Die Geschwister

By Hugo Bertsch

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Title: Die Geschwister

Author: Hugo Bertsch

Author of introduction, etc.: Adolf Wilbrandt

Release date: December 19, 2025 [eBook #77504]

Language: German

Original publication: Stuttgart: J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, 1904

Credits: Richard Illner, Michael John and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GESCHWISTER ***


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                      Anmerkungen zur Transkription.

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                            Die Geschwister


                                  Von


                             Hugo Bertsch


                 Mit einem Vorwort von Adolf Wilbrandt


                             Achte Auflage


                            [Illustration]


                       Stuttgart und Berlin 1904
               J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
                              G. m. b. H.




                        Alle Rechte vorbehalten

      +Copyright 1903 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
                             G. m. b. H.+


       Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart




                                Vorwort


Ich habe die Freude, meinen Landsleuten ein Buch zu übergeben, das, so
recht aus der Tiefe unsrer Volkskraft heraufgekommen, eine merkwürdige,
herzbewegende Erscheinung und in einem gewissen Sinn etwas Einziges
ist.

Vor zwei Jahren und länger, im September 1900, schickte mir aus
Brooklyn-Neuyork ein deutscher Fabrikarbeiter, Hugo Bertsch, ein
Buch, in das er ein Schauspiel hineingeschrieben hatte und allerlei
Gedankengänge, betitelt »Phantasien auf hohem Seil«. Er schrieb dazu:
»Wie Sie an beigeschicktem Manuskript ersehen, bin ich einer von den
Nichtallewerdenden, denen es in Kopf und Herzen stürmt. Einer, der
verbotene Wege wandelt -- wennso das Schriftstellern, wie ich annehme,
Privilegium der Studierten ist. Denn, hochgeehrter Herr! ich habe
leider, leider, außer meiner Schwarzwälder Dorfschule -- unterbrochen
noch mit schwerer Feldarbeit -- keine Bildung genossen. Gelesen habe
ich viel, in Büchern, mehr noch in Gottes großem Buch: die Welt, die
ich seit dem Verlassen meiner Heimat kreuz und quer durchwandert
bin. Als Farmer, Bergmann, Holzhacker, Ziegelbrenner, Matrose,
Fabrikarbeiter, in grobem Kittel, mit rauhen, schweren Händen -- aber
(ohne zu erröten) reiner, unsäglich empfindlicher Seele -- habe ich so
für mich gelesen, gelebt, geduldet -- geweint. Ein Sonderling.

»Daß ich schreiben kann ~schier~ wie ich denke, das erfuhr ich,
als ich in ziemlich langen Briefen meine Reisen schilderte. Ich tat's
einmal, dann öfter, und schließlich -- gepackt von dem berühmten Buch:
Im dunkelsten England -- versuchte ich eine ähnliche Schilderung: Im
dunkelsten London.

»Ein so ausgedehntes Werk zu schreiben war mir unmöglich, das merkte
ich bald. Den ganzen Tag arbeite ich schwer, und nach dem Nachtessen
ist es spät und die abgerackerten Knochen zerren auch den willigsten
Geist hinab, hinab aufs Bett zum Ruhen. Zudem ist meine Umgebung so
ruhestörend, daß ich oft lachen muß über die originelle Weise, wie ich
dichten muß. Notwendig entschloß ich mich zur kürzesten Form, meiner
armen, überladenen Seele Erleichterung zu verschaffen.«

So hatte er denn versucht, ein Schauspiel zu schreiben, »ohne viel zu
wissen, was man Regeln des Dramas und dergleichen nennt«. »Mitleid
und Tränen zu locken für seine Helden«, nur das hatte ihn seinen
Weg geführt. »Mit Gottvertrauen ließ ich meiner Phantasie die Zügel
schießen, und bin gelandet jetzt -- im Graben? oder drüber? -- Das zu
urteilen überlasse ich Ihnen, edler Herr.

»Jetzt aber kommt der Gipfel meiner Aufdringlichkeit -- und o,
Bescheidenheit, verhülle dein Erröten -- dein glühendster Verehrer wird
dein Verräter.

»Nie und nimmer! schrie ich dutzendmal beim Schreiben des Manuskripts
-- nie wieder werde ich unter so unmenschlichen Hindernissen es
versuchen zu schreiben. Nur wenn gute Aussicht ist, daß ich das
Ziel erreiche, mit Dichten mein Brot zu verdienen, werd' ich's noch
~einmal~ versuchen. Selbstverständlich andernfalls nicht. Ich kann
glücklich und zufrieden leben als Arbeiter -- freilich glücklicher als
Schreiber -- schon wegen der Wollust, meine Seele zu entladen. Aber in
Ungewißheit schwanken zwischen beiden, macht mich sehr elend.

»Geehrter, teurer Herr! Seien Sie mein Richter, Ratgeber, Erlöser. Was
denken Sie?

»Was immer -- sagen Sie es mir mit kurzen, trockenen Worten. Ich bin
ein wahrer Virtuose im Entsagen, und Religion und Vertrauen auf das
Weiterleben jenseits gibt mir mehr als Mut, mich einzuschließen,
einzupuppen -- allein mit meinen süßen Gespenstern.«

Ich las das Buch; mit Staunen, mit immer wechselnden Eindrücken und
mit einem tief tragischen Gefühl. Das Schauspiel: »Der Dieb« war ein
wildes, krasses Nachtbild aus der »unteren Schicht«, mit einer oft
überraschenden Beredsamkeit fesselloser Leidenschaft, aber sonst
so recht, was man »unmöglich« nennt. Nicht nur jede Kenntnis der
Bühne fehlte, auch das Leben erschien oft in übertrieben greller,
glühender Beleuchtung und verzerrter Gestalt. So schafft wohl leicht
ein ermüdetes, von außen gestörtes, sich mit Gewalt erhitzendes, vom
Willen gepeitschtes Gehirn. Es spielte aber auch -- und mehr noch in
den »Phantasien auf hohem Seil« -- diese verhängnisvolle Zwitterschaft
mit, die Verbindung von hohem Seelenschwung und Geistesflug mit der
ungeschulten Unbehilflichkeit. So viel Denken, auch Wissen, und so
viel Unorthographisches. So erstaunlich reiches Formtalent, feines
Sprachgefühl, und so viel undeutsche Wendungen, aus der englisch
redenden Umgebung unbewußt aufgenommen. Gewiß ein ungewöhnlich begabter
Mensch, gewiß auch ein Poet; aber wer und was sollte ihm zur Ausbildung
und zur Reife helfen? Nur wenn er den Arbeitskittel ausziehen und
herüberkommen konnte, um in der Luft der deutschen Dichter und mit
fördernden Genossen zu leben, nur dann konnt' er »werden«. Er war noch
nicht.

Und so sagte ihm der lange Brief, den ich ihm in tiefstem Mitgefühl
schrieb, eigentlich doch nur das: kannst du dich freimachen, dir
Geld verschaffen, um ein paar Jahre sorgenlos dich auszubilden? Dann
versuch's! Dann kann's gelingen!

Darüber ging seine Antwort wie mit stummem, entsagendem Kopfschütteln
hinweg. Er dankte mir nur mit rührenden Worten, daß ich seinen Wunsch
erfüllt; »in traurigen Momenten kam es ja über mich: Sie werden meine
Kindergartendichterei gar keiner Beantwortung wert halten und das arme
Geschreibsel als ›Schmiere‹ in den Korb werfen. ... Daß Sie aber einen
achtseitenlangen Brief an mich schreiben voll Sympathie und Gefühl
und Verständnis für meine Lage, hat mich so glücklich gemacht, daß
ich vollauf belohnt bin für alle Mühe und Bitterkeit, das Manuskript
herzustellen. ...

»Daß es nun aus ist mit meiner ›Schriftstellerei‹, ist
selbstverständlich. ...«

So schrieb er mir am 21. Oktober; aber im April 1901 kam ein dritter
Brief. Er stellte sich darin von neuem vor als »jenen zudringlichen
Fabrikarbeiter von Brooklyn«; dann fuhr er fort: »Damals äußerten
Sie sich ermutigend über mein Talent und zum Schluß Ihres langen
Schreibens wörtlich: ›Ich hoffe, daß Gott Ihnen doch noch etwas an
die Hand gibt, an dem Sie sich emporziehen können; solche Wunder sind
schon oft geschehn.‹ Und, hochgeehrter Herr! es ist geschehen. Gott
ließ das Wunder geschehen an mir. Sie wissen ja, daß ich die Feder
wegzulegen beschloß wegen Mangel an Zeit, Freiheit, Aufmunterung. ...
Ich verwünschte, verbannte die Ideale, die anstürmend wie Meereswogen
mein ruhiges Arbeiterleben unterwühlen; aber allem Widerstand zum Trotz
-- ich ~mußte, mußte~ dichten und schreiben.

»Das war der Anfang des Wunders -- nur der Anfang. Was ich jetzt
schreibe, ~wie~ ich schreibe, das ist das Wunder, an dem ich mich
emporziehen werde, so wahr mich Gott liebhat und ich ihn. ...

»Vielleicht ist es zum Kopfschütteln, wenn ich behaupte, daß ich
über meine Arbeit nicht befriedigt, sondern geradezu erstaunt bin,
verblüfft. Ich steh' vor dem Geschriebenen wie vor einem geahnten, aber
nie gesehenen Wunder. Daß so tief ich denken kann, empfinden kann, ein
solches Himmelreich voll Geister beherbergt habe ohne es zu wissen, die
lange Reihe von Jahren, das alles dünkt mich wie ein Geschenk von Gott,
eine Entschädigung für die erdrückenden Schwierigkeiten, unter denen
ich schreiben ~soll~. Oft lebe ich im Wahn, ein viel Höherer als
Menschen dichte für mich und meine schwieligen, harten Hände seien nur
sein Werkzeug, das Tinte und Feder beherrscht ....

»Denken Sie ja nicht, diese wilden Sätze seien Schwulst, Überschätzung,
Überspannung -- es sind nur die Jauchzer einer glücklichen Seele, die
hofft, einen Freund gefunden zu haben, der sie kennt und schätzt.«

Hugo Bertsch hatte damals etwa ein Drittel seiner neuen Dichtung
geschrieben; zunächst fragte er, ob ich mich ihrer wohl annehmen werde.
Ich, in großer Freude, erbot mich zu jedem möglichen Liebesdienst.
Das erfüllte ihn so mit Dankbarkeit, daß sie ihn fast niederdrückte,
traurig machte: »Sie haben mich um ein gut Teil Freiheit gebracht. Eh
ich Sie (brieflich) kennen lernte, schwelgte ich in voller Freiheit,
meine Dichterei betreffend. Ich konnte die Feder führen oder wegwerfen,
absolut wie es mir beliebte -- aber jetzt nicht mehr so. Ich darf
nicht das Vertrauen enttäuschen, das Ihre ... Seele mir schenkt. Ich
~muß~ jetzt die Hoffnung, die Sie in mich setzen, verwirklichen.
...« Er nahm mich aber als »Ratgeber«, »Wegweiser« an, weil er die
Notwendigkeit fühlte. »Ich habe (wie Don Karlos) auf dieser weiten Erde
niemand, niemand und so weiter, der mich aufmuntert, führen könnte.«

So begann denn meine beratende Mitwirkung an dem hier vorliegenden
Buch. Es entstand langsam, mit großen Unterbrechungen, auch mit
tiefen Senkungen des Selbstgefühls und der Schaffensfreude, in
»nervenlähmender Mutlosigkeit«, wie er einmal schrieb; nicht zu
verwundern bei der Art, wie es entstand. Der Dichter, kein Jüngling
mehr, sondern »ein Mann in reifsten Jahren«, wie ich nun erst erfuhr,
»aber außergewöhnlich gesund und stark«; auch glücklich verheiratet,
mit einer Amerikanerin von irischer Abstammung, und »Vater zweier
herzallerliebster Kinderchen«, »alle kerngesund« -- er konnte eben doch
nur nach des Tages Arbeit »komponieren und schreiben«, in der Küche,
am Küchentisch. Und wenn er an Winterabenden schrieb, so saßen ihm die
Kinder, die nicht mehr wie im Sommer auf die Straße gehen konnten,
»schier buchstäblich auf dem Manuskript«. »Und wie die Jugend eben ist,
sie vergessen jeden Augenblick, daß Papa nicht gestört werden möchte.
Sprechen, lachen, an den Tisch stoßen stört mich wenig, das bin ich
gewohnt; aber mit Fragen anrennen über dies und jenes, das holt mich
rettungslos aus den Wolken herunter, wie der Pfeil den Vogel.«

Alle diese Hindernisse äußerer und innerer Art schadeten der Dichtung;
es konnte nicht anders sein, umsoweniger, da sie ein ~Werdender~
schrieb. Das Gespinst ward ungleich, gröbere Fäden oder zu matt
gefärbte liefen mit hinein. Hie und da verwilderte die müde, gehetzte,
überreizte Phantasie. Der Plan des Ganzen entartete zuletzt ins
Schwarze, Erbarmungs- und Hoffnungslose, Weltverneinende; gegen die
eigentliche Natur des Dichters, der mit germanischer Gesundheit und
Freudigkeit Gott und das Leben bejaht. Ich beriet ihn: kehr um! Geh
einen andern Weg! Er ließ das Werk eine gute Weile liegen, dann begann
ein neuer Anlauf. So gab er dem Buch die Form, in der ich es nun der
Welt übergebe.

Es ist in jeder Zeile sein Werk und fast immer auch sein Wort; ich habe
nur die kleinen »orthographischen Schandtaten«, wie einer seiner Briefe
sie nennt, brüderlich verbessert, undeutsch englische Wortfügungen
deutsch gemacht, und Längen gekürzt oder ein Übermaß weggeschnitten,
da es in der Natur seiner »Inspirationen« liegt, gern und zuweilen
unaufhaltsam in die Verschwendung des Reichen zu entarten. Daß ich dies
alles mit seiner Zustimmung und auf seinen Wunsch getan hab', brauch'
ich kaum zu sagen. Auch so wird der Leser wohl noch hie und da etwas
»gröberes Gespinst« verspüren, halbversteckte Zeugen bejammernswerter
Schaffensnot. Auch sei er hiermit freundlich gewarnt, daß er nicht zu
viel Handlung oder Spannung erwarte. Es ist eine Seelengeschichte, die
sich langsam, beinahe ganz in Briefen fortschiebt; viel Persönliches
drin, in den »Helden« der Geschichte, Bruder und Schwester, sehr
viel Eigenstes. Tom, der Bruder, ist Arbeiter wie Hugo Bertsch,
Ausnahmsmensch an Begabung wie er, Grübler, Denker wie er. Und wenn
sich der gewarnte Leser mit gelassener, nicht stoffhungriger Sammlung
an den Tisch seines Gastgebers setzt, so wird er wohl staunen, denk'
ich, was dieser Fabrikarbeiter aus Brooklyn ihm auftischt: wie viel
Beredsamkeit, Geist, Satire, Stimmung, Humor, Tiefsinn, Phantasie.

Hierin ist er meines Erachtens etwas Einziges, wie ich vorhin
sagte; und überhaupt wüßte ich ihm in unsrer Literatur nur einen zu
vergleichen, Ulrich Bräker, den »armen Mann im Tockenburg« aus Jung
Goethes Zeit, den auch ein unbezwingbares Talent aus der Tiefe emporzog
und zum »Naturdichter« machte. Sie haben auch Stammesgemeinschaft,
beide sind Alemannen; nur daß Bertsch ein Landsmann Schillers,
ein Schwabe, Bräker ein Schweizer ist. Auch in ihrem innersten
Wesen, deucht mir, ist viel Verwandtschaft; aber das Leben hat sie
verschiedene Wege geführt, und die Glocken der Zeit haben ihnen sehr
verschieden geläutet. Uli Bräker, der nach kurzen Abenteuern das
Leben in seinem stillen Tal verbrachte, nur den eintönigen Kampf
mit der Sorge kennend, blieb der träumerische, lyrische, kindliche,
naturselige Mensch, als den die Natur und die Muse ihn geschaffen
hatten. Hugo Bertsch, in früher Jugend hinaus und lange Jahre die
Welt durchwandernd, dann von den tausend Stimmen einer gewaltig
aufstrebenden Riesenstadt umbraust, von den Leiden und Wünschen und
Begierden seiner emporringenden Standesgenossen im Innersten ergriffen,
härtete sein weiches Herz für den großen Kampf. Noch nie hat ein Mensch
des »vierten Standes« mit so geist- und seelenvoller, hochaufflammender
Beredsamkeit für die Rechte dieses leidenden Standes und gegen das
Babel der Zeit gestritten, wie Hugo Bertsch in diesem Buch. Es ist
aber die edle, reine Beredsamkeit des ~Dichters~, der zuletzt,
im ruhelosen Weitertrachten der Gedanken -- ein echt deutsches Blut!
-- zum ~Philosophen~ wird. Die altpersische Weltvorstellung lebt
auf eine wunderbare Art in ihm auf: der gute und der böse Geist, die
den großen Weltkampf kämpfen, in dem der Geschaffene, der Mensch
mitstreiten soll. So findet sich sein »Held«, Tom Pratt, in der
Schöpfung wieder zurecht, und die Sonne kann auch ihm wieder scheinen.

Doch ich sage nun nichts mehr von ihm und dem Buch. Es soll selber
reden.

Auch mit Maxim Gorki, dem Russen, will ich ihn hier nicht vergleichen
-- so nahe der Gedanke liegt; vielleicht hat schon jeder, der bis
hierher las, an Gorki gedacht. Wer das ganze Buch gelesen, mag, wenn er
will, hernach selbst vergleichen. Ich sage nur: lest das Buch!

Möchte doch der Erfolg es segnen und dem Schwaben in Brooklyn so viel
Mut und Freude und Freiheit schaffen, daß er von neuem auffliegen kann,
und höher noch und höher; daß er den Inhalt seines Lebens, die Welt,
die er gesehn, mit dem Jugendfeuer des endlich zum Wort kommenden
Erzählers vor uns ausbreiten kann, oder, wie er in einem seiner Briefe
sagt, »seiner Vergangenheit buntgewebten Teppich ausklopfen mit der
Zauberrute Poesie«.

                                                        Adolf Wilbrandt




                              Einleitung

                         Das verschollene Grab


~Grab~ -- welch ein Wort! Gibt es ein zweites, das wuchtiger trifft,
schauriger, zermalmender, erstarrender?

Tod -- -- man kann tot sein und noch im warmen Bette liegen, umgeben
von den lieben, teuren Angehörigen -- tot sein und beschienen werden
vom Licht und Blau der Welt, gefächelt werden von Luft und Atemzügen
der Lebenden, geküßt werden, umarmt, angeredet.

Aber Grab -- dieses schwarze, hohle Loch ins Jenseits hinüber, durch
das keiner zurückkriecht, und rauchte am andern End' die Hölle. Wer
da hinuntersaust am schnurrenden Seil, im zugenagelten Sarg, und dann
Scholle auf Scholle den Marsch trommelt, bis es stiller wird, dumpfer,
immer dumpfer, so grabesstill, daß nichts mehr gehört wird in der
schaurigen Höhle als der Erde blähendes Verdauen.

Droben jagen sich die Ereignisse Licht und Schatten gleich; auf und
unter geht der Tag, jeder Morgen Frisches begrüßend, jeder Abend
Gebrauchtes begrabend.

Drunten wartet der Tote auf Erwachen, Wiedersehen, Auferstehen.
Vergessen von den Menschen, eh' er ganz verfault; vergessen von
Menschen, die in hysterische Zuckungen verfielen aus Schmerz über sein
Ableben; denen er alles war, Liebling, Vater, Mutter, Bruder, Schwester
... Du armer Tor da unten hoffst, die gedankenlose Natur werde sich
deiner erinnern nach Milliarden Jahren -- die herzlose Natur werde sich
deiner erbarmen -- die Brüterin der Brutalität -- Natur, die Säugerin
des Zähen, Starken, die Anbeterin des Lebendigen, die Todfeindin des
Toten, werde sich verlieben in morsche, längstverweste Knochen? Natur,
die nur das Neue will und nie ein zweites Mal das Selbe schafft -- die
Altes nur als Treppe nützt, als Dünger, Mist -- herz- und sinn- und
zwecklose, sie weiß nicht, was sie tut -- die Experimentiererin, die
in ruheloser Sucht nach immer wieder Neuem, allerletztem Neuem, der
Evolutionen hunderttausend-generationenlange Leiter auf und ab hüpft
-- lawinengleich Systeme rollt, Welten schleift, Sonnen und Planeten
fegt auf einen einz'gen, riesengroßen Trümmerhaufen -- herrlichste
Gebilde (der Vollkommenheit so nah um Haaresbreite) zu Scherben schlägt
wie lose Kinder ihren Weihnachtsskram, und liegen läßt für eine halbe
Ewigkeit -- Schund und Mißgeburten aber ~stehen~ läßt für eine
halbe Ewigkeit.

Oder hoffst du armer Tor: ein Gott, der sich um Lebende nicht kümmert,
werd' sich um Tote scheren? Der keinen kleinen Finger rührt, wenn
Millionen sich in Qualen drehen, Millionen untergehen; der sich nicht
finden lassen will, der sich versteckt vor dir -- der werd' suchen --
~dich~? -- --

~Gottes Acker~ -- welch ein Wort! Gibt es ein zweites, das
majestätischer klingt, magischer, ehrfurchtsvoller, hoffnungsvoller?
Ist es nicht ein Gefühl, als erwache man aus schwerem Fiebertraum
in Mutters Armen, an Mutters warmer Brust, ein Kind -- und all
die Schreckensbilder der vergangnen Nacht (Tod, Grab, Verwesung)
weggescheucht von ihrem Lächeln, Trösten, Küssen, Lieben?

Gottes Acker -- -- Und der Mensch mit seinen Hoffnungen ist der Same
-- mit seinem Lachen und Weinen, Genießen, Entsagen, Trotzen, Dulden,
Lieben, Hassen ist der Same. Hier werden seine Tugenden und Laster
eingebettet, seine Resignationen und Rebellionen. Hier werden seine
ungezählten, nie erfüllten Wünsche eingeackert -- all die Träumereien
von Glückseligkeit, die in diesem Leben, ach! aus süßem Sehnen nur zu
bittern Tränen reifen -- all die Leidenschaften, die vom Maienzug, der
Schmetterlinge weht auf Honigkelche, bis zum Tornado, der Felsen rollt
und durch schwarze Trichter Trümmer an den Himmel bläst, des Menschen
Seele schleifen wie Vandalen den Besiegten in die Sklaverei. All die
Reminiszenzen tausender Geschehnisse; all die Pläne und Fragmente --
all die großen und kleinen Sünden und Gebete, die aneinander gereiht
erdenlebenslange, schwere Kette bilden vom ersten Atemzug bis hierher
zu diesem Röcheln aus dem Bette dort -- vom ersten Blick ins Licht, das
die Sonne spinnt durch den Spitzenvorhang (ein Silbernetz um Kind und
Wiege), bis hierher zu dieser Sterbekammerlampe, die am letzten Tropfen
saugt.

Gottes Acker -- -- Und da liegen sie jetzt in langen Reihen, ruhig
die unruhigen Menschlein; im Leben keiner dem andern gleich, hier
alle gleich; im Leben höchst unbrüderlich, neidisch, egoistisch, hier
Kameraden auf ewige Zeiten, bescheiden, nachgiebig, unterwürfig. Noch
hat der Reiche sein Monument von Marmor über sich und der Nachbar nur
ein hölzernes Kreuzlein. Noch hat der eine Blumenbeete, wohlgepflegten
Rasen, Buchs und Zaun, von Gärtners kundiger Hand beschnitten, der
andre nur was ihm die Natur vorübereilend gnädig fallen läßt, Blümchen,
eingewickelt in ein Büschel Gras. Noch haben Leichensteine ihre Namen,
Worte, Daten. Ach, wie lang oder kurz, und die Ausgleichung ist auch
oben wie unten. Zeit und Wetter verwischen die Inschriften, zernagen
Stein und Eisenwerke -- und die sie setzten, sterben auch.

Mein lieber Leser! Zweifellos hast du schon Kirchhöfe besucht, teils
aus Zufall, Langerweile, Pflicht, oder gar von jenem unbeschreiblichen
Gefühl gezogen, das uns Menschen den Ort zu besuchen zwingt, der als
Haltestation irdischer Laufbahn gilt. Und gewiß hast du dann mehr oder
minder tiefsinnige Betrachtungen angestellt über die Gegend und ihre
Bewohner, über das fernere Schicksal dieser Leutchen, das auch dein
Schicksal werden wird.

Da ruht ein Vater, dort eine Mutter, hier ein Wiegenkind, daneben seine
Urahne, daneben die geknickte Kraft von zwanzig Sommern. Wie alt sie
waren am Todestage, wann geboren, wann gestorben, konntest du alles
am Leichenstein ablesen. Ob sie reich waren oder arm, geschätzt oder
nicht, das zeigt ziemlich genau die Beschaffenheit und Instandhaltung
der Grabstätte. Vor solchen Begräbnisstellen, die mit Inschriften
versehen sind und besucht und gepflegt werden von überlebenden
Verwandten und Freunden, hat die Phantasie wenig Spielraum zum Malen;
die Freiheit, im Rätselhaften, Geheimnisvollen jagen zu dürfen, wird
sehr beschnitten durch die Bekanntmachungen oben.

Das richtige Grab mit allen seinen Mysterien und Schauern ist
das »~verschollene~ Grab«; das Grab bei der Kirchhofmauer
oder außerhalb der Kirchhofmauer; das eingesunkene, mit schiefem,
verwittertem Kreuz und Stein oder mit ~gar keinem~ Abzeichen
versehene Grab. Vor so einem verwahrlosten, vergessenen, zugedeckten
Loch stehen -- etwa bei Nacht, oder Abends im Herbst, wenn der
untergehende Tag, der naßkalte Nordost, der feuchte, schleichende, im
Gras und Schilf entlang kriechende Nebel, der tiefstehende Sichelmond,
die sterbende Natur in all ihrem Stöhnen, Röcheln vom Blätterrascheln
bis zum Uhuschrei im Forst, zum Unkenruf im Moor, zum Sensenklappern
verspäteter Mähder, Chorus spielt in leerem Haus vor ausgebrannten
Bühnenlichtern und fallenden Kulissen -- vor so einem verschollenen
Grabe stehen und nicht »Bruder! Bruder!« klagen -- mit schüttelndem
Haupt und feuchten Augen und Reue, Reue im Herzen -- »Bruder! wer du
auch seiest tief da unten -- wie schwer oder leicht die Erde dich
drückt -- ob du viel oder wenig zurückließest in dieser Welt, oder
alles, und ein leeres Stück Papier, die Quittung an das Glück, in
deinem Sarge liegt -- ich kenne dich nicht. Vielleicht bist du ein
Weib, ein Mädchen; vielleicht bist du ein Heiliger oder ein Tyrann, ein
Mörder oder ein Gemordeter; ach! das ~eine~ nur weiß ich, fühle
ich: du bist ein Stück von mir. Die gleiche Luft hast du geatmet wie
ich -- die gleiche Sonne hat dich beschienen, die gleichen Sterne --
die gleichen Sorgen, Träume, Leidenschaften haben dich gequält, und
Freiheit dich geneckt, und diese Erde, einst dein Spielplatz und der
meine jetzt, zieht uns beide niederwärts.. .« Stehen vor so einem Grab
und der Toten Mahnen und Gottes Stimme überhören können -- es kann
nicht sein.

Mein lieber Leser! Willst du mir folgen? Ich führe dich zu einem Grab,
so verschollen, einsam; so wenig besucht, gepflegt; so wenig geweint
und gebetet wird vor diesem versunkenen Hügel ohne Namen, wie du wohl
nie in deinem Leben ein zweites Grab gesehen haben wirst; und ach! das
arme Herz, das da mit rauhen Steinen zugeschaufelt liegt, hat's nicht
verdient. Kaum zwanzig Monate sind es her, daß ich es zum ersten und
letzten Mal besuchte. Damals schlängelte sich ein Fußsteig an jenem
Grabe vorbei über den fichtenbewachsenen Hügelrücken; der Pfad ist
heute wohl verwachsen und verschwunden. Damals bezeichnete ein mit der
Axt gezimmertes Kreuz die Stätte des Todes; heute ist das Kreuzlein
wahrscheinlich umgestoßen vom Schneewehen, Sturmeswehen oder von
Bären und grasenden Büffeln. Damals war seine Umgebung eine Lichtung
im Wäldchen, spärlich mit Unkraut bewachsen; ~das~ kann wohl
geblieben sein; auch die sechs runden Steine mögen dort liegen, die
geordnet ein Kreuz bilden sollen.

Und -- -- noch einmal, willst du mir folgen, lieber Leser? Der Weg
ist weit, wild, steil (gebe Gott, nicht abschreckend); vielleicht ist
er langweilig; vielleicht gereut es dich, ihn angetreten zu haben;
vielleicht mußt du weinen, schon auf halbem Wege. Aber dessen bin ich
sicher: bist du dort, der Lohn ist die Mühe wert; denn jede Träne, die
wir unsern Toten weinen, jede Blume, die wir streuen, jedes Lächeln
im Gefühl des Wiedersehens, jeder Blick, der tief und langgezogen
teure Bilder der Vergangenheit aus ihren Gräbern saugt -- ach! Brüder,
Menschenbrüder! jeder Gang und Schrei und Krampf der Seele -- mit
~Schmerzen~ nur erwärmen wir den kalten Puls der Körperwelt --
auch die Allmacht spürt Grenzen ihrer Mittel, das einzige, womit sie
Tote auferwecken kann, ist: (viele nennen's Liebe, Sympathie), ist: der
~Menschen~ himmelstürmend Sehnen.




                                            Bellevue-Hospital, Neuyork.
                                                       25. August 1900.

        Schwester!!

Jetzt ist es geschehen! -- Was? -- Das Langgefürchtete,
Unausbleibliche: meine Hand liegt abgesägt in der Maschine -- die linke
-- und die rechte kann der Lebensgefährtin Verbluten nicht stillen.

Schwester! Ich weiß, es ist grausam unvorsichtig, Dich so zu
erschrecken, ohne Wahl der Worte, ohne Milderung im Ausdruck Dir die
Schauerbotschaft zu schicken; aber Worte können meine Verzweiflung
nicht mildern. Ich bin ruiniert, verloren, ein Krüppel; ich bin
arbeitslos, hoffnungslos arbeitslos. Zwanzig, vierzig Jahre soll ich
mit den mir noch übriggelassenen Knochen weiterleben ohne die Mittel
zum Leben, ohne Arbeit. Was soll jetzt werden aus mir, aus meinem
kranken, armen Weib, aus meinem Kind?! Die einzige Antwort, die mein
fieberndes Gehirn mir gibt auf diese Fragen, ist Schweiß in kalten
Tropfen.

Letzte Woche, Montag, kam das Unglück. Am Morgen -- früh -- gleich;
es war das Allererste, was kam. Das Unglück schien förmlich gelauert
zu haben auf mich die Nacht über, den Sonntag über. Kaum hatte die
Dampfpfeife ihren Schrei in die Morgenluft hinausgekrischen und die
Fabrikräder begannen sich zu drehen, und jeder von uns Arbeitern eilte
auf seinen Posten, und ich setzte meine Maschine in Bewegung -- die
Bandsäge -- diese kalte, glatte Schlange, diese zischende, schillernde,
hundertzähnige Viper. Nie konnte ich das unnahbare, holzfressende Ding
blitzen sehen und dabei die Erinnerung verscheuchen, wie es meinem
Vorgänger den Daumen abbiß; wie es ~seinem~ Vorgänger vier Finger
amputierte, ganz schräg der Länge nach, einem dritten die linke Hand
zerfleischte und die zu Hilfe eilende Rechte erst recht. Keinem frißt
diese fauchende Natter aus der Hand, dem sie nicht vorbeihauend einmal
auf die Knochen beißt. Keinem. Mir auch nicht. Ich wußte das. Ich
erwartete das. Aber Hunger kettete mich an den Platz, Pflicht an die
Gefahr. Das Unglück hatte wenig Mühe, mich zu finden. O, meine Hand!!

Wie es kam? Warum? Das ist mir jetzt nur mehr schattengleicher Traum.
Vielleicht war ich ausgerutscht mit meinen neubesohlten Schuhen, das
ist wohl das Wahrscheinlichste -- ja, so ist es -- ich glitt auf dem
glatten Boden aus und schlug mit dem linken Arm durch die Luft und
mit voller Wucht in die Stahlzähne der Säge -- und dann? -- was? --
ein wildes, himmelschreiendes »Oooo!« Eis und Feuer gemischt, ein
Gefühl, zuckte elektrisch durch meinen Körper und blieb stecken --
mich verrückt machend -- in den Haarwurzeln meiner Kopfhaut. Ich sah
Säge, Räder, Balken, Wände, Fenster, alles sich drehen, ringeln,
überschlagen, auf mich los wälzen. Ich sah einen Fleischklumpen in
die Sägespäne rollen und sich dort verkriechen -- meine Hand! Ich
sah Blut, Blut, wohin ich tastete, Blut. Hundert Stimmen hörte ich
lärmen, durcheinander toben, schreien: »Doktor! Ambulanz! Er blutet
sich tot! Hilfe! Hilfe!« Gestalten, jede mit hundert Augen, hundert
Händen, stürzten von allen Seiten auf mich los; packten mich, hoben
mich, drückten, trugen mich, preßten mich auf einen Stuhl nieder,
spritzten mir Wasser ins Gesicht, umwickelten meinen Arm mit Stricken,
Handtüchern, Taschentüchern -- --

Und alle jene Schauergemälde zeichneten sich jetzt in die Luft, die im
Wachen und Schlafen mich so oft beängstigten: Tom mit der abgesägten
Hand -- Tom arbeitslos -- Tom ein Krüppel, Bettler -- Toms Zukunft
ruiniert -- Toms Weib und Kind verwahrlost, weggerissen von ihm,
entfremdet -- das Familienglück, des armen Tom Einziges, das ihm all
das lebenslange Schinden und Plagen wert war, verloren -- verloren --
verloren.

Und dort dreht sich noch immer, als wär' nichts geschehen; die Säge,
die Schlange, die Mörderin. Grenzenlose Wut schnellte mich auf meine
Füße, und »Die Maschine,« schrie ich, »schlagt sie tot, die Maschine!«
-- Es muß ein grauenvoller Schrei gewesen sein, denn alle ließen mich
los. Ich machte zwei, drei Schritte nach der Richtung -- dann wurd's
Nacht.

Im Bellevue-Hospital, schräg überm Weg, wo ich verkrüppelt wurde,
erwachte ich aus langer, tiefer Ohnmacht.

O, wär' ich nie erwacht!

Schwester! ich muß aufhören. Ich darf nicht weiterschreiben. Es macht
mich rasend, mein Elend zu zergliedern. Ich darf nicht denken; --
essen, trinken, atmen -- aber nicht denken. Ich werde zum Tier.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                         Brooklyn, den 27. August 1900.

        Schwester!

Kaum hatte ich den Unglücksbrief abgesendet, so geschah mir eine große
Erleichterung; ungesäumt will ich sie teilen mit Dir.

Mein Arbeitgeber bezahlt Doktor und Apotheke, bis ich geheilt sein
werde; und weil das im eigenen Heim nicht weniger noch mehr kostet,
so fuhren sie mich nach Brooklyn hinüber ins Nest. Die Bewegung hat
mich angegriffen, sonst schrieb ich Dir schon gestern. Überhaupt werde
ich häufig von Ohnmacht und Schwindel befallen. Ich habe viel Blut
verloren, sagt der Arzt, und daß ich mit dem Leben davonkommen werde,
zeuge von einer zähen, lebenskräftigen Konstitution. Ich werde noch
meinen Spaß haben mit dieser zähen Lebenskräftigen -- und leerem Magen.
Doch lass' ich das Klagen für heute. Ich bin froh heute und guten Muts
-- sogar mit einem Anflug von »Sehr«.

Was doch die Umgebung aus dem Menschen machen kann; ~alles~. Man
schwimmt darin wie der Fisch, wie Treibholz im Fluß, und mit geht's;
rasend schnell, wenn der Kurs paßt -- langsam, wenn es gegen das Wollen
ist -- aber Wollen oder Nichtwollen, die Umgebung siegt.

Und ich bin aufrichtig glücklich über ihre Allmacht. Ich bin wie
neugeboren, seit ich das Hospital verlassen und wieder die Heimat um
mich seh'. Das Krankenzimmer in Bellevue war allerdings luftiger,
höher, bequemer; ein ~Saal~ gegenüber dem engen Stübchen, das ich
jetzt bewohne. Mein blasses, abgezehrtes Evchen kann auch den Vergleich
nicht aushalten gegenüber der vollen, energischen Krankenwärterin
mit ihren gesundheitsstrotzenden Lippen und Wangen; -- aber -- --
Schwester, der leiseste Gedanke von Untreue, sollte er auftauchen
in mir -- noch tat er's nie -- er wäre das Schurkenstück meines
Lebens. Man sagt, im Unglück lerne man die Menschen kennen. Ich bin
im Unglück. Zu all den körperlichen Schmerzen und den Seelenqualen,
Kummer, Sorgen, Angst, Trostlosigkeit, gesellt sich jetzt ein neuer,
der fürchterlichste Kumpan -- die Reue. Ich war immer ein Mustergatte
gewesen, ein guter Vater, ein Charaktermann; aber weißt Du auch, daß
wir auf diesem Feld ins Unendliche wachsen können und mein körperlich
schwaches Weib mich moralisch so riesenhoch überwachsen hat, daß
Einholen hoffnungslos ausgeschlossen bleibt? O Schwester! Ich leide
Qualen wie ein Gerichteter; die Liebe, das Mitleid, die Aufopferung
dieses Engels brennt mich wie Rutenhiebe. Von dem Augenblick, als Eva
mich besuchte in Bellevue -- mit einem Schrei stürzte sie an mein Lager
und schlug hart ihren Körper auf meinen; »Tom!« jammerte sie, »Tom!
armer, armer Tom!« und schier ertränkte sie mich mit Tränen, erstickte
meinen Atem mit Küssen, schier bohrte sich ihre Brust durch meine, ihre
Stirn durch meine, bis aufs Herz und Hirn -- -- O Schwester! wie weh
tut solche Liebe, wenn man sie erwidert nach Kräften und zurückbleibt
in der Kraft. Und dann, wie jammervoll weh tut es, hier zu liegen jetzt
im kleinen, engen Heim, hilflos gleich einem Kind, und das teure Wesen
»Weib« schaffen, waschen, flicken, kochen -- und husten sehn, und
denken müssen, daß all ihr Mühen das sinkende Schiff nicht retten wird,
daß wir untergehen, untersinken im Menschenmeer der Welt -- unbemerkt.
Was ist ~ein~ Hilfeschrei im Donnergebrülle dieser Riesenstadt, wo
Millionen schreien, jammern, lachen, fluchen?

Schwester! Jennie! Ich will nicht wieder den Brief füllen mit Klagen.
Wenn ich's hin und wieder tue, es ist der gestörte Geist, nicht mein
Wunsch. Nimm's wörtlich: ich bin unzurechnungsfähig, unvollständig; die
Hälfte ist verloren, und ich fürchte, die beste. Mit der lieben, teuren
Hand ging auch mein guter Humor dahin, und wilde, wüste Witze, häßliche
Sarkasmen werden jetzt die keusche Seele schänden dürfen. Vielleicht
aber verstehst Du mein Geschreibe nicht, dann wär's besser. Vielleicht
geht's Dir wie mir, ich sehe die Buchstaben zeitweilig auf dem Papier
herumhinken wie lebende Figuren, wie sieche Krüppel an der Krücke,
Spitalkrüppel -- oder wie losgelaßne Kobolde; sie werfen die Beine in
die Luft, die Mützen noch höher und purzeln über- und durcheinander,
bis ein »O!« die Schelme verjagt und öder Jammer mir entgegenstarrt aus
meinen Zeilen.

Dort hängt an der Wand Dein Bild, Schwester. Wo bist Du jetzt, derweil
ich hier, aufrecht im Bette sitzend, an Dich schreibe? ~Der~
Gedanke tut weh. Neben Dir hängt das Bild meines unendlich geliebten
Kindes, meiner Elsie, die jetzt tot und begraben draußen liegt im
Kirchhof; ~der~ Gedanke tut weher. Gegenüber hängt der Spiegel,
aus seinem Rahmen schaut mich das starre, blasse Antlitz eines Mannes
an; er nickt mir zu -- ich ihm. Er schüttelt langsam den Kopf -- ich
auch. Er zeigt mir einen gräßlich verstümmelten Arm -- ich ihm den
meinen. Er schüttelt wieder den Kopf. Er wartet auf ein Lächeln von mir
-- ich auf sein's.

Hölle! wohin soll ich schauen, dem Wahnsinn zu entrinnen? -- Die Augen
schließen und schlafen. »Eva! nimm den Brief -- und fort!«

                   *       *       *       *       *

                                       Pilot Knob, den 28. August 1900.

          Mein Bruder!

Mit Entsetzen habe ich Deinen Brief gelesen. Armer, armer Bruder!
Ich finde keine anderen Worte, mein Mitleid auszudrücken, mein
grenzenloses Mitleid auszudrücken. Armer, armer Bruder! -- So gut,
brav, fleißig, bescheiden -- ein Ehrenmann jeder Zoll und Atemzug an
Dir -- und so geschlagen werden vom Schicksal. Gott! Gott!

                   *       *       *       *       *

Ich mußte aussetzen. Ich konnte nicht schreiben mit solchem Krampf.
Die Feder fiel mir aus der Hand, die Hand aufs Herz, aufs zuckende,
todwunde Herz.

Jetzt hab' ich mich ausgeweint und Gott hat mich getröstet; und
~so~ will ich ~Dich~. O, welche Gnade, welche Kraft es dem
gepreßten Herzen gibt, das Weinen. Tränen, Tränen, Tau vom Himmel, der
des Erdenlebens Wüste tränkt zur üppiggrünen Wiese Hoffnung.

Bruder, jetzt höre. Ich komme zu Dir, wie der Engel zu mir kommt,
der mich aufrichtet. Ich brauche Worte, er keine, das ist der ganze
Unterschied. Mit tiefinnerster Schwesterliebe rufe ich Dir zu: »Bete!«
-- Du mußt beten; Du mußt wieder beten; Du mußt Gott suchen, mußt
ihn finden wieder. Es gibt kein anderes Mittel, Kummer zu stillen,
Verzweiflung zu bannen, dem Wahnsinn übers starre, eisigkalte Antlitz
zu fahren, daß es aufwärmt zu milderer Form; keine Brücke trägt die
Last, die die Herzen bricht, trägt Mutlosigkeit über den Abgrund zum
Hoffen wieder, zum Glauben, Dulden, wie -- die Religion. Ich weiß, Du
lachst jetzt nicht über diese Aufforderung. Ich weiß auch, Du wirst es
versuchen, weil ich Dich bitte. Du wirst es versuchen ~müssen~. O,
ich sage so ungerne »müssen« zu Dir, weil ich Deine Denkart so hoch
schätze wie ein Geschenk vom Himmel; aber, Bruder! das Freidenken, das
Zweifeln, Kritteln, all die Philosophie der Gebildeten, das überkluge
Kunstgedicht der Menschen gibt die Erlösung nicht, die ein kindlich
»Vaterunser« gibt.

Was kann Dich näherbringen zum guten, großen Vater dort oben, als
wie sein Kind werden, sein bittend Kind, sein krankes, hilfloses,
hilfesuchendes, unwissendes Kind. Und das bist Du, Bruder; Du bist
hilflos; Du bist ein Krüppel, arm, arbeitslos. Dein Weib kann Dir nicht
helfen. Ich auch nicht. Freunde wirst Du wenige haben als Fremdling in
Neuyork -- und jetzt erst recht nicht, im Unglück. Von außen her bist
Du so elend und allein, so verlassen und verloren wie der Hauch in
Wintersnacht. Bruder, geh nach innen, geh in Dich, in Deine Seele --
die Seele ist Gott. Wo Millionen getröstet werden, Millionen gerettet
werden -- auf feiger Flucht plötzlich sich umwenden und mit Löwenmut
den Kampf ums Dasein kämpfen bis zum Ende. Geh in Dich! Nichts kann
Dir eine ruhigere, bekanntere, wärmere, ältere Heimat sein als Dein
eigen Selbst; gar nichts eine nähere. Geh in Deine Seele, die Seele
ist Gott -- geh zu Gott. Die größten Wunder werden nicht gesehen --
~gefühlt~! Geh in Dich, ~bete~. Was ist das Dasein ohne
Hoffnung? Ein erbärmliches Leben. Was ist ein erbärmliches Leben ohne
Hoffnung? Hölle. Bruder, es gibt ein Schicksal, regiert von höchster
Intelligenz zum Segen aller Wesen. Der Arme im Geiste fühlt es --
der Reichste im Geiste sieht es. O, könnte ich Dir alles so lebendig
sagen, schreiben, wie ich es empfinde. Bete, Bruder, und Du wirst es
begreifen. Alles, was Du verloren hast an Mut, Vertrauen, Hoffnung,
Glauben -- und das ist viel -- wird zurückkommen wieder. Tu's, lieber
Bruder. Bitte, tu's! Versuch's! Du bist kein Fremdling dort oben. Du
bist kein rettungsloser Mensch -- nur ein wenig locker im Glauben, ein
wenig eigensinnig im Kritisieren der Wunder, die wir nicht ermessen,
der Rätsel, die wir nicht verstehen.

