Hansi

By Ida Frohnmeyer

The Project Gutenberg eBook, Hansi, by Ida Frohnmeyer, Illustrated by
Hedwig Schwegelbaur


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Title: Hansi


Author: Ida Frohnmeyer



Release Date: November 29, 2006  [eBook #19971]

Language: German


***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HANSI***


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Anmerkung zur Transkription:

      Im Original gesperrt gesetzte Worte sind mit _ gekenntzeichnet

      Im Original in Fettdruck gesetzte Worte sind mit = gekenntzeichnet





Sonne und Regen im Kinderland
Das zweite Bändchen

HANSI

von

IDA FROHNMEYER

Zwei Erzählungen

Mit Scherenschnitten von Hedwig Schwegelbaur







[Illustration]




12.-26. Tausend
1922
D. Gundert / Verlag / Stuttgart

Druck der Stuttgarter
Vereins-Buchdruckerei



Hansi

[Illustration]


»Und wenn wir uns wiedersehen, ist mein Hansi ein großer, strammer Bub!
Ach, wie ich mich jetzt schon freue!«

Das hatte Mutterchen gesagt, als sie zum letzten Male an ihres Jungen
Bett gesessen hatte. Am andern Morgen, noch ehe Hansi die Augen
geöffnet, waren sie und der Vater weggereist, weit weg, zurück in das
heiße Land, in dem Hansi geboren war und als kleiner Junge gespielt
hatte.

Wie war es da so schön! Wie ein langer, leuchtender Sonnentag! Ein
bißchen heiß war es ja manchmal gewesen, aber dann hatte ihn die
freundliche, braune Ayah gefächelt, und Mutterchen hatte ihm erlaubt,
wie ein kleiner Hindujunge, nur mit einem Lendentuch bekleidet,
herumzuspringen. Und da war eine große, mattenbedeckte Veranda gewesen
und ein prächtiger Blumengarten und das weite, blaue Meer, in dem er
jeden Morgen gebadet, und das ihm so viele schöne Muscheln geschenkt.
Ja, und einmal war eine dabei gewesen, die sah drein, als habe sie ein
Tigerfellchen angezogen, und sie hatte etwas ganz Wunderbares in sich
verborgen -- -- das Rauschen des Meeres. Man mußte sie nur dicht ans Ohr
halten, dann hörte man es deutlich, und wenn man die Augen schloß,
konnte man denken, nahe bei Vater und Mutter zu sein.

Jetzt wohnte Hansi in einem großen Haus mit vielen andern Buben
zusammen. Eine Veranda gab es da nicht, nur weite, helle Stuben, die ein
wenig leer und nüchtern dreinsahen. An den Wänden hingen keine Bilder,
und nirgends standen Blumentöpfe oder schön geformte Vasen. Natürlich,
in einem Haus mit so vielen wilden Buben konnte man derartiges nicht
haben. Mutterchen wenigstens hatte den Mangel so erklärt.

[Illustration]

Wenn sie nur ein bißchen weniger wild gewesen wären, diese Buben! Hansi
fürchtete sich vor ihnen, oft unnötigerweise, denn im Grund meinten sie
es gut mit dem neuen Kameraden. Aber er war so verträumt und so
fabelhaft leichtgläubig, der kleine Hansi. Das verlockte sie immer aufs
neue zu Neckereien aller Art. »Hansi, du mußt einmal ein Sandmännchen
werden und mit einem Karren herumziehen und Sand verkaufen!« sagte einer
der Buben. Hansi schaute kläglich drein und meinte: »Ich will aber
nicht!« -- »Ja, du mußt eben, du mußt!« gröhlte die ganze Bande. Sie
lachten aus vollem Halse und sahen ohne alles Mitleid, wie in Hansis
Augen eine heiße Angst aufwachte. Vielleicht daß ihnen die dummen Worte
leid gewesen wären, wenn sie gewußt hätten, daß sie wochenlang wie ein
schweres Gewicht auf Hansis Herzen lagen. Ja, wochenlang. Dann auf
einmal kamen ihm Mutterchens Worte in den Sinn: »Wenn wir uns
wiedersehen, ist mein Hansi ein großer, strammer Bub.« Also noch ein
Bub! Da konnte Mutter doch gewiß verhindern, daß er ein Sandmännchen
werde. Hansi ward darüber so froh, daß er einen bescheidenen kleinen
Luftsprung machen mußte. Dann lief er in den großen Hof hinunter, wo die
andern Jungen spielten und schrien, und schrie zum erstenmal in seinem
Leben tüchtig mit.

Der Hof erinnerte in nichts an den herrlichen Blumengarten. Nur in einer
Ecke war ein kleiner Abglanz davon. Da hatten die größeren Buben ihre
Gärtchen. Jedem gehörte ein schmales Beet, das er selbst bepflanzen
durfte. Wie sehr liebte Hansi diese kleinen Gärten! Keiner der eigenen
Besitzer wartete mit größerer Spannung auf das Erblühen einer Knospe,
auf das Aufgehen irgend eines geheimnisvollen Blumensamens.

[Illustration]

Die großen Jungen fanden es oft recht angenehm, den Kleinen helfen zu
lassen. »Er tut es ja so gern,« entschuldigten sie sich vor sich selbst,
wenn sie sahen, wie er mit glühendem Gesicht die Beete von Unkraut und
Steinen säuberte. Aber keiner dachte daran, dem kleinen Hansi ein
Stückchen, ach! nur ein winziges Stückchen zu geben. Und er mußte noch
so lange auf ein eigenes Gärtchen warten! Wer in die dritte Klasse
eintrat, bekam eines zugewiesen. Hansi aber gehörte noch zu den
»Nullten«. So nannte man die Bürschchen unter sechs Jahren, die noch
nicht zur Schule gingen. Manchmal waren deren zwei, drei, oder noch mehr
beisammen, aber als Hansi ins Haus gekommen, waren eben alle Nullten
stolze »Erstklässler« geworden, und Hansi war die einzige kleine Null.
Das war dem guten Mutterchen gar hart erschienen. Sie hatte wohl
vorausgesehen, wie verloren die kleine Null in dem großen Hause
herumwandern werde. Den ganzen Vormittag hindurch waren Lektionen; für
Hansi war niemand da, und so ging er mit seinen kleinen, immer noch ein
bißchen trippelnden Schritten treppauf, treppab. Oft blieb er vor einem
Klassenzimmer stehen und hörte ein Weilchen zu. Es freute ihn, wenn er
die verschiedenen Stimmen unterscheiden konnte. »Das ist Gerhard und das
Karl und das Fritz.« Er konnte sich beinahe einbilden, mit im
Klassenzimmer zu sein wie ein richtiger großer Junge. Ach, wenn doch das
Frühjahr bald kommen wollte!

