Ruth : Erzählung

By Lou Andreas-Salomé

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Title: Ruth
        Erzählung

Author: Lou Andreas-Salomé

Release date: January 30, 2025 [eBook #75251]

Language: German

Original publication: Stuttgart: Cotta'sche Buchhandlung, 1897

Credits: Peter Becker, Hans Theyer, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK RUTH ***



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Anmerkungen zur Transkription:

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion
des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler
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                                 Ruth.


                               Erzählung

                                  von

                          Lou Andreas-Salomé.


                            Zweite Auflage.


                            [Illustration]


                            Stuttgart 1897.

         Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger.




                       Alle Rechte vorbehalten.


      Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.




                            Muschka

                                                    gewidmet.




                                  I.


In der Morgenstille war nichts vernehmbar als das helle, langgezogene
Trillern der kleinen Buchfinken im jungen Birkenlaub. Die breite,
ungepflasterte Straße, die sich, nicht weit von der russischen
Hauptstadt, in der Richtung der finnländischen Bahnlinie ins flache
Land erstreckte, lag einsam im Frühnebel da. Dann holperte ein
Leiterwagen, mit einigen Möbelstücken bepackt, schwerfällig des Weges;
der Fuhrmann kletterte von seinem Sitz, warf den kurzen Schafspelz von
den Schultern, und, im roten Hemde neben seinen beiden magern Gäulen
hergehend, stimmte er eine Volksweise an, die schwermütig in den
Vogelgesang hineinklang.

Hinter den Birken tauchte hie und da ein Landhaus auf, meist ein
Holzbau, mit geflossenen Fensterläden und bretterverschlagener
Balkonthür; oder es schimmerte ein Garten hervor, in dem man eifrig
beschäftigt war, das Winterlaub zusammenzukehren und die Beete für
den Sommer in stand zu setzen. Aber erst nach Beginn der städtischen
Schulferien wurde es in dieser Gegend lebendig.

Der Möbelwagen hielt vor einem Hause, das ganz abseits, weit entfernt
von jeder Nachbarschaft, zwischen niedrigem Weidengebüsch und etwas
feuchtem Wiesengrund lag. Es war nicht sonderlich groß, besaß aber
den schönsten Garten von allen. Die Frühlingsbäume, die es umstanden,
breiteten einen zarten, bräunlichen Schleier darüber, und rings über
den verwitterten Lattenzaun drängte sich der Flieder in hellgrünen
Blattknospen.

»Die Pforte von außen aufstoßen!« schrie eine vergnügte Stimme in
gebrochenem Russisch dem Fuhrmann entgegen, und gleich darauf kam ein
halbwüchsiger Knabe durch den Garten gelaufen. Langsam bewegte der
Wagen sich über den Kiesweg bis hinter das Haus, wo einige Stufen zur
offenen Terrasse mit der Eingangsthür emporführten.

Eine ältliche Magd, mit einer sonderbaren Friesenhaube auf dem Kopf,
wartete schon unten, griff kräftig mit an und ließ die abgeladenen
Möbelstücke in dem Wohnzimmer niedersetzen, das mit seinem breiten
Fenster auf die Terrasse hinaussah. Im Wohnzimmer stand die Thür zu
einem kleinem Nebengemach auf, das bereits vollständig eingerichtet zu
sein schien. Von den Sachen, die man, beim Auszug aus der Stadtwohnung,
im gemieteten Landhause vorrätig gefunden hatte, war offenbar alles
Beste und Bequemste hier zusammengetragen worden, um Ordnung und
Gemütlichkeit zu schaffen.

An der Thür, auf einem deckenumhangenen Ruhebett, lag eine bleiche,
nicht mehr junge Frau, deren feine Gesichtszüge jedoch Spuren
ungewöhnlicher einstiger Schönheit zeigten. Unter halbgesenkten
Augenlidern folgte sie aufmerksam jeder Bewegung der Kommenden und
Gehenden.

Da vernahm sie von der Terrasse her eine Stimme, bei der ein Lächeln
durch die großen blauen Augen ging.

»Erik!« rief sie bittend, »komm doch her zu mir. Komm doch her.«

Er stand vor dem Terrassenfenster, in dunkler Morgenjoppe, die Hände in
deren Seitentaschen versenkt, zwischen den Zähnen eine Zigarette. Auf
den Zuruf seiner Frau wandte er sich um und ging über den Flur in das
Zimmer.

Ihr schien immer: ein Strom von Leben käme mit ihm, wenn er so zu ihr
trat.

»Nun, Bel,« sagte er heiter, »du sollst sehen, jetzt bricht die
Sonne durch den Nebel, und dann trage ich dich in den Garten hinaus.
Deinen großen Liegestuhl haben wir schon dort hinten am Springbrunnen
aufgestellt.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe keine Ruhe draußen, solange hier alles noch in solcher
Verwirrung ist. Wie mag es nur in deinen Zimmern aussehen, Erik?
Seitdem wir gestern herkamen, habt ihr nur für mich gesorgt. Ach, weißt
du, das ist das Schlimmste: im ganzen Leben wird nichts mehr recht
ordentlich werden. Alles wird herumliegen.«

»Aber, Bel!« versetzte er spottend, »welchen Sinn hätte es auch sonst,
aufzuräumen? Was sind das für Sorgen und Schmerzen!«

Doch Klare-Bel stimmte in den scherzenden Ton nicht mit ein, sondern
sah betrübt vor sich hin. Da fügte er ungeduldig hinzu: »Damit mußt du
dich ernstlich abfinden. Nicht immer wieder davon anfangen. Sicherlich
bist du dazu geschaffen, als die peinlichste aller Hausfrauen hinter
der blitzendsten aller Theemaschinen zu sitzen, und mußt nun statt
dessen, jahraus, jahrein, daliegen und es unthätig mit ansehen, wie
deine beiden männlichen Hausfrauen, Jonas und ich, es sorglos treiben.
Das ist schwer, ich weiß. Es ist schwer, sein Talent zu unterdrücken.
Aber es kann dir nicht erspart werden, du mußt es endlich überwinden.«

»Jonas könnte mir darin fast wie eine Tochter sein, Erik, wenn du nur
wolltest.«

»Daß er wie eine Tochter ist? Nein, natürlich will ich das nicht. Wie
kannst du nur solchen Unsinn sagen, Bel.«

»Es ist kein Unsinn, Erik. Du bist so streng gegen ihn, und daher ist
er gegen dich oft schüchtern, geht nicht recht aus sich heraus. Aber
mir zu dienen macht ihm Freude, -- auch in den häuslichen Dingen.
Kannst du mir diese Freude nicht lassen?«

»Nein,« sagte er kurz, »nicht so, wie du es meinst. Ich wünsche nicht,
daß er verweiblicht wird. An mir ist es, dir zu dienen --«

Er brach ab, weil die Magd hereintrat; sie wollte den Fuhrmann
ablohnen.

Erik legte Geld auf den Tisch, der, noch staubig, in die Mitte der
Stube gesetzt worden war.

»Dies ist das Trinkgeld, Gonne. Nein, es ist nichts darauf
herauszugeben. Wenig genug für viel Arbeit.«

Als sie hinausgegangen war, blickte er mit einem unterdrückten Lächeln
in den Geldbeutel und dann zu seiner Frau hinüber.

»Wir haben entsetzlich viel Geld, Bel. Natürlich. Wer sollte es uns
auch in diesem Winkel abnehmen. Nicht wahr?«

»Ach, Erik, das kann doch gar nicht sein. In diesem ›Winkel‹ haben
wir uns eins der teuersten Landhäuser ausgesucht. Ich habe ja nichts
dagegen zu sagen gewagt. Aber wenn du wüßtest, wie es mich im stillen
drückt. Denn du bist es ja, der seine ganze Kraft aufwenden muß, um das
viele Geld zu verdienen.«

»Meine ganze Kraft aufwenden!« wiederholte er langsam, »wie schade
ist es doch, Bel, daß es nicht wahr ist. Ich glaube fast, das wäre so
schön, daß ich's sogar umsonst thäte! Es dürfte dann freilich nicht
bei den paar armseligen Schulstunden bleiben. -- Nein, du, in diesem
heiligen Lande vergesse ich bald, daß ich überhaupt Kraft anzuwenden
~habe~. Und da wollen wir uns doch wenigstens des Lebens freuen, wenn
-- ich Geld habe. Sind wir nicht ganz eigens dazu vor einem halben Jahr
hierher gepilgert?«

Sie hörte nicht die Ironie aus seinem Ton heraus.

»Nun ja, Erik, es ist nur gut, daß dir immer alles zu leicht und zu
wenig scheint,« sagte sie, »du hast eine solche merkwürdige Frische.
Aber ich wüßte doch wahrhaftig nicht, wo du beim besten Willen noch
mehr Schulstunden hineinstopfen könntest?«

Ein Zug von Pein ging über sein Gesicht. Er antwortete nicht, sondern
kehrte sich ab und lehnte sich in das breite Fenster des Wohnzimmers.
Jonas war aus dem Garten hereingekommen, blieb neben dem Vater stehen
und blickte hinaus.

Draußen kämpfte der letzte Nebel gegen die Maisonne; man konnte in der
Tiefe des Gartens einzelne Obstbaumgruppen unterscheiden, in deren
Mitte ein zusammengebrochener Springbrunnen stand. Im Hintergrunde
schloß ein kleines Gehölz von Birken, Pappeln und Weiden, an denen noch
die Kätzchen niederhingen, die Aussicht ab. Näher zum Hause streckten
ein paar mächtige Ulmen ihre Zweige bis über das Dach.

Süß und laut schlug den beiden am Fenster die erste Nachtigall des
Jahres entgegen. Einen Augenblick lauschten sie stumm.

Wie die Gesichter von Vater und Sohn einander so nahe gerückt waren,
fiel die Aehnlichkeit zwischen ihnen auf; sie trat noch stärker
dadurch hervor, daß Erik sich bartlos trug. Derselbe blonde Kopf,
breit ausgebaut in Stirn und Schädelform, dieselbe ein wenig stumpf
abschließende Nase und derselbe große, im Sprechen und Lachen sehr
ausdrucksfähige Mund. Aber diese ein wenig groben Züge bedurften
sichtlich mancher Jahrzehnte, um durchgeistigt und fesselnd zu wirken.
Eriks Züge waren beredt geworden in all jenen feinen Linien und
Schatten, die ihnen erst seelischen Reiz verliehen, als die Jugend
von ihm ging. Jonas dagegen besaß noch ein frisches Apfelgesicht, das
in seiner vollendeten Harmlosigkeit ihn oft minder geweckt erscheinen
ließ, als er wirklich war. Schön konnte man an ihm nur die großen
Blauaugen der Mutter finden, und deren blendende Haut, die nur das
Krankenlager an ihr entfärbt hatte.

Klare-Bel lag still und blickte auf ihre beiden liebsten Menschen. In
ihren Gedanken sah sie Jonas schon herangereift zu der hochgewachsenen
Gestalt ihres Mannes; sie glaubte im Knaben ihn wiederzuerkennen, so
wie er damals war, als sie ihn kennen lernte und er um sie warb. Es
war ja auch gar keine so bedeutende Anzahl von Jahren, die ihn damals
von Jonas' Alter unterschied -- einundzwanzig Jahre zählte Erik erst,
als sein Knabe ihm geboren wurde. Sie fühlte jedesmal eine kleine
Regung von Stolz, wenn sie daran dachte. Hatte er sich doch toll
genug in sie verliebt, um sie, mitten in seiner leichtlebigen Pariser
Studentenzeit, frischweg vom Fleck zu heiraten! Er, der begabte,
ehrgeizige, früh weltmännisch geschulte Mann band sich an sie, das
einfache Kinderfräulein, das nur der Glücksfall einer günstigen
Stellung aus ihrer kleinen holländischen Vaterstadt Haarlem in die
vornehmen Gesellschaftskreise von Paris geführt hatte. Die fremden
Kinder an der Hand, hatte sie bewundernd in den Salon gelugt, in dem
er verkehrte. Später gingen sie von Paris nach Deutschland und nach
England und lebten ein paar Jahre von dem ganz geringen Vermögen, das
schnell verbraucht war. Eriks Studien waren breit angelegt gewesen,
sie sollten Geistes- und Naturwissenschaften gleichmäßig umfassen,
aber als Jonas zwei Jahre alt wurde, da galt es, sich mit eisernem
Fleiß zu konzentrieren und abzuschließen, um Brot zu erwerben. Eine
kleine Lehrstelle bot sich ihm, ganz aus der Welt, weit draußen im
Meer, auf einer friesischen Insel. Klare-Bel freute sich im Grunde,
daß ihre verrückte, glückliche Studentenehe in so stille, geordnete
Verhältnisse mündete, aber für Erik that es ihr leid. Denn erstens
war er sicherlich zu viel Größerem berufen, als zu diesem abhängigen
Stillleben für Weib und Kind, und dann konnte sie ihn sich auch gar
nicht anders vorstellen, als im ungeheuren Rahmen einer Weltstadt und
im vollen Verkehr mit einer gebildeten, raffinierten Gesellschaft, die
ihn fortriß, und die er fortriß. Wie sie ihn zuerst unter den einfachen
Menschen des Volkes dastehen sah, kam er ihr vor wie ein verzauberter
Prinz. Aber sie kannte ihn und zweifelte nicht: irgendwie werde er auch
schon die Leute verzaubern, bis sie seinen prinzlichen Ansprüchen
besser entsprächen.

Zu ihrer Verwunderung kam es jedoch ganz anders. Erik lehrte niemand
seine Art, wohl aber nahm er die der Leute an. Bald sah man ihn
ebenso oft im Schifferwams und in Lederhosen, wie in seiner frühern
Kleidung. Seine Umgebung färbte so stark auf ihn ab, daß er geradezu
echt in der Farbe erschien. Aber die Folge war, daß er seine Umgebung
beherrschte. Er gab sich nicht, wie Bel gefürchtet, Grübeleien über
seine weitausschauenden, ehrgeizigen Wünsche hin, vielleicht war er
eine zu aktive Natur dazu.

Was es nur gab, raffte er zusammen, um sich in der Gegenwart voll zu
bethätigen, und an die Zukunft, -- an die glaubte er so fest, wie ein
Kind an Gott.

Klare-Bel richtete sich ein wenig höher auf in ihren Kissen und stützte
den Kopf in die Hand. Weiter als bis hierher dachte sie niemals.

Ein Glanz froher Erinnerung lag auf ihrem Gesicht, der es verjüngte.
Die kunstvoll geordneten Locken, die, statt jeder festen Frisur,
dies Gesicht umrahmten, trugen noch dieselbe wunderhübsche Goldfarbe
wie damals. Nur am Hinterkopf waren sie durch das lange Liegen dünn
geworden, ja, dort hatte sich sogar eine ganz kleine, verheimlichte
Glatze gebildet.

»Jetzt müssen wir in die Schule wandern, Jonas,« bemerkte Erik und
wandte sich vom Fenster.

»Gehst du heute zu den Mädchen, Papa?« fragte der interessiert.

»Ja. Aber deshalb brauchst du mich nicht wieder am Thorweg der
Mädchenschule abzuwarten und dort herumzulungern,« versetzte Erik
mit einem Seitenblick, der Jonas verlegen machte. Ohne ein Wort zu
erwidern, trollte dieser sich aus der Stube.

»Jonas fängt früh an! Er artet dir nach, Erik!« sagte Klare-Bel
lächelnd, und als stände es mit ihren Worten in irgend einer
Gedankenverbindung, griff sie zwischen allerlei Sachen, die auf einem
niedrigen Tischchen neben ihrem Ruhebett standen, einen geöffneten
Brief heraus. »Hier liegt noch die Einladung. Wenn du wirklich absagen
willst, vergiß es nicht heute in der Stadt, oder gehst du persönlich
vor?«

Er streckte die Hand nach dem Brief aus und überflog ihn flüchtig. Es
war eine kurze Einladung, unterschrieben: Warwara Michailowna. Erik
kniff das Papier zerstreut in kleine Falten und warf es auf den Tisch.

»Ich möchte dich wohl was fragen, Erik.«

»Ja, Bel?«

»Sage mir: gehst du vielleicht nur deshalb nicht mehr in diesen ganzen
Kreis, weil sie dir gefährlich geworden ist?«

Er fing an zu lachen.

»Nein, Bel, darüber kannst du ruhig sein.«

»Aber hat sie dich nicht doch einen Augenblick recht stark gefesselt?«

»Das hat sie wohl. Das gelingt doch wohl jeder so reizenden koketten
Frau.«

»Junge Witwen hält man immer für kokett. Von Warwara würde ich es nicht
denken. Glaubst du das von ihr?«

Er sah seine Frau verwundert an.

»Ja, natürlich. Alle schönen Frauen sind es. Auch ist ihr nicht der
geringste Vorwurf daraus zu machen. Das gehört zu ihnen, wie die
Schönheit. Das Gegenteil wäre fast stilwidrig. -- Und es ist gut,
-- vielleicht ein Grund, warum die Schönheit keinen tiefern Schaden
anstiftet. Adieu, Bel: es ist Zeit für uns zum Bahnhof.«

Sie hielt ihm das Gesicht zum Kusse hin. Wie er sich aber zu ihr
niederbeugte, umfing sie seinen Hals mit beiden Händen und hielt ihn
einen Augenblick, zu ihm aufschauend, fest.

Er hielt geduldig still.

»Du!« sagte sie lachenden Mundes, ließ sich küssen, und ließ ihn los.

Erik und Jonas waren schon fortgegangen, und Gonne räumte eifrig und
geräuschvoll in den Stuben auf, als Klare-Bel noch über das letzte
Gespräch nachsann. Sie war wahrhaftig nicht grüblerisch und versonnen
angelegt; alles andre eher. Aber wenn man ewig so stillliegen mußte,
immer auf dem Rücken, und die Augen an der geweißten Zimmerdecke, so
geriet man zuletzt auf alles mögliche, und auch auf das Nachdenken. An
sich selbst dachte nun Klare-Bel eigentlich nie, stets nur indirekt.
Sie kannte im Grunde nur drei ernstliche, sozusagen hauptsächliche
Gedanken, die Sammlung heischten: Erik, Jonas, und die gefürchtete
Unordnung im Haushalt. Aber es war merkwürdig, wie viel man aus den
dreien machen konnte, wenn man sie geschickt kombinierte. Man hätte
meinen können, es seien tausend.

Erik hatte vorhin also gesagt: die Schönheit stifte keinen tiefern
Schaden an. Ja, das war gewiß ein rechtes Glück. Denn Erik war sehr
empfänglich für die Schönheit. Schon, als sie noch gesund herumging,
beunruhigte es sie. Sie selbst war glücklicherweise sehr schön, aber
sie war blond, und ihr schien es, als ob die Braunen ihn ebenfalls
interessierten. Gewiß hatte er sich ungezähltemal etwas verliebt. Aber
nur ein einziges Mal erschrak sie, -- schrak förmlich auf aus aller
bisherigen Freude. Während des zweiten Jahres auf der Insel. Da fing er
an, sie so viel allein zu lassen; manchmal war es ihr, als ob sie ihm
nicht mehr wie sonst genüge. Er wurde auch wortkarger. Und endlich --
ja endlich that sie dann, was er nie im Leben erfahren durfte: sie ging
ihm heimlich nach.

An einem weichen, dunkeln Aprilabend war's. Das Meer lag regungslos,
und am Himmel stand das erste Frühlingsgewitter. Sie sah ihn aus einem
kleinen Hause, hart an der Düne, heraustreten und an ihr vorbei, in
Gedanken verloren, heimgehen. In dem Häuschen wohnte die merkwürdigste
Frau auf der ganzen Insel. Bei allen stand sie in hohem Ansehen, wegen
ihres Verstandes, wegen ihrer Haltung in schweren und wechselvollen
Schicksalen, wegen eines seltenen Schatzes von Weisheit und Erfahrung,
aus dessen Fülle sie schöpfte, wenn ein feiner, liebevoller
Menschenkenner sie zum Sprechen brachte.

Es war Frau Larsen, eine lahme, sechzigjährige Frau.

Seit diesem Abend hegte Klare-Bel ein unbegrenztes Vertrauen zu ihrem
Mann. --

Erik verbrachte die ersten Morgenstunden mit Jonas in dessen Gymnasium;
gegen Mittag begab er sich in die große Hauptschule für Mädchen, die
ziemlich entfernt lag.

Er war in eine vorüberfahrende Pferdebahn eingestiegen, und an einer
der letzten Haltestellen sprang ein Kollege zu ihm ein. Dieser sah
erhitzt aus, behielt nach der Begrüßung den Hut in den Händen und
fächelte sich mit dem Taschentuch.

»Wie geht es, Herr Matthieux?« fragte er Erik, hastig atmend, »hier in
der Stadt ist der Mai schon unerträglich, -- wirklich, -- wenigstens im
Gehen. Und dabei wagt man nicht, den Sommerüberzieher abzulegen; jeden
Augenblick erwartet man wieder von der Newa her einen eisigen Windstoß.
Ohne Uebergänge, ohne Normaltemperatur. Ein möderisches Klima.«

Er begleitete seine Worte mit so vielen Gestikulationen, daß man den
Eindruck empfing, er werde sich nie im Leben wieder abkühlen. Erik
betrachtete mit raschem Blick den ihm gegenübersitzenden, ungefähr
gleichaltrigen Mann, auf dessen entblößtes, bereits stark gelichtetes
Haupthaar die grelle Maisonne wie spöttisch von draußen hereinsah.

»Ob das meine Zukunft hier ist? -- der Mai unerträglich!« dachte er,
und sagte laut: »Ich muß gestehen, ich habe eine Schwäche für diesen
russischen Frühling. Er mag unartig sein, vielleicht launischer und
gefährlicher wie jeder andre, aber dafür ist er ein Wunder. Er zögert
so lange und kommt dann so unerwartet und so unwahrscheinlich schön,
daß man seinen Augen nicht traut.«

»Ja, ja. Wenn man Augen dafür behalten kann. Ich reise nach Schulschluß
immer nach Deutschland zurück und erhole mich von den russischen
Windstößen und Verhältnissen. Ich schreibe an einem Werk, -- immer in
den Ferien in Deutschland. ~Das~ ist meine Erholung. Da bleibt für den
Sommer wenig übrig. So geht es uns eben allen -- allen, die wir uns
geistig überarbeiten müssen.«

Erik schwieg einen Moment, dann erwiderte er, wie wenn er einen stummen
Gedanken beende, ruhig: »Ich weiß mich freilich nur sehr zum Teil als
›Geistesarbeiter‹.«

»Ach, Sie meinen doch nicht, weil Sie da drüben, -- weil Sie etwas
lange in ländlichen Verhältnissen --? aber ich bitte Sie, bei Ihrem
Wissen und Ihrer Begabung! Warum sollten Sie nicht auch noch ein Werk
schreiben?«

Erik lachte.

»Nein, so meinte ich es nicht. Nicht daß ich drüben vielleicht ein
wenig verbauert sein könnte. Nicht den Mangel an Büchern. Denn
wir -- der Lehrer vor allen Dingen, arbeitet doch vorwiegend mit
Menschenmaterial. Wir gehören schon einigermaßen außerhalb der
Gelehrtenstube, scheint mir. Mitten in das Leben hinein.«

»Hm!« machte der Kollege, »ich finde, an die Menschen kommt man
doch nur sehr oberflächlich heran. Es bleibt wirklich nur die
Schreibtischarbeit. Aber sagen Sie doch mal: man sprach davon, daß Sie
vor ein paar Monaten eine Reihe von Vorträgen haben eröffnen wollen?
Was war es damit?«

Eriks Augen verdunkelten sich.

»Nichts war es damit!« sagte er kurz, »man hat mir den Saal
verweigert.«

»Sehen Sie, -- sehen Sie! das kommt von Ihrer unbequemen Auffassung
des Lehrerberufs außerhalb der Arbeitsstube. Man fürchtet, daß Sie
ein wenig lebhaft werden könnten. Wir gehen hier ja eben alle mit
gebundenen Händen, -- Sie wissen's doch! Aber mit Einem sollten Sie
sich wirklich trösten: es ~gibt~ hier ja gar keine Menschen, unter
denen irgend etwas zünden und wirken kann. Es gibt nur das Volk, zu
dem wir weder sprechen dürfen noch können, -- und ein Publikum, das
sich amüsieren will.«

Er hatte sich in Eifer gesprochen. Erik antwortete nicht. Die
Pferdebahn hielt und beide stiegen aus.

»Nun haben Sie noch neue Stunden an der Mädchenschule übernommen!«
nahm sein Begleiter das Gespräch wieder auf, und wie er jetzt langsam
einherschritt und das Straßenpflaster durch seine Brille fixierte,
sah er ebenso schwerfällig und versonnen aus, wie vorhin hastig und
zerfahren, »ja, da möchte man Sie am liebsten für alles ausnutzen! Sie
hatten diese Klasse ja erst im Herbst anzutreten.«

»Es war aber Not am Mann. Auch wollte ich die Mädchen kennen lernen,
Fühlung gewinnen, ehe ich sie im Herbst ganz übernehme.«

»Nun, Sie werden es satt kriegen. Wissen Sie, dieses Geschlecht ist
entsetzlich! Und nicht das geringste Talent für Mathematik unter ihnen.
Auch nicht das geringste. Rechnen können sie alle nicht.«

»Gott sei Dank!« sagte Erik.

»Nein, nehmen Sie es nicht humoristisch. Als Mädchenlehrer verlernt man
das Lachen. Unmöglich gefallen Ihnen die Backfische in Ihrer Klasse?«

»Hübsche Mädels!« entfuhr es Erik beinahe; als er aber die fast
bekümmerte Miene seines Begleiters gewahrte, verschluckte er es noch
rechtzeitig und erwiderte nur: »Sie bringen doch Anregung, Abwechslung.
Sehen Sie, hier in meiner Lederrolle: ein ganzer Stoß Aufsatzhefte.
Das kurioseste Zeug. Sie gehen noch auf meinen Vorgänger zurück; ich
ließ sie mir nur geben, um mich zu orientieren. Auch habe ich eine
wirkliche Merkwürdigkeit darunter gefunden.«

»Da bin ich nicht neugierig!« versicherte der Kollege von der
Mathematik und kniff die Augen zu, »wahrhaftig nicht. Aber Sie sind ein
beneidenswerter Mensch. Von Ihrem Vorgänger weiß ich, daß diese blauen
Aufsatzhefte ihm bisweilen noch des Nachts Alpdrücken verursachten.«

»Das war nur gerechte Strafe!« meinte Erik lachend, während sie einen
hohen Thorbogen durchschritten und in das Schulgebäude eintraten,
»warum gab er auch Aufsatzthemata, wie zum Beispiel das letzte hier:
›Ueber das Glück‹. Arme Mädels, die da in schönem Deutsch beschreiben
sollen, was sie doch noch gar nicht genossen haben.«

Sie blieben vor dem breiten steinernen Treppenhaus stehen, das von der
Flurhalle zu den Klassen emporführte.

»Deutsch schreiben lernen könnten sie doch jedenfalls daran, und das
ist ja wohl der Zweck,« bemerkte der Kollege steif, denn die letzte
Bemerkung hatte ihm höchlich mißfallen, »Ihr Vorgänger hat gewiß an
kein Glück gedacht, zu dem man die Schule verlassen haben muß. -- Aber
hier trennen sich wohl unsre Wege. Ich meine: wörtlich.«

»Also auf Wiedersehen!«

»Wünsche beste ›Anregung‹.«

Erik stieg hinauf und ging durch den hohen Hallengang, an welchem
die Klassenzimmer lagen. Er öffnete eines derselben und blickte auf
seine Uhr. Noch war die Frühstückspause nicht vorüber. Die meisten
Mädchen hatte der Maisonnenschein in den großen Schulhof gelockt;
man konnte sie durch das offene Fenster unten paarweise herumgehen
und spielen sehen. Dicht unter dem Fenster, an das er sich setzte,
stand der Brunnen mit einer Holzbank; dort machte es sich eine Gruppe
halberwachsener Mädchen bequem, -- das Kichern und Schwatzen drang
deutlich bis zu Erik herauf.

In den umliegenden Klassen und auf dem Gang war es ganz still; selten
nur klappte eine Thür oder wurde ein Ruf laut. Aus den zur Hälfte
niedergelassenen Fensterrouleaux brütete die Sonne und einzelne
Brummfliegen surrten um ein paar Brotkrumen aus den staubigen Pulten.

Erik hatte die blauen Hefte hervorgezogen und blätterte darin, wobei
er jedoch von Zeit zu Zeit einen Seufzer ausstieß. Im Grunde waren
dies wirklich recht langweilige Schulhefte. Solch ein Backfisch ist
interessant, ohne Zweifel, er ist als Mensch, als Weib, als Backfisch
interessant, und eine Welt für sich; aber von alledem kommt in den
Schulaufsatz nichts hinein. Kein Wunder! Ist es nicht schließlich
ebenso mit allen geschriebenen Büchern der Welt? Ist nicht der kleinste
Ausschnitt des wirklichen Lebens tausendmal reicher, aufschlußgebender?

Er stand auf und warf einen Blick auf die lachende, schwatzende
Mädchengruppe am Brunnen. Diejenigen, welche er von seinem Standort
sehen konnte, gehörten sicher seiner neuen Klasse an, hatten also
die langweiligen Aufsätze auf dem Gewissen. Er verzieh sie ihnen,
während er sie so anblickte, -- diese frischen Geschöpfe, die noch das
Vorrecht besaßen, ohne Schönheit schön zu sein. Es waren ganz bestimmte
Typen unter ihnen leicht zu unterscheiden, obgleich sie verschiedenen
Nationalitäten angehörten. Drei Sprachen schwirrten durcheinander.
Er unterschied am deutlichsten den mehr hausfraulichen und den mehr
weltlichen Typus. Beide besaßen etwas Anziehendes, -- sowohl dieser
schelmische Blick, der so weiblich ahnungsvoll unter den sorgfältig
gekrausten Stirnlöckchen hervorlugte, als auch der sanfte, sittsam
stille Augenaufschlag unter dem Madonnenscheitel. Das eigentlich
kindliche Genre war unter diesen Backfischen fast gar nicht mehr
vertreten. Und vielleicht deshalb auch so wenig Urtypisches im ganzen,
wenig Individuelles, -- man konnte sie schon klassifizieren, sie waren
schon fest geprägt durch ihre Umgebung, in der sie erzogen wurden, in
der es aber keine geborenen Erzieher und Menschenfischer nach Eriks
Ideal gab, sondern nur gewöhnliche Amts- und Standespersonen.

Unwillkürlich suchte seine Hand zwischen den Heften, als wünsche er
sich selbst Lügen zu strafen. Ja, hier stand die »Merkwürdigkeit« unter
den Aufsätzen, -- etwas höchst Individuelles jedenfalls.

Anstatt des vorgeschriebenen Titels »Ueber das Glück« trug er die
Ueberschrift »Seligkeit!« -- und wie ein Sehnen und Jauchzen klang dem
Lesenden etwas von dieser Ueberschrift aus jeder Zeile entgegen. Er
war nicht in vernünftiger, oder doch wenigstens korrigierbarer Prosa
geschrieben, sondern in Versen, -- in gänzlich unkorrigierbaren und
wilden Versen, in denen die Sprache Reißaus genommen hatte. Trotzdem
wirkten diese Verse, so fehlerhaft sie hingeschrieben waren. Oder
vielmehr: hingeträumt. Denn im Grunde glich dieses einem unklaren
Traum, einem bloßen Gedankenstammeln, einem Sichauflehnen gegen Wort
und Logik, aber es steckte eine mit sich fortreißende Gefühlsmacht
darin. Man wurde im höchsten Grade ungeduldig bei der Lektüre, aber
man wurde auch vom ungeduldig drängenden Wunsche überfallen, dem,
der hier träumte und stammelte, mit Gewalt die Zunge zu lösen, daß
er Aufschluß gäbe über seine Seele. Solche Verse mochte die heilige
Therese als Kind gedichtet haben, ehe sie ihre Visionen aus Gott bezog,
dachte Erik. Welche von denen im Hof mochte das sein?

Einzelne Worte tönten laut und erregt zu ihm herauf und rissen ihn aus
dem Lesen auf. Er hörte eine von den Mädchenstimmen mit größter Energie
sagen: »Er ~muß~ unglücklich sein. Ich will es so. So unglücklich wie
nur möglich. Sonst thue ich es nicht.«

»Nein, nein, dagegen bin ich ganz!« rief eine andre in mitleidigem Ton.

»O, ich wäre schon dafür,« suchte eine dritte zu vermitteln, »wenn es
nur für eine Weile ist. Denn später, da heiratet sie ihn ja dafür.«

»Heiratet?« fragte die erste Stimme erstaunt, »nein, ich denke nicht
daran! Er ist und bleibt unglücklich, sage ich euch. Ein für allemal.
Aber heiraten werde ich ihn nicht.«

Erik fiel das Heft aus der Hand. Er stützte sich auf das Fensterbrett
und sah vorsichtig hinab. Er hätte gern gewußt, wie das grausame
Geschöpf aussah, das den Unglücklichen lebenslang gemartert wissen
wollte und ihn nicht einmal heiratete.

Aber sie saß offenbar dicht an der Hausmauer und war von den andern
so umstellt, daß Erik sich nicht tiefer hinabbeugen konnte, ohne von
unten her gesehen zu werden. Er erblickte nur zwei schmale, weit
vorgestreckte Füße in ausgeschnittenen Schuhen und dunkeln Strümpfen.

Jetzt zwitscherten alle so durcheinander, daß man nichts verstand.

Dann sagte ein bildhübscher, dunkelhaariger Backfisch, während er
herzhaft in einen Apfel hineinbiß: »Ich finde es wirklich komisch
von dir. Denn wozu haben wir ihn sonst mit so vielen und besondern
Eigenschaften ausgestopft, wenn du ihn doch nicht nimmst? Er hat doch
das Allerbeste abbekommen. Wenn er nur edel und unglücklich sein soll,
so hätte er auch gewöhnlicher bleiben können, -- meint ihr nicht?«

»Laß sie doch, Wjera, du sollst sehen, sie hat im stillen schon wieder
etwas Neues vor, -- vielleicht was viel Schöneres,« meinte ein kleines,
blondes Mädchen in zierlich gestickter Latzschürze, »und wenn ihr sie
nicht in Ruhe laßt, so sagt sie es uns am Ende nicht.«

»Hast du was? Hast du was? Ist es schön?« schrieen sie erwartungsvoll.

»Es ist nichts für euch! Aber von allen die allerschönste
Märchengeschichte!« erklärte die Angeredete an der Hausmauer, »kennt
ihr die Verse von Uhland?« Und sie begann mit einer weichen Stimme zu
deklamieren:


    »In Liebesarmen ruht ihr trunken,
    Des Lebens Früchte winken euch;
    Ein Blick nur ist auf mich gesunken,
    Doch bin ich vor euch allen reich.

    Das Glück der Erbe miss' ich gerne,
    Und blick', ein Märtyrer, hinan,
    Denn über mir, in goldner Ferne,
    Hat sich der Himmel aufgethan.«


Sie lauschten mit ganz feierlichen Gesichtern, bis die letzten Worte,
gedämpft, in einer Art von schwärmerischer Andacht, verklangen.

»Huh!« sagte die hübsche dunkle Wjera, ordentlich ergriffen, und eine
zweite fügte besiegt hinzu: »Ja, dann freilich --«

Aber die, welche deklamiert hatte, lachte nur. Sie lachte so von innen
heraus, so frisch und mit so überzeugenden Trillern in der Kehle, daß
Erik oben an seinem Fenster beinahe angefangen hätte, mitzulachen,
und sich plötzlich mit ihr wie im Bunde fühlte. Auch von den Mädchen
begannen einige zu kichern. Aber die meisten verstimmte es.

»Du hast gar keinen Lebensernst!« sagte die Erste der Klasse strafend,
eine andre aber behauptete sogar: »Sie hat kein Herz. Sie verlacht ihre
eigene Sache, und uns mit.«

Nur das blonde niedliche Mädchen schien sich zärtlich an die Lachende
zu schmiegen und erinnerte sie: »Du hast doch versprochen, uns den
›Unglücklichen‹ endlich zu zeigen. Willst du es heute auf dem Heimweg
thun?«

»Ja, das will ich. Denn ich will ihn euch überlassen. Macht ihn so
glücklich, als ihr wollt.«

»Also denkst du an einen andern?«

Die Glocke, die zum Klassenbeginn läutete, unterbrach das Geplauder in
diesem kritischen Augenblick. Arm in Arm schlenderten sie gemächlich
ins Schulgebäude hinein. Die schmalen Füße aber lagen noch ausgestreckt
in der Sonne.

»Jetzt muß ich sie sehen können,« dachte Erik und beugte sich mit
ernstem Gesicht vor. Das Gespräch der Mädchen hatte ihn ganz betroffen
gemacht.

Und er sah sie.

Gegen die grau getünchte Hausmauer nachlässig zurückgelehnt, die
Arme hoch über dem Kopf verschränkt, saß sie auf einem umgestülpten
Regenfaß, das, in diesem beliebten Brunnenwinkel, gelegentlich als
Sitzbank benutzt wurde. Sie trug das entschieden aschblonde, glanzlose
Haar offen, so daß es, weich und lockig, in einiger Verwirrung, ihr
über Brust und Schultern fiel. Das tiefrote Bändchen, welches es
wohl am Hinterkopf zusammenhalten sollte, war hinabgeglitten und
bewegte sich leise im Luftzug. Es war der einzige bunte Punkt und
Schmuck am Bilde. Denn die ganze schmächtige Gestalt steckte in einem
losen, graublauen Gewande, das keinerlei Aehnlichkeit mit den hübsch
gearbeiteten Kleidern, Miedern, Schleifen und Schürzen der andern
aufwies. Ueber den schmalen Hüften durch einen einfachen Ledergürtel
kittelartig geschlossen, ließ es zwischen den weichen Falten kaum
den zarten Ansatz der Brust erkennen und verlieh dem Mädchen etwas
sonderbar Knabenhaftes. Aber darüber erhob sich ein unregelmäßiges
Gesichtchen, das geradezu ansteckend in seinem ausgelassenen Uebermut
wirkte. Wie sie so dasaß, den Oberkörper zurückgezogen, die ziemlich
dunkeln Augen leuchtend erhoben, die Lippen, wie in beginnendem
Gelächter oder wie in verlangendem Durst, halb geöffnet, so daß unter
der zu kurzen und stark geschweiften Oberlippe die weißen Zähne
hervorschauten, -- da machte sie den Eindruck, als bäume sie sich auf
in überschäumender Lebenslust, bereit, jeden Augenblick jauchzend über
alle Stränge zu schlagen, -- fast unwillkürlich dachte man sich einen
Thyrsusstab in die hinaufgestreckten verschlungenen Hände, -- und der
Bacchusknabe war fertig.

Als sie sich rasch und unvermittelt aufrichtete und ins Haus sprang,
erhob sich Erik aus seiner vorgebeugten Stellung am Fenster und raffte
hastig seine Hefte zusammen. Während er den Weg in seine Klasse antrat,
kam ihm ein Lachen über seine eigene Verdutztheit. Zwei Lämmer in
seiner Herde gehörten jedenfalls nicht dem langweiligen Durchschnitt
an: die heilige Therese, und dann dieser arge Schlingel und
Taugenichts.

Im Hallengang war es inzwischen von allen Seiten, in allen Ecken
lebendig geworden, und einige Minuten lang schwirrte es dort
durcheinander gleich einem Mückenschwarm in der Maisonne. Dann
schwächte der Lärm sich ab, die Klassenthüren fielen ins Schloß;
hie und da eilte noch ein Nachzügler an seinen Platz; einzelne
Lehrer, sämtlich in ihrem dunkelblauen Frack, der an diesen Schulen
vorgeschriebenen Uniform, schritten grüßend aneinander vorüber oder
blieben, ein paar Worte wechselnd, im Gange stehen. In Eriks Klasse
war alles schon mäuschenstill und in schönster Ordnung beisammen,
als er mit belebtem Gesichtsausdruck hereintrat. Einen Augenblick
lang ließ er, auf dem Katheder stehend, seinen Blick über die blonden
und braunen Mädchenköpfe schweifen, die fast alle mit lebhaften und
aufmerksamen Augen zu ihm ausschauten. Obgleich er erst zum zweitenmal
aus diesem Platz und seinem jungen Auditorium gegenüberstand,
fühlte er doch schon sehr deutlich die Stimmung der Sympathie, die
ihm aus allen diesen Augen entgegenleuchtete. Er verdankte sie
seinem eigenen Entgegenkommen. Denn die da merkten recht wohl das
thatsächliche Interesse, das er ihnen als Lehrer zubrachte, -- den
Blonden wie den Braunen, den Klugen wie den Dummen, den Willigen
wie den Widerspenstigen. Welche Fehler er auch besitzen mochte,
einen wenigstens besaß er nicht: seinen Unterricht als eine leblose
Pflichtmaschine zu absolvieren.

Erik schob die blauen Hefte an den Rand des Kathederpultes und sagte,
sich niedersetzend: »Die Hefte können wieder verteilt werden. Sie sind
zum größern Teil recht bedauerlichen Inhalts. Hoffentlich lautet die
Fortsetzung viel besser. In Bezug auf einen Aufsatz darin möchte ich
aber eine Erkundigung einziehen.«

Er schlug den Deckel des obersten Heftes zurück und fragte, den Namen
ablesend: »Wer ist Ruth Delorme?«

Die Aufgerufene schien diese Frage erwartet zu haben; sie hatte sich
bereits erhoben, ehe ihr Name von seinen Lippen fiel.

Er richtete einen bestürtzten Blick auf sie. Es war der Bacchusknabe
aus dem Schulhof.

Jetzt freilich machte sie den kuriosen Eindruck nicht mehr so ganz.
Das ordentlich zusammengenommene Haar und der »Klassenernst« aus
ihrem Gesicht störte ihn, -- vielleicht auch, daß sie die Augen
niedergeschlagen hatte. Am liebsten wäre Erik ihr mit der Hand über das
Gesicht gefahren, wie um eine Maske abzustreifen, damit er darunter
die wirkliche Ruth zu sehen bekäme. Aber das wäre dann der mutwillige,
lachende Junge von vorhin gewesen, -- und das deckte sich so wenig
mit der Vorstellung, die der Aufsatz von ihr weckte. Das wunderliche
Geschwätz der Mädchen am Brunnen fiel ihm ein.

»Unmöglich!« entfuhr es ihm.

Sie sah verwundert auf.

»Doch!« sagte sie.

»Das kann sie! sie kann Verse machen!« riefen einige Stimmen. Man
konnte es ihnen anhören, wie stolz sie auf diese Schwarzkunst waren,
und wie interessant sie das unerwartete Intermezzo fanden.

»Verse, -- das ist ja möglich,« gab Erik zurück, »auch sind sie
keineswegs schön. Ganz im Gegenteil. Aber ein Schulmädchen --«

Er brach etwas verlegen ab und ärgerte sich. Die Bemerkung war auch
gar zu einfältig. Schulmädchen waren sie ja alle, und ~eine~ von ihnen
mußte es doch gewesen sein. Mußte? Da kam ihm ein Gedanke: vielleicht
ist es gar kein selbständiger Aufsatz?

Er blätterte im Heft zurück. »Es ist noch ein früherer Aufsatz darin.
Etwas Literarhistorisches. Der fällt stark dagegen ab. Lauter mühsam
nachgezogene Linien -- und falsche Linien. Es geht die Sage, daß bei
den Aufsätzen nicht immer fremde Hilfe verschmäht wird. Sollte das
nicht die Lösung des Rätsels sein?«

Während er aber noch sprach, war er schon überzeugt, daß er sich irrte,
und daß sie sogleich auftrotzen und mit beleidigtem Stolz behaupten
werde, ihr habe niemand geholfen.

Jetzt schüttelte sie auch wirklich den Kopf und sagte: »Mir hilft
niemand.«

Aber wieder schaute er betroffen auf. Wie klang das! Gerade so, als
habe sie unter Thränen gesagt: »Ich bin ja so mutterseelenallein!«
Ein stiller Ton war darin, der ihn rührte, -- etwas so ganz Neues,
Unerwartetes, das er wieder mit dem übrigen nicht zusammenreimen
konnte.

Es litt ihn plötzlich nicht mehr auf dem Katheder, in der ruhigen
Haltung des Lehrers. Ein zwingendes Gefühl von Interesse fand gleichsam
seinen Ausdruck darin, daß er herabstieg und zu ihr hintrat an die
Bank, in die Mitte der übrigen.

Als er dicht vor ihr stand, ward er sich einer Uebereilung bewußt und
kehrte, wenn nicht zum Platz, so doch zur Rolle des Lehrers zurück.

»In der Aenderung des Titels und der Anwendung von Versen liegt eine
auffallende Abweichung vom Vorgeschriebenen; hier galt wohl eine
Ausnahme, die mein Vorgänger machte?« fragte er.

»Er zog sie vor! sie durfte thun, was sie wollte!« schrieen einige.

»Sie gehört nicht mehr zur Schule! Sie kommt nur zu einigen Stunden!«
riefen andre.

»Ich gehe bald fort,« sagte Ruth.

»Fort? Vom Ort?« fragte er, und ein brennendes Bedauern überfiel ihn.

Sie hob die Augen.

»Nein. Nur aus den Stunden.«

Wie beider Blicke sich trafen, sah er ihr Gesicht aufleuchten. Nicht
nur die Augen thaten's, das Leuchten ging über Stirn und Augen, wie ein
Lächeln, obschon sie ernst blieb. Der »Klassenausdruck« fiel von ihren
Zügen wie ein vorgehaltener Schleier.

Er gab ihr einen Wink, daß sie sich setzen möge.

»Das ist sehr schade,« meinte er dann, ein paarmal auf und ab gehend,
und es war ihm selbst nicht klar, für wen es eigentlich schade sei, ob
für den Lehrer, oder für die Schülerin, oder für beide. Doch setzte er
rasch hinzu: »Es ist zu früh. Ein Zeichen von Reife ist der Aufsatz
nicht.«

Dann richtete er, mit dem Aufnehmen des Unterrichts, keine Bemerkung
mehr an sie, vermied es auch während der Stunde ihren Namen aufzurufen,
obgleich es ihn beschäftigte, daß sie fortgehen wollte. Aber er
begriff, daß dieses lebhafte Interesse an einem merkwürdigen Kinde,
wenn es auch ausschließlich den Erzieher in ihm reizte, von ihm selbst
erst völlig beherrscht werden und in ihm selbst sich erst völlig
geklärt haben mußte, ehe daran zu denken war, ihr vor einigen Dutzend
neugieriger Mädchenaugen nachzugeben. Er kannte sehr wohl die üblichen
Schwärmereien für den Lehrer, zweifelte auch nicht daran, daß auch
er bereits Gegenstand solcher Schwärmereien sei, hielt aber doch
möglichst daran fest, daß sein eigenes Benehmen ihn nicht verriete,
wenn einmal eine kleine Schülerin Eindruck auf ihn machte, -- was doch
unvermeidlich geschah unter Menschen von Fleisch und Blut.

Ruth saß still auf ihrem Platz und folgte seinen Worten und Bemerkungen
mit verträumten Augen. Sie war eine ziemlich zerstreute Schülerin,
und so nahm sie auch jetzt im Grunde nichts von dem auf, was er
vortrug, sondern merkte sich nur die Art, ~wie~ er vortrug, und die ihm
eigentümliche Gebärde der Hand dabei. Daß er schmale, nervige Hände
von edler Form besaß, daß sie aber leicht gebräunt waren, wie bei
einem, der sich viel der Luft und Sonne ausgesetzt hat, merkte sie,
-- und es kam ihr wie ein Widerspruch vor, der sie beschäftigte. Die
breite, etwas steile Linie seiner Schultern prägte sich ihr ein, wie
ein Bild, und dann, daß ihm das Haar beim Sprechen in einem straffen,
kleinen Büschel in die Stirn fiel, und er es stets mit einem kurzen
Ruck zurückwarf, wobei der Kopf ein wenig hochmütig oben blieb. Es
war kurzgehaltenes, schlichtes, dichtes Haar, und es ärgerte sie
förmlich, daß es sich nirgends ein klein bißchen locken wollte, -- nur
ein bißchen; in Gedanken ließ sie ihm lange Locken wachsen; die sahen
aber drollig aus, und so schnitt sie sie ihm wieder ab. Darüber mußte
sie lachen; sie hätte fast laut aufgelacht, und der Sicherheit halber
stützte sie den Mund auf die Hände.

Aber bei alledem sah sie nicht aus, als ob sie sich in losem Mutwillen
mit solchen Aeußerlichkeiten beschäftige, sondern als sinne sie
angestrengt und ganz in sich vertieft einem schwierigen Problem nach.
So hatte sie schon neulich, in seiner ersten Stunde, dagesessen, von
ihm unbemerkt.

Ruth machte noch immer dasselbe verträumte, nachdenkliche Gesicht, als
nach Beendigung des Unterrichts ein ganzer Schwarm von Mädchen sich zum
Heimgehen um sie drängte. Sie hatte diesen Augenblick kaum erwarten
können, denn nun sollte Ruth ihnen ja den »Unglücklichen« zeigen, der
aller Phantasie beherrschte. Arm in Arm, hintereinander, und mit den
Ranzen schlenkernd, gingen sie lachend und schwatzend die Straße hinab
und bogen in den Newsky Prospekt ein, Ruth voraus und ohne auf sie zu
achten. Einige sahen sich vorsichtig um, ob ihnen auch niemand folge,
auf den Wegen, die Ruth sie führen sollte; aber die Straße war ziemlich
menschenleer, nur ein paar Dienstmädchen, die den Verwöhntesten den
Schulsack trugen, folgten in bescheidener Entfernung, und hinter diesen
sah man Erik herankommen.

»Eigentlich ist die Ruth doch eine Glückliche!« sagte die hübsche Wjera
zu ihrer Nachbarin, »daß sie solche Geschichten treiben kann. Ich
glaube, ihre Verwandten kümmern sich gar nicht darum. Ja, es ist ganz
anders, wenn man noch Eltern hat.«

»Pfui, schäme dich!« empörte sich das Mädchen, das neben ihr ging,
und stieß sie mit der Frühstücksbüchse in die Seite, »es ist doch ein
schreckliches Unglück, seine Eltern so früh zu verlieren. Die arme
Ruth! Denke nur, wo sie von ganz klein auf schon alles gewesen ist, --
in Belgien und Deutschland, und immer unter fast Fremden.«

»Ja, da kommt man eben auch weit herum,« beharrte der gemütlose
Backfisch, »sogar in einer Schweizer Pension ist sie gewesen. Und
gerade da möchte ich so gern hin.«

»Sogar in einem Glaspalast hat sie einmal gewohnt,« behauptete eine von
ihnen etwas unsicher.

Ein schallendes Gelächter erhob sich.

»Ja, im Traum! Das ist doch nur ein Märchen, das sie erzählt hat. Höre
nur, Ruth, das hält sie für Wirklichkeit.«

»Da kommt er!« sagte Ruth mit einemmal.

Das Wort fiel wie ein Schrotkorn in einen Haufen lärmender Spatzen. Im
ersten Augenblick stoben sie fast auseinander, aber dann sammelten sie
sich wieder, räusperten sich, zupften an ihren Kleidern, reckten die
Hälse, und die meisten von ihnen wurden rot.

»Hier, der Blonde.«

»Nein! Der Herr im Cylinderhut.«

Es war keiner von beiden. Ruth blickte ernsthaft geradeaus, und einem
Herrn ins Gesicht, der auf sie zuschritt. Ein junger, brünetter Mann,
im hellen Sommerüberzieher, mit etwas verlebten Zügen, einem kleinen
Schnurrbart und mandelförmigen Augen.

Er schien wie geschaffen zum Helden der Tragödie, -- darüber waren
alle einig. Aber während sie ihn noch anstarrten, wie ein Meerwunder,
passierte vor ihren Augen das Ungeheuerliche, woran sie eigentlich doch
nicht im Ernst geglaubt hatten: Ruth grüßte ihn; ganz ernsthaft grüßte
sie ihn, ohne eine Miene zu verziehen, aber doch so wie einen alten
Bekannten.

Ein halbes Lächeln glitt über sein Gesicht; er hatte sie fest fixiert,
jetzt griff er eilig an den kleinen runden Filzhut und grüßte wieder.
Ziemlich vertraulich that er das.

Die hübsche Wjera schrie fast aus vor Ueberraschung und Vergnügen; sie
war feuerrot geworden, und um ihrer Herzensbewegung Herr zu werden,
mußte sie ihre Begleiterin unwillkürlich in den Arm kneifen. Ein
paar von den andern aber hielten sich von der Gruppe etwas getrennt,
sie genierten sich sichtlich, gingen verlegen neben dem Trottoir auf
dem Straßendamm einher und schlugen die Augen nieder. Doch fand der
heldenhafte Unbekannte noch eine beträchtliche Anzahl unter ihnen,
die mit Augen und Mienen das Spiel fortsetzten. Während er mit ganz
verlangsamten Schritten an ihnen vorüberging, flogen Blicke und Lächeln
zu ihm hinüber, empfingen deutliche Antwort und wurden wiederholt. Ein
paar Köpfe drehten sich auch noch nach ihm um, und auch er wurde nicht
müde, zurückzusehen.

»Nein! Das ist aber zu arg!« brach eine von den Sittsamen auf dem
Straßendamm los, »es ist geradezu sündhaft!«

»Ach, du liebe Tugend! Wir sind es ja gar nicht gewesen, die angefangen
haben. Ruth hat es gethan. ~Sie~ hat ihn gegrüßt. Wenn sie jetzt auch
so gleichgültig drauf los geht, als ginge es ~sie~ nichts an.«

»Ja, was schadet es denn auch?« verteidigten mehrere ihr Benehmen etwas
betreten.

»Gewiß schadet es, -- abgesehen davon, daß es sündhaft ist,« behauptete
die Sittsame, »hast du nie gehört, daß man nicht geheiratet wird, wenn
man ein Verhältnis gehabt hat?«

»Ja, sie hat ganz recht; es bringt uns in Verruf,« half ihr eine
zweite, »und der da würde euch gewiß nicht heiraten, bildet euch das ja
nicht ein. Er kann euch ja auch gar nicht alle heiraten!« setzte sie
schlagend hinzu.

Einzelne suchten zwischen den Streitenden zu vermitteln.

»Es ist doch alles nur Unsinn. Eine bloße Phantasiegeschichte. Also laß
doch! Morgen in der Frühstückspause spielen wir mit verteilten Rollen
weiter, dann ist wieder eine von uns der edle Unglückliche, und alle
Gefahr ist vorbei.«

»Nein, nun ist es keine bloße Phantasiegeschichte mehr. Du hättest ihn
uns nicht zeigen sollen, Ruth.«

Diese zuckte ungeduldig die Achseln.

»Das kann ich nicht ~so~ trennen. Wenn wir's spielen, leben wir's ja
auch. Aber macht es doch, wie ihr wollt,« sagte sie zerstreut.

»Nein, erst mußt du es weiter ausdenken. Eigentlich ist es auch sehr
lustig. Gerade als ob man zweimal lebt: einmal zu Hause und in der
Schule -- und dann noch einmal ganz wo anders, wo alles gerade so ist,
wie man es sich ausdenkt. -- Aber diesen Weg wollen wir lieber nicht
wieder gehen.«

»Ach, seid ihr Feiglinge!« rief Wjera dazwischen, die sich bis
jetzt am Streit nicht beteiligt hatte, weil sie sich noch mit dem
»Unglücklichen« zu thun gemacht, der irgendwo an einer Straßenecke
stehen geblieben war, »ich finde diese Geschichte tausendmal
interessanter, als all die Phantastereien drum herum. Was hat man denn
von denen? Sie amüsieren uns nur, weil man uns eingesperrt hält!«

Ueber ihrem Hin- und Herreden beachteten sie es gar nicht, daß sie
an Ruths Wohnung am Isaaksplatz angelangt waren, das heißt, daß die
meisten von ihnen sich recht beträchtlich von ihrem eigenen Heim
entfernt hatten. Sie liefen gewohnheitsmäßig mit, wie eine Hammelherde,
Ruth selbst aber war geradeswegs nach Hause gegangen. Jetzt blieb sie
zaudernd stehen und kämpfte zwischen der Lust, nach einer Seitenstraße
umzubiegen, und der Nötigung, zur gewöhnlichen Stunde bei ihren
Verwandten einzutreten. Bis zu Tisch blieb noch viel Zeit, einen
Vorwurf zog sie sich nicht zu, und was ihr jetzt vorschwebte, war süß
und lockend gleich einem Frühlingsmärchen.

Aber es gab da etwas andres, das sie zurückhielt: wenn sie jetzt
hineinging, so blieb sie, wie immer, gänzlich unbemerkt und unbeachtet
im ganzen Hauswesen; wenn sie dagegen bis zum späten Mittagessen
fortblieb, so wurde sie vielleicht bemerkt, befragt, belästigt. Und das
entschied.

Wie eines jener kleinen Insekten, welche zum Schutz vor feindlichen
Mächten die Farbe des Holzes oder des Laubes annehmen, auf dem sie
sitzen, so verhielt sich, halb unbewußt, auch Ruth gegenüber ihrer
Umgebung. Es war ihre Art sich zu wehren.

Ruth löste sich aus der schwatzenden Mädchengruppe und verschwand
hinter den hohen Thürflügeln eines umfangreichen steinernen Gebäudes,
vor dem ein Soldat Wache stand. Eine Abteilung des Kriegsministeriums
lag darin, nebst mehreren großen Kronswohnungen, von denen Ruths Onkel,
der Staatsrat war, eine inne hatte.

Ihr Verschwinden gab das Signal zum allgemeinen Aufbruch. Jetzt erst
erschraken manche über die lange Versäumnis und suchten laufend
eine Pferdebahnlinie zu erreichen oder unterhandelten mit den
Droschkenkutschern, welche sofort, laut schreiend und sich gegenseitig
nach Möglichkeit unterbietend, sie umringten.

Bis morgen vermißten sie Ruth nicht mehr; sie hatten sich ausgezeichnet
unterhalten, sich ordentlich echauffiert! Morgen, wenn sie nach neuer
Nahrung begierig wurden, kam sie wieder.

                   *       *       *       *       *

Erik war den Mädchen nur einen kleinen Teil des Weges gefolgt, denn er
hatte noch in einem Knabengymnasium und in einer Privatschule Stunden
zu geben. Dann ging er in seine Stadtwohnung hinauf, die geräumig
und freundlich, aber vier Treppen hoch lag: dafür konnte man aus den
Fenstern die Newa überschauen, durch deren blaue, mächtige Wogen
noch der Ladogasee seine letzten Eisschollen trieb. Sie schimmerten
durchsichtig im blendenden Maisonnenschein. Ueber seine Aussicht freute
Erik sich täglich von neuem.

Nach Schulschluß pflegte er hier vorzusprechen, allerlei zu erledigen
und eingelaufene Briefe mitzunehmen, denn die Landpost galt als
unzuverlässig. Heute war er kaum eingetreten, als es klingelte.

Er öffnete die Thüre und blieb mit einem Lächeln neben derselben
stehen.

»Warwara Michailowna!« sagte er.

»Was ist denn das?« fragte sie, rasch um sich blickend, »schon auf dem
Lande? umgezogen? allein hier? Ich wußte es nicht! Dann haben Sie also
meinen Brief -- --?«

»Ich habe ihn gestern hier vorgefunden,« versetzte er, sie in die
angrenzende Wohnstube führend, wo die Polstermöbel schon ihre
Sommertoilette empfangen hatten und in ihren weißen Leinwandhülsen
gleich Gespenstern herumstanden. Unter dem runden Sofatisch war der
Teppich entfernt worden, und ein leichter Geruch von Kampfer schwebte
in der Luft.

»Ich wollte mir Ihre Antwort lieber selbst bei Ihnen holen -- oder
bei Ihrer Frau!« sagte Warwara Michailowna und ließ sich in einen der
weißbezogenen Sessel sinken, »trotz Staub und Sonne bin ich also da.
Ich muß wissen, weshalb Sie nicht kommen wollen.«

Sie sah wunderhübsch aus in der gewählten Einfachheit ihrer
Frühjahrskleidung, mit ihrem reizenden Mund und mit der Melancholie
in den tiefdunkeln Augen, die einen so pikanten Gegensatz zu ihrem
munteren Wesen bildete.

»Ich danke Ihnen!« erwiderte Erik und blickte sie an, »aber Sie nehmen
mir in der That die Antwort schon von den Lippen: ich wollte wirklich
nicht kommen. Mich eine Zeit lang ganz auf dem Lande vergraben. --
Dort können wir ja, wenn Sie erst hinausgezogen sind, so poetisch
Fangball spielen und Croquet. -- Ich bin diesen Winter gar zu stark ins
Gesellschaftstreiben geraten.«

»Und was schadet das? Fragen Sie nur Klare-Bel, ob sie Sie nicht auch
im Gesellschaftsrock am liebsten sieht? Der Salon ist Ihr natürliches
+milieu+. Sie sind nun einmal kein solcher deutscher Bär und Philister,
wie sie mitunter mit goldenen Brillen und blonden Vollbärten zu uns
kommen! Erst seit einigen Generationen hat sich Ihre Familie dort
niedergelassen -- an der friesischen Grenze irgendwo, -- französische
Emigranten, -- weiß ich's nicht gut?«

»So weit wollen Sie den Beweis herholen, daß ich in Gesellschaft gehen
soll?«

Sie lachte und stieß belustigt den Elfenbeingriff ihres Sonnenschirms
gegen die Tischplatte.

»Sie sind ein Spötter. Ich wollte nur sagen: bilden Sie sich nicht ein,
daß Sie zum Schulmeister geboren sind. Trotz der blauen Uniform da, die
Sie noch anbehalten haben, -- die Ihnen übrigens gut steht, weil es ein
Frack ist. Sie sind zum Weltmann geboren. Wenn Sie uns -- +mondains+ --
meiden, thun Sie sich selbst weh. -- -- Ich weiß es. Lachen Sie nicht.«

»Ich lache ja nicht. Sie sind sehr scharfsichtig, Warwara Michailowna.
-- Vielleicht zu sehr.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie würden unsrer verwöhnten Gesellschaft nicht so gut gefallen, wenn
Sie nicht selbst ein wenig von ihr berauscht würden. Habe ich nicht
recht?«

»Nun, nehmen wir also an, ich will nicht berauscht werden,« sagte Erik
und kreuzte die Arme; »daß gerade Sie als Versucherin kommen, ist
freilich schlimm für mich. Ein Glück, daß die Saison zu Ende geht.«

Sie machte einen schmollenden Mund.

»Ich weiß schon. Mich halten Sie für die Inkarnation weltlicher
Oberflächlichkeit.«

Er widersprach nicht.

Einige Augenblicke lang schwiegen sie beide, und zwischen ihnen lag,
unmöglich zu überhören, Warwaras stumme Frage: »Bin ich es, die dich
berauscht?«

»Sie sind ein Egoist,« sagte sie dann aufblickend, »sonst hätten
Sie bemerken müssen, daß Sie sich irren. Wissen Sie nicht, weshalb
ich Sie so gern da habe, mitten unter den Menschen? Weil ich gerade
ebensogut fühle wie Sie, daß dieses Treiben im Grunde eitel und hohl
ist, -- inhaltsleer, -- und es mich dennoch berauscht -- wie Sie. Ihre
Anwesenheit war also die eines Leidensgenossen für mich. Hand aufs
Herz! sind wir nicht so etwas wie Leidensgenossen? Wir haben eine
gemeinsame Versuchung.«

Er blickte sie fest an. Sie sprach rasch, ein wenig erregt, mit dem
weichen, klingenden Tonfall, den er an den Slaven so einschmeichelnd
fand. Ihr selbst war es in diesem Augenblick nicht ganz klar, ob sie
mit ihm kokettierte, oder ob sie nicht vielleicht ehrlicher mit ihm
sprach, als je mit sich allein. Es schien ihr wirklich manchmal -- und
besonders in den seltenen Stunden des Alleinseins, -- als triebe ein
verwandter Zug sie zu einander. Und dann war ihr Erik interessant: als
Mensch. So, wie unter lauter Satten ein Hungriger interessant ist.
Unter den Gesellschaftsmenschen ihrer Umgebung kam er ihr vor wie
einer, der ungeduldig auf Beute ausgeht, und, weil er die ihm gemäße
dort nicht findet, seinen Hunger mit Naschwerk zu betäuben sucht.

»Also: Kameradschaft in einer gemeinsamen Versuchung!« sagte Erik
wegblickend -- »vielleicht ein Wettkampf, wer ihr besser erliegt?«

Sie erhob sich, um zu gehen.

»Sie haben vielleicht recht zu spotten, und es würde nur sentimental
klingen, wenn ich antworten wollte: nein! mehr als das, -- eine
gemeinsame Sehnsucht,« entgegnete sie, dicht neben ihm, der ebenfalls
aufgestanden war, »Sie haben tausendmal recht. Wir haben ja nie ein
ernstes Wort miteinander gesprochen. Und ein Mann braucht keinen
Bundesgenossen. Er kann's allein.«

Sie sprach ganz ernst, es klang beinahe echt, und was sie sprach,
stimmte so eigentümlich zu der Schwermut der dunkeln Augen. Eine
Minute, -- eine verschwindende Minute lang, fühlte Erik, wie seine
Phantasie ihm etwas vorgaukelte. Eine Sehnsucht brach heiß in ihm auf,
über die der Verstand lachte, -- und ein wilder, herrischer Wunsch,
den lachenden Verstand unter die Füße zu treten und einen schönen
Selbstbetrug wahr zu machen.

Ohne genau zu wissen, was er that, hatte er die Hand ausgestreut; es
war eine fast befehlende Bewegung, wie ein: »Bleib!« Er sah nichts mehr
deutlich, er empfand nur die Nähe dieser schmiegsamen Gestalt, dieser
Augen, von denen Sehnsucht ausging.

Und plötzlich küßte er sie mit geschlossenen Augen auf den Hals und die
Wange. Nicht tändelnd, versuchend. Rasch, heftig, fast gewaltthätig.

Er murmelte halb unverständlich: »Mach es wahr! mach es wahr! laß mich
nicht aufwachen! Suchtest du mich?«

Bei seinen bewußtlosen Küssen überfiel Warwara ein plötzlicher Schreck.
Sie war selbst berauscht gewesen, einen Augenblick lang, aber die
Wucht, mit welcher er darauf einging, ernüchterte sie ebenso rasch.
Durch die momentane Erregung seiner Sinne hindurch spürte sie etwas
von dem tiefinnersten Hunger und der Sehnsucht in ihm, an die sie
unvorsichtig gerührt hatte. Nicht wie eine Dreistigkeit die erstaunt
oder verletzt, empfand sie seinen Kuß, sondern wie eine lähmende Gefahr
für Leib und Seele, die zu verschlingen droht, was ihr zu nahe gekommen
ist.

