Quer durch Amerika : Ein Reisetagebuch

By Karl August Busch

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Title: Quer durch Amerika
        Ein Reisetagebuch

Author: Karl Augst Busch

Release date: April 17, 2025 [eBook #75888]

Language: German

Original publication: Dresden: Dresdner Verlagshandlung M. O. Groh, 1926

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK QUER DURCH AMERIKA ***


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                     Anmerkungen zur Transkription

  Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1926 so weit
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        Antiqua:       ~Tilden~

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           ~Copyright 1926 by~ Dresdner Verlagsbuchhandlung
                       M. O. Groh, Dresden-N. 6.

                             Alle Rechte,
           einschließlich das der Übersetzung, vorbehalten.




[Illustration: ~DER SAN FRANCISCO-CHICAGO-EXPRESS IM FELSENGEBIRGE~]




                          Quer durch Amerika

                           Ein Reisetagebuch

                                  von

                        ~Dr.~ Karl August Busch


                                 1926

                     Dresdner Verlagsbuchhandlung
                       M. O. Groh, Dresden-N. 6




Vorwort.


Z. R. III hat seine Siegesfahrt über den Atlantischen Ozean längst
vollendet. Er kreiste um die Freiheitsstatue in Neuyork und das Kapitol
in Washington und wurde als Zeichen deutschen technischen Geistes und
deutscher Tatkraft überall stürmisch bejubelt. Die tiefen Wunden, die
uns im Weltkrieg das Dazutreten Amerikas zu unseren Feinden schlug,
beginnen langsam zu vernarben. Völker noch eher als Einzelmenschen
müssen immer wieder miteinander leben.

So ist das Interesse bei uns für Amerika wieder erwacht. Man fragt
wieder interessiert: Wie sieht es drüben wirklich aus? Handbücher
der Erdkunde, der Politik, des wirtschaftlichen Lebens usw. Amerikas
gibt es dafür genug. Was ich im folgenden biete, will nichts als
eine anschauliche Schilderung persönlicher Eindrücke und Erlebnisse
in der Union von Neuyork bis San Francisco sein, die mir ein volles
Studienjahr bot: Es will dem Leser, vor allem auch der weltbegierigen
und wanderlustigen reiferen Jugend, schildern, wie es „drüben“ aussieht
und wie es „drüben“ zugeht.

Natürlich kann ich es nur so sagen, wie ich es erlebt und gesehen
habe, und werde auch nur das beschreiben, was ich erlebt habe. Aber
das Persönliche wird hier gerade das Reizvolle sein. Darum hat dabei
hier und da wohl auch der Humor sein Recht. Nebenbei aber wird der
aufmerksame Leser bald merken, daß er auch aus dieser Schrift allerlei
Wissenswertes über das Leben des amerikanischen Volkes und das Land im
ganzen lernen kann, so daß er bei der Lektüre das Angenehme mit dem
Nützlichen verbindet.

Dresden, den 10. November 1925.

                                               Karl August Busch
                                                  ~Dr. phil.
                                          B. D. (Harvard University).~




Inhalt.


  Seite

  +Vorwort+                                                            4

  1. +Wie ich dazu kam.+ Was ich drüben wollte. Der
  wanderlustige Großvater. Lehrjahre, Wanderjahre. Wohin in
  die Welt? Auf nach Amerika! Aber woher das Geld? So etwas
  wie Austauschstudent. Englischlernen und Kofferpacken.
  Die Fahrt nach Hamburg                                               7

  2. +Die Abreise.+ In Hamburg. Die Hapag. Im Hafen. St.
  Pauli. Beim Rathaus. Auf der Alster. Im „Rauhen Haus“ und
  im Volksheim. Letzter Tag in Deutschland. Blankenese. Mit
  dem Sonderzug nach Kuxhaven. Zum erstenmal auf Deck des
  Ozeandampfers. Die Abfahrt                                          17

  3. +Auf dem Atlantischen Ozean.+ Bordleben. In der
  Kabine. Morgen und Abend auf See. Allerlei wohlgemeinte
  Ratschläge! Vor Boulogne-sur-mer. Eddystone und die
  Scilly-Inseln. Bordspiele. Kulturgeschichte des Meeres.
  Sozialismus auf dem Meer. In Erwartung der Landung. In
  der „~upper bay~“. In Hoboken. In den Zollhallen                    28

  4. +Neuyork.+ Auf dem Broadway. Im „~subway~“. Die
  Yankees. An der Battery. Gründungsgeschichtliches.
  „Wallstreet.“ In Ostneuyork. Auf dem Metropolitan-Tower.
  In den Museen und dem Zentralpark. Coney Island, der
  größte Vergnügungspark der Welt. Auf Staten Island, in
  Hoboken, in Bronx. Die Jahrhundertfeiern auf dem Hudson             45

  5. +Boston.+ Die Eisenbahnen. Durch Connecticut. Bostons
  Geschichte im Freiheitskampf. Bostons Bildung. Die
  religiösen Denominationen. Ein amerikanischer Sonntag.
  Im Tempel der „Christian Science“. „Testmeetings.“
  Amerikanisches und deutsches Kirchentum. Der große Neger
  Booker T. Washington. Ein wunderbar wiederentdeckter Onkel          67

  6. +An der Harvard-Universität in Cambridge
  (Mass.).+ Unter den Ulmen Harvards. Mein „~furnished
  room~“. In der Studentenspeisehalle am Klubtisch.
  Der neue Universitätspräsident. Amerikanischer
  Universitätsbetrieb. Fackelzug im Stadium. Im
  amerikanischen Kolleg. ~Vivant professores!~ Im
  kosmopolitischen Klub. Deutsches Kneipen und
  amerikanische Studenten. Die Geschichte meines Fracks.
  Allerlei Herbst- und Winterspaziergänge: Salem, Bunker
  Hill usw. Concord, das amerikanische Weimar                        102

  7. +Ein Fußballspiel und Weihnachten drüben.+ Das große
  Harvard-Yale-Spiel im Harvardstadium. Harvard unterliegt!
  Im Vereinshaus des Y. M. C. A. Thanksgivingday.
  Heiligabend allein. Weihnachten im Bürgerhaus, bei den
  Reichen, im Settlement. Silvesterabend                             128

  8. +Über den Niagara nach Chikago.+ Geld zur Weltreise?
  Im Pullmann. Die erste nächtliche Fahrt. Am Lake Erie.
  In Buffalo. Im deutschen Pfarrhaus zu North-Tonawanda.
  Ausflug zum Niagara. Vereist! Eindrücke des Falls. Auf
  der amerikanischen und kanadischen Seite. Über Detroit
  nach Chikago. Im Auswandererzug. „Der Zug westwärts.“
  In Chikagos Wolkenkratzerschluchten. Nationalitäten.
  Verkehr. Im Zirkus und im „~Hull-house~“. Bei den
  Spiritualisten. Geistererscheinungen? Wahrsagerei                  146

  9. +Über den Mississippi ins Felsengebirge.+ Das grüne
  Land in Illinois. Über den Mississippi und Missouri. Die
  Prärie. Kansas City. Ein Reiseschreck! „Mountain-Time.“
  In altspanischem Siedlungsgebiet. In den „Rockies“. Santa
  Fé. Auf Indianerpfaden. In der Indianerschule. Unter den
  San Franzisko-Bergen. Am Grand Cañon des Colorado River.
  Abstieg in den Cañon. „Schwarz Amsels“ Tod                         182

  10. +Nach Kalifornien.+ Durch die Wüsten Arizonas,
  das Land der schönen Sonnenuntergänge. Im Italien
  Amerikas. Los Angeles, ein Paradies. Nach San Pedro.
  Auf dem Stillen Ozean. Auf Santa Catalina, dem
  kalifornischen Capri. Im Theater. „Die City.“ Mit
  der „Linie der 1000 Wunder“. An der kalifornischen
  Riviera. St. Barbara. Die spanische Gründung. An der
  Montereybucht. Auf dem 17-Meilenweg. Im Sand des Stillen
  Ozeans. Die Riesenbäume. Das Lick-Observatorium. Die
  Stanford-Junior-Universität. In San Francisco, der Stadt
  des Erdbebens. Am „Golden Gate“. Über die Bai nach
  Oakland. Auf dem Telegraphenhügel. Das Chinesenviertel             227

  11. +Am Großen Salzsee und in Kolorado.+ Über die
  Schneepässe der Sierra Nevada. Durch die Wüsten Nevadas.
  Reno und seine Ehescheidungen. Die Frau in Amerika. In
  Utah. Über den Salzsee. Ogden. Das mormonische Zion. Im
  Tempelblock. Der „Prophet“ J. Smith. Aus der Geschichte
  des Mormonismus. Die Mormonenbibel. Nach Kolorado. Durch
  alpine Kañons und Pässe. Entlang dem Arkansas. Die „Royal
  Gorge“. Colorado Springs. Aufstieg zum Pikes Peak. Der
  Göttergarten. Manitou. Wieder 36 Stunden durch die
  Mississippiebenen. Wieder in Chikago im Schneetreiben!             257

  12. +Über Pittsburgh nach Washington.+ In Ohio. Im
  Kohlen- und Eisendistrikt. Das rauchende Pittsburgh.
  Beim alten Prediger. Durch die Alleghenies ins Tal des
  Monongahela. Harpers Ferry. Ankunft in Washington. Eine
  adlige Stadt. Das Kapitol und „Weiße Haus“, die Institute
  des Staats. Ausflug nach Mount Vernon. An Washingtons Grab         295

  13. +Baltimore, Philadelphia.+ Baltimores Gründung und
  heutige Bedeutung. Die Geschichte der Quäkerstadt.
  William Penn und Benjamin Franklin. Germantown.
  Pennsylvanien. Auf dem Turm der City Hall. John Hopkins.
  Über den Delaware nach Newark und Hoboken. In der
  deutschen Kirche in Neuyork. Zurück nach Harvard                   312

  14. +Kanada.+ Ein französisches Kolonialland.
  Unermeßlichkeit. Die Landschaft der Nordstaaten. In
  Montreal. Ankunft und Abfahrt. Auf dem St. Lorenz. An
  Quebek vorbei. Die nördliche Route an Labrador. Eisberge.
  In fünf Tagen nach Schottland. In Glasgow gelandet                 321




Wie ich dazu kam.


Ich bin nicht nach Amerika gegangen, weil ich etwa in Deutschland
etwas „ausgefressen“ hatte oder hier nicht mehr guttat oder weil es
mir bei uns nicht mehr gefiel. Ich wollte auch weder Goldsucher noch
Farmer werden noch mich gar drüben reich verheiraten. Sondern daß ich
hinüberging, das kam so:

Einst kramte ich als dreizehnjähriger Junge auf unsrer Bodenkammer.
Da fand ich zwischen dem Kaufmannsladen, dem Prachtstück aller
Weihnachtserwartungen in unsrer Kindheit, der ehrwürdigen Puppenstube
meiner Mutter, auf die mein Bruder ein schönes zweites Stockwerk
aufgesetzt hatte, so daß nun unten im Erdgeschoß Empfangszimmer,
Wohnstube und Damensalon, im ersten aber die Küche mit gelbschwarzen
Fliesen und die Schlafzimmer angeordnet waren, einer mit sechs Türmen
bewehrten trutzigen Festungsburg, in deren Innerem ganze Regimenter
Soldaten verstaut werden konnten und deren dicke Mauern den stärksten
Kanonen trotzten, zwischen einem alten wohlabgebrauchten Kinderwagen,
dessen Radgestell allein noch intakt war, mehreren Reihen verstaubter
Einmachgläser, überzähligen Bettdecken und Federbetten, einem Knäuel
Wäscheleinen und dgl. auch einen Kasten voller alter Papiere und
vergilbter Karten. Ich war allzeit wißbegierig. Die Papiere waren
in vergilbten Umschlägen wohlsortiert, wohlgefaltet und ein wenig
wurmstichig, aber in haarfeiner sauberster Schrift geschrieben und
alle mit einem seltsamen „Ich“ gezeichnet. Die gelblichen Karten waren
sauber auf Leinwand gezogen und wohlnummeriert.

„Ich“ war, wie ich erfuhr, das Signum meines Großvaters
mütterlicherseits, Johann Carl H., mit dem er alle seine Schriftstücke,
selbstverfaßte Gedichte und Briefschaften an Familienangehörige
und nächste liebe Verwandte zu unterzeichnen pflegte. Diesen meinen
Großvater habe ich nun zwar selbst nie gekannt. Elf Jahre vor meiner
Geburt ist er gestorben. In dem nationalen Unglücksjahr Deutschlands
1806 war er geboren. Als bedächtiger Mann von 42 Jahren hat er meine
Großmutter geehelicht, also gerade im Revolutionsjahr 1848, und zwar
dazu in der Stadt der Paulskirche und des Parlaments, der er als eines
ehrsamen Bürgers Sohn entstammte; aber gespürt habe ich ihn in meinem
Fühlen, Reisen und Wandern immer.

Lange Jahre war er auf Wanderschaft in der Welt draußen gewesen. Daher
stammten die vielen Karten. Er muß ein sehr genauer und auch recht
ästhetisch empfindender Mann gewesen sein, denn haargenau war seine
Handschrift, wohlabgezirkelt und klar. Und wohlaufbewahrt sind alle
seine Gedichte nach Geburtstagen wohldatiert, nach Weihnachtsfesten
und Jubiläen in der Verwandtschaft. Und so wanderte er auch, genau
und akkurat in allem, nie ohne Karte -- schon vor hundert Jahren!
Heute läuft jeder Fünfzehnjährige draußen mit einer Generalstabskarte
im Kartenhalter auf der Brust herum, aber damals in der Zeit, wo man
noch mit der Postkutsche fuhr und die allerersten Eisenbahnen sich
schüchtern hervorwagten, war es ein Zeichen selbständiger Akribie und
Bildung.

So hat mein Großvater Bayern, Oberitalien, Nordfrankreich und Belgien
durchwandert. Wie anders lagen damals noch die Grenzen Europas. Da
gab es noch kein Deutsches Reich! Preußen und Bayern lagen noch wie
auf zwei verschiedenen Halbkugeln der Erde. Und die freie Reichsstadt
Frankfurt a. M. lag stolz und selbständig mitten innen, und ihr
weißer Adler auf rotem Grunde regte noch seine eigenen Schwingen!
Das habsburgische Österreich aber reichte weit und mächtig gebietend
bis tief nach Oberitalien hinein. Mailand und Venedig waren Habsburg
untertan. Als ein letzter Rest von jenem Reich Karls V., in dem
die Sonne nicht unterging! Belgien war noch kein blutiger Feind
für das deutsche Volk, sondern Brüssel ein klein Paris, zu dem
der lernbegierige und nach Bildung und feiner Form strebende junge
Frankfurter der Biedermeierzeit bewundernd aufsah.

Blut soll ja dicker als Wasser sein. Blut der Vorfahren rollt in
unseren Adern, mehr als wir ahnen, und bestimmt uns vielleicht öfter,
als wir es uns vorzustellen wagen. Denn wir kommen uns doch immer
so frei und selbständig vor! Je mehr wir aber die Eigenart unsrer
Ahnen studieren, um so mehr verstehen wir uns selbst und um so mehr
erkennen wir, wieviel wir von ihnen ererbt haben. Es war derselbe
Großvater, der nach seinem Dienst auf dem freien Frankfurter „Römer“
mit seinen Kindern fast täglich nachmittags in den Stadtwald ging und
sie des Abends auf die Waldwiese leitete, wenn das Wild heraustrat zu
äsen, der mit ihnen des Sonnabends und Sonntags zu Fuß in das nahe
Taunusgebirge zog, als noch keine überfüllten Bahnzüge leicht und
schnell Zehntausende dahinführten. Es war derselbe Großvater, der
eine echte Schwäbin heimführte, und deren Tochter wieder aus ganz
andrer Ecke Deutschlands von der Wasserkante aus altem friesischen
Bauerngeschlecht. So wurde in mir Süd, Nord und Mitte Deutschlands
wohlverbunden, noch ehe ich auf die Welt kam.

Was Wunder, daß es mich nun in meiner Jugend in alle Gaue Deutschlands
zog, daß ich in der Schwabenheimat mich zu Hause fühlte wie kaum wo
sonst und daselbst anfing zu studieren! Und daß ich durchaus an der
Wasserkante mein erstes Amt versah! Was wunder, daß Schwarzwald und
Nordsee mich gleicherweise beglückten und ich aber auch gleich dem
Großvater nicht ruhte, bis ich alle Gebirge Deutschlands schon in der
Jugend durchwandert hatte. Wir Jungen standen als Obersekundaner auf
dem Donon und dem Sulzer Belchen, als die Welt noch an keinen Weltkrieg
dachte, auf dem Brocken und dem Kickelhahn, auf der schwäbischen Alb
und dem fränkischen Jura als Studenten. Waren das nicht immer noch die
Karten des Großvaters, die in mir rumorten?

Merkwürdig, als ich noch in Quarta war, da war, wie meine Zensurbücher
ausweisen, mein allerbestes Fach natürlich die Geographie, wo ich sehr
oft eine blanke Eins bekam. Die Städte an der +Elbe+ konnte ich damals
besonders gut und rasch bei unserm Geographielehrer -- von dem ich noch
nicht ahnen konnte, daß er nach beinahe zwanzig Jahren ganz woanders
zum Oheim meiner künftigen Frau werden würde! -- herunterschnurren, als
noch niemand mir zu prophezeien wagte, daß ich ausgerechnet in einer
unter ihnen, dem unvergleichlichen Dresden, mein Domizil aufschlagen
und von einer andern aus in die neue Welt fahren würde. Es liegen
anscheinend mehr Weissagungen schon in unsrer Jugend verborgen, als wir
oft auch nur zu ahnen wagen würden.

So kam für mich die Zeit, da es in Deutschland anscheinend nichts mehr
zu durchwandern gab. Nun mußte man eben als guter Deutscher ins Ausland
gehen. Denn das Ausland gilt dem rechten Deutschen immer mehr als die
Heimat! War es uns nicht auch, auch wenn nicht schon die Abstammung
dahingewiesen hätte, immer in der Schule an den Großen eingeprägt
worden, was sie nicht erlernt, das hätten sie +erwandert+?! Und beim
Wandern lerne man mehr als in der besten Lehre! Sollen nicht in guter
Reihenfolge in jedes rechtschaffenen Menschen Lauf auf Lehrjahre
Wanderjahre folgen? Auch schon darum durfte ich von dieser Regel nicht
abgehen.

Aber wohin ins Ausland? Meine Examina waren gemacht, der Eintritt
in den Beruf stand bevor. Dazwischen hinein ließ sich noch das
Ausland einschieben, selbst auf die Gefahr hin, daß man ein oder zwei
Dienstjahre später einrückte. Die Jugend hat Idealismus! Nur nicht zu
pedantisch! Was kümmern zwei Jahre? Der Trott in den wohlausgefahrenen
Dienstgeleisen konnte noch bald und lange genug kommen! Also hielt mich
nichts! „Wer weiß, wo in der Ferne mein Glück mir erblüht!“ Dem jungen
Menschen steht die ganze Welt offen. Der Alpdruck der Prüfungen war
überwunden; die Tore der neuen Lebenszwingburgen hatten sich noch nicht
aufgetan. Zum letztenmal war man noch ungebunden und jung. Also hinaus
in die Welt!

So war es mir fast zur Selbstverständlichkeit geworden: Ich gehe ins
Ausland. Gleich, wohin! Nur einmal hinaus! Einer meiner Ahnen ist als
württembergischer Gefolgsmann Napoleons I. in Rußland geblieben. Aber
an Rußland -- war es zu bolschewistisch? -- dachte ich gar nicht.
Südwärts oder westwärts konnte es gehen, in die alte oder in die neue
Welt!

Den humanistisch einst wohlgebildeten Gymnasiasten lockte Italien
und Griechenland, das heilige Land oder Ägypten! Nun waren wir als
Oberprimaner schon einmal bis zum Gardasee vorgedrungen und hatten
-- ich weiß es noch gut -- als gute Deutsche vom Gardasee die erste,
natürlich italienisch geschriebene Postkarte nach Hause gesandt.
Als Studenten waren wir bis ans römische Forum und bis zu St. Peter
gekommen, tasteten uns durch die Kallistkatakomben und besichtigten
eingehend alle heiligen sieben Mutterkirchen Roms. Jetzt hätte es
heißen müssen: Athen oder Jerusalem! Das wäre ein folgerichtiger
Bildungsgang gewesen. Aber so folgerichtig geht’s nicht immer im
Leben. Das Leben enthält vielmehr Zufälle und Sprünge -- und hinterher
scheinen sie auch ganz folgerichtig zu sein! Wer weiß, ob mir nicht
+die neue Welt+ beschieden war!

Ich arbeitete damals gerade an den Schriften eines bedeutenden
amerikanischen Psychologen, um auf echte deutsche Art ihn zu einer
Doktordissertation zu „verarbeiten“. Aber nicht bloß der Geist,
auch das Blut drängte nach Amerika. Zwei Schwestern meines Vaters
waren schon früh in ihrem Leben nach Neuyork übergesiedelt und waren
„Bindestrich-Amerikaner“ geworden, wie Wilson die Deutschamerikaner im
Weltkriege so geschmackvoll zu definieren beliebt hat. Beide hatten
sich mit ihren Männern und Familien der Musik verschrieben, die eine
schrieb allerlei in Zeitungen und Romanen.

+Aber wie nach Amerika kommen?+ Ebenso wie zum Kriege gehört zum
Reisen Geld und nochmals Geld und zum dritten Male Geld. Erst recht
ins Land des Dollars. Aber daran fehlt’s gewöhnlich gerade denen, die
es ganz ideal zu verwenden am ehrlichsten geloben könnten. Sollte ich
als blinder Passagier hinüberfahren? Aber das war zu unsicher und mir
auch nicht „ehrlich“ genug. Und wie hätte das drüben weitergehen
sollen? Oder vielleicht als Kohlenschipper? Dazu fehlten mir Muskeln
und Übung. Eine studierte Schreiberseele führt schlecht die Schaufel.
Auch sieht man bei dieser nützlichen, wenn auch rußigen Tätigkeit zu
wenig vom Meer und seinen Schönheiten. Aber vielleicht als Steward?
Nicht, daß mich ein falscher Standeshochmut abgeschreckt hätte. Ist
doch heute dem Werkstudenten alles recht und billig und hatte ich auch
eine liebe und treffliche entfernte Verwandte, die fast neunzigjährig
starb, mit fünfundzwanzigjährigem Fahren auf einem großen Lloyddampfer
ein kleines Vermögen für ihre alten Tage verdient, das sie bis ans Ende
ehrlich ernährte. Aber ob ich bei tüchtigem Seegang nicht alle Tassen
und Teller hinwerfen würde? Dafür konnte ich keine Garantie übernehmen.
Davor hätte auch kein Studium der Philosophie oder was sonst mich
bewahrt, wenn ich auch als kleiner Junge daheim zeitweilig mit Vorliebe
den Tisch gedeckt und gleich meinem Ältesten heute mit Vorliebe in der
Mutter Puppenstube die Möbel umgeräumt habe und noch heute am liebsten
immer selbst angebe, wie und wo die Möbel stehen sollen. Also etwas
Anlage zum Steward lag vielleicht auch in mir, aber ob sie reichte?

Ich fing es lieber doch so an, wie es zunächst meiner Lehre entsprach,
und hielt es mit dem Sprichwort: „Schuster, bleib bei deinen Leisten.“
Vielleicht glückte es irgendwo in amerikanischen Wüsten oder Küsten im
Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Hauslehrer in einer wohlhabenderen
deutschen Familie zu werden? Die würden dann schon das Reisegeld
schicken.

Ich war damals dabei, wie gesagt, meinen Doktor rechtschaffen mit dem
amerikanischen Psychologen zu bauen. Während ich morgens über Spinoza,
Kant und Hegel nachdachte, mein Hirn mit den Problemen der „Kritik der
reinen Vernunft“ strapazierte, hielt ich es des Nachmittags ein wenig
mehr mit der „praktischen Vernunft“ und schrieb Briefe und Bewerbungen
in alle Welt hinaus, wo nur ein Privatlehrer, Erzieher, Lehrer oder wer
weiß was gesucht wurde; wo es war, war mir gleich, mochte es Kairo oder
Konstantinopel, Chikago oder Tokio sein. Nur wurde in entfernteren
Ländern meist eine mehrjährige Verpflichtung verlangt! So ernst wollte
ich es aber gar nicht mit dem Auswandern nehmen. Etwa auf fünf Jahre
mich zu verpflichten, schien mir sehr gewagt und viel zu lang. Wie lang
erscheinen fünf Jahre der Jugend! Die Auslandsfahrt sollte mehr nur so
ein recht großer Ausflug zwischen Examen und Berufsbeginn sein, so ein
bißchen Globetrotter auf Zeit ...

Da lese ich eines Tages in einer unsrer Zeitschriften ein großes
amerikanisches Stipendium gerade der Universität ausgeschrieben, an der
mein Doktorthema noch als lebendiger Mensch und angesehener Professor
lebte und lehrte. Es war mir sofort so, wie wenn jemand zu mir gesagt
hätte: „Das ist für dich, schreib nur hin -- du kriegst das.“ Man soll
doch manchmal ruhig etwas auf vernünftige Ahndungen und Eingebungen
halten!

Ich schrieb also hübsch sauber, wie sich das in solchen Fällen wohl
gehört, auf einen blanken Foliobogen meinen Lebenslauf und auf andere
meine Zeugnisse, ließ einige Bittbriefe an hohe und gelehrte Herren
in Deutschland, die mir trauten und drüben etwas galten, aus dem
stillen idyllischen Universitätsstädtlein, in dem ich saß, in die Welt
hinausflattern. Und die hohen und gelehrten Herren hatten alle ein
gutes und wohlwollendes Herz und stimmten offenbar dem Willen zu den
„Wanderjahren“ in mir aufrichtig zu und müssen mich wohl recht dem
hohen amerikanischen Universitätskuratorium empfohlen haben ... denn
nach einigen Wochen kriegte ich es wirklich, wie ich es gleich in mir
gefühlt hatte. Ein Telegramm hatte es mir vorher per Kabel -- ~NB~:
jedes Wort kostete eine Mark! -- angezeigt. Aber auch ohne das wußte
ich es innerlich schon längst, seit ich die Ausschreibung gelesen
hatte. So also kam es, daß ich nach Amerika hinüberging, obwohl mir das
nötige Reisegeld durchaus dazu fehlte. Ein bißchen Glück gehört eben
auch zum Leben immer dazu.

Als ich meinem besten Freunde die Entscheidung mitteilte, da sagte
er bloß trocken: „Nun mußt du hin!“ Ja, nun mußte ich hin! Da fühlte
ich zum erstenmal, daß es doch ein Entschluß war, als junger Mensch
allein in die neue Welt zu fahren. Was würde ich alles sehen? Was alles
erleben? Ich freute mich unbändig.

       *       *       *       *       *

Viele sagen, das Schönste am Verreisen sei das Plänemachen. Da ist
auch sicher etwas daran. Die Vorfreude auf Weihnachten ist ja oft
schöner als nachher Weihnachten selbst. Wie manchmal stieg es bei den
Vorbereitungen heiß in mir herauf: „Jetzt wird es ernst!“ Alle die
fremden Menschen und Städte, die fremde Sprache tauchten wie flimmernde
Bilder vor der Seele auf, und mitten hinein rauschte schon das
gewaltige Meer ...

Meinem Vater war es nicht ganz recht. Er hielt es mehr mit dem weisen
Wort: „Bleibe im Lande und nähre dich redlich!“ Es wäre ja nun auch
an der Zeit gewesen, selbst daheim Geld zu verdienen, statt neues
auszugeben. Aber da er selbst an der Wasserkante aufgewachsen war,
steckte auch in ihm genug Hanseatengeist, um sich schnell damit
abzufinden.

Vor allem lernte ich zunächst fleißig wieder Englisch, denn der
rechte Deutsche setzt doch seinen Stolz darein, firm in der fremden
Sprache an den fremden Strand zu treten. Die englischen Schulbücher
wurden wieder hervorgeholt und emsig Vokabeln und unregelmäßige Verba
gepaukt: „~think -- thought -- thought~, ~fall -- fell -- fallen~
usw.“. Dazu las ich englische Schriftsteller der Schulzeit noch
einmal: Kipling und Irving, ein bißchen Walter Scott und Shakespeare,
den mir ein alter lieber Professor, der von den Hugenotten stammte,
auslieh, und zum Überfluß ging ich als großer Mensch noch einmal in
eine Sprachprivatschule, um nicht nur Wörter und Sätze zu verstehen,
sondern auch sprechen zu können und eine gute Aussprache zu haben.
Wie begeistert war einst mein Bruder aus ihr heimgekommen, daß dort
der Lehrer gleich englisch angefangen hatte und kein Wort deutsch
sprach: ~„This is a pencil. What is this? A pencil~ usw.“, indem er
belehrend seinen Bleistift zur allgemeinen Ansicht in die Höhe hielt
und sich nur durch Zeichen mit seinen Schülern verständigte. Wir in
der Schule hatten bieder Deutsch und Englisch durcheinandergeredet
und brav erst Vokabeln und Grammatik gelernt. Aber trotz allem -- o
weh -- wie ging es mir zuerst drüben! Ich las zwar ganz flott Bücher
und Zeitungen, aber das Verstehen fiel mir doch schwer. Sie redeten
drüben nachher alle so schnell! Wie der Wind war es um die Ecke, was
sie gesagt hatten! Das Ohr war noch nicht an die fremden Laute gewöhnt.
Und mit dem Antworten war es auch nicht so ganz einfach, denn die
alleralltäglichsten Redensarten hatte man doch noch nicht gleich fertig
auf der Zunge liegen.

Zu Hause wurde währenddem viel für mich genäht; eine ganze Woche war
die Näherin, die schon Jahrzehnte in der Familie erlebt, allein für
mich da. Dann sollte auch noch ein Reiseanzug herbei, natürlich in
Schnitt und Falten etwas „englisch“, desgleichen der Mantel und die
Reisemütze. Sie flog mir allerdings gleich am ersten Nachmittag auf
See bei einem kräftigen Windstoß an der Ecke des Decks ins Meer, gewiß
weil sie zu sehr englisch war. Dahin war dahin, sie ruht nun wohl schon
manches Jahr auf dem Grund des Ozeans, wenn sie nicht der Golfstrom wer
weiß wohin entführt hat. Aber da ja in der Welt nichts an Stoff und
Energie verlorengehen kann, sondern sich höchstens in andere Formen
verwandelt, so existiert meine Mütze ganz gewiß auch noch. Nur weiß man
nicht, wo und wie. Vielleicht dient sie heute einem Haifischgroßpapa
als Kopfkissen beim Mittagsschläfchen oder wem sonst ...

Mein Schiffsbillett hatte ich auch schon bestellt. I. Kajüte war
natürlich für mich bescheidenen Nichtsverdiener zu teuer. Blieb
Zwischendeck oder „Zweiter“? Es hätte nur verhältnismäßig wenig -- ich
glaube fünfzig Mark -- Unterschied gemacht, wenn ich Zwischendecker
geworden wäre. In der Zweiten fuhr man menschlich, sogar mehr wie
menschlich, für meine Erstlingsansprüche recht feudal. Ich habe es
auch nicht bereut, als ich später das Menschengewürfel von Italienern,
Slowaken, Russen und Griechen im Zwischendeck und ihr gegenseitiges
Zusammenleben sah!

So gingen die Wochen der Vorbereitung hin. Eines Frühmorgens hieß es
um vier Uhr aufstehen. Die Koffer waren längst sorglich gepackt. Ein
großer ehrwürdiger Familienkoffer, mit dem schon meine Eltern mit uns
Kindern allen vor vielen Jahren an die See gereist waren, für den
Gepäckraum, und ein flacherer neuer für unter das Bett zu schieben,
wie es die Hapag verlangte. Dann ging es an den Bahnhof, ein letzter
Kuß und Händedruck ... Wann und wie würde man sich wiedersehen ...?
Eigenartige Gefühle überkommen einen. Man schluckt etwas hinunter ...

Ich fuhr durch das freundliche hessische Land, wie schon so manches
Mal. Die so malerisch gelegene hessische Universitätsstadt Marburg
grüßte mit ihrem alten Landgrafenschloß und der feinen Kirche der
heiligen Elisabeth mich noch einmal als Marburger. Dort oben bei der
hohen Pfarrkirche hatte ich in aussichtsreicher Studentenbude gewohnt.
Da drüben hatten wir in den alten gotischen Kreuzgewölben zu Füßen
unsrer akademischen Lehrer gesessen, und hier oben am Waldsaum waren
wir gar manchmal zum Kaffee zum „Hansenhaus“ hinaufgestiegen. Vor
Kassel türmte sich hoch oben auf dem Habichtswald der mächtige Herkules
über Schloß Wilhelmshöhe ... In Göttingen kreuzte uns der Gegenzug. Ich
kannte die Strecke. Als neunjähriger Junge war ich sie zum erstenmal
gefahren, als es zur Hochzeit ins große Hamburg ging. Es war damals
ein Freitag, weiß ich noch. Sonntags sollte Hochzeit sein. Und am
Sonnabend entgleiste derselbe Zug, mit dem wir tags zuvor fuhren, in
der Lüneburger Heide, da ein von einem Güterzug gefallener Querbaum
die Geleise verbogen hatte. Ein Freitag soll ja immer ein Glückstag
oder ein Unglückstag sein. Und mich hatte es nicht getroffen. Diesmal
rasten wir ohne Unfall durch die Lüneburger Heide. Sand, Kiefern, Moore
... Blauäugige, blondhaarige Menschen und rotgedeckte Ziegelhäuser
flogen an uns vorüber. Dann donnerten wir über die großen Harburger
Elbbrücken. In Rauch und Dunst lag Hamburg da. Hoch überragte der
schlanke gotische Turm der Nikolaikirche die mächtige Stadt. Links
fauchten auf der breiten Elbe die Ostafrikadampfer der Woermann- und
der Levantelinie. Ich stellte mir im stillen ihre Maße vor und wünschte
mir unser Schiff noch etwas größer. Alles rauchte, fauchte und tutete,
die Sirenen heulten. Kleine Boote und Dampfer schossen hin und her ...

Der Hafen war ein Gewirre von Masten und Schornsteinen, großen
und kleinen Booten, Ozeandampfern und Elbschiffen, Schleppern und
Passagierdampfern. An dem langen Uferkai Lagerhäuser an Lagerhäuser,
Brücken, Krane, Kraftwagen ... Welch mächtiger Verkehr! Dann waren wir
in die riesige Halle des neuen Hamburger Hauptbahnhofes eingefahren.
Nun gab es kein Zurück mehr. In zwei Tagen ging es über den
Atlantischen Ozean ...




Die Abreise.


Wer bei uns einen Vorschmack vom Weltverkehr haben und Luft von Übersee
einmal in die Nase ziehen will, muß wenigstens ein paar Stunden in
Hamburg herumlaufen ...

Ich trat aus dem Hauptbahnhof und nahm zuerst meinen Weg über die
breite Lombardbrücke, die die Innen- von der Außenalster scheidet.
Immer aufs neue von hier war der Blick prächtig über die weite von
flinken Dampferchen belebte schimmernde Seefläche. Was wäre Hamburg
ohne seine Alster und ohne seinen „Jungfernstieg“, die Promenade
der feinen Welt an dem kleineren Becken der Innenalster, mit seinen
kostbaren Läden und „fashionablen“ Cafés!

Ich suchte mir zunächst Quartier, freilich nicht in einem der großen
internationalen Hotels, sondern in einem bescheidenen, sauberen Heim,
wo ich mit Stewards, Kellnern aller Art und allerlei anständigen jungen
Seeleuten zusammentraf. Es war alles im Hause sauber und gut ...

Ich setzte mich des Abends zu den andern Gästen an den Tisch und
ließ mir von ihren Reisen erzählen, von Quebek und Brasilien, von
Petersburg und Neuyork! Wo die schon alles in ihren jungen Jahren in
der Welt herumgekommen waren! Sie erzählten vom Leben an Bord, von
hartem Dienst, von Scherz und Spiel, von Sturm und heiterer Fahrt, von
seekranken Damen und trinkgeldgeizigen Herren, von ordentlichen und
unordentlichen Kameraden, die ihren Lohn drüben in wenigen Stunden
verliedert und verludert hatten, die mit keinem Cent in der Tasche
wieder an Bord gingen, ja ihre Uhr als letzten Besitz noch als Pfand
dalassen mußten. Zum Schluß setzte sich einer von ihnen ans Klavier
und in trefflichem Ton sangen alle die flachsblonden, blauäugigen,
hochgewachsenen friesischen jungen Menschen: „Schleswig-Holstein,
meerumschlungen ...“, daß es nur so eine Art hatte. Was für ein
Unterschied war doch zwischen den Schwarzwälder oder oberbayrischen
Bauernburschen und diesen blonden Holsteinern!

Am andern Morgen war mein erster Gang in das mächtige Geschäftsgebäude
der Hapag, mein Schiffsbillett zu holen, um dann an den Hafen zu den
Gepäckhallen zu gehen und nachzusehen, ob auch mein großer grüner
Koffer mit den vielen Büchern wohl angekommen und bereit sei, mit mir
nach Amerika zu fahren. Welch ein Getriebe überfiel mich am Hafen!
Hatte ich ihn tags zuvor nur flüchtig und aus der Eisenbahn von oben
überschaut, so nahm er sich jetzt von unten, wenn man mitten drin war,
noch ganz anders aus! Die vielen Boote, Kanäle und Brücken, Krane und
Frachtwagen, die himmelhohen Lagerhäuser! Welch ein Durcheinander
von Pfeifen, Signalen, Schreien, Rufen, Schelten, Fahren, Rasseln
der Ketten ... und über allem dicker Dunst, Rauch und Teergeruch.
Wahre Kompanien von Schauerleuten und Lademannschaften und dahinter
die Kontore, Bureaus, Magazine und Ladehallen mit einem Heer von
Angestellten, Schreibern, Zollbeamten ... Da sah und horchte die
Landratte auf: Das war Hamburg! Das war Weltverkehr!

Ich hatte mich glücklich bis zu der richtigen Lagerhalle durchgefunden
und durchgefragt. Berge von Koffern türmten sich vor mir auf; es sah
aus, als wollte ganz Deutschland mit einem Male auswandern ... Und
wirklich -- richtig, da drüben zwischen hundert andern stak auch
mein großer grüner mit dem gewölbten Deckel, auf dem die nächsten
etwas unsicher balancierten, und lachte mich wie ein guter Kamerad
freundschaftlich an. Trotz all seiner Vielbenutztheit und seinem
Abgeschabtsein -- er hätte getrost singen können: „Schier dreißig
Jahre bist du alt“ -- hätte ich ihm jetzt um den Hals fallen mögen:
„Da bist du ja, guter Freund, hab Dank, daß du mich nicht im Stich
gelassen hast ... nun wollen wir auch weiter treulich zusammen übers
Meer fahren und drüben zusammenhalten ... und gebe Gott, auch beide
wieder gesund heimkommen ... vor allem aber, alter Freund, krach’ mir
ja nicht unterwegs, der du den Bauch voll vieler schwerer Bücher hast,
auseinander!“ --

... „Nein, nein, was du nur von mir denkst, so alt bin ich denn doch
noch nicht, hab immer noch Kräfte genug zusammenzuhalten“, schmunzelte
er behäbig zurück. „Du kannst dich auf mich verlassen!“ Und er hat
seinen Schwur gehalten! Es sei ihm heute noch gedankt. Als ich so
beruhigt und vollkommen getröstet aus der Halle wieder hinausging,
scholl hinter mir ein erschütterndes Gelächter her. Tiefe Baßstimmen
von den schwersten Reisekörben bis zu den hellen hochmütigen Stimmen
der feinen Damenkoffer. Oder war es eine Gruppe von Schauerleuten? Was
lag mir daran ...

Ich bestieg einen der flinken Hafenrunddampfer von Käses berühmter
Hafenrundfahrt und ließ mich ¾ Stunden lang für einen einzigen
Groschen in allen Richtungen im Hafen herüber und hinüber, an allen
Molen und Landestellen, auf allen Hafenarmen und auch auf der freien
Elbe umherfahren. Die Elbe warf dabei oft recht stattliche Wellen.
Das kleine hochbordige wackere Dampfboot stieg auf und nieder; aber
manchmal brach auch ein tüchtiger Guß über den Bug herauf aufs
Vorderdeck und überschüttete die allzuweit Vornanstehenden mit einem
nicht gerade immer willkommenen Bade.

An den St.-Pauli-Landebrücken stieg ich aus und klomm zur Seewarte
empor und in ihr bis auf das aussichtsreiche Dach. Welch ein
majestätischer Rundblick sich von oben bot! Drunten die breiten im
Sonnenschein herrlich glitzernden breiten Elbarme mit ihren Hunderten
von hin und her schießenden Booten, weiter hinaus die Docks und
Werften, die rauchenden Schlote bis hin zu den sanften Linien des
grünen Hinterlandes. Über der Stadt selbst der übliche Rauch und Qualm
-- darin tut’s Hamburg London gleich --, aus dem richtunggebend hoch
und schlank der Nikolaiturm emporstieg. Eindrucksvoll präsentierte
sich von hier oben Lederers fast zyklopisches Bismarckdenkmal auf
der Elbhöhe, ein unübertreffliches Symbol deutscher Kraft, deutschen
schaffenden Willens und hoffnungsfreudigen Blickens in eine neue
Zukunft: Deutschland kann seine Söhne allein nicht mehr ernähren, wenn
es nicht wieder mit der ganzen Welt handelt und für sie arbeitet. Ist
auch das Werk des Alten im Sachsenwalde eingerissen worden, aber sein
Geist lebt fort und wird wieder auferstehen.

Ich schlenderte durch St. Pauli, die berüchtigte Schiffer- und
Arbeitervorstadt Hamburgs, übel berühmt durch ihr loses und
leichtfertiges Vergnügungsleben. Hier will der von schwerer Seefahrt
heimgekehrte und entlohnte Matrose sich „erholen“, d. h. austoben und
ausleben, nachdem ihn wochenlang harter Dienst und strammes Kommando
in Fesseln gehalten hat. Und wie verführerisch lockt des Abends die
lichterfüllte, überall orgelnde, tönende, schreiende „Reeperbahn“, an
der Kino an Kino, Varieté an Varieté sich reiht mit all ihren dunklen
Gassen seitabwärts ...

Aus diesem St. Pauli ging es zurück durch die Stadt und ihre breiten
und belebten Geschäftsstraßen, wie sie nun nach gewaltigen Durchbrüchen
am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sind. Ich warf einen Blick in
die ehrwürdige Nikolaikirche. Vom hohen Turm von St. Nikolai klang um
Mittag das melodische Glockenspiel, das bis vor kurzem ein hoch in den
siebziger Jahren stehender Onkel von mir zu spielen hatte, der täglich
durch Jahrzehnte hindurch die 400 Turmstufen emporstieg, um auf seiner
Spielbank da oben im luftigen Reiche Platz zu nehmen. Und er behauptete
immer, sooft man ihn begleitete, diese tägliche Turnübung allein habe
ihn bis in sein hohes Alter so gesund erhalten ...!

Die herrlichen Säle des Rathauses mit ihren kostbaren Gemälden sah ich
gern einmal wieder. So machts doch der gute Deutsche: Wenn er einen
einzigen Tag in einer fremden Stadt zubringt, besieht er sich emsig und
umsichtig, ein ausführliches und gelehrtes Reisehandbuch in der Hand,
alle Sehenswürdigkeiten, und es schmerzt ihn nachher sehr, irgend
etwas Wichtiges und Berühmtes vielleicht doch übersehen zu haben. Aber
in der Geburtsstadt kann es einem passieren, daß man -- wie mir selbst
-- zum +ersten Male+ in Goethes Geburtshaus hineinkommt, wenn man es
von auswärts zugereisten Verwandten zu zeigen hat!

Sooft ich in Hamburg war, konnte ich es mir auch nicht versagen,
wenigstens einmal über die Alster zu fahren. Eine Alsterfahrt gehört
immer zu den idyllischsten Erinnerungen. Die Alster ist immer schön,
am strahlenden Sommertag und ebenso im herbstlich früh einbrechenden
Abenddunkel, wenn die Alsterboote mit ihren Lichtern wie Leuchtkäfer im
Nebel hin und her flitzten. In trauter Erinnerung stand bei mir seit
den Kindertagen auch das Uhlenhorster Fährhaus, von dessen herrlicher
Terrasse man einen solch entzückenden Blick über das weite Alsterbecken
bis hin zu den vielen fern und schlank aufragenden Türmen Hamburgs
genießt.

Hinter Uhlenhorst liegt der Vorort Horn. Er war mir auch seit meiner
Kindheit bekannt, seit in seiner kleinen Kirche einst mein ältester
Bruder getraut worden war ... Ich sehe noch immer die nach Althamburger
Sitte lange Wagenreihe vor mir, die da mit der großen Verwandten- und
Bekanntenschaft hinausstrebte. Und ich durfte damals als kleiner viel
verhätschelter Junge mitten zwischen den Brautjungfern sitzen! Und dann
defilierten wir durch die vielen neugierig an der Eingangstür wartenden
Vorstadtkinder ... und oben auf der Orgel intonierte der siebzigjährige
Onkel L., dessentwegen das kleine Kirchlein zur Trauung gewählt worden
war, derselbe, der täglich zum Glockenspiel auf den Nikolaiturm
hinaufstieg.

In Horn steht bekanntlich auch Wicherns berühmtes „Rauhes Haus“,
darin einst der Kandidat Wichern und seine Mutter Wohnung nahmen, um
selbstlos arme verwahrloste Knaben zu erziehen. Jetzt sind es mächtige
ausgedehnte Erziehungshäuser der „Inneren Mission“. Die Anstalt erfüllt
heute einen gar weiten Komplex, in dem sich aus freundlichem Grün die
einzelnen Häusergruppen familiär und traulich erheben. Als „Familien“,
von Brüdern und Helfern betreut, leben hier die Zöglinge zusammen. Wie
mancher mag hier fürs Leben wirklich „gerettet“ worden sein, so daß die
Anstalten mit Recht ihren Namen tragen.

Für soziale Arbeit habe ich mich schon früh immer stark interessiert.
Gerade in Hamburgs Straßen blickte ich manchem hungrigen Straßenhändler
oder armen streichhölzerverkaufenden elternlosen Kinde in die
Augen ... Ich weilte in des gottbegnadeten Pastor Clemens Schulz’
Lehrlingsverein, der dem alten Herrn die Familie ersetzte, und sah mich
um in den sozialen „Volksheimen“ und fühlte mich jedem Eckensteher und
„Halbstarken“ ein bißchen verwandt. Waren sie nicht alle auch Menschen
und Brüder? Was können sie für das Elend, in dem sie aufgewachsen sind,
für Not und Irrtum, die sie in Schuld getrieben? Zeitweilig hatte ich
einmal ernstlich die Absicht, mich ganz der verwahrlosten Jugend in St.
Pauli zu widmen ...

So strich ich damals von Horn aus in Rothenburgsort und Hammerbrook
umher. Vor 30 Jahren war hier noch grünes Marschland. Jetzt reihen sich
grauschwarz und schmutzigberußt die langen traurig-öden Straßenzeilen
mit ihren Mietskasernen, ihren dunklen Höfen und düstern Hinterhäusern
aneinander. Hier wohnen die Menschen so dicht, daß oft ein einziger
Straßenblock 4000 Menschen mit etwa 1700 Kindern, genug für eine
32-(!)klassige Volksschule, beherbergt. Hier wächst eine Jugend auf,
deren Spielplatz die Straße, deren Hauptbildner das Kino ist, die
von blauem Himmel, grüner Marsch und singenden Vögeln nur wie von
Sagen und Märchen hören. Ihre Ahnen waren einst selbständige wackere
Holsteiner Bauern, Handwerker und Fischer; jetzt zerreibt und zermahlt
sie die Großstadt zwischen Schloten und Maschinen, zwischen seelenloser
Fabrikarbeit und brutalsinnlichen Vergnügungen zu einer einförmigen,
grauen Masse, „Proletariat“ genannt, oft ohne jeden Glauben an
Innerlichkeit. Denn im Rauch, Getöse und Herdendasein der Großstadt
stirbt das Persönliche. Und mit ihm stirbt Lebensfreude und -glück.
Aber im „Volksheim“, da suchte man wieder den Menschen zu wecken.
Da turnten fröhlich die Knaben, da wurde gutes Theater gespielt;
naturwissenschaftliches Kränzchen und Billardklub, Rezitation und
Bücherei, Bastel- und Schnitzabend, Schachspiel und Schlagball blühten
und gediehen friedlich und fröhlich miteinander. Zeigt nicht ähnliche
Zustände die Großstadt überall, sei es Berlin oder Hamburg, Neuyork
oder Chikago? Die Großstadt ist am allermeisten und im bösesten Sinne
„international“. Überall frißt sie das Land und die Seele der Menschen
zugleich.

In die innere Stadt zurückgekehrt, umflutete mich wieder das Leben der
großen Geschäftsstadt, die Warenhäuser mit ihren wimmelnden ein- und
ausströmenden Menschen, die fliegenden Straßenhändler, die klingelnden
Straßenbahnen und tutenden Autos, die Laufjungen und Portiers, all
die vielen kleinen Theater und Spielhallen, die Ewerführer auf dem
Kohlenkahn die düstern Fleets entlang, die Wirte der Hafendestillen,
die Fuhrleute und Packer, die Börsenmänner und Geldleute und endlich
im Alsterpavillon die schlemmenden gelangweilten feinen „Damen“. Welch
eine gegensätzliche Welt! Welch eine Sachenkultur! Elend und Reichtum,
Verdorbenheit und Selbstsucht dicht beieinander.

Aus der stickigen Großstadtluft trieb es mich am Nachmittag mächtig
hinaus nach dem Land. Ich fuhr daher nach dem so reizvollen Blankenese
an der unteren Elbe, Hamburgs Perle, hinaus. Aus den dunkeln, dumpfigen
Winkeln und Kellern, Straßen und Hinterhöfen voll pestilenzialischer
Gerüche und verbrauchter Luft ging es zu Schiff hinaus in die frische
freie Luft des breiten Stroms und des saftgrünen Landes, dahin, wo
einem schon Salzluft der Nordsee entgegenweht. Am alten Michel vorbei,
St. Pauli vorüber, entlang den Reihen der vornehmen Landhäuser der
Großkaufherren in Kleinflottbeck ... Am Strande des Flusses lagen
vergnügte und sorglose Menschen in ihren hellen Kleidern im weißen
Sande; Kinder plantschten im Wasser und ließen ihre kleinen Segelboote
schaukeln ... In der Sonne gebräunt-leuchtende, badende Jungen,
schwammen hinter dem Dampfer her und tauchten fröhlich in seinen
spritzenden Wellen ... und drüben lag behäbig und unentwegt das satte,
saftige grüne Marschland, und draußen wartete auf uns das blaue Meer.

Oben vom Süllberg aber und seiner weitblickenden Aussicht konnte man
sich kaum trennen. Eine Musikkapelle spielte lustige Weisen. Es war
prächtig, da oben zu sitzen und über den weiten meerarmartigen Strom
und das weite grüne Land zu schauen. Die Musik war die Auslöserin der
rechten Abschiedsgefühle. Deutsche Lieder würden wohl sobald nicht mehr
an mein Ohr klingen ... Langsam spülte die Flut herein. Allerlei flache
Inseln und Sandbänke im Strome tauchten unter. Mit Sonnenuntergang
versank für mich auf lange ein letzter Tag auf deutschem Boden ...

       *       *       *       *       *

Ebenso strahlend brach dann der Augustsonntag an, der mich der
alten Welt entführen sollte. Auf dem Hamburger Hauptbahnhof war ein
furchtbares Gewühl von Menschen, wie an schönen Sommertagen auf allen
deutschen Großstadtbahnhöfen. Tausende von Ausflüglern flohen aus
der heißen Großstadt in die Lüneburger Heide, in den Sachsenwald,
ins Holsteinische. Dazwischen wimmelten noch die Ozeanpassagiere zu
Hunderten. Unser Sonderzug dampfte punkt sieben Uhr zunächst mit den
Passagieren der zweiten Kajüte aus der Halle, bis zum letzten Platz
besetzt ...

Im hellen Sonnenschein ging es durch die grüne Marsch der Elbe entlang
-- doch war sie selbst selten sichtbar -- über Stade nach Kuxhaven.
Im Wagen redete alles bereits deutsch und englisch durcheinander. Die
echten Deutschamerikaner redeten ihr Deutschamerikanisch: „~Well,
think~, wir gehn nach vorn“ u. ä. Deutsche Kinder antworteten ihren
deutschredenden Eltern prompt auf englisch. Übrigens war mein letztes
deutsches Erlebnis gewesen, daß der Gepäckträger mir schnell noch vor
der Abfahrt zu wenig herausgab! Immer noch besser als jenes erste
deutsche Erlebnis des Japaners Utschimura, dem auf dem Hamburger
Hauptbahnhof gleich sein ganzes Portemonnaie nebst wohlgefülltem Inhalt
gestohlen wurde ...!

Nach zweistündiger flotter ~D~-Zug-Fahrt lenkten wir plötzlich wieder
der Elbe zu. Die grüne Marsch, die grasenden Rinderherden entwichen
... Dort drüben dicht vor uns strahlend gelb und weiß im hellen
Sonnenglanz lag unser Schiff, und hinter ihm dehnte sich bis an den
Horizont tiefblau die Nordsee ...

Schon liefen wir in die Bahnhofshalle von Kuxhaven ein. Ich faßte mein
Handgepäck. Blaugekleidete Stewards mit goldenen Knöpfen und weißen
Handschuhen sprangen uns gar artig bis auf den Bahnsteig entgegen
und nahmen uns das Handgepäck ab. Ich hielt aber in übertriebener
Vorsicht das meine ziemlich fest in der Hand und schleppte es lieber
im Schweiße meines Angesichts und meines Reisemantels am warmen
Hochsommersonntagmorgen selbst bis zum Schiff hinauf. Einige Schritte
ging es noch durch die langen Zollhallen, dann von der Halle bis
an die Kaimauer ... zuletzt an einer Reihe Schutzleute vorüber die
Schiffstreppe hinauf: für die Landratte ein eigenartiger Moment! Weil
alle es so machten, machte man es auch so. Noch einmal wurde der
Fahrschein kontrolliert ... oben an der Schiffstreppe standen die
Schiffsoffiziere in weißen Handschuhen, die Hand grüßend an der Mütze.
Von der Kommandobrücke sah der Kapitän, eine Menge goldener Streifen
um den Arm, prüfend herab ... Hinter einem Seile auf dem Vorderdeck
wie Vieh eingesponnen und zusammengedrängt standen die Zwischendecker,
darunter Physiognomien wie aus einer Verbrecherkolonie, Russen, Polen,
Italiener, Griechen, Juden aller Herren Länder ... Sie waren mit dem
Gepäck schon in Hamburg eingeschifft worden.

Durch merkwürdig schmale Gänge wurde man auf dem Schiffe selbst in
die Kabine gewiesen. Unser Kabinensteward war ein freundlicher,
hilfsbereiter junger Mensch. Die Kabine fand ich recht geräumig;
sie enthielt je vier Betten, zwei übereinander, und einen hübschen
Waschtisch mit zwei Becken. Man legte schnell ab. Ein Mitpassagier,
ein wohlbeleibter Schauspieler aus Philadelphia, Deutscher von Geburt,
wurde zunächst mein Berater. Als dritter Kabinengenosse gesellte sich
ein stockamerikanischer „Coiffeur“ aus Chikago hinzu, der kein Wort
Deutsch verstand. Der vierte war, wie sich nachher zeigte, ein alter
Wiener Jude, der seine Tochter, eine Sängerin, in „Neffiorck“, wie er
aussprach, besuchen wollte. Um etwaigen üblen Explosionen vorzubeugen,
wählte ich ein oberes Bett, das auf einer kleinen Leiter zu ersteigen
war.

Wir gingen schnell, nachdem wir abgelegt, wieder nach oben, um ja den
reizvollen Augenblick der Abfahrt nicht zu versäumen. Mehr und mehr
sammelten sich die Passagiere auf dem Promenadendeck, um sich noch von
oben mit ihren Angehörigen auf dem Kai, soweit sie bis nach Kuxhaven
mitgekommen waren, möglichst lange zu unterhalten. Jetzt wurde in
gewaltigen Netzen unser Gepäck vom Land aufs Schiff balanciert. Dann
lief der zweite Sonderzug von Hamburg mit den Passagieren der ersten
Kajüte ein. (Vornehme Leute kommen bekanntlich in der Welt immer
zuletzt oder sogar, wenn sie besonders vornehm sind, zu spät!) Auch
diese dreihundert waren, schnell von hilfreichen Stewards geleitet, an
Bord gebracht. Mittlerweile war es ¾12 Uhr geworden!

Immer strahlender schien die Sonne wie mit Festglanz vom Himmel
herab. Tiefblau war Himmel und Meer. Nun ertönte ein Kommando; die
Haltetaue wurden losgewunden. Die Musik setzte ein: „Muß i denn, muß
i denn zum Städtle hinaus“ ... Langsam drehte das gewaltige Schiff
ein wenig vom Kai ab. Die am Ufer begannen zu winken, Taschentücher
flatterten bald hundertfältig oben und unten, herüber und hinüber
... einige Damen schluchzten auf ... da und dort sah man rotgeweinte
Augen ... auch ich biß ein wenig die Zähne zusammen, aber das Fehlen
von Angehörigen machte den Abschied mir nicht so schwer. Auch war
meine Brust geschwellt von all dem Neuen, was da kommen sollte. Immer
breiter wurde schon der Wassergraben zwischen Kai und Schiff. Die
Schraube arbeitete spürbar, der ganze Schiffsrumpf erbebte unter ihren
Drehungen, die Maschinen stampften, durch den ganzen Schiffskörper ging
ein leises Zittern ... So löste sich das Schiff langsam vom Lande ...
Zehn ... zwanzig Meter rückte es vom Ufer ab ... Alles rief, schrie,
winkte, weinte ...! Dann wurden es fünfzig, hundert Meter! Die Menschen
wurden immer kleiner ... Kreischend umflogen uns Schwärme von Möwen ...
Zuletzt waren Kuxhavens Türme klein wie Spielzeug. Die Musik hatte
aufgehört zu spielen ... Alles strömte in die Speisesäle, um sich vom
Obersteward einen Tischplatz anweisen zu lassen ...

Ich wählte lieber den „zweiten Tisch“, wie mir der spätaufstehende
Schauspieler aus Philadelphia riet, und mußte nun zwölf Tage lang
zweimal täglich anderthalb Stunden zusehen, wie bereits der „erste
Tisch“ fröhlich speiste. (Bei voller Belegung des Schiffes reichen
nämlich die Speisesäle nicht zugleich für sämtliche Passagiere.) Das
war bei dem besonderen Appetit auf See und der Langeweile, die am
schönsten von den Mahlzeiten unterbrochen wird, jedesmal eine Leistung.
Auch sonst war mein wohlbeleibter Berater wie ein böser Dämon neben
mir, der für die Rührung der Abschiedsszenen nur Spott hatte und auch
schon am ersten Tage mir von Amerika und den Amerikanern fortgesetzt
nur Ungünstiges zu erzählen wußte: „Dollarjagd und Bigotterie sei
drüben alles. Der Freiheitsstatue hätte man lieber eine Dollarnote
statt einer Fackel in die Hand geben sollen u. ä.“, während ich in
vollstem Jugendidealismus wie ein kleiner Kolumbus mir eine neue ideale
Welt erobern wollte ...

Als man endlich aus den Speisesälen und Schiffsgängen wieder hinaufkam
-- schon prägte man sich etwas die Topographie des Ganzen ein -- da
schwammen wir bereits mitten auf der weiten, klaren, blauen Nordsee.
Von Land war nirgends mehr eine Spur. Aber eine breitaufgewühlte Furche
zog das Schiff wie eine Wasserlandstraße hinter sich her, die den
zurückgelegten Weg deutlich und lange anzeigte ... Immer noch folgten
uns kreischende Möwenschwärme tauchend und elegant die zugeworfenen
Brocken auffangend ...

Das Essen mit seinen vielen und reichlichen Gängen mundete stets
vorzüglich. Die frische Seeluft tat das ihrige dazu. Vom Schwanken des
Schiffs war keine Spur zu merken, obwohl am Nachmittag eine frische
Brise eingesetzt hatte und der Wellengang stärker wurde. Gemütlich
lag man auf Deck auf seinem gemieteten Deckstuhl wie auf der Veranda
eines aussichtsreichen komfortablen Hotels und sah auf die nie
ermüdende unendliche Wasserfläche hinaus und fühlte sich glücklich als
Weltpassagier ...




Auf dem Atlantischen Ozean.


Es begann das regelmäßige Leben an Bord.

Am Mittag war das Meer tiefblau, am Abend nach Sonnenuntergang
aber wurde es tiefgrün. Der aufkommende Wind rüttelte an Tauen und
Segeltüchern. Purpurrot war die Sonne im Westen versunken ...

Silberne Streifen warf bald der Mond über das Wasser. Rings ein
chaotisches Wasserrund. Welche Fluten erfüllen doch die Erde! Von fern
her blitzten die Leuchtfeuer von den deutschen Inseln ...

Wir waren jetzt etwa auf der Höhe von Borkum. Helgoland war zu weit ab
und nicht sichtbar. Das Schiff ging noch immer sicher und ruhig, obwohl
ringsum schon weiße Kämme aufspritzten. Viele, die bereits mehrmals
herüber und hinüber gefahren waren, rühmten unsern „alten Kasten“ sehr,
er fahre zwar nicht so rasch wie die großen Schnelldampfer, aber dafür
ruhiger und sicherer, zumal wenn er wie diesmal voll und schwer geladen
sei ...

Es trompetete zum Abendessen. Nach der salzigen Seeluft schmeckte
das Essen jedesmal vorzüglich. Die Stewardbordkapelle spielte dazu
flotte Weisen im Speisesaal. Die Stewards erwiesen sich überhaupt
als recht vielseitige Burschen. Erst traten sie als galante Pagen
und Kofferträger auf, dann waren sie Zimmermädel in Hosen und
servierende Kellner, für jeden Wunsch und jede Laune dienstfertig
bereit, und zuletzt talentvolle Musikanten. Alle Achtung vor solcher
Vielseitigkeit! Aber welche Versuchung zur Unzufriedenheit für sie,
während ihrer Arbeit um sich ständig nur nichtstuende, schmausende,
scherzende, geldverzehrende und vergnügungssüchtige Menschen zu sehen!
Denn daß wir Passagiere vor und nach unsrer Seefahrt auch etwas
Rechtschaffenes arbeiteten, das sahen sie ja nicht, und vielleicht
glaubten sie es auch nicht. In ihren Augen waren wir alle „reiche“ und
nichtstuende Leute.

Als man vom Abendkonzert vor Schlafengehen noch einmal auf Deck kam,
rauschte rings um uns ein tiefschwarzes Meer. Man hatte in den
erleuchteten Gängen und Sälen fast vergessen, daß man auf dem weiten
Meere schwamm ...

Es kam die erste Nacht. Ich konnte mich gar nicht genug wundern, wie
seelenruhig man sich in sein Bett legte. Freilich sah man einmal der
Ordnung wegen nach, wo die Rettungsgurten lagen. Ganz Ängstliche
haben sie wohl auch einmal heimlich, wenn sonst niemand in der Kabine
war, „für alle Fälle“ anprobiert. Der schreckliche Untergang der
„Titanik“ oder die Torpedierung der „Lusitania“ mit ihren etwa 1500
im Wasser versinkenden Menschen hat uns Bilder genug des Schreckens
vor Augen gemalt! Ich wußte mich auch aus meiner Kindheit eines
schweren Zusammenstoßes eines Bremer Lloyddampfers mit einem englischen
Kohlendampfer im Nebel des Kanals sehr wohl zu entsinnen. Der Engländer
hatte von der Seite kommend und mit Kurs nach Frankreich den im Kanal
längsfahrenden Lloyddampfer mitten entzweigeschnitten. Eine einzige
Dame, eine Bremerin, dazu noch eine gute Bekannte unsrer Familie, war
damals gerettet worden.

Rechtzeitig pflegte ich immer mein Oberbett zu erklimmen, denn das
lange Spielen, Trinken und Rauchen der Herren liebte ich gar nicht.
Mit mir ging gewöhnlich der kleine ältliche Wiener schlafen, der
ja seine Tochter besuchen wollte und der nachher noch sehr unter
der Seekrankheit litt. Er pflegte sich aus Vorsicht gar nicht ganz
auszukleiden. Gut, daß er unten und ich oben schlief, denn die See
hatte es ihm bald angetan! Der Chikagoer, der kein Deutsch verstand,
sondern nur „~good morning~“ und „~good night~“ sagte, kam gewöhnlich
erst ein oder zwei Stunden später herein, und zu allerletzt und oft
wohlgeladen wie unser getreues Schiff, aber doch nicht so ruhigen
Kurses wie es, kam der deutsche Philadelphier, der glücklicherweise
nicht nach oben zu klimmen hatte. Er hatte seine Wahl recht getroffen.
Mit einem mächtigen Plumps fiel er auf seine Lagerstatt. So schlief man
nicht eher ein, bis alle Mann an Bord der Kabine waren. Zudem leuchtete
über der offenen Türluke der helle Schein der Ganglampen herein, so
daß es in der Kabine nie recht finster wurde. Außerdem lag neben
unsrer Kabine, die freilich mittschiffs nicht weit vom Maschinenraum
am wenigsten die Bewegungen des Schiffs verspüren ließ, einer der
Schlafräume der Stewards, die abends nach ihrem Dienst und früh vor
ihrem Aufstehen einen Heidenlärm machten. Da wurde gelacht, getanzt,
gescherzt, Mundharmonika gespielt und fröhlich gesungen. Ich gönnte
ihnen ihre Lustigkeit und Munterkeit von Herzen und wollte mich auch
nicht griesgrämig beschweren; nur beförderte ihr Treiben gerade den
ersehnten Schlaf nicht. So lag ich oft noch manche Stunde wach und sah
gleichsam zum Lohn dadurch auf einmal, wie -- ich traute meinen Augen
nicht -- gemächlich vom Gang herein oben durch die breite Türluke
eine große, feiste Ratte in unsre Kabine hereinspaziert kam, an den
Holzleisten der Wandverschalung gemächlich entlanglief und dann auf
demselben Wege wieder verschwand. Nach andern Nächten fand ich sogar
ihre Grüße und Spuren auf meiner weißen Bettdecke, die ihr vielleicht
bei leerer Kabine als Ruheplatz diente. Sie hatte also, nach den Spuren
zu schließen, während wir von den Wellen gewiegt selig schliefen,
uns sehr nahe Besuche abgestattet. Nach dieser Entdeckung hielt
ich es für ratsam, abends beim Emporklimmen in die „~upper berth~“
wenigstens einen Pantoffel mitzunehmen und ihn als schußbereite Waffe
in der Hand haltend einzuschlummern und hatte so das sichere Gefühl,
gegen etwaige noch nähere Besuche der nächtlichen Freundin notdürftig
gewappnet zu sein. Als ich meine Entdeckung erstaunt am andern Morgen
dem Kammersteward mitteilte, meinte er lakonisch: „Ratten gibt’s
auf jedem Schiff.“ Und erfahrene Seereisende trösteten mich mit der
Weisheit: „Nur ein sinkendes Schiff verlassen die Ratten.“ Zum runden
Kammerfenster aber wehte die ganze Nacht erfrischend luftiger Nordwest
herein, so daß man immer Seeluft genoß. Mußten freilich die Luken wegen
hohen Wellengangs einmal geschlossen werden, dann entwickelte sich bald
eine recht dumpfe Atmosphäre, untermischt mit allerlei Küchen- und
andern Dünsten.

Früh halb sechs verließ ich meist als erster schon unsre Kabine, oft
drei bis vier Stunden vor dem gutgeladenen Philadelphier. Kam man
aufs Deck hinauf, so war da oben gewöhnlich noch groß Reinemachen.
Das Schiff schwamm nicht bloß von unten her, sondern auch in Strömen
von oben. Matrosen barfuß, in hochgekrempelten Hosen, spritzten und
gossen mit Eimern und Schläuchen, wuschen und scheuerten, daß es nur
so eine Art hatte ... Sie sahen es auch gar nicht gern, wenn man gar
zu früh schon ihre Arbeit inspizierte. Aber gerade die Morgenstunden
waren besonders schön auf Deck. Die Sonne und das Meer glänzten noch
heller und frischer als sonst. Frei und unbehindert durch die vielen
Mitreisenden konnte man sich überall ergehen vom Hinterdeck an, wo
gelotet wurde, wieviel Faden wir liefen, bis zum Bug, wo man wie auf
scharfkantiger Bastion das hochaufspritzende Wasser durchschnitt, das
unwillig dem hochbordigen Schiff sich entgegenwarf.

Wir fuhren jetzt in Höhe von Holland. Der Wellengang hatte zugenommen.
Das Schiff stieg hinten und vorn recht erheblich auf und nieder. Schon
fehlten einige der Bekannten am Frühstückstisch; andere schlichen mit
ängstlichen und bleichen Gesichtern umher, drückten sich möglichst in
der Nähe der Schornsteine auf ihrem Deckstuhl in die Ecke oder eilten
ein ums andre Mal verstohlen an die Reeling, um Poseidon zu opfern
... Wir andern machten tapfer unsre Runde, zwanzig Deckrunden, um --
wie ein munteres Fräulein neben mir spottete -- „uns die Seekrankheit
auszulaufen“.

In der Tat läßt sich, glaube ich, mit ein bißchen festem Willen viel
gegen die Seekrankheit machen. Viele werden zweifellos bloß aus Angst
oder vom Sehen seekrank. Es ist wohl auch ein Stück Anlage, ob man
ihr leicht erliegt oder nicht. Es soll ja sogar alte Kapitäne geben,
die sie bei jeder halbwegs unruhigen Fahrt immer wieder packt. Gar
spaßig waren die weisen Unterhaltungen und mancherlei Ratschläge
darüber zu hören. So rieten die einen: „Immer tüchtig essen, aber ja
nichts trinken!“ Die andern mit scheinbar einfacher Logik: „Den Magen
ganz leer lassen, dann hat er kein Material zum ...!“ Wieder andere
mit medizinischer Kennermiene: „Nur einen Kognak trinken, aber sonst
nichts genießen!“ Die vierten meinten besonders ängstlichen Damen
gegenüber: „Ruhig hinlegen und die Augen fest schließen und an etwas
Schönes denken, das hilft!“ Wieder andere: „Hinlegen, aber die Augen
gen +Himmel+ richten und nur nicht aufs Wasser sehen!“ Auch ein Rat aus
der Praxis! Die sechsten aber mahnten zum Gegenteil: „Immer tüchtig
herumlaufen, viel lachen und spielen!“ Die siebenten ergänzten gar
dazu: „Nur nicht hinuntergehen in die dumpfe Kabinenluft, da kriegt man
es gleich!“ Und noch andere: „Recht lange im Bett liegen bleiben, da
spürt man das Stampfen und Rollen nicht so sehr!“ Endlich die letzten
orakelten: „Man muß einfach weder davon reden noch daran denken“ -- und
doch sprachen bald alle davon, von dem einen Thema, die einen offen,
die andern verstohlen. Und wer nicht davon sprach, der dachte daran.

Jeder versah sich auf seine Weise „für alle Fälle“ mit einem guten
Rat. So spotteten die einen und lachten, die andern verkrochen und
fürchteten sich. Ich selbst philosophierte über die Möglichkeit einer
seekranklosen Lage und fand sie in einer kardanisch, d. h. von oben
zentral wie eine Hängelampe aufgehängten Hängematte, die sofort vermöge
des Gewichts des darin liegenden Menschen alle Schwankungen des Schiffs
korrigierte und darum stets in der richtigen, zum Erdmittelpunkt
zentripetalen Lage bleibt! Leider bin ich nur bis heute noch nicht zur
Patentierung meiner Erfindung gekommen ... Möchte auch jeden Leser vor
ihrer vorzeitigen Ausbeutung warnen!

Gegen 11 Uhr fuhren wir auf der Höhe von Dover. Deutlich zeichneten
sich rechter Hand die weißen Kreidefelsen der englischen Küste ab.
Wer noch ungebrochener Gesundheit war, schrieb eifrig im Speisesaal,
Rauchsalon oder Spielzimmer Briefe und Karten an die Lieben daheim,
denn in Boulogne-sur-mer wurde von einem französischen Tender Post
abgenommen. Ich konnte noch immer unter anderem stolz berichten: „Nicht
seekrank!“ Und ich habe mit festem Willen und einer ungeänderten
Lebensweise bis zuletzt auch gut „durchgehalten.“

So näherten wir uns langsam von Albions stolzer Küste hinüber dem Land
der uns so sehr liebenden Franzosen. Bald erkannte man durchs Glas
Wiesen und weidende Rinderherden ...! Eine eigentümliche Sehnsucht nach
Land entstand in mir. Die reichlich vierundzwanzig Stunden, die wir
jetzt unterwegs waren, dünkten mich wegen der vielen neuen Eindrücke
ebensoviel Tage zu sein.

Um Mittag hielten wir weit draußen auf der Reede von Boulogne. Unsre
Sirenen heulten mehrmals laut hinüber, daß wir da wären. Still stand
der weithin sichtbare Leuchtturm auf seiner stolzen Höhe, aber der
Tender mit den Parisern ließ noch eine ganze Weile auf sich warten.
Fast zwei Stunden zu früh waren wir angekommen. So rasch war unser
alter Kasten gefahren! Während wir still lagen, ließ sich drüben
der französische Strand mit seinen großen Hotels, seinen vielen
Strandkarren und die Kuppel der katholischen Kathedrale gut durchs
Glas erkennen. Endlich kam auch tüchtig auf und nieder tanzend der
französische Tender herübergedampft.

Es war ein kleines Kunststück, die Passagiere heil zu übernehmen. „Halb
zog sie ihn, halb sank er hin.“ Nach dieser Weise kamen sie alle zu
uns herauf. Die Matrosen hatten dabei allerlei Arbeit. Zuletzt wurden
wiederum die Koffer im Krannetz hoch über dem freien Wasser schaukelnd
herüberbalanciert. Dann flogen unsre Postsäcke hinüber -- und der
Franzose drehte wieder um ...

Es war 4 Uhr nachmittags geworden, als wir uns wieder der englischen
Küste näherten. Abends winkten uns die langen Lichterreihen von
Southampton, der paradiesischen Insel Wight und dem Kriegshafen
Plymouth, der so groß ist, daß er die ganze englische Kriegsflotte
in sich aufnehmen kann. Wie „fliegende Holländer“ glitten im Dunkel
bald näher, bald ferner kleinere Küstendampfer mit grünen und roten
Signallichtern an uns vorüber. Am Himmel aber standen ruhig und
feierlich die blitzenden Sterne ...

Mit Anbruch des nächsten Tages passierten wir den letzten Punkt
Europas, die felsigen Szillyinseln. Der Leuchtturm Eddystone, an dem
hoch die schäumende Gischt emporbrandete, entbot den allerletzten
Scheidegruß Europas. Nun würden wir kein Land mehr sehen bis zur Küste
der Neuen Welt. Wir fuhren jetzt erst in den offenen Atlantik hinein.

Länger und höher wurden die Wellenzüge. Bis zur halben Schiffslänge
tauchte unser Schiff in die Wellentäler, um dann gehorsam vom nächsten
Wellenberg wieder aufzusteigen. Ein ewiger, erhabener Rhythmus. Wir
hatten unsre Deckstühle ziemlich weit hinten und sausten dabei manchmal
recht tüchtig und plötzlich mit ihnen in die Tiefe. Das Rundengehen
war aufgegeben, denn man mußte zu oft einhalten und sich festklammern.
Man lag lieber und las, so gut es ging. Das muntere spottende Fräulein
lag dicht neben mir. Nicht lange -- so entpuppte sie sich als Kusine
einer meiner liebsten Studienfreunde, als eine muntere Badenserin
aus dem schönen Freiburg im Breisgau. In Neuyork wollte sie ihren
unverheirateten Onkel aufsuchen, ihm den Haushalt führen und, wenn
möglich, sich drüben gut verheiraten. Gewiß hat sie es inzwischen auch
getan.

Wir haben auf der ganzen Reise zusammen viel Spaß gehabt. Sie gab
mir ihre Bücher zum Lesen und ich ihr die meinigen. Dann tauschten
wir unsre Urteile ungehemmt aus. Vielleicht hat unser gegenseitiges
helles Lachen und Fröhlichsein auch als Medizin gegen die ~seasickness~
gewirkt, der immer mehr Passagiere erlagen. Immer leerer wurden die
Decks und Speisesäle, immer lauter das Seufzen der Seekranken. Auch uns
hob es manchmal so ganz eigentümlich von unten herauf ... Ich las jetzt
mit viel Interesse aus der Schiffsbibliothek die trefflichen Werke von
Professor Hötzsch, Lamprecht und Münsterberg über „Amerika und die
Amerikaner“ und wurde so auf meine Studienfahrt durch die Union aufs
beste und zugleich geistvollste vorbereitet.

Mehr und mehr Schiffsreisende hatte man kennengelernt. Alle Schichten
waren dabei vertreten: Farmer, Schauspieler, Sänger, Zirkusleute,
Familien mit Kind und Kegel, die schon lange drüben waren und nur
vom Verwandtenbesuchen heimkehrten, und einzelne, die zum erstenmal
hinüberwollten, wie meine Partnerin, Deutsche und Stockamerikaner
bunt durcheinander. Ebenso sprachlich gemischt war am Tisch meist die
Unterhaltung, aber das Deutsche herrschte doch noch entschieden vor.

Jeden Tag war das Meer anders. Bald bewegt, bald glatt wie ein
Spiegel, aus dem lustig Delphine in hohem Bogen emporsprangen. Manche
wünschten sich prahlerisch „mal so einen richtigen Sturm“ zu erleben!
Aber es kam keiner. Dazu war es noch zu sommerlich in der Jahreszeit.

Eines Morgens ½7 überholte uns eins der schönsten deutschen Schiffe,
die „Kronprinzessin Cecilie“. Rauschend wie eine Königin fuhr sie an
uns vorüber, eine mächtige Schleppe quirlender Wasser hinter sich
lassend. War das ein Grüßen, Winken, Rufen und Jubeln hinüber und
herüber! Aber so schnell wie sie gekommen, war sie auch wieder vor
uns verschwunden. Mehr als doppelt so groß wie wir war sie und auch
fast doppelt so schnell fuhr sie. Später rückte von rückwärts her
die „Adriatic“ von der White-Star-Linie an unsre Seite, um geraume
Zeit vor uns in Neuyork einzutreffen. Aber uns kümmerte das nicht.
Im Gegenteil, je länger auf dem Meer, desto schöner. Ich hatte ja
nichts zu versäumen. Allerlei Spiele -- solange man nicht aß, lief,
las, lag oder saß -- vertrieben schnell die Zeit. Auf Deck spielten
sie „~shuffle-board~“, eine Art Deckkegelspiel, Ringwerfen, richtigen
Nachlauf und „Kriegen“. Eine Gruppe handfester norddeutscher Burschen
übte sogar „Schinkenkloppen“ zur größten Heiterkeit aller eifrig
Spalier bildenden deutschen und amerikanischen Dämchen. Je tüchtiger es
auf den gestrammten Hosen klappte und je seltener einer den Missetäter
herausfand, desto lauter wurde das Vergnügen. Im Rauchzimmer saßen die
ganz unentwegten Skatdrescher, von denen einer kurz vor der Ankunft in
Neuyork mit den bezeichnenden Worten aufs Deck trat: „Jetzt muß ich mir
schnell noch einmal das Meer ansehen.“ Tabaksqualm und ein Schoppen
frisch Angestecktes ging doch über alles ...

Zweimal war auch abends Bordfest. Die Decks waren mit Segeltüchern
geschützt und alles mit Glühbirnen, Wimpeln und Flaggen umzogen. Und
zu den fröhlichen Weisen der Bordkapelle drehten sich bis Mitternacht
tanzlustig die Paare ...

Keinen Tag fehlte auch die Bordzeitung, die täglich neu in der
Borddruckerei mit den neuesten drahtlosen Depeschen aus aller Welt
gedruckt wurde. Die Bordzeitung brachte auch Bilder und einen
fortlaufenden Roman! Großes Interesse erregte auch jedesmal die
Bekanntgabe der täglich zurückgelegten Meilenzahl, die gewöhnlich nach
dem Mittagessen erfolgte: Meist liefen wir pro Tag zwischen 320 und
340 Seemeilen, legten also etwa eine Entfernung wie von Dresden nach
Hamburg täglich zurück, die freilich der Schnellzug in einem Drittel
der Zeit meisterte. In künftigen Zeiten wird man mit dem Zeppelin etwa
vier- bis fünfmal so schnell nach Amerika fliegen, als unser alter
Kasten lief. Aber Kolumbus hätte schon unsre 11 Tage Überfahrt als
unerhörten Rekord empfunden. Es ist ja alles in der Welt nur relativ!

Ehe die Bouillon zum zweiten Frühstück auf Deck gereicht wurde,
pflegten der Kapitän, der Erste Offizier und der Schiffsarzt ihre Runde
zu machen und mit jedem Passagier ein kurzes freundliches Wort zu
wechseln ...

Sonst passierte nichts von Bedeutung. Nur einem Unglücksraben unter
den Mitreisenden wurde seine gesamte Barschaft von elfhundert Mark
gestohlen. Tags zuvor hatte er erzählt, daß er davon drüben eine kleine
Farm kaufen wolle. Wie sollte man den Dieb ausfindig machen? Was wurde
nun aus dem Armen und seinen Plänen?

Regelmäßig verlief unser Leben. Aus Abend und Morgen wurde stets ein
andrer Tag geboren. Die Tage hatten ihre Stunden, unter denen die
Mahlzeiten immer die wichtigsten und frohbegrüßten festen Punkte waren.
Mit Essen, Schlafen, Spielen, Lesen und Unterhalten ging die Zeit hin.
Aber das Meer selbst wurde man nie müde:

    Der Sturm singt mir das Schlummerlied,
    Die Woge wiegt mich ein;
    Das Schiff sanft seine Bahnen zieht
    Im Ozean allein.

    Wie braust der Wind in Mast und Tau,
    Wie rauscht es in den Wänden!
    Und droben ruht des Himmels Blau
    In friedlichen Geländen.

    Weiß spritzt die Gischt und quirlt und schäumt,
    Ein rollend wallend Brüllen; --
    Das Aug’ in Weltenferne träumt,
    Wo Nebel Zukunft hüllen ...

Der Ozean mit seiner unergründlichen Weite und unbezwinglichen Majestät
regte immer zu neuen und großen Gedanken an. Aber dazu mußte man auf
ihm auch Stunden allein verbringen können, nicht wie die Skatdrescher
und Schinkenklopper. Gegen Abend, wenn die Sonne in die Goldbronze des
Meers tauchte, dann wurde es mir immer besonders feierlich zumute.
Noch glühte der Abendhimmel wie von einem Weltbrand erleuchtet. Auf
den Wellen spielte Silber und Gold, eine märchenhafte Pracht. Jede
Woge war wie ein heranrollendes Gebirge, jeder Wellenberg wie eine
Farbensymphonie. Aus dem langsam blauschwarz verdunkelnden Himmel aber
blitzten die ersten Sterne auf. Rötlich stieg langsam der Mars empor
und warf eine matte Lichtstraße über das Wasser. Zuletzt leuchtete das
Siebengestirn des großen Wagens in voller Majestät. Welche Abendpracht
über der Wasserwüste!

Eine wahrhaft grandiose Einsamkeit sprach zu einem, wie man sie ähnlich
nur auf den Schneehäuptern des Hochgebirges erleben kann. Wie dort
hoch oben über den letzten Hütten der Menschen und weit fort von den
tiefeingeschnittenen, in Schatten getauchten Tälern, so war man hier
Tage entfernt von der Alten und Tage von der Neuen Welt.

Wasser, Wasser, so weit man sah, Wasser und Himmel -- und die ewigen
Sterne! Noch heute rast hier das Chaos, noch heute blitzt hier Jupiter
und zürnt Poseidon. Und Kastor und Pollux geleiten freundlich den
Schiffer, der ihnen vertraut.

Graus und Schrecken war das Meer einst, Dienst und Treue ist es
heute. Aber drunten liegen die bleichenden Gebeine vieler mutiger
Helden und die Masten ihrer geborstenen Schiffe. Wer war es, der den
+ersten+ Baumstamm höhlte und +zuerst+ sich aufs Meer wagte? Welcher
Held schnitzte das erste Ruder und spannte das erste Segel auf? Wer
strandete in all den Jahrtausenden auf der Sandbank und zerschellte am
Riff, wo heute Feuerschiffe und Leuchttürme warnen?

Sie alle lebten, sannen, kämpften, wagten und unterlagen für uns heute,
damit wir heute in schwimmenden Palästen sicher durch alle Ozeane
gleiten. Wo am wildumhertreibenden Mast sich einst der Schiffbrüchige
angstvoll klammerte, sind wir heute bei Spiel und Tanz festlich in
hellerleuchteten Sälen versammelt. Salons erstrahlen in Lichterfülle,
ausgesuchteste Mahlzeiten sind bereitet ...

Aber in welch unmeßbaren Zeitläuften wurde solche „Kultur“ errungen!
Welche Zeitperioden schritten auch über das Meer! In welchen gewaltigen
Zeitstufen wurde die Gegenwart der Schiffahrt errungen: Das Kanoe, die
Galeere, der Schoner, der Schraubendampfer! Wie lang dauerte jedesmal
ihre Herrschaft! Fischfang, Seeraub, Kolonialzeit, Weltverkehr lösten
einander ab. Jahrhunderte tauschten über den Ozean ihre Güter von den
Glasperlen der Neger und den Pelzen der Eskimos bis zu unsern Maschinen
und Büchern. Aber wie schnell vergessen wir, was wir vergangenen
Geschlechtern verdankten!

Und wie schließen wir auch auf dem uns bedräuenden Meer uns in Kasten
voneinander ab! Droben in den glänzenden Salons Ball und Konzert bei
strahlenden Toiletten und einem Meer von Licht, blitzende Edelsteine
und rauschende Seide. Drunten im Zwischendeck abgearbeitete Männer
in zerschlissenem Rock und abgezehrte Mütter, die kaum mit dem
Lebensnotwendigsten versehen mühselig eine neue Heimat suchen. Und
doch werden die da drunten Wälder roden, Kohlen schaufeln und Farmen
gründen, Erze fördern, ohne die da droben nicht handeln, spekulieren,
verdienen und leben können. Den Kaffee und Reis auf unserm Tisch werden
+sie+ pflanzen, den Mastbaum haben +ihre+ Väter gefällt, unser Fleisch
stammt aus +ihren+ Herden und von ihrer Schafe Wolle unsre Kleider. Und
was bieten wir ihnen? Auch eine Meerfahrt kann uns zu sozialem Denken
erziehen!

Sicher und unentwegt zog derweilen unser gutes Schiff seine Bahn. Das
Abendlicht verglomm. Schwarze Nacht war es geworden. Venus strahlte
hell voran. Westwärts ging unser Kurs. Westwärts geht überhaupt
der Kurs der Menschheit, von Indien nach Babylon, von Babylon nach
Griechenland und Rom, von Rom nach Deutschland, Holland und England.
Von England nach Amerika ... Und von da wieder zum fernen Osten zurück.
Dann ist der Kreis der Erde ausgemessen.

    Abendlich purpurnes Heer,
    Goldbronzenes Weltenmeer, --
    Dort, wo die Wolke steht,
    Dort, wo der Wind herweht,
        Dorthin mein Weg!

    So zogen Völker aus,
    Hinweg von Hof und Haus
    Kühn auf dem schwanken Schiff,
    Scheuten nicht Sand noch Riff,
        Noch Sturmesnot.

    Leuchte, mein Abendstern,
    Westwärts, dir folg’ ich gern, --
    Stampfe voran, mein Bug,
    Voran der Möwen Flug!
        Schau rechter Hand: Land!

Die Kunde verbreitete sich geschwind: „Morgen, Donnerstag, den 9.
September, einen Tag früher als erwartet, kommen wir an.“ Alles geriet
in Unruhe. Die schönen genußreichen Tage, da man sich so recht und
behaglich hatte „ausfaulenzen“ können, gingen zu Ende. Die Fähnchen auf
der ausgehängten Seekarte waren dem amerikanischen Festland bedrohlich
nahegerückt.

Es war auch immer wärmer geworden, je mehr wir uns „drüben“ näherten.
Der Reisemantel war längst abgelegt. Der wohlbeleibte Philadelphier
hatte wenigstens mit der einen Hälfte seiner Prophezeiungen recht
behalten: Entweder Sturm im Kanal oder Nebel bei den Neufundlandinseln.
Richtig, es kam noch anderthalb Tage lang ganz dicker Nebel, daß man
auf dem Schiff von hinten nicht bis nach vorne sah. Höchst unheimlich!
Das Schiff wurde wegen etwaiger Zusammenstöße auf halbe Fahrt
gesetzt. In regelmäßigen Abständen heulte unaufhörlich das Nebelhorn
und lauschte auf Antwort. Aber es kam keine. Auch nachts -- noch
schauriger -- ertönte dasselbe Tuten; noch im Traum vernahm man es,
bis der Nebel wich und im Sonnenglanz bald wieder eine spiegelglatte
See vor uns lag. Drüben rechts sah man schon die ersten amerikanischen
Feuerschiffe ...

Am letzten Morgen, an dem wir noch in der Frühe landen sollten, war
alles unerwartet zeitig auf den Beinen, und zwar die meisten in sehr
verändertem Habit. Die Reisemützen der Herren waren verschwunden --
meine schwamm ja sowieso in der Nordsee oder im Golfstrom -- weiche
oder steife Filzhüte für die Weiterreise zu Lande waren an ihre Stelle
getreten. Die Schiffsanzüge waren von Straßenkostümen verdrängt, und
manchen der Reisegenossen kannte man zuerst in dem ungewohnten Gewand
kaum wieder.

Währenddem glitten wir in der Morgendämmerung schon an der
hellbeleuchteten Küstenlinie von Long Island entlang -- wir waren also
dicht vor dem Ziel! Amerika! Seltsames Gefühl!

Das Lotsenboot nahte und brachte den Lotsen an Bord, der nun das Schiff
durch die „Narrows“[1] und die Neuyork-Bai in den Hudson steuern
sollte. Links blitzten die Leuchtfeuer von Sandy Hook übers Wasser. Bis
hierher gerechnet sind es von Southampton 3100 Seemeilen, von Hamburg
3500.

Der Morgen graute. Der Morgennebel nahm zu, aber doch so, daß man
etliche Schiffslängen bequem voraus sehen konnte. Aber leider verhüllte
er uns doch den bezaubernden Gesamteindruck der Hafeneinfahrt von
Neuyork.

Wir fuhren jetzt sehr langsam. Bald glitten wir sacht vorwärts, bald
stoppten wir ganz. Rechts zeichneten sich die Umrisse des weltberühmten
Vergnügungsortes bei Neuyork, Coney Island, ab, links näherten wir
uns dem reizend frisch grünen mit Landhäusern und Villen der Reichen
übersäeten Staten Island, auf das die ~ferry boats~,[2] die heulend
wie ungetüme Wassertanks aus dem Nebel tauchten, die Neuyorker in 20
Minuten bringen ...

Der Nebel wich etwas. Die Sonne machte Anstrengungen, aus dem Dunst
emporzutauchen. Das letzte Frühstück wurde gereicht ... Wir lagen jetzt
vor Staten Island und erwarteten „den Doktor“ auf dem Quarantäneboot,
den allmächtigen Mann, der bei 12500 Dollar Jahresgehalt entscheidet,
wer in das gelobte Land Amerika hereindarf und wer postwendend auf
Kosten der Schiffahrtsgesellschaft, die ihn herüberbrachte, wieder
heimgeschickt wird! Vor uns lag die „Adriatik“, die uns kürzlich
überholt hatte und wurde gerade „bedoktert“, dann legte sich uns ein
Regierungsdampfer längsseit.

Alles hatte sich an Deck gedrängt. Die Koffer waren zu Bergen
geschichtet. Die ganze Nacht hatte es gerollt, gedröhnt und gerasselt,
bis alles Gepäck oben war ...

Wir fuhren wieder ein Stück. Der Nebel nahm wieder zu. Wir glitten
jetzt nach Passieren der „Narrows“, die mit ihren schweren
Befestigungen leicht den Eingang nach Neuyork sperren können, in die
innere Bucht, die sog. „Upper-Bay“, hinein. Links erschienen die
Umrisse eines riesigen Kolosses auf einer kleinen Insel. Es war die
berühmte „Freiheitsstatue“, die mit ihrer Fackel in der Hand die Welt
mit der „Freiheit“ erleuchtet, ein Geschenk Frankreichs an die älteste
republikanische Schwester. Jedenfalls ein recht imponierendes Denkmal
an einer einzigartigen Stelle der Welt, denn fast alles, was nach
Amerika hereinwill, passiert hier die „~statue of liberty~“. Rechts
tauchten auch schon die Umrisse der andern ebenso berühmten Wahrzeichen
Neuyorks auf, der „Wolkenkratzer“. Wirklich von märchenhafter Größe
und Gewalt trotz der riesigen Breite des Hudsonflusses, der in die
Upper-Bay mündet, und im Morgennebel von fast trutzigem Aussehen ...

Es war gegen halb acht Uhr geworden. Wir dampften langsam noch ein
kleines Stück den breiten, meeresarmartigen Hudson hinauf, um dann
links auf der Neujerseyer Seite in Hoboken anzulegen. Nun waren wir
also wirklich „drüben“! Immer noch unfaßlich! Wirklich in der Neuen
Welt! Und ein Ozean trennte mich von der Heimat!

Heulend schossen vollbesetzte, schwere, breite Ferryboote vor uns und
hinter uns vorüber. Links stieg der Turm der Pennsylvania-Railroad
auf. Nicht weit davon liegen die deutschen Piers (Landebrücken). Von
den Anlegebrücken winkten schon viele Tücher. Vom Balkon desselben
aus dirigierte ein Beamter der Hapag die Landung. Ein ganz winziger
Dampfer, wie ein Knirps anzusehen, zog die Riesenschwester in das Dock
hinein.

Alles, was auf der Landebrücke und an Bord stand, rief, schrie, winkte,
lachte und weinte vor Freuden des Wiedersehens und der glücklichen
Ankunft. Ich suchte auch meinerseits, wie alle ihre Verwandten, meinen
Onkel, der mich abholen wollte und hielt eine ganze Weile einen älteren
weißhaarigen Herrn dafür, bis ich auf einmal mit großer Enttäuschung
meines Fehlschlusses gewahr wurde. Wie, wenn nun niemand da war --?
Die Musik spielte, wie wir in Kuxhaven abfuhren. Mit Tauen wurde jetzt
das große Schiff festgemacht. Nun schlugen sie auch die große Brücke
hinunter. Die zweite Klasse durfte an Land gehen ... Ich war unter den
Ersten.

Eben wollte ich den Fuß auf amerikanischen Boden in die große Zollhalle
setzen, als ich auch schon angehalten und zurückgeschickt wurde!! O
weh, was hatte ich denn verbrochen? Ich war mir gar keiner Schuld
bewußt! Sollte ich etwa wieder unverrichteter Sache heimgeschickt
werden? Das wäre ja furchtbar gewesen! Diese Blamage daheim, wenn
ich überall gefragt wurde, wie es in Amerika war und wie es mir
dort gefallen hätte!! Oder sollte ich etwa vier Wochen mit den
Zwischendeckern und Einwanderern nach dem berüchtigten Ellis Island
geschickt werden? Ich war doch weder krank noch ein Verbrecher! Mein
Onkel war ein unbescholtener ~American citizen~, ich selbst ein
wißbegieriger Weltreisender und ein mehrmals akademisch geprüfter
Deutscher, vor dem die Amerikaner doch sonst einige Achtung zu haben
pflegen! Meine Papiere waren in Ordnung. Ich hatte weder mit dem
Kapitän einen Zusammenstoß gehabt noch war ich etwa der Dieb des
unglücklichen Mitreisenden. Ich kam auch nicht ganz mittellos, wenn
auch gar nicht vermögend. Mein Reisebillett war auch richtig bezahlt
... Was es nur war? So schossen mir blitzschnell hundert Möglichkeiten
durchs Hirn, und schon war ich im Begriff, dem kaltherzigen Beamten
eine lange Rede zu halten und zu bedeuten, wen er vor sich habe.
Freilich, ob mein Englisch in diesem Fall der inneren Aufregung schon
zugereicht hätte? Da hörte ich seine Erklärung: Ich sei weder vor dem
Doktor noch vor dem Regierungskommissar gewesen, deren Stempel auf
meiner Karte fehlten!!

Tausend und Doria, wahrhaftig, ich hatte von Deck aus so genau alle
Einzelheiten der Landung und der Einfahrt beobachtet -- damit mir für
mein Reisetagebuch ja nichts entgehe -- daß ich es ganz übersehen
und überhört haben muß, wann und wo man sich den beiden hohen Herren
vorzustellen hatte. Und aus Deutschland hätte ich doch wahrhaftig an
Ordnung und Gehorsam gegen die hohe Obrigkeit gewöhnt sein können!
Wirklich, die Neue Welt hatte auch ihre Gesetze und Rechte und ließ sie
nicht ungestraft übertreten!

So mußte ich zurück -- und wäre doch so gern der erste bei der Landung
gewesen! -- durch Gänge und Treppen, davon viele jetzt verschlossen
waren, wo man sonst ein- und ausging, bis ich endlich den Arzt und den
Regierungsbeamten im Speisesaal fand, noch von einer dichten Menge
Passagiere umlagert. Erst wurde hier vom „Doktor“ jedem in die Augen
geschaut, ob man auch gesund war. Gottlob, ich war es! Dann fragte die
Einwanderungskommission nach Name, Stand, Herkunft, Reiseziel, sogar
wieviel Geld man bei sich führe und dergleichen. Wer nicht wenigstens
25 Dollar bar vorzuzeigen hatte -- die Verpflegung für die ersten Tage
-- wurde gar nicht ins Land hereingelassen, ebensowenig wer etwa mit
einer Frauensperson reiste, die weder seine nahe Verwandte noch seine
Frau war. Auch alleinreisende Mädchen kamen nur nach Amerika herein,
wenn sie drüben Verwandte besaßen. Glücklicherweise konnte ich auf
alle Fragen der Kommission eine befriedigende Antwort geben -- ich
radebrechte zum erstenmal kühn auf englisch drauflos -- ich war weder
ein alleinreisendes Mädchen noch hatte ich kranke Augen. Ich hatte
auch ein bestimmtes Reiseziel, besaß mehrere ~American citizens~ als
Verwandte und konnte sogar den letzten Trumpf ausspielen, daß ich 25
Dollars in bar vorzuweisen vermochte. Andernfalls hätte ich wohl noch
einige Tage auf Ellis Island sitzen und über die Nützlichkeit und
gerechte Weisheit der amerikanischen Einwanderungsgesetze nachdenken
können, die unangenehme Gäste aus der Alten Welt und insonderheit aus
Osteuropa dem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten am liebsten jetzt
ganz fernhalten wollen. Kurz, ich kam heil aus dem Fegfeuer, kriegte
den ersehnten Stempel und durfte die ersehnte Brücke zum Festland
überschreiten und den Boden des gelobten Landes -- zunächst in Gestalt
riesiger Zollhallen -- betreten!

Vor den Preis haben die Götter nun einmal den Schweiß -- und auch die
Geduld gesetzt. Ich, der ich am liebsten gleich über den Hudson nach
Neuyork hineingestürmt wäre, sah von Amerika in den Zollhallen zunächst
noch gar nichts weiter als Berge von Koffern meiner Mitreisenden,
Hunderte von wartenden Menschen und einige völlig rasierte gum-kauende
amerikanische Zollbeamte in Zivil. Am Strohhut die Regierungskokarde
war ihr einziges Abzeichen! Jeder Ankömmling hatte sich zunächst bei
seinem Buchstaben aufzustellen, die in Riesengröße von den Wänden
hingen und dort auf das Heranbringen seiner Koffer geduldig zu warten.
Waren sie alle angelangt, so hatte man sich zur „~office~“ zu begeben,
sich in sehr langer Polonäse daselbst anzustellen und zu warten, bis
man seinen Zollzettel und seinen Zollbeamten kriegte. Der nahm dann
genau und gemächlich die Revision vor. Alles, was daheim mit soviel
Liebe und Akuratesse zusammengepackt war, flog jetzt gleichgültig
durcheinander, die Hemden aus den Falten, die Anzüge zum Teil in den
Staub des Hallenfußbodens. Auch war es nachher eine wahre Kunst, alles
wieder einigermaßen richtig hineinzupacken und den Deckel wieder
richtig zuzukriegen. Zu Hause war das mit vereinten Kräften und in Ruhe
erfolgt. Hier mußte alles schnell und allein geschehen. Wie mancher sah
sich da hilfesuchend nach mitleidigen Seelen um! Zollpflichtiges wurde
bei mir nicht gefunden, ich hatte weder Seide noch Perlen noch Zigarren.

