Sämtliche Werke 5-6: Die Dämonen

By Fyodor Dostoyevsky

The Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 5-6: Die Dämonen, by 
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Title: Sämtliche Werke 5-6: Die Dämonen

Author: Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Contributor: Dmitri Mereschkowski

Editor: Arthur Moeller van den Bruck

Translator: E. K. Rahsin

Release Date: April 23, 2020 [EBook #61906]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 5-6: DIE DÄMONEN ***




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                   F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

            Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
                herausgegeben von Moeller van den Bruck

                      Übertragen von E. K. Rahsin


               Erste Abteilung: Fünfter und sechster Band


                           F. M. Dostojewski




                              Die Dämonen


                                 Roman


                     R. Piper & Co. Verlag, München


                  R. Piper & Co. Verlag, München, 1921
                          11. bis 20. Tausend


                   Copyright 1921 by R. Piper & Co.,
                           Verlag in München.


                               ............

             >Herr, wir haben in dem Dunkel
             uns verirrt. Was tun wir nun?
             Jede Wegspur ist verloren!
             Teufel haben ganz gewiß
             uns hier auserkoren, --
             zerren jetzt und drehen uns
             mit Dämonenmacht
             wohl zickzack im Kreis herum,
             in dem Schneesturm und der Nacht.

                               ............

             Wieviel sind's? Wohin die Hetze?
             Und was singen sie im Trab?
             Feiern sie heut Hexenhochzeit?
             Oder tanzen sie ums Grab,
             das sie grad' dem Hausgeist graben?<

                               ............

                                              _A. Puschkin._

          Es war aber daselbst eine große Herde Säue an der
          Weide auf dem Berge. Und sie baten ihn, daß er
          ihnen erlaubte, in dieselben zu fahren. Und er
          erlaubte ihnen.

          Da fuhren die Teufel aus von dem Menschen, und
          fuhren in die Säue; und die Herde stürzte sich vom
          Abhange in den See, und ersoffen.

          Da aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen
          sie, und verkündigten's in der Stadt und in den
          Dörfern. Da gingen sie hinaus, zu sehen, was da
          geschehen war, und kamen zu Jesu, und fanden den
          Menschen, von welchem die Teufel ausgefahren waren,
          sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und
          vernünftig, und erschraken.

          Und die es gesehen hatten, verkündigten's ihnen,
          wie der Besessene war gesund worden.

                            Evangel. Lukä, Kap. VIII, 32--37
                          (nach der Übersetzung von Luther).




                                 Inhalt


                                                                   Seite
   Dostojewski, der Nihilismus und die Revolution. Von M. v. d.       IX
      B.
   Vorbemerkung                                                    XXIII
   Personen-Verzeichnis                                             XXXI

    1.  Kapitel: Statt einer Einleitung: einiges Ausführliche aus      1
           der Biographie des wohlachtbaren Stepan
           Trophimowitsch Werchowenski
    2.  Kapitel: Prinz Heinz. Die Brautwerbung                        59
    3.  Kapitel: Fremde Sünden                                       110
    4.  Kapitel: Die Hinkende                                        175
    5.  Kapitel: Die »allwissende Schlange«                          229
    6.  Kapitel: Die Nacht                                           304
    7.  Kapitel: Die Nacht (Fortsetzung)                             384
    8.  Kapitel: Das Duell                                           426
    9.  Kapitel: Alle in Erwartung                                   446
   10.  Kapitel: Vor dem Fest                                        485
   11.  Kapitel: Pjotr Stepanowitsch in Tätigkeit                    521
   12.  Kapitel: Bei den Unsrigen                                    595
   13.  Kapitel: Zarewitsch Iwan                                     636
   14.  Kapitel: Wie Stepan Trophimowitsch beschlagnahmt wurde       654
   15.  Kapitel: Die Flibustier. Der verhängnisvolle Morgen          670
   16.  Kapitel: Die Matinee                                         709
   17.  Kapitel: Das Ende des Festes                                 760
   18.  Kapitel: Ein beendeter Roman                                 813
   19.  Kapitel: Der letzte Beschluß                                 847
   20.  Kapitel: Die Reisende                                        887
   21.  Kapitel: Die mühevolle Nacht                                 940
   22.  Kapitel: Stepan Trophimowitschs letzte Reise                 995
   23.  Kapitel: Der Schluß                                         1052

    1.  Anhang: Material zum Roman »Die Dämonen«. Aus den           1073
           Notizbüchern F. M. Dostojewskis
    2.  Anhang: Bruchstück aus einem bisher unveröffentlichten      1121
           Kapitel des Romans »Die Dämonen«
   Anmerkung                                                        1139




            Dostojewski, der Nihilismus und die Revolution.


Der Keim des Nihilismus lag bereits im Sektenwesen. Die Raskolniki haben
zuerst durch das russische Volk eine revolutionäre Stimmung getragen und
religiösen Aufruhr verbreitet. Weil der Russe rechtgläubig bleiben
wollte, wurde er altgläubig, um andersgläubig und schließlich ungläubig
zu werden. Der Raskol war ursprünglich ein Kampf des Volkes um seine
einzige Bildung: die geistliche. Es war ein Kampf um das Wenige, das
Arme im Geiste besaßen, die an Vorstellungen nicht rühren lassen
wollten, in die sie sich durch Jahrhunderte eingewöhnt hatten: an
Ritual, Legende und Text. Es war ein Kampf, der zu keiner Reformation
führte, sondern zum Schisma, und schließlich zur Häresie. Aber in diesem
Kampfe standen Beschränkte wie Besessene, und standen wild bis zum
Fanatismus. Das Ende der Zeiten, das tausendjährige Reich, der
Antichrist auf Erden wurde von ihnen erwartet. Schon hier wird die
Verbindung von Apokalypse und Nihilismus, aber auch Konservativismus
deutlich, die in allen russischen Revolutionen irgendwie wiederkehrt.

Der religiöse Nihilismus wurde allmählich zum politischen Nihilismus.
Als Peter erschien und um weltlicher Reformen willen die Kirche dem
Staate unterwarf, da sah man den Antichrist auch in ihm, dem Zaren. Ja,
schon wagten die Raskolniki in ihrem Kampfe gegen die Kirche auch den
Kampf gegen den Staat. Sie erfuhren Zuzug aus allen Kreisen, die in
Reibung mit der Obrigkeit lagen. Im Raskol sammelten sich die
Unzufriedenen des Landes. Es kam, wer ein schlechtes Gewissen hatte. Es
kam der Beamte, der veruntreut, und der Bauer, der aufbegehrt hatte. Es
kam der Soldat, der seiner Truppe entlaufen war. Es kamen Strelitzen,
denen dem Blutgerichte von Moskau zu entrinnen gelang. Es kamen
kosakische Freibeuter, aber auch ukrainische Patrioten, Leute aus der
Anhängerschaft schon des Stenka Rasin und wieder des Mazeppa. Es kamen
die Barfüßler. Es kamen Verbrecher. Es kamen Mörder, Räuber und Diebe,
sie alle, denen der Kettenweg nach Sibirien drohte. Sie alle kamen und
wurden hier Brüder vom Gesindel, doch Brüder in Freiheit.

Die Form dieser Brüderschaft war noch nicht die der Verschwörung. Aber
die Taktik der Nihilisten kündigte sich schon unter den Sektierern an.
Geheime Beziehungen wurden zwischen den Gemeinden unterhalten, wie
hernach zwischen den »Gruppen«. Verfolgte wurden verborgen, falsche
Pässe wurden ausgefertigt, und wie man später Proklamationen zusteckte,
so wurden damals Hostien, Reliquien und verbotene Postillen
geschmuggelt. In den geläuterten Brüderschaften der Stundisten, der
Molokanen oder der Duchoborzen, deren Anhänger sich um ein
ausgeklügeltes Sonderideechen zu sammeln pflegten, wurde
dieser religiöse Nihilismus schließlich ganz brav, ehrbar und
pietistisch-tugendhaft. Aber auch von ihnen, freilich auch von den
Popenfamilien, in denen auf den orthodoxen Vater der problematische Sohn
folgte, ging die nihilistische Unterschichtung des russischen Volkes
weiter aus. Noch Raskolnikoff, in dessen Hirn statt der harmlosen
Beunruhigung, wie man den Namen des Heilandes richtig zu schreiben habe,
die gefährliche Frage nach Gut und Böse wühlte, trug von den Raskolniki
den Familiennamen und gehörte ihnen nicht nur nach der Abstammung
sondern auch in der Anlage an.

Der Dämon des Nihilismus war in einer noch mittelalterlichen Zeit wie
ein unheimliches Tier gewesen. In der Zeit der Dekabristen sah man ihn
in byronischer Gestalt unter jungen Enthusiasten umgehen. Die
Dekabristen waren entzückte Jünglinge, die von der französischen
Revolution freisinnige Begriffe gelernt und aus den europäischen
Feldzügen fortschrittliche Vorstellungen mitgebracht hatten. Von ein
paar idealen Forderungen, Aufhebung der Zensur und Öffentlichkeit des
Gerichts, erhofften sie eine Besserung der schlechten russischen Welt.
Aber sie hatten keine bestimmte politische Idee. Daran scheiterten sie.
Die jungen Politiker und radikalen Ideologen der vierziger Jahre dagegen
kamen in Debattierklubs zusammen. Alle ernsten Elemente, die suchten,
die sich vorwärtstasteten, freilich auch alle, die in die Irre gingen,
sammelten sich in diesen Debattierklubs, deren einer unter dem Namen der
Petraschewzen deshalb berühmt geworden ist, weil Dostojewski in die
Geschichte der Verschwörung verwickelt wurde, die man seinen Mitgliedern
anhing. Dostojewski meinte diese Zeit der Unruhe in Rußland, des
Übergangs und der Ungewißheit, als er schrieb: »damals gab es unter den
jungen Leuten sehr, sehr viele, die von irgend etwas durchdrungen waren,
die irgend etwas erwarteten ...« Aber auch die Petraschewzen hatten noch
keine bestimmte politische oder soziale Idee. Sie beschäftigten sich nur
mit Ideen. Sie lasen die Bücher von Saint-Simon und Proudhon, von Owen
und Fourier. Sie bezogen die »Phalanstère«. Doch eine Einheitlichkeit
der Tendenz gab es in diesen Debattierklubs nicht. Unter die
Einheitlichkeit eines Programms hätte man die Petraschewzen nicht
bringen können. Und für eine Einheitlichkeit der Aktion fehlte jede
Voraussetzung. In seinem Rechtfertigungsschreiben merkte Dostojewski an:
»man kann sagen, daß man dort nicht drei Menschen fand, die in
irgendeinem Punkte über ein beliebig aufgegebenes Thema
übereinstimmten.«

Es war die Zeit der literarisch-politischen Forderungen. Auch
Dostojewski hatte damals seine Forderungen. Und er hatte, er leugnete es
nicht, seine Klagen. Er sprach im Kreise der Petraschewzen für die
Aufhebung der Leibeigenschaft und hielt die Bauernbefreiung für
unumgänglich. Aber er tat es nicht als Liberaler aus einer Lehrmeinung,
die ihre Grundsätze liebt, sondern als Russe aus Liebe für das Volk. Er
wollte die Menschen befreien, aber er wollte es in Volklichkeit und
nicht durch Vergesellschaftung. Auch er las die Bücher der Sozialisten,
weil sie, wie er sagte, mit Begeisterung für das Wohl der Menschen
geschrieben seien. Aber den Fourierismus lehnte er ab, während
Petraschewski sich für ihn einsetzte. Das Wohl der Menschen schien ihm
in Rußland nur vom Volke aus durch den Staat sichergestellt werden zu
können.

Auch Dostojewski war ein Revolutionär. Als Russe, als russischer Mensch
mit allen seinen russischen Möglichkeiten, die vom Orthodoxen bis zum
Nihilistischen reichen, teilte auch er in einem Winkel, in einer
verborgenen Abgründigkeit seines sehr zusammengesetzten Wesens diese
äußerste aller politischen Möglichkeiten. Als er einmal den Wunsch
äußerte, daß auch die Bauernbefreiung wieder »von oben« gemacht werden
solle, und als dagegengehalten wurde, daß dies wohl niemals geschehen
werde, da entschied er fast zögernd: »Ja -- dann mit Gewalt.« Er selbst
wird in dieser Zeit als ein Mensch geschildert, dessen ganzes Wesen sich
zum Verschwörer geeignet habe, still, wortkarg, nur fähig, unter vier
Augen sich auszusprechen, doch dann, wenn die Rede ihn hinriß, von
mächtiger Überzeugungskraft. Aber Dostojewski war Revolutionär nicht aus
Doktrin, sondern beinahe schon aus jener Pathologie, die es zu einer
Erlösung für den Russen macht, die Krankheit seines Mitmenschen zu
teilen, sie aus Wissen mitzuleiden, und aus Mitleid sich zu empören.
Dostojewski, der die Fähigkeit besaß, jedes Revolutionärtum
mitzuerleben, hatte als Russe vor allem das Erlebnis des Nihilismus, war
mit ihm seelisch vertraut, folgte ihm wahlverwandt. Aber diese
Vielseitigkeit, die nur ein Ausdruck seines Russentums war, schloß
zugleich die Möglichkeit ein, daß er auch den anderen Weg ging, nicht
unbedingt den reaktionären der Uwaroffschen Formel, doch den
konservativen eines wissenden Menschen, der schließlich zum
Großinquisitor führte.

In Sibirien kam Dostojewski dem russischen Volke ganz nahe. In der
Katorga lernte er es in einem täglichen Umgange erst kennen. Und er
erkannte, wie tiefe und starke Menschen es doch in diesem Volke gab, die
voll von der eigenen Echtheit und schweren Ursprünglichkeit einer
besonderen russischen Natur waren. Sie hatten Verbrechen begangen: aber
Dostojewski war Psychologe und Amoralist genug, um den Verbrecher zu
verstehen. Wenn er sie prüfte, dann fand er heraus, daß sie im Grunde
alle gütig waren. Und wenn er die Menschen, mit denen er in der Katorga
zusammentraf, mit den Petersburger Doktrinären verglich, die von
europäischen Konstitutionen und Revolutionen redeten, dann fiel der
Vergleich sehr zuungunsten der Doktrinäre aus. Diese Verbrecher hatten
in ihrem analphabetischen Wesen die Schönheit der autochthonen Kraft vor
jenen voraus. Für diese autochthone Kraft trat Dostojewski in der
Folge ein, wobei er sowohl gegen die Uwaroffs wie gegen die
europäisch-radikalen Elemente zu kämpfen hatte. Mit diesem autochthonen
russischen Volke fühlte er sich verbunden und in der Gewißheit eins, daß
es auch dann, wenn es nicht geneigt sein sollte, das Bestehende zu
erhalten, in seiner Grundlage so unverstörbar sein werde, wie es seiner
noch dunklen Bestimmung sicher sein konnte. Er fühlte voraus, was heute
in Rußland Ereignis geworden ist, fühlte, daß Rußland durch Untergang
werde hindurch gehen müssen, und sagte: »Noch ist die zukünftige,
selbständige russische Idee nicht geboren, nur ist die Erde unheimlich
schwanger von ihr und schon schickt sie sich an, sie unter furchtbaren
Qualen zu gebären.«

Dostojewski liebte das russische Volk wegen seiner angeborenen
Empfänglichkeit für eine naive Sittlichkeit. Aber er erkannte auch, wie
unberechenbar in seinen Trieben, im Widerspruche seiner Leidenschaften,
in der Heftigkeit von Zuneigung oder Abneigung es war. Seine Gier, seine
Fleischlichkeit, seine verhängnisvolle Selbstverschwendung war wie eine
zweite Natur, die eine erste Natur ständig verschlang. Seine
Maßlosigkeit war die Gegenseite seiner Anspruchlosigkeit. Nicht anders
schien sein angeborenes Empörertum nur der Gegensatz zu sein, den ein
Volk, das so unausgeglichen war, ständig aus sich hervorzubringen und
von sich abzustoßen suchte. Dostojewski erkannte, daß ein solches Volk
konservativ gezügelt werden mußte. Und mit einem politischen Denken, das
auf Bindung nicht auf Auflösung gerichtet war, begann Dostojewski, als
er aus Sibirien zurückgekehrt war, in Rußland bewußt zu wirken: mit
einem konservativen Denken, das auf Menschenkenntnis beruhte und von
Volkskenntnis herkam, mit den Überzeugungen eines psychologischen
Konservativismus, der einem Volke entsprach, dessen Wesen selbst ein
ewig beunruhigter und doch wieder hergestellter Konservativismus ist.

In Rußland fand Dostojewski eine völlig veränderte politische Lage vor.
Die Aufhebung der Leibeigenschaft sollte endlich erfolgen. Und manche
andere liberale Reform stand bevor. Aber gleichzeitig hatte unter der
Oberfläche des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, in den
Winkeln, Mansarden und Schlupfwinkeln der Hauptstadt, in den
Verschwörerkreisen der Londoner und Züricher Emigration eine Bewegung
eingesetzt, von der die liberalen Forderungen der vierziger Jahre
bereits anarchisch überboten wurden: die nihilistische. Ihre
Erscheinungen reichten bis in die Zeit der Petraschewzen zurück.
Dostojewski selbst bestätigte den Nihilisten, daß sie von den
Petraschewzen herstammten, obwohl diese noch keine Nihilisten gewesen
seien. Zwar war der Untersuchungsrichter im Petraschewzenprozesse im
Unrecht gewesen, wenn er die wachsende Zahl der von ihren Bauern
erschlagenen Gutsbesitzer, oder die der Brandstiftungen auf dem Lande,
der Diebstähle und Einbrüche, auf die politische Rechnung der
Angeklagten schrieb. Das waren Erscheinungen, die sich ohne Zutun der
Petersburger Doktrinäre aus dem tumultuarischen Zuge der Bauernbewegung
ergaben, die der Aufhebung der Leibeigenschaft voranging und die nicht
mit ihr aufhörte. Nach wie vor traten Sektiererrevolten hinzu, und noch
immer kam es wie zu Nicolais Zeiten vor, daß die Alt- und
Andersgläubigen sich zu Tausenden zusammenrotteten, um ihre Kirchen vor
Niederlegung zu bewahren, und das Militär, das mit der Exekutive betraut
war, schimpflich davonjagten. Das religiöse Motiv im russischen
Empörertum verband sich mit dem sozialen Motive.

Aber auch manche Vorformen des politischen Nihilismus waren Dostojewski
aus seiner ersten Petersburger Zeit bekannt. Ein Petraschewze hatte
zuerst die Idee der »Fünf« ausgeheckt, die Dostojewski hernach der
Komposition seiner »Dämonen« als Skelett zugrunde legte: die Idee eines
großen politischen Bundes, in dem Gruppen der Tat, die einander nicht
kannten, von geheimnisvoller Oberleitung abhingen. Der Bund nannte sich
die »Gesellschaft der Propaganda« und einer von den Mitgliedern hatte
gar eine »Brüderschaft der Leute von anarchischer Gesinnung zu
gegenseitiger Hilfe« vorgeschlagen. Entwürfe für die Organisation
solcher Verbände wurden ausgearbeitet. Die Aussichten eines Aufstandes
wurden erörtert. Nicht zuletzt gehörten die geheimen Druckereien als
rätselhafte Herkunftsorte massenhafter Flugschriften oder die heimlichen
Versammlungen der Petersburger Gesinnungsgenossen in ingermanländischen
Städten zu den Erscheinungen, die Dostojewski als »Dämonen«motive
herübernehmen und auf den terroristischen Schauplatz einer ungenannten
russischen Gouvernementsstadt verlegen konnte. In der Zeit seiner
Verbannung war die Taktik der Nihilisten ausgebildet worden. Man suchte
eine Verbindung mit Leuten aus dem Volke, um so in den Massen eine
Aufklärung über die Fremdform der russischen Zustände zu verbreiten. Die
Zeit kündigte sich an, in der die Studenten »ins Volk gingen«. Typ wie
Rolle der nihilistischen Studentin bereitet sich vor. In den Städten kam
es zu ersten Arbeiterstreiks. Und schon ging von ersten Attentaten der
Schrecken der nihilistischen Bewegung über das Land aus.

Der Nihilismus hatte noch keine Idee. Als Turgenjeff das Wort und den
Begriff fand, die allmählich auf die ganze Zeitveranlagung und
Geistesverfassung übertragen wurden, da wollte er mit Nihilismus den
russischen Ausdruck des europäischen Positivismus bezeichnen. In der Tat
war der Nihilismus zunächst durchaus aufklärerisch. Er war zu
atheistisch, um religiös zu sein. Er war rein verneinend. Und es hat
lange gedauert, bis er das praktische Christentum Tolstois aufnahm, das
ihn endlich wenigstens mit russischen Gehalten erfüllte. Eine Idee aber
bekam er erst dann, als die Revolution die Klassentheorie für sich in
Anspruch nahm und Marx der Diktator der russischen Ideologen wurde.

Die Nihilisten waren Märtyrer, solange sie um ihrer Ziele willen ihr
eigenes Leben zerstörten. Wie aber -- wenn sie das Leben der anderen
zerstörten! Wie aber -- wenn sie Rußland zerstörten! Auch Dostojewski
hatte, genau wie Tolstoi, und wie jeder Russe, schon aus altruistischen
Gründen in seiner apostolischen Lehre soziale Elemente. Aber das war das
Große an Dostojewski, und das unterscheidet ihn von der Einstellung der
Marxisten, daß er die ökonomischen Probleme eine Schicht tiefer faßte,
als der Sozialismus sie sah und noch heute sieht: nicht im
Wirtschaftlichen, sondern im Menschlichen. Man sollte dem Volke nicht
sein Volkstum nehmen, weil man ihm dann sein Menschentum nahm! Man
sollte nicht Hand an das Volk legen! Und das Volk sollte nicht Hand an
sich selbst legen! Um des Volkes willen nahm Dostojewski den Kampf gegen
den Radikalismus auf. In seinen politischen Schriften untersuchte er den
Urgrund, auf dem Rußland steht, und brachte dessen ewige Gegebenheiten
in eine Übereinstimmung mit seinen eigenen menschlichen Erlebnissen, die
ihn einmal sagen ließ, daß »wir Revolutionäre aus Konservativismus
sind«, d. h. Kämpfer für das urrussische Wesen, zu dem die europäische
Staatsauffassung, Liberalismus und Parlamentarismus, ebensowenig paßte,
wie etwa die europäische Tracht. In den »Dämonen« aber ließ er Schatoff,
den Russengläubigen, diesen Einzigen, dem er je die verhaltene
Begeisterung eines volksuchenden Helden gab und dessen Gestalt er wie
die eines Jüngers liebte, das Wort sagen: »Wer kein Volk hat, der hat
auch keinen Gott.« Dostojewski stand in seinem Kampfe mit der
Leidenschaft eines Eiferers, mit den ungeheuren Kräften, die der
schwächliche Mensch aus der Idee holt, von der er besessen ist. Als
Fanatiker hatte er die Massivität nicht, um das Volk durch Reform vor
der Revolution zu bewahren. Und als Erscheinung blieb Dostojewski in der
Reihe der großen Problematiker, die von Rousseau bis Nietzsche geht,
wenn er auch als Dichter die epische Form und als Denker das
apostolische Wort vor ihnen voraus hat. Aber als Mystiker wußte er, daß
der Mensch seiner Unvollkommenheit überantwortet ist. Als Politiker ging
er davon aus, daß jede Opposition, die der Mensch aus Doktrin an den
Unterbau und das Gefüge des Seienden setzt, nur die geringe Wichtigkeit
eines Endlichen haben kann, die von einem Unendlichen eingeschlossen
wird. Und als Russe verkündete er dem russischen Volke, in dessen
Glauben allein sich das Christentum unversehrt erhalten habe, daß es das
Gottesträgervolk der Erde sei, das dereinst dieses Christentum
verwirklichen und die Eigenliebe durch die Menschenliebe überwinden
werde. Es ist wahr, Dostojewski ging in seinem Kampfe, den er mit Hohn
und jeder geistigen Überlegenheit führte, mit einfachen Menschen
zusammen, mit echtrussischen Leuten, mit allzu russischen Leuten. Er
ging mit dem Inquisitor Pobjedonosszeff zusammen. Auch dieses Wissen war
in seiner Menschenkenntnis, in seiner Russenkenntnis, daß der russische
Mensch sogar für die Liebe zu schwach ist, die ihm gebracht wird, und
daß sich mit ihr, wenn man sie nicht an den Menschen verschwenden,
sondern ihn durch Liebe behaupten will, Macht über den Menschen
verbinden muß.

Dostojewski erkannte früh, daß Radikalismus nicht Wurzelung sondern
Entwurzelung bedeutet. Was war es denn schließlich, das der Radikalismus
in Rußland entwurzeln wollte? War es nicht: die europäische Form? Um so
zorniger war daher sein Kampf gegen die halbgebildeten Radikalen und
europaverehrenden Westler, weil sie diese europäische Form auch noch in
ihren letzten und schalsten Äußerungen -- als Republik, als
Konstitutionalismus und Kapitalismus -- auf atheistischer Grundlage in
Rußland einführen wollten. Er fühlte, daß die russische Revolution
kommen werde. Dostojewski war kein Pazifist und fürchtete niemals den
Krieg. Er sagte: »Nicht immer muß man den Frieden predigen, und nicht im
Frieden allein liegt die Erlösung -- die kann zuweilen auch der Krieg
bringen.« Aber er fühlte, daß diese Revolution die Erlösung noch nicht
bringen werde. Er fürchtete die Revolution um Rußlands willen. Er
fürchtete sie, weil er ihre Träger kannte, die er dann in den »Dämonen«
in einer Reihe von Karikaturen vorführte, von absonderlichen und
lächerlichen, aber gefährlichen Gestalten. Er deckte in den »Dämonen«
die Zusammenhangslosigkeit des gottlosen und volklosen Nur-Ich-Menschen
auf, die ihn aus seiner Natur reißt und in Tendenzen absondert. Er
deckte die Wurzellosigkeit auf.

Die russische Revolution hat Dostojewski bis jetzt recht gegeben. Hinter
ihrem ersten Abschnitte stand Tolstoi. Sie kam aus der Aufklärung. Und
sie bedeutete die Auflösung. Aber in dem Augenblicke, in dem sich
entscheidet, daß auch sie nicht nur Zerfall bringt, sondern daß nach
grausamer Umschichtung ein Aufbau aus ihr hervorgeht, wird hinter ihrem
zweiten Abschnitte wieder Dostojewski stehen. Er bedeutet
Wiederanknüpfung.

                                                           M. v. d. B.




                              Vorbemerkung


Von Dostojewskis fünf großen Romanen ist der dritte, »Die Dämonen«, in
den Jahren 1870 und 71 in Dresden geschrieben, in Petersburg beendet und
1871/72 in der konservativen Zeitschrift »Der russische Bote«
veröffentlicht worden.

Die beiden Strophen des ersten Mottos hat Dostojewski der Ballade
»Bjéssy« von A. Puschkin entnommen und deren Titel auch zum Titel des
Romans gewählt: mit »Bjéssy« bezeichnet der Russe gewisse böse Geister,
Dämonen oder Teufel von der Art, die im zweiten, dem Evangelium Lucä
entnommenen Motto, in die Säue fährt; in der schönen Ballade Puschkins
(geschr. 1829), die eine Schneesturmnacht in der Steppe schildert, sind
es unzählige tolle Gespenster, von denen sich der Kutscher eines
reisenden Herrn wie von Troßbuben des Teufels genarrt und vom Wege
weggezerrt glaubt. Die Strophen des Mottos sind ein Teil der hilflosen
Antwort des Kutschers auf den Befehl des Herrn (des Dichters), doch
weiterzufahren.

Im »Ersten Anhang« sind aus Dostojewskis Notizbuchaufzeichnungen
Entwürfe und Gedanken mitgeteilt, die Dostojewski ursprünglich in den
»Dämonen« zu entwickeln gedachte, sowie einige Skizzen zu den
Hauptpersonen, die von ihm später teils in starker Veränderung, teils
überhaupt nicht verwandt worden sind.

Im »Zweiten Anhang« konnte nur der Anfang eines von Dostojewski nicht
veröffentlichten Kapitels mitgeteilt werden: der Besuch Stawrogins bei
dem Bischof Tichon. Das Manuskript des größeren Teiles dieses
wichtigsten Kapitels wird im Moskauer Dostojewski-Museum aufbewahrt:
sein Inhalt ist bisher nur der Familie und einigen alten Freunden
Dostojewskis bekannt. Wie Dostojewskis Tochter in ihrem (deutsch bei E.
Reinhardt, München erschienenen) Buch »Dostojewski« Seite 180 berichtet,
hat ihre Mutter dieses ganze Manuskript zu Anfang dieses Jahrhunderts
veröffentlichen wollen, doch die alten Freunde ihres Mannes hätten sich
der Veröffentlichung widersetzt. Das hat übrigens bald nach Dostojewskis
Tode 1881 auch sein konservativer Freund N. N. Strachoff getan.

Nach Dostojewskis eigenen Angaben handelt es sich hier um eine Broschüre
Stawrogins von etwa 60 deutschen Druckseiten, also dem Umfange nach um
ein ähnliches Buch im Buche wie Iwan Karamasoffs »Legende vom
Großinquisitor«. Bekannt geworden ist sonst nur, daß in dieser Schrift
von Stawrogin die Vergewaltigung eines Mädchens mit unerträglichem
Realismus geschildert sei. Nun ist es aber Dostojewskis Art, bestimmte
Ideen -- seine stärksten und revolutionärsten -- immer in einer
ähnlichen, so auffallend vorsichtigen Form zu bringen, sei es als Traum
oder Halluzination, oder als Jugendwerk eines seiner Helden, mit der
Entschuldigung, der Betreffende sei damals noch sehr jung gewesen, wie
z. B. Iwan Karamasoff, oder krank, wie Hippolyt oder Stawrogin, er aber,
Dostojewski, teile nur als Chronist diese sonderbaren Gedanken einzelner
Menschen unserer Zeit mit. Man darf demnach wohl annehmen, daß es sich
auch in dieser noch geheimgehaltenen Broschüre Stawrogins, die
Dostojewski »eine Herausforderung der Gesellschaft« nennt, nicht nur um
die realistische Schilderung einer Episode handelt, sondern daß diese
Episode nur der Ausgangspunkt für ihn ist, um der Gesellschaft, den von
ihm so gehaßten _europäischen_ Gesellschaftsgesetzen, den
»Fehdehandschuh hinzuwerfen« (wie in der »Legende vom Großinquisitor«
die Legende nur die Kostümierung seines Kampfes gegen den Katholizismus
oder vielmehr gegen den alttestamentlichen Staats- oder Gesellschaftsbau
ist). Nach einem Überblick über das Gesamtwerk Dostojewskis ist es nicht
schwer zu erraten, worauf Stawrogin-Dostojewski in dieser
unveröffentlichten Schrift hinauswill, hinauswollen muß. Und es ist nur
zu verständlich, daß seine Freunde, wie Strachoff, dem er trotz aller
Freundschaft »doch viel zu unverständlich war«, und der Machthaber
Pobjedonószeff sich _gegen_ die Veröffentlichung dieser
»Herausforderung« aussprachen. Was aber trotzdem von diesem, allen
ehrlich konservativen Menschen »viel zu unverständlichen« Geist
Stawrogin-Dostojewskis in dem Roman »Die Dämonen« verblieben ist, das
sind -- nach dem Fortfall der erwähnten Kampfschrift Stawrogins -- fast
nur ein paar Worte von Schatoff und Drosdoff, die jetzt wie zwei kleine
Inseln daliegen, zwischen denen der Kontinent vorläufig noch versunken
bleibt.

»Die Dämonen« sind auch sprachlich Dostojewskis geheimnisvollstes Werk.
Nicht nur, daß er sich nachlässig ausdrückt (Seite 1 sagt er z. B.: »die
Geschichte _be_schreiben«, statt »schreiben«), daß er wichtige
Satzglieder ausläßt, die unklarsten Sätze baut, -- er hat sich außerdem
noch vielfach der früheren Umschreibungen bedient, zu der die
Schriftsteller von der strengen Zensur unter Nikolai I. gezwungen worden
waren. Er treibt die Vorsicht so weit, daß er z. B. in den ersten
Kapiteln, wo sich fast alles um die innerpolitischen Verhältnisse dreht,
kein einziges Mal das Wort Politik oder politisch braucht. Damit nun die
unzähligen verschleierten Anspielungen dem unorientierten Leser nicht
völlig unklar bleiben, sind dem Text kleine erläuternde Fußnoten
beigefügt worden, eingehendere Erläuterungen dagegen in den »Ersten
Anhang« verwiesen.

Einen Kommentar für sich würden dann noch die Ausfälle
Schatoff-Dostojewskis gegen Belinski und die sogenannten »Westler«
erfordern, d. h. gegen die Verehrer europäischer Kultur, die, im
Gegensatz zu den Slawophilen, zwischen Rußland und Europa keinen
Unterschied sahen und europäische Staatsformen auch für Rußland
erstrebten, während von den Slawophilen besonders Dostojewski hinter
allen parlamentarischen, liberalen Formen der Europäer sein
Schreckgespenst, die Plutokratie, den deshalb so verspotteten
»bürgerlichen« Gesellschaftsbau, nahen sah. Hierzu sei bemerkt, daß es
_vor_ der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland nur zwei Parteien
gab, eine kleine, aber allmächtige, und eine große, aber ohnmächtige,
wie es etwa in einer Korrektionsanstalt (mit der man den Staat Nikolais
I. verglichen hat) vom Standpunkt liberaler Individualisten nur wenige
Unterdrücker und viele Unterdrückte gibt. Mögen die letzteren unter sich
auch noch so verschieden sein, in ihrem Gegensatz zu den Machthabern der
Anstalt sind sie doch alle einig. Dieser einmütige Wille wurde damals
»die Richtung« genannt, von der Liputin Seite 44 spricht. Es gab nur
_eine_ »Richtung«, d. h. nur einen Willen: aus dieser Enge
hinauszukommen. Kaum aber hatte sich unter Alexander II. das Tor der
»Korrektionsanstalt« geöffnet, da zeigten sich sofort die großen
Unterschiede innerhalb der Schar der Herausdrängenden, und »_die_
Richtung« begann sich zu verzweigen, zunächst in Slawophile und Westler,
dann aber in die verschiedenen Arten der Slawophilen und Westler
(Monarchisten, Republikaner, Radikale, Kommunisten gab und gibt es bei
diesen und bei jenen, und hinzu kommen dann noch die Unterschiede in der
Einstellung zur Orthodoxie). Die frühere geschlossene Front der einen
»Richtung« gegen Nikolai I., unter dem die Werke der orthodoxen
Slawophilen genau so verboten waren wie die der französischen
Revolutionäre und Atheisten, zerbröckelte zu einem Kampf untereinander,
in dem jeder nach mindestens zwei Seiten kämpfte, wenn nicht nach drei
oder vier Seiten.

»Die Dämonen« sind das Buch der ersten Jahre dieser Kämpfe, in denen die
einzelnen Menschen sich wahrlich nicht nach Parteischlagworten
unterscheiden lassen, sondern nur nach einem inneren anständigen Kern
oder dem Fehlen eines solchen.

Man hat dieses Werk Dostojewskis als ein »Pamphlet gegen alles
Revolutionäre« aufgefaßt, weil einzelne Vertreter einer der
revolutionären Gruppen, die an europäische Schlagwörter glauben,
verhöhnt und entlarvt werden. Doch nichts ist falscher, als den
Verfasser _deshalb_ gleich für konservativ zu halten. Die Konservativen
sind hier ja noch viel schlimmer karikiert. Richtig wäre es, über alles,
was Dostojewski voll Zorn und Spott über diese Art _unwissender_
Revolutionäre geschrieben hat, die Worte zu setzen, mit denen er sich
einmal unbewußt verrät: »... ich ärgerte mich und ich schämte mich fast
für ihre Ungeschicktheit ...« (Bd. XI der Ausgabe, Autobiographische
Schriften, Seite 170).

Es war der Zorn darüber, daß diese »dummen Jungen« die Revolution oder
das »Neue russische Wort« durch ihre törichten Redereien und Taten nur
lächerlich machten, ihm _seine_ große Revolution verpfuschten.

Nur aus dieser Kampfstellung nach links und nach rechts, nach rückwärts
und vorwärts sind die vielfachen sogenannten »Widersprüche« Dostojewskis
in den »Dämonen« zu verstehen oder das parteipolitische Chaos in seinen
Werken. Er schildert z. B. den Revolutionär Pjotr Werchowenski als
ungebildeten Flegel, als gewissenlosen Intriganten, Schurken und
schließlich Mörder, doch vor dem konservativen Vertreter der alten
Ehrbegriffe, Karmasinoff, der »auswandernden Ratte«, wird selbst dieser
»Betrüger« plötzlich zu einer nationalen Größe -- ganz zu schweigen von
den Konflikten, in die Dostojewski sich in den Entwürfen zu diesen
Gestalten (im Ersten Anhang) unverhofft, doch unvermeidlich hineinredet.
Es ist, als ob die kleinen törichten Geisterchen, die Troßbübchen des
Teufels in der tollen Sturmnacht der Revolution, in der keine Spur des
alten Weges mehr zu sehen ist, ihm unter der Hand und vor den Augen
zergingen und er hinter ihrem kleinen dämonischen Eigensinn plötzlich
die Umrisse eines riesigen Dämons zu spüren, zu begreifen beginne, wenn
er den alten Idealisten und Dichter ihnen ihre Torheiten verzeihen läßt.

Inwieweit aber Dostojewski auch hier schon, nicht erst im letzten Bande
der Karamasoff, selber zu jenem riesigen Dämon wird, entzieht sich
vorläufig noch der Beurteilung. Man fasse es nicht als Zufall auf, daß
Stawrogins »Herausforderung« ein halbes Jahrhundert lang vergraben
geblieben ist. Vielleicht ist es selbst heute noch zu früh, die Menschen
aus dem so vielfach verhüllten, geheimnisvollen Becher Dostojewskis
schon _sehend_ trinken zu lassen.

Über die Absicht der Witwe Dostojewskis, dieses Manuskript nunmehr zu
veröffentlichen, und über das vorläufige Scheitern dieses Planes an den
gegenwärtigen russischen Zuständen gibt das S. XXIV erwähnte Buch von
Aimée Dostojewskaja gleichfalls einigen Aufschluß.

Eng verbunden mit Stawrogin ist »sein Schüler« Kirilloff. Dostojewski
hat wohl selbst nicht genau gewußt, warum er diesen so eigentümlich
»falsch« sprechen läßt; er hat wohl nur mit der Sicherheit des Künstlers
empfunden, daß diese Nuance zu dieser Gestalt gehört oder mindestens
paßt.

Kirilloff spricht nicht in der Weise falsch, wie ein Ausländer oder wie
ein Kind. Seine Sprechart, die deutsch in unstilisierter Form wohl kaum
so wiederzugeben wäre, daß sie überhaupt glaubhaft bliebe, läßt sich
kurz nur durch eine Übertreibung charakterisieren: er spricht ungefähr
wie ein Mensch, der die Namen der Dinge nur im Nominativ kennt. Nur
spricht er so nicht mit Fleiß, nicht »stilisiert«, nicht bewußt, ja
vieles sagt er auch ganz richtig wie jeder andere Mensch in der Bindung
der Syntax, mit der richtigen Endung, die die Beziehung der Dinge
angibt; aber zwischendurch ist es immer wieder, als würden aus ihm ganz
unmittelbar nur Tatsachen laut, die das Gefühl hervorstößt, ohne daß das
Gehirn sie einkleidet. Vielleicht läßt sich der Gegensatz
veranschaulichen mit dem Gegensatz zwischen der »beugenden«, die
Beziehung angebenden Buchstabenschrift der Gegenwart und der starren
Bilderschrift der alten Ägypter oder der Chinesen. Wer Rassegesetzen
nachforscht, mag die Angaben über sein dunkles Äußere in Beziehung
bringen zu dem Geist, der diese alten Sprachen schuf; wer sich mit
Kirilloffs Philosophie als heutigem Ausdruck russischen Geistes befaßt,
wird in ihr und dieser Sprechart vielleicht eine Übereinstimmung finden:
nur das Wesentliche des Wortes zu geben, wie nur das Wesentliche der
Welt zu suchen, im Wesen Gottes als Mensch zu vergehn, um Gott auf die
Erde zu bringen.

                                                              E. K. R.




                          Personenverzeichnis
                (unter Angabe der Aussprache der Namen)


   Warwára Petrówna S'tawrógina -- Witwe eines Generals.
   Nicolaí Wsséwolodowitsch S'tawrógin -- ihr Sohn.
   S'tepán Trofímowitsch Werchowénski -- Dichter und Hauslehrer.
   Pjotr S'tepánowitsch Werchowénski -- sein Sohn.
   Praskówja Iwánowna Drósdowa -- Witwe eines Generals.
   Lisawéta Nicolájewna Túschina -- ihre Tochter aus erster Ehe.
   Mawríkij Nicolájewitsch Drósdoff -- Offizier, Neffe des
      verstorbenen Generals Drosdoff.
   Iwán Óssipowitsch *** -- der frühere Gouverneur.
   Andreí Antónowitsch von Lembke -- der neue Gouverneur.
   Júlija Michaílowna von Lembke -- seine Frau.
   Karmasínoff -- ein berühmter Schriftsteller.
   Artémij Páwlowitsch Gagánoff -- Rittmeister a. D.
   Lebäd'kin -- ein angeblicher »Hauptmann a. D.«
   Márja Timoféjewna ... -- seine Schwester.
   Iwán Schátoff             } Kinder eines
   Dárja Páwlowna Schátowa   } verstorbenen Dieners der
      (genannt Dá-scha)      } Stawrógins.
   Márja Ignátjewna Schátowa -- Schátoffs Frau.
   Arína Próchorowna Wirgínskaja -- eine Hebamme.
   Alexeí Nílytsch Kirílloff -- ein Ingenieur.
   Schigáleff -- Verfasser einer Schrift über revolutionäre Theorien.
   Tolkatschénko, Erkel und andere Anhänger revolutionärer Ideen.
   Lipútin   }
   Wirgínski } Beamte.
   Läm'schin }
   Aljóscha Telät'nikoff -- ein ehemaliger Beamter.
   Fédjka -- ein entsprungener Verbrecher.
   Flibustjéroff -- ein Polizeioffizier.
   Ssemjón Jákowlewitsch -- ein »Prophet«.
   Tíchon -- ein im Kloster zurückgezogen lebender Bischof.
   Alexeí Jegórytsch  }
   Nas-táß-ja         }    Dienstboten.
   Agáfja             }

                               Ortsnamen:

Skworéschniki, Dúchowo, Brýkowo; die Fabrik der Brüder Schpigúlin,
Matwéjewo.

   Näheres über die historischen Vorbilder einzelner Gestalten siehe
                            Seite 1118-1120.

Namen einzelner Nebenpersonen hat Dostojewski im Laufe der Erzählung
manchmal unbewußt geändert. So nennt er z. B. den alten Gaganoff anfangs
_Pjotr_ Pawlowitsch, später dagegen _Pawel_ Pawlowitsch und folglich
seinen Sohn Artemij _Pawlowitsch_. Ferner heißt ein Kanzleibeamter des
Gouverneurs zuerst _Blümer_, später _Blüm_. Der Name Kirílloff ist bald
mit zwei, bald mit einem l geschrieben. Um Mißverständnisse infolge
solcher Flüchtigkeiten zu vermeiden, ist in der Übersetzung immer die
erste Form beibehalten worden. E. K. R.




                            Erstes Kapitel.
    Statt einer Einleitung: einiges Ausführliche aus der Biographie
           des wohlachtbaren Stepan Trophimowitsch Werchowenski.


                                   I.

Indem ich mich anschicke, die so seltsamen Ereignisse wiederzugeben, die
sich unlängst in unserer bisher noch durch nichts hervorgetretenen Stadt
zugetragen haben, sehe ich mich gezwungen, da ich mir nicht anders zu
helfen weiß, zunächst etwas weiter auszuholen und mit einigen
biographischen Einzelheiten über den talentvollen und wohlachtbaren
Stepan Trophimowitsch Werchowenski zu beginnen. Mögen diese Einzelheiten
nur als Einleitung zu der geplanten Chronik dienen, doch die Geschichte
selbst, die ich zu beschreiben beabsichtige, beginnt erst später.

Ich will es sogleich ganz offen sagen: Stepan Trophimowitsch spielte
unter uns immer eine gewisse besondere und sozusagen bürgerliche[1]
Rolle und liebte diese Rolle bis zur Leidenschaft, -- liebte sie sogar
so, daß er ohne sie wohl überhaupt nicht hätte leben können. Nicht, daß
ich ihn damit einem Schauspieler auf der Bühne vergleichen wollte: Gott
behüte, das will ich um so weniger, als ich selber ihn ja doch achte.
Hier konnte vielmehr alles Sache der Gewohnheit sein oder, besser
gesagt, die Folge einer immerwährenden, im Grunde edlen Neigung, einer
Neigung schon von Kindheit an, zu der angenehmen Illusion von seiner
schönen bürgerlichen Stellungnahme. So liebte er z. B. ungeheuer seine
Lage als »Verfolgter« und sozusagen »Verbannter«. Um diese beiden
Wörtchen spielt nun einmal ein klassischer Glanz eigener Art[2], und
eben dieser scheint ihn dann, nachdem er ihn einmal bezaubert hatte, im
Laufe so vieler Jahre in seiner Selbsteinschätzung immer mehr erhöht zu
haben, bis er schließlich auf einem gewissen überaus hohen und für die
Eigenliebe so angenehmen Piedestal zu stehen glaubte. In einem
satirischen englischen Roman des vorigen Jahrhunderts hat sich ein
gewisser Gulliver im Lande der Liliputaner, wo die Menschen nur einige
Zoll groß waren, so daran gewöhnt, sich als Riese zu fühlen, daß er auch
in den Straßen Londons unwillkürlich den Passanten und Equipagen zurief,
sie sollten vor ihm ausweichen und sich vorsehen, damit er sie nicht
irgendwie zertrete, denn er hielt sich immer noch für einen Riesen und
die anderen für jene Kleinen. Da lachte man ihn aus und schalt ihn und
die rohen Kutscher schlugen sogar mit der Peitsche nach ihm: aber war
das auch gerecht? Was kann die Gewohnheit nicht alles bewirken? Die
Gewohnheit hatte auch unseren Stepan Trophimowitsch fast zu demselben
Wahn gebracht, wie den Gulliver, nur daß dieser Wahn sich bei ihm in
einer, wenn man sich so ausdrücken darf, unschuldigeren und
unverletzenderen Weise äußerte, denn schließlich war er doch ein
prächtiger Mensch.

Ich denke es mir sogar so: daß man ihn in der Literatur mit der Zeit
allenthalben ganz vergessen hatte; nur darf man deshalb gewiß noch nicht
sagen, daß er auch früher nie bekannt gewesen sei. Unstreitig hat auch
er einmal zu der berühmten Plejade[3] gewisser gefeierter Dichter der
letzten Generation gehört, und eine Zeitlang -- übrigens doch nur einen
allerkleinsten Augenblick lang -- war sein Name von manchen voreiligen
Leuten beinahe schon in einer Reihe mit Tschaadajeff, Belinski,
Granowski und dem damals im Auslande gerade erst beginnenden Herzen[4]
genannt worden. Aber das Wirken Stepan Trophimowitschs endete fast schon
im selben Augenblick, in dem es begonnen hatte, -- es ward, wie er sich
ausdrückte, von einem »Wirbelsturm« zusammentreffender »Umstände«[5]
zerstört. Und was stellt sich nun heraus? Daß es nicht nur keinen
»Wirbelsturm«, sondern nicht einmal »Umstände« damals gegeben hat,
wenigstens nicht in seinem Fall. Ich habe erst jetzt, erst vor ein paar
Tagen, zu meinem größten Erstaunen erfahren, dafür aber mit vollkommener
Glaubwürdigkeit, daß Stepan Trophimowitsch hier bei uns, in unserem
Gouvernement, nicht nur nicht in der Verbannung gelebt hat, wie man hier
allgemein annahm, sondern daß er nicht einmal, gleichviel wann, unter
Aufsicht gestanden hat. Wie groß muß demnach seine Einbildungskraft
gewesen sein! Er glaubte doch vor sich selber aufrichtig und sein Leben
lang, daß man in gewissen Sphären beständig vor ihm auf der Hut wäre,
daß jeder seiner Schritte unablässig beobachtet und vermerkt werde, und
daß jedem der drei Gouverneure, die wir im Laufe der letzten zwanzig
Jahre hier gehabt haben, schon bei der Übergabe des Gouvernements als
erstes von Stepan Trophimowitsch Werchowenski gesprochen worden sei, so
daß jeder neue Gouverneur bereits von dort aus eine gewisse eigene, mit
Sorgen verbundene Vorstellung von ihm mitgebracht habe. Hätte aber
jemand mit unwiderlegbaren Beweisen diesen bei alledem ehrlichsten
Menschen beruhigen und überzeugen wollen, daß ihm nicht das Geringste
drohe, so würde ihn das unbedingt beleidigt haben. Und dabei war er doch
der klügste, der begabteste Mensch, war gewissermaßen sogar ein Mann der
Wissenschaft, obgleich er übrigens in der Wissenschaft ... nun, sagen
wir, nicht gerade viel geleistet hat, oder gar, wie es scheint,
überhaupt nichts. Aber das pflegt ja bei uns in Rußland mit den Männern
der Wissenschaft durchgehends so zu sein.

Nach seiner Rückkehr aus dem Auslande hatte er als Lektor auf dem
Lehrstuhl einer Universität geglänzt, bereits ganz am Ende der vierziger
Jahre. Es gelang ihm aber nur, ein paar Vorlesungen zu halten, ich
glaube, über die Araber; es gelang ihm auch noch, eine glänzende
Dissertation zu verteidigen: über die in der Epoche zwischen 1413 und
1428 aufkeimende kulturelle und hanseatische Bedeutung des deutschen
Städtchens Hanau und zugleich über jene besonderen und etwas unklaren
Gründe, weshalb es zu dieser Bedeutung dann doch überhaupt nicht
gekommen ist. Diese Dissertation traf mit einem feinen Stich geschickt
und schmerzhaft die damaligen Slawophilen und schuf ihm mit einem
Schlage unzählige und grimmige Feinde unter ihnen. Dann -- übrigens
schon nach dem Verlust des Lehrstuhls -- schrieb und veröffentlichte er
noch wahrscheinlich aus Rache und um zu zeigen, wen sie verloren hatten)
in einer fortschrittlichen Monatsschrift, die aus Dickens übersetzte und
George Sand verkündete, den Anfang einer tiefsinnigsten Untersuchung --
ich glaube, über die Gründe der außergewöhnlich edlen sittlichen
Anschauungen irgendwelcher Ritter in irgendeiner Epoche, oder etwas
Ähnliches. Jedenfalls war es ein hoher, ungemein edler Gedanke, den er
darin durchführte. Nur wurde, wie man später erzählte, die Fortsetzung
dieser Untersuchung schleunigst verboten und sogar die fortschrittliche
Zeitschrift soll wegen der gedruckten ersten Hälfte zu leiden gehabt
haben. Das ist auch sehr gut möglich, denn was geschah damals nicht? In
diesem Falle aber ist es doch wahrscheinlicher, daß nichts Derartiges
geschah und nur der Autor selber die Mühe scheute, den Aufsatz zu
beenden. Seine Vorlesungen über die Araber jedoch stellte er deshalb
ein, weil ein von ihm an irgend jemanden geschriebener Brief mit der
Darlegung irgend welcher »Umstände« irgendwie von irgend jemandem
(offenbar von einem seiner reaktionären Feinde) aufgefangen worden war,
woraufhin irgendjemand irgendwelche Erklärungen von ihm verlangte[6].
Ich weiß zwar nicht, ob es wahr ist, aber man behauptete außerdem, daß
gerade damals in Petersburg eine riesige, widernatürliche und
antistaatliche Gesellschaft, bestehend aus nahezu dreizehn Mann,
aufgespürt worden sei, eine Gesellschaft, die das Gebäude fast
erschüttert hätte. Man sagte, sie hätten nichts Geringeres vorgehabt,
als Fourier selber zu übersetzen[7]. Und ausgerechnet zur selben Zeit
mußte dann noch in Moskau eine Dichtung Stepan Trophimowitschs
beschlagnahmt werden, ein Poem, das er schon sechs Jahre zuvor in Berlin
geschrieben hatte, in seiner ersten Jugend, und dessen Abschriften,
unter der Hand weitergegeben, bei zwei Liebhabern der Dichtkunst und
einem Studenten gefunden wurden. Ein Exemplar davon liegt jetzt auch in
meinem Schreibtisch: erst im vorigen Jahre erhielt ich es von Stepan
Trophimowitsch persönlich, in eigenhändiger neuester Abschrift, mit
autographischer Widmung und in prachtvollem roten Saffianeinbande. Das
Poem ist übrigens nicht ohne Poesie, ja es ist nicht einmal ohne ein
gewisses Talent verfaßt, ist allerdings etwas sonderbar, aber damals (d.
h. richtiger in den dreißiger Jahren) wurde oft in dieser Art
geschrieben. Das Thema des Poems wiederzugeben, macht mir freilich
Schwierigkeiten, denn, wenn ich die Wahrheit sagen soll: ich habe es
überhaupt nicht verstanden. Es ist irgend so eine Allegorie in
lyrisch-dramatischer Form, die an den zweiten Teil des Faust erinnert.
Die Dichtung beginnt mit einem Chor der Frauen, dann folgt ein Chor der
Männer, darauf ein Chor irgendwelcher Kräfte, und zum Schluß der Chöre
tritt ein Chor von Seelen auf, die noch nicht gelebt haben, aber doch
gar zu gern auch mal leben möchten. Alle diese Chöre singen von etwas
sehr Unbestimmtem, größtenteils von irgendeinem Fluch, aber sie singen
es wie mit einem Schimmer höheren Humors. Doch plötzlich verwandelt sich
die Szene und es beginnt ein »Fest des Lebens«, auf dem sogar die
Insekten singen; dann tritt eine Schildkröte auf mit allerhand
lateinischen sakramentalen Worten und es singt irgend etwas, wenn ich
mich recht erinnere, sogar ein Mineral, also ein sonst doch schon ganz
unbelebter Gegenstand. Überhaupt singen alle ununterbrochen, reden sie
aber einmal miteinander, so ist es mehr ein unbestimmtes Schimpfen, aber
wiederum wie mit einem Schimmer höherer Bedeutung. Schließlich, nach
einem abermaligen Szenenwechsel, sieht man eine wildromantische Gegend,
in der zwischen Felsen ein zivilisierter junger Mann umherirrt und
irgendwelche Gräser abreißt, an denen er dann saugt. Auf die Frage einer
Fee, warum er das tue, antwortet er, er suche Vergessenheit, weil er ein
Übermaß von Leben in sich fühle, und diese Vergessenheit im Safte dieser
Gräser finde, sein Hauptwunsch aber sei -- möglichst bald den Verstand
zu verlieren (ein Wunsch, der vielleicht schon überflüssig ist). Darauf
erscheint plötzlich auf einem schwarzen Pferde ein Jüngling von
unbeschreiblicher Schönheit und ihm folgen in fürchterlicher Menge alle
Völker. Der Jüngling stellt den Tod dar und die Völker lechzen alle nach
ihm. Und schließlich, in der allerletzten Szene, erscheint plötzlich der
babylonische Turm und irgendwelche Athleten bauen ihn nun schon zu Ende
und singen dazu einen Sang der neuen Hoffnung, und wie sie die höchste
Spitze vollenden, da läuft der Beherrscher, sagen wir des Olymps, in
komischer Form davon, und die Menschheit, die jetzt endlich begreift,
beginnt sofort, indem sie sich seines Platzes bemächtigt, ein neues
Leben mit vollkommenem Durchschauen der Dinge. Dieses Poem also wurde
damals für gefährlich befunden. Im vorigen Jahre schlug ich Stepan
Trophimowitsch vor, es nunmehr drucken zu lassen, da es in unserer Zeit
doch eine ganz unschuldige Dichtung sei, aber er lehnte den Vorschlag
mit sichtbarem Mißbehagen ab. Die Auffassung, daß es eine vollkommen
unschuldige Dichtung sei, gefiel ihm offenbar gar nicht, und diesem
Umstande schreibe ich auch die gewisse Kühle zu, die seinerseits mir
gegenüber volle zwei Monate andauerte. Doch siehe da! Plötzlich, und
fast zur selben Zeit, als ich ihm vorschlug, das Poem hier drucken zu
lassen, wurde unser Poem _dort_ gedruckt, d. h. im Auslande, und
erschien in einem der revolutionären Sammelbände, ohne daß Stepan
Trophimowitsch überhaupt etwas davon wußte. Er erschrak zunächst
nicht wenig, stürzte zum Gouverneur, entwarf einen hochedlen
Rechtfertigungsbrief für Petersburg, las ihn mir zweimal vor, schickte
ihn aber dann doch nicht ab, da er, wie sich herausstellte, gar nicht
wußte, an wen er ihn senden sollte. Kurz, er regte sich einen ganzen
Monat lang auf, doch ich bin überzeugt, daß er dabei in den geheimen
Buchten seines Herzens ungemein geschmeichelt war. Von dem ihm
zugestellten Exemplar des Sammelbandes trennte er sich überhaupt nicht
mehr, ja er schlief fast mit ihm, am Tage aber versteckte er es unter
die Matratze, weshalb er das Mädchen kaum noch das Bett aufbetten ließ,
und obschon er Tag für Tag ein gewisses Telegramm erwartete, schaute er
doch sehr von oben herab. Das Telegramm kam aber nicht. Da söhnte er
sich auch mit mir wieder aus, was wiederum von der großen Güte seines
sanften, nicht nachtragenden Herzens zeugt.


                                  II.

Ich behaupte ja nicht, daß er wirklich niemals zu leiden gehabt hat[8],
ich habe mich jetzt nur endgültig überzeugt, daß er die Vorlesungen über
seine Araber so lange hätte fortsetzen können wie er wollte, wenn er nur
die nötigen Erklärungen abgegeben hätte. Er aber warf sich damals gleich
in die Brust und schickte sich mit besonderer Eilfertigkeit an, sich
selber ein für allemal einzureden, daß seine Laufbahn vom »Wirbelsturm
der Umstände« für immer zerstört sei. Doch wenn man schon die ganze
Wahrheit sagen soll, so war der eigentliche Grund dieser Änderung seiner
Laufbahn die gerade jetzt in zartfühlendster Weise wiederholte Anfrage
der Gemahlin des Generalleutnants Stawrogin, einer sehr reichen Dame, ob
er die Erziehung und ganze geistige Ausbildung ihres einzigen Sohnes,
gewissermaßen als höherer Pädagoge und Freund, übernehmen wolle -- von
dem glänzenden Gehaltsangebot ganz zu schweigen. Dieses Angebot war ihm
schon früher einmal gemacht worden, in seiner Berliner Zeit, gleich nach
dem Tode seiner ersten Frau. Diese war ein etwas leichtsinniges junges
Mädchen aus unserem Gouvernement gewesen, übrigens nicht unsympathisch,
die er in seiner ersten Jugend, ohne sich besondere Gedanken zu machen,
geheiratet und mit der er dann viel Leid zu ertragen gehabt hatte,
erstens weil seine Mittel zu ihrem beiderseitigen Unterhalt nicht
ausreichten, und dann noch aus anderen, bereits sehr zarten Gründen. Sie
starb schließlich in Paris, nachdem sie die letzten drei Jahre getrennt
von ihm gelebt hatte, und hinterließ ihm einen fünfjährigen Sohn -- »die
Frucht der ersten freudevollen und noch ungetrübten Liebe«, wie sich der
trauernde Stepan Trophimowitsch einmal in meiner Gegenwart unversehens
äußerte. Das Kind war übrigens schon bald nach der Geburt nach Rußland
geschickt worden -- zu ein paar Tanten irgendwo in der Provinz, die es
erziehen sollten. Damals also, nach dem Tode seiner ersten Frau, hatte
er das Angebot der Warwara Petrowna Stawrogina nicht angenommen, sondern
noch vor Ablauf des Trauerjahres seine zweite Frau, eine schweigsame
kleine Berlinerin, geheiratet, und zwar, was das Auffallende war,
eigentlich ohne jede besondere Notwendigkeit. Doch außerdem hatte er
noch andere Gründe gehabt, das Angebot abzulehnen: ihn lockte der gerade
damals lauttönende Ruhm eines unvergeßlichen Professors und so wollte
auch er seine Adlerschwingen erproben. Jetzt aber, nachdem er sich die
Schwingen versengt hatte, war es nur natürlich, daß er, besonders
nachdem auch seine zweite Frau, kaum ein Jahr nach der Trauung,
gestorben war, dem wiederholten verlockenden Angebot nicht widerstand.
Das Entscheidende war also die glühende Anteilnahme, sowie die
unschätzbare und, wenn man so sagen darf, klassische Freundschaft, die
Warwara Petrowna Stawrogina ihm entgegenbrachte. So warf er sich denn in
die Arme dieser Freundschaft und die währte gute zwanzig Jahre. Ich habe
soeben den Ausdruck gebraucht »er warf sich in die Arme dieser
Freundschaft«, doch Gott behüte und bewahre einen jeden davor, deshalb
an etwas Überflüssiges und Müßiges zu denken. Nein, diese Umarmung ist
einzig in höchst moralischem Sinne zu verstehen. Es waren nur die
feinsten und zartesten Bande, die diese beiden so merkwürdigen Menschen
auf ewig miteinander verknüpften.

Die Stellung eines Erziehers wurde auch noch deshalb angenommen, weil
das kleine Gütchen, das seine erste Frau hier in unserem Gouvernement
hinterlassen hatte, unmittelbar an Skworeschniki, das herrliche, nahe
der Stadt belegene Gut der Stawrogins grenzte. Und zudem war es ja immer
möglich, in der Stille des Kabinetts und bereits ohne von der
Riesenhaftigkeit der Universitätsarbeiten absorbiert zu werden, sich
ganz den Aufgaben der Wissenschaft zu widmen und die einheimische
Literatur mit den tiefsten Erforschungen zu bereichern. Solche
Erforschungen ergaben sich dann zwar nicht, doch dafür bot sich die
Möglichkeit, das ganze übrige Leben, mehr denn zwanzig Jahre lang,
sozusagen einen »Vorwurf zu verkörpern« -- buchstäblich nach dem
Dichterwort:

   »... Idealist und Liberaler,
   Standest du vorm Vaterlande
   Als verkörperter Vorwurf da!«

Doch jener Typ[9], auf den sich diese Worte bezogen, hätte vielleicht
auch das Recht gehabt, zeitlebens in diesem Sinne zu posieren,
vorausgesetzt, daß er es wollte, obschon so etwas doch recht langweilig
sein muß. Unser Stepan Trophimowitsch aber war, wenn man schon die
Wahrheit sagen soll, nur ein Nachahmer im Vergleich zu jenen
Charakteren, ja und das Stehen ermüdete ihn auch, weshalb er denn oft
genug ein bißchen auf der Seite lag. Aber gleichviel, auch in liegender
Stellung verblieb er eine Verkörperung des Vorwurfs -- das muß man ihm
schon lassen --, um so mehr, als für die Provinz auch das vollauf
genügte. Oh, man hätte ihn sehen sollen, wenn er sich bei uns im Klub an
den Kartentisch setzte! Seine ganze Miene sprach dann förmlich: »Karten!
Ich spiele mit euch Jeralásch![10] Wie ist das vereinbar? Wer kann das
verantworten? Wer hat mein Wirken zertrümmert und es in Jeralásch
verwandelt? Ach, geh unter, Rußland!« und würdevoll spielte er aus, --
selbstredend Coeur zuerst.

Im Grunde aber liebte er sogar sehr, ein Partiechen zu machen, weswegen
er nicht selten, und besonders in der letzten Zeit, mit Warwara Petrowna
unangenehme Auseinandersetzungen hatte, zumal er im Spiel immer verlor.
Doch davon später. Ich will nur bemerken, daß er ein sogar
gewissenhafter Mensch war (d. h. manchmal) und darum oft trauerte. Im
Laufe der ganzen zwanzigjährigen Freundschaft mit Warwara Petrowna
pflegte er regelmäßig drei- bis viermal im Jahre seinem »Bürgergram«,
wie wir das nannten, zu verfallen, das heißt einfach einer Hypochondrie,
doch der Ausdruck »Bürgergram« gefiel der verehrten Warwara Petrowna.
Späterhin war es auch noch der Champagner, dem er ab und zu verfiel oder
zu verfallen begann, aber auch in der Beziehung schützte ihn die
feinfühlige Warwara Petrowna das ganze Leben lang vor allen trivialen
Neigungen. Er bedurfte ja auch wirklich einer Art Kinderwärterin, denn
mitunter konnte er sehr sonderbar sein: konnte mitten in der erhabensten
Trauer plötzlich auf die volkstümlichste Weise zu spotten anfangen. Ja,
es gab Augenblicke, wo er sich sogar über sich selbst in humoristischem
Sinne zu äußern begann. Nichts aber fürchtete Warwara Petrowna so, wie
humoristischen Sinn. Sie war eben eine klassisch empfindende Frau, war
als Frau eine Mäzenatin, die nur nach höheren Gesichtspunkten handelte.
Unschätzbar war denn auch der zwanzigjährige Einfluß dieser höheren Dame
auf ihren armen Freund. Doch von ihr müßte man eingehender sprechen, was
ich denn auch tun will.


                                  III.

Es gibt sonderbare Freundschaften; es gibt Freunde, die nur miteinander
streiten, das ganze Leben in Streit verbringen, und doch nicht
voneinander lassen können. Das Auseinandergehen ist ihnen sogar ganz
unmöglich: der Freund, der aus Eigensinn als erster die Verbindung
zerrisse, würde auch als erster krank werden und womöglich sterben, wenn
es darauf ankommt. Ich weiß genau, daß Stepan Trophimowitsch mehrere
Male, und zwar manchmal nach den intimsten Herzensergüssen unter vier
Augen mit Warwara Petrowna, plötzlich, nachdem sie ihn verlassen hatte,
vom Diwan aufsprang und mit den Fäusten an die Wand zu hämmern begann.
Nicht sinnbildlich, sondern ganz einfach und sogar so, daß er einmal den
Putz von der Wand losschlug. Vielleicht wird man nun fragen: wie ich
denn eine so zarte Einzelheit habe erfahren können? Wie nun, wenn ich
selbst Augenzeuge war? Wie, wenn er wiederholt an meiner Schulter
geschluchzt und mir dabei in grellen Farben seine letzten Geheimnisse
erzählt hat? (Und was, ja was kam dann nicht alles über seine Lippen!)
Doch nach solchem Geschluchze geschah fast immer Folgendes: am nächsten
Tage war er dann bereit, sich wegen seiner Undankbarkeit selber zu
kreuzigen; dann rief er mich eilig zu sich oder kam schnell selbst zu
mir, nur um mir mitzuteilen, daß Warwara Petrowna, »was Ehre und
Zartgefühl betrifft«, ein Engel sei, er aber sei »das absolute
Gegenteil«. Und nicht nur zu mir kam er dann, nein, er schrieb das alles
in wortreichen Briefen auch Warwara Petrowna, gestand ihr, ohne sich zu
scheuen, den Brief mit seinem vollen Namen zu unterzeichnen, daß er z.
B. erst gestern einem beliebigen Menschen erzählt habe, sie halte ihn
nur aus Ruhmsucht in ihrem Hause, doch im Grunde beneide sie ihn nur um
seines Wissens und seiner Talente willen; ja, sie hasse ihn sogar und
wage nur nicht, ihren Haß offen zu zeigen, aus Furcht, er könnte dann
weggehen und ihrem Ruf in der Literaturgeschichte schaden; infolgedessen
verachte er sich nun selbst und habe er beschlossen, eines gewaltsamen
Todes zu sterben; von ihr aber erwarte er nur noch ein letztes Wort, das
alles entscheiden werde usw., usw. in dieser Art. Nach diesem Beispiel
kann man sich ungefähr vorstellen, zu welch einer Hysterie die nervösen
Ausbrüche dieses unschuldigsten von allen 50jährigen Säuglingen manchmal
ausarteten! Einen dieser Briefe nach irgendeinem Streit zwischen ihnen
aus einem geringfügigen Anlaß, aber mit erbitterndem Ausgang, habe ich
selbst gelesen. Ich war entsetzt und beschwor ihn, den Brief doch nicht
abzusenden.

»Ich kann nicht ... es ist ehrlicher ... es ist meine Pflicht ... ich
sterbe, wenn ich ihr nicht alles gestehe, alles!« antwortete er nahezu
fiebernd und sandte den Brief tatsächlich ab.

Gerade darin aber lag der Unterschied zwischen ihnen, daß Warwara
Petrowna einen solchen Brief niemals abgesandt hätte. Freilich, er
liebte über alle Maßen zu schreiben, schrieb ihr selbst damals, als sie
noch in demselben Hause wohnten, schrieb in hysterischen Fällen sogar
zweimal am Tage. Ich weiß genau, daß Warwara Petrowna immer mit der
größten Aufmerksamkeit diese Briefe durchlas, auch wenn sie ihrer zwei
am Tage erhielt, um sie dann, nummeriert und sortiert, in einer
besonderen Schatulle aufzubewahren; außerdem aber hob sie sie noch in
ihrem Herzen auf. Und nachdem sie dann ihren Freund den ganzen Tag
vergeblich auf eine Antwort hatte warten lassen, benahm sie sich ihm
gegenüber am nächsten Tage, als wäre so gut wie nichts Besonderes
geschehen, als läge gar nichts vor. Auf die Weise hatte sie ihn
allmählich so zugestutzt, daß er schon von selbst nicht mehr an das
Vorgefallene zu erinnern wagte und ihr nur eine Weile in die Augen sah.
Doch vergessen tat sie nichts, er aber vergaß manchmal schon gar zu
schnell, und ermutigt durch ihre Ruhe, konnte er oft schon am selben
Tage wieder lachen und beim Champagner allen möglichen Unsinn treiben,
wenn ihn seine Freunde gerade an dem Tage besuchten. Mit welchen
verbitternden Gefühlen muß sie in solchen Augenblicken auf ihn gesehen
haben, er aber bemerkte überhaupt nichts! Es sei denn, daß ihm nach
einer Woche, einem Monat oder erst nach einem halben Jahr in einem
besonderen Augenblick zufällig irgendein von ihm gebrauchter Ausdruck in
so einem Brief einfiel und nach und nach der ganze Brief mit allen
Einzelheiten und Umständen, und dann verging er plötzlich vor Scham und
quälte sich mitunter dermaßen, daß er wieder an seinen Anfällen von
Cholerine erkrankte. Diese ihn heimsuchenden eigentümlichen Anfälle, die
an Cholerine erinnerten, waren in gewissen Fällen der gewöhnliche
Ausgang seiner nervösen Erschütterungen und stellten ein in ihrer Art
interessantes Kuriosum seiner Physis dar.

Ja, Warwara Petrowna hat ihn gewiß und sogar sehr oft gehaßt; er aber
hat bis zum Schluß nur eines nicht an ihr erkannt: daß er nämlich zu
guter Letzt für sie zu einem Sohn geworden war, zu ihrem Geschöpf, ja
man kann sagen, zu einer Erfindung von ihr, daß er schon Fleisch von
ihrem Fleisch war und daß sie ihn keineswegs »aus Neid«, »um seiner
Talente willen« bei sich hielt und unterhielt. Und wie müssen solche
Verdächtigungen sie verletzt haben! In ihr verbarg sich eine gewisse
unerträgliche, unduldsame Liebe zu ihm, mitten unter ununterbrochenem
Haß, unter Eifersucht und Verachtung. Sie beschützte ihn vor jedem
Stäubchen, gab sich unermüdlich zweiundzwanzig Jahre lang mit ihm ab,
und die Sorge hätte ihr den Schlaf geraubt, wenn man seinen Ruf als
Dichter, als Gelehrter, sein Wirken im kulturbürgerlichen Sinne
angetastet hätte. Sie hatte ihn sich ausgedacht und war selber die
erste, die an die Wirklichkeit ihrer eigenen Dichtung glaubte. Er war so
etwas wie ihr Traumbild. Aber sie verlangte von ihm tatsächlich viel
dafür, manchmal geradezu sklavischen Gehorsam. Und nachtragend war sie
bis zur Unglaublichkeit. Übrigens werde ich doch lieber gleich zwei
Fälle erzählen.


                                  IV.

Einmal, gerade in der Zeit, als sich die ersten Gerüchte von der
Aufhebung der Leibeigenschaft im Lande zu verbreiten begannen, beehrte
ein Petersburger Baron, ein Mann mit den allerhöchsten Verbindungen, der
noch dazu von Amts wegen der mit Jubel erwarteten Neuerung sehr nahe
stand, auf der Durchfahrt Warwara Petrowna mit seinem Besuch. Sie liebte
und pflegte solche Bekanntschaften außerordentlich, zumal ihre
Verbindungen mit der hohen Gesellschaft nach dem Tode ihres Mannes
beträchtlich abgenommen hatten und schließlich ganz aufzuhören drohten.
Der Baron verweilte etwa eine Stunde bei ihr und trank Tee. Von ihren
Bekannten war sonst niemand zugegen, nur Stepan Trophimowitsch ward von
ihr eingeladen und sozusagen zur Schau gestellt. Der Baron hatte denn
auch richtig schon früher von ihm gehört, oder tat wenigstens, als habe
er von ihm gehört, doch wandte er sich beim Tee selten an ihn. Natürlich
hätte sich Stepan Trophimowitsch gesellschaftlich nie irgendwie
blamieren können, er hatte überhaupt die feinsten Manieren; obschon er,
glaube ich, nicht von hoher Herkunft war. Aber er war von der frühesten
Kindheit an in einem vornehmen Moskauer Hause aufgewachsen, also sehr
gut erzogen; Französisch sprach er wie ein Pariser. Der Baron mußte
mithin auf den ersten Blick erkennen, mit welchen Menschen Warwara
Petrowna sich umgab, wenn sie auch in der Provinz lebte. Allein, es
sollte anders kommen. Als nämlich der Baron die neuen Gerüchte von der
bevorstehenden großen Reform ausdrücklich bestätigte, da konnte Stepan
Trophimowitsch plötzlich nicht an sich halten und rief ein »Hurra!«,
wobei er mit der Hand noch eine Geste machte, die Begeisterung
ausdrücken sollte. Er rief es übrigens nicht laut und geradezu elegant;
ja, vielleicht war die Begeisterung sogar wohlüberlegt und die Geste
absichtlich vor dem Spiegel einstudiert, eine halbe Stunde vor dem Tee;
doch offenbar mißglückte ihm hierbei irgend etwas, so daß der Baron sich
ein kaum merkliches Lächeln erlaubte, wenn er auch sofort überaus
höflich eine Phrase über die allgemeine und erklärliche Ergriffenheit
aller russischen Herzen angesichts der großen Begebenheit einflocht.
Darauf empfahl er sich bald und vergaß dabei nicht, Stepan
Trophimowitsch zum Abschiede zwei Finger zu reichen. Als Warwara
Petrowna in den Salon zurückkehrte, schwieg sie zunächst etwa drei
Minuten lang und tat, als suchte sie etwas auf dem Tisch; doch plötzlich
wandte sie sich zu Stepan Trophimowitsch und stieß, bleich, mit
blitzenden Augen, halblaut zischelnd hervor: »Das werde ich Ihnen nie
vergessen!«

Am anderen Tage verhielt sie sich zu ihrem Freunde als wäre nichts
geschehen, über das Vorgefallene verlor sie weiter kein Wort. Erst nach
dreizehn Jahren, in einem tragischen Augenblick, erinnerte sie ihn
plötzlich an diesen Vorfall und wieder erbleichte sie dabei genau so wie
damals. Nur zweimal in ihrem Leben hat sie zu ihm gesagt: »Das werde ich
Ihnen nie vergessen!« Der Fall mit dem Baron war schon der zweite Fall;
aber auch der erste war an und für sich so charakteristisch und hat, wie
mir scheint, im Schicksal Stepan Trophimowitschs so viel bedeutet, daß
ich mich entschließe, auch ihn zu erwähnen.

Das war im Jahre 1855, im Mai, kurz nachdem man in Skworeschniki die
Nachricht vom Tode des Generalleutnants Stawrogin, des leichtsinnigen
alten Herrn, erhalten hatte, der auf der Reise nach der Krim zur
Übernahme eines Kommandos in der aktiven Armee unterwegs an einer
Magenerkrankung gestorben war. Warwara Petrowna war also nun Witwe und
ging in tiefstem Schwarz. Freilich, innerlich konnte ihre Trauer nicht
sehr groß sein, denn schon die letzten vier Jahre hatten die beiden
Gatten wegen der Charaktergegensätze vollkommen getrennt gelebt und sie
hatte ihm nur eine Art Pension ausgesetzt. (Der Generalleutnant besaß
selber nur 150 Seelen und sein Gehalt, außerdem seinen alten Adel und
Beziehungen; der ganze Reichtum dagegen und Skworeschniki gehörten
Warwara Petrowna, als der einzigen Tochter eines sehr reichen
Branntweinpächters.) Nichtsdestoweniger hatte die Plötzlichkeit der
Nachricht sie erschüttert und so zog sie sich denn in die Einsamkeit
zurück. Selbstredend befand sich Stepan Trophimowitsch ununterbrochen
bei ihr.

Der Mai stand in voller Blüte; die Abende waren wundervoll.
Maulbeerbäume dufteten. Die beiden Freunde kamen allabendlich im Garten
zusammen, saßen bis in die Nacht hinein in einer Laube und breiteten
ihre Gefühle und Gedanken voreinander aus. Es gab manchen poetischen
Augenblick. Unter dem Eindruck ihrer Schicksalsänderung sprach Warwara
Petrowna mehr als gewöhnlich. Sie schmiegte sich gleichsam an das Herz
ihres Freundes, und das setzte sich so mehrere Abende fort. Plötzlich
kam Stepan Trophimowitsch ein eigentümlicher Gedanke: Wie? rechnete die
erschütterte Witwe jetzt vielleicht auf ihn? Erwartete sie etwa nach
Ablauf des Trauerjahres einen Heiratsantrag von ihm? -- Ein zynischer
Gedanke; aber gerade die Höhe der Organisation begünstigt doch mitunter
noch die Neigung zu zynischen Gedanken, schon allein durch die
Vielseitigkeit der Entwicklung. Er begann zu überlegen und fand, daß es
wirklich diesen Anschein gewann. Er wurde nachdenklich: »Ein riesiges
Vermögen, das ist allerdings wahr, aber ...« In der Tat, Warwara
Petrowna war nicht gerade das, was man unter einer Schönheit versteht:
sie war eine große, gelbe, magere Frau, mit einem übermäßig langen
Gesicht, in dem irgend etwas entfernt an einen Pferdekopf erinnerte.
Stepan Trophimowitsch schwankte immer mehr unter solchen Betrachtungen,
quälte sich mit Zweifeln und weinte sogar zweimal wegen seiner eigenen
Unentschlossenheit (er weinte ziemlich oft). An den Abenden, also in der
Laube, nahm sein Gesicht einen kapriziösen Ausdruck an, und zuweilen war
sogar etwas Ironisches, etwas Kokettes, und zugleich Hochmütiges darin.
Das geschieht ganz unwillkürlich, und sogar je edler der Mensch ist,
um so bemerkbarer wird es. Ob nun Stepan Trophimowitschs
Befürchtungen grundlos waren oder nicht, das ist schwer zu sagen: am
wahrscheinlichsten ist, daß Warwara Petrowna an eine Heirat überhaupt
nicht dachte -- jedenfalls hätte sie sich wohl niemals entschließen
können, ihren alten Namen, den der Stawrogins, mit dem seinen zu
vertauschen, selbst wenn sein Name in der Literatur noch so berühmt
gewesen wäre. Vielleicht war es von ihr aus nur ein weibliches Spiel,
der Ausdruck eines unbewußten weiblichen Bedürfnisses, das ja in manchen
weiblichen Fällen doch so natürlich ist. Übrigens kann ich mich für
nichts verbürgen, die Tiefe des Frauenherzens ist sogar bis heute noch
unerforschlich! Doch ich fahre fort.

Es ist anzunehmen, daß Warwara Petrowna aus dem eigentümlichen
Gesichtsausdruck ihres Freundes bald erriet, was in ihm vorging; sie war
feinfühlig und verstand zu beobachten, er aber war manchmal schon gar zu
naiv. Trotzdem vergingen die Abende nach wie vor poetisch und bei
anregender Unterhaltung. Einmal jedoch, bei Anbruch der Nacht, trennten
sie sich nach einem besonders lebhaften, interessanten und poetischen
Gespräch mit einem heißen Händedruck an der Treppe des Gartenhauses, in
das Stepan Trophimowitsch in jedem Sommer aus dem riesigen Herrenhause
von Skworeschniki überzusiedeln pflegte. Als er eingetreten war, nahm er
zunächst, gleichsam zerstreut und doch wie in Gedanken versunken, eine
Zigarre, zündete sie aber noch nicht an, sondern trat ermüdet ans offene
Fenster und schaute regungslos den wie Flaum leichten, hellen Wölkchen
zu, die an dem klaren Monde vorüberglitten, als plötzlich ein leises
Geräusch ihn aufschreckte und er sich umsah. Vor ihm stand wieder
Warwara Petrowna, von der er sich vor kaum vier Minuten im Garten
getrennt hatte. Ihr gelbes Gesicht war fast bläulich, ihre Lippen
schienen sich krampfhaft zusammenzupressen und die Mundwinkel zuckten.
So sah sie ihm wohl volle zehn Sekunden lang schweigend in die Augen,
mit festem, unerbittlichem Blick, und plötzlich stieß sie in schnellem
Geflüster hervor:

»Das werde ich Ihnen nie vergessen!«

Als Stepan Trophimowitsch mir zehn Jahre später diese traurige
Geschichte erzählte, flüsternd, nachdem er zuvor die Tür verschlossen
hatte, versicherte er mir, er sei damals auf der Stelle so erstarrt, daß
er weder gehört noch gesehen habe, wie Warwara Petrowna wieder
verschwand. Und da sie später kein einziges Mal den Vorfall auch nur
erwähnt hatte und alles seinen Lauf ging, als wäre nichts geschehen, so
war er sein lebelang geneigt, anzunehmen, daß das Ganze nur eine
Halluzination vor der Erkrankung gewesen sei, zumal er tatsächlich noch
in derselben Nacht erkrankte und ganze zwei Wochen lang das Bett hüten
mußte, was denn auch, übrigens sehr zur rechten Zeit, den Gesprächen in
der Laube ein Ende machte.

Doch ungeachtet seiner Idee von der Halluzination war es dennoch, als
erwartete er jeden Tag, während der ganzen Jahre, so etwas wie eine
Fortsetzung und sozusagen Erklärung dieses Geschehnisses. Er glaubte
nicht, daß es damit auch beendet sei! Und wenn er das nicht glaubte, wie
sonderbar muß er dann doch manchmal auf seinen »Freund« geschaut haben!


                                   V.

Sie hatte sogar das Kostüm für ihn erdacht, das er seitdem beständig
trug. Es war geschmackvoll und charakteristisch zugleich: ein langer
schwarzer Rock, fast bis oben zugeknöpft, der aber prachtvoll saß; ein
weicher Hut (im Sommer aus Stroh) mit breiter Krempe; eine Halsbinde aus
weißem Batist, mit großem Knoten und hängenden Enden; ein Stock mit
silbernem Knauf, dazu das Haar fast bis auf die Schultern. Er war
dunkelblond und erst in der letzten Zeit begann er ein wenig zu
ergrauen. Den Schnurrbart und Bart rasierte er. Man sagt, in seiner
Jugend sei er ein überaus schöner Mensch gewesen. Doch meiner Meinung
nach war er auch im Alter eine ungemein eindrucksvolle Erscheinung. Aber
kann man denn bei dreiundfünfzig Jahren überhaupt von Alter reden? Doch
aus einer gewissen »Bürger«-Eitelkeit machte er sich nicht nur nicht
jünger, sondern war sogar gleichsam stolz auf die Solidität seiner
Jahre, und in diesem Kostüm, hoch von Wuchs, hager, mit dem langen Haar
erinnerte er gleichsam an einen Patriarchen, oder noch besser: an das
Porträt des Dichters Kúkolnik[11], das in den dreißiger Jahren als
Lithographie in irgendeiner Ausgabe erschien, besonders wenn er im
Sommer im Garten saß, auf einer Bank unter blühendem Flieder, die Hände
auf den Stock gestützt, ein aufgeschlagenes Buch neben sich und in
poetisches Sinnen versunken beim Anblick des Sonnenuntergangs. Übrigens
in betreff der Bücher muß ich bemerken, daß er in der letzten Zeit das
Lesen gewissermaßen aufzugeben begann. Aber das geschah doch erst in der
allerletzten Zeit. Die Zeitungen und Zeitschriften dagegen, die Warwara
Petrowna in Menge sich zuschicken ließ, die las er beständig. Für die
Fortschritte der russischen Literatur interessierte er sich gleichfalls
unausgesetzt, freilich ohne dabei seiner eigenen Würde auch nur das
geringste zu vergeben. Eine Zeitlang befaßte er sich auch eifrig mit dem
Studium unserer inneren und äußeren Tagespolitik, doch alsbald gab er
das resigniert wieder auf. Es kam aber auch anderes vor: daß er z. B.
einen Band Tocqueville in den Garten mitnahm, in seiner Rocktasche aber
einen Paul de Kock versteckt hatte. Doch das sind übrigens
Belanglosigkeiten.

Zu dem Porträt von Kúkolnik möchte ich hier nur in Klammern bemerken:
daß dieses Bild Warwara Petrowna zum erstenmal in die Hände geraten war,
als sie noch in Moskau in einem adeligen Mädchenpensionat erzogen wurde.
Sie verliebte sich sofort in dieses Bild, nach der Gewohnheit sämtlicher
jungen Mädchen in Pensionaten, die sich nun einmal in alles zu verlieben
pflegen, was ihnen nur zu Gesichte kommt, aber zugleich auch in ihre
Lehrer, und zwar vornehmlich in die der Schönschreibe- und Zeichenkunst.
Im vorliegenden Fall jedoch war das Bemerkenswerte nicht diese
Eigenschaft junger Mädchen, sondern lediglich der Umstand, daß Warwara
Petrowna die erwähnte Lithographie noch im fünfzigsten Lebensjahr unter
ihren teuersten Kostbarkeiten aufbewahrte, also vielleicht nur deshalb
auch für Stepan Trophimowitsch jenes besondere Kostüm erdacht hatte, das
dem auf diesem Bilde dargestellten zum Teil so ähnlich war. Aber auch
das ist natürlich nur eine Nebensache.

In den ersten Jahren oder, genauer gesagt, in der ersten Hälfte seines
Aufenthalts bei Warwara Petrowna hatte Stepan Trophimowitsch immer noch
an schriftstellerische Tätigkeit gedacht und sich eigentlich jeden Tag
ernstlich vorgenommen, mit dem Werk, das ihm vorschwebte, zu beginnen.
In der zweiten Hälfte aber begann er offenbar, die früheren Vorstudien
schon zu vergessen. Immer häufiger sagte er zu uns: »Man sollte meinen,
jetzt könnte ich mit der Arbeit beginnen, das Material ist
zusammengetragen, und doch entsteht nichts! Es will einfach nicht in mir
arbeiten!« und wehmütig ließ er den Kopf hängen. Zweifellos sollte
gerade das ihn in unseren Augen noch mehr erhöhen, ihn als einen
Märtyrer der Wissenschaft hinstellen; aber im Grunde und für sich selbst
verlangte ihn doch nach etwas anderem. »Man hat mich vergessen, niemand
braucht mich!« entrang es sich ihm mehr als einmal. Diese gesteigerte
Schwermut bemächtigte sich seiner besonders ganz am Ende der fünfziger
Jahre. Warwara Petrowna begriff schließlich, daß die Sache ernst war.
Zudem konnte auch sie den Gedanken nicht ertragen, daß ihr Freund
vergessen sei und niemand ihn brauche. Um ihn zu zerstreuen, aber
zugleich auch um seinen Ruhm zu erneuen, reiste sie damals mit ihm nach
Moskau, wo sie mit einigen tadellosen Vertretern der Literaten- und
Gelehrtenwelt bekannt war; doch es erwies sich, daß auch Moskau nicht
zufriedenstellen konnte.

Es war damals eine besondere Zeit[12]; etwas Neues brach an, etwas, das
der vorhergegangenen Stille schon gar zu unähnlich war, etwas schon gar
zu Seltsames, das jedoch überall gespürt wurde, selbst in Skworeschniki.
Verschiedene Gerüchte drangen auch dorthin. Die Tatsachen waren ja im
allgemeinen mehr oder weniger bekannt, aber es war klar, daß außer den
Tatsachen noch eigentümliche sie begleitende Ideen aufzutauchen
begannen, und zwar, was das Wichtigste war, Ideen in außergewöhnlicher
Menge. Gerade das aber wirkte verwirrend: es war ganz und gar unmöglich,
sich ein Urteil zu bilden und genau zu erfahren, was diese Ideen
eigentlich bezweckten. Warwara Petrowna wollte, infolge der weiblichen
Konstruktion ihrer Natur, unbedingt ein Geheimnis in ihnen verborgen
wissen. Sie begann nun zunächst selber die Zeitungen und Zeitschriften
zu lesen, dazu ausländische verbotene Ausgaben und sogar die damals
aufkommenden Proklamationen (alles das wurde ihr zugestellt); doch ihr
wurde davon nur schwindlig. Sie begann dann Briefe zu schreiben; man
antwortete ihr wenig und je weiter man ging, um so unverständlicher
wurde es. Stepan Trophimowitsch ward darauf feierlichst von ihr gebeten,
ihr »alle diese Ideen« ein für allemal zu erklären; doch seine
Erklärungen befriedigten sie entschieden nicht. Der Standpunkt, von dem
aus Stepan Trophimowitsch die allgemeine Bewegung beurteilte, war ein im
höchsten Grade hochmütiger; bei ihm lief alles darauf hinaus, daß man
ihn vergessen habe und niemand ihn brauche. Da aber geschah es, daß man
sich schließlich auch seiner erinnerte; zuerst in ausländischen
Zeitschriften[13] als eines verbannten Märtyrers, und danach sofort auch
in Petersburg, als eines ehemaligen Sternes in einem bekannten
Sternbilde; man verglich ihn aus irgendeinem Grunde sogar mit
Radischtscheff[14]. Darauf schrieb jemand in einer Zeitung, er sei
bereits gestorben, und stellte einen Nekrolog über ihn in Aussicht.
Stepan Trophimowitsch belebte sich nach diesen Erwähnungen seines Namens
im Nu wie ein Auferstandener, und nahm eine höchst würdevolle Haltung
an. Der ganze Hochmut in seinem bisherigen Verhalten gegenüber den
Zeitgenossen fiel im Handumdrehen von ihm ab und statt dessen erglühte
in ihm der Wunsch: sich der Bewegung anzuschließen und seine Kraft zu
zeigen. Warwara Petrowna begann sofort von neuem und an alles zu glauben
und war ganz Eifer für die Sache. Es wurde beschlossen, ohne den
geringsten Aufschub nach Petersburg zu reisen, alles an Ort und Stelle
in Erfahrung zu bringen, persönlich zu ergründen, und sich hinfort,
falls angängig, ganz und ungeteilt der neuen Aufgabe zu widmen. Unter
anderem erklärte sie sich bereit, eine eigene Zeitschrift zu gründen und
dieser von nun an ihr ganzes Leben zu weihen. Als Stepan Trophimowitsch
sah, wieweit es gekommen war, wurde er noch selbstbewußter, und begann
bereits unterwegs, sich zu Warwara Petrowna fast gönnerhaft zu
verhalten, -- was sie sich sofort merkte und in ihrem Herzen aufhob.
Übrigens hatte sie noch einen anderen sehr wichtigen Grund zu dieser
Reise, nämlich die Erneuerung ihrer Beziehungen zu den höheren Kreisen.
Man mußte sich, soweit das möglich war, in der Gesellschaft wieder in
Erinnerung bringen, mußte wenigstens den Versuch machen. Doch offiziell
war der Anlaß zu dieser Reise ein Wiedersehen mit ihrem einzigen Sohn,
der damals seine Studien im Petersburger Adelslyzeum beendete.


                                  VI.