Mit einer heftigen Bewegung hatte sie sich freigemacht.

Ihr Blick lief über ihn hin. Eigentlich sollte er ihr wie ein Kind
vorkommen, das so erfüllt ist von Lebensverlangen und ungeduldiger
Erwartung, daß es nicht mehr zu spielen vermag. Es zerbricht gewaltsam
das dargebotene Spielzeug, um zu sehen, was dahinter ist, und bleibt
mit enttäuschtem Gesicht stehen.

Das wollte sie nicht. Lieber noch gespielt haben, als zu ernst genommen
werden, -- so ernst, daß ihr Inneres bloßgelegt und an unmöglichen
Illusionen gemessen würde. Sie fürchtete sich vor dem enttäuschten
Gesicht.

Erik mißverstand die Heftigkeit ihrer Bewegung. Aber sie weckte auch
ihn. Er hatte ja nur einen Augenblick vergessen, daß sie spielte. --
Seine Erregung verflog sofort. Nur etwas Spott blieb in den Augen und
um den Mund zurück. Spott über sich selbst.

Die Luft im Zimmer war zum Ersticken schwül. Fast ungehindert schien
die Sonne durch die dünnen, weißen Fenstervorhänge, und mißtönend
klang von der Straße der Lärm der Droschken und Pferdebahnen herauf.

Warwara war langsam in den Vorflur gegangen, und Erik geleitete sie an
die Hausthür. Sie wechselten kein Wort miteinander.

Erst an der Thür wandte sie sich um zu ihm und maß ihn mit einem
sonderbaren Blick, den er nicht verstand. Bedauern lag darin, aber auch
Ablehnung, eine kleine Ueberlegenheit über ihn, den Mann, und dann noch
etwas, wie ein ganz leises Eingeständnis: »Ich möchte wohl die sein,
die du brauchst, und die dich sättigen könnte, du Wilder. Aber ich
bin's nicht.«

»Ich nehme an: Sie kommen nicht,« bemerkte sie dabei zerstreut.

»Mit Ihrer Erlaubnis: nein!« entgegnete er, und sann dem Blick nach.

Die Thür fiel ins Schloß. --

                   *       *       *       *       *

Ruth war pünktlich um vier Uhr, zur festgesetzten Mittagsstunde, im
Speisesaal erschienen, der, hoch und groß, mit dunkeln Mahagonimöbeln
ausgestattet, in der Mitte einer Flucht von Gemächern lag. Sie hatte
ihren äußern Menschen so glatt gebürstet und gestriegelt, wie der
Onkel, die Tante und die Cousine sich zu tragen pflegten, und saß
schweigsam auf ihrem Platz am Tisch, den ein Diener in weißbaumwollenen
Handschuhen geräuschlos bediente. Während des Essens, das die
Beteiligten in ausgiebigster Weise beschäftigte, blieb die Unterhaltung
recht einsilbig. Der Onkel liebte keine langen Tischgespräche, und
seine Frau hatte genug damit zu thun, ihn mit den richtigen Stücken zu
versorgen.

Erst als die Mundspüler von grünem Glas, die kein Mensch benutzte, vor
jeden einzelnen niedergesetzt waren, und vor der Tante die silberne
Kaffeemaschine stand, auf der sie den Kaffee immer eigenhändig
bereitete, wurde es ein wenig lebhafter bei Tisch. Darauf schien Ruth
nur gewartet zu haben. Sie erhob sich leise von ihrem Sitz und wollte
verschwinden.

»Gehst du schon auf dein Zimmer, mein Kind?« fragte die Tante, »dann
sieh dich mal darin um. So unordentlich, so wenig zierlich sollte es
bei keinem jungen Mädchen im Zimmer aussehen.«

Ruth machte eine Armesündermiene. »Ich will wunderschön aufräumen,«
sagte sie eilig; »darf ich dann bis zum Thee noch einmal fortgehn?«

»Bis zum Thee? Ist es denn etwas so Dringendes?«

»Es ist etwas Dringendes,« sagte Ruth. Der Onkel sah auf.

»Zu wem willst du denn gehn? Es ist wohl jemand aus der Schule?«

»Ja,« erklärte Ruth und rieb ungeduldig den Thürgriff, den sie schon in
der Hand hielt.

»Sage dem Diener, daß er dich begleitet und dort auf dich wartet.«

Der Onkel blickte ihr nach, wie sie leise die Thür hinter sich schloß.

»Ein merkwürdig bequemes Ding ist sie doch,« meinte er dann, seine
Cigarette anzündend, »ich kenne niemand, der weniger verlangt und sich
weniger bemerkbar macht als sie.«

»Weil man ihr alles gewährt,« ergänzte die Tante mit ihrer etwas hohen
Stimme, die den baltischen Accent noch unangenehmer hervortreten ließ.
Sie war eine Baronesse aus Livland.

»Alles? nun weißt du, ein andres Kind würde nicht so zurückhaltend
sein. Sie weiß zum Beispiel: dies ist die Stunde des intimsten,
ungestörtesten Beisammenseins, -- und immer geht sie fort. Aber mit
knapp sechzehn Jahren handelt man doch nicht aus Takt.«

»Nein, das thut sie auch nicht. Du idealisierst Ruth immer. Sie liebt
uns einfach nicht genug, um sich enger an uns zu schließen. Manchmal
denke ich: sie ist vielleicht herzlos.«

»Aber Mathilde! wie kannst du dem kleinen Ding etwas so Böses
nachsagen! Lies mal den letzten Brief aus Belgien, wie sie sie da in
der Pension loben und zurückverlangen.«

»Ja, das kennt man, mein Lieber. Sie war ein einträglicher Pensionär.
Und dann sind sie dort katholisch. Wie kann man ihnen trauen? Ich bin
es gerade, die deswegen für Ruths Uebersiedlung zu uns gewesen ist. Wir
sind doch schließlich verantwortlich für sie. Dafür, daß sie in Zucht
und Ordnung aufwächst. Was hat man davon, daß ihre Verwandten dort von
vlämischem Adel sind? Die Ansichten sind doch die Hauptsache. Und die
Leute dort kennt man nach der Richtung gar nicht.«

Der Onkel schwieg mit verdrießlichem Gesicht. Er wußte, daß für
seine Frau alle Menschen außerhalb der kleinen baltischen Provinzen
»diese Leute« waren, -- während für ihn, gerade umgekehrt, die
Welt erst jenseits der russischen Grenze anfing. Ihm kam nicht nur
die beschränkte provinzielle Exklusivität seiner Frau lächerlich
vor, sondern sogar auch ihr baltisches Heimatsgefühl. Mit seinem
französischen Namen und den sowohl deutschen wie slavischen Elementen
in seiner Familie fühlte er sich dermaßen als Kosmopolit, daß er nie
eine Gemütsbeziehung zu irgend einem Lande und Volke besessen hatte.
Er schalt und klagte nur deshalb nicht über Rußland, wie die meisten
seinesgleichen, weil er dies für unvornehm hielt.

»Ruth würde jetzt gewiß nicht von hier fortgehen mögen, Mama,« bemerkte
die Tochter, »jetzt, wo sie so gut wie erwachsen ist. Nirgends kann man
doch so gut in die Welt geführt werden wie hier.«

»Aber mir scheint, das will sie gar nicht,« versetzte der Onkel
lächelnd, der seine hübsche Tochter sehr gern in Gesellschaften
begleitete, »sie hat ja ohnehin so viel Welt und Menschen gesehn und
macht sich nichts daraus. Gott sei Dank also, daß wir mit ihr nicht
noch einmal dieselben Umstände haben werden, wie seit einem Jahre mit
dir, Liuba.«

»Nun bist du wahrhaftig im stande und setzest dein eigenes Kind
für Ruth herab,« sagte seine Frau nervös, die kein Gehör für einen
scherzenden Ton besaß, »laß sie doch nur in Gottes Namen nach Belgien
reisen!«

»Nein!« entgegnete er ärgerlich, drehte seinen Stuhl vom Tisch
ab, ergriff eine Zeitung und vergrub sich hinein. Als eine der
unangenehmsten Eigenschaften an seiner Frau war ihm stets ihre
unleugbare Vortrefflichkeit erschienen, gegen die es niemals einen
Appell gab, aber beinahe noch unangenehmer erschien ihm dieser
gänzliche Mangel an Humor.

Die Stunde des »intimsten, ungestörtesten Beisammenseins« war gründlich
verdorben. --

Ruth freilich ahnte nicht, daß sie von ihrem leeren Platz am Tisch
den unschuldigen Störenfried spielte, ja, sie hatte im Augenblick
vielleicht fast vergessen, in welchem Lande der Erde, ob in Belgien
oder Rußland oder Deutschland oder sonstwo sie sich befinde. Die
Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf ein wenig gesenkt, ging
sie rastlos in ihrer Stube auf und ab, und dabei trug ihr Gesicht den
Ausdruck angestrengtesten Nachdenkens, wie vorhin auf der Schulbank
während des Unterrichts. Ihre Wangen waren heiß und lebhaft gerötet,
und von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf, als könne sie mir ihren
Gedanken nicht recht ins reine kommen.

Nach einer Weile blieb sie stehen, strich sich das Haar aus der Stirn
und entsann sich ihres Versprechens, »wunderschön aufzuräumen«. Damit
ging es außerordentlich rasch. Jedes einzelne Ding, das herumlag,
wurde in die ihm zunächstgelegene Schublade befördert, und als dies
gewissenhaft geschehen war, zeigte es sich, daß im Zimmer verblüffend
wenig Gegenstände übrig geblieben waren, die man nach der Vorschrift
der Tante »zierlich« hätte ordnen können. Es war ein ganz wohnliches
kleines Zimmer, mit hübschen Möbeln, einem rotsamtenen Ecksofa und
sogar einer Nippesetagère, auf der ein gläserner Mops stand. Aber
es trug nicht das Gepräge seiner Besitzerin, sondern das einer gut
eingerichteten Hotelstube. Weder Arbeiten noch Liebhabereien plauderten
etwas über das Wesen derjenigen aus, die hier schlief und lernte und
träumte. Es hatte den Anschein, als sage Ruth täglich auch zu dieser
Umgebung, wie vorhin in der Schule: »Ich gehe doch bald fort.«

Als Ruth fertig war, griff sie hastig nach einem weichen englischen
Wollbarett von leichter grauer Strickerei, setzte es wie eine
Knabenmütze auf den Kopf und rief den Diener aus der Dienerstube
neben der Küche. Dieser saß in seinem geblümten Zitzhemde, die Messer
putzend, rittlings auf einer Bank und sang dazu, so daß die Messer
im Takte flogen. Es war ein junger Tatar, sehr gewandt und, als
Mohammedaner, musterhaft nüchtern. Beten, singen und schlafen waren
seine liebsten Beschäftigungen. Wie er Ruth rufen hörte, schlüpfte er
eilig in seine dunkle Livree und öffnete ihr die Hausthür.

Sie ließ sich von ihm bis zum finnländischen Bahnhof begleiten; dort
entließ sie ihn.

»Jetzt kannst du zu deinen Bekannten gehn, Basil,« sagte sie zu ihm,
als er mit gezogenem Hut an der Waggonthür stand, »aber um neun Uhr
mußt du mich hier wieder erwarten.«

Er nickte verständnisvoll mit dem kurzgeschorenen Kopf, der oben eine
kreisrunde, glatt ausrasierte Stelle zeigte, sah aber dabei seine
kleine Herrin etwas besorgt an. Er wollte gern zu »seinen Bekannten«
gehn, aber unerhört kam es ihm vor, sie so schutzlos in die weite
Welt hinauffahren zu lassen, namentlich gegen Abend, wo es so viele
Betrunkene auf den Straßen gab.

»Dürfte ich nicht um die Erlaubnis bitten, mitzufahren?« fragte er und
kämpfte mit dem heroischen Entschluß, freiwillig aus sein Vergnügen zu
verzichten.

Ruth lachte über sein pfiffiges Tatarengesicht, das eben jetzt fast
treuherzig aussah, und schüttelte den Kopf.

»Wo ich jetzt hingehe, darf niemand mitgehen!« sagte sie feierlich.

Während der Fahrt blickte sie ungeduldig hinaus, wie eine, die froh
ist, alles hinter sich zu lassen; die kurze Strecke kam ihr lang
vor, als führe sie wirklich weit -- weit, in eine ganz andre Welt.
Aber als sie dann am kleinen Stationsgebäude ausstieg und sich nach
dem richtigen Wege durchfragen mußte, da wurde ihr bänglich zu Mut.
Was ihr vorgeschwebt hatte, -- zwingend, unwiderstehlich, -- war
ein ganz bestimmtes Traumbild, und solange nur ihre Phantasie daran
herummalte, schien alles sich ihr von selbst zu verwirklichen. Das
Wirklichkeitsbild aber, das ihr jetzt fremd entgegentrat und in den
Traum eingriff, verschüchterte sie; es wäre eigentlich schöner gewesen,
wenn alles sich auch noch weiter so von innen heraus geformt hätte, wie
man es sich eben träumen läßt.

Die bange Empfindung nahm nicht ab, sondern zu, wie sie endlich dem
Hause nahe kam, das sie suchte. Es war ihr, als erwache sie plötzlich
und befinde sich todesallein in wildfremder Gegend. Eine förmliche
Angst überfiel sie vor lauter Schüchternheit und wie gelähmt blieb sie
am Gartengitter stehen.

Da lag das Haus vor ihr; eine Magd fegte auf dem breiten Kiesweg vorn
die Strohhalme zusammen, die bis auf die Straße verstreut waren, und
daneben stand ein Knabe, den Hut im Nacken, und sah zu. Der mußte sie
sicher gleich bemerken. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt.

»Die Augen zumachen -- fortlaufen!« dachte sie sehnsüchtig. Aber das
durfte sie nicht. Ihren eigenen Willen durfte sie ganz gewiß nicht
hinterdrein im Stich lassen.

Da sang eine Nachtigall im Fliedergebüsch am Zaun.

Und leise -- leise, mit werbendem Klang, lockte aus der Tiefe des
Gartens die zweite.

Ruths Augen schweiften am Hause vorbei über den Garten und blieben
entzückt darauf haften.

»Der Frühling!« sagte sie jauchzend, ganz laut.

Sie hatte ihn noch gar nicht gesehen in diesem Jahr. Nun erst ward sie
sich dessen bewußt, daß sie doch soeben, auf dem Wege vom Bahnhof,
unter grünenden Birken gegangen war, und daß im Grase am Wegrand weiße
Anemonen standen. Jetzt kam es ihr vor, als sei das nur so ein wenig
Frühling gewesen, der von den Menschen, die aus diesem Garten traten,
unterwegs verstreut wurde. Aber hier war der Frühling zu Haus, von hier
mußte er kommen; und nun stand sie dicht am Gitter, hinter welchem er
blühte. In dem rotgoldenen Duft, den die Sonne darum wob, schaute er
mit der eben aufbrechenden Obstblüte und dem zarten Laub der Bäume wie
ein Märchen hinter dem alten Hause hervor. Da einzutreten, das war
fast, als ob man aus einem Traum gar nicht herauskam.

Jonas hatte sich neugierig der Gartenpforte genähert, an der jemand
stand, von dem er nicht recht wußte, ob es ein Mädchen sei.

»Ich möchte hier herein!« sagte Ruth bittend. --

Erik und Klare-Bel saßen an dem noch nicht abgedeckten Mittagstisch im
Wohnzimmer an der Terrasse, und wie immer erzählte Erik seiner Frau
lebhaft und mitteilsam von den kleinen Begebenheiten des Tages. Voll
Humor schilderte er ihr die Mädchenschule und Ruth. Warwaras Besuch in
der Stadtwohnung erwähnte er nur flüchtig.

Da kam Jonas atemlos ins Zimmer gestürzt. »Papa! da ist jemand, der
dich sprechen will. Ruth heißt sie. Ich habe sie in dein Arbeitszimmer
geführt.«

»Aber Jonas!« rief seine Mutter, »wie konntest du das nur thun! Da drin
muß es ja noch schauderhaft aussehen! Bringe sie doch herüber, Erik!
bitte, bringe sie lieber herüber! Wenn Gonne nur abräumen möchte!«

Erik hörte es nicht mehr. Er war schon fort.

Als er raschen Schrittes über den Flur in sein Zimmer trat, stand Ruth
mitten in demselben, etwas vornübergeneigt und die Hände fest gegen die
Brust gedrückt. Der erste Eindruck, den er empfing, war wieder der des
Scheuen, Vereinsamten, wie in dem Augenblick, wo sie so still gesagt
hatte: »Mir hilft niemand!« Wie er sie so dastehen sah und sie ihm mit
großen, bangen Augen entgegenblickte, erinnerte sie in keinem Zuge mehr
an den ausgelassenen Jungen im Schulhof.

Erik kam nur undeutlich die Vorstellung davon, daß man im Fall eines
unerwarteten Besuches zunächst einen Stuhl anbietet und irgend etwas
Freundliches sagt. All dies Gethue kam ihm wie zu einer andern
Welt gehörig vor, -- jedes konventionelle Wort vergaß er dieser
schüchternen, kindlichen, sichtlich aufs tiefste ergriffenen Gestalt
gegenüber. Es war, als stände sie auf einer einsamen Insel, am weiten
Meeresstrande, ganz allein vor ihm -- ein Kind aus dem Volke -- und
ringsum nichts als ein paar schwebende Möwen über ihren Köpfen.

Ganz unwillkürlich, aus diesem Eindruck heraus, fand er nur das Wort
der Freude: »Kommst du zu mir?«

Das »Du« wirkte wie eine Erlösung auf sie. Es schien ihr in dieser
Einfachheit ein Zauberwort, das die fremde, herzbeklemmende
Wirklichkeit mit einem Schlage verwandelte, -- sie umwandelte zur
traumhaften Verwirklichung dessen, was Ruth ersehnt und ersonnen hatte.

Sie machte einen Schritt auf Erik zu, ein heller Ausdruck flog über ihr
ganzes Gesicht, und die Hände fester gegen die Brust pressend, deren
Herzklopfen ihr den Atem benahm, sagte sie kindlich: »Danke!«

Er hatte sich auf einen der umherstehenden Stühle gesetzt und faßte
ihre Hände in den seinen zusammen. Die Hände zitterten, und es fiel
ihm auf, wie blaß und schmächtig sie aussah, wenn nicht der Ausdruck
übermütiger Lebenslust, den er an ihr gesehen, darüber wegtäuschte.

»Fürchtest du dich?« fragte er, und sein Blick ruhte aus dem schmalen
Gesichtchen.

Sie nickte ganz leise mit dem Kopfe, und noch immer zitterte sie, wie
ein Vogel, auf den eine fremde Hand sich legt.

»Du fürchtest dich doch nicht vor mir, zu dem du kamst? Sage mir,
weshalb du kamst.«

Sie nahm ihre Mütze vom Kopf und besann sich. In Gedanken durchlief
sie die ganze Entstehungsgeschichte ihres Entschlusses, vom ersten
Schuleindruck an, -- aber die ließ sich ja, so weitläufig und verworren
wie sie war, ganz gewiß nicht wiedererzählen. Sie versuchte, die
Hauptsache herauszuholen. Aber nun vergaß sie alles. Es war rein
unmöglich.

Und plötzlich brach Ruth in Thränen aus.

»Mein liebes Kind!« sagte er sanft, und strich ihr das lose, lockige
Haar aus der Stirn, das über das gesenkte Gesicht gefallen war. Dann
nahm er ihre Hände wieder in die seinen.

»Hast du Vertrauen zu mir?« fragte er.

»Ja!« sagte sie leise.

»Unbedingtes?«

»Ja!« sagte sie wieder.

»Dann darfst du weder zittern noch dich fürchten. Versuche jetzt einmal
ganz fest, es zu bezwingen. Ganz fest, hörst du? Es wird schon gehn.«

Sie machte eine Anstrengung, das nervöse Beben, das durch ihren Körper
ging, zu unterdrücken. Er wartete ruhig einige Augenblicke, bis es ihr
gelungen war. Dann beharrte er auf seiner ersten Frage: »So. Und nun
sage mir, weshalb du kamst. Sage es, so gut du kannst. Versuche es nur.
Ich werde dir helfen.«

Sie seufzte und begann unsicher. »Ich komme nun bald nicht mehr in die
Schule --«

»Nein. Ich weiß. Und --?«

»Und da mußte ich hierher.«

Sie brach ab, wie um ihre Gedanken zu ordnen, dann fügte sie schüchtern
hinzu, mit einem rührenden Ausdruck: »Ich bin ja allein!«

Erik wurde es warm bis ins innerste Herz. Nie noch meinte er eine so
tiefe, so heilige Zärtlichkeit empfunden zu haben, wie diesem Kinde
gegenüber. Der Wunsch, sich ihr zu widmen, die Hand auf sie zu legen,
wie auf etwas, das ihm zugehörte, ward plötzlich so stark in ihm, daß
er ihn unwillkürlich als bereits erfüllt nahm und kein Hindernis gelten
ließ.

»Möchtest du hierher gehören, Ruth?« fragte er.

»Ach ja!« rief sie lebhaft, und dann sagte sie mit Inbrunst: »Immer!«

Ihr Gesicht hatte sich verändert, die Augen sahen jetzt ganz dunkel aus
und lachten aus den nassen Wimpern. Sie hätte so gern wieder gesagte
»Danke!« Denn es lag der Inbegriff all ihres Denkens und Fühlens in dem
Worte ausgesprochen. Aber sie scheute sich, es zu wiederholen.

Erik sah ernsthaft vor sich nieder, als erwäge er nachdenklich einen
Plan.

»Nach dem Verlassen der Schule würdest du wohl noch mancherlei
Unterricht erhalten,« bemerkte er, sie zur Wirklichkeit zurückführend,
»wenigstens wäre das in hohem Grade wünschenswert. Möchtest du ihn bei
mir nehmen?«

Sie nickte eifrig.

»Gut. Wir würden also miteinander arbeiten,« -- und in leichtem Tone
setzte er hinzu: »sehr viel arbeiten, Ruth! Wirst du das auch wollen?
In dem Aufsatz da, -- der hat uns ja zu einander geführt, nicht wahr?
-- nun, da steht fast ebensoviel zum Erschrecken wie zum Freuen. Einen
so ungeordneten kleinen Kopf, mit so krausen, wilden, unfertigen
Einfällen und Vorstellungen habe ich noch gar nicht gesehen. Glaubst du
das wohl?«

Sie lächelte nur und sah ihn vertrauensvoll an, als ob sie dächte: »Du
wirst es schon ordnen und entwirren!«

Er blickte schweigend auf sie hin, und wieder erschien sie ihm wie ein
scheuer, kleiner, mattgeflogener Vogel, der sich hilflos verflattert
hat, und sich mit einemmal in einemn weichen Neste findet.

Draußen zögerte die Maisonne am Himmel, und durch den feinen Nebel
hindurch, der von den feuchten Wiesen jenseits des Gartens aufstieg,
fielen ihre Strahlen beinahe rot, wie flüssiger Purpur. Die beiden noch
vorhanglosen Fenster gingen direkt auf den Hintergarten hinaus.

Ein herber, frischer Duft nach Birkenknospen wehte mit dem lauen
Abendwind ins Zimmer, und unermüdlich tönte das inbrünstige Locken der
Nachtigallen.

Während Erik auf Ruth schaute, kam ihm eine störende Erinnerung.

»Erzähle mir doch,« sagte er unerwartet, »was denn das für ein Mann
war, den du auf der Straße grüßtest?«

Sie errötete etwas und wurde verlegen, aber um ihre Mundwinkel zuckte
es dabei, wie von verhaltenem Mutwillen. Auf den Wangen erschienen
verräterisch zwei Schelmengrübchen.

»Ich -- -- -- ach, der! Den kenne ich ja gar nicht.«

»Aber er sah dich doch so an, als ob ihr euch recht gut kenntet. Wie
kam denn das?«

»Ja, das kam so,« begann sie mit einem Seufzer, und überlegte, »-- es
ist wirklich nicht leicht zu erzählen. Ich habe ihn mir ausgesucht,
aber er weiß ja nichts davon.«

»Ausgesucht? Aber, liebes Kind, das kann doch kein Mensch verstehen,«
sagte er ungeduldig, »nimm dich besser zusammen, Ruth! sprich
deutlicher. -- Nun?«

»Ich will ja!« rief sie eingeschüchtert, »es ist bloß so schwer! Es
war eine bloße Geschichte, -- die wir untereinander spielten, -- im
Schulhof, in der Frühstückspause, -- und da mußte jemand vorkommen, der
ungefähr so aussah. Und da -- habe ich mir diesen ausgesucht, weil es
schöner geht, wenn man dabei an einen lebendigen Menschen denkt.«

»Aber was sollte er denn davon denken? Zum Beispiel schon davon, daß du
ihn zuerst grüßtest?«

»Das mußte ich ja thun! Wie sollte er sonst wissen, was er zu thun
hatte? Ob er grüßen durfte?«

»Und wenn er nun auf der Straße mit dir angebunden hätte? Hast du denn
das nicht überlegt?«

Sie sah erstaunt auf.

»Das durfte er ja gar nicht. Das hätte gar nicht in seine Rolle gepaßt.
Er mußte edel und unglücklich sein.«

Erik entfuhr ein kurzer Laut. Seine Augen blickten ernst, fast besorgt
auf sie.

»In eurem kindischen Spiel -- ja. Aber in der Wirklichkeit?« fragte er
langsam. »Kannst du deine Gedanken nicht besser in Zucht nehmen? Kannst
du das nicht auseinander halten? Das mußt du können, Ruth! Und nun
sage mir, was du gethan hättest, wenn er aus der eingebildeten Rolle
gefallen wäre?«

Sie dachte nach.

»Dann hätte ich die Augen zugemacht und wäre fortgelaufen.«

»Wärst du denn dadurch unsichtbar geworden, daß du die Augen zumachst?«

»Ich? Nein! aber doch er. Denn dann hätte ich ja einen andern suchen
müssen.«

»Einen andern?!«

Sie nickte.

»Es gibt ihrer viele!« versicherte sie treuherzig.

»Und das hättest du wirklich gethan? Besinne dich mal! Wäre es dir
wirklich auch dann noch nicht klar geworden, wie kindisch und dreist
dein Benehmen war?«

Ruth sah unglücklich aus. Offenbar machte er ihr einen Vorwurf.
Sie dachte nach, was er nur damit meinen könnte? Sie konnte nicht
begreifen, was dieser fremde Mann, außerhalb seiner Rolle, sie kümmern
sollte?

»Ich brauchte ihn, und da nahm ich ihn mir!« rief sie mit kläglichem
Gesicht.

Erik stand auf und ging ein paarmal durchs Zimmer. Dann blieb er vor
Ruth stehen, die sich auf die Kante seines Stuhles gesetzt hatte.

»Sage mir, gibt es mehr solcher fremder Menschen, die du auf der Straße
grüßest?«

»Ja. Alle Straßen sind voll davon.«

»-- Männer --?« fragte er zögernd.

»Auch Männer. Ich brauche immer frische für die Schule. Auch Frauen,
Kinder, alte Leute.«

»Was meinst du damit, daß du Männer ›für die Schule‹ brauchst?«

»In den Geschichten für die Mädchen muß immer einer vorkommen. Am
liebsten einer mit einem kleinen Schnurrbart. Aber ich habe auch andre
Geschichten, -- viel, viel schönere, -- wunderschöne,« fügte sie
lebhaft hinzu, -- »und die mit Kindern sind nur die liebsten.«

»Erzählst du die den Mädchen in der Schule nicht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie finden sie nicht schön!« sagte Ruth traurig.

Er setzte sich zu ihr auf einen Ledersessel, der am Fenster stand, und
neigte sich ein wenig vor.

»Willst du sie künftig mir erzählen?« fragte er ernst, »aber
alle, ohne eine Ausnahme. Und ohne einen Winkel, in den ich nicht
hineinsehen könnte. Ich muß alles wissen und hören, was durch diesen
phantastischen, unnützen Kopf geht. Wir wollen einen ordentlichen
Vertrag machen: du sollst sie auch niemand sonst mehr erzählen. Nur
mir. Immer, mit allem hierher kommen. Du wolltest ja hierher gehören.
-- Wirst du es bedingungslos und gehorsam thun?«

Ihre Augen waren groß und dankerfüllt auf ihn gerichtet; er konnte
es an ihrem Gesicht sehen, wie die Gedanken in ihr vergebens nach
Ausdruck rangen, aber er hatte dennoch keine Ahnung davon, mit welch
einem innern Jubel ein neues Glück ihr aufging. Sie wollte es ihm
so gern sagen, aber in ihrem wortarmen Gefühl verstummte sie statt
dessen gänzlich, und plötzlich, als müßte sie sich anstatt des Wortes
wenigstens durch die Gebärde helfen, glitt sie nieder vom Stuhl und
kniete bei Erik hin, -- wie auf einen ihr nun zugewiesenen Platz,
erwartungsvoll, mit einem Blick wie ein Kind um Weihnachten.

Sie fühlte sich so glücklich. Zu Hause. Geborgen. Von hier aus mußte
alles Gute kommen.

Er strich ihr leise über das Haar. »Also höre unsern Vertrag zu Ende,«
sagte er in dem ruhigen Tone, unter dem sie ganz still wurde und
lauschte, »wenn du mir deine Geschichten schenkst, dann schenke ich dir
auch etwas. Du sollst, soweit es an mir liegt, nicht in deiner eigenen
Phantasie stecken bleiben, sondern mit klarem Blick so weit schweifen
lernen, wie das Leben -- das wirkliche, herrliche Leben -- reicht. Und,
wenn es auch anfangs Anstrengung von dir verlangen sollte, meinst du
nicht, daß ich dich damit etwas Schöneres lehren werde, als du bisher
dir geträumt und zusammengedichtet hast?«

»Ach ja!« rief sie sehnsüchtig, als strebe sie verlangend beide
Hände nach etwas Erwartetem aus, -- »das ist sie ja: von allen die
allerschönste Märchengeschichte!«

Ihm fiel der Ausdruck auf, weil sie ihn schon im Schulhof den Mädchen
gegenüber gebraucht hatte.

»Gerade das sagtest du ja, als du heute morgen den Mädchen erklärtest,
daß du etwas Neues vorhabest. Was war es denn?«

Zu seinem Erstaunen fuhr Ruth zusammen, und senkte den Kopf.

Erik sah betroffen aus.

»Was war es?« fragte er streng.

»Ich kann es nicht sagen,« versicherte sie scheu, »bitte, bitte nicht.«

Er faßte ihre Hand hart im Gelenk, so daß es sie schmerzte.

»Wenn es etwas ist, was dir so schwer fällt, auszusprechen, dann ist es
um so notwendiger, daß du es sagst. Ich muß es wissen, -- jetzt gleich,
Ruth.«

Sie versuchte, die schmerzende Hand aus der seinen zu ziehen, und als
es ihr nicht gelang, senkte sie das Gesicht noch tiefer, so daß es sich
an seinem Rockärmel fast versteckte.

Er bog ihren Kopf zurück und sah ihr in das Gesicht. Es war über und
über in Glut getaucht.

»Es hilft nichts, sich zu verstecken,« sagte er unerwartet sanft, »du
wirst mir immer nachgeben müssen, mein Kind. Mach es kurz!«

Ihre Hände schlangen sich nervös auf seinen Knieen ineinander, dann hob
sie sie mit einer bittenden Gebärde zu ihm auf.

»Es war nur, -- ich hatte alle diese Geschichten auf einmal so satt;
alles stockte auf einmal, -- nichts mochte ich mir weiter ausdenken. So
schön ich es mir auch ausdachte, mit so vielen Menschen drin ich es nur
auch ausdachte, -- ich blieb immer allein. Die Menschen grüßten, und
gingen vorüber. Und da -- da kam eine solche Sehnsucht, -- seit vier
Tagen solche Sehnsucht. Ich konnte nicht mehr spielen. Nie mehr.«

»Sehnsucht -- wohin?« fragte er halblaut.

»Hierher!« sagte sie mit leiser Stimme und wandte den Kopf hinweg.

Er ließ ihn frei, ließ zu, daß sie ihn wieder an seinem Rockärmel
versteckte.

Beide Arme hatte er um sie geschlungen.




                                  II.


Erik saß bei Ruths Onkel und Tante im Empfangssalon, hielt Hut und
Handschuhe auf den Knieen und blickte nachdenklich darauf nieder,
während er dem Gespräch der beiden zuhörte.

»Ich finde, mit deiner Reise stimmt es gut zusammen, Mathilde,« sagte
der Onkel jetzt, »denn während du mit Liuba in Wiesbaden bist, ist
Ruth gerade so ganz unbeaufsichtigt hier. Ich weiß ohnedies nicht, was
die Kleine mit den langen Ferien anfangen soll, da in diesem Jahr die
meisten Bekannten nicht aufs Land, sondern ins Ausland gehen.«

Erik besaß ein scharfes Auge für die Außenseite von Menschen und wurde
stark durch dieselbe beeinflußt. Der Onkel, mit seinem aschblonden,
schon etwas graugemischten Haar und Bart, mit den schmächtigen
Schultern seiner elegant gebauten Gestalt und mit seinen frauenhaft
feinen Händen, gefiel ihm recht gut. In Ton und Haltung erinnerte
er ein wenig an Ruth. Dagegen empfand Erik gegen die Tante eine
ausgesprochene Antipathie.

»Solche Besuche bei allerlei Bekannten auf dem Lande wären jetzt
auch durchaus keine geeignete Beschäftigung für Ruth,« bemerkte
er aufblickend; »sie muß zu thun haben, -- wirkliche Arbeit
und Anstrengung muß sie haben. Selbst körperliche oder geistige
Ueberanstrengung wäre noch besser als Mangel an Beschäftigung. In
diesen Jahren braucht man starke Nahrung, und Ruth braucht sie am
meisten.«

»Siehst du; was sage ich immer?« fiel die Tante ein, und nickte ihrem
Mann bedeutsam zu; »ich sage immer: man läßt sie viel zu viel gewähren.
Aber du hast das immer am bequemsten gefunden.«

»Lieber Gott! was wolltest du denn auch mit solchem kleinen
Frauenzimmer anfangen,« versetzte der Onkel begütigend, »man konnte sie
doch nicht etwa anstellen, Stuben zu scheuern?«

»Nein, weißt du, lieber Louis! das brauchst du mir wirklich nicht
vorzuhalten, -- es ist ja gerade, als ob ich Ruth Dinge verrichten
ließe, die sich nur für den niedersten Dienstboten schicken!« sagte
seine Frau, die scherzende Uebertreibung unerbittlich ernst nehmend,
»aber ein wenig sich im Häuslichen umsehen, -- das hätte Ruth ganz wohl
können. Liuba wird ja auch dazu angehalten. Es ist doch nun einmal der
Beruf der Frau.«

Erik betrachtete mit schlecht verhehltem Spott in den Augen die große,
stattliche Erscheinung der Tante, an der es ihm charakteristisch für
ihr ganzes Wesen vorkam, daß die ihr gewohnten guten Formen des äußeren
Benehmens einen gewissen Mangel an natürlicher Grazie nicht verdecken
konnten.

»Was das anbetrifft,« unterbrach er sie ungeduldig, »so brauchen Sie
sich dieser Versäumnis wegen nicht weiter anzuklagen. In einem so von
allen Seiten bedienten Hause bleibt die sogenannte ›häusliche Hilfe‹,
bestehe sie nun im Blumenbegießen oder Kaffeekochen, im besten Fall
eine gleichgültige Spielerei, -- im schlimmern Fall weckt sie die
Einbildung, man habe etwas geleistet. Dagegen hätte ich gegen das
Stubenscheuern nicht viel einzuwenden.«

Der Onkel lachte erfreut auf. »Jetzt haben Sie es aber mit meiner Frau
gründlich verdorben!« drohte er scherzend, »aber ich muß bekennen,
daß ich gar nicht begreife, warum sie alle beide so versessen darauf
sind, Ruth ins Joch zu spannen. Natürlich habe ich nicht das Geringste
gegen den Unterricht, den Sie vorhin als wünschenswert vorschlugen,
-- im Gegenteil, es freut mich für die Kleine. Aber ich möchte Sie
doch bitten, das mit dem Stubenscheuern auch nicht einmal symbolisch
auszuführen. Nicht ins Geistige zu übertragen. Machen Sie es nur nicht
zu ernsthaft. Ruth ist es so gewohnt, umherzulaufen und in ihrer
Faulheit vergnügt zu sein.«

»Ich glaube, Sie täuschen sich,« entgegnete Erik in bestimmtem Ton,
»Ruth ist weder faul noch vergnügt. Sie ist es gewohnt, sich in einem
selbstgemachten Traumdasein vollständig zu erschöpfen. Sie ist dadurch
zum Teil ihrem Alter vorausgeeilt, zum Teil aber auch hinter ihrem
Alter zurückgeblieben. Ich habe noch nie eine so ungleiche Entwicklung
gesehen. Wenn dieselbe nicht rechtzeitig aufgehalten wird, so läuft
Ruth Gefahr, an ihrer Phantasie geistig zu erkranken.«

Der Onkel schüttelte verwundert den Kopf.

»Das ist doch kurios,« sagte er, »ich habe Ruth stets für ein höchst
praktisches kleines Frauenzimmer gehalten. Von Phantasie war doch nie
eine Spur an ihr zu bemerken. Alles was sie sagt, ist ja so direkt
und nüchtern. Und am liebsten sagt sie gar nichts. Sie sollten nur
wissen, wie nüchtern sie in allem ist, wo die jungen Mädchen sonst
ihre Phantasie sitzen haben! Das hat mir stets so gut gefallen. Da kann
Liuba gar nicht mitkommen.«

Seine Frau sah ihn verletzt an.

»Glücklicherweise nicht!« bestätigte sie etwas erregt, »Liuba würde
nicht umhergehen, wie in einen grauen Sack gekleidet, bloß weil es
so am bequemsten ist. Und überhaupt, -- denken Sie nur, neulich höre
ich, wie meine Tochter zu Ruth sagt: ›paß nur auf; wenn du ein Jahr
älter bist, dann wirst du schon wissen, was schön und häßlich ist, und
wirst am Spiegel fragen: Wie gefall' ich ihm?‹ -- -- Mein Gott, Sie
wissen ja, wie junge Mädchen so untereinander reden! Aber was antwortet
Ruth darauf? Sie lacht nur, und dann fragt sie erstaunt: ›Warum nicht
lieber: wie gefällt er mir?‹«

In diesem Augenblick ging die Thür auf, und Ruth trat ein.

Sie kam aus ihrem Zimmer, ohne eine Ahnung, daß sie Besuch vorfinden
würde. Als sie so unerwartet Erik erblickte, fuhr sie zurück und wurde
glühend rot. Diese plötzliche Anwesenheit seiner Person inmitten der
Ihrigen, die ihr so fern standen, -- die unerwünschte Vermischung
eines sie ganz erfüllenden Bildes mit der Umgebung, die sie mied und
floh, machte einen ganz seltsamen Eindruck auf sie. Etwa so, wie
wenn eine Traumgestalt aus herrlichen Phantasien ins wirkliche Leben
niedersteigt, um ein banales Gespräch zu führen; -- etwa so, wie wenn
man das Intimste, was nicht einmal Worte besitzt, in die Sprache des
Pöbels übersetzt findet.

Daß Erik herkommen, daß er sich überhaupt mit ihren Verwandten
auseinandersetzen mußte, das fiel ihr nicht im geringsten ein. Er
hätte das schon so einrichten müssen, daß es eine Angelegenheit aus
einer andern Welt -- aus ~ihrer~ Welt blieb. Lieber noch wäre sie dann
des Nachts, heimlich, und auf bloßen Füßen bis zu ihm hingelaufen.

Entsetzlich rot und linkisch sah sie aus, wie sie sich da, verlegen und
mit scheuem Gesicht, in die Thürspalte drückte. Aber nicht Verlegenheit
empfand sie, sondern eine unentwirrbare Mischung von Zorn und Scham,
-- Scham darüber, daß etwas Zartes, ihr Zugehöriges, vor fremden Augen
herumgezeigt und besprochen wurde.

»Nun, Ruth, benimmt man sich so?« bemerkte die Tante verweisend,
»kannst du nicht näher kommen?«

Da that sie etwas Wunderliches. Sie hob beide Hände vor die Augen, und
so, mit scheuklappenartig verdecktem Gesicht, ging sie, wie ein Kind,
das sich vor fremden Gästen fürchtet, durch das Zimmer bis vor den
geschnitzten, runden Sofatisch, um den sie saßen.

Der Onkel lachte, seine Frau schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte
strafend: »Ein so großes Mädchen!«

Erik, der bei Ruths Eintreten den Kopf nach ihr gewandt hatte, blickte
sie schweigend und aufmerksam an. Als sie dicht neben ihm stand, hob er
die Hand und zog ihr die Hände vom Gesicht fort. »Warum willst du mich
heute nicht ansehen, Ruth?« fragte er sie.

Sie antwortete nicht. Noch war sie sehr rot und hielt die Augen zu
Boden gesenkt. Dieses »Du«, das er zu ihr sagte, und das sie gestern so
dankbar hingerissen hatte, verletzte sie heute beinahe. Es klang ganz
anders -- hier, an dieser Stelle, -- es klang wie die Anrede, die man
einem Kinde gegenüber wählt, das unter lauter Erwachsenen dasteht.
Ja, sie stand ihm und den andern ~gegenüber~, und sie verhandelten da
über sie, als wäre sie verraten und verkauft, -- als handle es sich gar
nicht um ihre -- ~ihre~ eigene, ~eigenste~ Angelegenheit.

Durch Erik fühlte sie sich verraten und verkauft.

»Sie lernen ja Ruth von einer liebenswürdigen Seite kennen,« meinte
der Onkel, noch immer lächelnd, »aber sie ist nicht so schlimm, wie es
aussieht. Was ist dir nur in die Krone gefahren, Kleine? Verlegen hab'
ich dich noch nie gesehen.«

Erik, der sie unverwandt ansah, suchte jetzt die Aufmerksamkeit von ihr
abzulenken.

»Wir wollen schon mit einander zurechtkommen,« sagte er mit warmer
Stimme und wandte sich an den Onkel mit einer Frage wegen Tag und
Stunde des geplanten Unterrichts.

Ruth stand teilnahmlos daneben, ohne die Wechselreden der andern zu
beachten. Nur die Röte wich allmählich von ihrem Gesicht und machte
einem Ausdruck verhaltener Traurigkeit und Enttäuschung Platz. Sie
blickte nicht auf, sondern studierte eingehend das glänzende Muster
des Parkettfußbodens.

Da, als Erik schon Miene machte, sich zu verabschieden, hörte sie
ihren Onkel sagen: »Also, wenn es Ihnen wirklich kein zu großes Opfer
ist, erwarten wir Sie jedesmal hier, am Nachmittag, nach Ihren
Schulstunden!«

»Nein!« warf Ruth plötzlich laut dazwischen. Es war, als ob sie
aufwachte. Erstaunt und blitzend gingen ihre Augen vom einen zum
andern; »~hierher?~ das ist ja ein Irrtum. Ich werde hinauskommen.«

Alle sahen sie verwundert an, als sie das so kategorisch, ohne eine
Spur von Befangenheit erklärte. Erik aber erhob sich rasch.

»Das ist am Ende wirklich das Bessere,« stimmte er ihr unwillkürlich
bei, »und wenn Ruth den Weg nicht scheut und den Abend dann bei uns
verbringen will, so wäre es in der That während dieser Sommertage
vorzuziehen.«

Er sprach nicht mehr mit ganz der gleichen, überlegenen Sicherheit wie
vorhin, sondern etwas hastig. Ein schwacher Reflex von dem, was Ruth so
peinigend und störend an der Situation berührt hatte, schien jetzt auch
auf ihn überzugehen, als ahne oder begriffe er plötzlich ihre zornige
Scheu. Als er ihre Augen so vorwurfsvoll und mit einem unkindlichen,
fast strengen Blick auf sich gerichtet sah, da kam es ihm selbst mit
einemmal sonderbar vor, daß er sie anderswo um sich hatte haben wollen,
als in seinem eigenen, stillen Zimmer, -- dort, wo sie zu ihm gekommen
war. Beinahe hätte der Zufall es so gefügt. Aber sie ließ keinen Zufall
zu. Klar und zwingend wie eine Vision stand vor ihren Augen, was sie
sich ersehnt und erträumt hatte.

Während Erik mit ihrem Onkel das Zimmer verließ, und die Tante
hinausging, blieb Ruth regungslos stehen, die Hände auf dem Rücken,
den Kopf gebückt, wie immer, wenn etwas sie sehr beschäftigte. Im
Flur hörte sie die Hausthür gehen, dann einen raschen Schritt auf der
steinernen Treppe. Darauf wurde es ganz still.

Sie sah das Zimmer wie durch einen Schleier, überschüttet von
blendendem Sonnenlicht, das durch die hohen Blattgewächse und
Palmengruppen in beiden Fensterecken hindurchschimmerte und an den
vergoldeten Rahmen der Gemälde aufblitzte, die schon einen dünnen
Tüllbezug gegen Staub und Licht erhalten hatten.

Ruth ging langsam auf den Stuhl zu, auf dem Erik vorhin gesessen hatte.
Sie setzte sich hin, legte beide Arme auf den Tisch und den Kopf
darauf.

Und dann fing sie an bitterlich zu weinen. --

Bei Tisch, zu Mittag, beobachtete der Onkel Ruth nachdenklich. Es hatte
ihm so sehr imponiert, daß Erik alles zu ergründen schien, was in
ihr vorging. Da saß sie nun so schweigsam. Freilich konnte man nicht
wissen, woran sie dachte. Aber das konnte dieser Lehrer doch auch
nicht. Er war doch kein Hellseher.

»Woran denkst du eigentlich den ganzen Tag?« fragte Onkel Louis
plötzlich ärgerlich.

»Ich? An gar nichts!« versicherte sie mit einem verwunderten Blick.

»Aber an irgend etwas mußt du doch denken. Das thut ja jeder Mensch.
Woran dachtest du zum Beispiel jetzt eben?«

»Jetzt eben dachte ich an Großpapa,« sagte Ruth.

Darüber freute sich ihr Onkel und sah sie freundlich an. Er hatte
seinen Vater unendlich lieb gehabt.

»Du warst erst fünf Jahre, als deine Eltern starben, und du damals
hierher kamst; erinnerst du dich denn seiner noch?«

Sie nickte, und vor ihrem Blick tauchte die erste ganz bewußte und
deutliche Erinnerung aus ihrer Kindheit auf: eine Generalsuniform, ein
schneeweißer, großer Schnurrbart, und darüber zwei gütige blaue Augen
-- Kinderaugen eigentlich.

»Einmal hob er mich aus dem Bett -- er sah so schön aus, mit Bändern
und Sternen, und blitzte über und über, -- und da kam seine brennende
Cigarette an meinen bloßen Arm. Ich schrie sehr. Und da kamen ihm
Thränen in die Augen -- aber wirkliche, große Thränen, so daß die
Augen ganz voll davon standen. Und dann drückte er mich an sich und
küßte mich, -- auf den Arm und den bloßen Hals und das Gesicht und den
ganzen Körper. -- So war Großpapa. -- Jetzt würde ich mir gern den Arm
abbrennen lassen, wenn er mich nur noch einmal so küssen wollte!« fügte
sie wild hinzu.

Man sah, wie es in ihr gärte. Großpapas Zärtlichkeit hatte sie nie
vergessen können.

»Hast du Bilder und Andenken von ihm?« fragte der Onkel und dachte
darüber nach, was er ihr schenken könnte.

Sie schüttelte den Kopf.

»Keine Bilder. Nur ein Knallbonbon. Das brachte er mir einmal vom
Kaiser mit. Von einem Galadiner. Ich glaubte so bestimmt, es müßten
goldene Kleider drin sein. Aber Großpapa meinte, es wären nur Kleider
von dünnem Seidenpapier mit einem kleinen Rand von Flittergold. Da habe
ich das Bonbon lieber nicht knallen lassen. Ich habe es noch. -- Und so
sind eigentlich noch immer goldene Kleider drin.«

Dem Onkel kam ein Lächeln. Erik imponierte ihm lange nicht mehr so
sehr. Großpapas Küsse, Knallbonbons, goldene Kleider und Kleider
aus Seidenpapier -- das waren doch sicherlich normale und harmlose
Phantasien eines Kinderkopfes. --

Als Ruth am nächsten Nachmittag zu ihrer ersten Unterrichtsstunde
fortging, zupfte Onkel Louis sie tröstend am Ohrläppchen und raunte ihr
zu: »Du! wenn du ihm weglaufen solltest, so nehme ich dich in Schutz!«
--

Aber als Ruth diesmal am Gartenzaun des Landhauses stand, kam ihr
nicht, wie neulich, der Gedanke an Weglaufen. Sie zauderte auch nicht
mehr so lange einzutreten, sondern stieß die Pforte auf und ging
geradeaus -- nicht hinten die Terrasse hinauf und in das Haus, sondern
weiter, in die Tiefe des Gartens, der sie das erste Mal so gelockt
hatte.

Dort stand Jonas bei den Obstbaumgruppen, emsig beschäftigt, Raupen
zwischen den kleinen Blättern herauszusuchen. Eigentlich waren noch gar
keine Raupen da. Aber er konnte es nicht erwarten, sie abzulesen.

Als er Ruth herankommen sah, riß er den breitrandigen Strohhut vom Kopf
und machte ein verlegenes Gesicht, denn der Sonnenwärme wegen hatte er
die Jacke abgeworfen.

»Papa ist im Hause!« bemerkte er diensteifrig und bückte sich nach
seiner Jacke, die auf dem Rasen lag.

»Ja! Er stand am Fenster,« bestätigte Ruth, und lehnte sich gegen den
dicken Stamm einer alten Ulme.

Daraus wußte er nichts zu entgegnen, und so schwiegen sie beide einige
Augenblicke.

»Wie wunderschön!« sagte Ruth dann, ganz in ihren Frühling versunken,
und breitete beide Arme nach den mächtigen, leise schwankenden Aesten
empor, die über ihr rauschten.

Jonas sah angestrengt in die Höhe, gewahrte aber nichts.

»Wo ist das schöne?« fragte er verwundert.

»Diese kleinen, drolligen Ulmenblätter! Die andern Bäume haben schon
viel größere Blätter. Aber diese sitzen noch so zusammengedrückt in den
Knospen -- und alle miteinander an den Zweigspitzen, -- als getrauten
sie sich nicht. Oder als guckten sie frierend nach den braunen,
klebrigen Hülsen, die sie schon heruntergeworfen haben. Sieht es nicht
aus, als wären sie in lauter kleinen Sträußchen auf dem Baum verstreut?
Es sieht aus, als wären sie ihm nur so angeflogen. Und als könnten sie
wieder wegfliegen.«

»Sie fliegen aber nicht weg,« versicherte Jonas und wandte sich wieder
seinen vermeintlichen Raupen zu.

»Nein. Nur diese hier thun es,« bemerkte Ruth und streckte ihre Hand
gegen den Kirschbaum aus, von dem unter Jonas' unvorsichtiger Berührung
die zarten Blütenblätter auf ihren Arm niederschwebten.

»Dies hier sind gute Kirschen. Hoffentlich von den roten,
durchsichtigen,« meinte Jonas, »denn die esse ich am liebsten. Sonst
haben wir fast nur Apfelbäume und gewöhnliche Holzbirnen.«

»Sie sehen ebenso schön aus,« entgegnete Ruth; »wenn man am Gitter
steht, sieht es aus wie ein Märchen. Aber später werden sie so grün und
natürlich wie die andern Bäume. Nur kleiner.«

»Das muß so sein,« erklärte Jonas gleichmütig, »sonst würde der
Rasenplatz ja niemals rechten Schatten kriegen. Und der ist das Beste
vom Sommer. Denn gerade hier, am Springbrunnen unter den Obstbäumen,
liegt meine Mutter im Ruhestuhl. Und sie kann die viele Sonne nicht
vertragen.«

Ruth sah ihn mit Interesse an. Es kam ihr als etwas Besonderes vor, daß
er sich seiner kranken Mutter wegen über die Bäume und den Schatten
freute und die grünen Blätter besser fand, als all die wunderschönen
weißen Blüten. Die Schulmädchen, die sie kannte, besaßen zwar
meistenteils auch Mütter, aber die pflegten gesund zu sein, und nie
hatte sie gehört, daß sie sich derentwegen auf den Sommer freuten,
sondern immer nur wegen der Ferien. Und dann waren es Mädchen. Dies
hier aber war ein Junge.

Sie betrachtete Jonas genauer, und er gefiel ihr sehr gut. Und auch er
sah jeden Augenblick zu ihr hinüber, und auch sie gefiel ihm über die
Maßen.

»Ist sie sehr krank?« fragte sie nach einer Weile zaghaft.

»Nicht sehr. Sie kann nur nicht aufstehen, -- schon viele Jahre nicht;«
belehrte er sie, »wenn sie das thun will, dann nimmt Papa sie in die
Arme und trägt sie. Das kann er so prachtvoll. Manchmal hat sie auch
Schmerzen, und weint. Und dann muß Papa immer bei ihr sein, und das
hilft ihr.«

Ruth wandte unwillkürlich den Kopf dem Hause zu, wo die kranke Frau
lag, und wo er war, der sie trug, und der ihr half, wenn sie Schmerzen
hatte.

»Hinter diesem Fenster,« sagte Jonas und wies mit der Hand über die
Terrasse nach dem Wohnzimmer; »da ist eben ihr Stuhl der Sonne wegen
hineingetragen worden.«

Aber im breiten Rahmen des geöffneten Fensters war nur Eriks Gestalt zu
sehen, der ihnen den Rücken zukehrte. Und nun wandte er sich langsam
um.

Ruth löste sich ein wenig hastig vom Stamm, an dem sie lehnte. »Jetzt
will ich hineingehen,« sagte sie.

Nachdem Erik von der Straßenseite her Ruth in den Garten hatte treten
sehen, war er wirklich an das Fenster des Wohnzimmers gegangen und
hatte von Zeit zu Zeit nach der Obstbaumgruppe hinübergeblickt, wo sie
mit Jonas stand und plauderte.

Klare-Bel lag neben dem Fenster, mit einer mühsamen und kunstvollen
Handarbeit beschäftigt, die darin bestand, an einer schadhaft
gewordenen Damastserviette das Muster nachzuziehen. Man nannte diese
Arbeit in Holland »Maazen«. Und wer es ernst damit nahm, der wollte das
»Maazen« bis auf das Ausbessern der Strümpfe und Unterjacken erstreckt
wissen.

»Kommt Ruth noch immer nicht herein?« fragte sie nach einer langen
Pause.

Er zog die Uhr.

»Nein. Noch fehlen einige Minuten an der Zeit,« bemerkte er einsilbig.

»Das ist doch eigentlich kein Grund, nicht hereinzukommen, wenn sie
einmal da ist. Aber vielleicht steht sie viel lieber im Garten und
plaudert mit Jonas, als daß sie im Zimmer sitzt und lernt, Erik. Das
ist am Ende auch ganz natürlich.«

Er schwieg und blickte mit einem Ausdruck von Ungeduld auf ihre
Handarbeit nieder. Erik konnte das »Maazen« nicht leiden. Er
behauptete, es verdürbe die Augen, und sogar den Charakter.

»Bitte, hör' jetzt einen Augenblick mit dem Sticheln auf,« sagte er und
nahm ihr einfach die Nadel aus der Hand, »ich weiß nicht, -- das Zeug
macht nervös.«

Dann sah er aber doch wieder auf die Uhr.

Ihm war die Ahnung gekommen, daß es doch nicht so ganz von selbst
gelingen werde, bestimmende Macht über Ruth zu gewinnen, wie er
es sich an jenem wundersamen Maiabend gedacht. Sie wollte durch
keine unerwartete oder unerwünschte Bewegung seinerseits in ihrem
selbständigen Traumleben gestört werden, und erhob sie ihn auch zum
Helden ihrer »allerschönsten Märchengeschichte«, so mußte er sich dabei
doch ganz still verhalten und auf alle ihre Intentionen eingehen, --
sonst entglitt sie ihm leise wieder, so leise und traumhaft, wie sie in
sein Leben gekommen war.

Das durfte nicht sein; der Erzieher in ihm litt es nicht, daß ihm
mißlinge, was er sich mit Ruth vorgenommen hatte. Er wußte: er würde
nicht eher ruhen, als bis er ihren Willen ganz in der Hand hielte. Aber
welch eine zarte Hand wollte er dann für sie haben!

Neben diesen pädagogischen Erwägungen erfüllte ihn eine ungeduldige
Freude. Freude über den Kampf, der ihm mit Ruth bevorstand. Erik,
der andre weit besser zu erforschen verstand, als sich selbst, ahnte
gar nicht, wie stark sich unter dem Deckmantel des Pädagogen ein
jugendliches, herrschsüchtiges Verlangen in ihm regte.

Er wandte sich dem Garten zu.

»Jetzt kommt sie!« sagte er, und wirklich, es klang wie ein Seufzer der
Erleichterung.

Seine Frau unterdrückte ein Lächeln und nahm ihre Arbeit wieder auf.
»Nun, viel Erfolg, Erik! Vergiß nur nicht, daß wir um neun Uhr den Thee
nehmen. Du wirst sie hungrig und durstig machen, denke ich mir.«

Er war über den Flur in seine Arbeitsstube gegangen und öffnete schon
von innen her die Thür, als Ruth kam und anklopfen wollte.

»Endlich!« bemerkte er, während sie eintrat, »weißt du, Ruth, was meine
Frau soeben meinte? Sie meinte, du seiest gewiß viel lieber mit Jonas
draußen im Garten, als bei mir hier in der Stube. Was sagst du dazu?«

Sie blickte ihn unsicher an und setzte sich auf seinen Wink in
den Ledersessel, der am Fenster stand. Dann erwiderte sie mit
niedergeschlagenen Augen: »Ich bin doch gekommen, weil ich wollte, --
nur weil ich's wollte. Daß Jonas auch hier ist, wußte ich doch gar
nicht. Das ist ja nur Zufall. Den fand ich hier.«

Er wußte nicht gleich, was ihn an der Antwort, die keine war,
überraschte. Sie betonte ausschließlich, daß sie ganz aus freien
Stücken hier sei. Auf einen Vergleich ließ sie sich vorsichtshalber gar
nicht ein.

»Wenn es in der Folge nur nicht umgekehrt kommt, mein liebes Kind,«
sagte er, an seinen Schreibtisch tretend, und legte einige Hefte und
Bücher zurecht, »denn mit Jonas plaudern oder im Garten umhergehen
wirst du ja in der Folge nur, wenn du ›willst‹, das heißt, wenn
Stimmung und Laune dir zufällig danach stehen. Hier hingegen, wo du
freiwillig hergekommen bist, kann es doch nicht ganz so bleiben. Hier
wird dich notwendigerweise etwas fest Bestimmtes erwarten, das vom
Augenblick und seinen Stimmungen unabhängig ist. Also auch etwas, wovon
du manchmal denken wirst: ›ganz so möchte ich's nicht, -- ganz so
meinte ich's nicht, -- dies da soll anders sein, -- das da soll heute
nicht da sein‹. Ist es nicht so?«

Sie schwieg hartnäckig und machte ein verschlossenes Gesicht. Es war
ihr wirklich ungefähr das durch den Kopf gegangen, was er da sagte.
Aber daß er das wissen konnte, kam ihr sehr unangenehm vor.

Er blieb bei ihr stehen und nahm ihr die Wollmütze, die sie aufbehalten
hatte, vom Haar.

»Nun, Ruth, gestern hast du mich nicht ansehen wollen, und heute willst
du mich nicht anreden. Hältst du so unsern Vertrag? Und ich hoffte
bestimmt, daß du mir viel erzählen würdest. Viel -- alles. Alle deine
schönsten Geschichten.«

»Nein,« erklärte Ruth, »nie und nimmer. Ich will nichts erzählen. Ich
will alles für mich allein behalten.«

»Du Geizhals!« sagte er und lachte, »das ist sehr schlimm. Ist es nicht
schlimm, wenn man einen zu Gaste geladen hat und dann die Hausthüre
vor ihm zuschlägt? Aber zum Glück kannst du das gar nicht mehr, Ruth.
Hast du mir nicht deine Geschichten geschenkt? Hast du das vergessen?
Nun sind sie mein Eigentum. Ich kann mit ihnen machen, was ich will.
Ich kann sie dir aus dem Kopf herausnehmen und für mich ganz allein
behalten.«

»Ach nein!« fiel sie etwas lebhafter ein und griff unwillkürlich nach
ihrem Kopf, »das geht ja gar nicht. Es geht nicht, wenn ich nicht
will.«

»Du spricht so viel von deinem Willen, Ruth. Und daß du nur hier bist,
weil du gerade willst. Aber weißt du denn eigentlich auch, ~wozu~ du es
willst?«

Sie stutzte und blickte auf. Als sie nicht gleich eine Antwort fand,
fügte er hinzu: »Ich weiß es für dich: du wolltest eben diesen Willen
klären und erziehen lassen von jemand, der dich lieb genug dazu hat.
Alles Lernen ist nur ein Mittel dazu.«

Ruth legte ihre Hände an die Seitenlehnen des Sessels, und ihr Gesicht
wurde noch ablehnender. »Wie wenn sie ein Visier vorgelegt hätte!«
dachte Erik, sie betrachtend. Aber hinter diesem Visier arbeitete eine
steigende Erregung in ihr. Die passive Stimmung, in der sie heute
hergekommen war, hielt unter Eriks Andrängen nicht stand, aber noch
weniger vermochte sie den Traum und das seltsame Glück des ersten
Abends wieder zu erhaschen. Sie verschloß und verbarg sich daher
instinktiv vor ihm, wie vor einer Macht, die man sich erst genau
ansehen muß, ehe man sich mit ihr einläßt.

»Alles ist heute anders!« murmelte sie.

»Es wird immer anders sein, als du es dir willkürlich ausmalst,«
entgegnete er in ruhigem Ton, »und das soll es auch, Ruth! Es soll zu
ernst sein für ein bloßes Spiel der Phantasie. Siehst du, auch ich habe
mir etwas Schönes ersonnen und geträumt, das ich in dir verwirklicht
sehen möchte. Ich versprach dir doch: für die Geschichten, die du
mir ~erzählen~ wolltest, solltest du eine durch mich ~erleben~. Die
Allerschönste -- sagtest du nicht so? Mit dem Erzählen mußt du es nun
halten, wie du willst, aber mit dem Erleben wirst du es halten, wie
ich will. Es war mein Geschenk für dich. Und wenn du heute auch nichts
davon wissen willst, so wirst du es doch trotzdem annehmen müssen.«

Ruth wurde unruhig. Sie kannte nur zwei Sorten Menschen, und daß sie
Erik in keiner von beiden unterbringen konnte, ängstigte sie. Die eine
Sorte bestand aus ihrer jeweiligen täglichen Umgebung, die ihr meistens
störend oder gleichgültig war und wirkungslos an ihr abglitt; die
andre bestand aus den fremden Menschen, die sie, wie Schattenbilder,
aus der Ferne betrachtete, und denen sie die äußere Anregung zu ihren
Phantastereien entnahm. Zu denen konnte Erik nicht gehören, denn die
thaten nur, was sie wollte, -- sie ~waren~ ja nur, was sie wollte. Er
hingegen war eine Wirklichkeit, die auf sie eindrang. Sie konnte ihn
aber auch nicht abwehren, wie sie die Ihrigen von sich abwehrte, denn
es war etwas da, was sie mächtiger reizte und anregte, als es alle
Schattenbilder zusammen gethan.

Sie sah ihn scheu an.

»Ich will lieber ein andres Mal kommen,« bat sie leise, »ich kann heute
nicht lernen. Ich kann's nicht.«

»Doch! doch!« entgegnete er beschwichtigend, »du kannst es. Und im
Grunde willst du es auch. Aber wir können nicht in jedem Augenblick den
Kampf darum von neuem aufnehmen. Der muß ein für allemal entschieden
werden. Du oder ich, Ruth! Einer von uns beiden muß gehorchen.«

Da sprang Ruth plötzlich auf und sagte undeutlich: »Dann kann ich auch
fortbleiben.«

Es war ihr ganz spontan, wider alle Ueberlegung, entfahren. Aber nun
half es nichts. Nun war es heraus.

Erik sah, wie sie ganz blaß und über sich selbst erschrocken dastand,
und ein heftiges Mitleid mit ihr erfaßte ihn. Ihm kam es vor, als habe
er sie mißhandelt, und sein Blick wurde sehr weich.

Aber er dachte nicht daran, dieser weichen Regung nachzugeben. Er
wünschte, die entscheidende Situation so scharf als möglich zum Austrag
zu bringen. Am Gelingen zweifelte er nicht. Und voll Freude fühlte er:
war es erst überstanden, so konnte er alle Strenge in die Rumpelkammer
werfen. Dann war er Ruths für alle -- alle Zeit sicher.

»Gewiß kannst du fortbleiben,« bestätigte er ruhig, »wenn es sich
für dich wirklich nicht um mehr gehandelt hat, als um einen solchen
Zeitvertreib, wie ihr ihn unter euch im Schulhof treibt. Weißt du
noch, was du von dem Fremden sagtest, den ihr in euer kindisches Spiel
hereingezogen habt? ›Wenn er mir nicht gepaßt hätte, wenn er aus der
Rolle gefallen wäre, die ich ihm zugewiesen, dann hätte ich mir einfach
einen andern suchen müssen, -- ich hätte die Augen zugemacht und wäre
fortgelaufen.‹ Ist es hiermit ebenso oder auch nur annähernd so, -- --
dann laufe nur fort.«

Während er sprach, fühlte er beständig das große Mitleid. Sie sah nur
ein einziges Mal auf, und wie sie seinem weichen Blick begegnete, da
war es, als ginge ihre passive Abwehr in eine Art von Angriff über, --
als suche sie nach einer Waffe, nach irgend etwas, was sie von ihrem
Leiden befreien, ihm weh thun und ihr Macht geben könne. Ihm fielen die
Worte ein, die sie vom Fremden gebraucht hatte: »Ich brauchte ihn eben,
und da nahm ich ihn mir!«

Ruth langte nach ihrer Wollmütze, die auf dem Schreibtisch lag, und
drückte sie zwecklos in den Händen zusammen.

»Ich will nach Hause gehen!« wiederholte sie, und zitterte am ganzen
Leibe.

»Wie du willst.«

»Also adieu,« sagte sie, und ging langsam, wie gelähmt, der Thüre zu.

»Adieu, mein Kind.«

Sie hatte Mühe, den Thürgriff zu finden und niederzudrücken, ihre Hände
waren kalt und gehorchten ihr nicht. Als aber die Thür offen stand, und
sie in den Flur hinaustrat, da blickte sie beim Schließen der Thür mit
brennenden Augen ins Zimmer zurück.