Ich muß schließen, es wird Nacht. Viel, viel hätt' ich noch zu sagen.
Mein Herz ist noch so voll wie am Anfang -- und wenig leichter. Aber
Nacht wird es, Pflichten rufen. Die Gattin verdrängt die Schwester.
Peter kommt vom Bergwerk, hungrig, müd, naß, schmutzig. Die Kinder
lärmen. »Mutter!« schreit's in allen Ecken. Die Feder spritzt. Das
Papier geht aus. Der Brief ~muß~ fort. Gott sei mit Dir und Deinem
Weib und Kind. Amen!

                                                                Jennie.

                   *       *       *       *       *

                                       Brooklyn, den 1. September 1900.

          Teure Schwester!

Ich bin doch ein miserabler Feigling, wenn ich an euch Frauen
emporschaue. Du hast tausendmal recht, gute Schwester, ich brauche --
mehr als das tägliche Brot -- Mut zum Leben. Daß ich den mir holen muß
beim schwachen Geschlecht, ist Beweis genug meiner elenden Lage. -- --
-- Jetzt fällt mir die Feder auf den Boden. Gott! Gott! gibt es etwas
Hilfloseres als ein Wickelkind? Ja, ein großer Mann im Bett und krank!
-- --

Eben kommt mein kleiner Bertie von der Straße herauf und küßt mich.

»Papa, tut's weh?« Er meint meine Wunde. Das ist seine immerwährende
Frage jede Viertelstunde des Tages; bei Nacht schläft er wie alle
gesunden Kinder. Aber das erste Wort am Morgen und das letzte am Abend
ist: »Papa, tut's weh?« Glücklicher Knabe, der körperliche Leiden als
die größten kennt.

Ja, ja, Schwester! ich werde ganz willenlos mich unterwerfen Deiner
Zaubermacht. Du hast Gedanken geschrieben in Deinem Brief, zauberhaft
überwältigend. Ich werd's versuchen -- beten. Die alte Schule noch
einmal besuchen. Sobald ich das Zimmer verlassen und die Treppe
riskieren kann, wallfahre ich zur Kirche. Ich tu's. Ich hab's
versprochen jetzt. Ob es hilft oder nicht hilft -- ich versuche mein
Menschenmöglichstes, den Weg zurückzufinden zum Kinderglauben. Ach,
wie schnell und weit kommt man weg, wenn man rast und flucht! Aber
ich geh' zurück. Ich werde Gott ersuchen um Brot, Wohnung, Kleidung,
Arbeit für wenigstens eine Hand. Es ist freilich taktlos, sehr taktlos,
nach vielen Jahren der Abwesenheit zum allererstenmal beten kommen und
gleich mit einer Riesenbettelei. Ich wollt', es könnt' ein Dankgebet
sein anstatt -- -- Aber Vertrauen, Tom, der liebe Gott verkehrt lange
genug mit Geschöpfen, um zu wissen, daß vom Hund auf- und abwärts
gerechnet der Mensch allein die Lumpeneigenschaft besitzt -- betteln
an der Pforte, die er gestern anspuckte -- und Gott ist unendlich
nachsichtig.

»Herr der Welt!« werde ich beten, »hier ist man wieder. Zwanzig Jahre
oder mehr sind's her, daß man in der Wüste grast. Das Vaterunser
hat man vergessen -- halb. Den Glauben -- ganz. Die Hoffnung ist
verbraucht. Die Liebe verschenkt ans Weib. Die zehn Gebote, Rosenkranz
und viel segenbringendes Anderes ist verloren gegangen im Laufschritt
nach irdischen Reichtümern. Jetzt ist man müd, hungrig, bankrott.
Man kommt, weil der Schuh drückt. Die Hühneraugen sind's, die Hilfe
suchen. Wären die Leiden erträglicher, man dächte noch lange nicht ans
Umkehren. Herrgott, rechne mir diese aufrichtige Unverschämtheit als
den letzt gebliebenen Rest meiner Tugenden an! Allwissender, du kennst
mich besser als ich dich, und das erspart mir die lange Erklärung.
Allgütiger, du kannst mehr lieben als ich, und das steigert meine
Hoffnung. Allmächtiger, du brauchst mich rein gar nicht, ich dich sehr,
das entschuldigt meine Schnorrerei. Es gibt Geschöpfe, die lauter um
Erlösung schreien -- aber ~mich~ höre. Es gibt Geschöpfe, die
keine Verzögerung deiner Hilfe ertragen können -- aber ~mich~
zuerst. ~Mich~, ~mich~, dann wieder ~mich~ und immer ~mich~!«

Nein, Schwester! so werde ich nicht Gott lästern. »Vaterunser!« werde
ich rufen, »der du bist im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein
Reich komme zu uns. Gib uns heute unser täglich Brot« -- --

O weh! ich höre den Doktor klopfen, und Eva öffnet dem Schrecklichen
die Tür. Jetzt geht's los. Mein Gott! Mein Gott! Die Folter, die
Metzgerei, die Messerschleiferei -- -- armer Tom! -- --

Jennie! Jennie! sag mir's ehrlich: ist das Leben diese Qualen wert?

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                       Brooklyn, den 5. September 1900.

          Teure Schwester!

Wenn ich wieder bei Kräften bin, werd' ich ein Waschweib werden.
Dieser schaumweiße Stern der Hoffnung strahlt jetzt sein mildes,
seifenblasenschillerndes Licht hernieder auf Toms Schmerzenslager.
Eva saß diesen Morgen auf dem Bettrand bei mir und berichtete die
Entdeckung dieses neuen Planeten am Ehehimmel. Sie streichelte mir,
während sie redete, mit ihrer weichen, nervösen Hand unablässig über
die Stirn, die Haare nach rückwärts, so lieb und zärtlich wie in den
Tagen unserer Brautzeit. Es dünkt mich schier, ich sei ihr Kind, so
mütterlich behandelt sie mich; oder will sie das Wäscheeinseifen
schon im voraus probieren an mir. »Kind!« sagte sie, »ich hab' einen
Plan ausgedacht und der ist gut. Bei den Nachbarsleuten bin ich
herumgegangen, sie alle wissen von dem Unglück, das uns betroffen hat,
und werden mir Arbeit geben. Ich werde jetzt eine Wäscherei
einrichten.«

So weit meine Eva, jetzt höre ~mich~. Also, Wäscherei einrichten!
-- Sobald ich aufstehen kann und stark genug bin, Tee zu trinken am
Küchentisch, werd' ich eine lange weiße, gestärkte Schürze tragen;
hinten zugeknüpft mit breiter Doppelschleife; vielleicht kommt dazu
ein norwegisches Häubchen, Mieder, Spitzenkrause. Die Hosen darf ich
anbehalten, Pantoffeln tragen auch. So steh' ich wenigstens bei Tage
noch ~auf~ und nicht ~unter~ dem Pantoffel. Der Waschkübel
ist schon gekauft, die Seife bestellt, das Wasser wartet in der Röhre,
und -- die Hemden, Socken und Bettücher werden schon noch verschwitzt
werden bis dahin.

Ja -- bis dahin. Ich kann vorläufig noch gar nicht mithelfen. Ich liege
im Bett, so schwach und elend, wie nur ein Mensch liegen kann, der sich
schier totblutete. Ich höre mein gutes, treues Evchen schaffen und
mühen in der Küche nebenan -- aber behilflich sein kann ich wohl noch
lange nicht, und dann auch nur mit ~einer~ Hand.

Doch ist Hoffnung. Wir werden uns gegenseitig nicht verhungern lassen
-- Eva -- Bertie -- Tom. Die Wohnungsmiete ist bezahlt für September.
Der Doktor kostet vorläufig nichts. Eva und Bertie haben neue Schuhe;
ich brauche keine. Aber daß ich baumstarker Riese im Bett liege Tag und
Nacht, und mein brustkrankes Weib für mich und das Kind sich abrackern
soll am Waschbrett -- -- Schwester! das ist ein Stich ins Herz, das
brennt, das vergiftet mich; das weckt so bittere Gefühle in mir gegen
die reiche, bessergestellte Menschenklasse, daß ich ihr schwerlich je
verzeihen werde.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

  Brooklyn, den 9. September 1900.

          Liebe Schwester!

Ich habe einen guten Tag. Um neun Uhr fing er an mit gutem Frühstück am
Küchentisch. Appetit und Schlaf sind fehlerfrei. Um zehn Uhr besuchte
mich der Herr Doktor. Nachdem er mit seiner Salberei fertig war, kamen
zum erstenmal tröstende Worte in meine Ohren. »Die Sache heilt jetzt,
Mister Pratt. Noch eine Woche oder so, und Sie können sich wohl selber
forthelfen mit Verbinden.« Ach, das klingt so tröstlich. Den Doktor
loswerden, und besonders einen mit der Säge und dem Messer, ist die
wahre, unverfälschte Erlösung.

Nach dem Mittagessen -- jetzt kommt der Generalbericht des »guten
Tages« -- versuchte ich den ersten Spaziergang ins Freie seit dem
Unglücksfall. Erst promenierte ich vom Schlafzimmer nach der Küche, von
der Küche zurück ins Schlafzimmer, und so hin und her. Dann kriegte ich
plötzlich das Freiheitsfieber, nahm Hut und Rock und Stock und machte
einen Angriff auf den Korridor. Er gelang. Bis zur Treppe schlug ich
mich durch; aber dort -- hm! -- ich bin noch immer wackelig, und die
Treppe auch, und dass Schlimmste: das Geländer ist ~links~ beim
Absteigen. Das sind drei Gefahren. Aber die Sehnsucht, Straßenluft zu
atmen, war mächtiger als die Vorsicht, mächtiger als das Flehen meiner
überängstlichen Eva -- und ~rückwärts~schreitend ging ich die
Treppe hinunter. So bekam ich das Geländer rechts und einen Halt. Aber
komisch muß es ausgeschaut haben, denn Evchen lachte. -- Ja, ja, liebes
Weibchen, rückwärts geht's, den Krebsgang geht's. Auf der untersten
Treppe mußte ich ausruhen. Ich ließ gleichzeitig die Hausmeisterin an
mir vorbei.

»Ah, Mister Pratt!« grüßte sie mich, meine strategische Stellung
mißverstehend. »Spazieren gewesen? Schönes Wetter draußen, Mister
Pratt!«

So kam ich denn schließlich hinab -- hinaus -- und heraus. -- -- O
Freiheit! wie bist du im schlichtesten Gewande noch die Königin der
Himmelsgaben. Das bißchen Sonnenschein, getrübt vom Dampf der Stadt.
Das bißchen Blau dort oben, verschleiert vom Rauch der Metropole. Die
dicke Luft. Die arme Erde -- ein Pflasterstein auf jedem Grashalm.
Bäume -- Sträucher -- Natur so verkrüppelt, verschunden, verhunzt von
des Menschen Gier nach Profit. Die Hügel abgetragen; Täler ausgefüllt;
Wälder, Felder und Wiesen rasiert; Bäche und Quellen verstopft wie
pulsendes Leben; die Ufer der Bai vermauert, mit spitzen Pfählen
gemartert; ein paradiesisches Stückchen Erde verstümmelt zu einem
Agglomerat von Straßen, Häusern, Fabriken, Magazinen, Steinhaufen --
alles dampfend, rauchend, qualmend -- die Hölle für Tausende. ~Und
doch~ bleibt noch so viel übrig nach dieser Vandalenplünderung, mein
dürstend Herz zu tränken mit Entzücken.

Ein Stündchen lang spazierte ich um das Häusergevierte herum und
gelangte (körperlich erschöpft, geistig erfrischt) wieder heim zur
Hoftür.

Mein Bertie rannte mir laut jubelnd entgegen und hielt einen Apfel in
der Hand: »Papa! den hat mir die gute Frau Finnerty geschenkt, und noch
drei für dich und Mama.«

Und so war es: Evchen hatte Damenbesuch. Wir setzten uns, fünf Köpfe
stark, um den Tisch herum, tranken Tee und schwatzten, klatschten und
lachten, bis der Nachmittag das Aussehen eines kühlen, schönen Abends
bekam, der uns zum Ruhen und Rasten lockte.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                    Pilot Knob, den 12. September 1900.

          Bruder!

Gott sei Dank! Die Briefe sind besser. Durch die Zeilen kann ich lesen,
daß es besser geht bei Dir, daß Mut, Vertrauen, Hoffen und was dazu
gehört, ein Kreuz tragen zu können, allmählich wieder zurückkehrt ins
alte Lager, in Deine Brust.

So bleibst Du wenigstens geistig bei Kräften, und ist Dein Arm geheilt,
dann -- nun ja -- es wird sich schon etwas finden für Dich. Es gibt
Tausende von Krüppeln, es gibt Menschen, viel mehr verstümmelt und
hilfloser als Du, und alle leben, essen, trinken, kleiden sich. Warum
also verzagen? -- Mut, lieber Bruder! Ganz glücklich sein, das können
oder sollen wir nicht in dieser Welt. Auch der Beneidenswerteste hat
Wünsche, die ihn quälen. Auch mit zwei Händen hat der Mensch Tränen zu
trocknen, und hätt' er drei Hände, dann wär' ~wieder~ was unrecht.
Zum Spaßmachen sind wir nicht ins Dasein gerufen worden -- eine
heilige, tiefernste Mission ist unser Leben -- ~Seelen zu reifen~.

Wie kleinmütig bist Du also, eines Mißgeschickes wegen so den Verstand
zu verlieren, daß -- -- -- Nein, ich will Dich nicht schelten, armer
Tom. Ich begreife, wie Du gelitten hast und noch leidest -- aber nichts
mehr von der unseligen Vergangenheit. Die Zukunft wollen wir besprechen.

Bruder, Du sagst: Dein Arbeitgeber sei menschlich gegen Dich. Hier
ist also schon Aussicht, daß Du Verwendung in seiner Fabrik erwarten
kannst; freilich nicht an der Säge und Drehbank, aber sonstwie und -wo.
Und wird's nichts in seiner Fabrik, dann wird's sonstwo. Die Welt ist
weit und reich.

Mit jedem Tag wirst Du jetzt kräftiger und mehr im stande, Dich
umzuschauen; und kommst Du nur erst unter Leute, auf die Straße,
ins Gewühl und Getriebe, dann wächst Dir auch der Mut. Ich weiß das
aus Erfahrung, daß nichts ihn so erschlafft wie das Bettliegen und
nichts um und um haben als die Wand und Zimmerdecke. Es gehört zum
Wunderbaren, daß man überhaupt gesund wird im Bett.

Dann, lieber Bruder! vergiß nicht Dein Versprechen, das ich von Dir
habe -- geh zur Kirche. Sobald Du Haus und Zimmer verlassen darfst,
geh zur Kirche. Am liebsten wäre mir's, Du wähltest eine katholische;
Du bist so erzogen worden und bist gleich daheim beim ersten Schritt
über die Schwelle. Hundert Dinge werden Bilder wachrufen in Dir, die
jahrelang, seit Deiner Jugendzeit geschlafen haben, und Gottes Nähe und
der Kindheit Ferne (diese beiden Pole) müssen Dich erschüttern -- sonst
wärst Du nicht mein Fleisch und Blut. Es ist die ~Umgebung~, die
den Menschen festhält oder fortreißt; Du sagst das selber. Wir Menschen
haben das Gottesgeschenk und dürfen unsre Umgebung wählen; wähle den
sichersten Ort zum Ruhigträumen, die Kirche. Kniee mit den Armen im
Geiste vor dem ewigen Licht und bete. Kritisiere nicht, studiere nicht,
bete. Denke nicht, Du wärst zu weitsichtig, klug, gelehrt; Religion ist
ebenso heilig für Dich, ebenso unerklärlich, mysteriös für Dich, ebenso
notwendig für Deine Ruhe und Deinen Frieden. Was ist Menschenwitz vor
diesem Rätsel? Der Weiseste ist nur ein Rater -- und Narren raten
besser.

Nun genug. Zurück zur Prosa, zur allertrockensten Prosa -- zum Peter.
Mein lieber Mann läßt Dich vielmal grüßen und -- leid tut's ihm,
daß sein Schwager Tom -- -- und so weiter. Wenn's dem ~Peter~
leid tut, wenn's diesen Felsen erweichen tut -- Bruder, Du kannst
Dir etwas einbilden auf Peters Sympathie. Ist's wenig -- es ist sein
Alles. Zehn, zwölf Stunden lang täglich schaufeln, graben, wühlen,
heben, auf dem Bauch und Rücken rutschen, im Kot und im schlammigen,
schwarzen Wasser herumkriechen wie niederste Tiere -- Todesgefahr vor
Augen sehen, verstümmelte Kameraden sehen -- Leichen sehen -- nicht im
Sonnenschein und Blau der Oberwelt -- in schwüler, fauler Grubenluft,
Nacht und Felsen der Brust so nah wie der nasse Rock, das nasse Hemd.
Mitleid aus ~solcher Tiefe~, Bruder, das ist der Menschenseele
ungekünstelt reinster Ton. -- Also, dem Peter tut's leid!

Meine Kinder beten jeden Abend ein »Vaterunser« für Onkel Tom in
Brooklyn; das sind sechs Vaterunser. Hoffentlich betest Du auch bald
eins, damit es sieben werden. Sieben ist eine heilige Zahl, eine
magische, segenbringende Zahl. Man soll nie aufhören mit fünf und
sechs. Ach, jetzt widerspreche ich meiner eigenen Weisheit, denn ich
möchte um alles nicht mehr als sechs »Kinder«. Beim Abstimmen mit Peter
jedoch bin ich der unterliegende Teil, und sieben -- --

Sssst!! Huh! Pfui! Schäm dich, Jennie. Könnt' ich das wegkratzen ...

Bruder! Wenn ich so hin und wieder, wie eben, übers Ziel haue, danke
ich immer gleich der Vorsehung für das Bleigewicht, das sie mir
aufladet. Wo rast' ich hin ohne dieses Kreuz, mit meinem Übermut
zügelloser Gedanken?

Dann soll ich noch ein Beileid berichten nebst Gruß von Deinem
Schulkameraden Dick Teller. Der geht auch herum den Arm in der
Schlinge -- und sein Bruder Bill geht überhaupt nicht herum -- der
liegt zwischen Leben und Sterben im Bett. Sie verunglückten beide
beim Stollenstützen. Ein dritter wurde tot heraufgeschafft, ein
Familienvater. Gott, war das ein Jammer; die Leute wohnten neben uns,
und nächtelang hörten wir die Kinder und die Mutter schreien. Jetzt
sind sie nach St. Louis geschickt zu Verwandten.

Ja, ja, die Armen haben viel Herbes zu tragen, viel Kreuz und Elend. Es
scheint die ganze Last zu ruhen auf den Armen. Und doch haben es die
Reichen noch unbequemer, die müssen sich ihre Sorgen selber machen --
wir bekommen sie geschenkt.

So, nun ist Schluß der Debatte: das Papier geht aus. In der Ecke unten,
rechts, soll ich aus dem Brief heraus. Das ist jedesmal der Fall, wenn
ich schreibe. Ich bin eine leichtsinnige Schreiberin. Ich weiß gar
nichts von Gesetz und Maßhalten. Zum Spaß möchte ich nur mal sehen, wie
viel ich so per Zeilen mit Dir plauderte, wär' der Briefbogen tausend
Meilen lang. Bruder, ich käme schreibend durch Missouri, Illinois bis
zu Dir nach Neuyork!

Herzliche Segenswünsche für Eva und Bertie. Schier vergess' ich's
wieder: dem Bertie Glück zu seinem vierten Geburtstag. -- Gutes Kind!

                                                                Jennie.

                   *       *       *       *       *

                                      Brooklyn, den 17. September 1900.

          Liebe Schwester!

Mein Wort ist eingelöst. Ich war gestern in der Kirche, und zwar in der
Hochmesse. Das wird Dich freuen, und noch mehr wird es Dich wundern,
wie es mir ergangen ist dort. Darum schreibe ich diesen langen,
vielleicht zu langen Brief.

Das allererste Gefühl, das mich erfaßte beim Beschreiten der
Kirchenschwelle, war -- Heimweh; und so überwältigend war es, daß
ich herumgegangen sein muß wie ein Schlafwandler, denn ich fand mich
plötzlich knieend in einem Betstuhl, nahe der Wand. Vor mir waren die
Stühle besetzt mit Frommen; hinter mir, das sah ich nicht, aber hörte
leises Flüstern betender Stimmen. Meine Nachbarin war ein berückend
andächtig die Augen senkendes Mädchen, ihre Nachbarin ein altes
Mütterchen mit schon geretteter Seele. Ich befand mich also in guter
Gesellschaft. Verstohlen, um kein Ärgernis zu geben, ließ ich meine
Blicke umherwandern und bemerkte viele alte Neuigkeiten, viele neue
Altertümer, zahllose Bekanntschaften aus grauer Vergangenheit; mehrere
grüßten mich bei Namen. Die Halle war geschmackvoll in Architektur,
Skulptur, Malerei und ließ dem Tadel keinen, dem Lob allen Spielraum.
Harmonische Harmonie, getaucht in wohltuendes Halbdunkel, füllte
den Raum; dazu spielten die vielen Lichter und die Farbenpracht der
Fenster feenhafte Akkorde. Wenn das die alltäglichen Kirchenbesucher
zur Andacht neigt, wie viel mehr mich Fremdling. Ich empfand denn auch
ein Regen im Busen, das wenig gesteigert mich zum Schluchzen gezwungen
hätte. Tränen umflorten meine Augen, zwei davon tröpfelten auf den
Ärmel nieder, die andern wischte ich fort. Unsäglich hilflos -- mit
tiefstem Menschenelend als Gesellschafter -- ein Sünder vielhundertfach
-- ein Gottesleugner und Spötter -- ein Bettler, den Verzweiflung
zwingt, an die Pforte zu klopfen, die er in besseren Tagen besudelte
mit Spott und billigen Sarkasmen -- so kniete ich, zwischen Gott und
mir die Schuld, zwischen mir und Gott die Schuld. Ich schaute mich
um und gewahrte Menschen, knieende, singende, betende, nichtbetende;
reiche, wohlgekleidete; arme, sehr arme -- aber keinen so arm wie ich.
Alle konnten sie das »Vaterunser« sagen -- ich nicht. Alle konnten sie
glauben -- ich nicht. Alle konnten sie die Hände falten -- ich nicht.
Was tu' ich hier? -- Gott! Gott! wenn du bist, was diese Betenden
ahnen, gib mir (das Wenigste, um was gefleht werden kann), gib mir mein
Eigentum wieder, ich hab's verloren -- meinen Kinderglauben.

Jetzt begann die Orgel mit süßen Tönen, dann aus voller Brust den Raum
füllend, ihr jubelnd Kyrie und Gloria. Anklammernd webten sich die
Stimmen der Gläubigen in das Rauschen der Orgel, Natur und Kunst so eng
verflechtend zu eins. Mein armes Herz -- das letzte, wenn ihm alles
fehlt, es preßt sich aus in wehem Krampf -- blutete -- blutete.

Armes Herz! bist, wenn auch nicht ewig, doch lebenslang Gefangener
in des Körpers Kerker -- wenn frei wie seine Wünsche der Geist kann
fliegen. Ach! der Geist, der luftige, der lächelnde Titan, er lockt
mich weg von dir und trägt mich adlergleich der Heimat zu. Jetzt
zaubert er Mittagssonnenschein über die Gefilde und zeigt das teure
Pilot Knob, die Berge und Täler, Fluren, Felder, Wälder, das Vaterhaus,
die Hütten der armen, schlichten Leute -- dort die Hütte der Jennie;
zeigt ihre Kinder, sie, ihren Mann, wie sie vor dem Häuschen im
Schatten der Nußbäume spielen; denn Sonntag ist's auch dort, so hat
er's eingerichtet, der kleine Allmächtige, Allwissende. Jetzt zaubert
er die Nacht auf Berg und Tal, und alles ruht. Des Himmels Sterne
überwölben von Arkadien im Süden bis hinauf zu den eisigen Bergen ein
blumenduftend Feld. Melodisch rauschen dort die Wasser des Wiesenbachs.
Heilig rauschen hier die Weiden an der Kirchhofmauer. Leichensteine
heben sich ab aus dem Dunkel der Nacht. Vollmond beleuchtet jetzt die
Stätte. »Vater«, »Mutter« steht auf dem Grabstein. »Hier ruht« -- »Hier
ruht« -- -- Ja, ja, hier ruhet, Vater und Mutter; gestorben seid ihr,
ohne gelebt zu haben. -- Nun verhüllt sich hinter Wolken der Mond, und
undeutlicher hängen am Hügel die Hütten. Hin und wieder flackert ein
Licht auf und zeigt -- -- --

O Heimat! Heimat! Was ist Kummer, Elend, Sorgen? Was ist Kummer,
Elend, Sorgen, gelitten in der ~Heimat~? Was ist an Mutters
Busen ein leidend Kind, in Schlaf geküßt? Was ist ein leidend Kind,
~nicht~ in Schlummer geküßt, weggerissen von der Mutter? Was ist
Kummer, Elend, Sorgen in der weiten, weiten Welt, allein, allein im
Menschenmeer verloren, verkannt, verbannt?

Hier bekam ich meinen Tritt. Erschrocken fuhren die Geister zurück zum
verwaisten Leib. Die Gemeinde um mich war aufgestanden. Der Priester
sang laut das heilige Evangelium. Ich stand, etwas verspätet, auch
auf -- und horchte. Der Gesang war in lateinischer Sprache, und mit
Befriedigung fühlte ich mich den Anwesenden gleichgestellt, denn
niemand verstand den Sinn noch die Worte der himmlischen Botschaft.
Ihren Abschluß bezeichnete der Geistliche mit einem phlegmatischen Kuß
aufs Buch. Der war gleichzeitig das Signal zum allgemeinen Niedersitzen.

Es schien mir, als käme nun der wichtigste, anziehendste Teil der
Feierlichkeit: denn wer nur irgend einen Hals hatte, der hustete,
räusperte, spuckte aus, schneuzte sich die Nase, rückte, rutschte, es
glich einer vollständigen Auskehrung der Menschenbrust, um möglichst
Raum zu schaffen für göttliche Dinge, die da kommen sollen. Langsam
drehte sich der Priester um gegen die Gemeinde, und noch langsamer
begann er zu verlesen: die Tagesneuigkeiten.

Heute ist der sechste Sonntag nach Pfingsten (oder ich weiß nicht was;
einerlei).

Nächsten Donnerstag feiern wir die Himmelfahrt Christi.

Am Mittwoch ist ein gesetzlicher Fasttag.

Am Samstag noch einer.

Am Freitag sowieso.

Ganz arme Leute, die Kartoffeln mit Salz zum Festessen rechnen, sind
vom Fasten suspendiert; ebenso Schwerkranke und kleine Kinder.

Die Geldsammlung bei der zweiten Kollekte am letzten Sonntag betrug
196 Dollar 45 Cent. Das sind 22 Dollar und 17 Cent weniger als am
vorhergegangenen Sonntag. Ein Kirchenmitglied gab 10 Dollar. 22
Mitglieder gaben je 1 Dollar. 66 gaben je 50 Cent. 84 gaben je 25 Cent.
710 gaben je 10 Cent. 349 gaben je 5 Cent. Und 2200 gaben je 1 Cent.
Dann kam ein scharfer Verweis gegen die Knauserigkeit der Gemeinde,
besonders gegen schmierige Pennygeber. »400 Dollar in zwei Kollekten,
das sind noch keine lumpigen 25000 im Jahr mitsamt den Nebengeldern!«
schrie der Geistliche im Angesicht des armen, barfüßigen Nazareners.

»Eine heilige Messe wird gelesen,« begann er wieder, »jeden Montag für
alle diejenigen, die zehn und mehr Cent geben in jeder Kollekte. Eine
Messe wird gelesen für alle diejenigen, die zehn Cent und mehr geben
bei der Haus-zu-Haus-Kollekte. Am Mittwoch ist eine Messe für die
Geldsammler. Am Donnerstag Spezialkollekte auf Listen. Dann ist heute
das Sitzgeld fällig. Sammelkästen sind aufgestellt für den heiligen
Vater, ebenso für die Mission bei den Indianern. Heute abend sieben
Uhr ist musikalischer Vortrag des beliebten Paters Bennett, nebst
zugehörigen Nebelbildern, hier im Gotteshaus; Eintritt 50 Cent, 75 Cent
und 1 Dollar.« Und so weiter. ...

Gottlob! ich war jetzt wieder vollständig nüchtern. Das Idealisieren
war verdampft wie Spiritus im Rinnstein -- nach solcher Zahlenschlacht
am Hochaltar. Aber bewiesen war es gut: daß Seelsorger für den Leib
sorgen.

Jetzt stand die Gemeinde abermals auf. Der Priester verlas das
Evangelium, diesmal in gutem Englisch. Es war die Botschaft vom
Himmelreich, das gleich ist einem Senfkörnlein. Ich kannte die Parabel
noch aus meiner Schulzeit.

Hiernach folgte wieder ein Hinsitzen. Das ging überhaupt fleißig auf
und ab. Man kam nie zum Ausruhen. Man halbierte und dreivierteilte in
einem fort die Körperlänge, und die Kniescharniere wurden förmlich
erhitzt -- besonders bei dürren, ungeölten Beinen. Es war die reinste
Turnschule.

Dann geschah die sogenannte Predigt. Der Pfarrer gab zu dem
Senfkörnlein seinen Senf, und der Titel berechtigte mich, eine gewisse
Schärfe zu erwarten; es war aber nicht einmal Mehlsuppe, ohne Schmalz
und Salz. -- Daß es sündhaft ist, dem heiligen Mann den Text zu
verlesen, weiß ich selber, aber der heilige Mann hat zuerst angefangen
und ~mir~ den Text verlesen. Er stieg auf die Kanzel und
bombardierte mich von dieser Debattierfestung aus mit seiner Predigt.
Predigen heißt: bekanntmachen, erklären, unterrichten, belehren,
lehren. Er lehrte mich. Eigentlich lehrte er mich ~nicht~, noch
sonst jemand. Ein Leerer kann nicht lehren. Ein Lehrer kann lehren.
Ein Leerer kann höchstens Taschen leeren. Ein Leerer kann aber
gefüllt werden, und soll er gelehrt werden, muß er gefüllt werden mit
Weisheit, Wissen, mit den sieben Gaben des heiligen Geistes; so wird
der Geleerte gelehrt. Der Unterschied zwischen gelehrt und geleert
dreht sich ums »Ha« rum. Ich könnte somit sagen: der heilige Mann ist
ums »Haar« ein Gelehrter. Das endete die Kontroverse zufriedenstellend;
aber unglücklicherweise denk' ich an meine abgesägte Hand und die
Zwanzigtausenddollarkollekte, und eine unwiderstehliche Raufwut jagt
mein Blut ins Kochen.

Nein, dieses Mannes Kopf war so hohl, öde, leer, geistlos -- wie ein
virginischer Weinkeller nach konföderierter Einquartierung. Und mit
dieser Leere kommt er hausieren zu mir; nicht hausieren, er nötigt
sie mir förmlich (unter Höllenstrafe) auf als himmlische Ware, als
Heiliggeistfabrikation; verlangt, ich soll die Leere fühlen, sehen,
hören, soll mit der Leere meine dürstende Seele füllen, im Leeren
fischen nach Glaube, Hoffnung und Liebe, aus der Leere eine Lehre
ziehen. Daß man zwanzig Winter lang studieren muß, um gescheit zu
werden, ist bei einem Menschen, der Pfarrer werden will, begreiflich,
aber so lang studieren und eine solche Predigt quacksalbern, das ist
zum Zähneknirschen für Engel.

Also: »Das Senfkörnlein ist gleich dem Himmelreich.« Herrgott! welcher
Spielraum ist hier einem Redner gegeben. Von der Wurzel im Erdboden bis
hinauf zum blauen Saum der Unendlichkeit, in alle Höhen und Tiefen kann
der Redner steigen und fallen und seine Hörer mit sich reißen wie der
Wirbelsturm die losen Blätter. -- Offenbar kannte der geistliche Herr
gar nicht die Bedeutung der Parabel, oder verwechselte Senf mit sauren
Gurken, Spinat und Linsen.

Mit nichts kann man nichts begeistern. Zwanzig Prozent der Gläubigen
begannen denn auch einzuschlafen während der Predigt. Zwanzig weitere
langweilten sich; fünfzig Prozent hielten zeitvertreibende Heerschau
über die Anwesenden, über alte Bekannte in neuen Kleidern. ~Ich~
betrachtete mit Andacht ein Bild an der Wand: es stellte den Heiland
dar, wie er fällt unter Kreuzeslast. Ein rührend Bild, ein ergreifend
Bild; das Gute, Edle, Anbetungswürdige liegt am Boden, und Brutalität
triumphiert. Armer Jesus!

Dann schweiften meine Blicke über die schläfrige Menge hin und
berechneten, wie viele von diesen Christen wohl beispringen täten
und helfen, falls der arme Jesus wirklich, leibhaftig, jetzt eben
hier im Kirchgang mit seinem Holz auf dem Rücken daherwankte. Alle?
-- Ich mußte schier laut lachen, als ich die vielen Damen ansah mit
Seidenkleidern, Straußenfederhüten und Diamanten im Ohrläppchen -- und
dann das arme Mütterchen nebenan, in schäbigem Tuch und wahrscheinlich
krummen Schuhen.

Dann zogen meine Blicke an der Mauer entlang und gewahrten einen Mönch
mit einem Kindlein im Arm, beide aus Holz geschnitzt und bemalt.
Ich wollte eben dividieren und subtrahieren, wie viel der Heilige
vergessen muß, bis er so unschuldig wär' wie ein Kindlein, und wie
viel er lernen muß, bis er so herzinnig natürlich könnte sein wie
ein Kindlein. ... Dann sah ich weiter vorne eine heilige Nonne, auch
aus Holz geschnitzt. Sie hielt den Rosenkranz und blickte nach oben.
Ich stellte Betrachtungen an über ihre wunderbare Gleichgültigkeit
gegenüber dem Weltlichen (ich meine die Heilige, nicht den Holzklotz),
und wie wenig das entsetzliche Ringen ihrer Schwestern sie bekümmert,
behindert, den Weg zu spazieren nach dem Himmel -- allein. Ja, ja,
allein. Aus diesem grauenvollen Seelenschiffbruchsdurcheinander, das
sie hier umtoset, rettet diese Selige -- wen? -- ihr liebes, teures
Selbst. Das ist mehr, als manche Mutter kann, die beim Retten ihrer
Kinder, ihres Gatten untersinkt.

So standen noch mehrere verschmitzte (geschnitzte, wollt' ich sagen),
ungehobelte, aber vergoldete St.s an der Wand herum, in faulenzender
Bequemlichkeit ihre nachahmungswerten Eigenschaften präsentierend.
Sie waren größtenteils junge, ledige Leutchen, die bei Lebzeiten und
löblichem Mühen den Weg entdecken konnten zur ewigen Seligkeit. Den
~heiligsten~ Heiligen aber, den armen, geplagten Familienvater,
der ehrlich und redlich sich abschindet für Weib und Kinder, bis er
Lunge und Leben verhustet im Staub der Werkstatt -- dem sein Bild sah
ich nirgends. Auch keinen Yankee-Heiligen konnte ich bemerken; lauter
Ausländer mit fremden Gesichtern, Kleidern und wahrscheinlich Manieren.
Ganz oben, links, im vordersten Chorfenster brannte die Sonne einem
»Glasgemalten« so energisch auf den Rücken, daß sein ganzer Inhalt,
des Leibs und der Seele, wie ein Balken farbiger Luft in die Kirche
hineingeblasen wurde.

Schon wieder mußte ich pausieren im Phantasieren. Die Predigt war jetzt
überstanden. Alles fühlte sich erleichtert. Man kann das nehmen, wie's
paßt.

Dann geschah noch viel und vielerlei, die heilige Handlung vollständig,
rund, fehlerfrei und gottgefällig zu gestalten. Endlich noch eins:
Körbe an langen Stangen wurden den Betenden vors Gesicht gehalten,
zum Füllen mit Bar, mit Geld; mit dem »Teufelszeug«, sagt der Prophet
Jeremias; oder war's Herodes, der so sagt? Ich hab's einmal so gelesen,
daß Geld Teufelszeug wäre; -- und das ist wohl der Grund, warum die
Seelsorger sammeln. Je weniger Geld die Gemeinde behält, je weniger hat
sie Teufelszeug. Her mit dem Teufelszeug!

Amen! -- Der Gottesdienst war aus. Eine Stunde und zwei halbe hat's
gewährt. Herrgott! bist du genügsam.

Dann ging's heim: Ich machte meine Reverenz mit zwei krummen Knieen,
krummem Rücken, Nacken, der gottgefälligsten Körperverrenkung, wie
es scheint. Hierauf schlug ich das Kreuzeszeichen; das gelang mir
gleichfalls. Man braucht keine zwei Hände, ein Kreuz zu ~machen~;
-- ob ich's aber ~tragen~ kann mit einer? -- Barmherziger! warum
hast du mich so wenig getröstet, da drinnen da? Alle kommen sie heraus
mit lachenden Gesichtern, und ich nur steh' hier betrübt auf der Straße
und schau' zurück. »Ja, ja,« seufzte ich, »den Glauben muß man sich
schon mitbringen, den kriegt man nicht da drinnen.«

Und doch geh' ich nächsten Sonntag abermals zur Messe. Ich tu's!
Vielleicht erlebe ich die Wiederholung jener Träumereien, und das ist
der armen Seele Himmel.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                    Pilot Knob, den 23. September 1900.

          Lieber Bruder!

Ich bin Dir zwei Briefe schuldig -- hier ist ~einer~:

Also in der Kirche gewesen bist Du, he? Den lieben Gott besucht hast
Du, he?

Du bist doch der allerhartgesottenste Ketzer, der dem Scheiterhaufen
entronnen ist. Man geht nicht in die Kirche, um den Pfarrer zu
kritisieren -- man geht in die Kirche, das ~eigene Selbst~ zu
kritisieren. Man geht nicht in die Kirche mit Zirkel und Zollstock,
Hammer und Leimpfanne, um Reparaturen vorzunehmen -- man geht in die
Kirche mit dem Rosenkranz, Gebetbuch und einem »Herrgott, sei mir armem
Sünder gnädig!« -- Aber, Tom! Dir stecken die Spotteufel so im Mark
und Bein, daß Du ersticken müßtest, kannst Du nicht Deinen Witz auf
irgend eine Einrichtung abladen. Ich wollt', ich könnte hinüberlangen
jetzt, wo Du gerade liegst oder sitzest, und Dir die Ohren strecken
wie Hosenträger, die Haare zausen mit allen zehn Fingern. Ich könnte
Dich prügeln, würgen, breitschlagen, Du ungezogener, unverbesserlicher,
hoffnungslos verwilderter Sünder -- Du fürchterliches Ding Du! -- Ist
das die versprochene Besserung, die Buße, die Reue? Ist das die Umkehr
zum Kinderglauben? Ist das die Rückkehr des verlorenen Sohnes zu seinem
Vater -- die Schweine mitbringen -- die Säu' hereinlassen zum Gastmahl,
daß sie das Bittgesuch grunzen sollen Deinerstatt?

So, das ist Brief eins -- jetzt kommt zwei:

                   *       *       *       *       *

          Mein lieber Bruder nebst Familie!

Ich bin nur halb bei mir selber, seit Du das Unglück hattest, Deine
Hand zu verlieren. Ich kann nicht aufstehen, nicht hinliegen -- jede
Stunde, halbe, viertel Stunde des Tages muß ich immer und immer an
Dich und die armen Deinen denken. Wie geht es Euch? Du schreibst mir
oft, öfter als ich erwarten darf, aber dutzendmal zwischen jedem Brief
sehne ich mich nach Auskunft. Daß wir so weit auseinander leben müssen
-- tausend Meilen. Daß ich so wenig Dir helfen kann. So hilflos selber
bin -- o, Armut wär' so schwer nicht zu tragen, könnte man herzlos
sein. Warum gibt Gott den Armen das Mitleid und Erbarmen, anstatt es
den Reichen zu geben? Ist das der Ausgleich vielleicht, daß die Reichen
Gold, die Armen ein fühlendes Herz besitzen sollen, aber keines alles?
Ich will nicht murren, aber, Bruder, manches Mal scheinen auch meiner
gottvertrauenden Seele die Dinge der Welt so verkehrt, daß ich bange
vor der Möglichkeit einer Lösung.

Bruder! Du hast mich mit Deinem Kirchgang ungemein erfreut. Daß Du
Eindrücke mitnahmst, beweisen die vielen Neuigkeiten Deines sehr langen
Schreibens. Daß Du Heimweh und Sehnsucht fühltest, beweist, wie die
guten Engel die empfindlichste Seite Deiner Seele merken. Daß Du keinen
Glauben mit herausbrachtest, verblüfft mich weniger. Den Glauben hast
Du zuerst und am längsten ~verloren~ und wirst ihn so leicht nicht
finden wie andere Himmelsgaben, die Du nur verlegt hast in irgend einem
Winkel der Seele.

Diese paar Sätze gehören zum Brief eins, jetzt verschluckt sie der
Brief zwei und füllt sich den Bauch damit auf Kosten seines Vorgängers.
Das leid' ich nicht. Jedem das Seine! Nur meine ich: der Brief eins sei
so schauderhaft, daß er je kürzer je besser würde.

Ich meint's übrigens nicht so buchstäblich, wie's dort steht. Ich bin
eben (wie Du auch) eine rücksichtslose, anarchistische Feder. Ich hätte
wohl die Säu' und Schweine, das demokratische Viehzeug, weglassen
können und mehr aristokratisches benützen können -- Adler, Hirsche,
Löwen. Aber diese Herren der Tierwelt wollen mit einem Menschen nichts
gemein haben, der Bettler ist. Du hast recht, wenn Du behauptest in
einem Deiner früheren Briefe: »Ein bettelnder Mensch steht unterm Hund!«

Lieber Bruder! Ich zermartere mir das Gehirn, einen Pfad zu finden
für Deine Zukunft. Mein Bruder Tom und betteln! Almosen betteln, mein
stolzer Bruder!

Warst Du bei Deinem Arbeitgeber in Neuyork? Was sagt er? Was denkt er?
Ist Aussicht, daß er Dich beschäftigen kann, oder empfehlen kann --
sonstwohin? Die großen Herren haben viel Einfluß beim Arbeitvergeben,
und wenn sie nur wollten, es brauchte niemand zu hungern.

Hundertmal wünsche ich, Du wärst hier in Pilot Knob. Ich glaube,
ich kriegte es fertig und erbettelte Dir eine Anstellung bei der
Grubenverwaltung als Wächter, Schreiber. Tom! ich hab' eine Eisenstirne
zum Betteln für -- andere. Ich bin nicht häßlich, schlank bin ich
sehr, geschickt im Drehen und Biegen, feurige Blicke sind mir auch
noch möglich -- und all diese Talente ziehen stark bei den Herren.
Schon dreimal zog ich meinen Peter aus der Patsche bei der Kompanie
mit solchen Schauspielerkniffen. Peter bekam jedesmal seinen Platz
wieder, und die Herren bekamen ~auch~ was -- das Nachsehen -- denn
Jennie weiß ganz genau, wie tief und nicht tiefer das Weib eines braven
Arbeiters sich beugen darf beim Kniefall.

O Himmel! ich werde ausschweifend und weitschweifend. Die kurze Stunde
Zeit, die ich mir aussuchte von den vierundzwanzig, ist verbraucht
mitsamt der Nasenspitze der folgenden.

Bruder! meinen Segen Euch allen.

                                                       Deine Schwester.