Aber vorerst war es Juni. Im Juli und August waren lange Ferien, das
wußte Hansi. Alle Jungen sprachen von diesen Ferien. Jeder war
irgendwohin eingeladen, zu Verwandten oder guten Freunden, und jeder
hatte etwas Schönes von den kommenden Wochen zu erzählen.

Nur Hansi nicht. Er wußte nicht, daß ihn eine Tante längst eingeladen,
und niemand dachte daran, ihm etwas davon mitzuteilen. Da überkam ihn
nach und nach eine große Traurigkeit. »Alle werden sie fortgehen, dann
bin ich ganz allein,« dachte das Hänschen, und in Gedanken durchwanderte
er das große Haus und horchte vergeblich an den totenstillen
Klassenzimmern. Mit einem Mal hatte er die vielen wilden Buben lieb. Er
konnte es ihnen nicht sagen, er schaute sie nur an mit bittenden Augen,
die so deutlich sagten: »Geh nicht fort! Weißt du denn nicht, daß ich
dann ganz allein bin?«

Aber frische, lebenslustige Buben verstehen eine leise Augensprache
schlecht. Hansi mußte deutlicher reden, und das tat er auch eines Tages.
Der Größte der ganzen Schar, der schon beinahe wie ein Herr dreinsah,
hatte Hansi erlaubt, sein Gärtchen zu begießen. Eifrig trippelte der
Kleine hin und her. Das Wasser lief aus der Kanne nicht nur auf die
Blumen hinab, sondern auch auf Hansis Schürze und Schuhe. Ängstlich
beschaute er den Schaden aber der Große wußte Rat.

[Illustration]

»Komm, die Schürze hängen wir an die Mauer, da scheint noch Sonne hin.
Die trocknet bald.«

Er tätschelte bei diesen Worten Hansis Haarschopf -- das tat wohl bis
tief ins kleine Herz hinein. Hansi faßte plötzlich Mut.

»Du, Ernst, kann ich nicht mit dir in die Ferien gehen? Weißt du, ich
muß sonst allein dableiben.«

Noch ehe Ernst antworten konnte, erklang ein unbändiges Gelächter.
Hinter den beiden stand Hansis schlimmster Quälgeist, ein lang
aufgeschossener Junge mit schlenkrigen Gliedern. »Nun meint das Kindle,
es bleibe allein zu Hause! Ha, ha, das ist ja rein zum Totlachen! Aber
halt!« -- der lustige Ton schlug plötzlich in einen ernsthaften um --
»du hast ganz recht. Du mußt freilich allein dableiben. Ganz allein ...
Die Hauseltern gehen weg, und die Mägde gehen weg, und die Lehrer gehen
weg, und natürlich alle Buben -- nur du allein mußt dableiben und das
Haus hüten.«

Hansi starrte den Sprechenden an mit weit aufgerissenen, entsetzten
Augen, und nun geschah etwas völlig Unerwartetes. Er schrie auf, so
jammervoll, daß es sogar dem dummen Buben ins Herz drang, und dann
stürzte er, immer den gleichen schmerzlichen Schrei ausstoßend, aufs
Haus zu.

[Illustration]

»Du Esel!« knurrte der große Ernst und gab dem Quälgeist einen
Rippenstoß. Dann rannte er in großen Sprüngen dem kleinen Kameraden
nach. Drinnen im Haus fand er ihn. Die Hausmutter, eine rüstige Frau,
mit einem freundlichen, tüchtigen[TN1] Gesicht, hielt Hansi auf dem
Schoß und strich ihm beruhigend über die tränennassen Bäckchen.

»Nun weine nur nicht mehr! Hat es denn gar so weh getan? Wo bist du denn
gefallen? Komm, jetzt machen wir: Heile, heile Segen! Drei Tag' Regen,
drei Tag' Schnee -- tut dem Kindchen nimmer weh!«

In ihrer Stimme lag etwas so Beruhigendes, daß Hansis wildes Schluchzen
allmählich verstummte. Da stellte ihn die Frau wieder auf die Erde,
putzte ihm das Näschen und ging eilig, um in der Küche ihre Befehle für
das Abendbrot zu geben.

Der große Ernst stand etwas verlegen neben dem kleinen Kameraden.
»Hansi,« sagte er, »nun paß einmal auf: du mußt nicht allein dableiben.
Du bist auch eingeladen, zu deiner Tante in den Schwarzwald. Dort ist's
schön, freu' dich nur! Auf Karl brauchst du nicht zu hören, der schwatzt
nur dummes Zeug.«

Hansi sagte nur das eine Wörtchen »O«, aber seine Augen sahen dabei so
glücklich und dankbar drein, daß es dem großen Ernst ganz merkwürdig
warm ums Herz wurde. Zärtlichkeiten waren unter den Jungen verpönt. Aber
nun konnte er nicht anders: er bückte sich und küßte das strahlende
Gesichtchen vorsichtig und rasch.

[Illustration]

[Illustration]

Ende August rückte Hansi wieder in die Anstalt ein. Er brachte ein
sonnenverbranntes Gesichtchen mit und frohe, blanke Augen, in denen sich
viel Liebes gespiegelt hatte. Das war deutlich zu sehen. Und ebenso
deutlich war zu sehen, wie die Augen allmählich den frohen Glanz
verloren und wieder den alten suchenden, verträumten Ausdruck gewannen.

Und doch war eigentlich niemand unfreundlich mit dem Kleinen. Nur ... es
hatte niemand Zeit für ihn. Das war es. Die Hausmutter und die Mägde
hatten alle Hände voll mit dem großen Haushalt. Der Hausvater und die
Lehrer beschäftigten sich wohl auch außer den Stunden mit den Buben,
aber Hansi war meist zu klein, um bei den verschiedenen Unternehmungen
mittun zu können. Nur der Singlehrer gab sich hie und da mit ihm ab. Der
hatte ihn einmal ein Lied, das ihn seine Ayah gelehrt, singen hören, und
seither durfte Hansi in der Singstunde der Kleinen mitsingen. Ja, und
manchmal durfte er auch noch nach der Stunde eine Weile bei dem
freundlichen Herrn bleiben, der ihm auf dem Klavier allerlei vorspielte.

Gleich nach Vater und Mutter und den Blumen liebte Hansi die Musik. Aber
es mußte schöne sein. Die Übungsstücke der Buben waren ihm zuwider. Auch
der Lehrer spielte nicht immer schön nach Hansis Meinung. »Schön« waren
nur die feinen, zarten Töne, die einen wie liebe Hände streichelten. -- --

Der Herbst brachte eine große Freude für Hansi. Bei Vater und Mutter war
ein Kindchen angekommen, ein kleines Schwesterlein, das mit ebenso
erstaunten Blauaugen in die Welt gucke, wie es Hansi getan. Als das
kleine Ding ein paar Wochen alt war, wurde es photographiert, und Hansi
erhielt ein Bildchen.