Erik saß auf dem von ihr verlassenen Ledersessel am Fenster. Er hatte
den rechten Arm auf die Lehne desselben gestützt und die Hand über die
Augen gelegt.

Und plötzlich überfiel Ruth das Bewußtsein: daß all sein
Herrschenwollen im Grunde doch nur ein Dienenwollen sei. Plötzlich
überfiel es sie: daß er eben jetzt leide, -- um sie leide, die ihn
verletzt hatte.

Es traf sie mit einem Schmerzgefühl, aber dieses Gefühl war seltsam und
berauschend; es lag Triumph darin. Es war ein Schmerz, der sich wie ein
Glück anfühlte.

Noch immer zitterte sie am ganzen Körper, aber nicht mehr in der Angst
der Flucht. Sie hatte mitten in der Angst ihrer Flucht Halt gemacht,
sich gegen den Feind gekehrt und ihn besiegt gesehen.

Wer Ruth über den Flur gehen sah, der konnte meinen, sie sei
trunken. --

Um neun Uhr -- Gonne hatte bereits den Thee und die gerösteten
Brotschnittchen auf den Tisch gebracht -- kam Erik endlich in das
Wohnzimmer herüber.

»Es ist doch nichts vorgefallen?« fragte seine Frau mit einem Blick in
sein Gesicht, »Ruth ist ja schon so bald fortgegangen. Und ich dachte
doch, daß sie mit uns bleiben sollte?«

»Für heute war es besser so,« versetzte er, und Klare-Bel fragte nicht
weiter.

Aber Jonas that es statt ihrer.

»Ruth habe ich ganz ungeheuer gern,« versicherte er, »kommt sie bald
wieder her, Papa?«

»Bald!« sagte dieser.

»Denke dir nur, sie wollte es mir nicht sagen,« plauderte Jonas weiter,
»ich habe sie nämlich noch im Garten gesprochen, wie sie fortging. Da
sah sie so kurios aus, Papa, ihre Augen waren so groß und glänzten so,
-- sie sah aus, als ob sie gerade was geschenkt bekommen hätte.«

»Was geschenkt?« wiederholte Erik, und setzte das Theeglas, das er zum
Munde führen wollte, hart auf das Tischtuch nieder.

»Ja, ganz gewiß, gerade so sah sie aus. Aber sie antwortete mir nicht,
und dann, am Gitter, da bat sie mich um ein Glas Wasser.«

»Es ist ihr doch nicht unwohl geworden?« fragte Klare-Bel besorgt.

»Nein, aber sie zitterte ordentlich. Das Wasser habe ich ihr vom
Brunnen geholt. Und dann ist sie fortgegangen. -- Ich habe ihr aber
noch lange nachgesehen,« fügte Jonas hinzu.

»Gewiß warst du zu streng mit ihr, Erik,« sagte Klare-Bel, »ich konnte
es dir schon ansehen, wie du hinübergingst.«

»Zu streng? Aber, Bel, dann sieht man doch nicht aus, als ob man etwas
geschenkt bekommen hätte.«

Er sprach in leichtem Ton, doch beschämte ihn, was Jonas erzählt
hatte. Es war etwas Neues, Unerwartetes, worin er sich nicht gleich
zurechtfinden konnte. Daß sie trotzte und selbst, daß sie weglief,
begriff er ganz gut und rechnete damit. Aber dies hier begriff er
nicht. War es denn möglich, daß sie gern, -- mit Freude, fortging? --
-- Und daß sie nicht wiederkam? -- --

Während sie noch beim Thee saßen, zog draußen ein schweres Gewitter
heraus. Klare-Bel blickte ängstlich nach dem Fenster, durch das man die
dunkle, schwarzgelbe Wolkenbank am Himmel stehen sah. Ein Sturmwind
fuhr durch die Baumkronen, schüttelte und beugte sie; der Tagesschein,
den die lange Maihelle noch über den Garten gebreitet hatte, verschwand
unvermittelt. Und gleich darauf prasselte, unter grellzuckenden Blitzen
und gewaltigen Donnerschlägen, ein heftiger Platzregen nieder.

»Bitte, laßt doch die Fenster schließen! bitte, Jonas, iß nicht mehr!
Ach, Erik, der Donner!« sagte Klare-Bel, die vor jedem Blitz die Augen
schloß.

Erik stand auf, blieb einen Augenblick am Fenster stehen und schaute in
den Aufruhr hinaus, dann schloß er es und kehrte zu seiner Frau zurück.
Die Gewitterangst war etwas, das sie überkommen hatte, seitdem sie
hilflos dalag. Als junge Frau kannte sie dergleichen nicht, und Erik
würde es an ihr auch wohl nicht geduldet haben. Jetzt hatte er Geduld
damit.

»Wenn man eine Lampe anzünden könnte! Es ist so dunkel geworden auf
einmal. Und dann ist der Blitz so furchtbar hell, Erik!«

»Gonne braucht keine Lampe hereinzubringen,« erwiderte er lächelnd und
legte seine Hand über ihre Augen; »bist du nun nicht geborgen, Bel?«

Sie nickte dankbar und drückte ihr Gesicht gegen seine Hände.

Es war ein arges Gewitter. Unaufhörlich folgten sich Blitz und Schlag.
Auf Augenblicke sah der Garten aus wie unter bengalischer Beleuchtung,
und im bläulichen Scheine konnte man die vom Sturm losgerissenen
Blätter und Blüten in tollem Wirbel durcheinander fliegen sehen.

Wenn der Donner besonders gellend krachte, fuhr Klare-Bel jedesmal
zusammen.

»Ob Ruth wohl schon zu Hause war, ehe es losging?« fragte sie.

»Längst. Sie muß zu Hause gewesen sein, ehe wir uns zu Tisch setzten,«
beruhigte er sie, »und der Diener wird sich freuen, daß er sie bei
diesem Unwetter nicht zu holen braucht.«

Es währte noch eine ganze Weile, ehe Blitz und Sturm auch nur ein wenig
nachließen, und der grobkörnige Regen mit schwächerem Ton auf das Dach
niedertrommelte.

»Nun, Bel, jetzt wird es besser,« sagte Erik und nahm seine Hand von
ihrem Gesicht. Er öffnete wieder das Fenster, durch das die abgekühlte
Abendluft jetzt frisch und gewürzig hereinströmte.

Jonas stand vor dem Fenster auf der regenumsprühten Terrasse und
blickte, über deren Brüstung gebeugt, in den verwüsteten Garten hinaus.
Ein großer Ulmenast war quer über den Kiesweg gestürzt, die Obstblüte
hatte den Aufruhr in der Natur mit dem Leben bezahlen müssen.

»Nun sind sie wahrhaftig davongeflogen, alle mit einemmal, die weißen
Blüten,« rief Jonas bedauernd, »so wie Ruth es gesagt hat! wie leid
wird es ihr thun. Sie fand sie so schön. Aber dort oben wird es schon
wieder blau, Papa.«

»Gott sei Dank!« meinte Klare-Bel, »solche Aufregung und Verwirrung
draußen ist schrecklich. Man wird förmlich mit hingerissen.«

»Ja, das ist nichts mehr für dich, meine Arme,« sagte Erik, »es gab
aber Zeiten, wo du solche Gewitterstürme und dazu das Brüllen des
Meeren aushalten mußtest, ohne daß ich bei dir war.«

»Das war auch entsetzlich, Erik, ganz entsetzlich war es,« versicherte
sie zusammenschaudernd, »damals, als du mit den Leuten hinausfuhrst,
wenn ein Schiff in Gefahr war. Und das eine Mal, weißt du, wo du ganz
allein es warst, der den Niels und die andern dazu beredete. Denn die
hatten ja auch Frau und Kind. Aber das hast du immer so gut gekonnt:
die Leute bereden. ›Es wird gehen!‹ sagtest du ihnen, und da glaubten
sie dir.«

»Du glaubtest mir ja auch, Bel, wenn du allein Zurückbleiben mußtest,
und wenn es dir schien, als ginge das nicht.«

»Ja, Erik. Manchmal dachte ich, der Schreck würde mich töten. Aber dann
sagtest du so zuversichtlich: ›Wenn ich nach Hause komme, naß und müde,
Bel, dann muß ich da doch meine Frau finden und den kleinen Jungen, und
beide vergnügt und gesund.‹ Nun, und da mußte es wohl so sein.«

Er schwieg. Vor seinem Blick stand eine Sturmnacht, in welcher er, aus
wirklicher Lebensgefahr heimkehrend, seine Frau gefunden hatte, wie
sie, das Kind neben sich, mitten in der kleinen Stube auf den Knieen
lag und laut betete.

Einen Augenblick lang war er fast bestürzt auf der Schwelle stehen
geblieben, denn noch nie hatte er sie beten sehen. Als sie heirateten,
waren ihm unter ihren Sachen ein paar Andachtsbücher in die Hände
gefallen, und wie sie ihn darin blättern sah, fragte sie ihn: »Glaubst
du an das, was darin steht?« Er hatte mit ernsten Augen aufgeblickt
und geantwortet: »Nein, Bel.« Seitdem war dieser Gegenstand nur noch
ein einziges Mal, nach Jahren, im Gespräche wieder berührt worden,
und da war es ihm mit innerem Staunen aufgegangen, daß seine Frau,
ohne es auch nur selbst recht zu merken, ihren Glauben gar nicht mehr
besaß. Auf seine Frage, wie denn das geschehen sei, hatte sie mit ihrem
freundlichen Gleichmut verwundert erwidert: »Ja, Erik, wenn es doch gar
nicht so ~ist~, -- was kann es dann noch nützen, daran zu glauben?«

Und als er nun in jener Sturmnacht in seinen hohen Schifferstiefeln
und seinem nassen Wollwams hereintrat, da hörte sie auf zu beten und
streckte ihm mit einem Freudenschrei beide Arme entgegen. Er hob sie
von den Knieen auf und küßte sie. »Thust du ~das~, Bel, wenn ich nicht
bei dir bin?« fragte er sie leise.

»Wenn du nicht bei mir bist, Erik!« sagte sie weinend, »denn dann,
scheint mir immer, muß ich es thun!«

Damals trug sie sich mit dem zweiten Kinde. Kurz darauf that sie den
gefährlichen Sturz, der ihr die Gesundheit kostete, und das Kindchen
wurde tot geboren.

Als Gonne mit einer brennenden Lampe hereinkam, fuhr Erik aus seinen
Gedanken auf.

»Ich möchte jetzt zu mir hinübergehen,« bemerkte er und küßte seine
Frau auf die Stirn, »ich habe noch Schularbeiten für morgen. Sobald du
müde wirst, mußt du mich rufen lassen.«

Bei Erik im Zimmer war es schon fast dunkel. Nur von ein paar
rosenroten Wölkchen, die sich von der großen Wolkenmasse losgewunden
hatten und nun mit heiterm Leuchten selbständig auf einem breiten
Stück Himmelsblau herumschwammen, fiel ein schwacher Schein durch die
Fenster. Man konnte in ihm den Schreibtisch, den Bücherschrank, das
alte lederbezogene Sofa an der Längswand ziemlich deutlich erkennen.

Erik stutzte und blieb auf der Schwelle stehen.

Er hatte einen Augenblick klar zu sehen geglaubt, daß auf dem
Ledersessel am Fenster Ruth säße. An Halluzinationen konnte er doch
nicht leiden.

Mit einem Gefühl des Aergers über sich selbst schloß er hinter sich
die Thür und ergriff von einem Nebentisch einen Leuchter, um Licht zu
machen.

Da fuhr er zusammen und setzte den Leuchter wieder hin. Auf dem Sessel
saß wirklich jemand.

»Ich bin es!« sagte eine klägliche Stimme.

»Ruth!« rief er laut.

Sie war es. Durchnäßt bis auf die Haut, in Kleidern, von denen das
Wasser schwer auf den Fußboden herabtropfte, und die an einer Seite
zerrissen niederhingen. Ihre Zähne schlugen hörbar aneinander.

Erik hatte sie in seine Arme gerissen und betastete sie besorgt und
erregt, mit liebkosenden Händen, -- Brust und Arme und das verworrene
Haar, das so eng und feucht um ihr kaltes Gesichtchen klebte.

»Wann -- wann, -- von wo bist du gekommen? Warst du denn nicht zu
Hause?«

»Ich war nicht zu Hause,« sagte sie zaghaft und schmiegte sich
frostbebend an ihn; »ich bin vom Stadtbahnhof wieder zurückgefahren.
Und hergelaufen. Gerade als es losging. Ich will nicht nach Hause,«
fügte sie flehend hinzu, »mich friert so!«

»Mein Liebling, du sollst nicht nach Hause! Du sollst hier bleiben!
Aber wie lange mußt du hier schon sitzen? Wie konntest du das nur thun?
Und es hat dich doch niemand an der Thür auf der Terrasse läuten
hören?«

»Ich habe nicht geläutet. Ich schämte mich. Ich bin hier in das Fenster
geklettert. Aber es ging schwer,« gestand sie, und Mund und Augen
lachten übermütig zu ihm auf.

»Und dann? Wenn ich nun gar nicht mehr hier hereingetreten wäre?«

»Dann hätte ich die ganze Nacht hier sitzen müssen!« erklärte sie
schaudernd und rieb den Kopf an seinem Arm wie eine naß gewordene
Katze. Und dann sagte sie ganz leise: »Denn vor den andern konnte ich
es nicht sagen. Und doch mußte ich es sagen. Deshalb kam ich ja zurück!
Ich mußte sagen: Ich will alles thun, was ich soll.«

Eine Viertelstunde später war Jonas nach dem Bahnhof geschickt worden,
um ein Telegramm an Ruths Onkel aufzugeben, daß sie draußen übernachten
müsse. Ruth selbst wurde wohlverpackt in Jonas' Bett gelegt, welches
Gonne eilig für sie hergerichtet hatte. Dann bekam sie heißen Thee zu
trinken und fiel in einen unruhigen Schlummer.

Jonas fühlte sich sehr stolz, als er bei seiner Rückkehr hörte, daß
er Ruth das wichtigste Möbel, das der Mensch besitzt, sein Bett,
abgetreten habe. Und voll Begeisterung streckte er sich an diesem Abend
in Eriks Arbeitsstube auf dem alten Lederdiwan aus, dessen Polsterwerk
an Härte und unbegreiflichen Beulen nichts zu wünschen übrig ließ. Auch
war Jonas zu aufgeregt, um bald einzuschlafen, und alle Augenblicke
guckte er durch die Thürritze und fragte, was denn Ruth jetzt wohl
mache.

Sie fieberte heftig und sprach im Halbtraum wild und wirr
durcheinander.

»Der Sandkuchen,« hörte Erik sie mehrmals ängstlich sagen, »er drückt
mich so. Er ist immer größer und größer geworden. Ich fürchte mich.
Er verschlingt mich. Und anfangs war er so weich und klein und so
wunderschön zum Kneten!«

Erik wachte bei ihr, bis der Morgen aufstieg.

Sie warf sich ruhelos in den Kissen umher, und immer wieder sprach sie
mit sich selbst in abgerissenen Sätzen. Aber wie ihm schien, waren es
keine eigentlichen Fieber-Phantasien, sondern sie enthielten einen
deutlichen Zusammenhang. Es kam ihm der Gedanke, daß sie vielleicht
oft so mit sich selbst spräche, ohne daß ein Mensch es hörte, und daß
jetzt das Fieber vielleicht nur den gewaltsamen Anstoß gegeben habe, es
unbewußt vor Menschenohren zu thun.

Er konnte ihren Worten entnehmen, daß sie sich fortwährend noch mit dem
Gewittergang beschäftigte. Manchmal erwähnte sie diesen in einer Weise,
als habe sie ihn gar nicht selbst gemacht, sondern als sei sie gegen
ihren Willen des Weges geschoben worden, -- mit Gewalt hinausgetrieben
in Sturm und Blitz und Donnerschläge. Sie sah sich auf dem einsamen,
dunkeln Weg dahingehen, während Hagel und Wind ihr entgegentosten, und
ihre Füße im tiefen, durchweichten Lehmboden stecken blieben.

Und damit vermischte sich dann ein andres Fieberbild: der Versuch vor
etwas fortzulaufen, ohne es zu können, wie es wohl im Traume geschieht.

»Ich laufe und laufe, und bleibe immer am Fleck!« klagte sie unruhig,
und das Fieber nahm zu, wenn sie daran dachte.

Am nächsten Morgen war Ruth fieberfrei. Als Erik, zu seinem Schulgang
fertig angekleidet, zu ihr hereintrat, saß sie aufrecht im Bett, in
einem Nachtjäckchen von Klare-Bel, das ihr zu kurz und zu weit war, und
blickte ihm mit schüchternen Augen entgegen.

Auf der Bettdecke lagen Blumen verstreut, die Jonas in aller Frühe
hereingeschickt hatte. Sogar ein paar fast unversehrte Zweige von
seinem Kirschbaum waren dabei. Er hatte sie mit Todesverachtung
abgerissen.

»Muß ich nun nach Hause?« fragte Ruth ängstlich.

»Nein, mein Liebling. Du sollst hier doch nicht nur krank liegen,
sondern auch gesund umherspringen. Meine Stube wartet ja noch auf dich.
Wollten wir nicht zusammen arbeiten?«

»Ja!« sagte sie eifrig und machte eine Anstrengung, wie um aufzustehen,
so daß die Blumen von der Decke glitten.

»Aber, mein liebes Kind, doch nicht jetzt im Augenblick. Später!«

»Später!« wiederholte sie gehorsam, indem sie sich zurücklehnte und die
Augen schloß.

Erik faßte nach ihrem Handgelenk und prüfte den Puls.

»Wenn ich heute von der Stadt nach Hause komme,« bemerkte er
dazwischen, »dann finde ich dich im Garten, im Sonnenschein, und ganz
gesund. Nicht wahr?«

»Ja,« sagte sie folgsam, ohne die Augen zu öffnen. Aber auf ihrem
Gesicht war ein Ausdruck von Leiden oder Kummer, der ihn beunruhigte.

Er beugte sich zu ihr nieder und strich sanft das Haar aus ihrer Stirn.

»Aber nicht nur gesund, Ruth,« fügte er hinzu, »sondern auch froh!
Nicht diesen in sich gekehrten, verschlossenen Ausdruck! Du darfst dich
nicht wieder so scheu vor mir zuschließen, mein Kind. Bist du denn
nicht mehr gern bei mir? Thut es dir nicht wohl, hierher zu gehören?«

Sie schlug die Augen auf und blickte ihn voll an.

»Es ist, als ob ich ins Meer gestürzt wäre,« sagte sie. --

Erik ging früher als sonst fort, um noch vor Beginn seiner Schulstunden
bei Ruths Verwandten vorsprechen zu können. Er traf sie beim ersten
Frühstück. Basil ließ ihn erst auf seinen ausdrücklichen Wunsch,
etwas zaudernd, in den Speisesaal eintreten, wo die Tante, im
Morgenhäubchen, sich noch hinter dem Samowar befand. Sie zeigte sich
ein wenig befremdet über den allzu frühen Besuch. Der Onkel, schon im
Begriff, wie allmorgendlich, ins Ministerium hinunterzugehen, saß in
Militärbeinkleidern und eleganter geschlossener Joppe beim letzten
Glase Thee. Er sprang auf und kam Erik mit lebhaften besorgten Fragen
nach Ruth entgegen. Erik erzählte, wie sie auf dem Heimweg umgekehrt,
ins Gewitter geraten und vor Aufregung krank geworden sei.

»Das kleine Ding!« äußerte der Onkel in zärtlich besorgtem Ton; er warf
sich im stillen vor, daß er Ruth eigentlich dazu aufgemuntert habe,
»wegzulaufen«. »Wie schlimm muß das für sie gewesen sein! Schon wenn
Ruth einmal unerwartet vom Warmen ins Kalte gerät, da schaudert ihr
die ganze Haut und sie zittert. Und dann kann sie sich auch so ganz
entsetzlich fürchten.«

Liuba kam herein, begrüßte Erik und schenkte sich mit schlafgeröteten
Augen Thee ein; sie war in Gesellschaft gewesen und spät aufgeblieben.

»Ja, Courage hat Ruth mal nicht,« bestätigte sie, »als wir ihr einmal
eine Raupe auf den Hals setzten, fiel sie in Krämpfe.«

Erik blickte mit bestürztem Gesicht auf.

»Hat sie ~dazu~ Anlage gezeigt?« fragte er langsam.

»Aber nein, sonst niemals!« erwiderte der Onkel ärgerlich, »es ist
schon Jahre her. Dreizehn Jahre war sie wohl alt. Es war irgendwo in
der Schweiz. Ruth trug ein dünnes Sommerkleid mit bloßem Halse. Es
war sehr schlecht von euch, sie so zu erschrecken, Liuba. Du solltest
lieber davon still sein.«

»Wir haben uns doch nichts Böses dabei gedacht,« sagte Liuba, »warum
saß sie auch immer so ganz versonnen und vertieft herum, so ganz wie
ein Stein, der weder sieht noch hört. Es störte das Spiel der andern.
Und da, wie nichts sie aufwecken wollte, setzten wir eine Ligusterraupe
auf ihre Halskrause. Aber die Raupe kroch in den Halsausschnitt hinein.
Ruth schrie nicht einmal auf. Sie fiel um.«

»Die Hauptsache habt ihr vergessen,« bemerkte die Tante, -- »das, was
die unartigen Mädchen entschuldigt und Ruths Schreck erklärt. Ruth war
nämlich als Kind fest überzeugt davon, daß in den Raupen, Schlangen und
allem Gewürm der leibhaftige Böse sitze. Sie steckte überhaupt immer
voll von gottlosen Ammengeschichten. Weiß Gott, wo sie die auflas. In
solchen Dingen ist Ruth immer so merkwürdig kindisch gewesen, und auch
geblieben. Sie hat dasselbe Grauen unvermindert noch heute.«

»Aber es ist ihr seitdem alles aus den Augen geräumt worden, was sie
daran erinnern könnte,« sagte der Onkel zu Erik.

»Das hätte es nicht dürfen,« entgegnete dieser bestimmt, aber sein
Gesicht war sehr nachdenklich geworden. »Man kann mit Ruth nicht
behutsam genug, aber gleichzeitig auch nicht fest genug umgehen, wenn
man ihr nützen will.«

Er erhob sich, um Abschied zu nehmen.

Der Onkel schwieg einen Augenblick, zerdrückte stehend seinen
Cigarettenrest auf dem Aschenbecher und sagte dann plötzlich herzlich
zu Erik: »Wissen Sie, -- ich bin froh, ordentlich froh bin ich, daß die
Ruth bei Ihnen ist.«

»Ich wünsche nichts lieber, als daß sie mir bleibt!« entgegnete Erik
einfach.

»Ja, sehen Sie,« fuhr der Onkel fort, indem er dicht an ihn herantrat,
»ich glaube, gerade bei Ihnen ist das kleine Ding endlich einmal vor
die rechte Schmiede gekommen. Nach all ihren Irrfahrten. Und vor die
rechte Schmiede, das heißt fast so viel wie: ~nach Hause~.«

»Aber, ich bitte dich,« fiel die Tante, unangenehm berührt, ein, »nach
deinen Worten muß jeder denken, Ruth sei hier mißhandelt worden.«

»Ach, wieso denn mißhandelt,« sagte er verdrießlich. »Nein, gut
behandelt, natürlich, wie sollte es denn anders sein? Aber wozu sollen
wir's leugnen: Sie wissen sich besser um sie zu kümmern, als wir es
verstehen. Neulich fühlte ich's schon, heute weiß ich's ganz deutlich.
Ich ~freu'~ mich ja auch an ihr, -- ja, das thu' ich, weiß Gott, --
aber im übrigen: das Kind ~hat~ nichts davon. Das ist es nur, was ich
meine.«

»Nun ja,« lenkte die Tante ein, »sicherlich müssen wir Ihnen dankbar
sein. Aber sprich nur nicht so sündhaft. Es klingt ja geradezu so, als
ob du Ruth los sein wolltest. Grüßen Sie das liebe Kind von mir. Und
wenn sie erkranken sollte, komme ich ganz bestimmt hinaus und pflege
sie.«

Erik versprach, das »liebe Kind« zu grüßen, das er ihr am liebsten nie
wiedergegeben hätte. Er ging mit dem Onkel fort und erwog einen Plan,
für den er ihn zu gewinnen hoffte. Sie waren beinahe Freunde geworden.
--

Als Ruth im Laufe des Vormittags aufstand, sah sie Klare-Bels langen
Stuhl schon am steinernen Springbrunnen aufgestellt. Ein Stück
gestreiftes Segeltuch, das man zwischen den Obstbäumen angebracht
hatte, schützte sie vor der Morgensonne.

Nach dem Gewitter schien sich das Laub ringsum wie durch einen Zauber
entfaltet zu haben. Der Garten stand ordentlich grün da, und die
letzten Blätter drängten sich aus der Knospe. Ruth ging langsam durch
den Garten hin, und mit Entzücken hefteten sich ihre Augen auf die
frische, sonnenwarme Schönheit um sie her und auf die kranke Frau, die
inmitten derselben ruhte.

»Guten Morgen, Ruth!« rief Klare-Bel ihr entgegen und streckte
liebreich die Hand nach ihr aus, »willkommen, mein liebes Kind! Du
weißt wohl, wer ich bin? Ich konnte nicht zu dir kommen, als du die
Nacht krank dalagst. Ich bin froh, daß du wieder gesund bist, und daß
du nun zu mir kommen kannst.«

Ruth ergriff die kleine, weiche Hand, der man es ansehen konnte, wie
rund und rosig, mit Grübchen über den Knöcheln, sie gewesen sein
mochte. Und, einem raschen Gefühle folgend, beugte sie sich nieder und
küßte die Hand. Sie blickte Klare-Bel mit einer Art von Ehrfurcht an,
wie den kostbarsten Gegenstand hier im Hause.

»Erik und Jonas sind in der Stadt,« sagte Klare-Bel, »ich liege jetzt
ganz allein hier. Willst du mir ein wenig Gesellschaft leisten, Ruth?«

Ruth nickte, noch immer ohne zu sprechen; sie war wie berauscht vom
Frühling und von dem starken, frischen Duft, den alles um sie herum
ausströmte. Am liebsten hätte sie aufgejauchzt.

»Ich werde hier sitzen bleiben,« erklärte sie und kauerte sich mit
emporgezogenen Knieen auf den bemoosten Steinrand des Springbrunnens,
aus dessen geborstener Wasserurne über ihr ein langes, dünnes
Schlinggewächs sich schlangengleich herunterrankte; »denn hier ist es
am allerschönsten in der ganzen Welt!«

»Sie übertreibt alles!« dachte Klare-Bel, sie heimlich betrachtend,
fühlte sich aber in diesem Augenblick doch angenehm berührt. »Am Meer
ist es jetzt noch viel schöner, Ruth,« sagte sie, »da, wo wir früher
gewohnt haben, -- auf der kleinen Insel weit draußen. Bist du schon
einmal am Meer gewesen?«

»Ja, mehreremale,« versetzte Ruth, »aber viel lieber wäre ich gerade da
gewesen, wo Sie gewohnt haben, -- auf der kleinen Insel. Aber ich wußte
damals nichts davon. Nein, ich wußte es nicht.«

Es kam ihr sichtlich ganz wunderbar und eigentlich unbegreiflich vor,
daß sie jemals nichts davon gewußt haben sollte. Klare-Bel fand, sie
spräche ganz wie ein Kind: etwas so Selbstverständliches mit einem so
ernsten und bewegten Gesicht.

»Und Sie wissen alles darüber!« setzte Ruth mit demselben Ausdruck
hinzu, »alles, ganz so wie es war. War es wunderschön?«

Klare-Bel war nicht redseliger Natur; sie sprach ebenso wenig, wie Erik
viel sprach. Aber sie bekam große Lust, sich mit Ruth zu unterhalten.

»Soll ich dir davon erzählen?« fragte sie und sah sie lächelnd an.

»Ja!« sagte Ruth dringend, und ein Gefühl, mächtiger als nur Neugier,
trat in ihren Blick, »aber alles! wie die Menschen waren, und das
Leben, und das Haus, und das Meer, und auch die Schulkinder.«

Klare-Bel fand, daß man mit dem Hause anfangen müsse. Und nachdem
sie beschrieben, wie dörflich-klein und doch wie wunderbehaglich es
gewesen sei, trotz seiner niedrigen Balkendecke und der schmalen
Fensterscheiben, die von der Salzluft immer beschlagen waren, --
kam sie auf die Menschen zu sprechen, die dort aus- und eingingen.
Viele Menschen waren das, -- ein ganzes Volk schien es Ruth, -- und
immer scharte Klare-Bels Erzählung sie um den einen, den sie in den
Mittelpunkt stellte, um den einen, der mit ihnen alles teilte und alles
that, und den das jüngste Kind und das älteste Weib mit dem gleichen
Lächeln grüßten.

Ruths Augen blitzten. Was Klare-Bel erzählte, das glaubte sie
wahrzunehmen, zu schauen, mitzuerleben; sie ergänzte unbewußt das Bild
bis zur greifbarsten Deutlichkeit, indem sie es mit den Goldfarben
übermalte, die Klare-Bel selbst ihr auf die Palette rieb. Und um dieses
ganze Bild hörte sie unablässig das gewaltige Meer donnern und
schäumen.

Sie roch die Salzluft und fühlte den feinen Meersand unter den Füßen
knirschen; mit nachdichtender Schnelligkeit folgte ihre Phantasie
den Andeutungen der Frau, die gar nicht wußte, wie liebevoll sie
idealisierte, was sie Ruth beschrieb.

Als Klare-Bel geendet hatte, atmete Ruth tief auf mit lebhaft geröteten
Wangen.

»O wie herrlich Sie erzählen,« rief sie dankbar; »ich möchte nichts
andres thun, als Ihnen den ganzen Tag zuhören. Den ganzen Tag. Ach, das
möchte ich auch erleben! Wie schön muß es gewesen sein!«

»Das war es auch,« bestätigte Klare-Bel zufrieden, der es selbst noch
nie so schön erschienen war, wie heute während ihrer eigenen Erzählung.
Von sich selbst hatte sie bisher noch gar nicht gesprochen, nur von
Erik. Aber auf Ruths Ausruf fügte sie mit dem Stolz der Frau, die
sich ihr Glück liebend verdient hat, hinzu: »Schön und auch schwer,
Ruth. Denn es ist schwer, mit so vielen teilen zu müssen, die alle
von demselben Rat und Beistand und Teilnahme wollen und ihn immer in
Anspruch nehmen, -- ihn immer fortnehmen. Es ist nicht leicht, man muß
bescheiden werden. Das würdest du erst lernen müssen.«

»~Das?~« sagte Ruth verdutzt, »nein, das möchte ich lieber nicht. Das
hatte ich mir dabei gar nicht ausgewählt. Aber so unter den Menschen
stehen und alles können, als ob man ein Hexenmeister wär' -- das muß
herrlich sein. Es muß sein, als ob man plötzlich viele Menschen auf
einmal wäre -- und dann auch noch mehr, als sie alle zusammen.«

Klare-Bel schwieg betroffen. Sie fühlte recht wohl die enthusiastische
Bewunderung in Ruths Ton heraus, aber sie konnte nicht begreifen, wie
dieser Enthusiasmus, weit davon entfernt, dem Bewunderten dienen zu
wollen, sich einfach egoistisch an dessen Stelle wünschte.

Ruth vertiefte sich inzwischen ganz in das Bild, das sie sich
ausgemalt. Nach einer kurzen Pause hob sie wieder an: »Und das war doch
nur ein Dorf. Eine ganz gewöhnliche Insel. Ringsherum Wasser, so daß
da alles aufhörte. Es hätte aber etwas noch viel Größeres sein können,
nicht wahr? Vielleicht mit noch viel mehr Menschen darauf. Ich weiß
nicht recht, wie. Aber ich denke mir: so stark sein, -- und dann etwas
Gewaltiges thun dürfen. Es braucht nicht beim Dorf zu bleiben.«

Klare-Bel berührten diese Worte wunderlich. Sie dachte im stillen, das
sei es vielleicht so ungefähr gewesen, was ihr Mann einst gewünscht und
erhofft habe. Damals, als alles um sie her noch Zukunft und Hoffnung
war.

»Es wäre am Ende auch nicht beim Dorf geblieben,« meinte sie und sah
Ruth an, »daran waren nur die Verhältnisse schuld. Er hatte früher
so große Pläne. Ach, was hatte er alles für Pläne! Aber dann kam das
Unglück, daß ich liegen mußte. Und es kamen die Aerzte, die Reisen, die
Operationen. Zuletzt kamen die Schulden. Da war es mit den Plänen aus.
Das hat alles schrecklich viel Geld gekostet, Ruth. Und ganz umsonst.«

Ruth blickte aus weitgeöffneten Augen auf die Frau, die das so ruhig
sagen konnte.

»Ich könnt's nicht überleben!« stieß sie entsetzt wider Willen hervor.

»Ach, mein liebes Kind! Das denkt man, wenn man noch so jung ist wie
du. Dann aber lernt man, sich in das Schicksal und seinen Willen fügen.
Sogar in das Schwerste: stillzuliegen und nicht mehr mit eigenen Händen
sorgen zu dürfen für das Behagen derjenigen, die man liebt. Denn das
ist das Allerschwerste, Ruth.«

Es klang so sanft und liebevoll, wie sie das auf Ruths unbesonnenes
Wort sagte. Keine einzige Klage hatte sie für sich selbst. Sie beklagte
es nur, den andern nicht mehr dienen zu können.

Aber Ruth fand, es sei beinahe gleichgültig, ob man in einem solchen
Fall den andern noch dienen konnte. Was sie so entsetzte, war die
Vorstellung, durch ein derartiges Unglück die Ursache zu werden, daß
ein Andrer, Starker, Gesunder aufhören mußte, ~seiner~ Sache zu dienen.

Es verwirrte sie ganz, daß die sanfte kranke Frau ihr gar nicht leid
that. Sie hatte das Gefühl: diese würde ihr schon leid thun, wenn sie
nur erst Zeit hätte, an sie zu denken. Aber sie mußte immer an Erik
denken. Und sie empfand Mitleid mit ihm, stürmisches Mitleid bis zum
Weinen.

Klare-Bel lag gerade ausgestreckt und blickte mit ihren ruhigen blauen
Augen in den klaren blauen Himmel hinauf. Sie dachte an das Glück, wie
sie es hätte behalten mögen, -- so klar und blau und ruhig, wie der.

»Das wünschte ich dir,« sagte sie zu Ruth, die ganz verstummt war,
»einmal so von ganzem Herzen jemand dienen zu dürfen, den du lieb
hast. ~Dazu~ gesund zu sein, und schön und gut und klug obendrein!
Gleichviel, ob er dann Großes oder Kleines in der Welt vollbringt, --
daran liegt's nicht! Das Lieben und das Dienen ist doch das Schönere.
Namentlich für uns Frauen. Es ist viel schöner, als derjenige zu sein,
dem es gilt. Das brauchen wir nicht zu beneiden.«

»Ach nein!« rief Ruth lebhaft, »es kann ja gar nicht möglich sein, daß
es das Schönere ist. Der, dem's gilt, hat es besser. Sonst hätte Gott
es ja schlechter als die Menschen!«

Klare-Bel warf ihr einen erstaunten Blick aus den blauen Augen zu, --
einen tadelnden Blick. Aber sie wußte nicht, was sie darauf erwidern
sollte. Man mußte wirklich ziemlich viel Nachsicht haben mit Ruth.
Klare-Bel fühlte sich nur sicher, so lange Ruth zuhörte. Sie hörte
so hübsch zu. Aber sobald sie sprach, mußte man sich verwundern und
eigentlich auch ärgern. Die war sicher mehr für Erik geschaffen als
für sie. Er würde wohl aus ihr klug werden. Denn das war ja seine
Spezialität.

Inzwischen war Jonas, lustig pfeifend, von der Straßenseite her in
den Garten getreten, und man sah ihn, den Schulranzen auf dem Rücken,
zwischen den Bäumen im Hause verschwinden. Als er wieder zum Vorschein
kam, war der Ranzen abgeworfen, und in der Hand hielt er ein mächtiges
Butterbrot, in das er hineinbiß.

Er lief auf seine Mutter zu, küßte sie, streckte Ruth die Hand hin und
sagte: »Du, -- Sie -- haben --,« stockte und wurde rot.

»Du!« entschied Ruth ernsthaft und betrachtete ihn.

»Ja, nicht wahr?« meinte er fröhlich und nahm neben ihr aus dem Rande
des Springbrunnens Platz, »denn jetzt sind wir ja Hausgenossen.
Eigentlich Geschwister. Nicht wahr, Mama? Und Altersgenossen auch. Wie
alt bist du denn?«

»In elf Monaten siebzehn,« sagte Ruth.

»Ich bin erst sechzehn,« gestand er betreten, aber dann klärte sich
sein Gesicht auf, -- »das heißt jetzt. Aber in elf Monaten längst nicht
mehr. Sogar schon eher. Jetzt solltest du ein Stück Butterbrot mit mir
essen, denn es ist noch eine gute Stunde, bis wir Mittag bekommen,«
fügte er hinzu und brach, im lebhaften Drang sein Brot mit ihr zu
teilen, es in zwei Hälften.

»Ich mag nicht essen,« sagte Ruth und lachte über seinen Eifer.

»Dann bist du gewiß noch krank!« behauptete er, »aber das war auch
ein rechtes Glück, weißt du, denn sonst wärst du ja gar nicht bei uns
geblieben. Es war eine gute Idee von dir, so im Gewitter herumzulaufen.
Denk nur! wo du so bequem gleich bei Papa hättest sitzen bleiben
können.«

»Ja. Wenn ich sitzen geblieben wäre, wäre ich auch fortgegangen,«
bemerkte Ruth tiefsinnig.

Jonas konnte sich diesen Fall nicht ganz klar machen, und so sagte
er schnell. »Komm mit mir in das Gehölz, Ruth. Du kennst es noch gar
nicht. Da sind so viele Nester. Und mitten hindurch fließt ein kleiner
Bach nach dem Wiesengrund zu. Wir können leicht hinüberklettern; der
Zaun ist nur niedrig.«

»Nein,« erwiderte sie, »gehe nur hinter das Gehölz. Ich muß jetzt hier
bleiben.«

»Was willst du denn hier thun?«

»Ich muß nachdenken.«

»Nachdenken?«

Jonas sah sie etwas verdutzt an; es schien ihm jedoch eine
Beschäftigung zu sein, die Respekt verlangte. So stand er seufzend auf
und trollte sich ins Haus, denn er wußte nicht recht, wie er sich daran
beteiligen könnte.

Ruth merkte nicht, daß er ging. Sie blieb mit emporgezogenen Knieen
sitzen, die Arme auf die Kniee, und das runde Kinn auf die geballten
Hände gestützt, wie auf zwei Säulen. So blickte sie angestrengt vor
sich auf einen einzigen Fleck im Grase, wo eine weiße Gänseblume stand,
und dachte mit Hingebung nach, gleich einem indischen Derwisch. Sie
wußte ganz genau, wo sie stehen geblieben war, als Jonas kam und sie
aufhören mußte.

Klare-Bel lag still und hatte die Augen geschlossen. Die Mittagssonne
strahlte warm über den Bäumen, kein Lüftchen bewegte das duftende
Laub. Ein paar gelbe Schmetterlinge flatterten naschend um die
Frühlingsbeete, und zu Ruths Füßen zirpten die Heimchen laut und eifrig
ihr Lied.

Ruth versank tiefer und tiefer in ihren Mittagssonnentraum. Wie in
goldenen Lichtwellen wob er sich um die Gestalt, die Klare-Bels
Erzählungen vor ihr heraufbeschworen hatten. Ein unklares Verlangen,
halb Demut, halb Forderung, bemächtigte sich ihrer, diese Gestalt so
lichtvoll, so schattenlos als möglich zu sehen, -- in einem warmen
Glanze, der sie unter allen andern Wesen hervorhob. Warum? das wußte
Ruth nicht.

Aber das wußte sie: in diesem Licht sahen die wirklichen Menschen, die
sie sonst kannte, noch viel störender und sinnloser aus als bisher,
-- fast als ob es nur lauter Leiber wären, in denen so gut wie nichts
drinsteckte. Und die phantastischen Schattenbilder, die sie sich
nach eingebildeten und fremden Menschen so schön entwarf, wie sie
wollte, und wieder wegwischte, wann sie wollte, -- die sahen viel
schattenhafter aus als bisher, ordentlich dünn waren sie geworden, und
so durchsichtig, daß man meinen konnte, es seien nur Irrwische von
Gedanken.

Ruth durchwanderte ihre ganze Welt wie der Schöpfer am sechsten Tage,
fand aber nur das Chaos wieder. Und mitten darin den einzigen, wenn
er wollte, alles beseelenden Menschen, den zu gestalten Phantasie und
Wirklichkeit zusammenschmolzen. Es war, als stände er ihr ganz allein
gegenüber in dieser einsamen, phantastischen Welt ihrer Träume, --
der ~erste Mensch~ am sechsten Schöpfungstage, unerkannt noch, und
ein Wunder. Mit innerm Staunen stand sie still vor ihm, als müsse
sie fragen. »Wer bist du? Wie kommst du hierher? Wie darfst du hier
herrschen?« Er beschädigte ihre Gedanken so stark, er setzte sie so
stark in Erstaunen, daß sie darüber sich selbst aus ihren Gedanken
verlor und nur ihn anschaute. Es schien ihr notwendig, daß er etwas
Besonderes, Merkwürdiges, ganz außer allem Vergleich Stehendes sei,
wenn sie ihn da dulden sollte.

Und wieder erhob sich das unruhige Verlangen in ihr, Glanz auf Glanz,
Licht auf Licht auf ihn zu häufen.

Nachdem Ruth lange Zeit stumm dagesessen hatte, richtete sie sich
aus ihrer zusammengekauerten Stellung auf und ging langsam an die
Gartenpforte. Die Arme über dem Zaun verschränkt, schaute sie die
Straße hinab, die Erik entlang kommen mußte. Er kam bald. Sein erster
Blick fiel auf ihr Gesicht und blieb aufmerksam und forschend darauf
haften. Sie sah ziemlich blaß und schmal aus nach der Fiebernacht, aber
der leidende Ausdruck von heute morgen war völlig aus ihren Kinderzügen
verschwunden. Ein neuer Ausdruck, offen und verlangend, der Erik
wohlgefiel, lag in ihren Augen.

Er nickte ihr mit einem Lächeln zu. Sie sprachen nicht miteinander, nur
Ruths Hand schlich sich leise in die seine. Hand in Hand sah Klare-Bel
sie auf sich zukommen.

»Wie lange hast du heute in der argen Sonne auf mich warten müssen,
meine Arme!« sagte er zu seiner Frau, »nun sollst du auch keinen
Augenblick länger daliegen.«

Damit schob er ihren Stuhl in die Nähe der Terrasse, hob sie heraus und
nahm die kleingewachsene Gestalt so behutsam in die Arme, wie man ein
Kind an der Brust bettet.

»Du allzuleichte Last!« scherzte er und sah heiter und belebt aus.

Klare-Bel lachte vor lauter Vergnügen und hatte die Arme um seinen
Nacken geschlungen.

Ruth griff nach einem herabgeglittenen Kissen und folgte ihnen die
Stufen hinauf. Am liebsten hätte sie ihnen den ganzen Stuhl nebst
Zubehör nachgetragen, um dasselbe zu thun, was Erik that. Das Mitleid,
das sie während Klare-Bels Erzählungen mit ihm empfunden hatte, war in
nichts verflogen, -- und an dessen Stelle blieb die Bewunderung stehen.
Es kam ihr jetzt ganz natürlich vor, daß die kranke Frau sich nicht als
Last und Hindernis auf dem Wege des gesunden Mannes fühlte, sondern daß
sie lachte und ihre Hände um seinen Nacken schlang.

Als Ruth ihren Platz bei Tisch einnahm, vergaß sie ganz, daß es heute
zum erstenmal geschah, und daß sie erst gestern hatte weglaufen wollen.
Sie fühlte sich als ein längst hierher gehöriger Hausgenosse, --
zufrieden und ohne weiteres eingereiht unter die übrigen.

»Von deinem Onkel bring' ich dir was mit,« sagte Erik, der sie zu
Mittag neben sich gesetzt hatte, »nämlich die Erlaubnis, so lange hier
zu bleiben, als du willst. Ich denke, wir antworten ihn vorläufig: den
ganzen Sommer. Was meinst du?«

Sie nickte nur und sah glücklich aus. Wenn er aber nicht unablässig auf
sie geachtet und ihr selbst vorgelegt hätte, so würde sie lieber keinen
Bissen gegessen haben.

Als sie beim Kaffee waren, und die Kinder hinausliefen, blickte Erik
seine Frau an und fragte: »Und nun, Bel, wie gefällt sie dir?«

»O Erik! mir gefällt sie gut für dich! Denn sie hat etwas so
Unverständliches, finde ich. Das ist gerade was für dich. Was zum
Raten.«

»Sie ist ein scheuer Vogel,« sagte er mit einem Lächeln, »und es ist
noch nicht gewiß, ob ich sie eingefangen habe. Eine falsche Bewegung,
-- und sie fliegt mir fort.«

»Ja, Erik, das denke ich mir nun wieder ungeheuer angreifend. Es macht
doch unsicher. Förmlich schwindlich würde es mich machen. Wie ein
konfuses Stickmuster.«

»Unsicher? Nein, Bel, im Gegenteil. Man wird sich wieder dessen bewußt,
was man vermag -- ~ob~ man's vermag. Man sammelt die Kraft, -- die
vergessene, eingerostete. Und so kommt man endlich wieder zur großen
Sicherheit des Lebens und zum alten Glauben an sich selbst.«

»Ja, ja, Erik. Wenn nur alles gut geht.«

Er stand auf und legte herzlich seinen Arm um ihre Schultern:
»Sorgenmütterchen! nur ein einziges Mal: laß die Sorgen, die grauen!
Mir ist froh. Du sollst es noch sehen: an dem Mädel wächst mir mein
Meisterstück!«

Sie seufzte und gab ihm im stillen ganz recht. Daß er Ruth zu
sich nahm, das war ungefähr so, wie wenn ein Gelehrter eine recht
unentzifferbare Handschrift irgendwo ausgräbt, -- meinte sie; an der
liest er dann lieber und eifriger herum als am bestgeschriebenen Buch.
Es war nun einmal nicht anders: darin steckte sein Talent und sein
Beruf.

Erik ging fort; er wollte noch nach dem Bahnhof, um zu veranlassen, daß
Ruths Gepäckstücke durch einen Bauernwagen herübergeschafft würden; der
Onkel hatte sie bereits herausgeschickt.

Klare-Bel lag und dachte nach. Sie zwang sich dazu, an die Zeit zu
denken, die sie sonst immer in ihrer Erinnerung zurückschob. Es war
doch schön, daß Erik wieder so froh sein konnte und so voll von
sanguinischen Hoffnungen. Das war doch besser und natürlicher für ihn,
als diese langen, langen Leidensjahre, in denen nur der ~eine~ Gedanke
ihn erfüllte: wie seine Frau wieder gesund zu machen sei.

Ein einziger jahrelanger Kampf, -- ein schmerzensreicher, gräßlicher.

Namenloses hatte Klare-Bel aushalten müssen um seiner
Hoffnungszähigkeit willen, die nicht nachließ, nichts unversucht ließ,
die noch ans Unmögliche anrannte, und mit unermüdlichem Trotz den alten
Kampf immer wieder aufnahm. Es war nicht leicht, denn wegen einer
geringen Herzschwäche durfte bei Klare-Bel die Narkose nicht angewendet
werden. Aber immer wieder wußte er sie zu neuem Wagnis, neuer Qual zu
überreden und mit seinem unbegrenzten Einfluß zu zwingen. Er war in
diesem Kampfe zum Arzt geworden; was er früher aus Lust und natürlicher
Begabung nebenher betrieben, wurde ihm Beruf. Seine ganze, ungeteilte
Kraft warf er hinein: er wollte es nicht glauben, nicht dulden, daß ein
einziger blöder und blinder Zufall auf Lebenszeit das Glück verschütten
könne.

Und nun, da er's glauben und dulden mußte, war es doch hart, alles das
umsonst geopfert zu haben, woran noch seine Hoffnungen gehangen hatten.
Und wenn Ruth ihm nur eine davon zurückgab, wollte Klare-Bel sie
lieben. Es war ja nicht mehr als eine kleine, späte und unscheinbare
Blume für einen ganzen Strauß, den das Leben ihm schuldig geblieben.

Noch nie war das Klare-Bel so klar geworden, wie heute, seit dem
Gespräch mit Ruth am Springbrunnen im Garten.

Jonas kam herein und setzte sich an das Fußende ihres Ruhebetts. Er
griff nach einem Bund Garn, das Klare-Bel abzuwickeln begonnen hatte,
und hielt es ihr auf den Fingern.

»Wird Ruth nun bei uns bleiben, Mama?« fragte er.

»Jawohl. Du hörtest es doch. Freut es dich nicht?«

»Ueber alles freut es mich. Nur werde ich mich jetzt so ganz umsonst
anstrengen.«

»Wie meinst du das, mein Kind?«

»Ich meine: Papa wird Ruth ganz gewiß viel lieber haben als mich. Ganz
gewiß. Sie ist sehr klug, -- meinst du nicht?«

»Das kann ich unmöglich wissen. Aber was ist das für ein Unsinn, Jonas.
Weil Papa dich lieb hat, will er ja, daß du dich mehr anstrengst und
besser vorwärts kommst.«

»Ach, Mama, ich strenge mich schon an so sehr, wie ich kann. Ich komme
ja auch vorwärts. Aber Papa ist so schwer zufrieden zu stellen. Er
ist der strengste Lehrer bei uns. Sie fürchten ihn alle. Aber ich am
meisten. Von mir verlangt er am meisten.«

»Darüber solltest du froh sein. -- Mach nur jetzt keine
Eifersüchteleien, Jonas; hörst du?«

Da lachte er über das ganze Gesicht, scheinbar völlig unmotiviert, so
daß er wirklich einfältig aussah.

»Nein, Mama, das thue ich gewiß nicht. Wenigstens nicht so, wie du es
meinst. Aber wenn es Ruth einfallen sollte, -- Papa lieber zu haben als
mich -- --«

»Aber Jonas!«

Er ließ das Garn vom Finger gleiten, so daß es fast in Verwirrung
geriet.

»Verzeih, Mama. Ich bringe es gleich wieder in Ordnung. -- Weißt du, du
hattest eben ganz recht, als du sagtest, ich solle nur froh sein, daß
Papa so viel verlangt. Das denkt sich nämlich Ruth angenehmer, als es
ist. Sie wird das noch merken. Und ich werde nie etwas Unangenehmes von
ihr verlangen.«

»Du bist wirklich ein recht dummer und unnützer Junge!« sagte Klare-Bel
ärgerlich und sah sich ihren Sprößling genauer an. Er machte ein ganz
treuherziges Gesicht. Das Lachen hatte sich in die Winkel der Augen
verkrochen. »Wenn Papa so was hörte. Und da wunderst du dich noch, wenn
Papa Ruth dir vorziehen sollte.«

»Ich wundere mich ja gar nicht, Mama. Das kann ich ihm doch nie im
Leben übelnehmen. Wie sollte Ruth ihm denn nicht besser gefallen als
ich?«

»Wo steckt Ruth nur eigentlich?«

»Sie ist oben in die Giebelstube gelaufen, wo Gonne noch
herumwirtschaftet. Um sich ihre Wohnung selbst herzurichten, sagt sie.«

Als Erik vom Bahnhof zurückkam, und Ruths Kopf oben aus dem offenen
Fenster herausschaute, stieg er zu ihr hinauf. Das kleine, nach
hinten zu abgeschrägte Gemach war schon in Ordnung. Außer dem heute
beschafften Bett und einer großen Holzkiste, die durch zierlich
gekrauste und gefaltete Mullvorhänge beinahe das Aussehen einer
wirklichen Waschtoilette bekommen hatte, gab es jedoch hier noch
nicht viel zu sehen. Ein Geruch von Seife und frisch aufgenommenem
Oelanstrich machte sich bemerklich.

Ruth saß auf dem schmalen Fensterbrett, zu dessen Seiten schon
kleine weiße Gardinen niederhingen; die Leiter lehnte noch daneben.
Ein leichter Wind bewegte die Zweige der großen alten Ulme vor der
Terrasse, so daß sie am Fenster auf und nieder schwankten und fast
Ruths Gesicht berührten. Man sah von hier oben nur in die Wipfel der
Bäume, und das, fand Ruth, sah lustig aus: wie ein grünes rauschendes
Gewoge, von dem man sich einbilden konnte, es schwebe in der Luft, ohne
Stamm und Wurzel. Wie viele Vögel mochten im Sommer darin nisten! Und
unter dem vorspringenden Dach, gleich über dem Fenster, klebten zwei
vorjährige Schwalbennester.

Als Erik auf die Schwelle trat und die Einrichtung des Zimmers
bemerkte, fing er an zu lachen.

»Es ist wahrhaftig ein richtiger Karzer, wie gemacht für böse Kinder,
die eine Strafe abbüßen sollen,« sagte er und blieb im Rahmen der Thür
stehen, »oder für Durchgänger, die man mit Gewalt einsperren muß.
Meinst du nicht, Ruth?«

»Nein. Es ist sehr schön!« versetzte sie mit Nachdruck und nahm es fast
übel, daß er ihre Wohnung verspotten konnte; »es ist nur noch nicht
fertig, und das ist das schönste. Wenn ich drin bin, wird es von selbst
fertig. Es ist sehr schön. Ganz so, wie ich es haben will.«

»Das ist freilich die Hauptsache, meine kleine Königin,« gab er
lächelnd zu und kam zu ihr ans Fenster; »als wir zuerst aus dem
Auslande angereist kamen, da sahen die Stuben in unsrer Stadtwohnung
auch nicht viel besser aus. Und es gefiel mir auch ganz gut. Man konnte
so ganz von vorn und nach eigenem Ermessen anfangen.«

Sie wandte sich halb nach ihm um und sah ihn mit Interesse an.

»Ach ja!« sagte sie, »aber außerdem muß es doch schrecklich schwer
gewesen sein, -- da von der kleinen Insel weg -- und hierher; weg vom
Meer und von all den vielen Leuten?«

Er hatte seine Hände auf ihre schmächtigen Schultern gelegt und zwang
sie mit sanftem Druck nach dem Rücken zu, denn es machte ihm heimlich
Sorge, daß sie sich so gern vornüberneigten.

»Warum schwer?« fragte er dabei mit seiner ruhigen Stimme, »hier gibt
es ja auch Buben und Mädchen genug zu unterrichten, -- schlimme kleine
Mädchen mit ganz schlimmen Aufsätzen, wie du weißt.«

»Ach, -- die!« sagte sie im Tone tiefer Verachtung und zuckte mit den
Achseln, »die sind's nicht wert.«

»Auch du?« fragte er zweifelnd und sah sie aufmerksam von der Seite an.

»Ja, auch ich,« meinte sie treuherzig.

»Du bist ja ungeheuer demütig heute,« bemerkte er, »allzu demütig,
Ruth. Das ist nicht gut.«

»Warum ist nun das auch wieder nicht gut?« fragte sie zerstreut.

»Weil es nicht aus dir selbst herauskommt, Mädel. Nicht aus deiner
Natur. Es ist, wie wenn jemand eine Stellung festhalten wollte, für die
er sich verrenken muß. Das sollst du nicht thun.«

Sie erwiderte nichts darauf, vielleicht hörte sie kaum hin. Ihre
Gedanken waren auf etwas andres gerichtet, das sie nicht anzubringen
wußte. Nach einer kleinen Pause sagte sie leiser: »Sie sehen so froh
aus. In den Augen -- und überhaupt. Warum?«

»Weil ich dich wieder habe, mein Kind,« entgegnete er ernst.

»Mich! aber all die andern?«

»Wen denn, Ruth?«

Nun hielt sie es nicht länger aus.

»Ich meine: bloß Buben und Mädchen zu unterrichten, die es gar nicht
wert sind, und sonst nichts! Anstatt etwas ganz andres thun zu dürfen,
etwas viel, viel Größeres, -- so groß wie ein Meer mit allen Schiffen
darauf,« versuchte sie es auseinanderzusetzen und nestelte dabei, ohne
es zu merken, erregt an seiner Uhrkette.

Er sah erstaunt auf sie nieder.

»Phantasierst du, Kind? Du sollst dem nicht so nachgeben,« sagte er
eindringlich, »was hast du eigentlich zusammengedichtet? Du mußt es
klar sagen können. Nun?«

»Es ist ja etwas Wirkliches!« rief sie schüchtern, »es ist gar keine
Phantasie. Wir sprachen im Garten darüber, -- am Vormittag.«

»Mit meiner Frau?«

Ruth nickte.

»Sie hat mir erzählt. Von früher und von jetzt. Sie erzählt so
wunderschön! Ganz wunderschön erzählt sie.«

»So. Thut sie das? Ader was hat sie dir denn erzählt?« fragte er, und
sein Blick war forschend und gespannt.

»Alles. Und da, -- ja, da schien es mir so ganz entsetzlich, -- so
ganz unmöglich schien es mir, daß nichts daraus geworden ist. Aus all
den großen Plänen nichts geworden,« sagte sie leidenschaftlich, und
ihre Finger umklammerten die Uhrkette, als müßte sie irgend etwas
zerbrechen, »nichts als eine Schulstube. Und daß es immer so bleiben
soll. Es kann ja nicht so bleiben.«

Sie sprach beinahe zornig, und in ihren Augen standen große Thränen.

Erik antwortete nicht gleich. Seine Hand hob sich und strich sanft
hin über ihr loses weiches Haar, und als Ruth aufblicken wollte, da
glitt die Hand tiefer und legte sich leise über die fragenden Augen.
Er schaute über sie weg, hinein in die grünen rauschenden Baumwipfel,
und kämpfte eine Erregung nieder. Ihm war seltsam zu Mute. Er wußte,
daß das, was Ruth empfand, nicht von seiner Frau kam; weder die
leidenschaftliche Auffassung, noch die phantastische Unklarheit des
Bedauerten war seiner Frau möglich. Noch nie, seit er sich verheiratet,
hatte er zu einem Menschen, hatte ein Mensch zu ihm von den
Enttäuschungen seines Lebens gesprochen. Und da stand sie nun, die ihn
seit vier Tagen kannte, in Zorn und Gram und Thränen und härmte sich um
diese Enttäuschungen, als seien es ihre eigenen.

Als mehrere Minuten in Schweigen verstrichen, bückte Ruth den Kopf
tiefer, und ihre Hand sank von seiner Uhrkette.

»Ich will es gewiß nie wieder sagen!« sagte sie leise, abbittend.

Er griff heftig nach ihrer Hand und preßte sie in der seinen zusammen.

»Du sollst mir immer alles sagen, alles, was dich beschäftigt,«
versetzte er ruhig, aber seine Stimme klang verändert und gedämpft,
»niemals sollst du Gedanken, die dich aufregen, vor mir verbergen,
-- und nun gar Kümmernisse, mein Kind, -- solche kindischen und
phantastischen Kümmernisse.«

Dann lehnte er sich gegen das Fensterbrett, vom Licht abgekehrt, das
Gesicht im Schatten.

»Ich will dir eine Geschichte erzählen, Ruth; soll ich?«

Sie nickte gehorsam, ohne den gesenkten Kopf zu heben; man konnte
sehen, daß ihr an dieser Geschichte nicht allzuviel lag, und daß sie
sich als Kind behandelt fühlte.

»Es war einmal ein Mann,« begann er, »den gelüstete es sehr, ein
großes, weites Feld zu bebauen, -- ein Feld, wohl so groß wie ein
Meer. Denn er wußte, der Boden war gut, und nur der Arbeiter gab es
noch wenige, -- viel zu wenige. Aber es kam anders, als er es sich
gewünscht hatte, und an dem großen Felde durfte er so gut wie gar nicht
mitarbeiten. Nur ganz fern, in einem äußersten Winkel desselben, wies
man ihm ein kleines Stückchen Erde an, wo er Kohl pflanzen konnte und
Kartoffeln. Nur eben genug, um zu leben.«

Sie hatte längst die Augen mit aufblitzendem Verständnis zu ihm
aufgeschlagen. Groß, ungeduldig hingen sie an seinen Lippen. Ihre ganze
Seele war in diesen Augen.

»Und da --?« fragte sie atemlos.

»Und da,« fuhr er fort, »fand er eines Tages unter seinen Kohl- und
Kartoffelstauden eine fremdartige kleine Pflanze. Von irgendwoher
mochte ihr Samenkörnchen in diesen Boden gefallen sein. Es war nur
ein unscheinbarer, zarter Trieb, dem man noch nicht ansehen konnte,
was darin steckte. Aber vielleicht konnte er sich einmal zum Bäumchen
auswachsen. Und wenn das gelang, -- wenn ein guter Gärtner an diesem
Bäumchen unablässig seine Dienste that, und wenn das Bäumchen sich
willig behandeln und biegen, pfropfen und beschneiden ließ, -- dann, --
ja, dann konnte es am Ende seltnere Früchte tragen, als irgend etwas,
was sonst auf dem Feldwinkel wuchs.«

»Bin ich das Bäumchen?« fragte sie naiv und glitt leise vom
Fensterbrett.

Er antwortete nicht, aber er zog sie näher an sich, so daß ihr Haar
seine Schultern berührte. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der kein
Lächeln war und kein Ernst, und doch wie ein gesteigerter Abglanz von
beiden, der einer Ekstase glich. Er erinnerte Erik plötzlich an jenen
Aufsatz mit der Ueberschrift: »Seligkeit!« Zum erstenmal erinnerte
ihn dieses schmale Kindergesicht mit den beredten Augen und den
geschweiften Lippen an die Verse im Schulheft.

»Möchtest du ein solches Bäumchen für den Gärtner werden, Ruth?« fragte
er sie mit gesenkter Stimme.

Sie atmete tief auf.

»Noch lieber möchte ich der Gärtner werden,« sagte sie unerwartet,
»aber es ist vielleicht fast dasselbe.«




                                 III.


Jeden Morgen, ganz früh, noch ehe das Haus wach wurde, fanden Erik und
Ruth sich im Studierzimmer zusammen. Sie standen beide ein paar Stunden
zeitiger auf als sonst, um es zu können, und jeden Morgen nahm er mit
ihr ihre Arbeit für den Tag durch, der er sie dann allein überließ.

Es war immer dasselbe Bild: Ruth war immer schon da, und stand, ihn
erwartend, ins offene Fenster gelehnt. Sie horchte auf die kleinen
Buchfinken draußen und zugleich, ob sein Schritt nicht über den Flur
käme. Gewöhnlich sah sie ein bißchen blaß und bange aus, denn so
übermütig froh sie auch tagsüber vor Erik sein konnte, -- als Lehrer
fürchtete sie ihn. Und auch jetzt noch, wenn sie seinen Schritt im Flur
vernahm, überfiel sie, wie am allerersten Abend, das Herzklopfen und
die alte Schüchternheit.

Es war immer dasselbe: ohne daß sie sich nach ihm umwandte, trat
Erik dicht an sie heran, bis ihr Rücken gegen ihn gelehnt war, dann
schloß er ihre beiden Hände in den seinen zusammen, so daß sie wie
eingefangen war zwischen seinen Armen. Es lag für sie darin nicht nur
eine Liebkosung, sondern auch etwas zugleich Beschwichtigendes und
Zwingendes, unter dem sie unwillkürlich stillhielt und sich sammelte.
Und dann, ohne Zeitverlust oder überleitende Gespräche, nahm er sie
sofort nüchtern und ernsthaft vor. So ging der Morgengruß unmerklich in
die Morgenarbeit über.

Als Erik heute morgen die Thür zu seinem Zimmer öffnete, blieb er einen
Augenblick überrascht stehen. Vor den Fenstern waren die weißlackierten
Innenläden geschlossen worden, so daß die graue Regenluft draußen nur
durch die Ritzen hereinschauen konnte; ein einzelnes Licht brannte mit
trübem Schein auf dem Schreibtisch. Vor demselben saß Ruth, umgeben von
Heften und Büchern, und schrieb, ohne auch nur aufzublicken.

Erik sagte nichts. Er schlug einen Laden zurück und öffnete das
Fenster, so daß Luft und Licht in breitem Strom eindrangen, dann kam
er an den Schreibtisch und blies das Licht aus, während Ruth verwirrt
emporfuhr.

Er beugte sich zu ihr nieder, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und
blickte sie aufmerksam an.

»Du hast geweint. Worüber?«

Sie errötete und zauderte einen Augenblick.

»Ich mag nicht dumm sein!« rief sie dann außer sich mit sprühenden
Augen.

Er lachte.

»Du bist nicht dumm. Habe ich das gesagt? Wenigstens nicht
hoffnungslos. Solange ich dich nicht aufgebe, brauchst du es auch nicht
zu thun.«

Er rückte ihren Stuhl vom Tisch ab und nahm ihr die Feder aus der Hand.

»Aber du darfst nicht nachts aufstehen und arbeiten. Nie ohne mein
Wissen. Das ist Unfug. Wenn ich abends deine Arbeiten durchgesehen
habe, dann sollst du aufhören.«

»Die Sonne hörte auch nicht auf,« sagte Ruth, »sie schien hell fast die
ganze Nacht durch. Im Gehölz rief ein Kuckuck; die Drosseln vor meinem
Fenster unterhielten sich. Da kam ich leise her.«

Erik griff über ihre Schulter nach dem Heft, in dem sie geschrieben
hatte, aber Ruth hielt es zögernd und schüchtern fest. Man konnte ihr
ansehen, daß sie in ihrer Erregung beinahe litt.

»Ruhig!« sagte er eindringlich und entfernte ihre Hand vom Heft.

Schweigend las er darin eine Zeit lang, während Ruth mit gefurchter
Stirn dasaß, die Hände im Nacken verschränkt und ganz blaß.

Dann legte er ihre Arbeit vor sie hin.

»Das hast du gut gemacht,« bemerkte er, »hat es dir Mühe und
Ueberwindung gekostet?«

»Ja,« gestand sie ehrlich, ohne ihre Haltung zu verändern, »aber es
schadet nichts.«

»Nein. Es schadet nichts. Siehst du das nun selbst ein? Es konnte
nichts helfen, mit dir zu treiben, was dir lieb und leicht ist; durch
das, was deinen kleinen phantastischen Kopf am härtesten anmutet, durch
das, was ihm am schwersten fällt, gerade da muß er hindurch.«

Er löste ihre im Nacken verschlungenen Hände und behielt sie in den
seinen.

