Begierde : Ein Berliner Roman

By Jolanthe Marés

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Title: Begierde
        Ein Berliner Roman

Author: Jolanthe Marés

Release date: January 11, 2025 [eBook #75083]

Language: German

Original publication: Berlin: Wilhelm Borngräber Verlag, 1916

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BEGIERDE ***


  Anmerkungen zur Transkription


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                                                       Begierde
                                                       20. Tausend




                     B   e   g   i   e   r   d   e

                           Ein Berliner Roman

                                  von

                             Jolanthe Marès

                         [Illustration: Signet]

                          16. bis 20. Tausend


                       Wilhelm Borngräber Verlag
                                 Berlin




                         Alle Rechte, auch das
                          der Übersetzung, vom
                           Verleger gewahrt.




In dem eleganten kleinen Teeraum der Pension Mohrmann lag Miß Webb
tief in einen der bequemen Sessel geschmiegt, rauchte ihre Zigarette
und gab ihrem Erstaunen über Deutschland im allgemeinen und Berlin im
besonderen Ausdruck.

»Oh, ich muß Ihnen sagen, Miß Wunsch, daß ich sehr erstaunt bin über
alles, was ich hier in Deutschland sehe. Ich habe immer gehört, die
deutsche Frau ist nicht elegant und versteht sich nicht zu kleiden.
Sie ist nur Hausfrau, hat viele Kinder, kocht, wäscht und besorgt im
Haushalt alles selbst. Und nun sehe ich, daß es ganz anders ist. Die
deutsche Frau ist eine elegante Dame. Sie kleidet sich nach der Mode,
hat Schick und versteht zu flirten. O nein, ich finde die ›Deutsche
Hausfrau‹ nicht.«

Lachend warf die der Sprecherin gegenübersitzende Lotte Wunsch den
Rest ihrer Zigarette in den Aschenbecher, schlürfte langsam ihren Tee
und erwiderte spöttisch: »Auf Ihren Wegen werden Sie auch die deutsche
Hausfrau schwerlich finden, Miß Webb.«

»Ich bin sicher, daß es einige gibt. Aber was will das sagen im
Vergleich zu den vielen?«

»Geht man nachmittags zum ~five o’clock tea~, man trifft viele Damen,
Frauen, die Haus und Kinder haben. Abends in den Restaurants, alles
Familien! Ich sehe, es ist nicht richtig mit Ihren drei K -- Kirche,
Küche, Kinder -- ich finde, man amüsiert sich sehr viel bei Ihnen.«

»Man arbeitet aber auch bei uns.«

»Das ist wahr. Ich habe es bemerkt. Die Herren bei Ihnen arbeiten viel,
beinahe so viel wie bei uns. Es gibt viele Frauen in Deutschland, die
einen Beruf haben und die sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Das
imponiert mir sehr. Aber Zeit für Amüsement haben sie trotzdem. Oh, ich
denke lange in Berlin zu bleiben ~to amuse myself~.« Miß Webb zündete
sich eine neue Zigarette an, warf den Kopf weit zurück, schlug die
Beine übereinander, daß die schlanken, in spinnwebfeinen schwarzen
Seidenstrümpfen steckenden Beine sichtbar wurden, und den Rauch der
Zigarette in leichten Wölkchen in die Luft blasend, fragte sie: »Haben
Sie auch den Schrei nach dem Kinde gehabt, Miß Wunsch?«

Fräulein Wunsch starrte auf ihr Gegenüber: »Ob ich was?«

»Nun -- ob Sie auch den Schrei nach dem Kinde haben? Man sagt bei uns,
die deutsche Frau mit einem Beruf will sehr oft ein Kind, aber keinen
Mann, sie will Mutter sein, ohne zu heiraten. Ist das richtig? Wie kann
man wünschen, ein Kind zu bekommen? Kleine Kinder sind schrecklich.
Niemals möchte ich Kinder haben, sie sind lästig und machen so viel
Mühe.«

Mit einem energischen Ruck warf sie den Oberkörper nach vorn, setzte
die Füße fest auf den Boden und fragte eindringlich zu Fräulein Wunsch
hinüber: »Wollen Sie ein Kind?«

»Es wäre wirklich schade, wenn Ihre Mutter ebenso gedacht hätte
wie Sie. Im übrigen scheinen Sie aus Schlagwörtern Ihre Kenntnis
der deutschen Frau herzuleiten. Ich würde Ihnen auch raten, länger
hierzubleiben, um Ihr Wissen an der Quelle zu vervollständigen.«

»Oh, Sie sind böse, weil ich das gefragt habe, das müssen Sie nicht
sein. Ich frage nicht aus Neugierde, ich habe viel Interesse für die
deutsche Frau, ich suche sie zu studieren. Ich weiß, die Deutschen
haben viel Herz, oder sagen Sie Gemüt? Ich kann es wohl verstehen,
daß man wünscht, Kinder zu haben, wenn man verheiratet ist, aber wie
eine Frau, die nicht verheiratet ist, sich ein Kind wünschen kann, das
begreife ich nicht. Sagen Sie, Mrs. Holm, wünschen Sie sich ein Kind?«

»Ich wäre unendlich glücklich, wenn mir in meiner Ehe ein Kind
beschieden wäre.«

»~Well~, Sie waren verheiratet. Aber Sie, Fräulein von Wangenheim, wie
denken Sie darüber?« Die lebhaften braunen Augen wandten sich gespannt
und voller Neugierde der ihr zur Rechten sitzenden jungen Dame zu.

Ein flammendes Rot überzog die zarten bleichen Wangen, kühle,
abweisende Blicke trafen die Augen der Fragenden: »Aber -- ich bitte
--«

Erstaunt blickte die Amerikanerin sie an: »Ich denke, Sie sind
Künstlerin und wollen zur Bühne gehen? Da darf man nicht prüde sein,
Fräulein von Wangenheim, da werden Sie noch ganz andere Dinge zu hören
bekommen.«

»Ich will nicht zur Bühne gehen, ich will Konzertsängerin werden.«

»Einerlei. Nicht wahr, Sie studieren bei Professor Sommer?«

»Jawohl.«

»Es soll ein sehr interessanter Mann und guter Lehrer sein. Ich habe
viel von ihm gehört. Ich wollte auch Gesang studieren. Sie müssen
wissen, wir Amerikaner lieben die Musik sehr. Aber ein Studium nimmt
viel Zeit. Ich bin zu praktisch, ohne Vorteil Geld auszugeben. Ich habe
keine Zeit zum Studieren, ich liebe es mehr, mich zu amüsieren.«

»Ja, das Studium kostet viel Geld.«

»Die Ausbildung Ihrer Stimme ist eine Kapitalsanlage, die Ihnen später
Zinsen bringen wird, vorausgesetzt, daß Sie wirklich Stimme haben.«

»Der Professor hat mir große Hoffnungen gemacht.«

»Waren Ihre Eltern denn mit Ihrer Ausbildung einverstanden? Sie sind
aus einer Offiziersfamilie, Ihr Vater ist, wie ich gehört habe,
Oberstleutnant. Ist man in diesen Kreisen nicht etwas ablehnend gegen
das Künstlertum, wenigstens wenn es die eigene Familie betrifft?«

Ein leichter Zug der Pein huschte über die jetzt wieder bleichen Züge
Fräulein von Wangenheims, aber sich bezwingend erwiderte sie:

»Im allgemeinen wohl, Miß Webb. Auch ich hatte einen Kampf zu bestehen,
ehe mir die Einwilligung meiner Eltern zuteil wurde, aber -- wie Sie
sehen -- ich bin siegreich aus dem Kampf hervorgegangen und -- der
Oberstleutnant mußte sich dem Rekruten ergeben.«

»Also: Siegerin. Sie werden auch hier siegen, glauben Sie mir --« und
ein so prüfender Blick flog über Gerda von Wangenheim, daß ihr wieder
das Erröten kam.

»~Good Evening~, Mr. Winkelmann, es ist nett, daß Sie kommen, um mich
zu entführen. Ach, wie wohltuend wirken Sie in diesem bunten Raum und
unter uns farbenfreudig gekleideten Damen!«

»Als dunkler Punkt,« warf Lotte Wunsch dazwischen.

»Wirklich, ich wurde schon ganz nervös. Schauen Sie dieses Schwelgen
in Farben, Sie in Ihrem Smoking bringen etwas Ruhe hinein, Sie wirken
direkt dekorativ.«

»Sollte ich nicht auch noch anders wirken?«

Kurt Winkelmann neigte sich über die ihm entgegengestreckte Hand der
Amerikanerin, begrüßte kameradschaftlich Lotte Wunsch und verbeugte
sich verbindlich vor Ebba Holm.

»Und hier, unsere jüngste Mitpensionärin, Fräulein von Wangenheim.«

Kurt Winkelmann war eine schlanke und vornehme Erscheinung mit
schmiegsamen, lässigen Bewegungen. In dem bartlosen Antlitz saß eine
kühne, etwas scharf hervorspringende Nase und dunkle, von langen
Wimpern beschattete Augen. Volles, kastanienbraunes Haar fiel in die
hohe klare Stirn. Es war sein Sport, der bestgekleidetste Weltmann zu
sein und als der schickste und eleganteste Lebemann der Welt zu gelten.

Sein geübtes weltmännisches Auge, das sich nur mit Schönheit und
Eleganz beschäftigte, nahm die neue Erscheinung in sich auf. Sie ist
sehr schön, das ist wahr. Die Haare, die Haut, der zarte Teint, die
Figur, alles ist herrlich! Und dennoch -- sie war nicht mit dem Schick
angezogen, ohne den eine moderne Frau in seinen Augen ein Unding war.
Ihr Kleid hatte nicht den tadellosen Schnitt, es war nicht der letzten
Mode entsprechend. Das Haar von jenem schönen rötlichen Blond, welches
wie Gold schimmert, war zu wenig gelockert, ihm fehlten die von der
Mode vorgeschriebenen Wellen. Alles in allem eine eigenartige Schönheit
von außergewöhnlichem Reiz, aber -- keine elegante Frau nach seinem
Geschmack.

Leicht hatte sie das Haupt geneigt und einen flüchtigen Blick über
den Ankömmling gleiten lassen, dann plauderte sie ruhig weiter. Sie
schien nicht das Interesse für ihn zu empfinden, das er gewöhnlich im
Entgegenkommen aller Frauen fühlte, denen man ihn vorstellte. Eine
Persönlichkeit wie er, Weltmann vom Scheitel bis zur Sohle, und diese
junge, provinzialisch angezogene Person war gar nicht neugierig, ihn
kennenzulernen?

»Mr. Winkelmann, wo werden Sie mich hinführen? Bitte, sagen Sie, Sie
hatten mir einen besonders netten Abend versprochen.«

»Erst werden wir ein Konzert besuchen, in welchem die Hempel singt.«

»Oh, ~wonderfull~,« sie klatschte in die Hände -- »und dann --«

»Ja, das ist eine Überraschung, kann ich noch nicht verraten.«

»Aber bin ich auch richtig gekleidet, ~look at me~?« Sie war
aufgesprungen, stellte sich in die Mitte des Zimmers und drehte sich
langsam gleich einer Mannequin herum.

Ihren schlanken zierlichen Körper umspannte gleich einer Haut ein
weicher, grasgrüner Seidenstoff, jede Linie scharf abzeichnend. Der
schlanke Hals, um den eine dreifache Perlenschnur gewunden war, tauchte
gleich einer Lilie aus dem grünen, zarten Gewebe, welches den spitzen
Ausschnitt umgab, hervor.

Übermütig blitzten ihm die braunen Augen aus dem leicht gepuderten,
pikanten Antlitz entgegen.

»Immer ~allright~, Miß Webb.«

»Eigentlich hätten Sie dieses Konzert auch besuchen müssen, Fräulein
von Wangenheim, so etwas sollten Sie sich nicht entgehen lassen.«

»Gnädiges Fräulein interessieren sich für Musik?« und er neigte sich zu
Gerda von Wangenheim.

»Ich studiere Gesang.«

»Ah -- also angehende Künstlerin --« und er heftete einen seiner
verschleierten und heißen Blicke auf sie.

»Fräulein von Wangenheim wird Karriere machen,« rief die Amerikanerin,
indem sie sich von dem eintretenden Zimmermädchen den Mantel um die
Schultern legen ließ.

»~I’m ready~, Mr. Winkelmann.« -- -- --

            ----------------------------------------------

»Naseweis und frech wie ein Spatz.«

»Sagen Sie lieber gänzlich unerzogen, Fräulein Wunsch.«

»Nein, das möchte ich nicht sagen, Frau Holm. Ich habe schon zuviel
gut erzogene junge Damen ein schlechtes Benehmen zeigen sehen, daß ich
nicht auf dem Standpunkt stehe, daß schlechtes Benehmen stets eine
Folge schlechter Erziehung ist.

Was hier zutrifft, weiß ich nicht. Im allgemeinen wird den
amerikanischen jungen Damen eine sehr gute, sogar strenge Erziehung
zuteil. Allerdings genießen sie im Umgang mit jungen Männern eine
große Freiheit, wobei ›drüben‹ gar keine Gefahr besteht, denn die Frau
genießt ja in Amerika einen ganz andern Schutz als hier bei uns. Sie
ist dem Manne tatsächlich ein Wesen, dem man Achtung schuldig ist und
dem kein Mann wagen wird, sich unehrerbietig zu nahen.«

»Sie können doch im Ernst nicht behaupten wollen, daß ein gut erzogenes
junges Mädchen unserer Kreise sich derartig benehmen kann, wie es diese
Dame tut?«

»Unter Umständen noch viel schlimmer. Sie kennen unsere Großstadtluft
nicht -- die zersetzt. Man ist so vielen Einflüssen ausgesetzt. Es
gehört schon Charakter dazu, sich rein zu halten und den verwilderten
Elementen fern zu bleiben. Glauben Sie mir, ich spreche nicht so
obenhin. Seit zwanzig Jahren lebe ich hier, stehe mitten im Leben, habe
viel wohlerzogene Töchter guter Familien an mir vorüberziehen sehen.
Viele sind bergab geschritten -- moralisch -- denn der Weg bergab
führte oft zur Höhe des gesellschaftlichen Lebens -- zu Ruhm und Glanz.«

»Sie wollen uns schon verlassen, Fräulein von Wangenheim?«

»Ich habe mich heute mit dem Studium überanstrengt. Ich möchte die
Stunde bis zum Abendessen zum Ruhen benutzen.«

Gerda von Wangenheim stand in ihrer schlanken Höhe vor den beiden
Damen, reichte ihnen die Hand und schritt schwebenden Schrittes aus dem
Zimmer.

»Eine herrliche Erscheinung.«

»Und eine gut erzogene junge Dame, Frau Holm. Ob sie nach einem Jahre
noch so wirken wird?«

»So lassen Sie doch Ihren Skeptizismus aus dem Spiel. Man muß an das
Gute im Menschen glauben; das wäre ja entsetzlich, wenn man allen
Menschen nur das Schlechte und Gemeine zutrauen wollte. Sie sind ein
ganz unglücklich veranlagtes Wesen, wenn Sie bei den Menschen nur die
Anlage zum Bösen sehen.«

»Keine Veranlagung, Frau Ebba, das Leben hat mich so denken gelehrt!
Glauben Sie mir, als ich mit achtzehn Jahren hier einzog, in die große
Stadt, an die Quelle des pulsierenden Lebens, da lag es vor mir, das
Leben, voll eitel Sonnenschein, da glaubte ich an die Menschen, die
Glückbringer. Mit ausgestreckten Händen stand ich da: gebt, was gut und
schön ist in euch, um euch. Auch ich will euch beschenken, ich bringe
meine Jugendkraft, mein heiliges Glühen für alles Schöne und Edle,
helft mir schaffen, genießen -- leben. Ich war jung, Frau Ebba, da hat
man noch Blütenträume!«

»Das Leben erfüllt uns selten die Blütenträume.«

Lotte Wunsch nickte. »Und es ist gut so. Wir Künstler brauchen
Bitternisse, Hindernisse! So erst kommen wir zum Schaffen. Die große
Enttäuschung im Leben einer Frau ist gewöhnlich der Mann. So war es
auch bei mir.

Mit achtzehn Jahren kam ich nach Berlin, um mich der Kunst zu widmen.
Nach den Studienjahren in der Kunstschule ging ich in das Atelier
des Professor Stein, um unter seiner Leitung zu arbeiten. Ich war
eine eifrige Schülerin und, wie mir der Professor versicherte, sehr
talentvoll. Er mochte ausgangs der Fünfziger gewesen sein, als ich
bei ihm arbeitete. Er war verheiratet und hatte zwei Töchter, von
denen die eine mit einem Offizier verlobt war. Er sprach wenig während
der Arbeit, liebte es aber, sich in den Pausen und nach Schluß der
Arbeitszeit mit mir zu unterhalten. Wir saßen dann gemütlich in der
Plauderecke des Ateliers und rauchten Zigaretten. Ab und zu tranken wir
auch wohl ein Glas Wein zusammen. Wir sprachen über Kunst und Theater.
Er erzählte mir auch mal einen derben Atelierwitz und amüsierte sich,
wenn ich darüber in Verlegenheit geriet. Er meinte: daran müssen Sie
sich gewöhnen, Kleine, das ist Atelierton. Ich hatte auch weiter keinen
Arg, war er doch mein Lehrer und in meinen Augen der alte Herr mit zwei
erwachsenen Töchtern. Das ging nun so eine Weile. Eines Tages, als wir
wieder saßen, plauderten und rauchten -- er hatte hastig drei Gläser
Wein hinuntergestürzt -- sah er mich scharf an und sagte: ›Du mußt
übrigens ein vorzügliches Aktmodell abgeben.‹ Ich erschrak. ›Zieh dich
einmal aus.‹ Ich sprang entsetzt in die Höhe. Da fing er unbändig an
zu lachen und schrie mich an: ›Willst eine Künstlerin sein und tust so
zimperlich? Weißt doch, daß wir den menschlichen Körper studieren, wo
wir ihn finden. Brauchst doch selbst die Leiber der anderen für deine
Zwecke, also herunter mit dem Firlefanz, ich will Studien machen an dir
-- weiter nichts.‹

Zitternd und bebend war ich in eine Ecke geflüchtet. Er war an den
großen schwarzen Sammetvorhang getreten, dessen Falten er ordnete.
Jetzt wendete er sich und sah mich stehen. Er kam auf mich zu,
streichelte mir das Haar und sagte: ›Kind, ich tue dir doch nichts,
du als Künstlerin mußt mich doch verstehen. Ich suche wochenlang nach
einem Körper wie der deine, tue mir den Gefallen und sträub’ dich
nicht, du weißt doch, du dienst der Kunst damit. Komm, hier, trink noch
ein Glas, und dann laß uns arbeiten.‹

Ebba Holm -- eine Stunde habe ich vor dem Vorhang gestanden -- es
waren Qualen der Hölle, die ich erlitt. Ich schwor mir zu, der Kunst
zu entsagen und nie, nie mehr den Meißel anzurühren. Und kehrte wieder
des anderen Tags und arbeitete wie eine Rasende. Und nach der Arbeit
stand ich wieder eine Stunde vor dem schwarzen Vorhang und diente
seinem Werk. Als ich ging, flüsterte er heiser vor Aufregung: ›Nur noch
morgen, Kind, ich danke dir.‹

Und als ich kam, bat er: ›Laß heut deine Arbeit, wir wollen gleich
anfangen.‹

Ich stand -- stand und krampfte den emporgestreckten rechten Arm in
die Falten des Vorhanges -- so war die Stellung -- da -- da sah ich
zwei gierige, lüsterne Augen, hörte ich stöhnen -- ich wollte schreien
-- doch schon umkrampften mich seine Arme, bedeckten brennende Küsse
meinen jungen Leib -- ich wehrte mich wie eine Rasende -- immer
fester umschlang er mich -- wir stürzten zur Erde -- im Fallen riß
ich den Vorhang herunter -- das war meine Rettung. Er verwickelte
sich und suchte sich zu befreien -- dabei mußte er mich loslassen --
ich entschlüpfte und stürzte nach meinen Sachen. -- Als ich, in Eile
bekleidet, forteilen wollte, kam er zitternd auf mich zu: ›verzeih‹ --
ich spie ihm ins Gesicht, ging -- und kam nie wieder -- -- --

Da starb, was edel ist, in den Menschen, da versank die Schönheit des
Menschengeschlechts. Nur noch die Begierde sah ich nackt und häßlich,
wie sie die Menschen beherrscht.

Ich lernte sehen. Ich sah nicht nur das, was mir geschehen -- nein
-- ich sah auch, was um mich war -- was in meiner Umgebung geschah.
Im Taumel der Lust, im Begehren nach Gold und Sinnenreiz sah ich die
Menschen. Vor meinen Augen war der Vorhang des Idealismus gesunken.
Ich sah die Menschen nackt -- sah sie so, wie sie sind. Ich habe das
Vertrauen zu den Menschen verloren.«

»Sollten Sie nicht ungerecht urteilen?«

»Es gibt Ausnahmen -- aber daß es eben Ausnahmen sind, ist gewiß.«

»Und -- haben Sie nie jemand liebgehabt?«

»Ich konnte nicht. Verschüttet war mir der Weg zur Liebe, Ebba Holm.
Wohl streckte sich manche Hand aus, wollte mich führen und deutete
glückverheißend auf das geöffnete Tor -- aber -- auf dem Weg lag ein
Gespenst -- zwei gierige, lüsterne Augen -- ich konnte nicht an ihnen
vorbei -- ich fand nicht den Mut, einzutreten in das Land der Liebe --
ich hatte sehen gelernt.«

»Sie Arme!«

»Nein, nicht arm -- zum starken, willensfesten Menschen hat mich das
Schicksal geformt -- ich habe meine Arbeit, meine Kunst. Meine Arbeit,
meine Aufgaben haben mich ausgefüllt.«

»Sind Sie ganz befriedigt, sind Sie ganz glücklich?«

»Darauf hat, glaube ich, kein Mensch berechtigten Anspruch. Auch Sie
sind nicht glücklich, Frau Ebba, und hatten doch die Liebe zur Seite.«

»Sie haben recht, vom Glücklichsein träumt man nur.«

            ----------------------------------------------

Das Läuten zum Abendessen klang durch das Haus.

Lotte Wunsch fuhr empor aus ihrer Gedankenwelt. Jetzt unter Menschen
-- unter viele Menschen -- schwatzen -- lachen -- oberflächliches Zeug
reden -- nein -- sie verzichtete lieber auf das gemeinschaftliche
Abendessen.

Sie streckte sich auf den Diwan und schloß die Augen.

Vom Glücklichsein träumt man nur!

Wovon sollte sie träumen? Konnte sie mit ihren achtunddreißig Jahren
überhaupt noch träumen? Sie ein Verstandesmensch? Sie, die das Denken
über das Fühlen stellte!

Wo suchte sie ihr Glück?

In der Arbeit.

Nein -- nein -- das ist nicht wahr -- die Arbeit allein, sie brachte
nicht das Glück.

Ihrer Kunst, ihrem großen Ziele hatte sie sich hingegeben mit Eifer und
Glut, alles andere von sich gewiesen. Die hohe Aufgabe, die sie sich
gestellt, hatte sie ganz erfüllt, und der Erfolg, sich als tüchtige,
gefeierte Bildhauerin zu sehen, hatte ihr große Befriedigung gebracht
-- und doch, und doch dieses Verlangen -- wonach? Wie kam es, daß sie
oft ein Gefühl ängstlichen, ungestillten Sehnens schmerzlich erfaßte,
ein Gefühl der Leere, des Bangens sie beschlich?

War dieses, durch Arbeit und Erfolg im Beruf glücklich sein, nicht
ein kühles Verstandesglück, das mit dem eigentlichen Glück gar nichts
gemein hat?

Was fehlte ihrem Leben? -- -- --

Sie lebte ein Leben ohne Liebe, das war es -- ein verfehltes Leben für
eine Frau.

Ihr war das Schicksal etwas schuldig geblieben -- noch konnte sie
fordern -- oder -- --

Sie sprang empor und lief zum Spiegel. Noch war sie nicht alt, aber
schon im Stadium unbarmherzigen Welkens, jenes frühen Welkens, das in
einem Verlöschen aller Farben, in einem Rücktritt jeglicher Frische
besteht. Nie hatte sie etwas für ihren Körper, für ihren Teint getan.
Das glatt gebürstete, im Nacken zu einem Knoten zusammengedrehte
Haar gab ihrem Antlitz einen strengen, scharfen Ausdruck, machte sie
älter, als sie in Wirklichkeit war. Wenn es nach Liebe war, wonach
sie hungerte, wie kam es, daß keiner von denen, die sich ihr genaht,
ihr Liebe eingeflößt hatte? Keiner ihr Herz angezogen, ihre Sinne in
Wallung gebracht?

Die Begierde hatte sie erschreckt, hatte das, was Liebe hatte werden
können, erstarren lassen. Wohl hatte sie dieses Erlebnis, diese
Enttäuschung auf ihrem Lebensweg für die Kunst reifen lassen, aber den
Glauben an die reine, tiefe Liebe hatte sie verloren.

Sie nennen es Liebe und ist doch nur Sinnlichkeit -- das, was sich
anzieht. -- --

Nein -- nicht nach dem Manne stand ihr Verlangen, nicht nach dem
Rausch der Sinne -- das Kind war es, das sie begehrte, und darum
mußte die Liebe rein sein -- rein, ohne Begehrlichkeit -- das war das
Glück. Dieses vorlaute, dreiste Wesen dort drüben im Teezimmer hatte
die Glocke in ihrem Herzen zum Schwingen gebracht, und nun läutete
sie, läutete: ich sehne mich -- oh, wie sehne ich mich -- ich habe
noch nicht das Glück genossen -- -- und ich sehne mich so namenlos
danach -- --

Es klopfte.

»Darf ich ein bißchen zu Ihnen kommen?«

»Herzlich erfreut, Frau Ebba, kommen Sie herein und lassen Sie uns
gemütlich weiterplaudern, es ist gut, daß Sie da sind -- sehr gut --
und jetzt spüre ich auch wahrhaftig Hunger -- einen Wolfshunger. Ich
lasse mir noch etwas kaltes Fleisch bringen, mache uns eine Tasse Tee,
und dann erzählen auch Sie mir von Ihrem Blütentraum.«

Sie eilte geschäftig im Zimmer umher, ordnete das Gerät des Teetisches,
schob zwei bequeme Sessel an den Kamin, entzündete die Spiritusflamme
unter dem kleinen silbernen Teekessel, gab dem eintretenden Mädchen
ihren Auftrag und bot sich niederlassend Ebba die Zigarettendose.

»Arg vom Sturm zerzaust sind diese Blüten.«

»Es werden Ihnen neue erstehen, Sie sind noch jung, Frau Ebba.«

»Was nutzt mir die Zahl der Jahre, wenn Erlebtes mich alt macht? Ich
bin eine Frau ohne Heim, ohne Pflichten, ein vom Wind verwehtes Blatt.

Ich deutete Ihnen an, was mir geschehen. Wir liebten uns, er, der
junge, elegante Rechtsanwalt, und ich, die reiche Fabrikantentochter.
Unserer Heirat stand nichts im Wege, nur daß ich eigentlich noch zu
jung war. Mit achtzehn Jahren sollte man noch nicht heiraten. Doch
gleichviel, wer weiß, ob ich, wenn ich später geheiratet, nicht
dieselben Erfahrungen gemacht hätte -- möglicherweise mit einem anderen
Mann auf andere Art, es sollte wohl so sein -- Schicksalsbestimmung, --
ich glaube daran. Wir lebten sehr glücklich und zufrieden. Mein Mann
gehörte zu den gesuchtesten Rechtsanwälten Hamburgs. Wir hatten einen
großen geselligen Kreis. Ich wäre restlos glücklich gewesen, wenn in
mir nicht die Sehnsucht nach einem Kindchen, einem kleinen lieben
Ding, welches mein ureigenstes Mein gewesen wäre, gelebt hätte.

So vergingen drei Jahre, da fing ich an, bei meinem Manne ein unstetes,
flackerndes Wesen zu beobachten. Von mir aufmerksam gemacht, wurde er
noch nervöser. Ich beobachtete ihn und hielt ihn für überanstrengt in
seiner Arbeit. Er schonte sich nicht, arbeitete oft bis spät in die
Nacht hinein, wie ich meinte. Er wurde aufgeregt und mißtrauisch, weil
er sich beobachtet wußte. Es kam zu Szenen zwischen uns, in welchen
er sich die Spioniererei verbat. Genug, ich kam dahinter, daß mein
Mann ein leidenschaftlicher Spieler war. In seinem Büro, welches nicht
mit unserer Wohnung in Verbindung stand, fanden nachts Zusammenkünfte
statt, bei denen wahnsinnig gespielt wurde. Mein Mann verlor. Er
verspielte sein ganzes nicht unbedeutendes Einkommen und hatte bereits
mein eingebrachtes Vermögen verspielt. Mein Vater stellte ihn zur Rede
-- er zeigte Reue und gab sein Ehrenwort, keine Karte mehr anzurühren.
Er hat sein Ehrenwort gebrochen. Nach zwei Monaten war er verschwunden,
nach Unterschlagung ihm anvertrauter Depots. -- -- --

Da haben Sie meine Blüten.

Ich löste meinen Haushalt auf, Sie können sich wohl denken, daß ich
nicht mehr sein mochte, wo alle mein Unglück kannten. Das Mitleid, die
bedauernde Neugierde, sie machten mich elend, und so siedelte ich nach
hier über.«

»Und warum gerade nach hier?«

»Weil hier mein Bruder mit seiner Familie lebt, so habe ich doch
wenigstens einen Anhalt und Menschen, die mir nahe stehen. Sie wissen,
die Pensionszeit hier ist nur ein Übergang, ich will wieder mein
eigenes Heim haben, meine eigene Häuslichkeit. Und Sie, Lotte Wunsch,
müssen recht, recht oft zu mir kommen. Lassen Sie uns Freunde sein.«

»Mit tausend Freuden. Ich bin Ihnen in treuer Freundschaft zugetan und
will es bleiben.«

Und mit kräftigem Druck nahm sie die ihr entgegengestreckte Rechte.

»Wissen Sie, daß ich Angst um Sie habe, Ebba?«

»Inwiefern?«

»Jung, schön, reich, alleinstehend -- in jeder Gestalt wird die
Versuchung an Sie herantreten: Fangarme werden sich nach Ihnen
ausstrecken. Aber, Sie haben einen Tugendwächter -- ehe der nicht zur
Strecke gebracht ist --«

»Das dürfte wohl gar nicht so schwer sein.«

»Achtunddreißig Jahre alt und noch einen ungeküßten Mund.«

»Kein Beweis. Spät in Brand geraten, desto lodernder. Aber wäre es
nicht doch ratsamer, wenn ich auf den Schutz meines Bruders baute? Um
an ihm eine Stütze zu haben, bin ich hergekommen.«

»Rechnen Sie nicht zu sehr damit. Väter, Gatten und Gattinnen, Brüder
und Schwestern haben selten Zeit für die Ihren, immer nur für die
anderen.

Darf ich übrigens mal den Namen Ihres Bruders erfahren? Ich kenne so
ziemlich alles, was zur Gesellschaft gehört, da wird mir auch Ihre
Familie nicht entgangen sein.«

»Mein Bruder ist der Bankdirektor Lukas Westphal.«

Lotte Wunsch sprang auf, warf ihre Zigarette in den Aschenbecher und
stieß einen Pfiff hervor.

»Frau Thea Westphal also ist Ihre Schwägerin?«

»Allerdings, Sie kennen Sie?«

Lotte nickte. »Da suchen Sie Halt und Familienanschluß? Haben Sie Ihre
Verwandten schon gesehen?«

»Nein. Nur telephonisch haben wir uns gesprochen. Wir konnten uns noch
nicht auf einen bestimmten Tag einigen, da meine Schwägerin stets etwas
vorhatte.«

»Und wie lange sind Sie schon hier?«

»Zwei Wochen.«

»Da haben wir es ja! In zwei Wochen keine Stunde Zeit für die Schwester
und Schwägerin. Eine moderne Frau in Berlin hat keine Zeit, selbst
nicht für Mann und Kinder, Sie werden es schon sehen.

Ich will Ihnen etwas sagen, Ebba. Unsere Großstadtmenschen huldigen dem
Ichkultus, der Hingabe an ihre eigene Persönlichkeit. Ein grenzenloser
Egoismus lockert das Wurzelreich von Sitte, Moral und Pflichtgefühl --
und was das schlimmste ist, er untergräbt den Familiensinn. Man lebt
für sich, nicht für die anderen.«

»Nein, nein, Sie malen zu schwarz. So ist es nicht, ich kann das nicht
glauben.«

»So werden Sie es lernen. Warum wollen Sie schon gehen, es ist nicht
spät, so bleiben Sie noch ein wenig.«

»Ich bin müde, Berlin greift an, ich bin den Trubel in den Straßen
nicht gewöhnt, lassen Sie mich gehen.«

»Dann auf morgen, Frau Ebba, und -- gute Freundschaft, dabei bleibt es.«

»Gewiß -- und gute Nacht.« -- -- --

            ----------------------------------------------

Lotte stand vor dem Spiegel und löste den Knoten ihres kastanienbraunen
Haars. Da fiel es in kurzen Locken auf ihre Schultern, die Straffheit
des Scheitels löste sich, leicht fiel eine Strähne nach vorn und
bedeckte die linke Ohrmuschel. Wohl schimmerten Silberfäden hier und
da, und doch, war dies das strenge, ältliche Gesicht, welches ihr aus
dem Spiegel entgegenschaute? Ein erstauntes Lächeln verjüngte ihre
Züge. Sie fühlte sich erlöst und befreit.

Ja, sie hat mich getroffen, wo es am wehesten brennt.

Ich habe geschrieen nach dem Kinde. Es ist etwas Unnatürliches, das
Leben einer Frau ohne Kind. Es macht uns zu zwecklosen Wesen. Taube
Nüsse am Baum des Lebens!

Hinweg mit dir, du grinsendes Gespenst, welches mir den Weg
versperrte, den Zweck meines Lebens zu erfüllen, ich werde dich
bezwingen.

Festhalten will ich dich, dich, das Tier im Menschen, durch meine
Kunst. Dich, die Begierde, die Gier nach Lust, will ich ihnen zeigen
in einer Fratze, so grauenhaft, daß ihnen das Blut erstarren wird
und Entsetzen sie erbeben macht, wenn sie darin ihr eigenes Selbst
erkennen. -- -- --

            ----------------------------------------------

»Das ist ja eine wenig angenehme Lage, in der du dich befindest, liebe
Ebba. Hat denn dein Mann gar nichts von sich hören lassen, hast du
keine Ahnung, wo er sich befindet?«

»Ich weiß nichts, absolut nichts.

Ich fand seinen Abschiedsbrief auf meinem Schreibtisch. Er bat mich um
Verzeihung für das Leid, das er über mich bringe. Er hätte geglaubt,
seine Liebe zu mir würde seine Spielleidenschaft verdrängen. Er habe
auch wirklich das erste Jahr unserer Ehe keine Karten angerührt,
aber dann sei es mit doppelter Macht über ihn gekommen, er könne
nicht anders, er wüßte, daß er daran zugrunde gehen wird, aber seine
Leidenschaft sei stärker als sein Wille. Er bereue es, mich an sich
gekettet zu haben und mir Kummer bereiten zu müssen, aber seine
Spielleidenschaft sei so groß, daß sie alles hinwegfege: Liebe,
Ehrlichkeit und Rücksichtnahme.«

»Unerhört, bodenlos! Keine Rücksichtnahme, das ist es! Denkt nur an
sich und seine Spielwut, ohne der Familie, der er durch seine Heirat
angehört, zu gedenken. Wenn unser Vater nicht die veruntreuten Gelder
gedeckt und alles getan hätte, um die Untersuchung niederzuschlagen,
würde dein Mann, mein famoser Schwager, jetzt steckbrieflich verfolgt!
Meine ganze Stellung wäre ins Wanken gekommen! Eine saubere Geschichte
hat uns der Herr da eingebrockt!«

»Entsetzlich, entsetzlich!« hauchte Frau Thea, »wir hätten Berlin
verlassen müssen.«

»Ich bitte, regt euch nicht auf. Die Geschichte ist ja nicht an die
große Glocke gekommen, hier in Berlin weiß niemand davon. Die einzige
Leidtragende bin doch nur ich.«

»Gott sei Dank, daß es uns nicht trifft. Ebba -- ich hätte es nicht
ertragen, einen solchen Skandal in der Familie! Gewiß, du bist
beklagenswert, aber du hast recht, hier weiß ja niemand etwas von der
ganzen Geschichte. Du bist jung, schön, hast dein gutes Auskommen,
du wirst ein nettes Haus machen, und in kurzer Zeit bist du darüber
hinweg. Das Berliner Leben wird dich trösten. Hier kommt man gar nicht
zum Nachdenken. Meinst du nicht auch, Lukas? Wir werden Ebba in die
Gesellschaft einführen, wer weiß, vielleicht findet sich das Vergessen
noch gar in Gestalt einer guten Partie.«

»Ich danke dir für deine gute Absicht, Thea. Für eine sogenannte gute
Heirat bin ich nicht zu haben, im übrigen vergißt du, daß ich nicht
geschieden bin.«

»Das ist schlimm -- sehr schlimm -- wie soll man dich da überhaupt
einführen? Nicht Witwe, nicht geschieden, und doch ohne Mann.«

»Du giltst selbstverständlich als geschiedene Frau, denn es unterliegt
doch keinem Zweifel, daß wir alle Schritte tun werden, um eine
Scheidung für dich zu erlangen,« warf der Direktor ein.

»Mir wäre es lieb, Lukas, die ganze Ehegeschichte ruhen zu lassen. Ich
denke nicht daran, mich wieder zu verheiraten, da ist es doch ganz
gleichgültig, ob ich frei bin oder nicht.«

»Da irrst du, liebes Kind, irrst du ganz gewaltig. Ganz entschieden
protestiere ich dagegen, daß du die Frau dieses Lumpen bleibst! Wer
kann wissen, was dieser saubere Herr noch alles auf dem Kerbholz hat --
oder -- was noch alles kommen kann! Urkundenfälschung -- Falschspieler
-- und wie die schönen Dinge, in welche diese Art aalglatt
hineinschlüpft, alle heißen. Ich danke für diese Verwandtschaft! Du
mußt los, ganz los! Willst du die Frau eines Zuchthäuslers sein?«
Aufgeregt ging er im Zimmer auf und ab.

»Du magst recht haben, Lukas -- ich fürchte auch nur all die
Unannehmlichkeiten.«

»Hast du gar nicht. Ganz einfache Chose. Ich nehme einen tüchtigen
Rechtsanwalt und gebe ihm die nötigen Informationen. Du wirst
überhaupt gar nicht behelligt. Erfährst nachher nur das Resultat der
ausgesprochenen Scheidung.«

»Wenn es so einfach wäre.«

»Aber natürlich. Das Schwerste und Schlimmste hast du hinter dir. Muß
ja eine scheußliche Zeit für dich gewesen sein.«

»Wenn du wüßtest, wie ich gelitten! Ich habe ihn geliebt, Lukas,
von ganzem Herzen. -- Du kannst begreifen, welches Weh die herbe
Enttäuschung über mich gebracht hat.«

»Ich begreife, Ebba. Es ist ein harter Schlag für dich gewesen, aber
ich hoffe, du kommst darüber hinweg. Du bist noch jung, in der Jugend
überwindet man leicht. Es ist sehr vernünftig, daß du nach Berlin
gekommen bist, hier ist der richtige Ort, um dich deinen Kummer
vergessen zu machen. Halte dich nur an Thea und stürze dich mit ihr in
die Geselligkeit, paß auf, wie bald dein Leid versunken und vergessen
ist.«

»Hältst du mich für so oberflächlich, Lukas?«

»Oberflächlich! Warum das so ausdrücken! Mit Dingen, die nicht zu
ändern sind, muß man sich abfinden können. Du warst von jeher geneigt,
alles zu schwer zu nehmen. Nimm das Leben leichter, es lohnt nicht,
sich abzuquälen.«

Erstaunt hefteten sich ihre Augen auf den Bruder. War dieser nur an
sich, an seine Stellung und Ansehen denkende Mann, der ihr riet, sich
möglichst schnell über schicksalsschwere Erlebnisse hinwegzusetzen,
ihr ernster Bruder?

Und -- klang da nicht ein leichter Unterton von Bitternis aus seinen
Worten?

»Ich will es versuchen, Lukas,« und sie streckte ihm die Hand über den
Tisch hinüber. »Ich weiß, du meinst es gut mit mir, aber daß mir das
glücken wird -- ich meine, das Leben leicht zu nehmen -- das glaube ich
nicht.«

»Unsinn, Ebba,« warf Thea, welche ungeduldig in ihrem Sessel auf die
Beendigung des Gesprächs gewartet hatte, ein. »Du mußt nur wollen. Ohne
einen Schuß Leichtsinn wäre das Leben überhaupt nicht lebenswert; wer
ihn nicht hat, der muß sich eben dazu zwingen.«

»Und wer ihn gleich mit auf die Welt gebracht, hat manchmal zuviel
davon,« bemerkte Lukas.

»Besser als zu wenig! Da ich weiß, wohin du zielst, lieber Mann, kann
ich mein überschüssig Teil gleich auf Ebba übertragen, dann wäre uns
beiden geholfen.«

Er wehrte müde ab. »Du wirst dich nicht ändern, Thea.«

»Habe auch nicht die Absicht, ich bin mit mir zufrieden, wie ich bin.«

»Du bist beneidenswert. Wo ist übrigens Inge? Ich habe sie heute noch
nicht zu Gesicht bekommen.«

»Wie solltest du auch, wenn du verhindert bist, mit uns zu speisen.«

»Es war mir leid genug, aber die Sitzung ging vor. Mit großer Mühe
konnte ich mich frei machen, um Ebba diese Stunde widmen zu können.
Bitte, laß doch Inge rufen.«

Thea klingelte und fragte das eintretende Stubenmädchen nach Fräulein
Inge.

»Fräulein Inge ist mit einer Freundin spazieren gegangen.«

»Hattest du ihr denn nicht gesagt, daß wir meine Schwester erwarteten?«

»Ich kam so abgehetzt zu Tisch, habe tatsächlich vergessen, davon zu
sprechen, entschuldige, Ebba. Es ist auch so schwer, das Kind von
seiner Tageseinteilung abzuhalten.«

Dieses Mal traf der erstaunte Blick die Schwägerin.

»Ja, ja, ich bin eine schwache Mutter. Aber sage selbst, soll ich mich
die wenigen Stunden, in denen ich mit meiner Tochter zusammen bin,
herumärgern?«

»Warum bist du so wenig mit ihr zusammen?«

»Mein Gott, weil ich keine Zeit habe. Du glaubst gar nicht, wie ich in
Anspruch genommen bin. Man hat doch Verpflichtungen der Gesellschaft
gegenüber, unsere Stellung bringt das mit sich. Dann gehöre ich zwei
Vereinen an, bin natürlich im Vorstand, das kostet auch Zeit.«

»Aber warum tust du das, wenn dich dies deiner Familie abspenstig
macht?«

Thea lachte.

»Liebste Ebba, heute ist doch eine Frau nicht dazu da, nur in
Häuslichkeit aufzugehen, man hat doch auch andere Interessen.«

»Du kennst die moderne Ehefrau nicht,« sagte Lukas, »kennst nicht die
Befriedigung der eigenen Interessen -- rücksichtslos.«

»Ja, liegen denn die Interessen der Frau nicht in der Familie, wenn sie
so glücklich ist, Mann und Kind zu besitzen?«

Lukas zündete sich eine Zigarre an, sah nachdenklich vor sich hin und
erwiderte: »Du bist weltfremd, liebes Kind.«

»Manchmal hat man gerade als Familienmutter seinen Beruf verfehlt,
Ebba.«

»Wie kannst du so etwas sagen, Thea. Niemals kann ich dir da
beistimmen. Bist du denn nicht glücklich, deinen Mann und eine blühende
Tochter zu haben?«

»Glücklich -- natürlich bin ich glücklich, aber weil ich außer dem
Gatten und der Tochter noch meine Stellung in der Gesellschaft
habe -- --«

»Weil sie Vorstandsdame verschiedener Vereine ist und ihren sonstigen
Interessen nachgehen kann --« fiel ihr ihr Gatte ins Wort. »Ja, liebe
Schwester, die Welt sieht hier anders aus als daheim, ich habe auch
umlernen müssen, es wird dir ebenso ergehen.«

Er war aufgestanden und hielt ihr beide Hände hin.

»Ebba, zum erstenmal seit langer Zeit habe ich meine Arbeit vergessen,
habe in Ruhe geplaudert, das kommt selten vor, wir haben nie Zeit,
weder Thea noch ich, die Verpflichtungen -- du begreifst! Aber komm,
wenn du magst, du bringst die Ruhestimmung mit aus alter Zeit. Ich
sagte, du wirst auch umlernen müssen -- weißt du -- ich möchte
wünschen, du tust es nicht.

Doch nun leb wohl, also um elf Uhr treffe ich dich bei Bissings, Thea.
Auf Wiedersehen.«

Ebba, die sich gleichfalls erhoben hatte, wollte sich von ihrer
Schwägerin verabschieden.

»Es tut mir wirklich leid, Inge nicht gesehen zu haben, ich hatte mich
so darauf gefreut. Inge muß doch jetzt bald fünfzehn sein, weißt du,
ich habe sie seit meiner Hochzeit nicht gesehen, das werden jetzt fünf
Jahre.«

»Ach, entsetzlich, wie die Zeit vergeht. Weißt du, das ist doch was
Schreckliches im Leben einer Frau, die großen Kinder, dadurch wird man
alt. Heutzutage gibt es Mittel und Wege genug, sich jung zu erhalten,
kein Mensch sieht einem die Jahre an, aber wenn dann die großen Kinder
auftauchen, dann geht das Rechnen los. Du kannst froh sein, daß du
keine Kinder hast!«

»Aber, Thea, du versündigst dich.«

»Natürlich wäre ich unglücklich, wenn ich sie hergeben sollte. Mein
Gott, das mag wohl keine Mutter -- aber das Leben ist doch so viel
bequemer ohne Kinder.«

»Mir scheint, du machst es dir auch trotzdem bequem.«

»Ich bin nun mal nicht dafür geschaffen, im Haus zu sitzen, Kinder zu
hüten und Strümpfe zu stopfen, das gibt es heute überhaupt nicht mehr,
wer wird in solchem Kleinkram aufgehen.«

»Du mußt nicht übertreiben, es gibt doch einen Mittelweg. Man kann viel
geistige Interessen haben und doch seinem Haushalt vorstehen, seine
Kinder erziehen und dem Mann ein angenehmes Heim schaffen.«

Thea lachte.

»Du bist köstlich! Du, da fällt mir ein, ich werde dich mit Exzellenz
Werner, Vorstandsmitglied unseres Vereins zur Bekämpfung des
Geburtenrückganges, bekannt machen. Die wettert ja gegen uns moderne
Frauen. Wir wären nur zu bequem, Kinder zu kriegen, wir wollten
unsere Schönheit nicht verderben, wollten uns die Mühe nicht nehmen,
die Kinder zu erziehen, um ungehindert unsern Vergnügungen nachgehen
zu können, ja, wir modernen Frauen seien schuld an dem Zerfall der
Familie. Ihr würdet ja großartig zusammenpassen, die hätte eine Freude
an dir! Und ich stiege in ihrer Achtung -- woran mir allerdings nichts
liegt --, denn du bist ja meine Schwägerin.«

»Diesem Verein gehörst du an?«

»Ich bin sogar im Vorstand. Was willst du, man muß eine Rolle spielen
in der Welt. Man muß von sich reden machen, so -- oder so.«

                                *  *  *

Nachdenklich schritt Ebba Holm die Tiergartenstraße entlang. Der Besuch
bei ihrem Bruder hatte ihr kaum erst zur Ruhe gekommenes Innere wieder
in Aufruhr gebracht. Bis zum Abendessen in der Pension hatte sie
noch eine Stunde Zeit, und so hatte sie den kleinen Umweg durch den
Tiergarten gewählt, um zum Steinplatz zu gelangen.

War es möglich?

Mein Gott, sie hatte sie gekannt, öfter war Lukas mit ihr in Hamburg
gewesen, auch sie hatte auf der Hochzeitsreise einige Tage mit
ihrem Gatten in Berlin zugebracht, niemals zuvor hatte sie diese
Oberflächlichkeit bei Thea erkannt.

Sah sie heute die Menschen anders als damals, als sie noch mit
ungebeugter Seele durchs Leben schritt?

Hatten die Menschen -- oder hatte sie sich gewandelt? Um des Himmels
willen, nicht Hausfrau sein! Nein -- schöngeistigen Interessen
nachgehen! Um eine Rolle zu spielen, sich einem Verein zur Verfügung
stellen, der das Zusammenhalten der Familie predigte, um darüber die
eigenen Familienbande zu lockern!

Ein schmerzliches Lächeln glitt über ihr Antlitz, und eine Bitterkeit
drang ihr ins Herz.