Aber was nun? Manche weinten schon, weil ihre Angehörigen aus
Chikago oder wo sonst her noch nicht da waren und sie kein Wort der
fremden Sprache verstanden! Wir waren ja einen ganzen Tag zu früh
eingetroffen!! Und die Freude darüber verkehrte sich bei vielen jetzt
schnell in weinende Wehmut. Als ich gerade darüber nachdachte, was ich
nun wohl in dem fremden Erdteil mutterseelenallein in einer mir völlig
fremden Sechsmillionenstadt zuerst anfangen würde, entdeckte ich am
Eingang einen liebenswürdigen alten Herrn mit goldener Brille, der
jemand eifrig zu suchen schien. Ich hätte ihm gleich vor allen Leuten
um den Hals fallen mögen. Es war ja Onkel, mein Retter!

Jetzt brauchte ich nicht mehr alle meine englischen Vokabeln und
Phrasen zusammenzukramen -- ich konnte erst noch einmal ein paar Tage
meinem Herzen auf deutsch Luft machen und alle meine Eindrücke deutsch
verstauen und verdauen. Mein Onkel hatte mich auch erst am nächsten
Tag abholen wollen -- da las aber zufällig sein Enkel diesen Morgen in
der Zeitung, unser Schiff werde wahrscheinlich schon diesen Vormittag
docken, läuft zum Onkel, teilt es ihm mit; der stürzt zum „~subway~“
(Untergrundbahn) und versucht mich noch in Hoboken zu erwischen. Und er
kam noch gerade recht.

Wir schüttelten uns herzlich und lange die Hände. Die Fremde war mit
einem Schlag Heimat geworden! Wie gut, daß ich so lange bei dem Doktor,
bei den Koffern und beim Zoll warten mußte, sonst hätte mich Onkel in
Hoboken gesucht und ich ihn derweilen in Neuyork! Man sieht wieder,
„wozu das Mißgeschick gut war“!


Fußnoten:

[Footnote 1: Engen.]

[Footnote 2: Fähren.]




Neuyork.


Das erste, was mir, als wir nun endlich nach Übergabe meines
Gepäckscheins an eine „~Transfer-Company~“[3] die Tore der Zollhalle
verlassen konnten, auf dem amerikanischen Pflaster Hobokens auffiel,
war -- ein Neger. Bald sah ich sie überall, die man bei uns vielleicht
nur einmal in Zoologischen Gärten bestaunt, als Portiers, Gepäckträger,
Droschkenkutscher, Handwerker, Hilfsschaffner und dergleichen. Und
eine der großen Nationalfragen der Union tauchte schon am Zolltor
Hobokens vor mir auf: die Negerfrage. Mitten durch die demokratische
Union zieht sich wie ein Riß die Farbenlinie zwischen Schwarz und Weiß.
14 Millionen Schwarze und Farbige gibt es heute in der Union, im Süden
noch weit mehr als im Norden. Der große Bürgerkrieg in den sechziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts war um ihretwillen entbrannt. Ich sah
auch bald, wie sich Weiße und „~colored people~“ ängstlich scheiden,
wie die Schwarzen vielfach ihre eigenen Bahnabteile, Restaurants,
Theater, Varietés -- ja Kirchen haben! ... Und ich sah sie bald, vom
Negerbaby mit seinem reizenden schwarzen Stumpfnäschen in seinen
blendend weißen Kißchen bis zur behäbigen schwarzen Amme oder dem
ergrauten niederen Handwerker, vom tiefsten Tintenschwarz, aus dem nur
die Zähne und die Augen hervorleuchten, bis zum häßlichsten hellen
Braungelb, je nach der Blutmischung. Ich gedenke aber heute auch noch
gern zweier persönlicher Negerfreunde. Der eine war unser getreuer
„Jack“ in der großen Universitätsspeisehalle in Cambridge, der uns alle
unsere Lieblingsgerichte auf besonderen Wunsch in doppelten Portionen
brachte -- die gute Seele! -- und der andere war ein strebsamer
Negerstudent, mit dem ich mich manchmal an den Ufern des Charles River
in Boston in freien Stunden erging ... Nur ihr Rassenduft war manchmal
nicht gerade erwünschteste Beigabe ...


Mamas kleine schwarze Rose.[4]

    Eines Tages weinte ein kleiner Schwarzer in Tennessee,
    Sein kleinesHerz schluchzte,
    Weil er nicht weiß war.
    Da küßte ihn seine liebe alte Mutter und sagte,
    Und sagte zu ihm: Weine nicht, Kind,
    Weine nicht, mein kleines Kind,
    Und sie sang ihm ein Schlummerlied:

    Trockne deine Tränen, meine kleine schwarze Rose, und weine nicht,
    Schlaf ein und schließe die Lider.
    Weine nicht, weil du schwarz bist.
    Du bist eine Wolke mit silbernem Futter,
    Wie jeder alte Rabe glaubt, sein Kind sei weiß wie Schnee,
    So gut weiß deine alte Mutter, daß du eine Rose bist.
    Und als die Engel dir diese schönen Locken gaben,
    Mischten sie einen Strahl von Sonne mit hinein.
    Deshalb, glaube ich, bist du schwarz,
    Und dein Herz, Liebling, so weiß.
    Also seufze nicht, weine nicht,
    Du bist Mamas kleine schwarze Rose.

Nach diesem Empfang umtoste mich nun der Lärm der Weltvorstadt: Autos,
Omnibusse, Straßenbahnen, Droschken, Agenten, Schutzleute, Reisende
... alles lief, sprach, klingelte, schrie ... ein sinnverwirrendes
Durcheinander. Der gute Onkel geleitete mich sicher zum Tunnel der
Untergrundbahn, und mit ihr fuhren wir dröhnend und rasselnd in
prächtigen, hellerleuchteten, strohgepolsterten ~D~-Zug-ähnlichen
Wagen unter dem breiten Hudsonfluß nach dem eigentlichen Neuyork auf
die langgestreckte Insel Manhattan hinüber. Als wir drüben wieder ans
Tageslicht stiegen, waren wir mitten auf der Hauptgeschäftsstraße
Neuyorks, dem berühmten „Broadway“.

Ich mußte unwillkürlich an die Häuserwand treten, um erst einmal
einen ruhigen Standpunkt zu gewinnen. Da waren sie ja nun wirklich
dicht vor mir die Wolkenkratzer und erhoben sich mit ihren 24, 30, 40
usw. Stockwerken bis 100, 150 und mehr Meter Höhe! Der an sich breite
Broadway wand sich wie eine enge Schlucht zwischen ihnen hindurch.
Auf dem Asphalt aber ein unübersehbares Gewühl von Lastwagen, Autos,
Straßenbahnen, Hochbahnen auf mächtigen eisernen Gerüsten, und unter
uns in der Tiefe raste der „Subway“[5]. Auf den Gangbahnen aber eilten
die Menschen geschäftig und unablässig wie in Berlin und Hamburg
hin und her. Die Herren waren alle rasiert. Nirgends sah ich einen
Schnurr- oder gar Vollbart! Die Gesichter schienen mir etwas eigenartig
Scharfkantiges, ja fast etwas Rechteckiges an den Kieferknochen zu
haben; auch ihr Blick schien mir starrer und fester als bei uns.
Es prägte sich deutlich auf diesen Gesichtern eine noch größere
Arbeitsunrast als bei uns aus, ja wie eine Unfähigkeit zum gesunden
Genießen: „Taylorsystem!“ Bummelnde Amerikaner habe ich überhaupt
nicht gesehen. Selbst im Schaukelstuhl daheim schaukelt man wenigstens
noch, um nicht ganz untätig zu sein, und in der Straßenbahn kaut man
zur Unterhaltung und Beschäftigung „~Chewing gum~“. Infolgedessen
ringsherum auf dem Pflaster ein ständiges unappetitliches Ausspucken.
Das Pflaster der Gangbahnen des Broadway war von Hunderten kleiner
Spuckpfützchen übersät!!

Nach wenigen Schritten standen wir vor einem riesigen turmartigen
Gebäude der Metropolitan-Lebensversicherung und ihrem 48 Stockwerk
(über 200 Meter, höher als die höchsten Dome Europas!) hohen
„Metropolitan Tower“, den eine vergoldete Kuppel krönte. Den mußte ich
bald besteigen und von oben auf das Riesenbabel niederschauen! Das
stand mir jetzt schon fest. Aber das hatte noch ein bißchen Zeit. Ihn
überragt heute noch das 58 Stockwerk (228 Meter) hohe ~Woolworth
building~, dessen Platz allein 4½ Millionen Dollars kostete, wo also
jeder Quadratmeter etwa hunderttausend Mark wert war. Daneben ist der
Eiffelturm kein Riese mehr! Aber zunächst erst einmal heim zur Tante,
die uns gewiß sehnlichst erwartete ...

Wir saßen im ~Broadway subway~, in dem es in der Tiefe ab und zu einmal
furchtbare Unglücksfälle gibt; in dem stets aber eine wie im Bergwerk
atembeklemmende Luft herrscht! Er hat vier Schienenstränge, in der
Mitte für „Schnellzüge“, an den Seiten für „Personenzüge“. Neuyork ist
auf der Insel Manhattan an 19 Meilen lang. Zu Fuß würde man 4½ Stunden
zum Durchschreiten seiner Länge brauchen. Die Untergrundschnellbahn
aber, die nur ein paarmal hält, durchfährt die ganze Strecke in etwa
25 Minuten! Man steigt unterwegs um in den „Personenzug“, um am
richtigen Straßenblock aussteigen zu können. Ähnlich dem Betrieb in
der Horizontalrichtung in der Stadt ist der in der Vertikalrichtung
in den höchsten Wolkenkratzern! Auch hier fährt man erst mit einem
Schnellaufzug, der nur jeden 5. Stock hält, etwa bis zum 35., um von da
noch mit dem „Personenzug“ etwa bis zum gewünschten 39. Der „Expreß“
aber fährt meist gleich ganz in zwei Minuten bis zum Aussichtsbalkon
durch ...

An der 137. Straße stiegen wir aus. Querstraßen in den amerikanischen
Städten sind einfach (zwar praktisch, aber höchst prosaisch!) meist
nach Nummern benannt, die Längsstraßen werden vielfach als Avenuen
u. dgl. gezählt. Daher hat auch die berühmte „~Fifth avenue~“
der Multimillionäre in Neuyork ihren Namen. Die Straßen laufen
meist zueinander rechtwinklig, so daß jede große Stadt wie ein
Riesenschachbrett erscheint.

[Illustration: ~NEW YORK~

~The West-Street-Building, rechts der Turm des Singer-Gebäudes~]

[Illustration: ~NEW YORK~

~Trinity-Church, gegenüber Wall-Street~]

Tante empfing mich trotz ihrer vorgerückten Jahre, und obwohl wir uns
bis dahin im Leben erst einmal gesehen hatten, überaus herzlich und
hatte allerlei amerikanische und mir noch nicht geläufige Genüsse zur
Erquickung bereitgestellt: ~Grape fruit~, ~ice-cream-soda~, Bananen
in Sahne und Zucker aufgeschnitten u. dgl. In der „Halle“ des Hauses
unten empfing uns der Hausmann, ein Neger, und fuhr uns im Aufzug
ins „flat“ (Wohnung) nach oben. Zeitweilig hielt sich Tante auch ein
Negerdienstmädchen, aber .. sie hat es bald aus den erwähnten Gründen
wieder abgeschafft. Die Jalousien über den großen Schiebfenstern,
die man von unten nach oben öffnet, waren überall sorglich
heruntergelassen, denn Neuyork litt trotz der Septembermitte noch unter
einer sehr großen lästigen feuchtschwülen Hitze. Die Männer gingen
daher ohne Weste und Jacke, meist bloß im Faltenhemd mit Gürtel. Tantes
Wohnung glich wie die meisten der amerikanischen Damen einem kleinen
Museum oder einer großen niedlichen Puppenstube, als sei sie stets nur
zum Ansehen gewesen. Altbremische Sauberkeit und amerikanische Freude
an schönen Sachen hatten hier einen Bund geschlossen.

Welch eine Erquickung war es, sich nun des Abends wieder in ein
richtiges Bett legen zu dürfen und nicht nur in ein Oberbett der
Kabine. Es erscholl kein in Angst versetzendes Nebelhorn mehr, noch
stieg die Kabine in den Wänden ächzend langsam auf und nieder oder
rollte von einer Seite auf die andere. Und auch am Tisch saß man wieder
ganz fest und sicher ... Und nun ging’s ans Erzählen ...

Lange litt es mich nicht im Hause. Anderen Tag schon begann ich meine
Wanderungen durch ~New York~, nur mit Reiseführer, Karte und meinen
bescheidenen englischen Kenntnissen ausgerüstet. Ich fuhr zuerst mit
der Straßenbahn und der Hochbahn, die vor dem Subway den Vorzug der
mannigfaltigen Aussicht hatten, wenn sie auch dem Subway sehr an
Schnelligkeit nachstehen, zurück ins Stadtinnere, also „~downtown!~“,
wie der Neuyorker sagt. An der +City Hall+, dem alten Rathaus Neuyorks,
stieg ich zuerst aus. Äußerst bescheiden und klein unter den Riesen
steht das Rathaus dieser Riesenstadt mit seinem feinen, weißen Marmor
am City Hall Park, einer anmutigen grünen Oase mitten in dem tollen
Geschäftstrubel, ein geschichtliches Denkmal dafür, wie es in Neuyork
noch im Beginn des 19. Jahrhunderts aussah, als der heute verschwindend
kleine zierliche Rathausturm alle anderen Häuser noch stolz überragte
und keine Dollarburg ihm das Sonnenlicht verdunkelte. Als Napoleon
I. nach Rußland zog, wurde City Hall eingeweiht. Im Empfangssaal des
Governors steht noch das Pult, auf welchem Washington einst seine erste
Botschaft an den damals in Neuyork tagenden Kongreß geschrieben hat,
und auch der Stuhl, der George Washington bei seiner Inauguration zum
ersten Präsidenten als Sitz gedient hat ..! Heute wirkt das alles wie
ein schlichtvornehmer Gruß aus längst vergangenen Zeiten.

Von der City Hall wanderte ich den Broadway, die einzigartige
asphaltierte Wolkenkratzerschlucht, zu Fuß weiter hinunter bis
zur Südspitze der Insel Manhattan, also an den südlichsten
weitvorgeschobensten Punkt der Stadt, bis zur sog. „+Battery+“. Mich
zog es zum geliebten Meer hin. Ich mußte einmal wieder Seeluft in
die Nase ziehen. Dabei kam ich an der alten und ehrwürdigen Trinity
Church vorüber, die auf ihrem alten Kirchhof mitten zwischen den
höchsten Wolkenkratzern steht und zwischen ihnen trotz ihres über 80
Meter hohen Turmes heute völlig verschwindet! Ein höchst instruktives
Bild der Stadtentwicklung. ~Trinity church~ stammt mit ihrer Parochie
noch aus der holländischen Zeit der Stadt vor über zweihundert
Jahren. Die erste Kirche der zweitältesten und reichsten Gemeinde
der Stadt wurde hier schon 1697 errichtet! Sie ist also „~old, old,
very old~“! Einst gehörte ihr fast das gesamte Areal des umliegenden
Hauptgeschäftsviertels! Welche unausdenkbaren Werte! Auf dem Kirchhof
-- merkwürdigerweise genau gegenüber dem Eingang zu Wallstreet, als
wollte er symbolisch andeuten, daß auch alle Goldjagd zuletzt der Tod
endet! -- sind noch Grabdenkmäler zu sehen, die bis ins 17. Jahrhundert
zurückreichen! Das will in Amerika sehr viel besagen, denn dort ist
schon sehr „alt“, was aus der Zeit Washingtons vor hundert Jahren
stammt. Die Union hat ja kaum 1½ Jahrhundert Geschichte hinter sich,
und jedes Jahr+zehnt+ drüben bedeutet bald soviel wie ein Jahr+hundert+
in Europa, was die Schnelligkeit der durchlaufenen Entwicklungsstufen
angeht.

An der Battery -- der Name stammt noch von den ersten holländischen
Befestigungswerken aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts -- und ihren
„Batterien“ steht man sowohl auf einem historisch als auch geographisch
einzigartigen Grunde. Einst war hier an dieser Stelle in der Zeit der
englischen Herrschaft vor den Freiheitskämpfen der Mittelpunkt des
Neuyorker geschäftlichen Lebens! Heute liegt der weite Platz fast
völlig still. Wie haben sich die Zeiten gewandelt! Anfang des 17.
Jahrhunderts fuhr hier ein Henry Hudson, der Entdecker des Neuyorker
Hafens, im Auftrag der holländischen Ostindienkompagnie auf seinem
kleinen Boot dem „Halve Maan“ (Halbmond) unter holländischer Flagge
den Hudson hinauf, um die sog. „nordwestliche Durchfahrt“ zu finden.
Aber unverrichteter Sache mußte er umkehren. Drei Jahre später wurden
hier auf dem Südende von Manhattan die ersten holländischen Blockhütten
errichtet und Handel mit den damals noch umwohnenden Mohawkindianern
begonnen. Die +ganze Manhattaninsel+, die heute Neuyork mit 2½
Millionen Einwohnern trägt, wurde zu jener Zeit den Indianern für
Glasperlen und Knöpfe, im Werte von etwa 60 Gulden (!!) abgekauft und
danach noch gratis ein furchtbares Gemetzel unter ihnen veranstaltet!
Die neue Siedlung erhielt alsdann zuerst den Namen „Neu-+Amsterdam+“.
Noch am Ende des 30jährigen Krieges wohnten hier nicht mehr als 100
Weiße! Erst 1667 wurde die Halbinsel von den Holländern an England
abgetreten und erhielt jetzt den Namen +Neuyork+. Am 9. Juli 1776 wurde
wiederum die Herrschaft Englands abgeschüttelt und als Zeichen dafür
die Reiterstatue Königs Georgs VII. von England von den „Söhnen der
Freiheit“ in Neuyork niedergerissen. Am 25. November 1783 mußten die
Engländer endgültig Neuyork verlassen. Der erste amerikanische Kongreß
trat in der Stadt zusammen und wählte General Washington zu seinem
Präsidenten. An der Battery steht noch heute ein hoher Flaggenmast
an der Stelle, da die Engländer vor ihrem Abzug zum letztenmal ihre
Flagge hißten. Den Fahnenmast schmierten sie dabei so ein, daß es den
„Söhnen der Freiheit“ nicht leicht werden sollte, sie herunterzuholen,
was auch nur mit sehr großer Mühe gelang. Und so wird heute noch immer
zur Erinnerung daran am 25. November hier feierlich das Sternenbanner
gehißt. So hat auch die Neue Welt ihre Geschichte! Nur wissen wir meist
sehr wenig von ihr.

Noch großartiger als die eigentümlichen geschichtlichen Erinnerungen
an dieser Stelle ist von hier der Blick über die gesamte ~upper bay~.
Hoch reckt draußen die Freiheitsstatue im Hafen ihre Fackel empor,
einer Welt entgegen. ~Ferry-boats~ eilen heulend draußen hin und her
und speien alle Augenblicke Hunderte von Menschen samt Wagen und
Autos auf einmal an Land oder verschlucken sie wie nichts in ihren
doppelstockwerkigen, gewaltigen Leib. Hinter der Freiheitsstatue,
die übrigens etwas an die Figur der Germania auf dem Niederwald oder
die Bavaria in München erinnert, dehnen sich in der Ferne die grünen
villenübersäten Hügelreihen von Staten Island, und weiter hinaus bis an
den Horizont glitzert der offene weite Atlantische Ozean ...

Ich begab mich nach diesem wohltuenden und wunderbar erhebenden Blick
auf das Wasser und die ~upper bay~ weiter in das Gewühl der Stadt
zurück. Geschäftshaus an Geschäftshaus, Bank an Bank, Wolkenkratzer
an Wolkenkratzer! Rasselnd sausten die Hochbahnen ihre hochgelegenen
Schienenwege entlang. Lustig flatterten aus ihren Fenstern die
gelesenen Zeitungen der Fahrgäste auf die Straße hernieder, die viele
einfach aus dem Straßenbahnfenster werfen! Die amerikanischen Straßen
sind überhaupt im allgemeinen schmutziger und ungepflegter als bei
uns. Papierabfälle liegen überall umher. Aber schon durcheilten neue
Zeitungsboys, die neuesten Ereignisse laut ausschreiend, mit neuen
„~papers~“, die die Hauptereignisse mit wahren Riesenlettern an der
Stirn tragen -- u. U. als wichtigstes auch den Sieg einer berühmten
Fußballmannschaft samt ihren Bildnissen! -- durch die Straßen. Man
abonniert die Zeitungen nicht, sondern kauft sie einzeln auf der
Straße. Die Zeitung selbst erscheint dem ruhigen Europäer wie ein
wildes und fast kindliches Durcheinander und buntes Allerlei einzelner
außen- und innenpolitischer, sportlicher und privater Einzelnotizen
in der marktschreieristischen Aufmachung und mit Augenblicksbildern
übersät. Das Format ist riesengroß, großmäulig wie alles drüben,
voller Interviews der Tagesgrößen auf allen Gebieten in direkter und
persönlicher Rede und Gegenwart, alles auf den Augenblick und zu
augenblicklichem starken Eindruck berechnet, denn binnen fünf Minuten
wirbelt sie erledigt schon wieder aufs Straßenpflaster. Auch die
Zeitung spiegelt die allgemeine Hast, Aufgeregtheit und Reklamesucht
des amerikanischen Lebens. Reklame und wieder Reklame, wohin man
sieht: Auf allen Dächern blitzt es abends in unerhörter Lichtfülle und
Buntheit auf und erlischt, in allen Bahnwagen und an allen Haltestellen
schreit dich dasselbe Ding, Fleischextrakt oder Mundwasser oder Keks
tausendfach an, so daß zuweilen kaum der Stationsname für den Fremden
noch zu entdecken ist. An jedem freien Flecke einer großen Hauswand
steht es wieder in Riesenlettern, was du kaufen, essen, sehen, wie du
kochen, schlafen, reisen sollst.


Lichtreklame[6].

    Hört!
    +Ich bin Amerika.+
    Ich komme durch die Nacht.
    Ich brenne und jage die Dunkelheit fort.
    Elektrizität bin ich,
    Wie Blitze die Himmel,
    Setz ich die Straßen in Feuer.
    Ob ihr wollt oder nicht,
    Ihr müßt mich sehn. --
    Volk kommt in Scharen zu mir,
    Reichste und Ärmste -- fröhliche Verbrüderung.
    Um mich stößt sich die Menge,
    +Ich bin Broadway+.
    Ob ihr es braucht oder nicht,
    Ihr müßt von mir kaufen.
    Ich verkaufe meinem Lande alle Produkte,
    Vielformige, zahlreiche, fein erfundene Dinge;
    Aus meiner Erde, meinen Gebirgen,
    Aus meinen Seen, meinen Flüssen,
    Von meinen Sternen, meinen Himmeln.
    Mein Nachbar dort verkauft dasselbe,
    Das Beste auf dem Globus -- nach meinem.
    Rivalen sind wir derselben Ader
    Pulsenden Lebens.
    Geboren bin ich in Amerika --
    Gemacht ward ich in Amerika --
    Und werfe mich in die Schutthaufen Amerikas
    Platz zu machen einem größern Amerikaner.
    Prahle ich?
    Sensitiver, kultivierter, höflicher Fremder,
    Warum sollte ich nicht? --
    Ich bin das Ich der „Neuen Welt“,
    Afrika -- Asien -- Europa --
    Die Alte Welt ist tot, ich bin die Neue!
    Hört, hört,
    Ich komme durchs Dunkel --
    Zweifelnder Fremder, horch meiner Prahlerei --
    Gestern ist schon Geschichte --
    Eine neue Seite schlagt auf:
    Morgen sieht mich Europa.

    Alfred Kreymborg.

Auf den Straßen überfällt einen die Menge der Obstverkäufer, der
Jungen, die dir, ob man will oder nicht, die Schuhe putzen und dir
dazu einfach den Fuß festhalten! Jedermann läßt sich die Schuhe stets
auf der Straße oder in einem Laden putzen, wie man bei uns etwa täglich
rasieren geht. Billig ißt man in den „~lunchrooms~“ (Frühstücksräumen)
und „~dairies~“ (Milchwirtschaften), in den Restaurants zum
Selbstbedienen mit und ohne Musik u. dgl. In „Wallstreet“[7] war um
zwölf Uhr vor der Baumwollbörse eine riesige Menschenmenge angestaut.
In den offenen Fenstern der großen Firmen saßen die Handelsvertreter
und tauschten heftig gestikulierend die neuen Kurse aus. Börse wird
hier zum Teil noch offen auf der Straße gemacht!

Als ich mich etwas mehr auf die Ostseite der Stadt begab, kam ich
in die ärmeren Viertel, wo mehr Italiener als in Mailand, mehr
ostgalizische Juden als in Lemberg und sogar haufenweise Chinesen
wohnen. Da hausen zuweilen zwei kinderreiche Familien in einem einzigen
Zimmer! Auf den eisernen Balkons hängt die Wäsche, liegen die roten,
unüberzogenen Betten aus. Hier wohnen die Armen, die in der schwülen
Sommerhitze es vorziehen, lieber am Strand oder in Parks zu nächtigen
als in jenen menschenüberfüllten Straßen, von denen die eine genau
aussieht wie die andere. Dazwischen finden sich auch noch unbebaute
Plätze, wo gehämmert und geklopft wird, wo auf mächtigen Gerüsten
sich gewaltige Krane drehen. Aber wie Felsen in der Brandung stehen
mitten im größten Gewühl und Verkehr die stattlichen „~police-men~“
meist irischer Herkunft, mit einem tropenartigen Helm, den starken,
weißbehandschuhten Händen und dem praktischen Gummiknüppel. Sonst
Häuser an Häuser, Blocks an Blocks, Straße an Straße, ein höllisches
Straßen- und Menschenschachbrett ... Mir brummte der Schädel und
brannten die Füße, als ich nach dem ersten erlebnisreichen Tage
heimkam, und noch abends, als ich Schlaf suchte, flimmerten mir
Menschen und Häuser vor der erregten Phantasie .....

Am zweiten Tag regnete es und zwang mich wohltätig, daheimzubleiben.
Am dritten begann ich meine Stadtwanderungen aufs neue. Der Subway
brachte mich zunächst zum Washingtonsquare (Washingtonplatz). Der
in römischem Stil erbaute Washingtonbogen auf dem Platz trägt die
Inschrift: „~Let us raise a standard to which the wise and honest
man can repair. The event is in the hand of God~“. Praktisch und
fromm zugleich! Die englisch-amerikanische Frömmigkeit versteckt sich
nicht und ist immer aufs praktische Handeln gerichtet, daher weniger
spekulativ wie die deutsche. Ein rechtes Leben steht dem Amerikaner
über dem frömmsten Glauben. An dem Bogen konstatierte ich auch, wie
doch die klassischen Bauformen bis nach Amerika gedrungen sind! Gerade
die Zeit der Gründung und des ersten Ausbaus der amerikanischen Union
war die Hochblüte klassizistischer Baukunst. Oder zog es auch die junge
Republik bewußt zu den Formen des Vorbildes aller Republiken, dem alten
Rom? So ist auch General Grants imposantes Totenmal im „Riverside-Park“
am Hudson eine getreue Nachbildung der römischen Kaisergräber, erinnert
an die Engelsburg und die Rotunde der Caecilia Metella in Rom an der
Appischen Straße ...

Dann fuhr ich -- einer Sehnsucht seit Tagen -- zum Metropolitan
Tower hinauf, um einen vollen Überblick über die Stadt in Ruhe von
oben zu genießen. Es war ein blendend schöner Nachmittag, als ich
da oben als im Augenblick einziger Besuch eine unvergeßliche Stunde
erlebte. Wohl in zwei Minuten war ich bis zum Aussichtsbalkon im 45.
Stockwerk(!) emporgefahren und trat nun, etwa 200 Meter hoch über
dem Straßenniveau, hinaus auf den Balkon dicht unter den Uhrglocken
und der vergoldeten Kuppel. Man stand damit so hoch, daß man sich
dem Verkehr der Riesenstadt vollständig entrückt fühlte, als ginge
einen das da unten gar nichts mehr an. Auch recht hohe Häuser
wie das bekannte spitzwinklige, einem „Bügeleisen“ gleichsehende
„~flat-iron-building~“ erschienen von hier oben nur klein.

Ein ungeheures Häusermeer, bald hoch, bald niedriger, ohne Stil und
Plan, erstreckte sich gen Nord und Süd. Im Süden stieg die Hauptmasse
der Wolkenkratzer drohend und rauchend auf, mit dem Singergebäude
ungefähr in seiner Mitte wie einem Festungsturm. Dahinter glitzerte
die ~upper bay~ mit der Freiheitsstatue. Drüben im Osten reckten sich
die gewaltigen Brücken über den Meeresarm des „East River“ nach der
dunstigen Millionenstadt Brooklyn hinüber. Das offene Meer sah man
dort nicht deutlich, aber hell beleuchtet lag Long Island mit seinen
einladenden Siedlungen da. Im Norden verschwamm das Stadtbild am Ende
des Zentralparks in der Gegend der St. Johns Kathedrale. Im Westen
säumte der breite Hudson, von vielen kleinen Dampfern belebt, das
grandiose Stadtbild. Aus seinen vielen Piers an seinen Ufern schauten
die Schornsteine der Ozeandampfer aller Herren Länder hervor. Ganz
drüben lag in Rauch und Dunst gehüllt Hoboken, weiter nördlich grün und
felsig die sog. „Palisaden“ am Hudsonfluß.

Aus der Vogelschau dehnte sich die Sechsmillionenstadt so tief zu
meinen Füßen, als wenn Ameisen in ihr umherliefen. Kaum drang ein
deutlicher Laut herauf, sondern nur ein allgemeines Summen, Surren,
Klingeln, Hämmern, Pochen und Tuten. Welch ein Millionengetriebe da
unten! Was haben doch Menschen in hundert Jahren da unten alles gebaut!
Wie alle diese Menschenhirne da unten täglich sinnen, planen, hoffen,
sorgen, grübeln, arbeiten. Für was? Um das bißchen täglich Brot auf
Erden! Nirgends regiert so das Geld und die Arbeitshetze die Welt wie
da unten! Ein paar hundert Menschen werden da unten täglich geboren
oder sterben. Wer weiß es oder kümmert sich viel darum? In gut einem
halben Jahrhundert ist von all den Millionen Menschenameisen da unten,
die jetzt um Verdienst täglich rennen, kaum einer noch da! Aber das
gefräßige Ungeheuer selbst, die Millionenstadt, wird weiter rauchen und
fauchen und schaffen, sich recken und dehnen ruhelos Tag und Nacht!

Welch eine Unsumme menschlicher Arbeitskraft, menschlichen
Arbeitswillens und -fleißes ist da unten aufgehäuft, aber auch
ebenso sehr Schmutz, Not, Krankheit, Schande und zerbrochenes Glück
...! Wer das mit einem Male alles sehen könnte! Ob er es ertrüge?
Und doch hat alles seinen Gang, seinen Weg und seine Ordnung. Jeder
weiß, wohin er gehört und wo sein Platz ist, was er will und was er
zu erreichen gedenkt! Man möchte sich hier oben angesichts dieses
Menschenmillionenhaufens die Posaune eines Erzengels wünschen,
um einmal in das Geldbabel die Botschaft vom Wert der geistigen
Menschenseele hineinzurufen. Wie viele würden sie hören und verstehen?
... Können Menschen in solcher Atmosphäre wie da unten je eine andere
Lebensanschauung gewinnen als die, daß Geld und Verdienen einziges Ziel
und Bestimmung unseres Lebens ist?

Ich habe auf manchem hohen Turm in Deutschland gestanden und bin auf
manchen hohen Berg gestiegen, aber selten hat mich die Frage nach dem
Sinne des großstädtischen Menschenlebens der Gegenwart so gepackt
wie in der einsamen Stunde an jenem sonnigen Septembernachmittag
allein zweihundert Meter über Neuyork, der Metropole des gesamten
amerikanischen Kontinentes.

Dann trieb es mich aus dieser grotesken Einsamkeit mitten unter und
über Millionen Menschen über der Stadt in eine ganz andere idyllische
Einsamkeit mitten +in+ ihr. Im Zentrum Neuyorks liegt, ähnlich wie in
der Sechsmillionenstadt London der Hydepark, der lang hingestreckte
„Zentralpark“, eine prachtvolle, stundenweit ausgedehnte riesige
grüne Oase, ein Eldorado von alten Bäumen, feinen Spazierwegen,
wohlgepflegten Rasenflächen, gleichsam mitten aus dem tosenden Verkehr
herausgeschnitten, von entzückenden und erquickenden kleinen Teichen
und ihren leise hingleitenden Booten unterbrochen. Wir kennen solche
ausgesucht schönen Parke auch im Berliner Tiergarten, dem Dresdner
Großen Garten und etwa auch dem Bremer Bürgerpark, aber mitten in
Neuyork empfindet man den Zentralpark doppelt und dreifach wie ein
Paradies, weil man plötzlich aus dem Weltverkehr ruhig auf einer
stillen Bank sitzend die Eindrücke sammeln und seine Nerven erholen
kann. Hätten mich nicht die einfachen Inschriften auf englisch,
deutsch, italienisch und hebräisch (!)[8] daran erinnert, ich hätte
unter den alten Eichen vergessen können, in Neuyork zu sein.

Auch die geistigen Schätze der Weltstadt ließ ich mir nicht
entgehen. Hat zwar die Union bis heute noch keine eigentlich
bodenständige geistige Kultur hervorgebracht, sondern noch immer
im wesentlichen von den geistigen Brocken gelebt, die von Europas
überreichem Tisch fielen, besonders in Malerei und Musik, so ist
doch das Amerikanisch-Geschichtliche und -Geographische trefflich
zusammengefaßt im „~Museum of natural history~“, und Teile der Schätze
Europas, bald als Original, bald als Nachbildungen, finden sich neben
einzelnem amerikanischen Gut im „~Museum of art~“. In dem Mittelraum
des letzteren standen die Hauptwerke aus Italien und Nürnberg in
Nachbildungen eigenartig durcheinander: Notre Dame, Parthenon, das
Sebaldusgrab, der Gattamelata, alles einträchtig nebeneinander.
Im Obergeschoß fesselten mich neuere amerikanische Gemälde. Heiße
Sehnsucht erweckte in mir, wie ich mich noch deutlich entsinne, ein
großes Gemälde aus dem Felsengebirge mit Schneegipfeln bis in die
Wolken und im Tal Indianerzelte! Wer dahin könnte! Und ich sollte
noch hingelangen! Imponierend fand ich auch das Kolossalgemälde
von Washingtons entscheidendem Übergang über den Delaware, dessen
Darstellung ein wenig an den Blüchers bei Kaub erinnert. Ebenso
fesselte mich wegen seines historischen Inhalts das Bild: Kolumbus’
Landung; Schwert und Kreuz zum Himmel erhoben setzen Kolumbus und
seine Mannschaft ihren Fuß auf das Land des Urwaldes und der Indianer.
Aber auch gute echte Niederländer waren da, und wie manche Schätze
sind erst seit der Inflationszeit hinübergewandert! Dazu war die ganze
griechische Kunst im Abguß vorhanden, allerlei feine Vasen und Steine,
Musikinstrumente, Gold- und Silberarbeiten u. dgl.

In dem fast noch interessanteren, weit originelleren „~Museum of
natural history~“ war die gesamte amerikanische Baum- und Tierwelt
zu schauen samt der Eskimo- und Indianerkultur. Und das alles
ausgezeichnet praktisch und höchst geschmackvoll und anziehend
zusammengestellt und angeordnet und durch ausführliche Karten und
Beschreibungen erklärt. Da sah man gewaltige Mammutgerippe, Wale,
Eisbären und ausgestopfte Elche, springende Delphine in den Wellen,
Eskimos und Indianer am Herde im Zelte, bei ihrer Arbeit, samt ihren
Waffen und Booten. Frappiert hat mich dabei manche Indianermaske mit
ihrer scharfen Nase und dem charaktervoll geschnittenen Kinn, die
mich stark an den echt amerikanischen, früher beschriebenen Typ im
Straßenbild erinnerten.

Welche Geschichte hat sich doch auf diesem Kontinent abgespielt! Von
den Sauriern und den 30 Meter im Umfange messenden Urwaldriesen, durch
die bequem ein Wagen hindurchfahren könnte und die sechs Männer nicht
zu umspannen vermögen, bis zu Henry Fords Autos und den Subways in
Neuyork! Welches Völkergemisch ist hier zusammengekommen und geht
in der Riesenretorte des amerikanischen Bürgertums fast restlos
auf: Holländer, Engländer, Deutsche, Franzosen, Iren, Schweden,
Italiener, Polen, Juden, Armenier und nicht zuletzt die Neger. Seit
zwei Jahrhunderten hat sich die abendländische Kultur hier Eingang
verschafft, hat alles Quantitative maßlos gesteigert, und von der Art
der Pioniere hat das Angesicht Amerikas das Kühne, Vorwärtsdrängende,
Schaffensfrohe übernommen. Freilich, der rote Mann ist dabei fast
ganz der Raublust und Profitgier, dem Betrug und dem Mordgeist
der Waldläufer und Goldsucher zum Opfer gefallen, und was von ihm
übrigblieb, ist der geistigen Überlegenheit der abendländischen
Einwanderer vollständig erlegen, aber aus der Retorte der Völker,
Rassen und Religionen ist hier -- mit Ausnahme der Neger -- doch ein
neuer, eigenartig geschlossener Menschentypus emporgestiegen, der
„Amerikaner“ .....

Nach dem Besuche der Museen bin ich in den nächsten Tagen einmal aus
der Stadt hinausgefahren, um Neuyork auch an seinen äußeren Punkten
kennenzulernen. So ging und fuhr ich zunächst über die mehr als
kilometerlange riesige Brooklynbrücke, die ein deutscher Ingenieur
(John A. Roebling) erdacht hat[9] und die so hoch (etwa 40 Meter) den
Meeresarm des East River überspannt, daß die höchsten Masten darunter
hinwegfahren können. Dann ging es durch das etwas düstere, dunstige
Brooklyn, das für sich allein über eine Million Menschen beherbergt.
Einzigartig ist von der Brücke der Blick rückwärts auf das dampfende
Wolkenkratzerviertel. Sonst ist Brooklyn und das anschließende
Williamsburg mit seinem wimmelnden Menschen- und Geschäftsverkehr das
getreue Abbild der größeren Mutter. Weiter hinaus geht es auch in
stille Wohn- und Villenviertel über, bis man endlich auf langen Alleen
zuletzt den tollen Vergnügungspark „+Coney Island+“ am Strande des
Atlantischen Ozeans erreicht.

Man denke sich alle Jahrmärkte, Juxplätze, Vogelwiesen, Oktoberfeste
usw. bei uns auf +einem+ Haufen samt all ihren Achterbahnen, Kinos,
Singspielhallen, Berg- und Rutschbahnen, Geheimkabinetten, Schaukeln
und Karussells, kleinen Theatern, Musikkapellen, Drehorgeln und
Varietés samt all der dazugehörigen, aber noch verzehnfachten
ohrenbetäubenden Musik in allen Tonarten und das noch einmal vielfach
vergrößert durcheinander, dazwischen aber auch noch allen Auswurf,
Mob, Hefe, Faulenzer und Tage- und andere Diebe Neuyorks in einem
Haufen zusammen -- dann hat man „Coney Island“, das Paradies unzähliger
vergnügungslüsterner Neuyorker! Coney Island ekelte mich bald an; ich
vermochte kaum noch eine halbe Stunde dort zu verweilen, dann zog es
mich wieder an das geliebte rauschende Meer. Ein frischer Wind fegte
über leicht schäumende Wellen, die weißkämmig zum Strande heranrollten.
Einige Badeschönen, die hier in echt amerikanischer Prüderie in
vollständigem Badekostüm, d. h. mit mehreren (!) Baderöcken, -blusen,
-strümpfen, -schuhen und Badesonnenschirmen sich ergingen, störten
freilich das Bild. Dort feiert der Abschaum des Unrats, hier der
Gegenpol der prüden Unnatur seine Triumphe! Da lobe ich mir doch lieber
unsere nordgermanischen Vettern und ihre unbekümmerte und unberührte
und ungeschminkte volle Natürlichkeit.

Auch dem Süden der Stadt stattete ich einen Ausflug ab. Für 5 Cent
fährt man von der Battery mit dem Ferry in einer halben Stunde nach
dem grünen „Staten Island“ hinüber und ist auch hier Neuyork auf eine
Weile völlig entrückt. Dicht an der Freiheitsstatue fährt man vorbei,
die immer aufs neue stolz und imponierend ihre Fackel hochschwingt.
Mit Recht hat sie unser wackerer ~Z III~ bei seiner ruhmvollen
Erstlingsfahrt gebührend gegrüßt und umflogen. Sie verkörpert weithin
sichtbar alle amerikanischen Ideale und Aspirationen. Mit dem Sockel
ist das Denkmal etwa 100 Meter hoch! Im Innern der bronzenen Figur
führt eine Treppe bis in den Kopf wie bei der Bavaria in München.
Aus ihren Augen kann man heraussehen. Bei Nacht ist die Fackel, die
die Freiheitsfigur in der Hand hält, weithin strahlend elektrisch
erleuchtet. Die Figur selbst hat einst dem sie schenkenden Frankreich
eine Million Franks gekostet. Links liegen blieb Ellis Island, die
Wehmutsinsel der Auswanderer. Rechts passierten wir eine Reihe
englischer Schulschiffe, die gerade in der ~upper bay~ festgemacht
hatten. Wie Möwen saßen die Seekadetten in ihren weißen Anzügen
aufgereiht in den Raen der Masten und sahen nach Neuyork hinüber.
Diesen Weg fuhr einst auch unser wackeres Handelsunterseeboot
„Deutschland“ mit Kapitän König herein, dem die Engländer bei seiner
kühnen Wiederausfahrt vergeblich auflauerten. Auf Staten Island
angekommen stieg ich zur Anhöhe hinauf und genoß von dort oben wieder
einen einzigartig bezaubernden Blick über Bucht, Hafen und Stadt ...

Dann flog ich ein andermal über den Hudson westwärts aus. Ich hatte
ja beim Abschied vom Dampfer dem munteren Badenser Fräulein, das zu
seinem Onkel fahren und ihm die Wirtschaft führen wollte, versprochen,
es einmal in Hoboken zu besuchen. Das Versprechen mußte ich dem
lieben Geschöpfchen doch auch einlösen, das gewiß schon auf meine
Ankunft sehnlichst wartete. Ich meldete mich wohlweislich nicht an.
Vermutlich war dann der Onkel nicht zu Hause! Denn der interessierte
mich weniger. So riskierte ich einen unerwarteten Besuch. Aber Strafe
folgt der Missetat oft auf dem Fuße! Ich verfehlte zwar „sie“ nicht,
aber gründlich zunächst die Palisade Avenue in Hoboken, wo sie wohnte.
Als ich nämlich glücklich über dem Hudson drüben war, fuhr ich mit
der „~car~“[10] fröhlich nördlich fast eine Stunde gen Englewood ins
frische grüne Land hinaus statt südwärts nach Hoboken, bis ich auf
einmal Verdacht schöpfte und mich erkundigte. Da mußte ich zu meinem
Schrecken hören, daß ich von meinem Ziel etwa zwölf Meilen entfernt
war, aber derselben Avenue in Englewood recht nahe. So mußte ich den
ganzen langen Weg wieder rückwärts nach Hoboken reisen, und kostbare
Stunden des Nachmittags waren verstrichen. Aber es schadete nichts;
ich hatte eine schöne Fahrt gemacht, an reizenden Landsitzen und
leuchtenden Sommervillen hatte ich ein Stück „~country~“ gesehen. Wenn
„sie“ nur da war! Und sie war es!

Ich traf sie sehr hausfraulich in der Küche. Allein! Ihr Onkel hatte
ihr zwar streng verboten, einen Fremden hereinzulassen. War ich ein
Fremder? Sie bereitete dem gestrengen Herrn Onkel das Dinner, wenn er
von der City mit dem „~ferry~“ heimkäme. Das mußte allerdings bald
sein. Aber er kam glücklicherweise noch nicht so bald. Arglos und
fröhlich, wie es ihre Art war, zeigte sie mir unterdessen die ganze
Villa des Onkels von außen und von innen, von oben und von unten,
während ich stets ein bißchen ängstlich lauschte, ob man schon die
Tritte des Herrn Onkels höre. Als wir nach der Hausbesichtigung wieder
in der Küche angelangt waren -- schon damit auch der Braten ja nicht
anbrenne -- und noch eine gute Weile geplaudert hatten, hielt ich
es für diesmal geraten, mich zu entfernen. Wer konnte wissen, wann
der Herr Onkel erschien und was er sagen würde, und würde nicht auch
+meine+ Tante zürnen, wenn +ich+ zu spät zum Essen zu ihr kam? Und mit
ihr durfte ich es doch, solange ich in Neuyork weilte, keinesfalls
verderben. Als ich schied, brachte sie mich bis ans Gartenpförtchen.
Wollte sie sehen, ob der Onkel schon kam? Oder ... Das gute Geschöpf
hatte von Neuyork noch gar nichts zu sehen bekommen, und wie hatte sie
aufhorchend meinen Schilderungen und Erlebnissen gelauscht! Aber der
Onkel hatte gesagt, Neuyork wäre nichts für junge Mädchen! Sie sah mir
lange nach. Ich glaube gar, ein kleines Tränchen hing in ihrem Auge
... Sie sollte sich ja in Amerika gut verheiraten, hatte ihre Mutter
gesagt. Gewiß hat sie einen viel besseren als mich bekommen! --

Auch den Norden der Stadt durchwanderte ich in der Richtung nach Bronx,
an den Harlem River und auf seine Höhen. Der Harlem River verbindet
den East River mit dem Hudson, so daß strenggenommen der Hauptteil
Neuyorks auf einer langgestreckten Insel liegt. Ganz im Norden fand ich
noch Reste ursprünglichen Waldgebietes mit einer geradezu subtropisch
üppigen Vegetation. Man darf ja nicht übersehen, daß Neuyork auf der
geographischen Breite von Neapel (!) liegt, wenn auch sein Klima
im ganzen kühler ist als das Süditaliens. Am Fort George, das ich
nach mehrstündiger Fußwanderung erreichte, war ich erstaunt über die
sonnigen dichtbewachsenen grünen Hügelreihen, die trotz des zu Ende
gehenden September noch viel üppigeres und frischeres Laub zeigten
als bei uns in der gleichen Jahreszeit. Von den „Washington Heights“
hatte man einen geradezu herrlichen Blick auf die „Palisaden“, d. h.
die felsigen Ufer des waldumsäumten breiten Hudsonflusses, der an
manchen Stellen mit unserem Rhein an Schönheit wohl wetteifern kann.
Freilich fehlen ihm die malerischen Burgruinen und des Rheins ganze
romantisch-geschichtliche Vergangenheit.

[Illustration: ~NEW YORK~

~Das „Palisaden“-Ufer am Hudsonfluß~]

[Illustration: ~NEW YORK~

~City hall (Rathaus)~]

Neben der Natur zog mich auch immer der Stadt volles Leben an, so auch
die Theater! Ich sah den „Parsifal“ im ~Metropolitan opera house~
deutsch. Ich saß in Kinos und kleinen Theatern der Italiener und Juden.
Höchst volkstümlich und derb! Wieviel wäre zu erzählen vom Sport,
von städtischer Verwaltung und Verfassung, vom Militär, zu dessen
Eintritt auf vielen verlockenden Plakaten ständig geworben wird, von
der Polizei, von der berühmten Neuyorker Feuerwehr, von den Schulen,
den glänzend ausgestatteten, öffentlichen Bibliotheken und den 1100
(!) Kirchen der verschiedensten Denominationen in der Riesenstadt, den
Hospitälern und Friedhöfen. Aber ich bin kein wandelnder Reiseführer.
So habe ich auch keineswegs alle die einzelnen großen Banken und
Börsen, alle die staatlichen Ämter, die großen Plätze und Denkmäler
aufgesucht, noch will ich sie alle beschreiben. Ich habe nicht die
Absicht, mit meinem persönlichen Reisetagebuch Bädeker, Führer und
Karten überflüssig zu machen. Einiges davon hole ich bei anderer
Gelegenheit nach.

Aber ehe ich von Neuyork weiterreiste, erlebte ich noch den Anfang
einer phänomenalen Jahrhundertfeier in Erinnerung an Hudsons und
Fultons erste Fahrten. Alle Bekannten und Verwandten in Neuyork hatten
mich schon immer beschworen, die müsse ich unbedingt noch mitmachen,
sie sei das „Ereignis“ dieses Jahres. Also war ich aufs äußerste
gespannt und lief sogar Gefahr, das andere „phänomenale Ereignis“
in Boston zu versäumen, das ich auch unbedingt mitmachen mußte,
nämlich die feierliche Einführung des auf Lebenszeit neugewählten
Universitätspräsidenten von Harvard, eine Feier, der man in manchen
Kreisen mehr Bedeutung beimaß als dem Einsatz des Unionspräsidenten in
Washington! So war ich auch darauf aufs äußerste gespannt, denn mein
akademisches Fühlen war trotz meiner fortgeschrittenen Semester noch
sehr lebendig.

Am letzten Sonnabend des September begannen die
Jahrhundertfestlichkeiten und dauerten vierzehn Tage bis in den
Oktober. Alles zur Erinnerung der beiden großen Seehelden, des Henrik
Hudson, der vor 300 Jahren den Hudson auf seinem „~Half-moon~“[11]
entdeckte, und des Robert Fulton, der ihn mit dem ersten +Dampfschiff+
„Clermont“ befuhr. Vorgesehen waren Gottesdienste -- die in Amerika
bei öffentlichen Feiern nie fehlen! --, Flottenparaden aller Länder,
Riesenfeuerwerk, fünf Denkmalsenthüllungen, Opernvorstellungen,
Parkeröffnungen, große Sportveranstaltungen, glänzende Bankette,
Truppenparaden, Kinderfeste, wetturnerische Vorführungen, „Karnival“
genannt (!), Massenausflüge den Hudson hinauf u. dgl. Also ein
Heidenrummel!

Tatsächlich strömte schon am ersten Festsonntag eine wahrhaft
ungeheure, nach Hunderttausenden zählende Menschenmenge auf dem
Riverside-Drive am Hudsonufer zusammen. Herrlicher blendender
Sonnenschein lag auf Stadt und Strom. Tausende von Ansichtskarten-,
Album-, Bild- und Fähnchenhändlern bearbeiteten das Publikum ständig
mit allen Mitteln ihrer Rhetorik. Nur +zwei+ Worte schwirrten noch
in tausendfacher Variation an allen Orten, in allen Tonlagen und
Stimmungen, anpreisend, schreiend, rufend, schnarrend ans Ohr bei drei-
bis vierstündigem Stehen auf einem Fleck, zwischen Menschenmauern
eingekeilt: „Hudson-Fulton, Hudson-Fulton, Hudson-Fulton“!

Alle Nationen der Welt hatten Kriegsschiffe zur Feier abgeordnet.
Auf dem Hudson lagen sie in langer Reihe friedlich nebeneinander,
die braunschwarzen Dreadnoughts und Kreuzer Englands, Frankreichs,
Deutschlands, Italiens, Japans usw. Wie Lämmer bei Löwen und
Tigern. Was sind doch alle internationalen Höflichkeitsbesuche
und Vereinigungen anders als Schein und Heuchelei? Zwischen den
großen schossen kleine Boote hin und her, die Ferries heulten und
tuteten unablässig. Von halb elf Uhr ab -- um elf Uhr sollten die
Feierlichkeiten beginnen -- hatte ich wartend und völlig eingekeilt
mit hungrigem Magen bis halb vier Uhr nachmittags auf demselben Fleck
gestanden, ohne mich auch nur einen Fußbreit vor-, rück- oder seitwärts
bewegen zu können. Endlich um drei Uhr nachmittags begann der Auftakt
der Flottenparade. Ich dachte, nun würde sich wohl die ganze stolze
internationale Kriegsflotte rauchend und fauchend in Bewegung setzen
und allerlei erstaunliche Manöverbewegungen auf dem Hudson ausführen,
aber sie blieben alle unbeweglich und wie angenagelt auf ihrem Flecke
liegen und fingen nur alle miteinander an, greulich zu schießen und zu
donnern, daß man jedesmal nur so zusammenfuhr, wenn ein Feuerstrom, den
man zuerst sah, aus ihren Mündungen gerade auf uns herüber zuschoß ...
Dann hallte der Donner lange nach. Schließlich erschien aus Rauch und
ohrenbetäubendem Gedröhn eine nicht sehr imponierende Festflottille
von kleineren und einigen größeren Booten, die die neuerbauten
Nachahmungstypen des alten Hudsonseglers „Halfmoon“ mit seinen hohen
Schnäbeln und das noch kleinere Fultondampfschiff „Clermont“ mit
seinen hohen Schaufelrädern und seiner wie ein Gänsehals hohen und
unförmigen Esse feierlich geleiteten. Die Hunderttausende am Ufer
brachen in einen nicht endenwollenden Jubel aus, als die rührend
kleinen und reichlich unbeholfenen Schiffchen an den dröhnenden und
feuerspeienden Riesen der fremden Kriegsschiffe vorüberglitten ... In
der Tat, in einem Jahrhundert welche Entwicklung seit Fulton bis zu
den modernen Ozeandampfern von 55000 Tonnen und gar bis zum ~Z. R.
III~ und seinem Siegesflug! Und seit Hudson, der mit den Indianern
über den Kauf Manhattans verhandelte, welche Geschichte in diesem
Lande! Als die Schiffchen vorübergeglitten waren, verlief sich die
nach Hunderttausenden zählende Menge, denn wohl nicht nur mein Magen
und meine Füße revoltierten energisch. Man war richtig steckesteif
geworden. Gehen war ein Genuß.

Abends wurde dann noch ein riesiges Feuerwerk abgebrannt. Von
den Palisaden herüber warfen mächtige Scheinwerfer ihre riesigen
Lichtstrahlen über die Stadt. Und nach einem Kanonenschuß erglühten
die Konturen sämtlicher Kriegsschiffe auf dem Hudson bis an die Masten
und Schornsteine mit Tausenden von elektrischen Birnen -- wirklich ein
märchenhafter Anblick. Aber das Abendrot des nächsten Sonnenunterganges
dünkte mich doch noch großartiger ... Das war mein Abschied von der
Riesenweltstadt .....


Fußnoten:

[Footnote 3: Transportgesellschaft.]

[Footnote 4: Aus: Die Neue Welt, eine Anthologie jüngster
amerikanischer Lyrik, herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag,
Berlin. 1921. S. 75.]

[Footnote 5: Untergrundbahn.]

[Footnote 6: Aus: Neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer
Lyrik. Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag, Berlin 1921,
S. 30.]

[Footnote 7: Sie hat wohl ihren Namen daher, daß einst nur bis dahin
von der Battery sich die Stadt erstreckte, ¹⁄₁₀₀ ihrer heutigen Länge!]

[Footnote 8: Neuyork zählt ja auch mehrere Hunderttausende Juden!]

[Footnote 9: Erbaut 1870-83.]

[Footnote 10: Straßenbahn.]

[Footnote 11: Halbmond.]




Boston.


Am nächsten Morgen schon führte mich vom „Grand-Zentral-Depot“ der
Expreß nach Nordosten. Aber vorher gab es erst noch einen kleinen
Anstand, denn das Reisen, erst recht in fremden Ländern, hat nun
einmal seine Tücken. Obwohl 14 Tage seit meiner Landung in Hoboken
vergangen waren, hatte die Transfer-Company, der ich vertrauensvoll
meinen Gepäckschein übergeben hatte, mir noch immer nicht meinen großen
grünen Koffer, der doch mit soviel gelehrten Büchern vollgeladen war
und in den Gepäckhallen der Hapag in Hamburg mich so kameradschaftlich
getröstet hatte, von Hoboken herübergebracht. So blieb mir nichts
anderes übrig, als das schwer fortbewegliche und vollgefüllte und immer
mit Zerfall und schnellem Abgang drohende Ungetüm selbst zu holen.
Vielleicht wartete es auf diesen Freundschaftsdienst. Was das nach
Gewicht und bei entsprechender Sommerhitze aber für mich bedeutete,
mag sich der Leser selbst etwas ausmalen. Aber „selbst ist der Mann!“
ist ja gerade echt amerikanischer Grundsatz. Danach handelte ich
entschlossen ...

Um acht Uhr früh ging mein Zug. In äußerst praktischer Weise
bevorzugen nämlich die amerikanischen Bahnen fast stets glatte, runde
Abgangszeiten, also 8, 8³⁰, 9, 9¹⁵ Uhr usw. Krumme und ungerade
Minutenzahlen trifft man selten. Auf der Bahn machte ich wieder
allerlei neue Beobachtungen. Die Bahnhöfe sind praktisch, aber nicht
immer groß. Eigentliche große Warteräume mit Restaurationsbetrieb
existieren fast gar nicht, sondern nur offene Wartehallen mit einem
besonders abgeschlossenen „~ladies-~“ und „~smoking-room~“, der recht
primitiv sein kann. Die Bahnsteige sind schmal, die Fahrkarten oft
winzig, meist ohne Angabe des Fahrpreises! Der Einfachheit halber
steckt man die Karte in das Hutband an den Hut, von wo sie der den
Zug kontrollierende Schaffner abnimmt und während der Fahrt mehrfach
kupiert. Bahnsteigsperre gibt es nicht. Der Bahnkilometer ist drüben
wie vieles teurer als bei uns, er kostet etwa 7½ Pfennig! Fast nach
jedem größeren Haltepunkte geht der Schaffner aufs neue durch die
~D~-Wagen und knipst +sämtliche+ Fahrkarten, so daß sie zuletzt mehr
Löcher als Papier haben!

Demokratisch wie die Straßenbahn ist auch die Eisenbahn; sie kennt nur
+eine+ (gepolsterte) Klasse in ~D~-Zugform, aber ohne Abteileinteilung.
Der Ausstattung nach ist sie etwa wie bei uns II. Klasse, aber oft
ebenso schmutzig wie es die Bahn noch bis vor kurzem in Italien war.
Papier, Obstschalen, Zeitungen wird alles einfach wie aus der Hochbahn
an den Boden geworfen! Die Bahnen sind sämtlich Privatbesitz und
machen sich gegenseitig tüchtig Konkurrenz. Oft fahren zwei Linien,
die von verschiedenen Gesellschaften gebaut sind und betrieben werden,
dicht nebeneinander vom selben Ort zum selben Ziel! Sie suchen sich
gegenseitig durch größere oder mindere Schnelligkeit und Zugsicherheit
(aber ohne kostspielige Bahnwärter und Schranken!), Ausstattung
der Wagen u. ä. den Rang abzulaufen. Der sich entwickelnde Ruß und
die umherfliegende Asche der Lokomotiven ist höchst unangenehm. Die
Wagenfenster sind daher kaum zu öffnen. An Wegkreuzungen ertönen
Signale der Maschine. Die Landstraße hat nur ein Warnungsschild: „~Look
out for the engine!~“[12] Jeder hat also auf sich selbst aufzupassen,
daß er nicht überfahren wird; niemand wird sein Leben garantiert. Die
Schnelligkeit ist im allgemeinen gut, die Wagen sind sehr fest aus
Eisen gebaut und auf Zusammenstöße eingerichtet, aber der Unglücksfälle
sind es wegen mangelnder Aufsicht und beschränktem Personal auch
dreimal soviele als bei uns! Was macht das? Leben gilt nichts. Ohne
Umstand fährt der Zug ein und aus nach dem Rufe: „~All aboard!~“ Jeder
hat selbst dafür zu sorgen, daß er richtig in den Zug hineinkommt und
das Abfahren nicht verpaßt, sintemal das Trittbrett sehr hoch ist.
Schilder ihrer Bestimmung tragen die Wagen nicht. Glücklicherweise saß
ich nicht in einem Wagen, der unterwegs abgehängt wurde ...!

Also fuhr ich zum ersten Male in einem amerikanischen Eisenbahnzug.

Lange noch ging es durch die Häuserblocks Neuyorks. Noch einmal
hielten wir an der 125. Straße, dann erschienen rechts die Wälder
des Bronxparkes über dem Harlem River. Reizende Blicke öffneten sich
rechts nach dem Long-Island-Sund mit seinen blauen Linien des Ozeans
am Horizont. Das Land war rings übersät von zierlichen, luftigen
Holzvillen der amerikanischen Bauart, dazwischen gab es aber auch
wüste, unangebaute Strecken, kleine schlechte Fahrwege, viel Unordnung.
Das Land erscheint, wie Lamprecht bemerkt hat, immer noch reichlich
unfertig. Alles erweckt den Eindruck schneller und planloser Bebauung
ohne Überblick und Zusammenhang. Hier baute sich eben jeder an, wo es
ihm gerade beliebte, und rodete soviel als er vermochte. Das andere
blieb, wie es war. Wie würde es erst im Westen aussehen, wenn schon der
kultivierte Osten so ungeordnet und wild aussah?

Am Long-Island-Sund liegen große Industrieorte, wie Bridgeport
und Newhaven. Im letzteren ist der Sitz der altberühmten
„Yale-Universität“, der alten gefeierten Konkurrentin Harvards. Golden
strahlte aus der Stadt die Kuppel des Stadtkapitols, da alle an Größe
und Stil gern mit dem großen „Kapitol“ in Washington eifern möchten.

Von Newhaven ging es nordwärts nach dem rauchigen Hartford.
Obwohl wir hier durch dichtbesiedelte Gegenden fuhren, reicht die
Bevölkerungsdichte auch nicht entfernt an die unserer europäischen
Industriebezirke an der Ruhr, in Belgien, um Chemnitz oder Manchester
heran. Nach den beiden letzten Städten nennt sich die Eisenbahnlinie,
mit der ich fuhr: „~New York, New Haven and Hartford Railroad~.“

Hinter Hartford lenkten wir östlich in die prächtige hügelige und
romantische Landschaft Connecticuts: Wälder, Berge, Sümpfe, kleine
Teiche, pfadloses Gestrüpp, wohin man sah. Hier wäre ich gern einmal
ausgestiegen und planlos gewandert. Aber der Zug fuhr unentwegt weiter
und hatte für solche unnützen Landbummler keine Haltestelle. Das
Wandern durch die Natur und das Steigen auf die Berge ist überhaupt in
Amerika noch wenig üblich. Dazu sind die Entfernungen auch meist zu
groß, der Wege zu wenig, die Sonntage zu heilig und ein Rucksack drüben
-- zu lächerlich! Die Farmen Connecticuts, an denen wir vorbeisausten,
waren eingebettet in den prächtigsten Herbstschmuck. Hin und wieder sah
ich äußerst anheimelnde Landhäuser und gemütvoll weidende Rinderherden.
Sonst nur weglose und ungepflegte Wälder. Üppig und ungehemmt schießt
und sprießt es überall aus dem noch nie gepflügten oder gerodeten
Boden. Wie kahl und arm sind dagegen oft unsere allzu wohlgeordneten
Waldungen.

Einige Male hielten wir auf kleineren Stationen (Willimantic, Pomfret,
Putnam) in fast unbewohnter Gegend. Seit Hartford hatte sich überdies
unser Zug recht geleert. So saß man gemütlich auf den Polstern, und
es ermüdete mich nicht im geringsten, stundenlang unverwandt das Land
des neuen Erdteiles in mich aufzunehmen. Und hätte man Langweile
gehabt, so hätte sie einem der ~boy~ vertrieben, der ständig in jedem
Zug alle möglichen und die unmöglichsten Dinge anzubieten pflegt:
Glacéhandschuhe, Bilder, Karten, Schokolade, Reiseführer, Zeitungen,
Bücher u. dgl.

Gegen zwei Uhr nachmittags nach fast sechsstündiger Schnellzugsfahrt
(man vergleiche aber die kurze Entfernung auf einer Karte der ganzen
Union!) näherten wir uns Boston, dem altenglischen Kulturzentrum,
der Stadt, in der die geistig feinsten und aristokratischsten Leute
Amerikas wohnen, wie man allgemein in Amerika zugesteht. Boston ist der
Sitz der feinen Bildung und Sitte. Sogar die Aussprache ist dort nicht
ganz so dumpf wie sonst, sondern sucht sich der helltönenderen der
Engländer anzupassen.

Seit Blackstone rasten wir ungehemmt durch die Ebene. Dann ging es
durch die Vorstädte Bostons. „Black Bay Station“ -- und nach wenigen
Minuten waren wir in der breiten rußigen „South Union Station“. Trotz
ihrer 16 Einfahrtsgleise hatte sie nichts Imponierendes.

Es regnete! -- -- --

Boston erscheint trotz seiner über eine halbe Million zählenden
Einwohner klein, wenn man aus Neuyork kommt. Ende des 18. Jahrhunderts,
zur Zeit der Unabhängigkeitskämpfe, war Boston die volkreichste
und auch die politisch führende Stadt der Union. Schon 1630 hatten
sich hier die ersten englischen Kolonisten im benachbarten kleinen
Salem angesiedelt, während Neuyork noch „Neu-Amsterdam“ hieß und
kaum 100 Holländer beherbergte (s. S. 51)! 1770 begannen hier die
Freiheitskämpfe mit dem sog. „Bostoner Blutbad“, in dem einige Bostoner
von britischen Soldaten, die sie herausgefordert hatten, getötet
wurden. Das war bei dem noch heute stehenden „Old State House“ mit
dem noch heute dort befindlichen britischen Löwen und Einhorn auf dem
Dach. 1773 warfen Bostoner, als Indianer verkleidet, eine englische
Teeladung, die trotz der „Nichteinfuhrakte“ importiert werden sollte,
kurzerhand ins Meer, nachdem man sich in der Old South Church, die
ebenfalls noch steht, versammelt hatte! Die Stelle dieser berühmten
„~Tea-party~“ ist am Kai bezeichnet. Britische Truppen besetzten nun
nach dieser Auflehnung die Stadt, aber General Washington überschritt
bald den Charles River, der an Boston breit wie ein Meeresarm
vorbeifließt, und befreite die Stadt 1776 aus den englischen Händen.
Diese ganze Gründungsgeschichte der Union hat sich hier in Boston
abgespielt! So ist es der historischste Boden des ganzen Landes und so
erinnert es mit seinen alten efeuumsponnenen Kirchen in der City und
der ehrwürdigen „Faneuil Hall“ und seinen krummen, engen Straßen in der
inneren Stadt noch am ehesten an Europa.

Boston ist aber auch das amerikanische „Athen“. Nicht weit von Boston,
in +Concord+ und Cambridge, lebten und wirkten ein Hawthorne, Emerson,
Longfellow, Lowell und Agassiz. Auch ein Benjamin Franklin, der
Erfinder des Blitzableiters, ist in Boston geboren und begraben. Und
dicht vor Bostons Toren, in Cambridge, liegt noch heute die älteste
und tüchtigste Universität Amerikas, das Harvard College. Bostons
Mittelpunkt ist der „Common“, ein zentral gelegener, sympathisch
wirkender, nicht allzu großer Stadtpark, der stattlich zum Hügel des
State House (Kapitol) mit seiner weithin leuchtenden vergoldeten
Kuppel emporsteigt. Das State House (Regierungsgebäude) enthält
prächtige Innenräume, vornehme Hallen, die in großen Wandgemälden die
geschichtlich wichtigen Augenblicke aus dem letzten Drittel des 18.
Jahrhunderts festhalten.

Der unstreitig prächtigste Platz der Stadt aber ist der dem Charles
River nahegelegene sog. „Copley Square“, den nicht weniger als vier
ansehnliche und bedeutsame Gebäude zieren: zwei der schönsten und
stilvollsten Kirchen des Landes, die romanische „Trinity Church“
der englischen Hochkirche und die in stilvoller italienischer
Frührenaissance erbaute „New Old South Church“ der Kongregationalisten.
Weiter säumt den Platz das ~Museum of fine arts~, in der Hauptsache
eine Gemäldegalerie. In ihr fand eine eigenartige Ausstellung statt,
die dartun sollte, was für Kultur- und Sozialprojekte in 5 Jahren in
der Welt und in Amerika im besonderen verwirklicht sein würden! Nur
vergaß die damalige rührige und prophetische Ausstellungsleitung zu
weissagen, daß die Welt vor allem das Kulturprojekt des Krieges aller
gegen alle verwirklichte und gerade das kulturfortschrittliche Amerika
zuletzt in diesem kulturfördernden Reigen sogar den Ausschlag geben
würde! Endlich steht dort am Copley Square, wie sie sich rühmt, die
größte Volksbibliothek der Welt, „~the public library~“, in weißem
Marmor mit unübertrefflich prächtigen Lesesälen -- auch einer besonders
für Kinder! -- und überraschenden Einrichtungen für schnellste
Herbeischaffung jedes gewünschten Buches binnen wenigen Minuten! Ich
habe dort allerdings den Eindruck gewonnen, daß der einfache Amerikaner
bildungs- und lesehungriger ist als der gleichgestellte Deutsche.
So ist auch die Zahl der trefflichen „~magazines~“, d. h. der guten
illustrierten Wochen- und Monatszeitschriften, die vielmehr als die auf
den Augenblick berechneten Tageszeitungen den Leser wissenschaftlich
über alle wichtigen Dinge verständlich auf dem laufenden halten,
unübersehbar groß und reich.

Um die Innenstadt Bostons mit ihren belebten und -- verglichen mit
Neuyork -- zum Teil engen Geschäftsstraßen legen sich die feinen
Wohnviertel, so die „Commonwealth Avenue“ und „Boylston Street“ und
weiter hinaus umfangreiche Vorstädte, die sich zuletzt in reizende
Landhauskolonien auflösen. Weite Parkgebiete sind überall dazwischen
von der Bebauung freigelassen. In weitem Bogen umsäumen liebliche
und aussichtsreiche Hügelreihen die Stadt in der Ferne wie die „Blue
hills“, die „Arlington Heights“ u. a.

Am Bostoner Hafen ist’s freilich wie überall in Amerika düster und
schmutzig. Reizvolle Städtefronten am Wasser anzulegen, versteht der
Amerikaner offenbar noch nicht. Dazu ist der Sinn all die Jahrzehnte
hindurch viel zu sehr aufs rein Praktische und Kommerzielle gerichtet
gewesen. Wenn das Land auch, wie ich es einmal in einem Vortrag des
greisen Harvardpräsidenten ~Dr.~ Eliot treffend ausführen hörte,
über „politische Sicherheit, materiellen Reichtum und moralischen
Fortschritt“ verfügt, so aber nicht über den Sinn für Beschaulichkeit
und ästhetische Lebensgestaltung. Hier war noch nicht Kulturgeschichte,
hier will sie erst werden. Hier war bis jetzt, die Neuenglandstaaten
ausgenommen, im allgemeinen nur Geschichte des Handels und des
politischen Aufschwungs. Freilich fiel das Riesenland der einst jungen
und kleinen Union, die zuerst über nicht viel mehr als die schmalen
Randstaaten des Ostens am Atlantischen Ozean verfügte, ziemlich
mühelos in den Schoß, und unerschöpflich sind heute das Land, seine
Bodenschätze, seine Hilfsquellen und Entwicklungsmöglichkeiten. --

Da ich mich lange in Boston und dem nahen Cambridge aufgehalten habe,
hatte ich Muße genug, mich, soweit möglich, auch um das +geistige
Leben+ und die geistigen Fragen zu kümmern. So ging ich nach und
nach fast auch zu allen wichtigeren +kirchlichen+ Denominationen und
+religiösen+ Gemeinschaften, denn sie spielen in Amerika eine sehr
ausschlaggebende Rolle. Es sind ihrer wohl an 200, deren jede frei
ihrer Überzeugung lebt und ihr Bestes zu geben sucht. Vollkommene
religiöse Toleranz hat zuerst Amerika in der Welt praktisch
durchgeführt! Alle Religionsverfolgten Europas, von den englischen
Puritanern angefangen, die 1620 mit der „Mayflower“ hinüberkamen,
fanden hier eine gastliche Freistatt. Von Anfang an war hier Staat und
Kirche getrennt. Die Kirchen verwalteten als freie religiöse Vereine
und Genossenschaften sich stets vollkommen selbständig und hatten auch
für ihre Existenz und ihre Bedürfnisse allein aufzukommen. So lernte
der Amerikaner von Anfang an andere Überzeugungen achten und für die
eigenen opfern.

Ein +Sonntag+ in Amerika verläuft anders als bei uns. Am Sonntagmorgen
liegt über der großen, werktags so rastlosen Stadt mit ihren
Hochbahnen, Straßen- und Untergrundbahnen eine ungewohnte Stille.
Nur das nie ruhende Meer wirft seinen weißen Schaum wie immer an die
Uferdämme. Die wohlverankerten Boote schaukeln ein wenig hin und her,
aber die Kais sind menschenleer. Die Straßenbahnen fahren selten. Nur
die Schuhputzer haben wie immer zu tun. Hoch auf den Stiefelthronen
sitzt heute auch der einfachste Kunde, und der Italiener oder Grieche
fährt mit wohlgeübten Handgriffen mit mehreren Bürsten zugleich
über die Schuhe, bis sie blank sind, daß man sich fast darin sehen
kann. Alle großen Geschäfte, die menschenwimmelnden Warenhäuser, die
Banken, alle Theater und die meisten Restaurants, in denen in der
Woche Hunderte ihren Lunch einnehmen, sind geschlossen. Die großen
Geschäftsstraßen, in denen gestern Abend noch Tausende im Schimmer
der aufblitzenden und wieder erlöschenden Reklameschilder hin und her
eilten, sind wie ausgestorben. Es ist der „Sabbat des Herrn“, der Tag
absoluter Ruhe, an dem sogar auf manchen Eisenbahnstrecken kein Zug
fährt und manche Bahnhöfe einfach verschlossen sind!

Der Vormittag schreitet voran. Etwa um halb elf Uhr ertönen die ersten
Glockenschläge, leise, fein und melodisch in rhythmischen Pausen. Kein
weithin schallendes, ehern schwingendes Geläute ist es wie bei uns. Die
meisten Gottesdienste in den Kirchen beginnen erst um elf Uhr. Da und
dort sieht man Menschen den Kirchen zustreben, die meist weit kleiner
als bei uns sind, versteckt und efeuumsponnen mit zierlichem Turm sich
wenig oder gar nicht über die hohen, Geschäfts-, Wohn- und Logierhäuser
hervorheben, ja manchmal wie Old Trinity in Neuyork ganz zwischen
ihnen verschwinden. Wir studieren den sehr reichhaltigen und überaus
mannigfaltigen Kirchenzettel der großen Zeitungen, reichhaltig durch
die Unmenge der Denominationen, mannigfaltig auch durch die seltsamen
Anzeigen der Predigtthemen und der im Gottesdienst stattfindenden
Musikdarbietungen! Beides soll im besonderen Maße Hörer und Besucher
anlocken und etwa andere „Konkurrenz“-Kirchen ausstechen. Liest man die
lange Reihe durch: „Baptisten, Kongregationalisten, Christian Science,
Episkopalisten, Quäker, bischöfliche Methodisten, Swedenborgianer,
Spiritualisten, Presbyterianer, Unitarier, ~New thought~,
Theosophen, ‚~church of higher life~‘, Universalisten, Lutheraner,
Heilsarmee,“ so hat man die Wahl. Sie alle sind geschichtlich
begründet, manche, wie Christian Science, New thought u. a., sind
erst jüngeren und jüngsten Datums. Bald waren es Unterschiede der
Verfassung (Bischöfliche oder Episkopalisten, Presbyterianer oder
mit Ältestenverfassung, Kongregationalisten oder solche, die auf
Souveränität und Selbständigkeit der Einzelgemeinde pochen), bald
waren es solche des Glaubens: Der Baptismus verwirft die Kindertaufe,
der Methodismus fordert persönliche Bekehrung, die Quäker verwerfen
ein berufsmäßiges Predigtamt. Die Lutheraner sind meist Deutsche,
Schweden, Dänen oder Finnen. Die ~episcopal church~ ist der Rest der
einst hier herrschenden englischen Staatskirche, noch heute die Kirche
der vornehmen und vornehm sein wollenden Leute. Die „Unitarier“ sind im
Anfang des 19. Jahrhunderts als Protest gegen die Dreieinigkeitslehre
des Christentums entstanden. Die „~Christian Science~“ ist auch
in Deutschland als Sekte der „Gesundbeter“ bekannt geworden. Die
Swedenborgianer sind Anhänger des schwedischen mystisch-religiösen
Philosophen Emmanuel Swedenborg. Führend im religiösen Volksleben
scheinen im allgemeinen die Methodisten und Baptisten zu sein, in
Neu-England mehr die Kongregationalisten, dazu kommt die englische
Hochkirche unter den Reichen und unter den Deutschamerikanern die
Lutheraner. Aber auch die meisten von ihnen teilen sich wieder in
die verschiedensten Teilkirchen; auch die Baptisten und Methodisten
sind mehrfach gespalten. Doch geht im ganzen durch das amerikanische
Kirchenwesen heute durchaus ein Zug zur Einigung, vor allem auf
sozialem und sittlichem Gebiete. So haben die Kirchen erst jüngst den
Feldzug gegen den Alkohol gewonnen, wie sie einst ihr gewichtiges Wort
gegen die Sklaven erhoben haben. Den praktisch-ethischen Fragen des
Volkslebens mißt man drüben ein ganz anderes Gewicht in der Kirche bei
als bei uns, während in Deutschland in der Vergangenheit sich alles
in Glaubenskämpfen zerfleischte. Neben all diesen protestantischen
Denominationen steht und wächst dank der jüngsten romanischen und
östlichen Einwanderung immer machtvoller auch die römisch-katholische
Kirche. Ein Kardinal ist ein Amerikaner. Die katholische Kirche
übertrifft die größten protestantischen Kirchen noch an Bekennerzahl.
Und sie ist, wie überall, ganz einheitlich.

Welchen Gottesdienst man aber auch besucht, die äußere Art desselben
ist fast überall, abgesehen von den liturgisch reicheren Episkopalen
und Lutheranern, sehr ähnlich oder gleich, selbst Swedenborgianer,
Christian Science und Spiritualisten haben im allgemeinen denselben
gottesdienstlichen Rahmen mit Lied, Gebet, Ansprache usw. übernommen.
Außen an der Kirche gibt meist schon ein großes Plakat deutlich
Auskunft über Name und Art der Gemeinde, über ihre Veranstaltungen,
über Wohnung und Sprechstunden des Predigers u. dgl. In der Vorhalle
findet man oft eine kleine Auslage von Büchern und Schriften, von
denen die meisten unentgeltlich zur Verfügung stehen. Beim Eingang
empfängt uns einer der Ältesten oder ein sog. „~usher~“, ein jüngerer
Herr mit weißer Nelke im Knopfloch, der uns zu einem freien Sitzplatz
geleitet. Die Kirchenbänke sind mit Polstern belegt, aus bequemen
und wohlgeformten Holzwerk -- nicht wie unsere jahrhundertalten
steifen, harten Dorfkirchenbänke, von denen man oft mit Rückgrat-
und Kreuzschmerzen aufsteht. In der Bank findet man Gesangbuch,
Gebetbuch, ein Neues Testament, Schriften, ja wohl gar Fächer für
die Damen bereitliegen! Also man liebt auch in der Kirche den
Komfort und die Bequemlichkeit. Der Geistliche pflegt in einfachem
schwarzen Rock ohne Talar an ein Sprechpult zu treten. Eigentliche
Kanzeln haben nur die Katholiken, die Hochkirche und die Lutheraner.
Auch ein Altar ist nur dort vorhanden. An dem Pulte wird gelesen,
gebetet, gepredigt. Meist leitet guter Chorgesang den Gottesdienst
ein. Dann spricht der Geistliche ein freies, längeres Gebet. An das
Gebet schließt sich gewöhnlich eine Psalmenlesung, bei der Prediger
und Gemeinde abwechselnd laut vorlesen. Ja, es kommt auch vor, daß
ein Ältester oder sonst ein Laie die Schriftlesung hält. Danach erst
setzt der Gemeindegesang ein, zu dem sich die Singenden von den Sitzen
erheben! Frisch und rhythmisch, selten getragen, klingen die Choräle.
Das +ganze+ Lied wird abgesungen, nicht nur etwa drei langatmige
und langsam gespielte Strophen. Die Liedstrophen sind selbst kurz
und knapp und entstammen +neueren+ religiösen Dichtern. Dem Liede
folgt eine Solomusik und -- nicht zu vergessen -- das Kirchenopfer,
das auf +offenen+ Tellern eingesammelt und zur Danksagung nach
vorn an den Altartisch getragen wird. Ich sah auf den Opfertellern
meist nur Silberstücke oder Dollarscheine! Von den Kollekten und
Mitgliedsbeiträgen lebt ja die Gemeinde. Man weiß also rechnerisch,
was man zu geben hat. Das Auftreten der Solosängerinnen auf offener
Predigttribüne im Angesicht der Gemeinde wirkt allerdings theatralisch
und reichlich reklamehaft. Die kirchliche Predigt behandelt zeitgemäße
Themata. Man liest sie in der Zeitung oft absichtlich eigenartig
formuliert angezeigt: „Gott am Totenbett eines Sperlings.“ „Nach dem
Tode -- was dann?“ „Allein mit der Erinnerung.“ „Wie ein Mensch denkt.“
„Das Leben mit Flügeln.“ „Die Augen des Arztes.“ „Die Bergvision.“
„Christus und der Arbeiter.“ „Darwin und die Religion.“ „Das Göttliche
der Selbstüberwindung“ usw. Die Prediger bevorzugen eine lebendige
Sprechweise, anschauliche, aus dem Leben geschöpfte Darstellung voller
Beispiele und praktischer Anwendung. Der amerikanische Prediger will in
der Predigt packen, fesseln, werben und zur Tat veranlassen, weniger
belehren, denn der Amerikaner bleibt Realist auch im Gottesdienst
und läßt nie das wirkliche Leben aus dem Auge. So nehmen auch die
Predigten Stellung zu allen Tagesfragen, den sozialen, politischen,
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, ja sportlichen Ereignissen.
Kein Thema ist verpönt. Gewandte Prediger genießen auch ein großes
Ansehen. Teile ihrer Predigten drucken die Tageszeitungen ab und
bringen -- echt amerikanisch -- ihr Bild dazu! Wenn auch nicht alle
Amerikaner zu einer Kirche gehören, so doch alle, die irgendwie
etwas gelten wollen und etwas sind. Es scheint mir drüben weniger
Indifferenz und Abkehr von der Religion zu sein als in Europa trotz
der starken wirtschaftlichen Interessen. Öffentliche Gebäude tragen
sehr oft Bibelworte an der Stirnseite; keine öffentliche Feier beginnt
ohne Gebet! Von der kirchlichen Regsamkeit mögen folgende Zahlen ein
Bild geben: In Neuyork z. B. sind die Baptisten allein mit 51, die
Lutheraner mit 45, die Methodisten mit 63, die Presbyterianer mit 57,
die Hochkirche mit 93 (!), die katholische mit über 100, die jüdische
Religion mit 26 Synagogen vertreten, die kleineren Denominationen
ungerechnet. Man zählt in der Union etwa 200000 Kirchgemeinden mit
etwa 150000 Kirchen und etwa 50 Millionen Sitzen. Es könnte also jeder
Amerikaner einmal jeden Sonntag -- entweder morgens oder abends --
einen Sitz in einer Kirche finden! Deutsche Großstadtgemeinden haben
oft 20-30 mal soviel Mitglieder als sie Kirchenplätze haben! Und doch
sind die amerikanischen Kirchen eher besser besucht im Durchschnitt
als die deutschen. Etwa 160000 Geistliche -- zehnmal mehr als das
zwei Drittel so große Deutschland -- unterhalten die amerikanischen
Gemeinden nebst 200 eigenen theologischen Seminaren. Da die Kirchen
keine Verbindung mit dem Staate haben, so gibt es in den Schulen
keinen Religionsunterricht. Nach welcher Glaubensart sollte er auch
erteilt werden? Nur Andachten mit Gebet und Bibellektion +ohne+
Erklärung durch den Schulleiter sind daselbst gestattet. Den Ersatz
des Religionsunterrichts bilden die überaus rührigen amerikanischen
Sonntagsschulen, die über elf Millionen Kinder durch über eine Million
freiwillige Hilfslehrkräfte unterrichten! Ist der Gottesdienst aus,
so sieht man am Ausgang, in der Vorhalle, in den Gemeinderäumen die
Gemeindeglieder noch länger verweilen, sich begrüßen und wie eine
große Familie zusammenstehen und ihre Gedanken austauschen. An dem
allgemeinen „~shake-hands~“ beteiligt sich auch der Geistliche. Wie
oft ist nach einem Gottesdienst, den ich besuchte, der Prediger
auch auf mich zugeeilt, weil er in mir den Neuling erkannte und für
+seine+ Gemeinde zu gewinnen hoffte! Das kirchliche Gemeindeleben ist
allerorts mit seiner Geselligkeit und seinen Vortragsabenden, Vereinen
und Veranstaltungen sehr rege und vielseitig entwickelt. Es kommt
vor, daß Gemeinden eigene Turnhallen und Speiseräume, Lesezimmer, ja
Schwimmbäder für ihre Jugend besitzen!

Der Sonntagnachmittag verläuft ebenso still auch an den
schönsten Sommernachmittagen wie der Vormittag. Der ganze
deutsche Vergnügungsrummel samt Ausflugsverkehr, Tanzboden und
Im-Gasthaus-sitzen ist drüben unbekannt. Auch Fußball, Tennis,
~base-ball~, die sonst so leidenschaftlich gespielt werden, ruhen am
Sonntag. Die Theater spielen nicht; es herrscht „Sonntagsheiligung“ wie
bei uns kaum an Karfreitag oder Totensonntag. Fußwanderungen unternimmt
man auch nicht, höchstens ein ~auto-car-ride~. Man besucht sich,
schaukelt im Schaukelstuhl, liest die umfängliche Sonntagszeitung oder
in den ~magazines~ und geht womöglich des Abends nach dem ~supper~ um
sieben, halb acht oder acht Uhr noch einmal zum Gottesdienst oder zu
einem kirchlichen Vortrag.

Des Nachmittags findet man aber auch die Redner, religiöse und
politische, in den großen öffentlichen Parks am Werke. So erinnere
ich mich eines Novembernachmittags in Boston. Der Common lag
kalt und herbstlich mit seinen entlaubten Bäumen da. Das stolze
Freiheitsmonument schaute über den grünen Rasen. Es bildeten sich
einige Menschengruppen in dem Parke. Auf einer Bank stand ein
Sozialist; dreißig, vierzig Arbeiter um ihn herum. Mit volkstümlich
packenden Worten suchte er seine Hörer für die bald fälligen
Staatswahlen in Massachusetts zu gewinnen. „~Higher conditions,
better wages!~“[13] war seine Parole. Hier und da warf ihm einer der
Umstehenden eine Frage dazwischen. Der Redner wußte immer witzig und
treffend zu antworten. Ich ging zur nächsten Gruppe. Sie war kleiner.
Ein Heilsarmeesoldat stand dort in der Mitte, vor Kälte waren ihm
Hände und Nase rot. Er sang aus einem zerflederten Liederbuche den
Umstehenden vor, einige Gleichgesinnte begleiteten ihn, und zwar eine
alte verschrumpelte Negerfrau, drei bleiche Männer in armseliger
Kleidung, ein hungriger, an einer ~sweetpotato~ (Süßkartoffel) kauender
Junge und eine schwarzgekleidete feinere Dame, während ringsumher
andere lachten, rauchten und schwatzten. Die frommen Sänger taten
mir leid. Nun trat ein weißhaariger Herr auf und erzählte von seiner
„Bekehrung“ und seinem erfahrenen seelischen Glück. Man lauschte.
Die Heilsarmeeleute bekräftigten seine Worte ständig mit „Amen“
und „Hallelujah“! Nach einem weiteren dünngesungenen Liede trat
ein dritter, bleicher, untersetzter Mann auf und hielt die zweite
geistliche Ansprache. Das Publikum, das sich angesammelt hatte,
wandte sich zum Teil schon wieder zum Gehen. Aber der kleine Bleiche
schrie unentwegt aus Leibeskräften: „Das Geld macht nicht selig;
die Rockefeller und Vanderbilt fahren alle zur Hölle, wenn sie sich
nicht bekehren.“ Seine Augen funkelten dabei, aber man nahm ihn nicht
ernst. Als er geendet hatte, knieten die Heilsarmeeleute -- ein
peinlicher Anblick -- vor den Umstehenden nieder und beteten laut
für das Seelenheil aller Anwesenden, der Soldat mit dem zerflederten
Liederbuch, das alte verschrumpelte Negerweib, der hungrige kauende
Junge, die feine schwarze Dame, der weißhaarige geistliche Redner
und die drei bleichen arbeitslosen Männer. Unwillig wandten sich die
letzten weg; einige junge Burschen aber warfen sogar von hinten ihre
ausgerauchten Zigarettenstummel auf die Betenden! Nur zwei Damen traten
heran und drückten den vom Gebet Aufstehenden dankbar und anerkennend
die Hand und beteiligten sich an dem Schlußgesang. Ich ging fort. So
geht es der Religion auf der Straße. Mehr Achtung und Anerkennung
verdient schon das soziale Wirken der Heilsarmee.

[Illustration: ~BOSTON~

~Washington-Street -- Old South Church~]

[Illustration: ~BOSTON~

~Regierungspalast (State house)~]

Es war schwer, am Sonntag um Mittag eine „~dairy~“ oder einen
geöffneten „~lunchroom~“ zur Erquickung zu entdecken. In den Familien
saß man jetzt am offenen Kaminfeuer beim traulichen Mittagstisch.
Und als ich gar am Nachmittag den Versuch machte, in Ermangelung von
Fußwegen auf der Landstraße einen Nachmittagsspaziergang aufs Land
hinaus zu unternehmen, überschütteten mich die Autos dermaßen mit
Straßenstaub, daß ich grau und weiß wie ein Müllerbursche mit meinen
guten dunklen Sonntagskleidern wieder heimkam! Einmal, sagte ich mir,
und nie wieder! Für was mich wohl die Insassen der Autos gehalten haben
mögen? Gewiß für einen „armen dummen Deutschen“!

Boston mit seinen mancherlei geistigen und philosophisch-religiösen
Bewegungen ist auch der Ursprung für die in der Welt so viel von
sich reden machende Christian Science (christliche Wissenschaft),
die am schnellsten von allen Sekten gewachsen ist. So war ich denn
gespannt, auch sie in ihrer Heimat und am Orte ihrer Entstehung
kennenzulernen. An einem der nächsten Sonntage besuchte ich ihren
„Tempel“. Er ist unstreitig eine der schönsten und großartigsten
Kirchengebäude in Amerika. Im Unterschied von den meisten anderen
Kirchen ist es eine mächtige, imponierende, etwas an den Berliner
Dom erinnernde Kuppelkirche im Barockstil, die an 3000-4000 Menschen
faßt. Weißer Marmor verleiht dem Innern großartige Feierlichkeit.
Dreifache balkonartige Galerien, wie wir sie in unseren Opern gewöhnt
sind, laufen an drei Seiten der Rundung um. Die vierte Seite wird von
einer gewaltigen Orgel eingenommen, deren Marmorseiten in mächtigen
Lettern an der einen die Bibelstelle von dem Geist als dem Tröster und
an der anderen ein entsprechendes Wort der Gründerin der Sekte tragen.
Christus und die Gründerin der Sekte, Mrs. Mary Baker-Eddy, stehen in
gleichem kanonischen Ansehen, so wie aus der Bibel und dem von ihr
herausgegebenen „Textbuch“ stets unmittelbar neben- und nacheinander im
Gottesdienst vorgelesen wird.

Bereits einige Zeit vor Beginn füllte sich die mächtige Halle. Im
ganzen vorherrschend „die oberen Zehntausend“. Zylinderhut und
rauschende Seidentoiletten herrschten durchaus vor. Draußen fuhr
ununterbrochen ein Auto nach dem anderen und eine Equipage nach der
anderen vor, wie vor kaum einer anderen Kirche der Vornehmen. Als
schüchterner Fußgänger ging ich zwischen den Parfümduftenden und
Glacébehandschuhten auch hinein. In geräumigen Wandelhallen war
Gelegenheit, unentgeltlich wie im Konzertsaal oder im Theater die
Garderobe abzulegen. Innen führten feingekleidete Herren mit der
wie überall obligaten weißen Nelke im Knopfloch die Besucher zu den
mit bequemen Polstern belegten Sitzreihen. (Merkwürdig, daß man
ausgerechnet in den freien Kirchen des freien Amerika nirgends sich
seinen Sitzplatz selbst wählen darf!) Ich kam so links von einem der
Mittelgänge halbwegs nach vorn zu sitzen, von wo ich alles sehr gut
übersehen und hören konnte. Während die Orgel machtvoll einsetzte,
schritten der erste und zweite Vorleser, ein Herr und eine Dame (!) die
goldgeschnittenen Bücher (Bibel und „Textbuch“) feierlich unter dem
Arm, zu ihren Predigersesseln im Angesicht der Gemeinde auf einer sehr
geräumigen erhöhten Marmorbühne unter der Orgel. Auch eine Sängerin in
großer Toilette mit prachtvollem Blumenbukett in der Hand nahm dort
Platz. Die Feier begann dann mit gemeinsamem Gesang aus dem eigenen
Liederbuch der Christian Science, zu dem auch Mrs. Eddy selbst eine
Anzahl Gesänge beigesteuert hat. Dem gemeinsamen Gesange folgte,
wie überall, gemeinsames Gebet, dem sich das gemeinsam gesprochene
Vaterunser +in szientistischer Umbildung+ anschloß. Dieselbe lautet in
deutscher Übersetzung folgendermaßen:

    „Unser Vater-Mutter Gott, +allharmonisch+
      Und allein anbetungswürdig,
    Dein Reich ist gekommen,
      Gott ist allgegenwärtig und allmächtig.
    Mach uns fähig zu erkennen -- wie im Himmel so auf Erden:
      Gott ist alles in allem!
    Gib uns auch heute deine +Gnade+,
      zu nähren die hungernden Triebe.
    Und göttliche Liebe strahlt zurück in Liebe.
    Und Liebe läßt uns nicht in Versuchung
      sondern befreit uns vom +Übel+: +Sünde, Krankheit und Tod+.
    +Denn Gott ist alle Substanz der Welt+, Verstand,
      Leben, Wahrheit und Liebe.“

Ich setze dies Gebet hierher, weil aus ihm recht deutlich die
Grundanschauungen der Christian Science erkennbar sind. Der Schwerpunkt
liegt in dem Schluß: Weil Gottes geistiges und vollkommenes Wesen
alles in allem ist, die alleserfüllende Weltsubstanz, so ist Sünde,
Krankheit und Tod nur +Schein+. Wer mit Gottes Liebe verbunden ist,
wird von allen Übeln +wirklich befreit+. So legen die Szientisten auch
in der Betrachtung des Lebens Christi weit größeren Nachdruck auf seine
+Heilungen+ als auf seine +Verkündigung+, z. B. Worte wie Matth. 10, 8:
„Machet die Kranken gesund, reiniget die Aussätzigen, wecket die Toten
auf, treibet die Teufel aus“ sind für sie geradezu ausschlaggebend.
Aber merkwürdig halten sie es nicht mit der unmittelbaren Fortsetzung:
„Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebet es auch. Ihr sollt nicht
Gold noch Silber noch Erz in euren Gürteln haben.“ Wie man hört, lassen
sich die Heiler ihre Kunst gut bezahlen, auch das „Textbuch“ ist
recht teuer! Von der Allmacht des geistigen Prinzips in der Welt und
im Menschen wird alles Heil, vor allem auch die körperliche Heilung
von allen Leiden ohne Anwendung medizinischer Mittel erwartet.
Darin ähnelt die Christian Science den in jüngster Zeit in Amerika
zahlreich erwachsenen Bewegungen der sog. „~mind-cure~“ (Gemütskur),
deren auch in Deutschland bekanntester Prophet Ralph Waldo Trine
ist. Nach der wechselweisen Vorlesung aus Bibel und „Textbuch“ erhob
sich die Sängerin in großer Toilette und sang mit mächtiger Stimme,
von den Tausenden bestaunt, in den weiten Dom hinein. Darauf kam,
wie überall, die „Predigt“, die aber nicht aus der freien Rede eines
religiösen Redners über ein selbstgewähltes Thema, sondern wiederum
nur aus einer etwa halbstündigen, auf den Fremden und Nichtgläubigen
eintönig wirkenden Vorlesung aus Bibel und „Textbuch“, Vorlesungen,
die für alle szientistischen Gemeinden der Welt autoritativ ausgewählt
sind, bestand. Sie sollen der Höhepunkt der Versenkung in das alles
Übel heilende geistige Weltprinzip sein. Die Lektionen sind nach
Themen geordnet und werden quartalweise im voraus publiziert, z. B.
1. „Nichtwirklichkeit“. 2. „Sind Sünde, Krankheit, Tod wirklich?“ 3.
„Die Lehre von der Versöhnung“. 4. „Ewige Verdammnis?“ 5. „Adam und
der gefallene Mensch“. 6. „Die Prüfung nach dem Tode“. 7. „Sterbliche
und Unsterbliche“. 8. „Seele und Leib“. 9. „Gott, die einzige Ursache
und der alleinige Schöpfer“. 10. „Ist das All atomistisch entstanden?“
usw. Alle diese Themen spiegeln eine durchaus optimistische und
idealistisch-religiöse Weltanschauung. Nach dieser „Predigt“ wurde
auch hier die Kollekte gesammelt. Schweigend wurden die offenen Teller
durch die Reihen gereicht, und ganze Bündel von Dollarscheinen sah
ich darauf niedergelegt! Dann strebten die Tellerträger mit ihnen
zur Marmorbühne, wo sie als „Opfer“ niedergesetzt wurden. Nach den
Schlußworten geriet die ganze große vornehme Menge wieder in Bewegung,
die Galerien leerten sich, die Treppen und Wandelhallen füllten sich;
aus den Sonntagsschulsälen strömten die jungen Leute. Draußen tuteten
die Automobile, und feine Equipagen fuhren mit Pferdegetrappel wieder
die Asphaltstraßen davon. Und das Sonntag für Sonntag mit erstaunlicher
Anziehungskraft!