»Ich weiß, daß es manchmal ein harter Zwang war,« sagte er, »und du
dein eigenes Wesen unterdrücken mußtest; es that weh, nicht wahr? Aber
es mußte sein. Und nun, -- nun bekomme ich dich allmählich gerade so,
wie ich dich haben will, Mädel. Ist es nicht schön?«

»Wunderschön ist es!« rief sie, mit leuchtenden Augen sich nach ihm
zurückwendend, »das denke ich ja immer dabei, wenn es mir schwer fällt!
Ich such's zu vergessen und denke mich nur hinein: wie wunderschön muß
es sein, jemand, der ganz anders ist, gerade so zurecht zu kriegen, wie
man ihn haben will!«

Ein Schatten von Enttäuschung ging durch Eriks Augen.

»Nur daran denkst du dabei, Ruth? Und ich glaubte, dich selbst solle es
glücklich machen.«

»Das thut es ja eben!« erklärte sie erstaunt und stand auf.

»Was willst du nun heute morgen thun? Wir wollen in den Garten gehen.
Es regnet nicht mehr. Oder meinst du, daß du schlafen könntest?«

Sie schüttelte lachend den Kopf.

»Ich möchte nicht, daß du später allein bleibst, ohne Beschäftigung
und Morgenfrische,« sagte Erik; »arbeiten sollst du nicht. Vielleicht
solltest du mit mir zur Schule kommen. Noch immer warten die
Mädchen auf deinen versprochenen Besuch. Und in ein paar Tagen ist
Klassenschluß. Es wird dich ablenken und zerstreuen. Und wenn es dich
ermüdet, desto besser.« --

Gonne hatte auf der Terrasse den Frühstückstisch gedeckt, und Klare-Bel
lag schon neben demselben in ihrem Stuhl, als Erik, Ruth und Jonas,
erst auf wiederholte Rufe, aus dem Garten herankamen. Jonas sah ganz
erhitzt aus, und der Strohhut saß ihm im Nacken; in seiner rechten Hand
trug er einen hohen Eimer, den er von Gonne erbeutet hatte und jetzt
auf die Stufen, die zur Terrasse führten, niedersetzte. Eine wohl zwei
Fuß lange, stahlfarbene, bläulich glänzende Schlange wand sich darin.

»O pfui, Jonas!« rief Klare-Bel entsetzt, »wie magst du nur ein so
greuliches Tier herbringen! Könnte sie uns nicht alle totbeißen, Erik?«

»Das kann sie nicht. Es ist eine Ringelnatter,« versetzte er lächelnd.

»Aber eine prachtvolle, Mama! ich fand sie hinter dem Gehölz, da
wo der kleine Bach sich im Wiesengrund verläuft,« sagte Jonas voll
Stolz und Bewunderung; daß er einen solchen Fund that, war ihm ein
ganz unerwartetes Landvergnügen, er hatte eigentlich nur auf Raupen
gerechnet, und höchstens auf eine Blindschleiche.

Ruth beteiligte sich nicht an der Unterhaltung über die Schlange,
die Jonas gar nicht aufhören konnte zu bewundern, während sie Kaffee
tranken. Seitdem sie im Garten Jonas mit dem Eimer in der Hand begegnet
waren, verhielt Ruth sich ganz still. Sie hatte heimlich gehofft,
Klare-Bel würde gegen die Schlange protestieren, aber die erkundigte
sich ja nur danach, ob das Tier wohl jemand totbeißen könnte. Und das
war an einer solchen Schlange doch wohl das Geringste, fand Ruth.

Jetzt gelang es der Ringelnatter, nach mehreren vergeblichen Versuchen,
sich auf dem Boden des Eimers aufzurichten, sie wiegte rhythmisch ihren
Oberkörper und guckte mit ihren kleinen klugen schwarzen Augen die
Anwesenden an.

Klare-Bel blickte zufällig auf Ruth, deren Glieder ein Zittern
durchlief, und die die halbgefüllte Tasse niedersetzte und erblaßte.

»Wirf das Untier fort, aber schnell, Jonas,« sagte seine Mutter rasch,
»siehst du denn nicht, daß Ruth sich ängstigt?«

»Nein, lasse sie nur da,« fiel Erik ruhig ein, der Ruth die ganze
Zeit über beobachtet hatte, »darauf soll keinerlei Rücksicht genommen
werden.«

Dann wandte er sich in leichtem Ton an sie: »Liuba hat mir erzählt, daß
du einmal wegen einer ähnlichen Kleinigkeit umgefallen bist. Strafe sie
Lügen.«

»Hat Liuba gesagt: wegen einer Kleinigkeit?« fragte Ruth erstaunt.
»Es war keine Kleinigkeit. Es war etwas fürchterliches, -- kalt und
grausig, -- was so gewaltsam von außen kam, -- so, wie wenn man einen
umbringt.«

»Um Gottes willen!« bemerkte Klare-Bel, »was kann denn das nur gewesen
sein?«

»Eine kleine Raupe!« entgegnete Erik spottend.

Ruth wollte wahrheitsgemäß verbessern: »Eine große Raupe,« aber
sicherer erschien es ihr, nicht noch ausdrücklich zu bestätigen, daß es
nur eine Raupe gewesen war.

»Paß mal auf,« rief Jonas, »ich werde das Prachttier zähmen;
Ringelnattern sind zutraulich und verständig, man kann sie gern um den
Hals winden. Dann spielen wir ›Schlangenbändiger‹. Hast du je schon
etwas so Schönes gehört? Ich bin der Schlangenbändiger. Da brauchst
du dich gar nicht zu fürchten. Du siehst nur zu und -- und bewunderst
mich.«

Erik lachte und griff ihm ins kurzgeschorene Blondhaar.

»Stopf deiner Eitelkeit den losen Mund,« warnte er, »denn schon ist
die Zeit ganz nah, wo Ruth sich nicht mehr mit der Zuschauerrolle
begnügen wird. Wo sie selbst, freiwillig, aus eigenem Antriebe, an die
Schlange herantritt, sie in die Hand nimmt und sich auf den Körper
hinaufkriechen läßt.«

Ruth hatte vergeblich versucht, ihn zu unterbrechen.

»Ich! Wann wird das sein?« fragte sie, ganz außer sich vor Erstaunen.

»Wann? vermutlich schon bald.«

»Nein! Nie!« versicherte Ruth, noch ganz fassungslos über seinen
Irrtum, »ich würde mich ja immer fürchten.«

»Das würdest du wohl. Aber das ist noch kein Gegengrund. Es kommt vor,
daß man stärker ist als die eigene Furcht, und daß man sie totschlägt.«

»Nun, Erik, das ist ein starkes Stück,« sagte Klare-Bel halblaut.

Jonas sah verdutzt aus, daß sein Vater so etwas im voraus wissen
konnte, was doch Ruth selbst noch nicht wußte. Aber er begriff, daß
Erik ihr etwas Unangenehmes geweissagt hatte, denn sie schauderte
unwillkürlich zusammen.

»Weißt du was?« schrie Jonas ihr plötzlich zu, und der rettende Einfall
verklärte förmlich sein Gesicht. »Ich weiß einen Ausweg: -- thu's eben
nicht! Einfach! denke nur: du brauchst es ja einfach nicht zu thun!«

Er mußte sich von seinen Eltern auslachen lassen, und das Gespräch
wandte sich andern Dingen zu.

Ruth saß regungslos da und blickte scheu nach dem Eimer. Wie gebannt,
mußte sie den länglichen, schilderbedeckten, züngelnden Kopf ansehen,
der sich dort herüberreckte. Es war, als grüße er sie. Es war, als
schaue er nur gerade sie an. Nur sie ganz allein. Als sei sie ganz
allein mit der Schlange.

Die kleinen runden schwarzen Augen schienen sich mehr und mehr zu
erweitern, wie ein grausiger Höllenabgrund, in dem alles Unheimliche
sein Spiel trieb. Und hinter dem Kopf mit den Augen hing das ekle,
schlüpfrige Gewürm und wand sich ungeduldig. Es war ganz gewiß: die
Schlange lauerte schon auf sie.

Sie sah doch wirklich so aus, daß man das Schlimmste von ihr denken
konnte.

Ruth und die Ringelnatter maßen sich mit den Blicken.

Ruth errötete langsam, immer dunkler, ohne ein Wort zu sprechen.

Da, als Erik sich vom Frühstückstisch erhob, und Jonas wieder in den
Garten laufen wollte, sprang Ruth hastig auf und sagte wild. »Dann
lieber gleich!«

Die andern verstanden sie nicht recht, nur Erik, der sie unausgesetzt
im Auge behalten hatte, entschlüpfte ein Laut der Ueberraschung.

»Jetzt gleich?« wiederholte er, »nein, mein Kind, das ist weder gut
noch notwendig. Es wäre eine ebensolche Uebertreibung wie das mit dem
Nachtarbeiten. Und nach dieser Nacht bist du mir jetzt nicht fest genug
dazu.«

»Ich bin fest!« versicherte sie fast flehend, »aber warten kann ich
nicht auf etwas so Grausiges! Ich kann es nicht so heranschleichen
sehen, -- Tag für Tag, -- immer näher, -- immer gewisser; -- mit einer
Schlange zusammenwohnen, vor der ich mich fürchte, -- und die mit der
ganzen Familie immer intimer wird, -- -- und nur auf mich lauert, --
nein, das kann ich wirklich nicht!«

Erik lachte, sah aber dabei besorgt aus. Dies kam ihm ganz unerwünscht.

»Aber Ruth!« sagte er, »hat dich denn deine Phantasie mit Haut und
Haar aufgefressen? Eine solche Kleinkinderangst legt man am sichersten
in allmählicher Gewöhnung ab. Mir ist es lieber, wenn es allmählich
geschieht. Ueberlege es dir! Denn, wenn du darauf bestehst, gibt es
kein Zurückweichen mehr! Dann kein Spielen und Versuchen! Das würde ich
nicht dulden. Deiner selbst mußt du sicher sein.«

»Ja!« behauptete Ruth, und die Stirn wurde ihr feucht.

»Willst du es trotzdem? Gut. Dann komm her.«

Erik beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit und trat zugleich
von hinten an sie heran, damit sie sich mit dem Rücken gegen ihn lehnen
mußte, wenn sie etwa »umfiel«.

Sie stand mit herabhängenden Armen da und machte ein entschlossenes,
beinahe finsteres Gesicht. Als er sich aber nach dem Eimer bückte,
und sie, dicht vor sich, die Schlange in seiner Hand sich winden sah,
überfiel sie ein Schwindel.

Unwillkürlich schlossen und ballten sich krampfhaft ihre Hände, denen
sie befahl, sich nach dem glatten Wurm auszustrecken; sie machte
zuckend die Augen zu, und es fing an, ihr vor den Ohren zu sausen.

Da hörte sie Eriks ruhige Stimme: »Fürchtest du dich sehr?«

Sie nickte fast unmerklich.

»Dann wollen wir es lassen, mein Kind.«

Ruth öffnete erwartungsvoll und groß die Augen.

»Für immer?« fragte sie schnell.

Er mußte lächeln.

»Nein. Nicht für immer,« sagte er ruhig und freundlich, »aber es eilt
nicht.«

Sie nahm sich zusammen.

»Dann jetzt gleich!« murmelte sie.

Und sie streckte den Arm aus und nahm ihm die Schlange aus der Hand.
Bei der ersten Berührung erschütterte es ihren ganzen Körper wie
ein elektrischer Schlag, sie warf den Kopf zurück und drängte sich
hilfesuchend enger an Erik. Aber ihre Finger hielten dabei den langen,
glatten Schlangenleib fest umspannt, und ohne einen Laut über die
erblaßten Lippen zu bringen, sah sie mit weitgeöffneten Augen zu, wie
die Ringelnatter sich an ihrem Arm hochstreckte, sich um denselben
herumschob und den Kopf mit der feinen gespaltenen Zunge wiegend zur
Seite niederhängen ließ.

Der Arm blieb ausgestreckt, als wäre er erstarrt. Und Ruth machte ein
Gesicht dazu, als ob sie hingerichtet würde.

»Bravo!« sagte Erik, der seine Hände schützend und ermutigend um sie
gelegt hatte, »auch das hast du gut gemacht, Mädel.«

Als er sie aber losließ und mit raschem Griff die Schlange wieder in
den Eimer schüttelte, da taumelte Ruth.

»Nein, nein!« rief er heiter, »du mußt nicht denken, daß du jetzt noch
›umfallen‹ darfst. Damit ist es nun nichts mehr.« Und er schob ihr
einen Stuhl zu.

Aber Ruth beachtete den Stuhl nicht, sondern ging, ohne aufzusehen, mit
unsicheren Schritten an Erik vorbei, quer über die Terrasse und in den
Flur hinein. Dort, so weit von ihm entfernt wie möglich, setzte sie
sich in eine Ecke, hinter den Mantelständer, versteckte ihr Gesicht in
den Mänteln, die dort hingen, und fing an zu weinen.

Erik sah ihr verwundert zu.

»Aber Ruth, du Narr!« rief er, und mußte doch lachen, »nun solltest du
froh sein, und sogar stolz. Was kann es nützen, hinterdrein zu weinen?«

Sie guckte hinter dem Mantelständer hervor und blickte ihn vorwurfsvoll
an.

»Ich thue mir so leid!« sagte sie und weinte weiter.

Jonas, der die ganze Zeit mit offenem Munde dagestanden, aber auf einen
Wink seiner Mutter seine steigende Verwunderung für sich behalten
hatte, sah auf diese Worte hin den Vater ebenfalls sehr vorwurfsvoll
an. Er lief in den Flur, um Ruth zu trösten.

Eine Stunde später fuhr Ruth aber dennoch mit ihm und Erik zur Stadt.

Die Mädchen in der Schule warteten schon lange auf ihren Besuch.
Es interessierte sie außerordentlich, daß Ruth jetzt bei Erik im
Hause lebte, und in jeder Stunde erkundigten sie sich nach ihr bei
Erik. Sie fanden, alles sei plötzlich so nüchtern geworden. Nur eine
kleine Partei, freilich die beste, vermißte Ruth nicht. Das waren die
Musterschülerinnen, die sich jetzt vor ihren Ausgelassenheiten sicher
fühlten und durch keine argen Einfälle mehr in Versuchung geführt
wurden. Aber die Stimmung blieb flau, und als es nun, so kurz vor den
Ferien, zu regnen anfing, da verdüsterten sich die Gesichter auch der
Fleißigsten.

So gab es doch eine gewaltige Freude, als heute, in der Freistunde,
Ruth wieder auf dem Schulhof erschien, mit einem großen Regenschirm,
unter dem ihr Gesicht vergnügt hervorschaute. Alle umringten sie,
und der Lärm wurde so schlimm, daß im Hinterhause die Leute aus den
Fenstern herabschauten, um zu sehen, was es gäbe, und warum die
Schulvögel noch lauter zwitscherten als sonst.

Ruth war von ihnen die einzige Stille. Als sie so mitten unter ihnen
stand, von allen bedrängt, da kam es ihr vor, wie wenn sie aus einer
Weltferne zu ihnen zurückgekehrt sei, und sie wurde fast schüchtern.
All das Viele, was sie zu erzählen hatte, all das Viele, worauf jene
begierig waren, schmolz zu einem bloßen Blick und Lächeln zusammen, und
es blieb nichts, als auf ihrem Gesicht der Ausdruck von Kinderglück,
der an ihrer Statt erzählte.

Die Schülerinnen schoben sich an der Hauswand aneinander, wo das
überragende Dach sie vor dem schwachen Sommerregen schützte, und wie
damals, als Erik aus dem Klassenfenster auf sie niederblickte, fand
Ruth ihren Platz wieder auf dem umgestülpten Wasserfaß.

Sie erschien den Mädchen verändert, ohne daß diese sagen konnten,
wodurch. Denn wie ein Junge im Blusenkittel sah sie noch immer unter
ihnen aus, und einen Zopf hatte sie ja auch noch nicht bekommen. Daß
sie nicht sprach, entging ihnen vollständig; der in ihnen selbst
aufgespeicherte Mitteilungsstoff brannte auf den Zungen, und, anstatt
dessen, was sie von ihr erfahren wollten, erfuhr Ruth binnen weniger
Minuten das Schicksal einer jeden einzelnen, von damals bis heute,
nebst dem ganzen Gang der »öffentlichen« Angelegenheiten.

Das größte Ereignis stellten sie ihr in Person vor. Das war eine Braut.
Eine wirkliche Braut aus ihrer Klasse. Ein großes, blondes Mädchen von
frauenhafter Gestalt, mit ruhigen, freundlichen Gesichtszügen. Als
Legitimation wurde ihr ein Ring von der linken Hand gestreift und seine
Inschrift triumphierend vorgezeigt, -- der glatte goldene Traureif fiel
Ruth in den Schoß.

Die Braut wehrte sich nur schwach dagegen, so als Gemeingut behandelt
zu werden. Sie war begreiflicherweise mit ihren Gedanken längst aus der
Schule heraus und fühlte sich mit deren Insassen nur noch durch das
unendliche Interesse verbunden, welches ihr, ihrem Liebsten, und ihrem
Glück wahrhaft glühend entgegengetragen wurde. Denn mit ihr betrachtete
sich sozusagen die ganze Klasse als mitverlobt und an den Mann
gebracht.

»Er ist dunkelhaarig!« erklärte das kleine blonde Gretchen, die
besonders zärtlich an Ruth hing, »ach, Ruth, ein solcher, wirklicher
Bräutigam bleibt doch das Allerhöchste. Denke dir nur, was man als
Braut alles zu erzählen hat! Wenn wir so zusammensitzen, und sie
spricht von ~ihm~ und dem Leben und der Ehe und der Zukunft, dann meint
man, daß man in einer Stunde mehr erfährt als in all den Schuljahren
mit ihrem Kram.«

»Wieso?« sagte Ruth, »sie weiß ja selbst noch nichts davon.«

Gretchen schwieg etwas betroffen.

»Nun, du bist auch nicht wenig prosaisch geworden!« fiel eine andre
ein und lachte, »sie lieben sich ja doch! Findest du denn das nicht
wunderschön?«

»Doch!« sagte Ruth und betrachtete nachdenklich den schmalen Goldreif
in ihrer Hand; »vielleicht ist es wunderschön.« Dann gab sie ihn
der Braut mit einem vollen Blick zurück und fügte hinzu: »Aber das
Wunderschöne daran läßt sich ja doch nicht erzählen. Nicht wahr?«

Die Angeredete errötete etwas und sah Ruth erfreut an. Sie fühlte sich
zum erstenmal zu dem beglückwünscht, was sie ganz für sich allein
besaß, als Braut, -- was sie mit den andern nicht gemein haben konnte.
»Es wäre eigentlich schöner gewesen, nicht so viel und so ausführlich
mit allen darüber zu sprechen,« dachte sie plötzlich, mit Scham und
Stolz. Und während sie den Ring überstreifte und Ruth anblickte, konnte
sie dem Gedanken nicht wehren: »Diese hier ist gewiß die nächste
Braut.«

»Ja, Ruth, du hast recht: zum Erleben mag es schmecken, zum Erzählen
ist es fade!« rief die hübsche dunkle Wjera dazwischen, die schon immer
zu den Kecken gehört hatte und sich jetzt aus allen Kräften gegen das
Uebergewicht der »Brautschaft« in der Klasse sträubte, »was hattest du
immer für herrliche Geschichten und Abenteuer für uns auf Lager! Und
jetzt: der reine Hausfrauenzettel! Ich bin die einzige, die noch dem
›Edlen, Unglücklichen‹ nachsteigt.«

»Ist der noch da?« fragte Ruth.

»Ja, stell dir nur vor,« klatschte eine an Ruths Ohr, »sie macht
förmliche Straßenbekanntschaften. Es hat schon einen Verweis gegeben.«

»Laß dir nichts in die Ohren blasen, Ruth,« unterbrach die Geschmähte
sie, »es ist ja alles deine Schuld und dein Vermächtnis! Warum bist du
auch fortgeblieben mit deinen schönen Freistundengeschichten?«

Ruth hatte ihren Kopf gegen die Hausmauer gelehnt und sah schweigend in
den verregneten Hof. Gerade vor ihr erhob sich ein hoher Schornstein,
dessen Rauchsäulen jahraus, jahrein die Mauern schwärzten und ihren Ruß
auf den Schulhof niederstäubten. Gegenüber sperrte die mächtige gelbe
Wand des Hinterhauses jede Aussicht ab. Die Luft war schwül; sie hatte
es draußen im blühenden Juni gar nicht bemerkt.

»Wie ein Gefängnis!« dachte Ruth und sagte laut: »Das mit den
Geschichten war ja nur ein Notbehelf. Phantastereien.«

»Wieso ein Notbehelf?«

»Würdest du uns keine mehr erzählen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Keine Phantasiegeschichten mehr. Nie mehr. Aber wenn man vor
einer großen Mauer sitzt, dann malt man sich natürlich aus, was es
hinter der Mauer gibt. Und wir wußten nichts, als daß es dahinter
Männer gibt. Und da malten wir sie uns mit lauter Männern aus. Ihr
wolltet es ja so.«

»Nun, und was? Was gibt es sonst noch dahinter?«

»Weißt du jetzt etwas davon, was es da gibt?«

»O!« sagte Ruth nur, aber ihre Augen öffneten sich groß und strahlten
alle an, wie zwei unergründlich verheißungsvolle Glücksgeheimnisse,
»dahinter gibt es das Leben.«

In ihrem Blick und Ausdruck lag etwas dermaßen Aufstachelndes, die
Neugier und das Verlangen Aufreizendes, daß in diesem Augenblick den
meisten selbst der »Bräutigam« schon etwas schal und abgestanden
erschien. In den Gesichtern prägte es sich deutlich aus, daß ein neuer
Hunger sich geltend machte.

»Wie kommt man denn über die Mauer?« fragte die unternehmende Wjera.

Ruth lachte.

»Man klettert eben hinüber,« sagte sie und lachte noch immer, »und dann
geht man geradeaus, und noch rechts und nach links, ringsherum und nach
allen Seiten. Bis man alt ist.«

»Nehmt euch in acht!« rief eine von den Musterschülerinnen warnend,
»seht ihr denn nicht, wie sie euch foppt? Gerade so machte sie es immer
mit euch. Sie spielt und phantasiert, und dann lacht sie uns aus, weil
wir's ernst nehmen.«

»Nehmt's nur für Ernst!« sagte Ruth und gab sich vergebliche Mühe, den
Schalk zu zügeln, der ihr im Nacken saß.

»Da sollen wir wohl zu Herrn Matthieux gehen und ihn bitten, uns auch
über die Mauer zu helfen?«

»Das könnt ihr ja thun.«

»Der hätte wohl gerade Lust und Zeit dazu!«

»Die hat er gewiß,« versicherte Ruth; »und Lust hat er auch. Er hat
alles, außer den Menschen, die dazu gehören.«

Sie sahen sich mit unsicheren und lächelnden Blicken untereinander an.
Und dann auf Ruth, die gleichmütig dasaß, wie das verkörperte Behagen.

Die Spannung wuchs. Dies hier schien ihnen ihre schönste Geschichte zu
sein.

»Sage mal: ist es auch gewiß, daß es dahinter angenehm ist? Hast du da
auch gewiß nie etwas Unangenehmes vorgefunden?« fragte eine von ihnen
vorsichtig.

»Nie!« behauptete Ruth, und es blitzte über ihr Gesicht, als ihr
beiläufig einfiel, daß ihre Augen seit gestern noch nicht trocken
geworden waren.

Die dünnstimmige Klassenglocke fing an zu bimmeln, und die Mädchen
verließen den Platz am Brunnen.

»Du könntest Herrn Matthieux ja mal für uns fragen,« meinte die hübsche
Wjera, »das kostet nichts.«

»Warum?« entgegnete Ruth; »es ist eure Sache. Laßt es euch nur was
kosten.«

In aufgeregtem Meinungsaustausch drängten sie dem Hause zu. Darüber
blieb es unbeachtet, daß Ruth ihnen nicht folgte. Ueber der Spannung,
die sie hervorgerufen, war sie selbst vergessen worden. Als die Mädchen
sich dann nach ihr umsahen, um einen gemeinsamen Heimweg zu verabreden,
war Ruth verschwunden. Das letzte, was sie noch von ihr vernahmen, war
ein Gelächter.

Erik brauchte an diesem Vormittag nicht ganz so viele Stunden zu geben
wie sonst, denn mehrere Privatschulen hatten schon Ferien gemacht. So
kam er bereits früh in seine Stadtwohnung hinauf, wo Ruth ihn erwarten
sollte. Noch war nichts von ihr zu erblicken. Erik erledigte, was es
hier noch zu thun gab, und kleidete sich um, froh, der heißen Uniform
zu entrinnen. Als Ruth sich dann immer noch nicht melden wollte,
öffnete er etwas beunruhigt die Thür zum Wohnzimmer und schaute hinein.

Da lag sie und schlief.

Sie hatte ihre kleinen Schuhe ausgezogen und unter einen Stuhl
gestellt. Dann hatte sie sich, mit emporgezogenen Füßen, auf dem
weißen Leinwandbezug des Sofas zusammengekauert. Den Kopf gegen das
Seitenpolster gedrückt, schlummerte sie, mit ernstem Gesicht und
schlafgeröteten Wangen, fest und eifrig, wie ein Kind.

Die Müdigkeit mußte sie beim Warten überfallen haben.

Aus dem grauen Regenhimmel stahlen sich durch die niedergelassenen
Fenstervorhänge einzelne Strahlenbündel, in denen der Staub in breiten
Wellen flimmerte und zitterte, und huschten über Ruths Gesicht. Ein
leises Lächeln glitt mit den Sonnenstrahlen über dasselbe hin und blieb
auf den Lippen stehen, wie im Traum. Dann, als die Sonne zudringlicher
wurde, zog sie ein paarmal Stirn und Nase kraus, und endlich mußte sie
heftig niesen.

Das Lachen breitete sich über ihr ganzes Gesicht. Lachend wachte sie
auf und hörte Erik lachen.

»Ist es Morgen?« fragte sie verwundert und setzte sich auf.

»Nein. Es ist Mittag. Warum bist du denn den Mädchen so rasch
weggelaufen? Sie fragten noch nach dir,« sagte er.

Ruth rieb sich die Augen.

»Ach so, die Mädchen. Jetzt weiß ich schon,« versicherte sie; »ja, mit
den Mädchen ist es nichts. Glaub's nicht. Aber mir ist eingefallen:
wenn man keine lebendigen Menschen aufbringen kann, -- dann gäb's am
Ende auch noch ein andres Mittel.«

»Mädel! Schüttle den Schlaf ab. Träumst du denn noch?«

»Nein, nein. Kein Traum,« sagte sie eifrig, glitt mit den Füßen vom
Sofa herunter, stützte die Arme auf den staubigen Tisch davor und
drückte das Kinn auf die geballten Hände; »ich habe es mir nämlich
so gedacht: wenn man zu den Menschen sprechen will, -- in sie
hineinwirken, -- an ihnen was Großes schaffen, -- und man findet nicht
recht die richtigen Menschen, die gut dazu passen würden, dann muß
man es ~so~ machen: man muß sich etwas ausdenken, was man ihnen vor
Augen stellt, -- so recht überzeugend und gewaltig vor Augen, bis sie
Lust kriegen. Kann man das nicht? Warum nicht? Zu den Menschen vom
Allerschönsten reden und nicht müde werden, -- bis sie Lust kriegen.«

Sie sprach rasch und belebt, mit wachen, glänzenden Augen, sichtlich
bemüht, ihm etwas deutlich zu machen, das sie da, wie einen Traum,
mitten aus ihrem Schlaf hervorgeholt zu haben schien.

»Wer soll das thun?« fragte er langsam, von ihrem Gesichtsausdruck wie
gebannt, und trat heran an den Tisch.

»~Sie~ sollen es!« rief sie hell, »wer denn sonst? Sie haben mir
immer gesagt: mit den Phantastereien ist es nichts, aber das Leben
ist schön und weit. Ich glaub's ja! Ader nun weiß ich, wozu die
Phantasiegeschichten gut sind, -- denn zu etwas sind die auch gut.
Dazu, daß man sich ausdenken kann, was noch am Leben fehlt, und es
hinzuthun. Am Leben und an den Menschen. Nicht wahr?«

Während sie sprach, ging Erik im Zimmer auf und ab. Ihm schien, als
lausche er auf den kindlichen Ausdruck dessen, was er nur künstlich
in sich selbst zurückgedrängt hatte. Es kam wieder und redete mit
Kinderstimme zu ihm. Eine Reihe noch unklarer Pläne blitzte ihm durch
den Kopf. Alte und neue durcheinander. Sie hatten immer nach Gestaltung
verlangt. Und er, durch die Verhältnisse enttäuscht, hatte versucht,
sie von sich abzuschieben, -- zu vergessen. Im vergangenen Winter hatte
er sich in einen förmlichen Gesellschaftsrausch gestürzt, um sie zu
vergessen.

Ruth saß und folgte ihm mit den Augen.

»Jetzt denkt er sich gewiß was aus!« dachte sie.

Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Beide merkten nichts davon,
daß die Luft im Zimmer dick und staubig war, und ungezählte Mücken
umherschwirrten.

Dann blieb Erik stehen, nickte zu ihr hinüber und sagte heiter: »Danke
dir, Mädel. Erinnerst du dich, daß du mir etwas schenken wolltest,
was ich eigentlich nie bekommen habe? Nun hast du mir aus deinen
Phantasiegeschichten heraus doch etwas geschenkt. Zur guten Stunde.«

Sie sprang vom Sofa und kam auf ihren Strümpfen lautlos zu ihm.

»Ja!« sagte sie froh, »Sie wollten sie mir aus dem Kopf herausnehmen
und alle für sich behalten. In den Kopf sollte nur lauter Vernünftiges
hinein. Sie sagten damals: ›Nun sind alle deine Geschichten mein
Eigentum, und ich kann mit ihnen machen, was ich will.‹ Und nun werden
Sie etwas Schöneres damit machen, als ich's gekonnt habe.«

Sie hob den Kopf mit einem Ausdruck ungeduldiger Spannung und
Erwartung, und dann fügte sie bittend hinzu: »Aber ich muß zuhören
dürfen, wenn Sie sich was ausdenken! Darf ich zuhören? Werden Sie es
mir erzählen?«

Erik blickte auf sie nieder. So kindhaft kam sie ihm vor, als sie so
in Strümpfen neben ihm stand. Da reichte sie ihm noch nicht bis zur
Schulter.

Wie heute morgen am Schreibtisch beugte er sich zu ihr, nahm ihr
Gesicht in seine Hände und sah hinein in zwei strahlende, glückliche,
bittende Kinderaugen.

»Wir werden es uns zusammen ausdenken!« sagte er. --

Klare-Bel hatte inzwischen Besuch gehabt. Als Erik und Ruth nach Hause
kamen, stand eine Equipage vor der Gartenpforte. Der Kutscher wendete
den leichten Wagen mit englischem Gespann und ließ die Pferde sich
langsam, im Schritt, abkühlen.

Warwara Michailowna saß bei Klare-Bel in deren kleinem, behaglichem
Gemach neben der Wohnstube. Sie war von ihrem erst kürzlich bezogenen
Landhause, das etwa eine Stunde entfernt lag, herübergekommen.

Es waren meistens nicht nur konventionelle Besuche, die sie der kranken
Frau machte. Sie kam gern, wie sie auch gern empfangen wurde: Sie
empfand es wohlthuend an Klare-Bel, daß man deutlich fühlte: hier lag
eine, der es wirkliches Vergnügen machte, einmal im Plauderton wieder
etwas von der Welt draußen, von den Menschen und der Gesellschaft
zu hören. Konnte sie auch nie wieder in das gesellige Treiben
zurückgelangen, so kannte sie dergleichen doch recht wohl aus den
ersten, beglückenden Jahren ihrer Ehe und sah es noch immer ein wenig
im Glanze dieser Zeit. Und da war es nun eigentümlich: wenn man zu so
einer sprach, dann ließ man unwillkürlich den schlechtesten Klatsch zu
Hause.

Klare-Bel selbst erzählte zwar niemals viel. Aber Warwara wußte, daß es
auch andern Bekannten gegenüber nicht geschah. Sie wußte: dies hier
war wirklich eine Frau, die mit niemand intim zu sein vermochte, als
mit ihrem Mann.

Was Warwara über Ruth und deren Anwesenheit im Hause erfuhr, fesselte
sie im höchsten Grade und erregte sie beinahe. Als aber nun Ruth ins
Zimmer trat, war sie enttäuscht.

Sie hatte unwillkürlich etwas Auffallendes erwartet.

Vielleicht einen wilden, interessanten Jungen in Mädchenkostüm,
vielleicht auch umgekehrt ein rührendes, liebliches Kind, das sich
schüchtern zurückzog, -- jedenfalls etwas ganz Eigenartiges. Nicht
ein blasses, wohlerzogenes Ding, das sich für Warwaras im Salon
geübten Blick von andern so jungen Mädchen durch nichts unterschied,
als höchstens durch das geradezu Abgeschliffene, Formsichere und
Unbefangene ihres Wesens einer Fremden gegenüber.

Nicht minder schnell war Ruth mit Warwara fertig: sie nahm diese ganz
als eine von vielen und gab auch sich selbst so, wie eine unter den
vielen, aus denen die Gesellschaft besteht.

Warwara zog sie ein wenig ins Gespräch und fragte, wo sie erzogen
worden sei.

»Ich war an verschiedenen Orten,« sagte Ruth, »aber erzogen bin ich
noch nicht.«

Man wußte nicht, war es bescheiden oder übermütig gemeint?

»Wenn die nicht durchtrieben ist!« dachte Warwara bei sich und musterte
sie schärfer.

Bald trat Erik dazu, eine heitere Unterhaltung in Gang bringend.
Warwara erzählte vom Rückgang einer Verlobung, deren Anzeige erst
kürzlich auch hier eingelaufen war. Ein sensationeller Rückgang, denn
die Braut hatte sich während der kurzen Verlobungszeit ganz eilig in
einen andern verliebt.

Erik, der es nicht über sich vermochte, die humoristische Seite dieser
Sachlage unbeachtet zu lassen, lachte laut.

Warwara sah sich nach Ruth um. Diese war hinausgegangen.

»Zufällig? oder ein Kunstgriff, um bei diesem Gespräch nicht
hinausgeschickt zu werden?« fragte sie sich, »oder ist sie wirklich so
kindlich, daß sie das gar nicht interessiert?«

Nachdem Erik über den betrübten Mienen der beiden Frauen wieder ernst
geworden war, sagte er: »Ja, die armen Frauen! Wenn sie sich binden,
haben sie allen Grund zu beten: Lieber Gott, hilf, daß ich eine gute
Frau werde. Denn ihr einziger Schutz gegen sich selbst liegt in
der That im rein gefühlsmäßigen Fortdauern ihrer Liebe, -- in der
eigentlichen Gefühlstreue. Sie können natürlich auch aus Pflichtstrenge
festhalten, aber das ist dann ein verkümmertes Leben.«

»Sie meinen, der Mann bedarf eines solchen Gebetes nicht,« bemerkte
Warwara, ohne ihre Ironie zu verbergen.

Er sah sie ganz unbefangen an. »Nein,« sagte er; »ich glaube, der Mann
ist in diesem Punkt, wie in so vielen andern auch, durch seine Natur
besser geschützt. Nicht gegen die Untreue der Sinne. Nicht gegen den
Wechsel des Liebesgefühls. Aber gegen das bewußte innere Loslassen
desjenigen Wesens, an das er sich gebunden, -- nein: ~das er an sich
gebunden~ hat. Das ist's!«

»Das ist originell. Sie vindizieren da dem Manne eine Kraft des
Pflichtbewußtseins, einen Edelmut des Mitleids, den ~wir~, -- die
Frauen, -- nicht --«

»Ach nein, empören Sie sich nur nicht. Kein Pflichtbewußtsein: nur ein
Glücksbewußtsein mehr, als ihr es habt. Keinen mitleidigen Edelmut:
nur einen begehrlichen Hochmut, den ihr nicht besitzt. Der Mann, der
für immer ein Weib an sich und auf sich nimmt, genießt neben dem
Liebesglück noch ein andres, spezifisch männliches Glück: er legt seine
Hand bewußt auf dieses ganze ihm zugehörige Dasein und sagt dazu:
›Mein‹. Ihm bedeutet sein Glück durch das Weib dreierlei: lieben mögen,
-- verantworten wollen, -- herrschen dürfen.«

Warwara schüttelte sich.

»Gott erhalte Ihnen Ihre Arroganz!« sagte sie; »mir jedoch ist wahrlich
die Vorstellung lieber, nach welcher die Frau des Mannes Königin ist.«

»Sie sehen, -- ich sage noch mehr: sein Königreich,« versetzte er
lächelnd, »daher gibt sie ihn eher preis, als er sie. Für sie gibt es
eben ihm gegenüber Aufstand, Empörung, Revolution, -- was alles ganz
heroisch aussehen und sehr verführerisch wirken kann. Für den Mann
hingegen wäre untreues Preisgeben seines eigensten Reiches etwas, was
ihm wider die Scham geht.«

Warwara lachte ihm ins Gesicht.

»Und das sind Sie, der für alle möglichen modernen Entwickelungskämpfe,
und auch für die der Frauen, so gern eintritt!« rief sie; »es ist eine
schauderhafte Inkonsequenz und ein Selbstbetrug obendrein! Denn wenn
Sie sich nun in eine solche entwickelte Zukunftsfrau verliebten, die
nicht mehr so mittelalterlich denkt, und sie ~nicht unterkriegten~?«

»Das würde ich doch!« sagte Erik. »Sonst würde ich mich vielleicht
für sie begeistern, sie bewundern, fördern, als meinen Kampfgenossen
achten, -- aber lieben, -- wie sollte ich das? So wenig, als wenn
ich ein Weib, oder sie ein geschlechtsloses Wesen wäre. Ich kann mir
vorstellen, daß der Mann jede Herrschsucht vollständig ablegt um einer
Sache willen, die er über sich stellt. In der Liebe -- nie! Und ein
Weib, das diesem Instinkt nicht entgegenkommt, -- wirkt nicht als
Weib.«

»Und dieser Widerspruch sollte in der Natur selbst liegen? Nein, nur
in eurem jahrhundertelang großgenährten Dünkel,« versetzte Warwara
entrüstet und wandte sich zu Klare-Bel: »Was sagen Sie nur zu einem
solchen Mann? Wir sollten uns für alle Zukunft unter den Mann stellen,
wenn wir lieben?«

Klare-Bel antwortete etwas unsicher: »Ich glaube, das thun wir, nicht
weil wir unter ihm stehen. Sondern weil wir glücklich sein wollen.«

Alle drei fingen an zu lachen. Warwara erhob sich, um nach Hause zu
fahren.

»Nun sollt' ich hiervon eigentlich genug haben,« bemerkte sie gut
gelaunt zu Erik, »aber von meiner kleinen Nichte in der Mädchenschule
erfuhr ich, daß diesmal Sie bei dem feierlichen Schulschluß die übliche
große Rede halten werden. Da komme ich hin. Damit Sie doch wissen: Eine
sitzt da und verspottet Sie. Und hübsch klingen wird es sicher. Ich
habe nämlich schon immer Ihre Toaste in Gesellschaften so gern gehabt.«

Erik mußte lachen.

»Sie sollten mich nicht so gewaltsam daran erinnern, daß unsre
schönsten Reden für Toaste genommen werden,« versetzte er, »und
daß fast die einzigen aufmerksamen Zuhörer, die wir außer den
Schulkindern auftreiben können, die gelangweilten schönen Frauen unsrer
oberflächlichen Gesellschaft sind.«

»Liebste, jetzt sind Sie Zeugin, daß ich mich zu rächen habe,« sagte
Warwara gekränkt zu Klare-Bel; »ich möchte nur wissen, ob's ihm nicht
weh thäte, wenn die schönen Frauen alle wegblieben. Ich glaube, dieser
Barbar würde dann ~Sie~ auf den Rücken nehmen und zur Zuhörerschaft
unter seine Schulkinder setzen, die ihn alle fürchten wie das Feuer.«

»Das wird wohl nie geschehen,« meinte Klare-Bel etwas betrübt.

»Doch! doch! Kein Mensch kann in die Zukunft sehen. Wir werden jetzt,
auf Grund einer Konsultation mit dem Professor, eine Behandlung meiner
Frau durchführen, die Wunder verspricht,« sagte Erik zu Warwara und
geleitete sie an ihren Wagen.

Jonas war später nach Hause gekommen, als Erik mit Ruth, und kam
seltsamerweise erst zum Vorschein, als der Besuch fortgefahren war, und
man sich schon zu Tisch setzte.

Die Zwischenzeit hatte er im hintersten Winkel des Gartens unter den
tropfenden Bäumen verbracht, im Kampf mit einem großen Entschluß. Seine
Ringelnatter war mit ihm, sie hing ihm melancholisch um den Hals, als
wisse sie schon, daß ihr etwas sehr Unangenehmes bevorstehe. Noch
einmal hatte er sie liebkosend in die Arme genommen, sie gestreichelt
und zärtlich an sich gedrückt, noch einmal in ihrem kostbaren Besitze
geschwelgt. Dann hatte er sie totgeschlagen.

Um es zu thun, mußte er sich Mut einsprechen und sein Herz verhärten.
Er mußte sich vorstellen, daß er wie ein neuer Herkules sei, der die
Hesione von einem Meerungeheuer erlöst, oder noch lieber wie Perseus,
der sich seine Andromeda erobert. Aber diese Vorstellung verfing nicht
recht. Seine arme Ringelnatter sah gar nicht aus wie ein Meerungeheuer;
Ruth verkannte sie nur. Das Tier blickte ihn mit seinen schwarzen
Aeuglein so beweglich an, und er hatte es so lieb.

Da ging ihm ein altes Märchen tröstend durch den Sinn, von einer
Schlange mit einem Goldkrönlein auf dem Kopf; wer die totschlug, dem
verwandelte sie sich in eine liebreizende Prinzessin. Er wußte nicht
mehr, ob es sich genau so verhielt, aber es gefiel ihm. Und seine
Prinzessin saß und wartete gewiß schon darauf.

Nachdem Jonas den Mord vollbracht hatte, wandte er sich mit rotem
Gesicht ins Haus. Es war ein ganz ungeheures Opfer, fand er, was sie da
beide Ruth gebracht hatten, er und die Ringelnatter. Denn die Schlange
blieb nun tot, und er hatte sich über sie fast ebenso gefreut, wie über
ein Reitpferd.

Und nun sprach Ruth bei Tisch immer von den albernen Schulmädchen,
die er nicht leiden konnte. Es ärgerte ihn, daß sie heute in die
Freistunde gelaufen war, denn bisher besaß sie an ihm ihren einzigen
Spielgefährten, und in diesem Punkte verstand Jonas keinen Spaß.

Noch saßen sie beim Mittag, als ein Eilbote kam und ein Telegramm für
Erik überbrachte.

Erik erbrach es und überflog den Inhalt, dann schob er seinen Teller
zurück und trat mit dem Papier ans Fenster. Man sah ihm an, daß es eine
freudige und ihn bewegende Nachricht war, die er erhalten.

»Fast ein ganzer Brief! An der Grenze aufgegeben,« sagte er; »denke
dir, Bel, mein alter Freund Bernhard Römer ist hierher unterwegs.
Siebzehn Jahre haben wir uns nicht gesehen. Oder noch länger? Damals
waren wir beide noch Studenten! Erinnerst du dich seiner?«

»O ja, Erik! Wie sollte ich den vergessen! Denn mit ihm war es ja, daß
du immer noch so große Zukunftspläne machtest. Ihr wolltet alles am
liebsten auf den Kopf stellen. Ja, so jung wart ihr damals. Was ist
Römer denn eigentlich geworden?«

»Er ist Professor der Medizin an der Heidelberger Universität. Schrieb
mir noch manchmal in frühern Jahren.«

Ruth hatte aufgehört zu essen und sah mit großen Augen zu Erik hinüber.
Bei dem Wechsel in seinem Mienenspiel und bei Klare-Bels Worten war es
Ruth, als stiege plötzlich eine ganze, fremde und ferne Vergangenheit
zwischen ihnen auf. Eine Vergangenheit, bei der sie nicht zugegen
gewesen war. Ueberhaupt noch nicht auf der Welt! Es schien ihr ganz
unmöglich.

»Wird er hier herauskommen?« fragte sie leise.

»Das wird er leider nicht. Er reist nur durch. Sein Ziel ist Moskau.
Dort ist irgend eine Aerzteversammlung. Morgen früh am Bahnhof werde
ich Näheres erfahren. Ob er seine Frau wohl mitgebracht hat?«

»Zu einer Aerzteversammlung?« bezweifelte Klare-Bel.

»Warum nicht? Ich glaube, sie sind in ihrem geistigen Leben eng
verwachsen. Römer heiratete sehr jung, die Frau machte seine ganze
Sturm- und Drangperiode noch mit durch. Das gab ihrer ganzen Ehe den
Charakter.«

»Haben sie keine Kinder?« fragte Klare-Bel, die dieser Punkt besonders
zu interessieren pflegte.

»Ich glaube nicht.«

»Keine Kinder?« wiederholte Klare-Bel im Tone des Bedauerns. Nichts war
ihr an ihrem Leiden so hart erschienen, wie der Umstand, daß sie nicht
wieder Mutter werden konnte; »das ist doch eine traurige Ehe, so zu
zweien.«

»Soviel ich mich erinnere, haben sie nicht immer zu zweien gelebt. Sie
hatten wiederholt ein junges Mädchen bei sich, das an der Universität
studierte.«

»An der Universität studierte? Können junge Mädchen das?« erkundigte
sich Ruth erstaunt.

Erik blickte sie mit einem Lächeln an.

»Jawohl. Solche junge Mädchen wie du,« sagte er; »es steht dem ja
nichts im Wege, daß du eines der nächsten Hauskinder bei Römers wirst.
Hast du Lust dazu?«

Er sagte es scherzend, aber der Blick, mit dem sie ihm antwortete, war
so ernst, daß er ihm im Gedächtnis blieb.

Erik setzte sich an den Tisch zurück und plauderte mit seiner Frau von
alten Zeiten. Jonas fand, nun könnte Ruth mit ihm hinausgehen, aber sie
blieb sitzen und hörte zu.

Draußen hatte es angefangen, stärker zu regnen; Jonas lehnte in der
Hausthür an der Terrasse und schaute prüfend hinaus. Als Ruth endlich
vom Mittagstisch aufstand und in den Flur trat, bemerkte er: »Wenn wir
doch wenigstens bei Regenwetter ›Mann und Frau‹ spielen wollten. Das
paßt so gut fürs Haus. Denn wenn die Sonne scheint, thust du es doch
nicht. Und dann ist es auch etwas, was du bei deinen albernen Mädchen
nun einmal nicht haben kannst.«

»O doch!« versicherte Ruth und schwang sich auf das Geländer der
schmalen Holztreppe, die nach ihrem Giebelstübchen hinaufführte, »das
haben wir im Schulhof oft genug miteinander gespielt.«

»Das muß aber eine schöne Wirtschaft gewesen sein, ohne einen
wirklichen Jungen!« meinte Jonas verächtlich. »Und ich möchte doch so
viel lieber dein Mann sein, als der Mann in all den Räubergeschichten,
bei denen ich mich immer so anstrengen muß.«

»Aber ich möchte nicht deine Frau sein,« sagte sie kaltherzig und
saß und schaukelte mit den Füßen, »und dann wäre das auch noch viel
anstrengender für dich. Sei doch froh, daß du bei alledem jedesmal die
Hauptperson und der Held bist.«

»Nein, das bist du eben immer!« warf er ihr mißmutig vor.

»Nein, Jonas, das ist bestimmt nicht wahr. Du bist es ganz allein.
Warst du nicht erst gestern der Egmont? Und neulich --«

»Ja, im Anfang!« unterbrach er sie gereizt; »aber wenn du mir alles
immer erst vorsagst und womöglich auch noch vormachst, dann bin ich es
ja gar nicht in Wirklichkeit, sondern nur du.«

»Ich kann doch nichts dafür, wenn du dumm bist.«

Jonas schwieg gekränkt. Wenn sie wüßte, wem sie das sagte; -- wenn
sie wüßte, daß er freiwillig darauf verzichtet hatte, ihr seine
Ueberlegenheit zu zeigen, sie in Furcht zu versetzen, sie zum Bitten
und Schmeicheln zu bewegen! Denn, hätten sie »Schlangenbändiger«
gespielt, da wäre er doch wohl der Herr gewesen. Und sie war so dumm,
ihm zu glauben, die Schlange sei wirklich entschlüpft.

Jonas brannte die Zunge, Ruth von seinem Opfer zu erzählen. Aber er
fand, das verbiete ihm sein Mannesstolz. Lieber noch wollte er sich die
Zunge abbeißen, wenn die Schwatzlust zu groß wurde.

»War ich Egmont, so hättest du mein Klärchen sein müssen,« sagte er;
»warst du es etwa?«

»Nein, natürlich nicht. Dazu kam ich ja gar nicht. Denn allein hättest
du ihn doch nie herausgebracht. Und er ist doch das Wichtigste, wie du
dir denken kannst. Das Klärchen kann man streichen.«

»Ich habe aber keine Lust, mich zu deinem Hampelmann herzugeben! Sei
meine Frau!« schrie er ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf.

Ruth war vom Geländer herabgeglitten. Sie stellte sich ans niedrige
Flurfenster, an dem der Regen herunter rieselte, und drückte ihr
Gesicht platt gegen das Scheibenglas, so daß es sich satyrhaft verzog.
Wenn Jonas wütend wurde, dann überschlug sich jedesmal seine Stimme:
sie schwankte immer zwischen zu hoch und zu tief. Das brachte Ruth
immer zum Lachen.

Da riß Jonas seine Mütze vom Mantelständer und stürzte hinaus.

»Lauf nur zu deinen albernen Mädchen!« rief er grimmig, »ich bin ein
Junge!«

Am Ende war Ruth gar nicht das Ideal einer Frau, wie er sie brauchte.
Andromeda hatte sich bereit erklärt, ihrem Erretter als Sklavin durch
alle Länder zu folgen. Ruth würde so etwas nie thun, es würde ihr gar
nicht einfallen, -- davon war er fest überzeugt.

Von der Terrasse aus steckte Jonas seinen Kopf durch das offene Fenster
des Wohnzimmers und fragte, ob er noch bis zum Abendthee einen
Kameraden aufsuchen dürfe.

Klare-Bel, die neben dem abgeräumten Tisch lag und in Lenneps Novellen
las, blickte bei seinen Worten verwundert aus.

»Es ist nur gut, daß er noch an so was denkt,« bemerkte sie, als sein
Kopf vom Fenster verschwunden war, »denn jetzt denkt er Tag und Nacht
nur noch an das Mädchen, Erik.«

»Strohfeuer!« versetzte dieser.

Er stand und schaute verträumt hinaus. Seine Gedanken weilten noch
in der Vergangenheit. Seine Frau nahm den morgenden Tag nur als eine
willkommene Zerstreuung, und darüber freute sie sich für ihn. Ihm war
es mehr als das.

»Findest du, es schadet nichts?« fragte Klare-Bel besorgt: »aber du
meintest doch selbst, Jonas sei flüchtig und zerstreut im Lernen
geworden.«

»Das ist er wohl ein wenig, aber was ihm an Schulweisheit vielleicht
dadurch abgeht, erhält er tausendfach wieder in glücklicher Anregung,
die seine geistigen Kräfte belebt und aufschüttelt. Das ersetzt ihm
keine Schule.«

»Er ist freilich noch wie ein Kind. Aber Jonas ist anhänglich. Wenn er
nun sein Herz so ganz an sie hängt --?«

»Dann laß ihm diese Erinnerung, Ruth begegnet zu sein. Er kann es an
nichts Besseres hängen, Bel.«

Sie schwieg darauf. Das holländische Novellenbuch entglitt ihren
Händen. Sie faltete sie im Schoß.

»Wie hoch er sie stellt!« dachte sie im geheimen erschrocken.

Es war ein stiller Tag, der nächste. Weil Erik nicht nach Hause kam.
Wie ausgestorben schien das Haus, weil man seinen Schritt und seine
Stimme darin nicht hörte.

Er würde wohl erst mit dem letzten Nachtzug heimkommen, meinte Bel.
Nachts ließ er sie gewiß nicht gern auf dem Lande allein.

Jonas schlich übler Laune im Hause umher. Nach dem gestrigen Streit
fühlte er einen heftigen Drang nach einer ausgiebigen Versöhnung nebst
darauf folgendem unzertrennlichen Beisammensein. Aber dafür war Ruth
heute nicht zu haben. Den Streit hatte sie rein vergessen. Und auf alle
seine Vorschläge, etwas Gemeinsames zu unternehmen, entgegnete sie nur
ihr wohlbekanntes stereotypes: »Ich muß nachdenken.«

Und Jonas wußte schon, daß sie dann für ihn so gut wie verloren war.

Ruth dachte immerfort, unablässig über ein und dasselbe nach. Sie
folgte in Gedanken Erik in die Stadt, an den Eisenbahnzug, der ihm
den Freund bringen mußte, und versuchte, sich in das Wiedersehen
hineinzuversetzen.

Als Klare-Bel ihm am Morgen beim Weggehen zurief: »Adieu, Erik,
amüsiere dich gut!« da hatte Ruth beinahe betroffen aufgeblickt. Es kam
ihr vor, als habe Erik etwas so Ernstes und Herzbewegendes vor. Selbst
sein Gesicht schien ihr seit gestern verändert. Unter allem, hinter
allem, was er in gewohnter Weise sprach oder that, fühlte Ruth es
heraus, wie eine ganze Welt von aufgestörten Erinnerungen unaufhörlich
in ihm raunte und redete. Keine Erinnerungen aber, die ~amüsieren~, --
sondern solche, die gewaltsam zurückzerren in eine Vergangenheit, von
der die Gegenwart verdunkelt wird.

Auf dem Garten lag heute freundlicher Sonnenschein. Klare-Bels Stuhl
war auf die Terrasse geschoben worden; unten konnte sie nicht bleiben,
weil Erik fehlte, um sie wieder heraufzutragen. Ein warmer Sommerduft
stieg von draußen auf; Flieder und Goldregen waren am Verblühen, und
auf den Beeten öffneten sich die roten Rosen. Baumwipfel und Büsche
drängten sich jetzt so dicht ineinander, daß es fast schon zu viel Laub
und Schatten ums Haus gab. Der Sommer barg es ganz in seinem warmen
Dunkel, und von der Straße gesehen nahm sich der Garten jetzt aus wie
ein großer grüner Farbenklecks.

Als der Abendthee auf der Terrasse getrunken wurde, fiel es Klare-Bel
doch auf, daß Ruth wie geistesabwesend dabei saß.

»Es ist doch, als könnte sie es gar nicht mehr ertragen, daß Erik sich
mit andern Menschen beschäftigt als mit ihr; am liebsten würde sie ihm
keine Zerstreuung mehr gönnen, diese arge kleine Egoistin,« dachte sie
und fragte laut: »Aber, Kind, fehlt dir etwas? was machst du nur für
wunderliche Augen? Ich glaube gar, am liebsten wärst du mit Erik dort?«

Ruth fing mit feinem Ohr den nicht ganz liebreichen Ton auf und sah sie
schüchtern an.

»Ich versuche es, dort zu sein!« sagte sie zum unaussprechlichen
Erstaunen Klare-Bels.

Diese zog sich nach dem Abendthee bald in ihr kleines Gemach zurück,
um sich zeitig zur Ruhe zu begeben, denn sie fühlte sich ein wenig
leidend. Vielleicht griff die neue Behandlung sie an, die Erik seit
kurzer Zeit mit ihr vornahm, und die er ihr auf viele Monate hinaus
in Aussicht gestellt hatte. Er fing wirklich schon an, wieder neue
Hoffnung zu schöpfen.

Gonne entfernte sich, nachdem sie ihre Frau sorgsam gebettet, und
Klare-Bel lag in ihrem stillen Zimmer allein, umgeben von all den
zierlichen und saubern Sächelchen, die sie bei sich aufzustellen
liebte.

Sie lag und lächelte über sich selbst. War es nicht seit kurzem, als ob
auch sie, ganz leise -- leise, heimlich, die neue Hoffnung hätschele?
Ein klein wenig nur. Die Hoffnung, doch noch einmal wieder gesund zu
werden, Erik entgegengehen zu können auf ihren zwei gesunden Füßen.

Es war ja gewiß nichts damit. Ein bloßer Wahn. Aber wenn er trog, dann
würde Erik sie schon darüber hinwegtragen, wie über die vielen, vielen
frühern Enttäuschungen auch. Denn das hatte er gethan, -- nicht gerade
mit übermäßigem Bemitleiden und Schonen, aber mit seiner unaufhörlichen
Gegenwart, mit seiner beständigen energischen Einwirkung auf sie. Und
manchmal, da überkam sie ganz deutlich das Gefühl: es war gut so,
denn er brauchte das; nur in diesem Bemühen überwand er seine eigenen
Enttäuschungen. Seine starke Beeinflussung andrer schien es zu sein,
durch die er immer wieder selbst zur alten Sicherheit zurückkehrte. So
oft konnte sie es mit Verwunderung beobachten im täglichen Leben unter
den Menschen seiner frühern Umgebung, wie belebend es auf ihn wirkte,
daß sie von ihm Kraft und Belebung erwarteten. Das Alleinsein vertrug
Erik wirklich schlecht.

Die Zeit rückte vor, und immer noch lag Klare-Bel wach und träumte mit
offenen Augen. Durch das geöffnete Fenster strich weich und feucht die
Luft, ganze Schwärme von kleinen Mücken mit sich tragend; von fernher
verklang leise das Lied der letzten Landarbeiter, die von nächtlicher
Arbeit heimkehrten. Mit hellen Sonnenaugen schaute die Nacht ins Zimmer
herein.

Klare-Bel kamen ketzerische und sogar übermütige Gedanken, so daß sie
über sich selbst erstaunen mußte. »Wer ist nun stark,« dachte sie,
»wenn der Starke wieder der Schwachen bedarf?« Sie war sicherlich ein
schwaches Wesen, froh, wenn Erik sie bei der Hand nehmen und führen
wollte. Er aber, brauchte er denn nicht jemand um sich, den er führen
konnte, um selber froh und des Weges sicher zu bleiben? Brauchte Erik
also nicht sie, wie sie ihn?

Klare-Bel lächelte in der Einsamkeit der hellen Nacht, und inbrünstig
streckte ihre Sehnsucht sich ihm entgegen. --

Wie sie es vorausgesehen, befand sich Erik erst Stunden später auf dem
Heimweg. Er hatte mit vielen andern dem Freunde das Geleit bis zum
Moskauer Bahnhof gegeben, und dann blieb man noch eine Weile zusammen,
-- ein ganzer Haufen von Menschen, von Fremden und Bekannten, mit denen
der Abend in angeregter Geselligkeit verbracht wurde. Erik ließ sich
nicht mehr die Zeit, zu Hause vorzufahren, um sich umzukleiden; er
erreichte eben noch den letzten Nachtzug und fuhr aufs Land hinaus.

Der lange Gang von der Station aus that ihm nach den verflossenen
Stunden und Eindrücken wohl; die freie Nachtluft erfrischte ihn. Kein
Lufthauch bewegte sich; am fast taglichten Himmel stand blaß und
glanzlos der Vollmond; einzelne Wolken ballten sich aufeinander, und
von Zeit zu Zeit sprühte ein feiner Regen nieder.

Als er am Hause ankam, das unter den regungslosen Bäumen in der
Nachthelle dalag, wich langsam die noch erregte Stimmung einem Gefühl
ruhiger Freude, wieder daheim und bei den Seinen zu sein. Bei ~den~
Seinen! Auch Ruth gehörte jetzt dazu. Gehörte ihm zu.

Er stieg leise die Stufen zur Terrasse hinauf und warf einen Blick auf
die Giebelstube, wo sie jetzt schlief und träumte. Da, als er fast
geräuschlos die Hausthür aufgeschlossen hatte, knarrte die schmale
Holztreppe, die vom Flur nach oben führte, unter einem leichten Fuß.
Völlig angekleidet, nur das Haar ein wenig wirr um den Kopf, erschien
Ruth auf dem untersten Treppenabsatz.

»Aber, Ruth, was fällt dir ein? Wie konntest du aufbleiben? Schnell ins
Bett!« sagte er.

Er schalt, doch klang es sehr herzlich. Empfand er doch ihr liebes
Gesicht wie einen Willkommgruß.

»War es schön?« fragte sie entgegen und blickte ihn mit großen
überwachen Augen an, »sollte ich denn dabei schlafen? Nein, das konnte
ich nicht! denn ich war auch da, -- immer mit da. War es schön?«

Er faßte nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand und hielt sie fest.
Alle Eindrücke des Tages, alle Erinnerungen, die von ihnen aufgewühlt
worden, verflogen; er hatte den ganzen Menschenstrom hinter sich
gelassen und war nur noch ganz allein mit ihr.

Was bedeutete ihm alle Anregung, ja, was aller so ersehnte Beifall oder
Erfolg, nach dem er im Leben gegeizt und gerungen, gegenüber dem zarten
Lob, wie es aus Ruths kindlicher, gläubiger Hingebung an ihn redete?
Wie schal und brutal erschien ihm daneben alles, was von einer Menge
ausging und sich laut äußerte. Nur wessen Sinne zu stumpf geworden für
so feinen Duft, der mochte nach schärfern Würzen suchen.

Dieser Gedanke flog Erik durch den Kopf und darüber vergaß er zu
antworten.

Er sah gut aus im Gesellschaftsanzug, den weiten Mantel lose
umgeworfen, regenbesprüht, und darüber das belebte Gesicht. Wie sie so
einander gegenüberstanden in der schweigenden Nacht, während die ganze
Welt um sie her im Schlummer lag, erschienen sie beide wie gesättigt
mit Leben; und etwas Verwandtes schien aus beider Ausdruck zu sprechen,
-- verwandt über Alter und Geschlecht hinaus, -- ein Lebenverlangendes,
Lebenforderndes. Es war dasselbe, was Erik so verwandt berührt und
ergriffen hatte, als er Ruth zuerst im Schulhof sah, mit dem Uebermut
in den Augen und den erhobenen Armen.

Sie standen und schwiegen, und um sie her träumte die magische Helle,
in der Abend und Morgen unmerklich ineinanderschmolzen.

»Hätte ich nicht fortgehen sollen, Ruth?« fragte er unwillkürlich und
blickte sie mit einem Lächeln an.

»Doch! aber mich mitnehmen!« entgegnete sie, und im Klang ihrer Stimme
verriet sich die ganze Sehnsucht und Selbstentrückung, in der sie den
Tag über umhergegangen war. Erik verstand sie nicht ganz, er nahm die
nachträgliche Bitte kindischer und tatsächlicher, als Ruth sie meinte,
aber Blick, Ton und Haltung drückten es so kindlich aus, daß sie sich
in seiner Abwesenheit wie verloren gefühlt hatte, daß eine tiefe
Rührung über ihn kam.

Ihm schien, Ruth sah wie verzaubert aus, -- anders, lieblicher als
sonst.

Im Hause blieb es ganz still, und beide sprachen mit gesenkter Stimme.
Nur durch die offen gebliebene Hausthür zog es ganz leise wie ein
geheimnisvolles Raunen und Rauschen, -- ein Flüstern, das draußen durch
das niedrige Gebüsch ging, -- die erste Ankündigung des neuen Tages.

»Es ist Zeit!« sagte Erik aufschreckend, »lege dich schlafen. Gute
Nacht! Guten Morgen. Liebling!«

Und mit einer raschen Bewegung zog er sie an sich, -- fest, so daß sie
an seiner Brust lag, und küßte sie auf den Mund.

Als er sie ebenso rasch wieder losließ, hatte Ruth seine Hand ergriffen
und drückte ihre warmen Lippen darauf.

Dann flog sie geschwind die schmalen Stufen zu ihrer Giebelstube
hinauf.

Erik öffnete die Mittelthür im Flur, die in das Zimmer von Jonas
führte. Er mußte hindurchgehen, um sein dahinter gelegenes Schlafzimmer
zu erreichen. Dabei wachte Jonas auf.

»Na, Papa, war es schön?« fragte auch der und drehte sich schlaftrunken
auf die andre Seite; »hat es denn auch Champagner gegeben?«

Damit schlief er weiter.

Erik stieß ein Fenster auf und blickte in die lichte Ferne hinaus. Ein
farbloses, blasses, gleichmäßiges Grau breitete sich in der Stube aus,
und der dämmernde Morgen fing an, sie mit herber Kälte zu erfüllen.

Das leise Raunen und Rauschen schlich nicht mehr flüsternd am
Boden hin, es hatte sich höher erhoben. Es bewegte die Zweige der
wilden Akazien, die dicht vor dem Fenster standen, und dann schwoll
es machtvoll an, bis es in majestätischem Brausen die alten Wipfel
durchklang, die vorhin lautlos gegen den hellen Nachthimmel starrten.

Wie ein Morgenchoral klang es, und -- ganz leise, -- versuchend, wie im
Halbschlafe noch, fiel hie und da ein kleiner froher Vogellaut ein. Und
bald darauf, gleich einem Aufjauchzen, ein lang gezogener unermüdlicher
Buchfinkentriller.

Erik hatte sich zur Ruhe gelegt, aber mit wachen, lauschenden
Sinnen nahm er das Nahen des Tages auf, und es kam ihm vor wie eine
geeignete Begleitung zu seinen Gedanken, die noch an Ruth hingen.
Denn auch über ihnen lag eine zarte und halbverhüllte Stimmung, eine
Morgentraumstimmung, so schien ihm.

Noch nie hatte ihn die Empfindung so gepackt wie heute, daß sie ja
unwiderruflich zu einander gehörten, daß sie im Grunde gleichgeartet,
gleichen Wesens seien. Und nun erst meinte er ihre Bitte zu verstehen:
»Mich mitnehmen!« Was er war, das wollte auch sie sein, denn nur in ihm
erfaßte und ahnte sie sich selbst. Der gleiche Lebensdrang schlummerte
stark und freudig in ihnen beiden. Nur daß in ihr aus unbewußtem,
unberührtem Naturgrunde hervorbrach, was in ihm bewußter Entschluß,
Verstand und Wille gewesen. Und daß in ihr mit reiner Flamme brannte,
was in ihm die Berührung mit dem Leben mit Schlacken und Asche vermengt
hatte.

Und über diesen unklaren Gedanken fing Erik an zu schwärmen.

Der erste Jubel der Vögel draußen legte sich, und der Morgenwind
schwieg still. Wieder ragten die alten Bäume regungslos gegen den
Himmel, durch dessen Blau zerrissene weiße Wolken schwammen. In einem
breiten Goldstrom flutete das Sonnenlicht durch das Gemach.

Hinter Eriks geschlossenen Augenlidern malte es lächelnd rosige Farben.
Im Sonnenschein war er eingeschlafen.