Er betrachtete es mit strahlenden Augen, dann lief er zur Hausmutter.
»Nicht wahr, Tante, einmal hat der liebe Gott gedacht: Nun will ich mal
ein süßes, kleines Mädchen machen, und da hat er Käthe gemacht.«

[Illustration]

»Ja, ja, das wird wohl so sein,« lächelte die Tante. Dabei setzte sie
den großen Wäschekorb, den sie eben auf den Boden tragen wollte, wieder
ab, um Hansi einen Kuß zu geben.

Hansi trug das Bildchen immer bei sich in der Tasche seiner
Matrosenbluse. Wenn er sich sehr klein und verlassen vorkam, zog er es
hervor und setzte sich damit in die Nähe der Gärtchen, um den Blumen von
der kleinen Schwester zu erzählen. Sie verstanden ihn sehr gut,
besonders die Dahlien, die mit ihren dicken Köpfen so vergnügt und
wohlgenährt dreinsahen. Sie erinnerten Hansi immer an einen Buben des
Hauses, der rote Pausbacken hatte und immer zufrieden war. Die Blumen
waren überhaupt wie die Menschen. Sie hatten ihre eigenen Gesichter und
ihr eigenes Wesen. Die Stiefmütterchen waren wie liebe, freundliche
Kinderchen, aber die Rosen trugen sich stolz und hatten wundervolle
Seidenkleider, daß man sie gar nicht anzufassen wagte. Noch schlimmer
waren die Lilien, die so steif und gerade standen, nie sich hin und her
wiegten und flüsterten wie die bunten Nelken. Doch die Liebste von allen
war die Sonnenblume. Sie war die Mutter aller Blumen. Es konnte nicht
anders sein. Sie glich ganz und gar einer freundlichen, liebespendenden
Mutter.

[Illustration]

Aber nun waren die Sonnenblumenmutter und alle ihre Sommerkinder
verblüht. In den Gärten standen außer Dahlien nur noch Chrysanthemen.
Der große Ernst hatte sein ganzes Stückchen Land damit bepflanzt. Da
waren violette und bronzefarbene, blaßgelbe und weiße. Hansi liebte die
weißen am meisten, denn sie sahen drein wie Sterne, und er mußte bei
ihrem Anblick immer an den Stern von Bethlehem, an Weihnachten denken.

[Illustration]

Und Hansi freute sich auf Weihnachten! Ganz weh tat ihm oft das Herz,
weil es so voller Freude und Erwartung war. Zwar war es traurig, daß
auch die bunten Herbstblumen verblühen mußten, und daß der weiße Schnee,
der so naß und kalt war, alles zudeckte. Hansi konnte nicht verstehen,
daß er die Blumen warm halte, wenn es ihm die andern auch noch so oft
vorsagten. Nein, die Blumen waren alle tot und konnten sich nie mehr
durch den dicken Schnee hinausfinden.

Das war furchtbar traurig. Aber Hansi wollte nicht daran, sondern an das
wunderschöne Christfest denken. Er lernte viele Weihnachtslieder. Ja,
der Lehrer ließ ihn ganz allein ein altes Lied singen, das fing an: »O
Jesulein süß, o Jesulein mild.« Es waren ein paar Worte drin, die Hansi
nicht verstand. Aber das schadete nichts. Die Melodie war süß und zart,
gerade wie ein Lied sein muß, das man dem Jesuskindlein in der Krippe
singen darf.

Hansi sang es oft. Wenn er allein in dem großen Kinderzimmer saß und
mit dem alten Baukasten spielte, baute er einen wunderschönen Stall mit
vielen Türmchen und Erkern. Dann legte er den blonden Kopf auf die
Tischplatte, um durch das winzige Fensterchen in das dämmrige Innere zu
sehen. Dazu sang er mit lieber, feiner Stimme, und seine Augen gewannen
dabei einen Ausdruck, als wachse das winzige Ställchen zu einem großen,
als stehe die Tür weit offen und das Hänschen wandere hinein in den
seligen Glanz, der von dem Kindlein in der Krippe ausgeht.

[Illustration]

[Illustration]

In der Stadt war Weihnachtsmarkt. Von dem alten Stadttor, das einst
trutzig jedem Fremden den Einlaß verweigert hatte, nun aber längst
friedlich, mit efeuumsponnenen Türmen innerhalb der Stadt stand, führte
eine breite Straße auf den Andreasplatz hinunter. Und hier standen alle
die Weihnachtsbäume. Prächtige Weißtannen, die wohl dafür bestimmt
waren, einen großen Saal zu schmücken; schlanke Rottannen, deren Zweige
verlangend ausgestreckt waren, als könnten sie es kaum erwarten, die
strahlenden Kerzen und goldenen Ketten zu tragen. Da waren auch putzige,
kleine Bäume, zu denen sich Hansi ganz besonders hingezogen fühlte. Er
schritt neben der Hausmutter die grüne Tannenstraße auf und ab; aber
während diese die großen Bäume musterte, betrachtete Hansi mit
zärtlichen Blicken die kleinen. Endlich wurde eine große, stolze Tanne
gewählt, und Elise, die neueingetretene Magd, und der große Ernst, der
zur Hilfe mitgekommen, packten sie vorsichtig und machten sich auf den
Nachhauseweg.

»Komm, Hansi,« sagte die Tante, »wir gehen jetzt auch.«

Hansi streckte gehorsam seine Hand aus, aber er konnte nicht hindern,
daß ihm dabei ein kleiner Seufzer entschlüpfte. Er hatte, während die
Tante mit dem Verkäufer verhandelt, die ganze

[Illustration]

Zeit neben einem zierlichen Bäumchen gestanden, dessen grüne Spitze nur
eben an sein Näschen reichte.

»Gefällt dir das Bäumchen? Möchtest du es haben?« fragte mit einem Mal
die Verkäuferin. »Ich schenke es dir. Die Frau Mama haben ja eine so
große Tanne gekauft, da geht das Kleine noch drein.«

Hansi konnte sein Glück kaum fassen. Er dankte mehr mit den Augen als
mit dem Mund, dann schritt er neben der Tante, vorsichtig die grüne Last
gegen das dankbare Herzchen gedrückt.