Alles, alles, was sie entbehren mußte, hielt diese Frau in Händen! Mit
vollen Händen hatte das Schicksal sie beschenkt, und achtlos warf sie
das, was ihr als das höchste Glück einer Frau erschien, zur Seite. Eine
moderne Frau! Eine Frau für alle andern, nur nicht für die eigene
Familie! Das war ihres Bruders Frau.

Und er? War dies die Gefährtin, die er sich erhofft?

›Weißt du, Ebba, meine Frau muß nur für mich leben, darf keine
Modepuppe sein, sie braucht nicht hübsch zu sein, nein, es wäre mir
viel lieber, wenn sie häßlich wäre, denn, weißt du, mit einer hübschen
Frau in Berlin leben, was doch mein jetziger Posten erfordert, das ist
eine gefährliche Sache.

Meine Tätigkeit ist aufreibend. Meine Stellung bringt auch
Repräsentationspflichten mit sich. Ich möchte mir eine kleine Insel
schaffen, auf die ich mich rette aus Arbeit und Gesellschaft und
Menschentrubel. Eine Oase, auf welcher liebende, fürsorgende Hände mich
umschlingen, die mir Hast und Sorge von der Seele nehmen.‹

So sprach Lukas, als er das erste Mal hinüberkam nach seiner Berliner
Anstellung. Sechs Monate später heiratete er Thea Weil, die Tochter
eines reichen Berliner Fabrikanten. Armer Bruder, du hattest umlernen
müssen! Ob es dir schwer geworden? Mußtest du Herzblut darüber lassen?

Das Leben leicht nehmen! Ja, wenn das so ginge!

Wie oft hatte sie versucht, über das, was ihrem Herzen Wunden
geschlagen, hinwegzukommen. Es ging nicht, die Narben brannten sie
und verursachten ihr Schmerzen. Langsam rollten zwei Tränen über ihre
Wangen.

Es war dunkel geworden, als sie über die Corneliusbrücke schritt und
beim Einbiegen auf den Kurfürstendamm mit Lotte Wunsch zusammentraf.

»Guten Abend, Frau Ebba, was schleichen Sie so müde einher, als lägen
tausend Lasten auf Ihrer Seele?«

Ebba war aus ihrem Sinnen emporgefahren und blickte auf die
Bildhauerin, die fröhlich mit geröteten, frischen Backen sie anlachte.

»Und Sie jagen im Sturm daher, als wollten Sie alles, was Ihnen
hinderlich in den Weg tritt, verjagen.«

»Will ich auch. Sie haben genau das Richtige gesagt -- alles fege ich
hinweg -- auch Ihr schweres Herz, kleine Frau.«

Und sie hakte sich in Ebbas Arm und zog sie von dannen.

»Ebba, hören Sie. Ich muß mich befreien von -- dem Häßlichen, was da
auf meinem Weg war -- um das zu können, muß ich es festhalten -- muß
ich ihm noch einmal ins Auge schauen, um dann befreit zu sein. Fort« --
sie machte eine fortschiebende Handbewegung. »Sie sehen mich so fragend
an, ich kann Ihnen das hier auf der Straße nicht erklären. Auch sind
wir gleich ~at home~ -- Sie kommen in mein Atelier -- dann will ich
Ihnen von meiner Arbeit sprechen -- die mich befreien soll von dem, das
mein Verlangen nach Liebe zerstörte. -- -- Was sind Sie schweigsam,
Liebe -- wo kommen Sie her?«

»Ich war bei meinen Verwandten.«

»Ach so -- eine geplagte moderne Frau, Frau Thea Westphal -- nicht
wahr?«

Ebba nickte nur. »Nicht sprechen jetzt, Lotte Wunsch.«

                                *  *  *

Es war Gesellschaftsabend in der Pension Mohrmann. In Gruppen hatte man
sich im Besuchs- und Teezimmer zusammengefunden und saß plaudernd umher.

Diese Gesellschaftsabende in der Pension waren sehr beliebt. Nicht
nur, daß die jeweiligen Gäste sich zusammenfanden, auch diejenigen,
welche vorzeiten hier gelebt, jetzt ihr eigenes Heim hatten oder
anderswo untergekommen waren, fanden sich an diesem Abend ein. Auch
Freunde und Bekannte konnten durch Pensionsgäste eingeführt werden.
Durch den Zufluß neuer Elemente wurde die Unterhaltung angeregt, neuer
Gesprächsstoff geschaffen, und neue Beziehungen knüpften sich an.

Die Ecke des Teezimmers mit den bunt bespannten tiefen Sesseln war
wieder von Miß Webb, Ebba Holm und Lotte Wunsch mit Beschlag belegt
worden. Zu ihnen fanden sich jetzt Fräulein von Wangenheim, die sich
bemühte, an Ebbas Seite zu kommen, Herr Winkelmann, Architekt Gehring
und ein junger Baron, welcher, durch Winkelmann eingeführt, heute das
erste Mal erschienen war.

Miß Webb winkte den Baron an ihre Seite, während Winkelmann zwischen
sie und Fräulein von Wangenheim zu sitzen kam.

»Sie berufen sich auf mein Herz, Mr. Winkelmann. Das, was die Deutschen
Herz nennen, das gibt es nicht in Amerika, an der Stelle, wo bei Ihnen
das Herz sitzt, sitzt bei uns die Vernunft.«

»Ich dachte, die säße bei normalen Menschen im Kopf.«

»Bei uns hat man zweimal Vernunft, im Kopf und im Herzen.«

»Wie muß es da mit der Liebe bestellt sein, Miß Webb,« warf der Baron
ein.

Sie saß in ihren Sessel geschmiegt. Die Hand, auf der ein rosafarbener
Hauch lag, machte eine fortscheuchende Bewegung. Alles an ihr zeigte
die verfeinerte Lebenskultur der Dame von Welt. Der Kopf mit den
reichen Haarwellen saß auf schlankem, edelgeformtem Halse. Der weiße
Nacken war von zarter Rundung, und unter den halbgeschlossenen
Augenlidern blitzte Lebensdrang und versteckte Neugier.

»Die Liebe! Ein Zeitvertreib, ein Spiel, um das Leben prickelnd und
amüsant zu gestalten.«

Winkelmann lachte auf. »Sie fassen die Liebe richtig auf, nur daß ich
eine derartige Auffassung noch nie bei einer Frau gefunden habe.«

»Sie können sich also niemals verlieben oder eine Leidenschaft zu einem
Manne empfinden?«

»Ich hasse Aufregungen, Baron -- ich wünsche zu herrschen -- beides
schließt die Liebe aus.«

»Also tatsächlich kein Herz.«

»Nun, vielleicht könnte ich mir ja während meines Aufenthaltes in
Deutschland versuchsweise eins anschaffen -- wenn es ohne Schmerzen
abgeht.« Und sie warf ihm einen aufmunternden, koketten Blick zu.

Er sah sie an. »Wer so aussieht wie Sie, wird niemals Schmerzen durch
die Liebe leiden.«

»Das hoffe ich!« Und wieder traf ihn ein feuriger Blick.

Winkelmann hatte sich zu Gerda von Wangenheim gewandt. Seine Blicke
gingen über die elegante, vornehme, aber unmodisch gekleidete
Erscheinung, die ihm mit ruhigen, klaren Augen gerade ins Gesicht
blickte. Kein aufmunternder Blick, kein mißtrauisches Zurückweichen, an
das ihn die Frauen gewöhnt hatten.

Er fragte sich, ob diese Gleichgültigkeit nicht nur erkünstelt wäre,
aber er kannte die tausend kleinen, weiblichen Schliche zu genau, um
nicht sehr bald ihre absolute Aufrichtigkeit zu fühlen.

Ihre ruhige Gelassenheit erregte sein Interesse, er war es nicht
gewöhnt, von den Frauen mit solcher Gleichgültigkeit behandelt zu
werden.

Mußte es nicht köstlich sein, auf diesem ruhigen Antlitz die
Leidenschaft zu entfesseln, diesen schlanken Körper bebend und zitternd
in den Armen zu halten und in diesen leuchtenden, unschuldig blickenden
Augen den lodernden Funken zu wecken, diesem Weibe den Stempel des
Wissens aufzudrücken?

Er wußte, daß jede Frau ihre schwache Stunde hat. Sich nur nicht durch
Vornehmheit, tadellosen Ruf oder sichtbare Kälte zurückschrecken lassen.

Vornehmheit und eisige Kälte wehte ihm entgegen.

Begierde -- tolles Begehren war es, das sein Blut für das ruhige schöne
Geschöpf zu erhitzen begann.

»Gnädiges Fräulein, ist die Liebe für Sie auch nur Zeitvertreib?« Und
er hüllte sie ein mit einem jener durchdringenden Blicke, unter denen
das Blut aufspringt und wild durch die Adern jagt.

Sie errötete wie ein kleines Kind. Das Blut schimmerte durch ihre zarte
Haut und brachte auf derselben matte, opalfarbene Lichter hervor. Sie
zog die fein geschwungenen Augenbrauen in die Höhe und erwiderte:

»Einen Zeitvertreib habe ich nicht nötig, da ich mit meinem Studium
vollauf beschäftigt bin.«

Sie wußte zu antworten. Er war entzückt.

»Gnädiges Fräulein betreiben Ihr Studium wirklich ernsthaft, als
ausübende Künstlerin?«

»Berufs wegen, wenn man von der Kunst so sprechen darf.«

»Und gnädiges Fräulein haben keine Zeit für -- für andere Dinge?«

Sie lächelte. »Oh, ich finde schon Zeit, wenn mich gerade etwas
Besonderes interessiert.«

»Wozu die Liebe nicht zu rechnen ist?« Und er sah ihr lachend in die
Augen.

»Interessiert mich allerdings nicht.«

»Schon die zweite Dame heute abend, welche von diesem schönen Gefühl
nichts wissen will.«

»Mein Gott, ich habe schon zu schlimme Erfahrungen gemacht und habe es
abgeschworen, mich jemals wieder damit zu befassen.«

Er sah sie verblüfft an. »Gnädiges Fräulein hatten unglücklich geliebt?«

Sie nickte. »Es war schrecklich! Nicht nur einmal, sondern dreimal
hatte ich eine unglückliche Liebe. Da werden Sie verstehen, daß man
Schluß machen will.«

»Gnädiges Fräulein belieben zu scherzen. Bei Ihrer Jugend --«

»Gott, ich habe eben früh angefangen. Mit zwölf Jahren verliebte ich
mich sterblich in meine Erzieherin, eine dunkeläugige leidenschaftliche
Polin, die eines schönen Tages mit der Wirtschaftskasse meiner Mutter
verschwand. Dann kam mein Klavierlehrer an die Reihe, der meine Liebe
tötete, als er mir freudestrahlend erzählte, daß er sich verlobt
hätte und sich als Glücklichster der Sterblichen fühle; seine Braut
sei ein Engel. Sie werden begreifen, daß dies mich ernüchterte.
Nichtsdestoweniger kam dann die übliche Tanzstundenliebe, welche höchst
tragisch endete. Mein Vater traf mich und den Erwählten meines Herzens
in der Konditorei unseres kleinen Garnisonstädtchens bei Apfelkuchen
und Schlagsahne. Ihm wurde in meiner Gegenwart eine Ohrfeige
angeboten, bedenken Sie -- und ich wurde schreckensbleich und bebend
in Erwartung der Strafpredigt hinweggeführt. Sie sehen, ich habe kein
Glück in der Liebe.«

»Allerdings unerhörtes Pech, gnädiges Fräulein. Ich begreife
vollkommen, daß Ihnen die Lust vergangen ist. Doch trotzdem möchte ich
raten, es noch einmal auf einen Versuch ankommen zu lassen, gnädiges
Fräulein müssen Ihre Liebe nur einem Würdigeren zuwenden.«

»Und Sie glauben, daß ich den hier finden werde?«

»Ich bin sicher.«

»Und ich bin sicher, daß dies nicht der Fall ist.«

»Warum, wenn ich fragen darf?«

Das liebenswürdige und amüsierte Lächeln, welches auf dem Antlitz
Gerda von Wangenheims geruht hatte, schwand. Ihre Züge wurden kalt und
abweisend, hochmütig zog sie die Brauen in die Höhe und erwiderte:
»Weil die Männer es hier nicht ehrlich meinen, weil sie die Achtung vor
der Frau verloren zu haben scheinen.«

»Gnädiges Fräulein, darauf kann ich Ihnen nur erwidern: Ich bitte Sie
zu bedenken, daß es die Frau ist, welche den Ton angibt, der zwischen
Mann und Frau herrscht.«

»Sie wollen damit sagen, daß die Frau selbst es ist, die die
Herabminderung der ihr schuldigen Achtung verursacht hat?«

»Genau das. Es sind nicht alle Damen wie Sie, gnädiges Fräulein.«

Nachdenklich blickte sie ihn an. Ein lautes Lachen Miß Webbs ließ sie
zu dieser hinüberschauen. »Sie mögen recht haben -- wie traurig für uns
Frauen.«

»Darf ich mir einen Rat gestatten, gnädiges Fräulein? Sie wollen
Künstlerin werden, ausübende Künstlerin, ich kenne den Werdegang der
Künstlerinnen ziemlich genau -- es ist ein schwerer -- oft ein bitterer
Weg. Gnädigste, für die Art Ihrer Persönlichkeit doppelt schwer, Sie
sollten anders sein.«

»So wie diese vielleicht?« Verächtlich schürzte sie die Lippen und
blickte auf die Amerikanerin.

»Wir lassen aber nicht mit uns spielen! Wir spielen!« rief Miß Webb
über den Tisch hinüber, Lotte Wunsch zu. »Es hat eine jede Frau in
der Hand, richtig einzusteigen. Sie müssen wissen, ich betrachte den
Weg des Lebens als einen langen Schienenstrang, auf welchem die Wagen
rollen, rollen auf und ab. Es gibt erster, zweiter und dritter Klasse
-- was hindert mich, bequem erster Klasse zu fahren?«

»Vielleicht der Zufall der Geburt?«

»Man kann aussteigen unterwegs! Was hindert mich, aus der dritten
Klasse in die erste überzugehen? Was hindert mich, mein Gepäck als
Ballast zum Fenster hinauszuwerfen? Wer kann mir verbieten, Station zu
machen, wo es mir beliebt? Zum Mitfahren aufzufordern, wer mir genehm
ist? Wir müssen uns das Leben einrichten, wie es uns beliebt, wir
haben ein Recht auf Genuß und Freude.«

»Und die Pflichten?«

»Überflüssiges Gepäck!«

»Von Ihnen kann man lernen,« gab ihr Lotte Wunsch zur Antwort, dann
sich zu Gehring wendend: »Das ist auch eine Auffassung des Lebens.«

»Was wollen Sie? Gibt sie nicht eine Illustration unserer heutigen
Gesellschaft? Sind nicht viele auf dem Wege, den sie gezeichnet?
Pflichten! Wer denkt denn heute an die ihm auferlegten Pflichten?
Viele sicher nicht. Ich finde, daß der größte Teil der Menschen nur
seinen persönlichen Interessen nachgeht, daß das liebe Ich ganz in den
Vordergrund gerückt ist und daß das Bewußtsein des Pflichtgefühls im
Schwinden begriffen ist.«

»Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Gehring. Wer wie ich zwanzig
Jahre hier mit offenen Augen gelebt hat, der weiß, wie es mit dem
Pflichtgefühl und der Moral bestellt ist, weiß es nur zu gut. Aber ich
wollte mich zwingen, anders zu sehen. Frau Holm hat mir den Vorwurf
gemacht, daß ich zu skeptisch sei, ich sehe nur immer das Schlechte und
Gemeine in dem Menschen und lasse das Gute nicht gelten. Ich wollte
das, was Sie Illustration unserer heutigen Gesellschaft nannten, nicht
wahr haben, nun kommen Sie und setzen mir gleich wieder die schwarze
Brille auf.«

»Gnädige Frau,« sinnend sah der Architekt auf Ebba Holm. »Ich bin
überzeugt, daß Fräulein Wunsch bei Ihnen nur das Gute sieht.«

»Wie könnte es anders sein,« sprach Lotte.

»Sie ersehen daraus, daß Fräulein Wunsch wohl zu unterscheiden vermag
und daß schwarz ist, was sie schwarz sieht. Sie stehen dem Leben hier
noch fremd gegenüber. Sie werden es anders finden, als Sie es sich
vorgestellt, haben es vielleicht schon empfunden. Enttäuschungen stehen
für jeden Menschen bereit, sie führen uns oft erst auf den richtigen
Pfad. Sehen lernen ist für starke Naturen immer von Vorteil.«

»Ich bin keine starke Natur, Herr Gehring.«

»Das sind Sie doch, Sie wissen es nur nicht.«

»Übrigens, Herr Gehring, können Sie uns nicht zu einer netten Wohnung
für Frau Holm verhelfen? Sie sitzen doch an der Quelle, wir suchen und
suchen und können nicht das Rechte finden.«

»Ja, wenn Sie hier draußen im modernen Westen suchen, werden Sie
niemals das Passende für die gnädige Frau finden, das heißt, nach
meinem Empfinden. Ich kann mir Frau Holm nur in dem nach meinem Sinne
für sie passenden Rahmen vorstellen.«

»Und der wäre?«

»Eine kleine, ruhige Straße, ein paar verträumte Bäume, ein altes,
gemütliches Haus mit einem Erker, an welchen die Zweige einer alten
Kastanie schlagen, verstohlene Sonnenstrahlen --«

»Oh, Sie Künstler,« rief Lotte Wunsch, »wie Sie zu zeichnen verstehen!
Und im Erker die Hausfrau im Gewand von matten Farben, schwere
fließende Falten --«

Ebba lachte auf. »Das soll für mich passen? Man merkt die Phantasie der
Künstler! Sie malen ja da ein Märchen aus.«

»Welches Wirklichkeit werden könnte,« erwiderte Gehring.

»Schnell, schnell, wo ist es, sagen Sie,« eiferte Lotte.

»Und keine ›schicken‹ Möbel, keine Moderichtung, Biedermeier oder
dergleichen, nein, einige schwere, gediegene Stücke, gut verteilt,
dunkle, satte Vorhänge statt Türen, an den Fenstern lichte, feine
Gewebe -- doch -- gnädige Frau müssen mit vorhandenen Möbeln rechnen?«

»Nein,« hart und scharf klang es ihm entgegen, daß er erschrocken
zusammenzuckte.

Sie bemerkte es und fühlte sich veranlaßt, dieses harte Nein zu
erklären.

»Ich wünsche mich loszulösen von allem.«

Er neigte verstehend das Haupt.

»Aber wo in aller Welt ist dieses Nest, wenn Sie es schon so genau
beschreiben, wissen Sie es auch zu finden?«

»Geduld, Fräulein Wunsch, gewiß, es ist schon vorhanden und wartet nur
auf die Einwohnerin, es liegt im alten Westen, in der Margaretenstraße.«

»Ich weiß, ich weiß,« jubelte Lotte, »ich kenne das Haus.«

»Eine Wohnung von vier Zimmern im zweiten Stock -- gerade die Höhe der
Baumkronen.«

»Morgen schon will ich hinaus und sehen, ob mir die Wohnung zusagt.«

»Gestatten Sie, daß ich Sie hinführe, gnädige Frau?«

»Wenn Sie mir Ihre Zeit widmen können, so wäre das sehr liebenswürdig
von Ihnen.«

»Also abgemacht, morgen vormittag holen Sie uns ab, denn
selbstverständlich bin ich die Dritte im Bunde,« rief Lotte.

»Es ist recht schade, gnädige Frau, daß Sie uns verlassen wollen,«
wandte sich Gerda von Wangenheim zu Ebba. »Ich werde Ihr Fortgehen
als eine große Lücke empfinden. Sie waren für mich so eigentlich der
ruhende Punkt in diesem Getriebe und schienen mir ein Stückchen Heimat.«

»Sie müssen mich recht oft besuchen. Wirklich, denn glauben Sie, ich
werde mich doch recht einsam fühlen.«

»Warum bleiben Sie eigentlich nicht hier? Sie können doch auch hier
alle Bequemlichkeiten haben, ohne die Last der Wirtschaftssorgen, und
Sie wären nicht ganz allein.«

»Immer hier unter fremden Menschen, ohne eigenes Heim, ohne meine
kleinen Sorgen, ein Leben ohne Zweck und Ziel? Ich wäre totunglücklich.«

»Einen Haushalt führen, sich mit Dienstboten herumärgern müssen, das
denke ich mir schrecklich. Das ist doch alles so kleinlich, der Alltag
tritt so direkt an einen heran.«

»Was wollen Sie, Fräulein von Wangenheim, wir haben sechs Tage Alltag
und nur einen Tag Festtag. Sie sind Künstlerin, Sie haben sich diesen
Beruf gewählt, Sie dürfen so denken, aber wie traurig wäre es für das
Familienleben, wenn alle Frauen so dächten.«

»Glauben Sie nicht, daß es viele Frauen gibt, ich meine verheiratete
Frauen, welche die Sorgen des Haushaltes für nicht vereinbar halten mit
ihrer höheren Bildung und mit ihren geistigen Interessen?«

»Ich weiß, es gibt« -- und vor ihren Augen tauchte das Bild ihrer
Schwägerin auf -- »der arme Mann.«

»Sie sagen: der arme Mann! Ich kann die Männer nicht bedauern, denn
sie selbst sind es, die dieses Mißverhältnis geschaffen. Vor der Ehe
wollen sie die Frau als eine elegante, schicke, ich möchte beinah sagen
pikante Dame, sonst gehen sie achtlos an ihr vorüber und -- heiraten
sie dann eine solche Dame, dann soll sie mit einem Male all dies
hintenansetzen und nur im Kleinkram aufgehen.«

Gehring, welcher dem Gespräch gefolgt war, wandte sich an Gerda.
»Gnädiges Fräulein, es ist wohl schwierig, einem Teil die Schuld
beimessen zu wollen. Eine junge Dame, welche kein Interesse für den
›Kleinkram‹ -- wie Sie es zu nennen belieben -- hat, sollte eben
nicht heiraten, und ein Mann, welcher eine Hausfrau und Mutter für
seine Kinder wünscht, sollte vorsichtig sein in seiner Wahl. Glauben
Sie mir, eine Frau kann eine gute Hausfrau sein, ohne dadurch ihre
geistigen Interessen zu schädigen. Gerade weil sie geistig auf einer
Höhe steht, wird sie verstehen, daß sie es ist, welche den Grundstein
des Hauses in Händen hat, daß auf dem Fundament, auf welchem sie ihr
Haus errichtet, das Wohlergehen und die Zukunft des Hauses beruhen.«

                                *  *  *

Müde und abgespannt lag Gerda auf ihrem Lager und konnte den Schlaf
nicht finden. ›Es ist ein bitterer Weg, Gnädigste, der Weg der
Künstlerinnen -- für die Art Ihrer Persönlichkeit doppelt schwer -- Sie
sollten anders sein.‹ Anders sein -- das hieß: sich hinwegsetzen über
Anstand und gute Erziehung -- hieß Konzessionen machen dem Künstlertum.
Nein, niemals -- wie könnte sie bestehen vor Ihrer Familie und vor
sich selbst. Sie wußte, was sie der Stellung ihres Vaters, ihrem Namen
schuldig war.

Oh, sie kannte sie bereits, die krummen Wege, die auf zur Höhe führten.
Die Studiengenossinnen hatten sie unterrichtet, hatten auch kein
Hehl daraus gemacht, daß sie durchaus nicht abgeneigt, diese Wege
zu wandeln, die Hände, die sich ihnen dort entgegenstrecken würden,
um sie möglichst schnell zum Ruhm, zu Ehre und Verdienst zu führen;
daß sie mit tausend Freuden bereit wären, diese Hände zu ergreifen.
Ehre! Sie lachte verächtlich, was hatten die für einen Begriff von
der Ehre! Wie sagte doch eine ihrer Kolleginnen! ›Was nutzt mir meine
Ehre, wenn ich ewig am Boden kleben soll? Ich will auf zur Höhe, zur
Höhe des Ruhms. Und hätte ich zehn Mädchenehren zu vergeben, ich würde
sie alle hingeben, gelangte ich dadurch nach oben.‹ Nein -- zu diesem
Grundsatz würde sie sich nie bekennen -- für sie gab es nur den geraden
Weg. -- Auch er mußte nach oben führen -- zur Höhe des Ruhmes. Sie
ließ sich nicht beirren. Und dennoch, lag nicht in diesen Worten eine
gewisse Größe? War diese nicht bereit, ihrer Kunst alles zum Opfer zu
bringen, alles -- wenn es sich um die Kunst handelte? Gehörte nicht
zum Künstlertum ein Hinwegsetzen über vieles? Sie selbst, hatte sie
nicht ihrer Kunst schon Konzessionen machen müssen? Der leichte Ton
der Kollegen und Kolleginnen, war es ihr nicht schwer, sehr schwer
geworden, sich daran zu gewöhnen? Sie, die wohl gehütete Tochter aus
vornehmem Hause, allein in der großen Stadt, war allen möglichen
Nachstellungen ausgesetzt. Lebte sie nicht schon in einem ganz anderen
Kreis, war sie sich nicht anfangs deplaciert vorgekommen? Waren dies
nicht alles schon Opfer, welche sie ihrem Künstlertum gebracht hatte?
Kleine Opfer -- würde sie zurückschrecken vor größeren?

Nein -- mit weißem Kleide wollte sie oben stehen, auf lichter Höhe,
auch nicht der Saum ihres Kleides sollte besudelt werden, rein vor der
Welt, rein vor sich selbst wollte sie ihr Ziel erreichen -- sonst war
es wertlos für sie, es erreicht zu haben.

Sie schloß die Augen. Und Traumbilder umgaukelten sie.

Sie sah sich auf lichter Wolke stehen, im schneeigen Gewande. Mit
ausgebreiteten Armen, auf dem Haupt ein funkelndes Diadem, dem Ziele
ihrer Sehnsucht entgegenschwebend. Dunkle Wolken kamen ihr entgegen und
hinderten sie, ihren Weg fortzusetzen. Sie strebte vorwärts, umsonst --
Schattenhände streckten sich ihr entgegen -- drohten und forderten --
da löste sie einen Stein aus dem Diadem, das sie auf dem Haupte trug,
warf ihn ihnen zu -- und ein Stück des Weges schwebte sie voran. Doch
immer wieder vertraten ihr dunkle Schatten den Weg. Stein um Stein der
funkelnden Strahlenkrone brachte sie zum Opfer, und noch nicht war sie
am Ende ihres Weges. Den Saum ihres Kleides hatte sie emporgerafft,
in Reinheit hatte sie ihn bewahrt, aber die Strahlenkrone war ihr vom
Haupt gesunken, nun hatte sie zu opfern nichts mehr.

Da traf sie an eine Biegung ihres Weges, und als sie sich wendete, lag
das Ziel ihr greifbar vor den Augen. In schimmernder Pracht lag er vor
ihr, der Thron, welchen die Menschheit der Kunst errichtet hatte. Gold
und Juwelen funkelten ihr entgegen, purpurne Rosenblüten bedeckten den
Boden, Lorbeergewinde bildeten den Hintergrund. Jubelnd und jauchzend
setzte sie den Fuß auf die Stufe, welche hinaufführte. Da packte eine
rauhe Hand den Saum ihres Kleides und höhnte ihr entgegen: Da hinauf im
weißen Kleide? Gib her das Kleid. Hier dies güldene Gewand soll deine
Glieder decken, und die Hand riß und zerrte an ihrem Kleide. Sie wehrte
sich und schrie: In meinem Kleide bleibe ich und schreite dort hinauf,
genug der Opfer schon brachte ich dar, mir blieb nichts als dieses
Gewand, nehmt ihr mir auch dies, so verliere ich mich selbst! Und
ihr Fuß versuchte die zweite Stufe zu erreichen. Da wich sie zurück,
denn drohend wuchs ein Schatten ihr entgegen, aus welchem Blicke ihr
entgegenfunkelten, die sie beschmutzten. ›Nicht hinauf, wenn du nicht
imstande bist, dich selbst als letztes Opfer darzubringen. Ich stehe
zwischen dir und diesem Thron.‹

Und sie wich zurück, wich grausend zurück und wandte das Haupt. Umsonst
die Strahlenkrone geopfert, umsonst den langen schweren Weg -- vor dem
letzten, da schreckte sie zurück, und weinend sank sie zusammen.

Noch einmal wendete sie sehnsüchtig den Blick, so nahe dem Ziel, so
nahe der Höhe, und nun zurück auf die Erde, geheftet an den Boden.
Lüstern funkelten die Augen aus dem Schatten ihr entgegen, Arme
streckten sich gleich langen, feinen Saugadern nach ihr aus. Zu Füßen
des Schattens auf der untersten Stufe aber, da lag ihr geopfertes
Diadem. Matt, trübe und glanzlos lag es da. Da riß sie sich ihr weißes
Gewand ab, legte es zu der Krone und warf sich in die ausgestreckten
Arme. Und sie stand auf dem Thron im güldenen Gewand, ein neues Diadem
auf dem Haupte, sie stand auf purpurnen Rosen, und die Rosenblätter
flüsterten zu ihr empor: ›Herzblut gibt Purpur.‹ -- -- --

                                *  *  *

»Und dadurch denken Sie das Häßliche, das Ihnen den Weg zum Liebesleben
versperrte, hinwegzuschaffen?«

»Ja, Ebba, das denke und hoffe ich.«

Erregt ging Lotte in ihrem Atelier auf und ab.

»Einer Gorgo sollen sie ins Antlitz schauen, von deren Grauenhaftigkeit
die Phantasie der Antike noch keine Ahnung hatte. Die Begierde, dieser
Moloch hält sie alle in seinem Bann. Abreißen will ich ihnen die
Maske vom Gesicht und ihnen das wahre Antlitz zeigen, wie es darunter
verborgen: eine Fratze, verzerrt von Leidenschaft, wilder Gier und
niedrigen Gelüsten. Ein unerbittlicher Ankläger soll vor ihnen stehen!«

Sie war vor Ebba, die schweigend auf dem Diwan saß, stehengeblieben.
Ihre Augen glühten fieberhaft, eine lange niedergerungene
Leidenschaftlichkeit kam zum Ausdruck.

»Begreifen Sie doch, daß ich nicht stumm bleiben darf, es würde mich
zermalmen!

Ach, diese Sehnsucht -- dieser stets gewaltsam niedergehaltene Schrei
in der Brust -- nach Liebe, Ebba -- nach Glück,« flüsterte sie.

»Ich glaube, Sie sind grausam, Lotte! Sie hatten sich Idealmenschen
geschaffen, und da Sie enttäuscht wurden, sind Sie hart geworden.«

Lotte lachte bitter auf: »Ist das nicht grausam, die Seele eines jungen
Mädchens in den Schmutz zu treten, ihren Körper zur Erfüllung niederer
Begierden zu begehren? Meinen Sie, daß es mir allein so gegangen?
Grausam hat man mir den Altar der Liebe besudelt, ich will ihn wieder
rein waschen, indem ich meine Stimme erhebe und anklage.«

»Und glauben Sie die Menschen bessern zu können, indem Sie ihnen einen
Spiegel vorhalten?«

»Nein, dazu bin ich wohl nicht berufen -- aber mich -- meine Seele will
ich von ihrem Druck befreien.

Ich habe einen großen Abscheu kennen gelernt vor der Liebe -- ich habe
gelacht und geweint in bitterem Weh -- und doch -- man hat nur ein
einziges Leben zur Verfügung -- das ist kein Leben ohne Liebe -- ich
will leben, das ist mein Recht!«

»Ich glaubte immer, Frauen Ihrer Art finden ihre Befriedigung in
ihrem Beruf, sind voll ausgefüllt vom Leben. Es erstaunt mich, Sie so
sprechen zu hören.«

»Glauben Sie doch das nicht! Eine Frau, welche behauptet, einzig und
allein durch ihren Beruf Befriedigung zu finden, welche das Bedürfnis
nach Liebe ableugnet, ist nicht ehrlich. Wir Frauen, wenn wir echte
Frauen sind, können nur das Glück durch die Liebe erfahren, alles
übrige ist nichts, ist nur Betäubung unseres ungestillten Verlangens.
Unsere Kunst, unsere Arbeit, das alles ist nichts, das wahre Glück
bringt uns erst die Erfüllung unserer Sehnsucht, das Stillen unseres
flammenden liebeglühenden Herzens.«

»Und die freie Liebe? Lassen Sie auch diese gelten?«

»Unbedingt, sobald sie nicht niedrigen Begierden entspringt. Ich habe
soviel gesehen in meinem Leben, daß ich gelernt habe, jedes gewaltige
Gefühl als ein natürliches Recht anzusehen.«

»Ich glaube, daß Sie recht haben, ich halte das Leben einer Frau für
verfehlt, wenn sie ohne Liebe durchs Leben gegangen, trotz all des
Leids, welches die Liebe für uns im Gefolge hat.«

                                *  *  *

Einen Strauß herrlich roter Rosen hielt Gerda von Wangenheim in den
Händen.

Kurt Winkelmann.

Welches Recht hatte er dazu? Achtlos legte sie den Strauß auf den
Tisch, zerriß die beigefügte Karte in kleine Stückchen und warf
sie in den Papierkorb. Der hochmütige Ausdruck ihrer Gesichtszüge
vertiefte sich. Der Rosenduft erfüllte das Zimmer, sie konnte ihn nicht
vertragen, sie klingelte dem Stubenmädchen und gab ihr die Weisung,
den Strauß fortzunehmen, in das Gesellschaftszimmer oder sonstwo
hinzustellen, der Duft bereite ihr Kopfschmerzen.

Tat sie ihm unrecht? Hatte man ihr nicht oft Blumensträuße gesandt?
Und sie hatte sie genommen, freudig, gleichgültig, gemessen nach den
Gefühlen, welche sie dem Spender entgegenbrachte.

War sie zu feinfühlig?

Was war es, das beim Gedenken an diesen Mann ein Gefühl der Empörung in
ihr emporflammen ließ? Daß sie diesen Rosenstrauß als eine Beleidigung
empfand?

Gestern abend im Konzert hatte sie ihn getroffen.

Er hatte gebeten, sie nach Hause begleiten zu dürfen, und sie, deren
Blut und Nerven durch den wunderbaren Gesang der Hempel in Aufregung
waren, hatte seine Begleitung gern angenommen. Ungern wäre sie mit der
Bahn nach Haus gefahren, der Gang durch den Tiergarten war ihr eine
Wohltat, um so mehr, da es ein wundervoller Abend war und sie jetzt so
selten dazu kam, spazierenzugehen, ihr Studium ließ ihr nicht die Zeit
dazu. Seine Begleitung ermöglichte ihr den Gang durch die klare, kalte
Nacht.

Sie waren über den Potsdamer Platz geschritten und lenkten in die
Bellevuestraße ein. Als sie an dem hellerleuchteten Restaurant
Rheingold vorüberkamen, sah er sie von der Seite an und bemerkte:

»Ich darf es wohl nicht wagen, Ihnen, gnädiges Fräulein, ein Glas Wein
anzubieten?«

Mit großen, erstaunten Augen sah sie abweisend zu ihm auf: »Wenn es
Ihnen leid tut, mir Ihre Begleitung angeboten zu haben --«

»Um Gottes willen, gnädiges Fräulein, ich konnte nur dem Versuch nicht
widerstehen, Ihre Gesellschaft noch länger zu genießen.«

»Es ist ein reichlich langer Weg bis zum Steinplatz, mir will es jetzt
fast scheinen, daß ich Ihre Zeit zu lange in Anspruch nehme.«

»Gnädiges Fräulein, verzeihen Sie mir.«

Sie zog ihre Hand aus dem Muff und machte eine wegwerfende Bewegung.
Dann schritt sie fest und gerade in die Höhe gereckt voran. Eine
Atmosphäre von Kühle und Unnahbarkeit um sich ziehend.

Er biß sich auf die Lippen. Diese feindselige, fast verächtliche
Kälte, welche sie ihm gegenüber zur Schau trug, reizte ihn bis aufs
Blut. Niemals bis heut hatte er um eine Frau zu kämpfen brauchen,
gleich reifen Früchten waren sie ihm in die Arme gesunken, er hatte
nur die Hand auszustrecken brauchen -- und diese hier -- lächerlich
-- diese Kälte wollte er -- mußte er durchdringen -- alles wollte er
daransetzen, sie zu zwingen -- der Besitz dieser war von Wert -- er
kostete Kampf. Das war ein anderer Reiz. Eine nie empfundene, aber
vorgeahnte Lust erfüllte ihn. Einen verzehrenden, glühenden Blick warf
er auf die ruhig neben ihm einherschreitende Gestalt.

Schweigend waren sie so die Tiergartenstraße entlanggeschritten und
bis zur Ecke der Regentenstraße gekommen, da brach Gerda das Schweigen
und begann in leichtem Plauderton über das heutige Konzert zu sprechen.

»Ich glaube wohl, es muß ein herrliches Gefühl sein, dort oben zu
stehen, umrauscht vom tobenden Beifall der Menge.«

»Wenn Sie erst so weit sein werden, gnädiges Fräulein.«

»Wieviel Arbeit, Kraft -- und Kummer, ehe man eine solche Höhe erreicht
-- und wenn es auch wirklich immer zur Höhe ginge.«

»So kleinmütig? Glauben Sie nicht an Ihr Künstlertum?«

»Ist es nicht begreiflich, sich klein zu fühlen, wenn man eine solche
Künstlerin gehört hat? Oh, wer diese Höhe erreichen könnte -- einmal --
ein einziges Mal so die Herzen treffen können, aufrühren die Menschen
bis in ihr tiefstes Sein. Mein Gott, muß das ein Gefühl sein!«

Leidenschaftlich hatte sie die Worte hervorgestoßen, in heftiger
Bewegung preßte sie den Muff gegen die Brust und atmete stoßweise.
Winkelmann sah auf die Erregte. Da war es ja, das Temperament, welches
er geahnt, verborgen, ihr unbewußt schlummerte es in ihr -- seine
Aufgabe wird es sein, es zu lenken auf Bahnen --

Schweigend gingen sie weiter.

Sie waren den Kurfürstendamm entlang gegangen und näherten sich der
Gedächtniskirche.

»Gnädiges Fräulein, es ist unbedingt notwendig, daß Sie Beziehungen
anknüpfen, wenn Sie die Absicht haben, hier in Berlin ein Konzert zu
geben, ich möchte Sie bitten, über mich zu verfügen, ich kann Ihnen
von großem Nutzen sein nach dieser Richtung hin. Sie müssen Tees und
Gesellschaften besuchen, müssen sich einen Kreis schaffen, der sich für
Sie persönlich interessiert. Ich kann Sie bekannt machen mit Agenten,
Kritikern, Direktoren und so weiter.«

»Mit einem Wort, Sie können mich lancieren, wenn Sie wollen?« Sie
sprach es verächtlich.

»Mein Gott, ohne diesen Klimbim geht es eben nicht, und wenn es Ihnen
Ernst ist mit Ihrem Streben, dann müssen Sie das alles mit in den
Kauf nehmen. Klappern gehört zum Handwerk! Sie müssen sich in Positur
setzen, das ist hier, in unserer Gesellschaft, besonders nötig. Je mehr
Sie selbst aus sich machen, desto höher schätzen Sie die anderen.«

»Ekelhaft.«

»Was wollen Sie! Diese kleinen Opfer werden Ihnen hundertfach belohnt,
wenn Sie dort oben stehen, umrauscht und umjubelt. Also schlagen Sie
ein und verfügen Sie über mich.« -- --

Sie hatte ihm die Hand gegeben, und sie hatten sich an der Tür der
Pension verabschiedet voneinander, und als sie auf ihrem Zimmer
angelangt, da hatte sie den Muff auf einen Sessel geworfen, die
Handschuhe abgestreift und in die Ecke geschleudert, hatte schluchzend
die Hände vor das Gesicht geschlagen und geweint. -- Was sollte das
alles? Konnte sie nicht allein ihren Weg finden? Sie, Gerda von
Wangenheim, sollte buhlen um die Gunst der Menschen?

Warum hatte sie geweint? Mußte sie sich nicht freuen der angebotenen
Hilfe, wollte er nicht die Steine zusammentragen, um den Thron zu
errichten, auf welchen sie hinaufstrebte?

Sie empfand sein Anerbieten als eine Beleidigung, es lag etwas darunter
verborgen, das fühlte sie. Die Gedanken dieses Mannes waren nicht rein,
das Tasten seiner Blicke empfand sie als einen körperlichen Schmerz.

Wo waren die Rosen, daß sie sie unter die Füße trat?

                                *  *  *

Ebba probierte die Wirkung einer bronzenen Vase, welche, gefüllt
mit herrlichem blaßlila Flieder, ihr von ihrer Schwägerin heute
übersandt worden war. Sie besaß nun ihr Heim, nach welchem sie sich
gesehnt hatte. Ein Gefühl wohligen Behagens empfing sie. Sie stellte
den Fliederstrauß auf ihren Schreibtisch, trat zurück und prüfte
die Wirkung. Wundervoll hoben sich die zarten Blüten gegen den
tiefblauen Ton der Tapete. Sie war zufrieden. Aber dort, der hellrote
Tulpenstrauß, er tat ihren Augen weh. Sie haßte grelle Farben. Sie
konnte sie nur vorübergehend ertragen. Beim Umherschweifen ihrer
Blicke freute sie sich wohl oft eines hellfarbenen, freudigen Tones,
er brachte Abwechselung in gedämpfte Farben, die sie bevorzugte,
aber lange war es ihr nicht möglich, darauf zu verweilen, er machte
sie unruhig. Um sie herum mußten weiche, satte Töne sein. Sie trug
den Rosenstrauß in den Vorflur, setzte ihn dort auf das kleine
weißlackierte Tischchen, neben welchem die weißen, mit dunkellila
Leinen bespannten Sessel zum Sitzen einluden. So, hier paßte er
hin, die satte lila Farbe dämpfte das leuchtende Rot. Sie trat in
ihr Arbeitszimmer zurück, rückte hier noch an einem Sessel, gab
einer Bronze noch einen andern Platz und schritt in das anstoßende
Speisezimmer, um selbst den Abendtisch zu arrangieren. Es war
eigentlich noch zu früh dazu, aber was machte es, sie freute sich so
sehr, tätig sein zu können, es machte ihr Spaß, ihre Schätze auskramen
und die Wirkung des Geschirrs auf dem feinen Damast zu probieren. Ob
wohl jene Gläser sich besser machen würden unter dem gelben Scheine des
Seidenschirms, welcher über dem runden Tisch leuchtete? Oder ob sie
die matt bernsteinfarbenen nahm? Welches Blumenarrangement sollte sie
für die Mitte wählen? Sie war reichlich mit Blumen bedacht. Sträuße
und ganze Körbe hatte man ihr als Glücksspende für die neue Wohnung
ins Haus gesandt. Sie brauchte nur die Wahl zu treffen. Hier dieses
Arrangement, es war zu prunkvoll, paßte nicht für die intime kleine
Feier, erwartete sie doch nur zwei Gäste, Lotte Wunsch und Gerda von
Wangenheim. Ihre Hand griff nach einem Strauß dunkelroter Rosen, sie
setzte ihn auf den Tisch. Sie empfand ihn als zu glutvoll unter der
starken Beleuchtung. Die dunkelrote Pracht schien ihr intensiver,
duftender, wenn sie abgedämpft. Sie brachte einen feinen venezianischen
Kelch, in welchem mattrosa japanische Blüten steckten, in die Mitte des
Tisches, und die Blüten behaupteten ihren Platz.

Die Uhr im Speisezimmer schlug mit tiefen, dunklen Tönen sieben Uhr.
Nun hatte sie noch eine Stunde Zeit. Sie wollte dem Mädchen in der
Küche ein wenig behilflich sein, ihr zeigen, wie sie das Anrichten
der Schüsseln liebte. Wenn sie dem Mädchen auch selbständiges
Arbeiten zutrauen konnte, so war es für sie doch Bedürfnis, daß in
ihrem Haushalt in allem ihren eigenen Wünschen entsprochen wurde.
Die persönliche Note liebte sie nicht nur in ihrer Kleidung, in dem
Arrangement der Möbel und Blumen, auch bis hinein in das Küchenreich
wünschte sie damit zu dringen. Als sie eben die Küche betreten, sich
eine große Wirtschaftsschürze vorgebunden, klingelte es.

Ihr Bruder, der Bankdirektor Westphal, wünschte sie zu sprechen.

»Lukas, du kommst zu mir, beraubst dich deiner Zeit?«

»Du hast recht, dich zu wundern. Möchte ich doch selbst darüber
erstaunen, daß ich Zeit finde, mich mit der Angelegenheit anderer zu
beschäftigen.«

»Sage mir nur, warum bringst du eine solche Unruhe in dein Leben? Du
hast dein gutes Auskommen, hast deine Stellung, hast erreicht, was dir
wünschenswert erschien, ich sollte meinen, du könntest dir wirklich ein
wenig Ruhe gönnen.«

»Du hast ja recht, Ebba -- aber du kennst eben den modernen
Großstadtmenschen nicht, dem ist keine Ruhe vergönnt. Ruhe ist
Stillstand, und Stillstand ist Rückschritt.«

»Ich bitte dich, es muß doch einen Ruhepunkt geben im Leben eines
jeden. Jeder sollte sich doch der Früchte freuen, die er gesäet hat.«

»Dazu haben wir keine Zeit.«

»Also über dem ewigen Vorwärtsstreben kommt ihr nicht zum Genuß dessen,
was ihr erreicht habt. Es ist dies etwas Ungesundes, etwas Krankhaftes.
Ich kann nicht glauben, daß sich ein jeder sein Leben so zimmert.
Was zum Beispiel treibt dich immer wieder, immer mehr zu erraffen,
warum genügt dir das Erworbene nicht? Warum überbürdest du dich mit
Direktionsposten, bist Aufsichtsrat mehrerer Gesellschaften, gönnst dir
Tag und Nacht keine Ruhe, erkläre mir das. Warum?«

»Kind, das ist schwer zu erklären. Wenn ich offen sein soll, so muß ich
dir gestehen, daß mir das alles selbst nie zum Bewußtsein gekommen
ist. Erst jetzt, als du und mit dir unsere schöne ruhige Jugendzeit
mir wieder vor Augen trat, sah ich, daß ich niemals zum Atemschöpfen
gekommen bin. Warum? Wieso? Es ist hier nun einmal so der Kurs. Man
steuert hinein und merkt es kaum, in welches Eilzugtempo man gekommen
ist. Verschnaufen, aussteigen, das gibt es nicht, dann nimmt ein
anderer deinen Platz ein, und du kannst sehen, wo du bleibst. Das Leben
kostet viel, sehr viel, wenn man eine elegante Frau hat, die Ansprüche
an einen stellt. Man versteht eben heute nicht mehr anspruchslos zu
sein. Die gesteigerte Kultur der großen Städte ist ein Moloch, dem
wir alle anheim fallen. Ich muß arbeiten, um das alles aufbringen zu
können, viel arbeiten.« Und seinen Mund umspielte ein zerstreutes müdes
Lächeln.

»Und Thea? Kann sie es mit ansehen, daß du dich aufreibst bei diesem
Leben?«

»Meinst du wirklich, daß sie das sieht? Das alte Wort, daß Mann und
Frau eins sein sollen, hat für uns keine Bedeutung. Unsere Wege haben
sich schon seit langem getrennt.

Nein, sie weiß nichts von mir. Niemals fragt sie nach meinen
innerlichen Gedanken, nach dem, was mein Inneres bewegt. Wir sind
einander tatsächlich Fremde. Sie weiß nicht einmal von jenem
Verständnis, mit welchem das Weib die Erde dem Manne zum Paradiese
machen kann.«

»Aber ihr habt doch aus Liebe geheiratet, es kann doch nicht immer so
gewesen sein zwischen euch?«

»Was man so Liebe nennt! Was weiß man denn voneinander vor der Ehe!
Du -- du hast doch deinen Mann auch aus Liebe geheiratet, es ist das
Sonderbare im Leben, daß immer die nichtzusammenstimmenden Menschen
zueinander finden. Ja: wenn ich eine Frau gefunden hätte, wie du es
bist! Sie geht auf in den gesellschaftlichen Zerstreuungen. Sie lebt
von fremden Menschen mit fremden Menschen.

Ich bin ein einsamer Mann, Ebba.«

»Aber Inge, ihr habt eine Tochter, du hast Pflichten gegen sie.«

Er zuckte die Achseln. »Ich hatte so wenig Zeit, und jetzt -- ist es
wohl schon zu spät.«

Tränen verdunkelten ihren Blick. »Nein, nicht zu spät. Schick mir oft
Inge, Lukas. Willst du? Sieh, ich bin einsam -- ohne Zweck, ohne etwas,
das mir Freude macht, ich meine ohne etwas, um dessentwillen es sich
lohnt, zu leben, vielleicht kann ich ihr etwas sein.«

»Gern, wie gern, Ebba -- das heißt, wenn sie mag.«

Die Uhr im anstoßenden Speisezimmer schlug die achte Stunde.
Erschrocken sprang er auf.

