Das grüne Gesicht: Ein Roman

By Gustav Meyrink

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Title: Das grüne Gesicht
       Ein Roman

Author: Gustav Meyrink

Release Date: June 11, 2014 [EBook #45936]

Language: German


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                    Das grüne Gesicht


                       Ein Roman
                         von
                     Gustav Meyrink







              Erstes bis dreißigstes Tausend

                        Leipzig
                   Kurt Wolff Verlag
                         1917




       Copyright 1916 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig

      Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung,
                       vorbehalten







Erstes Kapitel


   =Vexiersaloon=
   van
   Chidher Grün

las der vornehm gekleidete Fremde, der auf dem Fußsteig der Jodenbreestraat
unschlüssig stehen geblieben war, auf der schwarzen Ladentafel eines schräg
gegenüberliegenden Gebäudes eine kuriose Inschrift aus weißen, auffallend
verschnörkelten Buchstaben.

Neugierig geworden, oder um der Menge nicht länger als Zielscheibe zu
dienen, die ihn in holländisch bärenhafter Plumpheit umdrängte und ihre
Glossen über seinen Gehrock, seinen blanken Zylinder und seine Handschuhe
machte, -- lauter Dinge, die in diesem Stadtteil Amsterdams zu den
Seltenheiten gehörten, -- überquerte er zwischen hundebespannten
Gemüsekarren hindurch den Fahrdamm, gefolgt von ein paar Gassenbuben, die,
die Hände tief in die unförmlich weiten, blauen Leinwandhosen vergraben,
mit krummem Rücken, eingezogenem Bauch und gesenktem Hintern, dünne
Gipspfeifen durch die roten Halstücherknoten gesteckt, sich in schlurrenden
Holzschuhen faul und schweigsam hinter ihm dreinschoben.

Das Haus, in dem der Laden des Chidher Grün in einen gürtelartig rings
herumlaufenden, rechts und links bis in zwei parallele Quergäßchen sich
hineinziehenden schmalen Glasvorbau mündete, schien, nach den trüben
leblosen Fensterscheiben zu schließen, ein Warenspeicher zu sein, dessen
Rückseite vermutlich in eine sogenannte Gracht abfiel -- eine der
zahlreichen, für den Handelsverkehr bestimmten Wasserstraßen.

In niedriger Würfelform aufgeführt, glich es dem oberen Teil eines dunkeln
viereckigen Turmes, der im Lauf der Jahre allmählich bis zum Rande seiner
steinernen Halskrause -- des jetzigen Glasvorbaues -- in der weichen
Torferde versunken war.

Mitten im Schaufenster des Ladens lag auf einem mit rotem Tuch bespannten
Sockel ein dunkelgelber Totenkopf aus Papiermaché von unnatürlichem
Aussehen, -- der Oberkiefer unter der Nasenöffnung viel zu lang und die
Augenhöhlen und Schatten um die Schläfen schwarz getuscht, -- und hielt
zwischen den Zähnen ein Pique-As.

»Het Delpsche Orakel, of de stemm uit het Geesteryk«, stand darüber
geschrieben.

Große Messingringe, ineinandergreifend wie Kettenglieder, hingen von der
Decke herab und trugen Girlanden grellbemalter Ansichtskarten, die
warzenübersäte Gesichter von Schwiegermüttern mit Vorhängeschlössern an den
Lippen darstellten oder bösartige, mit Besen drohende Ehegattinnen; andere
Bildchen dazwischen in transparenten Farben: üppige junge Damen im Hemde,
den Brustlatz schamhaft festhaltend, und darunter die Erklärung: »Tegen het
licht te bekijken. Voor Gourmands.«

Verbrecherhandschellen, als die »berühmte Hamburger Acht« bezeichnet,
daneben ägyptische Traumbücher in Reihen ausgebreitet, künstliche Wanzen
und Schwaben (ins Bierglas des Wirtshausnachbars zu werfen), bewegliche
Nasenflügel aus Gummi, retortenförmige Glasflaschen mit rötlichem Saft
gefüllt: »das köstliche Liebesthermometer oder der unwiderstehliche Schäker
in Damengesellschaft«, Würfelbecher, Schüsseln mit Blechgeld, »der
Coupéschrecken« (ein unfehlbares Mittel für die p. p. Herren
Handlungsreisenden, während der Eisenbahnfahrt dauernde Bekanntschaften
anzuknüpfen), bestehend aus einem Wolfsgebiß, das man unter dem Schnurrbart
befestigen konnte, -- und über all der Pracht reckte sich aus
stumpfschwarzem Hintergrund segnend eine Wachsdamenhand, um das Gelenk eine
papierne Spitzenmanschette.

Weniger aus Kauflust, als um der Fischgeruchaura seiner beiden jugendlichen
Begleiter zu entrinnen, betrat der Fremde den Laden.

In einem Lehnstuhl in der Ecke, den linken Fuß mit dem arabeskenverzierten
Lackschuh über den Schenkel gelegt, studierte ein dunkelhäutiger Kavalier,
violett rasiert und mit fettglänzendem Scheitel -- der Typus eines
Balkangesichtes -- die Zeitung und blitzte einen messerscharfen, musternden
Blick nach ihm, während gleichzeitig eine Art Waggonfenster in dem
mannshohen Verschlag, der den Raum für die Kunden von dem Innern des
Geschäftes trennte, prasselnd herabgelassen wurde und in der Öffnung die
Büste eines dekolletierten Fräuleins mit hellblauen verführerischen Augen
und blonder Pagenfrisur erschien.

Im Handumdrehen hatte sie an der Aussprache und dem stockenden Holländisch:
»Kaufen, gleichgültig was, irgend etwas«, erkannt, daß sie einen Landsmann,
einen Österreicher, vor sich habe, und begann ihre Erklärung eines
Zauberkunststückes an drei rasch ergriffenen Korkpfropfen in deutscher
Sprache, wobei sie den ganzen Charme wohlgeübter Weiblichkeit in allen
Schattierungen spielen ließ, vom Stechen mit den Brüsten nach dem
männlichen Gegenüber angefangen, bis zum fast telepathisch-diskreten
Hautduftausstrahlen, das sie durch gelegentliches Achsellüften noch
wirksamer zu gestalten verstand.

»Sie sehen hier drei Stöpsel, mein Herr, nicht wahr? Ich lege den ersten in
meine rechte Hand; hierauf den zweiten, und schließe die Hand. So. Den
dritten stecke ich« -- sie lächelte errötend -- »in die Tasche. Wieviel
habe ich in der Hand?«

»Zwei.«

»Nein, drei.«

Es stimmte.

»Dieses Kunststück heißt: die fliegenden Korke und kostet nur zwei Gulden,
mein Herr.«

»Schön; bitte, zeigen Sie mir den Trick!«

»Wenn ich vorher um das Geld bitten darf, mein Herr? Es ist
Geschäftsusance.«

Der Fremde legte zwei Gulden hin, bekam eine Wiederholung des Experimentes
zu sehen, das lediglich auf Fingerfertigkeit beruhte, mehrere neuerliche
Wellen weiblichen Hautgeruches und schließlich vier Korkstöpsel, die er
voll Bewunderung für die kaufmännische Umsicht der Firma Chidher Grün und
mit der festen Überzeugung, das Zauberkunststück niemals nachmachen zu
können, einsteckte.

»Sie sehen hier drei eiserne Gardinenringe, mein Herr,« begann die junge
Dame abermals, »ich lege den ersten -- --« da wurde ihr Vortrag durch
lautes Johlen, gemischt mit schrillen Pfiffen, von der Gasse her
unterbrochen und gleichzeitig die Ladentür heftig aufgerissen und klirrend
wieder ins Schloß geworfen.

Erschreckt drehte sich der Fremde um und erblickte eine Gestalt, deren
wundersamer Aufzug sein höchstes Erstaunen erweckte.

Es war ein riesenhafter Zulukaffer mit schwarzem, krausem Bart und
wulstigen Lippen, nur mit einem karrierten Regenmantel bekleidet, einen
roten Ring um den Hals und das von Hammeltalg triefende Haar kunstvoll in
die Höhe gebürstet, so daß es aussah, als trüge er eine Schüssel aus
Ebenholz auf dem Kopfe.

In der Hand hielt er einen Speer.

Sofort sprang das Balkangesicht aus dem Lehnstuhl, machte dem Wilden eine
tiefe Verbeugung, nahm ihm dienstbeflissen die Lanze ab, stellte sie in
einen Regenschirmständer, und nötigte ihn, mit verbindlicher Handbewegung
einen Vorhang zur Seite ziehend, unter höflichem: »als 't u belieft,
Mijnheer; hoe gaat het, Mijnheer?«, in ein Nebengemach einzutreten.

»Bitt' schön, vielleicht auch weiter zu kommen«, wendete sich die junge
Dame wieder an den Fremden und öffnete ihren Verschlag, »und ein wenig
Platz zu nehmen, bis sich die Menge beruhigt hat«; dann eilte sie zur
Glastür, die abermals aufgeklinkt worden war, stieß einen vierschrötigen
Kerl, der breitbeinig auf der Schwelle stand und im Bogen hereinspuckte,
mit einer Flut von Verwünschungen: »stik, verrek, god verdomme, fall dood,
stek de moord« zurück und schob den Riegel vor.

Das Innere des Ladens, das der Fremde inzwischen betreten hatte, bestand
aus einem durch Schränke und türkische Portièren abgeteilten Raum mit
mehreren Sesseln und Taburetts in den Ecken, sowie einem runden Tisch in
der Mitte, an dem zwei behäbige alte Herren, anscheinend Hamburger oder
holländische Kaufleute, mit gespanntester Aufmerksamkeit beim Lichte einer
elektrisch montierten Moschee-Ampel in Guckkästen -- kleine
kinematographische Apparate, wie das Surren verriet -- stierten.

Durch einen dunkeln, aus Warenstellagen gebildeten Gang konnte man in ein
kleines Bureau mit auf die Seitengasse mündenden Milchglasfenstern
hineinblicken, in dem ein prophetenhaft aussehender alter Jude im Kaftan,
mit langem weißem Bart und Schläfenlocken, ein rundes seidenes Käppi auf
dem Haupte und das Gesicht im Schatten unsichtbar, regungslos vor einem
Pulte stand und Eintragungen in ein Hauptbuch machte.

»Sagen Sie, Fräulein, was war das vorhin für ein merkwürdiger Neger?«
fragte der Fremde, als die Verkäuferin wieder zu ihm trat und die
Vorstellung mit den drei Gardinenringen fortsetzen wollte.

»Der? Oh, das ist ein gewisser Mister Usibepu. Er ist eine Attraktion und
gehört zu der Zulutruppe, die im Zirkus Carré auftritt. -- Ein sehr ein
fescher Herr,« setzte sie mit leuchtenden Augen hinzu. »Er ist in seiner
Heimat medicinae doctor -- -- --«

»Ja, ja, Medizinmann, -- ich verstehe.«

»Ja, Medizinmann. Und da lernt er bei uns bessere Sachen, um, wenn er
wieder heimkommt, seinen Landsleuten gehörig imponieren zu können und sich
gelegentlich auf den Thron zu schwingen. -- Der Herr Professor des
Pneumatismus, Herr Zitter Arpád aus Preßburg, unterrichtet ihn grad,« --
sie hielt mit den Fingern einen Schlitz im Vorhang auseinander und ließ den
Fremden in ein mit Whistkarten austapeziertes Kabinett schauen.

Zwei Dolche kreuzweis durch die Gurgel gestochen, so daß die Spitzen hinten
herausragten, und ein blutbeflecktes Beil tief in einer klaffenden
Schädelwunde stecken, verschluckte das Balkangesicht soeben ein Hühnerei
und zog es dem Zulukaffern, der abgelegt hatte und sprachlos vor Staunen,
nur mit einem Leopardenfell bekleidet, vor ihm stand, aus dem Ohr wieder
heraus.

Gern hätte der Fremde noch mehr gesehen, aber die junge Dame ließ rasch die
Portière fallen, da ihr der Herr Professor einen verweisenden Blick zuwarf
und ein schrilles Klingeln sie überdies ans Telephon rief.

»Seltsam bunt wird das Leben, wenn man sich Mühe gibt, es in der Nähe zu
betrachten, und den sogenannten wichtigen Dingen den Rücken kehrt, die
einem nur Leid und Verdruß bringen,« dachte der Fremde, nahm von einem
Bord, auf dem allerhand billiges Spielzeug lag, eine kleine offene
Schachtel herunter und roch zerstreut daran.

Sie war angefüllt mit winzigen, geschnitzten Kühen und Bäumchen, deren Laub
aus grün gebeizter Holzwolle bestand.

Der eigentümliche Duft nach Harz und Farbe nahm ihn einen Augenblick ganz
gefangen. -- Weihnachten! Kinderjahre! Atemloses Warten vor
Schlüssellöchern; ein wackliger Stuhl mit rotem Rips überzogen, -- ein
Ölfleck darin. Der Spitz -- Durudeldutt, ja, ja, so hat er geheißen --
knurrt unter dem Sofa und beißt der beweglichen Schildwache ein Bein ab,
kommt dann, das linke Auge zugekniffen, schwerverstimmt hervorgekrochen:
die Feder des Uhrwerkes ist losgegangen und ihm ins Gesicht gesprungen. --
Die Tannennadeln knistern, und die brennenden roten Kerzen am Christbaum
haben lange Tropfbärte. --

Nichts vermag die Vergangenheit so schnell wieder jung zu machen, wie der
Lackgeruch von Nürnberger Spielzeug, -- der Fremde schüttelte den Bann ab,
»es wächst nichts Gutes aus der Erinnerung: erst läßt sich alles süß an,
dann hat das Leben eines Tages plötzlich ein Oberlehrergesicht, um einen
schließlich mit blutrünstiger Teufelsfratze -- -- -- nein, nein, ich will
nicht!« -- er wandte sich dem drehbaren Büchergestell zu, das neben ihm
stand. »Lauter Bände in Goldschnitt?« -- Kopfschüttelnd buchstabierte er
die wundersamen, ganz und gar nicht zur übrigen Umgebung passenden,
gekerbten Rückentitel: »Leidinger, G., Geschichte des akademischen
Gesangvereins Bonn,« »Aken, Fr., Grundriß der Lehre vom Tempus und Modus im
Griechischen,« »Neunauge, K. W., Die Heilung der Hämorrhoiden im
klassischen Altertum«? -- »nun, Politik scheint, Gott sei Dank, nicht
vertreten zu sein« -- und er nahm: »Aalke Pott, Über den Lebertran und
seine steigende Beliebtheit, 3. Band« vor und blätterte darin.

Der miserable Druck und das elende Papier standen in verblüffendem
Gegensatz zu dem kostbaren Einband.

»Sollte ich mich geirrt haben? Handelt es sich vielleicht gar nicht um eine
Hymne auf ranziges Öl?« -- der Fremde schlug die erste Seite auf und las
erheitert:

   »Sodom- und Gomorrhabibliothek«
   Ein Sammelwerk für Hagestolze.
   (Jubiläumsausgabe.)

   Bekenntnisse eines lasterhaften
   Schulmädchens.

   [Fortsetzung des berühmten Werkes: Die Purpurschnecke.]

»Wahrhaftig, man glaubt die 'Grundlage des zwanzigsten Jahrhunderts' vor
sich zu haben: außen brummliges Gelehrtengetue und innen -- der Schrei nach
Geld oder Weibern,« brummte er vergnügt und lachte dann laut hinaus.

Nervös fuhr der eine der beiden wohlbeleibten Handelsherren von seinem
Guckkasten empor (der andere, der Holländer, ließ sich nicht stören),
murmelte verlegen etwas von »wunnerschoenen Sstädteansichten« und wollte
sich schnell entfernen, nach Kräften bestrebt, seinem durch den
überstandenen optischen Genuß ein wenig ins Schweinskopfartige zerflossenen
Gesichtsausdruck wieder das altgewohnte Gepräge des unentwegt auf
geradlinig strenge Lebensauffassung gerichteten Edelkaufmanns zu verleihen,
da leistete sich der satanische Versucher aller Schlichtgesinnten in
Gestalt eines hämischen Zufalls, aber fraglos in der Absicht, die Seele des
Biedermanns nicht länger im Unklaren zu lassen, in welch frivoler Umgebung
sie sich befand, einen höchst unziemlichen Scherz:

Durch eine allzueilige Flatterbewegung beim Anziehen des Mantels hatte der
Handelsherr mit dem Ärmel das Pendel einer großen Wanduhr in Bewegung
gesetzt, und sofort fiel eine mit trauten Familienszenen bemalte Klappe
herunter; nur erschien statt des zu erwartenden Kuckucks der wächserne Kopf
nebst spärlich bekleidetem Oberleib einer über die Maßen frechblickenden
Frauensperson und sang zum feierlichen Glockenklang der zwölften Stunde mit
verschleimter Stimme:

   »Tischlah sejen
   ganz verwejen,
   hobeln flott drauf los;
   fein und glatt
   wird das Blatt -- -- --«

»Blatt, Blatt, Blatt« -- ging es plötzlich, sich rhythmisch wiederholend,
in einen krächzenden Baß über. Entweder hatte der Teufel ein Einsehen oder
war ein Haar ins Grammophongetriebe geraten.

Nicht länger gesonnen, neckischen Kobolden zum Opfer zu fallen, suchte der
Chef der Meere mit empört gequäktem »aarch anstößich« fluchtartig das
Weite.

Obschon mit der Sittenreinheit nordischer Völkerstämme wohl vertraut,
konnte sich der Fremde dennoch die übermäßige Verwirrung des alten Herrn
nicht recht erklären, bis ihm langsam der Verdacht dämmerte, er müsse ihn
irgendwo kennen gelernt haben, -- ihm wahrscheinlich in einer Gesellschaft
vorgestellt worden sein. Ein schnell vorübergehendes, damit verknüpftes
Erinnerungsbild: eine ältere Dame mit feinen traurigen Zügen und ein
schönes junges Mädchen, bestärkte ihn in seiner Annahme, nur konnte er sich
des Ortes und der Namen nicht mehr entsinnen.

Auch das Gesicht des Holländers, der soeben aufstand, ihn mit kalten,
wasserblauen Augen verächtlich von oben bis unten abschätzte und sich dann
träge hinauswälzte, half seinem Gedächtnis nicht nach. Es war ein ihm
völlig Unbekannter von brutalem, selbstbewußtem Aussehen.

Immer noch telephonierte die Verkäuferin.

Nach ihren Antworten zu schließen, handelte es sich um große Aufträge für
einen Polterabend.

»Eigentlich könnte ich auch gehen,« überlegte der Fremde; »worauf warte ich
denn noch?«

Ein Gefühl der Abspannung überfiel ihn; er gähnte und ließ sich in einen
Sessel fallen.

»Daß einem nicht der Kopf zerspringt, oder man sonstwie überschnappt,«
schälte sich ein Gedanke in seinem Hirn los, »bei all dem verrückten Zeug,
das das Schicksal um einen herumstellt! Es ist ein Wunder! -- Und warum man
im Magen Übelkeit empfindet, wenn die Augen häßliche Dinge
hineinschlingen?! Was hat denn, um Gottes willen, die Verdauung damit zu
tun! -- Nein, mit der Häßlichkeit hängt's nicht zusammen« grübelte er
weiter, »auch bei längerem Verweilen in Gemäldegalerien packt einen
unvermutet der Brechreiz. Es muß so etwas wie eine Museumskrankheit geben,
von der die Ärzte noch nichts wissen. -- Oder sollte es das Tote sein, das
von allen Dingen, ob schön oder häßlich, ausgeht, die der Mensch gemacht
hat? Ich wüßte nicht, daß mir schon einmal beim Anblick selbst der ödesten
Gegend übel geworden wäre, -- also wird es wohl so sein. -- Ein Geschmack
nach Konservenbüchsen haftet allem an, das den Namen »Gegenstand« trägt;
man kriegt den Skorbut davon.« -- Er mußte unwillkürlich lächeln, da ihm
eine barocke Äußerung seines Freundes Baron Pfeill, der ihn für Nachmittag
ins Café »De vergulde Turk« bestellt hatte und alles, was mit
perspektivischer Malerei zusammenhing, aus tiefster Seele haßte, einfiel:
'der Sündenfall hat gar nicht mit dem Apfelessen begonnen; das ist wüster
Aberglaube. Mit dem Bilderaufhängen in Wohnungen hat's angefangen! Kaum hat
einem der Maurer die vier Wände schön glatt gemacht, schon kommt der Teufel
als »Künstler« verkleidet und malt einem »Löcher mit Fernblick« hinein. Von
da bis zum äußersten Heulen und Zähneklappern ist dann nur noch ein Schritt
und man hängt eines Tages in Orden und Frack neben Isidor dem Schönen oder
sonst einem gekrönten Idioten mit Birnenschädel und Botokudenschnauze im
Speisezimmer und schaut sich selber beim Essen zu.' -- -- »Ja, ja, man
sollte wirklich bei allem und jedem ein Lachen bereit haben,« fuhr der
Fremde in seiner Gedankenreihe fort, »so ganz ohne Grund lächeln die
Statuen Buddhas nicht und die der christlichen Heiligen sind
tränenüberströmt. Wenn die Menschen häufiger lächeln würden, gäb's
vermutlich weniger Kriege. -- Da laufe ich nun schon drei Wochen in
Amsterdam herum, merke mir absichtlich keine Straßennamen; frage nicht, was
ist das oder jenes für ein Gebäude, wohin fährt dieses oder jenes Schiff,
oder woher kommt es, lese keine Zeitungen, um nur ja nicht als »Neuestes«
zu erfahren, was schon vor Jahrtausenden in blau genau so passiert ist; ich
wohne in einem Hause, in dem jede Sache mir fremd ist, bin schon bald der
einzige -- Privatmann, den ich kenne; wenn mir ein Ding vor Augen kommt,
spioniere ich längst nicht mehr, wozu es dient, -- es dient überhaupt
nicht, läßt sich nur bedienen! -- und warum tue ich das alles? Weil ich es
satt habe, den alten Kulturzopf mit zu flechten: erst Frieden, um Kriege
vorzubereiten, dann Krieg, um den Frieden wieder zu gewinnen usf.; weil ich
wie Kasper Hauser eine neue urfremde Erde vor mir sehen will, -- ein neues
Staunen kennen lernen will, wie es ein Säugling an sich erfahren müßte, der
über Nacht zum erwachsenen Manne heranreift, -- weil ich ein Schlußpunkt
werden will und nicht ewig ein Komma bleiben. Ich verzichte auf das
»geistige Erbe« meiner Vorfahren zugunsten des Staates und will lieber
lernen, alte Formen mit neuen Augen zu sehen, statt, wie bisher, neue
Formen mit alten Augen; vielleicht gewinnen sie dann ewige Jugend! -- Der
Anfang, den ich gemacht habe, war gut; nur muß ich noch lernen, über alles
zu lächeln und nicht bloß zu staunen.«

Nichts wirkt so einschläfernd wie geflüsterte Reden, deren Sinn dem Ohre
unverständlich bleibt. Die in leisem Ton und großer Hast geführten
Gespräche zwischen dem Balkangesicht und dem Zulukaffern hinter dem Vorhang
betäubten den Fremden durch ihre hypnotisierend eintönige Unablässigkeit,
so daß er einen Moment in tiefen Schlummer fiel.

Als er sich gleich darauf wieder emporriß, hatte er die Empfindung, eine
überwältigende Menge innerer Aufschlüsse bekommen zu haben; aber nur ein
einziger dürrer Satz war als Quintessenz in seinem Bewußtsein
zurückgeblieben, -- eine phantastische Verkettung von kürzlich erlebten
Eindrücken und fortgesponnenen Gedanken: »Schwerer ist es, das ewige
Lächeln zu erringen, als den Totenschädel in den abertausend Gräbern der
Erde herauszufinden, den man in einem früheren Leben auf den Schultern
getragen; erst muß der Mensch sich die alten Augen aus dem Kopf weinen,
bevor er die Welt mit neuen Augen lächelnd zu betrachten vermag.«

»Und wenn es noch so schwer ist, der Totenschädel wird gesucht!«, verbiß
sich der Fremde hartnäckig in die Traumidee, felsenfest überzeugt, daß er
vollkommen wach sei, während er in Wirklichkeit wieder tief eingenickt war,
»ich werde die Dinge schon zwingen, deutsch mit mir zu reden und mir ihren
wahren Sinn zu verraten, und zwar in einem neuen Alphabet, statt mir, wie
früher, mit wichtigtuerischer Miene alten Kram ins Ohr zu raunen, wie:
'Siehe, ich bin ein Medikament und mache dich gesund, wenn du dich
überfressen hast, oder: ich bin ein Genußmittel, damit du dich überfressen
und wieder zum Medikament greifen kannst.' -- Hinter den Witz, daß sich
alles in den Schwanz beißt, wie mein Freund Pfeill sagt, bin ich nachgerade
gekommen, und wenn das Leben keine gescheiteren Lektionen aufzugeben weiß,
gehe ich in die Wüste, nähre mich von Heuschrecken und kleide mich in
wilden Honig.«

»_Sie_ wollen in die Wüste gehen und die höhere Zauberei lernen, -- nebbich
--, wo Sie noch so dumm sind, einen albernen Trick mit Korkstöpseln bar in
Silber zu bezahlen, einen Vexiersalon von der Welt kaum unterscheiden
können und nicht einmal ahnen, daß in den Büchern des Lebens etwas anderes
steht, als hinten drauf gedruckt ist? -- _Sie_ sollten »Grün« heißen und
nicht ich,« hörte der Fremde plötzlich eine tiefe, bebende Stimme auf seine
Reminiszenzen antworten und, als er erstaunt aufblickte, stand der alte
Jude, der Inhaber des Ladens, im Raum und starrte ihn an.

Der Fremde entsetzte sich; ein Gesicht, wie das vor ihm, hatte er noch nie
gesehen.

Es war faltenlos, mit einer schwarzen Binde über der Stirn, und dennoch
tief gefurcht, so, wie das Meer tiefe Wellen hat und doch nie runzlig ist.
-- Die Augen lagen darin wie finstere Schlünde und waren trotzdem die Augen
eines Menschen und keine Höhlen. Die Farbe der Haut spielte ins Olive und
war wie aus Erz; so, wie es die Geschlechter der Vorzeit, von denen es
heißt, sie wären gleich schwarzgrünem Gold gewesen, ähnlich gehabt haben
mögen.

»Seit der Mond, der Wanderer, am Himmel kreist,« sprach der Jude weiter,
»bin ich auf der Erde. Ich habe Menschen gesehen, die waren wie Affen und
trugen steinerne Beile in den Händen; sie kamen und gingen von Holz« -- er
zögerte eine Sekunde -- »zu Holz, von der Wiege zum Sarg. Wie Affen sind
sie noch immer -- und tragen Beile in den Händen. Es sind Abwärtsstarrer
und wollen die Unendlichkeit, die im Kleinen verborgen liegt, ergründen.

Daß im Bauch der Würmer Millionen von winzigen Wesen leben und in diesen
wieder Milliarden, haben sie ergründet, aber noch immer wissen sie nicht,
daß es auf diese Art kein Ende nimmt. Ich bin ein Abwärtsstarrer und ein
Aufwärtsstarrer; das Weinen habe ich vergessen, aber das Lächeln habe ich
noch nicht gelernt. -- Meine Füße sind naß gewesen von der Sintflut, aber
ich habe keinen gekannt, der Grund zum Lächeln gehabt hätte; mag sein, ich
habe ihn nicht beachtet und bin an ihm vorübergegangen.

Jetzt spült an meine Füße ein Meer von Blut, und da soll einer kommen, der
lächeln darf? Ich glaub's nicht. -- Ich werde wohl warten müssen, bis das
Feuer selbst Wogen wirft.«

Der Fremde zog sich den Zylinder über die Augen, um das schreckliche
Gesicht, das sich immer tiefer in seine Sinne einfraß und seinen Atem
stocken machte, nicht länger zu sehen, und daher bemerkte er nicht, daß der
Jude zum Pult zurück ging, die Verkäuferin auf den Zehenspitzen an seine
Stelle trat, einen Totenkopf aus Papiermaché, ähnlich dem in der Auslage,
aus dem Schrank nahm und geräuschlos auf ein Taburett stellte.

Als dem Fremden plötzlich der Hut vom Kopf rutschte und zu Boden fiel, hob
sie ihn blitzschnell auf, noch ehe sein Besitzer danach greifen konnte, und
begann gleichzeitig ihren Vortrag:

»Sie sehen hier, mein Herr, das sogenannte Delphische Orakel; durch es sind
wir jederzeit in der Lage, einen Blick in die Zukunft zu tun und sogar
Antworten auf Fragen, die in unserm Herzen« -- sie schielte aus unbekannten
Gründen in ihren Busenausschnitt -- »schlummern, zu erhalten. Ich bitte,
mein Herr, im Geiste eine Frage zu tun!«

»Ja, ja, schon gut,« brummte der Fremde, noch ganz verwirrt.

»Sehen Sie, der Schädel bewegt sich bereits!«

Langsam öffnete der Totenkopf das Gebiß, kaute ein paarmal, spuckte eine
Papierrolle aus, die die junge Dame hurtig auffing und entrollte, und
klapperte dann erleichtert mit den Zähnen; --

   »Ob deiner Seele Sehnsucht in
   Erfüllung geht? -- Fahr drein
   mit fester Hand und setz' das
   Wollen an der Wünsche Statt!«

stand mit roter Tinte -- oder war es Blut? -- auf dem Streifen geschrieben.

»Schade, daß ich mir nicht gemerkt habe, was es für eine Frage war,« dachte
der Fremde. -- »Kostet?«

»Zwanzig Gulden, mein Herr.«

»Schön. Bitte --,« der Fremde überlegte, ob er den Schädel gleich mitnehmen
solle, -- »nein, es geht nicht, man würde mich auf der Straße für den
Hamlet halten,« sagte er sich, »bitte, schicken Sie ihn mir in meine
Wohnung; hier ist das Geld.«

Er warf unwillkürlich einen Blick in das Bureau am Fenster, -- mit
verdächtiger Unbeweglichkeit stand der alte Jude vor seinem Pult, als hätte
er die ganze Zeit über nichts als Eintragungen ins Hauptbuch gemacht, --
dann schrieb er auf einen Block, den die Verkäuferin ihm hinhielt, seinen
Namen nebst Adresse:

   Fortunat Hauberrisser
   Ingenieur

   Hooigracht Nr. 47

und verließ, noch immer ein wenig betäubt, den Vexiersalon.




Zweites Kapitel


Seit Monaten war Holland überschwemmt von Fremden aller Nationen, die, kaum
daß der Krieg beendet war und beständig wachsenden inneren politischen
Kämpfen den Schauplatz abgetreten hatte, ihre alte Heimat verließen und
teils dauernd Zuflucht in den niederländischen Städten suchten, teils sie
als vorübergehenden Aufenthalt wählten, um von dort aus einen klaren
Überblick zu gewinnen, auf welchem Fleck Erde sie künftighin ihren Wohnsitz
aufschlagen könnten.

Die billige Prophezeiung, das Ende des europäischen Krieges werde einen
Auswandererstrom der ärmeren Bevölkerungsschichten aus den am härtesten
mitgenommenen Gegenden zur Folge haben, hatte gründlich geirrt, und
reichten auch die verfügbaren Schiffe, die nach Brasilien und andern als
fruchtbar geltenden Erdteilen fuhren, nicht hin, die vielen
Zwischendeckspassagiere zu befördern, so stand doch der Abfluß der auf
ihrer Hände Arbeit Angewiesenen in keinem Verhältnis zur Zahl derer, die
entweder wohlhabend waren und überdrüssig, sich ihre Einkünfte durch den
immer unerträglicher werdenden Druck der heimischen Steuerschrauben
zusammenpressen zu lassen -- also der sogenannten Unidealen -- oder zur
Zahl derer, die bisher in intellektuellen Berufen tätig gewesen, keine
Möglichkeit mehr vor sich sahen, mit ihrem Verdienst den unerhört
kostspielig gewordenen Kampf um das auch nur nackte Leben weiter zu führen.

Hatte schon in den verflossenen Zeiten der Friedensgreuel das Einkommen
eines Schornsteinfegermeisters oder Schweinemetzgers das Gehalt eines
Universitätsprofessors weit überstiegen, so war doch jetzt die europäische
Menschheit bereits auf dem Glanzpunkt angelangt, wo der alte Fluch »im
Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« buchstäblich und
nicht nur im übertragenen Sinne aufgefaßt werden mußte; -- die »innerlich«
Schwitzenden sahen sich dem Elend preisgegeben und gingen aus Mangel an
Stoffwechsel zugrunde.

Die Muskel des Armes griff nach dem Szepter der Herrschaft, die
Ausscheidungen der menschlichen Denkdrüse sanken täglich tiefer im Kurs,
und saß Gott Mammon auch noch auf dem Throne, so war seine Fratze doch
recht unsicher geworden: -- die Menge schmutziger Papierfetzen, die sich um
ihn herum angehäuft hatte, verdroß seinen Schönheitssinn.

Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, bloß der
Geist der Handlungsreisenden konnte nicht, wie früher, auf dem Wasser
schweben.

So war es gekommen, daß sich die große Masse der europäischen Intelligenz
auf Wanderschaft befand und von den Hafenstädten der vom Kriege mehr oder
weniger verschont gebliebenen Länder nach Westen spähte, ähnlich dem
Däumling, der auf hohe Bäume kletterte, um nach einem Herdfeuer in der
Ferne auszuschauen.

In Amsterdam und Rotterdam waren die alten Hotels bis auf das letzte Zimmer
besetzt, und täglich entstanden neue; ein Mischmasch von Sprachen schwirrte
durch die besseren Straßen, und stündlich gingen Extrazüge nach dem Haag,
gefüllt mit ab- und durchgebrannten Politikern und Politikerinnen aller
Rassen, die beim Dauerfriedenskongreß ein immerwährendes Wort mit
dreinreden wollten, wie man der endgültig entflohenen Kuh am sichersten die
Stalltür verrammeln könnte.

In den feinern Speisehäusern und Kakaostuben saß man Kopf an Kopf und
studierte überseeische Zeitungen, -- die binnenländischen schwelgten noch
immer in den Krämpfen vorgeschriebener Begeisterung über die herrschenden
Zustände, -- aber auch in ihnen stand nichts, was nicht auf den alten
Weisheitssatz herausgekommen wäre: »ich weiß, daß ich nichts weiß, aber
auch das weiß ich nicht sicher.«

                   *       *       *       *       *

»Ist denn Baron Pfeill noch immer nicht hier? Ich warte jetzt schon eine
volle Stunde,« fuhr im Café »De vergulde Turk«, einem dunkeln, winkligen
und verräucherten Lokal, das versteckt und abseits vom Verkehr in der
Cruysgade lag, eine ältere Dame mit spitzen Gesichtszügen, zerkniffenen
Lippen und fahrigen, farblosen Augen, -- der Typus der gewissen entmannten
Frauen mit dem ewig nassen Haar, die mit dem fünfundvierzigsten Jahre ihren
galligen Rattlern anfangen ähnlich zu sehen und mit dem fünfzigsten bereits
selber die geplagte Menschheit ankläffen -- wutentbrannt auf den Kellner
los: »'pörend. Pe. Wahrhaftig kein Vergnügen, in der Spelunke zu sitzen und
sich als Dame von lauter Kerlen anglotzen zu lassen.«

»Herr Baron Pfeill? -- Wie soll er denn aussehen? Ich kenne ihn nicht,
Myfrouw,« fragte der Kellner kühl.

»'türlich bartlos. Vierzig. Fünfundvierzig. Achtundvierzig. Weiß nicht.
Hab' seinen Taufschein nicht gesehen. Groß. Schlank. Scharfe Nase.
Strohhut. Braun.«

»Der sitzt doch schon lange da draußen, Myfrouw« -- der Kellner deutete
gelassen durch die offene Tür auf den kleinen, durch Efeugitter und berußte
Oleanderstauden gebildeten Vorraum zwischen Straße und Kaffeehaus.

-- »Garnalen, garnalen,« dröhnte der Brummbaß eines Krabbenverkäufers an
den Fenstern vorüber. »Banaantjes, banaantjes«, quietschte ein Weib
dazwischen.

»Pe. Der ist doch blond! Und kurzgeschnittenen Schnurrbart. Zylinder. Pe.«
-- Die Dame wurde immer wütender.

»Ich meine den Herrn neben ihm, Myfrouw; Sie können ihn von hier nicht
sehen.«

Wie ein Jochgeier stürzte die Dame auf die beiden Herren los und
überschüttete den Baron Pfeill, der mit betretener Miene aufstand und
seinen Freund Fortunat Hauberrisser vorstellte, mit einem Hagel von
Vorwürfen, daß sie ihn mindestens zwölfmal vergebens angeklingelt und
schließlich in seiner Wohnung aufgesucht habe, ohne ihn anzutreffen, und
das alles bloß, -- »pe« -- weil er natürlich wieder mal nicht zu Hause
gewesen sei. »Zu einer Zeit, wo jeder Mensch beide Hände voll zu tun hat,
um den Frieden zu befestigen, Präsident Taft die nötigen Ratschläge zu
geben, den Heimatsflüchtigen zuzureden, wieder an ihre Arbeit zu gehen, die
internationale Prostitution zu unterbinden, dem Mädchenhandel zu steuern,
Gesinnungsschwachen das moralische Rückgrat zu stählen und -- Sammlungen
von Flaschenstanniol für die Invaliden aller Völker einzuleiten«, schloß
sie, empört ihre Pompadour aufreißend und mit einer seidenen Schnur wieder
erdrosselnd, »ich dächte, da hat man zu Hause zu bleiben, statt -- statt
Schnaps zu trinken«. -- Sie schoß einen bösartigen Blick auf die beiden
dünnen Glasröhren, die, gefüllt mit einem regenbogenfarbigen Gemisch aus
Likören, auf der marmornen Tischplatte standen.

»Frau Consul Germaine Rukstinat interessiert sich nämlich für --
Wohltäterei«, erläuterte Baron Pfeill seinem Freunde, den Doppelsinn seiner
Worte hinter der Maske scheinbar ungeschickt gewählter deutscher Ausdrücke
verbergend; »sie ist der Geist, der stets bejaht und nur das Gute will --
-- wie Goethe sagt.«

»Na, wenn sie das nicht merkt!« dachte Hauberrisser und blickte scheu nach
der Furie, -- zu seiner Überraschung lächelte sie bloß besänftigt --
»Pfeill hat leider recht, die Menge kennt Goethe nicht nur nicht, sie
verehrt ihn sogar; je falscher man ihn zitiert, desto tiefer fühlen sie
sich in seinen Geist eingedrungen.«

»Ich finde, Myfrouw«, wandte sich Pfeill wieder an die Gnädige, »man
überschätzt mich in Ihren Kreisen als -- Phila_ntropf_. Mein Vorrat an
Flaschenstanniol, der den Invaliden so mangelt, ist wesentlich geringer,
als es den Anschein hat, und wenn ich auch -- obwohl, ich versichere,
unwissentlich -- einmal in einen Mildherzigkeitsklub hineingetreten bin und
mir infolgedessen der Geruch eines öffentlichen Samaritercharakters
gewissermaßen anhaftet, so gebricht es mir leider doch an ausreichend
stählernem Gesinnungsmark, um der internationalen Prostitution die
Einnahmsquelle zu verstopfen, und ich möchte mich in dieser Hinsicht des
Motto's bedienen: Yoni soit, qui mal y pense. -- Was ferner das Steuer des
Mädchenhandels anbelangt, so fehlt es mir gänzlich an Beziehungen zu den
leitenden Kapitänen dieser Organisation, denn ich hatte niemals
Gelegenheit, die höheren Beamten der Sittenpolizei im Ausland --
vertraulich kennen zu lernen.«

»Aber unbrauchbare Sachen für Kriegerwaisen werden Sie doch haben, Baron?«

»Ist denn die Nachfrage nach unbrauchbaren Sachen seitens der Kriegerwaisen
so groß?«

Die Gnädige überhörte die spöttische Gegenfrage oder wollte sie überhören.
»Ein paar Eintrittskarten für die große Redoute, die im Herbst stattfindet,
müssen Sie aber zeichnen, Baron! Der vermutliche Nettoerlös, der im
nächsten Frühjahr verrechnet wird, soll der Gesamtheit aller
Kriegsbeschädigten zugute kommen. Es wird ein Aufsehen erregendes Fest
werden, die Damen sämtlich maskiert, und die Herren, die mehr als fünf
Eintrittskarten gelöst haben, bekommen den Barmherzigkeitsorden der
Herzogin von Lusignan an den Frack.«

»Freilich, eine Redoute dieser Art bietet viel Reiz«, gab Baron Pfeill
sinnend zu, »zumal bei derlei maskierten Wohltätigkeitstänzen oft im weit
ausgreifenden Sinne der Nächstenliebe die linke Hand nicht weiß, was die
rechte tut, und es den Reichen begreiflicherweise ein dauerndes Vergnügen
bereiten muß, daß der Arme auf die große Abrechnung zu -- warten hat, aber
andererseits bin ich nicht Exhibitionist genug, um den Nachweis fünfmal
öffentlich betätigten Mitgefühls aus dem Knopfloch heraushängen zu lassen.
-- Natürlich, wenn Frau Konsul darauf bestehen -- -- --«

»Kann ich also fünf Karten für Sie bereit halten?«

»Wenn ich bitten darf: nur vier, Myfrouw!«

                   *       *       *       *       *

»Herr, gnädiger Herr, gnä-diger Herr Baron!« hauchte eine Stimme, und eine
winzige schmutzige Hand zupfte Baron Pfeill schüchtern am Ärmel. Als er
sich umdrehte, sah er ein kleines, ärmlich gekleidetes Mädchen mit
eingefallenen Wangen und weißen Lippen, das sich zwischen den
Oleanderkübeln hindurch an ihn herangeschlichen hatte und ihm einen Brief
hinhielt, vor sich stehen. Sofort wühlte er in seinen Taschen nach
Kleingeld.

»Der Großvater draußen läßt sagen -- -- --«

»Wer bist du denn, Kind?« fragte Pfeill halblaut.

»Der Großvater, der Schuster Klinkherbogk, läßt sagen, ich bin sein Kind«,
verwirrte das Mädchen die Antwort mit dem Auftrag, den es überbringen
sollte, »und der Herr Baron hat sich geirrt. Statt der zehn Gulden für die
letzten Paar Schuhe waren tausend -- -- --«

Pfeill wurde blutrot, klapperte heftig mit seiner silbernen Zigarettendose
auf den Tisch, um die Worte der Kleinen zu übertönen, und sagte laut und
brüsk: »da hast du zwanzig Cents für den Weg«, mit milderem Ton
hinzufügend, es sei schon alles recht -- sie solle nur wieder nach Hause
gehen und den Brief nicht verlieren.

Gleichsam als Antwort, daß das Kind nicht allein gekommen sei -- der
Sicherheit wegen von seinem Großvater begleitet, damit es auf dem Wege zum
Kaffeehaus das Kuvert mit der Banknote nicht verlöre --, tauchte eine
Sekunde lang zwischen den sich teilenden Efeustauden das totenblasse
Gesicht eines alten Mannes auf, der augenscheinlich die letzten Sätze
gehört hatte und vor Ergriffenheit unfähig, ein Wort hervorzubringen, mit
schlotterndem Unterkiefer und gelähmter Zunge ein leises röchelndes Lallen
ausstieß. -- -- --

Ohne den Vorgängen irgend welche Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, hatte
die wohltätige Dame die Eintragung der vier Ballkarten in eine Rolle
vorgenommen und sich nach ein paar kühl verbindlichen Worten empfohlen. --
--

Eine Weile saßen die beiden Herren stumm, wichen einander mit den Blicken
aus und trommelten gelegentlich mit den Fingern auf den Stuhllehnen.

Hauberrisser kannte seinen Freund zu gut, um nicht genau zu fühlen: er
brauche jetzt nur zu fragen, was für eine Bewandtnis es mit dem Schuster
Klinkherbogk habe, und Pfeill würde gereizt das Blaue vom Himmel
herunterphantasieren, um nur ja nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er
hätte einem armen Schuster aus bittrer Not geholfen. Daher sann er, um ein
möglichst abseits liegendes Gespräch einzuleiten, nach einem Thema, das --
selbstverständlich -- nichts mit Wohltätigkeit oder einem Schuster zu tun
haben durfte, aber andererseits auch nicht so klingen sollte, als sei es an
den Haaren herbeigeholt.

So lächerlich leicht die Aufgabe zu sein schien -- sie wurde ihm von Minute
zu Minute schwerer.

»Es ist eine verwünschte Sache mit dem 'Gedankenfassen',« überlegte er,
»man glaubt, man bringt sie mit dem Gehirn hervor, aber in Wirklichkeit
machen sie mit dem Gehirn, was sie wollen und sind selbständiger als
irgendein Lebewesen«. Er gab sich einen Ruck. »Sag' mal Pfeill«, (das
Traumgesicht, das er in dem Vexiersalon gehabt hatte, war ihm plötzlich
eingefallen), »sag' mal, Pfeill, du hast ja so viel im Leben gelesen: ist
die Sage vom Ewigen Juden nicht in Holland entstanden?«

Pfeill blickte argwöhnisch auf. -- »Du meinst, weil er ein Schuhmacher
gewesen ist?«

»Schuhmacher? Wieso?«

»Nun, es heißt doch, der Ewige Jude sei ursprünglich der Schuster
Ahaschwerosch in Jerusalem gewesen und habe Jesus, als er auf seinem Weg
nach Golgatha -- der Schädelstätte -- ausruhen wollte, mit Flüchen
fortgejagt. Seitdem müsse er selbst wandern und könne nicht sterben, ehe
nicht Christus wiedergekommen sei.« (Als Pfeill bemerkte, daß Hauberrisser
ein äußerst verblüfftes Gesicht machte, erzählte er hastig weiter, um auch
seinerseits so rasch wie möglich von dem Thema »Schuster« loszukommen.) »Im
dreizehnten Jahrhundert behauptete ein englischer Bischof, in Armenien
einen Juden namens Kartaphilos kennen gelernt zu haben, der ihm anvertraut
hätte, zu gewissen Mondphasen verjünge sich sein Körper, und er sei dann
eine Zeitlang Johannes der Evangelist, von dem Christus bekanntlich gesagt
hat, er werde den Tod nicht schmecken. -- In Holland heißt der Ewige Jude:
Isaac Laquedem; man hat in einem Mann, der diesen Namen trug, den Ahasver
vermutet, weil er lange vor einem steinernen Christuskopf stehen geblieben
war und ausgerufen hatte: 'das ist er, das ist er; so hat er ausgesehen!'
-- In den Museen von Basel und Bern wird sogar je ein Schuh gezeigt, ein
rechter und ein linker, kuriose Dinger, aus Lederstücken zusammengesetzt,
einen Meter lang und zentnerschwer, die an verschiedenen Orten in den
Gebirgspässen der italienisch-schweizerischen Grenze gefunden und wegen
ihrer Rätselhaftigkeit in unklare Verbindung mit dem Ewigen Juden gebracht
wurden. Übrigens -- --«

-- Pfeill zündete sich eine Zigarette an --

»übrigens merkwürdig, daß du gerade jetzt auf die ausgefallene Idee
gekommen bist, nach dem Ewigen Juden zu fragen, wo mir ein paar Minuten
früher -- und zwar außergewöhnlich lebhaft -- ein Bild in der Erinnerung
aufgetaucht war, das ich einmal vor vielen Jahren in einer Privatgalerie in
Leyden gesehen habe. Es soll von einem unbekannten Meister stammen und
stellt den Ahasver dar: ein Gesicht von olivbronzener Farbe, unglaublich
schreckhaft, eine schwarze Binde um die Stirn, die Augen ohne Weiß und ohne
Pupillen, wie -- wie soll ich sagen -- fast wie Schlünde. Es hat mich noch
lange bis in die Träume verfolgt.«

Hauberrisser fuhr empor, aber Pfeill achtete nicht darauf und erzählte
weiter:

»Die schwarze Binde um die Stirn, las ich später irgendwo, gilt im Orient
als sicheres Kennzeichen des Ewigen Juden. Angeblich soll er damit ein
flammendes Kreuz verhüllen, dessen Licht immer wieder sein Gehirn verzehrt,
wenn dieses bis zu einem gewissen Grade der Vollkommenheit nachgewachsen
ist. -- Die Gelehrten behaupten, es seien das lediglich Anspielungen auf
kosmische Vorgänge, die den Mond beträfen, und der Ewige Jude heiße auch
deshalb: Chidher, das ist: der »Grüne«, aber das scheint mir Blech zu sein.

Die Manie, alles, was man am Altertum nicht begreifen kann, als Lesart für
Himmelszeichen zu deuten, ist heute wieder sehr beliebt, -- eine Zeitlang
hat sie gestockt, als ein witziger Franzose eine satirische Abhandlung
schrieb: Napoleon hätte nie gelebt, auch er wäre ein Astralmythos, hieße
eigentlich Apollon, der Sonnengott, und seine zwölf Generäle bedeuteten die
zwölf Tierkreiszeichen.

Ich glaube, die alten Mysterien haben viel gefährlicheres Wissen verborgen
als das Wissen von Sonnenfinsternissen und Mondgezeiten, nämlich Dinge, die
wirklich verborgen werden mußten; -- Dinge, die man heute nicht mehr zu
verbergen braucht, weil die dumme Menge sie, Gott sei Dank, sowieso nicht
glauben würde und darüber lacht, -- Dinge, die gleichen harmonischen
Gesetzen gehorchen wie die Sternenwelt und dieser daher ähnlich sind. Nun,
sei es wie es mag, vorläufig schlagen die Gelehrten den Sack, ohne daß der
Esel damit gemeint wäre.«

Hauberrisser war in tiefes Nachdenken versunken.

»Was hältst du von den Juden überhaupt?« fragte er nach längerem
Stillschweigen.

»Hm. Was ich von ihnen halte? Durchschnittlich sind sie wie Raben ohne
Federn. Unglaublich listig, schwarz, krummer Schnabel, und können nicht
fliegen. Aber zuweilen kommen Adler unter ihnen vor, das ist keine Frage.
Zum Beispiel Spinoza.«

»Du bist also nicht Antisemit?«

»Fällt mir nicht im Schlaf ein. Schon deshalb nicht, weil ich die Christen
für zu wenig wertvoll halte. Man wirft den Juden vor, sie hätten keine
Ideale. Jedenfalls haben die Christen nur falsche. Die Juden übertreiben
alles: Gesetze halten und Gesetze brechen, Frömmigkeit und Gottlosigkeit,
Arbeiten und Faulenzen, bloß das Bergeklettern und das Wettrudern, das sie
»Gojjim naches« nennen, übertreiben sie nicht, und vom Pathos halten sie
nicht viel; die Christen übertreiben das Pathos und -- hintertreiben so
ziemlich den Rest. In Glaubenssachen sind mir die Juden zu viel Talmud, die
Christen zu sehr Talmi.«

»Glaubst du, die Juden haben eine Mission?«

»Freilich! Die Mission, sich selbst zu überwinden. Alles hat die Mission,
sich selbst zu überwinden. Wer von andern überwunden wird, hat seine
Mission verfehlt; wer seine Mission verfehlt, wird von andern überwunden.
Wenn einer sich selbst überwindet, merken die andern nichts davon; wenn
aber einer die andern überwindet, wird der Himmel -- rot. Der Laie nennt
diese »Licht«erscheinung: Fortschritt. Ein Trottel hält ja auch bei einer
Explosion das Feuerwerk für das Wesentliche. -- Aber verzeih, ich muß jetzt
abbrechen,« schloß Pfeill und sah auf die Uhr, »erstens muß ich schleunigst
nach Hause, und zweitens könnte ich auf die Dauer soviel Gescheitheit vor
dir nicht verantworten. Also: »Servus« -- wie die Österreicher sagen, wenn
sie das Gegenteil meinen -- und falls du Lust hast, besuch mich recht bald
in Hilversum.«

Er legte ein Geldstück auf den Tisch für den Kellner, winkte seinem Freunde
lächelnd einen Gruß zu und schritt hinaus.

Hauberrisser bemühte sich, seine Gedanken in Ordnung zu bringen.

»Träume ich denn noch immer?« fragte er sich voll Erstaunen. »Was war das?
Zieht sich durch jedes Menschenleben ein solcher roter Faden merkwürdiger
Zufälle, oder bin ich der einzige, dem derartige Dinge passieren? Greifen
die Ringe der Geschehnisse vielleicht erst dann ineinander und bilden eine
Kette, wenn man ihre Zusammenhänge nicht dadurch stört, daß man sich Pläne
schafft, denen man tölpelhaft nachjagt und infolgedessen das Schicksal in
einzelne Stücke reißt, die sonst ein fortlaufendes, wundersam gewebtes Band
gebildet hätten?« --

Aus alter ererbter Gewohnheit und den Erfahrungen gemäß, die er bisher im
Leben für -- scheinbar richtig befunden hatte, versuchte er, das
gleichzeitige Auftauchen ein und desselben Bildes in seinem Gehirn und dem
seines Freundes auf Gedankenübertragung zurückzuführen und damit zu
erklären, aber die Theorie wollte sich diesmal nicht mit der Wirklichkeit
decken wie sonst, wo er derlei Dinge auf die leichte Achsel genommen und
sie möglichst rasch wieder zu vergessen getrachtet hatte. Pfeill's
Erinnerung an das olivgrünschimmernde Gesicht mit der schwarzen Binde über
der Stirn hatte eine greifbare Grundlage gehabt: ein Porträt, das angeblich
in Leyden hing, -- aber woraus war die Traumvision, ebenfalls von einem
olivgrünschimmernden Gesicht mit einer schwarzen Binde über der Stirn, die
_er_ kurz vorher im Laden des Chidher Grün gehabt hatte, entsprossen?

»Die Wiederkehr des seltsamen Namens »Chidher« in dem kurzen Zeitraum von
einer Stunde, -- einmal als Firmenschild, dann als sagenhafte Bezeichnung
für die Figur des Ewigen Juden, wunderbar genug ist es ja«, sagte sich
Hauberrisser, »aber es gibt wohl wenig Menschen, die nicht derartige
Beobachtungen in Menge gemacht hätten. Woher es kommen mag, daß Namen, die
man früher nie gehört hat, plötzlich serienweise auf einen losprasseln, daß
ferner die Leute auf der Gasse, wie das so häufig geschieht, einem
Bekannten, den man Jahre lang nicht mehr getroffen hat, immer ähnlicher und
ähnlicher sehen, bis er selbst gleich darauf um die Ecke biegt -- ähnlich,
nicht nur in der Einbildung, nein: photographierbar ähnlich, _so_ ähnlich,
daß man an den Betreffenden denken _muß_, ob man will oder nicht, -- woher
das alles kommen mag? Ob Menschen, die einander ähnlich sehen, nicht auch
ein ähnliches Schicksal haben? Wie oft habe ich es schon bestätigt
gefunden. Das Schicksal scheint so etwas wie eine unvermeidliche
Begleiterscheinung der Körperbildung und Gesichtsform zu sein, an ein bis
ins kleinste greifendes Gesetz der Übereinstimmung gebunden. Eine Kugel
kann nur rollen, ein Würfel nur kollern, warum sollte ein Lebewesen mit
seinem tausendfach komplizierteren Dasein nicht mit ebenso gesetzmäßigen,
aber nur tausendfach komplizierteren Erlebnisvorausbestimmungen vor _eine_
Deichsel gespannt sein! -- Ich kann es sehr wohl verstehen, daß die alte
Astrologie nicht aussterben kann und heute vielleicht mehr Anhänger zählt,
als jemals früher, und daß jeder zehnte sich ein Horoskop stellen läßt; nur
sind die Menschen offenbar auf dem Holzweg, wenn sie glauben, die
sichtbaren Sterne am Himmel bestimmten den Schicksalsweg. Es wird sich da
um andere 'Planeten' handeln, um solche, die im Blut um das Herz kreisen
und andere Umlaufszeiten haben als die Himmelskörper: Jupiter, Saturn usw.
-- Wenn gleicher Geburtsort, gleiche Geburtsstunde und Geburtsminute allein
das Entscheidende wären, wie könnte es dann sein, daß Monstrositäten wie
die zusammengewachsenen Schwestern Blaschek, die doch in derselben Sekunde
geboren wurden, ein so verschiedenes Schicksal hatten, daß die eine Mutter
wurde und die andere Jungfrau blieb?«

Ein Herr in weißem Flanellanzug, roter Krawatte, einen Panamahut ein wenig
schief aufgesetzt, die Finger überladen mit protzigen Ringen und ein
Monokel ins dunkel glühende Auge geklemmt, war bereits vor längerer Zeit an
einem entfernten Tische hinter einer großen ungarischen Zeitung aufgetaucht
und hatte sich nach mehrmaligem Platzwechsel -- als störe ihn überall die
Zugluft -- bis dicht an Hauberrisser herangepirscht, ohne daß ihn dieser in
seinem Grübeln bemerkt hätte.

Erst, als der Fremde sich mit auffallend lauter Stimme beim Kellner nach
Amsterdamer Vergnügungslokalen und sonstigen Sehenswürdigkeiten erkundigte,
wurde Hauberrisser aufmerksam, und der Eindruck der Außenwelt scheuchte
sofort seine tiefsinnigen Betrachtungen in das Dunkel zurück, aus dem sie
aufgestiegen waren.

Ein schneller Blick überzeugte ihn, daß es der Herr »Professor« Zitter
Arpád aus dem Vexiersalon war, der da so sichtlich bestrebt schien, den
gänzlich unorientierten, soeben erst der Eisenbahn entschlüpften
Neuankömmling zu spielen.

Wohl fehlte der Schnurrbart, und die Pomade war in ein neues Strombett
geleitet worden, aber die Gaunervisage des unverkennbaren »Preßburger
Hähndelfangers« hatte dadurch nicht das mindeste an Ursprünglichkeit
eingebüßt.

Hauberrisser war viel zu gut erzogen, um auch nur mit einem Wimperzucken zu
verraten, daß er sich erinnere, wen er vor sich habe; überdies machte es
ihm Spaß, die feinere List des Gebildeten der grobdrähtigen des
Ungebildeten entgegenzustellen, der immer und überall glaubt, eine
Verkleidung sei gelungen, bloß weil der, dem die Täuschung gelten soll,
nicht sofort in komödiantenhaft plumpes Gebärdenspiel und Stirnrunzeln
verfällt.

Daß der »Professor« ihm heimlich bis ins Café nachgegangen war und
irgendeine balkanesische Halunkerei im Schilde führte, stand für
Hauberrisser außer Zweifel; um jedoch ganz sicher zu sein, daß _ihm_ und
nicht noch Anderen der Mummenschanz galt, machte er eine Bewegung, als
wolle er zahlen und gehen. Sofort malte sich ärgerliche Bestürzung in den
Mienen des Herrn Zitter.

Hauberrisser schmunzelte befriedigt in sich hinein; »die Firma Chidher Grün
-- angenommen, der Herr Professor ist tätiger Teilhaber -- scheint ja über
die mannigfaltigsten Hilfsmittel zu verfügen, wenn es gilt, ihre Kunden im
Auge zu behalten: -- duftende Damen mit Pagenfrisur, fliegende Korke,
gespenstige alte Juden, prophetische Totenköpfe und weißgekleidete
talentlose Spione! Allerhand Hochachtung!«

»Irgendeine Bank gibt es wohl hier in der Nähe nicht, Kellner, in der man
ein paar englische Tausendpfundnoten in holländisches Geld umwechseln
lassen könnte, wie?« fragte der Professor nachlässig, aber wieder mit sehr
lauter Stimme und tat sehr ärgerlich, als er eine verneinende Antwort
bekam. »In Amsterdam ist es scheinbar recht schljecht mit dem Kljeingeld
bestellt,« brach er, halb zu Hauberrisser gewendet, ein Anknüpfungsgespräch
vom Zaun. »Schon im Hotel hatte ich Schwjierigkeiten damit.«

Hauberrisser schwieg.

»Ja, hm, recht vjiel Schwjierigkeiten.«

Hauberrisser ließ sich nicht erweichen.

»Zum Glück kannte der Hotelbesitzer meinen Stammsitz. -- -- -- Graf
Ciechoñski, wenn ich mich vorstellen darf. Graf Wlodzimierz Ciechoñski.«

Hauberrisser verbeugte sich kaum merklich und murmelte seinen Namen so
unverständlich wie nur möglich, der Graf schien jedoch ein ungemein feines
Ohr zu haben, denn er sprang freudig erregt auf, eilte zum Tisch, nahm
sofort in Pfeill's leerem Sessel Platz und rief jubelnd: »Hauberrisser? Der
berühmte Torpedoingenieur Hauberrisser? Graf Ciechoñski mein Name, Graf
Wlodzimierz Ciechoñski, Sie gestatten doch?«

Hauberrisser schüttelte lächelnd den Kopf. »Sie irren, ich war niemals
Torpedoingenieur.« (»Ein dummes Luder das«, setzte er innerlich hinzu,
»schade, daß er den polnischen Grafen mimt; als Professor Zitter Arpád aus
Preßburg wäre er mir lieber gewesen; ich hätte ihn dann im Lauf der Zeit
wenigstens über seinen Kompagnon Chidher Grün ausholen können.«)

»Njicht? Schade. Aber das macht nichts. Schon der Name Hauberrisser erweckt
in mir, oh, so liebe Erinnerungen«, die Stimme des Grafen zitterte vor
Rührung, -- »er und der Name Eugène Louis Jean Joseph sind eng mit unserer
Familie verknjüpft.«

»Jetzt will er, daß ich frage, wer dieser Louis Eugène Joseph ist. Just
nicht,« dachte sich Hauberrisser und sog stumm an seiner Zigarette.

»Eugène Louis Jean Joseph war nämlich mein Taufpate. Gleich darauf ging er
nach Afrika in den Tod.«

»Wahrscheinlich aus Gewissensbissen,« brummte Hauberrisser in sich hinein.
»So, hm, in den Tod, sehr bedauerlich.«

»Ja leider, leider, leider. Eugène Louis Jean Joseph! Er hätte Kaiser von
Frankreich sein können.«

»Was hätte er?« -- Hauberrisser glaubte falsch gehört zu haben -- »Kaiser
von Frankreich hätt' er sein können?«

»Sicherlich!« Stolz spielte Zitter Arpád seinen Trumpf aus: »Prinz Eugène
Louis Jean Joseph Napoleon IV. Er fiel am 1. Juni 1879 im Kampf gegen die
Zulus. Ich besitze sogar eine Locke von ihm«, er zog eine goldene
Taschenuhr von Beefsteakgröße und geradezu teuflischer Geschmacklosigkeit
hervor, öffnete den Deckel und deutete auf ein Büschel schwarzer
Pinselhaare. »Die Uhr ist auch von ihm. Ein Taufgeschenk. Ein Wunderwerk.«
Er erläuterte: »Wenn man hier drückt, schlägt sie Stunden, Minuten und
Sekunden und gleichzeitig erscheint auf der Rückseite ein bewegliches
Liebespaar. Dieser Knopf löst die Rennzeiger aus; dieser stoppt sie; wenn
man ihn weiter hinunterdrückt, erscheint das jeweilige Mondviertel; noch
tiefer hinein und das Datum klappt auf. Dieser Hebel nach links, und ein
Tropfen Moschusparfüm spritzt hervor, -- nach rechts, und es ertönt die
Marseillaise. Es ist ein wahrhaft königliches Geschenk. Es existieren im
ganzen nur zwei Stück davon.«

»Immerhin ein Trost,« gab Hauberrisser höflich und doppeldeutig zu. Das
Gemisch von bodenloser Frechheit und gänzlicher Unkenntnis weltmännischer
Umgangsformen belustigte ihn auf das höchste.

Graf Ciechoñski, ermutigt durch die freundliche Miene des Ingenieurs, wurde
immer zutraulicher, erzählte von seinen immensen Gütern in Russisch-Polen,
die leider durch den Krieg verwüstet wären, (zum Glück sei er nicht darauf
angewiesen, denn durch intime Beziehungen zu amerikanischen Börsenkreisen
verdiene er in London mit Spekulationen ein paar tausend Pfund im Monat) --
kam auf Pferderennen zu sprechen und bestochene Jockeis, auf
Milliardärsbräute, die er zu Dutzenden kenne, auf spottbillige Territorien
in Brasilien und im Ural, auf noch unbekannte Petroleumquellen am Schwarzen
Meer, auf ungeheuerliche Erfindungen, die er in der Hand hätte, und die
eine Million täglich tragen müßten, -- auf vergrabene Schätze, deren
Besitzer geflohen oder gestorben seien, auf untrügliche Methoden, im
Roulette zu gewinnen, -- erzählte von riesigen Spionagegeldern, die Japan
vertrauenswürdigen Personen auszuzahlen nur so brenne (natürlich müsse man
zuerst Depot erlegen), schwätzte von unterirdischen Freudenhäusern in den
großen Städten, zu denen nur Eingeweihte Zutritt hätten, ja sogar vom
Goldlande Ophir des Königs Salomo, das, wie er ganz sicher aus Papieren
seines Taufpaten Eugène Louis Jean Joseph wisse, im Zululande läge,
berichtete er bis ins Kleinste genau.

Er war vielseitiger noch als seine Taschenuhr, warf tausend Angelhaken aus,
einen plumper als den andern, um seinen Fisch zu ködern; wie ein
kurzsichtiger Einbrecher, der Dietrich um Dietrich am Türschloß eines
Hauses probiert, ohne das Schlüsselloch zu erwischen, tastete er die Seele
Hauberrissers ab, aber es gelang ihm nicht, das Fenster zu finden, durch
das er hätte einsteigen können.

Endlich gab er es erschöpft auf und fragte Hauberrisser kleinlaut, ob
dieser ihn nicht in irgendeinen vornehmen Spielklub einführen möchte; doch
auch hierin schlugen seine Hoffnungen fehl: der Ingenieur entschuldigte
sich damit, daß er selber in Amsterdam fremd sei.

Mißmutig schlürfte er seinen Sherry-Cobbler.

Hauberrisser betrachtete ihn sinnend. »Ob es nicht das Gescheiteste wäre«,
überlegte er, »ich sagte ihm auf den Kopf zu, daß er ein Taschenspieler
ist. Ich gäbe etwas darum, wenn er mir sein Leben erzählte. Bunt genug mag
es gewesen sein. Eine Welt von Schmutz muß dieser Mensch schon durchwatet
haben. Aber natürlich, er würde leugnen und schließlich grob werden.« --
Ein Gefühl von Gereiztheit stieg in ihm auf; »unerträglich ist das Dasein
unter den Menschen und Dingen dieser Welt geworden; Berge von leeren
Schalen überall, und stößt man einmal auf etwas, was so aussieht wie eine
Nuß, die des Aufknackens wert wäre, -- siehe da, es ist ein toter Kiesel.«

»Juden! Chassiden!« brummte der Hochstapler verächtlich und deutete auf
einen Trupp zerlumpter Gestalten, die eilig -- die Männer mit wirren Bärten
und schwarzen Kaftans voran, die Frauen, ihre Kinder in Bündel geschnürt
auf dem Rücken, hinterdrein -- lautlos, mit weit aufgerissenen, irrsinnig
in die Ferne starrenden Augen die Straße vorbeizogen. »Auswanderer. Keinen
Cent in der Tasche. Sie glauben, das Meer wird eine Gasse bilden, wenn sie
kommen. Verrückt! Neulich in Zandvoort wäre eine ganze Menge beinahe
ersoffen, wenn man sie nicht noch rechtzeitig herausgezogen hätte.«

»Meinen Sie das im Ernst, oder machen Sie bloß Spaß?«

»Nein, nein, mein voller Ernst. Haben Sie denn nicht davon gelesen? Der
Religionswahnsinn bricht jetzt überall aus, wohin man schaut. Vorläufig
sind's ja meist nur die Armen, die davon befallen werden, aber« -- Zitter's
ärgerliche Miene hellte sich auf bei dem Gedanken, daß vielleicht bald eine
Zeit kommen könne, wo sein Weizen blühen würde -- »aber es wird nicht lange
dauern, dann packt's die Reichen auch. Ich kenne das.« -- Froh, wieder ein
Gesprächsthema gefunden zu haben, denn Hauberrisser hatte gespannt
aufgehorcht, wurde er sofort wieder geschwätzig. »Nicht nur in Rußland, wo
von jeher die Rasputins und Johann Sergiews und andere Heilige aus dem
Boden wuchsen, -- in der ganzen Welt breitet sich der Wahnsinn aus, daß der
Messias kommt. Sogar unter den Zulus in Afrika gärt's schon; da läuft zum
Beispiel dort ein Nigger herum, nennt sich »der schwarze Elias« und tut
Wunder. Ich weiß das ganz genau von Eugène Louis« -- er verbesserte sich
rasch -- »von einem Freund, der kürzlich dort auf Leopardenjagd war. Einen
berühmten Zuluhäuptling kenne ich übrigens selber von Moskau her« -- sein
Gesicht wurde plötzlich unruhig -- »und, wenn ich's nicht mit eignen Augen
gesehen hätte, würde ich's nie geglaubt haben: der Kerl, in allen andern
Tricks ein Mordsesel, kann wahrhaftig, so wahr, wie ich hier sitze,
zaubern. Ja ja: zaubern! Lachen Sie nicht, lieber Hauberrisser; ich hab's
selber gesehen und _mir_ macht kein Artist was vor«, -- er vergaß einen
Moment ganz, daß er die Rolle eines Grafen Ciechoñski zu spielen hatte, --
»_das_ Zeug kann ich selber aus dem ff. _Wie_ er's macht, weiß der Teufel.
Er sagt, er habe einen Fetisch und wenn er den anruft, wird er feuerfest.
Tatsache ist: er macht große Steine rotglühend -- Herr, ich hab' sie selbst
untersucht! -- und schreitet langsam drüber weg, ohne sich die Füße zu
verbrennen.« In der Erregung fing er an, an seinen Fingernägeln zu beißen,
und brummte in sich hinein: »Aber wart' nur, Bursche, ich komme dir schon
dahinter.« -- Erschreckt, daß er sich möglicherweise zu viel habe gehen
lassen, nahm er schnell wieder die polnische Grafenmaske vor und leerte
sein Glas, »Prost, ljieber Hauberrisser, prost, prost. Vielleicht sehen Sie
ihn einmal selber, den Sulu; ich chöre, er ist in Cholland und tritt in
einem Zirkus auf. Aber wollen wir jetzt nicht nebenan im Amstelroom einen
Imbiß --«

Hauberrisser stand rasch auf, der »Graf« interessierte ihn an Herrn Zitter
Arpád ganz und gar nicht. »Bedaure lebhaft, aber ich bin für heute
vergeben. Vielleicht ein anderes mal. Adieu. Sehr gefreut.«

Verblüfft durch den kurzen Abschied sah ihm der Hochstapler mit offnem
Munde nach.




Drittes Kapitel


Von einer wilden innern Aufregung ergriffen, über deren Ursache er sich
keinerlei Rechenschaft zu geben vermochte, eilte Hauberrisser durch die
Straßen.

Als er an dem Zirkus vorüberkam, in dem die Zulutruppe Usibepu's auftrat --
Zitter Arpád konnte nur sie gemeint haben -- überlegte er einen Augenblick,
ob er sich die Vorstellung ansehen solle, ließ aber gleich darauf seinen
Entschluß wieder fallen. Was kümmerte es ihn, ob ein Neger zaubern konnte;
Neugierde nach Ungewöhnlichem war es nicht, das ihn umhertrieb und ruhelos
machte. Etwas Unwägbares, Gestaltloses, das in der Luft lag, peitschte
seine Nerven auf, -- derselbe rätselhafte Gifthauch, der ihn zuweilen, noch
ehe er nach Holland gereist war, so heftig gewürgt hatte, daß er in solchen
Fällen unwillkürlich mit Selbstmordideen spielte.

Er überlegte, woher es diesmal wieder gekommen sein mochte. Ob es von den
jüdischen Auswanderern, die er gesehen hatte, wie eine Ansteckung auf ihn
übergegangen war?

»Es muß der gleiche unbegreifliche Einfluß sein, der diese religiösen
Fanatiker über die Erde jagt und mich aus meiner Heimat vertrieben hat,«
fühlte er; »bloß unsere Motive sind verschieden.«

Schon lange vor dem Kriege hatte er diesen unheimlichen seelischen Druck an
sich erfahren, nur war es damals noch möglich gewesen, ihn durch Arbeit
oder Vergnügen zeitweilig zu unterdrücken; er hatte ihn als Reisefieber,
als nervöse Launenhaftigkeit, als Begleiterscheinung falscher Lebensführung
gedeutet, dann später, als die Blutfahne über Europa zu flattern begann:
als Vorahnung der Ereignisse. Aber warum steigerte sich jetzt nach dem
Kriege dieses Gefühl noch von Tag zu Tag fast bis zur Verzweiflung? Und
nicht nur bei ihm -- fast jeder, mit dem er darüber gesprochen hatte, wußte
von sich selbst Ähnliches zu berichten.