                   *       *       *       *       *

                                      Brooklyn, den 27. September 1900.

          Liebe, gute Schwägerin!

Ich will Dir nur auch schreiben daß wir vielmal danken weil Du so gut
bist zu Tom. Er ist immer besser, wenn Du schreibst. Dann liest er den
Brief laut und nachher lese ich den Brief wieder noch einmal. Ich kann
nicht genug lesen. Und muß doch weinen bei jedem Brief. Weil Du so
schön schreibst wie man sagt wenn man denkt manches Mal bei Nacht wenn
man wacht und bei Tag wenn man traurig ist und alles elend geht dann
denk' ich immer so und bete zu Gott daß es besser geht.

Mein Tom hat ein großes Unglück gehabt mit seiner Hand. Dann haben sie
ihm den Arm noch zweimal abgeschnitten. Im Spital und hier weil es
sein muß wegen Blutvergiftung. Sie haben ihm Lumpen herumgebunden mit
Farbe an den Lumpen. Der Herr Doktor sagt das hat sein Blut vergiftet.
Tom hat Dir das nicht geschrieben daß sein Arm abgeschnitten ist am
Ellbogen. Er hat's nicht wollen. Er sagt das wird Jennie weh tun. Ich
schreibe das nur weil es besser geht. Dann sagst Du immer Tom soll Mut
haben und das hat mir weh getan, weil Tom so viel leiden tut und nicht
einmal hat er laut geschrieen er hat nur sein Gesicht an mich gedrückt
und ich hab' ihn gehalten und dann hat er nur gezittert, wenn der Herr
Doktor und der andere hat das Fleisch weggeschnitten mit dem Messer und
sogar mit der Säge. Das war so schrecklich. Ich bin schier ohnmächtig
gewesen und ganz krank vor Mitleid. Dann hat Tom so wenig Blut übrig
daß er kann nicht chloroformiert werden sagt der Herr Doktor sonst
steht das Herz still.

Aber jetzt geht es besser. Tom kann herumgehen aber schaffen kann er
nicht wieder. Das ist schrecklich. Solang er lebt.

Liebe Schwägerin ich muß Dir noch einmal danken daß Du so schöne Briefe
schreibst. Schreibe recht oft. Tom freut sich jedesmal auf den Brief.
Tom ist jetzt in Neuyork heute bei seinem Herrn Meister und fragt
um Rat. Darum kann ich Dir schreiben. Tom soll nicht wissen daß ich
Dir schreibe von seinem Unglück er will's nicht ganz wissen lassen.
Ich kann nicht gut schreiben das ist schad. Ich bin nur ein Winter
in die Schul und dann immer schaffen in die Spinnerei in St. Louis.
Das kann nicht sein daß man viel lernt. Du kannst sehr schöne Briefe
schreiben und bist immer sehr gut zu mir und ich bin gar nicht einmal
amerikanisch und bin lutherisch und Bertie ist auch noch lutherisch
aber wir haben Dich lieb und Du hast uns lieb und der liebe Gott hat
uns alle lieb. So wollen wir leben im Frieden. Das ist mein Wunsch wenn
ich sterbe ich will Dich und Tom und Bertie und Elsie und alle von
Deiner und meiner Seite und alle guten Menschen wiedersehen im Himmel
beim lieben, lieben Gott. Ich bete ein Vaterunser und schließe den
Brief.

                                                 Deine treue Schwägerin

                                                             Eva Pratt.

                   *       *       *       *       *

                                       Pilot Knob, den 1. Oktober 1900.

          Teure Schwägerin!

Gute Seele! Du kannst also doch auch Briefe schreiben, und schöne,
herzige Briefe. Ich spotte nicht. Ich meine es ernst und ehrlich, Dein
Schreiben hat mich tiefer ergriffen als die längste Predigt -- und
nebenbei mein Urteil über Dich verworfen. Denke Dir, Schwester! ich
wußte nie, daß Du schreiben und lesen kannst. Hätte ich das gewußt,
wie oft würde ich Dir geschrieben haben -- Intimes, Heimliches, unter
Frauen so -- Klatschiges -- Du verstehst mich.

Der unflätige Tom ist aber schuld an diesem Mißverständnis -- ich nicht
-- wahrlich nicht. Dann bist du selber, liebe Eva, auch ein ganz klein
wenig schuld, daß ich Dich so verkehrt beurteilen mußte. Fünf Jahre
lang bist Du meine Schwägerin und nie, nie hast Du mir eine Zeile
geopfert. Dein Mann so oft, und Du nie. Nicht ~einmal~ hast Du
meine zahlreichen Grüße und Glückwünsche (persönlich an Dich gerichtet)
beantwortet, und die ganze Sache, als wäre sie Dir keinen Federstrich
wert, Deinem teuren, treuen, anbetungswürdigen Herrn Gemahl, Deinem
Götzen überlassen.

Wahrhaftig, das macht mich jetzt so wütend auf den Tom, daß ich -- --
jawohl, ich tu's -- hier gleich -- sofort fang' ich an und reiße ihm
die Maske vom Gesicht und Dir, unglückliches, verblendetes Weib, den
Schleier von den Augen. Ha! ich besitze Deines Gatten sämtliche Briefe
seit seiner Abreise von Pilot Knob -- und somit auch den Brief, worin
er Dich als seine »Zukünftige« schildert. Hier ist er:

                                                   St. Louis, den -- --

            Teure, herzensgute, einzige Schwester!

Ich bin Dir -- -- und so weiter (jetzt kommt er auf Dich zu sprechen).
Sie ist eine Waise seit ihrem zehnten Jahr; das sind ~wieder~
zehn -- macht zwanzig. Die Eltern waren eingewanderte Skandinavier
und Eva deren einziges Kind. Sie ist ein Modell der nordischen
Rasse: sehr blond, sehr schlank, sehr hochgeschossen, schneeig,
eisig, frostig, gefroren, schier nicht zum auftauen. Hier ist kein
Hauch von Aussicht, zum Herzen vorzudringen, als mit brennender,
weißglühender, alles schmelzender Liebe! -- Sie ist ein Modell des
weiblichen Geschlechtes: keusch, züchtig, natürlich, häuslich, treu,
scheu; schüchtern, so schüchtern, daß sie nicht einmal haltmacht an
der Grenze der Ängstlichkeit. Ein solches Reh lebendig zu fangen,
muß der Jäger ein göttlicher Apollo sein und mit Rosen und Girlanden
seinen Speer verhüllen. Oder ein grausamer, blutsaugender Panther,
vom Baum springend auf das ahnungslose Opfer. -- Sie ist das Modell
einer Christin: religiös, gottvertrauend, duldend, entsagend, Gutes
leicht glaubend, Böses nicht begreifend. -- Sie ist das Modell eines
fleischgewordenen Engels: himmelschön, himmelrein, himmelhoch erhaben
-- über mich. Ich kann sie nicht und nie erobern -- ~ergeben~
muß ich mich ihr, das ist die einzige Möglichkeit, eins zu werden mit
diesem Engel Eva.

Das sind also die Lichtseiten meiner Braut. Jetzt gelange ich zu
Evas Schattenseiten. Wäre das Mädchen unsichtbar für irdische Augen,
ich ging' beschwören, es ~habe~ keine Schattenseiten, sondern
überstrahle an Reinheit Licht und Sonne; aber Eva ist sichtbar,
leibhaftig, körperlich und hat demgemäß ihre Dunkelheiten wie jedes
Ding der Welt.

Hier folgen sie: Eva ist sehr arm, sehr unerfahren, sehr -- -- jetzt
kommt der tiefste Schatten -- ach, er lastet wie die Winternacht ihrer
nordischen Heimat auf diesem Maienbild -- Eva ist ungebildet. Sie hat,
fürchte ich, kaum je ein Schulhaus gesehen von innen. Sie kann, fürchte
ich -- schreiben gar nicht und lesen nur im Schneckentempo. Daß Gott
erbarm! Das arme Kind mußte zur Fabrik, ihr Kostgeld verdienen --
anstatt zur Schule. Wer ist schuld? -- Und so weiter und so weiter.

          Liebe Schwägerin!

Du siehst also, wie und wer mich auf den Wahn leitete, Du könnest
weder lesen noch schreiben und ständest vollständig seitwärts der
Korrespondenz, wie ich sie führe und liebe. ~Er~ ist es! Bezahl
ihm's heim! -- Eigentlich weiß ich ganz genau, warum er dieses Spiel
treibt: er möchte Dich so unumschränkt allein besitzen und ausnützen,
daß er eine Teilung fürchtet mit seiner ~Schwester~, auf tausend
Meilen Entfernung sogar. Es ist die verfluchte, höllische Eifersucht --
die schwarze, gelbe, grüne!

Doch genug darüber. Ich bin nur froh, daß ich von jetzt an meine
Waschfrauenkorrespondenz erweitern kann. Du sollst manchen Brief
erhalten von Jennie -- und Jennie erhält hoffentlich manchen Brief
von schön Evchen. Das wird ja eine prächtige Zukunft -- -- Ach! Hier
fällt's mir wieder ein, die klaffende Wunde der abgesägten Hand.

O, was hast Du leiden müssen, was wird noch kommen, Du arme Dulderin!
Vater, Mutter verloren -- die Heimat zweimal verloren -- das
heißgeliebte, goldlockige Kind, die Elsie verloren -- dann Gesundheit
verloren -- und jetzt drückt mit diesem letzten, fürchterlichen Unglück
das Kreuz Dich auf den Boden. Und niemand hast Du, der Dich aufrichtet,
Dich tröstet, Dich ermutigt. Du armes Weib. Gott helfe Dir -- -- --

Ich muß so weinen, daß ich zittere. Ich werd' Dir ~später~
schreiben. Trösten kann ich Dich schwerlich, wenn ich weine und
schluchze wie ein Kind. Leb wohl, Schwester! und Gott sei mit Dir und
Deinen Schützlingen.

                                                           Jennie Daly.

                   *       *       *       *       *

                                         Brooklyn, den 5. Oktober 1900.

          Liebe Schwester!

So -- so -- hm! -- Hinter meinem Rüden also spielt mein Weibchen mit
Dir und Du mit ihr. Bertie hat's verraten. Bertie ist ein Schwerenöter.
Alles weiß Bertie, und was er nicht weiß, ~errät~ Bertie. Daß er
seine lose Zunge von mir geerbt hat, gehört ins Gebiet der Erbsünden.
Ich habe meine Zunge auch nicht selber gemacht -- und mein Vater
die seine ebenfalls nicht -- und wenn die »Pratts« (nach Darwin)
vom Spottvogel abstammen, dann wird das Sündenregister zu lang, den
Schuldigsten dieser allerletzten Schwätzerei zu finden.

Also, Bertie sagte: »Papa, Mama hat einen Brief bekommen vom Postmann
und hat den Brief versteckt, und dann hat Mama gesagt: Bertie, sag dem
Papa nichts von diesem Brief, sonst ist Mama bös mit Bertie; und dann
hab' ich Mama versprochen: ich werd' Papa nichts sagen von dem Brief.«

»Ja, warum erzählst du mir's jetzt?« forschte ich das Kind aus, »wenn
Mama dir's verboten hat?«

»Weil ich Angst hab', du möchtest böse werden, wenn ich nichts sage,
Papa. Und dann brauchst du ja der Mama nicht zu sagen, daß ich dir's
sagte, sonst sagt Mama, der Bertie sagt alles, und ich sagte, er soll
nichts sagen, aber alles sagt er.«

Das war allerdings genug gesagt. Warum auch Kindern Geheimnisse
eingeben, dieses Gift der heutigen Gesellschaft.

»Freiheit für jeden und jede!« Ich ließ die Sache ruhen; nur ein
klein wenig wunderte es mich, woher der Brief sein sollte; das ist ja
verzeihlich.

Du treue, gute Seele! -- »Mann und Weib sind ein Leib -- und eine
Seele« ruf' ich laut. Mein liebes Evchen gab mir, und mit strahlenden
Augen, Dein Schreiben zu lesen. Es war das erste nach dem Kuß, was ich
von ihr bekam, als ich ermüdet in die Küche trat.

Dann las ich Zeile für Zeile, und Eva berichtete mir gewissenhaft die
Nebenumstände der jüngsten Korrespondenz; ein ganzer Heuwagen voll
Neuigkeiten war es für das geschwätzige, alte Waschweib »Tom Pratt«.

Rache ist süß! Und weil ich gar viel Bitteres verschluckte in letzter
Zeit, so fühle ich unbändiges Verlangen, die Süßigkeit zu naschen.
Rache muß ich nehmen, süße, herzblutwallende Rache (an ~Dir~,
Schwester, ~später~ bei Gelegenheit) an meinem -- hinterlistigen
Weib, sofort, jetzt. Hinter ihrem Rücken werde ich ein Geheimnis
preisgeben, das sie wähnt nur selber zu besitzen, das sie verschlossen
hält in ihrem Busen wie der Tod das Leben.

Also -- Verrat Nummer eins.

Es war vor etlichen Wochen -- genau das Datum weiß ich nicht --
ich hatte eine qualvolle, schlaflose Nacht überstanden. Mein Arm,
mein armer Arm war vom Doktor verschnitten und verhackt worden wie
Karbonade, am Tag vorher, und die Schmerzen ließen mir keine Ruhe.
So schlummerte ich denn am folgenden Morgen gegen Mittag ein. Als
ich bald wieder erwachte, hörte ich Eva sprechen in der Küche, Es
konnte nicht Bertie sein, mit dem sie redete: den Knaben hatten sie
fortgeschafft nach Neuyork zu einem Freund von mir, während der
Operation und Krisis. Also mit wem redet mein Weib? Verstehen konnte
ich nichts, die Konversation wurde im Flüsterton gehalten; aber hin und
wieder vernahm ich ein Lachen, Kichern, allerlei unartikulierte Laute,
wie Schluchzen, Stöhnen -- sogar Küssen.

Ich bin ein ~Mensch~. Trotz des Blutverlustes der paar
vorhergegangenen Tage, die Eifersucht abzuzapfen war nicht gelungen;
und sage: wenn Othello eines lumpigen Taschentuchs wegen so bullenwütig
werden konnt', sein Weib totzudrücken im Bett -- -- Sapperment! ich
wär' ein Klotz Polareis, hätt' ich stillgelegen bei diesem Geflüster
nebenan in der Küche, bei diesem verdammten Kichern, Küssen, Stöhnen,
diesen Ohs und Ahs!

Plötzlich -- -- sah ich etwas an der Wand, das mich blitzesschnell so
mit Weh erfüllte, mit Schreck und Grauen, daß Feder und Tinte es nicht
beschreiben dürfen. Eigentlich sah ich es nicht. Wenn ich sagte, ich
sah es, ist das umgekehrt zu verstehen: das Bild meiner Elsie, das
immer dort gehangen hatte, es war fort -- verschwunden -- und die ganze
volle Ahnung, was das bedeute, kam in meine Seele.

Eva hat das Bild in der Küche und redet mit dem Kind.

So müd und krank ich war, unsägliches Verlangen gab mir Kraft, mein
Bett zu verlassen. Vorsichtig, mich festhaltend an Bett und Wand,
wankte ich zur halbgeöffneten Tür. Gott der Mutterliebe! es war wahr:
Eva kniete, mit dem Rücken halb nach mir gewendet, am Boden vor dem
Bild. Auf einem Stuhl hielt sie es mit beiden Händen; bald nah, bald
weit von sich. Dann wieder preßte sie das Bild an die Brust, und heftig
gegen das Gesicht. Ihr mageres, kreideweißes Gesicht -- im Profil so
unsäglich überirdisch, marmorgleich -- die scharfe, dünne Nase -- das
scharfe, dünne Kinn -- die merkwürdig tiefen Augen -- ich hatte Angst,
das Glas möchte zerbrechen an diesem Marmor ...

»Mein Kind!« kam es von den Mutterlippen. »Mein liebes Kind! Elsie!
Elsie! Wo ist Elsie? Ist Elsie im Himmel? Ist Elsie bei Gottes
Engelchen? -- Goldenes Hemdchen haben sie Elsie angezogen, die
Engelchen; goldene Schuh'. Und Elsie ist gern im Himmel -- sehr gern im
Himmel. Kind!!«

Das letzte Wort wurde geschrieen -- die vorhergehenden gestöhnt in
Grabestiefe -- abwechselnd mit Schluchzen, hysterischem Lachen und
einer Flüsterstimme, so übermenschlich zart wie das Zwitschern junger
Schwalben im Nest.

Gott der Mutterliebe!

Dann küßte die Unglückliche wieder das Glas. »Wird Elsie Mama
liebhaben, wenn ich komm'? Wird mich liebhaben? Und kennen? Papa ist
krank, Elsie -- sehr krank -- Papa und Mama werden bald kommen -- Mama
kommt gern -- Papa kommt auch gern -- Bertie will noch spielen, dann
kommt Bertie auch, dann sind wir beisammen wieder -- alle. Wie lieb hat
Elsie Mama? ~So~ lieb -- ~so~ lieb!«

Herzbrechendes Schluchzen hob und senkte ihren Busen. Der abgemagerte
Leib, durch dünne, ärmliche Kleider durch, zitterte wie im Fieber, und
Tränen auf Tränen rieselten hernieder in heißen Tropfen -- vom Marmor
auf das Glas.

Gott der Mutterliebe, hab Erbarmen!

Ich mußte weg. Ich hätte noch länger dort gestanden an Himmels Tür,
aber die Kräfte gingen mir aus. Ich suchte mein Bett. Dort gewahrte ich
die abgerutschte, verbrauchte Wandtapete, wo das Bild gehangen hatte.
Also oft -- oft schon hat die Mutter das Bild heruntergelangt.

Ich schlief ein.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                        Brooklyn, den 15. Oktober 1900.

          Liebe Schwester!

Ich wartete lang', damit ich Dir zur Abwechslung eine Freudenbotschaft
mitteilen könnte. Die ist aber ausgeblieben -- wie alles, was man
wünscht, erwartet, hofft, ersehnt und so weiter.

Mein Arbeitgeber in Neuyork, den ich vor zwei Wochen etwa besuchte,
versprach mir eine Antwort zu senden auf mein Bittgesuch um Arbeit;
und diese Antwort blieb aus. Das ist ein so herbes Gefühl, daß man
zusammenhängende Gedanken nicht schreiben kann damit. Lies, wie es
kommt!

O, war die Welt schön; oder schien sie nur mir armem Gefangenen so
schön, dem Stubenhocker, Bettlieger? Kühl wehte die Seebrise über den
Sund, der plätschernd durchschnitten wurde vom Kiel des Fährboots.
Melodisch gurgelten die Wasser unterm Bug. Seegeier kreisten in der
Morgenluft, tauchten nieder auf die Flut, stiegen aufwärts zum Äther,
schwammen in der Freiheit. Wolken trieben hin am blauen, stillen Dach
dort oben -- Gedankenstriche ziehend durch die Schöpfung -- und die
Königin der Lichter, wegküssend gleichsam Sorgen, Sünden, Tränen der
Menschheit, küßte die Millionenstadt.

Und Tom wischte sich die Augen. Auf dem vordersten Rand des
pfeilschnell dahinschießenden Fährboots stand er und -- der Wind füllte
seine Augen mit Wasser. -- --

Ja, ja, so möchte ich den Brief beginnen und symmetrisch zum Himmel
bauen, bis Freude mich zum Sklaven heißer Tränen preßt. Aber die
Botschaft ist ausgeblieben. Ich habe bis zu dieser Stunde noch keine
Antwort auf mein Bittgesuch um Arbeit. Dass ist schlimm. Das ist ein so
herbes Gefühl. O! was haben wir drei arme Dulder durchgelebt in diesen
paar Wochen an Hoffnung, Glauben, freudiger Erwartung, Zukunftsplänen
-- Enttäuschung.

Doch ich will trocken erzählen, wie es dem Mann mit der abgesägten Hand
ergangen ist auf seiner Betteltour nach Arbeit.

Der Anfang war majestätisch. So majestätisch fing der Bettelsack am
Morgen an, sich in Staat zu werfen; sein bestes Hemd anzulegen, sein
bestes Gewand, Halstuch, Gesicht -- sein Bestes hinten und vorne.
Majestätisch stieg er die Treppe hinab auf die Straße, die Straße
hinab nach dem Fährboot. Hinab -- hinab, aber so majestätisch, daß es
geradezu Notwendigkeit wurde, den Bettelsack heimzuschicken Abends,
auf dem nämlichen Weg, so total verändert, verlottert, verdonnert,
in Bettelsacks allertiefunterster Gottverlassenheit. Das stellt das
Gleichgewicht wieder her!

Die Wasserfahrt von Brooklyn nach Neuyork währte zwanzig Minuten. In
Neuyork ging Tom die altgewohnte Straße entlang zu seiner ehemaligen
Arbeitsstelle; das währte nochmals zwanzig Minuten. Um zehn Uhr betrat
Tom das Fabrikgebäude und stand vor der Kanzlei seines Herrn.

Angst und Hoffen! Das Herz klopfte ihm hörbar vor Aufregung. Hier
liegt die Entscheidung. Wenn hier keine Anstellung wartet, wo er
bekannt ist, geachtet, wo er verkrüppelt wurde im treuen Dienst für die
Firma -- wenn hier nicht, wo dann? Dann ist er gerichtet, verloren --
arbeitslos. Gott der Armen, laß Tom nicht untergehen! Denk an sein Weib
und Kind, lieber Gott, und laß Tom nicht untergehen!

Ich klopfte an und trat ein. Wurde merkwürdig gut aufgenommen. Der
Empfang verblüffte mich. Das ganze Personal scharte sich teilnehmend
oder neugierig um meine abwesende Hand. Ich war so plötzlich,
unerwartet das Zentrum, die Hauptfigur, daß ich mir vorkam wie
eine steigende Rakete, nach der sich alle Blicke kehren. Ach! die
Himmelfahrt dauerte nicht. Die Rakete platzte an grauer, hängender
Wolke, und alles, was übrig blieb aus der glühenden Verklärung, war der
Stock -- Toms Bettelstab.

In der Kanzlei saß ich dann auf dem äußersten Rand eines Stuhls,
schier abrutschend vor Bescheidenheit -- und Angst -- und bettelte
alleruntertänigst, unterwürfigst um Anstellung, Beschäftigung.

Und -- wahrhaftig, ich bekam sie. Denke Dir, Schwester, ich bekam sie.
Im ersten Anlauf. Welche Überraschung. Mein Arbeitgeber gab mir --
~Hoffnung~, mich unterbringen zu können, irgendwo -- nicht gerade
in seiner Fabrik, das sei unmöglich, aber sonstwo -- wahrscheinlich
-- möglich -- allem Anschein nach -- immerhin -- kann ja sein -- so
oder so -- wollen's abwarten. Abwarten. Wissen lassen per Postkarte.
Hoffentlich.

Ja, ja, hoffentlich. Das war auch eine Litanei mit: »Herr, erbarme dich
meiner!«

Der Werkführer der Fabrik war sogar noch hoffnungsreicher als der
Prinzipal. Er hatte einen unerschöpflichen Vorrat und schmierte mir
unglaubliche Bilder vor, wie Leute untergebracht wurden in feinen
Anstellungen, die nur eine oder gar ~gar~ keine Klaue besaßen.

Meine Arbeitskollegen waren wiederum hoffnungsreicher als der
Werkführer. »Tom!« sagten sie, »du kannst schreiben, rechnen und
kannst einen Platz kriegen in der Kanzlei; du kannst einen Platz
kriegen als Wächter« und so weiter.

Der Fabrikjunge verstieg sich sogar zu der Äußerung: es könne mein
Glück sein, daß die Hand zum Schinder ging. Mit zwei Händen wäre ich
zeitlebens am Werktisch gestanden im Staub und Rauch, jetzt aber
dämmere mir eine neue, rosige, regenbogenfarbige Zukunft.

Je tiefer ich herabkam in der Rangstufe der Angestellten, je höher
stieg ich in der Hoffnung. Schade, daß sie keinen Hund halten in der
Fabrik, der Köter hätte sie alle übertrumpft und mir eine Anstellung
~gegeben~ -- und wär's auch nur bei seinem Lampenpfosten.

Auf meiner Rundreise machte ich meinem früheren Werktisch eine Visite.
Und der Säge. Ein Mann, doppelt so alt, doppelt so verwahrlost,
doppelt so ungeschickt wie ich, quälte sich jetzt an dem Platz. Er
schüttelte mir die Hand und sagte: er danke Gott, daß Tom Pratt die
»Linke« verlor, oder die »Rechte«; welche von beiden, sei ihm übrigens
gleich. -- Nein, das sagte er nicht; aber daß er sieben Wochen lang die
Straßen Neuyorks abgelaufen hätte nach Arbeit, und total bankrott sei
mit seinem Hauswesen -- ~das~ sagte er. »Mister Pratt, hätt' ich
diesen Platz nicht gekriegt damals, ich hätt' den Strick genommen.« Er
machte eine knotenschürzende Handbewegung um seinen Hals herum, damit
ich die Meinung seiner Worte leichter begreife. Also ~das~ hat
dem das Leben gerettet! Sag einer, es herrsche keine Weisheit dort
oben, die für jeden Hilfe findet zur rechten Zeit! -- Aber -- hm --
so nebenher und hintenrum gesagt: allmächtig sein ist doch nicht gar
so schwierig, wie es ausschaut, wenn man's dem einen erst nehmen muß,
soll's der andre bekommen.

Dann nahm ich Abschied vom Platz, auf Wiedersehen -- hoffentlich.
Im Glauben ging ich hinein -- in der Hoffnung heraus. Wär' ich ein
Frauenzimmer, ich müßt' zur Hebamme laufen mit der Last.

Was nun? Die Tür ist zu. Ich steh' auf der Straße. Und das ist alles,
was ich erbetteln konnt'? Ooo! -- Am Sonntag noch war ich zur Meß
gegangen, und Bertie betete mit seinen Kinderhändchen und -lippen zum
Vater der Armen, mein Weib betete.

Neben der Fabrik steht eine Kapelle. Ich fühlte mich so müd, so mutlos,
daß ich eine Zeitlang überlegte, ob es angenehmer wär', wenn ich mich
zuerst ertränkte im nahen East River, oder die paar Stufen hinaufginge
zum Kirchlein. Ich wählte das letztere. »Du lieber Gott!« seufzte ich
beim Eintreten in den Tempel, »auch du hast deine Sorgen.« Da stand
groß und leserlich an die Wand geschrieben: Betender, hilf mit einer
Gabe die Hypothek tilgen, die auf dem Hause Gottes lastet.

Im vordersten Stuhl ließ ich mich fallen. Mein Kreuz ließ ich nicht
fallen. So ruht man schlecht. Beten konnt' ich auch nicht. Zum Danken
war keine Ursache, und bitten, einen Herrgott anbetteln, der seine
Hypothekenschulden nicht bezahlen kann, solche Schnorrerei muß ich
erst lernen. Aber sympathisieren konnte ich mit dem Allmächtigen --
und das tat ich. »Wohnst auch nicht am feinsten,« seufzte ich; »das
hier ist ein armselig Kirchlein für dich, o Weltenschöpfer, der gewohnt
ist zu schreiten von Fixstern zu Fixstern, auf sonnengepflasterter
Milchstraße. Bretter, Blech, kein Turm noch Glocken -- es könnt'
ebensowohl ein Stall sein wie eine Kirche, ein Holzschuppen, eine
Scheune. Hängt Rechen an die Wände und Mistgabeln anstatt der
Heiligenbilder, und einen Heuwagen statt der Altärchen, und die
Verwandlung ist fertig!«

Ich opferte einen Cent in die Opferbüchse (mich macht der Cent nicht
ärmer, und dir hilft's!) und stolperte von dannen.

Wohin jetzt -- zuerst? -- Die paar Kirchenstufen herab auf die Straße
brachten mich auch nicht näher gen Himmel. -- Wohin jetzt? -- Langsam
schritt ich die Richtung entlang nach der Westseite. Planlos --
zwecklos.

An der Ecke begegnete mir ein schäbig gekleideter Mann; der trug eine
Blechtafel am Leib mit der Aufschrift: »Hilfe! Blind!« Dann begegnete
mir ein Schuljunge, der trug eine Büchertasche. Dann begegnete mir
ein Arbeiter, der trug einen Korb mit Kohlen. Dann begegnete mir eine
Mutter, die trug ihr Kind. Dann begegnete mir ein Hökerweib, die trug
einen Lumpensack, so groß wie -- -- pah! warum meinen Humor vergraben,
eh er stinkt -- raus!! -- -- die trug einen Lumpensack so groß wie
der Planet Pallas. Dann begegnete mir eine Straßennymphe, die trug
falsche Haare, Zähne und Diamanten. Dann begegnete mir ein Betrunkener,
der trug einen falschen -- nein! einen aufrichtigen -- nein! einen
beneidenswerten -- ja! Rausch.

Hier bekam ich urplötzlich die Vision wieder und sah Gottes geheime
Werkstatt offen. »Ha!« rief ich, und so begeistert, daß Passanten auf
dem Bürgersteig sich umdrehten nach mir. »So ist es! ~Tragen~ ist
die Bestimmung des Menschen, der Welt. Tragen, tragen -- jeder, jede,
jedes. Alles muß irgend etwas tragen, und das, zusammengerechnet, trägt
den Bau der Schöpfung. Die Hochbahnpfeiler tragen die Hochbahn; das
Haus den Giebel. Der Büttel dort muß seinen Knüppel tragen; der Soldat
muß sein Gewehr tragen; der General seine Orden; der König muß die
Krone tragen; und ich -- die Verzweiflung.

An der nächsten Ecke stand ein Gebäude, das trug ein Riesenschild, und
das Schild die Aufschrift: Eiskaltes Lagerhaus zur Aufbewahrung von
Fleisch, Fisch, Käs, Butter, Speck (Ratten, Kellerschaben und rotzigen
Schnecken). Wieder eine Kopierung aus der Werkstatt: so macht's der
Allweise schon lang. Eiskaltes Lagerhaus: daß dem Menschen die Seele
nicht verfault, steckt ihm die Vorsehung einen Eisklumpen in den
Brustkorb -- das Herz. Das hält dich kühl, das hält dich kalt -- gelt,
Bruder Mensch, das hält dich kalt.

An der nächsten Ecke zählte ich vier Schnapskneipen, eine neben der
andern, und alle waren sie sperrangelweit offen. Schräg über sah ich
eine Kirche. »Kommt herein, die ihr beladen seid,« stand über dem
festverriegelten Kirchentor. Aber dort wurden die Beladenen aus der
Schnapshöhle geworfen -- und hier nicht hereingelassen.

Dann schlenderte ich in das Mammonsviertel von Groß-Neuyork, wo in
jedem Häusergeviert vier Millionäre thronen und vier Straßenfeger
fronen.

Dann kehrte ich dem Norden den Rücken und steuerte zum hochfeinen
Hoffmanhouse, wo eingewanderte Nachkömmlinge der ehemaligen Republik
Rom den Geldkönigen Amerikas die Schuh' putzen -- anstatt Hände und
Gewissen.

Nebenan steht der Dewey-Triumphbogen. Da sieht's faul aus mit dem
Patriotismus in Gips. Armer Dewey, vor einem Jahr noch warst du größer
als Jesus Christus, und heute -- bist du ein Heros außer Arbeit. ~Ich~
bin ein ~Feigling~ außer Arbeit; aber ich werde begraben und dann
vergessen, und du wirst vergessen und dann begraben.

Dann schwenkte ich östlich, durch den Park. Da sitzen täglich tausend
arme, arbeitsslose Menschen und -- warten auf den Messias. Wären
~mehr~ Parkbänke da, dann säßen ~Zehn~tausende fest und
warteten auf den Messias. Millionen meinetwegen, und warteten auf den
Messias.

Dann ging's heimwärts. Halb träumend vor Mattigkeit schwankte ich
dem Flusse zu. Viel und vielerlei sah ich noch, das den Himmel über
sich hat und die Hölle unter sich. Vielerlei, das den Himmel unter
sich hat und die Hölle in sich. Manches, das einen Hypochonder zum
Lachen und einen Luftibus zum Weinen treiben kann. Manches, das
sich schämen sollt' vor ausgelöschtem Licht, und spazieren geht im
Mittagsonnenschein auf breiter Straße. Manches, für das ein Gott
geblutet hat und das jetzt im Rinnstein liegt. Verwahrloste Kinder
sah ich, auf dem Weg zum Laster. Feingeschultes Schoßhündchen sah ich
spazierenfahren in silberbeschlagener Karosse mit Madame, Kutscher
und Lakaien. Zerlumpte, barfüßige Menschen sah ich -- und ganze
Warenhäuser voll Schuh und Kleider verderben vom langen Liegen.
Hungrige Menschen sah ich, und ganze Warenhäuser voll Delikatessen
verfaulen vom langen Liegen. Todmüde Menschen sah ich, vom Suchen nach
Arbeit schier umsinkend. Todmüde Menschen sah ich, vom Überarbeiten
schier umsinkend. Menschen, die auf dem Kopf stehen, sah ich nicht,
aber eine ganze Menschheit, die auf dem Kopf steht, das sah ich. Ein
Monster-Riesennarrenhaus, das sah ich.

Ein tintenschwarzes Meer. Sternenlose Nacht. Blinde regieren das
Steuer, die Segel. Narren stehen am Kompaß. Wie ~das~ Schiff den
Hafen finden kann -- das seh' ich nicht.

Urwaldgrüne Finsternis. Greller Sonnenschein auf heißem Wüstensand. Des
Mondes Schatten auf gefrorenem Schnee. Veilchenduft am Wiesenbach. Im
hohen Norden Mitternacht. Harmonie der Schöpfung -- das seh' ich.

Ein rauchendes Schlachtfeld voll zuckender, stöhnender Leiber.
Wetterleuchtend grollt's herab vom Himmel. »Mord!« brüllt's hinauf zum
Himmel. Millionen wetzen die Messer. Harmonie der Menschen -- das seh'
ich nicht.

Ein wimmernd Kind auf kranker Mutter Schoß. Hohl sind ihre Augen,
ihre Wangen. Kalt ihre Lippen. Kalt die Kammer. Leer der Tisch. Leer
dass Herz. Der letzte gute Engel fürchtet sich, zu bleiben. Armut,
Menschenelendsgrenzen -- das seh' ich.

Ein Hundebazar. Pferdeschau. Die Riesenhalle schwillt von Reichtum,
Pracht, Verschwendung, Lichtern, Farben, Musikrauschen, Modekram,
Perlen und Juwelen. Spitze, Pudel, Bullenbeißer, Dachse, Läufer,
Affenpinscher, vollgefreßne Möpse, vom großen Bernhardiner bis
herab zum geilen Rattenfänger -- und Pferde, mehr im Wert als
tausend Arbeitswochen eines armen Tom -- sie alle führen hier ein
Schwelgerleben wie im Paradies. Und Herren von der reichsten Sorte und
Ladys von der feinsten herzen und liebkosen hier das wohlgepflegte
Vieh. Aber ~eine~ Träne nur aus so vielen, vielen Augen, einen
Tränentropfen aus der ganzen Menschenwolke, dem grausenvollen Jammer
armer Leute geweint -- das seh' ich nicht.

                   *       *       *       *       *

          Schwester!

Ich kann den Brief nicht so wegschicken. Beim Durchlesen des
Geschriebenen schauderte mir über die Wildheit, in der ich phantasiere,
wenn ich allein gelassen bin. Jetzt steht ein Schutzengel neben mir,
mein teures Weib, und diktiert die Zeilen.

»Man muß hoffen,« sagt der Engel, »man muß Gott vertrauen! Der liebe
Gott prüft die Menschen im Unglück, und das ist der Weg zum Himmel. Der
liebe Gott ist unser Vater, wir sind seine Kinder. Alles hat Gott so
eingerichtet, wie es ist, und wenn es die Menschen nicht sehen, Gottes
Weisheit sieht es. Wenn es Reiche gibt und Arme, Satte und Hungrige,
Traurige und Freudige, Gott weiß, warum es so ist und so sein muß.
Einmal hat das Leid ein Ende und nachher kommt die Glückseligkeit.
Vater unser, der du bist im Himmel.«

O süßer Glaube! der Lasten trägt auf steilster Bahn der Leiden.

~So~ darf ich schließen, Schwester. Leb wohl!

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                        Brooklyn, den 22. Oktober 1900.

          Meine Schwester!

Du hast mir nicht geantwortet auf mein letztes Schreiben -- und das ist
vollkommen recht von Dir. Solche Ungeheuer von Briefen können nur mit
stillschweigender Verachtung erwidert werden. Das setzt der Wut den
Dämpfer auf.

Ja, ja, je mehr ich darüber nachdenke, umso klarer wird es mir, daß
ich mich ändern muß -- total ändern. Nicht reformieren, sondern
revolutionieren muß ich mich. Daß ich das begreife, ist ein Fundament
wenigstens, auf das sich bauen läßt.

Dann, liebe Jennie, wird es nicht verlangt, daß Du mir ebensooft
schreiben sollst wie ich Dir. Du hast Arbeit über Arbeit und wenig
Zeit; ich hab' so viel Zeit, daß ich sie totschlagen muß, um einen
Ausblick zu bekommen. Zudem kosten Dich Deine Briefe Porto und mich die
meinen nichts.?. Das ist auch eine von den Miniaturausgaben göttlicher
Vorsehung, die wir kurzsichtigen Weltbürger nicht begreifen, wenn es
geschieht. Zu Ostern bekam ich neunzig Cent in Briefmarken von einem
früheren Arbeitskollegen in St. Louis. Ich wetterte damals über die
Gemeinheit, eine Schuld mit Postmarken abzugleichen, und über den Geiz,
den Dollar nicht voll zu machen. Jetzt sind mir die Dinger der reinste
Segen. So geht's.

Von meinem Prinzipal ist immer noch keine Nachricht eingetroffen. Er
kann eben auch nichts finden. Beschäftigung finden für einen gesunden
Menschen, ist heutigentags schier die Unmöglichkeit; für einen Krüppel
aber -- der Himmel helf!

Ich habe mir übrigens fest vorgenommen, zahm zu werden. Das Unglück
soll sich austoben an mir, das Elend sich glatt reiben an mir, das
Verderben alles Pulver verschießen. Ich lebe in der Hoffnung und werde
soviel Geduld gebären -- eine kleine Armee. Dann werde ich die Armee
bewaffnen mit Mut und Standhaftigkeit und -- selber angreifen. Jeden
Tag schon mache ich Felddienstübungen nach Neuyork hinüber. Kommt
das Unglück nicht auf den Gedanken, mich auszuhungern, dann schlag'
ich jeden seiner Stürme ab. Vorige Woche gelang mir ein Ausfall und
glaubte ich schon die Zernierungslinie gebrochen zu haben. Ich bekam
eine Anstellung als Bücheragent. Was das ist: Bücheragent, weiß das
lilienunschuldige Pilot Knob schwerlich.

Schwester, von Morgens bis Abends, vier Tage lang von Haus zu Haus,
von Straße zu Straße, von Billy zu Jack quälte sich Dein Bruder ab,
den Irving, Elliot, Holms, den Longfellow anzupreisen wie ein Krämer
Käs und Kartoffeln. Ach, mit Schuhwichse hausieren am Kongo ist
einträglicher als -- -- ich glaub', ich wär' verhungert, hätt' ich den
Bücherhandel nicht aufgegeben am fünften Tag.

Dann hatt' ich für zehn Stunden eine Anstellung, wo das Verhungern
ausgeschlossen blieb. Eine kuriose Anstellung, eine Erfindung der
Großstadt und total unbekannt bei Euch im Hinterwald. Diese Anstellung
besteht im Abtreten. Man tritt sie ab, sowie man sie antritt. Das
Abtreten beginnt beim Eintreten. Das Austreten beim Abtritt. Es ist
also halbwegs eine Abtrittanstellung. Pardon, Schwester! ich kann das
Roß nicht zähmen und wenn ich's sieben Wochen lang mit Verzweiflung
füttere -- es schleift mich fort am Halfter.

In großen Städten wie Neuyork, St. Louis ist es gebräuchlich, lebende
Anzeigen laufen zu lassen. Irgendwelchem Schlucker, der nichts zu
schlucken hat, aber möchte, dem wird eine Tafel mit Anzeigen auf die
Brust gebunden und eine ditto auf den Rücken. Der also Beladene muß
das Straßenpflaster abtreten. Die Passanten können die Anzeigen auf
seiner Oberfläche studieren, der Anzeigenträger kann oberflächlich die
Passanten studieren. Beim Eintritt zum Antreten kriegt der Schlucker
das Versprechen zu einer saftigen Belohnung, beim Abtritt erhält er
sie, aber so dürr bemessen, daß man keinen Hund zweimal aus dem Stall
lockt damit.

Ich spazierte auch einen Tag so auf und ab in der Bowery, vor einem
billigen Speiselokal. Auf die Brust (eigentlich auf die Tafel vor der
Brust) hatten sie mir ein schäumendes Bierglas gemalt. Ich konnt's
beinah, mit ausgereckter Zunge sogar bequem betupfen. Unterm Bierglas
stand, gerade außerhalb meines Magens, ein Teller mit Suppe, etlichen
Kartoffeln und Brötchen. Hinten hatte ich Schinken, Würst' und
Schweinefüß'.

Das war ein demütigender Tag für mich. Jeden Augenblick fürchtete ich
erkannt zu werden von Vorübergehenden, und zog, um das zu verhindern,
die greulichsten Grimassen. Gefressen werden mit samt der Speisekarte
am oberen Nil und Aruwimi ist nicht halb so abschreckend wie dieses
Spießrutenlaufen meines Ehrgefühls, für armselige Küchenabfälle als
Bezahlung.

Eva war ernstlich böse, daß ich eine solche (beschämende, sagte sie)
Stellung überhaupt nur denken konnte, und so verlor ich auch diesen
Platz durch Hausarrest am folgenden Tag.

Daß ich nächtelang von dem Abenteuer träumte, wirst Du begreiflich
finden; Du kennst meine Empfindlichkeit. Jede Nacht (im Traum) trage
ich die vermaledeiten Speisezettelbretter die Straßen entlang. Manchmal
verwandeln sich die Bretter in alle nur denkbaren andern Dinge. Einmal
waren es zwei riesige Heringe, dann zwei gerupfte Hühner, dann zwei
lebende, jämmerlich schreiende Ferkel; sogar Türen, Fensterläden,
Grabsteine. Letzte Nacht hatte ich die Pflicht, dem Moses seine
Gesetzestafeln spazieren zu tragen; eine hing mir vorn, die andere
hinten.

Es war höchste Zeit, daß Eva mich aus dem Platz vertrieb. Allerdings
bekommt sie und Bertie keine Stullen und Würste, wenn ich Abends
heimkehre; dafür aber werd' ich etliche Wochen ~später~ wahnsinnig
-- und das ist auch was wert.

Dann war noch eine Anstellung, die ich verlor, eh' ich sie hatte. Mein
Weib erbettelte sie mir bei ihrem Seelsorger. Eine Hilfsmesnerstelle
ist es, mit wenig Arbeit und noch weniger Bezahlung. Als der Pfaffe
jedoch auskundschaftete, ich gehöre weder seiner noch sonst einer
Kirche an, wurd's »bumm!« Ein Schafskopf bekam die Anstellung, und --
'raus mit dem Bock! --

So geht's halt und wird's gehen, weil's immer so gegangen ist. Amen!

Mittlerweile wiederkäue ich die Hoffnung, von der ich einen Vorrat
besitze, daß er mir schier verfault. Gott, ist das ein Fressen für die
unruhige Seele, so ohne Salz und Schmalz -- -- aber ich will nicht
murren. Geduld, Tom, Geduld! Schwester, es kostet mich übermenschliche
Zurückhaltung, nicht auf die Straße zu laufen und zu brüllen wie ein
toller Stier -- aber Tom ist nicht verrückt.

Eva hat neben der Wäsche künstliche Blumen übernommen. Ich bin ihr
Laufbursche. Wir vertragen uns gut. Bertie ist im Hof und macht Kuchen
von Dreck -- wir werden nicht verhungern.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                        Brooklyn, den 3. November 1900.

          Teure Schwester!

Weißt Du auch schon, daß Arbeitslosigkeit der kürzeste Weg ist zur
Hölle? Hat der Arbeitslose Charakter, Ehrgefühl, ein Herz für seine
Familie, dann -- brät er schon hier auf dieser Erde in der Pfanne. Hat
er kein Herz und kein Ehrgefühl, dann wird er des Teufels so gewiß, als
er hungrig wird beim Fasten.