Es war merkwürdig. Als der Morgen des Festes dämmerte, auf das sich
Hansi wochenlang von ganzem Herzen gefreut, war die Freude mit einem
Schlag wie weggewischt. Noch nie war er sich so klein und so verlassen
vorgekommen, wie in dem unruhigen, frohen Treiben, das den ganzen Tag
beherrschte. Er wurde erst ein bißchen froher, als ihm die Tante zwei
beschädigte Glaskugeln, ein paar schillernde Goldfäden und sogar einige
Halter mit Lichtstümpchen darin schenkte. Nun konnte er doch sein
Bäumchen, sein eigenes, liebes Bäumchen schmücken. Er hatte sich selbst
einigen Schmuck gefertigt: wundersam gezackte Sterne, auch Blumen und
Vögel und allerlei Getier. Sie sahen zwar ein bißchen seltsam drein --
Mutterchen hatte das entschieden besser gekonnt -- aber im Grund
schadete es nichts. Die langgeschwänzten Vögel wiegten sich vergnüglich
in den grünen Zweigen, die Goldsterne und Goldfäden leuchteten prächtig,
und die Glaskugeln waren so schön, daß Hansi eine Weile seine Arbeit
unterbrechen mußte, um das Bäumchen von allen Seiten bewundern zu
können. Nun wurden noch die fünf Kerzen angesteckt, und das Bäumchen war
geschmückt.

[Illustration]

Es stand in einem Rumpelkämmerchen auf einem alten Schemel, den Hansi
erst fein säuberlich mit einem Taschentuch bedeckt hatte. Es war kalt in
der Dachkammer, und Hansi hatte nahezu blaugefrorene Hände und ein
rotes Näschen. Aber er schien es gar nicht zu beachten. Er war ganz
versunken in den Anblick seines Bäumchens, und erst als die Glocke zum
Vieruhrbrot rief, verließ er das Kämmerchen.

[Illustration]

Um ½6 Uhr sollte die Weihnachtsfeier beginnen. Vorher mußten alle die
vielen Buben noch einmal gewaschen und gekämmt, gebürstet und
gestriegelt werden. Da konnte es leicht passieren, daß ein so kleines
Männchen wie Hansi übersehen wurde.

Niemand vermißte ihn, bis es an das Ordnen des Zuges ging. Den mußte ja
der Kleinste anführen. Aber wo war er nur? Nicht im Wohnzimmer, nicht in
der Kinderstube, in keinem der Lehr-, in keinem der Schlafsäle. Die
Buben lachten und stellten die ungeheuerlichsten Vermutungen auf. »Er
hat vielleicht gemeint, die Krippe sei im Kohlenkeller,« meinte der
lange Karl. Das schien der Tante gar nicht so unmöglich. Sie ging selbst
die Kellertreppe hinunter; die Elise aber, die neue Magd, schickte sie
auf den Boden, nach Hansi zu suchen.

Langsam schritt das junge Mädchen die steile Stiege hinauf. Oben
angekommen, lehnte sie einen Augenblick den Kopf an die Wand und
schluchzte laut und schmerzlich. Es war zum erstenmal, daß sie in der
Fremde Weihnacht feiern mußte... Ach, wie sie sich nach Hause sehnte, wo
sie von allen geliebt worden! Hier fragte niemand nach ihr, niemand
brauchte sie. Es war gleichgültig, ob sie da war oder nicht... Doch --
sie mußte ja Hansi suchen gehen.

[Illustration]

Ein, zwei Türen hatte Elise schon geöffnet und umsonst in dem Halbdunkel
herumgespäht, da sah sie einen Lichtstrahl aus dem alten
Rumpelkämmerchen fallen. Die Türe war nur angelehnt. Ganz leise schob
sich Elise hinein, und da sah sie das verlorene Hänschen auf einer Kiste
sitzen. Vor ihm stand das wundersam geschmückte Bäumchen und leuchtete
mit seinen fünf Kerzen.

Wie arm und wehmütig sah das drein... Aber das Kind saß davor mit
glückstrahlenden Augen und sang:

[Illustration]

    »O Jesulein süß!
    O Jesulein mild!
    Des Vaters Will'n
    Hast du erfüllt,
    Bist kommen aus dem Himmelreich,
    Uns armen Menschen worden gleich.
    O Jesulein süß!
    O Jesulein mild!«

Die blonde Elise lehnte unter der Türe. In ihre guten Augen, die schon
so mütterlich schauen konnten, traten heiße Tränen, die langsam über ihr
Gesicht rollten. Sie achtete es nicht. Hier in dem kleinen
Dachkämmerchen, als sie das Kind so einsam sitzen sah, war plötzlich
eine große Freude in ihr aufgewacht... Der brauchte sie und ihre Liebe!
Der war ja auch ganz allein. Es tat ihm gewiß not, daß ihn jemand mit
großer, warmer Liebe umfasse. Ach, und sie war ja froh, wenn sie Liebe
schenken durfte ...

»Hansi,« sagte Elise, »komm, Bubele, wir haben dich gesucht, weil man
zur Bescherung geht. Du kannst jetzt nicht dableiben, aber dein schönes
Bäumle zünden wir morgen wieder an, gelt?«

»Nicht wahr, es ist wunderschön?« Hansi kletterte von seiner Kiste
herunter. Dann faßte er mit seinem kalten Händchen die braune, warme
Hand des Mädchens, und als er in ihr gutes Gesicht schaute, kam auch
über ihn eine große, helle Freude.

[Illustration]




[Illustration]

Die alte Bodenkammer


Wohl jeder trägt in sich verborgen die Erinnerung an einen Ort, über dem
der Stern der Kindheit mit besonders hellem Glanze leuchtet.

Vielleicht ist es ein Garten, ein weltfremder, drin prunkende
Pfingstrosen und hohe Malvenstauden stehen; oder ein trauliches
Zimmerchen mit herabgelassenen Vorhängen, und man sieht sich selbst
klein und schmal an Mutters Knie lehnen und ihren Geschichten lauschen.
Wieder zaubert die Erinnerung schneeige Berge, leuchtende Seen oder
auch einen alten Hof, eine Scheuer -- eine Bodenkammer.

Sie lag nicht in unserm Haus. Bei uns war alles hell und neu und sauber,
sogar auf dem Boden. Aber im Nachbarhaus, schräg über der Straße, war
eine richtige alte Bodenkammer, durch deren halbblindes Fenster das
Licht nur spärlich eindringen konnte. Gegen Abend wurde es daher düster
und schön gruselig. Man hockte so nahe wie möglich zusammen auf der
riesigen alten Kiste und erzählte sich Geistergeschichten, bis einem vor
Angst beinahe die Stimme versagte. Ich hatte an unserer Köchin eine sehr
ergiebige Quelle und wußte u. a. von »den Mädchen, die noch Erbsen
einlegen wollten« und von dem fürchterlichen Telegramm »Habe acht auf
den Sarg« zu erzählen.