Sie alle, wie er, hatten sich damit getröstet, wenn der Krieg beendet sei,
werde der Frieden auch in den Herzen der Einzelnen wiederkehren. Statt
dessen war genau das Gegenteil eingetreten.

Die banale Weisheit der gewissen Hohlköpfe, die gewohnheitsgemäß bei allem
und jedem die billigste Erklärung zur Hand haben und die Fieberschauer der
Menschheit auf gestörte Behaglichkeit zurückführten, -- konnte sie das
Rätsel lösen? Die Ursache lag tiefer.

Gespenster, riesenhafte, formlos und nur erkennbar an den entsetzlichen
Verheerungen, die sie angerichtet, bei den heimlichen Sitzungen
kaltherziger, ehrgeiziger Greise um den grünen Tisch herum entstandene
Gespenster hatten sich Millionen von Opfern geholt und sich dann scheinbar
wieder für einige Zeit schlafen gelegt; aber jetzt erhob das grauenhafteste
aller Phantome, längst schon zu lauerndem Leben erweckt durch den
Fäulnishauch einer verwesenden Scheinkultur, sein Medusenhaupt vollends aus
dem Abgrund und höhnte der Menschheit ins Gesicht, daß es nur ein Rad der
Qual gewesen war, das sie im Kreise getrieben hatte im Wahn, dadurch für
kommende Geschlechter die Freiheit zu gewinnen, -- und weiter treiben würde
trotz Wissen und Erkenntnis für alle Zeiten.

In den letzten Wochen war es Hauberrisser scheinbar gelungen, sich über
seinen Lebensüberdruß hinwegzutäuschen; er hatte sich die sonderbare Idee
zurechtgelegt, mitten in einer Stadt, die sozusagen über Nacht infolge der
Zeitläufte aus einem Weltmarkt mit gezügelter Leidenschaft zu einem
internationalen Tummelplatz hirnverwirrender, wilder Instinkte geworden
war, als Einsiedler, als innerlich Unbeteiligter, zu leben, und hatte
seinen Plan auch bis zu einem gewissen Grade durchgeführt, doch jetzt brach
die alte Müdigkeit, durch irgendeinen winzigen Anlaß wieder erweckt,
abermals hervor, stärker als je, verzehnfacht durch den Anblick der plan-
und sinnlos um ihn her durchs Dasein taumelnden Menge.

Als sei er bisher blind gewesen, erschreckte ihn plötzlich auf's tiefste
der Ausdruck in den Gesichtern, die ihn umwimmelten.

Das waren nicht mehr die Mienen von Menschen, die, vergnügungssüchtig oder,
um die Sorgen des Tages zu verschütten, zu einer Schaustellung eilten, wie
sie von früher her in seiner Erinnerung lebten! Die beginnenden Anzeichen
eines unheilbaren Entwurzeltseins sprachen aus ihnen.

Der bloße Kampf ums Dasein gräbt andere Furchen und Linien in die Haut.

Er mußte an Kupferstiche denken, die die Pestorgien und Tänze des
Mittelalters darstellten, und dann wieder an Vogelschwärme, die, das Kommen
eines Erdbebens spürend, lautlos und in dumpfer Angst über der Erde
kreisen. -- --

Wagen um Wagen raste zum Zirkus, und mit einer nervösen Hast, als ginge es
um Leben und Tod, eilten die Leute hinein: Damen, brillantenübersät, mit
fein geschnittenen Gesichtern, zu Kokotten gewordene französische
Baronessen, vornehme, schlanke Engländerinnen, noch vor kurzem zur besten
Gesellschaft gehörig, jetzt zu zweit am Arme irgendeines über Nacht reich
gewordenen Börsenhalunken mit Rattenaugen und Hyänenschnauze, -- russische
Fürstinnen, jede Fiber an ihnen zuckend vor Übernächtigkeit und
Überreiztheit; nirgends mehr auch nur eine Spur ehemaliger aristokratischer
Gelassenheit -- alles hinweggespült von den Wellen einer geistigen
Sintflut.

Wie das Vorzeichen einer kommenden furchtbaren Zeit erscholl im Innern des
Hauses in Intervallen, bald schreckhaft nahe und laut, dann wieder
plötzlich erstickt von zufallenden dicken Vorhängen, das langgezogene
heisere Gebrüll von wilden Bestien, und ein beißender Geruch nach
Raubtieratem, Parfüm, rohem Fleisch und Pferdeschweiß wehte auf die Straße
heraus.

Durch den Ideenkontrast wachgerufen, schob sich ein Bild aus der Erinnerung
vor Hauberrissers Blick: ein Bär hinter den Käfigstäben einer wandernden
Menagerie, der, die linke Tatze gefesselt, eine Verkörperung grenzenloser
Verzweiflung, von einem Bein auf's andere trat -- unablässig, tagelang,
monatelang, noch Jahre später, als er ihm wieder auf einem Schaubudenmarkte
begegnete.

»Warum hast du ihn damals nicht losgekauft!« schrie ein Gedanke
Hauberrisser ins Hirn hinein, -- ein Gedanke, den er wohl hundertmal schon
verjagt hatte, der aber immer wieder aus dem Hinterhalte auf ihn lossprang,
immer mit demselben brennenden Gewand des Vorwurfs angetan, wenn seine
Stunde kam, -- ewig jung und unversöhnlich wie am ersten Tage, als er
entstanden war, -- ein Zwerg, scheinbar nichtig und klein gegenüber den
riesengroßen Versäumnissen, die im Leben eines Menschen einander die Hand
reichen, und dennoch von allen Gedanken der einzige, über den die Zeit
keine Macht besaß.

»Die Schatten der Myriaden gemordeter und gefolterter Tiere haben uns
verflucht und ihr Blut brüllt nach Rache«, ballte sich eine wirre
Vorstellung in Hauberrissers Gehirn einen Pulsschlag lang zusammen; »wehe
uns Menschen, wenn beim jüngsten Gericht die Seele auch nur eines einzigen
Pferdes im Rate der Ankläger sitzt. -- Warum habe ich ihn damals nicht
losgekauft!« -- -- Wie oft hatte er sich schon die bittersten Vorwürfe
deshalb gemacht und sie jedesmal mit dem Argument erstickt, daß die
Befreiung des Bären belangloser gewesen wäre als das Umdrehen eines
Sandkorns in der Wüste. Aber -- er überflog im Geiste sein Leben -- hatte
er jemals irgend etwas vollbracht, das belangreicher gewesen wäre? Er hatte
studiert und die Sonne versäumt, um Maschinen zu bauen, hatte Maschinen
gebaut, die längst verrostet waren, und darüber versäumt, andern zu helfen,
daß sie sich hätten der Sonne erfreuen können, -- hatte nur sein Teil
beigetragen zur großen Zwecklosigkeit.

Er erkämpfte sich mühsam einen Weg durch die andrängende Menge zu einem
freien Platz, rief eine Droschke an und ließ sich hinaus vor die Stadt
fahren.

Ein Heißhunger nach versäumten Sommertagen hatte ihn mit einemmal
überfallen. -- --

Die Räder rumpelten mit quälender Langsamkeit über das Pflaster, und die
Sonne war doch schon im Untergehen begriffen; vor Ungeduld, ins Freie zu
kommen, wurde er nur noch gereizter.

Als er endlich das fette Grün des Landes, bis in die unendlich scheinende
Ferne von einem Gitter aus braunen regelmäßigen Wasserstraßen zerschnitten,
vor sich sah, mitten in den Inseln abertausende gefleckter Rinder, die alle
eine Matratze auf dem Rücken trugen als Schutz gegen die abendliche Kühle,
und dazwischen die holländischen Bäuerinnen mit den weißen Hauben, den
messingnen Krulletjes an den Schläfen und den saubern Melkeimern, -- wie
das Bild auf einer großen blaßblauen Seifenblase stand es vor ihm, in der
die Windmühlen mit ihren Flügeln als die ersten schwarzen Kreuzeszeichen
einer kommenden ewigen Nacht erschienen.

Es war ihm wie das Traumgesicht eines Landes, in das er den Fuß nicht mehr
setzen dürfe, wie er so an schmalen Wegen die Weideplätze entlang fuhr,
immer durch einen, von den letzten Sonnenstrahlen roten Flußstreifen von
ihnen getrennt.

Der Geruch nach Wasser und Wiesen, der zu ihm herüber zog, löste seine
Unruhe nur in ein Gefühl der Schwermut und Verlassenheit auf.

Dann, als das Gras dunkel wurde und aus der Erde ein silbriger Nebel stieg,
bis die Herden in Rauch zu stehen schienen, kam es ihm vor, als wäre sein
Kopf ein Kerker, und er selbst säße darin und blickte durch seine Augen
hindurch wie durch langsam erblindende Fenster in eine Welt der Freiheit
hinein, die für immer Abschied nimmt.

                   *       *       *       *       *

Die Stadt lag in tiefer Dämmerung, und das hallende Dröhnen von den
zahllosen seltsam geformten Türmen und ihre Glockenspiele zitterten durch
den Dunst, als die ersten Häuserreihen ihn aufnahmen.

Er entließ den Wagen und ging der Richtung zu, in der seine Wohnung lag,
durch winklige Gassen, Grachten entlang, in denen regungslos schwarze
plumpe Kähne schwammen, eingetaucht in eine Flut fauler Äpfel und
verwesenden Unrats, unter Giebeln mit eisernen Hebearmen hinweg, die aus
vornübergeneigten Mauern sich im Wasser spiegelten.

An den Türen saßen gruppenweise auf Stühlen, die sie aus ihren Stuben
geholt hatten, Männer in blauen weiten Hosen und roten Kitteln, Weiber
flickten schwätzend an Netzen, und Scharen von Kindern spielten auf der
Straße.

Rasch schritt er hindurch an den offenen Hausfluren vorbei, die ihn
anhauchten mit ihrem Atem von Fischgeruch, Arbeitsschweiß und ärmlichem
Alltag, über Plätze hin, wo an den Ecken die Waffelbäcker ihre Stände
aufgeschlagen hatten und ein Brodem von brenzlichem Schmalzdampf bis in die
schmalen Gassen zog.

Die ganze Trostlosigkeit der holländischen Hafenstadt mit dem sauber
gewaschenen Pflaster und den unsagbar schmutzigen Kanälen, den wortkargen
Menschen, dem fahlweißen Netzwerk der Schiebefenster an den engbrüstigen
Häuserfassaden, den engen Käse- und Heringsläden mit ihren schwelenden
Petroleumlichtern und den giebligen rotschwärzlichen Dächern, legte sich
ihm auf die Brust.

Einen Augenblick sehnte er sich fast aus diesem Amsterdam mit seiner
finsteren Abkehr von Heiterkeit zurück in die lichteren Städte, die er von
früher kannte und in denen er gelebt hatte. Das Dasein in ihnen schien ihm
mit einemmal wieder begehrenswert, -- wie alles, was in der Vergangenheit
liegt, schöner und besser erscheint als die Gegenwart, -- doch die letzten,
häßlichen Erinnerungen, die er von ihnen mitgebracht hatte, die Eindrücke
äußern und innern Verfalls und des unaufhaltsamen Hinwelkens erstickten
sofort das leise erwachende Heimweh.

Um seinen Weg abzukürzen, passierte er eine eiserne Brücke, die über eine
Gracht in die feinen Stadtviertel führte, und durchquerte eine in Licht
getauchte, dicht belebte Straße mit prunkvollen Schaufenstern, um ein paar
Schritte später, als habe die Stadt blitzschnell ihr Antlitz verändert,
wieder in einer stockfinstern Gasse zu stehen: Die alte Amsterdamer »Neß«,
die berüchtigte Dirnen- und Zuhälterstraße, vor Jahren niedergerissen, war
hier wie eine scheußliche Krankheit, die plötzlich von neuem hervorbricht,
in einem andern Stadtteil wieder auferstanden mit einem ähnlichen, nicht
mehr so wilden und rohen, aber weit furchtbareren Gesicht.

Was Paris, London, die Städte Belgiens und Rußlands an Existenzen
ausspieen, die, auf kopfloser Flucht vor den losbrechenden Revolutionen
ihre Heimat mit dem erstbesten Zug verlassen hatten, traf hier in diesen
»vornehmen« Lokalen zusammen.

Portiers mit langen blauen Röcken, Dreispitze auf dem Kopf und Stäbe mit
Messingknäufen in der Hand, rissen stumm wie Automaten die gepolsterten
Eingangstüren auf und schlugen sie wieder zu, als Hauberrisser
vorüberschritt, sodaß jedesmal ein greller, blendender Schein auf die Gasse
fiel und eine Sekunde lang wie aus einer unterirdischen Kehle heraus ein
wüster Schrei von Negermusik, Cymbalbrausen, oder wahnwitzig aufheulenden
Zigeunergeigen die Luft zerriß.

Oben, in den ersten und zweiten Stockwerken einzelner Häuser, herrschte
eine andere Art Leben -- ein lautloses, flüsterndes, katzenhaft lauerndes
hinter roten Gardinen. Kurzes, schnelles Fingertrommeln an den Scheiben, da
und dort gedämpfte Rufe, hastig abgerissen, in allen Sprachen der Welt und
dennoch nicht mißzuverstehen, -- ein Oberleib in weißer Nachtjacke, der
Kopf unsichtbar in der Finsternis, wie abgehauen von einem Rumpf mit
winkenden Armen, -- dann wieder: offene, pechschwarze Fenster, leichenhaft
still, als wohne in den Zimmern dahinter der Tod.

Das Eckhaus, das die lange Gasse abschloß, schien verhältnismäßig harmlosen
Charakters zu sein; -- ein Gemisch aus Tingeltangel und Restaurant, nach
den Zetteln zu schließen, die an den Mauern klebten.

Hauberrisser trat ein.

Ein menschenüberfüllter Saal mit runden, gelbgedeckten Tischen, an denen
gegessen und getrunken wurde.

Im Hintergrund ein erhöhtes Podium mit einem Halbkreis von etwa zwölf
Chansonetten und Komikern, die auf Stühlen saßen und warteten, bis ihre
Nummer daran kam.

Ein alter Mann mit kugelförmigem Bauch, aufgeklebten Glotzaugen, weißem
Kehlbart, die unglaublich dünnen Beine in grünen Froschtrikots mit
Schwimmhäuten, saß zehenwippend neben einer französischen Coupletsängerin
im Incroyablekostüm und unterhielt sich flüsternd mit ihr über anscheinend
sehr wichtige Dinge, während das Publikum verständnislos den in deutscher
Sprache gehaltenen Vortrag eines als polnischer Jude verkleideten
Charakterdarstellers in Kaftan und hohen Stiefeln über sich ergehen ließ,
der, eine kleine Glasspritze, wie sie in Bandagistenläden feil sind -- für
Ohrenleidende -- in der Hand hielt und dazu, nach jeder Strophe einen
grotesken »Deigestanz« einschaltend, durch die Nase sang:

   »Jach ordiniier
   vün draj bis vier
   und wohn' im zweinten Stock;
   als Spezialist
   berihmt sehr ist
   der Doktor Feiglstock.«

                   *       *       *       *       *

Hauberrisser sah sich nach einem noch freien Platz um; überall war die
Menge -- anscheinend zumeist Einheimische bürgerlichen Mittelstandes, --
dicht gedrängt; nur an einem Tisch in der Mitte lehnten auffallenderweise
noch ein paar leere Stühle. Drei wohlbeleibte, gereifte Frauen und eine
alte, strengblickende mit Adlernase und Hornbrille saßen, emsig Strümpfe
strickend, um eine mit buntwollener Gockelhaube bedeckte Kaffeekanne herum
wie in einer Insel häuslichen Friedens.

Ein freundliches Nicken der vier Damen gestattete ihm, sich zu setzen.

Im ersten Augenblick hatte er geglaubt, es sei eine Mutter mit ihren
verwitweten Töchtern, aber, wie er jetzt sah, konnten sie kaum verwandt
sein. Dem Typus nach waren die drei jüngern, wenn auch einander gänzlich
unähnlich -- alle blond, fett, etwa fünfundvierzig Jahre alt und von
kuhartiger Behäbigkeit -- Holländerinnen, während die weißhaarige Matrone
offenbar aus dem Süden stammte.

Schmunzelnd brachte ihm der Kellner das Beefsteak; ringsum die Leute an den
Tischen grinsten, sahen herüber, tauschten halblaute Bemerkungen, was hatte
das alles zu bedeuten? Hauberrisser konnte nicht klug daraus werden; er
musterte heimlich die vier Frauen, nein, unmöglich, -- sie waren die
Spießbürgerlichkeit selbst.

Schon das gesetzte Alter verbürgte ihre Ehrbarkeit.

Oben auf dem Podium hatte soeben ein sehniger Rotbart mit
sternenbannergeschmücktem Zylinderhut, enganliegenden, blauweißgestreiften
Hosen, an der grüngelb karrierten Weste eine Weckeruhr und in der Tasche
eine erwürgte Ente -- seinem Kollegen, dem greisen Frosch, unter den
gellenden Klängen des Yankeedoodle den Schädel gespalten, und ein
Rotterdamer Lumpensammlerehepaar sang »met pianobegeleiding« das alte
schwermütige Lied von der gestorbenen »Zandstraat«:

   »Zeg Rooie, wat zal jij verschrikken
   Als jij's thuis gevaren ben:
   Dan zal je zien en ondervinden
   Dat jij de Polder nie meer ken.
   De heele keet wordt afgebroken,
   De heeren krijgen nou d'r zin.
   De meides motten uit d'r zaakies
   De burgemeester trekt er in.«

Ergriffen, als handle es sich um einen protestantischen Choral, -- die
Augen der drei fetten Holländerinnen glänzten tränenfeucht, -- brummte das
Publikum mit:

   »Ze gaan de Zandstraat netjes maken
   't Wordt 'n kermenadebuurt
   De huisies en de stille knippies
   Die zijn al an de Raad verhuurt.
   Bij Nielsen ken je nie meer dansen
   Bij Charley zijn geen meisies meer.
   En moeke Bet draag al'n hoedje
   Die wordt nu zuster in den Heer.«

                   *       *       *       *       *

Grell, wie die Arabesken in einem Kaleidoskop, lösten die Nummern des
Programms einander ab, ohne Pause, kunterbunt zusammengestellt:
pudellockige englische Babygirls von schreckenerregender Unschuld, Apachen
mit rotwollenen Shawls, eine syrische Bauchtänzerin, gefüllt mit wild
wogenden Eingeweiden, Glockenimitatoren und bayrische melodisch rülpsende
Schnadahüpfler.

Eine fast narkotische Nervenberuhigung ging von diesem Mischmasch von
Sinnlosigkeiten aus, als hafte ihnen etwas an von der seltsamen
Zauberkraft, die einem kindischen Spielzeug innewohnt und oft ein besseres
Heilmittel ist für ein vom Leben zermürbtes Herz, als das erhabenste
Kunstwerk.

Hauberrisser verging die Zeit, er merkte es kaum, und als eine
Schlußapotheose die Vorstellung krönte und die Artistentruppe mit
entfalteten Bannern aller Völker der Erde -- vermutlich ein Symbol für den
glücklich wiederhergestellten Weltfrieden -- abzog, voran ein
kakewalktanzender Neger mit dem üblichen:

   Oh Susy Anna
   Oh don't cry for me
   I'm goin' to Loosiana
   My true love for to see -- -- --

konnte er sich nicht genug wundern, daß er das Verschwinden der zahlreichen
Zuschauer nicht gemerkt hatte; der Saal war beinahe leer.

Auch seine vier Tischnachbarinnen hatten sich lautlos empfohlen.

Statt dessen lag als zartes Angebinde auf seinem Weinglas: eine rosa
Visitenkarte mit zwei schnäbelnden Tauben und der Aufschrift

   MADAME GITEL SCHLAMP
   die ganze Nacht geöffnet

   Waterloo Plein Nr. 21

   15 Damen

   Im eignen Palais

Also doch! -- -- -- --

»Wünscht der Herr ein verlängertes Eintrittsbillet?« fragte der Kellner
leise, vertauschte flink das gelbe Tischtuch mit einer weißen Damastdecke,
stellte einen Strauß Tulpen in die Mitte und legte silberne Bestecke auf.

Ein ungeheurer Ventilator fing an zu surren und saugte die plebejische Luft
empor.

Livrierte Diener zerstäubten Parfüms, ein roter Sammetläufer rollte seine
Zunge auf über dem Boden bis über das Podium, Klubsessel aus grauem Leder
wurden hereingeschoben.

Man hörte das Vorfahren von Wagen und Automobilen auf der Straße.

Damen in Abendtoiletten von ausgesuchter Eleganz, Herren im Frack strömten
herein: dieselbe internationale, scheinbar feinste Gesellschaft, die
Hauberrisser abends sich in den Zirkus hatte drängen sehen.

In wenigen Minuten waren die Räume voll bis zum letzten Platz.

Leises Klirren von Lorgnonketten, halblautes Lachen, Knistern seidner
Röcke, Duft von Damenhandschuhen und Tuberosen, blitzende Perlenrivièren
und Brillanttropfen, Zischen von Champagnerflaschen, das spröde Rascheln
der Eisstücke in den silbernen Kühlern, wütendes Kläffen eines
Schoßhündchens, weiße, diskret gepuderte Frauenschultern, Schaumwellen von
Spitzen, süßlich scharfer Geruch von kaukasischen Zigaretten; -- das Bild,
das der Saal soeben noch geboten, war nicht mehr zu erkennen.

Wieder saßen an Hauberrissers Tisch vier Damen, -- eine ältere mit goldner
Lorgnette und drei jüngere, -- eine schöner als die andere: Russinnen mit
schmalen, nervösen Händen, blondem Haar und dunklen Augen, die niemals
zwinkerten, den Blicken der Herren nicht auswichen und sie dennoch nicht zu
sehen schienen.

Ein junger Engländer, dessen Frack von weitem den ersten Schneider verriet,
kam vorüber, blieb eine Weile stehen, wechselte ein paar verbindliche Worte
mit ihnen -- ein feines, vornehmes, todmüdes Gesicht; der linke Ärmel, leer
bis zur Achsel, baumelte schlaff herab und ließ seine schmächtige hohe
Gestalt noch schmaler erscheinen; das Monokel wie festgewachsen in der
tiefen Knochenhöhle unter der Braue.

Lauter Menschen ringsum, die der Spießer aller Völker instinktiv haßt wie
der krummbeinige Dorfköter den hochgezogenen Rassehund, -- Geschöpfe, die
den breiten Massen immer ein Rätsel bleiben, ihr ein Gegenstand der
Verachtung und des Neides zugleich sind, -- Wesen, die in Blut waten
können, ohne mit der Wimper zu zucken, und ohnmächtig werden, wenn eine
Gabel auf dem Teller kreischt, -- die wegen eines schiefen Blickes zur
Pistole greifen und ruhig lächeln, wenn man sie beim Falschspielen ertappt,
-- die ein Laster alltäglich finden, vor dem der »Bürger« sich bekreuzigt,
und lieber drei Tage dursten, als aus einem Glas trinken, das ein anderer
benutzt hat, -- die an den lieben Gott glauben wie an etwas
Selbstverständliches, aber sich von ihm absondern, weil sie ihn für
uninteressant halten, -- die für hohl gelten bei solchen, die voll
Plumpheit als Lack und Tünche zu durchschauen glauben, was in Wirklichkeit
seit Geschlechtern zum wahren Wesenskern geworden ist, und doch weder hohl
sind, noch das Gegenteil, -- Geschöpfe, die keine Seele mehr haben und
deshalb der Inbegriff des Verabscheuungswürdigen sind für die Menge, die
nie eine Seele haben wird, -- Aristokraten, die lieber sterben als kriechen
und mit unfehlbarem Spürsinn den Proleten in einem Menschen wittern, ihn
tiefer stellen als ein Tier und unbegreiflicherweise vor ihm
zusammenknicken, wenn er zufällig auf dem Thron sitzt, -- Mächtige, die
hilfloser werden können als ein Kind, wenn das Schicksal nur die Stirne
runzelt, -- -- Werkzeuge des Teufels und sein Spielball zugleich. -- -- --
--

Ein unsichtbares Orchester hatte den Hochzeitsmarsch aus Lohengrin beendet.

Eine Glocke schrillte.

Der Saal wurde still.

An der Wand über der Bühne leuchteten in winzigen Glühbirnen Buchstaben
auf:

   ! La Force d'Imagination !

und ein französisch friseurhaft aussehender Herr in Smoking und weißen
Handschuhen, mit schütterem Haar und Spitzbart, schlaffen, gelben
Hängebacken, eine kleine rote Rosette im Knopfloch und tiefe Schatten um
die Augen, trat aus dem Vorhang heraus, verbeugte sich und setzte sich
stumm auf einen Sessel inmitten des Podiums.

Hauberrisser nahm an, es werde irgendein mehr oder weniger zweideutiger
Vortrag, wie man sie in Kabaretts zu hören bekommt, folgen, und blickte
ärgerlich weg, als der Darsteller -- ob aus Verlegenheit, oder sollte ein
ordinärer Witz daraus werden? -- an seiner Toilette zu nesteln begann.

Eine Minute verging, und noch immer herrschte lautlose Stille im Saal und
auf der Bühne.

Dann setzten gedämpft zwei Geigen im Orchester ein, und wie aus weiter
Ferne blies schmachtend ein Waldhorn: »Behüt' dich Gott, es wär zu schön
gewesen, behüt' dich Gott, es hat nicht sollen sein.«

Erstaunt nahm Hauberrisser seinen Operngucker und schaute auf die Bühne.

Vor Entsetzen fiel ihm beinahe das Glas aus der Hand. Was war das! War er
plötzlich wahnsinnig geworden? Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirne --
kein Zweifel, ja, er war wahnsinnig geworden! Unmöglich konnte das, was er
sah, in Wirklichkeit auf dem Podium -- hier vor hunderten von Zuschauern,
Damen und Herren der noch vor Monaten vornehmsten Kreise -- stattfinden.

Vielleicht in einer Hafenschenke am Nieuwe Dyk oder als medizinisches
Kuriosum in einem Hörsaal, aber hier?!

Oder träumte er? War ein Wunder geschehen und der Zeiger der Zeit in die
Epoche Ludwigs XV. zurückgesprungen? -- -- --

Der Darsteller hielt beide Hände fest auf die Augen gepreßt wie jemand, der
sich innerlich mit Aufgebot seiner ganzen Phantasie irgend etwas so lebhaft
wie möglich vorzustellen wünscht -- -- --, erhob sich dann nach einigen
Minuten. Verbeugte sich hastig. Und verschwand.

Hauberrisser warf einen schnellen Blick auf die Damen an seinem Tisch und
die Gesellschaft in der Nähe. Niemand verzog auch nur eine Miene.

Nur eine russische Fürstin leistete sich die Ungeniertheit, zu
applaudieren.

Als sei überhaupt nichts geschehen, ging man heiter plaudernd zur
Tagesordnung über.

Hauberrisser hatte die Empfindung, als säßen mit einemmal lauter Gespenster
um ihn herum; er fuhr mit den Fingern über das Tischtuch und sog den mit
Moschus durchtränkten Blütenduft ein: -- das Gefühl der Unwirklichkeit
steigerte sich in ihm nur noch bis zum tiefsten Grauen.

Abermals schrillte die Glocke und der Saal wurde dunkel.

Hauberrisser benützte die Gelegenheit und ging.

Draußen auf der Gasse schämte er sich beinah seiner Gemütsbewegung.

Was war, im Grunde genommen, eigentlich so Schreckliches geschehen?, fragte
er sich. Nichts, was nicht weit schlimmer in ähnlicher Art nach längeren
Zeitläufen in der Geschichte der Menschheit immer wiedergekehrt wäre: das
Wegwerfen einer Maske, die nie etwas anderes bedeckt hatte als bewußte oder
unbewußte Heuchelei, sich als Tugend gebärdende Temperamentlosigkeit oder
in Mönchsgehirnen ausgebrütete asketische Ungeheuerlichkeiten! -- Ein
krankhaftes Gebilde, so kolossal, daß es schließlich einem zum Himmel
ragenden Tempel geglichen, hatte ein paar Jahrhunderte lang Kultur
vorgetäuscht; jetzt fiel es zusammen und legte den Moder bloß. War das
Aufbrechen eines Geschwüres denn gräßlicher und nicht weit weniger
furchtbar als sein beständiges Wachsen? Nur Kinder und Narren, die nicht
wissen, daß die bunten Farben des Herbstes die Farben der Verwesung sind,
jammern, wenn statt des erwarteten Frühlings der tödliche November kommt.

So sehr sich Hauberrisser auch bemühte, sein Gleichgewicht wiederzufinden,
indem er kühles Erwägen an Stelle des vorschnellen Gefühlsurteils setzte:
das Grauen wich den Argumenten nicht -- blieb hartnäckig bestehen, so, wie
der Stein, weil sein innerstes Leben die Schwere ist, sich nicht durch
Worte verrücken läßt.

Ganz allmählich, als flüstere es ihm eine Stimme in zögernden Sätzen
silbenweise ins Ohr, wurde ihm nach und nach klar und verständlich, daß
dieses Grauen nichts anderes war als wiederum dieselbe dumpfe, drosselnde
Furcht vor etwas Unbestimmtem, die er schon so lange kannte -- ein
plötzliches Gewahrwerden unaufhaltsamen Hinabsausens der Menschheit in die
Verderbnis.

Daß heute einem Publikum als selbstverständliches Schauspiel erscheinen
konnte, was gestern noch als Gipfel der Unmöglichkeit gegolten hätte, war
das Atembeklemmende dabei, -- dieses: »in rasenden Galopp verfallen« und
»wie vor einem am Wege auftauchenden Gespenst scheu gewordene Ausbrechen«
der sonst so geduldig schreitenden Zeit in die Dunkelheit geistiger Nacht
hinein.

Hauberrisser fühlte, daß er wieder einen Schritt weiter hinabgeglitten war
in jenes unheimliche Reich, in dem die Dinge der Welt um so schneller sich
in wesenlosen Schein schemenhafter Unwirklichkeit auflösen, je krasser sie
sind.

Er betrat eins der beiden schmalen Seitengäßchen, die links und rechts das
Tingeltangel umgaben, und schritt gleich darauf an einem Laubengang aus
Glas vorüber, der ihm merkwürdig bekannt vorkam.

Als er um die Ecke bog, stand er vor dem mit Rollblech verschlossenen Laden
Chidher Grün's; das Lokal, das er soeben verlassen, war nur der rückwärtige
Teil des sonderbaren, turmähnlichen Hauses in der Jodenbreestraat mit dem
flachen Dach, das schon nachmittags seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Er blickte empor zu den beiden trüben Fenstern, -- auch hier wieder der
befremdende Eindruck von Unwirklichkeit: das ganze Gebäude glich täuschend
in der Dunkelheit einem ungeheuern menschlichen Schädel, der mit den Zähnen
des Oberkiefers auf dem Pflaster ruhte.

Unwillkürlich verglich er auf dem Wege zu seiner Wohnung das phantastische
Durcheinander im Innern dieses Schädels aus Mauerwerk mit den vielerlei
krausen Gedanken in dem Kopfe eines Menschen, und Mutmaßungen, als könnten
hinter der finstern steinernen Stirne da oben Rätsel schlafen, von denen
Amsterdam sich nichts träumen ließ, verdichteten sich in seiner Brust zu
einem beklemmenden Vorgefühl gefährlicher, an der Schwelle des Geschickes
lauernder Ereignisse.

War die Vision des Gesichtes aus grünem Erz im Laden des Vexiersalons
wirklich nur ein Traum gewesen?, überlegte er.

Die regungslose Gestalt des alten Juden vor dem Pulte nahm plötzlich in
seiner Erinnerung alle Merkmale einer schattenhaften Luftspiegelung an, --
schien weit eher einem Traum entsprungen zu sein, als das erzene Gesicht.

Hatte der Mann tatsächlich mit den Füßen auf dem Boden gestanden? Je
schärfer er sich das Bild zu vergegenwärtigen suchte, um so mehr zweifelte
er, daß es der Fall gewesen war.

Er wußte mit einemmal haargenau, daß er die Schubladen des Pultes durch den
Kaftan hindurch deutlich gesehen hatte.

Ein jähes Mißtrauen gegenüber seinen Sinnen und der anscheinend so fest
begründeten Stofflichkeit der Außenwelt flammte, tief aus der Seele
hervorbrechend wie ein blitzartiges Licht, einen Augenblick in ihm auf, und
gleichsam als Schlüssel zu den Geheimnissen derartiger unerklärlicher
Vorgänge, fiel ihm ein, was er schon als Kind gelernt: daß das Licht
gewisser, unfaßbar weit entfernter Sterne in der Milchstraße am Himmel
siebzigtausend Jahre braucht, um zur Erde zu gelangen, und man daher (gäbe
es so scharfe Fernrohre, um jene Weltenkörper dicht vor's Auge zu rücken)
dort oben nur Begebenheiten schauen könnte, so wirklich und wahrhaftig, als
vollzögen sie sich soeben, die seit siebzigtausend Jahren bereits in das
Reich der Vergangenheit versunken sind. Es mußte also -- ein Gedanke von
erschütternder Furchtbarkeit! -- in der unendlichen Ausdehnung des
Weltenraumes _jedes_ Geschehen, das einmal geboren worden, ewig als Bild,
aufbewahrt im Licht, bestehen bleiben. »So gibt es also -- wenn auch
außerhalb des Bereiches menschlicher Macht -- eine Möglichkeit,« schloß er,
»Vergangenes zurückzubringen?«

Als hinge die Erscheinung des alten Juden vor dem Pulte mit diesem Gesetze
einer gespenstischen Wiederkunft irgendwie zusammen, gewann sie plötzlich
für ihn ein schreckhaftes Leben.

Er fühlte das Phantom gleichsam in Armesnähe neben sich hergehen,
unsichtbar für die äußern Augen und doch weit gegenwärtiger als jener
leuchtende, ferne Stern dort oben in der Milchstraße, den alle Menschen
sehen konnten Nacht für Nacht, und der trotzdem schon seit siebzigtausend
Jahren am Himmel erloschen sein konnte -- --

Vor seiner Wohnung, einem engen, zweifenstrigen, altertümlichen Hause mit
einem Vorgärtchen, blieb er stehen und sperrte das schwere eichene Tor auf.

So deutlich war seine Empfindung geworden als ginge jemand neben ihm, daß
er sich unwillkürlich umblickte, bevor er eintrat.

Er klomm die kaum brustbreite Treppe empor, die, wie fast in allen
holländischen Häusern, steil wie eine Feuerleiter in einer ununterbrochenen
Flucht von ebener Erde bis hinauf unter das Dach lief, und ging in sein
Schlafzimmer.

Ein Raum, schmal und langgezogen, die Decke getäfelt, nur ein Tisch und
vier Stühle in der Mitte; alles andere: Schränke, Kommoden, Waschtisch,
sogar das Bett, eingebaut in die mit gelber Seide bespannten Wände.

Er nahm ein Bad und legte sich schlafen.

Beim Auslöschen des Lichtes fiel sein Blick auf den Tisch, und er sah dort
einen würfelförmigen grünen Karton stehen.

»Aha, das Delphische Orakel aus Papiermaché, das man mir aus dem
Vexiersalon geschickt hat«, legte er sich mit bereits entschwindendem
Bewußtsein zurecht.

Eine Weile später fuhr er halb aus dem Schlummer auf; er glaubte ein
merkwürdiges Geräusch gehört zu haben, als schlüge eine Hand mit kleinen
Stäben auf den Fußboden.

Es mußte jemand im Zimmer sein!

Aber er hatte doch die Haustür fest zugeschlossen! Er erinnerte sich genau.

Vorsichtig tastete er an der Wand hin nach dem Drücker des elektrischen
Lichtes, da berührte ihn etwas, das sich anfühlte wie ein kleines Brett,
mit leisem, schnellem Schlag am Arm. Gleichzeitig hörte er ein Klappen in
der Mauer, und ein leichter Gegenstand rollte über sein Gesicht.

Im nächsten Augenblick blendete ihn die aufleuchtende Glühbirne.

Wieder ertönte das Geräusch der klopfenden Stäbe.

Es kam aus dem Innern der grünen Schachtel auf dem Tisch.

»Der Mechanismus in dem albernen pappendeckelnen Totenkopf wird losgegangen
sein; das ist alles,« brummte Hauberrisser ärgerlich. Dann griff er nach
dem Ding, das ihm übers Gesicht gekollert war und auf seiner Brust lag.

Es war eine zusammengebundene Rolle Schreibpapier, mit engen, verwischten
Schriftzeichen bedeckt, wie er mit halbwachen Augen erkannte.

Er warf sie aus dem Bett hinaus, drehte das Licht ab und schlief wieder
ein.

»Sie muß von irgendwo herabgefallen sein, oder bin ich an ein Klappfach in
der Wand angekommen, in dem sie gelegen hat«, raffte er seine letzten
klaren Gedanken zusammen, dann formten sie sich immer dichter und dichter
zu konfusen Phantasiegebilden, und schließlich stand als Traumgestalt,
wahllos aufgebaut aus den Eindrücken des Tages, ein Zulukaffer vor ihm, auf
dem Kopf eine rotwollene Gockelhaube, die Füße geschmückt mit grünen
Froschzehen, hielt in der Hand die Visitenkarte des Grafen Ciechoñski, und
das schädelhafte Haus in der Jodenbreestraat stand grinsend dabei und kniff
zwinkernd bald das eine, bald das andere Auge zu.

Das ferne bange Heulen einer Schiffssirene im Hafen war das letzte
Überbleibsel aus der Sinnenwelt, das Hauberrisser noch eine kleine Strecke
hinabbegleitete in die Abgründe des Tiefschlafs.




Viertes Kapitel


Baron Pfeill hatte in der Absicht, den Spätnachmittagszug nach Hilversum
noch zu erreichen, wo sein Landhaus »Buitenzorg« lag, die Richtung nach der
Central Spoorweg-Station eingeschlagen und war bereits durch ein Gewimmel
von Zelten und Buden hindurch dem beginnenden abendlichen Kirmesgetriebe
entronnen und in der Nähe der Hafenbrücke angelangt, da verriet ihm der wie
auf ein Zeichen eines Orchesterdirigenten hereinbrechende, ohrenbetäubende
Lärm der hundert Glockenspiele auf den Kirchtürmen, daß es sechs Uhr war
und er die Bahn nicht mehr erreichen konnte.

Rasch entschlossen ging er wieder in die Altstadt zurück.

Es war ihm fast eine Erleichterung, daß er den Zug versäumt hatte und ihm
noch ein paar Stunden Zeit blieben, um eine Angelegenheit in Ordnung zu
bringen, die ihm unablässig im Kopf herumging, seit er Hauberrisser
verlassen hatte.

Vor einem wundervollen, altertümlichen Barockbau aus rötlichen,
weißumrahmten Ziegeln in der düstern Ulmenallee der Heerengracht blieb er
stehen, sah einen Augenblick hinauf zu dem ungeheuren Schiebefenster, das
fast die ganze Höhe und Breite des ersten Stockes einnahm, und zog dann an
dem schweren, bronzenen Türdrücker inmitten des Portals, der zugleich die
Hausglocke bildete.

Es verging eine Ewigkeit, bis ein alter livrierter Diener mit weißen
Strümpfen und maulbeerfarbenen seidenen Kniehosen öffnen kam.

»Ist Herr Doktor Sephardi zu Hause? -- Sie kennen mich doch noch, Jan,
wie?« Baron Pfeill suchte nach einer Visitenkarte. »Bringen Sie, bitte,
diese Karte hinauf und fragen Sie ob --«

»Der gnädige Herr erwartet Sie bereits, Mynheer. Wenn ich bitten darf?« --
Der Alte ging die schmale, mit indischen Teppichen belegte und an den
Wandseiten mit chinesischen Stickereien verkleidete Treppe voraus, die so
steil war, daß er sich an dem gewundenen Messinggeländer halten mußte, um
nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Ein stumpfer, betäubender Geruch nach Sandelholz erfüllte das ganze Haus.

»Erwartet mich? Wieso?« fragte Baron Pfeill erstaunt, da er seit Jahren
Doktor Sephardi nicht mehr gesehen hatte und ihm vor knapp einer halben
Stunde erst der Einfall gekommen war, Sephardi aufzusuchen, um eine
Erinnerung an das Bild des »Ewigen Juden« mit dem olivgrünen Gesicht in
gewissen Einzelheiten festzustellen, die in seinem Gedächtnis einander
seltsam widersprachen und merkwürdigerweise nicht übereinstimmen wollten
mit dem, was er Hauberrisser im Café erzählt hatte.

»Der gnädige Herr hat Ihnen heute vormittag nach dem Haag telegraphiert und
Sie um Ihren Besuch gebeten, Mynheer.«

»Nach dem Haag? Ich wohne doch schon lange wieder in Hilversum. Es ist
lediglich ein Zufall, daß ich heute hergekommen bin.«

»Ich werde den gnädigen Herrn sofort verständigen, daß Sie hier sind,
Mynheer.«

Baron Pfeill setzte sich und wartete.

Bis ins kleinste stand alles genau auf demselben Platze wie damals, als er
zum letztenmal hier gewesen: auf den Sitzen der schweren geschnitzten
Stühle schillernde Samarkandseidenüberwürfe, die beiden überdachten
südniederländischen Sessel neben dem prachtvollen, säulengeschmückten Kamin
mit den goldeingelegten moosgrünen Nephritkacheln, in buntleuchtenden
Farben Ispahanteppiche auf den schwarzweißen Steinquadern des Fußbodens,
die blaßrosa Porzellanstatuen japanischer Prinzessinnen in den Nischen der
Täfelung, ein Wangentisch mit schwarzer Marmorplatte, an den Wänden
Rembrandtsche und andere Meister-Porträts von den Vorfahren Ismael
Sephardis: eingewanderte, vornehme portugiesische Juden, die das Haus im
siebzehnten Jahrhundert von dem berühmten Hendrik de Keyser bauen ließen,
darin gelebt hatten und gestorben waren.

Pfeill verglich die Ähnlichkeit dieser Menschen einer vergangenen Epoche im
Geiste mit den Zügen Doktor Ismael Sephardis.

Es waren dieselben schmalen Schädel, dieselben großen, dunkeln,
mandelförmigen Augen, die gleichen dünnen Lippen und leicht gebogenen
scharfen Nasen, derselbe weltfremde, fast hochmütig verächtlich blickende
Typus der Spaniolen mit den unnatürlich schmalen Füßen und weißen Händen,
der mit den gewöhnlichen Juden der Rasse Gomers, den sogenannten
Aschkenasi, kaum mehr gemein hat als die Religion.

Nirgends auch nur eine Spur der Anpassung an eine anders gewordene Zeit in
diesem, sich durch die Jahrhunderte ewig gleich bleibenden
Gesichtsschnitte.

Eine Minute später wurde Baron Pfeill von dem eintretenden Doktor Sephardi
begrüßt und einer jungen, blonden, auffallend schönen Dame von etwa
sechsundzwanzig Jahren vorgestellt.

»Haben Sie mir wirklich telegraphiert, lieber Doktor?« fragte Pfeill, »Jan,
sagte mir --«

»Baron Pfeill hat so feinfühlige Nerven,« erklärte Sephardi lächelnd der
jungen Dame, »daß es genügt, einen Wunsch zu denken, und schon erfüllt er
ihn. Er ist gekommen, ohne meine Depesche erhalten zu haben. -- Fräulein
van Druysen ist nämlich die Tochter eines verstorbenen Freundes meines
Vaters,« er wandte sich an Pfeill, »und von Antwerpen hergereist, um mich
in einer Angelegenheit um Rat zu fragen, in der aber nur Sie Bescheid
wissen. Es betrifft ein Bild, -- oder besser gesagt, könnte damit
zusammenhängen, -- von dem Sie mir einmal erzählten, Sie hätten es in
Leyden in der Oudheden-Sammlung gesehen, und es stelle den Ahasver dar.«

Pfeill sah erstaunt auf. »Haben Sie mir deshalb telegraphiert?«

»Ja. Wir waren gestern in Leyden, um das Bild zu besichtigen, erfuhren
jedoch, daß niemals ein ähnliches Gemälde in der Sammlung existiert habe.
Direktor Holwerda, den ich gut kenne, versicherte mir, es hingen überhaupt
keine Bilder dort, da das Museum nur ägyptische Altertümer und -- -- --«

»Erlauben Sie, daß ich dem Herrn erzähle, warum mich die Sache so
interessiert?« mischte sich die junge Dame lebhaft in das Gespräch. »Ich
möchte Sie nicht mit einer breiten Schilderung meiner Familienverhältnisse
langweilen, Baron, ich will daher nur kurz sagen: in das Leben meines
verstorbenen Vaters, den ich unendlich geliebt habe, spielte ein Mensch,
oder -- es klingt vielleicht sonderbar -- eine 'Erscheinung' hinein, die
oft monatelang sein ganzes Denken erfüllte.

Ich war damals noch zu jung -- vielleicht auch zu lebenslustig -- um das
Innenleben meines Vaters zu begreifen, (meine Mutter war schon lange tot)
aber jetzt ist plötzlich alles von damals wieder in mir wach geworden, und
eine beständige Unruhe quält mich, Dingen nachzugehen, die ich längst hätte
verstehen lernen sollen.

Sie werden denken, ich sei überspannt, wenn ich Ihnen sage, ich möchte
lieber heute als morgen aufhören zu leben. -- Der blasierteste Genußmensch
kann, glaube ich, dem Selbstmord nicht näher sein als ich;« -- sie war mit
einemmal ganz verwirrt geworden und faßte sich erst, als sie sah, daß
Pfeill ihr mit tiefem Ernst zuhörte und die Stimmung, in der sie sich
befand, sehr rasch zu verstehen schien. -- »Ja, und das mit dem Bild, oder
der 'Erscheinung': welche Bewandtnis es damit hatte? Ich weiß so gut wie
nichts darüber. Ich weiß nur, mein Vater sagte oft, wenn ich -- damals noch
ein Kind -- ihn über Religion oder über den lieben Gott fragte, daß eine
Zeit nahe bevorstünde, wo der Menschheit die letzten Stützen fortgerissen
würden und ein geistiger Sturmwind alles wegfegen würde, was jemals Hände
aufgebaut hätten.

Nur jene seien gefeit gegen den Untergang, die -- das waren genau seine
Worte -- die das erzgrüne Antlitz des Vorläufers, des Urmenschen, der den
Tod nicht schmecken wird, in sich schauen können.

Als ich dann jedesmal neugierig in ihn drang und wissen wollte, wie dieser
Vorläufer aussehe, ob er ein lebender Mensch sei oder ein Gespenst oder der
liebe Gott selbst, und woran ich ihn erkennen könne, wenn ich ihm auf dem
Wege zur Schule gelegentlich begegnen sollte, sagte er immer: Sei ruhig,
mein Kind, und grüble nicht. Er ist kein Gespenst, und wenn er auch einmal
zu dir kommen wird wie ein Gespenst, so fürchte dich nicht, er ist der
einzige _Mensch_ auf Erden, der _kein_ Gespenst ist. Auf der Stirne trägt
er eine schwarze Binde, darunter ist das Zeichen des ewigen Lebens
_verborgen_, denn wer das Zeichen des Lebens offen trägt und nicht tief
innen verborgen, der ist gebrandmarkt wie Kain. Und schritte er auch im
Glanz einher wie ein wandelndes Licht: er wäre ein Gespenst und ein Raub
der Gespenster. Ob er Gott ist, das kann ich dir nicht sagen; du würdest's
nicht begreifen. Begegnen kannst du ihm überall, am wahrscheinlichsten
dann, wenn du es am wenigsten erwartest. Nur reif mußt du dazu sein. Auch
Sankt Hubertus hat den fahlen Hirsch mitten im Getümmel der Jagd erblickt,
und als er ihn mit der Armbrust töten wollte. --«

»Als dann viele Jahre später« -- fuhr Fräulein van Druysen nach einer Pause
fort -- »der grauenhafte Krieg kam und das Christentum sich so unsagbar
blamierte --«

»Verzeihen Sie: die Christenheit! Das ist das Gegenteil,« unterbrach Baron
Pfeill lächelnd.

»Ja, natürlich. Das meine ich: die Christenheit; -- da dachte ich, mein
Vater hätte prophetisch die Zukunft geschaut und auf das große Blutbad
angespielt --«

»Sicher hat er den Krieg nicht gemeint,« fiel Sephardi ruhig ein, »äußere
Geschehnisse wie ein Krieg, und mögen sie noch so entsetzlich sein,
verhallen wie harmloser Donner an den Ohren _aller_ derer, die den Blitz
nicht gesehen haben, und vor deren Füßen es nicht eingeschlagen hat; sie
fühlen bloß das 'Gott sei Dank, mich hat's nicht getroffen'.

Der Krieg hat die Menschen in zwei Teile gerissen, die einander nie mehr
verstehen können, -- die einen haben in die Hölle geblickt und tragen das
Schreckbild stumm in der Brust ihr Lebtag lang, bei den andern ist es kaum
mehr als Druckerschwärze. Zu diesen gehöre auch ich.

Ich habe mich genau geprüft und mit Entsetzen an mir erkannt und sage es
ohne Scheu offen heraus: das Leid der Abermillionen ist spurlos an mir
abgeglitten. Warum lügen?! Wenn andere von sich das Gegenteil sagen und sie
sprechen die Wahrheit, will ich gern und demütig vor ihnen den Hut ziehen;
aber ich kann ihnen nicht glauben; es ist mir unmöglich zu denken, daß ich
so viel tausendmal verworfener bin als sie. -- Aber entschuldigen Sie,
gnädiges Fräulein, ich habe Sie unterbrochen.«

»Er ist ein Mensch mit einer aufrechten Seele, der sich der Blöße seines
Herzens nicht schämt,« dachte Baron Pfeill und warf einen Blick voll Freude
in das dunkelhäutige stolze Gelehrtengesicht Sephardis.

»Da glaubte ich, mein Vater hätte auf den Krieg angespielt,« nahm die junge
Dame ihre Erzählung wieder auf, »aber allmählich fühlte ich, was heute
jeder spürt, der nicht von Stein ist, -- daß eine würgende Schwüle aus dem
Erdboden steigt, die mit dem Tod nicht verwandt ist, und diese Schwüle,
dieses Nicht-leben-und-nicht-sterben-Können, wird mein Vater, denke ich,
mit den Worten gemeint haben: Die letzten Stützen werden der Menschheit
fortgerissen.

Als ich nun Doktor Sephardi von dem erzgrünen Gesicht des Urmenschen, wie
ihn mein Vater nannte, erzählte, und ihn, da er doch in solchen Gebieten
ein großer Forscher ist, bat, mir zu sagen, was ich von all dem halten
solle, und ob nicht vielleicht mehr dahinter stecken könne als eine
Wahnvorstellung meines Vaters, erinnerte er sich, von Ihnen, Baron, gehört
zu haben, Sie kennten ein Porträt -- -- --«

»das leider nicht existiert,« ergänzte Pfeill. »Ich habe Doktor Sephardi
von diesem Bild erzählt, alles das stimmt; auch daß ich -- allerdings seit
ungefähr einer Stunde nicht mehr -- fest überzeugt war, das Bild vor
Jahren, -- wie ich annahm, in Leyden, -- gesehen zu haben, stimmt.

Jetzt stimmt für mich nur noch das eine: ich habe es sicher niemals im
Leben gesehen. Weder in Leyden, noch irgendwo anders.

Heute Nachmittag sprach ich noch mit einem Freund über das Bild, sah es in
der Erinnerung in einem Rahmen an einer Wand hängen; dann, als ich zum
Bahnhof ging, um nach Hause zu fahren, erkannte ich plötzlich, daß dieser
Rahmen nur scheinbar, so wie hinzuphantasiert, das Bildnis des olivgrünen
Gesichtes in meinem Gedächtnis umgab, und ich ging sofort in die
Heerengracht zu Doktor Sephardi, um mich zu überzeugen, ob ich ihm damals
vor Jahren wirklich von dem Porträt erzählte, oder auch das am Ende nur
geträumt hätte.

Wie das Bild in meinen Kopf gekommen sein mag, ist mir ein unlösbares
Rätsel. Es hat mich früher oft bis in den Schlaf verfolgt; ob ich auch
geträumt habe, es hinge in Leyden in einer Privatsammlung, und die
Erinnerung an diesen Traum dann für ein Begebnis der Wirklichkeit gehalten
habe?

Noch verwickelter wird die Sache für mich dadurch, daß, während Sie,
gnädiges Fräulein, vorhin von Ihrem Vater erzählten, mir das Gesicht wieder
mit geradezu betäubender Deutlichkeit erschien, -- nur anders, lebendig,
beweglich, mit bebenden Lippen, als wolle es sprechen, nicht mehr tot und
starr wie ein Gemälde -- --.«

Er brach plötzlich seine Rede ab und schien nach innen zu lauschen, so als
ob das Bild ihm etwas zuflüstere.

Auch Sephardi und die junge Dame schwiegen betroffen.

Von der Heerengracht herauf ertönte klangvoll das Spiel einer der großen
Orgeln, wie sie in Amsterdam auf ponybespannten Wagen abends zuweilen
langsam durch die Straßen fahren.

»Ich kann nur annehmen,« begann Sephardi nach einer Weile, »daß es sich in
diesem Falle bei Ihnen um einen sogenannten hypnoiden Zustand handelt, --
daß Sie einmal im Tiefschlaf, also ohne bewußte Wahrnehmung, irgend etwas
erlebt haben, das sich dann später unter der Maske eines Porträts in die
Begebenheiten des Tages einschlich und mit diesen zu scheinbarer
Wirklichkeit verwuchs. -- Sie müssen nicht fürchten, daß so etwas krankhaft
oder abnormal wäre,« fügte er hinzu, als er sah, daß Pfeill eine abwehrende
Handbewegung machte, »solche Dinge kommen weit häufiger vor, als man
glaubt, und wenn man ihren wahren Ursprung aufdecken könnte: -- ich bin
überzeugt, wie Schuppen würde es uns von den Augen fallen und wir wären mit
einem Schlage eines zweiten fortlaufenden Lebens teilhaftig, das wir in
unserem jetzigen Zustand im Tiefschlaf führen, ohne es zu wissen, weil es
jenseits unseres körperlichen Daseins liegt und während unseres
Zurückwanderns über die Brücke des Traumes, die Tag und Nacht verbindet,
vergessen wird. -- Was die Ekstatiker der christlichen Mystik von der
'Wiedergeburt' schreiben, ohne die es unmöglich sei, 'das Reich Gottes zu
schauen', scheint mir nichts anderes zu sein, als ein Aufwachen des bis
dahin wie tot gewesenen Ichs in einem Reich, das unabhängig von den äußeren
Sinnen existiert, -- im 'Paradies', kurz und gut.« -- Er holte ein Buch aus
einem Spind und deutete auf ein Bild darin. »Der Sinn des Märchens vom
Dornröschen hat sicherlich darauf Bezug, und ich wüßte nicht, was diese
alte, alchemistische illustrierte Darstellung der 'Wiedergeburt' hier: ein
nackter Mensch, der aus einem Sarge aufsteht und daneben ein Totenschädel
mit einer brennenden Kerze auf dem Scheitel, anders bedeuten sollte? --
Übrigens, da wir gerade von christlichen Ekstatikern sprechen: Fräulein van
Druysen und ich gehen heute Abend zu einer solchen Versammlung, die am Zee
Dyk stattfindet. Kurioserweise spukt auch dort das olivgrüne Gesicht.«

»Am Zee Dyk?« jubelte Pfeill, »das ist doch das Verbrecherviertel! Was hat
man Ihnen denn da wieder aufgebunden?«

»Es ist nicht mehr so schlimm wie früher, höre ich, nur eine einzige,
allerdings sehr üble Matrosenschenke 'Zum Prins van Oranje' ist noch
vorhanden; sonst leben nur harmlose, arme Handwerker in der Gegend.«

»Auch ein greiser Sonderling mit seiner Schwester, ein verrückter
Schmetterlingssammler namens Swammerdam, der sich in freien Stunden
einbildet, der König Salomo zu sein. Wir sind bei ihm zu Gast geladen,«
fiel die junge Dame fröhlich ein; »meine Tante, ein Fräulein de Bourignon,
verkehrt täglich dort. -- Nun -- was sagen Sie jetzt, was für vornehme
Beziehungen ich habe? -- Um Irrtümern vorzubeugen: sie ist nämlich eine
ehrwürdige Stiftsdame aus dem Béginenkloster und von überschäumender
Frömmigkeit.«

»Was?! Der alte Jan Swammerdam lebt noch?« rief Baron Pfeill lachend, »der
muß doch schon neunzig Jahre alt sein? Hat er immer noch seine
zweifingerdicken Gummisohlen?«

»Sie kennen ihn? Was ist das eigentlich für ein Mensch?« fragte Fräulein
van Druysen lustig erstaunt. »Ist er wirklich ein Prophet, wie meine Tante
behauptet? Bitte, erzählen Sie mir doch von ihm.«

»Mit Vergnügen, wenn's Ihnen Spaß macht, mein Fräulein. Nur muß ich mich
ein wenig eilen und quasi jetzt schon Abschied von Ihnen nehmen, sonst
versäume ich abermals meinen Zug. Jedenfalls Adieu im Voraus. Aber Sie
dürfen nichts Unheimliches oder dergleichen erwarten -- die Sache ist
lediglich komisch.«

»Umso besser.«

»Also: Ich kenne Swammerdam seit meinem vierzehnten Jahr, -- später verlor
ich ihn natürlich aus den Augen.

Ich war damals ein fürchterlicher Lausbub und betrieb alles, das Lernen
selbstverständlich ausgenommen, wie ein Besessener. Unter anderem den
Terrariensport und das Insektensammeln.

Wenn's wo einen Ochsenfrosch oder eine asiatische Kröte von Handkoffergröße
in einem Naturaliengeschäft gab, schon daß ich sie besaß und in großen
heizbaren Glaskästen bändigte.

Nachts war ein Gequake, daß in den Nachbarhäusern die Fenster klirrten.

Und was das Viehzeug an Ungeziefer zum Fressen brauchte! Säckeweis mußte
ich es herbeischaffen.

Daß es heute in Holland so wenig Fliegen mehr gibt, ist ausschließlich
meiner damaligen Gründlichkeit beim Futtersammeln zu verdanken.

Zum Beispiel die Schwaben -- die habe _ich_ ausgerottet.

Die Frösche selbst bekam ich nie zu Gesicht; bei Tage waren sie unter den
Steinen verkrochen, und nachts bestanden meine Eltern hartnäckigerweise
darauf, daß ich schliefe.

Schließlich riet mir meine Mutter, ich solle die Biester freilassen und
bloß die Steine behalten -- es käme auf dasselbe heraus und sei einfacher
-- aber ich wies solche verständnislosen Vorschläge natürlich entrüstet
zurück.

Meine Emsigkeit im Insektenfangen wurde allmählich Stadtgespräch und zog
mir eines Tages das Wohlwollen des entomologischen Vereins zu, der damals
aus einem ixbeinigen Barbier, einem Pelzhändler, drei pensionierten
Lokomotivführern und einem Präparator am naturwissenschaftlichen Museum
bestand, der jedoch an den Sammelausflügen nicht mitmachen durfte, da seine
Frau es nicht erlaubte. Es waren lauter gebrechliche alte Herren, die teils
Käfer, teils Schmetterlinge sammelten und eine seidene Fahne verehrten, auf
der die Worte eingestickt waren: Osiris, Verein für biologische Forschung.

Trotz meiner Jugend wurde ich als Mitglied aufgenommen. Noch heute besitze
ich das Diplom, das mit den Worten schließt: 'Wir entbieten Ihnen unsern
besten biologischen Gruß'.

Warum man auf meinen Eintritt in den Klub so versessen war, wurde mir bald
klar. Sämtliche biologische Greise waren nämlich entweder halb blind und
infolgedessen außerstande, die in Baumritzen versteckten Nachtfalter zu
erspähen, oder es machte sich ihnen das Vorhandensein von Krampfadern bei
dem zur Käferjagd nicht zu missenden Dünensandwaten störend bemerkbar.
Andere wieder wurden regelmäßig -- wahrscheinlich infolge der Aufregung --
beim Schwingen des Netzes nach dem hurtigen Pfauenauge im entscheidenden
Augenblick von einem rasselnden Hustenausbruch befallen, der sie der
erhofften Beute jedesmal verlustig gehen ließ.

Von allen diesen Bresthaftigkeiten besaß ich keine einzige, und eine Raupe
mehrere Kilometer weit auf einem Blatt zu entdecken, war mir eine
Kleinigkeit; kein Wunder daher, daß die findigen Greise auf den Gedanken
gekommen waren, sich meiner und noch eines Schulkameraden von mir als Spür-
und Jagdhund zu bedienen.

Nur einer von ihnen, eben jener Jan Swammerdam, der damals bestimmt schon
fünfundsechzig Jahre zählte, übertraf mich weit, was das Auffinden von
Insekten anbelangte. Er brauchte nur einen Stein umzudrehen, und schon lag
eine Käferlarve oder sonst etwas Ersehnenswertes darunter.

Er stand im Geruch, die Gabe des Hellsehens auf diesem Gebiete als Folge
eines mustergiltigen Lebenswandels in sich erweckt zu haben. -- Sie wissen
ja, Holland hält viel von Tugend!

Ich habe ihn nie anders gesehen als in einem schwarzen Gehrock, den
kreisförmigen Abdruck eines unter die Weste geschobenen
Schmetterlingsnetzes zwischen den Schulterblättern und unter den Schößen,
ein kurzes Stück herausragend, den grünen Stiel davon.

Weshalb er nie einen Hemdkragen trug, sondern statt dessen um den Hals die
zusammengefaltete Borte einer alten Leinwandlandkarte, erfuhr ich, als ich
ihn einmal in seiner Dachkammer besuchte. Ich kann nicht hinein, erklärte
er mir und deutete auf einen Schrank, der seine Wäsche enthielt: Hybocampa
Milhauseri -- das ist nämlich eine seltene Raupe -- hat sich dicht neben
dem Scharnier verpuppt und braucht drei Jahre, bis sie auskriecht.

Bei unsern Exkursionen benutzten wir alle die Eisenbahn; nur Swammerdam
ging hin und her zu Fuß, denn er war zu arm, um die Kosten zu erschwingen,
und damit er sich die Schuhsohlen nicht durchlief, bestrich er sie mit
einer geheimnisvollen Kautschuklösung, die im Laufe der Zeit zu einer
mehrere Finger dicken Lavaschicht erhärtete. Ich sehe sie heut noch vor
mir.

Seinen Lebensunterhalt bestritt er durch den Verkauf seltener
Schmetterlingsbastarde, die zu züchten ihm bisweilen gelang, doch reichte
der Erlös nicht, um zu verhindern, daß seine Gattin, die stets nur ein
liebevolles Lächeln für seine Marotten hatte und geduldig die Armut mit ihm
trug, eines Tages an Entkräftung starb. --

Seit jener Zeit vernachlässigte Swammerdam die finanzielle Seite des
Daseins ganz und gar und lebte nur noch seinem Ideal, nämlich: einen
gewissen grünen Mistkäfer zu finden, von dem die Wissenschaft behauptet, er
kapriziere sich darauf, genau siebenunddreißig Zentimeter unter der Erde
vorzukommen, und auch da nur an Orten, deren Oberfläche mit Schafdünger
bedeckt sei.

Mein Schulkamerad und ich bezweifelten dieses Gerücht aufs lebhafteste,
waren aber in der Verworfenheit unserer jugendlichen Herzen ruchlos genug,
von Zeit zu Zeit Schafmist, den wir zu diesem Behuf immer in der Tasche zu
tragen pflegten, an besonders harten Stellen der Dorfstraßen heimlich
auszustreuen und uns indianerhaft zu freuen, wenn Swammerdam bei seinem
Anblick wie ein irrsinnig gewordener Maulwurf sofort zu graben anfing.

Eines Morgens jedoch begab sich buchstäblich ein Wunder, das uns aufs
tiefste erschütterte.

Wir machten einmal wieder einen Ausflug; voran trabten die Greise und
meckerten das Vereinslied:

   'Eu--prep--ia
      pudica (das ist nämlich der lateinische Name eines sehr schönen
         Bärenspinners)

   sind leider keine da,
   doch wären welche hier,
   steckt' ich sie gleich zu mir'

und den Zug schloß, baumlang, hager, schwarz gekleidet wie immer, und den
Handspaten gezückt: Jan Swammerdam. Auf seinem lieben, alten Gesicht lag
der Ausdruck geradezu biblischer Verklärung, und als man ihn nach der
Ursache fragte, sagte er nur geheimnistief, er hätte in der Nacht einen
verheißungsvollen Traum gehabt.

Gleich darauf ließen wir unauffällig eine Prise Schafmist fallen.

Swammerdam erspähte sie, blieb stehen, entblößte sein Haupt, tat einen
tiefen Atemzug und blickte, von Hoffnung und Glauben durchschauert, lange
zur Sonne auf, bis seine Pupillen ganz klein wie Nadelköpfe waren; dann
beugte er sich nieder und fing an zu scharren, daß die Steine nur so
flogen.

Mein Schulkamerad und ich standen dabei, und in unsern Herzen frohlockte
der Satan.

Plötzlich wurde Swammerdam totenblaß, ließ den Spaten fallen und starrte,
die Hände verkrampft und an den Mund gedrückt, in das Loch, das er gewühlt
hatte.

Gleich darauf holte er mit zitternden Fingern einen grünschillernden
Mistkäfer aus der Tiefe hervor.

Er war so ergriffen, daß er lange kein Wort sprechen konnte, nur zwei dicke
Tränen liefen an seinen Wangen herunter; endlich sagte er leise zu uns:
heute Nacht im Traum ist mir der Geist meiner Frau erschienen mit
leuchtendem Angesicht wie eine Heilige, und sie hat mich getröstet und mir
verheißen, daß ich den Käfer finden werde. --

Wir zwei Lausbuben schlichen uns stumm weg wie Verbrecher und konnten
einander an diesem Tag vor Scham nicht mehr ins Gesicht sehen.

Mein Schulkamerad sagte mir später, er habe sich noch lange vor seiner
eigenen Hand entsetzt, die in demselben Momente, als er mit dem alten Mann
einen grausamen Scherz habe machen wollen, vielleicht das Werkzeug einer
Heiligen gewesen sei.«

                   *       *       *       *       *

Als es dunkel geworden war, begleitete Doktor Sephardi Fräulein van Druysen
zum Zee Dyk, einer krummen, stockfinsteren Gasse, die sich im
unheimlichsten Viertel Amsterdams am Zusammenfluß zweier Grachten in
unmittelbarer Nähe der düstern Nicolas Kerk hinzog.

Über den Häusergiebeln der benachbarten Warmoesstraat, in der die
sommerliche Kirmes bereits in vollem Gange war, stieg der rötliche Schein
der beleuchteten Schaubuden und Zelte zum Himmel empor und verdichtete die
Luft, vermischt mit dem weißen Dunst der Stadt und dem grellen Glitzern des
Vollmonds auf den Dächern, zu einem phantastisch schillernden Nebelhauch,
in dem die Schlagschatten der Kirchtürme als lange spitzige Dreiecke aus
schwarzem Schleier schwebten.

Wie das Pochen eines großen Herzens tönte das Schlapfen der Motore herüber,
die die zahlreichen Karussels drehten.

Das atemlose Geklingel der Leierkasten, das Wirbeln der Trommeln und die
schrillen Stimmen der Ausrufer, unterbrochen von dem Peitschenknallen aus
den Schießbuden, vibrierten durch die dunkeln Straßen und ließen ein von
Fackelglanz beschienenes Bild ahnen, in dem eine wogende Volksmenge
Bretterstände voll Pfefferkuchen, farbigem Zuckerwerk und zottig bebarteten
Menschenfressergesichtern aus geschnitzten Kokosnüssen, umdrängte; im
Kreise umhersausende, buntbemalte Ringelspielpferde, auf- und niederjagende
Schaukeln, nickende Mohrenköpfe mit weißen Gipspfeifen als Zielscheiben,
ungehobelte Tische mit reihenweise eingesteckten Taschenmessern, um mit
Ringen darnach zu werfen, fettglänzende Seehunde in hölzernen Bassins voll
schmutzigen Wassers, Zelte mit wehenden Wimpeln und wackelnden
Spiegelfacetten, kreischende Kakadus in silbernen Reifen, Fratzen
schneidende Affen und im Hintergrund, Schulter an Schulter: Reihen schmaler
Häuser wie eine Schar stumm zuschauender schwärzlicher Riesen mit weißen,
viereckig vergitterten Augen. -- --

Die Wohnung Jan Swammerdams lag im vierten Stock abseits von dem Getriebe
des lärmenden Volksfestes in einem schief nach vorne gesunkenen Gebäude, in
dessen Keller sich die berüchtigte Matrosenschenke »Prins van Oranje«
befand.

Ein mürber Staubgeruch nach Kräutern und getrockneten Pflanzen, dem kleinen
Drogenmagazin neben dem Eingang entströmend, erfüllte das Innere des Hauses
bis hinauf zum Dach, und ein Ladenschild mit der Lockschrift: »Hier
verkoopt men sterke dranken« verriet, daß außerdem noch ein gewisser
Lazarus Eidotter tagsüber eine Schnapsbudike in den Gefilden des Zee Dyk
betrieb.

Doktor Sephardi und Fräulein van Druysen kletterten die hühnersteigartige
Treppe hinauf und wurden sogleich von einer alten Dame mit schneeweißen
Locken und kreisrunden Kinderaugen, der Tante Fräulein van Druysens, voll
Herzlichkeit mit den Worten empfangen: »Willkommen, Eva, und willkommen
auch du, König Balthasar, im neuen Jerusalem!« --

Eine Versammlung von sechs Leuten, die alle andächtig um einen Tisch herum
gesessen hatten, erhoben sich verlegen, als die beiden eintraten, und
wurden von Fräulein de Bourignon vorgestellt:

»Hier Jan Swammerdam und seine Schwester,« -- ein altes verhutzeltes
Weiblein mit holländischer Haube und »Krulletjes« an den Ohren knixte
unaufhörlich, -- »dann Herr Lazarus Eidotter, der zwar nicht zu unserm
geistigen Kreis gehört, aber er ist 'Simon der Kreuzträger',« -- (»und im
selben Hoose wohn' jach ooch, mit Verloob,« ergänzte stolz der Angeredete,
ein greisenhafter, russischer Jude im Talar), -- »ferner Fräulein Mary
Faatz von der Heilsarmee -- sie hat den Geistesnamen Magdalena -- und unser
lieber Bruder Hesekiel« -- sie wies auf einen jungen Menschen mit
blatternarbigem, verschwommenem Gesicht, das aussah, als wäre es aus
Brotteig geknetet, und wimperlosen, entzündeten Augen, »er ist Angestellter
unten in dem Drogengeschäft und trägt den Geistesnamen Hesekiel, weil er,
wenn die Zeit erfüllt ist, die Geschlechter richten wird.«

Doktor Sephardi warf einen ratlosen Blick auf Fräulein van Druysen.

Ihre Tante, die es bemerkte, erklärte: »Wir tragen alle Geistesnamen; zum
Beispiel Jan Swammerdam ist der König Salomo, seine Schwester heißt
Sulamith und ich bin 'Gabriele', das ist die weibliche Form des Erzengels
Gabriel, aber gewöhnlich nennt man mich die Hüterin der Schwelle, denn mir
liegt es ob, die zerstreuten Seelen im Weltall zu sammeln und ins Paradies
zurückzuführen. Doch das werden Sie später alles besser verstehen, Herr
Doktor, denn Sie gehören zwar zu uns, aber ohne es zu wissen; Ihr
Geistesname ist König Balthasar! Haben Sie noch nie Kreuzigungsschmerzen
gehabt?«

Sephardi wurde immer verwirrter.

»Schwester Gabriele geht, fürchte ich, ein wenig zu stürmisch vor,« nahm
Jan Swammerdam lächelnd das Wort. »Vor vielen Jahren ist nämlich hier im
Hause ein wahrer Prophet des Herrn erstanden, ein schlichter Schuhmacher
namens Anselm Klinkherbogk. Sie werden ihn heute noch kennen lernen. Er
wohnt über uns.

Wir sind keineswegs Spiritisten, wie Sie vielleicht annehmen, Mynheer;
fast, möchte ich sagen, das Gegenteil, denn wir haben nichts zu tun mit dem
Reiche der Toten. Unser Ziel ist das ewige Leben. -- Jedem Namen nun liegt
eine geheime Kraft inne, und wenn wir diesen Namen mit geschlossenen Lippen
in unser Herz hineinsprechen, unablässig, bis er für Tag und Nacht
beständig unser Wesen erfüllt, so ziehen wir die geistige Kraft in unser
Blut hinein, das, in den Adern kreisend, mit der Zeit unsern Körper
verändert.