Ich bin erst zwei Monate beschäftigungslos und wate schon bis über
den Hutrand in Todsünden. Ich bin neidisch auf jeden, der arbeiten
kann, und neidisch auf jeden, der zwei Hände hat und faulenzen kann.
Es gab eine Zeit, wo ich niemanden beneidete, nicht einmal einen
Beneidenswerten, und heute bin ich's gegen jeden Lump und Schuft. Der
Lump hat keine Pflichten, keine Sorgen, kein Weib zu kleiden gegen
Winterskälte, kein Kind zu füttern, ausreißen darf er vor dem Unglück
bis nach Kalifornien und Kairo, ohne Heimweh fürchten zu brauchen oder
nagendes Gewissen.

Dann könnte ich jetzt schon manches Mal, ohne mich sonderlich
aufzuregen, einen Menschen totschlagen, nur weil er lacht und lustig
ist oder kein Krüppel.

Heute saß ich auf der Vortreppe eines leeren Hauses und betrachtete
meine übriggebliebene Hand. »Was kann ich mit dir jetzt anfangen?«
frug ich das faule fünffingerige Glied. »Arbeit vertrauen sie dir
keine an. Brot verdienen kannst du nicht. Weib und Kind vom Verderben
retten kannst du auch nicht -- -- aber stehlen kannst du -- stehlen --
sogar schwören, einen falschen Eid schwören -- einem reichen Protzen
die Kehle abschneiden, wenn er schnarcht, und seine Taschen leeren --
die ganze Stadt in Brand und Feuer setzen und zuschauen, wie andere
~auch~ verzweifeln.«

Siehst Du, Schwester, wie mich der Erzfeind gepackt hat. Das kommt vom
Müßiggang. Der Teufel hol die Arbeitslosigkeit.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                       Brooklyn, den 12. November 1900.

          Teure Schwester!

Es ist doch ein gnädigeres Geschick, nur ~eine~ Hand zu haben, als
nur ~einen~ Fuß. Wenn mich die Leute fragen: »Wie ~geht's~,
Mister Pratt?« so kann ich aufrichtig antworten: »Gut.«

Das wäre gelogen, hätt' ich nur einen Fuß. Dann müßten sie mich schon
fragen: »Wie ~steht's~, Mister Pratt?«

Aber vorsichtig sind die Menschen, wenn sie einem Unglücklichen
begegnen; dass hab' ich längst gemerkt. Sie hüten ihre Interessen
mit einer Sicherheit, einer Schlauheit, mit einer so raffinierten
Berechnung, die dem Kronenträger der Schöpfung Ehre machen könnte --
wär's nicht purer Instinkt. Sie fragen nie: »Was machen Sie, Mister
Pratt?« Sie wissen wohl, daß ich nichts mache, nichts machen kann mit
einer abgesägten Hand; und ein Krüppel, der nichts macht, verdient
nichts; und verdient er nichts, dann -- nun ja, dann hört alles auf!

Ein Mensch, der Gefahr läuft, von innen heraus aufgefressen zu
werden, ist im stande und verwildert zum ~Bettler~. Der Bettler
aber ist das Greulichste, was den Leuten den Weg vertreten kann. Mit
nichts können diese gottesfürchtigen, frommen Christenkinder so in
Verlegenheit gebracht werden als mit Anbetteln. Ich zweifle sehr,
ob sie den Straßenräuber mehr verwünschen als den Bettler. Ist der
Bettler ein Fremder, dann geht's noch. Der leiseste Ruck am Sehnerv
genügt und der volle Hutladen rechts ist merkwürdiger als der leere Hut
des Krüppels links. Ist der Bettler sehr herabgekommen, abgestanden,
abgenutzt, verwittert, fadenscheinig, vom Schicksal durch die Walze
gezogen, vom Unglück durch den Rinnstein -- dann macht die christliche
Barmherzigkeit vor solchem Jammer den Purzelbaum und stellt sich auf
den Kopf. Aus dieser Lage betrachtet sieht dann selbstverständlich
die Geschichte anders aus, als sie in Wirklichkeit ist. Der arme
Lazarus sieht aus wie ein Lump. Die Ursache seiner Armut sieht aus
wie leichtsinniges Selbstverschulden. Seine vor Erschöpfung unsichere
Gangart -- das kommt vom Saufen! -- Ist der Bettler jedoch ein
Bekannter, ein Freund, ein Blutsverwandter gar, dann -- ja, hier
beginnt der Eiertanz, der zwischen Geiz und Gewissen getanzt wird vom
Witz des Menschen. Schau ihn an, den Jammermann, wenn er angebettelt
wird, wie er schrumpft, schwitzt, errötet, stöhnt, knurrt, klagt,
wimmert -- ~lügt~. Wie er herumschielt nach Erlösung von dem
Bettler -- nach einem Wagen, dem er ausweichen muß -- nach einem
Regentropfen, dem er entfliehen muß -- nach einem irgend Etwas -- nach
einem scheuen Gaul -- tollen Hund. Wie er (um alles zu bekräftigen,
was er ~lügt~) mit der Hand die Herzgegend reibt -- als hätt'
er eins -- -- --. Mephisto! Wenn bei dieser Heuchelei, Verlogenheit,
Unverschämtheit, Grausamkeit der Teufel nicht lachen muß, daß ihm der
Ziegenbart wackelt wie ein Staubwedel, dann hat der Alte keinen Sinn
mehr fürs Detailgeschäft. Fertig!

Ich kann dieses Kapitel nicht ausschreiben -- mir ekelt.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                       Brooklyn, den 15. November 1900.

          Liebe, gute Schwester!

Ich habe schwer gesündigt in meinem Urteil über die Menschen im letzten
Brief -- und werde abbitten.

Heute saß ich im Navy Park auf einer Bank und betrachtete meine Schuhe.
Ein vorübergehendes altes Mütterchen drückte mir zehn Cent in die Hand.
Ich kaufte dafür einen Apfel fürs Kind, eine Orange für die Mutter und
einen Laib Brot für uns drei.

Danke, danke, edle Geberin! Wer du auch seiest -- Gott wird dich finden
und belohnen. Du hast die Hungrigen gespeiset.

Es gibt doch noch gute Menschen.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                       Brooklyn, den 20. November 1900.

          Liebe Schwester!

Unfreiwillige Arbeitslosigkeit ist eine Schule, in der mehr gelernt und
gelehrt wird als sämtliche Professoren der Welt zusammenstudieren.

Ich bin sicher, daß Newton hundert Gesetzfälle entdeckt hätte anstatt
des einen Fallgesetzes, würd' er diese Musterschule besucht haben.
Darwin hätte nicht den Unsinn geplaudert: der Mensch sei die veredelte
Abstammung von der Bestie, sondern umgekehrt, wie's richtig ist.
Galilei hätte den Zusatzt beschworen: »Sie bewegt sich doch -- aber
rückwärts.« Dem unerschöpflichen Shakespeare wäre der Spiritus
vertrocknet, hätt' er, statt seines Shylock, als Arbeitsloser den
Mordskerl »Kapital« studiert. Der Dulder von Gethsemane hätt' zu fühlen
bekommen, daß Menschenerlösung das allerundankbarste Geschäft unterm
Himmel ist. Archimedes könnte rechnen lernen, wie man eine zehnköpfige
Familie ernährt mit neun Dollar Wochenlohn -- oder gar keinem Lohn.
Diogenes könnte Bekanntschaft machen mit dem Mietzinszahlen für seine
Tonne. Mit der Laterne braucht' er den Mietsherrn nicht zu suchen, wenn
der Monat fällig ist.

Es bleibt Tatsache: die Welt wird immer besser und schöner! Ein
Arbeitsloser, mit der Hungerpeitsche durch die meilenlange Schulbank
(Straße) gepeitscht, bis er das »Einmalkeins« und das »Ach--O--Weh«
so im Schädel hat, daß er's schreit im Schlaf -- ~der~ weiß, wie
schön die Welt ist und wie sie herrlicher und besser wird von Tag zu
Tag!

Häuser bauen sie wie Zauberschlösser aus »Tausend und eine
Nacht«. Und der Arbeitslose hat das unantastbare Privilegium,
daran vorbeizuspazieren, im Regen, Schneegestöber, Sonnenbrand,
und Betrachtungen anzustellen über das Wohlbehagen der Insassen.
Musentempel bauen sie, Sommergärten, Feengärten, Paläste -- daß sich
die Engel schämen beim Abstauben der himmlischen Möbel, über des
Herrgotts altmodischen Krempel. Der Arbeitslose hat das unantastbare
Recht, daran vorbeizuspazieren im Regen, Schneegestöber und
Sonnenbrand ...

Im Park stehen Bänke unter schattigen Bäumen; der Arbeitslose darf
sitzen dort, ausruhen, abkühlen, Luft ein- und ausatmen, herumschauen,
auf und ab. Ist er durstig -- dort steht ein Wassertrog für ihn, ein
Blechkessel hängt am Kettchen; Wasser trinken darf er, bis sein Magen
plantscht wie ein halbgefülltes Trinkhorn. Ist er hungrig -- zahllose
Schaufenster stehen ihm zur Verfügung mit gekochten und ungekochten
Leckerbissen; die darf er angaffen mit allen Gefühlen, vom Ekel an die
Leiter hinauf zum Verlangen, Sehnen, Schmachten, Gier, Heißhunger,
Wolfshunger, bis ihm das Kinn tröpfelt wie ein kleiner Niagara.

Braucht der Arbeitslose Abwechslung, Unterhaltung, Zerstreuung -- am
Rennweg fahren die Protzen, die Reichen spazieren für ihn den ganzen
Tag. Der Arbeitslose darf -- stehen darf er nicht dort -- sitzen
auch nicht lang' -- aber scheu durch die Hecken blicken und sehen:
wie's geht, wenn's fährt. Sehen, was die Herren für reinliche Wäsche
tragen mit Manschetten und Stehkragen; Krawatten mit Diamantennadeln;
Handschuhe vom rarsten Ziegenleder; Stiefelchen wie geleckt; Höschen,
Rock und Weste gebügelt, gemodelt von Schneiders kundiger Hand. Die
Damen wie sie blühen, wenn sie glühen; wie sie schmachten, wenn
sie trachten; wie sie faul sind vom Nichtstun; wie sie müde werden
vom Faulenzen; wie sie verwöhnt werden von höfischer, kriechender,
dienerischer Umgebung. Wind und Wetter werden ausgewählt, die
Sonnenstrahlen gezählt, Wolken gewogen, eh' Fräuleins Haut oder
Madames Hut das Wagnis wagt, spazierenzufahren in Gottes herrlicher
Natur. Pfeilschnell fliegen die Renner durch die schattigen Alleen.
Kühl fächelt der Wind die wohlgepflegten Gesichter; ist es kalt, die
kostbarsten Pelze hüllen die Glieder ein wie warme Betten.

Und um und um drehen sich die Räder.

Oooo! Wie viele tausend halbgefütterte Mädchen und Mütter, Söhne und
Väter der Armen müssen sich todmüde rackern, diesen Prassern ihren
Tisch zu decken, ihre Häuser zu bauen, ihre Zimmer zu dekorieren,
ihre Kleider zu weben, Unterhaltung zu schaffen, allen Launen einer
verwöhnten, überfaulen, egoistischen Gesellschaft Leckerbissen zu
streuen -- bis Erbrechen folgt?

Bei solchen Studien kann es vorkommen, daß der Arbeitslose wahnsinnig
wird, heimrennt und Bomben gießt. Der Unglückliche bildet sich dann
ein, die runden Dinger seien Brotlaibe. Und wenn er sie abbrennt
und knallen hört, denkt er, das sei der vierte Juli, der Tag der
Unabhängigkeitserklärung. -- Aber die Gesellschaft kann sich schützen
gegen solche Narren. Der Anarchist wird per Strick am Hals zum Teufel
geführt -- der gibt ihm doch wenigstens gebratenes Fleisch zu riechen.

Ja, ja, es ist eine majestätische Weltordnung! Man möchte »Viktoria«
schreien -- oder besser noch hinaufsteigen irgendwo, auf den
Chimborasso, und herunterpfeifen auf das ganze Eldorado.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                       Brooklyn, den 25. November 1900.

          Schwester!

Letzte Nacht war ich lang und innig im Gespräch mit Gott. Wir hatten
uns viel zu erzählen. Ich erzählte ihm vom Leben und Leiden in der
Werkstatt; wie es staubt und stinkt in der Fabrik; wie man hustet,
keucht, schwitzt, schwindsüchtig wird, und wenig verdient, und Weib und
Kind schier nicht mitschleppen kann auf steiler Bahn.

Er erzählte mir vom Geisterreich, vom Schöpfungsplan, von Welten, die
er machen wird und machte, von den Lichtern, die wir sehen jede Nacht,
bis ganz hinten, tief, wo Sonnen frieren und die Allmacht Grenzen
wünscht und keine findet.

Ich klagte über meine Not.

Über die Menschen ~er~.

Ich betete ihn an.

Er hauchte mich an.

Wir gelobten uns ewige Treue.

So still das Wiesental, der Fluß. So halbdunkel, gespenstisch die
Hügelwand mit Waldesschatten. So klar die Sternenwelt dort oben -- wie
nur das müde, schlafende Pilot Knob in warmer Sommernacht es geben kann.

Was der Nachtwind den lauschenden Fichten klagt; die Riesen nicken:
»ja« -- die Riesen schütteln: »nein«.

Was der Nachtwind abgehorcht dem Grollen der Donner, dem Rauschen
der See, dem Krachen der Gletscher, dem Dünensand, dem Wüstensand,
dem Hüttenraum der Armen, dem Prunkgemach der Reichen. Was der
Nachtwind den Bergen erzählt: die Felsen überziehen sich mit Immergrün
und Blütenstaub; die Felsen überziehen sich mit Eis -- und weinen
Wasserfälle.

Was der Wiesenbach den Blumen erzählt, was er sah und fühlte auf der
Reise von der Quelle abwärts durch das Tal zum Meer -- und auf Wolken
wieder aufwärts bis zur Quelle -- hin und her. Die Blumen hauchen ihre
Seelen aus vor Lust und Sehnen -- die Blumen weinen Tau -- die Blumen
sinken sterbend auf das Wasser, treiben mit der Flut zum Meer -- und
nimmer wieder.

Zwischen Nichts und erstem Werden. Durch jene Ewigkeit der Nacht, als
Gottes Seele schlief und träumte noch, von Zukunft, Welt und mir -- --
mit einer Sehnsucht, Funken zu schlagen aus dem Nichts -- mit einer
Liebe, die Welt zu schwellen mit Wollust -- mit Sonnen -- Sonnen -- --
Sonnen -- -- --

Plumps! Ausgerutscht! Da liegt der Tom.

Nein, Schwesterchen! mit diesem Absprung komm' ich nicht an die
Himmelstür, viel weniger hinein, zum Herrn der Heerscharen. Es geht
nicht und geht nicht mehr. Ich hab's versucht. Oben kannst Du's,
schwarz auf weiß, bemitleiden, wie ich mich anstrengte, mich ins
Geschirr legte, einen Schwung machte ums Zentrum herum, daß die
Zentrifugalkraft die Anziehungskraft förmlich sitzen ließ wie ein
tanzwütiger Schwerenöter die alte Jungfer.

Ich bin nicht mehr Tom, der Dichter im Schurzfell. Tom, der mit den
Seraphs Harfen spielte -- mit den Cherubs Abendspaziergänge machte über
blutgesäumte Wolken. Tom, der, wenn er nur wollte, dem lieben Gott auf
die Schulter klopfen durfte und plaudern mit ihm wie ein Kind.

Ach! Ach! Dahin! Dahin! -- --

Letzte Nacht war ich lang und innig im Gespräch mit Gott. Der Tag
vorher war bis zum Abend -- ein Waschtag. Eva legte sich, müde von der
Arbeit, früh zu Bett. Bertie auch. Ich setzte mich ans offene Fenster
in der Küche und betrachtete die Nacht. Sie war schwer und herbstlich;
ich war still und traurig.

Seltsam -- ich starrte eine Weile auf die Sternengruppe der Andromeda
und -- erschrak über die merkwürdige Veränderung der Lichter. Die
wohlbekannte Milchstraße schien mir plötzlich eine weiße, endlose Wand,
Mauer -- eine Gartenmauer. Sie kam mir näher, oder ich ihr. Mit einem
Mal dachte ich's und da war es so: die endlose weiße Wand war die Mauer
um das Paradies. Ich hörte Singen, Lachen, Harfenspielen über der Mauer
drüben. Ich sah fruchtbeladene Palmen, gewiegt von blumenduftenden
Winden. Ich roch Weihrauchwolken, die aufstiegen wie Feuerwerke. Ich
war tatsächlich dem Himmel so nah, daß mir nur das Loch in der Mauer
fehlte zum Seligwerden. Ich trottete auf gut Glück entlang und sucht's.

Die Umgebung des Paradieses ist auch ein Paradies (mit ~eines~
Wunsches Unterschied); Blumen und Fruchtbäume und wundervoll grünes
Gras bedecken den von magischem Licht verklärten Boden; aber alles
Bewegliche neigt sich verlangend nach der Mauer hin -- ein Zug, der
auch mich erfaßte. Ich wußte keine Ruhe hier außen, auch in diesem
idealen Zauberpark nicht, den ich doch, wie ich merkte, ungeteilt
bewohnen durfte. Qual und Sehnsucht verzehrten mich.

Da -- gewahrte ich eine Öffnung an der hellen, glatten Wand, und o
Himmel! es war das Pförtchen -- der tausendfach gelobte, geschilderte,
besungene Eingang in das Paradies.

Als ich, durch Blumen watend, näherkam, bemerkte ich einen
weißgekleideten, weißhaarigen Greis. Er saß auf einer rohgezimmerten
Holzbank neben dem Pförtchen und schien zu schlafen. Das war
unzweifelhaft der heilige Petrus. Er trug ein ziemlich reines,
grobgewirktes, ungeheuer weites, weißes Nachthemd mit Matrosenkragen.
Der Heiligenschein schwebte in Gestalt eines rotglühenden Kübelreifs
über seinem Haupt. Die Himmelsschlüssel lagen nebenan auf der Holzbank,
und ebenso ein Körbchen mit einer im Winde flatternden, blutroten
Atlasschleife am Korbhenkel. Säuberlich hineingebettet ruhten im
Körbchen zwei riesige Pflaumen, zwei Butterstullen, ein gesalzener
Rettich und ein verblüffend demokratisches Bierkrügerl. Im Gras,
nicht weit von der Bank, bemerkte ich ein goldenes, niedlich kleines
Pantöffelchen, die Sohle nach oben. Das ließ erraten, daß die Engelein
dem alten Mann sein Vesperbrot heraustrugen und sich dann im Gras
herumjagten, wie's ja die Kinder lieben überall.

Um des Heiligen Aufmerksamkeit zu wecken, begann ich halblaut zu
husten. Die Wirkung war -- entsetzlich. Der heilige Mann schnellte wie
von Skorpionen gebissen senkrecht in die Luft und starrte mich an mit
verglasten Augen. Ebenso schnell jedoch kam er wieder ins Gleichgewicht
und setzte sich. Er zuckte zwei-, dreimal mit der Schulter, schüttelte
den Kopf, und legte dann sein linkes Bein, vom Knie an abwärts,
wagerecht übers rechte. Und -- jetzt erst ging mir ein Licht auf
über das, was ich vorher an der zusammengekauerten Gestalt für ein
Nachmittagschläfchen hielt: der Heilige beschnitt sich die Zehennägel
mit einem Federmesser.

»Bist du sehr in Eile?« frug er mich, halb mürrisch, halb gleichgültig,
und seine Beschäftigung wieder aufnehmend.

»Nicht sehr, heiliger Petrus,« gab ich zur Antwort.

»Dann laß mich diese drei Nägel noch abschneiden.«

»Hundert, wenn's Euch beliebt!« -- Ich war so verwirrt, daß ich ganz
vergaß, daß der Menschenkörper nur zwanzig solcher Dinger besitzt.

»Wo kommst du her?« frug mich der Apostel wieder nach einer Pause, aber
bedeutend leutseliger dieses Mal.

»Von der Erde unten,« erwiderte ich.

»Das kann ich riechen, haha! -- Von welchem Land oder Königreich, will
ich wissen.«

»Von keinem Königreich, von einer Republik komme ich.«

»Von Transvaal?«

»Von Amerika.«

»Von Amerika?!« -- Der Alte schüttelte den Kopf und seufzte. »Und woher
in Amerika, wenn ich fragen darf?«

»Von Neuyork.«

»Neuyork? Neuyork? Hm -- wo liegt das Ding?«

»Bei Long Island,« gab ich zurück, immer noch gepreßt.

»Long Island! Ah, jetzt erinnere ich mich. Neuyork -- Long Island --
das ist eine schlimme Weltgegend. In zehn Jahren bist du erst der
zweite, der hier vorspricht.«

»Und wer ist der andere?« frug ich naseweis.

»Ingersoll.«

Ich schrie förmlich auf: »Ingersoll! Robert Ingersoll, der Ketzer?!«

»Und?« -- Sankt Peter schaute von feiner Arbeit auf und mir ins
Gesicht. »Und?«

»Ingersoll, der Atheist!«

»Und?«

»Der Gottesleugner!«

»Und?«

»Der Religionsspötter, Seelenvergifter, Teufelsagent, der ein
Menschenleben lang die Bibel zerfetzte wie alte Zeitungen!«

»Und?«

»Und?! -- ~Den~ habt ihr in den Himmel 'reingelassen?«

»Wenn ich so genau wollt' richten,« erwiderte der Heilige trocken,
»dann könnt' ich überhaupt die Bude schließen und die Schlüssel
wegwerfen. Im Buch steht nichts, daß er Menschen geschunden hat und
meinen Herrn und Meister verkauft; und ich halte mich ans Buch -- nur
ans Buch.«

Ich mußte lachen. »Wieso kann er den Herrgott verkaufen, wenn er gar
nicht an den Herrgott glaubt?«

»Ach was, glaubt, glaubt, glauben. Was gibt der Ewige für euern
Glauben -- er pfeift euch auf euern Glauben. Gute Werke will er sehen;
Brüderlichkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit.«

Hier interessierte sich der Apostel mit einem Mal so für seine
unterbrochene Beschäftigung, daß ihm das welterschütternde Thema Null
war gegenüber dem Nagel am Zehen. Es war der große Zehennagel. Der
Nagel war, wie man zu sagen pflegt, ein eingewachsener Nagel. Ein
solcher Nagel verlangt ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit, Geduld und
Kunst. Man muß mit Leib und Seele bei der Sache sein. Man darf da weder
Übereilung noch Ängstlichkeit zeigen, noch an etwas anderes denken darf
man.

Jetzt war es sterbensstill ringsum. Fernweg hörte man das Harfenspielen
der Engel, aber kaum so laut wie das Summen der Glocken, wenn der
Küster längst den Strang verlassen.

Und da saß er nun vor mir -- und wie?

Das also ist der heilige Petrus, der Schiffer und Fischer, der die
Segel reffte auf dem Galiläischen Meer vor neunzehnhundert Jahren.
Das ist der biedere, grade, natürliche Arbeiter, den der Heiland auf
den ersten Blick so lieb und sympathisch fand, daß er ihn zu seinem
Stellvertreter erwählte. Das ist der Charakterkopf, der die Wucht und
Größe einer welterlösenden Religion erfaßte. Das sind die schwieligen
Hände, die Netz und Ruder zogen -- und dann durchnagelt wurden am
Kreuz. Das sind die Füße, die Palästina durchwanderten vom himmelblauen
See Genezareth bis zum Toten Meer, vom Berg Tabor bis zum Ölberg, von
der heiligen Stadt Jerusalem bis zur ewigen Stadt Rom -- und dort
durchnagelt wurden am Kreuz.

Unsägliches Mitleid mit dem Märtyrer ergriff meine Seele.
Unwiderstehlich zog es mich drei Schritte näher. Aus Mitleid, und mehr
noch um den Mann wieder reden zu hören, frug ich: »Wie geht's Geschäft,
heiliger Petrus?«

Er wies mit der messerhaltenden Rechten nach der Himmelspforte,
gleichsam den Staub und die Spinnenweben dort auffordernd, mir die
Antwort zu geben.

»Da sieht nicht aus wie überlaufen,« erwiderte ich.

»Das sieht aus, als ginge die ganze Welt zum Teufel!« schrie Sankt
Peter plötzlich, und so rasch sein Temperament verschiebend, daß er
mit dem letzten Wort im Satz zu spät kam und es wegließ bis aufs »T«.
Kirschrot vor Aufregung wurde er im Gesicht, seine Augen schossen
Blitze; seine Skalpierkunst am Zehen wurde abgebrochen; das Federmesser
schnappte zu und verschwand im Faltenhemd. »Wär' ich der Allmächtige,
ich pumpte alles Wasser des Universums auf die Menschenbrut hinunter,
daß sie schwimmen müßten bis an den Mond, um Land zu finden. Sind dass
Menschen? Ebenbilder Gottes? Christen, erkauft mit dem Blut? -- Und
wenn der Teufel tausend Jahre lang an einem einzigen Halunken seine
ganze Wissenschaft verschwendet, er kriegt keinen Schuft zu stande,
wie ihn die Gesellschaft produziert im Handumdrehen, ohne Müh' und
Kraftverlust! -- -- Ach was --«

Hier kühlte sich des Heiligen Zorn und wie resignierend setzte er
hinzu: »Es ist eben ein Fehlschlag. Die ganze Schöpfung ist ein
Fehlschlag. Es ist wahr, jeder kann hin und wieder mal sein Pech haben
mit der Arbeit, aber ~so~ den Stoff verpfuschen, das ist zum
Weinen. Man hätt' was Herrliches draus machen können mit Überlegung
und Zeit; aber so in der Eile sein und in sechs Tagen die Welt machen
wollen, wozu man von Rechts wegen die Ewigkeit nehmen sollt'. Jetzt
ist's geschehen -- und alles Dranrumflicken und Pflastern macht's nicht
vollkommen.«

Er reckte sich gähnend, nahm den Rettich aus dem Körbchen, betrachtete
ihn eine Weile und legte ihn wieder zurück. Dann machte er ein paar
Schritte von der Bank weg, wo das goldene Pantöffelchen im Grase lag,
und warf es im Bogen über die Mauer. »Die Rangen, ihre Flügel werden
sie sich noch abreißen nächstens.«

»Das ist allerdings traurig, lieber, heiliger Mann,»stöhnte ich, wie
betäubt von dem Gehörten und Gesehenen.

»Zum Verzweifeln ist es!« erwiderte der Apostel und setzte sich
abermals. »Mein Herr und Meister sagt es selber, daß es zum Verzweifeln
ist. Erst vorige Woche war er hier außen bei mir auf ein Stündchen;
dort saß er, wo das Krügerl steht, und hier saß ich. ›Peter,‹ sagte
der Herr zu mir, und er war sehr traurig. Er ist immer traurig, aber
~den~ Abend war er auffallend traurig. ›Peter, jetzt feiern sie da
unten das neue Jahrhundert; hörst du den Spektakel? Ein solcher Lärm
war nicht, seit der Michel den Himmel säuberte von den Aristokraten.
Auf drei Plätzen haben sie Krieg, auf zehn haben sie Massakres, auf
hundert Schlachthäuser im Betrieb für ihre Brüder. Mord, Meineid, Lüge,
Raub, Betrug, Trunksucht, Faulheit, Neid, Geiz, Hochmut, Heuchelei,
Schändung -- das Menschengeschlecht badet sich in Todsünden wie ein
krätzig Tier im Morast. Den Reichen verfault ihr göttlich Teil im
Prassen und Schwelgen, den Armen versiecht die Seele in Jammer und
Verzweiflung; und keine Sonne am Himmel und kein Gott im Himmel ist
den Menschen so warm und heilig wie Geld und Geld. Der alte Mann im
Vatikan, mit seiner dreimaligen Krone, hat nicht die blasse Idee
von dem Kommunismus, für den wir uns kreuzigen ließen. Mit seiner
Politik, Peter, wär' ich Hohepriester geworden, du und Paulus römische
Senatoren; und Judas -- ah, der Schelm hat mich doch wenigstens nicht
blamiert und hat seinen Preis verlangt; die Kuttenmänner aber verkaufen
mich für zehn Cent, und nicht ~einer~ hängt sich auf vor Scham und
Reue -- nicht ~einer~. Peter, ich zähle auf dein Prinzip, laß mir
ja keinen durchschlüpfen, der nach Geld und Banknoten riecht!‹«

Der Alte erhob sich. »So, jetzt wollen wir zur Examination schreiten.
Hoffentlich bestehst du sie. Es ist viel Platz im Himmel und (hier
schnalzte der Heilige mit der Zunge und blinzelte schelmisch) verd...t
gemütlich, seit das Radfahren aus dem Sündenregister gestrichen wurde.«

Ein Fieberfrost überlief mich bei dem Wort »Examen«, und kaum weiß ich,
in welcher Tonart ich stotterte: »Lieber, heiliger Herr! Wollt Ihr das
Essen kalt werden lassen meinetwegen und das Bier sauer? Ich bin rein
gar nicht in der Eile, lieber, heiliger Herr.«

»Erst das Geschäft, dann das Vergnügen. Dass Bier kann 's Stehen
vertragen, 's ist Anhäusers.«

Sankt Peter lachte und das ermutigte mich einigermaßen. Dann schloß er
das Pförtchen auf und schritt hindurch. Ich blieb außen. Bald darauf
öffnete er ein Schiebefenster neben dem Pförtchen. Ich verfolgte jede
seiner Bewegungen. Er hob ein schweres, ledergebundenes, vergriffenes
Buch aufs Gesimse. Ich verwandte kein Auge von ihm. Er setzte eine
Brille mit Hornbeschlag auf die Nase, und das gab ihm ein zwischen
Komik und Ehrwürdigkeit balancierendes Aussehen. Die Brille war alt und
trug die Geschäftsmarke: »Levi u. Söhne, Esaustraße, Kapharnaum.« --
Jetzt frug er mich nach Tauf- und Zunamen.

Ich antwortete: »Tom Pratt.«

Er blätterte im Register. »Tom Platt.«

»Um Himmels willen!« schrie ich, »Tom Pratt! -- nicht Platt.«

»Tom Pratt -- Pratt -- Tom Pratt --«

Mit Todesangst hafteten meine Augen an des Alten Gesicht. Das geringste
Stirnrunzeln bedeutet ewige Verdammnis. Das geringste Lächeln auf
seinen Lippen heißt ewige Seligkeit.

Plötzlich verzerrten sich seine Züge wie die fluchende Fratze eines
Ketzerrichters. Hochrot, blau, violett wurde die Hautfarbe seines
Gesichts; Beulen, Klumpen schwollen heraus, förmliche Würste;
Krampfknoten wie Trauben und kalifornische Zwetschgen. »Schwindler!«
schrie er, »eine solche Unverschämtheit ist mir noch nicht begegnet
seit der Himmelfahrt! Du lebst ja, du bist ja noch gar nicht tot!
Den Himmel willst du haben bei Lebzeiten?« -- Er griff nach dem
dreipfündigen Schlüssel und -- mir flog etwas an den Schädel, daß mir
Sterne, Planeten und Saturnusringe vor den Augen flammten.

-- -- Ich wachte auf. Neben dem Küchenfenster sitzend war ich
eingeschlafen, und im Schlaf fiel mir der Kopf aufs Fensterbrett --
schwer wie Blei.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                        Brooklyn, den 1. Dezember 1900.

          Teure Schwester!

Es gibt Augenblicke im Menschenleben, die nur verglichen werden
können mit dem Reißen einer Wolke nach langer, trüber Regenzeit, wenn
plötzlich augenblendend die Sonne leuchtet in die Finsternis. So,
gleichsam durch Tränen lachend, war die gottgeschickte Stunde, die ich
und meine Eva gestern morgen erleben durften.

Es war ein Regentag. Ich stand wie gewöhnlich auf, und weil es regnete
und stark regnete, blieb ich im Haus.

Um acht Uhr pfiff der Briefträger nach »Tom Pratt«.

»Eva, ein Brief von Pilot Knob!« rief ich und rannte hinunter,
ihn abzuholen. Es war kein Brief von »Jennie Dear« -- sondern ein
Schreiben war's von meinem ehemaligen Prinzipal in Neuyork. Keine
Sekunde vermochte ich zu warten auf den Inhalt und riß den Umschlag
in Fetzen -- überflog die Zeilen. »Arbeit!« schrie ich, »Arbeit! ich
habe Arbeit!« Und so laut schrie ich und so hastig lief ich die Treppen
hinauf, daß ich in der Küche war, eh' mein Weib, durch mein Lärmen
erschreckt, die Tür erreichte.

»Eva! Arbeit! Platz! Ich hab' eine Anstellung! Tom hat eine Anstellung
-- zwölf Dollar die Woche -- -- lies doch -- hier sieht's schwarz auf
weiß:

  »Werter Herr Pratt!

Ich habe Ihnen nach langem Bemühen eine passende Stelle gefunden,
die Sie jedoch sofort antreten müssen. Gehen Sie nach 700 Mercer
Street. Mister Rouß ist unterrichtet von mir und wird Sie anstellen
als Nachtwächter in seinem Lagerhaus. Gehalt zwölf Dollar. Zu arbeiten
brauchen Sie nicht, aber ehrlich, nüchtern, wachsam, zuverlässig in
jeder Art müssen Sie sein -- und das sind Sie --«

Weiter kam ich nicht im Lesen. Mein Weib fiel mir laut weinend um den
Hals; ich fiel ihr um den Hals; und dann fielen wir beide zusammen
auf das Sofa. Dann erschien Bertie, aufgeweckt von dem Spektakel,
im Nachthemdchen, und das Freudenschreien mißverstehend heulte er
ebenfalls, und am allerlautesten, und vermehrte den Menschenhaufen mit
seiner Persönlichkeit.

Es war jetzt ein so wirrer Knäuel auf dem Sofa, ein Schluchzen, Küssen,
Lachen, Sprechenwollen, daß Minuten vergingen, eh' wir Alten vernünftig
wurden und das Kind beschwichtigten. Das war höchste Zeit, wollten wir
nicht die Nachbarschaft alarmieren oder gar die Feuerwehr.

Dann zog Papa seine Sonntagskleider an, Schuhe, weißes Hemd -- derweil
Mama das Kind küßte unter immerwährendem Schluchzen und Lachen, daß
Bertie erstickt wär', hätt' ich Eva nicht weggerufen, mir die Halsbinde
zu knüpfen.

Unter strömendem Regen trat ich meinen Weg an nach Neuyork. Eine Stunde
später trat ich ins Kanzleizimmer des Mister Rouß.

Es war Tatsache: ich soll den Platz sofort antreten -- das heißt,
sofort nach sechs Uhr Abends. Das ist die Zeit, wo das Geschäft
geschlossen und der Nachtwächter (das heißt: ich) eingeschlossen
wird. Buchstäblich eingesperrt. Stündlich hat er das Gebäude
abzupatrouillieren. Diebe, Feuer und Ratten sind die Hauptfeinde, auf
die er seine Findigkeit konzentrieren soll.

Also den Nachtwächterposten hab' ich; »aber« -- --

Noch nie in meinem Leben wurde ich von vier Buchstaben so überrumpelt
wie von diesem »Aber«.

»Aber,« sagte Mister Rouß, »sollte Pat (Pat ist mein Vorgänger im
Amt) -- sollte Pat gesund werden, was wir alle sehnlichst hoffen,
muß ich selbstverständlich als Geschäftsmann und Mensch ihm seinen
Platz zurückgeben. Er ist Familienvater von elf Kindern und zudem ein
alter, treuer Diener der Firma. Stirbt er, dann allerdings haben Sie
die Stelle permanent. Kommen Sie heute abend um sechs zum Dienst.
Instruktionen erhalten Sie jetzt sofort vom Aufseher.«

Der Herr winkte mir, zu gehen, und Tom zog die Kanzleitür ins Schloß,
von außen. Vom Aufseher erfuhr ich ohne Zugpflaster (denn er ist ein
solcher Schwätzer, daß er 's Maul nicht hält im ~Barbierstuhl~ und
sich durch sein ewiges Schwätzen eine Papageienphysiognomie erworben
hat, die nur stellenweise von blauer Brille und Zigarrenstummel
verdeckt wird), daß Pat vierzehn Jahre lang Nachtwächterdienste tut
fürs Haus, daß er vom Gliederreißen viel geplagt wird, daß seine Frau
viel doktert und -- trinkt, daß seine Kinder alle klein sind, daß er
seit drei Wochen schwer krank an Erkältung das Bett hütet, daß seither
abwechslungsweise Angestellte der Firma Nachtwächterdienste versahen
für den kranken Pat. »Wohl denn,« sagte der Schwätzer zum Schluß,
»verlieren wir den Pat, bekommen wir also einen Pratt. Hoffentlich ist
der Unterschied zwischen Ihnen und ihm so klein wie im Namen, denn Pat
ist ein sehr zuverlässiger Mann, ein sehr ehrlicher, zuverlässiger
Mann. Adieu!«

Für meine Handlungen nach dieser aufregenden Stunde bin ich
nicht verantwortlich. Die helle Freude, dann das trübe »Aber«,
dann die vielen Zwerge, die an diesen zwei schwarz-weißen Riesen
herumkrabbelten, erfüllten meine ohnehin nervöse Phantasie so mit
beängstigenden Bildern, daß ich wie von Gespenstern gehetzt Hilfe
suchte, irgendwo. Eine Kirche stand offen. Dort taumelte ich hinein,
sank auf die Kniee, und so heiß, wie nur gebetet werden kann, betete
ich dem Vater der Armen ein Dankgebet für die Erlösung aus der Hölle
der Arbeitslosigkeit.

Daß ich meine Augen schloß; daß ich naß, kalt, müde und hungrig war
und mein fieberndes Gehirn Bilder sah; mein Weib und Kind neben mir
knieen sah, dann noch mehr arme, zerlumpte Menschen sah, die beteten
und die Kirche füllten, daß ich dann plötzlich einen Mann aus der
Menge die Hände aufheben sah und laut zu Gott schreien hörte um Brot
für seine elf Kinder; daß ich unwillkürlich an Pat dachte, mein Traum
aus, mein Gebet aus, meine Ruhe aus, alles, alles aus war -- die
ganze Himmelsharmonie von vorhin ausgellte in so schrille, wilde,
nervenzerreißende Mißakkorde, wie das Chaos der heutigen
Weltordnung -- --

O Jennie! Ich kann nicht beten noch danken, ohne Gott zu lästern.
Sünde wird mein Flehen, Fluch mein Danken, Brudermord mein Dasein.
Was ich erbettle -- ist meinem Bruder genommen. Was ich genieße, ist
meinem Bruder geraubt. Meinen Bruder zerre ich unter Wasser, wenn ich
schwimmen will. Meinen Bruder muß ich bestehlen, überlisten, würgen,
totwürgen -- so will es die Ordnung hier auf Erden.

Und ich bin für Ordnung.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                      Pilot Knob, den 1. Dezember 1900.

          Mein Bruder!

Der Himmel hat mir den rettenden Gedanken geschickt. Ich habe
nächtelang darum gebetet. Hier ist er: Versuche mit Kopfarbeit Dein
Brot zu verdienen! Tausende leben, und viele sogar im Wohlstand, die
mit der Feder produzieren. Eine Hand genügt dazu, und die hast Du noch;
und Gehirn und Herz hast Du erst recht. Allerdings bist Du nur ein
rußiger, staubiger Fabrikarbeiter, der keine höheren als Volksschulen
genossen hat; aber wenn ich Deine außergewöhnlichen Geistesgaben
bedenke und Deine ergreifenden Briefe lese -- -- ~Versuch's!!~

War nicht unser Vater (Gott hab ihn selig), wenn auch nur ein
hartarbeitender Erzgräber, der klügste Mann im Minendistrikt, Ingenieur
und Verwalter mitinbegriffen. Und »Mütterchen unser« so seelenvoll.
Bruder! Mut! Der Genius steckt uns im Blut. Was andere mühsam aus der
Tinte saugen müssen, haben wir schlafend in der Muttermilch getrunken.
O, hätt' ich Zeit und nur Zeit, ich wollte schier selber eins dichten,
das zum -- Weinen wär' -- hahaha! -- --

Nochmals, Bruder! Versuche es mit Geist und Gemüt; wähle ein Thema,
ein Problem aus dem Leben, aus der Geschichte, aus der natürlichen,
übernatürlichen, aus der Hexenwelt -- irgend eins. Schreib einen
Aufsatz: wie man ledig bleibt, wenn man sich verheiratet wünscht. Wie
man verheiratet bleibt, wenn man sich ledig wünscht. Wie man runzlig
wird vom Ausschweifen und rund vom Keuschsein, oder umgekehrt. Wie man
reich wird durch Ehrlichkeit und arm durch Betrug und Schwindel, oder
umgekehrt. Wie man zum Himmel kommt durch Frommsein und zur Hölle durch
Fluchen, oder ~nicht~ umgekehrt.

Du liebe Zeit! so plaudere ich und drei Kübel voll schmutziger Wäsche
stehen wie das Schwarze Meer unterm Nußbaum. Ich bin freilich ein
Waschweib. Fort, Feder -- Seife her.

Bruder, das für heute. Ein meilenlanger Brief zum nächsten Mal.

                                                                Jennie.

                   *       *       *       *       *

                                      Pilot Knob, den 1. Dezember 1900.

          Teure Schwägerin!

Mit Zittern und Zagen schreibe ich diesen Brief an Dich. Tom darf ihn
nie zu Gesicht bekommen, hörst Du -- nie! Dieser Brief ist nur an Dich
und für Dich. Wenn Tom ihn in die Hand kriegt, ist alles verloren.

Ach, es ist vermessen, zwischen Dich und Deinen Mann, zwischen Euer
grenzenloses Vertrauen diese Wand zu schieben; -- aber Notwendigkeit,
Liebe und alle guten Geister gebieten mir, so zu handeln. Eva -- mir
graut vor der Zukunft Deines Gatten -- meines Bruders. Nicht, weil er
seine Hand verloren hat, seine Arbeitsgelegenheit und Euer schönes Heim
zerstört werden kann -- mir graut vor Toms Seele. Ich fürchte und sehe,
wie meines unglücklichen Bruders Geist sich umnachtet -- sein schöner,
großer Geist. Eva, Du kennst Deinen Gatten, aber ich kenne meinen
Bruder. Er ist heroischer als andere Männer, aber auch kleinmütiger. Er
ist gleichgültiger, phlegmatischer, stoischer als andere Männer, aber
auch empfindlicher, weicher, gewissenhafter. Er ist geistreicher als
andere Männer -- aber kurzsichtiger, beschränkter auch. Er ist, leider
Gottes, viel zu viel in ~einer~ Seele.

Es ist nicht wahr, daß große Seelen am meisten ertragen können --
gemeine Seelen können alles tragen. Eva! Schwester! wir müssen Tom
betrügen -- um ihn zu retten.

Immer wilder, unbändiger, irrsinniger werden seine Anklagen gegen Gott
und Menschen. Wo kann er Halt machen, wenn er Ruhe sucht und keine
findet? Das treibt so hin, und abwärts. Hoffnung! Hoffnung! Ein Licht
in der Nacht, einen Stern im Raum muß der Unglückliche haben, und das
zuerst, einzig und allein -- vorläufig.

Schwester! ich habe Deinem Gatten ein Schreiben geschickt, gleichzeitig
mit diesem an Dich, und ihm ein Heilmittel angepriesen gegen
Verzweiflung. Er wird's Dir vorlesen, dann weißt Du's. Das ist neu
für Tom. Das lenkt seine Grübeleien auf neue Bahnen. Das gibt ihm
Hoffnung, etwas zu werden. Und wenn es gar keinen Zweck hätte, als
sein überfülltes Gehirn entladen zu helfen -- was er denkt und leidet,
auszutoben mit der Feder aufs Papier -- schon das ist viel gewonnen.

Daß Tom mir viel und oft schreibt seit dem Unglücksfall, ist gut --
aber gar nicht gut, daß er einseitig immer das nämliche wiederkäut.
So einseitig, zweck- und maßlos die Menschen kritisieren, das leitet
zum Menschenhaß, zum Pessimismus, zur Versteinerung, zum Wahnsinn.
Fernblick muß der Menschengeist haben, mit einem Auge muß er Gott
sehen, mit dem andern Auge den Wurm, wie er sich tummelt im Staub.
Fernblick verleiht dem Menschen Ausdehnung, Freiheitsdrang, Willen. Hat
er das nicht mehr, ach! dann ist er nur Sklave der Umgebung. Die Seele
wird zum tickenden Gewerke -- die Erscheinungen der Welt ziehen durch
die Seele wie magnetischer Strom, unverstanden von ihr.