Anni, die Älteste unserer kleinen Schar, behandelte Hauffs
»Gespensterschiff«. Wir kannten ja die Geschichte längst auswendig, aber
Anni sorgte für Variationen, so daß wir immer neuen Grund zum Kreischen
fanden.

Die andern zwei erzählten nie. Dem dicken Gretchen fiel nichts ein und
das kleine Elschen zählte noch gar nicht recht mit. Sie mußte sich
überhaupt geschmeichelt fühlen, daß wir großen acht- und neunjährigen
Mädels sie mittun ließen. Wenn man erst fünf Jahre alt ist und noch
nicht einmal lesen kann!

Sie, Klein-Elschen, war übrigens manchmal recht angenehm. Wenn man statt
der Puppen gerne ein lebendiges Kindchen gehabt hätte, ließ sie sich
geduldig in einen großen Schal wickeln und herumschleppen. Ja, sie nahm
sogar mit sichtlichem Vergnügen den Schnuller in den Mund, den wir dem
richtigen Baby entwendet hatten. Mit unserer Moral war es überhaupt
etwas lax bestellt. Wurde in unserm Haushalt irgend ein Mangel entdeckt,
so unternahm das für die Sache am meisten Befähigte einen Beutezug nach
unten, wir nannten es einen Ausgang in die Stadt.

[Illustration]

Die Bodenkammer war sehr geräumig. Wir hatten uns in einer Ecke ein ganz
behagliches Wohnzimmerchen eingerichtet, dessen Hauptstolz ein
dreibeiniges Sofa -- an Stelle des vierten Beines stand eine Kiste --
und eine wacklige Kinderbettlade bildete. Wir waren auch im Besitz einer
Truhe, deren Deckel so schwer war, daß wir ihn nur mit Lebensgefahr
aufheben konnten. Lange war es uns überhaupt nicht gelungen, und wir
hatten uns schon darein ergeben, nie etwas von den darin verborgenen
Schätzen zu Gesicht zu bekommen. Aber einmal packte uns die Neugierde so
mächtig, daß sie uns wahre Riesenkräfte zu verleihen schien; unter
Stöhnen und Ächzen gelang es uns, den Deckel zurückzuschlagen. Eine
dicke Staubdecke war das erste, was sich den vier neugierig gesenkten
Kinderköpfen darbot. Sie lag über einer Menge Bücher und vergilbter
Blätter und hatte sich auf einem rundlichen, mit einem Tuch bedeckten
Gegenstand, der in der untersten Tiefe sichtbar ward, angesammelt. Was
stak wohl unter dem Tuch?

»Ein Ball!« riet das kleine Elschen. »Ein Goldklumpen!« meinte Gretchen
mit bedächtiger Stimme.

»Wir wollen es herausholen,« schlug Anni vor. »Steig' du hinein, Mixi,
du bist die Dünnste.«

Dagegen ließ sich nichts einwenden. Ich hockte zwischen den staubigen
Büchern nieder und fing an, das runde Ding aus seiner Umhüllung zu
schälen. Ich versuchte dabei mit Kopf und Schultern den andern die
Aussicht zu verdecken. Mußte ich in die staubige Kiste kriechen, so
wollte ich wenigstens die Entdeckerfreude erst allein genießen.

[Illustration]

Die letzte Hülle fiel und -- -- ein Totenschädel grinste mich an aus
leeren Augenhöhlen ... in dem Oberkiefer staken noch ein paar gelbliche
Zähne.

Ein eisiges Grauen packte mich, aber ich ließ den Schädel nicht fallen.
Langsam, wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, richtete ich mich auf
und hielt meinen Spielgefährten den unheimlichen Fund entgegen.

Anni stieß einen gellenden Schrei aus. Das sonst etwas schwerfällige
Gretchen flüchtete mit ein paar jähen Sätzen. Nur Elschen blieb stehen
und tippte mit seinen rosigen Fingerchen auf den bleichen Schädel. Sie
lachte dazu und sagte: »Was für ein komischer alter Mann!«

Die kalte Hand des Grauens ließ mich los. Ich lachte, lachte, daß mir
beinahe die Tränen kamen. Dabei entglitt mir der Schädel und rollte mit
merkwürdigem Ton über den Fußboden. Elschen hob ihn beinahe mitleidig
auf und wickelte ihn in ihr Schürzchen.

Wir drei andern standen etwas verlegen beiseite. Zum erstenmal war sie
die Überlegene, die Tonangebende.

»Wollen wir ihn begraben?« fragte die Kleine plötzlich, und wir stimmten
begeistert zu.

Anni mußte sich unten nach einer passenden Schachtel, will sagen nach
einem Sarg umsehen. Gretchen ging auf die Suche nach der Begräbnisstätte
und dem Grabstein. Ich übernahm es, die Inschrift zu schreiben. Elschen,
immer noch den Schädel im Schürzchen, lehnte neben mir und schaute
bewundernd zu, wie ich mit krampfhaft festgehaltenem Federhalter meine
großen, steifen Buchstaben malte.

»Lies es mir einmal vor!« bat sie, als das Werk beendet war, und ich
las:

    +------------------------------------------+
    |                                          |
    |  Hier ruht unser liber Uhruhrgroßvater.  |
    |  --  --  --  --  --  --  --  --  --  --  |
    |  Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle. |
    |  --  --  --  --  --  --  --  --  --  --  |
    +------------------------------------------+

»Du hättest nicht diesen Spruch schreiben sollen,« sagte Anni,
mißbilligend das Schriftstück betrachtend. »Auf Gräber schreibt man ganz
andere Sachen. Etwas von Auferstehen oder Wiedersehen.«

»Das ist mir einerlei!« entgegnete ich unerschüttert. »Mir gefällt der
Spruch und ich habe den Ururgroßvater gefunden.«

Gretchen stand unter der Türe, die Hacke über der Schulter.

»Ich habe einen feinen Platz, kommt schnell!«

[Illustration]

Eiligst wurde der Schädel in Annis Schachtel gesteckt. Der Deckel wollte
zwar nicht zugehen, aber das schadete nichts. Wir legten einen Fetzen
schwarzes Tuch darüber und nun ordnete sich der Zug. Voraus ging
Gretchen, der Totengräber, dann Anni, der Pfarrer; Elschen, die den
Schädel trug, war der Leichenwagen, ich stellte das Trauergeleite dar.