Neben dieser Sonntagsfeier im Christian-Science-Tempel finden jeden
Mittwoch Abend sog. „~test-meetings~“ (Zeugnisversammlungen) statt, in
denen anstatt der Vorlesungen Gelegenheit zu offener Aussprache über
+erfahrene Heilungen+ gegeben wird. Schon in Neuyork hatte ich eine
solche Zeugnisversammlung besucht. Es war ein strahlend erleuchteter
prunkvoller Kirchensaal, der viele Hunderte faßte und bis auf den
letzten Platz gefüllt war, wiederum im besten Teil der Stadt gelegen
und von vornehmsten Kreisen besucht. Gesang, Gebet und Vorlesung
eröffneten auch hier den Abend. Dann folgten die „~tests~“, auf die ich
besonders gespannt war. Zuerst erstaunte mich der Freimut der Damen,
mit dem sie hier zumeist -- wie überhaupt auch sonst im amerikanischen
Leben -- das große Wort führten, ohne Zögern aufstanden und einige
Minuten fließend und überzeugend vor Hunderten von ihren Erfahrungen
sprachen, etwa zehn bis zwanzig Personen. Solche „Zeugnisse“ von
erlebten Heilungen ohne Anwendung medizinischer Mittel, nur durch
Glaube und Gebet, wie sie hier gegeben wurden, können in jeder Nummer
des Christian-Science-Journals nachgelesen werden. Viel eindrucksvoller
ist natürlich ihre +persönliche+ Wiedergabe in +öffentlicher+
Versammlung. Der Nachdruck lag, wie ich feststellen konnte, bei den
meisten auf geheilten Gemütsstörungen und nervösen Leiden, über die
schon unser alter weiser Kant geschrieben hat: „Von der Macht des
Gemüts, seiner krankhaften Gefühle Meister zu werden“[14]. Aber immer
wird auch von der Besserung und Heilung +akuter+ und +organischer
Leiden+ erzählt! Für reine Illusionen tritt gewiß niemand öffentlich
auf, mag auch noch soviel Suggestion und Selbsttäuschung manchmal
dabei die Hand im Spiele haben. In diesen persönlichen Zeugnissen
liegt jedenfalls eine ungewöhnliche Werbekraft. Freilich sind auch
Fälle erwiesen -- mir ist selbst ein solcher persönlich bekannt --,
wo das überspannte Verschmähen der berufsärztlichen Kunst den Tod
herbeigeführt oder mindestens beschleunigt hat. Da der Mensch von
genug Krankheiten und Übeln geplagt ist, die Gesundheit jedem über
alles geht und schon mancher auch umsonst viel Geld zum Doktor und
in die Apotheke getragen hat, so wirkt begreiflicherweise diese
Verheißung von geistiger Heilung wie ein unübertroffenes Evangelium.
Zweifellos sind auch Erfolge da. Besonders bemerkenswert war mir, in
wie vielen „~tests~“ betont wurde, daß die Sprecher erst durch die
Christian Science auch ein neues +inneres+ Glück, echte Lebensfreude,
ja Kraft, Daseinslust und eine neue inhaltvolle Lebensansicht gewonnen
hätten. Das sind gewiß noch die echtesten Zeugnisse früher religiös
unbefriedigter oder unangeregter Menschen. Viele suchten hier Heilung
des Körpers und fanden Frieden der Seele. Mit solchen Zeugnissen und
Erfolgen glaubt die Christian Science ihre spezielle Lehre gleichsam
experimentell bewiesen zu haben. Darum ist nach ihrer Ansicht allein
ihre religiöse Lehre „Wissenschaft“ (+science+). Krankheit, Sünde und
Tod sind Irrtum und Schein. Aber hat sie schon je vom Tode geheilt?
Ist nicht auch die hochbetagte Gründerin Mrs. Eddy schließlich
gestorben? Merkwürdigerweise hat die Sekte den Tod der Stifterin leicht
überstanden. So zählt sie heute etwa 1200 Gemeinden in Nordamerika,
England und Deutschland. Das „Textbuch“ hat seit seinem Erscheinen
im Jahre 1875 an die 200000 +Auflagen+ (!) erlebt. Die Gemeinden
sind straff organisiert und zentralisiert. Bis zu ihrem Tode hatte
die gewandte und energische Mrs. Eddy alle Zügel allein in der Hand.
Sie ist die Verfasserin des nicht allzu geistvollen „Textbuches“;
ein amerikanischer Geistlicher namens Quimby hat es entscheidend
redigiert. Es ist etwa so umfangreich wie ein Neues Testament. Seine
Ausführungen wiederholen sich endlos. Die Kapitelüberschriften (es
ist nur in englischer Ausgabe vorhanden!) lauten in Übersetzung: 1.
Wissenschaft, Theologie und Medizin; 2. Physiologie; 3. Fußstapfen
der Wahrheit; 4. Schöpfung; 5. Wissenschaft des Seins; 6. Christian
Science und der Spiritualismus; 7. Ehe; 8. Tierischer Magnetismus; 9.
Beantwortung einiger Einwürfe; 10. Gebet; 11. Versöhnung und Abendmahl;
12. Christian-Science-Praxis; 13. Das Lehren der Christian Science;
14. Zusammenfassung. Anhangsweise folgt noch ein „Schlüssel zur hl.
Schrift“, d. h. bezeichnenderweise nur zu dem mystisch-mythologisch
erklärten +ersten+ und +letzten+ Buch der Bibel!

So ist der Amerikaner zwar äußerlich kirchlich in eine Unzahl von
Kirchengemeinschaften und Sekten geschieden, aber praktisch in den
Lebenszielen unendlich viel einheitlicher. Mögen sie Baptisten,
Methodisten, Hochkirchliche, Heilsarmee, Quäker oder Presbyterianer
heißen, sie wollen alle +dasselbe sittlich-geistige Ideal+ in
das amerikanische Volk pflanzen. Sie predigen weder Dogmen noch
ethische Prinzipien, sondern gründeten lieber Liga auf Liga zur
Bekämpfung +sozialen+ Elends oder der Trunksucht, zur Förderung der
Sonntagsheiligung, der Ausbildung der Masse, der Ausbreitung der
Sonntagsschulen, der Einbürgerung der Fremdlinge aus dem fernsten
Osten ins amerikanische Volk, der Ausbreitung der Mission nach Afrika,
China und Japan u. ä. Und zwar genügen dem Amerikaner dabei nicht
Vereine mit wohlausgedachten Statuten und einem Häuflein Mitglieder,
sondern jedesmal muß es ein „~movement~“ werden, eine Bewegung, die
riesenschnell wächst, gleich den Wolkenkratzern ihr Haupt gigantisch
in die Höhe reckt und binnen kurzem Millionen Dollars an freiwilligen
Spenden flüssig macht. Die Tätigkeit der Gemeinden und Geistlichen
ist daher vielfach maßlos. Jeder Tag ist erfüllt mit Geselligkeiten,
Vereinigungen, Zusammenkünften und Klubs aller möglichen Altersgruppen.
Man ist immer tätig und immer beschäftigt, um des Sonntags auch desto
strenger zu feiern und zu ruhen. Über die Möglichkeit der Durchführung
solcher Bestrebungen wird auch nicht lange gegrübelt, sondern frisch
+probiert+. Glückt es, so ist die Sache „gut“ und in ihrer Wahrheit
„erwiesen“. Das und nichts anderes ist zugleich der Kern der modernen,
so echt amerikanischen Philosophie des „Pragmatismus“. Freilich ist die
Kehrseite dieser Art eine Verschwendung von Kräften. Jeder kann eine
Kirche bauen und eine Gemeinde gründen und einen Pastor berufen. Es
kann vorkommen, daß ein Städtchen von 1700 Einwohnern sage und schreibe
neun(!) verschiedene Gemeinden beherbergt und ernährt, daß an allen
vier Straßenecken je eine Kirche einer anderen Denomination steht,
so daß schon 50-100 Familien eine „Gemeinde“ bilden und zu ihrer
Erhaltung unendliche Opfer bringen müssen, aber auch bringen. Dafür
sind sie aber auch Sonntags womöglich zweimal in „+ihrer+“ Kirche. Die
Konkurrenz blüht, stachelt, treibt vorwärts und zerreibt zugleich.
Der Staat ist nicht berechtigt, irgend jemand nach seinem religiösen
Bekenntnis zu fragen. Die öffentliche Statistik ist auf die Angaben der
Kirchen selber angewiesen, obwohl auch kein Kongreß oder Senat ohne
Gebet eröffnet wird. Ein Spötter könnte kein wichtiges öffentliches Amt
bekleiden, so wenig wie in England.

So rastlos der Amerikaner arbeitet und Geschäfte treibt, so ernst
nimmt er es mit seiner Religion. Die Opferwilligkeit ist erstaunlich
groß, die Unzahl der Kirchen, Gemeinden und Pastoren kostet viel
Geld, wenn die Kirchen auch meist kleiner und schlichter gebaut sind
als die unseren, und der Missionseifer auch unter den Gebildeten ist
gleich groß wie auch in England. Nichts wäre unrechter, als einfach
von amerikanisch-religiöser „Heuchelei“ zu sprechen, jedenfalls ganz
unrecht von +bewußter+ Heuchelei. Die Moral des Geschäfts und der
Frömmigkeit gehen in der anglo-amerikanischen Welt nebeneinander
her und ineinander über. Der Anglo-Amerikaner empfindet nicht die
Schwierigkeiten, die für uns hier verborgen liegen. Er theoretisiert
nicht, wie wir es tun. Er ist praktischer Geschäftsmann und ebenso
praktisch tätig in seiner Religion.

Hier können wir uns gegenseitig um unserer verschiedenen Wesensart
willen schwer verstehen. Ebenso wie uns die allzu rastlose
Betriebsamkeit und Überemsigkeit auf kirchlichem Gebiete schließlich
auf die Nerven fällt und uns zur Stille und Keuschheit wahrer
Frömmigkeit schlecht zu passen scheint, ist das Drängen auf
praktisches kirchlich-religiöses Handeln doch auch vorbildlich; und
doch mögen wir es nicht etwa für den Preis tiefgründigen deutschen
Weltanschauungsdenkens erkaufen. Daß die Kirche auf sozialem Gebiet oft
viel lauter als bisher bei uns in der Öffentlichkeit ihre Stimme hätte
erheben sollen, könnten wir von drüben lernen.

So ist es nicht ganz leicht, ein Wort über das innerste Wesen
amerikanischer und deutscher Frömmigkeit zu sagen. Der Amerikaner
ist froher, heller, tatenreicher. Ist er weniger ernst? Der
Erweckungsversammlungen und Gebetsallianzen sind viele, Missionsstudium
und Bibelkurse blühen. Und doch will es manchmal scheinen, als reiche
amerikanisch-englische Frömmigkeit nicht an den tiefer gehaltenen
Ernst derjenigen eines Martin Luther heran. Das Wesen der Frömmigkeit
ist schwer zu erlauschen. Die amerikanischen kirchlichen Lieder sind
frisch und heiter auch in der Melodie. Aber die ernstesten Gedanken
werden dadurch leicht auch zu Spiel und religiöser Unterhaltung. Wie
ich es einmal fand, daß man die Choräle mit Händeklatschen begleitete!
Das Gemisch von religiöser Erbauung und Geselligkeit im Kirchenleben
hat seine Gefahren. Religion gedeiht doch besser in alten Domen und
ehrwürdigen gotischen Kirchen als bei Limonade, Schwimmbassins,
Turnhallen, Empfangsräumen, Salons u. dgl. Die stets freien Gebete
wirken leicht unkeusch; der Bekehrungseifer stößt ab, die Predigten
sind oft zu sehr effekthaschend, wenn jedes größere Sportfest u. a.
auch sofort seine Resonanz in der Predigt findet. -- -- --

Ende November stand mir in Boston ein weiteres wichtiges geistiges
Erlebnis bevor. Der bekannte und große +Neger+führer Booker T.
Washington, der noch lebte, sollte in Boston sprechen. Den mußte ich
natürlich sehen und hören. Mit den gedrückten und ausgestoßenen Negern
hatte ich gleich bei meiner Ankunft in Hoboken Sympathie empfunden.
Diese geheime Freundschaft wollte ich ihnen auch bewahren.

Um acht Uhr abends sollte die Versammlung -- bezeichnend! -- in New
Old South +Church+ beginnen. Als ich um sieben Uhr auf dem Copley
Square ankam, war die weite Kirche schon gefüllt. Ganz hinten erwischte
ich gerade noch ein Stehplätzchen. Als die Versammlung begann,
geleiteten der Rektor der Kirche D. Gordon und Präsident Lowell von der
Harvard-Universität den großen Negerführer auf das Podium. Präsident
Lowell -- eine hohe Auszeichnung für den Negerredner -- führte Mr. B.
T. Washington, einen breitschulterigen, etwas ergrauten gelblichdunkeln
älteren Neger mit einem breiten untersetzten Kopf, der üblichen
unschönen Nase und den wulstigen Lippen, mit den Worten ein: „Der große
Erzieher, Rasseführer und Bürger!“ Echt amerikanisch! Einst war der
bedeutende Mann im Winkel geboren als Sohn eines unbekannten weißen
Mannes und einer verführten Negersklavin, Sklave unter Sklaven, nun war
er Führer einer ganzen Rasse, Volksbildner, Redner und Schriftsteller,
um den das ganze amerikanische Volk sich drängte, wenn er sprach. Ich
konnte gerade zwischen zwei riesigen Damenhüten, deren Träger sich mit
mir Schulter an Schulter hineingeschoben hatten, noch auf Booker T.
Washington hindurchsehen, wenn ich mich auf die Zehen stellte. Rings um
mich Kopf an Kopf, meist Weiße, aber auch Schwarze, die nicht in allen
Kirchen bei den Weißen gelitten sind. Hinter mir stand noch weiter Mann
an Mann bis auf die Straße hinaus.

Atemlose Stille herrschte, als B. T. Washington mit etwas heiserer,
aber starker Stimme begann, mit seinem trockenen Humor ein Redner von
Gottes Gnaden. Eine volle Stunde verbreitete er sich über die Erfolge
des von ihm geleiteten Negerbildungsinstitutes in Tuskegee, seiner
eigensten Schöpfung, die 1500 Studenten unter 167 „Instruktoren“
(Lehrern) zählt. Während er, der Neger, zu dem weißen gebildeten
Publikum der besterzogenen Stadt der Union redete, sprach seine ganze
Lebensgeschichte unbewußt mit, und die Zukunft einer ganzen Rasse
schien wie eine Siegeswolke um ihn zu lagern.


Der Sklave.

    Sie setzten den Sklaven in Freiheit,
    Streiften seine Ketten ab ...
    Da war er noch ebenso sklavisch wie vorher.

    Er war noch gekettet an Kriecherei,
    Er war noch gefesselt an Unwissenheit und Faulheit,
    Er war noch gebunden an Furcht und Aberglaube,
    Durch Dummheit, Mißtrauen und Wildheit ...
    Seine Sklaverei lag nicht in den Ketten,
    War in ihm selbst ...

    Man kann nur Freie in Freiheit setzen ...
    Und das ist nicht nötig:
    Freie Menschen machen sich selber frei.

    James Oppenheim.

  Aus „Neue Welt“. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik.
  Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag, Berlin 1921, S. 50.

Einige Tage zuvor hatte ich B. T. Washingtons „Autobiographie“ und sein
Buch über die „Zukunft des amerikanischen Negers“ gelesen und war voll
Bewunderung und Enthusiasmus. Jetzt, da ich ihn selbst sah, tauchten
alle die anschaulichen Bilder wieder empor, die er gezeichnet hat.
Welches Elend hatte ihn doch noch in seiner Jugend in der Sklavenhütte
umgeben, welche harte Arbeit nach der Sklavenfreiheitsproklamation in
der Salzmine und der Kohlenzeche. Und wie hatte er sich ergreifend
danach gesehnt, eine Schule besuchen zu dürfen! Welch ein Reichtum
dünkte ihm die erste Mütze, die ihm seine Mutter aus einigen Fetzen
zusammennähte, oder das erste Büchergestell, das er sich aus einer
Kiste zimmerte! Und als er als kleiner Junge ein neues Hemd bekam, trug
es sein älterer Bruder für ihn erst eine Zeitlang, denn es war aus so
grobem Stoff, daß es seine zarte Haut wund gerieben hätte. Und als
er sich dann nach Jahren mit 50 Cents in der Tasche aufmachte, nach
Hampton zu gehen und die von General Armstrong geleitete Negerschule
zu besuchen, und auf der Straße schlafen mußte, weil das Hotel ihn als
Schwarzen nicht aufnahm, Schiffe ausladen half, um sich ein Frühstück
zu verdienen, und sein Schulgeld im Institut damit verdiente, daß
er Kohlen trug und die Zimmer fegte, in den Ferien seinen Mantel
verkaufte, um sich das Reisegeld nach Hause zu verschaffen und seine
Mutter wiederzusehen, da begann langsam die Zeit seines Emporsteigens
zu dämmern. General Armstrong schätzte ihn bald sehr hoch und empfahl
ihn nach seinen Prüfungen als Lehrer an eine Negerschule und dann
später das Negerinstitut in Tuskegee selbst einzurichten, eine Art
technische Hochschule für Farbige.

Inzwischen hatte Booker T. Washington seine Ideen zu entfalten
begonnen. Nur ein Wunsch beseelte ihn, seiner Rasse aufzuhelfen. Die
Tage der Sklaverei wären vergangen, die Freiheit sei da. Die Freiheit
aber stelle ungeahnte Aufgaben. Viele Neger betrachteten die Freiheit
nur als Erlaubnis zu tun, was sie wollten. Andere suchten es sofort den
Weißen in Wissenschaft und Technik gleichzutun, was meist mißlänge.
Die meisten seien nach dem Norden ausgewandert und suchten sich eine
einträgliche Stellung als Kellner, Portier, Chauffeur, Straßenkehrer
oder niederer Arbeiter und Handwerker zu verschaffen. Was sollte
geschehen? Booker T. Washington faßte den klugen und volksphilosophisch
richtigen Gedanken: Unsere Rasse ist jung und unentwickelt, mittellos
und wenig geachtet trotz ihrer Freiheit. Sie muß sich ihre Achtung
erst verdienen, sie muß sich ihre materielle Unabhängigkeit dadurch
erkämpfen, daß sie sich Eigentum und Handfertigkeit erwirbt, die den
Weißen in ihre relative Abhängigkeit bringt, m. a. W. sie muß anfangen,
den Weißen im Handwerk und in den technischen Berufen zu überflügeln.
Der Neger solle den Weißen nicht nur in der Krawatte und dem Schnitt
des Anzuges, den gelben Schuhen und dem steifen Kragen nachahmen,
sondern in seiner Tüchtigkeit. Washingtons Absehen ging deshalb allein
darauf, den Neger technisch zu trainieren und ihn in den Stand zu
setzen, sich vor allem eine ökonomisch und politisch geachtete Stellung
zu erwerben. Nie ist Washington -- ein besonders schöner Zug -- ein
Wort der Anklage gegen den Weißen entflohen, der lange genug den
Schwarzen als Sklaven auf seinen Pflanzungen in den elendesten, aller
Kultur und Bildung baren Verhältnissen gelassen hat. Er wollte allein
seine Rasse aufrufen, ihre Zukunft in ihre Hand zu nehmen, um sich
Achtung und Geltung selbst in der Welt zu erobern.

Augenblicklich liegen die Verhältnisse in dieser Hinsicht drüben noch
recht kompliziert; anders im Süden als im Norden. Der Norden, der Neger
nur in der Minderzahl enthält, hat die Sklavenbefreiung veranlaßt, er
liebt die Freiheit der Rasse, aber trotzdem gelingt es dem einzelnen
Neger selten, eine sozial wirklich geachtete Stellung einzunehmen.
Der Süden, der an Neger+über+völkerung leidet, hat eine völlig
soziale Trennung der Weißen und Schwarzen durchgeführt bzw. seit der
Negeremanzipation beibehalten. Der Neger hat dort seine besonderen
Straßenbahnwagen und besondere Eisenbahnabteils. Kein „weißes“ Hotel
nimmt einen Farbigen auf, sogar die Parks sind unter die Rassen
geteilt! Die untergeordneten beruflichen Stellungen, die der Neger
durchweg innehat, fördern das Gefühl und die Stimmung der Weißen,
eine Herrenrasse zu sein, und der Neger muß sich auf Grund seiner
ökonomischen und geistigen Abhängigkeit durchaus als Mensch zweiter
Klasse fühlen. Um sein Stimmrecht wird er im Süden meist betrogen;
politischer Einfluß ist für ihn ausgeschlossen. So sieht die Zukunft
trübe aus für beide Teile. Der Neger bleibt im amerikanischen Volke
ein Fremdkörper. Niemand sieht eine klare, glatte Lösung. Rückkehr
der Neger nach Afrika ist unmöglich; Absorption in die weiße Rasse
ist absolut nicht erwünscht und immer ein Unglück. So leben die 14
Millionen Neger wie ein unverdaulicher Fremdstoff unter den achtzig
Millionen Weißen in den Vereinigten Staaten.

Die Schuld der Sklaverei rächt sich heute. Keine geschichtliche Tat
geschieht ohne Sold. Und doch: Sollte die weiße Rasse nicht berufen
sein, Lehrmeister ihrer schwarzen Schwester, die sie solange mißhandelt
hat, zu sein? Keine günstigere Bedingung für die Neger, als in ein
vollkommen kultiviertes Land gesetzt zu sein, wo der tägliche Anblick
der Technik und aller entwickelten Lebensverhältnisse, einschließlich
der sittlichen und sozialen, ihr ständig das höhere Kulturziel
vor Augen hält, das sie erreichen soll. Sollte es wirklich eine
Menschenrasse auf Erden geben, die grundsätzlich für alle Zeit auf
einem niedrigen Niveau zu leben verdammt wäre? Und wenn man noch so
oft darauf hinzuweisen pflegt, daß die schwarze Rasse bis jetzt noch
nicht +einen+ bedeutenden Menschen, noch nicht +einen+ Shakespeare oder
Goethe hervorgebracht hat, so ist das dieselbe Art der Argumentation,
als wenn etwa Tacitus die Germanen ein Volk zweiten Grades hätte
schelten wollen, weil sie damals noch keinen Phidias oder Sophokles
zu seiner Zeit hervorgebracht hätten! Die Negerrasse hat noch keine
„Geschichte“ gehabt. Sie fängt eben an, die ersten Schritte in
der Kultur zu tun, warten wir, und wenn es auch Jahrhunderte oder
Jahrtausende dauern sollte! Der eine Booker T. Washington ist ein
Gegenzeuge, und seine Tuskegeezöglinge und die auf den fünf anderen
höheren Negerschulen samt den wenigen Negerstudenten sind schon ein
Gegenbeweis. Gleich Josephs Brüdern verkauften die Weißen den Neger in
die Sklaverei. Aber eben sein Gefängnis ist vielleicht dazu bestimmt,
der Ausgangspunkt einer neuen glänzenderen Zukunft für ihn zu werden.
Mir aber war es eine stille Freude, einen solchen Mann gesehen und
gehört zu haben, der große Linien der Geschichte prophetisch schaut,
mit kühnem Optimismus in die Zukunft seiner Rasse blickt und sein Leben
dafür eingesetzt hat, daran mitzuhelfen, sie zu ermöglichen.

Als Probe von B. T. Washingtons praktischen Gedanken und seiner
einfachen und anschaulichen Ausdrucksweise setze ich ein Stück aus
seinem trefflichen Buche: „Charakterbildung, Sonntagsansprachen an
die Zöglinge der Normal- und Gewerbeschule von Tuskegee, Berlin 1910“
hierher, und zwar das Kapitel: „Die Methode im häuslichen Leben“ (S.
65-69):


Der Wert der Methoden im häuslichen Leben.

  „Die meisten von euch werden früher oder später von Tuskegee
  ausgehen, um ihren Einfluß auf das häusliche Leben unseres Volkes
  geltend zu machen. Dieser Einfluß wird sich erstrecken auf euer
  eigenes +Heim+, auf das Hauswesen eurer Mütter und Väter oder auf
  dasjenige eurer Verwandten. Wo ihr auch hingeht, in jedem Hause
  werdet ihr einen guten oder einen schlechten Einfluß ausüben. Wie
  man es anfängt, um die größte Summe von Glück in diese Heimstätten
  hineinzutragen, das ist eine Frage, die einen jeden unter euch
  angeht. Ich sage euch das, damit ihr euch klar macht, daß jeder
  einzelne von euch berufen ist, auf andere einzuwirken. Versäumt ihr
  es, diesen Einfluß zum besten anderer auszuüben, so habt ihr den
  Zweck verfehlt, den diese Anstalt verfolgt.

  Vor allen Dingen müßt ihr euren Einfluß auf den Gebieten geltend
  machen, welche den besten +Erfolg+ versprechen; unter diesen ist
  es wichtig, unserem Volk ein möglichst hohes +Ideal des häuslichen
  Lebens+ vor Augen zu stellen. Sehr oft mache ich die Beobachtung --
  und zwar um so mehr, je länger ich unter unserem Volk umherreise --
  daß viele Personen sich vorstellen, sie könnten kein behagliches
  Heim haben, ohne sehr reich zu sein. Nun sind einige der fröhlichsten
  und behaglichsten Häuser, die ich kenne, solche von Leuten, die
  durchaus nicht wohlhabend sind, ja, die man geradezu arm nennen
  könnte. Aber es waltet darin ein Geist der Ordnung und Behaglichkeit,
  der macht, daß man sich darin so wohl fühlt, als ob man sich in dem
  Hause sehr reicher Leute befände.

  Ich will mich deutlicher erklären. In erster Linie muß in allen
  Dingen, die das Hauswesen angehen, +Pünktlichkeit+ herrschen.
  Beispielsweise +bei den Mahlzeiten+. Es ist unmöglich einen Hausstand
  ordentlich zu führen, wenn nicht eine bestimmte Zeit für jede
  Mahlzeit angesetzt ist und auch streng eingehalten wird. Es gibt
  Häuser, in denen einmal um sechs, einmal um acht, einmal vielleicht
  gar um neun Uhr gefrühstückt wird; das Mittagsbrot findet bald um
  zwölf, bald um eins oder zwei statt und das Abendbrot um fünf, sechs
  oder sieben; selbst dann fehlt oft die Hälfte der Familie, wenn das
  Essen angerichtet ist. Auf diese Weise vergeudet man Zeit und Kraft
  und macht sich überflüssige Mühe. Dagegen spart man Zeit und sehr
  viel Arbeit, wenn man ein für allemal eine bestimmte Stunde für die
  Mahlzeiten festsetzt und alle Familienmitglieder dazu angehalten
  werden, um diese Zeit zu erscheinen. Durch dieses Mittel wird der
  Familie viel Verdruß erspart und man gewinnt kostbare Zeit, um zu
  lesen oder sonst etwas Nützliches vorzunehmen.

  Was nun ferner die Methode anbelangt; gleichviel wie ärmlich ein
  Hausstand ist, gleichviel wie wenig Geld im Hause ist, es ist immer
  möglich, die häuslichen Verrichtungen methodisch zu ordnen. Wie viele
  Hausfrauen gibt es wohl, die in dunkelster Nacht in ihre Wohnung
  kommen und ohne Mühe ein +Streichholz finden können+? Daran erkennt
  man die gute Hausfrau. Kann sie es nicht, so geht Zeit verloren.
  Man spart Zeit und auch Mühe, wenn man die Streichhölzer an einem
  bestimmten Ort aufbewahrt und alle Familienmitglieder daran gewöhnt,
  sie stets wieder dort hinzulegen. Oft findet man die Streichhölzer
  auf dem Tisch oder auf einem Wandbrett in der Ecke. In vielen Häusern
  gehen täglich fünf bis zehn Minuten verloren, nur weil die Hausfrau
  diesen einen kleinen Punkt vernachlässigt.

  Das gleiche gilt vom +Wischtuch+. Das Wischtuch soll einen bestimmten
  Platz haben und täglich wieder dorthin gelegt werden. Wer keinen
  bestimmten Platz hat, um seine Sachen aufzubewahren, der muß alle
  fünf bis zehn Minuten, sobald er einen Gegenstand braucht, bald in,
  bald außer dem Hause auf die Suche gehen. Beständig muß er fragen:
  ‚Hans‘, oder ‚Liese, wo ist dies oder jenes? Wo hast du es zuletzt
  gehabt?‘ usw.

  Ebenso verhält es sich mit dem +Besen+. Vor allen Dingen darf
  in einem methodisch geordneten Hause der Besen nicht verkehrt
  aufgestellt werden. Hoffentlich wißt ihr alle, welches das richtige
  Ende eines Besens ist. In einem solchen Hause steht der Besen
  niemals verkehrt und immer an seinem Platz. Wenn ein Gegenstand
  verlegt ist und man danach suchen muß, so verbraucht man nicht bloß
  Zeit, sondern auch Kraft, die nützlicher angewendet werden könnte.
  Man muß einen +bestimmten+ Platz haben für seinen Mantel, für seinen
  Hut, +kurz, für jedes Ding im Hause+.

  Diejenigen Menschen, die für jedes Ding einen Platz haben, das sind
  die Menschen, denen es nie an Zeit gebricht, zu lesen oder auch sich
  zu erholen. Ihr wundert euch manchmal, daß die Leute in Neu-England
  so viel Zeit übrig haben, um Bücher und Zeitungen zu lesen und doch
  genug verdienen, um unserer Anstalt so viel Geld zuzuwenden, wie dies
  geschieht. Diese Leute haben hinreichend Muße, sich geistig zu bilden
  und mit allem, was in der Welt vorgeht, Fühlung zu behalten, weil in
  ihren Häusern +alles so methodisch geordnet+ ist, daß sie die Zeit
  erübrigen, die wir damit verlieren, uns mit Dingen abzugeben, die wir
  eigentlich ganz genau wissen sollten.

  Ich bin selten in eine von Schwarzen gehaltene Pension gekommen,
  wo die +Lampe+ an ihrem Platze stand. Wenn man in ein solches Haus
  kommt, muß nur zu häufig erst nach der Lampe gesucht werden; ist sie
  schließlich gefunden, so ist sie leer; man hat vergessen, morgens
  Petroleum aufzufüllen; dann fehlt es an einem Docht oder es muß ein
  Zylinder geholt werden. Hat man endlich alles beisammen, so sind die
  Streichhölzer verlegt!

  Ich möchte wissen, wieviel Mädchen hier anwesend sind, die es
  verstehen, ein Zimmer so herzurichten, daß ein Mensch darin
  übernachten kann -- das heißt, es mit der richtigen Anzahl von
  Handtüchern, mit Seife und Streichhölzern zu versehen und alles,
  was ein Mensch zu seiner Bequemlichkeit braucht, zu beschaffen und
  an seinen richtigen Platz zu stellen. Einige unter euch möchte ich
  lieber nicht auf die Probe stellen. Diese Dinge müßt ihr lernen,
  ehe ihr die Anstalt verlaßt, damit ihr anderen und euch selbst zum
  Nutzen gereicht. Könnt ihr dies nicht, so bereitet ihr uns eine
  Enttäuschung.“

Weit interessanter und packender ist B. T. Washingtons
Lebensbeschreibung, von ihm selbst verfaßt: „Vom Sklaven empor“
(~Up from slavery~), eine der erschütterndsten und lebenswahrsten
Biographien, die existieren. -- -- --

Hatte ich in dem berühmten Neger einen lebendigen Roman vor mir
gesehen, so bin ich ganz unvermutet und ungewollt in Boston eines Tages
zur Abwechslung Mittelpunkt eines Romans geworden.

[Illustration: ~BOSTON~

~Harvard-Brücke über den Charles-River~]

[Illustration: ~BOSTON~

~Christian Science-Tempel~

(~Im Vordergrund die ältere kleinere Kirche~)]

Ich wurde nämlich eines Tages wie ein Medium zum Wiedervereiniger
zweier sich seit Jahrzehnten suchender Brüder nicht allzu lange vor
ihrem Lebensabend! Ich erzähle dies persönliche Erlebnis an dieser
Stelle, weil es anschaulich zeigen kann, was alles in Amerika möglich
ist. Eines Tages besucht mich in Cambridge, der Vorstadt Bostons, einer
meiner Vettern aus Neuyork. Sein Vater forsche schon jahrelang nach
einem Halbbruder, der einst mit 14 Jahren aus Bremen fortgelaufen,
vermutlich in die weite Welt gewandert sei und von dem man niemals
wieder etwas gehört habe. Er vermute aber stark, daß derselbe, wenn
er überhaupt noch lebe, sich wahrscheinlich in der Union aufhalte.
Nun habe er aber schon so manches amerikanische Adreßbuch nach seinem
Namen durchgesehen, aber nicht gefunden. Aber hier -- so berichtete
der Vetter aus Neuyork -- in Boston habe er heute im Adreßbuch ihren
nicht häufigen Familiennamen -- den Namen eines Arztes in einer der
feinsten Villenstraßen -- entdeckt. Da der Name in der Union sehr
selten sei, bestehe stark die Möglichkeit, daß er am Ende wirklich
der gesuchte Onkel sei! Nun getraue er sich aber nicht recht, den
völlig fremden Herrn allein aufzusuchen. Wenn zwei gingen, so sei das
schon besser. Die ganze Sache kam mir recht mystisch, abenteuerlich
und nach europäischen Begriffen zwecklos vor. Und nun sollte ich,
der ich selbst erst Ankömmling war, einem reichen Bostoner Arzt ins
Haus fallen und ihn kurzerhand fragen, ob er etwa mein Onkel sei und
vor etwa einem halben Jahrhundert aus Bremen fortgelaufen sei?! Nach
europäischen Begriffen stellte ich mir die Wirkung solchen Fragens
vor: Er würde uns wohl sofort aus dem Hause weisen. Dafür war es ja
gut, daß wir dann wenigstens zwei waren. Trotz aller Bedenken ließ ich
mich bewegen mitzugehen, denn ein bißchen Abenteuer zu erleben lockte
mich. War nicht meine ganze Amerikareise auch ein bißchen Abenteuer?
Und wo es etwas ganz Neues zu erleben gab, da war ich gern dabei. Also
gingen bzw. fuhren wir mit der Elektrischen nach Boston. Wer aber
sollte reden? Das war noch nicht entschieden. Natürlich mein Vetter,
denn er sprach als langjähriger Amerikaner fließend englisch. Ich war
also Zeus, und er machte den Merkur. Höchst gespannt war ich, ob wir
überhaupt vorgelassen wurden! Was sollten wir denn eigentlich an der
Tür sagen, wenn geöffnet wurde, weshalb wir kämen? Nun, bei einem Arzt
mußte man ja vorgelassen werden. Aber nun war es Sonntag nachmittag,
da kamen doch wohl in der Regel keine Patienten. Immerhin konnten wir
zuerst so tun, als ob wir es wären ...

Wir standen vor dem Haus, einer stattlichen zweistöckigen Villa im
vornehmen Viertel Bostons, und zogen die Klingel. Richtig stand der
Name da: ~Dr. med. N.~, gleich dem Namen meines Neuyorker Onkels.
Der Name sah sehr heimatlich und familiär aus. Was für ein Geheimnis
mochte sich hinter ihm verbergen? Aber vor dem Familiennamen stand
noch ein Zwischenname, den es so leicht wohl in der ganzen Union nicht
wieder gab. Er hatte französischen Klang. Diesen Namen gab es gewiß in
unserer ganzen Verwandtschaft nirgends. So sank uns wieder der Mut und
die Hoffnung, eine freudige Entdeckung zu machen. Indessen hatte auf
unser Klingelzeichen ein Neger geöffnet. Wir stockten. Was sollten wir
sagen? Wir standen da wie zwei dumme Jungen, die einen dummen Streich
vorhatten. Wir sagten gar nichts. Und das war noch das Beste. So führte
uns der Neger die Treppe in der Vorhalle hinauf und einfach gleich
in das Wartezimmer und bat uns, Platz zu nehmen. Was wir taten. Das
Wartezimmer bewährte seinen Namen auch an uns. Es duftete nach Medizin,
und wir warteten geduldig etwa zwanzig Minuten und hatten alle Bilder
an den Wänden schon mehrmals besichtigt und reichlich in ausliegenden
Magazines geblättert. Man hörte, wie mit Teegeschirr geklappert
wurde. Dann ging die Tür auf; es kam der Doktor und Hausherr, ein
kleiner, untersetzter, schwarzer Herr mit goldenem Kneifer, der uns
gewohnheitsmäßig, ohne uns genau anzusehen, in sein etwas dunkles
Studierzimmer nötigte. Wir folgten und sahen uns beide an, und große
Enttäuschung und innere Heiterkeit malte sich auf unseren Gesichtern,
als wollten wir uns gegenseitig zu verstehen geben: Das soll unser
Onkel sein? Ausgeschlossen! Erstens keine Spur von Ähnlichkeit. Und
zweitens war der Mann vor uns wohl ein Mann Ende der Fünfzig, mein
Onkel in Neuyork aber bereits hoch in den Sechzig.

„~What can I do for you?~“ fragte der Hausherr uns höflich forschend,
wer wohl der Patient wäre, als wir immer noch nichts sagten und
doch beide offenbar recht gesund aussahen. Ja, was machten und
sagten wir nun? Mein Vetter faßte sich ein Herz und bat zunächst um
Entschuldigung, er sein kein Patient, er komme in einer persönlichen
Angelegenheit. Der kleine Doktor machte ein Gesicht, als wollte er
sagen: „Ich verstehe schon. Ihr wollt mich anpumpen, aber ich gebe
nichts!“ Aber mein Vetter fuhr, ohne sich beirren zu lassen, fort:
„Er selbst heiße auch wie der Herr Doktor, und ob der Herr Doktor
vielleicht einen Bruder gleichen Namens habe?“ „Nein!“ kam es sofort
prompt und bestimmt und recht erstaunt ob der persönlichen Anfrage
zurück. Da erhoben wir uns auch sofort und verabschiedeten uns
höflichst unter wiederholten Entschuldigungen, nicht ohne daß ich auch
meinen Namen noch und Wohnsitz nannte, mein Vetter desgleichen. „Ach,
ich dachte zuerst,“ sagte der Doktor, „die Herren wären vielleicht
Matrosen in Zivil, von denen ich manchmal Sonntag nachmittags
aufgesucht werde!“ Er verbeugte sich und schloß hinter uns die Tür. Der
Neger geleitete uns dienstfertig hinaus. „Wir -- Matrosen?“ Es war ja
zum Lachen.

Es war also nichts! Wir waren wieder draußen. Ich fuhr zuerst gegen
meinen Vetter los: „Auch keine Spur von Ähnlichkeit!“ Und mein Vetter:
„Und er hat ja gar keinen Bruder!“ Also war die Sache klar. Mein Vetter
überlegte, ob er noch heute wieder abreisen sollte, um seinem Vater
in Neuyork das erneute Mißgeschick mitzuteilen, um eine Enttäuschung
reicher. Armer Onkel! Aber wir beschlossen, den Abend doch noch
gemeinsam zu verbringen, und erst anderntags um Mittag wollte mein
Vetter nach Neuyork zurückfahren.

Als ich an diesem Abend schließlich in mein Logis zurückkomme, heißt
es, ein Fräulein aus Boston sei dagewesen von einem Herrn ~Dr.
med. N.~ und habe nach mir gefragt, sei aber, da ich nicht da war,
unverrichteter Sache wieder gegangen! Nach einer halben Stunde klingelt
auch schon das Telephon: Herr K. ~N.~ aus Boston! Er läßt die beiden
Herren bitten, wenn möglich, morgen Vormittag doch noch einmal bei
ihm vorzusprechen! -- Donnerwetter! Also doch etwa ein Onkel? Aber
es war ja unmöglich! Er hatte ja keinen Bruder! Und es war doch auch
keine Spur von Ähnlichkeit zu sehen .... Oder wollte er uns nur noch
einmal sprechen, da unsre Unterhaltung etwas reichlich kurz und schnell
gewesen war?

Ich konnte kaum den nächsten Vormittag erwarten. Dann fuhren wir wieder
hin, klingelten und wurden diesmal gleich in den Familiensalon geführt.
Das war sonderbar! Herr ~Dr. N.~ erschien, trat sofort auf mich zu
und sagte wörtlich: Mein lieber Herr B., Ihr Vater hieß mit Vornamen
soundso, ist im Jahre 18.. geboren, lebte in Bremen und hatte zwei
Schwestern, die hießen B. und A... Ich war sprachlos vor Staunen, als
hätte mich ein Donnerschlag gerührt. „Woher wissen Sie das?“ rief ich,
„sind Sie ein Wahrsager und Hellseher oder haben Sie telepathische
Fähigkeiten?“ „Nichts von alledem,“ gab der Doktor zurück, „aber als
Sie gestern aus meinem Hause gingen, sah ich Ihnen hinter den Gardinen
nach. Sie drehten sich noch einmal um. Ich sah jetzt erst deutlich
Ihr Gesicht. Ihr Gesicht, Ihr Gang, Ihre Art zusammen mit Ihrem Namen
stellten mir auf einmal wie eine Vision deutlich Ihren Vater vor bald
fünfzig Jahren in Bremen wieder vor Augen, der damals wohl etwa in
Ihrem Alter war und Ihnen auf ein Haar glich, und damit tauchten auf
einmal Welten der Erinnerung in mir auf, die längst in mir versunken
waren. Ich werde Ihnen das alles noch erklären. Erst lassen Sie mich
aber meine Frau hereinrufen.“ Er ging ins Nebenzimmer. Wir wußten uns
vor Staunen gar nicht zu fassen. Also, er war unser Onkel!! Dann trat
Frau ~Dr. N.~ herein, der wir uns vorstellten und die mit einem etwas
auffallenden Akzent englisch sprach -- deutsch war es jedenfalls nicht
-- und ihre „lieben Neffen“ herzlich begrüßte. Dann fuhr Doktor ~N.~,
sich an meinen Vetter wendend, fort: „Ihr Vater -- mein Bruder -- heißt
wohl mit Vornamen B .... Ich bin in der Tat der verschollen gewesene
Bruder, ich bin wirklich Ihr Onkel, den Sie noch nie gesehen haben und
von dessen Dasein Sie nichts wissen konnten, und Sie sind meine Neffen.
Seien Sie uns herzlich willkommen!“

Wir wußten beide noch immer nicht, ob wir träumten, im Kino saßen,
einen unglaublichen Roman hörten, in der Hypnose, Trance oder sonst was
lebten, oder ob es alles Wirklichkeit war. Aber er wußte ja die Namen
genau und die Daten. Es konnte gar kein Zweifel an der Echtheit des
Onkels sein. Glücklicher Onkel in Neuyork! Wenn er das erfuhr! Aber
wie war das alles nur möglich? Nun erzählte der neue Onkel weiter. Wir
hatten uns alle indessen am offenen Feuerplatz des Kamins in bequemen
Sesseln gemütlich niedergelassen und lauschten der unerhörten Mär:
„Ich bin in der Not vor beinahe fünfzig Jahren,“ begann der Doktor,
„aus Bremen fort aufs Schiff gegangen. Wir waren sehr viele Kinder.
Vater hatte nicht für uns alle Platz. Und eine Schuldummheit kostete
mir den weiteren Aufstieg. Ich schämte mich; Vater verstand mich auch
nicht recht, da kam die Weltsehnsucht und Abenteurerlust über mich,
wie es schon manchen Bremer und Hamburger Jungen gepackt hat. So ging
auch ich fort in die Welt mit dem Entschluß, nicht eher etwas von mir
hören zu lassen, bis ich etwas geworden wäre. Die Welt ist weit. Ich
landete nach manchen Irrfahrten in Le Havre in Frankreich. Von dort
kam ich nach Paris und trat als Schreiber bei einem Rechtsanwalt in
die Lehre. Dem guckte ich allerlei Juristerei ab, lernte des Abends
fleißig aus Büchern und faßte den Plan, wenn möglich, noch Jura zu
studieren. Aber woher dazu das Geld nehmen? Da war der Suezkanal neu
eröffnet. Das ist meine Chance, dachte ich, und ging nach Ägypten! Aber
dort packte mich bald das gelbe Fieber, wochenlang lag ich bewußtlos
zwischen Leben und Tod. Als ich wieder genas, kannte ich selbst mich
kaum wieder. Alle Erinnerung war in mir wie ausgelöscht. Ich kehrte
nach Frankreich zurück, trat wiederum bei einem Notar ein und wurde
nach einigen wohlgelungenen Arbeiten sein Bureauchef, ja Assozié. An
der Sorbonne legte ich juristische Prüfungen ab, heiratete meines
Chefs einzige Tochter, meine liebe Frau -- ich sah zu meiner neuen
Tante, die lächelte, hinüber, also eine Französin! -- und übernahm
nach seinem Tod seine Praxis. Aber nach dem 70er Krieg war es für
einen Deutschgeborenen schwer in Frankreich voran zu kommen. Ich
siedelte deshalb nach Amerika über. Von dem Erlös der verkauften Praxis
studierte ich hier in Boston an der Medical School Medizin und ließ
mich schon vor über zwanzig Jahren in Boston als Arzt nieder. Unser
Haus haben wir seit fünfzehn Jahren. Gestern, als ich Ihr Gesicht sah
und in Ihnen -- er meinte mich -- wieder Ihren Vater wie einst vor mir
sah, tauchte nach langer Zeit meine ganze Jugend wieder empor.“ Er
schwieg. Auch niemand von uns wagte zu sprechen. Wunderbare Lebensläufe
und Menschenschicksale! Tote schienen lebendig zu werden ...!

Nun wurden die Kinder hereingerufen, darunter ein artiges Fräulein trat
ein -- sie war es, die mich gestern in Cambridge zu treffen suchte
-- aber keiner von uns wußte zuerst, ob wir uns nun wirklich gleich
als Vetter und Base betrachten sollten. Und bald flogen Telegramme
nach Neuyork und nach Deutschland, und in wenigen Tagen lagen sich
totgeglaubte und verschollene Brüder wieder in den Armen! Und ich
mußte der Mittelsmann sein, von dem aus der Funke des Erkennens und
Wiederfindens übergesprungen war! Mit diesem einen Ereignis hatte sich
eigentlich schon meine ganze Amerikareise gerechtfertigt und gelohnt.
Wie rund ist die Welt und wie klein!


Fußnoten:

[Footnote 12: Gib acht auf die Maschine!]

[Footnote 13: Bessere Lage, größerer Lohn!]

[Footnote 14: Man vgl. auch Feuchtersleben, Diätetik der Seele.]




An der Harvard-Universität.


Eine meiner Hauptabsichten meiner Reise war, nicht einen verschollenen
Onkel wieder zu entdecken, sondern u. a. auch das amerikanische
Universitätsleben näher kennenzulernen und den damals noch lebenden
Professor William James zu einer deutschen Doktordissertation zu
„verarbeiten“.

So war ich also bald nach meiner Ankunft in Boston mit der
„Cambridge-car“ die prächtige Harvardbrücke über den breiten
Charles River hinüber nach der beinahe 100000 Einwohner zählenden
Universitätsvorstadt Cambridge gefahren, die in ihrem Mittelpunkt das
in der ganzen Union hoch angesehene, schon aus dem 17. Jahrhundert, der
Puritanerzeit, stammende Harvard College mit seinen Hochschulen birgt.

Cambridge[15] selbst machte zuerst keinen allzu erhebenden Eindruck.
Erstlich regnete es fürchterlich bei meiner Ankunft, und überall
starrte mir Schmutz entgegen. Aber auch an trockenen Tagen pflegten
wahre Wolken von Staub die Hauptverkehrsstraßen entlang zu fegen.
Auch schien die Stadt mir unansehnlich und recht unregelmäßig gebaut.
Boston selbst wirkte dreimal vornehmer. Aber je weiter man nach
Cambridge hinein kam, desto anziehender wurde es. Und als ich durch
die „Quincy Street“ in den prachtvollen Ulmenpark des Universitätshofs
eintrat, fand ich es geradezu reizend und anheimelnd. Eine angenehme
Stille lag über den vielen und zum Teil recht zerstreut liegenden
Universitätsgebäuden mit ihren Vorlesungshäusern, Instituten,
Seminaren, Speisehallen, Wohngebäuden der Studenten, die alle in den
sog. „~dormitories~“, einer Art freien Studentenpensionaten (aber
ohne Verpflegung) zusammenwohnen und auch in großen z. T. vornehm
ausgestatteten Speisehallen zusammenessen, ausgebreitet. In einer
sehr stillen Allee in einer der kleineren, älteren, aber äußerst
traulichen, efeuumsponnenen ~halls~, in der schon Emerson gelehrt hat,
fand ich meinen Wohnsitz. Der Hausmann (~janitor~) empfing mich auch
als „German“ sehr freundlich und geleitete mich zu meinem „~furnished
room~“ (möbl. Zimmer). Auch ein älterer hilfsbereiter Student, der mir
später ein lieber Freund wurde, Mr. Arthur E. W., instruierte mich über
alles zunächst für mich Notwendige. Gottlob aber, daß ich Englisch
verstand und sprach!

In meinem „~furnished room~“ fand ich alles zum Leben Notwendige
beisammen, einen großen behaglichen Kamin, den ich aber selbst zu
heizen hatte! In Amerika gilt ja überall: „Selbst ist der Mann! Da
tritt kein andrer für ihn ein, auf sich selber steht er da ganz
allein!“ Ich habe das Heizen des offenen Kamins auch redlich oft drei-
bis viermal versucht, die aufgeschichteten Holz- und Kohlenstöße
kunstgerecht zu entfachen und dann hübsch in Brand zu halten, aber der
ungewohnte amerikanische Kamin hatte seine Tücken und wollte sich
wahrscheinlich auch von so einem „~damned German~“ nicht ohne weiteres
anheizen lassen. Aber auch in der deutschen Universitätsstadt Tübingen
ging es zu meiner Zeit einem sehr gescheiten Stiftler ebenso, so daß er
schließlich dem dortigen Hausmann verzweifelt sein Leid klagte. Der kam
und sagte lakonisch: „Wenn i das Fujer’ wär’, i ging au aus!“ So kam
auch hier schließlich ein rettender Engel und half dem unpraktischen
Deutschen aus der kalten Hölle. Aber noch öfters saß ich ungeheizt,
natürlich gerade dann, wenn etwa einer der Herren Professoren mir
seinen liebenswürdigen Gegenbesuch machte, so daß mir noch heute der
alte weißhaarige, in Samaria eifrig ausgrabende Professor Lyon leid
tut, der so fröstelnd in meinem hohen strohgepolsterten Lehnstuhl saß
und sicher mit wissenschaftlicher Schärfe im Stillen die Ursache der
Kälte in der sonst warmen Hall zu ergründen suchte. Bei mir lagen eben
die mächtigen Holzklötze, die sonst in den offenen Kaminen schwelen,
meist nur angekohlt und fröhlich rauchend, aber ohne zu wärmen hinter
ihrem Gitter, obwohl ich nachher so ziemlich die höchste Rechnung für
Heizmaterial am Ende des Semesters zu begleichen hatte!! Wenn nicht
in dem Januarblizzard, der einen meterhohen Schneefall brachte und
-20° ~R~ ein anderer weit herumgekommener amerikanischer Freund, Mr.
Moore, der besonders für Konstantinopel, die Türken und die Griechen
schwärmte, sich meiner erbarmt oder mein japanischer Freund Mr.
Ashida, heute in Kyoto Dekan der Doshisha-Hochschule, mich in sein
wohlgewärmtes trauliches japanisches Zimmer mit hinübergenommen hätte,
wäre ich wohl eines Tages eines seligen Kältetodes gestorben ...

Weiter enthielt mein „~furnished room~“ einen sehr schönen Schreibtisch
mit jenem obenerwähnten strohgepolsterten Lehnstuhl, einem
Schaukelstuhl, zugleich Ehrensitz für hohen Besuch, zwei Bücherregale,
ein paar einfache Stühle und einen kleinen Alkoven, in dem das Bett
stand, und von dem aus ich den schönsten Blick in die malerischen
und träumerischen Universitätsanlagen hatte. Hier sah ich das letzte
goldene Herbstlaub des „~indian summer~“ zu Boden wirbeln, hier sah
ich den feuchten Novembernebel um die Bäume rieseln, hier sah ich
den Schnee in wilden Massen niederwirbeln und auf leisen Sohlen den
amerikanischen Frühling sich nahen ...

Mein großer grüner Koffer war zuerst noch nicht da. So legte ich
mich die ersten Nächte im Mantel zu Bett. Meine Photographien von
den Lieben und Freunden daheim stellte ich auf das Kamingesims mit
der merkwürdigen Empfindung, an 4000 Meilen von ihnen entfernt zu
sein. Einige deutsche Kunstwartbilder hing ich mir als Schmuck
an die Wand. Drüben und neben mir zogen in ähnlicher Weise meine
studentischen Nachbarn ein. Es entwickelte sich bald zwischen uns ein
recht freundschaftlicher Verkehr. So war ich wieder einmal Student.
An Semestern war ich wahrscheinlich der älteste im Hause, wenn auch
nicht an Jahren. Denn die amerikanischen Studenten haben oft schon
merkwürdige Lebensläufe hinter sich, ehe sie zu studieren anfangen.

Nach meiner Ankunft in Cambridge machte ich sogleich meinen
schuldigen Antrittsbesuch beim Herrn Dekan der Fakultät („~School~“),
einem äußerst liebenswürdigen älteren Herrn mit weißem englischen
Schnurrbärtchen, der mein zum Teil noch sehr fehlerhaftes Englisch
„~marvellous~“ nannte und bedankte mich für die gütige Einladung
nach Harvard. Überall fand ich eine sehr große Liebenswürdigkeit,
Höflichkeit, Gastfreundschaft und ein unbeschränktes Entgegenkommen,
obwohl ich selbst mit Kritik und recht freimütiger Beurteilung
amerikanischer Verhältnisse gar nicht zurückhielt, aber überall stieß
ich auch auf einen höchst ausgeprägten Nationalstolz. Davon könnten
wir mehr haben! Man war stets in allen Dingen moralisch, technisch,
politisch, wirtschaftlich wie selbstverständlich überzeugt, das Beste
und Größte „in der Welt“ zu besitzen. An +Quantität+ aller Verhältnisse
überragt ja auch in der Tat die Union alle Länder der Welt. Vor
Deutschlands Wissenschaft neigte sich drüben alles in Ehrfurcht!

Am anderen Tag begab ich mich zu den Mahlzeiten zum ersten Male nach
einer der gemeinsamen Universitätsspeisehallen. Studenten als Kellner
weiß gekleidet -- in Amerika gar nichts Ungewöhnliches! -- bedienten
selbst, nahmen die „~down-stairs-orders~“[16] entgegen, die man auf
kleine Kärtchen schrieb, und brachten binnen wenigen Minuten von
unten herauf alles Gewünschte. Längst vor dem Krieg war in Amerika
der „Werkstudent“ schon fast die Regel. Auch für den wohlhabenden
Studenten galt es schon immer drüben als unvornehm, sein Studiengeld
vom Vater zu fordern statt selbst zu beschaffen! So arbeitete in
der Universitätsdruckerei nachts als Setzer ein Millionärssohn!
Die meisten „arbeiteten“ in den langen akademischen Sommerferien,
die drüben etwa ein volles Vierteljahr umspannen, als Kellner in
den großen Sommerhotels auf dem Lande, oder als Sprachlehrer,
Bankangestellter, Straßenbahner, Organist, Hotelportier u. dgl. Ich
kannte einen Studenten, der tagsüber Vorlesungen hörte und nachts als
Nachtpförtner in seinem Bostoner Hotel seine griechische Grammatik
lernte! So wurde auch ich öfters gefragt, ob ich nicht einen „~job~“
(Arbeitsstelle) anzunehmen wünsche. Ich habe mir dann auch neben meiner
Universitätsarbeit mit deutschen Stunden u. a. noch etwas Taschengeld
verdient, bis einer der „~freshmen~“ (unterster Jahrgang im „College“),
den ich unterrichtete, mir eines Tages erklärte, „mein Deutsch sei
nicht richtig; was ich ihn gelehrt, habe ihm der amerikanische
Professor als Fehler angestrichen“!! Da habe ich diesem „Frechmän“
beinahe eine ... -- erklärt, daß er nicht wiederzukommen brauche! Und
verzichtete auf solchen „~job~“!

Am gemütlichsten und besten aß man in der prächtigen, gotischen
„Memorial Hall“, die mit ihrem hohen Glockenturm wie eine große Kirche
alle anderen Universitätsgebäude überragte. Dafür hielt ich sie zuerst
auch, bis ich über ihre wahre Bedeutung aufgeklärt wurde. Man saß
hier an kleinen Klubtischen zu vieren oder sechsen -- gegen tausend
Studenten aßen hier täglich! -- und konnte nach Herzenslust für einen
festen Wochenpreis von nur 5 Dollar bestellen und essen, besonders wenn
man sich mit dem Neger gut stellte (das war hier unser alter guter
Jackson), was und wieviel man begehrte. Und ich stellte mich daher
immer besonders gut mit ihm! Da reichte mir seine braungelbe Hand
unermüdlich hin, wonach das Herz verlangte. Was für fröhliche Stunden
haben wir in Memorial Hall verlebt! Mittags um zwölf Uhr zum „~lunch~“
und abends fünf oder halb sechs zum „~dinner~“, der Hauptmahlzeit. Da
fand sich an unserem Tisch ein deutscher Student der Philologie aus
Heidelberg ein, von dem man rühmte, daß seine englische Aussprache
besser sei als die der Eingeborenen! Mit dem Grad eines ~A. M.~
(~Master of arts~) kehrte er in die Heimat zurück. Weiter verkehrte
bei uns ein Privatdozent der Chemie aus Prag, der heute ordentlicher
Professor in München ist, dazu drei bis vier junge smarte Amerikaner,
ein Pflanzerssohn aus dem Südstaat Carolina, dessen Devise war: „Wenn
dir einer dumm kommt, box ihn nieder!“; ferner der gereifte Bruder
eines angesehenen Baptistenpredigers in Boston und endlich ein dritter
Schmächtiger auch aus dem Süden, der ungeheuer viel Pfeffer auf seine
Speisen warf und dazu unbändig rauchte und dessen Losung war: „Was
sich dir in den Weg stellt, schieß nieder!“ Typisch für die aus den
Pflanzer- und Südstaaten! Alle meine Bekehrungsversuche, seine Sitten
und Anschauungen zu mildern, scheiterten. Unsere Sprache untereinander
war nur englisch. Und das war gut. Nur der Prager Chemiker -- ein
echter Deutschösterreicher -- konnte es nicht lassen, wenn er den
Heidelberger und mich einmal allein am Tisch traf, doch mit seinem
urgemütlichen wienerischen Dialekt herauszurücken, was dort drüben
doppelt heimatlich klang ... Auch fand er, die amerikanischen Girls,
auf die er manchmal ein Auge warf, „fräßen einem richtig aus den
Händen“ ...

Ich gewöhnte mich schnell an die amerikanisch-akademische
Tageseinteilung. Früh acht Uhr besuchte ich gern der Sitte gemäß
die „~morning prayers~“ in Appleton Chapel, der traulichen
Universitätskapelle. Hier gab es -- echt amerikanisch --
„~five-minutes-addresses~“! (Ob wir Deutsche das auch fertig brächten?)
Dann sang ein kleiner melodischer Studentenchor. Von da ging man zum
Frühstück, das in Amerika mit Früchten beginnt und mit Koteletts
endigt. Von neun bis zwölf hörte man Vorlesungen. Punkt zwölf
erschien man wolfshungrig zum „~lunch~“, daran schloß sich ein kleiner
Spaziergang am Ufer des Charles River oder ein Tennisspiel. Von zwei
bis fünf Uhr war man wieder entweder im Colleg oder Seminar, übte oder
las in der Bibliothek, falls man nicht einen Klubvortrag besuchte.
Ehe man zum ~dinner~ ging, ging es in die akademische Turnhalle[17],
um rasch einige „~physical exercises~“ in der ganz vorzüglich mit
den raffiniertesten Geräten ausgestatteten Universitätsturnhalle
vorzunehmen. Danach nahm man allgemein ein sehr ungeniertes Bad, das
dem lateinischen Namen der Turnhalle voll entsprach. Nach solchen
wohlberechneten Vorbereitungen schmeckte das ~dinner~ in Memorial Hall
einzigartig prächtig. Um sieben Uhr rief die Hausglocke der ~hall~
zum „~evening-prayer~“ und danach war noch etwa drei bis vier Stunden
stille Arbeitszeit, um Bücher zu lesen, Referate anzufertigen u. dgl.
Ich bekam vor der Quantität geistiger Arbeit der amerikanischen
Studenten allen Respekt!

Gleich zu Anfang des Semesters fanden die großen offiziellen
Feierlichkeiten der +Einführung des neuen Universitätspräsidenten+
statt. Die „Registration“ (bei uns „Immatrikulation“) war hingegen sehr
einfach und unformell. Man wurde schnell mit seinen Personalien in ein
Buch geschrieben. Das war alles. Aber die Inauguration des Präsidenten
war höchst feierlich und großartig. Vierzig Jahre lang hatte der
ehrwürdige, wohl über achtzigjährige ~Dr.~ Eliot das Universitätszepter
geführt. (Die Universitätsrektoren amtieren drüben auf Lebenszeit!) Nun
galt es seinen Nachfolger auf Lebenszeit einzuführen, ~Dr.~ Lowell.
Über 200 Professoren aus dem ganzen Land waren dazu zusammengeströmt,
Harvard zu Ehren. Vor der Haupthalle der Universität, einem schlichten
hellen Gebäude im Universitätspark, war ein Podium aufgeschlagen, auf
dem alle die Ehrengäste und der eigene Lehrkörper in ihren feierlichen
Doktortalaren unter freiem Himmel Platz nahmen. Über der ganzen Feier
lag blendender Sonnenschein, und zu vielen Hunderten füllte die
akademische Jugend vom jüngsten „~freshman~“ bis zu den gereiften
„~graduates~“ den weiten Park. Unter den Gästen wurde besonders der
neuangekommene deutsche Austauschprofessor, ein berühmter Berliner
Historiker, geradezu überschwänglich begrüßt als „~not surpassed by
living men~“[18]. Der neue Präsident hielt eine lange Ansprache über
Aufgaben und Ziele der amerikanischen Universitätsbildung und trat ein
für freiere Wahl der Vorlesungen und bessere Vorbildung der Studenten
nach -- deutschem Muster!

Denn der amerikanische Lehrbetrieb ist in vielen Stücken ein sehr
anderer als bei uns. Im selben Alter, in dem wir in Deutschland in die
Schule eintreten, tritt zwar auch der Amerikaner in die Schule ein, und
zwar jeder, so will es die jegliche Klassenunterschiede verabscheuende
Demokratie, die auch in der Eisenbahn nur eine Klasse erlaubt, in die
Volksschule (~public~ oder ~grammar school~), die gewöhnlich sechs
Jahrgänge umfaßt. Freilich erlaubt es das amerikanische System den
Begabteren und Fleißigen, Klassen zu überspringen und so in wenigen
Jahren das Ziel zu erreichen, das zur nächsthöheren Schulgattung,
der Oberschule (~high school~), die etwa unserer Realschule oder
den mittleren Klassen des Gymnasiums entspricht, hinführt. Erst im
Alter von dreizehn, vierzehn Jahren beginnt der Amerikaner Sprachen
zu lernen. Bereits die ~High school~-Kurse sind „wahlfrei“, und so
steht die Wahl zwischen Deutsch, Französisch, Latein oder Griechisch
oder mehreren von diesen zusammen offen. Nach vierjährigem ~High
school~-Besuch wird der Amerikaner reif, die Aufnahmeprüfung zum
„~college~“ zu bestehen. Das ~college~ bildet den Grundstock der
Universität und kann eigentlich mit keiner deutschen Einrichtung
verglichen werden. Das „~college~“, englischen Ursprungs, dient
keineswegs dazu, auf die sogenannten „akademischen“ Berufe, wie
wir sagen, vorzubereiten, sondern den Amerikaner zum „Gebildeten“
und „~gentleman~“ in wissenschaftlicher und persönlicher Hinsicht
heranzubilden. Die Lehrgegenstände des ~college~ sind völlig
wahlfrei und entsprechen ihrem Gehalt nach ungefähr dem, was wir in
den Oberklassen des Gymnasiums und in den ersten Semestern auf der
Universität lernen. Nur darf nie vergessen werden, daß nirgends in
Amerika genau der gleiche Maßstab, dieselben Anforderungen und die
gleiche Güte vorherrscht. Die Teile des Riesenlandes sind so ungeheuer
voneinander verschieden, vor allem der Westen und Süden vom Osten,
den alten Neuenglandstaaten mit dem geistigen Zentrum Boston und der
Harvard-Universität, daß die qualitative Gleichheit der Schulen und
~colleges~ ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Ein kleines ~college~ des
Westens lehrt vielleicht nicht mehr, als was bei uns ein Tertianer oder
Untersekundaner lernt, während der ~college~-Student in Harvard Zutritt
zu Kursen hat, die keiner deutschen Universität Schande machten. Der
~college~-Student, der im gleichen Alter das ~college~ bezieht, wie wir
etwa die Universität, obwohl er noch nicht dieselbe wissenschaftliche
Höhe erreicht hat, kann, weil er völlig freie Hand in der Wahl
seiner Vorlesungen hat, schon auf dem ~college~ spezialisieren, wenn
er später in eine Fachschule (~Graduate school~), die am ehesten
unseren Fakultäten entspricht, einzutreten gedenkt. Die meisten aber
halten sich nur im ~college~ auf, um eine „~liberal education~“ zu
gewinnen, um ihre Allgemeinbildung zu vollenden, d. h. sie haben kein
spezielles wissenschaftliches Interesse, hören Literatur, Geschichte,
Philosophie und suchen nach vierjährigem Lehrgang den Grad eines ~B.
A.~ (~Bachelor of arts~) zu erhalten, der für eine bestimmte Anzahl (17
oder 18 dreistündiger) tüchtig durchgearbeiteter Vorlesungen verliehen
wird. Diejenigen, die den ~A. B.~ haben, sind die „Gebildeten“, in
welchem Beruf, Geschäft, Technik oder wo sonst sie sich auch später
befinden mögen. Diejenigen, die Rechte, Philologie, Theologie und
Medizin, Mathematik und Naturwissenschaft eingehend studieren wollen,
um Richter, Prediger, Professor u. dgl. zu werden, treten in die
„~graduate school~“ ein, die allein denen, die den ~degree~ des ~B.
A.~ besitzen, offen steht. In der ~graduate school~ (~Law School~,
~Medical and Divinity School~ und ~Faculty of Arts and Sciences~),
die unseren mittleren und letzten Semestern entspricht, wird etwa
drei bis vier Jahre gearbeitet und der Doktorgrad erreicht. Aber
das Studentenbild in der ~graduate school~ ist von dem unseren auch
wieder recht verschieden. Der ~college~-Student ist zwar in dem Alter
unserer Studenten, es fehlt ihm aber manchmal an dem eigentlichen
„wissenschaftlichen“ Interesse, dafür ist sein ganzes Gehaben
vielleicht ein ganz Teil jugendlicher als das unserer Studenten. Der
~graduate~-Student aber in der ~graduate school~ übertrifft meistens
unser Studentenalter beträchtlich; denn durchaus nicht alle treten
sofort nach Vollendung ihres ~college~-Studiums in eine Fakultät ein,
sondern viele arbeiten zuerst eine Zeitlang in einem praktischen
Berufe und verdienen sich das teure Studiengeld erst selber. So
kann das für uns merkwürdige Verhältnis eintreten, daß z. B. einer
bereits eine eigene Pfarrstelle auf dem Lande inne hat, die ihm
mit der sonntäglichen Predigt den Unterhalt für sein theologisches
Studium gibt, das er jetzt erst eigentlich beginnt (!!). Andere sind
in einem Geschäft gewesen oder haben an einer Schule bereits einige
Zeit +gelehrt+; andere sind während ihres Studiums noch in allerlei
Nebenberufen tätig. Ein „Instruktor“ in Nationalökonomie spielte gar in
einem Professorenhause den Hausmeister, versorgte morgens um sechs Uhr
im Winter die Dampfheizung des Hauses mit Kohlen; wieder ein anderer
war Organist in einer Kirche!

Es existierte nie Klassengeist; der Student bildete nie eine
soziale Sonderschicht. „Arbeit“ war drüben immer ein allgemeiner
sittlich-demokratischer Begriff, der für den Studenten sich keineswegs
auf wissenschaftliche allein beschränkte. Andererseits ist auch die
wissenschaftliche Arbeit nicht höher eingeschätzt als andere. Jede
Arbeit ist „~work~“, gleichgültig, was für eine; ausgenommen vielleicht
Stiefelputzen, das für den Amerikaner einen antidemokratischen Geruch
mit sich führt. Nur der, der arbeitet, ist geachtet. Die Achtung
bezieht sich aber fast allein auf die Quantität der geleisteten
Arbeit und die mit ihr verbundenen Einnahme, nicht so sehr auf
ihre qualitative Eigenart! Die Art des Studiums ist daher von der
unseren recht verschieden. Während wir kein höheres Ideal als das der
„akademischen Freiheit“ kennen, d. h. der völligen Selbstbestimmung
in wissenschaftlicher und persönlicher Hinsicht, ist dieser Begriff
der amerikanischen Universität, mit Ausnahme der Wahlfreiheit der
einzelnen Fächer, völlig fremd. Das ~college~ und die ~graduate school~
ist eine höhere und höchste Art „Schule“, nichts anderes. So hat der
einzelne Student seinen vorgeschriebenen (!) Platz im Kolleg, er hat
seine genau bis auf Stunde und Seite „vorgeschriebene“ Lektüre zu
jeder Vorlesung aufzuarbeiten; er hat oft wöchentliche, monatliche
oder mindestens halbjährliche Prüfungen zu bestehen, wöchentliche oder
monatliche schriftliche Referate und Aufsätze oder größere Arbeiten
einzuliefern, die vom Professor korrigiert und zensiert werden!
Fernbleiben vom Kolleg ist völlig unbekannt, Bummeln ausgeschlossen.
Der Student sucht nicht seinen eigenen Weg in der Wahl seiner
Lektüre, in seiner Privatarbeit und in seinen Spezialstudien, die
ihn vielleicht dieses Semester dahin und das nächste dorthin führen,
sondern mit der Wahl eines Kollegs ist sein Weg Schritt für Schritt
genau vorgezeichnet. Eine solche Fülle der Lektüre und Aufsätze
überschüttet ihn, daß kaum ein Quentchen Zeit für eigene Wege übrig
bleibt. So rechnet man konsequent sehr genau mit der Seitenzahl (!)
der Lektüre, die in diesem und jenem Kolleg vorgeschrieben ist; die
Aufsätze werden nach der Vielstelligkeit der Zahl ihrer Worte von den
Studenten taxiert und mit Mindestforderungen der Zahl der Seiten und
Worte abgegrenzt(!); das Interesse richtet sich auf die +Anzahl+ der
dreistündigen Vorlesungen, die einer bewältigt, die +Zensuren+, die
er für seine „~papers~“ davonträgt, und den „~degree~“ (akademischen
Grad), den er zu bestimmter Zeit mit der Aufarbeitung einer +Anzahl+
von Vorlesungen erlangen kann, und ~last not least~ -- das Einkommen
der Stelle, die er mit einem ~Harvard-degree~ zu erlangen hofft!
Ich will nicht zu schwarz malen. Aber dasselbe quantitative Urteil,
das hier von jedem neuen Gebäude oder kostbaren Gemälde vor allen
Dingen den Preis zu nennen weiß, das jede neue gute Institution mit
dem Titel „~the best and highest in the world~“ belegt, breitet
seine unheilvollen Schwingen auch über die Wissenschaft. Es war für
mich ein sehr eigentümlicher Eindruck, als ich zum erstenmal in
den Lesesaal der Universitätsbibliothek trat und die langen Reihen
Bücher sah, -- genau bezeichnet für jeden Kurs, keins weniger und
mehr als vorgeschrieben (!) -- und eine Fülle lesender Studenten --
aber nur in „vorgeschriebener“ Lektüre von Seite soundsoviel bis
Seite soundsoviel, kein Wort mehr oder weniger -- da ist der Geist
freier, ungebundener, eigener kritischer Wissenschaft erstickt im
Staub pedantischen Schulgeistes, der rechnet, statt wägt, ißt, aber
nicht selbst verdaut, „lernt“, aber nicht „studiert“, eine Menge
Bücher kennt und doch kein Forschungsfeld überschaut, der nichts ahnt
von der unendlichen Weite und Tiefe wirklich eigener selbständiger,
kritischer, wissenschaftlicher Arbeit; der nie recht wissenschaftlich
arbeiten lernt trotz mehrjährigen täglichen zehn- oder zwölfstündigen
Fleißes! Der ganze amerikanische Universitätsgeist leidet an seiner
Schulmäßigkeit: Auch die Dozenten müssen fast soviel Stunden in der
Woche wie unsere Schullehrer geben. Der Universitätsprofessor ist mehr
Lehrer als Gelehrter. Auch seine Bezahlung steht nicht im Verhältnis
zu dem Reichtum des Dollarlandes, und sein Ansehen ist nicht mit dem
eines deutschen akademischen Professors zu vergleichen. Alles dies soll
keineswegs in Abrede stellen, daß auch Amerika sehr tüchtige Gelehrte
und kritisch begabte Studenten hervorbringt, aber mehr trotz als
infolge seines Systems. Und doch ist es auffällig, in welcher Überfülle
die Übersetzungen deutscher wissenschaftlicher Bücher in Gebrauch sind,
und geradezu rührend ist es zu beobachten und zu hören, mit welch
aufrichtiger und uneingeschränkter Bewunderung der gebildete Amerikaner
immer wieder zu dem Land der Dichter und Denker hinaufschaut.

So hatte also auch ich meine liebe Not, genügend freie Zeit für meine
eigenen Studien zu behalten, Land und Leute kennenzulernen u. dgl.,
wenn auch ich mit einem „~degree~“ geschmückt Harvard wieder verlassen
wollte. Und ohne ~degree~ gilt man ja drüben in akademischen Kreisen
gar nichts. Und ohne ~degree~ zu scheiden, hätte mich in amerikanischen
Augen als Faulpelz gekennzeichnet ...

Die Inaugurationsfeier schloß mit dem üblichen Gebet, Musikchören
und dem Jubel der „~college-men~“. Anderntags war noch einmal große
Vorstellung aller fremden Gäste in der Repräsentationshalle der
Universität, in „Sanders Theatre“, das seinen Namen von seiner
theaterähnlichen Rundung hat. Der neue Universitätspräsident, vom
Stab seiner Dekane begleitet, begrüßte feierlich jeden fremden Gast,
indem er ihn mit allen seinen Titeln und Verdiensten ausführlich
der Studentenschaft vorstellte. Jedesmal antwortete wüstes
Beifallsgeschrei. Es waren auch zwei weibliche Professoren und die
Spitzen von Heer und Marine unter ihnen, die von den Studenten
besonders brüllend bejubelt wurden. Alle anderen wurden laut und immer
lauter beklatscht beinahe zwei Stunden lang. Langsam defilierten sie
auf dem Podium vorüber, zum Teil ehrwürdige Gestalten und noch junge
Doktoren aus der Nähe und der Ferne, ja sogar auch aus Kalifornien und
Texas, die geistige Elite der Union.

Abends brachten die „~fresh-men~“ dem neuen Präsidenten einen
Fackelzug im „Stadium“ dar. Das Stadium ist ein ungeheurer, etwa 40000
Personen fassender, elliptischer offen amphitheatralischer römischer
Zirkusbau, der den großen Universitätsfußballspielen dient. Heute lag
er im Dunkeln. Nach dem Einlaß kletterte alles affenähnlich über die
weiten und hohen Betonsitzreihen, die stumm dalagen und sich hell
vom klaren Nachthimmel abhoben, bis das schier unermeßliche Rund
doch nur zum kleinsten Teil mit Menschen gefüllt war. Dann nahten in
langem feierlichen Zug die ~fresh-men~ mit ihren Fackeln, d. h. sie
trugen auf Stangen kleine Töpfe mit brennendem Öl, an 1200 Mann zu
je zweien nebeneinander, ein wirkungsvoller Zug. Im Stadium führten
sie allerlei Reigen und Freiübungen aus, die sich mit den Lichtern im
Dunkeln außerordentlich eindrucksvoll ausnahmen. Den Schluß machte
ein Buntfeuerwerk, das zu allerletzt die Namen des Präsidenten und
des ~college~ zeigte. Der also gefeierte Präsident hielt eine kurze
Dankesansprache, die in dem großen Rund ausgezeichnet zu verstehen
war. Mit einem an Indianergeheul erinnernden vieltausendstimmigen
„Ra-Ra-Ra-Ra ...“, dem traditionellen studentischen Ruf, endete die
Feier. Die Zeitungen waren noch Tage und Spalten lang voll davon ...

„~Vivat academia, vivant professores~“ heißt es in dem alten deutschen
Studentenlied. So kommen nun nach der ~academia~ die Professoren
daran, mit denen ich drüben zusammen sein konnte. Ihr allzeit so
sehr gefälliges Entgegenkommen habe ich schon gerühmt und verdient
auch hier eigenen Dank. „~What can I do for you?~“ war die ständige
Redensart der höflichen Menschen drüben. Der erste, der mich freundlich
empfing, war der auch in Deutschland als erster Austauschprofessor
und durch seine Schriften bekanntgewordene Sozialethiker Francis G.
Peabody, ein Typus des hochgebildeten und vornehmen Neuengländers.
Er hatte ein prachtvolles und nach jeder Seite hin ausgezeichnetes
sozialethisches Seminar eingerichtet, wie drüben überhaupt alle
Seminare, Bibliotheken, Laboratorien an Reichtum der Mittel dank der
großen Stiftungen der Millionäre die unseren oft weit überragen.
So findet man drüben in den Bibliotheken nicht bloß die gesamte
amerikanische und englische Fachliteratur, sondern auch die deutsche,
französische und italienische, so daß ich meinen schweren grünen
Koffer mit den vielen Büchern hätte ruhig zu Hause lassen können und
mir manche Kosten und Ärger ersparen. Freilich Peabodys Vorlesung
enttäuschte mich. Gewiß ließ der Vorlesungsraum nichts zu wünschen
übrig. Auf was für vorsintflutlichen Bänken hatte man einst im Tübinger
Stift gesessen. Hier feine bequeme Subsellien, aufklappbare Halbtische,
so daß man bequem die Beine beim Schreiben noch übereinanderschlagen
konnte, wie es der Amerikaner liebt. Nur Gelegenheit, Hüte usw.
aufzuhängen, sah ich nicht. Die Studenten steckten ihre Mützen in
die Tasche oder brachten gar keine mit. Freilich die Beine +auf+ den
Tisch legte im Kollegraum niemand, wie ich das in den Klubzimmern
täglich und reichlich zu sehen Gelegenheit hatte. Als der Professor
eintrat, erhob sich niemand; niemand trampelte oder gab sonst ein
Zeichen studentischer Begrüßung, vielmehr wurde lustig weitergeschwatzt
und gelacht! Die erste Stunde bestand fast nur in Ankündigungen des
Semesterpensums, Aufgabe der „vorgeschriebenen“ Lektüre, Verteilung
von gedruckten Dispositionen, zwar alles klar und praktisch -- aber
eben auch reichlich schulmäßig. Ich empfand gar nicht, auf einer
Universität zu sein.

Mit dem deutschen Austauschprofessor trafen wir im „+~cosmopolitan
club~+“ zusammen, einer interessanten Vereinigung von etwa hundert
Studenten aus aller Herren Länder, Griechen, Siamesen, Chinesen,
Japanern, Brasilianern usf., denn Harvard hat Weltruf. Der Professor
nahm aber merkwürdigerweise von uns Deutschen recht wenig Notiz! Er
sprach fließend englisch, wenn auch mit deutschem Akzent, an jenem
Nachmittag ein für amerikanische Ohren wenig glückliches Thema,
nämlich über „deutsche -- Trinksitten“! Damals schon war Amerika zu
zwei Dritteln „trockengelegt“. Heute ist es es ganz. Cambridge war
schon immer eine völlig „abstinente“ Universitätsstadt. Der Erfolg
der Ansprache war, daß ulkige Studenten dem berühmten Gelehrten
beim Abschied zwei leere -- Bierflaschen in seine Rocktaschen
praktizierten!! Bei Professor +William James+, dem berühmten
Psychologen, einem Sohn eines swedenborgischen Predigers in Neuyork und
dem Bruder des bekannten Novellisten Henry James, durfte ich öfters
weilen. Bald konnte ich formlos mit ihm über seine neue pragmatistische
Philosophie plaudern, über die damals eifrigst diskutiert wurde,
bald durfte ich an seinem Tisch den „~Thanksgiving-turkey~“, d. h.
den traditionellen Truthahn an dem nationalen Danksagungstag am 27.
November mitverzehren. Er war der Meinung, daß Wahrheit nur in der
+Praxis+ des Lebens selbst +erlebt+, aber nicht im voraus von uns
theoretisch festgestellt werden kann. Das, was sich bewährt, das,
was „stimmt“, was uns weiterführt, was Erfolg verheißt, ist wahr.
M. a. W. die Wahrheit „bewahrheitet“, realisiert sich selbst. James
war immer ein Mensch von seltener Liebenswürdigkeit und Herzensgüte,
vornehmer Schlichtheit und einem feinen Humor. Nichts war ihm mehr
verhaßt als Fertig- und Abgeschlossensein. Er selbst blieb immer ein
Lernender. Auch war er für alles interessiert, denn alles war ihm ein
Stück Wirklichkeit in diesem großen wunderbaren Universum, zu dem
wir selbst, wie er von seinem voluntaristischen und aktivistischen
Standpunkt aus meinte, vielleicht den allerwichtigsten Beitrag
liefern. Dies Universum ist, meinte er, nicht fertig, sondern es wird
noch ständig; es wird vornehmlich zu dem, wozu wir es machen. Und
gute geheimnisvolle Mächte stehen uns dabei hilfreich zur Seite. So
interessierte er sich auch besonders zeitlebens für den Spiritismus
und Okkultismus als psychologisch-metaphysisches Problem und schloß
doch zuletzt ehrlich und behutsam mit einem ~non liquet~. Er soll vor
seinem Tode seiner Familie versprochen haben, sich, wenn möglich, mit
ihr aus der jenseitigen Welt zu verständigen, um ihr von ihr einen
Wirklichkeitsbeweis zu geben. Und seine Familie behauptete wohl auch
nach seinem Tode, von ihm Botschaften empfangen zu haben (!). Für James
war nichts zu bizarr und zu ungewöhnlich, daß er als Psycholog es nicht
untersucht hätte. So war er der Psycholog, der auch allem Wunderlichen
und Pathologischen nachspürte. Die Haupttypen der religiösen Menschen
führte er auf ihre verschiedene Nervenanlage zurück. Nach ihm gibt es
zartbesaitete (religiöse) und grobkörnige (unreligiöse) Menschen. Die
religiöse Seelenanlage im Menschen entbindet s. E. die wertvollsten
sittlichen Mächte im Menschen. Aber wir müssen im Leben abwechseln
zwischen der Haltung des sich selbst verleugnenden Frommen, wie
es Buddhismus und Christentum fordern, und dem Nietzschetypus des
sich selbst behauptenden und sich durchsetzenden Menschen. Diese
Jamessche Philosophie ist durch und durch amerikanisch, praktisch,
wirklichkeitsnah, systemlos, dem Willen und Handeln entsprechend,
tatenfroh und lehnt doch keine übersinnliche Wahrheit, wenn sie sich
bewährt, ab. Welches Glück, den bedeutenden Mann noch kennenlernen zu
dürfen!

Auch mit dem Universitätspräsidenten selbst traf ich bei einer
„~reception~“, einem Empfangsabend, bei unserem Dekan zusammen. Diese
Empfänge hatten freilich etwas sehr Förmliches und Steifes. Zuerst
stand man wortlos herum, unterhielt sich krampfhaft mit allen möglichen
fremden und unbekannten Gästen, eine Tasse Tee in der einen und einem
Gebäck in der anderen Hand (aber Vorsicht war nötig, die Tasse nicht
auf die feinen Teppiche oder das Parkett zu verschütten!), bis man
vom Mittelpunkt des Abends, dem Präsidenten, auch einmal ins Gespräch
gezogen wurde, der uns allen ein paar Minuten die Hand schüttelte.
Äußerst geschickt lenkte der Präsident bei mir, dem Deutschen, das
Gespräch sofort über auf 1870, die deutschen Gegensätze von 1866
und auf das bismarckische Deutschland -- aber stets mit vornehmer
Achtung, ja Bewunderung. Lebhaft und sprühend waren dabei im Gespräch
seine sonst etwas in der Ferne scheinbar ausdruckslosen Augen. Welche
Aufgabe aber für diesen Mann, täglich zu repräsentieren, Ansprache über
Ansprache zu halten, auch für den Fremdesten sofort ein Thema zu finden
... An Gewandtheit stand ihm nicht nach Prof. +E. C. Moore+, der selbst
lange in Deutschland studiert hatte und auf dessen Studiertisch ich
eine Menge deutscher wissenschaftlicher Zeitschriften sah. Ich war zum
Abendessen geladen. Bei uns ist man bei Einladungen größere Portionen
gewöhnt als in Amerika. Und das Getränk war -- echt amerikanisch
-- ein Glas frisches Wasser mit einem Stückchen Eis zur Kühlung!
Glücklicherweise hatte auch Freund R. mich noch rechtzeitig ermahnt,
„~full dress~“ anzulegen.

Sehr oft waren wir Deutsche auch bei dem deutschen, aber
amerikanisierten Professor der Psychologie +Münsterberg+ eingeladen.
Mit seinen trefflichen Büchern über „Amerika und die Amerikaner“ hat
er den ersten völlig sachgemäßen Vermittlerdienst zwischen Deutschland
und Amerika geleistet. Auch dort war „~reception~“, bei der allerlei
bedeutende Leute auftauchten: Eduard Meyer, Präsident Eliots ehrwürdige
greise Gestalt ... währenddem reichten Diener in großer Livree Eiskream
und Limonade herum. Eine der Töchter des Hausherrn wurde von meinem
Heidelberger Freund stark umworben ... Ein andermal war es bloß
„offener Nachmittag“ bei Frau Professor M., die sachgemäß hinter einem
riesigen Teekessel thronte, aber immer gastlich und fürsorglich. Bei
Professor F. stellte sich heraus, daß seine Frau eine nahe Verwandte
einer mir sehr bekannten Frankfurter Familie de Neufville war. Wie die
Welt rund und klein ist ...!

Nach den Professoren ein Wort über die +Studenten+ und ihr geselliges
Leben: Sehr viel Anregung bot mir der schon erwähnte „~cosmopolitan
Club~“. Ich verkenne nicht den Wert und das Erbgut der Nation und
habe mich erst recht drüben mit Stolz als Deutscher gefühlt und
Deutschlands Wert trotz allem in der Welt erfahren, aber doch
habe ich immer auch einen starken Zug in die Welt verspürt, mich
auch als „Mensch“ denn nur als Angehöriger einer festumgrenzten
Volksindividualität zu fühlen und mich mit Angehörigen auch einer
recht fernen Rasse in allem Menschlichen einig empfunden, ob es der
Negerstudent Mac Sterling war, der mich auch in sein Logis lud, oder
Freund Ashida, mein japanischer Studiengenosse, oder etliche Griechen,
Armenier oder Siamesen und was sonst alles in Harvard auftauchte.
Mehr Berührung mit einzelnen Angehörigen fremder Völker und die Lust
zu neuen furchtbaren Kriegen wird in der Menschheit sich mindern!
Im ~cosmopolitan Club~ sprachen die interessantesten Redner: Erst
der deutsche Historiker, dann war Präsident Eliot angezeigt, danach
ein belgischer Konsul über den Kongostaat und seine „rechtmäßige“
Erwerbung, danach ein Spanier von Geburt, Professor Santyana über
die zwei Hauptweltströmungen, die klerikal-monarchisch-konservative
und sozialistisch-freimaurerisch-revolutionäre. Darauf „talkte“ ein
juristischer Harvardprofessor, der damals so etwas wie Justizminister
des Königs von Siam war, über seinen gütigen Herrscher, dessen Bild im
Klubraum hing, schließlich der bekannte Franzose Professor Boutroux,
Präsident des „~institute de France~“ über den Philosophen Pascal, und
zuletzt fand eine Vorlesung eines japanischen Universitätspräsidenten
der kaiserlichen Universität in Kyoto statt. Er erschien mit all seinen
japanischen Orden. Also wahrhaftig eine respektable Galerie seltener
Köpfe! Andere Redner sprachen über die herrliche Hawai-Inselgruppe mit
Lichtbildern, ein zweiter über Wanderungen und Bärjagden in Alaska, so
daß mein wanderlustiges Herz im Anblick dieser herrlichen, einsamen,
fast noch nie betretenen Gegenden fast zersprang. Daß auch ich bald
noch recht weit fortreisen mußte, das stand mir seit jenem Abend
ganz fest! Gletscher, Schneewanderung, Zeltleben mit Eskimos und
Indianern, Fahrten in der einsamen Bai, Bärschießen und -abhäuten,
Kahnbau und Pelzfabrizieren -- da wäre ich gern einmal dabei gewesen!
Freund Moore stellte mir an jenem Abend noch allerlei Griechen vor,
und sie nahmen mich mit in ein echt griechisches Restaurant in Boston,
ein sogenanntes „Xenodocheion“. Ein andermal war sogenannter „~ladies
tea~“, den Mrs. M. in hohem lila wallenden Federhut präsidierte,
danach ein sogenannter „Nationalitätenabend“. Bei dem ersteren wurden
uns allerlei graziöse Bostoner Schönheiten vorgestellt, darunter
eine Ms. St., Freund R.s ganzer Schwarm, gekleidet, gepflegt und in
Haltung wie eine tadellose Schaufensterpuppe in wundervollem Kostüm,
dessen Farbe ich über ihren kirschroten Lippen, ihren wohlgepflegten
blendendweißen Zähnen und ihren schmalen feinen Händen, die gewiß
noch nie Kochtopf oder Scheuerlappen angefaßt hatten, nicht behalten
habe. Aber ob ich sie hätte haben mögen? Die Amerikaner lieben es
zwar, an Frau und Gattin nur eine Schönheit, ein Spielzeug, eine
heitere und lebensgewandte plaudernde Gesellschafterin zu haben, --
man sehe sich die entspr. Typen in den ~magazines~ an! -- die keine
Kinder bekommt und ihre Hausfrauenpflichten anderen überläßt, galante
„~receptions~“ hält, das Auto lenkt, öffentlich redet und angestaunt
wird. Da war mir aber doch die kleine schlichte Hobokenerin aus Baden
bei ihrem Onkel am Küchenherd tausendmal lieber ... An dem anderen, dem
„Nationalitätenabend“, war der Klubraum mit den Flaggen aller Völker
sinnvoll und malerisch drapiert. Brüderlich hing die unsere neben der
Trikolore, dem Union Jack und dem Sternenbanner. Jede Nationalität
hatte nun einen Toast in ihrer Landessprache auszubringen und eine
nationale Eigenheit ernst oder humorvoll den Anwesenden vorzuführen.
Germany wurde zuerst aufgerufen! Es sprach für Deutschland ein
ehemaliger deutscher Korpsstudent mit tüchtigen Schmissen auf der Backe
-- so recht etwas für amerikanische Herzen! -- und sang die „Wacht
am Rhein“, die viele Amerikaner begeistert mitsangen! Dann kamen
Frankreich, Spanien, Brasilien, Griechenland, Indien, China, Japan
und Rußland an die Reihe. Welch ein interessantes Ragout gab es da zu
hören und zu sehen: Japanische Tänze, chinesische Lieder in einer für
unser Ohr merkwürdig unmusikalischen Art, russische Bauerngesänge, ein
~Hindu-farewell~-Lied und ein japanisches Gaukelspiel. Ein spanischer
Student führte zuletzt naturgetreu eine Prügelstrafe aus einer
spanischen Dorfschule vor zum großen Gelächter der Amerikaner, die
körperliche Strafen im Schulleben nicht kennen!

Auch ein „deutscher Abend“ des „Deutschen Vereins“ fand statt.
In dem geräumigen Festsaal der Harvard-Union war eine große
Hufeisentafel aufgestellt -- in Amerika kennt man sonst nur Klubtische
oder Einzelsitze -- um eine deutsch-studentische „Kneiptafel“
vorzuführen. Rings an den Wänden lagen in großen Glasschränken die
siegreichen Fußbälle aufbewahrt, mit Datum versehen, mit denen die
Universitätsmannschaften in großen Wettkämpfen im Stadium gesiegt
hatten. Wie Totenschädel lagen sie da in Reih und Glied und schauten
verwundert auf das, was im Saale nun anhub. Nun wurde -- in dem
„trockenen“ Cambridge -- ein Faß deutsches Bier aufgelegt und
angesteckt, Neger servierten dabei, und die deutsche „Kneipe“ begann!
Auf diese Weise wurde wieder einmal in den amerikanischen Studenten die
Überzeugung befestigt, daß Deutscher und Biertrinker ungefähr dasselbe
ist. Wie oft bin ich selbst drüben gefragt worden, ob ich denn nicht
„mein Bier“ vermißte, während mir die in Memorialhall zu Lunch und
Dinner allgemein viel getrunkene Milch viel besser bekam und mundete.

Aber auch mancher +einzelne Student+ ist mir in der liebenswürdigsten
Weise nahegetreten. Wie oft hat mich mein Freund Arthur E. W. zum
schönen „~fresh-pond~“ begleitet, einem äußerst idyllisch gelegenen
Teich mit reizendem Ausblick auf die Landstädtchen Arlington und
Waverly. Wie manchmal saßen wir dort unter den dunkelen Bäumen,
während ein leichter Wind die Wellen des kleinen Sees kräuselte,
freundschaftlich auf einer Bank zusammen. Er lehrte mich Miltons
„~paradise lost~“[19] verstehen, ich dolmetschte ihm Goethes Faust,
so gut es ging. Wie schwer war es, dieses urdeutsche Ideenwerk
englisch verständlich zu machen! Wie mütterlich nahm sich meiner das
Studentenehepaar M. an. Er +und+ sie studierten, und zwar +beide+ auf
den philosophischen Doktor hin. Aber sie war noch klüger als er! Er kam
schon aus praktischer Arbeit und wollte sich nur auf der Universität
noch weiterbilden. Echt amerikanisch, da man eine Weile arbeitet und
verdient und dann wieder studiert. Ebenso echt amerikanisch, daß die
Frau mit dem Mann studierte! Daneben aber versorgte Frau M. noch
ausgezeichnet ihre kleine Küche in dem kleinen sauberen Logis, das sie
bewohnten, und wußte dann und wann noch mit einem freundlichen Mahl mir
aufzuwarten. Manchmal dachte ich es mir freilich ein bißchen peinlich
für den Mann, wenn die Frau bessere Abschlußzensuren heimbringt als er
selbst! Aber der Amerikaner ist an die Superiorität der Frau gewöhnt.
Wie gastfreundlich wurde ich in jenem kleinen und reizend gelegenen
Landstädtchen Littleton in Massachusetts aufgenommen, da mich einer der
Mitbewohner unserer Hall, Mr. Joseph H., einführte auf den Landsitz
seiner Mutter und seiner Brüder! Wie vornehm und weitläufig war dort
alles! Park, Tennisplätze, Veranden -- und dazu die köstliche Landluft!
Welch eine Stille hier nach dem immer noch recht belebten Boston
und Cambridge. Freund H. war damals gerade der Vater, Inhaber einer
größeren Gestühlfabrik, gestorben. Sofort brach der Sohn pietätvoll
sein Studium ab und erfüllte den letzten Wunsch des Heimgegangenen,
das väterliche Geschäft zu übernehmen. Bei dem ebenfalls verheirateten
Mr. C. und seiner liebenswürdigen Gattin sah ich mich zum ersten
Male genötigt, mit einem sechsjährigen Kinde englisch zu reden, das
sich nicht denken konnte, daß es Leute gebe, die nicht von Geburt
an englisch redeten! Ob ich immer die Worte für das wußte, wofür es
sich gerade interessierte, das kümmerte es nicht. Es fühlte sich auf
meinem Schoße trotzdem wohl. Ein sonst delikates Huhn reichte hier
nach amerikanischer Einteilung für -- sieben Personen! Zur Erledigung
dieser Portionen war ich, da es eine Abendmahlzeit war, ahnungslos im
Frack erschienen. Aber wieder einmal falsch, denn es sollte ein ganz
informelles studentisches Essen sein; und ich hatte die Gastgeberin
ehren wollen, und saß nun als einziger den ganzen Abend in steifster
Toilette! Was mag die Hausfrau -- übrigens auch Studentin -- für
einen Schrecken bekommen haben, als sie mich in meinem ~dinner-dress~
erblickte!

Ja überhaupt dieser „~full dress~“ -- bis man das richtig heraus
hatte, wo er angebracht war und wo nicht! Ich hatte schon einmal vor,
eine Humoreske zu verfassen, betitelt „Die Geschichte meines Fracks“.
Lieber Leser, höre, ich habe es fast immer falsch gemacht! Nur vor den
allergrößten Dummheiten ~in puncto~ „Frack“ haben mich wohlmeinende
Freunde glücklich bewahrt. Bei Professor L. war ich z. B. Sonntags
mittags eingeladen gewesen -- und kam natürlich +abends+ sechs Uhr,
weil ich annahm, jedes ~dinner~ sei abends sechs Uhr; aber Sonntags
ißt man es gerade mittags! Dazu erschien ich natürlich abends im
Frack, während man Sonntags gerade im Gehrock kommt, da man annimmt,
daß man am Vormittag den Gottesdienst besucht hat. Schwarzer Rock ist
aber der Kirchenrock, dazu gehört graugestreifte Hose und hoher Hut
mit etwa braunen Glacés. So hatte ich es einmal bei Professor James
Sonntags mittags gefunden und gedacht: Sieh, wie unformell benimmt
sich der wahrhaft große Mann! Da sieht man es, dachte ich, wie sich
der Philosoph über Sitte und Mode hinwegsetzt; und dabei hatte er sie
gerade peinlichst eingehalten! Und ich war es, der es wieder falsch
gemacht! Also merke, lieber Leser: Wochentags vor 6 Uhr macht man
Besuche im „~Prince-Albert~“, nach sechs Uhr nur in „~full dress~“
oder, wenn inoffiziell, im „~smoking~“. Sonntags aber ist es ganz
anders. Da ist das ~dinner~ um 2 Uhr und der Anzug Gehrock. Bei dem
Dekan machte ich am ersten Tage gar Besuch im Kollegröcklein, wie
mir mein Freund W. geraten -- und sicher war das als offizieller
Antrittsbesuch auch wieder falsch gewesen. Auch fiel mir auf, daß ich
bei den amerikanischen Damen wenig Eroberungen zu machen schien --
nur die Ende 60er stehende Gattin des trefflichen Predigers Rev. G.
bemühte sich sehr um mich! Mein in solchen Dingen äußerst bewanderter
Freund R., der Philologe und Anwärter des ~A. M.~, hat es mir erklärt:
Herren mit Schnurr- oder gar einem Vollbart seien bei Amerikanerinnen
von vornherein unmöglich! Zu spät sah ich tiefbetrübt ein, was ich
mir hatte entgehen lassen! Gar manches Brieflein von ehemaligen
amerikanischen Studienfreunden erreichte mich später noch, doch nie
ein rosa Billetchen von zarter Hand! Nur die Sekretärin der Fakultät,
der ich durch meinen erworbenen Universitätsgrad angehörte, sendet
mir unentwegt alle Prospekte und Einladungen zu Harvard-Banketts und
Vorträgen -- meist, wenn sie schon vorüber sind. Aber so will es ihre
+amtliche+ Pflicht!

Unter den vielen Einladenden war eines Tages auch der brave Hausmann
unserer Hall, Mr. M. Ich stieg an dem betreffenden Abend freundlich
zu ihm in seine Souterrainwohnung hinab. Denn ich war immer sozial
gesinnt. Amerikanische Arbeiter verdienen im allgemeinen mehr und
leben besser als die deutschen. Schon vor dem Krieg unterschied sich
der Arbeiter drüben in Kleidung und äußerem Gebaren fast in nichts
von dem bessergestellten Bürger. Und siehe, bei Mr. M. war es auch
recht gemütlich. Hübsche Möbel, dazu ein Schrank voller Bücher! Das
gehörte notwendig zum Inventar eines Universitätshausmanns. Seine Frau
war übrigens eine geborene Schwedin aus Stockholm! Auch bei ihm gab
es Früchte, Cakes und Tee und ~ice-cream~ wie bei einer offiziellen
„Rezeption“, wenn auch ohne Diener und weiße Handschuhe. -- -- --

In wie schöner Erinnerung stehen mir +die Ausflüge+ mit den
amerikanischen Freunden an so manchem sonnigverträumten Tag des
„~indian summer~“. Es war immer aufs neue reizend, an den ländlichen
Seen zu sitzen. Die Möwen wiegten sich auf dem blauen See. Im
Sonnendunst grüßten die ~Arlington Heights~ herüber ...

    Wie wiegen die Möwen sich leicht auf der Flut
    Und tauchen und netzen den Flügel!
    Wie ein mildes himmlisches Auge ruht
    Der blaue See unterm Hügel.

    Warm scheint die Sonne aufs südliche Feld --
    Ein Traumduft webt durch die Lande!
    Vielleicht stand einst hier Indianergezelt
    An schimmerndem Wasserrande.

    Hier fischt’ er und rudert’ im leichten Boot
    Die wellende Flut zum Gestade;
    Hier labt’ er die Glieder so braun und rot
    Im freien, erquickenden Bade.

    Hier hallte einst Kriegsruf und Mördergeschrei,
    Als die Weißen kamen und siegten,
    Jetzt ruht der Himmel friedlich und frei,
    Wo seit alters die Möwen sich wiegten ...

Wie oft pilgerte ich auch allein die Massachussets-Avenue nach
+Arlington+ hinaus. Nach über einstündiger Wanderung auf der Landstraße
stieg ich links die Höhen hinauf. Pfad- und weglos -- Amerika kennt
kaum Fußwege -- strich ich über die mit hübschen Landhäusern übersäten
Hügel. Von oben ergoß sich ein herrlicher Blick über die parkartigen
und waldigen Höhen und Talgründe mit ihren vielen kleinen blauen
Teichen. In der Ferne lag das rauchende Boston mit seiner weithin
leuchtenden vergoldeten Kapitolskuppel. Oder ich stieg rechts empor
und war bald -- nur eine Stunde weg von der Millionenstadt! --
zwischen Steinen, Dornen, zerfallenen Bäumen und verlassenen Feldern
in einem wahren Urwalde, wo vor Gestrüpp und Buschwerk fast gar
nicht weiterzukommen war, und hatte Mühe, wieder einen Weg durch das
prächtige Herbstlaub an den Farmhäusern einfacher Leute vorüber, wo
Kühe weideten und Kinder spielten, nach der Landstraße zu finden ...

