charakter des
Memoirenwerks trägt, gab Freytag seinem »Soll und Haben« auch in der
Form mit aller Kunst ganz den Charakter des Romans. Ein einzelnes
Menschenkind, Anton Wohlfart, eint in seiner Person die mannigfachen
Fäden der Entwicklung: er ist mit Leib und Seele im Kontor bei T. O.
Schröter, er beteiligt sich am Tanzkränzchen der Frau von Baldereck,
er schwärmt für Lenore von Rothsattel, er verkehrt mit Bernhard
Ehrenthal. Und so zersplittert sich das Interesse nicht; es begleitet
die Entwicklung in Aufmerksamkeit und Spannung durch alle Stadien
hindurch. Bald führt das eine Kapitel den Leser zu T. O. Schröter,
bald das andere ins Geschäft zum Ehrenthal, bald das dritte ins
Stammschloß der Rothsattel. Aber alle diese Einzelentwicklungen
gestalten sich schließlich zu einem großen Ganzen und finden nach
spannenden Akten ihren Abschluß, einen richtigen, Ruhe gebenden
Abschluß. Verglichen mit den »Problematischen Naturen« Spielhagens ist
Freytags »Soll und Haben« nach seiner Technik insofern im Vorteil,
als hier nicht das geheimnisvolle Hineinwirken einer spät entdeckten
vergangenen Tatsache zum Abschluß hilft, sondern einfache, klare,
folgerichtige Durchführung der in der Anlage gegebenen Ansätze.

Somit kann es nur mit Freude begrüßt werden, daß »Soll und Haben«
eins der Lieblingsbücher der deutschen Gebildeten geworden ist. Auch
vom modernen Standpunkt des Naturalismus +sans phrase+ aus soll
man uns das Buch nicht verleiden. Es bleibt des Dichters gutes Recht,
sein Thema so zu begrenzen, daß gewisse Tiefen nicht aufgerührt
werden. Er begibt sich damit der Möglichkeit, problematische Naturen
mit ihren Sonderbarkeiten zu zeichnen, feinädrige psychologische
Probleme zu behandeln, und auch des anderen, einen Beitrag zur
Lösung von Fragen der Politik oder der Weltanschauung zu geben.
Aber er bringt nichtsdestoweniger ein Zeitbild, ein Bild tüchtigen,
fleißigen Strebens, und er bringts in annähernd objektiver Weise,
ohne allzustarke Satire, ohne Geißelhiebe nach rechts oder links, aber
nicht ohne einen gewissen Humor, mag derselbe auch etwas nach dem
Kontor schmecken.

Ein Werk in der Art von »Soll und Haben« ist Freytag nicht wieder
gelungen. »Die verlorene Handschrift« erreicht nicht entfernt die
gleiche Höhe. Der Gelehrte, welcher die Handschrift sucht und darüber
jeden praktischen Blick verliert, mag ja ein Produkt deutschen
Wissensdranges sein. Aber wir fühlen es alle: er eignet sich weit
mehr zum Objekt der witzigen Professorenanekdoten, wie sie ja von
Mund zu Mund gehen, als zum Mittelpunkt eines großen Romans. Dazu
ist er in seiner ganzen Art doch nicht genug Typus jener gründlichen
Gelehrsamkeit, wie wir sie als eine Spezies unseres Vaterlandes
schätzen und lieben. Der große Zyklus »Die Ahnen« aber wird an anderer
Stelle zu würdigen sein.

Vom objektiveren Zeitroman wollte ich reden. Unter Preisgabe der
Politik hat Freytag eine hohe Objektivität erreicht. Wie steht es
mit dem Zeitroman in späteren Zeiten? Finden wir nicht auch unter
seinen Schöpfungen noch manches, was die Tendenz zurücktreten
läßt? Ich glaube, das sogar von einigen Werken ~Spielhagens~
behaupten zu dürfen. Nicht von dem 1887 erschienenen »~Was will das
werden?~«, dem Anti-Bismarck, gilt das, -- auch nicht von »~Der
neue Pharao~« von 1889, der die neue Zeit, die Zeit Bismarckschen
Einflusses mit schwarzen Farben malt. Aber bis zu einem gewissen Grad
ists ihm in der »~Sturmflut~« gelungen, einem Werk von wunderbar
packender Kraft, einem der besten des Meisters, in dem Reichtum der
Gedanken und Aktualität der Meinungsäußerung sich mit imposanter
Kunst der Entwicklung und Durchführung einer vielgestaltigen Handlung
vereinigen. Sturmflut bricht herein -- über das deutsche Volk: eine
Flut von Gold im Milliardensegen nach dem französischen Krieg, eine
Flut von Schwindel in Handel und Wandel, eine Flut von Verderbnis
im sittlichen Leben der Familien und der Einzelnen. Sturmflut bricht
herein -- über die Bewohner des Ostseestrandes und mit ihnen über
ein Liebespaar, das die Schuld jener anderen Sturmflut auch auf sich
geladen hat. Und wie die Bilder von dieser letzten, natürlichen
Sturmflut zu dem Gewaltigsten gehören, was unsere Romanliteratur
besitzt, so fehlt auch der Schilderung der Sturmflut roten Goldes und
sittlichen Verfalls nicht die drastische Anschaulichkeit und nicht die
innere Wahrheit. Obgleich Spielhagen sich und seine Tendenzen niemals
ganz verleugnen kann, so hat er doch in diesem Buch auch den von ihm
sonst mit Vorliebe befehdeten Adelskreisen ein wenig mehr ihr Recht
gegeben. Auch in diesem Roman kann man, was Einzelzeichnung betrifft,
manches finden, was mit der Wirklichkeit streitet; Spielhagen bringt
es nicht fertig, einen Geistlichen anders zu zeichnen denn als einen
gefühlsrohen und bornierten Fanatiker; und auch der Jesuit der
»Sturmflut« ist allzu phantastisch herausstaffiert. Aber jedenfalls
trifft die »Sturmflut« besser das Kolorit der Wirklichkeit als manches
andere Produkt der Spielhagenschen Muse. Hier hat die unmittelbare
Anschauung, die Gewalt seines Stoffs, die ernste sittliche Haltung
gegenüber dem Schwindel und der Haltlosigkeit ihm die richtigen Farben
in den Pinsel gegeben.

Zeitromane objektiveren Charakters hat das Ende des 19. Jahrhunderts
noch in Fülle gebracht. Lassen Sie mich nur noch die Bilder aus den
Ostseeprovinzen nennen, welche ~Theodor Hermann Pantenius~ von
übrigens christlicher und konservativer Weltanschauung aus gezeichnet
hat. Und lassen Sie mich mit besonderer Freude des Dichters gedenken,
der es wie keiner verstanden hat, das Leben der Mark Brandenburg
anschaulich darzustellen: des feinsinnigen ~Theodor Fontane~.
Nicht alle seine zahlreichen Romane sind von gleichem Wert. Vor allem,
sie sind nicht sämtlich Zeitromane im vollen Sinne des Wortes. Sein
»Vor dem Sturm« wird uns im nächsten Vortrag beschäftigen; hier gilt,
was ins volle Leben der Gegenwart eingreift. Da hat auch Fontane
nicht überall den Kreis weit gespannt, so weit, wie ein Zeitroman
es nun einmal muß: über Schichten der Menschheit, über Klassen der
Gesellschaft, über das Leben wenigstens eines ganzen Standes hin.
Er bleibt zuweilen im engeren Umkreis des mehr Persönlichen, das
keinen Anspruch darauf hat, für typisch zu gelten. Das hindert nicht,
eben diese Dichtungen für Werke von hohem künstlerischen Wert zu
erklären. Aber in dem Zusammenhang dieser Bilder haben wir ihm auch
als einem Manne der Zeit und einem Künstler der Zeit unsern Tribut
zu geben. Man hat bei seiner »Effi Briest« so gut wie bei seiner
»Jenny Treibel« durchaus das Gefühl, daß er seine Gestalten nicht
bloß nach der Seite des Allgemein-Menschlichen hin, sondern auch
nach ihrer Eigenschaft als Glieder bestimmter Kreise hin als Träger
allgemein geteilter Anschauungen charakterisiert. Effi Briest: das
Landedelhaus, das ländliche Pfarrhaus und Kantorhaus! Die geselligen
und gesellschaftlichen Verhältnisse in der pommerschen Kleinstadt!
Die Familienverhältnisse im Haus des vornehmen Beamten! »Effi Briest«
ist nicht lediglich Zeitschilderung; auch nach dem psychologischen
Problem, welches hier zur Behandlung kommt, muß uns das Buch noch
beschäftigen. Aber ganz und gar Zeitbild ist »Jenny Treibel«. Die
gute Jenny Treibel mit ihrem wundervollen Idealismus und ihrem
wunderbaren Realismus, mit ihren trefflichen Theorien und ihrer
brutalen Praxis! Berliner Großstadtleben! Berliner Wohlstand und
Mittelstand! Berliner Millionärsgefühle im Herzen einer liebenden
Mutter! Und wieder nicht so, daß es heißen müßte: so sind sie alle.
Aber wieder so, daß man sagen muß: diese Jenny Treibel ist mindestens
kein Original, sondern sie hat eine Schar gleichgestimmter Schwestern
in Berlin +W.+ und anderswo auch! -- Das umfassendste Zeitbild
aber gibt Fontanes »~Stechlin~«. Hier steht im Mittelpunkt der
märkische Edelmann, Herr von Stechlin, ein Mann von alter preußischer
Art, mit patriarchalischen Neigungen, mit vornehmer Denkweise, mit
konservativer Grundrichtung, dabei aber keineswegs ohne moderne
Regungen. Im Gegenteil, manchmal ists, als sei die Tradition nur
Schale, und der Kern sei ganz modern. Von pietistischer Frömmigkeit
will er nicht viel wissen; ein einfaches männliches Christentum ist
seine Sache, ein bischen undogmatisch sogar und doch wieder nicht ganz
ohne jene Beimischung von Aberglauben, die der Dichter so sehr liebt.
Neben ihm, wenn auch viel knapper skizziert, andere Vertreter des
gleichen Standes, sein Sohn mit etlichen Freunden als Repräsentant des
gediegenen jungen Offiziers, die alte würdige Stiftsdame im adeligen
Fräuleinstift, der mit liberalen Anschauungen durchtränkte frühere
hohe Beamte, die Pastoren: der schlichte, ein bischen ketzerische,
sogar sozial denkende Landpfarrer Lorenzen, der weltgewandte,
streberische Superintendent Koseleger, der prächtige Hofprediger
Frommel in Originalaufnahme. Dazu Typen des Landvolks in einzelnen,
aber ausgezeichnet getroffenen Porträts. Das ganze Bild greift nicht
tief hinein in die Fragen, welche die Welt bewegen, obschon sie in
manchem Gespräch ihre Rolle spielen. Im Grunde will Fontane weiter
nichts, als durch solche Aeußerungen die Denkweise seiner Figuren
beleuchten. Ihm liegt hier alles an der Schilderung, wenig oder nichts
an der Handlung. In der ersteren aber ist er Meister. Man kann nicht
richtig schildern, wenn man nicht auf das kleinste achtet; Fontane ist
der begeisterte Freund feinster Kleinmalerei, in ihr und zugleich in
der Objektivität derselben mit Gustav Freytag verwandt. Man wird ja
bald der Mittel inne, die er braucht, um seinen Zweck zu erreichen. Er
legt Gewicht aufs Milieu; der Mensch hängt eben von seiner Umgebung
ab. Das Schloß, besser Herrenhaus, des alten Stechlin muß darum
gründlich beschrieben werden, nicht etwa unter dem Gesichtswinkel
berauschender Romantik, sondern unter dem der naturwahren Zeichnung.
Die Dienerschaft gehört zum Schloß; alte Faktota geben ihm mit
seinen Charakter. Die Kuriositätensammlung muß besichtigt werden;
wie könnte man einen Mann kennen, ohne seine Schrullen zu kennen?
Zeigt er seine Lieblinge nicht mit Grandezza oder mit Pedanterie,
spricht er von ihnen mit ruhigem Humor, so gibt das eine wichtige
Bereicherung unseres Wissens über seinen Charakter. Auf dem Land kann
der Gutsherr nicht gezeichnet werden, wenn man ihn nicht nimmt, wie
er sich der Umgebung gegenüber gibt: im Verkehr mit hoch und weniger
hoch geborenen Nachbarn -- daher ihrer einige beim alten Stechlin auch
zu Tische erscheinen --, im Verkehr mit dem Pastor -- daher Lorenzen
seine in diesem Zusammenhang unbedingt richtige Stelle erhält; im
Verkehr mit dem Lehrer und endlich mit den sonderbaren Gestalten,
wie sie jedes Dorf aufweist. Desgleichen gebührt der Landschaft und
ihren Eigenheiten Beachtung. Wer auf dem Landschloß zu Gast ist,
besichtigt die Sehenswürdigkeiten, voran die Kirche und den See
Stechlin, um den Sagengewirr sich gerankt hat, wie denn jede Gegend
ihre landschaftlichen Geheimüberlieferungen besitzt. So führt Fontane,
der Kleinmaler, seinen Pinsel. So zaubert er aus dem märkischen
Sand Bilder von bestechender Liebenswürdigkeit, von gewinnender
Gediegenheit, aber auch von wunderbarer Treue.

Wirklich von wunderbarer Treue? Aber steht nicht auch Fontane im Bann
seiner stark ausgeprägten Individualität? Merkt man nicht auf jeder
Seite seine Liebe für die Mark, die märkischen Junker, die märkischen
Kirchen und Landpfarrer, die märkischen Landleute? Klingt nicht aus
allen seinen Romanen dieselbe Stimmung des eigenen Gebundenseins an
die Mark wie aus jenem schlichten Vers unseres Dichters:

  Kein Erbbegräbnis mich stolz erfreut;
  Meine Gräber liegen weit zerstreut;
  Weit zerstreut über Stadt und Land,
  Aber alle im märkischen Sand!

Daß diese Heimatsliebe ihm die Feder geführt hat, wird niemandem zu
bezweifeln einfallen. Und es bleibt ja auch richtig, daß Fontane
ebenso wie Freytag bei allem Realismus doch immer dem eigentlichen
Naturalismus ferngeblieben ist; manche Gebiete menschlicher Art und
Sitte bleiben für beide außer Ansatz. Sie zeichnen mit Vollendung
das Leben, wie es sich dem scharfen Beobachter gibt, aber einem
Beobachter, der nicht ans Licht zieht, was in der Regel sich selber
mit Finsternis bedeckt. Nur muß man gerade Fontane unbedingt
zugeben, daß er alles getan hat, um in dem Leser das falsche Gefühl
~nicht~ aufkommen zu lassen, als bestünden solche Schattenseiten
und solche dunkelen Einschläge nicht. Man merkt es wohl, daß er
absichtlich an ihnen vorüberführt. Und es gibt manchen Leser, der ihm
das danken wird. Naturtreu bleibt darum seine Dichtung doch.

                  *       *       *       *       *

Und so glaube ich denn in der Tat, das Recht der Teilung des
Zeitromans in einen tendenziösen und einen objektiven oder doch
objektiveren praktisch erwiesen zu haben. Ich gestehe, daß gerade
die Existenz dieser letzteren Gattung mir, wenn ich die lange
Entwickelungsreihe des deutschen Romans durchmustere, eine ganz
besondere Freude bereitet. Nicht als ob der Tendenzroman an sich
minderwertig wäre: vor diesem Urteil bleiben wir hoffentlich so lange
bewahrt, als wir dem freien Mann im Dichter seine freie Meinung
gönnen. Aber je mehr die Tendenz ihm den freien, klaren Blick für
das Wirkliche raubt, umsomehr leidet in der Tat die Kunst unter der
Absicht. Da jubelt dann der mit Wirklichkeitssinn ausgestattete Leser,
wenn er auf ein Gemälde trifft, das des Künstlers Herzensstellung wohl
erkennen läßt, das aber in Farbe und Entwurf einfache, reine Natur
atmet. Und wenn nun solches Gemälde, ohne gerade in Zeitstreitigkeiten
tief hineinzugreifen, doch diese unsere Zeit mit ihren feinsten
Regungen wiederzugeben weiß, dann fühlt man den hohen Wert desselben.
Ein Spiegelbild ist's: Zeit, erkenne dich selbst! Ein Kritiker wirds:
sieh zu, wo dein Fehler steckt! Ein Mahner bleibts: such dir die
Menschen, die unserer Zeit vorwärts helfen!

Wie auf anderen Gebieten, so hat auch auf diesem der deutsche Roman
kein völlig eigensprossendes Wachstum gehabt. Allerdings: hier ist
vielleicht seine tiefste Sonderart, sein eigentliches deutsches
Wesen am klarsten zu schauen: deutsche Gründlichkeit und Genauigkeit
verbinden sich mit deutscher Gemütstiefe und Herzenswärme. So in
»Soll und Haben«, so im »Stechlin«. Und auch deutsche Vorbilder
haben eingewirkt: Wilhelm Meister, auch der Werther. Aber außerdem
ist englischer Einfluß unverkennbar: Dickens hat sehr stark
herübergewirkt. Und zwar Dickens mit seiner realistischen Kraft und
mit seiner plastischen Einzelkunst. In »Soll und Haben« wird man
hundertfach an Dickens erinnert, vielleicht nirgends deutlicher als
in der Episode, in welcher Anton Wohlfart die energische Absicht
zeigt, den Herrn von Fink auf Pistolen zu fordern. Und ist es Zufall,
daß gerade dort auch Freytag sich ein paarmal des uns von Dickens
her so vertraut klingenden Wortes »Gentleman« in ebendemselben
gutmütig-humorvollen Sinne bedient, in dem jener es gebraucht hat?
Bei alledem aber muß festgehalten werden: ~der Zeitroman mit seinem
hellen Tageslicht, seiner unromantischen Wahrheitsliebe, seiner
umfassenden, manchmal beinahe nüchternen Gründlichkeit ist und bleibt
doch im Grund eine Schöpfung deutschen Geistes~.




                        Der historische Roman.


Wie die erzählende Dichtung die Wirklichkeit zu erfassen suchte, indem
sie ~vergangenes Leben~ neu erweckte, -- das Thema ist unendlich
reich, denn historische Romane besitzen wir in Fülle. Und ob auch hier
mit unterläuft, was man getrost der Vergessenheit anheimfallen lassen
kann, ohne sich groß zu versündigen, -- zwei Gründe zwingen doch,
bei Betrachtung des Heerzuges des historischen Romans durch das 19.
Jahrhundert verhältnismäßig häufig anzuhalten. Der eine Grund: die
Zahl der bedeutenden Schöpfungen ist auf diesem Gebiet nicht gering.
Der andere Grund: auch minder Bedeutendes hat durch die Gunst der
Lesewelt Anspruch auf Beachtung, mindestens auf Kritik erworben.

Vielleicht könnte man darüber streiten, ob tatsächlich das Suchen
nach Wirklichkeit das treibende Motiv des historischen Romans
bilde. Denn auch die Romantik griff in die Tiefen der Geschichte.
Und zwar nicht bloß mit jener Novelle »Michael Kohlhaas«, sondern
auch mit Werken größeren Stils. ~Ludwig Achim von Arnim~
ließ 1817 den ersten Band des mittelalterlichen Romans »~Die
Kronenwächter~« erscheinen (Band 2 ist Bruchstück geblieben). Und
wer traut der Romantik Sinn für die Wirklichkeit zu? Auch haftet
den »Kronenwächtern« sicher genug Unwirklich-Romantisches an. Aber
so wunderbar ist die Macht der Geschichte auch über das Gemüt eines
Romantikers, daß er doch die Wahrheit sich selbst zur Führerin
erkor. Freilich: »Dichtungen sind ~nicht Wahrheit, wie wir sie von
der Geschichte und dem Verkehr mit Zeitgenossen fordern~, sie
wären nicht das, was wir suchen, was uns sucht, wenn sie der Erde in
Wirklichkeit ganz gehören könnten, denn sie alle führen die irdisch
entfremdete Welt zu ewiger Gemeinschaft zurück.« Aber dieselbe Vorrede
des Dichters, die diese Worte enthält, fordert für die Dichtung die
höchste Wahrheit: »Es gab zu allen Zeiten eine Heimlichkeit der Welt,
mehr wert in Höhe und Tiefe der Weisheit und Lust als alles, was in
der Geschichte laut geworden. Sie liegt der Eigenheit des Menschen zu
nahe, als daß sie den Zeitgenossen deutlich würde, aber die Geschichte
in ihrer höchsten Wahrheit gibt den Nachkommen ahnungsreiche Bilder
...«

Wir stimmen dem zu, daß der Roman nicht gleiche Wahrheitspflicht
hat wie die Geschichte, daß es auf die höchste, die innere Wahrheit
ankommt. Und wir konstatieren, daß »Die Kronenwächter« bei allem
dichterischen Schwung, bei aller Romantik ihrer Handlung, bei aller
Unwahrscheinlichkeit ihrer Konzeption doch auch unter dem Banne der
höchsten Wahrheit gestanden haben. Nur ist es mehr die Wahrheit
mittelalterlicher Stimmung und Farbe, dazu die Wahrheit manches
realistischen Zugs, als die Wahrheit aller Einzelgestalten und des
Zusammenhangs, in den Menschen und Begebenheiten gestellt werden.

Neben Achim von Arnim stehen noch andere Romantiker, die
gleichfalls in vergangene Tage hineinzuführen gesucht haben. Da
ist ~Wilhelm Hauff~ mit seinem noch keineswegs verschollenen
»~Lichtenstein~« (1824), da ist ~Ludwig Tieck~ mit dem
unvollendet gebliebenen »~Aufruhr in den Cevennen~«. Aber
so hübsch der »Lichtenstein« zu lesen ist, -- als eigentlich
geschichtlicher Roman kann er nicht gelten. Der geschichtliche
Hintergrund bleibt in blasser Undeutlichkeit; was ist Sage? was
Geschichte? Ähnliches gilt aber von allen jenen Werken: poetischer
Zauber umhüllt uns, aber der feste Boden der Wirklichkeit entschwindet.

Wie viel näher steht der geschichtlichen Wirklichkeit der eigentliche
Bahnbrecher des modernen historischen Romans, der 1798 zu Breslau
geborene ~Willibald Alexis~, mit richtigem Namen W. Häring
genannt! Es ist kein Zufall, daß in ihm sich neue Kräfte regten, die
Geschichte fruchtbar zu machen. Der Geist Walter Scotts war in ihm
lebendig geworden. Seine ersten Romane gehen ganz in den Bahnen des
englischen Dichters. Aber etwa seit dem Erscheinen von »Cabanis« 1832
ward er dem Vorbild gegenüber selbständiger; und gerade die Vorliebe,
mit welcher er in die Vergangenheit eines engeren Gebiets, der Mark
Brandenburg, sich versenkte, hat diese Selbständigkeit gefördert. Ein
Buch wie »~Die Hosen des Herrn von Bredow~« (1846) wird heut
noch gern gelesen; derbe Natürlichkeit, massiver Humor und gemütvolle
Erzählerkunst haben uns da ein ganz prächtiges Werk beschert. Trotzdem
möchte ich eine kurze Charakteristik nicht an dies Buch anschließen,
das immerhin das Allgemein-Menschliche dem Geschichtlichen gegenüber
bevorzugt. Vielmehr verweile ich lieber einen Augenblick bei den
großen historischen Romanen und aus deren Schar bei dem »~Roland von
Berlin~« (1840). Mag »Der falsche Waldemar« sich die psychologische
Aufgabe schwieriger stellen, gerade »Der Roland« ist für Alexis
charakteristisch. ~Einmal~ in der Art, wie die Handlung
geführt ist. Manche Szene packt, und auch wer das Ganze überschaut,
findet fortschreitende Entwicklung, die das Ziel im Auge behält
und bestimmtem Abschlusse zuführt. Die romantische Träumerei hat
aufgehört, die Kraft wirklicher, notwendig fortschreitender Handlung
ist vorhanden. Die beiden eng verbundenen Städte Berlin und Köln an
der Spree liegen um die Mitte des 15. Jahrhunderts in bitterem Streit
miteinander, sodaß das Band, das sie verbindet, schier zerreißen will.
Zugleich tobt ein anderer Streit in den Mauern der Stadt: die Zünfte
hadern mit den Geschlechtern, die Bürger mit dem Rat. Und das in der
Zeit, in welcher die Gerechtsame der Stadt in heiliger Eintracht
gehütet werden müßten. Kurfürst Friedrich +II.+ der Eiserne
liegt auf der Lauer, eben diese Rechte unter die fürstliche Würde zu
beugen. Wie ihm das gelingt, das wird in mannigfach verschlungenen
Wegen berichtet. Wir wollen sie hier nicht nachgehen. Genug: der
Bürgermeister von Berlin, Johannes Rathenow, dem der steinerne Roland
zu Berlin das Zeichen der eigenen Gerichtsbarkeit der Stadt ist, muß
es erleben, daß eben dieser steinerne Roland durch die Straßen der
Stadt geschleppt und in der Spree versenkt wird.

Was hier mit wenigen Sätzen angedeutet ist, ist selbstverständlich
nichts als der beherrschende Grundgedanke des dreibändigen Romans.
Die Füllung des Rahmens gewinnt Alexis von zwei Seiten her: aus
der minutiösen Schilderung vielfacher Einzelszenen und in ihnen
der Sitten und Art jener Zeit, und sodann aus dem Bericht über
die Schicksale einzelner Menschenkinder, insbesondere der Elsbeth
Rathenow, der schönen Tochter des stolzen Bürgermeisters, und des
Henning Mollner, der die Schöne zum Weibe begehrt. Einzelgeschick und
Gesamtgeschick sind mit kunstreicher Feinheit in einander verwoben;
keine Beschreibung führt vom Gange der Gesamthandlung ab oder tritt
unvermittelt oder wie überflüssig auf. Vielmehr ist alles zu einem
Ganzen geworden. Und doch ist der »Roland« nicht bloß ein Dokument
der Vorzüge dieser Kunst, sondern auch manches Fehlers derselben.
Wenige, die der Roman heute noch wirklich zu fesseln imstande wäre!
Warum? Weil der Gang der Handlung durch die Breite der Einzelszenen
doch ein schleppender geworden ist, -- weil es schwer wird, unter
allen den scheinbar wirren Ranken die leitenden Äste zu erkennen,
-- endlich wohl auch, weil der Fäden zu viel sind, die gleichzeitig
gezogen werden, und weil in der Darstellung selbst dem Leser nicht
immer genügend klare Wegweisungen für das Verhältnis des Einzelnen zum
Ganzen an die Hand gegeben werden.

Aber noch in einer anderen Richtung ist der »Roland von Berlin«
charakteristisch für die schriftstellerische Kunst seines Verfassers.
Er läßt uns die peinliche Treue wie die meisterhafte Deutlichkeit
seiner Detailschilderung merken. Hierin liegt in der Tat seine Stärke.
Es ist nicht möglich, hier solche Kabinettstücke der Kleinkunst
probeweise wiederzugeben: auch darin ist Alexis so breit, so minutiös,
daß der Raum dafür nicht reicht. Aber wer den Roland gelesen, der
lasse sich erinnern an das alte Rathaus zwischen Berlin und Köln mit
seinem bunt verzierten Oberbau und den vielen zierlichen Türmchen.
»Die Türmchen, nicht zur Verteidigung, es war nur Spielwerk, schauten
nach allen Stadtteilen; der mächtige, aber vielfach ausgezackte Giebel
aber war dem Spreeflusse zugewandt. Er durfte nach keiner der beiden
Städte blicken. Wäre es doch zu Ungunsten der einen oder anderen
gewesen. Das litt keine. Darauf gab man viel im Mittelalter und
fürchtete und scheute das Spiel des Zufalls.« Es sei erinnert an die
Beschreibung der stürmischen Ratssitzung, in welcher Niklas Perwenitz
zu vermitteln sucht, an den Weg des Bürgermeisters durchs Straßenleben
der Stadt nach dem Schummschen Hause in Köln, an das unübertrefflich
drastisch gemalte Fest beim Ratsherrn Thomas Wyns und an anderes mehr.
Viel zu breit ist manche der Szenen, aber lebendig, anschaulich und
wahr sind sie alle.

Ja ~wahr~! Das ist das dritte, was im Roland den Meister erkennen
lehrt. Hier ist realistische Treue, gepaart mit kräftigem Humor,
auch wohl im Gewand satirischer Überlegenheit, aber eben Treue.
Keine Treue, die ihre Aufgabe darin sieht, ~alles~ zu sagen.
Aber doch eine Treue, die das, was sie sagt, dem Leben abgelauscht
hat. Du liebes kleines Berlin-Köln aus der Zeit Friedrichs des
Eisernen! Du mit deinem stolzen Eigenbewußtsein und dem starren
Selbständigkeitsgefühl! Was sind deine Ratsherrn für mächtige Leute
gewesen, und welcher Reichtum hat in deinen Mauern sich geborgen!
Wie steif ist dein Nacken schon dazumal gewesen, wie kritisch dein
Verstand gegen alles, was von oben kam! Wie haben deine Bürger bei
aller Würde doch auch zu lachen gewußt; und was für lose Mäuler haben
ihre Witze gerissen! Es ist das Berlin des Mittelalters, welches der
Roland erstehen läßt; aber wir zweifeln nicht: es ist der richtige
Vorfahr des Berlin von heute!

Wilibald Alexis hat dem historischen Roman endgültig die Bahn
gebrochen. Wer seine Werke vor allem auf die Kraft der Spannung,
auf gedrungene Zusammenfassung, kurz auf die Kunst der Gestaltung
des Ganzen ansähe, würde oft enttäuscht sein. Wer aber das Einzelne
ansieht, die Plastik der Kleinmalerei und die Schönheit des
Gesamtbildes der Zeiten, die er beschreibt, der wird ihn immer mit
Bewunderung nennen. Nun ist dem Durchschnittsromanleser freilich
nichts schrecklicher, als wenn der Autor zu breit wird; und wer
möchte nicht zugeben, daß der Fehler groß ist? Aber anderseits
sollten ausdauernde Naturen von feinem historischem Geschmack doch
immer wieder einmal auf ihn zurückgreifen. Denn in der Art, wie er
die Geschichte für die Dichtung genützt hat, steht er, obwohl erst
Bahnbrecher, doch bereits auf der Höhe.

Überschauen wir nun das weite Feld des historischen Romans nach
W. Alexis, also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts! Als
gemeinsames Charakteristikum stelle ich fest: der romantische Zauber
ist abgestreift, manchmal auch der poetische Duft; jedenfalls droht
von daher der nüchternen Erfassung der Wirklichkeit keine Gefahr mehr.
Wer für jenen Zauber Sinn hat, mag wohl trauern, daß er dahin ist;
er gibt doch tatsächlich einen eigenen Reiz. Wenn er nur überall zu
gunsten der geschichtlichen Wirklichkeit sein Reich verloren hätte!
Aber es haben längst nicht alle Dichter von W. Alexis ernstlich
gelernt.

Lassen Sie mich Ihnen zuerst diejenige Linie in der Geschichte des
historischen Romans weiterführen, welche eine wirkliche Entwicklung
zur Vollendung hin am merkbarsten spüren läßt! Das ist die Linie,
welche von W. Alexis her über ~Scheffel~ und ~Riehl~ auf
~Freytag~ hinführt, in ihm aber keineswegs ihr Ende erreicht.
Was hier kurz zu skizzieren ist, das ist die Entwicklung des
~kulturhistorischen Romans~.

Wie unendlich verschieden kann die Methode sein, in welcher der
Romanschriftsteller Geschichte und Dichtung vermählt! Das kann ja
scheinbar geschehen, ohne daß von der Geschichte mehr entlehnt wird
als der äußere oder gar äußerste Rahmen. Statt daß man die Jahreszahl
1800 und so und so viel an den Anfang setzt, greift man eben ein paar
Jahrhunderte zurück. Irgend eine Größe der gewählten Zeit muß in
ein paar Szenen auftreten, -- aber mit Vorsicht, damit man nicht in
Konflikt mit der Geschichte komme. Der Stand und Beruf, die Kleidung
und etwa noch die Sprache der handelnden Personen wird ein wenig in
altmodisches Gewand gehüllt, wobei es weiter keine Rolle spielt, ob
jemals Leute auf dem Erdenrund so gesprochen haben, wie die Figuren
im sogenannten geschichtlichen Roman. Sodann wird eine Anzahl Zutaten
hereingegeben -- ein bischen Heldenmut aus den Kreuzzügen, ein Quantum
Glaubenstreue aus der Reformationszeit oder eine Portion Kriegsgreuel
aus dem dreißigjährigen Krieg. Und wenn nun noch der nötige Pfeffer
nicht fehlt, um die Sache zu würzen, und ein Stückchen Zwiebel dabei
ist, das die Tränen lockt, dann stürzt sich die Leserschar auf den
»herrlichen historischen Roman«. Aber die Maskerade kann den ernsten
Beurteiler nicht täuschen. Wann wäre je einer dadurch ein Ritter
geworden, daß er sich eine Rüstung übergeworfen und mächtig mit dem
Harnisch geklirrt hat?