Er erwachte viel später als sonst und besann sich nicht gleich, weder
auf den gestrigen Tag, noch auf die Nachtstunde. Irgend ein Traum, ein
wunderbarer, von dessen Vorgängen er aber nichts mehr wußte, hielt
ihn noch fest in Bann. Und offenbar aus diesem Traum heraus kam ihm
zwingend die seltsame Frage: »Ist sie schön? Ich weiß es nicht; ich
glaube eher: nein. Aber sie sieht aus wie -- Ruth. Es ist ja Ruth.«

Und ihm schien, es könne nur ~eine~ solche geben.

Er fühlte eine Mischung von Glück und schmerzlicher Beklommenheit.

Und blitzähnlich wurde er vollständig wach.

Wie ein Schicksal, groß und schwer, stand vor ihm die Erkenntnis seiner
Liebe.

Noch nie hatte er über sein Gefühl für Ruth nachgedacht. Vielleicht,
weil es überhaupt wenig seiner Natur entsprach, über sich nachzudenken.
Vielleicht aber auch, weil dieses Gefühl einem leidenschaftlichen
Interesse am Menschen, nicht am Weibe, entsprungen war.

Plötzlich war das alles anders geworden. --

Auf der Terrasse saßen sie schon lange und warteten am Frühstückstisch
auf Erik, als er endlich zu ihnen heraustrat. Klare-Bel bemerkte
augenblicklich etwas Verändertes, Verschlossenes in seinem Gesicht,
und sie bewies es, indem sie keine Frage an ihn richtete und von
Gleichgültigem zu reden begann.

Erik jedoch erzählte unaufgefordert manches vom Zusammensein mit
dem Freunde. Die Frau war wirklich auch dabei gewesen; sie war eine
Deutschrussin und besaß Verwandte bei Moskau.

Sie hatte Erik außerordentlich gut gefallen. Heiter, gütig, praktisch,
-- ein kluger und reifer Mensch, sagte er von ihr.

Klare-Bel hörte nur mit halbem Ohre zu. Sie fühlte sich sonderbar
beunruhigt und fand im stillen, daß Erik nach der gestrigen Zerstreuung
reichlich überwacht und angegriffen aussähe.

Um so frischer und heller sah Ruth aus. »Wie angesteckt von der
Morgensonne,« dachte Erik, während sein Seitenblick sie streifte.
Dabei konnte er ihr ansehen, wie sie nur mit Mühe einen Witz darüber
unterdrückte, daß er verschlafen habe. Sie hatte nicht verschlafen. Sie
hatte den ganzen Frühmorgen im Garten umhergetollt.

Mit der gemeinsamen Arbeit wurde es heute nun nichts. Hastiger als
sonst stand Erik auf, um zu gehen. Die Zeit drängte, und Jonas war
schon fort.

Erik konnte es kaum erwarten, daß das Haus weit hinter ihm lag, und er
wieder mit sich selbst allein blieb. Aber dennoch war ihm weder zum
Träumen noch zum Grübeln zu Mute. Nur nach ~einem~ verlangte es ihn
dringend und ungeduldig, als hinge das Leben davon ab: voll und klar
ins Auge zu fassen, was seit wenigen Stunden wie sein Schicksal vor
ihm stand. Nur nach ~einem~ verlangte ihn: davor stillzustehen und
den Blick darauf ruhen zu lassen, fest und forschend, wie auf einem
fremden Antlitz.

Darüber entschwand alles andre, was ihn hätte beschäftigen und
beunruhigen können, völlig aus seinem Gesichtsfeld. An allem, was
bisher sein Schicksal ausgemacht und zwingend sein Leben bestimmt
hatte, an allen innern und äußern Verhältnissen, in denen er lebte, sah
er vorbei, -- ganz gerade, ganz unverwandt auf den ~einen~ Punkt, ohne
nach rechts oder links zu schauen. Für etwas andres blieb kein Blick,
kein Raum, es blieb nur eine dunkle, trotzige Nebenempfindung: über
~Hindernisse~, und wären es Menschen, geht's hinweg. --

Ehe Erik sich mit Klare-Bel verlobte, hatte sie ihm einmal eine
Photographie geschenkt, auf der sie sich im Kreise ihrer ganzen
Familie befand. Er steckte das Bild in einen Rahmen und legte zwischen
Rahmen und Glas ein Blatt Papier, in das er eine nur Bels Gestalt
entsprechende Oeffnung ausgeschnitten hatte: so war er mit ihr allein.
Ihre Sippe deckte er zu, weil sie ihm nicht gefiel.

Erik war es sich nur halb bewußt, daß er es jetzt ebenso machte: mit
feiner eigenen Familie, mit den Menschen und Pflichten seiner täglichen
Umgebung, ja, mit der gesamten Welt, die er in seinen Gedanken
weglöschte, bis nichts übrig blieb als eine unermeßliche leere Weite,
eine Welteinsamkeit, in der nur Ruths Bild vor ihm stand.

Sie und er, allein miteinander, und Auge in Auge.

Aber je länger er auf sie hinschaute, desto stiller wurde sein Blick.
Was alle Hindernisse und Schranken in ihm wie außer ihm nicht an
sein Bewußtsein heranbringen konnten, das ging von dem fröhlichen
Kinderbilde selbst aus. Alles harte und leidenschaftliche Fordern in
ihm wurde still.

Was liebte er denn an ihr, wenn nicht eben dieses Kindhafte, in
dem noch, geheimnisvoll und verheißungsvoll, die ganze Fülle der
Möglichkeiten ruhte, -- dieses Keimende, Werdende, Zukünftige, das
noch auf lange hinaus der schützenden Hülle bedurfte, -- den zarten,
kostbaren Stoff, nach dem seine Hand sich nur herrisch ausgestreckt,
weil sie allein ihm die edelste Form geben wollte?

Ihm fiel das Gleichnis vom Gärtner und seinem Bäumchen ein, das er
Ruth einmal erzählt hatte. Es enthielt eine Wahrheit, es enthielt
seine Liebe. Unsäglich liebte er in ihr seine Gärtnerkunst und seine
Gärtnerhoffnungen.

Je länger Erik sich aber so in das ihm vorschwebende Bild vertiefte,
um so weniger klärte sich ihm sein eigenes Gefühl. Er sprach zu sich
selbst nur noch mit geringer Ehrlichkeit. Unwiderstehlich erhob
sich aus dem leidenschaftlichen Begehren der Hang zu idealisieren.
Allmählich büßten in seiner Phantasie er wie Ruth viel von ihrer
Wirklichkeitsfarbe ein, und immer höher ging der Schwung der Gedanken.

Während Erik glaubte, es sei der Erzieher und Menschengestalter in ihm,
der in reiner Hingebung an einem Frauenbildnis meißele und dichte,
damit es einst Wirklichkeit werde, schwelgte und berauschte sich der
Liebende an Ruths unähnlichem Idealporträt. --

Ruth hatte inzwischen den Vormittag in einer Weise verbracht, die
diesen hochfliegenden Vorstellungen nur wenig entsprach.

Anfangs überlegte sie ein Weilchen, ob sie die Absicht hege, ganz für
sich allein fleißig zu sein. Nein, die hegte sie entschieden nicht.
Am besten hätte es ihr gepaßt, jetzt Jonas da zu haben, aber der saß
in der Schule und lernte, der Aermste. So entschloß sie sich denn, zu
Gonne in die Küche hinunterzugehen. Denn lieber noch wollte sie mit
den Händen thätig sein als mit den Gedanken, meinte sie, und irgendwie
lebhaft sich bethätigen mußte sie durchaus. War ihr doch froh, so
vogelfroh, so gar nicht zum Stillsitzen und zum »Nachdenken«. Und
dann war es auch ganz unterhaltend, mit Gonnes Eimern am Brunnen zu
plantschen.

Gonne litt es glücklicherweise gut, wenn Ruth ihr so unerbeten mitten
in die Arbeit sprang. Da sie nichts von der hierzulande üblichen
Devotion besaß, so betrachtete sie es als eine Auszeichnung für Ruth,
daß sie sich deren Hilfe gefallen ließ. Und Ruth nahm es auch nicht
anders, und zum entsprechenden Dank sang sie ihr mit ihrer weichen
ungeschulten Stimme russische Volkslieder zur Arbeit, und Gonne hörte
tiefernst zu.

Erik fand bei seiner Heimkehr Ruth mit aufgeschürztem Rock und
zurückgestreiften Aermeln singend und seelenvergnügt am Brunnen.
Bei diesem unerwarteten Anblick zerflatterte plötzlich das meiste
von dem, was er sich zusammengesonnen und zurechtgelegt hatte; die
verklärte Gestalt seiner Phantasie, um derentwillen er die wirkliche
Ruth am tiefsten zu lieben glaubte, war wie versunken. Eine stürmische
Zärtlichkeit erfüllte ihn, ein heißes Verlangen, sie an sich zu ziehen,
die schlanken wasserübersprühten Arme unter seiner Hand zu fühlen, die
lachenden Lippen zu küssen und das stets verwirrte Haar und den feinen
von der Sonne schwach gebräunten Hals.

Im Begriff an der Terrasse vorüber zum Brunnen zu gehen, machte Erik
plötzlich Halt, kehrte um und ging in sein Zimmer.

Dort, auf dem Schreibtisch, lagen noch, unordentlich, Ruths Hefte und
Bücher umher, die heute morgen umsonst auf ihn gewartet hatten. Erik
setzte sich davor nieder und beugte den Kopf auf seine Hände. Das Blut
hämmerte ihm in den Schläfen, und er drückte die Zähne gegeneinander.
-- -- --

Mußte Ruth fort?

Er zwang sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Ihn überschlich
eine Ermattung, eine bleischwere Müdigkeit, die alles klare Denken
umschleierte.

Halb mechanisch blickte er über die Hefte hin, die aufgeschlagen
dalagen; ohne zu lesen, folgte er den einzelnen Buchstaben, als
enthielten sie eine erlösende Antwort. Es war eine rasche, in den
Grundstrichen harte Schrift, deren Züge alle fest zusammenhingen.
Noch keine ausgeschriebenen Rundungen, aber auch kein überflüssiger
Schnörkel.

Ihm fiel wie von ungefähr auf: in Ruths Handschrift lag im Grunde eine
fremde Ruth. Nichts von ihrer Phantasie, -- ihrem Ueberströmen. Etwas
merkwürdig Logisches.

Seine Blicke und Gedanken blieben darauf haften.

Lag nicht vielleicht auch in ihr selbst noch eine ihm fremde Ruth? Die
noch nicht erwacht war, die er noch nicht kannte?

Da lachten ihre Augen durch das Fenster. Ruths Kopf erschien zwischen
den krausen Ranken und Blättern des wilden Hopfens, der am Fensterkreuz
emporkletterte.

»Soll ich arbeiten?« fragte sie.

»Nein. Wir wollen auch Ferien machen. Wenigstens für heute,« sagte er
und stand auf, »weißt du, was es für eine Ueberraschung gab, -- in der
letzten Stunde vor den Ferien, in der Mädchenschule? Sie erhoben sich
alle und trugen feierlich eine Bitte vor. Was es war, ließ sich nicht
leicht herausbringen. Sie wußten es selbst nicht genau. Sie wollten
dasselbe, was du gewollt hast, sagten sie. Sie wüßten es nur nicht zu
bewerkstelligen.«

Von Ruth kam nur ein Gelächter. Er hatte es schon in der Schule um
sich zu hören geglaubt. Ganz deutlich empfand er aus dem unerwarteten
»Massenerfolg« den übermütigen Einfluß einer einzelnen heraus. Aber
gerade dies hatte ihn heute aus seiner zerstreuten Gleichgültigkeit
gerissen, ihn mit Wärme und Freude erfüllt. Aus dem Bilde der ganzen
Klasse, aus der Gesamtphysiognomie all dieser braunen und blonden
Mädchenköpfe, schaute ihm, wie aus einem Vexierspiegel, Ruths
Gesicht entgegen: mit einem Schalkslächeln um den Mund, aber auch
mit unbegrenzter Hingebung in den Augen. Ganz so, wie sie jetzt eben
zwischen den Hopfenranken dastand.

»Aber nun wird Ernst damit gemacht,« bemerkte er und lehnte sich ans
Fenster; »im Herbst, wenn alle wieder zusammenkommen. Vielleicht
in Form von allgemeinen Kursen bei mir zu Hause. Vielleicht bei
Beteiligung Erwachsener. Ich weiß noch nicht, wie.«

Sie sah ihn voll Interesse an.

»Das ist gut!« sagte sie eifrig und nickte, »je mehr, desto besser.
Aber alle werden nicht kommen dürfen, und manche werden bald wieder
fortbleiben. Daß die Braut da ist, nimmt vielen die Lust zu so etwas
fort.«

»Die Braut?«

»Ja. Denn da denken sie nun, so schön könnten sie es jetzt bald alle
kriegen. Und dann hat ja all das andre keinen rechten Zweck mehr,
meinen sie. Denn sie finden: Braut sein, das sei doch das Allerhöchste.
Darüber haben wir uns vorgestern im Schulhof unterhalten.«

Er blickte auf sie.

»So. Und was hast denn du dazu gemeint? Hast du auch gefunden, daß es
das Allerhöchste sei, und daß dann all das andre keinen rechten Zweck
mehr hat?«

»Ich? Das kann ich ja gar nicht wissen. Wie soll ich wissen, wie es
dann ist? Aber ich brauche es doch auch gar nicht zu wissen. Denn ich
kann niemals Braut werden,« sagte Ruth.

Das Wort erschütterte ihn in seiner nervösen Erregung. Er war so
betroffen, daß er nicht gleich antworten konnte. Dann entgegnete er:
»Wie kommst du auf diesen wunderlichen Gedanken? Wo hast du diesen
Einfall her? Du bist ein Kind, das nichts davon voraussehen kann, wie
sein zukünftiges Leben sich gestalten mag. Und deine Phantasie soll
nicht damit spielen. Du sollst nicht damit spielen!« wiederholte er
mit plötzlichem, unmotiviertem Zorn. »Sage mir, wie du darauf gekommen
bist.«

»Es ist von selbst gekommen,« sagte sie einfach, »ich habe nicht damit
gespielt. Es ist gekommen, weil ich wußte: um Braut zu werden, muß man
einen lieb haben. Und das kann ich ja nicht mehr. So lieb kann ich in
der ganzen Welt nie mehr jemand haben.«

»~Wie~ lieb, Ruth?«

Seine Stimme klang gedämpft und heiser.

Sie sah ihn an mit ihrem offenen naiven Kinderblick. Nie noch, meinte
er, eine solche Unschuld und Treuherzigkeit in einem Menschenblick
gesehen zu haben.

»So lieb wie Sie,« sagte Ruth.

Erik machte eine kurze Bewegung und, niederblickend, schob er die
Hopfenranken zur Seite, die sich überall festnestelten und anklebten.
Die linke Hand, die in der Seitentasche seiner Joppe lag, ballte sich
zur Faust.

Ruth betrachtete ihn unverwandt, aber sie verstand nicht den Ausdruck,
der über sein Gesicht ging.

Da, wie Erik, fast furchtsam, aufschaute und die fragenden Augen vor
sich sah, durchzitterte es ihn. Ihm kam es vor, wie wenn dieser eine
Blick und Augenblick über ihn entscheide.

Er beugte sich etwas vor, ergriff Ruths Hände und bedeckte damit seine
Augen.

»Weißt du, Mädel,« sagte er halblaut, »wenn du groß bist, -- denn jetzt
bist du doch nur erst ein kleines Mädel, -- aber wenn du längst eigene
und reife Vorstellungen gewonnen hast über alle diese Dinge, und viele
andre noch, -- dann -- ~dann~ sollst du noch einmal zu mir kommen und
mir sagen können: daß du mich lieb behalten hast. Und daß du von mir
-- ~von mir~ dein Bestes hast. Dein Eigenleben und deine Entwickelung.
Deinen Glauben an deinen Selbstwert und den Glauben an den Wert der
Menschen. Wer du dann bist, Ruth, das wissen wir beide nicht; wer
ich dann bin, das weiß ich ja wohl: ein alter Mann. Aber ein alter
Mann, der dafür gelebt hat, daß du, Mädel, ihm bleiben darfst, was du
ihm heute bist: sein Stolz, sein Werk, sein Kind und seine höchste
Hoffnung.«

Und er ließ ihre Hände los und verließ das Zimmer.

Ruth stand noch draußen am Fenster. Sie hatte die Arme aufgestützt und
blickte ihm regungslos mit ernstem Gesichte nach.

An einem der nächsten Tage, um die Mittagsstunde, füllte eine bunte
Menschenmenge den großen Mädchenschulsaal. Eltern und Angehörige der
Kinder, eine Flut von Neugierigen aus den obern Gesellschaftsschichten
und viele, die Erik reden hören wollten, von dem die Mädchen zu Hause
so viel erzählten.

Er stand auf der Tribüne im Hintergrunde des Saales und sprach zu ihnen
und ihren Kindern; er erwähnte den Vorschlag, den seine Klasse ihm
gemacht, die Gemeinsamkeit des Lebens und Arbeitens über die Schule
hinaus zu erstrecken, und knüpfte daran seinen Lieblingsgedanken
von der Notwendigkeit einer reichern Weiterentwickelung für die
Frau, als die Gegenwart sie ihr außerhalb der Schuljahre gewähre.
Ueber die Möglichkeit, eine lebensvollere, geisteskräftigere Zukunft
heraufzuführen, sprach er ihnen, und über die Zukunft der Frau, die,
erst geahnt und nur halbenthüllt, noch vor ihr liege, von der sie aber
Besitz ergreifen könne in allem, was ihr Wesen der innern Entfaltung
und Vollendung näher bringe.

Und während er sprach, dachte er an Ruth, der er nicht erlaubt hatte,
mitzukommen; denn im Grunde war sie es ja, von der er redete, zu der
er redete. Sie war es ja, die in ihm die Lust wiedererweckt hatte,
zu den Menschen zu reden, und die Menschen für ihn suchte, wie man
für einen Armen Brot sucht, damit er seinen Hunger stille. Und was er
seinen Menschen gab, entnahm er ihr: denn das Höchste, was er von ihr
erhoffte, das Schönste, was er sich in ihr träumte, legte er seinem
Zukunftsbild unter, und dann erhob und verklärte er es zu allgemeinen
Formen.

Es war, wie wenn er eine überlebensgroße Gestalt vor den gebannten
Menschenaugen aufrichtete, in der durch diese Größe die individuellen
Züge unerkennbar wurden. Zu groß sicherlich, für das wirkliche Leben,
aber von einer Fülle und Wärme der Farben, die unwillkürlich mit
fortriß und sich dem weiblichen Teil unter den Zuhörern gewaltig
einprägte.

So stand Erik und hielt eine Art von Selbstverteidigung seiner Liebe,
und die tiefe Bewegung, die in ihm war, verlieh einem jeden seiner
Worte eine eigentümliche Wucht.

Unter der Menge im Zuschauerraum befand sich auch Warwara, wie sie es
ihm vorhergesagt. Sie blickte voll Interesse auf ihn. Ihr schien, als
sähe sie vor ihren Augen entfesselt und entfaltet, was sie, mit ihrem
feinen Instinkt, immer schon dunkel und undeutlich geahnt, wenn sie mit
Erik zusammen gewesen: daß er Gewalt über Menschenleben besaß, und daß
er in Hunger und Sehnsucht nach ihnen lebte. Es war also das, was sie
zu gleicher Zeit so seltsam an ihm anzog und von ihm abstieß, -- das,
was sie koketter erscheinen ließ, als sie war. Ihr fiel die Scene in
seiner Stadtwohnung ein. Ja, ein Heiliger war Erik wohl sicher nicht.
Aber selbst damals hatte sie mit Schrecken empfunden, wie suchend und
sehnend und ungeduldig er aus das Innerste ging. Auf das, worin sie ihn
enttäuscht hätte. Und das ließ ihre Eitelkeit nicht zu.

Als sie damals aus seiner Stadtwohnung nach Hause fuhr, hatte sich ihr
fortwährend ein ganz abscheulicher Vergleich aufgedrängt. Sie konnte
denselben nicht verscheuchen. Immer sah sie ein Weib vor sich, das
falsche Brüste angelegt hat und sich deshalb vor der Berührung des
Mannes, den ihre Gestalt fesselt, hüten muß. Hatte ihre Koketterie
nicht ganz ähnliche Gründe? Sie fürchtete die geistige und seelische
Entblößung. Und die Arbeit an sich selbst.

Es war aber wirklich ein abscheulicher Vergleich. Und zum größten
Erstaunen ihrer Nachbarin errötete Warwara mitten im Vortrag.

Nach dem Schluß desselben, im Treppenhause, wo Warwara beiseite trat,
um nicht in die hinausdrängende Menge zu geraten, bemerkte Erik sie und
kam auf sie zu. Seine Augen leuchteten so. Warwara war blaß.

»Nun?« fragte er lächelnd und ganz in seinem alten, leichten Ton ihr
gegenüber, »fand der ›Toast‹ Gnade vor ihren Augen? Vielleicht war es
wirklich einer.«

»Wenn es einer war, so könnte ich wohl auf ~die~ eifersüchtig -- nein,
aber neidisch sein, deren Wohl Sie da ausgebracht haben,« versetzte
sie, ebenfalls in ihrem gewöhnlichen Scherzton, aber ihr Gesicht
blieb ernst; »~unser~ Wohl ist's nicht. Ich begreife jetzt, daß Sie
anderswohin gehören wollen, als unter uns Gesellschaftsgelichter.«

»Aber, Warwara Michailowna!« sagte er, von ihrem Ausdruck frappiert,
»warum nehmen Sie sich nicht aus?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aus Selbsterkenntnis. Ich hab' Sie heut verloren,« entgegnete sie und
gab ihm die Hand, »also adieu, -- nicht nur für heute. Ich verzichte
auf Sie. Ich entlasse Sie. -- Aber nun hören Sie: es ist doch der
Schulrock, und nicht der Gesellschaftsrock, der Ihnen am besten steht.«

Er sah ihr nach, wie sie langsam die breite Treppe hinunterstieg. Aber
als sie seinen Augen entschwunden war, vergaß er auch schon wieder, was
ihm, durch den Scherz hindurch, heute an ihrem Wesen so aufgefallen
war.

Und sein Blick glitt von ihr fort über die andern hin, die ihr folgten,
über jung und alt, und vertiefte sich in die Mienen der einzelnen
mit dem Interesse, das der wechselnde Ausdruck in den verschiedenen
Menschengesichtern stets in ihm hervorrief.

Ja, nun begannen die Ferien, und die langen, nicht enden wollenden
Sonnentage. Da würden seine Gedanken erst recht hierher wandern, in
die Schule. Einen andern Wirkungskreis gab es wohl nie mehr für ihn,
-- einen breitern. Er wollte auch keinen in diesem Augenblick. Sein
Ehrgeiz schwieg still. Zu Kindern reden lernen wollte er, und die
Großen zu Kindern machen, bis auch sie empfänglich wurden, gleich
denen, die da noch wachsen.

Mit diesen Gedanken verließ Erik das Schulgebäude.

Er war ungeduldig, heimzukommen: er sah eine Bank im Garten, hinten am
kleinen Gehölz, unter den überhängenden Birkenzweigen, und Ruth saß
darauf, und lauschte, während er ihr von allem erzählte, was »er sich
ausgedacht«. Zusammen wollten sie's sich ja ausdenken, hatte er ihr
versprochen.

Daheim sein bedeutete jetzt nicht mehr bloß die Stille und das Behagen,
aus denen seine unbefriedigte Thatkraft ruhelos und vergeblich in die
Weite gestrebt hatte. Daheim umfing ihn gerade seine liebste Arbeit
und Aufgabe, -- daheim fiel jetzt Innen und Außen, Ruhen und Wirken,
Träumen und Schaffen in ~eins~ zusammen. In Ruth war etwas, das machte
sein ganzes Wesen produktiv, erregte und vertiefte alle seine Kräfte,
so daß leise von ihnen abglitt, was dem äußern Ehrgeiz angehört.

Als Erik die Gartenpforte öffnete, sah er auf dem Rasen, zwischen den
Bäumen, ums Gehölz herum, eine wilde Jagd. Er sah Ruth, Jonas -- und
noch einen. Einen mittelgroßen, etwas untersetzten Mann mit kurzem
dunkeln Vollbart und Brille. Der jagte sich mit Ruth, und haschte
vergeblich nach ihr. Seine Stimme klang scherzend und lachend herüber.

Es war Bernhard Römer.

Nun wurde er Eriks ansichtig und kam heran.

»Auf einen Tag und eine Nacht, wenn's recht ist!« rief er, ein wenig
außer Atem, und fuhr sich mit dem Taschentuch über das kurzgeschorene
dichte braune Haar; »-- und die Ruth nehme ich gleich mit fort, --
das heißt, wenn ich sie hasche. Dann soll ich sie kriegen, haben wir
ausgemacht,« fügte er hinzu, während sie sich die Hände schüttelten,
»das ist ja ein reizendes Ding. Sieht aber noch aus wie ein Kind.
Vierzehnjährig.«

»Sie ist zart,« sagte Erik und stieg mit ihm die Terrasse hinauf.

»Zart? Muskulatur wie eine stählerne Feder. -- Es ist ungerecht, daß
du sie hast. Wir brauchen ein Hauskind. Ihr habt ja den Jungen.«

»Bist du schon so schnell zurückgereist? Und deine Frau?« fragte Erik,
ihn unterbrechend, und bot ihm einen Stuhl neben Klare-Bel, die auf der
Terrasse lag und lächelnd dem lustigen Treiben zugesehen hatte.

»Ich mußte zurück. Und meine Frau? Ja, die wollte noch nicht zurück.
Die Frauen sind heutzutage entsetzlich selbständig. Sei froh, daß Bel
dir nicht fortlaufen kann. -- Meine Frau, die reist also herum und
besichtigt Suppenanstalten.«

»Suppenanstalten?«

»Na ja. Und besucht auch noch den verrückten Grafen in Jasnaja Poljana.
Für so etwas interessiert sie sich nun einmal. Von Rechts wegen sollte
ich wohl meine hochwohllöbliche Professur aufgeben und ein russischer
Bauer werden, der das Feld pflügt. Aber ein so edler Mann und Ehemann
bin ich nun doch nicht.«

»Ich finde: sehr,« bemerkte Klare-Bel staunend, »da Sie Ihrer Frau
alles das erlauben.«

»Erlauben?« Bernhard Römer lachte herzlich und setzte sich zu ihr.
»Meine liebe gnädige Frau, ich will es Ihnen nur gestehen: ich habe
gar nichts zu erlauben. Wissen Sie warum? Ich bewundere nämlich ein
wenig meine unartige Frau. Bei uns zu Hause hat sie auch so etwas wie
Suppenanstalten eingerichtet. Natürlich nur sehr im kleinen, -- sagen
wir lieber: im winzigen. -- Aber nun will ich dir etwas sagen, mein
lieber Erik: wir haben einst so im größten, im allergrößten, herrliche
Pläne gemacht von Vervollkommnung des Lebens und der Menschen, -- aber
meine Frau, die führt sie im kleinwinzigen aus. Nur sie. Das ist die
Art, wie sie sich meine Pläne zu Herzen genommen hat, nachdem ich
wohlbestallter und -- wohlbeengter Professor geworden bin. Daß sie nur
so wenig kann, hält sie von nichts zurück. Das Leben ist Frauenhand und
Frauenarbeit -- mutige. Wir sind Stümper dagegen.«

»Deine Frau ist sehr außergewöhnlich,« bemerkte Erik, »ich bin froh,
sie kennen gelernt zu haben. Aber entbehrst du sie denn nicht jetzt zu
sehr im Hause? Wie lange bleibt sie noch fort?«

»Bis zu den Ferien. Den deutschen Universitätsferien. Entbehren?
Ja, -- doch in der Arbeitszeit, da behelfe ich mich schon mit der
Wirtschafterin und schlecht bereitetem Kaffee. Denke mir halt dabei:
's ist Arbeitzeit, Wochentag. Aber in den Ferien, -- ~meinen Ferien~,
-- da muß ich Sonntag haben. Da muß ich -- muß ich meine Frau um mich
haben.«

Klare-Bel sah ihn erfreut an. Sie freute sich über seine herzlichen
Worte. Freute sich, ihn wiederzusehen. Kaum konnte sie's glauben, daß
er selbst es war: der bartlose Jüngling mit dem braunen Lockenkopf,
-- sanfter als Erik, stiller, ein schwärmerischer Utopist mit einem
kleinen Stich ins Phlegma und in den deutschen Michel.

Und während Erik ins Haus ging, vertieften sie sich von neuem in die
alten Erinnerungen, wie sie es schon heute morgen miteinander gethan.
Und beide wurden warm beim Heraufbeschwören der Jugend und empfanden
beide mit uneingestandener Wehmut, daß die Jugend Vergangenheit war.

Erik störte sie nicht. Er stand in seinem Zimmer. In erregter Stimmung.

Ruth mit Römer, -- nicht mit ihm: er konnte das Bild nicht loswerden.

Des Freundes Leben daheim stand ihm klar vor Augen. Ein seltenes
Heim, -- das seltenste: eine vollglückliche Ehe. Neben dem Mann die
gleichaltrige Frau, in der, wie ein Stückchen seiner Jugend, das nicht
sterben wollte, die Frische weiterlebte, die ihn vor dem Vertrocknen
in Professorenweisheit und zufriedener Sattheit bewahrte. Daher seine
ewigfrische Liebe zu ihr, daher für alles, was sie plante, das offene
Herz und die offene Hand.

Dort würde Ruth haben, was ihr not that: in körperlicher, geistiger,
praktischer Beziehung. Und indem sie ~ihn~ verlor, eine mütterliche
Freundin gewinnen, der er sie blind anvertrauen konnte.

Irgend etwas raunte Erik zu: »Gib sie hin. Dort wäre die selbstlosere
Liebe. Schütze sie vor dir selbst.«

Seine Augen verfinsterten sich, und um seinen Mund erschien eine harte
Linie.

Nun ja, er gestand es sich ein: daß er selbstlos Ruth dienen wollte,
das war nur, um sie zu behalten. Er hatte außer ihr nichts zu
verlieren, was ihn ganz erfüllte. Er kämpfte um das Schönste und um das
Letzte, -- das fühlte er. Und um das Höchste: um sich selbst.

Man sagt oft: erst der Zusammenbruch des ganzen persönlichen Glückes
führe manchen zur wahren, menschlichen Größe, lehre ihn erst, wahrhaft
thatkräftig den andern zu dienen, auf andre zu wirken.

Gewiß gab es solche milden Menschen in der Welt. Aber galt es von ihm?
Konnte er je zu ihnen gehören? Laut schrie es in ihm: Nein! Nein!

Seine Kraft und sein Glücksverlangen wollten sich nicht trennen.
Miteinander verwachsen waren sie von der Wurzel an. Glück brauchte er,
um Mensch zu bleiben. Viel Glück, um gut zu bleiben. Er mußte es zu
sich zwingen in irgend einer Form, -- und um jeden Preis.

Um jeden? Gab es nichts, was ihn veranlassen konnte, einst selbst die
Axt an die Wurzel zu legen?

Bels Glück? Nein! Aber Ruths Glück.

Er versuchte, gewaltsam, den Gedanken fortzustoßen. Er setzte sich an
den Schreibtisch und versuchte, ein paar Aufzeichnungen auszuführen,
die er sich unterwegs für seine Winterpläne entworfen. Er versuchte,
sich dabei die Mienen einzelner zu vergegenwärtigen, die er an der
Treppe, im Vorbeigehen, studiert, und in denen er den Ausdruck der
Freude und der Anregung gelesen hatte.

Aber die Gedanken verschwammen, und die Gesichter verblaßten. Er sah
nur noch ein Chaos fremder, gleichgültiger Physiognomien, -- ohne
Ausdruck, ohne Freude, ohne Blick.

Unschöne, an denen sein Auge vorüberglitt, -- hübsche, aus denen es
teilnahmslos haften blieb.




                                  IV.


Kurz und glühend, wie immer, war der russische Hochsommer
vorübergeflogen, und früh, mitten im August, nistete sich leise der
Herbst im Garten ein und verlöschte mit seinen langen dunkeln Abenden
die Sonne. Der Rasen sah fahl und versengt aus, und längs den Kieswegen
sammelten sich die ersten dürren Blätter.

Gerade da, wo Klare-Bel in ihrem Stuhl am Rande des kleinen Gehölzes
lag, konnte sie an den Birkenzweigen über sich in einen breiten
goldgelben Fleck hineinschauen, der täglich ein wenig zunahm. Und von
Zeit zu Zeit sank eines der entfärbten Blätter, drehte sich in der Luft
ein paarmal herum und flatterte zu ihr nieder.

Gleich daneben stand ein Tisch, roh aus ungeschälten Baumästen
gezimmert, und zwei Bänke mit Rückenlehnen aus einem groben Flechtwerk
von Weidenzweigen. Da saßen Erik und Ruth schon den halben Tag und
arbeiteten.

Klare-Bel konnte nicht begreifen, wie sie das nur so ununterbrochen
aushielten; manchmal schienen es ihr allerdings nur Unterhaltungen
und Gespräche zu sein, die sie führten, aber sie wußte, wie ernst sie
es damit nahmen, und daß Erik mitunter die Nacht aufblieb, um seinen
Unterricht vorzubereiten.

Gern lag sie so und lauschte darauf; nicht auf die Worte, aber auf die
Stimmen. Denn darüber täuschte sie sich nicht: nur in solchen Stunden
noch klang Eriks Stimme gerade so froh wie früher. Und da war es
wirklich gut, daß er sein Zimmer jetzt förmlich mied und mit Ruth immer
in ihrer Nähe saß, wo sie ihn hören konnte.

Oft dachte sie dabei mit heimlichen Sorgen und Zweifeln an den ersten
Tag im Juni zurück, den Erik mit Bernhard Römer und dessen Frau in
der Stadt verbracht hatte. Seit dem darauffolgenden Morgen blieb er
verändert. Und mit diesem Tage mußte es zusammenhängen. Aber den wahren
Grund suchte sie in der fernsten Vergangenheit: namentlich seitdem sie
den gemeinsamen Jugendfreund selbst wiedergesehen.

Denn seitdem begriff sie ganz gut, daß Erik vielleicht noch im
stillen den alten Erinnerungen nachgehen mochte. Kehrten doch sogar
ihre eigenen Gedanken häufiger als je dorthin zurück, wohin es keine
Rückkehr gibt.

Die Jugend ersteht nicht wieder auf.

Wenn es doch eine Freude gäbe, -- dachte sie ganz heimlich bei sich, --
eine große, gewaltige Freude, die sie einmal über Eriks Leben bringen
könnte, so daß er alles darüber vergäße! Aber sie besaß nichts, -- sie
hatte immer nur so dagelegen, mit leeren Händen, und Opfer gekostet.

Vor wenigen Tagen brachte Erik unerwartet den Professor heraus, den er
manchmal bei ihrer Behandlung hinzuzog. Sie war auf ihr Bett gelegt
worden, und dann hatte Erik die in Angst und Schmerz Zitternde ganz
fest in seinen Armen gehalten, bis qualvolle Minuten überstanden
waren. Er selbst war ganz blaß. Aber der Professor wollte wiederkommen.

»Muß es sein, Erik?« fragte sie zagend.

»Es muß sein. Eine Aenderung ist da,« antwortete er ausweichend.

Aenderung! vielleicht Genesung!

Ja, nur ~eine~ große, gewaltige Freude konnte es noch geben: wenn sie
selbst auferstand von ihrem Lager und zu ihm trat aus eigenen Füßen, --
da mußte er wohl wieder froh werden.

Und sehnsüchtig schaute Klare-Bel in die durchsonnten goldgrünen
Zweige, von denen sich langsam die Blätter lösten. Und ihre Gedanken
verträumten sich.

Als die Strahlen der Nachmittagssonne schräger fielen, und die Schatten
der Bäume anfingen, sich zu dehnen und zu strecken, verstummten die
beiden am Tisch, und Ruth stand auf.

Da erschien Klare-Bel jedesmal von neuem ganz eigentümlich bei diesem
Unterricht, daß immer Ruth es war, die seinen Schluß angeben sollte.
Erik wollte es so; nur diese selbst konnte genau wissen, wann ihre
volle Frische und Empfänglichkeit nachließ. Er seinerseits konnte nur
seine ganze und ungeteilte Kraft in das hineinlegen, was er ihr gab, --
und das that er. Er sammelte alle Kräfte des Willens und des Geistes
und konzentrierte sie auf einen einzigen Punkt: er hielt Ruth wie ein
Fürstenkind, das man nur mit dem Auserlesensten beschenkt.

Er blickte sie an, wie sie, sonnengebräunt und mit vornübergewehtem
Haar, neben ihm stand, in einer richtigen russischen Bauernbluse von
grobem, ungebleichtem Leinen, mit roter Stickerei auf den Achselstücken
und Oberärmeln, -- fast wie ein Kind aus dem Volk. Aber sein
Fürstenkind war sie doch.

Er hatte ein Heft herangezogen, ohne Absicht es durchzusehen; nur
mechanisch glitten seine Augen über die Zeilen hin. Doch Ruth blieb
neben ihm stehen, und nun beugte sie sich über ihn, um hineinzublicken.
Von Sekunde zu Sekunde wurde Erik nervöser. Und plötzlich, wegen eines
geringfügigen Versehens, das er fand, herrschte er sie so heftig an,
daß Klare-Bel erschrocken aufsah.

Ruth zog Schultern und Augbrauen hoch und schüttelte entrüstet den
Kopf.

»Es ist nicht zu glauben. Wie kann man nur so kopflos sein, -- nicht
wahr? Geradezu verdummt muß man schon dazu sein!« setzte sie mit
unverhohlener Selbstverachtung seine Vorwürfe fort.

Erik war verblüfft und mußte über sie lachen.

Aber es berührte ihn wunderlich. Noch vor ein paar Monaten hätte
etwas derartiges sie scheu gemacht, -- sie ~ver~scheucht. Jetzt
weinte sie nicht mehr darüber, daß er sie ein dummes Kind nannte. Sie
lachte. Lachte sich aus. -- Ihre Augen sahen ihn so spottend an. Wen
verspottete sie eigentlich? Sich selbst, -- daran war kein Zweifel.
Sich selbst nahm sie als einen fremden Gegenstand, den sie nur noch von
Erik aus beurteilte; sie empfand, dachte und handelte nur noch wie aus
seinem Wesen heraus.

Was war diese Selbstentrückung, dieses Uebermaß von Selbstvergessen
im Grunde? war das Liebe? war es das, worauf er, halbbewußt und wider
seinen Willen, -- wartete?

Klare-Bel hatte mitgelacht.

»Es wird dir noch sonderbar vorkommen,« sagte sie, »wenn du mit dem
Herbst so viele Lerngenossen bei Erik bekommst. Wenn du mit ihnen alles
teilen mußt. Wirst du nicht eifersüchtig sein, wenn nun eines von den
Mädchen mehr kann als du?«

»Warum nicht?« fragte Ruth, und der Schalk ging durch ihre Augen, »dann
wollen wir die eine lieber haben als mich. Wir haben Raum für viele da.
Je mehr es sind, desto besser.«

Erik blickte auf. Am Ende würde sie wirklich eine dritte im Bunde mit
Begeisterung empfangen? Aber wenn sie so spitzbübisch aussah, konnte
niemand wissen, was sie bei sich dachte.

Er erhob sich und schob den Stuhl seiner Frau dem Hause zu, um sie
vor Sonnenuntergang hereinzutragen. Jonas kam ihnen entgegen; den
ganzen Nachmittag hatte er sich draußen auf den gemähten Wiesen
herumgetrieben, aber immer paßte er den Augenblick richtig ab, wo er
Ruth in Beschlag nehmen konnte.

Als Erik wieder aus dem Hause trat, sah er Ruth mit Jonas unter den
Birken auf und ab gehen. Sie hielten sich lose umschlungen und stießen
sich gegenseitig an den grasbewachsenen Wegrand, wo der Frühherbst
das welke Laub angehäuft hatte. Es machte ihnen offenbar lebhaftes
Vergnügen, mit den Füßen durch die Blätter hindurchzurascheln.

Jonas hatte Ruths Hand gefaßt, die auf seiner Schulter lag, und von
Zeit zu Zeit neigte er den Kopf seitwärts und fuhr mit ihrer Hand
liebkosend über seine eigene Wange.

»Jonas!« rief Erik den Knaben laut an.

Der schrak auf bei dem Ton.

»Was soll ich?« fragte er und kam betreten näher.

»An deine Ferienarbeiten sollst du!« sagte Erik, und schämte sich vor
sich selbst.

Ruth folgte Jonas ins Haus.

Erik war im Garten stehen geblieben und sah den beiden nach.

Da war es wieder, -- dies Kindhafte, Kindische, dieses Unausgewachsene
und sonderbar Unreife, über das er in Ruths Wesen nicht hinwegkam. Es
nahm nicht ab, es nahm zu, -- es steckte ganz tief irgendwo, im Kerne
ihrer Natur. Geistig hatte sie sich rasch und stark entwickelt, wie
junges Laub in warmem Mairegen. Aber es war, als ob nun erst auch alle
kindlichen Elemente sich entwickelten und zu immer vollerer Auslebung
drängten, -- und daneben andere, beinahe männliche, die er in
ihr bis dahin nur geahnt. So schnell gewöhnte sie sich daran, ihre
Gedanken zu logischer Schärfe zu formen und ihnen eine energische
Richtung auf das Erkennen zu geben, als habe sie nie in der Phantastik
der Träume gelebt. Sichtlich hatte das Unentwirrbare, Unklare und
Wildschweifende ihres Denkens nur mit den phantastischen Stoffen selbst
zusammengehangen und fiel mit diesen von ihr ab.

Erik ging langsam in das Haus zurück, wo Jonas im Wohnzimmer mit
resignierter Miene über seinen Büchern saß und zu lernen schien; aber
im stillen grübelte er darüber nach, wie er Ruth dem Vater am besten
abspenstig machen könnte, um sie mehr für sich zu haben. Morgen war
ein Sonntag, da konnte man viel unternehmen; in diesen Ferienmonaten
wurde schon früh gegessen, und so bekam man einen reichlich langen
Nachmittag und Abend heraus. Aber Jonas fand es ungerecht, daß auf
sechs Wochentage nur ein Sonntag fiel, und daß der Vater sich gerade
die Wochentage genommen hatte.

Ruth saß nicht mit im Wohnzimmer. Sie mußte in ihre kleine Giebelstube
hinauf gegangen sein.

Erik trat wieder in den Flur zurück und horchte, ob sich oben nichts
rege.

Und dann stand er auch schon gleich darauf am Fuß der schmalen
Holztreppe.

Wie ein Dieb erschien er sich selbst, als er da, in der Halbdämmerung,
auf dem untersten Treppenabsatz zögerte.

Nur langsam nahm er die ersten Stufen, dann rasch die nächsten.

Wie lange, lange war er nicht mit Ruth allein gewesen, -- ganz allein.
-- --

Oben klopfte er kurz und laut an. Ruth antwortete mit heller Stimme.
Sie stand vor dem geöffneten Wandschrank, in dem sich ihre Sachen
befanden, und kramte darin.

Außer einem Tisch und Stuhl am Fenster enthielt das kleine Gemach nicht
viel mehr als am ersten Tage. Aber das Fensterbrett war mit Blumen
gefüllt, mit gewöhnlichen Sommerblumen, wie die Straßenhändler sie
auf einem Kopfbrett vorübertrugen, und darunter standen, am Boden,
Töpfe mit Ablegern aus dem Garten. Und die Tapetenwand war bedeckt mit
Bleistiftzeichnungen, die einen breiten Tintenrand als Rahmen empfangen
hatten. Sie rührten alle von Jonas Hand her und stellten alle irgend
einen Winkel des Gartens oder des Hauses dar.

Erik sah auf den Tisch nieder, auf dem Nähzeug und Papiere unordentlich
durcheinander lagen.

Es fiel Ruth nicht ein, zu fragen, weshalb er heraufgekommen sei, aber
in der leichten Verlegenheit, die er selbst empfand, suchte er nach
einem Wort und zog eines der Papiere unter dem Nähzeug hervor.

»Schreibst du hier Verse?« fragte er überrascht.

Sie wurde dunkelrot.

»Nicht mehr so oft,« antwortete sie fast bestürzt, »und ich will ja
auch gar nicht! Aber manchmal, wenn -- manchmal muß ich es noch thun.«

»So Verborgenes thun. Verborgen vor mir. Und ich habe geglaubt, daß
kein Gedanke unausgesprochen, den ich nicht kenne, durch deinen Kopf
geht.«

Sie machte ein so schüchternes Gesicht wie in alten Zeiten.

»Nicht verborgen,« sagte sie leise, »es sind nur eben keine Gedanken.
Und aussprechen kann man sie auch nicht. Und die kommen nun und drängen
sich, und dann muß man Verse schreiben.«

Erik lachte.

»O weh, die armen Verse!« bemerkte er, »also einen solchen stillen
Winkel hast du dir noch in deinem Kopf referiert, während es aussieht,
als ob du die schönste Ordnung gemacht hättest. Die ist wohl nur in den
Staatsstuben, auf der Oberfläche. Dahinter liegt eine wunderschöne,
unergründliche Rumpelkammer. Was sollen wir mit der machen?«

Sie sah ihn ganz ernsthaft an.

»Was Sie wollen,« versetzte sie treuherzig.

»Würdest du denn fraglos thun, was ich will? Auch im geheimsten, was
du für dich treibst? Auch im Verborgensten deiner Rumpelkammer? Immer?«

»Immer.«

Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände.

»Und wenn ich sie dir nun ausräumen wollte? und wenn es zufällig
gerade dein liebster Winkel wäre? und wenn es nun, irgend wann einmal,
vielleicht keine bloße Rumpelkammer mehr wäre, sondern dein glückliches
geistiges Zu Hause? würdest du dann auch noch ebenso antworten: ›Was
Sie wollen‹?«

»Ja!« sagte sie einfach.

Erik machte eine Gebärde, wie wenn er sie in seine Arme ziehen wollte,
dann aber ließ er sie frei, trat zurück und ans Fenster, neben welchem,
an der Seitenwand, ein kleiner Bücherbort hing.

Ein paar Minuten vergingen.

Ruth sah ihm zu, wie er anscheinend die Titel der Bücher studierte, die
sich in der langsam zunehmenden Dämmerung nicht mehr erkennen ließen.
Aber Erik wußte ungefähr, was alles sich hier auf das sonderbarste
einträchtig zusammengefunden hatte. Eine lateinische Grammatik aus
Jonas' Nachlaß und die Märchenwelt von Tausend und eine Nacht,
eine Auswahl aus Platos Werken in deutscher Uebersetzung und ein
zerrissener Band alter russischem Volkserzählungen, Ueberwegs »System
der Logik« und die französische Uebersetzung des Don Quixote mit den
Illustrationen von Doré, und so fort.

»Warum haben Sie nie ein Buch geschrieben?« fragte Ruth plötzlich vom
Fenster her.

»Weil ich es nie gekonnt habe. Bücher zu schreiben verstehe ich nicht,
Ruth. Und mir schien wohl auch immer: Bücher sind tot, nur das
gesprochene Wort lebt. Und ich fürchte, du wirst es auch nie können,
nie verstehen, mein armes Mädel.«

»Ich? Ich will auch nicht. Ich möchte etwas andres.«

»Was möchtest du denn?«

»Ein Märchen erzählen. Ein einziges. Eines, in dem alles drin ist. Aber
nicht mit Worten.«

»Das würdest du ja auch schreiben oder sprechen, malen oder meißeln
müssen, wenn du es mitteilen willst.«

»Es muß noch auf bessere Weise gehen,« meinte Ruth.

»Nicht, wenn es für alle sein soll. Sonst kann man es auch wohl einem
lieben Menschen an den Augen ablesen.«

»Das ist schon besser,« sagte sie und lehnte ihren Kopf gegen das
Fensterkreuz zurück.

Kurze Zeit schwiegen beide.

Die Dämmerung sank tiefer. Ueber den Steinfliesen der Terrasse unter
ihnen blinkte es hell auf, im Wohnzimmer wurde die Lampe angezündet.

Um den Wipfel der alten Ulme vor dem Fenster spielten die Fledermäuse.
Lautlos huschten sie unter dem Dachfirst hervor und flatterten hinter
Ruths Rücken hin und her im Zickzack.

Erik stand mit einemmal im Halbdunkel dicht neben ihr. Er hob die Hände
und strich leise über ihr Haar hin, so daß sie sich in den weichen,
lockigen Wellen verloren, und dann blieben sie auf ihren Schultern
liegen, und er beugte sich tief über Ruth.

»Sage mir das nicht mehr, -- was du vorhin sagtest: daß du immer und
fraglos thun würdest, was ich will,« bemerkte er mit gesenkter Stimme,
»du sollst mir nicht in jedem Fall und blind folgen. -- Ich könnte ja
auch ein Unrecht von dir wollen. -- Hast du daran nicht gedacht?«

Sie legte sich weit in seinen Arm zurück und schüttelte den Kopf.

Er umfaßte sie fester.

»Und wenn es doch so wäre?« fragte er fast heftig, »was würdest du
thun?«

Nun erst blickte Ruth auf und sah ihn lange und ruhig an. Sie schien
sich den Fall ernsthaft zu überlegen.

»Unrecht thun!« sagte sie dann laut.

Erik fuhr zusammen. Er murmelte etwas, was sie nicht verstand. Sie
lachte aber über das ganze Gesicht.

»Für mich ist immer ~das~ das Rechte, was Sie wollen, -- niemals ein
Unrechtes. Besser weiß ich es nicht. Ich brauche es aber auch nicht
besser zu wissen.«

»Mein armes Kind,« sagte er leise.

Sie richtete sich in seinem Arm hoch. Ein lauschender Ausdruck kam in
ihr Gesicht.

»Wer? ich? Warum sagen Sie das?« fragte sie mit veränderter Stimme und
machte sich langsam frei. »Was ist das? Warum sagen Sie mir das alles?
Ich bin kein armes Kind. Ich bin ja ~Ihr~ Kind!«

Und als er nicht gleich antwortete, faßte sie ihn plötzlich an beiden
Armen und schüttelte dieselben mit leidenschaftlicher Kraft. »Bin ich
es denn nicht?« fragte sie wild. »Worum soll ich nicht mehr thun, was
Sie wollen? Bin ich denn nicht Ihr Kind? Nicht mehr?! Dann wäre es
besser, tot zu sein.«

»Ruth!« rief er erschüttert.

Sie suchte sich zu fassen. Ihre Hände sanken von seinen Armen und
schlangen sich ineinander. Dann hob sie den Kopf.

»Ich will alles thun, -- alles! Recht oder Unrecht, Gutes und Böses, --
alles! Ich will gehorsam sein bis in den Tod. Stellen Sie mich auf die
Probe. Aber gehorchen muß ich Ihnen dürfen, -- Ihr Kind sein dürfen, --
zu Ihnen sagen dürfen: ich will thun, was Sie wollen. Immer! Immer! Das
muß ich -- muß ich dürfen. -- -- Darf ich?«

Unwillkürlich hob sie ein wenig die gefalteten Hände. Eine Gebärde
unsäglicher Demut. Aber ihr Gesicht sah dabei fast finster aus, und
ihre Stimme klang wie Metall. Und nun ein ganz weicher, kindlicher Ton:
»-- Darf ich?«

Erik wurde zu Mute, als schaue er plötzlich, erst in diesen
vorüberblitzenden Sekunden, mit weitem Blick hinein in die verhüllte
Tiefe, aus der allein Ruths Liebe geboren werden konnte. Zum
erstenmal hinein in das Geheimnis ihres Wesens, -- hinein in die
stumme Einsamkeit und Sehnsucht vieler, vieler Jahre, aus der mit
rückhaltloser Gewalt die langgehemmte, lang aufgestaute Inbrunst
hervorgebrochen war, als er in ihr Leben trat. Ihn lieben dürfen, das
hieß: endlich -- endlich ~Kind sein dürfen~, gehorchen, sich hingeben,
sich weggeben, auf den Knieen noch. Es hieß sammeln und ausstürzen
dürfen die ganze leidenschaftliche Zärtlichkeit des Kindes, das noch
keine Kindheit gehabt. Und das doch gerade dessen -- nur dessen
bedurfte.

Ruths Augen blitzten ihn durch die Dämmerung an.

»Bin ich noch immer arm, -- ein armes Kind?« schienen sie ihn
unverwandt zu fragen.

»Du bist nicht arm, -- mein Kind bist du, -- und darfst gehorchen, --
mir folgen, -- du sollst es immer dürfen,« sagte er heiser.

Und er öffnete die Thür nach der Treppe, über der hell das Lampenlicht
aus dem Flurraum heraufschien. --

Diesen Abend zog sich Erik schon gleich nach dem Thee in sein
Arbeitszimmer zurück. Klare-Bel merkte recht wohl, daß er wieder die
halbe Nacht aufblieb. Obgleich doch am andern Tag der Unterricht
ausfiel.

Den nächsten Morgen fragte Erik am Frühstückstisch, ob Briefe in die
Stadt mitzunehmen seien.

»Willst du zur Stadt fahren? gerade heute? am Sonntag?« fragte seine
Frau erstaunt.

»Ja. Ich muß selbst zwei Briefe, die dringend sind, besorgen und einen
notwendigen Besuch machen,« versetzte er.

Die beiden Briefe sah Klare-Bel auf dem Nebentisch liegen. Der eine an
Römer nach Heidelberg, der andere an dessen Frau nach Moskau. Beide
doppelt frankiert.

Sie wagte nicht, ihn zu fragen, was er denn an Frau Römer so viel zu
schreiben habe? Er machte ein so ablehnendes, verschlossenes Gesicht.
Aber als er fortgegangen war, sann Klare-Bel den ganzen Vormittag
traurig und besorgt diesem Gesicht nach.

Dies Wortkarge, Verschlossene kannte sie als ein schlimmes Zeichen.
Erik war offen und mitteilsam, wenn er froh war; wenn er schwieg, so
litt er. Und gerade dann hätte Klare-Bel am liebsten alles mit ihm
geteilt. Dem Glücklichen, Frohen gegenüber fühlte sie sich leicht
ein wenig gedrückt, ein wenig überflüssig. Dagegen erschienen ihr
immer Leiden und Kummer als die geeignetsten Zugänge, die wohl auch
sie zu Eriks Innerem hätte finden müssen, -- um ihm nahe zu kommen,
um ihm notwendig zu werden. Aber gerade wenn er litt, wurde er am
unzugänglichsten, -- wurde er stets abweisend, bis zur Schroffheit. Nur
in seinen frohen Stunden erschloß er sich ihr.

So war es also wohl nichts für sie: weder mit der Freude, die sie ihm
so gern bringen wollte, -- noch auch mit dem Kummer, den sie mit ihm
getragen hätte. --

Inzwischen befand sich Erik in der Stadt bei Ruths Verwandten. Ganz
gegen seine Vermutung fand er auch die Tante vor, die soeben von
Wiesbaden zurückgekehrt war, um, nach kurzem Aufenthalt, zu den Ihrigen
nach Livland zu reisen, wohin ihr Mann sie begleiten sollte.

»Vor Anbruch des Winters kommen wir von dort nicht mehr heim,« sagte
der Onkel zu Erik, den er auf das herzlichste wieder begrüßt und erst
nach längeren, zwanglosem Gespräch zu zweien in das Empfangszimmer zu
seiner Frau geführt hatte. »Aber alles, was Sie mir da erzählt haben,
eilt ja auch nicht von heute auf morgen, denke ich mir. Wenn Sie Ihre
Absicht ausführen, Ruth ins Ausland zu senden, so ließe sich dabei der
Zeitpunkt unsrer Rückkehr ein wenig mit berücksichtigen, nicht wahr?«

»Nein!« entgegnete Erik, »das, was ich von Ihnen erbitten wollte, war
eben dies: mir auch hierin vollständig freie Hand zu lassen. Und für
Ruth an dem Reiseanschluß festzuhalten, den ich im Auge habe. Auch wenn
das ihre Abreise unberechenbar beeilen sollte. Ich weiß, daß ich Ihnen
damit viel zumute. Aber wenn Sie Vertrauen zu mir haben, dann lassen
Sie mich noch einmal über Ruth entscheiden, so unbedingt wie damals,
als ich sie Ihnen fortnahm.«

»Ich weiß keinen Menschen aus der weiten Welt, zu dem ich mehr
Vertrauen fassen könnte, als zu Ihnen,« versetzte Ruths Onkel, dem bei
Eriks sonderbar bestimmtem Ton die Gemütlichkeit schwand, »und was
Ruth betrifft, so habe ich von allem Anfang an das Gefühl gehabt, als
ob selbst so nahe Verwandte wie wir, Ihnen ein Recht auf die Kleine
abtreten müßten. Wenn Sie also so fest glauben, daß es gut an ihr
gehandelt ist, handeln Sie so! Ich meinerseits will, -- wenn ich sie
nicht wiedersehe, -- ich will Weihnachten einen kurzen Urlaub nehmen
und unsre kleine Studentin in Heidelberg besuchen.«

»Aber ich bitte dich! nenne es doch wenigstens nicht gleich beim
ärgsten Namen!« fiel die Tante ein, der die Nachgiebigkeit ihres Mannes
unverantwortlich vorkam. »Ruth soll doch nicht wirklich studieren?
Ich meine, mit einem Studentenplaid und kurzen Haaren, wie es hier
geschieht? Bei uns in den Ostseeprovinzen wäre so etwas rein
undenkbar.«

»Einstweilen soll sie lernen,« antwortete Erik etwas ablehnend, »das
Weitere wollen wir ruhig ihr selbst und der Zeit überlassen.«

Sie sah ihn prüfend und mißbilligend an. Wie konnte man so etwas der
»Zeit« überlassen? Hätte er noch gesagt »der Vorsehung«. Wenn er
für das Frauenstudium eintrat, dann war er auch ganz sicherlich ein
Atheist. Und solchen Leuten war doch wohl alles zuzutrauen.

»Ich sehe mit Verwunderung, daß mein Mann sehr sorglos darüber denkt,«
bemerkte sie, als Erik schon aufstand, um sich zu verabschieden, »aber
um so mehr muß ich ein Wort hinzufügen. Du sprichst so ruhig von
Recht abtreten, Louis! Aber ~ein~ Recht kannst du doch nie und nimmer
abtreten. Ich meine das Recht der moralischen Verantwortlichkeit. Das
mag ja eine altmodische Ansicht sein. Aber ich möchte doch wissen, wie
Herr Matthieux darüber denkt.«

Erik sah ihr ernst und ruhig in die kampflustig auf ihn gerichteten
Augen. Zum erstenmal gefiel sie ihm. Eben die Kampflust gefiel ihm.
Obwohl der Onkel Ruth lieb hatte, war sie doch ein besserer Wächter als
er.

»Wenn ich Sie recht verstehe,« sagte er, »so fürchten Sie, daß ich mit
meinem Recht an Ruth nicht zugleich auch alle Pflichten ihr gegenüber
übernehmen würde. Wenn es etwas gibt, was Sie von dieser Furcht
befreien kann, so nennen Sie es nur.«

Der Onkel sah fast verlegen aus, aber sie beachtete es nicht.

»Ich antworte Ihnen als gläubige Frau,« entgegnete sie, die stolz
war auf baltische Ueberzeugungstreue, »mir bedeutet moralische
Verantwortlichkeit: schuld sein wollen an einem Menschen, -- schuld
an dem, was an seinem innern Menschen geschieht. Nicht zulassen, daß
er Schaden daran nimmt. Wie sollte man das ohne Gott, ohne religiösen
Glauben auf sich nehmen können? Wenn Sie nun Ruth fortgeben, -- können
Sie eine solche Pflicht in diesem Sinne übernehmen?«

Ueber Eriks Züge ging ein Ausdruck, den sie nicht zu deuten wußte, der
sie aber wider ihren Willen ergriff.

»Nun verstehen wir uns,« sagte er mit unterdrückter Bewegung, »denn
eben das soll mein Recht sein: ich will schuld sein an diesem Kinde!«

Sie fand, es klang arroganter als je. Es war nichts, das ihre
religiösen Bedenken beruhigen konnte. Aber ihr war dennoch, als habe er
»Gott« gesagt. --

Erik ging dem Bahnhof zu. Fast kein Mensch außer ihm in den leeren
Straßen; auch die letzten, die den Sommer in der heißen, ungesunden
Sumpfluft der Stadt zubringen mußten, entrannen ihr am Sonntag. Nur
hier und da taumelte ein Betrunkener aus der offenstehenden Thür einer
Kellerschenke, oder rasselte eine vereinzelte Droschke holpernd über
das schadhafte Holzpflaster, das stellenweise noch weit aufgerissen
dalag und darauf wartete, daß seine alljährlichen Löcher in schöner
Mosaikarbeit zugestopft würden.

Verlorene Glockenklänge, die letzten von einer der zahllosen Kirchen,
zitterten über die ausgestorbenen Straßen hin, wie Grabgeläute über
einer Totenstadt.

Erik ging langsam, müden Schrittes heimwärts.

»Nicht zulassen, daß sie Schaden nimmt,« wiederholte er die eben
gehörten Worte. Ja, genau das wollte er doch. Noch war die Umpflanzung
in einen neuen Boden möglich, wenn er seinen kleinen Baum behutsam,
mit allen feinsten Würzelchen, dort eingrub. Nur so konnte er jetzt
seine Gärtnerdienste an ihm thun, damit derselbe nicht Schaden nehme an
seiner Entwickelung, die noch in hart und fest geschlossenen Knospen
vor sich ging, -- undurchsichtig von allen Seiten.

Denn manchmal, da wachte etwas Gewaltthätiges in ihm auf, -- im
pflegenden Gärtner die verbrecherische Ungeduld des Knaben, der sich am
Frühling vergreift und die Knospen zerstören möchte, um zu sehen, ob
eine rote oder eine weiße Blüte in ihnen schläft.

Aber er fiel sich selbst in die gewaltthätige Hand; er selbst riß Ruth
sich aus der Hand.

Verdirbt denn ein Vater sein Kind, ein Mann sein Weib, ein Künstler
sein Werk?

Und ihm schien: seine Liebe zu Ruth sei alles dieses.

Zu Hause hatten sie mit dem Essen auf ihn gewartet; als er kam, wurde
es einsilbig eingenommen. Klare-Bels Hoffnung, Erik werde erzählen, bei
wem er den Besuch gemacht, erfüllte sich nicht.

Er wußte wohl, daß er nun davon sprechen mußte. Mit ihr und mit Ruth.
Es war ihm das Schwerste.

Das dachte er, als er dann endlich am Fenster seines Arbeitszimmers
stand und wartend in den Hintergarten hinausblickte, wo Ruth sich mit
Jonas erging: »Nur nicht sprechen, -- nur nicht grübeln, -- handeln!
Sie aus den Arm setzen und forttragen. Handeln! Wer es wortlos dürfte!«

Und nun ging Jonas ins Haus.

Erik stieg zu Ruth in den Garten hinunter.

Sie saß auf ihrem Lieblingsplatz, dem Steinrand des Springbrunnens.
Dort saß sie mit gebücktem Kopf und stocherte mit einem trockenen Ast
im Grase.

Wie sie ihn kommen sah, warf sie ihren Zweig fort und lief ihm
entgegen. Er hatte sie kaum begrüßt bei Tisch, zum verspäteten Essen,
und nun schlich sich ihre Hand in die seine.

Ohne recht zu bemerken, was er that, steckte er sie mitsamt der seinen
in die Seitentasche seiner Joppe.

Ruth lachte darüber und blickte zu ihm auf, aber als sie den ernsten,
beinahe strengen Ausdruck seines Gesichtes sah, verstummte sie ebenso
plötzlich.

Sie gingen einige Schritte dem kleinen Gehölz zu.

»Heute war ich bei deinen Verwandten, Ruth,« sagte Erik, »sie waren
beide da. Ich wollte sie einmal etwas auf das hin ausfragen, was wir in
den letzten Monaten schon öfters miteinander besprochen haben. Weißt
du nicht? Ich meine daraufhin, ob du nicht einmal im Auslande tüchtig
weiterlernen könntest.«

Sie sah ihn erwartungsvoll an. Dies da interessierte sie sehr und ein
wenig beunruhigte es sie auch. Denn es handelte sich doch eigentlich
erst um ein ganz allgemein gehaltenes, unbestimmtes Zukunftsbild, --
nicht um etwas, was schon erwogen und besprochen werden mußte.

»Nun? und was meinten sie darauf?« fragte Ruth gespannt, als er
schwieg.

»Sie haben nichts dagegen einzuwenden, Ruth. Nichts Ernstliches. Da ist
es denn Bernhard Römer gewesen, an den wir dabei gedacht haben. Dort
wüßte ich dich im richtigen Hause geborgen. Es wäre fast so, als wenn
ich selbst bei dir bleiben konnte.«

Ihre Hand, die er noch umfaßt hielt, erkaltete in der seinen.

»Ja, -- aber -- das ist ja noch so lange hin!« meinte Ruth ganz
langsam, und dann immer schneller, in wachsender Unruhe: »Es ist doch
noch lange hin? Sehr lange? Ich soll doch nicht -- bald fortgehen? ~Von
hier~ -- -- fortgehen!«

Er umschloß ihre Hand fester und ging auf die Bänke zu, die unter den
Birkenbäumen standen.

»Komm zu mir,« sagte er sanft, »setze dich zu mir her, mein Liebling,
und laß uns ruhig darüber sprechen. Ganz ruhig, -- hörst du?«

Sie folgte ihm schweigend, aber ihre Augen hingen unverwandt, mit
tausend aufgestörten bangen Fragen, an seinem ernsten Gesicht.

»Sieh, Kind,« fuhr Erik fort, »wenn wir hier, während unsrer
gemeinsamen Arbeit, an deine Zukunft dachten, dann schwebte sie dir wie
ein erwünschtes, lockendes Bild vor. Ich wollte, daß du dich später
weiter entwickelst, und du wolltest es auch. Ich dachte oft bei mir,
wenn ich dir zusah: manches von dem, was ich selbst einst erstrebt,
könntest, in andrer Form, du einst verwirklichen. Aber was so, als
Zukunftsmöglichkeit, in der Ferne stand, wird doch näher rücken müssen,
bis es unwiderrufliche Wirklichkeit und Gegenwart geworden ist. Und ich
wünsche, daß du diesem Gedanken jetzt nahe trittst, mein Kind.«

»-- -- Wie nahe -- -- ist es denn?« fragte Ruth mißtrauisch, aber kaum
war es ihr entschlüpft, als sie ihre Hand aus der seinen riß und ihre
beiden Hände flach gegen die Ohren preßte.

»Nicht!« murmelte sie undeutlich, »ich will es nicht wissen! bitte,
nicht! bitte, bitte, nicht weitersprechen.«

Einen Augenblick schloß er die Augen.

Dann faßte er sanft nach ihren Händen und zwang dieselben zu sich
nieder.