Fast noch prächtiger aber war es weiter nördlich in den sog. ~Middlesex
fells~, einem herrlichen Naturpark mit wundervollem Aussichtsturm
jenseits Medford und des Mystic River. Ich hatte wohl noch nie in
meinem Leben solch prächtige Herbstfärbungen gesehen. Dazu das tiefe,
glühende Rot des Laubes im Unterholz! Welcher Blick bot sich von oben
bis nach dem Dichtersitz Concord, nach Cambridge und zum Meer! Und
allerwärts eine Fülle der malerischen Landhäuser. Auch Amerikaner haben
Natursinn! Nur ist nicht jedem vergönnt, hier draußen zu wohnen. Im
ganzen scheint mir drüben der Wohlstand und der Wohnungskomfort höher
zu sein als bei uns. Auch der kleine Mann hat hier sein eigen Häuschen
und Garten und vor allem seinen „~bathroom~“[20], denn Waschtische sind
in den Schlafräumen unbekannt. Die ~bathrooms~ haben nur den Nachteil,
daß ein Familienmitglied beim Ankleiden auf das andere oft recht lange
warten muß. Bei Damen kann das eine Stunde währen, bis der ~bathroom~
wieder frei wird! Und da er zugleich auch noch anderen Zwecken
dient, ist die Polonäse vor dem ~bathroom~ oft recht ergötzlich bzw.
hochpeinlich ...!

Je mehr ich Bostons und Cambridges Umgebung kennenlernte, um so mehr
erschien sie mir wie eine ungeheure, wenn auch regellose Villenkolonie.
Welch ein Kulturfortschritt! Heil den Glücklichen, die da draußen
wohnen dürfen! Wie voll sind aber auch die Abendzüge dort hinaus! Wie
stehen, hängen, hocken sie in fröhlicher Seelengeduld, sich stets ins
Unvermeidliche schickend, auf Plattformen und Trittbrettern, Zustände,
bei denen es dem biederen Deutschen graute oder er nur zu schimpfen
wüßte. Auf den vollbesetzten Straßenbahnen sah ich die Fahrgäste
manchmal nur noch mit zwei Fingern an einer Längsstange angeklammert,
in vollbesetzten Lokalzügen womöglich vorn auf der Lokomotive hängen
oder stehen!

Auch längs der Ozeanküste und der weiträumigen Bostonbai dehnten wir
unsere Exkursionen aus. So ging es einmal mit der Beachbahn nach dem
alten Salem und nach dem romantischen Marblehead hinaus. +Salem+
ist eine der ältesten Ansiedlungen noch aus der Zeit der Puritaner
(1630), heute eine kleine stille Stadt mit einigen wenigen ganz alten
Häusern an der Massachussets-Bai. Aber nach Lamprechts begeisterter
Schilderung erwartete ich viel mehr dort. Marblehead ist Seebad der
Bostoner. Es war schön, wieder einmal voll dem rauschenden Ozean ins
Angesicht sehen zu können. Dumpf dröhnend spritzte der Gischt am
steinigen Strand auf. Auf der einsamen Felseninsel Nahant kletterten
wir in den öden, zerrissenen Felsen umher, bis uns der Schaum der in
der Flut heranstürzenden Wogen zurücktrieb. Tausende von angeschwemmten
Muscheln lagen umher, deren ich mir eine Sammlung mit nach Hause nahm.
Lange noch zierten die schönsten Stücke mein Kamingesims. Und welche
Abendstimmung erlebte ich hier draußen! Purpurrot tauchte die Sonne
die fernen Fabrikschornsteine Bostons wie in Feuerglut, die weißen
Villen am Strand erglühten wie Bergspitzen in den Alpen, das Meerwasser
ward erst bronzen, dann silbern, bis am Strande die Lichterreihen der
Straßen kleiner Städte und Vororte aufblitzten ...

Auch den historischen „+Bunker Hill+“ habe ich erstiegen in der
Vorstadt Charleston, die an sich düster und rauchig ist. Auf Bunker
Hill hielt zum erstenmal in den Unabhängigkeitskämpfen die junge
amerikanische Miliz den englischen Truppen tapfer stand (am 17. Juni
1775). Im Anfang des 19. Jahrhunderts wurde zur Erinnerung daran ein
62 ~m~ hoher sehr aussichtsreicher Obelisk errichtet, der weithin mit
seiner weißen Steinspitzsäule die Vorstädte Bostons überragt ...

Ebenso flogen wir gern nach Osten und Süden aus: Die interessanteste,
etwas weiter abgelegene Stadt war unstreitig „Concord“, das
amerikanische Weimar, der Wohnsitz Emersons, Hawthorns, Thoreaus
u. a. Poeten und Dichterphilosophen. Ringsum schönes, stilles
hügeliges Farmland mit Wäldern und Viehherden. Concord ist wirklich
ein Idyll, dazu vom Hauch großer geistesgeschichtlicher Vergangenheit
umweht. Die Geister der Großen gehen hier noch um wie bei uns in
Weimar. Wie schlicht und anheimelnd, wie das Goethehäuschen an
der Ilm, sind ihre Landsitze! Dazwischen überall Denksteine in
Erinnerung an die Unabhängigkeitskämpfe, die um Concord und Lexington
begannen. In Concord steht auch das bekannte ansprechende Denkmal
des „~minute-man~“, der „jede Minute“ bereit den ersten Schuß im
Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer abfeuerte, „den man in der
ganzen Welt hörte“.

In Waltham fuhren wir auf den kleinen Seen des Charles River mit
echten ~canoes~ umher. Ganz entzückend ziehen sich die Seen unter
tiefbelaubten Bäumen hin. Wie leicht und sanft glitt das spitze,
schwanke Boot übers Wasser! Zwei amerikanische Freunde ruderten,
während ich bequem in den Kissen des Damensitzes liegen durfte und
das Steuern besorgen sollte. Ein junger Nationalökonom führte mich
eines Nachmittags in das idyllische Waverly, ein äußerst malerisches
Ineinander von Hügeln, Parks, Villen und Teichen. Er war sehr
beschlagen in Deutschlands politischer Geschichte, so daß ich ihm nicht
immer auf alle seine Fragen eine präzise Auskunft geben konnte ...

Dieselben ausgedehnten Parkanlagen fand ich am Südrande Bostons
in „Jamaica plain“, und von den Blue Hills, die wir mit
eineinhalbstündiger Fahrt auf der Elektrischen erreichten, bot sich von
Süden eine ähnlich herrliche Aussicht wie von den Middlesex-fells im
Norden. Der Aussichtsturm ließ uns über die Wälder der Blue Hills, den
Ozean und die ferne Stadt samt einem gut Teil des Staates Massachusetts
schauen! Mächtig kam es mir oben zum Bewußtsein: Es ist ein Stück
schönsten amerikanischen Landes, das du hier oben überschauen darfst.
Könnte ich jetzt noch einmal dort stehen! So haben wir studiert und
innen und außen uns umgeschaut ...


Fußnoten:

[Footnote 15: Nicht zu verwechseln mit dem +englischen+ Cambridge!]

[Footnote 16: Im Keller befand sich die Küche!]

[Footnote 17: „Gymnasium“.]

[Footnote 18: Unerreicht von den Lebenden!]

[Footnote 19: „Das verlorene Paradies“.]

[Footnote 20: Badezimmer mit Wasserklosett und warmem Wasserzufluß.]




Ein Fußballspiel. Weihnachten „drüben“.


Jedes Volk hat seine Heiligtümer. Auch das amerikanische. Zu seinen
Heiligtümern zählt die Bundesverfassung, sein Freiheits- und
Selbständigkeitsgefühl, sein Weltbewußtsein, gleich England eine Art
auserwähltes Volk zu sein, und endlich der -- Fußball. An den großen
Fußballspielen nehmen viele Zehntausende teil. Extrazüge fahren aus
allen Richtungen. Die Zeitungen geben wie bei den Wahlen sofort an
der Stirnleiste das Ergebnis bekannt. Und so erwartete ich mit großer
Spannung das große Wettspiel zwischen den beiden alten Universitäten
Harvard und Yale. Es gibt Jahre, wo in der Union an die dreißig junge
Leute in den heißen Fußballkämpfen ihr Leben einbüßen!

Noch summt mir das wilde, tosende Rufen der Harvard- und
Yale-„undergraduates“ in den Ohren, noch flimmern mir die
vierzigtausend wogenden Köpfe in dem gewaltigen Rund des
Harvard-Stadiums vor den Augen ... wie ein brausendes, tobendes Meer.

Es war ein Tag, so heiß wie eine Schlacht und mit einer Spannung
erwartet und verfolgt wie eine Schlacht. Weit vom Norden und Süden
und vom mittleren Westen waren sie zusammengeströmt mit Automobil und
im Sonderzug, die vierzigtausend, das Harvard-Yale-game zu sehen, das
die Fußballsaison abschließende Spiel zwischen den beiden größten,
ältesten und bedeutendsten Universitäten in den Vereinigten Staaten von
Amerika. Jedes ~college~, ja jede ~high school~ hat ihr ~Footballteam~
und ihr „Stadium“. Im Herbst jedes Jahres messen sie einander. Schon
hatte dieses Jahr Yale über Wesleyan, Syracuse, Springfield, Holy
Croß, West Point, Colgate, Amherst und Princeton gesiegt und Harvard
über Bates, Williams, Maine, West Point, Cornel und Dartmouth; und
nun sah alle Welt, die neunzig Millionen der Vereinigten Staaten, auf
das letzte große Spiel zwischen den ehrwürdigen Meisteruniversitäten
Yale und Harvard. Welche ungeheure Bedeutung dieses Spiel einnimmt,
das zeigt wohl am besten der Umstand, daß für zwei Tickets in letzter
Stunde 60, 80, 100, ja 200 Dollars an Spekulanten gezahlt worden
sind, während Zehntausende keins mehr bekommen konnten; daß ferner
während des Spiels Tausende die Redaktionen der großen Zeitungen in
Boston umlagerten und die Anschläge der Drahtnachrichten und so aus
der Ferne das heiße Spiel Zug um Zug verfolgten; daß in den Theatern
des Landes in den Zwischenakten die Punkte der streitenden Parteien
als Transparente erscheinen und natürlich Extrablätter von allen
Zeitungen verausgabt werden. Der Sport ist in den Vereinigten Staaten
eine öffentliche, nationale Angelegenheit. Ein Blick in die Zeitungen
genügt, um das in aller Deutlichkeit zu erkennen. Jede Zeitungsnummer
bringt täglich spalten- und seitenlange Einzelberichte über die großen
Teams des Landes, über die Spieler im einzelnen, über ihre Herkunft,
ihren Lebenslauf, ihr Alter, ihre Geschicklichkeit, ihre Größe, ja
ihr Gewicht, ihre besten Kicks, Abbildungen der einzelnen Züge und
wichtigsten Momente des Spiels usw. Diese Sportsnachrichten nehmen
oft mehr Raum ein als die politischen Artikel; an Umfang können sich
höchstens mit ihnen noch die Ehescheidungsberichte, Automobilunfälle
und Theatergrößen messen ...!

Nun war also der große Tag herangekommen. Man mochte ein eisigkaltes
Wetter erwarten. Tags zuvor blies es bitterkalt vom Norden her. Aber
merkwürdig, der 20. November war fast lau und mild, und doch mußte
sich jeder wohl vorsehen, in dieser Jahreszeit zwei oder drei Stunden
im Freien auf kalten Steinen zu sitzen. Bereits zwischen 12 und 1 Uhr
mittags nach dem Lunch wälzten sich Hunderte vom „Harvard Square“ in
Cambridge die Bolystonstreet hinunter hinaus aufs „Soldiers field“ zum
„Stadium“. Jeder bekannte sich durch ein entsprechendes Abzeichen als
Harvard- oder Yaleman: hochrote und tiefblaue Kravatten, Armbinden,
Fähnchen, Federn bis zu den blauen und roten Hüten und Jacketts der
Damen. Hie rot und Harvard -- hie blau und Yale! Heiser priesen
die Verkäufer ihre Harvard-Yale-Ansichtskarten und die Bilder der
Spieler an. Von der entgegengesetzten Seite rollten unaufhörlich die
Automobile heran, eins hinter dem andern, tutend, heulend, surrend,
schnaubend, rasselnd. Die Straßenbahnen fuhren Wagen hinter Wagen, bis
auf die Trittbretter besetzt, auf denen noch fast ebenso viele Plätze
fanden wie im Wagen; hier hing einer nur noch mit +einem+ Fuß auf dem
Trittbrett, dort klammerte sich ein anderer nur noch mit den Fingern
an eine Längsstange; die Mäntel flogen im Wind, die Hüte drohten
fortgerissen zu werden.

Am Stadium, dem gewaltigen, imposanten, elliptischen, halboffenen
Amphitheater aus weißgrauem Beton, das nahezu vierzigtausend Personen
faßt, stauen sich die Massen und schwellen an zu einem wirren
Menschengewoge; aber niemand drängt und drückt oder schilt und
schimpft, jeder wartet und ist geduldig, selbstlos und demokratisch.
Bald war die eine breite Straße, die von Cambridge über eine alte,
schlechte Holzbrücke über den Charles River zum Soldiers field führt,
nur noch ein Menschenknäuel mit viel tausend Köpfen. Ringsumher auf
den Zufahrtsstraßen und am Charles River entlang sammelten sich die
Automobile zu ganzen Wagenparks. Wohl noch keine Automobilausstellung
der Welt hat deren eine solche Menge und Verschiedenheit der Marken
zusammengebracht. Wer nicht zu Automobil kommt, kommt mit einem der
vielen Eisenbahnsonderzüge, die aus allen Richtungen an diesem Tage
Boston zustreben.

Das weite Rund des Stadiums mit seinen vieltausend Steinsitzen, seinen
gewaltigen Substruktionen und seinen schönen Kolonnaden über den
höchsten Sitzreihen lag still und gemessen da und wartete der Menge,
die sich von allen Seiten über seine Treppen und Steingänge ergoß und
es trotz ihrer ungeheuren Zahl nur langsam zu füllen vermochte. Ich
hatte einen Sitz hoch oben über den Kolonnaden bekommen, wo sich nicht
nur ein ausgezeichneter Überblick hinunter in die gewaltige halboffene
Ellipse auf das Spielfeld bot, sondern auch hinaus ins offene Land. Ich
fühlte mich fast nach Rom in das gleich gewaltige Kolosseum versetzt.
Gleich dem Tiber wand sich hier der breite Charles River an Cambridge
hin; mäßige Hügel säumten gleich Rom auch hier rings den Horizont;
in der Ferne schimmerte die goldene Kuppel des Kapitols von Boston
auf dem Beacon hill, der schöne Frührenaissanceturm der New old South
Church grüßte aus dem feinen blauen Herbstdunst herüber, der über
der großen Stadt lagerte. Wie hier das Menschengewimmel, so mochte
es einst vor zwei Jahrtausenden zu Zeiten des Titus und Domitian im
römischen Amphitheater ausgesehen haben, wenn die vierzigtausend das
Spiel erwarteten. Nur statt der glattrasierten Römer hier glattrasierte
Amerikaner, statt der Toga und Tunika Automobilpelz und Wintermantel,
schwarze steife Hüte und graue Reisemützen, statt der Löwen und
Gladiatoren harmlose Fußbälle und junge Studenten ...

Wie Ameisen krabbelten die Menschen auf den Steinsitzen hin und her
und suchten ihre Plätze. Schwärzer und schwärzer wurden die runden
Steinreihen. Bald bewegten sich da unten vierzigtausend Köpfe hin
und her, vierzigtausend schwarze Männerhüte und graue Reisemützen
und rote und blaue Damenhüte; dazwischen flatterten lustig die
hochroten Harvard- und die tiefblauen Yalefähnchen mit dem stolzen
H. und Y. Harvard war recht siegesgewiß. Sein Captain Fish, einer
der trefflichsten Fußballspieler, hatte zwar im letzten Spiel gegen
Dartmouth eine Verletzung davongetragen, aber er war wieder munter
und war fest entschlossen mitzuspielen und hatte, wie die Zeitungen
berichteten, geäußert, nur der Tod allein könne ihn von diesem Spiel
abhalten. Captain Coy von Yale aber war ein ebensowenig zu verachtender
Gegner, ein weitgefürchteter „Kicker“. Freilich hatte Harvard in den
letzten zwei Jahrzehnten nur viermal Yale besiegt, aber der Sieg des
letzten Jahres über Yale und Captain Fish machte Harvard im voraus
siegesgewiß.

So ward es zwei Uhr. Auf ein Zeichen sprang eine Schar junger Menschen
mit weiten flatternden roten Tüchern, fast wie Stierkämpfer gekleidet,
in das Stadium, von tosendem Beifall begrüßt, Captain Fish und die
Harvardspieler. Bald darauf stürmte ein zweiter Haufe in wehenden
blauen Tüchern herein -- die Yalespieler. Die Tücher wurden abgeworfen,
ein schwarzes Überwams ausgezogen -- dann standen die roten und
blauen Kämpen einander gegenüber. Jeder angetan wie ein Fechter,
wohlgepolstert an Schultern und Knien und teilweise mit Kopfhauben
gegen Fußtritte und Schädelbrüche geschützt, in weiten zerschlissenen
dunkelgelben Hosen und rotem oder blauem Wams. Schon erhoben die
Harvard- und Yale-„undergraduates“, die auf je einem Haufen auf beiden
Seiten dicht zusammensaßen, ihr Schlachtgeschrei, und aus vielhundert
Kehlen, den Schalltrichter vor dem Munde, schallte es: „Har--vard,
Har--vard, Har--vard, ra--ra--ra--ra--ra--ra, ra ra ra ra ...“ Und von
drüben antwortete es ebenso siegesgewiß und drohend: „Yale--Yale--Yale,
ra--ra--ra--ra--ra--ra, ra ra ra ...“ Jede Partei suchte die andere
mit Schreien und Lärmen zu überbieten. Das Schreien ging fort
und wuchs, von Vormännern ganz methodisch und systematisch unter
Kommando und gewaltigen Armbewegungen dirigiert: „eins--zwei--drei:
ra--ra--ra--ra--ra--ra, ra ra ra ...“

Indessen ertönte ein Pfeifchen. Die Spieler traten an die Mittellinie
des Feldes, das in viele weiße Karrees geteilt war, ähnlich einem
großen Tennisplan, gebückt mit den Händen am Boden, den Kopf tief
gesenkt, zum Fang und Sprung bereit. Harvard begann. Hoch und weit
wirbelte der Ball, von einem Harvardman gewaltig emporgekickt durch
die Luft ... ein Yaleman fängt ihn auf, die Harvardleute fallen über
ihn her ... der Yaleman stürzt rücklings auf den Hinterkopf zu Boden,
... ein wilder Knäuel um ihn, zweiundzwanzig Menschen wälzen sich
übereinander und raufen sich um den Ball, ... indessen sehe ich andere
mit Wasser und Tüchern herbeispringen. Ein Yaleman ist schwer verletzt,
halb bewußtlos liegt er am Boden; einen Augenblick stoppt das Spiel.
Der Verletzte wird zur Seite getragen, ein anderer tritt für ihn ein --
und das Spiel geht weiter. Jedes Jahr sind es ja mehrere, die nicht nur
Arm oder Bein, sondern das Leben auf dem Fußballspielplatz lassen.

Hin und her wirbelt der Ball, bald ist Harvard einige Yards voraus,
bald Yale; hier und da stürzen die Spieler übereinander, wälzen sich
als Knäuel am Boden ... dazwischen Rufen und Jauchzen und Klatschen und
Winken der Zuschauer, immer lauter und frohlockender, bald Harvard,
bald Yale. Wie ein Meer toben die Vierzigtausend da unten. Bald wirbeln
die blauen Yalefähnchen durch die Luft, bald die roten Harvardflaggen,
bald erheben sich hier auf der Seite Tausende in der Erregung von den
Sitzen und beugen sich vor, um besser zu sehen, bald dort: Fortwährende
Rufe und Schreie. Dazwischen das laute Zählen der Spielführer, die
Pfeifchen der Spielmeister und das wilde „ra--ra--ra--ra“ der Harvard-
und Yaleundergraduates, wohl kommandiert und dirigiert. So wogt das
Spiel bei zwei Stunden hin und her.

Währenddessen eilen die Photographen mit ihren Apparaten und Stativen
unablässig von einem Ende des Spielfeldes zum andern, um ja keinen
Zug zu verpassen, die Reporter registrieren genau jede Wendung,
und Punkt für Punkt wird augenblicklich in alle Windrichtungen
telegraphiert. Als es Yale zweimal gelingt, den Ball über die letzte
Harvardlinie hinauszuschleudern, und so der Sieg für Yale immer mehr
an Wahrscheinlichkeit gewinnt, da kann ein ganzer Haufen Yalestudenten
nicht mehr an sich halten; im Enthusiasmus springen sie von den Sitzen
und aus den Reihen aufs Spielfeld hinaus, werfen Hüte, Mützen und
Mäntel in die Luft, umarmen sich und tanzen vor Freude, und einige
Schutzleute haben Mühe, sie zurückzudrängen, damit die Bahn für das
Spiel frei bleibt. Indessen notiert das Bulletinboard am inneren Ende
des Stadiums für die Zuschauer Zug um Zug, Punkt für Punkt und Linie um
Linie. Draußen am Charles River stehen viele Hunderte, die kein Ticket
haben erlangen können, die aber wenigstens mit dem Glas die Zahlen am
Bulletinboard von ferne zu erhaschen suchen. Mehr und mehr neigt sich
das Glück Yale zu. Die Yalegirls werden immer enthusiastischer, immer
schneller wirbeln die blauen Fähnchen in den Händen der Girls durch
die Luft. Das fortwährende kommandierte heisere „ra--ra--ra--ra“ der
Harvardmen hilft ihren Kampfgenossen nicht auf.

Ja, in der Tat, das Unerwartete geschieht. Yale gewinnt! Es ist vier
Uhr. „Yale 8 Punkte, Harvard 0.“ Wilder Siegestaumel ergreift die
Yalestudenten. Sie stürzen wieder von den Sitzreihen ins Feld herunter,
gruppieren sich geschwind hinter ihrer blauen Musikkapelle, -- und
nun geht es in wilden Sprüngen und wildem Tanzen unter Siegessang und
Freudengeschrei im Feld des Stadiums hin und her. Mächtig schallen
die Yalelieder durch das Rund. Hüte und Mützen fliegen vor Vergnügen
aufs neue hoch in die Luft und werden beim Umzug über die Balken der
siegreichen Goals geschleudert. Kläglich und wütend schreien die
Harvardmen ihr „ra--ra--ra--rarara“ dazwischen. Yale hat gesiegt. Die
heiße Schlacht ist aus ...

Die Massen der Tausende auf dem Steinrund sind wieder in Bewegung.
Der gewaltige Automobilpark löst sich auf. Die Straßen beginnen sich
wieder zu füllen; die Straßenbahnen fahren wieder davon, eine hinter
der anderen mit den vielen auf den Trittbrettern hängenden Menschen.
Nur der Charles River fließt ruhig und gemessen im weiten Bogen nach
dem dunstigen Boston hinunter und wundert sich über die Tausende,
die seine alte Holzbrücke passieren, voll Jubel, Enthusiasmus und --
Enttäuschung. Über den Hügeln von Newton und Brookline taucht die Sonne
purpurrot unter, und ihr glutroter Schein spiegelt sich in den Fenstern
Cambridges. Ruhig und verlassen liegen unter den blätterlosen alten
Ulmen die Dormitories und die Collegehalls der Harvarduniversität.
Memorialhall reckt seinen charakteristischen Vierungsturm empor und
öffnet sein Tor den vielen fremden Yalemenschen, die sich jetzt in
seiner weiten gastlichen Halle, wo die großen Ahnen Harvards ehrwürdig
von den Wänden schauen, zum Dinner niederlassen. Über dem sich
leerenden, weiß im Abendlicht schimmernden Stadium aber schwebt wie ein
Aeroplan gemächlich und still eine riesige Flagge: -- „Ponds Extrakt“!
Es gibt in Amerika keinen schönen und berühmten oder poetischen Ort,
den die Reklame nicht meinte noch verschönern zu müssen. Wie eine
Siegesfahne winkt sie hinüber zur goldenen Kuppel des Kapitols in
Boston im Abenddunst ...

Kaum haben wir unseren Fuß aus dem Stadium gesetzt, da laufen uns
schon die Zeitungsboys entgegen mit den Extrablättern, die in riesigen
Lettern verkünden: „Yale Wins. Final score: Yale 8, Harvard 0“, während
der Draht längst den Sieg Yales in alle Lande trägt. Der siegreiche
Fußball aber wandert in den „~trophee-room~“ der Yaleuniversität,
wo ihn die kommenden Geschlechter mit Ehrfurcht und Staunen hinter
Schrein und Glas beschauen, wie wir wohl vor den Schädeln der Großen
und Heiligen in der Geschichte mit Ehrfurcht stehen ... Der Ruhm
der Yalespieler aber ist gesichert für alle Zeiten, weit mehr denn
eines berühmten Yaleprofessors, der dicke Bände geschrieben und die
amerikanische Wissenschaft ein gut Stück weitergebracht hat ...

Griechenland hatte seine Amphitheater und Tragödien, Rom seine
Kollosseen und Gladiatoren, das Mittelalter seine Turniere und
Ritterspiele, Spanien seine Stiergefechte, die moderne Gesellschaft in
Deutschland hat ihre Pferderennen und ihre Mensuren, Amerika hat sein
Fußballspiel ... Kraft und Jugendheldenmut sucht sein Feld; glücklich
die Nation, die sich am Heroischen begeistert wie ein Mann. Aber ist
nicht ein Unterschied, wo wir das Heroische suchen ...? -- -- --

Nach diesem Kennenlernen der akademischen Fußballjugend trieb es mich
ein andermal die in der englisch-amerikanischen Welt großartig in der
sog. ~Young men’s christian association~ weltumspannend organisierte
Jugend kennenzulernen. Ich begnügte mich, einer Einladung des
Zweigvereins, des sog. Y. M. C. A. in Cambridge, zu folgen.

Es war ein geräumiges Vereinshaus, natürlich ein eigenes, an der
Hauptgeschäftsstraße, der Massachusetts Avenue in Cambridge, in das
ich eintrat. Als ich die schöne Freitreppe hinanstieg, gelangte ich
auf dem ersten Stock zu dem Bureau, wo der Sekretär den Fremden
freundlich empfängt, dann in einen weiten offenen Empfangsraum mit
feinen Teppichen, elektrischem Licht wohl ausgestattet, und zu den
anschließenden gemütlichen Lesesälen, wo etwa 30 Zeitungen, die besten
Tageszeitungen, Wochenschriften aller Art, religiösen, belehrenden
und künstlerischen Inhalts, auflagen. Auch ein Billard und andere
Geselligkeitsspiele fehlten nicht und werden allabendlich eifrig
benutzt. Die Treppen führten mich weiter empor zu den mannigfachsten
Klubräumen in den verschiedensten Größen für kleinere und größere
Zusammenkünfte der Jugendlichen. Der Verein in der Großstadt umfaßt
meist mehrere hundert Mitglieder, die an Einzelbestrebungen und Alter
so verschieden und zahlreich wie möglich sind, so daß sie geteilt
sich in kleinen Zirkeln zusammenfinden. Und hier herrscht nun die
bunteste Mannigfaltigkeit, zunächst was das Alter betrifft: Ich sah
kleine Knirpse, die wohl kaum zehn Jahre alt sein mochten, die noch die
Volksschule besuchen, aber eifrig schon „im Verein“ verkehrten. Das
amerikanische Leben drängt im ganzen ja weit mehr und weit früher auf
die Öffentlichkeit hin als das unsere. So ist auch das Clubleben weit
mehr ausgebildet. In jeder Schule von den Kleinsten angefangen bestehen
oft schon Schülerklubs, die sich selbst regieren, ihre Präsidenten und
Beamten wählen und so im kleinen die große Demokratie des ganzen Volkes
abbilden und auf das politische Leben, an dem jeder Bürger Anteil
nehmen soll, vorbereiten. Neben diesen Kleinen gab es genug derer in
den Zwanzigern und Dreißigern. Neben den Volksschülern die Männer,
Arbeiter und Angestellten +aller+ Berufszweige! Dazwischen Realschüler
von fünfzehn und sechzehn, Lehrlinge, junge Kaufleute und Handwerker
von noch nicht zwanzig. Jedes Alter und jeder Berufszweig bildete einen
eigenen Kreis und eine eigene „Klasse“.

Ebenso bunt wie das Alter waren die Bestrebungen, die sich da
zusammenfinden. Der Y. M. C. A. in Cambridge bietet neben den
Bibelstunden, die alle als Grundlage vereinen, Unterricht in Sprachen,
Mathematik, Zeichnen, Singen, Buchhaltung, Schreibmaschinenschreiben,
Stenographie -- und vor allem Turnen und Sport. Dazu kennzeichnen noch
zwei Dinge jedes amerikanische Klubleben: Gymnastik und politische
Debatten. Jedermann vom Schuljungen bis zum Studenten und verheirateten
Mann übt täglich seine Spiele, es sei Fußball, Base-ball, Basket-ball,
Tennis oder Laufen, Springen und Geräteturnen ... So muß jedes
Vereinshaus des Y. M. C. A. vor allem eine eigene vollständig mit allen
modernsten Geräten und Spielen wohlausgerüstete Turnhalle besitzen.
An ihrer Größe und Ausstattung kann man das Florieren des Vereins
kontrollieren. Aber nicht nur das, ein amerikanisches Vereinshaus, das
auf der Höhe sein will, muß möglichst auch ein eigenes Schwimmbassin
haben oder allerwenigstens, wenn es nicht als veraltet und rückständig
gelten will, einen eigenen großen Baderaum mit vielen Brausen und
Duschen. Was gibt es auch schöneres als Spiel und Sport, erst zu
turnen und zu springen und zu schwingen und zu schwitzen und dann zu
baden und zu duschen, zu spritzen und im Wasser zu planschen! Das
hatte ich selbst in der akademischen Turnhalle öfters ausprobiert. Der
Verein muß sogar Gelegenheit geben, sich von einem zuständigen Arzt
auf körperliche Gesundheit und Tauglichkeit untersuchen zu lassen!
Und wie oft kontrolliert der junge Amerikaner mit Stolz zunehmendes
Maß, Gewicht und Stärke ... So ist denn auch der professionelle,
wohlgelernte, mit gutem Gehalt angestellte Turnmeister eine der
wichtigsten Personen unter allen Vereinsbeamten. Und mit welcher
prächtigen Grazie und Gewandtheit weiß er alle Übungen vorzumachen!

Dazu tritt das andere, was jedem Amerikaner über alles geht, Reden
(~addresses~) hören und debattieren. Man kann jeden Abend zwei, drei
und mehr Redner hören. Man ist einfach für alles interessiert, für den
Nordpol, den Mars, für Luftschiffe, für babylonische Ausgrabungen,
neueste elektrische Erfindungen ... jeder Redner und jeder „~speech~“
ist willkommen. Es muß möglichst jeden Abend oder jede Woche einmal
etwas Großes im Verein „los“ sein. Und wie offen erfolgt die
Aussprache! Da werden Fragen gestellt, der Redner unterbrochen;
keiner fürchtet sich, den Mund aufzutun. In Amerika findet man immer
und überall fragende, lernbegierige, empfängliche und für geistige
Darbietungen dankbare Menschen. Selten wird kritisiert, immer bewundert
und gelobt!

In den obersten Stockwerken des Vereinshauses -- ich kletterte mit
meinem Führer bis aufs Dach hinauf, wo man den Turm der City Hall
gerade vor sich hatte und durch die Nacht bis zu dem lichtschimmernden
Boston hinüberblicken konnte -- fand ich auch Zimmer zum Logieren für
durchreisende Mitglieder von Zweigvereinen, für den Sekretär und die
ständig fungierenden bezahlten Beamten des Vereins.

An jenem Abend, an dem ich im Verein weilte, hatte ich Gelegenheit,
einem Schauturnen beiwohnen zu können, das drüben den seltsamen Namen
„Karnival“ trägt. Ich wurde erst durch die Baderäume geführt, wo sich
Kleine und Große in hellen Haufen tummelten und ihre Turnkleidung
anlegten. Dann bekam ich das „Gymnasium“ (die Turnhalle) zu sehen, mit
der kaum die besten unserer Turnhallen es hätten aufnehmen können.
Eine große Zuschauerschaft war schon versammelt, Eltern, Väter und
Mütter, Brüder und Schwestern. Alles wartete gespannt auf das Öffnen
der Flügeltüren und das Einmarschieren der Turner. Und dann kamen sie,
nacheinander, die Riegen der kleinen Knirpse, die so wohl über den
Bock zu springen und allerlei lustige Purzelbäume zu schlagen wußten,
dann die älteren Schüler mit ihren exakten Stab- und Hantelübungen,
und endlich die in den Zwanzigern, meist sehnige, straffe, frische
junge Menschen mit ihren geschwellten Armmuskeln und strammen Waden.
Neu waren für mich eine ganze Reihe wohl ausgeführter Reigentänze, die
mit ihren wilden und doch taktmäßigen Sprüngen mich an Indianer- und
Negertänze erinnerten. Eine Riege erschien als „Farmer und Trapper“
verkleidet, eine andere mit brennenden Holzkeulen, die im Dunkeln
geschwungen einen faszinierenden Eindruck hinterließen. Mancher der
Turner hatte ein großes „C“[21] auf dem Rücken als Ehrenzeichen, daß
er eine Reihe vorgeschriebener ausgesucht schwerer Übungen vollendet
ausführen kann. Auch einige farbige junge Männer waren als Turner
darunter, was mich besonders freute.

In den Vereinigten Staaten bestehen etwa 2000 solcher
Y. M. C. A.-Vereine, die 681 eigene Häuser haben mit einer
Gesamtmitgliederzahl von über 450000 Personen und einem Gesamtvermögen
von ungefähr 50 Millionen Dollars! Und wieviel wird für sie gegeben!
Der Bostoner Verein, dessen Haus kürzlich in der Nacht in Flammen
aufging, sammelte binnen 14 Tagen 500000 Dollars für ein neues
größeres! Der Cambridger Verein plant, seine Mitgliederzahl von
200 auf 2000 zu erhöhen und man wird das in einer „Kampagne“ auch
fertigbringen. Die Stadt wird gleichsam für wenige Wochen bestürmt und
erobert: Energie, Zielbewußtsein, Begeisterung, „Rekord“ -- die leben
nirgends mehr denn in Amerika. Die Tätigkeit der Y. M. C. A.-Vereine
ist im ganzen Land von jedermann anerkannt, vom Präsidenten, der sie
öffentlich gelobt hat, angefangen. Sie schaffen anerkanntermaßen
Charaktere, treffliche gebildete Bürger, gesunde frische Menschen,
allem Gemeinen, Trägen und Genußsüchtigen abhold. -- -- --

Mittlerweile war langsam Weihnachten herangekommen. Wie würde es
mir im fremden Erdteil am Heiligen Abend ergehen und zumute sein?
Hatte ich bis jetzt unter den vielen neuen Eindrücken, deren Kette
für mich gar nicht abriß, nie an Heimweh auch nur gedacht, sondern
lebte fortgesetzt in einer Art Erobererstimmung, ein ganzes Land in
seiner eigenen neuen Art, seiner Sitten, Anschauungen und Gebräuchen
mir geistig zu eigen zu machen, so würden mich vielleicht die stillen
Weihnachtstage doch auf einmal „kleinkriegen“! Das fürchtete ich ...

Man feiert Weihnachten drüben doch recht anders als bei uns. Die
zentrale Stellung, die das Weihnachtsfest im deutschen Volks- und
Gemütsleben hat, hat es drüben lange nicht, ja wohl in keinem Volk
sonst. Schon das Sinnbild des deutschen Weihnachten fehlt, der
Christbaum, wenn auch nicht überall ...

Weihnachten voraus geht in Amerika der nationale „~Thanksgiving day~“
am 27. November. Zwei nationale Feiertage hat die Union, an denen sich
das ganze Volk ohne Unterschied zusammenfindet, das ist der „~Fourth of
July~“ (4. Juli), der Verfassungstag, der mit allem Pomp und Aufsehen
und höchstem Stolz vom ganzen Volk von der Küste des Atlantik bis zum
Stillen Ozean und von den großen Seen bis zum Golf von Mexiko begangen
wird; man halte dagegen den Streit und die Zerrissenheit unseres Volkes
in Sachen eines Verfassungstags! Und daneben religiöser betont als
der 4. Juli der „Danksagungstag“, wenn die ersten Schneestürme die
nördlicheren Staaten durchfegen und man sich um den traditionellen
Truthahn sammelt, wie wir um die Martins- oder Weihnachtsgans.
An diesem Tage gedenkt das amerikanische Volk in allen Kirchen
aller Denominationen mit Dank des Reichtums, der Sicherheit, des
Fortschritts, des Glücks und Ansehens, das es in der Welt genießt
und auch des Sieges, den es im Weltkrieg „der Gnade des Höchsten“ zu
verdanken hatte. Und es läßt sich gern die Verpflichtung vorhalten, nun
auch seinerseits sein Wort und seinen Willen kräftiger als bisher zur
Beglückung und Befriedung der Völker trotz der Monroedoktrin in die
Wagschale der Welt zu werfen, Kriege in der Welt zu verhüten (!), daß
jedem, auch dem kleinsten Volk in der Welt -- darum auch Tschechen,
Polen, Südslawen und Serben, Juden -- ihr Selbstbestimmungsrecht
werde, besonders allen Unterdrückten wie einst dem amerikanischen
Volk selbst, als es „der Herr aus seinem Diensthause führte“. Zu
diesem feierlichen ~Thanksgivings day~ hatte ich nicht weniger als
fünf Einladungen erhalten zu drei Professoren, zu dem befreundeten
liebenswürdigen Studentenehepaar und zu den Eltern meines Freundes
Arthur E. W. Leider konnte ich nur +einen+ Truthahn verspeisen, da der
Thanksgiving leider nicht fünf Tage hintereinander gefeiert wird. Ich
nahm des letzteren freundliche Einladung an, da sie zuerst gekommen
war, und mußte die anderen nicht leichten Herzens ausschlagen. W.s
Eltern wohnten in der freundlichen und schöngebauten Vorstadt Bostons
Dorchester. Ich hatte dort Gelegenheit, auch einmal in amerikanisches
Familienleben des kaufmännischen Mittelstandes hineinzuschauen. Der
Familienvater war zwar ertaubt, aber um so intensiver belesen in aller
schönen Weltliteratur. Und kein Laut der Klage kam wegen seines Leidens
über seine Lippen ...!

       *       *       *       *       *

So kam Weihnachten näher.

Dienstag vor Heiligabend las der Rhetor der Universität in „Appleton
Chapel“ aus den „Christmas Carols“ von Dickens. Dazwischen wurden
englische Weihnachtslieder mit frischer Melodie gesungen, darunter
auch das Lied von der „heiligen Nacht“ in Übersetzung. Wie seltsam das
in Amerika berührte! Denn kein Lied ist deutscher als dieses. Ebenso
seltsam klang mir immer die Übersetzung unseres Lutherliedes: „Ein
feste Burg ...“ als englischer Choral in den Ohren:

    „~A mighty fortress is our God,
    A bulwark never failing,
    Our helper he amid the flood
    Of mortals ills prevailing.
      For still our ancient foe
      Doth seek to work us woe,
      His craft and power are great
      And armed with eternal hate;
    On earth is not his equal usw.~“

Dann schlossen die Vorlesungen auf zehn Tage. Zehn goldene Tage
war ich einmal die vorgeschriebene Zwangslektüre los und konnte im
Lande der „Freiheit“ einmal wieder meiner geistigen Selbstbestimmung
leben! Freitag war heiliger Abend. Aber ich sah in Cambridge keinen
Christbaum, noch weniger einen Weihnachtsjahrmarkt. In Neuengland
herrschen noch ganz die alten +englischen+ Weihnachtssitten. An den
Fenstern der Läden und Häuser hingen einige grüne Kränze -- das war
alles. Nicht einmal rechte Weihnachtsgottesdienste, wie wir sie gewöhnt
sind, gab es, nichts von Metten und Vespern. Das Fest wird auch bloß
mit +einem+ Feiertag begangen!

So hatte ich mir selbst am heiligen Abend -- den sie übrigens drüben
auch gar nicht feiern! -- einen kleinen Weihnachtstisch zurechtgebaut
und schenkte mir selbst ein paar blitzende amerikanische Schlittschuhe,
zündete mir einige Kerzen auf dem Kamin an, steckte hinter meine
Bilder ein paar Tannenreiser, schichtete ein paar rotwangige Äpfel
auf und feierte so still für mich heiligen Abend in der neuen Welt.
Als ich die Kerzen angezündet und ihr Schein auf die paar mageren
Zweiglein fiel, fiel, glaube ich, auch ein kleines, warmes Tränlein
mit darauf. Jetzt wäre ich doch fürs Leben gern die zehn Ferientage
einmal schnell zu Hause gewesen und hätte soviel zu erzählen gehabt
-- aber das Weltmeer mit seinen 4000 Meilen lag dazwischen! Ich fing
nun manchmal schon heimlich die Wochen an zu zählen, wann es wieder
heimgehen würde. Bei Wachsduft und Kerzenschein kamen auf einmal alle
die Weihnachtsfeste der Kindheit leise zu mir in mein amerikanisches
Studierzimmer hereingeschritten, frohe und ernste, und stellten sich
wie unsichtbare Engel an den Wänden meines „~furnished room~“ auf und
hatten wohl alle auch ein kleines, warmes Tränlein an den Wimpern ...
Damit mir es nun aber in meinem Zimmer nicht gar zu einsam werde,
holte ich mir einige Kameraden aus unserer Hall herein, von denen die
meisten aus dem eigenen Lande auch nicht heimfahren konnten, weil
viele weither aus dem Süden oder dem „mittleren Westen“ waren. So kam
zu meiner „Weihnachtsfeier“ mein lieber japanischer Freund Ashida,
Mr. Moore und der Heidelberger Philologe. Wir lasen deutsche und
englische Weihnachtsgedichte zusammen und sangen dann alle miteinander
auf +deutsch+ „Stille Nacht, heilige Nacht“, bis die Kerzen langsam
herabbrannten. Der Japaner, der Amerikaner und wir zwei Deutschen!

Als sie wieder gegangen waren, packte ich die heimatlichen
Weihnachtspakete aus, die vor einigen Tagen angelangt waren; das wollte
ich gern ganz allein tun. Da kamen noch allerlei -- aber jetzt echte
deutsche -- Tannenzweiglein und duftende rotwangige deutsche Äpfel,
Weihnachtskerzen, warme Sachen und vor allem Weihnachtsbrieflein zum
Vorschein. Und wie war das alles mit soviel Liebe und weiser Berechnung
zeitig aus der Heimat abgegangen ...! Und wie wirkte das alles hier so
traulich und wehmütig zugleich! -- --

Der Abend schloß für mich nicht so ganz still und die Nacht nicht so
ganz heilig insofern, als sich -- wohl nach einer zugezogenen Erkältung
-- in der Nacht Fieber einstellte und ich das Bett hüten und nicht mehr
zu Präsident Lowell gehen konnte, der alle Harvardstudenten, die nicht
heimfahren konnten, zu einem offenen Weihnachtsabend zu sich eingeladen
hatte. Das war schön von ihm! Ich lag derweilen allein fiebrig in der
Weihnachtsnacht ... In derselben Nacht gab es auch noch einen riesigen
Wasserröhrenbruch in der Stadt, so daß das Wasser in hellen Strömen
durch alle Straßen schoß. Da man ein böses Einfrieren befürchten mußte,
griffen noch in derselben Nacht die Studenten mit zu, als sie gerade
vom Präsidenten kamen, um noch größeres Unglück zu verhüten.

Andern Tags hatte mich Freund W. wieder zu seinen Eltern zusammen
mit seinem Stubengenossen R. nach Dorchester zum „Christmas-Dinner“
eingeladen. Wir hatten daselbst wieder „~a very good time~“ (viel
Spaß), wie man drüben sagt, und sangen allerlei wehmütige Negergesänge,
die ich einige Tage zuvor in einer baptistischen Negerkirche gehört
und gelernt hatte. Dort war, als ich eintrat, alles ganz „schwarz“
gewesen, nur die weißen Zähne und Augen ließen erkennen, daß Menschen
anwesend waren!! Süßlich-sentimental erklangen die Lieder, aber der
Prediger fuchtelte dafür um so gewaltiger mit seinen Armen auf dem
Pult. Ein laut schreiendes Kind und ein bellender Hund begleiteten in
dieser Negerkirche die Predigt auf ihre Weise! Und überall duftete es
eigentümlich ...

Gegen Abend machte mein Freund mit uns noch einen Weihnachtsbesuch in
einem sehr reichen Hause im Franklinpark, wo eine sehr wohlhabende
Dame, die einst mit ihm -- glückliches Land der Koedukation! -- in
die „~high School~“ in Dorchester gegangen war, auf ihrem ländlichen
Schlosse wohnte. Wir schritten die tiefverschneiten Parkwege entlang
und traten ein. Ein riesiger prächtiger Christbaum stand hier auf
spiegelblankem Parkett in der Empfangshalle. Er reichte vom Fußboden
bis an die Decke und war über und über mit Hunderten von Kerzen
besteckt. So sah ich doch noch einen Christbaum! Feine Herren und Damen
verteilten unter ihm an eine Anzahl von all der strahlenden Pracht wie
geblendet dastehende arme Kinder der Vorstadtviertel Weihnachtsgaben.
Die Dame des Hauses selbst sang am glänzend polierten Flügel allerlei
süßtönende Lieder ... Aber trotz allem, dies Weihnachten gefiel mir
auch nicht recht. Es war mir zu fein.

Dieselbe Nacht noch vom ersten zum zweiten Feiertag wütete in ganz
Neuengland ein furchtbarer Schneesturm, wie man ihn lange nicht
erlebt hatte. Die schwersten Äste der alten Harvardulmen lagen am
Morgen zerschmettert am Boden. Die Vorstadt Chelsea stand infolge der
Sturmflut unter Wasser; viele Schiffe waren gestrandet, Neger wurden
erfroren in den Straßen aufgefunden, denen es immer noch schwer fällt,
den nördlichen Winter durchzumachen; Seeleute wurden zahlreich vermißt.
Auch das kein schönes „Weihnachten“! Und am Morgen lagen, als man
erwachte, Schneemassen in den Straßen Cambridges, daß niemand von den
Studenten, die früh zu ihrem „~job~“ als Organist oder Prediger aufs
Land hinauswollten, auch nur vor die Tür kam!

[Illustration: ~BOSTON~

~Ralph Waldo Emerson’s Haus in Concord (Mass.)~]

[Illustration: ~NIAGARAFÄLLE~

~Links: Der amerikanische Fall~

~Rechts: Der kanadische (Hufeisen-)Fall~]

Als guter deutscher Tourist zog ich trotzalledem nachmittags dicke
feste Stiefel an, hing einen tüchtigen deutschen Lodenmantel um und
stapfte nach Mount Auburn hinaus, besah mir die einzigartig schöne
Winterlandschaft und arbeitete mich bei blendendem Sonnenschein vier
Stunden durch den hohen weichen Schnee von Concord nach Belmont durch
und fühlte mich bei dieser Wanderung wie in den Schwarzwald oder auf
den hohen Westerwald versetzt. Ja, ich hatte Lust, in diesen Tagen nach
Kanada zu reisen, wo der Winter meist noch dreimal so dick ist als in
Neuengland, aber ich ließ glücklicherweise den Plan einstweilen wieder
fallen, denn wer weiß, wo ich in Schnee und Eis stecken geblieben
wäre ...

Am letzten Abend des Jahres hatte ich noch Gelegenheit, noch einen
Weihnachtsunterhaltungsabend in einem „+~settlement-house~+“ in Boston
mitzumachen. In den sogenannten „Settlements“ werden Knaben und Mädchen
der ärmsten Viertel von sozialgesinnten Studenten zu Klubs, Spiel,
Sport und Vorträgen gesammelt, um geistiges Leben in ihnen zu wecken,
Sinn für Anstand, Sitte und charaktervolles Leben in ihnen zu pflegen,
ja ihnen nach Möglichkeit alles das zu ersetzen, was sie in ihren
elenden und traurigen Verhältnissen daheim entbehren müssen. Also
eine Arbeit ähnlich der in den Hamburger Volksheimen, die sich die
~settlement~-Bewegung in England und Amerika in der Tat zum Vorbild
genommen haben. Die ~settlement~-Arbeiter oder „Siedler“ wohnen meist
-- ein großes Opfer ihres Lebens! -- selbst im Klubhaus mitten in der
übelsten Umgebung (dem sogenannten „~slum~“), um daselbst als Salz
und Licht ihrer Umgebung zu wirken. Reiche Freunde unterstützen die
Arbeit und erstatten den Unterhalt der Siedlung. Nach einer feudalen
Schlittenfahrt im „Franklinpark“ dinierten wir mit den feinen Damen
der Bostoner Gesellschaft, soweit sie zum Vorstand des Settlements
gehörten, und dann ging es -- ein mir nicht gerade angenehmer Kontrast!
-- zu den Vorführungen des armen Jugendklubs. Die Knaben und Mädchen
boten allerlei hübsche theatralische Aufführungen in niedlichen,
selbstgefertigten Kostümen; zum anderen Teil unterhielt die Kinder
ein professioneller Komiker, der sprechend allerlei Tiere und
Maschinengeräusche nachzuahmen wußte und zuletzt noch als Bauchredner
auftrat. Nicht endenwollender Beifall der Kinder lohnte ihn. Zum
Schluß gab es das in Amerika immer unvermeidliche „~ice-cream~“ mit
Cakes! Ein derber Junge konnte es sich aber nicht versagen -- der
Komiker hatte es ihm wohl angetan! -- einem anderen eine Portion des
schönen „~ice-cream~“ in den Nacken zu gießen. Mein Freund setzte ihn
dafür flugs und energisch an die Luft. Meist waren es Kinder armer
eingewanderter Italiener, Iren, Juden und Slawen.

So ging das alte Jahr für mich drüben zu Ende. Am Silvesterabend
zündete ich noch einmal meine Kerzen auf dem Kaminsims an und machte
schon Pläne zu meiner baldigen großen Fahrt durch die Union, die mich
bis zum Stillen Ozean führen sollte ...


Fußnoten:

[Footnote 21: = Cambridge!]




Über den Niagara nach Chikago.


Aber wie zum Stillen Ozean gelangen? Ein reicher Allerweltsreiseonkel
war ich ja nicht. Mein mir verliehenes amerikanisches Stipendium
reichte kaum für das Studienjahr. Und einen wirklich einträglichen
„~job~“ hatte ich nicht, seit jener „Freshman“ behauptete, mein
Deutsch striche sein Professor als Fehler an! Da kam eine ernst-frohe
Nachricht für mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es bewahrheitete
sich wieder einmal: Was dem einen sein Tod ist, ist dem andern sein
Brot. Hatte ich hier in Amerika einem Onkel das Leben wiedergegeben,
so starb derweilen mir eine liebe, gute, ferne Tante im Schwabenland,
die mich einst als Tübinger Studenten freundlich beherbergt und an
mir beifällig zu rühmen wußte, daß ich trotz all meiner ernsthaften
Neigungen mit Recht „auch e bissele weltlich“ geblieben sei. Sie
hatte mir nun -- dafür sei ihr im Grab noch gedankt! -- eine kleine
Erbschaft hinterlassen, die zu einer Fahrt, wenn man es wohl einteilte,
an den Stillen Ozean hin und her reichen mochte! So stand ich vor dem
Entweder-Oder: Entweder das Geld zu den Wechslern zu tragen und dann
mein Pfund einst mit Zinsen wieder heimzunehmen, oder es auf sehr
ehrenwerte und anständige Weise hier im Lande Amerika durchzubringen,
d. h. die Erbschaft in Geist und unwiedereinbringliche Erlebnisse zu
verwandeln. Ich wählte das letztere und habe es noch nie bereut. Wer
weiß, ob sie nicht sonst die Inflation verschlungen hätte. So beschloß
ich, die Erbschaft zu „verreisen“. Ohne dich, liebe gute Tante, hätte
ich wohl nie den Stillen Ozean und das Felsengebirge gesehen!

Nun fing ich alle Tage zu rechnen an, -- aber es wollte nicht recht
reichen! Denn die Fahrkarte allein nach San Franzisko und zurück
kostete wohl bald dreimal so viel wie die von Hamburg zur See nach
Neuyork! Denn von Boston nach San Franzisko +und zurück+ ist ungefähr
so weit wie von Berlin in gerader Linie bis nach Kapstadt oder beinahe
bis nach Wladiwostock!! Ja, ich überlegte schon, ob es am Ende nicht
gar gescheiter sei, von San Franzisko gleich über den Stillen Ozean,
durch Japan und auf der sibirischen Bahn heimzufahren. Aber diese
Route wäre noch um zwei Drittel Weg weiter gewesen. Freilich hätte
ich dann einen „~trip round the world~“ vollendet und auch von dem
Felsengebirge, dem Niagara und dem Grand Canyon erzählen können.

Mit diesen rechnerischen Gedanken gehe ich eines Tages durch die
„Washingtonstreet“ in Boston und sehe in einem Reisebureau günstige
Fahrgelegenheiten für Auswanderer nach Kalifornien in Gestalt von
ermäßigten Rundreisescheinen „Chikago-Los Angeles-Frisko-Chikago“
aushängen -- zum halben Preis! Das war etwas für mich! Ich war ja nun
zwar kein Auswanderer, aber vielleicht konnte auch ich ein solches
Billett kriegen. Dazu kam noch die 20stündige Reise Boston-Chikago und
wieder zurück. Aber die konnte allein auch kein Vermögen kosten. So
war es. Ich behielt dabei immer noch die Hälfte meines Erbes für den
Tagesunterhalt. Lebte ich recht sparsam, so mochte es wohl bis nach
San Franzisko reichen. Wieviel konnte ich sehen, wenn ich so die ganze
Union in ihrer vollen Breite +zweimal+ durchfuhr! Leuchtend stieg die
große Reise vor meiner Phantasie auf! Fuhr ich öfters des Nachts, so
blieben die Tage um so freier zu Besichtigungen. Vor meinem geistigen
Auge tauchten schon die Niagarafälle, Chikago, die Indianerprärien,
der Mississippi, das Felsengebirge, die Wüsten Arizonas und Nevadas,
der Grand Cañon des Koloradoflusses, von dem ich schon geradezu
faszinierende Bilder gesehen hatte, das paradiesische Kalifornien,
der Pazifik, das vom Erdbeben zerstörte San Franzisko selbst, die
Mormonenstadt, der Große Salzsee und wer weiß was alles auf! Ohne
Zögern schritt ich tapfer in das Reisebureau hinein und erstand das
preiswerte „Auswandererbillett“, einen richtigen übermeterlangen
Fahrschein mit allen möglichen und unmöglichen Bahnstationen darauf
und der Berechtigung auf etwa 12000 ~km~ Eisenbahnfahrt! Mein Herz
hüpfte und zersprang fast vor Freuden: Einen ganzen Erdteil sollte
ich zweimal durchfahren! Wie viele in der Welt kamen mir gleich? In
Harvard staunten sie über meinen kühnen Entschluß. Denn es gab nicht
viele Amerikaner in Neuengland, die schon einmal bis nach Kalifornien
gekommen waren! Denn wer von uns Deutschen war am Kaukasus oder am
oberen Nil?

Mittlerweile war es langsam Frühling geworden. Vom Eise und Schnee
befreit waren Ströme und Bäche, als ich zur „Northstation“ in Boston
hinausfuhr in Richtung „Buffalo“! Der weitgereiste Freund Moore hatte
mir noch viele gute Ratschläge gegeben, Adressen und Reiserouten
empfohlen, mein japanischer Freund Mr. Ashida hatte noch einmal in
Boston mit mir zu Abend gegessen und gab mir das Geleit bis an den
Zug, dann war ich allein, ganz allein und fuhr dem „wilden Westen“ zu!
Beide Freunde konnten sich wohl am ehesten in meine Seelenverfassung
hineinversetzen, der eine durch seine weiten Fahrten als Dolmetscher
und Führer mit Cook bis nach Italien, Griechenland und Konstantinopel,
der andere kannte selbst den weiten Weg von Japan über den Stillen
Ozean, das Felsengebirge und die Mississippiebene nach Boston
herüber ...

Als wir fuhren, schaute ich mich zunächst in dem fürstlich
ausgestatteten Pullmannwagen um. Die Decke war wie in einem Salon.
Plüsch auf den Sitzen, auf die man zum Ausruhen die Beine legte (soweit
hatte ich mich auch schon amerikanisiert!). Hinter jedem Sitz brannte
zum bequemen Lesen eine besondere Glühbirne. Der Zug war gar nicht
besetzt. Wenige gelangweilte Zeitungsleser saßen auf einigen anderen
Plätzen in den Ecken und ließen bald ihre „~papers~“ zu Boden gleiten,
um selig zu entschlummern, Kaufleute, Geschäftsreisende, die gewiß wie
oft schon diese Strecke gefahren waren. Was ahnten die, was in meiner
Brust alles vorging und wie mir das Herz klopfte: „Nun hast du die
große Fahrt an den Stillen Ozean angetreten ...!“ An der Tür stand,
jedes Winks gewärtig, der Negerschaffner zur Bedienung. Ab und zu kam
der „~trainboy~“ und bot seine Postkarten, ein Dollaralbum für einen
halben Dollar an, Handschuhe, Süßigkeiten, Zeitschriften wie immer.
Langweilig konnte es mir auch ohne ihn nicht werden. Mir war alles
interessant, was ich sah; ich schaute gespannt hinaus, solange noch
etwas von der Landschaft zu erkennen war ...

Langsam senkte sich die Abenddämmerung nieder. Es war ein Nachtzug.
Wir fuhren durch historische Gefilde. Im Rauch der Großstadt und
ihrem unübersehbaren Häusermeer versank der schöne Frühlingstag.
Wir überquerten den Charles River und rasten zwischen dem langen
straßenreichen Sommerville, mit seinen unzähligen freundlichblickenden
weißgestrichenen Holzhäusern und ihren offenen Vorhallen und Veranden
dahin. Über die Dächer grüßte Fort Prospect Hill mit seinen steinernen
Zinnen und seinem wehenden Sternenbanner, ein stolzes Wahrzeichen aus
dem Unabhängigkeitskrieg. Der hohe weiße Obelisk auf Bunker Hill, wo
einst General Warren und Oberst Prescott vor anderthalbhundert Jahren
sich so lange siegreich gegen die Engländer behauptet hatten, blieb
zurück. Wir jagten an Arlington, den Arlington Heights und der Gegend
von Concord in seiner poetischen Einsamkeit vorüber. Sie waren mir
von meinen Fußreisen wohl bekannt. Im Rauch der Fabriken, Schiffe und
Bahnen der Boston-Bucht war inzwischen die Sonne hinabgesunken ...

Wir waren über Bostons nächste Umgebung hinaus. Hügel, Wälder und
Felder mit Obstbäumen, an denen sich schon das erste Grün hervorwagte,
wechselten miteinander. Aber so rechten Mut, hervorzukommen, hatte
das Grün an den Bäumen noch nicht. Denn wie oft bricht im April noch
Sturm und Schnee aus Kanada über Knospen und Blüten herein, die ebenso
schnell ein plötzlicher Sommer ablöst. Wie das Klima drüben die größten
Gegensätze aufweist, so sind auch die Menschen voller Kontraste. Das
hartwechselnde Klima hat sie rauh, aber auch energisch gemacht. Auch
hier machte das Land, wie einst zwischen Neuyork und Boston, vielfach
den Eindruck des Unfertigen. Wohlangebaute und wohlausgenutzte Felder
in unserem Sinn sah man selten. Wälder wechselten mit öder Steppe. Hier
und da tauchten Farmen auf, manchmal auch verlassene, wo die Ausbeute
sich nicht mehr lohnte. Aber man muß gerecht bleiben: Was in Europa
in einem Jahrtausend erreicht worden ist, dazu war ja hier nur ein
Jahrhundert Zeit zu Besiedlung und Urbarmachung eines Kontinents! So
sehen wir Europäer, die wir nur an kleine, wohlgeordnete Landschaften
gewöhnt sind, wo jeder Fußbreit jemandem gehört und seit Urväterzeiten
umgepflügt worden ist, leicht Unordnung, Schmutz, wüstliegendes Land,
Steine, verkohlte Baumstämme, unrationell abgeholzte Wälder, an deren
Wiederaufforstung man kaum denkt, und übersehen die vollbrachte
Leistung. Hier lag eine Mühle und da eine Faktorei, dort eine einzelne
Farm und drüben ein abgelegenes Landstädtchen. Der Zug hielt selten,
kaum alle dreiviertel Stunden oder alle Stunden einmal, manchmal noch
viel länger auch gar nicht ...

Wir fuhren mit etwa 50 Meilen Geschwindigkeit. Die Wagen sind so fest
und gutfedernd gebaut, daß man selbst bei langen Fahrten kaum etwas
vom Fahren merkt. Nur ein leichtes Rollen und ein leises Ächzen der
Wände verrät es. Das ist alles. Die Stationen enthalten zum Teil
allerlei Merkwürdiges. Namen: Amsterdam, Utica, Rome, Syrakuse, Genf,
Batavia! Alle diese Orte liegen im Staate „Neuyork“! An wundervollen
Gebirgsgegenden fuhren wir vorüber, Caatskill-Mountains und Berkshire
hills. Ach wer da überall wandern, die Aussichten sehen oder dort ein
Zelt für ein paar Wochen aufschlagen könnte! Aber dazu reichte meine
Zeit lange nicht. Da wären noch Pumas, schwarze Bären, Wildkatzen,
Rotwild, Füchse, Dachse, Adler, Wildenten, Reiher und Haselhühner zu
erlegen! Es ist die Gegend, wo einst die Mohawkindianer und Irokesen
dem vordringenden Trapper, der mühsam seinen schweren Karren mit seinen
Tieren durch die Täler trieb, hemmte, überfiel und erschlug, was ihm
der Weiße reichlich vergalt. Aber heute ist weder von Mohawks noch
Irokesen etwas zu sehen ... Nur einförmige Rauchwolken lagen über dem
Schienenstrang ...

Etwa um zehn Uhr fing der Schlafwagenschaffner, der Neger, in sehr
großer Gemächlichkeit und Seelenruhe an, unseren D-Wagen (die keine
Abteile haben, um etwaigen Überfällen leichter begegnen zu können!) in
einen Schlafwagen zu verwandeln. In äußerst praktischer Weise werden
dazu von oben und unten Betten heruntergeklappt und hervorgezogen,
und es wird Raum zum Schlaf für 32 Passagiere! Große grüne Vorhänge
werden vor die Betten gehängt, hinter denen man sich -- Männlein und
Weiblein -- ungeniert entkleidet. Ich klomm wie in der Schiffskabine
mittels einer kleinen Leiter wieder in eins der +oberen+ Betten empor.
Denn man hat da viel mehr Raum zum Auskleiden, was einem oben sogar
im Aufrechtsitzen gelingt. Unten dagegen geht es ohne Kopfanstoßen,
vergebliches Hüpfen, Lupfen, Ziehen und Zerren nicht ab. Auch glaubte
ich mich oben gegen etwaiges Bestohlenwerden im Schlafe sicherer. Die
Wertsachen, Uhr und Scheckbuch, barg ich unter meinem Kopfkissen oder
am Fenster ... und legte mich dann ruhig aufs Ohr schlafen.

Bald verrieten rings überall regelmäßige Atemzüge, daß die meisten
schon entschlummert waren. Die Glühlampen waren bis auf wenige
ausgelöscht ... Einsam rollte unser Zug aufwärts durch die Nacht. Nur
hier und dort blinkte ein Lichtlein ... mit Dampf und Gekeuch ging es
das Mohawktal hinauf. Mit ziemlicher Gewalt trommelte dabei die aus
der schwer arbeitenden Lokomotive geschleuderte körnige Asche auf das
Wagendach und ließ noch nicht so bald ruhigen Schlaf aufkommen ... Ich
hörte, wie wir in der Hauptstadt des +Staates+ Neuyork, in Albany,
hielten am oberen einzig schönen Hudson. Auch hier mußte ich es mir
versagen, auszusteigen. Immerfort ging es in die Nacht hinaus! Wie
verschieden die Menschen doch zu Zeiten gereist sind! Zu Fuß, zu Pferd,
auf dem Esel, in der Sänfte, in der alten rumpelnden Postkutsche, auf
dem Segel- und Dampfschiff, und nun im Schlafwagen oder im eigenen
Ford-Auto. Es war schön, so ruhend und schlafend durch eine fremde Welt
gerollt zu werden! Es war ein eigenartiges Bewußtsein für mich: Da
draußen kennt dich kein Mensch, und du da drinnen kennst auch keinen!
Wie anders reist der Spekulant, der Geschäftsmann, der Landaufkäufer,
der Farmer, der Hochstapler, der Tourist, der Novellist, der Student!
Wie schön, mit frohem Gewissen und geschwellter Brust und klopfendem
Herzen zu reisen, immer neuer Eindrücke gewärtig ... Um Mitternacht
fielen mir endlich doch die Augen zu ...

Als ich wieder erwachte, war es schon heller schöner Morgen. Ich hatte
ganz gut eine Reihe von Stunden geschlafen. Nebel wallten im Mohawktal.
Wir fuhren jetzt abwärts. Ringsum frühlinghaftes Land und Sonnenschein.
Aber im Schlafwagen hatte sich eine recht stickige Luft gesammelt.
Einige erhoben sich schon und wandelten mit struppigem Haar oder -- je
nachdem -- in langen Zöpfen halb angekleidet zu den Waschräumen am Ende
des Wagens, wo einer nach dem anderen recht ungeniert im fahrenden Zug
Toilette machte, ähnlich den Polonäsen vor den ~bath-rooms~. Dörfer
flogen währenddem draußen vorüber, aber meist wahllos, ordnungslos
gebaut. Man sah Holzhäuser, nirgends Backsteinbauten. Auch die Schienen
liefen über feste Holzbohlen. Was mußten hier die Wälder einmal alles
hergegeben haben! Dürftige Holzgatter hielten das Vieh zusammen. Kleine
Tümpel, Wäldchen; kleine äußerst einfache Holzkirchen mit goldenem
Kreuz oder Knauf. Häßliche Reklameschilder an den Scheunen ...!

Wir näherten uns Buffalo am Lake Erie, einem jener großen Seen oder
besser Binnenmeere, die unserer Ostsee gleichen. 440 Meilen, also
etwa die Entfernung Frankfurt-Hamburg, hatte ich schon in der Nacht
durchfahren. Gegen acht Uhr früh dampften wir langsam über eine Brücke,
deren Einsturz bald erwartet wurde! Die Bahn ist versichert -- das
genügte der Bahngesellschaft! Früher hat man Brücken über Schluchten
zuweilen einfach auf gekappte Bäume gebaut, solange sie hielten ...

Ich war in der „Büffelstadt“, in der 1901 Präsident McKinley ermordet
wurde. Viele Deutsche wohnen in ihr. Nicht ganz ausgeruht, aber froh
der allmählich unerträglichen Luft des Schlafwagens entronnen zu sein,
verließ ich den Pullmann und reckte die steifen Glieder ...

Buffalo machte auf den ersten Anblick einen etwas düsteren Eindruck.
Ich entdeckte nichts Besonderes in ihm. Wer aus dem lärmenden Neuyork
und dem gebildeten Boston mit seinem „~fascinating~“ Harvard College,
wie mir eine alte weißhaarige Dame, die Mutter eines Privatdozenten in
Harvard, begeistert rühmte, kommt, dem haben mittlere Großstädte, wie
Buffalo, die reine Geschäftsstädte sind, nicht viel zu sagen.

Kühn kann man behaupten, man mag einen unversehens in eine
Geschäftsstraße in Neuyork, Chikago, San Franzisko, Buffalo oder St.
Louis stellen -- und er wird kaum zu sagen wissen, wo er sich befindet.
Eine ungeheure Gleichförmigkeit liegt über allen amerikanischen
Großstädten. Völlig gerade und geradlinig einander schneidende, oft für
den Fußgänger schier endlose Straßen, gleich abgezirkelte Häuserblocks
mit ihren Warenhäusern und Wolkenkratzern, deren wenigstens ein
paar sich in jeder großen Stadt finden, machen jedes Stadtbild zum
Schema. Man findet keine individuellen Straßennamen, das macht die
Charakterlosigkeit des Städteeindrucks vollkommen. In der Mitte der
Stadt liegt stets irgendwo die „City Hall“, das Rathaus, oder auf einer
Anhöhe das Staatskapitol mit einer meist stattlichen Kuppel; dazu
irgendwo ein größerer Park; in der Stadt selbst sind außer wenigen
„Squares“ meist keine größeren öffentlichen Plätze vorhanden, die die
Architektur der öffentlichen Gebäude zu voller Wirkung kommen ließen.
Die Theater sehen von außen auch oft wenig imponierend aus und sind
wie die meisten Kirchen in die Häuserfronten hineingebaut, damit das
Riesenschachbrett der Häuserblocks ja nicht irgendeine malerische
Unterbrechung erfährt. Fast in allen Hauptstraßen fahren wie bei uns
elektrische Straßenbahnen, deren Wagen aber meist länger und schwerer
sind als bei uns; irgendwo rasselt auch eine Hochbahn ohrenbetäubend
auf ihren Eisengerüsten daher und nimmt das letzte Licht, das die
Wolkenkratzer noch in den Straßen gelassen haben, hinweg, oder in
unterirdischen Tunneln braust ein ~subway~, der hier und da wie ein
geheimnisvoller Maulwurf seine Hügel in den Straßen in Gestalt kleiner
gläserner Eintrittshallen zu den unterirdischen Stationen aufgeworfen
hat. Zeitungsjungen laufen die Straßen entlang und schreien ihre
~papers~ aus, die in riesigen roten Lettern irgendeinen Streik, ein
Schiffsunglück oder einen Mordprozeß ankündigen, meist mit viel
Übertreibung. Sind irgendwo ein paar Arbeiter ausständig, so heißt
es in der Zeitung „~big strike and riot~“. Ehescheidungsprozesse,
Sensationen, Brände, Gesellschaften der Society-Leute,
Gerichtsverhandlungen und Sportnachrichten nehmen fast allen Raum ein.
Das Politische kommt oft recht zu kurz oder ist in kleine persönliche
Geschichtchen zerstückelt. Automobile tuten an allen Ecken, Schutzleute
mit Pfeifchen dirigieren den Verkehr an den Straßenkreuzungen. Das ist
so der äußere Eindruck der amerikanischen Großstadt, auch Buffalos.

Darüber hinaus weiß ich von Buffalo nicht viel Individuelles zu
erzählen. Alles Historische fehlt ja in Amerika, zumal wenn man
den Osten verläßt. Dann steht man überall auf allerjüngstem Boden.
Man kann in Amerika nirgends nach alten Schlössern und malerischen
Stadtumwallungen, nach zackigen Türmen oder gotischen Kathedralen,
nach historischen Gebäuden und alten Rathäusern, selbst nicht überall
nach Kunstgalerien und weltberühmten Museen forschen. Alles das fehlt!
All der historische und geistig kulturelle Zauber, wie ihn eine
tausendjährige Geschichte über die Städte Europas gebreitet hat, fehlt:
Hier ist weder ein Florenz noch Rom, weder Straßburg noch Nürnberg,
weder Paris noch London. Eins ist hier allbeherrschend, das ist der
„~Busineß~-Geist“. Hier ist Pionierland und immer noch quantitative
Anfangskultur. Die amerikanischen Großstädte, vielleicht eine einzige,
Washington ausgenommen, sind Geschäftsstädte.

So war in Buffalo selbst nicht viel, was mich anzog. Ungeheuer
schnell ist es in wenigen Jahrzehnten emporgewachsen. Vor dreißig
Jahren sind noch viele Deutsche hier eingewandert. McKinley wurde,
wie gesagt, hier ermordet, und ein Indianerhäuptling hat hier ein
Denkmal in einem Friedhof der Stadt. Das ist seine Geschichte. Ich
nahm deshalb am Bahnhof sofort die Straßenbahn, um hinaus zu den
+Niagarafällen+ zu fahren. Einkehr hielt ich nahe den Fällen in einem
schlichten deutschen Pastorat, wo deutsche Familiengemütlichkeit mich
wundersam in der amerikanischen Umgebung umfing. All das Unruhige
der reklameschreierischen Großstadt, alle die Läden und Banken,
Trust-Compagnies und Warenhäuser samt den Alleen der Vorstädte und
ihren oft hübschen Wohnsitzen blieben hinter mir, und ich suchte
meine Zuflucht für einige Stunden wieder einmal auf einem Fleckchen
Deutschland, wo ein deutscher Professorensohn und eine deutsche
Professorentochter als deutscher Pfarrer und Pfarrfrau neben ihrer
netten, aber doch bescheidenen Holzkirche hausten ...

Die beiden Pfarrersleute sind auf eine merkwürdige Weise dahingekommen.
Er hatte nie in Deutschland richtig sein Abitur gemacht, sondern
war nach seiner Ausbildung auf einem Seminar (um zuerst Missionar
zu werden) „hinüber“ gegangen samt seiner Braut, der einzigen
Tochter eines bekannten Nationalökonomen in einer Universitätsstadt
Mitteldeutschlands, so wie er auch der Sohn eines bekannten
Universitätstheologen derselben Stadt war. Sie hatten von Jugend auf in
derselben Straße miteinander gespielt und sich früh kennen und lieben
gelernt. Die Eltern wollten die Verbindung beider erst nicht recht
zugeben. Auch daß der Heidenmissionar zum smarten Amerikaner wurde,
paßte ihnen gar nicht. Aber allemal ist der Wille der Kinder ja stärker
als der der Eltern. So fuhren sie ohne große Mittel und ohne zu wissen,
wohin und wo bleiben, übers große Wasser und fanden wie alle drüben
ihren Platz. Erst wurde er Pastor einer deutschen Gemeinde in Illinois,
dann in Iowa mit nur etwa 250 Dollar Jahresgehalt. Und nun hier am
Niagarafall. Eine solche kleinere Gemeinde setzt echt amerikanisch
voraus, daß ihr trotz seiner kleinen Gemeinde viel beschäftigter Pastor
noch allerlei Nebenerwerb betreibt, mit dem er das Fehlende seines
Gehalts selbst dazu verdient, wobei kein Arbeitszweig schändet.

Traulich war es wieder einmal an einem deutschen Familientisch zu
sitzen und wieder einmal deutsch zu reden. Freilich die in Amerika
geborenen Kinder des Pastors empfanden ganz amerikanisch und sprachen
untereinander nur englisch; nur den Eltern antworteten sie noch aus
schuldiger Rücksicht deutsch. Aber auch der Hausfrau entschlüpften dann
und wann in ihrer deutschen Unterhaltung die englischen Fachausdrücke:
„Bitte, kommen Sie in den ~parlor~!“ (Empfangszimmer). -- „Hier hat
uns der Maler die Stube gepaintet“ (~paint~ malen). -- „Wünschen Sie
noch etwas ~jam~?“ (Gelee). -- „Nicht wahr, in Buffalo ist auf den
Straßen immer ein mächtiges ~crowd~?“ (Gedränge). In diesem Stil ging
es fort. Aber wie erfreut waren sie doch, daß ich, obwohl so ganz
unangemeldet, zu ihnen kam! Ich kannte des Hausherrn Schriften und
konnte ihm erzählen, daß ich noch bei seinem Vater an der Universität
Vorlesungen gehört hatte! Dann tauschten wir gemeinsame Erinnerungen
an Saalefahrten, deutsche Studentenverbindungen, und über Deutschland
im allgemeinen aus. Er wußte nicht genug die Treue und Anhänglichkeit
seiner Gemeindeglieder, die alle aus einfachem Stande waren, deutsche
Holzarbeiter, Zimmerleute, Straßenbahner usw., zu rühmen, etwa 150
Familien, die die ganze Kirche samt Pastor unterhielten. So hatte ich
auch in dem Schaffner der Straßenbahn, die mich hinausführte, einen
alten Württemberger entdeckt. Aber keiner von ihnen allen wollte wieder
in die alte Heimat zurückkehren!

Als ich mit dem deutschen Pastor in seiner kleinen hölzernen Kirche
stand, wie rührend überkam mich da die Schlichtheit, die mich umfing!
Die einfachen Bänke und die Kanzel und der Sonntagsschulsaal und
die bescheidenen Gemeinderäume ...! Sogar eine große Küche war
hinten angebaut, wo allmonatlich eines Abends für Arme eine eigene
„patentierte“ dicke Suppe gekocht wurde, die außen an der Kirche
durch ein aushängendes Schild der Gemeinde und den Umwohnenden
angezeigt wurde. Sie war außerordentlich beliebt und wurde gern
gegessen und gekauft. Aus diesem Suppenabend sprang dann meist noch
ein beträchtlicher Gewinn für die Gemeindekasse heraus! Die Gemeinden
drüben fühlen sich viel mehr als Familie als bei uns. Man kennt
einander genau. Man pflegt aber auch öfter die Kirche zu wechseln.
Die Kirche ist oft der einzige Zusammenschluß, den man hat; sie
vertritt die Gesellschaft. Nun ist aber die Erhaltung speziell der
deutschen Kirchen ein großes Problem. Die zweite und dritte Generation
ist ja fast immer schon völlig amerikanisiert und versteht oft kaum
noch Deutsch. Die „deutschen“ Kirchen können auf die Dauer daher nur
als Missions- und Übergangskirchen für die Einwandernden angesehen
werden. Denn alle Nationalitäten amerikanisieren sich hier über kurz
oder lang völlig. Der deutsche Charakter, Gemüt und Tüchtigkeit mag
sich auch unter der englischen Zunge erhalten oder ein Ferment in dem
sich bildenden amerikanischen Nationaltypus sein. Aber ausgeprägtes
Deutschtum als solches und als Bestandteil für sich hat auf die Dauer
im amerikanischen Volkskörper wenig Zukunft. Nicht anders ergeht es dem
Irischen, Italienischen oder Griechischen drüben.

Am Nachmittag machte mein Gastgeber sich mit mir auf den Weg, mir eines
der imposantesten Naturschauspiele der Erde zu zeigen, die es gibt, den
+Niagarafall+. Der Niagara selbst ist ein breiter, nur einige Meilen
langer Flußkanal, der den Eriesee mit dem Ontariosee verbindet. Auf
halbem Wege stürzt dabei der imposante Fluß über eine fast anderthalb
Kilometer breite und 50-60 Meter hohe Felsenwand hinab in zwei durch
eine breite Insel geschiedenen nebeneinanderliegenden Fällen. Seit
meiner Jugend klang mir das alte indianische Wort „Niagara“ wie ein
Zauber im Ohr. „Niagara“, Donner der Gewässer, ist nicht das einzige
indianische Wort, das sich erhalten hat.

Wie würde der Niagara wohl aussehen? Ich erinnere mich wohl, Bilder
von ihm in früheren Jahren gesehen zu haben, aber sie waren mir doch
nicht mehr ganz deutlich in Erinnerung. Nun sollte ich ihn selbst in
Wirklichkeit sehen. Sagenumwoben sind seine „donnernden Gewässer“;
jährlich verschlingen sie zwei Opfer nach der indianischen Sage, und
jährlich muß nach altem Glauben ein reines Mädchen im gebrechlichen
Kanoe den Fall hinuntergesandt werden, aus dem sie nimmer lebend
entrinnt, um die Geister des Stromes günstig zu stimmen! Jährlich
-- aber das ist die rauhe Wirklichkeit -- verschlingt der Niagara
mehrere Menschen, die in ihm verzweifelt den Tod suchen und von seiner
schauerlichen Macht magisch sich angezogen fühlen. Die Geliebte eines
modernen deutschen Dichters und Dramatikers stand am Rand des Falls
und war so in seine brausende Gewalt versunken, daß man sie mit Gewalt
davor bewahren mußte, sich nicht auf der Stelle in ihm den Tod zu
geben. Andere fühlten sich zu den tollsten Wagnissen gereizt; auf
Drahtseilen haben Seiltänzer die Fälle überschritten, in einem Faß hat
sich einer die Stromschnellen hinabtreiben lassen und ist mit dem Leben
davongekommen, und hat fortan seinen Lebensunterhalt damit verdient,
daß er sich mit seinem Faß für Geld sehen ließ!

Wir hatten uns erst durch die Stadt „Niagara Falls“, die sich dicht
an den Fällen angebaut hat, samt all ihren Hotels, Basaren, Ständen,
Droschken, Autos, Führern und Händlern durchzuwinden, -- ach, daß in
aller Welt Händler und Marktleute die gewaltigen Naturschönheiten
gerade als ihren besonderen Raub betrachten und, während man sich von
dem „Donner der Gewässer“ betäuben lassen möchte, einem unaufhörlich
mit Donnerstimme ihre oft unschönen Ansichtskarten anpreisen und einem
als Führer fast den Weg versperren! -- bis wir auf einmal wunderbar
frische Luft atmeten, ein feiner Wasserstaub herübersprühte, ein
ungeheures Donnern, das mit jedem Schritt zunahm, sich hörbar machte,
-- wir waren in den Anlagen dicht an den Fällen! Noch ein paar
Schritte, und links bot sich der erste Blick auf den amerikanischen
kleineren Fall. Von oben gesehen übt er nicht seine volle Wirkung.
Geht man aber tief bis auf das Niveau seines unteren Endes hinunter,
so spürt man erst die erdrückende Gewalt der herniederdonnernden
Wassermassen.

Nun bot sich uns bei unserem Besuch noch ein besonders eigenartiges
Schauspiel. Es war Anfang April. Die Sonne schien freundlich warm.
Rings sproßte es in tiefem, frischem Grün an Baum und Strauch: Weite
Wiesenflächen zwischen Baumgruppen in entzückendem Grün -- aber im
Niagarastrom war noch Eis und Schnee. Wie ein mächtiger Gletscher
türmten sich die Schnee- und Eisschollen vom noch weithin zugefrorenen
Flußbett den donnernden, schäumenden Wassern entgegen. Man konnte sich
auf dem Eis am Ufer ein Stück weit auf den Fluß hinauswagen und trotz
der warmen Frühlingssonne eine Schnee- und Gletscherpartie unternehmen,
Schneehügel emporklimmen und sich von den Wolken voll Wasserstaub
überschütten lassen und von unten hinaufsehen zu den unablässig
herniederstürzenden und wieder aufschäumenden Wogen. Es gibt viele
großartige Wasserfälle in der Welt, in der Schweiz und in Italien; aber
der Niagara übertrifft sie doch alle weit mit der ungeheuren Masse
seines Wassers. Den überwältigendsten Eindruck macht der kanadische
Fall, der noch dreimal so breit als der amerikanische und von ihm durch
die breite Felseninsel völlig geschieden ist.

Aus der Gletscherregion stiegen wir wieder empor in die
Frühlingssonnenwärme und zu den frischen grünen Wiesen hinan -- ein
Kontrast, wie man ihn nur an einzelnen Punkten in den Alpen erleben
kann, wo ziemlich plötzlich der letzte Schnee den grünen Matten Platz
macht. Wir nahmen unseren Weg nun hinüber auf die breite, waldige,
jetzt wohlgepflegte Insel „Goat Island“, die die beiden Fälle
voneinander scheidet. Auf sanften Wegen kann man hier sich jetzt zu Fuß
und Wagen ergehen. Aber wie muß es einst hier gewesen sein! Als noch
keine Eisenbahnbrücke den Strom überspannte, noch keine Geschäftsstadt
sich am Fall angebaut hatte, noch keine Fabriken ihre rauchigen
Schornsteine über die Felsen reckten, gierig, die unausschöpfbaren
Urkräfte zu nutzen, als dichter, schier undurchdringlicher Urwald die
Ufer und diese Insel säumte, die wohl vermutlich nie ein menschlicher
Fuß betrat, als nur hin und wieder ein Indianer scheu das Dickicht
durchbrach und mit Entsetzen diese donnernden Gewässer erschaute und
zitternd die Kunde ins Dorf und zu dem Stamm brachte und man dann in
Haufen aufbrach, die Wunder der Götter und Geister zu schauen und
den Donner ihrer Stimme zu vernehmen, und der Häuptling, am Fluß
angekommen, in vollem Schmuck die Zweige auseinanderbog und der
Majestät der Natur ins Auge schaute ...

Das obere Ende dieser „Ziegeninsel“, der vier kleine Felsinselchen
vorgelagert sind mit den poetischen Namen „~Three Sisters and little
Brother~“, eröffnet einen ganz unerwarteten Blick auf den riesig
breiten Niagarafluß oberhalb der Fälle, wo er mehrere Kilometer breit
mit seinen schäumenden, rauschenden Stromschnellen und seinen darüber
kreisenden Möwen fast den Eindruck eines wogenden Meeres macht. Rollend
und brausend rauscht der gewaltige Strom, mit Eisschollen bedeckt, die
in den Fällen an den Felsen zerschellen, daher, ein tobendes Gewässer.
Nur noch wenige hundert Meter -- und die Wasser neigen sich über die
Felskanten hinab im tosenden Fall ...

[Illustration: ~NIAGARA~

~Der amerikanische Fall, vereist~]

[Illustration: ~CHICAGO~

~Chicago’s Wasserfront am Michigansee~]

Den Niagarafluß, oder besser gesagt die Niagaraschlucht, unterhalb
der Fälle entlang hat man auf beiden Seiten eine elektrische Ringbahn
gebaut, die auf gefährlichem Pfad, dicht zwischen dem tosenden Fluß
und den steil abstürzenden Felsrändern hinführt und den besten Blick
auf die Stromschnellen unterhalb der Fälle gewährt. Der oben mehrere
Kilometer breite Strom wird unterhalb der Fälle in eine enge, noch
nicht hundert Meter breite Felsschlucht zusammengezwängt, in der
er eine furchtbare Tiefe annimmt und in der sich die Wasser mit
unablässigem Schäumen und vielen mächtigen wilden Strudeln fast konvex
zusammentürmen und -zwängen, bis sie in einen fast kreisrunden Teich
gelangen, den sogenannten „Whirlpool“, wo sie ans Land spülen, was
sie in ihrer tollen Fahrt über die Fälle mit heruntergerissen haben,
es seien Baumstämme oder Menschenkörper. Auf leichtbeschwingter
Brücke -- es führen deren einige in mehr oder weniger vollendeter
Eisenkonstruktion über die Felsschlucht -- setzt die Gürtelbahn über
den Strom und führt durch schöne Haine von hohen Lebensbäumen, aus
denen sich ein entzückender Rückblick auf den sich wieder in sanfterem
Hügelland verbreiternden Fluß und die in duftigem Dunst leise sich
andeutenden Uferlinien des Ontariosees ergibt, hinauf zu der stolzen
Denksäule des im amerikanischen Krieg 1812 gefallenen englischen
Generals Brockes. Auf der wohlangelegten, von der amerikanischen
wohl abstechenden kanadischen Seite geht es dann durch gut gepflegte
Parkanlagen, die noch manchen reizvollen Blick hinunter auf die
Stromstrudel und hinüber auf die amerikanischen Felsen mit ihren wie
Hephästus’ Werkstätten rauchenden und feuerspeienden Eisenwerken
bietet, zurück zum kanadischen Fall. Je näher ich ihm wieder kam,
bis ich seine ganze ungeheure, an einen Kilometer fast fassende
Breitseite, die mit immer neu aufsteigenden, fast undurchdringlichen
Wasserstaubwolken geheimnisvoll verhüllt ist, vor mir hatte -- da war
ich von der Macht der brausenden, mit ihrem verhaltenen gebrochenen,
wie von Bergsprengungen herrührenden Donner doch überwältigt. Was
ich beim amerikanischen Fall noch vermißte, das fand ich hier alles.
Diese ungeheuren Gewalten, die sich hier entfalten, lassen sich nicht
beschreiben. Unausstehlich war nur das Gehämmer der Bohrarbeiter in
der Nähe an den Felsen herum, ihre schrillen Pfiffe, das Surren der
Maschinenräder, fortgesetztes Hämmern und Klopfen. Aber was bedeutet
all dies menschliche Kratzen und Pochen an dem Urgestein gegenüber der
Macht, die da drüben seit Jahrtausenden täglich sich frei auswirkt?

Man kann auch in die Felshöhlen unter dem amerikanischen Fall mit
Führer auf schwankenden Treppen und Stegen gelangen, wobei die
Teilnehmer ganz in Gummi gehüllt sich -- soweit schwindelfrei -- an den
Händen fassen. Aber erstens war zu meiner Zeit noch alles vereist, und
zweitens hätte ich mir doch überlegt, ob ich meine Nerven riskieren
soll. --

So fuhren wir wieder heim ins Pastorat. Auf der Elektrischen traf ich
am Bahnhof einen Westpreußen aus Elbing. Er fragte mich, wie mir die
Fälle gefallen hätten? Aber diese Frage war immer noch verständiger
als die andere, ob man in Deutschland auch schon Dampfheizung oder
elektrisches Licht und Straßenbahnen und Automobile habe, ob auch hohe
Häuser und große Läden da seien, und wie schnell die Bahnen führen, ob
sie so gut und bequem seien wie in Amerika, und ob man im Winter auch
wirklich warme Zimmer habe! Die ausgewanderten Deutschen kennen oft nur
noch ihr Deutschland von vor fünfzig Jahren, da man bald noch mit der
Post fuhr und Petroleumlampen brannte, und nun meinen sie, das gelobte
Land Amerika allein besitze Technik und Kultur in der Welt!

Die nächste Nacht schlief ich wieder einmal in einem weißüberzogenen
Bett bei den gastfreien gütigen Landsleuten. Mit dem Frühesten
ging es wieder nach Buffalo hinein, wo gegen acht Uhr der Zug
nach Chikago abging, der über Detroit dort abends um elf Uhr (!)
eintreffen sollte! Diesmal bestieg ich nicht den Pullmann, wo man Bad,
Schreibtisch, Telephon, Barbiersalon usw. benutzen kann, sondern einen
Auswandererzug der billigeren Wabashlinie, deren große D-Wagen mit
auszieh- und drehbaren plüschbezogenen Lehnstühlen auch noch bequem
genug ausgestattet waren. Auch in ihm konnte man nach Belieben sitzen,
liegen, essen und schlummern. Die Fahrt war dementsprechend billiger,
zwar auch dafür ein klein wenig langsamer. Aber ich hatte ja Zeit.
Also in fünfzehn Stunden von Buffalo nach Chikago! Die Mitreisenden
waren aus einfacheren aber mir interessanten Ständen: Einige handfeste
Schweden mit Familien saßen im Wagen. Den großen starken Menschen
hing zwar -- wenig amerikanisch! -- hinten das Blusenhemd aus dem
Hosengürtel. Das kümmerte mich aber wenig. Neben mir aßen sie
faustdicke Brotscheiben mit fingerdickem Käse darauf. Das kümmerte
mich schon ein wenig mehr! Obwohl Amerika vom schönsten Obst förmlich
birst, kosteten doch zwei Äpfel im Zuge beim ~trainboy~ 10 Cent (50
Pf.)! An jeder Wegkreuzung prustete die Lokomotive keuchhustenartig
ihr Warnungssignal in die Ferne. Auch dieser Zug hielt selten, die
Stationsbahnhöfe -- natürlich Detroit ausgenommen -- waren merkwürdig
primitiv.

Die donnernden Gewässer des Niagara lagen hinter mir. Langsam rollten
wir über die lange Brücke, die den Strom überspannt, ins englische
Kanada hinein. Von einer Zollrevision merkte man fast nichts. Dann
gings durch unendliche Ebenen, die sich nun ohne Unterbrechung
Tausende von Meilen weit bis an die Rocky Mountains erstrecken. Diese
unendlichen Ebenen des Mississippistromgebietes sind die Quellen
von Amerikas Reichtum. An den Seen gibt es Kohle, Eisen, Kupfer und
Blei, in den „Weizenstaaten“ vermag soviel Korn zu wachsen, um die
ganze Menschheit zu ernähren. Farmland an Farmland. Hier besitzt man
nicht zwei, drei Äcker, sondern 500 bis 1000 „~acres~“, deren jeder
einen halben Hektar ausmacht. Wie muß sich hier der deutsche Bauer
fühlen, der aus den engen Grenzen seiner alten Heimat kommt! Eins
ist es hier vor allem, das jeden Fremdling in Erstaunen setzt, die
Ungeheuerlichkeit des Landes; wohl an zwanzig Deutschland gehen ja auf
den Flächenraum der Vereinigten Staaten, die eher mit einem Kontinent
denn mit einem einzigen Land verglichen werden müssen. Der Staat
Texas allein übertrifft unser Deutsches Reich an Größe, und viele
der großen westlichen Staaten kommen ihm an Größe fast gleich. Reist
man bei uns Stunden, um das halbe Land zu durchqueren, so hier Tage.
Und doch zählt die Union erst hundert Millionen Einwohner. Welche
Zukunft und welches Bevölkerungswachstum mag ihr noch bevorstehen! So
wächst hier der Unternehmungsgeist und die Energie ins Fabelhafte.
Ungeahnte Möglichkeiten und Chancen tun sich überall auf. Alles das
ist faszinierend für den Auswanderer, der sich hier ein neues Leben
und sein Glück sucht. Die alten Brücken zur Heimat werden zunächst
abgebrochen. Der Anfang ist zwar schwer, bis man sich in die neuen
Verhältnisse und die neue fremde Sprache eingelebt hat, aber dann, nach
fünf, zehn Jahren beginnt man Boden unter den Füßen zu fühlen. Stolz
sucht man jetzt von dem Erfolg in die Heimat zu berichten, die alten
Fäden wieder anzuknüpfen. Bald geht man ein-, zweimal selbst wieder
übers Meer, die alten Verwandten wieder zu sehen, und ihre eisernen
Öfen, die harten Holzbänke in der langsamen Eisenbahn und das Fehlen
des Badezimmers mit warmem und kaltem Wasser zu verspotten und sich
zu freuen, wenn man wieder in den blauen Hafen Neuyorks einfährt, die
Wolkenkratzer ihre Konturen am Himmel abzeichnen, die Freiheitsstatue
ihre Fackel über die Bai reckt und man den Fuß wieder in das gelobte
Land des Dollars setzen kann.

Das amerikanische Leben ist ja auch ungeheuer beweglich. Der Vater war
vielleicht noch deutsch und ein rechter Bauer, der Sohn geht schon
aufs Kollege, ist Amerikaner und siedelt sich in der Großstadt an oder
geht weiter westwärts. Typisch ist dieser Zug für Amerika „westwärts“
zu gehen. Von Anbeginn ging man „westwärts“, erst den Hudson hinauf,
dann über die Berge an die Seen, dann bis Chikago, dann schritt man
über den Mississippi, und dann wagte man sich in die Rockies, und
schließlich faßte man Fuß in Kalifornien. Scherzweise hat man gesagt,
der Amerikaner will in keinen Himmel kommen, wo man nicht weiter
„westwärts“ gehen kann. Das 18. Jahrhundert lebte im wesentlichen
noch im Osten in den dreizehn alten Staaten, das neunzehnte faßte Fuß
in den ungeheuren Mississippiebenen, das zwanzigste wird den Westen
kultivieren. In Ägypten schauen vergangene Jahrtausende von den
Pyramiden auf ein starres Land herab, in Amerika schauen +kommende+
Jahrtausende von den Wolkenkratzern auf ein ungeheuer bewegliches
und vielgestaltiges Leben. Hier ist alles anders als in den alten
Ländern. Hier genoß kein König und Kaiser Ehrerbietung, hier war
keine Kirche, die vom Staat ihre Steuern eintreiben läßt, hier waren
keine Stände mit besonderen Vorrechten, keine Orden, die den Beamten
schmücken. Frei war das Volk, frei der Mann in seiner Selbstachtung
und der Achtung anderer, völlig auf sich selbst und seine Arbeit
angewiesen und darauf, wieviel er selbst aus sich machen kann ohne
Pension und Altersversorgung. Daher auch die Jagd nach dem Geld. Selbst
die Politik und die öffentlichen Ämter sind oft ein Spielball in der
Hand derer, die möglichst viel für die eigene Tasche herauszuschlagen
suchen. Ungeheurer Reichtum überall. Schnellste Lebenskarrieren, vom
Straßenjungen, der Zeitungen verkauft, auf zum Inhaber der größten
Zeitung in einer Großstadt, vom Farmerkind zum Professor in Harvard.
War nicht Roosevelts Karriere eine der typischsten? Kaum vom Kollege
graduiert, ist er schon Magistrat in Neuyork; wenige Jahre später ohne
jede militärische Laufbahn Reiteroberst und Sekretär der Marine und
bald darauf Präsident des Landes! Man wechselt und wandert, wie es die
Gelegenheit gibt, heute Student, morgen Professor, heute ~clerk~ und
morgen ~trustee~, bald im Osten, bald im Westen. So hat sich in den
Vereinigten Staaten kein Provinzialismus und wenig Gauindividualität
entwickeln können, und Dialektunterschiede existieren fast nicht oder
sind wenigstens mit den ausgeprägten in den europäischen Ländern gar
nicht zu vergleichen. Die ganze Union spricht +eine+ Sprache.

Indessen fuhren wir durch die sich überall ungeheuer gleichenden
Ebenen Stunden für Stunden. Eine Abwechslung bot nur der kleinere Lake
St. Clair mit seinen gelbbraunen, sich ins Uferlose erstreckenden
Wasserflächen, über denen schwere Regenwolken hingen. Ein paar
Fischerhütten am Strand, eine kleine Steinkirche zeigte sich; unter
grünen Pappeln ein steinernes Häuschen. Am Strand ein altes Kanoe und
ein paar Männer, die ihre Netze ausgeworfen hatten. Auf dem Flurland
dicht neben der Bahn ein Farmer mit seinem Pflug. Die Pferde bäumten
sich wild auf, als der Zug vorbeibrauste. Indessen turnte der schwarze
Kellner aus dem Speisewagen den Mittelgang der Wagen entlang und rief
monoton sein ~first call for „luncheon“~ aus. So kamen wir um Mittag
nach Detroit. Die amerikanischen Zolloffiziere gingen durch den Zug.
Auf einem Trajekt setzten wir über den Endzipfel des Sees. Dann ging
es wieder weiter durch endlose Strecken Michigans und Indianas gen
Chikago, wieder auf amerikanischem Boden.

Hie und da lag eine einsame Station, alle halbe oder ganze Stunden.
Überall war fruchtbares Ackerland, das wohlgepflegter aussah, als um
Buffalo. Es wohnen hier viele Deutsche. Hie und da an der schlechten
Landstraße, die neben der Bahn herlief, ein Blechpostkasten einer
entfernten Farm, der als Briefablage und -aufgabe zugleich dient.
Kleine Haine, übel zugerichtet. Hier existiert ja keine Forstpolizei,
und erst neuerdings gibt es Staatsschutz für den Wald.

So wurde es Mittag und Nachmittag und Abend, und noch immer dieselbe
Landschaft. Fast alles noch braun und dürr, weil es noch früh in der
Jahreszeit war. Hie und da ein blühendes Bäumchen auf der Flur wie
ein Kuß Gottes auf die Frühlingserde. So wurde es Abend und Nacht. Am
Himmel standen hell und klar die Sterne, dieselben Sterne, die jetzt
auch über Deutschland standen. Im Wagen schliefen schon die meisten;
die bequemen Chairs gestatten es, sich weit zurückzulehnen. Und als
wir uns endlich nach fünfzehnstündiger Fahrt Chikago näherten, war es
fast Mitternacht geworden. Viele hellerleuchtete Vororte flogen an
uns vorüber. Elektrische Lampen erhellten die Bahnhöfe, Straßen und
Fabrikviertel -- und ein brennendes Haus, in das die Feuerspritzen ihre
Wasserstrahlen sandten, leuchtete wie eine Riesenfackel schaurig durch
die Nacht. So tüchtig und ausgezeichnet die amerikanischen Feuerwehren
sind, so oft brennt es hier; manchmal sind schon halbe Städte einer
Feuersbrunst zum Opfer gefallen, so Chikago 1872.