Aber warum entwerfe ich hier diese Karikatur eines historischen
Romans? Lediglich, um durch den Gegensatz das Bild des
kulturhistorischen Romans schärfer herauszustellen. Vom Februar 1855
ist das Vorwort datiert, welches ~Josef Viktor von Scheffel~
seinem »~Ekkehard~« mitgegeben hat. Dies Vorwort bestimmt
es scharf und klar als die Aufgabe des historischen Romans, im
gegebenen Raum eine Reihe Gestalten scharf gezeichnet und farbenhell
vorüberzuführen, »~also daß im Leben und Ringen und Leiden der
Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums sich wie zum Spiegelbild
zusammenfaßt~.«

Scheffel verlangt für den Roman die Anerkennung als ebenbürtigen
Bruder der Geschichte; aber dem Roman, dem diese Anerkennung gebühren
soll, mutet er auch zu, daß er auf historischen Studien ruhen muß.
Von seinem »Ekkehard« meint er: »Daß nicht viel darin gesagt ist, was
sich nicht auf gewissenhafte kulturgeschichtliche Studien stützt,
darf wohl behauptet werden, wenn auch Personen und Jahrzahlen,
vielleicht Jahrzehnte mitunter ein weniges in einander verschoben
werden.« Und in der Tat, -- indem er diese geschichtliche Sicherheit
mit nicht weniger als 285 gelehrten Anmerkungen stützt, ist er der
Geschichts~wissenschaft~ fast zu sehr entgegenkommen.

Das Beste ist nun freilich, daß uns Scheffel nicht bloß ein Programm
gegeben, sondern daß er eben dies Programm auch trefflichst ausgeführt
hat.

Wer jene Anmerkungen liest, dem kann bange werden, ob er nicht einem
pedantischen Gelehrten in die Hände gefallen sei. Aber das Bangen
ist unnütz. Im »Ekkehard« pulsiert so frisches, munteres Leben wie
in wenigen anderen Büchern. Er selber erzählt, wie ihm dies Leben
erwachsen ist. Die alten Quellen hat er studiert: da »hob und baute
es sich empor wie Turm und Mauern des alten Gotteshauses St. Gallen,
viel altersgraue ehrwürdige Häupter wandelten in den Kreuzgängen
auf und ab, hinter den alten Handschriften saßen die, die sie einst
geschrieben, die Klosterschüler tummelten sich im Hofe, Horasang
ertönte aus dem Tor und des Wächters Hornruf vom Turme. Vor allen
anderen aber trat leuchtend hervor jene hohe gestrenge Frau, die
sich den jugendschönen Lehrer aus des heiligen Gallus Klosterfrieden
entführte, um auf ihrem Basaltfelsen am Bodensee klassischen Dichtern
eine Stätte sinniger Pflege zu bereiten ...«

Wir wissen aber, welche Fülle anderer Gestalten den »Ekkehard« belebt:
fürstliche Burggenossen -- vom Kämmerer Spazzo und der Griechin
Praxedis bis zur Gänsehirtin Hadumoth, daneben Weltpriester und
Waldfrau, und nicht zuletzt der wimmelnden Hunnen Gewühl. Wir wissen
alle, wie diese Gestalten Leben bekommen, wie die ganze Zeit des 10.
Jahrhunderts, wie die ganze Gegend dort am Bodensee in ihnen Leben
gewinnt. Und wer hätte sich nicht schon an der Form erfreut, in
welcher Scheffel jenes dunkle Jahrhundert erweckt hat?

Die Schwerfälligkeit eines W. Alexis ist gründlich überwunden, die
Handlung ist kräftig zusammengefaßt und fesselnd gestaltet, Brauch
und Sitte sind selten besonders beschrieben, -- die Handlung selbst
läßt sie erkennen. Das Ganze ist durchweht von goldenem Humor. Wir
danken dem Dichter, daß er ein wirkliches, echtes Kulturbild gegeben,
und verschmerzen es auch, daß er es für nötig befunden hat, diese
Echtheit ein bischen aufdringlich zu bescheinigen; wir freuen uns
über die Leichtigkeit der Behandlung, den Fluß der Darstellung,
die Anmut der Schilderung. Denn von der Vorstellung sind wir doch
hoffentlich los, als ob alles, was tüchtig ist, langweilig sein müßte!
-- Der »Ekkehard« ist ein Buch des deutschen Volks geworden, mag man
sonst über Scheffels Poesie denken, wie man will. Ein Arno Holz, der
Scheffels Gedichte gar nicht leiden mag, singt an seine Adresse:

  »-- Jahrzehnte lagen sie uns zur Last,
      Deine altdeutsch jodelnden Leute.«

Aber er fährt fort:

  »~Doch daß Du den Ekkhart geschrieben hast,
  Das danken wir Dir noch heute!~« --

Nicht eben weit ab von Scheffels Programm ist dasjenige, welches
~Wilhelm Riehl~ 1856, ein Jahr später, bei der Herausgabe
seiner ersten »~Kulturgeschichtlichen Novellen~« aufgestellt
hat. Zu diesem Programm gehört, daß die handelnden Personen
selbst nicht geschichtlicher Überlieferung entstammen, sondern
freigeformte Charaktere sind. Gerade so glaubt Riehl am besten die
Gesittungszustände, die Kultur eines bestimmten Zeitabschnitts
darstellen zu können. Aus diesen Kulturzuständen heraus müssen
die Menschen selbst mit ihrem Wesen, ihren Leidenschaften, ihren
Konflikten geschaffen sein. In Wirklichkeit ist diese Forderung
im wesentlichen schon im »Ekkehard« erfüllt, wenngleich Scheffel
überlieferte geschichtliche Namen lebendig gemacht, nicht eigens neue
Gestalten geschaffen hat. Ist das wirklich ein großer Unterschied?
Wenn man Riehls Absicht recht versteht, so ist sein Programm
doch als der schärfste Gegensatz zu jenem vorhin geschilderten
äußerlich-historischen Roman zu verstehen, der sich an große Namen
und große Zeiten anlehnt, aber damit der Geschichte genug getan
zu haben glaubt. Er überspannt den Gegensatz: gar nichts, was in
der sog. Geschichte eine Rolle spielt, sondern ~nur Kultur~!
Sicher ist auch sein Programm berechtigt, aber nicht als das einzig
richtige, sondern als eins, das neben sich das eng verwandte
Scheffelsche Programm sehr gut verträgt. Ja, es dürfte so stehen,
daß Riehls Programm kaum weiter reicht als für die kulturhistorische
~Novelle~. Der Roman, der weiter ausholt, der nicht bloß ein
Bildchen, sondern ein großes, weites Bild geben will, kann nicht
~bloß~ bei jenen Gestalten stehen bleiben, welche die Phantasie
frei als Träger bestimmter Zeitkultur erfunden hat. Er muß weiter
greifen, und zwar ins geschichtlich Überlieferte hinein. Sonst
würde er schließlich selber sein Programm der geschichtlichen Treue
verleugnen.

Die Novellen, welche Riehl selbst in großer Zahl geschaffen hat, geben
ganz im Sinn seiner Absicht treffliche, feine, kleine Einzelbilder
aus der deutschen Vergangenheit. Sie sind nicht so graziös wie der
»Ekkehard«; man merkt etwas deutlicher den Gelehrten. Aber sie sind
überall fesselnd und graben bei aller Kleinheit überall in die Tiefe
des geschichtlichen Lebens hinein. Sie verdienten mehr Beachtung, als
ihnen gemeinhin zu teil wird.

Der »Ekkehard« und Riehls Novellen, sie bedeuten ein Programm. Ohne
ein ausdrückliches Programm hat vorher schon ~Meinhold~ in seiner
»~Bernsteinhexe~« (1843) ein ähnliches Bild geschaffen. Aber
der größte Wurf geschah in der Nachfolge dieses Programms: ich meine
~Gustav Freytags~ großes Werk »~Die Ahnen~«, das von 1872
bis 1880 erschien. In sechs Bänden gibt der Dichter hier eine Reihe
von Bildern aus der Geschichte eines Geschlechts. Ein Zeitraum von
anderthalb Jahrtausenden soll in seinen charakteristischen Epochen dem
Leser lebendig werden. »Ingo« und »Ingraban« führen in uralte Zeiten;
die Jahreszahlen 357 und 724 stehen ihnen voran. Sitte und Brauch, Art
und Recht in den Wäldern der Thüringe kündet uns »Ingo« in kraftvoll
gezeichneten Linien, in schwungvoller Darstellung, in vollendet
fesselndem Abschluß. Ingo, der Königssohn aus Vandalenstamm, und
Irmgard, Fürst Answalds Tochter von Thüringer Blut, -- sie haben der
Deutschen Herz gewonnen. Und wie hier das Tosen der römischen Waffen
von fernher hineinschallt in die Stille germanischer Waldeinsamkeit,
so erklingen in »Ingraban« die Kampfrufe aus dem Streit zwischen
Deutschen und Wenden. Aber zugleich erleben wir hier den Geisterkampf
mit: Christentum ringt mit dem Heidentum, die sieghafte Religion mit
der niedergehenden, Winfried-Bonifatius tritt neben Ingram-Ingraban.
Einen starken Schritt vorwärts liegt »Das Nest der Zaunkönige«. Nicht
mehr gegen Römerübermut kämpft deutsche Kraft; auch die wendische
Gefahr ragt in dies Buch nicht mehr hinein. Unter einander streiten
des Volkes Glieder. Der Sachsenkönig Heinrich +II.+, der seit
dem Jahre 1002 das Zepter führt, muß seine Herrschaft gegen die
übelwollenden Großen des eigenen Landes schirmen. Die Schilderung
deutscher Uneinigkeit, dazu aber überragender Königskraft und endlich
mittelalterlichen Klosterlebens wird mit den persönlichen Interesse
an Immo, dem Klosterschüler und späteren Helden, und seiner geliebten
Hildegard verwoben. Das »Nest der Zaunkönige« vermag nicht ganz im
gleichen Maß für sich zu gewinnen wie die beiden ersten Stücke; mag
sein, daß der starke Gegensatz zwischen fremder und heimischer Art,
der hier fehlt, dort wesentlich die packende Kraft gehoben hat.
Vielleicht ist doch auch die Anlage dieses Buchs etwas zu breit. Auch
die »Brüder vom deutschen Hause«, welche den dritten Band bilden,
erreichen nicht die geschlossene Vollendung der ersten Bilder. Sie
erzählen eine Lebensgeschichte, aber sie berücksichtigen dabei allzu
wenig die Einheit der Entwicklung, als daß der Romancharakter gewahrt
bliebe. Herr Ivo, der Thüring, ists, der daheim in Minnedienst und
ritterlicher Art, auf dem Kreuzzug in merkwürdigen Abenteuern, dann
wieder daheim im Konflikt mit der ketzerverfolgenden Kirche, endlich
als Glied des deutschen Ordens geschildert wird. Auch hier ist durch
Ivos Verehrung der edlen Agnes von Meran, dann durch sein und der
schönen Friderun Herzensbündnis für menschliche Teilnahme gesorgt.
Die Bilder mittelalterlichen Lebens, welche dieser Band entfaltet,
sind reicher als die der früheren Bände. Kaiser Friedrich +II.+,
der Ketzerrichter Konrad von Marburg, die heilige Elisabeth, -- sie
alle grüßen den Leser. Aber neben den Mängeln der äußeren Gestaltung
steht doch der andere Mangel, daß eben diese großen Gestalten nicht
recht treu und echt gezeichnet sind. -- Es ist sonderbar, daß Freytag
gerade da, wo er große weltgeschichtliche Gestalten in die Welt seiner
Phantasie eingreifen läßt, kein rechtes Glück hat; der Martin Luther,
der am Schlusse der nächsten Abteilung, die den Titel »Markus König«
führt, eine schwierige Frage mit spitzfindigem Scharfsinn löst, ist
auch nicht der Martin Luther der Geschichte. Sonst freilich ist
»Markus König« einheitlicher als die »Brüder vom deutschen Hause«; in
das Städteleben von Thorn, in das Ringen von Deutschtum und Polentum,
in Händel und Fehden der Zeit der Reformation führt er trefflich
ein. Nur daß man es doch als peinliche Lücke empfindet, daß das
eigentlich Bewegende dieser Epoche, daß das religiöse Moment so ganz
zurücktritt. Der Band stellt sich damit selber zur Seite; er schildert
den Zeitcharakter in Nebenerscheinungen, und er schildert ihn darum
unvollständig und ungenügend. -- Der fünfte Band enthält die beiden
Skizzen, welche gemeinsam »Die Geschwister« betitelt sind. Die erste,
»Der Rittmeister von Alt-Rosen«, zeigt Kriegswesen und Aberglauben
aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, die zweite, »Der Freikorporal bei
Markgraf Albrecht«, will das Charakteristische aus der Zeit Friedrich
Wilhelms +I.+ herausheben. Aber beiden Skizzen fehlt wirkliche
geschichtliche Kraft und tieferes menschliches Interesse. Auch der
letzte Band »Aus einer kleinen Stadt« vermag die Vorgänger nicht
wieder zu erreichen; dazu ist weder die erste, größere Erzählung aus
der Zeit der Freiheitskriege plastisch genug gezeichnet, noch die
zweite kleinere, welche in einem Journalisten das letzte Glied der
»Ahnen« erkennen läßt, irgend genügend vertieft.

Im einzelnen sind die Bände also von sehr verschiedenem Wert. Und zwar
nicht bloß nach Seite der künstlerischen Gestaltung, sondern auch
nach der Richtung geschichtlicher Anschaulichkeit. Man darf getrost
sagen: selbst für Gustav Freytag war der Wurf ~zu~ groß. Wenn
jenes Programm Riehls wirklich ausgeführt werden soll, so bedarf es
dazu nicht bloß einer reichen Gestaltungskraft, sondern auch einer
Vertiefung in das Innerste der zu schildernden Zeit, wie sie nur
mit schweren Mühen zu gewinnen ist. Aber wer kann in dieser Weise
sämtliche Hauptepochen der vaterländischen Geschichte beherrschen? Wer
kann leben, ja wirklich ~leben~ in den Zeiten der Sachsenkaiser,
der Reformation und der Befreiungskriege? Auch Freytag hat das nicht
völlig vermocht. Und vielleicht hat doch auch für ihn das Riehlsche
Programm eine Gefahr eingeschlossen. Es geht allzusehr ins Kleine,
ins Alltägliche, ins Gewöhnliche. Eine Zahl von losen Einzelskizzen
kann es geben, und sie alle mögen sich gut und gern zum Gesamtbild
der Gesittungszustände eines Volks zusammenschließen. Aber wenn eine
fortlaufende, zusammenhängende Reihe die wichtigsten Epochen der
ganzen Volksgeschichte umfaßt, dann ist das Prinzip des Kleinlebens,
des »Abseits vom Wege« nicht mehr für sich allein brauchbar. Dann
müssen die großen Bewegungen der Geister mit ganz anderer Wucht ins
Leben des Romans eingreifen.

Aber wozu im einzelnen mit Freytag rechten? Seine »Ahnen« haben ja
trotz mancher Schwächen längst einen Ehrenplatz unter den deutschen
Dichtungen gewonnen. Gewiß, sie verdienen ihn auch. Nicht bloß durch
ihre gelungensten Teile, sondern vor allem durch die wirklich geniale
Größe des ihnen zugrunde liegenden Gedankens. Und endlich: wie schon
der »Ekkehard«, wie Riehls Novellen, wie vordem schon die Werke von W.
Alexis, so sollen auch Freytags »Ahnen« der Liebe eben des deutschen
Volkes gewiß sein, denn sie haben uns ~die eigene Vergangenheit~
erschlossen. Es wird für alle Zeiten ein Ruhm des historischen Romans
im 19. Jahrhundert bleiben, daß er zum ~nationalen~ Roman
geworden ist. --

Vollständigkeit in der Aufzählung der literarischen Erscheinungen
kann auch dies Bild des historischen Romans nicht anstreben. Aber
ich möchte doch die Entwicklungslinie des kulturhistorischen Romans
nicht abschließen, ohne ein Werk zu erwähnen, das in seiner Eigenart
besondere Beachtung verdient: ich meine ~Theodor Fontanes~
Zeitgemälde »~Vor dem Sturm~.« Es ist nicht Fontanes Art, seinen
Romanen einen »großen Zug« zu geben; auch dies Gemälde aus dem
Winter 1812 zu 1813 gibt Kleinleben, ganz und gar Kleinleben. Aber
das eben ist Fontanes Stärke, ~wie~ er dies Kleinleben zu malen
weiß. Diese Kunst der Anschaulichkeit, diese Sorgfalt des Details,
diese Peinlichkeit in der geschichtlichen Treue, diese Feinheit in
der Erfassung aller wesentlichen Strömungen, und zu dem allen diese
feste Fundamentierung der Erzählung auf märkischem Boden! Ich gönne
jedem die Freude an tatenreichen, geschickt gruppierten Handlungen,
aber ich gestehe, meine Freude an dieser Fontaneschen Art gebe ich
dafür nicht hin. Schließlich treibt er doch auch wahrlich nicht bloß
Kleinigkeitskrämerei; das Kleinste -- und wenn es die Tischordnungen
sind, welche er für sämtliche vorkommenden Mahlzeiten mitteilt -- ist
ein notwendiges Glied des Ganzen, ein unentbehrlicher Pinselstrich auf
dem Bilde der beschriebenen Zeit.

Ich habe etwas lange bei dem kulturhistorischen Roman verweilt. Aber
wenn auch anderes darüber knapper behandelt werden muß, ich bereue es
nicht. Hier liegt der größte Erfolg des historischen Romans im 19.
Jahrhundert. Man kann alle die anderen Erscheinungen auf diesem Gebiet
danach beurteilen, wie nahe oder wie weit sie von dieser Linie sich
entfernen.

Neben die rein oder vorwiegend kulturgeschichtliche Richtung
stelle ich zunächst eine ihr nahestehende, der ich den Namen der
~allgemeingeschichtlichen~ geben möchte. Auch für diese
Richtung ist die Absicht maßgebend, ein bestimmtes treues Bild
aus der Geschichte zu zeichnen. Nur daß dieses Bild nicht gerade
die Gesittungszustände, das kulturelle Kleinleben umfassen soll,
sondern sich mehr an die großen Strömungen und Stimmungen, an feste
historische Ereignisse der Entwicklungsgänge anlehnt. Auch die Romane
dieser Art müssen einen kulturhistorischen Einschlag haben; sonst
würden sie schemenhaft werden. Die Kunst muß hier für den Dichter
darin bestehen, ohne allzuviel Detail doch die Gestalten der Dichtung
in engste Verbindung mit dem geschichtlichen Leben der gewählten Zeit
zu setzen. Zahllose Romanschreiber sind an dieser Aufgabe gescheitert;
sie gaben modernes Leben in geschichtlichem Gewand. Aber zwei Meister
möchte ich nennen, deren Werke mir in diese Kategorie zu gehören
scheinen. Der eine ist ~Wilhelm Raabe~, der Stimmungsdichter, der
doch auch die Geschichte sich dienstbar gemacht hat. Sein »~Unseres
Herrgotts Kanzlei~« (1862) zeichnet mit kräftigen Strichen die
Kriegsnöte des belagerten Magdeburg und zugleich etliches von den
Stimmungen und Strömungen des Reformationsjahrhunderts. Nur fehlt
eben die intime Einzelschilderung und die feinere psychologische
Differenzierung. Und Raabes Hauptstärke, die Stimmung, kann hier nicht
in gleicher Weise zur Geltung kommen wie bei seinen nicht-historischen
Werken. Auch seine Erzählung aus dem 18. Jahrhundert, »Das Odfeld« sei
hier genannt. -- Der andere Meister dieser allgemeingeschichtlichen
Richtung ist der Schweizer ~Conrad Ferdinand Meyer~. Sein großer
Roman »~Georg Jenatsch~« beschreibt die langen und verworrenen
Parteikämpfe, welche auf dem Gegensatz der Konfessionen beruhten. Die
Absicht ist unfraglich die, eben diese Zeit der Wirren und Kämpfe
dem Leser lebendig zu machen. Allerdings hat das Buch bei großen
Vorzügen auch erhebliche Mängel. Es führt nicht in konzentrierter
Entschlossenheit vorwärts; es gibt Bilder, aber kein einheitlich
wirkendes Bild. Es hält den Leser durch Zersplitterung des Interesses
nicht bei dem befriedigenden Bewußtsein stets vorhandener Klarheit.
Jürg Jenatsch selbst, der Parteiführer, hat eine nur mäßige
Qualifikation zum Romanhelden. Sein Charakter packt, aber er verstimmt
zugleich. Er begeistert, aber er kühlt bald wieder ab. Alles in allem,
er hält die Sympathien der Leser nicht fest. Auch gelingt es ihm mit
seiner objektiven, etwas schwerwuchtigen Art minder gut als leichteren
Werken, die doch notwendige Spannung zu erzeugen.

Bedeutender noch als dieser große Roman sind Conrad Ferdinand
Meyers historische Novellen. Freilich, man kann versucht sein, sie
nicht mehr zu der eben besprochenen Richtung zu zählen, sondern
zu einer ~dritten~, der ~an die Geschichte angelehnten
individuellen Erzählung~. Diese Bezeichnung bedarf einer
Erklärung. Ich denke dabei an Dichtungen, welchen nicht die Erweckung
eines bestimmten geschichtlichen Kulturlebens, auch nicht die
bestimmter geschichtlicher Vorgänge das Ziel ist, sondern welche
ein mehr individuell interessantes Erzählungsbild, das nicht gerade
geschichtlichen Gründen, sondern allgemein menschlichen Motiven
entstammt, an die Geschichte anlehnen. Auch das ist eine berechtigte
Form des Romans, nur daß freilich das Wort »historisch« nicht im
gleichen Sinn ihr zukommen kann, wie den eben genannten Richtungen.
Selbstverständlich muß auch hier der Gesamteindruck echt sein. Die
Grenzen zwischen dieser Art und der vorher skizzierten sind leicht
verrückbar; auch bei Conrad Ferdinand Meyers Erzählungen ist es
manchmal schwer zu sagen, ob sie mehr das Allgemein-Geschichtliche
oder das Individuelle betonen. Jedenfalls aber verdienen sie zum
großen Teil als Meisterstücke der Erzählerkunst genannt zu werden.
»~Der Heilige~« greift in das Leben des englischen Kanzlers
Thomas Becket, also ins 12. Jahrhundert hinein, -- mit welch
wunderbarer, abgerundeter Darstellungskunst! Andere haben ihren
Schauplatz zu anderen Zeiten und in anderen Ländern; »~Die Hochzeit
des Mönchs~« z. B. führt nach Padua, »~Das Amulett~« in die
Tage der Pariser Bluthochzeit. Wer aber geneigt ist, diese Erzählungen
noch zu der gleichen allgemeingeschichtlichen Richtung zu zählen
wie den »Georg Jenatsch«, der mag als Muster der dritten Gattung
eine Erzählung nehmen wie »~Grete Minde~« von ~Fontane~.
Hier steht nicht die Kultur im Vordergrund und ganz sicher nicht die
Geschichte; Lieb und Leid, wie es die Herzen bewegt, bewegt auch die
Erzählung, -- nur daß ihr ein geschichtlicher Hintergrund gesichert
ist. Übrigens aber ist Fontane gerade in der »Grete Minde« ein
anmutiges und feines Werk gelungen, eine wohlgebaute, nirgends zu
stark auftragende, aber überall tiefgefaßte und pointierte Erzählung.

Endlich nenne ich kurz eine ~vierte~ Gattung des historischen
Romans, nämlich diejenige, welche nicht Kulturleben, auch nicht
geschichtliche Vorgänge, und wiederum nicht individuelles
Menschengeschick zum Ausdruck bringen will, sondern den
~Gedankengehalt der Geschichte~, die Ideen, die Tendenzen,
die geistigen Strömungen. Eine gewaltige Aufgabe -- dankenswert
und schwer zugleich. Schwer vor allem deshalb, weil es viel eher
gelingt, gegenüber den Kulturzuständen vergangener Epochen objektiv zu
bleiben als gegenüber den Gedanken, welche in jenen Zeiten lebendig
gewesen sind. Schon das ist schwer, diese Gedanken klar und ruhig
zu ~erfassen~, geschweige denn, sie objektiv wiederzugeben. So
haben wir denn von dieser Gattung auch keine erstklassigen Romane zu
verzeichnen. Aber genannt seien als ihre Vertreter ~Karl Frenzel~
(z. B. »Freier Boden«), ~Heinrich Laube~ (»Der deutsche Krieg«)
und ~Karl Gutzkow~ (»Hohenschwangau.«)

Eine große Reihe historischer Romane habe ich Ihnen skizziert oder
nur genannt. Die Fülle der Erscheinungen zwang dazu, auf gründlichere
Behandlung einzelner Werke zu verzichten. Aber ich bin gewiß, daß Sie
unter den vielen Namen, die genannt wurden, etliche -- vielleicht mit
Befremden -- vermißt haben. Nun -- sie sind bisher nicht ohne Absicht
übergangen worden. Es war ja die Absicht, nur das wirklich Bedeutende
anzuführen, um so die Entwicklung des historischen Romans in raschen
Zügen zu skizzieren. Zu den Größten zählen eben die Übergangenen
nicht. Trotzdem muß auch etlichen von ihnen noch ein Wort gewidmet
werden, -- schon deshalb, weil sich die Gunst des Lesepublikums so
warm für sie ins Zeug legt. Das gilt vor allem von ~Felix Dahn~
und ~Georg Ebers~. Namentlich eine Anzahl von Dahns »~Kleinen
Romanen aus der Völkerwanderung~« sind ohne geschichtliche und ohne
höhere künstlerische Kraft. Manche haben durch kunstvolle Ordnung des
Stoffs eine gewisse Spannkraft, manchen liegt ein für eine Novelle
ganz brauchbarer Gedanke zu grunde, alle haben die Entschuldigung für
sich, daß es zum Allerschwersten gehört, kulturlose Zeiten lebendig
zu machen, -- aber eben Natur und Leben sucht man in ihnen vergebens.
Ganz moderne Gedanken, wie sie der Weltanschauung Dahns entsprechen,
hat er hier längst Vergangenen in den Mund gelegt. Zudem ermüdet
an ihnen die schablonisierte Manier. Stärker ragt die Geschichte
hinein in Dahns großes Werk, den »~Kampf um Rom~.« Es ist ja
leichter, große Heldengestalten und mächtige Weltereignisse dem Leser
nahezubringen als untergeordnete Wesen aus kleineren Umgebungen. So
weckt der »Kampf um Rom« unfraglich erheblich größeres Interesse als
jene eben besprochenen Romane. Es bleibt auch richtig, daß der »Kampf
um Rom« dramatische Kraft, begeisterte Wärme und mächtigen Schwung
besitzt. Leicht entzündbare, namentlich jugendliche Herzen vermag er
mit dieser seiner Art geradezu in Flammen zu setzen. Sollen wir alles
dies gering einschätzen? Gewiß nicht! Aber anderseits dürfen wir
uns durch diese fortreißende Wucht auch nicht die ruhige Besinnung
rauben lassen. Was für »Geschichte« liegt dem Roman zu grunde? Jene
Geschichte, die nicht viel anderes kennt, als Helden und Bösewichte,
Schlachten und Kämpfe, Ruhm, Leidenschaften, Intrigen! Es ist die
Geschichtsmethode der Volksbücher, diejenige der mittleren Klassen des
Gymnasiums (auch hier ist sie jetzt schon großenteils überwunden),
aber nicht diejenige, welche dem tiefer Schauenden das wirkliche
Leben der Vergangenheit erweckt! Welche Psychologie führt das Zepter?
Eine Psychologie der großen Linien und der großen Mittel, aber keine
Seelenforschung, die Menschen und Zeiten in feiner Erfassung auch
scheinbar minder wichtiger Züge in Übereinstimmung zu bringen weiß!
Folglich bleibt vieles im »Kampf um Rom« geradezu talmihistorisch. Und
selbst die äußere Echtheit verdirbt sich Dahn, indem er alle Fäden in
den Händen des Cethegus zusammenlaufen läßt, einer Figur, die wie dazu
geschaffen ist, zum Ideal träumender Jünglinge zu werden. Die gesamte
Entwicklung hängt an Cethegus; und Cethegus ist ein dichterisches
Phantasiegebilde! Aber selbst wenn man diese Entgleisung in den Kauf
nimmt, zu reiner Freude an dem Buch kann man nicht kommen, weil das
Pathos, in dem Dahn seine Menschen reden läßt, gar zu ungeheuerlich
ist.

Nur eine einzige Stilprobe! Furius Ahalla, der Korse, spricht:

»Staune nicht -- frage nicht!

Ja: ich liebe Valeria mit aller Glut: fast haß' ich sie -- so lieb ich
sie.

Ich warb um sie vor Jahren.

Ich erfuhr, sie sei dein -- vor dir trat ich zurück: -- erwürgt hätt'
ich jeden Andern mit diesen Händen.

Ich eilte fort: ich stürzte mich in Indien, in Ägypten in neue
Gefahren, Abenteuer, Schrecknisse, Genüsse.

Umsonst.

Ihr Bild blieb unverwischt in meiner Seele.

Höllenqualen der Entbehrung erlitt ich um sie.

Ich durstete nach ihr, wie der Panther nach Blut.

Und ich verfluchte sie, dich und mich ...«

Wer spricht so im gewöhnlichen Leben? Furius Ahalla, der Korse?
Nimmermehr!

Ähnlich ist über die Schöpfungen eines anderen Lieblings der Mode zu
urteilen, über die von ~Georg Ebers~. Der kulturhistorische Roman
verläßt das nationale Gebiet; das ist sein gutes Recht. Er verläßt
nicht das Prinzip der Kulturschilderung; hierin hat der Professor der
Ägyptologie sehr Hübsches geboten. Aber es ist leichter, altägyptische
Kultur zu schildern als altägyptische Menschen zu zeichnen. Die
Fabel und die Charaktere, das sind bei Ebers die wunden Punkte. Man
muß schon sehr gutgläubig sein, um in diesem Punkt das als echt
hinzunehmen, was er gibt. Nur im »+Homo sum+« hat Ebers einmal
tiefer zu motivieren gesucht; das Buch steht über dem Durchschnitt.
Dafür hat er aber auch manches geschrieben, was unter dem Durchschnitt
bleibt. Seine »Gred« ist eigentlich das Muster eines historischen
Romans, wie er nicht sein soll. Mielke hat Recht: »glanzloser Firnis
deutschen Mittelalters« liegt darüber. Die Sprache gekünstelt, das
Empfinden modern, alles, was über das Individuelle hinausgeht,
verschwommen, dies Individuelle aber ungefähr auf den Backfischton
gestimmt, die Gedanken ohne Entschuldigung fehlend -- wahrlich, was
dabei herausgekommen ist, ist ein kraft- und saftloses Ding, das
absolut nichts durch die Verlegung ins Mittelalter gewonnen hat. Die
Geschichte könnte beinah ebenso gut in jedem bürgerlichen Hause des
19. Jahrhunderts spielen. Man möchte darüber weinen, daß das Gros des
die Leihbibliotheken benützenden Publikums auch die »~Gred~«
kritiklos genossen hat, weil Ebers nun einmal in der Mode war.

Von anderen will ich schweigen. Nicht als ob nicht noch manches Werk
auch neben den großen und hervorragenden Schöpfungen stünde, das
der Liebe des deutschen Lesers sicher sein darf. Und ebensowenig
soll geleugnet werden, daß außer Georg Ebers mit seiner Archäologie
in Romanform auch andere Schriftsteller noch den historischen Roman
gemißbraucht haben. Aber was hat es für Zweck, das Gedächtnis an
~Ecksteins~ »Sensationsromane im historischen Gewande« -- wie
Adolf Bartels sie nennt -- aufzufrischen? Robert ~Hamerlings~
»Aspasia« verdiente wegen ihrer ernsthaften Gelehrsamkeit Erwähnung,
wenn wir nicht den historischen ~Roman~ behandelten. Ein solcher
ist das schwerfällige Buch mit seiner steifleinenen Umständlichkeit
nicht geworden.

Es sei genug. Über Höhen und durch Tiefen sind wir gewandelt;
Prunkstücke der deutschen Erzählerkunst haben wir geschaut. Laßt
uns begraben unter Schutt und Asche, was auf diesem weiten Gebiet
Minderwertiges erstand. Aber laßt uns jubeln, daß wir auch Männer
hatten, die die größte Kunst verstanden: Geschichte und Dichtung zu
vermählen!