»Es hilft nichts, mein Kind,« sagte er fest, »es hilft nichts, sich
vor etwas Unwiderruflichem zu verschließen. Gerade hiervon werden
wir weitersprechen. Denn, je mehr du noch davor zurückscheust, desto
dringender, desto eher muß es geschehen.«

Ruth war sehr blaß geworden.

Ein unbestimmtes Grauen stieg dunkel in ihr auf. Vor etwas, was sie
noch nicht fassen, nicht deutlich begreifen konnte, was aber vor
ihr empordämmerte, -- unerwartet, unversehens, aus dem Nichts, --
schattenhaft, gleich einem Riesengespenst.

»Ich kann nicht!« stieß sie hervor. »Es kann ja so nicht sein! Ich will
nicht, daß es so ist. Ich kann nicht!«

Er beugte sich zu ihr und suchte ihren Blick.

»Wirklich nicht?« fragte er ruhig; »auch nicht, wenn du weißt: ich will
es? Auch nicht, wenn ich selbst es bin, der dich bei der Hand nimmt,
dich vor etwas hinstellt, das dir schwer fällt, damit du lernst, es
herankommen zu sehen, ohne davor fortzulaufen?«

Sie schmiegte sich an ihn und versteckte den Kopf an seiner Schulter.

»Ich fürchte mich,« sagte sie, wie ein Kind im Dunkeln, »-- irgend
etwas Schreckliches ist da, -- seit gestern ist es da, -- und
kommt heran, immer näher, -- ganz dicht heran, -- ganz nahe. Wie
ein Ungeheuer, das sich um mich ringelt. -- Ist es etwas
Schreckliches -- --?«

»Nicht das, was du gestern fürchtetest,« sagte er leise, »-- nur das,
was du gestern selbst wolltest, selbst fordertest. Weißt du nicht, was
du mir versprachst? die Probe stellen. Wenn ich es nun thue, Ruth, --
ziehst du dein Versprechen zurück?«

»Nein!« entgegnete sie rasch und richtete sich auf. Dagegen gab es
keine Auflehnung. Nur Gehorsam.

»Worin besteht die Probe?« fragte sie entschlossen, »was soll ich
thun?«

Er antwortete nicht gleich. Er hatte die Brauen zusammengezogen, und
seine Zähne gruben sich in die Lippe, als litte er körperlichen
Schmerz.

Ein paar Augenblicke verharrten sie schweigend bei einander.

Ein kühler Luftzug strich durch die Bäume und warf ein rundliches
gelbes Birkenblatt nach dem andern ihnen in den Schoß. Mühsam schien
die Sonne durch breite weiße Wolkenmassen in den Garten, und aus den
Vogelnestern ringsum unterbrach hin und wieder ein kleiner, satter Ton
die Stille um sie.

Da antwortete Erik mit einer Stimme, die fast rauh klang: »Du sollst
dich in einer großen Sache ebenso tapfer erweisen, wie du dich einmal
in einer kleinen erwiesen hast. Du sollst thun, was du schon einmal
thatest, als dir das langsame Herankommen, -- Näherkommen von etwas
Gefürchtetem bevorstand. Es war damals, als Jonas uns die Schlange ins
Haus brachte. Sie flößte dir solchen Schrecken ein. Weißt du nicht
mehr, was für ein Mittel deine eigene Tapferkeit dagegen fand?«

»Nein!« sagte sie stutzend und blickte auf, »was war das für ein
Mittel?«

»Du sagtest: ›Dann lieber -- gleich!‹«

Ruth sprang jäh von der Bank auf und machte eine wilde Bewegung gegen
ihn hin, als ob sie ihn noch rechtzeitig an etwas hindern wollte.

Dann, ohne einen Laut der Erwiderung, brach sie vor ihm in die Kniee,
in das welke Augustlaub, das zu seinen Füßen lag.

»Ruth!« murmelte er angstvoll und breitete seine Arme um sie, »mein
Kind! mein Liebling! hörst du mich?«

Aber sie hörte nicht mehr. Ihr Kopf fiel zurück. Sie hatte das
Bewußtsein verloren.

Inzwischen kam Jonas in den Garten gelaufen, der vom Fenster aus
beobachtet hatte, wie der Vater mit Ruth in das kleine Gehölz
hineingegangen war.

Wie versteinert stand er still, als er jetzt Erik zwischen den Bäumen
hervortreten sah und Ruth mit geschlossenen Augen regungslos in seinen
Armen. Ihre rechte Hand hatte der Vater um seinen Nacken gelegt, die
linke hing schlaff herunter.

»Geh voraus!« gebot Erik dem Knaben, »ohne Lärm. Halte mir die Thüren
offen. Ich muß Ruth auf ihr Bett tragen.«

Jonas blieb jegliche Frage in der Kehle stecken; er rannte voraus,
nicht ohne sich fortwährend nach dem Vater umzuschauen, und ins Haus
hinein. Dort lief er, ohne die Mutter oder Gonne zu alarmieren, die
Holztreppe zu Ruths Giebelstube hinauf. Als Erik mit Ruth in den Armen
oben ankam, stand Jonas wartend an der weitgeöffneten Thür, durch
welche man das schmale weiße Bett mit den zurückgeschlagenen Decken
sehen konnte.

Jonas blickte dem Vater ängstlich bittend ins Gesicht; er wäre so gern
mit hineingegangen, um bei Ruth zu bleiben. Aber Erik ging schweigend
an ihm vorbei und zog die Thür hinter sich zu.

Dieser Augenblick prägte sich ihm mit merkwürdiger Gewalt ein: wie der
Vater, Ruth an der Brust, so stumm an ihm vorüberschritt, während ~er~
zurückbleiben mußte.

Im Blick und Ausdruck des Vaters empfand er etwas Außerordentliches,
einen starren, wortlosen Ernst, -- so, wie wenn Ruth schon so gut wie
tot sei.

Jonas überlief es kalt.

Er klammerte sich an den Thürgriff und lauschte mit zurückgehaltenem
Atem. Anfangs unterschied er nichts. Dann hörte er Eriks Stimme,
halblaut, kurz, sehr bestimmt im Ton. Sie wiederholte sich. Darauf eine
Pause, -- und plötzlich ein Klagelaut drinnen, ein einziger Laut, aber
so schmerzlich, daß den Knaben Entsetzen faßte.

Was that man mit Ruth, mit seiner lieben Ruth? Was that der Vater ihr
an? Etwas Furchtbares mußte es sein. Etwas Furchtbares mußte heute im
kleinen Gehölz vor sich gegangen sein.

Und er durfte die Thür nicht aufstoßen, er wagte es nicht. Aber eine
rasche, wilde Empfindung, wie plötzlicher Haß, loderte unverstanden in
ihm auf: daß er ein Knabe war, und der Vater ein Mann! Daß er nicht
eindringen durfte mit gleichem Recht, -- mit Gewalt!

Aber ebenso rasch erlosch sie wieder. Ruth konnte nichts geschehen,
wenn sie bei seinem Vater war.

Jonas schlich sich hinunter, in das kleine Zimmer von Klare-Bel neben
der Wohnstube. Er konnte nicht allein sein.

Dort setzte er sich am Eingang auf die äußerste Kante eines Stuhles und
brach in Thränen aus.

»Ruth ist halbtot, Mama!« sagte er außer sich, »ach Mama, sie stirbt!
Die Augen hat sie schon zugemacht. Und Papa, -- ich weiß nicht, was
Papa thut, aber ganz bestimmt thut er ihr weh. Sie darf aber nicht
sterben! Vorhin war sie ja noch so vergnügt und raschelte mit mir durch
die Blätter im Garten!«

Klare-Bel war nach diesem Bericht nicht weniger erschrocken als er
selbst, und mit ängstlicher Spannung warteten sie darauf, ob Erik nicht
bald herunterkäme. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis er kam.

»Um Gottes willen, was ist denn mit Ruth geschehen?« rief sie ihm in
großer Unruhe entgegen.

»Sei nur ruhig; es war eine Ohnmacht,« versetzte Erik und gab Jonas
einen Wink, hinauszugehen. Dann trat er an seine Frau heran und sagte:
»Ich mußte Ruth eine Mitteilung machen, auf die sie nicht genügend
vorbereitet war. Jetzt mußt auch du es erfahren: Ruth geht schon in
diesen Tagen fort. Nach Heidelberg, zu Römer ins Haus.«

Klare-Bel erhob sich ein wenig auf ihren Kissen und sah ihn voll tiefen
Staunens an.

»Ist das dein Ernst? Du gibst Ruth aus der Hand? Aber was willst du
denn ohne Ruth machen? Kannst du sie denn entbehren?«

»Das muß ich doch können, Bel.«

Im beginnenden Zwielicht vermochte sie nicht seine Züge genau zu
erforschen. Aber dieselben kamen ihr vor wie aus Stein gehauen. Und
diesen Ausdruck kannte sie.

»Erik!« sagte sie ängstlich, »thu nur nichts so gewaltsam. Du siehst
ja, daß es sie krank macht. -- Warum siehst du so hart aus, Erik?«

»Hart?« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn; »für mein Aussehen
kann ich nicht. Aber ängstige dich um nichts. Ruth wird morgen gesund
sein, und auch gefaßt. Für ihre Haltung stehe ich ein. Aber sei gut und
freundlich zu ihr. Ich muß auf ein bis zwei Tage verreisen.«

»Verreisen? Du reisest fort, Erik? Wohin?«

»Nach Moskau.«

»Zu Frau Römer?« fragte sie lebhaft.

»Ja. Ihr soll Ruth sich anschließen. Und sie wird sich wahrscheinlich
hier nicht mehr aufhalten. Ich muß daher alles mit ihr verabreden und
besprechen. Mündlich.«

Klare-Bel schwieg. Es wurde dämmerig im Zimmer, und draußen im Flurraum
hörte man Jonas unruhig auf und ab gehen.

Da, ganz leise, fühlte Erik seine Hand von Klare-Bel erfaßt.

»Erik!« flüsterte sie, »-- laß mich dich bitten: lasse sie noch ein
Weilchen bei uns. -- -- -- Auch ich werde sie ja vermissen, Erik!«

»Du -- -- -- Bel?«

»Ja. Denn sie hat dich so glücklich gemacht.«

Er zog ihre Hand an sich, und an den Mund und küßte sie voll Scham und
Ehrfurcht.

»Ich danke dir für diese Bitte. Ich danke dir, Bel. Aber es kann nicht
sein.« --

Er zog sich zurück, um Ruths Onkel die definitive Entscheidung
mitzuteilen. Dann packte er eine Handtasche, und eine Stunde später war
er fort. Er reiste noch mit dem Nachtzuge nach Moskau ab.

In dieser Nacht lag Klare-Bel viel wach und dachte an Ruth und an Erik.
Sie hatte bestimmt geglaubt, Ruth werde bis zum Spätherbst bei ihnen
im Haus und dann, vom Hause ihres Onkels aus, nach wie vor in engster
Verbindung mit ihnen bleiben. Wie oft hatten sie darüber gescherzt, ob
sie dann, später, mit Jonas zusammen auf die Universität abgehen solle?
Erik hatte kein Wort davon gesagt, daß seine Absichten wohl von Anfang
an andre waren. Ganz plötzlich kam er jetzt mit ihnen heraus.

Aber Klare-Bel fiel es gewiß nicht ein, Kritik an dieser Handlungsweise
zu üben. Da er es so wollte, mußte es so wohl gut sein. Gut für Ruth.
Er liebte sie so sehr, er konnte nur ihr Bestes dabei im Auge haben.
Auch dabei, daß es so unerwartet über sie kam.

Aber gern wäre sie jetzt zu Ruth hinaufgegangen und hatte sie
geliebkost und getröstet. Sie nahm sich vor, es den nächsten Tag zu
thun. Zum erstenmal fühlte sie eine echt mütterliche Zärtlichkeit für
Ruth, -- nicht nur das indirekte Interesse, das durch Erik hindurchging
und alles auf ihn bezog. --

Der Morgen war herbstlich und grau, die Terrasse noch feucht von
den kalten Nebeln der Nacht. Man mußte das Frühstück im Wohnzimmer
einnehmen. Ruth fand sich zur gewöhnlichen Zeit dort ein; sie war blaß
und ernst, aber gesund, wie Erik es gesagt hatte, und ganz gefaßt und
still.

Als sie, noch vor Jonas, hereinkam, streckte Klare-Bel ihr die Arme
entgegen: »Komm zu mir,« sagte sie liebevoll, »sei nicht traurig, denke
nicht an die Abreise. Noch bist du hier!«

Ruth sah auf, ohne daß sich eine Miene in ihrem stillen Gesicht
verändert hätte, und schüttelte den Kopf.

»Ich bin schon fort!« entgegnete sie.

Diese Antwort ergriff Klare-Bel sehr. Ihr schien, es lag etwas
Schmerzlicheres darin, als in Klagen und Thränen, -- etwas, das die
bloße Ankündigung der Trennung schon mit ganzer Wucht als Trennung
empfand und nicht mehr davon los konnte.

Sie fühlte heißes Mitleid in sich aufsteigen. Und jetzt kam Erik ihr
doch hart vor. Wie konnte er nur wollen, daß Ruth so von Haus zu Haus,
von Hand zu Hand ging. Unwillkürlich suchte sie nach Worten, die
wahrhaft trösten könnten. Gab es keine solchen? In ihrer Ratlosigkeit
griff sie nach dem Höchsten, das sie gekannt hatte.

»Wir wissen alle nicht, wo wir bleiben, und was mit uns geschieht,«
sagte sie zögernd, »wir wissen es nie. Es steht in Gottes Hand.
Aber wir sind auch nie allein, wo wir auch hingehen. Gott ist
allgegenwärtig.«

Ruth lächelte flüchtig.

»Ja,« versetzte sie traurig, »was kann es helfen, daß Gott
allgegenwärtig ist, wenn die Menschen es doch nicht sind? die Menschen,
von denen wir fortgehen.«

Klare-Bel schwieg peinlich berührt. Sie gab es auf, Ruth trösten zu
wollen. Wenn diese so etwas sagte, klang es kindisch und vermessen
zugleich. Wer mochte darauf antworten?

Ueber Eriks Abwesenheit äußerte Ruth kein Wort; obgleich er ihr nicht
davon gesprochen hatte, wunderte sie sich doch nicht darüber, ihn nicht
zu sehen. Es mußte wohl so sein: war doch alles in Auflösung begriffen.

Jonas erfuhr nichts von der bevorstehenden Trennung. Niemand teilte es
ihm mit. Er hörte nur, daß Ruth wieder gesund sei, aber das glaubte er
nicht. Wie konnte sie gesund sein, wenn sie doch so ganz verwandelt war
seit gestern. Und nicht nur Ruth, alles schien ihm wie verwandelt.

Gern hätte er sie gebeten, ihm zu sagen, was gestern geschehen sei,
aber sie ging den ganzen Tag mit so in sich gekehrtem, fremdem Blick an
ihm vorbei, daß er es nicht herausbrachte. So begnügte er sich damit,
so oft er nur konnte, neben ihr zu sitzen, den Arm um ihre Stuhllehne
gelegt, und von Zeit zu Zeit behutsam und zärtlich ihre Hand zu
streicheln. Manchmal duckte er sich auch und küßte ihre Hand, ohne daß
Ruth es beachtete.

Daß Erik nicht zu Hause war, verstärkte in Jonas noch die Empfindung,
daß er über Ruth zu wachen habe, wie ein getreuer Wächter. Am liebsten
hätte er sie mit Leib und Leben verteidigt, aus Todesgefahr errettet,
-- wenn er nur gewußt hätte, wovor und vor wem.

Spät abends, als sie längst in ihre kleine Stube hinaufgestiegen war,
patrouillierte Jonas noch unermüdlich im Garten vor ihrem Fenster auf
und ab, und es that ihm leid, daß so absolut nichts passieren wollte.
Endlich verfügte er sich mit einem krampfhaften Gähnen in sein Bett,
aber er schlief unruhig und erwachte bald wieder.

Da sah er deutlich im Garten vor der Terrasse Ruths Fensterkreuz auf
einem hellen Lichtfleck abgezeichnet: bei ihr mußte jetzt, gegen
Morgengrauen, noch Licht brennen.

War sie krank? unglücklich?

Er hielt es im Bett nicht aus. Im Nu war er in seinen Kleidern und
kletterte geräuschlos aus dem Fenster. Vor der Terrasse stand die alte
Ulme; sie besaß einen bequemen Sattel, von dem aus zwei mächtige Aeste
sich gabelten. Wie eine Katze glitt Jonas am bemoosten, von den starken
Niederschlägen der Nacht schlüpfrig gewordenen Stamm hinauf.

Verlangend blickte er in den gelblichen Kerzenschein, der aus der
Giebelstube fiel.

Ruth saß auf dem Bett. Vollständig angekleidet, so wie sie
hinaufgestiegen war, saß sie noch da; die Arme vor sich hingestreckt,
die Hände auf den Knieen gefaltet, kehrte sie Jonas fast voll ihr
Gesicht zu. Den Kopf ein wenig erhoben, schaute sie weit hinweg über
die dunkeln Wipfel des Gartens.

Sie schaute so geheimnisvoll, wie in eine unendliche, verklärte Ferne.
Und um die festgeschlossenen Lippen lag ein stiller Ausdruck, -- lag
Ergebung.

Jonas starrte auf sie hin mit weitgeöffneten Augen. Er war so im Bann
des ~einen~ Bildes, daß er gar nicht mit Bewußtsein wahrnahm, was das
flackernde Licht auf dem Tisch sonst noch beleuchtete. Er sah nicht,
daß der Tisch selbst abgeräumt war, die Stühle zusammengeschoben, --
nicht, daß auf ihnen ein offener, halbgefüllter Koffer stand, und daß
die Wände, ohne den Schmuck seiner Bleistiftsskizzen, kahl und leer auf
Ruth niederblickten.

Er sah nur sie, seine lustige Ruth, wie in dem Bilde einer betenden
Heiligen, und alles, was in dem gestrigen Erlebnis seine schwerfällige
Knabenphantasie in mächtige Schwingungen versetzt hatte, gewann erneute
Gewalt über ihn. Ruth selbst wurde zu etwas Geheimnisvollem und
Leidendem für ihn; aus der fröhlichen Spielgefährtin zu einem Wesen,
das seine Schwärmerei wachrief.

In Gedanken hörte er wieder den leisen Klagelaut von gestern; er sah
sie auf dem Bett daliegen, den Vater über sie gebeugt, -- und sein Herz
schlug beklommen. Er vermochte die Augen nicht vom Fenster abzuwenden.

Die Nacht war kalt; vom Rasen unter ihm stieg der Nebel auf. Schmal und
blaß hing die kleine Mondsichel am östlichen Himmel, und aus dem Gehölz
klang verschlafen ein Rabenkrächzen.

Jonas fror; er schob die Hände unter seine dünne Sommerjacke und
drückte sich dichter gegen die breiten Aeste, deren Feuchtigkeit ihn
allmählich durchdrang. Dabei fiel ihm der eine seiner roten Pantoffeln
klatschend aus die Terrasse nieder.

Er zog den nackten Fuß unter sich und überlegte ärgerlich, ob er
hinuntersteigen solle, den verlorenen Schuh zu holen. Da bewegte Ruth
sich. Das Geräusch draußen hatte sie aus ihrer Traumversunkenheit
geweckt.

Sie stand langsam auf und löste ihre Bluse von den Schultern.

Ein Arm hob sich heraus und, unter dem von keinem Schnürleib bedeckten
Hemde, die zarte Wölbung der Brust.

Einen Augenblick stand sie mit gesenktem Kopfe still. Dann hob sie die
entblößten Arme hoch über sich, stürzte vor ihrem Bett auf die Kniee
und warf sich mit ausgebreiteten Armen darüber hin, den Oberkörper
langgestreckt, in den Kissen vergraben. So blieb sie regungslos liegen.

Jonas verharrte unbeweglich und hielt den Atem an. Er hatte den Schuh,
er hatte die Kälte vergessen.

Vor seinen Augen flimmerte es.

Weit vorgebeugt, die Finger hineingekrallt in die belaubten Zweige, um
nicht zu fallen, starrte er mit klopfenden Schläfen nach dem Bett.

Ueber ihm glomm langsam der Morgen herauf. --

                   *       *       *       *       *

Als Gonne früh morgens, beim Fegen der Terrasse, den Pantoffel auflas,
war Jonas längst frostbebend in sein Bett gehinkt, halb bewußtlos
vor Kälte und Erregung. Er gab sich den nächsten Tag große Mühe, ein
starkes Unwohlsein zu verbergen, konnte aber vor Heiserkeit kaum
sprechen, und seine Augen glänzten im Fieber. Auf Klare-Bels besorgtes
Drängen und Fragen bekannte er, die Nacht im Garten gesessen zu haben.

Nach dem Essen warf er sich angekleidet auf sein Bett.

Um diese Zeit kehrte Erik nach Hause zurück. Klare-Bel erwartete ihn
erst mit Einbruch der Nacht. Aber er hatte auch von Moskau den Nachtzug
benutzt.

Ruth stand in seinem Arbeitszimmer, bemüht, ihre Papiere und Hefte
unter den seinen herauszusuchen, um sie einzupacken. Was war nun
seines, -- was ihres? Der ganze Inhalt ihrer Studien in Niederschriften
von seiner Hand, -- der ganze Inhalt seiner Pläne und Arbeiten für den
Winter, seiner Gedanken und Vorträge wiedergegeben, niedergeschrieben
von ihrer Hand.

Da vernahm sie unerwartet im Flur einen raschen, festen Schritt.

Die Thür von Eriks Zimmer in den Flur flog auf, und Ruth an seine
Brust.

Sie hatte über Zweck und Dauer seiner Reise nicht nachgedacht. Von der
einen Gewißheit hypnotisiert, daß sie fort mußte, nahm sie alles passiv
hin.

Um so mächtiger jedoch wirkte der plötzliche Anblick Eriks jetzt auf
sie. In diesem einen Augenblick vergaß sie alles, -- in diesem einen
Augenblick siegte die Gewalt der Gegenwart über jeden Kummer, der
bevorstand, -- leugnete ihn, vernichtete ihn, -- in diesem Augenblick
wurde alles, -- alles gut.

Sie vermochte nichts zu denken, als daß er da war. Und daß sie bei ihm
war.

Fest, -- fest schlangen sich ihre Arme um seinen Nacken, fest barg sich
an seiner Schulter ihr Gesicht.

So stehen bleiben, -- für immer so stehen bleiben, festgewurzelt für
immer an dieser Stelle, hineingeschmiegt in die weiten, weichen Falten
des geöffneten Reisemantels, -- nichts fühlen, nichts vernehmen, als
den starken, dumpfen Herzschlag, der ihr entgegenpochte, -- für das
ganze Leben nichts -- nichts mehr.

Sie wechselten kein Wort.

Aus Eriks Hand war die Reisetasche auf den Boden geglitten; stumm hielt
er Ruth an der Brust, schwer atmend und den Kopf niedergebeugt auf ihr
Haar.

Und plötzlich gruben sich seine Hände hart in ihre Schultern, um ihre
Hüften, und umschlossen sie mit so gewaltthätigem Griff, daß es wie
Schmerz und Ersticken über sie kam, -- als müsse er sie nun zerbrechen.
Zerbrechen unter seinen Händen und an seiner Brust, -- sterben, --
nicht fortgehen, -- dachte sie, und es überflutete sie mit einem
jauchzenden Glücksgefühl, wie sie es nie gekannt.

Erik sah sie lächeln.

Er verlor die Besinnung.

»Wahnsinn!« schoß es ihm wie Feuer durch den Kopf, »Wahnsinn! Wahnsinn,
sich zu lassen, wenn man sich liebt.«

Eine Sekunde lang, -- dann ließ er sie so jäh los, daß sie
zurücktaumelte. --

»Erik!« rief Klare-Bels Stimme durch das Nebenzimmer, »Erik, bist du
wieder da?«

Er hing den Mantel an den Ständer, dann öffnete er die Thür zu der
Wohnstube, in der sie lag.

»Denke nur, Erik, Jonas ist inzwischen krank geworden, -- so schwer
erkältet, -- hoffentlich ist es nicht schlimm. Er hat -- -- aber was
ist dir?«

Er stand da wie ein Betäubter, das Blut in den Augen.

»Nichts. Ein Schwindel,« murmelte er, setzte sich an den Tisch und
stützte den Kopf auf die Handflächen.

»Das ist diese übertriebene Eile!« klagte sie besorgt, »-- daß es mit
solcher Windeseile vor sich gehen soll. Wann ist es denn nun, daß sie
reist, Erik?«

»Morgen, -- um Mittag,« sagte er leise.

»Mein Gott, so schnell ist es aber doch rein unmöglich! Denke doch nur,
was es für eine solche Abreise alles zu ordnen und zu überlegen gibt.
Ruth braucht doch gewiß noch manches, was für sie beschafft werden
muß.«

»Es kann alles in Heidelberg beschafft werden.«

»Nun ja, Erik. Aber wenn du wüßtest, wie tief es ihr geht. Wie blaß und
elend sie ausgesehen hat, gestern und heute. Sie ist doch nur zart.«

»Hör auf!« sagte er zwischen den Zähnen.

»Ach, Erik, ich widerspreche dir ja nicht! Das thue ich ja niemals! Sie
thut mir nur so leid. So allein ist sie, und so liebebedürftig. Und
nun: von Haus zu Haus, von Hand zu Hand. Und wenn sie nun erkrankt, --«

»Hör auf!« unterbrach er sie außer sich und sprang auf, und warf den
Stuhl zurück, daß er zu Boden schmetterte, »hör auf, Bel! Es ist genug!
Ich will es so!«

Damit verließ er das Zimmer.

Mit erschrockenen Augen sah sie ihm nach. Erik war fast immer sanft
gegen sie, obschon -- oder vielleicht weil -- ihr Wille gegen den
seinen nie recht in Betracht kam. In so heftigem Ausbruch hatte sie ihn
lange nicht mehr gesehen, -- wohl seit ihrem Krankenlager nicht mehr.
Kranke sind gute Lehrmeister!

Nur in den ersten Jahren ihrer Ehe. Da war ihm der rasche Zorn noch
nicht verraucht, da ward er leicht heftig, wenn seine Frau nicht ganz
dem entsprach, was er erwartet, was er mit ihr gewollt hatte.

Seltsam: damals erschreckte es sie nicht, -- nein, mehr noch, so
wunderlich es auch sein mochte: sie liebte diesen Zorn. So deutlich
fühlte sie, daß Eriks Liebe damit verknüpft war. Gegen einen ihm
gleichgültigen Menschen konnte er nie heftig werden. Mit dem Interesse
an einem Menschen wuchs in dieser herrischen Natur das Verlangen, ihn
zu formen, zu gestalten, nach seinem Willen umzuprägen. Liebe und Härte
fielen zusammen.

Klare-Bel hatte ein russisches Geschichtenbuch gesehen, da befanden
sich auf dem dazu gehörigen Titelbilde zwei Bauersfrauen: die eine,
im roten Sarafan, auf die ihr Eheliebster mit einem Weidenprügel
dreinschlug, lachte über das ganze Gesicht; die zweite, im blauen
Sarafan, saß daneben am Weg auf einem Stein, sah neidisch zu und weinte
sich die Augen aus, indes ihr Liebster mit einer andern spazieren ging.

Das war gewiß eine dumme Geschichte. Aber diese beiden Bauersfrauen
konnte Klare-Bel gut verstehen.

Niemals sollte sein Zorn sie schrecken: nur, daß er mit seinem Zorn
seiner Liebe vergäße. --

Der Tag schlich langsam zu Ende. Es war so still im Hause, als ob
keiner darin anwesend sei. Erik hatte lange bei Jonas gesessen,
ihn genau angesehen, alles Notwendige veranlaßt und den heftig
Widerstrebenden gezwungen, sich ganz zu Bett zu legen. Es handelte sich
um eine starke Halsentzündung mit beträchtlichem Fieber.

Ruth stand auf dem Flur, gegen das Treppengeländer gelehnt. Sie wußte
selbst nicht, warum sie dort stand. Wahrscheinlich weil alle Thüren
sich in den Flur öffneten. Und aus einer der Thüren mußte doch endlich
Erik kommen. Und wenn er kam, mußte er doch zu ihr treten. Sich nach
ihr umwenden. Er mußte doch einsehen, daß es unmöglich war, so fremd
aneinander vorüberzugehen, wie er es heute abend that.

Sie wollte so wenig: nur seinen Blick auf sich gerichtet sehen wollte
sie, -- nur seine Hand fühlen, einen Augenblick lang.

Seitdem Erik sie an sich gerissen, und von sich gestoßen hatte, war
eine ratlose Verzweiflung über Ruth gekommen. Die äußere Trennung,
die nahm sie ja hin, wie etwas Furchtbares, aber Unabwendbares, weil
er es so forderte. Aber daß er sie ganz plötzlich auch innerlich von
sich losriß, das konnte sie nicht ertragen. Ihn den Blick absichtlich
fortwenden zu sehen, -- ohne ein Wort der Liebe für sie, ihn wie einen
Fremden dastehen zu sehen, -- das konnte sie ganz gewiß nicht ertragen.

Zur Schlafenszeit trat Erik aus dem Wohnzimmer heraus. Als er Ruth an
der Treppe bemerkte, sagte er ihr gute Nacht. Sie machte eine Bewegung
auf ihn zu, ihre Augen schauten dunkel und vorwurfsvoll zu ihm auf.
Aber er sah ihr nicht in die Augen. Er gab ihr nur flüchtig die Hand.
Dann ging er an ihr vorüber, zu Jonas hinein.

Bald darauf siegte die Uebermüdung über ihn; wider Erwarten fiel er in
einen schweren Schlummer. Aber aufregende und häßliche Träume erfüllten
seinen Schlaf, furchtbare Träume, die seinen Körper mit kaltem Schweiß
bedeckten.

Er sah Ruth vor sich, gealtert, verwelkt, mit gefurchten Zügen und
gekniffenen Lippen, mit Lippen, wie sie eine leere, liebeleere
Jugend gibt; er sah sie in einem lächerlichen Bilde, wie in einer
Theaterposse, als tugendsame hysterische alte Jungfer, mit der
unerfüllten Sehnsucht nach Zärtlichkeit im erloschenen Blick. Und da,
als er in der Angst des Traumes gewaltsam seine Augen von der Fratze
wandte, -- fort, einem andern Ruthbilde zu, -- da wandelte es sich vor
ihm -- zu nackter, entblößter Schönheit. Nackt sah er Ruth, -- und
schamlos, fremden Männern preisgegeben, -- einen weißen Körper, der
nicht der ihre war, ein lachendes Antlitz, das nicht das ihre war, --
und doch wußte er: es sei Ruth.

Er erwachte mit einem stöhnenden Laut. Und noch aus dem Traume heraus
hörte er küssen und lachen.

Aber das leise Stöhnen wiederholte sich, als habe es ein Echo an den
Wänden des Zimmers gefunden, und ein unterdrücktes Weinen schlug an
Eriks Ohr.

Er richtete sich auf und lauschte.

Das Weinen kam aus Jonas' Bett, welches neben der offenen
Verbindungsthür beider Stuben stand. Man konnte deutlich hören, wie er
es in den Kissen zu ersticken suchte.

Erik ermunterte sich völlig. Er machte Licht und näherte sich Jonas'
Bett. Als dieser ihn kommen hörte, verkroch er sich nur tiefer in seine
Decken.

»Hast du Schmerzen?« hörte er den Vater fragen, »bist du kränker
geworden?«

»Ich bin nicht krank!« murmelte Jonas, »es ist unnütz, mich mit Gewalt
im Bette zu halten. Ich weiß doch alles! Ich weiß jetzt alles! Es hat
nichts genützt, es vor mir zu verheimlichen! Und was ich noch nicht
wußte, habe ich gehört! Ich habe gehorcht und habe es gehört!«

Erik schwieg einen Augenblick betroffen.

»Du sprichst im Fieber,« sagte er dann, »was weißt du denn, was hast du
gehört?«

»Daß sie fortgeht! Daß sie morgen fortgeht!«

Und er wühlte sich schluchzend in seine Kissen.

Erik tastete nach seinem Gesicht und legte ihm die Hand besorgt an die
trocken brennende Stirn. Aber Jonas stieß seine Hand zurück.

»Nein!« sagte er fast keuchend, -- »du willst es ja, -- du bist
es ja -- schuld, daß sie fortgeht. Vor dir schützen muß ich Ruth,
-- schützen, denn was weißt du, -- wie ihr zu Mute ist. Du weißt
nicht, hast nicht gesehen, -- wie sie daliegt die Nächte, -- halb
ausgekleidet, an ihrem Bett, -- wie gestern.«

Erik preßte die fieberglühende Hand in der seinen zusammen, so
daß Jonas die Zähne mit Gewalt aufeinanderbiß, um den Schmerz zu
beherrschen.

»Was hast du -- gestern -- gesehen?« fragte Erik mit heiserer Stimme.

Jonas setzte sich auf.

»Sie kniete vor ihrem Bett,« sagte er traurig, »vielleicht weinte sie,
-- oder betete, -- so geheimnisvolle Augen hatte sie, -- und ich habe
mit ihr gewacht, -- ganze Nacht, heimlich, oben, in der alten Ulme vor
der Terrasse.«

Erik sprach kein Wort.

Aber nach einer langen Pause hob er die Hand, und leise strich er Jonas
über Stirn und Haar hin. Diesmal wurde die Hand nicht zurückgestoßen.
Die sanfte, liebkosende Bewegung des Vaters, der ihn so selten
liebkoste, empfand Jonas als ein wortloses Verstehen und Mitfühlen, das
ihn um die letzte Fassung brachte.

Und plötzlich warf er die Arme um den Nacken des Vaters. Und wie ein
unaufhaltsamer Strom, fieberheiß, halbverständlich, brachen die Worte
aus ihm hervor, überstürzten sich und verklangen in einem Stammeln:
»Papa, lieber Papa, hilf mir! Ich kann es nicht aushalten, daß sie
fortgeht! Ich war böse auf dich, -- nimm's nicht übel, -- hilf mir!
halte sie, Papa! sie bleibt da, wenn du es willst. Früher war ich mal
eifersüchtig auf Ruth, ich glaubte, daß du sie mehr liebst als mich.
Aber es schadet nichts, wie sehr du sie auch liebst, Papa! Denn ich
liebe sie ja auch viel mehr als dich! Mehr als dich! Mehr als alles auf
der Welt!«

Erik löste leise die Hände von seinem Nacken und hielt sie fest.

»Nimm dich zusammen!« sagte er halblaut, aber mit der eindringlichen
Stimme, der Jonas unbedingt zu folgen gewöhnt war, »du darfst nicht
hier liegen und dich so haltlos gehen lassen. Selbst nicht im Fieber.
Nimm dich zusammen.«

Fast mechanisch versuchte Jonas zu gehorchen. Er atmete mühsam.

Erik hatte sich auf die Kante des Bettes gesetzt, ohne seine Hände los
zu lassen.

»Lege dich nieder. Ganz ruhig. Unterdrücke die Unruhe. Komm, mein
Junge! strammer! Und nun höre mich: ich will dir helfen, wenn du
mir folgst, aber anders als du denkst. Von Ruth mußt du dich jetzt
trennen. Wir alle müssen es. Denn morgen schon reist sie fort, und bis
dahin wirst du nicht aufstehen dürfen.«

Jonas fuhr empor.

»Papa! das muß ich! ich springe aus dem Bett! Ihr haltet mich nicht!
Ich muß Ruth küssen, -- ich muß sie küssen, -- wenn sie geht!«

»Mit einem kranken, entzündeten Hals und Fieber wirst du Ruth nicht
küssen wollen, hoffe ich,« unterbrach ihn Erik in einem Ton, der jede
Widerrede abschnitt; »und du wirst es nicht nur unterlassen, sondern
auch alles thun, was ich von dir verlange. Dich vollkommen beherrschen,
wenn sie von dir Abschied nimmt. Mit keinem Wort, keiner Heftigkeit,
keinem einzigen klagenden Ton es ihr noch erschweren. Alle Aufregung
mit festem Willen niederzwingen. Das alles wirst du thun. Ich muß mich
unbedingt auf dich verlassen können, wenn ich sie zu dir hereinführen
soll. -- Kann ich es?«

»Ja!« stieß Jonas hervor, während ihm die Lippen noch zitterten. Er
konnte nicht an gegen diesen Willen, der den seinen in Bann hielt.

»Gut. Und nun will ich dir einen helfenden Trost geben für deinen
ersten großen Schmerz,« sagte Erik mit so weicher Stimme, daß es Jonas
war, als spräche er mit den Lauten seiner Mutter zu ihm, »wenn Ruth von
dir gegangen ist, blicke nicht zurück auf sie, sondern vorwärts in dein
Leben; sorge dafür, daß du dich tüchtig entwickelst, arbeite daran,
daß du bald ein ganzer Mann wirst, -- damit du ihr einst ein ganzer
Freund sein kannst, wenn sie deiner bedarf. So kommst du, in allem was
du thust, zu ihr zurück, -- ihr nahe. Dulde es nicht, daß sie dich so
ganz überflügelt und dich einst weit -- weit hinter sich zurückläßt!
Jetzt kannst du zeigen, was du wert bist, -- und ob du's wert warst,
Ruth gehabt zu haben.«

Jonas lag ganz still und lauschte.

»Ja!« sagte er begeistert, »das will ich! ach, Papa, das will ich!«

Und er hob den Kopf und küßte den Vater. Erik hielt seinen Kopf einen
Augenblick lang an sich.

»Wir werden ~nie mehr~ hiervon miteinander sprechen,« sagte er leise,
-- »nie mehr. Aber vergiß es nicht. Zwinge deine Gedanken auf die
Arbeit, auf das, was vor dir liegt. Suche dich mit mehr Festigkeit zu
beherrschen. Ich werde darauf achten und dir nichts durchgehen lassen.
Streng mit dir sein müssen, mein Junge. Mache es mir nicht schwer.«

»Papa,« versetzte Jonas so zutraulich, wie er sonst nur mit Klare-Bel
zu sprechen verstand, »ich will mich nie wieder vor dir fürchten. Sei
so streng du willst gegen mich. Du hilfst mir ja damit, nicht wahr?
Tüchtig zu werden. So fest und tüchtig wie kein andrer. Ausstechen muß
ich jeden andern! Hilf mir schnell, ein ganzer Mann zu werden! -- Ein
Mann für -- für -- ich meine: ein Freund für Ruth.«

Am liebsten hätte er sich im Bett aufgesetzt und geplaudert; Erik mußte
ihm das Sprechen verbieten und das Zimmer verlassen. Nun schwieg er; er
lag zufrieden im Bett und dachte angestrengt an die Zukunft.

Erik war außer stande, sich wieder schlafen zu legen; er kleidete sich
vollständig an. Er fühlte sich frei; wie erfrischt von einem langen,
gesunden Schlaf, wie gekühlt und gestählt durch ein erquickendes Bad.
Die ganze schwüle Beklommenheit vom Nachmittag und Abend, die noch auf
seinen Träumen gelastet hatte, war verflogen. In der Einwirkung auf
einen andern, dessen Unruhe er bezwang, dessen innerste, widerstrebende
Gedanken er bestimmte, -- im kurzen Kampf mit dem Knaben, der zugleich
sich gegen ihn auflehnte und ihm vertraute, hatte er sich selbst
zurückgefunden. Seine Kraft geweckt und gesammelt. Er wußte recht
wohl, wie es damit stand: wenn er sich am schwächsten fühlte, dann
erstarkte er an der Kunst, andre in überlegener Behandlung zur Stärke
zu veranlassen; an der gehobenen und mutigen Stimmung, die er von ihnen
forderte und in ihnen hervorrief, -- an seinen eigenen überzeugten,
überredenden Worten kletterte er selbst zu neuem Mute, neuer Zuversicht
empor, wie an einer langen Leiter, die sich manchmal mitten aus seiner
eigenen Verzagtheit erhob, aber bis ans Unbegrenzte zu reichen schien,
-- bis an ein unbegrenztes Selbstvertrauen.

Viele tausend solcher Leitern, festgehalten von den Händen einer
Menschenmenge, die ihn umdrängte, die an ihn glaubte, die auf ihn
angewiesen war, -- und er hätte einen Himmel auf Erden erstiegen.

Nur kein Zusammenbrechen der festesten dieser Stützen! denn Stützen
waren es, -- wie sehr auch er selbst als der Stützende dabei erschien.
Niemand ist absolut stark.

Erik wußte recht wohl, wo seine Gefahr lag, wo auch in ihm der
Schwächling steckte: da, wo er sich allein überlassen blieb.

Draußen herrschte noch dunkle Nacht. Es schlug drei Uhr.

Erik litt es nicht im engen, warmen Zimmer. Er öffnete leise die
Hausthür und trat hinaus.

Die Finsternis war so dicht, daß er nur langsam der Tiefe des Gartens
zugehen konnte. Er empfand den aufsteigenden Nebel, ohne ihn zu sehen.
Das knisternde Rauschen der Birkenwipfel belehrte ihn über die Nähe des
kleinen Gehölzes. Darüber glänzte am verhängten Himmel hie und da ein
verlorener Stern. Das letzte Mondviertel, der schmale, blasse Vorläufer
der Morgenröte, war noch nicht sichtbar.

Unweit der Bänke am Gehölz blieb Erik lauschend stehen. Er vernahm
absolut nichts als das leise Rauschen der Blätter. Aber er fühlte, daß
er nicht allein sei.

»Ruth!« murmelte er unwillkürlich.

»Ja! was soll ich?« fragte sie schüchtern.

Mit einem Schritt stand er neben der Bank; er tastete nach ihr.

»Was du sollst?! Im Bett sein!«

Er riß seine Joppe von den Schultern und warf sie ihr um.

»Was thust du hier mitten in der Nacht? Weißt du nicht, daß Jonas sich
in dieser gefährlichen, kalten Feuchtigkeit das Fieber geholt hat?«

»Ja, ich weiß es. Aber mir schadet das nichts,« versetzte sie zaghaft,
»das Fieber thut so gut; ich kenne es gut: da liegt man im Traum und
hört auf zu denken. Und da dachte ich, ich könnte es auch so gut
haben.«

Jetzt fühlte sie seine Hand, die sich fest um ihr Handgelenk legte.

»Was sagst du da?« fragte er ganz langsam, »du ~suchtest~ das Fieber?«

»Nein! nein!« rief sie flehentlich, »ich will es ja nur ein wenig, --
ein klein wenig nur, -- nicht so, daß es die Abreise hindern sollte!
Ganz gewiß nicht!«

Ein Laut brach von seinen Lippen, wie wenn er verwundet würde. Sie
konnte hören, wie seine Zähne leise übereinanderknirschten.

Er beugte sich über sie.

»Und das -- das glaubtest du zu dürfen,« sagte er matt.

»Ja, ich durfte es; denn ich will ja thun, was ich versprochen habe.
Bin nicht ungehorsam. Nur so ganz allein bin ich. Niemand, der nur ein
bißchen hilft. Da sollte das Fieber mir helfen. Ich darf thun, was ich
will, -- wenn es nichts aufschiebt,« versetzte sie finster.

»So. Und wenn du nur rechtzeitig fortgekommen bist, meinst du, --
dann könntest du thun, was du willst? Auch vielleicht dich irgendwo
hinsetzen und krank werden, wenn dir das ›hilft‹? Du irrst dich, mein
Kind. Ich lasse dich nicht los, indem ich dich fortlasse. Und aus der
Ferne sollst du mir doppelt gehorchen. Dein Versprechen geht auf dein
ganzes Leben. Du bist mein. -- Bist du es?«

»Ja!« rief sie inbrünstig.

»Steh auf und geh hinauf.«

»Ich kann es nicht so, -- ich muß erst wissen, -- wann reise ich?«

»Ich werde es dir morgen sagen. Heute nacht nicht. Du sollst dich
hinlegen und zu schlafen versuchen. An nichts denken als daran, daß du
schlafen sollst. Wirst du es?«

Sie war schon aufgestanden.

»Ja!« murmelte sie, »morgen! Ich muß morgen fragen, was ich will.«

»Das sollst du.«

Er gab ihr die Hand.

»Geh voraus. Gehe nur. Ich folge schon. Warte im Hause nicht auf mich.«

»Gute Nacht!« sagte sie gehorsam und ging.

»Mein Liebling! gute Nacht!« rief er ihr nach.

Und im Klang seiner Stimme lagen alle die Liebkosungen, nach denen sie
den ganzen Tag, die ganze Nacht gehungert hatte.

»Verzeih mir! Liebling,« sagte er reuig vor sich hin, während er ihr
langsam folgte. Allein gelassen hatte er sie, allein stehen lassen in
dem Augenblick, wo sie seine ganze Kraft und Liebe erwartete und ihrer
bedurfte. Weil er sich selbst nicht traute, nicht vertraute, -- aus
Furcht vor seinen Sinnen, -- und vor diesem unwissenden Kindersinn, der
ihm mit einem Lächeln entgegenkam.

Das war feige gewesen. Nicht durfte er aus solchen feigen Gründen in
letzter Stunde seine Hand zurückziehen, nach der sie sehnsüchtig und
gläubig griff, als nach der Hand des einzigen Menschen, den für sie
die Erde trug. Nicht überlegen, nicht geizen, nicht einschränken das,
was er ihr gab, und wonach es sie mit einer Inbrunst verlangte, -- mit
einer Zärtlichkeit, wie sie auf der ganzen Welt nur das einsame, das
nie geliebkoste Kind kennt.

Aus einer unendlichen Fülle heraus sollte noch einmal seine Liebe sie
umhüllen, sie umgeben, weich und schützend wie Mutterliebe, -- aus
einer so reichen, so kraftsichern Fülle heraus, daß er sich aller
Bedenken entschlagen konnte, -- daß er sein Liebstes nur noch wie auf
starken Armen hob und trug, -- es einem schlummernden Kinde gleich in
einem letzten Traum hinübertrug in die fremde, die kältere Welt. --

Der Hausflur war schwach erhellt von dem Licht, das an der offenen Thür
zu Eriks Zimmer stand. Ruth hing die Joppe über den Thürgriff, und ohne
sich nach Erik umzusehen stieg sie hinauf.

Er löschte das im Luftzuge flackernde, tropfende Licht und warf sich
ausgestreckt auf den Lederdiwan in seinem Arbeitszimmer, froh des
Dunkels, der Einsamkeit.

Seit der Stunde seiner Rückkunft gestern verlangte ihn unbewußt nach
dieser Stille und Einsamkeit.

In dem Augenblick, wo er gestern aus dem Flur zu seiner Frau
hineintrat, in dem Augenblick, wo Ruth an seiner Brust lag, und Bels
Stimme ihn rief, war etwas Sonderbares in ihm vorgegangen. Sie rief:
»Erik, bist du wieder da?« -- Aber ihn durchgellte es wie: »Erik, gehst
du fort von mir?«

Und als er sie wiedersah, sie daliegen sah in dem Zimmer, das er so gut
kannte, genau so wie zwei Tage vorher, da kam es ihm vor, als läge eine
lange, lange -- jahrelange Reise dazwischen, während der er seine Frau
nicht gesehen, nicht mit sich genommen, -- ja, vergessen hatte. Es war
fast wie ein Moment der Geistesstörung gewesen.

Und die Erregung, in der alle seine Nerven noch zitterten, ließ keine
Selbstbesinnung zu.

Aber jetzt -- jetzt stellte er sich wieder dahin, auf die nämliche
Stelle, Bel gegenüber und ihrer fragenden Stimme, und jetzt antwortete
er ihr: »Es ist eine lange, lange Reise gewesen. Ich ~habe~ dich nicht
wiedergesehen all diese Zeit hindurch, -- dahin nicht mehr gesehen, wo
du bist: dich vergessen.

Nicht zufällig, nicht unabsichtlich, nicht im Rausch des Augenblicks.
Nein, bewußt und gewollt. Mit allen Sinnen und Gedanken wollte ich nur
~einen~ Punkt vor Augen haben, ihn durchschauen, durchdringen, -- in
eine verhüllte Zukunft schauen und dringen. Unbeirrt von allem, was
hindert und bindet. Frei, wie einer, der alles hinter sich geworfen
hat, und dasteht wie ein Bettler oder wie ein König, wollte ich meine
Hände aufheben zu meinem Glück.

Dann -- einst -- ist es an der Zeit, zurückzukehren zu den Fragen und
Forderungen, den Pflichten und Fesseln des täglichen Lebens, um sich
mit ihnen auseinanderzusetzen. Zu dir zurückzukehren. Zum Kampf. Zum
Kampf um mein Glück.«

Erik hatte die letzten Worte fast laut gemurmelt: »Kampf -- -- --
Glück.«

Er öffnete, wie erwachend, die Augen.

Es war hell um ihn. Die Nacht vorbei. Glutrot stand der Himmel, wie in
Flammen.

Hinter dem Gehölz ging die Sonne auf. Purpurn, strahlenlos wie ein
ungeheurer Mond leuchtete sie durch den Morgennebel. Und purpurner
Glanz auf den Fenstern, auf dem Fußboden.

Noch war im Hause niemand zu hören. Nur die Schwarzdrosseln schwatzten
vor dem nahegelegenen Küchenfenster und unterhielten sich darüber, ob
Gonne ihnen wohl bald, beim Zubereiten des ersten Frühstücks, ein paar
Krumen zuwerfen werde?

Erik stand auf, stand still angesichts der Morgenherrlichkeit.

Er hatte Bel geliebt, -- so sehr, wie, nach seiner Meinung, der Mann
bisher das Weib überhaupt lieben kann: nicht nur mit der Habgier der
Sinne, nicht nur zu einem flüchtigen Liebesbündnis, das zufällig »Ehe«
hieß, sondern zu einem wirklichen Lebensbündnis, das kein Staat, kein
Priester, das nur der eigene, bewußte Wille besiegelt. Es war gewesen,
wie er damals, im scherzenden Gespräche über die Ehe, zu Warwara
gesagt: kein Pflichtbewußtsein, sondern das dauernde Glücksbewußtsein,
seinem Weibe, auch nach dem Schwinden der Sinnenliebe, alles in
allem zu sein. Daran hatten weder Krankenlager noch Altern, weder
Lebensenttäuschungen noch Liebesversuchungen jemals das Geringste zu
ändern vermocht.

Wenn er ihr je untreu geworden in einer heißen Aufwallung des
begehrlichen Blutes, -- oder auch in einem bittern Rückblick auf die
zerstörten, für sie hingegebenen Hoffnungen seiner Jugend, dann lehnte
er sich gegen sich selbst auf mit Kraft und Härte. Niemals hätte er es
doch zugegeben, daß irgend eine Gewalt stärker über ihn werden könne
als sein Wille, seine Bürgschaft.

Und nun, wenn er alles sammelte, was er an Scham und Selbstvertrauen,
an Stolz und Herzensgüte besaß, -- wenn er das alles sammelte und
zusammenraffte, war es nicht genug, um Bel, die Wehrlose, gegen einen
Kampf mit ihm zu schützen? Oder, wenn es denn in der Zukunft zu einem
solchen Kampfe kam, gab es in seinem vergangenen Leben nichts, was
stark genug, heilig genug, barmherzig genug war, um für Bel einzutreten
und gegen ihn selbst zu siegen?

Erik schaute geradeaus, hinein in das rote Flammenmeer am Himmel. Er
wollte, -- er mußte ehrlich sein.

Und er sagte sich: »Nein.« -- -- --

                   *       *       *       *       *

Auf der Terrasse wurde der Morgentisch gedeckt. Eriks Platz am Tisch
blieb aber heute leer. Ganz früh hatte er sich Thee auf sein Zimmer
bestellt, dann ging er zu Jonas hinein, um nach ihm zu sehen.

Gleich nach dem Frühstück ließ er Ruth zu sich bitten.

Als sie kam, streckte er die Hand nach ihr aus.

»Du schlechtes Mädel. Bist du gesund geblieben? Laß mich sehen.«

Sie nickte und trat zu ihm an den alten Ledersessel am Fenster.

Aufmerksam betrachtete er sie. Ihre Augen waren dunkel umschattet. Aber
sie blickten sicher, -- fest. Es fiel ihm auf. Sie blickten beinahe
kalt.

Er strich ihr das Haar aus dem blassen Gesicht zurück.

»Weißt du auch noch, daß hier dein alter Platz ist? Hier am Stuhl.
Wo du zuerst herkamst. Wir haben ihn wohl fast vergessen, draußen im
Garten und -- bei den andern. Monatelang. Aber der heutige Morgen
gehört uns allein. Uns zusammen. Und den wolltest du krank zubringen.«

Sie antwortete nicht.

Ganz leise nur beugte sie gegen ihn den Kopf vor, so daß seine Hand
durch die Haarwellen hindurchglitt, und schwieg still.

»Du bist ein dummes Kind,« sagte er, »sonst hättest du gewußt: wenn ich
etwas von dir verlange, so sollst du es klar und still thun. Niemals
in einem Fieberrausch. In keinem Sinn. Ich weiß, es ist tausendmal
schwerer. Aber niemals sollst du es dir erleichtern. Durch nichts. Nur
war ich dieses Mal selbst nicht ohne Schuld, Ruth. Ich selbst war wie
krank, -- nicht wie ich sein sollte. Siehst du, nun beichte ich es dir
auch. -- -- -- Ist es nun gut?«

Sie blickte ihn unverwandt an. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Eins fehlt noch,« sagte sie.

Ihm kam ein Lächeln.

»Noch etwas? Was denn, mein anspruchsvolles Fürstenkind?«

»Darf ich nicht anspruchsvoll sein?«

»Das darfst du. Halte deine Hände offen, Liebling, und laß dich
beschenken.«

Da glitt sie am Sessel nieder, auf ihren alten Platz zu seinen Knieen,
und hob ihr Gesicht auf zu ihm, -- Trotz in den Augen.

»Ich meine kein Geschenk. Ein Recht.«

Erik stutzte.

Er schaute forschend in ihre Augen, mit dem fest auf ihn gerichteten
rätselhaften Blick.

»Nimm dir dein Recht, Ruth,« sagte er einfach.

Sie flüsterte kaum hörbar: »Daß ich erfahre, ~warum~. Das plötzliche
Fortmüssen, -- -- -- ~warum~?«

Er legte ihr die Hand über die Augen.

Eine lange Pause entstand.

»Du hattest vorhin ganz recht: eins fehlt noch,« antwortete er dann,
»zwischen uns fehlt ~eins~. Weißt du, was es ist? Daß zwischen dir und
mir ein zu großes Stück Menschenleben liegt, -- daß wir im Alter so
weit voneinander entfernt sind. Denke nur: du und noch einmal du, das
gibt immer noch nicht: ich. Auf eine so große Entfernung hin ist es
bisweilen schwer, manches miteinander zu teilen, -- mitzuteilen. Aber
nun sieh das Wunder: dieser Mangel, diese Lücke und Leere zwischen
dir und mir, -- ~sie~ eint uns gerade. Nur sie macht, daß ich dich
leiten und dir befehlen kann. Sie macht, daß du da so vertrauensvoll
knieen kannst, wie eben jetzt, und mit deinen trotzigen Augen zu mir
aufschauen. Sie macht, daß ich den Weg besser kenne als du. Denn ich
habe den halben Weg schon zurückgelegt. -- Oder könntest du das missen?
möchtest du lieber, ich stände neben dir, von gleichem Wuchs wie du?
noch suchend, irrend, eines Wegweisers bedürftig, wie du?«

»Nein!« sagte sie lebhaft, »das wäre wie zwei Kinder im Walde.«

»Dann nimm es hin, daß ich dir nicht antworte.«

Sie erwiderte nichts, aber er fühlte, wie ihr Herz wild zu schlagen
begann. Sie gab nicht passiv nach, wie bis gestern noch. -- Sie war
gestern irre geworden. --

Mit letzter Kraft mochte sie sich gegen ihn zusammengerafft, --
sich eingeredet haben, ihm gegenüber noch Kraft zu besitzen:
Selbständigkeit. Im arglosen Schlummer erschüttert, mochten ihre
Gefühle in Gärung gekommen sein, -- mochte eine Welt von unverstandenen
Empfindungen in ihr ringen.

Die feine, ruhige, gerade Linie, in der sie sich vor Eriks Augen so
kindlich weiter entwickelt hatte, wurde ihm undeutlich, wurde unruhig,
-- sie schien sich zu biegen, -- eine Wendung zu machen: eine Wendung
zu ihm hin -- oder von ihm fort.

Ueber Erik kam eine Spannung, die alle seine seelischen Fähigkeiten
aufs äußerste schärfte, sein ganzes Wesen erwartungsvoll spannte, und
jegliche sinnliche Erregung vollkommen niederhielt.

Er legte seinen Arm um Ruth und bog mit der Hand ihren Kopf zurück.
Ihre Lippen zitterten.

»Sieh mir in die Augen, du Trotzkopf!« sagte er, »was hat sich da in
dir geregt? Brich den letzten Trotz, -- denn es war einer. Laß mich
ihn brechen. Es schadet nichts, wenn es einen Augenblick schmerzt. Gib
nach, laß es geschehen. Wirf dein Recht von dir, mache dich rechtlos.
Um Kinderrecht zu haben: um folgen zu dürfen, ohne zu fragen. Um zu
gehen, ohne ein Warum.«

»Wann -- gehen?« fragte sie undeutlich.

Er drückte ihren Kopf an sich.

»Heute,« sagte er mit bedeckter Stimme, »jetzt. Jetzt gleich. Nein,
nicht zusammenschrecken. Sei mein mutiges Kind. Wir haben nur noch
diese Stunde, Ruth. Dann bringe ich dich in die Stadt. Zum Zuge, der
ins Ausland fährt. Frau Römer wartet auf uns.«

Sie hatte sich in seine Arme geworfen. Sie umfaßte ihn so fest, als
solle nichts sie von da wegreißen. Doch wußte er: sie widerstrebte
nicht länger. Sie gab nach, willenlos.

Aber es war vielleicht nur die Angst des Abschiedes. Der Schreck davor,
der sie überfiel. Gestern war sie doch irre geworden an ihm, -- und
morgen? -- -- da besaß er keine Macht mehr über sie. Wußte nicht mehr,
was in ihr vorging.

Er sagte sehr sanft: »Du gehst nicht fort, weil ich dir weh thun will,
sondern weil ich dich lieb habe. So lieb, daß ich dir weh thun ~kann~.
Gib dich dieser Liebe, Ruth, -- ohne Rückhalt, ohne Zweifel, -- gib
dich ganz. Denke täglich, daß ich es zu dir sage, -- des Morgens mit
deinem Erwachen, des Abends mit deinem Einschlummern: ~Ich hab' dich
lieb.~«

Sie sah auf, ohne von ihm zu lassen, -- mit grenzenlosem Dank in den
Augen sah sie auf. Ein kaum merkliches Lächeln spielte ihr um den Mund,
-- ein wenig zaghaft noch.

»Da gehe ich ja nicht fort, -- da nehme ich Sie ja mit,« sagte sie,
fast schelmisch.

Das Glück brach aus ihren Augen, -- ja, der Schalk.

Es berauschte ihn. Aber anders als gestern. Wohl hielt er sie im
Arm, wohl kniete sie an seiner Brust, aber nicht seine Sinne wurden
berauscht. Etwas unendlich viel Feineres, eine Wollust so fein, wie
sie sich durch keine Sinne vermittelt, erfüllte ihn mit kraftvollem
Genügen. Er konnte Ruth nicht unbedingter zu eigen nehmen, nicht
stärker sich aneignen als in diesem Augenblick, wo er sie von sich
löste, wo sie auf sein Geheiß von ihm ging, weil sie ihm lieb war.

Einigung und Trennung, selbstloses Verzichten und selbstsüchtiges
Eingreifen, Schützen und Vergewaltigen, Dienen und Herrschen
verschlangen sich ununterscheidbar in einem einzigen Gefühlsknoten, in
einem einzigen Augenblick berauschenden Erlebens.

»Ist es nun nicht gut, daß du mir gehorchen und vertrauen mußt? daß
wir ~nicht~ sind wie ›zwei Kinder im Wald‹, die sich verlaufen? Für
die es schlimm wäre, wollte eines das andre aus den Augen verlieren,
-- verlassen. Mir kommst du aus den Augen, und doch nie von der Hand.
Ich bin mit dir wie jemand, den du nicht neben dir stehen siehst, und
doch um dich weißt -- über dir walten, wo du auch gehst und stehst. Wie
jemand, den du nicht fragen kannst, und der zu manchem schweigt, -- der
aber doch alles weiß, was dir not thut und gut thut wie --«

»Wie Gott,« sagte Ruth keck.

Das Wort lief wie ein Schauder über ihn hin.

Aus Gespensterfurcht?

Nein. Aber wohl, weil er ahnte, was mit diesem Wort in ihr selbst
aufwachen mochte, an unbewußtem, ungeheurem Fordern und Bewundern und
Erwarten.

Sie sagte es, gar nicht in Ekstase. Wie etwas Selbstverständliches. Wie
ein Kind einen Kuß gibt.

Aber er ahnte: nie, noch nie war sie der Liebe, der vollen Liebe, so
nah wie in diesem kindlichsten Bekenntnis, -- dem vermessensten.

Nein, keine Gespensterfurcht! vor nichts.

Und er küßte sie aufs Haar.

»Nicht wie Gott, Ruth. Und doch für dich: wie dein Gott.« --

Im Wohnzimmer war Klare-Bel damit beschäftigt, Ruths Koffer zu
schließen und ihr eine kleine Reisetasche zu füllen. Gonne half, das
Letzte zu ordnen und zu besorgen. Am Gartengitter draußen stand ein
leichtes Fuhrwerk, eine ländliche »Karfaschka«, welche das Gepäck
aufnehmen sollte. Erik wollte mit Ruth zu Fuß zum Bahnhof gehen.

Als das Gepäck aufgeladen wurde, kam er mit ihr aus seinem
Arbeitszimmer heraus. Klare-Bel blickte erstaunt auf. Weder er noch
Ruth machten ein trauriges Gesicht. Und doch wußte sie: erst jetzt,
dort im Zimmer, hatte er es Ruth mitgeteilt.

»Wie er das nur zu stande gebracht hat? Er kann doch alles, was er
will!« dachte sie bewundernd.

Das kleine Fuhrwerk rasselte davon, auf dem holperigen Landweg in
beständiger Gefahr, eines seiner wackelnden Räder zu verlieren. Erik
scherzte darüber, und Ruth harte ihre Schelmengrübchen in den Wangen.

Es war eine Heiterkeit, wie wenn an einem großen stummen, dunkeln
Gewässer ein Sonnenrand aufblitzt und die Oberfläche mit glitzernden
Perlen überblitzt.

Nur Gonne stand in der Küche und weinte mit einem mürrischen,
verschämten Gesicht.

Einige Minuten lang konnte Ruth noch bei Jonas im Zimmer verweilen.
Dann trat sie reisefertig, die graue Wollmütze auf dem Kopf, heraus.

Jonas horchte angestrengt. Er hörte sie über den Flur gehen, -- den
letzten, grüßenden Zuruf seiner Mutter, -- die Thüren gingen, -- --
dann eine Minute der Pause, -- -- und nun fiel, mit einem schwachen
Knarren, die Gartenpforte ins Schloß. -- -- --

Langsam, totenstill schlichen die Stunden hin, eine um die andre. Am
frühen Nachmittag kehrte Erik aus der Stadt zurück.

Aber es blieb so still wie zuvor.

Jonas hielt es nicht länger im Bett aus; er stand auf, und seinen
kalten Umschlag um den Hals, einen dicken Wollstrumpf darüber gebunden,
stahl er sich auf seinen roten Pantoffeln in das Zimmer des Vaters.

Der Vater war nicht da.

Jonas setzte sich an den großen Schreibtisch. Er mußte machen, daß er
fertig wurde, ehe der Vater ihn hier überraschte.

Und seine Feder kratzte über das Papier.

Er schrieb an Ruth:

»Süße, liebe Ruth!

Ich habe mich in Papas Zimmer hingesetzt an den Tisch, an dem du
arbeitetest.

So ungeheuer gern wär' ich zum Bahnhof mitgegangen! Weinen wollte ich
aber nicht, ich biß ins Kissen. Als aber in der Ferne der Zug lospfiff
(vielleicht war es gar nicht dein Zug), da habe ich trotzdem ein
bißchen geweint. Ich dachte: nun fährt sie fort.

Papa hat mir aber einen guten Rat gegeben. Ich will dir noch nicht
sagen, was für einen. Ich will ihn lieber erst befolgen. Und solange
ich ihn befolgen muß, was ziemlich lange dauern kann, werde ich dir
nicht schreiben. Aber dann schreibe ich dir, daß du meine Frau werden
mußt. Im Spiel hast du es niemals sein wollen, und das hat mich
manchmal so schwer gekränkt. Aber das war dumm von mir. Denn erst muß
ich ein ganzer Mann für dich geworden sein.

Darüber habe ich Papa noch nichts zu sagen gewagt.

Jetzt muß ich schließen. Aber ich mußte es dir gleich schreiben, damit
du es weißt. Vergiß mich nur nicht, wenn du dort einen andern Jungen
findest. Am Ende sogar einen fertigen Studenten? Dann würde ich mich ja
hier so ganz umsonst anstrengen.

Aber vielleicht findest du keinen.

Ich küsse dich mit tausend Küssen.

Dein Freund, (dein zukünftiger Mann,) Jonas.

+Pst. Scr.+: Ich weiß nicht, wo Papa jetzt ist, ich bin heimlich auf.
Sonst würde er dich sicher grüßen lassen.«

                   *       *       *       *       *

Erik war oben in der leeren kleinen Giebelstube.

Er stand am Fenster und weinte.




                                  V.


      Unflüggem Vöglein gleich, dem bangt,
    Wo's flatternd eine Zuflucht fände,
    So bin ich, flüchtend nur, gelangt,
    Ein armes Kind, in deine Hände.

      Kam scheinbar wohl in trotz'gem Sinn, --
    Doch nur von Einsamkeit getrieben,
    und kniete schweigend bei dir hin,
    und wollte nichts, als Etwas lieben.

      Und wollte nichts, als, kurze Zeit,
    Gleich einem Kind mich wieder wissen,
    Nichts, als ein wenig Zärtlichkeit
    Ganz scheu, von ferne, mitgenießen.

      Nichts, als von kindlich tiefer Qual
    Auf einen Augenblick nur rasten,
    Nichts, als die junge Brust einmal
    In heißer Hingebung entlasten.

      Wie ward mir wohl, da ich dich fand,
    Als müßte jeder Wunsch sich stillen,
    Seitdem du mich, mit sanfter Hand,
    Geborgen ganz in deinem Willen.

      Als würde plötzlich alles klar,
    Als müßten alle Wirren weichen,
    Seit über das verwehte Haar
    Mir deine lieben Hände streichen.