Und nun kam ich wirklich in die Stadt, deren Namen eine so eigenartige
Nuance des typischsten unbegrenztmöglichen Amerikanertums für unser Ohr
bekommen hat. Chikago zählte 1831 noch hundert Einwohner! Einst war es
ein Fort gegen die Indianer, und heute ist es mit bald vier Millionen
die viertgrößte Stadt der Welt, an Flächenraum viermal größer als
Berlin, mit einer Wasserfront von 35 Kilometern Länge am See Michigan,
der uferlos wie das Meer aussieht. 40 Sprachen werden in Chikago
gesprochen. Etwa 600000 Deutsche leben in der Stadt, und vielleicht nur
ein Zehntel ist in Chikago selbst geboren.

Ich war in Chikago! Wachte oder träumte ich? Auf dem Schiff hatten
sie manchmal begeistert ein Lied Chikagos zu Ehren im Chor gesungen,
das ich aber damals nicht recht behalten habe. Zum Schluß jeder
Strophe kam immer wieder als Refrain von wildem Beifallsgetrampel und
-händeklatschen begleitet: „O Chikago, o Chikago ...!“ Und dann ging es
so weiter, daß ihm in der Welt nichts gleich sei! Ich war in Chikago,
der Stadt mit den meisten einlaufenden Eisenbahnzügen, wo zirka 500
Personen im Jahr durch Autos ihr Leben verlieren, wo 40000 Schutzleute
den Verkehr dirigieren, wo in einem einzigen der großen Warenhäuser
¼ Million Kunden ein- und ausgehen, wo neben 10000 Angestellten
allein über 500 Feuerwehrleute ständig Wachtdienst tun, wo täglich
Hunderttausende Stück Vieh ihr Leben lassen und zu Konservenfleisch und
Wurst verarbeitet werden, wo man einen ganzen Fluß, den Chikago-River,
gezwungen hat, in seinem Lauf wieder umzukehren und seine verdorbenen
Wasser statt in den See zu ergießen, dem Mississippi zuzuführen und so
Typhus und Cholera fast verbannt hat! Nun kam ich wirklich in diese
merkwürdige Stadt ...

Einer meiner beiden Chikagovettern empfing mich liebenswürdig in der
„Illinois Central Station“ mit ihrem verwirrenden ohrenbetäubenden
Getriebe. Ach, wie reckte ich die Glieder nach der fünfzehnstündigen
ununterbrochenen Bahnfahrt, die mich trotz des bequemen „~reclining
chair~“ recht steif gemacht hatte. Immerhin war es eine gute Vorübung
für die noch dreimal längeren Bahnfahrten, die mir hinter Chikago
bevorstanden!

Jetzt war ich in Chikago bereits 1000 ~km~ vom Atlantischen Ozean
entfernt, aber immer noch 3000 ~km~ vom Stillen! Wie angenehm empfand
man das freundliche Empfangenwerden durch liebe Verwandte zumal in so
später Nachtstunde in der riesigen Weltstadt, freilich durch Verwandte,
die ich noch nie im Leben gesehen hatte, die ich nur vom Hörensagen
kannte. Sie alle hatten ihren typisch-amerikanischen Entwicklungsgang
durchgemacht, aber sich alle auch zu angesehenen Stellungen selbst
emporgearbeitet. War es in Neuyork die Musik, in Boston die Medizin,
so waren es in Chikago Juwelen und das unvermeidliche Auto, das ihnen
Wohlstand und Brot gegeben.

So fuhr ich denn mit meinem neugefundenen Vetter zunächst mit der
Hochbahn aus der City und ihrem Trubel, ihrer blendenden Lichtreklame,
durch dunkle, schmutzige Viertel, an zahlreichen Wolkenkratzern
vorüber -- die freilich noch nicht die wahnsinnige Höhe der Neuyorker
erreichten -- schöne Alleen hinaus in den freundlichen Villenvorort
Oakpark, wo mein Vetter mit seiner Familie ein gutausgestattetes
Landhaus bewohnte mit dem typisch-amerikanischen Meublement, das stets
das gleiche ist, ob man in Neuyork einkehrt oder in San Franzisko,
in Chikago oder St. Louis. Amerika bleibt eben überall das gleiche
Amerika. Die alles nivellierende Fabrikware hat hier ihren völligen
Sieg erfochten.

Bald hatte ich die Ehre und Freude, auch wieder eine neue Cousine
kennenzulernen, eine geborene Amerikanerin, die kaum ein Wort Deutsch
verstand ...

Andern Tages ging es gleich wieder an meine „Arbeit“ des Besichtigens,
in möglichst kurzer Frist viele wichtige Eindrücke in mich aufzunehmen.
Also fuhr ich andern Tags sogleich nach dem Frühstück, mit Reiseführer
und Karte in der Hand, mit der „~elevated~“ hinein in Chikagos
Großstadtgewühl! Und es übertrifft an manchen Stellen noch dasjenige
Neuyorks! Über, unter, neben dem Kopf rollt, rast, saust, klingelt,
tutet, pfeift es überall. Alles ein ununterbrochenes Gelaufe und
Gerenne! Es dampfen die Wolkenkratzer. Die Warenhäuser speien ständig
Hunderte und Tausende von Menschen aus, um andere ebensoviele wieder
einzusaugen. Die Amerikaner kommen aus dem Felsengebirge, ja aus
Seattle in Alaska und aus San Franzisko, um in Chikago bei „Siegel u.
Cooper“ oder „Marshall Field u. Co.“ einzukaufen! Dies „~shopping~“ ist
ein Hauptvergnügen amerikanischer Damen.

Welchen Eindruck machte Chikago auf mich, das Neuyork des mittleren
Westens? Eine ungeheure, etwas düstere Großstadt mit Hochbahngerassel
und Automobilgetute, Wolkenkratzern, die die Geschäftsstraßen
zu Schluchten verengen, mit Bank an Bank, Geschäft an Geschäft,
~lunchroom~ an ~lunchroom~, „~moving pictures~“ an „~moving
pictures~“. Das ist die City. Auch hier wie überall. Bei Tage ein
ungeheuer lebendiges Treiben von den höchsten Stockwerken der
„~office-buildings~“, zu denen sieben bis zehn Aufzüge gleichzeitig
auf- und niederfahren, bis herunter auf die Straße und ihr Gewimmel.
Nachts und Sonntags ist die City eine ausgestorbene Stadt, in der kein
Kirchturm offen emporragt, und nur Nachtwächter und Schließer ihr
Logis haben. Die Geschäftsleute wohnen draußen in den Vorstädten, die
man mit einstündiger Fahrt mit der Hochbahn erreicht, draußen bei den
großen Parks, die sich um die Stadt ziehen. Zwischen der City aber und
den Parkvorstädten liegen die unabsehbaren Viertel der kleinen Leute,
voll Italiener und Neger, dazwischen noch vielfach unbebaute Strecken,
auf denen Knaben ihren Baseball spielen. Hier weiß niemand vom anderen.
Hier sind Städte in einer Stadt, und Stunden dauert es, um vom Norden
nach dem Süden oder zum Westen zu kommen.

Ich stand auf dem Turm des „Auditoriums“, eines großen Theaters, und
sah über die rauchenden Wolkenkratzer und in die ~offices~ hinein
mit ihren Bureaus, wo Tausende von jungen Mädchen ihren Beruf darin
gefunden haben, von morgens bis abends auf der Schreibmaschine zu
klappern und sich dabei ungeheuer frei und selbständig vorkommen. Ich
sah über die Riesenwarenhäuser von „Siegel u. Cooper“ und „Marshall
Field u. Co.“, wo einfach alles in der Welt zu haben ist, Warenhäuser,
die ganze Straßenblocks einnehmen. Mit Staunen schreitet man durch
die Säulenhallen, sieht die Aufzüge in allen Ecken mit Menschen auf-
und niedersausen und schaut die Schätze aller Erdteile vor sich
ausgebreitet. Die Boys an den Eingangstüren führen umfangreiche
Kataloge bei sich, um den Käufer sofort zu der richtigen Abteilung
leiten zu können. Weiter blickte ich über den weiten Michigansee,
der die lange Front der Stadt bespült und im Sturm seine gelbbraunen
Wogen gischtschäumend ans Ufer peitscht, Handelsschiffe als Wrack ans
Land wirft, ein Binnenmeer Nordamerikas; weiter über die wunderschöne
Hauptpost, die leider zwischen die Blocks so eingekeilt ist, daß sie
unmöglich ihre architektonische Schönheit entfalten kann, und über die
ganz flache, niedrige, im Renaissancestil gebaute Kunstgalerie, die wie
ein kleines Kind unter Riesen steht ...

Um Mittag warf ich einen Blick hinein in die „First Nationalbank“
mit ihren prachtvollen Marmorvestibülen und in die Börse, wo ein
wilder Tumult herrschte. In drei Haufen standen die Makler zusammen
und schrien gegeneinander. Nur mit Fingerzeichen verständigten sie
sich. Von den Bureaus flogen die Telegramme hin und her, an den
Bulletinboards notierten die Schreiber mit Kreide die Kurse, die ihnen
klappernde Telegraphen zuraunten, alles in allem ein wildes Geschrei,
dessen Sinn ich kaum verstand.

An einem der Nachmittage in Chikago ging ich ins „Kolosseum“, einen
der amerikanischen Riesenzirkusse, der wohl 10000 Menschen zu fassen
vermag, gleich jenem von Barnum und Bailey, der zuweilen mit seinem
Riesenzelt in Deutschland von Stadt zu Stadt zog. Übrigens entdeckte
ich ihn als guten Bekannten wenigstens an den Reklameanschlägen auch
dort. Es war, soviel ich mich erinnere, ein Montag nachmittag um zwei
Uhr. Und doch war der Zirkus gut gefüllt. Ich mußte mich fragen, wo
alle diese hier sonst so arbeitseifrigen Menschen die Zeit hernehmen,
an einem lichten Montagnachmittag drei Stunden im Zirkus zu sitzen!
Aber der Amerikaner wie sein antiker demokratischer römischer Vetter
liebt die Spiele über alles. Ich habe selbst in Italien nicht soviel
Kinematographentheater gesehen, die alle besetzt sind, wie hier. Die
Vorstellungen im Zirkus gingen auf fünf Podien +zugleich+ vor sich!
Der Amerikaner mißt auch das Vergnügen nach der Quantität. Auf dem
einen Podium wurde Schule geritten, auf einem anderen tanzten Bären,
Affen und Hunde, auf einem dritten turnten Akrobaten, auf einem vierten
wurden Gewichte bis 300 und 500 Pfund gehoben, auf einem fünften
produzierten sich Seiltänzer und Springer, dazu einer, der alle Glieder
seines Leibes in die schauderhaftesten Verrenkungen bringen konnte;
rings herum noch ein Heer von Clowns, die ihre Witze rissen und in
ihren abgeschmackten Kostümen sich balgten. Eine der Glanznummern war
ein Pferd, das an einem Luftballon in die Höhe fuhr, und zuletzt ein
tolles römisches Wagenrennen um die Arena. Alt und jung, Männer und
Frauen, Schwarze und Weiße füllten als Zuschauer die weiten Galerien!

Im Auto fuhr mich mein Vetter nach der Universität hinaus, die
Rockefeller, der Petroleumkönig, nachdem sie eine Zeitlang eingegangen
war, mit vielen Millionen wieder neu ausgestattet hatte, so daß sie
heute überaus schöne, dem englischen Universitätsstil nachgebildete,
sehr weitläufige und zahlreiche Gebäude zu den ihren zählt. Sie
hat eine gute Lage weit draußen im Jacksonpark am See, am Südende
der Stadt. Ehrwürdig schauen ihre Kapellen im englischen gotischen
Stil, ihre Bibliothek, ihre „Dormitories“ und Kolleggebäude über die
weiten grünen Parkrasenflächen, wo Studenten in leuchtenden weißen
Sportshemden und -hosen Tennis und Golf spielen. Die täglichen
körperlichen Übungen, die Lust zu Sport und Spiel können wir Deutschen
gar nicht genug von Engländern und Amerikanern lernen. Die Tüchtigkeit
unserer höheren Schüler und die deutsche Wissenschaft in allen
Ehren, aber im ganzen sind wir Deutschen doch lange Stubenhocker und
Stammtischphilister geblieben. Nur eins haben wir, das Wandern. Im
übrigen hatten wir in unseren Schulen viel zu wenig Turnstunden die
Woche und nur +einen+ Nachmittag für „Turnspiele“. Der amerikanische
Student spielt +täglich+ schon in der Volksschule, als Boy in der ~high
school~, +täglich+ im Kollege, als ~graduate~ und noch als erwachsener
Mann. Das Jahr ist geradezu in verschiedene Spieljahreszeiten
eingeteilt: Im Frühjahr spielt man Baseball, im Herbst Fußball, sonst
Tennis und Golf, solange es das Wetter nur irgend erlaubt.

Draußen am Jacksonpark, wo der frische Seewind durch die Anlagen
streicht, war einst auch der Platz für die berühmte Weltausstellung
1893 zum vierhundertjährigen Gedenken an die Entdeckung Amerikas, zu
der an zwanzig Millionen Menschen zusammenströmten. Was war doch gegen
diese Menschenmassen die Völkerwanderung, von der wir in der Geschichte
so viel Wesens machen? Noch sind einige Reste von der „~world fare~“
übriggeblieben. Die Nachbildungen der drei Schiffe des Kolumbus liegen
noch in einer kleinen Bucht, hochbugige kurze Galeeren, mit denen sich
heute keiner mehr auch nur für eine Woche über den Ozean wagen würde --
und Kolumbus fuhr vier Monate! Ferner stand noch das Kunstmuseum und
das türmereiche „Deutsche Haus“, das erst kürzlich einer Feuersbrunst
zum Opfer gefallen ist, und endlich wie auf einem felsigen Kap ein
weißgestrichenes Franziskanerkloster. Aber wie wenig passen doch diese
mittelalterlichen Häuser in diese Umgebung!

Einer meiner Besuche galt auch dem „Hull House“, einem der ältesten und
bedeutendsten „~settlements~“ in Amerika. Das Hull House, von einem
Mr. Ch. J. Hull 1889 in Immigrantenvierteln Chikagos gegründet, umfaßt
heute dreizehn Gebäude, Turnhalle, Schulräume, Läden, Klubzimmer,
ein Restaurant, Musikräume, Tanz- und Theatersaal, Handwerksstätten,
Lesesäle usw. Etwa 9000 junge Menschen verkehren wöchentlich in diesen
Räumen, suchen hier ihre gesellige, körperliche und geistige Erholung!
50 sich selbst unterhaltende freiwillige Leiter wohnen im Hause und
bilden untereinander einen korporativen Klub. Daneben sind über 200
andere freiwillige „Settlement-Worker“ als Klubleiter tätig. Die
Knabenklubs treiben alle Art Handwerk bis hinauf zu künstlerischer
Malerei -- ich sah Bilder, die keiner Ausstellung Schande machten --
und lernen eifrig Sprachen; die meisten sind junge Italiener, Griechen
und Russen. Auch Musik ist wohlgelitten und natürlich vor allem der
Sport. Die Bäder sind offen für das Publikum und ebenso das Restaurant.
Bäder wurden im letzten Jahre 30000 genommen, und das Restaurant
besuchen täglich 500 Personen. Das sind auch fast die einzigen
Einnahmen des Hauses. Im Sommer wird auf dem Land ein „~camp~“, ein
Lager, bezogen, das den Klubmitgliedern für eine Woche frei zur
Verfügung steht. Welcher kulturelle Segen muß von einem einzigen
dieser Settlements auf ein ganzes Stadtviertel ausgehen! Hier herrscht
Ordnung, Sauberkeit, Geselligkeit, Kameradschaft, Freundschaft, Zucht,
Sitte, Kunst und die Anfänge wissenschaftlicher Bildung und technischen
Könnens. Mein letzter Blick galt der Kleinkinderschule und der Krippe,
die mit dem Hull House verbunden ist. Ich vergesse nie all die Kleinen
an ihren winzigen Tischchen und mit ihren kleinen Tassen und Löffeln,
die Babies in ihren Bettchen und endlich die schwindsüchtigen Kinder
auf dem Dach, wo sie in freien Hallen unterrichtet werden. Auf dem Dach
in einer Großstadt! Besser wenigstens als in den finsteren Löchern
ihrer Wohnungen. Aber warum nicht hinaus aufs Land, wo kein Schornstein
und kein Wolkenkratzer droht und die Luft beengt? Welches Elend!
Zugleich welche Hilfe! Wenn man diese warme Sonne der Liebe überall
scheinen fühlt, dann vermag man fast das Elend, das diesen Armen aus
den Augen schaut, zu vergessen ...

Das war Chikago. Universität und Settlement, Zirkus und Wolkenkratzer,
am See und in den Schluchten der Geschäftsstraßen, in den Parks und
Fremdenvierteln, im ~lunchroom~, wo man sich selbst bedient, und in der
~office~ 20 Stock hoch, wo der Ausläuferboy im zerschlissenen Anzug mit
seinen acht Dollars die Woche, auf Aufträge wartend, gelangweilt die
Zeitung liest -- aber wer weiß, was er noch für eine Zukunft hat! Wie
hieß es doch in jenem amerikanischen Stück „Die City“? Nicht die City
vernichtet den Mann, sondern sie erfordert einen, der ihr gewachsen
ist. Nicht die City macht den Mann, sondern der Mann die City. Ja die
City! Ihre Geschichte läßt sich nie ausschreiben.

Durch meinen Vetter wurde ich auch in Kreise eingeführt, die
sich für alle möglichen philosophischen und metaphysischen Dinge
interessierten. Mein Vetter selbst schrieb, obwohl vollkommen Laie,
Artikel über ethische Probleme trotz Kontor- und Geschäftsaufgaben.
Immerhin eine Leistung! Er stellte mich einem Herrn vor, der mir --
echt amerikanisch -- bekannte, nacheinander Methodist, Materialist,
Buddhist, Naturphilosoph und Spiritualist (Spiritist) geworden zu
sein. Echt amerikanisch! So wurde ich darauf aufmerksam, wie stark
z. B. neben dem Anwachsen der Christian Science auch die Beschäftigung
mit dem +Spiritismus+ in Amerika ist. Ich hatte Gelegenheit -- auch
schon in Neuyork -- an „spiritualistischen“ Vortragsveranstaltungen,
Sitzungen u. dgl. teilzunehmen. Aber rechten Geschmack konnte ich
den Dingen nicht abgewinnen, vor allem konnte ich mich nicht von der
Wahrheit und Wirklichkeit der behaupteten Erscheinungen überzeugen.
So geschäftstüchtig und wirklichkeitsnah der Amerikaner ist, so
unkritisch und leichtgläubig scheint er mir in übersinnlichen Fragen.
Hier fehlt jede kritische deutsche Gründlichkeit. Der Amerikaner hält
von vornherein viel mehr für möglich und wahrscheinlich als wir, die
wir von unseren großen kritischen Philosophen geschult sind. Jedenfalls
ist er dafür, daß alles einmal probiert und versucht werde. Probieren
geht vor allem in Amerika über Studieren: Die Wahrheit wird sich schon
selbst bewähren! denkt man drüben. Erweist sie sich nicht selbst in der
neuen Richtung, so wird die Sache auch von selbst wieder eingehen und
verschwinden. So argumentiert amerikanisches Denken. Während wir meist
von der Theorie zur Praxis schreiten, macht man es drüben umgekehrt.

Ich war also recht gespannt auf das, was ich zu sehen bekäme. In jeder
der amerikanischen Großstädte gibt es sogar mehrere Gemeinden von
„Spiritualisten“, deren „Gottesdienste“ äußerlich ähnlich denen der
Kirchen verlaufen.

Ich will ganz einfach erzählen, was ich in spiritualistischen
Versammlungen gehört und gesehen habe. Vier Arten von
+spiritistischen+ Versammlungen habe ich besucht, „Gottesdienste“,
sog. „~test-meetings~“, eine Sitzung mit voller „Materialisation“ der
Geister und endlich eine Wochenversammlung, wo Gelegenheit zu Frage und
Antwort über den Spiritualismus gegeben war.

Die „Gottesdienste“ finden Sonntags zu den üblichen Stunden statt.
Einmal des Morgens war es in einem Konzertsaale. Rednerpult, Lehnstühle
für Älteste, Gesang, Gebet (zu Gott als „Prinzip“!) Schriftvorlesungen,
offene Tellerkollekte, Predigt und Segen war wie in jedem
amerikanischen Gottesdienst. Die Gesänge waren frisch und lyrisch, die
Melodien voll Innigkeit. Ich setze den Schlußvers des Liedes, das ich
in Neuyork mitgesungen habe, hierher:

    ~We shall sleep, but not forever in the lowe and silent grave,
    Blessed be the Lord, that taketh, Blessed be the Lord, that gave;
    In the bright eternal city, Death can never, never come
    In his own good time He’ll call us from our rest to home, sweet
      home;
    Refrain:
    We shall sleep but not forever, There will be a glorious dawn.
    We shall meet to part, no, never, on the resurrection morn.~

Aus dieser einzigen Strophe geht der religiöse Grundcharakter
zweifellos hervor, das starke und einzige Betonen des Glaubens an
ein Weiterleben der Toten. Für diesen Glauben sucht man Beweise;
mit Augen will man die Geister der Gestorbenen sehen und mit Ohren
Botschaften von ihnen vernehmen. So heißt es in einem Flugblatt, das
mir schon in Newyork gegeben wurde, ausdrücklich „nicht zu zerstören,
sondern den Glauben, wie er in den hauptsächlichen Lehren aller
Religionen enthalten ist, zu bestärken und zu begründen, ist der
Spiritualismus bestrebt“. Und er allein rühmt sich, die Lehren „aller
großen Lehrer von Konfuzius bis Mohammed und von Moses bis Jesus
durch psychische Phänomene +demonstrieren+ zu können und uns so einen
klareren Einblick in Ethik und Philosophie zu eröffnen“. Aber die
Predigtrede im sogenannten „~Trance~“zustand enttäuschte mich sehr.
Das Lesepult ward zur Seite gerückt. Der Redner saß für einige Minuten
in seinem Stuhl, bedeckte sein Gesicht mit der Hand und schien in
„~Trance~“ zu verfallen. Er zuckte einige Male heftig, dann erhob er
sich mit unsicheren Schritten, um mit geschlossenen Augen eine mehr
als halbstündige äußerlich formgewandte Rede zu halten. Neben einigen
guten Gedanken, allerlei krauses, ungeschichtliches Zeug über Christi
Reisen, die er in seiner Jugend im Alter zwischen 12 und 30 Jahren
nach Babylon, Indien und Ägypten unternommen habe, wo er zu den Füßen
der alten Weisheitslehrer gesessen und von ihren Lippen seine Lehre
empfangen habe! Ich bin nicht psychologisch bewandert genug, die Frage
zu entscheiden, ob jemand im ~Trance~-zustand eine solche halbstündige
Predigt, formgewandt und logisch konsequent, zu halten vermag, und
ob es überhaupt möglich ist, gleichsam auf Kommando und auf eigene
Initiative hin, selbst in Trance zu fallen und aus ihr wieder zu
erwachen. Ist aber die Trance simuliert, liegt also bewußte Täuschung
vor, so erregt der ganze „Gottesdienst“ trotz ansprechender Gebete
und Lieder Abscheu. Jedenfalls aber soll die Trance die Predigt als
„inspiriert“ legitimieren und den Eindruck erwecken, Geister sprechen
durch den Prediger; der Redner selbst ist bewußtloses und willenloses
Werkzeug der „Inspiration“! In der Tat kündigt die spiritualistische
Gemeinde für jeden Sonntag zwei andere „Geister“ an, die durch den
Prediger sprechen sollen, so einmal -- niemand anders als William
Shakespeare (!) und Darwin. Damit auch die Komik nicht fehlt, sollte am
Morgen desselben Tages der Geist eines der Bauleute am salomonischen
Tempel sprechen!!

Der spiritualistische „Gottesdienst“ war recht spärlich besucht, aber
es sollte Gottesdienst sein, nichts von Klopfgeistern und Tischrücken.
Der Spiritualismus ist eben drüben mehr als das, was man gewöhnlich
von ihm weiß, eine organisierte und anerkannte religiöse Sekte. Auch
die „Sonntagsschule“ fehlt dabei nicht. Als Lesegegenstand wurde
bekanntgegeben: Eine Geschichte unseres Planeten und des Mars seit
ihrem 68000- bzw. 25000jährigen Bestehen!! Weiter wurde in diesem
Zusammenhang erzählt, daß ein berühmter Astronom im Westen der
Vereinigten Staaten dieses Buch über den Mars zu seinen Berechnungen
benutze (!). Ich mußte auch über die umfangreiche spiritualistische
Bibliothek staunen, die ich im Bibliothekzimmer zu sehen bekam; sie gab
mir einen Eindruck davon, wie viele Menschen hier ihre geistigen Kräfte
an den Spiritismus und seine Lehren gewandt haben müssen.

[Illustration: ~CHICAGO~

~Das Leichenbegräbnis Mc Kinley’s in der State-Street~]

[Illustration: ~CHICAGO~

~Blick in die Union Stock Yards (Großschlächtereien)~]

Ein andermal ging ich zu einem sogenannten „~test-meeting~“, d. h.
zu einer Versammlung, in der Geister durch ein Medium Botschaften an
ihre lebenden Verwandten ausrichten und so die übersinnliche Welt
und ihr Wirken durch weissagende Zeugnisse, die das Medium kraft der
Inspiration einzelnen ausstellt, beweisen. Diese Versammlung hat in
einem prunkvoll ausgestatteten Saal einer Loge stattgefunden. Es
mögen wohl 100 Personen anwesend gewesen sein, darunter besonders
viele weißhaarige Damen. Es war Sonntag nachmittag. Wieder ein
„gottesdienstlicher“ Rahmen. An Stelle der Predigt kamen die
„Geisterbotschaften“. Das Medium, eine Dame in den mittleren Jahren,
von imponierender Erscheinung, saß für einige Minuten, ganz wie
jener Prediger, von dem ich oben berichtete, die Augen mit der Hand
geschützt, in ihrem hohen Stuhl und schien in „~Trance~“ zu fallen.
Ringsum feierliches Schweigen und gespannte Erwartung: Was werden die
Geister zu sagen haben? Wem wird sie eine Botschaft ausrichten? Dann
erhebt sich die Dame -- ich vermochte, obwohl ich in der ersten
Reihe saß, durchaus keine psychische Veränderung an ihr wahrzunehmen --
mit offenen Augen und sicherem Schritt. Sie tritt zu einem Tischchen,
wo vor Beginn des Gottesdienstes die „Gläubigen“ allerlei Andenken
an ihre Verstorbenen, Ringe, Armbänder, Bilder, sogar eine Bibel,
verhüllt niedergelegt haben. Sie greift eines der Objekte heraus; und
nun beginnt der „Geist“ des Verstorbenen, der sie leitet und auf den
sich das Objekt bezieht, ihr eine Botschaft an den Lebenden aufzutragen
und durch sie als Medium dem Lebenden sich durch Mitteilung seines
vergangenen und zukünftigen Lebens als wirklich zu erweisen, d. h. das
Medium begann in ganz +allgemeinen+ Ausdrücken zu weissagen, auf wen
sich das Objekt bezieht, etwa so: „Ich sehe eine Gestalt neben mir
in weißem Haar, eine Frau, alt, sorgenvoll und doch mit treuem Auge
...“ Dann bricht sie ab, hält den Ring empor, den sie ergriffen, und
fragt: „Wem gehört dies?“ Ein älterer Mann in Trauerkleidung steht
auf. Sie fährt fort: „Ich sehe Ihre Frau neben mir, und sie sagt mir,
sie begleite Sie auf allen Ihren Wegen und sie schütze Sie vor Unglück
und freue sich, Sie bald im Himmel wiederzusehen. Doch zuvor müssen
Sie durch Leid und schwere Sorgen hindurch ... usw.“ In ähnlichen ganz
allgemeinen Phrasen bewegen sich die „~tests~“. Manchmal scheint es
nicht recht zu stimmen, was die Prophetin von der verstorbenen Person
weissagt. Der Gläubige denkt hin und her und kombiniert und überlegt
und entdeckt hier und da einen Sinn und ein Zusammentreffen und tröstet
sich und die übrigen damit, daß die Geister nicht alles enthüllen und
Prophetien immer dunkel zu sein pflegen. Aber einige Male scheint die
Kunst der Prophetin auffallend das Richtige getroffen zu haben, die
betreffende Person erhebt sich und bekennt: „Es stimmt ganz genau“, und
ein allgemeiner Beifallssturm lohnt die Prophetin, die enthusiastisch
ausruft: „~Friends, the world moves on ...!~“ So ging es fort für eine
ganze Stunde; wohl 20 Personen bekamen ihre „~tests~“.

Über was soll man sich mehr wundern, über die Gläubigkeit dieser
„Gläubigen“ oder die psychologische Kunst des „Mediums“? Wenn doch
die „Geister“ einmal wirklich neue Offenbarungen senden wollten und
nicht nur Gemeinplätze und zweideutige Phrasen! Aber hat denn nicht
manchmal das „~test~“ genau gestimmt? Ja, es scheint so. Aber es ist
erstens nicht zu vergessen, daß das Medium meist seine Leute kennt,
dieselben kommen ja fast sonntäglich; viele begrüßte sie mit Namen und
Handschlag nach der Versammlung. Vieler Lebensgeschichte mag sie in
einigen Umrissen kennen oder erschließen aus ihrer Person, ihrem Alter
und ihrer Kleidung (es fiel mir auf, daß sie sich fast ausschließlich
an Personen in Trauerkleidung wandte!), aus ihrer Haltung und ihrem
Gesichtsausdruck. Je nachdem, was sich während ihres Weissagens auf
den Gesichtern der Angeredeten ausprägt, ob Zustimmung, Befremden,
Freude, Schmerz, Erstaunen, fährt sie in ihrem Spruch fort, ändert ihre
Worte oder hält ein. Viele der Angeredeten, die „glauben“, sind zudem
natürlicherweise im Augenblick der „~tests~“ erregt, verwirrt, sie
kombinieren und phantasieren, sehen mehr Zusammenhänge, als da sind,
und hören mehr und deuten mehr aus den Worten des Mediums heraus kraft
ihrer eigenen wirklichen Kenntnis ihres Lebens und ihrer Verstorbenen,
als was das Medium in seiner allgemeinen Zweideutigkeit hat wirklich
verlauten lassen. Interessant wäre es auch zu wissen, wieweit dieses
Medium sich eines +Betruges+ und seiner psychologisch kombinierenden
Kunst selbst +bewußt+ ist oder wieweit es an seine Geistesinspiration
selbst glaubt(?).

Die dritte Art Versammlung, die ich besuchte, sollte eine Sitzung
mit +voller Materialisation+ von Geistern sein! Sie fand abends
acht Uhr statt. Wieder mögen es etwa 100 Personen gewesen sein.
Fremde wurden nur auf den hinteren Reihen zugelassen! Fürchtete man
vielleicht eine plötzliche Störung und Entlarvung durch Unberufene?
Der Leiter der Versammlung erklärte die Maßnahme damit, daß alle rohe
Selbstsucht von ungläubigen Personen, die in der ersten Reihe sitzen,
dem Eintritt der Materialisation hinderlich sei(!). Damit auch hier
die Komik nicht fehlte, bat er am Schluß seiner einleitenden Worte
den Diener, ein Fenster zu öffnen, da frische Luft den Geistern sehr
zur Verkörperlichung helfe!! Der Raum wurde alsbald verdunkelt --
merkwürdig, daß Geister immer nur im Dunkeln erscheinen! Das Medium,
eine Frau in mittleren Jahren, setzte sich hinter einen roten Vorhang
... (warum immer noch hinter einen Vorhang?). Ein Klopfen ließ sich
hören, der Vorhang öffnete sich ein wenig und eine weiße Gestalt
huschte vorbei. So mehrere Male. Dann begann die weiße Gestalt -- die
merkwürdigerweise weder Größe noch Gestalt, noch Gewand, noch Stimme,
noch ihren Platz wechselte! -- +Namen+ zu nennen, undeutlich flüsternd,
so daß man bald diesen, bald jenen herauslesen konnte. Der Leiter gab
dann den Namen laut bekannt und fragte, ob jemand den Geist erkenne.
War jemand desselben Namens im Saal, so fragte derselbe etwa den Geist:
„Bist du’s, Mutter?“ Der Geist antwortete dann: „Ja, meine Tochter.“
Freudig rief die Gläubige dann: „Ich freue mich, dich zu sehen, komm
bald wieder!“ Und der Geist verschwand. Das war die ganze „geistreiche“
Unterhaltung der Geister aus der anderen Welt, die sich aber nie auf
eine lange Unterhaltung einließen. Wohl nicht weniger als 50 solcher
Geister erschienen binnen einer Stunde an diesem Abend, hier und da
auch ein Mann mit schwarzem Bart und schwarzem Rock ... aber dann
dauerte es gewöhnlich etwas länger, bis er kam. (Nahm der Geist sich
erst Zeit, das weiße Gewand mit dem schwarzen zu vertauschen?)

Dies war die eindrucksloseste, albernste Versammlung und der
offensichtlichste und plumpste Betrug, den ich je erlebt habe.
Man muß sich nur über die Leichtgläubigkeit der Menschen wundern,
die in dunklem Raume eine Frau in weißem Laken für einen Geist
halten. Den Alten verzeihen wir es, wenn sie körperliche Geister
sahen, aber in unserer kritischen und naturwissenschaftlichen Zeit
scheint es unverständlich. Ich will nicht vergessen zu sagen, daß
eine Dame vor der Materialisation ein stimmungsvolles Lied sang und
während der „Geistererscheinungen“ eine simple Spieldose ihre Weisen
klimperte, vielleicht um „Sphärenmusik“ zu imitieren! Einige in der
Versammlung konnten sich des Lachens nicht enthalten, wurden aber
von einer „gläubigen“ Dame, die sich umdrehte, in barschen Worten
zurechtgewiesen. Lachte man mehr, lief man Gefahr, ganz hinausgewiesen
zu werden.

Endlich die vierte Art spiritistischer Versammlung, der ich beiwohnte,
war eine Wochenversammlung, wo man Fragen stellen konnte und Antwort
über spiritistische Lehren erhielt. Hier kam das allerkonfuseste
Zeug zutage, z. B. Frage: „Was ist Gott?“ Antwort: „Natur“. -- „Wer
war Jesus?“ Antwort: „Geboren in einer Vegetarierfamilie, deshalb
mit so starkem und wundertätigem Körper und Geist begabt!“ -- Die
Geister leben in verschiedenen Vibrationssphären und scheinen eine
Art ethischer Läuterung durchzumachen. Für täglichen Spaziergang und
körperliche Bewegung als gesundheitsfördernd wurde stark eingetreten!
Ein Bild eines Geistes in Gips wurde vorgezeigt, das vor vielen 1000
Jahren bei einer Materialisation abgenommen sein soll! David und Saul
wurden als spiritistische Rivalen(!) geschildert. Die Propheten der
Bibel waren natürlich samt und sonders Spiritisten. Auch die „Hexe von
Endor“ (1. Sam. 28) durfte natürlich nicht unerwähnt bleiben. Kurz,
ein wahrer Hexentanz von geschichtlicher Unkenntnis und phantastischer
Metaphysik, vermischt mit ethisch-asketischen Tendenzen, ja schließlich
ein bißchen Vegetarianismus. Ein trüber Strom, der sich unbekannt und
unbeachtet in obskurer Literatur von den Zeiten der hellenistischen
Religionsmischung an durch das hexengläubige Mittelalter und die
krausen Spekulationen phantastischer Philosophen herabergießt bis auf
unsere Tage, neu aufgefrischt und aufgetischt mit Geistererscheinungen
und spiritistischen Sitzungen.

Das waren meine Abschiedseindrücke von Chikago. Wirr und kraus wie die
Stadt im ganzen, schien mir auch ihre geistige Verfassung zu sein. Was
mag sich an Geldjagd, Lebensnot, Glaube, Schande und Aberglaube alles
in ihr bergen! Und das alles emporgeschossen in noch nicht 100 Jahren!
1831 ja noch ein Indianerdorf am „Zwiebelfluß“, 1925 die viertgrößte
Stadt der Welt! Und es wird nicht ruhen, bis es noch eines Tages
Neuyork überflügelt hat!


Chikago.

    Schweinemetzger der Welt,
    Werkzeugfabrikanten, Weizenschieber,
    Spieler mit Eisenbahnen, Warenhändler der Nation,
    Stürmisch, rauh, lärmend,
    Stadt der breiten Schultern.

           *       *       *       *       *

    Sie sagen, du seist versumpft, und ich glaube ihnen; denn ich sah
    Deine gemalten Frauen unter den Gaslaternen die Farmboys ködern.
    Und sie sagen, du seist ungerecht, und ich sage: Ja, es ist wahr,
    Ich sah den Apachen morden und frei herumgehn, um weiter zu morden.
    Und sie sagen, du seist roh, und ich antworte: Auf den Gesichtern
    Der Frauen und Kinder sah ich Zeichen lüsternen Hungers.
    Und so antwortend, wend’ ich mich ihnen zu, den Spöttern über meine
      Stadt
    Und gebe ihnen den Spott zurück und sage:
    Kommt und zeigt mir eine andre Stadt, singend,
    Erhobenen Hauptes, so stolz zu leben, grob zu sein und stark und
      schlau.
    Während der Arbeit
    Magnetische Flüche schleudernd,
    Ein großer, kühner Raufbold, der sich lebhaft auflehnt gegen die
      kleinen sanften Städte.
    Wild, wie ein Hund, mit der Zunge lechzt er nach Tat,
    Listig wie ein Wilder, kämpft er gegen die Wildnis,
    Barhaupt,
    Beiseiteschiebend,
    Zertrümmernd,
    Platzmachend,
    Bauend, niederreißend, wieder aufbauend,
    Unter dem Rauch, Staub um den Mund, mit weißen Zähnen lachend,
    Unter der schrecklichen Last des Schicksals lacht er, wie ein junger
      Mann lacht,
    Lacht, wie ein unwissender Kämpfer lacht, der nie eine Schlacht
      verlor,
    Prahlend und lachend, daß der Puls klopft unter dem Handgelenk
    Und unter den Rippen das Herz des Volkes.
    Lachend!
    Lachend das stürmische, heisere, lärmende Lachen der Jugend.
      Halbnackt, schwitzend.
    Stolz darauf, Schweinemetzger, Werkzeugmacher, Weizenschieber,
      Spieler mit
    Eisenbahnen und Warenhändler der Nation zu sein!

    Carl Sandburg.

  Aus: Neue Welt, eine Anthologie amerikanischer moderner Lyrik, S.
  Fischer Verlag, Berlin.




Über den Mississippi ins Felsengebirge.


Ich hatte genug von dem mystischen Spuk der Spiritisten und ebenso von
dem Geschäftstrubel Chikagos; ich freute mich daher ordentlich auf die
Einsamkeit im -- Eisenbahnwagen, dem ich mich nun wieder für etwa 40
Eisenbahnstunden anvertrauen wollte und ebenso auf die Einsamkeit der
ungeheuren Mississippiebenen.

Dankbar verabschiedete ich mich von meinen freundlichen Gastgebern,
die mir soviel gezeigt und soviel zugänglich gemacht hatten. Aber
immer hätte ich um keinen Preis in Chikago wohnen und weilen mögen
ebensowenig wie in Neuyork. Ich könnte weder der täglichen Ermordung
der Zehntausende von Hammeln und Ochsen zusehen, wie das lebende Vieh,
das frühmorgens eingeliefert, am Abend als fertige Wurst die „~Union
stock Yards~“ verläßt, noch möchte ich täglich bei Marshall Field u.
Co. aus- und eingehen oder als Türboy Hunderttausenden täglich die Tür
öffnen. Eher noch würde ich auf den weiten Wassern des Lake Michigan
herumfahren oder in den grünen Parks baseball spielen wollen. Aber so
gnädig erweist sich ja das Leben den wenigsten unter den Menschen.

So verzichtete ich auch nicht allzuschweren Herzens auf den Besuch
der deutschesten Stadt Amerikas, Milwaukee, in der allein auch
sozialistische Stimmen sich maßgebend geltend zu machen pflegen! Wie
anders in Deutschland, dem Mutterland des Marxismus! Der Amerikaner ist
viel zu sehr Individualist, als daß er in Massen je dem marxistischen
Sozialismus anheimfallen könnte. Er hat zu sehr auf Schritt und Tritt
in seinem Lande erprobt, was persönliche ungehemmte Energie und
Eigenart des einzelnen vermag, ja daß die Union der Entschlußkraft und
Unabhängigkeit des wagenden Individuums alles verdankt, als daß er
überzeugter Marxist werden könnte. Die Deutschen kommen im Urteil des
Stockamerikaners nicht immer gut weg. Wie die Stimmung über sie ist,
zeigt folgendes moderne Gedicht:


„Deutsche Nachkommen.“

    Riesen von 48,
    O Märzwind!
    -- -- --
    Nachgeborene
    Mit dem schwarzen Stigma
    Der Niederlage.
    Flucht, Angst der Träume,
    In der Ferne Verlorene --
    Unstolze Ruhe,
    Schlaf und Dunkel ...
    Exil!
    -- -- --
    Jenseits des Flusses
    Graue Wölbung des Viadukts,
    Tal der Fabriken.
    Die ganze Stadt gehört ihnen,
    Ihre Stadt -- Deutschland.
    Der glatte Boulevard
    Gürtelt die schmächtigen Straßen,
        Hügel und See.
        Rasenbeet --
        Kohlbeet --
    Kleines Glück der Mittelmäßigkeit
    Zwischen evangelischen Türmen
    Und den Kaminen der Brauereien,
    Ganzes Glück der Mittelmäßigkeit.
    In großen gotischen Lettern
    Über Laden und Buden
    Zwischen Gurken und Kraut
    Und den irisierenden Saucen des Herings.

    Qualmende Küchen
    Mit ihrem Wäsche- und Backduft ...
    Schweigen ... Katze und Uhr ...
    Schwerer Griff trägt zierlichen Römer,
    Breiter Lehnstuhl für das Abendblatt.

    Sonne und Sonntagsstaub
    Bespritzt die Kastanienbäume
    Und die gemalten Tische
    Mit den überschäumenden Bechern --
    Starker Männerchor,
    Rhythmus und schwarz-rosa Schweiß
    Der Turnvereine ...
    Fahnen, Schnurrbart und Kreuz --
    Hoch!

    Er war Bäcker, Brauer,
    Gewann auf der Börse -- bescheiden,
    Und dann das weiße Palais auf dem Boulevard.
    Und Madame, eifersüchtig
    Auf die Künste der Köchin
    Strickt mit den Lappen der alten Kleider
    Unzählige Teppiche ...
    Und die Töchter nähen, kochen
    Und gehen in Scharen zum Kollege.

    Alles solide und fest!
    Ein wenig Musik aus Tradition.
    Weniger Kunst
    (diese Maler sind zu modern),
    Nur das Alte ist gut.
    Alte Möbel,
    Alte Sitten,
    Alte Dichter
    Und alte Tugend,
    Das alte Land dort drüben
    Über alles -- -- --!

    „Solides, starkes Volk,
    Bewahre dein reines Blut,
    Baue für dich!
    Unser Reichtum heirate unsren Reichtum.
    Die Kinder gehören uns
        Uns
    Dem auserwählten Volk.“
    -- -- --
        Unsre Stadt --
        Deutschland.

    Francis Treat.

  Aus: Die neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik.
  Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag, Berlin 1921, S. 66.

Ebensowenig weinte ich den großen Pullmann-Werkstätten nahe Chikago
in Pullmann eine Träne nach, daß ich sie nicht in Augenschein nahm.
Nur fort aus dem Menschenameisenhaufen Chikago! Das war jetzt mein
sehnlichster Wunsch.

Bald nach der Abfahrt, als die letzten Fabriken wichen, taten sich
ungeheure Ebenen im Staate Illinois auf mit herrlichen Fluren, von
denen viele deutschen Farmern gehören. Ein wenig hügelig war das
Gelände, aber nicht lange. Die ersten Frühlingsknospen waren an
den Bäumen. Das Land sah etwa so aus, daß es auch in der Provinz
Sachsen in Mitteldeutschland hätte liegen können. Wir näherten uns
dem Illinoisriver, demselben, in dessen Oberlauf man den Chikagofluß
zurückzufließen zwang, damit er nicht länger mit seinen schädlichen
Abwässern den trinkwasserspendenden Lake Michigan verunreinige. Langsam
zog eben auf ihm eine Barke dahin, die ein großes Segel aufgespannt
hatte. Die einzige Unterbrechung des Flußbildes. Hier und dort dehnte
sich Sumpfland. Ab und zu sah man eine alleingelegene Farm, Rinder-
und Pferdeherden. Alles ein ganz anderes Bild als die geschlossenen
deutschen Dörfer mit ihrer engen, wohlabgezirkelten Gemarkung!

In unserem Zug -- ich fuhr wieder in der „~chaircar~“, nicht im
Pullmann -- saßen allerlei Leute meist einfacheren Standes mit ihren
Kindern. Sie hatten ihre Decken, ihre eigenen Eßkörbe mitgebracht,
aus denen sie die üppigsten Mahlzeiten hervorzogen -- auch der Wein
und das Tischtuch fehlte nicht. Für drei Tage und Nächte Fahrt nach
Kalifornien hatten sie sich häuslich eingerichtet, so wie man es
sich auf Deck und in der Kabine des Schiffes gemütlich macht. Sie
spielten, lachten, lasen, rauchten, aßen, schliefen, wie es paßte.
Die Kinder benutzten bald den langen Mittelgang als ihre Rennbahn und
die langen Liege- und Drehstühle als Verstecke, spielten Hasch und
Sichkriegen. Der Boden des Wagens verwandelte sich daher allmählich in
ein Stilleben von Obstschalen, Orangen- und Brotresten, Papier aller
Sorten, leeren Schachteln usw. Eine ästhetisch veranlagte Dame vor mir
hatte sich an den Plüsch des Sitzes ihr gegenüber eine dunkelrote
Rose gesteckt, um ihre Umgebung zu verschönern. Aber in der allmählich
sich verschlechternden Luft -- die Fenster sind wegen des stets sehr
reichlichen Ascheflugs aus der Lokomotive nicht zu öffnen -- welkte
sie, und ein rotes Blatt nach dem andern fiel langsam mit einem leisen
„Hsch“ zu Boden. Neben mir saß ein junger Eisenbahner von vielleicht
22 Jahren, der in Kalifornien Stellung suchte und in mir das gleiche
vermutete. Er empfahl mir, in den ~Y. M. C. A.~[22] einzutreten. Das
sei überall in der Welt eine gute Sache. Ihr könne man angehören. Er
pries mir alle die äußeren und inneren Vorzüge derselben, aber das
hinderte ihn doch nicht, nachher in einer Ecke des Wagens lustig mit
zwei kecken Chikagogirls ein wenig zu flirten. Im Wagen wurden wie
immer Karten, Schokolade, Handschuhe und Obst angeboten. Nur daß sich
das Obst, je weiter wir uns von Chikago entfernten und je seltener wir
hielten, ständig verteuerte.

So etwa je nach ein bis zwei Stunden gab es eine Haltestelle.
Dazwischen war nichts. Die Bahnhöfe verdienen kaum diesen Namen! Und
ein Namensschild derselben war selten deutlich zu entdecken. Die
Siedlungen lagen alle immens weit auseinander. Jeder ist hier König
in seinem eigenen Reich und auf seiner schier unbegrenzten Scholle.
Wie anders in den Riesenstädten, wo sich die Menschheit zu Millionen
zusammenballt! Wer nicht einmal durch diese endlosen Ebenen gefahren
ist, kennt Amerika nicht! Neuyork und Chikago allein sind noch nicht
die Union! Aber nirgends war auch etwa eine alte Dorfkirche, wie in
Franken oder Schwaben, zu entdecken. Die Besiedlung ist hier ja erst
vor 50 bis 70 Jahren vor sich gegangen. Es ist hier immer noch Anbau-
und Gründungszeit, wie es etwa bei uns unter Karl dem Großen war. Bei
einer Gruppe von etwa 20 Wohnhäusern steht schon eine kleine hölzerne,
höchst primitive Farmerkirche. Sie fehlt nirgends, oft sind es gar
zwei oder drei verschiedener Denominationen! Alles ist in diesem
Lande ungeheuer, die Ebene, die Ströme, die Seen, die Städte, die
Bodenschätze, die Fruchtbarkeit, der Reichtum. Während bei uns ein
Bauer bei allem Fleiß im allgemeinen aus dem Boden -- die künstliche
Düngung nicht gerechnet -- nicht viel mehr ziehen kann als sein Vater
und Großvater vor 40 und 60 Jahren zog, erntet ein Ansiedler, der mit
nichts nach Amerika kommt, oft schon nach sechs, sieben Jahren so viel,
daß er sich ein eigenes wohlmöbliertes Landhaus bauen und ein Automobil
kaufen kann! Wie müssen die Ebenen hier erst bei voller Ernte strahlen,
wenn Korn und Mais übermannshoch steht und die großen Mäh-, Dresch- und
Säemaschinen auf den Feldern fauchen! -- --

Je südwestlicher wir kamen, desto wärmer wurde es! Man sah schon
Landleute auf den Feldern mit vereinzelten Strohhüten gehen. Sonst ist
erst der 15. Mai drüben der offizielle Termin, den Strohhut auf- und
nicht mehr abzusetzen bis in den indian summer hinein! Um Mittag hatten
wir den Mississippi erreicht. Glitzernd wälzte er seine blauen, bis 1
~km~ breiten Fluten träge und gemächlich -- wie etwa die Elbe unterhalb
Hamburgs -- durch die ungeheuren Ebenen des mittleren Westens. Seine
Länge ist dreimal die unseres Rheins. Ich war am Mississippi! War es
möglich? Wovon man als Kind nur in Indianergeschichten geträumt und
gelesen hatte! Es war mir in den Augenblicken, da unser Zug bei Fort
Madison gravitätisch über die lange eingleisige Mississippibrücke
rollte, unbeschreiblich seltsam zumute, daß ich es mir immer wieder
sagen mußte: Jetzt fährst du über den Mississippi! Zwei kleine,
alte, vorsintflutliche Dampfer kreuzten den von bewaldeten Inseln
eingenommenen mächtigen Strom. Fort Madison lag gänzlich einsam, nur
von wenigen Häusern umgeben. Welchen Feind will es hier abwehren?
Stritt es einst gegen die Franzosen oder Engländer oder Mexikaner oder
die Indianer? Von rechts her winkten grüne Wälder. Alles glänzte in
blendendem Frühlingssonnenschein. Zur Feier der Überfahrt über den
Mississippi verzehrte ich die letzte Apfelsine, die mir die liebe
Cousine in Chikago mit eingepackt hatte. Dann fuhren wir wieder und
fuhren und fuhren ... Von den 38 Stunden bis Neumexiko waren erst
die wenigsten herum. Wie hatte doch bei Florenz einmal mir gegenüber
eine deutsche Dame, als sie in vier Stunden von Bologna kam, schon
ungeduldig ihren Mann gefragt: „Ach, Artur, wann sind wir denn
+endlich+ da?“ Hier lernte man in Geduld sitzen und fahren.

Jenseits des Mississippi, im Staate Missouri, den wir jetzt
durcheilten, liegt das alte Prärieland, da man einst mit dem
Lasso die Büffel jagte und Indianer durchs übermannshohe Gras
ritten. Das Flußtal begleiteten sanfte Hügelreihen, eine angenehme
Unterbrechung der endlosen Ebenen, sanfte Bachtäler, Wiesenhänge,
auf denen zahlreiche Kühe weideten. Wie bald werden sie nach
Chikago in die ~Union stock yards~ wandern? Gefallene Bäume
liegen da, um die sich niemand kümmerte. Aber nirgends waren hier
umfangreichere Wälder. Einst war es romantischer, mit der Büchse
durch die Wildnis zu reiten, als mit der Bahn hindurchzufahren,
aber wieviel ungezählten Millionen wächst hier jetzt das Brot,
während früher die Indianer wohl nur einige Hunderttausend gezählt
haben. Die sanftgewellten Hügelreihen am glitzernden Mississippi
hatten mit ihren Büschen, Bächen und Pferdeherden ihren eigenen
Reiz. O wie hätte ich all den Schreibmaschinenfräuleins und den
blassen Angestellten in dem wimmelnden und dampfenden Chikago, wo
man in den Wolkenkratzerschluchten kaum den Himmel und vor all der
Lichtreklame kaum noch die Sterne sieht, einmal hier auf einige Wochen
herauszukommen, um sich ohne Zeitungsgeschrei und Dollarjagd in Licht,
Luft und Sonne gesund zu baden, gegönnt! So wie die Pferde und Rinder
heute hier weideten, weideten sie auch einst vor Jahrtausenden am Nil,
am Euphrat oder am Eurotas. Aber kein Expreß dampfte an ihnen vorüber,
daß sie erschreckt zur Seite sprangen, kein Auto tutete in ihre
Wildnis, kein Wolkenkratzer reckte sich gen Himmel! Wie die Kulturen
im Kern einander gleich bleiben und doch verschiedenes Antlitz tragen!
So wie die Menschen am Ganges braun, am Nil schwarz, am Jangtsekiang
gelb, am Rhein weiß und am Mississippi rot sind und doch die gleichen
Bedürfnisse und Gedanken haben. Wie ist hier Macht vor Recht gegangen
und hat dem roten Mann, der selbst vielleicht einst vor Jahrtausenden
als ein Bruder des Gelben aus Nordasien hier hereingekommen ist, Land
und Grund genommen, ihn mit Pistole und Branntwein ausgerottet und sich
an seine Stelle gesetzt! Und lag nicht doch in der vorwärtsdrängenden
Kulturmacht des Weißen ein höheres Recht, so daß Macht auch ein
Recht in sich birgt? Ich muß im Grunde allen fremden Völkern und
Rassen wohlgesinnt sein -- dazu erziehen uns Weltreisen --, aber ich
muß doch auch in der Geschichte der Kriege und Kolonisationen Sinn
finden. Heute haben hier die Indianer in den meisten der Staaten
des mittleren und fernen Westens nur noch ihre „Reservationen“, am
größten in Oklahoma. Es gibt eine Reihe Amerikaner, die mit Stolz
Indianerblut in sich tragen, während Negerblut völlig verachtet ist!
Es gibt genug Indianer, die als Amerikaner gekleidet fast unerkennbar
in amerikanischen Diensten stehen. So lernte ich einen indianischen
Studenten und Lokomotivführer kennen! Aber es gibt vielleicht auch
noch eine Viertelmillion Vollblutindianer, die abgelegen in ihren
Dörfern (~pueblos~) leben und sich von Töpferei oder Teppichweberei
kümmerlich nähren und in ihrer Liebe zu den wilden Bergen und einsamen
Felsschluchten nicht lassen können ...

Am Flußufer standen einige Fischer mit ihren Angeln und schauten
stundenlang in das Blau des Himmels und in die Weite. Vor seinem
Haus in der offenen Halle saß ein behäbiger Farmer in weißem Bart
und schaute unserem Zug nach, dem einzigen Ereignis, das am Tag sein
Einerlei unterbricht. Auf einem grünen Anger spielten barfüßige Knaben
-- die man in Amerika selten sieht -- ihren ~baseball~. Bei einem
kleinen Ort stand eine Holzkirche armselig wie eine Scheune. Nur die
Fenster mit ihren gotischen Holzladenfenstern und einem eisernen Kreuz
am First ließen sie als solche erkennen. Am Abend sah man die Landleute
in Ermangelung von Wegen und Straßen einfach auf den Bahnschienen ihren
Wohnungen zustreben! Das ist der ebenste und kürzeste Weg drüben. Die
Lokomotive pfeift, und man tritt einen Augenblick zur Seite! Wer dabei
überfahren wird, hat es sich selbst zuzuschreiben. Polizeistrafen gibt
es dafür nicht!

Purpurrot begann die Sonne im Westen zu sinken. Immer weiter westwärts
ging unsere Fahrt ... Zwei barmherzige Schwestern fuhren allein in
einem äußerst primitiven Reisewägelchen draußen durch den Abend.
Der Wagen suchte sich selbst die beste Fahrgelegenheit durch den
Sand und das Gras. In einigen erleuchteten Zelten saßen Bahnarbeiter
um ihr Abendbrot ... Mit Dunkelheit kamen wir nach Kansas City im
Staate Kansas und überschritten hier den mit seiner gewaltigen Breite
fast an den Mississippi erinnernden Missouri, der von hier nach St.
Louis zum Einfluß in seinen größeren, aber bis dahin kürzeren Bruder
strömt. Kansas hat etwa 200000 Einwohner und ist die größte Stadt des
gleichnamigen Staates. Sie liegt am Einfluß des Kansasflusses in den
Missouri. Sie ist wie alle amerikanischen Städte rasch gewachsen. 1860
hatte sie noch nicht 5000 Einwohner! Jetzt hat sie ihr stattliches
„Kapitol“, ihre prächtigen Parks usw., wie es einer ordentlichen
großen Stadt zukommt. Einer der Einwohner unserer Hall in Cambridge
war aus Kansas, Freund R., er hatte also 38 Bahnstunden in seine
Universitätsstadt zu fahren! Wer macht ihm das in Deutschland nach?

Mit einem Trinkgeld brachte ich unseren besonders trägen und
lässigen Neger auf die Beine, daß er mir im Schlafwagen noch ein
Bett verschaffte. Denn die ganze Nacht mit den Kleidern in der Ecke
sitzen, wenn auch der „~reclining chair~“ erlaubte, ihn lang wie einen
Liegestuhl auszuziehen, erschien mir doch nicht gerade das Ideal zu
sein, zumal mir +noch+ ein ganzer Tag Eisenbahnfahrt bis nach Neumexiko
hinein bevorstand. Der Neger, wohlbeleibt und mit breiter Nase, hatte
mir grinsend und schmunzelnd zugesagt, eine „~upper berth~“, wie das
meine Gewohnheit war, zu verschaffen. So geschah es auch. Ich stieg in
dem mit seinen grünen Vorhängen wohlverhängten, besagten Schlafwagen
als einer der letzten auf der kleinen Leiter in mein hochgelegenes
Reich und kleidete mich oben aus, barg alles wohl in einer Ecke und
sah noch nach, ob auch Uhr, Scheckbuch und Börse wohl in ihren Taschen
waren. Dann legte ich mich ruhig aufs Ohr. Die meisten anderen im
Wagen schliefen schon den süßen Schlaf des Gerechten und fuhren mit
mir im Staate Kansas in die Nacht hinein ... „Rumrumrum ... rumrumrum“
rüttelte der Zug dahin. Bald war man nach dem vielen Sehen und der
schon etwa 15stündigen Fahrt wohl in den Schlaf gewiegt. Kein Laut
noch Kindergeschrei störte hier die Stille. Die Auswandererfamilien
mit ihren Kindern waren der größeren Billigkeit halber in der
„~tourist-car~“ zurückgeblieben und hatten zwischen den ausgezogenen
Stühlen ihre Kissen und Decken ausgebreitet. Es war dort das reinste
„Nachtlager von Granada“. Ich hoffte wohlgestärkt am Morgen in einem
neuen Staate, Kolorado, von denen jeder allein etwa ein Drittel so groß
ist wie das Deutsche Reich, wieder aufzuwachen ...

Plötzlich, als ich wohl ein bis zwei Stunden geschlafen hatte, hält
mir mitten in der Nacht jemand eine Blendlaterne vors Gesicht, rüttelt
mich am Arm und zieht mir auch schon die Bettdecke weg -- eine recht
eigenartige Situation. War es ein Überfall? War der Zug von Räubern
angefallen? Nein. Der Neger bedeutete mir, ich müsse schleunigst aus
dem Bett heraus ... es sei noch ein Fahrgast eingestiegen, der auf
das Bett Anspruch habe! Wachte oder träumte ich? Es war leider kein
Zweifel an der betrübenden Wirklichkeit: Der Schlafwagenneger stand
grinsend mit seinem breiten, braunen Gesicht vor mir und packte schon,
ohne meine Antwort abzuwarten, meine Kleider über den Arm und schleppte
sie davon in die Ecke des Wagens und warf sie dort auf ein anderes
oberes Bett, das anscheinend noch frei war. Warum er mir das nicht von
Anfang an gegeben hatte? Ich ergriff die letzten Utensilien hinter ihm
drein, kaum daß ich Zeit hatte, wenigstens die Unaussprechlichen noch
anzuziehen. Aber es schlief ja alles im Wagen und sah meinen höchst
eigenartigen Umzug nicht. Nur der Neger und der neu eingestiegene
Fahrgast, der schon auf mein wohlgewärmtes Bett wartete! (Übrigens
pflegen echte Amerikaner nachts einen Schlafanzug anzuziehen, so daß
für sie ein solch plötzlicher Umzug nicht allzu genierend ausfällt.
Bei mir als echtem Deutschen war das anders.) Ich war so schlaftrunken
-- der erste Schlaf ist ja wohl immer der beste -- daß ich kaum
nachzusehen und nachzuzählen vermochte, ob der Neger auch alles richtig
herüberbugsiert hatte. Kurz, ich schlief bald wieder ein. Und der
Zug hielt ja wohl auch in der Nacht nicht mehr ... „Rumrumrum ...
rumrumrum“ hörte ich es wieder wie im Traum ...

Morgens wachte ich auf bei blendendem Sonnenschein. Ungeheure gelbe
kahle Ebenen dehnten sich zu beiden Seiten! Der Schlafwagen ward
lebendig; Männlein und Weiblein strebten nach den Waschtoiletten ...
Man kleidete sich an. Ich zählte: Alle meine Kleidungsstücke waren
vorhanden. Die Uhr knöpfte ich in die Weste -- da fühle ich zufällig in
die innere Rocktasche: wo war mein Scheckbuch? Nun war das Scheckbuch
weg! Das ganze Erbe der lieben Tante aus Schwaben! Und im Portemonnaie
waren nur einige Halbdollarstücke und einige Cents. Das reichte
vielleicht noch einen Tag! Und dann saß ich in Neumexiko, im Herzen
des nordamerikanischen Kontinents -- 40 Bahnstunden von den nächsten
Menschen, die mich kannten. Aber auch wenn ich sie telegraphisch um
Geld zur Rückkehr anging -- sollte nun die ganze Fahrt zu Wasser
werden? Wie furchtbar! Mir saß der Schreck in allen Gliedern. Wie doch
der Mensch ahnungslos aus allen Himmeln stürzen kann!

Was tun? Sollte ich mich einem der mir völlig unbekannten Reisenden
anvertrauen? Keiner würde mir Geld geben! „Selbst“ ist in Amerika
der Mann! „Steig aus und nimm irgendeine Arbeit an!“ hätte man mir
vielleicht auf amerikanisch geantwortet. Aber ich mußte ja doch auch
nach Harvard zurück! Hier konnte ich keinesfalls bleiben. Und wenn
nun gar jemand mein Scheckbuch gefunden und auf meinen Namen, der mit
Unterschrift vorne drin stand, mein ganzes Geld abhob! Wie gewonnen,
so zerronnen! Liegt auf geerbtem Geld kein Segen? „Was du ererbt von
deinen Vätern hast, +erwirb+ es, um es zu besitzen.“ Darüber hatten wir
einmal einen Aufsatz machen müssen. Galt das jetzt mir? So schossen mir
die Gedanken hin und her durch den Kopf. Ach, wenn ich doch sonst was
verloren hätte, nur nicht die Reisekasse selbst! Ich verwünschte schon
den Niagara und den Mississippi, daß sie mich überhaupt zu dieser
Reise verleitet hatten! Hätte ich doch nie in der Washingtonstreet in
Boston das Auswandererbillett gesehen! Was nutzte mir all das jetzt?
Und dabei fuhren wir immer weiter, immer weiter fort, für mich ins
Verderben ... immer tiefer in die Wildnis eines Erdteils ohne Geld!
Wenn der Zug doch bloß einmal zu ruhigem Überlegen gehalten hätte!
„Rumrumrum ... rumrumrum“, so schien mich der Zug selbst mit seinem
endlosen und monotonen Rhythmus zu verhöhnen.

[Illustration: ~CHICAGO~

~Lincoln, der Sklavenbefreier~]

[Illustration: ~CHICAGO~

~Das große Chicago-Fußballspiel (30000 Zuschauer)~]

Ich erkundigte mich, nichts verratend, nach der nächsten Station.
„Um halb acht Uhr sei Frühstück in Syrakuse, an der Grenze von
Kolorado“, hieß es. Also da hielt der Zug 25 Minuten, und im Wartesaal
war Gelegenheit, für 75 Cents warm und reichlich zu frühstücken:
Hammelkotelette, Huhn und andere schöne Sachen. Was scherte mich jetzt
das Frühstück? Ich mußte mein Scheckbuch haben. Wenn nur der Zug
endlich einmal halten wollte und ich Schritte tun konnte! Fuhr er bis
ans Ende der Welt? Aber wenn ich ausstieg, sollte ich vielleicht dann
da bleiben, in einem weltverlorenen Städtchen nur noch 200 ~km~ vom
Felsengebirge entfernt? Nein, mir kam ein besserer Gedanke: Bleiben
kostete Geld, was ich ja nicht hatte, Fahren kostete mich im Augenblick
kein Geld, denn mein Rundreisebillett, was bis Chikago zurücklautete
-- freilich über Kalifornien! -- war ja bezahlt und steckte in meiner
Tasche. Also weiterfahren und sehen, was dann kommt! Mein Plan war
gefaßt: In Syrakuse nur aussteigen, um in der Frühstückspause „Schritte
zu tun“! Ich wußte glücklicherweise die Nummern meiner Schecks genau;
die hatte ich mir vorsichtig mit Bleistift notiert. Und das Notizbuch
hatte ich noch! Also auf dem Bahnhof sofort an die Bankzentrale
depeschiert und die betreffenden Nummern sperren lassen! So war
vielleicht doch noch mein Erbe gerettet.

Als der Zug endlich hielt, handelte ich kurz entschlossen. Denn
gestohlen war das Scheckbuch auf jeden Fall! Ich depeschierte.
Dann trat ich nach Aufgabe meines Banktelegramms nach Boston an
den diensttuenden ~police-man~ auf dem Bahnsteig und forderte ihn
energisch auf, sämtliche Reisenden sofort zu durchsuchen oder etwa
den Schlafwagenschaffner einfach zu verhaften, bis heraus sei, wer
mein Scheckbuch gestohlen habe. Der ~police-man~, ein Hüne von Gestalt
und wohl Ire von Geburt, sah mich sehr groß an und an mir herunter
-- und rührte sich nicht von der Stelle! Erwartete er erst einmal
ein großes Trinkgeld? Das hatte ich ja nicht. Oder bedurfte er dazu
höheren Befehls? Wie sollte ich den in der Eile erwirken? Ich mußte
doch weiterfahren. Enttäuscht und niedergeschlagen wandte ich mich in
den Wartesaal, gab mein Scheckbuch verloren und setzte mich verzweifelt
an die „Frühstücks“tafel -- es waren noch 15 Minuten Zeit. Hunger
hatte ich, mechanisch schlang ich Hammelkotelette und etwas vom Huhn
hinunter. Aber was half’s? Meine Barschaft schmolz nur um so mehr. Sie
würde wohl kaum noch diesen Tag überleben. Was dann? So wollte ich
wenigstens noch einmal gut und vorsorgend gegessen haben. Sollte ich
mich dann in Los Angeles als Kuli verdingen? Wenn wir nur erst dort
wären! Bis dahin waren aber noch 48 Stunden mit der Bahn zu fahren!
Reichte die letzte Mahlzeit bis dorthin?

Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte -- ich hatte mich nicht
entschließen können, in dem weltverlorenen Syrakuse zu bleiben; und
das war gut! -- stieg ich wieder ein, wie üblich, von dem kleinen
bereitgestellten Schemel hinauf auf das sehr hohe Trittbrett und
meldete jetzt dem Schlafwagenneger meinen Verlust. Grinsend hörte
er mich an. Ich bedeutete ihm, ich sei der Fahrgast, den er heute
Nacht aus dem Schlaf geweckt und in das andere Bett gewiesen. Er
nickte. Durch seine Schuld sei also das Scheckbuch verlorengegangen.
Er schüttelte. „No, Sir“ war seine Antwort, und er verschwand. Er
suchte offenbar den Schlafwagen ab, klappte die Betten zusammen --
und fand natürlich nichts! Mir war längst alles gänzlich vergällt.
Sah ich sonst mit begeistertem Interesse stets in die Landschaft
hinaus, so interessierte mich jetzt nichts mehr. Stumm sah ich vor
mich hin und brütete. Die letzte Hoffnung war dahin. Im Schlafwagen
nahmen auf den Sesseln die Reisenden wieder Platz. Ich teilte jetzt
auch anderen meinen Verlust mit und wurde allgemein bemitleidet. Ich
erwartete bloß noch, daß sie für mich eine freiwillige mildtätige
Sammlung veranstalteten, daß ich bis Los Angeles zu leben hätte. Aber
selbst das geschah nicht. Sah ich dazu zu wohlgekleidet aus? Ging sie
der „~German~“ nichts an? Dachten sie: „Mag er sich’s doch wieder
verdienen, jung genug ist er“? Ich weiß es nicht. Und wenn wir jetzt
über die romantischen Pässe des Felsengebirges gefahren wären, ich
hätte keine Notiz von ihnen genommen ...

So mochten wohl wieder dreiviertel Stunden vergangen sein, da kommt
der Neger grinsend wieder herein, tritt auf mich zu und hält in der
Hand triumphierend -- mein Scheckbuch!! Beinahe hätte ich es ihm aus
der Hand gerissen. Ich wußte nicht, sollte ich ihm um den Hals fallen
oder gar als vermeintlichem heuchlerischen Dieb eins auswischen. Ich
unterließ aber lieber beides. An Kraft war er mir sicher überlegen.
Er hielt das Buch wohlweislich sehr fest. „Ob das meins wäre?“ -- Nun
natürlich, wie konnte er nur fragen; ich nannte ihm genau die Nummern
aus dem Notizbuch. Da hielt er es mir näher, immer breiter grinsend
hin, aber gab es noch nicht frei! Ich griff instinktiv in die Tasche
und schüttete ihm meine noch übrige Barschaft in die braune Hand. Da
auf einmal wurde sein breiter Mund schmäler und -- er gab es mir!
Wie ein Paradiesesstrom floß es durch meine Seele! „~Well, Sir!~“ --
„Ja, ~well, Sir~, aber wo war es denn?“ Er behauptete: Eben hätten
es ihm zwei spielende Knaben aus dem Schlafwagen gebracht, die zum
Versteckspielen unter die Sitze gekrochen wären! Das war möglich; dann
war es also schon des Abends bei dem nächtlichen Umzug aus der Tasche
gefallen oder genommen und unter die Sitze gestoßen worden....! ~Well,
Sir~, alles möglich! Oder ob der gute Neger nicht alles so beabsichtigt
hatte? Ob er so ein gutes Trinkgeld verdienen wollte? Oder ob er gar
erst bare Dollarnoten darin vermutet hatte? Mir war’s gleich. Wie
interessant war sofort draußen wieder die Landschaft! An der nächsten
Station war ich der erste, der aus dem Zug sprang und wieder an die
Bank in Boston telegraphierte: „Scheckbuch gefunden, Sperre aufheben!“
Sie war wohl noch nicht ergangen ...

       *       *       *       *       *

Unsere Fahrt ging durch Land wie durch die Wüste Gobi. Zum zweiten Male
mußte die Uhr eine Stunde, jetzt auf „Mountain-Time“ (Gebirgszeit)
zurückgestellt werden, wie in Detroit auf „Zentralzeit“. Der
geographische Mittelpunkt der Union war überschritten. Die Vereinigten
Staaten haben nämlich wegen ihrer Ausdehnung eine vierfache Zeit: In
Neuyork ist ~Atlantic time~, in Chikago ~Central time~, im Gebirge
~Mountain time~ und in Kalifornien „~Pacific time~“, denn dort geht die
Sonne vier Stunden später auf und unter als an der Küste des Atlantik.
Auf dem Meer hatten wir täglich die Uhr nur um 20 Minuten zurückstellen
müssen und auf der Rückfahrt später wieder vor! Da der Bahnzug etwa
dreimal so schnell fährt als das Schiff, so macht es zu Lande beinahe
jeden Tag eine Stunde aus, wenn man ständig westwärts fährt. -- -- --

Im Wagen herrschte jetzt wüstes Kindergeschrei, die Babys brüllten,
die Boys haschten einander. Alles das störte mich in meiner
Paradiesesfreude nicht. Der Boden des Wagens glich jetzt schon nicht
mehr einer menschlichen Wohnung, denn jeden Tag mehrten sich der Abfall
und die Speisereste beträchtlich. Mir gegenüber sog ein Kindchen an
der Mutterbrust ... es ahnte nicht, wo es ist und wem es entgegenfuhr.
Welch Pionier wird einmal aus ihm werden? Bei mir saß ein früherer
Seemann, der schon Australien, die Türkei und England befahren hatte.
Neben ihm und seinen Schilderungen kam ich mir sehr klein vor ... Staub
und Rauch nahmen auch ständig zu, dazu die Wärme, denn wir fuhren jetzt
bereits unter dem 37. Breitengrad, auf dem in Europa -- oder vielmehr
Afrika! -- die Nordküste von Tunis und Algier liegt.

Vor dem heranbrausenden Zug rasten etliche Pferdeherden in die Steppe
hinein. Alles war draußen gelb und baumlos. Man sah Zelte wie ein
Zigeunerlager aufgestellt. Neben der Bahn strich ein schlechter Fahrweg
mit dünnen und krummen Telephonstangen hin. So fest, gerade und glatt
wie bei uns sind sie drüben nur in kultivierten Gegenden. Hier und da
lag ein einsames Lehmblockhaus. Wir traten allmählich in ursprünglich
spanisches Kulturland und indianisches Siedlungsgebiet ein. Man sah
einige strohgedeckte Holzhütten. Die Leute ritten auf Maultieren durchs
Land wie die alten Trapper. Auf den weiten kahlen Steppendünen in der
Ferne einige dunkle Punkte, die man durchs Glas als weidendes Vieh
erkennt. Wenn nicht die Bahn die Blutader für diese Einsamkeiten wäre,
wären sie alle, Mensch und Vieh, hier von aller Welt abgeschlossen. Die
großen Pazifiklinien haben erst den Westen Amerikas erschlossen. Hier
war zuerst die Bahn, dann kamen die Menschen der Bahn nachgezogen. Bei
uns in Europa waren erst jahrhundertelang die Menschen und ihre Städte
da, dann erst verband sie die Bahn miteinander ...

Wo kriegen die Leute hier nur ihr Wasser her? fragte ich mich. Die
Wasserläufe schienen alle ausgetrocknet zu sein. Gelbe Wüste reiht
sich an die salzhaltige Steppe. Regen fällt hier ganz selten, höre
ich. Wie heiß mag es erst im Sommer sein? Wie grün und fruchtbar war
es dagegen im Mississippital! Die unentgeltlichen Wasserfässer am
Ende des Eisenbahnwagens finden immer stärkeren Zuspruch. Eine dünne
spinnewebfeine Eisenbahnbrücke führt uns über einen sandigen Fluß. In
Chikago Tausende von Kunstbauten; hier erweckt ein einziger von ihnen
großes Interesse in all seiner Dürftigkeit. Unter einem dürren Baum
liegen drei Rinder im Schatten. Im Fluß stehen andere, wie die Kühe im
Nil zu Pharaos Zeiten. Was könnte hier alles noch werden und wachsen,
wenn das Land einmal systematisch berieselt und besiedelt sein wird!

Nach Stunden wieder einmal eine weltverlorene Station. Drüben erheben
sich jetzt mäßig hohe felsige Hügelreihen. Verblichene Baumstämme
liegen umher und ein paar faulende Knochen. Ich schaue gespannt nach
dem Felsengebirge aus, aber sehe es immer noch nicht. Die Stationsnamen
werden immer spanischer. An der Bahnstrecke arbeiten Neger in hohen
spitzen Strohhüten wie bei uns die Pferde im heißen Sommer. Zwischen
den Schienen liegen Haufen Sand wie verwehte Dünen ...

In La Junta, einem wichtigen Bahnkreuzungspunkt, ist ~lunch~. Alles
stürzt hungrig hinaus. Da mein Bargeld am Ende ist und ich hier keinen
Scheck eingewechselt bekomme, nehme ich ein billiges Mittagessen in
einem Arbeiter-~saloon~ dicht beim Bahnhof. Warum soll ich nicht einmal
da essen, wo Arbeiter, Neger, Spanier oder Mexikaner essen? Das Besteck
und Tischtuch ist freilich nicht allzu appetitlich ... aber es schmeckt
auch ... Freilich sehen sie mich alle recht erstaunt an ...

Nach 25 Minuten dampfen wir weiter in nun fast genau südlicher Richtung
durch den Südostzipfel des Staates Kolorado. Hügeliges Tafelland
beginnt. So denke ich mir etwa Südafrika. Wilde Wasserfurchen zeichnen
sich im Sand ab. Ein wenig Föhrengestrüpp ist das einzige, was hier
wächst. Hier muß es, wenn es regnet, sehr heftig regnen. Man sieht es
an den verhärteten Furchen. Die Bahn steigt ständig. Wir sind schon
1000 ~m~ hoch! In der Richtung aufs Gebirge ist es leider wolkig und
umzogen, sonst sähe man jetzt das Felsengebirge. Man erblickt die Kette
der Rockies bei klarer Sicht über 250 Meilen weit! Meine Erregung
steigert sich. Wann werde ich die Berge zuerst wahrnehmen? Ich bin
gespannt wie einst, als wir als Studenten das erste Mal in die Alpen
fuhren ...

Mit einem Male sind wir auf eine weite hohe Ebene hinaufgeklommen, an
deren hinterem Rande jetzt stattliche hohe blaue Bergketten sichtbar
werden; hinter ihnen noch höhere, die aber nicht deutlich zu sehen
sind. Ein paar Pferdeherden im Vordergrund bilden die einzige Staffage
zu diesem grandiosen Bild. Sonst rings kein Baum und Strauch. Das
müssen die Ketten des Felsengebirges sein. Sie sind es! Ziemlich links
erhebt sich die Koloradokette mit etwas Schnee auf den Berghäuptern,
tiefblau, bis über 4000 ~m~ hoch. Man sieht jetzt die Bahnlinie eine
weite Strecke vorwärts an den langen Zeilen der Telephonstangen, die
wie eine Streichholzpallisade in der Erde stecken. Stracks fahren
wir auf die Berge zu. Es wird immer öder. Rechts drüben erhebt sich
gigantisch der berühmte Pikes Peak bei Denver, einer der höchsten und
am weitesten in die Mississippiebene vorgeschobenen Gipfel (4300 ~m~).

Wie leicht rollt der Zug über die Riesenebene! Wieder mächtige wilde
Wasserrinnen! Wie mag hier der Regen hausen! Aber mitten in der
einsamen Wüste auch ein -- Reklameschild an der Bahn: „Star-Tobacco!“
Die ersten Indianerpueblos[23] tauchen auf mit ihren fast fensterlosen
niedrigen Lehmhütten. Braune und schwarzhaarige Kinder spielen
davor. Ein Güterzug kommt uns auf der eingleisigen Strecke entgegen.
Die Züge verständigen sich schon aus der Ferne durch gegenseitiges
lautes Pfeifen darüber, wo man sich ausweicht. Jener hält lange an
der Ausweichstelle und wartet auf uns, bis wir vorüber sind. Aber
wie machen sie es im Nebel und bei Nacht? Der Güterzug rollt die
Schätze Kaliforniens nach Chikago. Die „Straße“ neben der Bahnlinie
ist jetzt nur noch eine einzige feine Räderfurche im Sand. Ruhig,
stolz und tiefblau schauen die Berge zu uns herüber. Wir halten an
Station Trinidad, 1800 ~m~ über dem Meere, einem altmexikanischen
Städtchen unter einer hohen Bergspitze, fast schon an der Grenze von
Neumexiko. Die kleinen Orte sind hier meist nicht viel mehr als ein
Haufen Lehmhütten wie im primitivsten Italien oder im Orient. Die
mexikanischen Häuser sind sehr niedrig, die Straßen breit. Alles hat
einen vollkommen südlichen Charakter. Die Männer (Mexikaner) tragen
einen breitrandigen Schlapphut, den Italienern ähnlich, und haben
feurige schwarze Augen.

Die Bahn steigt weiter steil an wie über den Apennin. Alles ringsumher
bleibt kahl und steinig. Kein grünes Hälmchen ist zu sehen. Alle
Frühlingspracht Missouris ist verschwunden. Wir fahren durch ein
schmales höchst malerisches Felsental, dann durch einen Tunnel auf
einer Paßhöhe von fast 2400 ~m~! (Die Gotthardbahn erreicht bei
Göschenen nur 1100 ~m~!) Jenseits des Tunnels senkt sich die Trasse
wieder beträchtlich. In Station Ratton stehen Sattelpferde an der Bahn,
ankommende Reisende abzuholen. Wir sind mitten im Gebirge. Ringsum ist
der Blick durch hohe malerische Bergketten eingeschränkt. Aber alles
ist noch viel weitläufiger und riesiger als in den Alpen. Inzwischen
umziehen sich die Berge, Wolken hüllen uns ein. Regenschauer prasseln
nieder. Aber draußen herrscht wunderbar frische, würzige Bergluft,
drinnen im Wagen aber ist die Luft zum Umkommen ...

Wir fahren wieder aufs neue über mächtige Hochebenen in beinahe 2000
~m~ Höhe, die von hohen bewaldeten Bergketten eingesäumt sind. Noch
einmal taucht die Abendsonne nach dem Regen über dem Schnee der Berge
empor, dann versinkt sie. Das Felsengebirge ist, wie ich jetzt schon
bemerkte, kein geschlossenes Gebirge wie die Alpen, sondern eine
Sammlung von hohen Randgebirgen, die in sich ungeheuerliche Hochebenen
einschließen. Das Gestein leuchtet bald rötlich, bald grünlich. Wem
gehört all dies Land? Auf drei Bahnstunden keine menschliche Wohnung!
Neumexiko hat bei einer Größe von 317000 ~qkm~ eine Bevölkerung von
nur 200000 Einwohnern, also eine Dichte von 0,6 auf 1 ~qkm~. Auf
eine Entfernung Frankfurt a. M.-Karlsruhe oder Dresden-Leipzig keine
nennenswerte Siedlung!

Während die Abenddämmerung einbricht, tauchen neue schneebedeckte
Bergketten unter den Wolken auf. Geheimnisvoll! Sind alle diese Berge
schon bestiegen? Wie lange Jahrtausende hausten hier die Indianer
allein? Beinahe um zehn Uhr Sonnabend abends bei stockdunkler Nacht
bin ich in Lamy Junction. Ich verlasse mit noch zwei Personen den Zug,
um nach Santa Fé, Neumexikos Hauptstadt, umzusteigen. Seit Freitag
früh hatte mich der Zug beherbergt. Er war einem wie zu einer Heimat
geworden. Ohne Unfall hatte er mich von den großen Seen des Nordens
quer durch die ganze Mississippiebene bis ins Herz des Felsengebirges
gefahren. Man empfand so etwas wie Dankbarkeit ihm gegenüber, als
man ihn verließ und er in die stockdunkle Nacht wieder auf- und
davondampfte.

Nun saß ich nachts zehn Uhr mit zwei anderen wildfremden Menschen,
einem Mann und einer Frau, auf dem kleinen Bahnhof dieses winzigen
und herzlich unbedeutenden Nestes, Lamy genannt, noch 1200 ~km~ vom
Stillen Ozean, beinahe 3000 ~km~ von Neuyork, über 6000 ~km~ von der
Heimat oder vier Monate Fußwanderung entfernt! Es dauerte eine volle
Stunde, bis der kleine Zug nach Santa Fé weiterging, der uns drei
Menschen beförderte. Rings war rabenschwarze Nacht. Kein Lichtsignal,
kein Anzeichen von menschlichen Wohnungen! Nach 18 Meilen Bahnfahrt
waren wir etwa um Mitternacht in Santa Fé, der etwa 5000 Einwohner
zählenden kleinen altmexikanischen Hauptstadt des jüngsten Staates
der Union, Neumexiko, beinahe unter dem 35. Breitengrad, also in Höhe
Maltas, Kretas und Zyperns gelegen. Aber von all seiner Schönheit und
Altertümlichkeit war in der stockfinstern Nacht vorerst gar nichts zu
sehen. Der Bahnhof lag ein wenig draußen. Ich sah mich um. Kein Mensch
war weit und breit. Ich ging wie die anderen beiden eine völlig dunkle
Straße stadtwärts, beziehungsweise in der Richtung, wo man sie etwa
vermuten konnte. Am kleinen Bahnhof wurden die Lichter ausgelöscht. Nun
war aber auch alles stockfinster. Meine Reisegenossen gingen einige
Schritte vor mir. Sie kannten anscheinend ihr Ziel.

Da kam uns ein einfacher Mann entgegen, soweit man erkennen konnte. Er
wechselte mit den beiden vor mir ein paar Worte. Die Frau ging weiter.
Der Mitreisende aber blieb stehen, mit einer einfachen Ledertasche in
der Hand. Jetzt kam der Fremde auch auf mich zu. Was wollte er? War
es Freund oder Feind? „Ob ich schon Nachtquartier hätte? Ich könnte
bei ihm billig schlafen.“ Da der andere schon zugesagt hatte, willigte
auch ich ein. Mitgegangen, mitgehangen! Ich wundere mich noch heute,
wie ich damals um Mitternacht in Santa Fé in völliger Finsternis einem
mir völlig unbekannten Mexikaner mit einem anderen, der mir ebenso
unbekannt war, in sein Haus folgen konnte. Wenn man mich hier etwa in
der Nacht aufgehoben hätte, so hätte wohl kaum jemand je erfahren, wo
und wie ich eigentlich von der Welt verschwunden wäre. Aber an diesem
Buche sieht der Leser, daß ich am Leben blieb. Ich wollte auch zunächst
die Schlafgelegenheit erst einmal „besichtigen“. „Es sollte nah sein,“
sagte der Fremde, „aber in die Stadt noch weit.“ So wollte ich einmal
das Abenteuer probieren. Hatte ich in einem sehr feinen Haus in
Neuyork unter ~bed-bugs~[24] leiden müssen, so brauchte ich mich gewiß
hier im Felsengebirge nicht über sie zu beklagen; aber vielleicht ging
es sogar ohne sie ab.

Wir kamen nach ein paar Minuten an einem kleinen Haus an. Alle Läden an
ihm waren geschlossen. Insofern machte es einen mystischen Eindruck.
Der Mexikaner öffnete und führte uns eine Treppe hinauf. Eine alte Frau
steckte in Nachtkleidung den Kopf aus einer halbgeöffneten Tür. Er
murmelte zu ihr ein paar mir unverständliche Worte auf spanisch; darauf
verschwand sie und erschien nachher notdürftig angekleidet mit einer
kleinen Wasserkanne und einem Ding, das wohl ein Handtuch vorstellen
sollte. Mein Begleiter bekam rechts ein Gemach, ich links. Das meine
war noch etwas vornehmer und größer, enthielt außer dem Bett sogar eine
Kommode und einen kleinen Waschtisch. Ich akzeptierte, der andere auch.
Was sollte ich jetzt in Santa Fé nach Mitternacht nach 39stündiger
Bahnfahrt noch lange nach einem Zimmer herumlaufen? Eine Räuberhöhle
oder Verbrecherfalle schien es ja nun auch nicht gerade zu sein.
Schließlich sind auch die Mexikaner Menschen wie wir, dachte ich, und
der andere war ja auch noch zur etwaigen Hilfeleistung und Verteidigung
da. Beim Schein einer Kerze, die ich dankend angenommen hatte, schaute
ich zuerst, als ich allein gelassen war, in meiner Kammer unters Bett,
ob keiner etwa drunter läge, der nachher, wenn ich schlief, hervorkäme
und mich vielleicht beraubte. Schließlich verrammelte ich noch zur
Sicherheit die Türen mit der Kommode und dem Waschtisch. Sollte also
ein nächtlicher Angriff von dorther geplant sein, so würden mich
mindestens die umstürzenden Möbel noch rechtzeitig aus dem Schlaf
wecken. Das Fenster schloß ich, erstens von wegen des Einsteigens --
was sich ja sogar einmal ein Bonsels geleistet hat! -- zweitens von
wegen der auf 2100 ~m~ Höhe trotz des 35. Breitengrades empfindlichen
Nachtkühle. Dann untersuchte ich das Bett auf kleine Schlafgenossen
hin, fand aber nichts Bedenkliches und legte mich zuletzt sorglos
hinein ... um nach prachtvollem Schlaf -- die 39 Bahnstunden saßen
mir doch recht in den Gliedern -- am anderen Morgen, einem Sonntag, um
sieben Uhr bei strahlendem Sonnenschein wohlgestärkt zu erwachen ...

Ich sah mich in dem hellen Zimmer um. Es war alles bescheiden und
einfach, aber ganz ordentlich. Das Fenster war noch geschlossen, es war
also niemand des Nachts eingestiegen. Die Kommode stand noch geduldig
hinter der Tür, also auch von dort hatte sich kein Feind genaht.
Scheckbuch und Uhr waren auch noch vorhanden! Was wollte ich mehr? Ich
sah aus dem Fenster und ließ die herrliche Morgenluft hereinströmen und
sagte zu mir selbst: Nun bist du wirklich in Neumexiko, und die Berge
dort drüben sind ein Stück Felsengebirge. Alles war wie ein Traum! --
-- --

Ich kleidete mich rasch an, um die Stadt zu besehen und möglichst auch
noch heute in die Berge zu kommen. Denn durchs Felsengebirge zweimal
quer hindurchzufahren und auf keinen Berg zu kommen, dünkte mir ein
Ding der Unmöglichkeit. Ich pilgerte bald in das Städtchen und fand
es nicht so weit vom Bahnhof, als ich vermutet hatte. Bald stand ich
auf seinem Marktplatz. Während man sonst in amerikanischen Städten
durch „Wolkenkratzerkañons“ zum Zentrum kommt, war man hier wie in
einer völlig anderen Welt. Eine belaubte und schattige, rechteckige
nicht allzugroße stille „~plaza~“ wie in einem süditalienischen
oder spanischen Landstädtchen öffnete sich als der Mittelpunkt des
„Verkehrs“. Ihn bestritten einige in der Sonne sitzende kleine
schwarzhaarige Mexikaner in ihren breiten Schlapphüten und hier und
da ein echtsüdlicher zweirädriger Eselskarren. Die eine Längsseite
der ~plaza~ säumte der alte dreihundertjährige „~governors palace~“,
ein einstöckiges flachgedecktes, etwas verfallen aussehendes
langgestrecktes Gebäude, das heute ein Museum birgt. Fast vornehm wie
eine versunkene Pracht wirkten seine Säulenkolonnaden. Einst war es
die „Residenz“ spanischer, mexikanischer und auch noch amerikanischer
Gouverneure. General Lewis Wallace, der 1879-82 Gouverneur von
Neumexiko war, schrieb hier seinen vielgelesenen Roman „Ben Hur“!
Wahrhaftig, hier herum hatte er auch das passendste Milieu dazu, denn
Neumexiko steht an Vegetation, Bergwelt, Bauweise und Klima in nichts
dem heiligen Lande nach. Still und ehrwürdig klangen die Glockenschläge
der nahen zweitürmigen, aber im ganzen einfachen romanischen
„Kathedrale“ des heiligen Franziskus, die zur Morgenmesse riefen
und auf die Mexikaner und katholische Indianer aus den umliegenden
Siedlungen zustrebten. Es war Sonntag. Auf altspanischem Boden
herrscht noch heute der Katholizismus. Santa Fé ist für amerikanische
Zeitverhältnisse uralt. Schon 1542 fanden hier die Spanier ein großes
Indianerpueblo vor, als selbst Neuengland noch kein Weißer betreten.
Und noch heute wohnen zahlreiche Indianer auch in der Stadt. Die
Sträßchen um die ~plaza~ lagen still und verlassen. Die schlichtesten
Lehmbauten, die Läden vor der schon am frühen Morgen recht warm
scheinenden Sonne herabgelassen, waren hier aneinandergereiht. Man
hätte auch in Assisi oder sonst wo in Mittelitalien in einem verlorenen
Bergstädtchen sein können!

Welch wohltuende Ruhe in diesem alten Städtchen! Hier einmal dem
Weltverkehr mit seinem Expreß, seinen Autos, Wolkenkratzern und
Millionenstädten vollständig entronnen zu sein, war ein Labsal! Hier
hätte ich am liebsten gleich vier Wochen zugebracht! Aber mich zog es
noch weiter in die Bergwelt, die ringsumher ihr Haupt hob ... Freilich
bis auf die Schneegipfel würde ich wohl nicht kommen, das war mir klar.
Aber vielleicht auf die in mittlerer Höhe vor ihnen? Santa Fé selbst
liegt schon 2147 ~m~ hoch. Die Gipfel, die seine mächtige Hochebene
säumen, mögen wohl 4000 ~m~ hoch sein, und das „Mittelgebirge“ vor
ihnen vielleicht gegen 3000 ~m~. Das war also mein Ziel.

Ich nahm gleich den nächsten Berg aufs Korn. Hinter der Stadt stiegen
einige wegähnliche Gebilde durch die Felder und Weinberge bergan.
Da mußte es emporgehen. Es war mir gleich wohin. Die Richtung nach
Santa Fé zurück würde ich schon immer wieder finden. Im letzten Laden
der Stadt verproviantierte ich mich ein wenig mit Brot, Konserven
und eingemachten Früchten. Das sollte oben mein Mittagessen sein.
Dann stieg ich wacker bergan ... Die Sonne schien heiß, obwohl es
noch zeitig am Morgen war. Immer noch kamen mir einzelne Mexikaner,
den ausgezogenen Rock den Italienern gleich frei über eine Schulter
gehängt, aus den umliegenden Orten, und auch vereinzelte Indianer in
bunten Decken, einen holzbeladenen Esel vor sich hertreibend, den
Hohlweg herab. Jedem von ihnen schaute ich nach und bestaunte sie:
Leibhaftige Mexikaner und Indianer! So klein, braun und schwarz wie
etwa bei uns die Zigeuner, mit denen sie als ursprüngliche Mongolen (?)
vielleicht auch rassemäßig zusammen gehören.

Von einer roten Farbe sah ich allerdings keine Spur. Vielleicht waren
die roten Indianer weiter im Norden und Osten. In schwarzen langen
Strähnen hing ihnen das Haar in den Nacken; es kamen nur Männer.
Frauen und Kinder blieben wohl daheim in ihren „~pueblos~“, den fast
fensterlosen und nur mit Leitern zu ersteigenden flachen Lehmhäusern.
Bald aber kam niemand mehr. Was sie wohl von mir dachten? Hier und
da sah einer dem Fremden nach. Ob schon je einer hier heraufstieg?
Wenn nun ein paar vielleicht von ihnen heimlich umkehrten und mir
etwa auflauerten? Mein kleines Taschenmesser wäre meine einzige Waffe
gewesen, aber auf wie lange? Mit Revolver und Büchse war ich noch nie
in die Wildnis gezogen ... In solche Rolle hätte ich mich auch nicht so
leicht finden können.

So stieg ich wohlgemut auf Schusters Rappen höher und höher. Den
Hohlweg hatte ich verlassen, der schien mir zu weit ab und zu wenig in
die Höhe zu führen. Rechts hinauf war noch eine Zeitlang so etwas wie
ein Jäger- oder Wildpfad, der zwischen dem fast mannshohen stachlichten
Gesträuch hinaufführte. Dann hörte auch der auf. Einige Fliegen folgten
mir summend, sonst war es völlig still. Die Sonne meinte es sehr gut.
Kein schattenspendender Baum war ringsum. Ein Wiesel huschte vor mir
über den Weg und verschwand scheu. Im Gebüsch raschelte es manchmal
wenig anheimelnd. Waren es Schlangen? Gar giftige? Ich mochte nicht
erst untersuchen, sondern setzte meinen Anstieg, der immer steiler
wurde, unentwegt fort. Hier lag ein gebleichter Ziegenschädel. Der Balg
des Tieres war verschwunden. Und dort ein zerzauster Vogel. Hatten
hier Kämpfe stattgefunden? Waren hier Raubtiere (Pumas?) in weidende
Herden auf den Bergen eingebrochen? Gab es hier sonst noch Gefahren?
Ich wußte es nicht und stieg bergan.

Kein Mensch war weit und breit. Santa Fé lag schon eine sehr gute
Strecke unter mir. Seine wohlgeformte Kapitolskuppel leuchtete in
der Sonne, sonst schrumpfte alles andere des Städtchens auf einen
ziemlich engen Raum zusammen. Ein Ruf wäre nicht mehr hinabgedrungen.
Gab es auch hier oben Indianer? Friedliche oder räuberische? Karl
Mays Indianergeschichten, einst in der Jugend verschlungen, tauchten
in meiner Erinnerung wieder auf. Ich sah rauchende warme Skalpe
am Gürtel hängen. Passierte das heute noch? Ich hatte noch nichts
dergleichen in den Zeitungen gelesen. Zugüberfälle und Lynchjustiz an
Negern, die weiße Mädchen überfielen, pflegten vorzukommen, aber auch
Pistolenschießereien und Eifersuchtsszenen in den Südstaaten, wo das
alte heiße und stolze Kreolenblut noch in den Adern rollt. Sollte ich
lieber umkehren, um nicht etwas zu riskieren? Aber wozu? Vielleicht war
ich hier oben sicherer als mitten in Chikago oder Neuyork. Sollte ich
mich nachher vor mir selber schämen? Ich stieg weiter empor ...

Nach einer Weile hielt ich eine kleine Rast und schnitt eine Büchse
mit in der Hitze besonders lieblich schmeckenden Aprikosen auf und aß
von meinem Brote. Dann stieg ich höher. Nur Stechpalmen und Kakteen
begleiteten mich noch. Vom Weg war schon lange keine Spur mehr. Nicht
einmal Tritte waren zu sehen. Jeder Schritt mußte jetzt erobert werden.
Dicht und dichter wurde das stachelichte Gebüsch. Aber die Schneegipfel
ringsum hoben sich auch immer höher und unersteiglicher. Ich nahm
mir einen Bergabsatz als Ziel, der mir noch erreichbar schien. Die
Sonne stieg auf Mittaghöhe und leuchtete unbarmherzig vom wolkenlosen
strahlend blauen Himmel. Endlich unter viel Schweißtropfen nach viel
Klettern und Kriechen war das Ziel erreicht. Meine Hände waren blutig
gerissen. Noch immer sah man Santa Fé, aber wie in einer tiefen Ebene
gelegen. Wie hoch mochte ich jetzt sein? Die Aussicht war überaus
großartig. Wie stumme Helden umlagerte mich die Kette der Schneegipfel.
Wie weltverloren zitterte dünn und fern der Pfiff einer Lokomotive
herauf. Durch die weite Hochebene wand sich eine winzig kleine schwarze
rauchende Schlange -- der Sonntagszug. Als ich die Reste meines
Proviants verzehrt hatte, schlief ich, ohne es zu merken und zu wollen,
hier oben müde von dem dornigen, steilen und heißen Anstieg ein. Auch
lag mir wohl noch die 39stündige Bahnfahrt von Chikago her in den
Gliedern ...

Als ich wieder gestärkt von der herrlichen Bergluft erwachte, schaute
ich mich verwundert um. Wo war ich? Ich merkte, daß ich geschlafen
haben mußte. Ach, da unten lag ja Santa Fé. Ich war in Neumexiko, und
diese Berge sind ja ein Stück Felsengebirge! Das ganz unbeschreiblich
Eigentümliche meiner weltverlassenen Situation wurde mir wieder klar.
Schlangen waren nicht gekommen, auch keine räuberischen Indianer
hatten mich angefallen. Keine Moskitos hatten mich gestochen ... Ich
zog die Uhr. Mittag war vorüber! Es war Zeit, schleunigst umzukehren,
wieder unter Menschen zu gehen, wenn ich noch mehr sehen wollte. Wie
gerne wäre ich weiter hinaus in die Bergwelt gestiegen, bis hin zu
den Indianerpueblos und -reservationen, aber ohne jede Begleitung und
besondere Ausrüstung war es doch wohl zu gewagt. Dazu gehörte vor allem
Reittier und Führer ...

Der Abstieg ging natürlich viel rascher vonstatten als der Anstieg.
In über einer guten Stunde war ich wieder in der Nähe der Stadt auf
Wegen. Ich hatte einen kleinen Bachkañon mit Maultierspuren gefunden,
wirkliche echte „Indianerpfade“, denen ich folgte. Denn alle Begriffe
von Wegweiser, Farbzeichen, gebauten Wegen und etwa gar Ruhebänken
wären im Felsengebirge eine bare Lächerlichkeit ...!