Sie trafen in Petersburg ein und verlebten dort fast die ganze
Wintersaison. Allein zu den großen Fasten platzte alles wie eine
regenbogenfarbene Seifenblase. Die Illusionen verflogen, der geschwatzte
Unsinn aber klärte sich nicht nur nicht auf, sondern wurde noch
widerlicher. Doch zunächst: die Wiederanknüpfung der höheren Beziehungen
gelang fast gar nicht, oder nur in äußerst mikroskopischem Maße, und
selbst das nur mittels erniedrigender Bemühungen. Die gekränkte Warwara
Petrowna stürzte sich darauf ganz in die »neuen Ideen« und eröffnete
Abende in ihrem Salon. Sie lud Literaten ein und man führte ihr die
sogleich in Menge zu. Alsbald kamen sie schon von selbst auch
uneingeladen; einer brachte den anderen mit. Sie hatte noch nie solche
Literaten gesehen. Eitel waren sie bis zur Unglaublichkeit, aber sie
waren es ganz offen und ungeniert, wie wenn sie damit eine Pflicht
erfüllten. Manche (wenn auch längst nicht alle) erschienen sogar in
betrunkenem Zustande, aber auch das geschah in einer Weise, als wären
sie sich dabei einer besonderen, erst gestern darin entdeckten Schönheit
bewußt. Alle waren sie auf irgendetwas bis zur Seltsamkeit stolz. Auf
allen Gesichtern stand geschrieben, daß sie überzeugt waren, soeben erst
ein ungeheuer wichtiges Geheimnis entdeckt zu haben. Den Gebrauch von
Schimpfworten rechneten sie sich offenbar zur Ehre an. Was sie alle
eigentlich geschrieben hatten, war ziemlich schwer zu erfahren; aber es
gab da Kritiker, Romanschriftsteller, Dramatiker, Satiriker, Polemiker.
Stepan Trophimowitsch drang sogar in ihren höchsten Kreis ein, von wo
aus die ganze Bewegung geleitet wurde. Bis zu diesen Regierenden war es
unglaublich hoch, doch ihm kamen sie bereitwillig entgegen, obschon
natürlich kein einziger von ihnen etwas Näheres über ihn wußte oder
gehört hatte, außer daß er eine »Idee vertrete«. Er manövrierte dann so
um sie herum, daß er auch sie bewog, etwa zwei- oder dreimal in Warwara
Petrownas Salon zu erscheinen, trotz all ihrer olympischen Erhabenheit.
Diese Herren waren sehr ernst und sehr höflich; benahmen sich gut; die
übrigen hatten sichtlich Furcht vor ihnen; aber man sah ihnen an, daß
sie keine Zeit hatten. Es erschienen auch zwei oder drei ehemalige
literarische Berühmtheiten, die sich damals zufällig in Petersburg
aufhielten, und mit denen Warwara Petrowna schon lange die feinsten
Beziehungen unterhielt. Doch zu Warwara Petrownas Verwunderung waren
diese wirklichen und bereits zweifellosen Berühmtheiten unter ihren
Gästen stiller als Wasser, niedriger als Gras, manche aber von ihnen
schmiegten sich an dieses neue Gesindel geradezu an und suchten sich
schmählicherweise bei ihm einzuschmeicheln. Anfangs hatte Stepan
Trophimowitsch Glück; man griff sofort nach ihm und begann ihn in
öffentlichen literarischen Veranstaltungen zur Schau zu stellen. Als er
an einem öffentlichen literarischen Abende zum erstenmal als einer der
Vortragenden die Rednerbühne betrat, begrüßte ihn rasendes
Händeklatschen, das gute fünf Minuten lang andauerte. Neun Jahre später
gedachte er dieses Abends mit Tränen in den Augen, -- übrigens mehr
infolge seiner Künstlernatur als aus Dankbarkeit. »Ich schwöre Ihnen und
wette darauf,« sagte er zu mir (aber nur zu mir und als tiefstes
Geheimnis), »daß unter diesem ganzen Publikum niemand auch nur das
geringste von mir wußte!« Ein beachtenswertes Geständnis: also war in
ihm doch ein scharfer Verstand, wenn er schon damals auf der
Rednerbühne, trotz seines Rausches, seine wirkliche Stellung so klar zu
erkennen vermochte; und andererseits war doch wiederum kein scharfer
Verstand in ihm, wenn er sogar nach neun Jahren nicht ohne die
Empfindung einer Kränkung daran zurückdenken konnte. Unter anderem
veranlaßte man ihn, zwei oder drei Kollektivproteste (wogegen -- das
wußte er selbst nicht) gleichfalls zu unterschreiben; jedenfalls tat
er's. Auch Warwara Petrowna wurde zur Hergabe ihres Namens veranlaßt,
und auch sie unterschrieb einen Protest gegen irgendein »schändliches
Verhalten«. Übrigens hielt sich die Mehrzahl dieser neuen Leute aus
irgendeinem Grunde für verpflichtet, auf Warwara Petrowna, wenn sie auch
ihre Abende besuchten, doch mit Verachtung und unverhohlenem Spott
herabzusehen. Stepan Trophimowitsch deutete mir gegenüber später in
bitteren Augenblicken an, daß sie in eben jener Zeit begonnen habe, ihn
zu beneiden. Sie begriff natürlich, daß diese Leute kein Umgang für sie
waren, aber trotzdem empfing sie sie bei sich mit eigensinnigem Eifer,
mit aller weiblich-hysterischen Ungeduld, und hörte vor allem nicht auf,
etwas zu erwarten. An den Abenden in ihrem Salon sprach sie wenig,
obschon sie zu sprechen verstanden hätte; aber sie hörte um so
aufmerksamer zu. Man sprach über alles Mögliche: von der Abschaffung der
Zensur und des Buchstabens Jerr als harten Endzeichens, von der
Ersetzung der russischen Schriftzeichen durch lateinische, sprach über
die Tags zuvor erfolgte Verschickung irgend jemandes nach Sibirien, über
einen Skandal, der sich in der Passage zugetragen, über die Vorteile
einer Aufteilung Rußlands nach seinen Völkerschaften, unter freiem
föderativem Zusammenschluß, über die Abschaffung des Heeres und der
Flotte, über die Wiederherstellung Polens bis zum Dnjepr, über die
Bauernbefreiung und die Proklamationen, über die Abschaffung des
Erbrechts, der Familie, der Kinder und der Geistlichen, über die
Frauenrechte, über das Haus des Verlegers Krajewski, das niemand Herrn
Krajewski verzeihen konnte, usw. usw. Es war klar, daß sich in dieser
Kohorte der neuen Menschen viele Spitzbuben befanden, aber zweifellos
gab es auch viele ehrliche, sogar sehr anziehende Menschen unter ihnen,
trotz gewisser wunderlicher Nuancen. Die ehrlichen waren viel
unverständlicher als die unehrlichen und frechen; aber es ließ sich
nicht feststellen, welche Art die andere in der Hand hatte. Als Warwara
Petrowna ihre Absicht, eine Zeitschrift herauszugeben, ausgesprochen
hatte, strömten noch viel mehr Leute herbei. Doch sofort hagelten ihr
auch schon Beschuldigungen ins Gesicht, sie sei eine Kapitalistin und
beute die Arbeitenden aus. Der Unverfrorenheit der Anklagen kam nur ihre
Unverhofftheit gleich. Da geschah es aber, daß der hochbetagte General
Iwan Iwanowitsch Drosdoff, der ehemalige Freund und Regimentskamerad des
verstorbenen Generals Stawrogin, ein überaus ehrenwerter Mann (in seiner
Art) und den wir hier alle gekannt haben, ein bis zum Äußersten
starrköpfiger und reizbarer Mensch, der entsetzlich viel zu essen
pflegte und den Atheismus über alles fürchtete, -- daß dieser General an
einem der Abende bei Warwara Petrowna mit einem berühmten Jüngling in
Streit geriet. Und schon nach den ersten Worten warf ihm dieser ins
Gesicht: »Wenn das wirklich Ihre Ansicht ist, dann sind Sie ja ein
General,« in dem Sinne, als könne er ein noch stärkeres Schimpfwort als
die Bezeichnung »General« nicht finden. Iwan Iwanowitsch brauste maßlos
auf: »Jawohl, mein Herr, ich bin ein General und Generalleutnant und
habe _meinem_ Kaiser gedient, du aber, mein Bester, bist nur ein Bengel
und ein Gottesleugner!« Es kam zu einem höchst unstatthaften Skandal. Am
anderen Tage wurde der Fall in der Presse entsprechend behandelt, und
man begann Unterschriften zu einem Kollektivprotest gegen Warwara
Petrownas »schändliches Verhalten« zu sammeln, da sie dem General nicht
hatte die Tür weisen wollen, was sie sofort hätte tun müssen. Und in
einem illustrierten Blatt erschien eine Karikatur, die Warwara Petrowna,
den General und Stepan Trophimowitsch boshaft als drei reaktionäre
Freunde darstellte; dem Bilde waren auch Verse beigefügt, die der
»Dichter aus dem Volk« eigens zu diesem Ereignis verfaßt hatte. Ich
bemerke hierzu von mir aus, daß allerdings viele Personen im
Generalsrang die Gewohnheit haben, komischerweise zu sagen: »Ich habe
_meinem_ Kaiser gedient« ... also ganz als hätten sie nicht denselben
Kaiser wie wir einfachen Untertanen des Zaren, sondern einen eigenen,
besonderen für sich.

Natürlich war es danach nicht möglich, noch länger in Petersburg zu
bleiben, zumal auch Stepan Trophimowitsch endgültig Fiasko machte. Er
hatte es schließlich doch nicht ausgehalten und von den Rechten der
Kunst zu reden begonnen, da aber war das Lachen über ihn noch lauter
geworden. Bei seinem letzten Vortrag gedachte er durch kulturfordernde
Redekunst zu wirken, da er sich einbildete, damit die Herzen rühren zu
können, doch rechnete er gleichzeitig auf den Respekt vor seinem
Märtyrertum als »Verbannter«. So gab er denn die Wertlosigkeit und
Lächerlichkeit des Wortes »Vaterland« ohne weiteres zu, erklärte sich
auch mit dem Gedanken, daß die Religion schädlich sei, einverstanden,
doch dafür verkündete er laut und mit Entschlossenheit, daß Stiefel
etwas Geringeres seien als Puschkin, und zwar etwas bedeutend
Geringeres. Er wurde erbarmungslos ausgepfiffen, so daß er auf der
Stelle, vor dem ganzen Publikum, ohne von der Rednerbühne
hinabzusteigen, in Tränen ausbrach. Warwara Petrowna brachte ihn halbtot
nach Hause. »_On m'a traité comme un vieux bonnet de coton!_«{[1]} soll
er nur noch wie benommen gestammelt haben. Sie pflegte ihn die ganze
Nacht, gab ihm Kirschlorbeertropfen und tröstete ihn unentwegt bis zum
Morgen mit den Versicherungen: »Sie sind noch wertvoll, Ihre Stunde wird
noch kommen, man wird Sie anerkennen ... an einem anderen Ort.«

Am folgenden Tage aber erschienen bei Warwara Petrowna bereits früh
morgens fünf Literaten, von denen ihr drei ganz unbekannt waren, ja die
sie noch nie auch nur gesehen hatte. Mit strenger Miene teilten sie ihr
mit, sie hätten die Angelegenheit der von ihr geplanten Zeitschrift
geprüft und in der Sache einen Beschluß gefaßt. Warwara Petrowna hatte
entschieden niemanden beauftragt, diese Angelegenheit zu prüfen und über
ihre Zeitschrift etwas zu beschließen. Der Beschluß bestand darin, daß
Warwara Petrowna, nachdem sie die Zeitschrift gegründet, diese
unverzüglich mitsamt dem Kapital ihnen zu übergeben habe, mit den
Rechten einer freien Handelsgesellschaft; sie selbst aber solle nach
Skworeschniki zurückkehren und nicht vergessen, Stepan Trophimowitsch
mitzunehmen, der mit seinen Anschauungen »veraltet« sei. Aus Zartgefühl
erklärten sie sich bereit, ihr das Eigentumsrecht zuzuerkennen und ihr
alljährlich ein Sechstel des Gewinnes zuzusenden. Das Rührendste war
dabei, daß von diesen fünf Menschen vier ganz gewiß nicht die geringste
eigennützige Absicht hatten und nur um der »allgemeinen Sache« willen
diese Mühe auf sich nahmen.

»Wir waren wie betäubt, als wir abfuhren,« erzählte Stepan
Trophimowitsch, »ich konnte noch überhaupt nichts fassen, und ich
erinnere mich, zum Rattern der Räder murmelte ich immer nur vor mich
hin: >Wjek, Wjek, Wjek ... Ljeff Kambeck--beck--beck ... Wjek, Wjek,
Wjek ...<[15] und der Teufel weiß was noch alles, bis wir in Moskau
eintrafen. Erst in Moskau kam ich wieder zu mir -- als hätte ich dort
tatsächlich etwas anderes gefunden? Oh, meine Freunde!« rief er vor uns
manchmal ergriffen aus, »Sie können sich ja gar nicht vorstellen, welch
eine Trauer und welch eine Wut einem die ganze Seele erfüllen, wenn die
große Idee, die Sie schon lange heilig halten, von Unwissenden
aufgegriffen und zu ebensolchen Dummköpfen, wie jene selbst sind, auf
die Straße hinausgeschleppt wird, und plötzlich begegnet man ihr schon
auf dem Trödelmarkt, wo sie kaum wiederzuerkennen ist, im Schmutz,
unsinnig aufgestellt, schief, ohne jede Proportion, ohne Harmonie, als
Spielzeug dummer Kinder! Nein! Zu unserer Zeit war es nicht so, unser
Streben ging nicht nach der Richtung. Nein, nein, ganz und gar nicht
nach der Richtung. Ich erkenne nichts wieder ... Aber unsere Zeit wird
von neuem anbrechen und wird alles Wackelnde, Gegenwärtige wieder auf
den festen Weg lenken. Denn was sollte sonst wohl werden? ...«


                                  VII.

Gleich nach ihrer Rückkehr aus Petersburg schickte Warwara Petrowna
ihren Freund ins Ausland: »zur Erholung«; aber es tat auch not, daß sie
sich für einige Zeit voneinander trennten, das fühlte sie. Stepan
Trophimowitsch fuhr mit Entzücken ab. »Dort werde ich auferstehen!« rief
er aus, »dort werde ich mich nun endlich der Wissenschaft zuwenden!«
Doch schon in den ersten Briefen aus Berlin begann wieder das alte Lied:
»Mein Herz ist zerrissen,« schrieb er an Warwara Petrowna, »ich kann
nichts vergessen! Hier in Berlin hat mich alles an das Alte erinnert, an
die Vergangenheit, an die ersten Begeisterungen und die ersten Qualen.
Wo ist sie? Wo seid ihr jetzt beide? Wo seid ihr, meine beiden Engel,
deren ich niemals wert war? Und wo ist mein Sohn, mein geliebter Sohn?
Und schließlich, wo bin ich, ich selbst, wo ist mein früheres Ich, das
stählern an Kraft und wie ein Fels unerschütterlich war, während jetzt
irgendein Andrejeff, _c'est à dire un_ rechtgläubiger Narr mit einem
Bart, _peut briser mon existence en deux_«{[2]} usw. usw. Was diesen
Sohn betrifft, so ist hierzu zu bemerken, daß er ihn in seinem ganzen
Leben nur zweimal gesehen hatte: das erstemal, als der Sohn geboren
wurde, und das zweitemal gerade jetzt in Petersburg, wo der junge Mann
sich zum Eintritt in die Universität vorbereitete. Erzogen worden war
der Knabe, wie bereits erwähnt, von Tanten im Gouvernement O..., 700
Werst von Skworeschniki (auf Warwara Petrownas Kosten). Und was den
erwähnten Andrejeff betrifft, so war das ganz einfach unser hiesiger
Kaufmann, ein Ladenbesitzer, ein großer Sonderling, archäologischer
Autodidakt und leidenschaftlicher Sammler russischer Altertümer, der
manchmal Stepan Trophimowitsch in Kenntnissen zu überbieten suchte, doch
vor allem über Gesinnungsfragen mit ihm debattierte. Dieser achtbare
Kaufmann mit grauem Bart und in Silber gefaßter großer Brille schuldete
Stepan Trophimowitsch noch 400 Rubel für einige Dessjätinen Wald, die er
auf dessen kleinem (an Skworeschniki grenzenden) Gute zum Abholzen
gekauft hatte. Obschon nun Stepan Trophimowitsch von Warwara Petrowna
fast verschwenderisch mit Mitteln zu dieser Reise ausgestattet worden
war, hatte er auf diese 400 Rubel doch noch besonders gerechnet,
wahrscheinlich für seine geheimen Ausgaben, und er war fast in Tränen
ausgebrochen, als Andrejeff ihn bat, sich noch einen Monat zu gedulden.
Übrigens hatte Andrejeff durchaus ein Anrecht auf einen solchen
Aufschub, da er die ersten Raten alle fast ein halbes Jahr vor dem
Termin bezahlt hatte, weil das Geld damals von Stepan Trophimowitsch
gerade dringend benötigt worden war. Jenen ersten Brief Stepan
Trophimowitschs aus Berlin las Warwara Petrowna mit Spannung,
unterstrich mit dem Bleistift den Ausruf »Wo seid ihr jetzt beide?«
versah den Brief mit dem Datum und verschloß ihn in die Schatulle. Er
hatte natürlich an seine beiden verstorbenen Frauen gedacht. In dem
zweiten Brief aus Berlin gab es eine Variation des Liedes: »Ich arbeite
täglich zwölf Stunden,« (»wenn er doch wenigstens elf geschrieben
hätte,« murmelte Warwara Petrowna), »stöbere in den Bibliotheken umher,
vergleiche, mache Auszüge, scheue keinen Weg; war bei den Professoren.
Habe die Bekanntschaft mit der reizenden Familie Dundassoff erneuert.
Wie entzückend Nadjéshda Nikolájewna selbst jetzt noch ist! Sie läßt Sie
grüßen. Ihr junger Gatte und alle drei Neffen sind gleichfalls in
Berlin. Abends Unterhaltung mit der Jugend, meist bis zum Morgengrauen;
unsere Nächte sind nahezu attisch, jedoch natürlich nur was Feinheit und
Geschmack anlangt; alles Höhere; viel Musik, spanische Motive, Pläne
einer Erneuerung der Menschheit, die Idee der ewigen Schönheit,
sixtinische Madonna, Licht mit Durchbrüchen der Finsternis, aber auch
die Sonne hat Flecken! Oh, mein Freund, Sie mein edler, treuer Freund!
Mit meinem Herzen bin ich bei Ihnen und der Ihrige; mit Ihnen allein
ginge ich überall hin, _en tout pays_, und wäre es selbst _dans le pays
de Makar et de ses veaux_,{[3]} von welchem Lande wir in Petersburg vor
unserer Abreise, Sie erinnern sich wohl noch, so zitternd gesprochen
haben. Denke jetzt lächelnd daran zurück. Als ich die Grenze
überschritten hatte, fühlte ich mich in Sicherheit, ein seltsames, neues
Empfinden, zum erstenmal nach so langen Jahren ...« usw. usw.

»Alles Unsinn!« urteilte Warwara Petrowna, indem sie auch diesen Brief
zu den anderen legte. »Wenn sie bis zum Morgenrot attische Nächte
verleben, dann wird er doch nicht zwölf Stunden über den Büchern sitzen.
War er etwa betrunken, als er das schrieb? Was fällt dieser Dundassowa
ein, mich grüßen zu lassen? Übrigens, mag er sich amüsieren ...«

Der Satz »_dans le pays de Makar et de ses veaux_« sollte bedeuten:
»wohin Makar die Kälber nicht getrieben hat«[16]. Stepan Trophimowitsch
übersetzte manchmal auf die verdrehteste Weise russische Sprichwörter
und Redensarten ins Französische, obschon er sie zweifellos besser zu
deuten und zu übersetzen verstanden hätte; aber er tat das aus Vorliebe
zu einer gewissen Nonchalance und fand es witzig.

Doch von dem »Amüsieren« hatte er bald genug, nicht einmal vier Monate
hielt er es aus und kam nach Skworeschniki zurückgeflogen. Seine letzten
Briefe bestanden fast ausschließlich aus Ergüssen der gefühlvollsten
Liebe zu seinem »abwesenden Freunde«, und waren buchstäblich von Tränen
der Sehnsucht verwischt. Es gibt Naturen, die außerordentlich am Hause
hängen, ganz wie die Stubenhündchen. Das Wiedersehen der Freunde war
eine freudige Hochspannung. Nach zwei Tagen aber verlief alles wieder
nach alter Art, und sogar noch langweiliger als früher. »Mein Freund,«
sagte Stepan Trophimowitsch nach vierzehn Tagen zu mir, aber als größtes
Geheimnis, »mein Freund, ich habe etwas für mich furchtbar ... Neues
entdeckt: _Je suis un_ einfacher Schmarotzer _et rien de plus! Mais
r--r--rien de plus!_«{[4]}


                                 VIII.

Darauf trat eine stille Zeit ein und dauerte fast diese ganzen neun
Jahre. Die hysterischen Ausbrüche mit dem Geschluchze an meiner Schulter
wiederholten sich zwischendurch zwar regelmäßig, störten aber sonst
keineswegs unser Wohlbehagen. Ich wundere mich eigentlich nur, daß
Stepan Trophimowitsch in dieser Zeit nicht dick wurde. Nur seine Nase
rötete sich ein wenig und seine Großmut nahm noch zu. Allmählich bildete
sich um ihn ein Kreis von Freunden, der übrigens immer klein blieb.
Warwara Petrowna kümmerte sich wohl nur wenig um diesen Kreis, aber wir
erkannten sie doch alle als unsere Patronesse an. Nach der Petersburger
Enttäuschung hatte sie sich endgültig in unserem Gouvernement
niedergelassen: im Winter lebte sie in ihrem großen Hause in der Stadt,
im Sommer draußen auf ihrem Gute. Nie vorher hatte sie eine solche
gesellschaftliche Bedeutung und soviel Einfluß gehabt, wie in diesen
Jahren, das heißt, bis zur Ernennung des neuen, unseres jetzigen
Gouverneurs. Dessen Vorgänger dagegen, der unvergeßliche, weiche Iwan
Ossipowitsch, war mit ihr nah verwandt, und nicht umsonst hatte sie ihm
manche Wohltat erwiesen. Seine Frau zitterte geradezu bei dem Gedanken,
sie könne Warwara Petrowna irgendwie mißfallen, und so grenzte denn,
nach ihrem Beispiel, die Ehrerbietung der städtischen Kreise vor Warwara
Petrowna fast schon an sündhaften Götzendienst. Bei solchen Zuständen
hatte es natürlich auch Stepan Trophimowitsch gut. Er war Mitglied des
Klubs, verlor würdevoll im Kartenspiel und erwarb sich die allgemeine
Achtung, wenn auch viele in ihm nur einen »Gelehrten« sahen. Späterhin,
als Warwara Petrowna ihm eine eigene Wohnung zu beziehen gestattete, war
unser Verkehr noch zwangloser. Wir versammelten uns etwa zweimal
wöchentlich bei ihm, und dann gab es lustige Abende, besonders wenn er
mit dem Champagner nicht kargte. Er bezog ihn von dem bereits erwähnten
Andrejeff und die Rechnungen wurden halbjährlich von Warwara Petrowna
bezahlt. Der Zahlungstag war dann allerdings fast immer auch ein Tag der
Cholerine.

Das älteste Mitglied des Freundeskreises war Liputin, ein
Gouvernementsbeamter in nicht mehr jungen Jahren, sehr liberal; in der
Stadt galt er für einen Atheisten. Verheiratet war er zum zweiten Male,
mit einer jungen und sehr netten Frau, die sogar eine Mitgift in die Ehe
gebracht hatte. Außerdem hatte er drei halberwachsene Töchter. Diese
ganze Familie hielt er in Gottesfurcht und hinter Schloß und Riegel, war
sehr geizig und hatte sich von seinem Gehalt ein kleines Haus gekauft
und sogar ein Kapital erspart. Er war ein unruhiger Mensch, dazu als
Beamter nur von niedriger Rangklasse; in der Stadt wurde er nicht
sonderlich geachtet und die bessere Gesellschaft verkehrte nicht mit
ihm. Überdies war er ein berüchtigtes Klatschmaul und schon mehr als
einmal dafür bestraft worden, sogar schmerzhaft, das erstemal von einem
Offizier, ein anderes Mal von einem achtbaren Familienvater und
Gutsbesitzer. Wir dagegen liebten seinen scharfen Verstand, seine
Wißbegier, seine eigentümliche boshafte Lustigkeit. Warwara Petrowna
mochte ihn nicht, aber er verstand es immer irgendwie, sich ihr
anzupassen.

Auch Schatoff, ein anderer aus diesem Kreise, der jedoch erst im letzten
Jahre in ihn eintrat, erfreute sich nicht der besonderen Zuneigung
Warwara Petrownas. Schatoff war früher Student gewesen, war aber nach
einem Studentenkrawall relegiert worden. Auf die Welt war er noch als
Warwara Petrownas Leibeigener gekommen, als Sohn ihres verstorbenen
Kammerdieners Pawel Fjodoroff, weshalb sie sich seiner besonders
angenommen und ihn als Knaben von Stepan Trophimowitsch hatte
unterrichten lassen. Sie mochte ihn nicht wegen seines Stolzes und
seiner Undankbarkeit und konnte es ihm nicht verzeihen, daß er nach
seiner Relegation nicht sofort nach Skworeschniki zurückgekehrt war. Ja,
auf ihren eigens deshalb geschriebenen Brief an ihn hatte er seinerzeit
überhaupt nicht geantwortet, sondern es vorgezogen, in der Familie eines
gebildeteren Kaufmanns Kinder zu unterrichten und mit ihr ins Ausland zu
fahren, mehr als Kinderwärter, denn als Erzieher. Zugleich jedoch fuhr
eine Gouvernante mit, ein junges, lebhaftes russisches Fräulein, und als
der Kaufmann diese nach zwei Monaten, wegen »freier Anschauungen«
wegjagte, zog es auch Schatoff vor, sich langsam davon zu machen, ihr
nach Genf nachzureisen und sich dort mit ihr trauen zu lassen. In Genf
verlebten sie ungefähr drei Wochen zusammen, dann aber trennten sie
sich, als freie Menschen, die durch nichts aneinander gebunden waren --
nicht zuletzt auch deshalb, weil sie kein Geld hatten. Schatoff trieb
sich darauf noch eine Weile in Europa umher, lebte Gott weiß wovon: man
sagt, er habe auf der Straße Stiefel geputzt und sei in einer Hafenstadt
Lastträger gewesen. Schließlich aber kehrte er doch in seine Heimatstadt
zurück, vor knapp einem Jahre, und zog zu seiner alten Tante, die aber
bereits nach einem Monat starb. Zu seiner Schwester Dascha, Warwara
Petrownas Zögling und besonderem Liebling, die bei ihr wie eine
gesellschaftlich Gleichstehende lebte, hatte er nur seltene und
entfernte Beziehungen. Unter uns war er immer finster und schweigsam,
und nur zuweilen, wenn man an seine Überzeugungen rührte, war er von
einer krankhaften Reizbarkeit und dann sehr unvorsichtig in seinen
Äußerungen. »Schatoff muß man zuerst anbinden, wenn man mit ihm
disputieren will,« pflegte Stepan Trophimowitsch zu scherzen; aber er
liebte ihn. Im Auslande hatte Schatoff einige seiner sozialistischen
Überzeugungen vollständig geändert und war zum entgegengesetzten Extrem
übergegangen. Er war eines jener idealen russischen Geschöpfe, die
plötzlich von irgendeiner starken Idee getroffen und auf der Stelle
gleichsam zu Boden gedrückt werden von ihrer Schwere, manchmal sogar für
immer. Sie sind niemals imstande, mit ihr fertig zu werden, sondern
beginnen sogleich leidenschaftlich an sie zu glauben, und so vergeht
dann ihr ganzes Leben wie in den letzten Krämpfen unter einem auf ihnen
lastenden Steine, der sie halbwegs schon erdrückt hat. Schatoffs Äußeres
entsprach vollkommen seinen Überzeugungen: er war plump, blond, stark
behaart, von niedrigem Wuchs, mit breiten Schultern, hatte dicke Lippen,
sehr dichte, überhängende, weißblonde Augenbrauen, eine finstere Stirn,
unfreundlichen, hartnäckig gesenkten, und sich gleichsam wegen
irgendetwas schämenden Blick. Sein Haupthaar bildete an einer Stelle
einen Büschel, der sich um keinen Preis ankämmen ließ und daher immer in
die Höhe stand. Er war ungefähr sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt.
»Ich wundere mich nicht mehr darüber, daß seine Frau von ihm weggelaufen
ist,« meinte Warwara Petrowna einmal, nachdem sie ihn aufmerksam
gemustert hatte. Dabei bemühte sich Schatoff, trotz seiner großen Armut,
wenigstens immer sauber gekleidet zu sein. Nach seiner Rückkehr hatte er
Warwara Petrowna wieder nicht um Unterstützung gebeten, sondern sich
durchgeschlagen, so gut es eben gehen wollte; er arbeitete bei
Kaufleuten oder sonstwie. Einmal saß er in einem Laden; darauf sollte er
als Gehilfe des Transportführers mit einem Frachtschiff wegfahren, aber
da erkrankte er kurz vor der Abfahrt. Man kann sich kaum eine
Vorstellung davon machen, welch einen Grad von Armut Schatoff zu
ertragen fähig war, und sogar ohne es zu merken. Nach der Krankheit
übersandte ihm Warwara Petrowna heimlich und ungenannt hundert Rubel. Er
erfuhr aber schließlich, von wem die Summe stammte, sann lange nach,
nahm sie dann doch an und ging geraden Weges zu Warwara Petrowna, um
sich bei ihr zu bedanken. Sie empfing ihn herzlich, aber auch diesmal
enttäuschte er schmählich ihre Erwartungen: er saß ihr nur fünf Minuten
gegenüber, schwieg fast die ganze Zeit, sah zu Boden, lächelte blöde,
und plötzlich, gerade an der interessantesten Stelle des Gesprächs,
stand er auf, machte eine schiefe und ungeschickte Verbeugung, schämte
sich dabei zu Tode und -- krach! hinter ihm lag Warwara Petrownas
kostbares und kunstvolles Nähtischchen zerschlagen am Boden, und
Schatoff verließ das Zimmer mehr tot als lebendig. Liputin tadelte ihn
wegen der ganzen Geschichte heftig: einmal, weil er die hundert Rubel
von seiner früheren Herrin und Despotin nicht mit Verachtung
zurückgewiesen hatte und dann, weil er auch noch zur Danksagung
hingegangen war. Schatoff wohnte am äußersten Ende der Stadt und er sah
es nicht gern, wenn ihn jemand, selbst von uns, besuchte. Zu den Abenden
bei Stepan Trophimowitsch erschien er regelmäßig und lieh dann Bücher
und Zeitungen von ihm.

Ein anderer aus unserem Kreise, ein gewisser Wirginski, erinnerte,
obgleich er scheinbar in allem Schatoffs vollständiges Gegenteil war,
innerlich doch sehr an ihn. Es war das ein hiesiger Beamter, gleichfalls
ein »Ehemann«, ein bedauernswerter junger Mensch von schon dreißig
Jahren, mit bedeutenden Kenntnissen, die er größtenteils auf
autodidaktischem Wege erworben hatte. Auch Wirginski war arm, dabei
verheiratet, und obendrein noch gezwungen, Tante und Schwester seiner
Frau zu ernähren. Diese drei Damen teilten die allerneuesten
Anschauungen, nur daß sie bei ihnen etwas vulgär herauskamen, gleich
»auf die Straße geschleppten Ideen«, wie sich Stepan Trophimowitsch
einmal bei einem anderen Anlaß ausdrückte. Sie schöpften alles aus
Büchern und waren jederzeit bereit, alles, was noch irgendwie unmodern
war, zum Fenster hinaus zu werfen -- wenn nur aus den fortschrittlichen
Winkeln der Hauptstädte das zu tun angeraten wurde. Madame Wirginskaja
hatte als Mädchen lange in Petersburg gelebt; jetzt war sie Hebamme in
unserer Stadt. Wirginski selbst war ein Mensch von seltener
Herzensreinheit, und nie in meinem Leben habe ich eine ehrlichere
Begeisterung gesehen. »Niemals, niemals werde ich von diesen lichten
Hoffnungen lassen,« sagte er zu mir mit leuchtenden Augen. Von diesen
»lichten Hoffnungen« sprach er stets nur leise mit Wonnegefühl und
flüsternd, wie von einem Geheimnis. Er war ziemlich hoch von Wuchs, aber
sehr dünn und schmal in den Schultern, blaß, mit sehr spärlichem, leicht
rötlichem Haar. Den oft recht hochmütigen Spott Stepan Trophimowitschs
über die eine oder andere seiner Meinungen ertrug er sanftmütig, doch
zuweilen widersprach er ihm sehr ernst und setzte ihn durch seine
Einwände in Verlegenheit. Im übrigen ging Stepan Trophimowitsch
freundlich mit ihm um, ja und überhaupt verhielt er sich zu uns allen
väterlich.

»Alle seid ihr von den >unausgebrüteten<,« bemerkte er einmal scherzhaft
zu Wirginski, »wenn ich auch gerade an Ihnen, Wirginski, nicht diese
Be--schränkt--heit bemerkt habe, wie ich sie in Petersburg _chez ces
séminaristes_{[5]} angetroffen; aber trotzdem sind Sie unausgebrütet.
Schatoff möchte furchtbar gern ausgebrütet sein, aber auch er ist
unausgebrütet.«

»Und ich?« fragte Liputin.

»Sie, -- Sie sind einfach die goldene Mitte, die sich überall einlebt
... auf ihre Art.« Liputin schwieg gekränkt.

Man erzählte sich von Wirginski, und leider war es nur zu glaubwürdig,
was man sich erzählte, seine Frau habe ihm bereits nach dem ersten Jahr
ihrer Ehe eines schönen Tages mitgeteilt, daß er von nun an abgesetzt
sei, und daß ein gewisser Herr Lebädkin seine Stelle einnehmen werde.
Dieser Herr Lebädkin, ein Zugereister, stellte sich später als eine sehr
fragwürdige Erscheinung heraus, die vor allem nicht das geringste Recht
auf den sich selber beigelegten Titel eines Hauptmanns a. D. hatte. Was
er verstand, das war lediglich den Schnurrbart zu drehen, zu trinken und
den größten Unsinn zu schwatzen. Er war dabei taktlos genug, sofort zu
Wirginskis überzusiedeln, freute sich hier vor aller Welt des freien
Tisches und begann zu guter Letzt noch, den Hausherrn von oben herab zu
behandeln. Man behauptete übrigens, daß Wirginski seiner Frau, nachdem
sie ihm jene Mitteilung gemacht, geantwortet habe: »Mein Freund, bis
jetzt habe ich dich nur geliebt, aber von nun ab achte ich dich.« In
Wirklichkeit wird wohl kaum ein so altrömischer Ausspruch gefallen sein,
und manche behaupten denn auch, daß er im Gegenteil schrecklich geweint
habe. Eines Tages, etwa zwei Wochen nach seiner Absetzung, begaben sie
sich alle, die ganze »Familie«, in das Wäldchen vor der Stadt, um dort
mit Bekannten Tee zu trinken. Wirginski war geradezu fieberhaft lustig
gestimmt und beteiligte sich am Tanz; doch plötzlich, und zwar ohne
jeden vorhergegangenen Streit, packte er den Hünen Lebädkin, der solo
einen Cancan tanzte, mit beiden Händen an den Haaren, riß ihn nieder und
begann ihn kreischend, schreiend und weinend zu zerren und zu hauen. Der
Hüne erschrak dermaßen, daß er sich nicht einmal wehrte, und solange der
andere ihn prügelte, fast nicht muckste; nachher freilich spielte er
dann mit dem ganzen Feuer eines edlen Menschen den Beleidigten.
Wirginski bat seine Frau die ganze Nacht auf den Knien um Verzeihung,
doch die ward ihm nicht gewährt, da er sich immerhin nicht bereit
erklärte, auch Lebädkin um Entschuldigung zu bitten; außerdem wurde ihm
Mangel an Überzeugungstreue und Dummheit vorgeworfen; letzteres deshalb,
weil er »während einer Auseinandersetzung mit einer Frau« vor dieser auf
den Knien gelegen. Der »Hauptmann« verschwand bald darauf und erschien
erst in allerletzter Zeit wieder in unserer Stadt, mit seiner Schwester
und mit neuen Absichten; doch davon später. Es war also kein Wunder, daß
der arme »Familienmensch« bei uns Ablenkung suchte und ein Bedürfnis
nach unserer Gesellschaft hatte. Von seinen häuslichen Angelegenheiten
sprach er bei uns übrigens nie. Nur einmal, als er mit mir von Stepan
Trophimowitsch heimging, war es, als wollte er etwas über seine Lage
verlauten lassen, doch schon im nächsten Augenblick rief er, indem er
meine Hand ergriff, flammend aus: »Aber das tut ja nichts, das ist ja
nur eine Privatangelegenheit; das stört doch die >allgemeine Sache<
nicht im geringsten, nicht im geringsten!«

Es kamen auch noch andere, mehr zufällige Gäste zu unseren Abenden:
beispielsweise der kleine Jude Lämschin, ferner ein Hauptmann Kartusoff.
Vorübergehend kam manchmal auch noch ein wißbegieriger alter kleiner
Herr, aber der starb. Einmal führte Liputin einen verbannten polnischen
Geistlichen, Slonzewski, bei uns ein, und anfangs ließen wir ihn aus
Grundsatz an unseren Abenden teilnehmen, dann aber lehnten wir ihn doch
ab.


                                  IX.

Eine Zeitlang hieß es von uns in der Stadt, unser Kreis sei eine
Pflanzstätte der Freigeisterei, der Sittenverderbnis und der
Gottlosigkeit; ja eigentlich behauptete sich dieser Ruf sogar die ganze
Zeit. Und dabei gab es bei uns doch nur das allerunschuldigste, liebe,
echt russische, heitere, liberale Geschwätz. Der »höhere Liberalismus«
und der »höhere Liberale«, d. h. ein Liberaler ohne jedes Ziel, sind ja
nur in Rußland möglich. Stepan Trophimowitsch brauchte, wie jeder
wortwitzige Mensch, ganz einfach einen Zuhörer, und außerdem war ihm das
Bewußtsein unentbehrlich, daß er die höchste Pflicht, Ideen zu
verbreiten, erfülle. Und schließlich mußte man doch jemanden haben, mit
dem man Champagner trinken und so beim Glase eine gewisse Art heiterer
Gedanken über Rußland und den »russischen Geist«, über Gott im
allgemeinen und den russischen Gott im besonderen austauschen konnte.
Aber auch dem Stadtklatsch waren wir ganz und gar nicht abgeneigt und
gelangten manchmal zu strengen, hochmoralischen Verurteilungen. Wir
gerieten auch auf das Thema der Weltgeschichte, erörterten ernst das
zukünftige Schicksal Europas und der Menschheit; prophezeiten doktrinär,
daß Frankreich nach dem Cäsarismus mit einem Schlage auf die Stufe eines
Staates zweiten Ranges herabsinken werde, und waren vollkommen
überzeugt, daß das ungeheuer schnell und leicht geschehen könne. Dem
Papst hatten wir schon längst die Rolle eines gewöhnlichen Metropoliten
in dem geeinigten Italien vorausgesagt, und waren vollkommen überzeugt,
daß diese ganze tausendjährige Frage in unserem Jahrhundert der
Humanität, der Industrie und der Eisenbahnen nur eine Lappalie sei. Aber
der »höhere russische Liberalismus« verhält sich ja nun einmal nicht
anders zu der Sache. Manchmal sprach Stepan Trophimowitsch auch über die
Kunst, und zwar sehr gut, bloß leider ein wenig zu abstrakt. Hin und
wieder kam er auch auf seine Jugendfreunde zu sprechen -- lauter
Persönlichkeiten, die in der Geschichte unserer Entwicklung ihren Platz
haben --, er gedachte ihrer mit Rührung und Verehrung, aber ein wenig
auch wie mit Neid. Wurde es einmal gar zu langweilig, dann setzte sich
das Jüdchen Lämschin (ein kleiner Postbeamter), der meisterhaft Klavier
spielte, an das Instrument, und zwischen den Stücken, die er vortrug,
ahmte er in Tönen das Grunzen eines Schweines nach, oder ein Gewitter,
oder eine Entbindung mit dem ersten Schrei des Kindes usw., usw.; nur
deswegen wurde er auch eingeladen. Hatten wir stark getrunken -- und das
kam vor, wenn auch nicht oft --, so gerieten wir meist in Begeisterung,
und einmal sangen wir sogar im Chor, zu Lämschins Begleitung, die
Marseillaise, nur weiß ich nicht, ob das, was dabei herauskam, auch
wirklich die Marseillaise war. Den großen Tag des 19. Februar[17]
feierten wir natürlich mit Enthusiasmus, und gewöhnten uns diese Feier
mit Wein und Toasten auch in den folgenden Jahren noch lange nicht ab.
Übrigens: einige Zeit vor dem großen Tage hatte Stepan Trophimowitsch
sich angewöhnt, ein paar geschraubte Strophen vor sich hinzumurmeln, die
damals allen bekannt waren:

   »Es nahen die Männer, die Äxte geschärft,
   Bereiten Schreckliches vor!«

Als Warwara Petrowna das einmal vernahm, rief sie: »Was für ein Unsinn!«
und verließ erzürnt das Zimmer. Liputin aber, der gerade zugegen war,
bemerkte boshaft zu Stepan Trophimowitsch: »Aber es wäre doch schade,
wenn die früheren Leibeigenen den Herren Gutsbesitzern etwas
Unangenehmes bereiteten,« -- und er fuhr sich mit dem Zeigefinger um den
Hals herum.

»_Cher ami_,«{[6]} erwiderte ihm hierauf Stepan Trophimowitsch gutmütig,
»glauben Sie mir, daß _dieses_« (er wiederholte die Geste um den Hals
herum) »nicht den geringsten Nutzen brächte, weder unseren
Gutsbesitzern, noch uns anderen insgesamt. Auch ohne Köpfe würden wir
nichts herzustellen verstehen, obschon gerade unsere Köpfe uns am
meisten hindern, etwas zu verstehen.«

Ich muß bemerken, daß viele bei uns annahmen, am Tage des Manifestes
werde etwas Ungewöhnliches geschehen; etwas von der Art, wie es Liputin
andeutete. Es scheint, daß auch Stepan Trophimowitsch diese
Befürchtungen teilte, und sogar in solchem Maße, daß er kurz vor dem
großen Tage Warwara Petrowna plötzlich zu bitten begann, ins Ausland
reisen zu dürfen. Aber der große Tag verging, es vergingen noch mehr
Tage, und das hochmütige Lächeln erschien wieder auf Stepan
Trophimowitschs Lippen. Übrigens äußerte er damals einige bemerkenswerte
Gedanken über den Charakter des Russen im allgemeinen und des russischen
Bauern im besonderen. Er meinte schließlich:

»Als hitzige Leute sind wir etwas voreilig gewesen mit unseren
Bäuerlein. Wir haben sie in Mode gebracht, und ein ganzer Zweig unserer
Literatur hat sich mehrere Jahre lang nur mit ihnen abgegeben, wie mit
einer neuentdeckten Kostbarkeit. Wir haben Lorbeerkränze auf verlauste
Köpfe gesetzt. Das russische Dorf hat uns im Laufe der ganzen tausend
Jahre nichts weiter gegeben als den Nationaltanz, den Kamárinski. Hat
doch ein hervorragender russischer Dichter, dem es überdies nicht an
Scharfsinn fehlte, ausgerufen, als er zum erstenmal die große Rachel auf
der Bühne sah: >Die Rachel tausche ich nicht gegen einen russischen
Bauern ein!< Ich bin bereit, noch viel weiter zu gehen: ich würde sogar
alle russischen Bauern für die eine Rachel hingeben. Es ist Zeit,
nüchterner zu urteilen und nicht unseren einheimischen unfeinen
Teergeruch mit _bouquet de l'impératrice_{[7]} zu verwechseln.«

Liputin stimmte ihm sofort bei, meinte aber, daß sich zu verstellen und
die Bäuerlein zu verherrlichen damals immerhin um der Richtung[18]
willen notwendig gewesen sei; daß sogar die Damen der höchsten
Gesellschaftskreise bei der Lektüre des »Anton Pechvogel«[19] Tränen
vergossen hätten, und manche hätten sogar aus Paris an ihre
Gutsverwalter geschrieben, sie sollten von nun an mit den Bauern
möglichst human umgehen.

Da geschah es eines Tages, und zum Unglück gerade nach den ersten
Gerüchten von Anton Petrowitsch[20], daß es auch in unserem
Gouvernement, und nur 15 Werst von Skworeschniki, zu einem gewissen
Mißverständnis kam, so daß man in der ersten Hitze ein Militärkommando
hinschickte. Über diesen Vorfall regte sich Stepan Trophimowitsch
ungeheuer auf. Im Klub schrie er, wir brauchten mehr Militär; er eilte
zum Gouverneur, um zu versichern, daß er mit diesen Umtrieben nichts zu
schaffen habe, und er bat, ihn nicht in diese Sache hineinzuziehen, auf
Grund der Erinnerung an Gewesenes. Zum Glück ging das alles bald vorüber
und löste sich in nichts auf; nur mußte ich mich damals doch über Stepan
Trophimowitsch wundern.

Drei Jahre später[21] begann man, wie erinnerlich, vom Nationalismus zu
sprechen und es bildete sich eine »öffentliche Meinung«. Darüber
spottete er sehr.

»Meine Freunde,« belehrte er uns, »sollte unsere Nationalität neuerdings
wirklich geboren oder >im Entstehen begriffen< sein, wie sie jetzt in
den Zeitungen behaupten, dann sitzt sie doch vorläufig gewiß noch in
irgend so einer Petrischule[22], über dem deutschen Buch und lernt ihre
ewige deutsche Lektion. Daß der Lehrer ein Deutscher ist, das lobe ich.
Doch am wahrscheinlichsten dürfte sein, daß nichts geschehen wird und
nichts >im Entstehen begriffen< ist, sondern alles so weitergeht wie
ehedem, nämlich einfach unter Gottes Schutz! Meinem Dafürhalten nach
genügt das auch für Rußland, _pour notre sainte Russie_.{[8]} Zudem sind
doch alle diese Nationalismen und das Allslawentum viel zu alt, um neu
zu sein. Die Nationalität ist doch bei uns, wenn Sie wollen, noch nie
anders in Erscheinung getreten, als in Gestalt eines Einfalls müßiger
Klubherren, und zum Überfluß noch eines Moskauer Klubs. Ich rede
natürlich nicht von den Zeiten Igors[23]. Und schließlich kommt doch
alles nur vom Müßigsein. Jedenfalls bei uns alles vom Müßigsein, auch
das Gute, auch das Schöne. Alles von unserem herrschaftlichen, lieben,
gebildeten, launenzüchtenden Müßigsein! Dreißigtausend Jahre lang
wiederhole ich das schon! Wir verstehen nicht, von eigener Arbeit zu
leben. Und was reden sie nur so viel von dieser öffentlichen Meinung,
die es bei uns jetzt auf einmal geben soll, -- so plötzlich, wie ohne
weiteres fertig vom Himmel gefallen? Begreifen die Leute denn wirklich
nicht, daß zur Erlangung einer eigenen Meinung vor allen Dingen Arbeit
gehört, eigene Mühe, eigener Versuch in der Sache, eigene Erfahrung!
Ohne eigene Mühe wird nie etwas erworben. Wenn wir arbeiten werden,
werden wir auch eine eigene Meinung haben. Da wir aber niemals arbeiten
werden, so wird auch immer die Meinung derjenigen maßgebend sein, die an
unserer Statt bisher gearbeitet haben, also die Meinung immer desselben
Europa, immer derselben Deutschen, die ja schon seit zwei Jahrhunderten
unsere Lehrer sind. Überdies ist Rußland ein viel zu großes
Mißverständnis, als daß wir allein es erklären könnten, ohne die
Deutschen und ohne Arbeit. Schon seit zwanzig Jahren läute ich die
Alarmglocke und rufe zur Arbeit! Ich habe mein Leben dafür hingegeben,
um aufzuwecken und zu rufen, und habe geglaubt, ich Tor, daß es nicht
vergeblich sei! Jetzt glaube ich das nicht mehr, aber ich werde trotzdem
bis zum Schluß läuten, bis man mir den Strang aus der Hand nimmt, um zu
meiner Seelenmesse zu läuten!«

Leider stimmten wir ihm damals bei. Aber hört man denn nicht auch jetzt
noch oft genug genau solchen »lieben«, »klugen«, »liberalen«, alten,
russischen Unsinn?

An Gott glaubte unser Lehrer. »Ich begreife nicht, warum mich hier alle
als einen Gottleugner hinstellen?«, sagte er manchmal. »Ich glaube an
Gott, _mais distinguons_:{[9]} ich glaube an ihn wie an ein Wesen, das
sich Seiner in mir nur bewußt wird. Ich kann doch nicht wie Nastassja
glauben« (sein Dienstmädchen), »oder wie irgend so ein begüterter Herr,
der nur >für alle Fälle< glaubt, oder wie unser lieber Schatoff, --
übrigens nein, Schatoff kommt hier nicht in Frage. Schatoff glaubt
_gewaltsam_, wie ein Moskauer Slawophile. Was aber das Christentum
betrifft, so bin ich, bei all meiner aufrichtigen Hochachtung vor ihm,
doch kein Christ. Eher bin ich ein Heide der klassischen Vorzeit, wie es
der große Goethe war, oder ein antiker Grieche. Schon dieses Eine, daß
das Christentum für das Weib kein Verständnis hatte! -- wie das George
Sand in einem ihrer genialen Romane so glänzend auseinandergesetzt hat.
Und was den Ritus, Fasten und dergleichen betrifft, ja da begreife ich
nicht, wen das etwas angeht, wie ich mich dazu verhalte? Mögen unsere
hiesigen Denunzianten sich auch noch so sehr bemühen, zum Jesuiten will
ich deshalb doch nicht werden. 1847 schrieb Belinski aus dem Auslande an
Gogol seinen bekannten Brief, in dem er ihm heftig vorwarf, daß er an
>irgendeinen Gott< glaube. _Entre nous soit dit_,{[10]} ich kann mir
nichts Komischeres denken, als den Augenblick, da Gogol (der Gogol von
damals![24]) diesen Brief las! Ja, das waren doch Männer! Sie liebten
doch ihr Volk, sie waren imstande, um des Volkes willen zu leiden, ja
sogar alles fürs Volk zu opfern, und doch waren sie gleichzeitig Manns
genug, diesem Volk nicht beizupflichten, wenn es galt, die eigene
Überzeugung zu wahren, ihm nicht nachsichtig in gewissen Anschauungen zu
Gefallen zu reden. Ein Belinski konnte doch nicht in Fastenöl oder in
Rettich mit Erbsen das Heil suchen! ...«

Doch hier ergriff Schatoff Partei:

»Nie haben diese Ihre Männer das Volk geliebt, nie um des Volkes willen
gelitten und nichts haben sie fürs Volk geopfert, wie sehr sie sich das
auch eingebildet haben mögen!« brummte er unwirsch mit ungeduldigem
Ruck, doch gesenktem Blick.

»Was, die sollen das Volk nicht geliebt haben!« rief Stepan
Trophimowitsch entrüstet. »Oh, und wie haben sie Rußland geliebt!«

»Weder Rußland noch das Volk!« rief nun auch Schatoff erzürnt; seine
Augen funkelten. »Man kann nicht lieben, was man gar nicht kennt, sie
aber hatten ja vom russischen Volke überhaupt keinen Begriff! Alle diese
Männer haben das russische Volk einfach übersehen. Belinski hat genau
wie der Wißbegierige in der Kryloffschen Fabel den Elefanten im Museum
gar nicht bemerkt, da er ja seine ganze Aufmerksamkeit den französischen
sozialistischen Käferchen zuwandte; bei denen ist er auch ewig
geblieben. Und dabei war er doch noch der Gescheiteste von euch allen!
Und nicht nur übersehen haben Sie alle das Volk, Sie haben sich sogar
mit Ekel und Verachtung zu ihm verhalten, schon aus dem einen Grunde,
weil Sie sich unter einem Volk einzig das französische Volk vorzustellen
vermochten, und selbst von diesem nur die Pariser, und Sie schämten
sich, daß das russische Volk nicht ebenso war. Das ist die nackte
Wahrheit! Wer aber kein Volk hat, der hat auch keinen Gott! Seien Sie
versichert, daß alle die, die aufhören, ihr Volk zu verstehen, und die
Verbindung mit ihm verlieren, sofort auch den Glauben der Väter
verlieren und Atheisten oder Indifferente werden. Ich sage damit nur die
Wahrheit! Das ist auch der Grund, weshalb Sie alle und auch wir jetzt
alle entweder widerliche Atheisten oder indifferentes, verderbtes Pack
sind und nichts weiter! Sie gleichfalls, Stepan Trophimowitsch, ich
schließe Sie keineswegs aus, hab's sogar vor allem in bezug auf Sie
gesagt, damit Sie's wissen!«

Nach einem solchen Monolog (und derartige Ausbrüche kamen bei ihm oft
vor) geschah es gewöhnlich, daß Schatoff nach seiner Mütze griff und
sofort zur Tür hinaus wollte, in der festen Überzeugung, daß nun alles
zu Ende sei und er seine freundschaftlichen Beziehungen zu Stepan
Trophimowitsch für immer zerstört habe. Doch der verstand es stets, ihn
rechtzeitig zurückzuhalten.

»Ei, sollten wir nicht Frieden schließen, Schatoff, nach all diesen
netten Wörtchen?« pflegte er dann zu ihm zu sagen, indem er ihm von
seinem Lehnstuhl aus gutmütig die Hand hinstreckte.

Der plumpe, doch leicht verlegen werdende und sich schämende Schatoff
war kein Freund von Zärtlichkeiten. Äußerlich war er ein rauher Mensch,
doch innerlich war er, glaube ich, unendlich zartfühlend. Wohl
überschritt er oft das Maß, aber er war selbst der erste, der darunter
litt. Auf Stepan Trophimowitschs versöhnliche Worte brummte er etwas vor
sich hin, trat wie ein Bär auf demselben Fleck von einem Bein auf das
andere, schmunzelte plötzlich ganz unvermittelt, legte die Mütze wieder
aus der Hand und setzte sich schließlich auf seinen alten Platz, den
Blick die ganze Zeit hartnäckig zu Boden gesenkt. Natürlich gab es dann
sofort Wein und Stepan Trophimowitsch brachte einen passenden Toast aus,
z. B. auf das Andenken eines jener früheren bedeutenden Männer.




                            Zweites Kapitel.
                     Prinz Heinz. Die Brautwerbung.


                                   I.

Außer Stepan Trophimowitsch gab es auf der Welt noch ein Wesen, an dem
Warwara Petrowna nicht weniger hing als an ihm: das war ihr einziger
Sohn Nicolai Wszewolodowitsch Stawrogin. Für ihn war seinerzeit Stepan
Trophimowitsch als Erzieher angenommen worden. Der Knabe war damals acht
Jahre alt und seine Eltern lebten bereits getrennt, so daß das Kind nur
unter der Obhut der Mutter heranwuchs. Man muß es Stepan Trophimowitsch
lassen: er verstand es, seinen Zögling an sich zu fesseln. Sein ganzes
Geheimnis bestand darin, daß er selbst noch ein Kind war. Ich war damals
noch nicht hier, er aber bedurfte ja beständig eines Freundes, und er
trug kein Bedenken, ein so junges Wesen zu seinem Vertrauten zu machen.
Ja, es machte sich ganz von selbst, daß zwischen ihnen nicht der
geringste Abstand fühlbar ward. Oft weckte er seinen zehn- oder
elfjährigen Freund in der Nacht auf, nur um ihm unter Tränen sein
gekränktes Herz auszuschütten oder ihm ein Familiengeheimnis zu
enthüllen, ohne gewahr zu werden, daß so etwas denn doch unzulässig war.
Sie fielen einander um den Hals und weinten. Von seiner Mutter wußte der
Knabe, daß sie ihn sehr liebte; doch er selbst liebte sie wohl kaum. Sie
sprach wenig mit ihm, tat ihm selten einen Zwang an, aber ihr aufmerksam
ihm folgender Blick wurde von ihm immer krankhaft intensiv gespürt. Den
Unterricht und die moralische Erziehung überließ sie übrigens ganz
Stepan Trophimowitsch. Damals glaubte sie an ihn noch ohne
Einschränkung. Es ist anzunehmen, daß der Lehrer die Nerven seines
Zöglings ein wenig angegriffen hat: als dieser mit sechzehn Jahren auf
das Lyzeum gebracht wurde, war er schwächlich und blaß, seltsam still
und nachdenklich. (Später zeichnete er sich durch außergewöhnliche
Körperkraft aus.) Anzunehmen ist ferner, daß die Freunde nachts nicht
immer nur über irgendwelche Familiengeschichten weinten. Stepan
Trophimowitsch hatte es verstanden, im Herzen seines Freundes die
tiefsten Saiten zu berühren, und in ihm das erste, noch unbestimmte
Empfinden jener ewigen, heiligen Sehnsucht hervorzurufen, die manche
auserwählte Seele, die sie einmal gekostet und erkannt hat, nachher
schon nie mehr gegen eine billige Zufriedenheit eintauschen mag. (Es
gibt auch solche Liebhaber dieser Sehnsucht, denen sie teurer ist als
die vollkommenste Zufriedenheit, selbst wenn eine solche für sie
wirklich erreichbar wäre.) Jedenfalls aber war es gut, daß der Zögling
und der Erzieher, wenn auch spät, voneinander getrennt wurden.

Während der ersten zwei Jahre im Lyzeum kam der Jüngling in den Ferien
nach Haus. Als dann Warwara Petrowna und Stepan Trophimowitsch sich in
Petersburg aufhielten, fand auch er sich manchmal zu den literarischen
Abenden im Salon seiner Mutter ein, hörte zu und beobachtete. Er sprach
wenig und war wie immer still und schüchtern. Zu Stepan Trophimowitsch
verhielt er sich mit der früheren zarten Aufmerksamkeit, war aber doch
etwas zurückhaltender: von hohen Dingen und Erinnerungen an Vergangenes
zu sprechen vermied er sichtlich. Als er das Lyzeum absolviert hatte,
trat er auf den Wunsch der Mutter beim Militär ein und wurde bald in
eines der angesehensten Garde-Kavallerieregimenter aufgenommen. Er kam
aber nicht zur Mutter, um sich ihr in der Uniform zu zeigen, und schrieb
aus Petersburg immer seltener. Geld schickte ihm Warwara Petrowna ohne
zu sparen, obschon die Einnahmen von ihren Gütern nach der Aufhebung der
Leibeigenschaft so zurückgegangen waren, daß sie in der ersten Zeit
nicht einmal die Hälfte der früheren Summen erhielt. Für die Erfolge
ihres Sohnes in der höchsten Petersburger Gesellschaft interessierte sie
sich sehr. Was ihr nicht gelungen war, gelang dem jungen, reichen und
hoffnungsvollen Offizier ohne weiteres. Er erneuerte Bekanntschaften, an
die sie nicht mehr hatte denken können, und überall wurde er mit dem
größten Vergnügen aufgenommen. Doch schon sehr bald begannen seltsame
Gerüchte ihr zu Ohren zu kommen: es hieß, der junge Mann habe ganz
plötzlich und geradezu sinnlos toll zu leben begonnen. Nicht, daß er
spiele oder trinke; aber man sprach von einer wilden Zügellosigkeit, von
Menschen, die er mit seinen Trabern überfahren hatte, von einer
grausamen Rücksichtslosigkeit gegen eine Dame der guten Gesellschaft,
mit der er in Beziehungen gestanden und die er dann öffentlich beleidigt
habe. Ja, in dieser Sache sei sogar etwas schon gar zu unverhüllt
Schmutziges hervorgetreten. Und überhaupt sei er, wie man hinzufügte,
ein herausfordernder Streitsucher, bändele an und beleidige dann einfach
aus Lust am Beleidigen. Warwara Petrowna regte sich auf und war
bekümmert. Stepan Trophimowitsch versicherte ihr, das seien nur die
ersten stürmischen Ausbrüche eines allzu reich Veranlagten, das Meer
werde sich schon wieder beruhigen, und alles das erinnere nur an die
Jugend des Prinzen Heinz, der mit Falstaff, Poins und Mrs. Quickly seine
Streiche vollführte. Diesmal rief Warwara Petrowna nicht »Unsinn, alles
Unsinn!« wie sie es sich in der letzten Zeit Stepan Trophimowitschs
Auseinandersetzungen gegenüber angewöhnt hatte; im Gegenteil, sie hörte
sehr aufmerksam zu, ließ sich alles ausführlich erklären, nahm dann
selbst den Shakespeare zur Hand und las überaus achtsam das unsterbliche
Werk. Doch die Lektüre beruhigte sie nicht, auch fand sie die
Ähnlichkeit nicht so groß. Fieberhaft erwartete sie die Antworten auf
mehrere Briefe. Die blieben auch nicht aus; bald traf die unheilvolle
Nachricht ein, Prinz Heinz habe fast zu gleicher Zeit zwei Duelle
gehabt, sei bei beiden der einzig Schuldige gewesen, habe den einen
Gegner auf der Stelle niedergestreckt und den anderen zum Krüppel
geschossen und infolgedessen sei er vor Gericht gestellt. Es endete
damit, daß er zum Gemeinen degradiert, seiner Rechte beraubt und
strafweise in eines der Linien-Infanterieregimenter versetzt wurde, und
das war noch als ein besonders gnädiges Urteil zu betrachten.

Im Jahre 1863 gelang es ihm, sich auszuzeichnen; er erhielt das
Ehrenkreuz und wurde zum Unteroffizier befördert, dann aber merkwürdig
schnell auch zum Offizier. Inzwischen hatte seine Mutter wohl an hundert
Briefe mit Bitten und Beschwörungen nach Petersburg geschrieben und sich
um seinetwillen sogar manches Demütigende erlaubt. Nach seiner
Beförderung nahm der junge Mensch plötzlich seinen Abschied, kam aber
wieder nicht nach Skworeschniki und hörte sogar ganz auf, an die Mutter
zu schreiben. Man erfuhr schließlich auf Umwegen, daß er sich wieder in
Petersburg aufhalte, doch in der früheren Gesellschaft habe man ihn gar
nicht mehr gesehen; er habe sich irgendwo gleichsam versteckt.
Nachforschungen ergaben, daß er in einer sonderbaren Gesellschaft lebte,
sich dem Abschaum der Petersburger Bevölkerung angeschlossen hatte,
irgendwelchen stiefellosen Beamten, verabschiedeten Militärs, die in
angemessener Form um Almosen baten, Trunkenbolden, deren schmutzige
Familien er besuchte, Tage und Nächte in dunklen Spelunken und in Gott
weiß was für Winkelgassen zubrachte, heruntergekommen, verlumpt war, und
daß ihm das offenbar gefalle. Um Geld bat er seine Mutter nicht; er
besaß ja auch selbst ein kleines Gut (den früheren Dorfbesitz des
Generals Stawrogin), das immerhin etwas einbrachte und das er, wie
verlautete, an einen Deutschen aus Sachsen verpachtet hatte. Schließlich
bat ihn die Mutter doch sehr, zu ihr zu kommen, und Prinz Heinz erschien
in unserer Stadt. Damals sah ich ihn zum erstenmal.

Er war ein sehr schöner junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, und
ich muß gestehen, seine Erscheinung überraschte mich. Ich hatte
erwartet, einen schmutzigen, verkommenen, von Ausschweifungen
ausgemergelten, nach Branntwein riechenden Menschen zu erblicken. Statt
dessen erblickte ich den elegantesten Gentleman, der mir je zu Gesicht
gekommen ist. Tadellos gekleidet und von einer Haltung, wie sie nur ein
Herr, der an den feinsten Anstand gewöhnt ist, haben kann. Ich war nicht
der einzige, der staunte: es staunte die ganze Stadt, der übrigens Herrn
Stawrogins Lebensgeschichte sogar mit solchen Einzelheiten bekannt war,
daß man sich kaum zu erklären vermochte, wie diese hier in die
Öffentlichkeit hatten gelangen können. Alle unsere Damen verloren den
Verstand vor Aufregung über den neuen Gast. Sie teilten sich in zwei
schroff entgegengesetzte Parteien: von der einen wurde er vergöttert,
von der anderen gehaßt bis zum Blutrachedurst; den Verstand freilich
hatten beide Parteien verloren. Für die einen hatte es einen besonderen
Reiz, daß sich in seiner Seele vielleicht ein schreckliches Geheimnis
barg; anderen gefiel es entschieden, daß er ein Mörder war. Es stellte
sich auch heraus, daß er eine überaus annehmbare Bildung und sogar
einige wissenschaftliche Kenntnisse besaß. Von letzteren war allerdings
nicht viel nötig, um uns in Erstaunen zu setzen; aber er konnte auch
über aktuelle und sehr interessante Fragen sprechen und sogar mit
auffallender Besonnenheit. Erwähnt sei noch als Seltsamkeit: alle fanden
hier, daß er ein überaus vernünftiger Mensch sei. Er war nicht sehr
gesprächig, formvollendet ohne Gesuchtheit, erstaunlich bescheiden und
dabei kühn und selbstbewußt, wie bei uns sonst niemand. Unsere Stutzer
sahen auf ihn mit Neid und kamen neben ihm überhaupt nicht in Betracht.
Auch sein Gesicht überraschte mich: das Haar war fast schon gar zu
schwarz, die hellen Augen fast schon zu ruhig und klar, die
Gesichtsfarbe fast schon zu zart und weiß, die Wangenröte ebenfalls wie
ein wenig zu grell und rein, die Zähne wie Perlen, die Lippen wie
Korallen, -- man sollte meinen, ein bildschöner Mann, und doch war diese
Schönheit gleichsam auch abstoßend. Manche sagten, sein Gesicht erinnere
an eine Maske; doch übrigens, was wurde nicht alles gesagt. Unter
anderem sprach man auch viel von seiner außergewöhnlichen Körperkraft.
Dabei war er von Gestalt beinahe hoch gewachsen. Warwara Petrowna
blickte mit Stolz auf ihren Sohn, aber immer auch mit Unruhe. Er lebte
bei uns etwa ein halbes Jahr -- träge, still, ziemlich verdrossen; er
verkehrte in der Gesellschaft, und erfüllte mit standhafter
Aufmerksamkeit alle Vorschriften unserer Gouvernementsstadt-Etikette.
Mit dem Gouverneur war er väterlicherseits verwandt und verkehrte in
seinem Hause wie ein naher Verwandter. So vergingen ein paar Monate, und
plötzlich zeigte das Tier seine Krallen.

Nebenbei: unser lieber Iwan Ossipowitsch hätte in der guten alten Zeit
bei seiner Gastfreiheit einen vorzüglichen Adelsmarschall abgegeben,
aber zum Gouverneur in einer so mühevollen Zeit wie die unsrige paßte er
mit seiner Arbeitsscheu entschieden nicht. In der Stadt hieß es denn
auch immer, nicht er, sondern Warwara Petrowna verwalte das
Gouvernement. Das war freilich eine spitze Bemerkung, aber trotzdem eine
Unwahrheit. Warwara Petrowna hatte in den letzten Jahren konsequent und
bewußt jeden höheren Ehrgeiz aufgegeben und ihre Tätigkeit freiwillig
auf ein von ihr selbst streng umgrenztes Gebiet beschränkt. Sie begann
sich plötzlich mit der Bewirtschaftung ihres Gutes zu befassen, und in
zwei, drei Jahren hatte sie den Ertrag desselben nahezu wieder auf die
frühere Höhe gebracht. Statt sich literarischem Ehrgeiz hinzugeben,
begann sie zu sparen. Selbst Stepan Trophimowitsch wurde von ihr etwas
weiter entfernt, indem sie ihm jetzt endlich eine eigene Wohnung zu
mieten erlaubte. Allmählich begann er sie eine prosaische Frau zu
nennen, oder scherzhaft seinen »prosaischen Freund«. Selbstredend
erlaubte er sich solche Scherze nur in der respektvollsten Form und
nachdem er lange einen passenden Augenblick abgewartet hatte.

Wir alle, die wir ihr nahestanden, begriffen natürlich, daß der Sohn für
sie gleichsam zu einer neuen Hoffnung, einem neuen Traum geworden war.
Ihre leidenschaftliche Liebe zu ihm hatte schon in der Zeit seiner
ersten Erfolge in der Petersburger Gesellschaft begonnen, und war dann
besonders seit dem Augenblick gewachsen, als sie die Nachricht von
seiner Degradation erhalten hatte. Und dabei fürchtete sie ihn doch
offensichtlich und schien vor ihm förmlich seine Sklavin zu sein. Man
merkte ihr an, daß sie etwas Unbestimmtes, Geheimnisvolles fürchtete,
etwas, das auch sie selbst nicht zu nennen vermocht hätte, und oft
betrachtete sie heimlich und unverwandt ihren _Nicolas_, als überlege
sie und als suche sie etwas zu erraten ... und siehe da: plötzlich --
streckte das Tier seine Krallen aus.


                                  II.

Unvermutet erlaubte sich unser Prinz zwei, drei unmögliche Frechheiten
gegen verschiedene Personen. Das Empörendste an ihnen war gerade ihre
unerhörte Neuheit, ihre Unglaublichkeit; daß sie tatsächlich allen sonst
üblichen Dreistigkeiten so unähnlich waren in ihrer törichten
Bengelhaftigkeit, überdies weiß der Teufel wozu eigentlich begangen, so
vollständig ohne jeden Anlaß. Eines der ehrenwertesten Häupter unseres
Klubs, Pjotr Pawlowitsch Gaganoff, ein bejahrter und sogar
verdienstvoller Mann, hatte die unschuldige Angewohnheit, zur
Bekräftigung jeder Behauptung heftig hinzuzufügen: »Nein, mich wird man
nicht an der Nase führen!« Nun, das hatte ja weiter nichts auf sich.
Aber als er eines Tages im Klub in der Hitze des Wortgefechts, inmitten
einer Schar ihn umstehender Klubherren (lauter angesehner
Persönlichkeiten) wieder einmal diesen Nachsatz anhing, trat Nicolai
Wszewolodowitsch, der am Gespräch ganz unbeteiligt und allein abseits
gestanden hatte, plötzlich auf Pjotr Pawlowitsch zu, faßte ihn
unerwartet aber fest mit zwei Fingern an der Nase und zog ihn ein paar
Schritte weit im Saal hinter sich her. Einen Groll konnte er gegen Herrn
Gaganoff nicht haben. Man hätte das für einen echten Schuljungenstreich
halten können, natürlich für einen ganz unverzeihlichen; indes war
Nicolai Wszewolodowitsch, wie man später erzählte, im Augenblick der Tat
geradezu nachdenklich, »ganz als wäre er nicht völlig bei Sinnen
gewesen«, aber das vergegenwärtigte man sich und erwog man erst später.
In der ersten Empörung dachten alle nur an den zweiten Augenblick, als
er alles bereits zweifellos richtig begriff, jedoch statt verlegen zu
werden, plötzlich boshaft und belustigt lächelte, »ohne die geringste
Reue«, wie es hieß. Es erhob sich ein schrecklicher Lärm; er wurde
umringt. Nicolai Wszewolodowitsch wandte sich um, sah ringsum alle an,
ohne jemandem zu antworten, und betrachtete interessiert die Gesichter
der erregt Durcheinanderschreienden. Schließlich war es, als werde er
plötzlich wieder nachdenklich -- wenigstens wurde später so erzählt --,
er runzelte die Stirn, trat dann festen Schrittes auf den beleidigten
Pjotr Pawlowitsch zu und sagte schnell, dabei sichtlich geärgert:

»Sie entschuldigen natürlich ... Ich weiß wirklich nicht, weshalb mich
plötzlich die Lust anwandelte ... Es war eine Dummheit ...«

Die Nachlässigkeit dieser Entschuldigung kam einer neuen Beleidigung
gleich. Es erhob sich ein noch größeres Geschrei. Nicolai
Wszewolodowitsch zuckte mit den Achseln und ging hinaus. Nun kannte die
Empörung keine Grenzen, und Herr Stawrogin wurde sofort einstimmig aus
der Zahl der Mitglieder des Klubs ausgeschlossen. Darauf wurde im Namen
des ganzen Klubs an den Gouverneur die Bitte gerichtet, mittels der ihm
anvertrauten Administrativgewalt den »schädlichen Unruhstifter zu zügeln
und damit die Ruhe der gesamten anständigen Gesellschaft unserer Stadt
gegen schädliche Anschläge zu sichern«. Mit boshafter Unschuld wurde
hinzugefügt, »vielleicht lasse sich auch gegen Herrn Stawrogin ein
Gesetz finden«, um dem Gouverneur wegen Warwara Petrowna einen Stich zu
versetzen. Der Gouverneur war gerade verreist, wurde aber bald
zurückerwartet. Inzwischen bereitete man dem beleidigten Pjotr
Pawlowitsch richtige Ovationen: man umarmte und küßte ihn, die ganze
Stadt machte bei ihm Visite. Man plante sogar ihm zu Ehren ein Diner im
Klub, auf Subskription, und gab es nur auf seine dringende Bitte hin
auf, -- vielleicht aber auch, weil man sich schließlich darauf besann,
daß der Mann ja immerhin an der Nase geführt worden war und mithin
eigentlich kein Grund zu Festlichkeiten vorlag.

Indes, wie hatte das alles nur geschehen können? Bemerkenswert war
besonders der Umstand, daß kein Mensch diesen Streich auf zeitweiliges
Irresein zurückführte. Also traute man offenbar auch einem gesunden und
geistesklaren Nicolai Wszewolodowitsch Derartiges zu.

Bemerkenswert erschien mir auch jener Ausbruch eines allgemeinen Hasses,
mit dem bei uns damals alle über den »Ruhestörer und großstädtischen
_bretteur_«{[11]} herfielen. Man wollte in jener Tat unbedingt die
»freche, wohlüberlegte Absicht« sehen, mit einem Schlage »die ganze
Gesellschaft zu beleidigen«. Jedenfalls hatte er niemanden für sich
gewonnen, sondern alle gegen sich in Harnisch gebracht, und wodurch nur?
Bis dahin hatte er noch niemanden gekränkt, höflich aber war er schon so
gewesen, wie ein Herr aus einem Modeblatt, wenn der nur sprechen könnte.
Ich nehme an, daß man ihn wegen seines Stolzes haßte. Selbst unsere
Damen, die mit seiner Vergötterung begonnen hatten, entrüsteten sich
jetzt über ihn noch ärger als die Männer.

Warwara Petrowna war furchtbar betroffen. Später gestand sie einmal
Stepan Trophimowitsch, sie habe das schon lange, schon das ganze halbe
Jahr kommen fühlen, und sogar »gerade etwas in dieser Art«, ein
bedeutsames Bekenntnis von seiten einer leiblichen Mutter. »Es hat also
angefangen!« dachte sie erschauernd. Nach einer schlaflosen Nacht und
nachdem sie am Morgen Stepan Trophimowitsch um Rat gefragt und bei ihm
sogar geweint hatte, was ihr noch nie in Gegenwart anderer geschehen
war, wollte sie vorsichtig, aber entschlossen eine Aussprache mit ihrem
Sohn herbeiführen. Und doch zitterte sie davor. _Nicolas_, der stets so
höflich und ehrerbietig gegen die Mutter war, hörte sie eine Weile, die
Augenbrauen zusammengezogen, sehr ernst an; plötzlich stand er auf, ohne
ein Wort zu antworten, küßte ihr die Hand und ging hinaus. Am Abend
desselben Tages aber kam es dann gleich zu einem zweiten Skandal, der,
wenn er auch längst nicht so schlimm war wie der erste, die Entrüstung
in der Stadt doch noch sehr verstärkte.

Diesmal traf es unseren Freund Liputin. Der erschien bei Nicolai
Wszewolodowitsch gerade als dieser seine Mutter verlassen hatte, und bat
ihn inständig, ihm die Ehre seines Besuchs zu erweisen: der Geburtstag
seiner Frau sollte durch eine kleine Abendgesellschaft gefeiert werden.
Warwara Petrowna hatte schon lange mit Sorge diese Neigung ihres Sohnes
wahrgenommen, Bekanntschaften selbst mit Leuten der dritten
Gesellschaftsschicht anzuknüpfen. Bei Liputin hatte er bisher noch nicht
im Hause verkehrt. Er erriet, daß dieser ihn jetzt wegen des Skandals im
Klub einlud, als Liberaler über diesen Skandal entzückt war und
aufrichtig meinte, gerade so müsse man mit allen Häuptern des Klubs
verfahren. _Nicolas_ begann zu lachen und versprach zu kommen.

Die Gäste, von denen sich eine Menge eingefunden hatte, waren nicht
Honoratioren, aber gewitzte Leute. Der geizige Liputin pflegte nur
zweimal im Jahr Gäste einzuladen, dann aber einmal nicht zu knausern.
Der Ehrengast Stepan Trophimowitsch war diesmal krankheitshalber nicht
erschienen. Es wurde Tee gereicht, und es gab reichlich kalten Imbiß und
Schnäpse; gespielt wurde an drei Tischen, die Jugend aber begann, in
Erwartung des Abendessens, nach Klaviermusik zu tanzen. Nicolai
Wszewolodowitsch forderte Frau Liputin auf -- eine überaus nette kleine
Frau, der vor ihm schrecklich bange war --, tanzte mit ihr zwei Touren,
setzte sich dann neben sie, unterhielt sich mit ihr, brachte sie zum
Lachen. Als er da bemerkte, wie hübsch sie war, wenn sie lachte, faßte
er sie plötzlich vor den Augen aller Gäste um die Taille und küßte sie
mitten auf den Mund, wohl dreimal hintereinander, mit ganzer
Herzenslust. Die arme Frau fiel vor Schreck in Ohnmacht. Nicolai
Wszewolodowitsch trat zu dem Ehemann, der in der allgemeinen Verwirrung
wie betäubt dastand, wurde bei dessen Anblick selbst verlegen, und
nachdem er ihm hastig zugemurmelt: »Seien Sie nicht böse,« ging er
hinaus. Liputin aber lief ihm ins Vorzimmer nach, reichte ihm
eigenhändig den Pelz und geleitete ihn unter Verbeugungen die Treppe
hinunter. Doch schon am nächsten Tage gab es zu dieser verhältnismäßig
harmlosen Geschichte ein ganz ulkiges Nachspiel, das Liputin sogar ein
gewisses Ansehen verschaffte und das er sogleich zu seinem größten
Vorteil auszunutzen verstand.

Gegen zehn Uhr morgens erschien im Hause der Madame Stawrogina Liputins
Magd Agafja, ein munteres, gewandtes, rotbackiges Weiblein von etwa
dreißig Jahren; sie war von Liputin mit einem Auftrage zu Nicolai
Wszewolodowitsch geschickt und wollte unbedingt »den Herrn selber
sehen«. Der hatte starke Kopfschmerzen, kam aber doch heraus. Warwara
Petrowna glückte es, die Ausrichtung des Auftrags mit anzuhören.

»Sergei Wassiljitsch« (d. h. Liputin), begann Agafja wortgewandt zu
plappern, »hat mir anbefohlen, vorerst seine beste Empfehlung
auszurichten; und dann läßt er sich nach Ihrer Gesundheit erkundigen,
wie Sie nun eigentlich geruht haben, nach dem Gestrigen sozusagen, und
wie Sie sich nun eigentlich fühlen, eben nach dem Gestrigen, meint er?«

Nicolai Wszewolodowitsch lächelte.

»Bestelle meine Empfehlung, und ich ließe bestens danken. Und sage von
mir deinem Herrn, Agafja, er wäre der klügste Mensch in der ganzen
Stadt.«

»Ja und auf diese Antwort sollte ich Ihnen dann antworten,« versetzte
Agafja noch wortgewandter, »daß er das auch ohne Sie schon selber weiß
und Ihnen ganz dasselbe wünscht, sozusagen.«

»Was! ... aber wie konnte er denn wissen, was ich dir antworten würde?«

»Ja, das weiß ich schon nicht, aber als ich schon hinausgegangen und
schon die ganze Gasse hinuntergegangen war, höre ich plötzlich, er läuft
mir nach, ohne Mütze, und: >Du,< sagte er, >Agafjuschka<, sagte er,
>wenn er dir nun sagt, bestelle deinem Herrn, daß er der Klügste in der
ganzen Stadt ist, dann sag' du ihm sogleich und vergiß das nicht, daß
wir das auch ohne ihn schon wissen und ihm bloß auch dasselbe wünschen<,
sozusagen ...«


                                  III.

Schließlich fand auch die Auseinandersetzung mit dem Gouverneur statt.
Nach der so heftigen Beschwerde des Klubs war es diesem ja sofort klar,
daß etwas geschehen mußte, aber was? Unserem gastfreundlichen alten
Herrn schien sein junger Verwandter ebenfalls nicht ganz geheuer zu
sein. Gleichwohl entschloß er sich endlich, ihm gütlich zuzureden, den
Klub und den Beleidigten um Entschuldigung zu bitten, falls nötig sogar
schriftlich; dann aber wollte er ihm wohlwollend nahelegen, z. B. zu
Bildungszwecken nach Italien zu reisen oder überhaupt ins Ausland, etwas
weiter weg von uns. In dem Raum, wo er diesmal _Nicolas_ empfing, war
wie zufällig noch sein Günstling und Sekretär Aljoscha Telätnikoff
anwesend und damit beschäftigt, an einem Tisch in der Ecke Postsachen zu
öffnen. Im Nebenzimmer aber saß in der Nähe der Tür ein dicker und
kräftiger Oberst, ein Freund und früherer Kamerad des Hausherrn, und las
die Zeitung »Die Stimme«, anscheinend ohne die Vorgänge im anderen Raum
zu beachten. Iwan Ossipowitsch begann vorsichtig, holte weit aus, sprach
fast flüsternd, verlor aber immer wieder den Faden. _Nicolas_ schaute
sehr unfreundlich drein, gar nicht wie ein Verwandter, war bleich, saß
mit gesenktem Blick da und hörte mit zusammengezogenen Brauen zu, wie
wenn er einen heftigen Schmerz unterdrückte.

»Sie haben ein gutes Herz, _Nicolas_, ein edles Herz,« sagte unter
anderem der alte Herr, »Sie sind überaus gebildet, haben sich in den
höchsten Kreisen bewegt, haben sich auch bei uns bisher musterhaft
aufgeführt und dadurch das Herz Ihrer von uns allen verehrten Mutter
beruhigt ... Und nun beginnt das alles von neuem, und wieder in einem so
rätselhaften und für alle gefährlichen Kolorit! Ich rede zu Ihnen als
Freund Ihres Hauses, als ein Sie liebender, bejahrter Verwandter ... So
sagen Sie doch, was in aller Welt treibt Sie zu solchen Ausschreitungen,
die mit allen hergebrachten Formen und Sitten so unvereinbar sind?«

_Nicolas_ hatte geärgert und ungeduldig zugehört. Plötzlich blitzte in
seinem Blick gleichsam ein verschlagener und spöttischer Ausdruck auf:
»Ich kann es Ihnen ja meinethalben sagen, was mich dazu treibt,« sagte
er unwirsch, sah sich um und beugte sich zum Ohr Iwan Ossipowitschs. --
Der wohlerzogene Aljoscha Telätnikoff trat noch drei Schritte weiter zum
Fenster, der Oberst räusperte sich hinter seiner Zeitung. Der arme Iwan
Ossipowitsch hielt eilig und vertrauensvoll sein Ohr hin; er war äußerst
neugierig. Und da geschah denn abermals etwas ganz Unmögliches und doch
andererseits in einer Hinsicht nur zu Deutliches. Der alte Herr fühlte
auf einmal, daß _Nicolas_, statt ihm ein interessantes Geheimnis
zuzuflüstern, plötzlich den oberen Teil seines Ohres mit den Zähnen
faßte und ziemlich fest zubiß.

»_Nicolas_, was ... soll das!« stöhnte er mechanisch mit einer ganz
fremdklingenden Stimme. -- Aljoscha und der Oberst begriffen nicht
recht, was da vorging; es schien ihnen bis zum Schluß, daß dem Alten
etwas zugeflüstert wurde, aber dessen verzweifeltes Gesicht beunruhigte
sie doch. Sie glotzten sich mit aufgerissenen Augen an und wußten nicht,
ob sie noch warten oder schon zu Hilfe eilen sollten, wie verabredet
war. _Nicolas_ erriet das wohl und biß noch ein wenig schmerzhafter zu.

»_Nicolas, Nicolas!_« stöhnte das Opfer wieder, »nun ... genug ... mit
dem Scherz ...« -- Noch ein Augenblick, und der Arme wäre gestorben;
doch der Unmensch hatte Erbarmen und ließ das Ohr los. Diese ganze
Todesangst hatte eine volle Minute gedauert und der Alte bekam eine Art
Ohnmachtsanfall. Eine halbe Stunde später aber wurde _Nicolas_ verhaftet
und eingesperrt. Das war freilich eine schroffe Maßnahme, doch unser
weichherziger Regent war dermaßen erzürnt, daß er die Verantwortung
selbst Warwara Petrowna gegenüber zu übernehmen wagte. Und tatsächlich,
als diese sofort eilig und erregt zum Gouverneur gefahren kam, wurde ihr
erklärt, daß sie nicht empfangen werden könne, und ohne auszusteigen
fuhr sie heim. Sie konnte diese Absage zunächst überhaupt nicht fassen.

Endlich aber fand alles seine Erklärung! Gegen zwei Uhr nachts begann
der Arrestant, der bis dahin erstaunlich ruhig gewesen war und sogar
geschlafen hatte, plötzlich zu toben, schlug mit den Fäusten gegen die
Tür, riß mit übermenschlicher Kraft das eiserne Gitter von dem Fenster
ab, zerschlug die Scheibe und zerschnitt sich dabei die Hände. Als der
wachhabende Offizier mit der Mannschaft herbeigeeilt kam und die Zelle
aufschließen ließ, stellte es sich heraus, daß der Gefangene sich im
stärksten Fieberdelirium befand; er wurde nach Hause zur Mutter
geschafft. Nun war ja alles klar. Unsere drei Ärzte äußerten sich dahin,
daß der Kranke sehr wohl schon vor drei Tagen in diesem Fieberzustande
wie benommen gewesen sein könne. Somit hatte Liputin als erster das
Richtige erraten. Der zartfühlende Iwan Ossipowitsch war nun sehr
betreten, auch im Klub schämte man sich und begriff nicht, wie man auf
diese einzig mögliche Erklärung nicht verfallen war. Natürlich gab es
auch Skeptiker, aber die konnten sich nicht behaupten.

_Nicolas_ lag gute zwei Monate. Die ganze Stadt besuchte Warwara
Petrowna. Und sie verzieh. Als _Nicolas_ sich zum Frühling hin wieder
erholte und mit dem Vorschlag der Mutter, nach Italien zu reisen,
einverstanden war, da bat sie ihn, vorher doch überall seine
Abschiedsvisite zu machen und sich bei der Gelegenheit zu entschuldigen,
wo das nötig und soweit es möglich war. _Nicolas_ versprach ihr auch
das, und sogar mit großer Bereitwilligkeit. Und alsbald erfuhr man im
Klub, er habe mit Pjotr Pawlowitsch eine überaus zartfühlende Aussprache
gehabt, durch die dieser vollkommen zufriedengestellt worden sei.
Während dieser Visiten soll _Nicolas_ sehr ernst und sogar ein wenig
düster gewesen sein. Alle empfingen ihn anscheinend mit aufrichtiger
Teilnahme, doch im Grunde waren alle verlegen und nur froh, daß er nach
Italien reiste. Iwan Ossipowitsch weinte sogar, konnte sich aber aus
einem unbestimmten Grunde doch nicht entschließen, ihn zum Abschied zu
umarmen. Allerdings blieben bei uns manche doch überzeugt, der
Taugenichts habe alle nur zum Besten gehabt, die Krankheit aber sei eine
Sache für sich gewesen. Auch zu Liputin fuhr er zur Abschiedsvisite.

»Sagen Sie mal,« fragte er ihn, »wie konnten Sie damals im voraus
wissen, was ich über Ihren Verstand sagen würde, und die Antwort darauf
schon mitgeben?«

»Ganz einfach,« sagte Liputin lachend, »weil auch ich Sie für klug
halte, also war's nicht schwer!«

»Immerhin ein seltsames Zusammentreffen. Aber erlauben Sie: dann hielten
Sie mich damals für gescheit und nicht für wahnsinnig?«

»Für den gescheitesten und klügsten, und ich stellte mich nur so, als
glaubte ich, Sie wären nicht bei voller Vernunft. Und Sie haben mir ja
auch sofort den Beweis für die Ungetrübtheit Ihres Geistes
zurückgesandt.«

»Übrigens irren Sie sich da doch ein wenig: ich war tatsächlich ...
krank,« sagte _Nicolas_ verstimmt. »Wie! glauben Sie denn wirklich, ich
wäre fähig, bei vollem Verstande Menschen zu überfallen? Wozu denn das?«

Liputin wand sich betreten und wußte nicht recht, was er antworten
sollte. _Nicolas_ erblaßte ein wenig, oder vielleicht schien es Liputin
nur so.

»Jedenfalls haben Sie eine sehr amüsante Denkweise,« fuhr _Nicolas_
fort, »und ich begreife natürlich, daß Sie Ihre Agafja zu mir schickten,
um mich zu verhöhnen.«

»Ich konnte Sie doch nicht zum Duell fordern?«

»Ach, ja, richtig! Ich habe ja auch so etwas gehört, daß Sie Duelle
nicht lieben ...«

»Wozu denn Französisches ins Russische übersetzen!«

»Sie halten es mit dem Nationalismus?«

Liputin wand sich noch mehr, antwortete aber nichts.

»Was, was! Sehe ich recht!« rief _Nicolas_ plötzlich, als er mitten auf
dem Tisch, wie ein Prunkstück an der sichtbarsten Stelle, einen Band von
_Considérant_ erblickte. »Sind Sie etwa gar Fourierist? Das fehlte noch!
Aber ist denn das keine Übersetzung aus dem Französischen?« und er
klopfte lachend auf das Buch.

»Nein, nicht aus dem Französischen!« Liputin sprang fast mit einem
gewissen Grimm vom Stuhl auf. »Das ist eine Übersetzung aus der Sprache
der ganzen Menschheit, und nicht bloß aus dem Französischen! Aus der
Sprache der universalen sozialen Republik und Harmonie, jawohl! Und
nicht aus dem Französischen allein!«

»Sapperment! Aber so eine Sprache gibt es ja überhaupt nicht!« versetzte
_Nicolas_ immer noch lachend.

Von Herrn Stawrogin soll zwar erst später die Rede sein, doch möchte ich
eines schon hier bemerken: daß von allen Eindrücken, die er damals bei
uns empfing, am grellsten sich seinem Gedächtnis die unscheinbare und
fast gemeine Gestalt Liputins eingeprägt hatte, dieses kleinen
Provinzbeamten, eifersüchtigen Ehemannes, rohen Familiendespoten,
Wucherers und Geizhalses, der selbst die Überbleibsel der Mahlzeiten und
Lichtstümpfchen verschloß, und doch gleichzeitig ein glühender Anhänger
Gott weiß was für einer zukünftigen »sozialen Harmonie« war, sich nachts
an den phantastischen Bildern der zukünftigen Phalanstere berauschte, an
deren baldige Verwirklichung in Rußland er so glaubte wie an sein
eigenes Vorhandensein. Und alles das dortselbst, wo er sich ein
»Häuschen« erspart, wo er zum zweitenmal geheiratet hatte, und wo es
vielleicht im Umkreise von hundert Werst keinen Menschen gab, der auch
nur annähernd ein Mitglied dieser »universalen sozialen Republik und
Harmonie« hätte sein können.

»Gott mag wissen, wie es in solchen Menschen aussieht!« dachte _Nicolas_
oft verwundert, wenn er sich dieses unvermuteten Fourieristen erinnerte.


                                  IV.

Unser Prinz reiste drei Jahre lang und noch länger, so daß er bei uns
fast ganz in Vergessenheit geriet. Unser Kreis freilich wußte durch
Stepan Trophimowitsch, daß er ganz Europa bereist hatte, sogar in
Ägypten und in Jerusalem gewesen war; dann hatte er sich mit einer
wissenschaftlichen Expedition auch nach Island begeben. Ferner hieß es,
er habe einen Winter an einer deutschen Universität Kolleg gehört. An
seine Mutter schrieb er nur selten, aber die fühlte sich dadurch nicht
mehr gekränkt. Die Beziehungen zwischen ihr und ihrem Sohn hatten nun
einmal diese Form angenommen, die sie wortlos hinnahm; im übrigen dachte
sie beständig an ihren _Nicolas_ und sehnte sich nach ihm. Doch davon
erfuhr kein Mensch etwas. Selbst von Stepan Trophimowitsch zog sie sich
anscheinend ein wenig zurück. Sie schmiedete heimlich Pläne, wurde noch
sparsamer und ärgerte sich immer mehr über Stepan Trophimowitschs
Verluste im Kartenspiel.

Da erhielt sie im April dieses Jahres ganz unverhofft einen Brief aus
Paris, und zwar von ihrer Jugendfreundin, der Generalin Praskowja
Iwanowna Drosdowa. Diese schrieb ihr plötzlich nach acht Jahren, Nicolai
Wszewolodowitsch verkehre viel in ihrem Hause, habe mit Lisa (ihrer
einzigen Tochter) Freundschaft geschlossen und beabsichtige, sich ihnen
anzuschließen, wenn sie im Sommer nach der Schweiz reisten, obwohl er in
der Familie des Grafen K... (einer in Petersburg höchst einflußreichen
Persönlichkeit), die jetzt gleichfalls in Paris weile, wie ein
leiblicher Sohn aufgenommen werde, so daß er, man könne sagen, fast ganz
im Hause des Grafen lebe. Der Brief war kurz, doch sein Zweck deutlich.
Warwara Petrowna dachte denn auch nicht lange nach, entschloß sich
schnell und fuhr mit ihrer Pflegetochter Dascha Mitte April nach Paris
und dann nach der Schweiz. Im Juli kehrte sie allein zurück; sie hatte
Dascha bei Drosdoffs gelassen, die mit ihr Ende August heimkehren
sollten.

Drosdoffs waren gleichfalls eine Gutsbesitzerfamilie unseres
Gouvernements, aber der Dienst des Generals hatte sie in letzter Zeit
verhindert, sich hier auf ihrem herrlichen Gut aufzuhalten. Nach dem
Tode des Generals im vorigen Jahre war dann die untröstliche Praskowja
Iwanowna mit ihrer Tochter ins Ausland gereist, unter anderem auch in
der Absicht, es im Spätsommer in der Schweiz, in Vernex-Montreux, mit
einer Traubenkur zu versuchen. Nach ihrer Rückkehr aus dem Auslande
wollte sie sich dann endgültig in unserem Gouvernement niederlassen. In
der Stadt besaß sie ein großes Haus, das schon viele Jahre leer stand,
mit geschlossenen Fensterläden. Drosdoffs waren sehr reich. Praskowja
Iwanowna, in erster Ehe Frau Tuschina, war gleichfalls die Tochter eines
Branntweinpächters der alten Zeit und hatte gleichfalls eine große
Mitgift erhalten. Der Rittmeister a. D. Tuschin war aber auch selbst ein
vermögender Mann gewesen und kein unbegabter Mensch. Er hinterließ
seiner siebenjährigen Tochter Lisa ein bedeutendes Vermögen, zu dem
später noch das ganze Erbe ihrer Mutter hinzu kommen mußte, da diese aus
ihrer zweiten Ehe keine Kinder hatte. Warwara Petrowna war mit dem
Ergebnis ihrer Reise sehr zufrieden. Sie glaubte, mit Praskowja Iwanowna
übereingekommen zu sein, und teilte nach ihrer Ankunft alles, weit
offener als sonst, Stepan Trophimowitsch mit. Der rief »Hurra!« und
schnippte mit den Fingern. Seine Freude war um so aufrichtiger, als er
die Zeit ihrer Abwesenheit in größter Mutlosigkeit verbracht hatte. Vor
ihrer Abreise hatte sie ihm, »diesem Weibe«, nichts von ihren Plänen
mitgeteilt, vielleicht weil sie fürchtete, er könne ausplaudern. Doch
schon in der Schweiz hatte sie sich gesagt, daß sie den verlassenen
Freund nach ihrer Rückkehr besser behandeln müsse. Tatsächlich war ihre
plötzliche Abreise mit dem wortkargen Abschied für sein schüchternes
Herz der Anlaß zu qualvollen Zweifeln gewesen. Außerdem quälte ihn noch
eine bedeutende Geldverpflichtung, die er ohne ihre Hilfe unmöglich
decken konnte. Und dann war noch allerhand gerade während ihrer
Abwesenheit hinzugekommen: so hatte im Mai die Herrschaft unseres guten
Iwan Ossipowitsch ihr Ende gefunden und war der Einzug unseres neuen
Gouverneurs, Andrei Antonowitsch von Lembke, erfolgt. Danach hatte sich
das Verhalten unserer Gesellschaft zu Warwara Petrowna und damit
natürlich auch zu Stepan Trophimowitsch merklich zu ändern begonnen. Das
beeindruckte ihn um so mehr, als er natürlich schon wieder erregt
befürchtete, man habe den neuen Gouverneur bereits auf ihn als einen
gefährlichen Menschen aufmerksam gemacht. Er erfuhr auch, daß man sich
in der Stadt erzählte, die Gemahlin des neuen Gouverneurs und Warwara
Petrowna seien früher bekannt gewesen, doch hätten sie sich schließlich
verfeindet und den Verkehr abgebrochen. Als aber nun Warwara Petrowna
nach ihrer Rückkehr so munter und siegesgewiß seinen Bericht anhörte, u.
a. auch das Gerücht, demzufolge manche Damen es lieber mit der neuen
Gouverneurin halten wollten, die eine echte Aristokratin sei, und
folglich den Verkehr mit Warwara Petrowna aufzugeben beabsichtigten, da
richtete sich sofort auch Stepan Trophimowitschs gesunkener Mut wieder
auf. Er wurde im Nu wieder heiter und begann mit besonderem, freudig
dienstbeflissenem Humor die Ankunft des neuen Gouverneurs zu schildern.