Eva, laß diese Worte nie Deines Mannes Ohr erreichen. Sag ihm nie, was
ich hier schreibe. Nichts ist gefährlicher für einen Mutlosen als die
Warnung vor Wahnsinn. Ermutige Tom zum neuen Streben und Leben. Mach
ihn glauben, seine Schriftstellerei bringe Glück, Ehre, Wohlstand. Laß
Dir vorlesen von ihm. Kritisiere, lobe, tadle, lache, weine. Derweil er
dichtet und hofft, wird sich doch irgend eine Anstellung finden, mit
der er das Hauswesen retten kann; -- denn aufrichtig gesprochen: ich
zweifle, daß Tom mit Schriftstellern sein Brot verdienen können wird.
Die Gelehrten haben ~auch~ ihre Angst und Not mit Konkurrenz.
Es ist eine fürchterliche Welt, in der wir hausen. Alles lebt im
Krieg. Einer reißt den andern weg vom Platz. Wann, o wann wird es
besser kommen? -- Unsere armen Kinder! -- Die Nächte sind lang, auch
hier im Süden. Es will nicht Morgen werden, wenn man Sorgen hat. Die
Stunden vor zwölf -- die Stunden nach zwölf -- das Ticken der Uhr
-- wie Wassertropfen Eimer füllen, so monoton, langsam verdrängt's
die Schatten. Man hört das Atmen der Schlafenden um sich -- draußen
vielleicht das Bellen eines Hundes, dass Rütteln des Windes am
Fensterladen, das Regnen auf dem Hüttendach -- keine Mutter könnt's
ertragen und am Morgen noch ein Lächeln übrig haben für die erwachenden
Kleinen -- ohne Glauben an guter Geister Gegenwart.

~Ich~ habe ~ein~ Kreuz zu tragen -- das für Jennie. Sechs
mehr von meinen Kindern -- das für die Mutter. Peter legt auch noch
Holz auf meine Schultern -- das für die Gattin. Das schwerste aber,
das mich schier erdrückt, ist das Kreuz, das mein armer Bruder der
Schwester aufbürdet.

Ach, Eva! ich weiß, Du leidest wie ich -- ebenso geduldig, stumm,
gottergeben -- und darum wollen wir uns umarmen als Leidensgefährten,
als Märtyrer für eine Religion der Aufopferung, Aufopferung,
Aufopferung.

Dann muß ich Dich noch etwas fragen, Schwester. Glaubst Du, es wäre
Euch möglich, den Haushalt abzubrechen, zu verkaufen, was Ihr habt,
und hierher zu reisen, wieder in Toms Heimat? Sechzig Dollar sind
notwendig. Ein paar Dollar kann ich auch erübrigen und zulegen. Gott!
So wäret Ihr doch wenigstens bei mir -- und tothungern lassen wir Euch
nicht. Sag das Tom.

Blut möchte ich weinen vor Weh, Euch nicht helfen zu können und so weit
weg zu sein, so weit weg.

Dann muß ich Dich ~noch~ etwas fragen, das ich immer vergeß beim
Schreiben. Wie geht es Deinem Leiden? Ich erfahre rein gar nichts
mehr von meiner kranken Schwägerin, seit ihr Mann alles Interesse
absorbiert. Hast Du noch immer Atemnot, Blutspucken? Arme Dulderin!

Küß mir Bertie und sei tausendmal gesegnet von Deiner Dich ewig
liebenden Schwägerin, Schwester

                                                           Jennie Daly.

                   *       *       *       *       *

                                        Brooklyn, den 4. Dezember 1900.

          Liebe Schwägerin!

Gott ist mit uns. Tom hat den Brief nicht bekommen. Er schläft bei
Tag weil er den Platz hat bei Nacht. Er kommt am Morgen von Neuyork.
Dann ißt er Frühstück und geht zu Bett. Nach Mittag steht er auf. Der
Briefträger kommt immer am Morgen. So hat er den Brief nicht bekommen.
Nur seinen eigenen Brief. Das ist gut.

O Schwägerin Schwester laß mich auch Schwester sagen. Es lautet so viel
schöner. Du hast recht geraten mit Tom. Er macht mir viel viel Angst.
Er nimmt sich das Unglück so zu Herzen daß er abzehrt. Daß er krank
wird. Er kann nicht essen nicht schlafen nicht lachen nicht sprechen.
Oft wache ich auf mitten in der Nacht dann sitzt er am Fenster allein
und will nicht ins Bett so viel ich bitte und weine. Das macht ihn
krank. Gott sei Lob und Dank jetzt hat er einen Platz in Neuyork als
Nachtwächter. Das ist ein guter Platz für einen Krüppel. Er bekommt
zwölf Dollar. Das ist sehr gut. Aber den Platz hat er nur wenn der
andere stirbt. Das ist traurig. Er sagt so jeden Tag. Ich bete und bete
daß er den Platz soll behalten daß wir leben können. Das Waschen ist
hart für mich. Wenn ich hart arbeite tut mir schon die Brust weh. Dass
sind große Schmerzen.

Liebe Schwester. Bitte rede kein Wort vom Wegreisen von Brooklyn zu
Tom. O sag es ja nicht mehr. Bitte bitte. Du siehst ja ich kann nicht
wegreisen weil Elsies Grab hier bleibt. Wer soll Elsies Grab besuchen
wenn ich wegreise? Tom sagte auch einmal wir müssen nach Pilot Knob.
Dann hab' ich so geweint. Die ganze Woche. O lasset mich leben hier die
paar Tage noch. Ich will ja nicht viel. Nur meiner Elsie Grab sehen
wenn ich Zeit hab'. Wenn ich das nicht kann bin ich so elend daß ich
sterbe. Wenn Tom seinen Platz behält wird ja noch alles recht. Wir
wollen hoffen zu Gott.

Liebe Schwester. Tom hat recht. Er lehrte mich schreiben und lesen nach
der Hochzeit. Jeden Abend. Wenn er kam von der Arbeit. Ich konnte nicht
schreiben und lesen. Nur schwedisch ein wenig. Tom hat's mich gelehrt.
Das ist schön wenn man sich Briefe schreiben kann. Ich werde Tom loben
mit seinem Verstand. Du hast recht er schreibt gern. Das tut ihm gut.
Wenn er aber den Platz behält braucht er keine Bücher schreiben. Er
ist doch nicht gelehrt genug. Und fein wie die Herren. Denkst Du nicht
auch so? Jetzt muß ich aufhören weil er schlaft und ich hab' Angst er
schlaft nicht. Das Schreiben dauert bei mir viel länger. Gott segne
meinen lieben lieben Mann. Und Dich und Deine Kinder und Deinen Mann.
Deine Dich liebende Schwester Schwägerin.

                                                             Eva Pratt.

                   *       *       *       *       *

                                        Brooklyn, den 4. Dezember 1900.

          Teure, liebe Schwester!

Unsere Briefe haben sich dieses Mal gekreuzt auf dem Weg zur Bestimmung
-- irgendwo in Indiana oder Ohio. Sie tragen beide das gleiche
Datum. Du hast demnach mein letztes Schreiben noch nicht beantwortet,
wahrscheinlich aber gelesen jetzt.

Mit Deinem schwesterlichen Rat, ich soll's versuchen, mit der Feder
Brot zu verdienen, kommst Du spät. Ich laufe, seit ich wieder gehen
kann, schier die Beine weg, eine Anstellung als Schreiber zu erlangen.
Wertloses Bemühen. Es ist das reinste Lottospiel. Einer aus zwölf, aus
hundert oft, gewinnt die aussgeschriebene Schreiberstelle. Die anderen
ziehen ab -- und lauter Zweihändige, verstanden, bis auf den armen Tom.

Aber -- hm -- Schriftsteller werden? Bücher schreiben -- Romane --
Gedichte -- Dramen? -- Schwester! das ist ein Wort, mit dem Du mich
tatsächlich erschrecken -- nein, ruinieren kannst, weil es eine Brust
voll gefesselte Geister loskettet zur Rebellion wider meine Ruhe.
Ja, ja, sag' ich es freimütig, Du hast den gleichen Gedanken, wie er
oft mich selber quält. Oft hab' ich zu mir selber gesagt: Tom, wie
geht's? Wie steht's? Die Hand ist fort -- und bis die wieder anwächst,
wächst Gras über Dir und den Deinen. Du mußt ein neues Gewerbe
ergreifen, anderes Handwerksszeug als Hobel, Hammer und Säge. Wie
wär's zum Beispiel -- --? Und mit der Nase stießen sie mich drauf, die
friedenstörenden Kobolde.

Soll ich's probieren? -- Ich werd' müssen. Ach, es ist so ungewohnt, so
plötzlich, fremd. Seiltanzen dünkt mich passender. Ich, der Holzdreher,
soll Schriftsteller werden. Soll ich zuerst lachen, oder weinen? Oder
werden es andere tun für mich?

Schwester! Schwester! wenn ich es jetzt versuche, mit Löwenmut in
die Wolken fliege, oder von dort herunterfalle -- es ist Dein Werk.
Auf denn, ich tu's! Weltgeist! steh mir bei. Ein Bettler kniee ich
hier vor dir, ein armer, verkrüppelter Bettler. Nichts bin ich ohne
dich. Weltgeist! laß mich nicht untergehen, ich fleh' dich an um --
Inspiration!

Arme Jennie! Jetzt folgen etliche Zeilen, die uns beiden sehr ungewohnt
sind. Ich muß Dich sehr hart tadeln und zurechtweisen. Nie wieder,
hörst Du! nie wieder, unter gar keinen Umständen erlaube Dir eine
Ausschreitung wie diese. Ich kann Dir meine brüderliche Verzeihung
nicht garantieren, sollte es zweimal vorkommen. Dein Brief enthält,
eingeschlossen, eine Fünfdollarnote. Das soll für mich und meine
Familie sein, damit wir nicht Not zu leiden brauchen. Du schreibst es
nicht, aber übersetzt vom Geist der Liebe liest es sich so. Nie wieder,
hörst Du, um aller Vernunft willen -- Jennie! Du mit sechs Kindern,
die alle essen wollen wie die Hamster, und Schuh und Kleider brauchen
für die kommende Kälte. Und Dein Gatte ein Bergmann, mit anderthalb
Dollar Tagelohn. Nie wieder schick mir ein solches Blutgeld ins Haus.
Mit diesem Brief kommt's zu Euch zurück -- jeder Cent gesegnet von mir,
meinem Weib und Kind.

Ich muß schließen. Um sechs Uhr beginnt meine Dienstzeit. Ich kann es
kaum Arbeit nennen, denn ich habe nichts zu tun, als im Lagerhaus
übernachten ein wenig herumspazieren, horchen, husten, riechen,
herumleuchten, mißtrauen, und ja nichts hereinlassen noch hinauslassen
als -- meinen Gruß an Dich, und, den Deinen an mich. Jennie, Glück auf!

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                      Pilot Knob, den 9. Dezember 1900.

          Bruder Tom!

Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten. Der Vater der
Armen läßt seine flehenden Kinder nicht verderben.

Also eine Nachtwächteranstellung hast Du jetzt für Deine alten Tage?
Das möchte ein Witzbold die dunkelste Zukunft nennen. ~Ich~
nenne sie so lichtvoll, daß mich schon ihre Ankündigung blendet wie
Sonnenschein und mir das Wasser in die Augen treibt -- oder ist es
nur die Freude? Ich werde schier kindisch über diesem Glück. Ich
werde Unwillen gebärenden Unsinn schreiben in diesem Brief. Ich werde
Dich quälen damit, wie Du mich quälst mit Deinen Ausbrüchen -- nur
umgekehrt. Ich werde witzeln, spotten, hänseln wie zur Zeit, als Jennie
ihren Bruder aus dem Bett rollte und schneeballte auf dem Schulweg. --
Gott! mein langvernachlässigter Leichtsinn, den ich bereits verhungert
und verdurstet wähnte und begraben und vermodert, drückt mich so
ausgelassen, unbändig in die Arme, wie ein alter, privilegierter
Jugendfreund, zurückgekehrt nach langen Jahren aus der Fremde.

Also Nachtwächter bist Du. Abschied nahmst Du vom Licht und -- gegrüßt
seiest du, rabenschwarze Finsternis, du Jagdrevier der Hexen, Geister,
Teufel, Fledermäuse und -- Nachtwächter. Sagen die Leute: Gute Nacht!
Schlafen Sie wohl! dann setzt sich Tom zum Frühstück. Sagen sie: Guten
Morgen! dann geht Tom zu Bett. Mensch! das hat noch gefehlt, Dich total
anders zu machen als andere. Jetzt ist auch gar nichts mehr an meinem
Bruder »Sonderling«, das ausgebügelt, geglättet werden kann, modern,
fashionabel, gesellschaftsmäßig. Tom Pratt, Du bist die Revolution!

Heute ist es Sonntag. Meine Kinder sind ausgegangen für den Nachmittag,
zum Wald. Peter schläft. Jetzt habe ich am Ende die beste Zeit, Dir
eine Neuigkeit mitzuteilen. Das rettet mich zugleich vom Delirium
und Überschnappen. Die Neuigkeit hätte ich Dir schon längst können
mitteilen, aber -- nun ja, Dein Unglück, und dieses auch dazu.

Wir hatten einen Grubenstreik hier. Sechs Wochen hat er gedauert. Das
war ein Leben in den Bergen, das tote Indianer erwecken könnte zum
Tanzen ums Feuer.

Jetzt ist der Streik beendet und -- verloren. Ich habe nie etwas
Kopfloseres gesehen als diesen Ausstand. Eigentlich hatte er zu viel
Köpfe. Lauter Köpfe. Aber keiner der Köpfe, oder alle zusammen hatten
nicht soviel Gehirn wie ein pensionierter Abschreiber. Mäuler, Mäuler
-- ja. Ein Gelärm war es, ein Geheul, Getue, ein Versammeln, Auflösen,
Marschieren und Redenhalten vom Morgen bis in die Nacht hinein.

Mein Peter hat am lautesten, dafür auch am gründlichsten sich
ausgeschrieen. Jetzt liegt das Streikkomitee dort auf der Bank und
schnarcht, daß ich kaum schreiben kann. Alles vergessen schon -- oder
nichts vergessen und nichts gelernt. »Peter! he, Peter! Protokoll
verlesen! Antrag stellen! Schluß der Debatte! Zur Tagesordnung, meine
Herren!« -- Ja, ja, ja.

Und so ist der Rest. Bruder, die Arbeiter sind die klobigsten Schüler
in der Lebensschule, das steht bewiesen. Nichts haben sie gelernt bei
diesem sechswöchentlichen Ausstand als das Hungern. Wann, o wann wird
der heilige Geist herabkommen auf diese Heerscharen der Unwissenheit?

Du kannst Dir vorstellen, Bruder, wie der Streik uns schwer wurde --
besonders uns Frauen. Das Borgen und Schuldenmachen wurde epidemisch;
denn Bankbücher besitzen nur die wenigen. Ich gehöre zu den vielen. Und
die Herren Männer? Diese bullenwütigen Oratoren, die 's Maul aufrissen
wie feuerspeiende Krater -- ein förmlicher Streikkatzenjammer ist in
sie hineingefahren. Sie haben so alle Lust am Streiken verloren, daß
sie eher umsonst graben als nochmals ausstehen. Das Herz ist ihnen fast
wörtlich in die Hosen gefallen. Sie schleichen, kriechen, katzenbuckeln
so über alle Maßen hündisch ängstlich vor dem Grubenverwalter, daß,
wenn das so fortgeht, sie rettungslos zu Hufeisen verwachsen. Und wir
armen Mütter -- Gott steh uns bei mit solchen Männern -- wir sollen
eine Generation aufrichtiger Bürger gebären.

Und wie widerwärtig sie sind -- knurrig -- bissig beinah. Mein
Peter ist der reinste Sauerampfer geworden in unserem ehelichen
Paradiesgärtchen, seit dem verlorenen Ausstand. Er macht ein Gesicht
(jetzt, während er schläft), als fütterte ich ihn sechs Wochen lang mit
Essig und Schnupftabak. Und wacht er auf und kann denken gleich (was
schwer fällt), dann multipliziert er seine Grimasse mit dreizehn. Er
will mit Gesichterschneiden (ich lese Peters Ideengang wie guten Druck)
mir solche Angst einflößen, daß ich vor Zittern und Beben nicht zum
Lachen komme über seine großmäuligen Streikreden.

Der Rest ist -- Schnarchen!

Aber, Gott hab' ihn im Schirm und Schutz. Er ist doch nicht so schlimm,
wie viele andere sind. Wenn meine Ehe auch keine beneidenswerte
heißt, mein Peter ist mir doch teuer wie keiner -- der Vater meiner
sechs herrlichen Kinder. Er ist ein lieber, herziger, wohldressierter
Brummbär. Nicht mit der Peitsche dressiert, aber mit Zucker und Honig,
mit ewigem Nachgeben, Schweigen, Gutsein von ~meiner~ Seite. Meine
Geduld gibt ihm keine Gelegenheit, seine Grizzlinatur in Übung zu
halten, und so hat er sie jetzt verlernt. Wir vertragen uns. Ich bin
der Honigstock und Peter der Bär. Daß er mich jedoch bald aufgefressen
haben wird, fühl' ich leider; ich wiege keine hundert Pfund mitsamt den
Knochen.

Du lieber Gott! Es gibt ja Männer, die sind schlimmer. Es gibt Männer,
die sind Tiger. Welche sind Hunde, Affen, Esel, sogar Schweine. Die
Löwen sind selten -- und auch bei denen ist das Lamm nicht sicher.
Die besten Männer sind die, welche ~Menschen~ sind -- wie Du,
mein teurer, teurer Bruder. Oft denke ich: wie lange zwei Menschen, so
begabt wie Du -- oder besser: wie lange Millionen Menschen, so gut,
ehrlich, gerechtigkeitsliebend wie Du, auf dieser Erde zusammenleben
könnten, ohne Krieg zu haben, oder Hungersnot, Selbstmord. Ich wette
mein Seelenheil, wenn alle so wären wie mein Tom, der Himmel käm'
zwischen Wolken und Erde zu liegen. Ach!! --

Bruder, verzeih der Briefschreiberin den Tintenklecks; mein Peter hat
sich eben umgewälzt, mit einem Schnarchen, an dem er selber erwachte.
Er hat mich so erschreckt, daß die Feder spritzte. Tom, er könnte alle
Bären und Berglöwen von Alaska bis Mexiko in ihre Höhlen jagen mit so
einem Schrei wie dieser.

Jetzt schläft er wieder -- und lang. Er träumt vom Streik. Ruhe! Die
Debatte wird begonnen. Peter Daly hat das Wort.

Tom! Bruder! Nachtwächter! Ich weiß mich nicht zu halten über Deine
Versorgung. Gott wird dem »Pat« sonstwie helfen und Du behältst den
Platz. Du wurdest hart mitgenommen, jetzt kommt die Erlösung. Glück und
Unglück -- diese Extreme im Menschenleben sind das Läuterungsfeuer
für bockbeinige Charaktere. Bei Deiner Aufrichtigkeit wirst Du mir
zustimmen, daß Dich das Unglück schon ganz anständig gehobelt hat. In
jedem Deiner Briefe lese ich das Wort »Gott« häufiger, das vordem fast
nie von Dir geschrieben wurde (aus Respekt oder Geringschätzung, bleibe
anheimgestellt).

Und in die Kirche gehst Du auch fleißig.

Und, und, und -- Lebt wohl und lang' und glücklich!

                                                                Jennie.

                   *       *       *       *       *

                                        Neuyork, den 20. Dezember 1900.

          Liebe Schwester!

(9 Uhr Nachts.)

Wenn das mein neuer Prinzipal wüßte, möcht' es gelbe Papierschnitzel
regnen. Ich benütze seine Privatkanzlei die ganze Nacht lang als
Studierstube. Das heißt: ich mache zwölf Runden durchs Gebäude (eine
per Stunde), wie's die Vorschrift erheischt, halte zudem Ohren und
Nase kriegsbereit wie ein belagerter Fuchs. Aber in der Kanzlei auf
gepolstertem Drehstuhl sitze ich dreißig Minuten von je sechzig, als
wäre ich Mister Rouß der Millionär. Ich bin aber nur Tom Pratt der
einarmige Nachtwächter, der ohne Balancierstange über das hohe Seil
tanzen möchte zur Unsterblichkeit.

Nach der Neun-Uhr-Runde, gewöhnlich, sitzt der Nachtwächter am Pult
und erwartet -- seinen Verwandlungsprozeß zum Dichter. Er nimmt
Kanzleipapier, Tinte und Feder der Firma (denn so verrückt ehrlich
ist er doch nicht, daß er verhungern würde im Bäckerladen, ohne Geld)
und versucht den Flug über den Olympus. Was der dann über Nacht
zusammenschreibt an konfusem Durcheinander, ist zum Krämpfe kriegen.
Ich möchte nicht der Dichter Tom Pratt sein, wenn ich die Wahl haben
könnte. Das einzige, was mir an diesem dilettantischen Tintenkleckser
imponiert, ist seine wunderbare Kompositionssicherheit, oder richtiger,
sein Größenwahn. Nie seh' ich ihn kauen am Federhalter, nie hinterm
Ohr kratzen, am Schnurrbart zupfen, nie simulieren, stöhnen, Atem
verhalten, nie ein Wort ausstreichen oder ändern; nicht einmal das
Geschriebene durchlesen seh' ich ihn. Wie der allweise Erschaffer
der Welt macht er seine Arbeit ohne Vorher und Nachher, und gibt den
Pfifferling um Rezensenten und lesendes Publikum.

Das wird einmal eine Katastrophe absetzen, wenn das Ungeheuer einen
Verleger sucht, der's fressen soll -- das Ungeheuer nämlich.

O, Schwester! es ist nicht zum Spaßen und Lachen: in meinen
Verhältnissen die Gedanken konzentrieren müssen auf eine Arbeit, die
sogar Genien ermattet -- den Glauben behalten an die Kraft, die Kraft
behalten zur Hoffnung -- und die Liebe zum Ideal. Ja, wenn ich jetzt
meine Anstellung fest und sicher hätte, dann wären meine Gedanken
leicht und könnten fliegen ins Ätherblau. Aber, aber, »Pat« mit seinen
elf darbenden Kindern wird jeden Tag rüstiger -- und kommt Pat, dann
geht Pratt -- und wohin?

Der Gedanke: »wohin« lastet mit solcher Wucht auf mir, daß sämtliche
andre Gedanken -- wie die Liliputaner den Gulliver -- diesen Riesen
nicht fortschaffen können. Ich weiß nicht, ob es ein weiser Rat von
Dir war, mich zum Schriftstellern aufzumuntern. Zu spät jedoch -- der
Kampf ist begonnen -- die Geister stürmen -- ich werde geschleift -- --
Wohin??

(10 Uhr Nachts.)

Ich schreibe, schreibe, schreibe. Ist es das Ungewohnte, Neue, was mich
so berauscht, daß ich Visionen habe? Ich sehe meines Geistes Kinder in
greifbarer Form herumgehen um mich. Alles lebt, atmet, redet, lacht,
weint, -- es ist der leibhaftige Zauberpalast, den ich hier bewohne.
Glückselige Schwärmerei! Wenn nie ein Wechsel käme, es wär' mein Himmel.

(11 Uhr Nachts.)

Stundenlang ohne Rast und Ruhe arbeite ich in der neuen Werkstatt.
Ich denke viel an Dich -- und schreibe. Ich denke an mein Kind --
und schreibe. Mein krankes Weib macht mir viel Sorge -- aber ich
schreibe. Werde ich je das Ziel erreichen, oder soll auch hier wieder
die Enttäuschung das zarte, scheue Kind vom Himmel, Hoffnung, mit
krallenden Fingern erdrosseln?

Ich bin manches Mal so mutlos, so schwach, daß ich mich fürchte wie der
feigste Knabe und erst wieder ruhig werden kann, wenn ich mein Weib
und Kind umarme.

(12 Uhr Nachts.)

Das ist die Geisterstunde. Von zwölf Uhr bis ein Uhr ruht die Feder und
jede Arbeit. Ich zergliedere in Gedanken die Rätsel des Daseins. Ich
bete. Das ist meine Gebetstunde.

(1 Uhr Nachts.)

Gewöhnlich nach dem dritten Vaterunser, manches Mal beim zweiten,
öffnet dann der liebe Gott die Tür und ruft mich ein in seine
Werkstatt. Jetzt bin ich schon ein ziemlich alter Gast. Das erste Mal
jedoch, als ich die fremde Stube sah, war ich in solcher Furcht, daß
schnell der Meister jede Arbeit ruhen ließ und mich beschwichtigte.
Dann führt' er mich herum und zeigte mir die Wunder: den Kran, an
dem die Schöpfung hängt -- die Räder, die sie treiben -- die Walzen,
Formen, Pfannen, Feilen, Zangen -- die Drehbank, auf der Planeten rund
geraspelt werden -- die Feueressen, aus denen er die Sonnen schöpft
-- das Sternensieb -- Seiher für die Nebelflecken -- und hundert
Fragen, wie ein wißbegierig Kind sie fragt, erklärte mir der Gott mit
unbeschreiblicher Geduld und Güte. ~Eine~ Frage nur, und sie
dünkte mich die wichtigste, die machte ihn verlegen. Er küßte mich auf
Stirn und Mund und seufzte schwer: »Kind, Allwissenheit macht halt vor
dieser Frage -- ~du~ allein kannst sie beantworten.«

(2 Uhr Nachts.)

Wenn Gott der Herr mir den Erdball mit allem was dran, drin und drauf
klebt, als Geschenk präsentierte, und ich den Planeten absuchen sollte
nach einem Ort und Wesen, wo mir so wohl wäre wie nirgend sonst --
ich eilte schnurgerade nach Brooklyn in die Schlafkammer meiner Eva.
Sitz' ich hier allein und eingesperrt wie ein Unzuverlässiger, und die
Nacht ist still und lang wie jetzt, dann überkommt mich so unsägliche
Sehnsucht nach meinem Weib, daß ich herumgeh', irgend etwas zu finden,
das ich umarmen und ans Herz drücken kann. Ich möchte mich selber
küssen -- nur weil ich ihr Beschützer bin, ihr Ernährer. Das klingt
schier albern von einem Ehemann, der fünf Jahre verheiratet ist. Aber,
Schwester! wenn Du sie sehen könntest -- schlafen -- und ein Mann
wärest anstatt ein Weib, Du würdest niederknieen vor ihrem Lager und
sie anbeten. -- Ich tu's oft.

In einer jener qualvollen Nächte, als ich, meinen Arm in der Schlinge,
vor Schmerzen nicht ruhen konnte und Küche und Kammer abschritt, da saß
oder kniete ich oft vor ihrem Bett -- mit einer Andacht wie der Pilger
vor dem Bilde der Madonna.

Einmal schien der Vollmond so grell und plötzlich aus Wolken
brechend auf die Schlafende, daß ich nie den Moment vergessen werde.
Das war nicht Fleisch und Blut, das war atmender Marmor. Es gibt
Frauengesichter, die vom Kranksein schöner werden, engelgleicher,
idealer, vom Dulden, Entsagen -- sogar Hungerleiden.

Schwester! Wenn ich jetzt auf dem Punkt steh', Dir Geheimnisse zu
beichten, ich rechne felsenfest auf Verschwiegenheit (Du bist mir eine
schuldig), sonst wird Tom nie wieder vertraut.

Also:

Erstens: Ich werde mich total verändern müssen, eh' ich mit
Gleichgültigkeit ein schlafendes Weib betrachten kann.

Zweitens: Daß Mitleid bei solcher Betrachtung jedes andere Gefühl
überwiegt, ist mir nicht angeboren, sondern Philosophie.

Drittens: Gott segne euch Frauen.

Viertens: Und beschütze euch große, immerwährende Kinder -- eure
wohlgepflegten, wohlverdienten, wohltuenden Reize.

Fünftens: Ich liebe euch ~alle~ -- sehr, oder weniger -- aber alle.

Sechstens: Zartes, hilfloses Wesen, Weib! (Schwester, das rede ich
jetzt ganz persönlich, individuell zu meiner Eva und geht Dich
nichts an. Willst Du Dich aber zu ihr legen ins Bett und gar etliche
Freundinnen mitbringen -- ihr seid alle willkommen. Dann spreche ich zu
allen:) Schlafet, träumet, schöne Frauen! Die einzigen Stunden sind es,
wo ihr frei seid. Arme, arme Träumer! Schwärmer! Schwaches Geschlecht!
Was habt ihr erdulden müssen im langen Lauf der Weltgeschichte? Was
werdet ihr noch leiden müssen, bis das Ziel erklommen ist, bis zu eurer
Krönung? Denn ~ihr~ seid die Krone der Schöpfung -- nicht der
Mann. Ihr habt die Freundschaft mit dem Weltgeist warm gehalten mit
Sehnsucht, Schwärmerei und Idealen. Ihr habt das Menschengeschlecht
vom Aussterben gerettet, das der Mann mit Feuer und Schwert dezimierte
wie ein rasender Verrückter. Ihr habt die zarten Blümchen (Kinder)
geboren, getränkt, gepflegt und großgezogen, derweil der Mann das
Messer schliff und Ketten schmiedete. -- Er wird seine Handlungen
Vaterlandsverteidigung nennen, Religionseifer, Freiheitssturm. Sagt
ihm: daß Frauenschändung nicht im Programm steht; Kinderschlachten
auch nicht; Haus- und Herdverwüsten auch nicht; Sklaven treiben auch
nicht; Despotismus auch nicht; Kapitalismus auch nicht. Sagt ihm, er
sei ein Feigling, der sich fürchtet, sogar vor dem geknebelten Weib.
Der sich fürchtet, das schwache Geschlecht frei zu machen aus dem Joch
der Unterwürfigkeit, Ergebenheit, Dienstbarkeit -- aus Angst vor ihrer
Konkurrenz. Er kann nicht Schritt halten mit dem Weib der Gegenwart;
sie tritt ihm auf die Fersen. Das Weib der Zukunft läßt ihn stehen wie
ein Wirbelsturm den Bauern am Weg, ihm Hut und Schirm entführend nach
den Wolken -- hahaha!

Ist das zu viel gesagt? -- Ich nehme kein Wort zurück. Schaut ihn an,
den Jammermann, wie er schwächer wird, kleiner, leichter, nervöser
von Generation zu Generation. Wie er abwärts wächst -- aber das sind
nur physische Kleinigkeiten. Schaut seinen moralischen Vorsprung, den
er gemacht hat in sechstausendjährigem Wettlauf mit einem geknebelten
Weib. Schaut die Wirtschaft an, die er führt, mit seinem Bürgerrecht
und freien Wahlzettel -- hahaha!

Die Erde ein fruchttragendes Paradies, strotzend von allem, was
Menschen befriedigen kann -- Wohlstand förmlich gebärend -- und
Tausende leiden Mangel, frieren, sterben Hungers, verderben,
verzweifeln. Nicht wilde Bestien, Ratten und Heuschrecken sind es,
nein, seine eigenen Kinder, seine Brüder, Schwestern, sein Weib, er
selber.

(3 Uhr Nachts.)

Was ist doch das für ein Ding, das wir Menschen Seele nennen?

Gehöre ich ihr, oder sie mir? Ist sie meine Herrin, oder ich der
ihre? War sie eher als ich, oder gleichzeitig mit mir? Wer von uns
wird das andere überdauern? ~Eins~ sind wir nicht, sie und
ich, das steht sonnenklar. Was zusammengeschmolzen und eins ist,
führt nicht ewigen Krieg. Ach, es sieht aus wie eine miserable
Verkuppelung, eine verfehlte Ehe, eine Zwangsheirat ohne Liebe noch
Interessengemeinschaft. Das eine stammt von hier, das andere von dort.
Eins wurzelt im Erdboden, das andere fiel vom Himmel. Eins möchte
leben und hausen, natürlich, frei, gesetzlos -- das andere nötigt dem
ersten widernatürliche Pflichten auf, importiert von irgendwoher, vom
Traumland, Feenland, Wolkenkuckucksheim. Da ist keine Aussicht, daß es
Frieden wird zwischen diesen Eheleutchen, in diesem Haushalt, eh' nicht
eins von beiden weggetragen wird als Leiche.

Wenn ich über dieses verworrenste aller Rätsel nachdenke, dann ist es
mir jedesmal, als schreite ich verirrt, führerlos, mit ausgeblasener
Kerze durch ein grenzenloses Labyrinth -- durch die Mammuthöhle. Der
einzige Laut, der von Leben zeugt, ist mein ~eigener~ Atem; der
Widerhall meiner nimmer ruhenden Schritte auf krummer, holperiger Bahn
ist der einzige Ton, der noch ein wenig auszittert -- wie Echo -- das
Lied der Hoffnung: »Licht! Gefunden!« -- Manchem Geist und Gespenst
begegne ich, im angstvollen Herumtasten. Manchem Lebenden begegne ich,
der so wie ich, so ratlos, hoffnungslos, verirrt herumsucht nach --
nach -- was? Dem Eingang, dem Ausgang.

Schöner, blauer Himmel dort draußen! Schöne, warme Sommerluft dort
draußen. Wiesen, blumenbesät -- Wälder, duftend von Harz und Blättern
-- spielende, lachende, singende Welt. Ach, könnt' ich ihn finden, den
Ausgang -- oder hätt' ich nie gesucht, gefunden -- den Eingang. -- --

»So ihr nicht werdet wie eines dieser Kinder, könnt ihr in das
Himmelreich nicht eingehen.«

  »Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
  Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt!«

Diese herrlichen Worte eines Gottmenschen, und eines göttlichen
Menschen fallen mir ins Gedächtnis, weil ich soeben an Bertie denke.
Schier ärgert es mich jedoch, die obige Schmiere geschrieben zu haben,
wenn ich Berties praktischen Pfeilschuß aufsteigen sehe neben meiner
lahmen Theorie.

Bertie ist ein philosophisher Haudegen; ein kleiner Alexander, der
jeglichen Knoten löst. Bertie verbindet Philosophie mit Diplomatie und
Unverschämtheit zu einer Dreieinigkeit, vor der, wohl oder übel, der
Allmächtige sich verneigen muß.

Eigentlich sollte ich es Dir nicht schreiben, was Bertie verübt hat; Du
bist seine Tante und hast ein Recht, den Bengel auszuschelten -- was
ich bis jetzt unterlassen habe (aus Feigheit oder Sympathie, bleibe
auch anheimgestellt).

Am Dekorationstag waren wir zwei auf dem Kirchhof und schmückten
Klein-Elsies Grab. Als das geschehen war, setzte ich mich, Bertie aufs
Knie hebend, dem Hügel gegenüber und begann mit jeder Faser meines
Geistes Garantien zu sammeln: ob je wieder eine Zeit kommen werde,
wo das liebe Kind, das hier vor mir vergraben liegt, ebenso mich
umhalsen wird und ich es küssen auf die purpurroten Lippchen, auf die
goldlockige Stirne, wie wir's taten so oft und oft.

Hier begann Bertie, etwas unsicher wie mich dünkt, zu fragen: »Papa!«

»Was ist es, mein Kind?«

»Darf ich dich fragen, Papa?«

»Ja, mein Kind.«

»Was tätst du sagen jetzt, wenn der liebe Gott dich sterben läßt und
der Mann dich begraben tut da hinab und dann -- --« Er hielt inne.

»Und? -- Weiter.«

»Und der liebe Gott dich vergessen tut und drunten läßt, Papa. Was
tätst du sagen?«

»Du meinst, wenn der liebe Gott mich nicht von den Toten auferstehen
läßt?«

»Ja, Papa. Wenn er dich drunten läßt für immer und immer und immer, und
nie wieder 'raufkommen läßt -- was tätst du sagen?«

»Hm -- ich glaub', ich hielt 's Maul und sagte nichts.«

»~Ich~ tät's aber sagen, Papa.«

»Und was?«

»Ich mag's nicht sagen, es ist wüst.«

»Wüst? -- Mir kannst du's schon sagen, was ist es?«

»Ich würd' halt sagen zum lieben Gott: So -- -- du lügst ~auch~!«

Schwester, das ist stark; ist es nicht? -- Aber Bertie sagt's, Du
kannst Dich drauf verlassen, er sagt es dem lieben Herrgott ins
Gesicht, gerade so wie er's ~mir~ sagte.

(4 Uhr Nachts.)

Das ist die stillste, ruhigste Stunde in der Großstadt. Kein Geräusch
von nah noch ferne stört den Frieden. Keine Wagen rasseln über das
Straßenpflaster noch. Keine Dampfpfeifen heulen durch die Nacht. Uhus,
Hähne, Frösche und Moskitos gibt es nicht auf Manhattan.

Ich denke an Dich -- und mein liebes, teures Pilot Knob. Träume, ruhe,
gute Jennie!

(5 Uhr Morgens.)

Morgenstund' hat Gold im Mund. Schwester, wenn ich je so glücklich sein
werde, ohne Existenzsorgen meine ganze Energie und Seele konzentrieren
zu können auf den einzigen Punkt -- ich werde ein Gedicht schreiben,
einen Pegasus reiten, ein so wildes, rasendes, unbändiges Prärieroß
über den Büchermarkt klappern lassen, daß sich Händler, Agenten
und Rezensenten die herumfliegenden Papierschnitzel und den
Manuskriptenstaub nicht aus den Augen reiben werden, bis der Greif im
blauen Äther kreist -- unerreichbar für Speer und Bogen.

Schlag den Athleten mit Nervenfieber. Schlag den Poeten mit
Nahrungssorgen. Schlag dem Kondor die Flügel ab. Oooo! Es ist ein
Gefühl, das mich überkommt, wenn Dichtergedanken abprallen von
Sorgengedanken -- wie der Schreck eines Lebendigbegrabenen, dessen
Finger abprallen vom Deckel seines zugenagelten Sarges.

Ich habe Augenblicke, wo ich fühle, wie der Ewige über den Sternen
sitzt, neben mir, und mir Gedanken einhaucht, die ich schreiben soll.

Ich habe Augenblicke, wo ich fühle, wie die Fürchterlichen der
Finsternis mir ein Loch bohren durch die Gehirnrinde -- und all mein
Denken zischt ins Leere.

(6 Uhr Morgens.)

Bald ist es Tag. Ich habe mich eine Nacht lang mit Dir unterhalten. Was
würde werden aus mir ohne diese Unterhaltung? Gesegnet sei Feder, Tinte
und Papier!

(7 Uhr Morgens.)

Von jetzt an bis acht Uhr muß ich verschiedenes in Ordnung stellen, und
das Schreiben hört auf. Das Geschäft wird um acht präzis in Betrieb
gesetzt; eine halbe Stunde früher jedoch öffnet der Aufseher die Türen
von außen. Tom Pratt, der vierzehn Stunden lang sämtliche Spitzbuben
Neuyorks (und das sind viele, die in Wallstreet gar nicht gezählt) am
Einbrechen hinderte, wird herausgelassen.

Warum sie mich einschließen? Die Menschen sind heutigentags so
mißtrauisch, daß sie den Nachtwächter, der das Haus bewacht, durch
einen abermals bewachten Wächter wieder bewachen.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                      Neuyork, Neujahrsnacht 1900-1901.

          Teure, teure Schwester!

Da sitz' ich nun die halbe Nacht schon, eingeriegelt in der
unheimlichen Warenburg, und schüttle den Kopf in peinlicher
Untätigkeit. Ich kann absolut keinen zu meiner Dichtung brauchbaren
Gedanken fassen. Die Inspirationen, die mein Gehirn belagern, sind
wahnsinnig. Was soll ich tun? Singen, beten, Geister beschwören?
Schlafen darf ich nicht, und kann und möchte ich nicht. Und noch ist es
so lang', bis sie mich herauslassen hier -- und heim.

Die Uhr schlägt eins.

Wir feiern Neujahr. Soeben hat der Lärm nachgelassen, mit dem unsere
Durchschnittsbürger den Wechsel begrüßen. Sie haben wieder, wie in
jeder Silvesternacht, gewaltig getutet, geknallt, gebrüllt, getrunken.
Jetzt sind sie müd und legen sich aufs Ohr und saugen Sauerstoff ein
zum frischen Lachen und Lustigsein, morgen.

Ach, Schwester! Ich habe meinen melancholischen Anfall -- und bin
allein. Wär' ich unter Menschen, ich möchte meine Schwermut abladen
können durch überirdische Gutherzigkeit, aber hier bin ich aller
Linderung bar.

~Die Toten~ lassen mich nicht ruhen, bis ich ihnen meine Schuld
bezahlt!

Hier sitze ich. Die Pendeluhr tickt. Die Feder kratzt auf dem Papier.
Ein armes Mäuslein nagt an Brettern unterm Fußboden -- und die öde,
graue Nacht ist Silvesternacht. Und zwölf Monate zurück? Was kann ein
einzig Jahr verwüsten? Saß ich nicht ebenso still wie jetzt, aber am
Bettchen meiner noch ~lebenden~ Elsie, meiner noch ~gesunden~
Eva, und mit ~zwei~ kräftigen Armen, und zählte, bis ich müde war
vom Zählen -- mein Glück.

Da lagen herumgestreut, weiß wie Flocken, die Seelen, die Gott der
Allgütige mir schenkte zu meiner eigenen -- und saugten sich fester und
fester mit jedem Atemzug, Lächeln, Seufzen, Erwachen.

Draußen jagte der Wind in wildem Zug durch Finsternis und Häusermeer.
Kälte drückte an Türen und Fenster und wimmerte um Einlaß; und ich saß
und träumte, schwärmte, schwelgte, betrachtete wieder und wieder meine
Schützlinge: mein schönes, treues Weib, wie es hingebettet auf das
eigene Lockenpolster ausruhte von des Tages Last; meine Kinder, Bertie
schlafend sein Schwesterchen umarmend, als fürcht' er Raub, Elsie mit
dem wehen Zug um ihre Lippen, die im Traume mehr als sonst den Stempel
Gottes »Engel werden« trugen.

(3 Uhr Nachts.)

Dreimal drei ist neun -- das kann bewiesen werden. Dreimal drei ist
vier -- das kann ~auch~ bewiesen werden vor einer Versammlung von
Schafsköpfen. Beweis ist also nicht so unfehlbar, als er sich ausgibt.
Daß Advokaten das Gegenteil, sogar von bewiesenen Beweisen, beweisen,
beweist die Unzuverlässigkeit der ganzen Beweiserei. Es kommt also weit
mehr darauf an, wie der Kopf oder der Mensch beschaffen ist, der den
Beweis glaubt, als über was und wie da bewiesen und vereinbart wurde.

Sagt mir also einer: »Bruderherz! du hast eine unsterbliche Seele
in deinem Korpus,« und beweist mir, daß ich ein solches Ding
herumtrage, dann steigt (in meinem Schädel wenigstens) das Mißtrauen
auf, ich gehöre möglicherweise zu der Schafskopfkategorie, die sich
vorrechnen läßt: dreimal drei ist vier -- und unwillkürlich beginne
ich Selbstkritik zu üben an meiner geistigen Befähigung. Ich gelange
zu dem Schluß: daß ~ich~, ich selber die Unsterblichkeit meiner
Seele fühlen, spüren, wissen, beweisen muß -- nicht der andere. Er kann
wohl unterrichtet sein über ~seine~, aber über ~meine~? --
Sapperment! Wenn er nicht einmal weiß, ob ich Leibschmerzen habe, wenn
ich Gesichter schneiden muß, um ihn auf den Gedanken zu führen -- ---

Halt!!

Es gibt Philosophen, die beweisen, daß die Existenz Gottes und der
Seele nicht kann bewiesen werden mit den gegebenen Anhaltspunkten.
Es fehle, was die Mathematiker heißen, die bekannte Größe, auf der
sich aufbauen läßt. Diese Herren sind die ~Vogelstrauße~ im
großen Wildpark der Gelehrtenwelt. Sie rennen (vom Problem verfolgt)
unablässig im Kreis herum, am gleichen Punkt immer wieder anlangend,
wo sie absprangen, und glauben, weil sie (mit dem Kopf im Sand) nichts
sehen, können andere auch nichts sehen. Sie legen manches Mal ziemlich
große, vielversprechende Eier. Die Hauptsache aber, das Ausbrüten,
überlassen sie dem heiligen Licht und Feuer dort oben; und bis das
es fertig kriegt mit seinem natürlichen, langsamen Prozeß, da haben
Ratten und Käfer den Dotter gefressen. Daß Spatzen und Bachstelzen
sich hin und wieder erdreisten, die Eier ausbrüten zu können, ist die
~komische~ Seite. Daß die Strauße nicht ~gerader~ laufen
und so aus der Wüste heraus ins üppige Grenzland gelangen, ist die
~betrübende~ Seite.