                            [Illustration]




                        Die Stimmungsdichtung.


So war der Kampf gekämpft, der Kampf zwischen Träumen und Wachen.
Das Tageslicht der hellen Wirklichkeit hatte die Träume verscheucht.
Die lieblichen Traumbilder Eichendorffs so gut wie die dem Alpdruck
ähnlichen des Teufels-Hoffmann. Man hatte ins ländlich-dörfliche
Stillleben hinein gegriffen so gut wie in das wechselvoll bewegte
Leben der politischen Kreise; man kritisierte, was nur immer der
Kritik Angriffsflächen bot: die Vornehmen des ostelbischen Adels, die
Wucherkünste unredlicher Geschäftsleute, den Taumel, in welchen das
rote Gold weite Schichten des deutschen Volkes versetzt hatte, aber
man griff auch hinein in die streitenden Gedankenwelten, in denen alte
und neue Zeit einander gegenüberzustehen schienen, und kritisierte
Gedanken, die man nicht für richtig hielt, samt ihren Vertretern.
Man ließ die Vergangenheit aufs neue erstehen und mühte sich, mit
größerem oder geringerem Glück, mit gröberem oder feinerem Stift, die
alten Zeiten des brandenburgischen Ländchens, der Stadt Berlin, des
preußischen Volks, -- aber auch die uralten Zeiten ägyptischer Kultur,
griechischer Kunst und römischer Machtherrlichkeit so naturgetreu
nachzubilden, als man es vermochte. Goethes Geist war in diesen
Dichtern allen lebendig geworden.

Aber nicht bloß ~Goethes~ Geist bewies die Kraft, Spätere in
seinen Bann zu zwingen. Auch jener andere Geist war nicht erstorben,
der einst ~Jean Paul~ die fleißige Feder geführt hatte. Goethes
Geist -- so sahen wir -- ist der Geist der dichterisch begriffenen und
kunstvoll gezeichneten Wirklichkeit. Der Geist Jean Pauls aber läßt
sich kurz als der Geist der poetischen ~Stimmung~ bezeichnen. Es
fehlt nicht der Gedanke, es fehlt nicht die Wirklichkeit, es fehlt
nicht die Kritik. Aber das sind alles keine regierenden Mächte. Das
Regiment liegt in der Hand jenes wunderbaren Etwas, das sich jeder
Definition entzieht, jenes verklärenden Hauchs, der über den Dingen
liegt, manchmal sie leise verschleiernd, immer allzu harte Kanten,
allzu scharfe Konturen abmildernd, -- der Stimmung.

Selbstverständlich denke ich nicht daran, den Romanen, welche in der
nachromantischen Zeit bisher uns beschäftigt haben, die Stimmung
abzusprechen. Das sei ferne! Nur für manche derselben würde dies
Urteil allenfalls zutreffen, so etwa für Gutzkow, vielleicht auch
ein wenig für Freytag. Aber Immermanns Oberhof hat unfraglich seine
ganz besondere Stimmung, die patriarchalisch-würdige und doch
naturwüchsige Stimmung des alten Bauernhofs. Und wieviel Stimmung
liegt in Spielhagens Landschaftsschilderungen, in seiner Erzählung von
der hereinbrechenden Sturmflut! Nur eben -- bei ihnen allen ist nicht
die Stimmung das Ausschlaggebende, das Hauptsächliche, sondern das
nüchterne wirkliche Leben.

Nun aber hat auch dieser Geist Jean Pauls, der Geist der herrschenden
Stimmung, nicht lange schlafen können. Er hat eine fröhliche
Auferstehung gefeiert. Ein Roman, eine Novelle ward dem deutschen
Volke geschenkt, die man getrost als ~Stimmungsroman und
-Novelle~ bezeichnen darf. Wir danken die Werke dieser Art nicht
~einem~ Meister allein; und, wie nur natürlich, die Novelle zeigt
sich hier zahlreicher auf dem Plan als der Roman selbst. Aber auch er
fehlt nicht; ~Wilhelm Raabe~ schuf ihn, und ihm stehen zur Seite
der Novellist ~Theodor Storm~ und ~Peter Rosegger~.

Ein merkwürdiges Buch, diese »~Chronik der Sperlingsgasse~«,
die ~Raabe~ als erstes Werk seiner Muse 1857 in die Welt
hinaussendete. Merkwürdig aber nicht wegen absonderlicher
Ereignisse, die darin eine Rolle spielten. Von nervenaufregenden
Schauergeschichten ist Raabe kein Freund. Auch was der Chronist der
Sperlingsgasse erzählt, ist darum einfach und schlicht, beinahe
alltäglich. Zwei Freunde, ein Student der Philosophie und ein Maler,
und ein Kind, ein Mädchen ...... Der Student berichtet ganz knapp, was
geschehen, wie er als Greis auf das Vergangene niederblickt:

»Ich sehe zwei Männer im Strom des Lebens kämpfen, ein Lächeln von
ihr zu gewinnen; und ich sehe endlich den Einen mit keuchender Brust
sich ans Ufer ringen und den schönen Preis erfassen, während der
Andere weiter getrieben, willenlos und wissenlos auf einer kahlen,
skeptischen Sandbank sich wiederfindet. -- Ich sehe mich, einen
blöden Grübler, der sich nur durch erborgte und erheuchelte Stacheln
zu schützen weiß, bis er endlich, nach langem Umherschweifen in der
Welt, hervorgeht aus dem Kampf, ein ernster, sehender Mann, der Freund
seines Freundes und dessen jungen Weibes.«

Der glückliche Freund und sein junges Weib -- sie beide rafft der
Tod dahin. Dem einsamen Philosophen bleibt beider Kind, ein Mädchen;
dessen Kindheit und erste Jugend, dessen Heranblühen und Heranreifen
bis hin zur glücklichen Ehe bildet den weiteren Inhalt. Und jene
ersten, ernst-bitteren Erfahrungen, jenes Ringen und Kämpfen in der
Seele des Freundes, der die Heißgeliebte dem Freunde lassen muß,
-- das alles ist nicht beschrieben mit den glühenden Farben, die
andere Dichter in Sturm und Drang, in psychologischer Analyse oder
dramatischem Effekt dem gleichen Bild zu geben wissen würden und
ähnlich hundertmal gegeben haben. Es ist ja alles, alles längst
vorüber, als Hans Wachholder, alt und grau geworden, alle diese
Erinnerungen auf die Blätter der Chronik niederschreibt. Er hat
es alles verwunden; und wenngleich das, was er erlebt hat, ihm für
Lebenszeit die Art seines Wesens mitbestimmt hat, in ihm wogt doch
nichts mehr vom Sturm der Leidenschaft und vom Drang des Leids. Er
fühlt es noch, aber er fühlt auch die Freude an dem frischen, jungen
Leben, das unter seiner Hut aufgewachsen ist. Und selbst am Jahrestag
des großen Schmerzes, da dem Freund die geliebte Gattin gestorben,
kann nun zu dem Greis der Humor auf die Schwelle treten, seine
Schellen schütteln, seine Pritsche schwingen und sagen:

»Lache, lache, Johannes, du bist alt und hast keine Zeit mehr zu
verlieren.«

Was ist es also, was den Reiz der »Chronik« ausmacht, wenn es nicht
die bewegende Schilderung einer bewegten Handlung ist? Ists doch
ebensowenig die Weite des Gesichtskreises, der Zeiten und Welten,
Völker und Länder umspannte! Nein, nicht in die Breite und Weite geht
Raabes Dichten in diesem Buch; Zeitschilderungen sind hier nicht zu
finden. Ebensowenig ist er irgendwie der Mann des historisch-getreuen
Milieus. Kaum daß die Sperlingsgasse selber zu ihrem Recht kommt. Wenn
er uns von ihr doch ein Bild gibt, so geschiehts nicht, um uns auf
festen Boden zu stellen, sondern weil sie ihm lieb ist und weil sie
seinem Schaffen von Wert ist. Sie liegt in einem älteren Stadtteil
mit engen, krummen Gassen, in welche der Sonnenschein nur verstohlen
hineinzublicken wagt. »Sie ist bevölkert und lebendig genug, einen mit
nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause
enden zu lassen; nun aber ist sie seit vielen Jahren eine unschätzbare
Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und
Überfluß, alle Antinomieen des Daseins sich widerspiegeln.«

Zu diesem Satz nur noch ein paar andere, gleichfalls aus den der
Sperlingsgasse gewidmeten wenigen Seiten! Sie zeigen den ganzen Raabe:

»Die Dämmerung, die Nacht produzieren hier wundersamere Beleuchtungen
durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere Töne als anderswo. Das
Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das Klappern des
Windes mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der
Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt es passender, man möchte
sagen dem Ort angemessener, als hier in diesen engen Gassen, zwischen
diesen hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung den
Ton auffängt, bricht und verändert znrückwirft! -- Horch, wie in dem
Augenblick, wo ich dieses niederschreibe, drunten in jenem gewölbten
Torwege die Drehorgel beginnt; wie sie ihre klagenden, an diesem Ort
wahrhaftig melodischen Tonwogen über das dumpfe Murren und Rollen
der Arbeit hinwälzt! -- Die Stimme Gottes spricht zwar vernehmlich
genug im Rauschen des Windes, im Brausen der Wellen und im Donner;
aber nicht vernehmlicher als in diesen unbestimmten Tönen, welche das
Getriebe der Menschenwelt hervorbringt!«

~Das~ ist Raabes Art! Die Stimme Gottes im Getriebe der
Menschenwelt! Er schreibt in bewegter Zeit. Kein Glück steht so
fest, daß es nicht von einem Windhauch oder dem Hauch eines Kindes
umgestürzt werden könnte. »In solcher Zeit ständen die Menschen am
liebsten mit leeren, müßigen Händen, horchend und wartend; aber das
ist nicht das Rechte. Es soll niemand sein Handwerksgerät, die Waffen,
mit denen er das Leben bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen.«
Die Waffen, mit denen man das Leben bezwingt, -- von ihnen reden
die Blätter der Chronik. Welche sind's? Die Stimme Gottes hören im
Getriebe der Menschenwelt! Das Haupt senken vor der geheimnisvollen
Macht, welche die Geschicke lenkt und ein Auge hat für das Kind in der
Wiege und die Nation im Todeskampf ..... »Wie so viele Herzen fast
brechen wollten, um ein neues Glück aufsprießen zu lassen! Das ist
die große, ewige Melodie, welche der Weltgeist greift auf der Harfe
des Lebens, und welche die Mutter im Lächeln ihres Kindes, der Denker
in den Blättern der Natur und Geschichte wahrnimmt.«

~Nicht~ in die Breite und Weite geht Raabes Art. Aber in die ~Tiefe~.
Allerdings auch nicht in die Tiefe psychologischer Feinarbeit und nicht
in die Tiefe besonders interessanter Probleme. Aber in die Tiefe des
Menschenherzens, des einfachen, schlichten Gemüts. Und in jene Tiefen,
in denen man lernt, das Höchste zu verstehen: Menschenschicksal,
Menschenleid, Menschenliebe. Zu ~verstehen~ -- sage ich. Das Wort
ist für Raabe zu kalt. Zu ~fühlen~, zu ~erfassen~, staunend und
andächtig zu durchmessen, -- das trifft besser das, was er will. Eben
diese Kunst, Menschenleben aus der Höhe in die Tiefe und aus der
Tiefe in die Höhe zu schauen, gibt Raabes »Chronik« ihre eigenartige
Stimmung. Weisheit und Gemüt, Reflexion und Gefühl, Ernst und doch auch
sprudelnder Humor bilden die Bestandteile dieses wunderbaren Etwas, das
über dem Ganzen liegt.



Es gibt Menschen, welche für solche Stimmung gar keine Sympathie
haben. Vielleicht sind sie in der Mehrzahl. Das 19. Jahrhundert
war dieser Spezies nicht günstig. Sie werden an Raabe keine Freude
haben. Und sie werden die Fehler auch seiner »Chronik« ihm deutlich
vorhalten. Hat Raabe nicht selbst sich später kritisiert: er habe
in der Chronik einen Greis Bilder und Gestalten in wallendes Gewölk
zeichnen lassen? Ist nicht zu viel Traum in dem Buch? Geht nicht
Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit oft so wirr
durcheinander, daß die schlichtende Klarheit verloren geht? Ist
nicht so viel Reflexion, so viel an Einzelgedanken eingeschoben,
daß es manchmal schwer wird, den Faden festzuhalten, der das Alles
verbindet? Ist nicht mancher Ausdruck manieriert, mancher Gedanke
allzu pointiert? Fehlt nicht die Realistik oft mehr, als selbst dem
Idealisten erlaubt ist? Sind die Wege, welche er seine Freunde gehen
läßt, bis in der Sperlingsgasse ein neuer Bund geschürzt wird, nicht
reichlich absonderlich? So fragen sie, die nach Wirklichkeit hungern.
Und -- sie haben nicht Unrecht. Was sie sagen, empfinde auch ich als
richtig. Nur eben -- man kann das zugeben und doch nicht unempfänglich
sein für jene Höhe und Tiefe der Stimmung und Betrachtung, für jene
feinen und zarten Gedankengewebe, die uns in alldem den Dichter
weisen, den Dichter der Weisheit und des Gemüts, den Dichter der
Stimmung.

 Habe ich zu lange bei der »Chronik der Sperlingsgasse« verweilt?
 Vielleicht. Aber ich will auch Raabes andere Romane alle, die
 großenteils noch den Jahren bis 1870 ihr Dasein danken, hier nicht
 besprechen. »~Unseres Herrgotts Kanzlei~« (1862) hat schon seine
 Erwähnung gefunden. Von den übrigen nenne ich nur: »~Die Kinder von
 Finkenrode~«, »~Die Leute aus dem Walde~«, »~Der Schüdderump~.« Aber
 eins muß doch noch neben die Chronik gestellt werden, nicht bloß,
 weil es berühmt geworden ist, sondern weil es Raabes Eigenart noch
 genauer erkennen läßt. Das ist »~Der Hungerpastor~«, erschienen 1864.
 Auch hier brauche ich den Gang der Handlung nicht im einzelnen zu
 entwickeln. Sie kennen ihn alle und haben ihn in frischer Erinnerung.
 Nur beleuchten möchte ich Ihnen ein wenig diese schöne und gute Gabe
 des Dichters. Und zwar nach drei Seiten hin.

Zuerst hinsichtlich der ~äußeren Handlung~. Sie ist reicher als
in der »Chronik«. Und nicht bloß reicher, auch mit vollendeterer Kunst
gestaltet. Zwei Lebensschicksale sind neben einander gestellt. Da
ist Moses Freudenstein, dessen Vater das Geld hat und der selber den
Trieb hat, in der Welt vorwärts zu kommen, Moses Freudenstein, der
zu eben diesem Zweck den Namen seiner Geburt in den des Theophile
Stein umwandelt und die Religion seiner Väter mit der katholischen
Konfession vertauscht. Moses Freudenstein steigt, steigt bis zum
Geheimen Hofrat hinauf. Neben ihm aber steht Hans Unwirrsch, der
Schuhmacherssohn, dessen Vater kein Geld hat und dessen Sohn eine
ganz andere Sehnsucht im Herzen trägt, der es aber dafür auch längst
nicht so weit bringt wie der Jugendgenoß, der doch aus derselben
Kröppelstraße stammt. Lange geht er seines Weges als armer Kandidat
und geplagter Hauslehrer, und zum Ende wird er ein armer Pfarrer
in einsamem Dorf. Dieser zweite, Hans Unwirrsch, der Hungerpastor,
beherrscht mit seinen Erlebnissen durchaus den Gang des Ganzen; im
Grunde genommen ist dies Ganze nicht viel anderes als die Geschichte
seiner Erfahrungen bis hin zur Zeit der Reife. Aber die Art, wie
in dies Schicksal hinein das des Moses Freudenstein verwebt wird,
wie beide einander gegenüberstehen von der Kindheit an bis ins
Mannesalter, und zugleich die Kunst der Erzählung dessen, was Hans
Unwirrsch erlebt, sie heben den »Hungerpastor« nach Seiten der
Handlung hoch über die »Chronik der Sperlingsgasse.«

Zum Zweiten. Im Hungerpastor hat Raabe ~Charaktere~ geschaffen.
Allerdings Charaktere, welche bestimmte Gesamtanschauungen vertreten.
Weltanschauung steht gegen Weltanschauung, ähnlich wie in Heyses
»Kinder der Welt.« Aber die Menschen, welche diese Anschauungen
tragen, sind nicht auf Draht gezogen wie bei Heyse. Weder Moses
Freudenstein noch Hans Unwirrsch. Vor allem der letztere nicht; das
ist kein Gestell, an welches die Ansichten, sorglich abgestuft,
angehängt werden. Hier ist Entwicklung aus Kindheit und Jugend, ja aus
Heimathaus und Elternart heraus, aus dem Haus heraus, in welchem der
Vater Schuhmachermeister bei der wassergefüllten Glaskugel, die das
Licht der kleinen Öllampe auffängt und glänzender wieder zurückwirft,
seinem Handwerk obgelegen hat. Zwei besondere Paten hat ihm der Vater
mitgegeben: »Johannes soll er heißen wie der Poet von Nürnberg und
Jakob wie der hochgelobte Philosophus von Görlitz, und wie zwei Flügel
sollen ihm die beiden Namen sein, daß er damit aufsteige von der Erde
zum blauen Himmel und sein Teil Licht nehme.« Der Junge zeigt sich
in der Schule nicht besser als jeder andere Schlingel. Auch für ihn
kommt die schöne Zeit der schmutzigen Hände, der blutenden Nasen, der
zerrissenen Jacken, der zerzausten Haare. Aber es kommt auch die Zeit,
da er als wahrheitsuchender Studiosus mit Moses Freudenstein über Gott
und Welt und Vaterland disputiert, wo er dann von Moses scheidet, als
dieser in die freie weite Welt geht, und schließlich in der Öde und
Abgeschiedenheit einer Hauslehrerstellung auch die Wünsche seines
Freundes Moses begreifen lernt. Es kommt die Zeit, in welcher die
Liebe ihren Einfluß auf sein Herz gewinnt, anfangs mit Irrwegen, dann
auf rechtem Weg sein Herz an das bescheidene Fränzchen Götz bindend.
Was braucht es weitere Worte? Es ist ein volles, echtes Menschenleben,
mit Irrungen und Wirrungen, mit Suchen und Finden, das in Hans
Unwirrsch gezeichnet ist. Ja, die Tiefe der Charaktererfassung gemahnt
an Gottfried Kellers »Grünen Heinrich« und andere Meisterwerke. Es ist
Wirklichkeit, klare Wirklichkeit, wenn schon im Zauber der Poesie, die
im »Hungerpastor« das Regiment führt. Auch darin, in der tiefwahren
Charakterzeichnung, ist die »Chronik« weit übertroffen.

Und dann zum dritten: auch der ~geistige Gehalt~ dieses Buchs
ist erheblich tiefer. In der »Chronik« konnte man vielleicht von
Betrachtungen über Menschenschicksale reden; die einzelnen Erlebnisse
gaben mehr die Gelegenheiten, sie vorzubringen. Ganz anders im
»Hungerpastor.« Hier schließen die Erlebnisse und Entwicklungen die
großen Gedanken selbst in sich. Hier wachsen sie aus dem Herzen
des Hans Unwirrsch und aus dem Verstande des Moses Freudenstein
naturnotwendig heraus. Zugleich gewinnen sie dadurch an innerer
Bedeutung und überzeugter Kraft. Vom Hunger handelt das Buch, von
dem, was er bedeutet, was er will, und was er vermag; von der
heiligen Macht des echten, wahren Hungers aber handelt es vor allem.
Allerdings, auch ~der~ Hunger kommt darin vor, den Moses
Freudenstein empfindet: der Hunger nach Glanz und Lust, nach Ehre
und Ruhm, nach Macht und Ansehn. Aber für Raabe ist das der falsche
Hunger; er läßt keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß Moses sein
Mann nicht ist. Ein anderer Hunger ists, von dem der Armenlehrer
Silberlöffel redet, ehe er stirbt:

»Ich bin sehr hungrig gewesen. Hungrig nach Liebe bin ich gewesen und
durstig nach Wissen; alles andere war nichts. Goldene Äpfel hängen
lockend im Gezweig und schicken ihre Strahlen durch das Grün. O sie
blenden so die Augen, die schönen, glänzenden Früchte. Die Hände habe
ich ausgestreckt und habe mich zerrissen an den Dornen; -- viele
Tränen habe ich vergießen müssen um den goldenen Glanz im Grün. Im
Schatten habe ich gesessen mein ganzes Leben durch, und doch war ich
für das Licht geboren. Es ist hart, hart, hart, im Schatten sitzen zu
müssen und Hungers zu sterben, während so schöne Augen leuchten in der
Welt, während so holdselige Stimmen locken, -- in der Nähe und ach aus
so weiter, weiter Ferne. Ich habe auch Hunger gehabt nach der Ferne,
aber im Schatten mußte ich bleiben, auf einen kleinen Raum im Schatten
war ich gebannt. Ein goldener Regen umspielte mich oft, in Schauern
fielen die leuchtenden Früchte nieder um mich und glänzten durch Grün
und Blau; mir aber waren die Hände gefesselt, und nichts hatte ich
als mein qualvolles Sehnen. Ich habe nichts, nichts erhalten von dem
reichen Leben. Nur mein Sehnen ist mir zu teil geworden, und auch das
geht nun zu Ende. Dunkel wirds vor den Augen, still vor den Ohren und
im Herzen; ich werde satt sein -- im Tode.«

Diesem Hunger ähnlich ist der, welchen Hans Unwirrsch von seinem
Vater, dem Schuhmachermeister, geerbt hatte. Der Vater hatte
Wissensdrang, viel Wissensdrang; er las, so viel er nur irgend konnte.
Was er las, verstand er meistens auch; und wenn er aus manchem den
Sinn nicht herausfand, welchen der Autor hineingelegt hatte, so fand
er einen andern Sinn heraus oder legte ihn hinein, welcher ihm ganz
allein gehörte und mit welchem der Autor sehr oft höchst zufrieden
sein konnte. Und der Sohn? Auch er ist, wie Moses, ausgezogen nach dem
Wissen und dem Glück; in dunkeln armen Hütten waren sie beide geboren
und aufgewachsen, und der Glanz, der durch die Spalten und Ritzen der
niederen Dächer fiel, hat sie gelockt. Lange hat er gemeint, eines
Weges mit dem Freunde zu gehen; dann hat er den Irrtum gemerkt. »Mein
Hunger ist nicht gestillt wie der seinige; ach, ich habe so oft nicht
gewußt, was ich wollte, und weiß es auch jetzt oft noch nicht. Es ist
ein wundersam Ding um des Menschen Seele, und des Menschen Herz kann
sehr oft dann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt.« Wie
will man diesen Hunger definieren? Er hat viel Unbestimmtes; man darf
sich dadurch, daß es ein Kandidat und Pastor ist, der ihn hegt, nicht
etwa bestimmen lassen, ihm einen im engeren Sinn religiösen Inhalt zu
geben. Im weiteren Sinn religiös ist er gewiß. Es ist die Sehnsucht
nach allem Hohen und Guten, nach Wissen und Erkenntnis, aber auch nach
Liebe und Treue, die Sehnsucht der Seele nach dem, was sie braucht.
So redet Johannes Unwirrsch, der Kandidat, am Christmorgen im Dorfe
Grunzenow im Geist zu seinem längst im Grabe ruhenden Vater:

»O Vater, Vater, es ist schwer, ein rechter Mensch zu sein und jedem
Dinge sein rechtes Maß zu geben; wer aber mit der Sehnsucht danach
in der Tiefe geboren wird der wird doch eher dazu kommen als jene,
welche zwischen Gipfel und Niederung erwachen, und welchen das Oben
wie das Unten gleich unbekannt und gleichgültig bleibt. Aus der Tiefe
steigen die Befreier der Menschheit; und wie die Quellen aus der
Tiefe kommen, das Land fruchtbar zu machen, so wird der Acker der
Menschheit ewig aus der Tiefe erfrischt. O Vater, der Mensch hat doch
nichts Besseres als dies schmerzliche Streben nach Oben, ohne dasselbe
bleibt er immerdar Erde von Erde genommen, in demselben und durch
dasselbe richtet er sich aus aller Leibeigenschaft des Staubes auf,
in demselben reicht er, wie wenig es auch sei, was er erlange, allen
himmlischen Mächten die Hand, in demselben steht er auf der winzigsten
Scholle in dem engsten Kreise als Herrscher des unendlichsten Gebietes
da, als Herrscher seiner selbst. Auch der Zweifel ist ja Gewinn in
seinem Leben, und der Schmerz ist so edel -- oft edler als das Glück,
die Freude.«

Auch die Worte Jakob Böhmes, welche Raabe zitiert, sind für den Geist,
der das Buch durchweht, für den Hunger, den der Dichter schildern
will, charakteristisch:

»Denn das ist der Ewigkeit Recht und ewig Bestehen, daß sie nur
~einen~ Willen hat ..... Sie stehet wohl in viel Kraft und
Wundern, aber ihr Leben ist nur bloß allein die Liebe, aus welcher
Licht und Majestät ausgehet. Alle Kreaturen im Himmel haben Einen
Willen, und der ist ins Herze Gottes gerichtet und gehet in Gottes
Geist, wohl im Centro der Vielheit, im Wachsen und Blühen; aber Gottes
Geist ist das Leben in allen Dingen.«

Wie nennen wir die beiden Anschauungen, die da so scharf einander
gegenüber stehen? Man kann sie Materialismus und Idealismus nennen.
Aber der Idealismus trägt in sich Liebe und Ewigkeit. Wird nun der
»Hungerpastor« nicht eben dadurch zum Zeitroman? Ist er nicht das
gerade Gegenstück zu dem später geschriebenen Heyseschen »Die Kinder
der Welt«? Mag sein, daß man ihn auch dem Zeitroman zurechnen kann.
Mehr gehört er doch zum Stimmungsroman. Er bringt nicht Gedanken,
nicht Weltanschauungen, und nicht Systeme. Er schildert nicht Zeiten
und nicht Menschen besonderer Zeiten. Er will den Hunger der Seele
beschreiben, der von jeher in ihr war und der immer in ihr sein wird,
er gehört nicht einer Zeit, sondern allen Zeiten. Es schwebt über ihm
zu viel poetischer Hauch, zu viel Schimmer der Ewigkeit; und es ist
weiter zu wenig nüchternes Nachspüren nach all den Winkelgängen der
Zeitgedanken. Darum gehört er trotz alledem nicht zu Freytag und nicht
zu Heyses »Kindern der Welt.« --

Stimmung! Wo fänden wir sie außer bei Raabe besser in voller Pracht
als bei ~Theodor Storm~? Ein Schleswiger ist Storm; zu Husum
erblickte er 1817 das Licht der Welt. Schleswigsche Landschaft
spricht in seinen Schöpfungen mit: das Land, die Ebene und nicht
zuletzt das Meer, ja das weite, weite, tosende Meer. Novellen haben
wir von ihm, aber keine Romane. Warum? Weil in ihm noch viel stärker
entwickelt war, was doch auch Raabes Romane von den andern abhebt,
jener Drang, der weniger auf Schilderung ausgeht, auf feine Zeichnung
eines Weltbilds in künstlerischer Form, als vielmehr auf den Ausdruck
dessen, was gerade die Seele bewegt, der lyrischen Stimmung. Ganze
Novellen sind nichts als Gedichte, ein wenig ausgeführter und in
Prosaform, aber eben Gedichte.

Aber auch diese alles beherrschende Stimmung kann recht verschiedene
Nuancen haben. Nicht alle, nur einige dieser Nuancen möchte ich
aufzuweisen versuchen, jede an einer einzelnen Novelle. Ich wähle
zuvörderst »~Immensee~«, seine erste Novelle (1852), das
Beispiel reinster Stimmungsdichtung in der Farbe herzinniger Wärme
und zugleich sich bescheidender Resignation. Eine Kinderliebe wird
geschildert. Reinhard und Elisabeth sind einander zugetan. Wunderbar
zart ist diese Liebe beschrieben; es liegt ein Hauch darüber, den
man zu zerstören fürchtet, wenn man es nur wagt, mit knappem Wort
Einzelnes herauszuheben. Wer »Immensee« gelesen, erinnert sich wohl,
wie Reinhard und Elisabeth im Wald Erdbeeren suchen gehen. Wunderbar
lieblich, nicht wahr? Wenn Raabe an Jean Paul gemahnte, hier ist
etwas vom Geist Eichendorffs zu spüren. Fast kommts zur Verlobung,
da die Kinderliebe auch die Reifenden verbindet. Aber dann reicht
Elisabeth doch dem anderen Bewerber die Hand. Warum? Mancher Dichter
würde hier in die Posaune der Leidenschaften gestoßen haben; das Thema
ist so dankbar, daß es sich mancher für große Worte und wuchtige
Wirkungen auserkoren hat. Ganz anders Storm. Es ist ja ein Greis,
der seine Jugenderinnerungen Revue passieren läßt, ganz wie in der
»Chronik der Sperlingsgasse.« Und so verliert die Erzählung nirgends
das Abgeklärte, Ruhige und Stille. Vielleicht bleibts in ihr sogar
~zu~ still. Fragen werden nicht beantwortet, die jedem Leser in
den Sinn kommen. Warum läßt Reinhard seine Elisabeth über Jahr und
Tag ohne Lebenszeichen, ohne Gewißheit? Kurz, sie gibt dem Drängen
der Mutter nach; der andere hat Hab und Gut und auch Liebe. Dann aber
kommt nach geraumer Frist auch Reinhard in der Vermählten Haus; und
nun erst merken beide, wie schwer es ihnen ist, sich nicht zu haben.
Das Ende ist Reinhards Scheiden und Verzicht; aber wie tiefe Wehmut
klingt über dem Ende das Lied:

    Meine Mutter hats gewollt,
  Den Andern ich nehmen sollt;
  Was ich zuvor besessen,
  Mein Herz sollt es vergessen,
  Das hat es nicht gewollt.

    Meine Mutter klag' ich an.
  Sie hat nicht wohl getan.
  Was sonst in Ehren stünde,
  Nun ist es worden Sünde.
  Was fang ich an!

    Für all mein Stolz und Freud
  Gewonnen hab ich Leid.
  Ach wär das nicht geschehen.
  Ach könnt' ich betteln gehen
  Über die braune Haid'!

Nicht überall ist Theodor Storm so rein und so stark lyrischer Dichter
wie in dieser und in ähnlichen Novellen. Es gibt andere, in denen
schweigt der Dichter nicht, aber er hat nur sorglich geordnet und fein
gestaltet, was bitterer Lebensernst ihm vorgeschrieben. Wohl war auch
in »Immensee« Ernstes und Trübes, aber es drückt dort nicht; das Leben
ist zum Gedichte geworden. Anders z. B. in »~Carsten Curator~.«
Das ist die Geschichte eines braven, redlichen Mannes; der hatte
als treuer Curator vieler Unmündigen und Unfähigen Geschäfte sicher
geführt und war nur einmal in seinem Leben in der Leitung seiner
eigenen Geschäfte unsicher geworden, das war damals, als er einen
ungleichen Bund mit einem schönen Mädchen schloß, das zum Grundzug
des Herzens den Leichtsinn hatte. Juliane hatte ihn in kurzer Ehe in
manche Not gebracht; dann starb sie. Aber ein Kind hinterließ sie ihm,
das war nach der Mutter geschlagen. Der Sohn wuchs heran und hatte
des Vaters ganze Liebe, aber er lohnte sie durch Leichtfertigkeit und
Schuldenmachen. Ohne viel Worte kommt zu ergreifendem Ausdruck das
Leid, das der Vater um den Sohn trägt, dem er die Hilfe doch niemals
versagen mag. Auch die Pflegetochter, sein Liebstes nach dem Sohn,
opfert sich und ihre Habe dem Pflegebruder, den sie liebt. Das Unheil
läßt sich trotzdem nicht aufhalten; der Leichtsinn führt den Bankrott
herbei und endlich, am Tag, da die Schleuse gebrochen ist und die Flut
sich durch die Gassen wälzt, bringt ihn Leichtsinn oder Absicht oder
beides zusammen in den Tod. Der Vater aber findet mit der verwitweten
Pflegetochter eine gemeinschaftliche Heimat für seine letzte schwere
Zeit -- dort, wo die letzten kleinen Häuser mit Stroh gedeckt sind.