»Es wird Ihnen, _excellente amie_,{[12]} zweifellos bekannt sein,«
begann er kokett, die Worte geckenhaft in die Länge ziehend, »was ein
russischer Regierungsbeamter im allgemeinen, und was im besonderen ein
neuangestellter, ein neugebackener russischer Beamter ist. Dagegen
dürften Sie kaum Gelegenheit gehabt haben, praktisch zu erfahren, was
der _Machtrausch_ eines russischen Beamten bedeutet ...«

»Machtrausch eines Beamten? Wie meinen Sie das?«

»Das heißt ... _Vous savez, chez nous ... En un mot_,{[13]} stellen Sie
den erbärmlichsten Nichtsnutz als Verkäufer von, sagen wir,
irgendwelchen elenden Eisenbahnfahrkarten an, und dieser erbärmlichste
Wicht wird sich sofort für berechtigt halten, wie ein Jupiter auf Sie
herabzusehen, wenn Sie eine Fahrkarte lösen wollen, _pour vous montrer
son pouvoir_.{[14]} >Warte<, denkt er dann bei sich, >ich will dir meine
Macht zeigen!< Und das geht bei ihnen bis zur Selbstberauschung an
dieser ihrer Macht. _En un mot_ ...«

»Ja, fassen Sie sich kürzer, wenn Sie können.«

»_En un mot_, dieser Herr von Lembke hat also zunächst das Gouvernement
bereist. Er ist zwar ein Deutschrusse griechisch-katholischer Konfession
und sogar ein überaus schöner Mann in den vierziger Jahren ...«

»Schöner Mann? Er hat Augen wie ein Schaf.«

»Allerdings. Doch aus Höflichkeit will ich dem Urteil unserer Damen
nicht widersprechen ...«

»Ich bitte Sie, reden wir von etwas anderem! Übrigens, Sie tragen eine
rote Halsbinde; schon lange?«

»Das ... ich ... ich habe das nur heute ...«

»Und sind Sie auch täglich sechs Werst spazieren gegangen, wie es Ihnen
der Arzt verordnet hat?«

»Nicht ... nicht immer.«

»Wußte ich's doch! schon in der Schweiz ahnte ich das!« rief sie
gereizt. »Jetzt werden Sie mir aber zehn Werst täglich gehen! Sie sind
ja geradezu heruntergekommen! Sie sind ja nicht nur alt, Sie sind ein
Greis geworden ... ich erschrak geradezu, als ich Sie wiedersah, trotz
Ihrer roten Halsbinde ... _quelle idée rouge_!{[15]} Erzählen Sie weiter
von diesem Lembke, wenn es wirklich etwas von ihm zu erzählen gibt, nur
kommen Sie bald zu einem Ende; ich bin müde.«

»_En un mot_, ich wollte ja auch nur sagen, daß er einer von denen ist,
die erst mit vierzig Jahren anfangen Karriere zu machen, sei es dank
einer plötzlich erworbenen Gattin oder einem nicht minder verzweifelten
Mittel. Über mich hat man ihm natürlich sofort alles zugetragen: daß ich
die Jugend verdürbe und den Atheismus verbreite. Er hat auch sofort
Erkundigungen eingezogen. Und als man ihm von Ihnen berichtete, bisher
hätten eigentlich Sie das Gouvernement verwaltet, da hat er sich zu
äußern erlaubt, >so etwas werde hinfort nicht mehr vorkommen<.«

»Hat er das wirklich gesagt?«

»Wortwörtlich. Seine Gemahlin werden wir hier erst Ende August
erblicken; sie kommt direkt aus Petersburg.«

»Nein, aus dem Auslande. Ich bin mit ihr dort zusammengetroffen. In
Paris und in der Schweiz. Sie ist mit Drosdoffs verwandt.«

»Verwandt? Was für ein merkwürdiges Zusammentreffen! Man sagt, sie sei
ehrgeizig und ... habe durch Beziehungen gute Protektion?«

»Unsinn, die paar Verwandten! Bis zum fünfundvierzigsten Jahr saß sie
als alte Jungfer da, ohne eine Kopeke, dann hat sie endlich diesen von
Lembke erwischt und nun ist ihr ganzer Ehrgeiz seine Karriere.«

»Es heißt, sie sei zwei Jahre älter als er?«

»Fünf Jahre. Ihre Mutter hat mich in Moskau umschmeichelt, damit ich sie
zu den Bällen einlud, damals zu Wszewolod Nicolajewitschs Lebzeiten. Die
Tochter aber saß dann ohne Tänzer da, bis ich ihr aus Mitleid nach
Mitternacht den ersten Kavalier zuschickte. Niemand wollte sie mehr
einladen ... Ich sage Ihnen, wie ich jetzt nach Paris kam, stieß ich
sofort auf eine Intrige. Sie haben doch soeben jenen Brief der Drosdowa
gelesen; was konnte noch klarer sein? Aber was fand ich? Diese dumme
Drosdowa -- sie ist immer dumm gewesen -- sieht mich fragend an: warum
ich denn gekommen sei? Sie können sich meine Verwunderung vorstellen!
Aber natürlich: da intrigiert diese Lembke und dann ist da dieser
Vetter, ein Neffe des seligen Drosdoff, -- da war mir alles klar! Ich
habe dann alles wieder zurechtgerückt; und Praskowja ist nun wieder auf
meiner Seite; aber es war eine richtige Intrige im Gange!«

»Die Sie indes besiegt haben. Sie sind ein Bismarck!«

»Auch ohne ein Bismarck zu sein, kann ich Falschheit und Dummheit
erkennen, wo ich ihnen begegne. Die Lembke ist falsch und Praskowja ist
dumm. Selten habe ich eine so verdrossene Frau gesehen wie die, dazu hat
sie noch geschwollene Füße und zum Überfluß ist sie noch gutmütig. Es
gibt wohl nichts dümmeres als einen gutmütigen Dummkopf!«

»Doch, einen bösen Dummkopf, _ma bonne amie_,{[16]} ein böser Dummkopf
ist noch viel dümmer.«

»Vielleicht haben Sie recht. Erinnern Sie sich noch an Lisa?«

»_Charmante enfant!_«{[17]}

»Aber jetzt nicht mehr _enfant_, sondern Weib, und ein Weib mit
Charakter. Ein edler und feuriger Mensch, und ich liebe es an ihr, daß
sie der Mutter nicht gehorcht, dieser leichtgläubigen Närrin. Wegen
dieses Vetters kam es da fast zu einem ganzen Drama.«

»Ach richtig, er ist ja mit Lisa persönlich gar nicht verwandt[25] ...
Hat er denn Absichten?«

»Sehen Sie, er ist ein junger Offizier, sehr schweigsam, sogar
bescheiden. Ich will immer gerecht sein. Ich glaube, er ist selbst gegen
diese Intrige und hat keine Wünsche, nur die Lembke scheint da
intrigiert zu haben. Er achtete _Nicolas_ sehr. Sie verstehen, die ganze
Sache hängt von Lisa ab. Als ich sie in der Schweiz verließ, stand sie
sich mit _Nicolas_ ausgezeichnet, und er hat mir versprochen, im
November herzukommen. Folglich war das nur eine Intrige der Lembke, und
Praskowja war einfach blind. Plötzlich sagt sie mir, meine Vermutungen
seien einfach Einbildung. Da habe ich ihr aber ins Gesicht gesagt, daß
sie eine Närrin ist. Wenn mich nicht _Nicolas_ gebeten hätte, es
vorläufig aufzuschieben, wäre ich nicht heimgereist, ohne dieses falsche
Frauenzimmer entlarvt zu haben. Sie hat sich durch _Nicolas_ beim Grafen
K. einzuschmeicheln, hat Mutter und Sohn zu entzweien versucht. Aber
Lisa ist auf unserer Seite und mit Praskowja habe ich mich verständigt.
Wissen Sie, daß Karmasinoff mit ihr verwandt ist?«

»Was? Verwandt mit Frau von Lembke?«

»Nun ja. Aber nur entfernt verwandt.«

»Karmasinoff, der Novellist?«

»Nun ja doch, der Schriftsteller, worüber wundern Sie sich? Natürlich
hält er sich selbst für eine Größe. Ein aufgeblasener Wicht! Sie wird
mit ihm zusammen herkommen, jetzt macht sie sich dort mit ihm wichtig.
Hier will sie literarische Abende veranstalten. Er kommt auf einen
Monat, um hier sein letztes Gut zu verkaufen. Fast wäre ich mit ihm in
der Schweiz zusammengetroffen, was ich durchaus nicht wollte. Übrigens
hoffe ich doch, daß er geruhen wird, mich wiederzuerkennen. Früher hat
er in meinem Hause verkehrt, hat Briefe an mich geschrieben. Es wäre mir
lieb, wenn Sie sich sorgfältiger kleideten, Stepan Trophimowitsch; Sie
werden mit jedem Tage nachlässiger ... Wissen Sie denn nicht, wie mich
das quält! Was lesen Sie jetzt?«

»Ich ... ich ...«

»Verstehe schon. Wie gewöhnlich die Freunde, die Gelage, der Klub, die
Karten und der Ruf eines Atheisten. Dieser Ruf gefällt mir nicht,
besonders jetzt möchte ich ihn nicht hören. Das ist doch alles nur
leeres Geschwätz. Das muß doch einmal gesagt werden.«

»_Mais, ma chère_{[18]} ...«

»Hören Sie mich an: in allen gelehrten Fragen bin ich natürlich
unwissend, ein Laie, im Vergleich zu Ihnen, aber auf der Heimreise habe
ich viel über Sie nachgedacht. Und ich bin zu einer Einsicht gelangt.«

»Und zu welcher?«

»Zu der, daß nicht wir beide die Klügsten auf der Welt sind, sondern daß
es auch noch klügere gibt als wir.«

»Das ist sowohl scharfsinnig wie treffend gesagt. _Mais, ma bonne
amie_,{[19]} wenn ich auch das Rechte, nehmen wir an, nicht am besten
weiß und mich objektiv vielleicht irre, so habe ich doch mein allgemein
menschliches, ewiges, höheres Recht auf mein freies Gewissen? Ich habe
doch das Recht, kein Heuchler und Fanatiker zu sein, wenn ich das nicht
sein will, und dafür werde ich naturgemäß, solange die Welt steht, von
verschiedenen Leuten gehaßt werden. _Et puis, comme on trouve toujours
plus de moines que de raison_,{[20]} und da das ganz meine Meinung ist
...«

»Wie, wie war das, was sagten Sie da? Das stammt gewiß nicht von Ihnen,
das haben Sie bestimmt irgendwo gelesen?«

»Das hat Pascal gesagt.«

»Das hab' ich mir doch gleich gedacht ... daß es kein Ausspruch von
Ihnen ist! Warum sagen Sie niemals etwas so kurz und treffend, sondern
ziehen alles immer so in die Länge? ...«

»_Ma foi, chère_{[21]} ... warum? Erstens wahrscheinlich deshalb, weil
ich immerhin nicht Pascal bin, _et puis_{[22]} ... zweitens, weil wir
Russen in unserer Sprache nichts auszudrücken verstehen ... Wenigstens
haben wir bisher noch nichts in ihr ausgedrückt ...«

»Hm! Darin haben Sie vielleicht doch nicht recht. Aber könnten Sie sich
denn nicht wenigstens solche Aussprüche aufschreiben oder merken, für
den Fall, wissen Sie, wenn das Gespräch ... Ach, Stepan Trophimowitsch,
ich habe mir unterwegs vorgenommen, einmal ernst mit Ihnen zu sprechen,
sehr ernst.«

»_Chère, chère amie!_«

»Jetzt, wo alle diese Lembkes und Karmasinoffs ... Oh Gott, wie sind Sie
heruntergekommen! Oh, wie Sie mich damit quälen! ... Ich möchte, daß
diese Menschen Hochachtung vor Ihnen empfänden, denn sie sind ja alle
nicht einmal soviel wert wie ein Finger von Ihnen, Ihr kleiner Finger,
aber Sie, wie halten Sie sich! Was werden diese Leute in Ihnen sehen?
Wen kann ich ihnen präsentieren? Statt vornehm als Zeuge dazustehn, ein
Beispiel zu sein, umgeben Sie sich mit solch einem Pack, Sie haben
unmögliche Gewohnheiten angenommen, sind alt geworden, können ohne Wein
und Karten nicht mehr leben, Sie lesen nur noch Paul de Kock und
schreiben selbst überhaupt nichts mehr, während die dort alle schreiben.
Ihre ganze Zeit vergeuden Sie im Geschwätz. Ist es denn möglich, darf
man sich denn das erlauben, sich mit solchem Gesindel anzufreunden, wie
es Ihr ewiger Liputin ist?«

»Warum denn >mein ewiger LiputinSkizzen aus der
spanischen Geschichte< vorzunehmen ...«

»Nun sehen Sie, das trifft sich ja ausgezeichnet.«

Stepan Trophimowitsch schwindelte der Kopf; die Wände drehten sich um
ihn herum. »_Excellente amie!_«{[12]} ... seine Stimme zitterte
plötzlich, »ich ... ich hätte nie gedacht, daß Sie mich je mit ... einer
anderen ... verheiraten könnten!«

»Sie sind doch kein junges Mädchen, das man verheiratet, Sie heiraten
doch selbst,« stieß sie giftig hervor.

»_Oui, j'ai pris un mot pour un autre ... Mais ... c'est égal_{[29]}
...« Er sah sie wie verloren an.

»Das sehe ich, daß Ihnen das _égal_{[30]} ist,« sagte sie mit bissiger
Verachtung. »Herrgott, er wird ja ohnmächtig! Nastassja, Nastassja!
Wasser!« -- Aber er kam schon wieder zu sich. Warwara Petrowna nahm
ihren Schirm. »Ich sehe, daß man mit Ihnen jetzt nicht reden kann ...«

»_Oui, oui, je suis incapable_{[31]} ...«

»Aber bis morgen müssen Sie sich erholt und entschlossen haben. Bleiben
Sie zu Hause. Aber schreiben Sie mir keine Briefe; werde sie nicht
lesen. Morgen werde ich um dieselbe Zeit wiederkommen, allein, und ich
hoffe, daß Ihre Antwort eine befriedigende sein wird. Sorgen Sie dafür,
daß dann niemand hier ist und daß in den Zimmern Ordnung herrscht, denn
wie sieht das hier aus! Nastassja, Nastassja! ...«

Natürlich war er am nächsten Tage einverstanden. Es blieb ihm ja auch
nichts anderes übrig, -- aus einem besonderen Grunde ...


                                 VIII.

Das Gut, das seine erste Frau hinterlassen hatte, gehörte nicht ihm,
sondern seinem Sohn. Stepan Trophimowitsch hatte es sozusagen nur
verwaltet und auf Grund einer Abmachung dem Sohn tausend Rubel jährlich
als Einnahme des Gutes zugesandt. Das heißt: diese Summe war regelmäßig
von Warwara Petrowna entrichtet worden, Stepan Trophimowitsch aber hatte
auch nicht einen Rubel dazu beigesteuert. Die ganze Einnahme vom Gut,
die übrigens nur fünfhundert Rubel im Jahre betrug, hatte er immer
selbst verbraucht, dazu das Gut schließlich noch ruiniert, da er es ohne
Warwara Petrownas Wissen an einen Händler verpachtet und den Wald, der
das Wertvollste war, nach und nach parzellenweise zum Abholzen verkauft
hatte, wenn er größere Spielverluste im Klub Warwara Petrowna doch nicht
zu gestehen wagte. Für diesen Wald, der etwa achttausend Rubel wert war,
hatte er im ganzen nur fünftausend erhalten. Sie knirschte natürlich,
als sie das schließlich erfuhr. Aber nun hatte der Sohn plötzlich
geschrieben, er werde kommen, um das Gut zu verkaufen, und den Vater
beauftragt, sich inzwischen nach Käufern umzusehen. Selbstredend schämte
sich nun Stepan Trophimowitsch bei seiner großzügigen und nicht
materialistischen Einstellung zu solchen Dingen vor _ce cher
fils_,{[32]} den er übrigens zuletzt vor neun Jahren in Petersburg als
Studenten gesehen hatte. Der Wert des Gutes war von etwa vierzehn- auf
kaum fünftausend Rubel gesunken. Wie sollte er das diesem Sohne nun
sagen? Freilich hätte er als offiziell Bevollmächtigter den Wald
verkaufen dürfen, und da dem Sohn jahrelang tausend Rubel statt etwa
fünfhundert geschickt worden waren, konnte er auch einer Abrechnung
ruhig entgegensehen. Doch Stepan Trophimowitsch war nun einmal ein
nobler Mensch, der Höheres im Sinne hatte. In seiner Phantasie stellte
er sich ein ganz anderes Bild vor: wie er diesem _cher fils_, wenn er
endlich kam, die _ganze_ Summe auf den Tisch legte, ohne die doppelt
gezahlten Jahresraten überhaupt zu erwähnen, wie er ihn unter Tränen
fest an seine Brust drückte und damit alle Abrechnungen für immer aus
der Welt schaffte. Vorsichtig hatte er auch Warwara Petrowna für dieses
schöne Bild zu gewinnen gesucht. Er deutete an, daß eine solche
Einstellung zu einer pekuniären Frage auch ihrer Freundschaft, der
»Idee« dieser Freundschaft noch eine besondere, edle Nuance verleihen
würde, sie, d. h. die Väter oder die frühere Generation überhaupt, als
so viel selbstloser und großmütiger im Vergleich zu der neuen
leichtsinnigen und sozialistischen Jugend hinstellen müßte. Er sprach
noch allerhand, aber sie schwieg. Schließlich teilte sie ihm nur trocken
mit, daß sie das Gut für siebentausend kaufen wolle. Doch von den
fehlenden Achttausend -- dem Wert des Waldes -- sprach sie kein Wort.
Das war etwa einen Monat vor dem Heiratsantrag geschehen.

Was wir hier über diesen seinen Sohn wußten, waren eigentlich nur etwas
seltsame Gerüchte. Vor sechs Jahren hatte er das Studium an der
Universität beendet und sich dann ohne Beschäftigung in Petersburg
herumgetrieben. Plötzlich hieß es, er habe sich an der Abfassung einer
geheimen Proklamation beteiligt; und bald darauf verlautete, er sei
bereits in der Schweiz. Also geflüchtet.

»Das wundert mich,« sagte damals Stepan Trophimowitsch, sichtlich
bestürzt »_Petrúscha -- c'est une si pauvre tête!_{[33]} ... Aber wissen
Sie, das kommt alles von eben diesem Unausgebrütetsein, und von der
Empfindsamkeit! Was sie fesselt, ist nicht der Realismus, sondern die
empfindsame, ideale Seite des Sozialismus, sozusagen seine religiöse
Färbung, seine Poesie ... ins Blaue hinein, natürlich. Und gerade mir,
mir muß das widerfahren! Ich habe hier schon so viele Feinde, _dort_
noch mehr, man wird es also dem Einflusse des Vaters zuschreiben ...
Gott! Petrúscha ein Aufwiegler! In was für Zeiten leben wir!«

Übrigens schickte »Petrúscha« aus der Schweiz sehr bald seine genaue
Adresse, damit ihm das Geld wie gewöhnlich zugesandt werde: also war er
doch kein Emigrant von jener Art. Und jetzt, nach etwa vierjährigem
Aufenthalt im Auslande, war er schon wieder im Vaterlande und kündete
sogar seinen Besuch an; somit konnte doch überhaupt keine Anklage gegen
ihn vorliegen. Ja, nicht nur das: es schien ihn jemand sogar zu
protegieren. Er schrieb jetzt aus Südrußland, wo er sich in jemandes
privatem Auftrage befand und etwas Wichtiges auszuführen hatte. Das war
ja alles sehr schön, aber woher nun die fehlenden Achttausend nehmen, um
den vollen Wert des Gutes auszahlen zu können? Wie nun, wenn es statt zu
jenem schönen Charakterbilde plötzlich zu einem Prozeß kam? Eine
unbestimmte Empfindung sagte Stepan Trophimowitsch, daß _ce cher fils_
auf keines seiner Anrechte verzichten werde. »Woher kommt das,« fragte
er mich damals einmal halblaut, »daß alle diese fanatischen Sozialisten
und Kommunisten gleichzeitig so geizig, erwerbsbeflissen und besitzstolz
sind, ja je mehr einer Sozialist ist, je weiter er dabei geht, um so
mehr ist er selber gerade >Besitzer<. Sollte das wirklich auch von der
Empfindsamkeit herrühren?« Ich weiß nicht, ob an dieser Beobachtung
Stepan Trophimowitschs etwas Wahres ist. Damals wußte ich nur, daß
Petrúscha von dem Verkauf des Waldes bereits einiges erfahren hatte, und
auch Stepan Trophimowitsch wußte das. Und da kamen nun diese Achttausend
mit dem Vorschlage Warwara Petrownas plötzlich herbeigeflogen! Aber sie
gab auch deutlich zu verstehen, daß sie auf keinem anderen Wege
herbeifliegen würden. Selbstredend erklärte er sich einverstanden.

Damals, nach ihrem ersten Morgenbesuch, ließ er mich sofort dringend zu
sich bitten. Er war sehr erregt, redete viel und gut, weinte
zwischendurch, dann gab es eine leichte Cholerine, kurz, alles verlief
wie gewöhnlich. Darauf holte er das Bild seiner zweiten Frau hervor, der
Deutschen, rief: »Kannst du mir verzeihen?«, weinte wieder und war
überhaupt wie aus dem Konzept gebracht. Vor Kummer tranken wir ein
bißchen. Übrigens schlief er bald und süß ein. Am folgenden Morgen band
er meisterhaft seine weiße Halsbinde, kleidete sich mit Sorgfalt an und
besah sich oft im Spiegel. Sein Taschentuch bespritzte er mit Parfüm,
übrigens nur ein wenig, doch als er Warwara Petrowna kommen sah, nahm er
schnell ein anderes und steckte das parfümierte unter ein Kissen.

»Vortrefflich!« lobte ihn Warwara Petrowna, als sie die Erklärung seines
Einverständnisses vernommen hatte. »Endlich einmal sind Sie der Stimme
der Vernunft gefolgt. Es eilt übrigens nicht,« fügte sie hinzu, während
sie den Knoten seiner Halsbinde betrachtete. »Vorläufig schweigen Sie,
auch ich werde darüber schweigen. Bald ist Ihr Geburtstag, ich werde
dann mit ihr zu Ihnen kommen. Geben Sie eine kleine Abendgesellschaft,
nur Tee, keine Spirituosen, bitte; übrigens, ich werde das selbst
arrangieren. Dann können wir -- nicht eine Verlobung feiern, sondern es
nur zu verstehen geben, ohne alle Feierlichkeiten. Und zwei Wochen
später kann dann die Hochzeit stattfinden, gleichfalls ohne Lärm. Nach
der Trauung könnten Sie beide ein wenig verreisen, nach Moskau, zum
Beispiel. Vielleicht fahre ich mit. Doch die Hauptsache: bis dahin
schweigen Sie.«

Stepan Trophimowitsch war erstaunt. Stotterte etwas von vorher mit der
Braut doch sprechen müssen usw. Doch zu seiner Verblüffung fiel sie ihm
gereizt ins Wort: »Wozu denn das? Vielleicht wird überhaupt nichts
daraus ...« Und auf seinen verständnislosen Blick aus aufgerissenen
Augen: »Nun ja. So. Ich werde noch sehen ... Übrigens wird alles so
geschehen, wie ich gesagt habe, seien Sie unbesorgt, ich werde Darja
selbst vorbereiten. Alles Nötige wird ohne Sie gesagt und getan werden,
Sie haben da überhaupt keine Rolle zu spielen. Und keine Briefe zu
schreiben! Und daß Sie nichts verlauten lassen. Ich werde gleichfalls
schweigen.«

Sie wollte ihm offenbar nichts erklären und verließ ihn sichtlich
verstimmt. Eine solche Bereitwilligkeit seinerseits hatte sie doch wohl
überrascht. Er aber -- ach! -- er überschaute seine Handlungsweise ganz
und gar nicht, sah sie überhaupt nur von seinem Gesichtspunkt aus. Ja,
es stellte sich bei ihm sogar ein gewisser neuer Ton ein, etwas
Siegesgewisses und Leichtsinniges. Er _fühlte_ sich!

»Das gefällt mir!« rief er aus und blieb aufgebracht und wichtig vor mir
stehen. »Haben Sie es gehört? Sie will es so weit treiben, daß ich
schließlich nicht mehr will. Denn ich könnte doch auch einmal meine
Geduld verlieren und ... nicht mehr wollen. >Wozu denn das?< fragt sie
mich. Aber warum muß ich denn unbedingt heiraten? Nur weil sie plötzlich
den lächerlichen Einfall hat? Aber ich bin doch ein ernster Mensch und
habe vielleicht gar keine Lust, mich den Launen einer unvernünftigen
Frau zu fügen! Ich habe Pflichten meinem Sohne gegenüber und ... und
gegen mich selbst! Ich bringe ein Opfer -- begreift sie das auch?
Vielleicht habe ich nur deshalb eingewilligt, weil das Leben mir
langweilig geworden und alles mir schließlich gleich ist. Aber wenn sie
mich reizt, könnte es geschehen, daß mir plötzlich nicht mehr alles
gleich ist! Ich kann mich beleidigt fühlen und mich weigern! _Et enfin
le ridicule_{[34]} ... Was werden die Menschen sagen! >Vielleicht wird
überhaupt nichts daraus< --! Das ist denn doch! ... Das ist der Gipfel!
Das ist ... ja was soll denn das heißen? _Je suis un forçat, un
Badinguet, un_{[35]} an die Wand gedrückter Mensch! ...«

Und dabei blickte doch etwas launisch Selbstgefälliges, etwas
leichtfertig Spielerisches durch alle diese anklagenden Ausrufe hervor.
Am Abend tranken wir wieder ein wenig.




                            Drittes Kapitel.
                             Fremde Sünden.


                                   I.

Es verging ungefähr eine Woche und die Sache begann sich hinzuziehen.
Nebenbei bemerkt: ich hatte in dieser Zeit als sein einziger, ihm ewig
unentbehrlicher Vertrauter viel auszustehen. Er schämte sich, und das
war die Hauptursache seiner Qual. Er schämte sich vor allen Menschen,
glaubte, die ganze Stadt wisse es bereits, und so saß er denn nur zu
Hause und empfing keinen außer mir! Ja, er schämte sich sogar vor mir,
und je mehr er sich mir gegenüber aussprach, um so mehr ärgerte er sich
gleichzeitig über mich. Eine Woche war so vergangen, er aber wußte noch
immer nicht, ob er nun Bräutigam war oder noch unverlobt. Auch die Braut
hatte er noch nicht gesprochen, ja, war sie denn überhaupt seine Braut?
ja, war das Ganze überhaupt ernst gemeint? Aus einem ihm unbekannten
Grunde lehnte Warwara Petrowna es ab, ihn zu empfangen, und auf einen
seiner ersten Briefe (er schrieb natürlich wieder unzählige) hatte sie
ihm kurzweg geantwortet, sie müsse ihn bitten, sie für einige Zeit mit
Briefen, Fragen und Besuchen zu verschonen, da sie sehr beschäftigt sei;
sie habe ihm selbst viel Wichtiges mitzuteilen, warte dazu aber den
ersten freieren Augenblick ab und werde ihn dann schon wissen lassen,
wann er wieder zu ihr kommen könne. Weitere Briefe werde sie ihm
uneröffnet zurückschicken, denn das sei doch nur »Spielerei«.

Doch selbst diese Kränkungen und die Ungewißheit waren noch nichts im
Vergleiche zu der Qual eines einzigen und _ganz bestimmten_ Gedankens,
der ihn unausgesetzt verfolgte und der die Hauptursache seiner Scheu vor
den Menschen war. Natürlich hatte ich die Richtung dieses Gedankens
schon längst erraten, und das merkte er, wie es ihm auch nicht entging,
daß mich die Häßlichkeit dieses _Verdachts_, der in ihm beim Suchen nach
einer Erklärung für Warwara Petrownas seltsamen Heiratsplan erwacht war,
aufrichtig empörte. Er wagte nicht, diesen Verdacht offen auszusprechen,
und doch schien er an ihm fast zu ersticken. Er konnte keine zwei
Stunden ohne mich auskommen, ließ mich immer wieder zu sich bitten, doch
wenn ich dann kam, sprach er wieder bloß von allem Möglichen, nur nicht
von dem, was ihn so qualvoll beschäftigte. Das ärgerte mich doppelt und
mein Ärger ärgerte wiederum ihn. Manches andere freilich erkannte er
sehr richtig und definierte es sogar sehr treffend.

»Oh, wie hat sie sich verändert!« klagte er unter anderem über Warwara
Petrowna. »War sie denn damals so, als wir noch über hohe Dinge
diskutierten! Werden Sie es mir glauben, damals hatte sie Gedanken,
eigene Gedanken! Jetzt ist alles anders. Sie sagt, das sei alles nur
altmodisches Geschwätz! Sie verachtet das Frühere ... Jetzt ist sie so
ein Kommis, so ein Ökonom, ein erbitterter Mensch, und immer ärgert sie
sich ...«

»Worüber kann sie sich denn jetzt noch ärgern, Sie haben doch ihren
Wunsch erfüllt und eingewilligt,« warf ich ein. -- Er sah mich mit einem
feinen Lächeln an.

»_Cher ami_, hätte ich nicht eingewilligt, so hätte sie sich allerdings
furchtbar geärgert, furcht--bar! Aber immerhin weniger als jetzt, wo ich
eingewilligt habe.«

Mit dieser Bemerkung schien er sehr zufrieden zu sein. Aber die
Zufriedenheit hielt nicht lange vor; bald war er wieder finsterer und
erregter als je. Was nun mich betrifft, so ärgerte ich mich vor allem
darüber, daß er noch immer nicht Drosdoffs seinen Besuch machte, obschon
diese ihn längst erwarteten. Dabei hatte er selbst eine Art Sehnsucht
nach Lisaweta Nicolajewna und schien zu hoffen, in ihrer Gegenwart
gewissermaßen eine Erleichterung seiner jetzigen Qualen und Klarheit
über seine Zweifel zu finden. Nach dem Entzücken zu urteilen, mit dem er
von ihr sprach, mußte er sie für ein außergewöhnliches Wesen halten. Und
doch ging er nicht hin, sondern schob den Besuch von Tag zu Tag auf. Ich
ärgerte mich darüber maßlos, denn: ich brannte darauf, ihr vorgestellt
zu werden, und diesen Dienst konnte nur er mir erweisen. Gesehen hatte
ich sie schon oft, aber natürlich nur auf der Straße, wenn sie in
Begleitung eines hübschen Offiziers, ihres sogenannten Verwandten,
spazieren ritt. Meine Verblendung dauerte zwar nur kurze Zeit und ich
sah ja die Aussichtslosigkeit meiner Schwärmerei sehr bald ein, aber
damals war ich doch empört über meinen Freund wegen seiner Scheu,
Drosdoffs seinen Besuch zu machen oder auch nur das Haus zu verlassen.
Und das alles wegen jenes häßlichen Verdachts! Unser Freundeskreis war
von ihm schon am ersten Tage brieflich benachrichtigt worden, daß die
Abende bei ihm zeitweilig ausfallen müßten, und später hatte ich noch
auf seine inständige Bitte hin, (damit nur ja niemand sich darüber
wundere und eine andere Ursache vermute) jeden einzeln aufsuchen und ihm
erklären müssen, daß Warwara Petrowna »unserem Alten«, wie wir ihn unter
uns nannten, eine große eilige Arbeit aufgetragen habe: einen
mehrjährigen Briefwechsel in Ordnung zu bringen und Ähnliches. Nur zu
Liputin war ich noch nicht gegangen und ich wollte es auch nicht recht;
ich wußte im voraus, daß er mir doch kein Wort glauben, vielmehr sofort
argwöhnen werde, daß man gerade vor ihm etwas geheimhalten wolle. Und
dann würde er natürlich in der Stadt überall herumlaufen, um sich zu
erkundigen, und dabei nur Klatsch verbreiten. Da traf ich ihn plötzlich
ganz zufällig auf der Straße. Ich begann mich zu entschuldigen, ich sei
noch nicht dazu gekommen, ihn gleichfalls aufzusuchen usw., doch er
unterbrach mich sogar und zeigte seltsamerweise gar keine Neugier, ja,
er ging selbst sofort auf ein anderes Thema über und begann seinerseits
die Neuigkeiten zu erzählen, die sich bei ihm inzwischen angesammelt
hatten. Zunächst berichtete er von der Ankunft der Gemahlin unseres
neuen Gouverneurs, die »neue Gesprächsthemata« mitgebracht habe, und von
der Opposition gegen diese Themata, die sich im Klub schon gebildet
habe; alle Welt rede jetzt von neuen Ideen, alle seien hinter ihnen her
usw. usw. Kurz, er erzählte eine gute Viertelstunde, und zwar so
amüsant, daß ich mich nicht loszureißen vermochte, obschon ich ihn
persönlich nicht ausstehen konnte. Er war in meinen Augen der geborene
Spion, der alle Stadtgeheimnisse wußte, besonders alle skandalösen, und
sein vorherrschender Charakterzug war, wie mir schien, der Neid. Als ich
Stepan Trophimowitsch von dieser Begegnung erzählte, regte er sich, zu
meiner Verwunderung, unglaublich auf und stellte die seltsame Frage:
»Weiß Liputin schon etwas davon oder weiß er noch nichts?« Ich suchte
ihn zu beruhigen und zu überzeugen, daß Liputin doch unmöglich von
Warwara Petrownas Plan etwas gehört haben könne; durch wen denn? Aber
sein Argwohn blieb und plötzlich sagte er:

»Glauben Sie es mir oder glauben Sie es nicht, aber ich bin überzeugt,
daß ihm nicht nur _unsere_ Lage bereits bekannt ist, sondern daß er
außerdem noch etwas weiß, was weder ich noch Sie wissen, und was wir
vielleicht auch nie erfahren werden, oder erst dann, wenn es schon zu
spät ist, wenn es kein Zurück mehr gibt!«

Ich schwieg, aber diese Worte deuteten doch vieles an. Er aber bereute
sichtlich schon im nächsten Augenblick, sie ausgesprochen und seinen
Verdacht verraten zu haben.


                                  II.

Eines Morgens -- es war am siebenten oder achten Tage nach Stepan
Trophimowitschs Einwilligung zu heiraten -- hatte ich, als ich wie
gewöhnlich gegen elf Uhr zu meinem bekümmerten Freunde eilte, unterwegs
ein kleines Erlebnis: ich begegnete Karmasinoff[26], dem »großen
Schriftsteller«, wie Liputin ihn zu nennen pflegte.

Karmasinoffs Schriften hatten mich in meinen Jünglingsjahren entzückt,
begeistert. Seine späteren tendenziösen Novellen gefielen mir viel
weniger als seine ersten Werke, die noch viel Poesie enthielten; manche
aber sagten mir gar nicht mehr zu. Und zuletzt hatte ich eine Skizze von
ihm gelesen, die ungeheure Aussprüche darauf erhob, naive Poesie und
zugleich höchste Psychologie zu bringen. Diese Skizze sollte den
Untergang eines Schiffes irgendwo an der englischen Küste schildern, den
er als Augenzeuge miterlebt hatte, doch in Wirklichkeit schilderte sie
nur ihn, den Verfasser. Man las es förmlich zwischen den Zeilen: »So
seht doch auf mich, seht, wie ich in diesen Augenblicken war! Was geht
euch dieses Meer an, der Sturm usw., _ich_ bin es doch, der euch das mit
genialer Feder schildert!« Als ich damals Stepan Trophimowitsch meine
Meinung über diese Skizze sagte, stimmte er mir bei. Trotzdem hätte ich
Karmasinoff jetzt, während seines Besuches in unserer Stadt, gern
gesehen oder gar seine Bekanntschaft gemacht, was durch Stepan
Trophimowitschs Vermittlung möglich war; sie waren ja früher befreundet
gewesen. Und da begegnete ich ihm nun plötzlich an einer Straßenecke.
Ich erkannte ihn sofort; man hatte ihn mir schon vor drei Tagen gezeigt,
als er mit der Gouverneurin in einer Equipage vorüberfuhr.

Er war ein sehr kleiner, gezierter alter Herr, übrigens wohl nicht über
fünfundfünzig Jahre alt, mit ziemlich frischem Gesichtchen, dichten
grauen Löckchen, die unter seinem runden Zylinderhut hervorquollen und
sich um seine kleinen, netten, rosafarbenen Ohren ringelten. Sein
sauberes Gesichtchen war nicht gerade hübsch, mit den dünnen, langen,
verschlagen geschlossenen Lippen, der etwas fleischigen Nase und den
stechenden, klugen kleinen Äuglein. Er war eigentlich etwas altmodisch
gekleidet, wenigstens erinnerte der Mantel, den er trug, an die Umhänge,
die bei Regenwetter etwa in der Schweiz oder in Oberitalien getragen
werden. Dafür aber waren alle die kleinen Sachen, wie Hemdknöpfchen, das
Krägelchen, die Schildpattlorgnette am schmalen schwarzen Bändchen, der
Ring am Finger unbedingt genau von der Art, wie sie von Leuten des
untadelig guten Tones getragen werden.

Er blieb an der Straßenecke stehen und sah sich aufmerksam um. Als er
bemerkte, daß ich ihn neugierig ansah, wandte er sich an mich und fragte
mit honigsüßem, wenn auch kreischendem Stimmchen:

»Gestatten Sie die Frage, wie komme ich auf dem nächsten Wege zur
Bykoffstraße?«

»Zur Bykoffstraße? Hier ... hier geradeaus,« rief ich erregt, »und dann
die zweite Querstraße links.«

»Ich danke Ihnen sehr.«

Verwünscht sei dieser Augenblick! Er hatte aus meiner Verlegenheit und
Erregung natürlich sofort alles erraten, d. h. daß ich wußte, wer er
war, daß ich seine Werke verschlungen hatte und darum so befangen und so
dienstbeflissen war. Er lächelte, nickte und ging weiter. Ich weiß
nicht, warum ich ihm nachging. Da blieb er wieder stehen.

»Und könnten Sie mir auch angeben, wo hier in der Nähe Droschken
stehen?« kreischte wieder seine Stimme.

»Droschken? Hier ... bei der Kirche stehen immer welche!« und fast wäre
ich selbst nach einer Droschke gelaufen. Ich vermute, daß er gerade das
von mir auch erwartete. Natürlich kam ich sofort zur Besinnung und blieb
stehen, aber meine erste Bewegung hat er bestimmt bemerkt, da er mich
die ganze Zeit mit diesem schändlichen Lächeln scharf beobachtete. Da
aber geschah etwas für mich Unvergeßliches: er ließ plötzlich ein
Säckchen oder eine Art Täschchen fallen, das er in der linken Hand trug.
Und ich machte unwillkürlich eine Bewegung, um es aufzuheben. Natürlich
besann ich mich sofort und hob es nicht auf, nur wurde ich rot wie ein
Dummkopf. Er aber nutzte die Situation raffiniert zu seinen Gunsten aus.

»Bemühen Sie sich nicht, ich kann ja selbst ...« sagte er in bezaubernd
liebenswürdigem Tone, aber erst, als kein Zweifel mehr darob bestand,
daß ich es nicht aufheben würde. Er hob es selbst auf, nickte mir zu und
ging weiter, indem er mich wie einen dummen Jungen stehen ließ. Das war
ebensogut, als hätte ich es aufgehoben. In den ersten fünf Minuten hielt
ich mich für lebenslänglich blamiert; doch als ich mich dem Hause Stepan
Trophimowitschs näherte, lachte ich plötzlich laut auf: die Begegnung
kam mir so komisch vor, daß ich sofort beschloß, sie meinem Freunde zur
Erheiterung zu erzählen.


                                  III.

Aber diesmal fand ich ihn zu meiner Verwunderung ganz verändert vor. Er
stürzte mir freilich mit einer gewissen Spannung entgegen und begann mir
zuzuhören, aber er war doch sichtlich so zerstreut, daß er meinen
Bericht anfangs gar nicht verstand. Kaum aber hatte ich den Namen
Karmasinoff ausgesprochen, als er plötzlich geradezu außer sich geriet.

»Reden Sie nicht von ihm, nennen Sie ihn nicht!« rief er fast wie
rasend. »Hier, hier, sehen Sie, lesen Sie!« Er riß ein Schubfach auf und
warf mir drei kleine Zettel zu. Es waren drei Zuschriften Warwara
Petrownas an ihn, die sich alle auf Karmasinoff bezogen und deutlich
ihre Besorgnis verrieten, der »große Schriftsteller« könnte vergessen,
ihr seine Visite zu machen. Das erste Briefchen, das sie vor drei oder
vier Tagen geschrieben hatte, lautete:

»Sollte er Sie heute endlich beehren, so bitte von mir kein Wort.
Erwähnen Sie mich überhaupt nicht und erinnern Sie ihn nicht daran. W.
S.«

Der zweite Zettel vom vergangenen Tage lautete:

»Sollte er sich heute endlich entschließen, Ihnen seine Visite zu
machen, so dürfte es das beste sein, ihn überhaupt nicht zu empfangen.
Das wäre meine Meinung. Wie die Ihre ist, weiß ich nicht. W. S.«

Und den dritten hatte er vor einer Stunde erhalten:

»Ich bin überzeugt, daß in Ihren Zimmern eine Fuhre Papierschnippel und
allerhand umherliegt und der Zigarrenrauch undurchdringlich ist. Ich
schicke Ihnen Marja und Fómuschka, die werden in einer halben Stunde
alles aufräumen. Stören Sie sie nicht, setzen Sie sich so lange in die
Küche. Ich sende Ihnen einen bucharischen Teppich und zwei chinesische
Vasen, die ich Ihnen schon lange schenken wollte, und außerdem meinen
Teniers (diesen aber nur für einige Zeit). Die Vasen könnte man aufs
Fensterbrett stellen und den Teniers hängen Sie rechts unter Goethes
Porträt, dort ist er sichtbarer. Wenn er endlich erscheint, so empfangen
Sie ihn mit vollendeter Höflichkeit, aber reden Sie nur von Belanglosem,
z. B. von irgendetwas Gelehrtem, und mit einem Gleichmut, als hätten Sie
sich erst gestern getrennt. Über mich kein Wort. Vielleicht komme ich am
Abend zu Ihnen, um zu sehen, wie es aussieht. W. S.

_P. S._ Wenn er heute nicht kommt, so wird er überhaupt nicht kommen.«

Ich las und wunderte mich im stillen, daß solche Kleinigkeiten ihn so
erregen konnten. Als ich aufsah bemerkte ich, daß er inzwischen seine
weiße Halsbinde mit einer roten vertauscht hatte. Hut und Stock lagen
auf dem Tisch. Er war blaß und seine Hände zitterten.

»Ich will von ihren Besorgnissen nichts wissen!« schrie er empört als
Antwort auf meinen fragenden Blick. »_Je m'en fiche!_{[36]} Ihr fällt es
ein, sich wegen Karmasinoff aufzuregen, aber auf meine Briefe antwortet
sie mir nicht! Dort, sehen Sie, dort auf dem Schreibtisch liegt mein
Brief, den sie mir gestern uneröffnet zurückgeschickt hat! Was geht es
mich an, daß sie sich um _Ni--kó--lenka_ Sorgen macht! _Je m'en fiche et
je proclame ma liberté! Au diable le Karmazinoff! Au diable la
Lembke!_{[37]} Die chinesischen Vasen habe ich im Vorzimmer versteckt
und den Teniers in der Kommode untergebracht, von ihr aber habe ich
verlangt, mich sofort zu empfangen. Jawohl: _verlangt_, mich sofort zu
empfangen, sofort! Ich habe ihr genau solch einen mit Bleistift
geschriebenen Zettel unversiegelt durch Nastassja geschickt und warte
jetzt. Ich will, daß Darja Pawlowna mir persönlich sagt, was gesagt
werden muß, mit eigenem Munde und vor dem Angesicht des Himmels oder
wenigstens vor Ihnen. _Vous me seconderez, n'est-ce pas, comme ami et
témoin._{[38]} Ich will nicht erröten müssen, ich will nicht lügen
müssen, ich will keine Geheimnisse, in dieser Sache werde ich
Geheimnisse nicht dulden! Sie sollen mir alles gestehen, ehrlich, offen
und anständig, und dann ... dann werde ich vielleicht die ganze heutige
Generation durch meine Großmut in Erstaunen setzen! ... Bin ich denn ein
Schuft, mein Herr?« schloß er plötzlich und sah mich so drohend an, als
hätte gerade _ich_ ihn für einen Schuft gehalten.

Ich bat ihn, zur Beruhigung ein wenig Wasser zu trinken. So erregt hatte
ich ihn noch nie gesehen. Er lief die ganze Zeit hin und her. Plötzlich
blieb er in einer ganz ungewöhnlichen Pose vor mir stehen.

»Glauben Sie wirklich,« begann er mit krankhaftem Hochmute, mich vom
Kopfe bis zu den Füßen messend, »daß ich, Stepan Werchowenski, nicht so
viel sittliche Kraft in mir fände, um meine Habe -- mein armseliges
Bündel! -- auf meine schwachen Schultern zu laden, zum Tore
hinauszugehen und für immer von hier zu verschwinden, wenn das die Ehre
und das hohe Prinzip der Unabhängigkeit fordern? Es wäre nicht das erste
Mal, daß Stepan Werchowenski Despotismus durch Großmut zurückweist,
selbst wenn es sich um den Despotismus eines wahnsinnigen Weibes
handelt, also um den kränkendsten und grausamsten Despotismus, den es
auf der Welt überhaupt geben kann, wiewohl Sie soeben beliebten, über
meine Worte zu lächeln, mein Herr! Oh, Sie glauben natürlich nicht, daß
ich soviel Großmut aufzubringen vermöchte, um mein Leben lieber bei
einem Kaufmann als Hauslehrer zu beschließen oder hinter einem Zaune
Hungers zu sterben! Antworten Sie mir, antworten Sie sofort: trauen Sie
mir das zu oder trauen Sie's mir nicht zu?«

Ich schwieg aber absichtlich. Ich tat sogar, als brächte ich es nicht
über mich, ihn durch eine verneinende Antwort zu kränken, und könnte
doch auch nicht bejahend antworten. In diesem ganzen Benehmen lag etwas,
was mich entschieden verletzte, nicht mich persönlich, o nein! ... Ich
werde das später erklären. Er wurde blaß.

»Vielleicht langweilt Sie überhaupt der Umgang mit mir, G--ff« (dies ist
mein Familienname), »und Sie würden lieber ... den Verkehr mit mir ganz
aufgeben?« fragte er in jenem Tone bleicher Ruhe, die gewöhnlich einem
außergewöhnlichen Ausbruch vorhergeht. Ich sprang erschrocken auf; in
dem Augenblick kam Nastassja herein und übergab ihm schweigend einen
Zettel. Er warf einen Blick darauf und reichte ihn mir. Auf dem Papier
standen nur vier Worte von Warwara Petrowna: »Bleiben Sie zu Hause.«

Stepan Trophimowitsch nahm schweigend Hut und Stock und ging zur Tür;
ich wollte ihm unwillkürlich folgen. Da hörten wir plötzlich Stimmen und
Schritte im Korridor. Er blieb wie vom Donner gerührt stehen.

»Liputin! Ich bin verloren!« flüsterte er und packte mich am Arm. -- Da
trat Liputin schon ins Zimmer.


                                  IV.

Warum er durch Liputins Besuch verloren sei, wußte ich mir zwar nicht zu
erklären, aber sein Schreck war doch so auffallend, daß ich beschloß,
hier acht zu geben. Schon die Art, wie Liputin auftrat, sagte einem
sofort, daß er heute trotz aller Verbote ein besonderes Recht zum
Eintritt zu haben glaubte. Er brachte einen uns unbekannten Herrn mit,
offenbar einen Zugereisten. Als Antwort auf den leeren Blick des starr
dastehenden Stepan Trophimowitsch rief er sogleich laut:

»Ich bringe einen Gast mit, einen besonderen! Ich wage es, Ihre
Einsamkeit zu stören. Herr Kirilloff, ein hervorragender Ingenieur der
Wegebaukunst. Doch das Wichtigste ist: er kennt Ihren Sohn, sogar sehr
gut, und hat einen Auftrag von ihm.«

»Den Auftrag haben Sie hinzugefügt,« sagte der Gast schroff, »davon habe
ich nichts. Aber Werchowenski kenne ich. Das ist so. Ich habe ihn im
Gouvernement Ch. verlassen. Zehn Tage zurück.«[27]

Stepan Trophimowitsch reichte ihm mechanisch die Hand und forderte ihn
auf, Platz zu nehmen. Dann sah er mich an, dann Liputin und plötzlich,
wie sich besinnend, setzte er sich selbst schnell hin, behielt aber Hut
und Stock, offenbar unbewußt, in der Hand.

»Aber was sehe ich, Sie wollen selbst ausgehen!« rief Liputin. »Und mir
hat man doch gesagt, Sie seien vor lauter Arbeit ganz krank!«

»Ja, ich fühle mich nicht wohl und wollte deshalb spazieren gehen. Ich
...« Stepan Trophimowitsch stockte plötzlich, warf schnell Hut und Stock
auf den Diwan und -- errötete.

Ich sah mir inzwischen schnell den Gast näher an. Er war ein junger Mann
von ungefähr siebenundzwanzig Jahren, anständig gekleidet, gutgewachsen
und mager, brünett, mit blassem Gesicht von gleichsam ein wenig
erdig-brauner Hautfarbe und mit schwarzen glanzlosen Augen. Er schien
nachdenklich und zerstreut zu sein, sprach seltsam abgebrochen und
grammatisch geradezu falsch, wenigstens stellte er die Worte sehr
sonderbar zusammen und bei jedem längeren Satz gerieten sie ihm
anscheinend durcheinander. Liputin, dem Stepan Trophimowitschs Schreck
natürlich nicht entgangen war, hatte für sich einen Rohrstuhl fast bis
in die Mitte des Zimmers gezogen, um in gleicher Entfernung vom Gast und
vom Hausherrn sitzen zu können, die einander gegenüber jeder auf einem
Diwan Platz genommen hatten. Seine scharfen Augen fuhren neugierig im
Zimmer umher.

»Ich ... ich habe Petrúscha so lange nicht mehr gesehen ... Haben Sie
ihn im Auslande getroffen?« brachte Stepan Trophimowitsch, zum Gast
gewandt, unsicher hervor.

»Auch hier und auch im Auslande.«

»Herr Kirilloff ist soeben nach vierjähriger Abwesenheit zurückgekehrt,«
bemerkte Liputin, »aus dem Auslande, wo er sich in seinem Fach
vervollkommnet hat, und jetzt ist er zu uns gekommen, da er Aussicht
hat, eine Anstellung beim Bau unserer Eisenbahnbrücke zu erhalten. Ihr
Sohn hat ihn in der Schweiz auch mit Drosdoffs bekannt gemacht, und er
kennt auch Nicolai Stawrogin!«

»Ja?! ... Ich ... ich habe Petrúscha so lange nicht mehr gesehen ... und
habe eigentlich so wenig das Recht, mich Vater zu nennen ... _oui, c'est
le mot_.{[39]} Ich ... wie haben Sie ihn denn dort verlassen?«

»Ja, so ... Er wird selbst kommen.« Herr Kirilloff beeilte sich
sichtlich, die Antwort los zu werden. Er war entschieden geärgert, saß
finster da und hörte ungeduldig zu.

»Er wird herkommen! Endlich werde ich ... Ja, sehen Sie, ich habe
Petrúscha so lange nicht mehr gesehen!« Stepan Trophimowitsch kam von
diesem Satz nicht los. »Ich erwarte jetzt meinen armen Jungen, vor dem
... oh, vor dem ich so schuldig dastehe! Das heißt, ich wollte sagen,
daß ich ihn in Petersburg damals für nichts Besonderes hielt ... _ou
quelque chose dans ce genre_.{[40]} Der Junge war, wissen Sie, nervös,
sehr empfindsam, und ... ängstlich. Bevor er zu Bett ging, verneigte er
sich vor dem Heiligenbilde und bekreuzte sein Kopfkissen, um in der
Nacht nicht zu sterben, _je m'en souviens. Enfin_,{[41]} kein bißchen
Gefühl für das Schöne, das heißt für etwas Höheres, oder Tieferes, kein
einziger Keim einer zukünftigen Idee ... _c'était comme un petit
idiot_.{[42]} Übrigens, ich ... entschuldigen Sie, ich ... bin momentan
...«

»Das Kissen bekreuzte, sagten Sie das im Ernst?« erkundigte sich Herr
Kirilloff plötzlich mit besonderem Interesse.

»Ja, er bekreuzte es ...«

»Nein, ich fragte nur so; fahren Sie fort.«

Stepan Trophimowitsch sah Liputin fragend an.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Besuch, aber ich muß gestehen, ich
bin jetzt nicht imstande ... Doch gestatten Sie die Frage, wo wohnen
Sie?«

»In der Bogojawlenskstraße, im Filippoffschen Hause.«

»Ach, das ist ja dasselbe Haus, in dem auch Schatoff wohnt,« bemerkte
ich unwillkürlich.

»Ja, eben, genau in demselben Hause,« rief Liputin schnell, »nur wohnt
Schatoff oben und er unten bei Lebädkin. Und er ist auch mit Schatoff
und Schatoffs Frau bekannt, mit dieser sogar besonders nah und gut.«

»_Comment!_{[43]} So wissen Sie etwas von dieser unglücklichen Ehe _de
notre pauvre ami_{[44]} mit dieser Frau?« fragte Stepan Trophimowitsch
plötzlich lebhaft, mit aufrichtigem Mitgefühl. »Sie sind der erste, der
diese Frau persönlich kennt; und wenn nur ...«

»Welch ein Blödsinn!« Kirilloff sah dabei, ganz rot vor Zorn, Liputin
ungehalten an. »Was Sie immer zu allem hinzufügen, Liputin! Ich kenne
Schatoffs Frau gar nicht ... habe sie nur einmal gesehen, von weitem ...
Was fügen Sie immer hinzu!« Und er machte eine schroffe Wendung auf dem
Diwan, griff schon nach seiner Mütze, legte sie aber wieder hin, und als
er wieder wie früher dasaß, richtete er plötzlich seine schwarzen
aufflammenden Augen mit einer gewissen Herausforderung auf Stepan
Trophimowitsch. Ich vermochte mir diese sonderbare Reizbarkeit überhaupt
nicht zu erklären.

»Verzeihen Sie,« versetzte Stepan Trophimowitsch fein, »ich verstehe,
daß das eine sehr zarte Angelegenheit ...«

»Gar keine zarte Angelegenheit, und das ist einfach schamlos ich habe
aber nicht zu Ihnen >Blödsinn< gesagt, sondern zu Liputin, weil er immer
hinzufügt. Entschuldigen Sie, wenn Sie es auf sich dachten. Ich kenne
Schatoff, aber seine Frau, nein, die gar nicht!«

»Ich verstehe, oh, ich verstehe. Ich habe ja nur gefragt, weil ich
unseren armen Freund sehr liebe und mich immer für ihn interessiert habe
... Der junge Mann hat, meiner Meinung nach, etwas zu plötzlich, zu
schroff seine früheren, vielleicht noch unreifen, aber immerhin
richtigen Ansichten geändert. Er sagt jetzt dermaßen sonderbare Dinge
über _notre sainte Russie_,{[45]} daß ich diesen Umschwung in seinem
Inneren -- anders möchte ich's nicht nennen -- einer starken
Erschütterung seines Privatlebens zuschreibe, in erster Linie seiner
unglücklichen Ehe. Ich, der ich mein armes Rußland studiert habe und wie
meine fünf Finger kenne, und meinem Volke mein ganzes Leben geweiht
habe, ich versichere Ihnen, daß er das russische Volk nicht kennt, und
zudem ...«

»Ich kenne das russische Volk auch gar nicht und ... um es zu studieren
ist auch gar keine Zeit da!« fiel ihm der Ingenieur wieder ins Wort und
wieder machte er eine schroffe Wendung auf seinem Platz.

»Aber er studiert es, studiert es,« hakte Liputin flink ein, »er hat
schon damit begonnen und jetzt arbeitet er an einer ungemein
interessanten Abhandlung über die Ursachen der Zunahme der Selbstmorde
in Rußland und überhaupt über die Ursachen, die die Verbreitung des
Selbstmordes in der menschlichen Gesellschaft fördern oder hemmen. Er
ist auch schon zu ganz erstaunlichen Folgerungen gelangt!«

Der Ingenieur geriet in schreckliche Erregung.

»Dazu haben Sie gar kein Recht!« sagte er zornig. »Ich schreibe gar
keine Abhandlung. Ich will keine solche Dummheiten. Ich habe Sie unter
uns gefragt, nur versehentlich. Und nichts von einer Abhandlung; ich
veröffentliche nicht, Sie aber haben kein Recht ...«

Liputin ergötzte sich augenscheinlich an diesem Zorn.

»Ja dann verzeihen Sie schon, vielleicht habe ich mich falsch
ausgedrückt, wenn ich Ihre literarische Arbeit eine Abhandlung nannte.
Er sammelt nämlich nur Beobachtungen, aber an den Kern der Frage oder
sozusagen an ihre sittliche Seite rührt er überhaupt nicht, ja er lehnt
sogar die Sittlichkeit selbst ganz ab und hält sich dafür an den
neuesten Grundsatz der allgemeinen Zerstörung zum Zwecke der Erreichung
guter Endziele. Er verlangt über hundert Millionen Köpfe, um die gesunde
Vernunft in Europa zur Herrschaft zu bringen, also noch viel mehr, als
auf dem letzten Weltkongreß verlangt wurden. In der Beziehung geht er
viel weiter als alle anderen!«

Der Ingenieur hörte mit einem geringschätzigen und blassen Lächeln zu.
Eine halbe Minute schwiegen wir alle.

»Das ist so dumm, Liputin,« sagte Kirilloff schließlich, nicht ohne eine
gewisse Würde. »Ich habe Ihnen nur einige Punkte gesagt, und Sie haben
sie so aufgefaßt, das ist Ihre Sache. Aber Sie haben gar kein Recht
dazu, und ich spreche davon zu niemandem. Ich verachte das Sprechen.
Wenn ich Überzeugungen habe, so sind sie für mich klar. Ich
philosophiere nicht mehr über das, was schon ganz klar ist. Ich kann es
nicht ausstehen, zu philosophieren. Ich will niemals philosophieren.«

»Und vielleicht tun Sie ganz recht daran,« konnte Stepan Trophimowitsch
sich nicht enthalten, zu bemerken.

»Ich habe mich bei Ihnen entschuldigt, aber ich ärgere mich hier über
niemanden,« fuhr der fremde Gast schnell und erregt fort. »Ich habe vier
Jahre lang wenig Menschen gesehen. Vier Jahre habe ich wenig gesprochen
und mich bemüht, mit keinem Menschen zusammenzukommen, wegen meiner
Ziele, die weiter niemanden angehen. Liputin fand das zum Lachen. Ich
sehe das, aber ich beachte es nicht. Man kann mich nicht beleidigen,
aber ich ärgere mich nur über seine Ungeniertheit. Doch wenn ich Ihnen
nicht meine Gedanken erkläre,« schloß er unerwartet und sah uns alle der
Reihe nach mit festem Blick an, »so unterlasse ich das nicht deshalb,
weil ich eine Anzeige bei der Regierung fürchte, nein, bitte, denken Sie
nicht Dummheiten von der Art ...«

Dazu sagte schon niemand mehr etwas. Wir sahen uns nur an. Sogar Liputin
vergaß zu spottlächeln.

»Meine Herren, ich bedaure unendlich,« sagte Stepan Trophimowitsch
plötzlich entschlossen und erhob sich, »aber ich fühle mich nicht wohl.
Entschuldigen Sie mich.«

»Ach, das ist, damit wir fortgehen!« rief Herr Kirilloff und sprang
sofort auf. »Gut, daß Sie es sagten, ich bin sonst vergeßlich.«

Er trat mit gutmütigem Ausdruck und ausgestreckter Hand auf Stepan
Trophimowitsch zu. »Schade, daß Sie krank sind und ich gekommen bin.«

»Ich wünsche Ihnen allen Erfolg bei uns,« sagte Stepan Trophimowitsch
wohlwollend und gab ihm langsam die Hand. »Ich verstehe schon, daß Sie,
der Sie so lange im Auslande ohne Verkehr gelebt haben, auf uns Urrussen
mit Erstaunen blicken müssen -- und wir natürlich desgleichen auf Sie.
_Mais ce a passera._{[46]} Nur eines macht mir Sorge: Sie wollen hier
unsere Brücke bauen, und erklären sich zu gleicher Zeit für das Prinzip
der allgemeinen Zerstörung? Dann wird man Sie unsere Brücke nicht bauen
lassen!«

»Was?! Wie, was haben Sie gesagt?« rief Kirilloff bestürzt; bis er
plötzlich begriff: »Ach so!« und er brach in das heiterste und
harmloseste Lachen aus; dabei nahm sein Gesicht auf einen Augenblick
einen ganz kindlichen Ausdruck an, der ihm, wie mir schien, ungemein gut
stand.

Liputin rieb sich die Hände vor Vergnügen über Stepan Trophimowitschs
gelungene Bemerkung.

Ich aber fragte mich noch immer, warum Stepan Trophimowitsch ausgerufen
hatte, »ich bin verloren«, als er Liputin kommen hörte.


                                   V.

Wir waren alle aufgestanden. Es war jener Augenblick, in dem die Gäste
und der Hausherr noch die letzten liebenswürdigen Worte zu wechseln
pflegen, um dann zufrieden auseinander zu gehen.

Da bemerkte plötzlich Liputin, der bereits an der Türe stand, wie
beiläufig: »Er ist ja nur deshalb so mürrisch, weil er mit dem Hauptmann
Lebädkin den Streit gehabt hat. Der schlägt seine schöne Schwester, die
Irrsinnige, jeden Morgen und jeden Abend mit der Nagaika, mit einer
echten Kosakenpeitsche, sage ich Ihnen! Herr Kirilloff aber ist deswegen
schon auf die andere Seite, in den Flügel des Hauses gezogen, um das
nicht täglich anhören zu müssen. Na ja, -- also auf Wiedersehen!«

»Die kranke Schwester? Die Irrsinnige? Mit der Nagaika?« rief Stepan
Trophimowitsch, als sei er selbst von einem Peitschenschlage getroffen
worden. »Welch eine Schwester? Was für ein Lebädkin?«

»Lebädkin -- na, dieser verabschiedete Hauptmann doch! Früher nannte er
sich >StabskapitänHauptmann< hat uns damals allem Anscheine nach nicht wegen falscher
Papiere verlassen, sondern einzig und allein, um sein verrücktes
Schwesterlein aufzusuchen, das sich an einem unbekannten Orte versteckt
hielt. Na, und jetzt hat er sie eben hergebracht. Und das ist alles. Was
ist denn dabei? Warum regen Sie sich denn so darüber auf, Stepan
Trophimowitsch? Ich erzähle doch nur, was ich von ihm selber in seiner
Betrunkenheit erfahren habe. Wenn er nüchtern ist, schweigt er darüber.
Ein reizbarer Mensch übrigens, na, und so ... na, so ein dichtender Mars
mitunter, wenn der Geist über ihn kommt, doch meist von üblem Geschmack.
Und das verrückte Schwesterlein, das dabei noch hinkt, scheint mir von
irgend jemand entehrt worden zu sein. Der Herr Bruder aber bezieht einen
jährlichen Tribut, als Belohnung für die Ehrenbeleidigung, wie er sagt.
Meiner Meinung nach ist das freilich nur Geschwätz. Er prahlt einfach.
Aber das ließe sich doch mit weniger Geld auch machen! Doch Tatsache
ist, daß er Geld hat, und zwar in großen Summen! Vor anderthalb Wochen
ging er fast barfuß, und jetzt hat er -- ich habe es selbst gesehen! --
Hunderte in den Händen. Die Schwester hat täglich irgendwelche Anfälle,
und schreit dann, worauf er sie mit der Peitsche >in Ordnung bringt<,
wie er zu sagen pflegt, -- denn man müsse in das Weib >Achtung
pflanzen<. Ich begreife nicht, wie Schatoff es aushält, über ihnen zu
wohnen. Herr Kirilloff hat es nur drei Tage aushalten können. Nun ist er
umgezogen, wie gesagt. Er kannte sie noch von Petersburg her!«

»Ist das wirklich alles wahr?« wandte sich Stepan Trophimowitsch an den
Ingenieur.

»Sie schwatzen furchtbar viel, Liputin,« brummte dieser wütend.

»Geheimnisse und wieder Geheimnisse! Woher kommt das doch, daß es bei
uns plötzlich so viele Geheimnisse gibt?« Stepan Trophimowitsch konnte
nicht mehr an sich halten. Der Ingenieur ärgerte sich, errötete, zuckte
ungeduldig mit den Schultern und ging schon aus dem Zimmer.

»Herr Kirilloff hat ihm sogar die Peitsche aus der Hand gerissen, sie
zerbrochen und dann aus dem Fenster geworfen,« fügte da Liputin schnell
mit schlauem Lächeln hinzu.

Kirilloff kehrte sofort um: »Was soll das alles, Liputin? Das ist doch
dumm. Und weshalb?«

»Aber wozu denn aus Bescheidenheit gerade die edelsten Regungen der
Seele verheimlichen?! -- das heißt, Ihrer Seele, selbstredend Ihrer
Seele, ich spreche nicht von der meinen!« antwortete Liputin.

»Wie das dumm ist ... und gar nicht nötig. Lebädkin ist ein ganz leerer
Mensch und kommt für die Sache gar nicht in Betracht und schadet ihr
nur. Warum schwatzen Sie so viel Überflüssiges? Ich gehe!«

»Ach, wie schade!« rief da Liputin mit hellem Lächeln aus. »Sie gehen
schon -- sonst hätte ich Stepan Trophimowitsch noch mit einer kleinen
Anekdote erfreut!« Und zu diesem gewandt: »Bin sogar mit der Absicht
hergekommen, sie Ihnen unbedingt zu erzählen. Doch Sie werden sie ja
bestimmt schon gehört haben. Na, dann eben ein anderes Mal! Herr
Kirilloff hat es ja so eilig ... Auf Wiedersehen also! Nein, hat aber
Warwara Petrowna mich vorgestern belustigt! Sie schickte extra nach mir.
Einfach zum Kranklachen war's. Na, auf Wiedersehen, Wiedersehen!«

Aber schon hatte Stepan Trophimowitsch ihn plötzlich an den Schultern
gepackt, zu sich herumgedreht und fest auf einen Stuhl gesetzt.

Liputin erschrak ordentlich.

»Ja, wie denn?« fragte er und sah von seinem Stuhl aus ängstlich und
verwundert zu Stepan Trophimowitsch empor. Doch faßte er sich schnell.
»Ja, denken Sie sich, plötzlich ruft man mich und fragt mich im geheimen
-- was ich eigentlich von Nicolai Stawrogin denke: ob ich ihn für
wahnsinnig halte oder nicht? Wie soll man da nicht staunen?«

»Sie sind verrückt geworden, Liputin!« sagte Stepan Trophimowitsch. »Sie
wissen nur zu gut, daß Sie gekommen sind, um mir irgendeine Gemeinheit
zu sagen.«

Mir fiel sofort die Bemerkung Stepan Trophimowitschs ein, Liputin wisse
nicht nur von unserer Sache, sondern wisse noch viel mehr, als wir je
erfahren würden.

»Erlauben Sie, Stepan Trophimowitsch!« stotterte Liputin, als ob jener
ihn furchtbar erschreckt hätte. »Erlauben Sie ...«

»Schweigen Sie jetzt! Ich bitte Sie, Herr Kirilloff, kommen Sie zurück
und setzen sie sich. Bitte, hier! Und Sie, Liputin, Sie werden jetzt
erzählen, aber einfach und ohne Ausreden!«

»Hätte ich gewußt, daß es Sie so aufregt, so würde ich gar nicht davon
angefangen haben ... und ich dachte doch, Sie wüßten das alles selbst
... schon längst ... von Warwara Petrowna!«

»Das haben Sie durchaus nicht gedacht! Aber fangen Sie endlich an, sage
ich Ihnen!«

»Na, dann haben Sie doch wenigstens die Güte, sich auch zu setzen! Denn
wenn Sie so vor mir herumlaufen, da würde ja alles ganz kunterbunt
herauskommen!«

Stepan Trophimowitsch überwand sich und ließ sich sehr formell auf einen
Sessel nieder. Der Ingenieur blickte finster zu Boden. Liputin aber sah
mit unglaublichem Hochgenuß von einem zum andern.

»Ja, womit nun anfangen ... Sie haben mich ganz konfus gemacht ...«


                                  VI.

»Vor drei Tagen also, da schickt sie plötzlich ihren Diener zu mir: sie
ließe bitten, sozusagen, morgen um zwölf zu ihr zu kommen. Können Sie
sich das denken? Nun, ich ließ natürlich meine Arbeit Arbeit sein und um
Punkt zwölf klingelte ich an ihrer Tür. Man führte mich gleich in das
Empfangszimmer. Ich wartete kaum eine Minute, als Warwara Petrowna auch
schon eintrat. Sie bot mir einen Stuhl an und setzte sich selbst mir
gegenüber. Ich saß nun also, brachte es aber zunächst nicht über mich,
meinen Ohren wie sonst zu trauen. Sie wissen doch, wie sie mich immer
behandelt hat. Sie begann also, wie es so ihre Art ist, gerade heraus
und ohne alle Umschweife: >Sie erinnern sich wohl noch<, sagte sie, >der
drei sonderbaren Handlungen meines Sohnes vor vier Jahren. Die ganze
Stadt konnte sie nicht begreifen, bis sich dann alles durch seine
Erkrankung aufklärte. Eine dieser Handlungen ging Sie sogar persönlich
an. Auf meine Bitte hin machte mein Sohn Ihnen später, als er wieder
hergestellt war, seinen Besuch. Ich weiß, daß er Ihnen schon früher
mehrfach begegnet war und sich mit Ihnen unterhalten hatte. Ich möchte
Sie nun bitten, mir doch mit voller Offenheit zu sagen, wie Sie< -- hier
stockte sie ein wenig -- >wie Sie damals meinen Sohn fanden ... wie Sie
ihn beurteilten ... welcher Meinung Sie über ihn waren ... und ... was
Sie jetzt von ihm denken.<

»Hier stockte sie aber schon wirklich, wartete sogar ein Weilchen, und
plötzlich wurde sie rot. Ich war nicht wenig erschrocken. Aber schon
gleich darauf fuhr sie wieder fort, nicht gerade mit rührender Stimme,
nein, das gerade nicht, denn das würde auch nicht zu ihr passen, aber so
sonderbar eindringlich: >Ich will<, sagte sie, >daß Sie mich gut und
ohne ein Mißverständnis verstehen,< sagte sie. >Ich habe Sie zu mir
gebeten, weil ich Sie für einen Menschen halte, der fähig ist, richtig
zu beobachten.< (Wie finden Sie das Kompliment?) >Sie verstehen gewiß
auch, daß es eine Mutter ist, die mit Ihnen spricht,< sagte sie ...
>Mein Sohn hat in seinem Leben manches Unglück gehabt und manche
Widerwärtigkeit über sich ergehen lassen müssen. Alles das,< sagte sie,
>hätte nun auf seinen Verstand, ich meine, auf seine Gemütsstimmung
einwirken können. Selbstverständlich spreche ich nicht etwa von Wahnsinn
... das ist ganz und gar ausgeschlossen!< Das sagte sie so, wissen Sie,
in einem festen und stolzen Ton! >Aber es könnte da etwas Besonderes
sein, etwas Wunderliches, eine gewisse Gedankenrichtung, die Neigung zu
gewissen eigentümlichen Anschauungen< ... Das sind alles ihre eigenen
Worte, und glauben Sie mir, Stepan Trophimowitsch, ich staunte nur so,
mit welcher Genauigkeit Warwara Petrowna eine Sache zu erklären
versteht. Wirklich, eine kluge Dame! >Jedenfalls<, sagte sie, >ist mir
selbst an ihm eine fortwährende Unruhe aufgefallen. Aber ich bin ja
seine Mutter und Sie sind ein fremder Mensch, folglich müssen Sie, bei
Ihrem Verstande, weit fähiger sein, sich ein unbefangenes Urteil über
ihn zu bilden. Ich beschwöre Sie< -- jawohl, so sagte sie wortwörtlich
-- >ich beschwöre Sie, mir die ganze Wahrheit zu sagen, ohne jegliche
Beschönigung. Und wenn Sie mir versprechen wollen, nie zu vergessen, daß
ich im Vertrauen zu Ihnen gesprochen habe, so seien Sie versichert, daß
ich stets bereit sein werde, Ihnen künftig und bei jeder Gelegenheit
meine Dankbarkeit zu beweisen.< Nun, wie finden Sie das?«

»Sie ... Sie haben mich so überrascht ...« stotterte Stepan
Trophimowitsch, »daß ich Ihnen ... einfach nicht glaube ...«

»Nein, bedenken Sie doch nur,« fiel ihm Liputin lebhaft ins Wort und
tat, als hätte er Stepan Trophimowitschs letzte Bemerkung überhaupt
nicht gehört, »wie groß muß ihre Unruhe und Aufregung um ihn sein, wenn
sie sich mit solch einer Frage, von ihrer Höhe herab, an einen Menschen
wendet, wie ich es bin, und sich gar so weit erniedrigt, auch noch um
Verschwiegenheit zu bitten! Wie ist das nur möglich? Sollte sie da nicht
ganz unerwartete Nachrichten über ihren Sohn erhalten haben?«

»Ich weiß von nichts ... Ich glaube, sie hat keine Nachrichten erhalten
... ich habe sie allerdings ... ein paar Tage lang nicht gesehen ...
aber ich möchte Sie nur daran erinnern,« stotterte Stepan Trophimowitsch
wieder, da er sichtlich seine Gedanken nicht mehr sammeln konnte -- »ich
möchte Sie nur daran erinnern, Liputin, daß Sie im _Vertrauen_ gefragt
worden sind, und daß Sie jetzt in Gegenwart ...«

»Ganz und gar im Vertrauen! Gott soll mich strafen, wenn ich ... Aber
hier ... nun ... sind wir denn hier nicht unter Freunden? Selbst Herr
Kirilloff ...«

»Ich bin nicht Ihrer Meinung. Zweifellos werden wir _drei_ das Geheimnis
bewahren. Aber Sie selbst, den vierten, fürchte ich, und Ihnen traue ich
in keiner einzigen Beziehung.«

»Ja, wie denn das? Ich bin doch hier der eigentlich Interessierte! Mir
ist doch ewige Dankbarkeit versprochen worden!« Und hastig ging Liputin
darüber hinweg: »Übrigens, gerade bei der Gelegenheit, möchte ich noch
auf einen sonderbaren, sozusagen psychologischen Fall hinweisen. Gestern
abend, noch unter dem Eindruck des Gespräches mit Warwara Petrowna --
Sie können sich doch denken, welch einen Eindruck das auf mich gemacht
hatte! -- wandte ich mich an Herrn Kirilloff mit der harmlosen Frage:
Sie haben, sagte ich, Nicolai Stawrogin doch im Auslande und auch früher
schon in Petersburg gekannt, was halten Sie, frage ich, von seinem
Verstande und überhaupt von seinen geistigen Fähigkeiten? Und darauf
antwortet er mir lakonisch, wie das so seine Art ist: >Ja,< sagt er,
>das ist ein Mensch mit seinem Verstande und gesundem Urteil.< Aber
haben Sie nicht vielleicht, fragte ich weiter, im Laufe der Jahre
gewisse Ideenveränderungen an ihm bemerkt oder eine besondere
Geisteswandlung oder einen gewissen, wie soll ich sagen, nun --
sozusagen doch einen gewissen Irrsinn? Kurz, ich wiederholte Warwara
Petrownas Frage. Nun, und was denken Sie: Herr Kirilloff wird plötzlich
nachdenklich und runzelt die Stirn ... Sehen Sie, genau so wie jetzt.
>Ja,< sagte er dann, >ich bemerkte allerdings zuweilen etwas Sonderbares
an ihm.< Denken Sie sich, wenn schon Herr Kirilloff etwas Sonderbares
bemerkt hat -- was kann dann nicht alles in Wirklichkeit sein?!«

»Ist das wahr?« wandte sich Stepan Trophimowitsch an Kirilloff.

»Ich möchte nicht davon sprechen ...« sagte Kirilloff, hob aber
plötzlich den Kopf und seine Augen blitzten. »Ich möchte Ihr Recht
bestreiten, Liputin. Sie haben für den Fall gar kein Recht auf mich. Ich
habe gar nicht meine ganze Meinung gesagt. Ich kannte Stawrogin in
Petersburg. Aber das war lange her. Und jetzt, wenn ich ihn auch
wiedergesehen habe, so kenne ich ihn doch nur eben so. Ich bitte Sie,
mich hier ganz beiseite zu lassen, und ... alles das sieht aus wie
Klatsch.«

Liputin spielte die beleidigte Unschuld und führte die Hände
auseinander.

»Wie Klatsch! Bin ich nicht gar noch ein Spion? Sie haben gut
kritisieren, Herr Kirilloff, wenn Sie sich dabei selber beiseite lassen.
Sogar dieser Hauptmann, Stepan Trophimowitsch, sogar dieser Lebädkin,
der doch so dumm ist, wie -- man schämt sich ja förmlich zu sagen, wie
dumm er ist; es gibt aber so einen russischen Vergleich -- sogar der
denkt offenbar ganz sonderbar von Nicolai Stawrogin, obwohl er seinen
Scharfsinn bewundert. >Bin ganz erstaunt über diesen Menschen: eine
allwissende Schlange!< -- waren seine eigenen Worte. Ich fragte also
auch ihn, immer noch unter dem gestrigen Eindruck und schon nach dem
Gespräch mit Herrn Kirilloff. >Nun,< fragte ich, >Hauptmann, was glauben
Sie eigentlich, ist Ihre allwissende Schlange, Nicolai Stawrogin nicht
einfach wahnsinnig?< Na, und nun glauben Sie mir oder glauben Sie mir
auch nicht: es war für ihn, als hätte ich ihm hinterrücks einen
Peitschenschlag versetzt -- ohne seine Erlaubnis natürlich. Er sprang
geradezu auf: >Ja,< sagte er, >ja, aber das kann doch keinen Einfluß
haben auf ...< Aber auf was das keinen Einfluß haben könnte, das sagte
er nicht, sondern versank nur in traurige Gedanken, und zwar in so
traurige Gedanken, sage ich Ihnen, daß er davon ganz nüchtern wurde. Wir
saßen gerade in der Filippoffschen Trinkstube. Erst nach einer halben
Stunde ungefähr schlug er plötzlich mit der Faust auf den Tisch: >Ja,<
schreit er, >meinetwegen auch wahnsinnig, nur kann das keinen Einfluß
haben ...< und wieder brach er ab. Ich gebe Ihnen natürlich das Gespräch
nur im Auszug wieder, aber der Sinn ist doch wohl klar? Na, und so, wen
man auch fragt in der Stadt, allen kommt der Gedanke in den Kopf: >Ja,<
sagt ein jeder, >er ist wahnsinnig; gewiß, er ist sehr klug; aber
vielleicht auch wahnsinnig.<«

Stepan Trophimowitsch saß ganz in Gedanken versunken da und schien
angestrengt zu überlegen. »Wie kann Lebädkin das wissen?« fragte er.

»Eh, wollen Sie sich nicht lieber bei Herrn Kirilloff, der mich soeben
einen Spion nannte, danach erkundigen? Ich weiß nichts und rede nur so
zum Zeitvertreib, das nennt man dann Spion, er aber weiß die letzten
Geheimnisse und schweigt!«

»Ich weiß gar nichts. Oder wenig,« versetzte der Ingenieur mit derselben
Gereiztheit. »Sie machen Lebädkin betrunken, um aus ihm was zu erfahren.
Sie haben auch mich hierher gebracht, um aus mir zu erfahren, damit ich
... hier sage. Folglich sind Sie ein Spion!«

»Ich habe ihn noch nie betrunken gemacht, das würde mich zu viel Geld
kosten, und das ist er auch gar nicht wert mitsamt seinen Geheimnissen.
Sehen Sie, das ist sein Wert für mich. Wieviel er für Sie bedeutet, weiß
ich freilich nicht. Sonst ist er es, im Gegenteil, der jetzt mit dem
Gelde nur so um sich wirft, während er vor vierzehn Tagen mich noch um
fünfzehn Kopeken anpumpte. Er ist es, der mir Champagner vorsetzt, nicht
ich ihm. Aber Sie haben mir einen guten Gedanken gegeben, und wenn es
nötig sein wird, werde ich ihn schon betrunken machen, um von ihm etwas
zu erfahren ... und dann vielleicht alle eure Geheimnisse auf einmal ...
so viel ihrer da sind!« setzte er böse hinzu.

Stepan Trophimowitsch sah die beiden verständnislos an. Sie hatten sich
beide Blößen gegeben, und zwar ohne Scheu vor uns anderen Anwesenden.
Mir schien es, als habe Liputin diesen Kirilloff einzig deshalb zu uns
gebracht, um ihn durch eine dritte Person ins Gespräch zu ziehen -- sein
übliches Manöver.

»Herr Kirilloff kennt den Nicolai Stawrogin sogar sehr gut,« fuhr
Liputin in gereiztem Tone fort, »bloß will er das nicht eingestehen. Und
was den Hauptmann Lebädkin betrifft, so hat der ihn noch viel früher
gekannt, als er uns hier mit seinem Besuch beglückte. Sogar schon vor
fünf, sechs Jahren in Petersburg, zur Zeit der sogenannten >unbekannten<
Lebensepoche Nicolai Stawrogins. Man könnte daraus schließen, daß unser
Prinz damals sehr sonderbare Bekanntschaften gehabt haben muß. Auch mit
Herrn Kirilloff ist er in eben dieser Zeit bekannt geworden.«

»Hüten Sie sich, Liputin, ich warne Sie. Nicolai Stawrogin wird bald
herkommen, und das ist einer, der seinen Mann zu stehen weiß!«

»Ja, aber was hat denn das mit mir zu tun? Ich bin der erste, der
behauptet, daß er den feinsten, den erlesensten Verstand hat, und in
diesem Sinne habe ich auch Warwara Petrowna gestern vollkommen beruhigt.
>Nur für seinen Charakter,< sagte ich, >kann ich nicht einstehen.< Auch
Lebädkin sagt ganz dasselbe. >Unter seinem Charakter,< sagt er, >habe
auch ich gelitten.< Ach, Stepan Trophimowitsch, Sie haben gut sagen:
>Klatsch< und >Spionage<, aber bitte nicht zu vergessen: erst, nachdem
Sie sehr schön alles aus mir herausgezogen haben, und mit was für einer
Neugier noch dazu! Sehen Sie, Warwara Petrowna, die traf gestern gleich
den Nagel auf den Kopf. >Sie haben,< sagte sie, >persönlich durch ihn zu
leiden gehabt, darum wende ich mich auch an Sie!< Ja, und war es denn
nicht so? Mußte ich denn nicht vor der ganzen Gesellschaft eine
persönliche Beleidigung von Seiner Hochwohlgeboren hinunterschlucken?
Ich glaube, ich habe Grund genug, mich für diese Klatschgeschichten zu
interessieren! Heute drückt er einem die Hand, morgen aber schlägt er
sie einem, dir nichts, mir nichts, ins Gesicht, und das noch in
ehrenwerter Gesellschaft, grad so, wie's ihm gefällt. Rein aus Übermut,
wie's scheint. Und was die Hauptsache ist! Diese Herren haben die Frauen
natürlich immer auf ihrer Seite! Schmetterlinge sind sie und mutige
Hähnchen! Gutsbesitzerssöhne mit Flügelchen hinten dran, wie einstmals
Amor ... diese Herzfresser _à la_ Petschorin![28] Sie, Stepan
Trophimowitsch, als fanatischer Junggeselle, haben gut reden und mich
wegen Seiner Hochwohlgeboren einen Geschichtenmacher zu nennen. Aber
heiraten Sie mal erst -- Sie sind ja doch noch ein ganzer Mann! -- so
eine nette kleine junge Frau, und Sie werden selber vor unserem Prinzen
alle Türen verrammeln und gar Barrikaden im eigenen Hause bauen! Hier
lohnt es sich ja gar nicht mehr, zu reden! Selbst von solch einer
Mademoiselle Lebädkin, die gepeitscht wird, würde ich glauben -- bei
Gott! --, wenn sie nicht verrückt und lahm wäre, daß sie ein Opfer
unseres Prinzen ist, und daß Lebädkin sich deshalb in seiner
>Familienehre< gekränkt fühlt, wie er sich immer ausdrückt. Sie glauben,
die wäre mit seinem feinen Geschmack nicht in Einklang zu bringen? Mein
Gott, auch der stört diese Herren nicht immer. Jede kleine Beere wird
gegessen, sie muß nur die richtige Stimmung treffen. Sie sprechen von
Klatsch? Aber -- sage ich es denn allein, wenn schon die ganze Stadt es
ausschreit? Ich nicke nur und höre zu. >Ja<-sagen ist bekanntlich nicht
verboten!«

»Die ganze Stadt schreit ... das heißt, was schreit denn die ganze
Stadt?«

»Na, ich meine, Hauptmann Lebädkin schreit's in betrunkenem Zustande, so
daß die ganze Stadt es hören kann. Ist das nicht dasselbe, wie wenn die
ganze Stadt es schreit? Bin ich etwa schuld daran? Ich rede nur mit
Freunden darüber. Ich hoffe doch, hier unter Freunden zu sein?« und mit
unschuldigem Lächeln sah er uns alle an. »Und dabei ist _noch_ etwas
geschehen! Denken Sie mal: es stellt sich heraus, daß unser Prinz ihm,
dem Lebädkin, aus der Schweiz durch ein junges Mädchen dreihundert Rubel
geschickt hat. Ich habe die Ehre, die junge Dame persönlich zu kennen,
sie ist ohne Tadel und sozusagen eine sittsame Waise. Nach einiger Zeit
aber erfährt Lebädkin aus der sichersten Quelle von einem edlen
Menschen, daß ihm nicht dreihundert Rubel, sondern tausend zur Übergabe
gesandt worden sind! >Folglich,< schreit er, >hat das Mädchen mich um
siebenhundert Rubeln bestohlen!< Und er will das Geld durch die Polizei
herausfordern, wenigstens droht er so und schreit dabei, daß die ganze
Stadt es hören kann ...«

»Das ist gemein, gemein von Ihnen!« rief plötzlich der Ingenieur und
sprang vom Stuhl auf.

»Ja aber -- Sie selbst sind doch dieser edle Mensch, der Lebädkin
versichert hat, daß nicht dreihundert, sondern tausend geschickt worden
sind! Der Hauptmann hat es mir in der Filippoffschen Kneipe, betrunken
wie immer, selbst mitgeteilt.«

»Das ... das ist ein unglückliches Mißverständnis. Jemand hat sich
geirrt und es ist ... ein Blödsinn -- und Sie sind gemein!«

»Ja, ich will gewiß gerne glauben, daß es reiner Blödsinn ist. Ich bin
sogar tief betrübt, daß man das ehrenwerte Mädchen in die Geschichte
hineingezogen hat. Erstens mit den siebenhundert Rubeln, und zweitens
weiß jetzt alle Welt, daß sie mit Nicolai Stawrogin intim befreundet
gewesen ist. Was kostet es denn Seine Hochwohlgeboren, den jungen
Stawrogin, ein ehrenwertes Mädchen zu schänden, oder auch eine fremde
Frau zu beschimpfen, wie es mein >Fall< war? Kommt ihnen dann noch ein
großmütiger Mensch unter die Finger, so zwingen sie ihn, mit seinem
ehrlichen Namen fremde Sünden zu decken. Genau so hab ich's doch erleben
müssen! Ich rede ja nur von mir ...«

»Hüten Sie sich, Liputin!« Stepan Trophimowitsch erhob sich drohend. Er
war totenblaß.

»Glauben Sie ihm nicht, glauben Sie nicht! Jemand hat sich geirrt und
Lebädkin ist immer betrunken!« rief der Ingenieur in unbeschreiblicher
Aufregung aus. »Alles wird sich aufklären, aber ich kann nicht mehr ...
ich halte es für eine Gemeinheit ... und genug ... genug!«

Er stürzte aus dem Zimmer.

»Aber wohin denn, was haben Sie? Ich gehe doch mit Ihnen!« rief Liputin
erschrocken, sprang auf und lief ihm nach.


                                  VII.

Stepan Trophimowitsch stand einen Augenblick wie in Gedanken versunken
da, er sah auch mich an, doch ohne mich zu sehen, und schließlich
ergriff er Hut und Stock und verließ langsam das Zimmer. Ich ging ihm
nach. Erst als er aus der Tür trat, bemerkte er mich.

»Ach ja, Sie können mein Zeuge sein ... _de l'accident. Vous
m'accompagnerez, n'est-ce pas?_«{[47]}

»Stepan Trophimowitsch, gehen Sie trotzdem zu ihr? Bedenken Sie doch,
was daraus entstehen kann!«

Er blieb stehen und flüsterte mit einem armseligen und geistesabwesenden
Lächeln, in dem Scham und vollkommene Verzweiflung, doch zugleich eine
seltsame Ekstase lag:

»Ich kann doch nicht >fremde Sünden< heiraten ...«

Endlich war das verhängnisvolle Wort ausgesprochen, das er eine ganze
Woche mit Kniffen und Winkelzügen vor mir zu verstecken gesucht hatte!

Ich war einfach empört.

»Und ein so schmutziger, ein so ... niedriger, gemeiner Gedanke konnte
in Ihrem Kopf entstehen, in Ihnen, in Stepan Werchowenski! Sie mit Ihrem
guten, reinen Herzen, und das noch -- vor Liputin und seinem Klatsch!«

Er sah mich an, antwortete nichts und ging weiter. Ich wollte ihn nicht
verlassen, sondern bei Warwara Petrowna sein Zeuge sein. Ich hätte ihm
verziehen, wenn er, mit seinem weibischen Kleinmut, auf Liputins
Verleumdung hin alles geglaubt hätte: nun aber war es doch klar, daß er
schon früher von selbst auf diesen Verdacht gekommen, daß er ihn die
ganze Zeit mit sich herumgetragen und daß Liputin ihn jetzt nur
bestätigt hatte. Er hatte sich nicht gescheut, gleich vom ersten Tage an
das junge Mädchen zu verdächtigen, ohne den geringsten Grund dazu zu
haben. Die herrische Handlungsweise Warwara Petrownas hatte er sich eben
nur mit dem verzweifelten Wunsch erklären können, die galanten Sünden
ihres teuren Nicolas so schnell wie möglich mit einer Hochzeit zu
decken.

Und dafür sollte er bestraft werden, das wünschte ich ihm von ganzem
Herzen.

»_O, Dieu qui est si grand et si bon!_{[48]} Oh, wer wird mich jetzt
trösten!« rief er aus, als er ungefähr hundert Schritte gegangen war und
plötzlich stehen blieb.

»Gehen wir nach Hause, und ich werde Ihnen sofort alles erklären!« rief
ich und wollte ihn mit Gewalt zurückbringen.

»Da ist er ja! Stepan Trophimowitsch, das sind doch Sie? Sie?« ertönte
plötzlich eine frische und mutwillige junge Stimme, die mir wie Musik
klang.

Noch sahen wir niemanden, als plötzlich eine Reiterin neben uns hielt.
Es war Lisaweta Nicolajewna, gefolgt von ihrem tagtäglichen Begleiter.
Sie zügelte das Pferd.

»Kommen Sie, kommen Sie doch schneller!« rief sie laut und lustig. »Ich
habe ihn zwölf Jahre lang nicht gesehen und gleich erkannt. Er aber ...
Erkennen Sie mich wirklich nicht?«

Stepan Trophimowitsch ergriff ihre Hand. Er sah sie an, als hätte er ein
Gebet zu ihr auf den Lippen, und konnte doch kein Wort hervorbringen.

»Er hat mich erkannt und freut sich! Mawrikij Nicolajewitsch, er scheint
entzückt zu sein, daß er mich wiedersieht! Warum sind Sie denn in diesen
ganzen zwei Wochen nicht zu uns gekommen? Tante beteuerte, Sie seien
krank und man dürfe Sie nicht aufregen, aber ich weiß doch, das hat sie
nur gelogen. Ich habe mit den Füßen gestampft und auf Sie gescholten,
aber ich wollte unbedingt, unbedingt, daß Sie, von selbst, als Erster zu
uns kämen, und darum habe ich nicht nach Ihnen geschickt. Gott, er hat
sich ja nicht ein bißchen verändert!« und sie beugte sich im Sattel nach
vorn, um ihn genauer betrachten zu können. -- »Es ist ja ganz
lächerlich, wie wenig er sich verändert hat! Ach, doch, es sind doch
kleine Fältchen an den Augen, viele Fältchen, und auf den Wangen ... und
graue Haare -- aber die Augen sind noch ganz dieselben! Ganz! Und ich?
Habe ich mich verändert? Ja? Aber warum schweigen Sie noch immer?«

Ich erinnerte mich in dem Augenblick, daß man mir erzählt hatte, sie sei
fast erkrankt, als man sie, elfjährig, nach Petersburg brachte, und daß
sie während der Krankheit geweint und immer nach Stepan Trophimowitsch
verlangt habe.

»Sie ... ich ...« stotterte er mit vor Freude unsicherer Stimme. »Soeben
rief ich noch aus: wer wird mich trösten? und da erklang Ihre Stimme ...
Ich halte das für ein Zeichen _et je commence à croire_.«{[49]}

»_En Dieu? En Dieu, qui est là haut et qui est si grand et si
bon?_{[50]} Sehen Sie mal, ich kenne Ihre Lektionen noch auswendig.
Mawrikij Nicolajewitsch, welch einen Glauben er mir damals beibrachte
_en Dieu, qui est si grand et si bon_! Und erinnern Sie sich noch Ihrer
Erzählungen von Kolumbus, und wie er Amerika entdeckte, und wie sie da
alle >Land, Land!< geschrieen haben!? Meine Kinderfrau Aljona Frolowna
sagte mir, daß ich noch nachher im Traume >Land! Land!< gerufen habe.
Und wissen Sie noch, wie Sie mir die Geschichte des Prinzen Hamlet
erzählt haben? Und wie Sie mir den Transport der armen Auswanderer von
Europa nach Amerika beschrieben haben? Das war ja alles gar nicht wahr,
später habe ich erfahren, wie man sie hinübertransportiert hat. Aber wie
er mir damals alles so viel schöner vorgelogen hat! Mawrikij
Nicolajewitsch, viel schöner und besser, als es in Wirklichkeit ist!
Warum sehen Sie Mawrikij Nicolajewitsch so an? Das ist der allerbeste
und der allertreueste Mensch auf dem Erdball, und Sie müssen ihn
unbedingt ebenso lieben wie ich! _Il fait tout ce que je veux._{[51]}
Aber, Liebling, Stepan Trophimowitsch, Sie müssen wohl wieder
unglücklich sein, wenn Sie mitten auf der Straße ausrufen: wer wird mich
trösten? Also wieder einmal unglücklich, ja?«

»Jetzt bin ich glücklich -- --«

»Tante kränkt Sie?« fuhr sie fort, ohne seine Worte zu beachten. »Immer
diese böse, ungerechte, unsere unschätzbare, teure, böse Tante! Ach,
wissen Sie noch, wie Sie im Garten in meine Arme flogen und ich Sie
tröstete und dann selber mit Ihnen weinte? Aber so fürchten Sie sich
doch nicht vor Mawrikij Nicolajewitsch, er weiß alles, alles von Ihnen.
Sie können an seiner Schulter weinen, so lange Sie wollen, und er wird
stehen so lange wie Sie wollen. Schieben Sie Ihren Hut zurück, nein,
nehmen Sie ihn ganz ab, auf einen Augenblick nur, heben Sie sich auf die
Fußspitzen, ich werde Sie gleich auf die Stirn küssen, so wie ich Sie
das letzte Mal zum Abschied geküßt habe. Sehen Sie, diese Dame dort am
Fenster freut sich über uns ... Näher, näher! Gott, wie er grau geworden
ist!«

Und sie beugte sich im Sattel und küßte ihn auf die Stirn.

»Nun, und jetzt zu Ihnen nach Haus! Ich weiß, wo Sie wohnen. Ich werde
gleich, in einer Minute, bei Ihnen sein. Sie Eigensinn, also werde ich
Sie doch zuerst besuchen. Dann aber schleppe ich Sie auf den ganzen Tag
zu mir. Gehen Sie jetzt und bereiten Sie sich vor, mich zu empfangen!«

Und sie ritt mit ihrem Kavalier davon. Wir aber kehrten nach Hause
zurück. Stepan Trophimowitsch setzte sich auf den Diwan und weinte.

»_Dieu, Dieu!_« rief er. »_Enfin une minute de bonheur!_«{[52]}

Nach zehn Minuten erschien sie in Begleitung des jungen Mannes. Stepan
Trophimowitsch ging ihr entgegen.

»_Vous et le bonheur, vous arrivez en même temps!_«{[53]}

»Hier haben Sie Blumen. Ich war bei der Blumenfrau. Wie Sie wissen, hat
sie den ganzen Winter Bukette für Geburtstagskinder zum Verkauf. Hier
stelle ich Ihnen also nochmals Mawrikij Nicolajewitsch vor, bitte sich
mit ihm zu befreunden. Eigentlich wollte ich Ihnen eine Pastete statt
der Blumen bringen, aber Mawrikij Nicolajewitsch behauptete, das sei
nicht im russischen Stil.«

Dieser Mawrikij Nicolajewitsch war Hauptmann der Artillerie, etwa
dreiunddreißig Jahre alt, hoch und schlank, von tadellosem Äußeren, mit
Achtung gebietenden, auf den ersten Blick streng erscheinenden Zügen --
trotz einer erstaunlichen und überaus taktvollen Güte, die man ihm
sofort anmerkte, auch wenn man ihn gar nicht oder kaum kannte. Im
übrigen war er schweigsam, schien kaltblütig zu sein und sehr
zurückhaltend. Später sagten einige bei uns, er sei im Grunde beschränkt
gewesen, aber das war entschieden ein falsches Urteil.