Wir gingen mit ernsten Köpfen und bedächtigem Schritt die Treppe
hinunter. Unter der Türe begegnete uns die kleine Mutter des Hauses. Sie
war eine zierliche, bewegliche Frau mit lebhaften Augen, die sich stets
zu freuen schienen, obwohl sie oft genug Grund gehabt hätten, ärgerlich
und müde drein zu sehen. Außer meinen drei Freundinnen waren noch zwei
größere und zwei ganz kleine Brüder zu versorgen. Das zappelte und
schrie, lachte und kreischte den ganzen Tag um die Mutter herum, zerriß
Kleider und Strümpfe, beschmutzte Fußböden und Fensterscheiben, wollte
gewaschen und gefüttert sein. In dem allem stand die kleine Mutter, trug
den Kopf mit dem tiefschwarzen Haar froh und aufrecht und hatte
lachende, warme Augen.

Wir waren das so gewohnt und es erschien uns nichts Absonderliches. Erst
viele Jahre später verstanden wir, was für eine tapfere Seele in der
kleinen Mutter gewohnt hatte.

       *       *       *       *       *

»Mama, wir müssen ganz still sein, wir spielen Begraben!« krähte Elschen
im Vorübergehen, und die Mutter stand denn auch andächtig und still.

Das Haus lag inmitten eines großen Gartens, der in verschiedene
Abteilungen zerfiel. Da war ein freier Platz mit einem Sandhaufen für
die Kinder. In einem andern Teil standen Blumen und Ziersträucher und
wieder in einem andern lagen in schönen Reihen Gemüsebeete, daneben zog
sich eine dichte Himbeerhecke. Am Ende dieser Hecke war der von Gretchen
gewählte Begräbnisplatz. Sie hatte schon ein Loch gegraben, das sich
aber als viel zu flach erwies. So arbeiteten Totengräber, Pfarrer und
Trauergeleite mit vereinten Kräften, bis das Loch tief genug war, den
Ururgroßvater aufzunehmen.

Die Grabrede fiel kurz aus, um so kräftiger und anhaltender war der
Gesang. Wir hatten als passende Lieder gewählt: »Morgenrot, Morgenrot!
Leuchtest mir zum frühen Tod!« und: »Der Pilger aus der Ferne zieht
seiner Heimat zu.«

Elschen hatte noch vorgebracht »Wenn ich groß bin,« aber das war als
völlig unmöglich abgeschlagen worden. Überdies sank sie durch diese
Forderung in unserer Achtung wieder auf die frühere Stufe zurück.

An diesem Tag blieben wir bis zum Abendbrot im Garten. Der Sonnenschein
war so hell und freundlich, während über der alten Bodenkammer immer
noch etwas Unheimliches zu lagern schien. Aber am nächsten Tag
unterzogen wir den Inhalt der Truhe einer weiteren Besichtigung.

Die Bücher rochen uralt und hatten schwere, feste Einbanddecken. Die
Schrift war merkwürdig schnörkelig und ließ sich nicht ohne Mühe
entziffern. Wir strengten uns auch nicht sonderlich an. Eine Menge der
Bücher wurden mit Abscheu zur Seite gelegt, weil sie sich als
»Doktorsbücher« erwiesen. Dasselbe Schicksal teilten ein paar
Andachtsbücher »auf Kosten einer wahrheitliebenden Gesellschaft
gedruckt«. Dann stieß Anni einen Schrei des Entzückens aus, denn sie
hatte ein Geschichtenbuch, nein, noch schöner, ein Märchenbuch entdeckt.
Wer hätte der Truhe diesen köstlichen Schatz angesehen!

[Illustration]

Anni fing gleich an, uns »die Geschichte von dem tugendhaftigen Prinzen
Treuherz und der wonnesamen Prinzessin Herzelaide« vorzulesen, aber der
Genuß war nur mäßig. Sie blieb immer wieder an den feinen Schnörkelchen
der Buchstaben hängen, und da die Sätze endlos lang waren, hielt sie an,
wenn der Atem ausging, was nicht zur Erleichterung des Verständnisses
beitrug.

Gretchen gähnte unverhohlen. Elschen spielte längst mit ihrer Puppe, da
ging auch mir die Geduld aus.

»Laß doch die gräßlichen alten Prinzen und Prinzessinnen in Ruh! Man
versteht ja gar nicht, was sie miteinander sprechen. Und richtig
ordentlich schreiben konnten die Leute früher scheint's auch nicht. Wir
wollen das Buch wieder in die Truhe werfen.«

Das Schließen des Deckels war viel leichter zu bewerkstelligen als das
Öffnen. Mit einem dumpfen Knall schloß sich die Truhe, und fortan war
sie vor unserer Neugier sicher.

[Illustration]




[Illustration]

Ein paar Tage lang besuchten wir regelmäßig Ururgroßvaters Grab und
schmückten es mit Blumen. Auch mußte die Inschrift zweimal erneuert
werden. Das eine Mal hatte sie der Regen zerstört, das andere Mal war
sie den Buben in die Hände gefallen.

Diese schrecklichen Buben! Wie viel schöner wäre die Welt gewesen ohne
sie! Wenn man mit den Puppen spazieren ging, äfften sie die Unterhaltung
nach oder versuchten einen Überfall auf die Kinder. Wenn man im
Bodenkammerzimmer eine Einladung an sie ergehen ließ, aßen und tranken
sie all das mühsam Gekochte im Augenblick weg, und statt des Dankes
brummten sie über »das bißchen Zeug«.

Nur bei den Ball- und Springspielen, hauptsächlich bei dem
unvergleichlichen »Pflumeboppi, 's Hüsli brennt!« gingen wir Mädel und
Buben gemeinsame Wege. Ja, und dann noch bei einem ganz besonderen
Anlaß.

Unsere Vaterstadt feierte die 400jährige Wiederkehr des Tages, an dem
sich die beiden, durch den Strom getrennten Stadthälften
zusammengeschlossen hatten, mit der Aufführung eines historischen,
eigens für die Gelegenheit verfaßten Festspiels.

Weit draußen vor der Stadt war die Bühne errichtet worden. Am zweiten
Tag -- die Stadt schwelgte eine halbe Woche lang in ihren Erinnerungen
-- waren bei der Vorstellung sämtliche Schulkinder zugegen.

Das war ein Ereignis, vor dem alles andere, das sonst unser Leben
ausfüllte, zurücktreten mußte. Während der Vorstellung saßen wir
getrennt, aber auf dem Nachhauseweg fanden wir uns zusammen und konnten
das Geschaute besprechen.

Anni schwärmte besonders für den König Rudolf. Wie er sich hielt, wie er
sich neigte! Sie streckte ihren schwarzen Wuschelkopf und die kurze
Stumpfnase höher in die Luft, als erwerbe sie sich dadurch etwas von der
königlichen Würde.