»Um des Himmels willen, ich sollte Thea begleiten, es ist
Premierenabend im Deutschen Theater -- und ich habe dir noch
nicht einmal gesagt, was mich zu dir geführt hat. Ich habe deine
Scheidungsklage meinem Anwalt übergeben, es wird alles in die Wege
geleitet. Er hat mir die Versicherung gegeben, daß es kaum nötig ist,
dich persönlich zu belästigen.«

Sie waren aufgestanden. Die schlanke brünette Frau, deren Antlitz
unendliche Güte und tiefe Traurigkeit spiegelte, streckte ihm beide
Hände entgegen: »Willst du zu mir kommen, wenn du dich nach Ruhe
sehnst, Lukas? Willst du mein Haus als das deine betrachten?«

Und der müde schlaffe Mann fühlte etwas in sich aufsteigen, eine
würgende Bitterkeit kam über ihn, doch er bezwang sich. Sein
gebeugter Körper reckte sich empor, er legte seine Hände in die ihm
entgegengestreckten und sprach: »Ich will.« -- -- --

»Ebba, stellen Sie sich einen Moment in den Erker -- so -- so ist es
recht -- ganz wundervoll,« jubelte Lotte Wunsch, »schauen Sie, Fräulein
von Wangenheim, ist es nicht wie ein Bild? Der passendste Rahmen, den
Sie sich schaffen konnten, ist diese Umgebung!«

»Sie sind ein Kind, Lotte.«

»Danke für das Kompliment, fehlte nur noch, daß Sie mir die Saugflasche
umhängen.«

»Na, wenn nicht gerade umhängen, vielleicht noch in die Hand drücken,«
neckte Ebba.

Und Lottes Augen strahlten. Ein Lächeln von Glückseligkeit verjüngte
ihre Züge. Sie ergriff eine blaßrosa Rose aus dem auf dem Tisch
stehenden Blumenarrangement und warf sie nach Ebba.

»Sie Übermut, Sie,« drohte diese, »aber nun vertreten Sie mich einmal
und zeigen Sie Fräulein von Wangenheim mein kleines Nest, derweilen ich
schnell in die Küche husche.«

»Sehr geschmackvoll, wirklich harmonisch das Ganze,« sprach Gerda.
»Diese schweren dunklen Mahagonimöbel wirken herrlich zu der blauen
Farbe der Vorhänge, sie geben dem Raum etwas Ruhiges, Abgedämpftes.«

»Und hier, vom Erker aus überschauen Sie die kleine ruhige Straße. Die
Zweige der Kastanie vor dem Fenster können Sie greifen.«

»Ich hätte nie geglaubt, daß man hier in Berlin so etwas
Abgeschiedenes, ich möchte beinahe sagen, so eine weltentrückte
Stimmung finden könne. Ein Hauch von Ruhe und Frieden weht einem
entgegen. Mir ist, als würde hier dem ärgsten Sturm Halt geboten, als
sei dies ein stilles Hafenbecken, in welches Schiffbrüchige sich retten
müßten.«

Ebba war zurückgekommen und stand vor dem hinter ihr wieder
zurückfallenden Vorhang. Das dunkle Haar, welches locker zurückgekämmt,
ließ die klare weiße Stirn, auf welcher zwei Falten eingegraben waren,
die sie älter erscheinen ließen, frei. Das Dunkel der Haare verschwamm
mit dem Dunkel des Sammets. Das veilchenfarbene Tuchkleid fiel in
langen Falten herab und bedeckte ihre Füße, wie es bei einem Marmorbild
zu sein pflegt. Die Handgelenke umschlossen die eng anliegenden Ärmel.
Das Kleid hatte keinen Ausschnitt, sondern war bis zum Halse herauf
geschlossen. Ihre in die Falten greifende Hand und ihr weißes Gesicht
wirkten plastisch, wirkten als verkörperte Ruhe.

»Sie verstehen es, sich ein Heim zu schaffen und gemütlich zu machen,
Frau Holm, jetzt begreife ich Ihre Sehnsucht nach ureigener Umgebung.«
Gerda war zu ihr getreten. Ebba zog Gerdas Arm durch den ihren, und
beide betraten zusammen das Speisezimmer, während Lotte ihnen folgte.
»Ich muß gestehen, ich wäre nicht imstande, mir eine so stilvolle
Umgebung zu schaffen, ich habe gar keinen Sinn dafür, ich lebe einzig
und allein meiner Kunst.«

»Ich meine, andere glücklich machen ist auch eine Kunst, und das ist
das Bereich von Ebba Holm,« erwiderte Lotte.

Ebba lächelte traurig. »Und fand doch nicht Verständnis bei dem
einen --«

»Lassen Sie es gut sein, Verständnislose wird es immer geben, das darf
Sie nicht mutlos machen. Bewahren Sie sich den Glauben an das Gute im
Menschen, erhalten Sie sich Ihre Ideale. Uns modernen Großstadtmenschen
sind die Ideale im Kampf des Lebens erstickt worden. Die Gebote der
Nächstenliebe werden mit Füßen getreten. Kein Mensch kennt heutzutage
mehr als seine eigenen Interessen. Jeder erfüllt nur die Wünsche seines
eigenen Selbst. Wir leben im Zeitalter des Egoismus, des Ich-Kultus.
Bleiben Sie der ruhende Pol, der den Glauben an die Menschheit nicht
verliert.«

»An meinem Wollen soll es nicht mangeln, aber die Erfahrungen, die uns
das Leben bringt! Sie selbst, sind Sie nicht mit geschwellten Segeln
hinausgezogen, und waren Sie es nicht gerade, welche meinen Glauben
zerstören wollte?«

»Ebba, gerade Sie sind es ja, welche den Glauben an die Menschheit
wieder in mir erweckt hat, Sie haben einen Zwiespalt in mir geschaffen.
Es kann so schlecht doch nicht um die Menschen beschaffen sein, wenn
man Geschöpfen, wie Sie es sind, begegnet.«

»Sie werden überschwänglich, Lotte, aber daß Ihnen das Vertrauen zu
den Menschen wiedergekehrt ist, das freut mich herzlich. Doch nun
lassen Sie uns bitte von etwas anderem sprechen, bis jetzt ist in
unverantwortlicher Weise von mir die Rede gewesen, als Hausfrau muß ich
energisch dagegen Einspruch erheben. Schnell, erzählen Sie mir etwas
aus der Pension. Was gibt es Neues dort, Fräulein von Wangenheim?«

»Die neueste Attraktion ist ein bleicher, griechischer Jüngling mit
großen melancholischen Augen, sämtliche jungen Damen huldigen ihm. Er
selbst scheint sich noch nicht schlüssig zu sein, welcher er die Gnade
seiner Gunst zuteil werden lassen soll.«

»Und Miß Webb ist wieder auf einer neuen Station angelangt, Baron
Reitzenstein, mit welchem sie eine kleine Strecke im Luxuszug zu fahren
beliebte, ist zum Aussteigen aufgefordert, und Graf Wietersheim ist
eingestiegen,« sprach Lotte.

»Eine schreckliche Person.« Und Gerda verzog verächtlich die Mundwinkel.

»Was wollen Sie, sie versteht es, sich die Männer nutzbar zu machen,
echt amerikanisch! Für sie sind die Männer nur dazu da, um die Launen
der Frau zu befriedigen. Sie fordert Luxus, Amüsement und Flirt!
Glauben Sie, daß sie auch nur einem einzigen der vielen Verehrer eine
Spur von Gefühl entgegenbringt?«

Gerda sah erstaunt auf Lotte. »So glauben Sie wirklich, das alles hat
mit Liebe gar nichts zu tun?«

»Nicht das Geringste! Das ist es ja, was ich ihr zum Vorwurf machen
möchte. Sie versteht die Kunst, alles zu nehmen und nichts zu geben,
alle Hoffnungen zu erwecken, die Sinne zu schüren und bis zu glühender
Flamme emporlodern zu lassen und nichts zu erfüllen. Das Spiel einer
seelenlosen Kokette.«

»Daraus möchte ich ihr keinen Vorwurf machen. Warum? Wenn die Männer
auf solch eine Kokette hereinfallen, geschieht ihnen schon recht, wenn
sie genarrt werden. Von diesem Gesichtspunkt betrachtet, übrigens ein
Spiel, das mich reizen könnte.«

Ebba und Lotte sahen auf Gerda, in deren Augen eine gewisse Grausamkeit
aufblitzte.

»Es könnte Ihnen von nicht geringem Nutzen in Ihrer Laufbahn
sein, Fräulein von Wangenheim, wenn Sie es verständen, sich die
Leidenschaften der Männer nutzbar zu machen, aber -- ich warne Sie --
kalt wie Marmor, hart wie Stahl müssen Sie sein, wenn Sie triumphieren
wollen. Es ist ein gefährliches Spiel.«

»Lassen Sie das,« sprach Ebba unwillig zu Lotte, »hören Sie nicht
darauf,« wandte sie sich dann an Gerda, »überlassen Sie die Koketterie
den seelenlosen Puppen, ich nehme an, daß Sie zuviel Gemüt besitzen,
um mit der Leidenschaft, sei es auch immer, welche es sei, zu
spielen. Gewiß, das Begehren des Mannes geht oft über das Maß des
Erlaubten hinaus, an uns ist es, ihn in seine Schranken zu verweisen
und sein Begehren zu zügeln, nicht noch zu stacheln durch berechnete
Herzlosigkeit.« --

Man war beim Nachtisch angelangt. Sie knabberten Schokolade, aßen
kleine Kuchen, und Ebba bot Lotte die Zigaretten an, »Sie rauchen doch
auch, Fräulein von Wangenheim?«

Lotte reichte das Feuerzeug hinüber. »Ich kann mir nun mal nicht
helfen, den Genuß einer Zigarette möchte ich mir nicht nehmen lassen.«

In kleinen kurzen Wölkchen blies sie den Rauch in die Höhe, dann
ergriff sie ihr Glas und sprach grüßend zu Gerda: »Auf Ihre Zukunft,
Fräulein von Wangenheim, wann werden Sie an die Öffentlichkeit treten?«

»Nächsten Herbst gedenke ich mein erstes Konzert zu geben.«

»Dann müssen wir tüchtig vorarbeiten. Es ist notwendig, daß Sie mehr
hervortreten. Was haben Sie für Beziehungen angeknüpft?«

»Eigentlich keine. Ich kenne außer unsern Pensionsleuten niemand.«

»Nun, dann müssen wir Sie einführen. Jetzt vor Weihnachten ist nicht
mehr viel los, da ist alle Welt mit dem Fest beschäftigt. Aber in den
Monaten Januar bis März ist Hochflut in Berlin, da müssen Sie sich in
den Strudel stürzen. Versuchen Sie auf Privatfestlichkeiten, auf den
jetzt so beliebten Tees, bei denen alle Welt zusammentrifft, zu singen
und Interesse zu erregen.«

»Ach, Fräulein Wunsch, ich finde das so entsetzlich! Es liegt mir so
gar nicht, die Menschen zu umwerben und zu umschmeicheln. Ich habe
immer gemeint, die Kunst allein sollte die Menschen zwingen.«

»Im Grunde tut sie das auch. Aber was nützt Ihnen Ihre Kunst, wenn
Sie niemand haben, auf den Sie sie wirken lassen können? Sie müssen
bedenken, niemand kennt Sie, weiß etwas von Ihnen. Gerade hier in
Berlin tauchen eine Unmenge Künstler auf, die sich berufen fühlen und
denen eine jede Berechtigung eines öffentlichen Auftretens abzusprechen
ist. Das Publikum ist mißtrauisch geworden und verhält sich ablehnend
unbekannten Künstlern gegenüber.«

»Wozu ist dann aber die Kritik da?«

»Gute Kritiken sind allerdings sehr notwendig und beeinflussen Publikum
und Agenten, doch volle Häuser schaffen sie Ihnen nicht. Sie müssen
doch auch die Kosten eines Konzerts in Berechnung ziehen. Wollen
Sie alles aus Ihrer Tasche bezahlen, soll Ihnen durch Verkauf der
Billetts nichts zurückfließen? Wollen Sie vor leeren Wänden singen? Mit
vornehmer Zurückgezogenheit ist es nicht zu machen, glauben Sie mir,
ich meine es gut mit Ihnen.«

»Ich weiß es, Fräulein Wunsch, nur dies alles entspricht so wenig
meinem Charakter.«

Lotte zuckte die Achseln und zündete sich eine neue Zigarette an.

»Unsinn! Sie haben sich doch nun mal diesen Beruf gewählt, haben
sogar darum kämpfen müssen mit den Traditionen Ihres Hauses, haben
diese überwunden, nun müssen Sie weiter auf selbstgewählter Bahn. Im
übrigen denken Sie es sich viel schwieriger, als es in Wirklichkeit
ist. Ich glaube sogar, daß man es gerade Ihnen leicht machen wird,
sich durchzusetzen, denn bei Ihnen sind die Vorbedingungen, die
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, vorhanden. Sie sind jung, von
selbstbewußter vornehmer Haltung. Sie brauchen nur aufzutauchen, und
das Interesse ist erweckt.«

»Wie wäre es, wenn Fräulein von Wangenheim auf dem Tee meiner
Schwägerin im Januar sänge?«

»Das wollte ich eben vorschlagen, Frau Ebba. Bei Thea Westphal verkehrt
ganz Berlin, alles, was sich zur Gesellschaft rechnet, kommt da einmal
im Monat zusammen. Eine bessere Gelegenheit, sich in Szene zu setzen,
können Sie nicht finden. Und wie ich Frau Thea kenne, wird sie entzückt
sein, ihren Gästen einen neuen angehenden Star vorsetzen zu können,
für die nötige Stimmungsmache ist sie besonders geeignet.«

»Ich bin Ihnen beiden von Herzen dankbar, es ist mir viel leichter ums
Herz, wenn ich Sie zur Seite weiß und auf Ihre Hilfe zählen kann, so
allein, ganz allein zwischen wildfremden gleichgültigen Menschen, der
Gedanke macht mich ein wenig schaudern.«

                                *  *  *

»Unangemeldet zu Mama zu kommen, Tante Ebba, das ist riesenhaft
leichtsinnig von dir. Nun hast du den ganzen Weg umsonst gemacht, Mama
ist doch nie zu Hause.«

»Es tut nichts, Inge, dann plaudere ich eben ein bißchen mit dir.«

»Mit mir? Ist dir das nicht langweilig?« Und ein erstaunter Blick flog
zu Ebba hinüber.

»Gar nicht langweilig, im Gegenteil, ich denke es mir gerade recht
interessant, sich einmal mit dir zu unterhalten.«

Und sich setzend, zog sie Inge auf den nebenstehenden Sessel hernieder.
»Du weißt, ich bin fremd hier. Ich will nicht nur die Stadt, ich will
auch die Menschen, ihre Art und ihr Wesen kennen lernen. So ein junges
Mädchen von heut ist doch beneidenswert. Wieviel Gelegenheit hat sie,
sich auszubilden, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und einen Beruf zu
ergreifen; ihr jungen Großstadtkinder sitzt an der Quelle, braucht nur
zuzugreifen, alle Wege stehen bereit. Als ich so alt war wie du, war es
noch anders, da waren uns noch die Hände gebunden.«

»Da führte man euch noch am Gängelbande und beschnitt euch die Flügel,«
fiel Inge ein. »Ein Glück, daß ich später auf die Welt gekommen bin.
Heute fangen doch die Eltern an, vernünftig zu werden und sehen ein,
daß auch wir ein Recht auf Freiheit haben und daß man auch schon bei
der Jugend mit Charakterveranlagungen zu rechnen hat.«

»So -- und welches ist denn nun deine Charakterveranlagung, wenn ich
fragen darf?«

Inge sah sie nachdenklich an.

»Du scheinst doch ernsthaft darüber nachgedacht zu haben, folglich mußt
du auch über dich selbst im klaren sein.«

»Bin ich auch, und es macht mir auch gar nichts aus, dir meine
Veranlagung zu gestehen, denn schließlich ist man ja nicht
verantwortlich dafür.«

»Du machst mich aber wirklich neugierig, es scheint ja etwas ganz
Gefährliches zu sein.«

»Ich bin veranlagt, Verbrechen zu begehen.«

Ebba lachte hell auf.

»Du lachst. Wenn du wüßtest, wie nahe ich daran war, eine Mörderin
zu werden, zweimal, Tante Ebba. Das erstemal war ich neun Jahre alt.
Es war in der Schule, wir hatten einen Streit bekommen und schrien
aufeinander ein, ich überschrie sie alle, denn ich war im Recht. Unsere
Klassenälteste war die einzige, welche sich an unserm Streit nicht
beteiligte. Sie stand mir gegenüber und sah mich ruhig an. Plötzlich
schnitt sie mir eine höhnende Grimasse und schrie mir zu: ›Pfui, siehst
du häßlich aus.‹ Da stürzte ich voller Wut auf sie zu, packte sie an
der Kehle und würgte sie, bis ihr der Atem ausging. Wäre die Lehrerin
nicht auf das Geschrei der anderen herbeigestürzt, so hätte ich sie
erwürgt. Und dann das zweitemal, das war noch viel schlimmer. Da, da
wollte ich meine Mutter vergiften.«

Ebba fuhr auf.

»Ja, nun bekommst du doch einen Schreck. Es ist noch gar nicht lange
her, vielleicht drei Monate. Ich verliebte mich in einen Oberleutnant,
einen himmlischen Menschen, eigentlich ein bißchen zu alt für mich,
aber wie es eben trifft, gegen die Liebe kann man nicht an. Er merkte,
daß ich in ihn verschossen war, und begann mir Blicke zuzuwerfen,
Blicke -- ich sage dir, die Augen -- ich war ganz futsch. Eines Tages,
als ich wieder auf dem Wege war, um ihm zu begegnen -- denn ich kannte
genau die Stunde seines Ausganges, wenn er mit seinem Freund auf den
Bummel ging -- was sehe ich da? Meine Mutter mit ›ihm‹ Aug’ in Auge
zärtliche Blicke austauschen. Ich stand dicht neben ihnen, sie sahen
mich nicht, ich wollte vorstürzen und ihnen entgegenrufen: ›Hier steht
die große Tochter‹, ich tat es nicht, denn mein Herz krampfte sich
zusammen, und ich konnte keinen Laut hervorbringen. Als ich wieder
atmen konnte, waren sie verschwunden. Zu Haus angelangt, nahm ich die
Schwefelholzschachtel und schnitt von allen Hölzchen die Köpfe ab,
verwahrte sie sorgfältig und tat sie andern Tags der Mutter in den
Morgenkaffee und wartete auf ihren Tod. Ich weiß nicht, ob sie den
Kaffee getrunken hat, sie starb nicht, du weißt es.«

»Pfui, du hast eine häßliche Seele und bist ein böses Kind.« Empörten
Blickes maß Ebba die junge Gestalt. »Schämst du dich nicht?«

»Warum? Kann ich dafür? Damals tat es mir leid, es ist wahr, ich hatte
das Gefühl, schlecht und böse gehandelt zu haben. Aber dann las ich
über die Veranlagung zum Bösen, daß der Mensch gar nicht schlecht
handeln könne, wenn er nicht die Veranlagung dazu in sich trüge. Ich
habe zweimal ein Verbrechen begehen wollen -- da ich es wollen konnte
-- lag der Keim in mir -- ich war nicht schuld, sondern der, der das
Wollen in mich gelegt, trägt die Verantwortung.«

Ebba sprang auf. »Du hast ja nette Ideen in dich aufgenommen. Ich hätte
dich doch für verständiger gehalten. Was schwatzest du für einen Unsinn
zusammen. Wie ein jeder Mensch die Keime des Bösen in sich trägt,
ebenso birgt er auch das Gute in sich. Den Menschen ist die Fähigkeit
gegeben, das Böse zu bekämpfen, das Gute zu fördern. Je mehr das Gute
überwiegt, desto höher steht der Mensch. Veranlagung nennst du, was
verletzte Eitelkeit, was unbeherrschte Wut und Eifersucht ist. Nicht
deine kindische Ansicht über deine Charakterveranlagung empört mich,
nein, daß du in so unehrerbietiger Weise von deiner Mutter sprichst,
das ist es, was mich zornig macht. Wie darfst du das wagen?«

»Ich verstehe dich nicht, Tante, was habe ich denn gesagt? Daß Mama mit
dem Oberleutnant geflirtet hat? Mein Gott, du mußt mich doch nicht für
so dumm halten, daß ich das nicht merken sollte. Oder glaubst du etwa,
es sei nicht wahr?

Tante Ebba, ich glaube, du bist ganz anders als die anderen alle. Du --
du findest es wohl schrecklich, wenn man einen Freund hat? Sieh mal,
Papa hat doch nie Zeit --«

»Um Gottes willen sei still, schweig, ich kann dich nicht anhören --«
Und Ebba preßte die schlanken Hände gegen die Schläfen und stöhnte
qualvoll -- »wie furchtbar, welch Abgrund.«

»Aber, Tante Ebba, wir sind doch moderne Menschen, wir wissen, daß
ein jeder das Recht hat auf Persönlichkeit, daß wir der Veranlagung
Rechnung tragen müssen.«

»So höre endlich auf mit deinem dummen Geschwätz. Du hast dir das Hirn
angefüllt mit Ideen, die für dich noch unverdaulich sind, du sprichst
über Dinge, die -- doch wie kann ich dir Vorwürfe machen, nicht du
trägst die Schuld -- Inge, ich kann es nicht glauben, daß du verdorben
bist, es kann nicht sein, bist du doch das Kind meines Bruders. Ich
will dir etwas sagen, Inge, komm oft zu mir, besuche mich und erzähle
mir all deine Leiden und Freuden, auch von deinen -- Liebschaften
kannst du mir sprechen, ich werde dir keine Vorwürfe machen, nein,
wahrlich nicht, denke, ich sei deine ältere Freundin, ich will
versuchen, mich in deinen Gedanken zurechtzufinden, ich will lernen,
›modern‹, wie du es nanntest, zu denken, vielleicht finden wir uns
zusammen. Ich habe meinen Bruder, deinen Vater, sehr geliebt und möchte
ein Teilchen dieser Liebe auf seine Tochter übertragen. Willst du mir
nicht helfen, Inge?«

Bittend sahen die ernsten Augen zu dem jungen Mädchen hinüber, mit
sanftem Druck legte sie die zarte, weiße Hand auf ihre Schulter.

»Ich glaube kaum, daß wir uns verstehen werden, Tante. Ich bin ein
so durch und durch moderner Mensch und du -- verzeihe mir, wenn ich
es ausspreche -- aber du bist so altmodisch in deinen Ansichten, wie
könntest du da Verständnis für mich haben?«

»Wenn du auch ein moderner Mensch bist, so bist du doch mit vierzehn
Jahren noch kein ganz fertiger Mensch, wenn du mir auch weit über dein
Alter hinaus zu ragen scheinst in mancher Beziehung, so ist doch immer
noch die Möglichkeit vorhanden, daß du deine Ansichten änderst oder
ergänzt.«

»Ändern -- nie.«

»Nun gut. Du änderst dich nicht, aber es wäre ja möglich, daß ich mich
ändern könnte, sieh mal, dein Vater war auch einmal ein ganz unmoderner
Mensch, genau so wie ich -- und heut -- oder ist er auch altmodisch?«

»Papa,« fiel Inge lebhaft ein, »nein, Papa ist ja mein Ideal als Mann.
Das heißt zum Heiraten. Er läßt Mama alles tun und machen, was sie
will, kümmert sich kaum um sie und mich, denn er hat keine Zeit, da
er eine Stellung einnimmt und für uns arbeiten muß. Papa ist ein ganz
moderner Ehemann. Du sagst, er hatte auch Ansichten wie du? Das kann
ich nicht glauben!«

»Und doch ist es wahr.«

»Wenn du es sagst, muß ich es glauben, denn schwindeln tust du nicht.«

Ebba lächelte. »Du siehst, es wäre also Aussicht, auch mich umzumodeln.«

Inge sah sie ungläubig an. »Bei dir wird es viel schwerer sein, ich
glaube, mit dir ist nichts anzufangen nach dieser Richtung. Du scheinst
mir zu verbohrt in deine Ideen, aber besuchen kann ich dich ja doch. Es
ist ja nicht nötig, daß ich dir alles erzähle, ich werde heraussuchen,
was ich für dich passend finde.«

»Du kannst mich ja so nach und nach an alles ›Moderne‹ gewöhnen,
vielleicht werde ich noch moderner als du und erwache eines Morgens
als Übermensch -- das ist ja wohl auch so ein Schlagwort?«

»Längst abgetan, Tante. Wir ganz Modernen wollen gar nicht Übermensch
sein, im Gegenteil, wir wollen unsere kleinen Sünden und Schwächen
haben, das ›Über‹ verpflichtet zu Stärke, das ist uns zu schwierig.«

»Ah, jetzt fange ich an zu verstehen, wie ihr denkt, und ich möchte
dir einen Vorschlag machen. Ich will es versuchen, dich zur Stärke,
zur Überwindung deiner Schwächen zu bringen, und du versuchst es, mich
wankend zu machen und mich zu den Modernen hinüberzuziehen, wir wollen
kämpfen, kämpfen mit offenem Visier, du siehst, ich bin ehrlich; nimmst
du den Kampf an, Inge?«

»Ja, Tante Ebba, ich nehme an. Du bist doch ein famoser Mensch, und
du gefällst mir, trotzdem du unmodern bist. Noch nie hat Mama oder
eine von den andern Müttern so mit mir gesprochen, immer tun sie, als
ob wir Kinder wären, und wissen ganz genau, daß wir es nicht sind,
nicht sein können. Sie sind nicht ehrlich, nicht offen zu uns. Du
kommst und nimmst mich so, wie du mich findest. Du siehst mich als
Kind und schiltst mich aus, du siehst mich als denkenden Menschen und
sprichst mit mir, wie du mit einem Erwachsenen sprichst, glaube mir,
ich bin kein Kind mehr, und ich weiß genau, was ich will, du wirst
sehen, ich bleibe fest und verteidige meine Ansichten. Ich freue mich
jetzt ordentlich darauf, mit dir zu kämpfen. Eigentlich habe ich mich
immer danach gesehnt, mich mit jemand aussprechen zu können. Ich habe
wohl meine Freundin Blanka, aber die findet immer alles richtig, was
ich sage, und das ist langweilig. Ich brauche sogar jemand, der mir
widerspricht, das ist doch viel interessanter, Widerspruch reizt mich
und bestärkt mich erst recht in meinem Willen.«

»Nun, habe ich es dir nicht gleich gesagt, daß wir uns schon
zusammenfinden werden? Ich glaube, in deinem jungen Herzen ist doch ein
Stückchen von der Liebe geborgen, die mein Bruder für mich hegte, und
das will ich mir ausgraben, du böses ganz modernes Mädchen du.«

»Ach, Tante, sentimental ist nicht modern.«

»Ich bin ja auch noch nicht modern, ich will es ja erst werden.«

»Ich weiß eigentlich nicht -- du -- ich komme bald zu dir, kann ich
auch mal Blanka mitbringen?«

»Gewiß kannst du das, aber nicht das erstemal, ein bißchen müssen wir
uns noch allein aussprechen, und nun bestelle deiner Mutter viele Grüße
und sage ihr, daß ich mich recht gut mit ihrer Tochter unterhalten
habe.« -- -- --

            ----------------------------------------------

Dieses also, dem Sumpf der Großstadt zuschwebende Geschöpf war
ihre Nichte, die Tochter ihres Bruders! War es möglich, sie noch
zurückzuhalten? Oder war es vielleicht schon zu spät?

Ebba schauderte.

Hatten der Vater, die Mutter jemals in die Seele ihres Kindes geschaut?

Die Mutter, welche ihr Leben genoß, die sich ledig wähnte ihrer Mutter-
und Erzieherpflichten, weil ihr im Kultus ihrer Begehrlichkeiten keine
Zeit für die eigene Familie übrigblieb? Oder der Vater, welcher im
Herbeischaffen des harten, kalten Geldes vergaß, den Seinen Wärme und
Liebe zu spenden? Der zu schwach war, die Zügel zu ergreifen, um ein
strenges Regiment zu führen?

Du, Lukas, bist der Schuldige. An dir war es, deinem Weibe Einhalt
zu gebieten auf dem Wege, den sie betreten. Du hast sie zur Mutter
gemacht, du mußtest auch darauf achten, daß sie ihre Mutterpflichten
ausübte.

Arme verwilderte Seele! Wo war die Hand, die dich geleiten sollte? Wo
das Mutterherz, das dich liebevoll behütete vor Schlacken und Schmutz,
die dein junges Gemüt vergiften mußten?

Unbehütet, ungeleitet griffen deine jungen Hände nach leuchtenden
Blüten, nach schillerndem Kraut, welches dir entgegenwucherte. Wahllos
fülltest du deine Hände, ohne zu wissen, daß Gift aus den Blüten drang,
daß Unkraut deine Hände füllte. Denn dein Weg war voll davon, da der
Gärtner, pflichtvergessen, nicht gejätet hatte.

                                *  *  *

»Weißt du, Tante Ebba, ich habe Papa einmal zu Weihnachten einen Spruch
geschenkt: ›Mag draußen die Welt auch ihr Wesen treiben, mein Heim
soll meine Ruhestatt bleiben.‹ -- Den Spruch, auf schönem Holzbrett
gezeichnet, habe ich gekauft und dann fein säuberlich die Buchstaben
ausgepinselt. Ich hatte nicht über den Sinn der Worte nachgedacht. Ich
fand nur das Brett sehr hübsch aussehend und war sehr ärgerlich, daß
Papa, statt es aufzuhängen, es seufzend in seinen Schreibtisch schloß,
ich habe nie mehr daran gedacht. Aber heut, hier bei dir kommt mir die
Erinnerung an diesen Spruch, und ich verstehe, warum Papa ihn in seine
Schublade getan. Tante Ebba, wir haben wohl ein Zuhause, aber wir haben
kein Heim.«

»Wie meinst du das, Inge?«

»Daß es bei uns keine Ruhe, keine Gemütlichkeit gibt. Glaubst du denn,
daß es möglich sei, mit den Eltern auch nur eine halbe Stunde allein
zusammen zu sitzen und zu plaudern? Ausgeschlossen! Entweder es ist
Besuch da, oder es klingelt das Telephon, oder Papa, der sich kaum
gesetzt hat, springt auf: ›Kinder, ich hab’ ja keine Zeit, mein Gott,
ich hätte ja beinah meine Konferenz vergessen.‹ Ich habe das ja alles
gar nicht empfunden, aber jetzt, seit ich dich besuche -- ach, Tante
Ebba, ich wünschte, du wärest nicht zu uns gekommen!«

»Kommst du gern zu mir?«

»In acht Tagen ist es heute das dritte Mal, daß ich bei dir bin, da
bedarf es wohl keiner Antwort. Aber ich komme jetzt nicht sobald wieder
-- nein, ich will nicht.«

»Und warum nicht?«

»Weil -- nun ja -- weil du etwas in mir erweckt hast -- etwas, nach
dem ich mich sehne und das ich doch nicht haben kann -- und auch nicht
haben will -- nein, wir sind eben moderne Menschen und brauchen keine
Liebe -- Gefühlsduselei is Blech --«

Ärgerlich setzte sie ihre Kaffeetasse nieder, griff nach einem Stück
Kirschkuchen und häufte sich einen Berg Schlagsahne auf ihren Teller.
»Is auch so ’n Lockmittel von dir, Kirschtorte und Schlagsahne. Könnte
ich mich tatsächlich totessen. Is schon das vierte Stück, wenn Mama
übrigens wüßte, daß ich hier so oft herausflitze, die würde sich
wundern.«

»So hast du nicht davon gesprochen, daß du bei mir gewesen bist?«

»Als ich das erstemal hier war, habe ich es erzählt und auch
pflichtschuldigst deine Grüße bestellt. Aber sie hörte gar nicht hin.
Sie hatte sich gerade in ihrem Klub geärgert, war wieder mal große
Uneinigkeit zwischen den Vorstandsdamen, und das müssen wir dann
ausbaden. Papa aber freute sich und sagte, ich solle recht oft zu dir
gehen.«

»So kümmert sich deine Mutter gar nicht um deine Ausgänge?«

»I bewahre! Dazu hat sie gar keine Zeit. Ist auch sehr klug von ihr,
denn ich ließe mich doch nicht kontrollieren. Du vergißt immer, Tante,
daß die moderne Erziehung der Jugend die Freiheit nicht beschneidet.
Wir sollen lernen, für uns selbst einzustehen.«

»Ich vergesse immer, daß Mutterliebe und Kinderliebe ein überwundener
Standpunkt sind.«

»Vielleicht wäre es anders, Tante Ebba, wenn die Mütter so wären, wie
du bist.«

»Ja, um des Himmels willen, glaubst du denn wirklich, daß alle Mütter
so sind wie -- --«

»Wie meine Mutter -- sprich es ruhig aus. Ja, das glaube ich, denn ich
kenne keine anderen.

Du mußt wissen, Tante, daß keine von all den Müttern als eine Mutter
gelten will. Fange doch nur mal mit dem Äußeren an. Immer jung, immer
schick, man darf ihnen nie die großen Kinder ansehen, sie machen es uns
doch selbst unmöglich, Ehrfurcht vor ihnen zu haben. Ehrfurcht haben
vor dem Alter ist eine Beleidigung, denn es gibt kein Alter. Alle sind
sie und bleiben sie jung.

Weißt du, ich habe schon oft zu Blanka gesagt, ich verstehe gar nicht,
warum die modernen Menschen eigentlich Kinder kriegen, wenn sie ihnen
doch so lästig sind. Ich zum Beispiel möchte keine Kinder haben, und
schon gar eine Tochter! Niemals!«

»Wenn nun alle so dächten wie du, dann würde ja die Welt entvölkert.«

»Das könnte mir gleich sein, wenn ich nur meine Bequemlichkeit hätte!
Aber alle denken ja nicht so, das weiß ich wohl. Du, glaube ich,
würdest gern eine Tochter haben.«

»Ich habe stets gewünscht, eine Tochter zu besitzen, aber jetzt --«

»Seit du mich kennst,« fiel Inge lachend ein, »fürchtest du dich.
Tantchen mein, weißt du denn nicht, daß deine Tochter nie so sein
könnte, wie ich bin, wie Blanka, wie all meine andern Freundinnen es
sind? Du, du wärest eben eine wirkliche Mutter, mit Ehrfurcht und
Respekt und wie die schönen Dinge alle heißen, ganz, ganz anders.
Würdest du in Vereine rennen und zu Hause alles gehen lassen, wie es
geht? Würdest du dir mit Herren Rendezvous geben? Würdest du alle
vier Wochen zum Friseur laufen und dich auffärben lassen? Na, deine
aufgerissenen Augen sprechen Bände. Siehste, wo bleibt da der Respekt,
die Ehrfurcht?

Nee, Tante, überwundener Standpunkt. Schwächen haben wir ja alle,
unsere Eltern eben auch, schadet nichts, wenn wir Kinder sie kennen,
bringt uns ein bißchen in Vorteil. Ein Glück, daß du nicht meine Mutter
bist, Tante Ebba.«

»So spricht dein Mund, dein Herz aber denkt anders, Inge.«

»Pah -- Herz! Wenn man keins hat, legst du eins in einen hinein. Aber
bei mir nich zu machen, ich lasse mich nicht rumkriegen.«

»Warum willst du nicht zugeben, daß du Gemüt hast?«

»Weil ich keins habe, keins haben will. Und nun will ich machen, daß
ich davonkomme, sonst entdeckst du wirklich noch sogenannte gute
Eigenschaften an mir.«

»Wirst du bald wiederkommen?«

»Nee, vorläufig nich, is mir zu gefährlich! Du entdeckst Herzen, das is
nich mein Fall.«

»Du bist ein mit allerhand krausem Zeug angefüllter Kindskopf, Inge, es
ist schade um dich. Aber möglich, daß du recht hast, mit Egoismus und
Gefühllosigkeit kommt man vielleicht weiter, bleibe du nur vor allen
Dingen modern.«

»Spottest du über mich?«

»Nicht im geringsten, ich versuche es, mich in deine Ideen
hineinzufinden.

Daß du nicht sobald wiederkommen willst, tut mir übrigens leid, ich
wollte dich gern mit Fräulein Wunsch bekanntmachen.«

»Lotte Wunsch, der Bildhauerin?«

»Eben der!«

»Die ist mir schrecklich interessant, Tante, natürlich komme ich.
Klingle mich man an, is ja auch Blödsinn, du kannst in mir nich
entdecken, was nich is, und bekehren lasse ich mich nich.«

                                *  *  *

In dichten weichen Flocken war der Schnee den ganzen Tag über zur
Erde gefallen, Häuser, Bäume, Straßenlaternen mit seinem schneeigen
Weiß bedeckend. Unaufhaltsam war das Geriesel heruntergestäubt, zum
Jubel der Kinder, zur Freude der Erwachsenen, nun hatte man doch einen
richtigen Weihnachtsabend.

Berlin im Schnee. Das war etwas Seltenes. Der Verkehr stockte. Die
elektrischen Bahnen mußten den Betrieb teilweise einstellen. Die Wagen
und Autodroschken wurden bestürmt und konnten sich nur mit Mühe den Weg
bahnen durch die dichte weiße Masse.

Die hastigen Großstadtmenschen schimpften, daß sie nicht schnell genug
vorwärtskämen, aber dem Schimpfen war ein Unterton beigelegt. Freude
und Lust an dem Neuen, Ungewohnten hatten sie alle. Hastig stürmten sie
vorwärts, die frische klare Winterluft in tiefen Zügen einatmend.

In der stillen Margaretenstraße stand eine Frau am Fenster und schaute
auf die tanzenden und glitzernden Flocken. Unaufhörlich fiel der
Schnee voll Gelassenheit und sehr dicht vom Himmel. Eine wunderbare
Lautlosigkeit. Wenn ein Windhauch durch die Bäume ging, der die Zweige
leicht anblies, rieselte weiße Streu herab. Die einsame Frau öffnete
das Fenster, streckte die Hände hinaus, und leicht und locker fielen
die glitzernden Sterne hinein. Mehr, immer mehr. Jetzt bildeten sie
schon eine dichte Masse, und prickelnde Kühle durchdrang die Haut.
Da kam ein Hauch und entführte die schimmernde Pracht. Mit leeren
Händen stand sie da. Langsam rollten zwei Tränen über ihre Wangen. Mit
ausgestreckten, leeren Händen und weiß nicht, ob das Schicksal gewillt
ist, jemals wieder etwas hineinzulegen, was wert ist, festgehalten zu
werden.

Von der nahen Matthäikirche läuteten soeben die Glocken den Heiligen
Abend ein.

Man feierte das Andenken an die Geburt eines Menschensohnes, der durch
seine Liebe zu den Menschen ein Gottessohn geworden.

Liebe! Ihr ganzes Herz war voll davon. Gern wollte sie schenken, in
verschwenderischer Fülle ausschütten -- aber wo -- wohin damit? Wer
wollte ihre Liebe? Wer fragte danach?

Es war ein Gefühl von Vereinsamung und grenzenloser Verlassenheit
in ihr, wenn sie einen Menschen gewußt hätte, an den sie sich hätte
anklammern können, der ihr half, ihrem Leben Inhalt zu geben. Niemand
war da, den sie mit der Fülle ihrer Liebe überschütten dürfte, der nach
ihr verlangte und dem sie etwas sein konnte, niemand.

»Tante Ebba!«

Sie fuhr herum.

»Inge, du?«

»Tante Ebba, ich wollte dir helfen, den Baum putzen, denn du -- du hast
doch heute abend Besuch, und weil du heute beim Baumschmücken so allein
--« Hastig waren die Worte über ihre Lippen gekommen, jetzt stockte
sie und sah unsicher zu Ebba empor.

»Und zu Haus? Wird man dich nicht zu Haus vermissen?«

Inge machte eine wegwerfende Handbewegung. »Merkt kein Mensch, daß ich
nicht da bin. Um neun Uhr offizielle Bescherung -- um zehn Uhr großes
Weihnachtsessen -- zwanzig Menschen. Baum habe ich schon am Vormittag
geschmückt. Tante -- bist du böse, daß ich gekommen bin? Habe ich dich
gestört?«

»Böse? Du dummes, dummes Mädchen du, keine größere Freude hättest du
mir antun können.« Fest zog sie das junge Mädchen in ihre Arme und
drückte einen Kuß auf die frischen kalten Lippen.

»Puh, wie naß du bist! Mein Gott, du bist der reine Sturzbach. Bist
wohl ohne Schirm gegangen?«

»Natürlich, was denkst du! Schnee, da geht man drunter weg, is doch
fein. Hab’ mich draußen schon geschüttelt wie so’n nasser Köter, na,
etwas bleibt schon hängen, macht nichts, alter Mantel, aber nun laß uns
rasch den Baum schmücken, denn ein bißchen möchte ich gern still mit
dir darunter sitzen. Ich möchte mal eine richtige stille und gemütliche
Weihnachtsstunde haben.«

»Zum Baumschmücken kommst du zu spät, Inge. Auch mein Bäumchen steht
schon schmuckbeladen und harrt nur noch, daß ich ihn im Kerzenschimmer
erstrahlen lasse. Laß es dich nicht verdrießen, um so länger können
wir bei seinem Schein zusammensitzen. Denn jetzt werden wir zwei
zusammen das Weihnachtsfest feiern. Rasch, trage deine nassen Sachen
hinaus, inzwischen werde ich für dich die Lichter entzünden, für dich
ganz allein, Inge, du sollst deinen Weihnachtsabend haben hier bei
mir.« -- -- --

Ebba und Inge standen sich unter dem im Silberschmuck und Kerzenschein
schimmernden Baum gegenüber. Einen großen Strauß Christrosen hielt Inge
der Tante entgegen. Strahlend schauten die jungen Augen zu ihr empor.

»Das ist alles, was ich dir geben kann, Tante Ebba. Diese schönen,
ernsten und stillen Blüten sind meine Weihnachtsgabe für dich.«

»Viel, viel mehr gibst du mir mit diesen Blüten, Inge. Ich war allein,
mutterseelenallein, ich fühlte mich so einsam und verlassen und
sehnte mich nach ein bißchen Liebe. Ich sehnte mich nach einem warmen
fühlenden Herzen, da tratest du in das Zimmer, -- Inge, schenkst du mir
mit diesen Blüten nicht auch ein wenig Liebe?«

Da umschlangen zwei weiche Arme ihren Hals, und eine zarte Wange
schmiegte sich an die ihre, und zwei junge Lippen flüsterten:

»Ich wußte, daß du einsam sein würdest, und darum kam ich. Und es sieht
doch beinahe so aus, als ob du mich erwartet hättest. All die schönen
Bücher sind für mich? Der Kamm, du, der ist ja echt Schildpatt, soll
ich den wirklich haben? Mama hat ja nicht mal nen echten! Nein, du bist
zu lieb, Tante, mich so zu beschenken!«

»Kind, ich habe ja niemand sonst, den ich beschenken kann.«

»Aber Tante Ebba, da fällt mir ein, ich habe ja doch noch etwas
für dich, das hätte ich beinahe vergessen! Steckt noch in meiner
Manteltasche, warte einen Augenblick.«

Hastig lief sie aus dem Zimmer, um sogleich wieder mit einem in
feuchtes Zeitungspapier eingewickelten Gegenstand zurückzukehren.

»Du schaust verwundert. Ja, vertrauenerweckend sieht das ja nun gerade
nicht aus. Zum Unglück ist das Papier auch noch feucht geworden, und
die ganze Chose wird wohl ziemlich feucht geworden sein.«

»Das tut nichts, Inge. Wenn nur der Inhalt nicht verdorben ist.«

Inge sah übermütig zur Tante empor. »Ich hab’ ein bißchen Angst, es
fühlt sich ganz weich an und war doch ganz hart. Und weißt du, es
war auch gar nicht meine Absicht, es dir zu schenken. Es kam ganz
zufällig. An der Potsdamer Brücke brüllt mich so ’n kleiner Knirps an:
›Freileinchen, koofen Se mir mein letztes Herz ab, tun Se’s doch, denn
kann ick bei Muttan jehn, sehn Se, so scheen rot, und een Herz kann
doch jeder brauchen und bloß zehn Fennje.‹

»Na, du weißt ja, für Herzen habe ich nun gerade nichts übrig, aber
der arme Bengel tat mir leid, und das Herz leuchtete mir so herrlich
entgegen, und ich dachte, wenn ich auch keins gebrauche, so könnte ich
es dir doch mitbringen. Ich zog also meine Börse und gab dem Jungen
fünfzig Pfennig dafür. Der Mund blieb ihm vor Staunen offen stehen,
seine Stupsnase ragte in die Luft, dann stieß er ein Indianergeheul
aus, drückte mir das eingewickelte Herz in die Hand, schwenkte seinen
Korb und lief wie besessen davon.«

Inge hatte das nasse Papier entfernt und hielt in ihren Händen ein mit
rotem Zucker übergossenes Herz, auf dem die schönen Worte prangten: Ich
liebe dich.

»Willst du es haben, Tante Ebba? Aber sieh, es ist wirklich ganz weich
geworden, ich glaube, wir müssen es erst trocknen, damit es sich wieder
verhärtet.«

Lächelnd nahm Ebba das Herz und legte es behutsam auf einen Bogen
Seidenpapier. »Unter meinen Händen soll es sich wieder härten, bliebe
es bei dir und hätte keine Pflege, würde es sich ganz verhärten, könnte
Risse und scharfe Kanten bekommen, so daß es Gefahr liefe, in Stücke zu
springen. Ich will es hüten und pflegen, wenn du es mir lassen willst.«

»Natürlich will ich es dir lassen, denn ich -- ich weiß ja doch nichts
damit anzufangen.« Und lachend wirbelte sie Ebba im Zimmer umher, dann
plötzlich einhaltend: »Nun aber setzen wir uns ganz still unter den
Baum und schauen in den Kerzenschimmer.«

Lange saßen sie schweigend Hand in Hand, dann flüsterten die jungen
Lippen: »Wenn du meine Mutter wärest!«

»Ich will es sein, Inge.«

»Darf ich Mutter zu dir sagen?«

Schweigend nickte Ebba. Sprechen konnte sie nicht, denn ein Schluchzen
saß ihr in der Kehle. Ihr wochenlanges Bemühen ward von Erfolg gekrönt.
Es war ihr gelungen, diese junge Seele von Schmutz und Schlacken zu
befreien, den Kern, der von Häßlichem überwuchert, an die Oberfläche zu
bringen. Nun lag dieses junge Herz in ihren Händen, an ihr war es, es
zu hüten und zu pflegen, es zu bewahren vor schlechten Einflüssen.

Eine junge Seele hatte sich ihr zu eigen gegeben, ein Mensch war da,
der sie brauchte, dem sie etwas sein konnte.

Weihnachten, das Geburtsfest der Liebe, es spendete ihr der Gaben
schönste, es gab und forderte Liebe. --

            ----------------------------------------------

»Jeder Mensch trägt sein Schicksal in sich.«

»So glauben Sie an eine Vorbestimmung?«

»Nicht in dem Sinne des Sichbeugens. Unser Schicksal ist uns
vorgezeichnet, es zu erfüllen -- die Mittel und Wege dazu sind
uns anheimgegeben. Wir lenken unser Schicksal auf Grund unserer
Charakterbildung. Wir selbst sind verantwortlich für unser Leben.«

»Eine schwere Verantwortung wäre uns da aufgebürdet, Herr Gehring, und
nicht viele würden bestehen.«

»Schwer wohl nur in dem Sinne, daß man sich seiner Verantwortung nicht
bewußt wäre.«

»Ich empfinde umgekehrt! Das Bewußtsein meiner eigenen
Verantwortlichkeit könnte mich zu Boden drücken.«

»Sie sagen wohlweislich: Könnte, Fräulein Wunsch, eine Natur wie die
Ihrige kämpft mit dem Leben und zwingt das Schicksal.«

Lottes Augen flammten auf. »Sie haben recht, ich habe gekämpft,
und ich werde weiter kämpfen. Ich werde das Schicksal zwingen nach
meinem Willen, bin ich verantwortlich, so könnte man mich auch zur
Verantwortung ziehen, etwas versäumt zu haben. Das darf nicht sein. Ich
selbst bin mein Schicksal -- Sie haben recht, Gehring.«

»Nein, nein, sagen Sie das nicht! Ich selbst sollte verantwortlich sein
für mein verpfuschtes Leben? Das wäre eine Vorstellung, die mich zu
Tode peinigen könnte.« Und Ebbas zarte weiße Hand strich nervös über
die Stirn.

»Gnädige Frau, Sie sprechen von einem verpfuschten Leben und stehen
erst im Anfang Ihres bewußten Lebensweges. Wie können Sie wissen,
ob nicht gerade dies, das Sie verpfuscht nennen, für Ihr weiteres
Leben notwendig war, ob nicht gerade dies Sie auf den Pfad gebracht
hat, der zum Zweck und Ziel Ihres Lebens Ihnen bestimmt ist. Wenn
man so jung ist wie Sie, darf man nicht von einem verfehlten oder
verpfuschten Leben sprechen. Ihr Leben zu erfüllen steht Ihnen noch
bevor. Warten Sie noch zwanzig Jahre, und dann überschauen Sie Ihren
Lebensweg. Vielleicht empfinden Sie dann, daß Ihnen der Kampf mit Leid
und Schmerzen zum Segen geworden und daß Sie keinen dieser Leidenstage
aus Ihrem Leben streichen möchten, denn aus diesem Leid erwuchs Ihnen
vielleicht, was Ihr Leben reich und glücklich machte. Hören Sie
folgende Verse von Lulu von Strauß und Torney:

    Sieh, auch der Schmerz ist unermeßlich reich!
    Und keinen möcht ich missen und vergessen
    Der Schmerzenstage, die mein Fuß durchmessen.
    Sie waren schwarzen Marmorstufen gleich.
    Stumm bin ich über sie hinweggeschritten,
    Hoch türmten sich die Stufen Stein auf Stein,
    Und meine Tränen, die mir niederglitten,
    Verlöschten immer vor den müden Schritten
    Des dunklen Marmors edlen Spiegelschein.