Die Schönheit Lisaweta Nicolajewnas zu beschreiben, will ich lieber
nicht versuchen. Die ganze Stadt sprach ja schon von ihr, obwohl einige
Damen fast vom Gegenteil überzeugt waren und sie beinahe häßlich fanden.
Es gab aber auch solche, die Lisaweta Nicolajewna nicht nur um ihrer
Schönheit willen haßten, sondern, und vor allen Dingen, wegen ihres
Stolzes. Drosdoffs hatten es noch unterlassen, die üblichen Visiten zu
machen -- und das beleidigte natürlich jeden und alle, obgleich man in
der Stadt sehr wohl wußte, daß der Grund dazu in Praskowja Iwanownas
Unwohlsein lag. Sodann haßte man Lisa auch noch wegen ihrer
Verwandtschaft mit der »Gouverneurin«, und drittens, weil sie täglich
spazieren ritt, denn bis jetzt hatte es bei uns noch keine Amazonen
gegeben. Zwar wußten alle sehr gut, daß die Ärzte ihr das Reiten
verordnet hatten, aber das änderte nicht im geringsten das Urteil der
Damen, sondern gab nur noch einen Anlaß, auch über ihre Kränklichkeit zu
witzeln und zu spötteln. Lisa war in der Tat krank: schon auf den ersten
Blick fiel einem ihre nervöse Unruhe auf. Wie sehr sie damals litt, das
sollte sich freilich erst später aufklären. Wenn ich heute an sie
zurückdenke und sie mir dabei vorstelle, kann ich sie übrigens nicht
mehr so wunderschön finden, wie ich sie damals fand. Vielleicht war sie
sogar ausgesprochen häßlich. Sie war hoch von Wuchs, schlank, biegsam
und kräftig. Doch frappierte das Gesicht beinahe durch die
Unregelmäßigkeit der Züge. Es war dabei bleich, mit ziemlich starken
Backenknochen, hager, und die Augen waren ein wenig schräg gestellt,
waren geschlitzt wie bei den Kalmücken. Aber es lag etwas in diesem
Gesicht, das einen unwiderstehlich anzog. Irgendeine Macht ruhte in dem
brennenden Blick ihrer dunklen Augen. Stolz und zuweilen sogar
vermessen: so wirkte sie und erschien wie eine Siegerin, die nicht
anders konnte, als besiegen. Ihr war es nicht gegeben, gut zu sein, aber
sie kämpfte darum, es dennoch zu sein. Es waren viele edle Triebe in
dieser Natur und eine Menge großer Ansätze, aber alles das suchte in ihr
nach einem Ausgleich und konnte ihn nicht finden: alles in ihr war
Chaos, Unruhe und Aufregung. Vielleicht stellte sie auch gar zu große
Anforderungen an sich selbst und fand dabei niemals die Kraft in sich,
diese Anforderungen zu befriedigen.

Sie setzte sich auf den Diwan und betrachtete das Zimmer.

»Warum werde ich in solchen Minuten immer traurig? Können Sie mir das
nicht erklären, Sie gelehrter Mensch? Ich habe immer gedacht, daß ich
weiß Gott wie froh sein würde, wenn ich Sie wiedersähe und mit Ihnen
über all das Gewesene sprechen könnte ... und nun bin ich fast -- gar
nicht froh, obgleich ich Sie doch lieb habe ... Ach Gott, mein Bild
hängt hier bei Ihnen! Geben Sie es her, schnell, ich weiß, ich erinnere
mich ...«

Vor neun Jahren hatten Drosdoffs Stepan Trophimowitsch aus Petersburg
ein Aquarellbildchen der kleinen zwölfjährigen Lisa zugeschickt und seit
der Zeit hing es bei ihm an der Wand.

»War ich wirklich ein so nettes Kind? Ist das wirklich mein Gesicht?«

Sie stand auf und trat mit dem Bildchen in der Hand vor den Spiegel.

»Nehmen Sie es schnell, schnell!« rief sie aus und gab das Bildchen
zurück. »Hängen Sie es jetzt nicht auf, später, später, ich will es
nicht sehen.« Sie ließ sich wieder auf den Diwan nieder. »Das eine Leben
verging und es begann ein anderes, und das andere verging und es begann
ein drittes, und so geht es fort. Die Enden aber sind immer wie mit der
Schere abgeschnitten. Sehen Sie mal, von was für alten Sachen ich rede,
und doch ist so viel Wahrheit darin!«

Sie sah mich lachend an. Schon einigemal hatte sie mich betrachtet, aber
Stepan Trophimowitsch kam in seiner Aufregung gar nicht darauf, mich ihr
vorzustellen.

»Aber warum hängt mein Bild unter Säbeln? Und warum haben Sie hier
überhaupt so viele Säbel und Dolche?«

Ich weiß nicht, warum bei Stepan Trophimowitsch an der Wand zwei
Yatagane hingen und über ihnen ein echter Tscherkessendolch.

Als sie die Frage stellte, sah sie mich wieder an, so daß ich schon
antworten wollte. Da kam Stepan Trophimowitsch endlich darauf, mich
vorzustellen.

»Ich weiß, ich weiß,« sagte sie -- »es freut mich sehr. Mama hat auch
schon von Ihnen gehört. Und bitte, hier stelle ich Ihnen Mawrikij
Nicolajewitsch vor, ein prachtvoller Mensch. Ich hatte mir von Ihnen
eigentlich einen komischen Begriff gemacht. -- Sie sind doch Stepan
Trophimowitschs >VertrauterAmazonenkönigin< aufgeschrieben und wird sie
morgen Lisaweta Nicolajewna mit seiner vollen Unterschrift zusenden. Was
sagen Sie dazu?«

»Ich könnte wetten, daß Sie ihn dazu beredet haben.«

»Dann würden Sie verlieren!« Liputin lachte. »Verliebt, verliebt, wie
ein Kater. Aber wissen Sie auch, daß die Liebe mit Haß begonnen hat? Er
haßte Lisaweta Nicolajewna, weil sie reitet, und zwar dermaßen, daß er
sie laut auf der Straße zu beschimpfen anfing. Das hat er wahrhaftig
getan! Noch vorgestern hat er auf sie geschimpft, als sie vorüberritt.
Zum Glück hat sie nichts gehört. Und jetzt plötzlich Gedichte! Wissen
Sie auch, daß er einen Antrag riskieren will? Im Ernst, im Ernst!«

»Wie kommt es, Liputin, daß überall, wo sich Schmutz ansammelt, Sie
dabei sind und womöglich noch eine führende Rolle spielen?« fragte ich
ruhig, aber innerlich rasend vor Wut.

»Nun, Herr G--ff, Sie gehen etwas weit. Das Herzchen hat wohl
geschlagen, als es vom Nebenbuhler hörte, wie?«

»Wa--as?« schrie ich und blieb stehen.

»Ja, aber jetzt werde ich Ihnen zur Strafe nichts mehr sagen! Und wie
gern würden Sie doch noch mehr wissen! Schon allein, daß dieser Narr
jetzt nicht mehr ein gewöhnlicher Hauptmann ist, sondern Gutsbesitzer
unseres Gouvernements und noch dazu ein Großgrundbesitzer, da ihm
Nicolai Stawrogin sein ganzes Gut, früher zweihundert Seelen stark, vor
ein paar Tagen verkauft hat. Bei Gott, ich lüge nicht! Eben hab ich's
erfahren, aber dafür aus der sichersten Quelle. So, und nun krabbeln Sie
mal mit Ihrem Verstande allein weiter, mehr sage ich nicht. Auf
Wiedersehen!«


                                   X.

Stepan Trophimowitsch erwartete mich mit hysterischer Ungeduld. Er war
vor einer Stunde zurückgekehrt und noch wie betrunken, als ich eintrat.
Wenigstens die ersten fünf Minuten hielt ich ihn nicht für ganz
nüchtern, so sehr hatte ihn der Besuch bei Drosdoffs aus dem
Gleichgewicht gebracht.

»_Mon ami_, ich habe meinen Faden nun vollständig verloren. _Lise_ ...
ich liebe und verehre diesen Engel wie früher, namentlich wie früher;
aber mir scheint, sie haben mich nur erwartet, um etwas von mir zu
erfahren, um etwas aus mir herauszuquetschen und dann -- geh mit Gott!
... Das ist so!«

»Schämen Sie sich!« rief ich empört, ich hielt es wirklich nicht mehr
aus.

»Mein Freund, ich bin jetzt ganz allein. _Enfin c'est ridicule._{[59]}
Denken Sie nur, auch dort ist alles mit Geheimnissen vollgepfropft. Sie
warfen sich geradezu auf mich mit diesen >Nasen< und >Ohren< -- und wer
weiß was noch für welchen Petersburger Geschichten. Sie haben ja erst
jetzt erfahren, was vor vier Jahren mit Nicolai Wszewolodowitsch hier
passiert ist: >Sie waren hier, Sie haben es gesehen, ist es wahr, daß er
wahnsinnig ist?< Und woher diese Idee aufgetaucht ist -- ich weiß es
nicht! Warum will diese Praskowja unbedingt, daß _Nicolas_ verrückt sei?
Sie will es, sie will es! _Ce Maurice_,{[60]} oder wie er da heißt,
dieser Mawrikij Nicolajewitsch, _brave homme tout de même_{[61]} ...
Sollte sie wirklich in seinem Interesse, und nachdem, wie sie selbst aus
Paris geschrieben hat, _à cette pauvre amie ... Enfin_,{[62]} >diese
Praskowja<, wie _ma chère amie_ sie immer nennt, die ist ja eine Type!
-- ist des unsterblichen Gogols leibhaftige >Frau Kästchen<[29], nur
eine böse >Madame Kästchen<, ein eingebildetes Kästchen, und in endlos
vergrößertem Maßstabe!«

»Dann wird ja ein Kasten draus und noch dazu einer in endlos
vergrößertem Maßstabe!«

»Ach, nun dann in verkleinertem, wie Sie wollen, das bleibt sich gleich,
-- nur unterbrechen Sie mich nicht, -- mir dreht sich schon sowieso
alles im Kopf. Dort fuhren sie auch schon aus der Haut; außer _Lise_
natürlich, die sprach noch immer von >_Tante, Tante!_<{[63]} Aber _Lise_
ist schlau und es steckte noch etwas dahinter! Geheimnisse natürlich.
Und mit der Mutter hat sie sich gezankt. _Cette pauvre tante!_{[64]} Es
ist ja wahr, despotisch ist sie. Aber da ist jetzt eine >Gouverneurin<,
die Nichtachtung der Gesellschaft, die Nichtachtung Karmasinoffs,
plötzlich der Gedanke vom Wahnsinn -- _ce Lipoutine, ce que je ne
comprends pas_{[65]} ... u--und ... Sie sagten dort, sie lege sich
Essigkompressen um den Kopf, und da kommen wir ihr noch mit unseren
Klagen und Briefen ... O, wie ich sie in dieser Zeit gequält habe! _Je
suis un ingrat!_{[66]} Denken Sie sich, wie ich zurückkomme, finde ich
von ihr einen Brief vor; lesen Sie! lesen Sie! O, wie unedel das alles
von mir war!«

Er reichte mir den soeben erhaltenen Brief Warwara Petrownas. Ich
glaube, ihr hatte der letzte Brief mit dem »bleiben Sie zu Haus« leid
getan, denn dieses Briefchen war höflich, wenn auch kurz und bestimmt.
Sie bat ihn, übermorgen, also Sonntag, um zwölf Uhr zu ihr zu kommen,
und riet ihm, einen seiner Freunde mitzubringen -- in Klammern stand
mein Name --, und ihrerseits verpflichtete sie sich, Schatoff, als Darja
Pawlownas Bruder, einzuladen: »Dann können Sie von ihr die endgültige
Antwort erhalten. Genügt das jetzt? Ist es diese Formalität, nach der
Sie so trachteten?«

»Beachten Sie doch diese gereizte Frage zum Schluß über die Formalität.
O, die Arme, der Freund meines Lebens! Aber ich muß gestehen, diese
plötzliche Entscheidung des Schicksals hat mich fast erdrückt. Ich sage
ganz aufrichtig, ich habe immer noch gehofft, aber jetzt -- _tout est
dit_, ich weiß schon, daß alles aus ist. _C'est terrible!_{[67]} O,
wenn's doch keinen Sonntag gäbe! Alles würde beim Alten bleiben. Sie
würden mich hier wie immer besuchen, und ich würde hier ...«

»Liputins Gemeinheiten und Klatschgeschichten haben Sie ja ganz aus der
Fassung gebracht, wie es scheint.«

»Mein Freund, da haben Sie wieder eine andere schmerzhafte Stelle
>freundschaftlich< mit Ihrem Finger berührt. Aber diese
>freundschaftlichen< Finger pflegen im allgemeinen unbarmherzig und
zuweilen einfältig zu sein. Pardon, aber glauben Sie oder glauben Sie
mir nicht: ich hatte die Gemeinheiten schon beinahe vergessen, das
heißt, ich hatte sie keineswegs vergessen, aber die ganze Zeit, die ich
bei _Lise_ war, habe ich mich bemüht, glücklich zu sein, meinetwegen aus
Dummheit bemüht. Aber jetzt, jetzt muß ich an diese großmütige, humane
Frau denken, die so duldsam mit meinen niedrigen Fehlern ... das heißt,
wenn auch nicht gerade duldsam ... aber wie bin ich denn selbst, ich mit
meinem leeren, scheußlichen Charakter! Bin ich nicht ein törichtes Kind,
mit dem ganzen Egoismus eines solchen, aber nur ohne seine Unschuld?
Zwanzig Jahre hat sie mich gehütet, wie eine Kinderfrau, _cette pauvre
tante_, wie _Lise_ sie so graziös nennt ... Und plötzlich, nach zwanzig
Jahren, will das Kindchen heiraten, verheirate es und verheirate es! ...
ein Brief auf den anderen ... sie aber macht sich Essigkompressen ...
u--und ... nun hat das Kind auch glücklich erreicht, was es wollte ...
Sonntag ein verheirateter Mensch ... Spaß! ... Warum habe ich denn
selbst darauf bestanden, warum habe ich denn die Briefe geschrieben?
Übrigens, hab's vergessen, zu sagen: _Lise_ vergöttert Darja ...
wenigstens sagt sie: >_C'est un ange_,{[68]} nur ein verschlossener.<
Beide rieten sie mir zu -- sogar Praskowja ... nein, übrigens die
Praskowja riet mir nicht zu. O, wieviel Gift in diesem >Kästchen<
steckt! Ja, und auch _Lise_ hat mir eigentlich nicht dazu geraten: >Wozu
brauchen Sie zu heiraten, Sie haben doch genug an gelehrten Genüssen!<
und dabei lachte sie. Ich verzieh ihr das Lachen, denn ihr blutet ja
auch das Herz. Aber sie sagten mir doch, ich könne ohne Frau nicht mehr
auskommen. Es kommen Ihre schwachen Jahre und sie wird Sie dann pflegen,
zudecken, oder wie sie es da sagten ... _Ma foi_,{[69]} ich habe ja auch
schon die ganze Zeit so bei mir gedacht, daß die Vorsehung selbst sie
mir am Abend meiner wilden Tage schickt, und daß sie mich zudecken ...
_enfin_,{[70]} im Haushalt nützlich sein wird. Sehen Sie, wieviel Staub
hier ist, sehen Sie, all das liegt hier so herum. Ich sagte noch vor
kurzem, man solle aufräumen und da ... ein Buch auf der Diele ... _La
pauvre amie_{[71]} ärgert sich immer, daß es bei mir so verkramt
aussieht ... Jetzt werde ich nicht mehr ihre Stimme vernehmen! _Vingt
ans!_{[72]} U--und da gibt es nun noch anonyme Briefe, und denken Sie
nur, es heißt, _Nicolas_ hätte an Lebädkin ein Gut verkauft! _C'est un
monstre. Enfin_,{[73]} was ist Lebädkin? _Lise_ hört und hört, Gott, wie
sie zuhört! Ich vergab ihr das Lachen, als ich sah, mit welchem Gesicht
sie zuhörte, und _ce Maurice_ ... ich würde jetzt nicht gern in seiner
Haut stecken, _brave homme tout de même_,{[74]} aber ein wenig
schüchtern ... Übrigens, Gott hab' ihn selig! ...«

Er verstummte: er schien erschöpft zu sein und saß wie gebrochen da, mit
müdem Blick auf den Boden starrend. Ich benutzte die Pause und erzählte
von meinem Besuch im Filippoffschen Hause; auch unterließ ich es nicht,
über diese Geschichten meine Meinung zu sagen, und erklärte ihm kurz und
trocken, daß es meiner Meinung nach durchaus möglich wäre, daß Lebädkins
Schwester -- die ich nie gesehen -- in der Tat einmal Nicolai Stawrogins
Opfer gewesen, vielleicht in seiner >rätselhaften Petersburger Zeit<,
wie Liputin sich ausdrückte ... und daß es wahrscheinlich ist, daß
Lebädkin, aus irgendeinem Grunde, von Stawrogin Geld erhält. Was aber
die Klatschgeschichten über Darja Pawlowna anbeträfe, so seien die
einzig Liputins Erfindung. Das meine auch Kirilloff.

Stepan Trophimowitsch hörte zerstreut meinen Versicherungen zu, ganz als
gingen sie ihn nichts an. Ich erwähnte auch mein Gespräch mit Kirilloff
und fügte hinzu, daß ich ihn im übrigen für wahnsinnig hielte.

»Er ist nicht wahnsinnig, aber er gehört zu den Menschen mit kurzen
Gedanken,« murmelte Stepan Trophimowitsch seltsam gelangweilt. »_Ces
gens-là supposent la nature et la société humaine autres que Dieu ne les
a faites et qu'elles ne sont réellement._{[75]} Man läßt sich mit ihnen
ein, aber Stepan Werchowenski wenigstens hat das nicht getan. Ich habe
sie damals in Petersburg gesehen, _avec cette chère amie_{[76]} (oh, wie
ich _cette chère amie_ damals beleidigt habe!), doch weder ihr
Geschimpfe noch ihre Lobsprüche haben mir Furcht einflößen können.
Fürchte diese Leute auch jetzt nicht, _mais parlons d'autre chose_{[77]}
... Ich glaube, ich habe Schreckliches angerichtet; stellen Sie sich
vor, ich habe Darja Pawlowna gestern einen Brief geschrieben und ... wie
verwünsche ich ihn nun ... und mich dazu!«

»Was haben Sie ihr denn geschrieben?«

»Oh, mein Freund, glauben Sie mir, das war alles so edel gedacht! Ich
teilte ihr mit, daß ich vor etwa fünf Tagen an _Nicolas_ geschrieben
habe, und gleichfalls großmütig.«

»Jetzt begreife ich!« rief ich aufgebracht. »Und welch ein Recht hatten
Sie, die beiden so einander gegenüberzustellen?«

»Aber, _mon cher_, erdrücken Sie mich doch nicht ganz, schreien Sie
nicht so, ich bin ja schon sowieso zerknirscht ... und zerdrückt wie
eine Schabe, ... und schließlich, ich glaube doch, es war alles edel.
Nehmen Sie an, daß da wirklich etwas passiert ist ... _en Suisse_{[78]}
... oder angefangen hat. Ich muß doch ihre Herzen vorher fragen, um ...
_enfin_{[70]} -- um nicht die Herzen zu stören und wie ein Pfosten auf
ihrem Weg ... Ich ... i--ich habe es einzig und allein aus Edelmut
getan.«

»O Gott, wie dumm Sie das gemacht haben!« sagte ich unwillkürlich.

»Dumm, dumm,« griff er das Wort sogleich und fast gierig auf. »Noch nie
haben Sie etwas Klügeres gesagt, _c'était bête mais que faire? Tout est
dit._{[79]} Werde ja sowieso heiraten, auch wenn's >fremde Sünden< sind,
also wozu brauchte ich da noch zu schreiben! Nicht wahr?«

»Ach, so meine ich es ja nicht!«

»Oh, jetzt erschrecken Sie mich aber nicht mehr mit Ihrem Geschrei;
jetzt steht vor Ihnen nicht mehr jener Stepan Werchowenski, der ist
begraben, _enfin -- tout est dit_.{[80]} Ja und warum schreien Sie
eigentlich? Einfach, weil nicht Sie heiraten und nicht Sie einen
gewissen Kopfschmuck zu tragen brauchen! Wieder schneiden Sie ein
Gesicht! Aber, mein armer Freund, Sie kennen die Frau nicht, ich aber
habe in meinem ganzen Leben nichts anderes getan, als sie studiert.
>Willst du die Welt besiegen, besiege dich selbst<, das einzige, was
einem anderen solchen Romantiker, wie Sie einer sind, Schatoff, dem
Bruder meiner zukünftigen Gattin, als Ausspruch gelungen ist. Ich eigne
mir gern seinen Ausspruch an. Nun, auch ich bin bereit, mich selbst zu
besiegen, und heirate, aber was erobere ich anstatt der ganzen Welt?
Ach, mein Freund, die Ehe! Die ist der moralische Tod jeder stolzen
Seele, jeder Unabhängigkeit. Das Eheleben verdirbt mich, nimmt mir die
Energie, nimmt mir den Mut, der nun einmal zum Dienst an einer Sache
nötig ist. Dann kommen noch die Kinder, die am Ende gar nicht meine sind
-- das heißt, selbstverständlich nicht meine! --, der Weise fürchtet
sich nicht, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken ... Liputin schlug mir
heute vor, mich mit Barrikaden vor _Nicolas_ zu schützen. Er ist dumm,
dieser Liputin. Das Weib betrügt selbst das allwissende Auge Gottes. _Le
bon Dieu_{[81]} wußte natürlich, als er das Weib schuf, was er
unternahm. Aber ich bin überzeugt, daß sie Ihn selbst -- dabei gestört
und Ihn verleitet hat, sie gerade so und ... mit solchen Attributen zu
schaffen; denn wer würde sich umsonst solche Scherereien auf den Hals
laden? Ich weiß, Nastassja würde sich über diese Freidenkerei ärgern,
aber ... _enfin tout est dit_.«{[80]}

Er wäre nicht er gewesen, wenn er ohne ein billiges Wortspielchen
ausgekommen wäre, wenigstens tröstete er sich jetzt damit, -- aber
leider nicht auf lange.

»Oh, wenn es doch kein Übermorgen gäbe, wenn doch dieser Sonntag nicht
wäre!« rief er plötzlich in heller Verzweiflung aus. »Warum kann diese
Woche nicht ohne Sonntag sein -- _si le miracle existe_?{[82]} Was würde
es denn die Vorsehung kosten, einen einzigen Sonntag aus dem Kalender zu
streichen, meinetwegen, um den Atheisten ihre Macht zu zeigen _et que
tout soit dit_!{[83]} Oh, wie ich sie geliebt habe! _Vingt ans_{[72]}
... und all die zwanzig Jahre hat sie mich nicht verstanden!«

»Von wem sprechen Sie denn jetzt? Ich kann Sie wirklich nicht
verstehen,« fragte ich verwundert.

»_Vingt ans!_ und nicht ein einziges Mal hat sie mich verstanden, oh,
das ist grausam! Und sollte sie wirklich glauben, daß ich aus Angst
heirate? Oh, welche Schmach! _Tante, tante_, ich bin dein! Mag sie es
erfahren, diese _tante_, daß sie das einzige Weib ist, das ich zwanzig
Jahre lang vergöttert habe! Sie muß es erfahren, anders geht das nicht,
sonst muß man mich mit Gewalt schleppen zu dem da ... _ce qu'on appelle
le_{[84]} Altar!«

Ich hörte zum ersten Mal dieses Bekenntnis und ich will nicht
verheimlichen, daß mich eine wahnsinnige Lust zu lachen anwandelte. Oder
tat ich ihm Unrecht?

»Er allein ist mir jetzt geblieben, meine einzige Hoffnung!« rief er
plötzlich, wie von einer neuen Idee erleuchtet. »Jetzt ist nur er es
allein, mein armer Junge, der mich retten kann und -- warum kommt er
denn noch nicht? Mein Sohn, mein Petruscha ... und wenn ich's auch nicht
verdient habe -- Vater zu heißen, eher ein Tiger bin ... so ...
_laissez-moi mon ami_{[85]} ... ich werde ein wenig schlafen, um meine
Gedanken zu sammeln. Ich bin so müde, so müde, ja, und auch Sie müssen,
glaube ich, zu Bett, _voyez-vous_{[86]} ... es ist schon zwölf.«




                            Viertes Kapitel.
                              Die Hinkende


                                   I.

Diesmal war Schatoff nicht starrköpfig, sondern erschien, auf meinen
Brief hin, richtig um zwölf Uhr. Wir trafen fast zu gleicher Zeit ein,
denn auch ich war gekommen, um meine erste Visite zu machen. Lisa, die
»_Mamá_« und Mawrikij Nicolajewitsch saßen alle drei im großen Salon und
stritten sich gerade. Die _Mamá_ wünschte, daß Lisa ihr einen bestimmten
Walzer vorspiele, und als Lisa das tat, behauptete sie, das sei ein
anderer Walzer. Mawrikij Nicolajewitsch trat in seiner Einfalt für Lisa
ein und beteuerte, daß es wirklich der gewünschte Walzer gewesen sei,
doch da begann die alte Dame vor Ärger zu weinen. Sie war krank und
konnte kaum gehen. Ihre Füße waren geschwollen, und nun tat sie schon
seit ein paar Tagen nichts anderes, als daß sie launisch war und mit
allen und jedem Streit anfing, obgleich sie Lisa immer ein wenig
fürchtete. Über unseren Besuch war man sehr erfreut. Lisa errötete vor
Freude, und nachdem sie mir _merci_ gesagt hatte (natürlich wegen
Schatoff), ging sie auf ihn zu. In ihren Augen lag Neugier.

Schatoff war linkisch an der Tür stehen geblieben. Sie dankte ihm dafür,
daß er gekommen war, und führte ihn dann zur Mutter.

»Das ist Herr Schatoff, Mama, von dem ich Ihnen schon erzählt habe, und
hier ist Herr G--ff, ein Freund von mir und Stepan Trophimowitsch.«

»Wer von Ihnen ist nun der Professor?«

»Keiner von ihnen ist Professor, Mama.«

»Wieso, einer ist doch Professor. Du hast mir selbst gesagt, daß ein
Professor kommen wird -- wahrscheinlich ist es der?« und sie wies dabei
auf Schatoff.

»Ich habe Ihnen nichts von einem Professor gesagt. Herr G--ff ist
Beamter und Herr Schatoff ist Student.«

»Student, Professor -- die sind doch beide von der Universität. Du
willst immer nur streiten. Der Schweizer sah anders aus.«

»Mama nennt Pjotr Stepanowitsch immer >Professor<,« sagte Lisa und
führte Schatoff in die andere Salonecke zu einem Sofa, auf dem sie dann
Platz nahm. »Wenn ihre Füße schmerzen, ist sie immer so, sie ist nämlich
krank,« sagte sie dabei leise zu ihm, während sie ihn wieder neugierig
betrachtete und besonders auf seinen abstehenden Haarschopf sah.

»Sind sie Militär?« fragte mich Madame Drosdoff, der mich Lisa
unbarmherzig überlassen hatte.

»Nein, ich diene ...«

»Herr G--ff ist Stepan Trophimowitschs bester Freund,« rief Lisa ihr aus
der anderen Ecke zu.

»Sie dienen bei Stepan Trophimowitsch? Aber der ist doch auch
Professor!«

»Ach, Mama, Sie machen ja schon alle Menschen zu Professoren!« rief Lisa
unwillig.

»Es gibt ihrer auch so schon zu viele! Du aber willst nur wieder deiner
Mutter widersprechen. -- Waren Sie hier, als Nicolai Wszewolodowitsch
das erste Mal, vor vier Jahren, bei Warwara Petrowna war?«

Ich antwortete bejahend.

»War irgendein Engländer mit ihm hier?«

»Nein, nicht, daß ich wüßte.«

Lisa fing an zu lachen.

»Sehen Sie nun, Mama, daß überhaupt kein Engländer hier gewesen ist --
also, wieder Lügen! Warwara Petrowna und Stepan Trophimowitsch lügen
alle beide. Ja, und überhaupt -- alle lügen! Gestern,« erklärte sie
darauf, zu uns gewandt, »fanden nämlich _tante_ und Stepan
Trophimowitsch eine Ähnlichkeit zwischen Nicolai Wszewolodowitsch und
dem Prinzen Heinz aus Shakespeares >Heinrich IV.<, und daher glaubt Mama
nun, daß ein Engländer mit ihm hier gewesen sei.«

»Wenn kein Engländer da war, so war auch kein Heinz da, und euer Nicolai
Wszewolodowitsch machte nur seine eigenen Streiche.«

»Mama tut nur mit Absicht so,« fand Lisa für nötig, Schatoff auseinander
zu setzen. »Sie kennt Shakespeare sehr gut; ich habe ihr selbst den
ersten Akt von >Othello< vorgelesen. Sie ist jetzt immer so gereizt,
wissen Sie. -- Mama, hören Sie, es schlägt zwölf, Sie müssen Ihre
Medizin einnehmen.«

»Der Doktor ist gekommen,« meldete das Dienstmädchen.

Die Alte erhob sich und rief ihr Hündchen: »Semirka, Semirka, komm du
doch wenigstens mit mir.« Aber das widerliche alte Tierchen Semirka
gehorchte ihr nicht, sondern kroch zu Lisa unter das Sofa.

»Du willst also nicht? Nun, dann will ich dich auch nicht mehr. Leben
Sie wohl, mein Lieber, Ihren Namen habe ich leider vergessen,« wandte
sie sich an mich.

»Anton Lawrentjewitsch ...«

»Schon gut, lassen Sie nur, bei mir geht's doch bloß zum einen Ohr
hinein, zum andern hinaus. Begleiten Sie mich nicht, Mawrikij
Nicolajewitsch, ich habe nur Semirka gerufen. Noch kann ich, Gott sei
Dank, allein gehen, und morgen werde ich spazieren fahren!«

Und sichtlich geärgert verließ sie langsam den Salon.

»Anton Lawrentjewitsch, Sie unterhalten sich inzwischen mit Mawrikij
Nicolajewitsch, -- nicht wahr? Ich kann Sie versichern, daß Sie beide
nur gewinnen werden, wenn Sie nähere Bekanntschaft machen,« sagte Lisa
und lächelte Mawrikij Nicolajewitsch freundschaftlich zu. Er aber
erstrahlte förmlich unter ihrem Blick.

So mußte ich mich denn, wohl oder übel, mit Mawrikij Nicolajewitsch
unterhalten.


                                  II.

Die Angelegenheit, die Lisaweta Nicolajewna mit Schatoff besprechen
wollte, erwies sich zu meinem Erstaunen als tatsächlich rein
literarisch. Ich weiß nicht, warum ich überzeugt gewesen war, daß sie
ihn aus einem anderen Grunde zu sich gerufen hätte. Als wir nun sahen,
daß sie aus ihrem Anliegen kein Geheimnis vor uns machte und auch nicht
leise sprach, hörten wir unwillkürlich zu; und bald zog sie uns sogar
mit ins Gespräch und bat auch uns um Rat. Sie hatte, wie sie uns
auseinandersetzte, schon lange die Herausgabe eines ihrer Meinung nach
sehr nützlichen Buches geplant. Da sie aber in solchen literarischen
Sachen keine Erfahrung besaß, so brauchte sie einen Mitarbeiter. Der
Ernst, mit dem sie Schatoff ihren Plan zu erklären versuchte, setzte
mich wirklich in Erstaunen.

»Also auch eine von den Modernen,« dachte ich. »Sie scheint nicht
umsonst in der Schweiz gewesen zu sein.«

Schatoff hörte ihr aufmerksam zu, den Blick eigensinnig an den Boden
geheftet, und ohne jegliche Verwunderung darüber, daß ein junges Mädchen
der Gesellschaft sich mit solchen Sachen abgab.

Es handelte sich um Folgendes. In einem Lande wie Rußland erscheint
jährlich eine große Anzahl von Zeitungen und Zeitschriften aller Art,
und in ihnen wird tagaus tagein von allen möglichen Ereignissen
berichtet. Aber wenn dann das Jahr vergangen ist, werden die alten
Zeitungen überall weggeräumt, in Schränke gesteckt, oder sie liegen
herum, werden zerrissen, werden zum Einschlagen verwandt usw. Manch
eines von den mitgeteilten Ereignissen bleibt wohl im Gedächtnis des
Lesers haften, wenn es auf ihn einen Eindruck gemacht hat, und gerät
erst nach Jahren in Vergessenheit. Nun würden aber viele später gern
nachschlagen und das einmal Gelesene wieder lesen wollen, aber was gäbe
das für eine Arbeit, in diesem Meer von Blättern die Stelle zu finden,
zumal man sich oft nicht einmal erinnert, in welchem Jahre oder Monat
und in welcher Zeitung man die betreffende Sache gelesen hat. Indessen
könnte, wenn man alle derartigen Geschehnisse eines ganzen Jahres
sammelte und in einem einzigen Bande herausgäbe -- selbstverständlich
nach einem bestimmten Plan und nach einem bestimmten leitenden Gedanken
geordnet, mit einteilenden Überschriften, mit einem Index und mit
übersichtlicher Angabe der Zeit (Monate und Tage) -- so könnte eine
solche Zusammenfassung des Stoffes in einem übersichtlichen Werke die
ganze Charakteristik des russischen Lebens im Laufe dieses Jahres
veranschaulichen, obwohl von den Ereignissen selbst, im Vergleich zu all
den unzähligen Geschehnissen, von denen die Zeitungen berichten,
natürlich nur ein kleiner Bruchteil gebracht werden soll.

»Wir würden also statt einer Menge Blätter mehrere dicke Bücher haben,
und das wäre alles,« bemerkte Schatoff.

Doch Lisaweta Nicolajewna verteidigte ihren Gedanken mit großem Eifer,
obgleich es schwer war, ihn einleuchtend zu erklären, ganz abgesehen
davon, daß sie sich auch nicht recht auszudrücken verstand. Es müsse nur
ein einziger Band werden, und nicht einmal ein sehr dicker, beteuerte
sie. Oder wenn es auch ein dickes Buch werden sollte, so müsse es doch
übersichtlich sein, und deshalb sei die Hauptsache der Plan und die Art
der Einteilung des Stoffes. Selbstredend dürfe nicht alles genommen und
abgedruckt werden. Erlasse, Regierungsmaßnahmen, örtliche Verordnungen,
Gesetze -- so wichtig das alles auch sei -- in das Buch brauchte man
davon doch nichts aufzunehmen. Überhaupt könnte man vieles weglassen und
sich auf eine Auswahl von Geschehnissen beschränken, die mehr oder
weniger das ethische und persönliche Leben des Volkes, sozusagen die
Persönlichkeit des russischen Volkes im gegebenen Augenblicke
ausdrückten. Freilich käme alles in Betracht: Kuriositäten, Brände,
Spenden, Stiftungen, die verschiedensten guten oder schlechten
Handlungen, verschiedene Aussprüche und Reden, ja, schließlich auch
Nachrichten von Überschwemmungen, ja meinethalben auch einzelne
Regierungserlasse, aber aus allem müsse nur das herausgesucht werden,
was die Epoche kennzeichnet. Alles müsse eben unter einem bestimmten
Gesichtswinkel erfaßt und hingestellt werden, und hinter allem müsse ein
Gedanke stehen, der den Zusammenhang des Ganzen sichtbar werden lasse.
Und schließlich müsse das Buch sogar als Lektüre interessant und
fesselnd sein, ganz zu schweigen von seinem Wert als notwendiges
Nachschlagebuch! Es wäre also gewissermaßen ein Bild des geistigen,
sittlichen, inneren russischen Lebens im Laufe eines Jahres. »Es muß so
sein, daß alle es kaufen, es muß zu einem richtigen Handbuch werden,«
behauptete Lisa. »Ich weiß wohl, daß hierbei der Plan die Hauptsache
ist, und deshalb wende ich mich an Sie,« schloß Lisa. Sie war recht in
Eifer geraten, und obgleich sie sich unklar und unvollständig
ausgedrückt hatte, begann Schatoff zu begreifen.

»Es würde also doch so etwas mit einer Tendenz werden, eine
Zusammenstellung von Fakten unter einem bestimmten Gesichtswinkel,«
brummte er, immer noch ohne den Kopf zu erheben.

»Keineswegs mit einer Tendenz, das ist gar nicht nötig! Nichts als
Objektivität -- das soll die ganze Richtschnur sein.«

»Aber die Richtung wäre ja an sich nichts Schlimmes,« sagte Schatoff und
bewegte sich endlich, »auch ließe sich das wohl nicht vermeiden, sobald
man überhaupt eine Auswahl trifft. In der Art der Auswahl und
Zusammenstellung wird eben schon der Hinweis enthalten sein, wie man das
Ganze verstehen soll. Ihre Idee ist nicht schlecht.«

»So glauben Sie, daß man ein solches Buch zustande bringen kann?« fragte
Lisa erfreut.

»Man muß sich das noch überlegen. Es würde ein großes Unternehmen
werden. So plötzlich läßt sich nichts ausdenken. Da muß man Erfahrungen
sammeln. Selbst während der Arbeit dürften wir noch nicht recht wissen,
wie es am besten zu machen wäre. Vielleicht finden wir das erst nach
vielen Versuchen. Aber der Gedanke fängt an, einem klar zu werden. Es
ist ein nützlicher Gedanke.«

Endlich sah er auf und seine Augen leuchteten sogar vor Vergnügen, so
sehr war er jetzt interessiert.

»Haben Sie sich das selbst ausgedacht?« fragte er Lisa freundlich und,
wie das so seine Art war, fast verschämt.

»Ach, das Ausdenken war kein Kunststück, dafür aber ist das der Plan um
so mehr,« erwiderte Lisa lächelnd. »Ich verstehe wenig davon und bin
nicht sehr klug, ich verfolge nur das, was mir selbst klar ist ...«

»Sie verfolgen?«

»Das ist wohl nicht das richtige Wort?« forschte Lisa schnell und
wißbegierig.

»Nein, doch ... man kann es sagen. Ich fragte nicht deswegen.«

»Ich habe mir schon im Auslande gesagt, daß auch ich der allgemeinen
Sache irgendwie nützlich sein könnte. Ich besitze mein eigenes Geld, und
es liegt tot da. Warum soll ich nicht gleichfalls arbeiten? Und zudem
kam mir jene Idee ganz von selbst, ich habe mich gar nicht angestrengt
oder sie mir ausgedacht --, der Gedanke war auf einmal da, und da freute
ich mich sehr. Ich sah nur gleich ein, daß es ohne einen Mitarbeiter
nicht gehen würde, da ich allein doch nichts verstehe. Der Mitarbeiter
soll natürlich auch gleich der Mitherausgeber sein. Wir machen es dann
zur Hälfte: von Ihnen kommt der Plan und die Arbeit, von mir die Idee
und die Mittel zur Herausgabe. Das Buch wird sich doch bezahlt machen!«

»Wenn wir den richtigen Plan finden, wird das Buch schon gehen.«

»Ich muß nur vorausschicken, daß ich es nicht wegen des möglichen
Überschusses tue, aber ich möchte doch sehr, daß es viel gekauft wird,
und auf einen Überschuß wäre ich natürlich furchtbar stolz.«

»Aber was soll ich denn dabei?«

»Aber ich bitte doch gerade Sie, dieser Mitarbeiter zu sein ... Wir
teilen dann. Sie werden doch den Plan ausdenken.«

»Woher wissen Sie, ob ich das kann?«

»Man hat mir schon von Ihnen erzählt ... ich weiß, daß Sie sehr klug
sind und ... zu arbeiten verstehen und ... viel denken. Mir hat Pjotr
Stepanowitsch Werchowenski in der Schweiz von Ihnen erzählt,« fügte sie
eilig hinzu. »Er ist ein sehr kluger Mensch, nicht wahr?«

Schatoff sah sie im Nu mit einem gleichsam huschenden Blick an, der kaum
über sie hinglitt, senkte aber sofort wieder die Augen.

»Auch Nicolai Stawrogin hat mir viel von Ihnen erzählt.«

Schatoff wurde plötzlich rot.

»Übrigens, hier sind schon Zeitungen.« Sie nahm hastig ein
zusammengebundenes Paket, das auf einem Stuhl bereit lag. »Ich habe
schon versucht, eine Auswahl zu treffen und ein bißchen
zusammenzustellen -- ich habe die Stellen angestrichen und nummeriert
... Sie werden schon selbst sehen ...«

Schatoff nahm das Paket.

»Nehmen Sie es mit nach Haus, sehen Sie es dort durch -- Sie wohnen doch
irgendwo?«

»In der Bogojawlenskstraße, im Filippoffschen Hause.«

»Ich weiß, wo das ist. Dort soll, wie ich gehört habe, neben Ihnen auch
irgendein Hauptmann wohnen, ein Herr Lebädkin?« fuhr Lisa mit derselben
hastenden Eile fort.

Schatoff saß, das Paket, wie er es genommen hatte, frei in der Hand
haltend, wohl eine ganze Minute ohne zu antworten da und blickte zu
Boden.

»Zu diesen Sachen werden Sie sich doch wohl einen anderen aussuchen
müssen, denn ich -- tauge nicht dazu,« sagte er schließlich mit ganz
eigentümlich gesenkter Stimme, ja, fast flüsternd.

Lisa flammte auf.

»Von was für Sachen reden Sie? Mawrikij Nicolajewitsch!« rief sie
diesen, »bitte geben Sie mir jenen Brief.«

Auch ich trat nach Mawrikij Nicolajewitsch an den Tisch.

»Sehen Sie dies hier,« wandte sie sich plötzlich an mich, während sie in
sichtlich großer Erregung den Brief entfaltete. »Haben Sie schon je
etwas Ähnliches gesehen? Bitte, lesen Sie es laut vor. Ich will, und es
ist nötig, daß auch Herr Schatoff es hört,« wandte sie sich darauf an
mich, »haben Sie schon je in Ihrem Leben so was gelesen? Bitte, lesen
Sie laut vor. Auch Herr Schatoff soll's hören.«

Ich las nicht wenig erstaunt das Folgende:

   »An die vollendete Schönheit, die Jungfrau Lisaweta Nicolajewna
   Tuschina.

   Gnädiges Fräulein!

      O, wie ist sie wunderbar,
      Lisaweta Tuschina!
      Wenn sie morgens ausreitet
      Und durch ihre Locken der Wind gleitet!
      Dann wünsch' ich mir von ihr alle Wonne
      Und denk', sie sei meine Frau und meine Sonne.

                           (Gedichtet von einem Ungelehrten nach einem
                                                             Streite.)

   Gnädiges Fräulein!

   Am meisten bedauere ich, daß ich vor Sebastopol nicht einen Arm zum
   Ruhme der Tapferkeit verloren habe, sintemal ich dort überhaupt
   nicht gewesen bin, sondern man mich während des ganzen Feldzuges mit
   der Lieferung von ganz gemeinem Proviant beschäftigt hat. Sie aber
   sind eine Göttin im Altertum und ich bin vor Ihnen nichts, doch
   jetzt ahne ich, was Unermeßlichkeit ist. Betrachten Sie alles, was
   ich Ihnen sage, als Verse, denn Verse sind Poesie, und Poesie ist
   Unsinn, aber sie entschuldigt das, was man in der Prosa
   Unverschämtheit nennt. Wie aber sollte sich eine Sonne über eine
   Infusorie ärgern, wenn es doch, mit dem Mikroskop betrachtet,
   unendlich viele Infusorien schon in einem Wassertropfen gibt! Sogar
   der große Klub der Nächstenliebe zu großem Viehzeug in Petersburg,
   der mitleidig für die Rechte von Hunden und Pferden kämpft, nimmt
   sich der kleinen Infusorie nicht an, weil sie nicht ausgewachsen
   ist. Auch ich bin noch nicht ausgewachsen. Der Gedanke an eine
   Heirat würde komisch sein. Aber durch einen Menschenhasser, den Sie
   verachten, werde ich bald zweihundert ehemalige Seelen besitzen.
   Kann vieles mitteilen, und habe Dokumente in der Hand, wofür es
   sogar nach Sibirien gehen kann. Verachten Sie also nicht meinen
   Antrag. Dieser Brief ist rein poetisch zu verstehen.

                                                   Hauptmann Lebädkin,
                          Ihr ergebenster Freund, der immer Zeit hat.«

»Das hat ein Betrunkener geschrieben,« rief ich aus, »ein erbärmlicher
Mensch! -- Ich kenne ihn!«

»Ich erhielt ihn gestern,« begann Lisa, hochrot im Gesicht, uns hastig
zu erklären. »Ich begriff sofort, daß irgend ein Narr ihn geschrieben
hat. Deshalb habe ich ihn Mama auch gar nicht gezeigt, um sie nicht
aufzuregen. Doch was soll ich tun, wenn er mir noch mehr solche Briefe
schreibt? Mawrikij Nicolajewitsch wollte zu ihm gehen, um es ihm zu
verbieten. Sie aber, Herr Schatoff, da Sie doch im selben Hause wohnen,
Sie können mir vielleicht etwas Näheres über ihn mitteilen?«

»Ein verkommener Mensch,« murmelte Schatoff zur Antwort.

»Ist er immer so dumm?«

»O nein, wenn er nicht betrunken ist, ist er durchaus nicht dumm.«

»Ich habe einen General gekannt, der in seinen Mußestunden genau solche
Gedichte schrieb,« bemerkte ich amüsiert.

»Sogar aus diesem Brief ist zu ersehen, daß er nicht dumm sein
kann,« sagte der sonst so schweigsame Mawrikij Nicolajewitsch
überraschenderweise.

»Man sagt, er habe hier eine Schwester bei sich?« fragte Lisa.

»Ja, eine Schwester.«

»Und er soll sie tyrannisieren, ist das wahr?«

Schatoff sah Lisa wieder kurz an, runzelte die Stirn, brummte nur: »Was
geht das mich an!« und wandte sich zur Tür.

»Ach, aber so warten Sie doch,« rief Lisa erregt, »wohin wollen Sie denn
schon? Wir müssen doch noch so vieles besprechen! ...«

»Was denn besprechen? Ich werde Ihnen morgen Bescheid sagen ...«

»Aber die Hauptsache ist doch, wie wir es drucken! Glauben Sie mir doch
endlich, daß es mir mit dem Buch wirklich ernst ist!« beteuerte Lisa in
wachsender Unruhe. »Wenn wir es nun herauszugeben beschließen, wo soll
das Buch dann gedruckt werden? Wir werden doch deshalb nicht nach Moskau
reisen, und die hiesige Druckerei kommt für eine solche Ausgabe doch
nicht in Frage. So habe ich denn beschlossen, eine eigene Druckerei zu
gründen, sagen wir, auf Ihren Namen, und Mama würde bestimmt nichts
dagegen haben, wenn es auf Ihren Namen geschieht ...«

»Woher wissen Sie, daß ich zu drucken verstehe?« fragte Schatoff
finster.

»Ja, das hat mir Pjotr Stepanowitsch Werchowenski schon in der Schweiz
gesagt, daß Sie das alles verstehen, und er wollte mir sogar einen Brief
an Sie mitgeben, aber dann habe ich's vergessen ...«

Wie ich mich jetzt erinnere, ging hierauf eine Veränderung in Schatoffs
Gesicht vor sich. Er stand noch ein paar Sekunden da und plötzlich
verließ er das Zimmer.

Lisa ärgerte sich.

»Geht er immer so weg?« fragte sie mich.

Ich zuckte nur mit der Schulter -- doch in diesem Augenblick kam
Schatoff schon zurück und legte das Paket auf den Tisch.

»Ich kann nicht Ihr Mitarbeiter sein, habe keine Zeit ...«

»Aber warum, warum denn nicht? Sie haben sich wohl über irgend etwas
geärgert?« fragte Lisa ganz traurig und ihre Stimme klang bittend.

Und dieser Ton in ihrer Stimme schien ihn stutzig zu machen: ein paar
Augenblicke lang sah er sie unverwandt an, als wolle er bis in ihre
Seele hineinschauen.

»Einerlei,« murmelte er dann dumpf, »ich will nicht ...«

Und er ging wirklich weg.

Lisa blieb ganz niedergeschlagen zurück -- sogar weit
niedergeschlagener, als man es nach dem Vorgefallenen hätte verstehen
können; wenigstens schien es mir damals so.

»Ein äußerst sonderbarer Mensch,« bemerkte Mawrikij Nicolajewitsch.


                                  III.

Allerdings wirkte Schatoff »sonderbar«, aber schließlich war an diesem
ganzen Vorfall doch gar zu vieles unklar. Es mußte da hinter manchem
noch ein anderer Sinn stecken. Diese Buchgeschichte z. B. kam mir
durchaus unglaubhaft vor und ich dachte bei mir, daß sie wohl nur ein
Vorwand zu irgendwelchen anderen Zwecken sein könne. Und dann dieser
verrückte Brief mit dem Versprechen von Mitteilungen und »Dokumenten«,
und warum hatten sie es vermieden, davon zu sprechen, warum sprachen sie
sogleich von ganz etwas anderem? Warum war Schatoff so plötzlich
fortgegangen, und so auffallenderweise gerade dann, als man von der
Druckereifrage zu sprechen begann? Alles das gab mir zu denken und ich
kam zu der Überzeugung, daß hier etwas Geheimnisvolles vorliegen müsse.
-- -- Doch es war Zeit, daß auch ich mich verabschiedete.

Lisa schien meine Anwesenheit im Zimmer ganz vergessen zu haben. Sie
stand immer noch tief nachdenklich auf demselben Platz am Tisch und
starrte vor sich hin.

»Ach, auch Sie wollen gehen? Nun, auf Wiedersehen,« sagte sie
freundlich. »Grüßen Sie Stepan Trophimowitsch von mir und reden Sie ihm
doch zu, daß er so bald wie möglich zu mir komme. Mama kann sich leider
nicht von Ihnen verabschieden ... Sie entschuldigen gewiß!«

Ich verabschiedete mich noch von Mawrikij Nicolajewitsch und ging
hinaus. Als ich schon die Treppe hinabgegangen war, kam mir der Diener
nachgelaufen.

»Das gnädige Fräulein lassen Sie sehr bitten, zurückzukommen.«

Als ich daraufhin wieder zurückging und eintrat, war Mawrikij
Nicolajewitsch ganz allein im großen Salon. Lisa dagegen erwartete mich
im anstoßenden kleineren Empfangszimmer, dessen Tür nur angelehnt war.

Bleich und augenscheinlich noch unentschlossen stand sie mitten im
Zimmer und lächelte mir zu, als ich eintrat. Plötzlich ergriff sie meine
Hand und zog mich schnell zum Fenster.

»Ich will sie sehen,« flüsterte sie und sah mich mit heißem, starkem,
ungeduldigem Blick an, der jeden Widerspruch unmöglich machte. »Ich muß
sie mit meinen eigenen Augen sehen, und dazu brauche ich Ihre Hilfe.«

Sie schien wirklich außer sich und ganz verzweifelt zu sein.

»Wen wollen Sie sehen, Lisaweta Nicolajewna?« fragte ich erschrocken.

»Diese Lebädkina, diese Lahme ... Es ist doch wahr, daß sie lahm ist?«

»Ich habe sie nie gesehen, aber ich hörte noch gestern, daß sie
allerdings lahm sein soll,« antwortete ich rasch und sprach gleichfalls
so leise wie möglich.

»Ich ... muß sie unbedingt sehen! Können Sie das nicht heute noch
einrichten?«

Lisa tat mir furchtbar leid.

»Das ... das scheint mir ganz unmöglich. Wie ... sollte man --?« Ich
wollte ihr den Gedanken ausreden. Doch als ich sah, daß sie ganz
verzweifelt war, sagte ich: »Ich könnte ja zu Schatoff gehen ...«

»Wenn Sie mir nicht helfen, dann werde ich morgen selbst zu ihr gehen.
Allein. Denn Mawrikij Nicolajewitsch weigert sich, mich dorthin zu
begleiten. Ich hoffe jetzt nur noch auf Sie, denn sonst habe ich ja
niemanden. Mit Schatoff habe ich töricht gesprochen. Aber ich weiß, Sie
sind ein Ehrenmann, und vielleicht mir ein wenig zugetan. Tun Sie es!
Bitte, bitte!«

Da erfaßte mich der leidenschaftliche Wunsch, ihr in allem behilflich zu
sein.

»Gut,« sagte ich entschlossen, nachdem ich eine Weile überlegt hatte.
»Ich werde noch heute selbst hingehen und den Versuch machen, sie zu
sehen und zu sprechen. Unter allen Umständen. Ich werde Ihren Wunsch
erfüllen. Ich gebe Ihnen mein Wort. Nur müssen Sie mir gestatten, vorher
mit Schatoff darüber zu sprechen.«

»Ja, sagen Sie ihm, daß ich sie sehen muß! Daß ich nicht länger warten
kann! Und sagen Sie ihm, daß ich ihn vorhin wirklich nicht zum besten
gehabt habe. So etwas hat er wohl geglaubt. Deshalb scheint er ja
fortgegangen zu sein. Seine Ehrlichkeit, sein Ehrgefühl war gekränkt.
Ich habe ihm aber ganz gewiß nichts vorgespiegelt. Ich will wirklich das
Buch herausgeben und eine Druckerei gründen ...«

»Ja, Schatoff ist der ehrlichste Mensch,« beteuerte ich eifrig.

»Und wenn es Ihnen nicht gelingt, dann -- dann gehe ich morgen selbst zu
ihr. Einerlei, was daraus entsteht. Und wenn auch alle es erfahren!«

»Aber vor drei Uhr kann ich unmöglich bei Ihnen sein!«

»Gut, also dann morgen um drei. Und nicht wahr, ich habe mich nicht in
Ihnen getäuscht, bei Stepan Trophimowitsch, als ich Sie für ein wenig --
mir zugetan hielt?« lächelte sie mir zu, drückte mir zum Abschied die
Hand und ging schnell in den großen Salon, in dem Mawrikij
Nicolajewitsch offenbar auf sie wartete.

Ich verließ das Haus, bedrückt von meinem Versprechen und unfähig,
fassen zu können, was geschehen war. Ich hatte einen Menschen in
wirklicher Verzweiflung gesehen, ein junges Mädchen, das sich nicht
scheute, sich bloßzustellen und einem ihr fremden Menschen ihr ganzes
Vertrauen zu schenken. Ihr Lächeln, das Lächeln einer Frau, die
Anspielung, daß sie wisse, wie ich ihr zugetan sei, das alles regte mich
nicht wenig auf. Doch sie tat mir leid, so, so leid! Ihre Geheimnisse
wurden für mich plötzlich zu etwas Heiligem. Wenn man mir diese
Geheimnisse hätte mitteilen wollen, -- ich würde nicht zugehört haben.
Ich ahnte ja mancherlei ... Aber wie sollte ich nun dieses seltsame,
dieses unheimliche Zusammentreffen zustandebringen? Meine ganze Hoffnung
setzte ich auf Schatoff. Ich sagte mir zwar gleich, daß er dabei wenig
werde helfen können. Aber immerhin, ich ging sofort zu ihm.


                                  IV.

Erst am Abend, um acht Uhr, traf ich ihn zu Haus. Zu meiner Verwunderung
hatte er Besuch: Alexei Nilytsch Kirilloff und ein Herr Schigaleff --
der Bruder der Frau Wirginski -- waren bei ihm.

Dieser Schigaleff war erst seit ungefähr zwei Monaten in unserer Stadt;
ich weiß nicht, woher er kam. Wirginski hatte ihn mir gelegentlich auf
der Straße vorgestellt und ich wußte von ihm wenig mehr, als daß in
einem fortschrittlichen Petersburger Blatt einmal ein Artikel von ihm
erschienen war. Wir hatten uns damals nur flüchtig begrüßt und kaum ein
Wort miteinander gewechselt. Das einzige, was ich von ihm behalten
hatte, war der Eindruck, in meinem ganzen Leben noch nie ein so
finsteres, griesgrämiges, mürrisches Gesicht gesehen zu haben. Er
schaute drein, als erwarte er den Untergang der ganzen Welt, und zwar
nicht nach irgendwelchen Voraussagungen, die schließlich auch nicht in
Erfüllung zu gehen brauchten, sondern genau so, als wisse er sogar schon
die Stunde des Untergangs mit tödlicher Sicherheit: etwa übermorgen
früh, punkt fünf Minuten vor halb elf. Und dann waren mir noch ganz
besonders seine Ohren aufgefallen, Ohren von einer geradezu
übernatürlichen Größe, lang, breit und dick, die noch obendrein fast im
rechten Winkel nach links und rechts vom Kopf wegstrebten. Seine
Bewegungen waren plump und langsam. Wenn Liputin vielleicht hin und
wieder davon geträumt hatte, daß die Phalansterien sich auch in unserem
Gouvernement verwirklichen könnten, so wußte dieser Schigaleff sicher
Tag und Stunde voraus, wann das geschehen werde. Jedenfalls hatte er
geradezu den Eindruck eines Unheilverkünders auf mich gemacht; und daß
ich gerade ihn jetzt bei Schatoff antraf, wunderte mich sehr, -- um so
mehr, als Schatoff Besuch schon an und für sich nicht ausstehen konnte.

Bereits auf der Treppe hörte ich, daß sie alle drei ungewöhnlich laut
miteinander sprachen und, wie mir schien, sich heftig stritten. In dem
Augenblick aber, als ich eintrat, verstummten sie sofort. Und plötzlich
setzten sie sich, während sie bis dahin gestanden hatten. So mußte auch
ich mich setzen. Wir schwiegen alle. Schigaleff tat so, als kenne er
mich überhaupt nicht. Mit Kirilloff tauschte ich einen Gruß, und ich
weiß nicht, weshalb wir uns nicht die Hand reichten. Schigaleff sah mich
streng und finster an, mit einem Ausdruck, der völlig naiv die feste
Überzeugung zeigte, daß ich sofort aufstehen und wieder weggehen würde.
Da erhob sich endlich Schatoff und die anderen folgten seinem Beispiel.
Sie gingen fort, ohne ein Wort zu sagen, noch sich zu verabschieden.
Erst an der Tür wandte sich Schigaleff noch einmal zu Schatoff und sagte
in drohendem Tone:

»Vergessen Sie aber nicht, daß Sie Rechenschaft schuldig sind!«

»Zum Teufel mit eurer Rechenschaft, ich bin keinem von euch etwas
schuldig!« rief Schatoff ihnen wütend nach, schlug die Tür zu und drehte
den Schlüssel um.

»Narren!« sagte er, nachdem sein Blick mich gestreift hatte, mit kurzem,
eigentümlich gehässigem Auflachen.

Sein Gesicht sah böse aus, und ich wunderte mich, daß er diesmal als
erster zu sprechen begann. Früher war es gewöhnlich so gewesen, wenn ich
ihn besuchte, was freilich sehr selten geschah, daß er sich mißmutig in
einen Winkel setzte und auf meine Fragen mürrisch antwortete. Erst nach
längerer Zeit begann er aufzutauen und dann erst sprach er mit
Vergnügen. Beim Abschied aber wurde er jedesmal wieder unwirsch, und
wenn er einen zur Tür geleitete, tat er es mit einer Miene, als dränge
er seinen persönlichen Feind aus dem Hause.

»Ich habe gestern bei diesem Herrn Kirilloff Tee getrunken,« sagte ich,
um ein Gespräch anzuknüpfen. »Bei ihm scheint der Atheismus ein bißchen
zur fixen Idee geworden zu sein.«

»Der russische Atheismus ist noch nie über ein schlechtes Wortspiel
hinausgekommen,« brummte Schatoff, während er den alten Lichtstumpf aus
dem Leuchter nahm und ein neues Licht einsetzte.

»Ich glaube nicht, daß es diesem Kirilloff um Wortspiele zu tun ist. Er
versteht ja, wie's scheint, überhaupt kaum zu sprechen -- wie sollte er
da noch an Wortspiele denken!«

»Papierene Menschen; aus Lakaientum kommen ihnen alle diese Gedanken,«
bemerkte Schatoff ruhig, nachdem er sich in der Zimmerecke auf einen
Stuhl gesetzt und die Handflächen auf die Kniee gestützt hatte.

»Haß ist auch dabei,« sagte er nach einer Weile des Schweigens. »Diese
Leute würden selbst als erste sterbensunglücklich sein, wenn Rußland
sich auf irgendeine Weise veränderte, und wäre es auch genau nach ihrem
Wunsch, und plötzlich unermeßlich reich und glücklich werden würde. Dann
hätten sie ja niemanden mehr, den sie hassen, auf den sie spucken, über
den sie spotten könnten! Hier ist's nichts als ein einziger tierischer,
grenzenloser Haß auf Rußland, der sich in ihren Organismus
hineingefressen hat ... Und von irgendwelchen heimlichen Tränen, die
sich angeblich hinter dem sichtbaren Lachen verbergen sollen[30], ist
hier überhaupt keine Spur vorhanden! Noch nie ist in Rußland etwas
Dümmeres gesagt worden, als dieses falsche Wort von den >heimlichen
Tränengemäßigt liberal<.« Schatoff lächelte flüchtig. »Wissen
Sie,« sagte er nach einer Weile ganz plötzlich, »ich habe das vorhin
vielleicht falsch gesagt, das vom >Lakaientum der Gedanken<. Sie werden
gewiß bei sich gedacht haben: >Das sagt er nur, weil er von einem Lakai
geboren ist, ich aber bin's nicht.<«

»Aber das habe ich durchaus nicht gedacht ... wie kommen Sie darauf!
...«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich fürchte Sie nicht. Früher
stammte ich nur von einem Lakaien ab, jetzt bin ich selber zu einem
geworden, zu genau so einem, wie auch Sie einer sind. Unser russischer
Liberaler ist vor allen Dingen Lakai und wartet nur darauf, wie und wo
er jemandem die Stiefel putzen kann.«

»Was für Stiefel? Was meinen Sie mit dieser Allegorie?«

»Was Allegorie! Sie lachen, wie ich sehe ... Stepan Trophimowitsch hat
ganz recht, wenn er sagt, daß ich unter einem Stein liege, schon halb
erdrückt, aber noch nicht zerdrückt bin und mich nur noch in den letzten
Krämpfen winde. Das hat er gut gesagt.«

»Stepan Trophimowitsch behauptet, daß die Deutschen Ihnen zur fixen Idee
geworden sind,« entgegnete ich leichthin. »Und es ist ja auch etwas
Wahres dabei: wir haben uns doch vieles Deutsche eingesackt.«

»Ja, zwanzig Kopeken haben wir von ihnen genommen und dafür hundert
Rubel vom eigenen Kapital gegeben.« -- Wir schwiegen ... »Diese Ideen
hat er sich in Amerika an den Hals gelegen.«

»Wer das? Was an den Hals gelegen?«

»Ich meine Kirilloff. Wir haben dort beide vier Monate lang in einer
Hütte auf dem Fußboden gelegen.«

»Ja, sind Sie denn je in Amerika gewesen?« fragte ich verwundert. »Sie
haben nie davon gesprochen.«

»Wozu davon sprechen. Vor drei Jahren zogen wir mit einem
Emigrantentransport für unser letztes Geld nach den Vereinigten Staaten
von Amerika, um das Leben eines amerikanischen Arbeiters, oder vielmehr:
>um den Zustand eines Menschen in der allerschwersten sozialen Lage
_praktisch_, d. h. durch _persönliche_ Erfahrung kennen zu lernen.< Das
war unser Ziel, war der Grund, warum wir auswanderten.«

»Herrgott!« rief ich aus. »Das hätten Sie doch ebensogut zur Erntezeit
in unserem Gouvernement durch >persönliche Erfahrung< kennen lernen
können, ohne deshalb nach Amerika dampfen zu müssen!«

Doch Schatoff fuhr fort: »Wir verdingten uns als Arbeiter bei einem
Exploiteur. Im ganzen waren wir sechs Russen: Studenten, sogar
Gutsbesitzer und Offiziere waren unter uns, und alle hatten dasselbe
großartige Ziel. Und so arbeiteten wir denn, quälten uns und rackerten
uns ab -- bis Kirilloff und ich fortgingen: wir wurden krank, hielten es
nicht aus. Bei der Abrechnung zog uns dann der Exploiteur noch das Fell
gehörig über die Ohren, zahlte anstatt der dreißig Dollar, die er uns
laut der Abmachung schuldig war, mir nur acht und Kirilloff fünfzehn
aus. Übrigens hat man uns obendrein noch geprügelt, und nicht nur einmal
... Ja, und damals war es denn, daß wir beide in einem elenden Städtchen
vier Monate lang zusammen in einer Hütte auf dem Fußboden lagen.
Kirilloff dachte seine Gedanken und ich dachte meine Gedanken.«

»Und der Exploiteur hat Sie wirklich geprügelt? Da werden Sie ihm wohl
auch nicht schlecht mitgespielt haben?«

»Keineswegs. Im Gegenteil, wir sahen beide sofort ein, daß >wir Russen
im Vergleich zu den Amerikanern kleine Kinder sind und daß man entweder
in Amerika geboren oder lange Jahre mit ihnen zusammen gearbeitet haben
muß, um die Höhe ihrer Leistung zu erreichen<. Wir waren natürlich
entzückt von Amerika und lobten dort alles: den Spiritismus, das
Lynchgesetz, die Revolver und die Vagabunden. Und wenn man für eine
Dreikopekensache von uns einen Dollar verlangte, so zahlten wir ihn
nicht nur mit Vergnügen, sondern mit Begeisterung. Einmal, in der
Eisenbahn, zog mein Nachbar aus meiner Rocktasche meine Haarbürste
heraus und begann sich damit sein Haar zu striegeln. Kirilloff und ich
tauschten nur einen Blick aus und stimmten sofort darin überein, daß
mein Nachbar vollkommen im Recht war und seine Handlungsweise uns sehr
gefiel ...«

»Sonderbar, daß solche Ideen uns Russen nicht nur in den Kopf kommen,
sondern von uns auch vollführt werden,« bemerkte ich.

»Papierene Menschen,« wiederholte Schatoff.

»Aber immerhin, über einen ganzen Ozean schwimmen, in ein unbekanntes
Land, und wenn auch >um durch persönliche Erfahrung< usw. etwas kennen
zu lernen -- darin liegt, weiß Gott, doch eine gewisse Großzügigkeit ...
Wie sind Sie denn wieder zurückgekommen?«

»Ich schrieb an einen Menschen nach Europa und der schickte mir hundert
Rubel.«

Die ganze Zeit, während der Schatoff sprach, hatte er, wie immer, zu
Boden gesehen, selbst dann, wenn er erregt sprach. Jetzt aber hob er
plötzlich den Kopf.

»Wollen Sie wissen, wer dieser Mensch war?«

»Nun, wer war es denn?«

»Nicolai Stawrogin.«

Er stand plötzlich auf, trat an seinen Schreibtisch -- es war ein
einfacher Tisch aus Lindenholz -- und tat, als suche er etwas auf ihm.

Es ging bei uns damals das dunkle, aber glaubwürdige Gerücht, Schatoffs
Frau hätte mit Nicolai Stawrogin in Paris eine Zeitlang gelebt, und zwar
gerade vor etwa zwei Jahren, also in eben der Zeit, als Schatoff in
Amerika war -- freilich schon lange nachdem sie ihn in Genf verlassen
hatte. »Wenn es sich so verhält, was plagte ihn dann, mir jetzt diesen
Namen zu nennen und das ... noch breitzutreten?« fragte ich mich.

»Ich habe sie ihm bis heute noch nicht zurückgegeben,« sagte er, sich
wieder zu mir wendend, und nachdem er mich kurz, aber prüfend angesehen
hatte. Dann setzte er sich wieder. Und plötzlich fragte er mich schroff
und schon in ganz anderem Tone:

»Sie sind natürlich mit einer bestimmten Absicht zu mir gekommen; was
wünschen Sie?«

Ich erzählte ihm sofort alles und betonte besonders, daß ich Lisa unter
allen Umständen helfen und das ihr gegebene Wort halten möchte. Auch
beteuerte ich ihm, daß sie ihn mit der Buchangelegenheit keineswegs habe
beleidigen wollen, daß er sie völlig mißverstanden haben müsse. Sein
plötzlicher Aufbruch habe sie denn auch aufrichtig betrübt.

Er hörte mich sehr aufmerksam an.

»Vielleicht habe ich in der Tat wieder einmal eine Dummheit gemacht ...
Aber wenn sie nicht verstanden hat, warum ich fortging -- um so besser
für sie!«

Er stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und horchte hinaus.

»Sie wollen sie selbst sehen?«

»Ja, das ist es ja eben! Wie ließe sich das machen?« Ich erhob mich
schon erfreut.

»Gehen wir ganz einfach hin, solange sie noch allein ist. Lebädkin darf
natürlich nicht erfahren, daß wir bei ihr gewesen sind, sonst peitscht
er sie wieder. Heimlich gehe ich oft zu ihr. Gestern habe ich ihn
gründlich geprügelt, als er sie wieder zu schlagen anfing.«

»Ist das wirklich wahr, daß er sie schlägt?«

»Gewiß; an den Haaren hab ich ihn von ihr fortgerissen. Er wollte sich
schon mit den Fäusten auf mich stürzen, aber ich konnte ihm doch noch
einen Schrecken einjagen. Dabei blieb es. Nun fürchte ich, ihm könnte
das wieder einfallen, wenn er heute betrunken zurückkehrt, und dann wird
er sie erst recht hauen.«

Wir gingen sogleich nach unten.


                                   V.

Die Tür zu Lebädkins war nicht verschlossen und so traten wir
ungehindert ein. Ihre ganze Wohnung bestand aus nur zwei erbärmlichen
kleinen Zimmern mit verräucherten Wänden, an denen die schmutzigen
Tapeten buchstäblich in Fetzen herabhingen.

Früher hatte sich in diesen Räumen Filippoffs Schenke befunden, die
jetzt in das neue Haus übergeführt worden war. Die übrigen Zimmer, die
früher auch noch zur Schenke gehört hatten, waren jetzt verschlossen,
nur diese beiden hatte man an Lebädkin vermietet. An Möbeln standen in
der Wohnung ein paar einfache Holzbänke, Tische aus rohen Brettern und
nur ein einziger alter Sessel mit einer abgebrochenen Armlehne. Im
Hinterzimmer stand in einer Ecke ein Bett mit einer Kattundecke. Das war
das Bett von Lebädkins Schwester. Der Hauptmann aber schlief einfach auf
dem Fußboden, und da er fast immer betrunken nach Hause kam, nicht
selten so, wie er war, in den Kleidern. Überall war Schmutz, lagen
Krümchen und Fetzchen auf dem Fußboden; in der Mitte des ersten Zimmers
lag ein großer, dicker, ganz nasser Lappen, um den sich eine richtige
Pfütze gebildet hatte, und in dieser stand ein alter schiefgetretener
Schuh. Man sah an allem, daß hier niemand etwas tat; kein Ofen wurde
geheizt, kein Essen gekocht; ja, sie besaßen nicht einmal einen Samowar,
wie Schatoff mir ausführlicher berichtete. Der Hauptmann war mit seiner
Schwester ohne eine Kopeke hier eingetroffen und hatte in der ersten
Zeit tatsächlich, wie Liputin erzählte, seine Bekannten um ein paar
Kopeken angebettelt. Dann aber, als er plötzlich in den Besitz von
großen Summen geriet, hatte er sofort zu trinken angefangen und sich
seitdem natürlich noch weniger um den Haushalt gekümmert.

Marja Timofejewna Lebädkina, die ich so sehr zu sehen wünschte, saß
ruhig und lautlos im zweiten Zimmer, in einer Ecke, hinter einem
einfachen Küchentisch auf einer Bank. Auch als wir eingetreten waren,
hatte sie uns nicht angerufen, noch sich überhaupt gerührt. Schatoff
sagte, daß ihre Flurtür nie verschlossen werde, und einmal sei sie sogar
die ganze Nacht sperrangelweit offen geblieben. Beim schwachen Schein
eines dünnen Lichtchens in einem eisernen Leuchter erkannte ich ein
krankhaft mageres weibliches Wesen von vielleicht dreißig Jahren, in
einem dunklen alten Kattunkleide, mit langem, bloßem Halse und dünnem,
dunklem Haar, das im Nacken zu einem kleinen Knoten, von der Größe des
Fäustchens eines zweijährigen Kindes, zusammengedreht war. Sie sah uns
ziemlich heiter entgegen. Außer dem Licht stand vor ihr auf dem Tisch
ein kleiner billiger Spiegel, wie man ihn bei Bauern sieht, lag ein
altes Spiel Karten, ein zerblättertes Liederbuch und ein kleines
Weißbrot, von dem sie bereits ein- oder zweimal abgebissen hatte. Man
merkte, daß sie sich gepudert und geschminkt und die Lippen mit irgend
etwas rot gefärbt hatte; ja, selbst die Brauen, die ohnehin schon lang,
fein gezeichnet und dunkel zu sein schienen, hatte sie noch gestrichen,
-- aber auf ihrer schmalen und hohen Stirn sah man trotz des Puders drei
lange, tiefe Falten. Ich wußte schon, daß sie hinkte, doch diesmal stand
sie während unserer Anwesenheit nicht auf, so sah ich sie auch nicht
gehen. Irgend einmal, vielleicht in der ersten Jugend, konnte dieses
abgezehrte Gesicht vielleicht nicht unschön gewesen sein; aber ihre
stillen, freundlichen grauen Augen fielen auch jetzt noch auf. Etwas
Träumerisches und Inniges lag in ihrem stillen, fast frohen Blick. Diese
stille, ruhige Freude, die sich auch in ihrem Lächeln ausdrückte,
wunderte mich nach allem, was ich von der Kosakenpeitsche und allen
Niederträchtigkeiten ihres Bruders gehört hatte. Sonderbar, daß ich
dieses Mal statt des drückenden und bangen Widerwillens, den man sonst
stets in der Gegenwart solcher von Gott gezeichneten Geschöpfe
empfindet, -- daß es mir diesmal, und fast vom ersten Augenblick an,
geradezu angenehm war, sie zu betrachten und zu beobachten, und
höchstens Mitleid, doch keine Spur von Abscheu, bemächtigte sich meiner
später.

»Sehen Sie, so sitzt sie hier ganze Tage mutterseelenallein und rührt
sich nicht, legt Karten oder betrachtet sich im Spiegelchen,« sagte
Schatoff noch an der Tür zu mir. »Er gibt ihr ja auch nichts zu essen.
Die Alte aus dem Nebenhause, die Kirilloff bedient, bringt ihr zuweilen
etwas aus bloßem Erbarmen. Wie man sie nur so mit dem Licht allein
lassen kann!«

Schatoff sagte das zu meiner Verwunderung ganz laut, als ob wir allein
im Zimmer wären.

»Guten Tag, Schatuschka!« begrüßte ihn plötzlich Marja Timofejewna.

»Ich habe dir, Marja Timofejewna, einen Gast gebracht,« erwiderte
Schatoff.

»Gut, der Gast soll mir willkommen sein. Ich weiß nicht, wen du da
mitgebracht hast, ich glaube aber, solch einen habe ich noch nie
gesehen.« Dabei sah sie mich, über das Licht hinweg, aufmerksam an.
Gleich darauf wandte sie sich jedoch wieder zu Schatoff, und zu diesem
allein sprach sie dann auch die ganze Zeit (mich aber beachtete sie
weiter überhaupt nicht mehr, ganz als wäre ich gar nicht anwesend).

»Es wurde dir wohl langweilig, da oben im Dachkämmerlein einsam
umherzugehen?« fragte sie lachend. Da sah ich, daß sie sehr schöne Zähne
hatte.

»Auch das, aber vor allem wollte ich dich wieder einmal besuchen.«

Schatoff zog eine Bank an den Tisch, setzte sich, und wies auch mir
einen Platz neben sich an.

»Unterhaltung habe ich immer gern, nur bist du so drollig, Schatuschka,
bist ganz wie ein Mönch! Wann hast du dich zum letztenmal gekämmt? Komm
her, ich werde es wohl wieder tun müssen« -- und sie zog aus ihrer
Kleidertasche einen Kamm. »Du hast wohl seit dem letzten Mal, als ich
dich kämmte, dein Haar überhaupt nicht mehr angerührt.«

»Ja, wie soll ich denn? Ich habe doch keinen Kamm,« sagte auch Schatoff
heiter.

»Wirklich nicht? Warte mal, dann werde ich dir meinen schenken, nicht
diesen, einen andern ... nur mußt du mich daran erinnern.«

Und mit dem ernsthaftesten Gesicht machte sie sich daran, ihn zu kämmen,
zog ihm sogar auf der Seite einen Scheitel, bog sich dann zurück, um zu
sehen, ob er gut geraten war -- und steckte schließlich den Kamm wieder
in die Tasche.

»Weißt du was, Schatuschka?« sagte sie und schüttelte dabei den Kopf,
»du bist doch ein vernünftiger Mensch und trotzdem grämst du dich. Es
wird mir ganz sonderbar, wenn ich euch alle so sehe: ich verstehe nicht,
wie können Menschen sich grämen und immer traurig sein? Sehnsucht ist
doch nicht Traurigkeit. Mir ist immer froh zu Mut.«

»Auch mit dem Bruder?«

»Du meinst Lebädkin? Ach, der ist mein Knecht. Mir ist es ganz gleich,
ob er hier ist oder nicht. Ich befehle nur: >Lebädkin, bring mir Wasser,
Lebädkin, gib mir die Stiefel<, und er läuft schon. Zuweilen sündige ich
wohl auch und lache über ihn.«

»Und genau so ist es,« sagte Schatoff zu mir gewandt, und zwar wieder
mit lauter Stimme, ohne sich zu genieren. »Sie behandelt ihn tatsächlich
wie ihren Diener, ich habe es selbst gehört, wie sie ihm zuruft:
>Lebädkin, bring mir Wasser<, und dabei lacht sie. Der Unterschied
besteht nur darin, daß er nicht nach dem Wasser läuft, sondern sie dafür
prügelt, -- und trotzdem fürchtet sie ihn tatsächlich nicht im
geringsten. Sie hat immer ihre nervösen Anfälle, fast täglich, die
wirken natürlich auf ihr Gedächtnis, so daß sie alles vergißt und
verwechselt. Glauben Sie, daß sie noch weiß, wann und wie wir
hereingekommen sind? Übrigens, vielleicht weiß sie's doch noch,
jedenfalls aber hat sie es sich auf ihre Art umgedichtet und hält uns
wohl jetzt für Gott weiß was, nur nicht für das, was wir sind -- obschon
sie dabei ganz genau weiß, daß ich >Schatuschka< bin. Das macht auch
nichts, daß ich jetzt laut spreche, ja selbst wenn ich zu ihr spreche,
stört das sie nicht mehr, sobald sie einmal mit ihren eigenen Gedanken
beschäftigt ist. Sie ist eine große Träumerin, acht Stunden, zuweilen
den ganzen Tag sitzt sie auf demselben Fleck, ohne sich zu rühren. Sehen
Sie das Weißbrot da: angebissen hat sie es vielleicht heute früh,
aufessen wird sie es vielleicht erst morgen. Da legt sie auch schon
wieder Karten aus ...«

»Rate ich doch aus den Karten und rate, Schatuschka, aber immer kommt es
so wie nicht richtig heraus,« sagte plötzlich Marja Timofejewna, die das
letzte Wort Schatoffs wohl gehört hatte, und ohne aufzusehen streckte
sie die linke Hand mechanisch nach dem Weißbrot aus (auch das vom Brot
mochte sie gehört haben).

Die Hand fand auch schließlich das Brötchen, doch sie selbst ließ sich
von neuen Gedanken wieder gefangennehmen, und nachdem sie das Brötchen
eine Weile in der linken Hand gehalten hatte, legte sie es mechanisch
wieder zurück, ohne es zum Munde geführt zu haben.

»Es ist immer dasselbe: ein Weg, ein böser Mann, ein Sterbebett, ein
Brief irgendwoher, eine unvorhergesehene Nachricht, Trug und Hinterlist.
Ach -- alles Lügen, denke ich! -- Was meinst du dazu, Schatuschka? Wenn
Menschen lügen, warum sollen dann nicht auch Karten lügen?« und sie
mischte plötzlich die Karten durcheinander. »Dasselbe habe ich auch
einmal der Mutter Praskowja gesagt ... das war eine ehrwürdige alte
Frau. Immer kam sie zu mir in die Zelle, um sich von mir die Karten
legen zu lassen, aber heimlich, daß die Mutter-Äbtissin es nicht sah.
Und nicht sie allein kam zu mir. Sie seufzen und stöhnen dann immer,
schütteln alle die Köpfe, raten hin und her und denken und bereiten sich
auf etwas Großes vor -- ich aber lache. >Woher wollen Sie denn plötzlich
einen Brief bekommen, Mutter Praskowja,< sage ich, >wenn zwölf Jahre
keiner gekommen ist?< Ihre Tochter aber hat der Mann irgendwohin nach
der Türkei gebracht und zwölf Jahre hat sie von ihr kein Lebenszeichen
erhalten. Und wie ich gerade so am nächsten Abend beim Tee sitze, bei
der Äbtissin -- aus fürstlichem Hause war sie bei uns -- sitzt da bei
ihr noch eine angereiste Dame und auch noch ein Mönchlein aus dem
Kloster vom Berge Athos, so ein drolliger, kleiner Mensch. Was glaubst
du wohl, Schatuschka, dieser selbe Mönch hat am selben Morgen der Mutter
Praskowja von der Tochter aus der Türkei einen Brief gebracht -- da hast
du den Karo-Buben, die unvorhergesehene Nachricht! Wir trinken also Tee
und der Mönch vom Berge Athos sagt zu der Mutter-Äbtissin: >Und vor
allem<, sagt er, >ehrwürdige Mutter-Äbtissin, hat der Herr Euer Kloster
gesegnet, seitdem es einen so kostbaren Schatz in seinem Schoße birgt<,
sagt er. >Was für einen Schatz?< fragt die Mutter-Äbtissin. >Nun, die
heilige Lisaweta doch!< sagt er. Diese Lisaweta war nämlich bei uns in
einer Zelle in der Klostermauer eingemauert, wie in einem Käfig, und der
war nur einen Faden lang und anderthalb Faden hoch, und da sitzt sie
schon siebzehn Jahre lang hinter einem eisernen Gitter, Winter und
Sommer nur in einem hanfleinenen Hemde, und sticht immer mit einem
Strohhälmchen oder einem Reisigstückchen in die Leinwand und spricht
kein Wort und kämmt sich nicht und wäscht sich nicht all diese siebzehn
Jahre. Im Winter, wenn es kalt wird, steckt man ihr ein Pelzchen zu und
täglich ein Kästchen mit Brot und einen Krug mit Wasser. >Wahrlich, ein
schöner Schatz,< sagt die Mutter-Äbtissin (hat sich geärgert -- sie
konnte die Lisaweta nicht leiden). >Lisaweta,< sagt sie, >sitzt nur aus
Bosheit und Eigensinn, und alles das ist Verstellung.< Mir gefiel das
nicht, was sie sagte, denn ich wollte mich auch so einschließen lassen.
>Ich glaube,< sage ich, >Gott und die Natur ist alles eins.< Alle rufen
sie da, wie aus einem Munde: >Hört doch, hört!< Die Äbtissin lachte und
fing mit der Dame zu tuscheln an, ich weiß nicht worüber, und rief mich
nachher zu sich, streichelte mich, und die Dame schenkte mir ein rosa
Bändchen -- willst du, ich zeige es dir? Und das Mönchlein fing gleich
an, mich zu belehren und sprach freundlich und demütig zu mir und wohl
auch mit viel Verstand. Ich sitze und höre zu. >Hast du verstanden?<
fragte er mich dann. >Nein,< sage ich, >ich habe gar nichts verstanden
und lassen Sie mich lieber in meiner Ruh<, sage ich -- und seit der Zeit
haben sie mich auch ganz in meiner Ruh gelassen, Schatuschka. Aber wenn
ich dann aus der Kirche kam, flüsterte mir unsere Greisin, eine alte,
alte Nonne zu -- die büßte bei uns für ihre Weissagungen --: >Was ist
das, die Mutter Gottes, wie dünkt es dich?< -- >Die große Mutter,<
antwortete ich, >das ist die große Hoffnung, die ewige Zuversicht des
Menschengeschlechts.< -- >Ganz recht,< sagt sie, >die Mutter Gottes --
das ist die große Mutter, unsere fruchtbare Erde, und wahrlich ich sage
dir, eine große Freude liegt in ihr für den Menschen. Und jedes
Erdenleid und jede Erdenträne ist uns eine Freude. Und wenn du mit
deinen Tränen die dunkle Erde unter dir tränkst, einen halben Meter
tief, so wird dir wahrlich zur selbigen Stunde noch alles zur Freude
gereichen. Und gar keinen, gar keinen Kummer wirst du mehr haben,< sagt
sie, >denn sieh,< sagt sie, >eine solche Weissagung gibt es.< Das konnte
ich nie mehr vergessen. Seit der Zeit begann ich zu beten, ich beugte
mich zur Erde und küßte die Erde und weinte. Und sieh, ich sage dir,
Schatuschka, es ist nichts Schlechtes in diesen Tränen, und wenn du auch
gar kein Leid hast, du wirst die Tränen vor lauter Freude weinen. Die
Tränen weinen sich selbst. Zuweilen ging ich zum See, an das Ufer: auf
der einen Seite vom See stand unser Kloster und auf der anderen unser
spitzer Berg, wir nannten ihn denn auch einfach den Spitzberg. Und so
steige ich denn auf diesen Berg und wende mich mit dem Gesicht nach
Osten und falle auf die Erde nieder und weine und weine, und weiß nicht,
wie lange ich weine, und habe dann alles vergessen und ich weiß gar
nichts mehr. Dann stehe ich auf und wende mich zurück, und die Sonne
geht unter so groß, und es ist eine Pracht und Herrlichkeit -- liebst
du's auch, so die Sonne zu sehen, Schatuschka? Schön ist es, aber
traurig ... Und ich wende mich wieder zurück nach Osten, und der
Schatten, der Schatten von unserem Berge läuft schmal und lang wie ein
Zeiger über den See, eine Werst weit oder noch weiter -- bis zur Insel
im See, und teilt diese steinige Insel, wie sie da ist, gerade in zwei
Hälften. Und wie er sie so teilt, da geht auch die Sonne ganz unter und
alles erlischt plötzlich. Und dann kommt wieder die Sehnsucht so über
mich, und plötzlich kommt auch die Erinnerung wieder, und ich fürchte
die Dunkelheit, Schatuschka. Und immer mehr weine ich dann um mein
kleines Kind ...«

»Hast du denn eines gehabt?« fragte Schatoff, der ihr die ganze Zeit
aufmerksam zugehört hatte, und stieß mich leicht mit dem Ellenbogen an.

»Wie denn nicht! Ein kleines, rosiges, mit so winzigen Fingerchen, und
all mein Leid ist nur, daß ich nicht mehr weiß, ob es ein Knabe oder ein
Mädchen war. Zuweilen erinnere ich mich dessen, daß es ein Knabe war,
und zuweilen scheint es mir wieder, daß es ein Mädchen war. Als ich es
damals gebar, da wickelte ich es gleich in Batist und Spitzen und band
es mit rosa Bändchen zu und bettete es auf Blumen und sprach ein Gebet
über ihm und trug das Ungetaufte und trage es durch den Wald und fürchte
mich im Walde, denn ich habe Angst und weine, und am meisten weine ich
darüber, daß ich geboren habe und doch den Mann nicht kenne.«

»Vielleicht kanntest du ihn doch?« fragte Schatoff vorsichtig.

»Drollig bist du doch, Schatuschka, mit deiner Vernunft. Vielleicht,
vielleicht hatte ich ihn auch ... aber was liegt daran, wenn es doch
ebenso ist, als wenn ich ihn nicht gehabt hätte? Da hast du nun ein
unschweres Rätsel, nun rat einmal!« sagte sie lächelnd.

»Wohin hast du denn das Kind getragen?«

»In den Teich hab ich's getragen,« seufzte sie.

Schatoff berührte mich wieder mit dem Ellenbogen.

»Aber was dann, wenn du das Kind überhaupt nicht gehabt hast und alles
bei dir nur Phantasie ist?«

»Eine schwere Frage gibst du mir auf, Schatuschka,« sagte sie grübelnd
und ohne jegliche Verwunderung über die Frage. »Ich kann dir aber
hierauf gar nichts sagen, vielleicht habe ich auch keines gehabt. Mir
scheint, daß du nur aus Neugier so fragst; aber ich werde deshalb nicht
aufhören, um mein Kind zu weinen, ich habe es doch nicht im Traum
gesehen?« Große Tränen erglänzten in ihren Augen. »Schatuschka,
Schatuschka, ist es wahr, daß deine Frau von dir fortgelaufen ist?«
fragte sie plötzlich, legte ihm beide Hände auf die Schultern und
blickte ihn mitleidig an. »Aber du ärgere dich nicht, mir ist ja dabei
auch weh. Weißt du, Schatuschka, was für einen Traum ich gehabt habe --
er kommt wieder zu mir und lockt mich: >Kätzchen,< sagte er, >mein
Kätzchen, komm her zu mir!< Sieh, über das >Kätzchen< freute ich mich am
meisten: er liebt mich, dachte ich.«

»Vielleicht kommt er auch bald in Wirklichkeit,« murmelte Schatoff
halblaut.

»Nein, Schatuschka, das ist schon ein Traum ... er kann nicht in
Wirklichkeit kommen. Kennst du das Lied:

   Ich brauche nicht Dein neues, hohes Schloß!
   Hier in dieser Zelle will ich bleiben,
   Leben und beten,
   Beten zu Gott -- für dich ...

Ach, Schatuschka, mein Liebling, warum fragst du mich denn nie etwas?«

»Du wirst ja doch nichts sagen, darum frage ich auch lieber gar nicht.«

»Nein, nein, ich sage nichts und wenn du mich auch totschlügest!«
beteuerte sie schnell. »Verbrenne mich lebendig, ich sage nichts! Und
wie es auch schmerzte, nichts werde ich sagen, nichts werden die
Menschen erfahren!«

»Nun, siehst du, jeder hat das Seine,« sagte Schatoff noch leiser, und
senkte noch tiefer den Kopf.

»Aber wenn du mich bätest, vielleicht würde ich es dir dann doch sagen
... vielleicht würde ich es dir dann doch sagen!« flüsterte sie wie
verzückt. »Warum bittest du mich nicht? Bitt' mich, bitt' mich
ordentlich, Schatuschka, vielleicht werde ich's dir dann sagen. Flehe
mich an, Schatuschka, bitte und beschwöre mich, damit ich dann selbst
einwillige ... Schatuschka, Schatuschka!«

Aber Schatuschka schwieg. Eine Minute lang schwiegen wir alle. Langsam
flossen die Tränen über ihre gepuderten Wangen. Die Hände hielt sie
immer noch auf seinen Schultern, sie hatte sie vergessen aber sie sah
ihn nicht mehr an.

»Eh, was geht das mich an, wäre auch Sünde,« sagte Schatoff plötzlich
und erhob sich von der Bank. »Stehen Sie auf!« Er zog ärgerlich die Bank
fort und schob sie auf ihren Platz zurück:

»Damit er nichts merkt, wenn er kommt. Wir müssen jetzt gehen.«

»Ach, du sprichst wieder von meinem Diener!« lachte Marja Timofejewna
auf. »Hast Angst! Nun, dann lebt wohl, meine lieben Gäste, aber hör, nur
noch einen Augenblick, was ich dir sagen will! Neulich kam dieser
Nilytsch her, mit Filippoff, dem Hauswirt, dem Rotkopf, weißt du, gerade
als meiner auf mich losschlug. Wie ihn der Hauswirt da packt und durchs
Zimmer schleift, schreit er: >Bin nicht schuld, bin nicht schuld, muß
für fremde Schulden dulden!< Glaubst du wohl, wir haben alle so darüber
gelacht ...«

»Aber das war doch ich,« sagte Schatoff, »ich zog ihn doch gestern an
den Haaren von dir fort. Der Hauswirt dagegen war vor drei Tagen nur
hergekommen, um sich mit euch zu schimpfen, ... hast wohl wieder alles
verwechselt?«

»Wart einmal, ja, ich habe es wirklich verwechselt, vielleicht warst du
es. Aber wozu über solche Nebensachen streiten, ist es nicht einerlei,
wer ihn fortriß?« lachte sie.

»Gehen wir, schnell!« Schatoff zog mich am Ärmel, »die Pforte knarrt:
trifft er uns bei ihr, so wird er sie wieder schlagen.«

Kaum waren wir die Treppe hinaufgelaufen, als wir auch schon betrunkenes
Geschimpfe hörten. Schatoff zog mich in sein Zimmer und verschloß die
Tür.

»Sie werden einen Augenblick hier sitzen müssen, wenn Sie keine
Geschichten mit ihm haben wollen. Hören Sie? Er quiekt wie ein Ferkel,
ist wohl wieder über die Schwelle gestolpert -- fast jedesmal fällt er
lang hin.«

Aber ohne »Geschichten« ging es einstweilen doch nicht ab.


                                  VI.

Schatoff stand an der Tür und horchte hinaus. Plötzlich sprang er
zurück.

»Er kommt herauf, das wußte ich ja!« rief er wütend mir leise zu. »Jetzt
haben wir ihn bis Mitternacht auf dem Halse!«

Ein paar starke Faustschläge an die Tür kündeten Lebädkin an.

»Schatoff! ... Schaa--toff, mach auf!« brüllte der Betrunkene.
»Schatoff, Freund ...« Und plötzlich sang er los -- die bekannte Romanze
--:

   »>Kam zu dir mit einem Gruß,
   Um zu künden, daß der Mo--o--orgenstrahl
   Glühend ... be--ebend ... seinen ersten Kuß
   Von den Wipfeln dieser Wä--e--elder stahl!
   Laß dir künden vom Erwachen ...<

Kchä -- hm! zum Teufel!« räusperte er sich --

   »>Vom Erwachen unter Zwei--e--eigen ...<

Haha! klingt ja fast wie unter Ruten! Nein, lieber von was anderem! ...

   >Jeder Vogel -- hat mal Durst!
   Weißt du auch, was ich trinke?
   Trinke, ja, trinke?
   Weiß ich doch ... selber es nicht ...
   Was ich ... was ich ...<

Hm! ... Hol' sie der Teufel, diese dumme Neugier! Schatoff, begreifst du
auch, wie schön es auf Erden zu leben ist!«

»Antworten Sie nicht!« flüsterte mir Schatoff zu.

»Hör', mach doch auf! ... Begreifst du auch, daß es etwas Höheres gibt,
als Raufereien unter ... der Menschheit? ... Es gibt, weißt du, es gibt
Augenblicke im Leben eines edlen Menschen ... Schatoff, ich bin gut, ich
verzeihe dir alles ... Nur, weißt du, mach doch auf! ... Schatoff, höre
-- zum Teufel mit den Proklamationen! -- Wie?«

Schweigen.

»Begreifst du auch, Esel, daß ich verliebt bin! Ich habe mir einen Frack
gekauft, sieh, einen Frack der Liebe für die Liebe, -- fünfzehn
Silberrubel! Eines Hauptmannes Liebe verlangt eben gesellschaftlichen
Anstand ... Mach auf!« brüllte er plötzlich wie ein wildes Tier und
begann von neuem, in toller Wut mit den Fäusten an die Tür zu donnern.

»Scher' dich zum Teufel!« schrie nun auch Schatoff.

»S--s--s--kla--a--ve! Leibeigener Skla--ve, und deine Schwester ist auch
eine Skla--a--vin ... eine Die--bin!«

»Und du hast deine Schwester verkauft!«

»Du lügst! Ich dulde aus Edelmut, während ich ... Mit einer einzigen
Erklärung könnte ich ... Begreifst du auch, wer sie eigentlich ist?«

»Nun, wer denn?« Schatoff trat neugierig an die Tür.

»Wirst du es aber auch begreifen?«

»Werd schon begreifen, wenn du es nur sagst -- nun, wer ist sie denn?«

»Ich habe den Mut, es zu sagen! Ich habe immer den Mut, dem Publikum
alles zu sagen!«

»Scheint doch nicht,« neckte ihn Schatoff geflissentlich und nickte mir
zu, jetzt nur gut aufzumerken.

»Was, du meinst, ich wa--age es nicht?«

»Natürlich wagst du es nicht.«

»Wie, ich wa--a--ge es nicht?«

»So sag's doch, wenn du die herrschaftlichen Ruten nicht fürchtest ...
Bist doch ein Feigling -- und willst ein Hauptmann sein!«

»Ich ... ich ... sie ... sie ist ...« stotterte Lebädkin.

»Nun?« Schatoff legte das Ohr ans Schlüsselloch.

Ein Schweigen entstand und dauerte mindestens eine halbe Minute an.

»Du Sch--sch--u--uft!« ertönte es endlich hinter der Tür, und der
Hauptmann stolperte so schnell wie er nur konnte und keuchend wie ein
Samowar die Treppe hinunter, wobei jede Stufe unter seinem Gewicht
knarrte.