Es gibt aber auch Philosophen, die so geradeaus laufen, daß sie mit
dem Schädel ein Loch durch jegliche Mauer rennen, die ihnen im Wege
steht. Durch dieses Loch schauen die Herren die allerübernatürlichsten
Dinge, und je nach dem Grad der gehabten Gehirnerschütterung beim
Mauerbrechen sehen sie den Himmel offen, die Zionsstadt mit Perlentor
und goldenem Straßenpflaster. Den Herrgott sehen sie im Wolkenpolster
ruhen leibhaftig, oder im Rollstuhl unter Blitz und Donner im Paradies
herumkutschieren wie ein preiswütiges Automobil. Die Engel sehen sie
tanzen, geigen und geschäftig die einlaufenden Seelen abwiegen, wie der
Krämer Butter und Kartoffeln. Kurzum, sie sehen das ewige Leben mit
Haut und Haaren als vollständig bewiesene Tatsache, und so weiter, Amen.

Diese Sorte Philosophen sind die ~Büffel~ im Wildpark der
Gelehrtenwelt. Sie sind hartköpfig, eisenstirnig. Mit gewalttätigen
Hörnern zerquetschen, was nicht zu ihrem Vaterunser schwört, das
nennen sie Kopfarbeit. Rote Farben, rote Lappen und Fahnen reizen
sie zum Schäumen; dafür stehen sie aber, ungleich den Straußen, bis
an den Bauch im Futter. Daß ihnen das üppigste Gras (während die
Herdenglöcklein läuten) zum Hals hineinwächst und gleichzeitig Stroh
zu den Ohren heraus, ist die ~komische~ Seite. Daß sie lebenslang
Gottesgelehrsamkeit studieren und gerade in diesem Fach Hornviecher
bleiben, ist die ~betrübende~ Seite.

Dann gibt es Philosophen, sogenannte Pessimisten, Weltschmerzapostel,
die vom Resignieren buchstäblich austrocknen, verdorren. Sie verlieren
Fleisch, Fett, Appetit, warmes, eisenhaltiges Blut, tätige Leber,
Galle, Magensäure, Zähne, Haare, Glauben, Hoffnung, Liebe, Freude am
Dasein. Arm in Arm mit dem Weltschmerz schreiten sie durchs Leben,
sorgfältig Dornen und Distelköpfe sammelnd -- Blumen zertretend --
Harmonien und Schönheiten ignorierend -- glücklichen, lachenden
Menschen ausweichend wie der Pest -- auf Kirchhhöfen herumgeisternd
-- mit Gerippen und Totenschädeln spielend. Dem Tantalus flogen die
gebratenen Tauben vom Munde weg, so oft er die Zunge reckte danach; der
Pessimist macht sich die Höllenqualen ~umgekehrt~, er beißt die
Zähne zusammen, wenn das Füllhorn sich ausleeren möchte in ihn. Das
ist jedoch nicht die betrübende Seite, sondern er sagt es selber, was:
»mein Geborenwordensein halte ich für das allergrößte Unglück«. Daß
ihm hierin jedermann beistimmt, sogar sein leiblicher Vater, ist die
~komische~ Seite. Verglichen mit Tieren können diese Sorte Denker
nicht werden: es gibt kein Tierchen, das sich nicht mehr oder weniger
wärmt und sonnt in Gottes herrlicher Natur.

Dann gibt es ~lachende~ Philosophen. Die Hälfte von ihnen ist
jedoch kindisch. Die anderen stehlen Witze und hängen ihre Marke dran.

Dann gibt es philosophische Piraten (Atheisten), die jeder
vorüberziehenden Seele Steuer, Anker, Segel, Kompaß, kurzum alles
rauben bis auf die leere Schale.

Dann gibt es egoistische, geizige Philosophen. Sie behalten alles,
sammeln mit eifrigem Betrachten Wissen, Weisheit, Urteilskraft -- geben
nie etwas von sich -- Schweigen ist ihr Grundsatz. Sie sterben wie alle
Geizhälse, reich an geistigen Schätzen, ohne übrigens jemand beschenkt
und glücklich gemacht zu haben.

Dann gibt es verschwenderische Philosophen, die mit Schwatzhaftigkeit
sich so entleeren, daß sie geistig schier zu den Bankerotten zählen.
Sie machen allerdings manchen um sich herum klug, vorsichtig, sterben
aber wie jeder Verschwender, ausgepumpt.

Dann gibt es -- -- Der Globus wimmelt von Philosophen. Die Luft ist
dick und schwefelsauer von ihrem Stöhnen, Seufzen, Lamentieren und
sogar Fluchen. Und ach, was haben die Herren zusammengedichtet? Das
Denkerregiment mit Sokrates am rechten Flügel und Spencerlein am
linken, was haben sie bewiesen, entdeckt, festgenagelt im Lauf von
vielen hundert Jahren? Andere Wissenschaften haben Wunder gewirkt. Was
kann die Philosophie am Tag der Prüfung zeigen? Bücher, tonnenschwer,
und leiht wie Spreu ihr Inhalt. Bücher, tausendzählig, und -- drei
Originalitäten nur -- kein einziger Beweis darin, der zieht und hält.
Es ist der wackeligste Turm von Babel, den sie in den Himmel bauen
möchten.

Und ach, was bin ~ich~ herumgeirrt in dieser Steppe der Irrenden,
und hab' gesucht nach Quellen und Oasen -- nach dem Körnchen Wahrheit
im Berg von Kleie -- in diesem Chaos von Einerseits und Anderseits
Beweise gesucht und ~keinen~ gefunden, mit dem der Zweifel nicht
Fußball spielen darf nach Lust und Vergnügen. Ach, was hab' ich
gelesen, geschluckt, studiert, mit philosophischen Rosinen, Zwiebeln,
Gurken und Limburgerkäsen mich so überfüttert, daß ich elendiglich
sterben müßt' an Verstopfung -- schluckt' ich nicht hin und wieder eine
Kontroverspredigt als Abführmittel.

                   *       *       *       *       *

Die Unterhaltung zwischen Gott und Mensch geschieht ~einzig~ durch
Gefühl.

Gefühl ohne Erfahrung bleibt die unterste Stufe des Leben.

Der Unterschied zwischen höchstem Geist und Geschöpf besteht in des
letzteren geringerer Erfahrung.

Ich zweifle nicht, daß mit höchster Erfahrung das Problem des ewigen
Lebens gelöst ist.

Die Bestimmung des Menschen ist: jenes Problem zu lösen. Daß er das
kann, ~wenn er will~, garantiert die ewige Gerechtigkeit.

-- Aber das ist ja wieder greulicher Quatsch -- mir wird ja selber übel.

Sonntag im Sommer. Sehr heiß, staubig. Sehr windstill. Die Straßen von
St. Louis glühen gleich einem Backofen. Jung und alt, was nur irgend
sich freimachen kann, flüchtet hinaus in die schattigen Vorstädte, die
Parks, oder treibt in Booten den großen Mississippi auf und ab.

Schon früh am Morgen warf ich mich in feiertäglichen Staat. Ich hatte
die Einladung meines Freundes, mit ihm und seiner Neuvermählten
nach deren Eltern Farm einen Ausflug zu machen, angenommen. Mit
verzeihlicher Eitelkeit putzte, frisierte und rasierte ich den damals
noch ledigen Tom Pratt.

Dann ging's los. Eigentlich ~nicht~: zu meinem Ärger und meines
Freundes noch viel größerem Leidwesen lag der Ärmste, als ich in seine
Behausung trat, im Bett und stöhnte. Er laborierte an den Nachwehen
einer in der Nacht gehabten Cholera.

Er behauptete, das Biertrinken bei der Hitze hab's verschuldet. Sein
Weibchen meinte, das ~Apfelmus~, das sie ihm kochte zum Abendbrot,
sei die Ursache. Zu dieser rührenden, in der Dissonanz sogar noch
wohllautenden Harmonie der Neuvermählten schlug ich Takt mit der
Bemerkung: »Bier ~und~ Apfelmus hat's getan -- Punktum!«

Nach dem Mittagessen (so lange nötigte die Gastfreundschhaft mich
auszuhalten) durfte ich endlich gehen. Der halbe Sonntag war nun
verbraucht, verpfuscht; meine Feiertagslaune ebenfalls. Ärgerlich
schritt ich nach der Avenue, um mit dem ersten mir begegnenden
Straßenwaggon irgendwohin zu fahren -- nur weg, weg vom bratenden
Weichbild der Häusermasse. Halbwegs mußte ich meiner blankgewichsten
Schuhe wegen einem Neubau ausweichen, ganz hinüber auf die sonnige
Seite der Straße; dann wieder herüber auf die schattige. Das kühlte
mich nicht; auch nicht, als mir ein nördlich fahrender Tramwaggon
entschlüpfte, den ich hätte erreichen können, wär' die verdammte
Kreuzung nicht gewesen.

Nach längerem Warten bestieg ich den nächsten, einen westlich
fahrenden Waggon. Der war jedoch zum Erdrücken vollgepfropft; die
Sitzenden erstickten schier, so tief saßen sie drunten; die Stehenden
schoben sich hin und her und schwankten wie Betrunkene, je nach dem
ungleichmäßigen Rollen des Fuhrwerks. Den außen am Geländer Hängenden,
den Allergemartertsten, zu denen ich gehörte, wirbelte Staub ins
Gesicht; die Sonne brannte ihnen Blasen auf die Haut; der Hut wollte
fortfliegen; und mit des Jammers stummen Blicken schauten die armen
Hühneraugen. Aber fort ging's, fort wenigstens, immer an den Häusern
vorbei wie geflogen.

Mit einem Mal tauchten Bäume auf, Grasflächen, Blumenbeete, lange
Eisengitter längs der Straße. »Ein Kirchhof!« zuckte es mir durchs
Gehirn wie Erlösung, und ich weiß nicht, wie noch warum ich
absprang von dem raschfahrenden Waggon. Graziös hüpfte ich einer
vorbeirasselnden Equipage aus der Fahrlinie, etwas ungeschickter einem
wahnsinnigen Radfahrer.

Dann trat ich durchs Gitterportal ins Reich der -- Schlafenden.

Welch labende Kühle fächelte mir der heilige Ort ums Haupt, das ich
ehrfurchtsvoll entblößte. Die Luft gewürzt mit tausend Düften; wie
Segen, wie ein Zug aus offener Himmelstür wehte es mich an.

»Gott sei mit euch!« grüßte ich die Anwesenden; »Gott sei mit euch!
Wie schön haben euch die Lebenden gebettet. Wie schön die Kinder ihre
Eltern -- die Eltern ihre Hoffnungen. Liebe und Verehrung haben sich
wund und augenmüde gesponnen an der Decke, die euch hüllt, bis Gott sie
hebt.« Wie nah sind doch die Lebenden den Toten; ein Pulsschlag ist die
Trennung. Wie innig nah verwandt ist Freud und Leid, Glück und Unglück.
Schmerz und Lust sind Bettgenossen. Haß und Liebe wohnen eng beisammen
in derselben Kammer; wenn eines wacht, legt sich das andere nieder. Und
~eine~ Wiege hat genügt für Myriaden Gegensätze, die sich stoßen,
reiben lebenslang, bis sie müde liegen wieder wie im Anfang so am Ende,
friedlich, eng beisammen -- ~aber hier~.

Langsam schritt ich die geschlängelten Pfade des Friedhofs entlang,
immer tiefer hinein ins Herz, bis wo die Kapelle steht mit geweihtem
Altar. Dort betete ich für die Toten -- für alle Toten. Dann schritt
ich weiter und weiter, zikzackig, planlos, rechts und links schwenkend,
über Hügel, Rasenplätze, Kieswege. Bald zog mich ein gigantisches
Monument, bald ein hölzernes Täfelchen, ein Blümchen »Einsam«, oder
ganze Garben Hyazinthen, Lilien und Maßliebchen, als liege dort ein
Heiliger und hauche sich durch Lehm und Sand hindurch zum Himmel.

Gott! Da, ein Weib! Ein Mädchen! -- Ich bebte vor Angst, mein Atem
könnte die Erscheinung verwehen, und hielt inne zu atmen. Keine zehn
Schritt von da, wo ich stand, kniete ein Mädchen auf rasenbewachsenem
Grab, das Kreuzlein als Stütze gebrauchend für Gesicht und Hände. Gott,
~das~ Bild, das mich bannte, als wär' mein ganzes Erdenwallen
hier am Ziel und machte halt: da kniete endlich leibhaftig vor mir
die, die ich suchte, träumte, wünschte -- ~so~ wünschte ich mir
die Begegnung, den Ort, den Zufall, Umstände, Zeit und alles -- so
träumte ich ihre Gestalt, Jugend, Kleider, ihre Verlassenheit, Armut,
Hilflosigkeit. Und ~ich~ ihr Retter jetzt! Ich der Auserkorene,
Gottgesandte, der diese auf ihrer Mutter Grab verzweifelnde, von aller
Welt verlassene Waise aufhebt, heimträgt, glücklich macht ...

Ob ich einen Schrei ausstieß? -- Das Mädchen richtete sich erschrocken
auf, sah mich an und -- -- der Traum war aus. Das Bild verwischt.
Das arme, hilfesuchende Waisenkind mit den flehenden Augen -- das
schutzlose Wesen, dem ich Retter wollte sein -- ach! das herrliche
Idyll von naiver Jugendschwärmerei, das ich mir malte mit so stillem
Blau, als nur die Sehnsucht noch vom kälteren Blau des Himmels
unterscheiden kann, fort war es -- fort.

Und vor mir stand an seiner Statt ein Cherub, der mich anblickte, so
majestätisch, daß ich zum Bettler schmolz -- so überirdisch, daß ich
nackt in aller meiner Sinnlichkeit mich fühlte. Ein Cherub, der die
Schlüssel trug zu meinem Himmelreich -- den Zutritt zur Glückseligkeit
mir gestatten konnte oder verwehren, je nach seiner Willkür. Jetzt
war ~ich~ der Arme, Hilflose, Bettler und Verzweifelte. Hier
blieb nichts mehr zu retten für mich, nichts als mit letztem Atem aus
gepreßter Brust zu wimmern: »Gnade!«

Ich tat's -- und sank zu Füßen meiner -- ~Eva~.

                   *       *       *       *       *

Goldorangengelb am wolkenlosen Horizont stieg die Abendsonne in die
Nacht hinab. Das himmlische Licht, das mit blendender Majestät den Tag
beherrscht, daß aller Augen Blicke sich verhüllen müssen --- es ist
doch nur der Venus Vorgespann.

So viel sie auch singen und dichten mögen, predigen und beweisen vom
Höchsten, das eine Sonne über allen Sonnen ist -- laß sie nur predigen
und blinzeln, weil es Tag ist: des Abends magnetische Schatten führen,
ohne auf Widerstand zu treffen, auch sie zu dem Hochaltar, auf dem die
Schöpfung opfert -- zum ~Weib~. -- --

Ich konnte keine Stunde lang leben, das fühlte ich. Meine Kammer war
eng, jetzt war sie tatsächlich ein Sarg, der sich zu schließen drohte.
Ich kniete nieder und versuchte zu beten; aber die Verbindung war
gerissen zwischen Gott und mir -- irgend jemand stand zwischen mir und
Gott. Ich ging ein wenig hin und her -- aber das brachte mich nicht
näher. Ich setzte mich ans Fenster -- aber das machte mich unruhiger.
Ich stand wieder auf -- kniete nochmals. Die letzten Küsse eines
Mädchens, das ich vom Kirchhof nach ihrem Kosthaus geleitet hatte,
brannten meine Lippen, meine Wangen, meine Stirne wie glühende Kohlen.

»Ich ersticke!« schrie ich, und Hut und Rock ergreifend eilte ich
hinaus ins nächtliche Gewühl der Stadt, von dem wahnsinnigen Gedanken
gerissen, eine unbescholtene Jungfrau mitten in der Nacht aus ihrem
Bett zu rufen.

Ein vorübersausender Straßenbahnwagen schnappte mich jedoch weg vom
Erdboden, und fort ging's auf rollendem Gefährt -- entgegengesetzt aber
von »~Ihr~«.

Eine Stunde später, im Norden, wo die Großstadt sich malerisch auflöst
in Landschaft, wankte ein Mensch, offenbar ziellos, durch Farmland.
Auf Augenblicke blieb er stehen und reckte die Arme aus, als wollte
er die Welt mit allem, was sie birgt, umfangen. Dann setzte er seine
Wanderung wieder fort. Wer ihn nicht kannte, würd' ihn für einen
Verirrten halten, oder gar für einen jener Unglücklichen, die dem
Dasein entfliehen möchten. Plötzlich machte er halt -- warf sich platt
ins Gras, mit dem Gesicht nach unten -- und so blieb er liegen.

Dicht an ihm vorüber rauschte ein mächtiger Strom, unerschöpfliche
Wassermassen wälzend. Ringsum wogten, wie die Wasser dort, die Felder
und Wälder hier. In eifersüchtigem Wettstreit, sich gegenseitig
überragen zu können, reckten sich die Bäume über Sträucher, diese
über Blumen und Gräser. Lauwarm wehte die Nachtluft um das Ganze, des
Stromes züngelnde Wellen, des Waldes wogende Wipfel, das Weben und
Leben der Welt hier unten, hinauftragend in die lichtgefüllten Höhen
als Schlummerlied der Sommernacht.

                   *       *       *       *       *

Als ich mich von langem, erlösendem Weinen endlich wieder aufrichtete
und umsah, war es mir, als wäre ~ich~ das Leben und alles andere
tot. Mir war, als sei die Welt ein Nebelbild, Schein, und ich der
Zweck, der Mittelpunkt, der rote Faden, der die beiden Enden knüpft;
als sei ~ich~ das Bild und dieser unermeßlich weite Raum nur der
Rahmen zum Bild. Vor mir lag in weitem Becken ein Wasser; ich bemerkte
nicht, daß es der große Mississippi war, der gurgelnd und plätschernd
am Ufer vorbeimarschiert durchs Tal, zum Meer, und unablässig Wasser
auf Wasser drängend ewig sich verändert. Ringsherum standen Gebüsche,
Fruchtbäume, Schilf und wilde Blumen, wie leblose tote Dinge; ich
bemerkte nicht, daß sie alle grünen, wachsen, blühen, ewig sich recken
und dehnen, sich verändern. Hoch über meinem Scheitel pendelten die
Sterne als eine Welt über der Welt. Mir schien sie regungslos, immer
gleich, auf dunkelblauem Samt die edelsteingestickte Bettgardine einer
eingeschlafenen Natur. Ich bemerkte nicht, daß alles dort oben wie hier
unten sich dreht und treibt und stößt und zieht -- Leben saugt und gibt
-- mit gleichem Recht und Grund wie ich Unendlichkeit und Ewigkeit
benützt als Tummelplatz für der Liebe Maientanz, für der Sehnsucht
Herbstgefühl, für sommerschwüle Lust -- und Wanderung durch winterkalte
Nacht.

Dort stehen sieben Sterne und spiegeln sich auf dem Wasser. Das ist
der Orion. So strahlte er in stiller Majestät über dem Griechischen
Meer, während Homers Lieder die gottgeschwängerten Lüfte tränkten. So
strahlte er in stiller Majestät über der Urwelt dampfendem Morast,
während giftig hauchendes Gestöhn der Drachen durch das Schweigen
banger Nächte ging.

Es gab eine Zeit, wo jenes Licht dort oben nicht am Firmamente glänzte,
wo andere Lichter oder keine jene Kohlensäcke füllten, und keine Erde
hier am Boden lag, kein Meer noch Land.

Senkrecht über meinem Scheitel hängt ein grüner, magisch reiner
Stern und schaut herab aus seiner Welt in meine. Welch ein Weg von
dort zu mir? von jener Sonne, von jener Welt in Brand und Glut, die
feuerlodernd ihre Fackeln wirft, als gält' es Untergang der Finsternis
und Kälte. Welch einen Raum zum Denken, Staunen -- Beten hat der
Schöpfer aussgespannt zwischen hier und dort?

Aus all den kreisenden Systemen und den ungezählten Wesen, die sich
decken und verstecken hinter Kohlenstaub und Eis, die heute sind und
morgen nicht; aus allem, was da oben und hier unten den Raum erfüllt --
nur ~einer~ hat den Platz behauptet -- nur ~einer~ hat sich
durchgerungen, durchgelebt. Aus diesem Chaos von Atomen ~einer~.
Von allem, was sich regt im Kampf ums Dasein -- ~einer~ war der
Stärkste, Zäheste -- der Glückliche, der Sieger aus der Schlacht
einer halben Ewigkeit, mit Feinden wie der Sand am Meer so viele --
~einer~, ~einer~ nur. Und dieser eine, der bin ~ich~! --
Ich bin der Unbezwingliche, der einzig Lebensfähige, das Meisterwerk,
der Schöpfung Krone, dem Schöpfer nah -- und drücken sie das Universum
durch ein Sieb, sie treffen nichts, das ebenbürtig zwischen uns sich
stellen kann und darf.

Ist das hochmütig geredet? Ist das Gotteslästerung?

O, tiefste Demut ringt in mir mit höchstem Dank um die Oberhand! --
Mein Gott! um welchen Preis bin ich das Ebenbild von dir? Um welche
~Opfer~?! -- Da liegt meine Mutter als das erste hinter mir; ihr
Weh und Winseln, das mich in die Welt gestellt, bis müd und abgespannt
von tausend Mühen ~meinetwegen~ ihr Leib zu Grabe sinkt -- das
erste Opfer. Arme, arme Mutter du! -- Und hinter dir, zum gleichen
Zweck verwendet, ~deine~ Mutter. Und hinter ~ihr~ ~ihre~
Mutter. Und ~ihre~ Mutter. Und ihre, ihre. Unerschöpflich wie
im Strom die Wassertropfen, Kopf an Kopf, Gesichter an Gesichter,
marschiert das Totenreich, mobil in allen seinen Regimentern, aus der
Vergangenheit heraus -- vorbei an mir.

Mein Gott! Um welchen Preis bin ich hierhergestellt? Um welche Opfer?
Über so viel Leichen wie auf Treppenstufen mußt' ich steigen? Gibt's
keine andere Leiter, die vom Boden unten hinaufreicht zu dir? -- Ach,
es gibt nur diese eine, sonst stellte Weisheit und Barmherzigkeit die
andere hin.

Und diese Blicke all auf mich geheftet -- dieser Augen Trillionenzahlen
starr und fragend, als wäre ich das Rätsel aller Rätsel, der
Mittelpunkt in Raum und Zeit. Und dieses fremde, wüste Treiben. Je
weiter rückwärts mein entsetztes Schauen greift, dieses Würgen, Morden,
Schlachten. Verwilderung hält Schritt mit Rückgang -- und so mein Ekel.
Behaarte Menschen seh' ich splitternackt, auf allen vieren aus der
Höhle kriechen und kannibalisch rohes Fleisch zerreißen. Und hinter
ihnen dampft der faule, mitternächtige Morast mit riesenwürmergleichen
Schachtelhalmen, schlüpferigen Kröten, Molchen, stacheligen
Saurusdrachen, die von sich spritzen, was sie trinken, mit der
Eingeweide Gift gemischt.

Durch diese Höllengasse mußt' ich wandern? Und du mit mir? Gott, du mit
mir? Gibt's keine andere Leiter?

Und all die Greuel dieser langen Reise, all die Barbareien, die
viehischen Verbrechen, all die Sünden, die zum Himmel schreien, mußtest
du, Allheiliger, vorüberziehen lassen. Billionen kalte Morde, Billionen
Tyranneien, Flüche, Meutereien, falsche Eide, Ungeheuerlichkeiten,
die um Rache schreien -- Bastardmischung zwischen Tier und Menschen
unterm Hurrabrüllen und Gewieher schadenfroher Teufel -- mußtest du
vorüberziehen lassen. Mit keinem andern Trost als: »Später, später«
überladene Herzen brechen lassen; Gottvertrauen untergehen lassen;
Unschuld untergehen lassen. All die Blicke, die zum Himmel flehen; all
die Klagen, Seufzer -- der Schlachten Brüllen -- der Folterkammern
schrilles Schreien -- der Kerker hohles Heulen -- der Krankenstuben
Stöhnen -- den Jammer einer ganzen Welt von End' zu End', mit keinem
andern Trost ertragen als: »Später, später!« bis der schneckenträgen
Weltgeschichte Räderwerk (mit klebrigem Blut geölt) der Hölle tierisch
Teil an mir zu Kot zermahlt.

Hat je mit so viel Gram und Wehen eine Mutter ihre Frucht geboren, wie
du, o Ewiger, dein Ebenbild?

-- -- -- Ha, ist es das?! Allmächtiger, ist es das?! (Mir ist, als
seh' ich ein reibend Schwefelholz an meiner Kerkerwand und find' die
Tür -- -- Haltet mich, o haltet mich!) Auch du, Gott?! Auch du? Ist es
möglich, auch du? O mein Erzeuger, der du bist, ist es möglich, ~auch
du kämpfst wie ich den Kampf ums Dasein~? -- Die gleiche Scheu
vor Stillstand wie die meinige ist dein. Das gleiche Fühlen, Denken,
Sehnen ist uns eigen -- nur in allergrößtem Maße dir. Die gleiche
Sucht nach Einigkeit, Fortschritt, Freiheit, nach einem Gegenstand
der Liebe (außerhalb), nach ewiger Glückseligkeit macht uns kämpfen
-- mich im engen Zirkel meines Selbst -- dich im unermessenen Raum,
mit einem Feind, dir ebenbürtig an Mitteln, Macht und Zähigkeit. Du
mit Licht -- er mit Nacht. Du mit Wärme -- er mit Kälte. Du mit Leben
-- er mit Tod. Du mit Geist und Willen -- er mit Körperträgheit. Du
mit Liebe, Wahrheit, Schönheit -- er mit allen Gegenteilen. -- -- Und
dieses Riesenkampfes Gleichgewicht verschieben können nach rechts oder
links, Ewiger! ~das kann ich~?? -- Ich kann dir trotzen und deine
Allmacht entthronen? Deine Majestät entkleiden? Dir Glückseligkeit
verbittern? Den ganzen, weiten Plan der Schöpfung stempeln mit
Fehlschlag? Dich ausliefern dem Hohngelächter deines Feindes?

O, daß du mir diese Waffe zeigst -- scharfgeschliffen wie sie ist, sie
mir anvertrauest -- welch ein Vertrauen! -- Nach langer, langer Nacht
gedankenlosen Schlafens wach' ich auf, und wie ein Kind zuerst aus
der Mutter Augen Liebe trinkt und ~dann~ die Milch der Brust --
~ich liebe dich, Gott~! Zum ersten Mal in meinem Dasein ruf' ich
ehrlich aus: »Ich liebe dich, Gott!« Bis heute betete ich dich an --
mit Staunen und Grauen maß ich deine Majestät -- aber lieben? -- Leere
Worte waren meine Schwüre. In Maß und Form warst du ein überirdisch
Ding für mich, so unverwandt und fremd wie ein Gespenst.

Ist Mitleid inniger als Staunen, und Liebe wärmer als Angst -- ist
~Vater~ schöner, inniger als Gott -- »Vater, ich liebe dich!
~Vereint~ sind wir allmächtig. ~Vereint~ sind wir die ewige
Glückseligkeit -- ~getrennt verloren~.«

Und jeden Morgen, wenn ich neugestärkt zur Wirklichkeit erstehe und
flüssig Blut, geerbt von dir, durch meine Adern pulsen spüre --
lebendig Hirn, geerbt von dir, an meine Schläfe pocht -- »Vater, ich
liebe dich!«

Kürzen kann ich dieses pulsende, warme Leben; enden plötzlich, wenn ich
will; die ganze Arbeit einer halben Ewigkeit von dir vernichten, wenn
ich will; dem Feinde »Tod« mich ins Lager liefern als ein Meuterer von
dir -- -- »Vater, ich bleib' dir treu!«

Wenn Waldesschatten mich in ihrer seelenvollen Sprache bitten: »Bleib
-- hier ist Moos zum Ruhen, dort der Quell; Beeren, Blumen überall,
wohin du greifst; die Bäume schützen dich vor grellem Licht und
rauhem Wetter; die Felsen ~mich~ vor allzuviel Besuch. Ist Gott
nicht gut, daß er sich meiner Einsamkeit erinnert, und jedes Jahr mir
viermal passend neue Kleider schenkt« -- -- »Vater, ich liebe dich!«

Wenn Sommermittagssonnenschein das vollste Treiben weckt, Gärten,
Fluren, Felder schwelgen im Leben, die Schöpfung dröhnt von tausend
Stimmen, alle durcheinander jauchzend, lachend, singend; oder wenn
Nachts die Allmacht auf die Bühne tritt in voller Majestät der Kraft,
und vor aufgezogenem Vorhang zeigt, was sie dem Tod und Stillstand
abgerungen in der Zeiten Lauf -- und jeder Blick in jene sternenvollen
Tiefen mit Demut beladen zurücksinkt -- -- »Vater, ich liebe dich!«

Ein Fackelwurf aus meiner Hand genügt, und jene Waldidylle brennt
zu Asche. Ein Losketten meiner Instinkte genügt, und jenes Paradies
von Gärten, besäet mit Wohnungen glücklicher Geschöpfe, verwandelt
sich zum Pandämonium eines brüllenden, rauchenden Schlachtfeldes, und
Leichengeruch statt Blumenduft qualmt dir ins Angesicht. Und was, mit
deiner vielgepufften Sternenherrlichkeit? Steck deine Kerzen du auf
trillionmeilenhohe Leuchter -- ich kann mir das Denken verhalten --
die Vernunft schänden -- bis blöd und tierisch Gottes Ebenbild dein
Schauspiel sieht wie die ausgesperrte Kuh den Mond. Soll ich noch mehr
dich höhnen? -- -- »Vater, ich bleib' dir treu!«

Hat je ein Künstler seine Arbeit gut gemacht -- mit vollster Seele
liebsten Stoff geformt, bis alle seine Wünsche sich verwirklichten
im Meisterwerk. O, dieser ~Spiegel~ -- und der Rahmen zu dem
Spiegel! Vor keinem Spiegel lacht und weint der Mensch so ehrlich
und so viel wie hier. In keinem Spiegel sieht der Mensch sich selber
so wie hier. Vom hellsten Blau herab zum tiefsten Schwarz, in allen
Farben, die ergreifen, strahlt der Spiegel ihm sein Bild zurück. Hier
sitzt der Greis und schaut die hundert Schichten seines Lebens, die
er im Flügelhemdchen bis herab zur Krücke durchgelebt mit Leib und
Seele, und Gefühle, die geschlummert haben jahrelang, sie tauchen aus
dem Spiegel auf und grüßen oder zürnen. Hier kniet die Mutter, der in
langer Sorgennacht das Herz gebrochen, stundenlang vor diesem Spiegel,
bis vom Schauen ihre Tränen trocknen, der bittre Mund sich öffnet zum
verklärten Lächeln. Vor diesem Spiegel steht der Ewige mit Stolz und
triumphierender Genugtuung -- gemischt mit weher Sorge, der Spiegel
möcht' zertrümmert werden von verfluchten Buben -- denn Schöneres kann
er nimmer machen, das ist sein Meisterwerk. Das ist das Gegenteil vom
Tod -- das ist der Allmacht stärkste Karte, die sie dem Feinde Tod
auftrumpfen kann im Spiel um die Oberherrschaft dieser Weltkontraste.
~Der Spiegel ist das Kind!~ Des Kindes Seele, des Kindes Augen --
Leib und Seele widerspiegelnd.

                       »Vater, ich liebe dich!«

Schaudere -- -- was kann ich hier verwüsten, wenn ich will, an dieser
hilflosesten der Kreaturen? Mit Ärgernis, mit Grausamkeit, mit
Vernachlässigung, mit Mißleitung, mit Mißbrauch meiner Zeugungstriebe?
Hier bin ich selber schier allmächtig, wollt ich zerstören, was du
aufgebaut.

»Vater, ich bleib' dir treu!« Dein Wille sei der meine. Dein Geist
der meine. Dein Feind der meine. Wahrheit um jeden Preis und jedes
Opfer sei von nun an meine Religion! Gerechtigkeit meine Religion,
Opferwilligkeit meine Religion; zu großer, friedlicher Familie deine
Menschen vereinigen, bis alle dich sehen wie ich, meine Religion. Und
fortschreitend wie ein Siegesmarsch, im Schlachtenrauch, zu immer
höheren Höhen -- aus bettender Nacht des Stillstands zu immer lichterem
Leben, zu reinerer Erkenntnis -- aus des Daseins Sturm und Drang
die Treppe bauen, bis die letzte Stufe den Thron streift und Gottes
Ebenbild zu deiner Rechten sitzen kann -- ~von dannen es kommen wird
am Ende der Schlacht mit aller Kraft und Herrlichkeit, zu richten die
Lebenden und Toten~!

                       »Vater, ich liebe dich!«

Und nahet mir des Lebens letzte Stunde -- und jenes Ding, das Blut
gerinnen macht und Todesschweiß durch alle Poren preßt -- --

Noch einmal seh' ich dann, wie der Wanderer auf höchstem Paß, zurück
und schaue mein Erdenwallen einer weißen Straße gleich. Dort im
Tal liegt meiner Jugend immergrüner Tummelplatz. Dort seh' ich die
ersten Schatten, die mir Wetterwolken auf den Weg geworfen. Dort die
erste steile Felsenwand. Dort den jähen Abgrund mit der schwanken
Brücke. Dort den Wald mit Angst und Sehnen nach dem Ausgang. Noch
einmal empfind' ich Verlangen zum Bleiben in der Welt, so heiß wie
nie zuvor -- und Trennungsschmerzen, eh ich fort bin -- und Heimweh,
eh ich abgereist -- und Reue, eh ich gerichtet bin. Noch einmal, ach!
durchschauert meine Seele jenes himmelahnende Gefühl, das Gesang
und rauschende Musik allein im Menschenherzen wecken kann, bis
wollustgleich in Tränen Lust und Leid sich entladen.

Kühl war der Morgen; heiß der Mittag; müde wankt das Kind am Abend in
die Kammer, an sein Bett. Das Erdenleben gleicht dem langen Tag. Viel
Blumen sind zertreten worden -- viel ist herumgestritten und gerissen
worden -- Gesicht und Händchen sind ihm schmutzig, sein Kleidchen
schier in Fetzen -- wild war sein Spiel im langen Tag -- doch, gebe
Gott, es war ein Spiel. Noch einmal weint das Kind aus Müdigkeit, aus
Leid ums abgerissene Spiel an seiner Mutter Brust: Natur; und dann --
-- ist Schlafenszeit.

                       »Vater, ich liebe dich!«

Ob ich unsterblich bin? -- Unwiderruflich, ja! ~wenn ich will~.

Ob mein Endziel höchste Glückseligkeit wird sein? -- Unwiderruflich, ja!

O, meine Eva! meine Eva! Auf halbem Weg zu der Vollkommenheit erst, und
deiner Küsse Seligkeit!

Dank, Dank, Allgütiger! Ich danke dir, vom ersten Werden bis hierher
und ewig. Vater unser, der du bist! Ich verbleibe grenzenlos dankend

                                                    Dein liebes

                                                                  Kind.

                   *       *       *       *       *

                                        Pilot Knob, den 1. Januar 1901.

          Lieber Bruder mit Weib und Kind!

Heute ist Neujahr. Mit ungezählten Segenswünschen beginne ich diesen
Brief. Möge Gott Euch die Vergangenheit vergessen machen im Rausch
einer fröhlichen Zukunft. Möge alles, was er zurückhielt an Freud' und
Wohlergehen, hundertprozentig Euch ausbezahlt werden.

Das war ein böses, rauhes Jahr, das vergangene. So ein paar mehr noch
könnten selbst dem Leichtsinn graue Haare wachsen machen. Wir armen
Menschen -- wir armen Leute!

Also, Neujahr.

Als ordnungsliebende Hausfrau -- (lieber Bruder! Du hast in sämtlichen
Briefen seit Deinem Unglückstag so viel Unverdauliches zusammengebraut
und gebraten, daß unbedingt hausbackene Kost auf den Tisch muß zur
Abwechslung, oder wir werden noch alle krank. Trockenes Brot -- hier
ist es:) Als ordnungsliebende Hausfrau nehme ich jetzt, gleich einem
guten Geschäftsführer, die Warenaufnahme vor und beginne mit dem
Hauptartikel der Haushaltung -- mit Peter.

Mein Peter ist heute vierzig Jahre alt und vier Wochen. Er kam also
herausgekrochen zu einer Jahreszeit, wo andere Bären sich verkriechen
in ihre Höhlen zum Winterschlaf. Er machte auch hierin die eigensinnige
Ausnahme, wie immer und überall. Wenn's schneit und friert, geht er in
Hemdärmeln spazieren. Im Sommer ist ihm am wohlsten im schweren Rock,
und -- die Pelzmütze ist ihm buchstäblich auf dem Kopf verlaufen wie
ein zu stark gebrühter Waschlappen, sonst hätt' er sie nicht abgelegt
ums Verzweifeln. Daß Peter schlafen kann sitzend, stehend, mit dem Kopf
nach unten, die Füße hoch, das hab' ich Dir schon früher berichtet.
Ich zweifle nicht, daß er über die Waschleine gehängt wie ein nasser
Strumpf ebensogut träumt und schnarcht wie im Federbett. Er ist das
Ausnahmegesetz. Fahren die Bergleute zur Grube, ist Peter immer der
letzte, der hinuntergeht, und Abends der erste, der 'raufkommt. Gelt,
Bruder, das dünkt Dich ein fauler Arbeiter. Aber Peter ist nichts
weniger als faul; er ist der längste Bergmann in der Schicht, und fährt
der Fahrstuhl zur Tiefe, so verschwindet sein geliebtes, teures Bild
zuletzt; und Abends erscheint sein Grizzlischädel schon, wenn seine
Kameraden noch weit unten im finsteren Schacht atmen -- hahaha!

Sonst ist Peter ja schon recht. Er kaut allerdings fürchterlich viel,
raucht aber weniger und trinkt noch weniger, und fleißig ist er für
drei. Er hat das ganze Jahr über keinen Arbeitstag versäumt (den Streik
ausgenommen). Das ist abermals eine Ausnahme, verglichen mit andern
Bergleuten, jedoch eine so gute Ausnahme, daß ich Gott danke und
bitte, mir meinen Gatten noch viele, viele Jahre zu erhalten.

Nach dem Vater kommt von Rechts wegen die Mutter im Haushalt. Und
geht's dem Alter nach, bin ich ~noch einmal~ Nächstes; ich bin
schier dreiunddreißig alt. Weil Ihr beide jedoch stark im Waschgeschäft
interessiert seid und ich ebenfalls (ich wasche außer meiner Hauswäsche
für zwei Dutzend ledige Miner, die nebenan in Kost sind), so möchtet
Ihr am Ende denken, ich trommle Reklame für meine Popularität und
versuche Euch Kunden wegzuschnappen; darum werde ich Jennie vollständig
ignorieren und die Ware, anstatt dem Alter nach, der Größe nach
vornehmen.

Ich bin jetzt nur mehr die dritte Größe im Haus. Ja, ja, 's geht
abwärts mit mir. Zwischen meinem Mann und mir, oder besser gesagt:
zwischen dem alten Peter und mir, steht der junge Peter. Der junge
Peter ist mein Ältester. Trotzdem er der Älteste ist, ist der
~andere~ der Älteste. Der Älteste ist also nicht mein Ältester,
sondern mein Alter, und der Jüngere ist mein ältester ~Sohn~.

Lieber Tom, Du siehst wie ich närrisch werde vor Freud', komm' ich auf
meine Kinder zu sprechen. Und warum auch nicht; sie sind mein Leben,
mein Leib und Seel', mein alles. Sie glücklich machen ist meiner Liebe
allerhöchstes Ziel, mein schier einziges Gebet zu Gott.

Also noch einmal der Peter. Damit die Verwechslung aber endgültig
aufhört, sage ich: der ~kleine~ Peter. Der kleine Peter ist größer
als ich!

Er ist jetzt vierzehn Jahre alt -- und seines Vaters Ebenbild. Er hat
ganz die niedere Stirn, die braunen, phlegmatischen Augen -- aber auch
die undurchkämmbaren Borsten auf dem Dickschädel und den Knochenbau
des Alten. Er wird noch ein Riese werden. Oft erfaßt mich eine Wut
wider die Natur, die mit einer geradezu eselsgeduldigen Pünktlichkeit
sich abgemüht haben muß, die beiden Peter so gleich zu machen wie --
Billardbälle. Es gibt doch so viele und gefälligere Modelle.

An meinem Sohn kann man aber ersehen, was Erziehung macht aus dem
Menschen. Peterchen ist ein Kind und wird's noch lange bleiben. Groß,
schier wie ein Mann, und kräftiger als manche Männer, ist das Kind so
weich und still, innig, gefühlvoll. Schauen wir uns an -- es dünkt mir
oft, es lese der armen Mutter Sehnen, Weh und Klagen aus ihren Augen.
Ja, ja, und oft drängt es mich zum Weinen beim Kuß und »gute Nacht«. So
war einmal der Jennie Traumbild gewesen, als sie ihr blutjunges Leben
opferte -- einem Wahn.

Im neuen Jahr nun muß Peterchen zur Grube. Der Alte will's. Meine Angst
wird dann verdoppelt: Vater ~und~ Sohn; denn Bergmannsleben ist
ein gefährliches Leben. Ach!

Nach dem Peter kommt der Willie. Der ist elf Jahre alt. Den Zeitraum
zwischen Peters und Willies Erscheinen (Du weißt es selber) füllte
die Vorsehung aus mit dreijähriger Prüfung an mir. Schier war es zu
viel und zu lang für mich armes Weib; und daß ich herauskam aus der
Angst und Qual, der Ratlosigkeit, Trostlosigkeit, Armut, Entbehrung,
Enttäuschung -- sag' ich es gerade heraus -- aus der markverzehrenden
Reue, einen Mann geheiratet zu haben, so rasch und leichtsinnig, wie
ein weltunerfahrenes Mädchen es fertig kriegt, wenn es schwärmt,
träumt, träumt -- --

Das war ein Tag, als meines Mannes erstes herzloses Wort mich
aufschreckte vom Träumen und mich stehen ließ in kalter Hütte der
Not, getrennt von Mutter, Vater, Bruder, Jugend -- ungeliebt. Daß ich
~das~ überleben konnte und stärker, besser noch herauskam aus der
Schule, das zeugt, denke ich, von großer Kraft der Seele. -- Ich bin
also auch eine Riesin und stärker noch als Peter!

Begreiflich, wo solche Kräfte existieren und produzieren, muß das
Resultat ein Wunder werden. Und Willie ist das Wunder! Willie ist
das Wunderkind, das Zauberkind, ist meiner Wünsche Erfüllung,
meines Himmels hellster Stern. Mir scheint, der Allgütige habe mich
entschädigen wollen, belohnen wollen für mein Stillhalten auf der
Folterbank des Lebens und schenkte mir Willie.

Mein Kind! Mein Kind! Kann so viel Segen, Seligkeit, Harmonie, Himmel
zusammengehäuft werden in diese kleine, schwache Form -- Gott! wie muß
dein ~Ganzes~ sein, ein Sonnenmeer!

Soll Willies Hoffnung erfüllt werden, dann wird er Priester. Das ist
sein heißer, schier einziger Wunsch. Meiner auch. Wenn ich diese Freude
erleben darf, mein Kind stehen sehen vor dem Hochaltar als Priester
-- -- Aber ich will nicht sündigen, guter Gott -- ich will nicht zu
viel verlangen. Gott, du weißt, es ist nur die fieberphantasierende
Mutterliebe, die solch verwegene Bitten richtet an dich. Verzeih mir's,
Gott. -- Aber ich wär' sehr glücklich, sehr, sehr.

Willie ist der beste Schüler in der Klasse und der Lehrerin Liebling.
Talent und Fleiß eroberten ihm diese Stellen. Dann ist Willie noch
Ministrant in der Kirche. Dann ist er noch der Liebling des Herrn
Pfarrers. Er ist überall und aller Menschen Liebling; sogar meiner,
hahaha!