Wir finden auch in dieser Erzählung manche Seite, über der feinster
dichterischer Stimmungsreiz liegt. Aber es ist in ihr längst nicht
soviel Schilderung, nicht soviel beschauliches Ausruhen, nicht soviel
Schwelgen in Empfindung und Gefühl. Wohl grüßt uns traut das alte
Haus an der Twiete, das schmale Wohnzimmer mit dem Alkovenbett,
in dem Vater und Mutter des Hausherrn zum letzten Schlummer
sich niedergelegt, mit der Silhouette von Carstens einfachem,
sittenstrengem Vater. Wohl klingt es wie Jugendlust, wenn von dem
Birnbaum die Rede ist, der die Freude der Nachbarskinder und zugleich
eine Art Familienheiligtum war. Aber solche Stimmungsbilder bleiben
vereinzelt; hier redet das Leben selbst eine deutliche, ernste
Sprache. Hier sinds nicht die Worte, sondern die Geschehnisse, welche
das Herz bewegen. Wohl spielt auch hier die Landschaft ihre Rolle;
die Flutgefahr gestaltet die letzte Szene dramatisch bewegt; aber
hier ist kein romantisches Träumen in Wald und Feld, am See und
auf der Heide: Menschen nur und Taten, welche diese Menschen tun,
beherrschen Szene um Szene. Auch hier ist Herzenswärme, innige Liebe,
nachwirkende Leidenschaft; aber von alledem wird wenig gesprochen; nur
die Taten zeugen davon. Und so sind denn auch diese Taten nach Motiven
und Folgen, diese Menschen nach Anlagen und Charakteren schärfer
herausgearbeitet als beispielsweise in »Immensee.« Hier haben sich
Wirklichkeit und Stimmung vermählt, und keins von beiden hat dabei
gelitten.

Und nun zudritt und zuletzt eine knappe Skizze von Storms letzter
Novelle »Der Schimmelreiter.« War der Grundton von »Immensee«
träumerisch, der von »Carsten Curator« realistisch-ernst, so klingt
im »Schimmelreiter« noch eine ganz andere Folge von Tönen an; die
Novelle neigt nach dem Phantastischen, ja nach dem Schauerlichen
hin. Gleich die Worte der Einführung versetzen in diese Stimmung.
Er habe, so erzählt er, die berichteten Ereignisse vor reichlich
einem halben Jahrhundert im Hause seiner Urgroßmutter in irgend
einer alten Zeitschrift gelesen. »Noch fühl' ich es, gleich einem
Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter
liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt.« Die Geschichte
führt an die Nordsee. Auf dem Deich, dicht am Wattenmeer, in später
Oktober-Nachmittagsstunde, strebt ein Reiter dem ersehnten Quartier
zu. Die gelbgrauen Wellen schlagen unaufhörlich mit Wutgebrüll an den
Deich hinauf. Schwarze Wolkenschichten machen es zeitweise pechfinster.

»Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte
nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht
herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald,
da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem
hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre
Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus
einem bleichen Antlitz an.

Wer war das? Was wollte der? -- Und jetzt fiel mir bei, ich hatte
keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Roß und
Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren!«

Nachher im Wirtshaus am Deich, wo des Hochwassers wegen Wacht gehalten
wird, hört er die Geschichte des unheimlichen Reiters. Hauke Haien ist
es, der Deichgraf. Eines kleinen Mannes Sohn, hatte Hauke es durch
zähen Fleiß und durch die Liebe der schönen Elke zum Nachfolger und
Schwiegersohn des reichen Deichgrafen gebracht. Ihm stehen große
Pläne vor der Seele. Einen neuen Deich will er bauen, ins Wattenland
hinein; durch den soll ein neues großes Stück Land vor des Meeres
Dräuen gesichert und der Benützung erschlossen werden. Das gewaltige
Werk gelingt; der neugewonnene Koog trägt des stolzen Hauke Haien
Namen. Aber sieh da! Wo der neue feste Deich an den alten stößt,
entsteht eine böse, gefahrdrohende Stelle. Bei wiederkehrender,
rasender Sturmflut wollen die Leute den neuen Deich, ~seinen~
Deich durchstechen, um so sicher den alten Damm und das Hinterland zu
retten. Hauke verhinderts; aber der alte Deich birst wirklich, und die
Fluten brechen herein. Sein Weib kommt zu Wagen ihm, dem Deichgrafen
entgegen; die Fluten reißen Weib und Kind, Roß und Wagen dahin. So
reitet Hauke selbst auf seinem Schimmel in wahnsinnigem Entschluß in
die Fluten hinein. »Noch ein Sporenstich; ein Schrei des Himmels, der
Sturm und Wellenbrausen überschrie; dann unten aus dem hinabstürzenden
Strom ein dumpfer Schall, ein kurzer Kampf.« Seitdem reitet der tote
Hauke Haien auf seinem Schimmel bei jeder hohen Flut; und wohin er
reitet, dort bricht der Damm.

Es ist nicht möglich, in ein paar Worten alle Hauptzüge der
reichbewegten Handlung anzudeuten: jene gespenstische Erscheinung
draußen auf der Hallig, ein Pferdegerippe, das doch in dunkler Nacht
Leben bekommt. Hängts zusammen mit dem abgetriebenen Schimmel, den
Hauke Haien von einem fremden Manne kauft und der dann in seinem Stall
ein stattliches Roß wird, -- das Roß, welches ihn nachher in die
stürmende Flut trägt? Das Kind, das ihm als das einzige geboren wird
und das zeitlebens ein Kind bleiben muß, weil Gott ihm den Verstand
versagt hat, ist es die Strafe für die Art, wie Hauke sein totkrankes
Weib von Gott erbetet hat: »Ich weiß ja wohl, Du kannst nicht
allezeit, wie Du willst, auch Du nicht; Du bist allweise; Du mußt nach
Deiner Weisheit tun -- o, Herr, sprich nur durch einen Hauch zu mir!«?

So weben die Gewalten der Meereswogen und die abergläubischen
Meinungen der Küstenbewohner ein unheimliches Gebilde von Wirklichkeit
und Traum. Aber es sind keine sanften, ruhigen Träume, die hier
umgehen; hier ist alles groß, alles packend, alles grausenhaft. Die
rasch fortschreitende, meisterhaft zusammengefaßte Handlung erhöht
den Eindruck: ein Kunstwerk von phantastischer Schöne ist erwachsen,
dem doch der realistische Anhauch nicht fehlt; der Dichter selbst
gibt kritische Andeutungen, übrigens so fein, daß die Stimmung nicht
gestört, nur geklärt wird.

Mit diesen drei Skizzen sind nicht entfernt alle Wandlungen der
dichterischen Stimmung beschrieben, die in Storms Novellen sich
finden. Wie er auch außer »Immensee« skizzenhafte, träumerische
Bilder geschaffen hat (z. B. »Psyche«, »Ein stiller Musikant«), so
auch solche, in denen das Leben selbst obenan steht (z. B. »Hans
und Heinz Kirch«, »Bötjer Basch«); aber in wieder anderen kommt
auch ein humoristischer Zug zur Geltung, der (z. B. »Die Söhne des
Herrn Senator«) freilich auch wieder von tiefem Ernst begleitet
ist; und mehr als eine seiner Novellen greift in die Schatzkammern
der Geschichte, um längst vergessene Zeiten zum Reden zu bringen.
Überall bleibt Storm im kleinen Rahmen; das einzelne Menschenschicksal
beschäftigt ihn; der Zeiten Gewoge berührt ihn nicht. Er ist nicht
Politiker und nicht Dogmatiker, er kennt nicht den Trieb, zu agitieren
oder zu meistern, abzubilden oder zu kritisieren, -- er dichtet, aber
er webt in sein Dichten treu des Menschenherzens echte Art hinein.

Raabe und Storm! Sind wir damit am Ende? Jener warme Hauch lyrischer
Empfindung, der über ihren Dichtungen liegt, ist allerdings in
den Schöpfungen anderer aus dem Ende des 19. Jahrhunderts selten
zu finden. Oder, wo er sich zeigt, ist er doch mehr Zugabe als
beherrschendes Element. Aber lassen Sie mich noch einen Erzähler Ihnen
nennen, bei dem dies eigentümliche Etwas, das wir »Stimmung« nennen,
nicht immer, aber jezuweilen so stark wird, daß man ihn dann wohl
neben Raabe und Storm stellen kann: ~Peter Rosegger~. Manches,
was er geschaffen, kommt in anderem Zusammenhange zur Sprache; man
kann ihn ja zugleich unter die Vertreter der Heimatkunst, ja des
Naturalismus rechnen; und sogar dem Symbolismus läßt sich sein
»Gottsucher« zuzählen. Aber in diesem letztgenannten Buch, dazu in
ähnlichen kommt auch Stimmung, lyrische Stimmung zum Durchbruch. Noch
stärker geschieht das, und zwar hier in beherrschender Weise, in den
von Stifter beeinflußten »~Schriften des Waldschulmeisters~.«
Auch hier liegt ein ~Gedanke~ zu Grunde; die Lyrik macht den
Erzähler nicht tot. Verlassen hausen die Waldleute in einsamem Tal, im
»Winkel.« Nach dem Felstal zu, meinen sie, sei die Welt mit Brettern
vernagelt. Nach der Ebene zu kommen sie selten. Stundenweit ist die
nächste Kirche; die Waldleute lassen nur die Mädchen dort taufen, die
Buben nicht, damit sie nicht erst registriert und später fürs Militär
gesucht werden. Was ist ihnen Kirche? Was Schule? Sie kümmern sich um
keinen und keiner kümmert sich um sie. Sie sind hergezogen von Aufgang
und Niedergang -- wesweg', das weiß der Herrgott. Zumeist sind es wohl
Bauersleut' von den vorderen Gegenden herein, die sich in die Wälder
geflüchtet haben, um der Wehrpflicht zu entrinnen. Gibt auch Gesellen
unter ihnen, denen man in der dunklen Nacht nicht gerne begegnet.
Wildschützen sind sie alle ..... Beweibet sind die meisten, aber jeder
hat die Seine nicht vom Traualtar geholt. In dies Tal »im Winkel«
kommt durch den jungen Waldschulmeister langsam und mühsam Ordnung und
Sitte, Kirche und Schule, kurz alles das, was wir »Kultur« nennen.
Jahr um Jahr bleibt er dort bei den Waldleuten, Jahr um Jahr freut er
sich am Erfolg seines Tuns, Jahr um Jahr trägt er mit den Waldleuten
Mühe und Arbeit, Freud und Leid. Aber es kommt die Zeit, wo die Leut'
ihn bei Seite schieben, wo er dem neuen jungen Pfarrer nicht mehr
genug tun kann, und wo der Dechant, nachdem er die Schule visitiert,
ihn beim Fortgehen nicht gesehen hat.

»Und seit fünfzig Jahren bin ich nicht mehr aus diesen Wäldern
gekommen.

Und die Waldleute entstehen, leben und vergehen dahier und steigen in
ihrem ganzen Lebenslauf nicht ein einzigmal auf den Berg, wo man die
Herrlichkeit kann sehen, und am hellen Wintertag das Meer.

Das Meer! Wie wird es da leicht und weit im Herzen! Dort zieht ein
Kahn, steht ein Jüngling darin, der winkt ....«

So ist er denn am Christtag hinaufgestiegen auf die Spitze des grauen
Zahns, hoch über den Gletschern. Und dort oben ist er geblieben. Man
findet bei dem Toten nur ein Stück Papier mit den wenigen Worten:

»Christtag. Ich habe bei Sonnenuntergang das Meer gesehen und das
Augenlicht verloren.« --

Dieser Gang der Erzählung ist klar und deutlich innegehalten.
Es ist kein romantisches Träumen, was in dem Buche regiert; die
Umrisse des wirklichen Lebens sind überall scharf gezeichnet. Auch
hier fehlt realistische, ja naturalistische Derbheit nicht. Auch
Gefühlsschwärmerei treibt der Waldschulmeister in seinen Schriften
nicht; er erzählt von nichts als vom Leben, vom wirklichen Leben und
von der wirklichen Welt. Und dennoch -- welche Stimmung über dem
Ganzen! Urwaldfrieden umfängt uns, frische urtümliche Schöpfung umwebt
uns. »Wie er einzieht durch die Augen und Ohren und all die Sinne,
der liebe, der schöne Wald, so mag ich ihn genießen,« schreibt der
Waldschulmeister. Wie läßt er ihn uns mitgenießen! Kaum Schöneres
in unserer Literatur als diese Schilderung des Urwaldfriedens:
»Urwaldfrieden, du stille, du heilige Zuflucht der Verwaisten,
Verlassenen, Verfolgten -- Weltmüden; du einziges Eden, das den
Glücklosen noch geblieben!« -- Auch jeder der anderen Abschnitte ist
ein prächtiges Kabinettstück urechter Stimmung. Bei den Hirten -- zur
lieben Sommerszeit ist es da oben gut sein. »So sind sie denn gut und
froh, und ich, -- wahrhaftig und bei meiner Treu, ich bins mit ihnen.«
-- Anders bei denen, die buchstäblich von der Erde, von dem Gestein
heraus ihr Brot graben. Von den Bäumen schaben sie es herab, aus dem
alllebendigen Ameishaufen wühlen sie es empor, -- die Waldteufel. --
Wunderbar ists im Felsentale, wo allein noch die Kiefer kampfesmutig
die steilen Lehnen hinanklettern will, um zu wissen, wie es da oben
aussieht bei dem Edelweiß, bei den Alpenrosen, bei den Gemsen. Aber
die gute Kiefer ist keine Tochter der Alpen, balde faßt sie der
Schwindel und sie bückt sich angstvoll zusammen und kriecht mühsam
auf den Knien hinan, mit ihren geschlungenen, verkrüppelten Armen
immer weiter vorgreifend und rankend, die Zapfenköpfchen neugierig
emporreckend, bis sie letztlich in den feuchten Schleier des Nebels
kommt und in demselben planlos umherirrt zwischen dem Gestein.

Aber es ist nicht bloß ~Natur~stimmung, was hier regiert. Viel
mehr als in Stifters Studien, die Rosegger beeinflußt haben, pulsiert
hier warmes, lebendiges Leben: die Menschen werden lebendig! Die
Hirten wie die Waldleute, die Holzer dazu, der Pecher und der schwarze
Mathes und der seltsame Einspanig, der Berthold und die Aga und wie
sie alle heißen. Aber keins für sich, keins bloß in seiner Menschheit,
jedes als Teil der Waldgemeinde im Winkel, als Kind der Einsamkeit,
als Schöpfung des Tals da droben, an das niemand in der Welt denkt.
Stimmung regiert -- einheitliche, wunderbar naturwüchsige Stimmung.
Nachempfinden kann sie nur, wer sie selber einmal empfunden hat,
in einem stillen Alpental, wo die Bäche rauschen, wo der Wald uns
umfängt, wo die Berge zum Himmel ragen, wo die Menschen die Art ihrer
Heimat tragen ....

Sind wir nun mit dieser Stimmungsdichtung wieder in den Bereich der
Romantik gekommen? Sind die Raabe und Storm die einfachen Fortsetzer
der Linie Novalis -- Eichendorff -- Hoffmann? Keineswegs. Mag man sie
als Neuromantiker bezeichnen, -- eben das Neue in dieser Romantik ist
doch stark genug, um ein ganz anderes Urteil über diese Erscheinungen
zu rechtfertigen als über diejenigen der älteren Romantik. Dies
charakteristische Neue liegt in dem realistischen Einschlag, besser
noch: in der durchaus realistisch gefaßten Grundlage aller dieser
Romane und Novellen. Raabe, Storm, Rosegger und ihre Genossen
haben die Dinge dieser wirklichen Welt stimmungsvoll angesehen und
stimmungsvoll geschildert. Aber sie haben nie, wie ihre romantischen
Vorgänger, die Gesetze dieser Welt außer Geltung gesetzt, nie bloß
träumend geschaute himmlische Gefilde beschrieben. Ich deutete schon
an, daß selbst der phantastische »Schimmelreiter« die kritischen
Ansätze selber bietet. Die übrigen Novellen Storms mögen manchmal die
harten Lebenserfahrungen, die schweren Kämpfe, die bitteren Stunden,
die Nachtseiten des Lebens ein wenig abgemildert darstellen, -- mit
der Wirklichkeit selbst kommt er nie in Streit. Von Raabe gilt das
erst recht. Sogar die »Chronik der Sperlingsgasse« gibt überall
natürliches Leben. Somit hat auch diese Stimmungsdichtung sich dem
beherrschenden Grundzug der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht
entzogen; auch sie hat der Wirklichkeit ihr volles Recht gegeben. Ja
sie wird eben dadurch zum glänzendsten Beweis für den ~überall~
durchdringenden Wirklichkeitssinn. Und darum bezeichnet diese
Dichtung keinen Rückschritt, erst recht keinen Rückfall. Vielmehr
stellt sie nur eine besondere Art dar, die Wirklichkeit anzuschauen:
mit poetischer Kraft, mit sinnendem Bedenken, mit starkem Mitempfinden.

Es sind ja nur kleine Miniaturbildchen aus dem großen Weltbild,
welche Storms Novellen zeichnen. Raabe gibt größere Bilder; aber
auch sie können sich hinsichtlich der Weite und Breite nicht mit den
Zeitromanen messen. Indes was diese Dichtung weniger beiträgt zur
umfassenden Kenntnis des Weltbereichs, das trägt sie mehr bei zur
inneren Durchdringung, zum tiefgreifenden Verständnis desselben.

Und so grüße ich auch diese Dichter, die in der Erzählung den Leser
über ruhig-nüchterne Betrachtung, über Kampf und Streit hinausheben,
die Dichter, die unser Volk auf die Höhe feinsinnigen Verständnisses
des Weltgeschehens führen und die den Brunnquell deutschen Gemüts
ausschöpfen!

                            [Illustration]




                      Der naturalistische Roman.


Naturalismus! Was bedeutet das eigentlich anders als engste Fühlung
mit der Natur, mit der Wirklichkeit des Lebens? Und bestand
diese Fühlung zwischen dem deutschen Roman und der Wirklichkeit
nicht bereits, seitdem die abenteuerlichen Schauerromane und die
empfindsamen Moralgeschichten aufgehört hatten, als der Inbegriff
des Romans zu gelten? Seit Goethe fest und klar dem Leben, wie es
ist, ins Angesicht geschaut? Wahrlich, dieser Wirklichkeitssinn ist
dann lebendig geblieben, so wenig die romantische Strömung ihm zuerst
entgegenkam. Selbst die Stimmungsdichtung, von der wir im letzten
Vortrag gesprochen, fußt auf realen Fundamenten.

Und dennoch bleibt ein gewaltiger Unterschied zwischen
Wirklichkeitssinn und Naturalismus. Wie verschieden kann man die
Wirklichkeit ansehen! Es geht einer dahin über duftende Wiesen, durch
grünenden Wald. Frühlingssonne scheint ihm ins Herz hinein. Wie er
dem nächsten Hofe sich naht, grüßt ihn der behäbige Bauer, dem die
Freude über den Besitz auf der Stirn geschrieben steht, -- lächelt
ihn ein herziges Mägdelein an, mit roten Wangen und frischem Blick.
Wirklichkeit? Ja, kann das nicht Wirklichkeit sein?

Oder es schaut der ernste Mann hinein in den Gang regelmäßiger
Arbeit. Er sieht, wie sie schaffen, die Männer des Kontors, -- und er
sieht, wie sie in rüstiger Arbeit, in gutem Erfolg, in gemessener,
geordneter Erholung ihre Freude haben. Er sieht, wie das wohlgefügte
Familienleben die einzelnen Glieder hebt und trägt. Wirklichkeit! Ja,
ist das nicht Wirklichkeit?

Aber ein anderer sieht das Leben anders an. Er sieht in die Welt --
da begegnet ihm das Elend. Er sieht in das Haus -- da schaut er Risse
und Sprünge im Bau der Familie. Er sieht auf die Straßen -- und der
Menschheit ganzer Jammer faßt ihn an. Er sieht in die Herzen -- und er
findet die Sünde, die Schuld oder, wenn ihm der Name nicht recht ist,
-- er findet Furchtbares, Entsetzliches.

Wie jener Erste und wie der Andere -- so haben die deutschen Erzähler
das Leben längst angesehen, ehe denn das Stichwort »Naturalismus«
emporkam. Erst als ihrer etliche lernten, es mit den Augen des
Dritten anzusehen, erst da hat man diesen Namen gebraucht. Sie haben
es übrigens nicht aus sich gelernt. Oder wenigstens, Mode ward der
Naturalismus, die Darstellung der unverschleierten Wirklichkeit auch
nach ihrer häßlichen oder gar vorwiegend nach ihrer häßlichen Seite,
erst durch ausländische Einflüsse; ich brauche nur zwei Namen zu
nennen: Zola und Tolstoi. Allerdings, ~daß~ es so kam, ist im
letzten Grund nicht auf willkürliche äußere Einflüsse zurückzuführen.
Es ~mußte~ so kommen. Auch das Häßliche gehört nun einmal
zur Wirklichkeit. Wenn der Grundsatz: die Wirklichkeit schildern!
durchdrang, so war der Naturalismus notwendig geworden. Er hat in
diesem Grundsatz sogar seine ~Berechtigung~.

Allerdings: auch innerhalb dessen, was »Naturalismus« heißt, kann
es wieder sehr verschiedene Stufen geben. Jenachdem man eben das
Häßliche, ohne es zu ignorieren, in den Hintergrund schiebt oder es
aufdringlich hervortreten läßt oder es gar zum alleinigen Inhalt
macht. Schon ~Immermanns~ »Oberhof« hatte naturalistische
Partien; Jeremias ~Gotthelf~ ist Naturalist durch und durch,
und mehr als einer hat es ihm arg verdacht, daß er für manchen
bedenklichen ländlichen Brauch, für manche den verfeinerten Geschmack
etwas roh anmutende Einzelheit kein wohltätiges Schleierchen gehabt
hat. Aber bei ihm traten ~diese~ Seiten des Lebens nie in den
Vordergrund. Er ließ nichts weg, er beschönigte nichts; aber er gab
dem Unschönen und Unsittlichen nie mehr Raum, als das Leben ihm gibt.
Und -- er erzählte es mit sittlichem Urteil.

An Gotthelfs Art läßt sich am besten auch die Schilderung des
moderneren Naturalismus aus der zweiten Hälfte, ja dem letzten Viertel
des 19. Jahrhunderts anschließen. Denn wie bei ihm, so verbindet
sich auch hier der Naturalismus großenteils mit ~Heimatkunst~.
Cäsar ~Flaischlen~ erklärte es 1894 für erforderlich, daß »die
engere Heimat mit ihrer Stammeseigenart der stete Nährboden bleibe,
aus dem sich unser ganzer deutscher Volkscharakter zu immer neuer
Kraft, zu immer reicheren Entfaltungen und zu immer vielseitigerer
Einheit emporgestalte.« Die so verstandene Heimatkunst ist aber
nicht notwendig naturalistisch im fortgeschrittenen Sinn. Sie legt
ihrer ganzen Art nach ein großes Gewicht auf den Sondercharakter der
Landschaft und des Stammes. Jede Landschaft, jeder Stamm ist ihr um so
herzlicher willkommen, je ausgeprägter sein Sonderleben, je weniger
abgeschliffen sein Eigengefühl ist. Wenn Theodor ~Storm~ die
Küste am Meer, die schwermütige Ebene im deutschen Norden in seine
Novellen hineinragen läßt, wenn er den besinnlichen, tiefgründigen
Charakter, den das Land dort seinen Bewohnern gibt, immer wieder
zur Darstellung bringt, so ist das Heimatkunst. In seinen Novellen
kann diese Kunst keine ausgeführteren Bilder schaffen; und Storm,
dem poetische Stimmung über alles geht, erzählt von der Heimat
nicht alles. Das Häßliche bleibt fern. Aber auch größere Bilder
gibt die Heimatkunst, ohne prononciert naturalistisch zu werden,
und kleinere Bilder stimmt sie noch schärfer auf Sitte und Brauch.
Beides trifft zu bei Heinrich ~Sohnrey~, dessen Zeitschrift
»Das Land« diese Kunst mit Liebe verficht. Sein »Die Leute aus der
Lindenhütte«, seine kleinen Geschichten »Die hinter den Bergen« lassen
das hannoversche Land, dem der Autor entstammt, lebendig werden.
In seiner schlicht-einfachen Art, die das Grübelnd-Moderne in der
psychologischen Auffassung nicht kennt, scheidet er sich allerdings
von den meisten anderen neuzeitlichen Vertretern der Heimatkunst.

Von hier aus bis zu denjenigen Erzählern, die ihrer Heimatkunst einen
rückhaltlos naturalistischen Einschlag geben, ist nun eben nur ein
Schritt. Hier sind zwei Österreicher zu nennen: Peter ~Rosegger~
und Ludwig ~Anzengruber~, beide freilich wieder unter einander
verschieden. Wenn ich ~Rosegger~ hier nenne, so denke ich nicht
an den Stimmungsdichter der »Schriften des Waldschulmeisters«, auch
nicht zuerst an den Problemdichter der größeren Romane -- als solcher
wird er uns noch einmal begegnen --, nein, mir stehen dabei jene
seiner vielen Schriften vor Augen, in denen die steirische Heimat
das einzig Herrschende ist. Sie sind ja nicht alle von gleichem
Wert; wie könnte dem vielschreibenden Mann jeder Wurf zu gleicher
Vollendung ausreifen? Die kleineren Geschichtensammlungen tragen alle
diese Art, aber auch von den größeren verleugnen manche sie nicht: so
»Heidepeters Gabriel«, so auch »Jakob der Letzte« und das historische
»Peter Mayr, der Wirt an der Mahr.« Zwei Haupteigenschaften
charakterisieren diese naturalistische Heimatkunst Roseggers: einmal
die liebenswürdige Frische, sodann die natürliche Derbheit der
Erzählung. Die liebenswürdige Frische nimmt unwillkürlich gefangen;
selbst den schwächeren Geschichten gibt sie einen eigentümlichen Reiz.
Die Naturfarbe wirkt mit der herzgewinnenden Offenheit, das sich
offenbarende warme, gemütstiefe Empfinden mit kräftig gesundem Urteil
zusammen, um den Leser immer aufs neue zu erfreuen. Die Derbheit aber,
welche sich mit der Liebenswürdigkeit paart, wirkt bei Rosegger
rein ländlich-natürlich. Es ist eine ähnliche Derbheit, wie sie
auch bei Fritz ~Reuter~ manchmal durchbricht, die Derbheit des
Naturkindes. Sie wird nirgends roh, aber auch nirgends raffiniert und
sie geht niemals ins Einzelne. Sie sucht nicht sonst Verschleiertes,
sondern sie erzählt offen, was bei dem einfachen Volk der Berge, das
keine Prüderie kennt, offen besprochen zu werden pflegt. Wir haben
hier die Verbindung von Heimatkunst und natürlichem Naturalismus.
Anders schon zeigt sich die Verbindung von Heimatkunst und
Naturalismus bei ~Ludwig Anzengruber~. Der hat sich selber als
»Realistiker« gezeichnet, als er den zweiten Band seiner »Dorfgänge«
einleitete. Nur ein paar Sätze aus dieser Schilderung können hier
wiedergegeben werden. »Ein solcher« (Schriftsteller), so schreibt er,
»glaubt der Wirkung seines Stoffs im vornhinein sicher zu sein, wenn
er alle seine Gestaltungskraft an das Kleine und Kleinliche aufwendet,
und er will es dabei eingedenk bleiben, daß selbst die schmutzige
Scholle ein Stück der Allernährerin Erde sei ....... Er erspart uns
keinen Schrei wehen Jammers, er erspart uns kein Jauchzen wilder Lust.
Er stößt das Elend, das um Mitleid bettelt, nicht von der Ecke, er
jagt den Trunkenbold, der alle belästigt, nicht von der Straße, alles,
was er bei solchen unangenehmen Begegnungen für euch tut, ist, sie
abzukürzen, nachdem ihr aber doch den Eindruck einmal weghabt. Tugend
und Laster, Kraft und Schwäche führen bei ihm ihre Sache in ihrer
eigenen Weise. Er will das Leben in die Bücher bringen, nachdem man es
lange genug nach Büchern lebte ....«

Diese wenigen Worte geben natürlich nicht den ganzen Anzengruber.
Gleich ihre Fortsetzung proklamiert den Realistiker als den »Priester
eines Kultus, der nur eine Göttin hat, die Wahrheit,« aber sie spricht
ihm auch das Recht der Stimmung und der Deutung zu: »Er bringt die
Sterbenden aus dem Gelärm des Tages und bettet sie in heiliger Stille,
er flüstert vertraut mit ihnen über alte Erinnerungen, damit sie dem
Sonnenlichte nicht fluchen, zu dem sie einst erwachten, und er deutet
ihnen leise all diese Schauer und Krämpfe als die letzten Anrechte
allen und jeden Schmerzes an sie, damit sie die Nacht nicht fürchten,
in welche sie jetzt eingehen sollen, langsam, mählich, wie die Pulse
verrollen, der Atem stockt, das Herz stille steht ....« Aber es ist
besser, wir machen uns seine naturalistische Heimatkunst praktisch
klar, indem wir eins seiner Werke genauer ansehen. Wählen wir nicht
die »Dorfgänge«, aber noch weniger die minder charakteristischen
Kleinigkeiten wie »Gefabeltes von irgendwo und nirgendwo«, sondern
sein erzählendes Hauptwerk, das neben den Dramen ihn am deutlichsten
charakterisiert, die Dorfgeschichte mit dem Titel »~Der
Sternsteinhof~.«

Es ist die Geschichte eines weiblichen Charakters. Rechtschaffen
sauber ist die Zinzhofer Helen', aber arm, ganz arm. Da hat der
häßliche Kleebinder Muckerl an ihr Gefallen gefunden, und vom Ertrag
seiner Herrgottsschnitzerei hat er ihr schöne Geschenke gemacht.
Sie hälts mit ihm, aber ihre Pläne gehen höher hinaus. Sie weiß
die Aufmerksamkeit des jungen Bauern vom großen Sternsteinhof zu
erwecken und durch geschickte Zurückhaltung ihm ein schriftliches
Eheversprechen abzugewinnen. Bis dann doch die Stunde kommt, da des
reichen Anbeters Zudringlichkeit ihre Zurückhaltung besiegt. Nun hat
sie verspielt; der junge Bauer will sie wohl heiraten, aber der Alte
gibts nicht zu, und sie muß froh sein, daß Muckerl, der Gute, durch
eilige Ehe ihr die Schande erspart. Auch der junge Bauer heiratet
-- ein reiches Mädchen, das von der Geburt des ersten Kindes an
schwer kränkelt. Er träufelt nun Gift in Helenes Herz: sie wollen
noch einmal zusammen gehören, und wenns ein Verbrechen koste. Kein
Verbrechen braucht es dazu; dem Muckerl, der nie stark gewesen,
gibt die Entdeckung, daß sein Weib ihn hintergehe, den Rest; und die
Bäuerin stirbt auch. Helen' erreicht ihr Ziel: sie wird die Herrin vom
Sternsteinhof. Freilich nicht lange an ihres Bauern Seite; der bleibt
im Feldzug. Nun lebt sie ganz für ihre Kinder.

Die Geschichte eines Charakters: denn das ist ihre größte Kraft, daß
sie alle Wandlungen im Wesen der schönen Helen' mit psychologischem
Tiefblick darlegt. Wie sie gern davon hört, daß sie die allersäuberste
wär' im ganzen Landviertel! Wie sie nimmt, was der schieche
Muckerl ihr schenkt, ohne daß doch ihr Herz etwas von Dank wüßte!
Wie sie die Netze auswirft nach dem reichen Bauernsohn! Wie sie
lavieren kann, ums mit keinem zu verderben! Und nachher, welche
ergreifenden Seelenbilder: der Fußfall der Entehrten vor dem alten
Sternsteinhofbauern, bei dem sie sich tief demütigt und doch stolz
bleibt, -- der dankbare Jubel, wie Muckerl ihr auch jetzt noch die
Hand zur Ehe reicht: »da schwingt sie sich flink über das niedere
Gatter, das sie trennt, und nun hing sie an seinem Halse und preßte
die dürstenden Lippen auf die seinen und er taumelte unter ihrer
Last, wie trunken von ihren Liebkosungen.« Dann die Beichte vor der
Trauung mit der Angst, die Absolution nicht zu erhalten, mit dem
Nachklang in ihrem Herzen: »Das war gestern eine Beicht' gewesen! Ei
wohl, eine schwere, harte Beicht'. Gott sei Dank, daß es überstanden
war!« Und weiter jene nächtliche Szene, in welcher die Versuchung,
welche das Wort des Sternsteinhofbauern in die Seele gestreut, in ihr
Leben gewinnt: »Ewig lebt keiner, doch überlang mancher. Was g'schah'
dann? Das find't sich! .... und dann flüsterte, wisperte und raunte
es ihr zu: Tu's -- tu's -- tu's -- es find't sich -- es find't sich!«
Es ließen sich diesen Bildern leicht noch andere anfügen: Helene und
ihre Mutter, die alte goldgierige, vorschubleistende Zinzhoferin;
Helene und der alte Sternsteinhofbauer, der ihr gram bleibt, bis
sie nach dem Tod des jungen Bauern auch ihm wieder gute Tage gibt.
Ein hartes Herz ists, dessen Geschichte beschrieben wird. Schönheit
bringt Gefahr! Nur hoch hinaus! Was tut ihr die Liebe des Häßlichen?
Was nachher die unendliche Treue des Großmütigen? Ihr gilts nur ihr
Ziel. Und schließlich hat sie doch als die reiche Bäuerin die hohe
Achtung der ganzen Gegend. Die anderen, denen sie grauses Herzeleid
angetan, bedauert niemand. »Anders aber, wenn Helene stirbt, nicht nur
ihrem eigenen Kinde wird das Herz schwer werden, auch das fremde wird
ihr heiße Tränen nachweinen, die Armen in der Umgegend und alle Jene,
die gewohnt waren, freundnachbarlich sich Rat und Tat zu erbitten,
wird der Tag bedrücken, an welchem der Tod die Bäuerin hinwegholt vom
Sternsteinhofe.«

Noch manches andere steht im »Sternsteinhof«, was Erwähnung verdiente.
Wie meisterhaft diese Unterredung, in welcher der alte Pfarrer den
jungen Kaplan die Herzen seiner Leute kennen lehrt! Man kann hier und
da die Empfindung haben, aufs Niveau der einfachen Dorfgeschichte
herabzusinken; aber die unerbittliche Klarheit der Seelenanalyse
zeigt immer wieder, daß die Geschichte über demselben steht. Der
Naturalismus ist hier scharfsinnig geworden; er ist nicht mehr bloß
natürlich-naiv. Unangenehme Szenen kürzt Anzengruber wirklich ab;
er wird nie pikant, dazu ist er viel zu ernst. Aber er erspart auch
nichts, vor allem kein Weh' und keine Sünde.