»Nein, er ist schlau, selbst in der Betrunkenheit wird er sich nicht
verraten.« Schatoff kam langsam von der Tür zurück.

»Aber was soll denn das alles bedeuten?« fragte ich.

Schatoff winkte nur mit der Hand, ging wieder zur Tür, öffnete sie und
begann nach unten zu lauschen. Lange horchte er, ging sogar ein paar
Stufen hinab ... endlich kam er wieder zurück.

»Es ist nichts zu hören, hat sie also nicht geprügelt, wird wohl gleich
eingeschlafen sein. Es ist Zeit, Sie müssen nach Hause gehen.«

»Hören Sie, Schatoff, was soll ich aus all dem schließen?«

»Eh, schließen Sie daraus, was Sie wollen!« antwortete er mit müder und
schlecht gelaunter Stimme und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Ich ging. Ein unerhörter Gedanke bemächtigte sich meiner mehr und mehr.
Mit Sorge dachte ich an den nächsten Tag.


                                  VII.

Dieser nächste Tag -- der Sonntag, an dem Stepan Trophimowitschs
Schicksal sich unwiderruflich entscheiden sollte -- war einer der
merkwürdigsten Tage meiner Geschichte, war ein Tag der Überraschungen,
an dem Altes seine Lösung fand und Neues sich knüpfte, ein Tag greller
Erklärungen und -- noch schlimmerer Verwirrung.

Wie ich schon erzählt habe, mußte ich meinen Freund am Morgen zu Warwara
Petrowna begleiten, und um drei Uhr sollte ich dann bei Lisaweta
Nicolajewna sein, um ihr zu erzählen ... ja, ich wußte selbst nicht,
was! und ihr zu verhelfen -- wozu? das wußte ich ebensowenig. Und nun
fand plötzlich alles eine Lösung, die weder ich noch sonst jemand
erwartet hatte ... Kurz, es war ein Tag seltsam zusammentreffender
Zufälle.

Er begann damit, daß wir, Stepan Trophimowitsch und ich, als wir um elf
bei Warwara Petrowna erschienen, sie nicht zu Hause antrafen: sie war
noch nicht aus der Kirche zurückgekehrt. Mein armer Freund war aber
dermaßen nervös oder innerlich erregt, daß schon dieser eine Umstand ihn
sofort gleichsam vernichtete, und völlig erschöpft sank er im
Empfangssalon auf einen Sessel. Ich bot ihm ein Glas Wasser an, doch
trotz seines bleichen Gesichts und seiner zitternden Hände lehnte er es
mit Würde ab. Übrigens möchte ich hier bemerken, daß er diesmal mit
geradezu erlesener Eleganz gekleidet war: er trug die feinste
Batistwäsche, die weiße Halsbinde war meisterhaft geschlungen, hielt in
der einen Hand einen neuen Hut und strohfarbene Handschuhe, und zu all
dem kam noch ein leiser, ganz leiser Parfümduft.

Kaum hatten wir uns gesetzt, als Schatoff, vom Diener geführt, eintrat.
Warwara Petrowna hatte offenbar auch ihn um diese Zeit zu sich gebeten.
Stepan Trophimowitsch erhob sich schon, um ihm die Hand zu reichen, doch
Schatoff, der zunächst aufmerksam zu uns herübersah, wandte sich
plötzlich zur Seite und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, ohne
uns auch nur mit dem Kopf zuzunicken. Mein armer Freund sah mich wieder
ganz erschrocken an.

So saßen wir noch eine ganze Weile in tiefstem Schweigen. Stepan
Trophimowitsch begann zwar einmal mir irgend etwas zuzuflüstern, doch da
er wahrscheinlich selbst nicht recht wußte, was er sagen wollte, so
verstummte er bald wieder. Nach einiger Zeit kam der Diener noch einmal
herein, um irgend etwas auf dem Tisch zu ordnen; oder richtiger -- um
nach uns zu sehen. Da wandte sich plötzlich Schatoff an ihn und fragte
laut:

»Alexei Jegorytsch, ist Darja Pawlowna gleichfalls zur Kirche gefahren?«

»Nein, Warwara Petrowna geruhten allein zum Gottesdienst zu fahren,
Darja Pawlowna aber sind zu Hause geblieben, sie fühlten sich nicht ganz
wohl,« meldete Alexei Jegorytsch mit Anstand.

Mein armer Freund warf mir hierauf wieder einen erregten Blick zu, so
daß ich mich schon geärgert von ihm abwenden wollte. Da ertönte draußen
das Rollen einer Equipage, die vorfuhr, und ein gewisses fernes
Hinundher im Hause kündete uns an, daß die Herrin zurückgekehrt war. Wir
standen auf. Schritte näherten sich. Aber was war das? Wir hörten
Schritte von mehreren Personen. War denn Warwara Petrowna nicht allein
zurückgekehrt? Das war doch etwas sonderbar, da sie selbst uns zu dieser
Stunde und zu diesem besonderen Zweck zu sich gebeten hatte. Schließlich
vernahmen wir seltsam schnelle Schritte, fast ein Eilen, so aber pflegte
Warwara Petrowna sonst doch nicht zu gehen. Und plötzlich flog die Türe
auf und tatsächlich -- Warwara Petrowna erschien, atemlos und in
ungewöhnlicher Erregung. Hinter ihr aber kam, langsamer, leiser,
Lisaweta Nicolajewna, und die führte an der Hand -- Marja Timofejewna
Lebädkina! Hätte ich das im Traum gesehen, so hätte ich selbst dann
meinen Augen nicht getraut.

Was war geschehen?

Nun muß ich um etwa eine Stunde zurückgreifen und erzählen, was sich
inzwischen in der Kirche zugetragen hatte.

An eben diesem Sonntage war der Adel und die ganze Gesellschaft der
Stadt fast vollzählig zum Morgengottesdienst erschienen. Man wußte, daß
die neue Gouverneurin zum erstenmal nach ihrer Ankunft bei uns in die
Kirche gehen werde. Es hatte sich schon herumgesprochen, daß sie eine
Freidenkerin sei und die »neuesten Anschauungen« teile. Und überdies
wußten schon alle Damen, daß sie in einer prächtigen, sehr eleganten
Toilette erscheinen werde, weshalb sich denn alle gleichfalls auf das
sorgfältigste geputzt hatten. Nur Warwara Petrowna war wieder schlicht
und ganz in Schwarz erschienen, genau so, wie sie sich in den letzten
vier Jahren immer kleidete. Während des Gottesdienstes stand sie auf
ihrem alten Platz, links, in der ersten Reihe, und vor ihr hatte ihr
Diener in Livree ein Samtkissen hingelegt, kurz, alles war so, wie es
immer gewesen war. Manche Leute wollten zwar bemerkt haben, daß Warwara
Petrowna an diesem Morgen ganz besonders lange und inbrünstig gebetet
habe; ja, später, als man sich alles wieder vergegenwärtigte,
versicherte man sogar, sie habe Tränen in den Augen gehabt. Die Messe
war schließlich zu Ende und unser Oberpriester, der Vater Pawel, trat
aus der Sakristei, um eine feierliche Predigt zu halten. Seine Predigten
wurden bei uns sehr geschätzt und man hatte ihm schon oft zugeredet, sie
doch drucken zu lassen, wozu er sich aber nie entschließen konnte. An
diesem Sonntage nun fiel die Predigt jedoch besonders lang aus.

Da kam, nachdem die Predigt schon begonnen hatte, noch eine Dame in
einer leichten Mietdroschke angefahren, in einem von jenen altmodischen
Vehikeln, auf denen Herren rittlings, Damen nur seitlich sitzen konnten,
weshalb sie sich an dem Gürtel des Kutschers festhalten mußten, da sie
bei jedem Stoß des Wagens wie ein Wiesengräschen im Winde schaukelten.
Diese Droschken gibt es auch heute noch in unserer Stadt. Der Kutscher
hielt an der Kirchenecke, da er wegen der vielen Equipagen und sogar
Gendarmen vor dem Portal nicht weiterzufahren wagte. Die Dame sprang ab
und gab dem Kutscher vier Kopeken.

»Was, ist es zu wenig, Wanjä?«[31] fragte sie erschrocken, als sie sah,
daß der Kutscher ein Gesicht schnitt. »Das ist aber alles, was ich
habe,« fügte sie traurig hinzu.

»Nun, schon gut ... hab nicht an Verdienst gedacht ...« Der Wanjka
winkte mit der Hand und sah sie an, als dächte er: »Wäre ja auch Sünde,
dich zu kränken ...«

Er steckte seinen Lederbeutel unter die Bluse und fuhr, begleitet vom
Spott der anderen wartenden Kutscher, wieder davon. Spötteleien und
Verwunderung begleiteten auch die Dame, so lange sie sich durch die
Volksmenge und die wartenden Diener bis zur Kirchentür drängte. Aber es
war auch wirklich etwas Ungewöhnliches und Überraschendes in dem
Erscheinen einer solchen Person so plötzlich irgendwoher und am
Sonntagmorgen mitten unter dem Volk.

Sie war krankhaft mager und hinkte; ihr Gesicht war stark gepudert und
geschminkt und der lange Hals war unbedeckt. Sie hatte weder ein Tuch
noch einen Umwurf, war nur in einem alten dunklen Kattunkleide, trotz
des kühlen, windigen, wenn auch sonnigen Septembertages. Ihr Kopf war
gleichfalls unbedeckt und in den kleinen Haarknoten im Nacken hatte sie
an der rechten Seite eine Rose aus Seidenpapier gesteckt, eine von
solchen, mit denen die Ostercherubim geschmückt werden. So einen
Ostercherub in einem Kranz aus Papierrosen hatte ich gerade am Abend
vorher unter den Heiligenbildern bemerkt, als ich bei Marja Timofejewna
saß. Hinzu kam, daß die Dame, wenn auch mit niedergeschlagenen Augen,
doch mit einem beinahe mehr als heiteren, fast verschmitzten Lächeln
durch das Volk ging. Vielleicht hätte man sie, wenn sie noch einen
Augenblick länger in der Menge geblieben wäre, überhaupt nicht in die
Kirche eintreten lassen. So aber gelang es ihr noch, durch das Portal zu
schlüpfen, und unauffällig schob sie sich dann weiter nach vorn.

Obgleich die Predigt noch nicht zu Ende war und die ganze Kirche
andächtig zuhörte, wandten sich manche Augen doch interessiert und
verwundert heimlich der Neueingetretenen zu. Diese kniete zunächst
nieder, beugte ihr gepudertes Gesicht auf den Fußboden, und berührte ihn
mit der Stirn; so kniete sie lange, und wie es schien, weinte sie;
nachdem sie sich aber wieder aufgerichtet und von den Knien erhoben
hatte, begann sie alsbald fast heiter und mit sichtlichem Vergnügen die
Menschen und die Kirchenwände zu betrachten. Einzelne Damen schienen sie
besonders zu interessieren, und sie stellte sich sogar auf die
Fußspitzen, um besser sehen zu können, und zweimal kicherte sie dabei
ganz eigentümlich. Doch schließlich erreichte auch die Predigt ihr Ende
und man trug das Kreuz vor den Altar. Die Gouverneurin trat sofort vor,
doch schon nach ein paar Schritten blieb sie stehen, um Warwara Petrowna
den Vortritt zu geben, die gleichfalls gerade auf das Kreuz zuschritt
und dabei tat, als sei ihr niemand im Wege. Die ungewöhnliche
Bescheidenheit der Gouverneurin sollte natürlich ein feiner Stich für
Warwara Petrowna sein -- so faßten es wenigstens die Damen der
Gesellschaft auf. Auch Warwara Petrowna hatte den Stich wohl verstanden,
übersah ihn jedoch und küßte mit unerschütterlicher Vornehmheit das
Kreuz, worauf sie dann sofort dem Ausgange der Kirche zuschritt. Ihr
Diener in Livree bemühte sich ganz unnützerweise, einen Weg durch die
Anwesenden zu bahnen, da alle schon von selbst höflich vor ihr zur Seite
traten. Da geschah es aber, daß in der Vorhalle, wo das Volk dicht
gedrängt stand, Warwara Petrowna dennoch einen Augenblick stehen bleiben
und warten mußte. Und hier nun drängte sich plötzlich das sonderbare
Geschöpf, mit der Papierrose im Haar, durch das Volk zu ihr hin -- und
fiel vor ihr auf die Kniee. Warwara Petrowna, die man nicht leicht
erschrecken konnte, besonders nicht in der Öffentlichkeit, sah ruhig,
streng und erhaben auf die Kniende herab.

Ich muß hier bemerken, daß Warwara Petrowna, wenn sie auch sparsamer,
ja, wie manche behaupteten, sogar ein bißchen geizig geworden war, zu
wohltätigen Zwecken doch immer noch viel Geld ausgab. Noch vor einem
Jahr, als in einzelnen Gegenden unseres Gouvernements Hungersnot
herrschte, hatte sie an das Hilfskomitee fünfhundert Rubel gesandt. Und
schließlich hatte sie noch in der letzten Zeit, kurz vor der Ernennung
des neuen Gouverneurs, bereits ein Damenkomitee zustandegebracht, das
den ärmsten Wöchnerinnen in der Stadt und im Gouvernement
Unterstützungen zukommen lassen sollte. Man warf ihr bei uns Ehrgeiz
vor, doch ihr fester, durchsetziger Wille hatte die Hindernisse fast
schon beseitigt, das Komitee war bereits so gut wie gegründet, und
Warwara Petrowna dachte schon mit Begeisterung daran, ein ähnliches
Komitee auch in Moskau zu gründen, und wie dieser Gedanke schließlich in
jedem Gouvernement fruchtbar gemacht werden könnte. Da kam aber der
Wechsel des Gouverneurs, und alles geriet ins Stocken; die neue
Gouverneurin aber hatte, wie es hieß, schon Zeit gehabt, in der
Gesellschaft einige spitze und schließlich nicht ganz unsachliche
Bemerkungen über die Unzweckmäßigkeit des Grundgedankens solcher
Komitees zu äußern. Diese Bemerkungen aber waren -- selbstredend mit
Ausschmückungen -- Warwara Petrowna sofort hinterbracht worden. Zwar
kann nur Gott allein wissen, was in der Tiefe eines Menschenherzens
vorgeht, aber in diesem Fall glaube ich doch, annehmen zu dürfen, daß
Warwara Petrowna in diesem Augenblick nicht ungern vor der Knienden
stehen blieb, zumal sie ja wußte, daß sogleich die Gouverneurin und dann
die ganze höhere Gesellschaft an ihr vorübergehen mußte. -- »So mag sie
jetzt doch sehen, wie gleichgültig mir das ist, was sie da über meinen
Ehrgeiz in meinen Wohltätigkeitsplänen spöttelt. Was geht sie mich an!«

»Was haben Sie, meine Liebe, um was bitten Sie?« fragte Warwara Petrowna
und musterte aufmerksam die vor ihr kniende Bittstellerin.

Diese sah mit entsetzlich zaghaftem, verschämtem und fast andächtigem
Blick zu ihr auf, und plötzlich lachte sie wieder mit jenem
absonderlichen Kichern.

»Was hat sie? Wer ist sie?« Warwara Petrowna sah mit befehlendem und
fragendem Blick die Umstehenden an.

Alles schwieg.

»Sie sind wohl unglücklich? Sie brauchen eine Unterstützung?«

»Ich kam ... ich wollte ...« stammelte die Kniende mit einer Stimme, die
vor Aufregung versagte. »Ich bin nur gekommen, um Ihnen die Hand zu
küssen« ... und wieder kicherte sie. Und mit einem schmeichelnden
Ausdruck im Gesicht, wie kleine Kinder ihn haben, wenn sie etwas
erbitten möchten, wollte sie schon Warwara Petrownas Hand ergreifen,
doch plötzlich, als hätte irgend etwas sie erschreckt, zog sie ihre
Hände bang zurück.

»Nur deshalb sind Sie gekommen?« Warwara Petrowna lächelte mitleidig,
zog schnell ihr Perlmutterportemonnaie hervor, entnahm ihm einen
Zehnrubelschein und gab ihn der Unbekannten.

Diese nahm ihn an. Warwara Petrowna war sichtlich sehr interessiert und
hielt die Unbekannte offenbar nicht für eine gewöhnliche Bittstellerin.

»Sieh, volle zehn Rubel hat sie gegeben!« flüsterte jemand in der
Volksmenge.

»Ihre Hand, bitte,« stammelte wieder die Kniende, die mit den Fingern
der linken Hand den Schein nur an einem Eckchen krampfhaft festhielt,
während der Windzug ihn bewegte.

Warwara Petrowna runzelte aus einem unbekannten Grunde ein wenig die
Stirn, reichte jedoch mit ernster, strenger Miene ihre Hand hin: die
Unglückliche küßte sie andächtig. Ihr dankbarer Blick leuchtete jetzt
geradezu wie in Seligkeit auf.

Und gerade in diesem Augenblick kam die Gouverneurin, strömte die ganze
Schar unserer Damen und höheren Würdenträger dem Ausgang zu. Die
Gouverneurin mußte vor dem Gedränge am Portal stehen bleiben und ein
wenig warten, und die anderen folgten ihrem Beispiel.

»Sie zittern ja, Sie haben wohl kalt?« fragte plötzlich Warwara
Petrowna, warf sofort ihren Mantel ab, den der Diener auffing, und zog
von ihren Schultern einen schwarzen (keineswegs billigen) Schal, den sie
eigenhändig um den entblößten Hals der immer noch vor ihr Knienden
schlang.

»Aber so stehen Sie doch auf, stehen Sie auf, ich bitte Sie!«

Diese erhob sich.

»Wo wohnen Sie? Weiß denn hier wirklich niemand, wo sie wohnt?« wandte
sich Warwara Petrowna wieder ungeduldig an die Umstehenden.

»Ich glaube, das ist die Lebädkin,« meinte schließlich jemand -- es war
das unser ehrenwerter Kaufmann Andrejeff: ein Mann mit langem Bart,
einer in Silber gefaßten Brille und in russischer Tracht. Seinen runden
Filzhut hielt er jetzt in der Hand. »Die wohnen bei Filippoff in der
Bogojawlenskstraße,« fügte er hinzu.

»Lebädkin? Bei Filippoff? Ich habe den Namen gehört ... Ich danke Ihnen,
Nikon Semjonytsch, aber wer ist dieser Lebädkin?«

»Nennt sich >Hauptmann< ... ein Mensch, der sozusagen ... keinen Halt
hat. Die hier ist wohl seine Schwester. Sie muß aber, denke ich, seiner
Aufsicht entlaufen sein,« bemerkte er leiser und blickte dabei Warwara
Petrowna bedeutsam an.

»Ich verstehe schon, danke, Nikon Semjonytsch. Meine Liebe, Sie sind
Fräulein Lebädkin?«

»Nein, ich heiße nicht Lebädkin.«

»Aber vielleicht heißt Ihr Bruder Lebädkin?«

»Mein Bruder heißt Lebädkin.«

»Also, hören Sie, meine Liebe, ich werde Sie jetzt zu mir bringen und
von mir aus wird man Sie dann zu Ihnen nach Hause fahren. Wollen Sie mit
mir kommen?«

»Ach ja, ach ja, ich will, ich will!« und Fräulein Lebädkin klatschte in
die Hände vor Vergnügen.

»Tante, Tante! Nehmen Sie auch mich mit!« ertönte plötzlich Lisaweta
Nicolajewnas Stimme.

Lisa war an diesem Sonntage mit der Gouverneurin, ihrer Verwandten, zum
Gottesdienst erschienen, während Praskowja Iwanowna auf den Rat des
Arztes hin eine Spazierfahrt unternommen und Mawrikij Nicolajewitsch
gebeten hatte, sie zu begleiten. Lisa, die mit der Gouverneurin die
Kirche verlassen wollte, ließ nun plötzlich ihre Verwandte einfach
stehen und drängte sich ungestüm zu Warwara Petrowna.

»Liebling, du weißt doch, daß ich dich immer gern bei mir sehe, aber was
wird deine Mutter dazu sagen?« begann Warwara Petrowna würdevoll, doch
plötzlich gewahrte sie Lisas ungewöhnliche Aufregung und wurde unsicher.

»Tante, Tante, ich muß jetzt unbedingt mit Ihnen fahren!« flehte Lisa
und küßte Warwara Petrowna ungestüm.

»_Mais qu'avez-vous donc, Lise?_«{[87]} fragte die Gouverneurin mit
ausdrucksvoller Verwunderung.

»Ach, verzeihen Sie, Liebste, _chère cousine_!{[88]} Ich fahre zu
Tante!« Lisa hatte sich schon im Fluge zu ihrer unangenehm berührten
_chère cousine_ herumgewandt und küßte sie schnell zweimal. »Bitte,
sagen Sie _maman_, daß sie gleich zu Tante kommen soll, um mich
abzuholen. _Maman_ wollte heute unbedingt zu Tante fahren, sie hat es
gestern selbst gesagt, ich vergaß nur, Ihnen das vorhin schon zu sagen!«
beteuerte Lisa, zitternd vor Aufregung. »Verzeihen Sie mir, _Julie_,
seien Sie mir nicht böse ... _chère cousine_! ... Tante, ich bin
bereit!«

»Tante,« flüsterte sie dieser zu, »wenn Sie mich jetzt nicht mitnehmen,
laufe ich zu Fuß Ihrer Equipage nach!«

Zum Glück hörte das niemand. Warwara Petrowna trat vor Schreck sogar
einen Schritt zurück und sah entsetzt das anscheinend wahnsinnige
Mädchen an. Dieser Blick entschied: sie beschloß, Lisa auf jeden Fall
mitzunehmen.

»Dem muß ein Ende gemacht werden!« entfuhr es ihr unwillkürlich. »Ich
nehme dich mit Vergnügen mit, Lisa,« fügte sie laut hinzu, »aber
natürlich nur, wenn Julija Michailowna damit einverstanden ist,« wandte
sich Warwara Petrowna mit offenem Blick und freundlicher Würde
unmittelbar an die Gouverneurin.

»Oh, gewiß! Ich werde sie doch nicht um dieses Vergnügen bringen
wollen,« zwitscherte mit erstaunlicher Liebenswürdigkeit die
Gouverneurin Julija Michailowna, »zumal ich ja schon weiß, was für ein
phantastisches, eigenwilliges Köpfchen auf diesem Hälschen sitzt!« --
und sie lächelte geradezu bezaubernd.

»Ich danke Ihnen aufrichtig,« dankte Warwara Petrowna mit sehr höflichem
Gruß, aber wie immer noch voll Würde.

»Und es ist mir um so angenehmer, diesen Wunsch Lisas zu erfüllen,« fuhr
Julija Michailowna in ihrer plappernden Redeweise fort und errötete
sogar vor angenehmer Erregung, »als Lisa jetzt nicht nur das Vergnügen
haben wird, zu Ihnen zu fahren, sondern mit diesem Vergnügen noch einer
so schönen Regung nachgeben kann, wie es das Mitgefühl mit dieser ...«
(sie blickte bezeichnend auf die »Unglückliche«) »... wie es die
Barmherzigkeit ist ... und ... und das noch gewissermaßen an der
Schwelle der Kirche ...«

»Eine solche Auffassung macht Ihnen unbedingt Ehre,« äußerte Warwara
Petrowna in bewundernder Weise ihren Beifall.

Und Julija Michailowna streckte sofort mit liebenswürdigem Eifer die
Hand aus und Warwara Petrowna drückte sie mit aufrichtiger
Bereitwilligkeit. Der allgemeine Eindruck war vorzüglich. Die Gesichter
der Anwesenden erstrahlten vor Vergnügen und viele lächelten süß und
wohlgefällig.

Kurz, die ganze Stadt sah plötzlich ein, daß nicht die Gouverneurin aus
angeblicher Mißachtung Warwara Petrowna bisher noch nicht ihren Besuch
gemacht hatte, sondern daß, im Gegenteil, Warwara Petrowna es war, die
zu Julija Michailowna »Distance wahrte,« während diese, wie man jetzt
meinte, wohl schon zu Fuß zu Warwara Petrowna geeilt wäre, wenn sie nur
gewußt hätte, ob sie überhaupt empfangen werden würde. Und so stieg denn
Warwara Petrownas Ansehen plötzlich wieder aufs höchste.

»Steigen Sie ein, meine Liebe,« sagte Warwara Petrowna zu der Lebädkin
und wies auf die vorgefahrene Equipage.

Und die Unglückliche eilte fröhlich zum Wagenschlag, wo der Diener schon
bereitstand und sie hineinhob.

»Wie! Sie hinken!« rief plötzlich Warwara Petrowna entsetzt und
erbleichte. (Alle haben es damals bemerkt, jedoch nicht verstanden,
warum.) ...

Die Equipage rollte davon. Warwara Petrownas Stadthaus lag ganz in der
Nähe der Kirche. Lisa erzählte mir später, die Lebädkin habe während der
ganzen drei Minuten der Fahrt hysterisch gelacht, Warwara Petrowna aber
habe dagesessen »wie in einem hypnotischen Schlaf« -- das waren Lisas
Worte.




                            Fünftes Kapitel.
                       Die »allwissende Schlange«


                                   I.

Warwara Petrowna klingelte sofort nach einem Diener und warf sich dann
in der Nähe des Fensters erschöpft in einen Sessel.

»Setzen Sie sich dorthin, meine Liebe,« wies sie Marja Timofejewna an
dem großen runden Tisch, der in der Mitte des Salons stand, einen Platz
an. Darauf wandte sie sich zu uns: »Stepan Trophimowitsch, wer ist das?
Sehen Sie sie an, wer ... was ist sie?«

»Ich ... ich ...« stammelte Stepan Trophimowitsch.

In diesem Augenblick trat der Diener ein.

»So schnell wie möglich ein Tasse Kaffee! Und die Equipage soll warten!«

»_Mais chère et excellente amie ... dans quelle inquiétude!_{[89]} ...«
rief Stepan Trophimowitsch unsicher aus.

»Ach, französisch, französisch!« Marja Timofejewna klatschte in die
Hände vor Vergnügen. »Gleich merkt man, daß man in vornehmer
Gesellschaft ist!« Und sie schickte sich mit Entzücken an, dem
französischen Gespräche zuzuhören.

Warwara Petrownas Augen ruhten auf ihr mit Befremden, ja, mit Entsetzen.

Wir schwiegen alle und warteten ungewiß auf irgendeine Lösung oder
Erklärung. Schatoff erhob kein einziges Mal seinen gesenkten Kopf und
Stepan Trophimowitsch schaute so erschrocken drein, als trüge er die
Schuld an allem. Ich selbst blickte auf Lisa, die fast neben Schatoff
saß. Lisa wiederum sah gespannt bald auf Warwara Petrowna, bald auf die
Lahme: um ihre Lippen zuckte ein Lächeln, kein gutes Lächeln, -- und
Warwara Petrowna bemerkte es wohl. Währenddessen ließ Marja Timofejewna
es sich gut gefallen: sie betrachtete entzückt und ohne jede
Befangenheit die Möbel, die Teppiche, die Bilder an den Wänden, die alte
gemalte Decke, die große Bronzestatue in der Ecke, die Porzellanlampe,
die Albums und die Nippsachen auf dem Tisch.

»Ach, auch du bist hier, Schatuschka!« rief sie plötzlich, lustig
lachend, aus. »Denk nur, ich seh' dich schon lange und sag' mir: das
kann er doch nicht sein! Wie soll der wohl hierher kommen?«

»Sie kennen diese Dame?« fragte Warwara Petrowna sofort, sich zu
Schatoff wendend.

»Ja,« sagte Schatoff leise und brummig wie immer -- rückte dabei auf
seinem Stuhle einmal hin und her, blieb aber sitzen.

»Was wissen Sie denn von ihr? Etwas schneller, wenn ich bitten darf!«

»Ja, was denn ...« er stockte und lächelte unnötigerweise. »Sie sehen
doch selbst ...«

»Was sehe ich? Aber so reden Sie doch!«

»Sie wohnt in demselben Hause, in dem ich wohne ... mit ihrem Bruder ...
einem Offizier.«

»Nun, und?«

Schatoff stockte wieder. »Wozu davon sprechen,« knurrte er schließlich
und verstummte endgültig -- und wurde sogar rot.

»Natürlich, von Ihnen kann man ja auch nicht mehr erwarten!« Warwara
Petrowna wandte sich unwillig von ihm ab. Sie begriff, daß hier alle
etwas Bestimmtes wußten und nur deshalb nicht auf ihre Fragen
antworteten, weil sie es ihr verheimlichen wollten.

Der Diener trat wieder ein, mit der bestellten Tasse Kaffee auf
silbernem Teebrett, und präsentierte sie auf Warwara Petrownas Wink
Marja Timofejewna.

»Meine Liebe, Sie werden kalt gehabt haben! Trinken Sie etwas Heißes,
das wird Sie erwärmen.«

»_Merci._« Marja Timofejewna nahm die Tasse -- platzte aber plötzlich
laut darüber aus, daß sie dem Diener »_merci_« gesagt hatte. Da sie
jedoch gleichzeitig einen wütenden Blick Warwara Petrownas auffing,
erschrak sie und stellte schnell die Tasse auf den Tisch.

»Tante,« fragte sie darauf mit einem leichtsinnigen Ausdruck von
Koketterie, »Tante, sind Sie mir vielleicht böse?«

»Wa--as?« Warwara Petrowna richtete sich kerzengrade in ihrem Sessel
auf. »Was für eine Tante --? Wie meinten Sie das?«

Marja Timofejewna hatte offenbar einen solchen Zorn nicht erwartet: ein
Zittern erschütterte sie förmlich und sie drückte sich angstvoll an die
Stuhllehne. »Ich ... ich dachte ..., daß man so -- muß,« flüsterte sie,
den Blick starr auf Warwara Petrowna gerichtet. »Lisa hat Sie auch so
genannt.«

»Was für eine Lisa?«

»Da, dort, dieses Fräulein!« sagte Marja Timofejewna und wies mit dem
Zeigefinger auf Lisaweta Nicolajewna.

»So ist die für Sie schon zur Lisa geworden?«

»Sie haben sie doch vorhin selbst so genannt.« Marja Timofejewna faßte
Mut. »Und im Traume habe ich genau solch eine Schönheit gesehen,« und
sie lachte gleichsam unwillkürlich.

Warwara Petrowna dachte einen Augenblick nach und wurde ersichtlich
ruhiger: ja, sie lächelte sogar über Marja Timofejewnas letzte
Bemerkung. Als diese aber das Lächeln bemerkte, stand sie auf und trat
mit schüchternem Ausdruck hinkend auf sie zu.

»Bitte, nehmen Sie, ich vergaß ganz, das Tuch Ihnen zurückzugeben, seien
Sie mir nicht böse --« und sie nahm den Schal, den ihr Warwara Petrowna
in der Kirche umgelegt hatte, von den Schultern.

»Nehmen Sie ihn sofort wieder um und behalten Sie ihn ganz. Setzen Sie
sich! Trinken Sie Ihren Kaffee, und fürchten Sie sich bitte nicht vor
mir, meine Liebe! Ich fange schon an, Sie zu verstehen.«

»_Chère amie_ ...« erlaubte sich Stepan Trophimowitsch wieder anzufangen
...

»Ach, Stepan Trophimowitsch, hier verliert man auch ohne Sie schon den
Verstand! Verschonen Sie mich wenigstens ... Ziehen Sie bitte an der
Klingel fürs Mädchenzimmer, dort!«

Neues Schweigen entstand. Warwara Petrownas Blick glitt mißtrauisch über
die Gesichter der Anwesenden. Da erschien Agascha, ihre bevorzugte
Kammerzofe.

»Mein kariertes Tuch. Das ausländische. Was macht Darja Pawlowna?«

»Sie fühlen sich nicht ganz wohl.«

»Geh', und sag' ihr, ich lasse sie herbitten. Sage ihr, ich ließe sie
sehr darum bitten. Auch wenn sie krank ist.«

In diesem Augenblick ertönte aus dem Vorzimmer Geräusch von Schritten
und Stimmen und plötzlich erschien in der Tür rot und atemlos Praskowja
Iwanowna, von Mawrikij Nicolajewitsch fürsorglich gestützt.

»Ach Gott, endlich da! Lisa, du Wahnsinnige! Was tust du deiner Mutter
an!« rief sie mit ihrer kreischenden Stimme, in die sie nach Art aller
reizbaren Menschen ihren ganzen Ärger legte, schon von der Tür aus ins
Zimmer.

»Warwara Petrowna, meine Liebe, ich bin nur deshalb zu Ihnen gekommen,
um meine Tochter abzuholen!«

Warwara Petrowna sah sie unmutig an, erhob sich aber, um sie zu
begrüßen, und sagte mit kaum verhehltem Verdruß: »Guten Tag, Praskowja
Iwanowna. Setze dich, bitte. Ich wußte ja, daß du kommen würdest.«


                                  II.

Für Praskowja Iwanowna konnte in einem solchen Empfang nichts
Unerwartetes liegen. Warwara Petrowna hatte sie von Kindheit an unter
dem Anschein der Freundschaft von oben herab, ja, in der Pensionszeit
sogar mit Verachtung behandelt. In den letzten Tagen hatte sich ihr
Verhältnis jedoch noch in einer ganz neuen und bedenklichen Weise
zugespitzt. Die Gründe des drohenden Bruches waren Warwara Petrowna noch
völlig unklar und daher um so beleidigender für sie. Vor allem mußte es
sie kränken, daß Praskowja Iwanowna ihr gegenüber mit einem Male einen
so unglaublich hochmütigen Ton anschlug. Hinzu kamen die sonderbaren
Gerüchte, die ihr zu Ohren gedrungen waren, und die sie nun, eben
infolge ihrer Unklarheit und Unbestimmtheit, so aufregten. Warwara
Petrownas ganzes Wesen war gerade, offen und stolz, nichts haßte sie
daher mehr, als versteckte Anschuldigungen. Jeglichem Ränkespiel hätte
sie stets einen ehrlichen Krieg vorgezogen. Doch wie dem auch war,
jedenfalls hatten sich die beiden Damen jetzt schon seit fünf Tagen
nicht mehr gesehen. Warwara Petrowna war die letzte gewesen, die der
anderen einen Besuch gemacht hatte -- einen Besuch, von dem sie gekränkt
und geärgert zurückgekehrt war. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn
ich sage, daß Praskowja Iwanowna mit der naiven Überzeugung eintrat,
Warwara Petrowna müsse und werde aus irgendeinem Grunde vor ihr Angst
bekommen. Andererseits richtete sich in Warwara Petrowna sofort ihr
ganzer Stolz auf, als sie an dem Gesichte Praskowja Iwanownas wahrnahm,
daß diese sie als irgendwie unterlegen behandeln wollte. Praskowja
Iwanowna wiederum war, wie so viele unbedeutende Menschen, die sich
sonst im allgemeinen ruhig tyrannisieren lassen, eines jähen und frechen
Angriffes fähig, mit dem sie dann plump bei irgendeiner Gelegenheit
herausplatzte. Zudem war sie noch krank und daher doppelt reizbar.

Daß noch andere zugegen waren, konnte in diesem Falle den Ausbruch eines
Streites zwischen den beiden Jugendfreundinnen nicht verhindern: denn
Stepan Trophimowitsch, Schatoff und ich galten einfach als Hausfreunde,
auf deren Gegenwart man weiter nicht Rücksicht zu nehmen brauchte.
Stepan Trophimowitsch hatte übrigens seit dem Eintritt seiner _chère
amie_ noch immer gestanden: jetzt, als auch noch Praskowja Iwanowna auf
der Türschwelle kreischend erschien, sank er ganz erschöpft in einen
Sessel und warf mir nur noch einen verzweifelten Blick zu. Schatoff
dagegen drehte sich brüsk und brummend auf seinem Stuhle um: und es
schien beinahe, als wolle er aufstehen und fortgehen. Lisa hatte sich
zuerst halb erhoben, aber sich gleich wieder gesetzt; sie schenkte der
Gegenwart ihrer Mutter überhaupt keine Beachtung, doch tat sie das nicht
aus »Widerspenstigkeit« oder »Trotz«, sondern weil sie augenscheinlich
ganz unter der Macht ihrer eigenen Gedanken stand -- sie starrte
zerstreut in die Luft und hatte sogar für Marja Timofejewna nicht mehr
die frühere Aufmerksamkeit übrig.


                                  III.

»Ach, hierher!« Praskowja Iwanowna zeigte auf den Lehnstuhl am Tisch,
und ließ sich mit Mawrikij Nicolajewitschs Hilfe schwer auf ihn nieder.
»Würde mich sonst nicht bei Ihnen hinsetzen, meine Liebe, wenn es nicht
die Füße wären --«

Warwara Petrowna erhob ein wenig den Kopf, und legte die Hand an die
rechte Schläfe, in der sie augenscheinlich einen stechenden Schmerz
empfand -- »_le tic douloureux_«,{[90]} wie ihn Stepan Trophimowitsch
nannte.

»Warum denn nicht, Praskowja Iwanowna? Warum solltest du dich bei mir
nicht setzen? Dein Mann war mir sein Lebelang freundschaftlich zugetan.
Und mit dir habe ich noch als Kind in der Pension Puppen gespielt.«

Praskowja Iwanowna winkte nur mit der Hand ab: »Ich konnte es mir ja
schon denken, daß Sie wieder von der Pension anfangen würden! Das tun
Sie ja stets, wenn Sie Vorwürfe machen wollen.«

»Es scheint, daß du schon in schlechter Laune hergekommen bist. Wie geht
es mit deinen Füßen? Da wird dir Kaffee gebracht! Nimm bitte ein
Täßchen, trink und ärgere dich nicht.«

»Meine Liebe, Sie gehen ja mit mir um, als ob ich ein kleines Mädchen
wäre! Ich will keinen Kaffee, danke!« und sie winkte eigensinnig dem
Diener ab, der mit dem Tablett zu ihr getreten war. Für Kaffee dankten
übrigens auch die anderen, außer Mawrikij Nicolajewitsch und mir. Stepan
Trophimowitsch nahm zwar ein Täßchen, stellte es aber gleich wieder auf
den Tisch. Marja Timofejewna hätte ersichtlich allzu gern auch eines,
ihr zweites, genommen. Sie streckte schon die Hand aus, bedachte sich
aber noch im letzten Augenblick und dankte -- worauf sie sich, offenbar
sehr zufrieden mit sich selbst, wieder zurücklehnte.

Warwara Petrowna lächelte verzogen.

»Weißt du, meine Liebe, du hast dir wohl wieder einmal etwas
eingebildet. Wäre nichts Neues! Du hast ja von jeher nur von
Einbildungen gelebt. Wenn ich von der Pension anfange, so ärgerst du
dich. Aber weißt du noch, wie du ankamst? Wie du der ganzen Klasse
erzähltest, der Husarenleutnant Schablykin hätte um dich angehalten, und
wie Madame Lefebure dich sofort der Lüge zieh? Dabei hattest du ja gar
nicht gelogen. Du hattest dir die ganze Geschichte eben einfach
eingebildet. Und so war's immer und so wird's wohl auch jetzt wieder
sein. Also erzähle nur, womit du diesmal hergekommen bist, was du dir
jetzt wieder einbildest?«

»Dabei hat sie sich in der Pension in den Popen verliebt -- hahaha!«
rief Praskowja Iwanowna mit gehässigem Lachen, das bald in Husten
überging.

»Ah! das hast du also nicht vergessen?« Warwara Petrowna sah sie
durchdringend an und ihr Gesicht wurde farblos vor Ärger.

Praskowja Iwanowna wurde plötzlich ernst. Dann aber fuhr es aus ihr
heraus: »Warum ... warum haben Sie meine Tochter in Gegenwart der ganzen
Stadt in Ihren Skandal verwickelt?«

»In meinen Skandal?« Warwara Petrowna richtete sich drohend auf.

»Mama, ich möchte Sie doch sehr bitten, sich etwas zu mäßigen,« sagte
Lisaweta Nicolajewna plötzlich zu ihr.

»Wie! Was ... was sagtest du da?« Aber gleich darauf schwieg sie vor dem
aufblitzenden Blick ihrer Tochter.

»Was reden Sie von einem Skandal, Mama? Ich bin freiwillig
hierhergekommen, mit Julija Michailownas Erlaubnis, weil ich die
Geschichte dieser Unglücklichen da erfahren wollte, um ihr helfen zu
können.«

»Geschichte dieser Unglücklichen?« wiederholte Praskowja Iwanowna
langsam, mit bösem Lachen. »Was mischst du dich in solche Geschichten?
Ach, meine Liebe, wir haben jetzt genug von Ihrer Herrschsucht!« fuhr
sie darauf wieder Warwara Petrowna an. »Bisher haben _Sie_ die ganze
Stadt kritisiert, jetzt aber kommt die Reihe auch einmal an uns!«

Warwara Petrowna saß in einer Haltung da, als wolle sie sich sofort auf
Praskowja Iwanowna stürzen; dabei war aber ihr Blick kalt und
unbeweglich auf die Gegnerin geheftet.

»Sei froh, meine Liebe,« sagte sie mit eisiger Ruhe, »daß wir hier unter
uns sind. Du hast viel Überflüssiges gesagt.«

»Ich, meine Liebe, ich fürchte die öffentliche Meinung nicht so sehr,
wie gewisse andere Leute. Die Furcht haben _Sie_ vielmehr! Und daß wir
hier >unter uns< sind -- nun, um so besser für Sie, wenn wir hier nicht
unter Fremden sind!«

»Du bist wohl etwas klüger geworden? In der letzten Woche?«

»O nein, ich bin nicht klüger geworden in der letzten Woche, aber die
Wahrheit ist ans Licht gekommen in der letzten Woche.«

»Was für eine Wahrheit ist ans Licht gekommen? In der letzten Woche? Was
soll das heißen? Was willst du damit sagen?«

»Da, da ... da sitzt sie ja, die ganze Wahrheit!« Und Praskowja Iwanowna
wies plötzlich auf Marja Timofejewna mit jener verzweifelten
Entschlossenheit, die nicht mehr an die Folgen denkt, sondern nur im
Augenblick treffen will.

Marja Timofejewna, die inzwischen mit einer fröhlichen Neugierde die
alte Dame betrachtet hatte, lachte lustig auf, als sie jetzt deren
Finger auf sich gerichtet sah, und bewegte sich vergnügt auf ihrem
Sessel.

»Herr Jesus Christus, sind denn heute alle von Sinnen!« murmelte Warwara
Petrowna und lehnte sich zurück.

Und plötzlich wurde sie so blaß, daß wir alle erschrocken auf sie
zutraten. Stepan Trophimowitsch war als erster bei ihr. Ich folgte ihm.
Auch Lisa stand auf. Am erschrockensten war aber Praskowja Iwanowna
selbst: sie stieß einen kurzen Schrei aus, erhob sich, so weit sie es
konnte, und rief bittend mit weinerlicher Stimme:

»Meine Liebe, verzeihen Sie, das war ja nur so gesagt! -- Aber so geben
Sie ihr doch wenigstens Wasser!«

»Bitte, rege dich nicht auf. Und Sie, meine Herren, bitte, setzen Sie
sich wieder.« Warwara Petrowna suchte sich zu fassen.

»Meine Liebe,« begann Praskowja Iwanowna von neuem, nachdem sie sich ein
bißchen beruhigt hatte, »es war ja töricht, es war ja häßlich von mir
... Aber man hat mich mit all diesen anonymen Briefen, die mir weiß der
Himmel was für Leute zuschicken, dermaßen gereizt ... wenn sie sie doch
wenigstens _Ihnen_ zuschicken würden, da sie doch von _Ihnen_ handeln
... aber ich, meine Liebe, ich habe eine Tochter!«

Warwara Petrowna, die inzwischen wieder vollständig Herrin ihrer selbst
geworden war, hatte ihr erstaunt zugehört und sah sie noch stumm mit
großen Augen an, als sich eine Seitentür öffnete und Darja Pawlowna
eintrat. Sie blieb stehen und sah sich um -- wahrscheinlich ohne
zunächst Marja Timofejewna zu erblicken, von deren Anwesenheit man ihr
nichts gesagt hatte. Unsere Aufregung schien sie zu erschrecken. Stepan
Trophimowitsch hatte sie zuerst bemerkt, er machte eine schnelle
Bewegung, errötete und sagte plötzlich laut: »Darja Pawlowna!« -- so daß
aller Augen sich der Eintretenden zuwandten.

»Das also ist eure Darja Pawlowna!« rief Marja Timofejewna. »Ach,
Schatuschka, deine Schwester gleicht dir aber gar nicht! Wie kann nur
meiner solch ein schönes Wesen die Leibeigene Daschka nennen!«

Darja Pawlowna war schon an Marja Timofejewna vorübergegangen und auf
Warwara Petrowna zugeschritten, als der Ausruf sie traf. Sie kehrte sich
jäh um und blieb wie versteinert stehen, mit langem, entsetztem Blick
auf die Lahme starrend.

»Setze dich, Dascha,« sagte Warwara Petrowna mit unheimlicher Ruhe.
»Auch sitzend wirst du sie sehen können. Kennst du sie?«

»Ich habe sie nie gesehen,« antwortete Dascha leise, nach kurzem
Schweigen. Und dann fügte sie schneller hinzu: »Ich glaube, es ist die
kranke Schwester eines Herrn Lebädkin.«

»Und auch ich sehe Sie zum ersten Male, aber ich wollte Sie schon lange
kennen lernen, denn in jeder Ihrer Bewegungen sehe ich die gute
Erziehung!« rief Marja Timofejewna entzückt. »Und was da mein Diener
schimpft, -- oh, wie wäre es wohl möglich, daß _Sie_ Geld entwendet
hätten!? Sie, die Sie so wohlerzogen und lieb sind? Denn Sie sind lieb
und lieb und lieb! Das sage ich Ihnen von mir aus!« schloß sie ganz
begeistert und mit einer heftigen Handbewegung.

»Verstehst du etwas davon?« fragte Warwara Petrowna Darja Pawlowna mit
stolzer Würde.

»Ich verstehe ...«

»Das von dem Gelde hast du auch gehört?«

»Damit meint sie gewiß jenes Geld, das ich, auf Nicolai
Wszewolodowitschs Bitte in der Schweiz einem gewissen Herrn Lebädkin,
ihrem Bruder jedenfalls, zu übergeben übernahm.«

Ein Schweigen entstand.

»Hat Nicolai Wszewolodowitsch dich selbst darum gebeten?«

»Ja, ihm lag sehr viel daran, dieses Geld zu übersenden -- es waren
dreihundert Rubel. Da er aber Herrn Lebädkins Adresse nicht kannte und
nur wußte, daß er hierher ziehen werde, so bat er mich, ich möge ihm das
Geld bei seiner Ankunft zustellen.«

»Und was für ein Geld ist da ... abhanden gekommen? Sie sagte soeben --«

»Das weiß ich nicht. Ich habe auch schon gehört, daß Herr Lebädkin von
mir gesagt haben soll, ich hätte ihm nicht das ganze Geld übersandt,
aber das verstehe ich nicht. Es waren genau dreihundert Rubel und genau
dreihundert Rubel habe ich eingezahlt.«

Darja Pawlowna hatte sich wieder beruhigt. Es war überhaupt schwer,
dieses Mädchen irgendwie aus der Fassung zu bringen -- mochte sie
innerlich noch so stark bewegt sein. Jetzt antwortete sie auf jede Frage
leise, aber ruhig und bestimmt und ohne die geringste Verwirrung, die
doch das Bewußtsein von einer, wenn auch noch so kleinen Schuld immer
hervorruft.

Warwara Petrowna ließ während der ganzen Zeit, in der Darja Pawlowna
sprach, auch nicht ein einziges Mal den Blick von ihr.

»Wenn Nicolai Wszewolodowitsch sich in dieser Angelegenheit nicht einmal
an mich, seine Mutter, gewandt hat,« sagte sie ernst und offenbar sich
an alle Anwesenden wendend, obwohl sie dabei Darja Pawlowna allein ansah
-- »wenn er vielmehr dich um diese Gefälligkeit gebeten hat, so wird er
auch bestimmt seine Gründe dazu gehabt haben. Ich halte mich also gar
nicht für berechtigt, weiter nach ihnen zu forschen. Und schon, daß du
dabei beteiligt bist, das beruhigt mich vollkommen. Das sollst du vor
allem einmal wissen, Dascha. Aber sieh, meine Liebe, du hast vielleicht
doch eine Unvorsichtigkeit begangen. Mit reinem Gewissen. Einfach aus
Lebensunkenntnis. Ich meine: allein schon, daß du mit diesem Menschen in
Berührung gekommen bist. Und was er jetzt über dich herumerzählt,
bestätigt es ja. Doch ich bin nicht umsonst deine Beschützerin. Ich
werde dich schon zu verteidigen wissen. -- Aber jetzt muß man alledem
ein Ende machen ...«

»Am besten ist,« fiel Marja Timofejewna ihr ins Wort, »Sie schicken ihn,
wenn er selbst zu Ihnen kommt, einfach in die Dienerstube, dort kann er
dann Karten spielen und wir können hier sitzen und Kaffee trinken. Ein
Täßchen kann man ja auch ihm schicken, aber sonst verachte ich ihn
tief!« und sie nickte ausdrucksvoll mit dem Kopf.

»Dem muß man ein Ende machen,« wiederholte Warwara Petrowna, nachdem sie
ihr aufmerksam zugehört hatte. »Stepan Trophimowitsch, bitte klingeln
Sie.«

Stepan Trophimowitsch klingelte, trat aber plötzlich erregt vor.

»Wenn ... wenn ich ... wenn ich auch die widerlichste Novelle, oder
besser -- schändlichste Verleumdung gehört habe ... mit dem allergrößten
Unwillen ... _enfin, c'est un homme perdu et quelque chose comme un
forçat évadé_.«{[91]}

Er brach ab. Warwara Petrowna maß ihn mit zugekniffenen Augen vom Kopf
bis zu den Füßen. Doch schon gleich darauf trat ihr würdevoller Diener,
Alexei Jegorowitsch, ein.

»Die Equipage!« befahl Warwara Petrowna. »Du wirst Fräulein Lebädkina
nach Hause begleiten.«

»Herr Lebädkin wartet unten bereits seit einiger Zeit auf sie und hat
sehr gebeten, ihn anzumelden.«

»Das ist unmöglich, Warwara Petrowna,« sagte, plötzlich vortretend,
Mawrikij Nicolajewitsch, der bis dahin unerschütterlich geschwiegen
hatte. »Sie erlauben, aber das ist kein Mensch, den man in der
Gesellschaft empfangen kann. Das ... das ist ... mit einem Wort, das ist
unmöglich, Warwara Petrowna.«

»Warten, er soll warten!« wandte sich diese an den Diener, der sofort
verschwand.

»_C'est un homme malhonnête et je crois même que c'est un forçat évadé
ou quelque chose dans ce genre_,«{[92]} sagte wieder Stepan
Trophimowitsch erregt.

»Lisa, es ist Zeit, daß wir fahren!« rief jetzt auch Praskowja Iwanowna
und erhob sich von ihrem Lehnstuhl. Sie schien bereits zu bereuen, daß
sie vorhin im ersten Schreck alles zurückgenommen hatte. Schon als Darja
Pawlowna sprach, hatte sie wieder mit hochmütiger Miene zugehört. Doch
am meisten wunderte ich mich über Lisaweta Nicolajewna, die, als Darja
Pawlowna eintrat, das junge Mädchen schon mit gar zu offenem Haß und
unverhohlener Verachtung angesehen hatte.

»Bitte, gedulde dich noch einen Augenblick!« hielt Warwara Petrowna sie
auf. »Sei so gut und setze dich wieder. Ich habe die Absicht, alles zu
sagen, und du hast kranke Füße. So, danke. Ich habe dir vorhin, als mir
die Geduld riß, ein paar unangenehme Worte gesagt. Sei so freundlich und
verzeih sie mir. Es war überflüssig und töricht von mir. Ich sehe das
selbst ein. Und da ich immer Gerechtigkeit liebe, so sage ich's.
Natürlich hast auch du allerlei Überflüssiges gesagt, wie zum Beispiel
das von den anonymen Briefen. Anonyme Briefe sind schon deshalb
verächtlich, weil der Schreiber ein Feigling ist. Faßt du es anders auf,
so beneide ich dich nicht. Jedenfalls würde ich mit so etwas in der
Tasche nicht zu meiner Freundin gehen und mich damit breit machen.
Übrigens, da du nun einmal davon angefangen hast, so laß dir sagen, daß
auch ich einen Brief bekommen habe. Vor sechs Tagen. Gleichfalls ohne
Unterschrift. Darin teilt mir der Absender mit, daß mein Sohn den
Verstand verloren habe. Ferner, daß ich mich vor einem hinkenden
Frauenzimmer hüten soll, >das in Ihrem Leben eine große Rolle spielen
wird<, hieß es wörtlich. Ich dachte nach, und da ich wußte, daß Nicolai
Wszewolodowitsch unzählige Feinde hat, schickte ich sofort nach einem
Menschen, dem rachsüchtigsten und verächtlichsten von allen seinen
Feinden. Im Gespräch mit ihm erriet ich denn auch sofort, woher der
Brief stammte. Wenn man auch dich, Praskowja Iwanowna, mit solchen
Briefen behelligt hat, _meinetwegen_ behelligt hat, so bin ich die
erste, der es leid tut. Verzeih, daß ich die unschuldige Ursache gewesen
bin. -- Übrigens habe ich mich entschlossen, diesen verdächtigen
Menschen da unten sofort _hereinzulassen_. Mawrikij Nicolajewitsch hat
wohl kein ganz richtiges Wort gebraucht, als er sagte, daß man ihn nicht
_empfangen_ könne. Besonders Lisa wird hier nichts zu tun haben. Komm
her, Lisa, mein Liebling. Laß mich dich noch einmal küssen.«

Lisa stand auf und ging stumm zu Warwara Petrowna. Diese küßte sie,
faßte ihre Hände, beugte sich etwas zurück, um sie besser sehen zu
können, und blickte sie liebevoll an. Darauf bekreuzte sie sie und küßte
sie nochmals. »Nun, leb wohl, Lisa,« (in ihrer Stimme zitterten fast
Tränen). »Glaub mir, daß ich nie aufhören werde, dich zu lieben. Was dir
das Schicksal auch bringen mag! Gott sei mit dir, mein Kind, ich habe
immer Seinen Willen gesegnet ...« Wie es schien, wollte sie noch etwas
hinzufügen, aber sie nahm sich zusammen und schwieg.

Lisa ging wie in tiefen Gedanken zu ihrem Platz zurück, doch plötzlich
blieb sie vor ihrer Mutter stehen.

»Mama, ich werde jetzt noch nicht nach Hause fahren, ich möchte noch bei
Tante bleiben,« sagte sie mit leiser Stimme, doch in diesen leisen
Worten lag trotzdem eine unerschütterliche Entschlossenheit.

»Großer Gott, was hast du nur wieder?« Und ganz erschöpft ließ ihre
Mutter die schon erhobenen Hände sinken.

Doch Lisa antwortete ihr nicht; sie setzte sich still wieder auf ihren
Platz in der Ecke, um von neuem ins Leere zu starren.

In Warwara Petrownas Augen leuchtete etwas Sieghaftes und Stolzes auf.

»Mawrikij Nicolajewitsch, ich habe eine große Bitte an Sie. Würden Sie
so gütig sein und nach unten gehn, um dort nach jenem Menschen zu sehen,
und, wenn es irgend geht, ihn hereinzulassen?«

Mawrikij Nicolajewitsch verbeugte sich und verließ das Zimmer. Eine
Minute später trat er mit Lebädkin wieder ein.


                                  IV.

Ich habe schon einmal von der äußeren Erscheinung dieses Herrn
gesprochen: ein großer, krausköpfiger, stämmiger Mann von ungefähr
vierzig Jahren, mit einem roten, ein wenig gedunsenen Gesicht,
fleischigen Wangen, die bei jeder Kopfbewegung erzitterten, kleinen, vom
Blutandrang geröteten Augen, die zuweilen einen recht schlauen Ausdruck
annehmen konnten, mit einem Schnurrbart und Backenbart und der Anlage zu
einem fleischigen Doppelkinn, das schon ziemlich unangenehm aussah. Doch
am meisten überraschte an ihm, daß er jetzt in einem Frack und in
sauberer Wäsche erschien. »Es gibt Menschen, zu denen saubere Wäsche
nicht paßt, ja, für die sie sich einfach nicht schickt,« hatte Liputin
einmal auf Stepan Trophimowitschs scherzhaft gemachten Vorwurf, daß er,
Liputin, in seiner Kleidung nachlässig sei, nicht unrichtig erwidert.
Der »Hauptmann« aber hatte plötzlich auch neue schwarze Handschuhe, von
denen er den rechten in der Hand hielt, während der linke -- den er wohl
nur mit großer Mühe so weit bekommen hatte -- seine fleischige linke
Tatze nur bis zur Hälfte bedeckte, geschweige denn sich zuknöpfen ließ.
Und in dieser linken Hand hielt er einen nagelneuen, offenbar
gleichfalls zum erstenmal benutzten runden Hut. So hatte es denn doch
seine Richtigkeit mit dem »Frack der Liebe«, von dem er gestern Abend
Schatoff berichtet hatte. Alle diese Kleidungsstücke waren schon früher
auf Liputins Rat gekauft worden (wie ich später erfuhr), und jedenfalls
zu einem bestimmten geheimnisvollen Zweck. Zweifellos war er auch jetzt
nicht aus eigenem Antriebe hierhergekommen: selbst wenn er die Szene an
der Kirchentür sofort erfahren hätte, würde er doch niemals in einer
dreiviertel Stunde allein einen solchen Entschluß haben fassen und gar
ausführen können. Betrunken war er dabei nicht, befand sich aber in
jenem stumpfen, nebligen Zustande eines Menschen, der plötzlich nach
langer Betrunkenheit wieder zu sich gekommen ist. Doch ich glaube, man
hätte ihn nur zu schütteln brauchen und er wäre sofort wieder betrunken
gewesen.

Allem Anscheine nach wollte er mit Temperament ins Zimmer treten, doch
stolperte er zum Unglück sofort über eine Teppichecke an der Tür,
worüber dann Marja Timofejewna vor Lachen fast verging. Er warf der
Schwester einen wütenden Blick zu und näherte sich mit ein paar
Schritten Warwara Petrowna.

»Gnädige Frau, ich bin gekommen ...« begann er dröhnend laut, wie durch
eine Trompete.

»Seien Sie so freundlich, mein Herr, sich dort -- auf jenen Stuhl dort
zu setzen,« sagte Warwara Petrowna, die steif aufgerichtet dasaß. »Ich
werde Sie auch von dort aus hören und so kann ich Sie besser sehen.«

Der »Hauptmann« blieb stehen, sah blöde vor sich hin, kehrte dann aber
doch zurück und setzte sich auf den bezeichneten Stuhl an der Tür. Der
gänzliche Mangel an Zutrauen zu sich selbst und zu gleicher Zeit
unendliche Gereiztheit drückten sich auf seinem Gesicht aus. Er hatte
furchtbare Angst, das sah man, aber auch seine Eigenliebe schien stark
zu leiden, und so konnte man nicht sicher sein, ob er sich nicht im
gegebenen Moment plötzlich, trotz der Feigheit, zu irgend etwas, zur
größten Gemeinheit vielleicht, aufraffen würde. Augenscheinlich scheute
er jede Bewegung seines vierschrötigen Körpers. Bekanntlich ist der
größte Schmerz solcher Wesen, wenn sie irgend einmal in Gesellschaft
erscheinen, der Gedanke an ihre Hände: das ununterbrochen wache
Bewußtsein, sie nirgendwohin auf anständige Weise verschwinden lassen zu
können. Der »Hauptmann« nun saß wie betäubt da, hielt krampfhaft Hut und
Handschuh fest und konnte seinen zunächst völlig blöden Blick nicht von
Warwara Petrownas strengem Gesicht losreißen. Er hätte sich gewiß gern
umgesehen, aber er wagte es einfach nicht. Marja Timofejewna, die wohl
wieder etwas an ihm äußerst komisch fand, lachte laut auf, aber auch
jetzt rührte er sich noch nicht. So hielt ihn Warwara Petrowna
unbarmherzig in diesem Schweigen und betrachtete ihn wohl eine
geschlagene Minute lang schonungslos vom Scheitel bis zur Sohle.

»Zuerst gestatten Sie, von Ihnen selbst Ihren Namen zu erfahren,« sagte
sie endlich gemessen und vollkommen ruhig.

»Hauptmann Lebädkin,« dröhnte sofort die Antwort. »Ich bin gekommen,
gnädige Frau ...« Und schon war er wieder im Begriff, sich zu erheben.

»Erlauben Sie!« hielt ihn Warwara Petrowna auf. »Dieses
bemitleidenswerte Geschöpf, das ich in der Kirche angetroffen habe und
das mein Interesse erregt, ist Ihre Schwester?«

»Jawohl, gnädige Frau, meine Schwester, die meiner Aufsicht entschlüpft
ist, denn da sie sich in solchen Umständen befindet ...« er verstummte
plötzlich und wurde feuerrot.

»Das heißt, mißverstehen Sie das nicht, gnädige Frau,« verwickelte er
sich noch mehr, »der leibliche Bruder würde so was nicht sagen ... In
solchen Umständen, das heißt nicht etwa in _solchen_ Umständen, im Sinne
von -- in einem Sinne, der die Ehre befleckt ... ich meine, den Ruf ...«

Er brach ab.

»Mein Herr!« Warwara Petrowna hob den Kopf.

»Das heißt in _solchem_ Zustande!« schloß er plötzlich und unvermutet,
mit dem steifen Finger sich vor die Stirn tippend.

Alle schwiegen eine Zeitlang.

»Leidet sie schon lange daran?« fragte Warwara Petrowna endlich.

»Gnädige Frau, ich bin gekommen, um für die an der Kirchentür erwiesene
Großmut zu danken, so recht auf russische, auf brüderliche Art ...«

»Auf brüderliche --?«

»Das heißt, gnädige Frau, nicht auf brüderliche ... oder nur in dem
Sinne auf brüderliche Art, daß ich der Bruder meiner Schwester bin,
gnädige Frau, und, glauben Sie mir, gnädige Frau,« begann er wieder
schneller zu sprechen, mit hochrotem Kopf, »daß ich gar nicht so
ungebildet bin, wie ich auf den ersten Blick in Ihrem Salon erscheinen
mag. Wir, meine Schwester und ich, sind überhaupt nichts, im Vergleich
mit der Pracht, die wir hier sehen. Dazu haben wir noch Verleumder. Aber
auf seinen Ruf hält Lebädkin viel und ist stolz darauf, gnädige Frau,
und ... und ich ... ich bin gekommen, um mich zu bedanken ... gnädige
Frau, hier ist das Geld!«

Und er riß sein Portefeuille aus der Brusttasche und begann, zitternd
vor Ungeduld, mit bebenden Fingern die Papierscheine hervorzuzerren. Man
fühlte, daß er so schnell wie möglich irgend etwas aufklären wollte.
Andererseits fühlte er wieder, daß diese Geschichte mit dem Gelde ihn
noch dümmer erscheinen ließ, und so verlor er denn die letzte
Kaltblütigkeit. Die Finger zitterten, die Scheine wollten sich nicht
zählen lassen, und zur Erhöhung der peinlichen Situation fiel noch ein
grüner Papierschein, im Zickzack niedertaumelnd, auf den Teppich.

»Zwanzig Rubel, gnädige Frau.« Mit den Scheinen in der Hand wollte er
auf Warwara Petrowna zutreten. Als er den gefallenen Schein bemerkte,
bückte er sich schon, um ihn aufzuheben, bedachte sich aber, schämte
sich entsetzlich und winkte schließlich mit der Hand ab.

»Für Ihre Leute, gnädige Frau, für den Diener, wenn er hier aufräumt --
mag er an Lebädkin denken!«

»Aber das kann ich unmöglich zulassen!« sagte Warwara Petrowna schnell.

»In dem Falle ...« er bückte sich, hob den Schein auf, wurde dabei
purpurrot im Gesicht und trat schnell ein paar Schritte vor -- die
zwanzig Rubel in der Hand Warwara Petrowna hinhaltend.

»Was wollen Sie?!« Warwara Petrowna erschrak nun doch so, daß sie im
Schreck sogar den Sessel zurückschob.

Mawrikij Nicolajewitsch, Stepan Trophimowitsch und ich traten
unwillkürlich vor ...

»Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, meine Herrschaften, ich bin
nicht verrückt, bei Gott, ich bin nicht verrückt!« beteuerte der
Hauptmann nach allen Seiten hin.

»Nein, mein Herr, Sie scheinen doch nicht bei vollem Verstande zu sein!«

»Gnädige Frau, das ist ja alles nicht das, was Sie denken! Ich bin
selbstverständlich nur ein Nichtswürdiger ... Oh, gnädige Frau, reich
sind Ihre Prunkgemächer, aber arm sind sie bei Maria der Unbekannten,
meiner Schwester, der geborenen Lebädkin, die wir vorläufig >Maria die
Unbekannte< nennen wollen. Aber nur vorläufig, gnädige Frau, nur
_zeitweilig_, sintemal Gott selber es nicht zulassen wird, daß wir es
ewig tun müssen! Gnädige Frau, Sie haben ihr zehn Rubel gegeben, und sie
hat das Geld angenommen, aber nur, weil _Sie_ es waren, gnädige Frau!
Hören Sie es wohl, von niemandem in der ganzen Welt würde sie etwas
annehmen, diese >unbekannte Maria<, denn sonst müßte sich der
Stabsoffizier, ihr Großvater, der im Kaukasus unter den Augen Ermoloffs
fiel, noch im Grabe umdrehen! Aber von _Ihnen_ wird sie alles annehmen,
gnädige Frau, aber wenn sie mit der einen Hand zehn Rubel nimmt, so wird
sie mit der anderen zwanzig zurückgeben, als Gabe an einen der
Wohltätigkeitsvereine, deren Mitglied Sie sind, gnädige Frau. Sie haben
doch in den >Moskauer Nachrichten< angezeigt, daß sich jeder hier in dem
Buche Ihres Wohltätigkeitsvereins einschreiben kann ...«

Der »Hauptmann« stockte wieder und atmete schwer, wie nach einer
übergroßen Kraftanstrengung; auf seiner Stirn perlten buchstäblich dicke
Schweißtropfen. Die Rede über den Wohltätigkeitsverein schien er schon
vorbereitet zu haben und wahrscheinlich gleichfalls unter Liputins
Leitung. Warwara Petrowna sah ihn durchdringend an.

»Dieses Buch,« sagte sie streng, »liegt unten bei meinem Portier. Dort
können Sie sich zu jeder Zeit einschreiben, wenn Sie wollen. Jetzt aber
bitte ich Sie, Ihr Geld wieder einzustecken und nicht so in der Luft
damit herumzufuchteln ... So! Auch bitte ich Sie, sich wieder auf Ihren
alten Platz zu setzen ... So! Es tut mir leid, mein Herr, daß ich mich
im Falle Ihrer Schwester so versehen und ihr ein Almosen gegeben habe,
während sie reich ist. Nur eines verstehe ich nicht -- warum sie nur von
mir allein und sonst von niemandem etwas annehmen würde. Sie haben das
so betont, daß ich darüber gern eine nähere Erklärung hören würde.«

»Gnädige Frau, das ist ein Geheimnis, das erst im Grabe begraben sein
wird!« antwortete der »Hauptmann«.

»Was ... wollen Sie damit sagen?« fragte Warwara Petrowna mit nicht mehr
ganz so fester Stimme wie bisher.

»Gnädige Frau ... gnädige Frau ...!« er verstummte, blickte finster zu
Boden und drückte die rechte Hand aufs Herz. Warwara Petrowna wartete,
doch ohne ihn aus den Augen zu lassen.

»Gnädige Frau!« rief er plötzlich aus, »gestatten Sie mir, eine Frage an
Sie zu stellen, nur eine einzige, ganz offen, gerade heraus, auf
russische Art, also unmittelbar aus der Seele?«

»Bitte.«

»Haben Sie je gelitten im Leben, gnädige Frau?«

»Sie wollen damit wohl sagen, daß Sie durch irgend jemanden gelitten
haben oder noch leiden?«

»Gnädige Frau, ach, gnädige Frau!« rief er erregt, sprang wieder auf und
schlug sich an die Brust. »Hier in diesem Herzen hat sich so viel
aufgehäuft, so viel, sage ich Ihnen, daß Gott selbst sich wundern wird,
wenn er es beim jüngsten Gericht erfährt!«

»Hm, stark gesagt!«

»Gnädige Frau, ich ... vielleicht spreche ich -- mit zu großer
Dreistigkeit ...«

»Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde schon wissen, wann es nötig sein
wird, Sie zu unterbrechen.«

»Kann ich noch eine Frage an Sie stellen, gnädige Frau?«

»Fragen Sie.«

»Kann man vor lauter Seelengröße sterben?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe mir nie diese Frage gestellt.«

»Sie wissen es nicht! Sie haben sich nie diese Frage gestellt!« rief er
mit pathetischer Ironie. »Wenn's so ist, wenn's so ist, dann freilich --

   >Schweig stille, mein Herze!<«

und er schlug sich von neuem verzweifelt an die Brust.

Schon ging er wieder im Zimmer umher. Die erste Eigenschaft von Menschen
seiner Art pflegt die vollständige Unfähigkeit zu sein, sich irgendwie
selbst im Zaume zu halten: sie folgen im Gegenteil machtlos dem
ununterdrückbaren Bedürfnis, alles, was ihnen gerade einfällt, sofort
auch zu äußern. Gerät dann einmal ein derartiger Mensch in eine
Gesellschaft, in die er nicht hineingehört, so wird er sich zunächst
vielleicht ganz schüchtern geben, dann aber, in demselben Grade, in dem
man ihn gewähren läßt, aus sich herausgeben und am Ende zu
Unverschämtheiten, wenn nicht gar Tätlichkeiten übergehen.

Der »Hauptmann« war schon in eine bedrohliche Erregung geraten:
fuchtelnd ging er auf und ab, überhörte die Fragen, die man an ihn
stellte, und sprach so schnell, daß die Zunge bei den Zischlauten sich
gleichsam überschlug und er häufig von einem Satz zusammenhanglos auf
den andern übersprang. Ganz nüchtern war er wohl wirklich nicht. Lisa
schien er gar nicht zu beachten. Und doch war es andererseits klar, daß
gerade ihre Anwesenheit ihn maßlos aufregte.

So mußte es denn doch wohl, bedachte man die ganze unglaubliche
Situation, einen tieferen Grund haben, warum Warwara Petrowna ihren
Widerwillen unterdrückte und diesen Menschen immer noch anhörte.
Praskowja Iwanowna zitterte einfach vor Angst, doch begriff sie wohl
kaum, um was es sich eigentlich handelte. Stepan Trophimowitsch zitterte
gleichfalls, er jedoch, weil er wie gewöhnlich viel mehr zu »begreifen«
glaubte, als da überhaupt zu begreifen war. Mawrikij Nicolajewitsch
hielt sich so, als fühle er sich für unsere allgemeine Sicherheit
verantwortlich, während Lisa blaß und mit großen Augen unablässig den
wilden Hauptmann anstarrte. Schatoff saß wie immer mit gesenktem Kopf.

Aber am befremdlichsten war, daß Marja Timofejewna nicht nur zu lachen
aufgehört hatte, sondern ganz traurig geworden war: den rechten Arm auf
den Tisch gestützt, so folgte sie mit traurigem Blick den Gesten und
Deklamationen ihres Bruders. Nur Darja Pawlowna schien mir ruhig zu
sein.

»Das sind ja lauter unsinnige Allegorien,« sagte plötzlich Warwara
Petrowna geärgert. »Sie haben mir noch immer nicht auf meine Frage
geantwortet: warum? Ich will es wissen!«

»Ich habe nicht gesagt, >warumWarumwarum< ist über das ganze Weltall ergossen, schon seit
dem ersten Tage der Schöpfung, und die ganze Schöpfung selber schreit
täglich ihrem Schöpfer zu: >warumwarumwarumDie Fliegen riefen: was ist das?
   Das ist doch wirklich toll!
   Wir haben selber wenig Naß,
   Das Glas ist so wie so schon voll!
   Und schrien wie verrückt
   Zum Jupiter empor.
   Da kam der Diener Nikiphor ...<

-- weiter habe ich es eigentlich noch nicht fertig,« brach hier der
Hauptmann ab. »Nikiphor nimmt aber das Glas und gießt es aus, die ganze
Komödie, die Fliegen, die große Schabe, ohne aufs Geschrei zu achten,
was man schon längst hätte tun sollen! Doch passen Sie auf, gnädige
Frau, passen Sie auf, die Schabe klagt nicht! Und da haben Sie auch
gleich die Antwort auf Ihre Frage -- auf Ihre Frage >warum?<« rief er
triumphierend aus. »Die Schabe klagt nicht! ... Der Nikiphor ist
natürlich ganz einfach die Natur selbst,« fügte er schnell hinzu und
ging zufrieden auf und ab.

Warwara Petrowna war außer sich. »Erlauben Sie, daß nun auch ich Sie
etwas frage! Was ist das für ein Geld, das Ihnen Nicolai
Wszewolodowitsch übersandt haben soll? Ein Geld, das Sie nicht
vollzählig erhalten haben wollen? Weshalb Sie sich erdreisten, eine zu
meinem Hause gehörige Person zu verdächtigen, den Rest unterschlagen zu
haben?«

»Verleumdung!« brüllte Lebädkin mit tragisch erhobener rechter Hand.

»Nein, das ist keine Verleumdung.«

»Gnädige Frau, es gibt Umstände, die einen zwingen, eher eine
Familienschande zu tragen, als laut die Wahrheit zu verkünden! --
Lebädkin wird nichts ausplaudern, gnädige Frau!«

Er war wie geblendet: er schien entzückt zu sein und fühlte seine
Bedeutung. Jetzt wollte er bereits beleidigen, Rätsel aufgeben, seine
Macht zeigen ...

»Klingeln Sie bitte, Stepan Trophimowitsch,« bat Warwara Petrowna.

»Oh, Lebädkin ist klug, gnädige Frau!« fuhr er fort und zwinkerte ihr
mit unangenehmem Lächeln zu. »Lebädkin ist klug, aber auch er hat ein
Hindernis, auch er hat eine Vorstufe der Leidenschaften! Und diese
Vorstufe -- das ist die alte kriegerische Husarenflasche! Wenn Lebädkin
in diesem Vorraum ist, gnädige Frau, so geschieht es wohl auch, daß er
einen Brief in Versen abschickt, in pr--r--rachtvollen Versen, aber den
er dann mit allen Tränen seines Lebens zurückkaufen möchte, sintemal
durch ihn das Maß des Schönen gestört ward. Doch der Vogel ist
ausgeflogen -- kannst ihn nicht mehr am Schwänzchen einfangen! Sehen
Sie, gnädige Frau, das ist der Vorraum. Lebädkin konnte wohl ein Wort
fallen lassen, als er über das edle Mädchen sprach -- in der Form eines
edlen Unwillens, einer durch Beleidigungen aufgebrachten edlen Seele,
wessen sich jedoch, unedel genug, seine Verleumder sofort bedient haben.
Aber Lebädkin ist klug, gnädige Frau, und umsonst sitzt über ihm der
unheilbringende Wolf, ewig ihn reizend und auf den Augenblick wartend:
Lebädkin wird sich nicht vergessen und ausplaudern! Und auf dem Boden
der Flasche erweist sich jedesmal anstatt des Erwarteten -- die
Schlauheit Lebädkins! Doch genug, oh, genug, gnädige Frau! Ihre
Prunkgemächer könnten dem edelsten aller menschlichen Lebewesen gehören,
doch die Schabe klagt nicht! Begreifen Sie, oh, begreifen Sie doch
endlich, daß die Schabe nicht klagt, und ehren Sie ihren großen Geist!«

In diesem Augenblick ertönte unten am Portal die Klingel und bald darauf
erschien der alte würdige Alexei Jegorowitsch, etwas außer Atem, da er
auf das Klingelzeichen nicht sofort erschienen war.

»Nicolai Wszewolodowitsch haben geruht einzutreffen und kommen schon
hierher,« sagte er auf Warwara Petrownas fragenden Blick.

Ich erinnere mich noch heute deutlich dieses Augenblicks. Warwara
Petrowna erblaßte zuerst, dann aber richtete sie sich mit einem Ausdruck
starrer Entschlossenheit in ihrem Sessel auf. Wir waren alle erstaunt,
ja beinahe erschreckt, -- nicht nur durch diese plötzliche Ankunft
Nicolai Wszewolodowitschs, der erst einen Monat später erwartet wurde,
sondern mehr noch durch das geradezu unheimliche Zusammentreffen dieser
Zufälle. Selbst der »Hauptmann« blieb wie ein Pfosten mitten im Zimmer
stehen und starrte mit offenem Munde und dummem Gesicht auf die Tür.

Doch da hörten wir auch schon vom Nebenzimmer her, einem langen großen
Saal, schnelle, kleine Schritte sich nähern, Schritte, die auffallend
rasch und kurz klangen. Und auf der Schwelle erschien -- nicht Nicolai
Wszewolodowitsch, sondern ein vollkommen unbekannter junger Mann.


                                   V.

Es war ein Mensch von etwa siebenundzwanzig Jahren, ein wenig über
mittelgroß, mit dünnem, blondem, ziemlich langem Haar und einem kaum
sich abhebenden unscheinbaren Schnurrbart und Bärtchen. Er war sauber
und sogar modern gekleidet, aber nicht elegant. Auf den ersten Blick
schien er ungelenk und griesgrämig zu sein, obgleich er in Wirklichkeit
weder das eine noch das andere, sondern im Gegenteil, äußerst gewandt
und unterhaltend war. Einem kurzen, oberflächlichen Eindruck nach hätte
man ihn für einen Sonderling halten können, und doch sollte sich hernach
sein Benehmen als gut und sein Gespräch als vollkommen sachlich
herausstellen.

Niemand hätte im Grunde sagen können, daß er häßlich sei -- und doch
gefällt sein Gesicht niemandem. Sein Schädel ist von beiden Seiten
gleichsam zusammengedrückt und der Hinterkopf auffallend groß, so daß
denn das Gesicht dadurch etwas Spitzes bekommt. Seine Stirne ist hoch
und schmal, aber die eigentlichen Gesichtszüge sind klein: ein kleines
Näschen, scharfe Augen, dünne und lange Lippen. Dabei sieht er kränklich
aus, aber das scheint nur so. In seinen Wangen ist, unter den
Backenknochen, eine gewisse trockene Falte, die ihm das Aussehen eines
Rekonvaleszenten nach einer schweren Krankheit verleiht. Und doch ist er
vollkommen gesund, stark, und ist sogar nie in seinem Leben krank
gewesen.

Er geht und bewegt sich immer sehr schnell, doch ohne sich dabei
eigentlich zu beeilen. Ich glaube nicht, daß irgend etwas ihn verwirren
könnte. In allen Lebenslagen und in jeder Gesellschaft bleibt er immer
der gleiche. Es ist eine große Selbstzufriedenheit in ihm, doch er
selbst weiß nichts davon. Er spricht schnell und hastend, aber voll
Selbstvertrauen, und nie braucht er nach Worten zu suchen. Die Gedanken,
die er vorbringt, sind bereits völlig zu Ende gedacht. Seine Aussprache
ist ungemein deutlich: jedes Wort fällt wie ein glattes, rundes Körnchen
aus einer großen Vorratskammer. Anfänglich gefällt das wohl, aber schon
bald werden alle diese gleichsam schon fertigen Worte unangenehm und
schließlich geradezu widerlich, und zwar gerade wegen dieser schon allzu
deutlichen Aussprache, wegen dieses Perlengesickers ewig bereiter Worte.
Und man stellt sich unwillkürlich vor, seine Zunge müsse ganz besonders
geformt, ungewöhnlich lang, dünn und rot sein, mit einer dünnen, sich
ununterbrochen drehenden Spitze.

Dieser junge Mann also kam in den Salon gleichsam hereingeflogen. Ich
glaube wirklich, er begann schon im Vorsaal zu sprechen. Sprechend
wenigstens trat er ein, und in einem Augenblick stand er schon vor
Warwara Petrowna.

»... Denken Sie doch nur, Warwara Petrowna, ich komme und glaube, daß er
schon vor einer Viertelstunde hier angelangt sei. Wir trafen uns bei
Kirilloff, er ging vor einer halben Stunde fort und sagte mir, ich solle
in einer Viertelstunde herkommen --«

»Wer das? Wer hat Sie beauftragt, herzukommen?« fragte Warwara Petrowna.

»Aber Nicolai Wszewolodowitsch doch! So erfahren Sie es wirklich erst
jetzt? Sein Gepäck muß doch schon längst hier eingetroffen sein! Hat man
Ihnen denn das nicht gesagt? Übrigens könnte man ihm einen Wagen
entgegenschicken, aber ich denke, er wird jeden Augenblick kommen, und
zwar, wie's scheint, gerade in einem Augenblick, der seinen Erwartungen
und, soweit ich wenigstens beurteilen kann, auch einigen seiner
Berechnungen durchaus entspricht.« Bei diesen Worten sah er sich die
Anwesenden an und ganz besonders scharf den »Hauptmann«. »Ah, Lisaweta
Nicolajewna, wie es mich freut, Ihnen gleich auf meinem ersten Wege zu
begegnen ... Gestatten Sie --« und er flog schnell zu ihr, um das ihm
lächelnd entgegengestreckte Händchen Lisas zu drücken. »Und auch unsere
hochverehrte Praskowja Iwanowna hat ihren >Professor< nicht vergessen,
und scheint sich noch nicht einmal über ihn und sein Erscheinen zu
ärgern, wie es in der Schweiz immer geschah. Aber wie steht es denn
jetzt mit Ihren Füßen? Hatte man recht, als man Ihnen schließlich als
bestes Mittel Heimatluft verschrieb? ... Wie? Kompressen? Ja, das mag
ganz gut sein! Wie habe ich es nur bedauert, Warwara Petrowna,« -- er
drehte sich schnell schon wieder herum -- »daß ich Sie schließlich in
der Schweiz nicht mehr antraf, zumal ich Ihnen so vieles mitzuteilen
hatte! Ich habe allerdings an meinen Alten geschrieben, aber der wird
nach seiner Gewohnheit wohl wieder --«

»Petruscha!« rief da Stepan Trophimowitsch aus, erst jetzt plötzlich aus
der Erstarrung erwachend: er warf die Arme in die Luft und stürzte zu
seinem Sohn. »_Pierre, mon enfant_,{[93]} ich habe dich nicht einmal
erkannt!« und er umarmte ihn krampfhaft, während Tränen ihm über die
Wangen liefen.

»Schon gut, schon gut, keine Albernheiten und keine Gesten, wenn ich
bitten darf, aber so laß doch!« wehrte Petruscha schnell ab und gab sich
alle Mühe, sich aus den Armen des Vaters zu befreien.

»Ich habe dir immer, immer Unrecht getan!«

»Schon gut. Davon später. Konnte mir schon denken, daß du wieder
Albernheiten machen würdest! So sei doch ein wenig nüchterner, ich bitte
dich.«

»Aber ich habe dich doch zehn Jahre lang nicht gesehen!«

»Um so weniger Grund zu solchem Überschwang ...«

»_Mais, mon enfant!_«{[94]}

»Glaub's schon, glaub's schon, daß du mich liebst, nimm nur, bitte, die
Hände weg ... Du störst doch auch die anderen ... Ah, da ist ja auch
schon Nicolai Wszewolodowitsch ... aber so höre doch endlich auf mit den
Albernheiten, ich bitte dich!«

Nicolai Wszewolodowitsch war in der Tat schon im Salon: er war sehr
geräuschlos eingetreten und einen Augenblick in der Tür stehen
geblieben, während sein ruhiger Blick die Versammlung überflog.

Genau so wie vor vier Jahren, als ich ihn zum ersten Male sah, war ich
auch jetzt wieder erstaunt über seine Erscheinung. Ich hatte ihn
durchaus nicht vergessen; aber ich glaube, es gibt Gesichter, die
jedesmal, wenn sie auftauchen, wieder etwas Neues mit sich bringen,
etwas, das man bis dahin noch nicht an ihnen bemerkt hat. Äußerlich war
er anscheinend ganz derselbe wie vor vier Jahren: genau so elegant,
genau so unnahbar, beim Eintreten genau so gemessen wie damals, ja, fast
war er sogar ebenso jung. Sein leichtes Lächeln war wieder so offiziell
freundlich und selbstbewußt, und sein Blick unverändert streng, in sich
hineindenkend und doch gleichsam zerstreut. Kurz, es war mir, als hätte
ich ihn gestern zuletzt gesehen. Nur eines machte mich stutzig: man
hatte ihn zwar immer schön gefunden, aber sein Gesicht glich tatsächlich
manchmal einer Maske, wie einzelne gehässige Damen unserer Gesellschaft
behaupteten. Jetzt aber -- ich weiß nicht, weshalb -- jetzt erschien er
mir schon auf den ersten Blick von vollendeter, unbestreitbarer
Schönheit, so daß man unter keinen Umständen noch hätte sagen können,
sein Gesicht erinnere an eine Maske. Kam das vielleicht daher, daß er
ein wenig bleicher war als früher und, wie mir schien, ein wenig
abgenommen hatte? Oder leuchtete jetzt vielleicht ein neuer Gedanke in
seinem Blick?

»Nicolai Wszewolodowitsch!« rief Warwara Petrowna, sich steif
aufrichtend, doch ohne sich von ihrem Lehnstuhl zu erheben, und indem
sie den Eingetretenen mit einer befehlenden Handbewegung zum
Stehenbleiben zwang -- »bleibe dort noch einen Augenblick! ...«

Um die nun folgende furchtbare Frage Warwara Petrownas verstehen zu
können (um derentwillen sie ihn mit dieser Bewegung und diesem Befehl
nicht nähertreten ließ), diese Frage, die ich Warwara Petrowna nie und
nimmer zugetraut hätte, ja, selbst deren Möglichkeit mir undenkbar
erschienen wäre, -- um diese Frage wirklich zu verstehen, muß man sich
zunächst den Charakter Warwara Petrownas vergegenwärtigen, wie er seit
jeher war und von welcher ungestümen Gewalttätigkeit er in manchen
außergewöhnlichen Augenblicken sein konnte. Ich bitte auch in Erwägung
zu ziehen, daß ungeachtet ihrer großen seelischen Festigkeit, des nicht
geringen Verstandes und des guten Teiles von Takt- und Zartgefühl, den
sie besaß, in ihrem Leben dennoch ständig Augenblicke wiederkehrten, wo
sie sich völlig und, wenn man so sagen darf, ohne sich im Zaum zu
halten, für etwas einsetzte oder sich für etwas hingab. Ferner bitte
ich, nicht zu vergessen, daß der gegenwärtige Augenblick für sie
tatsächlich einer von jenen sein konnte, in denen sich plötzlich alles
Wesentliche eines Menschenlebens wie in einem Fokus vereinigt -- alles
Durchlebte, alles Gegenwärtige und ... warum nicht auch alles
Zukünftige? Und schließlich sei noch an den anonymen Brief erinnert, den
sie erhalten hatte und von dem sie kurz vorher in der Gereiztheit zu
Lisas Mutter einiges hatte verlauten lassen, -- freilich: ohne den
weiteren Inhalt des Briefes zu verraten! Gerade in diesem aber lag
vielleicht die ganze Erklärung der Möglichkeit dieser furchtbaren Frage,
mit der sie sich jetzt plötzlich an den Sohn wandte.

»Nicolai Wszewolodowitsch,« wiederholte sie mit fester Stimme, jede
Silbe deutlich aussprechend, »ich bitte Sie, hier sofort zu sagen, ohne
sich von der Stelle zu rühren, ob es wahr ist, daß diese unglückliche,
lahme Person -- diese da, sehen Sie sie an! ... Ob es wahr ist, daß das
... Ihre rechtmäßige Frau ist?«[32]

Ich erinnere mich dieses Augenblickes noch heute mit voller
Deutlichkeit. Nicolai Wszewolodowitsch zuckte mit keiner Wimper, sah nur
unverwandt seine Mutter an. Auch nicht die geringste Veränderung ging
auf seinem Gesichte vor. Endlich lächelte er langsam ein gleichsam
nachsichtiges Lächeln und trat, ohne ein Wort zu sagen, still auf seine
Mutter zu, erfaßte ihre Hand und führte sie ehrerbietig an die Lippen.
Und so stark war sein unwiderstehlicher Einfluß auf seine Mutter, daß
sie ihre Hand ihm auch jetzt nicht zu entziehen vermochte. Sie blickte
ihn nur an und ihre ganze Seele lag in diesem fragenden Blick. Noch ein
Augenblick und sie würde, so schien es, die Ungewißheit nicht länger
ertragen haben.

Nicolai Wszewolodowitsch aber schwieg auch jetzt noch. Nachdem er ihre
Hand geküßt hatte, überflog sein Blick noch einmal die Anwesenden, und
mit demselben langsamen Schritt trat er zu Marja Timofejewna. Es ist
schwer, die Gesichter der Menschen in gewissen Augenblicken zu
beschreiben. In meiner Erinnerung habe ich z. B., daß Marja Timofejewna
damals, fast vergehend vor Schreck, sich erhob und die Hände wie ihn
anflehend faltete. Aber ich entsinne mich auch, daß zu gleicher Zeit in
ihren Augen ein Entzücken aufleuchtete, ein so sinnloses, so maßloses
Entzücken, wie Menschen es kaum oder nur schwer zu ertragen vermögen.
Vielleicht war beides richtig: der Schreck, wie das Entzücken? Ich weiß
es nicht: ich weiß nur, daß ich damals schnell einen Schritt vortrat,
weil ich das Gefühl hatte, sie werde sogleich in Ohnmacht fallen.

»Sie können nicht hier bleiben,« sagte Nicolai Stawrogin mit
freundlicher, klangvoller Stimme zu ihr und in seinen Augen, die sie
ansahen, lag plötzlich eine große Zärtlichkeit.

Er stand in der ehrerbietigsten Haltung vor ihr und jede Bewegung
verriet ungeheuchelte Hochachtung.

Und ungestüm, atemlos, halb flüsternd stammelte die Arme zu ihm empor:

»Aber kann ich ... darf ich ... jetzt gleich ... vor Ihnen niederknien?«

»Nein, das dürfen Sie auf keinen Fall,« sagte er mit einem entzückenden
Zulächeln, so daß sie plötzlich glückselig auflachte.

Und mit derselben melodischen Stimme, gut und lieb, als ob er einem
kleinen Kinde zuredete, fügte er ernster hinzu:

»Vergessen Sie nicht, daß Sie ein Mädchen sind und ich Ihr ergebenster
Freund zwar, doch immerhin ein Ihnen fremder Mensch bin, weder Ihr
Gatte, noch Vater, noch Bräutigam. Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen den
Arm reiche, und lassen Sie uns gehen. Ich werde Sie zum Wagen führen
und, wenn Sie es erlauben, auch nach Hause begleiten.«

Sie hörte ihn an und senkte wie sinnend den Kopf.

»Gehen wir,« sagte sie dann, seufzte und nahm seinen Arm.

Hierbei geschah ihr aber ein kleines Unglück: sie mußte wohl zu hastig,
wahrscheinlich mit ihrem kranken, dem zu kurzen Fuß aufgetreten sein, --
jedenfalls knickte sie und fiel seitwärts gegen den Sessel und wäre wohl
zu Boden gefallen, wenn Nicolai Wszewolodowitsch sie nicht sofort
aufgefangen und gehalten hätte. Er legte ihre Hand auf seinen Arm,
stützte sie stark und führte sie, teilnehmend und helfend, behutsam zur
Tür. Sie war sichtlich sehr betrübt über ihren Fall, war verlegen und
schämte sich schrecklich. Stumm, mit niedergeschlagenen Augen, tief
hinkend wackelte sie neben ihm her, fast hängend an seinem Arm. So
gingen sie hinaus. Ich sah, wie Lisa, die aus irgendeinem Grunde
plötzlich aufsprang, ihnen mit starrem Blick die ganze Zeit nachsah bis
zur Tür. Dann setzte sie sich wortlos wieder hin, doch in ihrem Gesicht
war ein krampfartiges Zucken, als hätte sie etwas Ekelhaftes berührt.

Während der ganzen Szene zwischen Nicolai Wszewolodowitsch und Marja
Timofejewna hatte die größte Stille geherrscht.

Als sich jetzt die Türe hinter ihnen schloß, fingen plötzlich alle auf
einmal zu sprechen an.


                                  VI.

Das heißt, nein, es wurde nicht gesprochen: es waren wohl nur Ausrufe,
die man hörte. Die Reihenfolge derselben habe ich in der allgemeinen
Verwirrung, die herrschte, vergessen. Sogar Mawrikij Nicolajewitsch
sagte ein paar Worte. Stepan Trophimowitsch rief wieder etwas auf
Französisch aus und schlug die Hände zusammen. Doch am meisten ereiferte
sich sein Sohn Pjotr Stepanowitsch: er bemühte sich verzweifelt und mit
großen Gesten, Warwara Petrowna von etwas zu überzeugen, er wandte sich
an Praskowja Iwanowna, er wandte sich an Lisaweta Nicolajewna, ja, er
rief im Eifer sogar seinem Vater etwas zu -- kurz, er drehte sich mit
größter Lebendigkeit im Zimmer umher. Warwara Petrowna hatte sich,
hochrot im Gesicht, im ersten Augenblick von ihrem Platz erhoben und
erregt Praskowja Iwanowna zugerufen: »Hast du gehört, hast du gehört,
was er ihr hier soeben gesagt hat?« Doch diese konnte nicht mehr
antworten; sie winkte nur abwehrend mit der Hand und murmelte etwas
Unverständliches: sie hatte eine neue Sorge, und immer wieder wandte sie
den Kopf zu Lisa hin -- doch aufstehen und davonfahren, das wagte sie
nicht mehr, bevor sich die Tochter nicht selbst dazu entschloß.
Inzwischen suchte sich der »Hauptmann« fortzuschleichen, aber der
Schreck, der ihm bei dem Erscheinen Nicolai Wszewolodowitschs in die
Glieder gefahren war, lähmte ihn noch so sehr, daß er es ungeschickt
genug anfing und Pjotr Stepanowitsch ihn, gerade als er aus der Tür
schlüpfen wollte, noch am Ärmel erwischte und zurückzog.

»Das ist unbedingt nötig, unbedingt,« sagte er, seine Silben wieder wie
Perlen streuend, zu Warwara Petrowna, die er noch immer von irgend etwas
zu überzeugen suchte.

Er stand vor ihr, sie aber hatte sich schon wieder gesetzt und hörte ihn
mit Spannung an, woraus hervorging, daß er sich endlich ihre volle
Aufmerksamkeit errungen hatte. »Das ist unbedingt nötig, unbedingt! Sie
sehen doch selbst, daß hier ein Mißverständnis vorliegt. Es ist aber
alles viel einfacher, als es scheint. Ich weiß sehr wohl, daß mich
niemand bevollmächtigt hat, Ihnen das alles zu erzählen, und es scheint
vielleicht geradezu, daß ich mich Ihnen aufdränge. Aber ganz abgesehen
davon, daß Nicolai Wszewolodowitsch selbst dieser ganzen Sache weiter
gar keine Bedeutung zuschreibt, gibt es doch auch Fälle, in denen es
einem schwer fällt, persönlich die nötigen Erklärungen zu geben -- und
da ist es denn unbedingt geboten, daß ein anderer sich dazu entschließt,
dem es weit leichter fällt, von gewissen zarten Dingen zu sprechen.
Glauben Sie mir, Nicolai Wszewolodowitsch war durchaus nicht im Unrecht,
als er Ihnen keine radikale Antwort auf Ihre Frage vorhin gab, -- ganz
abgesehen davon, daß die Geschichte überhaupt nicht so wichtig ist. Ich
kenne Nicolai Wszewolodowitsch schon von Petersburg her und ich kann Sie
versichern, daß alles, was da vorliegt, ihm nur Ehre macht -- wenn man
dieses unbestimmte Wort >Ehre< nun schon einmal gebrauchen soll ...«

»Sie wollen damit sagen, daß Sie Augenzeuge eines Geschehnisses waren,
aus dem dann diese ganze ... dieses Mißverständnis entstanden ist?«

»Jawohl, Augenzeuge, und sogar Teilnehmer, wenn Sie wollen,« bestätigte
Pjotr Stepanowitsch schnell.