Diese allmähliche Wandlung unseres Leibes, -- denn nur er allein muß
verändert werden, der Geist an sich ist bereits vollkommen seit Anbeginn,
-- gibt sich in allerlei Gefühlen kund, die die Vorboten des Zustandes
sind, der 'geistige Wiedergeburt' heißt.

Ein solches Gefühl ist zum Beispiel die Empfindung eines gewissen
bohrenden, nagenden Schmerzes, der zeitweilig kommt und geht, ohne daß wir
erkennen können warum, anfangs nur im Fleische wühlt, dann aber die Knochen
ergreift und uns ganz durchdringt, bis, als Zeichen der 'ersten Taufe', das
ist die 'Taufe mit Wasser', die Kreuzigung des untern Grades erreicht ist,
das heißt: Wundmale an den Händen auf unbegreifliche Weise sich öffnen und
Wasser daraus hervortritt,« -- er und die übrigen, mit Ausnahme Lazarus
Eidotters, hoben die Hände in die Höhe, und man sah tiefe, runde Narben
darin wie von Nägelwunden.

»Aber das ist ja Hysterie!« rief Fräulein van Druysen entsetzt.

»Nennen Sie es ruhig Hysterie, Mejufrouw; _die_ 'Hysterie', unter der _wir_
stehen, ist nichts Krankhaftes. Zwischen Hysterie und Hysterie ist ein
großer Unterschied. Nur diejenige Hysterie, die Hand in Hand geht mit
Ekstase und Geistesverwirrung, ist einer Krankheit gleichzustellen und
führt nach abwärts, die _andere_ Art jedoch ist die Geistes_entwirrung_ --
das 'Kommen zur Klarheit', und ist der Weg nach aufwärts, der über das
Erfassen der Erkenntnisse durch das Denken hinaus den Menschen zum Wissen
durch direktes 'Schauen' führt.

In der Schrift heißt dieses Ziel das 'innere Wort', und, wie der Mensch der
heutigen Zeit denkt, indem er, ohne sich dessen bewußt zu sein, Worte im
Gehirn lispelt, so spricht im geistig wiedergeborenen Menschen eine andere
geheimnisvolle Sprache mit neuen Worten, in denen es kein 'Mutmaßen' und
keinen Irrtum mehr gibt. Dann ist das Denken ein neues Denken geworden --
ist Magie und nicht mehr ein armseliges Verständigungsmittel, -- ist ein
Offenbarwerden der Wahrheit, in deren Licht der Irrtum verschwindet, weil
die Zauberringe der Gedanken sodann ineinander greifen und nicht mehr
nebeneinander liegen.«

»Und sind Sie so weit, Herr Swammerdam?«

»Wenn ich so weit wäre, säße ich nicht hier, Mejufrouw.«

»Sie sagten, der gewöhnliche Mensch denke, indem er im Gehirn Worte bilde;
wie ist es nun,« fragte Sephardi interessiert, »bei jemand, der taubstumm
geboren ist und keine Sprache kennt?«

»Dann denkt er teils in Bildern, teils in der Ursprache.«

»Lassen Se mir aach ämol reden, Swammerdamleben!« rief Lazarus Eidotter
streitlustig dazwischen: »Gut, Sie haben Kabbala, ich hab' aber auch
Kabbala. 'Im Anfang war das Wort' ist falsch übersetzt. 'Bereschith' heißt
auf deitsch das 'Koppwesen', Ihnen gesagt, und nicht: 'im Anfang'. Auf was
herauf: 'im Anfang'??«

»Das Kopfwesen!« murmelte Swammerdam und versank eine Weile in tiefes
Grübeln; »ich weiß. Aber der Sinn bleibt derselbe.«

Die andern hatten schweigend zugehört und sahen einander bedeutungsvoll an.

Eva van Druysen fühlte instinktiv, daß sie bei dem Wort »Kopfwesen« an das
»olivgrüne Gesicht« gedacht hatten, und blickte fragend zu Doktor Sephardi
hinüber, der ihr unmerklich zunickte.

»Auf welche Weise ist Ihrem Freunde Klinkherbogk die Gabe der Prophetie
zuteil geworden und wie äußert sie sich?« brach er endlich das
Stillschweigen, da niemand Miene machte zu reden.

Jan Swammerdam fuhr wie aus dem Traum auf: »Klinkherbogk? Ja;« -- er
sammelte sich: -- »Klinkherbogk hat sein Leben lang Gott gesucht, bis es
sein ganzes Denken verzehrte und er vor beständiger Sehnsucht viele Jahre
nicht mehr schlafen konnte. Eines Nachts saß er wie gewöhnlich vor seiner
Schusterkugel, -- Sie wissen, derartige Kugeln aus Glas verwenden die
Schuhmacher und stellen sie vor brennende Kerzen, um bei der Arbeit besser
sehen zu können, -- da wuchs aus dem Lichtfunken in ihrem Innern eine
Gestalt, trat zu ihm, und es wiederholte sich, was in der Apokalypse steht:
der Engel gab ihm ein Buch zu verschlingen und sagte: »Nimm hin und
verschling's und es wird dich im Bauch grimmen, aber in deinem Munde wird's
süß sein wie Honig.« Das Gesicht der Erscheinung war verhüllt, nur ihre
Stirne war frei, und ein grünleuchtendes Kreuz glühte darauf.«

Eva van Druysen fielen die Worte ihres Vaters über die Gespenster ein, die
das Zeichen des Lebens offen trügen, und einen Augenblick faßte es sie an
wie kalte Furcht.

»Seit jener Zeit hatte Klinkherbogk das 'innere Wort',« kam Swammerdam
wieder auf seine Rede zurück, -- »und es sagte ihm und durch seinen Mund
auch mir -- denn ich war damals sein einziger Schüler -- wie wir leben
sollten, um von dem Holz des Lebens zu essen, das im Paradies Gottes ist.
Es wurde uns die Verheißung: nur noch ein kleines Weilchen, und aller
Jammer des irdischen Daseins würde von uns weichen und wir sollten wie Hiob
tausendfältig wiedererhalten, was das Leben uns nähme.«

Doktor Sephardi wollte einwenden, wie gefährlich und trügerisch es sei,
solchen Prophezeiungen aus dem Unterbewußtsein Glauben zu schenken, aber er
erinnerte sich noch rechtzeitig an Baron Pfeills Erzählung von dem grünen
Käfer. Überdies sah er ein, daß jede Warnung hier wohl zu spät käme.

Der alte Mann schien den Sinn seiner Gedanken halb und halb erraten zu
haben, denn er fuhr fort: »Es sind jetzt schon fünfzig Jahre her, daß uns
diese Verheißung gegeben wurde, aber man muß sich in Geduld fassen und, was
auch kommen möge, an der Übung festhalten, die darin besteht, den
Geistesnamen ohne Unterlaß in unser Herz hineinzumurmeln, bis die
Wiedergeburt vollendet ist.« -- Er sagte die Worte ruhig und scheinbar voll
Zuversicht, aber in seiner Stimme klang ein leises Zittern, wie die
Vorahnung einer kommenden, grauenvollen Verzweiflung, das verriet, wie sehr
er sich zusammennahm, um die andern nicht in ihrem Glauben zu erschüttern.

»Fünfzig Jahre schon machen Sie diese Übung!? Es ist furchtbar!« fuhr es
Doktor Sephardi unwillkürlich heraus.

»Ach, es ist ja so himmlisch schön, zu sehen, wie alles in Erfüllung geht,«
säuselte Fräulein de Bourignon verzückt, »und wie sie aus dem Weltenraum
hier zusammenströmen, die hohen Geister, und sich um Abram scharen -- das
ist nämlich der Geistesname Anselm Klinkherbogks, denn er ist der Erzvater
-- und hier im ärmlichen Zee Dyk von Amsterdam den Grundstein legen zum
neuen Jerusalem. Mary Faatz (sie war früher eine Prostituierte und jetzt
ist sie die fromme Schwester Magdalena),« flüsterte sie hinter der Hand
ihrer Nichte zu, »ist gekommen und -- und Lazarus ist vom Tode auferweckt
worden -- -- aber, ja richtig, Eva, von dem Wunder habe ich dir in dem
Brief, den ich dir kürzlich schrieb, um dich aufzufordern, zu uns in den
Kreis zu kommen, doch noch gar nichts erwähnt. Denk nur: Lazarus ist durch
Abram vom Tode auferweckt worden!« -- Jan Swammerdam stand auf, trat ans
Fenster und blickte stumm hinaus in die Finsternis. -- »Ja, ja, leibhaftig
vom Tode auferweckt worden! Er ist wie tot in seinem Laden gelegen, und da
kam Abram und hat ihn wieder lebendig gemacht.«

Aller Augen richteten sich auf Eidotter, der sich betreten abwandte und
gestikulierend und achselzuckend Doktor Sephardi im Flüsterton erklärte, es
sei allerdings etwas an der Sache, -- »bewußtlos, freilich, bin ich gewest;
vielleicht tot; warum soll ich nicht tot gewesen sein? Ich bitt' Sie, ä
alter Mann wie ich!«

»Und darum beschwöre ich dich, Eva,« richtete Fräulein de Bourignon ihre
Rede mit größter Eindringlichkeit an ihre Nichte, »tritt ein in unsern
Bund, denn das Reich ist nahe herbeigekommen, und die letzten werden die
ersten sein.«

Der Kommis aus dem Drogengeschäft, der bis dahin, ohne ein Wort gesprochen
zu haben, neben Schwester Magdalena gesessen und ihre Hand in der seinen
gehalten hatte, erhob sich plötzlich, schlug mit der Faust auf den Tisch
und schrie, die entzündeten Augen weit aufgerissen, mit lallender Zunge:

»Jo, jo, jo -- -- d--d--die Ersten w--w--werden die Leleletzten sein, und
eher geht ein Ka--Ka-- -- --«

»Er kommt in den Geist. Der Logos spricht aus ihm,« rief die Hüterin der
Schwelle, »Eva, bewahre jedes Wort in deinem Herzen!«

»-- -- Ka--Kamel durch ein N--N--N--N--«

Jan Swammerdam eilte zu dem Besessenen, auf dessen Gesicht sich der
Ausdruck viehischer Bosheit malte, und beruhigte ihn durch magnetische
Striche über Stirn und Mund.

»Es ist nur der 'Gegensatz', wie wir es nennen, Mejufrouw,« redete
Schwester Sulamith, die alte Holländerin, begütigend Fräulein von Druysen
zu, die ängstlich zur Tür geflohen war. »Bruder Hesekiel leidet manchmal
darunter, und dann gewinnt die niedere Natur die Oberhand über die höhere.
Aber es geht schon vorüber;« -- der Kommis hatte sich auf alle Viere
niedergelassen und bellte und knurrte wie ein Hund, während das Mädchen aus
der Heilsarmee neben ihm kniete und ihm zärtlich die Haare streichelte --
»denken Sie nicht schlecht von ihm; wir sind allzumal Sünder, und Bruder
Hesekiel bringt sein Leben Tag aus, Tag ein da unten in dem dunkeln Magazin
zu, da kommt es dann, wenn er einmal reiche Leute sieht -- Sie verzeihen,
daß ich es so offen sage, Mejufrouw -- wie Erbitterung über ihn und
umnachtet seinen Geist. Glauben Sie mir, Mejufrouw, Armut ist eine schwere
Last; woher soll ein so junges Herz wie seines, immer so viel Gottvertrauen
nehmen, um sie zu tragen!«

Eva van Druysen tat zum erstenmal in ihrem Leben einen Blick in die
Abgründe des Daseins und, was sie früher in Büchern gelesen, stand jetzt in
furchtbarer Wirklichkeit vor ihr.

Und doch war es nur ein kurzer Blitzschein gewesen, der kaum hinreichte,
die Finsternis einiger Schluchten zu zerreißen.

»Wie viel und weit Schrecklicheres,« sagte sie sich, »muß erst in der Tiefe
schlummern, in die so selten das Auge eines vom Schicksal Begünstigten zu
schauen vermag.«

Wie durch eine geistige Explosion von den Hüllen mühsam anerzogener
menschlicher Umgangsformen losgerissen, hatte sich ihr eine Seele in
häßlicher Nacktheit gezeigt, zum wilden Tier erniedrigt im selben
Augenblick, als die Worte dessen fielen, der um der Liebe willen am Kreuz
sein Leben ließ.

Das Bewußtsein einer riesengroßen Mitschuld, begangen durch weiter nichts,
als durch bloße Zugehörigkeit zu einer bevorzugten Gesellschaftsklasse und
dem so selbstverständlich scheinenden Mangel an Interesse gegenüber dem
Leid des Nächsten -- eine Unterlassungssünde, winzig wie ein Sandkorn in
der Ursache und verheerend wie eine Lawine in der Wirkung -- erfüllte Eva
mit tiefem Schrecken; so wie ein Mensch sich entsetzen mag, der in
Gedankenlosigkeit mit einem Seile zu spielen glaubt und plötzlich gewahrt,
daß er eine Giftschlange in Händen hält.

Als Sulamith von der Armut des Kommis erzählte, hatte Eva in der ersten
Aufwallung nach der Börse gegriffen, -- es war die gewisse Reflexbewegung,
mit der das Herz den Verstand überrumpeln zu können wähnt, -- dann schien
ihr die Gelegenheit, zu helfen, schlecht gewählt, und der feste Vorsatz,
das Versäumte später besser und gründlicher nachzuholen, trat an die Stelle
der Tat.

Die altbewährte Kriegslist des Vaters der Lüge, Zeit zu gewinnen, bis die
Regungen des Mitleids verflogen sind, war Sieger geblieben.

Hesekiel hatte sich inzwischen von seinem Anfall erholt und weinte still
vor sich hin.

Sephardi, der wie die vornehmen portugiesischen Juden Hollands unverrückbar
an der Gewohnheit seiner Vorfahren, nie ein fremdes Haus zu betreten, ohne
ein kleines Geschenk mitzubringen, festhielt, benützte die Gelegenheit, um
die Aufmerksamkeit von dem Kranken abzulenken: er wickelte ein silbernes
Räucherfäßchen aus und überreichte es Swammerdam.

»Gold, Weihrauch und Myrrhen -- die heiligen drei Könige aus dem
Morgenland!«, flüsterte die »Hüterin der Schwelle« mit vor Rührung
erstickter Stimme, die Augen fromm zur Decke erhoben. »Als es gestern hieß,
Sie kämen, Herr Doktor, Eva zu uns zu begleiten, gab Ihnen Abram den
Geistesnamen Balthasar, und siehe: Sie sind gekommen und haben Weihrauch
gebracht! König Melchior, -- er heißt im Leben Baron Pfeill, ich weiß es
von der kleinen Katje, -- ist heute auch schon geistig erschienen« -- sie
wandte sich geheimnisvoll zu den Übrigen, die erstaunt aufhorchten, -- »und
hat Geld geschickt. Oh, ich sehe es mit den Augen des Geistes: auch Kaspar,
der König aus Mohrenland, ist nicht mehr ferne;« -- sie zwinkerte Mary
Faatz, die ihren Blick verständnisvoll erwiderte, selig zu: -- »ja, mit
Riesenschritten geht die Zeit ihrem Ende --«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie, und die kleine Enkelin Katje des
Schusters Klinkherbogk trat herein und meldete:

»Ihr sollt schnell alle hinauf kommen, der Großvater hat die zweite
Geburt.«




Fünftes Kapitel


Eva van Druysen hielt den alten Schmetterlingssammler zurück, ehe sie mit
ihm den Übrigen folgte, die bereits in die Dachkammer Klinkherbogk's
hinaufstiegen.

»Verzeihen Sie, Herr Swammerdam, ich möchte Ihnen nur kurz eine Frage
stellen, obwohl ich Sie eigentlich sehr viel zu fragen hätte. -- Was Sie
vorhin über Hysterie gesagt haben und über die Kraft, die in den Namen
verborgen liegt, hat mich tief berührt, -- aber andrerseits --«

»Darf ich Ihnen einen Rat geben, Mejufrouw?« -- Swammerdam blieb stehen und
sah ihr ernst in die Augen. -- »Ich begreife sehr wohl, daß das, was Sie
vorhin mit angehört haben, Sie nur verwirren muß. Dennoch können Sie großen
Nutzen daraus ziehen, wenn Sie es als erste Lehre auffassen und geistige
Unterweisung nicht bei andern suchen, sondern in sich selbst. Nur die
Belehrungen, die der eigene Geist uns schickt, kommen zur rechten Zeit und
für sie sind wir reif. Für die Offenbarungen an andern müssen Sie taub und
blind werden. Der Pfad zum ewigen Leben ist schmal wie die Schärfe eines
Messers; Sie können andern weder helfen, wenn Sie sie taumeln sehen, noch
dürfen Sie Hilfe von ihnen erwarten. Wer auf andere schaut, verliert das
Gleichgewicht und stürzt ab. Hier gibt's kein gemeinsames Vorwärtsschreiten
wie in der Welt, und so unbedingt nötig auch ein Führer ist: er muß aus dem
Reich des Geistes zu Ihnen kommen. Nur in irdischen Dingen kann ein Mensch
Ihnen als Führer dienen und seine Handlungsweise eine Richtschnur sein, um
ihn zu beurteilen. Alles, was nicht aus dem Geist kommt, ist tote Erde, und
wir wollen zu keinem andern Gott beten, als zu dem, der sich in unsrer
eignen Seele offenbart.«

»Wenn sich aber kein Gott in mir offenbart?« fragte Eva verzweifelt.

»Dann müssen Sie in einer stillen Stunde nach ihm rufen mit Aufgebot aller
Sehnsucht, deren Sie fähig sind.«

»Und dann, glauben Sie, wird er kommen? Wie leicht wäre das!«

»Er wird kommen! Aber -- entsetzen Sie sich nicht: -- zuerst als Rächer
Ihrer früheren Taten, als der furchtbare Gott des Alten Testamentes, der
gesagt hat: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Er wird sich offenbaren in
plötzlichen Veränderungen Ihres äußern Lebens. Alles müssen Sie zuerst
verlieren, sogar --« Swammerdam sagte es leise, als fürchte er sich, sie
könne es hören -- »sogar Gott, wenn sie ihn immer von neuem finden wollen.
-- Erst, wenn Ihre Vorstellung von Ihm -- gereinigt von Gestalt und Form
und jeglichem Begriff von Außen und Innen, Schöpfer und Geschöpf, Geist und
Stoff, ist, werden Sie Ihn --«

»Sehen?«

»Nein. Niemals. Aber mit Seinen Augen werden Sie _sich_ sehen. Dann sind
Sie frei von der Erde, denn Ihr Leben ist in Seines eingegangen und Ihr
Bewußtsein ist nicht mehr vom Leibe abhängig, der wie ein wesenloser
Schatten dem Grab entgegen geht.«

»Welchen Zweck haben aber dann die Schläge des äußeren Lebens, von denen
Sie sprechen? Sind sie eine Prüfung oder eine Strafe?«

»Es gibt weder Prüfungen noch Strafen. Das äußere Leben mit seinen
Schicksalen ist nichts als ein Heilungsprozeß, für den einen mehr, für den
andern weniger schmerzhaft, je nachdem der Betreffende krank ist an seiner
Erkenntnis.«

»Und Sie glauben, wenn ich Gott rufe, wie Sie sagen, wird sich mein
Schicksal verändern?«

»Sofort! Nur wird es sich nicht »verändern«, es wird werden wie ein
galoppierendes Pferd, das bis dahin im Schritt gegangen ist.«

»Ist _Ihr_ Schicksal denn so im Sturm abgelaufen? Sie verzeihen die Frage,
aber nach dem, was ich über Sie gehört habe --«

»Ist es sehr eintönig dahingeflossen, meinen Sie, Mejufrouw,« ergänzte
Swammerdam lächelnd. »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen vorhin gesagt habe?:
'Blicken Sie nie auf andere.' -- Der eine erlebt eine Welt, und dem andern
erscheint's eine Nußschale. Wenn Sie im Ernst wollen, daß Ihr Schicksal
galoppiert, müssen Sie -- ich warne Sie davor und rate es Ihnen zugleich,
denn es ist das einzige, was der Mensch tun soll, und gleichzeitig das
schwerste Opfer, das er bringen kann! -- müssen Sie Ihren innersten
Wesenskern, _den_ Wesenskern, ohne den Sie eine Leiche wären, (und sogar
nicht einmal das), anrufen und Ihm -- _befehlen_, daß Er Sie den kürzesten
Weg zu dem großen Ziel führt, -- dem einzigen, das des Erstrebens wert ist,
so wenig Sie es jetzt auch erkennen, -- erbarmungslos, ohne Rast, durch
Krankheit, Leiden, Tod und Schlaf hindurch, durch Ehren, Reichtum und
Freude hindurch, immer hindurch und hindurch wie ein rasendes Pferd, das
einen Wagen vorwärts reißt über Äcker und Steine hinweg und an Blumen und
blühenden Hainen vorbei! Das nenne ich: Gott rufen. Es muß sein wie ein
Gelöbnis vor einem lauschenden Ohr!«

»Aber, wenn dann das Schicksal kommt, Meister, und ich werde schwach und --
will umkehren?«

»Umkehren kann nur der auf dem geistigen Weg, -- nein, nicht einmal
umkehren, nur stehen bleiben, sich umsehen und zur Salzsäule werden, -- der
kein Gelöbnis abgelegt hat! Ein Gelöbnis in geistigen Dingen ist wie ein
Befehl, und Gott ist der -- Diener des Menschen in diesem Falle, um ihn
auszuführen. Entsetzen Sie sich nicht, Mejufrouw, es ist keine Lästerung!
Im Gegenteil! -- Darum (was ich Ihnen jetzt sage, ist eine Torheit, ich
weiß, denn es geschieht nur aus Mitleid, und alles, was aus Mitleid
geschieht, ist Torheit), warne ich Sie: geloben Sie nicht zu viel! Es
könnte Ihnen sonst gehen wie dem Schächer, dem am Kreuze die Knochen
gebrochen wurden!«

Swammerdams Gesicht war weiß geworden vor innerer Erregung.

Eva faßte seine Hand. »Ich danke Ihnen, Meister, ich weiß jetzt, was ich zu
tun habe.«

Der alte Mann zog sie an sich und küßte sie ergriffen auf die Stirn. »Der
Herr des Schicksals sei Ihnen ein barmherziger Arzt, mein Kind!«

                   *       *       *       *       *

Sie gingen die Stiege hinauf.

Wie unter einem jähen Gedanken blieb Eva eine Sekunde vor der Dachkammer
stehen. »Sagen Sie mir noch eins, Meister! Die vielen Millionen Menschen,
die geblutet und gelitten haben, sie haben doch kein Gelöbnis getan; wozu
war all der unendliche Jammer gut?«

»_Wissen_ Sie denn, daß sie kein Gelöbnis getan haben? Kann es nicht in
einem früheren Leben geschehen sein,« fragte Swammerdam ruhig, »oder im
Tiefschlaf, wenn die Seele des Menschen wach ist und am besten weiß, was
ihr frommt?«

Als risse ein Vorhang entzwei, sah Eva einen Augenblick in das blendende
Licht einer neuen Erkenntnis hinein. Die letzten wenigen Worte hatten ihr
mehr über die Bestimmung der Wesen enthüllt, als sämtliche Religionssysteme
der Welt imstande gewesen wären. Jede Klage über vermeintliche
Ungerechtigkeit des Schicksals mußte verstummen angesichts des Gedankens,
daß keiner einen andern Weg ging, als den selbstgewählten.

»Wenn Sie keinen Sinn in dem zu finden vermögen, was in unserm Kreis vor
sich geht, Mejufrouw, so lassen Sie sich dadurch nicht irre machen. Oft
führt ein Weg abwärts und ist doch die kürzeste Brücke zum nächsten
Anstieg. Das Fieber der geistigen Genesung sieht sich zuweilen an wie
teuflische Fäulnis. Ich bin nicht der 'König Salomo' und Lazarus Eidotter
ist nicht 'Simon der Kreuzträger', -- wie Fräulein de Bourignon es zu
äußerlich auffaßt, weil er Klinkherbogk einmal Geld in der Not geborgt hat,
-- aber an sich ist dieses Durcheinandermischen von Altem und Neuem
Testament deshalb noch kein Unsinn. -- Wir erblicken in der Bibel nicht nur
die Aufzeichnung von Geschehnissen einer verflossenen Zeit, sondern einen
Weg von Adam zu Christus, den wir an uns durchzumachen haben auf die
magische Art eines inneren Wachstums von 'Name' zu 'Name', das ist: von
Kraftentfaltung zu Kraftentfaltung,« sagte Swammerdam und half Eva die
letzten Treppenstufen hinauf, »von der Vertreibung aus dem Paradies zur
Auferstehung. Es kann für so manchen ein Weg voll Schrecknissen werden und
--«, er murmelte gepreßt wieder den Satz von dem Schächer, dem am Kreuz die
Knochen gebrochen worden waren, vor sich hin.

Fräulein de Bourignon hatte mit den Übrigen vor der Dachstube auf das
Kommen der beiden gewartet (nur Lazarus Eidotter war hinunter in seine
Wohnung gegangen) und überschüttete ihre Nichte mit einem Schwall von
Worten, ehe sie eintraten, um sie gebührend vorzubereiten:

»Denk nur, Eva, etwas unbeschreiblich Großes ist geschehen. Und gerade
heute am Kalendertage des Sonnwendfestes -- ach es ist ja so namenlos
tiefsinnig -- ja, was wollte ich nur sagen -- ja richtig, das große
Längstersehnte ist geschehen: in Vater Abram ist heute der Geistmensch als
Kindlein geboren worden, und er hat es in sich schreien hören, als er
gerade einen Absatz auf einen Stiefel festnagelte, was bekanntlich die
'zweite Geburt' ist, denn die 'erste', das ist das Bauchgrimmen, wie schon
in der Schrift steht, wenn man sie nur richtig deutet, und dann werden die
heiligen drei Könige vollzählig sein, denn Mary Faatz hat mir kürzlich
erzählt, sie kenne, wenn auch nur ganz flüchtig, einen schwarzen Wilden,
der in Amsterdam lebt, und vor einer Stunde hat sie ihn unten in der
Schenke durchs Fenster sitzen sehen, und ich habe sofort eine Fügung der
himmlischen Mächte darin erkannt, denn es kann natürlich nur der König
Kaspar aus Mohrenland sein; ach, es ist ja eine unsagbare Gnade, daß gerade
mir die Mission zuteil wurde, den dritten heiligen König ausfindig zu
machen, und ich kann es in meiner Seligkeit gar nicht mehr erwarten, bis
die Minute kommt und ich Mary hinunterschicken darf, um ihn heraufzuholen.«
Dabei öffnete sie die Tür und ließ alle der Reihe nach eintreten.

                   *       *       *       *       *

Der Schuhmacher Klinkherbogk saß steif und regungslos am Kopfende eines
langen, mit Sohlen und Werkzeugen bedeckten Tisches, die eine Seite seines
abgezehrten Gesichtes vom Fenster her in grellem Mondlicht, daß die weißen
Haare seines schüttern, holländischen Seemannsbartes wie metallene Fäden
glänzten, die andere in tiefer Finsternis.

Auf dem kahlen Schädel trug er eine Krone, zackig aus Goldpapier
geschnitten.

In der Kammer roch es sauer nach Leder.

Wie das haßerfüllte Zyklopenauge eines mit dem Leib in der Dunkelheit
verborgenen Ungeheuers glomm die gläserne Schusterkugel im Raum und warf
ihren Schein auf einen Haufen Zehnguldenstücke, die vor dem Propheten
lagen.

Eva, Sephardi und die Angehörigen des geistigen Kreises waren an der Wand
stehen geblieben und warteten.

Keiner wagte sich zu rühren; ein Bann hatte sich auf alle gelegt.

Die Blicke des Kommis hingen stier an dem Glanz der Münzen.

Zögernd krochen die Minuten in lautloser Stille, als wollten sie sich zu
Stunden dehnen, -- eine Motte schwirrte aus der Finsternis, kreiste als
weißer Funken um das Licht der Kerze und verbrannte knisternd in der
Flamme.

Unbeweglich, wie aus Stein gehauen, starrte der Prophet in die gläserne
Kugel, den Mund offen, die Finger über den Goldstücken verkrampft, und
schien auf Worte zu lauschen, die aus weiter Ferne zu ihm kamen.

Ein dumpfer Lärm, der von der Hafenschenke auf der Gasse plötzlich
heraufdrang und sogleich erstarb, als habe jemand das Haustor unten
geöffnet und wieder zugeschlagen, glitt durchs Zimmer und erstickte in der
Luft.

Wieder Totenstille.

Eva wollte zu Swammerdam hinsehen, aber eine ungewisse Furcht, sie könne in
seinem Gesicht die gleiche bange Ahnung eines nahenden Unheils lesen, die
ihr selbst fast den Atem raubte, hielt sie davon ab. Einen Pulsschlag lang
glaubte sie sich zu erinnern, eine leise, kaum vernehmliche Stimme am
Tische hätte gesagt: »Herr, laß diesen Kelch an mir vorübergehen,« dann
zerbröckelte der Eindruck unter den verlorenen Klängen des fernen
Kirmestrubels, die ein Lufthauch am Fenster vorbeitrug.

Sie blickte auf und sah, daß die Spannung in den Zügen Klinkherbogks
nachließ und in Verwirrung überging.

»Es ist ein groß Getöse in der Stadt,« hörte sie ihn murmeln, »und ihre
Sünde ist schwer. Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan
haben, das vor mich kommen ist, oder ob's nicht also sei, daß ich's wisse.«

»So waren die Worte Jehovas nach dem ersten Buch Mosis,« sagte Schwester
Sulamith mit bebenden Lippen und bekreuzigte sich, »bevor Er Feuer und
Schwefel regnen ließ. -- -- Zürne nicht, Herr, daß ich rede: man möchte
vielleicht zehn Gerechte in der Stadt finden!«

Sofort sprang das Motiv auf Klinkherbogk über und weckte in ihm die Vision
eines kommenden Weltuntergangs. Mit eintöniger Stimme, als läse er
geistesabwesend etwas vor, sprach er zur Wand hin:

»Ich sehe einen Sturmwind herbrausen über die Erde, der da machet, daß
alles, was aufrecht steht, ein Wagrechtes wird unter seiner Wut und eine
Wolke fliegender Pfeile. Er reißet die Gräber auf, und die Leichensteine
und Schädel der Toten sind gleich einem Hagelschauer, der in der Luft fegt.
Bläst das Wasser aus den Flüssen und Deichen, pfützet es von seinem Munde
weg wie Sprühregen und legt die Pappeln an den Straßen und hohen Bäume als
wehende Schöpfe am Boden hin. Und das um der Gerechten willen, die die
lebendige Taufe haben;« -- seine Worte wurden wieder klanglos -- »der aber,
auf den ihr wartet, wird nicht kommen als ein König, ehe die Zeit nicht
vollendet ist; erst muß der Vorbote in euch sein, als ein neuer Mensch, um
das Reich zu bereiten. Dennoch werden ihrer viele sein mit neuen Augen und
Ohren, auf daß es nicht abermalen heiße von den Menschen: sie haben Ohren
und hören nicht, sie haben Augen und sehen nicht; aber« -- Schatten einer
tiefen Traurigkeit legten sich auf sein Gesicht -- »aber auch unter ihnen
sehe ich Abram nicht! Denn jeglichem wird zugemessen nach seinem Maß, und
er hat, ehe die Geburt des Geistes reif worden, den Schild der Armut von
sich getan und seiner Seele ein gülden Kalb gegossen, den Sinnen ein
Tanzfest zu bereiten. Noch eine kleine Weile, und ihr habet ihn nicht mehr.
-- Der König aus dem Mohrenland wird ihm die Myrrhen des andern Lebens
bringen und seinen Leib den Fischen der trüben Wässer zum Fraße vorwerfen,
denn das Gold Melchiors ist eingekommen, bevor das Kind in der Krippe lag
und hätte den Fluch wegnehmen können, der auf jeglichem Golde ist. Also ist
es zum Unheil erboren, noch ehe die Nacht weicht. -- Und der Weihrauch
Balthasars ist zu spät gekommen.

Aber du, Gabriel, höre: strecke die Hand nicht nach der Ernte, die nicht
weiß ist zum schneiden, daß die Sichel den Knecht nicht verwunde und dem
Weizen den Schnitter nehme.«

Fräulein de Bourignon, die während seiner Rede des öftern verzückt geseufzt
hatte, ohne sich auch nur zu bemühen, ihren dunkeln Sinn zu erfassen,
unterdrückte einen Freudenschrei, als ihr Geistesname »Gabriel« genannt
wurde, und wisperte Mary Faatz, die daraufhin eiligst die Stube verließ,
hastig ein paar Worte zu.

Swammerdam, der es bemerkte, wollte sie daran hindern, aber er kam zu spät,
-- das Mädchen lief bereits die Treppe hinab.

Müde ließ er die Hand sinken und schüttelte nur resigniert den Kopf, als
ihn die »Hüterin der Schwelle« verwundert anblickte.

Der Schuster war einen Augenblick zu sich gekommen und rief ängstlich nach
seiner Enkelin, versank aber gleich darauf wieder in seine Ekstase.

                   *       *       *       *       *

In der Matrosenschenke »Prins van Oranje« hatte fast die ganze Zeit über
eine wüste Gesellschaft von fünf Leuten beisammen gesessen und anfangs
Karten gespielt; später, als die Nacht weiter vorrückte und das Lokal sich
mit allerhand Gesindel vom Zee Dyk füllte, daß bald kaum mehr Platz war, um
die Ellenbogen ausstrecken zu können, zogen sich die Herren in das
Nebenzimmer zurück, in dem tagsüber die Kellnerin Antje wohnte, ein
unförmliches, geschminktes Weibsbild in rotseidenem Rock bis zum Knie, mit
fettem Hals, einem flachsgelben Zopf, Hängebusen und zerfressenen
Nasenflügeln, -- »die Hafensau«, wie sie von den Stammgästen genannt wurde.

Es waren: der Wirt der Spelunke -- ehemals Steuermann auf einem
brasilianischen Farbholzschiff, ein untersetzter, stiernackiger Kerl in
Hemdsärmeln, die Pratzen blautätowiert und in den Ohrläppchen, von denen
das eine halb abgebissen war, kleine goldene Ringe, -- dann der Zulu
Usibepu in dunkelblauem Leinenanzug, wie ihn die Heizer auf den Dampfern
tragen, -- ein buckliger Varietéagent mit langen, scheußlichen
Spinnenfingern, -- der Professor Zitter Arpád, der erstaunlicherweise
wieder seinen Schnurrbart besaß und auch seine übrige Toilette der neuen
Umgebung angepaßt hatte, -- und als fünfter ein sonnengebräunter,
sogenannter »Inder« im weißen Smoking der Tropen, einer jener jungen
Plantagenbesitzerssöhne, die zuweilen aus Batavia oder andern
niederländischen Kolonien nach Europa kommen, um das holländische Vaterland
kennen zu lernen, und dann in wenigen Nächten auf die sinnloseste Art ihr
Geld in Verbrecherkneipen vertun.

Seit einer Woche schon »wohnte« der junge Herr im »Prins van Oranje« und
hatte seitdem auch nicht ein einziges Mal das Tageslicht gesehen, außer
gegen Morgen einen Streifen Dämmerung hinter dem grünverhängten Fenster,
ehe ihm vor Trunkenheit die Augen zufielen und er sich unausgezogen und
ungewaschen auf den Divan warf, um bis spät in den nächsten Abend hinein zu
schlafen. Und dann ging es eilig von neuem an bei Würfeln und Karten, Bier,
schlechtem Wein und Fusel, mit Freihalten von Hafengelichter, chilenischen
Matrosen und belgischen Dirnen, bis der letzte Scheck von der Bank
zurückgewiesen wurde und die Reihe an Uhrkette, Ringe und Manschettenknöpfe
kam.

Zu diesem Schlußfeste hatte der Wirt seinen Freund Zitter Arpád einzuladen
sich verpflichtet gefühlt, und der Herr Professor war denn auch pünktlich
erschienen und hatte gewissermaßen als Picknickbeitrag den Zulukaffern, der
als hervorragender Artist stets bares Geld besaß, mitgebracht.

Einige Stunden lang hatten die Herren bereits dem Macao gehuldigt, ohne daß
es einem von ihnen gelungen wäre, die Glücksgöttin dauernd an seine Seite
zu fesseln, denn so oft der Professor versuchte, mit den Karten die Volte
zu schlagen, jedesmal grinste der Varietéagent und Herr Zitter fühlte sich
bemüßigt, mit seiner Kunstfertigkeit noch ein Weilchen inne zu halten, da
es ihm natürlich nicht passen konnte, seinen schwarzen Schützling mit dem
Buckligen zu teilen.

Umgekehrt verhielt es sich ebenso hinsichtlich des »Inders«, und daher
sahen sich die beiden rivalisierenden Ehrenmänner zu ihrem Leidwesen
genötigt, das erstemal im Leben ehrlich zu spielen, -- eine Beschäftigung,
die, nach dem melancholischen Ausdruck ihrer Gesichter zu schließen, sie an
verflossene Kinderzeiten, als es noch um Knackmandeln und Nüsse ging,
erinnern mochte.

Der Wirt selbst spielte aus freien Stücken ehrlich -- zur Feier des Tages.
Er empfand es seinen Gästen gegenüber als Kavalierspflicht, -- nur, daß ihm
diese für den Fall eines Verlustes den Schaden nachher wieder vergüten
mußten, war selbstverständlich und bedurfte keiner weiteren Vereinbarung,
-- der »Inder« war viel zu harmlos, um auch nur den Gedanken des Mogelns zu
erfassen, und der Zulu in die Geheimnisse der weißen Magie noch viel zu
wenig eingeweiht, als daß er es hätte wagen dürfen, vermittelst
Zuhülfenahme eines fünften Asses Zaubereien zu seinen Gunsten einzuleiten.

Erst gegen Mitternacht, als die lockenden Banjomelodien im Gassenlokal
anfingen, immer stürmischer die Anwesenheit des jungen Mäcens zu heischen,
die schnapsdurstige Menge ihre Ungeduld nicht länger zu meistern vermochte
und schließlich sogar eine à la Pony frisierte Dirne ins Zimmer trat, um
besorgt nach dem Verbleib ihres »Bräutigams« zu sehen, vollzog sich eine
Umgruppierung der Streitkräfte, die zur Folge hatte, daß der »Inder« und
der Zulu im Handumdrehen von Herrn Zitter und dem Varietéagenten auf
gemeinsame Rechnung S. E. & O. ausgeplündert waren. --

Des Herrn Professors hervorstechendste Charaktereigenschaft war
Freigebigkeit, und daher ließ er es sich nicht nehmen, Fräulein Antje in
das nunmehr geleerte Spielzimmer zu einem gemeinsamen Souper mit seinem
Freunde Usibepu zu bitten, dessen Vorliebe für auserlesene Gerichte und ein
Getränkegemisch aus denaturiertem Spiritus und salpetersäurehaltigen
Essenzen, namens »Mogador«, er genau kannte.

Die Unterhaltung bei Tisch bewegte sich fast ausschließlich in einem
Kauderwelsch von Negerenglisch, Kapjargon und Basutodialekt, welche
Sprachen die beiden Herren meisterhaft beherrschten; nur die Kellnerin
mußte sich zumeist auf Glutblicke, Zungeherausstrecken und sonstige
international verständliche Gesten beschränken, um ihren Teil zur Anregung
des Gastes beizutragen.

Gesellschaftsmensch durch und durch, verstand es der Professor nicht nur
aufs trefflichste, das Gespräch keine Sekunde ins Stocken geraten zu
lassen, -- er behielt auch sein Hauptziel, dem Zulu das Geheimnis
abzuknöpfen, wie man mit bloßen Füßen auf glühenden Steinen wandeln könne,
ohne sich zu verbrennen, unentwegt im Auge und ersann tausend Listen, um
seinen Zweck zu erreichen.

Der geschickteste Beobachter hätte ihm nicht angesehen, daß ihn nebenbei
noch ein Gedanke unablässig quälte, der mit einer vertraulichen Botschaft
Antje's: -- der Schuster Klinkherbogk oben unter dem Dach habe nachmittags
in der Schenke einen Tausendguldenschein gegen Gold umwechseln lassen, --
in enger Beziehung stand.

Unter dem Einfluß des feurigen Mogadors, des leckeren Mahles und der
Sirenenkünste der jungen Dame geriet der Zulukaffer bald in einen Zustand
wachsender Raserei, der es geraten erscheinen ließ, alle spitzigen oder
zerbrechlichen Gegenstände aus dem Zimmer zu entfernen, und vor allem ihn
selbst vor der Berührung mit den rauflustigen Matrosen im Gassenlokal, die,
Antjes wegen eifersüchtig, nur darauf lauerten, mit ihren Messern über »den
Nigger« herzufallen, fernzuhalten.

Eine listig hingeworfene, hämische Bemerkung des Professors, das
Zauberkunststück mit den heißen Steinen sei ein plumper Schwindel, brachte
den Zulu schließlich derart außer Rand und Band, daß er alles kurz und
klein zu schlagen drohte, wenn man ihm nicht auf der Stelle ein Becken mit
glühenden Kohlen reiche.

Zitter Arpád, der nur auf diesen Moment gewartet hatte, ließ den längst
bereitstehenden Kübel hereintragen und die glühenden Kohlen auf dem
Zementboden des Zimmers ausschütten.

Sofort kauerte sich Usibepu nieder und atmete den erstickenden Dunst mit
offenen Nüstern ein. Seine Augen bekamen allmählich einen gläsernen
Ausdruck.

Er schien etwas zu sehen, und seine Lippen zuckten wie im Zwiegespräch mit
einem Phantom.

Dann sprang er plötzlich auf, stieß einen markerschütternden Schrei aus, --
so schrill und furchtbar, daß das Gejohle der Menge in der Gassenschenke
jäh verstummte, und sie sich Kopf an Kopf mit totenblassen Gesichtern
lautlos an die Tür des Zimmers drängte, um hereinzuspähen.

Eine Sekunde später hatte er sich die Kleider vom Leib gerissen und
vollführte splitternackt, muskelstrotzend wie ein schwarzer Panther, Schaum
vor dem Mund und den Kopf in wahnwitziger Geschwindigkeit vor- und
rückwärts schleudernd, einen Tanz um die Glut herum.

Der Anblick war derart grausig und erregend, daß es selbst den wilden
chilenischen Matrosen den Atem verschlug vor panischem Schrecken und sie
sich an der Wand halten mußten, um nicht von den Bänken herunterzufallen,
auf die sie gestiegen waren.

Der Tanz endete mit einem Ruck wie unter einem unhörbaren Befehl; der Zulu
schien mit einemmal wieder ganz bei Bewußtsein, -- nur sein Gesicht war
aschgrau geworden, -- trat langsam und gemessen mit bloßen Füßen auf die
glühenden Kohlen und blieb mehrere Minuten lang unbeweglich darauf stehen.

Keine Spur von Brandgeruch, der verraten hätte, daß seine Haut versengt
worden wäre. Als er von dem Gluthaufen herabstieg, fand der Professor seine
Sohlen völlig unversehrt und nicht einmal heiß.

Ein junges Mädchen in der schwarzblauen Tracht der Heilsarmee, die
mittlerweile leise von der Gasse hereingekommen war, hatte den letzten Teil
der Vorstellung mit angesehen und nickte dem Zulu, den sie zu kennen
schien, freundlich einen Gruß zu.

»Ja, wo kommst denn du her, Mary?« rief die Hafensau erstaunt, umarmte sie
und küßte sie zärtlich auf beide Wangen.

»Ich habe Mister Usibepu heute abend durchs Fenster hier sitzen sehen, --
ich kenne ihn vom Café Flora her, wo ich ihm mal die Bibel hab' auslegen
wollen, aber er kann ja leider nur wenig Holländisch --« erklärte Mary
Faatz, -- »und eine feine alte Dame aus dem Béginenstift schickt mich, ich
soll ihn hinaufbringen, und noch zwei vornehme Herrschaften sind auch
oben.«

»Wo oben?«

»No, halt bei dem Schuster Klinkherbogk.«

Zitter Arpád fuhr herum, als er den Namen hörte, tat aber gleich darauf so,
als kümmere es ihn weiter nicht, und fing an, den Zulu, der in seinem
Triumph für Fragen zugänglicher war als sonst, geschickt in seinem
afrikanischen Kauderwelsch auszuholen.

»Ich beglückwünsche meinen Freund und Gönner, den Mister Usibepu aus
Ngomeland und bin stolz zu sehen, daß er ein großer Quimboiseur ist und in
den Zauber Obeah T'changa eingeweiht.«

»Obeah T'changa?« rief der Neger; »Obeah T'changa das da!« -- er schnippte
verächtlich mit den Fingern. -- »Ich Usibepu große Medizin, ich Vidû
T'changa. Ich grüne Gift-Vidû-Schlange.«

Mit Gedankenschnelle reimte sich der Professor ein paar Ideen zusammen. Er
glaubte eine Spur gefunden zu haben. Gelegentlich hatte er im Verkehr mit
indischen Artisten gehört, der Biß gewisser Schlangen rufe bei Individuen,
die sich an das Gift zu gewöhnen imstande seien, abnormale Zustände
erstaunlichster Art, wie Fernsehen, Nachtwandeln, Unverwundbarkeit und
dergleichen hervor. -- Warum sollte, was in Asien möglich war, nicht bei
den afrikanischen Wilden ebenfalls vorkommen?!

»Ich bin auch von der großen Zauberschlange gebissen,« renommierte er und
deutete auf eine ixbeliebige Narbe an seiner Hand.

Der Zulu spuckte geringschätzig aus. -- »Vidû nicht wirkliche Schlange.
Wirkliche Schlange dreckiger Wurm. Vidû-Schlange grüne Geisterschlange mit
Menschengesicht. Vidû-Schlange ist ein Souquiant. Ihr Name ist Zombi.«

Zitter Arpád verlor die Fassung. Was waren das für Worte? Er hatte sie noch
nie gehört: Souquiant? Es schien französischen Ursprungs zu sein. Und was
bedeutete: Zombi?! -- Er war unklug genug, seine Unkenntnis offen
einzugestehen, und gab sein Ansehen dem Neger gegenüber damit ein für
allemal preis.

Usibepu reckte sich hochmütig auf und erklärte: »Ein Mensch, der Haut
wechseln kann, ist ein Souquiant. Lebt ewig. Ein Geist. Unsichtbar. Kann
alles zaubern. Der Vater der schwarzen Menschen war Zombi. Die Zulus seine
Lieblingskinder. Sie gingen aus seiner linken Seite hervor.« -- Er schlug
sich auf den mächtigen Brustkasten, daß es dröhnte. -- »Jeder Königszulu
weiß geheimen Namen von Zombi. Wenn ihn ruft, so Zombi erscheint als große
Gift-Vidû-Schlange mit grünes Menschengesicht und heiliges Fetischzeichen
auf Stirne. Wenn Zulu erstesmal sieht Zombi und Zombi hat Gesicht verhüllt,
so Zulu muß sterben. Wenn aber Zombi erscheint mit verdecktes Stirnzeichen
und grünes Gesicht offen, so Zulu lebt und ist Vidû T'changa, große Medizin
und Herr über Feuer. Ich, Usibepu, bin Vidû T'changa.«

Zitter Arpád biß sich ärgerlich auf die Lippen. Er sah ein, daß sich mit
dem Rezept nichts anfangen ließ.

Umso eifriger bot er sich Mary Faatz als Dolmetscher an, die den inzwischen
wieder angekleideten Zulu durch Gebärden und Worte zu überreden suchte, ihr
zu folgen.

»Die Herrschaften werden sich ohne mich mit ihm nicht verständigen können,«
redete er auf sie ein, aber sie ließ sich nicht überzeugen.

Endlich begriff Usibepu, was Mary von ihm wollte, und ging mit ihr die
Treppe hinauf in Klinkherbogks Wohnung.

                   *       *       *       *       *

Der Schuster saß noch immer, die Papierkrone auf dem Kopf, vor dem Tisch.

Die kleine Katje war zu ihm geeilt, und er hatte die Arme erhoben, als
wollte er das Kind an seine Brust ziehen, sie aber gleich darauf sinken
lassen und wieder in die Kugel gestarrt, als der somnambule Zustand
abermals Besitz von ihm ergriff.

Auf den Zehenspitzen schlich die Kleine an die Wand zurück neben Eva und
Sephardi.

Die Stille im Zimmer war noch tiefer und quälender geworden als vordem, --
konnte von Geräuschen nicht mehr durchbrochen werden, fühlte Eva --, wurde
nur dichter und lauernder, wenn ein leises Rascheln der Kleider oder ein
Knacken in den Dielen sich bisweilen hervorwagte, -- war zur bleibenden
Gegenwart geronnen, unberührbar von den Schwingungen der Töne, -- glich
einem schwarzsammetnen Teppich, auf dem Reflexe von Farben schwimmen, ohne
in die Tiefe dringen zu können.

Unsicher suchende Schritte kamen die Treppe im Hause herauf und näherten
sich der Dachkammer. --

Eva empfand es, als taste sich ein Würgengel aus der Erde empor.

Entsetzt zuckte sie zusammen, als unvermutet die Tür hinter ihr leise
knarrte und der Neger wie ein riesenhafter Schatten im Halbdunkel
auftauchte.

Auch die anderen waren heftig erschrocken, aber niemand getraute sich,
seine Stellung zu verändern, -- als sei der Tod über die Schwelle getreten
und blicke suchend von einem zum andern.

Das Gesicht Usibepu's zeigte keinerlei Verwunderung über die seltsame
Umgebung und die Stille, die im Zimmer herrschte.

Er war unbeweglich stehen geblieben und verschlang Eva mit glühenden
Blicken, ohne den Kopf zu wenden, bis Mary ihr zu Hilfe kam und sich stumm
vor sie stellte.

Das Weiße seiner Augen und die blitzenden Zähne hingen in der Finsternis
wie gespenstische Lichtflecke.

Eva kämpfte ihr Grauen nieder und zwang sich, unverwandt zum Fenster zu
schauen, vor dem, im Mondschein glitzernd, aus einem Kran im Dachfirst eine
armdicke eiserne Kette starr hinab in die Tiefe hing.

Leises, kaum hörbares Plätschern spielte in der Luft, wenn, vom Nachthauch
bewegt, das Wasser der beiden gabelförmig zusammenfließenden Grachten unten
an das Gemäuer des Hauses schlug. --

Ein Schrei am Tisch ließ alle auffahren. --

Klinkherbogk hatte sich halb erhoben und deutete mit steifem Finger auf den
leuchtenden Punkt in der Kugel.

»Da ist er wieder« -- hörte man ihn röcheln, -- »der Furchtbare mit der
grünen Maske vor dem Gesicht, der mir den Namen Abram gegeben hat und das
Buch zu verschlingen.« Wie von einem Glanz geblendet, schloß er die Augen
und sank schwer zurück.

Alle standen regungslos mit angehaltenem Atem; nur der Zulu hatte sich
vorgebeugt, starrte auf eine Stelle über dem Kopf Klinkherbogks in die
Dunkelheit und sagte halblaut:

»Der Souquiant ist hinter ihm.«

Niemand verstand, was er meinte. Dann abermals Totenstille eine lange, kaum
endenwollende Zeit, in der keiner ein Wort zu sprechen vermochte.

Eva fühlte ihre Knie zittern vor unerklärlicher Aufregung.

Sie hatte die Empfindung, als durchdringe ein unsichtbares Wesen in
grauenvoller Langsamkeit allmählich den Raum mit seiner Gegenwart.

Sie griff nach der Hand der kleinen Katje, die neben ihr stand. -- -- -- --
-- -- -- -- -- --

Da flatterte plötzlich irgend etwas mit schreckhaftem Laut in der
Finsternis auf und eine Stimme rief hastig:

»Abraham! Abraham!«

Eva stand das Herz still vor Entsetzen und sie sah, daß auch die andern
zusammenzuckten.

»Hie bin ich,« antwortete der Schuhmacher, ohne sich zu rühren, wie aus dem
Schlaf.

Eva wollte aufschreien, aber die Todesangst schnürte ihr die Kehle zu.

Wiederum lähmte einen Augenblick gräßliche Stille jeden Pulsschlag, dann
flog ein schwarzer Vogel mit weißgefleckten Fittichen irr durchs Zimmer,
schlug mit dem Kopf an die Fensterscheibe und fiel flügelschlagend zu
Boden. -- --

»Es ist Jakob, unsere Elster,« flüsterte die kleine Katje Eva zu; »sie ist
aufgewacht.«

Eva hörte es wie durch eine Wand hindurch; die Worte brachten ihr keine
Beruhigung und verstärkten nur noch das drosselnde Gefühl der Nähe eines
dämonischen Wesens.

Unerwartet wie vorhin der Ruf des Vogels, schlug jetzt abermals eine Stimme
an ihr Ohr; sie kam von den Lippen des Schusters, und es klang wie ein
zerbissener Schrei:

»Isaak! Isaak!«

-- Seine Miene hatte sich plötzlich verwandelt und trug den Ausdruck
lodernden Wahnsinns. --

»Isaak! Isaak!«

»Hie bin ich,« antwortete die kleine Katje -- genau wie vorhin ihr
Großvater auf den Ruf des Vogels; so, als schliefe sie.

Eva fühlte, daß die Hand des Kindes eiskalt war.

Die Elster unter dem Fensterbrett schackerte laut. --

Es hörte sich an, wie das Lachen eines teuflischen Kobolds.

Silbe für Silbe, Ton für Ton hatte die Stille die Worte und das hämische
Gelächter eingeschluckt mit gierigem, gespenstischem Mund. -- Sie waren
entstanden und verstummt wie das Herüberklingen eines Geschehnisses aus
biblischer Vorzeit, das in der Kammer eines armseligen Handwerkers spukhaft
wieder auferstand. -- -- -- --

Ein hallender Glockenschlag von der Nicolaskerk dröhnte durchs Zimmer und
zerriß mit seinem Vibrieren einen Augenblick den Bann.

»Ich möchte gehen, es greift mich zu sehr an,« wandte sich Eva flüsternd zu
Sephardi und ging zur Tür.

Sie wunderte sich, daß sie die Turmuhr die ganze Zeit über nicht gehört
hatte, wo doch erst wenige Stunden vorüber waren, daß es Mitternacht
geläutet haben mußte.

»Kann man den alten Mann so ohne Hilfe allein lassen?« -- fragte sie
Swammerdam, der die Übrigen stumm zur Eile antrieb, und blickte zu
Klinkherbogk hin. »Er scheint noch immer in Trance zu sein? Und auch das
Kind schläft.«

»Er wird bald erwachen, wenn wir fort sind,« beruhigte sie der
Schmetterlingssammler, aber durch seine Worte klang ein leiser Unterton
verhaltner Angst, -- »ich will später nach ihm sehen.«

Man mußte den Neger fast mit Gewalt hinausdrängen, -- seine Blicke hingen
fiebrig an den Goldmünzen auf der Tischplatte; Eva sah, daß Swammerdam ihn
nicht aus den Augen ließ und, als alle die Treppe hinuntergingen, rasch
umkehrte, die Dachkammer des Schuhmachers absperrte und den Schlüssel
einsteckte. -- -- --

Mary Faatz war vorausgelaufen, um den Gästen Mäntel und Hüte aus dem Zimmer
im vierten Stock zu bringen und dann einen Wagen zu holen.

»Wenn nur der König aus Mohrenland wiederkommt; wir haben ihn ohne Abschied
ziehen lassen; oh Gott, warum ist das Fest der Wiedergeburt so traurig
verlaufen!« jammerte Fräulein de Bourignon, als sie mit Swammerdam, der
ihnen das Geleite gegeben hatte und wortkarg mit verstörtem Gesicht neben
ihnen stand, vor dem Haustor auf die Droschke warteten, die sie in das
Béginenstift, Eva in ihr Hotel und Doktor Sephardi nach Hause bringen
sollte; -- aber das Gespräch stockte bald und wollte nicht wieder in Fluß
kommen.

Die Geräusche des Volksfestes in der Warmoesstraat waren erstorben, nur
hinter den verhängten Fenstern der Schenke am Zee Dyk spielte noch ein
Banjo wilde Tänze.

Die Wand des Hauses, die gegen die Nicolaskirche gekehrt war, lag in tiefem
Schatten, -- die andere Seite, auf der die Giebelkammer des Schusters hoch
über der Gracht in das ferne Nebelmeer des Hafens hineinsah, glitzerte naß
und weiß in grellem Mondlicht.

Eva trat an das Geländer, das die Gasse gegen die Gracht abschloß, und
blickte in das schwarze, unheimliche Wasser.

Wenige Meter von ihr entfernt berührte die eiserne Kette, die vom Dachkran,
am Fenster des Schuhmachers vorbei, herabhing, mit dem untern Ende einen
schmalen, kaum fußbreiten Mauervorsprung.

Ein Mann stand in einem Boot und machte sich an der Kette zu schaffen; als
er die helle Frauengestalt erblickte, bückte er sich rasch nieder und
wandte den Kopf weg.

Eva hörte den Wagen um die Ecke kommen und eilte fröstelnd zu Sephardi
zurück; -- einen Herzschlag lang, sie wußte nicht warum und wieso, war die
Erinnerung an die weißen Augen des Negers wieder in ihr wach geworden. --
-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Der Schuster Klinkherbogk träumte, er ritte auf einem Esel durch die Wüste,
an seiner Seite die kleine Katje, und vor ihm her schritt als Führer der
Mann mit der Hülle vor dem Antlitz, der ihm den Namen Abram gegeben hatte.

Tag und Nacht ritt er so, da sah er am Himmel eine Luftspiegelung, und ein
Land, üppig und herrlich, wie er noch nie eins gesehen, senkte sich herab,
und der Mann sagte ihm, es hieße Morija.

Und Klinkherbogk klomm einen Berg empor, baute einen Holzstoß und legte
Katje oben darauf.

Dann reckte er seine Hand aus und faßte das Messer, daß er das Kind
schlachte. Sein Herz war kalt und ohne Mitleid, denn er wußte nach der
Schrift, daß er einen Widder opfern werde zum Brandopfer an Katjes Statt.
Und als er das Kind geopfert hatte, nahm der Mann die Hülle vom Gesicht,
das glühende Zeichen auf seiner Stirn verschwand und er sprach:

»Ich zeige dir, Abraham, mein Angesicht, auf daß du von nun an das Ewige
Leben habest. Das _Zeichen_ des Lebens aber nehme ich von meiner Stirne,
damit sein Anblick dir nimmermehr dein armes Hirn verbrenne. Denn meine
Stirn ist deine Stirn und mein Antlitz ist dein Antlitz. Dies, wisse, ist
in Wahrheit die »zweite Geburt«: daß du eins bist mit mir und erkennest,
daß ich, dein Führer zum Baum des Lebens, du selbst gewesen bist. --

Viele sind, die mein Gesicht gesehen haben, aber sie wissen nicht, daß es
die zweite Geburt bedeutet, darum mag es sein, daß sie das ewige Leben
jetzt nicht finden.

Noch einmal wird der Tod zu dir kommen, ehe du durch die schmale Pforte
schreitest, -- und vorher die Taufe mit Feuer als brennendes Bad des
Schmerzes und der Verzweiflung.

Du hast es selbst so gewollt.

Dann aber wird deine Seele in das Reich, das ich dir bereitet habe,
eingehen, so wie ein Vogel aus seinem Kerker fliegt ins ewige Morgenrot.«
--

Klinkherbogk sah, daß das Antlitz des Mannes aus grünem Golde war und den
ganzen Himmel erfüllte, und er erinnerte sich einer Zeit, da er als junger
Mensch, um denen den Pfad ebnen zu helfen, die nach ihm kämen, im Gebet ein
Gelübde getan hatte, er wolle keinen Schritt mehr vorwärts gehen auf dem
geistigen Wege, es sei denn, daß der Herr des Schicksals die Bürde einer
ganzen Welt auf ihn lege.

Der Mann verschwand.

Klinkherbogk stand in tiefer Finsternis und hörte ein donnerndes Rollen,
das langsam verblaßte, bis es nur mehr klang, als rassele in weiter Ferne
ein Wagen über holpriges Pflaster. Allmählich kam er zu sich, das Traumbild
in seinem Gedächtnis verblich und er sah, daß er in seiner Dachkammer war
und -- eine blutige Ahle in der Hand hielt.

Der Docht der herabgebrannten Kerze kämpfte mit dem Verlöschen und der
flackernde Schein ließ das Gesicht der kleinen Katje, die erstochen auf dem
zerschlissenen Divan lag, fahl aus der Dunkelheit aufzucken.

Der Wahnwitz einer grenzenlosen Verzweiflung fiel über Klinkherbogk her.

Er wollte sich die Ahle in die Brust stoßen, -- die Hand gehorchte ihm
nicht. Er wollte aufbrüllen wie ein Tier, -- ein Krampf hatte seine
Kinnlade gepackt und er konnte den Mund nicht öffnen, -- er wollte sich den
Schädel an der Wand zerschmettern, -- seine Füße taumelten, als wären sie
in den Gelenken zerbrochen.

Der Gott, zu dem er sein ganzes Leben lang gebetet hatte, wachte in seinem
Herzen auf, zur grinsenden Teufelsfratze verwandelt.

Er wankte zur Tür um Hilfe zu holen, rüttelte daran, bis er zusammenfiel,
-- die Tür war verschlossen.

Dann schleppte er sich zum Fenster, riß es empor und wollte nach Swammerdam
schreien, -- da hing zwischen Himmel und Erde ein schwarzes Gesicht und
starrte ihn an.

Der Neger, der an der Kette heraufgeklettert war, schwang sich ins Zimmer.

Einen Augenblick sah Klinkherbogk einen schmalen, roten Streifen unter den
Wolken im Osten; -- wie ein Blitz kam ihm die Erinnerung wieder an seinen
Traum, und er breitete sehnsüchtig die Arme nach Usibepu aus wie nach dem
Erlöser.

Der Neger prallte entsetzt zurück, als er das verklärte Lächeln in
Klinkherbogks Zügen bemerkte, dann sprang er auf ihn zu, faßte ihn am Hals
und brach ihm das Genick.

Eine Minute später hatte er sich die Taschen mit dem Gold vollgestopft und
schleuderte die Leiche des Schusters aus dem Fenster.

Klatschend fiel sie in die trüben, stinkenden Gewässer der Gracht, und über
den Kopf des Mörders hinweg flog die Elster in die Morgendämmerung mit dem
jauchzenden Jubelruf: »Abraham! Abraham!«




Sechstes Kapitel


Hauberrisser hatte bis gegen Mittag geschlafen, trotzdem spürte er eine
bleierne Müdigkeit in allen Gliedern, als er die Augen aufschlug.

Die Spannung, zu erfahren, was in der Rolle stand, die ihm in der Nacht
übers Gesicht gelaufen war, und woher sie gekommen sein könnte, hatte ihn
den ganzen Schlummer hindurch verfolgt wie das gewisse peinigende
Wartegefühl, das einem die Ruhe zu scheuchen pflegt, wenn man sich vor dem
Schlafengehen vornimmt, pünktlich zu einer gewissen Stunde und Minute zu
erwachen.

Er erhob sich, untersuchte die Wände der Nische, in der das Bett stand, und
fand auch bald ohne Mühe das aufklappbare Fach in der Täfelung, in dem sie
offenbar gelegen hatte. Bis auf eine zerbrochene Brille und ein paar
Kielfedern war es vollkommen leer und, nach den Tintenflecken zu schließen,
von dem früheren Bewohner des Zimmers als kleiner Hilfsschreibtisch benutzt
worden.

Hauberrisser bog die Blätter gerade und bemühte sich, sie einigermaßen zu
entziffern.

Die Schriftzüge waren stark verblaßt, an manchen Stellen bereits
unleserlich, und viele Seiten unter dem Einfluß der Mauerfeuchtigkeit
untrennbar zu schimmligem Pappendeckel zusammengebacken, so daß wenig
Hoffnung blieb, sich jemals im Inhalt zurechtfinden zu können.

Anfang und Ende fehlten, und das noch Vorhandene schien, wie die häufige
Ausstreichung von Sätzen verriet, eine Art Entwurf zu irgendeiner
schriftstellerischen Arbeit -- vielleicht zu einem Tagebuch -- zu sein.

Wer der Verfasser gewesen sein mochte, war nirgends ersichtlich,
ebensowenig Datum oder Jahreszahl, die einen Anhaltspunkt für das Alter des
Manuskriptes ergeben hätten.

Mißmutig wollte Hauberrisser die Rolle weglegen und sich wieder
ausstrecken, um die Stunden gestörten Schlummers nachzuholen, da fiel sein
Blick, wie er die Seiten ein letztes Mal durch die Finger laufen ließ, auf
einen Namen, der ihn so erschreckte, daß er einen Moment zweifelte, richtig
gelesen zu haben.

Leider war die Stelle bereits verblättert und seine Ungeduld, sie
wiederzufinden, machte die Arbeit des Suchens vergeblich.

Dennoch hätte er einen Eid schwören mögen, daß es der Name »Chidher Grün«
gewesen sein mußte, der ihm aus dem Dokument entgegengesprungen war. Er sah
ihn deutlich vor sich, wenn er die Augen schloß und sich die betreffende
Stelle vergegenwärtigte.

Die Sonne strahlte heiß durch das vorhanglose, breite Fenster herein; das
Zimmer mit den gelbseiden bespannten Wänden war mit goldenem Glanze
erfüllt, und doch, trotz all der Pracht des Mittagszaubers, faßte
Hauberrisser einen Augenblick das Grauen an; ein Grauen, das er bisher
nicht gekannt hatte, -- jenes Grauen, das ins Leben tritt ohne scheinbar
zureichenden Grund, aus der Nachtseite der Seele herüberschreit wie ein
Geschöpf der Dämmerung, um sich gleich darauf, geblendet vom Licht, wieder
spurlos zu verkriechen.

Er fühlte, daß es nicht von dem Manuskript ausging, auch nicht mit dem
abermaligen Hereinspielen des Namens Chidher Grün in Zusammenhang stand; --
es war das plötzliche, tiefe Mißtrauen gegen sich selbst, das ihm bei
hellem Tage den Boden unter den Füßen wegzog.

Rasch beendete er seine Toilette und klingelte.

»Sagen Sie mal, Frau Ohms,« fragte er die alte Haushälterin, die ihm seine
Junggesellenwirtschaft führte, als sie das Frühstück auf den Tisch stellte,
»wissen Sie zufällig, wer früher hier gewohnt hat?«

Die Alte dachte eine Weile nach.

»Gehört hat das Haus vor vielen Jahren, so weit ich mich erinnern kann,
einem bejahrten Herrn, der, wenn ich mich nicht irre, sehr reich und ein
Sonderling gewesen sein soll. Später stand es lange leer und ging dann in
den Besitz der Waisengelderverwaltung über, Mynheer.«

»Und haben Sie keine Ahnung, wie er geheißen hat und ob er noch lebt?«

»Kann leider nicht dienen, Mynheer.«

»Gut, ich danke.«

Hauberrisser machte sich daran, die Rolle nochmals durchzulesen.

Der erste Teil des Manuskriptes behandelte, wie er bald erkannte, einen
Rückblick des Verfassers und schilderte in kurzen, abgerissenen Sätzen das
Schicksal eines Menschen, der vom Unglück verfolgt, alles nur Erdenkliche
versucht hatte, um sich eine lebenswerte Existenz zu schaffen. Aber
jedesmal waren seine Bemühungen im letzten Augenblick gescheitert. -- Wieso
er später, gewissermaßen über Nacht, zu großen Reichtümern gelangt war,
ließ sich nicht ersehen, da ein paar Bogen fehlten.

Hauberrisser mußte mehrere Blätter, die völlig vergilbt waren, ausscheiden;
was darauf folgte, mochte einige Jahre später geschrieben worden sein, denn
die Tinte war frischer und die Handschrift zitterig, wie unter dem Einfluß
zunehmenden Lebensalters. Ein paar Sätze, deren Inhalt eine gewisse
Ähnlichkeit mit seiner eigenen Gemütsverfassung aufwies, notierte er sich
besonders, um den Zusammenhang besser überblicken zu können:

»Wer da glaubt, er hätte das Leben um seiner Nachkommen willen, belügt sich
selbst. Es ist nicht wahr: die Menschheit hat keinen Fortschritt gemacht.
Es scheint nur so. Sie hat nur Einzelne hervorgebracht, die wirklich
fortgeschritten sind. Im Kreise laufen, heißt: nicht vorwärts kommen. Wir
müssen den Kreis durchbrechen, sonst haben wir nichts getan. Die da wähnen,
das Leben beginne mit der Geburt und ende mit dem Tod, -- freilich, die
sehen den Kreis nicht; wie sollten sie ihn durchbrechen!«

Hauberrisser blätterte um.

Die ersten Worte oben am Rande, die er las, schlugen ihm ins Gesicht.
»Chidher Grün!«

Er hatte sich also doch nicht geirrt.

In atemloser Spannung durcheilte er die nächsten Zeilen. Sie gaben so gut
wie keinen Aufschluß. Der Name Chidher Grün bildete das Ende eines Satzes,
auf der Seite vorher fehlte der Anfang; sie gehörte demnach nicht dazu.
Keine Möglichkeit, die Spur weiter zu verfolgen, die doch mit Sicherheit
schließen ließ, daß der Verfasser der Schrift irgendeine feste Vorstellung
mit dem Namen verbunden, -- vielleicht sogar einen gewissen »Chidher Grün«
persönlich gekannt hatte.

Hauberrisser griff sich an den Kopf. Was da mit einemmal in sein Leben
getreten war, sah sich an, als treibe eine unsichtbare Hand ein boshaftes
Spiel mit ihm.

So interessant das Manuskript noch im selben Abschnitt zu werden versprach
-- er konnte die Geduld nicht mehr aufbringen, weiter zu lesen. Die
Buchstaben tanzten vor seinen Augen.

Er hatte es satt, sich noch länger von albernen Zufällen narren zu lassen.

»Ich werde der Sache ein Ende machen!« -- er rief nach der Haushälterin und
beauftragte sie, einen Wagen zu holen -- »Ich fahre ganz einfach in den
Vexiersalon und lasse mir den Herrn Chidher Grün herausrufen,« beschloß er.
Gleich darauf sah er ein, daß sein Vorhaben nicht viel mehr als einen
Schlag ins Wasser bedeutete, »denn«, überlegte er, »was kann der alte Jude
dafür, daß mich sein Name verfolgt wie ein Kobold?« -- aber Frau Ohms hatte
sich bereits auf den Weg gemacht.

Unruhig schritt er im Zimmer auf und ab.

»Ich benehme mich wie ein Wahnsinniger,« legte er sich zurecht; »was geht
mich die Sache eigentlich an? Statt in Ruhe dahinzuleben -- wie ein
Spießbürger,« ergänzte eine hämische Stimme in seiner Brust, und sofort
verwarf er den angefangenen Gedanken. »Hat mir das Schicksal noch nicht
genug Lehren gegeben,« sagte er sich vorwurfsvoll, »daß das Dasein ein
himmelschreiender Unsinn ist, wenn man es so lebt, wie die Menschheit es
tut? Selbst, wenn ich das Hirnverbrannteste begänne, das sich ausdenken
läßt, -- immer noch wäre es gescheiter, als zurückzufallen in den Trott des
Althergebrachten, dessen letztes Ziel ein zweckloser Tod ist.«

Der Ekel am Dasein meldete sich wieder leise in ihm, und er sah ein, daß
ihm nichts mehr blieb, -- wollte er sich von dem später oder früher
unabwendbaren Selbstmord aus Überdruß retten, -- als sich, eine Zeitlang
wenigstens, widerstandslos treiben zu lassen, bis ihm das Geschick entweder
über die Wende hinweg zu einem dauernd festen Standpunkt verhalf, oder ihm
mit ehernen Worten zurief: es gibt nichts neues unter der Sonne, der Zweck
des Lebens ist: zu sterben. --

Er nahm die Rolle, trug sie in sein Bücherzimmer und sperrte sie in seinen
Schreibtisch.

So argwöhnisch gegenüber der Möglichkeit sonderbarer Geschehnisse war er
bereits geworden, daß er das Blatt, auf dem der Name Chidher Grün obenan
stand, abtrennte und in seine Brieftasche steckte.