      Bis daß ein jeder Schmerz hinfort
    Versank vor zaubermächt'gem Troste,
    Seit, mit dem ersten Liebeswort,
    Dein Blick mich zwang und mich liebkoste;

      Bis ganz die Welt um uns versank, --
    Und nichts von allem mehr geblieben,
    Als nur ein grenzenloser Dank, --
    Und nur ein grenzenloses Lieben.


Ruth hatte das nicht gedichtet. Erik hatte es gedichtet. Aber Ruth
hatte es gestammelt. Ungezähltemal. Vielleicht auch in ungezählten
Versen.

Er wußte es nicht. Aber oben in der Giebelstube, unter fortgeworfenen
Papieren und verwelkten Blumen, hatte das durchgerissene Blatt mit den
gestammelten Versen gelegen.

Und seitdem dichtete er diese Verse, er sah vor sich hin und dichtete
an ihnen.

Ruth hatte sie nicht gedichtet. Erik hatte es gethan.

Aber so, -- so in jedem Worte würde sie sie gedichtet haben, -- ein
wenig später, -- im Rückblick.

                   *       *       *       *       *

Sie saßen alle zusammen.

Klare-Bel im Hintergrunde der Wohnstube, in einem großen, bequemen
Lehnstuhl. Jonas am Eßtisch: er hatte die Lampe dicht herangerückt,
um besser sehen zu können, was er in sein Schulheft schrieb. Erik am
Kamin, in welchem mächtige Holzkloben brannten; von Zeit zu Zeit bückte
er sich und warf aus einem blankgeputzten Kohlenbehälter, der mit
Tannenzapfen gefüllt war, ein paar von den braunen, herzigen Zapfen in
die Glut.

Das Zimmer hatte ein ganz winterliches Aussehen bekommen. An Stelle der
leichten Sommergardinen schwere, schützende Fenstervorhänge, am Kamin
zwei Sessel aus der Stadtwohnung, unter denen ein mächtiger Bär seine
Tatzen vorstreckte.

Schon im Anfang des russischen März, noch ehe der Winter zu Ende ging,
war dieses Jahr die Uebersiedelung vor sich gegangen. Klare-Bels wegen.
Hinter ihr lag der Leidensweg eines halben Jahres, der sie langsam zur
Genesung führte.

In der Ecke lehnten zwei starke Stöcke mit Krückgriffen. An diesen
Stöcken mußte sie täglich einige Schritte thun. »Laufen lernen,« wie
Jonas lachend sagte, der ihr am liebsten die Stöcke ersetzte. Und diese
Schritte sollte sie in frischer Luft thun.

Sie saßen alle zusammen und schwiegen zusammen. Klare-Bel saß in
halb liegender Stellung und sann vor sich hin; die Handarbeit, die
sie vorgehabt, entglitt ihren Händen. Sie fühlte sich müde von ihren
wenigen Schritten.

Jonas, der war wie verrannt in seine Arbeit. Mit den schmalen
Schultern, lang aufgeschossen, ein wenig weichen, blonden Flaum an Kinn
und Lippe, bückte er sich über die Bücher. Der Sicherheit halber hatte
er auch noch in jedes Ohr einen Finger gesteckt. Das war unnötig.

Und Erik blickte in die Glut -- --

»Bis ganz die Welt um uns versank --«

Gonne war es, die endlich die Stille unterbrach. Sie brachte den
Abendthee herein. Klare-Bel ließ sich hinter den Samowar rücken: ihre
täglich neu genossene Freude, wenigstens in solchen kleinen Dingen
wieder Hausfrau zu sein.

»Heute warst du gewiß froh, Erik, ein so langer Brief von Ruth,«
bemerkte sie dabei, »man muß sagen: sie schreibt treulich, --
regelmäßig. Aber manchmal einen Zettel, manchmal ein Buch!«

»Ich möchte wissen, warum du ihr noch nie geschrieben hast, Jonas?«
fragte der Vater, »sie will oft von dir wissen.«

Jonas wurde sehr rot.

»Wovon soll man sich denn schreiben? Ich habe genug zu thun,« murmelte
er über seinem Theeglas.

»Für so junge Menschen ist das Briefeschreiben auch nichts,« meinte
Klare-Bel, »Ruth ist doch sicherlich begabt, nicht wahr? Und sind ihre
Briefe nicht ganz entsetzlich nüchtern, Erik?«

»Nun ja. Wenn sie nicht etwas zu erzählen oder zu beschreiben hat.«

»Beschreiben? was denn? wie ein Berg aussieht, oder was für Wetter es
ist, -- ein Schneetreiben im Winter, kann sie das nicht seitenlang
erzählen? Aber ich finde, dabei erfährt man recht wenig von ihr
selbst.«

Erik schwieg. Er fand es auch. Dies Entzücken an der Schilderung,
selbst des geringsten, die Hingebung in der Wiedergabe dessen, was sie
umgab, und was unmittelbar von ihr aufgenommen wurde, -- das alles lag
neben einer spröden Wortkargheit, wo es ihre Gefühle betraf. Es war
nicht Verschlossenheit, -- es war Haß gegen das Wort, das ungenügende.
Schlechte Verse kritzeln, singen, stammeln, die Augen aufheben, -- ehe
er das nicht wiedergesehen, nicht wiedergehört, war Ruth für ihn wie
begraben.

Und wieder schwiegen sie.

Der Theetisch wurde abgeräumt. Nur eine Fruchtschale mit Aepfeln blieb
darauf stehen. Jonas machte Miene, seine Bücher und Hefte wieder
auszubreiten.

Erik hinderte ihn daran.

»Genug!« sagte er, »es ist ganz unmöglich, daß du mit deinen
Schularbeiten noch nicht fertig sein solltest.«

»Ich bin es ja auch, Papa. Aber ich wollte jetzt abends noch Russisch
treiben. Einer von den Jungens hilft mir in der Freistunde darin.«

»Ich sehe nicht ein, zu welchem Zweck? Schon im Herbst gehst du ins
Ausland. Du wirst ja nicht hier studieren. Wozu also?«

»Es ist sehr nützlich, Papa. In Deutschland kann man jetzt mit
russischen Stunden Geld verdienen.«

Erik war unangenehm berührt. »Geld? Mit Stundengeben? Ueberlaß mir das
doch.«

»Erlaube es mir, bitte. Thue ich nicht genug für die Schule?«

»Ja, aber du bist ein entsetzlicher Stubenhocker geworden, Jonas!
Bleibst mir zu schmalbrüstig, mein Junge. Flaum am Kinn, aber keine
Kraft in den Knochen. Nicht genug.«

»Gesundheit ist der Güter höchstes nicht,« behauptete Jonas mit einem
Ernst, der ihm drollig genug stand.

»Aber der Uebel größtes ist die Schuld, sie verscherzt zu haben,«
ergänzte Erik und fuhr ihm liebkosend über den Kopf; »wenn du öfters
mit solchen Citaten kommst, dann werde ich dich noch ganz von den
leidigen Büchern fortnehmen. Zu einem Bauern in die Lehre.«

Damit ging er hinüber in sein Arbeitszimmer.

Ein Stoß Schulhefte mit blauen Deckeln lag schon bereit. Auch allerlei
andres, das drängte.

Ihn drängte es nicht. Er schob es zurück.

Darunter lagen Ruths alte Hefte, auch neue Arbeiten; sie schickte sie
ihm alle. Ihren Studiengang leitete er vollkommen. Aber alles das war
immer noch nicht »Ruth«.

Er nahm eine Mappe vom Schreibtisch, in der sämtliche Briefe aus
Heidelberg lagen, vom vorigen August bis zum heutigen April.

Anfangs lauter Briefe von Frau Römer. Ruth konnte nicht schreiben,
sie lag im Fieber. Ein schleichendes Fieber, fürchteten sie. Erik war
zur Abreise vollständig fertig gewesen, er depeschierte bereits seine
Ankunft.

Da traf ein Telegramm ein, das ihn zurückhielt. Drei Tage später ein
kurzer Brief von Frau Römer:

»Ihre Anwesenheit ist nicht erwünscht. Die Trennung würde dasselbe noch
einmal ergeben. Ruth muß es lernen, ohne Sie zu leben. Daher dürfen
Sie unter keinen Umständen herkommen. Mein Mann meint es als Arzt,
ich meine es aber auch -- als Frau. Ich habe Ruth lieb wie mein Kind;
wollen Sie mir helfen, wie eine Mutter über ihr zu wachen, so entfernen
Sie auf immer aus Ihren Briefen alles, -- auch das Geringste, was
Sehnsucht wecken könnte.«

Nach einer Woche schrieb Frau Römer:

»Mit unsrer Ruth geht es besser. Aber gestern hat sie uns sehr
erschreckt. In ihrem Zimmer steht mein Lehnsessel, mit braunem Leder
bezogen; sie wollte ihn durchaus haben, als sie ihn bei mir sah, und
sagte dabei bedauernd: ›Wie schade, daß er nicht grün ist!‹

Diesen Sessel hatte sie gestern nacht mitten ins Zimmer, ihrem Bett
gegenüber, gerückt. Als mein Mann noch einmal leise hereintrat, um nach
ihr zu sehen, sieht er im Schein der kleinen Nachtlampe Ruth aufrecht
im Bett, -- den Oberkörper weit vorgebeugt, die Augen starr auf den
Sessel geheftet, das Gesicht verzückt.

Als sie meinen Mann sah, fiel sie in die Kissen zurück. ›Ach, -- nun
ist er fort!‹ sagte sie traurig. Sie war in einer halben Ohnmacht, am
ganzen Körper kalt.

Wir haben den Lehnstuhl aus ihrem Zimmer entfernen müssen. Mit den
andern Stühlen ›geht es nicht‹, versichert sie.

In aufrichtiger Freundschaft

Irene Römer.«

Bald darauf kam der erste, noch mit Bleistift aus dem Bett gekritzelte
Zettel von Ruth selbst. Wenige Zeilen nur, darunter ein Postskriptum:

»Ich glaube, daß die Menschen zaubern könnten, wenn sie wollten.«

In der Mappe befand sich neben diesem kleinen Zettel ein Schreiben von
Eriks Hand, -- ein vollständiges Briefkonzept, welches anfing:

»Mein Herzenskind!

Außer den bekannten zehn Geboten gibt es noch ein elftes, speziell für
Dich: ›Du sollst nicht zaubern.‹

In ururalten Zeiten nahmen die Menschen, wenn ihre Götter die Wünsche
einzelner nicht erfüllten, mitunter ihre Zuflucht zu fremden und bösen
Geistern, die sich durch Zauberkunst und Zauberformeln beschwören
ließen. Das mögen die Menschen aus zweierlei Ursachen gethan haben: aus
Kleinmut oder Hochmut; aus dem mangelnden Glauben, daß im Willen ihrer
Götter auch wirklich eine weise, gute Macht über ihnen waltet, -- oder
aus dem Trotz, der es müde geworden ist, zu gehorchen und zu vertrauen.

Du machst es doch nicht ebenso, -- gleichviel aus welchem dieser
beiden Gründe? Nimmst Dir doch nicht hinter dem Rücken und aus
eigener Machtvollkommenheit, was Dir vorenthalten bleiben soll? Rufst
doch nicht, wie damals, in der letzten Nacht, einen fremden, bösen
Geist, das Fieber, um Dir zu helfen und Dich in eine Wirklichkeit zu
entführen, die keine ist?

Du sollst nicht zaubern. Sollst Dich an die Wirklichkeit hingeben, die
um Dich ist, -- ganz, voll Glauben und voll Vertrauen, daß Du in ihr zu
Hause bist --«

Hier brach das Briefkonzept ab; die nächsten Zeilen waren
ausgestrichen, -- wiederholt, und wieder ausgestrichen. Sie waren ihm
sichtlich schwer von der Hand gegangen.

Aber die Konzepte mehrten sich; hinter jedem Briefe Ruths folgte eines;
Erik blätterte sie ungeduldig beiseite: ~daß~ sie da lagen, das besagte
genug.

Sein Blick verweilte nur länger, wenn er wieder auf die feine,
charakteristische Handschrift Frau Römers traf. Er konnte das Gefühl
nie ganz los werden, als ob er mit ihr -- oder sie mit ihm? -- in
einem geheimen, unbewußten Kampf stände; und doch erquickten ihn diese
Briefe. Wenn sie wider Wissen und Willen ein Feind war, so war's ein
herrlicher. Einer, wie man ihn sich wünschen soll, um sich mit ihm zu
messen.

Um diese Frau wehte es wie helle, reine Luft, -- man mußte sich wohl
darin fühlen. Und jedes ihrer Worte ein so klarer Ausdruck dessen,
was sie warm empfand. Während man las, glaubte man ihre Stimme zu
vernehmen: eine heitere, entschlossene Stimme.

Schon wollte Erik die Mappe schließen und an ihren frühern Platz
legen, als ihm noch ein Brief Ruths in die Augen fiel. Vor vielen
Wochen geschrieben und durchaus nicht gefühlsmäßigern Inhaltes als
die übrigen, -- auch, gleich den übrigen, ohne Anrede und ohne andern
Abschluß als »Ruth«. Aber auf der letzten Seite, da hatte sie sich
verschrieben: da stand einmal »Du«, anstatt »Sie«.

Sie hatte den kleinen Verräter energisch ausgestrichen und das ihm
beigefügte Zeitwort umkonjugiert. Aber am Rande der Seite war's
treuherzig bekannt: »Ich habe ›Du‹ gesagt, ich wollte aber ›Sie‹
sagen.«

Erik schaute nie in die Mappe hinein, ohne an dieser Stelle hängen zu
bleiben, -- und er schaute oft hinein.

Diese eine Silbe war ihr einziger wirklicher Gruß an ihn. Mündlich
würde sie sich schwerlich je versprochen haben. Sie bedurfte dessen
nicht. Sie ~hatte~ »Du« zu ihm gesagt, an jedem Tage, in jeder
Stunde fast, mit Blick und Ton und Miene. Jetzt erst ward es zum
verständlichen Wortlaut, unwiderstehlich: ein Ersatz für alle wortlose
Nähe.

Erik schob die Briefe von sich; er wollte arbeiten. Arbeiten, -- nur
nicht dieses unnatürliche, vollständig entnervende Hinleben in Gefühlen
und Gedanken, -- dieses unsichere Tasten ins Blaue, in die Ferne, mit
dem Verzicht darauf, zu handeln. Wie leicht war dagegen selbst die
Trennungszeit für ihn gewesen: innerste, angespannteste Aktivität bis
zur letzten Sekunde, aufs höchste gesammelte und gesteigerte Kraft: für
Ruth.

Nun der Rückschlag. Nachlassen, -- gehen lassen. Es machte ihn fast
krank.

Und er arbeitete Stunde um Stunde, bis eines der blauen Schulhefte
nach dem andern mit den notwendigen roten Tintenstrichen durchsetzt
war.

Dann erst lehnte er sich müde in seinen Stuhl zurück. Und wieder las
er, mit immer neuen Kommentierungen, an der einzigen Silbe »Du«. --

Der nächste Tag brachte draußen die erste echte Frühlingsstimmung.
Ein tiefblauer Sonnenhimmel strahlte über den kahlen Bäumen. Noch zog
sich am Rande der Kieswege, schmal und vergraut, eine durchlöcherte
Schneekruste hin, aber aus dem toten Gras hoben sich schon frisch die
saftgrünen Hälmchen, und an den Birkenzweigen hingen seit Wochen,
geduldig wartend, längliche braune Knospenzipfel. Der Wiesengrund
hinter dem Garten stand ganz unter Wasser und spiegelte blinkend Himmel
und Sonne wieder; vereinzelte zersplitterte Eisschollen trieben darin
umher.

Erik hatte, wie jetzt fast immer, den ganzen Tag in der Stadt zu thun;
neben seinem Schulunterricht noch den freiwillig erteilten, den er,
mit sich daran anschließenden Vorträgen, in diesem Winter durchführte:
teils in seiner Stadtwohnung unter Beteiligung Erwachsener, teils in
einem leerstehenden Klassenzimmer der Mädchenschule.

Diejenigen, die sich hier einfanden, gehörten ebenfalls der Schule
nicht mehr an, oder doch fast nicht mehr. Man konnte es den Gesprächen
entnehmen, mit denen sie ihn meistens erwarteten. Es wurde nicht
mehr von Phantasieereignissen gesprochen, sondern von Bällen und
Gesellschaften und von Anbetern, die wohl nicht mehr in der bloßen
Einbildung existierten. Von Schulangelegenheiten niemals, wenn nicht
etwas ganz Sensationelles vorfiel, wie heute morgen, wo ein kleines
Mädchen beim Frühgebet im großen Schulsaal umgefallen und liegen
geblieben war, -- ein Fall von Epilepsie. Es hieß, das bloße Ansehen
wirke ansteckend, nichtsdestoweniger hatten die meisten, wie gebannt,
auf die Zuckende hingestarrt, welche, Schaum an den Lippen, vor ihnen
lag.

Mitten in das Gespräch darüber kam, als die Späteste, und mit einem
unterdrückten Gähnen, die hübsche Wjera mit den kecken dunkeln Augen.
Sie war seit der Zeit ihrer Backfischstreiche noch hübscher geworden.

»Bist du auch wieder da?« rief Eriks fleißigste Schülerin sie an, »ich
möchte wissen, wozu? Ob es dir wohl angenehm ist, daß er immer nur
Spott für dich hat?«

»Und Lob für dich; da ziehe ich mein Teil vor,« erwiderte sie mit
Ueberzeugung; »laß ihn nur spotten, das thut ihm gut, er ist bei
schlechter Laune. Glaubst du, daß dein Fleiß ihn beglückt, mein
geliebtes Gänschen?«

»Mehr als fleißig sein kann niemand,« bemerkte eine, die in Erwartung
des Kommenden auf dem Fensterbrett saß und häkelte.

Wjera lachte boshaft: »Nun, er könnte noch allerlei andres schmerzlich
vermissen, -- zum Beispiel Verstand. -- -- Lieber Gott, was kann es
nützen, sich so anzustrengen?«

»Warum bleibst du denn nicht weg? Du wolltest ja haben, was Ruth hatte,
-- du am meisten.«

Wjera saß nachlässig hingegossen, die Arme längs der Banklehne
ausgestreckt, und schielte seitwärts in den kleinen Handspiegel,
den jemand in der Nähe des Fensters angebracht hatte, und der immer
umstanden war.

»Ich glaube nicht daran, daß er mit uns so ist wie mit Ruth,« murmelte
sie; »es wäre der reine Betrug. Entweder hat Ruth uns gefoppt, -- oder
wir sind -- dumm. Glaubt ihr etwa, Ruth meinte ~das~, als sie so außer
sich vor Entzücken sagten ›O -- -- dahinter gibt es das ganze Leben?‹
Wir stehen noch ~vor~ der Mauer, -- wie eine Hammelherde.«

»Na, so geh doch hinüber.«

»Ich werd' auch,« versetzte Wjera kurz, -- »noch heute. Wollt ihr? Mit
~einem~ Satz! Aber daß ihr nicht schreit! Ihr könnt ja nachspringen.«

Im Nu drängten sie sich um sie, brennend vor Neugier.

»Was wirst du thun?!«

Sie erwiderte nichts. Sie hob nur das Gesicht ihnen entgegen und
spitzte den Mund ein wenig.

»Ein Kuß?!«

Sie schrieen jetzt schon.

Da trat Erik herein. Er bemerkte, daß sie zerstreut waren, beachtete
es aber nicht. Wjera las vielleicht ganz richtig in seinen Augen: »Wie
eine Hammelherde.« Er vermißte Ruth unter ihnen, nicht weil er sie
liebte; er vermißte sie, weil sie ihn fortwährend angeregt, fortwährend
seine Geistesgegenwart verlangt hatte. Für sie mußte er auf der Höhe
seiner selbst stehen, um niemals fehlzugreifen.

Das war hier unnütz.

Nach kurzer Zeit erhob sich Wjera und ging, ein Blatt Rapier in der
Hand, auf Erik zu.

»Sollte es möglich sein?« fragte er sarkastisch, indem er annahm, sie
wolle ihm eine Arbeit vorlegen, »es wäre das erste Mal.«

Sie stieg die beiden Stufen zum Katheder hinauf und beugte sich zu
ihm, -- so tief, daß er aufsah. Bei dieser Bewegung seines Kopfes
berührten sich fast die beiden Gesichter.

Da durchgellte ein Schrei die Klasse, einstimmig. Sie hatten's nicht
aushalten können.

Aber gleich darauf folgte ein zweiter, ganz anders im Ton: Wjera war,
kaum daß der Schrei erscholl, hintenübergestürzt.

Erik selbst gingen Ursache und Wirkung durcheinander, ob der erste
Schrei vorherging, ob er folgte, -- ob sie sich niedergebeugt, weil
sie im Stürzen war. -- Er hatte auch vom Fall im Schulsaal gehört, und
jetzt ergriff die Erinnerung daran die Mädchen mit kopflosem Entsetzen.

Die meisten sprangen auf, einige sprangen im plötzlichen Schreck auf
die Bänke, -- auf das Fensterbrett.

Erik brach sich Bahn. Er hatte die wie leblos Daliegende auf seine Arme
gehoben und trug sie hinaus.

Als er raschen Schrittes den Gang entlang dem nächsten leeren Zimmer
zuging, kam Leben in sie. Der ganze weiche, geschmeidige Körper bewegte
sich, als strebe er, erzitternd, sich an ihn zu schmiegen; ihr Atem
flog; wie um sich zu halten, schlang sie den Arm um seinen Nacken, und
jetzt -- jetzt fühlte sie deutlich, wie es ihn heiß überlief.

Blitzschnell, eh' er's nur gewahr wurde, hatte sie ihren Mund auf seine
Lippen gedrückt.

Aber in der nächsten Sekunde fand sie sich schon auf ihre Füße gestellt
-- hart, so plötzlich, daß sie fast zusammengestürzt wäre. Eine
sinnlose Wut überfiel ihn. Wie ein Bild stand vor ihm der Augenblick,
wo er Ruth, wie ein lebloses Kind, in seinen Armen auf ihr Bett
getragen.

Er ergriff die verblüffte Spitzbübin beinahe brutal beim Handgelenk
und zwang sie die wenigen Schritte bis an die hohe Flügelthür, die den
Hallengang gegen das Treppenhaus hin abschloß. Er stieß die Thür auf.

»Hinaus. Ohne Wiederkehr,« sagte er kurz.

Sie errötete und erblaßte. Sie ging nur langsam hinunter, Stufe für
Stufe, und hielt sich am Geländer. Was würden die andern in der Klasse
wohl denken, wenn sie nie wieder kam? Daß er ihr über die Mauer
geholfen habe? Ja, gründlich. Mit einem Satz.

Und das Schlimmste: sie hatte eine gehörige Beule weg, gerade vorn an
der Stirn. --

Erik gab sich Mühe, bei der Rückkehr in seine Klasse, der Stimmung
Herr zu werden, die ihn peinigte und niederschlug. Er hatte sich
jedesmal gewundert, den bildhübschen Nichtsnutz mit unbegreiflicher
Hartnäckigkeit noch auf ihrem Platz dasitzen zu sehen, und dennoch fest
entschlossen, nichts zu lernen. Er hatte sich auch ein wenig gefreut.
Weil sie ein kluges Ding war, voll Mutterwitz und Phantasie. Er wußte
jetzt, von was für einer Art von Phantasie.

Aber lag es nicht an ihm? War es nicht an ihm, allen diesen
jungen Menschen unausweichlich die Richtung zu geben? Auswüchse
auszuschneiden, Fehlendes zu ergänzen, Schlummerndes zu wecken? Er
hatte sich seiner Aufgabe wohl mit seinem Willen hingegeben, aber
nicht mit seinem Herzen. Und kein noch so guter Wille vermochte sein
mächtigstes Erziehungsmittel zu ersetzen: das war die Frische und
Fülle der Stimmung, deren immer bereites Interesse sich auch noch
in das Geringste eingrub, suchend, lockend, verständnistief. Und er
bedurfte dessen ganz besonders. Denn seine Vorzüge wie seine Schwächen
als Lehrer bestanden darin, daß er seine Persönlichkeit und seinen
Unterricht nicht zu trennen wußte; gelang es ihm nicht, sich selbst zu
geben, so mißlang ihm alles. --

Am Thorweg des Schulgebäudes wartete Jonas auf den Vater. Sie fuhren
zusammen nach Hause aufs Land.

Im Eisenbahnwagen sagte Jonas: »Mama spricht jetzt immer davon, daß sie
bald verreisen muß. Sie kann doch nicht so früh im Jahr ins Bad
reisen?«

»Ich weiß noch nicht. Vielleicht wird es wünschenswert sein. In
Deutschland ist es ja nicht mehr so früh im Jahr. Dagegen spricht nur,
daß ich sie jetzt noch nicht selbst hinbringen kann. Das müßtest du
dann thun, Jonas. Und sie würde Gonne mitnehmen.«

»Wenn ich Medizin studieren werde,« bemerkte Jonas nach einer Pause,
»dann wird es mir immer vor Augen stehen, das Wunderbare, daß es mit
Mama besser geworden ist. Ich denke mir: Arzt zu sein, und ein einziger
solcher Fall, -- das muß auf alle Lebenszeit einen glücklichen Menschen
machen.«

»Du bist ein guter Kerl, Jonas. -- Ich hätte übrigens nicht
gedacht, daß du speziell ›Medizin‹ wählen würdest. Ich dachte:
Naturwissenschaften.«

»Ja, ich selbst auch, -- früher. Am liebsten Zoologie. Aber es ist eine
so ungewisse Zukunft damit. Ein Arzt findet überall sein Brot.«

»Das ist richtig. Aber das allein Ausschlaggebende dürfte es nicht
sein. Es kam immer noch auf die Stärke der besondern Neigung und
Befähigung an. Wenigstens für dich. Das andre war dann meine Sache.«

»Ich möchte aber so früh als es geht unabhängig werden, Papa.
Selbständig.«

»Ist es dir so unangenehm, dich von mir abhängig zu wissen, mein Junge?
Es ist nur dein gutes Recht. Noch lange. Ich will nicht, daß dir deine
Studien durch irgend etwas verkürzt oder eingeschränkt werden.«

Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Jeder blickte, in seine eigenen
Gedanken vertieft, zu einem andern Fenster hinaus.

Zu Hause, über dem Garten, dunkelte es schon. Aus dem Wohnzimmer
blinkte Licht. Der späte Mittag, der jetzt in den Abend fiel, wartete
auf sie.

Erik legte beim Eintreten eine Handvoll blaßblauer Fliederzweige auf
den Tisch. Er hatte sie in einer Hülle von Seidenpapier mitgebracht.

»Aber, Erik!« sagte Klare-Bel vorwurfsvoll, während sie doch vor Freude
errötete, »etwas so Kostbares und Ueberflüssiges! Im russischen April!«

»Ueberflüssig?« Er ordnete die langen Stiele geschickt in einem
geschliffenen Kelchglas. »Der Frühling ist doch nicht überflüssig. Und
ich meinte: in einem Landhause müßte er wenigstens drinnen sein, wenn
er schon nicht draußen ist.«

Ihre Augen füllten sich langsam mit Thränen; sie schlug sie nieder,
damit er es nicht sähe. Der Frühling ~war~ ja drinnen eingekehrt, ~ihr~
Frühling, auf den sie gewartet hatte, wie auf eine Lebenserneuerung
gerade für Erik. Aber dieser Frühling war blumenlos und frostig
geblieben.

Nein, das war ungerecht. Ungerecht gegen ihn, dem sie ihre Genesung
dankte: abbittend blickte sie Erik verstohlen an. Aber ~das~ mußte
sie ja sehen: er ertrug kaum die Trennung, -- die Trennung von
Ruth. Solange Bel ihn glücklich gesehen, war sie arglos und sorglos
geblieben. Jetzt aber lag es auf ihr, bei Tag und bei Nacht.

»Hast du Ruths gestrigen Brief schon beantwortet?« fragte sie nach
einer Pause.

»Ja. Noch nicht völlig beendet,« erwiderte er.

Sie zog den Flieder zu sich heran und vergrub ihr Gesicht in den
duftenden Dolden.

»Da war doch, -- ist der junge Russe noch immer da, den sie so gern
haben?«

»Jurii? Ja. In den jetzt angehenden Ferien sollte er sogar, glaub' ich,
eine kurze Zeit bei ihnen wohnen, -- draußen am Schloßberg. Sie wollten
allerlei zusammen unternehmen. Römer hält viel von ihm.«

Eine kleine Pause entstand.

»Wie alt ist er eigentlich, Erik?«

»Ungefähr zweiundzwanzig Jahre, glaub' ich.«

»Und gänzlich unabhängig, nicht wahr? Es handelt sich für ihn nicht um
ein Brotstudium?«

»Nein.«

Erik blickte auf, ein flüchtiges Lächeln um den Mund. Auf den jungen
Russen eifersüchtig, -- nein, das war er unter keinen Umständen.

»Eine echt weibliche Kombination, Bel. Du dachtest schon an Brautkranz
und Schleier, nicht wahr? Aber dafür, daß Ruth rasch mit ihm vertraut
geworden ist, liegt ein andrer Grund vor: er ist ihr nicht fremd.
Er kennt ihren Onkel hier. Hat einmal früher mit seinen Eltern dort
verkehrt, -- mit ihr gespielt, als sie acht und dreizehn Jahre alt
waren.«

Sie lehnte den Kopf zurück.

»Es ist nichts,« dachte sie, »es kann nicht sein. Sonst müßte --
~müßte~ er eifersüchtig sein. Trotz seinem starken Selbstvertrauen.
Jugend sucht Jugend.«

Nach einiger Zeit sagte sie bittend: »Erik! Du mußt nicht böse sein.
Ich habe einen so großen Wunsch.«

»Einen so schlimmen, Bel? Nun, heraus mit ihm.«

»Ich wünsche so sehnlich, -- ich möchte so sehr gern, nur ein einziges
Mal, -- lesen, was du an Ruth schreibst.«

Er antwortete nicht. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Gleich
darauf kehrte er zurück, den fast beendeten Brief in der Hand.

»Du kannst es jedesmal lesen, Bel, wenn du willst.«

Ihre Augen strahlten ihn so dankbar und beglückt an, daß er den Blick
nicht aushielt. Er sah hinweg.

Es war ihm eine Pein, sie dasitzen zu sehen, -- lesen zu sehen. Am
liebsten wäre er hinausgegangen.

Er trat an das Fenster und schaute in die Dunkelheit.

Aber das Fensterglas höhnte ihn. Was es wiedergab, war noch einmal das
Zimmer, mit der Lampe auf dem Tisch, den zarten Fliederzweigen und der
lesenden Frau im Lehnstuhl.

Klare-Bel ließ den Brief sinken. Sie sah betroffen aus.

»Wie seltsam, Erik,« sagte sie, »-- ich kann mir gar nicht vorstellen,
daß du so an Ruth schreibst.«

»Ich glaube ihr nicht anders zu schreiben, als ich zu ihr gesprochen
habe,« entgegnete er.

»Es mag ja sein. Aber dann kam wohl noch allerlei hinzu, was nur im
Mündlichen liegt. Dein ganzes Wesen kam hinzu. Du bist ja so jung und
frisch im Wesen, Erik.«

»Nun, -- und?«

Er wandte sich um. Gewiß fand Ruth seine Briefe ebenso »entsetzlich
nüchtern,« wie er die ihren. Nur aus einem andern Grunde: sie konnte
nicht ihr Inneres aussprechen, -- und er durfte nicht.

»Ja, -- nun, -- ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, Erik. Aber
in dem Brief da bist du wie ein ehrwürdiger alter Mann, mit langem
weißem Bart und Haar, -- ungefähr so, wie die Kinder sich den lieben
Gott vorstehen.«

Es durchzuckte ihn. Er mußte an Ruths Wort denken: »Wie Gott.«

Eine Fülle widerstreitender Empfindungen wühlte es in ihm auf. Was
für ihn wie für Ruth diesen Briefwechsel nüchtern machte, -- im
lebhaftesten Plauderton noch kalt und stumm, -- das mochten wohl zwei
ganz entgegengesetzte Gefühle beim Lesen der Briefe sein.

Für ihn war's ein Abzug am Vollen, Menschlichen ihrer Persönlichkeit,
ihres innersten Wesens, das in Worten nur seine Oberfläche zu zeigen
vermochte. Für ~sie~ war's vielleicht ein Zusatz zu seiner menschlichen
Persönlichkeit, eine ~Verklärung~ derselben: er hatte ihr ja auch
mündlich sein innerstes Wesen verschweigen müssen, und gerade das
idealisierte sie sich nun vielleicht aus seinen geschriebenen Worten,
-- »ungefähr so, wie die Kinder sich den lieben Gott vorstellen.«

Daher war ihm auch nie von selbst das Bedenken gekommen, sie könne an
seinen Briefen ebensoviel auszusetzen haben, wie er an den ihren. Denn
er hatte gefühlt: in seinen Briefen ergriff sie seine Hand und ging an
derselben vertrauensvoll ihren Weg. Gehorsam -- froh. Denn sie litt
doch nicht? Nein, das that sie gewiß nicht.

Man hatte sie dort mit einem Leben umgeben, das sie unausgesetzt
anregen, bereichern, entwickeln mußte, -- sie beglücken und sie
erfüllen. Und mit ihrer unbegrenzten Empfänglichkeit stand sie mitten
in diesem Leben, -- wie mit weit ausgebreiteten Armen.

Nein, sie -- sie litt nicht.

Auch Klare-Bel war verstummt. Wieder hing jeder seinen eigenen Gedanken
nach, und wieder wurde es heute ein schweigsames Abendessen. Wie sie
da zu dreien bei einander saßen, eng zusammen, in herzlicher Neigung
verbunden, blieben sie doch einander so weltenfern entrückt, daß keiner
von ihnen teil hatte an der stummen Welt des andern.

Als nach dem Essen Erik sein Zimmer nicht wieder verließ, setzte Jonas,
ohne Schularbeiten, sich zur Mutter.

»Wenn Papa nicht da ist, muß ich ihn ersetzen,« versicherte er, »kann
ich dir nicht schon bald fast dasselbe sein wie Papa? Einen guten Kopf
größer als du bin ich doch schon, meine kleine Mama.«

Sie sah ihn mit einem tiefen, stillen Blick an, den er nicht verstand.
Dann streckte sie ihm über den Tisch ihre Hand hin.

»Mein lieber Junge. Ja, mir kannst du bald -- viel sein. Wirst du es
auch nicht vergessen, später, über all dem Studieren? Du mußt mir viel
-- viel Freude machen, Jonas.«

»Ich werde dir ganz ungeheuer viel Freude machen, Mama,« erklärte er
treuherzig, »das werde ich ganz bestimmt. Denn ich werde etwas ganz
Ausgezeichnetes werden. Das muß ich.«

»Freust du dich sehr auf das ungebundene, neue Leben draußen?«

»Auf draußen, -- ja. Aber das mit dem ungebundenen Leben finde ich gar
nicht so schön. Ich finde es viel schöner so, wie Papa es gehabt hat.«

»Wie denn, mein Kind?«

»Nun, doch so ganz gebunden, Mama. Mit dir zusammen. Das kann ich mir
nämlich so wunderschön ausmalen. Fast als ob --. Eine Studentenstube,
-- ganz klein braucht sie ja nur für den Anfang zu sein, und an den
Wänden Bücher, und auf dem Tisch eine Kochmaschine zum Selbstkochen. In
der Ecke ein schönes Skelett und am Fenster viele Blumen. Da sitzt die
Frau mit dem Nähzeug. Und bei den Büchern, da sitze ich, -- ich meine:
sitzt Papa.«

»Ganz so war es wohl nicht. Nicht so eng. Für Blumen und Kochmaschinen
und Nähzeug schwärmte Papa nicht sehr. Und wenn er bei den Büchern war,
dann mußte er in seinem Zimmer allein sein. Da warst nur du bei mir. In
einer kleinen Wiege.«

»Eine kleine Wiege?«

Jonas wurde ziemlich rot. An dieses Stück der Zimmereinrichtung hatte
er noch gar nicht gedacht. Er sagte etwas befangen: »Nun ja. Aber
wenn du auch nur nebenan gesessen hast, so war es doch ~das~, was ihn
fleißig machte. Und eben das denke ich mir so herrlich beim Studieren,
wenn man's für jemand thut, den man so über alles lieb hat.«

»Das sage du Papa lieber nicht. Das würde ihm vielleicht mißfallen. So
hat er es mit seinen Studien und Plänen wohl nie gemeint. Er war so
ganz anders, als du bist, Jonas. Aber unendlich gut und klug war er.
Und als er anfangen mußte, sich ums Brot zu plagen, und es mich grämte,
da lachte er mich so herzlich aus und sagte: ›Laß gut sein, Bel, ich
hab' ein Mittel, ein Zaubermittel, um frisch zu bleiben, -- mag es noch
so viel Plage geben, -- frisch für meine Ziele: das Mittel bist du,
Bel‹. Ja, so sagte er.«

Jonas schwieg. Er wollte den Vater nicht vor seiner Mutter herabsetzen,
aber in diesem Punkte fühlte er sich ihm weit überlegen.

»Man kann noch tausendmal mehr lieben!« dachte er im stillen.

Klare-Bels Gedanken aber träumten sich, schmerzlich und beglückt, in
die Zeit ihrer Studentenehe zurück. Sie sah alles vor sich, als habe
sie es eben erst verlassen, und durchwanderte jeden Winkel, der ihr
Glück beherbergt hatte. Sie sah auch die Stube, wo er über seinen
Arbeiten saß, und sie ihn leise, -- ganz leise mußte es sein, --
umsorgte. Aber gerade dieses Bild verwischte sich ihr, wurde undeutlich
wie vor Thränen. An Eriks Stelle saß ein andrer, -- saß Jonas; -- und
immer wieder, mit einem dumpfen Zukunftsgrauen, erblickte sie sich
allein, -- allein mit dem Sohn.

Die Nacht lag Klare-Bel wach, und als sie gegen Morgen einschlummern
wollte, schreckte der Gedanke sie auf, als müsse sie über irgend etwas
angestrengt und mit Schmerzen nachgrübeln.

Am folgenden Tage fielen die Schulstunden aus; irgend einer der
zahlreichen griechischen Kirchenheiligen wurde gefeiert. Erik setzte
sich am Vormittag mit einigen Büchern und Papieren ins Wohnzimmer, wo,
in der Nähe des Kaminfeuers, ein Schreibtisch für ihn improvisiert
worden war. Draußen stöberte ein ganz feines Schneewetter aus ein paar
finstern Wolken, hinter deren blau-schwarzem Rande die Aprilsonne
neckend bereits wieder hervorlachte. Hell und dunkel glitt es über das
Zimmer hin.

Klare-Bels Augen hingen mit einem wehmütigen Ausdruck am Arbeitenden.
Heute morgen wollte sie ihn fragen. Sie hielt es nicht länger aus. Wie
hatte sie nur denken können, seine Briefe würden ihn ihr verraten?
Denn Ruth war ja noch so ganz unbewußt gewesen. Zu ihr konnte er nicht
offen sprechen. Daher gerade der auffallend zurückhaltende Ton. Vor ihr
verbarg er sich -- befangen und mühsam.

»Wo steckt Jonas eigentlich?« fragte Erik, über seine Ausarbeitungen
gebeugt.

»Jonas ist nun doch wieder zur Stadt gefahren. Er wollte so gern seinen
Freund besuchen.«

»Hoffentlich doch nicht, um wieder zu arbeiten, -- mit dem Freunde?«

»Vielleicht. Laß ihn, Erik. Ist er nicht ausgezeichnet geworden?«

»Ja. Höchstens zu ausgezeichnet. Er hat viel vor sich gebracht, das
muß man dem Jungen lassen. Sowohl was seine Fähigkeiten wie seine
Ausdauer betrifft, hat er meine Erwartungen im letzten Halbjahr weit
übertroffen.«

»Nicht nur das. Er ist dabei so verständig geworden. Ihm steckt kein
Unsinn im Kopf. Keine Kindereien.«

»Ja. Gerade das mißfällt mir. Dafür ist er zu jung. Wenn er nur nicht
eng wird. Mit siebzehn Jahren muß man nicht Philister sein.«

»Ach, Erik, wenn er nur brav wird.«

»Das kann er immer noch. Zunächst soll sein Temperament heraus!
Heidelberg wird ihm gut thun, denke ich, und Römers Einfluß. Man muß
sorgen, daß er sich frei bewegen kann. Weder Zeit noch Geld darf ihm
knapp zugemessen werden.«

»Wie gut er ist!« dachte Klare-Bel, »ja, in solchen Dingen ist er immer
unendlich gut gewesen. Würde sich plagen für den Jungen, damit der
lernen kann, zu genießen.«

Mehrere Minuten vergingen in Schweigen. Eriks Gedanken liefen voraus,
dem Herbst entgegen, wo Jonas nach Heidelberg abging. Allerspätestens
dann mußte er Ruth wiedersehen, sie sprechen. Vielleicht aber schon
früher. Wenn Klare-Bel so ins Bad reiste, daß er sie mit Beginn der
Sommerferien in Deutschland abholen konnte.

»Erik!« sagte eine Stimme neben ihm.

Er sah zerstreut auf. Seine Frau stand am Schreibtisch -- ohne ihre
stützenden beiden Stöcke. Sie hatte sich selbständig erhoben und war
durch das ganze Zimmer zu ihm hingegangen, -- allein.

Sie hatte es heimlich geübt, mehrere Tage.

Erik vermochte nicht gleich aus seinen Gedanken herauszukommen. Er
blickte sie nur fragend an, ohne zu beachten, was ihn überraschen
sollte.

Er bemerkte es nicht.

Auf Klare-Bels Lippen erstarb ein Lächeln.

»Ich wollte dir nur zeigen, was ich kann,« sagte sie, mit einer
gewaltsamen Anstrengung, es unbefangen zu sagen.

Aber es mißlang. Sie erblaßte. Und plötzlich schwankte sie und glitt
dem erschrocken Aufspringenden in den Arm.

Er führte sie langsam zu ihrem Lehnstuhl, besorgt, über sie gebeugt.
Jetzt war er ganz bei ihr.

»Ist dir besser?« fragte er herzlich und zog sich einen der niedrigen
Polstersessel vom Kamin heran, »die Selbständigkeit bekommt dir
schlecht, meine arme Bel.«

Sie sah den Scherzenden mit einem langen, stillen Blick an.

»Ich muß sie doch lernen, Erik!« entgegnete sie doppelsinnig.

Sie lehnte den Kopf müde zurück und schloß die Augen. Und so, mit
geschlossenen Augen, während er ihre Hand festhielt und leise
streichelte, sagte sie: »Siehst du, -- ach, Erik, es war ja gewiß recht
kindisch. Aber siehst du, -- hierauf hab' ich mich ja schon so lange
gefreut. Auf deine Freude, -- wenn ich einmal so zu dir käme, -- ohne
Stütze, auf eigenen Füßen. Es war so kindisch. Aber nun ist mir aller
Mut abhanden gekommen, dich zu fragen, Erik.«

»Wonach wolltest du mich fragen, Bel?« Er sprach mit gepreßter Stimme,
gedämpft, wie immer, wenn er eine Erregung niederhielt.

»Ja, Erik, ich dachte: wenn du dich nun so freutest, und mich in die
Arme schlössest, -- nicht wie jetzt, weil ich fiel, sondern weil ich
stand, aufrecht neben dir stand, -- dann wollte ich dich fragen, --
ganz leise wollte ich dich fragen, -- ach, Erik! ich kann es nicht
mehr.«

Er faßte ihre beiden Hände in die seinen und blickte durchdringend,
mit gespanntester Aufmerksamkeit in das erblaßte Gesicht mit den fest
geschlossenen Augen. Sein Herz schlug hart gegen die Brust.

»Ich will es dir sagen, Bel!« erwiderte er fest, ohne den Blick von ihr
zu lassen, »wenn es dich gequält hat, dann muß es sein. Hast du den
Mut, es zu hören? Willst du es?«

Sie schlug ihre Augen auf, -- hilflos, thränengeblendet, -- hilflos wie
ein gestelltes Wild vor dem Schuß.

»Erik!« stieß sie flüsternd heraus, und das Entsetzen vor seiner
Antwort vergrößerte ihre Augen, »-- Erik, liebst du sie?«

Da beugte er den Kopf tief nieder auf ihre Hände.

»Ja, Bel,« sagte er laut.

In demselben Augenblick durchflutete ein so breiter Sonnenstrom
das ganze Zimmer, daß Klare-Bels Lider sich unwillkürlich davor
schlossen, in einem abergläubischen Erschrecken, wie wenn der Himmel
selbst Zeugnis ablegen wollte für Eriks Liebe. Blau lachte es herab,
und wie ein blitzendes Goldnetz von Tauperlen blinkten die rasch
zerronnenen Schneefederchen über dem Garten. So warm spielten die
hellen Sonnenstrahlen über den Fliederstrauß am Fenster hin, als sei er
draußen vom Strauch geschnitten.

»Dunkel,« bat Klare-Bel leise, »-- ich möchte auf mein Bett, -- mach's
dunkel.«

Er hob sie aus dem Stuhl und legte sie in ihrem anstoßenden kleinen
Gemach auf ihr Bett, hinter welchem er die Fenstervorhänge aus den
Klammern löste und zuzog.

Sie suchte nach seiner Hand.

»Die Briefe, Erik, -- wie du ihr geschrieben hast, -- war es lauter
Verstellung? Oder hast du ihr -- hast du nicht auch anders geschrieben?
Niemals?«

»Ich habe ihr auch anders geschrieben, Bel. Ganz anders. Jedes einzige
Mal, daß ein solcher Brief an sie abging. Aber es war nur für mich
allein. Sie hat's nie gelesen.«

»Du hast es nicht abgeschickt? -- Hast du diese Briefe noch, Erik?«

»Nein. Ich habe sie jedesmal, sobald sie geschrieben waren,
vernichtet.«

»Wozu hast du es dann nur gethan, Erik?«

»Es half mir.«

Fast hätte er hinzugefügt: »Ich liebe sie ja, Bel! Ich liebe sie! Ich
mußte zu ihr sprechen.«

Nach einer Weile ließ Klare-Bel seine Hand los und sagte leise: »Und
ich hatte keine Ahnung, -- nein, keine Ahnung hatte ich, daß du sie um
deswillen von dir gabst. Nun erst weiß ich es.«

Er richtete sich betroffen auf. Mißverstand sie ihn jetzt nicht? Meinte
sie nicht, er habe Ruth von sich gegeben um ihretwillen? um Herr zu
werden seiner Liebe?

Mußte er ihr die letzte, die tödlichste Kränkung zufügen: »Nicht an
dich habe ich dabei gedacht.«

Ja, einmal mußte auch das sein. Aber mußte es heute sein? Alles heute?
Litt sie nicht genug, -- maßlos?

Er vermochte es nicht.

Da Klare-Bel nicht mehr zu ihm sprach, trat er von ihrem Bett zurück,
an die offene Thür des Wohnzimmers.

Gräßlich war es, einen Wehrlosen niederzuschlagen mit der Faust. Das
Mitleid überfiel ihn mit nie gekannter mitleidsloser Macht, -- mit
einem nie gekannten wehen, elenden Gefühl umkrallte es ihn.

Das Kaminfeuer knatterte hoch auf unter kurzen Windstößen; der Himmel
hatte sich längst wieder verfinstert. Von neuem stäubte ein feiner
Schneeschauer um das Fenster, -- dasselbe Aprilspiel wie zuvor.

Erik warf gedankenlos eine Handvoll Tannenzapfen in die rote Glut,
und ein schwacher Duft, den er liebte wie keinen andern, -- ein Duft
nach Wald und Weihnachten verbreitete sich in der Stube. Unwillkürlich
dachte man sich den kahlen, kalten Garten im Winterfrost und einen
geputzten Christbaum in der Zimmerecke.

Weihnachten, -- -- -- auch in diesem Winter hatten sie den Baum
geschmückt und sich um ihn geschart, aber zum erstenmal hatten sie sich
wie drei arme Erwachsene gefühlt, die am Fest der Kinder leer ausgehen.
Erik, der zu beschenken wußte, wie nur ein Knecht Ruprecht, und sich zu
freuen, wie nur ein Kind, war karg, -- war wortkarg geblieben.

Es kam ihm selbst sonderbar vor, daß sich sein Mitleid an lauter solche
kleinen, kleinlichen Rückerinnerungen heftete.

Langsam begann er im Zimmer auf und ab zu gehen.

Nicht daß sie jetzt dalag und litt, -- aber daß sie so lange -- lange
umsonst auf seine Freude gewartet hatte, in seinen Zügen nach Freude
gespäht, all diese Monate hindurch, -- das erschütterte ihn so tief.
Genesen war sie, -- wie ein strahlender Weihnachtsbaum hätte das mitten
unter ihnen stehen sollen zu jeglicher Stunde, lichterblitzend, mit
tausend neuen kleinen Freuden geschmückt. Und sie hatten sich nicht wie
frohe Kinder darum geschart -- --.

Klare-Bel lag noch immer und schwieg. Er mochte nicht zu ihr
hineingehen, er mochte nicht fortgehen. Noch immer ging er auf und ab,
wie ein Verurteilter.

Endlich kam Jonas. Die Stufen zur Terrasse sprang er herauf und hielt
schon am Fenster zwei Briefe in der Hand hoch. Beim Eintreten in das
Wohnzimmer warf er sie auf den Eßtisch.

»Wo ist denn Mama? Mehr war nicht in der Stadtwohnung im Briefkasten.
Zwei an dich.«

»Mama ist nicht ganz wohl. Sie liegt auf ihrem Bett.«

Während Jonas ans Bett trat, leise, auf den Fußspitzen, griff Erik nach
den Briefen. Der eine von Frau Römer, der andre von Warwara. Ohne zu
wissen, warum, erbrach er Warwaras kurzes Billet zuerst: die Bitte,
morgen bei ihr zu speisen; sie bäte um Nachrichten über Bels jetziges
Befinden und wünsche auch, ihm eine Mitteilung zu machen; in etwa einer
Woche verreise sie bereits ins Ausland.

Erik setzte sich an das Fenster und öffnete Frau Römers Brief. Ein
längerer als sonst. Acht Seiten.

»Lieber Freund!

Heute schreibe ich in einer besondern Angelegenheit, die unsre Ruth
betrifft. Aber erschrecken Sie nicht, denn erstens ist es nichts zum
Erschrecken, und dann ist es auch noch keine Wirklichkeit, sondern
vorläufig nur eine Möglichkeit.

Sie erraten wohl, daß es sich um Jurii handelt. Ich wußte wohl von
seiner jugendlichen Schwärmerei für Ruth, ohne sie besonders zu
beachten. Dergleichen ist am Ende kein Unglück für einen jungen
Menschen. Jetzt aber glaube ich, daß er Ruth ernsthaft liebt, und
daß er im Begriff steht, um sie zu werben. Dies ist nun von geringem
Interesse für Sie, es sei denn, daß Ruth ihn wiederliebt. Dafür habe
ich keinerlei stichhaltigen Beweise. Aber das Wunderliche ist, daß man
nie ganz ergründen kann, was in Ruth vergeht, und wie sie in ihrem
innersten Herzen denkt. Nie sah ich einen Menschen, der offener,
nie einen, der verborgener gewesen wäre als sie. Offen: bewußt;
verschlossen: unbewußt. Es ist, als führe sie, noch hinter allem
andern, was sichtbar wird, ein geheimes Eigenleben für sich, von dem
sie selbst nicht recht weiß, aus dem aber dennoch alle entscheidenden
Gefühle und Gedanken bei ihr kommen. So könnte sie recht gut einmal
sich selbst zur Ueberraschung handeln, -- ihrer ganzen klaren,
frischen, heitern Unbefangenheit zur Ueberraschung, -- und gerade damit
ihr eigentlichstes Selbst erst zum Ausdruck bringen. --

Aber nun zu Jurii. Ich kann über ihn nur Gutes, ja Vortreffliches
mitteilen. Ich kann es nur in die Worte fassen: hätt' ich eine Tochter,
-- mir sollt's recht sein. Er ist brav, sympathisch, sehr begabt,
ernst in der Richtung seines Wesens und seiner Interessen. Gänzlich
unverdorben. Dazu kerngesund und ein bildhübscher Junge. Das ist viel
auf einmal. Ueber Familie und Verhältnisse wurde Ihnen selbst schon das
Beste bekannt. Seine große Jugend ist kein Fehler, da Ruth denselben
mit ihm teilt, und da die Zeit ihn so gründlich heilt.

Aber glauben Sie, bitte, trotzdem nicht, daß meine Wünsche Ruth
vorauslaufen, -- auf Kupplerfüßen laufen. Ich wünschte nur, Sie
rechtzeitig vorzubereiten, damit Sie überlegen, wie Sie sich zur Sache
stellen wollen. Denn gegen Ihren Willen, -- nein, auch nur ohne Ihren
vollen Willen, -- würde ja wohl Ruth nie etwas thun --«

Erik las nicht weiter.

Er überflog die nächsten Seiten: sie handelten nicht mehr hiervon.

Ruths Schweigsamkeit, -- war sie doch gewollt, bewußt? Abkehr von ihm,
eine stille Wandlung?

Er glaubte seinen eigenen erwachenden Zweifeln nicht. Aber sie kamen
wieder. Hell und dunkel, Licht und Schatten glitt es über seine
Gedanken hin, wie draußen.

»Aprilwetter, -- in mir! um einen Knaben!« murmelte er im Zorn über
sich; »in Angst um eine Aprillaune, -- in Angst, in den April geschickt
worden zu sein!«

Er war so zornig, so ungerecht als möglich, gegen sie, gegen sich
selbst.

Beim Heraustreten aus dem Zimmer der Mutter sah Jonas den Vater über
die Terrasse in das Schneegestöber hinausgehen.

Und Klare-Bel wollte ruhen, wollte allein sein.

So schlich er sich in seine Stube.

Als Erik nach ein paar Stunden nach Hause kam, bemerkte Gonne gegen
ihn, die Frau habe sich zur Ruhe begeben, sie sei krank.

Erik ging zu ihr.

Sie saß aufrecht im Bett; auf dem Tischchen daneben lagen Bücher.
Im Nachtjäckchen, ihre kleine Haube auf dem, wie zur Nacht, glatt
zurückgestrichenen blonden Haar, sah sie ihm verwirrt und angstvoll
entgegen. Als fürchte sie sich vor ihm. Als schäme sie sich vor ihm.

Er ertrug es nicht. Er beugte sich über sie, das Gesicht auf ihren
Händen, und küßte diese.

»Bel, -- Bel, -- verzeihe mir.«

Sie gab sich Mühe zu lächeln; es war ein merkwürdiges, schwaches,
kleines Lächeln, das dabei herauskam. Und nun wurde sie dunkelrot.

»Ach, Erik, -- nicht so. Es ist mir zu -- es ist mir so ungewohnt.
Schrecklich ist es mir. Sprich nicht so zu mir.«

Er setzte sich neben sie, auf den Stuhl an ihrem Bett.

»Lasest du, Bel?« fragte er zerstreut, gepeinigt.

»Ja, Erik. Du mußt nicht böse darüber sein. Es sind so alte Bücher, --
die alten, weißt du? Aber neulich fand ich einmal etwas, und das machte
mich so glücklich. Das suchte ich mir heute auf. Es ist so schön zu
lesen, Erik.«

Sie sprach rasch, befangen, wie ein verlegenes Mädchen.

Er blickte nieder auf die Bücher. Ein goldenes Kreuz auf dem einen.
Und das andere. P. A. de Génestets »Laiengedichte«, -- diese echt
holländischen Lieder, in denen Trotz und Glaube, Trost und Zweifel sich
seltsam genug mischen.

»Ich hatte sie so völlig vergessen, alle beide. Weiß selbst nicht,
wie nur. -- Wie gut, daß so etwas dableibt, ob man es auch vergißt.
Sie waren so verkramt, und ganz staubig, als ich sie neulich fand. --
Willst du mir die ›Laiengedichte‹ herreichen, Erik? Ein Lesezeichen
liegt drin.«

Er schlug das Buch auf und reichte es ihr. Das Lesezeichen fiel dabei
heraus.

»Höre nur, -- Erik, -- nur einige Verse, magst du? Auch du mußt es
schön finden. Es heißt ›+Peinzensmoede+‹. Es sollte wohl heißen: ›Ich
glaube, Herr, hilf meinem Unglauben‹.«

Und sie las mit ihrer sanften Stimme:


      »Wo -- wo sind die Priester,
    Die dich erklärten?
    In Rätseln wandelt
    Der Mensch auf Erden.
    Geheimnis -- das Leben,
    Geheimnis -- der Tod,
    Die Schöpfung, sie predigt
    Keinen liebreichen Gott.
    Natur nur umgibt dich,
    Die nicht auf dich hört,
    Gleichviel ob sie wohlthut
    Oder ob sie zerstört.

      Und doch, -- nisten Zweifel
    Mir auch in der Brust, --
    An dich, meinen Vater,
    Glaub' ich unbewußt.
    Nicht weil deine Schöpfung
    Dein Lieben enthüllt, --
    Nein! nein! nur trotz allem,
    Dem Zweifel entquillt!
    Trotz jeglichem Rätsel,
    Trotz jeglicher Not,
    Trotz Angst und Verderben,
    Trotz Schmerzen und Tod!

      Ich schmachte, vom Schicksal
    Zu Tode getroffen,
    Meine Hoffnung ist Wehmut,
    Meine Wehmut ist Hoffen.
    Ich ~will's~ -- ~will~ es glauben,
    Daß ich deine Hand
    Im Leben wohl spürte,
    Nur sie nicht erkannt; --
    ~Will's~ glauben, was Kirche
    und Priester mich lehrten:
    Daß niemand umsonst dich
    Gesucht hat auf Erden.«[1]


  [1] Frei nach dem Holländischen.

Sie saß da und las, den Kopf mit dem weißen Nachthäubchen andächtig
gesenkt, die Hände auf der Bettdecke gefaltet. Die Röte der
Befangenheit, der verlegene Ausdruck wichen langsam von ihrem Gesicht;
rührend und vertrauensvoll sah sie aus, wie ein Kind, das seiner Mutter
ein Gebet nachspricht.

Und so nackt legte sie auch jetzt noch ihre Seele -- in all ihrer
Hilflosigkeit und zagenden Hoffnung, vor ihn hin, -- ohne jeden
falschen Stolz. Sie kannte es nicht anders.

Erik hielt noch immer das Lesezeichen in der Hand und betrachtete es
geistesabwesend. Ein recht unpassendes hatte sich da ins Buch hinein
verirrt: ein nackter Amor mit einem großen Rosenbouquet.

Während er aber stumm darauf hinschaute, sprach er in Gedanken zu
Klare-Bel, unterbrach sie im Lesen, nahm ihr das Buch aus der Hand.
Er war ganz eingenommen von diesem wortlosen Zwiegespräch: »Dieser
Titel gehört sicher nicht über deinen Glauben und deine Zweifel,
Bel; ›+Peinzensmoede+‹ bedeutet ja: des Sinnens, des Grübelns müde.
Wann hättest du das gekannt? Ein vom Zufall der Erziehung lässig dir
übergeworfenes Kleid, -- ein durch einen Zufall deiner Ehe lässig von
dir abgeglittenes Kleid: das war in deinem Leben der Glaube.«

Und in Gedanken hörte er Klare-Bel: »Woran soll ich denn aber noch
glauben, Erik? An dich? Doch nicht an dich? Von wo einen Halt nehmen?
Du warst mein Halt. Ach, der hält nicht! Er biegt sich unter meiner
Hand hinweg, und läßt mich stürzen. Soll ich mir selbst ein Leid
anthun? Dich ermorden? ~Sie~ vergiften? Ich bin keiner von den
Menschen, über denen die Leidenschaften vernichtend zusammenschlagen.
Bin ich dadurch nicht nur hilfloser? Meine tiefste Verzweiflung heißt
Hilflosigkeit; -- das Tasten nach einer Stütze: mein letzter klarer
Gedanke. Warum verwehrst du es mir?«

»Weil ich diese Stütze hasse, -- diesen Halt, der mich ersetzen soll.
Nein, weil ich mich dessen schäme, -- daß er mich ersetzen muß. Weil
ich kein Mitleid mehr mit dir habe, -- nur noch Zorn und Haß und Scham
vor mir selbst.« -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Klare-Bel schaute von ihrem Buch auf, unsicher gemacht durch sein
Schweigen.

»Ist es nun nicht schön, Erik?« fragte sie leise, beinahe bittend, »--
mich macht es glücklich.«

»Dann ist es schön, Bel!« sagte er sanft. --

Aber seine Stimmung war nicht sanft. Den ganzen Abend schlug er sich
mit einer ihm fremden Pein herum. Schon am Vormittag, -- als er seine
Frau nicht sofort über ihr Mißverständnis aufklärte, sondern sich edler
nehmen ließ, als er war, -- und jetzt wieder, wo seine Lippen anders
redeten, als seine beschämten, zornigen Gedanken, -- hatte er gegen
seine innerste Natur gehandelt, sich passiv verhalten, die Dinge gehen
lassen. Nicht aus einer Weichlichkeit des Mitleids, -- aus gerechter
Ueberzeugung: ob es ihm sympathisch oder widerwärtig war, durfte nicht
in Betracht kommen gegenüber dem, was Klare-Bel durch ihn erleiden
mußte.

Er hatte sich unausweichlich in die Lage gebracht, gegen seine eigenste
Natur handeln zu müssen.

Den nächsten Tag bedurfte Erik einer gewaltsamen Willensanstrengung, um
seine Gedanken von allem loszureißen, was ihn quälte, und auf seine
Arbeit zu richten. Bald sah er Bel als Betschwester vor sich, bald Ruth
als Braut; Hohn und Erbitterung erfüllten ihn. In beiden Fällen war er
der entthronte König.

»Einen neuen Gott die eine, -- einen neuen Mann die andre, -- es ist
fast dasselbe!« dachte er und erschrak selbst vor der Häßlichkeit
seiner Gedanken.

In einer Pause zwischen seinen Schulstunden, während welcher
er in der Stadtwohnung vorsprach, zog er Frau Römers Brief aus
seinem Taschenbuch. Er hatte ihn nicht einmal ganz gelesen, -- nur
durchflogen, -- und jetzt kam ihm das Gefühl: es müsse wohl thun, diese
Frau reden zu hören, bei ihr Ruhe zu finden vor all dem Häßlichen, was
in einem Menschen aufgewühlt werden kann.

Und er las weiter.

»Es ist ja nicht notwendig, daß Ruth sich schon so jung bindet.
Vielleicht wird sie sich erst viel später verheiraten, -- vielleicht
nie. Nun sehen Sie, dies wäre nicht wünschenswert. Ich weiß nicht, wie
Sie darüber denken. Ich spreche als glückliche Frau naturgemäß für
die Ehe. Aber ich habe gut reden: ohne meinen Mann wäre ich wohl ein
nichtsnutziges Ding geblieben, -- mit etwas Interesse für Tand und
einer großen Leere im Herzen. Ich glaube, Sie legen einen Hauptwert
auf Ruths geistige Entwickelung. Ich auch. Aber dazu verhält sich
ein frühes gleiches Liebesleben nicht als Gegensatz, sondern als die
einzige gesunde, natürliche Grundlage auch des Geistesstrebens im
Weibe. Nicht nur damit Sie Gehilfin des Mannes sei. Häufig langt es ja
gar nicht zu mehr. Wo es aber langt, -- desto besser. Von meinem Mann
glaube ich bestimmt, daß er mich im Ergreifen eines jeden Berufes
unterstützt hätte, zu dem eine entsprechend große Befähigung vorhanden
war. Nicht aus reiner Selbstlosigkeit natürlich. Liebe ist nicht
selbstlos. Wohl aber, um den ganzen frischen Duft, die ganze Fülle und
Freude um sich zu haben, die nur derjenige Mensch auf seine Umgebung
ausstrahlt, der voll erblüht. Und daß zwei Blüten bei einander stehen
wollen: das bedeutet ja wohl ›Ehe ‹ --.«

Erik sprang auf und warf den Brief auf den Tisch. Etwas ganz andres,
als er gesucht, hatte er darin gefunden, -- etwas ganz Unerwartetes:
einen unbewußten Vorwurf.

Seine Ehe mit Bel, das waren keine zwei selbständigen Blüten, die
zusammenstanden: das war eine Blüte, die einen Tautropfen aufgesogen,
der unvorsichtig in ihren Kelch gefallen war.

So würde es wohl Frau Römer ausdrücken.

Römers standen eben von vornherein anders zu einander. Sie bewunderten
sich gegenseitig, -- eigentlich war es rührend. Man konnte nicht recht
darüber lächeln: man mußte diese beiden Menschen achten.

Bel konnte aber nicht mit Frau Römer verglichen werden. Als er sie
fand, ein Jahr älter als er selbst, sinnbethörend schön, bereits fertig
mit ihrer kurzen Entwickelung, -- ein in gewisser Weise viel fertigerer
Mensch als er, -- was hätte er da wohl andres thun können, als dürstend
in sich aufzusaugen, was, nach Selbstuntergang sehnsüchtig, sich ihm
darbot?

Aber wenn man einen schwächern Menschen so absolut in seinen Besitz
nimmt, so fühlt man die furchtbare Verpflichtung: ihn nicht wieder
von sich zu lösen. Man stellt sich für das ganze Leben in einen Kampf
hinein zwischen Scham und Mitleid, bei jedem leisesten Versuch, sich
dieser Verpflichtung zu entziehen.

Wahrscheinlich würde das Frau Römers Meinung sein. -- Auch -- Ruths
Meinung? Ruth grübelte nicht über solche Fragen. Aber was täglich,
stündlich auf sie wirkte, sie beeinflussen mußte, mächtiger als alle
Worte, alle Grübeleien, -- das war Frau Römers Ehe. Eine heilig
gehaltene, glückliche Ehe.

Sobald sein Unterricht ihn freiließ, ging Erik zu Warwara. Mehr, als er
es sich selbst gestehen wollte, war es ihm recht, jetzt noch nicht nach
Hause zu fahren.

Als Erik gemeldet wurde, entfernte sich eine lange, hagere Engländerin,
Warwaras Gesellschafterin, aus dem Zimmer.

»Sie sehen ganz besonders ernst aus,« bemerkte er bei der Begrüßung zu
Warwara, »es ist Ihnen inzwischen doch nichts Unangenehmes passiert?«

Sie mußte hell auflachen.

»Etwas passiert, -- ja. Aber man zählt es nicht zum Unangenehmen.«

»-- Verlobt?! -- war das die Mitteilung?! -- Mit wem?«

Sie setzte sich in ihre Plauderecke. »Gleichviel, mit wem. Ein Ihnen
ganz Fremder. Im Auslande. Sie werden es auf einer schön gestochenen
Verlobungskarte lesen.«

»Und darf ich Ihnen Glück dazu wünschen, Warwara?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine natürlich, ob Sie das Geringste für den Mann fühlen, den Sie
heiraten wollen.«

»Daran zweifeln Sie?«

Er schwieg.