»Wenn Sie mir Ihr Wort darauf geben können, daß es die Gefühle meines
Sohnes zu mir nicht kränken wird, zu mir, der er nicht das Ge--ring--ste
verheimlicht ... und wenn Sie dabei so überzeugt sind, daß Sie ihm damit
einen Gefallen erweisen --«

»Unbedingt einen Gefallen, und mir selbst wird es ein Vergnügen sein.
Ich bin überzeugt, er würde mich selbst darum bitten.«

Es war gewiß sonderbar, daß dieser plötzlich vom Himmel gefallene Mensch
so aufdringlich fremde Erlebnisse aufdecken wollte. Er hatte aber an
Warwara Petrownas schmerzhafteste Stelle gerührt und sie dahin gebracht,
wo er sie zu haben wünschte. Ich selbst wußte damals von diesem Menschen
noch so gut wie nichts, um so weniger konnte ich seine Absichten
durchschauen.

»Sie meinen?« sagte Warwara Petrowna, zunächst noch vorsichtig und
zurückhaltend, denn sie litt offenbar darunter, daß sie sich so weit
herabließ.

Und wieder fielen, eine nach der anderen, die klaren Silben seiner Rede,
wie kleine Glasperlen von einer Schnur.

»Die Sache ist ganz einfach. Im Grunde ist es kaum mehr, als eine
Anekdote. Ein Romanschriftsteller würde vielleicht einen Roman daraus
machen. Und uninteressant ist der Stoff auch wirklich nicht. Praskowja
Iwanowna und auch Lisaweta Nicolajewna werden gewiß gern zuhören, denn
er enthält, wenn auch nicht wunderbare, so doch viele wunderliche Dinge.
Als vor fünf Jahren in Petersburg Nicolai Wszewolodowitsch diesen Herrn
Lebädkin, der sich da soeben drücken wollte -- Sie sehen, mein
abgesetzter Herr Beamter des Proviantwesens, ich kenne Sie noch sehr
gut, und nicht minder sind mir, wie Nicolai Wszewolodowitsch, Ihre
Gaunerstreiche bekannt, über die Sie noch Rechenschaft zu geben haben
werden ... Ich bitte sehr um Entschuldigung, Warwara Petrowna, -- vor
fünf Jahren also, in Petersburg, da nannte Nicolai Wszewolodowitsch
diesen Herrn seinen Falstaff: das muß offenbar irgendein ehemaliger
>_caractère bourlesque_<{[95]} gewesen sein,« fügte er plötzlich
erklärend hinzu, »-- ein Mann, der allen erlaubte, über ihn zu lachen,
wenn man ihm dafür nur zahlte. Nicolai Wszewolodowitsch führte damals in
Petersburg ein Leben, ich kann mich nicht anders ausdrücken, aber es war
ein spottsüchtiges Leben: denn blasiert pflegt dieser Mensch nie zu
sein, sich aber mit irgendeiner Arbeit zu beschäftigen, das verschmähte
er damals. Ich rede, wie gesagt, nur von der damaligen Zeit, Warwara
Petrowna. Dieser Lebädkin also hatte eine Schwester bei sich, dieselbe,
die soeben hier saß. Bruder und Schwester hatten keinen eigenen Herd. Er
trieb sich vor den großen Warenhäusern herum, selbstverständlich stets
in seiner alten Uniform, redete von den Vorübergehenden an, wer ihm von
ihnen günstig erschien, und vertrank dann das auf diese Weise erbettelte
Geld. Das Schwesterlein aber nährte sich wie ein Vogel Gottes, half in
den Winkeln und Ecken, wo sie lebte, bald dem einen, bald dem anderen,
und verdiente sich so das Notwendigste. Es war das schrecklichste Sodom:
ich übergehe die Schilderung dieses Lebens, an dem damals auch Nicolai
Wszewolodowitsch aus >Verschrobenheit< Anteil nahm. Das ist sein eigener
Ausdruck. Er pflegt mir vieles nicht zu verheimlichen. Mit Fräulein
Lebädkin nun traf er eine Zeitlang öfter zusammen; sie begeisterte sich
für ihn und er war -- nun, er war so etwas wie der Brillant auf dem
schmutzigen Fond ihres Lebens. Doch ich merke, daß ich ein schlechter
Schilderer menschlicher Gefühle bin und fahre darum mit den Tatsachen
fort. Törichte Leute begannen sie damals gleich zu necken und zu
verspotten, und da wurde sie traurig. Überhaupt lachte man dort immer
über sie, aber früher hatte sie das nicht bemerkt. Schon damals war ihr
Verstand nicht ganz klar, wenn auch lange nicht so schwach und wirr wie
jetzt. Es ist anzunehmen, daß sie als Kind -- vielleicht dank
irgendeiner Wohltäterin -- eine etwas bessere Erziehung erhalten hat.
Nicolai Wszewolodowitsch schenkte ihr zunächst nicht die geringste
Aufmerksamkeit, wenn er dort mit ihrem Bruder und den kleinen Beamten
zusammensaß und Karten spielte. Aber einmal, als man sie wieder
beleidigte, packte er den betreffenden Beamten einfach am Kragen und
warf ihn -- es war im zweiten Stock -- zum Fenster hinaus. Einen
besonderen Unwillen, gekränkte Ritterlichkeit oder dergleichen konnte
man an ihm dabei nicht wahrnehmen. Die ganze Szene ging vielmehr unter
allgemeinem Gelächter vor sich und am meisten amüsierte sie Nicolai
Wszewolodowitsch selbst. Als alles glücklich ohne gebrochene Glieder
abgelaufen war, versöhnte man sich wieder und begann Punsch zu trinken.
Nur die Lebädkin konnte den Vorfall und ihren Beschützer nicht vergessen
-- und das endete dann schließlich mit der vollständigen Zerrüttung
ihres Verstandes. Ich wiederhole nochmals, daß ich ein schlechter
Schilderer von Gefühlen bin. Das Wichtigste war hierbei eben ihr Wahn.
Und Nicolai Wszewolodowitsch tat dann noch alles, um ihn zu verstärken.
Statt gleichfalls zu lachen, begann er sie plötzlich mit überraschender
Hochachtung zu behandeln. Kirilloff, der auch dabei war, -- das ist ein
sonderbarer und origineller Mensch, Warwara Petrowna, Sie werden ihn
vielleicht noch einmal sehen, denn er ist jetzt hier -- dieser Kirilloff
also, der sonst nur zu schweigen pflegt, sagte plötzlich: er behandelt
sie wie eine Marquise und macht sie damit noch ganz verrückt. Und was
glauben Sie, was er diesem Kirilloff, den er übrigens achtet, darauf
geantwortet hat? >Sie scheinen anzunehmen, Herr Kirilloff, daß ich mich
über sie lustig mache. Seien Sie versichert, daß ich sie in der Tat
denkbar hoch achte, denn sie ist besser, als wir alle.< Und das sagte er
noch, wissen Sie, in vollkommen ernstem Ton. Dabei hatte er ihr aber in
all den Monaten kaum mehr als >guten Tag< und >Adieu< gesagt. Jetzt
freilich brachte er sie bald so weit, daß sie ihn für ihren Bräutigam
hielt, der sie nur infolge von allen möglichen romantischen
Familienhindernissen vorläufig nicht >entführen< könnte -- wir aber
hatten unser weidliches Vergnügen daran. Die Geschichte endete damit,
daß Nicolai Wszewolodowitsch, als er endlich abreisen mußte, das war
also vor jetzt etwa vier Jahren -- er kam damals hierher zu Ihnen -- ihr
eine jährliche Pension, ich glaube ungefähr dreihundert Rubel, wenn
nicht mehr, aussetzte. Mit einem Wort, es war höchstens der
phantastische Streich eines Beschäftigungslosen oder, wie Kirilloff
sagte, es war eine neue Etude eines übersättigten Menschen, um zu
erfahren, wie weit man eine arme Närrin bringen kann. >Sie haben,< sagte
Kirilloff, >sich absichtlich das letzte Geschöpf unter den Menschen
ausgesucht, ein krüppeliges Wesen, das sowieso schon mit Schlägen und
Schande bedeckt ist, und von dem Sie von vornherein ganz genau wissen,
daß es an seiner tragikomischen Liebe zu Ihnen zugrunde gehen muß -- und
plötzlich beginnen Sie, sie absichtlich zu betrügen, nur um zu sehen,
was dabei wohl herauskommen wird.< Nun, ich meinerseits sehe nicht ein,
wie ein Mensch daran schuld sein soll, wenn ein verrücktes Weib
seinetwegen sich tolle Gedanken macht. Ein Weib, wohlverstanden, mit dem
der betreffende Mensch kaum ein paar oberflächliche Worte gewechselt
hat! Es gibt Dinge, Warwara Petrowna, über die man nicht nur nicht klug
sprechen kann, sondern über die überhaupt zu sprechen schon nicht klug
ist. Doch mag es nun Laune oder Sonderbarkeit gewesen sein, aber mehr
kann man schon auf keinen Fall sagen; währenddessen aber macht man hier
eine ganze Historie daraus ... Ich bin zum Teil darüber unterrichtet,
was hier vorgeht.«

Pjotr Stepanowitsch brach plötzlich ab und wandte sich wieder Lebädkin
zu. Doch Warwara Petrowna hielt ihn, beinah zitternd vor Aufregung,
zurück.

»Sind Sie fertig?« fragte sie.

»Nein, noch nicht. Zur Vervollständigung möchte ich noch diesen Herrn
Lebädkin, wenn Sie gestatten ... Sie werden gleich sehen, um was es sich
handelt --«

»Genug, später, warten Sie einen Augenblick, ich bitte Sie! Oh, wie gut
war es doch, daß ich Sie sprechen ließ!«

»Und vergessen Sie nicht, Warwara Petrowna,« Pjotr Stepanowitsch fuhr
gleichsam auf, »daß Nicolai Wszewolodowitsch persönlich Ihnen überhaupt
keine Antwort auf Ihre Frage geben konnte -- die vielleicht wirklich
etwas zu kategorisch war.«

»Oh ja, das war sie nur zu sehr!«

»Und hatte ich nicht Recht, als ich sagte, einem Fremden ist es
leichter, gewisse Dinge zu erklären, als einem Beteiligten?«

»Ja, ja ... aber in einer Beziehung haben Sie sich doch geirrt, und wie
ich mit Bedauern sehe, irren Sie sich auch jetzt noch.«

»Wirklich? Und worin wäre das?«

»Ja, sehen Sie ... Aber wie wäre es, wenn Sie sich setzten, Pjotr
Stepanowitsch?«

»Oh, wie Sie wünschen, ich bin auch müde, besten Dank.«

Er zog gewandt einen Sessel heran und drehte ihn so, daß er zwischen
Warwara Petrowna und Praskowja Iwanowna, die sich am Tisch
niedergelassen hatte, sitzen konnte, während Lebädkin, den er nicht aus
dem Auge ließ, ihm nun gerade gegenüber stand.

»Ich meine, Sie irren sich, wenn Sie dieses eine >Laune<, eine
>Sonderbarkeit< nennen ...«

»Oh, wenn es nur das ist --«

»Nein, nein, nein, warten Sie,« unterbrach ihn Warwara Petrowna, die
sich offenbar zu einem langen und eingehenden Gespräch vorbereitete.

Kaum gewahrte das Pjotr Stepanowitsch, da war er schon die
Aufmerksamkeit selbst.

»Nein, das ist etwas Höheres als eine Laune. Das ist, ich versichere
Sie, beinahe etwas Heiliges. Das ist Prinz Heinz, wie ihn Stepan
Trophimowitsch früher so treffend nannte, und was vollkommen richtig
wäre, wenn er nicht noch mehr an Hamlet erinnern würde.«

»_Et vous avez raison_,«{[96]} bestätigte Stepan Trophimowitsch mit
Empfindung und Nachdruck.

»Ich danke Ihnen, Stepan Trophimowitsch. Ich danke Ihnen ganz besonders
für Ihren unerschütterlichen Glauben an _Nicolas_, an den Adel seiner
Seele. Diesen Glauben haben Sie auch in mir befestigt, als ich den Mut
schon verlieren wollte.«

»_Chère, chère_ ...«

Stepan Trophimowitsch wollte schon vortreten, überlegte aber dann doch,
daß es immerhin gewagt wäre, sie zu unterbrechen.

»Und wenn _Nicolas_ stets einen stillen, treuen und starken Horatio
neben sich gehabt hätte -- auch einer Ihrer schönen Vergleiche, Stepan
Trophimowitsch --, so wäre er vielleicht längst erlöst« (Warwara
Petrowna geriet schon in einen singenden Ton) »von diesem >Dämon der
Ironie< -- auch diesen Ausdruck hat Stepan Trophimowitsch geprägt, --
der ihn sein Lebelang martert. Doch _Nicolas_ hat nie weder einen
Horatio noch eine Ophelia gehabt. Er hat nur eine Mutter gehabt. Aber
was kann eine Mutter in solchen Dingen tun? Wissen Sie, Pjotr
Stepanowitsch, es ist mir jetzt vollkommen klar, daß ein Mensch wie
_Nicolas_ sogar in diese schmutzigen Winkel hinabsteigen konnte. Ich
begreife jetzt alles. Ich begreife diese Lust zum Spott über das Leben,
auf die auch Sie vorhin so vorzüglich hinwiesen. Ich begreife diesen
unersättlichen Durst nach Gegensätzen, diesen trüben und unheimlichen
Hintergrund seines damaligen Lebens, von dem er sich dann wie eine
leuchtende Erscheinung abhob. Und in dieser schrecklichen Welt trifft er
dann ein Wesen, das alle beleidigen und verspotten, eine Krüppelige,
eine Irrsinnige, und zugleich doch einen Menschen, der die edelsten
Gefühle hat! ...«

»Hm ... ja, nehmen wir an --«

»Und Sie sagen, Sie können nicht begreifen, weshalb er zunächst nicht
wie alle die anderen über sie lacht! Oh, ihr Menschen! Und Sie können
nicht verstehen, daß er sie dann vor den Beleidigern beschützt und sie
wie eine >Marquise< behandelt! Dieser Kirilloff muß ein tiefer
Menschenkenner sein, wenn er auch _Nicolas_ nicht verstanden hat! Ja,
vielleicht ist es gerade dieser Kontrast, aus dem diese ganze unselige
Geschichte entstanden ist. Wäre die Beklagenswerte in anderen
Verhältnissen, in einer anderen Umgebung gewesen, dann hätte sie wohl
überhaupt nicht diesen törichten Gedanken gefaßt. Das allerdings, Pjotr
Stepanowitsch, kann nur eine Frau verstehen, und wie schade ist es doch,
daß Sie ... das heißt ... ich will natürlich nicht sagen, wie schade,
daß Sie keine Frau sind, aber daß Sie das ganze Verständnis einer Frau
nun einmal nicht haben können.«

»Das heißt also: je schlimmer, desto besser -- ich verstehe, ich
verstehe schon, Warwara Petrowna. Das ist so, wie in der Religion und im
Staat: je schlechter es ein Mensch im Leben hat, oder je unterdrückter
ein Volk ist, desto eigensinniger wird an die Belohnung, die einen im
Jenseits erwartet, gedacht. Und wenn dabei noch hunderttausend
Geistliche mitwirken und den Gedanken anfachen, auf den sie selbst
spekulieren, so ... oh, ich verstehe Sie, Warwara Petrowna, seien Sie
unbesorgt.«

»Ich glaube -- doch wohl nicht so ganz. Aber sagen Sie, hätte denn
_Nicolas_, um jenen unseligen Gedanken in diesem unglücklichen
Organismus zu ertöten,« (weshalb sie hier dieses Wort gebrauchte,
verstand ich nicht) »hätte er wirklich ebenso über sie lachen und höhnen
müssen, wie die anderen rohen Kumpane? Begreifen Sie denn wirklich nicht
dieses große Mitleiden, diesen edlen Schauer einer edlen Seele, mit dem
_Nicolas_ plötzlich ernst diesem Kirilloff antwortet: >Ich lache
durchaus nicht über sie.< Oh, diese vornehme, diese heilige Antwort.«

»_Sublime!_,«{[97]} murmelte Stepan Trophimowitsch.

»Und vergessen Sie nicht, er ist durchaus nicht reich, wie Sie
vielleicht denken: ich bin reich, aber nicht er, und damals hat er meine
Hilfe niemals in Anspruch genommen.«

»Ich verstehe das, ich verstehe das alles, Warwara Petrowna,« beteuerte
Pjotr Stepanowitsch und bewegte sich bereits etwas ungeduldig auf seinem
Stuhl.

»Oh, das ist mein Charakter! In _Nicolas_ erkenne ich mich selbst
wieder. Ich kenne diese Jugend, diese Möglichkeiten stürmisch drängender
Ausbrüche ... Und wenn wir uns jemals nähertreten sollten, Pjotr
Stepanowitsch, was ich meinerseits aufrichtig wünsche, um so mehr, als
ich Ihnen schon so verpflichtet bin, so werden Sie dann vielleicht
verstehen --«

»Oh, auch ich wünsche, glauben Sie mir --«

»-- Diesen Drang, in dem man in blindem Edelmute plötzlich einen
Menschen nimmt, womöglich einen, der unser gar nicht wert ist, einen
Menschen, der Sie nicht im geringsten versteht und bereit ist, Sie bei
jeder Gelegenheit zu quälen: und diesen Menschen macht man plötzlich
wider alle Vernunft zu seinem Idealbild, zu seinem Wahnbild, legt in ihn
alle Hoffnungen, beugt sich vor ihm, liebt ihn sein Lebelang, ohne auch
nur zu wissen weshalb, -- vielleicht gerade deshalb, weil er das gar
nicht verdient hat ... Oh, wie ich mein ganzes Leben lang gelitten habe,
Pjotr Stepanowitsch!«

Stepan Trophimowitsch suchte erregt meinen Blick, doch ich konnte mich
noch rechtzeitig abwenden.

»Und noch vor kurzem, noch vor kurzem -- oh, wie viel mir _Nicolas_
verzeihen muß! ... Sie werden es mir nicht glauben, wie alle mich
gequält haben! Gequält von allen Seiten, alle, alle, Feinde und Freunde,
und die Freunde vielleicht noch mehr als die Feinde. Und als ich den
ersten anonymen Brief erhielt, Pjotr Stepanowitsch, Sie werden es mir
nicht glauben, aber meine Verachtung reichte einfach nicht aus für diese
ganze Gemeinheit ... Nie, nie werde ich mir diesen Kleinmut vergeben!«

»Von diesen anonymen Briefen habe ich schon gehört,« sagte Pjotr
Stepanowitsch, plötzlich wieder belebt, »seien Sie unbesorgt, den
Verfasser werde ich schon herausbekommen.«

»Aber Sie können sich ja gar nicht vorstellen, was für Intriguen hier
gesponnen worden sind! Sogar unsere arme Praskowja Iwanowna hat man
beunruhigt -- und dazu war doch wirklich kein Grund vorhanden! Liebe
Praskowja Iwanowna, heute mußt du mir schon verzeihen,« fügte sie
plötzlich in einer großmütigen Regung hinzu, aber doch nicht ohne einen
leisen triumphierenden Klang in der Stimme.

»Schon gut, meine Liebe,« murmelte diese widerwillig. »Ich aber meine,
man könnte jetzt endlich aufhören, es ist schon viel zu viel gesprochen
worden.« Und wieder sah sie scheu ihre Lisa an, die aber blickte auf
Pjotr Stepanowitsch.

»Und dieses arme, unglückliche Geschöpf, diese Irrsinnige, die alles
verloren, nur das Herz behalten hat, die -- werde ich in mein Haus
aufnehmen!« rief Warwara Petrowna plötzlich entschlossen aus. »Das ist
eine heilige Pflicht und ich will sie erfüllen! Vom heutigen Tage an
stelle ich sie unter meinen Schutz!«

»Und das wird sogar sehr gut sein, in einem gewissen Sinne wenigstens!«
Pjotr Stepanowitsch war wieder ganz Leben. »Entschuldigen Sie, aber
vorhin bin ich nicht ganz zu Ende gekommen. Gerade was den Schutz
betrifft. Stellen Sie sich vor, Warwara Petrowna, -- ich fange dort an,
wo ich stehen blieb, -- stellen Sie sich also vor, daß damals, als
Nicolai Wszewolodowitsch fortgefahren war, dieser Herr da drüben, dieser
Herr Lebädkin, nichts Besseres zu tun wußte, als das seiner Schwester
ausgesetzte Geld eilends und restlos zu vertrinken. Ich weiß nicht
genau, in welcher Weise Nicolai Wszewolodowitsch die Zahlungsart in der
ersten Zeit angeordnet hatte. Ich weiß nur, daß er sich schließlich
genötigt sah, wenn er Lebädkins Schwester einigermaßen sicherstellen
wollte, sie in einem fernen Kloster unterzubringen -- was denn auch
geschah, selbstredend unter aller nur denkbaren Rücksicht auf ihre
Person, aber unter freundschaftlicher Aufsicht, Sie verstehen schon!
Doch was glauben Sie wohl, wozu Herr Lebädkin sich entschloß? Erst
suchte er mit aller Gewalt zu erfahren, wo man sein Zinspapier, das
heißt also seine Schwester, untergebracht hatte, und dann, als ihm dies
gelungen war, erwirkte er, indem er irgendwelche Rechte vorschützte, daß
man sie ihm herausgab, und darauf schleppte er sie hierher. Hier nun gab
er ihr nichts zu essen, sondern schlug sie, und als er auf irgendeine
Weise von Nicolai Wszewolodowitsch eine größere Geldsumme herausbekommen
hatte, ging das alte, wüste Trinkleben sofort von neuem an. Von
Dankbarkeit Nicolai Wszewolodowitsch gegenüber natürlich keine Spur; im
Gegenteil, nur sinnlose neue Forderungen stellte er an ihn und drohte
gar mit dem Gericht, wenn er nicht Zahlungen erhalten würde -- nahm also
frech als pflichtmäßig an, was freiwillig war. -- Herr Lebädkin, ist
_alles_ wahr, was ich hier soeben gesagt habe?«

Der »Hauptmann«, der bis dahin stumm und mit gesenkten Augen dagestanden
hatte, trat schnell zwei Schritte vor, -- das Blut schoß ihm ins
Gesicht.

»Pjotr Stepanowitsch ... Sie haben mich ... grausam behandelt,« brachte
er stockend hervor.

»Wieso grausam? Doch über Grausamkeit oder Zartheit können wir später
sprechen, jetzt aber wollen Sie mir gefälligst auf meine Frage
antworten: ist _alles_ wahr, was ich hier gesagt habe, oder nicht?«

»Ich ... Sie wissen ja selbst, Pjotr Stepanowitsch ...« der »Hauptmann«
stockte und schwieg.

Pjotr Stepanowitsch saß im Lehnstuhl mit übergeschlagenen Beinen und
Lebädkin stand in der ehrerbietigsten Haltung vor ihm. Lebädkins
Unentschlossenheit schien Pjotr Stepanowitsch sehr wenig zu gefallen: in
seinem Gesicht zuckte es und sein Ausdruck wurde böse.

»Ja, wollen Sie nicht vielleicht etwas sagen?« fragte Pjotr
Stepanowitsch scharf, wobei er mit zusammengekniffenen Augen
durchdringend den »Hauptmann« anblickte. »In dem Falle -- bitte. Haben
Sie die Güte, wir hören.«

»Sie wissen doch selbst, Pjotr Stepanowitsch, daß ich nichts sagen
kann.«

»Nein, das weiß ich durchaus nicht, höre es sogar zum erstenmal; warum
können Sie denn nicht?«

Lebädkin schwieg und blickte zu Boden.

»Erlauben Sie mir, Pjotr Stepanowitsch, fortzugehen,« sagte er endlich
entschlossen.

»Nicht, bevor Sie mir eine Antwort auf meine Frage gegeben haben. Noch
einmal: ist _alles_ wahr, was ich gesagt habe?«

»Ja, es ist wahr,« sagte Lebädkin dumpf und blickte kurz zu seinem
Peiniger auf.

An seinen Schläfen trat sogar Schweiß hervor.

»Ist _alles_ wahr?«

»Alles ist wahr.«

»Haben Sie nicht noch etwas hinzuzufügen, oder zu bemerken? Wenn Sie
fühlen, daß wir Ihnen irgendwie Unrecht getan haben, so sagen Sie es.
Protestieren Sie, geben Sie laut Ihre Unzufriedenheit kund!«

»Nein, ich habe nichts ...«

»Haben Sie vor kurzem Nicolai Wszewolodowitsch gedroht?«

»Das ... das ... war mehr Alkohol, Pjotr Stepanowitsch!« (Er hob
plötzlich den Kopf.) »Pjotr Stepanowitsch! Wenn die beleidigte
Familienehre und die unverdiente Schande im Menschenherzen aufheulen,
ist dann -- ist dann wirklich der Mensch noch verantwortlich?« brüllte
er plötzlich wieder los, wie vorher sich nicht mehr im Zaum haltend.

»Sind Sie nüchtern, Herr Lebädkin?« Pjotr Stepanowitsch sah ihn
durchdringend an.

»Ich ... bin nüchtern.«

»Was soll das bedeuten: >beleidigte Familienehre< und >unverdiente
SchandeWenigstens hätte ich doch den Scherz erzählen
müssen, denn sonst, wer geht denn so fort.< Als mir aber einfiel, daß
Pjotr Stepanowitsch hier geblieben war, sprang die Sorge von mir ab.«

Während er sprach, blickte er sich flüchtig im Zimmer um.

»Pjotr Stepanowitsch hat uns eine alte Petersburger Geschichte aus dem
Leben eines eigentümlichen Menschen erzählt,« sagte Warwara Petrowna,
noch ganz entzückt, »eines launischen, eines halb wahnsinnigen Menschen,
der aber in seinen Gefühlen immer edel bleibt, immer adlig, immer
ritterlich --«

»Also so hoch habt ihr mich schon erhoben,« scherzte Stawrogin.
»Übrigens bin ich Pjotr Stepanowitsch diesmal sehr dankbar für seine
Eilfertigkeit« (hier tauschte er mit ihm einen blitzartig kurzen Blick).
»Sie müssen nämlich wissen, _maman_, daß Pjotr Stepanowitsch stets der
allgemeine Friedensstifter ist: das ist nun einmal seine Rolle, seine
Krankheit, sein Steckenpferd, und in der Beziehung kann ich ihn
besonders empfehlen. Übrigens kann ich mir schon denken, worüber er hier
Bericht erstattet hat. Er erstattet ja immer Bericht, wenn er etwas
erzählt. In seinem Kopf hat er eine Kanzlei. Man merke sich nur, daß er
in seiner Eigenschaft als Realist nicht lügen kann und daß die Wahrheit
ihm teurer ist als der Erfolg ... selbstverständlich außer in jenen
besonderen Fällen, wenn ihm der Erfolg teurer ist als die Wahrheit.«
(Stawrogin sah sich, während er sprach, immer noch um.) »Sie sehen also,
_maman_, daß nicht Sie mich um Verzeihung zu bitten haben, und daß, wenn
hier irgendwo eine Schuld ist, sie natürlich nur mich treffen kann ...
oder sagen wir, wenn hier eine Verrücktheit vorliegt, ich folglich der
Verrückte bin -- man muß doch seinen Ruf aufrechterhalten!« und er
umarmte seine Mutter und küßte sie zärtlich. »Jedenfalls aber ist die
Sache jetzt erzählt, und ich dächte, nun könnte man aufhören, von ihr zu
sprechen.« Seine letzten Worte hatten plötzlich einen trockenen, harten
Unterton.

Warwara Petrowna kannte diesen Ton, doch ihre Erregung verging deshalb
noch nicht, sogar im Gegenteil.

»Aber wie kommt es nur, daß du heute schon hier bist, _Nicolas_, du
wolltest doch erst in einem Monat --«

»Ich werde Ihnen natürlich alles erzählen, _maman_, doch augenblicklich
--« Und er trat zu Praskowja Iwanowna.

Doch diese schien ihn diesmal überhaupt nicht bemerken zu wollen:
während noch vor einer halben Stunde, als er zum ersten Male erschienen
war, ihre ganze Aufmerksamkeit von ihm in Anspruch genommen wurde, war
diese jetzt auf etwas ganz anderes gelenkt. In dem Augenblick, als der
»Hauptmann« mit Stawrogin beinahe zusammengestoßen war, hatte Lisa
plötzlich zu lachen angefangen -- zuerst nur leise und verhalten, dann
aber immer lauter und bemerkbarer. Sie wurde rot. Dieser Gegensatz zu
ihrem kurz vorher noch so düsteren Aussehen war doch zu auffallend. Als
Nicolai Wszewolodowitsch noch mit Warwara Petrowna sprach, winkte sie
Mawrikij Nicolajewitsch zu sich heran, als wolle sie ihm etwas sagen:
doch kaum beugte er sich zu ihr nieder, da lachte sie schon von neuem.
Ja, es schien, als lache sie geradezu über den armen Mawrikij
Nicolajewitsch. Dabei strengte sie sich furchtbar an, ernst zu bleiben,
und preßte immer wieder ihr Taschentuch an die Lippen, doch es gelang
ihr nicht, sich zu bezwingen.

Nicolai Wszewolodowitsch trat mit der unschuldigsten, aufrichtigsten
Miene an sie heran, um sie zu begrüßen.

»Verzeihen Sie, bitte,« sagte sie schnell, »Sie ... Sie haben gewiß auch
Mawrikij Nicolajewitsch gesehen ... Gott, wie verboten lang Sie sind,
Mawrikij Nicolajewitsch!« Und wieder lachte sie.

Mawrikij Nicolajewitsch war allerdings hoch von Wuchs, aber durchaus
nicht so auffallend, wie sie es plötzlich zu finden schien.

»Sie ... sind vor nicht langer Zeit angekommen?« fragte sie, sich
gewaltsam zusammennehmend, sogar verlegen, doch mit blitzenden Augen.

»Vor ungefähr zwei Stunden,« antwortete Stawrogin und sah sie aufmerksam
an. Ich muß hier bemerken, daß er ungewöhnlich zurückhaltend war in
seiner Höflichkeit, doch ohne diese würde er vollständig gleichgültig,
fast gelangweilt ausgesehen haben.

»Und wo werden Sie wohnen?«

»Hier.«

Warwara Petrowna beobachtete sie gleichfalls, plötzlich fiel ihr etwas
ein.

»Aber _Nicolas_, wo warst du denn bis jetzt, diese zwei Stunden?« fragte
sie erstaunt, »der Zug kommt doch um zehn Uhr an.«

»Ich brachte zuerst Pjotr Stepanowitsch zu Kirilloff. Ich hatte ihn in
Matwejewo (drei Stationen vor unserer Stadt), getroffen. So fuhren wir
die letzte Strecke zusammen.«

»Ich aber wartete schon seit Mitternacht in Matwejewo,« griff Pjotr
Stepanowitsch schnell in das Gespräch ein. »Unsere letzten Wagen waren
in der Nacht aus den Schienen gesprungen, wir hätten uns beinahe noch
die Beine gebrochen!«

»Mein Gott,« rief Lisa, »Mama, und wir wollten in der vorigen Woche auch
nach Matwejewo fahren!«

»Gott erbarme dich!« Praskowja Iwanowna bekreuzte sich.

»Ach, Mama, Mama, liebe Mama, erschrecken Sie nicht, wenn ich mir bei
einer solchen Gelegenheit auch einmal ein Bein breche, mir könnte das ja
nur zu leicht geschehen! Sie sagen doch selbst, daß ich jeden Tag nur
ausreite, um mir das Genick zu brechen. Mawrikij Nicolajewitsch, würden
Sie mich führen, wenn ich hinke?« fragte sie wieder lachend. »Ich würde
dann nur Ihnen erlauben, mich zu führen, verlassen Sie sich darauf!
Sagen wir, ich breche mir ein Bein? -- Aber so seien Sie doch so
liebenswürdig, Mawrikij Nicolajewitsch, und sagen Sie sofort, daß Sie
sich glücklich schätzen würden!«

»Was kann das für ein Glück sein, wenn man ein Krüppel ist?« sagte
Mawrikij Nicolajewitsch ernstlich ungehalten.

»Dafür würden Sie allein mich führen dürfen, nur Sie, sonst niemand!«

»Auch dann würden _Sie_ mich führen, Lisaweta Nicolajewna,« sagte der
Offizier leise und noch ernster.

»Gott, er wollte einen Witz machen,« rief Lisa fast entsetzt aus.
»Mawrikij Nicolajewitsch, unterstehen Sie sich niemals, einen Witz zu
machen! Aber Sie sind wirklich bis zu einem unglaublichen Grade Egoist!
Doch ich bin überzeugt, zu Ihrer Ehre sei es gesagt, daß Sie sich selbst
verleumden. Im Gegenteil, Sie würden mir von früh bis spät versichern,
daß ich ohne Fuß weit interessanter sei! Eines ist aber unvereinbar: Sie
sind übermäßig lang, ich aber würde, wenn ich hinken müßte, ganz klein
sein -- wir würden also ein schlechtes Paar abgeben!«

Und sie lachte krampfhaft.

Die Anspielungen waren flach und herbeigezogen, doch ihr war es diesmal
offenbar nicht um den Ruhm zu tun, geistreich zu sein.

»Hysterie,« flüsterte mir Pjotr Stepanowitsch zu, »ein Glas Wasser,
schnell!«

Er hatte es erraten: eine Minute später liefen wir hin und her und
endlich brachte man denn auch Wasser. Lisa umarmte ihre Mutter, küßte
sie leidenschaftlich, weinte verzweifelt -- bis sie dann plötzlich
wieder auflachte. Darauf fing auch die Alte zu weinen an. Da führte denn
Warwara Petrowna sie beide durch dieselbe Tür, durch die Darja Pawlowna
eingetreten war, hinaus. Doch sie blieben nicht lange im Nebenzimmer,
sondern erschienen schon nach wenigen Minuten wieder im Salon.

Kaum waren sie draußen, da trat Stawrogin an uns heran und begrüßte uns
-- außer Schatoff, der noch immer in seiner Ecke saß und den Kopf
womöglich noch tiefer gesenkt hielt. Stepan Trophimowitsch versuchte
sogleich, irgendein geistreiches Gespräch anzuknüpfen, doch Stawrogin
wandte sich ab und wollte zu Darja Pawlowna gehen. Unterwegs jedoch
hielt ihn Pjotr Stepanowitsch auf, der ihn fast mit Gewalt zum Fenster
zog und ihm dort etwas anscheinend sehr Wichtiges zuzuflüstern begann.
Nicolai Wszewolodowitsch freilich hörte, während der andere lebhaft
gestikulierte, nur zerstreut, fast gelangweilt zu, mit seinem
offiziellen, leicht spöttischen Lächeln auf den Lippen -- und
schließlich wurde er ungeduldig und machte sich los.

In diesem Augenblick traten die Damen wieder ein.

Warwara Petrowna führte Lisa zu ihrem alten Platz und versicherte
lebhaft, daß es den gereizten Nerven unmöglich gut tun könne, wenn sie
gleich an die frische Luft ginge: sie solle sich doch erst wenigstens
zehn Minuten erholen! Und sie setzte sich neben Lisa und bemühte sich in
einer schon recht auffallenden Weise um diese.

Pjotr Stepanowitsch lief auch gleich hinzu und begann ein lebhaftes und
lustiges Gespräch.

Währenddessen trat nun Stawrogin endlich mit seinen langsamen Schritten
zu Darja Pawlowna. Dascha schrak förmlich zurück, als sie ihn auf sich
zukommen sah, und feuerrot, verwirrt, fast taumelnd erhob sie sich
schnell.

»Ich glaube, man kann Ihnen gratulieren ... oder noch nicht?« Er fragte
es mit einem sonderbaren Zug um den Mund, den ich noch nie an ihm
bemerkt hatte.

Dascha antwortete ihm irgend etwas, aber die Worte konnte ich nicht
verstehen.

»Verzeihen Sie, bitte, die Aufdringlichkeit,« sagte er und sprach
lauter, »aber Sie wissen doch, daß man mich absichtlich davon
benachrichtigt hat? Wissen Sie das?«

»Ja, ich weiß, daß Sie absichtlich davon benachrichtigt worden sind.«

»Nun, ich hoffe, mein Glückwunsch hat nicht gestört,« meinte er lachend,
-- »und wenn Stepan Trophimowitsch ...«

»Wozu, wozu gratulieren?« Pjotr Stepanowitsch lief schnell herbei,
»wozu, wozu gratulieren, Darja Pawlowna? Bah! doch nicht etwa dazu?
Wirklich! Ihre Farbe beweist, daß ich recht geraten habe! In der Tat
gibt es doch nur eine einzige Art Glückwunsch, bei dem unsere schönen,
sittsamen jungen Damen zu erröten pflegen. Nun, so empfangen Sie ihn
denn auch von mir, wenn ich's richtig erraten habe! Bezahlen Sie aber
auch bitte die Wette! Sie werden sich doch noch erinnern, daß wir in der
Schweiz gewettet haben? Sie sagten, daß Sie niemals heiraten würden und
ich sagte das Gegenteil. Nun, und eigentlich bin ich ja halbwegs deshalb
aus der Schweiz hierher gereist ... Apropos -- Schweiz! Aber sag mir
doch,« er drehte sich schnell zu Stepan Trophimowitsch herum, »wann
fährst du denn jetzt in die Schweiz?«

»Ich? ... in die Schweiz?« fragte Stepan Trophimowitsch überrascht und
verwirrt.

»Ja, wie denn? Fährst du denn nicht? Aber du heiratest doch ... du
schriebst es doch!«

»_Pierre!_« rief Stepan Trophimowitsch streng.

»Was denn, _Pierre_! Sieh mal, wenn es dir angenehm zu hören ist, so bin
ich hierher geflogen, um dir mitzuteilen, daß ich durchaus nichts
dagegen einzuwenden habe! Du wolltest doch meine Meinung möglichst bald
wissen! Wenn man dich aber >retten< muß, wie du in demselben Brief
schreibst, so stehe ich dir dito zu Diensten. Ist es wahr, daß er
heiratet, Warwara Petrowna?« und wieder drehte er sich schnell zu
dieser. »Ich nehme an, daß ich hier nicht von Geheimnissen rede. Er
schreibt ja selbst, daß die ganze Stadt es bereits weiß, daß ihm alle
bereits ihre Glückwünsche darbringen wollen, und daß er, um dem zu
entgehen, nur noch in der Nacht das Haus verlassen kann. Den Brief habe
ich in der Tasche. Ganz klug bin ich freilich nicht aus ihm geworden.
Sag selbst, Stepan Trophimowitsch, was soll man nun eigentlich: -- soll
man dir >gratulierenrettenHeirate sozusagen fremde Sünden<, oder wie du
dich da ausdrückst, -- mit einem Wort: >Sünden< sind dabei. >Das
Mädchen<, schreibst du, >ist ein Juwel<, und du, nun natürlich, du bist
ihrer >nicht wert<. Das ist nun einmal sein Stil,« sagte er wieder zu
Warwara Petrowna gewandt. »Wegen irgendwelcher >fremden Sünden< ist er
>gezwungen, zum Altar zu gehen und in die Schweiz zu reisen<, und darum:
>fliege her, um mich zu retten!< Begreifen Sie etwas? Aber ich sehe ...
mir scheint ... ich bemerke am Ausdruck der Gesichter, daß --« er drehte
sich nach allen Seiten um und sah die Anwesenden mit dem unschuldigsten
Lächeln an, -- »daß ich nach meiner Gewohnheit wieder einmal eine
Dummheit gemacht habe ... mit meiner Aufrichtigkeit, oder, wie Nicolai
Wszewolodowitsch sagt -- Eilfertigkeit ... Ich glaubte doch, daß wir
hier unter Freunden sind? Das heißt selbstverständlich unter deinen
Freunden, Stepan Trophimowitsch, nur unter deinen, denn ich bin hier ja
fremd ... und nun sehe ich ... sehe ich, daß alle irgend etwas wissen,
und nur ich dieses >Etwas< nicht weiß ...«

Er sah sich noch immer im Kreise um.

»So hat Ihnen Stepan Trophimowitsch geschrieben, daß er >fremde Sünden<
heiraten müsse?« Warwara Petrowna trat mit entstelltem, fast gelbem
Gesicht und zuckenden Mundwinkeln auf Pjotr Stepanowitsch zu.

»Ja, sehen Sie, das heißt, wenn ich hier etwas nicht verstanden haben
sollte, so ist das natürlich meine Schuld. Aber ich denke doch ...
selbstverständlich: er schreibt so! Hier habe ich ja den Brief -- den
wichtigsten. Wissen Sie, Warwara Petrowna, endlose Briefe und
schließlich einfach ein Brief nach dem anderen, so daß ich sie später
gar nicht mehr zu Ende las ... Verzeih mir das Geständnis, Stepan
Trophimowitsch, aber, nicht wahr, im Grunde hast du sie, wenn du sie
auch an mich adressiert hast, doch mehr für die Nachgeborenen
geschrieben. Reg' dich nicht auf, es macht ja weiter nichts. Aber diesen
Brief hier, Warwara Petrowna, den habe ich ganz gelesen. Denn diese
>Sünden<, diese >fremden Sünden<: das sind doch bestimmt irgendwelche
von seinen eigenen Sünden und ich könnte wetten, die allerunschuldigsten
-- er aber macht daraus selbstredend eine furchtbare Geschichte, so eine
mit einem edlen Zuge, und vielleicht ist die ganze Geschichte nur um
dieses Zuges willen herbeigezogen. Es gibt da nämlich noch gewisse
Abrechnungen, die nicht ganz stimmen mögen, wozu das verheimlichen!
Denn, wissen Sie, man muß es doch endlich gestehen, wir pflegen dem
Kartenspiel nun einmal etwas zugetan zu sein ... Aber nein, Verzeihung,
das ist schon überflüssig, das ist schon wirklich ganz überflüssig,
Verzeihung! Doch was ich sagen wollte, Warwara Petrowna, erschreckt hat
er mich tatsächlich, und ich schickte mich schon allen Ernstes an, ihn
zu >retten<. Bin ich denn ein Halsabschneider? Er schreibt da etwas von
einer Mitgift ... Aber übrigens, heiratest du nun wirklich, Stepan
Trophimowitsch? Doch wir reden hier und reden und ich langweile Sie
bestimmt nur ... und Sie, Warwara Petrowna, verurteilen mich gewiß ...«

»Im Gegenteil, im Gegenteil, ich sehe nur, daß Sie die Geduld verloren
haben und dazu hatten Sie ja auch Grund genug,« sagte Warwara Petrowna
mit einem bösen Lächeln.

Sie hatte die ganze Zeit mit boshafter Genugtuung Pjotr Stepanowitsch
zugehört, der augenscheinlich eine bestimmte Rolle spielte. (Was für
eine, und wozu? -- das wußte ich damals nicht! Aber er spielte eine
Rolle, und spielte sie ungeschickt.)

»Ganz im Gegenteil,« fuhr Warwara Petrowna fort, »ich bin Ihnen nur zu
dankbar dafür. Ohne Sie hätte ich nichts erfahren. So öffne ich jetzt
zum erstenmal seit zwanzig Jahren die Augen und sehe. Nicolai
Wszewolodowitsch, Sie erwähnten vorhin, daß Sie absichtlich
benachrichtigt worden seien. Hat Stepan Trophimowitsch auch Ihnen in
dieser Art und Weise geschrieben?«

»Ich erhielt von ihm allerdings einen ganz unschuldigen und ... und sehr
... edelmütigen Brief ...«

»Sie stocken, Sie suchen nach Worten -- schon gut! Stepan
Trophimowitsch, Sie haben mir einen großen Gefallen zu erweisen,« wandte
sie sich plötzlich mit blitzenden Augen an diesen. »Haben Sie die Güte,
uns sofort zu verlassen und die Schwelle meines Hauses nie mehr zu
überschreiten.«

Was mich an der ganzen Szene am meisten wunderte, das war die
erstaunliche Würde, mit der Stepan Trophimowitsch sich hielt. Während
der ganzen »Überführung« durch seinen Sohn und selbst unter dem »Fluch«
Warwara Petrownas machte er nicht ein einziges Mal Miene, sich auch nur
zu verteidigen. Woher nahm er so viel Charakterfestigkeit? Ich habe
später erfahren, daß ihn seines Sohnes Betragen gleich beim ersten
Wiedersehen tief und schmerzlich gekränkt hatte. Das aber war schon ein
ehrliches, ein _echtes_ Leid. Und hinzu kam dann noch der andere
Schmerz: die quälende Selbsterkenntnis, daß er sich niedrig benommen
hatte. Das alles gestand er mir später selbst mit seiner ganzen
Offenherzigkeit. Nun, und ein wirkliches Leid und ein echter Schmerz
können doch sogar einen außergewöhnlich leichtsinnigen und
oberflächlichen Menschen ernst und standhaft machen, wenn auch nur auf
kurze Zeit. Ja, wirkliches Leid hat selbst aus Dummköpfen Kluge gemacht,
wenn auch freilich gleichfalls nur auf kurze Zeit; das ist schon so eine
Eigenschaft des Leides. Wenn dem aber so ist, was konnte dann nicht
alles mit einem Menschen wie Stepan Trophimowitsch geschehen? Da konnte
ja echter Schmerz eine vollkommene Umwandlung bewirken! -- Freilich auch
hier nur auf einige Zeit ...

Er verbeugte sich würdevoll vor Warwara Petrowna, und ohne ein Wort zu
sagen (allerdings blieb ihm ja auch nichts anderes übrig), wollte er
schon hinausgehen, als er es doch nicht über sich gewann und zu Darja
Pawlowna trat. Diese mochte das schon vorausgefühlt haben, denn sie ging
ihm sofort entgegen und begann, in ihrem Schreck, schnell selbst zu
sprechen, als hätte sie ihm nur ja zuvorkommen wollen.

»Sagen Sie nichts, Stepan Trophimowitsch, sagen Sie nichts, um Gottes
willen,« sie streckte ihm erregt die Hand entgegen, in ihrem Gesicht
zuckte es schmerzlich. »Seien Sie versichert, daß ich Sie immer
hochachten werde, Stepan Trophimowitsch, und denken Sie auch von mir
nicht schlecht, Stepan Trophimowitsch, ich ... ich werde das immer sehr,
sehr schätzen ...«

Stepan Trophimowitsch verbeugte sich tief vor ihr.

»Es ist dein freier Wille, Darja Pawlowna, du weißt, daß du in dieser
ganzen Angelegenheit vollkommen frei handeln kannst,« sagte plötzlich
Warwara Petrowna bedeutsam.

»Ach! Nun -- nun begreife ich alles!« rief da Pjotr Stepanowitsch aus
und schlug sich vor die Stirn. »Aber ... aber in was für eine Lage hat
man mich denn nun gebracht? Oh, verzeihen Sie mir, Darja Pawlowna,
verzeihen Sie, wenn Sie können! ... Du aber,« wandte er sich an seinen
Vater, »du hast mich ja in eine schöne Lage gebracht!«

»_Pierre_, du könntest dich auch anders ausdrücken, wenn du mit mir
sprichst,« sagte Stepan Trophimowitsch halblaut.

»Schrei nur nicht so! Fang nur nicht an zu schreien, ich bitte dich,«
fiel ihm _Pierre_, mit den Armen fuchtelnd, ins Wort. »Glaub mir, das
sind alles nur alte kranke Nerven und Schreien nutzt da gar nichts. Sag
mir lieber, warum du mich dann nicht gleich darauf vorbereitet hast?
Konntest dir doch denken, daß ich hier nach meiner Ankunft sogleich auch
darauf zu sprechen kommen würde!«

Stepan Trophimowitsch blickte ihm offen in die Augen.

»_Pierre_, du, der du so viel von dem weißt, was hier vorgeht, solltest
du wirklich von dieser Sache nichts, nicht das Geringste gewußt, gehört
haben?«

»W--a--as? Na, hör mal ... aber das ist doch! Wir sind also nicht nur
ein altes Kind, sondern auch noch ein böses dazu? ... Haben Sie gehört,
Warwara Petrowna?«

Es entstand eine Unruhe im Zimmer. Da sollte aber plötzlich etwas
geschehen, was niemand auch nur hätte für möglich halten oder gar
voraussehen können.


                                 VIII.

Zunächst muß ich noch erwähnen, daß in den letzten zwei bis drei Minuten
Lisaweta Nicolajewna von einer neuen Unruhe ergriffen worden war. Sie
hatte schnell ihrer Mutter etwas zugeflüstert, und dann Mawrikij
Nicolajewitsch, der sich zu ihr niederbeugte. Ihr Gesicht war erregt,
doch zugleich drückte es Entschlossenheit aus. Offenbar hatte sie es
jetzt sehr eilig, fortzukommen, denn als Mawrikij Nicolajewitsch die
Mama vorsichtig aus dem Lehnstuhle zu heben begann, wollte sie schon
helfen -- aber sie bezwang sich noch.

Doch das Schicksal schien es nicht zu wollen, daß sie oder sonst jemand
das Zimmer verließ, ohne das Ende des Ganzen mit angesehen zu haben.

Schatoff, den alle in seiner Ecke völlig vergessen hatten, und der, wie
es schien, selbst nicht recht wußte, warum er da saß und noch nicht
fortgegangen war -- erhob sich plötzlich von seinem Stuhl und ging mit
nicht schnellen, doch festen Schritten durch das ganze Zimmer auf
Nicolai Stawrogin zu, ihm gerade ins Gesicht sehend.

Stawrogin war der erste, der sofort bemerkte, daß Schatoff sich erhob,
und er lächelte kaum -- kaum merklich; doch als Schatoff unmittelbar vor
ihm stand, hörte er auf, zu lächeln.

Jetzt erst, als Schatoff schweigend vor ihm stehen blieb und keinen
Blick von ihm abwandte, bemerkten auch die anderen die beiden.

Alle verstummten -- Pjotr Stepanowitsch ganz zuletzt. Lisa und die Mama
blieben mitten im Zimmer stehen.

So vergingen ungefähr fünf Sekunden.

Der Ausdruck dreister Befremdung in Nicolai Stawrogins Gesicht
verwandelte sich in Zorn, er runzelte die Brauen und -- plötzlich ...

Und plötzlich holte Schatoff mit seinem langen, schweren Arm weit aus
und schlug ihn ins Gesicht.

Stawrogin wankte.

Schatoff hatte ganz eigentümlich geschlagen, nicht so, wie man sonst
Ohrfeigen zu geben pflegt, nicht mit der flachen Hand, sondern mit der
festen, geballten Faust -- die aber war bei ihm groß, schwer, knochig,
mit rötlichem Flaum und Sommersprossen bedeckt. Wenn der Schlag das
Nasenbein getroffen hätte, so würde er es unfehlbar zerschlagen haben,
doch er traf mehr die Wange, den linken Mundwinkel und den Oberkiefer,
aus dem denn auch sofort Blut zu tropfen begann.

Ich glaube, wir schrien alle auf. Oder vielleicht war es auch nur
Warwara Petrowna, die aufschrie. Ich weiß es nicht mehr, jedenfalls war
es gleich darauf totenstill. Übrigens dauerte der ganze Zwischenfall
nicht länger als zehn Sekunden.

Trotzdem geschah in diesen zehn Sekunden unendlich viel.

Nicolai Stawrogin gehörte zu den Naturen, die Angst überhaupt nicht
kennen. Im Duell stand er, während sein Gegner auf ihn zielte, mit der
größten Kaltblütigkeit da. Kam er zum Schuß, so zielte und tötete er mit
einer Ruhe, die fast tierisch war. Wenn ihn jemand ins Gesicht
geschlagen hätte, so würde er ihn gar nicht erst lange gefordert,
sondern ihn einfach auf der Stelle totgeschlagen haben: gerade zu diesen
Menschen gehörte er, die mit vollem Bewußtsein töten, und nicht etwa in
einem Zustande, in dem der Mensch außer sich und unzurechnungsfähig ist.
Ja, ich glaube sogar, solche Wutausbrüche, die einen blenden und
benommen machen, kannte er überhaupt nicht. Selbst bei dem unermeßlichen
Zorn, der sich seiner bisweilen bemächtigte, behielt er sich immer noch
vollkommen in der Gewalt, und war sich dessen bewußt, daß ein Totschlag,
den er nicht im Duell beging, ihn zum sibirischen Sträfling machen
würde; und dennoch würde er den Beleidiger auf der Stelle erschlagen
haben, und zwar ohne auch nur einen Augenblick davor zurückzuschrecken.

Ich habe mich immer bemüht, Nicolai Stawrogin richtig zu verstehen. Dank
mancher glücklichen Umstände weiß ich vieles über ihn. Nahe liegt mir
vor allem, ihn mit gewissen großen russischen Männern zu vergleichen,
von denen sich bei uns noch einige legendäre Erinnerungen erhalten
haben.

So erzählt man zum Beispiel von dem Dekabristen[33] L--n, er habe immer
mit Absicht die Gefahr gesucht, habe sich an ihr berauscht und sie zu
seinem Lebensbedürfnis gemacht: als junger Mensch habe er sich fast
grundlos herumduelliert, in Sibirien sei er, nur mit einem Messer
bewaffnet, auf die Bärenjagd gegangen und habe in den Wäldern mit
entsprungenen Verbrechern, die, nebenbei bemerkt, noch gefährlicher als
Bären sind, zusammenzutreffen gesucht. Zweifellos kannte ein Mann wie
dieser L--n ganz genau das Gefühl der Angst: aber gerade dieses Gefühl
in sich zu überwinden -- das war es, was ihn reizte. Übrigens hatte
dieser selbe L--n in der letzten Zeit vor seiner Verschickung nach
Sibirien eine furchtbare Hungerzeit durchgemacht und sich durch die
schwerste Arbeit sein Brot verdient, nur weil er sich den Wünschen
seines reichen Vaters nicht fügen wollte. Also hatte er nicht nur im
Kampf mit Bären und im Duell seine Standhaftigkeit und Willensstärke zu
erproben und zu beweisen gesucht.

Doch seitdem sind viele Jahre vergangen, und die nervöse, zerquälte und
gespaltene Natur der Menschen unserer Zeit läßt das Bedürfnis nach
solchen unmittelbaren und ungeteilten Empfindungen, wie sie damals von
manchen in ihrem Lebensdrang unruhigen Männern der guten alten Zeit so
sehr gesucht wurden, überhaupt nicht mehr aufkommen. Stawrogin hätte auf
diesen L--n vielleicht hochmütig herabgesehen, hätte ihn einen Feigling
genannt, der sich immer selbst ermutigen müsse, ein Hähnchen, oder so
ähnlich -- nur würde er sich nie laut darüber geäußert haben. Auch er
hätte im Duell den Gegner erschossen wie er es ja tatsächlich getan,
auch er hätte mit Bären gekämpft, und auch dem Räuber im Walde wäre er
ebenso sicher und furchtlos entgegengetreten: nur hätte er alles das
ohne das geringste Empfinden eines Genusses, sondern einfach aus
unangenehmer Notwendigkeit getan -- schlaff, faul, vielleicht sogar
gelangweilt. Das Böse in ihm war selbstredend gewachsen, im Vergleich zu
L--n, ja selbst zu Lermontoff. In ihm war es vielleicht noch größer als
in diesen beiden zusammen, aber dieses Böse war, wie gesagt, kalt und
ruhig, war, wenn ich mich so ausdrücken darf, _vernünftig_ -- und somit
das Widerlichste, das Furchtbarste, das es überhaupt geben kann.

Also noch einmal: ich hielt ihn damals und halte ihn auch heute noch,
nachdem alles schon vorüber ist, für gerade so einen Menschen, der, wenn
er einen Schlag ins Gesicht erhält, den Beleidiger sofort und ohne
Zögern totschlägt.

Und doch geschah in diesem Falle etwas ganz anderes -- etwas
Rätselhaftes.

Kaum stand Nicolai Stawrogin wieder fest und aufrecht, nachdem er unter
der Wucht des Schlages schmählich gewankt hatte, kaum war der gemeine,
gleichsam nasse Schall des Schlages verhallt -- da packte er auch schon
Schatoff mit beiden Händen fest an den Schultern. Aber sofort, ja schon
im selben Augenblick, riß er die Hände wieder zurück und kreuzte sie auf
dem Rücken. Er schwieg. Er sah nur Schatoff an. Und sein Gesicht wurde
fahl. Doch sonderbar: sein Blick erlosch gleichsam. Aber schon nach zehn
Sekunden blickten seine Augen wieder kalt und -- ich bin überzeugt, daß
ich mich nicht getäuscht habe -- vollkommen ruhig: nur bleich war er
noch wie ein Hemd. Freilich weiß ich nicht, was in seinem Innern
vorging, ich sah nur das Äußere.

Ich glaube, ein Mensch, der z. B. ein rotglühendes Eisenstück ergreift
und es in der Hand preßt, um seine Standhaftigkeit zu erproben, und der
dann zehn Sekunden lang einen unerträglichen Schmerz aushält und damit
endet, daß er ihn bezwingt -- ich glaube, ein solcher Mensch würde
ähnliches empfinden wie Nicolai Stawrogin in diesen zehn Sekunden.

Der erste von beiden, der die Augen niederschlug, war Schatoff, und wie
man sah, weil er dazu gezwungen war. Darauf wandte er sich langsam um
und verließ das Zimmer, doch nicht mehr mit demselben festen Schritt,
mit dem er vorhin auf Stawrogin zugeschritten war. Er ging leise und
ganz besonders ungelenk hinaus, mit gehobenen Schultern, gleichsam
bucklig und mit gesenktem Kopf, als dächte er schweren Gedanken nach.
Ich glaube, er murmelte irgend etwas. Bis zur Tür ging er vorsichtig,
ohne irgendwo anzustoßen oder etwas umzuwerfen, die Tür selbst aber
öffnete er nur ein wenig, so daß er sich dann beinahe seitwärts wie
durch einen Spalt durchschob. Gerade dort an der Tür war sein
Haarschopf, der steif auf dem Kopfwirbel abstand, ganz besonders
bemerkbar.

Kaum war die Türe hinter ihm geschlossen, als noch vor allen Ausrufen
ein furchtbarer Schrei durch das Zimmer gellte. Ich sah, wie Lisaweta
Nicolajewna ihre Mutter an der Schulter und Mawrikij Nicolajewitsch am
Arm packte, sie zwei- oder dreimal mitriß, als wolle sie so schnell wie
nur möglich weg von hier, doch plötzlich stieß sie den Schrei aus und
stürzte ohnmächtig längelang hin. Noch jetzt glaube ich zu hören, wie
ihr Kopf auf den Teppich schlug.




                           Sechstes Kapitel.
                               Die Nacht


                                   I.

Es vergingen acht Tage. Jetzt, wo alles vorüber ist und ich die Chronik
schreibe, wissen wir, was hinter dem Ganzen sich verbarg; doch damals
wußten wir noch nichts, und nur natürlich ist es, daß uns vieles seltsam
erschien. Wir, d. h. Stepan Trophimowitsch und ich, zogen uns zunächst
vollständig zurück und beobachteten aus der Ferne, -- nicht ohne
Schrecken. Nur ich begab mich hin und wieder unter Menschen und brachte
meinem Freunde verschiedene Nachrichten, ohne die er es nicht aushielt.

In der Stadt sprach man selbstverständlich über nichts anderes als die
Ohrfeigengeschichte, Lisas Ohnmachtsanfall und all das andere, was an
jenem Sonntag Vormittag geschehen war. Nur eines war dabei befremdlich:
durch wen waren diese Begebnisse so schnell und so genau bekannt
geworden? Eigentlich hatte doch keiner von den Anwesenden irgendeinen
Vorteil davon, wenn er das Geschehene ausplauderte. Dienstboten waren
nicht zugegen gewesen. So blieb Lebädkin: er allein hätte das eine oder
andere erzählen können, weniger aus Bosheit, als einfach deshalb, weil
er Geheimnisse nun einmal nicht für sich behalten konnte. Lebädkin aber
war am anderen Tage mitsamt seiner Schwester spurlos verschwunden und im
Filippoffschen Hause konnte mir niemand über seinen Verbleib Auskunft
geben. Schatoff jedoch, bei dem ich mich nach Marja Timofejewna
erkundigen wollte, hatte seine Tür zugeschlossen und verließ in dieser
ganzen ersten Woche kein einziges Mal sein Zimmer. Ich ging am Dienstag
wieder zu ihm und klopfte an die Tür, und da ich, obgleich alles still
blieb, fest überzeugt war, daß er in seinem Zimmer sei, klopfte ich
wieder und wieder. Plötzlich hörte ich, wie er aufsprang, wahrscheinlich
von seinem Bett, mit schnellen Schritten zur Tür kam und mit lauter
Stimme »Schatoff ist nicht zu Hause!« rief. Da blieb mir nichts anderes
übrig, als fortzugehen.

Schließlich kamen Stepan Trophimowitsch und ich auf einen Gedanken, der
uns zunächst gewagt erschien, doch zu dem wir uns gegenseitig immer
wieder ermutigten, nämlich, daß es nur sein Sohn Pjotr Stepanowitsch
gewesen sein konnte, der die ganze Geschichte in der Stadt verbreitet
hatte, obwohl er in einem Gespräch mit seinem Vater versichert hatte, er
habe schon am Montag früh an allen Ecken und Enden von den Vorfällen
erzählen gehört, aber namentlich Abends im Klub, und sogar dem
Gouverneur und seiner Frau seien selbst die kleinsten Kleinigkeiten
bereits bekannt gewesen. Bemerkenswert ist auch noch, daß Liputin, den
ich an eben diesem Montag abends auf der Straße traf, mir auch schon
alles Vorgefallene fast Wort für Wort und Zug für Zug zu erzählen wußte.

Viele Damen, besonders die der besten städtischen Gesellschaft,
erkundigten sich auch angelegentlich nach der »rätselhaften Lahmen«, wie
man Marja Timofejewna allgemein nannte. Und nicht minder interessierten
sie sich für den Ohnmachtsanfall Lisaweta Nicolajewnas, zumal dieser ja
auch Julija Michailowna, als Lisas Verwandte und besondere Beschützerin,
anging. Und was erzählte man sich nicht alles in den verschiedenen
Kreisen der Stadt! Hinzu kam, daß beide Häuser für alle und jeden
verschlossen blieben. Lisaweta Nicolajewna, hieß es alsbald, läge im
stärksten Nervenfieber, und dasselbe erzählte man auch von Nicolai
Stawrogin, wobei man sich dann in den widerlichsten ausführlichen
Beschreibungen seines Zustandes, über einen angeblich ausgeschlagenen
Zahn und eine geschwollene Backe, nicht genug tun konnte. In
verschwiegenen Winkeln aber glaubte man schon ganz genau zu wissen, daß
in der nächsten Zeit ein Mord stattfinden werde, ein heimlicher, wie in
einer korsischen Vendetta, denn Stawrogin sei nicht der Mann, der eine
solche Beleidigung vergäße. Im allgemeinen sah man deutlich, wie der
alte Haß gegen Nicolai Stawrogin wieder auflebte, denn selbst
ehrwürdige, sonst ganz gutmütige Leute wußten nichts Besseres zu tun,
als ihn zu beschuldigen, allerdings ohne selber recht zu wissen, was er
verbrochen haben sollte.

Vor allem aber erzählte man sich flüsternd, natürlich unter dem Siegel
der tiefsten Verschwiegenheit, daß es zwischen Nicolai Stawrogin und
Lisa Tuschina in der Schweiz zu einer bösen Geschichte gekommen sei, und
er ihre Ehre auf dem Gewissen habe, und daß sie später durch eine
Intrigue entzweit worden seien. Freilich beobachteten vorsichtigere
Leute eine gewisse Zurückhaltung solchen Geschichten gegenüber, aber
zuhören taten doch alle mit Begierde.

Aber es gab auch noch andere Gerüchte, nur wurden sie nicht so
allgemein, sondern nur dann besprochen, wenn man unter sich war. Ja,
eigentlich war es kaum mehr als ein Gemunkel, das ich nur erwähne, um
den Leser im Hinblick auf die späteren Ereignisse zum Aufmerken zu
veranlassen. Es handelte sich dabei um folgendes: manche Leute sprachen
nämlich, indem sie unmutig die Stirn runzelten, von dem Gott weiß woher
aufgetauchten Gerücht, Nicolai Stawrogin sei zu einem ganz bestimmten
Zweck in unser Gouvernement geschickt worden; durch den Grafen K. habe
er in Petersburg zu irgendwelchen höchsten Spitzen Beziehungen
angeknüpft, ja, vielleicht sei er sogar in den Staatsdienst getreten und
jetzt womöglich mit irgendwelchen hochwichtigen Aufträgen hergesandt.
Als nun gewichtige und ernsthafte Leute über dieses Gerücht lächelten
und vernünftig bemerkten, daß ein Mensch, der von Skandalen lebte und
bei uns damit begann, daß er sich ungestraft ohrfeigen ließ, einem
Staatsdiener nicht gerade ähnlich sähe, da wurde ihnen leise
zugetuschelt, daß er ja gar nicht offiziell, sondern nur sozusagen
konfidentiell diesen Auftrag erhalten habe, und in solchem Falle sei es
im Interesse der Sache sogar wünschenswert, daß der betreffende
Vertrauensmann möglichst wenig an einen Staatsdiener erinnere. Diese
Vorhaltungen verfehlten ihre Wirkung nicht, denn es war bei uns bekannt,
daß man die Landesvertretung in unserem Gouvernement dort in der
Hauptstadt mit einer gewissen besonderen Aufmerksamkeit im Auge behielt.
Doch wie gesagt, dieses Gemunkel dauerte nur eine Zeitlang an und
verstummte sogleich, als Nicolai Stawrogin wieder persönlich erschien.
Im übrigen aber muß ich noch erwähnen, daß der Ursprung vieler dieser
Gerüchte zum Teil ein paar kurze, doch gehässige Bemerkungen gewesen
waren, die der Gardeoffizier a. D., Rittmeister Artemij Pawlowitsch
Gaganoff, ein sehr reicher Gutsbesitzer unseres Gouvernements und
Kreises, dabei Petersburger Weltmann, im Klub hatte fallen lassen, wenn
auch in etwas unklaren und schroffen Worten. Dieser Rittmeister a. D.
war der Sohn des verstorbenen Pjotr Pawlowitsch Gaganoff, jenes selben
alten Würdenträgers, den Nicolai Stawrogin vor vier Jahren im Klub auf
so unverzeihliche Weise beleidigt hatte.

Bekannt war auch schon geworden, daß Julija Michailowna Warwara Petrowna
einen Besuch hatte machen wollen, man ihr aber an der Vorfahrt
mitgeteilt habe, Warwara Petrowna könne »wegen Krankheit« leider nicht
empfangen; ferner, daß Julija Michailowna zwei Tage darauf ihren Diener
zu Warwara Petrowna geschickt hätte, um sich nach deren Befinden zu
erkundigen; und schließlich hatte sie sogar angefangen, Warwara Petrowna
persönlich zu »verteidigen«, wenn auch nur in höherem Sinne, d. h. in
einer ganz allgemeinen Weise. Alle anfänglichen Bemerkungen über den
Vorfall an jenem Sonntag hörte sie kalt und streng an, so daß man schon
sehr bald in ihrer Gegenwart nicht mehr davon zu sprechen wagte.
Zugleich verbreitete sich dadurch die Überzeugung, Julija Michailowna
habe nicht nur wie die anderen einzelne Gerüchte gehört, sondern wisse
sogar alle letzten Einzelheiten, und zwar wie eine »Mitbeteiligte«. Ich
bemerke bei dieser Gelegenheit, daß es Julija Michailowna zum Teil schon
gelungen war, jenen höheren Einfluß zu erringen, nach dem sie so
augenscheinlich strebte. Ein Teil der Gesellschaft sprach ihr bereits
praktischen Verstand zu und viel Takt -- aber davon später! Jedenfalls
war es nicht zum wenigsten ihre Protektion, die den schnellen Aufstieg
Pjotr Stepanowitschs in unserer Gesellschaft erklärte -- seine
gesellschaftlichen Erfolge, die damals am meisten seinen Vater Stepan
Trophimowitsch in Erstaunen setzten.

Pjotr Stepanowitsch wurde fast im Nu mit der ganzen Stadt bekannt. Am
Sonntag war er angekommen, und schon am Dienstag sah ich ihn mit dem
stolzen, hochmütigen, sonst geradezu unnahbaren Artemij Pawlowitsch
Gaganoff, in freundschaftlichem Gespräch begriffen, in einer Equipage
vorüberfahren. Im Hause des Gouverneurs wurde Pjotr Stepanowitsch
gleichfalls vorzüglich aufgenommen, so daß er dort schon nach wenigen
Tagen die Rolle des gehätschelten jungen Mannes spielte und fast täglich
bei ihnen speiste. Die Bekanntschaft Julija Michailownas hatte er
allerdings schon in der Schweiz gemacht, aber nichtsdestoweniger war
sein schneller Erfolg im Hause Seiner Exzellenz zum mindesten etwas
sonderbar. Hatte es denn nicht von ihm geheißen, er sei ein
Revolutionär? Hatte er sich nicht an allen möglichen ausländischen
Veröffentlichungen und Kongressen beteiligt? »Aus alten Zeitungen kann
ich Ihnen das sogar schwarz auf weiß nachweisen!« sagte einmal Aljoscha
Telätnikoff wütend zu mir, er, der Arme, der im Hause des alten
Gouverneurs auch einmal der gehätschelte Junge gewesen war und nun als
abgesetzter Beamter sein Leben fristete. Tatsache war eines: der
ehemalige Revolutionär trat in Rußland ohne die geringste Behelligung
auf -- also waren alle Gerüchte vielleicht völlig unbegründet gewesen?
Liputin flüsterte mir einmal zu, Pjotr Stepanowitsch habe sich die
Begnadigung durch die Angabe anderer Namen erkauft und stehe seitdem in
Beziehung zu hohen Stellen. Ich teilte diese gehässige Äußerung Liputins
Stepan Trophimowitsch mit, der darob sehr nachdenklich wurde. Später
stellte es sich heraus, daß Pjotr Stepanowitsch mit sehr guten
Empfehlungen zu uns gekommen war: so z. B. hatte er Julija Michailowna
von der Gattin einer der ersten Persönlichkeiten Petersburgs einen
langen Brief überbracht, in dem unter anderem erwähnt war, daß auch Graf
K. Pjotr Stepanowitsch durch Nicolai Stawrogin kennen gelernt und ihn
einen »interessanten jungen Mann, trotz der früheren Verirrungen«,
genannt habe. Julija Michailowna schätzte ihre spärlichen, so mühevoll
aufrecht erhaltenen Beziehungen zur »hohen Gesellschaft« bis zur
Unglaublichkeit, und so hatte sie sich denn über den Brief jener hohen,
alten Dame ungemein gefreut. Trotzdem gab es hier noch etwas
Unerklärliches. Sogar ihren Mann stellte sie zu Pjotr Stepanowitsch in
fast familiäre Beziehung, so daß Herr von Lembke sich schon beklagte --
doch davon gleichfalls später! Bemerken möchte ich nur noch, daß selbst
Karmasinoff, der »_große_ Schriftsteller«, sich äußerst wohlwollend zu
Pjotr Stepanowitsch verhielt und ihn sofort zu sich einlud -- eine
Eilfertigkeit dieses eingebildeten Menschen, die Stepan Trophimowitsch
noch schmerzhafter als alles andere verletzte. Ich erklärte sie mir
allerdings anders, nämlich: daß Karmasinoff durch diesen »Nihilisten«,
für den er Pjotr Stepanowitsch zweifellos hielt, mit der
fortschrittlichen Jugend in Fühlung treten wollte. Der »große
Schriftsteller« zitterte geradezu vor der Revolutionsbewegung der
Studentenkreise, und da er sich in seiner Unkenntnis der Sache
einbildete, in ihren Händen liege der Schlüssel zur Zukunft Rußlands, so
wollte er, nachdem er es erst mit den Alten gehalten hatte, es auch mit
den Jungen nicht verderben, und suchte ihnen, hauptsächlich deshalb,
weil sie ihrerseits für ihn nur Mißachtung hatten, in jeder nur
möglichen, und wenn auch für ihn erniedrigenden Weise zu schmeicheln.


                                  II.

Pjotr Stepanowitsch war übrigens nur zweimal zu seinem Vater gekommen,
doch zu meinem Bedauern stets in meiner Abwesenheit. Das erste Mal hatte
er ihn am Mittwoch besucht, also ganze vier Tage nach seinem Eintreffen,
und auch dann nur in Geschäften.

Die Abrechnung wegen des Gutes war sozusagen im stillen abgetan worden.
Warwara Petrowna hatte einfach alles auf sich genommen und die ganze
Summe für das Gütchen, fünfzehntausend Rubel, Pjotr Stepanowitsch
ausgezahlt. Stepan Trophimowitsch wurde erst benachrichtigt, nachdem
alles schon abgeschlossen war. Ihr Kammerdiener Alexei Jegorowitsch
überbrachte ihm irgendein Schriftstück, das er dann stumm und würdevoll
unterzeichnete. Ja, eines möchte ich bei der Gelegenheit noch
ausdrücklich bemerken: unser »Alter« bewahrte in diesen Tagen eine
Haltung, wie nie zuvor, war würdevoll schweigsam, schrieb aber
tatsächlich nicht einen einzigen Brief an Warwara Petrowna, was ich
früher einfach nicht für möglich gehalten hätte, so daß ich unseren
früheren Stepan Trophimowitsch kaum wiedererkannte, und vor allem war er
ganz ruhig. Diese Ruhe hatte er offenbar plötzlich in einer bestimmten
großen Idee gefunden, und nun saß er da und wartete auf irgend etwas.
Ganz zuerst freilich, gleich am Montag früh, da war er krank -- wenn
sich auch bloß seine übliche Cholerine einstellte. Erzählte ich ihm von
dem, was man in der Stadt sprach, so hörte er aufmerksam zu. Wollte ich
dann aber auf den Kern der Sache übergehen, so winkte er mir sofort ab.
Die beiden Besuche seines Sohnes hatten ihn selbstverständlich sehr
erregt, aber nicht erschüttert oder wankend gemacht. Wohl legte er sich
nachher jedesmal, mit einer Essigkompresse um den Kopf, auf den Diwan:
aber im »höheren Sinne« blieb er, wie gesagt, doch ruhig.

Übrigens kam es zuweilen doch vor, daß er mir auch nicht abwinkte, wenn
ich mit meinen Erzählungen allzu sehr ins einzelne gehen wollte. Und
zuweilen schien es mir, als ob ihn seine geheimnisvolle Entschlossenheit
im Stiche ließe und er gegen neue stürmisch andrängende Ideen innerlich
zu kämpfen hätte.

Das geschah zwar nur in Augenblicken, aber ich erwähne sie. Ich ahnte
wohl, daß ihn dann der Wunsch anwandelte, aus seiner Einsamkeit
hervorzutreten, sich wieder zu zeigen und einen letzten Kampf zu wagen.

»Oh, _cher_, wie ich sie aufs Haupt schlagen würde!« rang es sich am
Donnerstag abend aus ihm hervor, nach Petruschas zweitem Besuch, als
Stepan Trophimowitsch wieder mit einer Essigkompresse auf dem Diwan lag.
Bis zu diesem Augenblick hatte er mit mir noch nicht ein einziges Wort
gesprochen.

»... >_Fils_<, >_fils chéri_<{[98]} und so weiter ... ich gebe ja zu,
daß diese Ausdrücke Unsinn sind, aus dem Wortschatz der Köchinnen
stammen, meinetwegen, ich gebe es selbst zu. Ich habe ihn nicht genährt
noch gekleidet, ich habe ihn gleich als Säugling aus Berlin per Post
nach Rußland geschickt. Ich gebe das, wie gesagt, ja vollkommen zu ...
>Du hast mich nicht genährt, nicht gekleidet, sondern per Post
fortgeschickt,< sagt er, >und hier hast du mich obendrein noch
bestohlen.< Aber, Unseliger, rufe ich ihm zu, für wen hat denn mein Herz
mein ganzes Leben lang geblutet, wenn ich dich auch damals per Post
fortgeschickt habe!? _Il rit._{[99]} Aber ich gebe ja zu, ich gebe ja zu
... wenn auch per Post --« schloß er, wie im Fieber phantasierend.

»_Passons_,«{[100]} begann er dann nach fünf Minuten wieder. »Ich kann
Turgenjeff nicht verstehen. Sein Basaroff[34] ist eine fiktive
Persönlichkeit, die überhaupt nicht existiert. Ich war ja selbst mit
unter den ersten, die sie als unmöglich zurückwiesen. Dieser Basaroff
ist gewissermaßen ein verschwommenes Gemisch von Nosdreff[35] und Byron.
_Oui, c'est le mot_,{[101]} -- Nosdreff und Byron. Betrachten Sie sie
einmal aufmerksam: sie schlagen Purzelbäume und quieken vor Freude wie
die jungen Hunde im Sonnenschein ... sie sind glücklich, sie sind
Sieger! Doch was Byron! Lassen wir den hier aus dem Spiel ... Und zudem
-- wie viel Alltag! Welch eine köchinnenhafte Reizbarkeit der
Eigenliebe! Welch ein erbärmliches Dürsten nach _faire du bruit autour
de son nom_, ohne zu bemerken, daß _son nom_{[102]} ... Oh, Karikaturen!
-- Aber erlaube, rufe ich ihm zu, willst du denn wirklich dich selbst,
so wie du bist, als Ersatz für Christus vorschlagen? _Il rit. Il rit
beaucoup. Il rit trop._ Er hat so ein sonderbares Lächeln. Seine Mutter
hatte nicht solch ein Lächeln. _Il rit toujours._«{[103]}

Wieder trat Schweigen ein.

»Sie sind schlau! Am Sonntag hatten sie sich verabredet ...« platzte er
plötzlich heraus.

»Zweifellos,« sagte ich schnell und spitzte die Ohren, »und dazu war die
ganze Komödie noch mit weißem Faden zusammengenäht und so ungeschickt
vorgespielt!«

»Davon rede ich nicht. Aber wissen Sie auch, daß das Ganze sogar
absichtlich mit weißem Faden zusammengenäht war? Damit es die merkten,
die es merken sollten? Verstehen Sie?«

»Nein, ich verstehe nicht --«

»_Tant mieux. Passons._{[104]} Ich bin heute etwas irritiert.«

»Ja, aber worüber haben Sie sich denn mit ihm gestritten, Stepan
Trophimowitsch?«

»_Je voulais convertir._ Sie lachen natürlich. _Cette pauvre_ Tantchen,
_elle entendra de belles choses_!{[105]} Oh, mein Freund, werden Sie es
mir glauben, daß ich mich vorhin ganz als Patriot fühlte! Übrigens habe
ich mich immer als Russe empfunden ... Und ein echter Russe kann auch
gar nicht anders sein, als wir beide sind. _Il y a là dedans quelque
chose d'aveugle et de louche._«{[106]}

»Unbedingt,« versetzte ich.

»Mein Freund, die wirkliche Wahrheit ist immer unwahrscheinlich, wissen
Sie das auch? Um die Wahrheit wahrscheinlich zu machen, muß man
unbedingt etwas Lüge hinzumischen. Und so haben es die Menschen denn
auch stets gehalten. Vielleicht ist hierbei etwas, was wir nicht
verstehen können. Was meinen Sie, ist hier nicht etwas, was wir nicht
verstehen, in diesem siegesgewissen Gekreisch? Ich würde wünschen, daß
es so wäre. Ich würde es wünschen ...«

Ich schwieg. Und auch er schwieg recht lange.

»Man sagt: >französischer Verstand!< ...« begann er plötzlich von neuem
und fast wie im Fieber. »Aber das ist eine Lüge. So ist es bei uns schon
immer gewesen. Wozu den französischen Verstand verleumden? Hier ist es
einfach russische Faulheit, unsere Kraftlosigkeit, unsere erniedrigende
Unfähigkeit, eine Idee hervorzubringen, unsere widerliche Parasitenrolle
unter den Völkern. _Ils sont tout simplement des paresseux_,{[107]} --
aber nicht >französischer Verstanddas
Rollen der Wagen, die Brot der Menschheit bringen< ... nützlicher als
die Sixtinische Madonna, oder wie sie da ... _une bêtise dans ce
genre_.{[109]} Aber siehst du denn nicht ein, rief ich ihm zu, siehst du
denn nicht ein, daß ein Mensch außer dem Glück genau ebensosehr und
genau in demselben Maße das Unglück nötig hat? _Il rit!_ -- >Du reißt
hier Witze<, sagte er mir, >und ... schonst dabei deine Knochen (er
drückte sich gemeiner aus) auf einem Diwan, der mit Samt bezogen ist<
... Und vergessen Sie nicht, daß er mich dabei duzt, den Vater, als
Sohn.[36] Nun, ich wollte ja nicht sagen, wenn wir beide einerlei
Meinung wären ... aber so, wenn wir uns nun zanken?«

Wir schwiegen wieder.

»_Cher_,« sagte er plötzlich, sich schnell erhebend, »wissen Sie auch,
daß das unbedingt mit irgend etwas enden muß?«

»Nun, freilich,« sagte ich.

»_Vous ne comprenez pas. Passons._{[110]} Aber ... gewöhnlich endet es
im Leben mit nichts, hier jedoch wird es ein Ende geben, unbedingt,
unbedingt!«

Er stand auf und ging in größter Aufregung hin und her -- bis er sich
dann schließlich wieder kraftlos auf den Diwan niedersinken ließ.

Am Freitag morgen fuhr Pjotr Stepanowitsch irgendwohin fort in die
Umgegend, und erschien erst am Montag wieder bei uns.

Von dieser Fahrt erfuhr ich durch Liputin: und ebenfalls war es Liputin,
der mir erzählte, daß die beiden Lebädkins auf der anderen Flußseite in
der Fabrikvorstadt wohnten. »Ich selbst habe sie hinübergeschafft,«
fügte er hinzu, brach aber sofort ab und teilte mir nur noch mit, daß
Lisaweta Nicolajewna sich mit Mawrikij Nicolajewitsch verlobt habe --
offiziell habe man es zwar noch nicht bekanntgegeben, aber
nichtsdestoweniger sei es Tatsache.

Lisaweta Nicolajewna sah ich übrigens am nächsten Morgen, als sie, zum
erstenmal nach ihrer Krankheit, mit Mawrikij Nicolajewitsch ausritt. Sie
erblickte mich, ihre Augen blitzten auf und sie nickte mir lachend und
sehr freundschaftlich zu.

Ich erzählte natürlich alles Stepan Trophimowitsch, doch nur der
Nachricht über die Lebädkins schenkte er einige Aufmerksamkeit. -- -- --
-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Jetzt aber, nachdem ich das Wichtigste aus diesen acht Tagen unserer
rätselvollen Ungewißheit erzählt habe, will ich die weiteren
Geschehnisse anders wiedergeben: mit Kenntnis des ganzen Sachverhalts,
d. h. so, wie sich schließlich alles, als es an den Tag kam, in seinen
Zusammenhängen erklärte. Ich beginne mit dem achten Tage nach jenem
Sonntag, also mit dem Montagabend -- denn im Grunde war es dieser Abend,
an dem die »neue Geschichte« begann.


                                  III.

Es war sieben Uhr abends. Nicolai Stawrogin saß allein in seinem
Arbeitszimmer, das er schon früher von allen anderen Räumen des Hauses
zu seinem Kabinett erwählt hatte. Es war ein hoher Raum mit schönen
Teppichen und etwas schweren, altertümlichen Möbeln.

Er saß in der Ecke des Diwans, wie zum Ausgehen angekleidet, doch
anscheinend hatte er nicht die Absicht, aufzubrechen und irgendwohin zu
gehen. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Lampe mit einem Lampenschirm.
Die Seiten und Ecken des großen Raumes blieben dunkel. Sein Blick war
nachdenklich und zusammengefaßt, doch nicht ganz ruhig; sein Gesicht sah
müde und ein wenig abgemagert aus. Er war tatsächlich krank, wenn auch
nur an einer Erkältung, verbunden mit einem gewissen Ohrenreißen; aber
das Gerücht von einem ausgeschlagenen Zahn war doch übertrieben: der
Zahn hatte anfänglich nur gewackelt, war jedoch inzwischen wieder fest
geworden. Auch die von innen verletzte Oberlippe war bereits zugeheilt.
Das Zahngeschwür aber, das mit der Erkältung zusammenhing, hatte er nur
deshalb nicht aufschneiden lassen, um nicht den Arzt empfangen zu
müssen. Doch übrigens hatte er nicht nur nicht den Arzt, sondern selbst
seine Mutter kaum auf ein paar Minuten eintreten lassen und auch das
höchstens einmal am Tage und nur um die Dämmerstunde, wenn es schon
dunkelte und das Licht noch nicht brannte.

Auch Pjotr Stepanowitsch, der zwei- bis dreimal täglich bei Warwara
Petrowna vorgesprochen hatte, war nicht von ihm empfangen worden. Erst
jetzt, eben an jenem Montag, nachdem Pjotr Stepanowitsch am Morgen von
seiner dreitägigen Reise zurückgekehrt, schon überall in der Stadt
herumgelaufen war, dann bei Julija Michailowna zu Mittag gespeist hatte
und erst gegen Abend bei Warwara Petrowna erschien, verkündete sie ihm,
die ihn bereits ungeduldig erwartete, daß das Verbot aufgehoben sei und
_Nicolas_ wieder empfange. Darauf begleitete sie den Gast selbst bis zur
Tür des Arbeitszimmers ihres Sohnes, denn sie hatte schon längst ein
Wiedersehen der beiden gewünscht. Pjotr Stepanowitsch hatte ihr
versprochen, nachher noch zu ihr zu kommen und zu berichten, wie er
_Nicolas_ fand. Sie klopfte vorsichtig an die Tür und wagte sogar, als
sie keine Antwort erhielt, den Türflügel drei Finger breit zu öffnen.

»_Nicolas_, darf ich Pjotr Stepanowitsch eintreten lassen?« fragte sie
leise und gehalten, während sie sich zugleich bemühte, sein Gesicht
hinter der Lampe zu erkennen.

»Gewiß, gewiß darf man, das versteht sich doch von selbst!« rief laut
und aufgeräumt Pjotr Stepanowitsch, öffnete die Tür mit eigener Hand und
trat ein.

Stawrogin hatte das Klopfen seiner Mutter überhört und nur die scheue
Frage vernommen, aber noch nicht antworten können. Vor ihm lag in diesem
Augenblick ein Brief, den er gerade erst durchgelesen hatte und über den
er dann in tiefes Nachdenken versunken war. Als er nun plötzlich den
Anruf Pjotr Stepanowitschs hörte, fuhr er zusammen und suchte schnell
mit einem Briefbeschwerer den Brief zu bedecken, was ihm aber nur halb
gelang, denn eine Ecke des Briefes und fast das ganze Kuvert waren noch
zu sehen.

»Ich habe absichtlich so laut gerufen, um Ihnen Zeit zu geben, sich
vorzubereiten,« flüsterte Pjotr Stepanowitsch, der im Nu am Tisch war
und sofort mit aufmerksamem Blick das Kuvert musterte, mit wunderlich
naiver Aufrichtigkeit.

»-- Und haben gewiß noch glücklich bemerken können, wie ich vor Ihnen
diesen Brief zu verbergen suchte,« sagte Stawrogin ruhig, ohne sich von
seinem Platz zu rühren.

»Einen Brief? Na, Sie mit Ihren Briefen ... was gehn mich Ihre Briefe
an,« versetzte der andere. »Aber ... die Hauptsache, --« fuhr er wieder
leise fort, indem er sich zur Tür wandte, die Warwara Petrowna schon
geschlossen hatte, und wies mit dem Kopf nach dieser Richtung.

»Sie horcht nie,« bemerkte Stawrogin kalt.

»Na, ich meinte bloß -- und wenn sie auch horchen sollte!« Pjotr
Stepanowitsch erhob sofort wieder die Stimme und setzte sich in einen
Sessel. »Ich habe ja sonst nichts dagegen, nur bin ich diesmal gekommen,
um mit Ihnen unter vier Augen zu sprechen. Also endlich, vor allen
Dingen, wie steht es mit der Gesundheit? Sehe schon, daß es gut steht,
und morgen werden Sie vielleicht erscheinen, wie?«

»Vielleicht.«

»Sie müssen die Leute doch endlich beruhigen und ebenso auch mich!«
begann er plötzlich heftig gestikulierend, sah aber dabei ganz heiter
und zufrieden aus. »Wenn Sie wüßten, was ich ihnen alles habe
vorschwatzen müssen! Aber übrigens, Sie wissen es ja.« Er lachte auf.

»Alles weiß ich nicht. Ich habe nur von meiner Mutter gehört, daß Sie
sich sehr ... gerührt haben.«

»Das heißt, ich habe ja nichts Bestimmtes --,« wehrte Pjotr
Stepanowitsch schnell ab, als verteidige er sich gegen einen furchtbaren
Angriff. »Ich habe nur Schatoffs Frau so ein bißchen unter die Leute
gebracht, das heißt, ich meine die Gerüchte über Ihre Beziehungen zu ihr
in Paris, was jenen Vorfall vom Sonntag dann durchaus erklären könnte
... Sie ärgern sich doch nicht?«

»Bin überzeugt, daß Sie sich sehr bemüht haben.«

»Nun, das allein war es, was ich fürchtete! Aber übrigens, was heißt
denn das: >sehr bemühtNein, Sie sind nicht unbegabt, nein,
Sie sind klug<, oder so ähnlich ... Ah, Sie lächeln wieder! Bin ich von
neuem hereingefallen? >Sie sind klug< würden Sie ja gar nicht sagen. Nun
gut, meinetwegen; ich gebe alles zu. _Passons_,{[100]} wie Papachen
sagt, und in Klammern: ärgern Sie sich bitte nicht über meinen
Wortschwall. Übrigens, da haben wir ja gleich ein Beispiel: ich rede
immer viel zu viel, d. h., ich mache immer viel zu viel Worte, und rede
viel zu eilig -- und doch kommt nichts dabei heraus. Warum? weil ich
nicht zu reden verstehe. Die gut reden, die reden kurz. Und damit, nicht
wahr, damit haben wir gleich einen Beweis für meine Unbegabtheit! Doch
da diese Gabe der Unbegabtheit bei mir nun einmal eine natürliche Gabe
ist -- warum sollte ich sie da nicht noch künstlich gebrauchen? Nun --
und so gebrauche ich sie denn so und so. Zuerst, als ich hier ankam,
gedachte ich zu schweigen: aber zum Schweigen, dazu gehört ein großes
Talent, und somit wäre es nichts für mich. Und da Schweigen außerdem
auch noch gefährlich ist, so habe ich denn endgültig eingesehen, daß es
am besten ist, wenn ich rede, und zwar gerade so auf unbegabte Art und
Weise rede, das heißt, viel, viel, unendlich viel rede, mich immer
beeile, etwas zu beweisen und zum Schluß mich in meinen Beweisen immer
so verwickele, daß der Zuhörer womöglich davonläuft und dabei womöglich
noch ausspuckt. Das hat dann drei Vorteile: erstens, daß man sich von
meiner Offenherzigkeit überzeugt, zweitens, daß man meiner äußerst
überdrüssig wird, und drittens, daß man mich dabei noch nicht einmal
versteht -- also alle drei Vorteile auf einen Hieb! Wer wird dann noch
vermuten, daß ich geheimnisvolle Absichten habe? Ein jeder würde sich ja
persönlich beleidigt fühlen, wenn ihm dann noch jemand sagte, ich hätte
geheimnisvolle Absichten! Die Leute verzeihen mir ja jetzt schon alles,
weil sich nun herausgestellt hat, daß ich, die revolutionäre
Intelligenz, die einst Proklamationen verfaßt hat, dümmer bin, als sie.
Ist's nicht so? An Ihrem Lächeln erkenne ich schon, daß Sie zustimmen.«

Stawrogin dachte nicht daran, zu lächeln oder zuzustimmen, im Gegenteil,
er hörte finster und ein wenig ungeduldig zu.

»Wie? Was? Sie sagten: >gleichgültigja<, -- so ist's
gut. Wollen Sie >nein< sagen -- bitte! Da haben Sie meine ganze neue
Taktik. Doch an _unsere_ Sache werde ich auch nicht mit dem kleinsten
Finger rühren, und zwar genau so lange nicht, bis Sie es selbst
befehlen. Sie lachen? Wohl bekomm's! Auch ich lache ja. Aber soeben
meine ich's ernst, vollkommen ernst, wenn auch ein Mensch, der sich so
beeilt, natürlich unbegabt ist, nicht wahr? Einerlei, meinetwegen bin
ich auch unbegabt, nur rede ich jetzt im Ernst, das heißt wirklich
vollkommen ernst!«

Er sprach in der Tat diesmal ernst, in einem ganz anderen Tone und mit
einer seltsamen Erregung, so daß Stawrogin ihn aufmerksam anblickte.

»Sie sagen, Sie hätten Ihre Ansicht über mich geändert?«

»Ja; in dem Augenblick, als Sie damals von Schatoff Ihre Hände
zurückzogen. Aber genug, genug davon, und bitte keine Fragen weiter!
Mehr sage ich jetzt nicht!«

Er war schon aufgesprungen und fuchtelte wieder mit den Händen, als
wollte er sich an ihn gestellter Fragen erwehren: da aber überhaupt
keine gestellt wurden und er noch nicht die Absicht hatte, wegzugehen,
so setzte er sich wieder hin und beruhigte sich allmählich.

»Nebenbei bemerkt, in Klammern,« plapperte er sofort wieder los, »man
schwatzt hier und wettet schon darauf, daß Sie ihn unbedingt totschlagen
würden. Lembke beabsichtigte sogar, die Polizei in Bewegung zu setzen,
doch Julija Michailowna hat es ihm verboten ... Aber genug davon, genug,
ich sagte es Ihnen nur, um Sie zu benachrichtigen. Doch halt, noch eins:
ich habe, wie Sie wissen, die Lebädkins noch am selben Tage auf die
andere Flußseite geschafft -- meinen Brief mit der neuen Adresse haben
Sie doch erhalten?«

»Ja, gleich damals.«

»Dies aber habe ich nicht aus >Unbegabtheit< getan, sondern einfach aus
Bereitwilligkeit. Wenn es >unbegabt< herausgekommen sein sollte, so
war's dafür doch aufrichtig gemeint.«

»Schon gut, vielleicht war es gerade so richtig ...« murmelte Stawrogin
nachdenklich. »Nur schicken Sie mir keine Briefe mehr.«

»Diesmal ging's nicht anders, und es war ja nur ein einziger.«

»So weiß Liputin davon?«

»Es war nicht anders möglich. Aber Sie wissen ja selbst, daß Liputin
nichts darf ... Übrigens müßte man einmal wieder zu den unsrigen gehen,
-- das heißt zu jenen da, nicht zu den _Unsrigen_, kreiden Sie es mir
nur nicht gleich wieder an. Beunruhigen Sie sich nicht: es braucht ja
nicht gleich zu sein -- irgend wann einmal. Augenblicklich regnet es.
Ich werde es denen dann sagen und sie können sich versammeln -- wir
gehen dann am Abend hin. Da sitzen sie nun mit offenen Mäulern, wie die
jungen Waldraben im Nest, und warten gespannt darauf, was für einen
Bissen wir ihnen gebracht haben -- kratzen Bücher hervor und fangen gar
an zu streiten. Wirginski ist Allmensch, Liputin Fourierist mit starker
Neigung zu Polizeimethoden. Ein Mensch, sag ich Ihnen, der in einer
Beziehung kostbar ist, aber in den meisten anderen Beziehungen streng
angefaßt werden muß. Und der dritte, der mit den trauernden Ohren, trägt
gar ein eigenes System vor. Beleidigt sind sie übrigens alle: weil ich
mich so wenig um sie kümmere und sie ein bißchen kaltgestellt habe,
haha! Aber hingehen muß man zu ihnen.«

»Sie haben mich jenen wohl als so eine Art Führer vorgestellt?« fragte
Stawrogin so nachlässig wie möglich.