Als ich wieder auf die „~plaza~“ kam, saß da jetzt die ganze Stadt
unter den belaubten Bäumen versammelt. Wie bunt waren die Kleider der
Mexikanerinnen! Bei den Weisen einer konzertierenden Kapelle saß man,
plauderte, rauchte und sah in die Sonne ... ein genügsames Völkchen!

Trotz ungewöhnlicher Wärme -- es war noch Anfang April -- ging
ich am Nachmittag noch in anderer Richtung hinaus vor die Stadt,
eine +Indianerschule+ zu besuchen, die der Staat zur Ausbildung
und Erziehung tüchtiger indianischer Bürger eingerichtet hat. Die
Schule war eine Art Internat und großes Pensionat, ein umfänglicher
Gebäudekomplex mit Kapelle, Wirtschaftsgebäuden, Werkstätten, Wohn-,
Lehr- und Schlafräumen und großen Spielplätzen. Als ich die Schule
betrat, strömten die Indianerbuben, große und kleine, gerade aus der
Kapelle aus der Sonntagsschule, alle in blauen Uniformen mit blanken
Knöpfen, ihrer Schulkleidung. Dann stürmte alles hinaus aufs ~camp~
zum Spiel. Ich ließ mich zunächst beim Schulleiter, dem sogenannten
„Superintendent“, melden und bat um die Erlaubnis der Besichtigung,
was mir auch freundlichst gewährt wurde. Freilich auf eine lange
Unterhaltung mit mir ließ sich der Herr „Superintendent“ jetzt an
seinem freien Sonntagnachmittag nicht ein, denn er war gerade mit
seinem Freund, dem Arzt der Stadt, übrigens einem Herrn +deutscher+
Abstammung aus Michigan, beim Schachspiel. Das mochte er offenbar nicht
unterbrechen. Er war zwar gemütlich und entgegenkommend, aber ein wenig
unhöflich, indem er vom Schachtisch nicht einmal aufstand, um mir nur
die Hand zu schütteln. Aber ich war es ja vielleicht auch, unangemeldet
Sonntag nachmittag um halb vier Uhr ihm ins Haus zu fallen. Er fragte,
ob ich nicht morgen wiederkommen könnte. Da wollte ich schon in die
1000 ~m~ tiefe Schlucht des Grand Cañon sehen ... Also das ging nicht.

Der Schulsuperintendent klingelte seinem Adjutanten, einem der
Lehrer der Anstalt, einem Mr. G. Der erhielt den Auftrag, mich zu
führen. Was er auch in der allerausführlichsten Weise tat. Mr. G.
war selbst Indianer(!), freilich in europäischer Kleidung wie alle
die Indianerjungen. Schade! Wieviel romantischer hätten sie in ihrer
Nationaltracht ausgesehen! Aber das nennt sich ja „Kultur“, alles
Bodenständige, Individuelle und Originelle möglichst auszurotten
und alles grau in grau zu nivellieren. So werden auch bald die
zivilisierten Indianerjünglinge ihr höchstes Ideal darin sehen,
Strohhut, Kravatte, Blusenhemd, Gürtel und Hosenfalten genau nach
Neuyorker Vorschrift zu tragen ... Mr. G. führte mich durch die weiten
Schlafsäle, in denen die Betten ebenso sauber und ordentlich in Reih
und Glied standen wie in einem deutschen Schulinternat, dann in die
Baderäume mit ihren Duschen. Waschgeschirr im Schlafzimmer kennt ja der
Amerikaner nicht. Hier muß es ein unterhaltendes Schauspiel sein, die
200 munteren braunen kleinen Kerle planschen und spritzen zu sehen.
Dann gingen wir durch die Schulzimmer, wo sie an einzelnen Tischchen
und auf Schemeln sitzen, in die Werkstätten, wo jeder irgendein
Handwerk lernt, in die Anstaltsgärten mit ihren wohlgepflegten Feldern
und Obstplantagen -- welche Freude, diesen südlichen Reichtum zu sehen!
-- und endlich zuletzt in die katholische Kapelle, wo Franziskanerinnen
die Sonntagsschule halten. Der „~disciplinarian~“ -- das war Mr. G.s
offizieller Titel -- machte mich auch aufmerksam auf die Unterschiede
an den Uniformen der Knaben, wer Kapitän, Adjutant, Leutnant u. dgl.
sei. Die Anstalt ist also nach dem Prinzip des amerikanischen ~self
governement~ der Schüler ein sich selbst regierender Schulstaat,
der der Jugend viel Spaß bereitet und mit großem Ernst von ihr bis
zum Schulgerichtshof gehandhabt wird. Zu allerletzt führte mich
Mr. G. in seine eigene Wohnung und stellte mich seiner Frau vor --
einer geborenen Mecklenburgerin! Diese Landsmännin war in Santa Fé,
Neumexiko, schon 18 Jahre mit einem Indianer verheiratet! ...

[Illustration: ~DIE SAN FRANCISCO-BERGE IN ARIZONA~]

Ich verabschiedete mich mit großem Dank von dem „~disciplinarian~“,
ließ mich dem Herrn Superintendenten empfehlen und begab mich noch
hinaus zu dem 20 Minuten abliegenden Spielplatz, wo die Indianerbuben
jetzt ihren Sonntagnachmittagsbaseball spielten. Von fern sahen sie
in ihren blanken Uniformen fast aus wie preußische Kadetten. Aber nun
konnte ich sie auch recht in der Nähe betrachten. Von 10-16 Jahren
waren alle Altersklassen vorhanden. Lauter braune stämmige Bürschchen
und Burschen mit starken Backenknochen, langem schwarzglänzenden
strähnigen Haar und einem leichten Anflug von Kupferröte auf den
braunen Backen! Wie merkwürdig! Da lernen nun die Kinder von
„Adlerfeder“ und „Falkenauge“ usw., einst der Schrecken der Weißen,
Englisch, Geographie und Geschichte, um einmal als Normalamerikaner in
Denver oder Chikago oder wo sonst eine kaufmännische oder staatliche
Stelle zu bekleiden und im Amerikanismus aufzugehen. Der Stammverband
löst sich, ihre Religionen sind gestorben, die Götzenbilder wandern in
die Museen, und der Medizinmann findet keinen Glauben mehr. Der Sinn
für Krieg und Jagd ist dahin; sie sollen „~good citizens~“ werden.
Reklameindianer bieten in ihren bunten Trachten auf den Bahnhöfen der
Santa Fé-Eisenbahn ihre Erzeugnisse, bunte Teppiche und Töpfe, feil
oder führen Nationaltänze in den Bars der großen Hotels auf. So endet
die alte Geschichte der Indianer in der Neuzeit! Freilich die alten
runzligen Weiber in ihren Perlschnüren und die am Feuer kauernden
Männer in ihren bunten Decken sind kein dauerndes Menschheitsideal.
Aber wehmütig war mir es doch, diese Indianerjungen beim Baseball
statt beim Pfeilschießen und Pferdereiten zu sehen ... Im Garten der
Anstalt saßen einige ihrer Väter mit braunen runzligen Gesichtern,
fransenbesetzten Lederhosen und einem turbanartigen Tuch um das
glänzend schwarze, langgeschorene Haar. Ein bißchen heroischer hätte
ich sie mir allerdings vorgestellt ...!

       *       *       *       *       *

Am Abend zog nach dem heißen Aprilsonntag ein Gewitter auf. Stahlblau
sammelten sich die Wolken an den Bergen. Über den Schneehäuptern
zuckten gelbe Blitze. Sie spiegelten sich in den blendenden Fenstern
des adligen Kapitols, dessen Kuppel aus seinen üppigen Gärten mich zum
Abschied grüßte. Ich erreichte gerade noch vor dem Gewitterregen den
Bahnhof und bestieg wieder den Zug nach Lamy, wo sich heute am Sonntag
Abend am Bahnhof ganze Haufen von Indianern in voller Tracht tummelten.
Es war immer derselbe Eindruck: Tiefbraune Gestalten, schwarze,
langsträhnige Haare, bunte Umschlagetücher und befranste Hosen ... So
erwarteten sie den Kaliforniaexpreß und boten während des Aufenthalts
ihre ohne Tonscheibe geformten und mit der Hand schön bemalten Tonwaren
an.

Es war schon dunkel geworden, und ich war wieder im Schlafwagen. Leider
durchfuhren wir gerade jetzt in dieser Nacht eine sehr interessante
Gegend am breiten und reißenden Rio Grande entlang, der fast doppelt so
lang als der Rhein schließlich sich in den Golf von Mexiko ergießt. Wir
passierten Albuquerque, wo sich die Eisenbahn nach dem Zentrum Mexikos
abzweigt, nach El Paso, Chihuahua und Mexiko ... freilich eine Reise
von hier etwa noch zwei Tage weit. Dürr, eintönig und wenig bewässert
ist rings das Land. Yuccapalmen, oft vielemannshohe Kakteen und
Wermutsträucher sind die einzigen Steppenpflanzen, die hier fortkommen.
An den Berghängen gedeihen Föhren und Zedern ...

Als ich am Morgen erwachte, dehnten sich rechts und links der Bahn
wieder ungeheure Hochwüsten, kahle Felsen warfen scharfe Schatten; die
Luft war ganz trocken und rein. Sonniges Himmelblau spannte sich über
einem rötlich schimmernden Lehmboden. Hier und da sah man halbwilde
Rinderherden, die von Cowboys zu Pferde umstellt und umkreist,
eingefangen und zur Tränke oder zum Transport getrieben wurden.
Herden oft von mehreren hundert bis tausend Stück, ein wimmelndes,
buntbewegtes Schauspiel ...

In Winslow -- wir sind noch immer 1470 ~m~ hoch -- war
„Frühstücksstation“. Ja, wie das wohltut, einmal wieder aus dem
ewigfahrenden Eisenbahnwagen auf 25 Minuten aussteigen zu dürfen,
wieder nach einer durchfahrenen Nacht als Mensch auf dem Erdboden
sich in freier Luft und Sonne zu ergehen und die steifen Beine wieder
bewegen zu können! Alles stürmte aus dem wieder zur Heimat gewordenen
Wagen in den „Speisesaal“ der Station. Zum ersten Male bedienten hier
chinesische Kellner, ein Zeichen, daß wir uns Kalifornien näherten, das
sein Angesicht schon gen Asien wendet. Was man also in Amerika alles
antrifft! Das Bild wurde immer bunter: Neger, Indianer, Chinesen, dazu
die ganze Völkerkarte Europas ...

Wohlgestärkt fahren wir wieder ab. Mit zehn Pullmanns und zwei
Maschinen fauchen wir über die Hochebene. Nach etwa zweistündiger Fahrt
stoppt der Zug auf ein Flaggensignal mitten in der Wüste. Was ist los?
Ein Unglück? Sind wir an einer Station? Bahnwärter oder Bahnbeamte
u. dgl. sind nirgends sichtbar. Ein paar braune Gestalten kauern unter
einem Schuppen. Ein einziger Passagier „steigt“ tatsächlich „aus“,
d. h. er springt mit einem mächtigen Satz von dem sehr hohen Trittbrett
auf das freie Feld der Wüste. Sein Gepäck wirft man ihm kurzerhand
nach! Er dankt und winkt. Der Zug fährt weiter. Ob die braunen
Gestalten ihn erwartet haben? So sehen also zum Teil „Stationen“ des
Kaliforniaexpreß auf der Grenze von Neumexiko und Arizona aus! Hier
kann man sich denken, wie leicht es unter Umständen sein muß, Schienen
aufzureißen und Züge zum Halten zu bringen ...

Auf über 60 ~m~ hoher Brücke setzen wir über den berüchtigten „Diablo
Cañon“. Hier haben sich einst blutige Kämpfe mit den Apachen-Indianern
abgespielt. Am Horizont tauchen aufs neue hohe dunkelblaue Bergketten
auf. Heiß steht die Halbmittagssonne über den sandigen Hügeln. Die
kupfernen Drähte längs der Bahn blinken im hellen Sonnenlicht. In
der Ferne erheben sich die kraterartigen Gipfel höher und höher; es
sind die sogenannten „San Franzisko Mountains“, die aber von der
gleichnamigen Stadt noch über 1000 ~km~ Luftlinie entfernt sind! Welch
einen malerischen Kontrast bilden die gelbe unfruchtbare Wüste und
das Tiefblau der Berge! Die Wasserscheide zum Stillen Ozean haben
wir überschritten. Der Rio Grande war der letzte Fluß, der noch den
Atlantischen Ozean im mexikanischen Golf erreicht. Inzwischen sind
wir politisch auch schon in den Staat „Arizona“ eingetreten, der
halb so groß wie das Deutsche Reich, doch nur wenig mehr als 100000
Einwohner zählt. Denn gut ein Drittel von ihm ist Wüste und ein Drittel
Hochgebirge. Gemütlich liege ich im ~reclining-chair~ und schaue mir
unverwandt auch diese neue Welt rings um mich an. Es war schön, so
gemächlich durch Wüste, Wildnis und Hochgebirge gefahren zu werden.
Man kann auch einmal auf ein Halbstündchen die Augen schließen und
ein Schläfchen halten -- und versäumt dabei doch nichts Wichtiges.
Denn die Szenerie ändert sich sehr langsam, manchmal auf einen halben
Tag nicht. Jetzt sieht man draußen eine Zeitlang nur mächtige
wilde Lebensbäume als das einzige, das die großartige Monotonie der
Hochsteppe unterbricht. Das Leben im Zug ist inzwischen wieder wie das
einer Familie geworden. Man kennt sich allmählich gut. Kinder tollen
in den Gängen. Man tauscht Leid und Freud miteinander aus. Ab und
zu tut man mehr aus Langeweile als aus Bedürfnis einen Gang zu dem
Eiswasserfaß am Ende des Wagens. Schließlich wird man auch dazu zu
träge. Der „~trainboy~“ bietet unaufhörlich Postkarten und Obst an. Es
ist alles im Zuge vorhanden. Nur neueste Zeitungen fehlen; denn die aus
Los Angeles oder Denver sind schon zu alt und ausgelesen. Aber etwa,
während man durch Arizona fährt -- vielleicht nie wieder im Leben! --
irgendwelche Romane, es sei denn der berühmte Indianerroman „Ramona“,
oder sonst wissenbereichernde ~magazines~ zu lesen, hielte ich in
solcher Umgebung für ein Reiseverbrechen.

Auf einmal setzte wieder dichterer Baumbestand ein, je mehr wir uns den
majestätischen San Franzisko-Mountains nähern. Aber wie hat man auch
hier mit den Baumbeständen gewüstet! Man gab sich in Amerika ja nicht
immer die Mühe, regelrecht zu fällen und zu roden. Man brannte die
Wälder einfach nieder, um anbaufähiges Land zu gewinnen, ein Verfahren,
das vielleicht bei uns in und nach der Zeit der Völkerwanderung geübt
wurde. Ganze Reihen halbverkohlter, an- und ausgebrannter Baumstümpfe
bleiben einfach stehen und liegen, so daß die Wälder schauerlichen
Ruinenstätten gleichen. Teilweise aber sind die Baumruinen auch
furchtbare Zeugen ungeheurer Waldbrände, deren es in der Union
an 300000 im Jahre geben soll. Zu ihrer Auffindung verwendet man
neuerdings staatliche Forstbeamte mit Flugzeugen, die eine Beobachtung
auf große Entfernungen gestatten. Nun möchte man dem völligen Untergang
der riesigen Waldungen des riesigen Landes doch nach Kräften wehren ...

„Flagstaff“! Nach etwa 100 ~km~ Fahrt von Winslow halten wir wieder
einmal. Es ist halb zwölf Uhr mittags. Die herrlichste kühle Bergluft
strömt zu den geöffneten Fenstern herein. Wir sind jetzt dicht
unter den imposanten, mit Neuschnee halb herunter bedeckten San
Franzisko-Bergen. Die herrlichste Alpenlandschaft wie ein Berner
Oberland breitet sich vor uns aus! Indianer hocken um ein Feuer
gruppenweise in der Nähe der Station auf dem Waldboden. Einige weidende
Pferde um sie herum. Auf dem Bahnsteig treffe ich auch einen deutschen
Schlächter. Seine Eltern wohnen in Neuyork. Er ging „nach Westen“. Die
erste Frage, die übrigens der Biedermann an mich, den Stammesgenossen,
richtete, war: „Ob in Deutschland die Züge auch so schnell fahren und
so fein sind?“ Ich habe gleich Ja gesagt. Da schaute er mich spöttisch
und verächtlich an. Denn auch ihm ging schon nichts über Amerika. Es
war gut, daß man wieder einsteigen mußte. An den hohen Bergketten
selbst bauten sich reizende Holzhäuser im Stil der Schweizerhäuschen
empor. Wie kühl, frisch, rein war hier alles! Von den Bergen, auf deren
einem sich das Lowell-Observatorium befindet, wehte frische Schneeluft
herab. Hier müßte man bleiben können! Eine idealere „Sommerfrische“ als
hier, Tausende von Kilometern von aller Kultur entfernt, könnte ich mir
kaum denken. Indianer als Bahnarbeiter schleppten mächtige Balken zum
Verladen herbei. Der Holzhandel blüht ...

Nach weiteren 35 Meilen Fahrt sind wir am frühen Nachmittag in
„Williams“, der Umsteigestation nach dem „+Großen Cañon des
Colorado River+“, meinem nächsten Ziel, das an Großartigkeit noch
die Niagarafälle übertreffen sollte. Williams ist ein kleiner Ort,
dessen Bedeutung der Viehtransport und -handel ebenso ausmacht wie
der Transport der Reisenden nach dem einzigartigen Naturschauspiel
Amerikas ... Von Williams aber hatten wir nach der Grand-Cañon-Station
noch einmal beinahe drei Stunden auf einer Nebenlinie zu fahren,
obwohl es nur als ein „kleiner Abstecher“ von der Hauptlinie angesehen
wird. Täglich geht ein Zug im Anschluß an den Kaliforniaexpreß hin
und her. Die Kleinbahn fuhr langsamer als der Expreß über das weite
Koloradohochplateau, aber auch sie war recht komfortabel eingerichtet.
Drei Stunden lang durchfuhren wir dieselbe Gegend! Die San
Franzisko-Berge, durch die man früher den Weg zum Grand Cañon nahm,
blieben hinter uns. Kahle grasige Hochebene war jetzt das einzige.
Echte Gebirgssteppe rechts und links, bevölkert hier und da nur von
nach Tausenden zählenden Schafherden. Ein wenig war sie unserer wenn
auch tiefgelegenen Lüneburger Heide vergleichbar, aber im ganzen viel
öder, einsamer und unbewohnter.

Unterwegs an Station Willaha halten wir länger, damit die Reisenden in
der Nähe sich die gerade statthabende Schafschur, die hier maschinell
im Großbetrieb erfolgt, ansehen können. Etwa 5000 Schafe sind im
Pferch. Eins nach dem anderen wird wenig sanft gepackt, zu Boden
gedrückt, zwischen die Beine eines starken Mannes geklemmt und die
Schermaschine rasch über seinen Pelz weggeführt. Abgezogen wie eine
Rübe oder Kartoffel und oft aus vielen Schnittwunden blutend wird das
Tier dann nach wenigen Sekunden entlassen, um anderen Platz zu machen.
Aber mit der sprichwörtlichen Lammesgeduld, ohne auch nur einen Laut
von sich zu geben, ließen die Tiere alles über sich ergehen ...

Ein andermal halten wir bei einem kleinen, auf einem Stab angebrachten
Blechbriefkasten. „~U. S. mail~“ steht da. Sonst ist nichts weit
und breit zu sehen. Alles schaut aus dem Fenster dem interessanten
Schauspiel zu, das hier in der Wüste als wichtige Unterbrechung der
Fahrt vor sich geht. Die kleine Postblechbüchse wird nämlich geöffnet
und „geleert“! Und aus dem Zug werden einem herbeisprengenden Reiter
zwei Postkarten und einige Zeitungen übergeben. Mit diesen sprengt er
auf seinem dürren Gaul und in seinen schafpelzigen Hosen in die Steppe
zurück und verschwindet im Busch. Post für die Cowboys! Ich denke an
den Postverkehr der Millionenstädte. Welche ungeheuerlichen Gegensätze
in demselben Lande!

Draußen liegen einige trockene, wurzellos vom Sturm geknickte Föhren.
Sie faulen und verwittern. Vor Jahrtausenden sind sie versteinert und
heute zum Teil noch in allen Farben schillernd nach Form und Gestalt
erhalten. Ganze Wälder von Lebensbäumen treten auf. Die Vegetation
belebt sich. Ach könnte man bei den Cowboys einmal im Zelt schlafen
und mit ihnen reiten oder auf die San Franzisko-Berge steigen bis
an den Schnee! Im Zug preist der Hotelportier der großen Cañonhotels
immer aufdringlicher ihre unvergleichliche Unterkunft an, Wagenfahrten,
Reittiere, Indianertänze, Zeltreisen und wer weiß nicht was ... Wir
nähern uns also unserem Ziel.

       *       *       *       *       *

Wir halten! „Grand Cañon-Station!“ Nur wenige Schritte, und wie beim
Niagara wird eins der größten Naturwunder der Erde sich vor mir auftun
...! Zuvor aber bestelle ich mir im Hotel „~Bright angel~“ ein Zimmer
und lege mein Gepäck ab. Dann will ich in aller Muße und Ruhe das
grandiose Naturschauspiel von hier oben genießen. Der Hotelportier
ist zur Abwechslung -- ein Schweizer! Ein prächtiger, urwüchsiger,
unverdorbener Bursche, der seinen volksechten Dialekt unter den
englischen Brocken noch nicht verlernt hat. Der Wirt war leider ein
etwas allzutypischer, sehr wohlbeleibter, damals oft dem Gläschen
am Büfett zusprechender Deutscher, der hier schon recht treffliche
Geschäfte gemacht hat. Freilich ist der „~Bright angel~“ nicht der
einzige, aber älteste und verhältnismäßig preiswerteste Gasthof, was
bei mir neben den Naturschönheiten immer etwas mit ins Gewicht fiel ...

Und dann trat ich an den Rand des Cañon! Er übertraf wirklich
alle Erwartungen! Man stand einen Augenblick wie starr vor dieser
märchenhaft-titanischen Naturszenerie, die sich da auftat. Ich war
noch nie von einem Naturschauspiel so wahrhaft im buchstäblichen
Sinne überwältigt wie hier. Selbst der Niagara -- unvergleichlich
in seiner Art -- tauchte daneben auf eine Weile in den Schatten der
Erinnerungen. Ich war in den Alpen gewesen, im Berner Oberland vor der
Jungfrau, im Allgäu, in Tirol, im Stubaier, im Ortlergebiet. Aber hier
übertrafen die Ausmaße und die grandiose Wucht des Ganzen alles bisher
Geschaute. Das konnten gleichsam nur götterhafte Riesen der Vorzeit
aufeinandergetürmt haben. So empfand man. Ich stand und schaute ... Wie
klein war man dieser Urwelt gegenüber! ... Was ist der Mensch, diese
Eintagsfliege auf seinem uralten und urmächtigen Planeten ...?

Eine wahrhaft ungeheuerliche mit Felstürmen, Plattformen, Nebencañons
in allen Farben vom Violett und vollem Rot bis zum satten Dunkelgrün,
Gelb und Weiß des Jurakalks schimmernde, unfaßlich weite, nach unten
in gewaltigen Terrassen sich stark verengende Riesenschlucht tat sich
auf. Mehr einem steinernen Zaubergarten, in dem sich heimlich Riesen
ergehen, oder verwunschenen Riesenschlössern vorweltlicher Titanen und
Götter mit Zacken, Zinnen und Türmen vergleichbar denn einem Felsental
eines einzigen Stromes, das er in Jahrhunderttausenden ausgewaschen und
eingefurcht hat.

Oben steht man auf einem völlig flachen und platten, etwa 2000 ~m~
über Seehöhe befindlichen Steppenplateau, nur von winddurchwehten,
niedrigen, knorrigen Föhren bewachsen, die sich da und dort zu
Wäldern verdichten, und dann stürzt es dicht vor einem hinunter in
wahrhaft gigantischen Stockwerken von jedesmal mehreren 100 ~m~ bis
zur Fußsohle, die wieder in einer besonders scharf eingeschnittenen
Felsenschlucht anderthalbtausend Meter unsichtbar unter dem Beschauer
in der Tiefe des Cañons liegt. Gerade weil der Urheber des Cañons,
der Koloradofluß, der in den kalifornischen Golf sich ergießt,
völlig unsichtbar bleibt und doch wie Hephästus ständig in der Tiefe
arbeitet, rauscht und braust, schafft und weiter sich einfrißt und an
der Schlucht in alle Ewigkeit bohrt; wirkt das Ganze noch mystischer
und unfaßlicher ... Mitten aber in den steinernen gigantischen
Felsenöden erblickt man auf einmal bei schärferem Zusehen etwa 800
~m~ tief unten eine kleine grüne Oase mit einem menschlichen Haus
-- eine zerbrechliche Menschenhütte in der Welt der Titanen! -- das
sogenannte „~halfway-house~“ (Halbweg-Haus) in der Hälfte des Abstiegs
zum Koloradofluß. Man kann zu Fuß und auf Maultieren auf sehr steilem
steinigen Zickzackpfad in die schaurige Tiefe hinabgelangen ...

Ich konnte mich von diesem riesenhaften Anblick nicht so bald trennen.
Ich liebe es immer, auf hohen Bergen, an besonders großartigen Punkten
der Natur auf Erden stundenlang allein zu weilen, um die großen,
erhabenen Eindrücke und das feierliche Schweigen der immer grandiosen
Natur in mich recht hineinzusaugen. Das ist mir dann Lohn genug für
alle Anstrengungen, Mühen und Ausgaben der Fahrt. So lag ich schon
als Vierzehn- und Fünfzehnjähriger stundenlang auf den Höhen des
Schwarzwaldes, etwa dem Hochfirst über dem Titisee oder dem Feldberg
über dem Feldsee oder auf dem Sulzer Belchen oder Donon in den Vogesen,
als noch niemand daran dachte, sie könnten je wieder französisch
werden, und sog die ungeheuren Ausblicke über die Rheinebene, die
Gipfelwelt des Wasgaus, den Anblick der vielen kleinen Dörfer und
Städte in mich hinein. Wie in einem Tempel geweiht trat man dann den
Abstieg und Heimweg an. Es war die Seele gleichsam auf Jahre hinaus
geweitet. Alles menschliche Gezänke und Gejage erschien da oben so
erbärmlich! Man war eigentlich grundsätzlich von ihm erlöst. Streit
um Mode und Meinung, um Richtung und Partei zerfloß vor solchen
Erlebnissen wie eine Lächerlichkeit. Es war etwas vom Geiste des
Universums in das Individuum geströmt und hatte es frei gemacht. Wie
kindisch erschienen nach solchen Eindrücken auf hohen Bergen die
Menschen in den großen Städten, die den Hals so lang recken und den
Kopf so hoch tragen, da einer auf den anderen herabsieht, weil der eine
einen anderen Rock trägt als der andere oder dieser einen geringeren
Beruf hat als jener. O über die erbärmlichen und kleinlichen Menschen!

Stunden der inneren Erlösung werden am Rande des Cañon geschenkt --
wenn nur nicht zwei Minuten hinter mir sich schon die „Kultur“ in
Gestalt der Gasthöfe erhoben hätte samt den typischen Reisenden mit
ihrem unnützen Geplauder und Gewäsche. Auf den Bänken am Rande des
Cañon müßte etwa angeschrieben stehen: „Alles laute und oberflächliche
Schwatzen und Lachen ist angesichts der großen Natur strengstens
untersagt.“ Ich saß da, bis es dunkelte, und konnte mich nicht satt
sehen. O das wunderbare Rot! Dieses strahlende Feuer des Gesteins um
die Zeit des Sonnenuntergangs! Diese Riesenbauten, immer aufs neue
großartig in ihrer schweigsamen Pracht! Letzte Sonnenstrahlen ließen
jede Wand, jeden Sandfleck noch einmal rot, blau, violett, tiefgelb
erstrahlen. Das Farbenspiel an den Wänden des Cañon war fast ebenso
wundersam wie seine Größe. Dazu der Kontrast der obersten weißen
Juraformation mit den roten und braunen Gesteinsbändern. Hier versagen
alle Beschreibungen. Wie ein aufgeschlagenes lebendiges Museum hat
hier die Erdoberfläche alle ihre geologischen Geheimnisse enthüllt und
ihr Inneres offen und furchtlos aufgedeckt. Man sah wie die letzten
Sonnenstrahlen langsam aufwärts glitten. Was für Gründe und Schlünde!
Wände wie flüssiges Feuer! Jetzt wurde die rote Schlucht von der
Abendsonne nicht mehr erreicht. Aber der gelblichweiße Kalk leuchtete
noch lange! Langsam erstarben auch diese Lichter. Der Abend kam. Die
kühnen Riesenschlösser verdunkelten ...

Aus dem nahen Föhrenwald ritt eine Gruppe Indianer heraus. Eine
bessere Staffage konnte ich mir zuletzt gar nicht wünschen. Unter
ihnen ein Bursche mit zwei feuerroten Pferden, als seien sie dem Cañon
entstiegen. Jetzt halten sie am Rande der Riesenschlucht. Auch für sie
scheint er, obwohl gewohnt, ein immer neues unfaßliches Schauspiel.


Grabgesang für den indianischen Häuptling Schwarz-Amsel

(Aufrecht begraben auf einem lebenden Pferd am Felsenufer über dem
Missouri.)

    Er ist tot,
    Unser Häuptling,
    Ai! Ai! Ai! Ai!
    Krankheit überfiel ihn,
    Ihn, unsren Führer,
    Schmerzlich starb er dahin.

    Zu seinen Füßen sind wir Krieger,
    Seine Kinder versammelt.
    Zerschnitten haben wir unser Fleisch
    Vor seinem Leib.
    Unser Blut tropft auf die Weiden,
    Mit denen wir unsre Arme durchbohrten.
    Wir schlagen uns mit Weiden,
    Wir betrauern unsren Bruder, unsren Vater,
    Wir singen langsame Lieder
    Dem lauschenden Geist des großen Häuptlings
    Schwarz-Amsel.

    Gestern
    Unterm roten Himmel,
    Durch den die Sonne stürzte,
    Riefen sie dich,
    Deine Vorfahren
    Aus der Mitte des Himmels,
    Aus der dich umkreisenden Wolke
    Riefen sie deinen Namen.

    Er ist tot
    Unser Führer
    Ai! Ai! Ai! Ai!
    Unser Häuptling Schwarz-Amsel!
    Schlagt euch mit Weiden,
    Laßt tropfen euer Blut für ihn!
    Ihr habt den Todesgesang
    Euren Freunden gesungen,
    Den Gräsern der Prärie,
    dem Fluß,
    Der die Prärie
    Wie der Mond den Himmel schneidet.

    Sieh, wir richten dich auf.
    Das Blut unsrer Weidenwunden
    Tropft auf dich.
    Wir kleiden dich in dein Hemd aus weißem Bocksfell,
    Wir knüpfen deine Gamaschen aus Bergziegenfell,
    Wir legen um deine Schultern
    Dein Kleid aus dem Fell des jungen Büffelstiers,
    Wir haken dein Halsband aus grauen Bärenklauen
    Um deinen Hals
    Und setzen auf dein Haupt
    Deinen Kriegshelm aus Adlerfedern.
    So hast du es befohlen.
    Ai! Ai! Ai! Ai!
    Schlagt euch mit Weidenruten!
    Du fährst fort von uns,
    Es ist Zeit für dich fortzufahren,
    Du trittst die lange Reise an.

    Hinauf auf die hohe Klippe
    Tragen wir dich.
    Unser Blut tropft auf die Erde,
    Und dein Pferd,
    Dein weißes Pferd
    Geht mit dir,
    Es folgt dir nach,
    Sanft leiten wir es
    Deinem Körper nach,
    Deinem nicht mehr schweren Körper,
    Den der Tod zerschrumpft.
    Der Habicht fliegt
    Halbwegs zum Himmel,
    So wirst du halb über der Erde schweben.
    Auf hohem Ufer wirst du stehen,
    Wenn wir dich aufstellen,
    Zittert die Erde.

    Du bist tot,
    Doch du hörst unsren Gesang,
    Du bist tot,
    Doch wir heben dich auf dein weißes Wieselroß.
    Es zittert wie die Erde,
    Sein Fell zuckt
    Bei der leisen Berührung mit deinen Knien,
    Unser Blut schreit zu dir,
    Da es über die Blätter der Weiden tropft.
    -- -- --
    Du leuchtest wie Sonne zwischen Bäumen,
    Du blendest wie Sonne,
    Die über Präriegras rinnt.
    Du durchbohrst unsre Augen,
    Wenn die Donnerwolke sich empört gegen den Wind.

    Wer sollte das sein,
    Wenn nicht er, unser Häuptling?
    -- -- --
    Ai! Ai! Ai! Ai!
    Stolz reitet er sein weißes Pferd,
    Seine Hauptfedern rauschen leis’ im Wind.
    Großer Häuptling,
    Vater des Volks,
    Der du schaust auf den kluftigen Hügel
    Und den langen beweglichen Fluß.

    Der du gefaßt erwartest den Saum der Nacht
    Und das Kommen der Sterne,
    Bereit zu springen
    Den Sternweg mit der mächtigen Kraft
    Deines wundervollen Pferdes,
    Die Wolfsspur aufzunehmen,
    Mit dem Schrei des Erfahrenen
    Aufwärts zu reiten über den großen Himmel.

    Wir bewachen dich,
    Wir begeistern dich,
    Wir schreien dir Beifall mit unsrem Jagdruf,
    Unsrem Schlachtlied.
    Zum Klatschen unsrer Weiden sollst du reiten,
    Und dein weißes Roß
    Soll dich hinter die Wolken tragen
    Hinter die unbeweglichen Sterne.

    Wenn die Wasser ruhen
    Und Nebel steigen,
    Wirst du +wieder erscheinen+?
    Dann werden deine Brüder, die Ottern,
    Aus den Wassern tauchen,
    Unter dem hohen Hügel
    Wird deiner Stimme starkes Echo tönen.
    Wie Metall wird deine Stimme
    Durch die Himmel dringen.

    Deine Kriegskeule wird durch die Räume hallen
    Wie deine Brüder, du Adler,
    Wird deine Stimme zu uns niederfallen
    Durch die Böschungen des Winds.
    Du wirst rund um die Welt gehen,
    Du wirst über und unter die Welt gehen,
    Du wirst zum Geisterplatz kommen.

    Ai! Ai! Ai! Ai!
    -- -- --
    Wenn Regen kommt
    Auf den Schwingen der Krähen,
    Im Frühling
    Müssen wir die Stimme der Eule fürchten
    Allein in unsren Hütten,
    Nun, da du von uns gegangen.

    Wie groß ist die +Zahl deiner Schlachten+!
    Zur Nacht,
    Wenn die Hunde schweigen,
    Gehst du leise
    Über die Dörfer der Feinde, sie zu zerstören.
    -- -- --
    Tod bringe ich!
    Ich tanze auf denen, die ich töte!
    Ich skalpiere die, die ich töte,
    Ich lache über die, die ich töte,
    Heh -- heh!
    Rot waren deine Pfeile wie des Grashüpfers Flügel,
    Hoch in der Sonne.
    Denn Feinde schämten sich vor dir,
    Bis du ihnen die Köpfe abschnittst
    Und ihren Skalp an deinen Zügel bandest.
    Nun reisest du allein,
    Reise die Wolfsfährte entlang,
    Müde zu den kleinen Sternen!

    Amerikanische Nachdichtung von Amy Lowell.

Die braunen Burschen mit Federn und Bogen, gestickten Mokassins und
prachtvollen warmen, weichen Decken -- angenehm jetzt in der wehenden
Abendkühle -- verschwanden in einigen nahen Lehmbauten, wo sie -- man
sieht es durch die offene Tür -- ein Feuer entzündeten. Malerisch
säumten ihre bunten Kopfbinden das langsträhnige glänzend schwarze
Haar ...

Geschminkte und gepuderte reisende Damen kamen jetzt daher und
richteten ihre Lorgnette auf die Söhne der Natur. Da wünschte ich
mir eine Geißel ...! Drinnen aber im ~Hopi-house~, der Lehmhütte der
angekommenen Hopi-Indianer, schaukelte friedlich ein Baby auf einem von
der Decke an zwei Stricken hängenden Brett. Ein Älterer der Rothäute
trat jetzt mit einer blitzenden Axt vor die Hütte, um Holz zu spalten
und das Feuer zu entfachen. Diente nicht diese Axt wilderem Zweck? Am
liebsten wäre ich zu der um das Feuer in der Hütte hockenden Gruppe
gegangen und hätte mich unter sie gesetzt und mit aus ihrem Napf
gegessen. Und Karl May war nie solcher Anblick vergönnt! -- --

Nach dem Abendessen im „~Bright angel~“ trat ich noch einmal an den
Rand des Cañon. Der Mond übergoß jetzt mit blendendweißem Licht die
grellbleichen Kalkfelsen, die da in den schauerlichen Grund abstürzten.
Welch eigentümliches Licht! Aber auch hier fehlte die Komik der Kultur
nicht. Elektrische Bogenlampen erhellten frech und frank rings die
Nacht um das Hotel! ... Fledermäuse umschwirrten sie. Glühlämpchen am
Cañon! Welche Stillosigkeit! Auf den Bänken saßen einige Hotelburschen,
deren Arbeit zu Ende war, und sangen süßmelancholische Negerlieder aus
Kentucky und Tennessee! Vor dem Hopi-house aber tanzte -- verhülle
dein Haupt -- für ihnen auf den Boden zugeworfene Kupfermünzen
die Gruppe der Hopi-Indianer indianische Volkstänze. Sieben bis
acht Männer, Frauen und Kinder waren es. Es war ein merkwürdiges
rhythmisches Stampfen und heiseres Schreien, das durch eine Rassel
in der Hand unschön unterstützt wurde. Die Frauen tanzten barfuß mit
Blumensträußchen in den Händen, bald neben-, bald hintereinander
zierlich und rhythmisch sich wiegend, die Männer in ihren Mokassins.
Indianertänze im bleichen Mondschein vor der Indianerhütte am Rande des
Cañons waren also der letzte Eindruck dieses Tages! Den nahm ich mit in
meine Träume der Nacht ... --

Für den anderen Tag hatte ich mir vorgenommen, den Abstieg auf dem
schwierigen und sehr mühevollen „~bright-angel-trail~“ in den Cañon zu
wagen. Aber nicht mit Maultier und Esel, Führer und Pferden, Zelten
und Proviant, mit geputzten Herren und gepuderten Damen, Dienern
und Troß, sondern allein zu Fuß und mit ein paar Brotscheiben in
der Tasche ... Allein, Auge in Auge, wollte ich der Nacktheit der
Natur und den titanenhaften Schroffen des Kolorado gegenübertreten.
Hoffentlich störte mich heute kein Menschenschwarm und -geschwirr,
keine schwatzenden, beschleierten und lorgnettierenden Damen oder
politisierenden Männer ...

[Illustration: ~SANTA CATALINA IM STILLEN OZEAN~]

Ich nahm also einstweilen Abschied von der bewohnten Oberfläche der
Erde, um mich in die Eingeweide ihrer Unterwelt zu begeben. So kam es
mir vor. Oben blieb die Menschheit zurück, und ich stieg der Tiefe zu,
wie der Bergmann in den Schacht fährt und der Taucher in den Ozean
sinkt. Fast so war es mir zumute. Hoffentlich gab mich der Cañon heil
der oberen Erde wieder. Je weiter ich stieg -- jeder Tritt war mit
Vorsicht zu wählen, und jeder Schritt eine kleine Leistung -- desto
ungeheuerlicher wurden die Ausmaße der Abstürze. Und so tief man auch
hinabstieg, immer neue Felsenabstürze gähnten unter mir, immer ferner
rückte die Randhöhe des Plateaus oben, immer weiter wurde die Spanne
von Rand zu Rand der Riesenschlucht. Welche Entfernungen, welche
Tiefe, welche Steilheit des Felsenpfads! Welch schauerliche Felsöden!
Man kam sich vor wie in einem Riesengefängnis, das kein Schließer zu
verschließen braucht. Drüben aber die in der Morgensonne leuchtenden
roten Zacken, Zinnen, Türme und Wände, die noch kein menschlicher Fuß
betrat.

Etwa zwei bis drei Stunden bin ich mühsam allein hinabgestiegen. Kein
Laut störte die Einsamkeit. Kein Vogel kreiste über den unfruchtbaren
Felsmassen. Nur da und dort rollte ein Steinchen, das unter dem Tritt
sich löste, springend, hüpfend mit ein wenig Geklirr in größere Tiefen.
Es hallte der eigene Schritt wieder von den nächsten Felswänden.
Ein paar niedrige Kakteen wuchsen zwischen den Steinen und ein paar
blühende Anemonen ...

Ich landete auf einem Plateau, halbstündig im Geviert. Eine kleine
grüne Steppeninsel inmitten der Felsmassen lag vor mir, von etwas
quellendem Wasser berieselt. Das „~half-way-house~“, der Rastort der
Touristenkarawanen, war erreicht. Ich kletterte noch vor bis an den
Rand des eigentlichen engeren Flußcañons, wo es schwarz und steil in
die Tiefe geht. Aber weiter wage ich mich nicht. Ich hätte gerne dort
unten meine Hand in den Kolorado gesteckt ... Aber jeder Schritt tiefer
kostete zwei mühsame Schritte nachher wieder herauf. Und hinauf war es
weit länger und anstrengender als hinab. Würde auch das Wetter halten?
Der Himmel hatte sich dunkel umzogen ...

Ich mochte eine halbe Stunde am Rand des letzten Absturzes gelegen
haben, wie Jakob das Haupt auf einen harten Stein gebettet, und hatte
in die Felseinsamkeit und den Himmel gestarrt. Vom Kambrium bis zum
Tertiär lagen wohlabgezeichnet alle Schichten von unten nach oben
übereinander, rote Granite, dunkelbraune Gneise, mattgrüner Schiefer,
dunkelroter Kalkstein, rot und weißgebänderte Sandsteinformationen und
zuoberst hellgrauer Kalk. Von Rand zu Rand spannt die Riesenschlucht
oben etwa 15 ~km~, bis 1½ ~km~ ist sie tief, und der Fuß auf der Sohle
ist noch an 100 ~m~ breit. Bei Hochwasser kann der Kolorado bis um
70 ~m~ steigen! Wie mag der erste Weiße, der Goldsucher Garcia Lopez
de Cardenas im Jahre 1542 gestaunt und gebebt haben, als er diese
teuflische Schlucht, die bis 350 ~km~ (also etwa von Berlin bis über
Prag hinaus) lang ist, zum ersten Male erblickte! Was besagen diesen
Maßen gegenüber alle die Klamms Oberbayerns oder selbst die Elbrinne
unserer sächsischen Schweiz? 1869 unternahm es zuerst der kühne Major
J. W. Powell, den Koloradofluß durch den Cañon hindurch im ganzen 1600
~km~ weit zu befahren! -- -- --

Ich hatte mich erhoben, um wieder anzusteigen. Und ich tat gut daran.
Wolken und Nebel fuhren dichter über die Felszinnen. Ängstlich huschten
die Eidechsen in ihre Steinritzen. Als ich eine kleine Stunde mühsam
bergangeklommen war, brach um mich ein Schneesturm los! Im Nu tanzten
wilde Flocken und hüllten mich ein. Kein Mensch war weit und breit.
Orkanartig brauste es die Wände entlang. Verschwunden war mit einem
Male der Zaubergarten samt allen seinen Farben. Im Schneesturm, in
Nebel und Wind mutterseelenallein an eine Felswand gedrückt, wartete
ich das Wetter ab. Der Steilpfad war zwar kaum zu verfehlen. Ein
Verlorengehen war nicht gut möglich. Und ein Tornado oder eine
Windhose, die mich am Ende nach dem anderen Rande des Cañons entführte,
würde ja hoffentlich nicht gerade kommen.

Vorgestern noch in Santa Fé ein Sommergewitter und heute in derselben
Höhe und Breite ein Schneesturm im April unter 36 Grad Breite! Welche
Kontraste doch dieser Kontinent barg!

Vom anstrengenden, steinigen, steilen und eiligen Steigen klopfte mir
das Herz bis zum Halse hinauf. Eine Zeitlang barg ich mich in der
schützenden Nische an der Felswand. Die Hände waren mir eiskalt, aber
am Rücken troff mir der Schweiß! Das Schneegestöber nahm zu. Ich war
früh aufgebrochen. Die reitenden Karawanen hatten es vorgezogen, oben
zu bleiben oder waren auf dem Viertel Weg wieder umgekehrt. Als ich
endlich nach viel Mühe, durchnäßt und durchfroren wieder oben war, lag
der Schnee auf den Hoteldächern und der Terrasse! ... Man glaubte sich
in eine Winterlandschaft des Riesen- oder hohen Erzgebirgs versetzt und
wärmte sich gern am behaglichen Kamin mit seinen mächtigen glimmenden
Holzklötzen ...

Die Nacht erquickte die vom Ab- und Anstieg ausgereckten Glieder
wunderbar. Es war die zweite Nacht am Rande des Cañons. Wie würde
morgen das Wetter sein?


Fußnoten:

[Footnote 22: ~Young men’s christian association.~]

[Footnote 23: Indianerdörfer.]

[Footnote 24: Wanzen.]




Nach Kalifornien.


Am anderen Morgen war auch noch Nebel und Schnee. Die Tiefen des Cañons
waren dicht verhüllt. So konnte ich also nicht einmal rechten Abschied
von ihm nehmen. Wir fuhren erst wieder unsere drei Stunden bis an
die Hauptlinie nach Williams: Pußta, Prärie, Heide -- immer dieselbe
Großartigkeit! In Williams ging es wieder -- weniger angenehm nach der
herrlichen Berg- und reinen Steppenluft -- in die seit drei Tagen nicht
gelüftete „~chair-car~“ des Chikago-Los Angeles Expreß, mit dem ich vor
zwei Tagen hier angelangt war. Viele Auswanderer saßen wieder drin mit
Kind und Kegel. Kalifornien ist seit dem Goldfieber von 1848 noch immer
das Land der Sehnsucht aller Auswanderer. Unaufhörlich geleiten die
Pazifikbahnen den fremden Menschenstrom in das gelobte Land am Stillen
Ozean ... Die Bahn senkt sich. Der Nebel streicht über die Föhren wie
über irgendeine deutsche Heide. Weite blaue Bergländer tun sich in
der durchbrechenden Mittagssonne auf. Wir halten in Ash-Fork, einer
Bahnkreuzung. Aber es ist nicht mehr als ein Dorf, dessen Straßen aus
Holzplanken bestehen! Die Häuser sind buchstäblich auf den Sand gebaut.
Aber bald wird auch hier eine „~main-street~“ (Hauptstraße), ein paar
~lunchrooms~, eine ~general merchandise~ sein, und wohl auch ein oder
zwei kleine Holzkirchen stehen. Links und rechts erheben sich mächtige
Kraterhügel, wie unvermittelt auf das Plateau aufgesetzt. Schnaubend
zieht die Bahn, nach der Durchschreitung des felsigen Johnsons Cañon,
wieder in die Höhe. Neue Aussichten über weite, wellige Hochländer
öffnen sich. In gewaltigen Kurven dampfen wir das Grasland hinan. Und
weit und blau spannt sich der Himmel über dem ungeheuren Lande. Wem
gehört hier dies alles? Niemand? Die Dämme sehen alle noch recht frisch
und unbewachsen aus. Einige armselige „~fences~“ (Hürden) zeigen einige
private Besitzer an.

In „+Seligman+“ wird die Uhr zum viertenmal seit Boston um eine volle
Stunde nachgestellt: Nun ist „~Pacific time~“! (Die Union ist ja
etwa 17mal so groß als das Deutsche Reich, also rund viermal so lang
und so breit. Darum kommen wir in Deutschland mit ein und derselben
Görlitzer Zeit aus, d. h. die Sonnenzeit in Köln und Königsberg
differiert nur etwa um eine Stunde und die Görlitz-Berliner Zeit
hält das Mittel inne.) Wir setzen auf wohlvollendeter Brücke über
einen völlig wasserlosen Cañon. Dann dehnen sich wieder endlose
gelbgraue menschenleere Steppen, blendend im Sonnenschein mit
scharfabgezeichneten Schatten auf dem sandigen Boden säumender
Bergreihen. Wie rein und klar ist hier die Luft und wie sonnig! Wenn
ich jetzt alle die durchfahrenen Distanzen überdenke: Eine volle
Nacht von Boston bis Buffalo! 15 Stunden von Buffalo nach Chikago.
Und von Chikago bis zum Pazifik waren es vier Tage und drei Nächte!
Bädeker hat recht mit seinem lakonischen Satz im Vorwort: „In Amerika
lasse man alle engen Vorstellungen zurück.“ Wer Freude an einer
wochenlangen, fortgesetzt wechselnden Bahnfahrt haben will, hat bloß
zwei Möglichkeiten dazu, entweder mit der sibirischen oder einer
amerikanischen Pazifikbahn zu fahren.

Was für Zukünfte schlummern noch in diesem ungeheuren Land der Rassen
und Schätze an Eisen und Kohle, Weizen, Mais und Baumwolle, Vieh, Gold,
Quecksilber und Petroleum! Davon ahnen die kleinen Italienerkinder noch
nichts, die im Mittelgang unseres Wagens einander fröhlich haschen.
Die Geschwindigkeit läßt etwas nach. Kleine Steppenkolonien tun sich
auf, deren Häuser wie kleine Badehütten an einer Düne stehen. Ein paar
völlig weltverlorene Stationen, wo nichts weiter als ein Stationsschild
mit Aufschrift die Haltestelle bezeichnet und ein paar Schuppen
für Hirten stehen. Die einzigen Tiere, die man zu Gesicht bekommt,
sind hier merkwürdig kleine, dünnbeinige, aber wahrscheinlich sehr
ausdauernde Steppenpferdchen ...

Weiße Wölkchen stehen sonnendurchschienen am blauen Himmel. Im Wagen
spielen die Männer gelangweilt Karten, essen, schlafen, schmökern
aus Zeitungen, trinken Eiswasser und träumen von der Zukunft. Wer
rauchen will, muß für eine Zeit den am Ende des Zugs befindlichen
allgemein zugänglichen, aber engen ~smoking-room~ aufsuchen. Recht
nachahmenswert!

Ein Kolonistendörfchen mit etwa 15 Hütten zeigt sich unter ein paar
grünen Bäumen. Ob nicht in zehn Jahren hier eine Stadt sein wird? Dann
wird die Landschaft wieder steiniger, als es auch in der arabischen
Wüste kaum sein könnte. Aber die Menschen erscheinen hier viel ruhiger
und gelassener als im Osten. Es jagt sie keine „City“ mit ihren
Untergrundbahnen und Autos. Die Natur ist auch zu groß hier für Hast
und Hitze. Selbst die typischen kleinen Kirchen sieht man hier kaum
noch. Sind die Menschen hier darum gottloser? Ich kann mir das in
dieser Naturszenerie gar nicht vorstellen.

Gegen Abend -- wir nähern uns jetzt der Grenze des Staates Kalifornien
-- werden die Randgebirge wieder höher. Stundenlang geht es durch
dieselbe eintönige Wüste. Leben hier wilde Tiere? Und was für
welche? Kein Wölkchen trübt mehr den purpurroten Abendhimmel.
Unter einigen Kakteen, Yuccabäumen und Palmen hocken ein paar
runzlige Indianerfrauen. Station Kingman. Das Gelände ist jetzt
von ganz südlichem Charakter. Was wir daheim in Treibhäusern und
Palmenhäusern bestaunen, wächst hier wild. 100 Meilen wieder seit
Seligman! Dazwischen haben wir nicht +ein+mal gehalten! Wozu auch?
In den namenlosen Bergen und Felscañons? Rötlich schimmern die
einsamen Bergketten im Abendlicht. Arizona trägt seinen Beinamen
„das Land der schönen Sonnenuntergänge“ nicht umsonst. Sand um Sand,
purpurschimmernde Kraterhügel wie von Riesenmaulwürfen aufgeworfen. Wie
mit der Schere ausgeschnittene Bergketten, die sich scharf vom blanken
Himmel abzeichnen.

Hier könnte man sich, da die Stationen 100 Meilen auseinanderliegen,
bei Nacht einen Zugüberfall sehr gut vorstellen. Tatsächlich fand
einer gerade in dieser Gegend zwei Tage später, als ich schon in San
Franzisko war, in der üblichen Weise statt, über die sich niemand in
Amerika mehr aufregt: Schienenaufreißen, falsche Signale, Aufspringen
auf die Lokomotive, Überwältigen von Lokomotivführer und -heizer,
Durchsuchen des Packwagens, Einschüchterung der schlafenden Reisenden
mit vorgehaltenen Revolvern ... Dann geht es wieder weiter. Man rührt
sich nicht, und ohne Blutvergießen geht es vorüber! Aber was machen
sie hier in den Fällen von Maschinendefekt und ähnlichem? Das mag eine
hübsche Zeit dauern, bis hierher eine Reservemaschine kommt!

In dem nahen Flußbett sieht man Wagenspuren. Wüsten um Wüsten. So
hätte ich mir Arizona nicht vorgestellt, so einsam und verlassen. Wie
völlig anders waren dagegen die Staaten am Atlantik! Und was soll hier
wachsen? Endlose purpurn erglühende Bergzüge. Wie Goldkronen liegen die
letzten Sonnenküsse auf den rückwärtsliegenden Felsbergen ...

Wir setzen über einen sehr breiten Strom. Es ist der Kolorado River,
der den Cañon durchströmt; eine Ebene öffnet sich am Fluß. „Needles“
ist erreicht am Eingang zum Goldland Kalifornien, genannt nach
den in der Ferne wie spitze „Nadeln“ aufsteigenden Porphyrketten.
Die Bahnlinie hat sich wieder mächtig gesenkt. Die Hochebenen sind
verlassen. In eiliger Fahrt war es in mannigfachen Windungen hinab dem
Koloradofluß zugegangen, der hier kaum noch 200-300 ~m~ über Seehöhe
aus den Bergschluchten tritt! Hier ist alles subtropisch, ja fast
tropisch. Kaum aber daß ein bißchen Naß das Land besprengt, da sprießt
es auch schon in ungeahnter Üppigkeit. Man sieht die Männer hier auch
abends im Frühling nur in Hemdsärmeln.

Es ist Zeit, das Abendessen einzunehmen. Wie ausgehungert eilt alles
zu den Fleischtöpfen ... Geradezu mystisch schön sind die Tinten an
dem unbeschreiblich kristallklaren Abendhimmel ... Dann geht es nach
25 Minuten Aufenthalt wieder in die Nacht hinein. Die Mondsichel tritt
klar und scharf heraus. Wir fahren durch die Mojawewüste. Ich wache
in der Nacht einmal auf, als wir in Dudlow halten. Funkelnd steht der
Orion am Himmel. Laut zirpen Tausende von Grillen durch die milde
südliche Nacht. Von den San Bernhardinobergen sehe ich freilich nichts,
auch nichts von den erloschenen Vulkanen und ausgetrockneten Salzseen
der Mojawewüste ...

Aber wie verwandelt ist das Bild am Morgen! So wie wenn man durch den
Gotthard fährt und auf der anderen Seite des Tunnels, nachdem die
Wasserscheide der Alpen durchschritten ist, eine andere Welt findet.
So wachen wir in der Frühe, als wir von den San Bernardinobergen (3500
~m~!) in die Ebene in sausender Fahrt herunterfahren, bei feuchten
Morgennebeln auf, die schon vom Stillen Ozean herandringen; das Berg-,
Steppen- und Wüstenklima Arizonas ist völlig verschwunden. Es herrscht
nebliges Seeklima. Um sechs Uhr rüttelt mich der Neger an der Schulter:
Noch 40 Minuten bis Los Angeles! Aufstehen!

Nun, da war es ja Zeit, sich zu erheben und wie immer auf dem
Oberbett sitzend anzukleiden und sich fertigzumachen. Für die
meisten Mitreisenden bedeutete die Ankunft in Los Angeles viel mehr
als für mich! Die meisten kamen jetzt an ihr Lebensziel, in ihre
neue Heimat, sowie wir etwa damals in Neuyork nach über 3000 Meilen
Seefahrt landeten, so „landeten“ sie jetzt nach einer Bahnfahrt von
4000 ~km~ von Neuyork oder 3000 ~km~ von Chikago -- also fast ebenso
großen Entfernungen wie von Europa! -- an der Küste des Stillen
Ozeans. Als ich zum Wagenfenster hinausschaute, bot sich ein völlig
veränderter, fast märchenhafter Anblick dar. Tagelang waren wir
durch grasige Steppen und einsame Hochebenen, über sandige Wüsten
und durch felsige Cañons gefahren, und jetzt fuhren wir auf einmal
durch die ausgedehntesten prächtigsten Weingärten, vorüber an ganzen
Alleen von Pfeffer- und Orangenbäumen, vorbei an den herrlichsten mit
hohen Palmen bepflanzten Straßen und den saubersten, malerischsten,
von den üppigsten Pflanzungen grünumrankten und unter Blütenpracht
förmlich begrabenen Landhäusern und Landstädtchen. Zitronen und
Eukalyptus, Orangen, Palmen und Wein, Akazien und Agaven, welche
ein märchenhaftes Paradies, noch viel üppiger und blühender als das
fruchtbare Oberitalien! Und Los Angeles’ Umgebung ist vielleicht wieder
die Krone des ganzen herrlichen Landes. Aber, lieber Leser, sage das
nicht laut in San Franzisko! Du könntest auf offener Straße dafür
niedergeschlagen werden. Und jedermann würde es recht finden! Denn es
gibt auf Gottes Erdenrund kaum zwei aufeinander eifersüchtigeren Städte
als San Franzisko und Los Angeles, die beiden ehrgeizigen Königinnen
Kaliforniens ... Wir halten. Ich steige aus. Am Ziel! Eine Welt von
Bildern und Eindrücken, was mit zum Großartigsten der Welt gehört, war
an mir vorübergezogen.

+Los Angeles+ hat einen schönen und stolzen Namen. Als spanische
Gründung 1781 wurde es „~La Puebla de Nuestra Señora La Reina de Los
Angeles~“ („Stadt unserer Herrin der Königin der Engel“) genannt. Erst
seit 1846 ist es bei nur 1600 Einwohnern (!) amerikanisch geworden.
Noch 1880 hatte es noch immer kaum 50000 Einwohner, heute bald eine
halbe Million. Als ich aus dem Bahnhof trat, sah ich zunächst noch
nichts von seiner paradiesischen Herrlichkeit, noch von seinen 130
Kirchen, eher konnte ich an seine 2000 Fabriken glauben. Schmutzig
und düster erschien die nächste Umgebung. Der erste Kampf ging wieder
einmal darum, mit heiler Haut aus dem Geschrei der Kofferträger,
Transferagenten, Hotelportiers, Autos und Kutscher herauszukommen.
Lastwagen wirbelten auf den zum Bahnhof führenden Straßen genug Staub
auf ... Ich sah japanische, chinesische Anschriften, den Fremden
einladende Herbergen der Heilsarmee ... dann schlug ich mich durch bis
zur Innen- und Geschäftsstadt. Banken, Läden, Warenhäuser wie überall.
Es hielt mich diesmal auch nicht lange in der Stadt. Geschichtliches
bietet sie gar nichts. Ich strebte so schnell wie möglich nach dem
Stillen Ozean, von dem „die Stadt der Engel“ noch immer 35 ~km~
entfernt liegt!

Möglichst rasch und entschlossen ging ich zu dem Bahnhof der
ausgezeichneten elektrischen Lokalschnellbahnen, die nach jeder
Richtung von Los Angeles in die Umgebung streben. Ich bestieg sofort
einen Zug, der geradewegs nach San Pedro am Pazifik fuhr.

Mit Schnellzugsgeschwindigkeit waren wir in 40 Minuten dort ... Noch
war es wolkig, und Morgennebel lag über den Feldern. Erst ging es
eine Weile durch weniger reizvolle Vorstädte, Chinesenviertel und
Arbeiterquartiere und an allerlei Schuppen und Lagerhäusern vorbei.
Dann kam ein Geländestreifen mit reizenden Landhäuschen, tief in das
üppigste südliche blühende Grün eingebettet: Palmen, Gummibäume,
Eukalyptus, Orangen, Rosen, Geranien, Yuccas und Granatbäume in
paradiesischem Wechsel. Danach wieder lange unangebaute grasige
Steppen. Die Gegend glich in manchem der zwischen Rom und Ostia in
Italien. Zuletzt erhoben sich rechter Hand die San Pedroberge. Und
vor uns dehnte sich gewaltig -- der Stille Ozean! Wir hielten in der
kleinen Hafenstadt San Pedro an der San Pedrobai.

Grau und etwas wolkig mit mäßigem Wellenschlag lag der Stille Ozean
da. Er schien seinem Namen Ehre machen zu wollen! Nun war mir an
seiner Küste das Angesicht Asiens, Japans und Chinas zugewendet! Im
Hafen lag ein großer Dampfer, der „President“, der gerade nach San
Franzisko in See stechen wollte. Ein Stück weiter links schaukelte
sich ein kleineres Dampfboot von nur 600 Tonnen, nicht viel größer
als unsere Rheinschiffe, zur Abfahrt bereit nach der sonnigen Insel
Santa Catalina im Stillen Ozean. Sie ist 25 Meilen von der Küste
entfernt, also etwa zwei Drittel soweit wie Helgoland von Cuxhaven.
War ich einmal am Stillen Ozean, so wollte ich auch +auf+ den Stillen
Ozean! Also schnell ein Billett gelöst und auf der Ozeannußschale, dem
„Cobrillo“, eingeschifft!

Nach kaum 20 Minuten stach er mit Menschen wohlgefüllt in See! Er
fährt täglich einmal am Vormittag hinüber und am Nachmittag wieder
zurück. Ich hatte es gut getroffen. Bald nach der Abfahrt hellte
sich der Himmel langsam auf. Nach einer Stunde Fahrt verschwand die
kalifornische Küste hinter uns. Man sah nur noch das Wasserrund des
Ozeans. Nicht lange danach tauchten vor uns matte Linien ziemlich
stattlicher Berge auf, die ersten Wahrzeichen des einsamen Eilandes
draußen ...

Die Meerfärbung war noch eintönig grau. Mehrmals hielt ich die
Dunst- und Nebelgrenze auf dem Wasser schon für die Küstenlinie,
aber so schnell waren wir nicht dort! Die Dünung der See war mäßig,
aber für das kleine Boot schon beträchtlich. Wir waren kaum zum
Wellenbrecher hinaus, da erbleichten auch schon die meisten Gesichter
der mitfahrenden Damen. Der kleine Kasten stieg tüchtig auf und nieder
oder rollte rhythmisch von einer Seite auf die andere. Einige Frauen
sanken blaß ihren Männern in die Arme, andere stürzten gleich mit dem
Deckstuhl um ... Möwen folgten uns noch lange ...

Je näher wir dem Eiland kamen, desto deutlicher wurden seine Umrisse.
Jetzt erkannte man auch schon Felsabhänge und kahle und grasige
bis zu 600 ~m~ aus dem Meer ansteigende Bergabhänge auf ihm. Wie
ein Blinklicht glänzte das helle Dach eines Sommertheaters uns
entgegen. Solange wir auf See waren, war es fast kühl. Als wir nach
zweieinhalbstündiger Fahrt in die Bucht von Avalon einfuhren, brach
die Sonne leuchtend hervor, und eine wohlige Wärme empfing uns auf der
basaltischen Insel ...

Recht spaßig war die Landung. Während wir in die Bucht hineindampften,
empfing uns eine ganze Menge kleiner Ruderboote, aus denen uns die
Bootsführer schon auf ziemlich beträchtliche Entfernung ihre Hotels,
Pensionen, Bars, ~lunchrooms~, Wagen, Boote usw. durch das Sprachrohr
anpriesen, mit echt südländischer Lebhaftigkeit einer den anderen
überschreiend. In gleicher Weise wurden wir einst auf der ähnlich
gelegenen und ähnlich anmutenden Insel Capri empfangen. Die meiste
Reklame machte ein Boot mit einem „gläsernen Boden“, unter dem ständig
ein nackter, brauner Schwimmer einherschwamm, um des Bootes und des
Wassers Durchsichtigkeit zu zeigen! Auch ein Sport! Wieder andere
tauchten unaufhörlich nach ins Wasser geworfenen Fünfcentstücken, deren
sie in wenigen Minuten mehrere schwimmend und tauchend heraufholten und
triumphierend und wie Seehunde triefend auf die nasse Ruderbank ihres
Bootes zum Beweis und als Lohn niederlegten. Als wir endlich auch noch
die prüfenden hämischen Blicke der Badegäste am Landungssteg passiert
hatten, hielten wieder die ~porters~, Agenten und Hotelburschen uns
mit Geschrei und Anpreisungen auf; eine resolute Wirtsfrau aber
übertönte sie alle, indem sie mit einer mächtigen Klingel in der Hand
laut schellend vor ihrem ~lunchroom~ auf- und ablief, bis sie ihn voll
Ankömmlinge hatte. Und Appetit hatte die Seefahrt ja gemacht ...

Dann erging man sich in den wundervollen sattgrünen und sonnigen
Anlagen am Strande des Seebades, wo sich Hotel an Hotel und Villa
an Villa reihte. Weit ins Innere begab ich mich nicht. Ich fand es
am schönsten, mich an einer etwas abgelegenen und einsamen Stelle
am Strande zu lagern und als freies Kind der Natur dem Spiel der
ankommenden sich brechenden Wellen zuzuschauen und dem heiseren Bellen
der plumpen Seelöwen zu lauschen, die nicht weit vom Strand auf
wasserumspülten Klippen ihr lustiges Spiel trieben, bald mit ihrem
glatten, geschmeidigen Körper ins Wasser gleitend, bald triefend wieder
aufs Trockene emportauchend.

Wie warm schien die Sonne auf Sand und Steine! Einige Möwen kreisten zu
meinen Häupten. Ein ganz milder Wind wehte von der See herein: Leicht
und klar umplätscherte mich das Wasser des Ozeans. Die Wiese herab
blühten unzählige weiß und lila leuchtende Blümlein. Es waren einzige
Stunden der Erholung und des Unberührtseins von Welt und Menschen.
Nach einer Stunde kam den Weg an den Felsen entlang als einziger
Mensch eine alte weißhaarige Dame geschritten, die ihren üblichen
Nachmittagsspaziergang machte. Eine schwarze Dienerin trug und hielt
ihr den Sonnenschirm über den Kopf. Wie sie mich plötzlich von ferne
am Wasser im warmen Sand ruhend erblickte, kehrt sie erschreckt um.
Die Taucher und der Glasbodenschwimmer lagen derweilen auch in ihren
Bademänteln, auf neue „Arbeit“ wartend, am Strand unter den Hotels.
Der „Cobrillo“ rauchte friedlich aus seinem Kamin in der Bucht.
Die Seelöwen bellten immer noch, und die resolute Wirtin hatte ihr
lautes Schellen eingestellt. Welche paradiesische Ruhe hier! Welche
nervenstärkende Stille und wohlige Wärme an diesem glücklichen Strande!
Und wie lockend mußte es sein, diese paradiesische Insel wie ein
Robinson nach allen Richtungen zu durchstreifen ...

Um dreieinhalb Uhr rief der Cobrillo mit seiner Sirene wieder seine
Fahrgäste zusammen, auf daß man noch zum ~dinner~ abends nach Los
Angeles kommt. Vier Stunden Aufenthalt waren mir wie ein Tag auf
diesem paradiesischen Eiland vorgekommen. Die See war jetzt ganz
ruhig geworden. Die ersten Fahrgäste überschritten schon wieder den
schwankenden Landungssteg und suchten sich gewitzigt von der ersten
Fahrt die Mittelplätze beim Schornstein aus. Die Taucher gingen wieder
an ihre „Arbeit“. Der nackte, braune Glasbodenschwimmer ruderte sein
Boot hinaus. Da mußte auch ich meinen Strandwinkel verlassen und warf
mich wieder in die Tracht des wohlbekleideten Kulturmenschen. Ach, daß
das Schönste immer am schnellsten vorübergeht! Und es bleibt allein die
Erinnerung ...

Bei völlig ruhiger See und vollem Sonnenschein stachen wir wieder auf
dem kleinen Dampfer in See, dem Kontinent entgegen. Die Berge hoben
sich in unserem Rücken wieder höher und höher. Eine alte spanische
Missionskirche über dem Hotel Metropole und Grand View winkte uns den
Abschied zu. Die Möwen flogen auch wieder mit uns heimwärts. Und die
Hochzeitspärchen an Bord hatten bei der Rückfahrt keine ungewollten
Umarmungen mehr zu befürchten ...

Um sechs Uhr liefen wir wieder in San Pedro ein. In der Abenddämmerung
rasten wir die 23 Meilen nach Los Angeles mit der elektrischen
Schnellbahn in 40 Minuten zurück. Und als ich wieder nach diesem
eindrucksvollen Ausflug die „Main Street“ durchschritt, brannten
bereits die vornehm wirkenden Glaskandelaber in den Hauptstraßen
von Los Angeles und machten sie zu wahren Wandelgängen unter freiem
südlichem Himmel. Alles Volk, besonders die flirtende Jugend, zog
die Hauptstraße unter den brennenden Kandelabern auf und ab, eine
allgemeine südliche Mode wie in den Hauptstädten Italiens und Spaniens,
wo man sich erst abends recht aus den Häusern wagt. Mein Abendessen
nahm ich bescheiden in einem sogenannten „~help-yourself~“-Restaurant.
Da tritt man zu den langen Büfettreihen selbst mit einem Tablett in
der Hand, nimmt sich Teller, Messer, Löffel, Gabel und stellt sich
selbst aufs Tablett an Speisen, die ständig am Büfett bereitstehen,
was man begehrt. Bei dem letzten Büfettfräulein erhält man dann einen
Zettel, auf dem sie alles blitzschnell addierend, angibt, was das
selbstgewählte ~Menu~ kostet. Der Preis wird beim Ausgang an einer
Kasse entrichtet. Äußerst praktisch wie alles in Amerika und zugleich
auch recht appetitanreizend! Außerdem spart man die Ausgabe für
Getränke und Bedienung, die ja bei uns oft noch ein Drittel Aufschlag
bedeuten. Man ist auch schneller fertig, macht anderen Platz, wischt
den Mund, stellt das abgegessene Geschirr zur Seite, bezahlt und geht,
denn „~time is money~“. Ja hier gab es sogar noch Abendmusik gratis
dazu!

Dann ging ich auch einmal in ein „~show~“, ein einfaches Theater, um
den Abend nützlich zu verbringen. Es hatte drei Ränge, die an fast
gefängniskahlen Wänden umliefen. Der Vorhang war, ehe er aufging --
echt amerikanisch! -- mit Reklamen bedeckt! Das Theater saß ziemlich
voll junger Leute, Weiße und auch Chinesen! Der Eintrittspreis war
nicht gering. Das Spiel dauerte zweieinhalb Stunden. Aber es wurde
dabei geraucht; andere aßen Orangen und Bananen. Die Schalen warf man
einfach unter die Sitze! Erst kamen allerlei recht üppige Balletts,
die anscheinend besonders den anwesenden Halbwüchsigen gefielen,
dann trat eine tauchende Dame in schwarzem Trikot auf, zuletzt kam
ein amerikanisches Drama: „Die City“, in dem die Gefahren und die
schließliche Verzweiflung eines von der City Zermalmten geschildert
wurden. Die Taucherin sprang und hüpfte und schwamm wie ein Aal; behend
und schlank war sie wie ein Reh. In dem Drama wurde eine wohlhabende
Bankierfamilie einer Landstadt geschildert: Sohn und Tochter streben
nach Neuyork. Der konservative Vater warnt vergeblich. Ein natürlicher
Sohn desselben fordert Geld von ihm und droht ihm im Weigerungsfall
mit Erschießen. Das erregt den Alten so, daß er darüber stirbt, nicht
ohne seinem rechten Sohn den Grund offenbart zu haben. Zehn Jahre
später steht dieser vor seiner Wahl zum Gouverneur in Neuyork. Seinen
Halbbruder hat er zu seinem Sekretär gemacht. Seine Schwester will
sich von ihrem trunksüchtigen Mann scheiden lassen, weil sie ihren
Halbbruder liebt, ohne um sein Geheimnis zu wissen. Ihr echter Bruder
offenbart ihr, daß ihre mit ihm bereits heimlich geschlossene Ehe
nichtig ist. Daraufhin erschießt verzweifelt der Halbbruder die Gattin,
die seine Schwester ist. Er wird verhaftet und dem Gericht übergeben.
Die Sünde der Väter rächt sich an den Kindern! Der Held des Stückes
schließt: „Nicht die City verdirbt den Menschen, sondern der Mensch die
City. Die City offenbart nur, wer sich in ihr zu behaupten vermag und
wer nicht.“ Man ging ergriffen. Draußen umwogte einen die wirkliche
„City“ mit ihrer Dollarjagd und ihren Versuchungen. Welch erschütternde
Bekenntnisse hatten mir Freunde anvertraut! Es menschelt überall sehr
und immer in gleicher Weise in der Welt, aber im ganzen scheint man in
Amerika schamhafter und „moralischer“ zu sein, wenn auch oft prüder.
Die Witzblätter dürfen nicht so offen geil wie zuweilen bei uns sein.
Die Prohibition hat sicher auch hier ihre unschätzbaren Verdienste ...

       *       *       *       *       *

Am anderen Tag hoffte ich, Kalifornien, das allein so groß ist
wie unser jetziges Deutsches Reich, zu durchqueren. Die Luftlinie
von Los Angeles bis Frisko mißt etwa 600 ~km~! Die Gesamtlänge
des amerikanischen Kaliforniens beträgt aber etwa 1500 ~km~ oder
die Entfernung von Memel bis Basel! Freilich beträgt die Breite
durchschnittlich nur 300-400 ~km~. Danach kann man sich ungefähr
von seiner Größe eine Vorstellung machen. Die Einwohnerzahl beträgt
freilich noch nicht zwei Millionen, von denen die reichliche Hälfte in
den beiden wetteifernden Großstädten wohnt! Man fährt von Los Angeles
15-16 Stunden mit dem Expreß nach San Franzisko. Ich teilte mir deshalb
diese Strecke lieber, um unterwegs noch allerlei mitzunehmen.

Volles sonniges, warmes Wetter begünstigte die Fahrt. Man bedauerte
es fast, wieder in den Pullmann steigen zu müssen. Draußen lagen die
pinienbewachsenen Berge im hellsten Sonnenschein; ihnen zu Füßen
reifende Getreidefelder im April! Viermal wird hier im Jahr Gras
geschnitten und Heu gemacht!

Von der Fruchtbarkeit und Üppigkeit Kaliforniens machen wir uns
in Deutschland ebensowenig eine zureichende Vorstellung wie von
der Wüstenhaftigkeit des Felsengebirges und der Unendlichkeit der
Mississippiebenen. Ich fuhr mit der „~Line of the thousand wonders~“
(Linie der 1000 Wunder) und war auf die „Wunder“ wirklich gespannt. Wie
in Italien schimmerten von allen Höhen weißgestrichene Häuschen. Durch
die Felder zogen Pflüge, von acht Maultieren gezogen. Rechts grüßten
die Berge, links dehnten sich die strotzenden Felder, ganz leicht blau
drüben lockte die Linie des Ozeans! Ganze Haine voller Oliven, als ob
es graue Weiden wären, flogen vorüber.

Neben mir sitzt, wie ich bald herausbekomme, ein alter
Schleswig-Holsteiner, der als Junge in den fünfziger Jahren des
19. Jahrhunderts schon herübergekommen war. Jetzt war er gut ein
Fünfundsiebziger geworden! Er war nicht zurückgekehrt, weil er Preußen
haßte und nicht beim Militär dienen wollte. Da ich ständig mit
Notizbuch und Bleistift in der Hand zum Wagenfenster hinausstarrte,
fragte er mich, ob ich Land kaufen wollte. Daß man bloß zum Vergnügen
und zum Studium durch die ganze Union reisen könne, begriff er nicht,
am allerwenigsten aber, daß ich wieder in die alte Heimat zurückwollte.
Spöttisch fragte er mich -- die typische Frage alter verbissener
Deutschamerikaner -- ob es jetzt in Deutschland auch Straßenbahnen,
elektrisches Licht und Dampfheizung gebe, oder ob wir noch
Petroleumlampen brennten und mit der Postkutsche führen? Er war nie
wieder, verbittert wie er war, in die Heimat zurückgekehrt und konnte
sich kaum vorstellen, daß auch bei uns jetzt modernes Leben herrschte.
Vielleicht überzeugt ihn unser Zeppelin ~Z III~, falls er ihn noch
erlebte, wenn er als „Los Angeles“ die „Stadt der Engel“ besucht.

Bald trat die Bahnlinie ganz dicht und höchst malerisch an den Ozean
heran. Die felsigen Berge ließen nun kaum noch Raum für ihre Trasse.
160 ~km~ lang fuhren wir an der kalifornischen „Riviera“ hin, die in
der Tat der italienischen und französischen nichts nachgibt. Drüben
über dem St. Barbara-Kanal sah man die felsige Insel Santa Cruz, die
Hänge der Berge über und über mit Blumen übersät, als herrsche hier
ewiger Frühling. Schäumend brachen sich die anrollenden Wogen des
Ozeans an der Steilküste wie in Rapallo oder Nervi. Auf hoher See zog
ein Dampfer mit langer Rauchfahne. War es der „President“ von gestern
aus San Pedro? Wo sich das Land wieder ein wenig öffnete, zeigten
sich goldgelbe Senffelder, in denen braune Spanier arbeiteten. Von
ihnen stammt die Landbevölkerung vielfach besonders um die alten Sitze
der spanisch-mexikanischen Missionen herum ab. Dann sah man wieder
Gummibäume, Eichen, Oliven und weite Weidetriften. Und so oft die Bahn
stieg, weiteste Aussicht über den blauen Ozean! Man wurde die Illusion
nicht los, als ob man etwa zwischen Pisa und Genua fahre. Gelb und
blau sind die Meeresabhänge in unbeschreiblich prächtigem Blumenflor.
Es waren wirklich die „~thousand wonders~“ keine Phrase! Dann drängten
uns mächtige Dünen vom Meer ab. Asphalt- und Petroleumquellen an und in
demselben mit den die Landschaft entsprechend verunzierenden Essen und
Fördertürmen tauchten auf ...

[Illustration: ~SANTA BARBARA~

~Alte spanische Franziskaner-Mission~]

Wir hielten in Santa Barbara, 100 Meilen von Los Angeles, dem
amerikanischen „Mentone“, einem der Glanzpunkte der kalifornischen
Riviera, zugleich einem der mildesten und geschütztesten
Winterkurorte der Union, wo man keinen Winter kennt und auch keinen
unerträglich heißen Sommer, eingebettet in Rosen und überragt von
der alten historischen und höchst malerischen 1786 gegründeten
Franziskanermission des berühmten Padre Junipero Serra. Die Bilder
des Klostergartens mit seinem Kreuzgang, dem Refektorium, der
weißgestrichenen Kirche und den braunen Kutten der Franziskaner
zauberten ein volles Stück Mittelalter mitten in das modernste Land der
Erde. Noch hatte kein Erdbeben es verwüstet.

Weiter geht es an der Riviera entlang in 100 Meilen nach San Luis
Obispo in einem weiten Wiesental. Es wird allmählich warm. In einem
von der Mittagssonne blendenden Steinbruch arbeiten halbnackte,
braunschwarz gebrannte Arbeiter. Denken wir im Anblick der Kapitols,
~state-houses~ und ~skyscrapers~ immer daran, wer ihre weißen Blöcke
gebrochen und ihre Quadern behauen hat? Wieviel Menschenschweiß klebt
doch an jedem Stein der Großstadt! Die Bahn steigt in mächtigen Kehren
vom Ozean ab über das Gebirge der Luciaberge 400 ~m~ hoch durch sieben
mit Holzplanken gestützte und ausgebaute Tunnels hinüber in das
Salinastal, wo in weiten wegelosen Eichenhainen halbwilde Rinderherden
fröhlich ihr Leben genießen. Ab und zu tutet die Lokomotive mächtig in
die Welt hinaus, um Gegenzüge zu warnen, oder klingelt, um Wanderer
von dem Schienenweg zu scheuchen. Die weitesten Strecken liegen hier
noch unangebaut! Der alte Schleswig-Holsteiner hatte nicht so unrecht.
Hier könnte man gut nach Land ausschauen. Was könnte hier aus den
Weidetriften noch für ein Etschtal werden!

Wie aus einem Kinderspielzeugkasten tauchten weißgestrichene Landhäuser
zwischen dunklem Grün auf. Kleine, schwarze, scheinbar unansehnliche
Schweine, halb verwildert, tummeln sich an einem kleinen Sumpf. In
Salinas steige ich aus, um Monterey, die älteste Stadt Kaliforniens,
einst vor San Franzisko und Los Angeles des Landes Hauptstadt,
aufzusuchen. Heute ist Monterey ein ganz stilles Landstädtchen von kaum
2000 Einwohnern an der entzückenden, paradiesischen Montereybucht. Ein
Wagen bringt uns auf herrlicher Straße zu einem der komfortabelsten und
prächtigsten Hotels der Welt, Hotel del Monte. Seine Gärten und Parks
sind weltberühmt, sie bergen in sich alle Pflanzenwunder Arizonas und
Kaliforniens zugleich. Man wandelt unter Palmen und riesigen Kakteen,
in Alleen von Rosen und Eukalyptus, unter immergrünen Steineichen,
Pinien und Zypressen. Es dunkelte schon, als wir aus der Heide
wieder ans Meer kamen. Geheimnisvoll tauchte wieder der Ozean, unser
Begleiter, auf. Einsame Vögel kreisten am Abendhimmel. Schwarz zogen
sich im Dunkel die Dünen am Strande hin. Letzte Lichter tanzten auf dem
Wasser ...

Im kleinen Städtchen mit seinen alten, krummen und primitiven Straßen,
deren Häuser meist nur ein- oder zweistöckig sind wie in Santa
Fé, fühlt man sich bald nach Mexiko und bald nach China versetzt.
Chinesischen Wäschern und Fischern begegnet man dort ebenso zahlreich
wie den spitzhütigen Mexikanern. Und das Bild wird noch bunter durch
die Uniformen der zahlreichen Soldaten des „~presidio~“. Abends
promenierten sie alle durcheinander an den wenigen Läden, den einfachen
~dairies~, ~drug-stores~ und ~bars~ entlang, die aber nicht viel mehr
als erleuchtete hölzerne Buden waren. Besonders viele Aushängeschilder,
mit denen zum Eintritt in das Heer aufgefordert wurde, sah man hier:

  „~U. S. Army. Young men wanted! Good pay! No expenses! Unusual
  opportunity for travel, education and advancement!~“[25]

Nach einem Abendimbiß trete ich in ein Lokal der „Bethlehem-Mission“,
in der gerade eine „Erweckungsversammlung“ stattfindet. Sie verläuft
ganz heilsarmeemäßig. Zwar ist sie nur halbgefüllt mit einfachen
Frauen und Männern; auch Soldaten sind da. Eine Prediger+in+, eine
verhältnismäßig noch junge Dame, steht am Pult und redet unter Singen
und Händeklatschen, wozu sie auch bei Haupt- und Kraftstellen die
Anwesenden animiert, von der Notwendigkeit der sofortigen Bekehrung.
Die Soldaten hörten ganz andächtig zu. Zur Bußbank kam freilich
keiner. Da ich es nicht über mich brachte, meine religiösen Gefühle
rhythmisch mit anderen zusammenzusprechen und unter Händeklatschen
den Takt angebend zu begleiten, entfernte ich mich recht bald wieder.
Die geistige Kultur, auch die religiöse, erschien mir zuweilen drüben
noch recht primitiv! Vielleicht hätte die Predigerin auf Neger und
Navajo-Indianer mehr Eindruck gemacht als auf mich. Freilich war ihr
Eifer und sittlicher Ernst höchst anerkennenswert. Man stelle es
sich etwa so vor: „~God is love~“ (klatsch, klatsch!) -- „halleluja,
halleluja, halleluja!“ (klatsch, klatsch!) usw. Das lag mir noch lange,
aber nicht gerade angenehm im Ohr. Hier wirkt mehr das Exerzitium, die
Routine und die Suggestion als freie Überzeugung. So preßt und knetet
man Seelen, aber gewinnt sie nicht.

Ein herrlicher Morgen brach anderen Tags an, wie es der vorige
war am Santa Barbara-Kanal und der kalifornischen Riviera.
Strahlendes Blau spannte sich über dem blendend weißgelben Strand
und den sanft anrollenden Wogen mit ihrem ewigen Anprallen und
Zurückschlürfen. Die chinesischen Fischer wuschen schon ihre Netze,
als ich mich auf die Wanderung begab, den herrlichen und berühmten
~seventeen-miles-drive~[26] entlang zu gehen. Bei Pazifik Grove nahm
mich ein kühler schattenspendender Fichtenwald auf, in Amerika eine
Seltenheit. Mir gingen Schillers Zeilen im Kopfe um:

    „Und in Poseidons Fichtenhain,
    Tret’ ich mit frommem Schauder ein ...“

Immer üppiger wurde der Forst. Auch hier hätten Räuber kommen können
und den deutschen Götterfreund erschlagen. Ob mich auch Kraniche
oder die Möwen der Monterey-Bucht gerächt hätten? Ich bin die
komfortable Straße nicht ganz entlang gewandert, denn 17 Meilen wäre
eine Tagesleistung gewesen, und ich wollte den Nachmittag noch nach
San Franzisko. So strebte ich aus dem Waldesdickicht nach einiger
Zeit wieder heraus und quer hinüber nach dem Strand des Pazifik. Denn
der Ozean hatte es mir nun einmal angetan, so oft ich seiner habhaft
wurde, ob es auf Coney Island oder an der Battery in Neuyork, in
Shirley Point bei Boston oder an der Wasserfront in Chikago, in San
Pedro oder auf Santa Catalina war. Das Meer übt seine magische Gewalt
über den Menschen. Fast noch mehr als das Hochgebirge hat es etwas
Feierlich-Erhabenes und Grenzenloses. Damit wird es zum Auslöser der
größten Sehnsucht in uns. Am Meer umspannen wir mit der Phantasie
gleichsam das Ganze der Welt: Was liegt da drüben hinter der letzten
Wasserlinie? Es zieht uns mit seinen ewig gleichen Wellen weiter und
weiter in die Welt hinaus. So lockte es alle Seehelden, daß sie Leben
und Wohlfahrt in die Schanze schlugen und sich auf gebrechlichem
Fahrzeug der ungewissen Weite anvertrauten, um neues Land zu erobern.
Aber das Meer übt auch eine wunderbar gemütheilende Wirkung. Nicht bloß
seine reine salzige Luft, sondern ebenso seine Weite und Größe. Sie
macht alles Kleine unseres Lebens klein und alles Große groß:

    Im Grenzenlosen sich zu finden
    Wird gern das einzelne verschwinden,
    Da löst sich aller Überdruß.
    Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
    Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen,
    Sich aufzugeben ist Genuß.

Diese Goetheworte durchlebte ich, als ich wieder am Strande lag, mich
ganz der großen Natur hinzugeben. Ich wollte ja auch nicht einen Rekord
des Rasens durch einen Kontinent aufstellen, sondern zugleich mitten in
allem Schauen und Lernen mich noch ein wenig selbst finden. Freilich
war weder Boston noch Buffalo, weder Chikago oder sonst eine große
Stadt erholsam, aber um so mehr der Tag am Grand Cañon, die Stunden
auf Santa Catalina und nun an der prachtvollen Bucht des für Amerika
uralten Städtchens Monterey in Kalifornien. Schon 1602 waren hier
die Spanier gelandet, als es noch kein Neuyork noch Boston gab, und
nannten die Siedlung, die sie schufen, nach dem damaligen Vizekönig von
Mexiko, dem Grafen von „Monte Rey“. Und so blieb „Monterey“ Hauptstadt
des Landes bis zur amerikanischen Besitzergreifung 1846, zweieinhalb
Jahrhunderte lang, denn lange gab es weder ein San Franzisko noch
ein Los Angeles! Dann aber mit dem plötzlichen fabelhaft schnellen
Aufschwung dieser beiden Handels- und Hafenstädte versank Monterey in
seinen Dornröschenschlaf, aus dem es wohl nie wieder erwachen wird. Nur
die „Kurgäste“ und Globetrotter, die die Bucht, das Hotel del Monte
und Pazifik Grove besuchen wollen und den „~seventeen-miles-drive~“
unter viel Getute und Benzingestank entlang kutschieren, bringen etwas
Leben und Geld in den stillen malerischen Erdenwinkel, der noch immer
mit seinem alten Zollhaus, seinen alten Forts und seiner katholischen
Missionskirche ungefähr ein Bild der Zustände vor zwei, ja fast drei
Jahrhunderten zu bieten vermag.

Da wo ich mich in den feinen weißen Sand der Bucht, noch fast zwei
Stunden vom Städtchen, einwühlte, war niemand als die goldene Sonne,
die so warm und wohlig die in Tropfen blinkende Haut entlang rieselte
und so sanft trocknete. Einige dicke Algen lagen angespült neben mir
am Strand, so dick und hart wie Schiffstaue oder Gummischläuche;
von den Seelöwenfelsen hörte man das heisere Bellen der spielenden
glatten Tiere. Nautische Signalglocken erklangen melodisch unter
Wasser, die bei Nebel den Schiffer vor den Klippen warnen sollen;
Pinguine watschelten behäbig mit ihren leuchtenden weißen Westen auf
den Felsenkanten und erhoben ein mörderisches Geschrei, als ich ihnen
ähnlich froh und frei in die sacht anrollenden Wogen entgegenschritt.
Gibt es einen herrlicheren Naturgenuß, als wenn die goldene Sonne
uns auf Brust und Schulter küßt, wenn die reine Ozeanwoge spritzend
uns umspült und wenn nur blauer Himmel Dach unserer Zelle ist? Warum
wird uns solch Glück so selten zuteil? Warum hüllen wir törichten
Kulturmenschen uns auch im heißesten Sommer in so viel unnütze
Kulturhäute? Wer vermag schneller und voller zu heilen als Licht, Luft
und Sonne?

Aber auch diese goldenen Stunden verrannen nur zu schnell. Ein paar
Ruderboote nahten mit ächzenden Schlägen und scheuchten mich aus meinem
sonnigen Bade. Auf der Düne lag das verlassene Wrack eines Segelbootes.
Ein großer Dampfer zog am Horizont mit langer Rauchfahne vorüber. Kam
er von Frisko und fuhr nach Los Angeles? Als ich mich angekleidet
und wieder nach Monterey zurückkehrte, kam ich wieder an allerlei
Fischerdörfern vorüber, wo die Chinamen ihren Fang sortierten, ihre
Netze wuschen und mir recht erstaunt nachsahen. Auf einem Sandplatz
übten die Soldaten ...

       *       *       *       *       *

Damit mußte ich der schönen Bucht von Monterey Lebewohl sagen. Ein
Eilpersonenzug führte mich am Nachmittag nach San Franzisko. Mein
meterlanges Rundreisebillett war nun allmählich schon recht klein
geworden.

Wieder ging es durch blühendes Obst- und Weingelände. Das scherte
einige Gemütsmenschen im Wagen nicht, den Handkoffer auf den Knien
als Tisch benutzend Skat zu spielen! Von der Kreuzung Pajaro ging es
hinüber an den Santa Cruz-Bergen vorbei, die man auch in der Bucht von
Monterey sich erheben sieht, in das Tal des Guadeloupe River. Wieder
welch ein breites, schönes, wohlangebautes Tal! Etschtalerinnerungen!
Die üblichen weißen Holzdörfchen mit ihren weiß angestrichenen
Kirchlein erschienen.

Golden stand die Abendsonne im Westen. Der ~brakeman~, d. h. der
farbige Bremser oder Hilfsschaffner, schreit mechanisch die Stationen
aus. Es steigen nur immer Leute zu, die „~to the city~“, nach „Frisko“
wollen. Es ist, obwohl April, so warm wie bei uns im Juli! Bei
Santa Cruz, am anderen Ende der Montereybucht, steht noch ein Rest
vollkommen vorgeschichtlicher Urwälder, ein Hain von 20 Riesenbäumen
der sogenannten „~big trees~“, die zum Teil einen Umfang von 21 ~m~ und
einen Durchmesser von 7 ~m~ erreichen! Kaum sechs Männer können sie
umspannen! Ihre Höhe mißt 100 ~m~ und darüber! Ihr Alter wird zum Teil
bis auf 3000 Jahre geschätzt! Manche sind so mächtig, daß Wagen bequem
durch sie hindurchfahren oder 12 bis 14 Personen auf ihrem Stumpf Platz
haben können!

Unser Zug eilte das Guadeloupetal hinab gen San José, an die Südspitze
der 35 Meilen langen San Franzisko-Bai. Rechts hoch oben zeigte sich
im Abendlicht scharf vom Himmel abhebend auf dem Mount Hamilton,
der mit seinen 1354 ~m~ über der Bucht bald wie der Rigi über dem
Vierwaldstätter See ragt, die berühmte Lick-Sternwarte wie ein weißer
Punkt, eine der größten Sternwarten der Welt. Der Bürger James
Lick hinterließ nämlich bei seinem Tode 1876 in San Franzisko ein
Vermächtnis von 700000 Dollars zur Begründung einer Sternwarte. So
wurde sie eine der ersten und bestausgestatteten der Welt. Die Linse
des großen Refraktors hat heute einen Durchmesser von 100 ~cm~! James
Lick selbst hat sich -- höchst originell -- im Fundament des Fernrohrs
beisetzen lassen, so daß man also buchstäblich auf seinen Schultern
stehend den Himmel beobachtet! Die Aussicht soll, wie sich denken
läßt, überaus großartig sein, nicht weniger großartig als einer der
unvergleichlichen Blicke durch das Rohr selbst.

Bald tauchte auch links eine Merkwürdigkeit auf. Wieder eine
echt amerikanische hochherzige Stiftung! So wie Rockefeller die
gesamte Universität Chikago, eine der besten und großartigsten der
Union, gestiftet und Carnegie fast jeder amerikanischen Stadt eine
Volksbibliothek geschenkt hat, so hat nicht weit von der Station
„Palo alto“, wiederum nach einem mächtigen Rotholzbaum so benannt,
das Ehepaar Leland Stanford aus San Franzisko zum Gedächtnis an
ihren einzigen früh verunglückten Sohn eine Universität mit einem
Grundkapital von nicht weniger als 30 Millionen Dollars gestiftet; sie
heißt daher „Leland-Stanford-Junior-Universität“. Man kann vor diesen
großzügigen amerikanischen Stiftungen nicht Achtung genug haben. 1891
wurde die Hochschule in prächtigster Umgebung und mit den prächtigsten
und stilvollsten Gebäuden eröffnet. Man fühlt sich in ihren herrlichen
Hallen und Gängen nach Athen zu Platos und Sokrates’ Zeiten versetzt.
Das Gelände selbst gehörte einst dem Stifter und war ein über 3000 ~ha~
großes Gestüt. Heute ergehen sich dort an 2000 Studenten, darunter
Hunderte studierender Damen!

Während unserer Weiterfahrt nahmen die Reklamen und die Besiedlung
ständig zu, ein Beweis, daß wir uns einer Großstadt näherten ...
Um acht Uhr mit Einbruch der Dunkelheit waren wir nach 137 Meilen
Fahrt in San Franzisko, der „Stadt des Erdbebens“! Das war fast das
einzige Konkrete, was ich von Frisko bis dahin wußte, und daß es
der amerikanische Überfahrtshafen nach Japan ist, auch daß es am
sogenannten „Goldenen Tor“ liegt.

Ich trat aus dem Bahnhof. Das erste, was mir im Schein der Bogenlampen
in der Stadt auffiel, war noch stark unebenes Pflaster und allerlei
Unebenheiten in der Fahrbahn. Ja, manchmal waren ganze Buckel auf
dem Bürgersteig, da und dort nur notdürftig mit Brettern und Steinen
Löcher im Fahrdamm zugeflickt. Das waren die Spuren des Erdbebens! Zum
ersten Male im Leben sah ich mit eigenen Augen seine Wirkungen und
Verwüstungen. Aber sie waren doch noch viel größer als ich geahnt
hatte ...

Nachdem unschöne Viertel mit allerlei ~bars~ und ~shows~ durchschritten
waren, wo des Abends hier ein Heilsarmeesoldat und dort eine Negerfrau
und hier sogar ein Chinese auf der Straße predigte -- ausgerechnet in
der einstigen Stadt der Goldsucher, Abenteurer, Verbrecher und der
schlimmsten Korruption -- bog ich in die glänzend erleuchtete und von
Menschen nur so wimmelnde Market Street ein, wo sich alles erging wie
in Los Angeles unter den erleuchteten Kandelabern der Mainstreet.
Mächtige Geschäftshäuser, Banken und Hotels erhoben sich da. Nach der
Stille der Monterybucht und dem Idyll auf Santa Catalina, den Santa
Cruz-Bergen und dem Tal des Guadeloupe River umlärmte mich hier wieder
die typische Großstadt, ja Weltstadt. Wenn auch San Franzisko Neuyork
an Größe noch weit nachsteht -- es hat nur ein Zehntel seiner Einwohner
-- so ist es doch mit seinem weltmännischen Gebaren das Neuyork des
Westens. Schaut man von Neuyork nach Europa, so schaut man von hier
nach China und Japan. Der Blick ist beide Male gleich groß und weit
übers Weltmeer gerichtet. Freilich trennt von Yokohama beinahe die
doppelte Zeit und Strecke als wie von Southampton ...

Aus dem Bezirk der blendenden Lichtreklame, der ~shows~ und ~moving
pictures~ strebte ich quartiersuchend in stillere Straßen. Bald stand
ich fast völlig im Dunkeln, wo es nur noch bergauf und bergab ging.
Rollende Drahtseilbahnen strebten zu steilen Hügeln hinauf, auf denen
San Franzisko gebaut ist. Mein getreuer Bädeker, der noch im Jahre des
Erdbebens erschienen war, ließ mich jetzt ziemlich grausam im Stich!
Teils waren die Straßen, die ich suchte, vom Erdboden verschwunden,
teils waren sie neu- oder anders angelegt. An ganzen Vierteln kam
ich vorbei, wo Block an Block noch eine Wüstenei war. Den vollen
Umfang der fast unvorstellbaren Katastrophe aber übersah ich erst im
Hellen am anderen Tage. Und doch hatte die Energie und die Tatkraft
der Amerikaner schon so viel wieder aufgebaut. Aber stärker noch als
das Erdbeben hatte wie immer das ausgebrochene Feuer gewütet, das
nicht zu löschen war, weil mit den entzündeten Gasrohren auch die
Wasserleitungsrohre zerborsten waren und kein Wasser zum Löschen
hergaben. Die Einwohnerschaft war in die Parks geflüchtet und mußte
Häuser und Besitz ihrem furchtbaren Schicksal überlassen ...

Als ich schließlich in einem sehr sauberen und ordentlichen Privatlogis
im Bett lag, konnte ich noch lange keinen Schlaf finden. Immer
war mir’s, als bewege sich der Fußboden und das Bett wanke, denn
zu unheimlich war der erste Eindruck all der Bodenerhebungen und
geflickten Straßenstellen und der zerstörten Stadtviertel im Dunkeln
auf mich als Fremdling gewesen ...

Anderen Tages, als die Sonne schien, war es mir fast wie eine
Beruhigung. Das Haus stand noch fest, auch die Stadt lag noch
ruhig wie tags zuvor. Ich bestieg einen der echt amerikanischen
„~observation-cars~“, der Stadtbesichtigungsautomobile, die ja auch zu
uns herübergekommen sind, und ließ mich mit einer ganzen Schar auf den
amphitheatralisch angeordneten Sitzen durch die Stadt fahren. Vorn
stand der Ausrufer mit dem Schalltrichter, der uns genau erklärte, wo
und wie das Feuer ausbrach, und zeigte, wie weit es um sich gegriffen
hatte. Man sah noch immer deutlich die Feuerlinie und die Stellen,
wo es zum Stillstand gekommen war. Gerade das Zentrum der Stadt war
heimgesucht worden; die äußeren Wohnviertel blieben verschont. Aber
keineswegs waren alle Wolkenkratzer zuerst eingestürzt. Im Gegenteil,
manche hatten gerade dank ihrer festen Konstruktion aus Eisen und Beton
standgehalten. Aber das Stadthaus, die prunkvolle kuppelgeschmückte
~city-hall~ war trotz ihrer sechs Millionen Dollar Baukosten in 20
Sekunden ein Opfer ihrer zum Teil betrügerischen Konstruktion geworden.
Denn sie stammte noch aus der Zeit der Korruptionswirtschaft. Nach dem
„Feuer“ -- davon spricht man in der Stadt selbst viel mehr als von dem
„Erdbeben“, wovon man Stöße wohl öfter verspürt, ohne sie sonderlich
zu achten -- baute man das Geschäftszentrum zuerst in eingeschossigen
Baracken und Holzgeschäftsbuden notdürftig wieder auf und es hieß:
„~business as usual~“. Aber bald begann die Periode des völligen
Wiederaufbaus ...