Bruder, jetzt muß ich Dir die Geschichte doch erzählen. Eine
Weihnachtsgeschichte. Ich wollte sie eigentlich nie erzählen. Wie einen
am Weg gefundenen Schatz wollte ich's verbergen, verstecken, heimtragen
und die öden Räume meines armen Herzens damit schmücken, und damit
spielen in traurigen Stunden. Jetzt aber will ich Dich einweihen und
zugleich meine überschäumende Mutterfreude erleichtern.

Elf Uhr Nachts. Um zwölf begann die Messe. Willie und Mama wickelten
sich so warm wie möglich in Kleider und verließen still die Hütte.
Peter und die Kleinen schliefen. Der Weg zur Kirche ging talwärts
und kostete uns kaum die halbe Zeit, die wir hatten. Dünner,
frischgefallener Schnee deckte Flur und Feld, Sternenpracht die Berge
und Wälder, Ruhe alles.

In der Kirche angelangt, nahmen wir Abschied. Das Kind verschwand oben
im Chor, die Mutter unten links, im hintersten Winkel.

Dort kauerte ich nieder und zitterte ein wenig. Ich hatte Kopfweh und
kalte Füße. Dann schloß ich müde meine Augen.

Als ich sie wieder öffnete, brannten die Kerzen auf dem Hochaltar
und Lichter ringsum. Die Orgel begann harmonische Laute durch den
Raum zu wälzen -- geisterhaft wie Sturmesklagen in der Waldesnacht
-- anschwellend, zurücktretend, donnernd laut, flüsternd, wehmütig
flehend, auf jedem Pfad der Möglichkeit den Eingang suchend in das
Menschenherz -- die müden Geister aufzuwecken zum Gebet, zum Lieben,
Hoffen.

Und wieder schloß ich meine Augen.

Da -- o Gott! Ein Lied, eine Stimme, süß, engelrein, meine Sinne so
ergreifend, die Seele mir aussaugend, zitterte herab zu mir:

  »Stille Nacht! heilige Nacht!
  Alles schläft, einsam wacht
  Nur das traute, hochheilige Paar --«

O, das Lied! ich kenne es. Der Engel, der es singt! ich kenne ihn -- er
ist mein Kind! mein Kind! -- -- O, der Mutterfreuden höchster Berg, den
ich erstiegen habe -- nur ein Schritt vom Himmel -- nur noch sterben.

Allmächtiger! Darum meine Dornenpilgerreise durch das Leben. Darum
diese lange Kette von Schmerzen, Sorgen, Enttäuschungen. Vom Schlaf
in der Wiege bis hierher, die tausend ungestillten Tränen, unerfüllten
Wünsche zagender Bescheidenheit. Darum dieses dunkle, wirre,
rätselvolle Erdenwallen; der Zickzackgang zum Grab, das Hoffen, Harren,
Hasten, Hängenbleiben, das Suchen nach der Ruh', das Grauen vor der
Ruh'. Darum mußte Jennie geboren werden dort am Berg in Armuts Armen,
in der Bettlerhütte. Von einer Mutter, reich nur im Entsagen, im Mut,
den Kampf zu wagen gegen Hungers Not. Hungrig zur Schule gehen, barfuß
zur Kirche -- die ungestillte, verkrüppelte Lernbegierde mir ausartend
zur wilden Sucht und Schwärmerei. Darum mußte die arme Jennie, die
Waise -- und der Bruder ihr so fern -- sich anklammern an den Mann, der
jetzt ihres Kindes Vater ist -- -- Gott! wenn das der Plan war, dann
lob' ich das Schicksal und bet' es an!

Ein Kuß weckte mich aus meiner Träumerei. Willie lag mir in den Armen
und lächelte: »War's schön, Mama?«

Siehst Du, Bruder Tom, ich war ~auch~ für ein Stündchen in des
lieben Herrgotts Werkstatt und durfte sehn, wie die Räder laufen.

Dann verließen wir Gottes Haus ebenfalls. Wir waren die letzten.
Draußen lag der frischgefallene Schnee. Leichentuchartig deckte er die
Erde, ein Bild der Vergänglichkeit. Der ~Himmel~ zeigte durch
zerrissener Wolken Schleier das Bild der ~Unvergänglichkeit~.
Zwischen beiden schwebten wir der Heimat zu; bergauf.

Willie ging voraus, mit trippelnden Schritten, leichtfüßig wie die
Jugend. Und die Mutter folgte, schwerfällig wie das Alter.

»Willie!« sagte ich, als wir den Steg über den Bach hinter uns hatten,
»hast du viel Angst gehabt beim Solosingen in der Messe?«

»Gar nicht, Mama.«

»Willie!« sagte ich, als wir an der Hütte des Murphy vorüberschritten,
»hat der Herr Pfarrer Gute Nacht gewünscht, als du weggingst?«

»Sollt's meinen, Mama.«

»Willie! hast du dein Mäntelchen ausgezogen in der Kirche?«

»Ja, Mama.«

»Willie! friert's dich?«

»Nein.«

Der Weg wurde steiler und ich hatte Not, dem Knaben zu folgen. »Willie!
kannst du langsamer gehen, ein wenig?«

»Ja, Mama.«

»Nur ein wenig. So. -- Willie?«

»Mama?«

Ich blieb stehen. Der Knabe blieb auch stehen -- und wendete sich
um nach mir. Sein Gesicht glühte hochrot von Blut und Lebenswärme.
»Willie!!« schrie ich auf einmal. Ein Windstoß wehte weiße Schleier
kalten Schnees auf mich und ihn und versuchte uns zu trennen -- aber
ich lag auf den Knieen vor dem Kind und hielt es heftig an mein Herz
gedrückt. »Warum so kalt und leer zu mir mit Ja und Nein, den Blick
nach oben? Sind die Sterne dir schöner als deiner Mutter Augen? Küß
mich, Kind! Lieb mich! O, lieb mich -- bitte -- bitte!«

Und da, vor Gott allein, getrennt von dieser Welt durch eine Wolke
Schnee, die tausendfältig glitzernd uns verhüllte, wie Glorienschein
die Seligen -- da lag er mir am Herzen, glühend heiß mich küssend,
liebkosend: »O Mama! Mama! so lieb!« -- --

Tom! male weiter, wenn du willst -- ich muß schwenken. Die wilde Jagd
kommt: die Kinder kommen von Potters Farm mit Weihnachtsgeschenken,
und Klein-Molly hat sich so müde gewirtschaftet, daß Peterchen sie
tragen muß. Jetzt weg mit Tinte und Feder. Juchhe! meine Plagegeister.
O, ich bin übernatürlich glückselig. Wirklichkeit ist doch schöner als
schönstes Träumen!

                                                                Jennie.

                   *       *       *       *       *

                                         Brooklyn, den 14. Januar 1901.

          Liebe Schwester!

Ich bin also abermals arbeitslos. Die meisten Stunden des Tages sitze
ich in meiner warmen Küche zu Brooklyn, und schreibe ich nicht, dann
gaffe und gähne ich durchs Fenster auf die winterliche Straße hinunter
und zähle die Pflastersteine.

Letzten Samstag morgen passierte ich die Linie, die im Ausbeuterdialekt
»Überflüssig« benannt wird, oder verständlicher gesagt: ich wurde mit
einem Tritt auf den Hintern ehrenvoll entlassen.

Der Pat, der unverschämte, gewissenlose Irländer, wollte mir den
Gefallen nicht tun und -- -- nein, den Tod wünsch' ich ihm gerade nicht
-- aber -- aber -- ja, hier ist guter Rat teuer, was ich dem armen Mann
mit seinen elf Kindern wünschen soll. Eine Million Silberdollar wünsche
ich ihm und Gesundheit dazu. Basta! Amen!

Ja, der Pat meldete sich zum Dienst zurück. Er ist noch gar nicht
fähig dazu. Er sieht schrecklich krank und wackelig aus. Ich glaube
kaum, daß er den fünften Stock des Warenspeichers erklimmen kann ohne
Alpenstock. Aber so geht's halt im glorreichen Lande Onkel Sams. Die
Sorge, ~ich~ möchte mich in seine Nachtwächterstelle festbeißen,
die Angst um sein täglich Brot jagte den Proletarier, nur halb geheilt,
aus dem Lazarett ins Kampfgewühl der Konkurrenz.

Daß genug Verdruß übrig bliebe, ohne ~den~, den man sich
selber macht -- ich meine, die Menschen sollten sich wenigstens die
Existenzsorgen vom Halse halten, und Jammer bleibt genug übrig,
ohnehin, um verrückt werden zu können.

Das sind übrigens pensionierte Themas für mich. Tom Pratt hat keine
Zeit mehr, der Mißwirtschaft Parade abzunehmen. Seine ganze Energie
geht auf in seiner, jetzt nahezu fertigen Dichtung »Der Seestern«! --
Schwester, nicht genug danken kann ich Dir für den Rat, ich soll das
Dichten als Basis meiner Zukunft wählen. Du sagst, Gott habe Dir den
erlösenden Gedanken eingehaucht. Ich glaub's. Das ist die Weise, wie
er zu uns spricht! Wenn wir ruhig sind und lauschen, dann hören wir
jedes seiner Worte. Darum bin ich (Du merkst wohl die Veränderung an
mir jetzt schon), darum bin ich heute so geduldig, ergeben. Komm', was
komm', ich hab' mir in den einsamen Nächten als Wächter viel zugelegt,
was mich aufklärt über Zeichen und Wunder. Unmöglich hätt' ich meinen
»Seestern« so zu stande gebracht außerhalb jener Kanzleistube und ihrer
wunderbaren Abgeschlossenheit. Ach! jetzt packt mich gar das Heimweh
nach meiner Nachtwächterzeit. Pat! ich verfolge dich in Gedanken durch
alle Winkel des Hauses. Nimm dich in acht vor Gespenstern und bleib weg
von Mister Rouß' Sanktum -- der Einarmige sitzt dort!

Ich rechne, in acht Tagen werde ich ganz fertig sein mit meiner
Arbeit und darf abliefern. Wie sehr wünsche ich, Du möchtest jetzt
neben mir sitzen, damit ich Dir Stellen des Manuskripts vorlesen
könnt'. Stellenweise ist der »Seestern« -- lache nicht -- geradezu
meisterhaft! Er ist, wie schon der Titel erklärt, ein Ding vom Meer,
ein Matrosenroman. Das Meer in allen seinen Bewegungen, Farben und
Eindrücken auf den Menschen zu schildern, ohne überschwenglich und
einförmig zu werden, das war die Idee. Die Handlung ist Trägerin nur
all dieser Perlen, Steine, Juwelen, Muscheln, Flitter und Goldfische,
die ich da (wie ich gar nicht bezweifle) mit einem Geschmack und
Reichtum angehängt habe, den mir schwerlich einer übertrumpfen soll.
Mein Jugendstreich, als ich ohne Abschied von Euch den Mississippi
hinunterlotste, in Neuorleans die »Dora Doll« bestieg und herumsegelte
mit ihr ums Horn nach Frisco -- der Anschauungsunterricht damals kommt
mir trefflich zu statten jetzt.

»Mitternachtswehen am Kap Horn« und »Morgen am Amazonenstrom«
schilderte ich, Poesie, Natur, Liebeslust und -tragik, des Meeres
und der Liebe Wellen so verschmelzend, daß dem Leser Salzwasser in
Form seiner eigenen Tränen auf die Blätter träufeln und er das Buch
festhalten wird wie ein Kleinod, aus Furcht, die wehende Brise der See
möcht' es ihm entführen.

Schwester, Du wirst lachen und witzeln: jede Mutter hält ~ihr~
Kindlein für das schönste. Warte, Dichter Tom, bis die Herren Kritiker
das Ding beurteilen: »Mißgeburt -- Ohren zu lang -- Nase platt -- Augen
blöde -- Mund dumm.«

Es gibt aber Mütter, deren Kinder tatsächlich schön sind; und wenn
~ich~ zu dieser glücklichen Sorte gehöre, was dann? Warum soll
es nicht möglich sein, daß Tom Pratt einen Treffer ins Schwarze macht
beim allerersten Schuß? -- Ein schlechter Schütze verknallt sein
ganzes Pulverhorn und trifft die Scheibe nicht. Es kommt nicht aufs
Vielschießen an -- nicht einmal so sehr auf Übung -- scharfes Auge
(des Geistes beim Poeten), kühles Selbstbewußtsein sind Garantien für
Treffen. Und diese Eigenschaften besitze ich, Gott sei Dank!

Der »Seestern« bleibt also vorläufig mein Hoffnungsstern.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                         Brooklyn, den 22. Januar 1901.

          Teure Schwester!

Mein erstes Wort soll sein: »Verzeihe mir!«

Drei Wochen lang bin ich im Besitz Deiner Glückwünsche zum neuen Jahr,
und jetzt erst komme ich, sie zu beantworten. Das ist wieder eine
meiner Sünden, die nur entschuldigt werden kann, wenn man Schritt für
Schritt die Schwierigkeiten mißt, mit denen schwacher Wille Träumer
formt zu aufgeweckten Menschen.

Die rührenden Schilderungen Deines häuslichen Lebens ... Schwester,
wie machst Du es nur? Was treibst Du nur? Ist es Leichtsinn, der Dich
lachen macht bei solchen Entbehrungen? -- oder ist's Galgenhumor? --
Hier lese ich von einer kinderlosen Dame, die in verschwenderischem
Luxus lebte, umgeben von allem, was das Herz begehrt, Freiheit,
Freundschaft, Gesellschaft, Gesundheit. Ihr Gatte betete sie an.
Schwermut zog sie aber zum Selbstmord.

In Pilot Knob lebt eine Bergmannsfrau, die sechs unerwachsene, immer
lärmende, immer essende Kinder als Plagegeister um sich hat, nebst all
ihrer Haus- und Wascharbeit. Die Frau ist das wahre Opferlamm. Schlaf,
Ruhe, gute Kleider, Speise und Trank, Vergnügen, alles muß sie opfern;
und doch ist sie der Inbegriff von guter Laune, Frische, Zufriedenheit.
-- Schwester! warum begehst ~Du~ nicht Selbstmord und entfliehst
einem Dasein so voller Schatten?

O, warum denn fragen -- hier steht ja die Antwort neben mir: Arme Eva
mein! Das ~Kind~ ist fort -- ja, die Elsie ist fort -- und mit
dem Kind geht des Weibes Lebenszweck zu Grabe. Das ist das Geheimnis.
Euer Ebenbild vor Augen haben, gesund und munter, brav und gedeihlich,
das ist eure irdische Glückseligkeit; wie es des Ewigen überirdische,
unendliche Glückseligkeit sein muß, Menschen leben zu sehen, die ihn
lieben, anschauen, mit ihm reden.

Schwester! Gestern setzte ich mein Kind aus! Meines Geistes Erstgeburt,
der »Seestern«, wurde abgeliefert an den Verleger in Neuyork. Es
war mein schwerster Gang -- und leichter dünkt es mich, Arbeit zu
erbetteln, oder gar Almosen, als so ein armseliges Schreibheft
abliefern und erwarten, der vielbeschäftigte hohe Herr solle sich's
Zeit und Geduld kosten lassen und den Quatsch kritisieren. Nie kam ich
mir kleiner vor, eingeschrumpfter als im Augenblick des Anklopfens an
seine Kanzleitür.

»Herein!«

Ich trat ein. So bleich und schlotterig tritt höchstens Hamlets Geist
auf die Bühne, wenn sein Schneider im Parterre wartet, wie ich das
Kontor betrat.

»Setzen Sie sich!«

Ich setzte mich. Eigentlich fiel ich. Wie ein Taschenmesser mit starker
Feder klappte ich zusammen und saß einem Fragezeichen dergestalt
ähnlich auf dem Stuhlrand, daß der hohe Herr ohne weiteres frug: »Sie
wünschen?«

»Ja,« hauchte ich.

»Was wünschen Sie?«

»Sir!« begann ich, »Sie sehen, ich habe ein großes Unglück erlebt.
Mein linker Arm wurde mir abgeschnitten von der Maschine. Das war
letzten Sommer. Seither versuchte ich mit allem guten Willen Arbeit
zu erlangen, um mich und meine Familie vor dem Untergang zu bewahren
-- konnte jedoch nichts finden. Ein guter Geist gab mir den Rat,
dieses Buch hier zu schreiben. Ich schrieb's. Ich weiß, es ist kühn,
als ungeschulter Mensch zu wagen, was nur Hochgelehrte zu vollbringen
vermögen; aber Not ist meine Entschuldigung. Ich bin in großer Not,
mein Herr! und flehe um Nachsicht.«

Jetzt war nur noch der leere Bettelsack als würdige Schleppe fester zu
binden und meine wohleinstudierte Rede wäre fertig gewesen; aber die
Worte klebten mir an der Zunge fest und diese am Gaumen. Ich stockte.

Die Stimme des hohen Herrn klang wohlwollend, als er mich nach einer
Pause anredete. Vielleicht fürchtete er, der Schlag werde mich treffen,
wenn er mich schroff abweist, und einen Toten von meiner Größe bei sich
liegen haben, bis der Leichenbeschauer kommt und wegräumt, das wär'
Ursache genug, warum ich gnädig behandelt wurde. Vielleicht aber (o,
ich bebte vor Freude) empfand der Herr ein menschliches Rühren.

»Mein lieber Freund! Daß Sie großes Unglück erlebt haben, kann ich
sehen. Daß Sie in großer Not sind, kann ich ebenfalls sehen. Das
allein soll mich bewegen, eine Ausnahme zu machen. Es ist mein
Geschäftsprinzip seit Jahren, keine Manuskripte zu lesen, noch
anzunehmen, außer gut empfohlene. Es läuft zu viel Mittelmäßiges ein.
Der Markt ist überfüllt und meine Zeit ist kostbar. Dennoch werde ich,
wie gesagt, mit Ihrer Dichtung eine Ausnahme machen -- hoffend jedoch,
daß Sie, falls meine Kritik abschlägig lautet, das Urteil wie ein Mann
ertragen werden. Selbstverständlich würd' es mich Ihretwegen freuen,
sollte das Buch druckreif erscheinen. Es kann ja sein. Es ist alles
schon dagewesen. Sie werden von mir hören. Adieu!«

Er winkte ab.

Ich ging.

Jetzt heißt es, mit Vorsicht Hoffnung und Verzweiflung balancieren
lassen, daß ja keines das andere sinken oder zu hoch steigen läßt. So
zwischen Himmel und Hölle hängend -- mein Gott! sind das Zeiten, die
meiner harren.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                         Brooklyn, den 24. Januar 1901.

          Teure, liebe Schwester!

Warum ich Dir schon wieder schreibe? -- Ich lebe in qualvollster
Ungewißheit über das Schicksal meines Manuskriptes, über den Unter-
oder Aufgang meines »Seesterns«. Ein Gefühl habe ich, als schwebe ich
an einem Bindfaden hängend über dem Niagara; wenn der Faden nicht
reißt, werd' ich gerettet; reißt er, so fall' ich.

Ach, Jennie! Schwester! Denkst Du, meine Dichtung werde durchdringen?
Ist so etwas möglich? Um zwei Zeilen Trost und Aufmunterung fleht Dich
an Dein armer

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                         Brooklyn, den 28. Januar 1901.

          Liebe, teure Schwester!

Alles dreht sich vor mir und steht auf dem Kopf, das Unterste wird
oben. Warten würgt sonst die Hoffnung -- bei mir wird die Hoffnung
blühender, je länger ich warte. Jetzt sind es sechs Tage, oder genau
hundertachtundvierzig Stunden, daß ich meine schriftstellerische
Produktion dem Verleger einreichte, und noch habe ich keine Antwort.
Das würde vielleicht jeden anderen beunruhigen, mich tröstet es. Die
ersten paar Tage lebte ich in peinlichster Sorge. Jede Stunde fürchtete
ich, das Manuskript werde zurückgeschickt; sah ich den Briefträger über
die Straße schreiten, so zitterte ich: er möcht's in der Tasche haben
und mir aushändigen -- und was das bedeutet, o Enttäuschung! Nun bin
ich glücklich übers Anfangsstadium weg und fühle fester.

O, es ist himmlisches Gefühl, zu wandeln auf dem Pfad zu besseren
Tagen. Der erste Schritt aus Waldesnacht, die den Verirrten grauenvoll
umgarnte, der Sonne Licht, das die Nebel teilt und dem Schiffer Küsten
zeigt, können kaum solche Zauber wecken.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                         Brooklyn, den 4. Februar 1901.

          Liebe Schwester!

Es macht mir unerträgliche Pein, daß Du so lange schweigst. Nur ein
paar Worte, von Deiner Hand geschrieben, würden mich beruhigen, aber
~nichts~ ist zu wenig. Bist Du krank? Oder quält Dich die Not?
Oder bist Du erzürnt auf mich, weil ich Dich unablässig ärgere mit
Lamentieren?

Liebe Jennie! Hab' ich Glück mit meinem »Seestern«, dann werden wir
alle gute Tage erleben! Es bedeutet totale Umwälzung unserer Lage,
von Notstand zu Wohlstand; denn viel Besseres werde ich schreiben
nach diesem Erstlingswerk. Getragen vom Erfolg, von Begeisterung,
Aufmunterung, Sorgenfreiheit, werd' ich fliegen so hoch --
Freudenschauer schütteln mich, wenn ich denke, wie hoch ich fliegen
kann, lastbefreit. Ich werd' dann wohl gar nicht mehr vom Himmel
herunterkommen, und meine Berichte zur Tiefe schicken mit irgend einer
Post, mit Sonnenstrahlen, Schallwellen, Tau und Regen. Ob mit Blitz und
Hagelwetter, soll vorläufig nicht prophezeit noch abgeleugnet werden;
unbedingt aber müssen die Menschen sich brüderlicher betragen, oder ich
bombardiere die Erde mit Sonnenschlacken und faulen Eiern so groß wie
Mondgebirge.

Schwester, Dir besonders werde ich ganz gehörig unter die Arme greifen.
Deinen Waschkübel sollst Du zum Bach tragen und schwimmen lassen, den
ganzen Mississippi hinunter in den Golfstrom, bis er da als Treibholz
landet, wo Nansen den Pol stecken ließ. Dein Söhnchen Peter braucht
nicht ins Bergwerk -- nicht so früh untern Boden -- ein passendes
Handwerk laß ich ihn lernen. Und Deines Lieblings Wunsch, Pfarrer
spielen zu dürfen, werde ich erfüllen; mit der einzigen Bedingung
jedoch, daß er reines Christentum predige ohne das vorgeschriebene
Beiwerk -- und kost' es ihn seine Anstellung. Allen Deinen Kindern
(ach, ich möchte ~allen~ Kindern) soll geholfen werden. --
Glückauf!

Ist das, zusammengezählt und multipliziert mit brüderlichem Segen,
nicht ~ein~ Briefchen wert? Bitte, antworte.

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                        Brooklyn, den 11. Februar 1901.

          Schwester!

Du antwortest mir also nicht. Dieser wird mein sechster oder siebenter
Brief, den ich an Dich richte. Warum antwortest Du nicht auf meine
Briefe? Weißt Du denn nicht, daß ich erschöpft bin, an der Grenze bin,
daß ich armer, einarmiger, vergessener Krüppel nicht weiterhinken kann
und stecken bleibe im Bitten, Flehen: schreibe mir! Schwester, schreibe
mir!

Diesen Vormittag besuchte ich den Herrn Verleger. Ich konnte meine
Unruhe nicht länger bemeistern und besuchte den Herrn Verleger. Und
mein armes Manuskript lag noch ungelesen dort. Nein, viel schlimmer,
es lag unter einem Berg von Papier und Büchern vergraben wie ein totes
Ding, und der Herr war in schlimmer Laune obendrein.

Was das bedeutet? -- Fehlschlag! Fehlschlag in zermalmendster
Bedeutung. O, ~der~ Schlag ist härter als mein Widerstand. Ich
werde wahnsinnig, das ist die letzte Offenbarung. Gott will mich
vernichten, und weiß ~wie~. Er hat Erfahrung im Fach und trifft
jeden Nagel auf den Kopf. Warum? Bin ich ein zu ungeduldiges Ding? Bin
ich im Weg? Ist einer zu viel im Schöpfungsraume, der Luft atmet? Was
weiß ich von den Launen seiner Majestät, ich bin nicht allwissend.
Aber ~den~ Glauben haben sie mir endlich beigebracht: mit Jammern
rührt man Götter nicht; eher küss' ich Grönlands Felsen warm, bis seine
Gletscher dampfen, eh ich mit allen meinen Klagen einen Gott erweichen
kann.

Aber still! kusch! Genug gebellt, genug gepfiffen. Das Allerschlimmste:
mein Weib wird kalt. Eva wird mir fremd! Gefühl und Liebe fängt zu
rechnen an und multi-dividiert mit kalten Zahlen meinen -- Bankrott.
Sie meidet mich. Sie weicht mir aus. Sie fürchtet meine Liebkosungen.
Zittert, wenn ich ihr nahe. Erschrickt, wenn ich sie ansehe. So fliehen
sie mich alle! Bertie schlägt der Mutter nach und stiehlt sich fort.
Das Schicksal ist mir todfeind. Gott auch. Die Menschen alle. Du auch.
... Der ~eine~ nur, den ich am meisten könnt' entbehren, den ich
verwünsche bis ins Grab, der mich plagt und hetzt -- mit Bitten und mit
Drohen kann ich von seiner schrecklichen Gesellschaft nicht freikommen
-- der eine, letzte, der mir folgt in alle Ewigkeit, ist:

                                                                   Tom.

                   *       *       *       *       *

                                      Pilot Knob, den 16. Februar 1901.

          Armer Tom!

Gewiß -- Du hast recht. Sechs oder mehr Briefe habe ich von Dir und
keinen beantwortet. Und sag' ich die Wahrheit, keinen gelesen -- oder
gelesen und vergessen. Sie sind ja alle gleich. Jeder ist voll von
Klagen. Und Du hast recht. Es geht dir schlecht. Herzlich schlecht. Was
soll aus Dir werden jetzt? Ich seh' keinen Ausweg aus diesem Labyrinth
von Unglück -- gar keinen. Ich hab' nachgedacht, nächtelang, tagelang,
und bin, aufrichtig gestanden, müd' und krank darüber. Es wird mir zum
Ekel, das Denken. Ich kann Dir nicht helfen. Hilf Dir selbst! Sieh, wie
Du fortkommst! Wann nicht, dann nicht. Ich zweifle, ob Du es kannst.
Wahrscheinlich wirst Du keine Arbeit bekommen mit Deinem verkrüppelten
Körper und -- verkrüppelten ~Geist~. Dein krankes Weib wird noch
eine Weile waschen, und dann wird sie ~nicht~ mehr waschen. Man
sieht den Schluß des Trauerspiels kommen -- natürlich. Er kann nicht
anders lauten als: »verdorben und gestorben.«

Tom, ich schreibe dieses alles nur so hin, wie mir die Worte einfallen.
Ich denke nichts dabei. Das Denken hat mich krank gemacht. Das
Reden, Bitten, Trösten hat mich krank gemacht. Ich muß mich schonen.
Nachgeben. Wenn ich weinen könnte, dann würde mir wohler -- das fühle
ich. So recht heiß und lange weinen. Aber schreien hilft nichts. Ich
hab' geschrieen, daß ich heiser bin. Es hilft nichts. Es gibt keinen
Schrei, der hinüberreicht zu den Toten, Tom. Keinen ... Und das Kind
ist fort ... Zerrissen haben sie mir das Kind ins Haus getragen. Als
hätten wilde Tiere mein Kind zerrissen, so haben sie es mir ins Haus
getragen. Ach Gott! warum ließ ich das Kind ins Bergwerk und schaffen
wie ein Sklave um das bißchen Essen, dass es ißt. Jetzt ist es tot.
Die Wand fiel auf die liebe, teure Form und zerdrückte mein Kind zur
blutenden Masse ohne Atem, Leben. Das war der Anfang und das Ende
seiner ersten Woche. So schnell. So gründlich.

O, mein Kopf! Mein weher Kopf! Ich möchte am liebsten liegen --
hinliegen irgendwo im schwärzesten Winkel der Welt und schlafen --
schlafen. -- Das ~eine~ muß ich Dir aber noch sagen, eh ich die
Feder weglege: Du sollst mir keine Antwort geben auf diesen Brief. Wir
reisen ab ins nordamerikanische Sibirien, zu den Bären und Wölfen,
nach ~Montana~. Morgen. Auch das noch! Was dann? -- Peter hat
sich anwerben lassen ins Silberbergwerk. Der Vater kann nicht in der
Grube schaffen, wo sein Kind erschlagen wurde, das ist die Ursache
der Flucht. Und ~ich~, ich kann mich nicht losreißen vom Grab
meines Kindes. Beide haben wir recht. Aber ich verliere, er gewinnt.
Ich verliere immer, immer. Daß ich ~eine~ Stunde meines Lebens
wüßte, wo ich nicht die Verliererin war! -- Aber still, still.
Stumpfsinnigkeit, erbarme dich meiner! Es gibt keine Saite der Seele,
die nicht wimmerte, würd' ich weiterschreiben jetzt. Darum still,
still. Tom, ich muß schließen. Noch vieles, vieles möchte ich sagen.
Aber besser so -- wir nehmen Abschied auf Leben und Sterben hier.
-- -- --

Die Abendsonne scheint ins Tal herab. Wenn Menschen sterben, die
wir lieb gewonnen, so sind ihre letzten, langen Blicke -- wie der
Abendsonne Schein in meine Kammer hier. Leb wohl, Licht, Heimat, Welt.
Und morgen scheinst du wieder in die Kammer hier -- und Jennie ist
gegangen.

                   *       *       *       *       *

  Deer Lodge, Montana, den 27. Februar 1901.

                         Lieber Schwager Tom!

Die Jennie ist jetzt auch gestorben. Sie hat sich das nicht ausreden
lassen. Daß es kalt ist. Jetzt ist sie tot am Sonntag. Dann ist sie
doch fortgangen. Dann ist sie begraben worden gestern. Das war auch
kalt. Das Wetter ist immer kalt. Es schneit auch immer. Dann ist es
noch kälter. Dann ist es zugefroren. Wenn man Wasser holt ist es immer
zugefroren. Mann muß es aufhacken dann kommt das Wasser. Das Wasser
gefriert auch immer in der Küche. Ich sagte zu Jennie daß es kalt ist.
Jennie sagte eins muß gehen. Wenn es kalt ist muß doch eins gehen. Am
Sonntag geht immer eins. Dann hab' ich gesagt es ist verrückt in die
Meß gehen so weit. Weil der Peter tot ist bist du verrückt. Dann ist
sie fortgangen in die Meß. Das tut mir leid daß sie ist fortgangen und
hat wenig Kleider. Jennie hat auch alte Schuh. Weil ich neue Stiefel
hab' hat sie wollen warten. Der Willie hat auch alte Schuh. Dann hat
Jennie geweint und ist fortgangen zur Meß. Die ist aber vier Meilen
weit oder fünf. Das sind aber acht Meilen weil sie in Buxton liegt auf
der anderen Seite. Der Wald liegt auch noch drüben. Die Kirche liegt
nicht im Wald. Auf der anderen Seite in Buxton liegt die Kirche wenn
man dort ist. Dann ist die Jennie nicht heimkommen. Am Abend ist sie
auch nicht heimkommen. Dann hat jeder die Laterne genommen und hat
gesucht. Der Mister Kelly hat sie gefunden zuerst. Der ist auch ein
guter Freund von mir und hat den Laden. Jennie kaufte meine Stiefel in
seinem Laden. Dann hat sie noch gelebt. Sie ist aber schon ganz steif
gewesen. Und mitten im Wald. Dann haben wir Jennie heimtragen ins Bett.
Dann ist sie gestorben um zwölf.

                                                  Dein Schwager

                                                            Peter Daly.

                   *       *       *       *       *

          Deer Lodge, Montana, 17. März 1901.

                           Lieber Onkel Tom!

Mama ist tot. Du weißt es. Vater hat es Dir geschrieben. Schon drei
Wochen lang ist Mama tot und noch kann ich es nicht glauben. Jeden
Morgen wenn ich aufwache schau' ich verwundert herum, warum Mama nicht
klappert mit den Tellern in der Küche. Dann fällt mir ein, ach! Mama
ist ja tot. Ach, es ist so still bei uns, seit Mama nicht mehr lacht
und redet und kocht und wascht. Ich habe schon so viel geweint daß ich
nicht mehr kann. Ich kann nur den Kopf schütteln und herumgehen und
alles anschauen, antasten, was der Mama gehörte weil sie lebte. Ihr
Gebetbuch, den Rosenkranz, ihre Kleider. Ach, Onkel! es ist traurig.
Wenn ich schreiben könnte wie ich fühle, dann würdest Du weinen über
diesem Brief; aber ich kann nicht schreiben wie ich fühle. Ich kann
nicht leben ohne Mama. Warum ist sie fortgegangen von uns? Warum hat
der liebe Gott die gute Mama weggeholt und wir brauchen sie doch so
notwendig? Molly und Rose muß ich ankleiden jeden Morgen und auskleiden
am Abend und waschen und kämmen. Lilli ist auch noch zu klein. Tommy
auch. Ach, es ist traurig ohne Mama. Sie fehlt uns. Bei Nacht liege
ich stundenlang wach und warte. Ich schließe die Augen und denke:
Mama kommt und küßt mich. Ich deck' mich bloß und denke: Mama kommt
und hüllt mich warm. Und wenn ich träume von ihr und aufwache mitten
in der Nacht und alles nur ein Traum war und gar nichts um mich ist
als nur das Atmen meiner schlafenden Geschwister in der Kammer, und
draußen der Wind, der rüttelt am Fensterladen und heult im Wald -- --
ach, Onkel! ich kann's Dir gar nicht schreiben wie ich traurig bin.
Ich muß dann aufstehen. Ich muß herumgehen im kalten Haus wie ein
Geist. Manchmal nehme ich Mamas alte Schuhe ins Bett zu mir und halte
sie am Herzen, bis ich wieder einschlafe. Ach, Onkel! tu mich nicht
auslachen und nicht den Leuten erzählen. Ich kann mir nicht helfen. Und
Vater ist auch ganz verzweifelt. Er mag nicht schaffen und läßt alles
verwahrlosen. Er ist so bös, daß ich mich fürchte vor ihm.

Ach, wenn Mama nur noch einmal käm' und wenigstens Abschied nähme. Sie
hat gar nicht Abschied genommen. Sie war kalt und ohnmächtig, als sie
fortging. Die schöne, gute Mama.

Ach! jetzt muß ich doch wieder weinen. Ich meinte, ich könne nicht
weinen, und jetzt muß ich doch wieder weinen.

Lieber Onkel! Jetzt werde ich den Brief schließen. Ich wünsche Dir viel
Glück und Arbeit, damit Du Geld verdienst. Der lieben Tante Eva wünsche
ich Gesundheit und dem lieben Bertie auch alles Beste. Mama hat so oft
von Euch gesprochen. Nun ist sie tot.

                                                           Willie Daly.

                   *       *       *       *       *

                                         Deer Lodge, den 24. März 1901.

          Lieber Onkel Tom!

Ich habe Heimweh und niemand hier, dem ich's klagen kann. Darum
schreibe ich Dir schon wieder. Vater ist zur Schenke gegangen. Er geht
jeden Abend zur Schenke, seit die gute Mama tot ist. Er kann's nicht
aushalten in der Stube ohne die Mama, sagt er. Ach, es ist ja wahr, es
ist schaurig hier im Haus. Eben schlägt die Uhr auf dem Kamin neun.
Vier Stunden lang ist es schon Nacht. Und was für eine Nacht. Schnee,
Schnee, Eis und Sturm. Und hier sitze ich allein. Die Kinder schlafen
nebenan, aber Lilli hustet. Sie ist krank. Sie haben alle Erkältung
und Lilli am meisten. Was soll das werden? Wären wir doch nie von der
lieben, schönen Heimat weggereist. Dann lebte die gute Mama noch und
Vater blieb' zu Hause bei uns. Jetzt bleibt er gar nie zu Haus. Und ist
so bös mit uns. Jeden Abend sagt er: wenn wir alle miteinander sterben
täten, wär's gut. Das Unglück hat Vater so verändert. Er war gut mit
uns in Pilot Knob.

Ach, Onkel! Jetzt sitz' ich hier am Tisch und schreibe. Am alten
Tisch, vor der alten Lampe, auf dem alten Stuhl, meine Schulhefte,
Tinte und Feder vor mir. Wir brachten alles von Pilot Knob herauf. Die
Heiligenbilder an der Blockwand schauen mich an wie früher. Die Uhr
tickt wie damals.

O, meine Mama! -- Wie oft bin ich, seit sie tot ist, hier gesessen
in der Stube, allein. Bis elf, bis zwölf, bis Vater heimkam von der
Schenke, und habe das Licht herabgedreht, daß es schier auslöschte und
mit dem glühenden Ofen zusammen überall herum Schatten zittern ließ, am
Boden, an der Wand, an der Decke. Und bin herumgegangen von Schatten zu
Schatten.

O, ich kann nicht leben ohne meine Mama!!

                                                           Willie Daly.

                   *       *       *       *       *

                                        Deer Lodge, den 27. April 1901.

          Lieber Onkel Tom!

Du böser Onkel Tom! Warum antwortest Du nicht? Jeden Tag laufe ich nach
Kellys Laden und frage, ob der Brief da wäre von Neuyork. Der Mann ist
schon ganz ärgerlich. Ich weiß wohl, Du kannst uns nicht helfen. Du
bist selber arm. Wir wollen auch kein Geld von Dir -- nur gute Worte
wollen wir, Trost und Mitleid. Wir sind so verlassen in diesem wilden,
kalten Land -- so verlassen.

Ach, Onkel! Vater hat mir strenge anbefohlen, Dir die Neuigkeit
~nicht~ zu schreiben. Er war wütend, als ich ihm sagte, ich hätte
Onkel Tom zwei Briefe geschrieben. Onkel Tom kann uns nicht helfen,
sagte Vater, und wenn Du ihm diese Neuigkeit schreibst, ich schlag'
Dich tot. Das sind seine Worte. Er hat sich schrecklich verändert seit
der guten Mama Tod und Peters Tod. Er spielt den ganzen Tag Karten in
der Schenke. Alles verwahrlost. Wir sind alle krank.

Wär' ich allein, ich würde ja schweigen und nichts verraten, aber meine
armen Geschwister, ach! die sind so hilflos, daß ich ihretwegen reden
muß, sonst wär' ich kein braver Bruder.

Lieber Onkel Tom! Wir haben eine neue Mama. Ein böses Weib. Vater hat
sie geheiratet in der Schenke. Dort war sie Kellnerin. Und jetzt ist
sie unsere neue Mama. Vater hat sie ins Haus gebracht vor drei Wochen
und gesagt: »Kinder, das ist nun eure neue Mama, und die müßt ihr
ebenso lieb haben wie die alte Mama.«

Ach, Onkel! wir können das Weib nicht lieb haben. Sie ist schlecht.
Sie flucht und lügt und betet nicht. Wir wollen keine fette, große
Mama, die immer bös ist. Jeden Tag sagt sie, daß wir eine Last sind und
sterben sollen. -- Könnten wir doch sterben. Wir wollen ja sterben.
Dann wären wir im Himmel bei der guten, einzigen Mama für immer und
immer.

Onkel! wir fürchten sie sehr. Vater fürchtet sie auch und muß jetzt
jeden Tag ins Bergwerk, arbeiten. Das ist noch gut. Sie läßt ihn nicht
zur Schenke am Tag. Abends gehen aber beide zusammen zur Schenke,
trinken und tanzen. Jeden Abend. Jetzt sind sie auch dort und darum
kann ich Dir diesen Brief schreiben. Aber sei ja vorsichtig, lieber
Onkel, und adressiere an mich »Willie« und nicht an Vater. Mister Kelly
weiß alles von mir und wird den Brief nur ~mir~ geben. Mister
Kelly ist sehr gut zu mir. Er schenkt mir Briefmarken, Papier und was
ich brauche. Er sagt immer: »Willie, deine Mama ist im Himmel, aber
dein Vater ist verrückt, seine Familie in diese Wildnis zu bringen. Das
tut kein vernünftiger Mann.«

Wir sind auch die einzige Familie im Lager. Zwei sind wieder abgereist
die erste Woche schon. Aber wir kommen nicht weg, wir sind zu arm und
müssen schon bleiben, bis Gott uns Hilfe schickt.

Ach, Onkel! ich zittere so vor Angst. Ich werde doch besser tun und
schließen. Die Tür hat nur einen Schieberiegel, und wenn Vater jetzt
heimkäme und mich abfaßte beim Schreiben. Ich bin auch sehr müd.

Leb denn wohl! Ich bete. Gott verläßt keinen Betenden.

                                                           Willie Daly.




Die Abendsonne des letzten Maitags tauchte unter hinter dem
Felsengebirge, und Schatten füllten langsam die endlich schneefreien
Schluchten des Deer Lodge. Als die Röte am Horizont sich löste in
farbloser Nacht und drunten im Tal einzelne Lichter blitzten, die Orte
bezeichnend, wo Menschen inmitten der Wildnis wohnen, da kam ein Reiter
von Buxton her in die Niederung geritten.

Offenbar war er nicht sehr in Eile, trotz der späten Stunde und des
gefährlichen, holperigen Weges; vielleicht aber war er so tief in
Gedanken versunken, daß ihm jeder Begriff von Tempo abhanden gekommen
war und er das Allegretto nicht vom Andantino zu unterscheiden
vermochte. Immerhin, das Maultier, das ihn trug, benützte diesen
seltenen Fall, einen Dirigenten über sich zu haben, der sparsam mit
dem Taktstock hantiert, und wählte den gemütlichsten Marsch, der noch
erlaubt werden kann im Bereiche der Bewegung.

Erst als der Reiter an die erste Hütte gelangte und der Lichtstrahl aus
dem Fensterchen sein Gesicht streifte, schrak er zusammen, richtete
sich im Sattel auf und blickte, wie aus schwerem Schlaf erwachend,
ringsum. Dann trieb er das Maultier dicht an die Hüttentür und pochte,
ohne abzusteigen, mit dem Fuß. Vier bärtige, wettergebräunte Männer
erschienen und tauschten mit dem Fremdling etliche Worte, die jedoch
vom Gebell zweier Bulldoggen begleitet wurden. Der Fremde mußte sie
doch verstanden haben, er bedankte sich und ritt dann im Trab weiter
talwärts. Vor dem größten Blockhaus im Lager hielt er wieder an, sprang
aus dem Sattel, warf die Zügel einem Stallknecht in die Hände und
verschwand in Kellys Laden.

Schier eine volle Stunde lang konnte man ihn dort mit dem Eigentümer
des Ladens gestikulieren sehen; beide nickten und schüttelten häufig
die Köpfe, und beide behandelten das Thema als ein außergewöhnlich
ernstes. Als er endlich wieder heraus auf den Weg trat, war er in
Begleitung eines Mannes, der ihm vorausging, in die Nacht hinein. Vor
einer ziemlich abseits vom Lager erbauten Bretterhütte machten sie
halt. Der Wegführer empfing ein Geldstück und verschwand, dankend und
pfeifend.

Sobald sich der Fremde allein wußte, kam es wie Erleichterung über
ihn. Er blieb stehen, atmete auf, reckte sich. Dann zog er seinen
breitrandigen Hut vom Kopf, murmelte etliche Worte, sich dabei gegen
die Hütte verneigend, als wäre die Holzbaracke eine Kirche oder sonst
ein heiliges Gebäude. Hierauf schritt er dicht an die Tür. Durch
mehrere Ritzen drang Licht heraus. Er bückte sich und sah durch die
größte in das Innere -- in die Küche. Die war eigentlich der einzige
Raum und füllte beinahe die Hütte; links waren allerdings zwei Türen
zu abgesonderten Räumen, die wohl zum Schlafen dienten; groß konnten
sie jedoch nicht sein. Eine Zimmerdecke gab es nicht; das Dach war die
Decke. Ebenso fehlte die Tünche an der Wand, der Bretterboden, das
zweite Fenster und noch unzähliges mehr. Alles war rauh, flüchtig,
robinsonartig zusammengeschustert zu einer Menschenwohnung, ungastlich,
unheimlich im höchsten Grad.