    Heut aber weiß ich, da ich rückwärts sehe:
    Der Zug der Stufen führte mich zur Höhe!
    Mir will das Herz in ernstem Dank sich weiten,
    Und auf der schwarzen Marmorstufen Glanz
    Leg ich als Opfer vor dem Weiterschreiten
    Noch einen vollen roten Rosenkranz.«

»Das ist schön gesagt, und ich danke Ihnen. Zweimal bin ich heute am
Heiligen Abend wirklich beschenkt worden. Vor wenigen Stunden schenkte
sich mir ein Kinderherz, um das ich ehrlich und eindringlich geworben,
und jetzt zeigen Sie mir den Weg, mir meine Schmerzenstage nutzbar zu
machen. Das allein schon braucht mich nicht gereuen zu lassen, daß
ich mein Lebensschifflein nach hier, nach der großen kalten Weltstadt
Berlin gelenkt habe.«

»Fingen Sie schon an zu bereuen, Ebba?«

»Ja, Lotte. Sie wissen, den Anschluß an meine Familie konnte ich nicht
finden. Die Menschen sind gleichgültig und egoistisch, und alles um
mich herum stößt mich ab. Ich werde nie recht heimisch werden können?«

»Und wir? Haben Sie nicht uns?«

»Daß ich Sie, Lotte, und auch Sie, Herr Gehring, gefunden habe und Sie
zu meinen Freunden rechnen darf, das läßt mich an meinen glücklichen
Stern glauben. Und nun lassen Sie mich danken, Ihnen beiden danken, daß
Sie gekommen sind, mit mir den Weihnachtsabend zu verleben und mich
mein Alleinsein vergessen zu machen.«

Sie hob das bis zum Rand mit dem perlenden Sekt gefüllte Glas und stieß
an die ihr entgegengehaltenen Kelche. Schweigend tranken sie den edlen
Saft.

»Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen mehr Dank schulde? Mich, den einsamen
Junggesellen, dulden Sie hier in der Sphäre Ihres heimischen Herdes
und schaffen mir einen rechten und wahren Weihnachtsabend.«

»Na, und ich erst! Glauben Sie, es wäre mir gemütlich gewesen, die
offizielle Feier in der Pension mitzumachen oder allein in meinem
Zimmer am Kamin zu hocken und meinen Punsch zu schlürfen? Oder in
meinem Atelier den weißen Marmorstatuen zuzutrinken? Also, nach
reiflicher Überlegung -- nicht wahr, Gehring -- nicht Sie -- sondern
wir haben zu danken.«

»Lotte, als ob Sie es nicht auch verständen, es gemütlich zu machen.«

»Das schon. Gewiß, wir haben oft nette und trauliche Stunden auch
bei mir gehabt. Aber Weihnachten -- Weihnachten sollte man immer
im gemütlichen Heim, nicht im Pensionszimmer, nicht im Restaurant
verbringen. Weihnachten ist ein Familienfest und sollte nur in der
Familie oder in ganz intimem kleinem Kreis gefeiert werden.«

»So denke ich auch. Und doch, ist es nicht sonderbar, Familien, die
still und glücklich dieses herrliche Fest in dem Kreise der Ihrigen
verbringen können, laden sich fremde Menschen ein oder gehen gar zu
einem üppigen Weihnachtsessen in ein feines Weinrestaurant. Wir, die
wir keine Familie haben, tun uns zusammen und suchen uns gegenseitig
das Familienglück zu ersetzen.«

»Ja, es geht wunderbar zu in der Welt. Das ist ja vielfach das
Mißgeschick unseres Lebens, daß wir nie das, was wir besitzen, richtig
einschätzen, nie das Glück mit Bewußtsein uns zur Seite sehen, es immer
erst erkennen, wenn es uns verlassen will.«

Friedvoll und ruhig brannten die Kerzen. Der Geruch von Wachs und
Tanne schwebte im Zimmer. Schweigend saßen die drei und schauten auf
das durch die ausstrahlende Wärme leise zitternde silberne Engelshaar.
Der Geruch und die flimmernden Flämmchen spannen sie ein. Sie waren
entrückt und saßen in einer Sphäre vollkommener Weltabgeschiedenheit.
Gehrings Blicke ruhten auf Lotte. Ihr klares offenes Gesicht, in
welchem die großen forschenden Augen die herrschende Stellung
einnahmen, hatte sie nachdenklich in die auf den Armstuhl gestützte
Rechte gelegt. Ihre Augen waren sehr ausdrucksvoll. Zuweilen blitzte
ein gütiger, oft ein zorniger Strahl darin auf. Die Reife der
Lebensanschauung gaben ihrem Gesicht etwas überaus Anziehendes.

Sie schien die Blicke Gehrings zu fühlen. Ruhig erhob sie den Blick,
schaute und sah ihm geradeswegs in die Augen. Und ein Strom gewaltiger
Freude durchzitterte ihr Herz und schwoll zum gewaltigen Meer. Ihr
lange umkrampftes Herz konnte sich wieder dehnen, die Kette war ihr von
den Gliedern gefallen, wie ein Feuer, wie eine Gewitterwolke erhob die
Liebe sich.

Fest wurzelten die Blicke ineinander. Groß und dunkel glänzten ihm
die Augen entgegen, und sie strahlten und flammten, als bräche ein
sprühendes, geheimes Innenleben unaufhaltsam aus ihnen hervor. Und
sein Blut kam in Wallung. Oft schon hatte er diese Frau getroffen,
und noch nie war sie ihm begehrenswert erschienen. Ihre Klugheit und
Lebenserfahrung hatte er geschätzt, stets war es ihm ein Vergnügen
gewesen, mit ihr eine Unterhaltung zu pflegen, und oft waren sie
sich im Meinungsaustausch begegnet. Aber nie, niemals war ein Funke
aufgesprungen, aus dem hätte ein Feuer entstehen können. Und heut?
Heut war er da, dieser Funke, es schien, als bedürfe es nur eines
leisen Anhauches, und er wollte aufglimmen und anschwellen zu lodernder
Flamme. Was war geschehen?

Und die Blicke wurzelten ineinander, und seine Lippen flüsterten in die
Stille hinein: »Was haben Sie?«

»Den Willen zum Glück.«

Und die Augen ließen voneinander.

Ebba war zusammengezuckt und sprach: »Das sagen Sie so laut, Lotte? Ich
denke, vom Glücklichsein träumt man nur!«

»Nein, ich will nicht nur träumen, ich will es erjagen und will es
halten, fest, ganz fest, und wäre es auch nur ein ganz, ganz kleines
Weilchen -- das Glück.«

                                *  *  *

Lotte hatte angestrengt den ganzen Vormittag gearbeitet. Jetzt legte
sie die Modellierstäbchen zur Seite, griff zu den nassen Tüchern und
umhüllte ihr Werk. Ermüdet warf sie sich in einen tiefen Sessel und gab
sich der Ruhe hin. Ach, es tat so wohl, den Nerven eine kurze Schonung
zu gönnen.

Rasch war sie mit ihrem Werk vorangekommen. Damals, als der Gedanke
in ihr aufsprang, hatte sie in kurzer Zeit die Skizzen entworfen, und
jetzt war sie daran, ihr Werk auszuführen. Sie fühlte, wie mit jedem
Tag die Arbeit sie mehr und mehr befriedigte, wie sie hineinwuchs in
ihr Werk. Wie Gestalten und Gedanken sich ihr entgegendrängten, um
festgehalten zu werden, und wie es wuchs, gigantisch, groß, weit über
das, was sie gewollt, hinaus. Sie war sich ihres Talentes bewußt, die
Anerkennung ihres Könnens berechtigte sie, daran zu glauben. Aber dies
-- dies konnte sie noch emporwachsen lassen, dies konnte etwas werden,
was auf die Knie zwang.

Sie fröstelte. Das Feuer im Ofen war heruntergebrannt. Im Eifer der
Arbeit hatte sie vergessen, Kohlen aufzuschütten. Oben auf den Dächern
lag die klare, strahlende Wintersonne. Ihre tief unten gelegenen
Fenster hatten keinen Anteil daran.

Sonne! Wer dich halten könnte und sich in deine Strahlen hüllen dürfte.
War es ein unbilliges Verlangen, im Sommer des Lebens sich zu sehnen
nach weichen, warmen Sonnenstrahlen?

Sie schloß die Augen. Und nun war sie eingehüllt in weiche, warme
Strahlen, und aus den Strahlen leuchteten ihr liebeverlangend zwei
Augen entgegen, zwei Arme umfingen sie zärtlich und nahmen sie sanft an
ein liebeheischendes Herz.

Da sprang sie auf, reckte die Arme empor und jubelte: »Ach du, ach du,
kommst du dennoch?«

Nicht dem Herbst entgegengehen müssen, ohne den Frühling und Sommer
genossen zu haben!

Wird es kommen, das Glück? Ihr Weibesglück? -- -- Sie hatten sich nicht
wiedergesehen seit dem Weihnachtsabend. Schweigend waren sie durch die
stille, weiße Weihnachtsnacht gegangen. Einmal war er stehengeblieben
und hatte gesagt: »Heut sehe ich Sie anders als sonst, Fräulein
Wunsch.« »Ich weiß es.« Und er hatte ihr die Hand entgegengestreckt:
»Geben Sie mir die Hand und lassen Sie uns wie Kinder nach Hause
gehen.« -- Nach Hause -- und Hand in Hand, schweigend, waren sie durch
die Nacht gegangen.

Und sie wußte nun, daß sie ihn liebte, liebte mit all der
aufgespeicherten Zärtlichkeit, mit dem nach Liebe und Glück
verlangenden Herzen.

»Ach du, ach du, liebst du mich?«

Wer die Spannkraft des Wünschens und festen Wollens hat, der hat die
Erfüllung schon in sich. Es ist in dem Menschen oft eine Intensivität
des Wollens und Wünschens, der das Schicksal meist nicht widerstehen
kann.

Das Blut rauschte ihr in den Ohren, es war noch jung, dieses Blut, noch
so unverbraucht! Und so voller Sehnsucht und Glückshunger! Schaffen ist
Schöpferfreude. Zur Freude gehört die Liebe. Ein einziger Mensch muß
das Echo der Welt sein. Ein einziger Mensch, der nur ihr gehörte!

                                *  *  *

»Bitte, meine gnädige Frau, wer ist diese vornehme, auffallend schöne
Erscheinung dort am Kamin?«

Der junge Gardeleutnant stand, das Monokel im Auge, vor Thea Westphal.

»Das ist ein aufgehender Stern an unserm Konzerthimmel, mein lieber
Herr von Zedlitz, eine angehende Konzertsängerin. Wird heut bei mir
ihr erstes kleines Debüt haben. Ich bin überzeugt, sie wird Karriere
machen.«

»Mit dieser Erscheinung ohne Zweifel.«

»Mit dieser Bemerkung dürften sie sich bei der Dame nicht gut
einführen, Herr von Zedlitz. Sie scheinen nicht zu wissen, daß Künstler
ihre Karriere nur ihrer Kunst zu verdanken wünschen -- wenigstens
offiziell.«

»Pardon, Gnädigste, ich bin zwar gänzlich unmusikalisch,
nichtsdestoweniger zweifle ich keinen Augenblick, daß das Talent der
Dame der äußeren Erscheinung entspricht. Einfach fabelhaft. Und der
Name, wenn ich bitten darf?«

»Gerda von Wangenheim.«

»Wangenheim? Mein Vater kannte einen Oberstleutnant von Wangenheim in
einem ostpreußischen Nest, dicht an der russischen Grenze. Könnte --«

»Kann wohl stimmen. Ihr Vater ist Oberstleutnant, und sie kommt aus
Ostpreußen.«

Er pfiff leise durch die Zähne. »Feudale alte Familie. Und Sie sagten,
sie geht zur Bühne?«

»Sie will Konzertsängerin werden.«

»Nun, jedenfalls Sängerin von Beruf. Darf ich Sie bitten, mich der Dame
vorzustellen?«

Gerda, die, von einem Kreis von Herren umgeben, lässig am Kamin stand,
neigte flüchtig das blonde Haupt, als Thea ihr den jungen Zedlitz
zuführte.

Thea war stehengeblieben. Die Gegenüberstellung dieser beiden
Frauengestalten wirkte als Folie und gegenseitige Unterstreichung. Die
pikante, prickelnde und soubrettenhafte Schönheit Theas machte die
kühle und vornehme Atmosphäre Gerdas noch wirkungsvoller. Winkelmann,
der neben Gerda am Kamin lehnte, ließ seine Blicke zwischen den beiden
Frauengestalten wandern. Er, der Frauenkenner, stellte sich vor eine
Wahl. Bei dieser -- Pikanterie, toller Leichtsinn, lockende Genußsucht.
Bei jener -- kühle Gelassenheit, Eiseskälte, die Feuerströme decken
konnte. Ihn reizten Berge von Eis und Schnee, durch die er seinen Weg
finden wollte, um Glut und Leidenschaft anzufachen zu siedender Flamme.

Thea sah prüfend auf Gerda. Wie modern war sie heute gekleidet. Ein
mattblaues Chiffonkleid, auf veilchenfarbener Seide gearbeitet,
umspannte eng den schlanken Körper. Die goldfarbenen Haare, welche kein
Hut verdeckte, waren leicht gewellt und am Hinterkopf lose von einem
Kamm gehalten. Kein Schmuck beeinträchtigte die zarte, opalfarbene
Haut. Ihr Gesicht, welches für gewöhnlich blaß, war heute übergossen
von einem zarten rosa Hauch, ein Zeichen der Erregung, hervorgerufen
durch ihr erstes öffentliches Singen.

Winkelmann sah sie an und flüsterte: »Haben Sie Lampenfieber?«

»Bitte, sprechen Sie nicht davon.«

Lotte Wunsch näherte sich der Gruppe.

»Ah, da ist ja unsere große Bildhauerin! Gnädiges Fräulein, man erzählt
sich Wunderdinge von einem furchtbaren Scheusal, welches Sie jetzt
unter den Händen haben. Bitte, verraten Sie uns Ihr neuestes Werk.«

»Fällt mir gar nicht ein. Ich liebe es nicht, von meinen Arbeiten
zu sprechen, ehe sie vollendet sind. Weiß ich doch nicht, ob ich
sie vollenden werde. Ob nicht Umstände oder Geschehnisse oder auch
Unvermögen mich hindern, mein Werk zu Ende zu führen.«

»Aber etwas ganz scheußlich Fratzenhaftes soll es doch sein,« beharrte
ein schlanker, grünbleich aussehender Jüngling.

»Ich möchte nur wissen, wo in aller Welt Sie zu einem solchen
Scheusal die Modelle hernehmen. Denn ein Modell kann wohl nicht alle
Scheußlichkeiten in sich vereinen.«

»Da mögen Sie wohl recht haben! Und was das Hernehmen betrifft, so
finden sich diese Modelle unter uns, ich brauche wirklich nicht viel zu
suchen.«

Der grünbleiche Jüngling riß die müden, schwarz umrandeten Augen auf
und stammelte erschreckt: »Scheusäler unter uns? Wie müssen Ihnen die
Menschen erscheinen! Ich beneide Sie nicht um Ihr Sehen, gnädiges
Fräulein.«

»Ich sehe eben durch die Maske hindurch. Doch lassen wir das!« und sich
zu Gerda wendend: »Sie sind erregt, Fräulein von Wangenheim. Bedürfen
Sie der Ruhe? Kommen Sie, ruhen Sie ein wenig, ehe Sie singen werden.
Ich kenne den Zustand des ersten öffentlichen Auftretens, wenn auch auf
andere Art.«

Dankbar sah Gerda auf sie, legte ihren Arm auf den ihren und ließ sich
hinausbegleiten.

Lotte führte sie in das kleine Empfangszimmer der Hausfrau, das einsam
und verlassen war, brachte ihr das Notenheft und sagte:

»So, nun schauen Sie in Ihre Noten und denken Sie an nichts anderes als
an Ihre Musik. In einer halben Stunde komme ich und hole Sie.«

Als sie die Tür zum großen Empfangszimmer erreicht hatte, trat ihr
Gehring und Ebba Holm entgegen.

»Endlich finden wir Sie, Lotte. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich
schon zu Inge hinübergeflüchtet wäre, wenn Herr Gehring sich nicht
meiner angenommen hätte. All die fremden Menschen um mich herum
verursachen mir wahrhaftig Schrecken. Wie kann man nur an derartigen
Veranstaltungen Vergnügen finden. Das ist mir ganz unbegreiflich.«

»Meine liebe Frau Ebba, Sie gehen von einem ganz falschen Gesichtspunkt
aus, wenn Sie meinen, die Leutchen kommen nur zum Vergnügen zusammen.
Diese Veranstaltungen sind Zweck-Vergnügungen, jeder dieser Gäste kommt
mit einer bestimmten Absicht oder zu einem bestimmten Zweck hierher.«

»Erlauben Sie mal, Fräulein Wunsch, Sie sagten: Jeder!« unterbrach
Gehring.

»Natürlich, ein paar Ausnahmen sind wohl darunter,« lachte sie ihm mit
aufleuchtendem Blick entgegen. »Ich für mein Teil bin auch nicht ohne
Absicht hier. Sie wissen, wir wollen Fräulein von Wangenheim einführen
und für ihr Konzert vorarbeiten. Sie sehen, ein guter Zweck.«

»Das kann ich so unbedingt nicht glauben.«

»Ist es nicht immer gut, zu helfen?«

»Nein. Man kann einem Menschen oft mehr Gutes tun, wenn man ihm nicht
hilft.«

Lotte sah nachdenklich vor sich hin. »Sie mögen recht haben, Gehring.
Doch hier hoffe ich gut zu tun, wenn ich helfe die Wege ebnen.«

»Wer ist der Herr, den meine Schwägerin eben so liebenswürdig begrüßt,
Lotte? Ein interessanter Kopf. Schauen Sie die grauen Haare und die
lebhaft blitzenden jugendlichen Augen.«

»Da haben Sie gleich einen Magnet, der so manche Sterne, große und
kleine, hierhergezogen hat. Ihr Zweck ist es, sich ihm in den Weg zu
stellen, von ihm beachtet zu werden und, wenn irgend möglich, eine
kleine Attacke auf sein noch immer jugendliches Herz zu vollführen. Es
ist einer unserer ersten Theaterkritiker.«

»Und die Wirkung?«

Lotte lachte. »Je nachdem. Aber was die Kritiken anbelangt, so bleibt
die beabsichtigte Wirkung allerdings aus. Er läßt sich in seinem Urteil
nicht durch girrende Blicke beeinflussen. Und dort, jener schlanke
Mann, mit den nervösen Gesichtszügen, den graumelierten Haaren, ist ein
Musikkritiker. Es ist gut, daß er gekommen ist, vielleicht schneidet
Fräulein von Wangenheim gut ab und er wird aufmerksam auf sie.«

»Und die Dame, die mit ihm gekommen ist? Sie scheint mir weniger schön
als auffallend graziös in ihren Bewegungen.«

»Das ist eine unserer modernen Tänzerinnen. Ein wunderbar schmiegsamer
Körper. Die müssen Sie einmal tanzen sehen, Frau Ebba.«

»Und nun schauen Sie dorthin, gnädige Frau,« wandte sich Gehring an
Ebba, »so stempelt man sich zur Tragödin, wenn man noch keine ist. Wie
gefällt Ihnen dieses Gesicht?«

»Widerlich! Mein Gott, wie kann man so aussehen. Verlebt, welk und
müde! Und mir scheint, alles gekünstelt, maskenhaft.«

»Für wie alt halten Sie die Person?«

»Es will mir scheinen, als sei sie jung -- sie sieht aber aus wie eine
Frau von vierzig, fünfzig Jahren.«

»Sie ist achtzehn Jahre alt! Eine Theaterschülerin, die eben die
Reinhardtschule durchgemacht hat und sich durch ihr Aussehen
interessant machen will. Was ihr ja auch tatsächlich gelingt. Durch ihr
bleich gepudertes Gesicht, durch ihr künstlich gemachtes, verlebtes
Aussehen fällt sie überall auf. Wenn man sich auch voll Abscheu von
ihr wendet, das ist ihr gleichgültig, sie wird bekannt dadurch, ihre
Absicht ist erreicht. Sie sehen, auf welche Art man berühmt werden
kann!«

»Und hat sie ein Engagement gefunden?«

»Nein, bisher nicht. Das ist ihr auch nicht die Hauptsache. Sie will
nur als Schauspielerin _gelten_ und will sich interessant machen.«

Ebba schüttelte den Kopf. »Wo hat meine Schwägerin nur all die Menschen
her?«

»Wer hier in der Gesellschaft lebt, ein großes Haus macht, zu dem kommt
alles ins Haus geflogen,« sagte Lotte.

»Ja, alles, gnädige Frau. Gesichtet wird nicht. Wenn nur die Außenseite
gut gefirnißt und blank poliert ist, ins Innere hinein, da schaut man
nicht. Was wollen Sie auch? Es ist doch nur die Interessensphäre,
die diese Menschen zusammenbringt. Ganz unabhängig von Sympathie und
Antipathie,« sagte Gehring.

Ebba seufzte. »Ich glaube, ich werde an dieser Art zu leben nie
Gefallen finden.«

»Das sollen Sie auch nicht, Frau Ebba,« fuhr Lotte erregt auf. »Sie
wurzeln so ganz in einem andern Erdreich, und ich meine, Sie haben
so gut Wurzel gefaßt, daß es niemand, weder Menschen noch Schicksal,
gelingen wird, Sie zu entwurzeln.«

»Begnügen Sie sich mit der Rolle des Zuschauers und bleiben Sie
abseits, gnädige Frau.«

»Abseits von jenen, die, nur dem eigenen Ich huldigend, rücksichtslose
Interessenmenschen werden, Ebba.«

»Aber Ebba, dazu bist du doch nicht hergekommen, um dich hier in eine
Ecke zu verkriechen mit deinen getreuen Zwei, du sollst Menschen kennen
lernen.« Und Thea Westphal trat zu den drei Plaudernden.

»Ich habe eine Scheu vor all den fremden Menschen, Thea.«

»Unsinn, das gibt sich, glaube mir, du kannst interessante Menschen
kennen lernen, wichtige Beziehungen anknüpfen. Auf meinen Festen
hat so manche Künstlerin ihren Direktor gefunden, hat so mancher
Schriftsteller Interesse für seine Arbeiten erregt.«

»Haben sich so viele Fäden von Herz zu Herz gesponnen, Frau Westphal.«

»Auch dies ist der Fall, Fräulein Wunsch, ohne die Liebe kein Leben!
Aber nun kommen Sie, meine Herrschaften, mischen Sie sich unter die
Gesellschaft, dich, Ebba, muß ich mit unserer Präsidentin bekannt
machen, ich habe ihr von dir und deinen Ansichten erzählt. Sie
brennt darauf, dich kennen zu lernen. Sie wird natürlich versuchen,
dich einzufangen. Du bist ja wie geschaffen, für das Familienleben
Propaganda zu machen.«

Sie nahm Ebba unter den Arm und drängte mit ihr durch die Menge.

Lotte und Gehring waren stehengeblieben.

»Das wirbelt nun so durchs Leben.«

»Was wollen Sie, Gehring? Die Begierde nach Gold und Genuß, welche
diese Menschen beherrscht, hat sie in einen Taumel versetzt, der Sitte,
Moral und Pflichtgefühl untergräbt. Wer einmal in diesen Strudel
geraten ist, dem wird es schwer, sich daraus zu befreien.«

»Und Sie, Fräulein Wunsch, Sie waren und sind zum Teil ja noch mitten
drin in diesem Wirbeltanz. Ist es Ihnen schwer geworden, sich daraus zu
befreien?«

»Ich bin abseits geblieben. Ich habe zu früh gelernt, durch die
Menschen hindurchzuschauen. Und dann hatte ich auch meine Kunst. Wer es
mit der Kunst ernst meint, der hat viel zu arbeiten.«

»Sie sind ein ernster Mensch.«

»Ich stecke nun mal in einer Haut, aus der ich nicht heraus kann und
auch gar nicht heraus will. Mir graut, wenn ich daran denke, ich könnte
so geworden sein wie Thea Westphal.«

»Und eine Frau wie Sie konnte das Glück nicht finden?«

Sie wurden während ihres Gesprächs durch neu hereintretende Gäste
seitwärts gedrängt und standen jetzt in einer Fensternische sich
gegenüber. Gehring sah fragend auf Lotte.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte nicht den Mut, daran zu glauben.«

»Haben Sie nie einen Mann geliebt, Lotte?«

»Nie.« Herb kam es von ihren Lippen. Dann kam ein sanftes Rot auf ihre
Wangen. Mit aufleuchtendem Blick preßte sie die Hand aufs Herz und
sagte leise und innig: »Jetzt habe ich den Mut gefunden.«

»Frauen wie Sie können beglücken und finden ihr Glück darin.«

Das Fünkchen war entfacht und leckte empor, züngelte und flammte,
knisterte und glühte und wurde Flamme, rotglühende lodernde Flamme.
Und wieder senkten sich die Augen ineinander und hielten sich fest und
sprachen von Liebe und Glück.

Immer deutlicher sprachen die Augen.

»Wie jung du noch bist!« flüsterten die Lippen des Mannes.

Da lösten sich ihre Blicke von den seinen, und ein Zittern erfaßte den
Körper des Weibes. Eine Scheu, eine grenzenlose Angst stieg in ihr
auf. Nicht sehen jetzt, Herr Gott, gib eine Binde mir über die Augen!
Nicht sehen bei diesem die weißglühende Flamme der Begierde. Und sie
schloß die Augen. Da fühlte sie zwei Lippen auf ihrer Stirn, sanft
wie ein Hauch. Scheu, fast ehrfurchtsvoll streifte sie sein Mund. Und
sie wußte, diese Liebe war nicht von jener Art. Da öffnete sie die
Augen, sah auf den Mann und umhüllte ihn mit grenzenloser, hingebender
Liebe. -- --

Die Klänge eines Chopinschen Walzers klangen zu ihnen hinüber. Lotte
fuhr empor. Gerda von Wangenheim! Sie sollte nach dem Pianisten singen.
Sie mußte sie holen.

»Ich hole Fräulein von Wangenheim,« flüsterte sie Gehring zu.

Er schaute ihr nach. War es möglich? Konnte die Liebe den Menschen
so verwandeln, oder war er wirklich nur gedankenlos an Lotte Wunsch
vorübergegangen? Sie, die Kluge, die Gedankenvolle hatte nie vermocht,
ihm einen Anreiz zur Liebe zu geben. Und auch sie selbst. Nie
hatte sie ihm etwas anderes als Freundschaft entgegengebracht. Am
Weihnachtsabend hatte er entdeckt, daß sie ihn liebte. Sie, die Kühle,
der nüchterne Verstandesmensch brachte ihm Liebe entgegen. Was hatte
sie zusammengebracht und ihre Liebe auflodern lassen? Liebte er sie
denn? Oder war nur ihr Altern, verbunden mit der jugendlichen Frische
ihres Gemütes und der erwachenden Liebe, ein pikanter Anreiz für
ihn? Er wehrte den Gedanken von sich. Nein, das war keine Frau, die
man liebte und dann beiseite schob. Kein Spiel, keine Leidenschaft.
Wenn man sie begehrte, so liebte man sie auch. Rein und wahrhaftig
als liebenswertes Weib, als Gattin und Mutter. Ja, aus diesem Holz
wurden die Mütter geschnitzt. Dies war keine Frau, die man mit den
Sinnen begehrte, dieser Frau brachte man das Herz, brachte man Achtung
entgegen. --

»Kommen Sie, sie wird jetzt singen. Ich möchte sie sehen und hören, was
man über sie spricht.« Ein wenig blaß und erregt stand sie vor ihm. --

Das Lied war zu Ende. Rauschender Beifall erklang, umprasselte die sich
dankend Verneigende.

»Herrliches Geschöpf!« »Ein entzückendes Weib.« »Donnerwetter, das
ist eine Erscheinung!« »Wie fanden Sie den Gesang?« »Gesang? Weiß ich
nicht, habe nur auf die Erscheinung gesehen.« »Still doch, sie singt
noch einmal.«

Und Gerda sang, und wieder umfing sie begeistertes Händeklatschen. Die
Herren umringten sie und überschütteten sie mit Schmeicheleien. Ruhig
und kühl stand sie inmitten der Schar. Ruhig und kühl von außen, aber
mit dem Rot der Erregung auf den Wangen und mit einer wallenden Glut im
Herzen. Also doch. Sie war eine Gottbegnadete, sie war eine Künstlerin.
Ihr Gesang hatte gewirkt. Mein Gott, war das ein Gefühl, umbrandet von
Beifallsrauschen, Worte der Anerkennung und Blicke der Bewunderung zu
hören und zu sehen.

Thea Westphal stürzte auf sie zu und drückte ihr die Hände. Sie war
überglücklich, sie ›entdeckt‹ zu haben. »Ich bitte Sie, meine Herren,
vergessen Sie nicht, in meinem Hause hat diese gottbegnadete Künstlerin
das erstemal gesungen. Und nun kommen Sie, Fräulein von Wangenheim, ich
werde Sie mit unserm gefürchteten Musikkritiker bekannt machen.«

Der Kritiker sah lächelnd auf Gerda. »Gnädiges Fräulein, Sie haben viel
Beifall gehabt. Wenn ich Ihnen raten darf, so vergessen Sie aber über
dem Beifall nicht, noch recht fleißig zu studieren.«

Ein kalter Strahl war auf sie herniedergefahren, sang sie für einen
oder sang sie für die Menge? Die Menge hatte ihr zugejubelt. Einer
hatte ihr gesagt: Du bist noch am Anfang deines Könnens. Einer gegen
viele. Aber dieser eine wog die hundert auf, denn er war der Kenner,
und was er sagte, galt. Er hatte es nur zu ihr gesagt. Sagte er es
laut, so sagten die hundert wie er.

»Gnädiges Fräulein, einfach gottvoll haben Sie gesungen. Ich bin noch
ganz hin. Mein Gott, diese Stimme! Sie werden bald zu den ganz Großen
gezählt werden.« Und Herr von Reitzenstein legte die Hand aufs Herz und
sah Gerda bewundernd an.

Sie seufzte. »Ach, das kann noch lange dauern.«

»Aber, gnädiges Fräulein, so mutlos nach diesem Erfolg? Was verlangen
Sie denn noch mehr? Mehr als die Handschuhe zerklatschen und Ihnen sein
Herz zu Füßen legen, mehr kann man doch nicht tun.« Und er zeigte ihr
seine Hände mit den geplatzten Handschuhnähten.

Sie lächelte. »Nein, wahrhaftig, mehr verlange ich auch nicht. Ihnen
habe ich ein gut Teil meines Erfolges zu verdanken, wie mir scheint.«

Er wehrte ab. »Wenn gnädiges Fräulein nicht so entzückend gesungen
hätten und so blendend aussehen würden, hätte ich wohl schwerlich die
andern mit fortgerissen.«

»Fräulein von Wangenheim, endlich kann ich mich zu Ihnen
hindurchdrängen.« Und Lotte Wunsch streckte ihr die Hand entgegen. »Gut
haben Sie Ihre Sache gemacht. Und tapfer haben Sie die erste Angst
bekämpft. Ich wurde etwas ängstlich, als Sie anfingen und Ihre Stimme
so stark vibrierte. Aber Sie haben sich durchgesungen.«

»Sie glauben also, daß ich zufrieden sein kann?«

»Na, erlauben Sie mal. Sie haben sich hier in diesem großen Kreis gut
eingeführt, haben Beifall geerntet, und da fragen Sie noch, ob Sie
zufrieden sein können? Man ist aufmerksam auf Sie geworden, man ist
vorbereitet, Sie im Konzertsaal zu hören, man erwartet etwas von Ihnen;
daß Sie nicht enttäuschen, das ist Ihre Sache, Kind.«

Kurt Winkelmann, der sich abseits der Gerda umgebenden Gruppe
gehalten hatte, gesellte sich zu ihnen. Ohne Gerda von Wangenheim zu
beachten, trat er zu Lotte Wunsch und unterhielt sich mit ihr. Gerda,
aufgestachelt durch die sie umgebenden Huldigungen, wandte sich ihm zu
und sprach hochmütigen Tones: »Sie, Herr Winkelmann, sind der einzige,
welcher nichts über meinen Gesang zu sagen weiß.«

Ein kleines, mokantes Lächeln ging über seine Züge. »Ich liebe es
nicht, mit der Masse zu gehen, gnädiges Fräulein. Ihr erstes Auftreten
hat einen viel zu tiefen Eindruck auf mich gemacht, als daß ich
imstande wäre, Ihnen mit ein paar banalen Redensarten aufzuwarten.«

Der Hochmut und die spöttische Überlegenheit wichen aus ihren Mienen.
Welcher Ton! Hatte sie ihm dennoch Unrecht getan? War er wirklich
tieferer Eindrücke fähig? Und ihr Gesang sollte das zu Wege gebracht
haben? Da hätte sie ja die erwartete Wirkung. Sie sah ihm voll in die
Augen. Dann hielt sie ihm die Rechte entgegen und erwiderte: »Diese
Worte sagen mir mehr als all die Komplimente.«

Kühl und gelassen verbeugte er sich, berührte mit seinen Lippen die ihm
entgegengestreckte Hand und fragte: »Ist es Ihnen unangenehm, wenn ich
den heutigen Gesellschaftsabend in Ihrer Pension besuche?«

»Unangenehm, mir? Wie kommen Sie darauf?« Und wieder schlich sich der
Hochmut auf ihre Züge.

»Ich glaube bemerkt zu haben, daß Sie, gnädiges Fräulein, mir eine
gewisse Antipathie entgegenbringen.«

»Sie täuschen sich, Herr Winkelmann, dazu liegen doch wohl zu wenig
Berührungspunkte zwischen uns.«

Er biß sich auf die Lippen. »Verzeihen gnädiges Fräulein meine
Anmaßung.«

»Gnädiges Fräulein, Sie machen doch auch mit? Wir sind schon eine große
Gesellschaft beisammen, Sie müssen auch dabei sein, unbedingt!«

Herr von Reitzenstein war zu Gerda getreten.

»Wobei denn, was soll ich mitmachen?«

»Das Kostümfest der Kunstschule. Ein herrliches, ungezwungenes Fest. Da
kann man seiner Laune so ganz die Zügel schießen lassen.«

»Vorausgesetzt, daß man die passende Partnerin dazu findet, Herr von
Reitzenstein,« wandte Lotte ein.

»Findet man immer, gnädiges Fräulein. Auswahl zur Genüge.«

»Wählerisch scheinen Sie gerade nicht zu sein.«

»Sie irren, meine Gnädige. Aber man hat eben die Wahl. Das sagt alles.«

»Sie mögen recht haben. Sagen Sie zu, Fräulein von Wangenheim, ich
nehme Sie in meinen Schutz. Sie müssen so ein Künstlerfest einmal
mitmachen. Allerdings ist in meinen Augen immerhin eine Gefahr damit
verbunden. Diese Berliner Kostümfeste können zweierlei Wirkung haben.
Entweder sie verwirren die Begriffe, oder aber, sie festigen den
Charakter.«

»Na, erlauben Sie mal, verfehlter Zweck eines Kostümfestes. Amüsieren,
amüsieren und noch einmal amüsieren -- das allein soll die Wirkung sein
und ist es auch, wenigstens für uns gewöhnliche Sterbliche. Solche
Künstlernaturen, wie unsere große Bildhauerin, mögen ja wohl mit
anderen Augen schauen. Schäumender Übermut, prickelnde Lebensfreude, so
ist auf mich die Wirkung. Leben und genießen.«

»Mir scheint, Sie huldigen diesem Wahlspruch auch außerhalb der
Kostümfeste, Herr von Reitzenstein.«

»Na ob, gnädiges Fräulein. Man ist doch nur einmal jung. Wenn ich erst
ein oller Tapergreis bin, bleibt mir ja doch nichts weiter als die
Erinnerung.«

»Wenn Ihnen Ihre Erinnerungen von nichts anderem zu erzählen wissen als
von Genuß und schäumendem Übermut, so können Sie mir leid tun.«

»Das Schicksal meint es gut mit mir, Fräulein Wunsch. Bis jetzt bin ich
immer auf der heiteren Seite des Lebens gewandelt, aber glauben Sie
mir, wenn es mal anders kommen sollte, so werde ich schon fest stehen
und werde beweisen, daß man trotz Liebe zum Genuß auch imstande ist,
etwas zu leisten.«

»Wenn Sie bis dahin nicht schon zu verweichlicht sind.«

»Das bleibt erst abzuwarten.«

                                *  *  *

Um Lotte Wunsch glühten und knisterten Flammen. Eingehüllt in eine
Feuerwolke ging sie umher. Er war gekommen und hatte sie in seine Arme
genommen. Still, mit großen Augen, hatte sie zu ihm emporgeblickt. Da
schlossen seine Lippen die forschenden Augen. Es kam wie eine leise,
leise Wonne das Bewußtsein des Erwachens aus einem bösen Traum über
sie. Sie war unterjocht, bedrückt gewesen von diesem Häßlichen und
Starren. Es war in ihren Augen, in ihren Ohren gewesen und hatte ihre
Gedanken vergiftet. Und das Häßliche sank ohnmächtig in stille Tiefen,
und empor stieg die Flamme der reinen stillen Liebe. Er hielt sie
fest in seinen Armen und küßte ihren Mund. Oh, diese glühende Gewalt.
All ihr Denken und Fühlen verwehte in diesem Brande. Der Gedanke der
Hingabe an diesen Mann, den sie liebte, dem sie sich zu eigen gab,
machte sie glückselig. Das war die Erfüllung ihres Weibtums.

                                *  *  *

»Lotte, ist es möglich, kann mit dem Kleid auch der Mensch sich
wandeln? Sie stellen eine Feuerwolke dar und scheinen es auch zu sein.
Kostüm und Laune scheinen eins zu sein. Wählten Sie das Kleid zur
Stimmung oder kam Ihnen die Stimmung im Kleide? Mir scheint, es brennt
um Sie her.«

»Es brennt, es brennt, Frau Ebba, heiß und lichterloh.«

»Woher kam der Wind, das Feuer zu entfachen?«

Lachend fiel Lotte der Freundin um den Hals. »Aus den Falten des
Kleides.«

»Das ist nicht wahr. Das Feuer ist in Ihnen und durchleuchtet Ihr
Kleid. Doch nun stehen Sie einen Augenblick ganz still, damit ich mir
das Kunstwerk genau betrachten kann.«

Und Lotte stand in der Mitte ihres Zimmers und ließ sich bewundern.
Brandrote geschlitzte Seide fiel flatternd und spielend in der Bewegung
wie eine Flamme über ein gleichfarbenes Unterkleid. Die dunklen Haare
fielen leichtgelockt bis auf die Schultern. Über die Stirn hatte sie
eine Korallenschnur gelegt, deren Ende am Hinterkopf zusammengeknotet
über Nacken und Rücken liefen, um auf den Brüsten in zwei Rubinsteinen
zu enden. Die Seide bauschte und wirbelte und brachte Unruhe.

»Nun?«

»Ich will Ihnen etwas sagen, Lotte. Wenn Sie mir dies Kostüm vorher
beschrieben hätten, würde ich Ihnen gesagt haben, Sie passen nicht
hinein. Heut kann ich Ihnen nur sagen, Sie hätten nichts Passenderes
und Kleidsameres wählen können.«

»Das finde auch ich,« sagte Fräulein von Wangenheim, die soeben eintrat.

Die beiden sahen ihr entgegen.

»Wie eine Königin sehen Sie aus, Fräulein von Wangenheim.«

»Für heut wollen Sie ja wohl auch eine vorstellen, wie mir scheint. Das
Kleid der Königin der Nacht soll es doch sein?«

»An eine Königin habe ich weniger gedacht. Ich will nur einen Stern
vorstellen.«

»Flimmernd und gleißend in unerreichbarer Höhe,« fiel ihr Lotte ins
Wort. »Aber ein bißchen königlich sehen Sie doch aus, trotz des kurzen
Rockes.«

Gerdas schlanke Figur war von einem schwarzen, mit silbernen Sternen
bestickten Chiffonkleid umgeben, das ganz aus Volants bestand.

Aus der stark markierten Taille tauchten Schultern und Arme kühl und
weiß aus diesem Chiffongewirr hervor. In den goldroten Haaren funkelte
und zitterte ein einzelner Stern.

»So, meine Damen, nun muß ich Sie bitten, ehe wir gehen, mit mir dieser
Flasche den Hals zu brechen. Sie müssen ein bißchen in Stimmung kommen
und dazu ist ein Glas Wein das beste Mittel.«

Lotte hatte die bereitgestellte Flasche entkorkt und goß den Wein in
die Kelche.

»Sie sind wirklich in Karnevalstimmung, Lotte.«

»Vergessen Sie nicht, daß ich Künstlerblut in den Adern habe, Ebba.

Trinken Sie, Fräulein von Wangenheim, Sie sehen wirklich nicht aus, als
ob Sie zu einem Ball gehen wollten.«

»Ich muß Ihnen gestehen, daß mir etwas unbehaglich zumute ist. Wenn
dies auch nicht das erste Maskenfest ist, welches ich besuche, so habe
ich doch einen Schrecken vor all den fremden Menschen, die unter der
Maske verborgen sind. Bei uns war man doch stets in seinem Kreise,
fremde Elemente konnten nicht eindringen -- aber hier -- man kann nicht
wissen, mit wem der Zufall einen zusammenführt.«

Lotte lachte. »Sie sind Künstlerin, Sie brauchen die Menschen und
fürchten sich vor ihnen?«

»Ja, ich scheue mich, mit ihnen in Berührung zu kommen.«

»Ihnen steckt der Aristokrat im Blut. Sie werden in Ihrer Laufbahn
harte Kämpfe bestehen müssen, oder aber -- -- -- trinken Sie, Frau
Ebba, auch Ihnen würde ein wenig Farbe kleidsam sein. Sie sehen beide
noch viel zu blaß aus.«

Ebba, im Gewand einer Griechin, lehnte das Haupt zurück, trank und
sagte: »Auch ich liebe solche Massenfeste nicht und trotzdem besuche
ich sie ab und zu gern einmal, um mich an den gut gekleideten Menschen,
an dem künstlerischen Rahmen, an dem ganzen Bild, das solche Feste
bieten, zu erfreuen. Ich käme nicht auf den Gedanken mitzutollen,
mitzumachen, nein, ich genieße als Zuschauerin.«

»Ich bin Zuschauerin, oft Durchschauerin, und mache auch mit, wenn es
mir paßt und ich mir zusagende Menschen finde.« Und Lotte schenkte
noch einmal die Gläser voll. »Doch nun ist es Zeit, nehmen Sie Ihre
Masken zur Hand und schalten wir uns ein mit dem letzten Schluck zum
fröhlichen Genießen.« -- -- --

            ----------------------------------------------

Eine heiße schwere Luft schlägt ihnen entgegen, als sie den Saal
betreten. Die Lampen sind mit orangefarbenen Schleiern verhängt und
verbreiten ein mattopalisierendes Licht. Seide, Sammet und Spitzen
rauschen und flattern in sinnverwirrenden Farben vorüber. Ketten
und Spangen klirren. Perlengehänge und Steine funkeln und gleißen.
Und aus all dem Gewirr tauchen Arme, weiß und kühl, locken blühende
Schultern und feurig atmende Brüste. Eine Gruppe, sich an den Händen
haltend, wirbelt durch den Saal, zerrt bald nach rechts, bald nach
links. Sie eilen auf die drei Frauen zu und nehmen sie mit Hallo in
ihre Mitte. Und nun geht der Spektakel los. Unter Johlen und Jauchzen
vollführen sie einen Indianertanz um ihre Opfer. Gerda steht atemlos
und klammert sich an Lotte. »Mein Gott, was sind das für Menschen!«
Lotte lacht. »Junge, übermütige Künstler. Passen Sie auf, gleich
werden wir aufgegriffen werden und auseinandergewirbelt.« Ein wilder
Freudensprung, begleitet von ohrenzerreißendem Aufschrei, macht Gerda
zusammenzucken. Dann fühlt sie sich um die Taille genommen und wie toll
umhergewirbelt. Sie wehrt sich und versucht sich aus den sie haltenden
Armen zu befreien. »Ich mag das nicht,« stößt sie hervor. Aus einem
braungeschminkten bärtigen Männerantlitz funkeln ihr nachtschwarze,
feurige Augen entgegen, und heiße Lippen lachen: »Mummenschanz,
schlanke Maske!« Und fester umspannen sie die starken Arme, und sie
muß tanzen, tanzen. »Laß mich in deinem kühlen Licht gesunden, holder
Stern. Wisse, heiße Glut tobt mir in den Adern, ich brauche milde
Strahlen, um diese Glut zu dämpfen. Sei du mein Stern in dieser Nacht.«
Er hat aufgehört zu tanzen. Mit einem Ruck reißt sie sich los. Ihre
Augen sprühen ihn an. »Ich liebe dergleichen Scherze nicht.« »Gnädigste
sollten nur Hoffestlichkeiten besuchen.« Er verbeugt sich tief und geht
von dannen. Zwei schlanke Rattenfänger umkreisen sie und suchen sie
im Charakter ihrer Rollen zu locken. Sie achtet nicht darauf. Unruhig
sucht sie das feuerfarbene Gewand zu erspähen oder der Griechin sich
nähern zu können. Fortgewirbelt waren auch sie.

»So einsam, schöne Königin?«

»Ich bin keine Königin.«

»In meinen Augen bist du es. Gestattest du, daß ich dich führe?«

Und der zierliche Ritter verneigt sich und bietet ihr den Arm.

Gerda atmet auf. Wirklich ein Ritter! Sie neigt das Haupt und legt
ihren Arm in den seinen. -- --

»Ich weiß, wer du bist, du flackerndes Feuer du! Ich weiß, wer du bist.«

Junge starke Arme haben auch Lotte umschlungen und von ihren
Gefährtinnen getrennt.

Sie lacht leise und schüttelt den Kopf.

»Gib deine Hand,« und er zeichnet ihren Namen in ihre Hand.

Wieder verneint sie.

»Und doch bist du es, scheinst du auch heut anders.« Sie versucht zu
entschlüpfen, er hascht die rote Seide. »Du wirst dich verbrennen.«

»Tut nichts. Wunden, die man schlägt, muß man auch heilen.«

»Das kann man nicht immer.«

»Ha, jetzt hast du dich verraten! Lotte Wunsch, Lotte Wunsch!«

Sie hatte mit ihrer natürlichen Stimme gesprochen, hatte vergessen,
ihre Stimme zu verstellen. Sie eilt davon. Er hinter ihr her. Sie
rennt lachend im Übermut durch den Saal, drängt und stößt die Menschen
auseinander, daß alles hinter ihr her schreit. Aufatmend bleibt sie
endlich stehen. Da sieht sie an der Tür gegenüber eine dunkle schlanke
Gestalt suchend in den Saal spähen. Sie eilt hinüber und fliegt dem
schlanken Manne um den Hals.

»Da hast du mich, da bin ich.«

»Lotte, was bist du für ein tolles Kind. Und das nennst du Verstecken
spielen? Du wolltest dich suchen lassen, und kaum, daß du mich siehst,
fliegst du mir entgegen.«

»Ach du, wie kann ich denn!« Sie reißt sich die Maske vom Gesicht und
sieht ihn mit ihren klaren, ernsten Augen an. »Als ich dich sah, da
wollte ich eben bei dir sein, alles andere ist ja so gleichgültig.«

»Lotte, ich wußte nicht, daß du so ungestüm sein kannst.«

Er nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände und sieht sie an. »Wie schön
du heute aussiehst.«

Sie erglüht unter seinem Blick.

»Hast du mich gesucht?«

»Auf der Suche nach dir fand ich Frau Ebba. Wir haben uns schon mit
Winkelmann und einigen Bekannten zusammengefunden.«

Sie hing sich in seinen Arm. »Du, Paul, wenn sie nun hellsichtig sind
und merken, wie es zwischen uns steht?«

»Wäre das so schlimm?«

»Schlimm, nein. Aber du weißt, ehe ich nicht mein großes Werk
vollendet, möchte ich unsere Verlobung nicht bekanntgeben. Es würden
gesellschaftliche Verpflichtungen entstehen die mich von meiner Arbeit
abhielten. Auch ist eine lange Verlobung nicht in deinem Sinne.
Folglich müssen wir noch Masken tragen.«

»Das wird mir schwer fallen. Ich habe kein Talent zum Komödiespielen.«

»Nun, heute unter dem Schutz der Maskenfreiheit darfst du schon ein
wenig aus der Rolle fallen.«

»Hallo, Gehring, Sie laufen ja an uns vorüber -- hier, hier sitzen wir!«

Gehring und Lotte traten an den Tisch.