Auf ~ländlichem~ Gebiet haben Anzengrubers Gestalten ihren
Heimatboden. Er gibt selber den Grund dafür an -- in einer
Nachbemerkung zum Sternsteinhof --: »weil der eingeschränkte
Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger in ihrer
Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflußt, die Leidenschaften,
rückhaltlos sich äußernd, verständlicher bleiben ....« Andere haben
doch die hiernach noch schwerere Aufgabe gewagt, auch in einen
Mechanismus hineinzusehen, »den ein doppeltes Gehäuse umschließt und
Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben.« Sie führen ins
Leben der ~Stadt~ und in die Herzen der Gebildeten. Heimatkunst
üben sie darum auch. Aber ist es nicht so, daß der Städter, daß der
Gebildete minder fest an der heimatlichen Scholle hängt, vor allem
minder nachhaltig durch sie bestimmt wird als der Landmann, der mit
ihr in steter, enger Verbindung bleibt? Man mag getrost auch hier von
Heimatkunst sprechen; aber der Begriff verliert, wo Berliner Straßen
und Schornsteine in Frage kommen, sein Anheimelndes. Um so deutlicher
tritt der Begriff Naturalismus in sein Recht. Nur natürlich: hier kann
nicht mehr von naiver Offenheit die Rede sein, hier handelt es sich
einfach um grundsätzliche Darlegung nackter Wirklichkeit.

Berlin ist es, das den Untergrund hergibt für die Romane ~Max
Kretzers~, der unfraglich von Emil Zola gelernt hat, wenngleich
er ihn nicht erreicht hat, auch wohl im Grad der Entschleierung des
Häßlichen ihn nicht hat erreichen ~wollen~. Nicht überall ist ihm
ein treues Konterfei der Berliner Wirklichkeit gelungen; vieles in
dem Roman »~Die Bergpredigt~« muß man als tendenziös entstellt
schlechthin ablehnen. Damit hat Kretzer sich eben auf ein Gebiet
gewagt, auf welchem objektive, naturgetreue Zeichnung außerordentlich
schwer ist, -- auf das kirchliche Gebiet. Die persönliche Stellung,
persönliche Antipathien insbesondere, sprechen hier auch bei dem
Apostel der Wirklichkeit so stark mit, daß der naturalistische Roman
nicht ganz wenige Züge vom Tendenzroman erhalten hat. Anders im
»~Meister Timpe~«. Damit hat Kretzer einen ganz aktuell-modernen,
nämlich einen sozialen Roman geschaffen. In der Werkstatt in einer
der engen Straßen in Berlin O. regiert Meister Timpe, ein ehrsamer
Drechsler, über zahlreiche Gesellen und Lehrlinge. Wenn Handwerk
für ihn auch nicht gerade goldenen Boden hat, so hat es ihm doch
zu gewissem Wohlstand verholfen. Der Meister hat redlich dazu das
Seine getan; Geschicklichkeit und Findigkeit in der Anfertigung
neuer Modelle haben ihn unterstützt. Aber nun erhebt sich plötzlich
dicht neben seinem Grundstück eine neue Fabrik derselben Branche,
gebaut von Ferdinand Friedrich Urban, dem skrupellosen, gewandten
Geschäftsmann. Es ist ein harter Kampf zwischen Werkstätte und
Fabrik, der nun beginnt. Mit zäher Energie kämpft Meister Timpe um
seine Existenz. Aber die Gegner sind ungleich. Die große Fabrik kann
billiger liefern, weil Einkauf und Verkauf im Großen geschieht; jede
Konjunktur kann Urban geschäftskundig ausnützen; die Modelle des
Handwerksmeisters beutet er skrupellos aus. Meister Timpe muß Kunden
um Kunden sich abwenden sehen, muß Gesellen um Gesellen entlassen.
Sein Erspartes geht drauf; er arbeitet schließlich allein, Stuhlbeine
drechselnd, Woche um Woche. Er, der alle sozialdemokratische Wühlerei
stets mit überlegener Gewißheit von sich gewiesen, gibt nun selbst
einen sozialdemokratischen Wahlzettel ab und predigt in einer
Streikversammlung Aufruhr: »Die Schornsteine müssen gestürzt werden,
denn sie verpesten die Luft .... ~Schleift die Fabriken~ ....
~zerbrecht die Maschinen~!!« Auch sein Haus soll ihm genommen
werden, er selbst soll wegen dieser Hetzrede gerichtlich belangt
werden. Er aber verbarrikadiert sich im Haus und man findet ihn tot.

Fabrik und Handwerk, neue und alte Produktionsweise -- das ist der
eine Gegensatz, welcher machtvoll dies Buch beherrscht. Mit diesem
Gegensatz aber ist in vollendeter Wirkung ein anderer verbunden --
der Gegensatz dreier Generationen. Des Meisters Vater ragt in die
neue Zeit hinein wie eine Ruine aus der guten alten Zeit: »Ja, ja,
das waren noch andere Zeiten .... damals! Das Handwerk hatte einen
goldenen Boden ...« Aber auch sonst vertritt er die alte Zeit, -- die
Zeit, da noch niemand hoch hinaus wollte, auch die Väter mit ihren
Kindern nicht, -- die Zeit, da die Eltern ihren Kindern die Zuchtrute
gaben, um sie zu ordentlichen Menschen zu erziehen .... Die zweite
Generation hat ihren Repräsentanten in Meister Timpe selbst. Er für
seine Person, für sein Haus gehört ganz zur alten Art, -- schlicht,
einfach, solide, gediegen, wie er ist. Sein einziger Luxus -- eine
Weiße in der weitbekannten Kneipe von Vater Jamrath. Aber für seinen
Sohn will er hoch hinaus; der Franz muß Kaufmann werden und nicht
Handwerker. Wenn er nur in die feinen Kreise kommt -- dann läßt der
Vater ihm in unverzeihlicher Schwäche alles durchgehen, alles. -- Die
dritte Generation: -- der Sohn Franz. Er kommt vorwärts, er wird des
reichen Fabrikbesitzers Schwiegersohn und Teilhaber. Aber Vater und
Mutter verrät und verläßt er um dieser neuen Größe willen; kommt des
Meisters geschäftlicher Rückgang auf Rechnung Urbans, so kommt all
sein Herzeleid auf Rechnung des ungeratenen Sohnes. Drei Generationen!
Die Gegenüberstellung wirkt mit wuchtiger Gewalt!

In diesen Gegensätzen liegt die Kraft des Romans. Die brillant
gezeichneten Einzelbilder heben ihn noch: der Streit zwischen Meister
und Geselle um die Sozialdemokratie, die Debatte am Stammtisch
über die neue Entwicklung, die sozialdemokratische Versammlung.
Der Roman wird zum Zeitroman, aber in der derben Ungeschminktheit
seiner Darstellung zum naturalistischen Zeitroman. Vielleicht wirkt
noch nicht alles natürlich, z. B. nicht das rasche Aufsteigen des
hoffnungsvollen Franz, die gar zu skrupellose, ja gewissenlose und
verbrecherische Handlungsweise des ungeratenen Sohns. Vielleicht fehlt
ein Vertreter eines anderen Fabrikantentums, das +in puncto+
Gewissenhaftigkeit und Rechtlichkeit dem alten Handwerksmeister nichts
nachgibt. Vielleicht steckt eben doch auch in diesem Roman noch ein
Stück Tendenz. Aber jedenfalls ist andrerseits der Naturalismus nicht
übertrieben. Kretzer ist nur ausnahmsweis ein Detail-Naturalist,
alles Sinnliche bleibt diesem Roman völlig fern. Berliner soziales
Leben ist mit wesentlich naturwahrer Treue geschildert, und zwar in
so abgerundeter Handlung und derart zugkräftiger Entwicklung, daß die
Form der Darstellung den Inhalt aufs beste zur Geltung bringt.

Kräftiger noch sind die Farben aufgetragen in dem anderen Kretzerschen
Roman »Das Gesicht Christi.« Derselbe hat zum naturalistischen
Grundcharakter einen symbolistischen Einschlag. Davon noch später.
Er hat außerdem einen Beigeschmack des Pikanten, was dem »Meister
Timpe« völlig fehlt. Wenigstens die Verführungsszene zwischen
Fabrikant und Fabrikmädchen ist nicht rein naturalistisch; sie
ist zugleich sinnlich raffiniert. Die eigentliche Schilderung
aber greift hier noch tiefer ins Häßliche hinein; sie beschäftigt
sich mit den untersten Volksschichten, sie malt das Elend einer
unglücklichen Arbeiterfamilie, sie schildert die Schande im Gefolge
dieses Elends so deutlich, daß der Roman nicht bloß ein Beispiel
wird für die rücksichtsloseste Wirklichkeitszeichnung, sondern auch
für die erschreckende, zarter besaitete Gemüter abstoßende Wirkung
derselben. Welche Szene, die Arbeiterwohnung im Berliner Hinterhaus
mit dem Hunger als Gast, mit dem Tod vor der Tür! Welche Tragik: der
Arbeiter mit den hungernden Kindern die Stadt durchirrend, die große,
tosende Stadt, in der des Einzelnen Elend verschwindet! Und dann
seine Heimkehr in die öde Stube, in die der Tod inzwischen seinen
Einzug gehalten hat! Mit wuchtiger Plastik ist auch das Bild aus dem
Kneipenleben gezeichnet: die trinkenden, schimpfenden, streitenden
Proletarier, der junge Arbeiter und sein Mädchen, der Halbverhungerte,
der gierig die Speise verzehrt, die rohen Lieder, der giftige Spott,
-- die Heilssoldatin mitten drin in all dem Toben! »Meister Timpe«
blieb immer beim Mittelstand; wenige Streiflichter nur ließ er auf
die brodelnde Tiefe fallen. »Das Gesicht Christi« führt ganz in die
Tiefen, zum Teil in die tiefsten Tiefen der Sünde und des Elends. Es
nimmt die Wirklichkeit da, wo sie am schrecklichsten ist; es zeigt die
»Natur«, wie sie zur Bestie wird. Hier ist nichts mehr schön, aber
wahr ist alles.

Auf das »Gesicht Christi« komme ich seines symbolistischen Einschlags
wegen später noch einmal zu sprechen.

Für jetzt möchte ich noch mit einigen Worten bei einem anderen
gemäßigt naturalistischen Schriftsteller verweilen, der wieder ein
anderes Milieu zur Darstellung gebracht hat, bei ~Wilhelm von
Polenz~. Auch er wählt ländliche Verhältnisse für die Darstellung,
aber völlig andere als Rosegger und Anzengruber, -- die ländlichen
Verhältnisse Ostelbiens. Seine Romane »~Der Büttnerbauer~« und
»~Der Grabenhäger~« erreichen in Schilderung dieser Menschen und
Gegenden einen hohen Grad von Anschaulichkeit. Er beschränkt sich
übrigens nicht auf die untersten Stufen der menschlichen Gesellschaft;
er versucht gerade auch die gebildeten Kreise zu Gegenständen seiner
Zeichnung zu machen. Am ausschließlichsten geschieht das in dem
»~Pfarrer von Breitendorf~.« Aber -- und darum gehe ich hier
auf dies Buch genauer ein -- es ist entschieden schwerer, gebildete
Schichten naturalistisch abzukonterfeien als einfache Bauern oder
Taglöhner oder Fabrikarbeiter. Hier zeigt sich, wie sehr Anzengruber
mit Betonung dieser größeren Schwierigkeit Recht hatte. Kommt beim
Bauern viel auf Sitte und Brauch an, noch mehr auf alteingewurzelte,
einfache Grundanschauungen, reduzieren sich die ländlichen Konflikte
schließlich immer wieder auf die großen Fragen von Mein und Dein, von
Liebe und Eifersucht, -- so ist der psychologische Apparat bei den
gebildeten Klassen erheblich komplizierter. Die geistigen Fragen,
die Unterschiede des Standes und Berufs, die Weltanschauung, -- das
und noch tausend andere Dinge soll der Dichter berücksichtigen.
Der »Pfarrer von Breitendorf« aber behandelt nun gar einen Stand,
der sicherlich mit am schwersten getreu darzustellen ist, den
Pastorenstand. Wie verschieden sind die Einzelglieder dieses
Sammelbegriffs! Wie verschieden schon ihre äußere Umgebung! Vor
allem aber, wie schwer ists für den Außenstehenden, gerade hier
vorurteilslos naturgetreu zu bleiben! Der Geistliche ist ja den
meisten derart verschmolzen mit der religiösen Anschauung, welche er
vertritt, mit dem kirchlichen Amt, welches er führt, daß ihr Urteil
über seine Person unmittelbar abhängig wird von ihrer Stellung zu der
Sache, die er darstellt. Wer zur Religion kein inneres Verhältnis
hat, wer mit dem Wort Kirche den Begriff unheimlichen Finsterlingtums
verbindet, dem ist oft genug der Pastor das, was dem Stier das rote
Tuch ist. Reichliche Beispiele hierfür geben Spielhagens Romane.
Wilhelm von Polenz hat im »Pfarrer von Breitendorf« gleichfalls stark
unter dieser Schwierigkeit gelitten. Er hat manchen guten Anlauf
zur wahren Schilderung genommen, einzelne Typen sind ausgezeichnet
getroffen. Aber um so verzerrter sind die anderen.

Ein greiser Pastor findet in hohem Grad des Helden Gerland Beifall. Er
hat nichts Geistreiches an sich, seine Ansichten tragen den Stempel
des Altmodischen, er gesteht seine Unbekanntschaft mit allgemein
bekannten theologischen Fragen. Aber er spricht herzlich und schlicht,
er empfindet echte und tiefe Begeisterung für seinen Beruf; er faßt
sein Amt in Wahrheit als das eines Seelenhirten auf; Glauben und
Pflicht decken sich bei ihm in schönster Weise. »Er hatte keinen
Kompromiß zwischen Überzeugung und Lebensklugheit nötig.« Er handelt
auch im weiteren Verlauf der Erzählung ganz nach dieser seiner Art: in
herzlicher, schlichter, liebevoller Einfachheit. -- Die anderen Typen
erfreuen sich nicht des gleichen Beifalls des Helden und des Autors.
Auch nicht desjenigen des Lesers. Als einmal viele Pastoren beisammen
sind, heißt es: »Da war auch nicht ein vergeistigtes Antlitz, nicht
ein Auge, aus dem Begeisterung geblitzt hätte.« Die ganze Reihe hier
vorzuführen, unterlasse ich, um nur einige Bemerkungen noch anzufügen.
Da ist der Diakonus Fröschel, ein unansehnlicher, blasser Mensch,
der eine Brille trägt und sich linkisch verbeugt. »Es lag etwas
frühreifes, vorzeitig gealtertes in diesem runden kleinen Gesicht, das
die kurzen, unausgeprägten Formen eines Kinderkopfes trug.« Natürlich
hat er, als er zum Mittagessen eingeladener Maßen erscheint, einen
abgetragenen Rock an, kurze Beinkleider und plumpe Stiefeln. Dieser
selbe Fröschel ist innerlich völlig mit seinem Berufe zerfallen;
er »zersetzt sich in seiner eigenen Schärfe.« Seine Anschauungen
scheiden ihn völlig von seinem Amt, denn sie scheiden ihn von jedem
Christentum. Trotzdem wagt er nicht, den Beruf aufzugeben, -- aus
Angst vor seiner ihn völlig beherrschenden Mutter. Lieber gibt er sich
schließlich selber den Tod. Da ist endlich Pastor Gerland selber,
mit einer gewissen Begeisterung geschildert, ein Mensch, von dem
wenigstens angedeutet wird, daß er es ernst nimmt mit seinem Beruf;
viel Tatsächliches erfahren wir nicht darüber. Er liebt die noch
ungetaufte Tochter des atheistischen +Dr.+ Haußmann, gewinnt
mit Mühe und viel Selbstverleugnung das Vertrauen dieses Mannes,
gewinnt auch das Herz der Tochter. Sie läßt sich taufen; aber Gerland
quittiert doch sein Amt, -- auch ihm sagt es auf die Dauer nicht
zu. Diese beiden eben kurz umschriebenen Gestalten sind beide sehr
wenig wahrscheinlich. Die Begeisterung Gerlands schlägt ohne irgend
genügende Motivierung in das Gegenteil um; und Fröschel mit der
unglaublichen Angst vor der Mutter ist eine Karikatur, eine einfache
Karikatur. Wer aber selbst diese Typen ernst nehmen wollte, müßte
mindestens zugeben, daß die gesamten Typen einseitig ausgewählt sind;
eine ganze Reihe von anderen fehlt. Dazu kommt, daß dem Dichter auf
diesem Gebiet denn doch allzusehr die Details der geistigen Bewegungen
gefehlt haben, als daß er hätte naturgetreu zeichnen können. Das Buch
will ja naturalistisch sein und ich habe es eben um dieses Anspruchs
willen hier eingereiht. Aber es hat -- in seiner Art -- verzweifelte
Ähnlichkeit etwa mit dem militärisch-naturalistischen Tendenzroman
»Sedan oder Jena?« von Beyerlein. Gewiß, es ist schwer, ~dies~
Gebiet objektiv zu schildern. Sogar den Lesern wird es schwer, nicht
ihrerseits Stellung zu nehmen. In dem Exemplar einer Leihbibliothek
standen bei einem ziemlich absprechend urteilenden Satz zwei sehr
verschiedene Randbemerkungen. Ein Leser hatte geschrieben: »Frech und
unwahr!«, der andere: »Leider zu wahr!« Es ist eben nicht leicht,
Naturalist zu sein.

Über Kretzer und über Schriftsteller wie Polenz hinaus haben
andere den Naturalismus noch naturwahrer wollen arbeiten lassen.
~Zola~ arbeitete sozusagen mit dem Bienenfleiße des Sammlers,
der alles und jedes Material, was zum Verständnis dienen kann,
zusammenträgt. ~Kretzer~ schildert mit gröberen Strichen,
aber auch er schildert vor allem Verhältnisse, Zeiten, -- nur in
den Zeiten und Verhältnissen zeichnet er die Menschen. Mit alledem
ist die naturgetreue Zeichnung doch noch nicht auf dem Gipfel.
Reden denn die Menschen bei ~Zola~ so, wie sie im gewöhnlichen
Leben reden? Sprechen sie nicht noch immer, als ob sie sich ihre
Sätze ausgearbeitet, ausgefeilt und auswendig gelernt hätten? Sie
diskutieren, als ob sie zur Debatte zusammengekommen wären und als ob
der Präsident der Kammer ihnen nacheinander das Wort erteilte. Bei
~Kretzer~ sind sie darin zurückhaltender, maßvoller, natürlicher.
Aber das muß zugegeben werden: ~ganz~ natürlich sind im Reden
auch ~Kretzers~ Menschen noch nicht. Also -- und damit setzt
der konsequenteste Naturalismus ein -- gilt es, zu beobachten, wie
die Menschen sich geben, wie sie sprechen, -- bis ins Kleinste
hinein. Jeder augenblickliche Eindruck muß wiedergegeben werden.
Das Psychologische muß schärfer betont werden. Aber nicht etwa bloß
die großzügige psychologische Motivierung, sondern alle die kleinen
psychischen Wandlungen und Schwankungen, Einfälle und Zufälle,
Reizungen und Wallungen. Man sucht sich nun irgend einen interessanten
Moment heraus, einen Moment mit wechselnden seelischen Eindrücken, und
kinematophotographiert gewissermaßen die Seele in den Augenblicken,
wo diese Eindrücke wirksam werden. Damit geht dann Hand in Hand die
Umgestaltung der Sprechweise. Phonographisch getreu wird jedes Wort,
jede Interjektion, jeder halbe Laut wiedergegeben. ~Arno Holz~
und ~Johannes Schlaf~ haben diesen Naturalismus eingeführt;
die Novellen »Papa Hamlet« (1889 erschienen) sind die erste Probe
desselben. Nicht aus ihnen, aber aus später erschienenen Novellen von
Johannes ~Schlaf~, dem Stück, welches »Leonore« betitelt ist
(erschienen 1899), entnehme ich zwei kleine Proben, die das Gesagte
veranschaulichen werden.

Zunächst ein Beispiel für die Art der Schilderung psychologischer
Vorgänge. Günther kommt in die Wohnung der einst heiß Geliebten, die
aber ein anderer heimgeführt hat, -- ein anderer, der nun längst
gestorben ist. Er wartet nun auf ihr Erscheinen.

»Er kann sich dehnen ... Sieht sich um .... Als wär' er zu Haus ....

Nur ... he! --

Wie? -- Wie denn? -- Und nun quält er sich, sich in eine jener
Erinnerungen hineinzuringen, eine Erinnerung an eine jener so
unsagbar beseligten Stunden und sucht sie mit einer krampfhaften
Energieanstrengnng an die Gegenwart zu fügen.

Aber diese Müdigkeit in ihm. -- Diese verdammte Taubheit! --

Eine Aussprache! Gewiß! Das fühlt er! -- Eine Aussprache. --

Nun, nun! -- Jaja, irgend etwas muß er jetzt reden ... Irgend was ...
Reden, reden, reden! -- Und dann -- gewiß! -- wird alles ins rechte
Gleis kommen. --«

Und dann eine zweite Probe, welche die Art zeigt, in welcher bei
Schlaf die Menschen sprechen:

»Ihr Blick verfolgt den Zeigefinger, der zögernd über den Plüsch
hinstreicht. Es scheint, als wolle sie etwas sagen, aber sie schweigt.«

»Hm! -- Wie viel Jahre -- sind -- es ...«

Er weint in sich vor Ohnmacht.

»Fünf ... fünfzehn Jahre! -- Weiß der Teufel! Schon fünfzehn Jahre!« --

Mein Gott, was schwatzt er nur!

Er lacht heiser.

Ein leises »Ja!«

Und wieder Schweigen.

Sie erhebt sich und nimmt aus irgend einem Grund den Vorhang zurück.

»Ja! -- hä! -- ich hätte nicht geglaubt, das Nest noch mal zu sehn! --
Aber es ist doch wirklich ein Bann, die -- Heimat ...«

Er hat sie nur immer beobachtet: wie sie sich nun wieder
niedergelassen hat, und -- und wie ihre Brust geht ... Ihre Brust geht
...

Er grinst.

»So ... So eine -- Anwandlung«, reißt er sich jedes Wort los. »Denn
eigentlich ist mir doch alles hier weggestorben ...«

Mit ~dieser~ naturalistischen Methode ist es nun freilich
unmöglich, einen Roman zu schreiben. Allerdings -- der Versuch ist
gemacht worden. Aber was ist dabei herausgekommen? Nicht ein Roman
von wuchtig wirkender Geschlossenheit, sondern eine lange Reihe
phonographisch-photographischer Skizzen. Skizzen! Das ist der beste
Name für die Produkte dieses allzugetreuen Naturalismus.

Aber selbst die Skizzen, die den stolzen Titel »Novellen« führen,
lassen deutlich erkennen, daß ~diese~ Methode über das Ziel
hinaus schießt. Gewiß, die Art der psychologischen Analyse wie
die Art der Wiedergabe der Unterhaltung verträgt eine Reform. Wer
seine Figuren wirklich natürlich malen will, darf sie nicht so
viel schwülstiger, länger und gelehrter reden lassen, als sie im
gewöhnlichen Leben reden. Wie das Drama von den fünffüßigen Jamben
zur einfach-schlichten Ausdrucksweise übergegangen ist, so muß es
auch die Erzählung. Nur -- alles hat seine Grenzen. Eine Pflicht,
alle und jede Zwischenlaute, jedes Räuspern und Spucken, jedes Husten
und Niesen wiederzugeben, besteht nicht. Und wenn wir dem Künstler
tausendmal zugeben, daß auch das Häßliche geschildert werden darf,
-- das einfache Hinschreiben der unbeholfenen Einzellaute, die
ein Mensch, der das rechte Wort nicht findet, ausstößt, ist keine
Kunst. Zudem würde eine unerträgliche Breite die Folge sein, sobald
mehr geschildert werden sollte, als eine besonders packende Szene.
Daher denn diese Naturalisten auch nicht ~alle~ Natur zum
Objekt der Darstellung machen, sondern nur besondere Naturteile des
psychologischen Geschehens, mit Vorliebe auch des Liebeslebens. Sie
zeigen eben damit, daß auch sie nicht einfach nehmen können, was die
Natur gibt. Sie müssen auswählen. Wenn man aber erst einmal zugegeben
hat, daß die Natur künstlerisch betrachtet werden muß, dann ist auch
eine echte und treue, aber künstlerisch geläuterte Wiedergabe der
menschlichen Sprechweise nicht als unnatürlich abzulehnen.

Wir überschauen den Weg, den wir zurückgelegt, um die Entwicklung
noch unter einem andern Gesichtswinkel anzusehen. Welche immense
Veränderung ist allmählich hinsichtlich des ~Stoffgebiets~
eingetreten! Ursprünglich bilden Naturalismus und Heimatkunst eine
anscheinend unlösbare Ehe. ~Natürlich~ -- so scheint es -- kann
man den Menschen nur nehmen, wenn man ihn nicht isoliert, sondern
in allen seinen Zusammenhängen erfaßt. Und der Leser dankt es den
Erzählern, daß sie ihn auch Völker, Länder, Sitten kennen lehren.
Der naturalistische Roman ist zugleich Gesellschaftsroman, ja er ist
ein Stück Zeitroman. Daß nicht bloß die einfach schlichte ländliche
Natur als Objekt der Naturschilderung zu gelten habe, sieht man ja
ein; das städtische Leben, das Leben der Gebildeten, ob auch manchmal
unnatürlich verbildet, ist doch mit Gegenstand einer Darstellung, die
das Tatsächliche beschreiben will. Aber noch bleibt der Zug zum Großen
und Weiten, zum Bedeutenden. Selbst die Elendsbilder Hetzers sind
davon berührt; das Elend der Massen kann heut nicht anders angesehen
werden denn als ein wichtiges Stück sozialen Lebens. Nun aber
kommt eine Wandlung: man wird noch naturgetreuer, aber man erkauft
diese Naturtreue durch Verzicht auf das Großzügige. Wohl erhalten
wir noch Bilder aus dem Leben; aber nicht mehr die bedeutenden
Lebenserscheinungen stehen im Vordergrund, sondern die dekadenten, die
nervösen, die pathologischen, die unsittlichen. Auch die Kreise der
Halbwelt, die ein ~Tovote~ so sehr darzustellen liebt, bilden
einen Ausschnitt aus der Gesellschaft, aus dem Volk. Aber man mag
sagen, was man will: wer sich auf dies Gebiet konzentriert, wer das
individuelle Liebesleben, zumal nach Seiten seiner Entartung hin,
als Stoff bevorzugt, wer in jenen Regionen sich erzählend aufhält,
welche sonst mit Nacht und Grauen bedeckt sind, der mag Nerven
kitzeln, der mag Effekte erringen, der mag sehr naturgetreu sein,
-- aber die Aufgabe des Romans, der Erzählung ist ihm aus den Augen
gekommen. Ein Weltbild soll der Roman geben, ein Bild der wirklichen
Welt. Aber doch eben ~der~ Linien der Weltentwicklung, welche
dieselbe ~leiten~. Und wer nun gar seine Aufgabe als Erzähler
mit derjenigen des Momentphotographen verwechselt, der zeigt, daß er
nicht mehr weiß, was »Welt« bedeutet und was »Leben« heißt. Aus diesem
Grund ist die ~neueste~ Phase des Naturalismus auf dem Gebiet
des Romans -- vom Drama rede ich hier nicht -- eine Entgleisung. Der
Naturalismus hat große Bedeutung; und wir werden von ihm nicht mehr
loskommen. Aber er wird diese Bedeutung nur dann behalten, wenn er
~natürlich~ bleibt und wenn er ~künstlerisch~ bleibt.

                            [Illustration]




                 Der Problem- und Gesellschaftsroman.


Der Roman soll ein Weltbild geben, dazu genügt eine einfache
Schilderung, mag sie so ruhig sein wie nur möglich. Solche Schilderung
gibt im Grunde die Volkserzählung wie der Zeitroman und der
historische Roman. Die Stimmungsdichtung schildert, indem sie mit
dichterischem Empfinden Welt und Menschen verklärt. Der Naturalist
schildert mit rücksichtsloser Feder die nackte Wirklichkeit. Aber
brauchen sie nicht alle doch einen Einschlag, der ihre Schilderungen
zu Romanen macht? Es ist der Einschlag der ~Handlung~, der allen
unentbehrlich ist. Man kann ihn auf ein Minimum beschränken, wie z. B.
~Fontane~ in »~Vor dem Sturm~«, auch im »Stechlin«. Fehlen
aber darf er nicht.

Nun kann eine Handlung wieder sehr verschieden aufgebaut sein.
Vor allem bestehen hier zwei Möglichkeiten. Sie kann durch äußere
oder durch innere Spannung wirken. Für die erste Möglichkeit gibt
das einfachste Beispiel der normale Sensationsroman. Der gröbste
Sensationsroman wirkt durch Mord und Totschlag, durch Verbrechen und
Intrigen, durch Gefahren und Errettungen. Der feinere Sensationsroman
hat andere Mittel. Namentlich die Beziehungen der beiden Geschlechter
müssen wieder und wieder herhalten, um die Handlung wirksam zu
gestalten. Der gewöhnliche Liebesroman gehört in diese Gattung. Die
andere Möglichkeit aber besteht darin, daß der Dichter die Handlung
nicht äußerlich, oder wenigstens nicht bloß äußerlich wirken läßt,
sondern innerlich, d. h. durch den ihr innewohnenden ~Gedanken~.
Auch dafür bieten sich der Wege noch gar viele. Aber am nächsten
liegt dann die ~Einarbeitung eines Problems~ in die Handlung. Es
sei daran erinnert, wie ~Goethes~ »~Wahlverwandtschaften~«
gerade in der innerlichsten Verknüpfung von Handlung und
Gedankenproblem vorangegangen sind. Goethe hat darin nicht so bald und
nicht gleich in hoher Vollendung Nachfolger gefunden. Aber gefunden
hat er sie im deutschen Roman.

Ein Roman ist nun keineswegs deshalb wertlos, weil er die Handlung
mehr äußerlich wirken läßt als innerlich. Der beschreibende Zeitroman
z. B., wie Freytags »Soll und Haben«, tut das; aber sein Wert
besteht eben in der Schilderung, für welche die Handlung lediglich
eine anregende Beigabe bietet, die dann ihrerseits keine besondere
Gedankentiefe mehr zu entwickeln braucht. Auch der geschichtliche
Roman begnügt sich in der Regel mit einer mehr in äußerlicher
Entwicklung aufgehenden Handlung, Andere ähnlich. Erst wo der Roman
sich nicht mehr nach Seite der Schilderung oder nach Seite der
reinen psychologischen Entwicklungsgeschichte (wie in ~Kellers~
»~Grünem Heinrich~«) vertieft, entsteht die Notwendigkeit, das
~Schwergewicht~ auf die Problementfaltung zu legen.