Geradezu ungeheuer war der Ausblick auf die Zerstörung im ganzen. So
furchtbar hatte ich es mir nicht gedacht![27]

Allmählich fuhr uns das Besichtigungsauto aus der Stadt heraus
-- die wie immer die amerikanischen Großstädte außer Hotels und
Geschäftshäusern sonst wenig Originelles und Bemerkenswertes bietet
-- zu dem berühmten Goldengatepark, der zwischen der Stadt und der
Steilküste des offenen Ozeans liegt. Die Stadt selbst ist nicht
unmittelbar am offenen Pazifik gebaut, sondern an der Bucht, die sich
durch die etwa 1½ ~km~ breite Öffnung des „Goldenen Tors“ einzigartig
10 ~km~ breit und bis 85 ~km~ lang ins Land hinein erstreckt. Sie
erinnert an Konstantinopel und den Bosporus. Im Norden wird sie
malerisch von dem fast 900 ~m~ hohen Mount Tamalpais und im Osten von
der Schneekette der Sierra Nevada (über 4000 ~m~!) überragt. Von Süden
schaut auf sie der Mount Hamilton mit der Lick-Sternwarte von fern
hernieder. Ein herrliches Landschaftsbild, groß und glänzend in seinen
Ausmaßen!

Hatte der Ausrufer uns bisher unter anderem „~the largest
apartement-store +in the world+~“ gezeigt, so hieß es jetzt „~the
most beautiful park in the +world+~, ~the prettiest and largest
tennis-lawns in the +world+~“. Am Golden Gate selbst wartete auf
uns gar „~the largest salt-water-bath-house +in the world+~“. Je
weiter man in Amerika nach Westen kommt, desto voller wird der Mund
genommen und desto überzeugter ist man, das Größte und Beste von
allem „+in der Welt+“ zu besitzen. Höchst spaßhaft war es für mich
als Deutschen, als wir im Goldengatepark an einer Nachbildung von
Rauchs Weimarer Goethe-Schiller-Denkmal vorbeifuhren und der Ausrufer
durch den Trichter uns anbrüllte: „~Mister Gois änd Mister Skill~
(so ausgesprochen!!), ~two German poets!~“. Die anderen Amerikaner,
Japaner, Engländer und was sonst da oben saß, nahm auch davon
wohlgefällig Kenntnis wie von einem ~drug-store~ oder einem neuen Hotel.

An den Felsen des einstigen stolzen „~Cliff-house~“, eines höchst
komfortablen und aussichtsreichen, aber kürzlich auch durch Feuer
zerstörten Strandhotels rollte der offene pazifische Ozean an. Ein
dumpfes Brausen, in das sich wieder das heisere Bellen großer Scharen
mächtiger Seelöwen mischte, die drüben auf den „~seal-rocks~“ ihr
Wesen hatten. Leider war es etwas unsichtiges Wetter; aber um so
geheimnisvoller rollten aus dem Nebel die mächtigen Wogen heran. Am
Strande lagen viele einfache Familien mit Kind und Kegel und genossen
hier ein billiges Sonntagvormittagsvergnügen. Nur flogen zu hunderten
und tausenden ihre Butterbrotpapiere höchst malerisch am Strande
herum! Einige Sandplastiker formten berühmte Köpfe wie Washington,
Lincoln, Grant, Garfield, auch so mancher eine von der See mit ihrem
Kind ans Land gespülte ertrunkene Frau, ja den berühmten Löwen aus dem
Gletschergarten von Luzern höchst treffsicher und eigenartig aus dem
Sand ... Aber der immer stärker einsetzende kühle und feuchte Nebel
lud heute nicht zu allzulangem Verweilen ein. Merkwürdig, über dem
Park und der Stadt schien die Sonne, aber vom Ozean heran kroch der
Nebel, über dem das Haupt des Mount Tamalpais wie eine sagenhafte Insel
schwamm ...

       *       *       *       *       *

Am Nachmittag setzte ich mit einer der großen und trefflichen Ferrys
über die weite seeähnliche Fläche der blauen Bai hinüber nach Oakland,
dem Brooklyn San Franziskos, der Stadt der schönen „Eichen“alleen,
von denen die Stadt den Namen hat, um Berkeley, den Sitz der
prachtvollen staatlichen Berkeley-Universität, zu besichtigen. Auf
einem Gartenpavillon wehte eine deutsche Flagge -- wie das anheimelte!
-- und auf der Straße hörte ich einen Mann ganz unverfälscht schwäbeln.
Gern hätte ich auch den Mount Tamalpais bestiegen, aber in Berkeley
hatte ich es übernommen, Verwandte meines guten Harvardfreundes W. zu
besuchen. Ich hatte den Besuch auch nicht zu bereuen, denn die Tochter
des Hauses, selbst Studentin, führte mich in der wundervoll in Parks
und Gärten gelegenen Berkeley-Universität überall kundig umher. Durch
die märchenhaftesten südlichen Haine von Sykomoren, Oliven, Palmen
und Kakteen wandelten wir in sinnende wissenschaftliche Gespräche
vertieft zu dem prächtigen, in griechischem Stil erbauten „Theater“,
in dessen offenem Halbrund ein ausgezeichnetes auch überall sehr gut
wahrnehmbares Sonntagskonzert gegeben wurde. Von den Parkhügeln aber
ergoß sich ein bezaubernder Rückblick auf die weite blaue Bucht und
die ferne Stadt ... Freund W.s Verwandte hätten mich gern gleich da
behalten, und ich hätte gleich von Oakland die Weiterreise fortsetzen
können, aber einmal hatte ich mein Gepäck nicht da, und dann gab
es in Frisko noch manches andere zu sehen. Auch wollte ich die
Gastfreundschaft völlig Unbekannter doch nicht zu sehr in Anspruch
nehmen und fuhr noch vor Abend mit dem Fährboot wieder herüber.
Schon die Fahrt lohnte sich! Mit voller Glut sank die Sonne über dem
Goldenen Tor, es wahrhaft vergoldend, während sie früh über den hohen
Schneehäuptern der Sierra Nevada heraufzusteigen pflegt. An den Molen
und Bahnlinien blitzten die ersten Lichter auf ...

Ich wollte von Frisko nicht abfahren, ohne daß ich auch seiner
~chinatown~ einen Besuch abgestattet hätte. Den Abend pilgerte ich
daher ein wenig in das Chinesenviertel der Stadt, das von etwa 10000
Gelben bewohnt wird. (Mit dem Einwanderungsverbot hat ihre Zahl stark
abgenommen. Sie war früher viel höher.) Man soll zwar abends nicht ohne
Geheimpolizist sich dorthin begeben! Aber so wie ich mich in Santa Fé
arglos ohne Weg und Steg auf einen Berg der Rockies begab, so bummelte
ich auch hier des Abends gemächlich ~tutti solo~ in die ~chinatown~
hinein. Was für ein enges und wimmelndes Leben herrschte da mit eigenen
chinesischen Läden, Restaurants, Teestuben und kleinen primitiven
Theatern! Die meisten der Gelben saßen allerdings mit ihren weiten
schwarzen Blusen und Hosen, ihren Schlitzaugen, dem glattrasierten
Schädel feiernd und pfeiferauchend auf Stühlchen in Pantoffeln vor
ihren Häusern. Man sah in die offenen Läden, in die sonderbaren
Apotheken und Werkstätten hinein. Frauen und Mädchen bügelten Wäsche;
Schreiber schrieben Briefe ... alle aber blickten mir verwundert nach.
In einem kleinen Basar kaufte ich mir ein paar chinesische Deckchen
zum Andenken. Aber nirgends hatte ich den Eindruck, daß man hier
einen eindringenden Europäer etwa umbringen wollte. Auch die Chinesen
schienen mir im Grunde ein gutmütiges Völkchen zu sein wie die Neger
und Indianer. Ja, sind nicht alle Menschen im Grunde gutmütig, wenn
man sie nicht gerade reizt oder aufhetzt? In der ~chinatown~ traf ich
aber auch Araber im weißen Turban und braune Hindus, auch massenhaft
Japaner. In Frisko landen Schiffe aus aller Herren Länder; es ist
wirklich eine Weltstadt. Der seltsamste Anblick aber war wohl ein
Chinese -- in Heilsarmeeuniform! Man sieht, wie weltumspannend diese
seltsame, aber so rührige und soziale „~army of salvation~“ ist!

Anderen Tages früh stieg ich in der Stadt zum sogenannten
„Telegraphenhügel“ hinauf, eine der höchsten und aussichtsreichsten
Anhöhen Friskos. Von oben lag die erhaltene und zerstörte Stadt wie ein
Riesenschachbrett vor mir, auf dem ein unartiges Riesenbaby sich ein
Vergnügen daraus gemacht zu haben schien, Häuser umzustürzen. Von der
Stadt schweifte der Blick zur immer aufs neue schönen blauen Bucht und
zu dem Durchlaß des „Goldenen Tors“ mit dem Tamalpais im Hintergrund.
Ich hätte ihn gar zu gern doch noch bestiegen -- aber woher zu allem
die Zeit nehmen? So bin ich auch nicht mehr in den „versteinerten
Forst“ bei Calistoga gekommen. Aber ist es nicht auch ratsam, sich
auch noch etwas für den -- zweiten Besuch aufzusparen? Sonst fehlte ja
jeglicher Anreiz und jede logische Begründung für ihn?!

Dicht beim Telegraphenhügel war eine Negerkleinkinderschule, wo die
putzigen kleinen Negermädchen und -knaben mit ihren breiten Stumpfnasen
und schwarzkrausigen Wollköpfen wie andere Kinder sangen, spielten
und lernten ... Nicht sehr weit davon stieß ich auf eine kleine
protestantisch-italienische Kirche. Auf was man in amerikanischen
Städten nicht alles stößt! Auch die alte spanische Missionskirche „~San
Francisco de Dolores~“, 1776 erbaut, steht noch, die den Anfang des
mexikanischen San Franzisko bildete, das noch 1850 nur 500 Einwohner
hatte! 1847 wurde es von einem amerikanischen Kriegsschiff für die
Union in Besitz genommen. So wurde der ferne Westen eher amerikanisch
als die Territorien im Felsengebirge.

Die den steilen Hügel hinabführende Kabelbahn brachte mich wieder
hinab zum Hafen. Ein wimmelnder Obstmarkt hatte sich aufgetan! Was für
Unmassen Orangen, Bananen, Spargeln wurden hier zu Bahn und Schiff
verfrachtet! Dazu die Ausfuhr des feurigen kalifornischen Weins, den
auch zuerst spanische Missionare aus Europa einführten. In der neueren
Zeit pflanzten Deutsche dazu rheinischen Weißwein. Aus französischen
Reben zog man bald auch den vorzüglichsten Bordeaux, Medoc, Portwein
und Sherry. Die letzteren freilich südlicher um St. Barbara und Los
Angeles.

Frisko ist eine eigene Stadt! Viel Kirchtürme sieht man nicht, aber
hier konnte einer, wie mir erzählt wurde, vom „~newsboy~“, einem armen
auf der Straße Zeitungen verkaufenden Jungen bis zum Inhaber einer
der größten Blätter sich emporschwingen. Freilich diese Hoch-Zeit der
Gründungen ist längst vorüber; das Goldfieber ist längst erloschen.
Und der Friscoman steht an Überlegsamkeit heute in nichts dem Neuyorker
nach, ja er fühlt sich als sein westliches Gegenstück. Und Los Angeles
ist geschlagen! Aber sage es ja nicht in +seinen+ Straßen!

Nachmittags unternahm ich noch einmal eine aussichtsreiche Überfahrt
mit dem Fährboot an den Fuß des Tamalpais am Rande des „Goldenen
Tors“ nach dem ganz italienisch anmutenden Sausalito. Weißschimmernd
leuchteten Oakland und Berkeley mit der Kalifornia-Universität herüber.
Rings umher steile Felsenufer. In südlicher Vegetation versteckt baut
sich das Villenstädtchen das felsige Ufer hinauf wie nur die alten
Städtchen an den oberitalienischen Seen.

Das Wetter war stets bei allem angenehm sommerlich warm, aber nie
heiß, obwohl San Franzisko auf der geographischen Breite Palermos
liegt! Doch nirgends fand ich trotz all der Naturschönheiten einen
rechten Ruheplatz. Der Amerikaner braucht kein Ausruhen. Es fehlen die
Bänke oft sogar in den Parks und an Aussichtspunkten. Man kennt kein
stillsinnendes Naturgenießen. Auf den Bahnhöfen umbranden einen die
Agenten, Schuhputzer und Kofferträger. Die ~bars~ und ~lunchrooms~
sind nicht immer offen, Gartenwirtschaften gibt es in der ganzen Union
nicht. Als Fremder ist man daher drüben richtig auf die Straße gesetzt.
Ganz anders der Chinese -- den ich auch diesen Abend zum Abschied noch
einmal aufsuchte; denn wann würde ich wohl einmal nach China kommen,
zumal seit mein einziger treuer Studienfreund ~Dr.~ Moses Chiu, den
ich noch von Halle her kannte, zu früh in seiner Heimat in Amoy hatte
sterben müssen.

Wie seelengemütlich saßen die gelben Zopfträger jetzt wieder vor und
in ihren Häusern! Warum? Weil sie mit wenigem zufrieden und weil sie
Kinder einer jahrtausendalten Kultur und Schulung sind. Ihr gerades
Gegenteil ist der Yankee. Nie zufrieden mit dem Erreichten, ein steter
rastloser Vorwärtser und ein Sohn der reinen Gegenwart. Wie behäbig,
wie beleibt, wie runzelig neben ihm mancher Chinese, aber auch wie
gutmütig aus den Augen schauend, so ungefähr wie eine blinzelnde Katze
im Sonnenschein ... --

Nun hieß es allmählich das noch immer halbmeterlange Zettelbillett +zur
Rückfahrt+ stempeln lassen und Abschied nehmen vom Stillen Ozean. Es
war mir ein bißchen weh ums Herz. Aber selbst ein Alexander der Große
mußte aus Indien umkehren! Mit ihm konnte ich mich trösten, daß es
jetzt für mich nicht gleich noch eine Erdhälfte zu durchqueren gab!
Ich hätte ja fürs Leben gern jetzt einen der unter Dampf liegenden
Japansteamer bestiegen und wäre über Yokohama, Hongkong, Kalkutta
oder Wladiwostok, Moskau heimgereist, aber was hätten sie in Harvard
gesagt, so ohne Abschied auf und davon zu gehen! Und auch auf der
Rückfahrt durch die Union würde es ja noch manches zu sehen geben: Die
Salzseestadt, die Wüsten Nevadas, den Pikes Peak bei Denver, Pittsburg,
Washington, Baltimore, Philadelphia ...

So setzte ich zum dritten Male abends neun Uhr über die weite Bai.
Die Lichter der Stadt funkelten im Wasser. In Oakland stieg ich zehn
Uhr abends in den bereitstehenden Chikagoexpreß. Der Schlafwagen
war international überfüllt: Auch Japaner, auch Damen ... Aber ich
hatte mein Oberbett fest und zeitig bestellt und ließ es mir auch
nicht wieder rauben, obwohl nicht alle unterkamen. Wir setzten uns in
Bewegung. Bald lag man wieder oben und rollte durch die Nacht. -- -- --

Um Mitternacht passierten wir Sacramento, die eigentliche
Regierungshauptstadt des ganzen Staates Kalifornien mit einem
gebieterisch ausschauenden Staatskapitol inmitten herrlichster Anlagen,
nach fast 90 Meilen Fahrt und dem Überqueren ausgedehnter Sumpfgegenden
und erneutem Übersetzen über einen Buchtarm. Die Bahnlinie
überschreitet darauf den Sacramentofluß und sein breites Tal und keucht
dann in mächtigen Windungen stundenlang zu den Pässen der Sierra
Nevada hinauf. Es wurde nun eine richtige Alpenfahrt wie über den St.
Gotthard, nur doppelt so hoch! Schade, daß das nächtliche Dunkel uns
die zauberischsten Rückblicke auf die San Franziskobucht verwehrte ...

[Illustration: ~SAN FRANCISCO~

~Das Geschäftsviertel nach dem Erdbeben~]

[Illustration: ~SAN FRANCISCO~

~Abbruch nach dem Erdbeben~]


Fußnoten:

[Footnote 25: Amerikanische Armee. Junge Leute gesucht. Gute Bezahlung!
Keine Ausgaben! Ungewöhnliche günstige Gelegenheit für Reisen,
Ausbildung und Beförderung!]

[Footnote 26: 17 Meilen-Fahrweg.]

[Footnote 27: Der Leser kann sich die Zerstörung gar nicht groß genug
vorstellen, sie ist nur mit der Niederlegung und Beschießung ganzer
Städte im Weltkrieg annähernd zu vergleichen.]




Am Großen Salzsee und in Kolorado.


Am Abend waren wir von der subtropischen Küste des Stillen Ozeans
weggefahren, am Morgen wachten wir nach völliger Verwandlung in Höhe
von 2000 ~m~ in prächtigster Alpenschneelandschaft der Sierra Nevada
wieder auf. Die Sierra Nevada ist ein etwa über 700 ~km~ langer
bis über 4000 ~m~ ansteigender schneebedeckter Alpengebirgszug des
Felsengebirges, der Kalifornien von der Union so stark trennt, daß
diesseits und jenseits des Gebirges völlig anderes Klima herrscht. Die
kühlen und feuchten Seewinde dringen nicht bis in die unfruchtbaren
heißen Wüsten Nevadas, und das milde gleiche Klima Kaliforniens kennt
nicht den stürmischen Wechsel auf den Hochflächen des Felsengebirges
und in der nördlichen Mississippiebene.

Erstaunt sah man aus dem Fenster. Auch zwischen den Schienen lag
wirklich Schnee! Und noch tags zuvor hatte ich mich wohlig in
dem durchsonnten Sand des Ozeans gebräunt. Die Paßhöhe war eben
überschritten. In vielen Windungen an steilen Felshängen entlang in
schwindelnder Höhe über tiefeingeschnittenen Tälern mit herrlichem
dunklen Fichtenbestand, aus dem blinkende Bergseen wie in der Schweiz
und dem Schwarzwald heraufschauten, eilte unser Zug, der den stolzen
Namen: „~China and Japan fast-mail~“ trug, auf der ältesten seit 1869
eröffneten Pazifiklinie in eiligem Tempo wieder abwärts.

Viele hundert Meter lange künstliche Holztunnels sicherten die Bahn
gegen Schneeverwehungen. Aber aus den Aussichtslöchern boten sich
köstliche Blicke in die Bergwelt ...

Im Wagen machte gerade alles Morgentoilette. Und einige der alten
Damen packten schon aus ihren Reisekörben ein leckeres Frühstück
aus, das in mir so etwas wie Appetit weckte. Auf sauberem Tafeltuch
stellten sie Tassen zurecht; dann folgte ein Gang dem andern: Belegte
Brötchen, Käse, Obst, kaltes Geflügel, Sardinen, kalter Braten und
zuletzt Rotwein! Wer hätte da nicht mittun wollen? Sie hatten sich
gut vorgesehen, weil sie wußten, was ihnen bis Chikago bevorstand! Ich
aber hatte übersehen, daß zwar unser „~China and Japan fast mail~“
„~the best dining-car-service of the world~“ besaß, aber dafür auch
keine Frühstücks- und Lunchstationen innehielt wie der Santa Fé- und
Los Angeles-Expreß. Und da nun der „beste Speisewagendienst der Welt“
auch offenbar die „besten Preise der Welt“ hatte -- z. B. ein Beefsteak
einen Dollar! -- so war ich diesmal ziemlich aufs Hungern angewiesen,
denn meine Reisekasse schmolz und mein Speisevorrat bestand aus -- drei
Apfelsinen, von denen ich alle drei Stunden eine zu verzehren beschloß,
dann würde es gerade noch bis zur Mormonenstadt reichen, wo man wieder
zivilen Boden und menschliche Preise unter die Füße bekam. Nachts
brauchte man ja glücklicherweise keine Nahrung. So mußte ich mich also
diesen Tag mit dem Anschauen der interessanten Gegenden „sättigen“ und
mein Getränk dem unentgeltlichen Eiswasserfaß am Wagenende entnehmen.
Das tat ich ebenso oft wie jene Kinder, die ein paar Sitze weiter
plötzlich in unverfälschtem Dialekt ihren Vater laut fragten: „Du,
Pape, ist do’ Wasser in de’ Pump?“, was der Vater mit einem beifälligen
lauten Gähnen quittierte. Man war also nie allein, immer wieder unter
„Landsleuten“, auch wo man es gar nicht vermutete. Auf der Straßenbahn
in Buffalo ebenso wie auf dem Bahnsteig in Flagstaff am Fuße der
schneebedeckten himmelaufragenden San Franziskoberge, in Oakland so
gut wie in dem Expreß auf 2000 ~m~ Höhe in der Sierra Nevada. Also
war man nicht nur unter Japanern, die jetzt mir gegenüber in einem
blaueingebundenen Buch mit wunderlichen Schriftzeichen lasen -- war das
eine buddhistische oder taoistische Morgenandacht? -- und nicht nur
unter Chinesen, die sichtlich als nicht ganz vollwertig von den übrigen
Mitreisenden gemieden wurden (Neger wagten sich schon gar nicht in
den Wagen) und den breitgesichtigen, stets wohlrasierten Amerikanern.
Leid tat mir eine Lady, die in der Nacht, wie ich vor Syrakuse mein
Scheckbuch, so jetzt ihr meterlanges Zettelbillett bis Neuyork
eingebüßt hatte! Ich kann auch nicht sagen, ob sie es wiedergefunden
hat oder noch an ihr Ziel gekommen ist. Helfen konnte ich ihr auch
nicht -- als allein mit innigem Mitgefühl.

Im Waschraum schwamm es indes förmlich bei so ausgiebiger Benutzung
und so völliger Besetzung des Wagens! Es war auch nicht ohne
Interesse, daselbst die verschiedenen Rassen und Nationalitäten
bei der Eigenart ihrer Morgentoilette und halb im Naturzustande zu
beobachten ...! Aber ich hätte einen Dollar geopfert, wenn ich dafür
den nachtdurchschlafenen Wagen, der sich nun wieder in einen fahrenden
„Salon“ verwandelte, gründlich hätte durchlüften können, eher als für
ein Dollarbeefsteak im Speisewagen ...

Es war wieder ein ganz wundervoller Morgen geworden. Warm und
freundlich grüßend schien die helle Sonne vom blauen Himmel auf den
frischen weißen Schnee herab. Rauschend brausten in der Tiefe der
Täler die Gebirgsbäche und schäumten donnernd über die Felsbänke. Die
Szenerie glich durchaus der von Göschenen vor dem Gotthardtunnel.
Dann und wann schauten Hochgipfel aus den Seitentälern. In unzählig
vielen Windungen ging es rollend und bremsend im ganzen etwa 800 ~m~
Gefälle abwärts, also ungefähr so viel wie vom Gotthardtunnel hinab
zum Vierwaldstätter See, durch zahllose Tunnels mit ihren langen
Holzdächern bis zur „Hauptstadt“ des Staates Nevada, +Reno+, mit seinen
5000 Einwohnern!

Reno liegt ganz an der Grenze des Wüstenstaates Nevada, der bei 300000
~qkm~ (Größe Preußens!) nur 50000 Einwohner zählt, also erst auf 6
~qkm~ einen Menschen! Reno hat zwei Merkwürdigkeiten. Erstens ist es
Sitz einer „Staatsuniversität“, die aber so geringwertig ist, daß man
+nach+ ihrer Absolvierung kaum fähig wird, in Harvard ins Kollege
aufgenommen zu werden, d. h. von vorne zu studieren! Die zweite noch
größere Merkwürdigkeit ist, daß man in Reno in zwei Minuten geschieden
werden kann, so daß von 20 Ehepaaren im Staat Nevada etwa 13 (!) wieder
auseinanderlaufen. Günstiger liegt das Verhältnis sonst in der ganzen
Union, wo erst (!) auf 10 Ehen +eine+ Scheidung kommt. Das liegt an
der gesetzlichen Leichtigkeit der Scheidungen. Schon beiderseitige
gänzliche Abneigung genügt zur Trennung. Meist dringen mehr die
amerikanischen Frauen auf Scheidung als die Männer. Und doch haben die
Frauen es drüben viel leichter im häuslichen Leben als bei uns. Keiner
Frau mutet man in Amerika schwere körperliche Arbeit zu. Kein weißes
Dienstmädchen braucht drüben Kohlen zu tragen, Teppiche zu klopfen,
Stiefel zu putzen u. dgl., erst recht nicht die Hausfrau. Selbst den
Kinderwagen schiebt stets der Mann, ebenso trägt und hebt der Mann
stets das Kind. Der Mann ist der Frau Knecht. Und sie ist drüben mehr
sein Gespiele, seine schöngekleidete und wohlgepuderte Puppe als seine
harte Mitarbeiterin. Sie gebietet, und der Mann führt vielfach nur
ihren Willen aus. +Sie+ redet, predigt, organisiert, lenkt auch das
Automobil! Fast der gesamte Unterricht der Jugend liegt in Händen
von Frauen! Im öffentlichen Vereinsleben geistiger und wohltätiger
Art spielt sie die durchaus tonangebende Rolle. Die Prohibition war
auch wesentlich ein Sieg der Frauen. Sehr groß ist daher auch die
öffentliche Rücksichtnahme auf die Frau überall. Ihr wird es +nie+
drüben begegnen, daß sie z. B. je in einem Straßenbahnwagen stehen
muß. Auch der älteste Herr macht ohne weiteres der jüngsten Dame
Platz! Anders und eigenartig sind auch die Grußverhältnisse. Männer
untereinander nehmen nie Hut oder Mütze ab, auch nicht Schüler vor
dem Lehrer, denn auch er ist nur ein älterer „~boy~“. Aber im Gruß
zwischen Herr und Dame grüßt der Herr nicht zuerst die Dame, sondern
hat zu warten, ob sie ihm mit ihrem Gruß ihre Gunst bezeigt! Eine Dame
zuerst zu grüßen würde als so unschicklich gelten, als wenn man bei uns
eine fremde Dame ohne weiteres anspräche. Stets geht auch der Herr auf
der Außenseite des Fußsteigs, so der Dame die geschütztere Innenseite
überlassend. Ja manche reden schon von einem fast femininen Einschlag
in der amerikanischen Kultur, deren äußeres Kennzeichen auch das sehr
große Wertlegen der Herren auf „~style~“ (Mode) und ihre Vorliebe für
-- Süßigkeiten ist. In diesem Licht sind die vielen Ehescheidungen
begreiflich. Sie sind nicht Zeichen sittlichen Verfalls, sondern nur
der Ausdruck der hohen Ansprüche der Frauen an Leben und Wertschätzung
und eines hochgespannten Idealismus, der sofort Verbindungen löst, die
dem Ideal nicht mehr entsprechen. Bedenklicher ist schon der Rückgang
der Geburten in stockamerikanischen Ehen, so daß sich fortgesetzt
das Ursprungsverhältnis der Bevölkerung zugunsten der erst kürzlich
eingewanderten ungebildeten Schichten aus Osteuropa verschiebt ...

Wir fuhren indessen in der warmen hügeligen Nevadawüste, die an
Einsamkeit, Verlassenheit und Grenzenlosigkeit mit Arizona wetteifern
kann. Stationsnamen, wenn der Zug einmal hielt, fand ich selten
angeschrieben. Ohne den Ruf: „~All aboard!~“ setzte sich der Zug
langsam wieder in Bewegung. Man mußte dabei zusehen, daß man noch
rechtzeitig auf das Trittbrett kam. Auf einer der verlassenen
Stationen erstand ich mir eine Tafel Schokolade, die ich mir in die
Tasche steckte. Als ich sie aber nach qualvoller längerer Zeit der
Selbstverleugnung wieder hervorzog, war sie unter Nevadas Wüstensonne
in braunes Wohlgefallen zerflossen und hatte das Rockfutter hübsch
braun gefärbt und durchsalbt ... Es war um Mittag heiß geworden. Der
Gang zum Eiswasserfaß wurde zur Polonäse!

Immer eintöniger wurde die Landschaft. An einem einfachen Fluß stehen
ein paar Kinder und schauen stumm dem Zug nach. Wo ein bißchen
Gras sprießt, weiden ein paar Pferde. Sonst sieht man nur Sand und
wieder Sand, und zwar so grell und weißleuchtend, daß er im Wagen
einen richtigen Widerschein an die Decke wirft und in der Ferne sich
spiegelnd gar wie lockende Seen erscheint. Am Horizont prangen in der
Ferne blaue Randgebirge. Näherbei sieht man nur Föhrengestrüpp und
Wermutgesträuch ...

Im Zug schliefen sie jetzt wie die Fliegen an warmer Wand ihren
Nachmittagsschlaf. Ich bin der einzige, der noch krampfhaft und
interessiert hinaus ins Land schaut. Auch der Japaner hat längst
sein blaugebundenes Buch mit den seltsamen Runen zugeklappt. Die
weißhaarigen Damen haben längst den Rest ihrer opulenten Mahlzeiten in
ihre Körbe versteckt und die Rotweinflaschen wieder zugekorkt. Auch
die Chinesen lehnen gedrückt und müde in einer Ecke. Die Lady, die
ihr Billett verloren, hat resigniert die Augenlider heruntergelassen
wie müde Fensterläden, hinter denen Lebensverdrossenheit wohnt. Die
deutschen Buben, die nach dem „Wasser in de’ Pump’“ frugen, spielen
auch schon lange nicht mehr. Alles schläft. Es ist ja auch nichts zu
versäumen. Es steigt niemand weder aus noch ein. Der Zug schlingert
so durch die Sandwüste wie ein Schiff bei Windstille über das Meer.
Man weiß es eben wieder nicht mehr anders, als daß man fährt und
fährt und immer wieder fährt. Jeder hat sich in seiner Weise in sein
Eisenbahnschicksal ergeben ...

Es ist Goldgräberland, das wir jetzt durchfahren. Verlassene Minen und
Bergwerke wechseln mit neuaufblühenden. Manchmal ist eine Siedlung
schon auf den Sand hingestellt, aber es sind noch keine Menschen da,
drin zu wohnen! Alles sieht aus, wie aus einer Holzbaukastenschachtel
putzig, schematisch aufgebaut bis auf die kleine weiße Holzkirche, die
nicht fehlen darf. Im ganzen wohnt hier ein robustes und skrupelloses
Geschlecht, die Nachkommen echter Abenteurer, wilder Spekulanten, denen
Spiel um Geld Sport war und noch ist und der Revolver oft gar leicht
und lose im Gürtel sitzt ...

Wer hier zu Fuß gehen wollte! Er könnte wie durch die Sahara waten
und verdursten. Den einzigen Schatten wirft weite Strecken nur der
Zug. Rötlich schimmern die Felsengipfel. Dann wieder einmal ein paar
armselige Hütten mit Menschen darin. Station Paran. Auf dem „Bahnsteig“
am Zug spielen hemdärmlig einige Burschen Fußball! Er ist der einzige
planierte Platz. Der Bahn entlang reitet durch den Sand ein Herr und
eine Dame im Tropenhelm! Die Sonne steht hoch, die Berge werden immer
höher und steiler. Immer neue Berge und Wüsten tauchen im Vorblick
auf. Kein Europäer hat ja eine Ahnung, wieviel Tagefahrten +breit+
„das Felsengebirge“ ist, welche riesigen Hochebenen zwischen den
drei Hauptgebirgszügen desselben liegen, deren Streifen scheinbar
schmalfurchig von Norden nach Süden ziehen! Wieviel Schweiß muß es hier
einst gekostet haben, diese Bahn durch die Einöden zu bauen!

So kommt wieder der Abend heran. Wir fahren unentwegt. Wir haben längst
schon wieder „~Mountain-time~“ und die Uhr eine Stunde vorgerückt.
Der erste Abend bricht an, da uns die Sonne nicht mehr im Rücken,
sondern wieder im Angesicht aufgeht -- eine Weissagung auf Heimkehr!
Die sandige Wüste färbt sich abendlich graugrün. Die Chinesen sind
in ihrer Ecke erwacht und kauderwelschen laut miteinander in der
stolzen Sicherheit, daß sie niemand versteht. Mein Japaner liest
seinem Kind aus dem blauen Buch vor. Die ältlichen Damen breiten zum
Abendessen wieder ihre saubere Serviette aus und entkorken wieder die
Rotweinflaschen. Unentwegte Raucher suchen für eine Weile das kleine
Rauchabteil auf. Wem es nicht aufs Geld ankommt, der folgt jetzt dem
„~last call for dinner~“[28] des Kellners in den Speisewagen. Die
Kinder balgen sich wieder im Mittelgang. Mit dem Abend erwacht alles
Leben ...

Wir halten an einer Bahnkreuzung. Eine Reihe immer dünner werdender
Telegraphenstangen weist durch die Wüste gegen die Berge ins Wegelose
... Der Lehmboden rings ist trocken und rissig. Jeder Zentimeter
Regen und Schnee bedeutet hier Brot. Allmählich bricht Dunkelheit an.
Wir fahren immer noch in einer Höhe von 1000 bis 1500 ~m~. In der
Dämmerung sehe ich noch durstiges Rindvieh in einem trockenen „~creek~“
stehen. Niedrige Büsche werfen lange dunkle Schatten. Einige weiße
Zelte leuchten im grellen Mondschein. Sind es Bahnarbeiter, Hirten,
Goldgräber?

Dann klettere ich -- zum wievielten Male? -- wieder einmal in meine
„~upper berth~“. Der Salonwagen hat sich wieder in einen Schlafsaal
schnarchender Nasen verwandelt.

       *       *       *       *       *

Am zweiten Morgen wieder eine völlige Verwandlung! Als ich erwacht bin
und aus dem Fenster sehe, ist es lichter Morgen. Vom blauen Himmel
scheint helle Morgensonne, die noch nicht lange aufgegangen sein
kann, und -- ist es Traum, Vision oder Wirklichkeit? -- wir fahren,
obwohl noch immer im Eisenbahnzug, mitten durch einen herrlich weiten
glänzendblau schimmernden See, der sich bis an die schneebedeckten
Berge der Wasatch Mountains verliert. Rechts und links spülen die
Wasser an den mäßig über dem Wasserspiegel erhöhten Bahndamm. Er
scheint künstlich aufgeworfen, auf Pfählen und Holzbrücken errichtet.
Stundenlang rollen wir so im glitzernden Morgensonnenschein mitten
über den großen Salzsee! Vor einigen Jahren hat nämlich die Southern
Pacific-Eisenbahn, um die Route nach Kalifornien um 70 km abzukürzen,
den Schienenweg auf 37 ~km~ langer Holzbrücke mitten durch den an
seinen tiefsten Stellen nur 11 ~m~ tiefen, aber 6000 ~qkm~ großen[29],
etwa 100 ~km~ langen und 60 ~km~ breiten Salzsee (~Great Salt Lake~)
gelegt. Sein Wasserspiegel liegt immer noch 1280 ~m~ über dem Meere!
Wir befinden uns also wiederum auf einer der riesigen Hochebenen
zwischen den Hauptgebirgszügen des Felsengebirges, dem Zentrum des
Mormonenstaates „Utah“, eines Staates, der selbst halb so groß wie
Kalifornien ist. Als wir den See überquert haben, eilt der Zug durch
die lachendsten und wohlangebautesten Fluren und Felder, die den
denkbar stärksten Gegensatz zu den unfruchtbaren Wüsten Nevadas bilden.

Ein wahres Kulturparadies breitete sich auf einmal um uns aus, das
einem wie einst das „gelobte Land“ den Israeliten erschien, als sie
aus der Sinaiwüste heranzogen. Der Schöpfer dieses Paradieses, das
vor dreiviertel Jahrhunderten genau so trostlose Wüste wie der größte
Teil Nevadas war, ist die eigenartige Sekte der „Mormonen“ oder, wie
sie sich selbst nennen, der „Heiligen Jesu Christi der letzten Tage“.
Wir hielten zuerst in der ein wenig vom See landeinwärts gelegenen
mittelgroßen Mormonenstadt Ogden. Hinter uns lag der schimmernde
Salzsee, vor uns wie ein Schweizer Bild die schneebedeckten Wasatch
Mountains. In Ogden verließ ich die Hauptroute nach Chikago, um nach
der Hauptstadt der Mormonen, der Großen Salzseestadt umzusteigen. Auf
sie war ich allerdings schon lange sehr gespannt. Da ich eine Stunde
Aufenthalt in Ogden hatte, ging ich etwas in das Städtchen hinein.
Nichts Sonderliches war außer einer Mormonenkirche zu bemerken.
Überall ruhige Sauberkeit und breite Straßen.

Nach einer weiteren Stunde südlicher Fahrt war Salt Lake City erreicht.
Auch zwischen Ogden und Salt Lake City liegen prächtige Feldfluren
zwischen wohlgepflegten Pappelreihen, unter denen wohlgebaute gerade
Landstraßen hinführen. Allen Reisenden, die einstiegen, und denen, die
man draußen erblickte, schaute ich immer mit der stillen Frage ins
Gesicht: „Bist du ein Mormone oder nicht? Sehen so die Mormonen aus?“
Ich meinte immer, man müßte es ihnen von außen schon an einer Art
sonderbaren Wesens ansehen. Aber das war keineswegs der Fall.

So war es morgens acht Uhr geworden. Klopfenden Herzens steige ich
in Salt Lake City aus. Mir war es, als käme ich jetzt in die Stadt
des Dalai Lama. Die Lage ist ja derselben nicht so ganz unähnlich.
Ich empfand so, wie wir uns in Rom aufmachten, um über den Tiber
in das Trastevere zu gehen und in das heilige Viertel des Vatikans
und der Peterskirche einzudringen. Mußte nicht dort, so dachte ich,
jeder Stein im Pflaster von besonderer Heiligkeit reden und die
Luft rings gleichsam geschwängert sein von Andacht? Mit ähnlichen
Spannungsgefühlen trat ich aus dem Bahnhof in Salt Lake City auf die
sehr breite Hauptstraße und hatte sofort nach wenigen Minuten nach
Durchschreitung einiger Bahnhofsquartiere den Eindruck, zum ersten Male
in einer peinlich sauberen und trotz ihrer 100000 Einwohner stillen und
ruhigen amerikanischen Stadt zu sein, dazu in malerischster Umgebung.
Von gesteigerter Heiligkeit war noch nichts zu bemerken! Die Menschen
kauften und verkauften, gingen, fuhren, redeten genau wie in anderen
Städten der Weltkinder. Heilig schienen mir die schneebedeckten Berge,
die hier wie in Innsbruck die Schneehäupter zur Maria-Theresienstraße
hereinschauen. So endet auch in dieser Stadt der Blick meist an den
schneebedeckten Wasatch, die südlich bis zum Grand Cañon reichen! Schon
in Ogden hatte mir ein eifriger Postkartenverkäufer auf der Straße
seine Karten von den Wasatch Mountains mit den Worten angepriesen:
„~The finest mountain-view +in the world+!~“ Selbstverständlich!

Ich schritt indessen in das Stadtinnere bis zu dem gebietenden Denkmal
Brigham Youngs, des kraftvollen Nachfolgers des „Propheten“ Joseph
Smith, des Gründers des Mormonismus. Dann stehe ich in dem heiligen
Bezirk der Mormonen, dem „Tempelblock“ selbst, der von einer langen
quadratischen Mauer umgeben ist. Aus ihrem Innern erhebt sich mächtig
der vieltürmige Tempel und das riesenschildkrötenartig gewölbte Dach
des sogenannten „~tabernacle~“. So stehe ich jetzt an der Stelle, die
den Mormonen so heilig und zentral ist wie Rom den Katholiken, wie
die Kaaba den Mohammedanern, der Tempelplatz in Jerusalem den Juden
und Olympia den Griechen. Aus dem nahegelegenen Mormonenkollege aber
strömen gerade die Schüler aus der Morgenandacht.

Echt amerikanisch begibt man sich zur Besichtigung des Tempelbezirks
zunächst in das „~information-bureau~“, wo die Einlaßkarten und
Führer zur Besichtigung der Sehenswürdigkeiten zu haben sind. Geld
und Geschäft hat bis jetzt keine heilige Stätte der Welt verschont,
auch die der Mormonen nicht. Christus schwingt noch immer seine Geißel
umsonst.

Unter einem Stimmengeschwirr von Menschen werden wir dann in das
„Tabernakel“ geleitet. Wir treten durch die niedrigen Backsteinpfeiler
ein; treppauf geht es auf die Galerie in das Innere. Es öffnet sich
ein kahler Riesenraum, den eine einzige Deckenwölbung überspannt
und der an 10000 Sitzplätze faßt! Den einzigen Schmuck des Raumes
bildet eine mächtige Orgel, an der ein großer Stern mit der Umschrift
„Utah 1896“ angebracht ist. Denn in diesem Jahr wurde das bis
dahin mehr oder weniger unabhängige Mormonenterritorium als Staat
in die Union aufgenommen. Von der Orgel reichen etwa 500 Personen
fassende Sitzreihen die Orgelbühne herab, die nur Sitze für Priester
und mormonische geistliche Würdenträger enthalten. Denn unter den
Mormonen hat fast jeder zehnte Mann irgendeine priesterliche Würde.
Das Tabernakel dient zu Gottesdiensten und auch für große Konzert-
und Vortragsveranstaltungen. Die Akustik ist trotz des riesigen Raums
dank seiner ovalen Anlage und seiner ungestützten hölzernen Wölbung
vorzüglich. Man hört auch nur leise gesprochene Worte bis in entfernte
Ecken! Das Tabernakel wurde bereits in den 60er Jahren des 19.
Jahrhunderts erbaut, ein Zeugnis des Selbstbewußtseins der Mormonen,
deren Stadt damals kaum soviel Einwohner zählte als der Raum Sitze! Am
Tempel selbst aber baute man von 1873 an Jahrzehnte hindurch.

Wir treten wieder unter den 44 Backsteinpfeilern, den kurzen Füßen
der hölzernen Riesenschildkröte, hervor und begeben uns zum „Tempel“,
den wir aber von innen nicht besichtigen dürfen! Kein profaner Blick
von „Heiden“ (d. h. Nichtmormonen) darf ihn beschauen, ja selbst
nicht einmal jeder Mormone kommt in sein Inneres! Als mächtiger
sechstürmiger Bau, dessen höchsten Mittelturm eine große Bronzestatue
des Engels „Moroni“ krönt, erhebt er sich -- freilich ohne erkennbaren
Stil -- aus dem Grün des schön angelegten Tempelblocks und überragt
weithin die Stadt. Er ist keine eigentlich allgemein gottesdienstliche
Stätte, sondern dazu bestimmt, der Tempel „des neuen Zion“ zu sein, wo
Christus, wenn er in Bälde zum Weltgericht wiederkommt, seinen Thron
aufschlagen und das Gericht über die sündige Welt abhalten wird. Etwa
vierzig Jahre wurde am „Tempel“ gebaut; vier Millionen Dollar hat er
gekostet! Er soll innen aufs prächtigste mit kostbarstem Marmor und
edlen Steinen geschmückt sein, erzählte man mir. Je schwieriger es
ist, ihn zu betreten, desto geheimnisvoller erscheint das gewöhnlichen
Sterblichen verschlossene Bauwerk. Nur Mormonen höheren Grades kommen
in ihn anläßlich mormonischer „Versiegelungen“ für die Ewigkeit und
„Taufen für Verstorbene“ hinein. Ich hatte vor, -- auch amerikanisch!
-- geradewegs dem Präsidenten der Mormonenkirche, also gewissermaßen
dem Papst von Salt Lake City einen Besuch zu machen und ihn angesichts
meiner weiten Reise um einen Blick in das Tempelinnere zu bitten, aber
wahrscheinlich hätte auch das mir nichts geholfen. Aber vielleicht
hätte er mich an seine Tafel geladen? Schade, daß ich es nicht
versuchte! Da hätte ich alles leicht aus erster und bester Quelle
erfahren, was ich zu wissen wünschte.

Unsere gesprächige Führerin, die uns auch noch eine kleinere
Mormonenkirche, die sogenannte „~assembly hall~“ aufschloß, die
immerhin auch 3000 Personen faßte, und zuletzt uns noch einmal zu
einem imponierenden Orgelkonzert ins „Tabernakel“ einließ, hatte
natürlich auf recht viele Fragen der Besucher zu antworten. Alles
bestürmte sie förmlich um Auskunft über das Wesen und die Lehren des
Mormonismus. Ihre Auskünfte waren natürlich nur sehr bruchstückartig
und unzusammenhängend, ebenso wie die an sie gestellten Fragen. Aber
sie blieb unermüdlich und unerschütterlich: „Der Mormonismus ist wahr!
Er ist nicht von Menschen gemacht. Er stammt aus direkter göttlicher
Offenbarung. Die christlichen Kirchen sind vom wahren Christentum
abgefallen. Die ganze Geschichte der christlichen Kirche ist nichts
als ein großer Abfall. J. Smith bekam von Gott durch seinen Engel
Autorität, die wahre Religion der Bibel wiederherzustellen und das
echte aaronitische Priestertum zu erneuern. Auch die ‚Ordnungen‘ der
Ämter hat die Kirche unrechterweise geändert. Die Taufe darf z. B.
nicht an kleine Kinder nach mormonischer Meinung erteilt werden! Die
Mormonenkirche tauft erst achtjährige Kinder. Es gibt auch eine Taufe
für ungetauft Verstorbene. Die Handlung der Buße hat sie erneuert.
Die Trauung ist gültig auch für das ewige Leben. Eine Mehrehe -- der
große Streitpunkt -- habe auch Jesus nicht ausdrücklich verboten, im
Alten Testament wurde sie sogar von den Erzvätern geübt! Seit 1896
ist freilich die Mehrehe durch Aufnahme in die amerikanische Union
öffentlich verboten; geübt wurde sie bis dahin auch nur von zwei bis
fünf Prozent der Mormonen. Und Salomo hatte doch auch sogar -- darauf
wies die Sprecherin nachdrücklich hin -- 1000 Weiber! Jeder Mormone hat
an seine Kirche den ‚Zehnten‘ abzuliefern. Gott offenbart sich fort
und fort durch Propheten, so war auch Joseph Smith beauftragt, neue
Offenbarungen zu geben.“ Das ist einiges von den bruchstückartigen
Darlegungen der Führerin auf die an sie gestellten Fragen.

Mir genügte das freilich nicht. Im ~information-bureau~ kaufte
ich mir daher zunächst eine Mormonenbibel „~the book of Mormon~“,
in dem ich auf meiner Weiterfahrt sehr eifrig las, ein kleines
schwarzeingebundenes Buch ungefähr im halben Umfang unserer Bibel.
Außerdem eine Darlegung der mormonischen Lehre von einem mormonischen
Theologen. Und endlich schenkte mir in demselben Bureau ein alter
Mecklenburger, als er mein intensives Interesse wahrnahm und mich
als Deutschen erkannte, noch eine Schrift „~the great apostasy~“,
in der die Geschichte der Kirche als „der große Abfall“ von dem
wahren Evangelium dargestellt wird. Der Mecklenburger schüttelte mir
bewegt die Hand, ich möchte auch noch zur Erkenntnis der Wahrheit
kommen, und schloß mit dem Bekenntnis: „~My heart feels satisfied~“.
Neuerdings hat Professor Eduard Meyer anläßlich seines Aufenthalts in
der Union eingehende Studien über den +Mormonismus+ angestellt und
veröffentlicht. Danach ergibt sich geschichtlich das Folgende, das
sowohl für die Geschichte und Zustände der Union als auch die religiöse
Mentalität drüben im Ganzen äußerst charakteristisch ist:

Der Gründer der Mormonensekte, Joseph Smith, ist am 23. Dezember 1805
als vierter von neun Geschwistern in dem Dorf Sharan im Staate Vermont
geboren. Sein Vater war -- echt amerikanisch -- bald Handelsmann,
bald auch Schullehrer. Ruhelos zog er von Ort zu Ort und ist nie zu
beständigen Verhältnissen gelangt. 1815 siedelte er nach Palmyra im
Staate Neuyork über, darauf nach Manchester, N. Y. Die Mutter des
Propheten, Lucy Smith, war ebenfalls die Tochter eines Abenteurers
namens Salomon Mack, der erst bei einem Bauern arbeitete, dann
Soldat und Marketender in den Indianerkämpfen und Religionskriegen
des ausgehenden 18. Jahrhunderts war, später als Matrose diente und
zuletzt um 1810 als fast Achtzigjähriger in höchst fehlerhafter und
unorthographischer Sprache eine Erzählung seines Lebens mit mancherlei
Träumen und Visionen herausgab! Dieses Erbteil ging auf die Mutter
des Propheten über, die zeitlebens an Visionen litt und ihren Sohn
überlebte († 1856). Auch sie gab von ihren inneren Erlebnissen in einer
Selbstbiographie Kunde. Religiöse Fragen haben das Elternpaar stets
beschäftigt; auch Vater Smith erlebte allein sieben Visionen. Der
Eltern äußere Lebensumstände können gar nicht armselig genug gedacht
werden, und doch waren in ihrer Hütte wie in den meisten amerikanischen
vor über 100 Jahren die Axt und die Bibel die am meisten gebrauchten
Gegenstände. Von diesen Eltern, von beiden Seiten her also aufs
stärkste visionär erblich belastet, stammte der „Prophet“. Schulbildung
hat er bei dem ständigen Umherziehen seines Vaters nur vorübergehend
genossen; Lesen und Schreiben konnte er Zeit seines Lebens nur dürftig;
an Träume und Visionen glaubte er seit frühester Jugend. Und schon früh
bedrückte sein religiöses Gemüt die Frage, welche von den vielen Sekten
wohl die rechte sei oder ob sie nicht alle von der Wahrheit abgefallen
seien und die rechte Religion erst wieder entdeckt werden müßte ...

An einem schönen Frühjahrsmorgen 1820 -- so heißt es in seiner
Lebensbeschreibung -- sei er fünfzehnjährig in den Wald gegangen und
habe Gott um Erleuchtung über die Wahrheit angefleht. Da habe ihn
zuerst dichte Finsternis umgeben und seine Zunge sei wie gefesselt
gewesen, aber dann habe sich eine Lichtsäule auf ihn herabgesenkt, in
der zwei verklärte Gestalten sichtbar wurden. Die eine sagte ihm, alle
Sekten seien im Irrtum, keiner solte er sich anschließen, vielmehr sei
+er+ berufen, die rechte Kirche erst zu gründen. Erwacht fand er sich
allein auf dem Boden liegend, die Augen gen Himmel gerichtet ...

Mit 18 Jahren (1823) folgte eine neue wichtige Vision, in der ihm
lichtumflossen der Engel „Moroni“, der heute als Bronzefigur den Tempel
krönt, erschien und anwies, nach dem Hügel Cumorah bei Manchester, N.
Y., zu gehen. Dort werde er beim Graben zwei goldene Platten finden,
die mit geheimnisvoller Schrift bedeckt seien. Dreimal erschien ihm
der Engel Moroni bei der Nacht, und noch ein viertes Mal am Tage bei
der Feldarbeit, wo er neben seinem Vater ohnmächtig wurde. Noch an
demselben Tage habe Smith den Hügel aufgesucht, die Platten gefunden,
aber der Engel habe ihm verboten, +jetzt schon+ die Platten zu heben!

In den folgenden Jahren verdingte sich Smith zur Feldarbeit wie sein
Vater, wird aber als schmutzig, scheu und träge, ja dem Trunk ergeben
geschildert. Er benutzt seine visionären Kräfte, um nach Schätzen zu
graben, verlorene oder gestohlene Sachen wieder herbeizuschaffen.
Dabei diente ihm ein durchsichtiger Kristall („~peek-stone~“), den er
in seinen vor die Augen gehaltenen Hut legte, worauf er die gesuchten
Dinge in dem Kristall sah[30]. Mit 21 Jahren verheiratete sich Smith
und erhielt nun von dem Engel die Erlaubnis, den Schatz zu heben.

Im nächsten Jahr, Februar 1828, beginnt J. Smith mit einigen Freunden,
Farmern wie er, Martin Harris, dem Schullehrer Oliver Cowdery und David
Whitmer, selber hinter einem Vorhang sitzend (!), das Mormonenbuch,
die goldenen Tafeln mit Hilfe seines „Gucksteins“ übersetzend, zu
diktieren. 1829 war das Buch fertig und wurde 1830 veröffentlicht. M.
Harris, obgleich gewarnt, hatte das Geld zum Druck dazu hergegeben.

Was ist’s nun mit diesen geheimnisvollen Tafeln? Niemand hat sie je mit
irdischen Augen gesehen. J. Smith behauptet, daß sie in einer Kiste
in seinem Hause gelegen haben. Der Engel aber hatte dem Propheten
verboten, sie jemand zu zeigen! Nachdem die „Übersetzung“ fertig
war, wurden die Tafeln dem Engel Moroni „zurückgegeben“! Aber die
Freunde bestanden darauf, sie zu sehen. So hat J. Smith eines Tages in
einer Vision ihren Anblick vermittelt. Das bezeugen sie schriftlich
auf der ersten Seite des Mormonenbuches. Aus all dem folgt, daß die
Offenbarungstafeln wohl nie existiert haben, daß aber der „Prophet“
visionär sie gesehen und an ihr Vorhandensein geglaubt hat.

Und was ist der Inhalt dieser „Mormonenbibel“? Ich habe mich nach der
Abfahrt von der Salzseestadt viele Stunden im Eisenbahnwagen redlich
bemüht, ihren Inhalt in mich aufzunehmen, aber über 30, 40 Seiten habe
ich es nicht hinaus gebracht, so langweilig, inhaltslos und grotesk
und geschichtlich unmöglich ist der Inhalt. Das Mormonenbuch ist wie
die Bibel in Bücher, Kapitel und Verse eingeteilt. Sein Stil erinnert
stark an das Alte Testament. Im ganzen will es ein Bericht über die
Schicksale der bei der Eroberung Samarias 722 v. Chr. verschollenen
zehn Nordstämme des Volkes Israel sein, die nach den mannigfachsten
Irrfahrten und Kriegszügen nach Nordamerika gekommen seien und deren
Nachkommen niemand anders als -- die Indianer geworden wären! Man
denke sich, die Indianer Nachkommen der alten Juden!! Das bestätigt
gewiß auch die gegenseitige Rasseähnlichkeit!? Auch Christus ist, wie
Smith glaubte, nach Ostern auf dem amerikanischen Kontinent erschienen
und hatte ihm die Offenbarung der wahren Religion gegeben. Nur sind
seine rechtgläubigen Anhänger in Amerika aufgerieben worden, und seine
Offenbarung wäre verschollen, wenn nicht der letzte Prophet „Mormon“
und sein Sohn, der Engel Moroni sie auf jene Tafeln aufgezeichnet
und vergraben hätten, bis sie J. Smith wieder fände. Diese Bibel des
Propheten Mormon, von J. Smith erneuert, sei die Bibel für Amerika, ja
für die Welt. Eine ganz abstruse und unmögliche Sache!

Woher aber stammt dieser Inhalt des Mormonenbuches? Das schlechte und
fehlerhafte Englisch und die absurden geschichtlichen Ideen lassen
niemand anders als J. Smith selbst als Verfasser erwarten. Das Buch
ist der Spiegel seines ererbten visionären Fabuliertalents und seiner
vollständigen Unkenntnis der wirklichen Geschichte des amerikanischen
Kontinents und der Welt. Aber wie ist es möglich, wird man fragen,
daß ein solches Buch überhaupt Glauben fand? Nun im ersten Drittel
des 19. Jahrhunderts unter den ungebildeten und schwärmerischen
Abenteurern ist es für Amerika nicht unbegreiflich, zugleich in einer
Zeit der stürmischsten und die Menschen wie eine Psychose ergreifenden
Erweckungsversammlungen (~camp-meetings~, ~revivals~); ebensowenig
angesichts der ungeschichtlichen naiven Gläubigkeit des Amerikaners
allem gegenüber, was sich als alt und uralt ausgibt, weil man ja selbst
in einem fast vollkommen geschichtslosen neuen Lande lebt. Es ist
also nicht nötig, zu der Vermutung zu greifen, die man lange geteilt
hat, Smiths Buch sei ein Abklatsch eines Romans eines puritanischen
Predigers Spaulding, dessen Manuskript wiederum ein Buchdrucker Rigdon
dem Propheten in die Hände gespielt habe. Das seit 1885 bekannte
Manuskript Spauldings zeigt nur äußere Ähnlichkeiten in Stil und
Herkunft, aber gar nicht im religiösen Inhalt.

[Illustration: ~SALT LAKE CITY~

~Der California-Expreß quer durch den Salzsee~]

[Illustration: ~SALT LAKE CITY~

~Salt Lake City mit dem Wasatch-Gebirge~]

Wie ist es danach zu einer eigenen Mormonen+kirche+ gekommen?
Unmittelbar nach Fertigstellung des Mormonenbuches begann eine
Propaganda für den neuen Glauben im Staate Neuyork. J. Smith war
überzeugt, daß seine Anhängerschaft zur Weltherrschaft berufen sei!
Ein solch phantastischer Traum ist auf dem amerikanischen Kontinent
und auf dem Gesinnungsboden eines „auserwählten Volkes“ durchaus
begreiflich. J. Smith verkündete bald die Nähe des „1000jährigen
Reiches“ und setzte seine Mission im Staate Ohio fort. Immer neue
Orakel verkündete er. Seinen Anhängern wurden auch wunderbare Heilungen
nachgesagt. Von Ohio ging ein Teil der Gläubigen bis nach Kansas und
Missouri. Aber 1832 begannen auch schon die ersten Verfolgungen der
„Heiligen“ durch „die Heiden“. Smith und sein Freund Rigdon wurden
in einer Nacht aus dem Bett gerissen, auf die Straße geschleift --
einer der nicht wenigen Fälle von amerikanischer Lynchjustiz -- mit
Teer beschmiert und zum Spott mit Federn ausstaffiert! Den Mormonen
in Missouri warf man die Fenster ein, zündete ihr Heu an und schoß in
ihre Häuser! Die Staatsregierung unternahm zunächst nichts. Aber je
mehr die Mormonen verfolgt wurden, desto mehr breiteten sie sich aus.
Auch J. Smith machten die Verfolgungen in seiner Überzeugung nicht
irre. Im Gegenteil. 1834 forderte der „Prophet“ seine Anhänger zum
Abzug auf, er selbst organisierte sie militärisch als ihr „General“!
Die Mormonen verschanzten sich gegen anrückende Regierungstruppen in
einem festen Lager in Missouri, wurden jedoch umzingelt und mußten sich
der amerikanischen Miliz ergeben. Smith wanderte ins Gefängnis. Das
Todesurteil wurde über ihn 1838 verkündet, aber nicht vollstreckt!
Smith entfloh, seine Anhänger sammelten sich in Nauvoo in Illinois,
das damals noch ganz unkultiviert war. Nauvoo sollte nun der Sitz des
neuen Zion und des Tempels werden. Aber auch hier war ihres Bleibens
nicht lange. Zu großem Anstoß führte die jetzt schon eifrig geübte
Polygamie! Seit 1843 rechtfertigte sie der Prophet und übte sie
selbst. Die „mit Heiligen versiegelten“ Frauen würden bestimmt des
ewigen Lebens teilhaftig! So sollen sich nach Smiths Tod 27 Frauen
gerühmt haben, dem Propheten „angesiegelt“ gewesen zu sein! 1844
wurde J. Smith von seinen Anhängern sogar ernsthaft als Kandidat
für die Präsidentschaft der Union aufgestellt!! Smith stand auf der
Höhe seiner Erfolge. Eine Druckerei, die ihn schmähende Artikel und
Zeitungen erscheinen ließ, ließ er zerstören und erklärte der Union
den Krieg, die ihn zur Verantwortung ziehen wollte! Dann aber nahm
er eingeschüchtert die Kriegserklärung wieder zurück und entfloh ins
Felsengebirge. Seine Anhänger verlangten aber von ihm, daß er sich
freiwillig den amerikanischen Gerichten stelle! Er tat es und ahnte
sein Endschicksal voraus. Er wurde des Hochverrats für schuldig erklärt
und eingekerkert. Obwohl das Gefängnis von amerikanischer Miliz bewacht
wurde, drangen am 27. 6. 44. nachmittags fünf Uhr 200 abenteuerliche
Gesellen mit geschwärzten Gesichtern ein und erschossen den Propheten
in seiner Zelle, in der er sich vergebens zur Wehr setzte. Er wurde in
Nauvoo begraben und war so, 39 Jahre alt, für seine Überzeugung den
Märtyrertod gestorben.

Aber damit ging der Mormonismus nicht unter. Im Gegenteil, er blühte
erst recht auf. In Brigham Young, dessen Denkmal mit Recht im
Mittelpunkt der Salzseestadt steht, erhielt das Mormonentum einen
äußerst tatkräftigen und zielbewußten und vor allem organisatorisch
hervorragend begabten Führer, der die Mormonen aus Nauvoo hinweg
unter viel Mühsalen und Beschwerden bis in die damals noch völlig
unbewohnten Einöden am Großen Salzsee führte. Hier entstand bald
mit Hilfe künstlicher Bewässerung ein Kranz blühender und fleißiger
Dörfer. Merkwürdigerweise trennte sich Smiths Frau und Mutter mit den
Kindern von des „Propheten“ Gemeinde und gründeten eine reformierte
Mormonenkirche! Einer der Brüder Smiths wurde sogar aus der Kirche
der „Heiligen“ ausgestoßen! Young, vier Jahre älter als der Prophet,
leitete die Mormonenkirche bis 1877. Von Hause aus war er Tischler und
Glaser. Unter ihm erst wurde das anstößige Dogma von der Polygamie
öffentlich verkündet (1852).

Man begnügte sich bald nicht mehr nur mit den Siedlungen am Salzsee,
deren Fruchtbarkeit von allen Seiten Landsucher anlockte, sondern
schickte auch Sendboten nach Europa! Young verschönte und vergrößerte
auch die Hauptstadt, er baute das „Tabernakel“ und legte den Grundstein
zum „Tempel“. Mit den umwohnenden Indianern, in denen man ja die
Nachkommen des auserwählten Volkes Israel sah, verbündete sich
Young und hielt mit ihnen zusammen lange Zeit die amerikanischen
Regierungstruppen in Schach. Utah war selbständiges Territorium. Young
übte die Rechte eines Gouverneurs aus. Er war zugleich Präsident des
Staates +und+ der Kirche. Die Gerichte urteilten nach seinen Weisungen
und zuweilen mußten Verbrechen durch freiwilligen Tod gesühnt werden!
Von den nach Kalifornien strömenden Goldsuchern erhob man hohe
Durchgangszölle. Die Landsuchenden hielt man in Abhängigkeit, indem
die Kirche selbst das Land verpachtete. Aber die Einöde um den Salzsee
verwandelte sich bald in ein Kulturparadies, das ich selbst mit Augen
sah. So wurde Salt Lake City eine der saubersten und schönsten Städte
der Union. Die Industrie blieb hier noch lange ganz fern.

Young hielt auch auf straffe sittliche Zucht. Die Stadt wurde in
Bezirke eingeteilt, denen Bischöfe und Priester vorstanden. Sie hatten
das Leben sämtlicher Familien streng zu kontrollieren. Völlerei,
Diebstahl, Betrug, Meineid, Fluchen und Würfelspiel -- sonst vielgeübt
-- waren hier Seltenheiten. Als 1867 die Bahn nach dem Stillen Ozean
gebaut wurde, hörte Utah auf, von der Welt abgeschnitten zu sein. Der
Durchgangsverkehr stieg gewaltig. 1890 erteilte der amerikanische Staat
Amnestie an alle Polygamisten. 1896 wurde Utah als Staat der Union
eingegliedert. Der Traum eines mormonischen Weltstaates mit Salt
Lake City als Mittelpunkt war damit ausgeträumt. Übrig blieb nun der
religiöse Mormonismus als Sekte wie der religiöse Katholizismus nach
Aufhebung des selbständigen römischen Kirchenstaats. Heute mögen die
Anhänger des Mormonismus in aller Welt eine halbe Million betragen.
In Salt Lake City selbst haben sie dank der Einwanderung nicht mehr
die Majorität. Eine ganze Reihe Kirchen anderer Sekten wie der
Presbyterianer, der Methodisten usw. erheben sich auch jetzt daselbst.
Aber etwa 2000 mormonische Missionare durchziehen die Welt und werben
für J. Smiths Lehre und Sendung. In Deutschland und der Schweiz soll es
etwa 5000 Mormonen geben, deren heißeste Sehnsucht es ist, einmal nach
Salt Lake City zu kommen und im Schatten des Tempels zu sterben ...

       *       *       *       *       *

Ich hatte die Stadt durchschritten und stand am sogenannten
„Eagle-Gate“ (Adler-Tor), das sich aus vier eisernen Bogen bestehend,
vom Unionsadler gekrönt, angeblich über „die längste Straße der
Welt“ spannt dicht beim Grab des mächtigen Brigham Young. Salt Lake
City ist so modern geworden, daß sich auch schon ein paar stattliche
Wolkenkratzer erheben, wenn auch nicht von der Höhe derjenigen
Neuyorks. Die Innenstadt ist umkreist von einem Kranz höchst gefälliger
und geschmackvoller Landhäuser. Alle Straßen, deren ein großer Teil
mit hohen Pappeln bepflanzt ist, machen einen äußerst sauberen und
gepflegten Eindruck. Um die Stadt leuchten Schneeberge. In der Tat,
eine prächtige Lage für das mormonische Zion! In einigen kleineren
Straßen entdeckte ich auch noch recht alte Häuser, darunter ein aus
rohen Balken gezimmertes Blockhaus, das erste in Salt Lake! -- --

Wolken hatten sich zusammengezogen. Es fing an zu regnen. Ich flüchtete
in die neue stattliche, gotische katholische Marienkathedrale und
empfand wieder einmal, daß es doch etwas Schönes um die offenen
katholischen Kirchen ist; sie bieten den Fremden und Reisenden stets
einen unentgeltlichen Ruhesitz, wo man dem Lärm des Straßenverkehrs
und der Nervenanspannung der Besichtigungen auf eine Weile ungehindert
entfliehen kann. Ich suche sie daher in fremden Städten immer gern auf
und saß auch jetzt eine Weile in Salt Lake so gut in der katholischen
Kirche wie in München in der Theatiner Hofkirche, in Venedig in S.
Marco oder in Rom in Maria Maggiore. Es ist auch gewiß etwas Großes
um das Weltumspannende der katholischen Kirche, die dieselbe in Köln
oder in Sevilla, in Dresden oder in St. Marys Kathedrale in Salt Lake
ist. Der Katholik kann sich darum überall in der Welt in seiner Kirche
sofort daheim fühlen und zurechtfinden ...

       *       *       *       *       *

Wieder verließ ich wie im Staat Neumexiko in Santa Fé und San Franzisko
im Schlafwagen auch das Zion der Mormonen des Abends. Fort ging’s in
das Zauberbergland +Kolorados+. Bei der Abfahrt leuchtete mir noch ein
strahlendes Alpenglühen auf den Wasatchbergen den Abschiedsgruß ... Ein
letzter wundervoller Eindruck!

Ich hatte wieder eine weite Fahrt vor mir, wieder eine ganze Nacht und
einen ganzen Tag durch einen großen Teil des Staates Utah über die
Kette des Wasatchgebirges hinein in das größte Gebirgs- und Alpenland
Amerikas Kolorado bis nach „Kolorado-Springs“ an den Fuß des 4300
~m~ hohen Pikes Peak, den Eckpfeiler des Felsengebirges am Rande der
unendlichen Mississippiebene. War ich wieder soweit, dann hatte ich die
ganze mächtige Breite des Felsengebirges wieder hinter mir.

Ich las auf meinem Bett sitzend noch eine Weile in der Mormonenbibel,
dann entschlummerte ich in meiner „~upper berth~“, die ich mir wieder
rechtzeitig gesichert hatte. Ich war jetzt schon so sehr an das
Schlafwagenfahren gewöhnt, daß ich so ruhig und gut wie im schönsten
Hotelbett schlief. Dazu hielt der Zug in dieser Nacht wohl gar nicht,
und ich wurde so wieder 700 Meilen, also etwa eine Strecke von
Königsberg-Basel mühelos weitergerollt. Am „Jordan“ entlang ging es
vom Salzsee zum viel kleineren Utahsee und dann keuchend hinauf über
die Paßhöhe des Wasatchgebirges (2300 ~m~) und wieder hinab durch das
sogenannte „Castle Gate“, an dessen Eingang drohend zwei riesige 150
~m~ hohe aufragende Sandsteinfelsen stehen und kaum den eingleisigen
Schienenweg hindurchlassen, zum Green River, einem Quellfluß des
Koloradostromes. Von all dem sah ich freilich wenig, sondern verschlief
es; aber am nächsten Tage sah ich dergleichen genug, was den stolzen
Namen der Bahnlinie als der „~most scenic line +of the world+~“
rechtfertigte, denn sie geht mitten durch das wildzerklüftete Alpen-
und Goldland Kolorado, die „Schweiz“ der Vereinigten Staaten, hindurch.

Ich erwachte am Morgen, als wir schon die Koloradowüste hinter uns
und den Green River überschritten hatten und im felsigen Cañon des
Grand River, des anderen Quellflusses des Kolorado, fuhren. Aus
dem lieblichen Kulturparadies am Salzsee war ich in die wilden
Bergschluchten Kolorados, wie aus dem Italien und Spanien Kaliforniens
in die Schneewelt der Sierra Nevada und aus dieser wieder in die
sengende Wüste Nevadas versetzt. Was für Verwandlungen! So war ich
wieder am Koloradofluß, in dessen wilden Großcañon ich vor etwa einer
Woche von 2000 ~m~ Höhe geschaut hatte -- freilich mehrere hundert
Meilen von hier südlich -- und den wir bei Needles an der Grenze
Kaliforniens bei herrlichstem Sonnenuntergang breit wie einen Meeresarm
gekreuzt hatten. Jetzt dampften wir seinen Oberlauf aufwärts. Wir
hielten in Grand-Junction, wo eine Nebenlinie nördlich durch das
Bergland auch nach Kolorado Springs führt. Ich blieb auf der kürzeren
Hauptlinie, die ein Umsteigen ersparte. Aber jedem Leser rate ich, im
entsprechenden Fall doch lieber die noch viel interessantere Nebenlinie
zu benutzen.

Die Farmen in den Hochtälern wie auf Alpenweiden und -matten erwachten!
Hunde spielten vor den schweizähnlichen Blockhäusern. Hühner gackerten
heimatlich. Hemdärmelig standen in hohen Stiefeln und wollenen Jacken
stämmige Menschen vor ihren Blockhäusern, die mich sehr an die am
Fuß der San Franziskoberge in Flagstaff erinnerten, und schauten dem
Tagesereignis, dem Zug, nach ...

Es ist herrlicher Morgensonnenschein. Aus einem Cañon geht es ohne
Unterlaß in den anderen. Meist läßt der Felsabsturz gerade nur noch
den Platz für die Bahnlinie frei. Ein Zugzusammenstoß muß hier
leicht möglich, aber nicht gerade ungefährlich sein! Bergwerkstollen
sieht man bis hoch an die Felswände hinauf. Im Wagen sitzen allerlei
-- amerikanisch! -- bibellesende Menschen, darunter auch wieder ein
Heilsarmeesoldat. Mit einer ihre Morgenandacht im Wagen haltenden
jungen Dame komme ich ins Gespräch. Sie stammt von deutschen Eltern
und bekennt sich als eifrige Sonntagsschullehrerin. Sonntags besucht
sie zwei- bis dreimal ihre Kirche. Sie liest fast nur in der Bibel,
sagt sie. Andere Bücher bedeuten nichts! Meine Morgenandacht bestand im
Augenblick im Hinausschauen in die großartige Natur- und Gebirgswelt.
Redete nicht auch hier Gott zu mir? Ich brauchte jetzt kein Buch über
Gott. Meine Bibel waren im Augenblick die grandiosen Felsabstürze
und Schneehäupter und rauschenden Ströme, an denen ich mich nie müde
sehen konnte. Und etwa zur Mormonenbibel zu greifen, hatte ich jetzt,
obwohl wir kaum aus Utah heraus waren, immer weniger Neigung. Was
ging mich jetzt die abstruse und unmögliche Geschichte der Juden auf
dem amerikanischen Kontinent vor ein paar tausend Jahren an? Sollten
wirklich Juden durch diese Kañons gezogen sein oder auf diesen Almen
ihr Vieh geweidet oder an diesen rauschenden Strömen gekämpft und sich
ausgerottet haben? Ich bin kein Judenfresser -- aber das auch nur
einmal auszudenken, wäre mehr als grotesk. Ärgerlich packte ich diese
Art „Bibel“ zu unterst in meinen Handkoffer ... Die junge Dame war auf
Deutschland nicht gut zu sprechen, obwohl sie es selbst nie gesehen
hatte ...! „Aber es muß doch dort nicht schön sein“, so philosophierte
sie zu mir flötend und selbstbewußt, sonst wären doch meine Eltern
nicht hierher in die „States“ ausgewandert! Ihr Vater kam aus Elbing in
Westpreußen, wo er ein kleines Bauerngütchen besessen hatte, und hier
war er allerdings bald Großfarmer geworden. Ich sagte ihr -- und es
sollte keine bloße Höflichkeit sein -- daß ich hier am liebsten jetzt
ausstiege und durch die Wälder ginge und über die Felsen dem Schnee
entgegenstiege! Da sah sie mich ganz entgeistert an und bekam fast
einen kleinen Ohnmachtsanfall: „Aber hier gibt es ja nirgends Wege! In
diesem Lande geht man nicht spazieren!“ Mehr als mitleidig sah sie
mich dabei an, und ich entgegnete ihr ebenso mitleidig in Gedanken:
„Armes Land, das zum Wandern zu ungeheuer ist, das man nur im Expreß
oder mit dem Auto durchrasen kann. Und selbst das nicht, denn auch dazu
fehlen noch die Straßen durch die Rockies. Ihr Amerikaner, dachte ich,
müßt doch eine ganz andere Seele haben als wir Deutschen. Bei euch ist
alles aufs Riesige, Große, Ungemessene gestellt. Ihr kennt nicht die
Kleinszenerie eines deutschen Mühlentälchens oder den lauschigen Sitz
an der Quelle und den wohldurchwegten Buchenwald.“ --

Wir waren inzwischen immer höher gekommen und fuhren wieder einmal auf
2000 ~m~ Höhe. Die kleinen Bahnhöfe, die wir zuweilen passierten, an
denen manchmal ein einziges Fräulein den ganzen Bahndienst versieht
oder ein Bursche mit einer Flagge winkt -- ~NB~ die ganze bahnamtliche
Verständigung! -- erinnerten mich lebhaft an Hochtäler in Tirol und
ihre grasigen einsamen Weiden. Kühe weideten hier oben wie in den
Alpen. Und ringsum grenzten Schneeberge den Horizont.

Ja, jetzt schneite es gar. Wie lustig! Wie warm aber mochte es
gleichzeitig auf dem Asphalt des Broadway in Neuyork sein! Nur die
Gletscher fehlten hier zur Vervollständigung des alpinen Bildes. Von
der Bahn aus wenigstens sah ich keinen. So tief wie in unseren Alpen
reicht hier der Schnee nicht in die Täler. Sonst war alles wie in
unseren Alpen. Auch wenn ich mir die Menschen hier oben betrachtete,
so schienen mir die Bewegungen der Koloradoleute, an Sturm und
Schnee gewöhnt, viel stämmiger, gemessener und gewichtiger als der
typischen überbeweglichen Yankees. Die Koloradoleute kommen einem
recht unamerikanisch vor, so wie etwa bei uns der Schwarzwälder oder
Partenkirchener mit dem Berliner auf dem Asphalt der Friedrichstraße
auch wenig gemein hat.

Bald sind wir in vollendeter Schneelandschaft. Es schneit hier stark.
Bahnrauch, Nebel und Schnee hüllen das Hochtal ein. Noch immer laufen
die Gebirgsbäche zum Stillen Ozean. Wir sind in die romantische
Schlucht des „~eagle-cañon~“ eingefahren. Die Schlucht ist nur noch
wildrauschender Fluß und mehrere hundert Meter hoch aufsteigende
Felswände. Die Bahn keucht in Windungen immer höher empor. Endlich in
Höhe von 3184 ~m~ (!) -- also z. B. noch 400 ~m~ über dem Stilfser
Joch in Tirol, einem der höchsten Alpen+straßen+pässe -- erreicht die
Bahn den „Tennesseepaß“, d. h. die +Wasserscheide zwischen Stillem
und Atlantischem Ozean+! Der Zug hält, gleichsam stolz auf seine
Leistung. Es ist auch eine. Die Lokomotive faßt Wasser und Kohlen
und erholt sich von ihrem Rekord, einen ~D~-Zug mit sechs Wagen auf
solche Höhe hinaufgebracht zu haben. Für einen Augenblick springen wir
Globetrotters von den hohen Trittbrettern aus unseren Pullmann-Wagen,
die uns seit Salt Lake City schon wieder etwa 16 Stunden beherbergen.
O diese wunderbare köstliche frische Hochgebirgsluft! Wir sind 200
~m~ +über+ der Höhe der Zugspitze!! So ist es auch draußen recht
empfindlich kalt. Das Thermometer zeigt 0 Grad! Rings hüllt uns eine
neblige Schneelandschaft völlig ein. Schneehäupter schauen über
alle Seitentäler herüber, darunter die stolzen Gipfel der „Sangre
de Christo“-Berge[31]. Ach könnte ich ein wenig hierbleiben und die
Koloradoalpen ersteigen! Aber die unerbittliche Zeit, Fahrplan, Geld
und Arbeitsfrohn treiben mich mit ihrer Geißel und dem Ruf unserer
Fronvögte: „~All aboard!~“ in die dumpfen Wagen mit ihrer verbrauchten
Stickluft aus Nacht- und Tagkampieren, Speiseresten, Abfällen,
weggeworfenen Zigaretten, Zeitungen u. dgl. zurück.

In Station „Buena Vista“ ist da oben wirklich eine Prachtaussicht. Wir
fahren eine Zeitlang auf einem Hochplateau in 3000 ~m~ Höhe. Um uns
erheben sich die sogenannte „~Collegiate Peaks~“, die nach den großen
Universitäten genannt sind: „~Mount Yale~, ~Mount Princeton~ und ~Mount
Harvard~“, jeder ein Montblank für sich, an 4300-4400 ~m~ hoch! Nicht
weit von hier ist ein Tunnel, durch den die dortige Bahnlinie sogar in
3500 ~m~ (!) Höhe die Wasserscheide der Ozeane überschreitet. Draußen
steht -- wie ich beim Hinaussehen feststelle -- wieder einmal bei
ein paar Hütten eine kleine Holzbaukastenkirche. Einige weidende Esel
zeigen sich uns als die einzigen Lebewesen hier oben, wie auch diese
geduldigen Tiere allein bei uns nach den Alpenhütten emportraben. Fast
heimatliche Gefühle stellen sich bei mir ein, je öfter ich daran denke,
daß es wieder dem Atlantischen, „unserem“ Ozean zugeht! Werde ich noch
einmal im Leben am Rande des Pazifik liegen, mich in seinem Sande in
der Bucht von Montery wohlig wärmen oder nach der paradiesischen Insel
Santa Catalina hinüberfahren oder die Seelöwen gegenüber dem Goldenen
Tor der San Franzisko-Bucht brüllen hören? Das alles kam mir jetzt auf
diesen hochalpinen Ebenen wie ein sonniges, aber verklungenes Märchen
vor samt den Zinnen des Mormonentempels und den weiten glitzernden
Fluten des Salzsees ...

Allmählich ging es von der alpinen Hochebene wieder herab in einen
neuen schaurigen Cañon. Die Bahntrasse hatte sich beträchtlich
gesenkt. Es war wohl der vierte große Cañon dieses Tages, der des
„Arkansas-River“, der viele hundert Meilen lang bereits dem „Vater der
Ströme“, dem Mississippi, zuströmt. Sein Wasser rauscht frisch und
kalt, wie es aus den Bergen kommt. Mächtige Felsblöcke sperren seinen
Weg. Immer enger wird der Bahnweg. Wie ein ständig sich krümmender
Wurm windet sich der Zug durch die riesige Schlucht. Wirklich, diesmal
war der Mund nicht zu voll genommen: Es war „~the most scenic line of
the world~“, die ich fuhr. Der Arkansascañon übertraf alle Tiroler,
Schweizer und oberbayrischen Klamms zusammen, die ich gesehen hatte.
Welche Wildromantik ständig da draußen! Mich beseligte ein eigenartiges
stilles Glücksgefühl, das alles einmal sehen zu dürfen. So hätte ich
bis ans Ende der Welt fahren können! Nur zu schnell glitt alles
vorüber ...

„~Morningpapers~“[32] wurden ausgeboten. Was scherten mich jetzt
in dieser Alpenszenerie die Politik der Welt und die Börsenkurse,
Theatergrößen und Sporthelden! Wie lächerlich klein, unwichtig und
aufgebauscht erscheint all das Menschengetriebe der Kulturgroßstädte
hier oben! Andere im Wagen studieren immer von neuem die Fahrpläne,
die sie doch bald auswendig können müssen, um die Zeit totzuschlagen,
die mir viel zu schnell vergeht. Auch Kartenspiel ist nicht jedermanns
Sache und dünkte hier mich Sünde. Ich studiere derweilen immer aufs
neue die majestätische Natur draußen und suche die großen Eindrücke
recht fest und tief in mich einzusaugen ...

An den kleinen Stationen, wo es etwa alle ein bis zwei Stunden einmal
hält, steigt niemand ein und aus. Aber zuletzt, ehe wir aus dem
Felsengebirge austreten, kommt noch das Großartigste von allem, die
sogenannte „Royal-Gorge“[33]. 800 ~m~ hohe Wände steigen hier fast
senkrecht aus der Schlucht empor. Die Schlucht wird jetzt so schmal,
daß die Spur für die Bahn zum Teil erst künstlich geschaffen werden
mußte. Auf hängender Brücke (!), deren obere Eisenbänder in die
Felswände eingelassen sind, überschreitet die Bahn die allerengste
Stelle. 13 ~km~ lang ist dieser ganze unbeschreiblich romantische
Engpaß. Unter uns oder dicht neben uns tost der Arkansas-River. Hier
wächst kein Gräslein mehr in dieser Teufelsschlucht, kein Sonnenschein
dringt in die Tiefe ... Der Zug hält einen Augenblick zur Bewunderung
der grandiosen Gebirgsszenerie. Dann auf einmal tritt nach nicht
allzulanger Weiterfahrt die Bahnlinie urplötzlich ins offene Gefilde
hinaus. Wie aus einem Höllental geht es ins Himmelreich, wie aus der
Teufelsschlucht des Gotthardpasses in das grüne „Andermatt“. Die
Berge treten zurück. Die Baumblüte ist im Gange. Noch erscheinen
keine zusammenhängenden Siedlungen, sondern erst nur Einzelfarmen.
Berittene Hirten treiben mächtige Kuhherden in die Hürden, denn der
Tag neigt sich wieder einmal zum Abend. Wir halten in Cañon-City,
dann in Pueblo, das nicht mehr weit von La Junta ist, der Gegend, wo
ich mein Scheckbuch verlor und wiederfand. Ich bin also eine riesige
Schleife gefahren. Ich steige aus in dem amerikanischen Davos,
in „Kolorado-Springs“ am Fuß des 4300 ~m~ hohen Pikes Peak. Der
vielbesuchte Badeort liegt selbst 1800 ~m~ hoch, also auf Rigihöhe.
Dicht vor sich hat man die Kette des Felsengebirges, das ich einst
so sehnsüchtig erschaut und nun zweimal so ausgiebig seiner ganzen
ungeheuren Breite nach durchfahren hatte; zur Rechten beginnen die
ebenso ungeheuerlichen Mississippiebenen ...

Als ich aus dem Bahnhof trat, fiel schon die Nacht ein. In meinem
Logis, das ich bald gewählt, freute es mich doch, nach der 24stündigen
Fahrt seit Salt Lake wieder einmal ungerollt und ungewiegt schlafen zu
dürfen. Wie in Kalifornien in Los Angeles, Monterey und San Franzisko
wollte ich mich auch hier in dem vielgerühmten Klima ein bißchen
erholen und es mir auf ein bis zwei Tage gemütlich machen, denn noch
immer lagen ungeheure Entfernungen vor mir. Erst ein Drittel der Breite
der Union war wieder von Westen nach Osten durchmessen ...

Von Kolorado-Springs, dem Davos oder Luzern Amerikas, kann man viele
herrliche Touren machen, aber dazu braucht man Führer, Esel, weitere
Bahnfahrten, so in die „Cheyenne Berge“, die Alpenfahrt nach der
Goldgräberstadt „Cripple Creek“, vor allem aber zu dem nach dem
Indianergott Manitou, dem „großen Geist“ genannten Gebirgsort am Fuß
des Pikes Peak, zu dem „~garden of the Gods~“, dem Göttergarten mit
seinen grotesken Felsbildungen, und vor allem auf den die ganze Gegend
beherrschenden „Pikes Peak“ selbst.

Es war fast immer blendender Sonnenschein, wenn ich aufstand. In
Kolorado-Springs regnet es von September bis April überhaupt nicht;
selten fällt Schnee! Es ist noch trockener und sonniger als Davos und
wird daher viel von Brustkranken, Tuberkulösen und Neurasthenikern in
der Union aufgesucht. Von den endlosen Prärien der Mississippiebene
weht der reine warme Wind herein. Die hohen Berge der Rockies schützen
es gegen Stürme und Kälte. Es war also allein schon ein erhebendes
Bewußtsein, an einem so gesunden und paradiesisch-klimatischen Ort
zu weilen. Man lebte den ganzen Tag in dem Gefühl, wie von rosigen
Engelslüften umgeben zu sein, und war von der fast fixen Idee besessen,
daß man nur immer recht tief Atem zu holen brauche und die Lungen
davon recht gefüllt mitzunehmen, um gesund zu sein. In der Tat, als
ich wieder nach Chikago zu meinen Verwandten kam, waren sie erstaunt,
mich trotz der inzwischen geleisteten Bahnfahrt von 5000 Meilen so
frisch und rotbackig zu finden. Das hatte ohne Zweifel die Luft von
Kolorado-Springs zusammen mit dem sonnigen Sand am Pazifik zuwege
gebracht.

So fuhr ich nach dem Frühstück sofort mit der Eisenbahn die nicht
allzugroße Strecke über „Kolorado-City“ ins Gebirge hinein nach
„Manitou“. Kolorado-Springs war schon still. Denn die großen Hotels
waren noch geschlossen. Die Saison war noch nicht angegangen. Aber
Manitou war geradezu noch wie ausgestorben. Vielleicht hätte ich hier
jetzt noch nicht einmal ein Zimmer bekommen. Denn alle Pensionen
und Gasthöfe schienen noch geschlossen zu sein. In Kolorado-Springs
dominierte schon einzigartig schön das Montblanchaupt des Pikes Peak,
aber in Manitou wirkte es geradezu erdrückend. Man war ihm hier jetzt
näher wie in Lautersbrunn oder Wengen in der Schweiz der „Jungfrau“.
Manitou liegt verstreut mit Villen und Pensionen in einem alpinen
Kessel, etwa 2000 ~m~ hoch. Von hier aus wird die Besteigung des Pikes
Peak meist unternommen. Und die hatte ich mir nun einmal schon lange
in den Kopf gesetzt. Sie stand als unerschütterlicher Punkt auf meinem
Reiseprogramm.

Es geht auf den Pikes Peak eine Zahnradbahn hinauf, die drei Stunden
braucht. Aber die hätte ich verschmäht, auch wenn sie gegangen wäre.
Gewiß war sie auch für meinen Geldbeutel zu teuer. Ebenso wie ich es
für eine Entheiligung unserer Alpen halte, daß sich jetzt jede feiste
Madame oder jeder Schieber auf die Jungfrau oder bald auf die Zugspitze
hinauffahren lassen kann. Auch auf den Rigi und den Pilatus sind wir
seinerzeit ganz zu Fuß hinauf- und wieder hinuntergestiegen. Das war
redliche Touristenarbeit. Die Zahnradbahn war aber noch nicht wieder
eröffnet! Außer der Zahnradbahn geht eine 27 ~km~ lange Fahrstraße
auf den Gipfel! Die kann man hinauffahren. Aber sie war für mich zu
weit. Ich wäre auch nie in der Kutsche hinaufgefahren. Zu Fuß wäre ich
hinauf-, aber an einem Tage nicht wieder heruntergekommen! Endlich geht
ein Fuß- und Reitweg durch den Englemans Cañon hinauf, zu dem man
sechs Stunden braucht! Mit dem Fußweg wollte ich es tapfer versuchen.
Ausgerüstet war ich zwar gar nicht dafür. Ich hatte weder Bergschuhe
noch Alpenstock, auch keine langreichende Wegzehrung! Was hatte ich
auf dem Frühlingspflaster in Boston und Chikago auch an Alpentouren
im Felsengebirge in Schnee und Eis gedacht! Schon am Niagara war ich
höchst überrascht, ihn Anfang April noch völlig vereist anzutreffen ...!

Ich wanderte also zunächst, als ich aus der Bahn stieg, durch den
prächtigen Luftkurort Manitou, kam am Bahnhof der Zahnradbahn vorüber
und stapfte tapfer, klirrend meinen Stock aufstützend, den Fahrweg zum
Englemans Cañon hinauf. Es wurde immer stiller und einsamer um mich.
Nur die Sonne schien und war meine treue Begleiterin. Der Fahrweg
hörte bald ganz auf und wandte sich rechts ab. Der Fußweg hörte bald
auch auf -- nämlich im tiefen Schnee! Nun blieb nur noch die Trasse
der Zahnradbahn als Pfad zu erkennen. Der folgte ich. Einige weidende
Esel waren die letzten Lebewesen gewesen, die ich sah. Im Sommer
trugen sie wohl unermüdlich die Touristen auf den Alpengipfel des
Pikes Peak. Nun kam lange gar nichts mehr. Ich setzte immer Fuß vor
Fuß, eine tüchtige tiefe Spur hinter mir lassend. Nach einiger Weile
hüpfte mal ein graues Eichhörnchen über den Weg, das noch lange nicht
daran dachte, sein Sommerkleid anzulegen. Hier und da löste sich im
wärmenden Sonnenschein eine Schneelast von den dichtstehenden Tannen
und huschte mit gespenstischem Laut zur Erde nieder. Eine reine Luft
war rings zum Jauchzen. Ein Himmelblau spannte sich über mir, wie ich
es so tief und klar kaum je gesehen hatte. Ich dehnte und weitete meine
Brust und füllte die Lungen, als ob es bis ans Lebensende reichen müßte
... So war eine Stunde nach der anderen vergangen. Aber der Pikes
Peak erschien mir immer höher und -- ferner! Rings um mich war alles
Schnee. Auch die Trasse der Zahnradbahn war jetzt so dicht mit Schnee
zugedeckt, daß sie kaum noch zu erkennen war. Jeder Schritt wurde zu
einer mächtigen Anstrengung. Lautlos still war alles ringsum. Leise
Zweifel begannen in meiner Brust aufzustehen, ob ich wohl heute noch
hinaufkäme. Oben sollte ein Gasthaus sein, aber es war gewiß jetzt
noch geschlossen! Ein Herr und eine Dame waren mir entgegen abwärts
geschritten, wohlausgerüstet wie Alpensteiger. In der Freude, in dieser
Hochgebirgseinsamkeit einmal plötzlich Menschen zu sehen, griff ich
auf gut deutsch an den Hut und sagte fröhlich, ganz vergessend, wo ich
war: „Guten Morgen“! Die Lady sah mich groß an, offenbar sehr erstaunt
und beleidigt zugleich, daß ich es wagte, als Mann eine Dame zu grüßen
und anzusprechen, und grüßte nicht wieder! Ich hatte im Augenblick
auch ganz vergessen, daß ich ja auf amerikanischem Boden eine Dame
nicht zuerst grüßen darf! Und selbst auf dem Weg zum Pikes Peak muß
man die Form wahren! Der Herr, offenbar, wie ich beim Näherkommen sah,
ein Führer, murmelte lächelnd ein paar Worte. Ich rief ihm noch nach,
wieweit es noch auf den Pikes Peak sei, da antwortete er: „Bis zum
~half-way-house~ noch eine gute halbe Stunde.“ So stapfe ich weiter,
in der Hoffnung, beim „~half-way-house~“ wohl eine trockene und warme
Stube zu finden. Dann überließen sie mich meinem Schicksal. Als ich
endlich, vom ewigen Schneestapfen und Bis-ans-Knie-Einsinken recht müde
geworden, das „~half-way-house~“ erreiche, ist es -- verschlossen!
Ich rüttele an allen Türen, es hilft nichts. Die Fensterläden sind
zugeschlagen. Kein Lebewesen, weder Mensch noch Tier, regt sich in ihm.
Mir wie zum Spott steht bloß groß da angeschrieben: „~Half-way-house~“
-- und droben erhob der Pikes Peak sein Haupt, jedesmal höher, ferner
und anscheinend unerreichbarer denn je zuvor!

Ich verzehrte meinen Mundvorrat an Gebäck und Orangen im Stehen. Meine
Füße steckten naß in leichten Strümpfen und durchlässigen Schuhen wie
in ständigem Schneewasserbad. Ich überlege. Zum Umkehren kann ich
mich noch nicht entschließen; aber ob ich heute noch auf den Pikes
Peak komme und auch wieder mit heiler Haut bei diesen unerwarteten
Schneeverhältnissen herunter, ist mir nun höchst zweifelhaft geworden.
Und wenn oben gar auch verschlossen ist wie hier das ~half-way-house~,
sollte ich dann die Nacht oben im Schnee zubringen? Das waren keine
angenehmen Aussichten! Wie es nur wohl die nicht wiedergrüßende
Lady gemacht hatte? Hatte sie vielleicht einen Schlüssel zu dem
Unterkunftshaus mitgehabt? Meine Wirtin in Kolorado-Springs hatte es
mir nicht sagen können, ob „oben“ offen sei und ob man jetzt schon
hinauf könne. Ich müsse es versuchen. Ich las in meinem getreuen
Bädeker nach, da fand ich den mir jetzt leider nur allzu wahr
erscheinenden Satz: „Die Besteigung des Pikes Peak ist des Schnees
wegen nicht vor Juni, nur im Sommer anzuraten!“ Er hatte recht, der
treffliche Bädeker, wie immer. Aber da ich im tiefen Schnee so manchen
Berg auch im deutschen Winter erstiegen hatte, dachte ich, ich könnte
auch den Pikes Peak in Amerika im April zwingen ... Der Mensch
denkt! ...

Ich stapfte weiter. Meine Stiefel waren außen Schnee und innen Wasser.
Ich gab das Rennen noch nicht auf. Oder sollte ich etwa doch besiegt
einen Kompromiß schließen? Kompromisse sind stets vom Übel. Aber
manchmal geht es doch nicht anders. Rechts oben über einem steilen Hang
schaute ein Aussichtstempel herab: „~Grand-view-rock~“ nannte er sich.
Ein Wegweiser, aber jetzt ganz ohne Weg, wies hinauf. Sollte ich mich
mit diesem kleinen Pikes Peak begnügen? Schmählich! Aber der Mensch
versuche die Götter nicht! Sollte etwa nachher in den amerikanischen
Zeitungen stehen: „Am Pikes Peak wurde ein deutscher Tourist erfroren
und entkräftet aufgefunden. Aus seinen Papieren ergab sich, daß er usw.
...“ Nein, diese Sensation gönnte ich den so sehr sensationslüsternen
„~papers~“ neben alle den anderen auf dem Asphalt Chikagos und Neuyorks
denn doch nicht! Dazu war der ~sacro egoismo~ in mir zu lebendig. Also
wandte ich mich rechts hinauf und stieg zunächst weg- und steglos durch
den Wald und über vereiste Felsen zum „~grand-view-rock~“ hinauf, bis
mir das Herz bei dem fast senkrechten Steigen bis zum Halse hinauf
klopfte ...

[Illustration: ~SALT LAKE CITY~

~Der Tempel-Block in Salt Lake City~]

[Illustration: ~WASHINGTON~

~Das Capitol~]

Ich hatte ihn erreicht. Auf hohem Felsen thronte ein Holztempelchen.
Ich trat ein. Die Aussicht von oben war in der Tat glänzend
und „groß“. Unten zu meinen Füßen lag Manitou wie aus einer
Spielzeugschachtel aufgebaut, weiter hinaus Kolorado-Springs, und
dann ergoß sich die endlose Ebene wie ein Meer bis an den weitesten
Horizont; ringsum aber die immer gewaltiger ansteigenden Berge. Über
allem das noch immer unbezwingliche Schneehaupt des Pikes Peak! Ich
stand wohl jetzt etwa noch knapp 1000 ~m~ unter seinem Gipfel. Es war
Mittag. Der Hunger meldete sich. Und der Weg abwärts und zurück war
auch noch ein gutes Stück Arbeit. So entschloß ich mich schließlich
doch schweren Herzens, die weitere Besteigung des Berges nicht zu
versuchen. Aber es hat mich einen Kampf gekostet ...!

An den Felsen des ~grand-view-rock~ waren sehr merkwürdige Inschriften,
die zur religiösen Bekehrung riefen, angeschrieben, z. B.:

  „~God will save us. The wicked go to the hell. Where will you spend
  eternity? He that believes, shall be saved. He, that does not, shall
  be damned.~“[34]

Also Heilsarmeefrömmigkeit bis auf den Pikes Peak hinauf! Ob das hier
gerade sehr geschmackvoll wirkte? Ob nicht die grandiose Bergwelt
allein dem Menschen mehr wirkliche Gotteserkenntnis predigte als
solche Inschrift? Das Holzgeländer des Tempelchens, das vor der Tiefe
schützen sollte, war recht morsch. Im Winter mag hier manch schöner
Sturm und Frost wüten! Nachdem die letzte Kost verzehrt und der letzte
Blick hinauf auf das göttergleiche Haupt des Pikes Peak und hinab in
die endlosen Prärien getan war, begann ich innerlich traurig den nicht
mühelosen Abstieg nach Manitou ...

In Manitou wieder angekommen, mache ich, ehe ich nach Kolorado-Springs
zurückkehre, noch einen weiten Umweg in die „~gardens of the gods~“,
d. h. in jenes Gebiet der merkwürdigsten Sandsteinbildungen, noch
vielmal absonderlicher als etwa die unserer sächsischen Schweiz,
besonders eigenartig durch ihre rotglühende Färbung. So wandle ich am
Nachmittag -- die Schneeregion ist wieder verlassen -- zwischen dem
„Turm von Babel“, einem mächtigen mehrgipfligen spitzen Fels, den „drei
Grazien“, drei steilspitzen Nadelfelsen, den „siamesischen Zwillingen“,
zwei eigenartig fast in gleicher Höhe nebeneinander aufragenden
und durch ein Felsstück verbundenen Gesteinstürmen, so daß sie wie
zusammengewachsen erscheinen, am „Wackelstein“, einem mächtigen auf
einer Ecke balanzierenden Felsblock, und dem „Gateway“, einem mächtigen
Felsentor, vorbei zu den Höhlen der Felsenbewohner (~cliff-dwellers~)
aus vorgeschichtlicher Zeit und den „Titanen“felsen, die fast den
Eindruck assyrischer Götterfratzen machen. Und zwischen all diesen
seltsam bizarren roten und weißen Sandsteinbildungen blickt immer
wieder das majestätische Haupt des Pikes Peak aus der Ferne hindurch
wie der schneeige Libanon durch die grandiosen Tempelruinen von Baalbek
in Syrien ...

Gegen Abend bin ich wieder in Kolorado-Springs und kann mich auch hier
nicht satt sehen an dem dominierenden Schneegipfel.