»Ah, Sie haben das Feuer eingefangen, hoffentlich haben Sie sich nicht
die Finger daran verbrannt.«

»Die Finger nicht, wohl aber das Herz.«

»Kann also gefährlich werden?«

»Vielleicht.«

Winkelmann war aufgestanden und bot Lotte seinen Stuhl.

»Gnädiges Fräulein, so sollten Sie immer aussehen.«

»Ich kann doch nicht alle Tage brennen und als Flamme umherlaufen.«

»Ich meine nicht das Kleid, Fräulein Wunsch, Sie wissen es wohl.

Es ist etwas in Ihrem Gesicht, in Ihrem Wesen -- was das ist und woher
das kommt -- das kann ich noch nicht feststellen -- ich muß Sie erst
daraufhin beobachten.«

»Das lassen Sie lieber bleiben,« lachte sie ihn an, »lohnt sich nicht
der Mühe. Ich bin eben in Karnevalsstimmung, morgen ist alles wieder
grau.«

»Das wäre schade. Wenn Sie wüßten, wie --«

»viel jünger Sie erscheinen,« vollendet sie.

»Das wollte ich nun nicht gerade sagen.«

»Sie dachten es aber und wollten es nur anders ausdrücken.«

»Man ist immer nur so alt, als man sich fühlt, das wissen Sie doch.«

»Dann scheine ich heute nicht nur jung, sondern bin es wirklich.«

Sie reckt sich in die Höhe und wirft einen liebkosenden Blick zu
Gehring hinüber.

Winkelmann sah den Blick und lächelt. Er nimmt sein Glas in die Hand,
beugt sich zu ihr und sagt: »Auf daß Ihre Jugend lange währe.«

»Nun, was sagen Sie zu dem Leben hier, gnädige Frau?« wandte sich
Gehring zu Ebba.

Ebba saß neben dem braunen, bärtigen Antlitz, dem Manne, der Gerda
in den Saal gewirbelt hatte, Arno Stürmer, einem der bekanntesten
Maler. Er hatte sich angelegentlich mit Ebba unterhalten und ihr die
Namen anwesender bekannter Persönlichkeiten genannt. Sie hatten einen
Tisch gewählt, an dem alles, was in den großen Tanzsaal drängte, an
ihnen vorüberfluten mußte. War der Türrahmen nicht von Herumstehenden
gefüllt, so konnten sie auch einen großen Teil des Saales übersehen.

»Das Bild als solches finde ich berauschend schön. Der geschmackvoll
dekorierte Saal, das gedämpfte Licht und die wogende buntfarbene
Menge geben unbedingt Fest- und Freudestimmung. Bis jetzt habe ich
das Bild als Ganzes auf mich wirken lassen, nun bin ich daran, es zu
zergliedern. Ich habe noch nie so wundervolle Kostüme gesehen.«

»Ja, dafür sind Sie auch auf einem Künstlerfest,« versetzte der Maler.
»Sehen Sie diese Inderin, gnädige Frau, das ganze Kostüm ist echt.
Und wie wundervoll sie die Haut getönt hat. Es ist die Frau eines
bekannten Bildhauers. Und dort den entzückend aussehenden italienischen
Strauchdieb mit den melancholischen, bettelnden Augen. Ja, die
Künstler verstehen es, sich in die Haut, die sie für den Abend gewählt
haben, hineinzuschmiegen.«

»Das liegt wohl daran, weil sie wissen, was für ihre Eigenart passend
ist.«

»Es ist eben der Künstlerblick,« warf Gehring dazwischen.

Die zwei Rattenfänger waren in die Tür getreten und näherten sich
flötend dem Tisch.

»Macht, daß ihr fortkommt, ihr Verführer. Könnte euch passen, unsere
Liebsten zu locken.« Der Maler wetterte ihnen entgegen.

Die beiden spielten, lockten und umkreisten den Tisch.

Es waren zwei schlanke jugendliche Gestalten, die eine blond, die
andere schwarz. Die eine das Urbild der germanischen Rasse, die andere
von pikantem Reiz erinnerte an Bilder altjüdischer Frauen. Der Maler
war aufgesprungen und haschte nach ihnen. Er bekam die Blonde zu fassen
und umschlang sie. »Loskaufen, du Lockvogel,« und er versuchte, sie zu
küssen.

Sie zappelte und wehrte sich. Da eilte die Schwarze zur Hilfe und
kitzelte ihn mit ihrer langen Hutfeder. Da war das Zappeln an ihm.
Die Blonde entwischte seinen Armen, und beide hänselten ihn mit ihren
Federn. Die ganze Tischgesellschaft lachte und hatte ihre Freude an
seinen Krümmungen und Sprüngen.

Endlich rief Gehring ihnen zu: »Genug, Jungens, schließt Frieden und
gibt ihn frei. Kommt an unsern Tisch und trinkt mit uns, aber laßt
unsere Frauen in Ruh, das will ich euch geraten haben. Sonst bekommt
ihr es auch mit mir zu tun.«

»Hu,« schrien die Rattenfänger, »was für Angst wir haben! Unsere Waffe
wird ja auch bei dir ihre Dienste tun.« Und sie hielten ihm die Feder
unter die Nase.

Ebba hob die Hand. »Laßt es gut sein, kommt und plaudert.« Und sie
setzten sich zu ihnen.

»Das werdet ihr mir noch büßen müssen, ihr Racker,« grollte der Maler.
Er stürzte ein Glas Wein hinunter. Seine Augen blieben auf Lotte
haften. »Du großes Feuer, komm, tanz’ mit mir.« Er war aufgestanden
und zu Lotte getreten. Sie zögerte. »Na, zum Stillsitzen sind wir doch
nicht hergekommen. Hier tollt man sich aus. Wer genug getollt hat, mag
sich setzen, ich fange erst an, komm.« Sie war aufgestanden, er umfaßte
sie und tanzte mit ihr in den Saal hinein.

»Lottes durchgeistigte feine Züge neben diesem Urbild der Kraft
zu sehen, ist reizvoll,« sagte Ebba. »Wenn die beiden einen Kampf
miteinander zu bestehen hätten, wer würde siegen? Brutalität oder
Geist?«

»Wie kommen Sie auf den Gedanken, Frau Ebba?«

»Ich muß bei Männern von ausgesprochenem Despotismus immer an Kampf und
Auflehnung denken.«

»So lieben Sie den Mann als Herrn nicht?«

Sie sah ihn an. »Glaubten Sie das?«

»In Ihnen, Frau Ebba, steckt soviel echte Weiblichkeit, ein so großes
Gefühl des Sichanschmiegenmüssens, daß man annehmen sollte, Sie würden
so empfinden.«

»Es ist doch sonderbar, daß es so wenig Männer gibt, die Mann und
Frau als nicht gleichberechtigt betrachten können. Die den Mann als
Krone der Schöpfung immer über das Weib stellen, zu dem wir anbetend
emporschauen sollen.«

»Sie irren, Frau Ebba. Wir Männer wissen, daß wir die Frau von heut mit
anderen Augen betrachten müssen, als die Frau von vor dreißig Jahren.
Die Frauen haben gezeigt, was sie zu leisten imstande sind, sie haben
sich Berufe geschaffen und erobert. Sie haben gezeigt, daß sie imstande
sind, auf eigenen Füßen im Leben zu stehen. Sie haben sich eine Bildung
angeeignet, die vollwertig der des Mannes ist. Heut ist die Frau die
Kameradin des Mannes geworden. Und doch -- trotzalledem wird die
Kameradschaft zwischen Mann und Frau in die Brüche gehen -- allemal --
wenn die Frau nicht zum Manne emporblicken kann. Ich glaube, auch Sie
empfinden so, Frau Ebba. -- Jede echte Frau muß meines Erachtens nach
so empfinden -- und in diesem Sinne bitte ich meine Worte von vorhin zu
deuten.«

Ebba sagte nachdenklich: »In dem Sinne haben Sie allerdings recht. Ich
würde es auch für beide Teile als ein großes Unglück betrachten, wenn
die Frau in irgendeiner Weise sich höherstehend als den Mann betrachten
müßte.«

»Ergo -- holde Griechin -- er soll dein Herr sein.«

Sie lachte. »Unsinn! Aber schauen Sie, da kommt Fräulein von
Wangenheim. Wer mag der schlanke Ritter sein, mit dem sie wandelt?«

Gerda war mit ihrem Begleiter an den Tisch getreten.

»Die Sternenkönigin,« begrüßte sie Winkelmann.

»Und Sie ein Mönch?? Man muß gestehen, Sie haben wirklich eine Maske
gewählt.«

»Keine Maske, meine Königin. Ein neuer Mensch steht vor dir. Einer, der
in sich gegangen. Der den Versuchen dieser Welt entsagt hat.«

»Und wenn ich einen Versuch machen wollte?«

»Du wolltest?«

»Um dich Lügen zu strafen.«

»Bist du deiner Macht so sicher?«

Sie wurde einer Antwort enthoben, atemlos kam Lotte an den Tisch
gestürzt, der Maler hinter ihr her.

»Er gibt mich nicht frei, rettet mich.« Sie sank auf Gehrings Stuhl,
der aufgesprungen war.

Der Maler versuchte sie wieder emporzuziehen.

»Ich kann nicht mehr, du Ungeheuer. Willst du, daß ich mich zu Tode
tanze?«

»In meinen Armen zu Tode getanzt -- da hättest du einen schönen Tod
gefunden.«

»Ich danke. Ich würde doch einen anderen Tod vorziehen.«

Des Malers Augen fielen auf Gerda. »Ah, da ist ja die Gnädige, und wie
mir scheint, die passende Gesellschaft ist auch gefunden.«

Durch die Tür drängte sich jetzt eine Gruppe spielender Kinder. Frauen
in Hängekleidchen, Wadenstrümpfen und Babyhauben. Ein paar junge Herren
in Matrosenanzügen. Ein alter, dicker Herr als Kinderfrau jagte die
Gesellschaft vor sich her, schlug und neckte die kleinen Mädchen. Eine
›Kleine‹ in weißen Spitzenröckchen mit hellblauen Wadenstrümpfen, einem
Häubchen auf dem blonden Lockenkopf, hängte sich dem Alten um den Hals
und bettelte: »Nicht böse sein, Tinnerfrau. Ich dans artig bin.« Und
der Alte schmatzte einen Kuß auf die jugendlich rosenrot gemalte Wange.

»Ist das nicht der Gipfel der Geschmacklosigkeit?« höhnte der Maler.
»Glauben die Damen wirklich dadurch jugendlich zu wirken? Ich taxiere
keines dieser Kinder unter dreißig Jahre alt. Wie finden Sie die
Maskerade, gnädige Frau,« wandte er sich an Ebba. Die hörte ihn nicht.
Blaß, mit großen, entsetzten Augen saß sie da und starrte auf die
Gruppe. Ihre Hand krampfte sich in die Schulter der neben ihr sitzenden
Lotte Wunsch, und sie murmelte: »Thea -- Lotte, es ist Thea -- wie
schrecklich.«

»Ob sie uns sehen wird?«

Nein, sie tollten vorüber, und Thea hatte sie nicht gesehen. Sie wurde
von den Knaben umringt, die bettelten: »Komm, spiel mit uns,« und sie
warf ihnen ihren Ball zu, um den sie sich balgten.

Ebba atmete befreit und schaute nach dem Maler. Der hatte ihre
Verlegenheit bemerkt, ahnte den Zusammenhang, und hatte sich derweilen
an eine neue Flasche Sekt gemacht.

»Wie wäre es, wenn Sie Ihre Studien ein wenig weiter betrieben? Ich
stelle mich Ihnen gern zur Verfügung. Die Stimmung ist jetzt so recht
auf der Höhe. Kommen Sie, lassen Sie uns ein wenig umherstreifen.« --

In dem großen Saale ist ein Gedränge, daß es schier unmöglich
scheint, vorwärts zu kommen. Er nimmt sie fest unter den Arm, drängt
und schiebt mit Scherz und Lachen die Umstehenden auseinander und
dringt unaufhaltsam voran. Getanzt wird in Ecken und Winkeln, auf den
Korridoren und Treppenabsätzen. Man tanzt fest aneinandergeschmiegt --
voll Gier -- im Taumel.

In einer Ecke steht ein Kreis von Menschen um ein Tango tanzendes
Paar. Tanzen sie? Nein, sie führen eine Pantomime auf. Eine Pantomime
des Blutes, der Wollust, der Sinnlichkeit. Die Umstehenden schauen
atemlos, mit gierigen Augen, auf das Paar. Als sie geendet, klatschen
sie Beifall. Ein bleicher Jüngling stürzt zitternd auf das Weib zu,
umschlingt sie und flüstert heiß: »Komm«. Sie lacht. »Komm, tanzen,«
drängt er. Er nimmt sie in seine Arme und flüstert heiße, bettelnde
Worte in ihr Ohr.

Ebba ist blaß. Sie gehen weiter. Wieder eine Gruppe von Zuschauern um
ein einzeln tanzendes Weib. Ein überschlanker, weißer Körper, über den
ein Kleid von schwarzen Pailetten wie eine Haut gespannt. Nur der Leib
ist von rosenfarbenem Trikot bekleidet. Oberkörper und Beine schimmern
nackt durch das flimmernde Gewand. Eine der Achseln, die das Kleid
halten, ist heruntergerutscht, so daß die eine Seite der Brust sichtbar
wird. Sie tanzt. Ist ganz aufgelöst, wie in taumelnder Ekstase. Tanzt
mit geschlossenen Augen und bebend geöffneten Lippen. Plötzlich bleibt
sie stehen, stößt einen Schrei aus und taumelt einem der Umstehenden in
die Arme. Der drückt seine Lippen auf die nackte Brust. Die Umstehenden
lachen, und einer sagt: »Donnerwetter, das ist stark.« Ein anderer
antwortet: »Was wollen Sie. Man lebt sich nur ein bißchen aus.« »Na,
ich danke.«

»Bitte, lassen Sie uns zurückgehen,« bittet Ebba. Der Maler lacht. »Sie
hörten ja, gnädige Frau: man tollt sich nur aus.«

Sie waren an die große Treppe gelangt, die zu den unten liegenden
Garderoben führte. Die ganze Treppe ist malerisch belagert. In großen
und kleinen Gruppen liegen sie umher, Männlein und Weiblein, in buntem
Gemisch. Meist sind es Pärchen. Er und sie. Eng umschlungen. Küssend
und kosend.

Karneval!

Eine glutäugige Zigeunerin kommt ihnen entgegen und hängt sich dem
Maler an den Arm. »Komm, trink mit mir, du Wilder. Ich habe dich schon
lange gesucht. Laß die Griechin, die hat Fischblut in den Adern. Komm,
ich verschmachte.«

»Geh, und laß mich in Ruhe. Kühle dein Blut mit anderen!«

»Ich will, daß du kommst!« zischt sie.

»Geh,« und mit einem Ruck schüttelte er sie ab.

Sie sieht ihn böse an. »Du willst es -- ich gehe.«

Sie gehen zurück. An der Tür, die zu dem Nebensaal führt, in welchem
sie ihren Tisch haben, hat ein Leierkastenmann mit seinem Weibe
Posten gefaßt. Unentwegt dreht er seine Orgel, während das junge Weib
jedem Vorübergehenden einen Teller entgegenhält. Die großen braunen
Sammetaugen schauen bittend und bettelnd auf Ebba. Der Maler hat die
Börse gezogen und legt ein Geldstück auf den Teller. »Was du für
schöne Auge hast.« Und er greift nach dem Kinn der Bettelfrau, um ihr
das Antlitz zu heben. Einen Schritt nur, einen einzigen, weicht sie
zurück, ernst und vorwurfsvoll treffen ihn ihre Augen -- und seine
ausgestreckte Hand sinkt zurück.

Ebbas Blicke leuchten auf. Mit einem warmen Blick umfängt sie das Weib,
und zu dem Maler spricht sie: »Nicht alle tollen sich aus.« -- --

Gerda hatte mit Winkelmann getanzt.

Er hält sie noch umschlungen und flüstert: »Führe mich in Versuchung.«

Sie lacht. »Mönchlein, Mönchlein, gelüstet es dich, deine
Standhaftigkeit zu zeigen?«

»Ich will schon auf Erden im Fegefeuer schmachten.«

»Schwörst du mir, standhaft zu bleiben?«

»Ich schwöre. Wie du auch locken magst, ich widerstehe. Das heißt, der
Packt gilt nur für heut.«

»Glaubst du, daß mir morgen noch die Laune danach steht? Also komm,
tanzen wir noch einmal!«

Er schlingt seinen Arm um sie, und sie schmiegt sich fest, immer fester
an ihn an. Er fühlt ihren Körper. Er spürt jeden Schlag ihres Herzens
an seiner Haut. Das Blut rollt ihm wild durch die Adern. Dicht unter
seinen Augen, an seiner Schulter, ruht der weiße Hals. Jetzt sieht
sie verführerisch zu ihm auf. Die geöffneten Lippen fordern: küsse
mich doch! Er lockert seinen Arm ein wenig und lächelt ruhig. »Tanz
schneller,« flüstert sie. Nun drückt er sie fest an sich und tanzt im
wilden Tempo mit ihr durch den Saal.

Fest -- immer fester.

»Halt, halt, ich kann nicht mehr!« stöhnt sie.

Sofort hält er ein und gibt sie frei. Ganz atemlos legt sie ihre Hand
auf seine Schulter, lehnt sich leicht an ihn und sagt: »Du tanzest gut.«

Er nickt nur. Wilder jagt ihm das Blut durch die Adern. Er hätte sie
an sich reißen und sie mit seinen Küssen ersticken mögen. Wie sie ihn
reizen, wie sie mit ihm spielen konnte! War es wirklich nur Spiel?
Blieb sie innerlich kalt?

Quälen wollte sie ihn, und sie tat es mit Vergnügen. Ja, er fühlte, daß
sie Freude daran hatte. Warte nur, das sollst du mir büßen. Mir bist du
doch verfallen. Ich liege auf der Lauer und werde deine schwache Stunde
erspähen.

»Wollen wir ein Glas Sekt trinken?« fragt sie ihn.

»Willst du an den Tisch zurück?«

»Nein, ich will mit dir allein sitzen.«

»Was so einem Mönch doch alles in den Schoß fällt. Also komm. Dort
das Pärchen macht uns gerade Platz. Eine behagliche, dunkle Ecke,
geschaffen zum Kosen.«

Sie schlürft langsam den Wein und sieht ihn an. Er hält seine Augen
fest in die ihren gesenkt, als wollte er sie zwingen.

»Ich glaube, du kannst grausam sein.«

»Ich weiß das nicht.«

»Macht es dir Freude, mich zu quälen?«

»Ja,« lacht sie girrend.

»Du bist kokett.«

»Vielleicht.«

»Ich muß dir aber gestehen, daß es mir durchaus nicht schwerfällt,
deiner Lockung zu widerstehen.«

Sie sieht ihn an. Spricht er die Wahrheit? Sie wußte, er war in ihrem
Bann, sie wußte, daß er sie als seine Beute betrachtete. Oh, daß er es
wagte! Es reizte sie, diesen Mann zu quälen, zu peinigen. Ja, es war
wahr, eine grausame Freude fühlte sie. Am Narrenseile wollte sie ihn
führen. Das sollte ihre Rache sein.

Sie lachte, ein leises, girrendes Lachen. Sie hatte schnell getrunken.
Das Blut prickelte ihr in den Adern. Sie schloß für einen Moment die
Augen. Herrschen und beherrschen. Eine Welt zu ihren Füßen. Das war
lachendes, jauchzendes Leben.

»Oh -- ein vom Himmel gefallener Stern.« Der schlanke Ritter stand vor
den beiden und sah sie mit kläglicher Miene an.

»Sanft vom Himmel herniedergeglitten, um die Menschenkinder zu
ergründen, mein Ritter,« spricht Gerda.

»Eine schwere Aufgabe hast du dir da gestellt, mein schimmernder Stern.«

»Ich wähnte sie schwer und fand sie spielend leicht.«

»So hast du deine Aufgabe schon gelöst?«

Sie nickt.

»Und darf man fragen, wie hast du die Menschen gefunden?«

»Bah --,« sie verzieht höhnisch den Mund. »In allen wohnt eine
grenzenlose Gier, ein wütender Hunger nach Liebe. Sie sind toll nach
Liebe, nach Zweisamkeit.«

Sie hat es verächtlich gesprochen, daß die beiden Männer sie überrascht
ansahen.

»Und das gefällt dir nicht? Daraus machst du den Menschen einen
Vorwurf?« Winkelmann hatte sie gefragt.

»Jawohl, das tue ich.«

»Sie, eine Frau, Sie wollen die Liebe verbannen?« sagt Reitzenstein.

»Das will ich nicht. Aber ich will nicht, daß die Menschen sich von ihr
beherrschen lassen. Daß sie zügellos ohne Besinnen sich ihr hingeben.
Und daß die Liebe schmutzig, häßlich und gemein wird.«

»Aber, mein gnädiges Fräulein,« Reitzenstein sagt es erregt, »wie
können Sie so sprechen? So sprechen, als von allen Menschen. Diese
Vorwürfe können Sie doch nur einer kleinen Minderheit machen!«

Gerda lächelt ironisch. »Sie glauben?« Sie macht eine kleine
Handbewegung und deutet in die Runde. »Bitte, schauen Sie um sich, und
sehen Sie den Menschen in die Augen.«

Und da waren Augen, hungrige, bettelnde Augen, die flehten um Liebe.
Und andere, flackernd und heiß, die forderten Lust. Und gierige, die
fraßen sich fest und wühlten und wühlten durch Mark und Bein und
machten das Blut aufpeitschen, daß die Sinne schrien nach Befriedigung.
Und noch andere, lüstern und scheu, die sprachen von heimlichen Sünden,
von Tollheit und Rausch. Und Arme umschlangen sich. Lippenpaare lagen
aufeinander und tauschten Kuß um Kuß.

Dann sahen die beiden Männer auf die Augen, die kühl und klar, herrisch
sie anblickten.

»Sterne sind nicht von dieser Welt. Kehre an deinen Himmel zurück,
Königin.«

»Oh, nein, ich werde bleiben. Bleiben in dieser Welt. Gehöre ich auch
nicht zu ihr, so will ich doch leben in ihr. Doch nun an die Arbeit.
Kommen Sie, Herr von Reitzenstein, jetzt tanzen wir. Und du, Mönch,
geh’ und predige Entsagung!« -- --

                                *  *  *

Es war zwei Tage nach dem Künstlerfest. Ebba saß in der Kaminecke
und erwartete ihre Freunde. Ein wenig würden sie wohl noch auf sich
warten lassen. Zeit für sie, ihren Gedanken nachzuhängen. Die Scheite
im offenen Kaminfeuer knisterten und verbreiteten eine wohlige Wärme.
Ebba dachte an Thea Westphal. Ob Inge ›das ballspielende Kind‹ gesehen
hatte? Und Lukas! Wo war Lukas gewesen? Kümmerte er sich denn gar nicht
um seine Frau? Hatte er sich auch mit seiner Frau auseinandergelebt, so
war doch Inge da, ihr gegenüber hatte er Pflichten. Sie konnte ihm den
Vorwurf der Schwäche und Charakterlosigkeit dieser Frau gegenüber nicht
ersparen. Und doch hatte sie ein grenzenloses Mitleid für ihn.

Leise öffnete sich die Tür, und der, an den sie eben so lebhaft
gedacht, stand vor ihr.

»Lukas, du?«

Er sah blaß und übernächtigt aus. In seinen Augen lag ein scheues,
flackerndes Zucken. Schwer ließ er sich in den Sessel fallen. Er sah
sich um. Hier war es still und milde. Ja, hier war seine Zuflucht.

Eine sanfte Helle lag über dem zierlich gedeckten Teetisch, während
der andere Teil des Zimmers in Halbdämmer lag. Die Bilder, die ruhigen
Möbel! Er dachte an grell bestrahlte Räume voll Prunk und an eine Frau,
die nur von Vergnügungen und Eitelkeiten wußte.

Es schien, als fröre ihn.

»Lukas, was hast du! Du frierst?«

»Ich friere innerlich, Ebba.«

Sie schenkte ihm Tee ein und beobachtete ihn. Er schien verstört, sein
Aussehen beunruhigte sie.

»Was ist geschehen?«

Er lächelte mühsam und wehrte ab.

»Mir ist nicht ganz wohl. Die Aufregungen -- Geldsachen --«

»Lukas, du kannst so nicht weiterleben, du gehst ja zu Grunde.«

Da sank der Mann zusammen und stöhnte qualvoll: »Hilf mir, Ebba, ich
bin am Ende!«

»Ich helfe dir, Lukas, aber sprich offen mit mir, was dich bedrückt.«

Er sprach stoßweise. »Meine aufreibendste Arbeit ist, in nächtlichen
Stunden ausgleichende Rechnungen aufzustellen, Gelder aufzunehmen --
Ordnung zu schaffen. -- Thea -- weißt du -- jeder Begriff von Zahlen
fehlt ihr -- das Geld muß herbeigeschafft werden -- es ist nicht immer
leicht -- weißt du -- und das letzte Mal -- ich konnte nicht aus
eigenen Mitteln decken -- war nach anderer Seite zu stark engagiert --
glaube mir, ich habe entsetzlich gelitten -- habe eine ganze Woche die
Hand am Revolver gehabt -- -- --«

Ebba war, leichenblaß, aufgefahren.

»Bleib ruhig. Es ist noch mal vorübergegangen. Und nie wieder --
das verspreche ich dir -- sie muß vernünftig sein -- wir müssen uns
einschränken -- es ist immer noch genug, um anständig zu leben --
aber sie -- Thea -- sie kann das Leben nicht so genießen, wie sie es
wünscht --«

»Wir sind nicht zum Genießen auf der Welt, das hättest du deiner
Frau längst beibringen sollen. Daran geht ihr modernen Menschen ja
zu Grunde. An der Gier nach Geld und Genuß. Du und Thea, ihr habt in
dieser eurer Gier eure Pflichten versäumt. Zweck des Daseins ist:
Pflichterfüllung. Meinst du nicht, du hättest mehr für deine Frau und
dein Kind getan, wenn du ihre Seelen und ihren Charakter gebildet
hättest, statt sie mit kaltem Gold zu versehen?«

Schuldbewußt senkte er das Haupt. »Ich bin schwach gewesen, ich weiß
es. Meine Inge! Ja, sie wird nicht erzogen. Und ich -- ich kann mich
nicht um sie kümmern -- ich habe keine Zeit -- ja, wenn man Zeit
hätte --«

»Du wirst jetzt Zeit haben, Lukas. Du wirst dich zurückziehen, und ihr
werdet von den Zinsen deines Kapitals leben können.«

»Ebba, -- nachdem ich den -- den Fehlbetrag gedeckt -- besitze ich kein
Vermögen mehr.«

»Ist alles gedeckt, Lukas? Sprichst du auch offen zu mir? Du weißt, ich
helfe dir.«

»Alles.«

»Dann mußt du natürlich bleiben, aber du mußt deine anderen Tätigkeiten
einschränken. Du darfst deine Nerven nicht ruinieren, du mußt dich
deiner Tochter erhalten.«

»Aber Thea?«

»Du mußt mit ihr sprechen. Sie muß vernünftig werden.«

Er seufzte. »Du weißt nicht, wie oft ich sie schon gebeten habe,
weniger Geldausgaben zu machen, nur auf kurze Zeit. Hätte sie es getan,
wir wären nicht so weit gekommen. Sie kann es nicht, Ebba, sie kann
nicht.«

»Sie muß. Sprich offen mit ihr, beschönige nichts. Du wirst sie an
deiner Seite finden, Lukas, vielleicht findet ihr euch dadurch wieder
zusammen. Sie wird einsehen, daß ein großes Teil der Schuld auf ihrer
Seite ruht. Und das wird sie vernünftig machen.«

»Du siehst sehr rosig, Ebba. Ich glaube nicht an Theas Einsicht.«

            ----------------------------------------------

Lukas war gegangen. Lotte Wunsch und Gehring saßen jetzt Ebba
gegenüber. Man sprach von dem Künstlerfest.

»Ja, meine Gnädige, da haben sie das Resultat. Der Kultus des
lieben ›Ich‹, die Predigten vom Rechte der Sinnlichkeit, hat viel
Lebensverwirrung gezeitigt.«

Ebbas feines Gesicht verzog sich schmerzlich. »Mir scheint, als tanze
man hier auf einem Vulkan, als müsse der Krater sich öffnen und
Verderben speien. Als müßten rotglühende Flammen hervorschießen und
alles mit sich reißen in Nacht und Grauen.«

Gehring sah sinnend vor sich nieder und erwiderte: »Wir leben in einer
Zeit verächtlicher Gleichgültigkeit der Menschen untereinander. Die
Menschen müssen wieder lernen, einander entgegenkommen, müssen aus der
Oberflächlichkeit unseres heutigen Gesellschaftslebens zurückkehren zu
einfachen Sitten.«

»Mir scheint, das hieße neue Menschen schaffen.«

»Die Menschen müssen erwachen. Sie müssen den Abgrund sehen, dem sie
entgegensteuern. Große Ereignisse müssen sie aufrütteln.«

»Ja, die Menschheit befindet sich auf einer schiefen Ebene, von der nur
ein großes Naturereignis sie ablenken kann,« sagte Lotte.

»Ich denke nicht an ein Naturereignis. Nein, Schmerz und Leid, Elend
und Grauen, kann nur der Mensch dem Menschen bereiten. Die Menschheit
muß zur Tiefe des Gemüts gelangen, das kann sie nur durch Wunden, die
der Mensch dem Menschen schlägt.«

Ebba schauerte zusammen. »Ein Wüten von Mensch zu Mensch? Auf eine so
niedere Stufe wollen Sie die Menschheit stellen? Uns, die zivilisierte
Welt?«

»Zivilisation ist etwas Anerzogenes. Sie kann hinweggespült werden. Ein
Teil Bestie steckt in jedem Menschen.«

»Man könnte wirklich vor sich selbst schaudern, wenn man Sie beide
hört.«

Lotte lachte. »Die Bestie wird nur gefährlich, wenn sie gereizt wird.
Lassen wir sie in Frieden ruhen und sprechen wir von anderen Dingen.
Wie geht es Inge, Ihrem Schützling?«

»Ich habe viel Freude an ihr. Das Mädel hat Herz und Gemüt, und ich
hoffe, daß sie auf dem jetzigen Wege bleiben und vorwärtsschreiten
wird.«

»Hüten Sie sie nur vor dem Einfluß der -- -- anderen jungen Mädchen,
Ebba.«

»Ich glaube, jetzt ist nichts mehr zu fürchten.«

»Solange sie in Liebe und Verehrung an Ihnen hängt, sicher nicht. Ach,
wenn die Mütter doch bedenken wollten, welche erzieherische Wirkung ein
gutes Vorbild bei der jungen Generation hat.«

Gehring sah nachdenklich auf die beiden Frauen.

Mutter!

Lotte seine Frau und Mutter seiner Kinder! Sie, die Künstlerin --
Mutter! Und jetzt kam es ihm zum Bewußtsein, daß sie einen Beruf hatte,
einen Beruf, den sie liebte, der sie ausfüllte. Wem würde sie gehören?
Ihm oder ihrer Kunst. Ging nicht eines auf Kosten des anderen?

Er suchte ihre Augen. Und in den Augen lag ihre Seele. Eine Woge von
Liebe und Verlangen schoß ihm entgegen, daß ihm war, als müsse er in
dieser Flut sanft versinken. -- --

Eine große Stille lag über dem Raum.

Sie saßen schweigend beisammen und hingen ihren Gedanken nach.

Und in diese Stille plötzlich ein lauter, scharfer Ton.

Thea Westphal stand in der Tür.

Ebba war aufgefahren. Hatte sie denn die Macht, Menschen, an die sie
intensiv dachte, herbeizuziehen?

»Störe ich?«

»Nicht im mindesten, komm, nimm Platz.«

»Gott, wie gemütlich. Eigentlich möchte ich mich gar nicht setzen, denn
es sieht aus, als bliebe man in dieser Gemütlichkeit hier kleben, und
dazu habe ich ganz und gar keine Zeit.«

»Das kann ich mir denken, Thea. Aber soviel Zeit, eine Tasse Tee zu
trinken, wirst du wohl haben.«

»Ach, Fräulein Wunsch, wie entzückend haben Sie neulich auf dem
Künstlerfest ausgesehen, rot ist Ihre Farbe, Sie sollten sie mehr
bevorzugen, habe ich nicht recht, Herr Gehring? Übrigens, Ebba, wie
hast du dich amüsiert? War es nicht herrlich? Auf so einem Fest
kann man sich doch richtig austoben. Ach, ich liebe diese Berliner
Karnevalfeste.«

»Haben Sie, gnädige Frau, einmal in Süddeutschland einen Karneval
mitgemacht?« fragte Gehring.

»Leider nein. Da soll es ja noch toller und ungezwungener hergehen.«

»Scheint Ihnen das so lockend?«

»Ich möchte mich amüsieren bis zur Bewußtlosigkeit.«

»Und wenn du dann erwachst, Thea?«

»Dann habe ich eben mein Leben genossen. Sieh mich nicht so strafend
an, Ebba. Ein paar Jahre Rausch muß ich noch haben. Sagen Sie, Fräulein
Wunsch, habe ich nicht recht? Wenn wir Frauen wissen, daß unsere
Schönheit im Schwinden begriffen, greifen wir gierig nach der Schale
des Lebens und schlürfen doppeltes Maß.«

»Ich kann da nicht mitsprechen, denn ich habe vergessen, auf meine
Schönheit zu achten.«

»Da haben Sie sich selbst das größte Unrecht getan, Fräulein Wunsch.
Und ich kann Ihnen nur dringend raten, machen Sie dieses Unrecht gut,
und holen Sie nach, was Sie versäumt haben.«

Lotte lächelte. »Ich will es versuchen.«

»Gott, Ebba! Das hätte ich ja beinahe vergessen! Ich soll dich fragen,
ob du unserem Verein beitreten willst, die Exzellenz ist natürlich, wie
ich vorausgesagt, entzückt von dir.«

Ebba wehrte erschrocken ab. »Um Gottes willen, laß mich mit
Vereinsgeschichten in Ruhe, dafür bin ich nicht zu haben.«

»Aber warum denn nicht? Du solltest das nicht von der Hand weisen.
Bedenke, du kannst dich nützlich machen, kannst vielleicht auch eine
Rolle spielen.«

»Wozu ich nicht die mindeste Lust und auch kein Talent habe, Thea.«

»Du bist mir unbegreiflich, Ebba. Nichts scheint dich aus deiner
Gleichgültigkeit herausbringen zu können. Wenn ich du wäre! Jung und --
frei --«

»Thea!«

»Ich weiß schon, ja, ich bin undankbar! Das alte Lied! Aber sagen Sie,
Herr Gehring, jung, schön und begehrt und lustlos zum Lebensgenuß,
begreifen Sie das?«

»Gnädige Frau, es kommt doch darauf an, wo man den Lebensgenuß
sucht. Der eine sucht ihn in Vergnügen, der andere in der Arbeit und
Pflichterfüllung.«

»Puh -- Arbeit nennen Sie Genuß?«

»Sicherlich.«

»Das ist mir unverständlich.« Sie zuckte die Achseln und erhob sich.
»Da habe ich mich ja richtig festgeschwatzt. Ich muß auch an die
Arbeit, zur Anprobe einer großen Gesellschaftstoilette. Und da möchte
ich Ihnen eigentlich beipflichten, diese Arbeit kann unter Umständen
auch ein Genuß sein, wenn nämlich das Kleid schick wird, Aufsehen
erregt und den Neid meiner lieben Mitschwestern hervorruft.« Und
lachend verabschiedete sich Thea.

                                *  *  *

  Gnädiges Fräulein!

  Ihr hohes Kunstinteresse und der außergewöhnliche Genuß, der Ihnen
  durch Benutzung beigelegter Karte bereitet werden dürfte, läßt mich
  wagen, Ihnen dieses Billett zu übersenden.

  Ich nehme an, daß Sie als Künstlerin groß genug denken, um sich über
  kleinliche Bedenken hinwegzusetzen. Mit den ergebensten Grüßen

                           zeichne als Ihr gehorsamster Sklave
                                     Kurt Winkelmann.

Caruso sang und Gerda hielt ein Billett zur Don Juan Aufführung in
Händen. Ein schier unerreichbarer Wunsch sollte in Erfüllung gehen!
Aber -- nein, es war unmöglich, wie konnte sie sich hinwegsetzen über
Sitte und Erziehung. Sie, Gerda von Wangenheim, durfte das nicht. Auf
welchen Weg war sie geraten?

Wie konnte er glauben -- -- --

Wie hatte er geschrieben? Er nähme an, daß sie sich über kleinliche
Bedenken hinwegsetzen würde.

Nein, für kleinlich sollte man sie nicht halten, aber Töchter solcher
Häuser, aus denen sie stammte, ließen sich nicht von Herren ins Theater
führen.

Sie war aber nicht mehr die Tochter des Hauses, sie war Künstlerin,
für sie gab es andere Grenzen als für jene. Ihr, der Künstlerin, war
erlaubt, was jenen versagt war.

Aber -- er suchte sie zu verpflichten! Und nicht nur das! Man würde
sie zusammen in der Oper sehen, sie beide in der Loge. Sie würde sich
kompromittieren, nein, sie mußte das Billett zurücksenden. Caruso! Wie
das lockte! Wirklich, mußte sie sich diesen Genuß entgehen lassen?
Schließlich war sie mit einem schönen Dank der Verpflichtung enthoben.
Und geklatscht? Was machte das schließlich aus, sie würde sich darüber
hinwegsetzen. Solange sie vor sich selbst bestehen konnte, hatte sie
nichts zu fürchten. Sie, die Künstlerin, war frei und unabhängig. Es
gab nur eines, was sie veranlassen mußte, abzulehnen -- wenn sie ihrer
selbst nicht sicher war. Er begehrte sie, da war kein Zweifel möglich.

Sie liebte ihn nicht. Eigentlich wunderte sie sich, daß er keinen Reiz
auf sie ausübte. Im Grunde war er doch ein begehrenswerter Mann, und es
schien ihr, daß er bei jeder Frau, mit der er zusammenkam, ein wärmeres
Gefühl erregte. Ob nicht doch schon, ihr unbewußt, ein Feuerfünkchen im
Herzen glühte?

Sie fühlte seine schönen, etwas verschleierten Augen auf sich
gerichtet, die sie unerbittlich prüften. Unerbittlich jegliche Hülle
durchdrangen. Die den Körper umschmeichelten und für sich in Anspruch
nahmen.

Sie schauderte.

»Nein,« sagte sie hart und laut, »nichts von Liebe fühle ich für ihn.«

                                *  *  *

Der Beifall wollte nicht enden. Immer wieder mußte der berühmte Gast
sich dankend verneigen, und immer von neuem tobte der Sturm. Gerda von
Wangenheim saß mit Kurt Winkelmann in der Loge, sie saß wie betäubt.
Sie vermochte es nicht, die Hände zu rühren. Das war Kunst -- nein,
mehr als das -- ein Genie von Gottes Gnaden stand dort auf der Bühne.
Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Ihr Atem ging erregt.

Winkelmann neigte sich zu ihr und flüsterte: »Ich höre ihn nun zum
vierten Male als Don Juan, und immer wieder ist man hingerissen von dem
Gesang dieses Künstlers.«

Gerda sah auf. »Ich war in einer anderen Welt.« Sie streckte ihm die
Hand entgegen. »Haben Sie Dank, daß Sie mir zu diesem Genuß verholfen.«

»Gnädiges Fräulein, ich bitte -- keinen Dank. Ich bin glücklich, Ihnen
dienen zu können, Sie können jederzeit über mich befehlen.«

»Bitte, keine Phrasen jetzt, Herr Winkelmann.«

»Ich spreche die Wahrheit. Meine Person, mein Vermögen steht Ihnen zur
Verfügung.«

Ihre Augenbrauen zogen sich schmerzhaft zusammen. Ihre Lippen schürzten
sich hochmütig.

»Glauben Sie, daß ich dessen bedarf?«

»Gnädiges Fräulein, Sie sind die geborene Herrscherin. Sie wollen
herrschen und beherrschen. Dazu bedürfen Sie der Menschen und des
Geldes.«

»Sie mögen recht haben.« Sie erhob sich hastig. »Kommen Sie, ich sehe
dort Herrn und Frau Direktor Westphal und möchte sie begrüßen.« -- -- --

            ----------------------------------------------

»Ich weiß nicht -- ich möchte lieber doch direkt nach Hause fahren.«

»Aber gnädiges Fräulein, die Verabredung ist getroffen. Was würde man
sagen, wenn ich ohne Sie ins Esplanade käme. Nein, das ist unmöglich!
Sie haben doch gesehen, wie Frau Thea sich mit Ihnen gefreut hat.« Er
stürzte auf das anfahrende Auto zu, öffnete den Schlag, und half ihr
hinein.

»Überhaupt nach solch einem Abend muß man noch ein wenig in angenehmer
Gesellschaft zusammen sein, und ich muß gestehen, ich preise den
glücklichen Zufall für dieses Zusammentreffen. Denn ohne die Familie
Westphal hätte ich das Vergnügen, mit Ihnen zu Abend speisen zu können,
doch wohl nicht gehabt.«

Sie sah im fahlen Schein der vorüberhuschenden Glühlampen seine lauernd
auf sie gerichteten Blicke. Und wieder kam ihr die prickelnde Lust, ihn
zu quälen und zu reizen, um ihn dann von sich zu stoßen.

Sie lachte ihr girrendes Lachen. »Vielleicht -- -- --«

»Oh -- dann -- darf ich dem Schofför -- --?«

»Nichts dürfen Sie, wir fahren ins Esplanade, wie besprochen, Sie haben
ja selbst noch eben gesagt, daß es unmöglich ist, die Verabredung nicht
einzuhalten.«

-- -- -- Als sie den Speisesaal betraten, war die Gesellschaft schon
beim Studium der Speisekarte. Gerda hätte am liebsten umkehren mögen.
Noch war ihr der Klang der Musik im Ohr, noch stand sie im Bann der
Persönlichkeit dieses Don Juan, und nun sollte sie mit gleichgültigen
Menschen zusammensitzen, von Banalitäten schwatzen, Redensarten
anhören. Wieviel lieber wäre sie allein gewesen, um den Genuß in sich
ausklingen zu lassen. Aber Thea hatte sie so bedeutungsvoll angesehen,
als sie sie aufforderte, mit ihnen zusammen zu sein. Hätte sie es
abgeschlagen, so hätte man mit Sicherheit angenommen, sie wolle mit
Winkelmann allein bleiben. Nein, es war besser so.

Oh, sie hatte es schon gelernt, die Masken zu durchschauen. Früher
sah sie nur auf die Gesichter, hörte sie nur die Worte. Sie sah die
Gesichter so, wie sie sich zeigten, nahm die Worte als das, was sie
sagten. Jetzt aber sah sie, daß die Gesichter Masken trugen, sah
dahinter die Menschen, wie sie wirklich waren, hörte hinter ihren
Worten lange Geschichten, die sie verschwiegen.

Gerda saß zwischen Thea und Herrn von Reitzenstein. Thea war von
ausnehmender Lustigkeit, von sprühender Laune. »Fangen Sie endlich
an, sich in den Berliner Strudel zu stürzen, Fräulein von Wangenheim?
Übrigens eine kluge Wahl, die Sie da getroffen haben.«

Gerda sah sie verständnislos an.

Thea deutete mit den Blicken auf Winkelmann. »Sehr reich und viele
Beziehungen, kann Ihnen nur nach jeder Richtung hin von Nutzen sein.«

»Daran habe ich wirklich noch nicht gedacht.« Gerda sagte es kühl und
abweisend.

»Nur Liebe?« Und Thea lächelte mokant.

»Auch das nicht.«

»Gnädiges Fräulein, wissen Sie, daß mich der heutige Abend glücklich
und unglücklich gemacht hat?« Reitzenstein sagte es mit betrübter Miene
zu Gerda.

»Da wäre ich begierig, Ihren jetzigen Zustand zu kennen. Ging das Glück
dem Unglück voran oder umgekehrt?«

»Sie spotten, mein gnädiges Fräulein. Aber um Ihre Frage zu
beantworten, muß ich Ihnen schon klassisch kommen:

  ›Es tut mir lang schon weh,
  daß ich dich in der Gesellschaft seh!‹

Wie glücklich war ich, Sie heut abend zu sehen, doch --«

»Bitte, Herr von Reitzenstein, geben Sie sich keinen Vermutungen hin,
und bleiben Sie ein Weilchen glücklich.«

»Hören Sie, Fräulein von Wangenheim,« wandte sich Thea an diese. »Ich
gebe jeden Winter in der Saison ein großes Fest mit Vorträgen erster
Künstler, wollen Sie an dem Abend singen?«

»Gnädige Frau, kann ich das wagen? Ich, eine unbekannte Anfängerin?«

»Ich habe es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, Sie einzuführen. Sie
müssen nur Vertrauen zu sich selbst haben. Ich will Ihnen etwas sagen:
So wie Sie sich einschätzen, so werden Sie von den Menschen bewertet.
Also: Selbstbewußtsein, viel Selbstbewußtsein, und Sie sind das, was
Sie sein wollen.«

»Gnädiges Fräulein haben doch allen Grund, an sich selbst zu glauben,«
warf Reitzenstein ein, »oder zweifeln Sie an Ihrem Können?«

»Nein, ich glaube an mich.«

                                *  *  *

»Thea,« sagte Lukas, als sie in ihrem Auto saßen und nach Hause fuhren,
»du sprachst von deinem großen Fest, welches du geben willst, du
hättest dich erst mit mir darüber verständigen sollen.«

Thea lachte. »Seit wann das? Habe ich nicht stets nach Belieben Gäste
versammelt, ohne vorher deine gütige Erlaubnis einzuholen? Seit wann
kümmerst du dich um unsere geselligen Verpflichtungen? Ich habe unser
Haus zu repräsentieren, ich weiß, was ich deiner Stellung schuldig bin,
und du weißt, daß du dich auf mich verlassen kannst.«

»Thea« -- Lukas legte seine Hand auf die Schulter seiner Frau und
sagte bittenden Tones: »Thea, ich möchte, daß du auf dieses Fest
verzichtest.«

Maßlos erstaunt sah sie ihn an. »Verzichten? Ich soll verzichten? Was
für eine Laune von dir.«

»Es ist keine Laune, es ist ein Muß, ein dringendes Muß. Wir müssen uns
einschränken, wir können nicht mehr in diesem Luxus weiterleben.«

Sie stieß seine Hand von ihrer Schulter und sagte rauh: »Verlangst du
das im Ernst von mir?«

»In vollem Ernst, Thea. Ich besitze kein Vermögen mehr. Du brauchst
nicht zu erschrecken. Wir können immerhin noch sehr anständig
leben, denn ich beziehe hohe Gehälter, aber deine Ansprüche mußt du
herabmindern.«

»Hast du gespielt?«

»Thea -- alles ist draufgegangen für dich -- unser Haus. Ich habe dich
oft gebeten, sparsamer zu sein -- du hast nicht auf mich gehört --«

»So -- nun bin ich wohl gar an deinem Ruin schuld?« Sie lachte hart
auf. »Du machst es dir leicht. Wälzest alle Schuld auf mich ab. Du bist
doch der Mann, was ließest du mich gewähren?«

Er senkte das Haupt. »Ich habe es dir oft gesagt, Thea, du wolltest es
nicht glauben. Aber du hast recht. Der Schuldige bin ich allein, ich
bin zu schwach gewesen, ich fürchtete deine Tränen, deine Verzweiflung.«

»Ich werde nicht verzweifeln, ich werde mich abfinden, aber eines
verlange ich noch von dir, wir geben dieses Fest wie alle Jahre, bis
dahin soll niemand merken, daß wir arm sind, niemand, hörst du?«

»Ich bitte dich, wozu sich noch diese Ausgabe machen? Dieses Fest würde
einen großen Teil meines Jahreseinkommens verschlingen. Es wäre besser
angewandt für deine und Inges Bequemlichkeit.«

»Ich bestehe darauf.«

Das Auto hielt vor ihrem Hause.

»Ich will noch nicht nach Hause. Meinst du, daß ich schlafen kann,
nach dem, was du mir mitgeteilt? Ich will Menschen sehen, strahlende
Helligkeit, will Wein trinken und lustig sein! Noch schlürfen den
Becher der Freude -- schnell, wir fahren in den Pavillon Mascotte!«

»Thea, was fällt dir ein, du bist von Sinnen, komm, sei vernünftig!«

»Wenn du nicht mitkommst, fahre ich allein.« Und sie riß die Tür auf
und gab dem Schofför die Weisung. Thea hatte sich auf das Polster
geworfen und lachte. »Noch sind wir nicht arm, hörst du, noch nicht!
Noch sechs Wochen Galgenfrist, dann hinunter zu den Proletariern!«

»Du bist krank, Thea, wie kannst du so sprechen? Ich habe ein Einkommen
zwischen zwanzig und dreißigtausend Mark, das nennst du arm sein?«

»Bah -- was ist das? Für Bekleidung brauche ich jährlich zehn bis
vierzehntausend Mark. Eines meiner Feste kostet allein an sechstausend
Mark. Der Haushalt, das Auto -- lächerlich --.«

Der Wagen hielt.