Es geschah nicht aus Aberglauben, sie könne verschwinden, sondern lediglich
aus dem Wunsche, das Papier greifbar bei sich zu tragen und nicht auf
Erinnerung allein angewiesen zu sein; -- es war die instinktive
Abwehrstellung eines Menschen, der die verwirrenden Einflüsse des
Gedächtnisses vermeiden will und nicht gesonnen ist, auf die Wahrnehmungen
durch die äußern Sinne zu verzichten, falls verblüffende Zufälle das
gewohnte Bild des Alltags ins Schwanken bringen sollten.

»Der Wagen steht unten,« meldete die Haushälterin, »und dies Telegramm ist
soeben abgegeben worden.«

»Bitte komm zuverlässig heute zum Tee. Größere Gesellschaft, unter andern
dein Freund Ciechoñski, leider auch die Rukstinat, Fluch und Enterbung,
wenn du mich im Stiche läßt.

   Pfeill«

las Hauberrisser und brummte ärgerlich etwas vor sich hin. Er zweifelte
keinen Augenblick, daß sich der »polnische Graf« unverschämterweise auf ihn
berufen hatte, um Pfeills Bekanntschaft zu machen.

Dann gab er dem Kutscher die Weisung, ihn in die Jodenbreestraat zu fahren.

»Ja, nur zu, mitten durch die Jodenbuurt;« sagte er lächelnd, als ihn der
Mann mit bedenklicher Miene fragte, ob er direkt durch den »Jordaan« --
womit er das Ghetto meinte -- fahren, oder Querstraßen benützen solle.

                   *       *       *       *       *

Bald waren sie mitten drin in diesem seltsamsten aller europäischen
Stadtviertel.

Das ganze Leben der Bewohner spielte sich anscheinend auf der Gasse ab. --
Da wurde im Freien gekocht, gebügelt und gewaschen. Ein Strick hing quer
über die Straße, mit schmutzigen Strümpfen daran zum Trocknen und so
niedrig, daß der Kutscher sich bücken mußte, um sie nicht mit dem Kopf
herunterzureißen. -- Uhrmacher saßen vor kleinen Tischen und glotzten, die
Lupen in die Augen geklemmt, der Droschke nach wie erschreckte
Tiefseefische; -- Kinder wurden gesäugt oder über Kanalgitter gehalten.

Einen lahmen Greis hatte man mitsamt dem Bett, unter dem ein Nachtgeschirr
stand, vor ein Haustor getragen, damit er die »frische Luft« genießen
könne, und daneben an einer Straßenecke hielt ein schwammig aufgedunsener
Jude, von oben bis unten beklettert von bunten Puppen wie Gulliver mit den
Zwergen, Spielzeug feil und rief dazu, ohne Atem zu schöpfen, mit einer
Stimme, die klang, als trüge er eine silberne Kanüle im Kehlkopf:
poppipoppipoppipoppipoppi.

»Kleerko, Kleerko, Kle--e--erkoooop,« dröhnte eine Art Jesajas mit Talar
und schneeweißen Ohrlocken, der sich den Handel mit alten Kleidern als
Lebenszweck auserkoren hatte, dazwischen, schwenkte eine einbeinige Hose
wie ein Siegesbanner über dem Haupte und winkte Hauberrissern zu, ihn mit
seinem Besuch beehren zu wollen und ungeniert abzulegen.

Dann wieder tönte aus einer Quergasse ein vielstimmiger Chor in den
merkwürdigsten Modulationen: »Nieuwe haring, niwe ha--a--a--ng; aardbeien
-- aare -- bei--je! de mooie, de mooie, de mooie waar; augurkjes, gezond en
goedkoop,« -- ein appetiterregender Gesang, dem der Kutscher mit
andächtigem Gesicht -- obwohl unfreiwillig -- längere Zeit lauschen mußte,
ehe er wieder im Schritt weiter fahren konnte, denn Berge von bestialisch
stinkenden Fetzen versperrten den Weg und mußten erst weggeräumt werden, um
die Straße frei zu machen. Scharen jüdischer Lumpensammler hatten sie
aufgetürmt und schleppten emsig immer noch neue Haufen heran, wobei sie
verschmähten, sich der üblichen Säcke zu bedienen, und die Bündel
schmutziger Lappen der Einfachheit halber unter den halbaufgeknöpften
Kaftans auf dem bloßen Leibe, eingeklemmt zwischen Rippen und Achseln,
trugen.

Es war ein seltsamer Anblick, wie sie als unförmliche Ballen ankamen,
vollgestopft mit Lumpen, um gleich darauf schlank und dünn in rattenhafter
Eile wieder fortzuhuschen. -- --

Endlich wurde die Straße breiter, und Hauberrisser sah den Glasvorbau des
Vexiersalons in der Sonne glitzern.

Es dauerte eine geraume Weile, bis sich das Schiebefenster des Verschlages
-- diesmal weit weniger geräuschvoll und verkaufslustig als gestern --
herabließ, die Büste der Verkäuferin zu enthüllen.

»Womit kann ich dienen, Mynheer?« fragte die junge Dame auffallend kühl und
sichtlich zerstreut.

»Ich möchte gerne Ihren Herrn Chef sprechen.«

»Der Herr Professor ist leider gestern auf unbestimmte Zeit verreist.« --
Die Verkäuferin biß die Lippen schnippisch zusammen und funkelte
Hauberrisser katzenhaft an.

»Ich meine nicht den Herrn Professor, Fräulein, seien Sie unbesorgt; -- ich
hätte nur gern den alten Herrn einen Augenblick gesprochen, den ich gestern
drin hinterm Pult habe stehen sehen.«

»Ach so _den_,« -- das Gesicht der jungen Dame hellte sich auf. -- »Das ist
ein Herr Pedersen aus Hamburg. Der in den Guckgasten g'schaut hat, net
wahr?«

»Nein, ich meine den alten -- Israeliten im Bureau. Ich dachte, ihm gehöre
das Geschäft.«

»Unser G'schäft? Unser G'schäft hat niemals keinem alten Juden nicht
g'hört, mein Herr. -- Wir sind eine ausgesprochen christliche Firma.«

»Meinetwegen. Aber den alten Juden, der gestern drin hinterm Pult gestanden
hat, möchte ich trotzdem sprechen. Tun Sie mir doch den Gefallen,
Fräulein!«

»Mar' and Joseph,« beteuerte die junge Dame und verfiel zum Zeichen, daß
sie die Wahrheit spräche, in das treuherzigste Wienerisch, das ihr in der
Geschwindigkeit zu Gebote stand, »meiner Seel' und Gott, in unser Bureau
darf überhaupt kein Jud nicht, und niemals hat kein solcher nicht drin
g'standen. Und gestern natürlich schon gar nicht.«

Hauberrisser glaubte ihr kein Wort. Ärgerlich dachte er nach, was er tun
könne, um sie von ihrem Mißtrauen abzubringen.

»Also gut, Fräulein, lassen wir das jetzt; aber sagen Sie mir wenigstens:
wer ist dieser 'Chidher Grün', dessen Namen draußen auf der Tafel steht?«

»Auf welcher Tafel, bitte?«

»Um Himmelswillen! Fräulein! Draußen auf Ihrer Ladentafel!«

Die Verkäuferin riß die Augen auf. -- »Auf unserer Tafel steht doch: Zitter
Arpád!« stotterte sie gänzlich verblüfft.

Hauberrisser ergriff seinen Hut und eilte wütend hinaus, um sich zu
überzeugen. -- Im Spiegel des Türfensters sah er, daß die Verkäuferin sich
mit staunender Gebärde auf die Stirn tupfte. -- Als er dann auf die Gasse
trat und zu dem Firmenschild emporblickte, las er -- und das Herz stand ihm
still dabei -- tatsächlich unter der Bezeichnung Vexiersalon den Namen:
Zitter Arpád.

Von »Chidher Grün« auch nicht ein Buchstabe.

Er war derartig verwirrt und fühlte sich so beschämt, daß er seinen
Spazierstock im Laden im Stiche ließ und schnurstracks wegeilte, um so
rasch wie möglich in eine andere Gegend zu kommen.

                   *       *       *       *       *

Wohl eine Stunde irrte er wie geistesabwesend durch alle möglichen Straßen,
geriet in totenstille Gassen und enge Höfe, in denen plötzlich Kirchen, im
heißen Sonnenbrand träumend, vor ihm auftauchten, -- schritt durch
finstere, kellerkühle Torwege und hörte seine Tritte darin hallen wie in
klösterlichen Kreuzgängen.

Die Häuser ausgestorben, als hätte seit Jahrhunderten kein menschliches
Wesen mehr darin gewohnt, -- hier und da eine Angorakatze mitten unter den
grellblühenden Topfblumen auf barocken Fenstersimsen verschlafen ins
goldene Mittagslicht blinzelnd; nirgends ein Laut.

Hohe Ulmen mit regungslosen Zweigen und Blättern ragten aus winzigen grünen
Gärtchen, umstaunt von einem Gedräng uralter Giebelbauten, die mit ihren
schwarzen Fassaden und den hellen Holzgitterfenstern, sauber gewaschen wie
Sonntagsstaat, greisen, freundlichen Mütterchen glichen.

Er ging durch niedrige Schwibbogen, deren Steinpfeiler blank geschliffen
waren im Laufe der Zeiten, in die Dämmerung gewundener Hohlwege hinein --
Sackgassen, eingeengt von hohen Mauern mit schweren, glatten,
festverschlossenen Eichentoren darin, die seit ihrem Bestehen wohl noch nie
eine Hand geöffnet hatte. Moos wuchs zwischen den Ritzen des Pflasters, und
rötlich marmorne Platten mit verwitterten Grabschriften, eingelassen in
Wandnischen, erzählten von Friedhöfen, die einst hier gestanden haben
mochten.

Dann wieder führte ihn ein schmaler Gehsteig an schmucklosen,
weißbestaubten Häusern entlang, unter denen ein Bach hervorschoß. Drinnen
brauste und dröhnte es geisterhaft wie Pochen von riesigen, steinernen
Herzen.

Geruch nach Nässe in der Luft, und in halboffenen Holzröhren, rechtwinklig
zusammengefügt auf glitschigen Geländerstangen, eilte ein klares Rinnsal in
raschem Gefälle hinab in ein Labyrinth morscher, splittriger Plankenwände.

Gleich darauf eine krumme Reihe engbrüstiger, hoher Gebäude, den Tag
verfinsternd, schief, wie dicht vor dem Einsturz, und eins das andere
stützend, als schwanke der Boden.

Eine Strecke Wegs an Bäcker- und Käseläden vorbei, und moorbraun ruhte vor
ihm der Spiegel einer breiten, stillen Gracht unter dem hellblauen Himmel.

Zwei Reihen von Häusern bildeten die Ufer, standen einander fremd
gegenüber, -- die einen klein und bescheiden wie demütige Handwerker, die
andern hochragend, massig, graue Warenspeicher, selbstbewußt und abweisend.
Keine Brücke, die sie verband; -- nur aus einem Sparrenzaun, von dem
Aalschnüre mit rotgrün geringelten Federposen in die Flut hinabhingen,
wuchs ein Baum neugierig schräg hinüber und griff mit seinen Ästen in die
Fenster der Reichen hinein.

Hauberrisser wanderte zurück der Richtung zu, aus der er gekommen war, und
bald umfing ihn wieder ein Stück Mittelalter, als sei dieser Teil der Stadt
hunderte Jahre stehen geblieben in der Zeit.

Sonnenuhren über kostbaren, verschnörkelten Wappen in den Mauern, blinkende
Spiegelscheiben, rote Ziegeldächer, -- kleine Kapellen, in Schatten
getaucht, -- goldene Turmknäufe, emporschimmernd zu den weißen,
pausbackigen Wolken.

Eine Gittertür vor einem Klosterhof stand offen. -- Er ging hinein und sah
eine Bank unter hängenden Weidenzweigen. Ringsum hohes, wucherndes Gras.
Nirgends ein Mensch weit und breit, kein Gesicht hinter den Fenstern. Alles
wie ausgestorben.

Um seine Gedanken zu sammeln, setzte er sich nieder.

Er fühlte keine Unruhe mehr, und die erste Aufregung, es könnte ein
krankhafter Zustand gewesen sein, der ihn einen falschen Namen auf dem
Ladenschild hatte lesen lassen, war längst verflogen.

Viel wunderbarer, als das merkwürdige äußere Begebnis, schien ihm mit
einemmal die fremdartige Denkungsweise zu sein, in der er sich seit einiger
Zeit bewegte.

»Woher kommt es nur,« fragte er sich, »daß ich -- verhältnismäßig doch noch
ziemlich jung -- dem Leben gegenüber stehe wie ein alter Mann? -- So, wie
ich, denkt man in meinen Jahren nicht.« -- Er bemühte sich vergebens, in
seiner Erinnerung den Zeitpunkt aufzufinden, wo diese Wandlung mit ihm
eingetreten sein mußte. -- Wie wohl jeder junge Mensch, war er bis über die
Dreißig hinaus ein Sklave seiner Leidenschaften gewesen und hatte seinen
Genüssen die Grenzen so weit gesteckt, wie es ihm Gesundheit, Spannkraft
und Reichtum nur irgend gestatteten. -- Daß er als Kind besonders
grüblerischer Natur gewesen wäre, war ihm auch nicht erinnerlich, -- wo
stak also die Wurzel, aus der dieses fremdartige, blütenlose Reis
hervorsproßte, das er sein gegenwärtiges Ich nannte?

»Es gibt ein inneres, heimliches Wachstum,« -- erinnerte er sich plötzlich,
erst vor wenigen Stunden gelesen zu haben; -- er holte das Blatt der
Papierrolle aus seiner Brieftasche hervor, suchte die Stelle und las:

»jahrelang scheint es zu stocken, dann, unerwartet, oft nur durch ein
belangloses Ereignis geweckt, fällt die Hülle, und eines Tages ragt ein Ast
mit reifen Früchten in unser Dasein hinein, dessen Blühen wir nie bemerkt
haben, und wir sehen, daß wir Gärtner eines geheimnisvollen Baumes waren,
ohne es zu wissen. -- -- -- Hätte ich mich doch nie verleiten lassen, zu
glauben, daß irgendeine Macht außer mir selbst diesen Baum zu gestalten
vermag, -- wie viel Jammer wäre mir erspart geblieben! Ich war alleiniger
Herr über mein Schicksal und wußte es nicht! Ich dachte, weil ich es durch
_Taten_ nicht zu ändern vermochte, daß ich ihm wehrlos gegenüberstünde. --
Wie oft ist es mir nicht durch den Sinn gefahren, daß: Herr über seine
Gedanken zu sein, auch bedeuten müsse, der allmächtige Lenker seines
Schicksals zu sein! Aber ich habe es jedesmal verworfen, weil die Folgen
solcher halben Versuche nicht sofort eintraten. -- Ich unterschätzte die
magische Gewalt der Gedanken und verfiel immer wieder in den Erbfehler der
Menschheit, die Tat für einen Riesen zu halten und den Gedanken für ein
Hirngespinst. -- Nur, wer das Licht bewegen lernt, kann den Schatten
gebieten und mit ihnen: dem Schicksal; wer es mit Taten zu vollbringen
versucht, ist selbst nur ein Schatten, der mit Schatten vergeblich kämpft.
Aber es scheint, als müsse uns das Leben fast zu Tode peinigen, bis wir
endlich den Schlüssel begreifen. -- -- Wie vielmal wollte ich andern
helfen, indem ich es ihnen erklärte; sie hörten mir zu, nickten und
glaubten, aber es ging ihnen zum rechten Ohr hinein und zum linken wieder
heraus. -- Vielleicht ist die Wahrheit zu einfach, als daß man sie sogleich
zu erfassen vermöchte. -- Oder muß der »Baum« erst zum Himmel ragen, ehe
die Einsicht kommen kann? -- Ich fürchte, der Unterschied zwischen Mensch
und Mensch ist manchmal größer als der Unterschied zwischen Mensch und
Stein. -- Mit einem feinen Spürsinn herauszufinden, was diesen Baum grünen
macht und vor dem Verdorren schützt, ist der Zweck unseres Lebens. Alles
übrige heißt: Dünger schaufeln und nicht wissen, wozu. Doch wie viele mag's
ihrer heute wohl geben, die verstehen, was ich meine? -- -- Sie würden
glauben, ich redete in Bildern, wenn ich's ihnen sagte. Die
Doppeldeutigkeit der Sprache ist's, die uns trennt. -- Wenn ich öffentlich
etwas schriebe über inneres Wachstum, so würden sie ein »Klügerwerden«
darunter verstehen, oder ein »Besserwerden«; so, wie sie unter Philosophie
eine Theorie verstehen und nicht: ein wirkliches Befolgen. -- -- Das
Gebotehalten allein, selbst das ehrlichste, genügt nicht, um das innere
Wachstum zu fördern, denn es ist nur die äußere Form. Oft ist das
Gebotebrechen das wärmere Treibhaus. Aber wir halten die Gebote, wenn wir
sie brechen sollten, und brechen sie, wenn wir sie halten sollten. Weil ein
Heiliger nur gute Taten vollbringt, so wähnen sie, sie könnten durch gute
Taten Heilige werden; so gehen sie den Pfad eines falschen Gottesglaubens
entlang hinab in den Abgrund und glauben, sie wären Gerechte. -- Eine
irrige Demut blendet sie, so daß sie entsetzt zurücktaumeln, wie Kinder vor
dem eignen Spiegelbild, und fürchten, sie seien wahnsinnig geworden, wenn
die Zeit kommt -- und _sein Gesicht blickt ihnen entgegen_.«

Eine Hoffnungsfreudigkeit, die Hauberrisser neu schien -- so lange hatte
sie in ihm geschlafen -- war mit einemmal wieder aufgewacht und erfrischte
ihn, obwohl er einen Augenblick nicht recht wußte -- es auch gar nicht zu
wissen begehrte -- worüber er sich freuen und worauf er hoffen sollte.

Er fühlte sich plötzlich wie ein Glückskind und nicht mehr wie von
boshaften Zufällen genarrt, daß ihm die sonderbare Geschichte mit dem Namen
»Chidher Grün« passiert war.

»Froh muß ich sein,« jauchzte irgend etwas in ihm auf, »daß das Edelwild
aus den unbekannten Wäldern eines neuen Gedankenreichs den Zaun des Alltags
durchbricht und in meinen Garten grasen kommt, -- froh, und nicht
bedenklich, bloß weil ein paar alte morsche Stakete darüber kaput gehen.«

Daß in den letzten Zeilen des Blattes auf das Gesicht Chidher Grün's
angespielt wurde, erschien ihm sehr wahrscheinlich, und er brannte vor
Ungeduld, mehr zu erfahren, -- zumal ein paar Worte am Schluß der Seite
erraten ließen, daß auf der nächsten ausführlich stehen werde, was man sich
unter »magischer Herrschaft über die Gedanken« vorzustellen habe.

Am liebsten wäre er sogleich nach Hause geeilt, um bis in die Nacht hinein
in der Rolle herumzulesen! -- aber es mußte bald vier Uhr schlagen, und
Pfeill wartete auf ihn. --

Ein Summen in der Luft, das dicht an sein Ohr drang, veranlaßte ihn, sich
umzudrehen. Erstaunt stand er auf, als er nicht weit von seiner Bank einen
Mann, grau gekleidet, eine Fechtmaske vor dem Gesicht und in der Hand eine
lange Stange, stehen sah.

Einige Meter hoch über ihm schwebte in der Luft ein großes, sackartiges
Gebilde, das langsam hin- und herschwankte, sich dann mit dem Zipfel an
einen Zweig des Baumes heftete und dort baumelnd auf und ab bewegte.

Plötzlich fuhr der Mann mit dem Stock darnach, schien das merkwürdige
Gebilde mit der Spitze, oder einem kleinen Netz, das daran befestigt war,
erwischt zu haben, klomm befriedigt an der Feuerleiter des Hauses empor, --
die Stange geschultert und den ungeheuern Sack sozusagen auf dem Rücken, --
und verschwand auf der Plattform des Daches.

»Es ist der Imker des Klosters,« erklärte eine alte Frau, die hinter einem
Ziehbrunnen hervorkam, Hauberrissern, als sie sein verdutztes Gesicht
bemerkte; »der Bienenschwarm ist ihm davon geflogen, und er hat die Königin
wieder eingefangen.« --

Hauberrisser ging hinaus, kam nach ein paar Zickzackgassen auf einen freien
Platz, nahm ein Automobil und ließ sich nach Hilversum zum Landhaus seines
Freundes Pfeill fahren.

                   *       *       *       *       *

Die breite, schnurgerade Straße war belebt von tausenden Radfahrern; er
sauste dahin durch ein Meer von Köpfen und blitzenden Pedalen, -- er
achtete während der ganzen einstündigen Fahrt nicht darauf. Die Umgebung
flog an ihm vorbei. Fest stand nur das Bild vor ihm, das er soeben gesehen
hatte: der Mann mit der Maske und der Schwarm Bienen, die sich um ihre
Königin drängten, als könnten sie nicht leben ohne sie.

Die stumme Natur, die auf seiner letzten Fahrt ins Freie von ihm Abschied
genommen, -- heute war sie mit einem neuen Gesicht zu ihm zurückgekehrt,
und er fühlte, daß er Worte von ihrem Munde las.

Der Mann, der die Königin wieder eingefangen hatte und mit ihr den ganzen
Schwarm, erschien ihm wie ein Gleichnis.

»Ist mein Körper etwas anderes als ein wimmelndes Heer lebendiger Zellen,«
sagte er sich, »die sich nach vererbter Gewohnheit von Jahrmillionen um
einen verborgenen Kernpunkt drehen?«

Er ahnte einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem Vorgang, den er
gesehen, und den Gesetzen der innern und äußern Natur und begriff, wie
zauberhaft schimmernd die Welt vor ihm wieder auferstehen müßte, wenn es
ihm gelingen sollte, auch _die_ Dinge in einem neuen Licht zu betrachten,
die der Alltag und die Gewohnheit ihrer Sprache beraubt hatten.




Siebentes Kapitel


Der Wagen bog in das Villenviertel von Hilversum ein und fuhr geräuschlos
durch eine Lindenallee in den Park, der das in der Sonne weiß schimmernde
Landhaus Buitenzorg umgab.

Baron Pfeill stand auf der Freitreppe und kam freudig herunter gelaufen,
als er Hauberrisser aussteigen sah.

»Famos, daß du gekommen bist, alter Kranich; ich fürchtete schon, meine
Depesche hätte dich in deiner häuslichen Tropfsteingrotte nicht mehr
angetroffen. -- Ist dir etwas passiert? Du siehst so versonnen aus. --
Übrigens: Gott lohne es dir, daß du mir den wundervollen Grafen Ciechoñski
geschickt hast; er ist eine Labsal in dieser trostlosen Zeit.« -- Pfeill
war so gut aufgelegt, daß er seinen Freund, der heftig protestierte und ihn
über den Hochstapler aufklären wollte, gar nicht zu Wort kommen ließ.
»Heute morgen machte er mir seine Aufwartung und ich habe ihn natürlich
über Mittag dabehalten. -- Wenn ich nicht sehr irre, fehlt bereits ein Paar
silberner Löffel. -- -- Er hat sich bei mir eingeführt -- -- --«

»als Patenkind Napoleons des Vierten?«

»Ja. Natürlich. Aber außerdem unter Berufung auf dich!«

»So eine Frechheit!« rief Hauberrisser wütend. »Den Kerl muß man ja in den
Boden hinein ohrfeigen.«

»Warum denn? Er verlangt doch nur, in einen vornehmen Spielklub aufgenommen
zu werden. Man lasse ihm die Grille. Des Menschen Wünsche sind sein
Himmelreich. -- Wenn er sich mit aller Gewalt ruinieren will?«

»Wird nicht gehen; er ist Taschenspieler von Profession,« unterbrach
Hauberrisser.

Pfeill sah ihn mitleidig an. »Du glaubst, damit kommt er heutzutage in
unsern Pokerklubs durch? Falschspielen können die doch selber. Die Hosen
wird er verlieren. À propos, hast du seine Uhr gesehen?«

Hauberrisser lachte.

»Wenn du mich liebst,« rief Pfeill, »so kaufst du sie ihm ab und schenkst
sie mir zu Weihnachten.« -- Er schlich sich behutsam zu einem offenen
Verandafenster, winkte seinem Freund und deutete hinein: »Schau mal, ist
das nicht herrlich?«

Zitter Arpád, trotz der Tageszeit im Frack, eine Hyazinthe im Knopfloch,
eigelbe Stiefel und eine schwarze Krawatte, saß in traulichem tête-à-tête
bei einer älteren Dame, die vor Erregung, endlich einmal wieder einen Mann
eingefangen zu haben, hektische Flecken auf den Wangen hatte und ein
Zuckergoscherl machte.

»Erkennst du sie?« flüsterte Pfeill. »Es ist die Konsulin Rukstinat; Gott
habe sie möglichst bald selig. -- Da! Jetzt zeigt er ihr die Uhr! Wetten
möcht' ich, daß er die Alte durch den Anblick des beweglichen Liebespaares
hinter dem Zifferblatt zu berücken sucht. -- Er ist ein Herzensbrecher
ersten Grades, darüber besteht kein Zweifel.«

»Es ist ein Taufgeschenk Eugène Louis Jean Joseph's,« hörte man den
»Grafen« mit vor Rührung bebender Stimme sagen.

»O Floohzimjersch!«, säuselte die Gnädige.

»Donnerkeil! Soweit halten die schon, daß sie ihn bereits beim Vornamen
nennt?« -- Pfeill pfiff durch die Zähne und zog seinen Freund mit fort. --
»Rasch. Komm! Wir stören. -- Schade, daß die Sonne scheint, sonst würde ich
das Licht abdrehen. Aus Mitgefühl für Ciechoñski. -- Nein, nicht hier
hinein!« -- er hielt Hauberrisser an einer Tür zurück, die der Diener
öffnete, -- »da drinnen wird Politik gebrodelt,« -- einen Augenblick wurde
eine zahlreiche Gesellschaft sichtbar und in ihrer Mitte, beredt aufgebäumt
und die fünf Fingerspitzen gebieterisch auf die Tischplatte gestützt, ein
vollbärtiger Glatzkopf, -- »gehen wir lieber ins Quallenzimmer.« -- --

Erstaunt blickte Hauberrisser umher, als er sich in einem rehfarbenen,
sämischledernen Klubsessel, der so dick wattiert war, daß er fast drin
versank, niedergelassen hatte:

Wände und Plafond waren mit glatten, porenfreien und so kunstvoll
aneinander gefügten Korkplatten, daß man keine Ritze bemerken konnte,
bedeckt, -- die Fensterscheiben aus gebogenem Glas, die Möbel, die
Mauerecken und Winkel, ja selbst die Türstöcke sanft gerundet; nirgends
eine Kante, der Teppich weich wie knöcheltiefer Sand und überall das
gleiche, milde, matte Hellbraun.

»Ich bin nämlich dahinter gekommen,« erklärte Baron Pfeill, »daß ein
Mensch, der in Europa zu leben verdammt ist, eine Tobsuchtszelle nötiger
hat als irgend etwas sonst. In Räumen, wie dieser, nur eine Stunde zu
sitzen, reicht hin, um auch den reizbarsten Zappelphilipp für lange Zeit in
eine sanftmütige Molluske zu verwandeln. Ich versichere dir, ich kann mit
Pflichten vollgepfropft sein bis zum Hals, -- der bloße Gedanke an mein
weiches Zimmer genügt, und schon fallen alle guten Vorsätze von mir ab wie
vom Fuchs das Ungeziefer, wenn man ihn in Milch badet. Dank dieser
sinnreichen Einrichtung bin ich jederzeit in der Lage, auch das wichtigste
Tagewerk reuelos zu versäumen.«

»Wer dich so reden hört,« sagte Hauberrisser belustigt, »müßte unfehlbar
glauben, du seiest der zynischste Genußmensch geworden, der sich ausdenken
läßt.«

»Falsch!« widersprach Pfeill und schob seinem Freund eine Zigarrenkassette
mit geschweiftem Buckeln hin, »ganz und gar falsch. Es ist lediglich die
abgefeimteste Gewissenhaftigkeit gegen mich selbst, die mein Denken und
mein Tun leitet. -- Ich weiß, du bist der Ansicht, das Leben sei sinnlos;
auch ich war lange in diesem Wahn befangen, aber allmählich ist mir ein
Licht aufgegangen. Man muß nur mit der Streberei aufhören und wieder ein
natürlicher Mensch werden.«

»Und das« -- Hauberrisser deutete auf die Korkwände -- »nennst du:
natürlich?«

»Freilich! -- Wenn ich arm wäre, müßte ich in einer verwanzten Kammer
wohnen, -- täte ich es jetzt freiwillig, so hieße das, die Unnatur auf den
Gipfel treiben. Das Schicksal muß doch irgend etwas damit bezwecken, daß es
mich hat reich auf die Welt kommen lassen. -- Mich belohnen für etwas, was
ich in einem früheren Dasein begangen und, unberufen, vergessen habe? Das
riecht mir zu sehr nach theosophischem Kitsch. -- Am wahrscheinlichsten,
glaube ich, ist's, daß es mir die hehre Aufgabe stellt, ich solle mich so
lange an den Süßigkeiten des Lebens überfressen, bis ich es satt bekäme und
der Abwechslung wegen wieder einmal nach hartem Brot begehrte. Soll
geschehen; an mir wird's nicht fehlen. Schlimmstenfalls irre ich mich. --
Mein Geld andern schenken? Bitte, sofort; aber einsehen müßte ich vorher,
weshalb. Bloß weil's in so vielen Schmökern steht? Nein. Auf das
sozialistische Motto: 'Geh du weg und laß mich hin', falle ich prinzipiell
nicht herein. Soll ich vielleicht einem, der bittere Medizin braucht, eine
süße reichen? -- Schicksal panschen, das könnte mir so fehlen.«

Hauberrisser kniff ein Auge zu.

»Ich weiß schon warum du grinst, Halunke,« fuhr Pfeill ärgerlich fort; »du
spielst auf die gottverfluchten paar Kröten an, die ich da dem Schuster --
aus Versehen natürlich -- geschickt habe. Der Geist ist willig, aber das
Fleisch ist schwach. -- -- Was sind das für Taktlosigkeiten, mir meine
Schwächen vorzuhalten! Die ganze Nacht habe ich mich wegen meiner
Charakterlosigkeit gegiftet. Was, wenn der Alte überschnappt, dann bin ich
Schuld daran.«

»Wenn wir schon davon sprechen,« gab Hauberrisser zu, »keinesfalls hättest
du ihm auf einen Hieb so viel schicken brauchen und ihn lieber --«
»brockenweis verhungern lassen sollen,« ergänzte Pfeill höhnisch. »Alles
das ist Blech. Ich gebe zu, wer nach dem Gefühl handelt, dem wird viel
vergeben, weil er viel geliebt hat. Aber zuerst hat man mich gefälligst zu
fragen, ob ich darauf reflektiere, daß man mir etwas vergibt. Ich gedenke
nämlich meine Schulden, auch die geistigen, bis auf den letzten Cent zu
bezahlen. Mir schwant, meine wertgeschätzte Seele hat sich lange vor meiner
Geburt klugerweise große Reichtümer gewünscht. -- Vorsichtshalber. Um nicht
durch das Nadelöhr in den Himmel zu kommen. Sie liebt eben rastloses
Halleluja-Gerufe nicht und eintönige Musik ist mir auch ein Graus. -- Ja,
wenn der Himmel nur eine leere Drohung wäre! Aber ich bin fest überzeugt,
es gibt so ein Institut nach dem Tode. Da ist es natürlich ein äußerst
schweres Balancierstück, einerseits anständig zu bleiben und anderseits
trotzdem einem künftigen Paradies zu entwischen. Ein Problem, über das sich
schon der gottselige Buddha den Kopf zerbrochen hat.«

»Und du dir auch, wie ich merke.«

»Gewiß. Bloß leben genügt doch nicht. Oder? -- Du scheinst überhaupt nicht
zu ahnen, wie ungeheuer ich in Anspruch genommen bin. Nicht in bezug auf
Gesellschaften, -- das macht meine Hausdame drin ab -- sondern durch die
geistige Arbeit, die mir infolge beabsichtigter -- Gründung -- eines --
neuen -- Staates und einer neuen Religion erwächst. Jawohl.«

»Um Gotteswillen! Du wirst noch eingesperrt werden.«

»Fürchte nichts, ich bin kein Aufrührer.«

»Ist deine Gemeinde schon groß?« fragte Hauberrisser lächelnd, da er einen
Witz vermutete.

Pfeill sah ihn scharf an und sagte dann nach einer Pause: »Du scheinst
mich, wie meistens, leider falsch zu verstehen. Spürst du nicht, daß etwas
in der Luft liegt, was, vielleicht seit die Erde steht, noch nie so stark
in der Luft gelegen hat? Einen Weltuntergang zu prophezeien ist eine
undankbare Sache; er ist zu oft im Laufe der Jahrhunderte vorausgesagt
worden, als daß die Glaubwürdigkeit nicht darunter gelitten hätte.

Trotzdem, glaube ich, behält diesmal derjenige Recht, der das Kommen eines
solchen Ereignisses zu fühlen behauptet. Es braucht ja nicht gleich eine
Vernichtung der Erde zu sein, -- der Untergang einer alten Weltanschauung
ist auch ein Weltuntergang.«

»Und ein derartiger Umschwung in den Anschauungen, meinst du, könnte sich
von heut auf morgen vollziehen?« -- Hauberrisser schüttelte zweifelnd den
Kopf, -- »da glaube ich eher noch an bevorstehende Naturereignisse
verheerender Art. Über Nacht ändern sich die Menschen nicht.«

»Sage ich denn, daß äußere Katastrophen ausbleiben müssen?!« rief Pfeill;
»im Gegenteil, jeder Nerv in mir ahnt ihr Kommen. -- Was die plötzliche
innere Veränderung der Menschheit anbetrifft, so hast du hoffentlich nur
scheinbar Recht. Wie weit kannst du denn in der Geschichte zurückblicken,
daß du solche Behauptungen aufstellen dürftest? Doch kaum ein paar lumpige
tausend Jahre! -- Hat es selbst in dieser kurzen Zeit nicht geistige
Epidemien gegeben, deren rätselhaftes Auftauchen einen nachdenklich machen
müßte? -- Kinderkreuzzüge sind vorgekommen, -- freilich, ob's die
Menschheit jemals zu Kommiskreuzzügen bringen wird, ist zweifelhaft. Aber
möglich ist manches, sogar um so wahrscheinlicher, je länger es auf sich
warten läßt. -- Bisher haben die Menschen einander zerfleischt um gewisser
verdächtiger Unsichtbarer willen, die sich vorsichtshalber nicht Geister
nennen, sondern 'Ideale'. Jetzt, glaube ich, hat endlich die Stunde des
Krieges gegen diese Unsichtbaren geschlagen, -- und da möchte ich gerne
dabei sein. Seit Jahren schon werde ich zum Soldaten im geistigen Sinne
abgerichtet, das ist mir längst klar, aber so deutlich, wie jetzt, habe ich
noch nie empfunden, daß eine große Schlacht gegen diese verfluchten
Gespenster bevorsteht. Ich sage dir, wenn man einmal in das Ausroden der
falschen Ideale hineinkommt, -- nicht fertig wird man damit. Es ist kaum
glaublich, was sich da alles auf dem Wege der Ideenvererbung an
impertinentem Schwindel in einem aufgehäuft hat. -- Und siehst du, dieses
systematische Ausjäten von Unkraut in mir nenne ich die Gründung eines
neuen -- Staates. Aus Rücksicht für die bestehenden Systeme und aus
Taktgefühl gegenüber meinen Mitmenschen, denen ich, Gott sei vor, meine
Ansichten über innere Wahrhaftigkeit und unbewußte Verlogenheit nicht
aufdrängen möchte, habe ich mich von vornherein darauf beschränkt, in
meinen Staat, -- den ich den keimfreien Staat nenne, weil er gründlich
desinfiziert ist von den seelischen Bakterien eines _falschen_ Idealismus,
-- nur einen einzigen Untertanen aufzunehmen, nämlich mich selbst. Ebenso
bin ich der einzige Missionär meines Glaubens. Übertrittlinge brauche ich
nicht.«

»Organisator bist du demnach nicht, wie ich sehe,« warf Hauberrisser
erleichtert ein.

»Zum Organisieren fühlt sich heute jeder berufen, daraus geht schon hervor,
wie falsch es sein muß. Das Gegenteil von dem, was der große Haufe tut, ist
an sich schon richtig.« -- Pfeill erhob sich und ging auf und ab. -- »Nicht
einmal Jesus hat sich unterfangen, zu organisieren, er hat ein Vorbild
gegeben. Frau Rukstinat und Konsorten natürlich erfrechen sich, zu
organisieren. Organisieren darf nur die Natur oder der Weltgeist. -- _Mein_
Staat soll ewig sein; er braucht keine Organisation. Wenn er eine hätte,
würde er sein Ziel verfehlen.«

»Aber einmal wird dein Staat, wenn er einen Zweck haben soll, ja doch aus
Vielen bestehen müssen; woher willst du diese Bürger nehmen, lieber
Pfeill?«

»Hör zu: Wenn _ein_ Mensch einen Einfall hat, so beweist das nur, daß viele
gleichzeitig denselben Gedanken gefaßt haben. Wer das nicht versteht, weiß
nicht, was ein Einfall ist. Gedanken sind ansteckend, auch wenn man sie
nicht ausspricht. Dann vielleicht erst recht. Ich bin fest überzeugt: in
diesem Augenblick sind schon eine ganze Menge meinem Staat beigetreten, und
schließlich wird er die Welt überschwemmen. -- Die körperliche Hygiene hat
große Fortschritte gemacht, -- man desinfiziert sogar schon die Türklinken,
um sich nicht irgendeine Krankheit zu holen, -- ich sage dir, es gibt
gewisse Schlagworte, die weit schlimmere Krankheiten, zum Beispiel: Rassen-
und Völkerhaß, Pathos und dergleichen, übertragen und mit viel schärferer
Lauge keimfrei gemacht werden müßten als Türklinken.«

»Du willst also den Nationalismus ausrotten?«

»Es soll von mir in fremden Gärten nichts ausgerottet werden, was nicht von
selbst stirbt. In meinem eignen darf ich tun und lassen, was ich will. Der
Nationalismus scheint für die meisten Menschen eine Notwendigkeit zu sein,
das räume ich ein, aber es ist hoch an der Zeit, daß es endlich auch einen
»Staat« gibt, in dem die Bürger nicht durch Landesgrenzen und gemeinsame
Sprache zusammengehalten werden, sondern durch die Denkungsart und leben
können wie _sie_ wollen.

-- In gewissem Sinne haben die ganz recht, die lachen, wenn einer sagt, er
wolle die Menschheit umgestalten. -- Sie übersehen bloß, daß es vollkommen
genügt, wenn ein einzelner sich bis in die Wurzeln umgestaltet. Sein Werk
kann dann niemals vergehen, -- gleichgültig, ob es der Welt bekannt wird
oder nicht. So einer hat ein Loch ins Bestehende gerissen, das nie mehr
zuwachsen kann, ob es jetzt die andern gleich bemerken oder eine Million
Jahre später. Was einmal entstanden ist, kann nur scheinbar verschwinden.
So ein Loch in das Netz zu reißen, in dem die Menschheit sich verfangen
hat, -- nicht durch öffentliches Predigen, nein: indem ich selbst der
Fessel entrinne, das ist's, was ich will.«

»Bringst du die äußern Katastrophen, an deren Hereinbrechen du glaubst, in
irgendwelchen ursächlichen Zusammenhang mit der vermutlich kommenden
Denkänderung der Menschheit?« fragte Hauberrisser.

»Aussehen wird es natürlich immer so, als gäbe ein äußeres Unglück, zum
Beispiel ein großes Erdbeben, den Anlaß zum sogenannten »Insichgehen« des
Menschen, -- aber nur so aussehen. Die Geschichte mit der Ursache und
Wirkung verhält sich, scheint mir, ganz anders. Ursachen können wir nie
erkennen; alles, was wir wahrnehmen, ist Wirkung. Was uns Ursache zu sein
scheint, ist in Wahrheit nur ein -- Vorzeichen. Wenn ich diesen Bleistift
hier loslasse, wird er zu Boden fallen. Daß das Loslassen die _Ursache_ des
Herunterfallens ist, mag ein Gymnasiast glauben, ich glaub's nicht. Das
Loslassen ist ganz einfach das untrügliche Vorzeichen des Herunterfallens.
Jedes Geschehnis, auf das ein zweites folgt, ist dessen Vorzeichen. Ursache
ist etwas vollständig anderes. Allerdings bilden wir uns ein, es stünde in
unserer Macht, eine Wirkung hervorzubringen, aber es ist ein unheilvoller
Trugschluß, der uns die Welt beständig in einem falschen Licht sehen läßt.
In Wahrheit ist es nur ein- und dieselbe geheimnisvolle Ursache, die den
Bleistift zu Boden fallen macht und mich kurz vorher verleitet hat, ihn
loszulassen. Eine plötzliche Denkänderung des Menschen und ein Beben der
Erde kann wohl gleiche Ursache haben, -- aber daß das eine die Ursache des
andern wäre, ist vollkommen ausgeschlossen, so plausibel es auch dem
»gesunden« Verstand dünken mag. Das erste ist genau so Wirkung wie das
zweite; eine Wirkung ruft die andere niemals hervor, -- kann, wie gesagt,
ein Vorzeichen sein in einer Kette von Geschehnissen, aber sonst auch
nichts. Die Welt, in der wir leben, ist eine Welt der Wirkungen. -- Das
Reich der wahren Ursachen ist verborgen; wenn es uns gelingt, bis dorthin
vorzudringen, werden wir zaubern können.«

»Und sollte: seine Gedanken beherrschen können, -- das heißt, die
geheimsten Wurzeln ihres Entstehens aufdecken -- nicht dasselbe sein wie
zaubern?«

Pfeill blieb mit einem Ruck stehen. »Freilich! Was sonst? Eben deshalb
stelle ich das Denken um eine Stufe höher als das Leben. Es führt uns einem
fernen Gipfel zu, von dem aus wir nicht nur alles werden überschauen,
sondern alles, was wir wollen, auch werden vollbringen können. -- Vorläufig
zaubern wir Menschen noch mit Maschinen; ich glaube, die Stunde ist nahe,
wo wenigstens einige es mit bloßem Willen zustande bringen werden. Das
bisher so beliebte Erfinden von wundervollen Maschinen war nichts weiter
als ein Pflücken von Brombeeren, die neben dem Wege zum Gipfel wachsen. --
Wertvoll ist nicht die »Erfindung«, sondern das Erfindenkönnen, wertvoll
ist nicht ein Gemälde, höchstens kostbar, wertvoll ist nur das Malenkönnen.
Das Gemälde kann vermodern, das Malenkönnen kann nicht verloren gehen, auch
wenn der Maler stirbt. Es bleibt als vom Himmel geholte Kraft bestehen, die
vielleicht für lange Zeit schlafen gehen mag, aber immer wieder aufwacht,
wenn das geeignete Genie geboren wird, durch das sie sich offenbaren kann.
Ich finde es sehr tröstlich, daß die wertgeschätzte Kaufmannschaft dem
Erfinder quasi nur das Linsengericht abschwätzen kann und nicht das
Wesentliche.«

»Du läßt mich heute, scheint's, gar nicht zu Worte kommen,« unterbrach
Hauberrisser; »mir schwebt schon lange etwas auf der Zunge, was ich sagen
möchte.«

»Also los! Warum sprichst du nicht?«

»Vorerst nur noch eine Frage: Hast du Anhaltspunkte, oder -- oder
Vorzeichen, daß wir alle vor einem -- nennen wir's mal: Wendepunkt --
stehen?«

»Hm. -- Ja. -- Es ist das wohl mehr Gefühlssache. Ich tappe da selbst noch
ziemlich im Finstern. -- _Ein_ Faden zum Beispiel, an dem ich mich
vorwärtstaste, ist dünn wie ein Spinngewebe. -- Ich bilde mir nämlich ein,
daß ich gewisse Grenzsteine in unserer innern Fortentwicklung gefunden
habe, die uns anzeigen, wann wir ein neues Gebiet betreten. Das zufällige
Zusammentreffen mit einem Fräulein van Druysen -- du wirst sie heute noch
kennen lernen -- und etwas, was sie mir von ihrem Vater erzählte, hat
mich darauf gebracht. Ich schloß daraus, -- vielleicht ganz
ungerechtfertigterweise -- daß ein solcher 'Grenzstein' im menschlichen
Bewußtsein ein für alle, die reif dazu sind, gleiches inneres Erlebnis ist.
-- Nämlich, -- lache jetzt bitte nicht --: die Vision eines grünen
Gesichtes.«

Hauberrisser faßte erregt den Arm seines Freundes und unterdrückte einen
Ausruf des Erstaunens.

»Um Gotteswillen, was ist dir?« rief Pfeill.

In fliegenden Worten erzählte Hauberrisser, was er erlebt hatte.

Das Gespräch, das sich daraus entspann, fesselte sie dermaßen, daß sie den
Diener kaum bemerkten, der melden kam, Fräulein Eva van Druysen und Herr
Dr. Ismael Sephardi seien eingetroffen, und Baron Pfeill auf einer Tablette
zwei Visitenkarten und das Abendblatt der Amsterdamer Zeitung überreichte.

                   *       *       *       *       *

Bald war die Unterhaltung über das grüne Gesicht in vollem Gange.

Hauberrisser hatte die Erzählung seines Erlebnisses im Vexiersalon Pfeill
überlassen, und auch Fräulein van Druysen beschränkte sich darauf, nur hie
und da ein Wort einzuflechten, als Dr. Sephardi den Besuch bei Swammerdam
schilderte.

Von Verlegenheit konnte natürlich weder bei Eva van Druysen, noch bei
Hauberrisser die Rede sein, aber trotzdem standen sie beide unter einem
Stimmungsdruck, der ihnen das Sprechen erschwerte. Sie zwangen sich
förmlich, einander mit den Blicken nicht auszuweichen, aber jedes fühlte
genau, daß das andere log, wenn es sich bemühte, irgend etwas
Gleichgültiges zu sagen.

Der vollständige Mangel an weiblicher Koketterie bei Eva verwirrte
Hauberrisser fast; er sah ihr an, wie peinlich sie darauf achtete, alles zu
vermeiden, was auch nur den leisesten Schein von Gefallsucht oder tieferem
Interesse an ihm hätte erwecken können, -- aber er schämte sich
gleichzeitig wie einer groben Taktlosigkeit, daß es ihm nicht gelingen
wollte, vor ihr zu verhüllen, wie sehr er das Gekünstelte in ihrer innern
Ruhe durchschaute. Er erriet, daß seine Gedanken offen vor ihr dalagen, aus
der erzwungenen Gelangweiltheit, mit der ihre Hände an einem Rosenbukett
spielten, aus der Art, wie sie eine Zigarette rauchte, -- merkte es an
hundert andern Kleinigkeiten; aber es gab für ihn kein Mittel, ihr zu Hilfe
zu kommen.

Eine einzige phrasenhafte Bemerkung seinerseits würde genügt haben, ihr die
Sicherheit, die sie heuchelte, wieder zu geben, -- würde aber auch genügt
haben, sie entweder aufs tiefste zu verletzen, oder ihn selbst in ein Licht
wenig geschmackvollen Gockeltums zu rücken, -- was er natürlich ebenfalls
zu vermeiden wünschte.

Als sie eingetreten, war er einen Moment sprachlos gewesen über ihre
geradezu verblüffende Schönheit, und sie hatte es wie eine Bewunderung
hingenommen, an die sie gewöhnt sein mußte; dann aber, als sie zu bemerken
glaubte, daß seine Verwirrung nicht ausschließlich durch sie verursacht
war, sondern ebensogut durch die Unterbrechung eines interessanten
Gesprächs zwischen ihm und Baron Pfeill, -- war die peinliche, nicht mehr
loszuwerdende Empfindung über sie gekommen, den Eindruck plumper,
weiblicher Sieghaftigkeit auf ihn gemacht zu haben.

Hauberrisser begriff instinktiv, daß Eva ihre Schönheit, die eine Frau wohl
stolz tragen durfte, als Mädchen in ihrer seelischen Feinfühligkeit
augenblicklich als Last empfand.

Am liebsten hätte er ihr offen gesagt, wie sehr er sie bewundere, aber er
fürchtete, den richtigen Ton von Unbefangenheit nicht zu finden.

Er hatte im Leben zu viel schöne Frauen geliebt, um beim ersten Anblick
selbst so berückender weiblicher Reize, wie Eva sie besaß, sogleich den
Kopf zu verlieren, aber dennoch stand er bereits tiefer unter ihrem
Einfluß, als er selbst merkte.

Anfangs vermutete er, sie sei mit Sephardi verlobt; als er sah, daß es
nicht der Fall war, durchzuckte ihn eine leise Freude.

Er wehrte sich sofort dagegen; die unbestimmte Angst, seine Freiheit noch
einmal zu verlieren und wiederum von dem alten Wirbelsturm derartiger
Erlebnisse fortgerissen zu werden, warnte ihn, auf seiner Hut zu sein, aber
bald wachte in ihm ein so echtes und inniges Gefühl von Zusammengehörigkeit
mit Eva auf, daß jeder Vergleich mit dem, was er bisher Liebschaft genannt
hatte, von selbst wegfiel.

Das unvermeidliche prickelnde Etwas, das sich infolge der stummen
Gedankenübertragung zwischen beiden entspann, war zu deutlich, als daß es
Pfeill mit seinem scharfen Blick hätte lange verborgen bleiben können. --
Was ihn dabei schmerzlich berührte, war der Ausdruck eines mühsam
verhaltenen, tiefen Weh's, das um die Augen Sephardi's lag und aus jedem
Worte der mit krampfhafter Hast geführten Rede des sonst so schweigsamen
Gelehrten hervorklang.

Er fühlte, daß dieser einsame Mensch eine stille, aber vielleicht um so
heißere Hoffnung zu Grabe trug.

»Wohin, glauben Sie, Herr Doktor,« fragte er, als Sephardi seine Erzählung
beendet hatte, »mag der seltsame Weg wohl führen, den der 'geistige Kreis'
Swammerdams oder des Schuhmachers Klinkherbogk zu gehen sich einbildet? Ich
fürchte, in ein uferloses Meer von Visionen und -- --«

»-- und daran geknüpften Erwartungen, die niemals erfüllt werden,« --
Sephardi zuckte traurig die Schultern, -- »es ist das alte Lied von den
Pilgern, die ohne Führung in der Wüste zum gelobten Land wandern und, eine
trügerische Fata morgana vor Augen, dem qualvollen Tode des Verdurstens
entgegenschreiten. Es hat noch immer mit dem Schrei geendet: 'mein Gott,
mein Gott, warum hast du mich verlassen'!«

»Bei all den andern, die an den Schuhmacher und sein Prophetentum glauben,
mögen Sie recht haben,« mischte sich Eva van Druysen ernst ins Gespräch,
»aber bei Swammerdam irren Sie sich. Ich weiß es gewiß. Denken Sie daran,
was Baron Pfeill uns von ihm erzählt hat! Den grünen Käfer hat er doch
gefunden! Ich kann nicht loskommen von der Überzeugung: es ist ihm
beschieden, auch das Größere zu finden, nach dem er sucht.«

Sephardi lächelte trüb. »Ich wünsche es ihm von Herzen, aber er wird
bestenfalls, wenn er nicht früher darüber zugrunde geht, am Schluß nur zu
dem gewissen: 'Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist' gelangen. --
Glauben Sie mir, Fräulein Eva, ich habe mehr über jenseitige Dinge
nachgedacht, als Sie wohl vermuten, und habe mir ein Menschenleben lang
Kopf und Herz zermartert, ob es denn wirklich kein Entrinnen aus dem
irdischen Kerker gibt. -- Nein, es gibt keines! -- Der Zweck des Lebens
ist, auf den Tod zu warten.«

»Dann wären die noch die Klügsten,« wendete Hauberrisser ein, »die nur dem
Vergnügen leben.«

»Gewiß. Wenn sie es imstande sind. Aber mancher bringt es eben nicht
zuwege.«

»Und was soll _der_ dann tun?« fragte Pfeill.

»Liebe üben und die Gebote halten, wie es in der Bibel steht.«

»Das sagen Sie?!« rief Pfeill erstaunt. »Ein Mensch, der alle
Philosophiesysteme von Lao Tse bis Nietzsche durchstudiert hat! Wer ist
denn der Erfinder dieser 'Gebote'? Ein sagenhafter Prophet, ein angeblicher
Wundertäter. Wissen Sie, ob er nicht nur ein Besessener war? Glauben Sie,
daß ein Schuster Klinkherbogk nicht nach fünftausend Jahren im gleichen
legendenhaften Glanz dastehen wird, wenn sein Name bis dahin nicht längst
vergessen ist?«

»Gewiß, wenn sein Name bis dahin nicht längst vergessen ist,« sagte
Sephardi einfach.

»Sie nehmen also einen Gott an, der über den Menschen thront und ihre
Geschicke lenkt? Können Sie das in Einklang mit irgendwelchem logischen
Denken bringen?«

»Nein, das kann ich nicht. Will es auch nicht. Ich bin Jude, vergessen Sie
das nicht. Ich meine: nicht nur Jude der Religion nach, sondern auch Jude
der Rasse nach, -- und als solcher komme ich immer wieder zum alten Gott
meiner Vorfahren zurück. Es liegt im Blut, und das Blut ist stärker als
alle Logik. Freilich sagt mir mein Verstand, daß ich mit meinem Glauben in
der Irre gehe, aber mein Glaube sagt mir auch, daß ich mit meinem Verstand
in der Irre gehe.«

»Und was täten Sie, wenn Ihnen, wie es dem Schuster Klinkherbogk geschehen
ist, ein Wesen erschiene und Ihnen Ihr Handeln vorschriebe?« forschte Eva.

»An seiner Botschaft zu zweifeln versuchen. Wenn mir das gelänge, so würde
ich seinem Rate nicht folgen.«

»Wenn es Ihnen aber nicht gelänge?«

»Dann wäre meine Handlungsweise von selbst gegeben, nämlich: ihm zu
gehorchen.«

»Ich würde es auch dann nicht tun,« murmelte Pfeill.

»Eine Denkungsart wie die Ihre müßte nur bewirken, daß Ihnen ein
jenseitiges Wesen, wie der -- nennen wir es: »Engel« Klinkherbogks niemals
erscheinen kann, aber seine stumme Weisung würden Sie trotzdem befolgen.
Allerdings in der festen Überzeugung, aus eigener Machtvollkommenheit zu
handeln!«

»Oder umgekehrt,« widersetzte sich Pfeill, »Sie würden sich einbilden, Gott
spräche zu Ihnen durch den Mund eines Phantoms mit grünem Gesicht, während
in Wirklichkeit Sie selbst es wären.«

»Wo soll da ein wesentlicher Unterschied liegen?« entgegnete Sephardi. »Was
ist eine Mitteilung? Ein Gedanke, in _laute_ Worte gekleidet. -- Und was
ist ein Gedanke? Ein _leises_ Wort. Also auch im Grunde nichts anderes, als
eine Mitteilung. Wissen Sie so genau, daß ein Einfall, den Sie haben,
tatsächlich in Ihnen geboren wird und nicht eine Mitteilung von irgendwoher
ist? Ich halte es für mindestens ebenso wahrscheinlich, daß der Mensch
nicht der Erzeuger, sondern nur ein Empfangsapparat -- ein feiner oder ein
grober -- für alle Gedanken ist, die -- nehmen wir einmal an: von der Erde
als Mutter gedacht werden. Das gleichzeitige Auftreten ein und derselben
Idee, wie es doch so häufig vorkommt, spricht Bände für meine Theorie.
_Sie_ freilich, wenn Ihnen so etwas passiert, werden immer sagen, Sie
hätten ursprünglich den betreffenden Einfall gehabt und die andern wären
von Ihnen bloß angesteckt worden. Ich könnte darauf erwidern: Sie waren nur
der erste, der diesen in der Luft liegenden Gedanken aufgefangen hat wie
eine drahtlose Depesche vermittelst eines sensitiveren Gehirns, -- die
andern haben ihn ebenfalls aufgefangen; bloß später als Sie. -- Je
selbstbewußter und kraftvoller nun jemand ist, desto mehr wird er zu der
Ansicht neigen, der eigne Schöpfer eines großen Gedankens zu sein; je
schwächer und weicher hingegen, um so leichter wird er glauben, die
betreffende Idee sei ihm -- eingegeben worden. Im Grunde haben beide recht.
Ich bitte, ersparen Sie mir das 'wieso'; ich möchte mich nicht gerne in die
schwierige Erläuterung eines allen Menschen gemeinsamen Zentral-Ich's
verlieren. -- Was die Erscheinung des grünen Gesichtes bei Klinkherbogk,
als Übermittler einer Botschaft oder eines Gedankens, betrifft, -- was, wie
ich schon vorhin sagte, dasselbe ist -- so verweise ich Sie auf die
wissenschaftlich bekannte Tatsache, daß es zweierlei Kategorien von
Menschen gibt: die eine, die in Worten, und die andere, die in Bildern
denkt. Nehmen wir an, Klinkherbogk hätte sein Leben lang in Worten gedacht,
und plötzlich will sich ihm ein völlig neuer Gedanke, für den es noch gar
kein Wort gibt, aufdrängen -- ihm 'einfallen', sozusagen; wie könnte sich
dieser Gedanke anders kundgeben, als durch die Vision eines redenden
Bildes, das eine Verbindungsbrücke zu ihm sucht, -- in Klinkherbogks, in
Herrn Hauberrissers und in Ihrem Falle als ein Mann oder ein Porträt mit
grünem Gesicht?«

»Gestatten Sie nur eine kurze Unterbrechung,« bat Hauberrisser. -- »Der
Vater Fräulein van Druysens hat, wie Sie kurz nach Ihrem Eintritt im Laufe
der Schilderung Ihres Besuchs bei Klinkherbogk erwähnten, den Mann mit dem
erzgrünen Gesicht wörtlich den 'Urmenschen' genannt, -- ich selbst hörte
meine Vision im Vexiersalon sich mit einem ähnlichen Namen bezeichnen, --
Pfeill glaubte, das Porträt des Ewigen Juden, also ebenfalls eines Wesens,
dessen Ursprung weit in der Vergangenheit zurückliegt, gesehen zu haben, --
wie erklären Sie, Herr Sephardi, diese höchst merkwürdige Übereinstimmung?
Als einen uns allen 'neuen' Gedanken, den wir nicht mit Worten, sondern nur
durch ein Bild begreifen könnten, das sich unserm innern Auge darstellt?
Ich für meinen Teil, so kindisch es Ihnen klingen mag, glaube viel eher: es
ist ein und dasselbe spukhafte Geschöpf, das da in unser Leben getreten
ist.«

»Das glaube auch ich,« stimmte Eva leise bei.

Sephardi dachte einen Augenblick nach. -- »Die Übereinstimmung, die ich
erklären soll, scheint mir zu beweisen, daß es ein und derselbe 'neue'
Gedanke ist, der sich Ihnen allen dreien aufdrängen und verständlich machen
wollte, beziehungsweise: noch machen will. Daß das Phantom unter der Maske
eines Urmenschen auftritt, bedeutet, denke ich, nichts anderes, als: ein
Wissen, eine Erkenntnis, sogar vielleicht eine außerordentliche seelische
Fähigkeit, die einstmals in längst vergangenen Zeiten des
Menschengeschlechts existiert hatte, bekannt war und in Vergessenheit
geriet, will wiederum neu werden, und ihr Kommen in die Welt gibt sich als
Vision einigen wenigen Auserlesenen kund. -- Verstehen Sie mich nicht
falsch, ich sage nicht, daß das Phantom etwa kein selbständig existierendes
Wesen sein _könnte_, -- im Gegenteil, ich behaupte sogar: jeder Gedanke ist
ein solches Wesen. -- Der Vater Fräulein Eva's hat übrigens den Ausspruch
getan: 'Er -- der Vorläufer -- ist der _einzige Mensch_, der _kein_
Gespenst ist'.«

»Vielleicht verstand mein Vater darunter, dieser Vorläufer sei ein Wesen,
das die Unsterblichkeit erlangt hat. Glauben Sie nicht?«

Sephardi wiegte bedächtig den Kopf. -- »Wenn jemand unsterblich wird,
Fräulein Eva, bleibt er als unvergänglicher Gedanke bestehen; gleichgültig,
ob er zu unsern Gehirnen als Wort oder als Bild Zutritt zu erlangen vermag.
Sind die Menschen, die auf Erden leben, unfähig, ihn zu erfassen oder zu
»denken«, -- so stirbt er deswegen noch nicht; er wird ihnen nur ferne
gerückt. -- -- -- Um auf den Disput mit Baron Pfeill zurückzukommen: ich
wiederhole, ich kann als Jude von dem Gott meiner Väter nicht weg. Die
Religion der Juden ist in ihrer Wurzel eine Religion selbstgewählter und
absichtlicher Schwäche, -- ist ein Hoffen auf Gott und das Kommen des
Messias. Es gibt, ich weiß, auch einen Weg der Kraft. Baron Pfeill hat ihn
angedeutet. Das Ziel bleibt dasselbe; in beiden Fällen kann es erst erkannt
werden, wenn das Ende erreicht ist. Falsch ist an sich weder der eine noch
der andere Weg; unheilvoll wird er erst dann, wenn ein Schwacher, oder ein
Mensch, der voll Sehnsucht ist wie ich, den Weg der Kraft wählt, und ein
Starker den Pfad der Schwäche. Einstmals, zur Zeit Mosis, als es bloß zehn
Gebote gab, war es verhältnismäßig leicht, ein Zadik Tomim -- ein
vollkommen Gerechter -- zu sein, heute ist es unmöglich, wie jeder fromme
Jude weiß, der sich bemüht, die zahllosen rituellen Gesetze zu halten.
Heute muß Gott uns helfen, sonst können wir Juden den Weg nicht mehr gehen.
Die darüber klagen, sind Toren, -- der Weg der Schwäche ist nur
vollkommener und leichter geworden, und dadurch ist auch der Pfad der Kraft
klarer, denn keiner, der sich selbst erkennt, kann sich mehr auf das Gebiet
verirren, in das er nicht gehört. -- Die Starken haben keine Religion mehr
nötig; sie gehen frei und ohne Stock; diejenigen, die nur an Essen und
Trinken glauben, brauchen ebenfalls keine Religion; sie haben sie _noch
nicht_ nötig. -- Sie bedürfen keines Stockes, denn sie gehen nicht, sie
bleiben stehen.«

»Haben Sie nie etwas von einer Möglichkeit, die Gedanken zu beherrschen,
gehört, Herr Sephardi?« fragte Hauberrisser, »ich meine es nicht im
alltäglichen Sinne des sogenannten Sichbeherrschenkönnens, das man besser
das Unterdrücken einer Gefühlswallung und so weiter nennen sollte. Ich
denke dabei an das gewisse Tagebuch, das ich gefunden habe und von dem
Pfeill vorhin erzählte.«

Sephardi erschrak.

Er schien die Frage erwartet oder befürchtet zu haben, und warf einen
schnellen Blick auf Eva.

In seinem Gesicht malte sich wiederum derselbe Ausdruck von Schmerz, den
Baron Pfeill schon früher an ihm bemerkt hatte.

Dann raffte er sich auf, aber man hörte ihm an, wie er sich zum Reden
zwang:

»Das Herrwerden über die Gedanken ist ein uralter heidnischer Weg zum
wirklichen Übermenschentum, aber nicht zu jenem, von dem der deutsche
Philosoph Nietzsche gesprochen hat. -- Ich weiß nur sehr wenig darüber. Mir
graut davor. -- -- In den letzten Jahrzehnten ist mancherlei über die
»Brücke zum Leben« -- so lautet die echte Bezeichnung dieses gefahrvollen
Pfades -- von Osten her nach Europa gedrungen, aber zum Glück so wenig, daß
keiner, der die ersten Schlüssel nicht hat, sich zurecht finden könnte. Das
Wenige hat schon genügt, um viele tausend Menschen, besonders Engländer und
Amerikaner, die alle diesen Weg der Magie -- es ist nichts anderes --
erlernen wollten, außer Rand und Band zu bringen. Eine umfangreiche
Literatur ist darüber entstanden und ausgegraben worden, zu Dutzenden
laufen Schwindler aller Rassen herum, die sich als Eingeweihte gebärden, --
aber, Gott sei Dank, noch weiß kein einziger, wo die Glocke hängt, die da
läutet. -- Scharenweise sind die Leute nach Indien und Tibet gepilgert,
ohne zu wissen, daß dort das Geheimnis längst erloschen ist. Sie wollen es
noch heute nicht glauben. -- Wohl haben sie dort etwas gefunden, was einen
ähnlichen Namen trägt, -- aber es ist etwas anderes, das schließlich nur
wieder zum Weg der Schwäche, den ich vorhin erwähnt habe, oder zu den
Verwirrungen eines Klinkherbogk führt. Die paar alten Originalschriften,
die darüber existieren, klingen sehr offenherzig, sind aber in Wahrheit der
Schlüssel beraubt und der sicherste Zaun, um das Mysterium zu schützen. --
Es hat auch einmal unter den Juden eine 'Brücke zum Leben' gegeben, und die
Bruchstücke, die ich darüber kenne, stammen aus dem 11. Jahrhundert. Ein
Vorfahre von mir, ein gewisser Salomon Gebirol Sephardi, dessen
Lebensbeschreibung in unserer Familienchronik fehlt, hat sie in
doppelsinnigen Randbemerkungen zu seinem Buch Megôr Hayyîm niedergelegt und
wurde deshalb von einem Araber ermordet. Angeblich soll eine kleine
Gemeinde im Orient, die in blaue Mäntel gekleidet geht und ihre Herkunft
merkwürdigerweise von eingewanderten Europäern -- Schülern der ehemaligen
Goldenen- und Rosen-Kreuzer -- ableitet, das Geheimnis in seiner Gänze noch
bewahren. -- Sie nennen sich: Paradâ, das ist 'Einer, der zum andern Ufer
hinübergeschwommen ist'.«

Sephardi stockte einen Moment und schien an einem Punkt in der Erzählung
angelangt zu sein, über den hinwegzukommen, er seine ganze Kraft aufbieten
mußte.

Er krampfte die Nägel in die Handflächen, und sah eine Weile stumm zu
Boden.

Endlich riß er sich auf, blickte Eva und Hauberrisser abwechselnd fest an
und sagte klanglos:

»Wenn es aber einem Menschen gelingt, über die 'Brücke des Lebens'
hinüberzuschreiten, so ist es ein Glück für die Welt. Es ist fast mehr, als
wenn ihr ein Erlöser geschenkt wird. -- Nur etwas ist vonnöten: ein
einzelner kann dieses Ziel nicht erreichen, _er braucht dazu -- -- eine
Gefährtin_. -- Nur durch eine Verbindung männlicher und weiblicher Kräfte
ist es überhaupt möglich. Darin liegt der geheime Sinn der Ehe, der der
Menschheit seit Jahrtausenden verloren gegangen ist.« -- Die Sprache
versagte ihm, er stand auf und trat ans Fenster, um sein Gesicht zu
verbergen, ehe er scheinbar wieder ruhiger fortfahren konnte: »_Wenn ich
Ihnen beiden mit meinem geringen Wissen über dieses Gebiet jemals
behilflich sein kann, so verfügen Sie über mich._«

                   *       *       *       *       *

Wie ein Blitz trafen Eva seine Worte. -- Sie verstand jetzt, was in ihm
vorgegangen war. -- Die Tränen schossen ihr in die Augen.

Daß Sephardi mit dem durchdringenden Scharfblick eines Menschen, der sein
ganzes Leben in Abgeschlossenheit von der Außenwelt zugebracht, die Dinge,
die sich zwischen Hauberrisser und ihr anbahnten, vorausgesehen hatte, lag
auf der Hand. Was aber mochte ihn bewogen haben, die Entwicklung der
aufkeimenden gegenseitigen Verliebtheit, die unausweichlich vor ihnen lag,
auf so hemmungslose Weise abzukürzen, -- sie beide fast brüsk zu einer
Entscheidung zu drängen?

Wäre nicht sein ganzes Wesen so über jeden Zweifel erhaben echt gewesen, --
hätte sie an den raffinierten Versuch eines eifersüchtigen Nebenbuhlers
glauben müssen, der durch wohlberechnetes Dazwischenfahren ein sich
spinnendes zartes Gewebe zerreißen will. --

Oder war es vielleicht der heroische Entschluß eines Menschen, der sich
nicht stark genug fühlt, die langsame Marter allmählicher Entfremdung von
einer heimlich geliebten Frau zu ertragen, und es vorzieht, selber ein Ende
zu machen, statt vergeblich zu kämpfen?

Eine Ahnung drängte sich ihr auf, als müsse noch irgend etwas anderes der
Grund seines schnellen Handelns sein, -- etwas, was mit seinem Wissen über
die »Brücke des Lebens« zusammenhing, von der er, offenbar absichtlich, mit
so knappen Worten gesprochen hatte. -- --

Sie gedachte der Worte Swammerdams vom plötzlichen Galoppieren des
Schicksals; sie klangen ihr in den Ohren.

Als sie in der verflossenen Nacht vom Geländer der Gracht des Zee Dyk in
die dunklen Wasser hinabgestarrt hatte, war der Mut über sie gekommen, dem
Rat des alten Mannes zu folgen und mit Gott zu reden.

Was sie jetzt erlebte -- war es bereits die Folge davon? -- Eine bange
Angst, daß es so sein müsse, erschreckte sie. -- Das Bild der finstern
Nikolaskirche, das eingesunkene Haus mit der eisernen Kette und der Mann in
dem Boot, der sich so scheu vor ihr zu verbergen getrachtet hatte, huschte
schreckhaft wie die Erinnerung an einen bösen Traum durch ihr Bewußtsein.

Hauberrisser stand am Tisch und ließ wortlos und erregt die Blätter eines
Buches durch die Finger laufen.

Eva fühlte, daß es an ihr war, die peinliche Stille zu brechen.

Sie ging zu ihm, sah ihm fest in die Augen und sagte ruhig:

»Die Worte Doktor Sephardi's sollen nicht der Anlaß sein, daß eine
befangene Stimmung zwischen uns Platz greift, Herr Hauberrisser; sie sind
aus dem Mund eines Freundes gekommen. Was das Schicksal mit uns vorhat,
können wir beide nicht wissen. Heute sind wir noch frei, ich wenigstens bin
es; will uns das Leben zusammenführen, werden wir es weder ändern können,
noch wollen. -- Ich sehe nichts Unnatürliches und nichts Beschämendes
darin, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen. -- Morgen früh fahre ich nach
Antwerpen zurück; ich könnte die Reise verschieben, aber es ist besser, wir
kommen jetzt für längere Zeit nicht zusammen. Ich möchte nicht die
Unsicherheit mit mir herumtragen, Sie oder ich hätten unter dem Eindruck
einer kurzen Stunde voreilig ein Band geknüpft, das sich später nicht mehr
ohne Schmerz lösen ließe. -- Wie ich aus der Erzählung Baron Pfeills
erfahren habe, sind Sie einsam -- wie ich; lassen Sie mich das Gefühl
mitnehmen, daß ich es von jetzt an nicht mehr bin und jemand Freund nennen
darf, mit dem mich gemeinsam die Hoffnung verbindet, einen Weg zu suchen
und zu finden, der jenseits der Alltäglichkeit liegt. -- Und zwischen uns«
-- sie lächelte zu Sephardi hinüber, -- »bleibt die alte, treue
Freundschaft bestehen, nicht wahr?«

Hauberrisser ergriff die dargebotene Hand und küßte sie.

»Ich bitte Sie nicht einmal, Eva, -- seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie
mit dem Vornamen nenne, -- Sie möchten in Amsterdam bleiben und nicht
reisen. Es wird das erste Opfer sein, das ich bringe, daß ich Sie am selben
Tage noch verliere, wo ich Sie -- -- --«

»Wollen Sie mir den ersten Beweis Ihrer _Freundschaft_ geben?« unterbrach
Eva schnell; »dann reden Sie jetzt nicht mehr von mir. Ich weiß, daß es
weder Höflichkeit noch leere Form ist, die Ihnen die Worte, die Sie sagen
wollen, eingibt, -- aber, bitte, beenden Sie den Satz nicht. Ich möchte,
daß -- die Zeit uns belehren soll, ob wir einander mehr sein werden als
Freunde.« -- --

Baron Pfeill war aufgestanden, als Hauberrisser zu sprechen begonnen hatte,
und wollte unauffällig, um die beiden nicht zu stören, das Zimmer
verlassen. Da er sah, daß ihm Sephardi nicht folgen konnte, ohne dicht an
ihnen vorüber zu gehen, trat er an das runde Ecktischchen neben der Tür und
griff nach dem Zeitungsblatt.