       *       *       *       *       *

Nach einer nach diesen Anstrengungen wohldurchschlafenen Nacht
entführte mich der Zug in die „Königin des Westens“ Denver. Mein lieber
Freund Moore in Harvard, Dolmetsch und Cookführer in Konstantinopel
und Griechenland, hatte es mir geradezu auf die Seele gebunden, daß
ich seine Heimatstadt Denver besuchen müßte. Die Entfernung von
Kolorado-Springs betrug 75 Meilen, also nur ein Katzensprung für
amerikanische Begriffe. Während der ganzen Fahrt dorthin hatte man
links eine Prachtaussicht auf die Kette des Felsengebirges. Und je
weiter wir uns vom Pikes Peak entfernten, desto höher erschien er.
Es war wieder ein feiner Frühlingsmorgen. Der Zug hatte mit Tuten
öfters Vieh und Spaziergänger vom Bahndamm zu jagen, der auch hier als
bequemster Verbindungsweg galt! Rechts dehnte sich der Blick in die
endlose Prärie. Die Büffel in ihr sind freilich verschwunden. Die sieht
man bloß noch im Golden-Gate-Park in San Franzisko oder in zoologischen
Gärten. Auf 2000 ~m~ Höhe, auf der wir hinfuhren, waren die Bäume hier
noch unbelaubt, während es in Kalifornien schon wie Sommer gewesen war!

Denver liegt wie München auf einer Hochfläche vor den Alpen. Rings ist
wohlangebautes Farmland. Aber nirgends entdeckte man in ihm so etwas
wie Volkstracht. In der Stadt selbst, die sauber, aber mir auch recht
windig vorkam, empfangen mich wieder endlose Straßenzeilen. Nachdem
ich einen Lunch eingenommen habe, gehe ich zu dem erhöht liegenden
Staatskapitol der Stadt, um von oben recht die Aussicht über die Stadt
und auf das Felsengebirge zu genießen. Aber es ist Sonnabendnachmittag,
und ich werde nicht mehr zur Kuppel heraufgelassen, es sei schon „für
Sonntag gekehrt“! Das tut man also auch in Amerika! So konnte ich die
schöne Aussicht, die das Felsengebirge hier in einer Ausdehnung von 270
~km~ zeigt, nicht bewundern und mußte mich mit Streifen durch die Stadt
begnügen. So ging ich unter anderem in den Stadtpark und treffe auf
ein Denkmal des Dichters Burns mitten zwischen Kanonen! Geschmackvoll!
Die Zeitungsbureaus sehe ich umlagert von Massen, die auf die neuesten
Nachrichten über den Ausgang der Sonnabendnachmittags-Fußball- und
-Baseballkämpfe warten! So war auch Denver typisch amerikanisch. Das
amerikanische „Gesicht“ ist überall gleich ...

Denver ist Hauptstadt des Staates Kolorado und dank der reichen
Goldfunde und Minen äußerst schnell gewachsen. Erst 1858 wurde es von
Goldgräbern gegründet, 1870 war es noch eine unbedeutende Stadt, heute
zählt es schon 300000 Einwohner!

Abends sitze ich schon wieder in meinem Schlafwagen, um in einer Nacht,
einer Tagesfahrt und einer Nacht über Kansas City und den Mississippi
wieder Chikago zu erreichen. Dann wird mein verbilligtes meterlanges
Auswandererzettelbillett abgefahren und die große Schleifen-Westreise
vorläufig vollendet sein. Stiller Mondschein liegt über den
unendlichen Gefilden der Prärie. Ich war froh, in zwei +Nächten+ sie
zu durchfahren. Denn sie noch einmal ganz bei Tageslicht in ihrer
grenzenlosen Einförmigkeit zu durchleben, wäre fast eine zu große
Nervenbelastung gewesen. Die Seele war nun aus Neu-Mexiko, Arizona,
Kalifornien, Nevada, Utah, Kolorado zu sehr mit immer wechselvollen
und romantisch-anziehenden Bildern gesättigt, um jetzt noch für die
monotone Öde der Mississippi-Ebene empfänglich zu sein und sie etwa 36
Bahnstunden lang hintereinander in sich aufzunehmen. Die Abspannung war
aber auch sowieso noch groß genug. Ich fuhr also die Nacht zum Sonntag,
den ganzen Sonntag und die Nacht zum Montag ohne Unterbrechung! Am
Sonntag war der Zug sehr leer. Denn vielen Amerikanern ist es einfach
Sünde, am Sonntag zu reisen. Die Zahl der Züge ist auch beschränkt.

An wie vielen kleinen Städten, einsamen Farmen, kleinen Kirchen fuhren
wir in den 36 Stunden vorüber! Und dazwischen Land, Land und immer
wieder unendliches Land. In Kansas und Illinois fing es auch erst ganz
schüchtern an, Frühling zu werden. Es ist die Gegend der furchtbaren
Frühlingsorkane, der gefürchteten Tornados, die sich bilden, wenn
die südlich warmen und nördlich kalten Luftströme ungehindert
aufeinanderstoßen. Die Natur war noch keinen Schritt weiter wie vor
zweieinhalb Wochen.

Nachdem man viele Stunden lang nichts Besonderes gesehen hatte, zeigten
sich einmal drei Jäger zu Pferde mit Flinten in der Steppe -- welch
ein Ereignis! Ein andermal standen ein paar Männer an einem kleinen
Bahnhof und sahen dem Zug nach -- ein Ereignis! Im Zuge selbst wurde
es beim langen Fahren einer Dame übel. Bleich sank sie auf ihrem Stuhl
zusammen -- ein Ereignis! Ich wundere mich überhaupt, daß es bei dem
endlos langen Bahnfahren nicht noch mehr Menschen übel und ohnmächtig
wird. Aber sie haben offenbar hier von Jugend an andere Eisenbahnnerven
als wir! Ich wunderte mich auch manchmal über mich selbst, daß ich die
12000-~km~-Bahnfahrt so gut überstanden habe! Aber nun kommt angesichts
der ohnmächtigen Lady ratlos der Neger-Wagenhilfsschaffner auf mich zu
-- was hat er nur mit mir vor? Erfolgt etwa ein neuer Angriff auf mein
Scheckbuch? Er fragt mich, ob ich vielleicht ein „~physician~“[35]
sei, und ob ich der bleichen Dame beistehen könne. Beschämt muß ich
meine vollständige medizinische Unkenntnis eingestehen. Wie kam er
auf mich? Hat er mir mit hellseherischen Augen die Verwandtschaft mit
meinem Onkel, dem Doktor in Boston, angesehen? Immerhin riet ich, die
Dame sanft zu lagern, ihr ein Kopfkissen unterzuschieben und etwas
Wasser zu holen und dann sie sich selbst zu überlassen, bis sie wieder
zu sich käme. Das geschah auch bald, genau nach meinem medizinischen
Rat! Und ich war zum Glück weiterer medizinischer Künste enthoben. Für
was man mich drüben alles gehalten hat! Bald war ich Landaufkäufer,
Reisender, Zeitungsschreiber, Stundengeber, Student, Arzt, nur nicht
das, was ich wirklich war ...

Am Arkansasriver entlang ging es stracks gen Osten. Farmer stiegen
ein, die nach Chikago wollten oder nach Neuyork zum Einkaufen! Welcher
pommersche Bauer fährt bei uns nach Frankfurt am Main, Basel oder
Mailand zum Einkaufen? Alle waren hier in der gleichen einförmigen
städtischen amerikanischen Kleidung, auch die Farmer. Bauerntracht gibt
es nicht. Man unterscheidet am Rock drüben niemand, keinen Kaufmann,
Beamten, Farmer, Schreiber oder was sonst. Sie sind alle „~citizens~“,
sitzen in derselben Eisenbahnklasse und treten gleich als „Bürger“
auf ...

In Kansas City hatte ich umzusteigen. Wie primitiv sind die Wartesäle
selbst in einer so großen Stadt! Bloß Bänke in einer großen Vorhalle!
Ich habe Zeit, gegenüber dem Bahnhof auf eine Felsenterrasse zu
steigen. Rauchig und düster kommt mir an diesem Abend die Stadt vor.

Wieder geht es hinein in den „~sleeper~“ nach Chikago, und ich schlafe
dem Lake Michigan entgegen. Nächtlich prasselt beim Fahren tüchtig die
Asche aus der Lokomotive auf das Dach. Der Zug fährt schlecht, ruckt,
zieht an, stöhnt, pfeift, steht und fährt wieder. Ist etwas nicht im
Lote? Ich denke an die dreimal mehr Eisenbahnunfälle in Amerika als
in Deutschland, und es ist mir etwas ungemütlich. Aber wohlbehalten
rollen wir früh in Chikago ein. Gott sei dank, einmal wieder auf festem
Erdboden! Mein Billett ist abgefahren! -- --

Diesmal langte ich in der Morgenfrühe in Chikago an, das war besser.
Zwei Tage vorher hatte ein von Kanada einbrechender Schneesturm auch
Chikagos Asphalt in Schnee gehüllt und weithin in Illinois, Wiskonsin,
Michigan die Baumblüte „vernichtet“. So beuteten die Zeitungen schnell
das unerwünschte Ereignis aus und kabelten, was für ein nationales
Desastre führende Männer über Illinois prophezeiten! So daß man als
naiver Mensch wirklich zuerst glaubte, die Union stehe am Vorabend des
Hungertodes! Aber das diente wohl nur im voraus dazu, die amerikanische
Menschheit auf höhere Obstpreise gefaßt zu machen, so daß der
„Blizzard“ den Obstmagnaten nicht ganz ungelegen kam.

In Wolken, Regen, Schnee und Nebel wirkten die Wolkenkratzerschluchten
diesmal noch düsterer und grandioser als sonst. In den unteren
Stockwerken brannte den ganzen Tag Licht. Bei Marshall, Field & Co. sah
ich das alte wahnsinnige Getriebe und Gewimmel im Ein- und Ausgehen. In
den Straßen wie immer die ~policemen~ und Negerfuhrleute. Zum Brechen
voll waren die ~moving pictures~, Theater, Zirkusse. Man will Geld
machen und sich vergnügen. Sonst will man in Chikago nichts ...

Luft bekam ich erst am stürmisch erregten Michigansee mit seiner
weiten, meerähnlichen Wasserfläche. Von ihr aus kann man durch die
anderen Seen und den Lorenzstrom zu Wasser bis nach London fahren! Die
„~stockyards~“ widerten mich an. Die Clowns und Akrobaten bei Barnum
und Bailey lockten mich nicht mehr. Das Geschrei an der Börse hielt
mich keine Minute. Auch nicht das römische Wagenrennen der Cowboys noch
die Todesspringer aus der Kuppel des Zirkus scheuchten mich aus dem
Schaukelstuhl meiner Verwandten, aus dem ich der lieben Kusine meine
gesamte Rundreise nach Kalifornien zu schildern suchte. Mein Vetter
wollte es gar nicht glauben, daß man in verhältnismäßig so kurzer Zeit
solche Entfernungen durchmessen und soviel sehen könne und dabei noch
Nerven behalten und gesund bleiben, ja gesünder wiederkommen könne
als man fortfuhr. Ich freute mich, als ~German~ selbst den Yankees zu
imponieren! Und das ist nicht immer ganz leicht.

So nach einem zweiten Aufenthalt in der drittgrößten Stadt der
Welt dampfte ich eines Morgens wieder im Pullman davon, aber nicht
geradeswegs über den Niagara nach Boston zurück, wie ich gekommen
war -- das wäre ja nichts Neues gewesen -- sondern nach einem neuen
leuchtenden Stern in meinem Reiseprogramm, nach +Washington+. Hatte ich
soviel in der Union gesehen von Osten bis zum äußersten Westen, so wäre
es schon ein Akt internationaler Unhöflichkeit gewesen, wenn ich nicht
auch der Hauptstadt meinen respektvollen Besuch gemacht hätte. Freilich
von Chikago nach Washington fahren, das bedeutete noch einmal tief nach
Süden ausbiegen und dann wieder weit hinauf nach Norden. Also auf nach
Washington!


Fußnoten:

[Footnote 28: Letzter Ruf zum Abendessen.]

[Footnote 29: Also etwa zwölfmal so groß wie der Genfer See!]

[Footnote 30: Solche Dinge sind psychologisch möglich durch
Zurücktreten des Wachbewußtseins und Hervortreten des Unterbewußtseins,
das sich Dinge erinnert, die das Wachbewußtsein „vergessen“ hat.]

[Footnote 31: „Blut Christi“-Berge von ihrer rötlichen Sandsteinfarbe.]

[Footnote 32: Morgenzeitungen.]

[Footnote 33: Königliche Schlucht.]

[Footnote 34: Gott will uns retten. Die Bösen gehen zur Hölle. Wo
willst du die Ewigkeit zubringen? Wer glaubt, wird gerettet werden; wer
aber nicht glaubt, wird verdammt werden.]

[Footnote 35: Ein Arzt.]




Über Pittsburgh nach Washington.


Ich schickte mich an, noch zwei mächtige Katheten eines riesigen
rechtwinkligen Dreiecks abzufahren statt der viel näheren direkten
Hypotenuse. Das hatte aber auch den Vorteil für mich, daß ich auf
diese Weise nicht nur nach Washington kam, sondern zugleich die große
Hafenstadt Baltimore und die „Wiege der Freiheit“, die „Stadt der
Bruderliebe“, die Millionenstadt Philadelphia berührte, ja zuletzt auch
noch einmal durch Neuyork kam. War ich dann wieder in meiner „Heimat“
Boston, so hatte ich im ganzen eine riesige Acht gefahren, deren
Schnittpunkt Chikago, deren bei weitem größerer unterer Teil gen Westen
und der kleinere obere nach Osten lag. Immerhin waren es von Chikago
nach Washington noch 650 ~km~ und von da nach Boston zurück weitere
400, also wiederum über 1000 ~km~. Endlich aber kam ich unterwegs
durch den großen Eisen- und Kohlenbezirk Pittsburgh, das amerikanische
Essen, wo ich einen alten Großoheim eines meiner besten Jugend- und
Schulfreunde besuchen und begrüßen sollte, der dort schon ein halbes
Jahrhundert als Prediger einer kleinen Arbeitervorstadtgemeinde wirkte.

So wallte ich wieder durch den amerikanischen Kontinent lotrecht auf
die Küste des „heimatlichen“ Atlantischen Ozeans zu. Erst ging es
durch den Staat „Indiana“, dann nach „Ohio“ hinein, das ich nicht allzu
weit vom Südende des Lake Erie in seiner ganzen Breite durchfuhr. Ohio
war mir seit Kindheit an ein vertrautes Wort samt seiner Aussprache
„Oheio“, denn in meiner Kindheit wohnte Onkel E. mit seiner Musikschule
in der Hauptstadt dieses Staates, dem durch seine Schweinezucht
berühmten Cincinnati. Die Stadt selbst ist nach dem agrarischen Römer
Cincinnatus, der vom Pfluge weg zum Diktator berufen wurde, wie wir als
Quintaner schon lateinisch zu übersetzen hatten, benannt. Und wenn in
meiner Kindheit an den Onkel geschrieben wurde, so wußte ich schon als
Kind, daß das stets hieß: „Cincinneti, Oheio“. Aber nie hätte ich es
damals für glaublich gehalten, daß ich einmal selbst in dies mysteriöse
„Oheio“ (das uns Kinder immer ein bißchen an „heio, popeio“ erinnerte)
verschlagen würde. Cincinnati berührte ich allerdings in dieser
Nacht direkt nicht. Es ist berüchtigt wegen seiner fürchterlichen
häuserumstürzenden und dächerabdeckenden Tornados. So vermieden
wir beides und durchfuhren schlafend und seelenruhig den ganzen
Staat „Ohio“. Die strahlenden Bogenlampen über den vom Regen nassen
glänzenden Schienen des Central Union Depots in Chikago waren einer der
letzten Eindrücke meines Wachbewußtseins, ehe ich in das andere Land
der Träume hinüberschlief ...

Am Morgen fuhren wir mitten durch grünes, ansprechendes Hügelland.
Überall sahen frische grüne Halmspitzen hervor. Es wollte mit Macht
auch hier Frühling werden. Wir hatten wieder „~eastern time~“ nach
der „~mountain time~“ des Felsengebirges und der „~central time~“ von
Chikago. Das Land war wieder bedeutend dichter besiedelt als in den
Ebenen westlich Chikago. Den Ohiofluß aufwärts ging es gen Allegheny
und Pittsburgh. Die einstigen Indianertäler sind heute voll Fabriken.
Welche Wandlungen!

Dicker Rauch lagerte über der industriereichen Gegend. Man glaubte um
Birmingham oder an der Ruhr zu sein. Aus dem Sonnenschein des grünen
Landes umfing es uns bald mit dunkelgelber Finsternis der Wälder von
Fabrikschloten. Einst war Pittsburgh, das heute die amerikanische
Metropole für Eisen und Kohle ist, einst nichts als ein kleines Fort
namens Duquesne gegen die Indianer am Zusammenfluß des Allegheny River
und des Monongahela gelegen. Heute ist es eine halbe Millionenstadt
zwischen beiden. Schon ist der Ohio hier am Oberfluß fast so breit
wie unser Rhein. Sein ganzer Lauf bis zum Mississippi aber gibt dem
Missouri an Länge nicht viel nach.

Wir fahren über den breiten Strom in die rauchende, stampfende,
dampfende und dröhnende Stadt ein, wo auch schon genügend Wolkenkratzer
ihren steilen Hals aus der City recken. Ja, das Flußtal des Ohio ist
so sehr mit Rauch gefüllt, daß man kaum bis zur nächsten Brücke sehen
kann! Ehe wir in den Bahnhof einlaufen, umkreist der Zug fast die ganze
Stadt.

Ich kann nicht sagen, daß mich Pittsburgh anzog, ebenso wie ich bis
jetzt den Rauch der Ruhr mied und den englischen Industriebezirk um
Manchester und Birmingham so schnell wie möglich wieder floh. Denn ich
halte es viel lieber mit grünen Wiesen, blauen Seen und schneegipfligen
Bergen und bin der altmodischen Meinung, daß Fabrik und Industrie,
Kohle und Eisen die Menschheit zwar reicher, aber nicht glücklicher
gemacht haben. Freilich muß ich zugeben, daß ich ohne Dampf und Eisen
nicht nach Frisco und nicht nach Pittsburgh gekommen wäre.

Die Stadt und ihre Schwesterstadt Allegheny, die wie Elberfeld und
Barmen zusammenliegen, wird von steilen Hügeln umkränzt, so daß sie des
Malerischen nicht ganz entbehrt. Neben Eisen und Kohle ist die Gegend
ebenso reich an Petroleum und dem der Erde entströmenden geruchlosen
Naturgas. Ich hatte keine Neigung, eins der riesigen Stahlwerke „Edgar
Thomson“ oder die „Homestead Steel Works“, das älteste Werk Carnegies,
oder die „Duquesne Steel Works“ zu besuchen, wenn es auch sicher höchst
eindrucksvoll gewesen wäre. Den Lärm der Eisenhämmer und das Surren der
Treibriemen kann ich, wenn ich will, auch bei uns genießen. Viel mehr
zogen mich die Menschen an, ihre Meinungen und Schicksale. So pilgerte
ich durch die Straßen nach Allegheny hinüber, zunächst einmal den
achtzigjährigen Großoheim unangemeldet und überraschend aufzusuchen.
Hoffentlich war er nicht etwa gerade kürzlich verstorben ...

Unterwegs traf ich auf allerlei Anschläge: „~Vote for socialism!~“
Der Aufschrei einer geknechteten und entwürdigten Menschheit! Wie
viele Deutsche mögen unter den amerikanischen Arbeitern sein, die
den amerikanischen Stahlmagnaten, Trusts und Milliardären fronen! In
Pittsburgh soll es keine 24 Stunden ohne einen Streik abgehen! Wie
viele deutsche Abkömmlinge haben hier Granaten im Weltkrieg gegen die
deutschen Stammesbrüder gedreht! An einer anderen Ecke mitten zwischen
den Wolkenkratzern ein Arbeitervermittlungsbureau mit der heimatlichen
Anschrift: „Hier wird deutsch gesprochen.“ Wie mancher mag hier schon
hoffnungsvoll eingetreten und furchtbar enttäuscht wieder gegangen sein!


Aus: Rauchnächte.


I.

    Feuer rennt heraus, rennt herein, rennt überallhin,
    Und der Stahlbarren wird zur Kanone, zum Rad, zum Nagel, zur
      Schaufel,
    Zum Ruder unterm Meer, zum Steuer der Luft.
    Dunkel ist das Herz des Eisens,
    Durch Dampf und Menschenblut.
    Pittsburgh, Youngstown, Gary -- sie machen aus Menschen ihren Stahl.

    Mit Blut der Menschen und Tinte der Kamine
    Schreibt der nächtliche Rauch seinen Fluch:
    Dampf in Stahl, Blut in Stahl.
    Homestead, Braddock, Birmingham -- sie machen aus Menschen ihren
      Stahl,
    Dampf und Blut ist die Mischung des Stahls.
    Der Vogelmensch summt
    Im Blauen; Stahl singt
    Ein Motor und surrt.
    -- -- --


II.

    Schicksalsmonde kommen und gehen:
    Fünf Männer schwimmen in einem Kessel aus rotem Stahl.
    Ihre Knochen sind geknetet in den Teig des Stahls:
    Ihre Knochen sind zerbrochen in Spulen und Amboß
    Und in saugende Taucher meerkämpfender Turbinen.
    Sieh sie im verworrenen Gerüst einer drahtlosen Station.

    Einer von ihnen sagt: „Ich liebe meine Arbeit, die Gesellschaft ist
      gut zu mir. Amerika ist ein wundervolles Land.“
    Einer: „Jesus, meine Knochen schmerzen. Die Gesellschaft ist eine
      Lügnerin. Das und ein freies Land -- wie die Hölle!“
    Einer: „Ich hab’ ein Mädel, einen Pfirsich! Wir sparen zusammen und
      gehen fort auf eine Farm. Ziehen Schweine und sind unsre eigenen
      Herren.“
    Und die andern, rauhe Sänger der langen Heimwege.
    Sieh dich um nach ihnen dort am stählernen Gruftgitter.

    Sie lachen auf eigene Kosten.
    Sie halfen dem Vogelmenschen ins Blaue.
    Stahl singt ein Motor und surrt.

    Carl Sandburg.

  Aus: Die Neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik.
  Herausgegeben von Claire Goll. S. Fischer Verlag. Berlin.

So komme ich hinüber in die ansteigenden Straßen Alleghenys. In
einem graudüsteren Arbeitervorstadtviertel klingle ich neben einer
kleinen, fast baufälligen Kapelle an einem niedrigen einstöckigen
Haus mit blanken Türgriffen. Mir klopft ein wenig das Herz. Wer
wird öffnen? Lebt der alte treue Mann noch? Ein breitschultriger,
weißbärtiger, freundlich blickender alter Herr von etwas gebückter
Haltung in schwarzem Rock öffnet. Ohne Zweifel der alte Prediger! Er
fragt englisch nach meinem Begehr und öffnet sofort weit die Tür zum
Eintreten. Was er wohl von mir denken mag? Ob ich als Bräutigam eine
Trauung bestellen will? Aber dazu sehe ich wohl nicht festlich und
strahlend genug aus. Ob ich gar ein Begräbnis vermelden will, aber dazu
lachen meine Augen doch zu hell. Dann bin ich sicher ein bettelnder,
hilfesuchender Einwanderer und „Landsmann“? Das ist nicht so ganz
falsch! Und ich? Ich kauderwelsche gar nicht erst englisch, sondern
sage frisch und fröhlich auf deutsch: „Guten Tag, lieber Herr v. d. L.,
ich soll Sie bestens von Ihrem Großneffen Alexander P. in Deutschland
grüßen.“

Der alte Mann fuhr unwillkürlich einen Schritt zurück und sah mich
groß wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt an. „Habe ich recht
gehört?“ redete er jetzt auch gut deutsch, „Alexander P.?“ -- „Jawohl,
wir haben neun Jahre zusammen auf der Schulbank gesessen, dann sind
wir ein paar Jahre zusammen Studenten gewesen, und bei Ihrer Nichte,
Frau Professor P., ging ich ein und aus.“ -- „Es ist nicht möglich?
Aber wenn Sie es sagen, muß ich es schon glauben. Aber wo kommen Sie
denn her?“ Wir standen immer noch zwischen Tür und Angel. „Gerade
aus San Franzisko oder aus dem Mormonentempel in Salt Lake oder
vom Pikes Peak herunter, wie Sie wollen.“ Jetzt machte er ein noch
erstaunteres Gesicht und zog fast die Hand schon wieder zurück, die
mich schon ins Zimmer zu bitten schien: „Da bin ich alter Mann von
80 Jahren, obwohl ich dort drüben an dieser Kapelle schon 53 Jahre
predige“ -- sein Finger wies auf die stark berußte alte steinerne
Kapelle -- „noch nicht gewesen.“ Wir traten ins Haus, und ich mußte
erzählen. Stundenlang saßen wir einander gegenüber, und ich erzählte
von Deutschland, von seinen Verwandten und von meiner Reise durch die
Union, von Neu-Mexiko und dem Grand Kañon und dem Stillen Ozean. Und
dann fing er an, aus seinem Leben zu erzählen; fast ein Jahrhundert
sprach aus seinen durchfurchten Zügen und mannigfachen Erlebnissen.
Er war in Rom als Sohn eines bekannten deutschen Bildhauers v. d. L.
geboren. Sein Vater starb früh. In meiner Heimatstadt besuchte er das
alte städtische Gymnasium und konnte auch den Frankfurter Dialekt noch
recht unverfälscht nachahmen. Ach, da mußte ich nun genau beschreiben,
wie es jetzt auf dem Römerberg, am Dom und auf der „Zeil“ aussehe! Er
kannte freilich nur die einstige freie Reichsstadt. Wie anders war seit
Jahrzehnten alles geworden! Dann war er als junger Mensch nach Amerika
gegangen in den Zeiten, wo Deutschland noch nichts bedeutete!

Drüben wurde er erst Farmer. Die Gelehrsamkeit hatte er an den
Nagel gehängt. Vom Farmer avancierte er -- echt amerikanisch -- zum
Apotheker! Ohne eigentliche Lehre und viel Ausbildung. Aber dann
zog es ihn doch wieder zur wissenschaftlichen Bildung zurück. Er
übernahm eine Schullehrerstelle! Und schließlich folgte er dem frommen
Sinn seiner künstlerischen Familie, deren Urheimat das Baltenland
war, besuchte ein amerikanisches Presbyterianerseminar und wurde
an der Kapelle drüben Prediger, der er noch heute, nach 53 Jahren,
vorstand! So lernte er nacheinander italienisch, deutsch, englisch
und französisch reden und hatte in seinem Leben den Einwanderern auch
schon in allen diesen vier Sprachen gepredigt. Als er anfing, brachte
seine Gemeinde für ihn gerade 87 Dollars Jahresgehalt durch freiwillige
Beiträge zusammen! In seiner ersten Kirchenkollekte fanden sich sieben
Cent! Seine Gemeinde blieb immer eine der ärmsten von den armen. Aber
er hielt ihr die Treue. Augenblicklich war sie wieder auf 70 Familien
zusammengeschmolzen und unfähig, für den alten Herrn ein Ruhegeld
aufzubringen. So sah er sich genötigt, bis zum letzten Atemzug zu
arbeiten. Und war es zufrieden.

Wir plauderten lange. Ich fühlte mich bald bei dem lieben alten Herrn
wie daheim. Er war seit Jahrzehnten Witwer. Aber da allmählich mein
Magen etwas knurrte, so wollte ich mich auf eine Weile verabschieden,
um irgendwo einen bescheidenen Lunch einzunehmen. Aber das litt der
alte Herr nicht, sondern nötigte mich an seinen peinlich sauber
gedeckten bescheidenen Tisch. Nach dem Essen mußte ich allerlei alte
Familienbilder, Lebenserinnerungen, Bilder aus Rom, das ich aus eigener
Anschauung kannte, ansehen. Und wie interessierte es ihn, zu hören, wie
es heute beim Pantheon, auf dem Forum, auf dem Kapitol und in St. Peter
aussehe! Mit einem gemütlichen Spaziergang über die Höhen der Stadt
beschlossen wir den Tag. -- --

Andern Tags fuhr ich nach Washington.

53 Jahre hätte ich nicht gerade in Pittsburgh oder Allegheny wohnen
mögen, wo man die längste Zeit des Lebens in Rauch und Qualm verbringt;
aber die Treue und Genügsamkeit des alten Predigers war doch ein Stück
stillen Heldentums. Ich lechzte derweilen wieder nach freier Sonne und
grünen Wiesen und Feldern. Sie sollten auch nicht lange auf sich warten
lassen ...

Lotrecht fuhren wir südöstlich auf das Alleghenygebirge zu, das als
einziges den amerikanischen Osten unterbricht. An Ausdehnung und
Höhe ist es mit dem Felsengebirge nicht entfernt zu vergleichen,
sondern erinnert seiner ganzen Art nach vielmehr an unsere deutschen
Mittelgebirge.

Stark stieg die Bahn an. Hell und freundlich schien wieder die Sonne.
Wohlangebaute Fluren dehnten sich rechts und links. Man sah es den
Feldern und Siedlungen an, daß sie weit älter sein mußten als die um
Chikago oder gar westlich davon. Auch merkte man sichtlich die ständig
wachsende Dichte der Besiedlung. Immer höher kamen wir in das Bergland
hinein. Es schäumten die Bäche lustig und rasch vom Gebirge herab. Da
und dort sah man wieder verwüstete und abgebrannte Wälder. Felstäler
taten sich auf wie in der Schwäbischen Alb. Immer romantischer wurde
die Landschaft und immer sonniger und grüner, je weiter wir südlich
kamen und je näher dem Ozean. Als wir gar jenseits des Passes das Tal
des Potomac River hinabfuhren, lachte uns geradezu ein jauchzender
Frühling entgegen mit keimenden Saaten und herrlichstem Himmelblau.
Anmutig leuchteten zartrosa die Apfelbäume in ihrer ersten schüchternen
Blüte. Welche klimatischen Unterschiede auch hier wieder! Die großen
Ebenen um Chikago sind schutzlos den kanadischen Froststürmen, die
über die großen Seen hereinbrechen, preisgegeben. Aber das Land
östlich und südlich der Alleghenies ist durch sie gegen die kalten
Nordwinde wie durch eine Mauer geschützt, so daß man in Washington
schon den Geschmack der warmen Süd- und Plantagenstaaten empfindet,
den warmen Hauch Virginias, des „Landes der jungfräulichen Königin“
(Elisabeth) und Carolinas, des Staates Karls I. von England, der alten
Hauptsklavenstaaten.

Bei „Harpers Ferry“ mündet fast wie in einer Neckarlandschaft der
„Shenandoah“-Fluß[36] in den größeren Potomac. Links und rechts
begleiteten uns die lieblichsten Hügelreihen. Es war ein lachendes
Flußtal, das gerade für Bahn, Straße und schmale Siedlungen Raum läßt.
In Harpers Ferry ist man an einer historischen Stelle. Nicht nur daß
hier mancherlei Schlachten im Bürgerkrieg geschlagen wurden -- denn
in diesen Strichen lief die Grenze zwischen Nord- und Südstaaten,
zwischen Sklavenbefreiungs- und Sklavenhalterstaaten -- sondern Harpers
Ferry ist die denkwürdige Stelle, wo schon 1859 John Brown mit wenigen
entschlossenen Abolitionisten in das Städtchen eindrang, um die Sklaven
zum Aufstand zu veranlassen. Aber die Neger folgten seinem Ruf noch
nicht. John Brown wurde umzingelt, besiegt und schließlich von den
Sklavenhaltern gehängt. Sein letzter Widerstand erfolgte in einem
kleinen, scheunenartigen Haus, jetzt „John Browns Fort“ genannt, das
heute noch steht. Die Bahn fährt dicht daran vorüber.

Als wir eine geraume Strecke weiter aus den Bergen in die Ebene
hinausgefahren sind, ragt mit einem Male ein hoher Obelisk aus tiefem
buschigen Grün, das Washington-Monument, empor. Bald darauf schwebt
über der Landschaft eine hohe, stolze adlige Kuppel wie St. Peter über
der Campagna bei Rom -- das Kapitol der Bundeshauptstadt.

Ich bin wirklich in Washington! Traumhaft! Etwas wie Ehrfurcht
überkommt mich. Vereint sich in Wallstreet und auf dem Broadway in
Neuyork das Kapital der Union, so in Washington alle Regierungsmacht.
Washington liegt gerade auf der Grenze des Nordens und Südens. So
ist es von hier nicht weit nach den Schlachtfeldern von Gettysburg,
Harrisburg und dem Hauptquartier der Südstaaten, Richmond. Man ist in
Washington ungefähr in der Mitte zwischen Maine und Florida. Es ist
auch bezeichnend, daß die Bundeshauptstadt ganz im Osten der Union
liegt. Der Osten (außer Chikago und St. Louis) ist Amerika. Im Westen
dominiert nur noch das einzige San Franzisko. Aber welche Entfernungen
von der Bundeshauptstadt dorthin! Wir sind gewohnt, Hauptstädte in der
Mitte des Landes zu suchen. Aber wir dürfen nicht vergessen, noch vor
gut einem halben oder Dreivierteljahrhundert war Amerika bloß ein
Streifen am Atlantik, dessen Mitte Washington bildete. So erklärt sich
noch heute seine Lage.

Der Hauptbahnhof in seinem strahlenden Marmorweiß und seinen
unzähligen, zum Teil unbenutzten Geleisen macht einen sehr vornehmen
Eindruck. Der Bahnverkehr Washingtons ist freilich, verglichen mit
dem Neuyorks und Chikagos, recht gering. Gleichwohl hatte Washington
den echt amerikanischen Ehrgeiz, den „größten Bahnhof der Welt“ zu
besitzen, selbst auf die Gefahr hin, daß es alle diese Geleise gar
nicht ausnutzte!

Washington ist im ganzen eine stille, aber äußerst stattliche und
höchst saubere Stadt. Nur zwei Städte machten auf mich diesen Eindruck,
Washington und -- Salt-Lake-City. Alles hell, gerade, luftig, grün,
weitläufig. Eine wahre fürstliche Platzverschwendung herrscht in
Washington überall.

Ich nahm meinen Weg sofort zum Kapitol, das aus dichtem dunklen
Parkgrün hervorschaut. Ich war immer aufs neue überrascht von den
weiten prächtigen Parkanlagen, von den großen, weiten Plätzen und
überaus breiten Straßen, die ich hier sah. Ich hatte sofort den
Eindruck, diese Stadt ist die schönste der Union, und sie kann sich
wirklich mit den europäischen Hauptstädten messen. Welche königliche
Platzverschwendung hat man sich hier erlaubt! Das ganze Gelände
vom Kapitol zum Obelisk und von da zum „Weißen Haus“, eine gute
halbe Stunde Weges, ist +ein+ Park. Aristokratisch und edel steigt
das Kapitol mit seinem weißen Sandstein und seinem Marmor, seinen
vorspringenden Flügeln mit ihren klassischen Tempelstilfronten und
seiner imponierenden, von der Freiheitsstatue gekrönten Kuppel
auf einer kleinen Anhöhe auf, ein wahrhaft majestätischer Bau.
Fast erscheint die Kuppel, weniger in Anbetracht der Länge als der
verhältnismäßig geringen Höhe des Gebäudes, etwas groß und schwer.
Besonders reizvoll sind die Blicke auf sie aus den verschiedenen
Parkwegen und von dem unteren Ende der Pennsylvania-Avenue.

[Illustration: ~WASHINGTON~

~Das Weiße Haus~]

[Illustration: ~WASHINGTON~

~„Mount Vernon“, Washingtons Landsitz~]

Am anderen Tag saß ich eine Weile auf der Galerie im Repräsentantenhaus
und ebenso eine Weile im Senat und hörte den Debatten zu. Am meisten
Eindruck aber machten mir die acht ehrwürdigen Richter des „~Supreme
Court~“ in dem kleinen Saale des „obersten Gerichtshofes“, dessen
Bedeutung etwa dieselbe wie die unseres Reichsgerichts in Leipzig
ist, ja vielleicht eine größere, denn in Amerika wird das Recht nicht
so sehr nach festgelegten Paragraphen angewandt, sondern nach dem
Rechtssinn und Gewohnheitsrecht +gefunden+. Die Richter, außer denen
des ~Supreme Court~, sind nicht vom Staatsoberhaupt ernannt, sondern
werden vom Volke erwählt.

Dann stand ich unter der Kuppel unter den großen historischen Gemälden,
die von der Landung des Columbus, der Einschiffung der Pilgerväter,
Washingtons Übernahme des Oberbefehls über die Revolutionsarmee,
von der Entdeckung des Mississippi und der Unterzeichnung der
Unabhängigkeitserklärung in Philadelphia 1776 Kunde geben. Eine
imposante Halle! Oben in der Kuppel befindet sich eine mächtige
Darstellung der Apotheose Washingtons, dessen Name mit diesem Land und
seiner Verfassung und dieser Stadt unlöslich verknüpft ist. Kein Name
ist berühmter geworden, selbst nicht der Lincolns, mit dessen Namen der
Bürgerkrieg und die Sklavenbefreiung unauslöschlich verbunden sind. Als
ich dann in den nächsten Saal zur Linken trat und den Marmorstatuen
der großen Amerikaner gegenüberstand, deren zwei aus jedem Staat
hier aufgestellt sind, drang die Geschichte, Größe und Macht dieses
Landes, das einen ganzen Kontinent umfaßt, mächtig auf mich ein.
Eine kurze, fast stille Geschichte, und doch bedeutungsvoller als
irgendeine der europäischen Dynasten- und Raubkriege. Die Reibereien
der europäischen Großmächte, Kolonialkriege, Kaiser- und Papsttum
-- alles das blieb hier unbekannt. Alles, was hier geschah, diente
der Kolonisation, der wirtschaftlichen und der politischen Einigung.
Aus Kolonien ist das Land zu einer selbständigen, an Volkszahl und
Reichtum alle europäischen Mächte überbietenden Großmacht ersten Ranges
emporgewachsen, die mehr „~world-spirit~“ in sich trägt als vielleicht
sogar England, dessen Hauptabkömmling Amerika doch letztlich ist.
Der anglikanische Typus ist in Amerika vorwiegend und hat dank der
Sprache auch die absolut dominierende Herrschaft erlangt, während die
Spanier, obwohl die ersten Ansiedler, die Franzosen am Mississippi
in Neuorleans, Louisiana und in Kanada, die Holländer im alten
Neuamsterdam, dem heutigen Neuyork, die Deutschen, zerstreut durch das
ganze Land, und endlich die romanischen und slawischen Elemente der
jüngsten Einwanderung im Anglikanismus Amerikas aufgegangen sind und in
ihm wohl aufgehen werden.

Amerikas Geschichte beginnt eigentlich erst mit dem
Unabhängigkeitskrieg am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Auffassung des
Staats, der Kirchen im Verhältnis zu ihm, des Menschentums und der
politischen Freiheit sind +Aufklärungs+gedanken. Hier hat Frankreich,
das Frankreich der Revolution und der Republik, Pate gestanden
(Lafayette!). Aus dieser Zeit stammt sowohl der klassizistische
Stil der Staatsgebäude wie die Anlage der Stadt Washingtons. Ein
französischer Architekt hat die Pläne seiner Parks entworfen.
Frankreich schenkte die Freiheitsstatue für den Hafen von Neuyork, und
immer ist die besondere Sympathie Frankreichs für die große Schwester
in der neuen Welt wach geblieben. Wundern wir uns also nicht allzusehr,
daß der inneren Stimmung nach und nicht nur aus Geschäftsgründen
Amerika im Weltkrieg auf seiten Englands und Frankreichs trat. Aber
kein anderer als Friedrich der Große ist die Ursache gewesen, daß
Frankreich nach dem Siebenjährigen Kriege seine Besitzungen in Amerika
an England abzutreten hatte! Der Siebenjährige Krieg war ebenso
Kolonialweltkrieg zwischen England und Frankreich als Kontinentalkrieg
zwischen Österreich und Preußen. Friedrich der Große war zum Teil
Englands Soldat!

Seit dem Unabhängigkeitskrieg gab es nur noch +ein+ Ereignis, das die
Union tief erschütterte, den Bürgerkrieg und die Sklavenbefreiung.
Durch Kauf wurde später Florida, Louisiana und Alaska erworben; von
Mexiko wurden die südwestlichen Territorien Neumexiko, Arizona und
Kalifornien an die Union abgetreten; so wuchs allmählich und doch rasch
das Riesenland zusammen, bis es im letzten Jahrzehnt anfing, selbst
Kolonialmacht und der Erbe Spaniens, das einst den Entdecker Kolumbus
aussandte, zu werden.

Diese Macht des Landes hat sich hier in der Hauptstadt ihre Symbole
in prächtigen öffentlichen Gebäuden geschaffen. Gegenüber dem Kapitol
liegt die Bibliothek des Kongresses, innen überreich mit Marmor
ausgeschmückt, wie nur irgendein Palast in Italien, und mit einem über
alles prächtigen Lesesaal, der sicher nicht viele Konkurrenten in der
Welt hat. Nahe dem „Weißen Hause“ die stattlichen klassizistischen
Gebäude des Bundesschatzamts und des Kriegsministeriums. Auf freiem
offenen Plan davor ragt der stolze, schlanke, zu Ehren Washingtons
erbaute 169 ~m~ hohe Obelisk auf, lange der höchste Steinbau der Welt,
bis ihn die Wolkenkratzer überhöhten. Im Morgendunst von fern wie ein
mächtiger weißer Spargel aus grünem Gebüsch, abends zart rosa leuchtend
anzuschauen. Von seiner Spitze, zu der ein Aufzug -- wie mühselig sind
doch die vielhundertstufigen alten Steintreppen in unseren Domtürmen!
-- hinaufführt, eine überraschend großartige Rundsicht. Die ganze
Stadt, die trotz ihrer verhältnismäßig geringen Einwohnerzahl doch
einen immensen Flächenraum einnimmt, ist eingebettet in Parkgelände.
In weitem Bogen bespült sie der Potomac, so breit wie die Elbe bei
Hamburg, der sich bald unterhalb der Stadt zu einer langen, tief ins
Land einschneidenden Bucht verbreitert. Und jenseits liegt der große,
schattige Nationalfriedhof für die Gefallenen aus dem Bürgerkrieg.
Ich bedauerte, daß nicht eine gerade stattliche Allee vom Kapitol
zum Obelisk führte, mit ständigem Durchblick auf die Kapitolskuppel,
und ebenso vom Obelisk zum Weißen Hause. Aber das Weiße Haus wäre
in seiner Bescheidenheit gar nicht dazu angetan, den Endpunkt einer
stolzen Allee zu bilden, denn hier wohnt ein „Bürger“, von keinem
Posten bewacht, von keiner Schloßwache beschützt, ein „Bürger“ in einer
besseren Bürgervilla, zu der jeder „Bürger“ Zutritt hat. Es war mir
doch seltsam zumute, als ich am Gartengitter stand und in den Garten
des Weißen Hauses hineinlugte mit seinem kleinen Springbrunnen in der
Mitte, seinem eigenen Tennisplatz und seinen wohlgepflegten, mit gelbem
Kies bestreuten Wegen. Um mich herum auf dem offenen grünen Plan am
Obelisk spielten Schuljungen und junge Burschen ihren Baseball. Viele
Leute, die aus dem Geschäft oder von der Arbeit kamen, Schwarze und
Weiße, standen da herum und schrien mit, applaudierten und ermunterten
die Spieler. Ich ging ins „Weiße Haus“ hinein, soweit es erlaubt war.
Ich erwartete kein Schloß und sollte kein Schloß erwarten. Es will
auch absichtlich mit keinem Schloß konkurrieren. In der Vorhalle des
Weißen Hauses fand ich eine Galerie von Präsidentenfrauen bis auf Mrs.
Roosevelt; auch durfte man in den sogenannten „Eastroom“ eintreten,
einen bescheidenen Empfangssaal mit Parkett, goldenen Leuchtern auf
den Marmorkaminen, ein paar Blattpflanzen an den Fenstern und drei
Kristallkronleuchtern. Das war alles von äußerem Glanz.

Am Nachmittag benutzte ich das Dampfboot und fuhr den Potomac hinunter
nach Washingtons Landgut „Mount Vernon“ in Virginia. So bekam ich auch
etwas Geschmack vom Süden, in dem einst die großen Negerplantagen
waren und die Sklaverei herrschte. Die Sklaverei ist aufgehoben.
Aber noch hat der Neger kein volles Recht. Zu Zeiten kommen z. B.
noch fürchterliche Lynchgerichte am Neger vor. Und ob man immer den
Schuldigen trifft?


Johnson, Neger.

    Hinunter steig ich in die Kohlenstadt von Westvirginia.
    Man hat einen Neger +gelyncht+.
    Sonnig lächelt die Stadt zwischen Berg und Fluß,
    Und nachts prunkt ihre Hauptstraße:
    Aufreizende Läden, elektrisches Licht ...
    Rauhe Haufen, Bergarbeiter und Bauern suchen Frauen, Trunk und
      Vergnügen.

    Am Tag in der ruhigen Sonne brütete Schrecken und Schuld über der
      Stadt.
    Der Sheriff zitterte:
    „Ich tat, was ich konnte“ sagt er, „Daisy ist 13,
    Ihr Vater Bergarbeiter.
    Sie bestellt das Haus.
    Es war zehn Uhr früh und Daisy allein.
    Es klopft. Sie öffnet.
    Ein Vieh von Neger nahm sie bei der Kehle -- sagt sie aus --
    Und tat es ihr.
    Dann ging er weg.
    Wir stellten fünfzehn Neger in der Runde auf,
    Den Burschen Johnson unter ihnen.
    Man holte Daisy. Sie zeigt auf ihn und schreit.
    Das fällte ihn ...

    O ja, ich tat, was ich konnte, nahm ihn hinüber nach Gentryville,
    Fort aus der Provinz.
    Ich kann nichts sagen,
    Ich denke mir mein Teil ...“

    Ich weiß, was er dachte.
    Aus dem Träumer in mir wurde der Neger Johnson.
    Ich komme ein Fremder in eine fremde Stadt.
    Ein Mädchen schreit, ich habe sie geschändet.
    Ich werde festgenommen, ins Gefängnis gebracht ...
    Es ist eine Heimsuchung von Gott.
    Ich traure und winsle aus Furcht vor dem Übernatürlichen.
    Dann Entsetzen: Das große, heulende, knurrende Tier ist vor dem
      Gitter.
    Schüsse, niedergerissene Türen, Füßegestampf.
    Ich kreische. Mitleid! ... O meine Mutter! Meine Mutter!
    Man schleift mich an einem Seil die Straße entlang,
    Mein Blut rinnt, Schläge fallen,
    Ich muß sterben ...

    Ich bin schrecklich verstümmelt,
    Das Seil wird über Telegraphendrähte geschleudert,
    Man zieht mich hinauf ...
    Zuletzt Flinten, mitleidige Kugeln ...
    Ist es zu Ende?

    Nein: Noch baumelt der Leib, der nackte schwarze blutige Leib,
    Man zerreißt ihn in Stücke.
    Weiber und Männer tragen Finger, Zehen und Knochen als Reliquien
      heim.

    Dies ist heute Amerika!
    Puritanisches Amerika, moralisches Amerika, freies Amerika ...!
    Ich ziehe gen Norden, freudloser als ich kam.

    James Oppenheim.

  Aus: Die neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik. S.
  Fischer, Berlin.

In Mount Vernon verbrachte Washington den Rest seines Lebens, nachdem
er zweimal Präsident gewesen und eine weitere Wiederwahl ablehnte,
so daß es seitdem für die Präsidenten geradezu Pflicht geworden ist,
höchstens acht Jahre die Präsidentschaft inne zu haben. Mount Vernon
ist ein reizender lauschiger Landsitz auf einer sanften Anhöhe am
Fluß, unter alten, dichtbelaubten Eichen, unter denen Washington
und seine Frau auch begraben liegen. Ein paar Minuten standen wir
entblößten Hauptes, eine Gruppe College-Studenten um mich herum,
vor der schlichten Grotte samt einem Haufen älterer reisender Damen
aus Philadelphia, die laut sich unterhaltend die liebliche Stille
dieses geweihten Erdenwinkels unliebsam störten. Dann kam man
oben zu der einfachen Meierei hinauf mit ihrem Herrenhaus, einem
niedrigen zweistöckigen weißen Farmhaus mit offener, sehr simpler
Vorhalle und einer Reihe von Ökonomiegebäuden im Hintergrund. Immer
war da noch der alte Hausrat in den engen, niedrigen Stuben mit dem
blankgescheuerten abgetretenen Holzboden und den großen blankgeputzten
Türklinken, den alten runden goldumrahmten Bildern, den weißgetünchten
Zimmerdecken, den großen offenen Kaminen und den einfachen Stühlen an
dem runden Eichentisch, dem alten Klavierchord im Musikzimmer und den
Gardinenbetten im Dachstock mit seinen kleinen „Sparerooms“, in deren
einem Martha Washington gestorben ist, weil sie gern einen Blick auf
ihres Mannes Grab haben wollte. Es war eine Luft, eine Umgebung und
ein Hausrat etwa wie im Frankfurter Goethehaus. Frau Martha Washington
schien mir sogar etwas Ähnlichkeit mit der alten Frau Rat Goethe zu
haben. Man konnte auch Washingtons Todeszimmer sehen, wo er selbst
1799 starb. Die reisenden Damen aus Philadelphia schluchzten fast vor
Vergnügen, daß sie das alles sehen durften, und brachen in jedem Zimmer
in juchzende Seufzer aus: „Ach, hier hat er gesessen, ach und hier hat
er gegessen und hier in diesem Bett ist sie gestorben -- hier ist sein
Degen, den er trug, und hier die Guitarre, die er spielte.“ In hellen
Haufen drängten sie sich in dem kleinen Haus und auf den engen Stiegen
und in den kleinen Zimmern, rannten über die Höfe und die grünen
Grasplätze und erfüllten alles umher mit ihrem Geschwätz. Daß man nicht
einmal hier ein stilles Stündchen verbringen konnte! Wie drang hier
die alte Zeit auf mich ein, da vor hundert Jahren noch Philadelphia
und Boston, die größten Städte der Unionstaaten, kaum ein paar Tausend
Einwohner zählten! Wenn Washington heute die Millionen Menschen und
die Wolkenkratzer und Chikago, das damals noch ein Sumpf war, und den
fernen Westen sähe, an den vor hundert Jahren noch niemand dachte! --
-- --

Aber die Dampfsirene des Schiffes ertönte und mahnte zur Rückkehr.
Und nun mußte man dieses stille alte Landgut mit seinen Erinnerungen
wieder allein lassen und konnte nicht mehr unter den alten Bäumen
sitzen und auf die breite Wasserfläche des Potomac hinunterschauen, wo
von ferne die weiße Säule des Obelisk aufragt und die adlige Kuppel
des Kapitols, die beide diesen Mann von Mount Vernon ehren. Inzwischen
schnatterten die Damen aus Philadelphia wieder durcheinander,
Deutsch-Amerikanerinnen anscheinend mit den Fehlern beider Nationen
behaftet, ohne ihre guten Seiten zu besitzen, in einem fürchterlichen
Sprachmischmasch: „Wollen Sie nicht hier sitzen, Miß Fuchs, ich habe
für Sie einen Chair mitgebracht oder ~sit down right here~ ... schade,
daß es regnen will, wo haben Sie denn Ihre ~umbrella~ gelassen? ...
Wo ist Mrs. Arnold, ~perhaps she is looking for you~ ... Großartige
Rosenstöcke, ~did you see them~? Oh, ich bin so ~sorry~, ich war nicht
in der ‚~kitchen~‘, ~it makes me mad~. Ich habe auch nicht gesehen, wo
Mrs. Washington ~died~ ... Sehen Sie, hier habe ich einen ~spoon~ von
dem Holz der Bäume, die er selbst gepflanzt hat, gekauft; sie ~sell~
es nirgends anders ... ~They have the copyright~ ... Und ich habe
hier einen Teller gekauft für ~parties~ ... Und ich habe für meinen
~boy~ ein Bild, ~because~ er ist so ~interested in it~ ...“ In diesem
Sprachstil ging es fort ...

Es ist schade, daß man ein Glück selten rein genießen darf. Während
wir mit dem Dampfboot den Potomac wieder aufwärts fuhren und ich so
gern den geschichtlichen Erinnerungen noch nachgehangen hätte, und
der Abend langsam über Land und Wasser herabsank, wie damals als
ich am letzten Abend auf deutschem Boden von Blankenese nach Hamburg
zurückfuhr, schnatterten mir immerzu diese „philadelphischen“ Damen mit
ihrem Deutsch-Amerikanisch dazwischen. Immerhin eine Vorbereitung auf
Philadelphia, das ich morgen betreten wollte.

Noch einmal schritt ich den Abend durch die fürstlichen und adligen
Straßen der Bundeshauptstadt. Eine gemessene Vornehmheit des höheren
Beamtentums bewegte sich durch die Hauptstraßen, merklich anders als
in Los Angeles und San Franzisko, aber auch anders als in Neuyork und
Chikago, am ähnlichsten noch Boston.


Fußnoten:

[Footnote 36: Indianisch.]




Baltimore, Philadelphia.


Es gibt keine Stadt in der Union, die sich mit Washington an
Stattlichkeit vergleichen könnte. Seine marmornen Institute und sein
Kapitol sah ich noch lange vor Augen.

Es kam der vorletzte Tag meiner Rundfahrt, der mich wieder bis Neuyork
zurückbringen sollte. In zwei schnellen Stunden -- wie kurz waren hier
im Osten die Entfernungen! -- ging es durch das wohlangebaute Maryland
nach dem großen von Schloten und Überseedampfern mächtig rauchenden
Baltimore. Baltimore ist nächst Neuyork der größte Überseehafen der
Union.

[Illustration: ~PHILADELPHIA~

~Market-Street mit dem 155 m hohen Turm des Stadthauses (City
hall)~]

[Illustration: ~LAKE WINNIPESAUKEE~]

Die Millionenstädte des Ostens liegen alle an breiten,
tiefeinschneidenden Buchten, in die große Ströme einmünden. Die
nördlichste Boston an der kreisrunden Massachusettsbai, in die breit
der Charles River strömt, England am nächsten gelegen, daher von den
Puritanern auch zuerst erreicht. Es folgt Neuyork an der Mündung
des breiten Hudson auf der einst unangreifbareren, langgestreckten
Halbinsel Manhattan am inneren Rand der prachtvollen „~upper bay~“, die
in den ~narrows~ einen engen, leicht verschließbaren Ausgang nach dem
Ozean hat. Dann kommt die früher, ehe Neuyork so fabelhaft anwuchs,
größte und bedeutendste Stadt der Union Philadelphia, heute noch immer
ihre drittgrößte Stadt, an dem breiten Delawarefluß, der sich in die
Delawarebucht ergießt. Philadelphia ist von dem sehr viel jüngeren
Chikago, der Hauptstadt des mittleren Westens, schnell überholt
worden. Einst war Philadelphia mit Boston die geistige Führerin der
Union. Boston als Sitz der Puritaner, Philadelphia als Sitz der Quäker
und vieler Deutschen in dem ersten Hauptabschnitt ihrer Einwanderung.
Dem Quäkertum verdankt die Stadt auch ihren schönen Namen: „Stadt der
Bruderliebe“. Es folgt an der Küstenlinie Baltimore, groß, rauchig
und an Seeverkehr ein amerikanisches Liverpool oder Hamburg, an der
breiten, fast an 300 ~km~ tief ins Land nordwärts einschneidenden
Chesapeakbai, in die der breite Susquehanna River mündet.
(Nebenbeigesagt sind in den Flußnamen besonders viele indianische
Bezeichnungen erhalten: Susquehanna, Potomac, Monongahela, Shenandoah
usw.) Die jüngste Gründung war Washington, eine reine Beamten- und
Verwaltungsstadt am breiten Potomac, der auch in die Chesapeakbai
fließt. Also fünf riesige Städte wie an eine Schnur aufgereiht in einem
Gesamtabstand von Washington bis Neuyork von etwas über 350 ~km~, für
die Union eine kleine Entfernung.

Da ich im Grunde meiner Seele die Großstädte hasse -- und ihrer soviele
in der Union nur deshalb aufgesucht habe, weil in ihnen das eigentliche
amerikanische Leben pulsiert -- so versagte ich es mir entgegen meinem
Reiseprogramm nach kaum anderthalb Stunden Fahrt von Washington aus,
in Baltimore -- es wäre mein zwölfter Großstadtbesuch gewesen -- schon
wieder auszusteigen. Ich war es nun vier Wochen gewohnt, mindestens
einen vollen Tag und eine Nacht oder gleich zwei bis drei von ihnen
hintereinander durchzufahren, daß es mich ordentlich verwunderte, daß
ich „schon“ um Mittag vor der City Hall mitten in Philadelphia stand!
Im Osten schrumpfen eben die Entfernungen schnell zusammen, wenn man
aus dem Westen kommt und nehmen einigermaßen wieder europäische und
menschliche Maße an. So ließ ich mir also am Blick von der Eisenbahn
auf die rauchende Hafenstadt Baltimore genügen und dampfte weiter.
Baltimore hat gleich Washington -- darin kennzeichnet sich seine
südlichere Lage -- nicht bloß sehr viel Farbige -- über ein Zehntel
seiner Bevölkerung! -- sondern auch besonders viele Katholiken, denn es
geht ja auf die Gründung des katholischen Lords gleichen Namens zurück
und war eine Zufluchtsstätte verfolgter englischer Katholiken. So ist
hier auch der Sitz des amerikanischen Erzbischofs und Kardinals, einer
Person, die sich eigentümlich mit ihrem mittelalterlichen Ursprung
in dem übermodernen amerikanischen Leben ausnimmt. Aber gerade in
den jüngsten Zeiten der Einwanderung aus Süd- und Osteuropa hat das
katholische Element sehr zugenommen.

Die Stadt Baltimore wurde schon 1729 gegründet. Sie ist eine der
Veteranen in der Union. Heute ist sie Hauptsitz der Austernkonserven-,
der Stahl-, Segeltuch- und Backsteinindustrie, dazu Hauptausfuhrhafen
für Getreide. Baltimores Washingtonmonument und seine City Hallkuppel
grüßten mich. Die bekannte Universität Baltimores „John Hopkins“ hätte
ich gern zum Vergleich mit Harvard aufgesucht, aber es fehlte die Zeit.
Wie die großen Städte, so liegen auch die großen geistig führenden
Universitäten fast alle wie auf eine Schnur gereiht an der Küste des
Atlantischen Ozeans: Harvard bei Boston, Yale in Newhaven (s. S. 70),
Kolumbia in Neuyork, Princeton bei Philadelphia, deren Rektor eine
Zeitlang niemand anders als Woodrow Wilson war (!), und John Hopkins in
Baltimore, Stiftung eines reichen gleichnamigen Handelsherrn.

Währenddem waren wir schon über den mächtig breiten Susquehanna
River gesetzt, +Philadelphia+ entgegen. Die rauchige riesige
Hafenstadt mit ihrem Wald von Masten und Schloten der Ozeandampfer
hatte wieder saftigen Wiesen mit weidenden Viehherden, Wäldern und
kleinen idyllischen Bachtälern Platz gemacht. Überall sah man sehr
wohlangebautes und wohlgepflegtes Farmland, dem man es ordentlich
anmerkte, daß es schon Jahrhunderte alt war. Pennsylvanien ist
noch heute einer der bestbesiedelten und bestangebauten Staaten.
Fast an norddeutsches Tiefland erinnerten seine gefälligen roten
Backsteinbauten mit ihren grünen Fensterläden, die noch in der „Stadt
der Bruderliebe“ weit verbreitet und heimisch sind, so daß man in
Philadelphia wie etwa heute noch bei uns in Bremen zumeist im eigenen
kleinen Heim wohnt statt in riesigen Mietskasernen wie auf dem
engbeschränkten Raum Neuyorks. Philadelphia hat sich damit mit Recht
den ehrenden Namen einer „~City of homesteads~“ (Stadt der Heimstätten)
erworben!

An Wilmington ging es vorüber, der größten Stadt in dem kleinen Staat
Delaware, was allerdings nicht viel sagen will. In Delaware besteht
übrigens aus früheren Zeiten allein noch die öffentliche Prügelstrafe!
Sie könnte auch für manche Roheitsdelikte in der alten Welt noch
bestehen! In dieser Gegend, die wir jetzt durchfuhren, landeten zur
Zeit des 30jährigen Krieges schwedische Kolonisten und gründeten ihre
erste europäische Niederlassung am Delawarefluß. Noch heute steht
davon als Wahrzeichen eine kleine, Ende des 17. Jahrhunderts erbaute
Schwedenkirche! Weiter ist es hier die Gegend, wo Washington den
Delaware im Kampf gegen die Engländer überschritt. Hier war es auch,
wo sich die geduldigen, friedliebenden Quäker unter William Penn schon
1682 festsetzten und vertragsmäßig -- nicht wie sonst mit Gewalt und
Krieg -- den Indianern das Land mit Verträgen abkauften, die einzig
hier in der Welt nicht gebrochen wurden, ohne beschworen zu sein!
Bekanntlich verwerfen die Quäker noch heute den Eid.

Allmählich mehrte sich wieder der Rauch. Alle Anzeichen einer nahen
großen Stadt meldeten sich. Über einem riesigen Häusermeer erschien
bald der 155 ~m~ hohe Turm der City Hall von Philadelphia, lange
auch eines der höchsten Bauwerke der Welt. Punkt zwölf stand ich am
Ende der 19 Meilen langen „Broad Street“, die mit dem Broadway in
Neuyork eifert, an seinem Fuße. Wieder umbrandete mich der typische
amerikanische Großstadtverkehr! Es war wieder nicht viel Unterschied,
ob man auf der State Street in Chikago oder dem Broadway in Neuyork
oder der Broad Street in Philadelphia stand. Freilich am wildesten
ist die Tonart des Verkehrs in Neuyork, am sanftesten für die Größe
der Stadt noch in Philadelphia; Chikago hält etwa die Mitte. So steht
es auch mit den Wolkenkratzern. Neuyork hat weitaus die meisten und
höchsten, in Philadelphia sind es im ganzen nur wenige und mäßighohe,
die Stadt hat ja nach allen Seiten Ausdehnungsmöglichkeiten genug und
hat von ihnen Gebrauch gemacht. Der weißlockige perückentragende
William Penn hat sie einst rechtwinklig angelegt wie alle
amerikanischen Städte, indem er das riesige Straßenkreuz der Broad
und Market Street anlegte, in dessen Mitte genau die City Hall mit
ihrem riesigen Turm steht, so daß er gebietend gleichsam über die
ganze Stadt sieht. Aber fast kaum glaublich ist, daß noch zur Zeit des
Unabhängigkeitskrieges die heutige Zweimillionenstadt nur etwa 12000
Einwohner zählte, und geradezu rührend wirkt das alte kleine State
House, dessen Backsteine man im Fairmountpark wieder aufgebaut hat, das
älteste Backsteinhäuschen des ganzen Landes von wenig Quadratmetern
Umfang!

Ich fuhr zum Turm der City Hall hinauf und hatte von oben wie vom
Obelisk in Washington wieder eine märchenhafte Aussicht über die ganze
Stadt und ihre Umgebung. Man stand hier oben dem Menschengewimmel und
Geschäftsgetriebe fast so entrückt wie auf dem Metropolitan Tower in
Neuyork. Weit sah man zum grünen und hügeligen Fairmountpark, dem Stolz
Philadelphias, hinüber und auf der andern Seite zu dem meerarmartigen
breiten Delaware. Mitten durch das Riesenschachbrett der Stadt windet
sich außerdem noch der weit schmälere Schuylkill-River, der in den
Delaware unterhalb der Stadt fließt.

Dann trieb es mich vor allem zu den historischen Stätten, die einem
anwehen wie etwa die Faneuil Hall in Boston, z. B. zur „Independence
Hall“. Am 5. September 1774 versammelte sich hier in Philadelphia
als der damals durchaus geistigführenden Stadt der erste Kongreß,
der hier am 4. Juli 1776 die berühmte Unabhängigkeitserklärung der
Vereinigten Staaten von England erließ, noch heute die Magna Charta
der Union. Und noch immer ist der „~fourth of July~“ der größte
nationale Feiertag, an dem die Begeisterung für das Banner „der Sterne
und Streifen“ auch in Philadelphia keine Grenzen kennt. Freilich fiel
damals vorübergehend die Stadt noch einmal in die Hände der Engländer,
aber als sie wieder erobert war, tagte hier der Kongreß bis 1797. Dazu
war sie zugleich der Sitz des ersten Präsidenten. In der „Halle der
Unabhängigkeit“ wird noch heute als Hauptheiligtum der bescheidene
Sitzungssaal mit den alten Möbeln und dem Tisch gezeigt, auf dem die
denkwürdige Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet wurde. Jene Männer
vor 150 Jahren konnten freilich nicht im entferntesten ahnen, welche
beispiellose Entwicklung diesem Lande bevorstehen sollte. Auch die
Glocke, die zuerst nach der Unabhängigkeitserklärung als Zeichen der
errungenen Freiheit geläutet wurde, die sogenannte „Liberty bell“,
ist noch vorhanden. Zwar hat sie Mitte des vorigen Jahrhunderts
einen Sprung bekommen und wird seitdem nicht mehr benutzt. Aber ihr
ehrwürdiges Dasein genügt. Im oberen Stock sind Erinnerungen an die
Hauptgröße Philadelphias, den Gründer der Stadt, den Quäker William
Penn, dazu ein Stück der Ulme, unter der er den denkwürdigen Vertrag
mit den Indianern -- ein Vorgang, der so oft gemalt wurde -- abschloß.
Endlich redet in Philadelphia zu dem Besucher noch eine dritte
Berühmtheit, Benjamin Franklin, der den Blitzableiter hier erfand
(1752). Stattlich sitzt er vor dem Hauptpostamt, während Penn seinen
Ehrenplatz hoch auf dem Turm der City Hall gefunden hat.

Zum Fairmountpark kam ich leider nicht hinüber, auch nicht zur
Kathedrale „Peter und Paul“ des römischen Kardinals, noch zu dem
Waisenhaus „Girard College“, zu dem Geistlichen -- wohl einzig in
seiner Art in der Welt -- der Zutritt ausdrücklich verboten ist!
Einen Blick warf ich in die Universität, weil ich einen ihrer Lehrer,
den bekannten babylonischen Ausgrabungsforscher Prof. Hilprecht
schon in meiner Jugend in Deutschland einmal hatte sprechen hören.
Dicht bei Philadelphia liegt auch die von Deutschen einst gegründete
Vorstadt „Germantown“, wo sich schon 1683 niederrheinische aus der
Heimat vertriebene Mennoniten niedergelassen hatten. Germantown war
die allererste deutsche Siedlung in Amerika überhaupt! Von hier ging
auch schon 1688 der erste Protest gegen die Sklaverei aus, freilich
wirkungslos für noch fast zwei Jahrhunderte! So war das pennsylvanische
Deutschtum das alteingesessenste! Mein Magen fing bei all dem
„Besichtigen“ einmal wieder an zu knurren und erhob einen nicht ganz
erfolglosen Protest gegen weitere Stadtdurchstreifungen.

Ich fuhr gen Neuyork zurück. Erst ein Stück am Delaware hin. Bei
Trenton setzten wir über den mächtigen Fluß. Die letzten Berge zur
Linken entschwanden. In den Staat Neujersey gelangt, näherten wir
uns bald der weiten blauen, fast heimisch wirkenden Newarkbai, deren
Hauptstadt Newark, obwohl an 300000-400000 Einwohner zählend, doch
ganz im Schatten Neuyorks steht und daher nichts bedeutet, ja wohl
noch nicht einmal dem Namen nach in der Welt bekannt ist! Dann ging’s
ein Stück an der blauen, herrlichen ~upper bay~ entlang, und die
Wolkenkratzer tauchten auf! ... Wie sie jetzt auf mich wirkten, wie
alte gute Bekannte! Mit durchaus heimatlichen Gefühlen langte ich
wieder in Neuyork an. Mir war es, als wäre ich erst gestern von dort
weggefahren, obwohl die mannigfachsten Erlebnisse von nicht weniger als
von acht Monaten dazwischen lagen!

Da ich nun einmal wieder in Neuyork war, so faßte ich schnell den
Entschluß, ehe ich wieder Onkel und Tante in der 137. Straße guten Tag
sagte und mit dem ~subway~ hinausraste und ihnen vom Felsengebirge und
dem Stillen Ozean erzählte, schnell noch einen Besuch in Westhoboken
in der Palisade Avenue zu machen, die aufzufinden ich einst vor acht
Monaten jene weite Irrfahrt ins grüne Land hinaus bis nach Englewood
gemacht hatte! Pochenden Herzens sprang ich wie ein gewisser Goethe in
Sesenheim durch die niedrige Gartenpforte nach der Haustür. Aber sie
war und blieb diesmal festverschlossen! Ich hätte so gern meinen ersten
Bericht von Indianern und Mormonen, dem Niagara und dem Grand Cañon der
kleinen Badenserin vorgetragen und in der Küche wieder einmal bei ihr
geplaudert, während sie dem Onkel das Essen rüstete. Aber es war und
blieb das Gartenpförtlein verschlossen ... Wie schmerzlich! Gerade für
diesen Abend hatte der ängstliche und vorsichtige Onkel sein Nichtchen
einmal mit in die Oper nach Neuyork genommen, wie ich später erfuhr ...
Wir sahen uns nur noch einmal im Leben, aber nicht in Hoboken ...

Bei Onkel und Tante tat ich in aller Unschuld so, als käme ich
geradewegs vom Bahnhof der Pennsylvaniaeisenbahn! So oder ähnlich
machen es ja wohl alle jugendlichen Neffen in ähnlichen Fällen. Es
wurde Abend, der rasende und donnernde ~subway~ hatte mich wieder in
die 137. Straße hinausgebracht. So war ich wieder „daheim“!

Ich brauchte diesen Abend in keine „~upper berth~“, in die ich so oft
geklettert war, zu kriechen und mich halb liegend auszuziehen, noch
wähnte ich in Traum und Schlaf mit dem Bett auf dem schwankenden Boden
hin und her zu fahren wie auf dem erdbebendurchrüttelten Pflaster San
Franziskos, noch hatte ich es nötig, mich im Dunkel der Mitternacht
einem wildfremden Mann für ein Nachtlogis anzuvertrauen wie in Santa
Fé und vorsorglich die Tür zu verbarrikadieren. Keine Fahrpläne und
Hotelpreise ängstigten mich mehr, keine Reisepeitsche, alles Wichtigste
auf die rascheste und billigste Weise mitzunehmen, wurde über meinem
Haupt mehr geschwungen. Ich hatte mein Werk getan. Neuyork kannte ich
gut; es brachte mich also auf keine Stunde früher aus dem Bett am
anderen Morgen als notwendig. Am Abend aber gab es noch ein Erzählen
ohne Ende ... Ich war doch weiter in den wenigen Wochen herumgekommen
als alle meine amerikanischen Verwandten zusammen in den 40 Jahren
ihres Dortseins!

Andern Tags war Sonntag. Ich fühlte so etwas wie ein Bedürfnis,
eine deutsche Kirche -- die es ja in dem stockenglischen Boston
nicht gab -- aufzusuchen und ein stilles „Nun danket alle Gott“
für mich allein zu singen. Denn es war wirklich ganz wider alle
Wahrscheinlichkeitsrechnung gewesen, daß ich auf amerikanischen Bahnen
gegen 12000 ~km~ gefahren war, ohne einen einzigen Unfall zu erleben.
Ich hatte viel gesehen, mehr wie in vielen Jahren meines Lebens. Ich
war mehr Eisenbahn gefahren als vielleicht bisher und später in meinem
ganzen Leben. Aber gleich dieselbe ganze Fahrt noch einmal zu machen,
hätte ich doch nicht für 1000 Taler getan.

In der deutschen Kirche, die ich aufsuchte, amtierte -- ein
schönes Zusammentreffen -- ein in Deutschland geborener Pastor,
der auf derselben Universität wie ich studiert hatte, ja derselben
Studentenverbindung angehörte wie ich einst. So wurde es ein besonders
traulicher Abschied aus der Weltstadt Neuyork. Werde ich sie im Leben
noch einmal wiedersehen, die Dollarburgen und die blaue ~upper bay~,
die Freiheitsstatue und die Brooklynbrücke? -- --

Ich fuhr wieder nach Boston. Ich wollte nicht meine Gänge durch das
Dollarbabel von vorne beginnen und der lieben alten Tante auch nicht
noch einmal länger zur Last fallen. Wie bekannt kam mir jetzt die
Strecke über Newhaven, am blauen Long-Island-Sund hin vor! Überall
blühte es jetzt in Connecticut, dem „Kastanienstaat“. Wie oft hatte ich
auf meiner weiten Reise schon den Frühling erlebt und war immer wieder
in den Winter zurückgeschleudert worden! In Kalifornien war es schon
fast Sommer; auf der Sierra Nevada, in Kolorado und Chikago schneite
es! Hinter Pittsburgh jenseits der Alleghenies war der Frühling um
Washington gerade mächtig im Kommen, und hier zwischen Neuyork und
Boston setzte er gerade erst langsam ein, während in Arizona und Nevada
die Sonne schon wie im heißesten Sommer gebrannt hatte und in Santa
Fé sich gar schon heftige sommerliche Gewitter entluden. Es kam einem
dieser ständige Wechsel wie ein einziger Traum vor ...

Am Abend in der Dämmerung lief unser sehr leerer Zug in Boston ein.
Ich gottloser Mensch hatte es gewagt, am heiligen Sonntag auf der
Eisenbahn heimzukehren! An einem Sonntag abend war ich vor Wochen
klopfenden Herzens abgefahren, ungewiß einem Kontinent mit seinen
unermeßlichen Entfernungen entgegen, ein über meterlanges Reisebillett
in der Tasche. Wohlbehalten und mit wohlgefülltem Geist -- freilich
auch wohlgeleerter Tasche -- kehrte ich „heim“, denn auch Boston und
erst recht mein Harvard- = „~furnished room~“ kamen mir jetzt wie
traute Heimat vor. Wie mußte ich meinem japanischen Freund Mr. Ashida
danken, der mir, so oft ich vorher wieder schwankend werden wollte,
stets zugeredet hatte, die Fahrt auf jeden Fall zu unternehmen. Wie
ein Traum war mir jetzt das Ganze, als ich wieder unter Harvards Ulmen
hinschritt, daß ich in den vorweltlichen Schlund des Grand Cañon
geschaut, über den Salzsee gefahren, auf Santa Catalina im Stillen
Ozean gelegen und versucht hatte, den Pikes Peak, den amerikanischen
Montblanc, zu besteigen! Noch manchmal glaubte ich im Bett liegend zu
fahren -- und saß doch still hinter den Büchern. Noch manchmal glaubte
ich den Bädeker für morgen genau studieren zu müssen -- und hörte
derweilen Professor Josiah Royces schwere philosophischen Gedanken des
englisch-amerikanischen Hegelianismus ...

       *       *       *       *       *

Meines Bleibens war aber in Harvard nun auch nicht mehr sehr lange.
Seit ich den Paß in den Koloradobergen von der Wasserscheide
herabgefahren war, wo der Arkansas die Richtung zum Atlantischen Ozean
weist, hatte ganz leise der Zug zur Heimat zu arbeiten begonnen. Nur
noch einen reichlichen Monat hielt ich es drüben aus, dann schloß ich,
einen wohlerworbenen amerikanischen „~degree~“, den ich mir mit
nicht leichten Prüfungen ehrlich verdient hatte, in der Tasche, die
Koffer zur Heimfahrt. Ich wartete den Semesterschluß der Universität
gar nicht erst voll ab, sondern beschloß meine Studien zum Erstaunen
der Herren Professoren, die drüben solch akademische Freiheit gar
nicht gewöhnt sind, schon vier Wochen vor der der übrigen Studenten.
Ich hatte ja in Deutschland längst ausstudiert. Und alles Arbeiten auf
amerikanischem Boden war für mich nur „überflüssig gutes Werk“.

So kamen die Abschiedsbesuche bei all den wohlwollenden Herren und
sonstigen lieben Menschen, die sich meiner so freundschaftlich
angenommen hatten. Ich bin ihnen allen noch heute sehr verbunden
und verpflichtet. Dann fiel der Deckel auf den großen graugrünen
Hochzeitskoffer meiner Eltern mit den Büchern und all den vielen
Siebensachen, die sich nun noch reichlich vermehrt hatten, zur Fahrt
+durch Kanada+ heimwärts. Ob er wohlbehalten mit mir die Heimat
erreichte? Ich hoffte es.




Kanada.


Kanada ist ein ganz riesiges Land, +noch viel riesiger als die
amerikanische Union+! Es ist wenig kleiner als ganz Europa
einschließlich Rußland! Ich hatte natürlich nicht vor, etwa auch
noch dies Land seiner ganzen Breite nach zu durchfahren, seine
unermeßlichen Prärien und unerschöpflichen Wälder zu erforschen, die
die Bevölkerung trotz der ungeheuren Landfläche auf ein Zehntel der
der Union beschränken. Dazu fehlte völlig die Zeit. Mir sollte es
genügen, wenigstens einen Blick in das Land hineinzuwerfen und einen
Abschiedshauch von ihm mitzunehmen.

Kaum +eine+ namhafte Großstadt gibt es auf kanadischem Boden. Ein
äußerst kalter und rauher Winter läßt das Land monatelang erstarren,
obwohl seine Südgrenze etwa in der Höhe von Mailand läuft! Gar tief
schneidet die Hudsonbai, die das ganze Jahr mit Treibeis (!) gefüllt
ist, in das Land ein. Eisig sind die Stürme, die von Grönland und
dem Eismeer herein und von hier bis in die obere Mississippiebene
hinabbrausen. Es war mir möglich, den einzig wichtigen Osten zu
durchfahren, wo vor England einst Frankreich Fuß faßte, das zu
Zeiten von Neuorleans über Saint Louis bis Quebec gebot! Welch eine
Koloniallinie! Im Siebenjährigen Krieg verlor ja Frankreich dank der
Siege Friedrichs des Großen ganz Kanada, dessen Wert damals niemand
ahnte, an England, und das Mississippital verkaufte Napoleon I. an
die Union, auch seine Bedeutung nicht für möglich haltend, für ein
Butterbrot! (15 Millionen Dollars). Von Ostkanada, Montreal und Quebec,
wollte ich den mächtigen Lorenzstrom hinunter über den nördlichen
Atlantischen Ozean nach Schottland hinüberfahren und noch England
durchstreifen. Das waren wieder neue Erlebnisse! Der Plan, gar über
Japan heimzukehren, war für mich leider unausführbar; so hielt ich mich
dafür an den kanadischen Weg, sintemal die Route Kanada-Schottland die
kürzeste Überfahrt auf offener See bietet!

So ging es durch Massachusetts, das liebliche Neuhampshire und
Vermont gen Quebec. Ich sagte dem Charles River Lebewohl, der golden
leuchtenden, so oft geschauten Kuppel des State House auf dem Boston
Common, dem schönen Renaissanceturm der ~New old South~, auch all den
vertrauten Collegegebäuden von Harvard, in denen ich so oft ein- und
ausgegangen war.

Wir hielten in der rauchenden über 100000 Einwohner zählenden
Fabrikstadt Lowell. Ein Mönch in brauner Kutte stieg ein. Wie sich das
in Amerika ausnimmt zwischen all den rasierten ~gentlemen~! Er wollte
offenbar nach dem katholischen Kanada reisen! Auch schon in Lowell gibt
es genug französisch redende kanadische Arbeiter, die in den nördlichen
Industrien der Union Verdienst suchen.

Dann kam rings schöne grüne Heide, je weiter wir nach Neuhampshire
hineinfuhren. Flüsse, Seen und sanftgewellte Hügel bestimmten den
Charakter der Landschaft. Alles alte Indianergründe! Davon zeugen noch
heute die Namen der Flüsse, Seen und Berge, wie z. B. der Name des
äußerst lieblichen, an den mittelenglischen Seendistrikt erinnernde
Lake Winnipesaukee. Birkenbepflanzte Fahrwege säumen ihn, kleine
Dampfer eilen über seine spiegelglatte Fläche. Waldige Mittelgebirge
überhöhen ihn rings sanft ansteigend. Unverwandt schaute ich wieder
hinaus in diese liebliche einsame Landschaft. Wieviel Raum und Platz
ist hier noch für wanderlustige und siedlungsbereite Menschen! Der
Zeitungsboy wanderte indessen wie immer durch den Bahnwagen und
bot Ansichtskarten und Albums aus. Auch er hatte schon einen etwas
fremdartigen Akzent ...

Die Stationsnamen hatten oft puritanisch-biblischen Klang:
„Bethel, Kanaan, Lebanon“, wie man auch heute noch viel
biblisch-alttestamentliche Vornamen unter den Amerikanern und
Engländern findet: +Abraham+ Lincoln, +David+ Jefferson, +Isaak+
Newton, +Jonathan+ Eduards, +Josiah+ Royce usw. -- und waren doch alle
beileibe keine Juden! Die Bahnhöfchen wurden immer unansehnlicher, je
weiter wir nordwärts kamen.

Den See Winnipesaukee samt den malerischen White-Mountains ließen wir
zur Rechten und fuhren nach dem Staat Vermont hinüber und dann den
langen, vielverzweigten und vielbesuchten „Lake Champlain“ entlang.
Er ist über 150 ~km~ lang, d. h. also mehr als doppelt so lang als
unser Bodensee, wenn auch nicht von seiner Breite. Ein Kanal verbindet
ihn mit dem Hudsonfluß. Immer aufs neue werden alle unsere deutschen
Maßvorstellungen über den Haufen geworfen. Und dabei zählt dieser
See samt dem Salt Lake in Utah durchaus zu den „kleinen“ Seen. Es
war äußerst erfrischend und erquickend an ihm entlang zu fahren. Wir
hatten eben einen 300 ~m~ hohen Paß mit der Bahn überschritten und
senkten uns nun in seine liebliche Niederung. Auch an Joseph Smiths,
des Mormonenpropheten Heimat, Dorf Sharon, eilten wir vorüber. Also in
dieser träumerisch-idyllischen Landschaft hat der Prophet seine ersten
seelischen Eindrücke empfangen! Sie ist freilich der denkbar größte
Gegensatz zu den Einöden und Steppen um den Salzsee.

Je weiter wir an dem Lake Champlain nordwärts kamen, desto ebener
und flacher wurde das Land wieder. Die freundlichen Berge Vermonts
blieben zurück. Vor St. John erreichten wir die Grenze der Union und
fuhren nun nach Kanada hinein. Es war für mich nicht das erstemal, daß
ich englischen Boden berührte. Schon vom Niagara bis Detroit hatte
ich das südlichste kanadische Gebiet durchfahren. Der Lake Champlain
fließt ab im „Richelieu River“, der so breit ist wie ein Meeresarm.
Schon der Name belehrte mich, daß sich hier eine alte geschichtliche
Welt auftat, die noch heute neben 100000 Indianern über eine Million
französisch redende Kanadier bewohnen. Dünn ist das Land besiedelt.
Ungeheure Ebenen bis an den Horizont taten sich auf, die an Weite und
Unfaßlichkeit noch die Ebenen des Mississippi übertreffen! Auf weiten
grünen Weiden tummelten sich Pferde und Rindvieh. Von Zollrevision
merkte ich nichts. Freut sich etwa ~The Dominion of Canada~ über jeden
Menschen und jedes Stück Ware, was in sein ungeheuer aufnahmefähiges
Land hineinkommt? Oder spart man Beamte? Die Bauart der Häuser zeigte
hier einen anderen Stil als in der Union. Es sind im östlichen
Kanada meist Steinhäuser mit flachem oder französischem Doppeldach.
Verschwunden sind die typischen amerikanischen hölzernen Farmhäuser.
Auch die meisten Stationsnamen sind jetzt französisch, z. B. „Brosseau“!

Es dunkelte. Über den ungeheuren Grassteppen war westwärts die Sonne
versunken. Von einer Reihe abendlich beleuchteter Hügel blitzten
Lichter auf. Wir näherten uns den Ufern des St. Lorenzstromes,
der kaum noch ein Strom zu nennen ist, der als der breite Abfluß
des Ontariosees, einer der großen, ostseeähnlichen Seen, wie der
Niagarafluß der Abfluß des Eriesees seeartig daherströmt. Er ist fast
so lang wie die Wolga und schon 400 ~km~ vor der Mündung 20 ~km~ breit!

Einen ganzen Tag war ich wieder gefahren, als wir endlich zwischen
neun und zehn Uhr abends in Montreal (frz.: „Königsberg“, aber hier
meist englisch ausgesprochen: „~montrioll~“) eintrafen. Auf mächtiger
Brücke setzen wir über den St. Lorenz, der hier so breit wie die
Unterelbe ist. Montreal liegt auf einem unmittelbar am Fluß hoch
ansteigenden Berg. Daher trägt es auch seinen Namen zu Recht. Es
übertrifft an Alter, wenn auch keineswegs an Größe und Bedeutung,
die meisten seiner viel jüngeren amerikanischen Schwesterstädte.
1608 wurden schon die ersten französischen Niederlassungen am St.
Lorenzstrom gegründet! Heute zählt Montreal über 200000 Einwohner.
Es besitzt eine alte prächtige Kathedrale in französischer Gotik. Im
Winter stauen sich die mächtigsten Eisschollen zu Bergen am Flußkai vor
ihr. -- Ich war der letzte, der aufs Schiff kam, das am Landungssteg
schon ein geraumes Stück stadtabwärts abfahrtbereit lag. Ich nahm mir
im Dunkeln eine Droschke. Wie hätte ich sonst im Dunkeln, eben erst
in Kanada eingetroffen, nachts zehn Uhr durch die bergig gelegene
Stadt das Schiff finden sollen? Mit der Straßenbahn, auf der viele
Fahrgäste französisch wie in Straßburg sprachen, war ich nicht recht
vorwärts gekommen. Ich mußte im Oberstübchen erst tüchtig umräumen
und umschalten, bis ich nach dem vielen Englisch die richtigen
französischen Worte fand! Gegen elf Uhr betrat ich das Deck, von den
Passagieren neugierig angestaunt, und verstaute mich selbst auf dem
„~Royal-mail-twin-screw-steamer Jonian~“, wie er offiziell hieß!

Der Dampfer selbst kam mir in seinen Ausmaßen recht klein vor, als ich
ihn betrat, im Vergleich mit den Ozeanriesen, die man aus den Docks in
Neuyork gewöhnt war. Aber solcher Riesen brauchte es ja auch zwischen
Kanada und Schottland nicht. Er hatte immer noch 8000 Registertonnen
und gehörte der englischen Allan-Linie. Angenehm war es, daß er nur
II. Klasse führte, so daß einem auch als Menschen „zweiter Klasse“
und von minderem Geldbeutel doch einmal das ganze Schiff mit allen
Decks und Salons bis hinauf aufs Oberdeck zur Verfügung stand; ferner
war angenehm, daß im ganzen nur etwa 150 Passagiere mitfuhren. Es
waren diesmal ein gut Teil Missionare darunter, die zu einer großen
Missionskonferenz nach Schottland wollten. Die Besatzung aber betrug
dennoch allein 180 Mann! Die wenigen Passagiere machten aber die ganze
Fahrt recht familiär.

Müde von den langen Eisenbahnfahrten ging ich bald in meine Kabine, die
ich für mich allein hatte. Zum Schlaf sollte es doch noch nicht sobald
kommen, denn um Mitternacht begann ein wahrhaft höllisches Gepolter.
Die großen Schiffskrane versenkten nämlich sämtliches große Gepäck und
sonstige Ladung in die tiefen Laderäume im Bauch des Dampfers. Das
gab ein Rasseln der Ketten, ein Drehen der Krane, ein Rufen, Pfeifen,
Rollen, Schieben, Fallen ohne Aufhören. Erst etwa gegen drei Uhr nachts
hörte es auf. Die Augen fielen mir zu ... Die Ankerketten wurden
hochgezogen. Das war englische Rücksichtslosigkeit und Nüchternheit
-- wir fuhren! Ohne Sang und Klang ging es ab -- auch englisch --
ohne den ganzen schönen theatralischen Abschied wie in Kuxhaven. Kein
Winken, auch kein Weinen! Der Engländer ist nicht so sentimental und
melancholisch wie wir.

Als ich morgens erwachte, mir die Augen rieb und durch die Luke
hinausschaute, schwammen wir mit unserer „Jonian“ auf einem breiten,
schimmernden Strom, den liebliche grüne Ufer und sanft geschwellte
Hügel begrenzten, sacht und ohne jede Erschütterung abwärts. So
sollte es zweieinhalb Tage fortgehen, bis wir in den offenen Ozean
hinauskamen. Ich hätte so bis ans Ende der Welt fahren mögen ... Gegen
Vormittag zehn Uhr kamen wir an Quebec, der anderen alten französischen
Gründung, vorbei. Quebec war mir zum ersten Male in der Kindheit in
einem Gedicht Seumes begegnet, aber wie in völlig nebelhafter Ferne.
Jetzt sah ich es wie Montreal auf noch steilerem Berg herrlich und
gebietend über dem St. Lorenz thronen als natürliche starke Festung.
Festungsmauern und drohende Kasematten säumten die Zitadelle, aber
auch riesige Hotels mit gewiß prächtiger Aussicht haben sich den Berg
hinangebaut. Quebec erinnerte mich stark an unseren Ehrenbreitstein am
Rhein gegenüber Koblenz.

Hinter Quebec wurde der St. Lorenz noch zwei- bis dreimal so breit
als bisher. Er weitete sich mehr und mehr und wurde fast wie zu
einer tiefeingeschnittenen Bucht. Die in der klaren Luft wie gemalt
ausschauenden Berge begleiteten ihn noch lange. Dann und wann
passierten wir buschige Inseln mitten im Strom wie am Niederrhein. Nach
Stunden begegnete uns auch das schönere und neuere Schwesterschiff, die
„Virginian“, die von Schottland kommend und derselben Linie angehörend
stattlich den St. Lorenz aufwärts dampfte. Lebhaftes Grüßen und Winken
und Tücherschwenken hinüber und herüber -- und dann war auch dies
„Ereignis“ wieder vorüber! Nach einigen Stunden kam auch noch die „Lake
Erie“ von der Dominian-Linie und ein Seedampfer, der der Canadian
Pacific-Eisenbahn gehörte. Solche Schiffsbegegnungen sind immer „große“
Ereignisse an Bord und beliebte Ziele für Operngläser und Feldstecher.

Am Rand des Stromes tauchten hier und da kleine weißschimmernde Dörfer
auf mit kleinen weißen Kirchtürmen, aber im ganzen doch selten. Sonst
machte das weite Gras- und Hügelland links und rechts den Eindruck
völliger Unbewohnheit, der uns in Europa -- Rußland ausgenommen -- so
ganz fremd ist! Wir nahmen den Kurs nach der „Belle-Isle-Straße“, dem
nördlichsten Ausgang aus dem St. Lorenzstrom, so daß wir das eisige
Labrador links und „Neubraunschweig“ rechts ließen.

Als der erste Tag der Fahrt auf dem Lorenzstrom zu Ende ging, wich
die Helligkeit abends nur sehr langsam. Es war ja Juni und ging dem
hellsten Tag entgegen. Mit jedem Tag aber kamen wir in nördlichere
Breiten. Ja es blieben zuletzt breite helle Streifen die ganze Nacht
am dunklen Himmel stehen, die uns entweder als Reflexe des Eises im
nördlichen Labrador oder als Nordlicht gedeutet wurden! So kriegte man
fast ein bißchen Geschmack wie von „Grönland“ und „Nordpol“. Von der
Südspitze Grönlands trennten uns nachher ja auch nur noch etwa 600
~km~, also etwa eine Entfernung wie von Edinburg zur Südküste Englands.
Labrador allein ist so groß wie ganz Skandinavien und Spanien zusammen!

Aus einem buntfarbigen Abend tauchte ein strahlender Sonntagmorgen.
Ruhig und gelassen glitt unser Schiff wie ein Riesenschwan den viele
Kilometer breiten blauen Strom abwärts. Wir waren jetzt in den St.
Lorenz+golf+ eingetreten, der sich in zwei Straßen nördlich und südlich
der Neufundlandinseln zum Atlantischen Ozean öffnet. Wie mit dem Messer
geschnitten zeichnete sich die Wasserfläche in der völlig staubfreien,
herrlich-klaren frühlingshaften salzigen Seebucht vom Horizont ab. Von
den aus dem warmen Golfstrom so oft aufsteigenden Nebeln war diesmal
nichts zu merken. Rechts glitt eine längliche bergige Insel vorüber.
Zum ersten Male begann sich jetzt unser Schiff dank der vom offenen
Ozean nun seitlich hereindringenden Wellen ein wenig zu heben und zu
senken. Der erste Gruß des offenen Atlantik!

Im Speisesaal fanden heute Sonntags auf dem englischen Dampfer nicht
weniger als vier (!) Gottesdienste nacheinander statt, bei denen
zumeist die mitreisenden Missionare predigten und aus ihrer Arbeit in
Japan, auf den Philippinen und in Indien erzählten. Einer von ihnen,
ein französischer Missionar, berichtete in mangelhaftem Englisch von
seinen Erlebnissen bei der Fremdenlegion. Ehe sie redeten, wurden
sie jedesmal mit Namen und Wirkungskreis vorgestellt! Auf einem mit
dem englischen Union Jack umwundenen Pult lag eine große vergoldete
Schiffsbibel. Das war die Kanzel. Die Mannschaft nahm, soweit frei,
auch an dem „~worshipping the Lord~“ teil. Ich kann mich nicht
entsinnen, daß wir auf dem Hapagdampfer bei der Hinfahrt Sonntags je
irgendeine religiöse Veranstaltung gehabt hätten. Sonntags spielte hier
auch die Schiffskapelle nicht einmal zu den Mahlzeiten! Kein Spiel,
erst recht nicht Karten, wurde auf Deck veranstaltet oder geduldet,
auch kein Tanz u. dgl. Rauch- und Biersalon blieben heute unbesucht!
Das Klavier wurde nur zu Chorälen geöffnet ...

Eine breit aufgewühlte Wasserfurche ließ unser Schiff hinter sich.
Schwärme von Möwen folgten ihm. Der Himmel behielt unverändert seine
strahlende Bläue. Wir näherten uns der großen Insel „Anticosti-Island“.
Ein Leuchtturm blinkte herüber. Bei Eisgang nehmen die Schiffe
gewöhnlich von hier den weiteren südlichen Kurs um Neufundland herum,
wir aber behielten den kürzeren nördlichen bei an der Küste von
Labrador hin unter Grönland weg!

Montag morgen passierten wir die Nordküste der wegen ihres Nebels so
berüchtigten Neufundlandinseln und fuhren in die Straße von Belle-Isle
ein. Labrador schien ganz unbewohnt, trotz seiner ungeheuren Größe,
bergig, öde. Es zählt wohl kaum 10000 Einwohner[37]. Es kennt wie
Kanada noch große Büffel- und Rinderherden, auch Bären! Als wir den
Ausgang der „Belle-isle-Straße“ um Mittag ins offene Meer gewannen,
kamen uns -- zu unserer Freude -- richtige Eisberge auf ihrer Wanderung
von Grönland südwärts entgegengeschwommen. Wir machten freilich einen
recht respektvollen Bogen um sie. Denn die „~ice-bergs~“ ragen oft nur
wenige Meter über dem Wasserspiegel, aber um so länger sind sie unter
ihm! Im ganzen waren es nur vier dieser Burschen, die wir sahen. Uns
interessant, von den Seeleuten gefürchtet. Noch steht in furchtbarer
Erinnerung der Zusammenstoß der Titanic mit einem dieser unheimlichen
Gesellen 1912. Aber malerisch sehen sie aus, wenn sie so blendend weiß
im tiefen Blau des Ozeans dahergeschwommen kommen, lautlos und doch so
gebieterisch, ein Stück losgelöstes Nordpolland.

Als wir den offenen Ozean gewonnen hatten, zeigte er weiße Kämme
bei schwacher Bewegung ... Das interessantere Stück der Fahrt war
nun vorüber. Jetzt folgte wieder das erhabene Einerlei des offenen
Ozeans ohne Küstenstrich und Abwechslung für die Augen. Freilich ein
strahlender Tag löste den anderen ab. Leicht fuhr das Schiff seine
Bahn. Das Meer war kaum bewegt. Es war ein wundervolles Dahingleiten
in dieser Juniherrlichkeit der See. Ich saß entweder ganz am Bug vorn
und schaute in die unendliche Weite, der wir entgegenfuhren, vorwärts
das Land Europas „mit der Seele suchend“ oder ganz auf dem Achterdeck
rückwärts gewandt allein mit meinen Gedanken über Amerika und sah der
breiten quirlenden und schäumenden Furche nach, die unsere Schrauben
hinter uns zurückließen. Es war zu prächtig, nichts zu tun als zu
schauen und zu sinnen ... Andere, wie die Missionare, unterhielten
sich ständig über Missionsfragen, lasen viel in ihren Büchern oder
zankten sich auch über kirchliche Dinge. Merkten sie gar nichts von
der Missionspredigt, die ihnen täglich der ewige Ozean Gottes hielt?
Dafür nannte mich der französische Missionar, der bei der Fremdenlegion
gedient hatte, „~not sociable~“[38]. Meinetwegen! Der beste Sozius in
unserem Leben ist doch auch manchmal das eigene sinnende Ich, wenn
es sich weitet zu einem Überich und seelische Tiefen aufzubrechen
anfangen. Aber mit diesem Ich mögen so wenige allein sein! Sie müssen
immer Menschen und „Unterhaltung“ um sich haben, die doch oft so seicht
und fade ist ...

An einem der Wochentagabende war wieder nach den vier ~services~ des
Sonntags -- „~prayer-meeting~“. Es knieten nebeneinander im Salon die
bärtigen Schotten und die glattrasierten Kanadier, und einer nach dem
anderen begann ein langes freies und doch gepreßtes Gebet. Ich hielt
es lieber mit dem: „Wenn du betest, so geh’ in dein Kämmerlein und
schließ’ die Tür zu ...“

Am Freitag regnete es einen halben Tag lang, und wir fuhren in feuchtem
Nebelgrau. Passierten wir den Golfstrom? Ich benutzte die Stunden,
die man in den Salons zubringen mußte, meine Einführungsrede in mein
Amt, das ich sofort nach meiner Ankunft in der Heimat antreten
sollte, auf dem freien Ozean auszuarbeiten. Hier war Stille dafür.
Salzluft des freien Himmels wehte mit hinein. Plötzlich tutete es zum
Rettungsappell. Alles mußte in die Boote. Aber glücklicherweise war es
nur Probealarm. Schreckhaft, aber interessant!

Sonnabend nachmittags näherten wir uns der schottischen Küste. Kein
einziges Schiff war auf diesem nördlichen Kurs uns auf dem offenen
Meer begegnet! Nur fünf Tage hatte die Fahrt auf offener See gedauert;
zweieinhalb Tage fuhren wir auf dem St. Lorenz!

Vormittags elf Uhr tauchte zuerst frohbewillkommnet die bergige blaue
Küste des grünen Irland auf, an dem wir nördlich vorbeifuhren. Wir
hatten also das Ziel richtig gefunden. Möwen umflatterten uns begrüßend
wieder zu Hunderten.

Ein letztes Konzert an Bord galt, wie üblich, der Mannschaftskasse.
An seinem Ende wurde „~God save the king~“ gesungen! Jeder hatte
dabei aufzustehen. Der Speisesalon war reich mit englischen Flaggen
dekoriert. Gegen Abend tauchten auch schon die felsigen, unmittelbar
aus dem Meer aufsteigenden malerischen Steilküsten Schottlands mit
ihren Schlössern und alten Städten auf. Jetzt redete wieder die alte
Welt mit tausendjähriger Geschichte zu uns ...

Den letzten Tag wurde unser Schiff noch ganz blank gestrichen.
Temperaturmessen, Loten, Flaggenhochziehen war mir als Landratte
immer wichtig ... Dann kam ein letzter himmlisch-klarer Abend bei
der Durchfahrt durch die felsige Clydebucht, an deren innerem Ende
+Glasgow+ liegt. Ihr Eingang wirkt wie ein norwegischer Fjord. Um elf
Uhr abends war es in diesen Juninächten Schottlands noch hell genug zum
Lesen ...

Als ich Sonntag früh erwachte, lagen wir bereits fest im Dock in
Glasgow mitten zwischen Schuppen und Lagerhäusern. Ebenso prosaisch und
klanglos wie die Abfahrt in Montreal war die Landung in Glasgow. Ich
war auf dem Boden Seiner britischen Majestät!

Kein Empfang, keine Musik!

Ich betrat wieder europäischen Boden ...


Fußnoten:

[Footnote 37: Den Namen soll es von „~terra laboratorum~“, d. h. Land
guter Sklavenarbeiter erhalten haben?!]

[Footnote 38: Nicht gesellig.]




[Illustration]

Druck der Roßberg’schen Buchdruckerei, Leipzig.






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK QUER DURCH AMERIKA ***


    

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the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our website which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org.

This website includes information about Project Gutenberg™,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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