Wenn der Roman diesen Weg einschlägt, so eröffnet sich ihm ein weites,
fruchtbares Arbeitsfeld. Tausend Probleme bietet das Leben, tausend
Probleme quälen den Denker. ~Ein großes Problem groß behandeln~,
hineingreifen in die Fragen der Zeit, des Menschenlebens, der
geistigen Entwicklung, der Weltanschauung, der Seelenkunde, -- was
für eine Aufgabe! Sie ist des Schweißes der Edlen wert! Nur leider
-- im deutschen Roman ist ~dieser~ Acker nur dürftig angebaut.
Mir ist es immer wieder wie ein Riesenproblem erschienen, daß gerade
der deutsche Roman, der Roman des Volkes der Dichter und Denker, den
Problemroman im großen Stil so stiefmütterlich behandelt hat. Man kann
ja nicht sagen, daß er ihn vergessen hat. Wir werden nachher sofort
sehen, wie er hier gearbeitet hat. Aber andere Länder sind uns darin
voraus. Emil ~Zola~ war gewiß in erster Linie Beschreiber. Doch
fehlt ihm bei allem Naturalismus die Energie nicht, die Beschreibung
mit großen Gedanken zu durchweben, sie zugleich in den Dienst des
Problems zu stellen. Seine Trilogie Rom, Paris, Lourdes ist nach
dieser Richtung hin von Bedeutung. In Rußland hat ~Tolstoi~
mit seiner »Auferstehung«, so sehr sie den Stempel der Unfertigkeit
trägt, gleichfalls einen großen Wurf getan. Den Stammverwandten
im Norden liegt das Denken und Grübeln außerordentlich; auch ihre
Erzählungen graben in die Tiefe. Was haben sie für Anregungen in der
Problemstellung durch ihre ~Ibsen~ und ~Björnson~!

In unserer Romanliteratur sind die Werke, welche ~große~ Probleme
behandeln, nicht häufig. Große Probleme -- damit meine ich allgemeine,
prinzipielle, typische Probleme. Andere finden sich oft behandelt.
Aber die, welche große, einschneidende Fragen der Zeit behandeln,
nicht bloß schildernd, sondern wirklich eine Lösung versuchend, --
diese sind zu zählen. ~Wir konstatieren an dieser Stelle die größte
Lücke in der Reihe der Schöpfungen des neueren deutschen Romans.~
Wilhelm ~Jordan~ behandelt z. B. in »~Die Sebalds~« ernste,
wichtige Fragen der Weltanschauung, ~Heyses~ »~Merlin~«
hat den Unterschied der idealistischen und der naturalistischen
Richtung zum Thema, Bertha ~von Suttner~ arbeitet in ihrem stark
tendenziösen, aber keineswegs ungeschickten Roman »~Die Waffen
nieder~« für die Liga der Friedensfreunde, andere griffen soziale
Fragen auf, -- aber es ist nirgends wirkliche Tiefe und Kraft der
Problemstellung und der Problemlösung. Entweder geht die Kunst in
der Schilderung auf, -- oder aber der Dichter wird zum Lehrmeister.
Er ist schon fertig, vielleicht allzu fertig mit seinen Fragen. Er
predigt seine Lehre, aber er greift nicht hinein in die ungeheueren
Abgründe der wirklichen, brennenden Fragen, welche mit überwältigender
Wucht die Herzen erfüllen.

Vielleicht gilt letzteres auch von den großen Romanen desjenigen
Dichters, der die tiefsten Probleme am mutigsten angefaßt hat, des
schon mehrfach genannten ~Peter Rosegger~. Er ist nicht bloß ein
Dorfgeschichtenschreiber, nicht bloß ein gemütvoller Stimmungsdichter,
er hat wirkliche Romane im großen Stil uns geschenkt. »~Jakob der
Letzte~« und »~Das ewige Licht~« haben soziale Probleme zum
Inhalt. Allerdings ganz bestimmte, eigentlich begrenzte, aber doch
typische. Beidemale handelt es sich um Waldsiedelungen, die zugrunde
gehen. Dort wird das Gebiet, auf dem Menschen hausen, wieder zu Wald
gemacht; hier dringt die Kultur in die Waldeinsamkeit und zeitigt
schwerwiegende Folgen. Weniger machtvoll ist »~Martin der Mann~«.
Eine der ergreifendsten Schöpfungen des steirischen Dichters haben wir
in »~Der Gottsucher~« vor uns, der das religiöse Problem von der
sittlichen Seite her anfaßt.

»Der Gottsucher« führt in die Vergangenheit. Das Dorf Trawies steht
unter geistlicher Herrschaft. Sein Pfarrer ist zugleich sein Herr.
Die Leute von Trawies sind sonst immer aufs beste mit ihrem Pfarrer
ausgekommen; es waren kirchentreue Katholiken, wie zumal einsame
Bergtäler solche Gemeinden bergen. Da wird ihnen ein neuer Priester
und Herr gesetzt: der nimmts zwar mit den eigenen Pflichten nicht
allzu genau, aber sehr genau mit denen der Pfarrkinder. Noch ist
in Trawies der uralte, von der Heidenzeit überkommene Brauch der
Sonnwendfeier in Übung; der Pfarrer kehrt sich mit härtester Strenge
auch gegen diesen Brauch. Da beschließen die Männer der Gemeinde
seinen Tod. Wahnfred der Schreiner vollstreckt das Urteil. Der Täter
wird nicht gefunden; zur Sühne für den Mord müssen elf Männer ihr
Leben lassen. Über die ganze Gemeinde aber wird Interdikt und Acht
verhängt. Nun beginnt die furchtbare Schilderung dessen, was in dem
Tal, das keinen Gott mehr hat, geschieht. Alles ist aus Rand und
Band. Auf der einen Seite die Not, auf der andern die Willkür ....
Keiner arbeitet, keiner baut etwas an, kein Halm geht auf. Die Alten
haben nichts mehr zu sagen, nur die Jungen und Starken. Sach- und
Weibergemeinschaft führen sie ein; aber eben um deswillen schlagen
sie einander tot. Keiner seiner Habe sicher, keiner seines Lebens
gewiß! Raubanfälle unternehmen sie nach außerhalb, das Eindringen
militärischer Ordnungsstifter hindern sie mit Gewalt. Zu Sünde und
Frevel gesellt sich das Leid. Der Borkenkäfer verwüstet den herrlichen
Wald, das Feuer vollendet sein Zerstörungswerk. Die Pest bricht herein
und hält eine grausige Ernte.

Inzwischen hat Wahnfred, der Mörder, in einsamem Grübeln Gott
gefunden. Zu Gott will er auch die Leute von Trawies führen, da er
ihren Frevel und ihr Elend erkennt. Aber ein Schwärmer ist er selber
geworden: er lehrt sie im Feuer Gott sehen, und sie -- trotz allem in
brennender Sehnsucht nach Gott -- folgen ihm. Aber nur zum Kultus,
nicht zu Selbstbeherrschung und Reinheit. Wie Wahnfred dessen gewiß
ist, baut er einen großen hölzernen Tempel; in den sammeln sich, dem
Feuergott zu Ehren, alle Trawieser. Und wie sie drin eingeschlossen
sind, läßt er den Tempel in Feuer aufgehen. Trawies muß zugrunde
gehen, denn es hat keinen Gott, kein Vorbild und kein Gesetz. --

Was wird aus Menschen, die keinen Gott haben? Die zugleich von aller
Ordnung der Kirche und des Staats verlassen sind? Sie verzehren sich
selbst in der Leidenschaften unbezwinglichem Taumel. Wohl werden
sie aus sich selber heraus wieder Gott suchen. Nicht alle; denn
eine große Menge ist, die wählt ihren Weg durch das Tierreich, durch
Pflanzen und Moder in die Erde hinein. Das sind nicht Gottsucher, sie
verneinen das Ideal, sie suchen das Gegenteil. Aber die anderen suchen
ihn. »Auf allen Straßen und in allen Wüsten, du magst dich gegen
Morgen wenden oder gegen Abend, gegen Mittag oder gegen Mitternacht,
überall wirst du der Gottsucher Spuren entdecken, hier ein Rosenbett,
dort steinerne Tafeln, hier ein Schwert und dort ein Kreuz. Das Rufen
des Derwisch auf der Moschee, das Knarren der Klappern im Wigwam, das
Glockenklingen im Dome, es ist der Kinder des Leides ewiger Notschrei
nach einem göttlichen Retter, es ist die brennende Sehnsucht nach
einer Kraft, die das Tier in uns besiegt, den Geist befreit und uns
die Vollendung gibt.« Nur, soll diese Sehnsucht das rechte Ziel
treffen, so braucht der Mensch ein Vorbild, Gottes Ebenbild im denkbar
vollendetsten Menschen. Trawies hatte kein Vorbild und kein Gesetz. So
mußt' es vergehen.

In die Tiefen der menschlichen Seele, in die heiligsten Fragen,
die Menschheit und Gott verknüpfen, in die ernstesten Probleme der
Erziehung des Menschengeschlechts, der kirchlichen und staatlichen,
der sittlichen und gesetzlichen Ordnung führt Roseggers »Gottsucher«.
Das Schicksal von Trawies, dem gebannten Trawies, ist Symbol,
aber nicht bloß Symbol. Es ist doch so in wüste Vergangenheit
zurückverlegt, so mit dem Geschick jener wilden Zeiten, in denen die
Obrigkeit mit Türkennot genug zu tun hatte, verbunden, daß es der
Wirklichkeit nicht entrückt ist. Eben an dem ~Beispiel~ von
Trawies entwickelt sich mit unaufhaltsamer Notwendigkeit, was kommen
muß, wenn Gott fehlt und den Gottsuchern Vorbild und Gesetz fehlt.
Man kann also im »Gottsucher« ein symbolistisches Werk sehen; und man
hat ganz mit Recht hervorgehoben, daß die deutsche Literatur hier ein
großes Werk eigengewachsener, nicht importierter Symbolistik besitze.
Aber es war gesunde Symbolistik, die auch im äußeren Geschehen die
Gesetze des Wirklichen nicht verließ. Und wenn man mit dem Dichter
rechten kann, ob nicht manches phantastisch werde, ob es nicht zu
stark in mystisches Dunkel gehüllt sei, -- das Buch entfaltet doch
eine wunderbare poetische Kraft. Alle Düsternis, aller Schauer, alles
Grausen, ja alles Unschöne, alle unverhüllt vorgetragene Lehre ist
mit solcher Wucht fortreißender Sprachgewalt dargestellt, mit solcher
Herrlichkeit tiefsten dichterischen Empfindens umwoben, daß mancher
einzelne Mangel darüber getrost vergessen werden kann. Auch hier ist
ja -- wie schon angedeutet -- das Problem nicht eigentlich als Problem
vom Leser mit durchgrübelt; der Dichter trägt klar und zielbewußt die
eigene Lösung selber vor und vermeidet dadurch nicht den Eindruck
des Lehrhaften. Aber das Problem ist doch eben aus dem tatsächlichen
Geschehen heraus entwickelt. Roseggers »Gottsucher« ist und bleibt ein
großer Wurf.

Problemstellungen von dieser Größe aber sind leider selten. Unter
den Neueren finden wir wieder den Mut, wenigstens auf einem Gebiete,
demjenigen der Charakterentwicklung, in die Tiefe und ins Große zu
gehen. Wir kommen auf diese verheißungsvollen Anzeichen einer neuen
Zukunft am Ende dieses Vortrags zurück. Für jetzt verweilt unser Blick
auf den literarischen Prosaschöpfungen der älteren Schule, soweit
sie Problemdichtung sein will. Viel Herrliches zeigt sich da dem
Auge nicht. In der Literatur der letzten Jahrzehnte des neunzehnten
Jahrhunderts bekundet sich eine merkwürdige Neigung, Probleme
zu behandeln, die »gesellschaftlichen« Charakter haben. ~Der
Problemroman wird zum Gesellschaftsroman.~ Nun kann man ja das Wort
»Gesellschaft« sehr tief fassen; »die menschliche Gesellschaft« umfaßt
die größten Probleme. Aber der Durchschnitt der Romanschriftsteller
nimmt das Wort nicht so tief. »Gesellschaft« bedeutet ihnen mehr
das Zusammenleben der oberen Schichten. Und sie behandeln nun die
Konflikte, welche sich hier aus Leidenschaft, Neigung, Sitte, Ehre,
Schuld und Sühne, Liebe und Ehe zusammensetzen.

~Marie von Ebner-Eschenbach~, jedenfalls eine der bedeutendsten
unter den weiblichen Romandichtern, bewegt sich keineswegs nur in
diesem zuletzt gezeichneten Milieu. Ihre Erzählung »Das Gemeindekind«
z. B. greift eine eigentümliche Charakterentwicklung aus den untersten
Schichten einer Dorfgemeinde heraus. Was wird aus jenen unglücklichen
Geschöpfen, die, ihrer Eltern beraubt, der Gemeinde zur Last fallen?
Was wird namentlich dort aus ihnen, wo Waisenrecht und Waisenfürsorge
noch in den primitivsten Anfangsstadien der Entwicklung sich
befinden? Was wird aus ihnen, wenn kein menschenfreundliches Herz
sie aus diesen Verhältnissen herausreißt? Mögen ihrer viele zugrunde
gehen, -- Marie von Ebner-Eschenbach zeigt mit psychologischer
Konsequenz, daß auch eine andere Entwicklung möglich ist. Freilich,
es ist schwer, aus der Tiefe in die Höhe zu kommen! Freilich, es
ist hart, um der Eltern willen Schmach zu leiden, die man nicht
selber verschuldet! Aber möglich ists doch, ~nicht~ zugrunde
zu gehen! Wir nähmen gern noch etwas mehr Detail in der Motivierung
hin -- die intime Verästelung in die feinsten Stimmungen hinein ist
nicht Sache der Ebner-Eschenbach --, aber wir finden die Linien
im großen richtig gezeichnet und das Werden dieses Gemeindekindes
durchaus wahrscheinlich beschrieben. Nirgends fehlen die nötigen
Vermittelungen, nirgends auch die unentbehrlichen Verbindungslinien
nach der umgebenden Welt. Und ganz ähnlich wie hier erstrebt die
Dichterin sonst eine psychologische Vertiefung ihrer Problemlösungen,
-- auch da, wo die Fragestellung und die Fragebeantwortung noch
individueller ist, auch da, wo die »Gesellschaft« im besonderen Sinn
ihr die Stoffe liefert. Greifen wir beispielsweise zu genauerer
Betrachtung noch ihre zweibändige Dichtung »Unsühnbar« heraus!

Schauplatz: Die aristokratische Gesellschaft Österreichs. Sommers
auf den Landschlössern, Winters in Wien. Hintergrund: weder Stadt
noch Land, weder Beruf noch Arbeit in Einzelzeichnung. Allem Detail
ist Marie von Ebner feind. Ihre Menschen sind hier Grand-Seigneurs,
die Besuche machen und empfangen, Gesellschaften geben und besuchen,
und sich im übrigen ein bißchen beschäftigen, wenn sie gerade Lust
dazu haben. Von diesen Menschen aber erzählt sie mit Schneid' und
Verve, ohne ausgeführte Schilderung, ohne irgendwelche Lyrik, meist
sehr knapp. Der Wert ihres »Unsühnbar« liegt nur zum Teil in dieser
flotten Manier, die auch ihre anderen Sachen zeigen, die aber doch
oft etwas Gemachtes hat, weil nicht selten irgend eine Nebensache
dabei ebensolchen Akzent abbekommt, wie die Hauptsache, und weil sie
häufig durch diese Manier den Eindruck des Skizzenhaften, Abgerissenen
erweckt, manchmal auch den des Nachlässigen. Größer ist der Wert
der Problembehandlung. Eine junge Gräfin hat einen sehr wackeren
Grafen geheiratet, nachdem ihr der Vater einen anderen Bewerber, für
den sie fühlte, verleidet hat. Sie wird ein Muster von Gattin und
Schloßherrin, aber in einer schwachen Stunde gelingt es dem Andern,
sie zu betören. Nun lastet die Schuld auf ihr. Das Buch ist die
Geschichte dieses Schuldgefühls. Sie will den Tod suchen, -- aber sie
wagt es nicht um des Kindes willen, das sie erwartet. Sie will sich
durch Wohltätigkeit darüber hinweghelfen, durch gesellschaftliche
Zerstreuung: nichts hilft. Sie sucht die Tröstungen der Religion,
ohne Trost zu finden. Sie verliert in jähem Unfall den Gatten und den
ältesten Sohn. Nur der jüngste bleibt ihr, der Zeuge ihrer Schuld.
Sie gesteht ihr Vergehen, sie weist den Verführer auch jetzt zurück.
Schwere Krankheit rafft sie hin. »Gebüßt, nicht gesühnt -- das hätt'
ich nie gekonnt .... Schwer ist mit solchem Bewußtsein das Leben
.... und schwer der Tod ...« Gewiß, ein ernstes Problem: die Sühne
der Schuld. Auch ist es ernst durchgeführt, -- nur allzu ruckweise,
allzu schematisch. Neben reichen Ansätzen zu vertiefender Erfassung
bleibt viel Unfertiges. Und das Problem ist doch schließlich ein stark
subjektiv aufgebautes: nicht bloß die Schuld ist die Voraussetzung,
sondern auch ein zartes Gewissen ...

Problem- und Gesellschaftsdichtung! Von den älteren Erzählern
gehört noch einer unbedingt hierher: ~Paul Heyse~ mit seinen
Novellen. Man kann ja versucht sein, ihm den Platz neben dem anderen
großen Novellenerzähler, neben Theodor Storm, anzuweisen. Aber
Stimmungsdichter war Heyse nicht entfernt in dem Maße wie Storm. Beide
zu vergleichen, hat freilich seinen eigenen Reiz. Nehmen Sie den
tiefdunkeln deutschen Himmel aus düsterer Herbsteszeit, dazu die Wogen
der See, die hoch an den Deich schlagen, dazu die Menschen, die dort
wohnen, ein grüblerisches, verschlossenes, aber tiefes Geschlecht --:
das ist Storm, der nordische Dichter. Nehmen Sie dagegen lachenden
Blauhimmel aus dem goldigen Italien, dazu die üppigen Lorbeerbüsche
irgend eines vornehmen Parks einer Villa im römischen Gebirge,
dazu deutsche Künstler oder Gelehrte, die dort zu Gast sind, und
italienische vornehme Herren und Damen -- und Sie haben Paul Heyse.
Nicht als ob diese Skizzierung wörtlich zu nehmen wäre. Storm freilich
blieb als Dichter der Heimat treu; Heyse hat längst nicht ~bloß~
»italienische« Novellen geschrieben, wenn schon doch etwa die Hälfte
von allen dort im Süden ihren Schauplatz hat. Aber auch wo er weitab
von Italien ist, auch wo er in die Landschaft hineinführt, die
den stärksten Gegensatz zur italienischen bildet, in die deutsche
Waldlandschaft, weicht unter seinen Händen der deutsche Zauber, weil
er das tiefinnige deutsche Gemüt nicht mitbringt, das deutsche Land
zu betrachten. Und auch der andere Unterschied besteht zu Recht:
bei Storm schwerblütige deutsche Menschen, bei Heyse heißblütige
Allerweltsmenschen. Bei Storm Männer von alter, guter, fester Art,
selten anderswoher stammend als aus dem ehrenwerten Mittelstand, dem
Hort der alten Art und des treuen Gemüts, -- Frauen und Mädchen, die
zu ihnen passen, treu und stark wie Elke, des Deichgrafen Hauke Haien
kraftvolles Weib, ruhig-ernst und doch opferbereit in herzlicher
Liebe wie die Anna in »Carsten Curator«, alle aber rein und frei und
klar. Bei Heyse dagegen Herren aus den höheren Ständen, Grafen und
andere Edle, Gelehrte und Künstler, jedenfalls gebildete Leute von
feiner Lebensart. Dazu Damen derselben Schichten, der glatten Rede
gewohnt, in der Konversation geübt. Und wie ungern nimmt er solche zu
Heldinnen, deren Leben schlicht und ruhig im alten Gleis geht! Irgend
etwas sucht er an ihnen, was besonderen Reiz hat, was unklar ist und
zu Verwicklungen Anlaß gibt: eine unglückliche Ehe, eine unerwiderte
Leidenschaft, einen erlittenen Verrat oder etwas dergleichen. Und wie
die Menschen, so ihr Reden. Bei Storm ist alles Reden ruhig, einfach,
nur etwa poetisch warm durchhaucht; bei Heyse herrschen der Ton des
Salons, die gesellschaftlichen Formen, die geschliffene Ausdrucksweise
der Menschen, die häufig reden, weil sie nicht so viel zu tun haben
wie andere.

Aber der Unterschied geht noch viel tiefer. Heyse neigt viel mehr
nach dem eigentlichen Problem als Storm. Storm skizziert, läßt Töne
anklingen und nachklingen, weckt Erinnerungen, macht Gefühle lebendig,
zaubert Gestalten, die die Phantasie ergreifen. Wo eine ausgeführtere
Handlung ihn beschäftigt, gibt er sie in großen Zügen, springend
von Markstein zu Markstein. Anders Heyse. Er wählt Situationen, die
etwas Interessantes bieten müssen, und seine Menschen sind für diese
Situationen geschaffen. Manchmal nur für diese Situationen, so daß
man zweifelt, ob sie eigentlich gerade so haben existieren können.
Seine Probleme aber bewegen sich alle um individuelle, manchmal sehr
individuelle Situationen. Das Grundthema der Heyseschen Novellen
bildet das Verhältnis von Mann und Weib: die Liebe. In allen möglichen
Variationen wird sie behandelt: als glückliche und unglückliche
Liebe, als verzichtende und als genießende, als eheliche und als
sündige Liebe. Aber immer, immer in ganz bestimmter Färbung der
Liebe, und zwar in der vorwiegend sinnlichen. So weiß er ästhetisch
die Schönheit zu würdigen: weibliche Schönheit hat in ihm einen
begeisterten Verehrer und genialen Schilderer. Aber er läßt auch die
Mächte aus der ~Tiefe~ heraufsteigen, die doch das Wesen der
Liebe nicht erschöpfen. Er hat dabei nie ein unschönes Wort gesagt,
aber die Atmosphäre wird nicht selten schwül; -- und von dem, was
bei Storm Liebe ist, weiß er wenig. Ich greife -- ganz nach Willkür
-- nur einige dieser Probleme heraus. Ein deutscher Doktor der
Philosophie kommt, er weiß selbst nicht wie, als Gast in das Haus
eines zum Krüppel geschossenen italienischen Grafen. Die Gräfin ist
tief unglücklich an der Seite des Gatten, sie schenkt dem Gast ihre
Liebe und der Gast widmet ihr seine Leidenschaft. Ihn zwingt eilende
Botschaft, heimzukehren; sie will der Herrschaft des Mannes auf
alle Fälle entrinnen. Ein Priesterzögling läßt sie im Stich, statt
sie zu entführen; und so bekennt sie dem Gatten, daß sie mit eben
diesem Zögling sich vergangen. Da erschießt sie der Rasende (Villa
Falkonieri). -- Ein junges Mädchen ist durch die Treulosigkeit eines
Arztes, der ihre Schwester verführt, zur Menschenfeindin geworden.
Da lernt ein junger Baumeister sie kennen und liebt sie. Er rächt
sie an jenem Arzt, will es aber durchaus uneigennützig getan haben
und weist ihre endlich entglommene Liebe zurück. Sie aber hält es
nun für weise, sich ganz vom Leben zurückzuziehen. So gibt sie sich
den Tod (Doris Sengeberg). -- Die dreißigjährige Frau des berühmten
Universitätsprofessors schenkt ihr Herz einem zwanzigjährigen,
dichterisch und musikalisch veranlagten Studenten. Ihren Mann hat sie
nie geliebt, sein Herz gehört in erster Linie der Wissenschaft; ihren
einzigen Sohn hat er ihr genommen, um ihn in einer Erziehungsanstalt
unter männliche Leitung zu bringen. So ist sie für den Zwanzigjährigen
innerlich ganz frei und will sich auch äußerlich für ihn frei machen.
Er aber liebt sein hübsches, junges Wirtstöchterlein. Wie sie das
endlich erfährt, wird auch sie wieder innerlich frei für ihren Mann
und ihr Kind, das ihr jetzt von neuem vertraut wird (Melusine).

Ich breche diese Aufzählung ab. Variationen seines Grundthemas hat
Heyse in reichlicher Zahl gefunden. Manche behaupten: ~er~funden.
Und gewiß: im Verhältnis zur schlichten Wirklichkeit liegt einer der
schwächsten Punkte der Heyseschen Novellistik. Sind nicht manche
dieser Probleme geradezu ausgeklügelt? Oder, wenn man der Liebe die
wunderlichsten Seitensprünge zugut halten will, ist nicht die Art,
wie der Dichter die seelischen Entwicklungen vor sich gehen läßt,
oft genug unnatürlich? Wie rasend schnell geht das Verlieben z. B.
in Melusine und in der Villa Falkonieri, aber auch in vielen anderen
Novellen. Ich will nicht verallgemeinern: aber richtig ist, daß
Unwahrscheinlichkeiten nicht selten sind und daß er eine Vorliebe für
absonderliche Konstellationen betätigt. Und daß mancher Charakter über
der Durchführung der Konstellation zum unverständlichen Rätsel wird,
ist ebenso gewiß.

Trotz alledem dürfen wir diese formschönen, eleganten, glatt
fließenden, abgerundeten Erzählungen um so weniger ungerecht
beurteilen, als auch ihnen eine Art Stimmung eigen ist, welche den
Leser rasch gewinnt. In der Szene in »Melusine«, in welcher der
Studiosus Ludolf der Professorsgattin zuerst vormusiziert, ist
unfraglich Stimmung. Ludolf singt sein hübsches Lied:

  Du lispeltest: Ich liebe dich,
  Ich liebe dich bis in den Tod! --
  Und deiner Wange Glanz erblich
  Und deiner Lippe junges Rot ......

Und dann heißt es: »Die Begleitung verklang leise, wie die letzten
Atemzüge einer Sterbenden. Eine Weile war es so still in dem
halbdunklen Zimmer, daß man draußen im Garten die Wipfel rauschen
hörte, die ein heranziehender Gewitterwind schüttelte« ....

Aber trotz dieser Stimmung sind Heyses Novellen keine
Stimmungsnovellen, sondern gesellschaftliche Problemdichtungen. Sie
bilden, wie Adolf Bartels urteilt, »etwa die Ergänzung zu Storms
Stimmungsnovellen, sind plastischer, klarer, ja nüchterner als diese,
dafür aber auch vielseitiger, psychologisch reicher und feiner, kurz
moderner.« Ich möchte hinzufügen: sie reden viel mehr von Liebe, aber
sie sind viel ärmer an Gemüt. In ihnen regiert ~die Kunst~.

Gerade diese Gattung des Romans ist in der nicht eigentlich
naturalistischen Erzählerkunst außerordentlich reich vertreten. Und
so mögen denn hier noch zwei Erzähler genannt werden, die keineswegs
ausschließlich, aber doch auch auf diesem Gebiet Beachtenswertes
geschaffen haben. Von ~Theodor Fontane~ wurde schon gesprochen.
Er ist ein Künstler im Schaffen von Zeitbildern. Fast alle seine
Romane haben etwas von dieser Art. Aber etliche darunter rühren
doch auch ein Problem an und dann immer ein Problem, das im
gesellschaftlichen Leben wurzelt. Ich meine da nicht sein »Quitt«, das
von einer Mordaffäre des Riesengebirges den Ausgang nimmt. Auch dies
Buch ist die Geschichte einer Schuld. Aber indem der Dichter hier die
Schuld auf schauerlichem Verbrechen beruhen läßt, gibt er dem Ganzen
zu grobe Züge und erschwert allzu sehr die Sympathie mit seiner
Hauptperson. Das geht ihm auch sonst ähnlich; aber selten so stark.
Viel feiner ist seine »~Effi Briest~«, ein Buch, das in dem
Grundproblem unverkennbare Ähnlichkeit mit Marie von Ebner-Eschenbachs
»Unsühnbar« zeigt. Allerdings nur in der Problemstellung; sonst
gehen die beiden Schriftsteller weit auseinander. Marie von
Ebner-Eschenbach mit ihren knappen, skizzenhaften Entwicklungen, mit
ihrer vorwärts drängenden, fast jagenden Eile -- und Fontane, der
Meister der Kleinkunst, der so gern still steht und verweilt! Dort
alles Linienführung -- hier alles Mosaikarbeit! Aber darüber gehe
ich hier hinweg; es kommt mir jetzt weniger auf das an, was »Effi
Briest« mit seinen Zeitschilderungen gemein hat, als auf das, was sie
für ~sich~ hat. Ein frisch und fröhlich, vor allem natürlich
aufgewachsenes Mädchen, Tochter einer märkischen Adelsfamilie,
heiratet, noch halb Kind, den erheblich älteren Landrat von Instetten.
In Zeiten, wo ihr Mann sich wenig um sie kümmert, gerät sie infolge
Verführung auf Abwege. Sie selbst bricht mit dem Verführer, dem Major
Crampas; niemand weiß um diese Sache; sie schließt sich von neuem in
nunmehr wandelloser Treue und in wachsender Liebe an ihren Gatten an.
Da kommt -- nach Jahren -- diesem das unglückselige Geheimnis doch
zur Kenntnis; er erschießt im Duell den Nebenbuhler, er verstößt die
Gattin. Und diese verliert zugleich ihr Kind --; das bleibt beim Vater
und ist der Mutter so fremd geworden, daß ein Wiedersehen mit ihr
dieser nur Qual bringt. Sie verliert auch ihr Vaterhaus; aber sie darf
dann doch, dem Tode nahe, in das Heim ihrer Kindheit zurückkehren und
dort sterben.

Fontane hat wohl mit Absicht die Schuld selber ganz ins Dunkel
gerückt. Darin ist er ~nicht~ Naturalist: die Ausmalung solcher
Szenen widerstrebt ihm. Die Folge davon ist nun freilich, daß auch
die Motive der Schuld nicht ins helle Licht treten; Langeweile,
Gefühl des Vernachlässigtseins, Mangel an Befriedigung -- genügt das
wirklich? Genügt es gerade bei einer Effi Briest? Aber wenn das eine
Schwäche des Romans sein mag, schwer wiegt sie nicht, insofern der
Nachdruck ganz auf die Frage fällt: ist es notwendig, diesen Fehltritt
nach Jahren tadellosen Verhaltens so zu sühnen, wie Instetten es
tut? Wem nützt das? Die Frau ist damit aufs schwerste gestraft; ihr
Geschick ist geradezu tragisch. Selten hat der kühle Fontane so
herzenswarme Szenen geschaffen, wie die, in welchen dies Leiden zum
Leser spricht. Da zuckt unter der oberflächlichen Ruhe der verhaltene,
tiefe Schmerz. Eine Lösung des Problems hat Fontane nicht gegeben;
aber er läßt seine Meinung doch deutlich merken. Die Ehrbegriffe
der Gesellschaft zwingen den Gatten, so zu handeln, wie er handelt.
Vernunft und Liebe aber sprechen anders. Freilich, -- wann werden
Vernunft und Liebe das Regiment führen dürfen?

Einen scharfen Gegensatz zu Fontane bildet ~Ernst von
Wildenbruch~. Fontane ist kühl bis ans Herz hinan. Wildenbruch
ist leidenschaftlich durch und durch. Fontane ist Epiker; auch die
Erzählung zeigt bei ihm epische Breite. Wildenbruch ist Dramatiker,
seine Schöpfungen auch auf dem Gebiet der erzählenden Dichtung
sind fast alle auf den dramatischen Effekt hin gearbeitet. Fontane
leitet den Blick des Lesers zu ruhiger Betrachtung: er liebt die
Kleinigkeiten. Wildenbruch bleibt für gewöhnlich bei den großen
Linien, darin der Ebner-Eschenbach viel ähnlicher. Aber während
diese ihre Sprache gelegentlich von der legeren Art der wienerischen
Umgangssprache stark beeinflussen läßt, hat Wildenbruch Erzählungen
geschaffen, in denen die Menschen mit dichterischer Schönheit, mit
wählerischer Feinheit, mit glühender Kraft sprechen. Im übrigen
hat auch er ~tiefere~ Probleme sich nicht gestellt; entweder
er gibt packende Einzelszenen voll Glut und Feuer, oder er greift
ins gesellschaftliche Leben hinein. Jene Szenen hat er gern
der Vergangenheit entnommen; und was für wirksame Bilder schuf
sein »~Claudias Garten~«, sein »~Zauberer Cyprianus~«!
Daneben hat er die gleiche Kunst auch in einem Einzelbild aus
dem Kadettenleben entwickelt: »~Das edle Blut~«. Eine Art
gesellschaftlich-psychologisches Problem aber ist z. B. in dem Roman
»~Eifernde Liebe~« angerührt. Die stolze, unnahbare, vornehme
Hamburger Patriziertochter, die weiße Dorothea, -- die trotz allem
ihr Herz dem einfachen Maler Heinrich Verheißer schenken muß, -- die
unnahbare, die schließlich doch im Liebesrausch sich selbst, Heimat,
Sitte und Herkommen vergißt, die aber dann, als sie zum Erwachen
kommt, nicht anders kann als sich selber den Tod geben, -- sie
bietet die Möglichkeit einer kraftvoll einsetzenden psychologischen
Entwicklung, sie ist eine Art Problem für sich. Freilich, -- das
Problem ist weder neu noch mit besonderer Vertiefung durchgeführt; im
Grunde ists ja nur der alte Satz von der Liebe, die keine Schranken
kennt, der wieder vorgetragen wird; und nur der Schluß zeigt den
Konflikt zwischen Verstand und Liebe. Nein, es sind keine tiefen
Fragen, die Wildenbruch aufwirft; was seine Prosawerke über das
gewöhnliche Durchschnittsniveau erhebt, ist lediglich der große Reiz
der formschönen und wirksam geschürzten Darstellung, die übrigens auf
ein paar naturalistische Zutaten nicht immer verzichtet.