Gretchen war entzückt von all den holdseligen Frauengestalten, auch von
den Kindern, die so niedliche, lange Kleider trugen. »Ich wollte, wir
hätten auch welche!« meinte sie seufzend. »Unsere kurzen Röcke und
Socken sehen gar nicht schön aus.«

Damit war ich jedoch nicht einverstanden.

»Denk dir doch, wie unangenehm die dummen, langen Kleider beim Springen
wären! Der 'Pflumeboppi' z. B. fiele alle Augenblicke auf die Nase.«

»Ja, das ist wahr!« stimmte mir Anni zu. »Wer hat denn dir am besten
gefallen, Mixi? -- Seht, nun wird sie schon wieder ganz rot!«

»Gar nicht!« wehrte ich ab, obwohl ich die Glut bis unter die
Haarwurzeln steigen fühlte.

[Illustration]

»Ihr werdet natürlich lachen, aber das ist mir einerlei. Mir hat der
Priester am besten gefallen.«

»Der alte, heidnische Kerl!« Anni war entrüstet. Das gutmütige Gretchen,
wohl um mir wieder zu meiner natürlichen Gesichtsfarbe zu verhelfen,
meinte tröstlich: »Sie hatten ihn, glaube ich, alle sehr gern.«

»Ja, und hörtest du nicht, wie sie alle so jammervoll aufschrieen, als
er sich den Dolch ins Herz stieß?«

»Du tust gerade, wie wenn er es richtig getan hätte, Mixi! Du brauchst
gar keine so fürchterlichen Augen zu machen, es ist ja doch alles nicht
wahr.«

Ich duckte mich und schwieg. Da war wieder das Wort, das ich am meisten
fürchtete und haßte -- -- es ist nicht wahr.

Wozu hatte man denn all die seltsamen Gedanken und Träume, die einen
halb froh, halb traurig stimmten, wenn alles nicht wahr sein sollte!

Freilich, das auf der Bühne war vielleicht nicht wahr gewesen. Das waren
ja alles gewöhnliche Menschenkinder. Unter den langlockigen Pagen hatte
ich einen Knaben entdeckt, von dem ich genau wußte, daß er in
Wirklichkeit einen struppigen roten Haarschopf besitze. Aber wozu daran
denken? Das ließ sich alles so hübsch beiseite schieben. Das gehörte in
die Welt, die Schule, Aufgaben, Stricken und Gemüse-essen hieß.

[Illustration]

Die andere Welt, die man in sich trug, und die sich doch so seltsam weit
ausbreitete, bis zu den weichen, weißen Wolken hinauf, bis zu den
winzigen Maßliebchen und Marienkäferchen hinab -- diese Welt war weit
schöner und heimatlicher.

       *       *       *       *       *

»Mixi, was träumst du wieder! So hör' doch! Ich habe einen wunderschönen
Plan. Wir wollen das Festspiel aufführen, daheim in unsrer Bodenkammer.
Dann kannst du ja deinen alten Priester spielen.«

»Nein, nein! Das soll Teddy tun. Ich will den Kaiser Valentinian, du
nimmst König Rudolf und Gretchen kann Bischof fein. Ach, und für Elschen
müssen wir auch eine Rolle finden. Wie herrlich wird das werden, ich
freue mich halb zu Tod!«

Hatte uns schon die große Vorstellung die Köpfe verdreht, so tat es
unsere eigene noch weit mehr. Die Mutter mußte natürlich in die Sache
eingeweiht werden, denn die Blumentöpfe, die wir als Kulissen brauchten
und die langen Kleider, auf denen Gretchen mit großer Energie bestand,
waren alle in ihrer Verwahrung und konnten denn doch nicht ohne weiteres
herbeigeschafft werden. Meine Großmutter steuerte zu unserer
Kostümierung einige Umlegtücher und Schmucksachen bei.

Wir arbeiteten täglich stundenlang an unsern Vorbereitungen. Natürlich,
das ganze Festspiel konnten wir nicht aufführen; wir mußten uns auf
solche Szenen, in denen möglichst wenig Personen austraten, beschränken.
Aber wir trösteten uns damit, daß sich ja das Publikum das übrige dazu
denken könne.

Der große Tag nahte. Punkt 2 Uhr sollte die Vorstellung beginnen; ein
paar Minuten früher fanden sich die Zuschauer ein. Wir hatten ihrer nur
wenige gebeten. Natürlich die kleine Mutter, die sich beinahe ebenso
sehr wie wir auf das Festspiel freute, dann Großmutter und eine Tante,
die auf Besuch gekommen. Großmutter erhielt den gedruckten Text, da sie
die richtige Aufführung nicht mit angesehen hatte. Sie hielt das
Heftchen weit von sich, denn ihre alten Augen konnten nicht mehr in die
Nähe sehen. Das imponierte mir immer gewaltig, und es verfehlte auch
seinen Eindruck auf meine Spielgefährten nicht. Es hat nicht jeder eine
Großmutter, die so merkwürdig liest.

[Illustration]

Die Zuschauer saßen auf dem alten Sofa. Wir hielten uns in einer
Nebenkammer verborgen, bis es 2 Uhr schlug.

Das erste Bild stellte die Gründung unserer Stadt durch Kaiser
Valentinian im Jahre 374 dar. Anni, Gretchen, Elschen und Teddy zogen
als raurakischer Volkshaufe auf die »Bühne« und sangen ein Lied, von
dessen sanfter, fließender Weise uns allerdings nur zwei Zeilen im
Gedächtnis geblieben waren, weshalb das übrige mehr rezitativartig
vorgetragen wurde. Dann stürzte Willy herein und verkündete das Nahen
römischer Scharen, was erregtes Sprechen und Schreien zur Folge hatte.
Er verschwand blitzschnell, um nach wenigen Augenblicken als römischer
Hauptmann aufzutreten, der an Stelle der uns fehlenden Kriegerhaufen
einen seltsamen Schwerttanz aufführte. Mit einem Male wandte er sich
gegen die Türe und während seines Jubelrufs: »Großer Cäsar, Imperator,
Heil sei dir, du starker Held!« ritt ich auf schnaubendem Roß auf die
Bühne.

Das ging so zu: Wir hatten ein Schaukelpferd, das bei jeder starken
schwingenden Bewegung einige Zoll vorwärts glitt; so konnte man also
tatsächlich reiten.

Kaiser Valentinian trug ein Barett mit weißen [Illustration]

Gänsefedern und einen malerisch umgeworfenen roten Mantel. Außer dem
Szepter hielt er merkwürdigerweise auch ein Heftchen in der Hand, denn
es war ihn das Genieren angekommen, und die rasch eingelernten und nur
halb verstandenen Worte schienen sich alle verflüchtigt zu haben. So las
denn der gute Kaiser Valentinian seine wohlmeinenden Worte an die
verängsteten Rauraker. Ihre freudigen Zurufe wurden durch den Priester
übertönt, der vor dem neuen Leben sich zu den alten Göttern flüchtet.