Pjotr Stepanowitsch sah ihn blitzschnell an. Dann ging er schnell auf
ein anderes Thema über und tat so, als hätte er die Frage ganz überhört:
»Übrigens bin ich täglich zwei- bis dreimal zu Warwara Petrowna gekommen
und war gezwungen, viel zu sprechen ...«

»Kann mir denken.«

»Nein, denken Sie nicht das! Ich habe einfach nur versichert, daß Sie
Schatoff nicht totschlagen würden -- und so ähnliche süße Sachen. Aber
stellen Sie sich vor: gleich am anderen Tage hatte sie schon erfahren,
daß Marja Timofejewna von mir über den Fluß geschafft worden war --
haben Sie ihr das gesagt?«

»Nicht daran gedacht.«

»Wußt ich's doch, daß nicht Sie ... Aber wer außer Ihnen hätte es ihr
dann erzählen können?«

»Liputin, selbstredend.«

»N--nein, nicht Liputin,« murmelte Pjotr Stepanowitsch geärgert. »Aber
ich werde es schon erfahren, wer es war. Ich denke da eher an Schatoff.
Aber nein, Unsinn, lassen wir das! Aber schließlich ist's doch verdammt
wichtig ... Übrigens habe ich immer erwartet, daß Ihre Mutter plötzlich
mit der Hauptfrage herausplatzte ... Ja! Nur alle die letzten Tage war
sie furchtbar niedergeschlagen, fast finster, heute aber, wie ich
ankomme: siehe da -- sie strahlt förmlich. Woher kommt denn das?«

»Das kommt daher, daß ich ihr heute mein Wort gegeben habe, nach fünf
Tagen um Lisaweta Nicolajewnas Hand anzuhalten,« sagte Stawrogin
plötzlich mit unvermuteter Offenheit.

»Ah, so ... nun ja ... ja gewiß ...« stotterte Pjotr Stepanowitsch und
blieb stecken. »Man spricht zwar schon von ihrer Verlobung mit Mawrikij
Nicolajewitsch. Sie wissen doch? Es wird auch schon stimmen. Aber Sie
haben recht: sie läuft auch vom Altare fort, wenn Sie sie nur rufen. Sie
ärgern sich doch nicht darüber, daß ich so ...?«

»Nein.«

»Ich sehe, daß es heute furchtbar schwer ist, Sie zu ärgern, und fange
an, Sie zu fürchten ... Bin sehr gespannt darauf, wie Sie morgen
erscheinen werden. Sicher haben Sie schon vieles in petto. Ärgern Sie
sich wirklich nicht über mich, daß ich so ...?«

Stawrogin antwortete wieder nicht, was Pjotr Stepanowitsch vollends
reizte.

Ȇbrigens: haben Sie das in betreff Lisaweta Nicolajewnas Ihrer Mutter
im Ernst gesagt?« fragte er.

Stawrogin sah ihn kalt und prüfend an.

»Ah, so, ich verstehe schon: um sie zu beruhigen, nun ja.«

»Und wenn ich es im Ernst gesagt habe?« fragte Stawrogin hart.

»Ja ... nun ... na, dann mit Gott, wie man in solchen Fällen zu sagen
pflegt. Würde ja der Sache nichts schaden. (Sehen Sie, ich habe nicht
gesagt, >_unserer_< Sache, da Sie das Wort >unser< nun einmal nicht
lieben.) Ich aber ... ich -- nun ja, ich stehe zu Ihren Diensten, wie
Sie wissen.«

»Sie meinen?«

»Gar nichts, gar nichts meine ich!« wehrte Pjotr Stepanowitsch lachend
ab, »denn ich weiß, daß Sie sich Ihre Angelegenheiten im voraus genug
überlegen, und daß Sie alles schon bis zu Ende durchgedacht haben. Im
übrigen aber wollte ich nur sagen, daß ich im Ernst jederzeit zu Ihren
Diensten stehe, jederzeit und unter allen Umständen und in jedem Fall,
-- das heißt wortwörtlich in _je--dem_! Sie verstehen doch?«

Stawrogin gähnte.

»Ich langweile Sie schon, wie ich sehe,« sagte Pjotr Stepanowitsch,
plötzlich aufspringend, ergriff seinen runden, ganz neuen Hut und tat,
als sei er im Begriff, aufzubrechen, indessen blieb er immer noch und
sprach ununterbrochen weiter, jetzt allerdings stehend. Zuweilen schritt
er hin und her, und wenn er sehr lebhaft sprach, schlug er sich mit dem
Hut ans Knie. »Ja, eigentlich wollte ich Ihnen noch etwas Ergötzliches
von den Lembkes erzählen und Sie damit erheitern!« schwatzte er weiter,
anscheinend gut gelaunt.

»Nein, das doch lieber ein nächstes Mal. Wie geht es übrigens mit Julija
Michailownas Gesundheit?«

»Was das bei Ihnen allen für gesellschaftliche Gewohnheiten sind! Julija
Michailownas Gesundheit ist Ihnen ja so gleichgültig, wie die Gesundheit
irgendeiner Katze, und doch erkundigen Sie sich! Aber das lobe ich mir.
Also: Julija Michailowna fühlt sich wohl und hat eine Hochachtung vor
Ihnen, na, bis zum Aberglauben. Und was Sie von Ihnen alles erwartet,
grenzt auch schon an Aberglauben. Über den Sonntag schweigt sie, und ist
überzeugt, daß Sie alles sofort niederschlagen werden, sobald Sie nur
wieder auf der Bildfläche erscheinen. Bei Gott, sie glaubt ohne
weiteres, daß Sie weiß der Teufel was alles vermögen! Mir scheint, sie
bildet sich ein, Sie könnten einfach Wunder zustande bringen. Überhaupt
sind Sie jetzt ein noch viel rätselhafteres Wesen als je, dazu dieser
Nimbus von Romantik, der sich um Sie gebildet hat -- wahrhaftig, eine
äußerst vorteilhafte Stellung. Und wie gespannt, wie neugierig man auf
Sie ist! Bevor ich verreiste, war es schon heiß, doch als ich
zurückkehrte, war die Hitze noch gestiegen. Danke übrigens nochmals
bestens für die Beschaffung des Briefes. Graf K... wird hier allgemein
mit Andacht gefürchtet. Und Sie hält man für so eine Art höheren Spion.
Ich nicke dazu. Sie ärgern sich doch nicht?«

»Nein.«

»Das ist nämlich für alles Weitere sogar unbedingt nötig. Die Leute
haben ja hier ihre besonderen Bräuche. Ich sporne selbstverständlich
noch an. Julija Michailowna ist die Anführerin, Gaganoff der zweite ...
Sie lachen? Aber ich lebe doch jetzt nach meiner neuen Taktik: ich lüge
und lüge, und dann sage ich plötzlich ein kluges Wort, und zwar gerade
in dem Augenblick, wenn alle ein solches suchen. Darauf umringt man mich
sofort, fragt und horcht, -- ich aber bin schon wieder mitten im Lügen.
Jetzt haben mich schon alle aufgegeben. >Ach, der!< sagen sie und winken
ab. >Nicht dumm, aber ein bißchen doch vom Monde herabgefallen.< Lembke
redet mir zu, in den Staatsdienst zu treten, damit ich mich bessere.
Ach, wenn Sie wüßten, wie ich ihn trätiere, das heißt, eigentlich
kompromittiere. Er glotzt mich nur so an mit seinen Kalbsaugen. Julija
Michailowna hilft mir dabei womöglich noch. Doch was ich sagen wollte:
Gaganoff ist grenzenlos wütend auf Sie. Gestern hat er in Duchowo ganz
gemein über Sie gesprochen. Ich habe ihm natürlich gleich die ganze
Wahrheit gesagt, oder vielmehr, versteht sich, nicht die ganze Wahrheit.
Ich war gestern vom morgen bis zum Abend draußen bei ihm. Prächtiges Gut
übrigens, auch das Herrenhaus ist schön.«

»So ist er jetzt in Duchowo?« rief Stawrogin plötzlich lebhaft, ja, fast
sprang er auf, -- wenigstens beugte er sich hastig nach vorn.

»Nein, jetzt nicht mehr, er hat mich selbst hierher gebracht, wir kamen
zusammen zurück,« sagte Pjotr Stepanowitsch ruhig, anscheinend ohne
Stawrogins Erregung zu bemerken. »Was ist das? -- Da habe ich ein Buch
heruntergeworfen,« und er bückte sich, um den Band aufzuheben. »>Die
Frauen von BalzacWenn es keinen Gott gibt, was bin ich
dann noch für ein Hauptmann?< Und damit nahm er seine Mütze und ging.«

»Hat einen ganz klugen Gedanken ausgedrückt,« sagte Stawrogin und gähnte
-- jetzt schon zum dritten Male.

»Ja? Ich hab's nicht verstanden -- wollte Sie fragen. Und was war da
doch noch --? Ja, so: ganz interessant ist die Spigulinsche Fabrik.
Fünfhundert Arbeiter, ein vorzüglicher Choleraherd, ist schon seit
fünfzehn Jahren nicht mehr gereinigt, und vom Arbeitslohn wird immer ein
Teil abgezogen, die Besitzer aber sind Millionäre. Seien Sie überzeugt,
von den Arbeitern haben schon eine ganze Reihe durchaus richtige
Vorstellungen von der Internationale und Revolution. Wie, Sie lächeln?
Sie werden schon sehen, geben Sie mir nur eine ganz, ganz kleine Weile
Zeit! Ich habe Sie schon einmal um Zeit gebeten. Jetzt tue ich's zum
zweiten Male. Doch Verzeihung, ich höre ja schon auf! Runzeln Sie nicht
die Stirn, ich höre ja schon auf! Leben Sie wohl. -- Ach so!« er kehrte
nochmals um und kam zurück. -- »Die Hauptsache vergesse ich ganz! Man
hat mir vorhin gesagt, daß unsere Koffer aus Petersburg angekommen
sind.«

»Ja, und? ...« Stawrogin sah ihn an, ohne zu verstehen.

»Das heißt, _Ihre_ Koffer, Ihre Sachen, mit den Fracks, Beinkleidern,
der Wäsche -- sind die schon hier?«

»Ja, man sagte mir vorhin so etwas ...«

»Ach, könnte man da nicht gleich ...?«

»Fragen Sie den Alexei.«

»Schön! Aber morgen, morgen könnte ich sie doch bekommen? Es sind
nämlich mein Frack, ein Anzug und drei Paar Beinkleider darin ... Die
von Charmeur, die er mir noch auf Ihre Empfehlung hin gemacht hat,
erinnern Sie sich?«

»Ich habe gehört, Sie sollen hier den Dandy spielen,« lächelte
Stawrogin. »Ist es wahr, daß Sie sogar Reitstunden nehmen wollen?«

Pjotr Stepanowitsch verzog den Mund zu einem gezwungenen Lächeln.

»Wissen Sie,« sagte er dann plötzlich ungeheuer schnell, mit einer
eigentümlich abbrechenden Stimme, in der etwas zu zucken schien. »Wissen
Sie, Nicolai Wszewolodowitsch, wir wollen das Persönliche lieber aus dem
Spiel lassen, nicht wahr, ein für allemal? Sie können mich dabei
natürlich verachten, so viel Sie wollen, wenn Ihnen etwas lächerlich
erscheint. Aber, wie gesagt, unter uns wollen wir das Persönliche eine
Zeitlang fortlassen, nicht wahr?«

»Gut, ich werde es nicht mehr ...« sagte Stawrogin vor sich hin.

Pjotr Stepanowitsch lächelte, schlug sich mit dem Hut ans Knie, trat von
einem Fuß auf den andern und sein Gesicht nahm wieder den alten Ausdruck
an.

»Hier halten mich einige sogar für Ihren Nebenbuhler bei Lisaweta
Nicolajewna, wie soll ich mich da nicht um mein Äußeres kümmern?« sagte
er lachend. Ȇbrigens, wer hinterbringt Ihnen denn das alles? Hm! Es ist
schon Punkt acht; ich muß gehen. Habe zwar Warwara Petrowna versprochen,
jetzt bei ihr vorzusprechen, werde das aber bleiben lassen. Sie aber --
legen Sie sich mal hin, dann sind Sie morgen munterer. Draußen ist es
stockdunkel und es regnet -- übrigens, ich habe ja meine Droschke, denn
in der Nacht ist es hier nicht ganz geheuer in den Straßen ... Doch ja,
was ich noch sagen wollte: hier in der Umgegend treibt sich jetzt ein
gewisser Fedjka herum, ein entsprungener Zuchthäusler aus Sibirien, und
stellen Sie sich vor, er ist mein gewesener Leibeigener, den Papachen
vor fünfzehn Jahren unter die Soldaten gesteckt hat, um Geld zu
bekommen. Eine äußerst bemerkenswerte Persönlichkeit, dieser Fedjka.«

»Sie ... haben mit ihm gesprochen?« fragte Stawrogin, indem er einmal
kurz aufblickte.

»Ja. Vor mir versteckt er sich nicht. Er ist zu allem bereit, zu allem;
für Geld, selbstredend, aber er hat auch Überzeugungen, so in seiner
Art, versteht sich ... Ja, und noch etwas: wenn Sie vorhin wirklich im
Ernst von dieser Absicht -- Sie wissen schon, mit Lisaweta Nicolajewna,
-- so wiederhole ich nochmals, daß ich gleichfalls eine zu allem bereite
Persönlichkeit bin, in jeder Beziehung, in welcher Sie nur wollen, und
vollkommen zu Ihren Diensten stehe ... Was, Sie wollen --? Ach so, nein,
nicht den Stock. Denken Sie sich, mir schien, daß Sie einen Stock
suchten!«

Stawrogin suchte nichts und sagte auch nichts, aber er hatte sich
allerdings seltsam plötzlich erhoben, mit einer eigentümlichen Bewegung
im Gesicht.

»Und wenn Sie etwas in betreff dieses Herrn Gaganoff brauchen sollten,«
fügte Pjotr Stepanowitsch mit einemmal hinzu und wies dabei mit dem Kopf
schon ganz ungeniert auf den Brief und den Umschlag unter dem
Briefbeschwerer, »so kann ich natürlich auch da alles ordnen, und ich
bin überzeugt, daß Sie mich nicht umgehen werden.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ das
Zimmer -- doch bevor er die Tür hinter sich schloß, steckte er noch
einmal den Kopf herein:

»Ich bin nur deshalb so ...« rief er schnell, »... weil doch
beispielsweise auch Schatoff nicht das Recht hatte, damals am Sonntag
sein Leben zu riskieren, als er zu Ihnen trat -- nicht wahr? Ich möchte
wünschen, daß Sie dieses nicht vergäßen.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er.


                                  IV.

Vielleicht dachte Pjotr Stepanowitsch, daß Nicolai Wszewolodowitsch,
sobald er allein wäre, mit den Fäusten an die Wand schlagen würde,
welchem Wutausbruch Pjotr Stepanowitsch natürlich für sein Leben gerne
heimlich zugesehen hätte, wenn das nur irgendwie möglich gewesen wäre.
Doch er täuschte sich sehr. Stawrogin blieb vollkommen ruhig. Wohl ganze
zwei Minuten stand er noch in derselben Stellung am Tisch, anscheinend
in tiefe Gedanken versunken; doch bald legte sich ein müdes, kaltes
Lächeln um seinen Mund. Er setzte sich langsam wieder auf den großen
Diwan, auf denselben Platz in der Ecke, und schloß die Augen, wie vor
Müdigkeit. Die eine Ecke des Briefes lugte noch immer unter dem
Briefbeschwerer hervor, doch er rührte sich nicht einmal, um sie zu
bedecken.

Bald vergaß er sich ganz.

Warwara Petrowna hatte sich schon alle die Tage mit Sorgen gequält. Als
jetzt auch noch Pjotr Stepanowitsch fortgegangen war, ohne sein
Versprechen zu halten und zu ihr zu kommen, hielt sie es nicht länger
aus und wagte es, selbst zu ihrem Sohne zu gehen. Die ganze Zeit hatte
sie gedacht, vielleicht werde er doch endlich etwas Bestimmtes,
Entscheidendes sagen. Leise, wie vorhin, klopfte sie an seine Tür, und
da sie keine Antwort erhielt, wagte sie wieder, selbst zu öffnen. Als
sie sah, wie er so unbeweglich und sonderbar still dasaß, trat sie, mit
klopfendem Herzen, vorsichtig näher. Es machte sie stutzig, daß er so
schnell und so aufrecht sitzend eingeschlafen war; sogar das Atmen
merkte man kaum. Sein Gesicht war blaß und streng, doch dabei wie völlig
erkaltet, regungslos. Die Brauen waren ein wenig zusammengezogen und
wirkten finster: so glich er entschieden einer leblosen Wachsfigur.
Warwara Petrowna stand wohl ganze drei Minuten vor ihm, mit verhaltenem
Atem, und plötzlich wurde sie von einer Angst erfaßt. Auf den Fußspitzen
ging sie hinaus, doch an der Tür blieb sie einen Augenblick stehen,
wandte sich um, machte das Zeichen des Kreuzes über ihren Sohn und
verließ dann unbemerkt den Raum -- mit einer neuen schweren Empfindung
und neuen Sorgen im Herzen.

Er schlief lange, über eine Stunde, und die ganze Zeit in derselben
Erstarrung: kein Muskel seines Gesichtes bewegte sich, nicht das
leiseste Zucken ging durch seinen Körper; die Brauen blieben unverändert
streng zusammengezogen. Wäre Warwara Petrowna noch weitere drei Minuten
vor ihm stehen geblieben, so würde sie das erdrückende Empfinden dieser
lethargischen Regungslosigkeit ganz gewiß nicht ertragen und ihn
aufgeweckt haben. Doch plötzlich schlug er von selbst die Augen auf,
blieb aber, ohne sich zu rühren, wohl noch zehn Minuten unverändert
sitzen, nur daß seine offenen Augen jetzt beharrlich und wißbegierig in
die eine dunkle Ecke des Zimmers sahen, wie sich hineinsehend in
irgendeinen ihn dort fesselnden Gegenstand, obgleich sich dort weder
etwas Neues, noch etwas Besonderes befand.

Da begann die große, alte Wanduhr zu schnurren und schlug einen
einzigen, schweren Schlag. Stawrogin wandte mit einer gewissen Unruhe
den Kopf, um auf das Zifferblatt zu sehen. Doch in demselben Augenblick
öffnete sich die Tapetentür, die zum Korridor führte, und der
Kammerdiener Alexei Jegorowitsch trat ein. Er brachte einen dicken
Mantel, ein Halstuch und einen Hut, und in der rechten Hand hielt er
einen silbernen Teller, auf dem ein Zettel lag.

»Halb zehn,« meldete er mit leiser Stimme und trat, nachdem er den
Mantel an der Tür auf einen Stuhl gelegt hatte, zu Nicolai
Wszewolodowitsch, dem er das Zettelchen präsentierte, ein kleines,
ungeschlossenes Papier, auf dem nur zwei Zeilen mit Bleistift
geschrieben standen.

Nachdem Stawrogin sie überflogen hatte, nahm er einen Bleistift vom
Tisch und kritzelte ein paar Worte auf dasselbe Papier, das er dann
wieder offen auf den Teller zurücklegte.

»Sofort zu übergeben, sobald ich ausgegangen bin,« sagte er und erhob
sich vom Diwan.

Es fiel ihm noch zur rechten Zeit ein, daß er einen leichten Samtrock an
hatte, so überlegte er einen Augenblick und befahl dann, ihm einen
Tuchrock zu bringen, der zu zeremoniellen Abendbesuchen besser paßte.
Nachdem er sich ganz angekleidet und den Hut schon aufgesetzt hatte,
verschloß er die Tür, durch die vorhin Warwara Petrowna eingetreten war,
zog dann den Brief unter dem Briefbeschwerer hervor, steckte ihn zu sich
und ging schweigend aus dem Zimmer. Alexei Jegorowitsch folgte ihm. Aus
dem Korridor gingen sie über eine schmale steinerne Hintertreppe in den
Hausflur hinab, aus dem man unmittelbar in den Park treten konnte. In
einer Ecke des Flurs hatte Alexei Jegorowitsch eine Laterne und einen
Regenschirm versteckt.

»Infolge des starken Regens ist der Schmutz in den Straßen ganz
unerträglich,« meldete Alexei Jegorowitsch wie mit einem entfernten
letzten Versuch, seinen Herrn von dem Ausgehen abzubringen.

Doch Stawrogin machte den Schirm auf und trat schweigend hinaus in den
alten Park, der wie ein Keller dunkel, feucht und naß war. Der Wind
brauste und rauschte und schaukelte die Wipfel der großen, halb schon
kahlen Bäume, die schmalen Sandwege waren weich und glatt. Alexei
Jegorowitsch ging so, wie er war, im braunen Frack und ohne Mütze, mit
der kleinen Laterne in der Hand, drei Schritte vor seinem Herrn, und
beleuchtete den Weg.

»Wird man es nicht bemerken?« fragte plötzlich Nicolai Wszewolodowitsch.

»Aus den Fenstern wird man es nicht bemerken und außerdem ist alles
vorgesehen,« antwortete der Diener leise und maßvoll.

»Meine Mutter schläft?«

»Haben sich nach der Gewohnheit der letzten Tage gleich nach neun Uhr
zurückgezogen, und daß die gnädige Frau es erfährt, ist ganz
ausgeschlossen. Wann befehlen der Herr, daß ich Ihn zurückerwarte?«

»Um eins, halb zwei, nicht später als zwei.«

»Zu Befehl.«

Sie umgingen auf den sich schlängelnden Wegen fast den ganzen Park, bis
sie an der Ecke der großen Steinmauer stehenblieben, wo ein kleines
Pförtchen auf eine schmale entlegene Nebengasse führte.

»Wird die Tür nicht kreischen?« fragte Nicolai Wszewolodowitsch. Doch
Alexei Jegorowitsch sagte, daß er zweimal, »sowohl gestern wie auch
heute,« die Angeln geschmiert habe. Er war bereits ganz durchnäßt vom
Regen. Als er das Pförtchen geöffnet hatte, reichte er Nicolai
Wszewolodowitsch den Schlüssel.

»Wenn der Herr geruhen, einen weiten Weg zu unternehmen, so möchte ich
vorher darauf aufmerksam machen, daß den Leuten hier herum nicht zu
trauen ist, besonders nicht in entlegenen Gassen und ... am
allerwenigsten jenseits des Flusses,« wagte er nochmals zu warnen.

Er war ein alter Diener, der einst Nicolai Wszewolodowitsch auf den
Armen gewiegt und wie eine Kinderfrau mit ihm gespielt hatte, ein
ernster, strenger Mann, der das Gotteswort kannte und gern in der Bibel
las.

»Beunruhige dich nicht, Alexei Jegorowitsch.«

»Gott segne Euch, Herr, aber nur beim Anfang guter Taten.«

»Wie?« Nicolai Wszewolodowitsch, der schon über die Schwelle getreten
war, blieb stehen.

Der alte Diener wiederholte mit fester Stimme seinen Segenswunsch. Nie
hätte er sich früher unterstanden, solche Worte zu seinem Herrn zu
sagen.

Stawrogin sagte nichts, schloß die Tür, steckte den Schlüssel in die
Tasche und ging die Gasse entlang, wobei seine Füße bei jedem Schritt an
die drei Zoll tief im Schlamm versanken. Endlich erreichte er eine
lange, einsame Straße, die wenigstens gepflastert war. Die Stadt kannte
er genau: immerhin hatte er noch einen weiten Weg bis zur
Bogojawlenskstraße.

Es war schon nach zehn Uhr, als er endlich vor der verschlossenen Pforte
des Filippoffschen Hauses stehen blieb.

Die untere Etage war unbewohnt, seitdem man Lebädkins fortgeschafft
hatte. Die Fensterläden waren geschlossen. Nur oben in Schatoffs
Dachzimmer sah man noch Licht. Da es an der Pforte keine Klingel gab, so
klopfte Stawrogin. Nichts rührte sich zunächst. Aber schließlich, nach
abermaligem Klopfen, öffnete sich oben ein Klappfenster und Schatoff
steckte den Kopf heraus. Es war stockdunkel und daher schwer, jemanden
zu erkennen.

Schatoff sah lange hinunter.

»Sind Sie es?« fragte er plötzlich.

»Ja.«

Schatoff schlug das Fenster zu, kam nach unten und öffnete die Pforte.

Stawrogin trat über die hohe Schwelle und ging stumm an ihm vorüber in
den Flügel zu Kirilloff.


                                   V.

Hier war alles unverschlossen. Der Flur und die beiden ersten Zimmer
waren dunkel, doch im dritten, in dem Kirilloff wohnte, war es hell, und
dort hörte man Lachen und dazwischen ein seltsames frohes Gequiek.

Stawrogin ging auf das Licht zu, blieb aber vor der offenen Tür stehen,
ohne zunächst einzutreten.

Der Teetisch war gedeckt. Mitten im Zimmer stand die Alte, die das Haus
beaufsichtigte, in einem Unterrock, in Schuhen, doch ohne Strümpfe, und
in einer ärmellosen Pelzjacke aus Hasenfell. Sie trug ein
anderthalbjähriges Kindchen mit fast weißen Locken, nur mit einem kurzen
Hemdchen bekleidet, mit bloßen, dicken Beinchen und erhitztem,
pausbackigem Gesichtchen, auf dem Arm. Offenbar hatte sie es soeben aus
der Wiege genommen. Das Kindchen mochte noch vor kurzem geweint haben,
denn noch standen dicke Tränen unter seinen Augen, doch war es in diesem
Augenblicke froh und lustig, reckte seine Ärmchen und lachte, wie so
kleine Kinder zu lachen pflegen: mit juchzenden, schluchzenden
Nebentönen.

Vor dem Kindchen spielte Kirilloff mit einem großen roten Gummiball: er
warf ihn kräftig auf die Diele, so daß er bis an die Decke sprang,
wieder fiel und wieder sprang, während das Kindchen dazu überselig sein
»Ba! ... Ba! ...« rief. Kirilloff fing darauf den »Ba« auf und gab ihn
dem Kindchen, das dann natürlich den »Ba« wieder gleich mit seinen
eigenen, ungeschickten Händchen fortwarf, während Kirilloff ihm
nachlief, um ihn aufzuheben. Zum Schluß rollte der »Ba« unter den
Schrank. Kirilloff aber streckte sich sofort längelang auf dem Fußboden
aus, um ihn mit der Hand wieder hervorzuholen.

In diesem Augenblick trat Stawrogin ins Zimmer.

Das Kind, das ihn zuerst erblickte, warf sich erschreckt an den Hals der
Alten und begann laut ein langgezogenes, eintöniges Kinderweinen, so daß
die Alte es sofort hinausbrachte.

»Stawrogin?« fragte Kirilloff, ohne die geringste Verwunderung über den
unerwarteten Besuch, zog seine Hand mit dem Ball unter dem Schrank
hervor und erhob sich. »Wollen Sie Tee?«

»Mit dem größten Vergnügen, wenn er warm ist, ich bin ganz durchnäßt.«

»Warm, sogar heiß,« sagte Kirilloff mit Vergnügen, nachdem er sich davon
überzeugt hatte. »Setzen Sie sich. Sie sind schmutzig, tut nichts. Ich
kann's später mit einem nassen Tuch ...«

Stawrogin setzte sich und trank fast auf einen Zug die eingegossene
Tasse Tee aus.

»Noch?«

»Nein, danke.«

Kirilloff, der bis dahin gestanden hatte, setzte sich sogleich und
fragte: »Wozu sind Sie gekommen?«

»Bitte, lesen Sie diesen Brief. Er ist von Gaganoff. Sie werden sich
entsinnen, ich habe Ihnen von ihm schon in Petersburg erzählt.«

Kirilloff nahm den Brief, las ihn durch, legte ihn darauf wieder auf den
Tisch und sah Stawrogin erwartungsvoll an.

»Mit diesem Gaganoff,« erklärte Nicolai Wszewolodowitsch, »bin ich, wie
Sie wissen, zum ersten Male in Petersburg vor kaum einem Monat
zusammengetroffen, und dann sind wir uns noch ungefähr dreimal in der
Gesellschaft begegnet. Wir wurden einander nicht vorgestellt, sprachen
auch nicht miteinander und doch fand er Gelegenheit, sich ungezogen mir
gegenüber zu benehmen. Ich habe Ihnen das ja damals alles erzählt. Doch
was Sie nicht wissen, ist folgendes. Als er darauf Petersburg, noch vor
mir, verließ, schrieb er mir einen Brief, der zwar noch nicht so
beleidigend war, wie dieser hier, aber doch schon einen durchaus
unzulässigen Ton hatte. Dabei stand mit keinem einzigen Worte darin,
warum der Brief eigentlich geschrieben worden war. Ich antwortete ihm
sofort und erklärte ihm ganz offenherzig, daß ich >da es sich wohl um
den Vorfall mit seinem Vater vor vier Jahren hier im Klub handeln
werde<, -- daß ich meinerseits durchaus bereit sei, ihm noch
nachträglich meine Entschuldigung zu machen, einfach aus dem Grunde,
weil meine Handlung damals im Krankheitszustande geschehen sei. Er
antwortete mir nichts darauf und reiste irgendwohin fort. Nun komme ich
hierher und finde ihn hier in einer wahren Tollwut auf mich. Man hat mir
öffentliche Äußerungen von ihm mitgeteilt, die regelrechte
Beschimpfungen sind, dazu die unglaublichsten Anschuldigungen. Und heute
erhalte ich diesen Brief, -- einen ähnlichen hat wohl noch nie jemand
geschrieben! Mit Ausdrücken wie zum Beispiel >Ihre geschlagene Fratze<.
-- Ich bin nun zu Ihnen gekommen, da ich hoffe, daß Sie mir nicht
abschlagen werden, mein Sekundant zu sein?«

»In der Wut kann man schon ... Puschkin hat auch so geschrieben. Gut,
ich komme. Sagen Sie, wie?«

Stawrogin erklärte, daß er ihn bäte, gleich morgen zu Gaganoff zu gehen.
Er solle die Entschuldigung wiederholen und sogar noch einen zweiten
Entschuldigungsbrief ankündigen -- diesen letzteren aber nur unter der
Bedingung, daß Gaganoff sein Wort gibt, keinen weiteren Brief irgendwie
beleidigenden Inhalts zu schreiben, während sein letzter Brief als nicht
erhalten betrachtet werden solle.

»Zu viel Konzessionen, er wird nicht darauf eingehen ...«

»Ich bin vor allem hierhergekommen, um zu erfahren, ob Sie überhaupt
bereit sind, ihm solche Bedingungen zu überbringen?«

»Ich werde schon. Aber er wird nicht darauf eingehen ...«

»Das weiß ich.«

»Er _will_ sich schlagen. Sagen Sie, wie?«

»Das ist es eben: ich möchte morgen die ganze Geschichte beendet haben.
Sagen wir, um neun sind Sie bei ihm. Er wird Sie anhören und Ihr
Ersuchen abschlagen. Dann wird er seinen Sekundanten zu Ihnen schicken,
sagen wir -- gegen elf. Mit dem besprechen Sie sich also, und um eins
oder zwei könnten wir an Ort und Stelle sein. Ich möchte Sie sehr
bitten, alles zu tun, was an Ihnen liegt, damit die Angelegenheit diesen
Verlauf nimmt. Waffen natürlich Pistolen. Das Weitere -- darum bitte ich
Sie ganz besonders -- richten Sie so ein: Vereinbaren Sie einen Abstand
von zehn Schritten zwischen den Barrieren. Stellen Sie einen jeden von
uns weitere zehn Schritt von seiner Barriere auf. Nach dem gegebenen
Zeichen gehen wir aufeinander zu. Jeder muß unbedingt bis zu seiner
Barriere gehen. Doch schießen kann er auch schon früher, im Gehen. So,
das wäre alles, denke ich.«

»Zehn Schritt zwischen den Barrieren ist sehr nah,« bemerkte Kirilloff.

»Nun, dann meinetwegen zwölf, aber nicht mehr. Sie begreifen doch, daß
er sich nicht zum Vergnügen duellieren will. Verstehen Sie eine Pistole
zu laden?«

»Ja. Ich habe selbst Pistolen. Ich werde mein Wort geben, daß Sie mit
meinen noch nicht geschossen haben. Sein Sekundant gibt auch sein Wort
für seine Pistolen. Dann werfen wir das Los, ob seine oder unsere.«

»Vorzüglich.«

»Wollen Sie die Pistolen sehen?«

»Meinetwegen.«

Kirilloff hockte vor seinem Koffer nieder, der noch immer unausgepackt
in der Ecke stand, zog einen Kasten aus Palmenholz hervor, der innen mit
rotem Samt ausgeschlagen war, und entnahm ihm zwei prachtvolle, äußerst
kostbare Pistolen.

»Habe alles. Pulver, Kugeln, Patronen. Auch einen Revolver, warten Sie.«

Er kramte wieder in seinem Koffer und zog einen zweiten Kasten mit einem
sechsläufigen Revolver hervor.

»Sie haben ja Waffen mehr als nötig! Und sehr teuere.«

»Sehr.«

Der gänzlich mittellose Kirilloff, der übrigens seine Armut selbst nie
bemerkte, zeigte sichtlich nicht ohne Stolz seine Kostbarkeiten, die er
zweifellos mit unglaublichen Opfern erstanden hatte.

»Sie haben immer noch dieselbe Absicht?« fragte Stawrogin mit einer
gewissen Vorsicht, nach minutenlangem Schweigen.

»Dieselbe,« antwortete Kirilloff kurz: am Ton der Stimme hatte er sofort
erkannt, wovon sein Gast sprach.

»Und -- wann?« fragte Stawrogin noch vorsichtiger, und wieder nach
längerem Schweigen.

Kirilloff hatte inzwischen beide Kasten in den Koffer zurückgelegt und
setzte sich nun auf seinen alten Platz.

»Das hängt nicht von mir ab. Sie wissen doch. Wann man mir sagen wird,«
murmelte er mehr vor sich hin, als wäre die Frage ihm ein wenig lästig,
doch gleichzeitig war er, das fühlte man, durchaus bereit, auf andere
Fragen zu antworten.

Er sah dabei mit seinen schwarzen glanzlosen Augen Stawrogin unverwandt
an, mit einem seltsam gelassenen, doch guten und freundlichen Gefühl.

»Ich verstehe das gewiß -- sich zu erschießen ...« begann Stawrogin von
neuem, nachdem er lange, wohl drei Minuten lang grübelnd geschwiegen
hatte, während sein Gesicht sich verdüsterte. »Ich habe mir das selbst
zuweilen vorgestellt. Aber es findet sich dann immer ein gewisser neuer
Gedanke ein: wie, wenn man, zum Beispiel, ein Verbrechen beginge, oder
etwas vor allem Schimpfliches, das heißt Schmachvolles, eine Schande,
nur muß sie unendlich gemein sein und zugleich ... lächerlich -- eine
Schandtat, die von der Menschheit in tausend Jahren nicht vergessen
wird, über die sie tausend Jahre lang flucht, und nun plötzlich der
Gedanke: >ein Schuß in die Schläfe und es ist nichts mehr da<. Was gehen
einen dann noch die Menschen an, und daß sie einem tausend Jahre lang
fluchen werden! Ist es nicht so?«

»Sie meinen, das ist ein neuer Gedanke?« sagte Kirilloff, nachdem er
eine Weile nachgedacht hatte.

»Nein ... das nicht ... aber als ich ihn zum ersten Male dachte, da
empfand ich ihn als ganz neu.«

»Sie empfanden einen Gedanken --« sprach ihm Kirilloff nach. »Das ist
gut. Es gibt viele Gedanken, die waren immer da, und plötzlich werden
sie neu. Das ist richtig. Jetzt sehe ich vieles wie zum erstenmal.«

»Nehmen wir an, Sie waren auf dem Monde,« unterbrach ihn Stawrogin, ohne
Kirilloffs Worte zu beachten, und spann seinen eigenen Gedanken weiter.
»Nehmen wir an, Sie haben dort oben alle diese lächerlichen
Schmutzereien begangen. Sie wissen ganz genau, daß man Ihnen dort oben
fluchen wird, tausend Jahre lang, ewig, auf dem ganzen Monde ... Aber
Sie sind jetzt hier auf der Erde und sehen auf den Mond von hier aus:
was geht es Sie dann hier auf der Erde an, was Sie dort oben alles getan
haben -- und daß die dort tausend Jahre lang bei Ihrem Namen ausspeien
werden, -- ist es nicht so?«

»Weiß nicht,« antwortete Kirilloff. »Ich bin nicht auf dem Monde
gewesen,« fügte er hinzu, aber ohne jede Spur von Ironie, einfach als
Ausdruck der Tatsache.

»Wessen Kind war das vorhin?«

»Die Schwiegermutter der Alten ist angekommen. Nein, Schwiegertochter
... einerlei. Vor drei Tagen. Liegt jetzt krank mit dem Kind. In der
Nacht schreit es viel. Der Magen. Die Mutter schläft, und die Alte
bringt es dann her. Ich spiele Ball mit ihm. Ein Hamburger Ball, hab'
ihn in Hamburg gekauft. Das stärkt den Rücken. Ein kleines Mädchen.«

»Sie lieben Kinder?«

»Ja,« antwortete Kirilloff, übrigens ziemlich gleichmütig.

»Dann lieben Sie wohl auch das Leben?«

»Ja, auch das Leben. Wieso?«

»Wenn Sie doch beschlossen haben, sich zu erschießen.«

»Wieso denn? Warum zusammen? Das Leben für sich und jenes für sich.
Leben ist, aber Tod ist überhaupt nicht.«

»So glauben Sie an ein zukünftiges ewiges Leben?«

»Nein, nicht an ein zukünftiges ewiges, sondern an ein diesseitiges
ewiges. Es gibt Minuten, sie kommen zu den Minuten, und die Zeit bleibt
plötzlich stehen und wird ewig sein.«

»Sie hoffen, zu so einer Minute zu kommen?«

»Ja.«

»Das ist in unserer Zeit wohl kaum möglich,« meinte Stawrogin,
gleichfalls ohne jede Spur von Ironie, langsam und wie in Gedanken
verloren. »In der Apokalypse schwört der Engel, daß es keine Zeit mehr
geben werde.«

»Ich weiß. Das ist dort sehr richtig. Ist deutlich und genau. Wenn der
ganze Mensch das Glück erreicht, dann wird es keine Zeit mehr geben,
weil sie nicht nötig ist. Ein sehr richtiger Gedanke.«

»Wo wird man sie denn hinstecken?«

»Nirgendwo wird man sie hinstecken. Zeit ist kein Gegenstand, sondern
eine Idee. Sie wird auslöschen im Verstande.«

»Alte philosophische Gemeinplätze, immer ein und dieselben von allem
Anfange an,« murmelte Stawrogin wie mit einem gewissen angeekelten
Bedauern.

»Ein und dieselben! Ja, immer ein und dieselben vom Anfang aller
Jahrhunderte an und gar keine anderen niemals!« griff Kirilloff mit
blitzenden Augen Stawrogins Wort auf, ganz als läge in diesem Gedanken
fast ein Triumph!

»Ich glaube, Sie sind sehr glücklich, Kirilloff?«

»Ja, sehr glücklich,« antwortete dieser, als gäbe er die
allergewöhnlichste Antwort.

»Aber noch vor kurzem waren Sie doch so betrübt und ärgerten sich über
Liputin.«

»Hm! ... Aber jetzt nicht. Damals wußte ich noch nicht, daß ich
glücklich war. Haben Sie ein Blatt gesehn? Ein Blatt vom Baum?«

»Freilich.«

»Ich sah vor kurzem ein gelbes, etwas grün noch, an den Rändern
angefault. Es kam mit dem Wind. Als ich zehn Jahre war, schloß ich im
Winter die Augen und stellte mir ein Blatt vor, ein grünes, glänzendes,
mit Äderchen, und die Sonne leuchtet. Ich schlug die Augen auf und
glaubte nicht, denn es war so schön, und schloß sie wieder.«

»Was soll das? Eine Allegorie?«

»N--nein ... warum? Keine Allegorie. Einfach ein Blatt. Nur ein Blatt.
Ein Blatt ist gut. Alles ist gut.«

»Alles?«

»Alles. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, daß er glücklich
ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer es erfährt, der wird sofort
gleich glücklich sein, im selben Augenblick. Diese Schwiegertochter wird
sterben, und das Kind bleibt -- alles ist gut. Ich habe es plötzlich
entdeckt.«

»Und wenn jemand vor Hunger stirbt, oder wenn jemand ein kleines Mädchen
entehrt und schändet -- ist das auch gut?«

»Auch gut. Und wenn man ihm für das Mädchen den Kopf zerspaltet, auch
das ist gut. Und wenn man ihm den Kopf nicht zerspaltet, auch das ist
gut. Alles ist gut, alles. Für alle die ist es gut, die da wissen, daß
-- alles gut ist. Wenn sie wüßten, daß sie es gut haben, dann würden sie
es auch gut haben. Aber so lange sie nicht wissen, daß sie es gut haben,
so lange werden sie es auch nicht gut haben. Das ist der ganze Gedanke,
der ganze, und außer ihm gibt es überhaupt gar keinen.«

»Wann haben Sie es denn erfahren, daß Sie so glücklich sind?«

»In der vorigen Woche am Dienstag, nein, am Mittwoch, denn es war schon
Mittwoch. In der Nacht.«

»Und bei welcher Gelegenheit denn?«

»Ich weiß nicht mehr. So. Ich ging im Zimmer ... Einerlei. Ich brachte
die Uhr zum Stehen. Es war siebenunddreißig Minuten nach zwei.«

»Wohl zum Symbol dessen, daß die Zeit stehen bleiben muß?«

Kirilloff schwieg.

»Die Menschen sind nicht gut,« begann er plötzlich wieder, »weil sie
nicht wissen, daß sie gut sind. Wenn sie es wissen werden, so werden sie
auch nicht mehr ein kleines Mädchen vergewaltigen. Sie müssen nur alle
erfahren, daß sie gut sind, und alle werden sogleich gut sein. Alle ohne
Ausnahme.«

»Nun, Sie selbst, zum Beispiel, Sie haben es nun erfahren, also sind Sie
jetzt gut?«

»Ich bin gut.«

»Damit bin ich übrigens einverstanden,« sagte Stawrogin, mit gerunzelter
Stirn, vor sich hin.

»Wer da lehren wird, daß alle gut sind, wird die Welt beenden.«

»Der das lehrte, den haben sie gekreuzigt,« sagte Stawrogin.

»Er wird kommen und sein Name wird sein Menschgott.«

»Gottmensch?«

»Nein, Menschgott. Das ist der Unterschied.«

»Sind nicht vielleicht Sie es, der hier das Lämpchen vor dem
Heiligenbilde angezündet hat?«

»Ja, ich habe es angezündet.«

»Wieder gläubig geworden?«

»Die Alte liebt, daß das Lämpchen ... Heute hatte sie keine Zeit,« sagte
Kirilloff undeutlich.

»Aber selbst beten Sie noch nicht?«

»Ich bete zu allem. Sehen Sie, eine Spinne kriecht dort an der Wand und
ich bin ihr dankbar dafür, daß sie kriecht.«

Seine Augen brannten wieder. Er sah immer noch unverwandt Stawrogin an,
mit festem, standhaftem Blick. Stawrogin beobachtete ihn finster und
widerwillig, doch in seinem Blick lag kein Spott.

»Ich wette, daß Sie, wenn ich nächstens wiederkomme, bereits an Gott
glauben werden.«

Er stand auf und nahm seinen Hut.

»Wieso?« Kirilloff erhob sich gleichfalls.

»Wenn Sie wüßten, daß Sie an Gott glauben, dann würden Sie an ihn
glauben. Da Sie aber noch nicht wissen, daß Sie an ihn glauben, so
glauben Sie auch noch nicht an ihn,« sagte Stawrogin mit einem
flüchtigen Lächeln.

»Das ist es nicht.« Kirilloff dachte nach. »Sie haben den Gedanken
umgekehrt. Ein Kavalierscherz. Denken Sie daran, was Sie in meinem Leben
bedeutet haben, Stawrogin.«

»Leben Sie wohl, Kirilloff.«

»Kommen Sie wieder nachts; wann?«

»Ja, haben Sie denn schon vergessen, was morgen bevorsteht?«

»Ach, richtig, ich vergaß. Aber seien Sie unbesorgt, ich werde nicht
verschlafen. Ich verstehe aufzuwachen, wann ich will. Ich lege mich hin
und sage: um sieben Uhr -- und wache auf um sieben Uhr; um zehn Uhr --
und wache auf um zehn Uhr.«

»Sie haben ja merkwürdige Eigenschaften.« Stawrogin sah in sein bleiches
Gesicht.

»Ich werde die Hofpforte aufmachen.«

»Bemühen Sie sich nicht, Schatoff wird mich hinauslassen.«

»Ach so, Schatoff. Gut. Leben Sie wohl.«


                                  VI.

Die Flurtür des leeren Hauses, in dem Schatoff wohnte, war nicht
verschlossen. Im Flur war es stockdunkel, so daß Stawrogin mit der Hand
tastend nach der Treppe zu suchen begann. Da wurde plötzlich im oberen
Stock eine Tür aufgemacht und ein Lichtschimmer ließ ihn die Treppe
sehen. Schatoff trat selbst nicht heraus, er ließ nur die Tür offen
stehen. Als Stawrogin oben anlangte und an der Türschwelle stehen blieb,
sah er ihn in der anderen Ecke des Zimmers an seinem Tisch stehen und
warten ...

»Würden Sie mich in einer Angelegenheit empfangen?« fragte Stawrogin,
ohne einzutreten.

»Treten Sie ein. Setzen Sie sich,« antwortete Schatoff. »Schließen Sie
die Tür. Warten Sie, ich werde selbst ...«

Er schloß die Tür, drehte den Schlüssel um und setzte sich dann
Stawrogin gegenüber. Er war in dieser Woche merklich abgemagert und
schien jetzt zu fiebern.

»Sie haben mich müde gequält,« sagte er halblaut murmelnd, den Blick zu
Boden gesenkt. »Warum sind Sie nicht früher gekommen?«

»Sie waren so überzeugt, daß ich kommen werde?«

»Ja ... Warten Sie, ich habe im Fieber phantasiert ... vielleicht
phantasiere ich auch jetzt noch ... Warten Sie.«

Er stand auf, ging zu seinem Bücherbrett und nahm von dem obersten der
drei Bretter einen Gegenstand: es war ein Revolver.

»In einer Nacht träumte mir im Fieber, daß Sie kommen würden, um mich zu
töten. Da habe ich mir am anderen Morgen von dem Taugenichts Lämschin
für mein letztes Geld diesen Revolver gekauft. Ich wollte mich Ihnen
nicht ergeben. Später kam ich wieder zu mir ... Ich habe weder Kugeln,
noch Pulver ... seitdem liegt er hier auf dem Bücherbrett. Warten Sie.«

Er ging schon zum Fenster und wollte es öffnen.

»Nicht doch, warum hinauswerfen!« rief ihn Stawrogin zurück. »Er kostet
Geld ... und morgen würden die Leute davon sprechen, daß unter Schatoffs
Fenster Mordwerkzeuge liegen. Legen Sie ihn wieder hin. -- So. Und jetzt
setzen Sie sich. Sagen Sie, warum beichten Sie mir förmlich Ihren
Gedanken, daß ich zu Ihnen kommen würde, um Sie zu töten? Ich bin auch
jetzt nicht gekommen, um mich mit Ihnen zu versöhnen, sondern um über
etwas sehr Notwendiges mit Ihnen zu sprechen. Erklären Sie mir zunächst
eines: Sie haben mich doch nicht wegen meiner Verbindung mit Ihrer Frau
geschlagen?«

»Sie wissen doch selbst, daß ich nicht deswegen ...«

Schatoff sah wieder zu Boden.

»Und auch nicht wegen des dummen Klatsches über Darja Pawlowna?«

»Nein, nein, natürlich nicht! Blödsinn! Meine Schwester hat mir gleich
zu Anfang gesagt ...« erwiderte Schatoff mit Ungeduld, schroff, und fast
stampfte er mit dem Fuß auf.

»Also habe ich es richtig erraten ... und auch Sie haben das andere
erraten,« fuhr Stawrogin ruhig fort. »Sie irren sich nicht, es ist so:
Marja Timofejewna Lebädkin ist meine rechtmäßige, mir vor viereinhalb
Jahren in Petersburg angetraute Frau. -- Sie haben mich doch ihretwegen
geschlagen?«

Ganz bestürzt saß Schatoff da, hörte und schwieg.

»Ich ahnte es und konnte es doch nicht glauben,« murmelte er endlich und
sah dabei Stawrogin sonderbar an.

»Und so schlugen Sie?«

Schatoff wurde feuerrot und stammelte fast zusammenhangslos:

»Ich habe es ... wegen Ihrer Erniedrigung ... für Ihren Fall ... Ihre
Lüge ... Ich trat nicht an Sie heran, um Sie zu bestrafen ... Als ich
auf Sie zuging, wußte ich selbst noch nicht, daß ich schlagen würde. Ich
... habe es deswegen ... weil Sie so viel in meinem Leben bedeutet haben
... Ich --«

»Verstehe, verstehe schon, sparen Sie die Worte. Es tut mir leid, daß
Sie heute fiebern, denn ich muß über eine wichtige Sache mit Ihnen
sprechen.«

»Ich habe schon zu lange auf Sie gewartet.« Schatoff zitterte geradezu
und erhob sich vom Stuhl. »Sprechen Sie von Ihrer Angelegenheit, ich
werde dann sprechen ... nachher ...«

Er setzte sich wieder.

»Diese Sache hat mit alledem nichts gemein,« begann Stawrogin, der ihn
mit Neugier beobachtete. »Gewisse Umstände haben mich gezwungen, heute
noch diese späte Stunde zu wählen, um Sie zu benachrichtigen, daß man
Sie vielleicht bald ermorden wird.«

Schatoff blickte ihn wild an.

»Ich weiß, daß mir Gefahr drohen könnte,« sagte er zurückhaltend, »aber
-- wie können Sie denn das wissen?«

»Weil ich ebenfalls zu jenen gehöre und eben solch ein Mitglied des
Bundes bin, wie Sie.«

»Sie ... Sie ... ein Glied des ... Bundes?«

»Ich sehe an Ihren Augen, daß Sie alles von mir erwartet hätten, nur das
nicht,« sagte Stawrogin, mit kaum merklichem Lächeln. »Aber, erlauben
Sie, dann wußten Sie also schon, daß man Sie ermorden will?«

»Nicht einmal gedacht habe ich daran! Und auch jetzt glaube ich es
nicht, obschon Sie es sagen! Aber wer kann denn vor diesen Eseln sicher
sein!« rief er plötzlich wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Ich fürchte sie aber nicht! Ich habe mit ihnen gebrochen. Der eine ist
viermal zu mir gekommen und hat mir gesagt, daß man austreten kann ...
aber --« er sah auf Stawrogin -- »was wissen Sie denn eigentlich davon?«

»O, fürchten Sie nichts, ich betrüge Sie nicht,« fuhr Stawrogin kühl
fort, mit dem Ausdruck eines Menschen, der nur eine Pflicht erfüllt.
»Sie wollen mich examinieren: was ich davon weiß? Ich weiß, daß Sie in
diesen Verband eingetreten sind, als Sie noch im Auslande waren, kurz
vor Ihrer Reise nach Amerika und, ich glaube, gleich nach unserem
letzten Gespräch, über das Sie mir dann ja in Ihrem Brief aus Amerika so
viel geschrieben haben. Verzeihen Sie, bitte, daß ich nicht gleichfalls
mit einem Brief darauf geantwortet habe, und nur ...«

»Das Geld schickten! Warten Sie einen Augenblick,« unterbrach ihn
Schatoff, zog eilig das Schubfach des Tisches auf und suchte unter einem
Stoß von Papieren einen Hundertrubelschein hervor. »Hier, bitte, nehmen
Sie die hundert Rubel wieder, die Sie mir schickten, ohne Sie wäre ich
dort umgekommen. Ich würde Ihnen die Summe noch lange nicht zurückgeben
können, ... wenn nicht Ihre Mutter diese hundert Rubel vor neun Monaten
... nach meiner Krankheit ... mir meiner Armut wegen geschenkt hätte.
Doch fahren Sie fort, bitte ...«

Schatoff war vor Aufregung ganz atemlos.

»In Amerika änderten Sie dann Ihre Anschauungen, und als Sie nach der
Schweiz zurückgekehrt waren, wollten Sie sich vom Bunde lossagen. Man
antwortete Ihnen nicht, sondern beauftragte Sie, hier in Rußland von
irgend jemandem eine Setzmaschine in Empfang zu nehmen und sie so lange
aufzubewahren, bis eine von jenen beauftragte Person sie Ihnen wieder
abnehmen würde. Ich bin nicht über alle Einzelheiten unterrichtet, doch
in der Hauptsache verhält es sich so, nicht wahr? Sie aber nahmen den
Auftrag unter der Bedingung oder vielleicht auch nur in der Hoffnung an,
daß es -- deren letzte Forderung sei, und Sie dann endgültig frei wären.
Alles das habe ich nicht von jenen, sondern ganz zufällig erfahren. Ich
möchte Sie nun auf eines aufmerksam machen, was Sie noch nicht zu wissen
scheinen: daß nämlich jene Leute durchaus nicht die Absicht haben, Sie
freizugeben.«

»Das ist unmöglich!« brüllte Schatoff auf. »Ich habe ihnen ehrlich
erklärt, daß ich geistig nichts mehr mit ihnen gemein habe! Das ist mein
Recht, das Recht meines Gewissens und meiner Überzeugung ... Ich werde
das nicht dulden! Es gibt keine Macht, die ...«

»Wissen Sie, schreien Sie lieber nicht so,« fiel ihm Stawrogin sehr
ernst ins Wort. »Dieser Werchowenski ist ein Mensch, der vielleicht in
diesem Augenblick hier auf Ihrem Treppenflur zuhört, wenn nicht mit
eigenen, so doch mit fremden Ohren, -- was sich ja schließlich gleich
bleibt. Sogar der ewig betrunkene Lebädkin war verpflichtet, Sie zu
beobachten, und Sie mußten vielleicht wiederum auf ihn aufpassen, --
war's nicht so? Übrigens, sagen Sie mir lieber, hat sich Werchowenski
jetzt mit Ihren Argumenten einverstanden erklärt, oder nicht?«

»Er war einverstanden: er sagte, ich könne -- und ich hätte das Recht
...«

»Nun, dann betrügt er Sie. Ich weiß genau, daß sogar Kirilloff, der
beinahe überhaupt nicht zu ihnen gehört, beauftragt war, Nachrichten
über Sie zu schicken. Agenten haben sie in Mengen, und viele wissen es
nicht einmal, daß sie dem Verbande dienen. Auf Sie hat man beständig
aufgepaßt. Pjotr Stepanowitsch ist unter anderem auch deshalb
hergekommen, um Ihre Angelegenheit endgültig zu erledigen: da Sie zu
viel wissen und vielleicht sie alle verraten könnten, hat er die
Vollmacht, Sie in einem passenden Augenblick zu beseitigen. Erlauben Sie
mir, zu bemerken, daß jene die feste Überzeugung haben, daß Sie ein
Spion sind, der, wenn er auch bis jetzt noch nichts verraten hat, es
doch bestimmt tun wird. Ist das wahr?« fragte Stawrogin in einem
ruhigen, ganz gewöhnlichen Tone.

Schatoff verzog den Mund, als er eine solche Frage in einem solchen Tone
hörte.

»Und wenn ich ein Spion wäre -- _wem_ sollte ich denn etwas verraten?«
fragte er hämisch zurück. »Nein, lassen Sie das! Zum Teufel mit mir!
Aber _Sie_!« rief er aus, sich plötzlich von neuem auf die Nachricht
stürzend, die Stawrogin betraf, und die ihn sichtlich weit mehr
erschüttert hatte, als die von seiner eigenen Gefahr. »Aber _Sie_,
_Sie_, Stawrogin, wie konnten Sie sich in eine so schamlose, geistlose
Knechtsgesellschaft verlieren! ... Sie, ein Mitglied dieser Bande! Ist
denn das die Heldentat Nicolai Stawrogins!?« rief er ganz verzweifelt
aus und erhob wie fassungslos die Hände, als könnte es nichts Bittereres
und Trostloseres für ihn geben, als diese Entdeckung.

»Erlauben Sie --« wunderte Stawrogin sich tatsächlich, »Sie scheinen ja
förmlich eine Sonne in mir zu sehen und sich selbst, im Vergleich zu
mir, für so etwas wie ein Insekt zu halten? Auch aus Ihrem Brief aus
Amerika habe ich das ...«

»Sie ... Sie wissen ... Eh, lassen wir mich aus dem Spiel!« brach
Schatoff plötzlich das ab. »Aber wenn Sie über sich selbst etwas sagen,
erklären könnten? ... Auf meine Frage? -- So tun Sie es!« bat er erregt.

»Mit Vergnügen. Sie fragen, wie ich mich in diesen Kreis verlieren
konnte, in diese geistige Spelunke? Ich bin jetzt sogar verpflichtet,
Ihnen einige Mitteilungen darüber zu machen. Genau genommen, gehöre ich
durchaus nicht zu diesem Bunde, habe auch früher nicht zu ihm gehört und
habe weit mehr das Recht, als Sie, ihn zu verlassen, da ich ausdrücklich
niemals in ihn eingetreten bin. Im Gegenteil, ich habe den Leuten gleich
zu Anfang erklärt, daß ich ihnen durchaus nicht sonderlich gewogen bin,
-- und wenn ich ihnen zufällig einmal geholfen habe, so habe ich das nur
wie ein müßiger Mensch getan. Ich habe teilweise an der Reorganisation
des Verbandes nach einem neuen Plane mitgearbeitet, doch das ist auch
alles. Jene aber sind jetzt bedenklich geworden und mit sich
übereingekommen, daß auch ich ihnen gefährlich werden könnte, und
deshalb bin auch ich, wenn ich mich nicht irre, zum Tode verurteilt.«

»Oh, mit Todesurteilen sind sie gleich bei der Hand, das geht bei ihnen
schnell -- und alles vorschriftsmäßig auf bestempeltem Papier, das dann
von dreieinhalb Menschen unterschrieben wird! Und Sie glauben, daß die
dazu fähig wären! ...«

»Hierin haben Sie teilweise recht, teilweise auch nicht,« fuhr Stawrogin
mit der früheren Gleichmütigkeit, fast Faulheit, fort. »Zweifellos ist
auch viel Phantasie dabei, wie ja gewöhnlich in solchen Fällen, und in
der Phantasie vergrößert das Häufchen sein Wachstum und seine Bedeutung.
Ja, meiner Meinung nach besteht die ganze Gesellschaft, wenn Sie wollen,
einzig und allein aus Pjotr Werchowenski, und er ist schon etwas zu
bescheiden, wenn er sich nur für einen Agenten des Verbandes hält. Der
Hauptgedanke, der der ganzen Sache zugrunde liegt, ist nicht gerade
dümmer, als bei anderen Verbänden dieser Art. Sie haben Beziehungen zur
_Internationale_. Es ist ihnen gelungen, sich in Rußland Agenten
anzulegen, und sie haben sogar ein ziemlich originelles Verfahren
erfunden ... doch selbstverständlich nur theoretisch. Was nun Sie und
mich betrifft, ich meine, ihre Absichten mit uns, so ist ihre russische
Organisation eine so dunkle Sache, daß man in der Tat auf alles mögliche
gefaßt sein kann. Und vergessen Sie nicht, Werchowenski ist ein Mensch,
der das, was er will, auch durchsetzt.«

»Diese Wanze, dieser ungebildete Flegel, dieser Flachkopf, der von
Rußland überhaupt nichts versteht!« rief Schatoff wütend aus.

»Sie kennen ihn nur flüchtig. Es ist wahr, daß sie alle nur wenig von
Rußland verstehen, aber schließlich doch wohl nur wenig weniger als Sie
und ich. Außerdem ist Werchowenski Enthusiast.«

»Werchowenski Enthusiast?«

»O ja. Es gibt einen Punkt, wo er aufhört, bloß Narr zu sein, und sich
in einen ... Halbverrückten verwandelt. Erinnern Sie sich bitte eines
Ihrer eigenen Aussprüche: >wissen Sie auch, wie stark ein einzelner
Mensch sein kannBuße<, wie Sie sagen,
auf mich zu nehmen.«

»Lassen wir das ... davon später ... warten Sie ... sprechen Sie von der
Hauptsache, von der Hauptsache ... Ich habe zwei Jahre auf Sie
gewartet!«

»Ja?«

»Ich habe schon zu lange auf Sie gewartet, ich habe ununterbrochen an
Sie gedacht! Sie sind der einzige Mensch, der's könnte ... Ich habe
Ihnen schon aus Amerika davon geschrieben ...«

»Ich erinnere mich nur zu gut Ihres langen Briefes.«

»Der zu lang war, um durchgelesen zu werden? Einverstanden. Sechs Bogen
... Schweigen Sie, schweigen Sie! Sagen Sie: können Sie mir noch zehn
Minuten schenken, aber gleich, jetzt gleich ... Ich habe zu lange auf
Sie gewartet!«

»Bitte, auch eine halbe Stunde, aber nicht mehr, wenn's Ihnen möglich
ist, sich damit zu begnügen.«

»Aber ... nur mit der Bedingung,« unterbrach ihn Schatoff jähzornig,
»daß Sie Ihren Ton ändern. Hören Sie, ich verlange es, ich fordere es,
während ich Sie doch darum anflehen müßte ... Verstehen Sie, was das
heißt, zu fordern, wenn man weiß, daß man flehen müßte?«

»Ich verstehe, daß Sie sich so über alles Gewöhnliche erheben wollen, um
eines höheren Zweckes willen.« Stawrogin lächelte kaum merklich. »Und
mit Bedauern sehe ich, daß Sie im Fieber sind.«

»Ich bitte, mich zu achten, ich verlange es!« rief Schatoff. »Nicht
meine Person selbst, zum -- Teufel mit ihr, -- aber das andere ... nur
diesen einen Augenblick, für diese paar Worte ... Wir sind zwei Wesen
und treffen uns hier außerhalb von Raum und Zeit ... zum letztenmal in
der Welt. Lassen Sie diesen Ihren Ton, und nehmen Sie einen menschlichen
an! Sprechen Sie doch ein einziges Mal im Leben mit einer menschlichen
Stimme! Nicht um meinetwillen, sondern um Ihretwillen! Verstehen Sie
denn nicht, daß Sie mir diesen Schlag in Ihr Gesicht schon deshalb
verzeihen müssen, weil ich Ihnen damit Gelegenheit gegeben habe, Ihre
grenzenlose Macht zu fühlen. Schon wieder lächeln Sie Ihr verächtliches,
angeekeltes Gesellschaftslächeln! Oh, wann werden Sie mich endlich
verstehen! Zum Teufel mit dem verfluchten Herrensohn in Ihnen! So
begreifen Sie doch, daß ich das _verlange_, sonst will ich nicht mit
Ihnen sprechen, werde es nicht tun, um keinen Preis, für nichts in der
Welt!«

Seine fanatische Wut grenzte schon an Fieberwahnsinn. Stawrogins Gesicht
verfinsterte sich und er wurde vorsichtiger.

»Da ich nun schon eingewilligt habe, noch eine halbe Stunde hier zu
bleiben,« sagte er eindringlich und ernst, »obgleich meine Zeit sehr
kostbar ist, so könnten Sie mir doch glauben, daß ich die Absicht habe,
Sie wenigstens mit Interesse anzuhören.«

Er setzte sich wieder auf seinen Platz.

»Setzen Sie sich!« rief Schatoff plötzlich und setzte sich dann
gleichfalls.

»Einstweilen erlauben Sie mir aber noch, Sie daran zu erinnern, daß ich
meine Bitte an Sie, wegen Marja Timofejewna, eine Bitte, die wenigstens
für Marja Timofejewna von großer Wichtigkeit ...«

»Nun?« Schatoff ärgerte sich, wie ein Mensch, den man plötzlich an der
wichtigsten Stelle seiner Rede unterbricht, und der dann, wenn er seinen
Widerpart auch ansieht, doch noch nicht den Sinn der Worte versteht.

»... Und Sie unterbrachen mich, noch bevor ich meine Bitte zu Ende
sprechen konnte,« schloß Stawrogin lächelnd.

»Eh, was, Unsinn, nachher!« rief Schatoff und winkte, da er endlich
diese Anmaßung begriff, nur angewidert ab und ging sofort gerade auf
sein Ziel los.


                                  VII.

»Wissen Sie auch,« begann er fast drohend, mit vorgebeugtem Körper und
glänzenden Augen, wobei er den Zeigefinger seiner Rechten vor sich
erhoben hielt, was er selbst gar nicht zu bemerken schien, »wissen Sie
auch, welches jetzt das einzige Gotträgervolk ist, das da kommen wird,
die Welt zu erlösen und zu erneuen mit dem Namen des neuen Gottes -- das
einzige Volk, dem die Quellen des Lebens und des neuen Wortes gegeben
sind ... Wissen Sie auch, welches Volk das ist und wie sein Name
lautet?«

»Nach Ihrem Gebaren zu urteilen, muß ich unbedingt und wohl so schnell
wie möglich sagen, daß dieses Volk das russische sei.«

»Und schon lachen Sie! Oh, Russen!«

Schatoff krallte vor Wut die Hand ins Haar.

»Beruhigen Sie sich, ich bitte Sie darum. Im Gegenteil: ich hatte sogar
gerade etwas von dieser Art erwartet.«

»Von dieser Art erwartet? Aber Ihnen selbst sind diese Worte nicht
bekannt?«

»Oh, sie sind mir durchaus bekannt. Ich sehe nur zu gut, wohin Sie damit
wollen. Alles, was Sie sagten, und sogar der Ausdruck >Gotträgervolk<
ist nichts anderes, als die Schlußfolgerung aus unserem Gespräch, das
wir vor zwei Jahren im Auslande hatten, kurz vor Ihrer Reise nach
Amerika ... Wenigstens so weit ich mich dessen entsinnen kann.«

»Aber das ist ja doch _Ihr_ Ausspruch, vom Anfang bis zum Ende _Ihr_
Ausspruch -- und nicht der meinige! Ihre eigenen Worte, und nicht nur
die Folgerung aus unserem Gespräch! Und wie können Sie überhaupt sagen
>unserem< Gespräch! Es war da ein Lehrer, der große, mächtige Worte
predigte, und es war da ein Schüler, der von den Toten auferstand und
zuhörte. Ich war der Schüler und der Lehrer waren Sie.«

»Doch erlauben Sie, wenn ich mich recht entsinne, so war es gerade nach
meinen Worten, daß Sie in jenen Bund eintraten und dann nach Amerika
reisten?«

»Ja -- doch ich schrieb Ihnen darüber aus Amerika. Ich konnte mich
damals noch nicht losreißen von all dem, woran ich mich von Kindheit auf
festgesogen hatte, das das Entzücken all meiner Hoffnungen gewesen war
und die Tränen meines ganzen Hasses und meiner ganzen Verzweiflung ...
Oh, es ist schwer, die Götter zu wechseln! Ich glaubte Ihnen damals
nicht, denn ich wollte nicht glauben und warf mich noch zum letztenmal
in diese ... in diese Kloake ... Doch die Saat blieb und schoß auf und
wuchs. Aber sagen Sie im Ernst: haben Sie meinen Brief aus Amerika
überhaupt nicht gelesen?«

»Ich habe drei Seiten gelesen, die beiden ersten und die letzte, und das
andere überflogen. Übrigens habe ich mir schon immer vorgenommen ...«

»Eh, einerlei, lassen Sie es, zum Teufel damit,« winkte Schatoff ab.
»Wenn Sie aber Ihren früheren Worten untreu geworden sind, wie konnten
Sie sie denn damals aussprechen? Das ist es, was mich jetzt würgt!«

»Ich habe auch damals nicht mit Ihnen gescherzt. Als ich Sie überzeugen
wollte, bemühte ich mich vielleicht weit mehr um mich selbst, als um
Sie,« antwortete Stawrogin rätselhaft.

»Nicht gescherzt! In Amerika habe ich drei Monate auf Stroh gelegen
neben einem ... Unglücklichen, von dem ich erfuhr, daß Sie in derselben
Zeit, als Sie in meine Seele Gott und die Heimat pflanzten, das Herz
dieses selben, dieses Maniaken Kirilloff, vergifteten ... Sie haben Lüge
und Verleumdung in ihm bestätigt und seine Vernunft schließlich zum
Wahnsinn gebracht. Gehen Sie, sehen Sie ihn sich an ... Das ist jetzt
Ihr Geschöpf! Aber Sie haben ihn ja gesehen ...«

»Erstens möchte ich Ihnen sagen, daß mir Kirilloff soeben selbst gesagt
hat, daß er glücklich ist und vollkommen. Was Sie da von >derselben
Zeit< sagen, das ist allerdings fast richtig -- aber was liegt daran?
Ich wiederhole nochmals, daß ich weder Sie noch ihn betrogen habe.«

»Sie sind Atheist? Sind Sie jetzt Atheist?«

»Ja.«

»Und damals?«

»Ebenso wie heute.«

»Ich habe nicht für mich um Achtung gebeten, als ich das Gespräch
begann. Das hätten Sie, bei Ihrem Verstande, wirklich verstehen können,«
murmelte Schatoff unwillig.

»Ich bin nicht bei Ihrem ersten Worte aufgestanden, habe nicht dieses
Gespräch abgebrochen, bin nicht fortgegangen, sitze noch jetzt hier und
antworte gehorsam auf Ihre Fragen und ... Schreie -- also habe ich doch
die Achtung vor Ihnen nicht vergessen.«

Schatoff unterbrach ihn mit einer Handbewegung:

»Erinnern Sie sich noch Ihres Ausspruchs: >ein Atheist kann nicht Russe
sein< -- >ein Atheist hört sofort auf, Russe zu sein< -- erinnern Sie
sich?«

»Ja?« fragte Stawrogin gleichsam.

»Sie fragen noch? Sie haben es vergessen? Und doch ist es einer der
richtigsten Hinweise auf eine der wichtigsten Besonderheiten des
russischen Geistes, die Sie erraten haben. Nein, das haben Sie nicht
vergessen können! Und ich werde Sie an noch etwas erinnern. Damals
sagten Sie sogar: >Ja, wer nicht rechtgläubig ist, der kann nicht Russe
sein< ...«

»Mir scheint, das ist ein Gedanke der Slawophilen.«

»Nein. Die jetzigen Slawophilen würden sich von ihm lossagen. Heute ist
ja alle Welt klüger geworden! _Sie_ aber gingen damals noch weiter: Sie
sagten, daß der Katholizismus überhaupt nicht mehr Christentum sei. Sie
behaupteten, daß der Christus, den Rom verkündet, der dritten Versuchung
des Satans nicht widerstanden hat, und daß Rom, wenn es alle Welt lehrt,
Christus könne ohne Erdenreich auf der Erde nicht bestehen, damit den
Antichrist verkündet und den ganzen Westen zugrunde gerichtet hat. Und
Sie wiesen noch darauf hin, daß, wenn Frankreich sich quält, daran
einzig der Katholizismus die Schuld trägt, denn Frankreich habe den
stinkenden römischen Gott zwar verworfen, einen neuen Gott aber nicht zu
finden vermocht. Ja, das alles haben Sie damals sagen können! Ich habe
unsere Gespräche behalten.«

»Wenn ich gläubig wäre, so würde ich zweifellos auch jetzt noch dasselbe
wiederholen: ich log nicht, als ich wie ein Gläubiger sprach,« sagte
Stawrogin sehr ernst, »aber ich versichere Ihnen, daß diese
Wiederholungen meiner früheren Gedanken einen unangenehmen Eindruck auf
mich machen. Können Sie nicht abbrechen?«

»Wenn Sie gläubig wären?!« rief Schatoff, ohne der Bitte die geringste
Beachtung zu schenken. »Aber wer war es denn, der mir einst sagte: >Wenn
man mir mathematisch bewiese, daß die Wahrheit nicht in Christus ist, so
würde ich es dennoch vorziehen, mit Christus zu bleiben, als mit der
Wahrheit< --? Sollten Sie das wirklich nicht gewesen sein? Oder haben
Sie das gesagt? Haben Sie's?«

»Aber erlauben Sie auch mir, endlich zu fragen,« -- Stawrogin erhob nun
auch seine Stimme -- »was Sie mit diesem ungeduldigen und ... boshaften
Examen eigentlich von mir wollen?«

»Dieses Examen vergeht und Sie werden nie wieder daran erinnert werden.«

»Sie bestehen immer noch darauf, daß wir außerhalb von Raum und Zeit
sind?«

»Schweigen Sie!« fuhr ihn Schatoff plötzlich an. »Ich bin dumm und
ungeschickt, doch mag mein Name in Lächerlichkeit untergehen -- darauf
kommt's nicht an. Aber ... werden Sie mir gestatten, hier vor Ihnen
wenigstens noch Ihren größten Gedanken von damals zu wiederholen ... nur
zehn Zeilen, nur die letzte Zusammenfassung?«

»Wiederholen Sie ... wenn es wirklich nur die Zusammenfassung ist ...«

Stawrogin wollte schon nach der Uhr sehen, bezwang sich aber und tat es
nicht.

Schatoff beugte wieder den Oberkörper vor und auf einen Augenblick erhob
er sogar abermals den Zeigefinger.

»Noch kein einziges Volk,« begann er, als lese er Zeile für Zeile aus
einem Buche ab, während er dabei Stawrogin unverändert streng ansah,
»noch kein einziges Volk hat sich auf den Grundlagen der Vernunft und
Wissenschaft aufgebaut und eingerichtet. Dieses Beispiel hat noch kein
Volk gegeben, außer vielleicht für die Dauer von höchstens einem
Augenblick, und dann geschah es aus Dummheit. Der Sozialismus muß schon
seinem Wesen nach Atheismus sein, denn er verkündet gleich ausdrücklich
und mit seinem ersten Satz, daß er seine Welt ausschließlich auf
Vernunft und Wissenschaft aufzubauen beabsichtigt. Doch Vernunft und
Wissenschaft haben im Leben der Völker stets, sowohl jetzt wie von
jeher, nur eine zweitrangige und dienende Aufgabe erfüllt; und das
werden sie bis zum Ende der Welt tun. Gestaltet und bewegt aber werden
die Völker von einer ganz anderen Kraft, von einer befehlenden und
zwingenden, deren Ursprung jedoch unbekannt und unerklärlich bleibt. Es
ist die Kraft des unstillbaren Wunsches, zum Ende zu gelangen, und die
sich zu gleicher Zeit ständig des Endes erwehrt. Es ist die Kraft der
fortwährenden und unermüdlichen Bestätigung des Seins und Verneinung des
Todes. Es ist der Geist der ewig fließenden Wasser des Lebens, wie die
Heilige Schrift sagt, und mit deren Versiegen die Apokalypse so
furchtbar droht. Es ist der ästhetische Trieb, wie die Künstler, es ist
der moralische Trieb, wie die Philosophen ihn nennen. Ich sage einfach:
>Es ist das Suchen nach Gott<. Das ewige Ziel der ganzen Bewegung eines
Volkes, jedes Volkes, und jedes besondere Ziel in jedem Abschnitt seiner
Geschichte ist immer und einzig sein Suchen nach Gott, nach _seinem_
Gott, unbedingt nach seinem eigenen, seinem besonderen Gott, und dann
der Glaube an diesen Gott als an den einzig wahren. Gott ist die
synthetische Persönlichkeit eines ganzen Volkes von seinem Anfang bis zu
seinem Ende. Noch nie ist es vorgekommen, daß zwei oder mehrere Völker
ein und denselben Gott gehabt hätten, sondern jedes Volk hat stets
seinen eigenen Gott gehabt. Ein Anzeichen des Niedergangs der Völker ist
es, wenn ihre Götter allgemein werden. Und wenn die Götter allgemein
werden, dann sterben die Götter und stirbt der Glaube an sie zusammen
mit den Völkern. Je stärker aber ein Volk ist, desto ausschließlicher
ist auch sein Gott. Noch hat es nie ein Volk ohne Religion gegeben, das
heißt, ohne Vorstellung von Gut und Böse. Jedes Volk hat seinen eigenen
Begriff von Gut und Böse, und sein eigenes Gut und Böse. Wenn bei vielen
Völkern die Begriffe von Gut und Böse gemeingültig zu werden beginnen,
dann verwischt sich und verschwindet der Unterschied zwischen Gut und
Böse und die Völker gehen zugrunde. Noch nie ist die Vernunft fähig
gewesen, Gut und Böse zu erklären, oder auch nur Böse und Gut
auseinanderzuhalten, wenn auch nur annähernd. Im Gegenteil, stets hat
sie Gut und Böse nur schmählich und kläglich miteinander verwechselt.
Die Wissenschaft aber hat immer nur rohe, plumpe Antworten gegeben. Und
besonders hat sich darin die Halbwissenschaft ausgezeichnet, diese
schrecklichste aller Geißeln der Menschheit, furchtbarer als Pest,
Hunger und Krieg, die bis zum jetzigen Jahrhundert unbekannt war. Die
Halbwissenschaft -- die ist ein Despot, wie es bisher noch keinen
gegeben hat. Ein Despot, der seine Priester und Sklaven hat, ein Despot,
vor dem alles in Liebe und mit einem Aberglauben sich beugt, der bisher
undenkbar gewesen wäre, vor dem sogar die Wissenschaft selbst zittert
und dem sie schmachvoll genug beipflichtet. -- Das sind alles Ihre
eigenen Worte, Stawrogin, nur die über die Halbwissenschaft, die sind
von mir, der ich selbst solch ein Halbwissenschaftler bin und sie darum
hasse, wie ich nur etwas hassen kann. An Ihren Gedanken aber und sogar
an Ihren Worten habe ich nichts geändert, nicht eine einzige Silbe.«

»Ich glaube nicht, daß Sie nichts verändert haben,« bemerkte Stawrogin
vorsichtig, »Sie haben alles leidenschaftlich erfaßt und es auch
leidenschaftlich verändert -- vielleicht ohne es zu bemerken. Schon
allein, daß Sie Gott zu einem einfachen Attribut des Volkes erniedrigen
--«

Er begann plötzlich, Schatoff mit einer ganz besonderen Aufmerksamkeit
zu betrachten, nicht einmal so sehr auf seine Worte zu hören, als ihn
selbst zu beobachten.

»Ich erniedrige Gott zu einem Attribut des Volkes! Im Gegenteil, ich
erhebe das Volk bis zu Gott! Das Volk, -- das ist der Körper Gottes.
Jedes Volk ist nur so lange Volk, wie es noch seinen besonderen, seinen
eigenen Gott hat, und all die anderen Götter auf der Welt stark und
grausam von sich stößt; so lange es noch glaubt, daß es nur mit _seinem_
Gott siegen und alle anderen Götter und Völker sich unterwerfen kann.
Das haben alle großen Völker der Erde von sich und ihrem Gotte geglaubt,
wenigstens alle einigermaßen hervorragenden, alle, die einmal an der
Spitze der Menschheit gestanden. Die Juden haben nur zu dem Zweck
gelebt, um den wahren Gott zu erwarten, und so haben sie denn jetzt der
Welt den wahren Gott hinterlassen. Die Griechen haben die Natur
vergöttert und der Welt ihre griechische Religion, das heißt,
Philosophie und Kunst, hinterlassen. Rom hat das Volk im Staate
vergöttert und den Völkern den Staat vermacht. Frankreich war in seiner
ganzen langen Geschichte nur die Verkörperung und Entwicklung des Gottes
>Katholizismus<; und wenn es diesen seinen römischen Gott schließlich in
den Orkus warf und sich dem Atheismus hingab, der bei den Franzosen
vorläufig noch Sozialismus heißt -- so geschah das nur deshalb, weil der
Atheismus schließlich doch gesünder ist als der römische Katholizismus.
Wenn ein großes Volk nicht glaubt, daß in ihm _allein_ die Wahrheit ist
(gerade in _ihm_ allein und unbedingt _ausschließlich_ in ihm), wenn es
nicht glaubt, daß es ganz allein fähig und berufen ist, alle anderen
Völker zu erwecken und sie mit seiner Wahrheit zu erretten, so wird es
sofort zu ethnographischem Material, doch nicht zu einem großen Volk!
Ein wahrhaft großes Volk kann sich auch nie mit einer zweitrangigen
Rolle in der Menschheit zufrieden geben, ja, noch nicht einmal mit einer
erstrangigen, sondern es muß unbedingt und ausschließlich das Erste
unter den Völkern sein wollen. Ein Volk, das diesen Glauben verliert,
ist kein Volk mehr. Doch da es nur eine Wahrheit gibt, so kann auch nur
ein einziges Volk den einzigen wahren Gott haben, mögen andere Völker
auch ihre eigenen und noch so großen Götter besitzen. Das einzige
Gotträgervolk aber -- das sind wir, das ist das russische Volk, und ...
und ... und sollten Sie mich wirklich für so dumm halten, Stawrogin,«
brüllte er plötzlich voll Ingrimm, »daß ich nicht mehr zu unterscheiden
vermag, ob diese meine Worte altes, mürbes Gewäsch sind, das von allen
möglichen Moskauer Slawophilenmühlen schon durch und durch gemahlen ist,
oder ob es neue Worte sind, vollständig reine und neue Worte, die
letzten Worte, die einzigen Worte der Erlösung und Auferstehung und ...
Eh, was geht mich jetzt in diesem Augenblick Ihr Lachen an! Was geht es
mich an, daß Sie mich überhaupt nicht, überhaupt nicht verstehen, kein
Wort, keinen Ton ... Oh, wie unsagbar ich es verachte, Ihr stolzes
Lachen und Ihren stolzen Blick gerade jetzt!«

Er sprang auf, sogar Schaum war auf seinen Lippen.

»Im Gegenteil, Schatoff, ganz im Gegenteil,« sagte Stawrogin
ungewöhnlich ernst, ohne sich von seinem Platz zu erheben, »im
Gegenteil, Sie haben mit Ihren glühenden Worten ungemein starke
Erinnerungen in mir wachgerufen. Ich finde meine eigene Stimmung von
damals, vor zwei Jahren, wieder, und jetzt werde ich Ihnen schon nicht
mehr sagen, daß Sie meine Gedanken vergrößert haben. Es scheint mir
sogar, daß ich sie noch schärfer, noch autokratischer damals prägte, und
ich versichere Ihnen auf jeden Fall, daß ich sogar sehr gerne alles
bestätigen würde, was Sie da sagten, aber ...«

»Aber Sie brauchen den Hasen?«

»Wa--as?«

»Das ist ja Ihr eigener, gemeiner Ausdruck!« lachte Schatoff höhnisch
auf und setzte sich wieder. »>Um eine Hasensauce zu machen, braucht man
einen Hasen, und um an Gott zu glauben, muß erst Gott da sein.< Das
sollen Sie in Petersburg gesagt haben, _à la_ Nosdreff,[37] der den
Hasen an den Hinterbeinen fangen wollte.«

»Nein, Nosdreff prahlte, er hätte ihn bereits gefangen. Übrigens,
erlauben Sie eine Frage, zumal ich jetzt wohl das volle Recht dazu haben
dürfte: Ist Ihr Hase eigentlich schon gefangen oder läuft er noch?«

»Unterstehen Sie sich nicht, mich mit solchen Worten zu fragen! Fragen
Sie mit anderen, mit anderen!« Schatoff zitterte plötzlich.

»Wie Sie wünschen. Also mit anderen.« Stawrogin sah ihn mit hartem Blick
an. »Ich wollte nur wissen: glauben Sie selbst an Gott, oder nicht?«

»Ich glaube an Rußland, ich glaube an seine Rechtgläubigkeit ... Ich
glaube an den Leib Christi ... Ich glaube, daß die neue Wiederkunft in
Rußland geschehen wird ... Ich glaube ...« stammelte Schatoff wie in
Verzückung.

»Aber an Gott? An Gott?«

»Ich ... ich werde glauben -- an Gott.«

Kein einziger Muskel bewegte sich im Gesicht Stawrogins. Schatoff sah
ihn glühend, mit Herausforderung an, ganz als hätte er ihn verbrennen
wollen mit seinem Blick.

»Ich habe Ihnen doch nicht gesagt, daß ich überhaupt nicht glaube,« rief
er schließlich. »Ich gebe doch nur zu verstehen, daß ich ein
unglückliches, langweiliges Buch bin und vorläufig nichts weiter,
vorläufig ... Aber was liegt an mir! Es liegt ja alles bei Ihnen! Ich
bin nur ein unbegabter Mensch und kann nur mein Blut hingeben und weiter
nichts, wie jeder unbegabte Mensch. So mag denn mein Blut auch fließen!
Ich spreche jetzt von Ihnen. Ich habe zwei Jahre hier auf Sie gewartet
... Nur um Ihretwillen tanze ich jetzt hier nackt vor Ihnen. Nur Sie ...
Sie allein könnten die Fahne erheben! ...«

Er sprach nicht zu Ende und wie in Verzweiflung stützte er die Arme auf
den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen.

»Ich möchte, da Sie darauf zu sprechen gekommen sind, nur eines
bemerken, als Kuriosität,« unterbrach Stawrogin plötzlich die Stille.
»Warum wollen mir alle immer eine Fahne aufdrängen? Auch Pjotr
Stepanowitsch ist überzeugt, ich allein könnte ihre >Fahne erheben<, --
wenigstens hat man mir diesen Ausspruch von ihm wiedergegeben. Er hat es
sich in den Kopf gesetzt, ich wäre fähig, für sie die Rolle eines Stenka
Rasin[38] zu spielen, dank meiner >ungewöhnlichen Fähigkeit zum
Verbrechen< -- gleichfalls seine Worte.«

»Wie? Dank Ihrer >ungewöhnlichen Fähigkeit zum Verbrechen?<« fragte
Schatoff.

»Genau so.«

»Hm! ... Aber ist es wahr,« fragte Schatoff mit einem bösen Lächeln,
»daß Sie in Petersburg zu einer viehischen, wollüstigen Gesellschaft
gehört haben? Daß Sie sich selbst gerühmt haben, der Marquis de Sade
hätte von Ihnen noch lernen können? Daß Sie Kinder zu sich gelockt und
verdorben haben? Antworten Sie! Und wagen Sie nicht, zu lügen! Stawrogin
kann nicht lügen -- vor Schatoff, der ihn ins Gesicht geschlagen hat!
Sagen Sie, sagen Sie alles, und wenn es wahr ist, so werde ich Sie auf
der Stelle totschlagen!« schrie Schatoff wie wahnsinnig.

»Diese Worte habe ich gesagt, aber Kindern habe ich nichts angetan,«
sagte Stawrogin schließlich, aber erst nach einem gar zu langen
Schweigen.

Er war erblaßt und seine Augen glühten.

»Aber Sie haben es gesagt!« fuhr Schatoff herrisch fort, ohne seinen
sprühenden Blick von ihm abzuwenden. »Und ist es wahr, daß Sie
versichert haben, Sie wüßten keinen Schönheitsunterschied zwischen
irgendeinem wollüstigen, tierischen Streiche und gleichviel welcher
Heldentat, und wäre es selbst das Opfer des Lebens für die Menschheit?
Ist es wahr, daß Sie in beiden Polen die gleiche Schönheit fanden, den
gleichen Genuß?«

»So zu antworten ist unmöglich ... ich will nicht antworten,« murmelte
Stawrogin, der jetzt sehr gut hätte aufstehen und fortgehen können und
doch nicht aufstand und nicht fortging.

»Ich weiß es auch nicht, warum das Böse häßlich und das Gute schön ist,
aber ich weiß, warum die Empfindung dieses Unterschieds erlischt und
verloren geht bei solchen Herrschaften, wie Stawrogin und
seinesgleichen,« ließ Schatoff, am ganzen Körper bebend, nicht davon ab.
»Wissen Sie auch, warum Sie damals geheiratet haben, so schmachvoll,
schändlich und gemein? Gerade deshalb, weil hier die Schmach und
Gemeinheit schon an Genialität grenzte! Oh, Sie schlendern nicht bloß so
am Rande, Sie stürzen sich dreist mit dem Kopf voran in den Abgrund
hinab. Aus Leidenschaft zur Qual haben Sie geheiratet, aus Leidenschaft
zu Reue und Gewissensbissen, aus geistiger, sittlicher Wollust. Hier
waren Ihre Nerven wund ... Die Herausforderung an die gesunde Vernunft,
die hierin lag, war schon gar zu verführerisch! _Stawrogin!_ und eine
häßliche, schwachsinnige Bettlerin, die dazu noch krüppelig ist! -- Als
Sie den Gouverneur ins Ohr bissen, empfanden Sie da nicht Wollust?
Empfanden Sie sie? Müßiger, sich herumtreibender Herrensohn, empfanden
Sie sie?«

»Sie sind Psychologe,« sagte Stawrogin, der bleicher und bleicher wurde,
»obschon Sie sich in den Gründen meiner Heirat teilweise irren ... Wer
hat Ihnen übrigens all dieses mitteilen können? ...« Er zwang sich zu
einem Spottlächeln. »Doch nicht Kirilloff? Aber der war ja gar nicht
zugegen ...«

»Warum sind Sie bleich geworden?«

»Was _wollen_ Sie nur von mir?« Stawrogin erhob schließlich die Stimme:
»Ich habe hier eine halbe Stunde unter Ihrer Knute gesessen, nun könnten
Sie mich doch wenigstens höflich fortgehen lassen ... wenn Sie in der
Tat keinen vernünftigen Grund haben, mit mir in dieser Art umzugehen.«

»Vernünftigen Grund?«

»Zweifellos. Es wäre zum mindesten Ihre Pflicht, mir zu sagen, was Sie
eigentlich bezwecken. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, daß Sie
es tun würden. Ich habe aber nur eine einzige rasende Bosheit in Ihnen
gefunden. Ich bitte Sie, mir die Hofpforte zu öffnen.«

Er erhob sich. Schatoff stürzte ihm nach, wild vor Grimm.

»Küssen Sie die Erde, tränken Sie sie mit Tränen, bitten Sie um
Vergebung!« rief er, ihn an der Schulter packend.

»Ich habe Sie nicht erschlagen ... an jenem Sonntagmorgen ... Ich nahm
beide Hände zurück ...« sagte Stawrogin wie im Schmerz und sah zu Boden.

»So sprechen Sie doch, so sagen Sie doch alles! Sie kamen her, um mich
vor der Gefahr zu warnen, Sie ließen es zu, daß ich sprach, und morgen
wollen Sie Ihre Heirat öffentlich bekanntmachen! ... Sehe ich es denn
nicht Ihrem Gesicht an, daß Sie mit irgendeinem neuen furchtbaren
Gedanken ringen ... Stawrogin, warum bin ich dazu verurteilt, bis in
alle Ewigkeit an Sie zu glauben? Hätte ich denn mit einem anderen so
sprechen können? Ich habe Keuschheit, aber ich habe mich meiner
Nacktheit nicht geschämt, -- denn es war _Stawrogin_, vor dem ich
sprach! Ich habe mich nicht gefürchtet, den großen Gedanken durch meine
Berührung zu karikieren, denn _Stawrogin_ hörte mir zu! ... Und werde
ich denn nicht die Spuren Ihrer Tritte küssen, wenn Sie fortgegangen
sind? Ich kann nicht, ich kann Sie nicht aus meinem Herzen reißen,
Nicolai Stawrogin!«

»Es tut mir leid, daß ich Sie nicht lieben kann, Schatoff!« sagte
Stawrogin kalt.

»Ich weiß, daß Sie es nicht können, und ich weiß auch, daß Sie nicht
lügen. Aber hören Sie, ich werde alles gut machen: ich werde Ihnen den
Hasen verschaffen!«

Stawrogin schwieg.

»Sie sind Atheist, weil Sie ein Herrensohn sind, der letzte Herrensohn.
Sie haben den Unterschied zwischen Gut und Böse verloren, denn Sie haben
aufgehört, Ihr Volk zu verstehen ... Es steigt eine neue Generation
herauf, unmittelbar aus dem Herzen dieses Volkes, doch Sie werden sie
nie erkennen, weder Sie noch die Werchowenski, Vater und Sohn, noch ich,
denn auch ich bin ein Herrensohn, ja, ich, der Sohn Ihres leibeigenen
Dieners Paschka ... Hören Sie, verschaffen Sie sich Gott durch Arbeit --
hierin liegt der ganze Kern ... Oder verschwinden Sie als gemeine,
faulende Schimmelschicht ... Erwerben Sie sich Gott durch Arbeit!«

»Gott durch Arbeit? Mit welcher Arbeit?«

»Mit gemeiner Bauernarbeit! Gehen Sie, werfen Sie Ihren ganzen Reichtum
hin ... Ah! Sie lachen, Sie fürchten wohl, daß eine Posse dabei
herauskommen wird?«

Doch Stawrogin lachte nicht.

»So glauben Sie, daß man Gott durch Arbeit erringen kann, und zwar
gerade Bauernarbeit?« wiederholte er nachdenklich, als hätte man ihm in
der Tat etwas Neues und Ernstes gesagt, worüber nachzudenken sich
lohnte. »Aber wissen Sie auch,« sagte er plötzlich, auf etwas anderes
übergehend, »daß ich durchaus nicht reich bin und fast nichts mehr
hinwerfen könnte? Ich bin sogar kaum imstande, die Zukunft Marja
Timofejewnas sicherzustellen ... Ja, und damit ich es nicht vergesse:
ich wollte Sie bitten, Marja Timofejewna auch fernerhin, wenn es Ihnen
möglich ist, beizustehen, da doch nur Sie allein einen gewissen Einfluß
auf ihren armen Verstand haben könnten. Ich sage das nur auf alle
Fälle.«

»Schon gut, schon gut!« Schatoff winkte mit der einen Hand ab, während
er mit der anderen das Licht hielt. »Sie reden von Marja Timofejewna,
gut, ich werde schon, das ist ja selbstverständlich ... Aber hören Sie,
gehen Sie zu Tichon.«

»Zu wem?«

»Zu Tichon. Er ist ein früherer Bischof, der jetzt -- krankheitshalber
zurückgezogen -- hier in der Stadt wohnt, hier in unserem
Jefimjeff-Kloster.«

»Und --?«

»Nichts weiter. Man pilgert und fährt jetzt zu ihm. Gehen Sie auch zu
ihm, was macht es Ihnen denn aus? Gehen Sie auch!«

»Höre es zum erstenmal und ... Diese Sorte Menschen habe ich noch nie
gesehn. Ich danke Ihnen, ich werde hingehen.«

»Hierher!« Schatoff leuchtete und geleitete ihn die Treppe hinunter.

»So,« sagte er und stieß die Hofpforte sperrangelweit zur Straße auf.

»Ich werde nicht mehr zu Ihnen kommen, Schatoff,« sagte Stawrogin leise,
indem er durch die Pforte trat.

Die Nacht war nach wie vor finster und der Regen hatte noch immer nicht
aufgehört ...




                           Siebentes Kapitel.
                        Die Nacht (Fortsetzung)


                                   I.

Er ging die ganze Bogojawlenskstraße hinunter; schließlich führte der
Weg leicht abwärts, seine Füße glitschten im Schlamm, und plötzlich
öffnete sich vor ihm im Dunkeln ein breiter, nebliger, gleichsam leerer
Raum -- der Fluß. Die Häuser waren hier nicht mehr Häuser zu nennen,
sondern Hütten, und die Straße hatte sich in vielen Sackgassen und
Gäßchen verloren. Nicolai Wszewolodowitsch ging eine ganze Weile an den
Zäunen entlang, ohne sich vom Flußufer zu entfernen, verfolgte aber
standhaft seinen Weg, doch eigentlich ohne viel an ihn zu denken. Er war
mit ganz anderen Dingen beschäftigt und sah sich erstaunt um, als er
sich plötzlich, aus tiefem Denken erwachend, fast in der Mitte unserer
langen, nassen Floßbrücke fand. Keine Seele ringsum. Nichts rührte sich.
Um so sonderbarer erschien es ihm da, als plötzlich fast unmittelbar
neben seinem Ellenbogen eine höflich familiäre, doch übrigens ganz
angenehme Stimme ertönte, aber in jenem süßlich abgerundeten Redefluß,
mit dem bei uns gar zu zivilisierte Kleinbürger oder lockenhäuptige
junge Kommis in den Kaufläden zu paradieren pflegen.

»Würde mir der gnädige Herr nicht erlauben, das Regenschirmchen mit eins
zu benützen?«

Und tatsächlich, eine Gestalt drückte sich unter seinen Schirm, oder tat
wenigstens so, als wage sie es. Der Strolch ging neben ihm, ihn fast
»mit dem Ellenbogen fühlend«, wie unsere Soldaten sagen. Nicolai
Wszewolodowitsch verlangsamte den Schritt und beugte sich ein wenig, um
dem Unbekannten ins Gesicht sehen zu können, soweit das in der
Finsternis möglich war: ein Mensch, nicht groß von Wuchs und in etwa wie
ein heruntergekommener, verbummelter Kleinbürger, schlecht und nicht
warm gekleidet; auf dem krausen, zottigen Haar saß schief eine nasse
Tuchmütze mit halbabgerissenem Schirm. Es schien ein schwarzhaariger
Mensch zu sein, mager und braun; die Augen waren groß, unbedingt
schwarz, mit jenem starken Glanz und gelben Schimmer, wie ihn Zigeuner
haben, -- das erriet man in der Dunkelheit. Alt mochte er sein -- gegen
vierzig, und er war nicht betrunken.