»Thea, ich beschwöre dich, laß uns umkehren. Ich kann in dieser
Stimmung nicht in ein Tanzlokal gehen. Du bist aufgeregt. Komm zu dir
und sei vernünftig.«

Sie sprang aus dem Auto, stolperte und fiel gegen zwei Herren, welche
soeben das Lokal verlassen hatten.

»Hopsa!« rief der eine und fing sie auf.

»Fußfall ist nicht vonnöten, Gnädigste.«

Die beiden schienen in angeheiterter Stimmung und einem Abenteuer nicht
abgeneigt. Da stand Lukas neben seiner Frau, zog den Hut und dankte für
die Hilfe.

»Herr von Gernsheim,« lachte Thea, »welch ein Zusammentreffen!«

Seine Augen blitzten ihr entgegen, und er verbeugte sich tief. »Ein
Zufall, den ich glücklich preise, gnädige Frau.«

»Mein Mann,« stellte Thea vor.

»Gernsheim,« »Andersen.«

»Wenn die Herrschaften gestatten, kehren wir noch mit ihnen zurück.«

»Gern,« erwiderte Thea, »ich brauche lustige Gesellschaft,« und sie
ging mit Gernsheim voraus.

»Einziges Weib, das ist ja ein göttlicher Zufall. Ich hatte rasende
Sehnsucht nach dir, wollte mich hier betäuben, es ging aber nicht. Du
ahnst ja nicht, welches Verlangen ich nach dir habe. Eine ganze Woche
hast du mich warten lassen. Wann sehe ich dich?«

Er nahm ihr den Mantel von den Schultern und preßte einen heißen Kuß
auf ihren Hals.

»Vorsicht, du Tollkopf!«

»Wann kommst du?«

»Morgen.«

Sie betraten den Saal.

Thea war von sprudelnder Lustigkeit, sie schüttete den Sekt hinunter,
als wäre er Wasser. Sie tauchte ihre Fingerspitzen in das Eiswasser und
fühlte ihr Blut prickeln. Sie fing die Blicke der Männer auf und gab
sie strahlend zurück. Gernsheim wurde eifersüchtig. Hart setzte er sein
Glas auf den Tisch, daß es zerbrach. Thea, die ihm gegenübersaß, lachte
leise. Da fühlte er schmeichelnd und liebkosend einen kleinen, zarten
Frauenfuß auf seinen Knien. Seine Hände preßten schmerzhaft diesen Fuß.
Das Blut schoß ihm ins Gesicht, seine Blicke sprachen: ›Komm!‹

»Ja,« flüsterte sie über den Tisch hinüber und stand auf. Lukas und
Andersen, im Gespräch vertieft, merkten nicht, daß auch Gernsheim
verschwunden.

Als Thea bleich, mit glänzenden Augen, durch den Saal zurückkehrte,
sah sie an den Blicken, die sie verfolgten, die Welt gehörte ihr, nur
zuzugreifen brauchte sie. An jeder Ecke sah sie ein Abenteuer auf sich
warten, und jeder Männerblick deutete ihr einen Sieg. Nein, wahrlich,
sie brauchte nicht zu verzweifeln.

                                *  *  *

Gerda hatte auf ihrem Spaziergange Thea Westphal getroffen. Es war ein
kalter, feuchter Märztag. Wind und Regen peitschten die Luft. Thea,
ärgerlich auf der Suche nach einem Auto, fand sich plötzlich Gerda von
Wangenheim gegenüber.

»Auch Sie unterwegs bei dem Wetter?«

»Das macht mir nichts. Ich bin an meinen täglichen Spaziergang gewöhnt
und kann ihn nicht missen.«

»Kein Auto zu bekommen! Die feuchte Luft geht mir schon bis auf die
Haut. Kommen Sie, wir gehen ins Kaffee des Westens, eine Tasse Kaffee
wird uns gut tun.«

Plaudernd saßen sie beisammen. Thea, durch die wohlige Wärme, durch die
bewundernden Männerblicke wieder ganz in Stimmung, sagte: »Ich freue
mich, wie Sie sich den Berliner Verhältnissen angepaßt haben. Nicht
nur, daß Sie sich elegant und schick, nein, mehr als das, raffiniert
kleiden, scheint es, daß Sie auch von dem Vorrecht der Dame von Welt,
freieren Sitten huldigen zu dürfen, Gebrauch machen. Sie fangen an, ein
moderner Mensch zu werden.«

»Ich habe mir ein Ziel gesetzt, Frau Westphal. Ein Ziel, das ich
unbeirrt verfolgen werde, ich gehe darauf zu. Ich muß ein moderner
Mensch werden, um zum Ziele gelangen zu können.«

»Bravo, behalten Sie Ihr Ziel im Auge! Sie sind jung und schön, die
Männer werden Ihnen zu Füßen liegen, nutzen Sie jede Situation aus, nur
verlieren Sie nicht die Oberherrschaft. Ich glaube, Sie besitzen die
nötige Kälte, um das zu können.«

Zwei Herren grüßten und wanden sich durch die dichtbesetzten Tische.

Gernsheim und Reitzenstein.

Thea strahlte. »Famoses Zusammentreffen! Die Herren kennen sich? Davon
hatte ich ja keine Ahnung.«

»Bei diesem Wetter wagen die Damen sich hinaus?«

»Was wollen Sie, die Pflichten! Ich mußte zu einer Vorstandssitzung,
von da wollte ich noch zur Putzmacherin, konnte jedoch kein Auto
auftreiben, zitternd und fröstelnd traf ich Fräulein von Wangenheim,
eine Tasse Kaffee lockte uns --« Thea hatte die Worte lebhaft
hervorgesprudelt und sah Gernsheim mit beredten Augen an.

»Ich ahnte, daß ich Sie heute sehen würde, gnädiges Fräulein,« sagte
Reitzenstein zu Gerda.

»Glauben Sie an Ahnungen?«

»So recht eigentlich nicht. Aber mir ist es oft passiert, daß ich sehr
lebhaft von einem Menschen geträumt habe. Dann kann ich sicher sein,
mit ihm in den nächsten Tagen zusammenzutreffen.«

»Sie haben also von mir geträumt? Da wäre ich neugierig, Ihren Traum
kennenzulernen.«

»Es war ein sonderbarer Traum. Hören Sie. Sie hatten ein Konzert
gegeben und waren mit Blumen überschüttet worden. Ich durfte Ihnen
die Blumen nach Hause tragen. Büschel voll roter und weißer Rosen in
meinen Armen, stand ich vor Ihnen. Der Duft betäubte mich. Sie kamen
auf mich zu und wollten mir einen Teil der duftenden Last abnehmen. Ich
preßte die Blumen fest an meine Brust und flüsterte: ›Küsse mich!‹ Da
neigten Sie sich zu mir nieder und hauchten einen Kuß auf meine Lippen.
Und als Sie mich küßten, durchdrang meine Glieder eine Eiseskälte,
ich schauerte zusammen. ›Mein Blut erfriert unter deinem Kuß,‹ sagte
ich, und die Blumen entfielen meinen Armen und fielen nieder zu Ihren
Füßen. Und Sie setzten Ihren Fuß auf die Blüten und sagten zu mir: ›So
küsse du mich!‹ Und ich neigte mich, um Sie zu küssen, da aber sprangen
grüne Flammen aus Ihren Augen, eine Kröte saß auf Ihrer Stirn, und eine
Schlange ringelte sich um Ihren Hals. Ich wich zurück und mochte Sie
nicht küssen.«

Gerda lachte. »Ich bekomme ja Angst vor mir selber.«

»Das habe ich heute nacht geträumt.«

»Hören Sie, Fräulein von Wangenheim. Sind Sie frei heute abend?
Gernsheim schlägt vor, daß wir zusammenbleiben. Hier ganz in der Nähe
ist eine nette, kleine Weinstube, wo wir gemütlich zu Abend essen
können. Seien Sie fesch und machen Sie mit.«

Gerda zögerte.

»Ach, bitte, gnädiges Fräulein. Ist ja eine famose Idee. Bei dem
Hundewetter kann man überhaupt nichts Gescheiteres tun,« pflichtete
Reitzenstein bei. »Oder versäumen Sie etwas? Vielleicht eine andere
Verabredung?« Und er sah sie bedeutungsvoll an.

»Das nicht -- aber --«

»Kein Aber -- wir bleiben zusammen,« bestimmte Thea. -- -- --

            ----------------------------------------------

Sie waren sehr lustig gewesen. Sie hatten vorzüglich gegessen und
reichlich dem Alkohol zugesprochen. Thea konnte sich nicht genug tun im
Genuß, das Leben auf ihre Art zu nehmen. ›Genießen, genießen, Kinder,
man lebt ja nur einmal!‹ Und selig, daß sie lebte und verstand, das
Leben zu genießen, war sie mit Gernsheim zu neuem Genuß davongefahren.

»Wir können nicht zu Fuß gehen, gnädiges Fräulein,« sagte Reitzenstein,
und half Gerda in das Auto.

Schweigend fuhren sie durch die Nacht. Gerda lehnte lässig in ihrer
Ecke. In ihrem Körper war eine wohlige Wärme, ihre Stirn umfing ein
leichter Nebel. Plötzlich sagte Sie: »Küssen Sie mich!«

Reitzenstein fuhr auf und stammelte: »Gnädiges Fräulein --«

»Küssen Sie mich, ich will sehen, wie es mit der Kröte ist und mit den
grünen Flammen.«

Da umschlang er sie und bedeckte ihr Gesicht mit leidenschaftlichen
Küssen.

Sie ließ sich küssen, und als er Atem schöpfte, fragte sie: »Ist Ihr
Blut zu Eis erstarrt?«

Da mußte er lachen. »Feuer tobt mir in den Adern, du Götterweib!«

Und wieder preßte er seinen Mund auf ihre Lippen und küßte sie, daß ihr
der Atem verging. Da stieß sie ihn von sich und sagte kalt: »Genug,
hören Sie auf.«

»Gerda, küsse mich! Wie kannst du so kalt bleiben unter dem Feuer
meiner Küsse.« Und er wollte sie wieder an sich pressen.

»Lassen Sie mich jetzt.«

»Warum wolltest du, daß ich dich küssen sollte?«

»Ich wollte mein Blut erproben.«

»Meine Küsse ließen dich kalt?«

»Sie sehen es.«

»Aber die Küsse des anderen machen dir warm?«

»Er hat mich nicht geküßt.«

»Er wird es aber tun.«

»Vielleicht.« -- -- --

            ----------------------------------------------

Gerda lag lange wach und dachte nach. Sie hatte sich küssen lassen.
Nicht nur das. Sie, Gerda von Wangenheim, hat zu einem fremden Manne
gesagt: ›Küsse mich!‹ Warum das? War es der Alkohol, der ihr Blut in
Aufregung gebracht und sie Verlangen tragen ließ, nach der Umarmung
eines Mannes? Liebte sie diesen Mann?

Nichts von alledem. Nichts, als der Wunsch, ihr Blut kennenzulernen,
hatte sie getrieben, zu tun -- wie sie getan. Er hatte sie geküßt, und
nicht die leiseste Erregung ihres Blutes hatte sie verspürt. Und doch
-- eine Erregung hatte sie empfunden, einen Reiz hatte sie verspürt,
einen Reiz, die Begierde eines Mannes auflodern zu sehen, sein Begehren
anzufachen. An jenem Abend auf dem Künstlerfest, als sie festgeschmiegt
an Winkelmann mit ihm tanzte, als sie sein fieberndes Verlangen nach
ihr verspürte, hatte sie den prickelnden Reiz empfunden, den Mann
verheißungsvoll an sich zu ziehen, um ihm den Fuß auf den Nacken zu
setzen.

                                *  *  *

Lotte, glücklich im Gedanken an die nahe Vollendung ihres Werkes, stand
und prüfte ihre Arbeit. Würde es die beabsichtigte Wirkung haben?

Die Wirkung nach beiden Richtungen?

War sie frei geworden vom Banne des Häßlichen, das wie eine Kette sie
umgürtet hatte?

Sie atmete tief auf.

Ja, frei, ganz frei.

Durch ihr Werk oder durch seine Liebe?

Sie lächelte, reckte mit tiefem Atemzug die Arme empor, verschlang sie
auf ihren Kopf und warf sich auf das Ruhebett.

Und nun kam das Glück, das märchenhafte Glück. Ihr Werk in der
Ausstellung. Ihr Name in aller Munde. Emporgehoben aus der Schar der
Mittelmäßigen, gestellt neben die Großen.

Und die Wirkung des Werkes auf die Menschen?

Würden sie sich erkennen in diesem fratzenhaften Ungeheuer? Würde
Grauen und Entsetzen sie packen, sich so gegeißelt zu sehen? Würden sie
Einkehr halten und ihr Inneres reinigen von Schmutz und Schlacken?

Lotte lachte.

Jeder würde nur das Bild des anderen in diesem Medusenhaupt erspähen.
So bist du und du und du -- aber nicht ich.

Zerfleischen würden sie die anderen, ein jeder aber ist frei von
Schuld. -- --

Und dann -- -- dann wurde sie Weib -- -- dann kam die Erfüllung.

Sie schloß die Augen.

Sie liebte ihn, ihn, den Vater ihres Kindes. Sie saß neben der Wiege,
glättete die Kissen und strich sanft über die zarten, blonden Härchen.

»Paul,« flüsterte sie, »wie bin ich glücklich.« -- -- --

»Hallo, ist niemand hier?«

Sie springt erschrocken auf und reibt sich die Augen. Das Atelier liegt
in graue Abendschatten gehüllt.

»Verzeihen Sie, daß ich eindringe, Fräulein Wunsch, Sie haben
anscheinend mein Klopfen überhört.«

Arno Stürmer steht vor ihr.

»Ich hatte geträumt.«

»So habe ich gestört?«

»Sie störten mich in meinem Glück.«

»Das würde ich mir nie verzeihen. Möchte ich doch so gern das Füllhorn
des Glückes über Sie schütten.«

Seine Blicke ruhen fragend auf ihrem Antlitz. Dann schweifen sie ab und
bleiben auf dem Werk haften. Er zuckt zusammen und sieht sie erstaunt
an. Dann tritt er näher an das Werk, schaut und schweigt. Und dann
bricht er los, laut und schallend schreit er sie an: »Das haben Sie
geschaffen? Dies ist Ihr Werk? Da haben Sie es ja, das Glück, das große
Glück. Und ich will mich unterfahren Ihnen Glück zu schaffen? Sie, Sie
tragen das Glück ja in sich, Ihr Glück ist Ihr Künstlertum -- -- ich
beuge mich vor Ihrem Können, Fräulein Wunsch.«

»Meinen Sie wirklich, daß die Kunst allein Befriedigung gewährt?«

»Dem wahren Künstler unbedingt.«

»Und das Verlangen nach Liebe?«

»Aufregung, Rausch, Austoben -- erhöht die Künstlerschaft! --«

»Sie sprechen als Mann!«

»Auch bei der Frau wird es so sein, wenn sie eine wahre Künstlerin ist.
Lotte,« er ist nahe an sie herangetreten und sieht ihr leidenschaftlich
in die Augen, »Lotte -- ich liebe Sie, seit jenem Abend, als ich Sie
im Ihrem Flammenkleide sah, verzehrt mich die Sehnsucht. Lotte« --
er umschlingt sie und will sie an sich ziehen -- »laß uns versinken
in Flammen, zwei Künstlernaturen wie wir -- -- alle Flammen der
Leidenschaft springen auf -- --«

Da ist sie wieder und schlägt an ihr empor. Die Begierde!

Sie wehrt ihn von sich. Blaß, mit ausgestreckter Hand, weist sie auf
ihr Werk. »Wie ich es verabscheue, dieses maßlose Begehren.«

»Und bist doch selbst ein einziges fieberndes Verlangen.«

»Nein, nein,« schreit sie auf. Dann bedeckt sie ihr Gesicht mit den
Händen und stöhnt auf.

»Du liebst einen andern.«

Da nickte sie stumm.

»Und er nimmt dich nicht in seine Arme, er läßt dich --«

»Lassen Sie mich jetzt allein,« sagt sie kalt und beherrscht.

                                *  *  *

Gerda saß beim Frühstück und durchlebte noch einmal den gestrigen
Abend. Das große Fest bei Westphals.

Was für Triumphe hatte sie gefeiert, ganz toll waren die Männer
nach ihr, und Winkelmann -- -- sie mußte laut lachen. Eine Szene
hatte er ihr gemacht, eine unerhörte Anmaßung! Aber sie hatte ihn
zurechtgewiesen. Er würde es nicht noch einmal wagen. Und der Beifall,
nachdem sie ihren Vortrag geendet. Sie hatte nicht weniger Applaus
gehabt, als der berühmte Tenor. Sie konnte zufrieden sein.

Und Reitzenstein? Der machte ihr Spaß. Der wollte sie ergründen. Er
hatte sie gebeten, sie nach Hause begleiten zu dürfen, und sie hatte
seine Begleitung angenommen. Und da, als sie zusammen sich von Thea
verabschiedeten, war es zu dem Auftritt mit Winkelmann gekommen.

Winkelmann war auf sie zugetreten und hatte mit erregter Stimme gesagt:
»Ich begleite Sie nach Haus!«

»Ich danke Ihnen, Herr Winkelmann, aber Herr von Reitzenstein hat mich
schon darum gebeten.«

Da packte er ihr Handgelenk und zischte mit heiserer Stimme: »Das wird
er nicht tun.«

»Aber ja, er wird es tun,« und sie hatte ihn eisig angesehen und
versucht, sich von seinem Griff zu befreien.

»Weib, du bringst mich um den Verstand,« zischte er und drückte ihr
Gelenk, daß sie hätte aufschreien mögen.

Da ließ sie einen Blick über ihn gleiten, so voll Verachtung und Kälte
-- -- und er gab sie frei.

Dann saß sie wieder mit Reitzenstein im Auto wie damals. Hungrig und
erwartungsvoll hatte der kleine Leutnant sie angesehen. Schweigend
saßen sie zusammen. Sie fühlte, wie er ihr näher kam, wie sein Körper
an den ihren drängte. Jetzt versuchte er seinen Arm um ihren Nacken zu
schlingen, da sagte sie: »Wollen Sie, daß ich den Wagen halten lasse?«

»Darf ich dich nicht küssen?« flehte er.

»Sie vergessen, Herr von Reitzenstein, daß mein neulicher Einfall einer
Laune entsprang. Wenn ich geahnt hätte, daß Sie auch nur einen Gedanken
daran verschwendeten, hätte ich ihre Begleitung nicht angenommen.«

»Das Spielen mit dem Feuer könnte Ihnen gefährlich werden, Fräulein von
Wangenheim.« Sein Blut, das durch die Nähe dieser Frau und durch die
Möglichkeit ihrer Hingabe in Aufruhr war, jagte wild durch seine Adern.

»Ich könnte Sie jetzt in meine Arme nehmen, könnte Sie zwingen, mir zu
Willen zu sein,« preßte er leidenschaftlich hervor.

»Sie werden das Vertrauen einer Dame nicht mißbrauchen,« sagte sie
ruhig.

»Ich bin kein Räuber. Sie taten gut, sich mir anzuvertrauen, ein
anderer hätte die Situation ausgenutzt.«

»Mir gegenüber nicht.«

»Seien Sie nicht zu sicher. Es ist ein altes Sprichwort: Wer sich in
Gefahr begibt, kommt darin um.«

Sie lachte. »Sprichwörter sind nie zutreffend und dieses schon gar
nicht.« -- -- --

»Lächerlich,« murmelte Gerda, als sie an seine Warnung dachte. »Ich
weiß mich zu schützen.«

Leichtsinn!

War sie leichtsinnig geworden?

Nein, leben wollte sie! Leben und herrschen!

Fort mit den Grübeleien und Bedenken.

Auf sie wartete das Leben, ein schillerndes, leuchtendes Leben.

Sie wurde sich ganz klar. Sie mußte vorwärts. Sie brauchte die
Menschen, diese Menschen, deren Genossin sie geworden war. Sie erkannte
die Wirrnis, der sie entgegenschwebte. Erkannte, daß sie im Begriffe
stand, sich in einen wilden Strudel von Äußerlichkeiten zu stürzen.

Sie fühlte sich plötzlich unsäglich zurückgestoßen, ein tiefes
Erschrecken überkam sie.

Sie mußte sich retten.

Wovor?

Was tat es, wenn die Seele verkümmerte?

Hoch, aufwärts, siegen und herrschen. Bezwingen die gemeine Masse!

Künstlerin!

Vor ihr lag der Weg zum Ruhm. -- -- --

Winkelmann steht Gerda gegenüber.

»Ich bin gekommen, Sie um Verzeihung zu bitten, gnädiges Fräulein.«

Sie neigt das Haupt und bedeutet ihm, Platz zu nehmen. Ihre Augen
gleiten in grenzenloser Gleichgültigkeit über ihn hin, hochmütig
schürzt sie die Lippen. »Es ist mir gänzlich unverständlich, was Sie zu
diesem Benehmen veranlassen konnte. Ich bin mir nicht bewußt, Ihnen ein
Recht dazu gegeben zu haben.«

»Fräulein von Wangenheim, Sie wissen es, daß ich von einer
grenzenlosen Leidenschaft für Sie beherrscht werde. Einer Leidenschaft,
wie ich sie so stark noch nie empfunden. Eifersucht raubte mir die
Beherrschung. Verzeihen Sie mir.«

»Es tut mir leid für Sie, Herr Winkelmann, daß Ihr Begehren -- denn
Ihre Leidenschaft ist doch nur die Umschreibung dieses Begriffs -- so
ganz aussichtslos ist.«

Er fährt auf. »Kennen Sie eine Leidenschaft ohne Begehren? Ja, ich
begehre Sie, mit all meinen Sinnen begehre ich Sie. Ich weiß, daß Sie
keinen Funken von Gefühl für mich empfinden, und trotzdem liebe ich
Sie. Ja, ich liebe Sie. Alles würde ich hingeben, um Sie besitzen zu
können, selbst meine Freiheit. Ich würde Sie bitten, meine Frau zu
werden, wenn ich nur die leiseste Hoffnung hätte, daß sie ›ja‹ sagten.«

»Und wenn ich nun aus Berechnung ja sagte? Sie sind reich, haben
Einfluß --«

»Sie würden mich überglücklich machen.«

Sie sieht ihn spöttisch an. »Besitz ergreifen würden Sie! Nein, ich
danke für einen goldenen Käfig, ich brauche meine Freiheit.«

                                *  *  *

Ebba saß auf ihrem Fensterplatz im Erker. Das Fenster hatte sie
geöffnet, und eine warme, laue Luft strömte herein. Sonnenschein
durchflutete die Straße. Es schien, als wollten die letzten Märztage
den Frühling bringen.

Sie konnte sich nicht freuen des Sonnenscheins, es lag etwas in der
Luft, was sie belastete.

Vor ihre Seele traten die beiden Menschen, die sie lieb hatte.

Lukas! Inge!

Lukas war nicht wiedergekommen, seit jener verhängnisvollen Stunde,
in der er ihr seine Schuld bekannt. Schämte er sich? Reute ihn seine
Offenheit? Wohl hatten sie sich ein paarmal getroffen, aber unter
Menschen, wo sie keine Gelegenheit zu einem herzlichen Wort fand. Ob er
sich mit Thea ausgesprochen? Ihre Schwägerin war lustig, oberflächlich
und genußsüchtig wie stets. Sie streute mit vollen Händen das Geld
zum Fenster hinaus. Wozu das große Fest? Warum ließ er sie noch immer
gewähren?

Und Inge? Das Kind machte ihr Freude. Mit der ganzen Gewalt ihrer
jungen fünfzehnjährigen Seele hatte sie sich an sie geklammert. Nur
zu ernst war sie geworden. Brach auch oft der alte stürmende Übermut
durch, so hatte sie doch meist schwermütige Tage. Dann seufzte sie und
meinte, das Leben sei doch mehr ernst als heiter, und sie könne gar
nicht begreifen, wie man so in den Tag hineinleben könne, wie Mama.
Papa sei jetzt oft still und traurig. Oft bleibe er ruhig zu Hause
sitzen und laufe gar nicht in Eile davon wie früher. Dann wollte
er, daß sie bei ihm sitze, und ihm erzähle. Aber etwas bedrücke ihn.
Sie hatte es wohl gemerkt. ›Ach, Tante Ebba, Papa tut mir eigentlich
schrecklich leid, kannst du ihn denn nicht fragen, ob wir ihm helfen
können?‹

›Weißt du, Tante Ebba‹, sagte sie dann nach einer Pause, ›ich glaube,
es könnte viel gemütlicher bei uns sein, wenn Mama nicht da wäre.‹

›Aber Inge, wie kannst du so etwas sagen‹, hatte sie ihr vorgeworfen.

›Du kannst es mir glauben, sie bringt Unruhe ins Haus. Gemütlich ist es
nur, wenn sie nicht da ist.‹

›Du darfst nicht so denken, Inge, und so etwas nicht aussprechen.‹

›Ich muß aber offen zu dir sein -- ich denke doch so. Papa hätte es
auch viel besser.‹

An dies Gespräch mußte sie denken.

Was würde werden?

Wie würde Thea die Forderung, sich einzuschränken, aufnehmen?

Da wurde die Tür aufgerissen und Inge stürzte bleich, in voller
Aufregung, ins Zimmer.

»Tante Ebba, komm, komm schnell zu Papa! Er hat sich eingeschlossen.
Ich habe gehört, wie er gestöhnt hat, und nun sitzt er ganz allein und
läßt niemand zu sich, komm schnell, Tante Ebba, komm schnell!«

Ebba vermochte sich nicht zu rühren. Starr vor Schrecken starrte sie
auf das junge Ding zu ihren Füßen. Inge war vor ihr niedergesunken,
warf den Kopf auf ihren Schoß und weinte herzzerbrechend.

»Es ist schrecklich, Tante, denn ich bin schuld, ich habe es gewünscht,
und nun ist es so gekommen. Ich dachte, es ist gut für Papa, und nun
leidet er so!«

»So sage doch nur, was ist geschehen?«

»Sie ist fort, heut in der Früh. Als Papa nach Hause kam, lag der
Brief auf seinem Schreibtisch. -- Und sie kommt nicht wieder, hat sie
geschrieben, er braucht gar nicht darum zu bitten -- sie braucht viel
Geld -- Luxus ist ihr Lebensfreude -- -- Papa hat es halblaut gelesen
und immer wieder gelesen und wußte nicht, daß ich neben ihm stand --
und dann hat er so schrecklich gestöhnt und ist auf den Stuhl gesunken.
-- Ich weiß nicht, was noch drin stand -- er stöhnte nur immer: ›Auch
das noch, auch das noch!‹« -- -- --

Und nun stand Ebba vor dem gebrochenen Mann, der in Selbstanklagen sich
erging.

»Nur auf Gelderwerb ging ich aus und vergaß darüber die Pflichten,
die ich meiner Frau, meinem Kinde, schuldig bin. Statt sie vor den
Gefährnissen, den Verführungen, die allerorten auf ein junges, schönes
Weib lauern, zu schützen, ließ ich sie gehen -- unbeaufsichtigt
habe ich sie den Gefahren ausgesetzt. Ebba, sie war leichtsinnig,
genußsüchtig, aber nicht schlecht! Mein Gott, die arme Inge! Inge -- wo
ist Inge? Hast du sie gesprochen?«

Also durchgebrannt! Richtig, auf und davon!

»›Und damit du nicht auf den Gedanken kommst, mich zurückholen zu
wollen, ich gehe nicht allein -- -- deine Tür muß mir verschlossen
bleiben‹ -- -- so hat sie geschrieben, Ebba. Und kein Wort über ihre
Tochter.«

»Sie ist ein schlechtes, ehrvergessenes Weib, Lukas,« sagte Ebba hart,
»streiche sie aus deinem Herzen und lebe für dein Kind.«

Da sah er sie an und seufzte: »Meinst du, daß ich an dem Kinde
nachholen kann, was ich versäumt habe?«

»Das kannst du, Lukas, wenn du ernstlich den Willen hast.«

Da reichte er ihr beide Hände und sprach: »Und du wirst mir helfen?«

»Das will ich.«

                                *  *  *

Vor ihrem vollendeten Werk stand Lotte und wartete auf Gehring. Es war
das erste Mal, daß er das Atelier betrat und daß er ihr Werk sehen
würde.

Sie hatte ihm wohl erzählt, daß sie beim Schaffen einer großen Arbeit
sei, und daß sie viel davon erwarte. Aber nicht hatte sie ihm gesagt,
was ihre Absicht und was diese Arbeit für sie bedeutete. Frei und
unbeeinflußt wollte sie die Wirkung dieses Werkes auf ihn erproben. --

Und er stand und schaute. Sah und schwieg. Und stand erschüttert.

Aus einem granitenen Felsenblock ragte ein Ungeheuer. Körper und Kopf
waren eine einzige Fratze, umgeben von Hunderten von Fangarmen. Der
Ausdruck dieses Hauptes machte das Blut erstarren. Gier, Lüsternheit
und Mordlust thronten auf diesem Antlitz. Der Ausdruck dieser
Leidenschaften, dieses menschlich scheinenden Hauptes, machten es
zum Tier. Die Fangarme schienen zu leben, sich auszustrecken in
unersättlicher, nie endenwollender Gier, und über dem allen war
ausgegossen ein Ausdruck des Hohnes, als wollte dieses Ungeheuer sich
selbst verspotten ob seiner Unmenschlichkeit.

Darunter stand in großen Lettern:

                           -- _Der Mensch_ --

»Das ist eine furchtbare Anklage.«

In ihr jubelte es.

Es wirkte. Er hatte sie verstanden.

Er trat auf sie zu, umschlang sie und sagte: »Armes Weib.« Sie setzten
sich nieder und er bat: »Wie kamst du dazu?«

Und sie erzählte. Erzählte, wie durch jenes Vorkommnis ihr Leben und
Fühlen ins Herz getroffen. Wie eine eiserne Kette sich um sie gelegt,
fest und unlöslich, die sie einschnürte, jedes Liebesgefühl in ihr
erdrückte, aber wie sie sich endlich durchgerungen, wie sie den Willen
gefunden, sich zu befreien, und nun tatsächlich frei geworden sei, frei
durch ihr Werk und durch ihn.

»Und nun will ich leben, durch dich, mit dir, ein Leben in Liebe,«
schloß sie und schmiegte sich an ihn.

»Dein Leben gehört der Kunst -- -- Du bist eine große Künstlerin.« Er
war aufgestanden und ging im Atelier auf und ab.

Sie sah ihn an. Erstaunt und dann voll Schrecken.

»Deine Kunst geht über deine Liebe.«

»Was sagst du?« Die Stimme versagte ihr, sie konnte nur flüstern.
»Paul, weißt du nicht, daß ich dich liebe, wahr und wahrhaftig liebe?«

»Du liebst mich, Lotte -- -- ja -- -- aber du liebst auch deine Kunst
-- mußt sie lieben, denn sonst könntest du nicht so etwas schaffen.
Sage, kannst du dir ein Leben denken ohne deine Kunst?«

»Nein!«

»Ich müßte teilen, Lotte.«

»Willst du, daß ich meiner Kunst entsage?« stammelte sie.

»Das wäre eine Sünde. Eine Künstlerin wie du gehört der ganzen
Menschheit. Das ist es ja eben, ich darf dich der Kunst nicht abwendig
machen, und -- laß mich offen sein -- ich kann mir kein Leben an der
Seite einer Frau denken, einer bedeutenden Frau, in dem ich gezwungen
wäre, die zweite Stelle in ihrem Leben einzunehmen.«

»Willst du damit sagen, daß du dich geirrt und daß du mich nicht
liebst?«

»Ich liebe dich. Aber die Größe deines Künstlertums wird unsere Liebe
töten. Ich liebe dich und habe dich als mein Weib, als die Mutter
meiner Kinder geachtet. Aber heut, seit ich das gesehen« -- -- und er
wies auf ihr Werk -- -- »heut weiß ich, daß du Frau und Mutter erst
neben deiner Kunst sein kannst.«

Sie sah ihn an. Scharf standen seine herben Züge gegen den dunkelnden
Abendhimmel. Sie sah, daß er litt.

Und eine Angst, eine grenzenlose Angst um ihr entschwebendes Glück
ergriff sie. Mit einem schluchzenden Laut umklammerte sie seinen Hals.

»Sage doch das nicht. Wenn du wüßtest, wie die Liebe über mich gekommen
ist. Erst die Liebe, Paul, und dann die Kunst.«

Er küßte sie. »Lieben sollt ihr schon, ihr gottbegnadeten Künstler,
aber heiraten solltet ihr nicht!«

Da zuckte sie zusammen.

»Erschrick nicht. Ich -- -- ich kann das nicht -- -- mit dir nicht,
Lotte -- -- du bist mir heilig -- --«

Da wollte sie aufschreien: »So nimm mich doch -- ich bin dir heilig
-- du stellst mich der gleich, die du zur Frau und Mutter begehrst --
aber zur Ehe magst du mich nicht -- aber so nimm mich doch!« -- -- Ins
Gesicht hätte sie es ihm schreien mögen, aber sie brachte keinen Laut
hervor. Fester nur krampften sich ihre Hände um seinen Nacken, und
durstig senkten sich ihre Lippen auf die seinen.

Und er trank, trank von diesen dürstenden Lippen, preßte sie fest an
sich und riß sich los. -- -- --

            ----------------------------------------------

Armselig, verlassen, kam sie sich vor. Das Glück, das sie in Händen
gehalten, -- eine buntschillernde Seifenblase -- aufgelöst in nichts!

Sie sprang auf. Nein, es konnte -- konnte nicht sein.

Wie hatte er gesagt? ›Deine Kunst geht über deine Liebe.‹

Sie rang die Hände, und eine jammernde Qual stieg in ihr auf.

Ja, sie war Künstlerin -- aber sie war auch Weib.

Ihr Gesicht verzerrte sich, und ihr Atem ging schwer.

»Weib,« stöhnte sie, »fieberndes, verlangendes Weib! Was soll mir die
Kunst, wenn sie mich der Liebe beraubt?«

Mit drohend erhobener Faust schritt sie auf ihr Werk zu: »Oh, du,
du -- --«

Lüsterne Augen blickten ihr entgegen, schwellend geöffnete Lippen
gierten nach den ihren, Arme tasteten und befühlten ihren Körper -- --
da sank sie laut schluchzend nieder und stammelte: »Gut, daß du gingst,
du hast recht getan.«

Und die Schatten fielen, fielen auf das einsame Weib, das allein blieb
mit seinem Werk, das ihr die Liebe gebracht und wieder geraubt.

                                *  *  *

»Es ist schwer, Ebba, die Flammen zu ersticken, wenn sie schon so hell
brannten.«

»Lotte, -- ich glaube, er wird den Weg wieder zurückfinden.«

Lotte schüttelte den Kopf. »Das wird er nicht. Seit ich ruhiger
geworden, sehe ich klarer. Er fürchtet, verdunkelt zu werden. Es ist
dies vielleicht kleinlich gedacht, aber -- ich kann ihn verstehen. Mich
quält jetzt nur eins: Warum mußte erst die Hoffnung in mir erstehen, um
wieder erstickt zu werden?«

Ebba lächelte schmerzlich und legte ihre Hand auf Lottes Schulter.
»Sehen nicht fast alle Menschen ihre Hoffnungen sterben? Was habe ich
zu Grabe getragen, was mein Bruder? Noch viele könnte ich Ihnen nennen.«

Lotte wehrte ab. »Ich weiß -- ich weiß. Ich stand in diesen Tagen
außerhalb aller Vernunft. -- Aber ich kehre schon wieder zurück.
Wie gut Sie sind, Ebba. Und wie Sie Geduld mit mir haben. Ist es
nicht sonderbar? Alles kommt mit seinen Schmerzen zu Ihnen gelaufen
und bittet: ›Hilf mir tragen!‹ Und Sie gütige, liebe Frau, sind
bereit dazu. In meinem nächsten Werk will ich Sie als leibhaftige
Nächstenliebe verherrlichen. Auf einem Felsen sollen Sie thronen, Ebba
-- einsam -- Ihr zuckendes Herz in den Händen -- und zu Ihren Füßen die
leidende Menschheit mit erhobenen Händen -- hilf -- gib -- tröste --
und Sie geben Ihr Herz und helfen -- trösten, mildern die Leiden -- und
darunter soll stehen:

                   -- _Wie der Mensch sein soll_.« --

»Nein, Lotte, darunter soll stehen: -- _Der Mensch._ -- Im Gegensatz zu
dem anderen Menschen, den Sie geschaffen. Glauben Sie an das Gute im
Menschen, und Sie werden gute Menschen finden.«

»Gute Menschen! Gut ist nicht gütig. Gütig sein, bedingt Nächstenliebe.
Ich bin vielleicht ein guter Mensch, aber ich bin kein gütiger Mensch.
Glauben Sie, daß ich Nächstenliebe empfinde? Sie glauben es? Nein,
Ebba, da täuschen Sie sich. Ich ärgere mich viel zu sehr über die
Menschheit, um sie lieben zu können.«

»Ihr Ärger beweist ja gerade, daß Sie die Menschen lieben.«

»Ich liebe nur Sie, Ebba, und ich möchte, daß Sie mir stets Ihre
Freundschaft bewahren.« -- -- --

            ----------------------------------------------

Morgen wird es von ihr gehen, ihr Werk, hinaus in die Werkstatt -- dann
wird sie ganz einsam sein -- einsam und allein.

Und ihre Kunst? War sie einsam, solange sie die hatte? War es nicht
immer so gewesen?

Warum fror sie?

In ihr war tobende, glühende Hitze. Ihr Blut brannte. Und dennoch fror
sie.

Eine namenlose Sehnsucht ließ sie nicht zur Ruhe kommen.

Wenn er dennoch wiederkäme?

Wiederkäme und sie in seine Arme nähme und spräche: ›Sei mein Weib,
aber entsage deiner Kunst!‹ -- -- Was würde sie antworten?

Ich kann nicht sein ohne dich, ich will entsagen. Liebst du diesen
Mann so sehr, daß du deiner Kunst entsagen willst, du, eine geweihte
Priesterin? flüsterte eine Stimme in ihr.

Und sie erschrak.

Nein, dieses Opfer konnte sie ihm nicht bringen. Die Liebe! Was war
die Liebe gegen ihre Kunst? Endzweck nur für sie, ihrer Kunst zu
dienen. -- -- --

            ----------------------------------------------

»Was wollen Sie, Arno Stürmer?« Lottes Stimme scholl hart und laut
durch den Raum.

»Ich wollte Ihr Werk noch einmal sehen, hier sehen, wo es geschaffen,
denn ich weiß, daß es morgen von Ihnen geht, das ist immer ein großer
Moment für den Künstler. Und ich wollte auch Sie noch einmal sehen, ehe
ich reise, Lotte. Ich fahre morgen nach München.«

»München! Ich wollte, ich könnte mit.«

»So kommen Sie, werfen Sie alles hinter sich und kommen Sie mit. Oder«
-- er sah sie durchdringend an. »Lotte,« sagte er leidenschaftlich,
»Sie sind frei --«

»Frei!« -- sagte sie spöttisch.

»Nun wohl -- machen Sie sich auch innerlich frei!«

Er sah in ihre bleichen Züge, und ein heißes, wildes Begehren überkam
ihn.

»Lotte, ich liebe dich! Laß dich umhüllen von meiner Leidenschaft, komm
mit mir!«

Er umschlang sie, bedeckte ihre Augen, ihren Mund mit Küssen.

Sie stand reglos, ohne Gedanken im betäubten Hirn, und dann kam ein
Schmerzgefühl über sie, das zerrte und riß in ihr: wie arm, wie arm
bist du doch! Liebe -- Muttergefühl -- Weibesschicksal, alles in weite,
weite Fernen gerückt. Und dann wieder: nein, die Liebe ist nicht der
Zweck des Lebens der Frau. Der Zweck, ihre Erfüllung, ist das Kind.

Und da ist ihr, als ob sie sich klammern müsse an diesen einen mit
Leidenschaft und wilder Verzweiflung. Sie schlingt ihre Arme um seinen
Nacken und küßt ihn mit wilden, wahnsinnigen Lippen. Eine bebende,
hungernde Erwartung ist in ihr. Ihr unerlöstes Ich bettelt um Erfüllung
ihres Daseins.

Und er bedeckt ihr Gesicht, ihren Nacken, ihre Schultern mit sengenden,
glühenden Küssen.

Und sie geht unter in aufgelöste, glühende Wonnen. Ein Brand ist in
ihr, ein Brand, der nichts übrigläßt als ein sinnlos seliges Gefühl und
eine einzige jauchzende Hingabe. -- -- --

            ----------------------------------------------

Sie schlägt die Augen auf und sieht über sich gebeugt ein wildes,
bärtiges Gesicht, sieht in glutvolle, begehrliche Augen. Sie will
empor, will ihre weißen Glieder lösen aus nervigen Männerarmen. Ihr
Mühen ist vergebens. Fest geschmiedet liegt sie in seinen Armen. Wilde,
sinnbetörende Worte klingen in ihr Ohr, und heiße Liebkosungen rauben
ihr den Atem.

Und er jauchzt auf: »Hab ich dich endlich im Bann? Wirf deinen Stolz
ab, sei mein wildes Zigeunerweib. Laß die Haare flattern und jauchze
mit mir. Die Stunde ist da, in der dein Schicksal sich erfüllt.« Wild
hat er sie emporgerissen, und die zwei Adamsmenschen stehen im Dämmer
des weiten Raums und starren sich stumm in die begehrlichen Augen. Und
ihre Augen lassen ab von dem Manne und wandern. Wandern und suchen. Da
steht sie. Gespenstig aus dem tiefen Schatten taucht sie blendend weiß
empor: begehrliche Augen -- gierige Lippen -- die Riesenfangarme öffnen
sich, um neue Opfer aufzusaugen -- sie regen sich zu Hunderten -- auch
der gierige Mund, er wird lebendig -- ein Hohnlachen kommt auf seine
Züge. -- -- --

Da hallt ein irrer Schrei. Das Weib stürzt durch den Raum, greift nach
dem Meißel und stürzt auf die Gorgo zu. Und nun beginnt ein Ringen,
ein heißes Ringen. Hoch in der Rechten schwingt das Weib den Hammer.
Der Mann zerrt ihren Arm herunter. Er schwebt gerade über seinem
Haupt. Ihre Linke reißt seinen Kopf an ihre Brust, und aus der schwach
werdenden Rechten fällt der Hammer zur Erde nieder. Sie steht einen
Augenblick ohne Besinnung, dunkle Nebel sind ihr vor den Augen. Sie
beginnt zu zittern. Dann nimmt der Mann sie in seine Arme, trägt sie
auf das Ruhebett, wickelt sie zart in die schützende Decke und kniet
vor ihr nieder.

»Weib -- geliebtes du -- bedenke doch, daß du lebst, jetzt erst lebst!
Ein Leben ohne Liebe, das ist ein Leben ohne Schicksal. Über allem
Wissen, über aller Kunst steht die Liebe, die Leidenschaft. Sie erst
macht das Leben blut- und glutvoll. Wolltest du kein Schicksal, schrie
nicht alles in dir nach Erlösung, nach Befreiung? Was klagst du? Ist
nicht Liebe -- Glück? Rausch -- Seligkeit?«

Und wieder fühlt sie heiße, sinnverwirrende Küsse auf ihren Lippen.

Und unter dieser Glut spürt sie einen Reiz und wollüstige Qual, und sie
versinkt wieder.

»Siehst du, wie du mich liebst,« flüstern unter Liebkosungen seine
Lippen.

Da schreit sie auf: »Nein, ich liebe dich nicht, ich liebe dich nicht!
Ich liebe nur das Kind, das du mir schenken sollst. Hörst du es?«

Da lacht er auf: »Du urgesundes Weib du -- -- und inzwischen umhüllst
du mich mit deiner Liebe.« -- --

            ----------------------------------------------

Und als er gegangen, als die Schatten der Nacht dunkel um sie lagerten,
da kam ein blendendes Licht und erschreckte sie.

Sie hatte sich einem Manne hingegeben, der ihrem Herzen ein Fremder
war. Etwas dunkel Unbegreifliches, daß sie nie hatte anerkennen wollen,
hatte sie diesem Manne in die Arme getrieben.

War sie besser, als die anderen, die zu geißeln sie sich anmaßte?
Hatte sie sich nicht aufpeitschen lassen zu wilder Leidenschaft, zu
sinnlicher Begierde?

Warum? Was lebte in ihr?

Und wieder schoß die züngelnde Flamme in ihr empor. Aller Sehnsucht
Erfüllung, aller Träume Endziel -- das Kind. Rein bleibt die Frau, die
sich einem ungeliebten Manne hingibt, zur Erfüllung ihrer Mutterschaft,
wenn er der einzige bleibt. -- -- --

            ----------------------------------------------

Und anderen Tags, als ihr Werk von ihr gegangen, stehen sie sich
gegenüber.

Scheu sieht sie zu ihm empor.

Stark, fest und gesund steht er vor ihr. Seine schwarzen Augen sprühen
Flammen und funkeln in die ihren.

Jetzt lacht er dröhnend auf, nimmt sie in seine Arme und setzt sich auf
das Ruhebett, sie auf seinen Knien haltend.

»Mädchen, Mädchen, du weißt ja gar nicht, wie glücklich ich bin, du,
mein kleines Zigeunerweib! Komm, reich mir deine Lippen und laß mich
trinken --«

Den Kopf weit zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen, ruht sie in
seinem Arm.

»Nun führe ich dich in einen Zaubergarten, mein Mädchen, in den
Zaubergarten der Liebe, in dem Wonnen dich erwarten. Untertauchen
sollst du mit mir in ein Meer von Glückseligkeit.«

Und sie ließ sich küssen und dachte an den, der von ihr gegangen.
Liebte sie jenen oder liebte sie diesen?

Sie konnte nicht begreifen, wie er so schnell in ihr Leben gekommen
war, und daß er ihr Schicksal geworden.

Gleichwohl. Sie hatte einen Menschen gefunden, dem sie etwas sein
durfte, dem sie Glück spenden konnte.

Sie liebte ihn, weil er ihre arme, hungernde und frierende Seele an
sich genommen, und weil er sie zum Weibe machte.

»Lotte,« flüsterte er unter Küssen, »gibt es etwas hier, was Dich
zurückhält?«

»Nein!«

»So fahren wir morgen zusammen nach München, willst du?«

Da nickte sie stumm, legte ihren Arm um seinen Nacken und schmiegte
ihre Wange an die seine.

Es war ein heißer Strom, der sie verband. Hier die sinnliche Gier --
dort die Begierde nach dem Kinde.

                                *  *  *

Ebba, ich weiß nicht, ob ich glücklich bin -- denn ich lebe unbewußt.
Ich bin eingehüllt in Wolken. Um mich sprühen Funken, zucken Blitze,
die für Sekunden die Wolken vertreiben. Ich weiß nicht, ob ich, nachdem
die Wolken zergangen sind, glücklich sein werde. Nur das weiß ich, daß
ich so tun mußte, wie ich getan. Mein Schicksal hat mich erreicht.

Ebba -- ich bin mit einem Manne fortgegangen. Er begehrte mich, und ich
ließ mich nehmen. Wir leben in einem Rausch, in einem Taumel. Er liebt
mich herzlich und ehrlich, das fühle ich -- aber ohne Bestand.

Frei wir beide -- so soll es sein.

Und ich, Ebba, ich liebe ihn, denn er soll der Vater meines Kindes
werden.

Das Kind wird mich entsühnen. Bleibt mir das versagt, so gehöre ich zu
den Gezeichneten, und Du wirst mich nicht wiedersehen.

Ich warte.

Werde ich zu den Verstoßenen oder zu den Auserwählten gehören? -- -- --

            ----------------------------------------------

Lotte -- -- das Schicksal ist stärker als wir. Du gehst deiner
Bestimmung entgegen. Sei nicht verzagt. Du gehörst zu den Auserwählten,
auch wenn deiner Sehnsucht Erfüllung ausbliebe.

Einem, der die Menschen liebt, ist auch das Unbegreiflichste nicht
fremd. -- -- --

                                *  *  *

Unter Stürmen und Regenschauern war der Herbst ins Land gezogen.
Berlin rüstete für die beginnende Saison. Auch die letzten Zugvögel
waren zurückgekehrt in den heimatlichen Hafen, bereit, sich mit
neugewonnenen Kräften in Vergnügen, Geschäft und Modesorgen zu stürzen.
Vor den Schaufenstern staute sich die Damenwelt, um die kommende
Mode zu begutachten. Noch enger der Rock, noch schlanker die Linie.
Die fülligen Damen seufzten. Wieder auf Süßigkeiten und Leibspeisen
verzichten oder eine Entfettungskur durchmachen.

Oh, du törichte Mode, zwingst sie alle in deinen Bann. Auflehnen? Ein
Ding der Unmöglichkeit!

Jede Mode ist schön. Sie wirkt unschön, sobald sie vorüber ist.

Vor den Auslagen des K. d. W. stand Gerda von Wangenheim und studierte
eine grasgrüne Gesellschaftstoilette. Ein herrliches Kleid für ihr
Konzert wäre dies! Sie seufzte. Unerschwinglich. Mit Schaudern dachte
sie an die Vorwürfe ihrer Mutter. Immer nur Geldkosten! Keine Aussicht
auf Einnahme! Du mußt sparen, mußt dich bescheiden! Weiter bekam sie
nichts zu hören.