Was soll ich viel von andern »Problemdichtern« sagen? Probleme sind
wohlfeil wie Brombeeren, zahlreich wie der Sand am Meer, -- wenn man
das Wort »Problem« nicht zu ernst nimmt! Wenn man gesellschaftliche
Verwicklungen alltäglicher Art eben als »Probleme« betrachten will!
Wenn man nicht viel Neues verlangt, sondern mit neuen oder wenigstens
neuaufgeputzten Nuancen der alten Themata: Verlieben, Verloben,
Verheiraten, Verheiratetbleiben zufrieden ist. Wer wollte leugnen,
daß auch hier manches durch feinere Charakteristik anspricht, durch
geistvolle Behandlung anregt? Wenn ich keine Namen nenne, so geschieht
es, um nicht ungerecht gegen andere zu werden. Wer aber könnte
anderseits bestreiten, daß sich eine Art von Romanen unendlich breit
macht, die weder tief sind noch geistreich, sondern ganz einfach
platt und flach? Die ihre »Spannung« lediglich ein paar aufregenden
Situationen verdanken? Hierher gehört ein großer Teil der Salonromane.
Ihre Sprache: Konversationssprache, ihr Niveau: Dinerunterhaltung beim
fünften Gang, ihre Handlung komponiert aus Liebe oder Nichtliebe,
Treue oder Untreue, dazwischen eingestreut ein bißchen Krankheit und
Genesung, Duell und Tränen oder ähnliche Zugmittel.

Kein Wort mehr davon! Nein, nicht mit diesem Bild soll dieser Vortrag
schließen. Vielmehr denken wir zuletzt an hoffnungsvolle Anzeichen von
guten Zukunftsentwicklungen. Zwei der Neueren gilts hier zu erwähnen.
Es sind ~Sudermann~ und ~Frenssen~.

Soll man ~Hermann Sudermann~ zu den Naturalisten zählen? Den
Dramatiker -- ja. Auch als Erzähler gibt er manche Szene, die ein
bißchen stark »natürlich« ist; wenigstens »~Es war~« greift
ordentlich auch in die Gebiete des Lebens hinein, die man sonst nicht
gern bespricht. Aber zum Naturalisten vom Fach fehlt ihm doch wieder
die Vertiefung ins Einzelne, die Ruhe fürs Geringe und Einzelne. Er
hat einen Zug ins Konventionelle hinein, der ihn älteren Erzählern
mit realistischer Tendenz, aber ohne neugrabende Tiefe an die Seite
stellt. Er hat entschieden Ähnlichkeit nicht bloß mit dem Franzosen
Dumas, sondern auch mit dem Deutschen Spielhagen. Nur hat er die
Salonmanieren mancher späteren Spielhagenschen Werke nicht angenommen;
und der Tendenzcharakter der früheren ist bei ihm stark verblaßt. Ob
man ihn zu den Problemdichtern gesellen kann? »Es war« behandelt ein
gesellschaftliches Problem: eine Schuld ragt aus der Vergangenheit
in die Gegenwart hinein. Leo von Sellenthin hat im Duell einen
Freund erschossen, mit dessen Frau er sich vergangen. Während er nun
in der Ferne weilt, um über die Geschichte Gras wachsen zu lassen,
hat sein nächster und treuster Freund die Witwe geheiratet. Als Leo
zurückkommt, fallen von jener Schuld her schwere Schatten auf das
Verhältnis der Freunde. Der Roman schildert die Konflikte, welche sich
ergeben, mit packender Kraft, mit psychologischer Wahrheit. Ob alles
weitere, auch die Lösung, ebenso wahr gezeichnet ist, ist eine andere
Frage. »Es war« ist wirksam erzählt, schürzt die Knoten geschickt,
ist reich an Sensationen, gibt ein paar ganz gute Gestalten; aber
das Problem, das es anfaßt, ist allzu individuell und zugleich allzu
gesellschaftlich-herkömmlich. Die ganze Art des Romans geht zu wenig
in die Tiefe, als daß man ihn für einen ernsteren Problemroman
ansprechen dürfte. Aber eine andere Würdigung verdient sein
Erstlingswerk »~Frau Sorge~«. Seinetwegen allein gehört Sudermann
an diese Stelle.

Die »Frau Sorge« hebt sich zunächst dadurch aus Sudermanns übrigen
Schöpfungen wie aus vielen ähnlichen heraus, daß ihr ~Stimmung~
innewohnt. Stimmung, lyrische Stimmung! Seinen Eltern widmet er das
Buch:

  »Frau Sorge, die graue verschleierte Frau,
  Herzliebe Eltern, Ihr kennt sie genau,
  Sie ist ja heute vor dreißig Jahren
  Mit Euch in die Fremde hinausgefahren,
  Da der triefende Novembertag
  Schweratmend auf neblicher Heide lag
  Und der Wind in den Weidenzweigen
  Euch pfiff den Hochzeitsreigen.«

Und die gleiche Stimmung lebt in den Erinnerungen der Kindheit. Wenn
die Mutter erzählte, so -- »war darin von einer grauen Frau die Rede,
welche in allen trüben Stunden die Mutter besucht hatte, eine Frau
mit bleichem, hagerem Gesichte und dunklen verweinten Augen. Sie war
wie ein Schatten gekommen und wie ein Schatten gegangen, hatte die
Hände über der Mutter Haupt gebreitet, ungewiß, ob zum Segen oder zum
Fluche ....«

Diese Stimmung, ja sie durchzieht das ganze Buch bis hin zu dem
abschließenden »Märchen von der Frau Sorge.«

Mit ihr aber eint sich in dem Buch ein Realismus von glücklicherer
Art als in »Es war.« Glücklicher, weil er enger die Verbindung
mit dem Boden wahrt, auf dem Paul Meyhöfer aufwächst, weil er
ein bißchen gründlicher wird in der Lebensschilderung, weil das
Herrenhaus des Reichen wie das klägliche Besitztum des Bankerotten
draußen im Moor zu ihrem Recht kommen, weil in der Erzählung von
Pauls und Elsbeths Konfirmandenunterricht, von der Liebschaft der
leichtsinnigen Schwestern Pauls, von manchem Zusammentreffen der
Nachbarskinder heimische Sitte und heimische Natur mitsprechen dürfen.
Auch das Häßliche bleibt nicht ungeschildert; aber es tritt nicht
aufdringlich hervor. Ein gesunder Realismus beherrscht das Ganze.
Wichtiger freilich noch ist mir die Stellung des Problems selbst.
Es ist keine weltbewegende Frage, die ihre Antwort sucht; aber es
ist auch kein bloßes, gesellschaftliches Dilemma, kein abgegriffener
Konfliktsvorwurf aus dem Liebesleben, der den Grundton gibt. Es
handelt sich um die innere Entwicklung eines jungen Menschen, bei dem
Frau Sorge Pate gestanden hat. Die lastende Sorge macht ihn scheu und
gedrückt; er meint, er könne keinem ins Auge sehen, obwohl er doch
nichts zu verbergen hat. Würde fehlt ihm und Selbstbewußtsein; er
vergab sich den Menschen gegenüber zu viel und zu viel auch gegenüber
sich selber. Es lastet zu viel auf ihm, als daß er jemals hätte frei
aufatmen können, wie der Mensch es muß, wenn er nicht stumpf werden
und verkümmern soll. Bis er dann durch eine Tat, eine wirkliche Tat,
sich freimacht. Für ihn war Frau Sorge reichlich gebeten worden:

»Liebe Frau Sorge, laß ihn doch frei!«

Aber die Sorge lächelte -- und wer sie lächeln sah, der mußte weinen
-- und sie sagte: »Er muß sich selbst befreien.«

Und er befreite sich selbst -- durch jene Tat.

Diese seelische Entwicklung ist ein Problem, das den eigentlich
gesellschaftlichen Fragen gegenüber neu ist, das nicht bloß
episodischen Wert hat, sondern auf dem breiten Grund eines ganzen
Menschenlebens ruht, -- das nicht rein individuell ist, nicht auf
Zufall und nicht auf Schuld beruht, das sogar geradezu als typisch
gelten kann. Das gibt der »Frau Sorge« ihren Wert. Sie hat auch
Schwächen: Unwahrscheinlichkeiten, auch abgebrauchte Situationen
finden sich. Vielleicht ist die Entwicklung des Helden selbst nicht
einwandfrei geschildert. Aber das mag beiseit bleiben. Das Buch gehört
zu den wertvolleren Erzeugnissen der an psychologischen Problemen sich
versuchenden Gesellschaftsdichtung.

Aber, von Sudermann abgesehen, dessen »~Katzensteg~« als eine
sehr geschickte und wirkungsvolle Erzählung ohne tieferen Wert hier
nur eben erwähnt sein mag, bietet auch die Dichtung der Modernen
nicht viel Hervorragendes auf dem Gebiet des Problemromans. Um so
nachdrücklicher muß hier noch eines Romans gedacht werden, der zwar
nicht mehr dem 19. Jahrhundert angehört, der aber ganz in diesen
Zusammenhang gehört: ich meine den vielgelesenen »~Jörn Uhl~« von
~Frenssen~. Es ist nicht ohne Interesse, gerade dies Buch mit
Sudermanns »Frau Sorge« zu vergleichen. »Frau Sorge« zeigt Stimmung,
»Jörn Uhl« desgleichen, aber in viel höherem Grad. Bei Sudermann
bleiben die wirklich stimmungsvollen Abschnitte episodenhaft, »Jörn
Uhl« ist ganz Stimmung, wundervolle Stimmung. Jene Nüchternheit,
die bei Sudermann zuweilen durchbricht, liegt Frenssen völlig
fern. -- »Frau Sorge« ist realistisch durchgearbeitet; »Jörn Uhl«
nicht minder. Aber was jenes Werk vermissen ließ, findet sich hier;
die realistische Zeichnung hebt sich auf breitem, tief erfaßtem
Hintergrund ab. Frenssen ist in ganz anderem Sinn ein Meister der
Heimatskunst als Sudermann selbst in der »Frau Sorge.« Wie lebendig
werden Land und Leute in der friesischen Marsch durch »Jörn Uhl«!
Hier ist Milieuschilderung im besten Sinn. Sudermann gibt dazu
nur eben Ansätze. In der Kunst der äußeren Zusammenfassung, der
geschlossenen Entwicklung der Handlung ist Sudermann stärker; hier
liegt die schwächste Seite des »Jörn Uhl«. Aber auf der anderen Seite
macht Frenssen das wett durch jene prächtigen Einzelgaben, jene
eingestreuten Szenen von märchenhafter Schönheit oder von dramatisch
packender Gewalt: dem hat Sudermann nichts an die Seite zu setzen.
Endlich gilt es eine Vergleichung des leitenden Problems. Beide geben
eine Charakterentwicklung von Kindheit auf; beide führen den Helden
durch schweres Geschick zu innerer Reife. Familienerlebnisse und
heiße Arbeit, dazu die Bewegung des Herzens durch die Liebe bilden
die Hauptstücke der Erziehung bei beiden. Von der bei Frenssen viel
plastischeren Art der Schilderung sehe ich ab; die äußere Handlung
ist bei Sudermann etwas organischer in die Charakterentwicklung
verwoben. Der Brand der Uhl befreit den Jörn, -- durch eigene Tat,
die das väterliche Besitztum in Feuer aufgehen läßt, befreit sich
Paul Meyhöfer. Dennoch läßt sich sehr streiten, ob dieser Vorzug von
Sudermann nicht auf Gefahr der schlichten Natürlichkeit erkauft wird.
Mit dieser Tat begibt er sich aufs sensationelle Gebiet; der Brand
der Uhl aber ist ein Erlebnis, wie es alle Tage passieren kann und
wirklich passiert. Aber wenn wir das ganz dahingestellt sein lassen:
auch in der eindringenden Tiefe und naturwahren Kraft der inneren
Entwicklung des Helden bleibt Jörn Uhl tiefer. Er verarbeitet viel
reichere Einflüsse auf den Knaben, er berücksichtigt nicht ~eine~
Seite seines Wesens, sondern sein ganzes Wesen. Und er verschmäht
es nicht, auch die höchsten Fragen, die das Herz bewegen, in diese
Entwicklung hineinzuarbeiten.

Diese Tiefe der Problembehandlung, die diejenige von »Frau Sorge«
noch übertrifft, hebt den »Jörn Uhl« zugleich hoch empor über
Frenssens Erstlingswerk »~Die Sandgräfin~«, die ganz im
äußerlich Gesellschaftlichen hängen bleibt, aber auch über »~Die
drei Getreuen~«, die bei sonstiger großer Schönheit zwar Ansätze
zu vertiefender Problemstellung zeigen -- die Entwicklung der
drei Getreuen selbst, -- aber die Ansätze verhältnismäßig dürftig
herausarbeiten. Sie läßt uns in »Jörn Uhl« einen Roman schätzen,
der ein gewichtiges Problem in ernster Realistik, aber auch mit
dichterischer Stimmung angreift, -- als ein Werk, das die besten
Traditionen der älteren Schule in neuer Form wieder aufnimmt und
zugleich damit neue Wege weist.

Probleme! Wieviele birgt das Leben! Man muß sie nur ~sehen~!
Der Romandichter stößt auf Probleme, sobald er in die Tiefe gräbt.
Die Heimatskunst, die naturalistische Betrachtungsweise vertiefen
sich, wenn sie an den Problemen nicht vorübergehen. Freilich -- dazu
gehören Gedanken. Wir wünschen und fordern vom Gros der deutschen
Romanschreiber vor allem dies: Mehr Gedanken! Mehr große Gedanken
hinein in den deutschen Roman!




                Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman.


Die Hauptlinien in der Entwicklung des modernen deutschen Romans sind
durchmustert. Nur die Hauptlinien; obschon es leicht gewesen wäre, mit
größerer Bequemlichkeit und strengerer Präzision viel zahlreichere
kleine Ordnungen zu bilden. Aber es schien für eine gedrängte
Darstellung wichtiger, bestimmte entscheidende Linien zu verfolgen,
als alles Einzelne zu nüancieren.

Aber wenn unsere Skizzen wirklich bis an die Gegenwart heranreichen
wollen, so müssen einige Richtungen der modernsten Erzählerkunst noch
kurz besprochen werden, die etwa im letzten Jahrzehnt viel Redens von
sich gemacht haben.

Es gibt seit langem eine Strömung in der deutschen Prosaliteratur,
welche ihren Schöpfungen vor allem, sogar mit einer gewissen
Ausschließlichkeit Gegenstände von dekadentem Charakter gibt. Mit
dem Naturalismus selbst hat diese Strömung keineswegs notwendige
Verbindung; ja der Naturalismus, der das Interesse auf Umgebung,
soziale Verhältnisse, Abhängigkeit des Individuums von äußeren
Einflüssen lenkte, hat zum Teil geradezu gegen diese Strömung
angekämpft. Das hindert freilich nicht, daß zwischen dem outrierten,
auf die Spitze getriebenen Naturalismus, den wir schon bei Johannes
~Schlaf~ fanden, und der neuesten Phase dieser Verfallsdichtung
mancherlei Beziehungen bestehen. Man läßt das Milieu beiseit; die
~Seele~ soll ihr Recht haben. Aber nicht die Seele im alten,
guten Sinne des Wortes, -- sagen wir: die gesunde Seele, sondern
die überreizte, übernervöse, auf die feinsten Einflüsse reagierende
Seele, die Seele, in der alles Empfindung ist, alles Individualität,
-- sagen wir: die kranke Seele. Es hat gewiß manchen dieser Dichter
ein ernstes und großes Streben beseelt; geißeln wollte er, was er
sah und was er schilderte. Freilich, nicht von allen gilt das. Es
scheint manch einer sehr gern in dem Sumpfe zu plätschern, in den er
seine Leser hineinschauen läßt. Denn schließlich bildet der Sumpf den
Inhalt dieser Romane und Novellen. Das Abnorme, das Verkommene, das
ungesund Erotische wird geschildert. Und selbst die Form entspricht
dem Verfallscharakter des Inhalts: keine Ruhe mehr und keine Tiefe;
es geht von Skizze zu Skizze. Pointen müssen sich jagen. Vieles muß
der Leser erraten. Ein paar Striche machen ein Bild. Nur nicht breit,
nur nicht langweilig; am besten überhaupt nur Skizzen mit recht kurzen
Sätzen -- mit grellen Lichtern -- mit Witz und Satire. Viel Geist,
viel Witz, viel Satire. Aber alles Kaviar, gar keine nahrhafte,
gesunde Kost!

Fürchten Sie nicht, daß ich zu tief in dieses Gebiet des Verfalls
hinabsteige! Aber ein wenig genauer muß ich es charakterisieren, um
mein Urteil zu begründen. Ich wähle zunächst eine Sammlung von Heinz
~Tovote~, welche den Titel führt: »Ich. Nervöse Novellen«. Sie
erschien 1892 und erlebte 1900 die 12. Auflage. Es sind durchgehends
Geschichten äußerst nervös beanlagter Naturen, alle ganz kurz,
allerhöchstes einmal eine dreißig Seiten lang. Was für Sujets in
diesem Band! Da erzählt einer die phantastischen Gedanken einer
schlaflosen Nacht, in der er beständig auf die draußen fallenden
Regentropfen hören muß. Wir müssen sie mithören und mitzählen: Tipp
.. 1 .. 2 .. 3 .. 4 .. 5 .. tipp 1 .... und so weiter. Und wir müssen
alle seine unklaren Gedanken mitdenken (denn er erzählt selbst, daß er
zu keinem klaren Gedanken kam!), bis er endlich, endlich einschläft.
-- Da ist ein andrer, der leidet an dem immer wieder plötzlich
auftauchenden unsinnigen Gedanken, daß er unter lauter Toten weile. Im
Manöver packt ihn die Vorstellung, auf Wache des Nachts, -- und sonst
in allen möglichen Situationen. Bis er endlich davon geheilt wird --
dadurch, daß eine in momentaner unsinniger Angst totgeglaubte Person
-- zu schnarchen anfängt. Und dazu dann allerhand Situationen aus dem
Liebesleben, alles sonderbare, abnorme Situationen. Nichts Frisches!
nichts Gesundes! Nervöse Novellen! --

Oder ein Buch wie ~Bierbaums~ »~Stilpe~«. Ein frühreifer,
witziger und begabter Mensch verkommt durch völlige Zügellosigkeit. Er
wird endlich Komiker in einem Café chantant und führt dort eine Szene
auf, mit der er das Publikum begeistert: er imitiert den Selbstmord.
Den Kopf in der Schlinge, nickt er immer wieder zum Dank für den
brausenden Beifall. Der Schluß besteht darin, daß er den Scherz zum
Ernst werden läßt. Abscheulich! Ganz abscheulich! Was diesem Schlusse
vorangeht, ist aber nicht viel besser: -- wüste Szenen, tollgewordener
Humor, Lumperei und Laster, vermischt mit Satire und Komik. Verfall!
Sumpf! Bierbaum gibt sich zuweilen bei dieser Schilderung das Ansehen
des Moralisten. Und wahrlich -- das Ende dieses Lebens ~muß~
moralisch wirken. Aber trotzdem ist das Ganze zu toll, um ernst
genommen werden zu können.

Weiteres sei hier nicht genannt. Es ist ~nicht~ die Pflicht
eines jeden, sich durch diese Wüste durchzuarbeiten. Die Dichtkunst
liegt in Nervenzuckungen. Wer sieht das gern mit an? Nur daß man
leider wissen muß, daß diese Zuckungen ansteckend gewirkt haben ....
Ganze Zeitschriften pflegen das Genre dieser Art Skizze. Sie tragen
den Ruhm, modern zu sein, ja zu den modernsten zu gehören. Aber man
kann mit seiner Zeit mitgehen, ohne ihre Unarten und Frechheiten
mitzumachen!

Neben diese nervöse Verfallsliteratur tritt nun noch diejenige des
gleichfalls modernen ~Symbolismus~. Eigentlich nicht ~neben~
sie; großenteils wirkt der Symbolismus auf dem Hintergrund dieser
modern-nervösen Skizzenliteratur. Sein Wesen bedingt das allerdings
nicht. Was ist Symbolismus? Die Kunst, Symbole zu schaffen und
durch Symbole zu wirken. Es ist eine Art Gleichniskunst; nur daß
das Gleichnis hier -- je nach den Umständen -- bis zum Umfang
einer ganzen, völlig ausgeführten Handlung anwachsen kann. Solcher
Symbolismus findet sich, wie bereits erwähnt, schon in Roseggers
»Gottsucher«. Die Vorgänge im Trawieser Tal, die dort beschrieben
sind, bleiben zwar aufs engste mit der Wirklichkeit verwoben; alle
jene Ereignisse, welche schließlich zur Ermordung des Pfarrers führen,
sind realistisch gedacht und gezeichnet; sie sind auch durchaus
möglich und wahr. Auch im zweiten Teil wird die Verbindung mit dem
Geschichtlich-Denkbaren durchaus aufrechterhalten. Dennoch zeigt sich
hier deutlicher der überwiegend symbolische Charakter der Handlung,
der in der durch den Schreiner Wahnfred eingeführten Feueranbetung und
in der Sühne des Frevels durch Vernichtung alles Lebendigen seinen
Gipfel erreicht. -- In der Verbindung mit ausgeprägtem Naturalismus
tritt der Symbolismus auf in dem gleichfalls schon besprochenen Werk
Kretzers »~Das Gesicht Christi~«. Christus erscheint! »In der
Dämmerung des Abends, die geheimnisvoll die Fäden des Nachtschleiers
zu spinnen begann, wand sich die Erscheinung unhörbar durch die Menge,
sichtbar nur denen, die in dieser Welt des absterbenden Glaubens
den Hunger der Seele über den des Leibes stellten.« So sehen ihn
die Kinder des Arbeiters Andorf, scheu und ängstlich, in den großen
weitaufgerissenen Augen jenes starrselige Entsetzen, das der Anblick
eines süßen Wunders hervorzaubert. So sieht ihn Andorf selbst, mitten
in seiner Not, in der Not, die so groß ist, daß er nicht einmal seinen
Kindern satt zu essen geben kann. Mitten auf der Straße sieht er ihn:
»Siehst du ihn nicht, wie er durch die Menge schreitet? Sein Gesicht
und sein Haar leuchten, er trägt ein schneeweißes Gewand und alle
weichen ihm aus.« Er sieht ihn im Rahmen der Tür der vollgepreßten,
dunsterfüllten Kneipe: -- »er durchleuchtet die Luft mit seinem
Haupte. Seine großen Augen sind fest auf dich gerichtet«. Er sieht die
Erscheinung, wie er im ärmlichen Zimmer am Totenlager seines Kindes
gewacht hat. Die Leute auf der Straße sehen sie, wie er seines Kindes
Sarg zum Friedhof fährt .... Es sehen sie auch der Konsistorialrat
und sein Küster, wie sie mit Andorf über die Kosten der Beerdigung
verhandeln. Es sieht sie der Fabrikbesitzer, wie er eine seiner
Arbeiterinnen brutal zur Sünde verführen will ... Was soll diese
Christuserscheinung, die dem Armen wie dem Reichen begegnet? Soll
sie nicht die Wirksamkeit symbolisieren, welche die Religion trotz
allem und allem übt? Übt in der ärmsten, elendesten Arbeiterseele als
Mittel des Trostes und der Hoffnung? Übt in dem Herzen des Harten und
Grausamen, übt in dem Bewußtsein des frechsten Frevlers in der Stunde,
da er den größten Frevel begehen will? Das soll sie darstellen, wie
Christus die Welt begleitet als das Gewissen der Gesellschaft, die
sein Wort im Munde führt, ohne es zu üben.

Man kann sehr darüber streiten, inwieweit die Verschmelzung von
Naturalismus und Symbolismus in diesem Werk geglückt ist. Ich finde
nicht nur den Naturalismus in der Verführungsszene allzu kraß, sondern
auch den Symbolismus der Christusvision allzu stark aufgetragen,
allzu theatralisch. Aber das Eine ist gewiß: ~diese~ Art von
Symbolismus, am rechten Objekt in rechtem Maß angewandt, gehört
durchaus zu den wirksamen Darstellungsmitteln.

Zur symbolistischen Richtung wird von manchen auch ein Werk wie
~Wilhelm Bölsches~ »~Die Mittagsgöttin~, Roman aus dem
Geisteskampfe der Gegenwart«, gerechnet (1891 erschienen).
Es handelt sich in ihm vornehmlich um den Spiritismus. Ein von
der Naturwissenschaft gänzlich erfüllter junger Journalist wird
in spiritistische Kreise hineingezogen. Erst wirkt er bei der
Entlarvung eines betrügerischen Mediums mit; dann wird er durch
eine Erscheinung des »zweiten Gesichts« selbst bekehrt und weilt im
Spreewald im Schlosse eines spiritistischen Grafen, wie dieser von der
prädominierenden Kraft des Mediums Lilly Jackson, mit dem sie ihre
Sitzungen abhalten, fest überzeugt. Endlich stellt sich allerdings
heraus, daß auch dies Medium betrogen hat. Der zum Spiritismus
Bekehrte ist wieder geheilt. -- Der Gang der Erzählung ist keineswegs
besonders kunstvoll; Reiz geben ihr eigentlich nur die spiritistischen
Sitzungen -- und das ist Nervenreiz. Aber die Form der Darstellung
wie insbesondere der Schilderungen des Spreewalds ragen weit über
das Durchschnittliche hinaus. Trotzdem gibt die Handlung selbst
dem Buche den tieferen Wert, wennschon nicht durch die Widerlegung
des Spiritismus. »Die Helden dieser wunderlichen Geschichte« --
so schreibt der Verfasser selbst im Vorwort zur zweiten Auflage
1901 -- »suchen mit einem ungeheuren Aufwand ein Geheimnisvolles
~hinter~ den Dingen. Aber sie erfahren dabei etwas von dem
Los des alten Bibelhelden, der auf der Suche nach Eselinnen eine
Königskrone fand. Sie stoßen auf die viel wunderbareren, viel
geheimnisreicheren Imponderabilien in den Dingen, -- auf die Wunder
sinkender, steigender, sich entwickelnder Menschenseelen, auf die
unergründlich tiefen Geheimnisse, die in jedem Schicksal eines
Menschen überhaupt liegen.« So ist das Buch ein Feldzug in solche
schlichten Seelenprobleme hinein, die immer wieder das größte aller
Wunder enthalten. So ist jede Einzelgestalt desselben ein Symbol für
menschliches Ringen nach Durchdringung all der Dunkelheiten; so ist
die Geschichte im ganzen ein Zeugnis dafür, daß dieses Ringen und
Sehnen in unserer Zeit lebendig ist, daß der Geist des Philistertums,
das nur banale Alltäglichkeit sieht, wo das ewig neu Rätselschwangere
herrscht, auch den tieferen Geistern des jungen Deutschlands von heute
verhaßt ist. Es geht wie in der wendischen Sage von Pschipolniza,
der Mittagsgöttin. Wenn um die Mittagsstunde die glühend heiße Sonne
brennt, naht sich dem habgierigen Bauern eine weiße Gestalt, ein
wundersames Weib mit tiefblauem Kornblumenkranz, eine goldene Sichel
in der Hand: Pschipolniza, die Göttin der Mittagsstille. Sie legt ihm
Fragen über sein Werk vor, und wenn er nicht antworten kann, haucht
sie ihn an, daß er krank wird, oder würgt ihn zu Tode. Wir mühen uns
alle, mit der sengenden Zenithsonne auf dem Scheitel, im wahren Mittag
der Menschheit. Da naht uns die Wissenschaft als verschleiertes Bild
und stellt die Frage nach Leben und Tod. Freilich -- wie dann weiter?
Ist sie in Wahrheit ein grausames Gespenst, das dem Ermattenden,
Lechzenden den Hals umdreht, statt ihn zu erquicken? Oder wird sie,
wenn man die rechte Antwort gibt, zur schönen, sanften Flurgöttin, die
unsere Arbeit segnet? Die Meinung ist jedenfalls die: wer sich abmüht
im Ringen nach falscher Erkenntnis, um die Gespenster verborgener
Überwelt, dem bringt sein Mühen lastendes Leid. Wer aber die lebendig
wandelnden Gespenster ergründen will, die Gespenster der Not, der
Unterdrückung, der moralischen Finsternis, der ist auf dem rechten Weg.

Auf einzelnes -- Vorzüge wie Schwächen des Werks -- einzugehen,
ist hier nicht der Ort. Und ebensowenig ist es möglich, die
Gesamterscheinung des Symbolismus an dieser Stelle bis in ihre
Einzelverzweigungen zu verfolgen. Der Symbolismus hat ja sein
eigentlichstes Wirkungsgebiet auch keineswegs in der Prosaerzählung
gesucht; sein gefeiertster Vertreter Richard Dehmel steht diesem
Gebiet fern. Die lyrische und dramatische Dichtung, erstere noch viel
stärker als letztere, wissen ganz anders von seinem Einflusse zu
zeugen. Auch die Einflüsse, welche diese ganze Richtung mitgeschaffen
haben, stehen außerhalb des Gebiets der erzählenden Dichtung; muß man
doch Nietzsche besonders in seinem »Also sprach Zarathustra« und neben
ihm Ibsen in seinen Dramen als diejenigen bezeichnen, von welchen
die Symbolisten am meisten gelernt haben. Es fragt sich, ob man das
Urteil, welches gefällt worden ist, voll unterschreiben muß, -- daß
nämlich der Symbolismus auf dem Gebiet der erzählenden Literatur
durchweg nur ungünstig wirken ~konnte~. Aber das steht doch ganz
fest, daß die scharfe Wirklichkeitserfassung, wie sie dem Roman eigen
sein muß, die Aufgabe, ein Weltbild zu zeichnen, eine Verwendung des
Symbolismus im Roman auf ein sehr bescheidenes Maß zurückführen muß.
Und ohne die rein symbolistischen erzählenden Stücke, von welchen
das gilt, hier näher aufzählen zu wollen, darf man auch das andere
hinzufügen: viele von ihnen machen einen unklaren, völlig undeutlichen
Eindruck und fallen aus der Aufgabe des Romans stärker heraus, als es
die Schöpfungen von Novalis und Eichendorff taten.

Die Überwindung des Naturalismus wurde schon Anfang der neunziger
Jahre des 19. Jahrhunderts als vollzogen verkündigt. Für unser Gebiet
ist er vom Symbolismus ~nicht~ überwunden. Er blüht nach wie
vor, freilich vorwiegend in jenem feiner nüancierten, stimmungsmäßig
psychologischen, eigentlich impressionistischen Naturalismus seiner
späteren Vertreter. Und viel stärker als der Symbolismus ist die
vorhin knapp skizzierte Richtung geworden, jene kurz als Dekadence
zu bezeichnende Liebhaberei für heikle Themata, für sinnliche
Situationen, für das moderne Leben der Kreise, welche von solider
Arbeit wie gesunder Lebensführung gleich weit entfernt sind.