Ein Ausruf der Bestürzung entfuhr ihm, nachdem er die ersten Zeilen
durchflogen hatte:

»Am Zee Dyk ist heute nacht ein Mord geschehen!« --

Laut und die nebensächlichen Stellen eilig überspringend, las er den
andern, die erschreckt aufhorchten, vor:

   »=Der Täter bereits entdeckt.=

Wir bringen zu unserm Bericht in der Mittagsausgabe nachträglich folgendes:

Als der am Zee Dyk wohnhafte Privatgelehrte Jan Swammerdam noch vor
Tagesanbruch die von ihm aus bisher unaufgeklärten Gründen von außen
abgeschlossene Dachkammer Klinkherbogks aufsperren wollte, fand er sie halb
offen stehen und erblickte beim Betreten des Zimmers die blutüberströmte
Leiche der ermordeten kleinen Katje. Der Schuster Anselm Klinkherbogk war
verschwunden, ebenso eine größere Summe Geldes, die er nach Aussage
Swammerdams noch am Abend besessen hatte.

Der Verdacht der Polizei richtete sich sofort auf einen im Hause
bediensteten Kommis, den eine Frau gesehen haben will, wie er sich mit
einem Schlüssel in der Dunkelheit an der Tür der Dachkammer zu schaffen
machte. Er wurde sofort in Haft genommen, aber bereits wieder in Freiheit
gesetzt, da sich inzwischen der wirkliche Täter selbst gestellt hat.

Man vermutet, daß der greise Schuhmacher zuerst und hierauf sein Enkelkind,
das vermutlich über dem Lärm erwacht war, ermordet worden ist. -- Seine
Leiche wurde offenbar aus dem Fenster hinab in die Gracht geschleudert. --
Ein Abschleppen des Wassers führte bisher zu keinem Resultat, da der Grund
an dieser Stelle mehrere Meter tief aus weichem Morast besteht.

Es ist nicht ausgeschlossen, wenn auch wenig wahrscheinlich, daß der Täter
den Mord in einem Dämmerzustand begangen haben könnte, wenigstens sind
seine Angaben vor dem Kommissär äußerst verworren. -- Das Geld geraubt zu
haben, gibt er zu. Es handelt sich also um einen Raubmord. Das Geld, man
spricht von mehreren tausend Gulden, soll dem Schuster Klinkherbogk von
einem stadtbekannten Verschwender geschenkt worden sein. -- Eine Warnung,
wie übel angebracht derartige Wohltäterlaunen oft sein können.« -- -- --

Pfeill ließ das Blatt sinken und nickte traurig vor sich hin.

»Und der Täter?« fragte Fräulein van Druysen hastig. »Natürlich der
grauenhafte Neger?«

»Der Täter?« -- Pfeill schlug die Seite um, »der Täter ist -- -- -- dahier
steht's: Als Täter bekannte sich ein alter russischer Jude, namens
Eidotter, der ein Spirituosengeschäft im selben Hause betreibt. Es ist
höchste Zeit, daß endlich am Zee Dyk usw., usw.«

»Simon, der Kreuzträger?« rief Eva erschüttert. »Ich glaube nun und nimmer,
daß er ein so scheußliches Verbrechen mit Vorbedacht hat begehen können!«

»Auch nicht in einem Dämmerzustand,« murmelte Doktor Sephardi.

»Sie meinen also, es war der Kommis Hesekiel?«

»Der ebensowenig. Schlimmstenfalls wollte er mittels eines Nachschlüssels
die Dachkammer aufsperren, um das Geld zu stehlen, und wurde im letzten
Moment daran verhindert. -- Der Neger war der Mörder; es liegt auf der
Hand.«

»Was kann aber um Himmelswillen den alten Lazarus Eidotter veranlaßt haben,
sich für den Täter auszugeben?«

Doktor Sephardi zuckte die Achseln. -- »Vielleicht glaubte er im ersten
Schrecken, als die Polizei kam, Swammerdam habe den Schuster umgebracht,
und wollte sich für ihn opfern. In einem Anfall von Hysterie. -- Daß er
nicht normal ist, habe ich auf den ersten Blick gesehen. Erinnern Sie sich,
Fräulein Eva, was der alte Schmetterlingssammler über die Kraft gesagt hat,
die im Namen verborgen liegt? -- Eidotter braucht seinen Geistesnamen Simon
nur eine genügend lange Zeit 'geübt' zu haben und es ist keineswegs
ausgeschlossen, daß sich in ihm folgedessen die Idee eingewurzelt hat, ein
Opfer für andere zu bringen, wann immer sich die Gelegenheit ergeben würde.
Ich bin sogar der Ansicht, daß der Schuster Klinkherbogk, bevor er selbst
ermordet wurde, das kleine Mädchen im Religionswahnsinn getötet hat. -- Er
hat viele Jahre hindurch den Namen Abram geübt, das ist erwiesen, -- hätte
er statt dessen das Wort Abra_ham_ innerlich wiederholt, wäre die
Katastrophe der Schlachtung Isaak's kaum eingetreten.«

»Was Sie da sagen, ist mir ein vollkommenes Rätsel,« fiel Hauberrisser ein;
»ein Wort beständig in sich hineinsprechen sollte das Schicksal eines
Menschen bestimmen oder ändern können?«

»Warum nicht? Die Fäden, die die Taten eines Menschen lenken, sind gar
fein. Was im ersten Buch Mosis über die Umänderung der Namen Abram in
Abraham und Sarai in Sarah steht, hat mit der Kabbala -- oder eher noch mit
andern, weit tieferen Mysterien zu tun. -- Ich habe gewisse Anhaltspunkte,
daß es falsch ist, die geheimen Namen _auszusprechen_, wie der Kreis
Klinkherbogks es tut. -- Wie Sie vielleicht wissen, bedeutet jeder
Buchstabe im Hebräischen gleichzeitig eine Zahl, zum Beispiel: S = 21, M =
13, N = 14. Wir sind also imstande, einen Namen in Ziffern zu verwandeln
und aus diesen Verhältniszahlen in der Vorstellung geometrische Körper zu
konstruieren: einen Würfel, eine Pyramide und so weiter. Diese
geometrischen Formen sind es, die sozusagen das Achsensystem unseres bis
dahin gestaltlosen Innersten werden können, wenn wir es in der richtigen
Weise und mit der nötigen Gedankenwucht imaginieren. Wir machen dadurch
unsere 'Seele' -- ich habe keinen andern Ausdruck dafür -- zu einem
Krystallgebilde und schaffen ihr die darauf bezüglichen ewigen Gesetze. --
Die Ägypter haben sich die Seele in ihrer Vollendung als Kugel gedacht.«

»Worin könnte nach Ihrer Ansicht, falls der bedauernswerte Schuster
wirklich seine Enkelin getötet haben sollte,« fragte Baron Pfeill sinnend,
»der Fehler in der 'Übung' gelegen haben? Ist der Name Abram so
grundverschieden von Abra--ham?«

»Klinkherbogk hat _sich selbst_ den Namen Abram gegeben; er wuchs aus
seinem eignen Unterbewußtsein hervor, daher das Verhängnis! Es fehlte das
von Oben-Herabkommen der Neschamah, wie wir Juden es nennen -- des
geistigen Hauches der Gottheit -- hier in diesem Falle der Silbe 'ha'. In
der Bibel wurde dem Abra--ham das Opfer des Isaak erlassen. Der _Abram_
hätte zum Mörder werden müssen, so wie Klinkherbogk es geworden ist. --
Klinkherbogk hat in seinem Durst, das Ewige Leben zu suchen, selber den Tod
gerufen. -- Ich sagte vorhin, wer schwach ist, soll nicht den Weg der Kraft
gehen. Klinkherbogk ist von dem Pfade der Schwäche -- des Wartens --, der
für ihn bestimmt war, abgewichen.«

»Aber irgend etwas muß doch für den armen Eidotter geschehen!« rief Eva.
»Sollen wir denn untätig zusehen, wie er verurteilt wird?«

»So rasch geht das Verurteilen nicht,« beruhigte sie Sephardi. »Morgen früh
will ich zu dem Gerichtspsychiater Debrouwer -- ich kenne ihn von der
Universität her -- gehen und mit ihm sprechen.«

»Nicht wahr, Sie nehmen sich auch des armen alten Schmetterlingssammlers an
und schreiben mir nach Antwerpen, wie es ihm geht?« bat Eva, stand auf und
reichte nur Pfeill und Sephardi zum Abschied die Hand. »Und auf Wiedersehen
in nicht allzuferner Zeit.«

Hauberrisser verstand sofort, daß sie von ihm begleitet zu sein wünschte,
und half ihr in den Mantel, den der Diener hereingebracht hatte.

                   *       *       *       *       *

Die Kühle der Abenddämmerung lag feucht um die duftenden Linden, wie sie
durch den Park schritten. Steinerne griechische Statuen schimmerten weiß
aus dem Dunkel belaubter Bogengänge und träumten beim Plätschern der in den
verirrten Lichtern der Bogenlampen vom Schlosse her silbrig glitzernden
Fontänen.

»Darf ich Sie nicht zuweilen in Antwerpen besuchen kommen, Eva?« fragte
Hauberrisser gepreßt und fast schüchtern. »Sie verlangen von mir, ich soll
warten bis die Zeit uns zusammenbringt. Glauben Sie, daß es durch Briefe
besser geschieht, als wenn wir uns sehen? Wir fassen doch beide das Leben
anders auf als es die Menge tut, warum eine Wand zwischen uns schieben, die
uns nur trennen kann?«

Eva wandte den Kopf ab. »Wissen Sie denn wirklich genau, daß wir für
einander bestimmt sind? -- Das Zusammenleben zweier Menschen mag etwas sehr
Schönes sein, -- warum geschieht es dann so häufig, ja, beinah immer, daß
es nach kurzer Zeit in Abneigung und Bitternis endet? -- Ich habe mir schon
oft gesagt, daß etwas Unnatürliches darin liegen muß, wenn ein Mann sich an
eine Frau kettet. Es kommt mir so vor, als brächen ihm dadurch die Flügel.
-- -- Bitte, lassen Sie mich zu Ende sprechen, ich kann mir denken, was Sie
sagen wollen -- --«

»Nein, Eva,« unterbrach Hauberrisser rasch, »Sie irren; ich weiß, was Sie
fürchten, das ich sagen könnte; Sie wollen nicht hören, was ich für Sie
empfinde, und darum schweige ich auch darüber. -- Die Worte Sephardi's, so
ehrlich sie gemeint waren und so sehr ich aus tiefstem Herzen hoffe, daß
ihr Sinn in Erfüllung gehen möge, haben doch -- ich fühle das immer
schmerzlicher -- eine fast unübersteigbare Schranke zwischen uns gesetzt.
Wenn wir uns nicht mit aller Kraft bemühen, sie niederzureißen, wird sie
dauernd zwischen uns stehen. Und doch bin ich eigentlich innerlich froh,
daß es nicht anders gekommen ist. -- Daß eine Ehe aus Nüchternheit zwischen
uns geschlossen werden könnte, haben wir beide nicht zu befürchten; -- was
uns gedroht hat, -- verzeihen Sie, Eva, daß ich die Worte 'wir' und 'uns'
gebrauche, -- war, daß uns die Liebe und der Trieb allein zusammengeführt
hätten. -- Doktor Sephardi hat recht gehabt, als er sagte, der Sinn der Ehe
sei den Menschen verloren gegangen.«

»Das ist es doch, was mich quält,« rief Eva. »Ich stehe ratlos und hilflos
vor dem Leben wie vor einem gefräßigen, scheußlichen Ungeheuer. Alles ist
schal und abgenützt. Jedes Wort, das man gebraucht, ist staubig geworden.
Ich komme mir vor wie ein Kind, das sich auf eine Märchenwelt freut -- und
ins Theater geht und schminkebeklexte Komödianten sieht. -- Die Ehe ist zu
einer häßlichen Einrichtung herabgesunken, die der Liebe den Glanz raubt
und Mann und Frau zur bloßen Zweckmäßigkeit erniedrigt. Es ist ein
langsames, trostloses Versinken im Wüstensand. -- Warum ist es bei uns
Menschen nicht wie bei den Eintagsfliegen?« -- sie blieb stehen und blickte
sehnsüchtig zu einem lichtbeglänzten Brunnen hin, den goldene Wolken
schwärmender Falter wie ein wogender Feenschleier umgaben, -- »Jahre
kriechen sie als Würmer über die Erde, bereiten sie sich vor auf die
Hochzeit, wie auf etwas Heiliges, -- um einen einzigen kurzen Tag der Liebe
zu feiern und dann zu sterben.« -- Sie hielt plötzlich inne und schauderte.

Hauberrisser sah an ihren dunkel gewordenen Augen, daß ein Gefühl tiefster
Ergriffenheit über sie gekommen war. Er zog ihre Hand an seine Lippen.

Eine Weile stand sie regungslos, dann schlang sie langsam, wie in halbem
Schlaf, beide Arme um seinen Nacken und küßte ihn. -- -- -- --

»Wann wirst du mein Weib werden? Das Leben ist so kurz, Eva.«

Sie gab keine Antwort, und ohne ein Wort zu sprechen, gingen sie
nebeneinander her dem offenen Gittertor zu, vor dem der Wagen Baron
Pfeill's wartete, um Eva nach Hause zu bringen.

Hauberrisser wollte seine Frage wiederholen, ehe sie von ihm Abschied nahm;
sie kam ihm zuvor, blieb stehen und schmiegte sich an ihn.

»Ich sehne mich nach dir,« sagte sie leise, »wie nach dem Tod. Ich werde
deine Geliebte sein, ich weiß es gewiß, -- aber das, was die _Menschen_ Ehe
nennen, wird uns erspart bleiben.«

Er erfaßte die Bedeutung ihrer Worte kaum; er war wie betäubt von dem
Glück, sie in seinen Armen zu halten, -- dann teilte sich ihm der Schauer
mit, der noch in ihr lag, und er fühlte, daß sich ihm das Haar sträubte und
sie beide von einem eisigen Hauch umfangen wurden, als nähme der Engel des
Todes sie unter seine Schwingen und trüge sie beide weit weg von der Erde
in die Blütengefilde einer ewigen Wonne.

Als er aus dem Zustand der Starrheit erwachte, wich das fremdartige,
beseeligende Verzücktsein des Sterbens, das er empfunden hatte wie einen
alle Sinne verzehrenden Rausch, langsam von ihm und an dessen Stelle trat,
wie er dem Wagen nachblickte, der ihm Eva entführte, das Nagen einer
unbestimmten, qualvollen Angst, sie nie mehr wiederzusehen.




Achtes Kapitel


Eva wollte früh morgens ihre Tante Bourignon, um sie zu trösten, im
Béginenstift aufsuchen und dann den Vormittagsexpreß nach Antwerpen
benutzen.

Ein Brief, eilig hingekritzelt und von Tränenspuren benetzt, den sie im
Hotel vorfand, ließ sie ihren Entschluß ändern.

Das alte Fräulein war unter der Wucht der Katastrophe am Zee Dyk
anscheinend völlig zusammengebrochen und schrieb, sie sei fest
entschlossen, keinen Schritt mehr aus dem Stift zu tun, ehe nicht der erste
heiße Schmerz verharscht wäre und sie sich wiederum so weit wohl fühlen
würde, dem Getriebe der Welt, wie sie es nannte, ein neues Interesse
entgegen zu bringen. Der Schlußsatz, der in der Klage gipfelte, eine
unleidliche Migräne mache es ihr unmöglich, Besuche von wem immer zu
empfangen, verriet, daß ernste Besorgnisse um das innere Gleichgewicht der
alten Dame zur Zeit wenig angebracht waren. -- --

Eva ließ kurz entschlossen ihr Gepäck auf die Bahn schaffen. Um Mitternacht
ging ein Zug nach Belgien, den ihr der Portier zu benützen empfahl, da er
weit weniger überfüllt zu sein pflege.

Sie gab sich alle Mühe, das peinliche Gefühl abzuschütteln, das der Brief
in ihr erweckt hatte.

So also sah es in weiblichen Herzen aus? -- Sie hatte gefürchtet,
»Gabriele« werde den Schlag nie verwinden können. Statt dessen? -- Kopfweh!

»Der Sinn für alles Große ist uns Frauen abhanden gekommen,« sagte sich Eva
voll Bitterkeit, -- »wir haben es in den süßlichen Großmutterzeiten
hineingehäkelt in verächtliche Handarbeit.«

In mädchenhafter Angst preßte sie den Kopf zwischen ihre Hände. »Soll ich
auch einmal so werden? Es ist eine erbärmliche Schmach, ein Weib zu sein.«
--

Gedanken der Zärtlichkeit, wie sie sie die ganze Fahrt hindurch von
Hilversum bis in die Stadt umfangen hatten, wollten wieder aufwachen; --
das ganze Zimmer schien ihr erfüllt von dem schwülen Duft der blühenden
Linden.

Sie riß sich gewaltsam los, setzte sich auf den Balkon und blickte hinauf
in den sternenübersäeten nächtlichen Himmel.

Früher, in ihren Kinderjahren hatte es ihr zuweilen einen Trost gewährt, zu
denken, dort oben throne ein Schöpfer, der sich ihrer Winzigkeit erbarme,
-- jetzt drückte es sie wie eine Schande, so klein zu sein.

Sie verabscheute aus dem Grunde ihres Herzens alle Bestrebungen der Frauen,
es den Männern auf den Gebieten des äußern Lebens gleich zu tun, aber dem,
den sie liebte, nichts anderes schenken zu können als ihre Schönheit,
erschien ihr armselig und gering, -- als eine Selbstverständlichkeit, von
der viel Wesens zu machen, erbärmlich sei.

Die Worte Sephardi's, es gäbe einen königlichen, verborgenen Pfad, auf dem
ein Weib dem Gatten mehr sein könne als bloße irdische Freude, leuchtete
ihr wie ein ferner Hoffnungsstrahl, aber wo den Eingang suchen?

Zaghaft und furchtsam nahm sie einen kleinen Anlauf, durch Denken zu
erkennen, was sie wohl tun müsse, um einen solchen Weg zu finden, -- aber
es blieb, wie sie bald fühlte, nur ein vergebliches, schwächliches Betteln
um Licht an die Mächte dort oben über den Sternen, statt das kraftvolle
Ringen um Erleuchtung zu sein, dessen ein Mann fähig gewesen wäre.

Das zarteste und doch tiefste Leid, das ein junges Frauenherz verzehren
kann: mit leeren Händen vor dem Geliebten zu stehen und doch übervoll zu
sein von der Sehnsucht, ihm eine Welt an Glück zu geben, machte sie traurig
und elend.

Kein Opfer wäre so schwer gewesen, daß sie es nicht jauchzend um
seinetwillen gebracht hätte. -- Sie begriff mit den feinen Instinkten des
Weibes, daß das Höchste, was eine Frau zu tun vermöchte, nur die
Aufopferung ihrer selbst sein konnte, aber, was sie auch ersann, -- es war,
gemessen an der Größe ihrer Liebe, nichtig, vergänglich und kindisch.

Sich ihm unterzuordnen in allen Stücken, ihm die Sorgen abzunehmen, jeden
Wunsch an den Augen abzulesen -- wie leicht mußte es sein. -- Würde sie ihn
aber damit auch glücklich machen? -- Es ging nicht über das Menschentum
hinaus, und das, was sie zu schenken begehrte, sollte mehr sein als alles,
was sich erdenken ließ.

Was sie früher nur dunkel begriffen hatte: den bittern Kummer einer Seele,
reich zu sein wie ein König am Gebenwollen und bettelarm im Gebenkönnen,
jetzt stand es riesengroß vor ihr und erfaßte sie mit den gewaltigen
Schauern, die einst den Heiligen der Erde durch den Hohn und das Grinsen
der Menge hindurch den Weg des Martyriums gewiesen hatten.

Im Übermaß ihrer Pein legte sie die Stirn an das Geländer und schrie mit
verkrampften Lippen ein Gebet in sich hinein: nur der Geringste aus der
Schar derer, die um der Liebe willen den Strom des Todes durchquert haben,
möge ihr erscheinen und ihr den Pfad zur geheimnisvollen Krone des Lebens
entdecken, damit sie sie nehmen und verschenken könne.

Als habe eine Hand ihren Scheitel berührt, blickte sie auf und sah, daß
sich der Himmel plötzlich verändert hatte.

Querüber ging ein Riß aus fahlem Licht und die Sterne stürzten hinein wie
eine vom Sturmwind gejagte Wolke schimmernder Eintagsfliegen. Dann tat sich
eine Halle auf und an einem langen Tisch saßen uralte Männer in faltigen
Gewändern, die Augen starr auf sie gerichtet, als seien sie bereit, ihre
Rede zu vernehmen. Der Oberste von ihnen hatte den Gesichtsschnitt einer
fremden Rasse, zwischen den Brauen ein leuchtendes Mal, und von seinen
Schläfen gingen zwei blendende Strahlen aus wie die Hörner des Moses.

Eva erriet, daß sie ein Gelöbnis tun solle, aber sie konnte die Worte nicht
finden. Sie wollte flehen, daß die Alten ihre Bitte erhören möchten, aber
das Gebet konnte nicht aufsteigen; -- es blieb ihr in der Kehle stecken und
ballte sich in ihrem Munde.

Langsam begann sich der Riß wieder zu schließen und die Milchstraße legte
sich, als die Halle und der Tisch immer undeutlicher wurden und
verschwammen, wie eine leuchtende Narbe am Himmel darüber.

Nur der Mann mit dem lodernden Mal auf der Stirn war noch sichtbar.

In stummer Verzweiflung streckte Eva die Arme nach ihm aus, daß er warten
möge und sie anhören, aber schon wollte er das Gesicht abwenden.

Da sah sie, daß ein Mensch auf einem weißen Pferd in rasender Eile von der
Erde durch die Luft empor zum Himmel schoß, und erkannte, daß es Swammerdam
war.

Er sprang ab, trat zu dem Mann, schrie auf ihn ein und faßte ihn voll Zorn
an der Brust.

Dann deutete er herrisch hinab auf Eva.

Sie wußte, was er wollte.

Ihr Herz erdröhnte unter dem Wort der Bibel, daß das Himmelreich mit Gewalt
genommen werden müsse, -- das Flehen wich von ihr wie ein Schatten und sie
befahl, wie Swammerdam es sie gelehrt, im Siegesbewußtsein ihres ewigen
Rechts der Selbstbestimmung: der Lenker des Schicksals solle sie vorwärts
jagen dem höchsten Ziel zu, das ein Weib erringen könne, -- erbarmungslos,
taub für ihre Bitten, wenn sie schwach würde, vorwärts, schneller als die
Zeit, -- an Freuden und Glück vorbei und hindurch, ohne ihr Rast zu gönnen,
ohne einen Atemzug zu versäumen, und koste es sie tausendfach das Leben.

Sie verstand, daß sie sterben müsse, denn das Zeichen auf der Stirne des
Mannes strahlte unverhüllt, und es war bei ihrem Befehl so blendend
geworden, daß es ihr Denken verbrannte, -- ihr Herz jauchzte dagegen an:
sie würde leben, da sie zugleich das Antlitz des Mannes gesehen hatte; --
sie zitterte unter der ungeheuren Kraft, die in ihr frei wurde und den
Riegel an der Kerkerpforte des Knechttums zerbrach, sie fühlte den Boden
unter den Füßen wanken und ihr Bewußtsein schwinden, aber ihre Lippen
murmelten ohne aufzuhören immer noch denselben Befehl -- wieder und wieder,
als das Gesicht am Himmel bereits längst verschwunden war.

Nur allmählich fand sie sich in ihre Umgebung zurück.

Sie wußte, daß sie zum Bahnhof gehen wollte, erinnerte sich, daß sie ihre
Koffer vorausgeschickt hatte, sah den Brief ihrer Tante auf dem Tisch
liegen, nahm ihn und zerriß ihn in kleine Stücke; alles, was sie tat,
geschah mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie früher, und doch kam es
ihr neu und ungewohnt vor, -- so, als seien ihre Hände, ihre Augen und ihr
ganzer Körper nur noch Werkzeuge und nicht mehr mit ihrem Ich untrennbar
verbunden. Sie hatte die Empfindung, als lebe sie gleichzeitig an einem
fernen Ort irgendwo im Weltall ein zweites, dumpfes, noch nicht völlig
erwachtes Leben wie ein Kind, das eben erst geboren worden.

Die Dinge im Zimmer hatten von ihren eigenen Organen nichts wesentlich
Verschiedenes mehr für sie, -- waren beides Gebrauchsgegenstände für den
Willen, nichts weiter.

An den Abend im Park von Hilversum dachte sie wie an eine liebe Erinnerung
aus der Kinderzeit, von der eine lange Reihe von Jahren sie trenne, zurück
voll Freude und Zärtlichkeit, aber doch mit einem Gefühl, als sei das alles
verschwindend und winzig gegenüber der unsagbaren Seligkeit, die eine
kommende Zeit bringen werde. -- Es war ihr zumute wie einer Blinden, die
bisher nichts als finstere Nacht gekannt hat und in deren Herzen alle
erlebten Freuden angesichts der neuen Gewißheit verblassen, daß eine Stunde
schlagen wird, -- wenn auch vielleicht spät und nach langen qualvollen
Leiden, -- die ihr das Augenlicht schenkt.

Sie versuchte sich darüber klar zu werden, ob es allein der Abstand
zwischen dem soeben Erlebten und den irdischen Dingen war, der ihr die
Außenwelt plötzlich so nebensächlich erscheinen ließ, und fand, daß alles,
was sie jetzt mit den Sinnen wahrnahm, fast wie ein Traum an ihr
vorüberglitt, der, ob leid- oder freudvoll, immer nur ein Schauspiel ohne
tiefer einschneidende Bedeutung blieb für das erwachte Ich.

Sogar ihre Gesichtszüge, als sie in den Spiegel blickte und ihren
Reisemantel anzog, hatten etwas leise Fremdartiges für sie, -- so, als
müsse sie sich erst zögernd erinnern, daß sie es sei, die da umherging.

Hinter allem, was sie tat, stand eine beinah totenhafte Ruhe; sie sah in
die Zukunft hinein wie in undurchdringliche Finsternis und doch voll
Gleichmut, wie jemand, der weiß, daß das Schiff seines Lebens Anker gefaßt
hat, und den kommenden Morgen gelassen erwartet, unbesorgt, welche Stürme
die Nacht noch bringen wird. -- --

Sie dachte daran, daß es Zeit sein müsse, zur Bahn zu gehen; -- ein
Vorgefühl, daß sie Antwerpen nie mehr sehen werde, hielt sie ab,
aufzubrechen.

Sie griff nach Papier und Tinte, um an ihren Geliebten einen Brief zu
schreiben, -- kam nicht über die erste Zeile hinaus; die innere Gewißheit,
alles, was sie jetzt aus eignem Willen begänne, sei vergeblich, und daß es
eher möglich wäre, eine abgeschossene Kugel im Laufe aufzuhalten, als der
geheimnisvollen Macht, in deren Hände sie ihr Schicksal gelegt, in die
Zügel zu fahren, lähmte jeden Entschluß in ihr. -- --

                   *       *       *       *       *

Das Murmeln einer Stimme, das durch die Wände des Nebenzimmers zu ihr
herübergedrungen war, ohne daß sie ihm irgendwelche Beachtung geschenkt
hatte, erstarb mit einem Ruck und ließ eine Stille zurück, die in ihr die
Empfindung weckte, als sei sie plötzlich taub für äußere Geräusche
geworden.

Statt dessen glaubte sie nach einer Weile tief im Ohr, wie aus einem andern
Lande kommend, ein beharrliches Flüstern zu hören, das allmählich zu
dumpfen Kehllauten einer fremden, wilden Sprache anschwoll.

Sie verstand die Worte nicht -- begriff nur aus dem übermächtigen Zwang,
der sie nötigte aufzuspringen und zur Tür zu gehen, daß der Sinn der
Mitteilung ein Befehl war, dem sie gehorchen mußte, ohne sich dagegen
wehren zu können.

Auf der Treppe erinnerte sie sich, ihre Handschuhe vergessen zu haben, aber
ihr Versuch, umzukehren, wurde von einer Kraft, die ihr fremd und bösartig
und dennoch in den tiefsten Wurzeln als die eigene erschien, im selben
Augenblick beiseite geschoben, als sie kaum den Gedanken gefaßt hatte.

Rasch und dennoch frei von Eile oder Hast schritt sie durch die Straßen,
nicht wissend, ob sie an der nächsten Ecke geradeaus gehen solle oder
nicht, und trotzdem sicher, daß sie im letzten Moment nicht zweifeln werde,
welchen Weg sie zu nehmen habe.

Sie zitterte an allen Gliedern und wußte, daß es aus Todesangst entsprang,
aber ihr Herz hatte keinen Anteil daran; sie war nicht imstande, die Furcht
ihres Körpers in sich aufzunehmen -- stand abseits davon, als seien ihre
Nerven die einer andern.

Als sie auf einen freien Platz gelangte, in dessen Hintergrund der dunkle
massige Würfel der Börse auftauchte, glaubte sie einen Augenblick, sie
ginge zur Bahn und alles sei nur Täuschung gewesen, dann riß es sie
plötzlich nach rechts durch enge, winklige Straßen.

Die wenigen Leute, die ihr entgegenkamen, blieben stehen und sie fühlte,
daß sie ihr nachsahen.

Mit einem neuen Ahnungsvermögen, das sie früher nie an sich gekannt hatte,
war sie plötzlich fähig zu erraten, was jeden einzelnen tief innerlich
bewegte. -- Aus manchen fühlte sie eine Besorgnis hervorbrechen wie einen
Gedankenstrom voll heißen Mitleids, das ihr galt, und doch wußte sie, daß
die Betreffenden selbst nicht die leiseste Ahnung hatten von dem, was in
ihnen vorging, -- daß sie mit keiner Faser begriffen, weshalb sie sich nach
ihr umblickten, und gesagt haben würden, sie täten es aus Neugierde oder
ähnlichen Motiven, wenn sie darüber Rechenschaft hätten geben müssen.

Mit Staunen wurde sie gewahr, daß ein geheimes, unsichtbares Band die
Menschen umschloß, -- daß ihre Seelen einander erkannten über die Körper
hinweg und mitsammen sprechen konnten in unwägbaren Schwingungen und
Gefühlen, die nur zu fein waren, um von den äußern Sinnen erfaßt zu werden.
-- Wie Raubtiere, scheelsüchtig, gierig und mordbereit, machten sie sich
das Leben streitig, und doch bedurfte es vielleicht bloß eines winzigen
Risses in dem Vorhang, der über ihren Augen lag, um aus den erbittertsten
Feinden die treusten Freunde zu machen.

Immer einsamer und unheimlicher wurden die Gassen, in die sie geriet; sie
zweifelte nicht länger, daß die nächsten Stunden ihr etwas Gräßliches, --
sie glaubte, den Tod durch die Hand eines Mörders -- bringen würden, wenn
es ihr nicht gelänge, den Bann zu brechen, der sie vorwärts zog, -- und
doch machte sie nicht einmal den Versuch, dagegen anzukämpfen. Sie duldete
ohne Widerstand den fremden Willen, der ihr den Weg in die Finsternis
aufzwang, in ruhevoller Zuversicht, daß alles, was ihr zustoßen würde, nur
einen Schritt weiter dem Ziele entgegen bedeutete.

Durch eine Lücke zwischen Häusergiebeln, als sie einen schmalen eisernen
Steg über eine Gracht passierte, sah sie einen Augenblick die Silhouette
der Nikolaskirche mit ihren beiden Türmen sich vom Horizont abheben wie
eine warnend erhobene dunkle Hand und atmete unwillkürlich erleichtert auf
bei dem Gedanken, es könne vielleicht nur Swammerdam sein, der in seinem
Leid um Klinkherbogk mit dem Herzen nach ihr riefe.

Die Feindseligkeit, die sie um sich her lauern spürte, belehrte sie, daß
sie sich irrte. Es ging ein finsterer Haß von der Erde aus, der sich gegen
sie richtete, -- der kalte, unbarmherzige Grimm, den die Natur auf den
Menschen wirft, wenn er es wagt, an den Fesseln seiner Knechtschaft zu
rütteln.

Es war das erstemal, daß sie sich fürchtete, seit sie ihr Zimmer verlassen
hatte; -- das Bewußtsein äußerster Hilflosigkeit ließ sie fast
zusammenbrechen.

Sie versuchte stehen zu bleiben, aber die Füße trugen sie weiter, als habe
sie jede Gewalt über sie verloren.

In ihrer Verzweiflung blickte sie zum Himmel auf und eine erschütternde
Fülle von Trost ergoß sich über sie, als sie das Heer der Sterne mit
tausend wachsamen Augen wie allmächtige Helfer, die nicht dulden würden,
daß man ihr auch nur ein Haar krümme, drohend auf die Erde herabfunkeln
sah. -- Sie gedachte der alten Männer in der Halle, in deren Hände sie ihr
Schicksal gelegt hatte, wie einer Versammlung von Unsterblichen, die nur
mit der Wimper zu zucken brauchten und der Erdball zerfiel in Staub.

Abermals hörte sie im Ohr die fremden, befehlenden Kehllaute, -- rauh und
eindringlich, wie dicht in ihrer Nähe und sie zur Eile anspornend; dann
erkannte sie plötzlich in der Dunkelheit das schiefe Haus wieder, in dem
Klinkherbogk ermordet worden war.

Auf dem Geländer über den zusammenfließenden Grachten saß ein Mann,
regungslos vorgebeugt, als horche er gespannt auf ihre herankommenden
Schritte.

Sie fühlte, daß von ihm die dämonische Kraft ausging, die sie gezwungen
hatte, an den Zee Dyk zu gehen.

Ehe sie noch sein Gesicht unterscheiden konnte, wußte sie bereits aus dem
lähmenden Todesschrecken, der ihr Blut erstarren machte, daß es der
grauenhafte Neger war, den sie in der Kammer des Schusters gesehen hatte.

In ihrem Entsetzen wollte sie einen Schrei um Hilfe ausstoßen, aber die
Verbindung zwischen Wollen und Handeln war in ihr wie abgeschnitten; ihr
Körper stand unter einer andern Macht. Als sei sie gestorben und getrennt
von ihrem Leib, sah sie sich auf den Mann zutaumeln und dicht vor ihm
stehen bleiben.

Er hob den Kopf und schien sie anzublicken, aber seine Augäpfel waren nach
oben gedreht wie die eines Menschen, der mit offnen Lidern schläft.

Eva begriff, daß er starr war wie eine Leiche und daß sie ihm nur einen
Stoß vor die Brust zu versetzen brauchte, um ihn rücklings hinab in das
Wasser zu stürzen; -- trotzdem war sie völlig unter seinem Bann und nicht
imstande es auszuführen.

Sie sah sich als wehrloses Opfer in seine Hand gegeben, wenn er erwacht
sein würde, -- konnte die Minuten berechnen, die sie noch von dem
Verhängnis trennten; über sein Gesicht lief von Zeit zu Zeit ein Zucken als
erstes Vorzeichen, daß sein Bewußtsein allmählich zurückkehrte.

Oft hatte sie von Frauen gehört und gelesen, besonders von blonden, die
trotz heftigsten Abscheu's vor Negern ihnen zu willen sein müßten, -- daß
das wilde afrikanische Blut einen magischen Zwang auf sie ausübe, gegen den
jeder Widerstand vergebens sei; sie hatte es nie geglaubt und solche
Geschöpfe als niedrig und tierisch verachtet, jetzt erkannte sie an sich
selbst mit kaltem Grauen, daß eine finstere Macht dieser Art existierte. --
Die scheinbar unüberbrückbare Kluft, die Entsetzen und Sinnenrausch
auseinanderhielt, war in Wirklichkeit nur eine dünne, durchsichtige
Scheidewand, die, wenn sie brach, die Seele einer Frau rettungslos zum
Tummelplatz bestialischer Instinkte werden lassen mußte.

Was konnte diesem Wilden, halb Raubtier, halb Mensch, indem er innerlich
nach ihr rief, die unerklärliche Gewalt verleihen, daß es sie wie eine
Mondsüchtige durch fremde Gassen zu ihm zog, wenn nicht Saiten in ihr
unbewußt unter dem Schrei seiner Brunst miterklangen, von deren
Vorhandensein sie sich stolz frei geglaubt?

Besaß dieser Neger eine teuflische Macht über jede weiße Frau, fragte sie
sich, bebend vor Angst, oder stand sie selbst so viel tiefer als die vielen
andern, die seinen magischen Lockruf nicht einmal gehört, viel weniger ihm
Folge geleistet hätten?

Sie sah keine Rettung mehr vor sich. Alles, was sie für ihren Geliebten und
für sich ersehnt hatte an Glück, ging mit ihrem Leibe zugrunde. Was sie
über die Schwelle des Todes hinüber zu retten vermochte, war gestaltlos und
konnte ihr das nicht geben, wonach sie begehrte. -- Sie hatte sich von der
Erde abwenden wollen, aber der Erdgeist hielt fest mit eisernem Griff, was
ihm gehörte. -- Wie eine Verkörperung seiner Allgewalt stand der Neger
riesenhaft vor ihr.

Sie sah, daß er aufsprang und seine Betäubung abschüttelte. Dann packte er
sie an den Armen und riß sie an sich.

Sie schrie auf, und ihr Hilferuf gellte von den Mauern der Häuser wider,
aber er preßte ihr die Hand auf den Mund, daß sie fast erstickte.

Um den entblößten Hals hing ihm, wie einem Fleischerhund, ein dunkelroter
lederner Strick, -- sie faßte darnach und hielt sich krampfhaft daran fest,
um nicht zu Boden gedrückt zu werden.

Einen Augenblick bekam sie den Kopf frei. Mit dem Aufgebot ihrer letzten
Kraft schrie sie nochmals um Hilfe.

Man mußte sie gehört haben, denn eine Glastür klirrte, Gewirr von Stimmen
schlug an ihr Ohr und ein breiter Lichtschein fiel grell über die Gasse.

Dann fühlte sie, daß der Neger mit ihr in wilden Sätzen dem Schatten der
Nikolaskirche zujagte; zwei chilenische Matrosen mit orangegelben Schärpen
um die Hüften waren ihnen bereits dicht auf den Fersen, -- sie sah die
offenen Messer in ihren Händen blitzen und ihre bronzenen, mutigen
Gesichter immer näher kommen.

Instinktiv hielt sie die Halsschnur des Negers fest und streckte die Beine,
um ihn, so gut sie vermochte, am Laufen zu hindern, aber er schien ihre
Last kaum zu spüren; mit einem Ruck hob er sie hoch vom Boden auf und raste
mit ihr die Mauer des Kirchengartens entlang.

Sie sah die wulstigen Lippen um die gefletschten Zähne wie den Rachen eines
Raubtiers dicht vor sich, und der Ausdruck lodernder Wildheit in seinen
weißen Augen fraß sich in ihre Sinne ein, daß sie wie hypnotisiert
erstarrte, unfähig, auch nur den geringsten Widerstand mehr zu leisten.

Der eine der beiden Matrosen hatte den Neger überholt, warf sich,
zusammengeduckt wie eine Katze vor seine Füße, um ihn zu Fall zu bringen,
und stach mit dem Messer von unten nach ihm; das Knie des Zulus, der
blitzschnell in die Höhe gesprungen war, traf ihn vor die Stirn, daß er
sich lautlos überschlug und mit zerschmettertem Schädel liegen blieb.

Dann fühlte sich Eva plötzlich über das Gittertor des Kirchengartens
geworfen, daß sie glaubte, alle Knochen im Leibe seien ihr zerbrochen, und
sah, mit den Kleidern in den eisernen Spitzen verfangen, durch die Stäbe,
wie der Neger mit seinem zweiten Gegner rang. --

Der Kampf dauerte nur wenige Sekunden, -- wie ein Ball geschleudert, flog
der Matrose die Wand des gegenüberliegenden Hauses empor an ein Fenster,
dessen Scheiben und Kreuze unter der Wucht mit lautem Knall zerbarsten.

Eva hatte sich, zitternd vor Todesschwäche, von dem Gitter befreit und
suchte zu entfliehen, aber der schmale Garten bot keinen Ausweg; -- wie ein
gehetztes Tier verkroch sie sich unter einer Bank; sie begriff, daß sie
trotzdem verloren war, denn ihr helles Kleid leuchtete aus der Dunkelheit
und mußte sie im nächsten Augenblick verraten.

Mit bebenden Fingern, kaum mehr fähig zu denken, suchte sie an ihrem Halse
nach einer Nadel, um sie sich ins Herz zu stoßen, denn schon hatte sich der
Neger über die Mauer geschwungen, und sie wollte ihm nicht lebend in die
Hände fallen.

Ein stummer, verzweifelter Schrei zu Gott, etwas zu finden, womit sie sich
den Tod geben könnte, ehe ihr Peiniger sie entdeckte, drängte sich ihr auf
die Lippen.

Es war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, dann bildete sie sich
einen Moment lang ein, wahnsinnig geworden zu sein, denn sie sah plötzlich
ihr Spiegelbild ruhig und lächelnd mitten im Garten stehen.

Auch der Neger schien es erblickt zu haben, er stutzte und ging überrascht
darauf zu.

Sie glaubte zu hören, daß er mit der Erscheinung sprach, -- sie konnte die
Worte nicht verstehen, aber seine Stimme klang mit einemmal wie die eines
Menschen, der von Entsetzen gelähmt, kaum zu stammeln vermag.

Überzeugt, daß sie sich irren müsse -- vielleicht längst das Opfer des
Wilden geworden sei und den Verstand darüber verloren habe -- konnte sie
den Blick von den beiden nicht wenden.

Dann wieder hatte sie die deutliche Gewißheit, sie selbst sei jenes
Spiegelbild und der Neger stünde auf unbegreifliche Weise in ihrer Macht,
-- um im nächsten Augenblick abermals voll Verzweiflung nach einer Nadel an
ihrem Halse zu tasten.

Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, -- wollte sich klar werden, ob sie
wahnsinnig sei oder nicht, und starrte das Phantom unverwandt an, da sah
sie, daß es wie aufgesogen von ihrer Aufmerksamkeit jedesmal verschwand und
in ihren Körper zurückkehrte wie ein magischer Teil ihrer selbst, wenn sie
sich anstrengte, es mit den Augen in der Finsternis zu unterscheiden.

Sie konnte es an sich ziehen und wieder aussenden wie den Atem, aber immer
sträubte sich ihr unter eisigen Kälteschauern das Haar, als trete der Tod
sie an, sooft es von ihr wich.

Auf den Neger machte das jeweilige Verschwinden des Spiegelbildes keinen
Eindruck. Ob es kam oder ging, -- beständig sprach er halblaut vor sich
hin, als rede er im Schlaf mit sich selbst. --

Eva ahnte, daß er wieder in den seltsamen Zustand von Bewußtlosigkeit
verfallen war, in dem sie ihn auf dem Geländer der Gracht hatte sitzen
sehen.

Immer noch zitternd vor Angst faßte sie endlich den Mut, ihr Versteck zu
verlassen.

Sie hörte Rufe und Stimmen die Gasse heraufkommen; -- in den Fenstern der
Häuser hinter der Gartenmauer glänzte der Widerschein von laufenden
Laternen und verwandelte die Schatten der Bäume an der Kirchenwand in eine
tanzende Geisterschar.

Sie zählte die Schläge ihres Herzens: -- jetzt, jetzt mußte die Menge, die
nach dem Neger suchte, in nächster Nähe sein! -- dann lief sie mit
brechenden Knien dicht an dem Zulu vorbei an das Gittertor und schrie
gellend um Hilfe.

Mit erlöschendem Bewußtsein begriff sie, daß ein Frauenzimmer mit rotem,
kurzem Rock mitleidig neben ihr kniete und ihre Stirn mit Wasser benetzte.

Bunte, halbnackte Gestalten kletterten, Fackeln schwingend, über die Mauer,
blitzende Messer zwischen den Zähnen, -- ein Heer phantastischer, behender
Teufel, die aus dem Boden zu wachsen schienen, um ihr Hilfe zu bringen; --
Feuerschein lohte durch den Garten und machte die Heiligenbilder an den
Glasfenstern der Kirche lebendig; wilde, spanische Flüche schrillten
durcheinander: dort steht der Nigger, reißt ihm die Gedärme heraus!

Sie sah, daß die Matrosen sich heulend vor Wut auf den Zulu warfen, -- daß
sie von den furchtbaren Schlägen seiner Fäuste getroffen, niederstürzten,
-- hörte seinen markerschütternden Siegesschrei die Luft zerreißen, wie er
sich einem losgelassenen Tiger gleich, Bahn durch die Meute brach, sich auf
einen Baum schwang und mit gewaltigen Sätzen von Nische zu Nische, von
Giebel zu Giebel auf das Kirchendach schnellte.

                   *       *       *       *       *

Sekundenlang, als sie aus tiefer Ohnmacht erwachte, träumte sie, ein alter
Mann mit einer Binde um die Stirn habe sich über sie gebeugt und sie beim
Namen gerufen. -- Sie glaubte, es sei Lazarus Eidotter, dann trat durch
seine Züge hindurch, wie hinter einer gläsernen Maske hervor, wiederum das
Gesicht des Negers mit den weißen Augen und den wulstigen Lippen um die
gefletschten Zähne, wie es sich unauslöschlich in ihr Bewußtsein
eingegraben hatte, als er sie in seinen Armen getragen, -- und die
hexenhaften Ausgeburten des Fieberreichs zerpeitschten ihr von neuem die
Besinnung.




Neuntes Kapitel


Einsilbig und zerstreut saß Hauberrisser noch eine Stunde nach dem Souper
mit Dr. Sephardi und Baron Pfeill beisammen.

Seine Gedanken weilten beständig bei Eva, so daß er manchmal fast erschrak,
wenn das Wort an ihn gerichtet wurde.

Seine Einsamkeit in Amsterdam, die ihm so wohlgetan, schien ihm mit
einemmal unaushaltbar, wenn er an die kommende Zeit dachte.

Außer Pfeill und Sephardi, zu dem er sich vom ersten Augenblick an, als er
ihn kennen gelernt, stark hingezogen fühlte, besaß er weder Freunde noch
Bekannte, und die Beziehungen mit seiner Heimat waren längst abgebrochen.
-- Würde er das einsiedlerhafte Leben, das er bisher geführt, jetzt, wo er
Eva gefunden hatte, ertragen können?

Er überlegte, ob er seinen Wohnsitz nicht nach Antwerpen verlegen solle, um
mit ihr wenigstens dieselbe Luft zu atmen, wenn sie schon nicht wünschte,
daß sie beisammen seien; vielleicht ergab sich dann doch bisweilen eine
Gelegenheit, sie zu sehen.

Es schmerzte ihn, wenn er sich ins Gedächtnis zurückrief, wie kühl sie
ihren Entschluß ausgesprochen hatte, es der Zeit und mehr oder weniger dem
Zufall zu überlassen, ob sich ein dauerndes Band zwischen ihnen anknüpfen
werde, dann wieder dachte er, Minuten lang berauscht von Glück, an ihre
Küsse und daß sie sich ja bereits für immer gefunden hätten.

Nur an ihm lag es, sagte er sich, wenn sich die Trennung länger als ein
paar Tage hinauszog.

Was hinderte ihn, sie schon in der kommenden Woche zu besuchen und sie zu
bitten, im Verkehr mit ihm zu bleiben? -- Sie war, so viel er wußte,
vollkommen unabhängig und brauchte niemand zu fragen, wenn sie ihre Wahl
treffen wollte.

So überaus klar und geebnet ihm der Weg zu ihr auch erschien, wie er alle
Umstände in Betracht zog, -- immer wieder drängte sich vor seine Hoffnungen
dasselbe unabweisbare Gefühl einer unbestimmten Angst um Eva, das er zum
erstenmal so deutlich empfunden, als sie Abschied voneinander genommen
hatten.

Er wollte sich die Zukunft in rosigen Farben ausmalen, kam aber nicht über
die Anfänge hinaus: sein krampfhaftes Bemühen, das eiserne »Nein«
wegzuleugnen, das jedesmal in seiner Brust wie eine Antwort auf seine Frage
an das Schicksal ertönte, wenn er sich ein befriedigendes Ende vorzustellen
zwang, brachte ihn fast zur Verzweiflung.

Er wußte aus langer Erfahrung, daß es nichts half, die hartnäckigen Stimmen
jener seltsamen, scheinbar auf nichts begründeten inneren Gewißheit eines
drohenden Unheils zu überschreien, wenn sie einmal wach geworden waren, --
und so suchte er sie zu beschwichtigen, indem er sich vorhielt, seine
Besorgnis sei die natürliche Folge der Verliebtheit; trotzdem glaubte er
jetzt schon die Stunde kaum erwarten zu können, wo er erfahren würde, Eva
sei wohlbehalten in Antwerpen angekommen.

In der Station Weesperpoort, die der Mitte der Stadt näher liegt als der
Zentralbahnhof, stieg er gemeinsam mit Sephardi aus, begleitete ihn ein
Stück nach der Heerengracht und eilte dann zum Amstelhotel, um einen Strauß
Rosen, den ihm Pfeill lächelnd mitgegeben, als hätte er seine Gedanken
erraten, beim Portier für Eva zu hinterlegen.

Fräulein van Druysen sei soeben abgereist, hieß es; aber, wenn er einen
Wagen nähme, könne er den Zug möglicherweise noch vor Abgang erreichen.

Ein Automobil brachte ihn in schneller Fahrt zum Bahnhof.

Er wartete.

Minute um Minute verstrich, Eva kam nicht.

Er telephonierte an das Hotel -- -- sie war auch nicht nach Hause
zurückgekehrt. -- Er solle in der Gepäckhalle fragen. --

Die Koffer waren nicht abgeholt worden. Er glaubte, der Boden wanke unter
seinen Füßen.

Jetzt, wo er sich in Angst um Eva verzehrte, begriff er erst, wie heiß er
sie liebte und daß er ohne sie nicht mehr leben könnte.

Die letzte Schranke zwischen ihr und ihm, -- das leise Gefühl des
Sich-noch-fremd-seins, entstanden durch die ungewöhnliche Art, wie sie
einander näher gebracht worden waren, -- fiel in nichts zusammen unter dem
Übermaß seiner Sorge um sie, und er wußte, wenn sie jetzt vor ihm stünde,
würde er sie in die Arme schließen und mit Küssen bedecken und nie wieder
von sich lassen.

Es blieb ihm kaum eine Hoffnung, daß sie in letzter Minute noch kommen
könne, dennoch wartete er, bis sich der Zug in Bewegung setzte.

Daß ihr ein Unglück zugestoßen sein mußte, lag auf der Hand. Gewaltsam
zwang er sich zur Ruhe.

Welchen Weg konnte sie genommen haben? Keine Minute durfte mehr verloren
gehen. Hier konnte nur noch, wenn nicht bereits das Schlimmste geschehen
war, das kalte, hellsichtige Durchschauen und Abwägen der Sachlage helfen,
das er schon in seinem ehemaligen Beruf als Ingenieur und Erfinder als eine
fast nie versiegende Quelle rettender Einfälle erkannt hatte.

Seine Vorstellungskraft bis aufs Äußerste anspannend, mühte er sich ab,
einen Blick in das geheime Räderwerk der Geschehnisse zu werfen, die sich
um Eva, bevor sie das Hotel verlassen hatte, möglicherweise abgespielt
haben konnten. -- Er versuchte, sich in die Stimmung des Wartens
hineinzuversetzen, in der sie sich vermutlich befunden, bevor sie
aufgebrochen war.

Der Umstand, daß sie ihr Gepäck zur Bahn vorausgeschickt hatte, statt den
Hotelwagen zu benutzen, brachte ihn auf den Gedanken, sie müsse einen
Besuch bei irgend jemand geplant haben.

Aber bei wem -- und in so später Stunde noch?

Plötzlich fiel ihm ein, daß sie Sephardi ans Herz gelegt hatte, er möge ja
nicht vergessen, nach Swammerdam zu sehen.

Der alte Schmetterlingssammler wohnte am Zee Dyk -- einem
Verbrecherviertel, wie aus dem Zeitungsbericht über den Mord deutlich
hervorging. -- Ja! Nur dorthin konnte sie sich gewandt haben.

Ein kalter Schauer überlief Hauberrisser, als ihm all die gräßlichen
Möglichkeiten durch den Kopf schossen, die ihr unter dem Hafengelichter
dieser verrufenen Gegend drohten.

Er hatte von Spelunken gehört, in denen Fremde ausgeraubt, ermordet und
durch Falltüren in die Grachten geworfen worden waren; -- das Haar sträubte
sich ihm, wenn er daran dachte, Eva könne es vielleicht ähnlich ergangen
sein.

Im nächsten Augenblick sauste das Automobil über die Openhavenbrücke zur
Nikolaskirche und hielt.

Man könne in die engen Gassen des Zee Dyk nicht hineinfahren, erklärte der
Chauffeur, -- der Herr möge sich in die Schenke »Zum Prins van Oranje«
bemühen -- er deutete auf einen Lichtschein -- und sich beim Wirt nach der
gewünschten Adresse erkundigen.

                   *       *       *       *       *

Die Tür der Spelunke stand weit offen, Hauberrisser stürzte hinein; das
Lokal war leer bis auf einen Mann, der hinter dem Schanktisch stand und ihn
heimtückisch musterte.

In der Ferne erscholl wüstes Geheul wie von einer Rauferei.

Herr Swammerdam wohne im vierten Stock, bequemte sich der Wirt zu verraten,
nachdem er ein Trinkgeld bekommen hatte, und leuchtete widerwillig die
halsbrecherische Stiege hinauf.

»Nein, Fräulein van Druysen ist seitdem nicht mehr bei uns gewesen,« sagte
der alte Schmetterlingssammler kopfschüttelnd, als ihm Hauberrisser in
fliegender Eile seine Besorgnisse vortrug; er war noch nicht schlafen
gegangen und vollkommen angezogen.

Eine einzige, fast schon herabgebrannte Talgkerze auf dem leeren Tisch und
sein gramerfülltes Gesicht verrieten, daß er stundenlang im Zimmer gesessen
und über das furchtbare Ende seines Freundes Klinkherbogk nachgesonnen
haben mochte.

Hauberrisser faßte seine Hand: »Verzeihen Sie, Herr Swammerdam, daß ich Sie
mitten in der Nacht überfalle und -- und so gar keine Rücksicht auf Ihren
Schmerz nehme; -- ja, ich weiß, welcher Verlust Sie betroffen hat« -- brach
er ab, als er die erstaunte Miene des Alten bemerkte -- »ich kenne sogar
die näheren Umstände; Doktor Sephardi hat sie mir heute erzählt. Wenn es
Ihnen recht ist, sprechen wir später ausführlich darüber; jetzt bin ich
halb wahnsinnig vor Angst um Eva. Was, wenn sie wirklich zu Ihnen gehen
wollte und unterwegs überfallen wurde und -- und -- um Gotteswillen, es ist
ja nicht auszudenken!«

Er sprang, außer sich vor Unruhe aus dem Sessel auf und lief im Zimmer hin
und her.

Swammerdam dachte eine Weile angestrengt nach, dann sagte er
zuversichtlich:

»Bitte, fassen Sie meine Worte nicht als leeren Trost auf, Mynheer; --
Fräulein van Druysen ist nicht tot!«

Hauberrisser fuhr herum. »Wieso wissen Sie das?« Der ruhige, feste Ton des
alten Mannes nahm ihm -- er wurde sich nicht klar, warum -- einen Stein vom
Herzen.

Swammerdam zögerte einen Moment mit der Antwort.

»Weil ich sie sehen würde,« sagte er endlich halblaut.

Hauberrisser griff nach seinem Arm. »Ich beschwöre Sie, helfen Sie mir,
wenn Sie können! Ich weiß, Ihr ganzes Leben ist ein Weg des Glaubens
gewesen; vielleicht dringt Ihr Blick tiefer als der meine. Ein
Unbeteiligter sieht oft -- -- --«

»Ich bin nicht so unbeteiligt, wie Sie glauben, Mynheer,« unterbrach
Swammerdam. »Ich habe das Fräulein nur einmal im Leben gesehen, aber, wenn
ich sage, ich liebe sie so innig, als ob sie meine Tochter wäre, so ist es
nicht zu viel gesagt;« -- er wehrte mit der Hand ab, -- »danken Sie mir
nicht, es ist da nichts zu danken. Es ist mehr als selbstverständlich, daß
ich alles, was in meinen schwachen Kräften steht, tun werde, um ihr und
Ihnen zu helfen, und wenn ich mein altes wertloses Blut darum vergießen
müßte. -- Hören Sie mir jetzt, bitte, ruhig zu: -- Sie haben bestimmt recht
gehabt mit Ihrer Ahnung, daß Fräulein Eva irgendein Unglück widerfahren
ist. -- Bei ihrer Tante ist sie nicht gewesen, ich hätte es von meiner
Schwester, die soeben noch im Béginenstift war, erfahren. -- Ob wir ihr
heute noch beistehen können, -- das heißt, sie auffinden, -- bin ich
außerstande zu sagen, aber jedenfalls werden wir kein Mittel unversucht
lassen. -- Trotzdem seien Sie, bitte, unbesorgt, auch wenn wir sie nicht
finden sollten; ich weiß so bestimmt, wie ich hier stehe, daß ein --
Anderer, gegen den wir beide ein Nichts sind, die Hand über ihr hält. Ich
möchte nicht in Ausdrücken reden, die Ihnen ein Rätsel sein müssen, --
vielleicht kommt einmal die Zeit, wo ich Ihnen sagen kann, was mich so fest
überzeugt sein läßt, daß Fräulein Eva einen Rat, den ich ihr gab, befolgt
hat. -- -- -- -- -- -- -- -- Wahrscheinlich ist das, was ihr heute
geschehen ist, bereits die erste Wirkung davon.

Mein Freund Klinkherbogk hat einst einen ähnlichen Weg eingeschlagen, wie
jetzt Fräulein Eva; ich habe längst tief innerlich das Ende vorausgesehen,
wenn ich mich auch stets an die Hoffnung klammerte, es ließe sich
vielleicht doch noch durch heiße Gebete abwenden. Die verflossene Nacht hat
mir bewiesen, was ich immer schon wußte, -- bloß war ich zu schwach,
darnach zu handeln --: daß Gebete nur ein Mittel sind, um Kräfte, die in
uns schlummern, gewaltsam zu erwecken. Zu glauben, daß Gebete den Willen
eines Gottes zu ändern vermöchten, ist Torheit. -- Die Menschen, die ihr
Schicksal dem Geiste in sich überantwortet haben, stehen unter geistigem
Gesetz. Sie sind mündig gesprochen von der Vormundschaft der Erde, über die
sie dereinst Herren werden sollen. Was ihnen im Äußern noch zustößt,
bekommt einen vorwärts treibenden Sinn: alles, was mit ihnen geschieht,
geschieht so, daß es keinen Augenblick besser geschehen könnte.

Halten Sie daran fest, Mynheer, daß dies auch bei Fräulein Eva der Fall
ist.

Das Schwere ist die Anrufung des Geistes, der unser Schicksal lenken soll;
-- nur wer reif ist, dessen Stimme hört Er, und der Ruf muß aus Liebe
geschehen und um eines andern Menschen willen, sonst machen wir die Kräfte
der Finsternis in uns lebendig.

Die Juden der Kabbala drücken es aus: »es gibt Wesen aus dem lichtlosen
Reiche Ob -- sie fangen die Gebete ab, die keine Flügel haben;« -- sie
meinen damit nicht Dämonen _außer_ uns, denn gegen solche sind wir durch
die Mauer unseres Körpers geschützt, -- sondern magische Gifte _in_ uns,
die, wachgerufen, unser Ich zerspalten.«

»Aber kann nicht Eva,« fiel Hauberrisser erregt ein, »ebenso dem Verderben
entgegen gegangen sein wie Ihr Freund Klinkherbogk?«

»Nein! Bitte lassen Sie mich zu Ende sprechen. -- Ich hätte nie den Mut
gehabt, ihr einen so gefährlichen Rat zu geben, wenn in jenem Augenblick
nicht Der um mich gewesen wäre, von dem ich vorhin gesagt habe: wir beide
sind gegen ihn wie ein Nichts. Ich habe in einem langen, langen Leben und
durch unsägliches Leid gelernt, mit Ihm zu reden und Seine Stimme von den
Einflüsterungen menschlicher Wünsche zu unterscheiden. -- Die Gefahr war
nur, daß Fräulein Eva in einem _unrichtigen_ Moment die Anrufung hätte
vornehmen können; dieser Moment der Gefahr -- der einzigen -- ist, Gott sei
Dank, vorüber. Sie ist gehört worden« -- Swammerdam lächelte freudig -- --
»erst vor wenigen Stunden! -- Vielleicht -- ich will mich nicht damit
brüsten, denn solche Vorgänge spielen sich bei mir in Augenblicken höchster
Entrückung ab, -- vielleicht war ich so glücklich, ihr bereits helfen zu
können;« -- er ging zur Tür und öffnete sie für seinen Gast, »aber jetzt
wollen wir das tun, was uns der nüchterne Verstand gebietet. Erst, wenn von
unserer Seite alles geschehen ist, was in irdischer Macht liegt, haben wir
ein Recht, die Hilfe geistiger Einflüsse zu erwarten. -- -- Gehen wir
hinunter in die Schenke, geben Sie den Matrosen Geld, damit sie nach dem
Fräulein suchen, und versprechen Sie dem, der sie findet und wohlbehalten
bringt, einen Preis und Sie werden sehen, daß sie das Leben für sie in die
Schanze schlagen, wenn es darauf ankommt. -- Diese Menschen sind in
Wirklichkeit weit besser als man glaubt; sie haben sich nur verirrt in die
Urwälder ihrer Seelen und gleichen in ihrem Zustand reißenden Tieren. In
jedem von ihnen steckt ein Stück Heroismus, der so manchen gesitteten
Bürgern fehlt; er offenbart sich bloß in ihnen als Wildheit, weil sie nicht
erkennen, was es für eine Kraft ist, die sie treibt. -- Sie fürchten den
Tod nicht und kein mutiger Mensch ist ein wahrhaft schlechter Mensch. Das
sicherste Zeichen, daß jemand die Unsterblichkeit in sich trägt, ist, daß
er den Tod verachtet.« -- --

Sie betraten die Spelunke.

Das Schenkzimmer war vollgepfropft von Menschen und in der Mitte auf dem
Boden lag mit zerschmettertem Schädel die Leiche des chilenischen Matrosen,
den der Zulu auf seiner Flucht mit dem Knie vor die Stirn getroffen hatte.

Es sei nur eine Rauferei gewesen, wie sie fast täglich am Hafen stattfände,
erklärte der Wirt ausweichend, als sich Swammerdam nach den näheren
Umständen erkundigte.

»Der verdammte Nigger, der gestern -- --« fiel die Kellnerin Antje ein,
aber sie kam nicht zu Ende: der Wirt versetzte ihr einen so heftigen Stoß
in die Rippen, daß sie die Worte verschluckte, und schrie dazwischen:
»Halt's Maul, Drecksau! Ein _schwarzer Heizer_ war's von einem
Brasilienfahrer, verstanden!«

Hauberrisser nahm einen der Strolche beiseite, drückte ihm ein Geldstück in
die Hand und begann, ihn auszuforschen.

Bald umstand ihn eine ganze Rotte wilder Gestalten, die einander in
gestenreichen Schilderungen überboten, wie sie den Neger zugerichtet haben
wollten; -- nur in einem Punkte waren sie vollständig einig, nämlich, daß
es ein _fremder Heizer_ gewesen sei. -- Die warnende Miene des Wirtes hielt
sie in Schach und sein lautes Räuspern ließ sie erraten, daß sie unter
keinen Umständen Näheres aussagen dürften, was auf die Spur des Zulus hätte
führen können. Sie wußten, daß der Wirt nicht den Finger gerührt haben
würde, wenn es ihnen eingefallen wäre, einen noch so wertvollen Stammgast
niederzustechen, -- sie wußten aber auch, daß es das heiligste Gesetz der
Hafenschenke war, sofort zum Feinde zu halten, wenn Gefahr von außen her
drohte.

Ungeduldig hörte Hauberrisser den Prahlereien zu, bis plötzlich ein Wort
fiel, das ihm alles Blut zum Herzen trieb: Antje erwähnte, der fremde Neger
habe eine vornehme, junge Dame überfallen.

Er mußte sich einen Augenblick an Swammerdam halten, um nicht
zusammenzubrechen, -- dann leerte er seine Börse in die Hand der Kellnerin
aus und forderte sie, unfähig einen Laut hervorzubringen, durch ein Zeichen
auf, ihm den Hergang des Begebnisses zu schildern.

Man hätte Schreie einer Frauenstimme gehört und sei hinausgelaufen, riefen
alle durcheinander; -- »ich hab sie auf dem Schoß gehalten, sie war
ohnmächtig,« gellte Antje dazwischen.

»Aber wo ist sie, wo ist sie?« schrie Hauberrisser auf.

Die Matrosen verstummten und sahen einander verblüfft an, als kämen sie
jetzt erst zur Besinnung.

Keiner wußte, wo Eva geblieben war.

»Ich hab sie auf dem Schoß gehalten,« beteuerte Antje immer wieder; man sah
ihr an, daß sie selbst nicht die leiseste Ahnung hatte, wohin Eva
verschwunden sein könnte.

Dann liefen sie alle hinaus, Hauberrisser und Swammerdam mitten unter
ihnen, durchsuchten die Gassen, brüllten den Namen Eva, beleuchteten jeden
Winkel im Kirchengarten.

»Dort hinauf ist er, der Nigger,« erklärte die Kellnerin und deutete auf
das grün glitzernde Dach, »und hier auf'm Pflaster hab ich sie liegen
lassen, wie ich ihm auch hab nachwollen, und dann haben wir den Toten ins
Haus gebracht und ich hab auf sie vergessen.«

Man weckte die Bewohner der umliegenden Häuser, ob Eva sich vielleicht in
eins von ihnen geflüchtet habe; -- Fenster rollten in die Höhe, Stimmen
riefen herab, was geschehen sei. -- Nirgends eine Spur der Vermißten.

Gebrochen an Leib und Seele versprach Hauberrisser jedem, der in seine Nähe
kam, alles, was er sich nur wünsche, wenn man ihm eine einzige Nachricht
über den Verbleib Eva's brächte.

Vergebens suchte ihn Swammerdam zu beruhigen; der Gedanke, Eva könne aus
Verzweiflung über das Geschehene -- vielleicht in Geistesverwirrung ihrer
nicht mehr mächtig -- Selbstmord begangen und sich ins Wasser gestürzt
haben, raubte ihm den letzten Rest klarer Besinnung.

Die Matrosen zerstreuten sich bis über die Prins Hendrik Kade die ganze
Nieuwe Vaart entlang, -- kehrten unverrichteter Dinge zurück.

Bald war das gesamte Hafenviertel auf den Beinen; Fischer, halbnackt noch,
fuhren mit Bootslichtern umher, suchten die Quaimauern ab und versprachen,
bei Tagesgrauen ihre Schleppnetze durch sämtliche Grachtmündungen zu
ziehen.

Jeden Augenblick fürchtete Hauberrisser von der Kellnerin, die ihm
unablässig in tausend Variationen erzählte, wie alles gekommen sei, zu
erfahren, daß der Neger Eva vergewaltigt habe. Die Frage versengte ihm die
Brust, und doch konnte er sich lange nicht entschließen, sie zu stellen.

Endlich überwand er sich und deutete stockend an, was er meinte.

Die Strolche, die ihn umstanden und mit gräßlichen Schwüren, sie würden den
Nigger, sobald sie ihn erwischten, lebendig in Streifen schneiden, zu
trösten versuchten, schwiegen sogleich -- vermieden mitleidig seinen Blick,
oder spuckten wortlos aus.

Antje schluchzte leise in sich hinein.

Sie war trotz eines Lebens in grauenhaftestem Schmutz immer noch Weib
genug, um zu begreifen, was ihm das Herz zerriß.

Nur Swammerdam war gelassen und ruhig geblieben.

Der Ausdruck unerschütterlicher Zuversicht in seinen Mienen und die
freundliche Geduld, mit der er immer wieder mild lächelnd den Kopf
schüttelte, wenn Mutmaßungen laut wurden, Eva könne sich ertränkt haben,
gaben Hauberrisser allmählich eine neue Hoffnung, und schließlich folgte er
seinem Rat und ging, von ihm begleitet, zögernd nach Hause.

»Legen Sie sich jetzt zur Ruhe,« redete ihm Swammerdam zu, als sie vor der
Wohnung angelangt waren, »und nehmen Sie Ihre Sorgen nicht mit in den
Schlaf hinüber. Wir können mehr tun mit unserer Seele, wenn der Körper sie
mit seinem Kummer nicht mehr stört, als die Menschen ahnen. -- Überlassen
Sie mir, was noch im Äußern zu geschehen hat; ich werde die Polizei
verständigen, damit sie nach Ihrer Braut sucht. -- Trotzdem ich mir nichts
davon verspreche, soll alles geschehen, was der nüchterne Verstand
gebietet.«

Er hatte bereits unterwegs Hauberrisser behutsam auf andere Gedanken zu
bringen getrachtet, und mit kurzen Worten war der junge Mann unter anderem
auf die Tagebuchrolle und die damit verknüpften Pläne eines neuen Studiums
zu sprechen gekommen, das jetzt wohl für lange Zeit, wenn nicht für immer,
unterbrochen sei.

Swammerdam griff auf das Thema zurück, als er in Hauberrissers Gesicht die
alte Verzweiflung wieder aufwachen sah. Er faßte seine Hand und ließ sie
lange nicht los. -- »Ich wünschte, ich könnte Ihnen von der Sicherheit
geben, die ich Fräulein Eva's wegen empfinde. Wenn Sie nur einen kleinen
Teil davon hätten, würden Sie selbst wissen, was das Schicksal von Ihnen
will, das Sie tun sollen, -- so aber kann ich Ihnen nur raten. Ob Sie
meinen Rat befolgen werden?«

»Verlassen Sie sich darauf,« versprach Hauberrisser unwillkürlich
erschüttert, denn Evas Worte in Hilversum fielen ihm ein, daß Swammerdam in
seinem lebendigen Glauben auch das Höchste zu finden imstande sei; --
»verlassen Sie sich darauf. Es geht von Ihnen eine Kraft aus, daß mir
bisweilen zumute wird, als schütze mich ein tausendjähriger Baum vor dem
Sturm. Jedes Wort, das Sie mir sagen, ist mir wie eine Hilfe.«

»Ich will Ihnen ein kleines Begebnis erzählen,« fing Swammerdam wieder an,
»das mir einst, so scheinbar unbedeutend es aussah, als Wegweiser im Leben
gedient hat. -- Ich war damals noch ziemlich jung und hatte eine bittere,
grausame Enttäuschung erlitten, so daß mir die Erde lange dunkel und wie
eine Hölle erschien. In dieser Stimmung und fast verbittert, daß das
Schicksal wie ein erbarmungsloser Henker mit mir verfuhr und, wie ich
glaubte, ohne Sinn und Zweck auf mich losschlug, begab es sich, daß ich
eines Tages Zeuge wurde, wie man ein Pferd abrichtete.

Man hatte es an einen langen Riemen befestigt und trieb es, ohne ihm nur
eine Sekunde Ruhe zu gönnen, im Kreise umher. -- So oft es an eine Hürde
kam, über die es springen sollte, brach es aus oder bockte. Hageldicht und
stundenlang sausten die Peitschenhiebe auf seinen Rücken nieder, aber immer
weigerte es sich zu springen. Dabei war der Mann, der es quälte, keineswegs
ein roher Mensch und litt selber sichtlich unter der grausamen Arbeit, die
er verrichten mußte. -- Er hatte ein gutes, freundliches Gesicht und sagte
mir, als ich ihm Vorstellungen machte: 'ich würde ja gern dem Gaul für
meinen ganzen Tagelohn Zucker kaufen, wenn er dann nur begriffe, was ich
von ihm will. Ich hab dergleichen oft genug versucht, aber es hilft nichts.
Es ist rein, als ob in so einem Tier der Teufel steckt, der ihm den
Verstand verblendet. Und dabei ist's doch so wenig, was es tun soll'. --
Ich sah die Todesangst in den wahnsinnigen Augen des Pferdes, wenn es an
die Hürde kam, jedesmal von neuem aufleuchten, und las in ihnen die Furcht:
'jetzt, jetzt wird die Peitsche auf mich niederfallen'. -- -- Ich zerbrach
mir den Kopf, ob es denn kein anderes Mittel gäbe, einen Weg der
Verständigung mit dem armen Tier anzubahnen. Und wie ich vergeblich
versuchte, ihm im Geiste und später in Worten zuzurufen, es solle springen,
dann sei sofort alles vorüber, -- und zu meinem Leide einsehen mußte, daß
doch nur der grimmige Schmerz es war, der als Lehrer schließlich zum Ziele
kam, da blitzte in mir die Erkenntnis auf, daß ich selber es auch nicht
anders machte als das Pferd: das Schicksal hieb auf mich ein, und ich wußte
nur, daß ich litt, -- ich haßte die unsichtbare Macht, die mich folterte,
aber, daß alles nur geschah, damit ich irgend etwas vollbringen sollte --
vielleicht eine geistige Hürde überspringen, die vor mir lag, -- das hatte
ich bis dahin nicht begriffen.