Der Vater war lieb und gut zu ihr gewesen. Hatte sie nur einmal in sein
Zimmer genommen und sie gefragt, ob sie nun bald auf Einnahmen rechnen
könne, denn lange -- lange reichte es nicht mehr aus. Da hatte sie
ihn liebevoll umhalst und ihm gedankt und gesagt: ›Noch diesen Winter
werde ich mit Stundengeben anfangen. Es wird nicht viel sein, aber der
Anfang ist dann gemacht. Ich habe viel Beziehungen angeknüpft, man wird
mir helfen. Nur mein erstes Konzert, lieber, guter Papa, das kostet
noch, aber dann -- du mußt an mich, an meine Kunst glauben. Es wird
schon kommen, dann zahle ich alles zurück, dann soll das alles den
Geschwistern zugute kommen.‹ Da hatte er gelächelt und geantwortet:
›Ich habe immer an dich geglaubt, Gerda.‹

Geld verdienen! Stunden geben! Sie schauderte, wenn sie an dieses, ihr
Versprechen, dachte. Wer sollte Stunde nehmen, bei ihr, der jungen,
unbekannten Anfängerin? Wieviel Schüler müßte sie haben und welches
Honorar müßte sie verlangen, um auf eigenen Füßen stehen zu können?

Das Leben in Berlin kostet Geld. Selbst in zwei, drei Jahren würde
sie nicht soviel verdienen können, wie sie brauchte, oder aber -- es
geschähe ein Wunder. Um vorwärts zu kommen, gebrauchte sie den Luxus,
es ging nun einmal nicht anders. Würde sie bescheiden auftreten, würde
sie beiseite gestellt und vergessen werden.

Das grüne Kleid! Wie herrlich es zu ihrem Haar stehen würde! Man könnte
es von einer Schneiderin nacharbeiten lassen.

»So in die Modenschau vertieft, gnädiges Fräulein?«

Sie wandte sich um. »Herr Winkelmann! Nein, wie sich doch alles wieder
zusammenfindet.«

»Die Motten umschwirren das Licht.«

»Nehmen Sie nun sich als Motte und bin ich das Licht? Oder meinen Sie
damit den Schwarm, der die Großstadtluft atmet?«

»Eigentlich meine ich beides. Wie die Insekten blindlings dem Lichte
nachziehen, ob es ihnen auch Tod und Verderben bereitet -- so zieht
uns, die Weltkinder, immer und immer wieder die Großstadt in ihren
Strudel hinein. Und ich -- mein gnädiges Fräulein -- ich kenne mein
Schicksal nicht, aber ich weiß, daß ich dem Feuer, das mir leuchtet --«
und er warf einen bezeichnenden Blick auf die Fülle ihres Haares --
»folgen muß in Tod und Verderben oder in Seligkeit und Glück.«

»Also, Sie sind unverändert zurückgekehrt?«

»Unverändert.«

Langsam schlenderten sie die Tauentzienstraße entlang. »Und wo haben
Sie die Sommermonate verlebt, gnädiges Fräulein?«

»Ich war erst mit einer Freundin an der Ostsee, wo wir fleißig gebadet
haben, und die übrige Zeit habe ich in meinem Elternhaus verbracht.«

»Und jetzt studieren Sie fleißig für Ihr Konzert, wie ich vermute?«

»Sehr fleißig. Es gibt noch viel Arbeit bis dahin zu bewältigen. Je
näher der Termin rückt, je weniger bin ich mit meinem Können zufrieden.«

»Haben Sie den Tag schon festgesetzt?«

»Ja, die Konzertdirektion drängt, ich werde mich morgen entscheiden.«

»Lassen Sie es mich zeitig wissen, damit ich für Sie arbeiten kann.
Ich muß mich ja wohl doppelt ins Zeug legen, da Sie die Hilfe von Thea
Westphal entbehren müssen.«

Sie sah ihn fragend an.

»So wissen Sie nicht?«

»Nichts weiß ich. Was ist es mit ihr?«

»Auf und davon ist sie gegangen.«

»Allein?« entfuhr es ihr.

Er lachte. »Natürlich mit Gernsheim. Sie sind erst nach Paris, dann
Nizza, Monaco -- den üblichen Weg. Dort hat er alles verspielt, und
sie hat sich einem schwerreichen Russen ergeben, der sie mit nach
Petersburg genommen hat.«

»Abscheulich!«

»Was wollen Sie? Naturanlage und Unbeherrschtheit! Modern, weiter
nichts.«

»Sie können es doch nicht gutheißen, von Mann und Kind einfach
davonzulaufen?«

»Warum nicht? Wenn es einen dazu treibt?«

»Würden Sie ebenso sprechen, wenn es Ihre Frau gewesen wäre?«

»Sicherlich. Ich würde keine Frau halten, die von mir strebt. Wozu?«

Sie waren am Steinplatz angekommen und bogen in die Uhlandstraße ein.
Vor der Tür ihrer Pension verabschiedete sie sich. Er ging den Weg,
den sie gekommen, zurück. Und er dachte an den Abend, an dem er sie
zum ersten Male nach Hause begleitet hatte. Wie stolz und unnahbar sie
gewesen, und wie sie ihn gereizt durch ihre Kälte. Ihm, der gewöhnt
war, zu siegen, ihm wurde hier ein Halt geboten. Und wieder stieg
das Begehren heiß in ihm empor: du mußt sie bezwingen, du mußt sie
erkämpfen, diese Lippen in heißem Kuß entflammen, diesen Leib bebend an
dich pressen.

Sie spielte mit ihm. Nein, er ließ nicht mit sich spielen. Sein mußte
sie werden. -- --

                                *  *  *

Winkelmann hatte sein Versprechen erfüllt. Er hatte für sie gearbeitet.
Der Saal war dreiviertel gefüllt von einem Publikum, das seine Billetts
bezahlt hatte! Etwas Unerhörtes für eine junge Anfängerin.

Und als sie stand, umrauscht vom Jubel ihrer Anhänger, ihrer Freunde,
die, hingerissen von ihrer Schönheit, immer von neuem Beifall
klatschten, als man ihr Blumenspenden aufs Podium reichte, da fühlte
sie sich als große, gefeierte Künstlerin.

Und als sie nach dem Konzert bei einer Feier mit ihren Freunden und
Bekannten beisammen saß und alle ihr Bewunderung zollten, da fühlte sie
sich in einem Siegestaumel, da sah sie ihre Zukunft gesichert.

Strahlend gab sie am nächsten Tage eine Depesche an ihren Vater auf:
»Großer Beifall. Unkosten gedeckt.«

Und als zwei Tage vergangen, da wurde aus der großen, gefeierten
Künstlerin eine bescheidene Anfängerin. ›Stimme und Vortragstalent wohl
vorhanden, aber noch viel Studium nötig. Für eine junge Anfängerin eine
ganz respektable Leistung. Aber weiterarbeiten, sich bewußt sein, daß
man Anfängerin ist, trotz des gezollten Beifalls der guten Freunde.‹

Und dann, dann wurde sie ganz klein. ›Mehr wohl die körperlichen
Vorzüge, die entzückende, moderne, grüne Toilette, haben das Publikum
veranlaßt, dieser jungen Anfängerin einen Beifall zu zollen, der ihrem
Vortrag nicht entsprach.‹ -- --

Also arbeiten -- studieren -- weiter. Noch lange nicht am Ziel!

Sie biß die Zähne zusammen und stürzte sich in ihr Studium. Ihr Lehrer
war zufrieden gewesen. ›Was wollen Sie denn noch mehr?‹ hatte er
gesagt. ›Sie sind doch eine Anfängerin. Stimme und Vortrag hat man
gelten lassen, darauf bauen Sie auf. Dachten Sie denn, mit dem einen
Konzert würden Sie erreichen, was andere in zwanzig, dreißig kaum
erreichen? Und das wollte ich Ihnen auch sagen, allzuviel Beifall der
Freunde schadet nur, wenigstens bei der Kritik. So -- und nun arbeiten
Sie fleißig weiter, und im Frühjahr geben Sie das zweite Konzert.‹ --

Und dann war einer gekommen, der hatte ihr ein Anerbieten gemacht.
›Ich will Sie berühmt machen. In einem Jahre sind Sie berühmt, ich
garantiere Ihnen dafür. Sie müssen umsatteln. Sie sollen keine
ernsthafte Konzertsängerin werden. Chansons sollen Sie singen. Fein
pointierte, ein wenig pikante Chansons. Sie sind eine königliche
Erscheinung -- glänzend, ausgezeichnet würden Sie wirken -- wir würden
ein Geschäft machen -- Geld verdienen -- viel Geld! Sagen Sie ja und
Sie sind in einem Jahre berühmt und haben ein glänzendes Einkommen.‹

Sie hatte ihm die Türe gewiesen.

Sie wußte wohl, daß er dieses Anerbieten nicht ihrer Stimme, sondern
nur ihrem Körper gemacht hatte.

›Sie werden sich bedenken‹, hatte er gesagt. ›Hier haben Sie meine
Adresse, Sie brauchen mich nur zu rufen, ich bin noch immer bereit.‹

Geld, viel Geld!

Es lag ihr im Ohr.

Berühmt! Berühmt im Varieté!

Verächtlich lachte sie auf. -- -- --

Und dann -- dann war das Schreckliche gekommen. Das unglückliche
Telegramm: Vater Schlaganfall, komme sofort. -- -- --

            ----------------------------------------------

Voller Entsetzen war Gerda aus dem Elternhause geflohen.

Was sollte nun werden?

Unmögliches hatte man von ihr verlangt, hatte man ihr zugemutet.

Ihre Kunst sollte sie aufgeben? Sie sollte sich einsperren lassen in
den Alltag?

Wie hatte die Mutter zu ihr gesprochen?

›Es ist eine brotlose Kunst, Jahre können vergehen, ehe du dir deinen
Unterhalt damit erwerben kannst. Und selbst, wenn du mir die Garantie
geben könntest, auch nur ein Jahr noch meiner Hilfe zu benötigen, so
kann ich selbst dieses eine Jahr dir nicht gewähren, denn ich habe
nichts als meine Pension. Der letzte Rest unseres kleinen Vermögens ist
draufgegangen für dein Studium. Du hast es durchgesetzt beim Vater, dir
gegenüber ist er ja immer schwach gewesen. Es bleibt dir nichts anderes
übrig, du mußt hier mit unterkriechen. Du kannst dich der Wirtschaft
annehmen, dich der Erziehung deiner beiden Geschwister widmen. Etwas
anderes kann ich dir nicht bieten. Was willst du auch? Ich sollte
meinen, du hast keinen Grund, unzufrieden zu sein, du weißt, ich war
nie einverstanden mit deiner Kunst, gegen meinen Willen hast du es beim
Vater durchgesetzt. Ein junges Mädchen unserer Kreise gehört nicht an
die Öffentlichkeit.‹ -- --

Den Vater hatte sie nicht mehr lebend angetroffen. Er war gestorben,
ohne seine Lieblingstochter noch einmal ans Herz gedrückt zu haben.

»Vater, lieber Vater!« zuckten ihre Lippen, und langsam rannen die
Tränen über ihre bleichen Wangen.

Was sollte nun werden?

Eingesperrt in den Kreis der Familie?

Hatte sie nicht eben angefangen, ihren vorbestimmten Weg zu gehen? Sie,
die bestimmt war, durch ihre Kunst, durch ihre Schönheit, zu herrschen,
sollte wieder untertauchen in die vergangene Welt? In eine Welt, in
der ihr vielleicht die Versorgung in Gestalt eines Gatten winkte?
Eheglück! Kindersegen! Häusliche Sorgen! Ihr schauderte. Nein! Sie
hatte, umrauscht vom Beifall der Masse, auf dem Podium gestanden, sie
hatte den Rausch des Künstlers, der beherrscht, in seinen Bann zwingt,
kennengelernt -- sie konnte nicht mehr zurück.

Sie mußte den einmal betretenen Weg gehen -- bis zum Ziele gehen.

Geld! Wovon sollte sie leben? Die teuren Stunden bezahlen?

Ein Angstgefühl preßte ihr die Kehle zusammen, und würgend stiegen ihr
die Tränen empor.

»Vater, lieber Vater, du hättest Rat geschafft! Nur ein einziges Jahr
noch -- und es wäre erreicht!«

Sie preßte ihre schlanken Hände an die schmerzende Stirn. Was tun?
Zunächst die teure Pension verlassen. Versuchen, durch Stundengeben
Geld zu verdienen.

Lächerlich! Auch nicht den vierten Teil dessen, was sie gebrauchte,
um ihren Unterhalt und die Stunden zu bezahlen, würde sie verdienen
können. Ja, wäre sie berühmt, anerkannte Künstlerin! In Scharen kämen
die Schüler und zahlten jeden Preis. Aber so.

Dreihundert Mark -- das war ihr ganzer Reichtum. Mit unsäglichen
Schwierigkeiten hatte sie die Summe von ihrer Mutter erlangt, um noch
einmal nach Berlin zurückkehren zu können, um -- wie sie gebeten -- in
Ruhe mit sich zu Rate zu gehen.

›Es ist ein Verbrechen, das ich begehe,‹ hatte die Mutter gesagt --
›das viele Geld, ich könnte es besser im Haushalt verwenden, aber sei
es drum. Es ist im Sinne deines Vaters, wenn ich dir willfahre -- gehe
noch einen Monat nach Berlin, und kehre vernünftig zurück!‹

Einen Monat!

Vernünftig zurück! Niemals, das war gewiß -- aber wie sich weiterhelfen?

Wie angestrengt sie auch sann, sie konnte keinen Ausweg finden. -- -- --

            ----------------------------------------------

Als Gerda nach einigen Tagen von einem Spaziergang in die Pension kam,
trat ihr Winkelmann, der im Gesellschaftszimmer auf sie gewartet hatte,
entgegen.

»Gnädiges Fräulein -- ist es wahr, Sie wollen die Pension verlassen?
Sind Sie unzufrieden?«

»Ich werde voraussichtlich Berlin verlassen.«

»Unmöglich! Ihr Studium, Ihre Karriere, die Sie eben erst begonnen --«

»Werde ich aufgeben.«

Sie sagt es bewegungslos. Ruhig und beherrscht sind ihre Züge. Die
blasse Gesichtsfarbe erscheint durch das schwarze Kreppkleid noch
bleicher, noch durchsichtiger. Aus den rötlichen Haaren scheinen Funken
aufzusprühen, sie leuchten im dämmrigen Licht der hereinbrechenden
Abendschatten.

Er sieht sie erstaunt an. »Aufgeben -- habe ich recht verstanden? Sie
wollen der Kunst entsagen? Freiwillig entsagen? Das ist unmöglich! Wer
oder was sollte Sie dazu zwingen?«

»Die Verhältnisse.«

Das, worüber sie Tag und Nacht nachgrübelte, was unaufhörlich ihre
Gedanken beschäftigte, war willenlos ihren Lippen entflohen.

Er beginnt zu verstehen und schweigt.

Stumm und bleich, hoch aufgerichtet, sitzt sie ihm gegenüber. Unnahbare
Kühle weht ihn an. Er muß sie durchdringen. Jetzt gab es einen Weg.

»Wenn zwei Augen sich schließen, tritt oft ein Umschwung der
Verhältnisse ein, ich weiß das. Ihr Studium kostet Geld -- eine kurze
Zeit noch -- dann wird Ihnen zurückfließen, was Sie jetzt anwenden.
Sie müssen unbeschränkt über eine größere Summe verfügen können, um
schnell vorwärts zu kommen, Sparen hilft Ihnen nicht zum Ziel. Sie
müssen auftreten können, kleinliche Verhältnisse sind Ihnen hinderlich
-- gnädiges Fräulein« -- er sieht ihr fest und ernst in die Augen --
»gestatten Sie, daß ich auf der Deutschen Bank zehntausend Mark auf
Ihren Namen niederlege, zu Ihrer freien Verfügung -- nein, fahren Sie
nicht auf, hören Sie mich bitte ruhig zu Ende. Es ist dies nur eine
Summe, welche ich Ihnen vorstrecke, Sie können Sie mir mit Zinsen
zurückzahlen, ich schlage Ihnen nur ein Geschäft vor. Es ist für mich
eine Kapitalsanlage, und eine gute, wenn ich Sie dadurch der Kunst
erhalte. Sie dürfen der Kunst nicht entsagen um kleinlicher Geldsorgen
willen.«

Gerda, welche bei seinen Worten aufgefahren war, hat sich beherrscht.
Was sie seit Tagen gedacht, hatte er ausgesprochen -- ›kleinliche
Verhältnisse sind Ihnen hinderlich‹ -- Nichts würde sie erreichen, wenn
sie untertauchen wollte, gar nichts. Es galt, in der Gesellschaft eine
Rolle zu spielen, sich eine Schar von Anhängern zu sichern. Dies waren
die Stufen, die hinaufführten zur Höhe des Ruhms. Ihre Wangen sind
leicht gerötet, durchdringend sieht sie ihn an und sagt mit eisiger
Kälte: »Sie wollen mir diese Summe leihen, gegen Zinsen leihen und --
ohne jeden Hintergedanken?«

»Ich sagte schon, ich schlage Ihnen ein Geschäft vor, weiter nichts.«

»Bei einem Geschäft könnten Sie auch meinen, mich mitzukaufen. Ich
möchte die ausdrückliche Erklärung von Ihnen hören, daß Sie meine
Person ganz außer acht lassen, daß Sie einzig und allein der Kunst
halber --«

»Nur der Kunst halber, Fräulein von Wangenheim, die Versicherung kann
ich Ihnen geben.«

»Nun wohl, ich nehme an. Sie bekommen Ihr Geld zurück, nebst 5 Prozent
Zinsen. Die Zeit kann ich Ihnen allerdings nicht bestimmen --«

»Das ist auch nicht notwendig. Ich bin glücklich, Ihnen helfen zu
dürfen und Sie der Kunst zu erhalten.« --

            ----------------------------------------------

Gerda studierte mit Feuereifer, sie bereitete ihr zweites Konzert
vor, welches im Februar stattfinden sollte. Ihrer Mutter hatte sie
geschrieben, daß sie nicht nach Haus zurückkehren werde, denn sie könne
ihre Kunst nicht aufgeben. Sie sehe ein, daß die Eltern ihretwegen
Opfer gebracht hätten, und eben deswegen müsse sie weiterarbeiten, um
dereinst zurückerstatten zu können. Sie werde versuchen, vorwärts zu
kommen und durch Stundengeben Geld zu verdienen.

Darauf hatte die Mutter geantwortet, sie könne sie natürlich nicht
halten. Wenn es ihr lockender erscheine, sich kümmerlich ihr Brot zu
verdienen, statt in wohlgeordnetem Haushalt die Tochter des Hauses zu
sein, mit der Aussicht auf eine gute Heirat, so solle sie nur bleiben,
wo sie sei, aber -- was sie dem Namen ihres Vaters schuldig sei -- das
solle sie niemals vergessen.

So war denn auch das geordnet, und sie war frei. -- -- Abgesehen von
einigen kleinen Teegesellschaften, die sie der Beziehungen halber
besuchte, lebte sie ihrer Trauer wegen zurückgezogen. In der Pension
war sie wohnen geblieben, da ja der Grund des Sparenmüssens wegfiel.

Seit jenem Tag, da sie das Anerbieten Winkelmanns angenommen, waren
drei Wochen vergangen, und sie hatte ihn nicht wiedergesehen, dessen
war sie froh.

                                *  *  *

Winkelmann hatte sich absichtlich von Gerda ferngehalten. Tag und Nacht
grübelte er, wie er sie gewinnen könne. Als er ihr das Geld angeboten,
hatte er gemeint, sich ihr näher zu bringen. Aber als sie so ohne
Umstände, kühl und sachlich, sein Anerbieten angenommen, wußte er auch,
dies war kein Weg, der zu ihr führte. Er, der gewöhnt war, die Frauen
zu beherrschen, fühlte sich hier beherrscht. Nicht durch Launen, nicht
durch Liebe, nein, durch grenzenlose Kälte. Es war keine Kälte, die
nur ihm galt, es war eine Kälte, überhaupt, die von ihr ausging. Viele
Frauen hatte er besessen, junge, unberührte Mädchen, reife Frauen
hatte er sein nennen können, bei allen hatte er verstanden, den Funken
zur Flamme anzufachen, nur bei dieser war seine Mühe vergebens. Und
doch -- er mußte, mußte sie in seine Arme zwingen.

Er schloß die Augen. Sein Blut drängte zum Gehirn. Da tauchten
gleichsam aus duftigen Nebelschleiern ihre bleichen Züge auf, unter den
langen, dunklen, sich langsam hebenden Wimpern, drang der Blick ihrer
kühlen, grauen Augen in sein Herz. Aus ihren duftenden Haaren sprühten
und knisterten Funken, die ihn in Flammen setzten.

In diesem Augenblick wurde ihm klar, daß er von einer rückhaltlosen
Leidenschaft besessen war, einer Leidenschaft, die zum Wahnsinn oder
Verbrechen führen konnte.

Das Schicksal wollte es, er sollte alle jene Qualen erdulden, über die
er so oft spöttisch zu Gericht gesessen. Liebe? War das Liebe?

Wieder schloß er die Augen.

Und da hielt er sie in seinen Armen, bedeckte ihren jungfräulichen,
blühenden Leib mit glühenden Küssen. Ihre Wangen überkam ein leichtes
Rot, ihre Augen sahen ihm gerade ins Gesicht, kalt und hart, und ihre
Lippen sprachen: ›Du schändest meinen Körper -- denn du liebst mich
nicht!‹

In dem Rausch seiner Sinne überfiel ihn eine grenzenlose Wut. Er fühlte
eine Lust, den zarten Körper zu zerstören. »Mein Blut verlangt nach
dir, alle meine Sinne sind in Aufruhr -- mein -- -- mein --«

Unter seinen Liebkosungen aber wich das Leben aus ihrem Körper, sie
wurde kalt und starr, eine steinerne Masse.

Da schrie er auf: ›Meine Liebe hat dich getötet!‹

Da schlug sie noch einmal die Augen auf und sagte: ›Deine Liebe?? --
Deine Begierde!‹ -- --

                                *  *  *

Die Sommerferien hatte Ebba mit Lukas und Inge im Thüringer Wald
verbracht. Sie hatten einen kleinen, von der großen Masse wenig
besuchten Flecken zum Aufenthalt gewählt. Hatten lange Spaziergänge
gemacht und waren erfrischt an Leib und Seele nach Berlin
zurückgekehrt. Namentlich Lukas Seele war erstarkt. Er hatte im Umgang
mit der klaren und ruhigen Frau sein erschüttertes Gleichgewicht
wiedergefunden. Thea war ausgestrichen aus seinem Herzen, sein Leben,
seine Ziele, waren andere geworden. Mit aller Zärtlichkeit, deren
seine müde Seele fähig war, hatte er sich an Inge geklammert, die
überglücklich ihre Liebe zwischen Vater und Tante verteilte. Es waren
schöne, ruhige Tage gewesen, die sie zusammen verbracht, und mit
Traurigkeit und Bangen vor dem Getriebe und der Hetzjagd der Weltstadt
hatten sie ihre Heimreise angetreten. Die Trennung von Inge wurde Ebba
schwer. Sie hatte sich so wohl gefühlt in ihrer Mutterrolle. Ihr Leben
war von Sorge um die beiden Menschen so ausgefüllt, daß sie Angst hatte
vor der Einsamkeit, und bange war, sich pflichtenlos zu fühlen.

Auch Inge standen die Tränen in den Augen, und sie hatte gejammert,
jetzt ohne ihr ›Muttchen‹ sein zu müssen. -- -- --

            ----------------------------------------------

Nun saßen sie seit Wochen wieder daheim. Ebba und Inge sahen sich
täglich, denn ohne Tante Ebba konnte Inge nicht mehr leben, das wollte
sie beschwören. Und gestern endlich war sie mit einem Vorschlag
herausgerückt. »Du weißt doch, daß wir die große Wohnung aufgeben,
Tante Ebba? Papa und ich allein in den vielen Gesellschaftsräumen -- es
ist schaurig in der großen, toten Wohnung. Und das Geld -- du weißt ja,
Papa will sparen. Wir haben uns schon Wohnungen angesehen. Eine gefällt
uns sehr gut. -- Aber -- wir möchten gern, daß du zu uns kommst. Papa
und ich haben das schon lange besprochen, aber Papa getraut sich nicht,
dich darum zu bitten. Aber ich -- ich habe mehr Mut, und mir -- kannst
du doch nichts abschlagen. Nicht wahr -- du tust es doch?«

Ebba zog das junge, im Eifer seiner Rede erglühte Mädchen an ihre
Brust. »Wenn du so genau weißt, daß ich dir nichts abschlagen kann, so
bleibt mir doch gar nichts anderes übrig, Liebling.«

»Siehst du, siehst du, ich hatte recht, wir haben gewettet, Papa und
ich. Papa sagte nämlich: ›Sie wird sich besinnen,‹ und ich sagte: ›Sie
tat es ohne Besinnen!‹«

»So sicher warst du deiner Sache?«

Sie nickte.

»Inge,« Ebba nahm den Kopf des jungen Mädchens in ihre Hände und
sah liebevoll in ihre Augen -- »erinnerst du dich unserer ersten
Unterhaltung? Weißt du, daß wir miteinander kämpfen wollten? Ich, die
Unmoderne, mit dir, der ›ganz Modernen‹, wie du dich ausdrücktest. Du
wolltest mich zu dir hinüberziehen, und ich wollte dich zur Überwindung
deiner Schwächen bringen. Wer hat nun eigentlich gesiegt?«

»Du, Tante Ebba -- denn du bist so geblieben wie du warst, und ich
schäme mich, wenn ich an all das dumme Zeug denke, das ich im Kopfe
getragen. Modern und unmodern, ist ja auch alles Unsinn -- weißt du,
man sollte zuerst Mensch sein -- und das bist du -- ein prächtiger
Mensch. Ich aber -- du, Muttchen --« und sie versteckte ihren Kopf an
Ebbas Schulter -- »ich habe gefunden, daß es sich mit Menschen, die ein
Herz in der Brust haben, doch viel, viel besser leben läßt.« --

            ----------------------------------------------

    Die Wolken fangen an, sich zu zerteilen -- dahinter
    verborgen lag das Glück, mein Glück!
    Es schwebt auf mich hernieder, ich halte es in
    Händen. --
    Der Rausch ist verflogen, wir müssen uns voneinander
    trennen.
    Du wirst mich wiedersehen, Ebba.
    Ein Kind. Mein Kind. Kannst Du es fassen?
    Im Liebesrausch erschaffen, und unter dem Zeichen
    der Liebe und Zuneigung entwickelt.
    Und mein allein.
    Da wir nicht zusammenbleiben können, soll er keinen
    Teil daran haben.
    ›Vom Glücklichsein träumt man nur.‹ Weißt Du noch
    wie wir es sprachen?
    Träume können sich erfüllen.
    Der meine hat sich erfüllt.
                             Im Glück
                                      Deine Lotte.

Ebba ließ den Brief auf den Tisch sinken. Erfüllt! So ward ihnen denn
beiden das Glück beschert, eine junge Seele zu hüten und pflegen,
und zu entwickeln. Lotte würde das Glück haben, Blut von ihrem Blut
ans Herz drücken zu dürfen, und sie selbst würde der Tochter ihres
Bruders zur Seite stehen. War es auch nicht ein Teil ihres Selbst,
so liebte sie dennoch dieses junge Geschöpf, das ihre liebeshungrige
Seele an sie gehängt, wie sie ihr eigenes Kind geliebt haben würde.
Nun war sie nicht mehr einsam. Sie konnte nun mit anderen für andere
leben! Dem Bruder wollte sie die langentbehrte Häuslichkeit schaffen,
sie würde seinem Hause, das bisher der Treffpunkt oberflächlicher,
vergnügungssüchtiger Genußmenschen gewesen, den Stempel der Ruhe und
Gediegenheit aufprägen.

Auch ihre Wünsche hatten sich erfüllt.

Das Glück, von dem sie geträumt, hatte sie nicht gefunden und konnte
sie auch nicht mehr finden. Es lag nicht in ihrer Art, sich über
Enttäuschungen hinwegzusetzen. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal
abgefunden. Aber vergessen, daß ein Mann in ihr Leben getreten, um es
zu zerstören, um sie um alles zu bringen, was das Leben einer Frau
wertvoll macht -- vergessen konnte sie das nicht. Und darum würde sie
auch niemals wieder ihr Leben an die Seite eines anderen Mannes ketten
können. -- --

                                *  *  *

Gerda saß mit Herrn von Reitzenstein in einem kleinen, eleganten
Weinrestaurant. Sie hatten sich im Konzert getroffen, und er hatte sie
gebeten, mit ihm zu Abend zu speisen.

Einen Augenblick hatte sie mit der Antwort gezögert, hatte ihn groß
angesehen, dann aber sagte sie: »Aber ein kleines, ruhiges Lokal bitte,
keine lärmenden Menschen -- nicht, daß ich fürchte, gesehen zu werden
-- aber ich bin in Trauer, wie Sie wissen.« --

»Ich glaube, Sie arbeiten zu viel, gnädiges Fräulein, Sie sehen
abgespannt aus.«

»Ich muß. Bedenken Sie, in kurzer Zeit muß ich wieder an die
Öffentlichkeit. Ich muß vorwärts, schnell vorwärts, das bedingt
angestrengtes Studium.«

»Sie sollten sich doch ein wenig mehr Ruhe gönnen, was schadet es denn,
wenn Sie wirklich ein bißchen langsamer vorwärtskommen. Sie haben in
kurzer Zeit schon soviel erreicht, Sie wollen alles im Sturm nehmen,
wie es scheint.«

»Gar nichts habe ich erreicht, im Verhältnis zu dem was noch zu
erreichen bleibt.«

Er goß den feurigen Burgunder in die Gläser. »Also, stoßen wir an auf
einen schnellen Aufstieg. Das heißt, in meinen Augen sind Sie schon auf
der Höhe.«

Sie ließ ihr Glas an das seine klingen und lachte: »Sie verstehen ja
doch nichts von Musik!«

»Viel allerdings nicht,« gab er freimütig zu.

»Warum sind Sie heute eigentlich in das Konzert gegangen? Der Vortrag
eines Geigenkünstlers und Sie ohne Gesellschaft im Saal! Kennen Sie den
Künstler, haben Sie Beziehungen zu ihm?«

»Ich bin doch nur hingegangen, um Sie dort zu treffen.«

»Soo -- darum. Welchen Zweck verbinden Sie damit?«

»Fräulein von Wangenheim, Sie wissen, daß ich Sie liebe.«

»Und Sie wissen, daß ich Ihre Liebe nicht erwidere.«

»Sie lieben Winkelmann.«

»Muß man denn immer einen anderen lieben?«

»Eine Frau, wie Sie, die unter den Bewerbern nur zu wählen braucht, muß
einen bevorzugen.«

»Sie irren in der Tat, Herr von Reitzenstein. Ich bevorzuge niemand.
Es ist bisher noch keinem gelungen, meine Pulse fiebern -- mein Herz
schneller schlagen zu machen.«

»Man sollte beinahe meinen, Sie hätten gar kein Herz.«

»Es kann wohl so sein, wenigstens denke ich das selbst oft. Meinen Sie
nicht, daß es von Vorteil sei, ohne Seele zu leben?«

»Das ist ja überhaupt kein Leben -- ohne Seele!«

»Im Gegenteil, erst dann lebt man, denn dann beherrscht man das Leben.
Was wollen Sie, die Seele wird ja doch bloß unter die Füße getreten
oder in Stücke gerissen!«

»Und wenn Sie meine Seele in hundert kleine Fetzen reißen und mir vor
die Füße werfen -- so würde mir das bitter weh tun und ich würde durch
tausend Schmerzen gehen -- aber niemals würde ich deshalb wünschen,
keine Seele besessen zu haben. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn Sie ohne
Seele sind, lassen Sie sich schnell eine einblasen.«

»Vielleicht von Ihnen oder von Winkelmann?«

»Warum nicht?« --

»Ah -- Herr Winkelmann -- bitte, Sie dürfen mir schon guten Abend
sagen.«

»Ich fürchtete, zu stören.«

Winkelmann trat an den Tisch und begrüßte die beiden. Als er das Lokal
betrat, hatten seine scharfen Augen Gerda sofort erspäht, auch mit wem
sie saß, wußte er, trotzdem er von Reitzenstein nur den Rücken sehen
konnte. Erst war es seine Absicht gewesen, sich in eine Ecke zu setzen
und die beiden zu beobachten, dann aber änderte er seinen Entschluß,
und er ging langsam an dem Tisch vorbei, so tuend, als bemerke er sie
nicht. Würden sie keine Notiz von ihm nehmen, so wollten sie nicht
bemerkt werden, und er wußte Bescheid, andernfalls -- da rief Gerda ihn
an, und er begrüßte sie.

»Sie stören durchaus nicht. Im Gegenteil, wir sprachen gerade von
Ihnen. Sie sollen mir nämlich eine Seele einblasen.«

»Das täte ich von Herzen gern -- wenn Sie nämlich keine haben.«

»Ich habe keine!«

»Das bilden Sie sich doch nur ein! Dann wären Sie ja eine Melusine, ein
unirdisch Lebewesen -- kein Menschenkind.«

»Das bin ich vielleicht.«

»Haben Sie Ihren Vater lieb gehabt?« Reitzenstein sagte es leise und
zart, ganz zart.

Sie senkte den Kopf. »Sehr lieb.«

Einen Augenblick schwiegen sie alle drei, dann sagte Winkelmann:

»Nun werden wir bald wieder die Trommel rühren müssen zu Ihrem
Konzert.«

»Recht schade, daß das Westphalsche Haus seine Pforten geschlossen
hat, da konnte man Beziehungen anknüpfen, und sich Publikum schaffen,«
sagte Reitzenstein. »Ist es nicht dies Haus, so ist es ein anderes.
Diese gastlichen Häuser, in denen man alle Welt trifft, finden Sie zu
Dutzenden hier in Berlin, eine Kleinigkeit, dort eingeführt zu werden.
Kennen Sie die Familie Menders? Kommerzienrat Menders, Fräulein von
Wangenheim?«

»Nein.«

»Dort sollten Sie verkehren. Höchste Kreise -- aber sehr stark
gemischt. Ich werde Sie einführen.«

»Können Sie machen, daß ich dort singe?«

»Ich glaube wohl.«

»Sagen Sie, Fräulein von Wangenheim,« wandte sich Reitzenstein an
Gerda, »hört man denn nichts von Fräulein Wunsch? Sie ist doch so
gänzlich unsichtbar geworden. Ich hörte, ihr letztes Werk soll im
Frühjahr ausgestellt werden, wissen Sie etwas Näheres?«

»Ich hörte gestern in der Pension, daß sie in diesen Tagen
zurückerwartet wird.«

»Sie soll ja in der Nähe von München einen Traum geträumt haben,«
bemerkte Winkelmann.

»Fräulein Wunsch sieht mir gar nicht nach träumen aus.«

»Nun, der Traum hatte Arme und Beine und einen Feuerkopf.«

»Ein famoser Mensch und eine große Künstlerin ist die Wunsch,« bemerkte
Reitzenstein.

»Alle Welt ist gespannt auf ihre neueste Arbeit. Man erzählt, daß sie
durch dieses Werk uns alle verspottet und der Menschheit ins Gesicht
schlägt.«

»Wird wohl nur Stimmungsmache sein,« sagte Winkelmann.

»Man wird ja sehen. Aber eine bedeutende Arbeit soll es sein. Arno
Stürmer sprach davon.«

                                *  *  *

Winkelmann hatte Gerda bei dem Kommerzienrat Menders eingeführt, und
man hatte sie aufgefordert, auf dem nächsten Tee zu singen.

Wieder würde ihr Name genannt werden, wieder würde der Kreis ihrer
Anhänger sich erweitern.

Sie brauchte Menschen, Publikum!

Wie ein Fieber war es über sie gekommen. Gesehen werden -- von sich
reden machen! Sie, die bisher eine kühle Reserviertheit allen fremden
Menschen gegenüber gezeigt hatte, war jetzt von einer gewinnenden
Liebenswürdigkeit. Hatte für jeden ein freundliches Lächeln und
verbindliche Worte. Ihr Antlitz lächelte, aber ihr Inneres lachte.
Lachte und höhnte. Ich brauche euch, daß ihr es nur wißt -- Maske
mein Lächeln, Lüge meine Worte -- Mittel zum Zweck! Sprossen meiner
Stufenleiter seid ihr mir, nichts weiter. Hinauf zum Ruhm und Glanz.
Sie begann sich auffällig zu kleiden. War sie durch ihre Trauer auch an
die schwarze Farbe gebunden, so verstand sie es doch, durch irgendeinen
raffinierten Halsausschnitt, durch ein Arrangement ihres funkelnden
Haares, die Aufmerksamkeit auf ihre Person zu lenken. Sie brachte
sich zur Geltung, aber -- sie wirkte stets vornehm. Sie besuchte mit
Winkelmann zusammen die Konzerte. Ließ sich von ihm in Restaurants
führen, wo sie gesehen wurden. Sie setzte sich dem Gerede aus, als
Winkelmanns Geliebte zu gelten. Das war ihr gleichgültig. Sie lachte
darüber. Sie brauchte einen Kavalier, und Winkelmann war ihr gerade
recht dazu. Im übrigen war sie ihm auch zu Dank verpflichtet. Er
ermöglichte es ihr, weiter zu studieren, er machte sie bekannt, mit
Menschen, die ihr nutzen konnten -- genug, sie brauchte ihn. Und er war
glücklich, vor der Welt als ihr Geliebter gelten zu dürfen; daß er es
in Wirklichkeit werden würde, davon war er überzeugt.

Auch heute wollten sie zusammen in die Oper gehen. Gerda erwartete
ihn. Sie hatte versprochen, vorher mit ihm zusammen eine Tasse Tee
zu trinken. Sie saß an dem nett arrangierten Teetisch, rauchte und
lächelte. Der arme Reitzenstein! Er war tief unglücklich. Er hatte ihr
Vorwürfe gemacht, daß sie sich öffentlich mit Winkelmann zeigte. ›Wenn
er schon Ihr‹ -- er begann zu stottern -- ›wenn er schon -- Ihr -- Ihr
Geliebter ist -- so brauchen Sie das nicht allen Menschen ins Gesicht
zu schreien.‹

›Ich habe keine Ursache, mich oder mein Tun und Treiben zu verbergen,
Herr von Reitzenstein.‹

›Aber warum mußte gerade er es sein?‹

Gerda lachte: ›Warum nicht Sie?‹

›Ja, warum nicht ich?‹

›Nun, ich will Ihnen etwas sagen, Herr von Reitzenstein, weil Sie gar
so unglücklich aussehen, Herr Winkelmann ist nicht mein Geliebter.‹

›Nicht??‹ hatte er ungläubig gefragt. Dann hatte er ihr stürmisch die
Hände geküßt und war davongestürzt. -- -- --

»Ach, die wundervollen Rosen, ich danke Ihnen, Herr Winkelmann.«

Winkelmann hielt ihr einen herrlichen, dunkelroten Strauß Rosen
entgegen.

»Ein wundervoller Duft! Ich liebe die tiefdunklen Rosen. So -- und nun
ist Ihr Wunsch erfüllt, Sie befinden sich in meinem ureigenen Reich.
Ein etwas wirres Durcheinander, wie Sie sehen. Eben ein Pensionszimmer,
mit Möbeln, die nicht mir gehören, zwischen denen die paar Stücke, die
mein Eigentum, sich als fremde Gesellen ausnehmen.«

Sie legte den Rosenstrauß in ihren Schoß, zog eine Rose heraus und
begann sie zu zerpflücken. Einzeln löste sie Blatt um Blatt und
zerstreute die Blätter über den Tisch.

»So, und nun schenken Sie uns den Tee ein. Sie sehen, es steht alles
bereit.«

Winkelmann goß den Tee in die japanischen Schalen, legte ihr kleine
Kuchen auf und bestrich die gerösteten Brotscheiben mit Marmelade. Es
war das erste Mal, daß er dem schönen Mädchen in ihrem eigenen Wohnraum
gegenübersaß. Hatte das Zimmer auch nichts Persönliches, so war es
doch der Raum, in dem sie lebte, die Möbel, die sie täglich benutzte,
all die Gegenstände, die sie umgaben. Das Zimmer war erfüllt von ihrem
Duft. Dort, hinter dem Schirm, stand ihr Bett. Er war in dem Zimmer
einer jungen Dame, in welchem sie schlief, studierte, und ihre guten
Bekannten empfing.

Eine Beklemmung überkam ihn. Wie lange sollte dieses Spiel noch dauern?
War er toll, sich so am Gängelband führen zu lassen? Warum nahm er sie
nicht einfach in seine Arme und zwang sie zu sich? Warum nicht heut? --
jetzt gleich? Sie mußte doch wissen, daß sie ihm verfallen war!

Er sah zu ihr hinüber.

Sie trug ein schwarzes, tiefausgeschnittenes Kreppkleid. Ihre Schultern
glänzten im matten Weiß, und das blasse, von einer zarten Röte gefärbte
Gesicht atmete das volle Bewußtsein seiner Schönheit. Eine geheime,
fast spöttische Freude blitzte aus ihren halbgeschlossenen Augen,
zitterte um ihre Nasenflügel.

Sie ahnte seine Gedanken, und sie war voll fiebernder Neugierde.

»Gerda!« -- Und er lag vor ihr und wühlte seinen Kopf in ihren Schoß.

»Oh -- meine armen Rosen --« Und sie legte den Rosenstrauß auf den
Tisch, legte ihre kühle, weiße Hand auf sein Haupt, und sprach: »Stehen
Sie auf, und seien Sie vernünftig.«

»Du bringst mich um den Verstand mit deiner Kälte,« stöhnte er. »Gerda
-- was hast du aus mir gemacht!« Er umschlang sie leidenschaftlich und
bedeckte ihren Hals mit glühenden Küssen.

Sie wehrte ihm nicht. Aber als seine Lippen die ihren suchten, stieß
sie ihn zurück und sagte mit eisiger Ruhe: »Hören Sie auf, und nehmen
Sie endlich Vernunft an, oder ich verbiete Ihnen, mich wiederzusehen.«

Da ließ er ab von ihr. Seine Züge verzerrten sich, und mit heiserer
Stimme flüsterte er: »Sie sind das kälteste und herzloseste Weib, dem
ich jemals begegnet.«

»Wenn Sie das wissen, so suchen Sie sich zu beherrschen.«

»Ich kann dieser Leidenschaft nicht Herr werden -- ich kann
nicht!« -- -- --

            ----------------------------------------------

Nein -- er kann nicht mehr los von ihr. Über eine Woche hatte er sich
ferngehalten, hatte sich nicht blicken lassen -- dann hielt er es nicht
mehr aus. --

»Warum sind Sie fortgeblieben?« sagte sie.

»Das wissen Sie,« erwiderte er finster.

Sie lachte ihn aus.

»Wer hat Sie begleitet, als ich nicht zur Stelle war?«

»Reitzenstein natürlich!«

»Sie sind ein Dämon,« zischte er.

»Der Dämon sitzt in Ihnen.« -- -- --

            ----------------------------------------------

Gerda hatte bei Kommerzienrat Menders gesungen. Sie hatte viel neue
Menschen kennengelernt, und man hatte ihr viel Schönes gesagt über
ihren Gesang, ihre Art, sich zu kleiden -- dennoch kam sie verstimmt
heim.

Der Zufall wollte es, daß sie ein Gespräch über ihre eigene Person
anhören mußte. ›Ganz leidliche Stimme, aber nichts für den Konzertsaal.
Soubrettenstimme.‹ ›Dazu paßt ihr Äußeres doch nicht,‹ erwiderte die
andere Stimme. ›Viel zu vornehm, reserviertes Auftreten! Überhaupt eine
königliche Erscheinung.‹ ›Sollte zum Kabarett oder zum Varieté gehen.
Aus diesem Munde, in lässiger Vornehmheit, pikantes Genre vorgetragen
-- Donnerwetter -- das würde ziehen.‹ -- -- --

Sie wollte die sprechenden Personen sehen, wollte wissen, wer so über
sie urteilte -- aber es gelang ihr nicht. Das Gespräch fand hinter
einer nur angelehnten Tür statt, vor der sie mit Bekannten plaudernd
stand. Als sie sich frei machen konnte, die Tür öffnete, waren im
anstoßenden Zimmer so viel plaudernde Gruppen, daß es unmöglich war,
die Stimmen herauszufinden. Dicht an der Tür stand niemand mehr. Sicher
aber war, daß es Männerstimmen gewesen waren.

Der Kommerzienrat trat auf sie zu und dankte für ihren Vortrag. Er war
ein kleiner, dicker Herr mit kleinen, blinzelnden Augen. Er unterhielt
sich lebhaft mit ihr über ihre Stimme und ihre Pläne. »Also, im Februar
ist Ihr Konzert?«

Sie nickte.

»Hundert Billette kann ich unterbringen. Lassen Sie mir dieselben in
mein Bureau senden, wenn es so weit ist. Ich sage Ihnen das schon heut,
mein gnädiges Fräulein, denn Sie müssen wissen, ich bin von Geschäften
stark in Anspruch genommen -- könnte vergessen -- und möchte Ihnen doch
gern dienlich sein.«

Gerda war empört. Wie unzart. Konnte er die Billette nicht von den
Verkaufsstellen beziehen? Sie sollte wissen, was er für sie tat. Er
verlangte einen Dank.

Er nahm hundert Billette gegen Bezahlung, folglich half er die Kosten
decken.

Sie neigte hochmütig das Haupt: »Ich bin Ihnen dankbar für Ihr
liebenswürdiges Interesse.«

Er sah sie stechend an. »Sie sind sehr schön, Fräulein von Wangenheim!«

Sie wehrte ab. »Oh -- bitte.« -- -- --

Sie war verstimmt, und mißlaunisch schritt sie mit Winkelmann durch den
Tiergarten dem Steinplatz zu. Als sie an der Gedächtniskirche waren,
sagte sie plötzlich: »Ich will noch nicht heim, lassen Sie uns zusammen
speisen.« -- --

Als er sie im Wagen nach Hause brachte, nahm er ihren Kopf fest
zwischen seine Hände und preßte seinen dürstenden Mund auf den ihren.
Er trank, trank, und konnte keine Linderung finden. Wehrlos ruhte ihr
Haupt in seinen Händen, still duldeten die kühlen Lippen seine Küsse.
Doch als die suchenden Lippen weiterwanderten, da kam Leben in den
schlaffen Körper, sie wehrte sich.

»Wann wirst du mir endlich gehören?« Er hielt sie fest in seinen Armen.

»Mit meinem Willen niemals.«

Da hielt der Wagen mit einem Ruck, und er mußte sie freigeben. -- -- --

            ----------------------------------------------

  Das letzte Band zwischen Dir und Deiner Familie hast Du zerschnitten.

  Hauptmann von Kosewitz hat mir erzählt, wie Du in Berlin lebst. Nicht
  genug, daß Du ein luxuriöses Leben führst, kostbare Toiletten trägst,
  von denen man nicht weiß, wer sie bezahlt, zeigst Du Dich öffentlich
  mit Deinem Geliebten, besuchst Theater und Restaurants, und das
  alles, während Du noch die Trauerkleider um deinen Vater trägst.

  Du bist unwürdig des Namens, den Du trägst. Kein Mitglied unserer
  Familie wird Dich zu den Unsrigen zählen. Du trägst den Namen Deines
  Vaters auf die Gasse und besudelst sein Andenken.

  Wenn Du noch einen Funken von Ehrgefühl in Dir hast, so wirst Du
  meinem Befehl gehorchen und unter einem anderen Namen leben.

  Jeder Annäherungsversuch Deinerseits an mich oder an Deine
  Geschwister würde scheitern, gleichviel, ob jetzt oder später.
                                         Eleonore von Wangenheim.

            ----------------------------------------------

Verdammt, ohne gehört zu werden!

Wenn sie gesprochen, die Gründe ihres Handelns klargelegt hätte --
würde die Mutter sie verstehen?

Nimmermehr!

Nun waren die Brücken abgebrochen, es gab kein Zurück mehr. Sie
mußte den eingeschlagenen Weg zu Ende gehen. Sie war sich voll
bewußt, daß er an Abgründen und Wirrnissen vorüberführte, daß tausend
Widerwärtigkeiten ihrer harrten -- sie ließ sich nicht abschrecken --
sie wollte siegen, herrschen!

Nun fiel jede Rücksichtnahme fort -- sie hatte nach niemand mehr zu
fragen -- für sie maßgebend war nur ihr eigenes Ich.

                                *  *  *

»Lotte, wie wunderbar du aussiehst. Ordentlich verklärt.«

»Ich bin glücklich, Ebba.«

Ebba zog die Freundin neben sich auf das Sofa.