»Ich will es Ihnen sagen. Dazu rief ich Sie ja her. Ich hab' ihn gern.
Sehr gern. Aber mir wird nicht heiß und kalt, wenn ich an ihn denke.«

»Und das scheint Ihnen zu genügen. Es genügt nicht, Warwara.«

»So will ich Ihnen noch mehr eingestehen. Was ich in der Ehe suche, --
das Glück, das ich suche, -- ist nicht der Mann.«

»Sondern?«

Sie stand auf und trat an ihren Blumentisch, mit dessen Pflanzen sie
sich zu schaffen machte.

»Das Kind.«

Erik schwieg überrascht.

Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Es ist ein sehr vertrautes
Geständnis. Aber ich bin mit Ihnen sehr vertraut, -- mehr, als Sie
wissen. Hab' Sie oft so im stillen bei mir selbst um allerlei Rat
gefragt. Sie zum Beichtvater und Seelsorger gehabt. Wir hätten öfter,
als wir gethan, ernste Dinge miteinander teilen sollen.«

»Das hätte mich sehr froh gemacht, Warwara. Schon das, was Sie da
sagen, macht mich froh. Ich bedurfte gerade dessen.«

»Nun, sehen Sie, das ist gut. So will ich's auch ruhig bekennen. Daß
ich wirklich nur ein ganz armes Weltkind bin, voll von allerlei Tand
und Plunder. Und daß ich gern mehr sein möchte. Vielleicht dank Ihnen,
-- dank den stillen Unterhaltungen, die ich da mitunter mit Ihnen
geführt habe. Und so will ich mir denn nun den einzigen Erzieher und
Meister ersehnen und erwünschen, der aus mir noch das Beste machen
kann, -- das Beste, was in mir ist.«

»Das alles erwarten Sie von einem Kinde?«

»Von der Mutterschaft -- ja. Von der Mutterliebe. Dem Mutterglück. Der
Mutterpflicht. -- Und dann,« sie wandte sich lebhaft zu ihm, »irgend
wann einmal, wenn ich wirklich so glücklich sein soll, dann gebe ich
mein Kind in Ihre Hand, damit Sie es zu einem tüchtigen Menschen
heranziehen helfen, Sie Menschenlehrer.«

»Hätten Sie ~das~ Vertrauen zu mir? Ein so festes? Einen ganz festen
Glauben an mich? Ich danke Ihnen, Warwara.«

»Ja. Ich traue Ihnen und Ihrer Kraft unendlich viel zu. Unter der einen
Bedingung: daß Sie Ihre Aufgabe sehr lieben.«

»Mit andern Worten, keine Kraft zur Pflichttreue.«

»Das weiß ich nicht. Ich glaube nur, trotz allem, daß Sie im Grunde
Gemütsmensch sind. Und das heißt doch nur: sehr lieben können, --
Menschen oder Ideen, -- und da, wo man sehr liebt, sich rückhaltlos
verschenken können. Hingegen all das andre, was Sie bisweilen mit
solchem Selbstvertrauen zu behaupten pflegen, -- all die Sicherheit und
Unfehlbarkeit außerhalb dieser leitenden und entscheidenden Gefühle, --
nein, -- daran glaub' ich auch für Sie nicht.«

»Sie sind eine große Philosophin geworden,« bemerkte er halblaut.

»Wie? Sie geben's mir zu?« fragte sie überrascht, »welch ein fremder,
guter Geist der Nachgiebigkeit ist denn nur über Sie gekommen? Aber es
ist wahr, warum sollten auch Sie es nicht einmal fühlen, wie abhängig
wir alle vom Glück sind, -- wir armen Weltkinder alle? Vom fruchtbaren
Erdfleckchen, auf dem auch für uns noch ein ganzes Glück, eine ganze
Liebe, -- und dadurch allein! -- auch eine ganze Pflicht und Heiligkeit
wachsen kann.«

»Und wenn wir dies Erdfleckchen, gerade dies, nicht bebauen dürfen?«

»Dann verdorren wir, -- oder verschleudern uns. Wenigstens ich. Und Sie
auch.«

Ein Diener erschien in der Portierenthür und bat zur Tafel.

Warwara stand auf.

»Geben Sie mir den Arm. So ernst? Ich habe Sie doch nicht verletzt?«

»Nein. Sie haben ganz recht. Hatten recht, als Sie einmal vor langer --
sehr langer Zeit zu mir sagten: ›Wir haben eine gemeinsame Versuchung.‹
Es erkennen, heißt hart werden, -- gegen alles, was uns hindert, uns
fruchtbar auszuleben.« --

Auf dem Lande saßen Klare-Bel und Jonas nebeneinander bei Tisch. Jonas
fand: einander gegenüber, das sei zu feierlich. Es machte ihm Spaß,
dabei die Mutter zu bedienen und ihr vorzulegen, von allem das Beste.
Er war bemüht, sie zu unterhalten.

Klare-Bel hörte nicht recht hin; ihre Blicke hingen an einem Brief,
den Jonas mitgebracht hatte. Er war erst nach Eriks Anwesenheit in der
Stadtwohnung dort eingelaufen.

Von Ruth. Ganz außer der Zeit. Klare-Bel konnte eine schwache,
thörichte Hoffnung nicht unterdrücken, die mitten in Jonas' harmloses
Geplauder hineinredete.

Als Erik, bald nach dem Abendthee, zu Hause eintraf, bemerkte er sofort
den Brief, der für ihn bereit lag. Sein Blick streifte Jonas, --
flüchtig nur, -- aber Jonas stand sofort auf, um hinauszugehen. Der
Vater wußte doch ganz gut, wie schwer ihm das fiel, -- aber er sollte
ihm nicht noch einmal, wie in jener Nacht vor Ruths Abreise, Mangel an
Selbstbeherrschung vorwerfen. Jonas gehorchte ihm jetzt immer blind, --
auf den Wink; denn schickte er ihn auch aus dem Zimmer: er führte ihn
ja doch den Weg zu Ruth.

Klare-Bels Augen hingen mit unaussprechlicher Spannung an Erik, während
er den Brief erbrach. Eine einzige Sekunde, -- die Seite umgerissen, --
eine zweite, blitzschnell, -- und er ballte das Papier in der Hand.

Er war grau im Gesicht.

»Erik! was ist es? -- etwas Schlimmes, -- für dich Schlimmes, -- Erik!«

Sie entsetzte sich vor dem veränderten Ausdruck in seinen Zügen.

Er entfaltete das Papier wieder, nur die Hand ballte er. Vor seinen
Gedanken schwirrten vier Worte: »Ich habe ihn lieb«, und, am Schluß,
etwas wie »den Kuß gab ich ihm«, -- mehr hatte er nicht gelesen. Er biß
die Zähne aufeinander.

Das zu lesen, jetzt, vor den Augen seiner Frau.

Er las es, aufrecht stehend, hell beleuchtet, vor der Lampe.

»Am Schloßberg. Dienstag.

Ich soll Ihnen von Jurii schreiben, sagt Frau Römer. Ob ich ihn lieb
habe. Ich habe ihn lieb. Und ich soll alles so erzählen, wie es gewesen
ist. Es ist so gewesen: Um den Schloßberg stürmte und regnete es.
Ich durfte nicht in die Stadt hinuntergehen, weil ich mit Husten zu
Bett gelegen hatte. Ich ging aber doch hin, um mir ein Buch für meine
Arbeit zu holen. Unten fand ich Jurii, und er brachte mich nach Hause.
Wir gingen unter einem Schirm und mußten uns gut zusammendrücken. Es
war aber sehr glatt, und Jurii mußte immer nur achtgeben, daß ich mit
den Galoschen nicht ins Rutschen kam. Da sagte Jurii zu mir: ›Ich
liebe Sie. Ich liebe Sie so sehr. Werden Sie, bitte, meine Frau.‹ Das
sagte er aber russisch, und darüber fing ich an zu lachen, denn wir
sprechen ja immer deutsch. Da sagte er noch: ›Ich weiß jetzt, daß Sie
mich nicht wiederlieben. Dann gibt es kein Glück mehr auf der Welt.
Sterben möcht' ich.‹ Darüber, daß er sterben wollte, wurde ich ganz
traurig, und er wurde es auch. Wir achteten nicht mehr auf den Schirm
und auf die Galoschen, ich verlor einen, und der Regen lief uns in
den Rücken. Frau Römer schalt sehr, als wir pudelnaß ankamen, steckte
mich ins Bett und kochte heißen Thee auf. Ich lag und weinte, denn ich
wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, damit wir wieder vergnügt sein
könnten. An derselben Wand stand aber im Nebenzimmer ein Diwan, und
da lag jemand und that dasselbe. Frau Römer kam herein, und horchte,
ob nebenan auch jemand weinte und lächelte etwas und sagte, wir wären
rechte Kinder. Darauf setzte sie sich an mein Bett und streichelte mein
Haar zurück (das thut sie gerade so wie Sie) und fragte: ob ich Jurii
denn nicht ein wenig lieb hätte. Ich sagte: ›Ja.‹ Da sagte sie: ›Ich
meine es anders. Denke einmal nach, was dir das Schönste auf der ganzen
Welt ist? gehört Jurii dazu?‹ Ich dachte nach und sagte, das Schönste
auf der ganzen Welt sei ja, daß ich Ihr Kind sei. Darauf sagte sie:
›Vielleicht jetzt noch. Aber kannst du dir denn nicht denken, daß es
später noch viel, viel schöner wäre, einem andern zuliebe Braut zu
sein?‹ Das konnte ich mir nicht denken. Da fragte sie nichts mehr. Sie
küßte mich und ging fort.

Heute ist Jurii fortgereist. Er will nicht mehr hier studieren. Ich
stand gerade bei meinen vielen Schneeglöckchentöpfchen, die ich
im Februar unten in der Gärtnerei gepflanzt habe. Ich schnitt die
aufgeblühten ab für Frau Römers Glas, damit sie wieder gut sein sollte.
Da kam Jurii in mein Zimmer. Er wollte die Blumen haben und einen Kuß.
Er sah so blaß und verweint aus. Ich gab ihm die Blumen. Und den Kuß
gab ich ihm auch.

So ist es gewesen.

Ruth.«

Klare-Bel hatte ihre Augen vom Lesenden abgewendet. Sein Gesicht
verriet alles, was im Brief stand. Allzu deutlich verriet es, daß sein
Schreck umsonst gewesen war.

Erik in dieser Abhängigkeit zu sehen von dem, was Ruth that oder
unterließ, -- das war gräßlich. Das wollte sie nicht sehen.

Sie hatte gemeint, das Schwerste sei über sie gekommen: gestern. Aber
nicht, es zu wissen, war das Schwerste, -- nein, es mit wissenden Augen
zu beobachten, täglich, stündlich, es bestätigt zu finden in solchen
kleinen Vorgängen. Dieses Lieben und Schwanken mit anzusehen, -- das
war schwerer. Nicht nur schwerer, -- unmöglich war es.

Und dann, -- wenn Ruth einen andern abwies, -- dann liebte wohl auch
sie Erik. Und wenn sie ihn liebte -- dann erst war er für Bel verloren.
Auf sein Glück konnte er vielleicht verzichten -- für Bel; auf Ruths
Glück nie. Nicht, wenn er sie wirklich liebte. Wo die stärkere Liebe
blüht, da wächst auch das stärkere Pflichtgefühl: da sorgt man nur noch
um das Glück des andern.

So empfand Klare-Bel.

Am nächsten Tage fehlte sie beim Morgenfrühstück. Gonne hatte es ihr
auf ihr Zimmer bringen müssen.

Erik suchte sie sofort auf. Er war schon in aller Frühe aufgestanden
und hatte, nach mehreren vergeblichen Versuchen, Ruth geschrieben. Aber
diesmal gelang es ihm schlecht, -- ein gequälter Ton klang durch.

Klare-Bel lag im Morgenrock auf ihrem früheren Ruhestuhl, eine
Felldecke über den Knieen. Sie sah nicht krank aus. Vielmehr klar und
gesammelt.

»Du bist doch nicht leidend?« fragte er dennoch, mit ehrlicher Sorge.

»Ich bin nicht leidend, Erik. Aber ich mußte dich bei mir haben. Allein
-- ganz allein, -- ohne Jonas.«

Und sie umfaßte seine Hand mit ihren beiden Händen.

»Um dich zu bitten: laß mich jetzt abreisen! Jetzt schon. Es sollte ja
doch bald sein. Laß es jetzt sein!«

Er schwieg einen Augenblick. Diese Bitte war beredt.

»Wenn du es durchaus willst, Bel. Dann soll es beeilt werden. Ich will
alle Sorge dafür tragen. Ich bin jetzt gebunden. Aber Jonas soll dich
hinbringen.«

»Ach nein, Erik! Laß mich allein hin. Nicht mit Jonas. Gonne genügt.
Ich bitte dich so sehr darum. Mit Jonas bin ich nicht allein. Er hat so
feine Augen. Vor ihm will ich nicht --«

Sie brach ab; aber der einzige Stolz, den sie besaß, ihr Mutterstolz,
schrie in ihr: »Vor ihm will ich mich nicht in meiner Schwäche zeigen,
in meinem Elend!«

»Nun gut. Auch das. Dann soll er dich nur bis über die Grenze bringen.
Darauf bestehe ich, Bel.«

»Ich danke dir. Und nun muß ich dir noch das andre sagen, Erik.«

»Was denn?«

Er schritt unruhig ein paarmal durchs Zimmer und lehnte sich ans
Fenster. Sie sprach so klar und so ruhig bewußt. Er kannte seine
Bel vollkommen, -- jede leiseste Regung in ihr kannte er, -- und
beeinflußte er. Und nun ging von ihrem Wesen ein ihm Unbekanntes, ihm
Entrücktes aus, -- etwas Fremdes. Er fühlte es, ohne es sich noch
erklären zu können, wie einen Druck auf die Nerven. Ein ganz seltsames
Gefühl: als sei noch ein Dritter im Zimmer.

»Ich will es nur lieber schnell heraussagen, Erik. Das andre ist,
daß auch du verreisen sollst, -- so bald als möglich. Nicht erst zum
Sommer, um mich abzuholen. Bald, -- eher, -- in den Ostertagen. Wo du
zwei Wochen Zeit hast. Um sie wiederzusehen. Um dich zu überzeugen, ob
wohl auch sie -- --. Ganz gewiß, das mußt du thun. Denn sonst bist du
zeitlebens unglücklich, Erik. Und das -- siehst du -- das könnt' ich ja
nicht aushalten.«

Die Röte war ihm übers Gesicht geschossen. Dunkelrot bis über die
Stirn. Er warf den Kopf zurück gegen das Fensterglas.

Das war es: eine neue Stütze besaß sie, die sie selbständig gehen und
handeln lehrte! Einen neuen Herrn: schon handelte sie auf sein Geheiß!

Wie hatte er nur an Kampf denken können -- mit Bel! Kampf? Nein,
ausrauben, ausplündern wollte er sie! Aber sie ließ es nicht zu: sie
beschenkte ihren Räuber, -- freiwillig, überreich beschenkte sie ihn:
»Nimm, du Armer, vom Glück Abhängiger, -- ich kann's entbehren, bin die
Stärkere, -- ich kann entsagen, -- du -- nicht.«

Und glühend brannte in ihm die Scham empor, -- glühende Scham, -- und
Auflehnung als einzige Antwort: »Tausendmal lieber ein Räuber als ein
Beschenkter!«

Klare-Bel sah den Schweigenden, Wortlosen nicht an. So ganz ergriffen
und benommen war sie von dem Schweren, das sie vorhatte, daß ihre
Blicke ihn nicht suchten, nicht befragten, wie sonst wohl.

»Heut nacht lag ich immer und dachte: wenn es anders möglich wäre!
Aber das ist es ja: es ist nicht möglich. Du kannst nicht aufhören,
an sie zu denken, und ich, -- wie sollte ich, -- wie sollte ich nicht
anfangen, sie zu hassen? Und so versündigen wir uns aneinander, Erik.
Das soll nicht sein. Es ist immer alles schön gewesen zwischen uns. Es
kann traurig werden, -- sterbenstraurig. Aber nicht häßlich. Das soll
es nicht. Ich ertrüg's nicht.«

Ein halber Laut entfuhr ihm. Sie, -- was wußte sie wohl von »Haß«. Von
Häßlichem. Nein, nichts! Es erfüllte ihn mit einem fast andächtigen
Staunen: in ihr wurden die Gedanken nicht häßlich, nicht bitter und
ungerecht, im Kampf und Zweifel, im Aufruhr und Schwanken der Seele.
Sie dachte nichts Häßliches.

»Und nun hab' ich auch verstanden, -- heut nacht, -- warum ich gesund
geworden bin,« sagte Bel leiser, als er noch immer schwieg, »und warum
wir doch dessen nicht froh werden konnten. Nicht froh, obgleich ich auf
meinen Füßen stehen und gehen konnte. Gott sprach darin zu mir: ›Geh!‹«

»Bel!« stieß er gequält heraus. Diese religiöse Exaltation war ihm
entsetzlich. Aber Klare-Bel sagte ruhig, beinahe freundlich: »Ja, Erik.
Und ich gehe. Gott selbst wollte es so. Er wollte es. Aber Jonas mußt
du mir später lassen. Bei mir lassen. Jonas gehört mir mehr als dir.«

Höchstes und Alltägliches ging durcheinander. Erik fand: nun redete sie
von der Trennung und Scheidung wie von einem Hausumzug; »dies ist mehr
mein, -- dies mehr dein.«

Er trat an ihr Bett.

»Höre mich jetzt an, Bel. Du fassest keinen Entschluß -- über nichts,
-- ehe ich jetzt zu dir gesprochen habe. Offen. Offener als bisher.
Denn du weißt nicht alles.«

»Ach, Erik, -- sage nichts! Es ist schrecklich, es zu hören! -- Nichts,
-- nein! Nur eines -- hätt' ich von dir erbeten!«

Er ergriff die Hände, die sie gegen ihn vorstreckte, und hielt sie
sanft fest.

»Es ~muß~ sein, Bel. Du mußt mich hören.«

»Warte noch. Bitte, nicht! Erik, -- sage mir nur erst: -- hast du --
ihr schon geschrieben?«

»Ja,« versetzte er erstaunt.

»Ich meine -- den ~andern~ Brief?«

»Ja, -- auch den andern.«

»Und du hast ihn vernichtet. Nicht wahr, -- das hast du doch?«

In diesem Augenblick wußte er es selbst nicht. Unwillkürlich griff er
an die Tasche seiner Joppe. Es knisterte leise unter seinen Fingern.

»Erik! -- das ist das Einzige, -- was ich von dir erbitten wollte.«

Seine Hand krampfte sich zusammen um das dünne, zerknitterte Papier,
-- wieder stieg eine Blutwelle ihm ins Gesicht, -- wieder die Röte der
Scham, einer feinen, empfindlichen Scham. Nein, -- nur das nicht! Das
konnte er nicht! Vor Bels Augen das Innerste, Geheimste bloßlegen, --
sein Heiligstes und sein Unheiligstes, -- den Aufruhr der wildesten
Stunde, -- die Andacht der stillsten --.

Aber nur einen Augenblick lang zauderte er so. Sie hatte recht, --
tausendmal hatte sie ein Recht darauf! Und was sie daraus erfuhr, war,
was sie erfahren mußte, -- sich zu erfahren scheute. Und wenn es mehr
war, als sein Bekenntnis hätte aussprechen können, -- wenn er selbst es
war, mit allem, was in ihm tobte, gärte, schluchzte, kämpfte, mit allem
Häßlichen auch, und dem Aufschrei nach Glück, -- dann war es gut so.

Vor seinen Worten scheute sie sich, -- vor der endgültigen Klarheit:
und in dieses Dunkel griff sie verlangend, -- vermessen. Wer ergründet
wohl einer Frauenseele Furcht und Neugier!

Er reichte ihr das zerdrückte Blatt, -- zusammengeballt war es zu einer
Kugel.

»Du hast es gewollt.«

Dann verließ er sie.

Nebenan im Wohnzimmer stand der Frühstückstisch noch unabgeräumt. Jonas
hatte vergeblich auf den Vater gewartet und zur Schule gehen müssen.

Erik blieb in der Mitte der Stube stehen und starrte ins Leere.

»Nicht entsagen!« war sein einziger deutlicher Gedanke. »Nicht
entsagen! nicht in der Versuchung des Mitleids, -- nicht in der
schlimmern: der Versuchung der Scham.«

Ihm war, als handle es sich gar nicht um einen einzelnen Menschen, noch
weniger um ein Weib, -- nein, um alles, was Mensch hieß, was ihm Mensch
sein konnte, -- um alles, was er überhaupt berühren konnte, schaffend,
wirkend, liebend, -- um sein eigenes Menschsein.

Es konzentrierte sich alles in diesen zwei kindlichen, gläubigen Augen,
die auf ihn warteten und zu ihm emporschauten.

Entsagen hieß: in die Wüste gehen, -- nicht nur mit seiner Liebe,
-- auch mit seiner Thatkraft, -- mit seiner Kraft überhaupt, -- ins
Unfruchtbare, in die tote Einsamkeit.

Gab es eine Kraft auch für die Wüste? Die in solcher Einsamkeit
standhielt? Ja, in ihr vielleicht erst erstand? Die nicht mehr eines
andern bedurfte, um stark und schön zu bleiben, -- keiner Augen, die da
glaubten, und warteten, und an sie appellierten?

Ja vielleicht! für Reflexionsmenschen, die sich selber über die
Schulter gucken, sich in sich selbst bespiegeln, -- spottend oder
genießend! Oder für Gefühlsmenschen, die in ihren eigenen Erregungen
sentimental zu schwelgen und zu schwimmen wissen, -- auch sie ihr
eigenes Publikum!

Aber nicht für solche, die in sich selber unteilbar eins sind und daher
auch hilflos in sich selber, -- wenn sie sich nicht dadurch helfen
können, daß sie handeln, aus sich heraus wirken, -- und sich selbst
erkennen, wiedergespiegelt im Auge eines andern.

Aber Bel? Warum konnte sie entsagen? sie, die weder in Reflexionen noch
in Gefühlen schwelgte, sie, die vielmehr naiv und schüchtern war und
keineswegs ihr eigenes Publikum? Aber so ging es auch: mit dem großen
suggerierten Zuschauer, -- mit dem da oben, der alles sah. Auch sie
hatte ihren Spiegel, für den sie sich schön erhalten mußte, -- das
Gottesauge, den blauen Himmelsspiegel!

Ein schwacher Laut, wie ein Stammeln oder Stöhnen, drang aus Klare-Bels
kleinem Nebengemach. Es war, als wolle sie Erik in seinen bittern
Gedanken unterbrechen, -- widerlegen.

Er trat zur offenen Thür.

Bel hatte den Brief von sich geworfen, weit fort, auf den unteren Rand
der Felldecke. Sie lag da, das Antlitz glutrot, in den Händen
vergraben.

»Lieber Gott!« betete sie, »großer, barmherziger Gott, der du im Himmel
bist, und in die Herzen der Menschen hineinsiehst, nimm mir meine Liebe
aus meinem Herzen!« --

                   *       *       *       *       *

Warwara war sehr überrascht, als sie am nächsten Tage Erik auf der
Straße traf und von der bereits jetzt bevorstehenden Abreise seiner
Frau hörte. Sie redete auf das lebhafteste zu, noch eine einzige
Woche zu warten und Klare-Bel dann mit ihr zusammen hinausreisen zu
lassen. Aber es fruchtete nichts. Schon den folgenden Morgen konnte sie
der Fortfahrenden, der sie baldigen Besuch im Bade versprach, einen
mächtigen Rosenstrauß in das Waggonfenster stecken. Warwara war außer
Erik die einzige, die Mutter und Sohn das Geleit gab, und sie fand, daß
die Gatten sich nicht ganz unbefangen gegeneinander verhielten.

Nach Abfahrt des Zuges verabschiedete Erik sich nur kurz und hastig von
ihr. Sehr nachdenklich fuhr sie nach Hause.

Ihre klugen Gedanken mißverstanden ihn vollkommen. Sie glaubte ihn
eigentlich als Mann in seinem eigenen Heim befriedigt, aber als
Mensch in seinem Wirkungskreise unbefriedigt. Und wenn sie, scherzend
oder ernst, von »Versuchungen« für ihn sprach, so meinte sie damit
gelegentliche Versuche, die hungernde Thatkraft durch Näschereien und
Tändeleien zu betäuben. War jetzt so etwas im Spiel? Jetzt, wo Erik so
völlig zurückgezogen lebte, -- schon seit einem Jahr? Wo er ganz aus
der glänzenden, leichtlebigen Welt der Gesellschaft verschwunden war,
die ihn einst fesselte, und die er gefesselt hatte? War eine Frau im
Spiel? --

Wenige Tage später, an einem Sonntag vormittag, wollte Warwara eine
notwendige Besichtigung ihres Landhauses zum Anlaß nehmen, um bei Erik
vorzusprechen und zu erfahren, ob Jonas mit guten Nachrichten von der
Grenze heimgekommen sei.

Beim Einsteigen in die erste Klasse des finnländischen Zuges erstaunte
sie darüber, sich nicht allein zu finden. In der Ecke ihr gegenüber saß
eine ganz junge Dame und blickte mit großen, erwartungsvollen Augen zum
Fenster hinaus.

Warwara betrachtete sie mit flüchtigem Interesse. Wie immer, fielen ihr
zuerst und hauptsächlich lauter einzelne Aeußerlichkeiten auf.

Ein zarter, geschmeidiger Wuchs; das eng anliegende dunkelblaue
Tuchkleid mit offenem Jackenteil, auf tiefrotem englischen
Flanell abgefüttert, zeigte nur hoch am Halse einen kleinen
weißen Linnenstreifen. Ein schmaler Fuß guckte, in ungeduldiger
Bewegung, unter dem Rock hervor. Aschblondes Haar, von einer starken
Schildpattnadel im Knoten zusammengehalten, drängte sich um Stirn und
Schläfen in seinem Gelock aus einem weichen Barett von dunkelblauem
Sammet hervor.

In Warwara stieg eine unbestimmte Erinnerung auf, sie wußte nicht,
an wen. Eine junge Engländerin? So eindringlich blickte sie auf ihr
Gegenüber, daß dasselbe sich ein wenig befremdet nach ihr umwandte.

Ein paar Sekunden lang erwiderte das junge Mädchen fest und forschend
ihren Blick. Dann grüßte sie mit einem schwachen Lächeln.

Das Lächeln half Warwara plötzlich auf die Spur.

»Ruth!« entfuhr es ihr. Sie verbesserte sich sofort, lachend:
»Verzeihen Sie nur. Die Zudringlichkeit erst und jetzt. Aber ich suchte
und suchte, und was ich fand, war, was mir im Gedächtnis geblieben: Ihr
Vorname.«

»Es genügt ja vollkommen,« sagte Ruth. »Ich nehme an, wir haben Einen
Weg?«

»Nein!« versetzte Warwara mit raschem Takt, denn sie wollte
nicht stören, »ich fahre nur zu einer Besichtigung meines
reparaturbedürftigen Landhauses hinaus. Aber unsre Freunde erwarten
Sie?«

Ruth errötete und schüttelte den Kopf.

»Nein; ich bin sehr -- ganz unerwartet von Heidelberg abgereist,«
entgegnete sie mit auffallender Befangenheit.

Warwara durchzuckte blitzähnlich ein Verdacht. »Das ist sie, -- die
›Versuchung‹,« dachte sie, »sehr jung, aber ich argwöhnte schon damals
hinter ihren geübten Formen: sehr durchtrieben.«

»Da wird es Ihnen leid thun, eine Lücke zu finden,« bemerkte sie laut,
»denn Sie wissen wohl noch gar nicht, daß Sie Klare-Bel nicht treffen?
Sie ist schon abgereist.«

»Nein!« rief Ruth betroffen, »das konnte ich ja noch nicht wissen! Es
hat doch keinen schlimmen Grund? Ja, das thut mir leid!«

Sie sah so ehrlich aus mit ihren ungeduldig fragenden Augen, daß
Warwara sich schämte. »Sie wußte wirklich nichts davon; es war nicht
verabredet; was bin ich für ein häßlicher Mensch!« sagte sie sich,
und wandte sich in herzlichem Tone zu Ruth: »Nein, kein schlimmer
Grund. Klare-Bel ist so gesund, wie man es nie hat erwarten dürfen,
und nun geht es stetig bergauf. Im Anfang des Winters hat sie freilich
noch viel aushalten müssen. Einmal sagte sie zu mir in trübem Scherz:
›Erik muß mich mit Gewalt dazu zwingen, gesund werden zu wollen.‹ Eine
Operation hat er selbst gemacht, weil die Aerzte es nicht wollten --
ohne Betäubung. ~Der~ Mann hat Eisen im Blut. Aber es hat ihn gehörig
geschüttelt. Ich hab' ihn ein paarmal gesehen: blaß wie ein Tuch.«

Ruth lauschte stumm, ihre Hände verschlangen sich in ihrem Schoß, die
Lippen öffneten sich halb, die Augen sagten immer nur: »Mehr!« Als
Warwara schwieg, atmete sie tief auf.

»Das schrieb er nicht, daß er selbst, -- -- daß er ihr eigentlich
selbst die Gesundheit wiedergegeben hat. Aber so mußte es sein! Er
kann alles, was er will! Und das wollte er ~so~ aus voller Seele, daß
sie wieder gesund und glücklich sein sollte. Er hat dafür gelebt. Wie
grenzenlos froh müssen sie jetzt sein! Nun, wo er alles zum Guten
geleitet hat! Nun, wo es ist, wie ~er~ will: ~wo sie glücklich~ ist.«

Sie sprach hingerissen; ihre Augen blitzten.

Warwara betrachtete sie nachdenklich. Sie kam ihr gar nicht mehr, wie
damals, so formell abgeschliffen und gewandt vor, sondern im Gegenteil
wie ein Wesen, an dem alles Beseelung und nichts mehr Form ist. Eine
Seele, bis zum Rande gefüllt mit Hingebung und Gläubigkeit, -- -- und
Liebe? Dann konnte sie nicht mit so kindlicher Unbefangenheit und
Freude sprechen. Keine Liebe? Dann konnte sie nicht mit diesem Blick
und diesem Ton sprechen.

Der Zug hielt. Sie stiegen aus.

Warwara bequemte sich dazu, eines der kleinen rasselnden Fuhrwerke zu
benutzen, die am Stationsgebäude bereit standen, und deren Kutscher sie
sofort umschrieen. Ruth hatte einen andern Weg. So trennten sie sich.

Warwara sah sich im Fortfahren noch wiederholt nach ihr um.

»Es ist etwas an ihr, das nicht in das Leben gehört, -- Poesie. Poesie
im Konflikt mit dem Leben, -- was ergibt das wohl?« dachte sie; -- »es
ist, wie wenn man die erste Seite eines Romans aufgeschlagen hätte: --
o pfui, nein! -- oder: die letzte eines Märchens.«

Ruth ging langsam hin, zwischen den kahlen Birken am Wegrande; nicht
in Hast, ein paar Minuten früher anzukommen. Mit einem lauschenden
Gesichtsausdruck atmete sie den Frühling um sich her ein, als ob er in
tausend Blüten um sie stände. Noch war er nicht da, man sah ihn nicht,
-- und doch war er da, in der Luft, in alles erfüllender unsichtbarer
Gegenwart. Man hörte ihn; in einzelnen feinen kleinen Singstimmen sang
er von den blattlosen Zweigen.

Der Himmel hatte sich schwach bedeckt, die Sonne schien nur in
verhaltenem Glanze nieder, -- Ton, Licht, Farbe wirkten gedämpft,
verhüllt, und wie eine Verheißung.

Und nun stand Ruth am alten Lattenzaun mit der knarrenden Gitterpforte.
Sie öffnete, durchschritt den Garten und stieg, zaudernd, leise, ein
paar Stufen zur Terrasse hinauf.

Vorsichtig vornübergebeugt spähte sie von der Seite her in das breite
Fenster des Wohnzimmers, ob jemand darin anwesend sei.

Der Tisch war zum zweiten Frühstück gedeckt; hinter den Tellern mit
kaltem Fisch und fleischgefülltem Gebäck dampfte der Samowar.

Jonas saß allein am Kamin. Er hielt eine lange Bratengabel in der Hand,
an deren Zinken ein Brotscheibchen klebte, und ließ dasselbe an der
roten Holzglut rösten. Wie er so dasaß, einen Arm nachlässig um die
Stuhllehne geschlungen, in wartender Haltung, den Kopf mit den etwas zu
fest geschlossenen Lippen hell vom Feuer bestrahlt, erinnerte er stark
an Erik.

Das Scheibchen geriet zu nah an die Flammen; es glitt plötzlich von der
Gabel und fiel hinein.

Jonas sah verdutzt aus. Er wandte sich um, und spießte ein neues auf;
diesmal gelang es besser.

Dann spülte er einen Theetopf kunstgerecht mit heißem Wasser aus und
machte einen Aufguß. Dabei kamen seine Finger ungeschickt genug unter
den geöffneten Hahn des Samowars, und ein siedender Strahl verbrühte
ihm die Hand.

Jonas machte den Mund weit auf und fing an auf einem Bein im Zimmer zu
tanzen.

Vom Fenster erklang helles Gelächter.

Er blieb stehen, wie wenn ein Blitz von der Zimmerdecke vor ihm
niedergefahren wäre. Mit einem ungläubigen Ausdruck, als trauten sie
sich selbst nicht, richteten sich seine Augen nach dem Fenster.

Er streckte die Hände aus nach dem Bilde hinter der geschlossenen
Scheibe, das ihn auslachte, und das wie Ruth aussah; er wußte nicht, ob
er Ruth träumte, oder ob er Ruth sah.

Aber im nächsten Augenblick schon hatte er das Fenster aufgerissen, daß
es dabei fast in Splitter schlug, und heraus streckten sich die Hände
nach dem lachenden Kopf und hielten ihn fest.

»Aber, Jonas! laß mich nur erst zur Thür hineinkommen!«

»Nein, -- nicht!« murmelte er, als könne sie ihm doch noch wieder wie
ein Traumbild plötzlich entschwinden, »nicht abwenden, ich laß dich
nicht! Zum Fenster herein! Es muß gehen. Setz den Fuß auf die Rampe, --
ganz fest, -- hörst du? Ich hebe dich.«

Sie sah ihn an: das da sagte er nun ganz so wie Erik.

Das Klettern hatte sie noch nicht verlernt. Mit einem Satz stand sie im
Zimmer.

Er ließ sie los. Er trat zurück. Nun, wo sie da vor ihm stand, nicht
mehr hinter einer geschlossenen Scheibe, sanken ihm die Arme. Eine
grenzenlose Befangenheit überkam ihn plötzlich.

»Wie ist es nur möglich, daß du da bist, -- von wo bist du nur
gekommen?« Er starrte sie an, als sei er überzeugt, daß sie vom Himmel
gefallen sei.

»Mit dem Blitzzug. Gestern abend. -- Und -- dein Papa?«

»Er müßte hier sein. Aber jetzt vergißt er die Zeit. Stundenlange Gänge
macht er, allein, -- seit Mamas Abreise.«

»O Jonas, -- daß Mama gesund geworden ist, -- nicht wahr? Ist es nicht
wie ein Wunder, -- immer noch?«

»Ja. Und jetzt werde ich auch Arzt. Weißt du es? Für den Fall, daß du
später einmal krank wirst.«

Sie hatte sich an den Kamin gesetzt und betrachtete ihn mit freudigen,
übermütigen Augen.

»Hoffentlich werde ich später einmal krank. -- -- Wie ist es dir nur
ergangen, Jonas? Du schriebst nie.«

Er sah rot und verwirrt aus.

»Nie? Mir? Ja, ich mußte doch, -- ich dachte ja, -- -- Du! willst du
nicht eine Tasse Thee haben?«

»Nein, danke,« sagte sie lachend; »aber die Hauptsache ist: bald kommst
du nach Heidelberg, nicht wahr? Wie herrlich, Jonas. Da studieren wir
zusammen.«

»Ja,« versetzte er tiefatmend, »-- endlich: -- bald! endlich! endlich
zusammen! Ja, -- siehst du: lang wär's so nicht mehr gegangen. --
-- Hab' gelebt wie im Grabe,« fuhr er mit plötzlich ausbrechender
Heftigkeit fort, »-- muß in deiner Nähe sein, Ruth. -- Bei dir. Ja,
-- du! -- ich liebe ja nur dich. Nur dich lieb' ich, -- -- nimm mir's
nicht übel, -- aber ich lieb' dich wirklich. Kann ja nichts, hab'
nichts, bin nichts, -- muß mich eben erst durchbeißen, -- aber bei dir
sein will ich wenigstens, -- jedem die Faust zeigen, der's auch will,
-- der dir nahe kommen will! Jedem! Hüten soll er sich! Niederschlagen
jeden -- --«

»Jonas! Du rasest!«

Sie war aufgesprungen, blaß vor Schreck.

Er kam zu sich, versuchte zu lächeln, einzulenken, -- und plötzlich
stürzte er vor ihr in die Kniee, das Gesicht in den Falten ihres
Kleides.

»Ach, Ruth! sei nicht böse! Du weißt nicht, -- es war ja so schrecklich
für mich, -- all die Zeit, -- so stumm in mich hineingewürgt, alles.
Sieh mich an, sei nicht böse! Nie wieder, -- es kommt nie wieder,
bis --: Ich weiß, -- ich darf noch nicht. Aber einmal, -- ~einmal~
mußt' ich, -- ich wär' erstickt sonst. Ach, liebe Ruth! Ich bin ja so
grenzenlos unglücklich, bis -- bis du mein -- mein -- geworden bist!«

»Jonas!« flüsterte sie, »-- Jonas, ich bitte dich, -- steh auf, -- laß
mich los, -- du bist wahnsinnig, Jonas! Das kann ja nicht --«

Er klammerte sich an ihrem Tuchrock fest, den sie aus seinen Fingern
losen wollte, -- er umklammerte ihre Hand, ihre Hüfte.

»Es kann nicht?!« schrie er fast drohend, und als sie sich mit einer
unerwarteten Bewegung freiwand, vergrub er wie besinnungslos seine
Zähne in ihren Handrücken.

Dunkel drang das Blut vor.

Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und schwieg.

Er stand langsam auf, zur Besinnung gekommen. Er küßte ihre Hand.

»Verzeih mir!« sagte er leise und brach hilflos in Thränen aus, »Ruth
-- hast du mich denn gar nicht lieb? Nicht ein kleines bißchen? Was --
was sind wir uns denn? was -- in Zukunft?«

Sie faßte ihn an beide Schultern; -- angstvoll und liebevoll sah sie
ihm ins verstörte Gesicht.

»Jonas! Jetzt, -- und in Zukunft, -- und immer, -- ~Geschwister~!«

Er nahm ihre Hände von seinen Schultern, ging langsam die wenigen
Schritte bis zur Thür, öffnete sie, -- und stürzte hinaus, über die
Terrasse, die Stufen hinab, und verschwand im Garten.

Totenstill wurde es plötzlich im Hause. Nur die Funken knisterten und
lohten hell auf im Kamin.

Ruth lehnte am Tisch und blickte nieder auf die Blutstropfen auf ihrer
Hand. Langsam errötete sie, immer tiefer, bis ihr das ganze Gesicht in
Flammen stand.

Was that sie hier, -- allein, -- im Hause, -- ein Eindringling, -- der
Jonas hinausgetrieben?

Die Thür war weit offen geblieben. Als sagte sie: »Geh wieder!«

Ruth sah sich um. Nein, niemand sagte es. Auch Klare-Bel nicht. Nur ihr
großer Stuhl stand da, mit einem hohen Schemel davor, -- leer. -- -- --

Als kurze Zeit darauf Erik die Gartenpforte öffnete, saß in der Tiefe
des Gartens, den die kahlen Bäume weithin überschauen ließen, Ruth auf
der Bank unter den überhängenden Birken.

Erik blieb stehen, blickte schärfer hin, und kam langsam näher. Sie
bewegte sich nicht. Wie hingezaubert von seiner Sehnsucht, in den
grauen Frühling hinein, so daß sie ~da~, -- in unsicheren Umrissen,
-- dann immer lebenswärmer, -- immer beseelter vor seinen Augen, kein
blasses Gedankenbild mehr: Wirklichkeit. Weich hob der blonde Kopf sich
ab von den weißlichen Birkenstämmen und dem Gehölz dahinter, das die
Sonne matt durchdrang, in einem Schattenspiel von rosigvioletten
Farben.

Ruth überfiel es wie eine Schwäche, lähmend, je näher Erik ihr kam, je
näher die Wirklichkeit sie umfing, die unsäglich ersehnte. »Zu Hause!
jetzt erst zu Hause!« dachte sie wie im Traum, und ihre Hände hoben
sich ihm entgegen.

Dieses seltsam Stille, dieses Unfähige zu jedem Ausbruch, jeder
lauten Bewegung, hielt auch Erik davon zurück, -- als fürchte er zu
verscheuchen, was er endlich wieder so beredt, so wortlos beredt und
überzeugend vor sich sah: Blick, Ausdruck, Gebärde.

Ueber Ruths Kopf saß in der Birke ein Rotkehlchen, schaukelte sich auf
schwankendem Zweig und sang hell.

Wie Erik vor der Bank stand, flatterte es erschrocken auf und flog
davon.

Er hatte Ruths Hände ergriffen, er hielt sie fest in den seinen, er zog
ihre Hände fest an sich.

»Lieb' -- Liebling!« murmelte er, den Blick auf ihrem Gesicht.

»Ich, -- -- der Brief, -- er machte mir angst,« sagte sie matt, »etwas
Fremdes, -- Zweifel war darin. Ich mußte fort.«

Er hörte nur ihre Stimme; er mußte sie wieder hören.

»Mit dem Rotkehlchen -- hergeflogen?« fragte er.

Sie sah ihn an, -- etwas zaghaft, etwas schelmisch; »Durchgebrannt,«
sagte sie.

Er setzte sich neben sie, ohne ihre Hände aus den seinen zu lassen.

»Von Römers?!«

»Ich mußte. Sie ließen mich nicht. Römer half mir. Aber sie --
sie blieb unerbittlich. Wie entsetzt war sie. ›Nur jetzt nicht!‹
sagte sie immer. Da brannte ich durch. Noch bei Nacht, -- heimlich.
Telegraphierte unterwegs. Ich mußte kommen. -- Durfte ich?«

Sie fragte es schüchtern, um seine nachträgliche Erlaubnis bange, wie
ein Kind. Vor Frau Römer hatte sie bittend auf den Knieen gelegen, --
aber das sagte sie nicht.

Er nahm ihr das mützenartige Barett ab und strich ihr das Haar aus dem
Gesicht zurück. Ganz wiedersehen mußte er sie.

»Ob du durftest? -- ~Heimkommen~, -- ja! Bei Tag und bei Nacht;
heimlich und offen. Es war Zeit. Zwei Wochen später wäre ich gekommen
-- zu dir. Vergiß den Brief, -- alle Briefe, -- das Fremde, den
Zweifel, -- vergiß alles -- alles. Sei nur bei mir.«

Ja, da war es: das Gefühl der Geborgenheit, süß, zwingend,
Heimatsgefühl, -- nein, mehr als nur das, noch etwas andres, -- dieses
Unbedingte und Ausschließliche, das keine Macht im Himmel und auf Erden
ihr gab: nur er ganz allein.

»Was hast du an der Hand? verletzt? laß es mich sehen,« bemerkte er und
wollte das Taschentuch lösen. Sie zuckte zurück. »Thut es so weh?«

»Nein. Nichts. Bitte nicht,« sagte sie hastig, und ein Schatten glitt
über ihr Glück.

Erik stand auf.

»Komm hinein. Komm, Liebling. ~Zu Hause~ bist du erst in meinem Zimmer,
-- im alten Ledersessel, -- nicht wahr? Und hier ist es noch zu kalt
für dich, zu windig.«

Während sie dem Hause zugingen, sagte Ruth: »Unterwegs erfuhr ich durch
einen Zufall von der beschleunigten Badereise. Ist es nicht schlimm,
daß sie noch in die Schulzeit fiel? nicht in die Ferien? Mir thut es so
leid, daß ich nicht mehr rechtzeitig -- --«

»Laß das,« unterbrach er sie halblaut, »-- ich werde dir später alles
erzählen, -- später.«

Ruth wandte aufhorchend den Kopf nach ihm. Etwas, das sie fremd
berührte, klang aus seinem Ton. Es war nur ein einzelner
durchklingender Ton, aber er gehörte nicht zu Erik. Er selbst kam ihr
in diesem Augenblick fremd vor. Er sah unverändert aus, -- wie vorhin,
-- bis auf den Blick. Der Blick war verändert, unsicher.

Erik ließ sie unbemerkt einen Schritt vorausgehen.

Als sie die Stufen zur Terrasse hinaufstieg, folgten seine Augen
aufmerksam jeder Bewegung ihrer Gestalt. Sie war ziemlich stark
gewachsen, gleichzeitig hatte sich aber ihr Körper kräftiger,
weiblicher entwickelt. Die dunkle Tuchkleidung zeichnete die feinen,
weichen Formen ab.

Daß Ruth ihr Haar aufgenommen trug, störte ihn.

»Der Knoten nimmt dich mir fort, -- den duld' ich nicht,« sagte er
beim Eintreten in den Flur, und ehe sie es gewahr wurde, hatte er mit
geschicktem Griff die breite Schildpattnadel aus ihrem Haar gezogen. In
dichten lockigen Wellen fiel es nieder bis zum Gürtel, wie einst.

»Ach nein, -- nicht, -- wo haben Sie die Nadel?« fragte sie verdutzt
und griff nach dem Rücken.

»In meiner Joppentasche. -- Aber wiederhole das noch einmal. Nun?
›Sie?‹ oder ›Du?‹. Im Brief stand einmal ›Du‹. Nur einmal? Oder
eigentlich -- immer?« fragte er leise.

Sie errötete verwirrt.

»Sie -- -- du -- -- ich --«

Die Hand noch in ihrem Haar, bog er sanft, unwiderstehlich ihren Kopf
nach vorwärts, so daß sie das ganze in Glut getauchte Gesicht zu ihm
aufheben mußte. Sie schloß unwillkürlich, erschauernd, die Augen und
gab seiner Hand nach.

Leidenschaftlich, tiefernst forschten seine Blicke in ihren Zügen.

»Mein. Mein Fürstenkind, meine Königin,« flüsterte er.

Und er beugte sich, und seine Lippen küßten den leise bebenden Mund.

Ruth zuckte unmerklich. Er gab sie sofort frei, und öffnete die Thür zu
seinem Arbeitszimmer.

»Hier wartet dein alter Platz auf dich,« sagte er und ging dem Fenster
zu. Aber sie war nicht gefolgt. Dem Fenster gegenüber, am Ofen, blieb
sie stehn, den Kopf mit dem aufgelösten Haar gegen die weißen Kacheln
gelehnt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ganz versonnen sah sie
hinauf zur Zimmerdecke mit fragenden Augen und träumerischem Gesicht.

»Was ist dir?« fragte er unruhig, »-- Ruth! -- was ist dir?«

Es drängte ihn, sie in die Arme zu schließen, -- sie wachzuküssen: »Du
liebst mich, -- du liebst mich ja, du weißt es noch nicht, aber ich
weiß es für dich! Weiß es gewiß, -- fühle es, sehe es, daß sie da ist,
-- daß deine Liebe, die Liebe des Weibes, da ist!«

Aber er schwieg.

Ja, sie war da, -- und doch konnte er so nicht handeln, so nicht
sprechen, ohne sie zu verscheuchen. Sie war da, -- wie das Rotkehlchen
auf dem schaukelnden Zweig, das aufflog bei seinem Nahen. Sie war da,
-- aber greifen konnte er sie nicht.

Erik blickte einen Augenblick schweigend in den Garten hinaus, dann
setzte er sich in den alten Ledersessel am Fenster.

»Du bist also doch nicht heimgekommen, Ruth,« sagte er, »nicht ganz
zurückgekommen zu mir. Irgend etwas in dir verschließt sich vor mir, --
will mich nicht einlassen. Nicht bis in den geheimsten Winkel deiner
Seele. Nicht in alles. Ich bin dir fremd geworden.«

Da löste sie sich vom Ofen, sie flog zu ihm, sie glitt nieder zu seinen
Knieen, -- ganz blaß.

»Ja!« sagte sie außer sich, »-- fremd, -- etwas Fremdes, -- ich kann es
nicht verstehn und quäle mich.«

»Was ist es? Sage es mir.«

»Ich kann nicht,« murmelte sie.

»Doch, doch! Du kannst. Mußt es wieder lernen, -- zu sprechen, oder
auch nur zu stammeln, aus dem Innersten heraus, -- noch aus dem
Unklarsten, Unverstandensten --. Es ist nur Scheu. Ueberwinde sie.«

»Es ist, -- im Kuß war es,« sagte sie leise.

»Hat es dich verletzt, -- daß ich dich geküßt habe?«

»Mich?! verletzt? mich?! nein! -- was liegt an mir?«

»-- Für mich -- alles, Ruth. -- Aber warum quält es dich dann?«

Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.

»-- Weil, -- es ist dasselbe, was im Brief war, nur in diesem einen,
-- als ob er gar nicht von Ihnen kam, -- und dann: wie ich von Ihrer
Frau sprach, im Garten, -- und dann: im Kuß, -- da fühlte ich es ganz
deutlich, das Fremde darin, und daß es -- --«

»Daß es --?«

»Daß es nicht sein soll,« flüsterte Ruth, »weil es ist, als ob ~Sie~ es
nicht sind. Ein Fremder. Ein Schlechterer.«

Er antwortete nicht.

Wie sie aufblickte, schüchtern, fragend, da hatte er die Augen
geschlossen.

Nach einer Pause sagte er mit gedämpfter Stimme: »Du täuschest dich.
Es ist nichts Fremdes, -- nichts Schlechtes. Ich bin es selbst, --
und in dir selbst ist es, du erkennst es nur nicht, -- mit deinen
Kinderaugen.«

Er strich ihr über das Haar hin, und sah hinweg über sie, die, den Kopf
unter seiner Hand gebeugt, erwartungsvoll lauschte.

»Weißt du noch, -- als du das erste Mal hier warst, -- was wir da an
dieser Stelle miteinander sprachen, und was ich dir versprach? Ich
wollte dich aus der Welt der Phantasie, in der du träumtest, in die
Welt des wirklichen Lebens führen. Das ist damals geschehen, Ruth, und
du bist nicht das Kind mehr, das träumt, sondern ein voll erwachender
Mensch, der lebt, -- lebt mit allen seinen jungen Kräften. Aber weißt
du, wodurch das gelang? wodurch ich dich so in deinem ganzen Wesen habe
bestimmen und entwickeln können? Nur weil es einen einzigen Punkt gab,
wohin sich alle vertriebenen Traumgeister, alle verstummten Märchen,
alle Mächte der zaubernden und dichtenden Phantasie flüchteten. Dieser
Punkt war dein Verhältnis zu mir. Da ging dein Blick noch nicht
auf die Wirklichkeit, sondern, über jede Wirklichkeit weit hinaus,
auf alles, was einem Kinderherzen anbetungswürdig ist. Da lebtest
und gehorchtest du nicht einem Menschen, sondern einem über alle
Menschen emporgehobenen Bilde, -- in deinem Innern. Aber diese ganze
Traumschönheit, Ruth, in der dein Verhältnis zu mir noch steht, --
sie ist dennoch nur eine glänzende, strahlende Form, eine kindliche
Umhüllung, -- nicht das Wesentliche daran. In ihr schläft, wie in einem
Märchen, die dir unbekannte Wirklichkeit und Menschlichkeit und wartet
darauf, daß sie erwachen darf. Erwachen aus dem Traum zum Leben, wie
dein ganzes übriges Wesen.«

Er brach ab.

Sie sah aufmerksam und ernsthaft auf, bemüht, seinen Worten genau zu
folgen.

»Deine schönen Märchengeschichten,« fuhr er nach einer kurzen Pause
fort, »habe ich dir zerschlagen müssen, weil sie dein volles Leben
aufhielten. Das schmerzte nicht sehr, denn die saßen ja nur in deinem
Kopf. Wenn ich nun die Phantasiewelt zerstören muß, die mit deinem
ganzen Herzen verwachsen ist, -- und dir Schmerz damit zufüge, -- wirst
du dein Vertrauen behalten, Ruth, deine Liebe -- zu mir?«

Sie versuchte aufzustehn, ein Gefühl der Angst überkam sie plötzlich.
Er hielt sie zurück.

»Höre mich, Ruth. Wenn ich dir nun sagen würde: der Brief, daß der dir
fremd klang, war, weil ich selbst in Zweifel und Zwiespalt und Angst
war; -- daß ich dich küßte, war, weil ich nach Glück durstig war und
mein Glück langer nicht entbehren kann; -- daß ich es nicht ertrug,
dich von meiner Frau sprechen zu hören, war, weil -- ich keine Frau
mehr habe, -- weil sie sich von mir trennen wird.«

»Nein!« sagte Ruth atemlos, »das würd' ich nicht glauben. Nicht
glauben, auch wenn Sie es mir -- -- Nie und nimmer kann das sein. Kann
nicht. Denn sie -- sie war ja so glücklich -- bei Ihnen.«

»Sie?« antwortete er schwer, »-- ja, Ruth, -- sie war es wohl, --
früher. Nicht ihretwegen muß es sein. Meinetwegen. Deinetwegen.«

Ruth hatte sich langsam erhoben. Auf ihrem Gesicht prägte sich ein
grenzenloses Befremden aus, -- Zweifel, Unglaube, ja, Entsetzen prägte
sich darauf aus. Ihr war, als müsse sie nach einem Entfernten, -- nach
Erik rufen, -- ihn zu ihrer Hilfe rufen, vor einem Unverstandenen,
Unbekannten. Aber er -- er war es ja gerade, der da vor ihr stand --.

Erik sah den Wechsel in ihren Zügen, die Selbstbeherrschung verließ
ihn. Er fühlte nur noch Angst, -- die Angst, sie zu verlieren.

»Ruth!« rief er, »verzeih, daß du vor mir gekniet hast. Ich will es
thun, vor dir. Nur sei mein! Nicht nur mein Kind mehr, -- du bist kein
Kind mehr, -- ein Weib, -- mein Weib!«

In diesem Augenblick wurde die Thür vom Flur aus aufgerissen. Jonas
erschien auf der Schwelle. Er trat nicht ein. Er warf die Thür wieder
ins Schloß. Man hörte ihn sich entfernen.

»Jonas!« murmelte Ruth, halb bewußtlos, »-- wir müssen, -- er hat
gehört, -- wir müssen nach Jonas sehen.«

Während sie es sagte, ertönte ein dumpfer Fall. Erik sprang auf. Ruth
war schon bei der Thür. Sie öffnete sie.

Im Flur lag Jonas am Boden, -- lang hingestreckt. Mit dem Kopf war er
im Fallen gegen den Mantelständer geschlagen. Ueber seine linke Schläfe
träufelte Blut.

Ruth stieß die Mittelthür auf. Sie half Erik, ihn hineinzubringen in
das anstoßende Zimmer, auf sein Bett. In den nächsten Minuten sprachen
sie kein Wort. Sie waren stumm um ihn beschäftigt.

»Die Wunde ist gering,« sagte Erik nach einer kurzen Weile halblaut,
-- und dann, über ihn gebeugt: »Er kommt zu sich.«

Ruth fuhr zusammen. Sie trat vom Bett zurück; ihre Augen richteten sich
auf Jonas mit einem Ausdruck des Grauens, daß er sie erkennen, -- daß
er sie sehen würde.

Sie machte Erik ein stummes Zeichen, und ging leise in sein
Arbeitszimmer zurück.

Dort blieb sie verwirrt stehen.

Hier? Hier konnte sie noch weniger bleiben. Wo denn? Nirgends konnte
sie bleiben, -- nirgends. Im ganzen Hause nicht. Sie mußte also fort.
Fort, ehe Erik kam. Fort, ehe Jonas kam.

Und unwillkürlich wandte sie sich wieder der Thür zu, durch die sie
soeben aus dem Schlafzimmer eingetreten war.

Nein, -- wohin? Dorthin durfte sie nicht! Abschiednehmen? von wem? Ohne
Abschied mußte sie fort. Heimlich. Unbemerkt. -- Für immer?

Sie trat in den Flur hinaus, -- wie hinausgetrieben von ihren eigenen
verwirrten Gedanken. Dort blieb sie von neuem zaudernd stehn.

Auf dem Boden, wo Jonas mit dem Kopf hingeschlagen war, sah man ein
paar kleine hellrote Flecke. Darüber, am Ständer, hing Eriks Mantel.

Der weite, dunkle Reisemantel, den er damals trug, -- als sie fort
sollte, -- und er heimkehrte, -- und als sie ihm an die Brust fiel. --
--

Ruth stand und starrte den Mantel an. Mit klopfendem Herzen und
verhaltenem Atem.

Und plötzlich, da wachte es auf in ihr und riß alle ihre Gedanken mit
sich fort, -- wild, glühend, unerträglich, -- das Trennungsweh.

Mit den Händen faßte sie den Mantel, sie vergrub ihr Gesicht in seine
losen, weichen Falten, mit geschlossenen Augen atmete sie den schwachen
Duft in sich ein, der sie an Erik erinnerte, mit bebenden Lippen küßte
sie den Saum.

Damals, -- wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin es sei,
wozu es sei, -- bis in den Tod, bis in das Verbrechen hinein, -- hätte
sie es nicht blind gethan?

Sie drückte die Zähne zusammen; sie stöhnte, und ihr war, als müßte sie
gleich laut schreien.

O Gott, auch jetzt, -- wenn er ihr befohlen hätte, ihm zu folgen, wohin
es sei, wozu es sei, -- sie hätte es blind gethan! Blind gehorchend,
-- gegen allen Augenschein, gegen alles eigene Wissen und Verstehen!
Mit ihr durfte er thun, was er wollte. Was ihr auch durch ihn geschehen
mochte, -- was lag an ihr? Er aber mußte für sie da oben bleiben, wo
sie ihn gesehen, -- sein Leben und sein Haus mußten bleiben, was sie
gewesen, -- an ihm lag Alles!

War er sonst noch ~Erik~?

Sie sah ihn vor sich, wie in weiter Ferne, wie er im vergangenen Mai
im Mittagssonnenschein dastand, lichtüberstrahlt, die kranke Frau in
seinen starken Armen. So hatte Ruth ihn zuerst mit ihr gesehen, -- so
ihn geliebt und angebetet, daß selbst das Mitleid darüber verflog. »Du
allzuleichte Last!« scherzte er, und Klare-Bel lachte dazu und schlang
vertrauend die Hände um seinen Nacken.

Aber nun -- nun riß er ihr die Hände vom Nacken, und das glücklich
vertrauende Lachen verstummte, -- und sie, die sich an ihm
festgehalten, ließ er fallen, -- er öffnete die Arme und ließ sie,
die Hilflose, zu Boden fallen, -- denn eine Last war sie, eine
allzuschwere Last für seine Kraft. Frei haben mußte er die Arme, die
sich ausbreiteten nach Ruth.

                   *       *       *       *       *

Ruth richtete sich auf; sie strich das Haar aus ihrem Gesicht und
schlich langsam zurück in Eriks Arbeitsstube. Auf dem Schreibtisch lag
ein Haufen weißer unbeschriebener Blätter. Sie beugte sich darüber und
fing an zu schreiben. »Ich muß fortgehen!« schrie es in ihr. Aber Eriks
Bleistift formte die Buchstaben ganz anders. So kam heraus: »Ich gehe
nicht fort. Ich gehe und bleibe Ihr Kind.«

Sie blickte auf die zitternden Bleistiftstriche nieder wie auf eine
fremde Schrift. Das wollte sie also thun? Ja, das wollte sie. Er
hatte ja heute gesagt, das alles sei nur in ihrer Phantasie gewesen,
in ihrer Einbildung, daß sie sich als sein Kind gefühlt habe, -- so
ganz als sein Kind. Aber es konnte doch noch eine Wirklichkeit werden.
Wenn sie es selbst verwirklichte. Es in ihrem ganzen künftigen Leben
verwirklichte. Wenn sie ganz das wurde, was er sie gelehrt, was er mit
ihr gewollt, als er sie zu sich nahm. Ein Stück von ihm, ein Werk von
ihm. Sie hatte ja alles von ihm, -- nur von ihm allein. Sie kannte alle
seine Gedanken, alle seine besten. Die sollten lebendig werden, nicht
nur geträumt: gelebt. Von ihr für ihn.

Ruth nahm das Papier vom Schreibtisch und legte es auf den Lehnstuhl.

Aber trotz dieser kühnen Vorsätze war ihr gar nicht kühn zu Mut,
sondern elend und hilflos. Sie hatte ein einziges namenloses Verlangen:
sich auf den Boden zu werfen und zu weinen. Erik herbeizuweinen.

Aber da vernahm sie in ihrem Herzen seine Stimme, -- seinen
eindringlichen, kurz überredenden Ton: »Den eigenen Willen festhalten!
Haltung! Sich selbst gehorchen, -- hörst du?«

Das war doch sonderbar. Klarer, sicherer, wesenhafter denn je stand er
ihr bei: Erik gegen Erik.

Leise schlich sie sich aus dem Hause.

Unten erst, an der Gartenpforte, blieb sie stehn und blickte zurück.

Nein, dafür konnte er nichts, -- Erik konnte nichts dafür, daß er
anders war, und daß das Leben anders war, als sie es sich ausgedacht
hatte. Im wirklichen Leben gab es nun einmal ihre Phantasiegeschichten
gar nicht. Die mußte man erst hinzuthun.

Und hatte sie alles das nicht nur geträumt, -- das ganze verflossene
Jahr? Wie sie so dastand im Sonnenschein und Vogelsang, da mochte es
ihr wohl scheinen, als sei sie zurückgekehrt zum vergangenen Mai, wo
sie bange und allein, arm und einsam, hier an der Pforte lehnte und in
den Garten sah. Damals meinte sie: von hier ginge der Frühling aus, der
ganze wunderschöne, der draußen blühte. Und da träumte sie sich ein
Märchen, das »allerschönste von allen«.

Ja, das allerschönste von allen.

So schön, daß sie es nie wieder vergessen konnte. Nein, niemals.

So schön, daß sie es nie hergeben konnte für etwas andres, was ihr das
Leben bot. Niemals.

So schön, daß es nichts mehr geben konnte, -- im ganzen Leben nichts,
-- was sie nicht immer daran messen, immer damit vergleichen, -- und zu
gering befinden würde.

                   *       *       *       *       *

Ruth öffnete die knarrende Pforte und trat auf die Straße hinaus. Ohne
es selbst zu wissen, hob sie ihre Hand und strich leise, liebkosend
über die kahlen harten Fliederzweige hin, die den Zaun in dichtem
Buschwerk umwuchsen.

Dann ging sie, ohne sich noch umzuwenden, mit gesenktem Kopf den
Landweg zwischen den Birken zurück zur Station, und ihr langes loses
Kinderhaar flatterte im Frühlingswinde. --

                   *       *       *       *       *

Erik stand noch bei Jonas am Bett. Jonas hatte die Augen aufgeschlagen,
den Vater neben sich erblickt, war zusammengezuckt und hatte von neuem
die Augen geschlossen. Kein Wort fiel zwischen ihnen.

Erik begriff nun den ganzen Zusammenhang, begriff vieles, wofür ihm
wohl eher das Verständnis hätte aufgehen müssen, wenn er Gedanken dafür
übrig behalten hätte. Der atemlose Fleiß von Jonas, seine Begierde nach
Selbständigkeit, sei es auch im engsten Leben, -- dieser Anstrich von
Philistrosität, diese Abkehr von aller fröhlichen Unbesonnenheit und
Thorheit wurden Erik jetzt verständlich. Nicht Mangel an Temperament,
an Jugendfeuer war das gewesen, -- sondern eiserne Ausdauer,
Selbstbeherrschung.

Kinderei oder nicht, -- es lag Kraft darin. Er achtete seinen Jungen.

Aber der -- -- achtete ihn nicht.

Jetzt, in dieser Stunde nicht. Ein ganz neues Verhältnis zu seinem
Sohn, ein ganz neuer Kampf erwartete Erik jetzt, und er mußte nun seine
volle Kraft zusammennehmen, um darin zu siegen.

Ein leises Knaben der Gartenpforte weckte ihn aus diesen Gedanken. Bei
dem kaum hörbaren Geräusch durchblitzte ihn ein plötzlicher Schreck.

Er öffnete die Thür zu seinem Arbeitszimmer. Ruth war nicht darin. Er
ging über den Flur in das Wohnzimmer. Ruth war nicht da.

Erik stieg in den Garten hinunter. Eine furchtbare Beklemmung drückte
ihm die Brust zusammen.

»Ruth!« rief er laut, und erkannte seine eigene Stimme nicht.

Alles blieb still. Es blieb still, wie weit er auch hineinging, bis an
die Bank vor dem Gehölz.

Nur ein Rotkehlchen saß auf dem Birkenzweig über der Bank und sang.

Es ließ sich nicht einmal durch die Menschenschritte schrecken; ganz
regungslos saß es da, mit erhobenem Köpfchen, ganz selbstvergessen, --
und sang und sang in den grauen Frühling hinein --.




Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart.


  Andreas-Salomé, Lou, Ruth. Erzählung.    Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
  2. Aufl
  --"-- Aus fremder Seele. Eine             Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.--
  Spätherbstgeschichte.
  Bobertag, Bianca, Moderne Jugend. Roman.  Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
  Bourget, Paul, Das gelobte Land. Roman.   Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
  Boy-Ed, Ida, Die Lampe der Psyche. Roman. Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
  Ebner-Eschenbach, M. v., Erzählungen.     Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
  3. Aufl.
  --"-- Boŭna. Erzählung. 3. Aufl.          Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
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  Eckstein, Ernst, Nero. Roman. 5. Auflage. Geh. M. 5.-- Geb. M. 6.--
  Fulda, L., Lebensfragmente. 2 Novellen.   Geh. M. 2.-- Geb. M. 3.--
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  Heyse, Paul, Neue Novellen. 7. Auflage.   Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
  Hopfen, Hans, Der letzte Hieb.            Geh. M. 2.50 Geb. M. 3.50
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  Junghans, S., Schwertlilie. Roman.        Geh. M. 4.-- Geb. M. 5.--
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  Lenbach, Ernst, Abseits. Erzählungen.     Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
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  Proelß, J., Bilderstürmer! Roman.         Geh. M. 3.-- Geb. M. 5.--
  2. Auflage.
  Schunsui, Tamenaga, Treu bis in den Tod.  Geh. M. 3.-- Geb. M. 4.--
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  --"-- Geschwister. Zwei Novellen.         Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
  15. Auflage.
  --"-- Der Katzensteg. Roman.              Geh. M. 3.50 Geb. M. 4.50
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