Plötzlich kam eine Unruhe in die große, kraftvolle Gestalt des Fremden.
Er sah, wie die Tür der einen Schlafkammer sich öffnete und ein Kind in
die Küche heraustrat. Es war ein Knabe von etwa zwölf Jahren. Er trug
in einer Hand ein Bild im Rahmen, in der anderen eine kleine Statue.
Beides stellte er vorsichtig auf den Tisch neben die Lampe. Dann kniete
er auf den Boden, wickelte sich eine Schnur mit Kügelchen dran um die
Finger und begann laut zu beten: »Gedenke, o seligste Jungfrau! daß
noch nie erhört wurde, daß jemand, der zu dir seine Zuflucht nahm, von
dir verlassen wurde --«

Der Fremde zog leise am Schieberiegel, öffnete ebenso die Tür und trat
ein. Die kältere Luft von außen, die er mit hereinbrachte, störte den
Knaben; er drehte sich um, und den Mann sehend sprang er rasch und
erschrocken auf die Füße. Mit weitgesperrten Augen musterte er den
Eindringling; zuerst dessen Gesicht; dann, heruntergleitend an der
Gestalt, bemerkte er an der linken Schulter einen fehlenden -- --

»Onkel Tom!!« schrie Willie und -- --

Blitzesschnell setzte sich der Erkannte auf die Bank, riß das
hingestürzte Kind vom Boden auf, warf es über die Kniee, preßte sein
Gesichtchen hart an sich, rieb ihm Hände und Schläfe, Stirn und Hals,
wiegte es hin und her, wie eine Mutter, wenn sie Schlummer erzwingen
will. So gelang es Tom allmählich, das arme, in Konvulsionen zuckende
Wesen wieder zu beleben. Ein langer, schriller Schrei entlud sich
aus Willies Brust; dann kurze, pfeifende Laute, unterbrochen von
Atemholen, begleitet von krampfhaftem Ballen und Öffnen der Hände,
von verzweifelten Versuchen, sprechen zu wollen, Schluchzen in Worte
formen zu wollen -- bis endlich, wie lang zurückgedämmte Flut, alles
wiederkam. Worte über Worte, grauenvolles Klagen ... Wie das Kind
gelitten, geduldet; wie es getreten und geschlagen wurde, mutterlos
allein, durch Wintersnacht, durch Hungersnot; und keine Menschenseele,
die diese Last, zu schwer für Riesen, mit dem Knaben teilte.

Lautes, anhaltendes Weinen, weniger und weniger von Zuckungen gestört,
bildete den Schluß. Stiller und weicher wurde das Kind; wärmer,
anschmiegender. Die Verzweiflung hatte sich ausgetobt, wie in einem
Wolkenbruch, und der Hoffnung Sonne, der heiße Hauch des Mitleids
richteten den gebeugten Halm wieder auf. Behutsam drehte Tom, nach
einer Weile Wartens, des Knaben Gesicht zur Seite, um es zu betrachten.
Es war blaß, langgezogen, mager. Die Augen hatten einen kranken,
schläfrigen, geistesabwesenden Glanz und blickten empor, wie eben
zurückkehrend aus schwerer Betäubung. Schaudernd drückte Tom das Kind
wieder an sich -- seiner Schwester Kind -- und wiegte und wiegte.
Summend und schaukelnd, noch fünf Minuten, und -- Willie war im
Traumland.

Der Onkel entkleidete ihn jetzt. Die Schuhe fielen von selber ab.
Das Wämschen war dünn, aber noch gut. Das Höschen war, von Willies
eigener Hand, zum Weinen ungeschickt geflickt. Die Unterkleider -- --
Tom zitterte vor Erregung über die entsetzliche Magerkeit des Kindes,
und über mehrere blutunterlaufene Hautflecken -- zweifellos Merkmale
brutaler Schläge. Rasch trug er dann seinen Schützling, so gut er's
vermochte, mit dem einen Arm und dem Stumpf ins Bett.

Aufatmend kam der Samariter zurück, nahm die Lampe vom Tisch und
leuchtete hinein ins Schlafzimmer der Kinder. Drei Mädchen lagen
zusammengenestelt am Fußende des Doppelbetts, das beinahe die Kammer
füllte. Im selben Bett, aber Fuß gegen Fuß mit den Schwesterchen,
schliefen die Brüder ... Der Einarmige schüttelte mehr als einmal sein
traurig blickendes Gesicht. Mehr als einmal seufzte er herzbrechend.
Dann drückte er geräuschlos die Kammertür zu, trug das Licht auf den
Tisch zurück und setzte sich. Vor ihm stand jetzt, angelehnt an den
Wasserkrug, das Bild seiner Schwester und blickte ihn an. Geschwind
wendete er es um. Neben dem Krug stand eine abgegriffene kleine Statue
der Muttergottes von Lourdes. Er führte sie zum Mund und küßte ihr
Gesicht mit tiefernster Ehrfurcht. Er hob den Rosenkranz, der am Boden
lag, auf und machte den Versuch zu beten. Er konnte nicht. Seine Zähne
waren so fest aufeinander gebissen -- er konnte nicht beten.

Darauf trug er die Heiligtümer weg vom Tisch und versteckte sie im Bett
der Kinder. Noch einmal sah er über die fünf Schlafenden hin, aber ohne
Licht dieses Mal. Im Halbdunkel glich die Kammer so sehr einem Kerker,
einem Totenhaus -- und die bleichen Gesichter glichen Leichen. Ein
wildes Gefühl erwachte in Tom: die Kinder zu wecken und eins nach dem
andern zu drücken, zu umarmen -- eins nach dem andern abzuküssen auf
Mund, Stirne, Augen -- so lang und so feurig mit Küssen und Weinen,
bis, von Liebkosungen trunken, sie alle wieder schlafen wie zuvor. --
Rasch überwand er das, schloß die Kammer, nahm den Hut -- schloß die
Küche ebenfalls -- verließ das Blockhaus und trat ins Freie.

Neben der Hütte war ein kahler Sandhaufen, gegen Unwetter von
überhängenden Fichten beschirmt. Spuren bezeichneten den Ort als
Spielplatz der Kinder; Tom wich ihm aus. Auf dem Rasenhügel abseits
warf er sich nieder und sah herum, empor. Dann wischte er sich die
Stirn. Der Mond schien viertelvoll über dem Felsenpaß des Deer Lodge
und war nah am Untergehen. Wolkenlos und scharfkühl war die Nacht.
Grabesstille herrschte im weit auseinander gebauten Lager. Des guten
Himmels Sterne weinten hernieder auf das Tal, die Hütten, die Menschen,
die ihre Sünden sogar in diese felsengesperrten Täler trugen.

Tom zog seine Uhr und besah die Zeiger im Mondschein. Zwölf. Er
richtete sich auf und schritt die Halde hinab zur Hütte, schloß sich in
die Küche ein. Er hatte Geräusch gehört; nun kam es näher und näher.
Deutlich vernahm er Lachen, Sprechen, leichtsinniges Gebaren. Jetzt zog
jemand am Schieberiegel. Die Tür ging auf; Peter und sein Weib traten
ein. Sofort sahen sie den Fremdling, der schweigend am Tisch sitzend
sein strenges Profil von der Lampe bescheinen ließ.

Sie erschraken ein wenig, die Eintretenden; Peter mehr als sie. Tom
stand auf und gab sich zu erkennen. Nun begrüßten sie ihn; herzlich
sogar. Peter stellte den Schwager Tom von Neuyork seiner Gattin vor,
und dann seine Neuvermählte dem Einarmigen. Darauf empfand er das
Bedürfnis, eine Entschuldigung zu salbadern an den Bruder seiner ersten
Frau, wegen der kurzen Trauerfrist.

Tom gab ihm die Absolution, mit dem Zusatz, daß mancher Ehmann nicht
~so~ lange warte; es komme ganz auf den Wert der Toten an. Peter
fühlte sich unsäglich erleichtert nach der Freisprechung und bekundete
seine Dankbarkeit durch hündisch unterwürfiges Gebaren. Tom tätschelte
dem Hund den Rücken. Tom war bei allerbester Laune. Tom war zu
gerieben, um mit offenen Karten zu spielen; wenn doch der Zweck seiner
Reise in dieses Bärenland war: ein Geschäft abzuwickeln mit diesen zwei
Leutchen. Warum sich dann Feinde machen, die, wenn sie wollen, alle
seine Pläne durchreißen können?

Er ließ die strenge, unbeugsame Wahrheit im Wartezimmer und nötigte
die schlüpferige Heuchelei herein. Er schmeichelte vorerst seinem
gewesenen Schwager ob des feinen Geschmacks, den er beim Erwählen der
neuen Frau Daly bekundet habe. Das erweckte Heiterkeit in der ganzen
Küche. Dann machte er einen Schritt weiter ins gute Verhältnis und ließ
alle ~die~ Vorzüge der neuen Frau Parade laufen, die dem plumpen,
kurzsichtigen Blick des Gatten bisher entgangen sein mußten: denn
Peters rostige, von Schmarren und Runzeln durchfurchten Züge glätteten
sich wie Lumpenzeug unterm Bügeleisen und glänzten am Schluß der
Lobhudelei, daß sämtliche Gegenstände der Küche Doppelschatten warfen
-- vom Lampenlicht und von Peters Gesicht.

Endlich wurde es dem Heuchler selber übel zum Erbrechen; denn das
Weib da neben ihm -- das wußte er schon -- war eine an Leib und Seele
bankerotte Vettel, die sich nirgends mehr in Umsatz bringen kann
als nur im Lager zwischen Spielern, Säufern, geistig verwahrlosten
Gräbern; eine fünfzigjährige, geschwollene Kokette, die sich mit allen
Mitteln der Verstellung, mit allen Farben der Falschheit übermalt, mit
wohlstudierter Haltung, mit angepappter Bildung, ach! mit Herzensgüte
sogar, mit des Kindes naivem Blick und Lächeln Laster übertüncht,
Egoismus, Gemeinheit, und gleich der Natter, die ihr Kleid an Dornen
hängen sieht, Gift spritzen möchte, eh der Fuß sie tritt. ~Ein~
unbedachtes Wort vor ~diesem~ Weib, und die Kriegserklärung ist
fertig. Daß sie aus so vielen Herren des Lagers den Peter bevorzugte --
das ist für Peter nicht schmeichelhaft.

Tom siegte; siegte, wie er mußte. Er gewann die Kokette als Verbündete
in sein Geschäft -- und legte aus -- erklärte, erzählte. Viel wurde
zwar herumgeredet, geschachert, gefeilscht. Peter war ein halsstarriger
Gegner des Plans; hauptsächlich drehte und krümmte er sich, als man auf
~Willie~ zu verhandeln kam. Schließlich glätteten sich jedoch die
Widerspüche, und als die Schlacht geschlagen war, hatten alle Parteien
gesiegt. Der Friedensvertrag lautete:

~Erstens~: Peter Daly ist total mittellos, sogar in Schulden. Die
Reise nach Klondyke ist Peters heißester Wunsch, kostet aber ~mit~
Frau zweihundert Dollar. Peter Daly und Frau reisen also nach Klondyke.

~Zweitens~: Tom Pratt bezahlt sofort an Peter Daly und Gemahlin
hundertfünfzig Dollar, und fünfzig weitere Dollar innerhalb zwei
Wochen, die er aus der Bank am Hudson ziehen wird. Das, zusammen mit
Peters Monatslohn, der am fünfzehnten Juni fällig wird, reicht zur
Auswanderung.

~Drittens~: Peter Daly gibt alle Ansprüche auf seine noch lebenden
fünf Kinder ab zu Gunsten des Tom Pratt.

Der Einarmige zog aus der Brusttasche ein schönbeschriebenes Blatt
hervor, eine Feder und sogar Tinte; und während Peter und Gemahlin das
Dokument lasen, zählte er hundertfünfzig Dollar in Kassenscheinen auf
den Tisch.

»Woher hast du all das Geld?« fragte Peter glotzend; er hatte vorhin
schon einmal gefragt.

»Ein Seestern!« antwortete Tom und lachte. -- »Nimm's nur!«

Peter unterschrieb mit zitternder Hand. Dann nahm er das Geld und gab
es mit ebensolchen Händen seiner »Marianne«.

Beide Eheleute bedankten sich, und der Handel war abgeschlossen.

Eine merkwürdige Veränderung kam über Tom, als er das unterzeichnete
Papier faltete und in der Brusttasche verschwinden ließ. Eisige Kälte
überzog augenblicklich sein vorher freundliches, gewinnendes Gesicht.
Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf, griff nach dem Hut und verließ
das Haus.

Peter, todmüde von der Tagesarbeit in der Mine, vom Tanzen und
Trinken in der Schenke und der Aufregung jetzt, streckte sich auf
der Küchenbank aus und suchte in tiefem Schlaf Erholung. »Marianne«
überzählte noch einmal das viele Geld und schmunzelte vergnügt.

Es war drei Uhr Morgens und stockfinstere Nacht. Der Mond war
untergegangen. Da rollte an die Hütte ein Karren heran, mit zwei
Maultieren bespannt. Ein Reiter folgte auf einem dritten; behende
sprang er vom Sattel, gab die Zügel dem Fuhrmann auf dem Karren und
verschwand im Schuppen. Wenige Sekunden später kam er wieder heraus. Er
trug einen Knaben, in Bettzeug gewickelt und schlafend, zum Karren und
legte ihn mit Hilfe des Fuhrmanns, der mit der Laterne leuchtete, ins
Stroh.

Schnell wiederholte der Mann den Gang und brachte einen jüngeren Knaben
heraus, in Lumpen und Laken gewickelt, und legte ihn ebenso in den
kistenartigen, halb mit Stroh und Stalldecken gefüllten Karren. Das
nächste Mal hatte der Räuber ein schlummerndes Mädchen, etwa fünf Jahre
alt, im Besitz. Das vierte Mal trug er ein vierjähriges Mädchen in die
Gefangenschaft. Das fünfte Mal -- --

»Marianne« schüttelte den schnarchenden Peter. Er schlief weiter.
Endlich zerrte sie ihn von der Bank herunter und schrie ihm ins Ohr:
daß seine fünf Kinder gestohlen würden von einem einarmigen Einbrecher.
Halbwachend erfaßte der Unglückliche die Situation in so milder Form,
daß er mit Gähnen und Gliederrecken sich darüber wegsetzte. Er glaubte
sogar ein Opfer zu bringen, als er das bequeme Liegen auf der Bank in
Aufrechtsitzen umänderte.

»Peter! deine Kinder nimmt er dir weg!« kreischte die Stiefmutter. »Den
Willie hat er, den Tom, die Lilli, die Rose --«

Jetzt trat Tom Pratt mit Molly, der Jüngsten, und zugleich mit einem
Habersack voll Schulbücher, Bilder, Hefte, Briefe und Reliquien aus der
Schlafkammer und versuchte zu fliehen.

Das war unmöglich. Der Räuber hatte sich überladen und Peter gelang es,
ihm den Weg zu vertreten.

»Meine Molly!« jammerte der Vater. »Mein Kind! Laß mir wenigstens eins
von fünfen, eins. Den Willie laß mir!«

Beim Versuch, das schlafende Kind zu küssen, taumelte der immer noch
Schlaftrunkene seitwärts -- und Tom rannte nach dem wartenden Wagen.
Eilig bettete er Molly ins Stroh; der Fuhrmann hieb auf die Esel los;
Tom sprang in den Sattel; und fort ging's in die Nacht hinein.

»Tom!« hörte man von der Hütte her ein klägliches Rufen; aber weiter
flogen die Räuber durch Staub und Finsternis.

»Tom!« klang es noch einmal.

Dann noch einmal, jedoch so ferne, daß der ächzende Karren und die
Hufschläge der Tiere es übertönten: »Tom! O, o, o!«

                   *       *       *       *       *

Der Morgen dämmerte in phantastischen Umrissen über Deer Lodge, als die
Flüchtlinge den Hügelrücken erreichten, der es dammartig von Buxton
trennt. Die Kinder waren inzwischen alle wach geworden und betrachteten
sich gegenseitig; jedoch ohne sonderliches Erstaunen zu bekunden. Sie
nahmen die gewiß neue Weltordnung, in welche sie über Nacht, im Schlaf
sogar hineingefahren waren, als etwas ganz Selbstverständliches, als
hätten sie es vorausgewußt und erwartet. Oder waren die unglücklichen
Wesen durch Entbehrungen schon so stumpfsinnig geworden, daß nichts
mehr sie bewegte?

Neben der Birkengruppe in dem mit der Axt ausgeschlagenen Fahrweg
machte die Karawane halt. Tom stieg ab und befestigte die Zügel am
Ast einer Weißrindigen. Der Fuhrmann unterrichtete ihn vom Wagensitz
herunter, wie er gehen sollte. »So und so -- fünf Minuten steigen;«
dabei zeigte er mit dem Peitschenstiel auf eine riesige Tanne, die
das Buschwerk überragte, als das Ziel. »Dort liegt's,« sagte er.
»Wenigstens nicht weit von der Rottanne liegt das Grab. Sie können gar
nicht fehlgehen, Sir, wenn Sie die Tanne im Auge behalten.«

Tom verschwand in der angegebenen Richtung.

Der Mann vom Lager, der Fuhrmann, sprang nun auch vom Wagen, löste die
Halfter der Maulesel, befestigte sie am Karrenrad. Dann langte er einen
Sack mit Welschkorn hervor und fütterte die Tiere. Auch Toms Geduldiger
bekam sein Teil zu fressen. Darauf griffen zwei barmherzige Hände nach
einer Pappschachtel mit süßem Zwieback und übergaben sie den Kindern
zur Vernichtung. Dieselben Hände zogen dann einen Tabaksbeutel hervor,
eine Tonpfeife, stopften die Pfeife, zündeten sie an und steckten
sie einem gutmütig dreinschauenden Mann ins braune, bärtige Gesicht.
Der Mann belohnte die zwei Barmherzigen, indem er sofort jede Arbeit
ruhen ließ, sich aufs Moos lagerte und blaue Wölkchen hinaufblies in
die knospenden Birken. Jetzt war es so ruhig ringsum, so still -- man
hörte nur das Kornkauen der Esel und das Knabbern guter Kinderzähne am
Zwieback.

Da -- plötzlich gellte aus der Richtung, wo die große Tanne stand, ein
wilder Schrei durch den Wald. Kurzes Echo gellte zurück von den Felsen.
Erschrocken sprang der Fuhrmann auf und beruhigte die Tiere, die scheu
zu werden drohten. Gespannt horchte er: wiederholt sich der Schrei? --
Ein wildes Tier? -- Aber nein. Es blieb still. Die Maulesel begannen
ihr unterbrochenes Frühstück zu vervollständigen. Die Kinder ließen
sich überhaupt nicht stören.

Jetzt kam Tom zurück. Er ging in gewöhnlichem Schritt und trug den Hut
in der Hand. Totenblässe bedeckte jedoch sein Gesicht und Schweiß seine
Stirn. Als der Fuhrmann ihn fragend anschaute, schüttelte Tom den Kopf.

»Fehlgelaufen, Sir?«

Statt der Antwort zog der Einarmige seinen Reisegefährten beiseite,
damit die Kinder nichts hören sollten, falls sie lauschen wollten. Er
redete halblaut. Es schien, als frage er viele Fragen, denn wiederholt
zuckte der andere die Achseln und schüttelte den Kopf. Endlich sagte
er laut: »Ich werde behilflich sein, aber nicht um Geld, Sir; nur aus
Mitleid, einzig aus Mitleid. Ich hab' Kinder in Portland und weiß,
wie's tut. Gott helf' Ihnen, Sir!«

Seine Pfeife ausklopfend und einsteckend, ging er zum Karren und langte
den Willie, wie er war, in Decken gewickelt heraus. Tom nahm Willies
Brüderchen und beide Männer schritten mit ihrer Last in die Richtung
der großen Tanne und verschwanden.

Nach zehn Minuten kehrten sie zurück, nahmen dieses Mal zwei der
Mädchen und trugen sie den Hügel hinauf.

Wieder kamen sie zurück. Der Mann von Portland legte sich nun lang aus
ins Grüne zur verdienten Ruhe. Tom nahm die kleine Molly auf seinen Arm
und bahnte sich zum vierten Mal den Weg durch Hecken hinauf.

Erschöpft trat er in die Lichtung neben der Riesenfichte, setzte die
Kleine zu ihren Geschwistern und sich selber -- den Hut ab -- etwa
zehn Schritte seitwärts. Da kauerten sie nun alle fünf, in Stalldecken
und Bettücher eingemummt, auf dem frischgeworfenen Hügel, unter dem
frischgezimmerten Kreuz, in der kühlen, frischen Tagesdämmerung.

Die Kinder hatten, obwohl keines je hier war, den Ort gleich erkannt
und wußten, was der Hügel, das Kreuz, die Zeremonie der Herreise
bedeute. Sogar die Kleinste wußte es und begann das Mündchen zu
verziehen zum Weinen. Merkwürdig jedoch, sie weinte nicht -- und
niemand. Niemand sprach ein Wort. Mit unnatürlich großen, tiefen Augen
schauten die Kinder sich gegenseitig an; schauten ringsherum, mit
heftigen, sogar wilden Blicken. Etliche davon trafen den armen Sünder
nebenan, als hätte ~er~, der Einarmige, die Mama getötet, ihr das
Grab gegraben und sie da hinuntergeschaufelt.

Dann endlich bemerkte Tom, wie drei, vier, sieben, zehn kleine Hände
nacheinander aus den Lumpen und Decken krochen; und das war es
wohl, auf was er sehnsüchtig gewartet hatte. Denn sofort kniete er
nieder, hielt seinen verstümmelten Arm nebst dem rechten in die Höhe,
neigte sein Haupt tief zur Erde, und zitternd, leise, dann lauter,
glockenreiner klang im Chorus, durch Wald und Wildnis, das göttliche
Gebet: »Vater unser, der du bist im Himmel. Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme zu uns. Dein Wille geschehe ...«

Und mit Strahlen auf Strahlen vom Licht der erwachenden Sonne -- durch
Tannen, Birken, schwankendes Buschwerk, goldgelbe Bänder flechtend,
gleichsam den Hügel und seine Heilige einspinnend in Netze himmlischer
Farben -- so kam der ~Gerufene~ herab zu den Kindern.

                   *       *       *       *       *

Mittags kamen sie endlich in die Niederung von Buxton. Der Fuhrmann
trieb sein Fahrzeug nach einem abseits in halbwildem Garten stehenden
Blockhaus und hielt vor der Umzäunung. Die Herauskommenden, zwei
Frauen, grüßten ihn herzlich; die jüngere seine verheiratete Schwester,
die andere deren Schwägerin, eine Witwe. Die beiden betrieben ein
Waschgeschäft, nebst Flickerei von alten Kleidern. Der Hausherr war,
wie schier alle seines Geschlechtes in dieser Weltgegend, Bergmann.

Zwischen Tom und seinem Reisegefährten war viel vereinbart worden
während der Fahrt über den Hügel; sie hatten weiter nichts mehr zu
unterhandeln. Tom küßte die Kinder, redete etliche wohlwollende Worte
und entfernte sich dann auf seinem Reittier in der Richtung von Buxtons
einziger Straße.

Jetzt ereignete sich etwas Unerwartetes. Kaum war Tom verschwunden, so
ergriffen die drei andern die Kinder, schleppten sie hinter das Haus
in den abgelegensten, verwachsensten Winkel und zogen die hilflosen
Wesen aus, splitternackt, setzten sie so nebeneinander, dem Alter
nach: Willie, dann weiter, auf ein rohes Brett und Holzklötze. Dann
bewaffneten sich die beiden Weiber und ebenso der Fuhrmann mit scharfen
Scheren, stürzten sich über die Mädchen, dann über die Knaben her und
begannen sie völlig glatt zu scheren. Alles, was Haar hieß, schnitten
sie herunter, so gründlich, daß die Opfer der Prozedur nach dem Angriff
aussahen wie geschorene Schafe und keines das andere erkannte.

Sie ließen es sich aber schweigend gefallen.

Nach dieser Tortur kam der zweite Foltergrad: die Kinder wurden
paarweise in warme Seifenbrühe gelegt, unbarmherzig gebürstet, getaucht
und abgerieben mit Tüchern, und wieder gebürstet und abgerieben.

Auch das ließen sie sich schweigend gefallen.

Damit nicht genug: jetzt wurden alle die abgerissenen Unterkleider und
Bettlaken, nebst den argverschnittenen Haarlocken, auf einen Haufen
gekehrt und -- zu Asche verbrannt.

Auch das ließen sie sich schweigend gefallen.

Jetzt schürten die Weiber den Herd mit frischem Holz, das der
Portlander herbeischleppte, und stellten Bratpfannen auf. Als es so
aussah, als sollten die Gefolterten in der Pfanne elendiglich gebraten
und geröstet, mit Schweinefett und Zwiebeln vermischt und jedenfalls
dann gefressen werden -- da erschien als rettender Engel ~Tom~.
Er schleppte einen großen Pack unter dem Arm und ließ ihn neben der
Küchenbank fallen, auf die man die Kinder gesetzt hatte.

»Ach, Onkel Tom!« klagten die kleinen Nackten, »wir sind schier nicht
mehr da! Schau doch! schau!«

Der Einarmige lachte und wischte sich den Schweiß. Die Kinder lachten
auch, die Folterknechte ebenfalls. Es war die erste heitere Szene.

Tom schnitt dem mitgebrachten Pack den Bauch auf, und lauter neue,
schöne, reine Kleider und Schuhe und Strümpfe platzten heraus.
Schnell, mit Hilfe der Frauen, wurden die Sachen verteilt und den
nackten Gliederchen umgehängt. Schier alles paßte; und was nicht
eben paßte, wurde so lange gelobt, bis es dann doch paßte. War das
eine Freude! Das erste frohe Lachen seit Monaten kam aus der Kinder
Innerstem. Die Mädchen hatten niedliche Kapuzen, die ihre geschorenen
Köpfe verdeckten; Rose eine rote Kapuze, Lilli eine weiße, Molly eine
blaue. Die Knaben hatten Jockeikappen, die ein Gleiches taten. Alles
schillerte in Farben und Flitter.

Nun setzte sich die Gesellschaft an den Tisch; die Pfannen wurden auf
die Teller umgeschüttet, und zu essen gab es. Und gegessen wurde mit
einem Appetit, der -- unterhalb des Polarkreises nicht wohl überboten
werden kann.

Nach der Mahlzeit blieben Onkel Tom, der Fuhrmann, die beiden Frauen
am Küchentisch, während die Kinder durch den Garten zogen und ihre
neuen Kleider mit den wilden und gezähmten Blumen verglichen, sehr zum
Nachteil der Blumen. Am Küchentisch wurden nun Rechnungen gemacht und
beglichen, Schulden bezahlt. Viel Geld mußte Onkel Tom auslegen, viel
Geld. Ohne Murren noch Seufzen zahlte er jedoch alles auf den Tisch.
Endlich war er frei -- und atmete auf.

Dann nahmen sie Abschied; Tom mit den fünfen einerseits, der Fuhrmann
mit den zweien anderseits. Wie doch das Unglück Menschen rasch
verbrüdert: dem bärtigen Karrenmann stand das Wasser in den Augen, als
er dem Einarmigen die Hand drückte. »Sir!« sagte er, »leben Sie wohl,
und glückliche Reise! Werd' auch bald nachreisen, nach Portland wieder.
Das Geschäft geht miserabel schlecht in Deer Lodge; wird bald ganz
aufhören über Sommer.«

Die beiden Frauen küßten die Kinder der Größe nach; die eine von unten
nach oben, die andere umgekehrt. »Viel Glück! viel Glück!« riefen sie
noch und schwenkten die Taschentücher, als Tom mit seinen Schützlingen
schon fast verschwunden war zwischen Hecken und Büffelgras, auf dem
Pfad zum Bahnhof.

Schon eine halbe Stunde wartete der Zug, und als die Reisenden
eingestiegen waren in die nur schwachbesetzten Wagen, wartete er
abermals eine halbe Stunde. Buxton ist Endstation; der Zug ist
überhaupt der einzige täglich, der mit Butte City verkehrt, und das
Dienstpersonal macht wohlverdiente Ruhepause hier.

Da saßen sie nun endlich im Eisenbahnwagen, fertig zur Abreise nach
dem Osten, in die Zivilisation wieder, in die hoffentlich sonnige
Zukunft. Tom stützte seinen verkrüppelten Arm auf das Gesimse des
offenen Fensters und bedeckte sich mit der Rechten die Stirn, als hätte
er Kopfweh oder sonst ein schweres Leiden. Er war seit dem Einsteigen
plötzlich wieder tief traurig geworden und niedergeschlagener als je
zuvor.

Ihm gegenüber saß Molly, das Gegenteil von Trauer und
Niedergeschlagenheit. Vertieft in die Farben und Schönheiten ihrer
neuen Kleider, schwelgte die dreijährige Kokette in Glückseligkeit.
Abwechslungsweise hoch und höher zog sie ihr Röcklein und betrachtete
mit schattenloser Befriedigung die blaubestrumpften, trotz aller Not
rund gebliebenen Beinchen.

Neben der Molly saß Lilli -- schneeweiß wie ihr Name. Die Unterlippe
hatte sie ein wenig eingezogen; ebenso, nur fester, die Daumen in die
innere, halbgeschlossene Handfläche. Mit tiefliegenden Augen, die von
krankhaftem Blau unterstrichen waren, starrte das Kind unverwandt
den großen, fremden Mann an, der sie von Deer Lodge hiehergebracht
hatte. Wie sehr das notwendig war, und beinahe zu spät, bewies ein
ungewolltes, erbarmungswertes Seufzen, das jede Minute wiederkehrend
ihre kleine, abgemagerte Form erschütterte wie ein Schreck.

Rechts am anderen Fenster unterhielten sich Willie, Tommy und Rose
heimlich miteinander. Ziel und Zweck der Reise war das Thema, und
Willie zeigte eine an Allwissenheit streifende Prophetengabe.

Ah! jetzt zog die Lokomotive an, mit dem bekannten Ruck. Die Wagen
bewegten sich. Die Station ging vorüber, vorüber der angrenzende
Schuppen, der Schwellenhaufen, das Wasserfaß, die ärmlichen,
verdrückten Blockhütten der Ansiedlung ... Jetzt -- o jetzt --
Tom schaute auf und hinaus. Seine Blicke trafen den Horizont, den
waldbewachsenen Hügelrücken, der Buxton trennt von Deer Lodge; sie
erkannten die Riesentanne auf dem Hügel, die gleich einem von der
Abendsonne vergoldeten Finger gen Himmel zeigte.

Donnernd rasselte der Zug vom offenen Feld in eine Felsenspalte, und
das Bild war fort, verschwunden auf Nimmerwiederkehr.

Jennie! dachte Tom, dem die Tränen aus den Augen stürzten. Und dort
liegst du nun in alle Ewigkeit allein; niemand, der dein Grab besucht,
als das Tier der Wildnis. O, daß es so enden mußte mit dir! Steine
statt Blumen; Hagel statt Tränen; statt der lieben Kinder Weinen werden
Wölfe heulen. Jennie! Meine Jennie!

Mit schaurigem Gepolter stürzte sich der Zug in den mitternächtigen
Tunnel -- wie ein Sarg ins Grab.

Krampfhaftes Schluchzen schüttelte Tom, Tränen auf Tränen rieselten
heiß über seine Wangen. »Jennie! Schwester!« hörte man ihn nur hin und
wieder seufzen. »Jennie! Schwester!«

Als es wieder heller wurde, und die letzten Abendstrahlen
hereinleuchteten in den dahinschießenden Zug, saß er seitwärts gelehnt
mit dem Haupt in die Wagenecke -- und schlief.

                   *       *       *       *       *

Ein Sommernachmittag an den Jerseygestaden des Atlantischen Meeres.

Da rollen sie wieder heran und werden nicht müde, die schhaumgekrönten,
grünen Wogen der See. In kühlen Armen schaukeln sie die Fischerboote,
Ruderboote, Jachten und eisenschweren Dampfer, und werden nicht müde.
Ist es die blaue Welt dort oben, die das Meer so harmonisch sekundiert
und weiße Wolken, Himmels Segelschiffe, treiben läßt von Land zu Land,
gleich der See? Ist es der Südwind, der palmenduftend die Küstenländer
streicht und Wiesengras und Weizenhalme wogen macht in langen Reihen,
gleich der See? Ein Gefühl ist's vielleicht, wie es unerklärlich,
geisterhaft durch die Natur sich webt: wenn Schönheit auf die Bühne
tritt, dann überkommt das Haus ein Verlangen, in dem Andacht und
Wollust zusammenschmelzen. Das uralte Meer ist kindisch heut und spielt
mit lachenden, jauchzenden Kindern am Strande, den ganzen, lieben
langen Tag, und wird nicht müde.

Schon früh eh der Morgen graute wusch die Flut, des Meeres Magd, den
Strand. Mit Wasser auf Wasser schwenkte sie, so weit ihr Eimer reichen
konnte, Sand und Schilf und glättete der Dünen meilenlange, silberweiße
Bank zum Spielplatz willkommener neuer Gäste. Und lange eh die Gäste
kamen, trocknete des Himmels Licht und Wärme, freudestrahlend, das
triefende Ufer. So oft und grimmig sie sonst sich stritten, des Himmels
und des Meeres Mächte -- mit Donnerrollen, Wogenbrüllen sich den Krieg
erklärten -- der Himmel seine Keulen breit schlug auf des Meeres
höckerigem Rücken -- und das Meer in blinder Raserei dem Blitz in seine
Feuerpfanne spie -- heute war Friede zwischen den Gegensätzen auf
Erden. Heute war Versöhnungstag, Auferstehungstag.

Jetzt kamen sie! Sie kamen! Die Luft zitterte vor Erwartung; des Meeres
lange Wogenreihen reckten ihre Hälse, eine die andere überschauend. Und
Molly trat zuerst, barfüßig und das Röcklein hoch, in die sprudelnden
Wasser. Jetzt folgten Rose und Lilli und hielten ihre nackten
Spindelbeinchen hin als Wellenbrecher. Tommy und Klein-Bertie Pratt
versuchten das wunderliche, fremde Bad. Und kecker wurden sie von
Augenblick zu Augenblick.

»Onkel Tom, wie das kitzelt!« jauchzten die Mädchen, »wie das kitzelt!«

»Und kühlt!« schrieen die Knaben.

»Ach, Onkel Tom! ist das Meer immer so groß wie heute?« riefen die
Mädchen.

»Ach, Onkel Tom! -- Papa! lieber Papa! -- Ist das Meer immer so schön
wie heute?« lachten Bertie und sein Vetterchen vom Westen und liefen
hin und her, in unbändiger Lust Luft atmend, Freiheit saugend.

Und melodisch schwatzte das Meer mit den Kindern, ihnen Märchen
erzählend. Das ungeheure Meer, das Stahlkolosse wirft wie Bälle, sich
auf Klippenküsten stürzt, bis die Felsen wanken, und bäumend nach des
Himmels grauer Decke schnappt -- liebkosend wusch es ihre Beinchen,
so dünn und schwach, spülte durch die Zehen, spritzte neckend Schaum
in ihre Gesichter, zog schelmisch den Sand weg unter ihren Sohlen und
hüpfte vor Lust, wenn die wilden Gäste fielen.

O, Meer und Kind!

Sie hatten sich noch nie gesehen, und gleich erkannt und gleich
geliebt, und gleich die Verwandtschaft herausgefühlt, daß ~ein~
großer, guter Vater, der des Kindes Busen hebt und senkt, des Meeres
Flut und Ebbe will.

Und jetzt kommen die Wasser näher. Ein neues Paar haben sie entdeckt
und drängen heran und winken und rufen. Dort sitzt, etwas weiter ab vom
nassen Strand, ein schönes Weib und hält auf ihrem Schoß einen schönen
Knaben. Sie kann nicht seine Mutter sein, dafür ist sie doch zu jung.
Aber die gleichen hellen, nordischen Locken haben beide; die gleichen,
wohlgeformten Züge und ach! das gleiche, kranke Blaß der Wangen, mit
dem Anflug von Rot, den des Meeres Odem eben angehaucht. Der gleiche
engelhafte Friede schaut aus beider Aug' ... Ja, ~das~ kann nicht
beschworen werden, denn der Knabe schläft. Gleichmäßig atmet er mit
dürstenden Zügen die Salzluft ein, im Traum der Wirkung unbewußt; aber
bald wird sein müder Körper stark in dieser Pflege, und bald wird er
gesund sein und auch spielen dort unten bei der schäumenden Brandung
der See, mit den andern; und so seine Hüterin, die schöne Frau.

Jetzt führt sie mit der rechten Hand ein Buch, in dem sie las (derweil
ihr linker Arm den Schützling umschlingt), an die Lippen und küßt es
lang, süße Schmeichelworte stammelnd zwischen Küssen und Lächeln.

Jetzt legt sie das Buch beiseite auf den Dünensand und greift nach dem
offenen Schirm und hält ihn über sich und den Schlafenden. Sprunghaft
schier war die Sonne wieder aus der Wolke getreten; die Licht- und
Lebenspenderin versuchte nun schon zum zehnten Mal, mit überraschender
List ihren Zweck zu erhaschen, sich satt zu weiden, oder wenigstens mit
~einem~ heißen Kuß die Krankenstubenwangen dieses stillen Paars zu
erwärmen. Aber abgeschlagen rollt das Licht vom aufgespannten Schirm
herab auf das Buch im Sand; und gierig schier, als wäre dieses Buch und
nicht die Leserin der Zweck des Niedersteigens aus der Himmelshöhe,
beginnt die Königin zu buchstabieren:

                            »Der Seestern.
                         Roman von Tom Pratt.
                   (Sechstes bis zehntes Tausend).«

Und wie glühendes Entzücken zieht es hinauf und herunter -- auf
Sonnenfäden wie ein Weberschifflein auf- und abwärts, durch die Natur
und tote Körper seelische Gefühle webend.

Plötzlich pfeift der Seewind ins aufgeschlagene Buch und schüttelt die
Blätter zausend und zerrend durcheinander, gleich einem losen, wilden,
schadenfrohen Buben Sand und Muschelscherben darüber streuend; und die
gekränkte Sonne verbirgt ihre Enttäuschung hinter Wolkenhaufen.

Und wieder greift die schöne Frau nach dem Buch und senkt den Schirm
zu Boden. Aber diesmal liest sie nicht. Suchend schweifen ihre Blicke
meerwärts zu der Gruppe lachender, jauchzender Kinder, die sich dort
in der Brandung tummeln, und haften fest an dem einarmigen Mann, der
bei ihnen steht als Beschützer und Belehrer. Und dieser Mann ist
der Dichter des herrlichen Buchs, das sie in der Hand hält; das sie
liest und wieder liest, wie man Vaterunser betet unzählige Male. Ja,
dieser einarmige Krüppel, dieser arme, tiefgekränkte Bettler hat,
wie man Funken schlägt aus kaltem Stein, mit Gottvertrauen aus der
Verzweiflung sprühendes Feuer gehämmert, das die Empfänglichkeit zur
Flamme schürt und Wärme geben kann an das kälteste, gefrorene Herz.
Und dieser einarmige Dichter ist ihr Gatte, ihr teurer, teurer Tom! --
Ein kindischsüßes Lächeln spielt um ihre Lippen und zieht durch die
bleichen Wangen aufwärts; -- ein weher Schatten zieht von ihrer Stirn
niederwärts. Auf halbem Weg treffen sich die Gegner, und der armen Eva
himmelblaue Augen zittern unter dem Druck der streitenden Gäste und
heiße Tränen tröpfeln auf den Sand, die Kleider, des Knaben Locken, auf
das Buch, das ihr und sein und aller Erlöser wurde.

Als sie ausgeweint hat und mit der letzten Träne jenes Seufzen,
fiebergleich doch wohltuend, ihren Körper schüttelt, das den Übergang
bildet vom Sturm zur Ruhe -- da ist es ihr, als sei noch nie im
Leben diese Welt so schön gewesen wie in dieser Stunde. Weit, so
weit ihr Auge reicht, dehnt sich das Meer, und Meer und Himmel, wie
zwei ausgespannte Arme, schlingen sich um ~ihn~ und sie und
diese lieben Kinder. Was die Wogen rauschen, klingt wie das Reden
wohllautender Stimmen. Was die Wasser singen, ob Kinderjauchzen oder
Plätschern der Brandung -- alles ist ein einzig herrliches, liebes,
oft gehörtes Lied in ihren Ohren, und die Wolken formen sich zu teuren
Wesen und Gestalten, und der Schaum der Brandung zu Gesichtern, und
jedes Ding ist verschönerte Verklärung.

Da liegt sie endlich tot und ausgetobt, die Angst und Sorge; die
Vergangenheit wie eine schwere, schwere, schrecklich lang durchwachte
Nacht. Mit Gefühlen, wie der Auferstandene sie haben mag am ersten Tag
im Himmel, denkt sie jetzt zurück ans ferne Vaterland im kalten Norden
-- an der Heimat hohe Berge, wilde Wälder -- an das Wanderlied, das
ihre Eltern lockte übers Meer ins breite Tal des Mississippi -- an die
Leiden und Mühen der Armen in dem fremden Land -- an Vaters jähen Tod
-- der Mutter frühes Sterben -- die Verlassenheit der Waisenzeit -- die
Nächte, die sie mit Gottes Engeln durchbetete im stillen Kämmerlein --
an die schaurigen Gefahren, die Schlangenringen gleich sich legen um
ein Mädchenbild, so jung und so wohlgeformt und so bettelarm -- an den
Sonntag auf dem Kirchhof in St. Louis -- an Toms Geständnis -- an das
erste Licht nach langer Finsternis -- ans Paradies der Liebe -- an der
Vermählung Doppelfrucht -- höchstes Glück auf dieser Erde -- -- ach!
an Elfies Sterben -- an des Gatten gräßliche Verstümmelung -- Tränen
-- Elend -- Hunger und Verzweiflung. Lawinengleich bricht jetzt das
Verderben über Haus und Heim. Und dahinein gellt ein Schrei von außen:
Jennie ist erfroren in Montana -- der Jennie Kinder verderben -- die
Welt geht unter, und es gibt keinen Gott!

Da, o da -- mit welcher Voraussicht hat der große Geist gerechnet! Das
gräßlichste Geschehnis wird zum Heil: die abgesägte linke Hand zwingt
die verwaiste Rechte zur Selbständigkeit, und verwirrt in ihrer neuen
Stellung, greift sie gleich zum Allerhöchsten, was die Menschenhand
erreichen kann: Verkörperung von Idealen ... So schreibt sie dem
Krüppel Tom sein erstes Buch: »~Der Seestern~.«

Und Glück auf! es gefällt. Die Leser wollen mehr. Und Tom Pratt wird
weiterdichten -- ~muß~ weiterdichten; aus Pflicht für Weib
und Kinder, aus Dankschuldigkeit gegen Gott, seinen Schöpfer, aus
unbändigem Verlangen nach dem Kuß der Musen.

Auch die allerlängsten Nächte haben ihre Morgen!

O, warum wir leiden, leben müssen? Um sterben zu dürfen? -- Nein, um
auferstehen zu können! -- Leiden schmieden, Hammerschlägen gleich,
die Ketten der Zusammengehörigkeit ums ganze menschliche Geschlecht.
Gäb's hunderttausend Wege aus dem Nichts zum Sein, aus Verwilderung zur
Veredlung, aus diesem Kampf ums Dasein zur Glückseligkeit und zu Gott,
~keiner~ führt vorbei und ~jeder~ durch die salzigbittere
Wüste: ~Schmerz~.

Doch haben die Tränen längst den kürzesten entdeckt. Und der sicherste
der Führer bleibt die ~Sehnsucht~ ...

Schon seit einer Weile ist der Knabe wach und schaut empor. Er sieht
das Wolkentreiben droben und das grenzenlose tiefe Blau der Welt, hört
der Brandung geisterhaftes Rauschen, des Meeres röchelndes Atmen, und
alle die Wunder drücken seine Nerven mit Ermüdung.

Jetzt kommt die schöne Frau zurück zur Gegenwart und blickt in die
offenen Augen ihres Schützlings. Freude füllt ihre Brust. Dann, sich
tief herabbeugend und des Knaben Stirn küssend, haucht sie: »Guten
Morgen, Willie! Hast du gut geschlafen?«

Ein selig Lächeln ist die Antwort.

»Und darf ich wissen, was mein Liebling schönes träumt, derweil ihm das
Meer die Schlummerlieder singt?«

Hier verändert sich des Knaben Aussehen. Abwehrend, tiefe Schwermut
zeigend, senkt und öffnet er die Lider.

»Nicht?« klagt die Frau. Aber plötzlich schrickt sie zusammen -- weicht
zurück -- langsam vergrößern sich die Pupillen in ihren Augen und
bleiben so.

Zweimal nickt der Knabe, wie ein doppelt Ja.

Die schöne Frau nickt auch.

Sie hatten sich verstanden; das Kind war dort und hat's besucht. Was?
Das verschollene Grab.

                            [Illustration]



*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GESCHWISTER ***


    

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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org.

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