»So hast du doch das Glück zu dir gezwungen!«

Lotte nickte. »Es kommt zu mir. Winzig und klein wird es sein, und wird
mich anlächeln, und, ›Mutter‹ werden die zarten Lippen stammeln.«

»Warum wollt ihr nicht zusammenbleiben? Liebst du ihn nicht?«

»Wir können nicht glücklich werden. Er ist von zügelloser Leidenschaft
und wird beherrscht durch seine Sinne. Eheliche Treue kennt er nicht.
Mit Gehring hätte ich wohl eine Ehe führen können, mit Arno Stürmer
nicht.«

»Liebst du Gehring noch?«

»Ja -- ich liebe ihn noch, denn er ist ein Mann, mit dem eine Frau
glücklich werden muß. Ich empfinde für ihn keine aufbrausende
Leidenschaft, ich könnte nie mit ihm in einem Rausch leben. In einem
Rausch, in dem mich Stürmer an sich genommen, er liebt mich mit dem
Herzen, jener mit den Sinnen.«

»Glaubst du nicht, daß Gehring wieder zu dir zurückgefunden hätte?«

»Ich habe darüber nachgedacht, Ebba. Nein, ich glaube es nicht. Für ihn
liegt die erste Pflicht der Frau im Hause als Gattin und Mutter. Will
sie diese Pflicht erfüllen, darf sie keinen Beruf haben.«

»Er wußte aber, daß du Künstlerin bist, und daß du deine Kunst liebst.«

»Man könnte ihm diesen Vorwurf wohl machen, ich kann es nicht. Die
Liebe zwischen uns war plötzlich da, zog uns zu einander hin, daß wir
keine Schranken sahen. Er trat in mein Leben, weil er eben mußte. Er
war mein Schicksal.«

»Und Arno Stürmer weiß nicht, daß du --«

»Das Kind gehört zu mir, ist mein alleiniges Eigentum, er soll keinen
Teil daran haben. Wozu auch? Es würde seinen Weg nur beschweren.«

Lotte war aufgesprungen und ging erregt hin und her. »Um Mutter zu
werden, habe ich mich ihm hingegeben. Ich habe einen hohen Einsatz
gewagt. Wäre mein Leib nicht gesegnet worden, dann wäre ich jetzt
unrein. Das Kind hat mich gereinigt.

Später mag er dann davon wissen, aber, teilen die Liebe meines Kindes
mit ihm -- niemals!

In zwei Monaten gehe ich fort von hier. Ich kaufe mir ein kleines Haus
im Gebirge, ich muß reine Luft um mich haben, wenn das Kind zur Welt
kommt. Höhenluft!

Dort werde ich schaffen und werde Mutter sein. Mein Kind und meine
Kunst -- weiter nichts!«

»Wirst du so einsam leben können?«

»Einsam! Als ob man einsam ist, wenn man Pflichten hat! Menschen! Was
sind Menschen! Ich bin oft einsamer unter vielen Menschen, als wenn ich
allein bin. Und du auch, Ebba. Wieviel Menschen hast du denn unter den
vielen, die du hier kennengelernt hast, gefunden, die dir etwas sein
konnten?«

Ebba seufzte.

»Du wirst zu mir kommen, Ebba. Wirst mich besuchen, und wirst mir
helfen, mein neues Werk schaffen -- du weißt -- ›Menschenliebe‹ -- dazu
brauche ich dich. Nur du kannst mich dazu inspirieren -- nur du kannst
mein Modell sein.«

»Bist du endlich auf dem Wege zum Glauben an die Menschheit?«

»Du hast mir diesen Weg gewiesen und mußt mich bis zu Ende führen.«

»Auch mir sind inzwischen Pflichten erwachsen, Lotte, ich ziehe in das
Haus meines Bruders und werde dort Hausfrau sein.«

»Das ist vernünftig! Dann bist du nicht mehr einsam und hast Inge, dein
Töchterchen. Die bringst du natürlich mit. Leid ist es mir nur um dein
schönes Heim,« sie ließ die Blicke umherschweifen, »das du mit soviel
Liebe und Kunstsinn wohnlich gemacht hast.«

»Das werde ich mir wieder schaffen.«

»Ja, Behaglichkeit um dich zu verbreiten, das verstehst du. Du bist die
idealste Hausfrau, die ich mir denken kann, und Lukas Westphal und Inge
werden es gut bei dir haben.«

                                *  *  *

In berückender Schönheit stand Gerda auf dem Podium. Die schwarze
Chiffonrobe hob die Blässe ihrer Haut, machte das Rot ihrer Haare
funkelnd aufleuchten. Ein prasselndes Händeklatschen empfing sie. Sie
lächelte und ließ ihre Blicke über den Saal schweifen.

Nur halb gefüllt.

Ihre Mundwinkel zuckten verächtlich.

Sie sang, aber es wollte nicht glücken. Das Publikum blieb kühl. Wohl
wurde eifrig geklatscht, als sie geendet, aber sie fühlte es wohl
heraus, ein Teil des Publikums verhielt sich zurückhaltend.

Zum Schluß mußte sie dreimal hervorkommen, ihre Freunde ruhten nicht
eher. Sie erhielt Blumenarrangements -- aber -- der Abend entsprach
nicht ihren Erwartungen.

Winkelmann hatte im Esplanade-Hotel einen Tisch reservieren lassen, und
sie saßen zusammen mit ein paar Freunden und Bekannten. Kommerzienrat
Menders, der Gerda ein kostbares Blumengebinde hatte überreichen
lassen, sagte ihr viel Schönes über ihren Vortrag und daß sie in Kurzem
ein Stern erster Größe sein würde. Seine kleinen, blinzelnden Augen
verschlangen ihren aus dem schwarzen Geriesel hervortretenden schlanken
Hals und ihre Büste mit seinen Blicken. Seine feuchten Lippen ruhten in
Gedanken auf jeder Stelle dieses Halses.

Gerda zwang sich, ihm liebenswürdig zu antworten, und duldete es, daß
er an ihrer Seite Platz nahm.

Es war eine lustige Gesellschaft, die da beisammensaß, die dem Wein
eifrig Zuspruch tat und sich nicht genug tun konnte, die junge
Künstlerin zu feiern.

Gerdas Unmut und üble Laune waren bald verflogen. Sie ließ sich den Hof
machen und kokettierte nach allen Seiten. Sie ließ sich den schäumenden
Sekt in ihren Kelch füllen, trank den prickelnden Schaum und goß den
Rest in den Kühler.

»Donnerwetter,« flüsterte der Kommerzienrat, »Sie lieben nur den
Schaum?«

Sie sah ihn an.

»Beim Sekt, ja.«

»Sie lieben das Prickelnde?«

»Beim Sekt, ja.«

»Hm. Auf die Art, wie Sie es machen, kommen Sie aber nicht zum Genuß.
Sie sollten nicht nur nippen -- Sie sollten schlürfen -- austrinken bis
auf den Grund -- dann erst haben Sie den vollen Genuß.« Er drängte sein
Knie dicht an das ihre, legte seine Hand auf ihre Hüfte und sah sie
durchdringend an.

Sie blieb ganz ruhig, zog ihren Körper nur leicht zurück und sagte mit
liebenswürdigem Lächeln: »Den Becher bis auf den Grund zu leeren, ist
stets vom Übel, Herr Kommerzienrat -- ich liebe es nur, zu nippen --
dies ist für mich der wahre Genuß.«

»Fräulein von Wangenheim, machen Sie meinen Mann nicht unglücklich,
gönnen Sie ihm ein Plätzchen an Ihrem Triumphwagen,« rief Frau
Kommerzienrat Gerda zu. »Wie traurig er aussieht, machen Sie ihm ein
klein wenig Hoffnung, ich habe sonst zu sehr unter seiner Laune zu
leiden.«

»Aber von Herzen gern, gnädige Frau, auf einen Ritter mehr kommt es mir
gar nicht an. Ich wußte nur bis jetzt nichts von Ihrer Absicht, Herr
Kommerzienrat --,« und sie sah ihn listig an.

Er legte die Hand aufs Herz. »Ihr Sklave.«

Winkelmann saß schweigsam neben Gerda. Seine Blicke spähten nach
ihren Augen, und hingen an dem zarten, hochmütigen Gesicht. Plötzlich
erbleichten seine Wangen, zuckten seine Lippen krampfhaft, wild und
starr blieb sein Blick auf der Hand des Kommerzienrats haften, die sich
auf Gerdas Knie verirrt hatte.

Daß er es wagen durfte!

Er sah, wie Gerda die Hand zurückstieß. Keine Miene ihres Gesichts
verzog sich, kein Blick streifte den Kommerzienrat, ruhig plauderte sie
mit dem gegenübersitzenden Reitzenstein weiter.

Sein Blut kochte. Er hob sein Glas und rief laut über den Tisch: »Auf
das Recht zu genießen, wo wir lieben.«

»Bravo! Genießen, wo wir lieben!« -- Der Kommerzienrat schloß die
blinzelnden Augen -- die Gläser klangen aneinander.

Winkelmann sah Gerda fest in die Augen, dann ließ er sein Glas an das
ihre klingen -- »Trinken Sie aus!« -- raunte er mit heiserer Stimme.

Sie löste ihre Blicke nicht von den seinen, schlürfte den Schaum von
dem Glase und vergoß den Rest.

Er sah sie finster an. Er fühlte sich beleidigt und verletzt, und ein
Zorn gegen dieses Weib, das so kalt und hochmütig neben ihm saß und ihn
stachelte und reizte, stieg in ihm auf. -- -- --

            ----------------------------------------------

Als sie im Wagen saßen, sagte er mit beherrschter Stimme: »Wir fahren
zu mir, ich habe dem Schofför Weisung gegeben.«

»Daß man mich für Ihre Geliebte hält, weiß ich -- daß ich es nicht
bin und auch nicht werden will -- wissen Sie. Oder glauben Sie, mich
umstimmen zu können?«

»Vielleicht!«

»Wollen Sie mich zwingen?«

»Nein.«

»Ehrenwort?«

Er zögerte -- dann: »Ich werde Sie nicht zwingen, mein
Ehrenwort.« -- -- --

Sie sitzen in seinem Zimmer vor dem Kamin in tiefe Sessel geschmiegt.
Er hat die elektrische Stehlampe entzündet. Ihr roter Schein verbreitet
ein rosiges Licht über den Tisch, vor dem sie sitzen, während der
übrige Teil des Zimmers in Dunkel liegt. Das Wasser im Teekessel fängt
an zu kochen. Er bereitet den türkischen Kaffee und gießt ihn in die
Schalen.

»Wie heimisch es bei Ihnen ist! Und wie gut Sie den Kaffee bereiten,«
sagt sie.

Er gießt sich einen Kognak ein, stürzt ihn hinunter und schweigt.

Die Uhr schlägt drei.

»Warum haben Sie mich eigentlich hierher gebracht?«

»Weil ich dich zwingen will, die Meinige zu werden, heut, in dieser
Nacht! Als ich sah, daß er es wagte, dich zu berühren, dieses Vieh --
da kam über mich die Wut -- mir gehörst du -- mir -- ich lasse dich
keinem andern.«

Er stößt diese Worte mit rückhaltloser Leidenschaft hervor. Er springt
auf, reißt sie mit aller Kraft an sich und küßt sie mit rasender Wut.
Sie schließt unwillkürlich die Augen und liegt wie betäubt und schwer
in seinen Armen. Er küßt den Hals, die Schulter, das Achselband hat
sich gelöst, die zarte, jungfräuliche Brust ist ihm preisgegeben. Da
schlägt sie die Augen auf und sieht ihn an mit einem Blick so voller
Verachtung, daß sein Blut erstarrt. Der Boden unter seinen Füßen
scheint zu schwanken. Er läßt sie in den Sessel gleiten und fällt vor
ihr nieder, umklammert ihre Knie und stammelt: »Ich gehe ja zugrunde
bei diesem Leben! Sage, was soll aus mir werden? Du mußt doch wissen,
daß ich das nicht aushalten kann. So hab doch Mitleid mit mir.«

»Sie überfallen mich, und ich soll Mitleid mit Ihnen haben? Sie geben
mir Ihr Ehrenwort, mich nicht zwingen zu wollen, und machen dennoch den
Versuch dazu?«

»Hast du denn kein Verständnis für die Sprache der Sinne und des
Blutes?«

»Ich verlange, daß Sie sich beherrschen.«

»Das kann ich nicht mehr. Gerda -- Gerda --,« stöhnte er auf, »so
quäle mich nicht so -- habe doch Erbarmen -- ich habe ja ein Recht auf
dich --«

»Ein Recht auf mich!« fährt sie auf -- »meinen Sie wegen des Geldes?«

»Unsinn!« Auch er ist aufgesprungen und steht ihr jetzt in empörter Wut
gegenüber -- »Wer denkt an Geld! Du duldest meine Liebe seit Monaten --
du ließest dich küssen -- du ließest mich hoffen, daß du --«

»Das ist nicht wahr!« wirft sie ein.

»Ich habe ein Recht auf dich -- ich breche mein Ehrenwort -- ich nehme
dich -- hörst du -- ich zwinge dich --« und er umschlingt sie in wildem
Taumel und will sie auf das Ruhebett tragen.

Sie hat die rechte Hand frei, schlägt ihm ins Gesicht und zischt: »Sie
Ehrloser!«

Da wird er kreidebleich. Seine Arme zittern, und er läßt seine Last zur
Erde fallen.

Sie springt auf, hüllt sich in ihren Mantel, und herrscht ihn an: »Nach
Haus! Sofort holen Sie mir einen Wagen -- ich fahre allein!«

»Der Wagen wartet,« stammelte er und begleitet sie hinaus. -- -- --

            ----------------------------------------------

Gerda sitzt am Schreibtisch und rechnet. Das Geld muß sie so schnell
als möglich an Winkelmann zurückzahlen. Das gestrige Konzert hat
kaum die Hälfte der Unkosten gedeckt -- die teuren Stunden -- ihr
Lebensunterhalt -- an dreitausend Mark würde sie schon verbraucht haben
-- womit diese Summe decken -- und wovon weiterleben?

Sollte sie jetzt -- nachdem sie schon soviel Opfer gebracht -- ihr
ganzes Leben schon auf die künstlerische Laufbahn eingerichtet --
sollte sie jetzt noch umkehren müssen -- wieder versinken in den Alltag?

Reumütig in den Schoß der Familie zurückkehren?

Sie preßt die Lippen aufeinander.

Niemals!

Sie muß Rat schaffen. Woher -- woher? Sie muß Geld in den Händen haben,
so schnell wie möglich. Sie grübelt und sinnt. Der Kommerzienrat! Er
muß helfen. Aber -- ein Schütteln überkommt sie -- es muß sein.

Eilig kleidet sie sich an, fährt in sein Bureau und läßt sich melden.

In seinem Privatkontor, einem elegant und luxuriös eingerichteten
Herrenzimmer, welches durchaus nicht den Eindruck eines Geschäftsraumes
macht, empfängt er sie.

»Welch unerwarteter Besuch, mein gnädiges Fräulein!« Er geht mit
ausgestreckten Händen auf sie zu, führt sie zum Sofa, rückt einen der
schweren, tiefen Ledersessel davor und versinkt in dessen Polster.

»Ich komme in einer geschäftlichen Angelegenheit zu Ihnen, Herr
Kommerzienrat!«

»Das freut mich! Freut mich sehr, daß Sie Vertrauen zu mir haben. Ich
stehe Ihnen zur Verfügung, Fräulein von Wangenheim.«

Wieder blinzeln ihr seine Augen lüstern entgegen. Er hat den Sessel so
dicht vor sie geschoben, daß seine Knie fast die ihren berühren.

Gerda hätte aufspringen mögen und davonlaufen.

»Herr Kommerzienrat,« -- ihre Lippen zittern -- »ich brauche Geld!«

»Geld? So, so! -- Natürlich können Sie auf mich rechnen. Wieviel
brauchen Sie?«

»Zehntausend Mark.«

Er sieht sie an. »Haben Sie sich mit -- haben Sie sich entzweit?«

Eine flammende Röte schießt in ihre Wangen. Hochmütig und verächtlich
schürzen sich ihre Lippen. Sie hätte ihn würgen mögen. So also dachte
man über sie. Daß man sie für Winkelmanns Geliebte hielt, wußte sie,
und es war ihr im Grunde gleichgültig gewesen. Daß man aber glauben
würde, sie nehme Geld von ihm -- --

Die Röte wich aus ihren Wangen und machte einer tödlichen Blässe
Platz. Und -- war es denn nicht so? War es nicht sein Geld, von dem sie
lebte, ihre Stunden bezahlte? Nein -- nein, schrie die Stimme in ihr,
so ist es nicht! Sie hatte es geliehen -- wie ein Freund dem andern
borgen würde!

Aber -- sie waren nicht zwei Freunde -- Mann gegen Mann -- zwischen
ihnen stand das Geschlecht -- und er liebte sie!

Der Kommerzienrat hatte sich neben sie auf das Sofa gesetzt.

»Haben Sie sich entzweit?« flüstert er mit erregter Stimme. »Kind, so
sprechen Sie doch!«

»Ich habe mir von Winkelmann zehntausend Mark geborgt, um mein Studium
beenden zu können. Ich bin niemals seine Geliebte gewesen; weil er mich
gestern dazu machen wollte, sind wir in Zorn auseinandergegangen -- Sie
verstehen, daß ich ihm das Geld zurückgeben muß.«

Der Kommerzienrat, dessen kleine Augen immer größer geworden, fragt
erstaunt: »Nicht seine Geliebte, ist das wahr?«

Sie will auffahren, bezwingt sich aber. »Das ist die Wahrheit!«

»Armer Kerl! Und nun wollen Sie, daß ich an seine Stelle trete?«

»Ich will Sie bitten, mir das Geld zu leihen, um ihm das seinige
zurückgeben zu können. Sie bekommen alles gegen Zinsen zurück, ich
denke, wir behandeln die Angelegenheit ganz geschäftlich.«

»Hm, ganz geschäftlich. Also zehntausend Mark gegen Zinsen. Welche
Sicherheit bieten Sie mir, und wann und wie wollen Sie zurückzahlen?«

Sie sieht ihn verständnislos an. »Das weiß ich nicht.«

»Ja, Sie müssen sich doch eine Vorstellung gemacht haben, wie Sie Ihren
Verpflichtungen nachkommen können und wollen.«

»Ich hoffe, bald viel Geld zu verdienen, und dann will ich
zurückzahlen.«

»Viel Geld verdienen, als Konzertsängerin, die im Anfang ihrer
Laufbahn steht? Es mag ja so sein, und ich will es Ihnen wünschen! Sie
wären dann eine einzige unter tausend! Aber -- mein liebes Kind, auf
dieser Basis läßt sich kein Geschäft machen. Das wollte ich Ihnen nur
beweisen, und darum sprach ich geschäftlich mit Ihnen, nun lassen Sie
uns freundschaftlich verhandeln.« Er legt seinen Arm um ihre Taille und
fährt fort: »Also -- ich, als Ihr Freund, gebe Ihnen die zehntausend
Mark und frage weder nach Zinsen noch nach Rückgabe. Ich verlange
nur, daß Sie ein bißchen nett zu mir sind, so wie es ein guter Freund
verlangen kann.«

»Sie wollen sich also durch die Hergabe des Geldes meine Gunst
erkaufen! In klaren Worten ausgedrückt: Sie kaufen mich!«

Sie ist aufgesprungen und steht zornsprühenden Antlitzes vor ihm.
»Kann denn ein Mann nie einer Frau gegenüber rein und uneigennützig
helfen, muß denn immer das sinnliche Verlangen ins Spiel kommen? Ich
verkaufe mich nicht, hören Sie? Ich will Ihr Geld nicht!«

»So beruhigen Sie sich doch, Kind, so habe ich es doch nicht gemeint.
Ich sprach doch nur von Freundschaft, nicht von Liebe. Nur daß ich des
öfteren ein Stündchen mit Ihnen plaudern darf, Sie besuchen kann, um
Ihnen die Hand zu küssen.«

»Nein, ich will auch das nicht!«

Er ist an den Schreibtisch getreten und schreibt. »So -- hier haben Sie
einen Scheck über zehntausend Mark.« Er steht auf, tritt dicht zu ihr
und sieht ihr in die Augen. Ȇberlegen Sie, ob Sie mir die Rechte eines
Freundes zubilligen wollen -- ich komme in ein paar Tagen und hole mir
die Antwort.«

Gerda hält den Scheck in der Hand. Wie betäubt sieht sie darauf
nieder. Hier die Befreiung von Winkelmann, dort die neue Fessel. --
Freundschaft! -- Heuchler, Betrüger! --

Sie steckt das Papier in ihr Täschchen, neigt kühl und gemessen das
Haupt und schreitet zur Tür hinaus. --

            ----------------------------------------------

Den ganzen Tag geht sie in dumpfer Betäubung umher. Unmöglich beides!
Einen Ausweg, wo gab es einen Ausweg?

Er hatte gesagt: ›Wovon und wann wollen Sie zurückzahlen?‹

Sie konnte ja nichts versprechen!

Sie konnte etwas erreichen, vielleicht in einem Jahr, vielleicht
bedurfte es deren sechs, sieben! Sie konnte ihre Stimme verlieren! Es
war doch ganz ungewiß, ob sie ihr Ziel erreichen würde. Die Angst kam
über sie. Wenn nicht? Was dann -- was dann?

Den Scheck hatte sie in den Schreibtisch geschlossen, sie würde ihn dem
Kommerzienrat geben, wenn er käme. Dies würde ihre Antwort sein.

            ----------------------------------------------

Zwei Tage waren bereits vergangen, und Gerda hatte das Geld noch nicht
an Winkelmann zurückerstattet. Sie war wie im Fieber. Arbeiten konnte
sie nicht. Die Stunden hatte sie abgesagt, sie hätte ja doch keinen Ton
hervorgebracht.

Was tun? Es mußte etwas geschehen.

Sie öffnete den Schreibtisch und nahm den Scheck zur Hand. In einer
Stunde konnte das Geld an Winkelmanns Konto überwiesen sein.

›Ihr Freund, der Kommerzienrat Menders!‹ hörte sie die Leute sagen.

Sie sah seine blinzelnden Augen lüstern auf sich gerichtet, sah seine
feuchten Lippen sich ihr nähern, fühlte seine tastenden Hände. -- --
Voller Ekel warf sie den Scheck in den Kasten zurück und verschloß
ihn. --

Sie nahm die Zeitung zur Hand, wie konnte sie daran vergessen, heute
mußten die Konzertkritiken darin stehen.

Sie fand ihren Namen und las. Auch das noch. Sie sprang auf und preßte
die Hand an die pochenden Schläfen. Runtergerissen! Welche Mühe, welche
Arbeit hatte sie aufgewandt, und nun dies! Noch nichts hätte sie
erreicht! Weiterlernen -- studieren -- noch Jahre konnten vergehen, ehe
sie eine fertige Künstlerin sein würde.

Man hatte ihr zugejubelt, und sie gefeiert, und nun kam da so ein
Zeitungsschreiber und nannte sie eine Anfängerin mit mittelmäßiger
Stimme.

Lächerlich! Wenn dem so wäre, so hätte sie diesen Beifall nicht
gehabt! Aber sie wollte doch bis zu Ende lesen, was hatte er denn noch
auszusetzen? So -- deswegen der Beifall -- ihre wundervolle, vornehme
und aparte Erscheinung siegte über ihr Talent! ›Es ist ein Verbrechen
des Publikums und der guten Freunde, wenn sie, bezaubert durch die
Erscheinung, der Vortragenden einen Beifall zollen, der nicht ihren
Leistungen, sondern ihrer Persönlichkeit gilt.‹ -- So schrieb der
Kritiker.

Gerda legte das Zeitungsblatt auf den Tisch und fuhr mit der flachen
Hand darüber hin, als ob sie es glätten wollte.

War es wirklich nur ihre Schönheit, die wirkte?

Nicht ihre Stimme, ihre Kunst?

Dann brauchte sie ja nicht zu studieren, hatte nur nötig, sich zur
Schau zu stellen.

Sie lachte auf.

Also einpacken, nach Hause fahren. Stillsitzen und die Versorgung
erwarten in Gestalt eines Hauptmanns. Von Garnison zu Garnison ziehen,
Kinder bekommen, Wirtschaft führen.

Nach Hause? Sie hatte ja kein zu Hause mehr, den Weg hatte sie sich
verlegt -- sie hätte ihn auch nicht betreten -- niemals.

Wieder untertauchen in die Alltäglichkeit -- nimmermehr -- dann lieber
-- -- die Freundin des Kommerzienrats?

Sie würde ein sorgenloses Leben führen und die gefeierte Künstlerin
_spielen_ können. Sein Geld und ihre Schönheit würden das erreichen,
und vielleicht -- in Jahren -- würde sie sich dennoch, kraft ihrer
Kunst, Geltung schaffen.

Sollte sie Winkelmann heiraten?

Auch hier erwartete sie Glanz und Reichtum. Auch durch ihn konnte sie
ihre Stimme vervollkommnen, weiterarbeiten.

Verkauft -- verkauft!

Immer erst durch den Reiz ihres Körpers würde sie sich das erkaufen
können.

Nun gut, so wollte sie denn ihre Schönheit ausnutzen. Aber nicht
jenen beiden wollte sie sich verkaufen, nicht ihnen sollte ihr Körper
gehören. Alle sollten sie sich ihrer Schönheit freuen, sollten
Verlangen nach ihr tragen, aber -- gehören würde sie keinem. Ihre Gunst
und ihr Körper waren nicht käuflich. Zur Schau wollte sie sich stellen
und Kapital daraus schlagen!

Sie setzte sich an den Schreibtisch und schrieb zwei Briefe. Sie
schickte dem Kommerzienrat den Scheck zurück und dankte ihm für sein
gefälliges Entgegenkommen, aber sie könnte keinen Gebrauch davon
machen. In dem anderen bat sie den Agenten Veilchenfeld um seinen
Besuch. Sie adressierte die beiden Briefe und trug sie selbst zur
Post. -- -- --

Nun blieb ihr nur noch übrig, mit Winkelmann abzurechnen. -- -- --

            ----------------------------------------------

»Ein Jahreseinkommen von zwanzigtausend Mark, Auftreten in nur
erstklassigen Varietés, zwei Monate Ferien und Vorschuß von fünftausend
Mark sofort.«

Der Agent schrie auf: »Fünftausend Mark, was denken Sie, sagen wir
zweitausend!«

»Fünftausend, und sofort, oder ich unterschreibe nicht.«

»Ich kann nicht. Das ist ein Viertel Ihrer Jahresgage. In zwei Monaten
treten wir unsere Reise erst an, wenn Sie bis dahin sterben? Sie können
verunglücken! Ihre Stimme -- will sagen, Ihre Schönheit, kann leiden --
ich riskiere zuviel dabei.«

Gerda stand auf. »Sie müssen das riskieren oder auf mich verzichten.«

Er seufzte und zog das Scheckbuch aus der Tasche.

»Gut -- also viertausend.«

»Fünftausend!«

»Und wenn Sie sterben?«

»Dann buchen Sie auf Verlustkonto.«

»Das sagen Sie so ruhig.«

»Schreiben Sie, ich muß zur Bank.«

Veilchenfeld schrieb, und Gerda fuhr zur Bank und überwies an
Winkelmann zehntausend Mark.

                                *  *  *

Winkelmann hatte versucht, sich zu betäuben. Die alten Mittel.
Spiel und Weiber. Er besuchte die Nachtlokale, veranstaltete tolle
Sektgelage, und kam niemals allein heim. Er suchte seine Leidenschaft
zu ersticken, suchte Vergessen in den Zügellosigkeiten mit käuflichen
Frauen. Es gelang ihm nicht. Hielt er eine Frau in seinen Armen, so
überkam ihn der Ekel vor sich selbst und vor dem Weibe, das sich
ihm aus Laune oder Geldgier preisgab. Er überhäufte die Frau mit
Schmähungen und hieß sie gehen, um allein zu sein. War er allein, so
überkam ihn eine wilde Sehnsucht nach der einen einzigen, die ihm
widerstanden, und von der er nicht los kam. Eines abends traf er ein
Weib, das eine entfernte Ähnlichkeit mit Gerda hatte. Er bestellte sie
für den anderen Nachmittag in seine Wohnung. Als sie kam, hatte er ein
Lager von dunkelroten Rosen bereitet. Sie mußte sich ausziehen, mußte
ihre rötlich schimmernden Haare lösen und mußte sich auf das Lager
legen. Er kniete davor und betete sie an. Als er schweigend wohl so
eine Stunde gelegen, streckte sie die Arme aus und zog ihn empor. Mit
einem erstickenden Schrei preßte er sie in seine Arme und schloß die
Augen.

Nun hatte er sie doch bezwungen, sie hatte sich ihm hingegeben.

Da fuhr er auf. »Du bist es nicht -- diese gierigen Küsse -- du bist
ein schamloses Weib -- geh -- geh --« schrie er sie an.

Er vergrub sein Antlitz in die Kissen, stöhnte laut und rang mit seiner
Begierde. -- -- --

            ----------------------------------------------

Die Benachrichtigung seiner Bank -- Überweisung von zehntausend Mark im
Auftrage von Fräulein von Wangenheim -- hielt er in Händen.

Nun war sie ganz von ihm gelöst. Das letzte Band, an dem er sie noch zu
halten gehofft, sie hatte es zerschnitten.

Sie war fertig mit ihm.

Das Geld!

Von wem hatte sie das Geld erhalten?

Reitzenstein? Der hatte kein Vermögen.

Der Kommerzienrat?

Das Blut stieg ihm zu Kopf.

Der konnte nur einen Kaufpreis verlangt haben.

Hatte sie schon bezahlt?

Das Blut in seinen Schläfen hämmerte wild.

Er ballte die Faust und zwang sich zur Ruhe.

Er ging zum Schreibtisch und entnahm ihm seinen Revolver. Er prüfte die
Waffe, sicherte sie, steckte sie zu sich, und fuhr in die Pension am
Steinplatz. -- --

»Das gnädige Fräulein ist zur Gesangstunde und wird erst gegen Mittag
zurückerwartet,« wurde ihm der Bescheid.

In der Gesangstunde! Er wußte den Weg, den sie machen mußte. Quer durch
den Tiergarten -- das war gut -- er konnte sie stellen.

Langsam schritt er dem Tiergarten zu. Es war ein heller, sonniger
Märztag, eine laue Frühlingsluft wehte, und die ersten Knospen zeigten
sich an den Sträuchern. Winkelmann setzte sich auf eine Bank.

Es war einsam um ihn, soweit er den Weg überblicken konnte, sah er
keinen Menschen. Er zog den Revolver und entsicherte ihn. Lächelnd
betrachtete er ihn, fuhr spielend darüber hin und steckte ihn wieder in
die Tasche.

So saß er wartend.

Endlich kam sie. Ganz allein. Und ringsum kein Mensch als sie und er.
Langsam kam sie einher. Sie trug noch immer Schwarz, die Trauer um
ihren Vater. Auf ihrem Haar schimmerte die Sonne. Es flimmerte und
funkelte.

Er steht auf und geht ihr entgegen.

Als sie ihn sieht, bleibt sie unwillkürlich stehen.

Er tritt dicht an sie heran.

»Sie wollen mich los sein -- Sie haben mir das Geld zurückgeschickt
-- aber eines muß ich wissen -- haben Sie« -- seine Aufregung ist so
groß, daß er Mühe hat, zu sprechen -- »haben Sie sich dem Kommerzienrat
verkauft?«

Sie mißt ihn mit einem eisigen Blick. »Was kümmert Sie das?«

Ihre Kälte und Ruhe macht sein Blut kochen, seine Hand fährt in die
Tasche und umspannt den Revolver. »Du wolltest mir nicht angehören --
aber wenn du -- wenn du« -- wieder würgt ihn die Erregung -- »du sollst
auch keinem anderen angehören -- hörst du?«

Verächtlich sieht sie ihn an.

»Hast du ihm angehört?« schreit er jetzt laut.

»Was kümmert Sie das?«

»Ich dulde es nicht!« und er hebt die Waffe gegen sie.

Sie bleibt ruhig stehen, und hat nur das eine Wort: »Pfui!«

Da sinkt der ausgestreckte Arm, und er sagt tonlos: »Gehen Sie, gehen
Sie schnell --«

Und sie geht. Geht langsam, ruhig und hoheitsvoll ihren Weg. Ist zehn
Schritte gegangen, da kracht ein Schuß. Ein Zittern fährt durch ihre
Ruhe. Hat er die Waffe gegen sich selbst gerichtet? Sie bleibt stehen.
Alles tot und still, und ringsum kein Mensch. Nur er und sie. Sie
lauscht atemlos.

Sie fühlt -- fühlt etwas, das sie rückwärts zwingt, sie wendet sich um.
Da liegt eine Gestalt am Wege -- ein langer, dunkler Streif -- lautlos
und still. Mit schweren Schritten geht sie zurück. Und sie starrt auf
die Gestalt zu ihren Füßen. Ein dünner, roter Streifen sickert langsam
aus dem schwarzen Tuch, an der Stelle des Herzens hervor. Die Rechte
umspannt fest den Revolver.

Sie lauscht atemlos.

Und ringsum kein Mensch.

Nur er und sie.

Zwei gebrochene Augen suchen den Himmel.

Da jagt sie von dannen. -- -- --

Sie steht in ihrem Zimmer.

Da draußen liegt ein Mensch -- ein Mensch, der ihr Freund gewesen --
der sie geliebt -- den seine Liebe für sie in den Tod getrieben. -- Er
liegt einsam, verlassen -- -- Menschen werden ihn finden -- -- sie muß
jemand benachrichtigen. -- -- --

Gerda stürzt hinüber zu Lotte Wunsch.

Lotte ist zu Haus und springt empor bei Gerdas ungestümem Eindringen.
»Was ist geschehen, Fräulein von Wangenheim?«

»Im Tiergarten liegt Winkelmann, tot, allein! --«

Lotte starrt sie an.

»Er hat mich erwartet -- wir hatten Streit -- er hat sich
erschossen -- --«

»Wissen Sie bestimmt, daß er tot ist?«

Gerda nickt.

»Man muß ihn holen, er darf da nicht liegenbleiben. Sie wissen die
Stelle zu finden?«

»Ja -- aber wir allein?«

»Ich telephoniere an Reitzenstein. Ist es weit von hier?«

»Nein.«

»Gut, so mag Reitzenstein uns abholen. Sie zeigen ihm den Platz.
Er kann dann alles weitere veranlassen, und wir ziehen uns
zurück.« -- -- --

            ----------------------------------------------

Als sie zurückgekommen waren, löste sich Gerdas Aufregung in Tränen.

»Haben Sie sich einen Vorwurf zu machen, Fräulein von Wangenheim?«

»Wenn Sie mir zum Vorwurf machen wollen, daß ich seine Leidenschaft
nicht erwidern konnte!«

»Daraus kann Ihnen natürlich niemand einen Vorwurf machen. Ich meine,
haben Sie ihn vielleicht in dem Gedanken gewiegt -- -- --«

»Ich habe ihm von Anfang an gesagt, daß ich niemals die Seine werden
könnte.«

Lotte schweigt. Sie hatte Gerda ihr leichtsinniges Verhalten Winkelmann
gegenüber zum Vorwurf machen wollen -- aber -- was sollte das nutzen?
Sie hatte mit Winkelmann gespielt, wie sie mit Reitzenstein spielte,
und wie sie es noch mit vielen anderen tun würde. Mochte sie ihre Wege
gehen. Vielleicht war sie auserkoren, ihre Mitschwestern an den Männern
zu rächen. Sie hatte ja gezeigt, daß sie die Natur dazu hatte. Sie
erweckte Hoffnungen, erteilte Gunstbezeugungen, entflammte Blut und
Herzen, und schritt dann kühl und lächelnd über zerbrochene Existenzen.

                                *  *  *

Die Berliner Kunstausstellung des Jahres 1914 war eröffnet.

Das Publikum drängte sich in den Sälen und begutachtete die neuen
Schöpfungen.

In dem letzten der großen Mittelsäle, in welchem die Bildhauer zu ihrem
Rechte kamen, standen vor einem Bildwerk, welches gleich einem großen
Schrecken aus grünem Blattgewirr hervortauchte, zwei Menschen.

»Wie heißt dieses Ungeheuer?« fragte der alte, weißhaarige Herr den
neben ihm stehenden jungen Mann.

»Der Mensch!«

»Der Mensch?« Der Alte blickte mit starkem Interesse auf das Werk.

»Das Tier, sollte darunter stehen,« sprach der Junge.

»Das Tier im Menschen -- von dem die heutige Welt sich beherrschen
läßt, mein Sohn! Dies Werk spricht vom Erkennen der Zeit.«

»Vater, du wirst doch im Ernst nicht behaupten wollen, daß wir von
solch maßlosen Begierden, wie sie auf diesem Gorgonenhaupt thronen,
beherrscht werden?«

»Die Menschen werden mehr davon beherrscht, als sie ahnen. Die Gier
nach Reichtum und Genuß, nach Sinnenlust und Ruhm, beginnt Sitte und
Moral zu überwuchern, und lockert die Bande der Nächstenliebe. Ein
jeder hält nur seine persönlichen Interessen, sein eigenes Ich, im
Auge, und vergißt darüber das Wohl seiner Mitmenschen.

Sieh, diese unersättliche Gier, die alles verschlingt, alles in sich
hineinfrißt. Ein großer Künstler und fühlender Mensch hat dieses Werk
geschaffen.«

Der Sohn suchte nach dem Namen. »Eine Frau ist es, die dieses
geschaffen -- ›Lotte Wunsch‹ -- steht darunter.«

»Eine Frau schafft ein Werk von dieser Kraft und Stärke?«

Eine lebhafte Gruppe trat vor das Kunstwerk.

»Donnerwetter, ein Schlag ins Gesicht! Wer fühlt sich getroffen?«

Alle lachten. »Nettes Menschenbild!«

»Soll ’n Witz sein!«

»Nee, Abklatsch. Könnte euch die Vorbilder nennen, nach denen sie
gearbeitet hat. Kapitales Frauenzimmer, die Wunsch!«

»Ich kann die Menschen, die sich durch das Geißeln menschlicher
Schwächen über andere erheben wollen, nicht leiden.«

»Wer sagt Ihnen denn, daß sie sich überheben will? Vielleicht hat sie
viel durch Unbeherrschtheit gelitten. Mag sein, durch eigene -- mag
sein, durch die Schwachheit der anderen.«

»Meine Herren,« mischte sich der weißhaarige Herr in die Unterhaltung
der Gruppe. »Dieses Werk ist ein Markstein unserer Zeit -- dieses Werk
fordert ein gebieterisches Halt!«

»Erlauben Sie, mein Herr!« Aus der Gruppe löst sich Herr von
Reitzenstein und stellt sich gerade und aufrecht vor den alten Herrn
hin. »Wovor sollen wir haltmachen? Wir, die neue Generation, sind ein
zielbewußtes, starkes Geschlecht. Glauben Sie wirklich, daß, wenn ein
oder der andere sich zügellos von seinen Leidenschaften beherrschen
läßt, dadurch die ganze Menschheit zugrunde gehen wird? Sie vergessen,
daß wir hier die Phantasie einer Künstlerin vor uns haben, die,
schwelgend in der genialen Ausführung ihrer Phantasien, doch nur einen
kleinen Ausschnitt der Allgemeinheit wiedergegeben hat.«

»Es sind die Phantasien eines über die Menschheit weinenden Herzens,
Herr Leutnant.«

»Mag ein Herz über die Menschheit weinen, andere hingegen freuen sich
des lachenden Lebens.«

»Was, mein Herr, wollen Sie unserer Zeit zum Vorwurf machen? Ist
es nicht eine Freude, gerade in dieser Zeit zu leben? Einer Zeit
der Entdeckungen, der Erfindungen, einer Zeit der Ideen und der
Aufklärungen?«

»Wir sind eben moderne Menschen,« ergriff Reitzenstein wieder das Wort.
»Haben Sie eine Vorstellung, was das bedeutet, mein Herr? Ein moderner
Mensch ist ein freidenkender Mensch, dem es einerlei ist, was der
andere tut. Der dem Menschen die menschlichen Schwächen zubilligt, weil
er weiß, daß wir eben Menschen sind. Ein moderner Mensch ist ein Mensch
ohne Ideale und Träume, es ist ein Mensch mit gesunden Sinnen und mit
gesundem Egoismus.«

Der Weißhaarige lächelte.

»Gesunder Egoismus! Egoismus ist immer ungesund, ist nichts weiter als
Eigennutz und Rücksichtslosigkeit. Der Egoismus der heutigen Zeit, das
ist die Wurzel des Übels. Der Egoismus regiert die Welt. Er ist es, der
Freundschaft, Liebe, Gefühl, der das religiöse Empfinden aus der Welt
verdrängt hat. Er ist es, der die Menschen lehrt, sich schrankenlos
ihren Begierden, ihren Leidenschaften hinzugeben.

Auch ich, meine Herren, bewundere die Errungenschaften unserer Zeit,
soweit sie auf dem Gebiete der Technik und der Wissenschaften beruhen,
aber ich beklage tief, daß über diesen Errungenschaften die Ideale und
die Gefühlswelt versinken mußten.

Oder halten Sie es wirklich für wertvoller, daß statt dessen der
Materialismus und der Atheismus an die Spitze getreten sind?

Wir leben in einer Zeit eminenter Entwicklungen des Hirns auf Kosten
der Seele!

Schaffen Sie Gefühlswerte statt der Erfindungen, meine Herren, wenn
Sie nicht wollen, daß eine Welt zusammenstürzt. Bekämpfen Sie den
Materialismus, den Kultus der eigenen Persönlichkeit! Nehmen Sie
den Kampf auf mit Ihrem eigenen Ich. Vielleicht bedarf es nur eines
kräftigen Willensaktes -- und aus Zerstörern -- werden Erbauer!«

»Wie kann man von Zusammenbruch sprechen angesichts der Kulturwerte,
die unsere heutige Zeit geschaffen?«

»Der höchste aller Kulturwerte, das ist die Entwicklung der
Gefühlswelt, die Sie aus der Welt schaffen wollen. Schon zu tief
umstrickt von Eigennutz und Selbstsucht sind die Menschen. Sie sehen
nicht die Furien, die ihnen entgegenrasen, sie hören nicht den Orkan,
der ihnen entgegentobt. Blind und taub wüten sie ihm entgegen. Und er
wird sie einhüllen in Leid und Schmerzen, in Jammer und Not. Ich sehe
die Menschen eingehüllt in purpurne Wolken und in tiefe, nachtschwarze
Schatten. Schreien und Wehklagen ist in der Luft. Feurige Blitze
zucken, Donnergebrüll rast durch das All. --

Ich aber freue mich. Ich werde lachen, wie -- ›Der Mensch‹ -- lacht«,
und seine ausgestreckte Rechte wies auf das aus dem grünen Blätterwerk
hervorragende Ungeheuer, sein Blick wurde hell und prophetisch:

»Denn aus Trümmern und Gebein -- aus Blut und Asche wird etwas geboren
werden -- geboren vom unerbittlichen Schicksal -- höherstehend als alle
von Menschen geschaffenen Kulturwerte -- daraus geboren wird:

                       die Seele der Menschheit!«

Der Weißhaarige ließ die ausgestreckte Rechte sinken, sein Blick
erlosch, er wandte sich und ging.

Und sie hörten alle ein Lachen. Ein sonderbares Lachen. Erst klang es
höhnend, toll und siegesgewiß. Dann kamen Klagelaute und Schmerzenstöne
in seinen Klang, jetzt Stöhnen und Ächzen, nun wurde es leiser -- und
jetzt klang es silbern und hell, wuchs empor zu jubelndem Lachen und
verklang zu jauchzendem Laut hoch oben in der Luft.

Lachte der Greis oder lachte das Schicksal?

                               *   *   *


                 Druck von _F. E. Haag_, Melle i. Hann.




                  Die Sittenromane von Jolanthe Marès
                     Stimmen der Presse nachstehend

                                 Lilli

                      Ein Sittenbild aus Berlin W

                              50. Tausend
                    Steif broschiert     Mark 4,50
                    Gebunden             Mark 7,--


                               Lillis Ehe

                             Ein Sittenbild
                        (Fortsetzung von Lilli)
                              50. Tausend
                    Steif broschiert     Mark 4,50
                    Gebunden             Mark 7,--


                              Mütterreigen

                        (Wie sie Mütter werden)
                    Steif broschiert     Mark  7,50
                    Gebunden             Mark 10,--

                             Seine Beichte

                      Der Roman eines Lebemannes
                    Steif broschiert     Mark 7,50
                    Elegant gebunden     Mark 10,--

                    Neu!   Das große Unrecht   Neu!

                    Aus dem Leben eines Frauenarztes
                                 Roman
                    Steif broschiert     Mark 10,--
                    Gebunden             Mark 12,--


                    Wilhelm Borngräber Verlag Berlin




                    Publikum, Presse und Autoritäten
                 über Wert und Nützlichkeit des Buches
                  »Lilli«, ein Sittenbild aus Berlin W
             von Jolanthe Marès. Verlag Wilhelm Borngräber.

 Lily Braun:

    Das Buch »Lilli« von Jolanthe Marès ist eine ebenso glänzende
    wie wahrheitsgetreue Schilderung der Verhältnisse, in denen die
    Jugend von Berlin ~W~ heute aufwächst und unter denen sie notwendig
    physisch und moralisch zugrunde gehen muß. Das Buch wirkt auf jeden
    ernsten, anständigen Menschen tief erschütternd. Es ist ein überaus
    nützliches Werk sittlicher Aufklärung, das mit dazu beitragen kann,
    die Verhältnisse zu ändern. Es müßte allen Eltern -- auch allen,
    die es werden wollen -- in die Hand gegeben werden. Für Kinder ist
    nicht bestimmt. Man hat aber bisher auch die Streichhölzer nicht
    verboten, weil Kinder sich zuweilen daran verbrennen.

 ~Dr. phil.~ Helene Stöcker:

    »Lilli«, ein Sittenbild aus Berlin ~W.~ -- Die Erfahrungen und
    Schicksale dieser jungen Damen einer bestimmten Gesellschaftsklasse
    sind kaum dazu angetan zur Nachahmung zu reizen, wohl aber zeigen
    sie uns ein Bild von dem, was ist und geben dadurch am ehesten
    zur Abwehr und zu Änderungsversuchen Anlaß und Möglichkeit. Die
    Darstellung ist keineswegs so, daß sie die Grenzen dessen, was
    gesagt werden muß, um die Tatsachen festzustellen, überschreitet.
    Man kann diesem Buche nicht nachsagen, daß es etwa auffordert,
    dieser frivolen und leichtfertigen Lebensart nachzuleben. Im
    Gegenteil, es läßt die sehr ernsten und bedenklichen Konsequenzen
    eines solchen Lebens deutlich erkennen.

 Münchener Neueste Nachrichten:

    »Lilli«, ein Sittenbild aus Berlin ~W~, möchte ich literarisch
    nicht zu hoch einschätzen, aber diese Wertung hat es als selten
    mutige Anklageschrift gar nicht nötig. Es wirkt in der Zweckform
    vielleicht stärker, als wenn es ein vollendetes Kunstwerk wäre. Und
    der Ernst, mit dem es den Eltern gewidmet ist, hebt es über den
    Verdacht, pornographische Literatur sein zu wollen. In dem Schluß,
    den die Verfasserin gibt, liegt viel mehr Hoffnungslosigkeit, als
    sie in ihrem Vorwort vermuten läßt; er erhebt sich denn auch zu
    einer Anklage, die bei manchem Biedermann Entrüstung hervorgerufen
    hat und noch weiter hervorrufen wird. Man kann und will es einfach
    nicht für möglich halten, daß jene Gesellschaftsklasse, auf die man
    wie auf ein goldenes Märchen blickt, moralisch verseucht ist, daß
    ihre Töchter eine Vorurteilslosigkeit besitzen, die vom Dirnentum
    keinen allzu großen Abstand hat. An der Echtheit der Schilderungen
    ist wohl nicht zu zweifeln; dafür spricht ihre Einheitlichkeit, die
    richtige Zeichnung der Charaktere, oft nur mit wenigen Strichen,
    und die genaue Kenntnis der Lebensgewohnheiten jener Menschen. Die
    Verfasserin hätte uns gewiß neben den Tatsachen auch die richtigen
    Namen nennen können, wenn es Sinn gehabt hätte. Es ist natürlich
    schon eine mutige Tat, so ein Buch zu schreiben, und sie verdient
    uneingeschränktes Lob. Wenn es auch nur bei einigen wenigen auf
    fruchtbaren Boden fallen würde, wenn nur einige Eltern anfingen,
    nachzudenken, daß sie bisweilen selbst an der Verwahrlosung der
    Kinder die größte Schuld tragen, und wenn die Kultur, die man
    so oft eitel nennt und als äußerlichen Schliff und elegante
    Lebensführung betrachtet, wieder in ihrem Wesen als geistige Macht
    und seelischer Hochstand erkannt würde, so wäre schon etwas damit
    gewonnen.

 Hauptmann Heinrich Peters:

    »Lilli«, ein Sittenbild aus Berlin W. -- Man müßte das Buch in
    einer Reklameausgabe auch den weniger Bemittelten zugänglich
    machen, um möglichst vielen Eltern die Augen zu öffnen.




                      Dies Buch wurde gedruckt bei
                     F. E. Haag in Melle (Hannover)
                   für den Verlag Wilhelm Borngräber
                         in Berlin und Leipzig.




  Weitere Anmerkungen zur Transkription


  Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.

  Korrekturen:

  =S. 171=: »unterfahen« → »unterfahren«





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BEGIERDE ***


    

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