    »Nehmet mich auf! von mannigfaltigen
    Greueln und Sünden, von Schand und Not
    Löse mich leicht der heilige Tod!«

Teddy in einem langen, dunkeln Gewand, mit mächtigem weißem Bart sah
nach Annis Urteil ganz wie »so ein heidnischer Kerl« aus. Die letzten
Worte heulte er geradezu. Dann ließ er sich, in dem schönen Glauben, die
klagenden Weiber würden ihn auffangen, rücklings zu Boden stürzen. Aber
o weh! Keine schützenden Arme umfingen seinen sinkenden Leib. Er schlug
mit solchem Dröhnen auf den harten Fußboden, daß aus dem Zuschauerraum
ein Entsetzensschrei erscholl, der freilich in ein Lachen überging, als
der tote Priester wütend zischte: »Na, wartet nur bis nachher!«

[Illustration]

Kaiser Valentinian stellte die Stimmung wieder her, indem er ein
leuchtendes Bild der zukünftigen Stadt Basilea entwarf.

[Illustration]

Unter dem Jubelchor des Volkes und von ihrer Schar begleitet und
hilfreich geschoben, ritt seine Majestät davon.

Die zweite Szene, die den Bau der alten Rheinbrücke im Jahre 1225
behandelte, überschlugen wir, der vielen Personen wegen. Um sie aber
nicht ganz unerwähnt zu lassen, wandelte Gretchen langsam und heimlich
als Bischof über die Bühne; Elschen trippelte, ein Meßglöcklein
schwingend, hintendrein.

Das dritte Bild brachte den Höhepunkt des Festes: Anni als König Rudolf.
Ihre schwarzen Zöpfe waren unter einem Turban verborgen. Sie stak in
einem deutschen Militärrock und schulterte einen uralten Schießprügel.
Um den Hals hing ihr eine goldene Kette, und ihre Beine waren mit
Reiterstiefeln bekleidet. König Rudolf versprach mit großem Pathos der
Stadt ihre Freiheit; Schultheiß Gretchen dankte tief.

[Illustration]

Die kriegerischen Rollen des vierten Bildes, wo es sich um den in die
Schlacht von Sempach abziehenden Herzog Leopold handelte, wurden
durchweg von den Buben gespielt, deren schauspielerische Begabung sich
hauptsächlich in einem ungeheuren Stimmenaufwand äußerte. Auch die
feierliche Vereinigung der beiden links und rechts vom Strom gelegenen
Städte, des mehrern und mindern Basel, wurden von den Buben in stark
verkürzter Form vorgetragen.

Den erhebenden Schluß bildete das Auftreten der drei Frauengestalten:
Helvetia, Basilea, Klio. Unter dem völlig programmwidrigen
Hurrahgeschrei der Buben sank Basilea in die mütterlichen Arme
Helvetias.

Das Publikum erwies sich sehr aufmerksam. Die kleine Mutter lachte
Tränen. Die Tante fühlte sich »bewegt«, und auch Großmutters alte Augen
schauten freundlich zu uns herüber. In die Ferne konnte sie ja gut
sehen, und so war ihr keine Einzelheit unserer Kostüme, keine einzige
fürstliche Geste und dramatische Bewegung entgangen.

Nach dem wirklichen Festspiel hatte ein großes Festessen stattgefunden.
Auch uns ward eines zu Teil.

Als die Vorstellung zu Ende war, lud uns die kleine Mutter feierlich
ein, hinunter zu kommen. Der Tisch im Eßzimmer war gedeckt. In der Mitte
stand eine Riesenplatte mit Erdbeeren. Hei! Wie da König Rudolf, Kaiser
Valentinian und Herzog Leopold fröhlich schmausten. Auch der alte
Priester vergaß seinen Groll, während er eine saftige Beere nach der
andern in den Mund schob.

Diese Aufführung blieb nicht die einzige, die die alte Bodenkammer
erlebt hat. Das Bühnenfieber hatte uns gepackt, und eine Zeit lang
mußten sich Großmutter und die kleine Mutter wieder und wieder zu dem
alten Sofa hinaufbequemen, um unsere »Lebenden Bilder«, Komödien und
Tragödien anzusehen.

Der Winter machte diesen Vorstellungen ein Ende, und der Winter brachte
auch eine schmerzliche Trennung. Meine Freunde verließen die Stadt. Das
alte Haus wurde eingerissen, und in dem zierlichen Neubau, der sich an
seiner Stelle erhob, war keine alte Bodenkammer mehr zu finden.

[Illustration]

[Illustration]

=Sonne und Regen im Kinderland=

       *       *       *       *       *

_Eine Reihe bunter Geschichten mit Bildern für kleine und große Leute_

1. _Agnes Sapper_: =Frieder=. Die Geschichte vom kleinen Dummerle mit
   Scherenschnitten von Hedwig Schwegelbaur.

2. _Ida Frohnmeyer_: =Hansi=. Zwei Erzählungen, von einem einsamen Bub u.
   vom Spiel froher Mädchen mit Scherenschnitten von Hed. Schwegelbaur.

3. _Charlotte Wörner_: =Prinzeß Gänselore=. Ein Märchen für brave Kinder
   mit Orignialholzschnitten von Martha Welsch.

4. _Charlotte Wörner_: =Die Männlein vom Mummelsee=. Ein Märchen aus dem
   Schwarzwald mit Zeichnungen von Martha Welsch.

5. _Charlotte Wörner_: =Im Reich der Blumen-Königin=. Ein Elfenmärchen mit
   Zeichnungen von Martha Welsch.

6. _Anna Schieber_: =Annegret=. Eine Kindergeschichte mit Bildern von
   Elisabeth Sauer.

=Jedes Bändchen ist fein gebunden u. einfach kartoniert lieferbar=

Von Sonne und Regen im Kinderland, von Kinderlust und Kinderleid
erzählen diese lieblich ausgestatteten Bändchen. Den Kleinen bringen sie
lebendige, gemütvolle Unterhaltung und den Großen rufen sie die ganze
Schönheit des Kinderlebens in warme Erinnerung

       *       *       *       *       *

=D. Gundert / Verlag / Stuttgart=




Anmerkungen zur Transkription

[Anmerkung TN1: In Original steht hier tüchigen.]



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The Foundation is committed to complying with the laws regulating
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States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
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particular state visit https://www.gutenberg.org/fundraising/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
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approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
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Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
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works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

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