Jenes kleine Erlebnis wurde von nun an ein Markstein auf meinem Weg: ich
lernte die Unsichtbaren, die mich vorwärts peitschten, lieben, denn ich
fühlte, sie gäben mir auch lieber 'Zucker', wenn es auf diese Art ginge,
mich über die niedrige Stufe sterblichen Menschentums in einen neuen Stand
zu erheben. -- --

Das Beispiel, das ich bekommen habe, hinkt natürlich,« fuhr Swammerdam
humoristisch fort, »denn es ist ja die Frage, ob das Pferd dadurch, daß es
springen lernte, wirklich einen Fortschritt gemacht hat, und ob es nicht
besser gewesen wäre, es in seiner Wildheit zu belassen. Doch das brauche
ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. -- Wichtig für mich war vor allem das
eine: ich hatte bis dahin in dem Wahne gelebt, was mir an Leid geschähe,
sei eine Strafe, und mich mit Grübeln zerquält, womit ich mir sie wohl
verdient haben könnte, -- dann mit einemmal kam für mich Sinn in die Härten
des Schicksals, und wenn ich auch sehr oft nicht zu ergründen vermochte,
was für eine Hürde ich überspringen sollte, so war ich doch von da an nach
bestem Willen ein gelehriges Pferd.

Ich erlebte damals in einer Sekunde an mir den Satz der Bibel von der
Vergebung der Sünden in der seltsam verborgenen Bedeutung, die ihm zugrunde
liegt: -- mit dem Begriff der Strafe fiel auch von selbst die Schuld weg
und aus dem Zerrbild eines rächenden Gottes wurde im veredelten, von Form
losgelösten Sinn eine wohltätige Kraft, die mich nur belehren wollte -- so,
wie der Mann das Pferd.

Oft, sehr oft habe ich Andern dieses unscheinbare Begebnis erzählt, aber es
fiel fast nie auf fruchtbaren Boden. -- Die Leute glaubten, wenn sie meinen
Rat anwandten, immer leicht erraten zu können, was der unsichtbare
'Dresseur' von ihnen verlangte, und hörten die Schläge des Schicksals dann
nicht sogleich auf, so gerieten sie wieder in ihr altes Geleise und
schleppen murrend oder -- 'ergeben', wenn sie zur Selbstbelügung der
sogenannten Demut ihre Zuflucht nahmen -- ihr Kreuz weiter. Ich sage: wer
schon so weit ist, daß er nur _zuweilen_ erraten kann, was die drüben, --
oder besser: 'Der große Innerliche' -- von ihm will, das er tue, der hat
schon mehr als die Hälfte der Arbeit hinter sich. Das Erraten_wollen_
bedeutet allein schon eine vollkommene Umwälzung der Lebensauffassung; das
Erraten_können_ ist bereits die Frucht dieser Saat. --

Es ist ein schweres Ding, dieses Erratenlernen, was wir tun sollen!

Im Anfang, wenn wir die ersten Versuche wagen, ist es wie ein
unvernünftiges Tappen, und wir begehen da zuweilen Handlungen, die denen
eines Verrückten gleichen und lange keinen Zusammenhang zu haben scheinen.
Erst nach und nach bildet sich aus dem Chaos ein Gesicht, aus dessen Mienen
wir den Willen des Schicksals lesen lernen können; im Beginn schneidet es
Grimassen.

Aber es ist mit allen großen Dingen so; -- jede neue Erfindung, jeder neue
Gedanke, der in die Welt hereinfällt, hat im Entstehen etwas Fratzenhaftes.
Das erste Modell einer Flugmaschine war auch lange Zeit eine
drachenähnliche Grimasse, bevor ein wirkliches Gesicht daraus wurde.«

»Sie wollten mir sagen, was Sie glauben, das ich tun solle,« bat
Hauberrisser fast schüchtern. Er erriet, daß der alte Mann nur deshalb so
weit abschweifte und vorbereitete, weil er fürchtete, sein Rat, dem er
offenbar den größten Wert beimaß, könne, wenn zu schnell vorgebracht, nicht
entsprechend gewürdigt werden und verloren gehen.

»Gewiß will ich das, Mynheer; ich mußte nur zuerst das Fundament legen,
damit es Ihnen weniger befremdlich vorkomme, wenn ich Ihnen etwas zu tun
empfehle, was wie ein Abbrechen und nicht wie ein Fortführen dessen, wozu
es Sie jetzt treibt, aussieht. -- Ich weiß, -- und es ist sehr begreiflich
und menschlich, -- daß Sie augenblicklich nur der Wunsch erfüllt, Eva zu
suchen; aber dennoch ist das, was Sie tun _sollen_: diejenige magische
Kraft zu suchen, die es für die Zukunft ausschließt, daß Ihrer Braut jemals
wieder ein Unheil zustoßen kann; sonst möchte es vielleicht geschehen, daß
Sie sie finden, um sie immer wieder zu verlieren. So, wie sich die Menschen
auf der Erde finden, um vom Tod auseinander gerissen zu werden.

Sie müssen sie finden, nicht wie man einen verlorenen Gegenstand findet,
sondern auf eine neue doppelte Art. -- Sie haben mir auf dem Weg hierher
selbst gesagt, Ihr Leben sei nach und nach wie ein Strom geworden, der sich
im Sande zu verlieren droht. Jeder Mensch kommt einmal zu diesem Punkt,
wenn auch nicht in einem einzigen Dasein. Ich kenne das. -- Es ist wie ein
Sterben, das nur das Innere betrifft und den Körper verschont. Aber gerade
dieser Moment ist der kostbarste und kann zum Sieg über den Tod führen. --
Der Geist der Erde fühlt gar wohl, daß ihm in diesem Augenblick die Gefahr
droht, vom Menschen überwunden zu werden, und deshalb stellt er uns gerade
da die tückischsten Fallen. -- Fragen Sie sich einmal selbst: was würde
geschehen, wenn Sie in diesem Moment Eva fänden? -- Wenn Sie Kraft genug
haben, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, müssen Sie sich sagen: der Strom
Ihres Lebens und des Lebens Ihrer Braut würde wohl ein Stück weiter rinnen,
dann aber im Sande des Alltags unrettbar versiegen. Erzählten Sie mir
nicht, daß Eva sich vor der Ehe fürchte? -- Gerade, weil das Schicksal sie
davor bewahren will, hat es Sie beide so rasch zusammengeführt und gleich
darauf wieder auseinander gerissen. -- Zu jeder andern Zeit als der
jetzigen, in der fast die gesamte Menschheit vor einer ungeheuern Leere
steht, könnte es vielleicht sein, daß das, was Ihnen geschehen ist, nur
eine Grimasse des Lebens wäre, -- _heute_ scheint es mir ausgeschlossen.

Ich kann nicht wissen, was in der Rolle steht, die Ihnen auf so seltsame
Weise zugekommen ist, -- trotzdem rate ich Ihnen heiß und dringend, lassen
Sie alles _Äußere_ seiner Wege treiben und suchen Sie in den Lehren, die
jener Unbekannte niedergelegt hat, das, was Ihnen nottut. Alles übrige wird
sich von selber einstellen. -- Auch wenn es wider Erwarten nur eine
irreführende Fratze wäre, die Ihnen daraus entgegen grinst, und wenn diese
Lehren an sich noch falsch sein sollten, so würden Sie dennoch das für Sie
Richtige in ihnen finden.

Wer richtig sucht, der kann nicht angelogen werden. Es gibt keine Lüge, in
der nicht die Wahrheit stäke: es muß nur der Punkt der richtige sein, auf
dem der Suchende steht,« -- Swammerdam drückte Hauberrisser rasch die Hand
zum Abschied -- »und eben heute stehen Sie auf dem richtigen Punkte: Sie
können ohne Gefahr nach den furchtbaren Kräften greifen, die sonst
unrettbar den Wahnsinn bringen, -- denn Sie tun es jetzt um der Liebe
willen.«




Zehntes Kapitel


Sephardi's erster Weg am Morgen nach dem Besuch in Hilversum war zu dem
Gerichtspsychiater Dr. Debrouwer gewesen, um Näheres über den Fall Lazarus
Eidotter zu erfahren.

Daß der alte Jude der Mörder nicht sein konnte, stand für ihn zu fest, als
daß er es nicht für seine Pflicht gehalten hätte, als Glaubensgenossen ein
Wort für ihn einzulegen, zumal Dr. Debrouwer als ein selbst unter
Irrenärzten ungewöhnlich talentloser und vorschneller Beobachter galt.

Obwohl Sephardi Eidotter nur einmal im Leben gesehen hatte, war dennoch
seine Teilnahme an ihm sehr rege. --

Schon der Umstand, daß er als russischer Jude einem geistigen Kreis
ausgesprochen christlicher Mystiker angehörte, ließ vermuten, daß er ein
kabbalistischer Chassid sein mußte, -- und alles, was diese sonderbare
jüdische Sekte betraf, nahm Sephardis Interesse in hohem Grade in Anspruch.

                   *       *       *       *       *

Er hatte sich in seiner Annahme, der Gerichtspsychiater werde den Fall
falsch beurteilen, nicht geirrt, denn kaum gab er seiner Überzeugung,
Eidotter sei unschuldig und sein Geständnis auf Hysterie zurückzuführen,
Ausdruck, als Dr. Debrouwer, der schon äußerlich durch den blonden Vollbart
und den »gütigen, aber durchdringenden« Blick den wissenschaftlichen Poseur
und Hohlkopf verriet, mit sonorer Stimme einfiel: »Ein abnormer Befund hat
sich keineswegs ergeben. Ich habe den Fall zwar erst seit gestern unter
Beobachtung, aber so viel steht fest, daß jegliches Krankheitssymptom
fehlt.«

»Sie halten also den alten Mann für einen bewußten Raubmörder und sein
Geständnis für einwandfrei?« fragte Sephardi trocken.

Die Augen des Arztes nahmen den Ausdruck übermenschlicher Schläue an; er
setzte sich geschickt gegen das Licht, damit das Blitzen seiner kleinen
ovalen Brillengläser das Imposante seines Denkerantlitzes womöglich noch
erhöhe, und sagte, eingedenk des Sprüchwortes, daß auch die Wände Ohren
haben, mit plötzlich geheimnisvoll gedämpfter Stimme:

»Als Mörder kommt dieser Eidotter nicht in Betracht, aber es handelt sich
um ein Komplott, dessen Mitwisser er ist!«

»Ah. -- Und woraus schließen Sie das?«

Dr. Debrouwer beugte sich vor und flüsterte: »Sein Geständnis deckt sich in
gewissen Punkten mit den Tatsachen; folglich kennt er sie! Er hat es
lediglich aus dem Grunde abgelegt und sich selbst als Täter bezeichnet, um
den immerhin möglichen Verdacht der Hehlerschaft von sich abzulenken und
zugleich Zeit zur Flucht für seinen Spießgesellen zu gewinnen.«

»Kennt man denn die näheren Umstände des Mordes bereits?«

»Gewiß. Einer unserer fähigsten Kriminalisten hat sie aus dem Befund
festgestellt. -- Der Schuhmacher Klinkherbogk hat in einem Anfall von --
von dementia praecox« (Sephardi horchte auf und unterdrückte ein Lächeln)
»seine Enkelin unter Zuhilfenahme einer Schusterahle erstochen, wurde
gleich darauf, als er das Zimmer verlassen wollte, von dem eindringenden
Mörder getötet und durchs Fenster hinab in die Gracht geworfen. Eine ihm
gehörige Krone aus Goldpapier hat man auf dem Wasser schwimmen gefunden.«

»Und das alles hat Eidotter genau so angegeben?«

»Das ist's ja eben!« -- Dr. Debrouwer lachte breit. -- »Als der Mord im
Hause ruchbar wurde, wollten Zeugen den Eidotter in seiner Wohnung wecken,
fanden ihn aber vollkommen bewußtlos. Er simulierte natürlich. Wäre er in
Wirklichkeit an der Tat unbeteiligt gewesen, hätte er doch unmöglich wissen
können, daß der Tod des kleinen Mädchens infolge _Erstechens durch eine
Schusterahle_ eintrat. Trotzdem hat er es in seinem Geständnis ausdrücklich
erwähnt. Daß er sich selbst auch als Mörder des Kindes ausgab, -- nun, das
ist sehr durchsichtig: es geschah, um die Behörden zu verwirren.«

»Und auf welche Weise will er den Schuster überfallen haben?«

»Er behauptet, an einer Kette, die vom Giebel des Hauses ins Wasser
herabhängt, emporgeklettert zu sein und dem Klinkherbogk, der ihm mit
freudig ausgebreiteten Armen entgegengetreten sein soll, das Genick
gebrochen zu haben. -- Alles Unsinn natürlich.«

»Das mit der Ahle, sagen Sie, könne er unmöglich gewußt haben? -- Ist es
wirklich ganz ausgeschlossen, daß er es von irgend jemand erfahren hat,
_ehe_ er sich selbst bei der Polizei stellte?«

»Ausgeschlossen.«

Sephardi wurde immer nachdenklicher. Seine anfängliche Vermutung, Eidotter
habe sich als Täter bezeichnet, um einer eingebildeten Mission als »Simon
der Kreuzträger« gerecht zu werden, hielt nicht Stich. Vorausgesetzt, daß
der Irrenarzt nicht log, -- woher konnte Eidotter die näheren Umstände mit
der Ahle gewußt haben? Eine Ahnung beschlich Sephardi, als müsse ein schwer
erklärlicher Fall unbewußten Hellsehens bei dem Alten mit hereinspielen.

Er öffnete den Mund, um den Verdacht, der Zulu sei vielleicht der Mörder,
auszusprechen, aber ehe er es noch über die Lippen bringen konnte, fühlte
er von innen heraus einen heftigen Ruck, der ihn sofort schweigen machte.

Es war fast wie eine körperliche Berührung gewesen. Trotzdem maß er der
Sache keine weitere Bedeutung bei und fragte nur, ob es erlaubt sei, mit
Eidotter zu sprechen.

»Eigentlich dürfte ich es nicht zugeben,« meinte Dr. Debrouwer, -- »gar wo
Sie, wie man ja bei Gericht weiß, mit ihm noch kurz vor dem Geschehnis bei
Swammerdam beisammen waren, aber, wenn Ihnen so viel daran liegt -- und da
Ihr Ruf als Gelehrter in Amsterdam ja unantastbar ist« -- setzte er mit
einem Anflug von Neid hinzu, »so will ich gern meine Machtbefugnis
überschreiten.« --

Er klingelte und ließ Sephardi durch einen Wärter in die Zelle führen. --
-- --

                   *       *       *       *       *

Der alte Jude saß, wie man durch die Beobachtungsluke in der Mauer sehen
konnte, vor dem vergitterten Fenster und blickte in den sonnendurchfluteten
Himmel.

Als er die Tür öffnen hörte, stand er gleichmütig auf.

Sephardi ging rasch auf ihn zu und drückte ihm die Hand.

»Ich bin gekommen, Herr Eidotter, erstens, weil ich mich dazu verpflichtet
fühle als Ihr Glaubensgenosse -- --«

»Gloobensgenosse,« murmelte Eidotter ehrerbietig und machte einen Kratzfuß.

»-- und dann, weil ich überzeugt bin, daß Sie unschuldig sind.«

»Unschuldig sind,« echote der Alte.

»Ich fürchte, Sie mißtrauen mir,« fuhr Sephardi nach einer Pause fort, da
der andere stumm blieb, -- »seien Sie unbesorgt, ich komme als Freund.«

»Als Freund,« wiederholte Eidotter mechanisch.

»Oder glauben Sie mir nicht? Das täte mir leid.«

Der alte Jude fuhr sich langsam über die Stirn, als erwachte er erst jetzt.

Dann legte er die Hand auf's Herz und sagte stockend, Wort für Wort bemüht,
sich so dialektfrei wie möglich auszudrücken: »Ich -- hab -- keinen Feind.
-- Auf was herauf? -- Und ibber den, als Sie mir sagen, Sie kümmen als
Freund, woher soll ich nehmen die Chuzpe, an Ihren Worten zu zweifeln?«

»Schön. Das freut mich; ich werde infolgedessen ganz offen mit Ihnen reden
können, Herr Eidotter;« -- Sephardi nahm den angebotenen Stuhl und setzte
sich so, daß er das Mienenspiel des Alten genau studieren konnte -- »wenn
ich Sie jetzt Verschiedenes fragen werde, geschieht es nicht aus Neugierde,
sondern vor allem, um Ihnen aus der verhängnisvollen Lage, in die Sie
geraten sind, zu helfen.«

»Zu helfen,« brummte Eidotter in sich hinein.

Sephardi schwieg absichtlich eine Weile und betrachtete aufmerksam das
greisenhafte Gesicht, das fest und unbeweglich und ohne eine Spur von
Erregung auf ihn gerichtet war.

Er erkannte auf den ersten Blick an den tief eingemeißelten Leidensfurchen,
daß der Mann Furchtbares im Leben mitgemacht haben mußte, -- dennoch lag,
als seltsamer Kontrast dazu, in den weit offenen tiefschwarzen Augen ein
Glanz von Kindlichkeit, wie er ihn noch nie an einem russischen Juden
wahrgenommen hatte.

In dem spärlich beleuchteten Zimmer Swammerdams war ihm all das nicht
aufgefallen. Er hatte in dem Alten einen Sektierer vermutet, der unter der
Wirkung eines übertriebenen Frömmigkeitsgefühls zwischen Fanatismus und
Selbstqual hin und her geworfen wurde; -- der Mensch, der jetzt vor ihm
saß, schien ein völlig anderer zu sein.

Seine Züge waren weder breit, noch hatten sie das Listige oder Abstoßende,
das der Typus der russischen Juden aufzuweisen pflegt. Sie verrieten in
jeder Linie eine ungewöhnliche Ideenkraft; trotzdem war ein geradezu
erschreckender Ausdruck von Gedankenleere darüber gebreitet.

Sephardi konnte sich nicht zusammenreimen, wie dieses sonderbare Gemisch
aus kindlicher Harmlosigkeit und greisenhaftem Verfall überhaupt fähig war,
ein Branntweingeschäft in einem Verbrecherviertel zu betreiben.

»Sagen Sie mir,« begann er sein Verhör in freundlichem Tone, -- »wie sind
Sie nur auf den Einfall geraten, sich als Mörder an Klinkherbogk und seiner
Enkelin auszugeben? Wollten Sie jemand damit helfen?«

Eidotter schüttelte den Kopf. -- »Wem hätt ich denn helfen sollen? Ich hab
doch die beiden umgebracht.«

Sephardi ging scheinbar darauf ein:

»Und warum haben Sie sie umgebracht?«

»Nu. Vün wegen die Tausend Gülden.«

»Und wo haben Sie das Geld?«

»Das haben mich doch die Gaônen« -- Eidotter deutete mit dem Daumen auf die
Tür -- »auch schon gefragt. Ich weiß nicht.«

»Bereuen Sie Ihre Tat denn gar nicht?«

»Bereuen?« -- der Alte dachte nach. »Warum soll ich sie bereuen? Ich kann
doch nix dafür.«

Sephardi stutzte. Das war nicht die Antwort eines Wahnsinnigen. Er sagte
leichthin:

»Gewiß können Sie nichts dafür. Sie haben die Tat eben gar nicht begangen.
Sie haben im Bett gelegen und geschlafen und sich alles nur eingebildet.
Sie sind auch gar nicht die Kette hinaufgeklettert, -- das hat ein anderer
getan; Sie wären zu so etwas in Ihren Jahren nie imstande gewesen.«

Eidotter zögerte. »Sie meinen also, Herr Doktor, ich bin gar nicht der
Mörder?«

»Natürlich sind Sie's nicht! Das ist doch sonnenklar.«

Wieder dachte der Alte eine Minute nach, dann brummte er gelassen:

»Nu. Das ist gescheit.« -- Keine Spur von Freude oder Erleichterung war in
seinem Gesicht zu lesen. Nicht einmal Erstaunen.

Die Sache wurde Sephardi immer rätselhafter. Hätte eine
Bewußtseinsverschiebung in Eidotter stattgefunden, würde es der Ausdruck
der Augen, die nach wie vor gleich kindlich dreinschauten, oder ein
Mienenspiel verraten haben. An absichtliche Verstellung war nicht zu
denken: der Greis hatte die Erkenntnis der Tatsache, daß er unschuldig war,
hingenommen wie etwas kaum Erwähnenswertes.

»Und wissen Sie auch, was mit Ihnen geschehen wäre,« fragte Sephardi
eindringlich, »wenn Sie die Tat wirklich begangen hätten? -- Sie wären
hingerichtet worden!«

»Hm. Hingerichtet worden.«

»Jawohl. Erschreckt Sie das nicht?« --

Offenbar wirkte die Frage nicht auf das Gemüt des alten Mannes. Nur sein
Gesicht wurde ein wenig nachdenklicher -- so wie von einer Erinnerung
erhellt. Dann zuckte er die Achseln und sagte: -- »Mir is im Leben schon
Schrecklicheres passiert, Herr Doktor.«

Sephardi wartete, was weiter kommen würde, aber Eidotter war bereits wieder
in seine totenhafte Ruhe versunken und schwieg.

»Waren Sie von jeher Branntweinhändler?«

Kopfschütteln.

»Geht Ihr Geschäft gut?«

»Ich weiß nicht.«

»Hören Sie, wenn Sie so gleichgültig in Ihrem Beruf sind, kann's Ihnen
eines Tages geschehen, daß Sie um alles kommen.«

»Freilich. Wann mer nicht acht gibt,« war die naive Antwort.

»Wer gibt acht? Sie? Oder haben Sie eine Frau? Oder Kinder, die acht
geben?«

»Meine Frau is schon lang tot. -- Und -- und die Kinderlich aach.«

Sephardi glaubte einen Weg zum Herzen des alten Mannes vor sich zu sehen:
-- »Denken Sie nicht zuweilen in Liebe an Ihre Familie zurück? Ich weiß ja
nicht, ob es schon lange her ist, daß Sie sie verloren haben, aber
glücklich können Sie sich doch unmöglich fühlen in Ihrer Einsamkeit! --
Sehen Sie, ich habe auch niemand, der um mich wäre, und kann mich daher um
so leichter in Ihre Lage versetzen. Wirklich, ich frage jetzt nicht nur aus
Wißbegierde, um mir das Rätsel zu lösen, das Sie für mich sind,« --
unwillkürlich vergaß er, weshalb er gekommen war -- »ich frage Sie aus
reiner Menschlichkeit und --«

»und weil Ihnen nebbich so zu mut is und Sie nicht anders können,« ergänzte
zu seinem größten Erstaunen Eidotter, einen Augenblick ganz verändert; --
in dem bisher leblosen Gesicht war etwas aufgeblitzt wie Mitgefühl und
tiefes Verständnis. Eine Sekunde später erschien es wieder als das
unbeschriebene Blatt, das es von Anfang an gewesen war, -- »Rabbi Jochanan
hat gesagt: 'Ein passendes Ehepaar unter den Menschen zusammenzubringen ist
schwerer als das Wunder Mosis im roten Meer,'« -- hörte Sephardi ihn
geistesabwesend murmeln. Mit einem Schlag begriff er, daß der Alte seinen
Schmerz um den Verlust Evas, der ihm selbst momentan nicht klar zum
Bewußtsein gekommen war, wenn auch vorübergehend mitempfunden hatte.

Er erinnerte sich, daß unter den Chassiden die Legende ging, es gäbe in
ihrer Gemeinschaft Menschen, die den Eindruck von Wahnsinnigen machten und
es trotzdem nicht wären, -- die zu Zeiten ihres Ichs entkleidet, die Leiden
und Freuden der Mitwelt so deutlich am eigenen Herzen erführen, als wären
sie selber die davon Betroffenen. -- Er hatte es für eine Fabel gehalten;
-- sollte wirklich dieser sinnverwirrte Greis ein lebendiger Zeuge für die
Wahrheit jener Behauptung sein? -- Sein Benehmen, die Einbildung,
Klinkherbogk ermordet zu haben, seine bisherige Handlungsweise, kurz alles
bekam einen neuen Zusammenhang, wenn es sich tatsächlich so verhielt.

»Können Sie sich nicht entsinnen, Herr Eidotter,« fragte er im höchsten
Grade interessiert, »ob es Ihnen schon einmal passiert ist, daß Sie
glaubten, irgendeine Handlung begangen zu haben, die sich später als die
Tat eines andern herausstellte?«

»Ich hab mich nix drum gekümmert.«

»Aber, daß Sie in Ihrem Denken und Fühlen nicht so beschaffen sind wie Ihre
Mitmenschen -- wie ich zum Beispiel, oder wie Ihr Freund Swammerdam, werden
Sie vielleicht wissen? Neulich, als wir uns bei ihm kennen lernten, waren
Sie nicht so einsilbig und viel lebhafter. Hat Sie der Tod Klinkherbogks so
angegriffen?« -- Sephardi faßte voll Teilnahme die Hand des Alten. -- »Wenn
Sie Sorgen haben oder Erholung brauchen, so vertrauen Sie sich mir an, ich
will alles tun, um Ihnen beizustehen. Ich glaube auch nicht, daß Ihr
Geschäft am Zee Dyk das Richtige für Sie ist. Vielleicht ist es mir
möglich, Ihnen einen andern und -- würdigeren Beruf zu verschaffen. --
Warum wollen Sie eine Freundschaft, die Ihnen angeboten wird,
zurückweisen?«

Es war deutlich zu sehen, daß die warmen Worte dem Alten wohl taten.

Er lächelte glückselig wie ein Kind, das man belobt, aber ein Verständnis
für das, was ihm in Aussicht gestellt wurde, schien er nicht zu haben.

Ein paarmal öffnete er den Mund, als wolle er sich bedanken, aber er fand
offenbar die Worte nicht.

»Bin -- bin ich damals anders gewest?« -- fragte er endlich stockend.

»Gewiß. Sie sprachen ausführlich mit mir und der übrigen Gesellschaft. Sie
waren menschlicher, sozusagen; Sie disputierten sogar mit Herrn Swammerdam
über Kabbala. -- Ich entnahm daraus, daß Sie sich viel mit Fragen über
Religion und Gott befaßt haben.« -- Sephardi brach schnell ab, denn er
bemerkte, daß eine Veränderung im Gesicht des Greises vor sich ging.

»Kabbala -- -- Kabbala,« murmelte Eidotter. »Ja, freilich, Kabbala, die hab
ich studiert. Lang. Und Babli auch. Und -- und Jeruschalmi.« -- Seine
Gedanken fingen an, in eine ferne Vergangenheit zurückzuwandern; er sprach
sie aus, als stünden sie abseits von ihm, -- wie jemand, der auf Bilder
zeigt und sie einem andern erklären will, bald langsam, bald schnell, je
nachdem sie an seinem Gedächtnis vorüberzogen. -- »Aber was drin steht in
der Kabbala -- über Gott -- is falsch. Es is ganz anderst in der
Lebendigkeit. Damals -- in Odessa -- da hab ich's noch nicht gewußt. -- Im
Vatikan in Rom hab ich müssen übersetzen aus dem Talmud.« --

»Sie waren im Vatikan?« rief Sephardi erstaunt.

Der Alte hörte nicht darauf.

»und dann is mir verdorrt die Hand.« -- Er hob den rechten Arm, an dem die
Finger wie Wurzeln verkrümmt waren von Gichtknoten. -- »In Odessa hat mer
geglaubt bei die Griechisch-Orthodoxen, ich bin ä Spion, daß ich verkehr
mit die römischen Gojim, -- -- und auf emol hat's gebrennt in ünserm Haus,
aber Elias, sein Nam' sei gepriesen, hat's abgewendet, daß mir sind blos
auf der Gass' gesessen: -- meine Frau Berurje und ich und die Kinderlich.
-- Dann später is gekommen Elias und hat an unserm Tisch gegessen nach dem
Lauberhüttenfest. Ich hab' gewußt, daß es is Elias, wenn Berurje auch hat
gemeint, daß er heißt: Chidher Grün.« -- Sephardi zuckte zusammen. Derselbe
Name war gestern in Hilversum gefallen, als Baron Pfeill für Hauberrisser
das Wort geführt und dessen Erlebnisse erzählt hatte! --

»In der Gemeinde hat mer gelacht ibber mir und wenn sie von mir gesprochen
haben, hat's immer geheißen: Eidotter? Eidotter is ä Nebbochant; er lauft
ohne Verstand herüm. -- Sie haben nicht gewußt, daß mich Elias unterweist
in dem dopelten Gesetz, das Moses dem Josua überliefert hat von Mund zu
Ohr,« -- ein Glanz von Verklärung belebte seine Züge -- »und daß Er die
zwei verhüllenden Lichter der Makifim in mir umgestellt hat. -- Dann war ä
Judenverfolgung in Odessa. Ich hab mein Kopp hingehalten, aber es hat die
Berurje getroffen, daß ihr Blut is über den Boden hingeflossen, wie sie hat
wollen die Kinderlich beschützen, als eins nach dem andern is erschlagen
geworden.« --

Sephardi sprang auf, hielt sich die Ohren zu und starrte entsetzt Eidotter
an, in dessen lächelndem Gesicht keine Spur von Erregung zu bemerken war.
--

»Ribke, meine älteste Tochter, die hat geschrien zu mir um Hilfe, wie sie
sich haben ibber ihr gestürzt, aber mer hat mich festgehalten. -- Dann
haben sie mei Kind mit Petroleum begossen -- und angezündt.«

Eidotter schwieg, blickte sinnend an seinem Kaftan herunter und zupfte
kleine Fäden aus den zerschlissenen Nähten. Er schien vollkommen bei Sinnen
zu sein und trotzdem keinen Schmerz zu empfinden, denn nach einer Weile
fuhr er mit klarer Stimme fort: »Wie ich dann später hab' wieder wollen die
Kabbala studieren, hab ich nicht mehr können, denn die Lichter der Makifim
waren in mir umgestellt.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Sephardi bebend. »Hat das furchtbare Leid
Ihren Geist umnachtet?«

»Das Leid nicht. Und auch bin ich nicht umnachtet. Es is so, wie man sagt
von die Ägypter, daß sie haben än Trank gehabt, der wo vergessen macht. --
Wie hätt ich's denn sonst überleben können! -- Ich hab' damals lang nicht
gewußt, wer ich bin, und wie ich's dann doch wieder gewußt hab', hat mir
gefehlt, was der Mensch zum Weinen braucht, aber auch so manches, was mer
zum Denken braucht. -- Die Makifim sind umgestellt. -- Von da an hab' ich,
ich möcht sagen: das Herz im Kopf und das Gehirn in der Brust. Besonders
manchmal.«

»Können Sie mir das näher erklären?« fragte Sephardi leise. »Aber, bitte,
nur wenn Sie es gerne tun. Ich möchte nicht, daß Sie glauben, ich forschte
aus Neugier.«

Eidotter faßte ihn am Ärmel. »Schauen Sie, Herr Dokter, wenn ich jetzt in
das Tuch zwick', haben Sie doch kan Schmerz? -- Ob's dem Ärmel weht tut,
wer kann wissen? -- So is es bei mir. Ich seh, es is einmal was geschehen,
was eigentlich hätt schmerzen müssen; ich weiß es genau, aber ich spür's
nicht. Weil mein Gefühl im Kopf is. -- Ich kann aber auch nicht mehr
zweifeln, wenn mir jemand irgend was sagt, so wie ich's in meiner Jugend in
Odessa noch gekonnt hab'. Ich muß es glauben, weil mein Denken jetzt im
Herzen is. -- Ich kann mir auch nichts mehr ausgrübeln wie früher. Entweder
es fallt mir was ein, oder es fallt mir nix ein; fallt mir was ein, dann is
es auch in Wirklichkeit so und ich erleb's so deutlich, daß ich nicht
unterscheiden könnt': war ich dabei oder nicht. Deshalb probier ich's gar
nicht erst, drieber nach zu denken.«

Sephardi begriff jetzt halb und halb, wie es zu dem Geständnis vor Gericht
gekommen war.

»Und Ihre tägliche Beschäftigung? Wie sind Sie imstande, ihr nachzugehen?«

Eidotter deutete wieder auf den Ärmel. -- »Das Kleid schützt Sie vor der
Näss', wenn's regnet, und vor der Hitz, wenn die Sonn' scheint. Ob Sie sich
darum sorgen oder nicht: -- das Kleid macht's von selber. -- Mein Körper
kümmert sich um das Geschäft, nur weiß ich nichts mehr davon wie früher.
Hat doch schon Rabbi Simon ben Eleasar gesagt: 'Hast du je einen Vogel ein
Handwerk treiben gesehen? -- und doch ernährt er sich ohne Müh' -- und ich
sollt mich nicht ohne Müh' ernähren?' -- -- Natürlich, wenn die Makifim
nicht in mir umgestellt wären, könnt ich mein Körper nicht allein lassen
und wär an ihn angenagelt.«

Sephardi, durch die klare Rede aufmerksam gemacht, warf einen prüfenden
Blick auf den alten Mann und sah, daß er sich anscheinend in nichts mehr
von einem normalen russischen Juden unterschied: er gestikulierte beim
Sprechen mit den Händen, und seine Stimme hatte etwas Eindringliches
bekommen. Die so überaus verschiedenen Geisteszustände waren lückenlos
ineinander übergegangen.

»Freilich, aus eigner Kraft kann der Mensch so was nicht vollbringen,« --
fuhr Eidotter versonnen fort, -- »da hilft alles studieren nix und ka Gebet
und auch die Mikwaôth -- die Tauchbäder -- sind umsonst. Wenn nicht einer
von drüben die Lichter in einem umstellt -- wir können's nicht.«

»Und Sie glauben, es ist einer von 'drüben' gewesen, der es in Ihnen
vollbracht hat?«

»Nu ja: Elias, der Prophet, wie ich Ihnen schon gesagt hab. Wie er eines
Tags is in unser Zimmer gekommen, da hab' ich schon vorher an seinem
Schritt gehört: Er is es. -- Früher, wenn ich mir gedenkt hab', es könnte
sein, daß er einmal unser Gast is, -- Sie wissen doch, Herr Dokter, wir
Chassidim hoffen beständig auf ihm -- da hab' ich immer gemeint, ich müßt
zittern an allen Gliedern, wenn er vor mir steht. Aber es war ganz
natürlich; so, als wenn ä ganz gewöhnlicher Jud zur Tür herein tritt. Nicht
emol das Herz hat mir schneller geschlagen. Blos zweifeln hab ich nicht
daran können, daß er's is, so viel ich mir auch angestrengt hab. -- Wie ich
ihn dann nicht mehr aus den Augen gelassen hab', is mir sei' Gesicht immer
bekännter und bekännter vorgekommen und ich hab' plötzlich gewußt, _daß
nicht ä einzige Nacht in meinem Leben gewesen is, wo ich ihn nicht im Traum
gesehen hätt_'. Und wie ich weiter und weiter in meinem Gedächtnis
zurückgegangen bin (denn ich hätt' doch gern herausgebracht, wann ich ihm
zum allererstenmal begegnet bin), -- da is meine ganze Jugend an mir
vorüber gezogen: ich hab' mich als kleines Kind gesehen und dann noch viel
früher, in äm frieheren Leben, als ä erwachsener Mensch, von dem ich vorher
gar nicht geahnt hab', daß ich's gewest bin, und dann wieder als Kind und
so fort und so fort, -- aber jedesmal war Er bei mir und immer war er
gleich alt und hat genau so ausgesehen, wie der fremde Gast am Tisch. --
Ich hab' natierlich scharf aufgepaßt auf jede von seine Bewegungen und auf
alles, was er machen wird; -- wenn ich nicht gewußt hätt', es is Elias, wär
mir auch dran nichts besonders aufgefallen, aber so hab' ich gespürt, daß
alles, was er getan hat, ä tiefe Bedeutung gekriegt hat. Dann, wie er im
Gespräch die zwei Leuchter am Tisch miteinander vertauscht hat, is es mir
ganz deutlich geworden und ich hab' gefühlt, daß er _in mir_ die Lichter
umstellt, und ich bin von da an ä anderer Mensch gewest, -- meschugge, wie
mer in der Gemeinde gesagt hat. -- Zu was für än Zweck Er die Lichter in
mir umgestellt hat, das habe ich später gewußt, als meine Familie is
geschlachtet geworden. -- Auf was herauf Berurje geglaubt hat, daß er
Chidher Grün heißt, wollen Sie wissen, Herr Dokter? -- Sie hat behauptet,
er hätt's ihr gesagt.«

»Ist er Ihnen später nie mehr begegnet? Sie erwähnten doch, er hätte Sie in
der Mercaba unterrichtet,« -- fragte Sephardi -- »ich meine damit: in dem
geheimen zweiten Gesetz Mosis?«

»Begegnet?« wiederholte Eidotter und strich sich über die Stirn, als müsse
er sich erst langsam klar werden, was man von ihm wolle. »Begegnet? -- Wo
er einmal bei mir war, wie hätt' er denn wieder fortgehen sollen? Er is
doch immer bei mir.«

»Und Sie sehen ihn beständig?«

»Ich seh' ihn überhaupt nicht.«

»Aber Sie sagen, er sei immerwährend bei Ihnen. -- Wie soll ich das
verstehen?«

Eidotter zuckte die Achseln. »Mit dem Verstand läßt sich das nicht
begreifen, Herr Dokter.«

»Können Sie es mir nicht an einem Beispiel erklären? Redet Elias zu Ihnen,
wenn er Sie unterweist, oder wie ist das?«

Eidotter lächelte. -- »Wenn Sie sich freuen, ist da die Freude bei Ihnen?
Ja. Natierlich. Aber Sie können die Freude doch nicht anschauen und nicht
hören. -- So is es.«

Sephardi schwieg. Er sah ein, daß sich eine geistige Kluft des
Verständnisses zwischen ihm und dem Alten auftat, die sich nicht
überbrücken ließ. Wohl deckte sich, wenn er es ausspann, vieles, was er
soeben von Eidotter gehört hatte, mit seinen eignen Theorien über die
innere Weiterentwicklung der menschlichen Rasse; -- er selber hatte immer
der Ansicht zugeneigt und es auch ausgesprochen, -- gestern erst in
Hilversum -- daß der Weg dazu in den Religionen und im Glauben an sie läge,
aber jetzt, wo er an dem Greis ein lebendiges Beispiel vor sich sah, fühlte
er sich durch die Wirklichkeit überrascht und enttäuscht zugleich. Er mußte
sich eingestehen, daß Eidotter dadurch, daß er dem Schmerz nicht mehr
unterlag, unendlich viel reicher war als alle seine Mitgeschöpfe, -- er
beneidete ihn um seine Fähigkeit und dennoch hätte er nicht mit ihm
tauschen mögen.

Ein Zweifel wandelte ihn an, ob das, was er gestern in Hilversum in bezug
auf den Weg der Schwäche und des Wartens auf eine Erlösung verfochten,
letzten Endes auch richtig sei.

Er hatte sein Leben, umgeben mit einem Luxus, von dem er keinen Gebrauch
gemacht, einsam, abgeschlossen von den Menschen und in Studien aller Art
zugebracht, -- jetzt schien es ihm, als hätte er dabei so manches übersehen
und das Wichtigste versäumt.

Hatte er sich in Wahrheit nach Elias und seinem Kommen gesehnt, so wie
dieser arme, russische Jude? Nein; er hatte sich nur eingebildet, er sehne
sich, und war sich durch _Lesen_ darüber klar geworden, daß es für die
Erweckung eines inneren Lebens nötig sei, sich zu sehnen. Jetzt stand
_einer_ leibhaftig vor ihm, der die Erfüllung seiner Sehnsucht erlebt
hatte, und er, der große Bücherweise, Sephardi, mußte sich sagen: ich
möchte nicht mit ihm tauschen.

Tief beschämt, nahm er sich vor, bei der nächsten Gelegenheit Hauberrisser,
Eva und Baron Pfeill zu erklären, daß er in Wirklichkeit so gut wie nichts
wisse -- daß er unterschreiben müsse, was ein jüdischer Schnapshändler, der
seiner Sinne nicht mächtig war, über geistige Erlebnisse gesagt hatte: »Mit
dem Verstand läßt sich das nicht begreifen.«

»Es is wie ä Hiniebergehen ins Reich der Fülle« -- fuhr Eidotter nach einer
Pause fort, während der er selig vor sich hingelächelt hatte, -- »es is
kei' Herieberkommen, wie ich früher immer geglaubt hab'. Aber es is ja
alles falsch, was ä Mensch glaubt, solang die Lichter in ihm noch nicht
umgestellt sind, -- so grundfalsch, daß mer's gar nicht erfassen kann. Mer
hofft, daß Elias kommt, und dann, wenn er kommt und er is da, sieht mer,
daß er gar nicht gekommen is, sondern: daß mer zu ihm gegangen is. Mer
glaubt, mer nimmt, statt dessen gibt man. Man glaubt, mer bleibt stehn und
wartet, statt dessen geht mer und sucht. Der Mensch wandert und Gott bleibt
stehen. -- Elias is in unser Haus gekommen -- hat ihn Berurje erkannt? Sie
is nicht zu ihm gekommen, also is auch er nicht zu ihr gekommen und sie hat
gemeint, es is ä fremder Jud, der Chidher Grün heißt.«

Sephardi blickte bewegt in die strahlenden Kinderaugen des Alten. »Ich
verstehe jetzt sehr wohl, wie Sie es meinen, wenn ich's auch mit dem Gefühl
nicht mitzuerleben vermag, -- und ich danke Ihnen. -- Ich wollte, ich
könnte etwas für Sie tun. -- Sie frei zu bekommen, kann ich Ihnen bestimmt
versprechen; es wird nicht schwer sein, Doktor Debrouwer zu überzeugen, daß
Ihr Geständnis mit dem Morde nichts zu tun hat. -- Allerdings,« -- setzte
er mehr für sich hinzu -- »weiß ich augenblicklich noch nicht, wie ich ihm
den Fall erklären soll.«

»Darf ich Ihnen um ä Gefälligkeit bitten, Herr Dokter?« -- unterbrach
Eidotter.

»Selbstverständlich. Natürlich.«

»Dann sagen Sie dem da draußen gar nix. Soll er glauben, ich war's; so wie
ich es selbst geglaubt hab'. Ich möcht' nicht schuld sein, daß mer den
Mörder findt. Ich weiß jetzt auch, wer's is. Ihnen gesagt: es war ä
Schwarzer.«

»Ein Neger? Woher wissen Sie das mit einemmal?« rief Sephardi verblüfft und
einen Augenblick von Mißtrauen erfüllt.

»Das is so,« erklärte Eidotter gelassen: »Wenn ich im traumlosen Schlaf
ganz mit Elias vereinigt war und komm zurück so halb in's Leben in mein
Spiritusladen, und es is inzwischen was passiert, so glaub' ich oft, ich
bin dabei gewest und hab' mitgemacht. Wenn zum Beispiel jemand ä Kind
geschlagen hat, glaub ich, daß _ich's_ geschlagen hab', und muß hingehen
und es trösten; wenn jemand vergessen hat, sein' Hund zu füttern, glaub
ich, _ich_ hab's vergessen und muß ihm sei' Fressen bringen. Nachher, wenn
ich zufällig erfahr', daß ich mich geirrt hab', brauch ich bloß für än
Augenblick wieder ganz zu Elias zu gehen und gleich wieder zurück zu
kümmen, dann weiß ich sofort, wie's in Wirklichkeit gewest is. Ich mach
sowas selten, weil's kan Zweck hat und schon das halbete Weggehen von Elias
so is, als ob mer blind wird, aber vorhin, wie Sie ä so lang nachgedenkt
haben, Herr Dokter, hab' ich's doch gemacht und da hab' ich gesehen, daß es
ä Schwarzer war, der wo mein Freund Klinkherbogk umgebracht hat.«

»Wie -- wie haben Sie _gesehen_, daß es ein Neger war?«

»Nu, ich bin wieder im Geist auf der Kette 'eraufgeklettert, blos hab' ich
mich diesmal angeschaut und da hab' ich schon äußerlich gesehen: ich bin ä
Schwarzer mit än roten Lederstrick um en Hals, kane Stiebeln an und en
blauen Leinwandanzug. Und wie ich mich innerlich angeschaut hab', hab' ich
schon gar gewußt, ich bin ä Wilder.«

»Das sollte man aber wirklich Dr. Debrouwer melden,« rief Sephardi und
stand auf.

Eidotter hielt ihn am Ärmel fest: »Sie haben mir versprochen, zu schweigen,
Herr Dokter! Um Elias willen darf ka Blut nicht fließen. Die Rache is mein.
Und dann --« -- das freundliche Greisengesicht bekam plötzlich etwas
drohend Fanatisches, Prophetenhaftes -- »und dann is der Mörder aner von
ünsere Leut! -- Nicht ä Jud, wie Sie jetzt wieder meinen --« erklärte er,
als er Sephardis verdutzte Miene bemerkte, -- »aber doch aner von unsere
Leut! Ich hab's erkannt, wie ich ihn soeben innerlich angeschaut hab. --
Daß er ä Mörder is?! -- Wer soll richten? Wir? Sie und ich? Die Rache is
mein. Er is ä Wilder und hat sein Glauben; Gott soll hüten, daß viele so än
gräßlichen Glauben haben wie er, aber sei Glauben is echt und lebendig. Das
sind unsere Leut', die wo än Glauben haben, der im Feuer Gottes nicht
schmilzt, -- der Swammerdam, der Klinkherbogk und der Schwarze auch. Was is
Jud, was is Christ, was is ä Heide? Ä Name für die, wo ä Religion haben
statt än Glauben. Und darum -- verbiet' ich Ihnen, daß Sie sagen, was Sie
jetzt über den Schwarzen wissen! -- Wann es sein soll, daß ich für ihm den
Tod erleid', dürfen Sie mir so ä Geschenk wegnehmen?«

                   *       *       *       *       *

Erschüttert trat Sephardi seinen Heimweg an.

Es ging ihm nicht aus dem Kopf, wie seltsam es war, daß Dr. Debrouwer im
Grunde genommen von seinem Standpunkt aus gar nicht so unrecht gehabt
hatte, als er läppischer Weise sagte, Eidotter sei im Komplott und wolle
durch sein Geständnis Zeit für den wirklichen Mörder gewinnen. Jede
einzelne Behauptung stimmte, und es war der _nackte_ Sachverhalt, und
dennoch hätte Debrouwer nichts Unrichtigeres annehmen und mehr im Irrtum
sein können.

Jetzt erst begriff Sephardi in voller Klarheit die Worte Eidotters: »Alles,
was ein Mensch glaubt, solang die Lichter in ihm noch nicht umgestellt
sind, ist falsch und wenn's noch so richtig ist -- es ist so grundfalsch,
daß man es gar nicht erfassen kann. Man glaubt, man nimmt, statt dessen
gibt man; man glaubt man bleibt stehen und wartet, statt dessen geht man
und sucht.«




Elftes Kapitel


Woche um Woche verging, aber Eva blieb verschollen. Baron Pfeill und Dr.
Sephardi hatten entsetzt von Hauberrisser die Schreckensbotschaft vernommen
und alles nur Denkbare aufgeboten, die Verschwundene zu finden; an jeder
Straßenecke klebten Aufrufe und Steckbriefe, und bald war der Fall
Tagesgespräch geworden unter Einheimischen und Fremden.

In der Wohnung Hauberrissers war ein ewiges Kommen und Gehen, die Leute
drängten sich vor dem Hause, einer gab dem andern die Türklinke in die Hand
und jeder wollte irgendeinen Gegenstand gefunden haben, von dem sich
vermuten ließ, er gehöre der Vermißten, denn schon auf die kleinste
Nachricht über Eva stand eine hohe Belohnung.

Wie Lauffeuer tauchten Gerüchte auf, man hätte sie da oder dort gesehen;
anonyme Briefe mit dunklen, geheimnisvollen Andeutungen, von Verrückten
oder Böswilligen geschrieben, verdächtigten Unschuldige, Eva verschleppt zu
haben oder gefangen zu halten; Kartenschlägerinnen boten sich zu Dutzenden
an; »Hellsehende«, von denen früher kein Mensch je etwas gehört, tauchten
auf und prahlten mit Fähigkeiten, die sie nicht besaßen: -- die Massenseele
einer Stadtbevölkerung, die bis dahin harmlos erschienen, offenbarte sich
in all ihren niedrigen Instinkten von Habgier, Klatschsucht, Wichtigtuerei
und verleumderischer Hinterlist.

Bisweilen trugen Schilderungen derart das Gepräge der Wahrhaftigkeit, daß
Hauberrisser oft stundenlang, begleitet von einem Polizisten, auf den
Beinen war, um in fremde Wohnungen einzudringen, von denen man ihm gesagt
hatte, Eva hielte sich darin auf.

Hoffen und Enttäuschung warfen ihn hin und her wie einen Spielball.

Bald gab es keine kleine oder große Straße und keinen Platz mehr, in denen
er nicht ein oder mehrere Häuser nach Eva, irregeleitet durch
Hiobsbotschaften, von oben bis unten durchsucht hatte.

Es war, als räche sich die Stadt an ihm für seine frühere Gleichgültigkeit.

Des Nachts im Traum schrien hundert Gesichter von Menschen auf ihn ein, mit
denen er tagsüber gesprochen hatte, und jedes wollte ihm etwas Neues
berichten, bis sie in eine einzige molluskenhafte Grimasse verschwammen,
als hätte sich ein Stoß durchsichtiger photographischer Porträts
aufeinander gehäuft.

Wie Labsal in dieser Zeit der Trostlosigkeit berührte es ihn, daß jeden
Morgen in aller Frühe Swammerdam bei ihm erschien. Wenn er auch stets mit
leeren Händen kam und, gefragt, ob er über Eva etwas erfahren habe, den
Kopf schütteln mußte, so gab doch seine unerschütterlich zuversichtliche
Miene Hauberrisser jedesmal neue Kraft, den Wirrnissen des Tages
entgegenzusehen.

Das Tagebuch wurde mit keinem Worte mehr erwähnt, und doch fühlte
Hauberrisser, daß ihn der alte Schmetterlingssammler hauptsächlich in
dieser Angelegenheit besuchte.

Eines Morgens aber konnte sich Swammerdam nicht länger zurückhalten.

»Erraten Sie noch immer nicht,« fragte er mit abgewandtem Gesicht, »daß
eine Rotte fremder Gedanken feindselig auf Sie einstürmt und Ihnen jede
Besinnung rauben will? -- Wenn es wild gewordene Wespen wären, die ihr Nest
gegen Sie verteidigen wollten, wüßten Sie doch sofort, um was es sich
handelt! -- Warum sind Sie gegenüber den Fliegenschwärmen des Schicksals
nicht ebenso auf der Hut, wie Sie es bei wirklichen Wespen wären?«

Dann brach er schnell ab und ging hinaus.

Beschämt raffte sich Hauberrisser auf. Er schrieb einen Zettel des Inhalts,
er sei verreist und man möge alle Mitteilungen, den Fall Eva van Druysen
betreffend, nur mehr an die Polizei richten, und ließ ihn von seiner
Wirtschafterin an das Haustor kleben.

Seine Ruhe kehrte jedoch damit nicht zurück; wohl zehnmal in der Stunde
ertappte er sich auf dem Wunsche, hinunter zu gehen, um den Zettel wieder
abzureißen.

Er nahm die Rolle vor und wollte sich zum Lesen zwingen, aber nach jeder
Zeile wanderten seine Gedanken hinaus und suchten nach Eva, und wenn er
seine Aufmerksamkeit auf das Papier bannen wollte, flüsterten sie ihm zu,
es sei Narretei, in dem Geschreibsel nach abseits liegenden, rein
theoretischen Fragen zu fahnden, wo jede Minute nach Taten schrie.

Schon wollte er das Heft wieder in den Schreibtisch sperren, da hatte er
plötzlich und so deutlich das Gefühl, von einer unsichtbaren Macht
überlistet worden zu sein, daß er einen Augenblick innehielt und nachsann.
Es war mehr ein Lauschen als ein Sinnen.

»Was ist das für eine seltsame unheimliche Kraft,« fragte er sich, »die da
so unschuldig tut und, um ihr Sondersein vor mir zu verbergen, sich als
mein eigenstes Ich gebärdet und meinen Willen zum Gegenteil von dem
mißbraucht, was ich mir kaum eine Minute früher fest vorgenommen habe? Ich
will lesen und darf nicht?« -- Er blätterte in den Seiten und bei jedem
Hindernis, das sich ihm bei dem Versuch, den Inhalt zu ordnen,
entgegenstellte, meldeten sich die zudringlichen Gedanken von neuem: »laß
es bleiben, du findest den Anfang nicht; es ist vergebliche Arbeit.« --
Aber er stand Wache vor der Türe seines Willens und ließ sie nicht hinein.
Seine alte Gewohnheit, sich selbst zu beobachten, fing leise an, wieder in
ihre Rechte zu treten.

»Wenn ich nur den Anfang fände!«, stöhnte wieder heuchlerisch eine
Selbstbelügung in ihm auf, während er mechanisch die Seiten umschlug, aber
diesmal gab ihm die Rolle selbst die richtige Antwort:

»Der Anfang« -- las er, an einer ixbeliebigen Stelle beginnend, und stutzte
über den eigentümlichen Zufall, gerade auf dieses Wort gestoßen zu sein, --
»ist es, der dem Menschen fehlt.

Nicht, daß es so schwer wäre, ihn zu finden, -- nur die Einbildung, ihn
_suchen_ zu müssen, ist das Hemmnis.

Das Leben ist gnädig; jeden Augenblick schenkt es uns einen Anfang. Jede
Sekunde drängt uns die Frage auf: Wer bin ich? -- Wir stellen sie nicht;
das ist der Grund, weshalb wir den Anfang nicht finden.

Wenn wir sie aber einmal im Ernste stellen, dann bricht auch schon der Tag
an, dessen Abendrot für jene Gedanken den Tod bedeutet, die in den
Herrschersaal eingedrungen sind und an der Tafel unserer Seele schmarotzen.

Das Korallenriff, das sie sich mit infusorienhaftem Fleiß im Lauf der
Jahrtausende aufgebaut haben, und das wir »unsern Körper« nennen, ist ihr
Werk und ihre Brut- und Heimstätte; wir müssen in dieses Riff aus Kalk und
Leim zuerst eine Bresche legen und es dann wiederum in den Geist auflösen,
der es von Anbeginn war, wenn wir freies Meer gewinnen wollen. -- -- Ich
will dich späterhin lehren, wie du dir aus den Trümmern dieses Riffs ein
neues Haus erbauen kannst.«

Hauberrisser legte das Tagebuch einen Augenblick aus der Hand und dachte
nach. Ob, wie es schien, diese Seite die Abschrift oder der Entwurf eines
Briefes war, den der Verfasser an irgend jemand gerichtet hatte,
interessierte ihn weiter nicht; das »Du« hatte ihn gepackt, als gelte es
ihm allein, und in diesem Sinne wollte er es von jetzt an auch auffassen.

Eines fiel ihm besonders auf: Was hier geschrieben stand, klang zuweilen
beinah wie eine Rede, bald aus dem Munde Pfeills oder Sephardis, bald aus
dem Swammerdams. Er verstand jetzt, daß sie alle drei von demselben Geist
gefärbt waren, der aus dieser Tagebuchrolle wehte, -- daß der Strom der
Zeit, um ihn den jetzt so hilflosen, weltmüden, kleinen Herrn Hauberrisser,
zu einem wahren Menschen zu erziehen, fast Doppelfiguren aus ihnen machte.
--

»Jetzt aber höre, was ich dir zu sagen habe:

Rüste dich für eine kommende Zeit!

Bald schlägt die Uhr der Welt die zwölfte Stunde; ihre Zahl auf dem
Zifferblatt ist rot und in Blut getaucht. Daran kannst du sie erkennen.

Der neuen ersten Stunde geht ein Sturmwind voraus.

Sei wach, damit er dich nicht schlafend finde, denn die mit geschlossenen
Augen hinübergehen in den heranbrechenden Tag, werden die Tiere bleiben,
die sie waren, und nicht mehr zu erwecken sein.

Es gibt auch eine geistige Tag- und Nachtgleiche. Die neue erste Stunde,
von der ich spreche, ist der Wendepunkt. In ihr gewinnt das Licht das
Gleichgewicht gegenüber der Dunkelheit.

Ein Jahrtausend und länger noch haben die Menschen gelernt, das Gesetz der
Natur zu durchschauen und sie sich dienstbar zu machen. Wohl denen, die den
_Sinn_ dieser Arbeit erfaßt und begriffen haben, daß das Gesetz des Innern
dasselbe wie das des Äußern ist nur um eine Oktave höher: sie sind zur
Ernte berufen, -- die andern bleiben ackernde Knechte, das Antlitz zur Erde
gebeugt.

Der Schlüssel zur Macht über die innere Natur ist verrostet seit der
Sintflut. Er heißt: -- -- Wachsein.

Wachsein ist alles.

Von nichts ist der Mensch so fest überzeugt wie davon, daß er wach sei;
dennoch ist er in Wirklichkeit in einem Netz gefangen, das er sich selbst
aus Schlaf und Traum gewebt hat. Je dichter dieses Netz, desto mächtiger
herrscht der Schlaf; die darein verstrickt sind, das sind die Schlafenden,
die durchs Leben gehen wie Herdenvieh zur Schlachtbank, stumpf,
gleichgültig und gedankenlos.

Die _Träumenden_ unter ihnen sehen durch die Maschen eine vergitterte Welt,
-- sie erblicken nur irreführende Ausschnitte, richten ihr Handeln darnach
ein und wissen nicht, daß diese Bilder bloß sinnloses Stückwerk eines
gewaltigen Ganzen sind. Diese »Träumer« sind nicht, wie du vielleicht
glaubst, die Phantasten und Dichter -- es sind die Regsamen, die Fleißigen,
Ruhelosen der Erde, die vom Wahn des Tun's Zerfressenen; sie gleichen
emsigen, häßlichen Käfern, die ein glattes Rohr emporklimmen, um von oben
-- hineinzufallen.

Sie wähnen wach zu sein, aber das, was sie zu erleben glauben, ist in
Wahrheit nur Traum, -- genau vorausbestimmt im kleinsten Punkt und
unbeeinflußbar von ihrem Willen.

Einige unter den Menschen hat's gegeben und gibt es noch, die _wußten_ gar
wohl, daß sie träumen, -- Pioniere, die bis zu den Bollwerken vorgedrungen
sind, hinter denen sich das ewig wache Ich verbirgt, -- Seher wie Goethe,
Schopenhauer und Kant, aber sie besaßen die Waffen nicht, um die Festung zu
_erstürmen_ und ihr Kampfruf hat die Schläfer nicht erweckt.

Wach sein ist alles.

Der erste Schritt dazu ist so einfach, daß jedes Kind ihn tun kann; nur der
Verbildete hat das Gehen verlernt und bleibt lahm auf beiden Füßen, weil er
die Krücken nicht missen will, die er von seinen Vorfahren geerbt hat.

Wach sein ist alles.

Sei wach bei allem, was du tust! Glaub nicht, daß du's schon bist. Nein, du
schläfst und träumst.

Stell dich fest hin, raff dich zusammen und zwing dich einen einzigen
Augenblick nur zu dem körperdurchrieselnden Gefühl: 'jetzt bin ich wach!'

Gelingt es dir, das zu empfinden, so erkennst du auch sogleich, daß der
Zustand, in dem du dich soeben noch befunden hast, dagegen wie Betäubung
und Schlaftrunkenheit erscheint.

Das ist der erste zögernde Schritt zu einer langen, langen Wanderung von
Knechttum zu Allmacht.

Auf diese Art geh' vorwärts von Aufwachen zu Aufwachen.

Es gibt keinen quälenden Gedanken, den du damit nicht bannen könntest; er
bleibt zurück und kann nicht mehr zu dir empor; du reckst dich über ihn, so
wie die Krone eines Baumes über die dürren Äste hinauswächst. --

Die Schmerzen fallen von dir ab wie welkes Laub, wenn du einmal so weit
bist, daß jenes Wachsein auch deinen Körper ergreift.

Die eiskalten Tauchbäder der Juden und Brahmanen, die Nachtwachen der
Jünger Buddha's und der christlichen Asketen, die Foltern der indischen
Fakire, um nicht einzuschlafen, -- sie alle sind nichts anderes als
erstarrte äußerliche Riten, die wie Säulentrümmer dem Suchenden verraten:
Hier hat in grauer Vorzeit ein geheimnisvoller Tempel des Erwachenwollens
gestanden.

Lies die heiligen Schriften der Völker der Erde: durch alle zieht sich wie
ein roter Faden die verborgene Lehre vom Wachsein; -- es ist die
Himmelsleiter Jakobs, der mit dem Engel des Herrn die ganze »Nacht«
gerungen hat, bis es »Tag« wurde und er den Sieg gewann.

Von einer Sprosse immer hellern und hellern Wachseins zur andern mußt du
steigen, wenn du den Tod überwinden willst, dessen Rüstzeug: Schlaf, Traum
und Betäubung sind.

Schon die unterste Sprosse dieser Himmelsleiter heißt: Genie; wie erst
sollen wir die höheren Stufen benennen! Sie bleiben der Menge unbekannt und
werden für Legenden gehalten. -- Auch die Geschichte von Troja galt
jahrhundertelang als Sage, bis endlich einer den Mut fand -- und grub
selber nach.

Auf dem Wege zum Erwachen wird der erste Feind, der sich dir
entgegenstellt, dein eigner Körper sein. Bis zum ersten Hahnenschrei wird
er mit dir kämpfen; erblickst du aber den Tag des ewigen Wachseins, der
dich fernrückt von den Nachtwandlern, die da glauben, die seien Menschen,
und nicht wissen, daß sie schlafende Götter sind, dann verschwindet für
dich auch der Schlaf des Körpers und das Weltall ist dir untertan.

Dann kannst du Wunder tun, wenn du willst, und mußt nicht wie ein
wimmernder Sklave demütig harren, bis es einem grausamen Götzen gefällig
ist, dich zu beschenken oder -- dir den Kopf abzuschlagen.

Freilich, das Glück des treuen, wedelnden Hundes: einen _Herrn_ über sich
zu kennen, dem er dienen darf -- dieses Glück wird für dich zerschellen, --
aber frag' dich selbst, würdest du als der Mensch, der du jetzt noch bist,
mit deinem Hunde tauschen?

Laß dich nicht abschrecken durch die Angst, das Ziel in _diesem_ Leben
vielleicht nicht erreichen zu können! -- Wer unsern Weg einmal betreten
hat, der kommt immer wieder auf die Welt in einer innern Reife, die ihm die
Fortsetzung seiner Arbeit ermöglicht, -- er wird als »Genie« geboren.

Der Pfad, den ich dir weise, ist besät mit wundersamen Erlebnissen: Tote,
die du im Leben gekannt hast, werden vor dir aufstehen und mit dir reden!
-- Es sind nur Bilder! -- Lichtgestalten, glanzumflossen und beseligend,
werden dir erscheinen und dich segnen. -- Es sind nur Bilder --
Hauchformen, von deinem Körper ausgesendet, der unter dem Einfluß deines
verwandelnden Willens den magischen Tod stirbt und aus Stoff zu Geist wird,
gleich wie starres Eis, vom Feuer getroffen, sich in formenballenden Dunst
auflöst.

Erst wenn du alles Kadaverhafte von ihm abgestreift hast, kannst du sagen:
jetzt ist der Schlaf für immer von mir gewichen.

Dann aber ist das Wunder vollbracht, das die Menschen nicht glauben können,
-- weil sie, durch ihre Sinne betrogen, nicht begreifen, daß Stoff und
Kraft dasselbe ist, -- jenes Wunder: daß, wenn man dich auch begräbt, keine
Leiche im Sarge liegt.

Dann erst, nicht früher, wirst du Wesenhaftes vom Schein trennen können;
wem du _dann_ begegnest, kann nur einer sein, der vor dir den Weg gegangen
ist. -- Alle andern sind Schatten.

Bis dahin bleibt es ungewiß auf Schritt und Tritt, ob du das glücklichste
oder das unglücklichste der Wesen wirst. -- Aber fürchte dich nicht --:
noch ist keiner, der den Pfad des Wachseins betreten hat, auch wenn er in
der Irre ging, von den Führern verlassen worden.

Ein Merkmal will ich dir sagen, an dem du erkennen kannst, ob eine
Erscheinung, die du hast, wesenhaft ist oder ein Trugbild: Wenn sie vor
dich tritt und dein Bewußtsein ist getrübt, und die Dinge der Außenwelt
sind für dich verschwommen oder verschwunden, dann traue nicht! Sei auf der
Hut! Es ist ein Stück von dir. Wenn du das Gleichnis nicht errätst, das es
in sich birgt, ist es nur ein Gespenst ohne Bestand -- ein Schemen, ein
Dieb, der von deinem Leben zehrt.

Die Diebe, die die Kraft der Seele stehlen, sind schlimmer als die Diebe
der Erde. Sie locken dich wie Irrlichter in die Moräste einer trügerischen
Hoffnung, um dich in der Finsternis allein zu lassen und für immer zu
verschwinden.

Laß dich durch kein Wunder blenden, das sie scheinbar für dich tun, durch
keinen heiligen Namen, den sie annehmen, durch keine Prophezeiung, die sie
aussprechen, auch nicht, wenn sie in Erfüllung geht, -- sie sind deine
Todfeinde, von der Hölle deines eignen Körpers ausgespien, mit dem du um
die Herrschaft ringst.

Wisse, daß die wunderbaren Kräfte, die sie besitzen, deine eignen sind, --
von ihnen entwendet, um dich in Sklaverei zu erhalten; -- sie können nicht
leben, außer von _deinem_ Leben, aber wenn du sie überwindest, sinken sie
zu stummen, gehorsamen Werkzeugen herab, die du nach deinem Willen
handhaben kannst.

Unzählig sind die Opfer, die sie unter den Menschen gefordert haben; lies
die Geschichte der Visionäre und Sektierer und du wirst erkennen, daß der
Pfad der Beherrschung, den du wandelst, mit Totenschädeln bedeckt ist.

Die Menschheit hat sich unbewußt eine Mauer gegen sie gebaut: -- den
Materialismus. Diese Mauer ist ein unfehlbarer Schutz, -- sie ist ein
Sinnbild des Körpers, aber sie ist zugleich auch eine Kerkermauer, die den
Ausblick hemmt.

Heute, wo sie langsam zerbröckelt und der Phönix des innern Lebens aus
seiner Asche, in der er lange Zeit wie tot gelegen, mit neuen Schwingen
wieder aufersteht, regen auch die Aasgeier einer andern Welt die Flügel.
Darum hüte dich. Die Wagschale, in die du dein Bewußtsein legst, zeigt dir
allein an, wann du Erscheinungen trauen darfst; je wacher es ist, desto
tiefer neigt sie sich zu deinen Gunsten.

Will dir ein Führer, ein Helfer, oder ein Bruder aus einer geistigen Welt
erscheinen, so muß er es können, auch ohne dein Bewußtsein zu plündern; du
darfst, wie der ungläubige Thomas, deine Hand in seine Seite legen.

Es wäre ein Leichtes, den Erscheinungen und ihren Gefahren _auszuweichen_:
-- du brauchst nur zu sein wie ein gewöhnlicher Mensch. -- Aber was ist
damit gewonnen? Du bleibst ein Gefangener im Kerker deines Leibes, bis der
Henker »Tod« dich zum Richtblock schleppt.

Die Sehnsucht der Sterblichen, die Gestalten der Überirdischen zu schauen,
ist ein Schrei, der auch die Phantome der Unterwelt weckt, weil eine solche
Sehnsucht nicht rein ist -- weil sie Habgier ist statt Sehnsucht, weil sie
»nehmen« will in irgendeiner Form, statt zu schreien, um das »geben« zu
lernen.

Jeder, der die Erde als ein Gefängnis empfindet, jeder Fromme, der nach
Erlösung ruft, -- sie alle beschwören unbewußt die Welt der Gespenster.

Tu du es auch. Aber: bewußt!

Ob es für Jene, die es unbewußt tun, eine unsichtbare Hand gibt, die die
Sümpfe, in die sie geraten müssen, in Eilande verzaubern kann? Ich weiß es
nicht. Ich will nicht streiten, -- -- aber ich glaub's nicht.

Wenn du auf dem Wege des _Erwachens_ das Reich der Gespenster durchquerst,
wirst du allmählich erkennen, daß es nur Gedanken sind, die du plötzlich
mit den Augen sehen kannst. Das ist der Grund, weshalb sie dir fremd und
wie Wesen erscheinen; denn die Sprache der Formen ist anders als die
Sprache des Gehirns.

_Dann_ ist der Zeitpunkt gekommen, wo sich die seltsamste Wandlung
vollzieht, die dir geschehen kann: aus den Menschen, die dich umgeben,
werden -- Gespenster werden. Alle, die dir lieb gewesen, werden plötzlich
Larven sein. Auch dein eigner Leib.

Es ist die furchtbarste Einsamkeit, die sich ausdenken läßt, -- ein Pilgern
durch die Wüste, und wer die Quelle des Lebens in ihr nicht findet,
verdurstet.

Alles, was ich dir hier gesagt habe, steht auch in den Büchern der Frommen
jedes Volkes: das Kommen eines neuen Reiches, das Wachen, die Überwindung
des Körpers und die Einsamkeit, -- und doch trennt uns von diesen Frommen
eine unüberbrückbare Kluft: sie glauben, daß ein Tag naht, an dem die Guten
in das Paradies eingehen und die Bösen in den Höllenpfuhl geworfen werden,
-- wir _wissen_, daß eine Zeit kommt, wo Viele erwachen werden und von den
Schlafenden getrennt sein wie die Herren von den Sklaven, weil die
Schlafenden die Wachen nicht begreifen können, -- wir wissen, daß es kein
Böse und kein Gut gibt, sondern nur ein 'Falsch' und ein 'Richtig'; -- sie
_glauben_, daß »wachen« ein Offenhalten der Sinne und Augen und ein
Aufbleiben des Körpers während der Nacht sei, damit der Mensch Gebete
verrichten könne, -- wir _wissen_, daß das »Wachen« ein Aufwachen des
unsterblichen Ich's bedeutet und die Schlummerlosigkeit des Leibes eine
natürliche Folge davon ist; -- sie _glauben_, der Körper müsse
vernachlässigt werden und verachtet, weil er sündig sei; wir _wissen_: es
gibt keine Sünde, der Körper ist der Anfang, mit dem wir zu beginnen haben,
und wir sind auf die Erde herabgestiegen, um ihn in Geist zu verwandeln; --
sie _glauben_, man solle mit dem _Leib_ in die Einsamkeit gehen, um den
Geist zu läutern; wir _wissen_, daß zuerst unser _Geist_ in die Einsamkeit
gehen muß, um den Leib zu verklären.

Bei dir allein steht es, deinen Weg zu wählen -- ob unsern oder jenen. Es
soll dein freier Wille sein.

Ich darf dir nicht raten; es ist heilsamer, aus eigenem Entschluß eine
bittere Frucht zu pflücken, als auf fremden Rat eine süße auf dem Baume --
hängen zu sehen.

Nur mach's nicht wie die vielen, die da wohl wissen, es steht geschrieben:
'Prüfet alles und das Beste behaltet' -- aber hingehen, nichts prüfen und
das -- Erstbeste behalten.«

                   *       *       *       *       *

Die Seite war zu Ende und das Thema brach ab.

Hauberrisser glaubte nach einigem Suchen, den anschließenden Teil gefunden
zu haben. Der Unbekannte, an den das Schriftstück gerichtet war, schien
sich zu dem »heidnischen Wege der Gedankenbeherrschung« entschlossen zu
haben, denn der Verfasser der Rolle fuhr auf einem neuen Blatt, das die
Überschrift trug:

   =Der Phönix=

folgendermaßen fort:

»Mit dem heutigen Tage bist du aufgenommen in unsere Gemeinschaft und ein
neuer Ring in der Kette, die von Ewigkeit zu Ewigkeit reicht.

Damit erlischt mein Amt und geht in die Hände eines Andern über, den du
nicht sehen kannst, solange deine Augen noch der Erde gehören.