So ist die Lage überhaupt nicht aufzufassen, als ob nun ~eine~
Richtung jederzeit für die vorhergehende geradezu die Ablösung
bedeutete. Naturalismus, Dekadence, Symbolismus bestehen
nebeneinander, miteinander, ineinander. Und außerdem zählen wir
zahlreiche neuere Werke, die ganz andere Typen vertreten. Nicht eine
spezifisch neue Erscheinung, aber doch auch in der Neuzeit reichlich
angebaut ist der sensationelle ~Tendenzroman~. Wir haben aus
jüngster Zeit -- freilich schon aus dem zwanzigsten Jahrhundert
-- zwei charakteristische Stücke dieser Gattung erhalten. Den
Tendenzroman auf der niedrigsten Stufe stellt ~Bilses~ »~Aus
einer kleinen Garnison~« dar. Man mag sagen, was man will, über
ideale Absichten des Verfassers; ich will es alles glauben. Man kann
getrost annehmen, daß ihm der Beweis völlig geglückt ist, daß in
einer kleinen Garnison die Verhältnisse genau so gelegen haben, wie
sein Roman sie zeichnet. Dennoch bleibt der Unterschied zwischen
einem Roman, der allerhand anfechtbare Persönlichkeiten so zeichnet,
daß jeder mit Fingern auf sie weist, und zwischen einem ausgeführten
Pamphlet verzweifelt gering. Die Mittel der Zeichnung, welche Bilse
gewählt hat, beweisen entweder, daß er unmittelbar bestimmte Menschen
hat angreifen wollen, oder daß ihm die Kunst zu einer im höheren Sinne
typischen Darstellung völlig gefehlt hat.

Höher steht ~Beyerleins~ »~Jena oder Sedan?~«. Allerdings
hat auch dies Buch, als ein Stück Weltbild betrachtet, ganz erhebliche
Schwächen. Die Hauptschwäche besteht darin, daß es sensationelle
Ereignisse in einer Weise häuft, welche von der Wirklichkeit weit
abliegt. Es ist für den Leser geradezu beängstigend, daß fast keine
der vorkommenden Personen, für welche sein Interesse wachgerufen
wird, heil und ganz aus der Militärzeit herauskommt. Die Vorliebe,
mit welcher Beyerlein die traurige Wendung im letzten Augenblick,
kurz vor der endgültigen Rückkehr in den Zivilstand oder kurz vor
Eintreten eines wünschenswerten Ereignisses, herbeiführt, ist beinahe
stereotypiert. Der eine stirbt, der andere kommt auf Festung und wird
beim Fluchtversuch erschossen, der dritte vergißt sich, entflieht
aber, der vierte wird eingesperrt und durchlebt eine furchtbare
Haftzeit -- und so geht es weiter. Auch von diesem Ungeschick ganz
abgesehen, ist der Roman keine Glanzleistung. Die eine Grundidee, um
derer willen er geschrieben ist, die zu starke Betonung überflüssigen
Drills in der Armee ist fast lediglich gesprächsweise ausgeführt. Die
hierher gehörigen Partien bilden eine Art militärtechnischen Aufsatz
in Gesprächsform; für die Handlung selbst sind sie Ballast, nichts
als Ballast. Aber anderseits verfügt der Verfasser über eine nicht
unbeträchtliche realistische Begabung, die anzuerkennen ist, wennschon
seine Zeichnung manchmal über das Ziel hinausschießt.

Die hier eben genannten Romane repräsentieren einen Typus, der für
unsere Zeit sicher charakteristisch ist. Ein Fortschritt für die
erzählende Literatur ist von hier aus freilich nicht zu erwarten.
Und so muß es für uns ein Gegenstand aufrichtiger Freude sein, daß
wir heutzutage nicht allein auf diese Schöpfungen angewiesen sind.
Denn auch alle die früherhin angeführten Richtungen haben in der
letzten Zeit ihre Geltungskraft behalten. Der historische Roman
ist allerdings zurückgetreten, immerhin darf z. B. ~Sperls~
»~Die Söhne des Herrn Budiwoi~« mit Ehren genannt werden. Die
Schöpfungen der Heimatskunst wurden schon erwähnt; aber es muß hier
ausdrücklich erwähnt werden, daß diese Richtung, die den Realismus,
ja den Naturalismus in gesunden Grenzen sich zu nutze macht, dabei
jede Übertreibung meidet und dem Leser das Gefühl kernig frischen
Volkstums vermittelt, keineswegs zu den überholten gehört. Sie ist
das eigentliche Gegenbild zur verlebten Art eines ~Tovote~,
~Bierbaum~, ~Schlaf~. Sie hat Mark in den Knochen, festen
Boden unter den Füßen, sie saugt Nahrung aus der Scholle. Gerade
von dieser Richtung her können wir noch manches Gute erhoffen. Auch
~Frenssen~, der augenblicklich noch nicht durch eine andere Größe
abgelöst ist, hat hier die Wurzeln seiner Kraft. Ihm aber danken
wir, wie früher gezeigt, zugleich, daß auch die gesunde Psychologie
und die ruhig wägende Lebensweisheit sich wieder einen Platz im
Roman errungen haben. Frenssen zeichnet die Landnatur derb und
ungekünstelt. Damit repräsentiert er gegenüber den verlebten Gestalten
der Berliner Dirnenromane oder den impressionistischen Skizzen aus
der Bohême geradezu die Gesundheit gegenüber der Krankheit. Er ist
aber auch nicht Bloß-Naturalist; er weist dem suchenden Geschlecht den
richtigen Weg. Die Stellung auch zu diesem Roman ist recht verschieden
je nach der Stellung zu Frenssens Weltanschauung. Aber so gewiß
diejenigen, welche Gottfried ~Kellers~ oder Paul ~Heyses~
Weltanschauung gar nicht teilen, diesen ein gerechtes Urteil widmen
müssen, so gewiß kann auch Frenssen verlangen, daß die Gegner seiner
Weltanschauung doch den literarischen Wert seiner Romane unbefangen
beurteilen. In dieser Hinsicht ist auf zwei Seiten gesündigt worden.
Den einen ist er zu christlich; und weil das Christentum ihnen das
rote Tuch ist, bei dessen Anblick sie die ruhige Fassung verlieren,
so vermögen sie der feinen Kunst des Dichters nicht mehr gerecht zu
werden. Den anderen aber -- und leider gehörten dazu manche frühere
Berufsgenossen des Dichters -- war er nicht christlich genug, weil sie
von ihm, dem Pastor, meinten eine ausgeführte Dogmatik verlangen zu
müssen. Die Urteile über »Jörn Uhl« von diesen beiden extremen Seiten
her sind ja aber glücklicherweise völlig aufgewogen worden durch
die Aufnahme des Buchs im großen Publikum. Gewiß ist es keineswegs
hundertundfünfzig Mal so viel wert als manch anderes Buch, das nicht
hundertundfünfzig, sondern nur eine Auflage erlebt hat. Aber es bleibt
eins der erfreulichsten Unterpfänder dafür, daß frische, kraftvoll
gesunde Dichtung mit nüchtern realistischer Grundlage, aber mit tief
idealistischem Sinn auch heut noch bei den deutschen Dichtern nicht
ausgestorben ist und beim deutschen Volk nicht in Mißkredit gekommen
ist.

Auf die Gefahr hin, ungerecht gegen andere Romane zu werden, die
ich nicht nennen kann, möchte ich doch noch einen aus der Zahl der
modernsten nennen: Thomas ~Manns~ »~Buddenbrooks~«. Und
zwar geschieht das aus einem ganz bestimmten Grund. Der Roman ist der
schlagende Beweis dafür, daß der Naturalismus sich nicht entfernt
überwunden fühlt, daß wir im Gegenteil vielleicht noch viel von
ihm zu erwarten haben. »Buddenbrooks« bedeuten eine detaillierte,
bis ins Einzelne peinlich genaue Schilderung des Lebens einer
großen lübeckischen Kaufmannsfamilie durch mehrere Generationen
im neunzehnten Jahrhundert hindurch. Mit diesem Hauptgegenstande
sind minder ausführliche, aber immer noch sehr gründliche
Beschreibungen angrenzender Verhältnisse verbunden. Neben der einen
Großkaufmannsfamilie stehen andere, -- und jede von besonderem Schlag.
Neben den Kaufmannsfamilien stehen die anderen Honoratiorenfamilien,
-- allerdings fast nur solche. Nicht die Handlung ist es, die dem
Roman Bedeutung gibt; immerhin ist sie im ganzen wirksam aufgebaut,
wennschon man wegen des Schlusses mit dem Dichter rechten kann und
wennschon manche übermäßige Breite etwas mühsam überwunden werden
muß. Aber, wie gesagt, nicht die Handlung ist das Bedeutsame, sondern
die Art der Milieuschilderung. Die »Buddenbrooks« sind vielleicht
~dasjenige deutsche Romanwerk, welches am nachhaltigsten durch
Emil Zola beeinflußt ist~. Thomas Mann läßt nichts außer Ansatz:
keine Geste, keine noch so kleine Gewohnheit, keine der kleinen
charakteristischen Redewendungen, wie sie jeder Mensch sich angewöhnt,
-- desgleichen nicht die scheinbar äußerlichen Umstände, die doch
so wesentlich sind: die Art, sich zu kleiden, sich Haus und Zimmer
einzurichten, sich mit dem Geldpunkt abzufinden, und tausend andere
Dinge mehr. Die Beschreibung ist viel genauer, viel detaillierter als
z. B. bei Kretzer. Sie kann ebenso unerbittlich sein wie die Zolas
in der Zeichnung auch abschreckender Bilder: erinnert sei nur an die
Sterbeszene der alten Konsulin Buddenbrook und an den Abschnitt,
welcher den Typhus behandelt. Doch wühlt Thomas Mann längst nicht so
emsig in den dunkelsten Gebieten des Menschenlebens wie Zola; jene
abschreckenden Bilder sind im Verhältnis zum Ganzen selten. Dafür
fehlt ihm aber auch jene absolut nüchterne Wahrheitsruhe, die Zola
hat; er neigt viel mehr zur Karikatur, zur beißenden Satire. Endlich
-- um noch einen Unterschied hervorzuheben -- ist Thomas Mann ein
minder pathetischer, weniger deklamatorischer Beschreiber, als Zola
besonders in manchen seiner letzten Werke gewesen ist. Wie man aber
auch im einzelnen das Verhältnis dieses Romans zu Zola beurteile, --
in jedem Fall ist die Methode der Kleinmalerei in ~dieser~ Art
für den deutschen Roman trotz Kretzer und Fontane noch nicht endgültig
ausgebeutet. Kretzer geht trotz allem mehr ins Große; und Fontanes
Plauderton sticht von dem naturalistischen Ernst dieses Buches
erheblich ab. Man kann dreist vermuten, daß die Anwendung der gleichen
Methode auf andere Lebensverhältnisse nicht auf sich warten lassen
wird. Nun ist solcher Roman gewiß nicht das volle Ideal eines Romans;
aber den Wert eines treffend gemalten Weltbilds besitzt er gewiß. Er
steht darum auch seinerseits hoch über den nervösen und verlebten
Skizzen der sogenannten »Moderne«.




                              Rückblick.


Aber es ist an der Zeit, daß wir den Überblick über die mannigfach
gestaltete Gegenwartssituation auf dem Gebiet des Romans abbrechen.
Nur Einiges, nur Bedeutenderes ist erwähnt worden. Nur das, was für
die Skizzierung der Gesamtentwicklung von Bedeutung zu sein schien.

Von Goethe sind wir ausgegangen. Er muß uns als der Schöpfer des
modernen deutschen Romans gelten. Ich erinnere kurz an die drei
Gesichtspunkte, nach denen diese Bedeutung Goethes skizziert wurde:
die psychologische Tiefe, die Art, wie seine Romane zum Zeitbild
werden, und die engste Verbindung von Handlung und Gedanke, in alledem
aber die unbestrittene Kraft der Wirklichkeitserfassung. Wie hat
Goethe mit dieser seiner Kunst gewirkt?

Wenn man von der Romantik absieht, so darf man das Urteil wagen,
daß die gesamte Geschichte des deutschen Romans im 19. Jahrhundert
eine Geschichte der Verarbeitung der von Goethe herstammenden
Anregungen gewesen ist. Über dieser gesamten Geschichte steht das
Wort »Wirklichkeit« geschrieben. Wie war noch bei Wieland der
beste Roman nichts als eine äußerliche Verkleidung moralischer
Gedanken! Das ist nun anders geworden, fast mit einem Schlage
anders. Vorüber die sentimentale Schwärmerei, vorüber die Zeit der
moralischen Erzählung ohne eigenen Wert des Erzählten! Der Roman
sieht die Welt, wie sie ist, und zeichnet die Welt, wie sie ist.
Anfänglich ist ihm freilich die Wirklichkeitszeichnung noch nicht
das letzte Ziel. Vielmehr gliedert man sie ein in die Darlegung
der eigenen Tendenzen. Man will die Ursprünglichkeit der ländlichen
Natur gegenüber städtischer Verbildung schildern -- so Immermann,
so Auerbach; man will am Bestehenden Kritik üben, es zu bessern,
-- so im politisch-religiös-moralischen Gebiet die Zeitromane der
Jungdeutschen, so vom Standpunkt des Volkserziehers ein Jeremias
Gotthelf, -- so in der Weise des erfahrenen und klugen Mannes, der
anderen des eigenen Irrens Früchte auf allen Gebieten menschlichen
Lebens vermitteln will, Gottfried Keller; -- so mit der Absicht,
an der Darstellung der Wirklichkeit die eigenen politischen und
religiös-sittlichen Anschauungen zur Geltung zu bringen, Friedrich
Spielhagen.

Diese erste große Epoche kann man also kurz als die ~Zeit der
Darstellung der Wirklichkeit im Dienste bestimmter Absichten~
bezeichnen. Ihr folgte eine zweite große Periode, in welcher
~die Darstellung der Wirklichkeit selbst, ohne Einmischung von
Nebenzwecken, als letztes Ziel~ galt. Man darf diese Periode gewiß
mit dem Aufblühen des historischen Romans eröffnen. Leichter war es
ja, in der Vergangenheit untendenziös zu bleiben als wenn man mitten
aus der Gegenwart heraus seinen Stoff nahm. Der kulturgeschichtliche
Roman beansprucht in diesem Zusammenhang eine gewichtige Stelle.
Aber nicht der geschichtliche Roman allein suchte die Wirklichkeit
als Wirklichkeit zu schildern. Schon bei Freytags »Soll und Haben«
tritt in der Gegenwartszeichnung die Tendenz in den Hintergrund.
Und dann beginnt diejenige Strömung, welche nichts geben will als
Photographien, die lediglich schildernde Erzählung. Zu ihr kann man
manches von den Werken des sog. Naturalismus rechnen -- wenngleich
auch hier die Kunst, das Wirkliche zu sehen, noch keineswegs zur
Vollkommenheit ausgebildet ist --, zu ihr aber auch vieles, was
weniger naturalistisch als realistisch ist, so z. B. manche Sachen
von Fontane. Diese Strömung ist, wenn schon ihre Überwindung bereits
ziemlich energisch verkündet worden ist, noch keineswegs überwunden.

~Zu dritt~ stelle ich neben diese beiden großen Entwicklungsgänge,
die einander übrigens auch nicht geradezu abgelöst haben, zu einer
Gruppe gesellt, eine Reihe von anderen Erscheinungen. Ihre gemeinsamen
Charakteristika sind: erstens: die Darstellung der Wirklichkeit ist
ihnen nicht Selbstzweck. Darin harmonieren sie mit Gruppe +I+. Aber
anderseits, zweitens, haben sie nicht in dem Grad wie Gruppe +I+
ein enges Verhältnis zu der Zeit, in der sie stehen. Ihnen ist die
Hauptsache Stimmung oder Gedanke; die Wirklichkeit, welche sie darum
doch wahr genug erfassen, ist ihnen lediglich der Stoff zur Entwicklung
von beidem. Wenn nicht das lyrische Moment vorwiegt, so ist es das
Problem, welches sie durchzuführen suchen.

Endlich könnten wir eine ~vierte~ Gruppe bilden aus denjenigen
Erzählungen, welchen gleichfalls (wie der Gruppe +I+) die
Tendenz fehlt, welchen ebenso wie der Gruppe +II+ die
Wirklichkeitsschilderung nicht der oberste Zweck ist, welche aber auch
nicht wie Gruppe +III+ Stimmung oder Problem an dem Stoff der
Wirklichkeit sich entfalten lassen, sondern einfach durch die äußere
Verknüpfung von Ereignissen mit mehr oder minder energischer Benützung
des Psychologischen zu wirken suchen. Hierher gehört auch der normale
Unterhaltungsroman.

Gemessen an der großen Aufgabe des Romans, ein Weltbild zu geben,
haben die Erscheinungen dieser Gruppen nicht alle gleichen Wert. Die
~letzte~ hat jedenfalls den geringsten; denn je mehr sie sich
auf das äußere Geschehen konzentriert, um so mehr verzichtet sie auf
Tiefe des Gedankens, ja Tiefe des Blicks. Sie kann einzelne feine
Bemerkungen ermöglichen; sie kann das Gemüt ein wenig affizieren;
sie kann die Nerven spannen. Aber diese Gruppe mit ihren zahlreichen
Schöpfungen entbehrt des tieferen Gehalts. Was könnte daran zum
Nachdenken anregen? Was unseren Blick für die Zustände der Welt
schärfen? Was unseren Gesichtskreis erweitern? Eins nur kann diese
Art Romane: unterhalten. Im besten Fall ist diese Unterhaltung
anregend, im schlimmsten aufregend. Wer hat nicht einmal eine Stunde,
in welcher er nichts will als eben nur unterhalten werden? Aber es
scheint Menschen zu geben, welche den Roman zu nichts anderem als zum
Unterhaltungsmittel gebrauchen. Ja, ich gestehe, daß in mir schon oft
der furchtbare Verdacht aufgestiegen ist, daß weitaus die meisten
Romanleser ihn so und nicht anders benützen. Da kann es dann kommen,
daß Herr Soundso in die Leihbibliothek schickt und um irgend ein Buch
bitten läßt; -- ~welches~ Buch ihm geschickt wird, ist ihm ganz
gleich. Diese Art Romane sind Schiffen mit ganz geringem Tiefgang zu
vergleichen, Schiffen, die eben darum an jeder Küste anlegen können,
-- aber für die Fahrt aufs hohe Meer sind sie völlig unbrauchbar.
Wer sich selber zum flachen, sandigen Strand machen will, der lasse
diese Schiffe ohne Tiefgang kommen! Der meide die Gedankenanstrengung
bei tieferer Lektüre! Der erkläre nur, daß er Romane nicht liest, um
denken zu müssen! Der genieße die Zeitungsromane von Fortsetzung zu
Fortsetzung! (Übrigens bieten manche Zeitungen, wie besonders die
»Tägliche Rundschau«, meist ~nicht~ derartigen, sondern besseren
Stoff.)

Wie steht es nun aber um die drei anderen Gruppen und um ihr
Verhältnis zur Aufgabe des Romans? Unfraglich entspricht ihr
am klarsten die ~zweite~ Gruppe: Wirklichkeitsbild ohne
Nebenabsichten. Wir freuen uns, daß diese Gruppe im deutschen Roman
des neunzehnten Jahrhunderts so stark vertreten ist. Allerdings ist
gleichzeitig zu bemerken, daß gerade in dieser Gruppe sich die starke
Neigung zu Übertreibungen herausgebildet hat. Wir müssen verlangen,
daß man uns als Wirklichkeit nicht bloß die Welt der Lebemänner, nicht
bloß das Leben mit überreizten Nerven schildert. Wir müssen erwarten,
daß man nicht bloß das Abstoßende und Ungesunde hervorzieht. Die
Welt zu abscheulich zu malen, ist ein genau so großer Fehler wie
der, sie zu licht zu malen. Das neunzehnte Jahrhundert hat hier die
Aufgabe richtig erkannt, auch vielfach richtig angefaßt, aber es hat
hier nicht die Extreme zu vermeiden gewußt. Die Losung »Naturalismus«
mag getrost bleiben! Aber man vergesse nicht, daß »Naturalismus« von
»Natur« herkommt!

Es bleiben die ~erste~ und die ~dritte~ Gruppe. Die erste
kommt der eigentlichen Aufgabe des Romans vielfach ganz nahe. Es
ist, von dieser Aufgabe aus betrachtet, durchaus ~nichts~
gegen die Geltendmachung einer bestimmten ~Tendenz~ gegenüber
der geschilderten Zeit einzuwenden. Warum soll der Dichter nicht
gleichzeitig zeichnen und das Gezeichnete beurteilen? Er verändert
damit seine Aufgabe nicht; er fügt nur noch hinzu, was gleichfalls
wertvoll sein kann: sein Urteil, seine Kritik. Erst dann beginnen
die Schöpfungen dieser Romangruppe minder wertvoll zu werden, wenn
unter der Tendenz die klare Erfassung der Wirklichkeit gelitten hat.
Das ~kann~ auch den Dichtern passieren, die nichts wollen als
die Welt zeichnen, wie sie ist. Ist doch jeder in der Gefahr, die
Dinge allzusehr durch die eigene Brille zu sehen. Aber noch mehr in
dieser Gefahr ist derjenige, welcher nur zeichnet, um seine Ansichten
und Absichten klarzulegen. Solange im Tendenzroman die Zeit, die
Wirklichkeit stärker ist als die Tendenz, so lange steht er auf der
Höhe seiner Aufgabe. Er irrt erst dann ab, wenn die Tendenz stärker
wird als die Wirklichkeit.

Weniger als Gruppe +I+ und +II+ scheint Gruppe +III+ der von uns
festgestellten Aufgabe des Romans zu entsprechen. Wo die lyrische
Stimmung das beherrschende Element ist, kann ein Weltbild in scharfen
Umrissen viel schwerer erwachsen. Dennoch ist es auch hier möglich;
das zeigt besonders die wunderbare Vereinigung klarster Realistik
mit feinster dichterischer Stimmung, welche Rosegger z. B. in den
»Schriften des Waldschulmeisters« bietet. Das zeigt aber auch ein Werk
wie Raabes »Hungerpastor«. Hat man doch dies Buch geradezu unter die
Zahl der Zeitromane einreihen können! Weniger eng ist die Beziehung
zur wirklichen Welt natürlich da, wo die lyrische Stimmung noch
stärker herrschend wird, wie bei Storm oder in Raabes »Chronik der
Sperlingsgasse«. Aber wer wäre so engherzig, diesen Dichtungen darum,
weil sie vom eigentlichen Romancharakter abweichen, das Existenzrecht
abzusprechen? Auch sie geben Wirklichkeit; auch sie zeichnen Menschen,
wie sie sind. Vielleicht nur mit wenigen Strichen, vielleicht mehr
mit Licht und Schatten als in scharfem Umriß, vielleicht nur in
einzelnen Situationen. Aber sie zeichnen sie: die Stimmungswelt ist
auch wirkliche Welt! Wenn der Stimmungsdichter nur Realist bleibt,
dann hat er sein heiliges Recht. Ja, dann ist er eine notwendige
Ergänzung der nüchternen und kühlen Realisten mit ihrer Genauigkeit und
Gründlichkeit. Kann denn nicht manches Mal ein einziger Strich, der dem
Bilde die rechte Stimmung gibt, viel wirksamer sein, als die Ansammlung
von hundert Einzelheiten?

Noch weniger ist zu leugnen, daß der ~Problem~roman innerhalb
der Aufgabe des Romans bleibt. Er will ja Fragen des wirklichen
Lebens aufwerfen und beantworten! Er geht weniger in die Breite
als in die Tiefe, -- in die Tiefe der seelischen Rätsel, in die
Tiefe der gesellschaftlichen Fragen. Gewiß, ihm ist der Stoff nur
Mittel zum Zweck; die Hauptsache ist ihm der Gedanke. Aber so wenig
im Tendenzroman die Tendenz notwendig die Wirklichkeitserfassung
hindern muß, so wenig im Problemroman das Problem. Im Gegenteil:
erst das ist der rechte Problemroman, der seine Fragen ganz aus der
Wirklichkeit herauswachsen läßt. Es gibt manchen Problemroman mit
recht oberflächlichen Problemen; aber das soll uns nicht hindern,
anzuerkennen, daß gerade der Problemroman eine außerordentlich
wertvolle Methode bedeutet, die Weltvorgänge in ihren tiefsten Gründen
anzusehen und darzustellen.

~Das Gesetz der Wirklichkeit regiert also tatsächlich überall im
deutschen Roman des 19. Jahrhunderts, in allen seinen wichtigeren
Erscheinungen.~ Verschiedene Methoden seiner Befolgung sind
eingeschlagen worden; aber das Gesetz selbst ist in Geltung geblieben.
Und gegenüber denjenigen Richtungen, welche dieses Gesetz wissentlich
oder unwissentlich ignorieren, haben wir einfach sein geheiligtes und
anerkanntes Recht geltend zu machen.

Schwieriger ists für unsere Zeit, die Grenzen in der Befolgung
dieses Gesetzes festzulegen und festzuhalten. Die Auswüchse des
Naturalismus wie die Dekadencedichtung übertreiben. Sie bevorzugen
einseitig einige wenige Gebiete der Wirklichkeit; und sie wählen
gerade diejenigen, wo die gesunde Natur sich vergebens suchen läßt.
Ihnen gegenüber fordern wir, daß die Totalität der Wirklichkeit zur
Geltung komme. Wir fordern auch, daß, ohne daß das Vorhandensein von
Krankheitszuständen ignoriert werde, der Standpunkt, von dem aus
geschildert wird, derjenige der Gesundheit sei. Wir erwarten nichts
von dem differenzierten, nervös gewordenen Naturalismus. Aber wir
erwarten alles von einem im gesunden Volksempfinden, in der echten
Natur wurzelnden Realismus.

Ich brauche nicht mehr auszuführen, daß das 19. Jahrhundert auch
in der ~Form~ des Romans uns kräftig vorwärts gebracht
hat. Was Goethes »Wahlverwandtschaften« zuerst versuchten, die
Ineinandersetzung von Gedanke und Handlung -- das ist zwar längst
nicht überall zur Durchführung gekommen, aber es ist leitendes Motiv
geblieben. Man verabscheut mehr und mehr die Darlegung von Gedanken
ohne Handlung, wie noch Gutzkow sie liebte, man empfindet jene
spannenden Handlungsromane ohne Gedanken, so sehr sie noch heute
wuchern, als minderwertig. Man hat in vielen Romanen Spielhagens, dazu
in solchen von Kretzer, in »Frau Sorge« und in anderen Vorbilder in
der formellen Gestaltung. Und ob immer wieder das Erworbene in Frage
gestellt wird, das Ziel ist gesteckt und darf nicht vergessen werden.

Eins aber muß zum Schluß nochmals gesagt werden: es wird alles darauf
ankommen, daß in der deutschen Lesewelt der Sinn für den wertvollen
Roman geweckt und, wo er lebendig ist, gepflegt werde. Jedes Volk
hat schließlich den Roman, den es verdient. Seien wir anspruchsvoll!
Lehnen wir alles ab, was uns nicht fördert, ohne Rücksicht auf Person
und Tendenz! Dann wird des Seichten weniger werden und ~die~
Dichter werden mehr Raum und mehr Mut gewinnen, die in sich die Kraft
fühlen, dem deutschen Volk wirklich etwas zu sagen. Verlangen wir viel
vom Roman, so wird er uns viel geben!

                            [Illustration]




                              Register.


(Die ~ausführlich~ besprochenen Werke sind unter dem Autornamen
bei den entsprechenden Seitenzahlen in Klammern besonders aufgeführt.)

  Alexis, Wilibald 123 ff. (Roland von Berlin). 126. 127. 129. 134.

  Anzengruber, Ludwig 171. 172 ff. (Sternsteinhof). 179.

  Arnim, Achim von 51. 121 ff. (Kronenwächter).

  Auerbach, Berthold 55. 62 ff. (Schwarzwälder Dorfgeschichten).
  76. 225.


  Beyerlein, Franz Adam 219 f.

  Bierbaum, Otto Julius 213. 220.

  Bilse 219.

  Björnson 190.

  Bölsche, Wilhelm 216 f. (Mittagsgöttin).

  Börne, Ludwig 34.

  Brentano 35.


  Cantz, Elisabeth 78.


  Dahn, Felix 139 ff. (Kampf um Rom).

  Dehmel, Richard 218.


  Ebers, Georg 139. 141. 142.

  Ebner-Eschenbach, Marie v. 195 (Gemeindekind). 196 f. (Unsühnbar).

  Eckstein, Ernst 142.

  Eichendorff, Joseph Frhr. v. 35. 39 ff. (Leben eines Taugenichts).
  45. 46. 165. 218.

  Eilhart von Oberge 11.


  Fischart, Johann 12.

  Floris und Blancheflur 6. 11.

  Fontane, Theodor 115 ff. 117 ff. (Stechlin). 135. 138. 188. 201.
  202 ff. (Effi Briest). 223. 225.

  Freiligrath, Ferdinand 75.

  Frenssen, Gustav 208 ff. (Jörn Uhl). 210. 221.

  Frenzel, Karl 138.

  Freytag, Gustav 108 ff. (Soll und Haben). 114. 127. 131 ff.
  (Die Ahnen). 144. 155. 189. 225.


  Goethe 15. 16 ff. (Werther). 19 ff. (Wilhelm Meister). 24 ff.
  (Wahlverwandtschaften). 27 ff. 32. 45. 52. 75. 143. 189. 224. 230.

  Gottfried von Straßburg 11.

  Gotthelf, Jeremias 55. 58 ff. (Bauernspiegel). 65. 66. 69. 71. 168.
  169. 225.

  Grimmelshausen 12.

  Gutzkow, Karl 76. 77. 78. 79 ff. (Ritter vom Geist). 86. 87. 98.
  112. 138. 144. 230.


  Hamerling, Robert 142.

  Hauenschild, Spiller von 78.

  Hauff, Wilhelm 51. 122.

  Herwegh 75.

  Heyse, Paul 78. 92 ff. (Kinder der Welt). 154. 155. 190. 197 ff.
 (Novellen). 221.

  Hoffmann, Th. Amadeus 45. 46 ff. (Elixiere des Teufels). 143. 165.

  Holz, Arno 183.


  Ibsen 190.

  Jean Paul 32 ff. 143. 144.

  Immermann 55 ff. (Oberhof). 65. 67. 69. 71. 74. 76. 144. 168. 225.

  Jordan, Wilhelm 190.


  Keller, Gottfried 99 ff. (Grüner Heinrich). 105 ff. (Leute von
  Seldwyla). 112. 189. 221. 225.

  Kleist, Heinrich v. 35. 48 ff. (Michael Kohlhaas).

  Kretzer, Max 175 ff. (Meister Timpe). 178 f. 182. 214 ff.
  (Gesicht Christi). 223. 231.


  Laube, Heinrich 76. 138.

  Ludwig, Otto 55. 69 ff. (Heiterethei). 72.


  Mann, Thomas 222 ff. (Buddenbrooks).

  Meinhold, Wilhelm 131.

  Meyer, Conr. Ferd. 136 ff.

  Motte-Fouqué, F. de la 35.


  Novalis 32. 35. 36 ff. (Heinrich von Ofterdingen). 45. 46. 51. 53.
  165. 218.


  Pantenius, Theod. Hermann 115.

  Parzival 11.

  Polenz, Wilhelm v. 179 ff. (Pfarrer von Breitendorf).

  Prutz, Robert 78.


  Raabe, Wilhelm 136. 144 ff. (Chronik der Sperlingsgasse). 149 ff.
  (Hungerpastor). 155. 161. 162. 165. 229.

  Rabelais 12.

  Reuter, Fritz 55. 69. 71 ff. (Stromtid). 74. 171.

  Riehl, Wilh. 127. 130 f. (Kulturgesch. Novellen). 134.

  Robinson Krusoe 13.

  Rosegger, Peter 144. 162 ff. (Schriften des Waldschulmeisters).
  165. 170. 171. 179. 191 ff. (Gottsucher). 214. 229.

  Rousseau 30.

  Ruodlieb 10.


  Scheffel, J. Viktor v. 127. 128 ff. (Ekkehard). 134.

  Schlaf, Johannes 183 ff. (Novellen). 211. 220.

  Schlegel, Friedrich v. 32. 35. 42 ff. (Lucinde). 46.

  Schleiermacher 43.

  Sohnrey, Heinrich 170.

  Sperl, August 220.

  Spielhagen, Friedrich 78. 79. 85 ff. (Problematische Naturen). 91 ff.
  98. 112. 114 f. (Sturmflut). 144. 225. 231.

  Stifter, Adalbert 162.

  Storm, Theodor 144. 155 ff. (Novellen). 162. 165. 166. 169.
  197 ff. 229.

  Sudermann, Hermann 205. 206 ff. (Frau Sorge). 208.

  Suttner, Bertha v. 190.


  Tieck, Ludwig 35. 122.

  Tolstoi 168. 190.

  Tovote, Heinz 186. 212 f. (Ich). 220.

  Tristan und Isolde 6. 11.


  Volksbücher 11.


  Wickram, Jörg 12.

  Widmann, A. 78.

  Wieland 13 ff. 27.

  Wildenbruch, Ernst v. 203 f.


  Zola, Emil 168. 190. 222. 223.




                            [Illustration

                    Buch- und Kunstdruckerei von

                    Hoffmann & Reiber in Görlitz]





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER DEUTSCHE ROMAN SEIT GOETHE ***


    

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or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
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Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
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