Er ist unendlich fern von dir und dennoch dicht in deiner Nähe; er ist
nicht räumlich von dir getrennt und dennoch weiter weg als die äußersten
Grenzen des Weltalls; du bist von ihm umgeben, wie ein Mensch, der im Ozean
schwimmt, von Wasser, aber du nimmst ihn nicht wahr, -- so wie der
Schwimmer das Salz nicht schmeckt, das das Meer durchdringt, wenn die
Nerven seiner Zunge tot sind.

Unser Sinnbild ist der Phönix, das Symbol der Verjüngung -- der sagenhafte
ägyptische Adler des Himmels mit rotem und goldenem Gefieder, der sich in
seinem Nest aus Myrrhen verbrennt und immer neu aus der Asche ersteht.

Ich habe dir gesagt, der Anfang des Weges ist der eigene Körper; wer das
weiß, kann jeden Augenblick die Wanderung beginnen.

Ich will dich jetzt die ersten Schritte lehren:

Du mußt dich vom Leibe trennen, aber nicht, als wolltest du ihn verlassen:
-- du mußt dich von ihm lösen, wie jemand, der Licht von Wärme scheidet.

Schon hier lauert der erste Feind.

Wer sich vom Körper _losreißt_, um durch den Raum zu fliegen, der geht den
Weg der Hexen, die nur einen gespenstischen Leib aus dem groben, irdischen
herausgezogen haben und auf ihm wie auf einem Besen zur Walpurgisnacht
reiten.

Die Menschheit hat sich aus richtigem Instinkt eine Brustwehr gegen diese
Gefahr errichtet, indem sie ein Lächeln über die Möglichkeit solcher Künste
bereit hält. -- _Du_ brauchst als Schutz den Zweifel nicht mehr -- _du_
hast in dem, was ich dir gegeben habe, ein besseres Schwert. Die Hexen
glauben, auf dem Sabbat des Teufels zu sein, und in Wirklichkeit liegt ihr
Körper bewußtlos und starr in der Kammer. Sie vertauschen bloß die irdische
Wahrnehmung gegen eine geistige -- sie verlieren das Bessere, um das
Schlechtere zu gewinnen; -- es ist ein Ärmerwerden statt ein Reichersein.

Schon daraus siehst du, daß es nicht der Weg des Erwachens sein kann. -- Um
zu begreifen, daß du nicht dein Körper bist, -- wie die Menschen von sich
wähnen, -- mußt du erkennen, mit welchen Waffen er kämpft, um die
Herrschaft über dich zu behaupten. -- Jetzt stehst du freilich noch so tief
in seiner Gewalt, daß dein Leben erlischt, wenn sein Herz aufhört zu
schlagen, und du in Nacht versinkst, sobald er die Augen schließt. Du
glaubst, du könntest ihn bewegen, -- es ist eine Täuschung: nein, er bewegt
sich und nimmt nur deinen Willen zu Hilfe. Du glaubst, du schaffst
Gedanken: nein, er schickt sie dir, damit du meinst, sie kämen von dir, und
alles tust, was er will.

Setz' dich aufrecht hin und nimm dir vor, kein Glied zu rühren, mit keiner
Wimper zu zucken und regungslos zu bleiben wie eine Bildsäule, und du wirst
sehen, daß er haßentbrannt augenblicklich über dich herfällt und dich
zwingen will, ihm wieder untertan zu sein. -- Mit tausend Waffen wird er
auf dich losstürzen, bis du ihm wieder erlaubst, sich zu bewegen. -- An
seiner grimmigen Wut und der überstürzten Kampfesweise, mit der er Pfeil
auf Pfeil auf dich abschießt, kannst du ersehen, wenn du schlau bist, wie
bange ihm um seine Herrschaft sein muß und wie groß deine Macht, daß er
sich so vor dir fürchtet.

Aber es steckt dabei noch eine List von ihm dahinter: er will dich glauben
machen, daß hier, im äußern Willen, die Entscheidungsschlacht um das
Szepter geschlagen wird; nein, es sind nur Scharmützel, die er dich, wenn's
sein muß, gewinnen läßt, um dich dann um so tiefer unter's Joch zu beugen.

Diejenigen, die solches Geplänkel gewinnen, werden die ärmsten Sklaven --
sie dünken sich Sieger und tragen auf der Stirn das Schandmal: 'Charakter'.

Deinen Körper zu bändigen, ist nicht der Zweck, den du verfolgst. Wenn du
ihm verbietest, sich zu bewegen, so sollst du es nur deshalb tun, damit du
die Kräfte kennen lernst, über die er gebietet. Es sind Heerscharen, fast
unüberwindlich durch ihre Zahl. Er wird sie gegen dich in den Kampf
schicken, eine nach der andern, wenn du nicht nachläßt, mit dem so einfach
scheinenden Mittel des Stillsitzens: zuerst die rohe Gewalt der Muskeln,
die beben und zittern wollen, -- das Sieden des Blutes, das dir den Schweiß
ins Gesicht treibt, -- das Hämmern des Herzens, -- das Frösteln der Haut,
bis dein Haar sich sträubt, -- das Schwanken des Leibes, das dich
durchfährt, -- als habe die Schwerkraft die Achse verändert, -- sie alle
kannst du besiegen, -- scheinbar durch den Willen -- dennoch ist es nicht
der Wille allein: es ist in Wahrheit bereits ein höheres Wachsein, das
unsichtbar hinter ihm steht in der Tarnkappe.

Auch dieser Sieg ist wertlos; selbst, wenn du Herr würdest über Atmung und
Herzschlag, wärest du nur ein Fakir -- ein 'Armer' auf deutsch.

Ein 'Armer'! -- das sagt genug. -- -- --

Die nächsten Kämpfer, die dir dein Körper stellt, sind die ungreifbaren
Fliegenschwärme der Gedanken.

Gegen sie hilft das Schwert des Willens nichts mehr. Je wilder du nach
ihnen schlägst, desto wütender umschwirren sie dich, und glückt es dir nur
einen Augenblick, sie zu verscheuchen, so fällst du in Schlummer und bist
in anderer Form der Besiegte.

Ihnen Stillhalten zu gebieten ist vergebens; nur ein einziges Mittel gibt
es, ihnen zu entrinnen: die Flucht in ein höheres Wachsein.

Wie du das zu beginnen hast, mußt du allein lernen.

Es ist ein vorsichtiges, immerwährendes Tasten mit dem Gefühl und ein
eiserner Entschluß zugleich.

Das ist alles, was ich dir darüber sagen kann. Jeder Rat, den dir für
dieses qualvolle Ringen irgend jemand gibt, ist Gift. Hier liegt eine
Klippe, über die dir kein anderer hinweghelfen kann als du selbst.

Es braucht dir nicht zu gelingen, die Gedanken für _immer_ zu bannen, --
der Kampf mit ihnen dient nur dem einen Zweck: den Zustand höheren
Wachseins zu erklimmen.

Hast du diesen Zustand erlangt, naht das Reich der Gespenster, von dem ich
dir bereits gesprochen habe.

Gestalten, schreckhafte und solche in Strahlenglanz werden dir erscheinen
und dich glauben machen wollen, sie seien Wesen aus einer andern Welt. --
Es sind nur Gedanken in sichtbarer Form, über die du noch nicht völlig
Macht besitzt!

Je erhabener sie sich gebärden, desto verderblicher sind sie, das merke
dir!

So mancher Irrglaube hat sich auf solchen Erscheinungen aufgebaut und die
Menschheit in die Finsternis zurückgerissen. Trotzdem steckt hinter jedem
dieser Phantome ein tiefer Sinn; sie sind nicht bloß Bilder, sie sind für
dich -- gleichgültig ob du ihre symbolische Sprache verstehst oder nicht --
die Merkmale der geistigen Entwicklungsstufen, auf denen du dich befindest.

Die Verwandlung deiner Mitmenschen in Gespenster, von der ich dir sagte,
daß sie auf diesen Zustand folgen wird, birgt, wie alles auf geistigem
Gebiet, zugleich ein Gift und eine Heilkraft in sich.

Bleibst du dabei stehen, die Menschen _nur_ für Gespenster zu halten, so
trinkst du bloß das Gift und wirst wie jener, von dem es heißt: 'hat er die
Liebe nicht, bleibt er leer wie tönendes Erz'. Findest du aber den
'tieferen Sinn' der in jedem dieser Menschenschemen verborgen liegt, so
siehst du mit dem Auge des Geistes nicht nur ihren lebendigen Kern, sondern
auch den deinen. Dann wird dir alles, was dir genommen worden, tausendfach
zurückgegeben wie dem Hiob; dann bist du -- wieder da, wo du warst, wie die
Törichten so gerne höhnen; -- sie wissen nicht, daß es ein anderes ist,
wieder heimzukehren, wenn man lang in der Fremde war, als immer zu Hause
geblieben zu sein.

Ob dir, wenn du so weit vorgedrungen bist, jene Wunderkräfte, die die
Propheten des Altertums besessen haben, zuteil werden, oder du statt dessen
in den ewigen Frieden eingehen darfst, das weiß niemand.

Solche Kräfte sind ein freies Geschenk derer, die die Schlüssel dieser
Geheimnisse bewahren.

Wenn du sie bekommst, um sie zu handhaben, geschieht es nur der Menschheit
wegen, die solcher Zeichen bedarf.

Unser Weg führt bloß bis zur Stufe der Reife, -- bist du zu ihr gelangt, so
bist du auch würdig, jenes Geschenk zu erhalten; ob man es dir gibt? Ich
weiß es nicht.

Ein Phönix aber wirst du geworden sein -- so oder so; dies zu _erzwingen_,
steht in deiner Hand.

Ehe ich jetzt von dir Abschied nehme, sollst du noch erfahren, aus welchem
Zeichen du erkennen kannst, ob du einst in der Zeit der 'großen Tag- und
Nachtgleiche' berufen sein wirst, die Gabe der Wunderkräfte zu bekommen.
Höre:

Einer von denen, die die Schlüssel der Geheimnisse der Magie bewahren, ist
auf der Erde zurückgeblieben und sucht und sammelt die Berufenen.

So, wie _er_ nicht sterben kann, so kann auch die Sage, die über ihn in
Umlauf ist, nicht sterben. --

Die einen munkeln, er sei der 'Ewige Jude'; die andern nennen ihn Elias;
die Gnostiker behaupten, er wäre Johannes der Evangelist; -- aber jeder,
der ihn gesehen haben will, schildert sein Aussehen anders. Laß dich
dadurch nicht beirren, falls du Menschen in der sprießenden Zeit der
Zukunft begegnen solltest, die auf solche Art von ihm erzählen.

Es ist nur natürlich, daß jeder ihn anders sieht: -- ein Wesen wie er, das
seinen Leib in Geist verwandelt hat, kann an keine starre Form mehr
gebunden sein.

Ein Beispiel wird dir erklären, daß auch seine _Gestalt_ und sein _Gesicht_
nur Bilder sein können -- gespenstischer Schein, sozusagen, für das, was er
in Wahrheit ist:

Nimm an, er erschiene dir als ein Wesen von grüner Farbe. Grün ist an sich
keine wirkliche Farbe, trotzdem du sie sehen kannst, -- sie ist aus einer
Mischung von Blau und Gelb entstanden. -- Wenn du Blau und Gelb miteinander
innig vermengst, erhältst du Grün.

Jeder Maler weiß das, -- daß aber die Welt, die man um sich sieht,
gleicherweise im Zeichen der 'grünen' Farbe steht und in Wahrheit nicht das
ist, was sie zu sein scheint, nämlich: gelb und blau, -- das wissen die
wenigsten.

Erkenne du aus diesem Beispiel, daß er, wenn er dir als ein Mann mit grünem
Antlitz begegnen sollte, sein wahres Gesicht dir trotzdem noch immer nicht
offenbar ist.

Wenn du ihn siehst als den, der er in Wirklichkeit ist: als ein
geometrisches Zeichen -- als ein Sigill am Himmel, das kein anderer schauen
kann als du allein, -- dann wisse: du bist berufen zum Wundertäter.

Mir ist er begegnet als leibhaftiger Mensch, und ich habe meine Hand in
seine Seite legen dürfen.

Sein Name war -- -- -- -- -- -- -- -- --«

Hauberrisser erriet den Namen; er stand auf dem Blatt, das er beständig bei
sich trug, -- es war der Name, der ihm immer wieder entgegensprang:

Chidher Grün.




Zwölftes Kapitel


Hauch der Verwesung in der Luft. Brutwarme sterbende Tage und neblige
Nächte. Das faulende Gras der Wiesen frühmorgens bedeckt mit den
schimmelweißen Flecken der Spinnengewebe. Zwischen den braunvioletten
Schollen kalte, blinde Wasserpfützen, die der Sonne nicht mehr trauen; --
strohgelbe Blumen, denen die Kraft fehlt, das Gesicht zum glasklaren Himmel
zu erheben, -- taumelnde Schmetterlinge mit zerfetzten, entstaubten
Flügeln, -- in den Alleen der Stadt: die Blätter der Bäume raschlig an
mürben Stielen.

Wie eine welkende Frau, die sich nicht genug tun kann an grellen Farben, um
ihr Alter zu verbergen, begann die Natur mit der bunten Schminke des
Herbstes zu prahlen.

                   *       *       *       *       *

Der Name Eva van Druysen war längst vergessen in Amsterdam. Auch Baron
Pfeill zählte sie zu den Toten und Sephardi trauerte um sie; nur in
Hauberrissers Brust konnte ihr Bild nicht sterben.

Aber er sprach nicht von ihr, wenn ihn bisweilen seine Freunde oder der
alte Swammerdam besuchen kamen.

Er war wortkarg und verschlossen geworden und unterhielt sich mit ihnen nur
mehr über gleichgültige Dinge.

Mit keiner Silbe verriet er, daß er sich in eine stille Hoffnung, Eva
trotzdem wiederzufinden, versponnen hatte, die von Tag zu Tag im
Verborgenen in ihm wuchs, -- denn er fürchtete sich, es auszusprechen, als
zerrisse er damit ein feines Netz.

Nur Swammerdam gegenüber ließ er, wenn auch nicht in Worten, durchblicken,
wie es um ihn stand.

Seit jener Stunde, in der er die Tagebuchrolle zu Ende gelesen, war eine
Wandlung in ihm vorgegangen, die er selbst kaum begriff. Anfangs hatte er
die Übung des Stillsitzens gemacht, wann sie ihm gerade einfiel, eine
Stunde, oder länger oder kürzer, und war daran gegangen teils neugierig,
teils mit der innerlich ungläubigen Miene eines Menschen, der im Grunde
seiner Seele das beständige, nüchterne: »Es führt ja doch zu nichts« wie
einen Wahlspruch der Erfolglosigkeit mit sich herum schleppt.

Eine Woche später hatte er die Übung zwar auf eine Viertelstunde am Morgen
beschränkt, aber er machte sie mit Aufgebot aller Kraft und um ihrer selbst
willen und nicht mehr in der ermüdenden und jedesmal enttäuschten
Erwartung, es müsse sich irgend etwas wunderbares begeben. --

Bald wurde sie ihm unentbehrlich wie ein erfrischendes Bad, auf das er sich
schon freute, wenn er sich abends niederlegte.

Wohl schüttelten ihn tagsüber noch lange nach wie vor die Anfälle wildester
Verzweiflung, wenn ihm plötzlich einfiel, daß er Eva verloren habe, und er
wies die Zumutung, gegen solche Gedanken des Schmerzes auf magische Art
anzukämpfen -- und gewissermaßen davon zu laufen vor der brennenden
Erinnerung an Eva, -- wie Egoismus, Lieblosigkeit und Selbstbelügung
zugleich jedesmal empört von sich, aber eines Tages versuchte er es doch,
als das Leid so übermächtig geworden war, daß er glaubte, Selbstmord
begehen zu müssen.

Er hatte sich der Vorschrift gemäß aufrecht hingesetzt und einen Zustand
höheren Wachseins zu erzwingen getrachtet, um der unerträglichen Folter der
Gramgedanken wenigstens für Augenblicke zu entrinnen, -- und wider Erwarten
war es ihm gleich beim erstenmal merkwürdig gut gelungen. -- Ehe er noch in
den Zustand eintrat, hatte er geglaubt, er werde aus ihm mit Reue im Herzen
zurückkehren, um sich einem verdoppelten Schmerz freiwillig in die Arme zu
werfen, aber nichts von alledem geschah. -- Im Gegenteil: ein
unbegreifliches Gefühl der Sicherheit, an dem jeder noch so künstlich
hochgeschraubte Zweifel abprallte, erfüllte ihn von da an, daß Eva lebe und
in keinerlei Gefahr schwebe.

Wenn ihn die Gedanken an sie während des Tages wohl hundertmal überfallen
hatten, war es wie Schläge mit glühenden Peitschen gewesen, -- jetzt
empfand er sie, wenn sie kamen, wie jubelnde Botschaft, daß Eva in der
Ferne an ihn denke und ihm Grüße schicke. Was früher Schmerz gewesen, hatte
sich urplötzlich in eine Quelle der Freude verwandelt.

So hatte er durch die Übung eine Zufluchtsstätte in seinem Innern
geschaffen, in die er sich jederzeit zurückziehen konnte, um immer neue
Zuversicht und jenes geheimnisvolle Wachstum zu finden, das denen, die es
nicht aus Erfahrung kennen lernen, das ganze Leben hindurch, so oft sie
auch davon hören, ein totes, leeres Wort bleiben wird.

Bevor er den neuen Zustand gekannt, hatte er geglaubt, wenn er dem Schmerz
um Eva entfliehe, werde es nur ein rascheres Vernarben der Wunden seiner
Seele sein -- ein Beschleunigen des gewissen Heilungsprozesses, mit dem die
Zeit allen Menschen das Leid lindert, -- und er hatte sich mit allen Fasern
gegen ein solches Genesen gesträubt, wie jeder es tut, der klar
voraussieht, daß ein Verklingen des Kummers um den Verlust einer geliebten
Person auch das Verblassen ihres Bildes, von dem er nicht lassen möchte, in
sich schließt.

Aber ein schmaler, blumenbestreuter Fußpfad zwischen diesen beiden Klippen,
von dessen Möglichkeit er früher nichts geahnt, hatte sich ihm ganz wie von
selbst erschlossen: das Bild Eva's war nicht in den Staub der Vergangenheit
hinabgesunken, wie er gefürchtet hatte, -- nein, nur der Schmerz allein war
verschwunden; Eva selbst, statt ihres von seinen Tränen umflort gewesenen
Bildes, war auferstanden, und er konnte in Minuten ruhevollen innern
Verweilens ihre Nähe so deutlich spüren, als stünde sie leibhaftig bei ihm.

Es kamen, je mehr er sich von der Außenwelt zurückzog, mitunter Stunden
eines so tiefen Glückes über ihn, wie er es niemals für möglich gehalten
hätte, in denen sich Erkenntnis an Erkenntnis reihte und er immer klarer
und klarer begriff, daß es wirkliche Wunder innerer Erlebnisse gab, gegen
die sich die Vorgänge des äußern Daseins nicht nur scheinbar, wie er früher
stets gedacht, sondern tatsächlich wie Schatten zu Licht verhielten.

Das Gleichnis vom Phönix als dem Adler der ewigen Verjüngung wurde ihm
täglich eindrucksvoller -- erschloß ihm immer neue Bedeutung -- ließ ihn
den merkwürdigen Unterschied zwischen lebendigen und toten Symbolen in
ungeahnter Fülle erfassen.

Alles was er suchte, schien in diesem unerschöpflichen Sinnbild enthalten
zu sein.

Es löste ihm Rätsel wie ein allwissendes Wesen, das er nur zu befragen
brauchte, um die Wahrheit zu erfahren.

So hatte er zum Beispiel bei seinen Bemühungen, Herr über das Kommen und
Gehen seiner Gedanken zu werden, bemerkt, daß es ihm manchmal vortrefflich
gelang, aber wenn er dann glaubte, die Art und Weise, wie er es zuwege
gebracht, genau zu wissen, fand er am nächsten Tage keine Spur mehr von
Erinnerung daran in seinem Gedächtnis vor. Es war wie ausgewischt in seinem
Hirn und er mußte scheinbar wieder von vorne anfangen, um eine neue Methode
zu ersinnen. --

»Der Schlummer des Körpers hat mich der gepflückten Frucht beraubt,« hatte
er sich in solchen Fällen gesagt und um dem vorzubeugen, beschlossen, sich
nicht mehr schlafen zu legen, so lange es irgend ginge, bis er eines
Morgens von dem Einfall erhellt wurde, daß dieses sonderbare Verschwinden
aus seiner Erinnerung nichts anderes war als die »Verbrennung zu Asche«,
aus der der Phönix immer wieder _verjüngt_ erstehen müsse, -- daß es
irdisch und vergänglich sei, sich _Methoden_ zu schaffen und merken zu
wollen -- daß nicht ein zustande gebrachtes Gemälde das Wertvolle ist, wie
Pfeill es in Hilversum ausgedrückt hatte, sondern das Malen_können_.

Seit er diesen Einblick gewonnen hatte, war ihm die Bewältigung der
Gedanken ein beständiger Genuß geworden, statt ein erschöpfendes Ringen zu
sein, und er klomm von Stufe zu Stufe, ohne es zu bemerken, bis er
plötzlich zu seinem Erstaunen wahrnahm, daß er bereits den Schlüssel zu
einer Herrschaft besaß, von deren bloßer Möglichkeit er sich nicht einmal
hatte träumen lassen. -- »Es ist, als wäre ich bisher von Gedanken
umschwärmt gewesen wie von Bienen, die sich von mir Futter holten« -- hatte
er es Swammerdam erklärt, mit dem er sich damals noch über derlei innere
Erlebnisse auszusprechen pflegte -- »jetzt kann ich sie aussenden mit
meinem Willen und sie kommen mit Einfällen wie mit Honig beladen zu mir
zurück. Früher haben sie mich beraubt, -- jetzt bereichern sie mich.«

Fast in denselben Worten las er zufällig eine Woche später einen ähnlichen
geistigen Vorgang in der Tagebuchrolle geschildert und erkannte daraus zu
seiner Freude, daß er, ohne belehrt worden zu sein, den richtigen Weg zur
Entwicklung eingeschlagen hatte.

Die Seiten, auf denen es gestanden hatte, waren vorher durch Schimmel und
Feuchtigkeit zusammen geklebt gewesen; -- unter dem Einfluß der
Sonnenstrahlen am Fenster, vor dem sie lagen, hatten sie sich voneinander
gelöst.

Auch in seinem Denken, fühlte er, war etwas ähnliches geschehen.

Er hatte in den letzten Jahren vor und während des Krieges mancherlei über
sogenannte Mystik gehört und gelesen und alles, was damit zusammenhing,
unwillkürlich mehr oder weniger mit dem Begriff »Unklarheit« vereinigt,
denn was er darüber erfahren konnte, trug immer den Stempel des
Verschwommenen und glich den Ekstasen eines Opiumrausches. -- Er hatte sich
zwar in seinem Urteil nicht geirrt, da das, was unter dem Namen Mystik in
aller Mund war, wirklich nichts anderes bedeutete als ein Umhertappen im
Nebel, aber jetzt sah er ein, daß es auch einen wahren mystischen Zustand
gab, -- schwer zu finden und noch schwerer zu erringen -- der nicht nur
hinter der Wirklichkeit der täglichen Daseinserfahrung nicht zurückblieb,
sondern sie an Lebendigkeit weit übertraf. --

Da war nichts mehr, was an die verdächtigen Wonnen der »mystisch«
Verzückten gemahnte, -- kein demütiges Gewinsel mehr um eine selbstsüchtige
»Erlösung«, die, um an Glanz zu gewinnen, als blutigen Hintergrund den
Anblick der zu ewigen Höllenstrafen verdammten Frevler benötigt, -- aber
auch die sattgefressene schmatzende Zufriedenheit einer viehischen Menge,
die auf dem Boden der Wirklichkeit zu stehen vermeint, wenn sie rülpsend
verdaut, war verschwunden wie ein widerwärtiger Traum.

                   *       *       *       *       *

Hauberrisser hatte das Licht abgedreht, saß vor seinem Tisch und wartete.
Wartete in die Finsternis hinein.

Vor dem Fenster hing die Nacht als schweres, dunkles Tuch.

Er fühlte, daß Eva bei ihm stand, aber er konnte sie nicht sehen. --

Wenn er die Augen schloß, wogten Farben wie Wolken hinter seinen Lidern,
lösten sich auf und ballten sich wieder zusammen; er wußte aus den
Erfahrungen, die er gesammelt, daß sie der Stoff waren, aus dem er sich
Bilder schaffen konnte, wenn er wollte, -- Bilder, die anfangs starr und
leblos schienen, dann aber, wie von einer rätselhaften Kraft beseelt, ein
selbständiges Leben bekamen, als seien sie Wesen gleich ihm.

Vor wenigen Tagen war es ihm zum erstenmal geglückt, auch Evas Gesicht in
dieser Weise zu formen und lebendig zu machen, und er hatte geglaubt, auf
dem richtigen Wege zu sein, auf eine neue geistige Art mit ihr
zusammenzukommen, bis er sich an die Stelle in der Tagebuchrolle über die
Halluzinationen der Hexen erinnerte und begriff, daß hier das uferlose
Reich der Gespenster begann, in das er nur einzutreten brauchte, um nie
wieder zurückzufinden.

Je mehr seine Kraft, die verborgenen unerkannten Wünsche seines Innern in
Bilder umzugestalten, wuchs, desto größer, fühlte er, mußte auch die Gefahr
für ihn werden, auf einen Pfad abzuirren, von dem es keine Heimkehr mehr
gab.

Mit einem Gefühl des Grauens und brennender Sehnsucht zugleich dachte er an
die Minuten zurück, wo es ihm gelungen war, Evas Phantom
heraufzubeschwören. -- Anfangs war es grau und schattenhaft gewesen, dann
hatte es langsam Farbe und Leben bekommen, bis es vor ihm gestanden -- so
deutlich wie aus Fleisch und Blut.

Jetzt noch fühlte er die Eiseskälte, die seinen Körper damals ergriffen,
als er von magischem Instinkt getrieben, den Versuch gewagt hatte, auch
seine übrigen Sinne -- Gehör und Gefühl -- an der Vision teilnehmen zu
lassen.

Oft und oft hatte er sich seitdem auf dem Wunsch ertappt, das Bild nochmals
vor seinen Blick zu zaubern, und immer seine ganze Kraft aufbieten müssen,
um der Lockung zu widerstehen.

                   *       *       *       *       *

Die Nacht schritt vor, aber er konnte sich nicht entschließen, schlafen zu
gehen; beständig umkreiste ihn das dumpfe Ahnungsgefühl, es müßte auch ein
magisches Mittel geben, Eva zu rufen, daß sie zu ihm käme -- nicht wie
damals als vampyrhafter Schemen, belebt von dem Hauch seiner eignen Seele,
nein: leibhaftig und wirklich.

Er sandte seine Gedanken aus, damit sie mit neuen Eingebungen, wie er es
anzufangen hätte, beladen zu ihm zurückkehren möchten; er wußte aus seinen
Fortschritten in den letzten Wochen, daß diese Methode des Aussendens von
Fragen und beharrlichen Wartens auf Antwort -- dieses klarbewußte Wechseln
von aktivem und passivem Zustand -- selbst dann nicht zu versagen brauchte,
wenn es sich um Dinge handelte, die durch logischen Denkprozeß
herauszufinden unmöglich war.

Einfall auf Einfall schoß ihm durch den Kopf, einer krauser und
phantastischer als der andere; er prüfte sie mit der Wage seines Gefühls:
jeder wurde zu leicht befunden.

Wieder war es der Schlüssel des »Wachseins«, der das verborgene Schloß
aufsperren half.

Nur mußte diesmal -- erriet er instinktiv -- sein Körper und nicht das
Bewußtsein allein zu höherer Lebendigkeit erregt werden; im _Körper_ lagen
die magischen Kräfte schlafend, _sie_ mußte er erwecken, wenn er auf die
stoffliche Welt einwirken wollte.

Wie ein belehrendes Beispiel fiel ihm ein, daß die Wirbeltänze der
arabischen Derwische im Grunde wohl auch nichts anderes bezweckten, als den
Körper zu einem höheren »Wachsein« aufzupeitschen.

Er legte -- wie unter einer Eingebung -- die Hände auf die Knie und setzte
sich aufrecht hin in der Stellung der ägyptischen Götterstatuen, die mit
dem unbeweglichen Ausdruck ihrer Gesichter ihm plötzlich als die Sinnbilder
magischer Gewalt erschienen, -- zwang seinen Körper zu totenhafter Ruhe und
schickte zugleich einen erregenden Feuerstrom von Willenskraft durch jede
Faser des Leibes.

Schon nach wenigen Minuten durchtobte ihn ein Sturm von beispielloser Wut.

Wahnwitziges Durcheinanderschreien von menschen- und tierähnlichen Stimmen,
wütendes Gebell von Hunden und das schrille Krähen zahlloser Hähne gellte
durch sein Hirn; im Zimmer brach ein Tumult los, als berste das Haus; --
metallenes Dröhnen von Gongschlägen, als läute die Hölle den Jüngsten Tag
ein, vibrierte durch seine Knochen, daß er glaubte, er müsse in Staub
zerfallen, die Haut brannte ihn wie ein Nessosgewand, -- aber er biß die
Zähne zusammen und gestattete seinem Körper nicht die geringste Bewegung.

Unablässig, mit jedem Herzschlag, rief er dabei nach Eva.

Eine Stimme, leise, kaum geflüstert und doch den Lärm durchdringend wie
eine spitzige Nadel, warnte ihn, nicht mit Kräften zu spielen, deren Gewalt
er nicht kenne -- die zu beherrschen er noch nicht reif sei -- die ihn
jeden Augenblick in unheilbares Irresein stürzen könnten, -- er hörte nicht
darauf. --

Immer lauter und lauter wurde die Stimme, so laut, daß es schien, als sei
ringsum das Getöse in weite Ferne gerückt, -- sie schrie ihn an, er solle
umkehren, -- wohl müsse Eva kommen, wenn er nicht aufhöre, mit den
entfesselten lichtlosen Kräften der Unterwelt nach ihr zu rufen, aber daß
ihr Leben, wenn sie käme, ehe die Zeit ihrer geistigen Entwicklung um sei,
noch in derselben Stunde verlöschen werde wie das Licht einer Kerze, und er
selbst sich damit eine Bürde des Schmerzes auflüde, die er nicht werde
tragen können, -- -- er biß die Zähne zusammen und hörte nicht hin. -- Die
Stimme suchte ihn mit Vernunftgründen zu überzeugen, daß Eva doch längst zu
ihm gekommen wäre oder ihm eine Nachricht geschickt hätte, wo sie sei, wenn
es hätte sein dürfen, -- er habe doch den Beweis, daß sie lebe und ihm
stündlich Gedanken voll heißer Liebe sende, aus dem untrüglichen Gefühl
ihrer Nähe, das er Tag für Tag empfinde, -- -- er hörte nicht darauf und
rief und rief.

Die verzehrende Sehnsucht, Eva in seine Arme zu schließen, und wäre es nur
für einen kurzen Augenblick, hatte ihm jede Besinnung geraubt.

Plötzlich verstummte der Tumult und er sah, daß das Zimmer taghell
erleuchtet war.

Mitten darin, wie aus den Dielen gewachsen, ragte -- fast bis zur Decke
empor und einen Querbalken am oberen Ende -- aus dem Boden ein modriger
hölzerner Pfosten wie ein enthauptetes Kreuz.

Mit dem Kopf von dem Querbalken herabhängend, war eine armdicke,
hellgrünschillernde Schlange herumgewunden und blickte ihn mit lidlosen
Augen an.

Ihr Gesicht -- die Stirn mit einem schwarzen Fetzen umwickelt -- glich dem
einer menschlichen Mumie; die Haut der Lippen, eingetrocknet und dünn wie
Pergament, war straff über die morschen gelblichen Zähne gespannt.

Trotz der leichenhaften Verzerrung der Züge erkannte Hauberrisser in ihnen
eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Antlitz Chidher Grüns, wie es einst in
dem Laden der Jodenbreestraat vor ihm gestanden hatte.

Das Haar vor Entsetzen gesträubt und mit stockendem Puls horchte er auf die
Worte, die langsam und silbenweise in pfeifenden, halblauten, seltsam
halbierten Tönen aus dem verwesten Munde hervorbröckelten:

»W--as wil--lst du von mir?«

Einen Augenblick lähmte ihn ein furchtbares Grauen, -- er fühlte das Lauern
des Todes hinter sich -- glaubte, eine schwarze, scheußliche Spinne über
den Glanz der Tischplatte huschen zu sehen, -- -- dann schrie sein Herz den
Namen Eva.

Im Nu lag das Zimmer wieder in Finsternis und, als er sich schweißgebadet
zur Tür tastete und das elektrische Licht aufdrehte, war das geköpfte
Holzkreuz mit der Schlange daran verschwunden.

Er hatte das Gefühl, als sei die Luft vergiftet, -- er konnte kaum mehr
atmen -- die Gegenstände drehten sich vor seinen Augen. -- --

»Es muß, es muß, es _muß_ eine Fiebervision gewesen sein!« suchte er sich
vergebens zu beruhigen, aber die drosselnde Angst: alles, was er soeben
gesehen, habe sich buchstäblich und greifbar hier im Zimmer abgespielt,
ließ ihn nicht los.

Eisige Schauer liefen ihm über den Rücken, wenn er sich an die warnende
Stimme erinnerte; -- schon der bloße Gedanke an die Möglichkeit, sie könne
wieder aufwachen und ihm zuschreien, er hätte durch seine wahnwitzigen
magischen Experimente Eva wirklich gerufen und damit in Lebensgefahr
gestürzt, verbrannte ihm das Gehirn.

Er glaubte ersticken zu müssen, biß sich in die Hand, hielt sich die Ohren
zu, rüttelte an den Sesseln, um wieder zu sich zu kommen, riß das Fenster
auf und sog die kalte Nachtluft ein -- -- es half nichts: die innere
Gewißheit, in der geistigen Welt der Ursachen etwas angerichtet zu haben,
was sich nicht mehr gut machen ließ, blieb bestehen.

Wie toll gewordene Bestien fielen die Gedanken, deren er für immer Herr
geworden zu sein, hochmütig geglaubt hatte, über ihn her, -- da nützte kein
»Stillsitzenwollen« mehr.

Auch die Methode des »Erwachens« versagte.

»Es ist Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn«, wiederholte er krampfhaft vor sich
hin mit zusammengebissenen Zähnen und raste dabei im Zimmer auf und ab:
»nichts ist geschehen! Es war eine Vision! -- nichts weiter! Ich bin ja
verrückt! Einbildung! Einbildung! Die Stimme hat mich belogen und auch die
Erscheinung war nicht wirklich! Wo hätte denn das Holz mit der Schlange
herkommen sollen, -- und -- und die Spinne!« --

Er zwang sich -- mit verzerrtem Mund laut aufzulachen. -- -- -- »Die
Spinne!! -- Warum ist sie denn jetzt nicht mehr da?« versuchte er sich
selbst zu verhöhnen; er zündete ein Streichholz an, um unter den Tisch zu
leuchten, -- fand in der unbestimmten Furcht, die Spinne könnte als
Überbleibsel des spukhaften Erlebnisses wirklich noch vorhanden sein, den
Mut nicht, hinzusehen. -- -- -- -- --

Wie befreit atmete er auf, als er von den Türmen drei Uhr schlagen hörte,
-- -- »Gott sei Dank, die Nacht geht vorüber.«

Er trat ans Fenster, beugte sich hinaus und blickte lange in die neblige
Finsternis, um, wie er _glaubte_, nach den ersten Zeichen des nahenden
Morgens zu spähen, -- -- dann wurde ihm plötzlich der wahre Grund klar,
weshalb er es tat: er hatte sich dabei ertappt, daß er mit angespannten
Sinnen lauschte, _ob Eva denn noch immer nicht käme_!

»Meine Sehnsucht nach ihr ist so übermächtig geworden, daß mir die
Phantasie bei wachem Bewußtsein die Truggestalten eines Albtraumes
vorgegaukelt hat,« suchte er sich zu beschwichtigen, als er wieder im
Zimmer auf und nieder schritt und sich abermals die Hand der Qual nach ihm
ausstrecken wollte, -- da blieb sein Blick auf einem dunkeln Fleck im
Fußboden haften, den er sich nicht entsinnen konnte, jemals früher bemerkt
zu haben.

Er bückte sich und sah, daß an der Stelle, wo seiner Erinnerung nach das
enthauptete Kreuz mit der Schlange gestanden hatte, das Holz der Dielen
verfault war.

Sein Atem stockte. Undenkbar, daß der Fleck immer schon hier gewesen sein
sollte! -- -- --

Ein lauter Schlag, wie einmaliges Klopfen riß ihn aus seiner Betäubung.

Eva?

Da! Wieder!

Nein, unmöglich konnte es Eva sein: eine wuchtige Faust hämmerte ungestüm
gegen die Haustür.

Er lief zum Fenster und rief in die Dunkelheit hinab, wer da sei.

Keine Antwort.

Dann wieder, nach einer Weile, dasselbe hastige, ungeduldige Klopfen.

Er griff nach der rotsammtnen Quaste des Strickes, der durch die Zimmerwand
hindurch über die steile Treppe hinunter zum Tordrücker führte, und zog
daran.

Die Riegel knallten.

Dann Totenstille.

Er lauschte. -- -- Niemand.

Nicht das leiseste Geräusch im Stiegenhaus.

Endlich: knisterndes, kaum hörbares Rascheln, als taste draußen eine Hand
nach der Klinke.

Gleich darauf öffnete sich die Stubentür und der Neger Usibepu, barfuß und
das schüsselförmig in die Höhe gebürstete Haar feucht von der Nässe des
Nebels, kam schweigend herein.

Unwillkürlich suchte Hauberrisser nach einer Waffe, aber der Zulu nahm
nicht die geringste Notiz von ihm -- schien ihn nicht einmal zu sehen --
ging mit leisen zögernden Schritten, den Blick starr auf den Boden
geheftet, die Nüstern weit offen und in steter zitternder Bewegung, wie ein
schnuppernder Hund um den Tisch herum. --

»Was wollen Sie hier?« schrie ihn Hauberrisser an -- er gab keine Antwort
-- wandte kaum den Kopf.

Seine tiefen röchelnden Atemzüge verrieten, daß er wie ein Nachtwandler
vollkommen bewußtlos war.

Plötzlich schien er gefunden zu haben, was er suchte, denn er änderte seine
Richtung, -- ging, das Gesicht tief herabgeneigt, auf die verfaulte Stelle
zu und blieb vor ihr stehen.

Dann wanderte sein Blick wie an einer unsichtbaren Linie langsam nach oben
und blieb in der Luft hängen. -- Die Geste war so lebendig und überzeugend
gewesen, daß auch Hauberrisser einen Moment lang glaubte, das enthauptete
Kreuz wieder aus dem Boden wachsen zu sehen.

Er konnte nicht länger daran zweifeln, daß es die Schlange war, die der
Neger wahrnahm, denn seine Augen blieben emporgerichtet, fest auf einen
Punkt gebannt, und die wulstigen Lippen bewegten sich murmelnd, als rede er
mit ihr. Der Ausdruck seiner Miene wechselte ununterbrochen von brennender
Begierde zu leichenhafter Erschöpfung, von wilder Freude zu lodernder
Eifersucht und unbezähmbarer Wut.

Das unhörbare Gespräch schien zu Ende zu sein: er wandte den Kopf der Tür
zu und kauerte sich auf den Boden nieder. --

Hauberrisser sah, daß er, wie von einem Krampf ergriffen, den Mund aufriß,
die Zunge weit hervorstieß, sie mit einem Ruck wieder zurückzog und mit
einem gurgelnden Laut -- nach dem Würgen der Kehlmuskeln zu schließen,
verschluckte. --

Seine Augäpfel drehten sich zitternd allmählich aufwärts unter die offenen
Lider und aschgraue Totenfarbe überzog sein Gesicht.

Hauberrisser wollte auf ihn zueilen und ihn wachrütteln, aber eine
bleierne, unerklärliche Müdigkeit hielt ihn gelähmt im Sessel fest; er
konnte kaum den Arm heben. -- Die Starrsucht des Negers hatte ihn
angesteckt.

Wie ein quälendes Traumbild, das aus der Zeit herausgefallen ist und
unverrückbar bestehen bleibt, lag das Zimmer mit der regungslosen dunkeln
Gestalt darin vor seinem Blick; das eintönige Pendel seines Herzens war das
einzige, das er noch als Leben empfand -- selbst die Angst um Eva war
verschwunden.

Wiederholt hörte er die Uhren von den Türmen dröhnen, aber er war nicht
imstande, die einzelnen Schläge zu zählen: -- der betäubende Halbschlaf
schob jedesmal die Dauer einer Ewigkeit zwischen sie.

Stunden mochten vergangen sein, da begann sich der Zulu endlich zu regen.

Hauberrisser sah wie durch einen Schleier hindurch, daß er aufstand und,
noch immer in tiefer Trance, das Zimmer verließ; -- mit Aufgebot aller
seiner Kräfte sprengte er den lethargischen Zustand und lief ihm nach die
Treppe hinunter. Aber der Neger war bereits verschwunden -- das Haustor
stand weit offen -- der dichte, undurchdringliche Nebel hatte jede Spur von
ihm eingeschluckt. --

Schon wollte er wieder umkehren, da hörte er plötzlich einen leichten
Schritt und im nächsten Augenblick -- -- trat Eva aus dem weißlichen Dunst
auf ihn zu.

Mit einem Aufschrei des Entzückens schloß er sie in die Arme, aber sie
schien völlig erschöpft zu sein und kam erst wieder zu sich, nachdem er sie
ins Haus getragen und behutsam in einen Sessel gebettet hatte. -- -- -- --

Dann hielten sie sich lange, lange mit klopfenden Herzen umschlungen, --
unfähig, das Übermaß ihres Glückes zu fassen.

Er lag vor ihr auf den Knien, stumm, keines Wortes mächtig, und sie hielt
sein Gesicht in heißer Zärtlichkeit zwischen ihren Händen und bedeckte es
wieder und wieder mit glühenden Küssen.

Die Vergangenheit war ihm ein vergessener Traum; jede Frage, wo sie die
ganze lange Zeit über gewesen und wie alles gekommen sei, erschien ihm als
Raub an der Gegenwart.

Ein Strom von Tönen flutete ins Zimmer: die Glockenspiele der Kirchen waren
erwacht -- sie hörten es nicht; das fahle Zwielicht des Herbstmorgens stahl
sich durch die Scheiben -- sie sahen es nicht -- -- sahen nur sich. Er
streichelte ihre Wangen, küßte ihr die Hände, die Augen, den Mund, atmete
den Duft ihres Haares -- wollte noch immer nicht glauben, daß es
Wirklichkeit war und er ihr Herz an seinem schlagen fühlte. -- -- --

»Eva! Eva! Geh nie wieder von mir!« -- seine Worte erstickten in einer Flut
von Küssen.

»Sag, daß du nie wieder von mir gehen willst, Eva!«

Sie legte die Arme um seinen Hals, schmiegte ihre Wange an seine -- --:
»Nein, nein, ich bleibe für immer bei dir. Auch im Tod. -- Ich bin so
glücklich, so unsagbar glücklich, daß ich zu dir gehen durfte.«

»Eva, Eva, sprich nicht vom Tod!« schrie er auf -- ihre Hände waren
plötzlich kalt geworden.

»Eva!«

»Fürchte dich nicht, -- ich kann nicht mehr von dir gehen, Geliebter. --
Die Liebe ist stärker als der Tod -- Er hat es gesagt -- Er lügt nicht! --
Ich bin tot gelegen und Er hat mich lebendig gemacht. -- Er wird mich immer
wieder lebendig machen, auch wenn ich sterben sollte« -- sie redete wie im
Fieber, er hob sie auf, trug sie auf sein Bett. -- »Er hat mich gepflegt,
als ich krank lag; wochenlang war ich wahnsinnig und hab mit den Händen an
dem roten Riemen, den der Tod um den Hals trägt, in der Luft zwischen
Himmel und Erde gehangen; -- Er hat ihm das Halsband zerrissen! -- Seitdem
bin ich frei. -- Hast du nicht gefühlt, daß ich stündlich bei dir war? --
-- Warum -- warum -- rasen die Stunden so?« -- die Stimme versagte ihr --
-- -- »Laß mich -- laß mich dein Weib werden! -- Ich will Mutter sein, wenn
ich wieder zu dir komme.« -- -- --

Sie umschlangen sich in wilder, grenzenloser Liebe -- versanken mit
schwindenden Sinnen in einem Meer von Glück.

                   *       *       *       *       *

»Eva!«

»Eva!«

Kein Laut.

»Eva! Hörst du mich nicht?« -- er riß die Vorhänge des Bettes auseinander,
-- -- -- »Eva! -- -- -- Eva!« -- -- faßte ihre Hand: sie fiel leblos
zurück. Er fühlte nach ihrem Herzen: es schlug nicht mehr. Ihre Augen waren
gebrochen.

»Eva, Eva, Eva!« -- mit einem gräßlichen Schrei fuhr er empor, taumelte zum
Tisch -- »Wasser! -- Wasser holen!« -- stürzte zusammen wie von einer Faust
vor die Stirn getroffen, -- »Eva!« -- das Glas zerbrach, zerschnitt ihm die
Finger, er sprang wieder auf, raufte sich das Haar, lief zum Bett, --
»Eva!« -- wollte sie an sich reißen, sah das Lächeln des Todes in ihrem
erstarrten Gesicht und sank wimmernd mit dem Kopf auf ihre Schulter nieder.
-- -- -- --

»Unten auf der Straße klappert jemand mit blechernen Eimern. -- Die
Milchfrau! -- Ja, ja, natürlich. -- Klappert. Die Milchfrau. -- Klappert«
-- er fühlte, daß plötzlich sein Denken erloschen war, -- hörte ein Herz
klopfen dicht in seiner Nähe -- zählte die ruhigen, regelmäßigen Schläge --
wußte nicht, daß es sein eignes war. -- Mechanisch liebkoste er die langen,
blonden, seidenen Strähnen, die vor seinen Augen auf den weißen Kissen
lagen. -- -- »Wie schön sie sind!« -- »Warum tickt eigentlich die Uhr
nicht?« -- Er hob den Blick. -- »Die Zeit steht still.« -- »Natürlich. Es
ist ja noch nicht Tag.« -- »Und da drüben auf dem Schreibtisch liegt eine
Schere -- und -- und die zwei Leuchter daneben brennen.« -- »Warum habe ich
sie denn angezündet?« -- »Ich hab' vergessen, sie auszulöschen, als der
Neger fortging.« -- »Freilich.« -- »Und dann war keine Zeit mehr dazu, --
weil Eva -- kam« -- »_Eva_??« -- -- »Sie ist -- sie ist doch tot! Tot!«
winselte es in seiner Brust auf. -- Die Flammen fürchterlichsten,
unerträglichen Schmerzes schlugen über ihm zusammen. --

»Ein Ende machen! Ein -- Ende -- machen! -- Eva!« -- »Ich muß ihr nach.« --
»Eva! Eva! Warte auf mich!« -- »Eva, ich muß dir nach!« -- keuchend stürzte
er auf den Schreibtisch los, packte die Schere, wollte sie sich ins Herz
stoßen -- hielt inne: -- »nein, der Tod ist zu wenig! Blind will ich aus
dieser verfluchten Welt gehen!« er spreizte die Spitzen auseinander, um sie
sich, wahnsinnig vor Verzweiflung, in die Augen zu rennen, da schlug eine
Hand so heftig auf seinen Arm, daß die Schere klirrend zu Boden fiel.

=»Willst du ins Reich der Toten gehen, um die Lebendigen zu suchen?«= --
Chidher Grün stand vor ihm, wie einst im Laden in der Jodenbuurt: mit
schwarzem Talar und weißen Schläfenlocken. -- =»Glaubst du, 'drüben' ist
die Wirklichkeit? Es ist nur das Land vergänglicher Wonnen für blinde
Gespenster, so wie die Erde das Land vergänglicher Schmerzen für die
blinden Träumer ist! Wer nicht auf der Erde das 'Sehen' lernt, drüben lernt
er's gewiß nicht. -- Meinst du, weil ihr Körper wie tot liegt,«= -- er
deutete auf Eva, -- =»könne sie nicht mehr auferstehen? Sie ist lebendig,
_nur du_ bist noch tot. Wer einmal lebendig geworden ist wie sie, kann
nicht mehr sterben, -- wohl aber kann einer, der tot ist wie du, lebendig
werden.«= -- Er griff nach den beiden Lichtern und stellte sie um: das
linke nach rechts und das rechte nach links, und Hauberrisser fühlte sein
Herz nicht mehr schlagen, als sei es plötzlich aus der Brust verschwunden.
-- =»So, wirklich, wie du jetzt deine Hand in meine Seite legen kannst, so
wirklich wirst du mit Eva vereint sein, wenn du erst das neue geistige
Leben hast. -- -- Daß die Menschen glauben werden, sie sei gestorben, --
was braucht's dich zu kümmern? -- Man kann von den Schlafenden nicht
verlangen, daß sie die Erwachten sehen.=

=Du hast nach der vergänglichen Liebe gerufen«= -- er wies nach der Stelle,
wo das enthauptete Kreuz gestanden hatte, fuhr mit dem Fuß über den
vermoderten Fleck im Boden und der Fleck verschwand -- =»ich habe dir die
vergängliche Liebe gebracht, denn ich bin nicht auf der Erde geblieben, um
zu _nehmen_: ich bin geblieben, um zu _geben_ -- jedem das, wonach er sich
sehnt. Nur wissen die Menschen nicht, wonach ihre Seele sich sehnt; wüßten
sie's, so wären sie sehend.=

=Du hast im Zauberladen der Welt nach neuen Augen begehrt, um die Dinge der
Erde in einem neuen Licht zu sehen -- erinnere dich: habe ich dir nicht
gesagt, du müßtest dir erst die alten Augen aus dem Kopfe weinen, ehe du
neue bekommen könntest?=

=Du hast nach Wissen begehrt: ich habe dir das Tagebuch eines der Meinigen
gegeben, der hier in diesem Hause gelebt hat, als sein Körper noch
verweslich war.=

=Eva hat sich nach _unvergänglicher_ Liebe gesehnt: ich habe sie ihr
gegeben -- und werde sie um ihretwillen auch dir geben. Die vergängliche
Liebe ist eine gespenstische Liebe.=

=Wo ich auf Erden eine Liebe keimen sehe, die über die Liebe zwischen
Gespenstern hinauswächst, da halte ich meine Hände wie schirmende Äste über
sie zum Schutz gegen den früchtepflückenden Tod, denn ich bin nicht nur das
Phantom mit dem grünen Gesicht -- ich bin auch Chidher, der Ewig Grünende
Baum.«=

                   *       *       *       *       *

Als die Haushälterin, Frau Ohms, am Morgen mit dem Frühstück das Zimmer
betrat, sah sie zu ihrem Schrecken die Leiche eines schönen jungen Mädchens
im Bette liegen und Hauberrisser kniend davor, die Hand der Toten an sein
Gesicht gedrückt.

Sie schickte einen Boten zu seinen Freunden, und als Pfeill und Sephardi
kamen und ihn, im Glauben, er sei bewußtlos, aufheben wollten, fuhren sie
entsetzt zurück vor dem lächelnden Ausdruck seines Gesichts und dem Glanz
in seinen Augen.




Dreizehntes Kapitel


Dr. Sephardi hatte Baron Pfeill und Swammerdam gebeten, in seine Wohnung zu
kommen.

Über eine Stunde schon saßen sie im Bibliothekzimmer beisammen.

Es war bereits tiefe Nacht geworden, -- sie sprachen über Mystik und
Philosophie, über Kabbala, über den seltsamen Lazarus Eidotter, der schon
vor längerer Zeit aus der ärztlichen Beobachtungszelle entlassen worden war
und sein Spirituosengeschäft weiterführte, -- aber immer wieder kehrte das
Thema auf Hauberrisser zurück.

Morgen sollte Eva begraben werden.

»Es ist schrecklich! Der arme, arme Mensch!« rief Pfeill, erhob sich und
ging unruhig auf und ab; -- »mir wird heiß und kalt, wenn ich mich in seine
Lage hinein denke.« -- Er blieb stehen und blickte Sephardi an: »sollten
wir nicht doch noch zu ihm gehen und ihm Gesellschaft leisten? Was meinen
_Sie_, Swammerdam? -- Halten Sie es wirklich für vollkommen ausgeschlossen,
daß er aus der unbegreiflichen Ruhe, in die er versunken ist, wieder
aufwacht? Wenn er plötzlich zu sich kommt und in seinem Schmerz und seiner
Verlassenheit -- -- -- --«

Swammerdam schüttelte den Kopf: -- »Seien Sie ohne Sorge um ihn, Herr
Baron! -- Die Verzweiflung kann nicht mehr an ihn heran; Eidotter würde
sagen: die Lichter in ihm sind umgestellt.«

»Ihr Glaube hat etwas Furchtbares;« murmelte Sephardi, »wenn ich Sie so
reden höre, packt es mich jedesmal wie -- wie Angst!« -- er zögerte eine
Weile, unsicher, ob er nicht eine Wunde berühre, -- »Damals als Ihr Freund
Klinkherbogk ermordet wurde, waren wir alle in großer Sorge um Sie. Wir
meinten, Sie würden darüber zusammenbrechen. Eva legte mir noch ganz
besonders ans Herz, ich sollte Sie aufsuchen und zu beruhigen trachten.

Woher schöpften Sie nur die Kraft, das entsetzliche Begebnis, das Ihren
Glauben doch in seinen Grundvesten erschüttern mußte, so mutig zu tragen?«

Swammerdam unterbrach ihn. -- »Erinnern Sie sich noch der Worte
Klinkherbogks vor seinem Tode?«

»Ja. Satz für Satz. Später wurde mir auch ihre Bedeutung klar. Es kann kein
Zweifel bestehen, daß er sein Ende genau vorausgesehen hat, noch ehe der
Neger ins Zimmer trat. Allein schon sein Ausspruch: 'der König aus
Mohrenland würde ihm die Myrrhen eines andern Lebens bringen' -- beweist
es.«

»Und daß seine Prophezeiung in Erfüllung ging, -- sehen Sie, Herr Doktor,
gerade das hat meinen Schmerz geheilt. Zuerst war ich freilich wie
zerschmettert, dann aber, als ich die Größe des Geschehnisses erfaßte,
fragte ich mich: was ist wertvoller, daß ein im Zustand geistiger
Entrückung ausgesprochenes Wort zur Wahrheit wird, oder: daß ein krankes,
schwindsüchtiges Mädchen und ein alter hinfälliger Schuhmacher noch eine
Weile am Leben bleiben? Wäre es besser gewesen, die Zungen des Geistes
hätten gelogen?

Seitdem ist mir die Erinnerung an jene Nacht zu einer Quelle ungetrübter,
reinster Freude geworden.

Daß die Beiden sterben mußten? Was liegt daran! Glauben Sie mir: jetzt ist
ihnen wohler.«

»Sie sind also fest überzeugt, daß es ein Leben nach dem Tode gibt?« fragte
Pfeill. -- -- »Allerdings, ich glaube ja selbst daran« -- setzte er leise
hinzu.

»Gewiß bin ich davon überzeugt. Natürlich ist das Paradies kein Ort,
sondern ein Zustand; das Leben auf Erden ist doch auch nur ein Zustand.«

»Und -- und sehnen _Sie_ sich danach?«

»N -- Nein.« Swammerdam zögerte, als rede er ungern über dieses Thema.

Der alte Diener mit der maulbeerfarbenen Livree meldete, der gnädige Herr
werde ans Telephon gebeten. -- Sephardi stand auf und verließ das Zimmer.

Sofort fuhr Swammerdam in seiner Rede fort -- Pfeill begriff, daß sie nicht
für die Ohren Sephardis bestimmt war:

»Die Frage mit dem Paradies ist ein zweischneidiges Schwert. Man kann damit
so manchen unheilbar verwunden, wenn man ihm sagt, daß drüben nur Bilder
sind.«

»Bilder? Wie meinen Sie das?«

»Ich will es Ihnen an einem Beispiel erklären. Meine Frau -- Sie wissen,
sie ist vor vielen Jahren gestorben -- hat mich unendlich lieb gehabt --
und ich sie; -- jetzt ist sie 'drüben' und träumt, ich sei bei ihr.

Daß ich nicht wirklich bei ihr bin, sondern nur mein Bild, weiß sie nicht;
wenn sie's wüßte, wäre ihr das Paradies eine Hölle.

Jeder Sterbende, der hinübergeht, findet drüben die Bilder derer vor, nach
denen er sich gesehnt hat, und hält sie für Wirklichkeit -- auch die Bilder
der Dinge, an denen sein Herz gehangen hat,« -- er deutet auf die
Bücherreihen in der Bibliothek. -- »Meine Frau hat an die Muttergottes
geglaubt, -- jetzt träumt sie 'drüben' in ihren Armen. --

Die Aufklärer, die die Menge von der Religion losreißen wollen, wissen
nicht, was sie tun. Die Wahrheit ist nur für wenige Auserlesene und sollte
für die große Masse geheim bleiben; wer sie _nur halb_ erkannt hat, wenn er
stirbt, der geht in ein farbloses Paradies ein.

Klinkherbogks Sehnsucht auf Erden war: Gott zu schauen; jetzt ist er drüben
und schaut -- 'Gott'.

Er war ein Mensch ohne Wissen und Bildung, dennoch kamen aus seinem Munde
Worte der Wahrheit, erzeugt durch das Verzehrtsein im Durste nach Gott, --
nur hat ihm ein barmherziges Schicksal ihren _innern_ Sinn nie enthüllt.

Lange habe ich nicht verstanden, warum das so war; heute weiß ich den
Grund: er hätte die Wahrheit nur zur Hälfte begriffen und sein Wunsch, Gott
zu schauen, hätte nicht in Erfüllung gehen können -- weder in den Träumen
des Jenseits noch in Wirklichkeit.« -- schnell brach er die Rede ab, als er
Sephardi wieder hereinkommen hörte.

Pfeill erriet instinktiv, weshalb er es tat: er wußte offenbar um die Liebe
Sephardis zu der toten Eva -- wußte auch, daß Sephardi trotz seines
Gelehrtentums tief innerlich religiös und fromm war, -- und wollte ihm das
»Paradies« und den künftigen Wahn des Jenseits, mit Eva vereint zu sein,
nicht zerstören.

Swammerdam fuhr fort:

»Ich sagte vorhin: die Erkenntnis, daß das Wahrwerden der Prophezeiung
Klinkherbogks seinen gräßlichen Tod weit in den Schatten stellte, habe
meinen Gram in Freude verwandelt. Es gibt auch ein solches 'Umstellen der
Lichter' -- es ist ein Verwandeln aus Bitter in Süß, wie es allein die
Kraft der Wahrheit zustande bringen kann.«

»Trotzdem bleibt es mir ein unlösbares Rätsel,« mischte sich Sephardi
wieder ins Gespräch, »was Ihnen die Kraft gibt, durch bloße Erkenntnis Herr
über den Schmerz zu werden. Ich kann ja auch mit philosophischem Denken
gegen das Leid, daß Eva gestorben ist, anzukämpfen versuchen, dennoch ist
mir, als könnte ich nie mehr froh werden.«

Swammerdam nickte sinnend. -- »Freilich, freilich. Es kommt daher, -- weil
Ihre Erkenntnisse aus dem Denken entstehen und nicht aus dem 'Inneren
Wort'. Den eignen Erkenntnissen mißtrauen wir heimlich, ohne es zu wissen,
deshalb sind sie grau und tot, -- die Eingebungen durch das Innere Wort
dagegen sind lebendige Geschenke der Wahrheit, die uns unsäglich erfreuen
-- immer wieder, so oft wir uns an sie erinnern.

Seit ich den 'Weg' gehe, hat das Innere Wort nur wenigemal zu mir
gesprochen; -- aber es hat dadurch mein ganzes Dasein erhellt.«

»Und ist immer alles eingetroffen, was es Ihnen gesagt hat,« fragte
Sephardi mit unterdrücktem Zweifel in der Stimme, -- »oder waren es
überhaupt keine Prophezeiungen?«

»Ja. Drei Prophezeiungen waren darunter, die die ferne Zukunft betrafen.
Die erste hieß: durch mein Dazutun würde einem jungen Menschenpaar ein
geistiger Weg erschlossen werden, der seit Jahrtausenden auf Erden
verschüttet lag und in der neuen Zeit, die bevorsteht, vielen Menschen
offenbar werden wird. -- Es ist der Weg, der dem Leben erst wahren Wert
verleiht und dem Dasein einen Sinn gibt. Diese Verheißung ist der Inhalt
meines Lebens geworden.

Über die zweite möchte ich nicht reden, -- Sie müßten glauben, ich sei
wahnsinnig, wenn ich sie Ihnen sagte, und -- -- --«

Pfeill horchte auf: »Betrifft sie Eva?«

Swammerdam gab keine Antwort darauf und lächelte -- »und die dritte scheint
belanglos -- obwohl das nicht sein kann -- und würde Sie nicht
interessieren.«

»Haben Sie Anzeichen, daß wenigstens eine der drei Voraussagen eintreffen
wird?« fragte Sephardi.

»Ja. Das Gefühl unabwendbarer Gewißheit. Es ist mir gleichgültig, ob ich
ihre Erfüllung jemals sehen werde; es genügt mir zu wissen, daß ich nicht
imstande bin, daran zu zweifeln.

Sie können eben nicht begreifen, was es heißt: die Nähe der Wahrheit zu
spüren, die niemals irren kann. -- Das sind Dinge, die man an sich selbst
erleben muß.

Ich habe niemals eine sogenannte 'überirdische' Erscheinung gehabt -- nur
einmal im Schlaf: das Bild meiner Frau, als ich einen grünen Käfer suchte.
-- Ich habe niemals begehrt 'Gott zu schauen', niemals ist ein Engel zu mir
gekommen, wie zu Klinkherbogk -- ich bin nie dem Propheten Elias begegnet
wie Lazarus Eidotter, -- aber tausendfach hat mir alles das die
Lebendigkeit des Bibelwortes ersetzt: 'Selig sind, die nicht sehen und doch
glauben!' -- Es ist an mir zur Wahrheit geworden.

Ich habe geglaubt, wo nichts zu glauben war, und habe gelernt, Dinge für
möglich zu halten, die unmöglich sind.

Manchmal fühle ich: es steht Einer neben mir, riesengroß und allmächtig, --
oder ich weiß: er hält seine Hand über Den oder Jenen; ich sehe und höre
Ihn nicht, aber ich _weiß_: Er ist da.

Ich hoffe nicht, daß ich ihn jemals sehen werde -- aber ich hoffe _auf
ihn_.

Ich weiß, daß eine furchtbare, erschütternde Zeit kommt, der ein Sturm
vorangehen wird, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat, -- es ist mir
gleichgültig, ob ich diese Zeit erleben werde, aber ich bin froh, daß sie
kommt!« -- ein Frösteln überlief Pfeill und Sephardi bei den Worten, die
Swammerdam kalt und gelassen aussprach. -- »Sie haben mich heute morgen
gefragt, wo ich glaubte, daß Eva so lange verborgen gewesen sein konnte, --
woher hätte ich es wissen sollen? -- Gewußt habe ich, daß sie kommen wird:
und sie _ist_ gekommen!

So genau, wie ich weiß, daß ich hier stehe, so genau weiß ich auch, daß sie
nicht -- tot -- ist! _Er_ hält die Hand über sie.«

»Aber sie ist doch in der Kirche aufgebahrt! -- Sie wird doch morgen
begraben!« riefen Sephardi und Pfeill entsetzt durcheinander.

»Und wenn man sie tausendmal begrübe -- und wenn ich ihren Totenschädel in
der Hand hielte: ich _weiß_, daß sie nicht gestorben ist.«

                   *       *       *       *       *

»Er ist ein Wahnsinniger,« sagte Pfeill zu Sephardi, als Swammerdam
gegangen war.

                   *       *       *       *       *

Die farbigen hohen Bogenfenster der Nikolaskerk schimmerten matt erhellt,
als schimmere im Innern der Kirche ein Licht, in den nächtlichen Nebel
hinein.

Mit dem Rücken an die Mauer des Gartens gepreßt und im Schatten verborgen,
wartete der Neger Usibepu regungslos, bis der Schutzmann, der seit den
Unglücksfällen am Zee Dyk die verrufenen Gassen des Hafenviertels zu
bewachen hatte, mit schwerem, müdem Schritt an ihm vorbei gekommen war,
dann kletterte er über das Gitter, schwang sich von einem Baum aus auf den
kapellenartigen Vorbau der Sakristei, öffnete vorsichtig die runde,
gläserne Dachluke und ließ sich leise wie eine Katze zu Boden fallen.

Inmitten des Kirchenschiffs auf silbernem Katafalk aufgebahrt lag Eva in
einem Hügel von weißen Rosen, die Hände über der Brust gefaltet, die Augen
geschlossen, mit starrem, lächelndem Gesicht.

Ihr zu Häupten und an den Seiten des Sarges hielten armdicke, rot und
goldene mannshohe Kerzen mit unbeweglichen Flammen die Totenwacht.

In einer Wandnische hing das Bild einer schwarzen Muttergottes mit dem Kind
auf dem Arm und davor, von der Decke herab an glitzerndem Draht, das
rubingläserne Herz eines Ewigen Lichts als blutiger Funken.

Bleiche wächserne Hände und Füße hinter gebauschten Gittern -- Krücken
daneben mit Zetteln: »Maria hat geholfen« -- holzgeschnitzte, bemalte
Statuen von Päpsten, weiße Tiaren auf den Häuptern, die Hand zum Gelöbnis
erhoben, auf steinernen Postamenten -- kannelierte, ragende Marmorsäulen,
-- -- -- geräuschlos huschte der Neger von einem Pfeilerschatten zum
andern, erstaunt die ihm fremden, seltsamen Dinge betrachtend, -- nickte,
als er die Wachsglieder erblickte, grimmig vor sich hin, im Glauben, sie
stammten von erschlagenen Feinden, spähte durch die Ritzen der Beichtstühle
und betastete mißtrauisch die großen Figuren der Heiligen, ob sie nicht
lebendig seien.

Als er sich überzeugt hatte, daß er allein war, schlich er auf den
Zehenspitzen zu der Toten und blieb lange und traurig vor ihr stehen.

Er war betäubt von ihrer Schönheit, berührte scheu ihr blondes, weiches
Haar und zuckte wieder zurück, als fürchte er, sie im Schlaf zu stören.

Warum hatte sie sich so vor ihm entsetzt -- damals in jener Sommernacht am
Zee Dyk?

Er konnte es nicht begreifen.

Noch jedes Weib, nach dem er begehrt, -- Kaffernmädchen und Weiße -- waren
stolz gewesen, ihm gehören zu dürfen.

Sogar Antje, die Kellnerin in der Hafenschenke; und die war doch auch eine
Weiße und hatte gelbes Haar!

Bei keiner hatte er den Vidûzauber anwenden müssen: -- alle waren sie von
selbst gekommen und ihm um den Hals gefallen! -- Nur _sie_ nicht! Nur _sie_
nicht!

Und wie gerne würde er um ihren Besitz das ganze viele Geld gegeben haben,
dessentwegen er den alten Mann mit der Papierkrone erwürgt hatte!

Nacht für Nacht seit seiner Flucht vor den Matrosen war er vergebens durch
die Straßen gewandert, um sie zu finden: keine von den zahllosen Frauen,
die in der Dunkelheit nach Männern suchen gingen, hatte ihm sagen können,
wo sie sei.

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Wie ein wirrer Traum rauschten Erinnerungen an ihm vorbei: die glutheißen
Steppen seiner Heimat -- der englische Händler, der ihn nach Kapstadt
gelockt und versprochen hatte, ihn zum König von Zululand zu machen -- das
schwimmende Haus, das ihn nach Amsterdam gebracht -- die Zirkustruppe
verächtlicher, nubischer Sklaven, mit denen er jeden Abend Kriegstänze
aufführen mußte für Geld, das man ihm immer wieder wegnahm, -- die
steinerne Stadt, in der sein Herz vor Heimweh verdorrte; -- niemand, der
seine Sprache verstand.

Er strich zärtlich mit der Hand über den Arm der Toten, und der Ausdruck
grenzenloser Verlassenheit trat in sein Gesicht: sie wußte nicht, daß er
ihretwegen seinen Gott verloren hatte! Damit sie zu ihm käme, hatte er den
furchtbaren Souquiant, die Abgottschlange mit dem Menschengesicht, gerufen,
und dadurch die Macht, über die glühenden Steine zu schreiten, auf's Spiel
gesetzt und -- eingebüßt.

Aus dem Zirkus davongejagt und ohne Geld hätte er zurück nach Afrika
geschickt werden sollen -- als Bettler statt als König: -- er war vom
Schiff ins Wasser gesprungen und ans Land geschwommen -- hatte sich
tagsüber in Obstkähnen verborgen gehalten und nachts den Zee Dyk
durchstreift, um _sie_ zu suchen, die er sehnsüchtiger liebte als seine
Steppe, seine schwarzen Frauen, als die Sonne am Himmel, -- als alles.

Ein einzigesmal noch seitdem war ihm der zornige Schlangengott erschienen
-- im Schlaf und mit dem grausamen Befehl, Eva in das Haus eines
Nebenbuhlers zu rufen. Als Tote, hier in der Kirche, durfte er sie erst
wiedersehen.

In tiefem Gram ließ er seine Blicke durch den düstern Raum schweifen: Ein
Gekreuzigter mit Dornenkrone und eisernen Nägeln durch die Hände und Füße?
-- eine Taube mit grünen Zweigen im Schnabel -- ein alter Mann, in der Hand
eine große goldene Kugel -- ein Jüngling von Pfeilen durchbohrt? -- Lauter
fremde weiße Götter, deren geheime Namen er nicht kannte, um sie zu rufen.
-- -- Und dennoch mußten sie zaubern und die Tote wieder lebendig machen
können! -- Von wem sonst hätte Mister Zitter Arpád die Macht bekommen, sich
Dolche durch die Gurgel zu stoßen, Hühnereier zu verschlucken und wieder
erscheinen zu lassen?!

Eine letzte Hoffnung durchzuckte ihn, als er die Madonna in der Nische
erspähte; sie mußte eine Göttin sein, denn sie trug ein goldenes Diadem auf
dem Kopf; sie war eine Schwarze, vielleicht verstand sie seine Sprache?

Er hockte sich vor dem Bilde nieder, hielt den Atem an, bis er den
Jammerschrei der geopferten Feinde, die am Tor des Jenseits als Sklaven auf
sein Kommen warten mußten, im Ohre hörte, -- verschluckte röchelnd seine
Zunge, um in das Reich hinüber zu gehen, in dem der Mensch mit den
Unsichtbaren reden kann --: Nichts.

Tiefe, tiefe Finsternis statt des fahlen grünlichen Scheins, den er zu
sehen gewohnt war; er konnte den Weg zu der fremden Göttin nicht finden.

Langsam und traurig ging er zu der Bahre zurück, kauerte sich am Fußende
des Katafalks zusammen und stimmte den Grabgesang der Zulus an -- eine
wilde, grausige Liturgie: bald in barbarischen, stöhnenden Kehllauten, bald
als Antwort darauf ein atemloses Gemurmel wie das Trappeln flüchtiger
Antilopen -- geller Habichtsschrei dazwischen -- heiseres, verzweifeltes
Aufbrüllen und weiche, melancholische Klagerufe, die wie in fernen Wäldern
erstickten, schluchzend wieder aufwachten und ausklangen in das dumpfe,
langgezogene Geheul eines Hundes, der seinen Herrn verloren hat. --

                   *       *       *       *       *

Dann stand er auf, griff in seine Brust, holte eine kleine weiße Kette,
aneinander gereiht aus den Halswirbeln erdrosselter Königsfrauen, hervor:
das Zeichen seiner Würde als Oberhaupt der Zulus -- ein heiliger Fetisch,
der jedem, der ihn ins Grab mitnimmt, die Unsterblichkeit verleiht, -- --
und wand sie, als gräßlichen Rosenkranz, um die betend gefalteten Hände der
Toten.

Es war sein Teuerstes gewesen, das er auf Erden besessen.

Was sollte ihm noch die Unsterblichkeit; er war heimatlos -- hier wie
drüben: Eva konnte nicht in den Himmel der schwarzen Menschen kommen und er
nicht in das Paradies der Weißen!

                   *       *       *       *       *

Ein leises Geräusch schreckte ihn auf.

Er lauerte wie ein Raubtier auf dem Sprung.

_Nichts_.

Es war nur ein Knistern in den welkenden Kränzen gewesen.

Da fiel sein Blick auf die Kerze am Kopfende des Katafalks und er sah, daß
die Flamme sich zitternd bewegte und dann schräg zur Seite bog, wie von
einem Luftstrom getroffen:

Irgend jemand mußte die Kirche betreten haben!

Mit einem Satz war er hinter der Säule -- starrte zur Sakristei hinüber, ob
sich die Türe öffnen würde:

Niemand.

Als er den Kopf wieder zu der Leiche wandte, ragte dort an Stelle der
flackernden Kerze ein hoher, steinerner Thron empor. Darauf saß, schmal,
von übermenschlicher Größe, die Federkrone des Totenrichters auf dem Haupt,
unbeweglich, nackt, nur um die Lenden ein rotblaues Tuch und in den Händen
Krummstab und Geißel: ein ägyptischer Gott.

Um den Hals hing ihm an einer Kette eine goldene Tafel. Ihm gegenüber zu
Füßen des Sarges standen: ein brauner Mann mit dem Kopf eines Ibis, in der
Rechten das grüne Ankh -- das gehenkelte Kreuz der Ägypter, das Sinnbild
des Ewigen Lebens -- und zu beiden Seiten der Bahre, mit Sperberkopf und
Schakalkopf -- noch zwei Gestalten.

Der Zulu erriet, daß sie gekommen waren, um Gericht über die Verstorbene zu
halten.

Die Göttin der Wahrheit, mit enganliegendem Gewand und Geierhaube, kam
durch den Mittelgang heran, schritt zu der Toten, die sich starr
aufrichtete, -- nahm ihr das Herz aus der Brust und legte es auf eine Wage.

Der Mann mit dem Schakalkopf trat hinzu und warf eine kleine bronzene
Statuette in die Schale.

Der Sperber prüfte das Gewicht.

Die Schale mit dem Herzen Evas sank tief herab.

Der Mann mit dem Ibiskopf schrieb es schweigend mit einem Schilfrohr in
eine wächserne Tafel.

Dann sagte der Totenrichter:

=»Sie wurde für fromm befunden auf Erden und hatte Sorge vor dem Herrn der
Götter, darum hat sie erreicht das Land der Wahrheit und Rechtfertigung.=

=Sie erwacht als ein lebender Gott und strahlt im Chor der Götter, die im
Himmel wohnen, denn sie ist von unserm Stamm.=

=So steht es geschrieben im Buch von der verborgenen Wohnung.«=

Er versank im Boden.

Eva, die Augen geschlossen, stieg von der Bahre herab.

Die beiden Götter nahmen sie in die Mitte, schritten -- der Mann mit dem
Sperberkopf voran -- stumm durch die Mauern der Kirche und verschwanden.

Dann verwandelten sich die Kerzen in braune Gestalten mit lohenden Flammen
über den Häuptern und hoben den Deckel auf den leeren Sarg. -- -- --

Ein Knirschen lief durch den Raum, wie sich die Schrauben in das Holz
bohrten.




Vierzehntes Kapitel


Ein eisiger, lichtloser Winter war über Holland hingegangen, hatte sein
weißes Sterbeleilach auf die Ebenen gebreitet und langsam, langsam wieder
weggezogen, -- aber der Frühling blieb aus.

Als ob die Erde nie mehr erwachen könnte.

Fahlgelbe Maitage kamen und verschwanden: -- noch immer sproßten die Wiesen
nicht.

Die Bäume standen kahl und dürr -- ohne Knospen, in den Wurzeln erfroren.
Überall schwarze, tote Äcker, das Gras braun und welk; eine schreckhafte
Windstille; das Meer unbeweglich wie aus Glas; seit Monaten kein Tropfen
Regen, eine trübe Sonne hinter staubigen Schleiern, -- die Nächte schwül
und ohne Tau.

Der Kreislauf der Natur schien stillstehen zu wollen.

Eine beklemmende Angst vor drohenden Ereignissen, geschürt von wahnwitzigen
Bußpredigern, die unter Psalmengeheul die Straßen der Städte durchzogen,
hatte die Bevölkerung ergriffen wie zu den furchtbaren Zeiten der
Wiedertäufer.

Man sprach von unabwendbarer Hungersnot und dem Ende der Welt. -- -- -- --

Hauberrisser war aus seiner Wohnung in der Hooigracht hinaus in das
Flachland im Südosten vor Amsterdam übersiedelt und lebte einsam in einem
uralten alleinstehenden Haus, von dem die Sage ging, es sei ursprünglich
ein sogenannter Druidenstein gewesen. Es war mit dem Rücken dicht an einen
niedrigen Hügel angelehnt und lag inmitten des von Wasserstraßen
durchzogenen Slotermeer-Polders.

Er hatte es auf seiner Heimkehr von dem Begräbnis Evas erblickt, -- da es
seit langem leer stand, kurz entschlossen gemietet, noch am selben Tag
bezogen und im Laufe des Winters wohnlicher herrichten lassen: -- er wollte
allein mit sich selbst sein und fern vom Gewühl der Menschen, die ihm wie
wesenlose Schatten erschienen.

Von seinem Fenster aus konnte er die Stadt mit ihren düstern Bauten und den
Wald von Schiffsmasten im Hintergrund wie ein dunsthauchendes, stachliges
Ungeheuer vor sich liegen sehen.

Wenn er in solchen Momenten das Fernglas zur Hand nahm und den Anblick der
beiden Spitzen der Nikolaskirche und der andern zahllosen Türme und Giebel
nahe an sein Auge rückte, wurde ihm jedesmal ganz unbeschreiblich sonderbar
zu Mute --: so, als stünden nicht Dinge vor ihm, sondern zu Formen
erstarrte, quälende Erinnerungen, die mit grausamen Armen nach ihm greifen
wollten. -- -- Gleich darauf waren sie wieder zerronnen und mit den Bildern
der Häuser und Dächer in neblige Ferne versunken.

Anfangs hatte er zuweilen das Grab Evas auf dem unweit liegenden Friedhof
besucht, aber es war immer nur ein mechanischer, gedankenloser Spaziergang
gewesen.

Wenn er sich vorstellen wollte, sie läge da unten in der Erde, und er müßte
Schmerz darüber empfinden, erschien ihm der Gedanke so widersinnig, daß er
oft vergaß, die Blumen, die er mitgebracht hatte, auf dem Hügel
niederzulegen, und sie wieder mit nach Hause nahm.

Der Begriff, »seelischer Schmerz« war für ihn ein leeres Wort geworden und
hatte die Macht über sein Gefühlsleben verloren. --

Manchmal, wenn er über diese seltsame Wandlung seines Innern nachdachte,
beschlich es ihn fast wie Grauen vor sich selbst. --

                   *       *       *       *       *

In einer solchen Stimmung saß er eines Abends an seinem Fenster und sah in
die untergehende Sonne hinein.

Vor dem Hause ragte eine hohe verdorrte Pappel aus einer Wüste braunen,
trocknen Rasens, -- nur in einem kleinen, grünen Wiesenfleck weit drüben
wuchs wie in einer Oase ein blütenübersäter Apfelbaum -- das einzige
Zeichen von Leben weit und breit -- zu dem bisweilen die Bauern wallfahrten
kamen wie zu einem Marienwunder. -- -- --

»Die Menschheit, der ewige Phönix, hat sich im Lauf der Jahrhunderte zu
Asche verbrannt,« fühlte er, wie er so die Augen über die trostlose Gegend
schweifen ließ, »ob sie je wohl _neu_ auferstehen wird?« -- --

Er dachte an die Erscheinung Chidher Grüns, und seine Worte, daß er auf
Erden geblieben sei, um zu »geben«, fielen ihm ein.

»Und was tue ich?« fragte er sich: »Ich bin eine wandelnde Leiche geworden
-- ein dürrer Baum wie die Pappel da draußen! -- Daß es ein zweites
geheimnisvolles Leben gibt, wer weiß es außer mir? -- Swammerdam hat mich
auf den Weg gewiesen und ein Unbekannter hat ihn mir durch sein Tagebuch
erschlossen, -- nur ich geize mit den Früchten, die mir das Schicksal in
den Schoß geworfen hat! -- Nicht einmal meine besten Freunde, Pfeill und
Sephardi, ahnen, was mit mir vorgeht; sie glauben, ich sei in die
Einsamkeit gegangen und trauere um Eva. -- Weil mir die Menschen wie
Gespenster erscheinen, die blind durchs Dasein irren, -- weil sie mir wie
Raupen vorkommen, die über den Boden kriechen und nicht wissen, daß sie
keimende Schmetterlinge sind, habe ich deswegen ein Recht, mich von ihnen
fernzuhalten?«

Ein heißer Trieb, noch in derselben Stunde in die Stadt zu gehen, sich an
einer Straßenecke aufzustellen wie einer der vielen Wanderpropheten, die
das Hereinbrechen des jüngsten Tages verkündeten, und in die Menge
hineinzuschreien, daß es eine Brücke gebe, die zwei Leben -- das Diesseits
und das Jenseits -- miteinander verbindet, ließ ihn in jähem Entschluß
auffahren.

»Ich würde nur Perlen vor die Säue werfen,« überlegte er im nächsten
Augenblick; »die große Masse könnte mich nicht verstehen, -- sie winselt
danach, daß ein Gott vom Himmel steigt, den sie verkaufen und kreuzigen
darf. -- Und die wenigen Wertvollen, die nach einem Weg suchen, um _sich
selbst_ zu erlösen, würden _die_ auf mich hören? Nein. -- Die
Wahrheitverschenker sind in Mißkredit gekommen«; er mußte an Pfeill denken,
der in Hilversum den Ausspruch getan hatte, man müsse ihn erst fragen, ob
er willens sei, sich etwas schenken zu lassen. --

»Nein, so geht es nicht,« sagte er sich und sann nach. »Merkwürdig, je
reicher man wird an innern Erlebnissen, desto weniger kann man andern davon
geben; ich wandere immer weiter weg von den Menschen, bis plötzlich die
Stunde da sein wird, wo sie meine Stimme nicht mehr werden hören können.«

Er sah ein, daß er fast schon an dieser Grenze angekommen war. -- -- -- --

Das Tagebuch und die merkwürdigen Umstände, unter denen es in seinen Besitz
gelangt war, fielen ihm wieder ein; »ich werde es fortsetzen mit der
Beschreibung meines eignen Lebens,« beschloß er, -- »und es dem Schicksal
überlassen, was daraus werden soll; Er, der mir gesagt hat, 'ich bin
geblieben, um zu geben: jedem das, wonach er begehrt' -- soll es in seine
Obhut nehmen wie ein Testament von mir und es Menschen in die Hände
spielen, für die es heilsam sein kann und die nach dem innern Erwachen
dürsten. -- Wenn nur ein einziger dadurch zur Unsterblichkeit erweckt wird,
hat mein Dasein einen Sinn gehabt.«

Mit der Absicht, die Lehren der Tagebuchrolle durch die Erfahrungen, die er
an sich selbst gemacht, zu erhärten, -- sie dann in seine ehemalige Wohnung
zu tragen und wieder in die Mauernische zu legen, aus der sie ihm in jener
Nacht auf's Gesicht gefallen war, setzte er sich hin und schrieb:

   _An den Unbekannten, der nach mir kommt!_

»Wenn du diese Blätter liest, ist die Hand, die sie geschrieben hat,
vielleicht längst schon vermodert.

Ein sicheres Gefühl sagt mir, daß sie dir zu einem Zeitpunkt vor Augen
kommen werden, wo sie dir nottun, wie der Anker einem mit zerrissenen
Segeln auf Klippen zusteuernden Schiff.

Du wirst in dem Tagebuch, das dem meinigen beigeschlossen ist, eine Lehre
niedergelegt finden, die alles enthält, dessen der Mensch bedarf, um wie
auf einer Brücke in eine neue Welt voll von Wundern hinüberzuschreiten. --

Ich habe ihm nichts hinzuzufügen als eine Schilderung meines Lebenslaufs
und der geistigen Zustände, die ich mit Hilfe der Lehre erklommen habe.

Wenn meine Zeilen auch nur dazu beitragen sollten, dich in der Zuversicht
zu bestärken, daß es wirklich und wahrhaftig einen geheimen Weg gibt, der
über sterbliches Menschentum hinausführt, so hätten sie damit schon voll
und ganz ihren Zweck erfüllt.

Die Nacht, in der ich diese Zeilen für dich niederschreibe, ist erfüllt mit
dem Hauch kommender Schrecknisse -- Schrecknisse nicht für mich, aber für
die Zahllosen, die am Baum des Lebens nicht reif geworden sind; -- ich weiß
nicht, ob ich die »erste Stunde« der neuen Zeit, die du in der
Tagebuchrolle meines Vorgängers erwähnt findest, mit leiblichen Augen
schauen werde, -- vielleicht ist diese Nacht meine letzte, -- aber: ob ich
morgen von der Erde gehe oder erst Jahre später: ich strecke tastend meine
Hand in die Zukunft hinein nach der deinen. Fasse sie, -- so wie ich die
Hand meines Vorgängers erfaßt habe -- damit die Kette der 'Lehre vom
Wachsein' nicht abreißt, und vererbe auch du deinerseits das Vermächtnis
weiter!«

                   *       *       *       *       *

Die Uhr zeigte bereits spät nach Mitternacht, als er in der Erzählung
seines Lebenslaufes bis zu dem Punkte gelangt war, wo Chidher Grün ihn vor
dem Selbstmord bewahrt hatte.

In Gedanken versunken schritt er auf und ab.

Er fühlte, daß hier die große Kluft begann, die das Fassungsvermögen eines
normalen Menschen, selbst wenn er noch so phantasiereich und glaubenswillig
war, von dem eines geistig Erweckten trennte.

Gab es überhaupt Worte, um auch nur annähernd zu beschreiben, was er von
jenem Zeitabschnitt an fast ununterbrochen erlebt hatte?

Er schwankte lange, ob er seine Niederschrift nicht mit dem Begräbnis Evas
schließen sollte, dann ging er in das anstoßende Zimmer, um aus dem Koffer
die silberne Hülse zu holen, die er gelegentlich für die Rolle hatte
anfertigen lassen; beim Suchen darnach fiel ihm auch der papierne
Totenkopf, den er vor einem Jahr in dem Vexiersalon gekauft hatte, in die
Hände.

Sinnend betrachtete er ihn beim Schein der Lampe, und dieselben Gedanken,
die damals sein Hirn durchkreuzt, fielen ihm wieder ein:

»Schwerer ist es, das ewige Lächeln zu erringen, als den Totenschädel zu
finden, den man in einem früheren Dasein auf den Schultern getragen hat.«

Es klang ihm wie Verheißung, in einer frohen Zukunft das Lächeln zu lernen.

So unfaßbar fremd und fern erschien ihm sein verflossenes Leben mit all dem
leidvollen Wünschen und Wollen, als hätte es sich wirklich in diesem
albernen und doch so prophetischen Ding aus Pappendeckel abgespielt und
nicht in seinem eignen Kopf; er mußte unwillkürlich lächeln bei dem
Gedanken, daß er hier stand und -- seinen Schädel in der Hand hielt.

Wie ein Zauberladen mit wertlosem Plunder lag die Welt hinter ihm. -- -- --
-- -- -- --

Er griff wieder zur Feder und schrieb:

»Als Chidher Grün von mir gegangen war und mit ihm auf unbegreifliche Weise
auch jeglicher Schmerz um Eva, wollte ich zum Bette treten und ihre Hände
küssen, da sah ich, daß ein Mann davor kniete, den Kopf auf ihren Arm
gelegt, und erkannte voll Staunen in ihm meinen eignen Körper; ich selbst
konnte mich nicht mehr sehen. Wenn ich an mir herunterblickte, war es leere
Luft, -- aber gleichzeitig war der Mann vor dem Bette aufgestanden und
schaute auf seine Füße herab, -- so wie ich es an mir zu tun glaubte. -- Es
war, als sei er mein Schatten, der jede Bewegung machen mußte, die ich ihm
befahl.

Ich beugte mich über die Tote, da tat _er_ es; ich vermute, er hat dabei
gelitten und Schmerz empfunden, -- es kann sein, aber ich weiß es nicht.
Für mich war die, die da regungslos, mit starrem Lächeln auf den Zügen, vor
mir lag, die Leiche eines fremden, engelschönen Mädchens -- ein Bild wie
aus Wachs, an dem mein Herz kein Teil hatte, -- eine Statue, die Eva auf's
Haar glich, aber doch nur ihre Maske war.

Ich fühlte mich so unendlich glücklich, daß nicht Eva, sondern eine Fremde
gestorben war, daß ich vor Freude kein Wort hervorbringen konnte.

Dann traten drei Gestalten ins Zimmer: -- ich erkannte meine Freunde in
ihnen und sah, daß sie zu meinem Körper hingingen und ihn trösten wollten,
aber er war ja nur mein 'Schatten', lächelte und gab keine Antwort.

Wie wäre er es auch imstande gewesen, wo er doch den Mund nicht öffnen
konnte -- unfähig etwas anderes zu tun, als was ich ihm befahl.

Aber auch meine Freunde und alle die vielen Menschen, die ich dann später
in der Kirche und beim Begräbnis sah, waren Schemen für mich geworden wie
mein eigner Körper; -- der Leichenwagen, die Pferde, die Fackelträger, die
Kränze, -- die Häuser an denen wir vorüber kamen, -- der Friedhof, der
Himmel, die Erde und die Sonne: alles war Bildwerk ohne inneres Leben,
farbig wie ein Traumland, in das ich hineinblickte -- froh und glücklich,
daß es mich nichts mehr anging.

Seitdem ist meine Freiheit immer größer geworden, und ich weiß, daß ich
über die Schwelle des Todes hinausgewachsen bin; ich sehe bisweilen meinen
Körper des nachts schlafen liegen, höre seine gleichmäßigen Atemzüge -- und
bin doch dabei wach; er hat die Augen geschlossen und dennoch kann ich
umherschauen und überall sein, wo ich will. Wenn er wandert, kann ich ruhen
und -- wenn er ruht, kann ich wandern. -- Aber ich kann auch mit seinen
Augen sehen und mit seinen Ohren hören, wenn es mir beliebt, nur ist dann
alles ringsum trüb und freudearm und ich bin dann wieder wie die andern
Menschen: ein Gespenst im Reich der Gespenster.

Mein Zustand, wenn ich vom Leibe losgelöst bin und ihn wahrnehme wie einen
automatisch meinem Geheiß gehorchenden Schatten, der am Scheinleben der
Welt teilnimmt, ist so unbeschreiblich seltsam, daß ich nicht weiß, wie ich
ihn dir schildern soll.

Nimm an, du säßest in einem Kinematographen-Theater, -- Glück im Herzen,
weil dir kurz vorher eine große Freude begegnet ist, -- und sähest auf
einem Film deiner eignen Gestalt zu, wie sie von Leid zu Leid eilt, am
Sterbebette einer geliebten Frau zusammenbricht, von der du weißt, daß sie
nicht tot ist, sondern zu Hause auf dich wartet, -- hörtest dein Bild auf
der Leinwand mit deiner eignen Stimme, hervorgerufen durch eine
Sprechmaschine, Schreie des Schmerzes und der Verzweiflung ausstoßen, -- --
würde dich dieses Schauspiel ergreifen? --

Es ist nur ein schwaches Gleichnis, das ich dir damit geben kann; ich
wünsche dir, daß du es _erlebst_.

Dann wirst du auch wissen, so wie ich es jetzt weiß, daß es eine
Möglichkeit gibt, dem Tod zu entrinnen.

Die Stufe, die zu erklimmen mir geglückt ist, ist die große Einsamkeit, von
der das Tagebuch meines Vorgängers spricht; sie würde für mich vielleicht
noch grausamer sein als das irdische Leben, wenn die Leiter, die aufwärts
führt, damit zu Ende wäre, aber die jubelnde Gewißheit, daß Eva nicht
gestorben ist, hebt mich darüber hinaus.

Wenn ich Eva auch jetzt noch nicht sehen kann, so weiß ich doch: es bedarf
für mich nur mehr eines kleinen Schrittes auf dem Wege des Erwachens und
ich bin bei ihr -- viel wirklicher, als es jemals früher hätte sein können.
-- Nur eine dünne Wand, durch die hindurch wir unsere Nähe bereits spüren
können, trennt uns noch.

Wie unvergleichlich viel tiefer und ruhiger ist jetzt meine Hoffnung, sie
zu finden, als in der Zeit, da ich stündlich nach ihr rief.

Damals war es ein verzehrendes Warten: -- jetzt ist es eine freudige
Zuversicht.

Es gibt eine unsichtbare Welt, die die sichtbare durchdringt; eine
Gewißheit sagt mir: Eva lebt in ihr wie in einer verborgenen Wohnung und
wartet auf mich.

Sollte dein Schicksal ähnlich dem meinen sein und du hast einen geliebten
Menschen auf Erden verloren, so glaube nicht, daß du ihn auf andere Weise
wiederfinden kannst, als dadurch, daß du den 'Weg des Erwachens' gehst.

Denke daran, was mir Chidher gesagt hat: 'Wer nicht auf der Erde das Sehen
lernt, drüben lernt er's gewiß nicht'. --

Hüte dich vor der Lehre der Spiritisten wie vor Gift, -- sie ist die
furchtbarste Pest, die jemals die Menschen befallen hat; auch die
Spiritisten behaupten, mit den Toten verkehren zu können, -- sie glauben,
die Toten kämen zu ihnen; -- es ist eine Täuschung. -- Es ist gut, daß sie
nicht wissen, wer die sind, die da kommen. Wenn sie's wüßten, würden sie
sich entsetzen.

Erst mußt du selbst unsichtbar werden können, ehe du den Weg findest, zu
den Unsichtbaren zu gehen und hier und drüben zugleich zu leben, -- so, wie
ich unsichtbar geworden bin -- sogar für die Augen meines eigenen Körpers.

Ich bin selber noch nicht so weit, als daß mir der Blick für die jenseitige
Welt erschlossen wäre, dennoch weiß ich: die, die blind von der Erde
gegangen sind, sind nicht drüben; sie sind wie in der Luft verklungene
Melodien, die durch den Weltraum wandern, bis sie wieder auf Saiten
treffen, auf denen sie von neuem ertönen können; -- das, wo sie zu sein
glauben, ist kein Ort: es ist eine raumlose Trauminsel von Schemen, weit
weniger wirklich noch als die Erde.

In Wahrheit unsterblich ist nur der _erwachte_ Mensch; Sonnen und Götter
vergehen, -- er allein bleibt und kann alles vollbringen, was er will. Über
ihm ist kein Gott.

Nicht umsonst heißt unser Weg: ein heidnischer Weg. Was der Fromme für Gott
hält, ist nur ein _Zustand_, den er erreichen könnte, wenn er fähig wäre,
an sich selbst zu glauben, -- so aber zieht er sich in unheilbarer
Blindheit eine Schranke, die er nicht zu überspringen wagt, -- er schafft
sich ein Bild, um es anzubeten, anstatt sich darein zu verwandeln.

Willst du beten, so bete zu deinem unsichtbaren Selbst; es ist der einzige
Gott, der Gebete erhört: die andern Götter reichen dir Steine statt Brot.

Unglücklich die, die zu einem Götzen beten und ihr Flehen wird erhört: sie
verlieren dadurch ihr Selbst, da sie nie wieder zu glauben vermögen, daß
nur sie selber es waren, die sich erhört haben.

Wenn dein unsichtbares Selbst als _Wesenheit_ in dir erscheint, so kannst
du es daran erkennen, daß es einen Schatten wirft: ich wußte auch nicht
früher, wer ich bin, bis ich meinen eignen Körper als Schatten sah.

Eine Zeit, in der die Menschheit leuchtende Schatten werfen wird und nicht
mehr schwarze Schandflecken auf die Erde wie bisher, will dämmern, und neue
Sterne ziehen herauf. Trag du auch dazu bei, daß Licht wird!« -- -- --

                   *       *       *       *       *

Hastig stand Hauberrisser auf, rollte die Blätter zusammen und steckte sie
in die silberne Hülse.

Er hatte die deutliche Empfindung, als sporne ihn jemand zu äußerster Eile
an.

Am Himmel lag bereits der erste Schein des anbrechenden Morgens; die Luft
war bleifarben und ließ die verdorrte Steppe vor dem Fenster wie einen
riesigen wollenen Teppich mit den grauen Wasserstraßen als hellen Streifen
darin erscheinen.

Er trat vor's Haus und wollte den Weg nach Amsterdam einschlagen. Schon
nach den ersten Schritten ließ er seinen Plan, das Dokument in seine alte
Wohnung in der Hooigracht zu tragen, fallen, kehrte um und holte einen
Spaten: er erriet, daß er es irgend in der Nähe vergraben solle.

Aber wo?

Vielleicht auf dem Friedhof?

Er wandte sich der Richtung zu:

Nein, auch dort nicht.

Sein Blick fiel auf den blühenden Apfelbaum; er ging hin, schaufelte ein
Loch und legte die Hülse mit den Schriftstücken hinein.

Dann eilte er, so schnell er konnte, durch das Zwielicht über die Wiesen
und Brückenstege der Stadt entgegen.

Eine tiefe Besorgnis um seine Freunde, als drohe ihnen eine Gefahr, vor der
er sie warnen müsse, hatte ihn plötzlich befallen.

Trotz der frühen Stunde war die Luft heiß und trocken wie vor einem
Gewitter.

Eine atembeklemmende Windstille verlieh der ganzen Gegend etwas unheimlich
Leichenhaftes; die Sonne hing wie eine Scheibe aus blindem, gelbem Metall
hinter dichten Dunstschleiern, und weit im Westen über der Zuidersee
brannten Wolkenmauern, als sei es Abend statt Morgen.

In ungewisser Angst, zu spät zu kommen, kürzte er den Weg ab, wann es nur
irgend ging, schritt bald querfeldein, bald auf den menschenleeren Straßen
dahin, aber es schien, als wolle die Stadt nicht näher rücken.

Allmählich mit dem wachsenden Tag veränderte sich das Bild des Himmels;
hakenförmige, weißliche Wolken krümmten sich wie gigantische Wurmleiber auf
dem fahlen Hintergrund, von unsichtbaren Wirbeln gepeitscht, hin und her,
-- immer an derselben Stelle bleibend: -- kämpfende Luftungeheuer, die der
Weltenraum herabgesandt.

Kreisende Trichter, die Spitzen nach oben, wie umgestürzte, riesenhafte
Becher, hingen frei in der Höhe -- Tiergesichter fielen mit aufgerissenen
Rachen übereinander her und ballten sich zu brodelndem Knäuel; nur auf der
Erde herrschte immer dieselbe totengleiche, lauernde Windstille nach wie
vor.

Ein schwarzes, langgestrecktes Dreieck kam mit Sturmesschnelle von Süden
her, zog unter der Sonne weg, ihr Licht verfinsternd, daß das Land
minutenlang in Nacht getaucht lag, und senkte sich mit schrägem Flug in
weiter Ferne zu Boden: ein Heuschreckenschwarm von den Küsten Afrika's
herübergeweht.

Die ganze Zeit während seines Marsches war Hauberrisser nicht einem
einzigen lebenden Wesen begegnet, da erblickte er plötzlich bei einer
Krümmung des Weges, wie hinter knorrigen Weidenstämmen hervorkommend, eine
seltsame dunkle Gestalt, den Nacken gebeugt, übermenschlich groß und in
einen Talar gehüllt.

Er konnte ihre Gesichtszüge in der Entfernung nicht unterscheiden, erkannte
aber sofort an der Haltung, an den Kleidern und den Umrissen des Kopfes mit
den langen, herabhängenden Schläfenlocken, daß es ein alter Jude war, der
auf ihn zuschritt.

Je näher der Mann herankam, desto unwirklicher schien er zu werden; er war
mindestens sieben Schuh hoch, bewegte beim Gehen die Füße nicht, und seine
Konturen hatten etwas Lockeres, Schleierndes; -- Hauberrisser glaubte sogar
zu bemerken, daß sich bisweilen ein Teil des Körpers -- der Arm, oder die
Schulter -- ablöste, um sich sofort wieder anzusetzen.

Wenige Minuten später war der Jude fast durchsichtig geworden, als bestünde
er nur aus einem schütteren Gebilde zahlloser schwarzer Punkte und nicht
aus einer festen Masse.

Gleich darauf sah Hauberrisser, als die Gestalt in unmittelbarster Nähe
lautlos an ihm vorbei schwebte, daß es eine Wolke fliegender Ameisen war,
die merkwürdigerweise die Form eines Menschen angenommen hatte und
beibehielt, -- ein unbegreifliches Naturspiel, ähnlich dem Bienenschwarm,
den er einst in dem Amsterdamer Klostergarten gesehen.

Lange blickte er kopfschüttelnd dem Phänomen nach, das mit zunehmender
Geschwindigkeit nach Südwesten, dem Meere zu, wanderte, bis es wie ein
Rauch am Horizont verschwand.

Er wußte nicht, wie er die Erscheinung deuten sollte. War es ein
rätselhaftes Vorzeichen, oder nur eine belanglose Grimasse, die die Natur
schnitt?

Daß Chidher Grün, um sich ihm sichtbar zu machen, eine so phantastische
Form gewählt haben könnte, schien ihm wenig glaubhaft.

Den Kopf noch voll grüblerischer Gedanken betrat er den Wester Park und
schlug, um so rasch wie möglich zu Sephardi's Haus zu gelangen, die
Richtung nach dem Damrak ein, da verriet ihm schon von weitem ein wilder
Tumult, daß irgend etwas Aufregendes geschehen sein mußte.

Bald war ein Vordringen durch die breiten Straßen infolge der dichten
Menschenmenge, die Schulter an Schulter gepreßt, in wilder Aufregung
durcheinander wogte, ein Ding der Unmöglichkeit, und er beschloß daher, die
Jodenbuurt als Verbindungsgasse zu benützen.

Scharenweise zogen die Gläubigen der Heilsarmee, laut betend oder den Psalm
brüllend: »Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren
Brünnlein« über die Plätze, -- Männer und Weiber, verzückt in religiösem
Wahnwitz, rissen einander die Kleider vom Leib -- sanken, Geifer vor dem
Mund, in die Knie, -- schrien Hallelujas und Zoten zugleich zum Himmel
empor, -- fanatische Sektierermönche mit entblößtem Oberkörper geißelten
sich unter grausigen hysterischen Lachkrämpfen die Rücken blutig, -- da und
dort brachen Fallsüchtige mit schrillem Schrei zusammen und wälzten sich
zuckend auf dem Pflaster; andere wieder -- Anhänger irgendeines
hirnverbrannten Glaubensbekenntnisses -- »demütigten sich vor dem Herrn«,
indem sie sich zusammen kauerten und, von einer barhäuptigen, ergriffen
zuschauenden Menge umstanden, wie Frösche umherhüpften und dazu quakten: »O
du mein herzallerliebstes Jesulein, erbarme dich unser!«

                   *       *       *       *       *

Von Schauder und Ekel ergriffen irrte Hauberrisser durch alle möglichen
winkligen Gassen, immer von neuem durch Volksmassen aus seiner Richtung
vertrieben, bis er schließlich keinen Schritt mehr weiter tun konnte und
sich, wie eingekeilt, vor das schädelartige Haus in der Jodenbreestraat
gedrängt sah.

Der Vexiersalon war mit Rolläden verschlossen und die Tafel entfernt; dicht
davor stand ein vergoldetes Holzgerüst und oben drauf, auf einem
Thronsessel, mit einem Hermelinmantel bekleidet und ein brillantstrotzendes
Diadem wie einen Heiligenschein um die Stirn, saß der »Professor« Zitter
Arpád, warf Kupfermünzen mit seinem Bildnis unter die ekstatisch verzückte
Menge und hielt mit hallender Stimme eine infolge des ununterbrochenen
Hosiannageschreies kaum verständliche Ansprache, in der sich beständig wie
ein blutdürstiger Hetzruf die Worte wiederholten: »Werft die Huren ins
Feuer und bringt mir ihr sündiges Gold!«

Mit größter Mühe gelang es Hauberrisser, sich nach und nach bis zu einer
Häuserecke durchzuarbeiten.

Er wollte sich eben orientieren, da faßte ihn jemand am Arm und zog ihn in
einen Tordurchlaß. Er erkannte Pfeill.

Sie waren beide mit ähnlichen Absichten in die Stadt gekommen, wie sie aus
ihren gegenseitigen Zurufen über die Köpfe des Gedränges hinweg, das sie
gleich darauf wieder auseinander gerissen hatte, entnahmen.

»Komm zu Swammerdam!« schrie Pfeill.

An ein Stehenbleiben war nicht zu denken; selbst die kleinsten Höfe und
Winkelgäßchen waren überflutet von Menschen, und wenn die beiden Freunde
zuweilen ein paar Schritt weit eine Lücke in dem Gewimmel erblickten, die
ihnen gestattete, nebeneinander zu gehen, mußten sie eiligst die
Gelegenheit benützen, um vorwärts zu laufen, so daß sie sich nur mit
hastigen Worten verständigen konnten.

»Ein grauenhaftes Scheusal -- dieser Zitter!« -- erzählte Pfeill in
Absätzen, bald vor, bald hinter, bald neben Hauberrisser, bald wieder durch
Menschenmauern von ihm getrennt. »Die Polizei funktioniert nicht mehr und
kann ihm das Handwerk nicht legen. -- Und die Miliz schon lange nicht. --
Er gibt sich für den Propheten Elias aus, und die Leute glauben ihm und
beten ihn an. -- -- Neulich hat er im Zirkus Carré ein entsetzliches
Blutbad angerichtet. -- -- Sie haben den Zirkus gestürmt -- und fremde,
vornehme Damen -- Halbweltlerinnen natürlich -- hineingeschleppt und die
Tiger auf sie losgelassen. -- -- Er hat den Zäsarenwahnsinn. -- -- Wie
Nero. -- -- -- Zuerst hat er die Rukstinat geheiratet und dann die Ärmste,
um zu ihrem Geld zu kommen, ver -- -- --«

»Vergiftet« -- verstand Hauberrisser undeutlich: eine Prozession dumpf
singender, vermummter Gestalten, weiße, spitzige Kapuzen über den
Gesichtern wie Fehmrichter und Fackeln in den Händen, hatte Pfeill von ihm
abgedrängt und ihr murmelnder, eintöniger Choral: »o sanctissima, o pi --
issima, dulcis virgo Maaa -- riii -- aaah« hatte die letzten Worte zur
Hälfte verschlungen.

Pfeill tauchte wieder auf; sein Gesicht war geschwärzt von Fackelrauch: --
»Und dann hat er ihr Geld in den Pokerklubs verspielt. -- -- Dann war er
monatelang spiritistisches Geistermedium. -- -- Hat einen Riesenzulauf
gehabt. -- -- Ganz Amsterdam war bei ihm.«

»Was macht Sephardi?« rief Hauberrisser hinüber.

»Ist seit drei Wochen in Brasilien! Ich soll dich vielmals von ihm grüßen.
-- -- -- Er war gänzlich verändert, schon ehe er abreiste. -- -- Ich weiß
nicht allzuviel über ihn. -- -- Ich weiß nur: Der Mann mit dem grünen
Gesicht ist ihm erschienen und hat ihm gesagt, er solle einen jüdischen
Staat in Brasilien gründen, und: daß die Juden als einziges internationales
Volk berufen seien, eine Sprache zu schaffen, die nach und nach allen
Völkern der Erde als gemeinsames Verständigungsmittel dienen und sie
dadurch einander näherbringen solle, -- -- -- ein modernes Hebräisch,
vermute ich -- ich weiß nicht. -- -- Sephardi war seitdem wie über Nacht
verwandelt. -- -- -- Er hätte jetzt eine Mission, hat er gesagt. -- -- --
Er scheint übrigens mit seinem zionistischen Staat drüben das Richtige
getroffen zu haben. -- -- Fast alle Juden Hollands sind ihm nachgereist,
und jetzt noch kommen zahllose aus allen möglichen Ländern, um nach dem
Westen auszuwandern. -- -- Es ist das reinste Ameisengewimmel -- --«

Eine Truppe gesangbuchplärrender Weiber trennte sie für eine Weile. --
Hauberrisser hatte unwillkürlich, als Pfeill den Ausdruck »Ameisengewimmel«
gebraucht, an das sonderbare Phänomen denken müssen, das er draußen vor der
Stadt gesehen hatte. -- --

»In letzter Zeit war Sephardi viel mit einem gewissen Lazarus Eidotter, den
ich inzwischen kennen gelernt habe, beisammen«; fuhr Pfeill fort -- »es ist
ein alter Jude, eine Art Prophet, -- -- er ist jetzt fast beständig in
einem Zustand von Entrückung -- -- alles, was er prophezeit, stimmt
übrigens jedesmal. -- -- Neulich wieder hat er vorausgesagt, es käme eine
schreckliche Katastrophe über Europa, damit eine neue Zeit vorbereitet
werde. -- -- -- Er freut sich, sagt er, daß er dabei mit zu Grunde gehen
darf, denn dann würde es ihm vergönnt sein, die vielen Toten, die
hinübergehen, ins Reich der Fülle zu führen. -- -- Mit der Katastrophe hat
er vielleicht nicht so unrecht. -- -- -- Du siehst ja, wie es hier zugeht.
-- -- -- Amsterdam erwartet die Sintflut. -- -- -- Die ganze Menschheit ist
toll geworden. -- -- Die Eisenbahnen sind längst eingestellt, sonst wäre
ich schon mal zu dir in deine Arche Noah hinaus gekommen. -- Heute scheint
der Gipfelpunkt des Aufruhrs zu sein. -- -- Ach, ich hätte dir ja so
unendlich viel zu erzählen -- -- Gott, wenn nur nicht dieses ewige Gewühl
um uns herum wäre, man kann ja kaum einen Satz zu Ende sprechen -- -- --
mir ist inzwischen auch unglaublich viel passiert -- -- --«

»Und Swammerdam? Wie geht es ihm?« überschrie Hauberrisser das Geheul einer
Rotte auf den Knien rutschender Geißelbrüder.

»Er hat einen Boten zu mir geschickt,« rief Pfeill zurück, »ich solle
augenblicklich zu ihm kommen und dich vorher holen gehen und mitbringen. --
-- Gut, daß wir uns auf dem Wege getroffen haben. -- -- -- Er zittert um
uns, hat er mir sagen lassen; er glaubt, nur in seiner Nähe wären wir
sicher. -- -- -- Er behauptet, sein inneres Wort hätte ihm einmal drei
Dinge prophezeit, darunter sei die Voraussage gewesen: er werde die
Nikolaskirche überleben. -- -- -- Daraus schließt er vermutlich, daß er
gegen die bevorstehende Katastrophe gefeit sei, und will, daß wir bei ihm
sind, um uns ebenfalls für die kommende neue Zeit zu erretten.«

Es waren die letzten Worte, die Hauberrisser verstand: ein plötzlich
losbrechendes, ohrenbetäubendes Geschrei, von dem freien Platz ausgehend,
dem sie zusteuerten, erschütterte die Luft und pflanzte sich, immer lauter
und lauter anschwellend, in gellen Rufen: »Das neue Jerusalem ist am Himmel
erschienen« -- »ein Wunder, ein Wunder!« -- »Gott sei uns gnädig« -- von
Dachfenster zu Dachfenster über die Giebel hin fort bis in die
entferntesten Winkel der Vorstädte.

Er konnte nur noch erkennen, daß Pfeill hastig den Mund bewegte, als brülle
er ihm mit Aufgebot der ganzen Lungenkraft irgend etwas zu, dann fühlte er
sich von dem wahnwitzig erregten Menschenstrom fast vom Boden gehoben,
unwiderstehlich fortgerissen und in den Börseplatz hineingestoßen.

Die Menge stand dort so dicht zusammengequetscht, daß er, die Arme an den
Leib gedrückt, kaum die Hände bewegen konnte. -- Aller Augen waren starr
emporgekehrt.

Hoch oben am Himmel kreisten noch immer kämpfend die seltsamen Dunstgebilde
wie geflügelte Riesenfische, aber darunter hatten sich schneegekrönte
Wolkenberge aufgetürmt und mitten darin in einem Tal lag, von schrägen
Sonnenstrahlen beleuchtet, die Luftspiegelung einer fremden, südlichen
Stadt mit weißen flachen Dächern und maurischen Bogentoren.

Männer mit wallenden Burnussen und dunkeln stolzen Gesichtern schritten
langsam durch die lehmfarbenen Straßen -- so nah und schreckhaft deutlich,
daß man das Rollen ihrer Augen sehen konnte, wenn sie den Kopf wandten, um,
wie es schien, auf das entsetzte Getümmel Amsterdams gleichmütig
herabzublicken. -- -- Draußen vor den Wällen der Stadt breitete sich eine
rötliche Wüste, deren Ränder in den Wolken verschwammen, und eine
Kamelkarawane zog schemenhaft in die flimmernde Luft hinein.

Wohl eine Stunde lang blieb die Fata Morgana in zauberischer Farbenpracht
am Himmel stehen, dann verblaßte sie allmählich, bis nur mehr ein hohes,
schlankes Minarett, blendend weiß wie aus glitzerigem Zucker, übrig war,
das eine Weile später plötzlich im Wolkennebel verschwand.

                   *       *       *       *       *

Erst spät nachmittags hatte Hauberrisser -- Zoll für Zoll von dem
Menschenmeer an den Häusermauern entlang gespült -- Gelegenheit, über eine
Grachtbrücke dem Getümmel zu entrinnen.

Zu Swammerdams Wohnung zu gelangen war gänzlich unausführbar, denn er hätte
viele Straßen und abermals den Börseplatz überqueren müssen, und so
beschloß er, in seine Einsiedelei zurückzukehren und einen günstigeren Tag
abzuwarten. -- -- --

Bald nahmen ihn die totenstillen Wiesen des Polders wieder auf.

Der Raum unter dem Himmel war eine undurchdringliche, staubige Masse
geworden.

Hauberrisser hörte das welke Gras unter seinen Füßen zischen, als er
eilends dahinschritt, wie Rauschen des Blutes im Ohr, so tief war die
Einsamkeit.

Hinter ihm lag das schwarze Amsterdam in der roten sinkenden Sonne wie ein
ungeheurer brennender Pechklumpen.

Kein Hauch ringsum, die Deiche durchzogen von glühenden Streifen, nur hie
und da ein tröpfelndes Plätschern, wenn ein Fisch aufsprang.

Als die Dämmerung herabsank, tauchten große, trübgraue Flächen aus der Erde
und krochen über die Steppe wie ausgebreitete, wandelnde Tücher, -- er sah,
daß es zahllose Scharen von Mäusen waren, die, aus ihren Löchern
geschlüpft, pfeifend und aufgeregt durcheinander huschten.

Je mehr die Dunkelheit zunahm, desto unruhiger schien die Natur zu werden,
trotzdem kein Halm sich regte.

Die moorbraun gewordenen Wasser bekamen zuweilen kleine kreisrunde Krater,
ohne daß auch nur ein Lufthauch sie getroffen hätte, oder schlugen, wie
unter unsichtbaren Steinwürfen, vereinzelte, spitzige Wellenkegel, die
gleich darauf wieder spurlos verschwanden.

Schon konnte Hauberrisser von weitem die kahle Pappel vor seinem Haus
unterscheiden, da wuchsen plötzlich, bis zum Himmel ragend, weißliche
säulenartige Gebilde aus dem Boden und stellten sich zwischen die
Silhouette des Baumes und seinen Blick.

Geisterhaft und lautlos kamen sie auf ihn zu, schwarze, breite Spuren unter
dem ausgerissenen Gras hinterlassend, wo sie gegangen waren: Windhosen, die
der Stadt zu wanderten.

Ohne das leiseste Geräusch zu verursachen, zogen sie an ihm vorbei: stumme,
tückische, totbringende Gespenster der Atmosphäre.

                   *       *       *       *       *

Schweißgebadet betrat Hauberrisser das Haus.

Die Gärtnersfrau des nahen Friedhofs, die ihn bediente, hatte ihm sein
Essen auf den Tisch gestellt; er konnte vor Aufregung keinen Bissen
anrühren.

Voll Unruhe warf er sich angezogen aufs Bett und wartete schlaflos auf den
kommenden Tag.




Schluß


Mit unerträglicher Langsamkeit schlichen die Stunden, und die Nacht schien
kein Ende nehmen zu wollen.

Endlich ging die Sonne auf, trotzdem blieb der Himmel tiefschwarz, nur
ringsum am Horizont glomm ein greller, schwefelgelber Streifen, als habe
sich eine dunkle Halbkugel mit glühendem Rand auf die Erde herabgesenkt.

Ein glanzloses Zwielicht irrte durch den Raum; die Pappel vor dem Fenster,
die Sträucher in der Ferne und die Türme Amsterdams waren wie von trüben
Scheinwerfern matt erhellt. Darunter lag die Ebene mit ihren Wiesen gleich
einem großen erblindeten Spiegel.

Hauberrisser blickte mit seinem Feldstecher hinüber auf die Stadt, die sich
-- ein in Angst erstarrtes Bild -- fahlbeleuchtet von dem schattenhaften
Hintergrund abhob und jeden Augenblick den Todesstreich zu erwarten schien.

Banges, atemloses Glockenläuten zitterte in Wellen bis weit ins Land
hinein, -- plötzlich verstummte es jäh: ein dumpfes Brausen ging durch die
Luft und die Pappel beugte sich ächzend zur Erde nieder.

Windstöße fegten mit Peitschenhieben über den Boden hin, das welke Gras
kämmend, und rissen die spärlichen, niedrigen Sträucher aus den Wurzeln.

Nach wenigen Minuten war die Landschaft in einer ungeheuern Staubwolke
verschwunden, -- dann tauchte sie wieder auf, kaum mehr zu erkennen: die
Deiche weißer Gischt; Windmühlenflügel -- abgerissen von ihren Leibern,
die, in stumpfe Rümpfe verwandelt, in der braunen Erde hockten -- quirlten
hoch in den Lüften.

In immer kürzern und kürzern Pausen heulte der Sturm über die Steppe, bis
bald nur mehr ein ununterbrochenes Gebrüll zu hören war.

Von Sekunde zu Sekunde verdoppelte sich seine Wut; die zähe Pappel war
wenige Fuß hoch über dem Boden fast rechtwinklig abgebogen, -- ohne Äste,
kaum mehr als ein glatter Stamm, und blieb, niedergehalten von der Wucht
der über sie hinwegrasenden Luftmassen, unbeweglich in dieser Stellung.

Nur der Apfelbaum stand regungslos wie in einer von unsichtbarer Hand vor
dem Winde beschirmten Insel, und nicht eine einzige seiner Blüten rührte
sich.

Balken und Steine, Häusertrümmer und ganze Mauern, Sparrenwerk und
Erdklumpen flogen unablässig -- ein nicht endenwollender Schauer von
Wurfgeschossen -- am Fenster vorüber.

Dann wurde der Himmel plötzlich hellgrau und die Finsternis löste sich in
kaltes, silbriges Glitzern auf.

Hauberrisser glaubte schon, die Wut des Orkans wolle nachlassen, da sah er
mit Grauen, daß die Rinde der Pappel sich abschälte und, zu fasrigen Fetzen
geworden, spurlos verschwand. -- Gleich darauf, noch ehe er recht erfassen
konnte, was geschah, brachen die hohen, ragenden Fabrikschornsteine im
Südwesten des Hafens glatt an der Wurzel ab und verwandelten sich in dünne,
fliehende Lanzen aus weißem Staub, die der Sturm mit Blitzesschnelle
davontrug.

Kirchturm auf Kirchturm folgte, -- Sekundenlang noch schwärzliche Klumpen,
von Taifunwirbeln hoch emporgerissen, dann zu jagenden Streifen am Horizont
geworden -- dann Punkte -- und nichts mehr.

Bald war die ganze Gegend nur noch ein mit wagrechten Linien schraffiertes
Bild vor dem Fenster, so rasend geschwind und für den Blick nicht mehr zu
unterscheiden folgten die vom Sturm losgerissenen Grasbüschel einander.

Sogar der Friedhof mußte bereits unterwühlt und bloßgelegt worden sein,
denn Leichensteine, Bretter von Särgen, Kreuze und eiserne Grablaternen
flogen am Hause vorüber, -- ohne die Richtung zu ändern, ohne sich zu heben
oder zu senken, immer gleich wagrecht, als hätten sie kein Gewicht.

Hauberrisser hörte das Gebälk im Dachstuhl stöhnen -- jeden Moment
erwartete er, es werde in Trümmer gehen; er wollte hinunterlaufen, um das
Haustor zu verriegeln, damit es nicht aus den Angeln gehoben würde, -- an
der Stubentür kehrte er um: von einer innern Stimme gewarnt, begriff er,
daß, wenn er jetzt die Klinke niederdrückte, die entstehende Zugluft die
Fensterscheiben zertrümmern, die an den Mauern entlang fegenden
Sturmgewalten einlassen und in einem Augenblick das ganze Haus in einen
Schuttwirbel verwandeln mußte.

Nur solange es der Hügel vor dem Anprall des Orkans schützte und die Stuben
durch die verschlossenen Türen wie in Bienenzellen abgeteilt blieben,
konnte es der Vernichtung trotzen.

Die Luft im Zimmer war eiskalt und dünn geworden wie unter einem Vakuum;
ein Blatt Papier flatterte vom Schreibtisch, preßte sich ans Schlüsselloch
und blieb angesaugt daran haften.

Hauberrisser trat wieder zum Fenster und blickte hinaus: Der Sturm war zu
einem reißenden Strom angeschwollen und blies das Wasser aus den Deichen,
daß es wie ein Sprühregen in der Luft zerstäubte; die Wiesen glichen
glattgewalztem, grauglänzendem Samt und da, wo die Pappel gestanden hatte,
stak nur mehr ein Stumpf mit wehendem, faserigem Schopf.

Das Brausen war so gleichförmig und betäubend, daß Hauberrisser allmählich
zu glauben anfing, alles ringsum sei in Totenstille gehüllt.

Erst, als er einen Hammer nahm, um mit Nägeln den zitternden Fensterladen
zu befestigen, damit er nicht eingedrückt würde, merkte er an der
Lautlosigkeit seiner Schläge, wie furchtbar draußen das Getöse sein mußte.

Lange wagte er nicht, den Blick nach der Stadt zu wenden, aus Furcht, die
Nikolaskirche mitsamt dem dicht daneben befindlichen Haus am Zee Dyk, in
dem sich Swammerdam und Pfeill befanden, könnte weggeweht sein, -- dann,
als er zögernd und voll Angst hinschaute, sah er, daß sie wohl noch
unversehrt zum Himmel ragte, aber aus einer Insel von Schutt: -- fast das
ganze übrige Giebelmeer war ein einziger flacher Trümmerhaufen.

»Wieviel Städte mögen heute wohl noch in Europa stehen?« fragte er sich
schaudernd. »Ganz Amsterdam ist abgeschliffen wie ein mürber Stein. Eine
morschgewordene Kultur ist in stiebenden Kehricht aufgegangen.«

Mit einemmal packte ihn die Furchtbarkeit des Geschehnisses in ihrer ganzen
Größe.

Die Eindrücke des gestrigen Tages, die darauf folgende Erschöpfung und das
plötzliche Hereinbrechen der Katastrophe hatten ihn in einer
ununterbrochenen Betäubung erhalten, die jetzt erst von ihm wich und ihn
wieder zu klarem Bewußtsein kommen ließ.

Er griff sich an die Stirne. -- »Habe ich denn geschlafen?«

Sein Blick fiel auf den Apfelbaum, der, wie durch ein unbegreifliches
Wunder, in vollem unversehrtem Blütenschmuck prangte.

An seiner Wurzel hatte er gestern die Rolle vergraben, erinnerte er sich,
und es kam ihm vor, als wäre in der kurzen Spanne Zeit inzwischen eine
Ewigkeit verflossen.

Hatte er nicht selbst geschrieben, er besäße die Fähigkeit, sich von seinem
Körper loszulösen?

Warum hatte er es denn nicht getan? Gestern, die Nacht über, heute morgen,
als der Sturm losbrach?

Warum tat er es jetzt nicht?

Einen Augenblick lang glückte es ihm wieder: er sah seinen Körper als
schattenhaftes, fremdes Geschöpf am Fenster lehnen, aber die Welt draußen,
trotz ihrer Verwüstung, war nicht mehr ein gespenstisches, totes Bild wie
früher in solchen Zuständen: eine neue Erde, durchzittert von Lebendigkeit,
breitete sich vor ihm aus -- ein Frühling voll Herrlichkeit, wie sichtbar
gewordene Zukunft, schwebte darüber -- das Vorgefühl eines namenlosen
Entzückens durchbebte seine Brust; alles ringsum schien sich in einer
Vision zu bleibender Deutlichkeit verwandeln zu wollen; -- -- der blühende
Apfelbaum, war er nicht Chidher, der ewig »grünende« Baum?!

Im nächsten Moment war Hauberrisser wieder mit seinem Körper vereinigt und
sah in den heulenden Sturm hinein, aber er wußte, daß sich hinter dem Bild
der Zerstörung das neue verheißungsvolle Land verbarg, das er soeben mit
den Augen seiner Seele geschaut hatte.

Das Herz klopfte ihm vor wilder, freudiger Erwartung: er fühlte, daß er auf
der Schwelle zum letzten, höchsten Erwachen stand -- daß der Phönix in ihm
die Schwingen hob zum Flug in den Äther. Er fühlte die Nähe eines weit über
alle irdische Erfahrung hinausreichenden Geschehnisses so deutlich, daß er
vor innerer Ergriffenheit kaum zu atmen wagte, -- es war fast wie damals im
Park von Hilversum, als er Eva geküßt hatte: dasselbe eisige Fittichwehen
des Todesengels, aber jetzt zog sich gleich einem Blütenhauch die Vorahnung
eines kommenden unzerstörbaren Lebens hindurch; -- die Worte Chidhers: »Ich
werde dir um Evas willen die nimmerendende Liebe geben« drangen an sein
Ohr, als riefe sie der blühende Apfelbaum herüber.

Er gedachte der zahllosen Toten, die unter den Trümmern der verwehten Stadt
dort drüben verschüttet lagen: er konnte keine Trauer empfinden; -- »sie
werden wieder auferstehen, wenn auch in veränderter Form, bis sie die
letzte und höchste Form, die Form des 'erwachten Menschen' gefunden haben,
der nicht mehr stirbt. -- Auch die Natur wird immer wieder jung wie der
Phönix.«

Eine plötzliche Erregung ergriff ihn so gewaltig, daß er glaubte, ersticken
zu müssen: stand nicht Eva dicht neben ihm?

Ein Atemhauch hatte sein Gesicht gestreift.

Wessen Herz schlug so nahe bei seinem, wenn nicht das ihre!?

Neue Sinne, fühlte er, wollten in ihm aufbrechen und ihm die unsichtbare
Welt, die die irdische durchdringt, erschließen. Jede Sekunde konnte die
letzte Binde, die sie ihm noch verhüllte, von seinen Augen fallen.

»Gib mir ein Zeichen, daß du bei mir bist, Eva!« -- flehte er leise. »Laß
meinen Glauben, daß du zu mir kommst, nicht zu Schanden werden.«

»Was wäre das für eine armselige Liebe, die nicht Raum und Zeit überwinden
könnte,« -- hörte er ihre Stimme flüstern, und das Haar sträubte sich ihm
im Übermaß seelischer Erschütterung. »Hier in diesem Zimmer bin ich genesen
von den Schrecknissen der Erde und hier warte ich bei dir, bis die Stunde
deiner Erweckung gekommen ist.«

Eine stille friedvolle Ruhe senkte sich über ihn; er blickte umher: auch in
der Stube dasselbe freudige, geduldige Warten wie verhaltener Frühlingsruf,
-- alle Gegenstände dicht vor dem Wunder einer unbegreiflichen Verwandlung.

Sein Herz schlug laut.

Der Raum, die Wände und Dinge, die ihn umgaben, waren nur äußere,
täuschende Formen für seine irdischen Augen, fühlte er, -- sie ragten
herein in die Welt der Körper wie Schatten aus einem unsichtbaren Reich, --
jede Minute konnte sich ihm die Pforte auftun, hinter der das Land der
Unsterblichen lag.

Er versuchte, sich auszumalen, wie es sein müßte, wenn seine innern Sinne
erwacht sein würden. -- »Wird Eva bei mir sein, werde ich zu ihr gehen und
sie sehen und mit ihr sprechen -- so, wie die Wesen dieser Erde einander
begegnen? -- Oder werden wir zu Farben, zu Tönen, -- ohne Gestalt -- die
sich vermischen? Umgeben uns dann Dinge wie hier, -- schweben wir als
Lichtstrahlen durch den unendlichen Weltenraum, oder verwandelt sich das
Reich des Stoffes mit uns und wir verwandeln uns in ihm?« -- Er erriet, daß
es ein ähnlicher, ganz natürlicher und doch vollkommen neuer, ihm jetzt
noch unfaßbarer Vorgang sein würde, wie vielleicht das Entstehen der
Windhosen, die er gestern aus dem Nichts -- aus der Luft heraus zu
greifbaren, mit allen Sinnen des Leibes wahrnehmbaren Formen sich hatte
bilden sehen, -- aber dennoch konnte er sich keine klare Vorstellung davon
machen.

Das Vorgefühl eines so unsagbaren Entzückens durchzitterte ihn, daß er
genau wußte: die Wirklichkeit des wunderbaren Erlebnisses, das ihm
bevorstand, mußte alles, was er sich auszumalen imstande sei, weit
übertreffen.

                   *       *       *       *       *

Die Zeit verrann.

Es schien Mittag zu sein: -- hoch am Himmel schwebte ein leuchtender Kreis
im Dunst.

Tobte der Sturm noch immer?

Hauberrisser lauschte:

Nichts, woran er es hätte erkennen können. Die Deiche waren leer.
Ausgeblasen. Kein Wasser, keine Spur von Bewegung mehr darin. Kein Strauch,
soweit der Blick reichte. -- Das Gras flach. Nicht eine einzige ziehende
Wolke -- regungsloser Luftraum.

Er nahm den Hammer und ließ ihn fallen -- hörte ihn laut auf dem Boden
aufschlagen: »es ist still draußen geworden,« begriff er.

Nur Zyklone rasten noch in der Stadt, wie er durch das Fernglas erkannte;
Steinblöcke wirbelten empor in die Luft, -- aus dem Hafen tauchten
Wassersäulen, brachen auseinander, türmten sich wieder auf und tanzten dem
Meere zu.

Da! -- War es eine Täuschung? Schwankten nicht die beiden Türme der
Nikolaskirche?

Der eine stürzte plötzlich in sich zusammen; -- der andere flog wirbelnd
hoch in die Luft, zerbarst wie eine Rakete, -- die ungeheure Glocke
schwebte einen Augenblick frei zwischen Himmel und Erde.

Dann sauste sie lautlos herab.

Hauberrisser stockte das Blut:

Swammerdam! Pfeill!

Nein, nein, nein, -- es konnte ihnen nichts geschehen sein: »Chidher, der
Ewige Baum der Menschheit beschirmt sie mit seinen Ästen!« Hatte Swammerdam
nicht vorausgesagt, er werde die Kirche überleben?

Und gab es nicht Inseln, so wie dort der blühende Apfelbaum inmitten des
grünen Rasenflecks, in denen das Leben gegen Vernichtung gefeit war und
aufbewahrt wurde für die kommende Zeit? -- --

Jetzt erst erreichte der Schall der zerschmetterten Glocke das Haus.

Die Mauern erdröhnten unter dem Anprall der Luftwellen: ein einziger,
furchtbarer, erschütternder Ton, daß Hauberrisser glaubte, die Knochen im
Leibe seien ihm wie Glas zersplittert, und einen Moment sein Bewußtsein
schwinden fühlte.

=»Die Mauern von Jericho sind gefallen,«= hörte er die bebende Stimme
Chidher Grüns laut im Raume sagen. -- =»Er ist aufgewacht von den Toten.«=

Atemlose Stille. -- --

Dann schrie ein Kind. -- -- --

Hauberrisser blickte verstört umher.

Endlich kam er zu sich.

Er erkannte deutlich die kahlen, schmucklosen Wände seines Zimmers, und
doch waren es zugleich die Wände eines Tempels mit Fresken ägyptischer
Göttergestalten bemalt; er stand mitten darin -- beides war Wirklichkeit;
er sah die hölzernen Dielen des Bodens und zugleich waren es steinerne
Tempelfliesen, -- zwei Welten durchdrangen einander -- in eine verschmolzen
und doch voneinander getrennt -- vor seinem Blick, als sei er wach und
träume in ein und derselben Sekunde; er fuhr mit der Hand über den Kalk der
Wand, fühlte die rauhe Fläche und hatte dennoch die untrügliche Gewißheit,
daß seine Finger eine hohe goldene Statue berührten, die er als die Göttin
Isis, auf einem Throne sitzend, zu erkennen glaubte.

Ein neues Bewußtsein war zu seinem gewohnten, menschlichen, das er bisher
besessen, dazu getreten -- hatte ihn mit der Wahrnehmung einer neuen Welt
bereichert, die die alte in sich schlang, berührte, verwandelte und dennoch
auf wunderbare Weise fortbestehen ließ.

Sinn für Sinn wachte doppelt in ihm auf -- wie Blüten, die aus Knospen
hervorbrechen.

Schuppen fielen ihm von den Augen; wie jemand, der ein ganzes Leben
hindurch alles nur in Flächen wahrgenommen hat und dann mit einem Schlage
eine räumliche Gestaltung sich daraus bilden sieht, konnte er lange nicht
fassen, was sich begeben hatte.

Allmählich begriff er, daß er das Ziel des Weges, den zu Ende zu gehen der
verborgene Daseinszweck jedes Menschen ist, erreicht hatte: ein Bürger
zweier Welten zu sein. -- -- -- --

Wieder schrie ein Kind.

                   *       *       *       *       *

Hatte Eva nicht gesagt, sie wolle Mutter sein, wenn sie wieder zu ihm käme?
-- Wie Schrecken durchfuhr es ihn.

Hielt die Göttin Isis nicht ein nacktes, lebendiges Kind im Arm?

Er hob den Blick zu ihr und sah sie lächeln. --

Sie bewegte sich.

Immer schärfer, farbiger und klarer wurden die Fresken, -- heilige Geräte
standen umher. So deutlich war alles, daß Hauberrisser den Anblick des
Zimmers darüber vergaß und nur mehr den Tempel und die rot und goldene
Malerei ringsum erkannte.

Geistesabwesend starrte er in das Antlitz der Göttin und langsam, langsam
kam es wie eine dumpfe Erinnerung über ihn: Eva! -- Das war doch Eva und
nicht die Statue der ägyptischen Göttin, der Mutter der Welt!

Er preßte die Hände an die Schläfen -- konnte es nicht fassen.

»Eva! Eva!« schrie er laut auf.

Wieder traten die kahlen Mauern der Stube durch die Tempelwände hindurch,
die Göttin thronte noch immer lächelnd darin, aber dicht vor ihm, seinem
Schauen leibhaftig und wirklich, stand als irdisches Ebenbild die
Erscheinung eines jungen, blühenden Weibes. -- --

»Eva! Eva!« -- mit einem jauchzenden Schrei grenzenlosen Entzückens riß er
sie an sich und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen -- »Eva!« -- -- -- --

Dann standen sie lang, eng umschlungen vor dem Fenster und sahen zu der
toten Stadt hinüber.

»Helft, wie ich, den kommenden Geschlechtern ein neues Reich aus den
Trümmern des alten wieder aufzubauen,« fühlte er einen Gedanken, als sei es
die Stimme Chidhers, sagen, »damit die Zeit anbricht, in der auch ich
lächeln darf.«

Das Zimmer und der Tempel waren gleich deutlich geworden.

Wie ein Januskopf konnte Hauberrisser in die jenseitige Welt und zugleich
in die irdische Welt hineinblicken und ihre Einzelheiten und Dinge klar
unterscheiden:

   er war hüben und drüben
   ein lebendiger Mensch.




Anmerkungen zur Transkription


Die Schreibweise des Namens Klinkherbogk wurde vereinheitlicht und
fehlende Anführungszeichen wurden stillschweigend ergänzt. Alle anderen
zahlreichen Varianten der Schreibung von Namen und Ortsbezeichnungen
wurden belassen wie im Original. Auch Varianten der Schreibung von
fremdsprachigen Worten wie Mynheer/Mijnheer, die zu verschiedenen Zeiten
üblich waren, wurden übernommen. Andere offensichtliche Fehler wurden,
teilweise unter Verwendung späterer Ausgaben, korrigiert wie hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 3]:
   ... »Tegen het Licht te bekijken. Voor Gourmands.« ...
   ... »Tegen het licht te bekijken. Voor Gourmands.« ...

   [S. 18]:
   ... Die Farbe der Haut spielte ins olive und war ...
   ... Die Farbe der Haut spielte ins Olive und war ...

   [S. 24]:
   ... im Café »de vergulde Turk«, einem dunkeln, ...
   ... im Café »De vergulde Turk«, einem dunkeln, ...

   [S. 24]:
   ... winkligen und veräucherten Lokal, das versteckt ...
   ... winkligen und verräucherten Lokal, das versteckt ...

   [S. 24]:
   ... -- »Garnaale, Garnaale,« dröhnte der Brummbaß ...
   ... -- »Garnalen, garnalen,« dröhnte der Brummbaß ...

   [S. 25]:
   ... vorüber. »Banaantje, Banaantje«, quietschte ...
   ... vorüber. »Banaantjes, banaantjes«, quietschte ...

   [S. 29]:
   ... laut und brüsk: »da hast du zwanzig Zents ...
   ... laut und brüsk: »da hast du zwanzig Cents ...

   [S. 38]:
   ... Ein Herr in weißem Flanellanzug, roter Kravatte, ...
   ... Ein Herr in weißem Flanellanzug, roter Krawatte, ...

   [S. 44]:
   ... Mißmutig schlürfte er seinen Sherry-Cobler. ...
   ... Mißmutig schlürfte er seinen Sherry-Cobbler. ...

   [S. 54]:
   ... den messingnen Krulltjes an den Schläfen und ...
   ... den messingnen Krulletjes an den Schläfen und ...

   [S. 59]:
   ... das Publikum verständnislos dem in deutscher ...
   ... das Publikum verständnislos den in deutscher ...

   [S. 60]:
   ... Lumpensammlerehepaar sang »met Piano Begeleidingen« ...
   ... Lumpensammlerehepaar sang »met pianobegeleiding« ...

   [S. 61]:
   ... De Burgemeester trekt erin. ...
   ... De burgemeester trekt er in.« ...

   [S. 67]:
   ... Vielleicht in einer Hafenschenke am Nieuve ...
   ... Vielleicht in einer Hafenschenke am Nieuwe ...

   [S. 80]:
   ... Sie hätten es in Leyden in der Oudhedenschen Sammlung ...
   ... Sie hätten es in Leyden in der Oudheden-Sammlung ...

   [S. 86]:
   ... Amsterdam auf ponnybespannten Wagen abends ...
   ... Amsterdam auf ponybespannten Wagen abends ...

   [S. 92]:
   ... enthielt: Hipocampa Milhauseri -- das ist nämlich ...
   ... enthielt: Hybocampa Milhauseri -- das ist nämlich ...

   [S. 97]:
   ... »Hier verkoopt men starke drenken« verriet, daß ...
   ... »Hier verkoopt men sterke dranken« verriet, daß ...

   [S. 97]:
   ... Haube und »Krulltjes« an den Ohren ...
   ... Haube und »Krulletjes« an den Ohren ...

   [S. 99]:
   ... heute noch kennen lernen. Er wohnt ober ...
   ... heute noch kennen lernen. Er wohnt über ...

   [S. 105]:
   ... alte Holländerin, begütigend Fräulein von Druysen, ...
   ... alte Holländerin, begütigend Fräulein von Druysen ...

   [S. 158]:
   ... zu halten und den Gedanken für ein Hirngespinnst. ...
   ... zu halten und den Gedanken für ein Hirngespinst. ...

   [S. 161]:
   ... hin und herschwankte, sich dann mit dem ...
   ... hin- und herschwankte, sich dann mit dem ...

   [S. 165]:
   ... Hosen wird er verlieren. A propos, hast du seine ...
   ... Hosen wird er verlieren. À propos, hast du seine ...

   [S. 170]:
   ... -- Du scheinst überhaupt nicht zu ahnen, wie unungeheuer ...
   ... -- Du scheinst überhaupt nicht zu ahnen, wie ungeheuer ...

   [S. 175]:
   ... Zusamenhang mit der vermutlich kommenden ...
   ... Zusammenhang mit der vermutlich kommenden ...

   [S. 180]:
   ... durfte, als Mädchen in ihrer seelischen Feinfühlichkeit ...
   ... durfte, als Mädchen in ihrer seelischen Feinfühligkeit ...

   [S. 185]:
   ... wärend in Wirklichkeit Sie selbst es wären.« ...
   ... während in Wirklichkeit Sie selbst es wären.« ...

   [S. 216]:
   ... schelsüchtig, gierig und mordbereit, machten ...
   ... scheelsüchtig, gierig und mordbereit, machten ...

   [S. 221]:
   ... mutigen Gesichter immer näher komen. ...
   ... mutigen Gesichter immer näher kommen. ...

   [S. 225]:
   ... ein Frauenzimmer mit rotem, kurzen Rock mitleidig ...
   ... ein Frauenzimmer mit rotem, kurzem Rock mitleidig ...

   [S. 229]:
   ... In der Station Wesperpoort, die der Mitte ...
   ... In der Station Weesperpoort, die der Mitte ...

   [S. 245]:
   ... und ich mich mit Grübeln zerquält, womit ich ...
   ... und mich mit Grübeln zerquält, womit ich ...

   [S. 258]:
   ... getan; Sie wären so etwas in Ihren Jahren ...
   ... getan; Sie wären zu so etwas in Ihren Jahren ...

   [S. 271]:
   ... inneren Leben nötig sei, sich zu sehnen. Jetzt ...
   ... inneren Lebens nötig sei, sich zu sehnen. Jetzt ...

   [S. 274]:
   ... Rache ich mein. Und dann --« -- das freundliche ...
   ... Rache is mein. Und dann --« -- das freundliche ...

   [S. 291]:
   ... die seltsamste Wandlung, vollzieht, die dir geschehen ...
   ... die seltsamste Wandlung vollzieht, die dir geschehen ...

   [S. 293]:
   ... Der Pönix ...
   ... Der Phönix ...

   [S. 309]:
   ... haben sie mich beraubt, -- jetzt bereichern, sie ...
   ... haben sie mich beraubt, -- jetzt bereichern sie ...

   [S. 310]:
   ... benötigt, -- aber auch die stattgefressene ...
   ... benötigt, -- aber auch die sattgefressene ...

   [S. 323]:
   ... »Ea! Eva! Geh nie wieder von mir!« -- ...
   ... »Eva! Eva! Geh nie wieder von mir!« -- ...

   [S. 325]:
   ... blonden, seidenen Strähne, die vor seinen ...
   ... blonden, seidenen Strähnen, die vor seinen ...

   [S. 326]:
   ... nicht Tag.« -- »Und da drüber auf dem Schreibtisch ...
   ... nicht Tag.« -- »Und da drüben auf dem Schreibtisch ...

   [S. 328]:
   ... Wo ich auf Erde eine Liebe keimen sehe, die ...
   ... Wo ich auf Erden eine Liebe keimen sehe, die ...

   [S. 331]:
   ... packt es mich jedesmal wie -- wie Angst«! -- ...
   ... packt es mich jedesmal wie -- wie Angst!« -- ...

   [S. 331]:
   ... Begebnis, daß Ihren Glauben doch in ...
   ... Begebnis, das Ihren Glauben doch in ...

   [S. 331]:
   ... Leben bringen' -- beweist es.« ...
   ... Lebens bringen' -- beweist es.« ...

   [S. 338]:
   ... im Innnern der Kirche ein Licht, in den nächtlichen ...
   ... im Innern der Kirche ein Licht, in den nächtlichen ...

   [S. 341]:
   ... ihn zum König von Sululand zu machen -- das ...
   ... ihn zum König von Zululand zu machen -- das ...

   [S. 368]:
   ... »o sanktissima, o pi -- issima, dulcis virgo ...
   ... »o sanctissima, o pi -- issima, dulcis virgo ...

   [S. 374]:
   ... schwarze, breite Spuren unter dem ausgerissenem ...
   ... schwarze, breite Spuren unter dem ausgerissenen ...

   [S. 382]:
   ... von seinen Augen: fallen. ...
   ... von seinen Augen fallen. ...

   [S. 382]:
   ... Ein stille friedvolle Ruhe senkte sich über ihn; ...
   ... Eine stille friedvolle Ruhe senkte sich über ihn; ...






End of the Project Gutenberg EBook of Das grüne Gesicht, by Gustav Meyrink

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GRÜNE GESICHT ***

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Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


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