»Du kennst mich?« fragte Stawrogin.

»Herr Stawrogin, Nicolai Wszewolodowitsch. Man hat Sie mir auf der
Bahnstation gezeigt, kaum daß die Maschine hielt, akkurat am
vorvergangenen Sonntag. Außer daß man schon früher von Ihnen gehört
hat.«

»Von Pjotr Stepanowitsch? Du ... du bist der Zuchthäusler Fedjka?«

»Getauft hat man mich Fjodor Fjodorowitsch. Hab bis auf den heutigen Tag
noch eine leibliche Mutter in hiesiger Gegend, eine alte Gottesdienerin,
die zur Erde wächst, für uns selber Tag und Nacht alleweil zu Gott
betet, damit daß sie nicht ganz umsonst ihre Altweiberzeit auf dem Ofen
verliert.«

»Du bist aus dem Zuchthause entsprungen?«

»Ich hab' halt selber mein Los verändert und ihnen da den ganzen Krempel
hingeworfen. Denn ich war halt beinah auf Lebenszeit zur Zwangsarbeit
verurteilt, und da war's denn schon ganz absonderlich lang auf das Ende
zu warten ...«

»Was treibst du hier?«

»Ja, so, ein Tag und eine Nacht und immer ist noch nichts gemacht. Die
Zeit vergeht halt von selber. Was unser Onkel ist, der ist hier in der
vorigen Woche im Gefängnis gestorben, wo er von wegen falscher Gelder
saß, und da hab ich denn ein Gedächtnisfeierchen für ihn gemacht und
dabei so selbentlich zweimal zehn Rubel an die Hunde gebracht -- das ist
auch alles von unseren Taten bis eben jetzt. Und dabei haben Pjotr
Stepanowitsch die Möglichkeit, uns einen Paschport auf ganz Rußland zu
verschaffen, als was das Herz nur will, sogar als Kaufmann. Und da wart
ich denn, bis er mir seinen Segen schenkt. Darum sagen sie, -- ich
meine: er, Pjotr Stepanowitsch --, darum sagt er, daß Papa dich im
englischen Klub beim Kartenspiel verspielt hat, und so finde ich, sagt
er, ich meine Pjotr Stepanowitsch, so finde ich diese Unmenschlichkeit
ungerecht. -- Sie könnten mir doch, gnädiger Herr, mit drei Rubelchen so
zum Erwärmen, für ein Teechen, wohlwollen?«

»Du hast mir hier also aufgelauert. Das liebe ich nicht. Auf wessen
Befehl hast du es getan?«

»Was von Befehl, so ist davon gar nichts gewesen: ich kenn' nur bloß
auch Ihre Menschenliebe, wie alle Welt es eben tut. Denn unsere
Einkünftekens, Sie wissen ja selbst, Herr, daß die halt 'ne Maus auf'm
Schwanz fortschleppen kann. Das war vor'gen Freitag, da habe ich mich
mal vollgeschlagen mit Fleisch, wie Martyn mit Seife, wie man zu sagen
pflegt, aber seit damals hab ich den ersten Tag nichts gegessen, den
zweiten gefastet und den dritten wieder nichts. Wasser ist ja im Fluß,
bei Gott, so viel du willst, aber davon allein kann man im Magen doch
nur Karauschen züchten ... Na, und so überhaupt, der gnädige Herr werden
doch wohl von den Mildtätigen sein? Und ich hab hier gerade 'ne
Gevatterin nich weit, die mich erwartet: nur komm du nich ohne Rubelchen
zu ihr!«

»Was hat dir denn Pjotr Stepanowitsch von mir versprochen?«

»Nicht, daß er mir was vorversprochen hat, er hat nur so mit Worten
gesagt, daß ich, nu ja, dem gnädigen Herrn mal nötig sein könnte, wenn
solch ein Streifen mal vorkommt; aber zu was, das hat er eigentlich nich
so geradeheraus gesagt, so mit Genauigkeit, denn Pjotr Stepanowitsch
will nur so zum Beispiel sehen, ob ich nich Kosakengeduld habe, und
Vertrauen hat er nich für 'ne Kopeke zu mir.«

»Warum denn nicht?«

»Ja, Pjotr Stepanowitsch mag wohl ein Astrolom sein und hat jetzt
vielleicht auch alle Gottesplaneten erkannt, aber der Allerklügste ist
er doch noch nich. Ich bin vor Ihnen, gnädiger Herr, wie vor Gottes
Antlitz selber, denn ich hab vieles gehört, was man so spricht von
Ihnen. Pjotr Stepanowitsch -- das ist eins, aber Sie, gnädiger Herr, das
ist es eben, sind das andere. Wenn der von einem Menschen sagt: 'n
Gauner, so ahnt ihm schon außer diesem von diesem Menschen gar nichts
mehr. Sagt er: 'n Kamel, so kann der Mensch bei ihm schon nie und nimmer
einen anderen Namen kriegen. Ich aber, ich bin vielleicht, kann sein,
nur am Dienstag und Mittwoch 'n Kamel, aber Donnerstag vielleicht auch
klüger als er selber. Jetzt weiß er bloß eben von mir, daß ich gerade
große Sehnsucht nach einem Paschport habe, denn wissen Sie, in Rußland
geht's ohne Dokumentchen auf keinerlei Art -- und schon glaubt er, er
hat meine Seele in der Hand! Hehe, gepfiffen! Ich sag Ihnen, Herr, Pjotr
Stepanowitsch hat's furchtbar leicht zu leben auf der Welt, denn, sehen
Sie, er stellt sich einen Menschen so vor, wie er ihn haben will, und so
lebt er denn auch mit ihm. Dazu ist er noch geizig, daß es schon gar
keine Art mehr mit ihm hat. Er glaubt, daß ich außer als durch ihn schon
nie nich wagen werde, Sie zu belästigen, aber ich bin vor Ihnen,
gnädiger Herr, wie vor'm Angesicht des leibhaftigen Gottes selber, --
schon die vierte Nacht erwarte ich den gnädigen Herrn hier auf dieser
Brücke, in der Sache, daß ich auch ohne ihn mit leisen Schritten, wie
man sagt, meinen eigenen Weg finden kann. Besser, denke ich, du
verneigst dich vor 'nem Stiefel als vor 'nem Bastschuh.«

»Wer hat es dir denn gesagt, daß ich nachts über diese Brücke gehen
werde?«

»Ja, das ist schon, muß ich sagen, von anderweitig herausgekommen, mehr
aus der Dummheit des Hauptmann Lebädkin, denn der kann schon gar nichts
für sich behalten ... Also dann drei Rubelchen vom gnädigen Herrn für
die drei Nächte, als für die Langeweile, zum Beispiel? Und daß die
Kleider quatschnaß sind, davon schweigen wir schon allein von wegen der
Beleidigung.«

»Ich gehe jetzt nach links und du nach rechts; die Brücke ist zu Ende.
Höre, Fedjka, ich liebe es, daß man meine Worte ein für allemal behält:
ich gebe dir keine Kopeke und werde dich niemals -- hörst du? -- niemals
brauchen; ferner werde ich dich weder hier auf der Brücke noch sonst wo
treffen, verstanden? Und wenn du dir das nicht merkst -- so binde ich
dich und übergebe dich der Polizei. Jetzt -- marsch!«

»O je! Aber für die Unterhaltung schmeißen Sie mir doch wenigstens was
-- es war doch lustiger, so zu gehen.«

»Pack dich!«

»Ja, aber wissen Sie denn hier auch den Weg? Hier gehen ja doch so
verdrehte Wege ... ich könnte zeigen, denn die hiesige Stadt auf diesem
Ufer -- das ist doch ganz, als ob der Teufel sie im Korb getragen hätte:
alles hat er durcheinandergeschüttelt.«

»Zum ... Ich binde dich!« wandte sich Stawrogin drohend nach ihm um.

»Denken Sie nach, vielleicht doch, gnädiger Herr? Kann man denn eine
Waise lange beleidigen?«

»Du scheinst ja wirklich auf dich zu bauen!«

»Ach, gnädiger Herr, ich baue auf Sie, aber nicht, daß ich sonderlich
auf mich baute!«

»Ich brauche dich nicht, hab ich dir schon gesagt!«

»Aber ich brauche doch Sie, gnädiger Herr! Das ist es ja eben. Nu, werde
also warten, bis Sie zurückkommen.«

»Mein Wort: wenn ich dich antreffe, binde ich dich!«

»So werd' ich denn schon einen Gurt bereit halten. Glückliche Reise,
gnädiger Herr; haben doch alleweil mit dem Schirmchen 'ne Waise
beschützt; schon dafür allein werden wir bis zum Grabe dankbar sein,
gnädiger Herr.«

Er blieb zurück. Stawrogin ging besorgt weiter. Dieser plötzlich aus der
Nacht aufgetauchte Mensch war von seiner Notwendigkeit für ihn doch
schon gar zu überzeugt und beeilte sich doch schon zu schamlos, ihm das
zu zeigen. Überhaupt machte man mit ihm jetzt keine Umstände mehr. Aber
es konnte doch auch sein, daß der Strolch nicht alles gelogen und seine
Dienste wirklich nur von sich aus angeboten hatte, und zwar gerade
heimlich, hinter Pjotr Stepanowitschs Rücken. Das aber gab dann doch am
meisten zu denken.


                                  II.

Das Haus, zu dem Stawrogin ging, lag an einer öden, entlegenen Gasse
buchstäblich am äußersten Rande der Vorstadt, zwischen niedrigen Zäunen,
hinter denen sich Gemüsegärten hinzogen. Es war ein alleinstehendes
kleines hölzernes Haus, das man gerade erst erbaut hatte und das von
außen noch nicht einmal mit Brettern beschlagen war. Die Läden des einen
Fensters hatte man wohl absichtlich nicht geschlossen, denn auf dem
Fensterbrett stand ein brennendes Licht, augenscheinlich als Wegweiser
und Zeichen für den spät erwarteten Gast. Schon von weitem, über dreißig
Schritte von der Tür, erkannte Stawrogin auf der kleinen Haustreppe die
Gestalt eines Menschen von hohem Wuchs, der offenbar über dem Warten die
Geduld verloren hatte und herausgetreten war. Da hörte er auch schon
seine Stimme, voll Ungeduld und doch gleichsam zaghaft.

»Sind Sie es? Sie?«

»Ich bin's,« antwortete Stawrogin, doch nicht eher, als bis er ganz
herangetreten war und den Schirm schloß.

»Endlich!« Hauptmann Lebädkin trat hin und her und bewegte sich mit
geschäftigem Diensteifer. »Das Schirmchen, wenn ich bitten darf; sehr
naß heute; ich werde es aufschlagen und hier in der Ecke auf den
Fußboden stellen. Bitte -- bitte einzutreten, hier geht's hinein; bitte
schön.«

Die Tür aus dem Flur ins Wohnzimmer, in dem zwei Kerzen brannten, stand
weit offen.

»Wenn Sie nicht selbst Ihr unbedingtes Kommen angesagt hätten, so hätte
ich es schon aufgegeben, Sie zu erwarten.«

»Viertel vor eins,« sagte Stawrogin, der ins Zimmer trat, nach einem
Blick auf seine Uhr.

»Und dabei noch Regen -- und eine so interessante Entfernung ... Eine
Uhr habe ich nicht, und vor dem Fenster nur Gemüsegärten, da -- da
bleibt man hinter den Ereignissen zurück. -- Aber das soll kein Vorwurf
sein, das wage ich ja gar nicht, bewahre, sondern einzig nur so ... aus
Ungeduld, wenn man sich die ganze Woche verzehrt ... um endlich erlöst
zu werden ...«

»Wie?«

»Um seinen Schicksalsspruch zu hören, Nicolai Wszewolodowitsch.« Und mit
einer Verbeugung auf das Sofa weisend, vor dem ein Tisch stand: »Bitte,
nehmen Sie Platz.«

Stawrogin sah sich im Zimmer um: es war klein und niedrig. Die ganze
Einrichtung bestand nur aus dem Notwendigsten: aus zwei einfachen neuen
Holzstühlen, einem gleichfalls neuen, noch unüberzogenen Sofa mit
hölzerner Lehne und ohne Seitenpolster, und zwei Tischen. Auf dem
kleineren, in der Ecke, standen irgendwelche Dinge, über die man eine
saubere Serviette gebreitet hatte. Überhaupt schien man das ganze Zimmer
äußerst sauber gehalten zu haben. Der Hauptmann war nun schon an die
acht Tage nüchtern. Sein Gesicht sah gelb und abgefallen aus, der Blick
war unruhig, neugierig und eigentlich verständnislos: man sah ihm an,
daß er noch nicht wußte, in welch einem Ton er sprechen durfte und
welcher schließlich der ratsamste war.

»Wie Sie sehen,« wies er mit pathetischer Geste herum, »lebe ich wie ein
Heiliger: Nüchternheit, Einsamkeit und Armut -- das Gelübde der alten
Ritter!«

»Sie glauben, die alten Ritter hätten solche Gelübde getan?«

»Tja, vielleicht habe ich mich auch verhauen? O weh, für mich gibt es
keine Entwicklung mehr! Alles verdorben! Glauben Sie mir, Nicolai
Wszewolodowitsch, hier bin ich zum erstenmal aufgewacht aus diesem
Schandleben, -- kein Gläschen mehr, kein Tröpfchen! Habe jetzt einen
Winkel -- und sechs Tage lang genieße ich nun schon die Wohltat der
Gewissensbisse. Sogar die Wände riechen noch nach Harz, erinnern somit
an die Natur. Aber was war ich, was stellte ich vor?

   >Ohne Obdach in der Nacht,
   Tagsüber eine Hetze< ...

wie sich ein genialer Dichter ausgedrückt hat! Aber ... Sie sind ja so
durchnäßt ... Wollen Sie nicht ein Gläschen Tee?«

»Bemühen Sie sich nicht.«

»Der Samowar kocht seit acht Uhr abends, aber -- da ist er nun
ausgelöscht! -- wie alles in der Welt! Und auch die Sonne, sagt man,
wird einmal auslöschen, wenn sie an die Reihe kommt ... Aber wenn Sie
wollen, bringe ich ihn wieder zum Kochen ... Agafja schläft noch nicht.«

»Sagen Sie: Marja Timofejewna ...«

»Hier, hier,« fiel ihm Lebädkin sofort flüsternd ins Wort, »wenn Sie sie
sehen wollen ...?« und er wies auf die geschlossene Tür zum Nebenzimmer.

»Sie schläft nicht?«

»O nein, nein, wie sollte sie denn? Im Gegenteil, erwartet Sie schon vom
Abend an! ... wie sie es vorhin erfuhr, putzte sie sich gleich auf,« --
er wollte schon sarkastisch den Mund verziehen, unterließ es aber im Nu.

»Wie ist sie jetzt im allgemeinen?« fragte Nicolai Wszewolodowitsch mit
zusammengezogenen Brauen.

»Im allgemeinen? Ja, das geruhen Sie ja selbst zu wissen,« und er zuckte
mitleidig mit den Schultern. »Jetzt ... jetzt sitzt sie da und legt
Karten ...«

»Gut, nachher. Zuerst muß ich mit Ihnen zu einem Ende kommen.«

Stawrogin setzte sich auf einen Stuhl. Der »Hauptmann« wagte es nicht,
sich auf das Sofa zu setzen, und so zog er denn schnell den anderen
Stuhl herbei, setzte sich, und war, leicht vorgebeugt, in zitternder
Erwartung bereit, alles zu vernehmen.

»Was haben Sie denn dort auf dem Tisch unter der Serviette?« fragte
Stawrogin, der plötzlich seine Aufmerksamkeit jenem Tisch zuwandte.

»Da--a?« Lebädkin drehte sich sofort gleichfalls um. »Ja, das ist so von
Ihren eigenen Gaben, in Gestalt, wie man zu sagen pflegt, in Gestalt von
Salz und Brot ... in der neuen Wohnung ... und ich dachte auch an Ihren
weiten Weg und die natürliche Müdigkeit,« er sah ihn fast bittend an und
versuchte unschuldig zu lächeln. Darauf erhob er sich, ging auf den
Fußspitzen zum Tisch und entfernte ehrerbietig und vorsichtig die
Serviette.

Er hatte einen ganzen Imbiß vorbereitet: geräucherten Schinken,
Kalbfleisch, Sardinen, Käse, eine kleine grüne Karaffe und eine lange
Flasche Bordeaux -- alles war ungemein sauber, mit Sachkenntnis und fast
elegant geordnet.

»Das haben Sie besorgt?«

»Jawohl ... Schon gestern ... Marja Timofejewna ist ja in der Beziehung,
wie Sie wissen, gleichgültig. Aber die Hauptsache: daß es von Ihren
Gaben ist, also Ihr eigenes ... da Sie ja doch hier der Hausherr sind,
und nicht ich -- ich bin ja doch nur so Ihr Angestellter, wenn auch,
wenn auch, Nicolai Wszewolodowitsch, wenn auch mein Geist noch
unabhängig ist! Diesen meinen letzten Besitz werden Sie mir doch nicht
nehmen wollen!« schloß er geradezu gerührt.

»Hm! ... wie wär's, wenn Sie sich setzen würden?«

»Ich bin da--ankbar, dankbar und unabhängig!« (Er setzte sich.) »Ach,
Nicolai Wszewolodowitsch, in diesem Herzen hat sich so viel angesammelt,
so viel, daß ich schon gar nicht mehr wußte, wie ich noch länger auf Sie
warten sollte! Sehen Sie, Sie werden jetzt mein Schicksal entscheiden
und auch das ... jener Unglücklichen, und dann ... dann wieder so, wie
es früher war? Ich werde dann wieder meine ganze Seele vor Ihnen
ausschütten, wie damals vor vier Jahren. Würdigten Sie mich doch damals
dessen, mir zuzuhören, lasen Verse ... Mag man mich auch dort Ihren
Falstaff genannt haben, nach Shakespeare, aber Sie haben doch so viel in
meinem Leben bedeutet! ... Jetzt habe ich wieder meine große Angst und
erwarte nur von Ihnen Rat und Heil. Pjotr Stepanowitsch behandelt mich
ganz furchtbar!«

Stawrogin hörte ihm neugierig zu und beobachtete ihn aufmerksam.
Augenscheinlich befand sich Lebädkin, wenn er nun auch schon eine Woche
nicht mehr getrunken hatte, doch noch längst nicht in einem harmonischen
Gemütszustande. In solchen langjährigen Trinkern setzt sich schließlich
für immer etwas Ungereimtes, Dunstiges, Irrsinniges fest, das sie
gleichsam benommen erscheinen läßt -- was sie übrigens nicht hindert,
wenn es nötig ist, nicht ungeschickter als nüchterne Leute zu betrügen,
zu intrigieren und auch zu berechnen.

»Ich sehe, daß Sie sich in diesen viereinhalb Jahren nicht im geringsten
verändert haben, Hauptmann,« sagte Stawrogin wie ein wenig freundlicher.
»Man sieht wieder einmal, daß die ganze zweite Hälfte des menschlichen
Lebens meist nur aus den in der ersten Hälfte angenommenen Gewohnheiten
besteht.«

»Erhabene Worte! Sie lösen das Rätsel der Welt!« rief der »Hauptmann«
entzückt, halb mit verstellter, halb mit wirklich echter Begeisterung,
denn er war ein großer Liebhaber guter Aussprüche. »Von allem, was Sie
gesagt haben, Nicolai Wszewolodowitsch, habe ich eines ganz besonders
behalten ... noch in Petersburg haben Sie's gesagt: >Man muß in der Tat
ein großer Mensch sein, um sogar gegen die gesunde Vernunft stand halten
zu können<. Sehen Sie!«

»Oder ebensogut auch ein Dummkopf.«

»So? Na, dann mein'twegen auch ein Dummkopf, nur haben Sie Ihr Lebelang
mit dem Scharfsinn nur so um sich geworfen, die anderen aber? Mögen doch
Liputin und Pjotr Stepanowitsch auch einmal etwas Ähnliches sagen! Oh,
wie grausam Pjotr Stepanowitsch mit mir umgegangen ist! ...«

»Aber Sie, Hauptmann, wie haben Sie sich denn selbst benommen?«

»Ach, das betrunkene Aussehen und dazu noch die Unmenge meiner Feinde!
Aber jetzt ist alles, alles vorüber und ich erneuere mich, fahre aus der
alten Haut wie eine Schlange. Wissen Sie auch, Nicolai Wszewolodowitsch,
daß ich mein Testament schreibe, daß ich's schon geschrieben habe?«

»Das ist allerdings interessant. Was vermachen Sie denn und wem das?«

»Dem Vaterlande, der Menschheit und den Studenten. Nicolai
Wszewolodowitsch, ich habe einmal in einer Zeitung die Biographie eines
Amerikaners gelesen. Er vermachte sein ganzes, riesiges Vermögen den
Fabriken und den positiven Wissenschaften, sein Skelett den Studenten
der Universität seiner Stadt und seine Haut bestimmte er für eine
Trommel, auf der man Tag und Nacht die amerikanische Nationalhymne
trommeln sollte! Ach, wir sind ja Pygmäen im Vergleich mit dem
Gedankenflug der nordamerikanischen Staaten! Rußland ist ja nur ein
Spiel der Natur, aber nicht des Verstandes. Wenn ich's versuchen wollte,
meine Haut, sagen wir, dem Akmolinskschen Infanterieregiment, in dem ich
die Ehre hatte, meinen Dienst zu beginnen, mit der Bedingung zu
vermachen, daß man aus ihr ein Trommelfell verfertigt, auf dem man
täglich vor dem ganzen Regiment die russische Nationalhymne trommeln
soll -- man hielte es sofort für Liberalismus und konfiszierte meine
Haut! ... Darum habe ich mich denn mit den Studenten begnügt. Mein
Skelett hab' ich der Akademie vermacht, aber mit der Bedingung,
einstweilen nur unter der Bedingung, daß sie auf die Stirn für alle
ewigen Ewigkeiten ein Zettelchen kleben mit den Worten: >Ein reuiger
Freidenker<. Jawohl!«

Der Hauptmann sprach mit Begeisterung und glaubte jetzt natürlich schon
selbst an die Schönheit des amerikanischen Vermächtnisses, wenn er auch
als schlauer Mensch zu gleicher Zeit Stawrogin, dessen »Narr« er früher
gewesen war, aus Berechnung belustigen wollte. Aber der hatte diesmal
keine Lust zu lachen, sondern fragte im Gegenteil nur eigentümlich
mißtrauisch:

»Sie beabsichtigen wohl, Ihr Testament noch bei Lebzeiten zu
veröffentlichen und dafür eine Belohnung zu erhalten?«

»Und wenn dem so wäre, Nicolai Wszewolodowitsch, und wenn dem so wäre?«
Lebädkin sah sich vorsichtig in ihn hinein. »Denn -- was ist denn mein
Los jetzt eigentlich! Sogar Verse schreibe ich nicht mehr und einst
haben doch sogar Sie sich an meinen kleinen Gedichten ergötzt, Nicolai
Wszewolodowitsch, wissen Sie noch, bei der Flasche? Aber aus ist's nun
mit der Feder! Hab nur noch ein einziges Lied geschrieben, wie Gogol
seine >Letzte Geschichte<. Sie wissen doch, Gogol verkündete ganz
Rußland, daß sie sich aus seiner Seele >herausgesungen< habe. So auch
ich: hab's herausgesungen und damit -- basta!«

»Was ist denn das für ein Gedicht?«

»Tja, es heißt: >Im Fall sie sich den Fuß zerbrächeIm Fall sie sich den Fuß mal bräche<, das heißt, beim Reiten. Eine
bloße Phantasie, Nicolai Wszewolodowitsch, ein Traumbild, aber das
Traumbild eines Dichters! Einmal, beim Spazierengehen, sah dieser
Dichter eine Reiterin, und da stellte er sich dann die materialistische
Frage: >was würde dann sein?< -- das heißt, in dem Falle, _wenn_! Die
Sache ist doch klar: alle Kurmacher gehen sogleich wie die Krebse
rückwärts, fort sind all die Heiratskandidaten, also -- >wisch den Mund
ab morgen früh<,« fügte er plötzlich auf Deutsch hinzu, »nur der Dichter
bleibt treu, nur er mit dem gebrochenen Herzen in der Brust! Nicolai
Wszewolodowitsch, sogar eine winzige Laus darf verliebt sein, denn kein
Gesetz verbietet's ihr. Und doch fühlte sich die Dame gekränkt durch
meinen Brief, wie durch das Gedicht. Sogar Sie sollen sich geärgert
haben, sagt man -- ist's wahr? Das wäre jammerschade, wollt's gar nicht
glauben! Nun, sagen Sie doch selbst, wen konnte ich denn mit bloßer
Einbildung beleidigen? Zudem ist hier noch, mein Ehrenwort, Liputin
dabei: >Schreiben Sie, schreiben Sie unbedingt, jeder Mensch hat das
Recht, Briefe zu schreiben<, sagte er -- und so schickte ich's denn ab.«

»Sie haben sich, glaube ich, als Bräutigam vorgeschlagen?«

»Feinde, Feinde, nichts als Feinde! ...«

»Sagen Sie das Gedicht!« fiel ihm Stawrogin streng ins Wort.

»Ein Traum, bloß ein Traum, sag ich Ihnen!«

Aber er setzte sich doch in Positur, streckte die Hand aus und begann:

     »Das schönste Weib brach mal ein Glied,
   Doch ward es dadurch nur aparter!
   Und doppelt liebte sie fortan
   Der ohnehin in sie verliebte Dichtersmann ...«

»Genug!« Stawrogin winkte ab.

»Oh, ich sehne mich nach Pietjer[39]!« rief Lebädkin, schnell auf ein
anderes Gebiet überspringend, als wäre von Gedichten nie die Rede
gewesen. »Ich denke an eine Auferstehung, ich träume von einer
Wiedergeburt ... Mein Wohltäter! Darf ich darauf rechnen, daß Sie mir
nicht die Mittel zur Reise verweigern werden? Ich hab Sie die ganze
Woche wie die liebe Sonne erwartet.«

»Nein, darauf dürfen Sie nicht rechnen. Außerdem ist mir von meinem
Kapital fast nichts mehr verblieben. Und überhaupt, warum sollte ich
Ihnen Geld geben? ...«

Stawrogin schien sich plötzlich geärgert zu haben. Kurz und trocken
zählte er alle Vergehen des Hauptmanns auf: das unmäßige Trinken, die
Lügengeschichten, Verschwendung des Geldes, das Marja Timofejewna
gehörte, dann, daß er sie aus dem Kloster genommen hatte, die frechen
Briefe mit den Drohungen, das Geheimnis bekanntzumachen, die Geschichte
mit Darja Pawlowna usw., usw. Der Hauptmann wogte geradezu hin und her,
gestikulierte, wollte widersprechen, doch Stawrogin wies ihn jedesmal
herrisch zur Ruh.

»Und erlauben Sie,« bemerkte er zum Schluß, »Sie schreiben immer von
einer >Familienschande<. Ich sehe darin keine Schande für Sie, daß Ihre
Schwester Stawrogins rechtmäßig getraute Frau ist.«

»Aber die Ehe ist ein Geheimnis, Nicolai Wszewolodowitsch, niemand weiß
davon, ein verhängnisvolles Geheimnis! Ich bekomme Geld von Ihnen und
plötzlich stellt man mir die Frage: wofür bekommst du dieses Geld? Ich
aber bin gebunden und kann nicht antworten, zum Schaden meiner Schwester
-- und zum Schaden meiner Familienehre!«

Der Hauptmann erhob bereits die Stimme: dieses Thema liebte er ganz
besonders und er hatte sich in diesem Sinne schon vorbereitet, denn
darauf beruhte seine ganze Hoffnung. Wie hätte er auch ahnen sollen,
welch eine niederschmetternde Überraschung ihn gerade auf dieser seiner
Basis erwartete! Ruhig und bestimmt, als ob es sich um die alltäglichste
häusliche Angelegenheit handelte, teilte ihm Stawrogin mit, daß er die
Absicht habe, in diesen Tagen, vielleicht morgen oder übermorgen, seine
Heirat allgemein bekanntzumachen, sie >sowohl der Polizei wie der
Gesellschaft< anzuzeigen -- so daß denn die Frage der »Familienehre«
damit endgültig erledigt sein werde, und die der Subsidien gleichfalls.

Der Hauptmann riß die Augen auf: er begriff nicht einmal, was er da
hörte; so mußte denn alles noch durchgesprochen werden.

»Aber sie ist doch ... halbverrückt?«

»Das ist meine Sache.«

»Aber ... was wird denn Ihre Mutter --?«

»Das geht Sie wenig an, Lebädkin.«

»Aber Sie werden doch Ihre Frau in Ihr Haus führen?«

»Sehr leicht möglich. Übrigens ist das schon ganz und gar nicht Ihre
Sache, das geht Sie nicht das geringste an.«

»Wie, nicht angehen?« schrie der Hauptmann auf. »Und ich?«

»Nun, Sie kommen doch selbstverständlich nicht in mein Haus.«

»Aber ich bin doch Ihr Verwandter!«

»Für solche Verwandte dankt man. Und warum soll ich Ihnen nun noch Geld
geben, sagen Sie doch selbst?«

»Nicolai Wszewolodowitsch, Nicolai Wszewolodowitsch, das kann ja nicht
sein, Sie werden sich das doch noch überlegen, Sie werden doch nicht
Hand an sich legen wollen ... was wird man denken, was wird man in der
Gesellschaft sagen?«

»Fürchte wahrlich sehr diese Gesellschaft! Habe ich doch Ihre Schwester
geheiratet, als ich es wollte, damals, nach dem Gelage, auf die trunkene
Wette hin, und jetzt zeige ich es öffentlich an ... wenn mir das jetzt
Vergnügen macht.«

Er sagte das ganz eigentümlich gereizt, so daß Lebädkin schon mit
Entsetzen zu glauben begann.

»Aber ich, was wird denn mit mir, die Hauptsache dabei bin doch ich! ...
Sie scherzen vielleicht nur, Nicolai Wszewolodowitsch?«

»Nein, ich scherze nicht.«

»Wie Sie wollen, Nicolai Wszewolodowitsch, aber ich glaube Ihnen nicht
... dann werde ich eine Bittschrift einreichen.«

»Sie sind furchtbar dumm, Hauptmann.«

»Meinetwegen, aber das ist doch alles, was mir übrigbleibt!« sagte der
Hauptmann ganz wirr in seiner Benommenheit. »Früher gab man mir dort in
den Winkeln für ihre Arbeit wenigstens ein Obdach, aber was soll denn
jetzt aus mir werden, wenn Sie mich ganz fallen lassen?«

»Aber Sie wollen doch nach Petersburg, um Ihre Karriere zu verändern.
Übrigens, ist es wahr, daß Sie, wie ich hörte, beabsichtigten, zu
denunzieren -- in der Hoffnung, begnadigt zu werden, wenn Sie die
anderen anzeigen?«

Der Hauptmann öffnete den Mund und riß die Augen auf, doch eine Antwort
gab er nicht.

»Hören Sie, Hauptmann,« begann plötzlich Stawrogin ungewöhnlich ernst
und beugte sich ein wenig vor zum Tisch.

Bis jetzt hatte er noch gewissermaßen zweideutig gesprochen, so daß
Lebädkin, der sich nun einmal an die Rolle des Narren gewöhnt hatte,
noch immer ein wenig im Zweifel war: ob sich sein Prinz Heinz in der Tat
ärgerte oder ob er, als er von der Veröffentlichung seiner Heirat
sprach, nur zu scherzen beliebte. Jetzt aber war der ungewöhnliche Ernst
Stawrogins dermaßen überzeugend, daß dem Hauptmann plötzlich geradezu
ein Frösteln über den Rücken lief.

»Hören Sie, und sagen Sie die ganze Wahrheit, Lebädkin: haben Sie schon
denunziert, oder noch nicht? Ist es Ihnen nicht schon gelungen, irgend
etwas in der Hinsicht zu tun? Haben Sie nicht aus Dummheit schon
irgendeinen Brief abgeschickt?«

»Nein, noch nicht, und ... ich hab' nicht einmal daran gedacht!« und der
Hauptmann sah ihn an, ohne sich zu rühren.

»Nun, das lügen Sie, daß Sie daran noch nicht gedacht haben. Deswegen
wollen Sie ja auch nach Petersburg. Aber wenn Sie noch nichts
geschrieben haben, sollten Sie dann nicht hier irgend etwas mit irgend
jemandem geschwätzt haben? Sagen Sie die Wahrheit. Ich habe so etwas
gehört.«

»In der Betrunkenheit mit Liputin. Liputin ist ein Verräter. Ich habe
ihm nur mein Herz ausgeschüttet,« flüsterte der arme Hauptmann.

»Nun ja, das eine Herz dem anderen Herzen, ich weiß schon, aber man
braucht doch nicht gleich blödsinnig zu sein. Wenn Sie den Gedanken
hatten, so hätten Sie ihn für sich behalten sollen. Heutzutage schweigen
kluge Leute und reden nicht.«

»Nicolai Wszewolodowitsch,« -- der Hauptmann erzitterte. »Sie selbst
haben sich doch an nichts beteiligt, ich hab doch nicht Sie ...«

»Wie sollten Sie denn, bewahre, Ihre eigene Milchkuh!«

»Nicolai Wszewolodowitsch, so urteilen Sie doch selbst! So sagen Sie
doch! ...«

Und in der Verzweiflung begann er, mit Tränen in den Augen, sein Leben
in diesen letzten vier Jahren zu erzählen. Es war die törichte
Geschichte eines hereingefallenen Dummkopfs, der seine Nase in Sachen
gesteckt, die nicht für ihn geschaffen waren, und deren Wichtigkeit er
über Trinken und Schlemmen fast bis zum letzten Augenblick noch nicht
begriffen hatte. Er erzählte, er habe sich schon in Petersburg »einfach
verleiten lassen, aus reiner Freundschaft, wie ein treuer Student, das
heißt, ohne eigentlich Student zu sein«, verschiedene Blätter durch die
Türen, in die Schirme zu stecken, oder wie Zeitungen in die Briefkästen,
und wo sich nur eine Gelegenheit bot, im Theater wie auf der Straße, in
die Hüte oder Taschen zu befördern. Späterhin habe er auch Geld von
ihnen genommen, denn »was sind denn meine Einnahmen, Sie wissen doch
selbst!« Kurz, in zwei ganzen Gouvernements hatte er »allerlei Schund«
verstreut.

»Oh, Nicolai Wszewolodowitsch,« rief er aus, »am meisten hat mich
empört, daß diese Papierlappen so ganz gegen alle bürgerlichen und
besonders vaterländischen Gesetze waren! Da ist denn plötzlich gedruckt,
sie sollen mit den Heugabeln kommen und nicht vergessen, daß, wer
morgens arm ausgeht, abends reich zurückkommen kann -- stellen Sie sich
doch nur so was vor! Ein Schauer faßt mich selber und doch stopfe ich
die Schandblätter überall hin ... oder plötzlich fünf, sechs Zeilen an
ganz Rußland, so, mir nichts, dir nichts, ganz einfach: >Schließt
schnell die Kirchen, vernichtet Gott, löst die Ehe, hebt das Recht der
Erbfolge auf, nehmt die Messer!< -- und das ist alles, und der Teufel
weiß, was weiter. Und gerade mit diesem Papierchen, dem fünfzeiligen,
bin ich dann beinahe hereingefallen, im Regiment haben mich die
Offiziere verprügelt, aber dann -- Gott gebe ihnen Gesundheit! -- haben
sie mich wieder laufen lassen. Doch im vorigen Jahre haben sie mich
beinahe wirklich gepackt, wie ich Fünfzigrubelscheine, französische
Kopien, Korowajeff übergab. Aber, Gott sei Dank, Korowajeff ertrank bald
darauf in betrunkenem Zustande im Teich -- und man konnte nichts gegen
mich unternehmen. Hier bei Wirginski hatte er noch die Freiheit der
sozialen Frau verkündet. Im Juni hab ich wieder im ...schen Kreise alles
mögliche herumgestreut. Die sagen, ich müsse bald wieder ... Pjotr
Stepanowitsch gibt plötzlich zu verstehen, daß ich gehorchen muß und
droht mir einfach. Aber wie hat er mich damals am Sonntag behandelt!
Nicolai Wszewolodowitsch, ich bin ein Sklave, ein Wurm, aber kein Gott
-- nur dadurch unterscheide ich mich von Dershawin. Doch was sind denn
meine Einnahmen? Sie wissen ja selbst!«

Stawrogin hatte ihm aufmerksam zugehört.

»Vieles war mir davon ganz unbekannt,« sagte er; »mit Ihnen konnte
selbstverständlich alles geschehen ... Hören Sie,« er dachte ein wenig
nach, »wenn Sie wollen, so sagen Sie ihnen -- Sie wissen schon, wem --,
daß Liputin gelogen hat und daß Sie nur mich mit einer Denunziation
hätten schrecken wollen, in der Annahme, auch ich sei kompromittiert ...
um auf diese Weise mehr Geld aus mir herauszubekommen ... Verstanden?«

»Nicolai Wszewolodowitsch, Liebling, Täubchen, droht mir denn wirklich
solch eine Gefahr? Ich habe ja nur auf Sie gewartet, um Sie das fragen
zu können!«

Stawrogin lachte kurz auf.

»Nach Petersburg wird man Sie natürlich nicht lassen, selbst wenn ich
Ihnen das Geld zur Reise geben wollte ... Übrigens, es ist Zeit, zu
Marja Timofejewna zu gehen.« Er erhob sich.

»Nicolai Wszewolodowitsch, aber wie wird das nun mit ihr, mit Marja
Timofejewna?«

»Ja, so, wie ich sagte.«

»Ist das denn wirklich wahr?«

»Sie glauben noch immer nicht?«

»Wollen Sie mich denn wirklich so liegen lassen, wie einen alten,
vertragenen Stiefel?«

»Ich werde sehen,« meinte Stawrogin halb lachend. »Nun, lassen Sie
mich.«

»Wünschen Sie nicht, daß ich so lange auf der Treppe stehe ... damit ich
nicht irgendwie versehentlich zuhöre ... die Zimmerchen sind klein.«

»Das ist recht. Warten Sie ein wenig auf der Treppe. Nehmen Sie meinen
Regenschirm.«

»Ihren Regenschirm, Ihren ... bin ich denn das wert?« fragte der
Hauptmann unterwürfig.

»Einen Schirm ist jeder wert.«

»Mit einem Schlage treffen Sie wieder das Minimum der menschlichen
Rechte ...« sagte Lebädkin, doch schon mehr mechanisch: er war doch gar
zu bedrückt und eigentlich ganz wie vor den Kopf geschlagen. Einstweilen
aber, fast gleich darauf, als er den Schirm über sich aufgeschlagen
hatte, begann sich in seinem leichtsinnigen Gehirn schon ein äußerst
beruhigender Gedanke mehr und mehr auszubreiten: wie, wenn man ihn bloß
betrügen wollte und ihn belog? War dem aber so, dann fürchtete man sich
also vor ihm und -- wozu sollte _er_ sich dann noch fürchten?

»Wenn man lügt und betrügt, so tut man das doch stets aus irgend einem
Grunde -- was für einer mag das nun hier sein?« krabbelte es in seinem
Kopf herum. Die Veröffentlichung der Heirat schien ihm Blödsinn zu sein:
»Aber weiß Gott: bei diesem Wundertäter ist nichts unmöglich, -- lebt ja
überhaupt nur zu dem Zweck, um die Menschen zu ärgern! Wie aber, wenn er
Angst vor mir bekommen hat nach dem Sonntag? Hm ... und noch so, wie nie
zuvor? Da ist er nun hergeeilt, um zu versichern, daß er selbst alles
bekanntmachen werde, aus Angst, ich könnte es sonst tun. Lebädkin, sieh
dich vor, schieß keinen Bock! Hm! ... Und warum kommt er denn heimlich
in der Nacht, wenn er's selbst ausblasen will? Aber wenn er sich
fürchtet, so fürchtet er sich jetzt, fürchtet gerade für diese paar
Tage. Hm! ... paß auf, Lebädkin! ...«

»Schreckt mich mit Pjotr Stepanowitsch! Da kann einem ganz angst und
bange werden -- gerade, was _das_ betrifft! Hm ... weiß Gott! wahrhaftig
angst und bange. Was plagte mich nur, diesem Liputin, solch einem ...
Der Teufel mag wissen, was diese Beelzebuben da im Spiele haben -- bin
nie draus klug geworden! Haben sich jetzt wieder eingefunden, genau wie
vor fünf Jahren ... Ja, wem hätt' ich's denn sagen sollen? >Haben Sie
nicht aus Dummheit irgend jemandem geschrieben?< Hm! Also kann man auch
unter dem Anschein großer Dummheit schreiben? War das vielleicht gar ein
Rat? >Deswegen wollen Sie ja nach Petersburg.< Der Schuft! Ich hab's
bloß mal geträumt, er aber hat sogar den Traum schon erraten! Ganz als
ob er selber zur Reise nach Petersburg raten möchte. Hm! Hier werden
wohl zwei Sachen im Spiele sein: entweder er fürchtet sich selber, weil
er wieder was Schönes angerichtet hat, oder ... oder er fürchtet selbst
überhaupt nichts und schubst nur mich, damit ich sie alle da anzeige!
Ach, Lebädkin, da kann einem wahrhaftig angst und bange werden! Wenn man
dabei nur keinen Bock schießt! ...«

Und er kam dermaßen ins Nachdenken, daß er selbst das Lauschen vergaß.
Übrigens wäre es ihm auch schwer gefallen, etwas zu verstehen; die Tür
war nicht dünn und das Gespräch wurde nur leise geführt -- nur hin und
wieder drang ein unklarer Laut bis zu ihm. Endlich spuckte er aus und
trat wieder aus dem Flur auf die Treppe hinaus, wo er in Gedanken leise
vor sich hin pfiff.


                                  III.

Das Zimmer, in dem Marja Timofejewna saß, war fast zweimal so groß wie
das erste, das der Hauptmann bewohnte. Alle Gegenstände der Einrichtung
waren von derselben einfachsten Art, doch der Tisch vor dem Sofa war mit
einem geblümten Paradetischtuch bedeckt, und auf ihm stand eine
brennende Lampe. Über den ganzen ungestrichenen Fußboden hatte man einen
schönen Teppich gebreitet und die Bettstelle mit einem grünen Vorhang
völlig abgeteilt. Außerdem befand sich in dem Zimmer noch ein großer
weicher Lehnstuhl, in den sich aber Marja Timofejewna niemals setzte. In
der einen Ecke hing ganz wie in der alten Wohnung ein Heiligenbild, vor
dem das Lämpchen brannte, und ganz wie damals lagen auch jetzt wieder
die unvermeidlichen Sachen auf dem Tisch vor Marja Timofejewna: ein
Spiel Karten, ein kleiner Spiegel, das Liederbuch und auch wieder eine
Semmel. Hinzugekommen waren nur zwei kleine Bücher mit bunten Bildern,
von denen das eine für die Jugend bearbeitete Reisebeschreibungen
enthielt, das andere kleine moralische Erzählungen, vornehmlich
Rittergeschichten -- so ein Buch für den Weihnachtstisch oder junge
Mädchen im Institut. Marja Timofejewna hatte natürlich den Gast
erwartet, doch als Stawrogin eintrat, schlief sie halb liegend auf dem
Sofa, auf ein hartes Kissen gebeugt. Der Gast schloß unhörbar die Tür
hinter sich und begann, ohne sich von der Stelle zu rühren, die
Schlafende zu betrachten.

Der Hauptmann hatte übertrieben, als er sagte, sie habe sich besonders
geputzt. Sie war in demselben dunklen Kleide, in dem sie am Sonntag bei
Warwara Petrowna gewesen war. Das Haar hatte sie im Nacken ebenso zu
einem winzigen Knoten zusammengesteckt, und der lange magere Hals war
genau so wie damals entblößt. Der schwarze Shawl, den Warwara Petrowna
ihr geschenkt hatte, lag sorgfältig zusammengefaltet neben ihr auf dem
Sofa. Sie war wie gewöhnlich ungeschickt gepudert und geschminkt.
Stawrogin stand noch nicht eine Minute, als sie plötzlich, als hätte sie
seinen Blick gefühlt, erwachte, die Augen aufschlug und sich schnell aus
der halb liegenden Stellung aufrichtete. Doch offenbar ging auch in dem
Gast etwas Sonderbares vor: er blieb auf demselben Fleck an der Tür
stehen und rührte sich nicht; regungslos und mit durchdringendem Blick
fuhr er fort, ihr wortlos und beharrlich ins Gesicht zu sehen.
Vielleicht war dieser Blick übermäßig hart, vielleicht drückte sich in
ihm Ekel aus, oder sogar schadenfroher Genuß an ihrem Schreck -- wenn
das nicht Marja Timofejewna nach dem Erwachen nur so schien. Doch wie
dem auch war, jedenfalls drückte sich im Gesicht der Armen plötzlich,
nach fast minutenlangem Warten, vollständiges Entsetzen aus: ein
krampfartiges Zucken lief durch ihre Züge, sie erhob ihre bebenden
Hände, wie zur Abwehr, und plötzlich begann sie zu weinen, genau so, wie
ein erschrecktes Kind; noch ein Augenblick -- und sie hätte geschrien.
Doch der Gast kam zur Besinnung: in einer Sekunde veränderte sich sein
ganzes Gesicht, und mit dem freundlichsten, liebenswürdigsten Lächeln
trat er an den Tisch.

»Verzeihen Sie mir, ich habe Sie erschreckt, Marja Timofejewna, Sie
schliefen und ich bin so unbemerkt eingetreten,« sagte er und streckte
ihr die Hand entgegen.

Der Ton der freundlichen Worte tat seine Wirkung: der Schreck verschwand
aus ihrem Gesicht, wenn sie ihn auch immer noch angstvoll anblickte,
augenscheinlich bemüht, sich irgend etwas zu erklären. Ängstlich
streckte sie ihm die Hand entgegen und schließlich zuckte denn auch ein
schüchternes Lächeln um ihre Lippen.

»Guten Tag, Fürst,« flüsterte sie und sah ihn dabei ganz sonderbar und
aufmerksam an.

»Sie haben wohl einen bösen Traum gehabt?« fragte er und lächelte noch
liebenswürdiger, noch freundlicher.

»Wie können Sie wissen, daß mir _davon_ geträumt hat?«

Und plötzlich erbebte sie wieder, taumelte erschrocken zurück, erhob wie
zur Abwehr die Hand und wieder verzog sich ihr Gesicht, wie das eines
kleinen Kindes, das weinen will.

»Aber so beruhigen Sie sich doch! Warum fürchten Sie sich? Haben Sie
mich denn wirklich nicht erkannt?« redete ihr Nicolai Wszewolodowitsch
zu, doch diesmal konnte er sie lange nicht beruhigen.

Schweigend sah sie ihn an und noch immer lag in ihrem fragenden Blick
ein quälender Zweifel, irgend ein schwerer Gedanke, den ihr armer Kopf
nicht zu fassen vermochte. Dabei war es, als strenge sie sich krampfhaft
an, irgend etwas zu Ende zu denken. Bald senkte sie die Augen, bald
schlug sie sie plötzlich wieder auf und überflog ihn mit einem
schnellen, umfassenden Blick. Endlich schien sie sich -- zwar nicht
beruhigt, aber doch wie zu etwas entschlossen zu haben.

»Setzen Sie sich, bitte, neben mich, damit ich Sie nachher gut sehen
kann,« sagte sie ziemlich fest, augenscheinlich mit einer ganz
bestimmten und neuen Absicht. »Aber jetzt seien Sie ganz ruhig, denn ich
werde Sie nicht ansehen, und auch Sie sollen mich nicht ansehen, so
lange nicht, bis ich Sie selbst darum bitte. Setzen Sie sich nun!« fügte
sie plötzlich sogar mit Ungeduld hinzu.

Die neue Empfindung bemächtigte sich ihrer sichtlich immer mehr.

Stawrogin setzte sich und wartete; ein Schweigen begann und dauerte
ziemlich lange.

»Hm! Sonderbar erscheint mir das alles,« murmelte sie plötzlich und fast
wie angeekelt. »Mich haben natürlich schlechte Träume bestrickt; nur --
warum mußten gerade Sie mir in eben dieser Gestalt im Traume
erscheinen?«

»Lassen wir jetzt die Träume,« unterbrach er sie ungeduldig und wandte
sich zu ihr, trotz des Verbotes, sie anzusehen, und vielleicht blitzte
flüchtig wieder jener Ausdruck von vorhin in seinen Augen auf. Er sah,
daß sie mehrmals und sogar sehr gern zu ihm aufblicken wollte, sich
jedoch jedesmal bezwang und hartnäckig den Blick zu Boden gesenkt hielt.

»Hören Sie, Fürst,« sagte sie plötzlich lauter. »Hören Sie, Fürst ...«

»Warum wenden Sie sich von mir ab, warum sehen Sie mich nicht an, was
soll diese ganze Komödie?« rief er geärgert, da ihm die Geduld riß.

Sie aber schien ihn überhaupt nicht zu hören.

»Hören Sie, Fürst,« wiederholte sie zum drittenmal mit fester Stimme und
mit einem unangenehmen, geschäftigen Ausdruck im Gesicht. »Als Sie mir
damals in der Equipage sagten, die Heirat werde jetzt öffentlich
bekanntgemacht werden, da erschrak ich schon damals, weil dann das
Geheimnis doch aufhören würde. Jetzt aber weiß ich gar nicht mehr ...
Ich habe die ganze Zeit gedacht, und sehe nun deutlich, daß ich nicht
dazu tauge. Zu putzen würde ich mich schon verstehen, zu empfangen
schließlich auch: als ob es wunder wie schwer wäre, zu einer Tasse Tee
einzuladen, besonders wenn man noch Diener in Livree hat! Aber immerhin,
wenn man so von der Seite sehen wird ... Ich habe damals, am Sonntag
vormittag, vieles in jenem Hause gesehen. Dieses hübsche Fräulein hat
mich die ganze Zeit angesehen, besonders als Sie eintraten. Das waren
doch Sie, der eintrat, nicht? Ihre Mutter war nur eine drollige alte
Dame. Mein Lebädkin hat sich auch ausgezeichnet. Um nicht über ihn
lachen zu müssen, hab ich immer zur Zimmerdecke hinaufgeschaut, schön
war sie da bemalt! _Seine_ Mutter aber müßte nur Äbtissin sein. Ich
fürchte mich vor ihr, wenn sie mir auch den schwarzen Schal geschenkt
hat. Die haben mich damals wohl alle nur als Überraschung empfunden; das
kränkt mich ja nicht, nur saß ich dort so und dachte bei mir: was bin
ich denn für die hier für eine Verwandte? Ich weiß wohl, von einer
Gräfin verlangt man nur seelische Eigenschaften -- denn für die
wirtschaftlichen hat sie doch viele Diener -- und dann noch so ein
bißchen gesellschaftliche Koketterie, damit sie ausländische Reisende zu
empfangen versteht. Aber trotzdem, damals am Sonntag sahen sie mich doch
ganz ohne Vertrauen an. Nur Dascha ist ein Engel. Ich fürchte sehr, daß
sie _ihn_ irgendwie mit einer unvorsichtigen Bemerkung über mich kränken
könnten.«

Stawrogin verzog den Mund.

»Fürchten Sie sich nicht und machen Sie sich keine Sorgen,« sagte er.

»Aber das machte mir ja auch nichts aus, selbst wenn er sich meinetwegen
ein wenig schämen sollte, denn es wäre doch immer mehr Mitleid als
Schande dabei, denke ich -- freilich, je nach dem, wie der Mensch selbst
ist. Denn er weiß doch, daß eher ich sie bemitleiden kann, nicht aber
sie mich.«

»Sie haben sich wohl sehr gekränkt gefühlt, Marja Timofejewna?«

»Wer, ich? Nein.« Sie lachte gutmütig. »Nicht ein bißchen. Ich sah mir
damals nur alle so an und dachte so bei mir: alle ärgert ihr euch, alle
seid ihr entzweit; nicht einmal zusammenzukommen und von Herzen zu
lachen verstehen sie. So viel Reichtum, und dabei so wenig Fröhlichkeit
-- traurig war mir das alles. Übrigens, jetzt tut mir niemand leid,
außer mir selbst.«

»Ich hörte, Sie hätten mit Ihrem Bruder ein schlechtes Leben gehabt,
ohne mich?«

»Wer hat Ihnen das gesagt? Unsinn! Jetzt ist es viel schlechter: jetzt
sind die Träume schlecht, und schlecht sind die Träume deshalb geworden,
weil Sie angekommen sind. Sie aber, fragt es sich, warum sind Sie denn
hergekommen, sagen Sie das doch gefälligst!«

»Wollen Sie nicht wieder ins Kloster gehen?«

»So, das ahnte ich ja, daß man mir wieder das Kloster vorschlagen wird!
Als ob euer Kloster da Gott weiß was für ein Wunderding wäre! Und warum
soll ich denn wieder ins Kloster gehen, und womit soll ich denn jetzt
noch dorthin? Jetzt bin ich doch schon ganz und gar allein! Es ist zu
spät für mich, ein drittes Leben anzufangen.«

»Sie scheinen sich über irgend etwas sehr zu ärgern, -- fürchten Sie
nicht schon, daß ich aufgehört haben könnte, Sie zu lieben?«

»Ach, um Sie mache ich mir ja gar keinen Kummer. Ich fürchte nur für
mich, daß ich selbst aufhören könnte, jemanden sehr zu lieben.«

Sie lächelte verächtlich.

»Ich werde wohl vor _ihm_ in etwas sehr Großem schuldig sein,« sagte sie
plötzlich wie zu sich selbst. »Nur weiß ich nicht, worin ich schuldig
sein könnte, und das ist nun mein ewiges Leid. Immer und immer, diese
ganzen fünf Jahre, habe ich Tag und Nacht gebangt, daß ich vor ihm
schuldig sein könnte. Und da bete ich denn lange und bete und denke
immer an meine große Schuld vor ihm. Und nun hat es sich auch richtig
herausgestellt, daß ich wahr gefühlt habe.«

»Was hat sich herausgestellt?«

»Nur fürchte ich, ob da nicht etwas von _ihm_ aus geschieht,« fuhr sie
fort, ohne auf die Frage zu antworten, die sie vielleicht überhaupt
nicht gehört hatte. »Und doch, wie könnte er sich denn mit solchen
Leutchen zusammentun! Die Gräfin würde mich wohl gern verschlingen,
obschon sie mich in ihre Karosse gesetzt hat. Alle sind sie an der
Verschwörung beteiligt -- sollte auch _er_ es sein!? Sollte auch er ein
Verräter sein?« (Ihr Kinn und ihre Lippen begannen zu zittern.) »Hören
Sie, haben Sie von Grischka Otrepjeff gelesen, dem falschen Demetrius,
der in sieben Kathedralen verflucht ward?«

Stawrogin schwieg.

»Aber ja, jetzt werde ich mich zu Ihnen wenden und werde Sie ansehen,«
entschloß sie sich plötzlich. »Wenden Sie sich auch zu mir und sehen Sie
mich an, aber recht aufmerksam: ich will mich zum letztenmal
überzeugen.«

»Ich sehe Sie schon lange an.«

»Hm!« sagte Marja Timofejewna und betrachtete ihn angestrengt.

»Viel dicker sind Sie geworden ...«

Sie wollte noch etwas sagen, doch plötzlich ergriff der frühere Schreck
sie wieder und zum drittenmal fuhr sie mit geradezu entsetztem Gesicht
zurück und erhob dabei wieder wie zur Abwehr die Hand.

»Was haben Sie nur, was fehlt Ihnen?« rief Stawrogin wütend.

Doch der Schreck dauerte nur einen Augenblick; ihr Gesicht verzog sich
zu einem sonderbaren, mißtrauischen, unangenehmen Lächeln.

»Ich bitte Sie, Fürst, stehen Sie auf und treten Sie ein,« sagte sie
plötzlich sehr bestimmt und mit fester Stimme.

»Wie, eintreten? Wohin eintreten?«

»Diese ganzen fünf Jahre habe ich mir immer nur vorgestellt, wie das
sein wird, wenn Er eintritt. Stehen Sie auf und gehen Sie ins andere
Zimmer, hinter die Tür. Ich werde dann hier sitzen, als erwartete ich
nichts, und werde ein Buch in die Hand nehmen. Und plötzlich treten Sie
dann ein, nach fünf Jahren, und sind von der Reise zurückgekehrt. Ich
möchte sehen, wie das sein wird.«

Stawrogin knirschte mit den Zähnen und murmelte etwas Unverständliches.

»Genug,« sagte er und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich
bitte Sie, Marja Timofejewna, mich jetzt anzuhören. Haben Sie die Güte,
Ihre ganze Aufmerksamkeit zusammen zu nehmen, wenn Sie es können. Sie
sind doch nicht total verrückt!« entfuhr es ihm in der Gereiztheit.
»Morgen werde ich unsere Ehe bekanntmachen. Sie werden nie in Schlössern
wohnen -- fassen Sie sich, bitte! Wollen Sie nun mit mir zusammenwohnen,
das ganze Leben, aber nur sehr weit von hier? Das wäre in der Schweiz,
in den Bergen, dort gibt es einen Ort ... Beunruhigen Sie sich nicht,
ich werde Sie niemals verlassen, oder in eine Irrenanstalt stecken. Geld
werde ich noch genug haben, um nicht für uns betteln zu müssen. Sie
werden ein Dienstmädchen haben; Sie werden keine einzige Arbeit zu
verrichten brauchen. Alles, was Sie innerhalb der Grenzen des Möglichen
wünschen, wird Ihnen verschafft werden. Sie werden beten und tun können,
was Sie wollen, und gehen können wohin Sie wollen. Ich werde Sie nicht
anrühren. Und auch ich werde diesen Ort nie mehr verlassen. Wenn Sie
wollen, werde ich das ganze Leben lang kein Wort mit Ihnen sprechen,
oder, wenn Sie wollen, so erzählen Sie mir abends, wie damals in
Petersburg in den Winkeln, Ihre kleinen Geschichten. Oder ich kann Ihnen
auch vorlesen, wenn Sie zum Zuhören Lust haben. Aber dafür das ganze
Leben so an einem einzigen Ort -- und es ist ein düsterer Ort. Wollen
Sie? Können Sie sich entschließen? Und werden Sie es auch nie bereuen,
werden Sie mich nie peinigen mit Tränen und Verwünschungen?«

Sie hatte ihm mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit zugehört, darauf schwieg
sie lange und dachte nach.

»Unwahrscheinlich kommt mir das alles vor,« sagte sie endlich spöttisch
und launisch. »So könnte ich ja womöglich noch vierzig Jahre in jenen
Bergen leben.«

Sie begann zu lachen.

»Nun, dann leben wir eben noch vierzig Jahre,« sagte er mit stark
gerunzelter Stirn.

»Hm! ... Um keinen Preis fahre ich dorthin.«

»Sogar mit mir nicht?«

»Wer sind Sie denn, daß ich mit Ihnen fahren sollte? Vierzig Jahre
nacheinander mit ihm auf einem Berge sitzen -- hört doch, womit er mir
kommt! Was doch die Menschen heutzutage geduldig geworden sind! Aber
nein, es kann doch nicht sein, daß ein Falke zum Uhu ward. Nicht so ist
mein Fürst!« und sie hob stolz und triumphierend den Kopf.

Da war es ihm, als ginge ihm plötzlich etwas auf.

»Warum nennen Sie mich Fürst und ... für wen halten Sie mich überhaupt?«
fragte er schnell.

»Wie? Sind Sie denn kein Fürst?«

»Ich bin niemals Fürst gewesen.«

»Und das gestehen Sie mir noch, so einfach, so ganz offen, mir ins
Gesicht, daß Sie kein Fürst sind!«

»Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich nie einer gewesen bin.«

»Mein Gott!« Sie schlug die Hände zusammen. »Alles habe ich von _seinen_
Feinden erwartet, aber solche Dreistigkeit doch wirklich nicht! Lebt
_er_ überhaupt noch?« rief sie außer sich und rückte auf ihn zu. »Hast
du ihn getötet oder nicht, gestehe!«

»Für wen hältst du mich?« rief er aufspringend und sah sie an mit
verzerrtem Gesicht.

Aber es war schwer, sie jetzt noch zu erschrecken. Sie triumphierte
bereits.

»Wer kann es denn wissen, was du bist und woher du kommst! Nur mein
Herz, mein Herz hat in all diesen fünf Jahren die ganze Intrige geahnt!
Und da sitze ich nun und wundere mich: was ist das doch für eine blinde
Eule, die heute zu mir gekommen ist? Nein, mein Lieber, du bist ein
schlechter Schauspieler, sogar schlechter als mein Lebädkin. Grüße die
Gräfin von mir recht höflich und richte ihr aus, sie solle doch einen
schicken, der etwas gewandter ist als du. Hat sie dich gemietet, sag?
Sonst dienst du wohl in ihrer Küche, wo sie dich vielleicht aus Gnade
und Barmherzigkeit hält! Ich durchschaue ja euren ganzen Betrug, euch
alle, bis auf den letzten durchschaue ich!«

Er faßte sie mit fester Kraft am Arm, über dem Ellenbogen; sie aber
lachte ihm ins Gesicht.

»Ähnlich bist du ihm, ja, sehr ähnlich, vielleicht bist du auch verwandt
mit ihm, -- schlaues Volk! Nur ist _meiner_ ein lichter Falke und ein
Fürst, du aber bist eine Eule und ein Krämer! Wenn _meiner_ will, so
beugt er sich vor Gott, will er aber nicht, so beugt er sich auch vor
Gott nicht! Dich aber hat Schatuschka (der Gute, der Liebe, mein
Täubchen Schatuschka!) ins Gesicht geschlagen, wie Lebädkin erzählte.
Und warum wurdest du damals so feig, als du hereinkamst? Was schreckte
dich denn? Wie ich es sah, dein gemeines Gesicht, als ich fiel und du
mich auffingst -- da kroch es mir wie ein Wurm ins Herz: das ist nicht
_er_, denke ich, nicht _er_! Würde sich doch mein Falke meiner nie vor
einem vornehmen Fräulein geschämt haben! O Gott! Machte mich doch schon
der Gedanke glücklich, in diesen ganzen fünf Jahren, daß mein Falke dort
irgendwo hinter den Bergen lebt und fliegt und die Sonne schaut ... Sag,
Usurpator, hast du viel genommen? Hast wohl für großes Geld
eingewilligt? Ich hätte dir keinen Groschen gegeben! Ha--ha--ha!
Ha--ha--ha! ...«

»Idiotin!« knirschte Stawrogin, der sie immer noch am Arm gepackt hielt.

»Fort, Usurpator!« rief sie plötzlich befehlend. »Ich bin meines Fürsten
Frau und fürchte mich nicht vor deinem Messer!«

»Messer!«

»Ja, Messer! Du hast ein Messer in der Tasche. Du glaubtest wohl, ich
schlief, aber ich habe alles gesehen: als du vorhin eintratest, zogst du
ein Messer hervor!«

»Was hast du gesagt, Unglückliche, was träumst du für Träume!« schrie er
sie an und stieß sie aus aller Kraft von sich fort, so daß sie sogar
schmerzhaft mit dem Kopf und den Schultern an die Sofalehne schlug.

Er stürzte hinaus; sie aber sprang sofort auf und lief ihm hinkend und
humpelnd nach, doch erst auf der kleinen Treppe, wo sie von dem
erschreckten Lebädkin mit aller Gewalt zurückgehalten wurde, gelang es
ihr noch, ihm kreischend und mit Gelächter durch die Finsternis
nachzurufen:

»Der falsche Demet--rius ward ver--flucht!«


                                  IV.

»Ein Messer, ein Messer!« wiederholte Stawrogin immer wieder in
unstillbarem Haß, während er mit großen Schritten in den Straßenschlamm
und die Regenpfützen trat, ohne auf den Weg zu achten. Und plötzlich,
auf Augenblicke, erfaßte ihn eine unbändige Lust zu lachen, laut und
toll; aber aus irgendeinem Grunde bezwang er sich und unterdrückte das
Lachen. Er kam erst wieder zu sich, als er schon auf der Brücke war,
gerade an der Stelle, wo ihn vorhin Fedjka angeredet hatte. Und dieser
selbe Fedjka wartete hier auch jetzt, zog, als er Stawrogin erblickte,
die Mütze, grinste heiter, und schloß sich ihm, keck und lustig
losplaudernd, wieder ohne Bedenken an. Stawrogin ging zunächst
unverändert weiter, ja, er achtete gar nicht darauf, vernahm nicht
einmal, was der Strolch, der sich ihm wieder zugesellt hatte, da
schwatzte. Auf einmal fiel ihm aber ein -- und er wunderte sich darüber
-- daß ihm dieser Zuchthäusler gerade in der Zeit gar nicht in den Sinn
gekommen war, als er selbst innerlich in einemfort »Ein Messer, ein
Messer!« gemurmelt hatte.

Und plötzlich packte er ihn blitzschnell am Kragen und riß ihn aus aller
Kraft mit der ganzen in ihm angesammelten Wut zu Boden, daß er nur so
auf die Brücke krachte. Einen Augenblick gedachte dieser wohl sich zu
wehren, sagte sich aber sofort, daß er gegen einen solchen Gegner, der
ihm zudem noch so überraschend zuvorgekommen war, ungefähr wie ein
Strohhälmchen unmöglich aufkommen konnte. Und so verharrte er denn, halb
kniend zu Boden gedrückt, die Ellenbogen auf den Rücken gerissen, wie
ihn Stawrogin hielt, lautlos und reglos, sogar ohne den geringsten
Widerstand auch nur zu versuchen, und wartete ruhig in schlauer Klugheit
ab, was nun kommen werde. Ja, wie es schien, glaubte er überhaupt nicht
an eine ernste Gefahr für sich.

Und er täuschte sich nicht. Stawrogin hatte sich zwar schon mit der
linken Hand das Halstuch abgerissen, um seinen Gefangenen zu binden,
doch plötzlich, Gott weiß weshalb, gab er es auf und stieß ihn nur von
sich. Im Augenblick stand Fedjka auf den Füßen, wandte sich um, und ein
kurzes, breites Messer blitzte in seiner Hand.

»Fort das Messer! Steck es sofort ein! Sofort!« _befahl_ Stawrogin mit
ungeduldiger Geste -- und das Messer verschwand ebenso schnell, wie es
aufgetaucht war.

Nicolai Wszewolodowitsch ging darauf wieder stumm und ohne sich
umzusehen weiter: aber der hartnäckige Verbrecher folgte ihm doch --
diesmal freilich ohne zu schwatzen, vielmehr in respektvoller
Entfernung, einen ganzen Schritt hinter ihm. So gingen sie über die
ganze Brücke und kamen ans Ufer, wo Stawrogin diesmal nach links bog, in
eine lange, öde Gasse, denn das war ein näherer Weg zur inneren Stadt,
als der über die Bogojawlenskstraße.

»Ist es wahr, man sagt, du hättest hier in der Umgegend in diesen Tagen
eine Kirche geplündert?« fragte Stawrogin plötzlich.

»Gnädiger Herr, eigentlich ging ich zuerst nur hin, um zu beten,«
antwortete Fedjka gesetzt und höflich, und als ob nicht das Geringste
vorgefallen wäre. Ja, nicht nur gesetzt, sondern geradezu würdevoll
sagte er es, und von der früheren »freundschaftlichen« Familiarität war
auch nicht eine Spur mehr zu bemerken. Er war in diesem Augenblick ganz
wie ein ernster, sachlicher Mensch, den man grundlos gekränkt hat, der
aber auch Kränkungen zu vergessen versteht.

»Doch wie mich da unser Herrgott hingeführt hatte,« fuhr er fort, »ach,
du himmlisches Gnadenkraut, denke ich! Nur von wegen meiner Verwaistheit
ist ja das alles geschehen, denn in unserem Leben geht's nu mal gar nich
ohne Unterstützung. Und sehen Sie, glauben Sie mir, gnädiger Herr, zu
seinem eigenen Nachteil hat der Herr mich hingeführt: hab' für die
Sachen im ganzen nur zwölf Rubelchen bekommen. Des heiligen Nicolai
silbernes Kinnband aber ist fast auf den Kauf gegangen: semiliert, sagte
man.«

»Du hast vorher den Wächter erstochen?«

»Nee, das heißt, wir haben's ja beide gemacht, der Wächter und ich, und
dann erst, am Morgen, am Flüßchen, kam's zum Streit, wer den Sack tragen
sollte. Da sündigte ich, erleichterte ihn ein klein wenig.«

»Erstich noch, stiehl noch!«

»Ganz dasselbe rät mir auch Pjotr Stepanowitsch, mit genau denselben
Worten, da er mir selber nie nich was geben will, denn er ist halt
geizig und hartherzig in Fragen wie Unterstützung. Außerdem, daß er an
den himmlischen Schöpfer, der uns doch allesamt aus einem Erdkloß
gemacht hat, nich für eine Kopeke glaubt. Er sagt, alles hat die Natur
gemacht, sogar jedes letzte Tier, und überdies begreift er schon ganz
und gar nich, daß uns in unserem Leben ohne milde Unterstützung
überhaupt nichts möglich ist. Fängst du ihm was zu erklären an, glotzt
er wie ein Schaf ins Wasser: nur so wundern kannst du dich über ihn.
Aber werden Sie es wohl glauben, gnädiger Herr, beim Hauptmann Lebädkin
beispielsweise, wo Sie soeben besuchten, da kam's vor, als er noch vor
Ihnen bei Filippoff wohnte, daß die Tür die ganze Nacht unverschlossen
steht, schläft selbst vollgesoffen wie ein Fisch, und das Geld, das
kullert nur man so aus allen Taschen auf die Diele. 's kam vor, daß
man's mit eigenen leibhaftigen Augen sah, denn nach unserer Meinung, daß
man ohne milde Unterstützung was könnte, daran ist schon gar nich zu
denken ...«

»Wie das, mit eigenen Augen? Bist du etwa in der Nacht hingegangen?«

»Vielleicht bin ich auch hingegangen, nur weiß das niemand nich.«

»Warum hast du ihn denn nicht erstochen?«

»Hab erst nachgezählt und mich dann bedacht. So wußte ich denn, daß ich
immer hundertfünfzig Rubel rausnehmen kann, aber warum soll ich denn
das, wenn ich ganze tausendfünfhundert kriegen kann, wenn ich nur eben
jetzt ein wenig warte? Denn Hauptmann Lebädkin hat immer sehr auf Sie
gebaut, hab's mit meinen eigenen Ohren gehört, wenn er voll war, und es
gibt hier überhaupt keine Schenke mehr, wo er nich dasselbe genau so
wiederholt hat. Das hab ich auch noch von anderen gehört, und so begann
ich nun gleichfalls, meine ganze Hoffnung auf den gnädigen Herrn zu
setzen. Ich bin wirklich zu Ihnen, gnädiger Herr, wie zu meinem Vater
oder leiblichen Bruder, denn Pjotr Stepanowitsch wird darüber niemals
was von mir zu hören bekommen und auch sonst keine einzige Seele. Also
deshalb meine ich, der gnädige Herr könnte mir doch wirklich jetzt mit
drei Rubelchen wohlwollen? Wenn der gnädige Herr mir nur somit klar zu
verstehen geben wollte, damit ich dann die Wahrheit weiß, denn für
unsereins ist's nun einmal ohne milde Unterstützung ganz und gar
unmöglich.«

Da lachte Stawrogin laut auf, zog aus der Tasche sein Portemonnaie, in
dem an fünfzig Rubel in kleineren Scheinen waren, und warf einen Schein
aus dem Paket ihm zu, dann noch einen, dann einen dritten, vierten,
fünften. Fedjka fing sie in der Luft auf, sprang hin und her, die
Banknoten flatterten, fielen in den Schmutz, immer gieriger griff er
nach ihnen, und immer erregter stieß er dabei ein kurzes »Äch, Äch«
hervor. Schließlich schleuderte ihm Stawrogin aus voller Faust das ganze
Geldpaket zu und bog, immer noch lachend, in eine Quergasse ein --
diesmal allein. Der Strolch blieb zurück, rutschte fast auf den Knien im
Schmutz herum und suchte nach den vom Wind verstreuten Geldscheinen, die
in den Pfützen versanken, und noch eine ganze Stunde lang konnte man
hören, wie er in der Dunkelheit suchend sein kurzes »Äch, Äch!«
hervorstieß.




                            Achtes Kapitel.
                               Das Duell


                                   I.

Am anderen Tage um zwei Uhr nachmittags fand das Duell statt. Daß
dasselbe wirklich so schnell zustande kam, dazu hatte vor allem der
leidenschaftliche Wunsch Artemij Pawlowitsch Gaganoffs beigetragen, sich
um jeden Preis und so schnell wie nur möglich zu schlagen. Er begriff
die Haltung seines Gegners nicht und war außer sich vor Empörung. Schon
einen ganzen Monat beleidigte er Stawrogin, und noch immer war es ihm
nicht gelungen, diesen zu einer Forderung zu bewegen. Dabei schämte er
sich im Grunde der eigenen innersten Gründe des krankhaften Hasses, mit
dem er Stawrogin seit der »Nasführung« seines Vaters verfolgte. Auch
konnte er Stawrogin nicht gut zuerst fordern, da dieser nicht den
geringsten Anlaß dazu bot -- ganz abgesehen davon, daß er ihm wegen
jenes Vorfalls mit dem Vater ja bereits die allerhöflichsten
Entschuldigungen angeboten hatte. Unbegreiflich war es ihm auch, wie
Stawrogin die Ohrfeige Schatoffs so ohne weiteres hatte hinnehmen
können. Und da er ihn denn alles in allem schließlich für einen
ausgemachten Feigling halten mußte, so hatte er sich endlich
entschlossen, den letzten, in seiner Frechheit so unerhörten Brief zu
schreiben, der denn auch richtig den Verhaßten zu einer Forderung bewog.
In fieberhafter Ungeduld hatte Gaganoff die Antwort auf diesen Brief
erwartet, hatte die Chancen berechnet, die diesmal für eine Forderung
bestanden, und war am Ende geradezu verzweifelt bei dem Gedanken, daß
auch jetzt vielleicht aus irgendeinem Grunde nichts daraus werden
könnte. Für alle Fälle aber hatte er bereits Mawrikij Nicolajewitsch
Drosdoff, seinen alten Jugendfreund, zu sich gebeten: der sollte sein
Sekundant sein. So hatte denn Kirilloff, als er am Morgen um neun Uhr
erschien, die beiden zusammen angetroffen. Seine Erklärungen und alle
die unerhörten Zugeständnisse Stawrogins waren von Gaganoff mit einer
unglaublichen Heftigkeit zurückgewiesen worden. Mawrikij Nicolajewitsch
hatte, nicht wenig erstaunt, zuerst darauf eingehen wollen und schon
geglaubt, es ließe sich eine Versöhnung zustande bringen. Doch als er
bemerkte, daß Artemij Pawlowitsch vor Zorn geradezu erzitterte, da hatte
er schnell wieder geschwiegen. Er wäre wohl überhaupt aufgestanden und
fortgegangen, wenn er dem Freunde nicht bereits sein Wort gegeben hätte;
so aber blieb er denn, in der Hoffnung, später vielleicht noch irgendwie
vermitteln zu können. Im übrigen wurden alle Bedingungen Stawrogins von
Gaganoff sofort angenommen und sogar auf einen dreimaligen Kugelwechsel
erweitert -- ganz gegen Kirilloffs Wunsch und Absicht, der sich durchaus
dagegen wehrte, aber nichts erreichte. So blieb es denn bei diesen
scharfen Abmachungen.

Das Duell selbst fand um zwei Uhr in Brykowo statt, in einem kleinen
Walde zwischen Skworeschniki und der Fabrik der Gebrüder Spigulin. Der
gestrige Regen hatte völlig aufgehört, aber es war feucht und windig.
Niedrige, trübe, zerrissene Wolken zogen schnell am kalten Himmel
vorüber; die Bäume rauschten volltönend und mit den Wipfeln wogend und
knarrten in den Stämmen; es war ein sehr trauriger Tag.

Gaganoff und Mawrikij Nicolajewitsch kamen in einem eleganten _char à
bancs_{[112]} mit zwei prachtvollen Pferden, die Artemij Pawlowitsch
selbst lenkte, auf dem Kampfplatze an; auch hatten sie einen Diener
mitgenommen. Fast in demselben Augenblick trafen auch Stawrogin und
Kirilloff ein, jedoch nicht im Wagen, sondern reitend, und gleichfalls
in Begleitung eines Dieners. Kirilloff, der in seinem Leben noch nie auf
einem Pferde gesessen hatte, hielt sich steif, doch mutig im Sattel,
unter dem rechten Arm den schweren Pistolenkasten, den er für keinen
Preis dem Diener hatte anvertrauen wollen, während er mit der linken
Hand aus Unwissenheit beständig die Zügel anzog, weswegen denn das
gereizte Pferd immer heftiger mit dem Kopf schüttelte und bereits
deutlich die Absicht bekundete, sich auf die Hinterbeine zu stellen --
was übrigens den Reiter nicht im geringsten zu schrecken schien. Der
mißtrauische Gaganoff, der sich schon beim geringsten Anlaß leicht tief
gekränkt fühlte, faßte diese Ankunft hoch zu Roß als neue Beleidigung
auf: waren doch die Gegner offenbar von vornherein von einem für sie
günstigen Ausgang des Duells überzeugt, so daß sie es gar nicht erst für
nötig gehalten hatten, auf alle Fälle einen Wagen zum Transport eines
Verwundeten zur Stelle zu haben. Ganz gelb vor Ärger stieg Gaganoff aus
seinem _char à bancs_, wobei er bemerkte, daß seine Hände zitterten. Auf
Stawrogins Gruß dankte er nicht, sondern wandte sich einfach ab.

Die Sekundanten warfen das Los: es traf Kirilloffs Pistolen. Der Wagen
und die Pferde wurden mit den Dienern an den Waldrand zurückgeschickt.
Dann maßen die Sekundanten die Barriere ab, wiesen den Gegnern ihren
Platz an und händigten ihnen die geladenen Pistolen ein.

Mawrikij Nicolajewitsch war besorgt und traurig, Kirilloff dagegen
vollkommen ruhig und unbekümmert, sehr genau in der Ausübung seines
Amtes, doch ohne allzu geschäftig zu sein, kurz, er machte den Eindruck,
als interessierte ihn die unheimliche Entscheidung eigentlich nicht im
geringsten. Stawrogin war etwas bleicher als gewöhnlich, ziemlich leicht
gekleidet, in einem Mantel, und trug einen weißen Kastorhut. Er schien
sehr müde zu sein, dann und wann flog ein düsterer Schatten über sein
Gesicht, und offenbar war es ihm nicht der Mühe wert, seine schlechte
Laune zu verbergen. Am eigentümlichsten verhielt sich jedoch Artemij
Pawlowitsch Gaganoff, und ich sehe mich schon aus diesem Grunde
gezwungen, über ihn ein paar Worte hinzuzufügen.


                                  II.

Artemij Pawlowitsch Gaganoff war ein großer Mensch, weiß und
wohlgenährt, wie der Volksmund sagt, ja, beinahe feist, etwa
dreiunddreißig Jahre alt, mit blondem, anliegendem Haar und, wenn man
will, sogar hübschen Gesichtszügen. Er war mit dem Oberstenrang aus dem
Dienst geschieden, doch wenn er es bis zum General gebracht hätte, so
wäre er als solcher in voller Uniform eine noch imponierendere
Erscheinung gewesen, und es wäre sehr leicht möglich, daß er im Felde
einen guten Heerführer abgegeben hätte.

Zur Kennzeichnung seines Charakters darf nicht verschwiegen werden, daß
der Grund, weshalb er seinen Abschied nahm, der ihn so lange und
qualvoll verfolgende Gedanke an seine »Familienschande« war: die
Beleidigung seines Vaters -- vor mehr als vier Jahren in unserem Klub --
durch Nicolai Stawrogin. Er hielt es auf Ehre und Gewissen für
unehrenhaft, nach wie vor im Heer zu bleiben, und war innerlich
überzeugt, daß er das Regiment und die Kameraden schände, obschon keiner
von ihnen etwas von jenem Vorfall wußte. Allerdings hatte er schon
früher einmal die Absicht gehabt, den Abschied zu nehmen, schon lange
vor jener Beleidigung, aus einem ganz anderen Grunde, aber er hatte doch
noch geschwankt und sich nicht entschließen können. Den Anstoß zu dieser
ersten Absicht, den aktiven Dienst aufzugeben, oder richtiger den Anlaß
zu diesem Gedanken hatte seinerzeit[40] -- wie sonderbar das auch
klingen mag -- das Manifest vom 19. Februar gegeben, das die
Leibeigenschaft der Bauern aufhob. Dabei verlor er, Gaganoff, als einer
der reichsten Gutsbesitzer unseres Gouvernements, durch dieses Manifest
noch nicht einmal so viel, und außerdem sah er die Berechtigung der
humanitären Gesichtspunkte selbst ein, ja er begriff fast auch die
ökonomischen Vorteile der Reform, -- doch ungeachtet dessen fühlte er
sich nach Erscheinen des Manifestes gleichsam persönlich beleidigt. Es
war das zwar nur ein Gefühl bei ihm, beinahe unbewußt, doch vielleicht
empfand er es gerade deshalb um so stärker. Bis zum Tode seines Vaters
hatte er sich nicht entschließen können, etwas Entscheidendes zu tun;
doch durch seinen »aristokratischen« Standpunkt wurde er in Petersburg
selbst mit vielen hervorragenden Persönlichkeiten bekannt, worauf er den
Verkehr mit ihnen eifrig zu pflegen begann. Im übrigen war er ein
zurückhaltender, verschlossener Mensch, der zu jenen sonderbaren, doch
in Rußland noch nicht ausgestorbenen Edelleuten gehörte, die auf das
Alter und die Reinheit ihres Adelsgeschlechts ungeheuer viel geben und
sich damit schon gar zu ernsthaft beschäftigen. Dabei war ihm aber die
Geschichte Rußlands geradezu ein Greuel, wie er denn die ganze russische
Art teilweise für eine Schweinerei hielt. Schon in seiner Kindheit, als
er noch in einer besonderen militärischen Schule für ausschließlich
vornehme und reiche Zöglinge war, hatten sich in ihm gewisse poetische
Auffassungen entwickelt: ihm gefielen Schlösser und Burgen, das
mittelalterliche Leben von seiner opernhaften Seite, das Rittertum.
Schon damals weinte er fast vor Scham, wenn er daran dachte, daß der Zar
des alten moskowitischen Reiches die russischen Bojaren körperlich hatte
strafen dürfen, und er errötete, wenn er diese Bräuche mit denen des
ausländischen ritterlichen Mittelalters verglich. Dieser steife, äußerst
strenge Mensch, der seinen Dienst so ausgezeichnet kannte und jede
Pflicht gewissenhaft erfüllte, war im Grunde seiner Seele verträumt. Man
behauptete von ihm, er könne Reden, sogar gute Reden halten --
einstweilen jedoch hatte er seine ganzen dreiunddreißig Jahre lang fast
nur geschwiegen, und sogar in jenem vornehmen und vielbedeutenden
Petersburger Kreise, in dem er seit einiger Zeit verkehrte, hatte er
sich ungewöhnlich hochmütig verhalten. Da traf ihn die Begegnung mit
Stawrogin, der aus dem Auslande nach Petersburg zurückgekehrt war, und
brachte ihn fast um den Verstand. So war er denn von einer geradezu
krankhaften Unruhe, als er jetzt vor der Barriere stand: noch immer
fürchtete er, daß das Duell auf irgendeine Weise nicht zustandekommen
könnte, und selbst die kleinste Verzögerung machte ihn erzittern. Ein
geradezu schmerzhafter Ausdruck trat in sein Gesicht, als Kirilloff,
anstatt das Zeichen zum ersten Schuß zu geben, plötzlich zu sprechen
begann, allerdings nur pflichtschuldig, was er auch sofort
vorausschickte.

»Nur _pro forma_ noch ein paar Worte: jetzt, da schon die Pistolen in
den Händen der Duellanten sind, frage ich zum letztenmal, ob Sie nicht
wünschen, sich zu versöhnen? -- Die Pflicht des Sekundanten,« fügte er
fast gleichgültig hinzu.

Und wie um seinen Freund zu ärgern -- so schien es wenigstens Gaganoff
--, begann nun auch Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoff zu sprechen, der
bisher noch kein Wort gesagt, sich aber schon seit dem vorigen Abend
über seine Zusage quälende Vorwürfe gemacht hatte. So griff er denn
Kirilloffs Vorschlag schnell auf.

»Ich schließe mich vollkommen Herrn Kirilloffs Worten an ... Daß man
sich an der Barriere nicht mehr versöhnen könne -- ist ein Vorurteil,
das zu den Franzosen passen mag ... Und eigentlich liegt doch überhaupt
keine richtige Beleidigung vor, wenigstens vermag ich sie nicht zu
entdecken -- Verzeihung, das wollte ich schon gestern sagen ... es
werden doch alle erdenklichen Entschuldigungen angeboten, nicht wahr?«

Er war dabei ganz rot geworden. Selten hatte er so viel und in solcher
Aufregung gesprochen.

»Ich wiederhole meine Bereitwilligkeit, alle mir möglichen
Entschuldigungen zu machen,« sagte Stawrogin ungewöhnlich
entgegenkommend.

»Wie ist das nur möglich?!« schrie Gaganoff, zu Drosdoff gewandt, außer
sich, und stampfte mit dem Fuß. »Erklären Sie doch diesem Menschen,« --
er stieß dabei mit der Pistole in die Richtung, in der Stawrogin stand
-- »wenn Sie mein Sekundant und nicht mein Feind sind, Mawrikij
Nicolajewitsch, daß solche Zugeständnisse die Beleidigung nur
verstärken! Er hält es nicht für möglich, von mir beleidigt zu werden!
... Er hält es für keine Schande, vor mir von der Barriere
zurückzutreten! Für wen hält er mich denn nach alledem! Was glauben Sie
... und Sie sind noch mein Sekundant! Sie regen mich nur auf, damit ich
nicht treffe!«

Wieder stampfte er mit dem Fuß und Speichel spritzte von seinen Lippen.

»Die Unterhandlung ist beendet. Bitte, auf das Kommando zu hören!« rief
Kirilloff laut. »Eins, zwei, drei!«

Bei »drei« gingen die Gegner aufeinander zu. Gaganoff erhob sofort die
Pistole und beim fünften oder sechsten Schritt -- schoß er. Eine Sekunde
lang blieb er stehen und, nachdem er sich überzeugt, daß er nicht
getroffen hatte, ging er schnell zur Barriere. Auch Stawrogin trat an
die Barriere, erhob die Pistole, aber ziemlich hoch und schoß fast ohne
zu zielen. Darauf zog er sein Taschentuch hervor und umwickelte den
kleinen Finger seiner rechten Hand. Da bemerkten erst die anderen, daß
Artemij Pawlowitsch doch nicht ganz gefehlt hatte: freilich hatte die
Kugel den Finger nur gestreift, ohne den Knochen zu berühren. Kirilloff
erklärte sofort, daß das Duell, wenn die Gegner sich jetzt nicht
versöhnen wollten, seinen Fortgang nehmen könne.

»Ich behaupte, daß dieser Mensch,« schrie Gaganoff heiser (seine Kehle
war trocken geworden), sich wieder nur an Drosdoff wendend, und er wies
von neuem mit der Pistole auf Stawrogin, »daß dieser Mensch absichtlich
in die Luft geschossen hat ... absichtlich! ... Das ist eine neue
Beleidigung! Er will das Duell unmöglich machen!«

»Ich habe das Recht, so zu schießen, wie ich will, wenn es nur nach den
Regeln geschieht,« bemerkte Stawrogin fest.

»Nein, das hat er nicht! Erklären Sie ihm das, erklären Sie es ihm
doch!« schrie Gaganoff.

»Ich bin ganz der Meinung Nicolai Wszewolodowitschs,« sagte Kirilloff.

»Warum schont er mich!?« raste Gaganoff, ohne auf die anderen zu hören.
»Ich verachte seine Schonung ... Ich spucke ... Ich ...«

»Ich gebe mein Wort, daß ich Sie durchaus nicht beleidigen wollte,«
sagte Stawrogin ungeduldig. »Ich habe in die Luft geschossen, weil ich
niemanden mehr töten will, ob Sie oder einen anderen, geht Sie
persönlich nichts an. Es ist wahr, ich halte mich nicht für beleidigt,
und es tut mir leid, daß Sie das aufbringt. Ich erlaube aber keinem,
sich in mein Recht einzumischen.«

»Wenn er sich so vor Blut fürchtet, so fragen Sie ihn doch, warum er
mich überhaupt gefordert hat?« brüllte Gaganoff, immer noch
ausschließlich zu Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoff gewandt.

»Wie sollte man Sie denn nicht fordern?« mischte sich Kirilloff ein.
»Sie wollten doch nichts hören, wie sollte man Sie denn los werden?«

»Ich möchte nur bemerken,« sagte Mawrikij Nicolajewitsch, der
angestrengt und qualvoll über die Sache nachdachte, »wenn der Gegner im
voraus erklärt, er werde in die Luft schießen, so kann das Duell, meiner
Meinung nach, nicht mehr fortgesetzt werden ... aus delikaten und, ich
glaube ... auch klaren Gründen.«

»Ich habe durchaus nicht erklärt, daß ich jedesmal in die Luft schießen
werde!« rief Stawrogin, der nun wirklich die Geduld verlor. »Wie können
Sie wissen, was ich im Sinne habe und wie ich zum zweitenmal schießen
werde ... Ich mache das Duell keineswegs unmöglich.«

»Wenn dem so ist, kann das Duell seinen Fortgang nehmen,« wandte sich
Mawrikij Nicolajewitsch an Gaganoff.

»Meine Herren, nehmen Sie Ihre Plätze ein!« kommandierte Kirilloff.

Sie stellten sich auf, gingen wieder aufeinander zu, wieder fehlte
Gaganoff und wieder schoß Stawrogin in die Luft. Übrigens waren diese
Schüsse in die Luft doch zweifelhaft -- es ließ sich über sie streiten:
Stawrogin hätte sehr wohl behaupten können, daß er, ganz wie es sich
gehört, auf den Gegner gezielt habe, wenn er nicht vorher selbst das
Gegenteil angekündigt hätte, denn er richtete die Pistole nicht etwa
gerade auf den Himmel oder auf einen Baumwipfel, sondern immerhin so,
als ziele er auf den Gegner, -- wenn er auch tatsächlich einen halben
Meter über dessen Hut zielte. Dieses zweite Mal hatte er sogar ein noch
niedrigeres, noch täuschenderes Ziel genommen; doch Gaganoff wäre jetzt
wohl überhaupt nicht mehr zu überzeugen gewesen.

»Wieder!« knirschte er ingrimmig. »Einerlei! Ich bin gefordert und werde
von meinem Recht Gebrauch machen! Ich will zum drittenmal schießen ...
unbedingt! ...«

»Dazu haben Sie das volle Recht,« schnitt ihm Kirilloff das Wort ab.

Mawrikij Nicolajewitsch sagte nichts. Zum drittenmal wurden sie
aufgestellt, zum drittenmal wurde kommandiert. Diesmal schritt Gaganoff
bis zur Barriere, und von dort, auf zwölf Schritt Distanz, begann er zu
zielen. Doch seine Hände zitterten zu sehr, um richtig zielen zu können.
Stawrogin stand mit gesenkter Pistole und erwartete regungslos den Schuß
des Gegners.

»Zu lange, zu lange gezielt!« rief Kirilloff schließlich ungestüm.
»Schießen Sie! Schießen Sie!«

Der Schuß ertönte, und diesmal riß die Kugel Stawrogins weißen Hut vom
Kopfe. Gaganoff hatte gut gezielt, der Hutboden war ganz unten
durchschossen; nur zwei Zentimeter niedriger und alles wäre zu Ende
gewesen. Kirilloff hob den Hut auf und reichte ihn Stawrogin.

»Schießen Sie, halten Sie den Gegner nicht auf!« rief Mawrikij
Nicolajewitsch in ungewöhnlicher Erregung, als er sah, daß Stawrogin,
der mit Kirilloff den Hut betrachtete, seinen dritten Schuß gleichsam
vergessen hatte.

Stawrogin zuckte zusammen, blickte auf Gaganoff, wandte sich dann zur
Seite und schoß diesmal schon ohne jedes Zartgefühl einfach in den Wald
hinein. Das Duell war beendet. Gaganoff stand da wie erstarrt. Mawrikij
Nicolajewitsch trat zu ihm und sprach etwas, doch er schien ihn gar
nicht zu verstehen. Kirilloff zog den Hut, als er fortging, und nickte
Mawrikij Nicolajewitsch zu; doch Stawrogin vergaß jetzt die Höflichkeit,
die er vorhin bezeugt hatte; nach seinem letzten Schuß in den Wald,
drückte er Kirilloff die Pistole in die Hand und ging, ohne sich auch
nur einmal zur Barriere zu wenden, schnell zu den Pferden. Sein Gesicht
drückte Wut aus; er schwieg. Auch Kirilloff schwieg. Sie bestiegen die
Pferde und ritten im Galopp davon.


                                  III.

»Warum schweigen Sie?« rief Stawrogin ungeduldig Kirilloff zu, kurz
bevor sie das Haus erreichten.

»Was wollen Sie?« fragte dieser, fast vom Pferde rutschend, da es sich
bäumte.

Stawrogin bezwang sich.

»Ich wollte ihn nicht beleidigen, diesen ... Dummkopf, und doch habe ich
es wieder getan,« sagte er langsam.

»Ja, Sie haben ihn wieder beleidigt,« sagte Kirilloff trocken, -- »und
dabei ist er gar kein Dummkopf.«

»Immerhin habe ich alles getan, was ich konnte.«

»Nein.«

»Was hätte ich denn tun sollen?«

»Nicht fordern.«

»Noch einen Schlag ins Gesicht ertragen?«

»Ja, noch einen Schlag ertragen.«

»Ich fange an nichts mehr zu begreifen!« sagte Stawrogin geärgert.
»Warum erwartet man von mir, was man sonst von niemandem erwartet? Warum
soll ich ertragen, was sonst niemand erträgt, und mir Bürden aufladen,
die keiner tragen kann?«

»Ich glaube, Sie suchen eine Bürde.«

»Ich suche eine Bürde?«

»Ja.«

»Sie ... haben das bemerkt?«

»Ja.«

»Ist das so bemerkbar?«

»Ja.«

Sie schwiegen. Stawrogin sah besorgt aus, fast erschreckt.

»Ich habe nur deshalb nicht auf ihn geschossen, weil ich nicht töten
wollte, und das war alles, ich versichere Sie,« sagte er schnell und
erregt, als wollte er sich rechtfertigen.

»Es war nicht nötig, zu beleidigen.«

»Was hätte man denn tun sollen?«

»Man hätte töten sollen.«

»Es tut Ihnen leid, daß ich ihn nicht erschossen habe?«

»Mir tut gar nichts leid. Ich glaubte, Sie wollten ihn wirklich
erschießen. Sie wissen selbst nicht, was Sie suchen.«

»Ich suche eine Bürde,« lachte Stawrogin auf.

»Wenn Sie nicht Blut vergießen wollten, warum gaben Sie sich denn selbst
dazu her?«

»Wenn ich ihn nicht gefordert hätte, so wäre ich von ihm so erschlagen
worden, ohne Duell.«

»Das ist nicht Ihre Sache. Vielleicht hätte er auch nicht erschlagen.«

»Sondern nur geschlagen?«

»Nicht Ihre Sache. Tragen Sie die Bürde. Sonst gibt es kein Verdienst.«

»Aus dem mache ich mir gerade was! Habe es noch bei niemandem gesucht!«

»Ich glaubte, Sie suchten,« schloß Kirilloff unglaublich kaltblütig.

Sie ritten auf den Hof.

»Kommen Sie zu mir?« lud ihn Stawrogin ein.

»Nein, ich gehe nach Haus. Leben Sie wohl.«

Er stieg aus dem Sattel und nahm seinen Kasten unter den Arm.

»Aber wenigstens Sie ärgern sich doch nicht über mich?« fragte Stawrogin
und hielt ihm die Hand hin.

»Nicht im geringsten!« Kirilloff kehrte sofort zurück, um ihm die Hand
zu drücken. »Wenn meine Bürde mir leicht ist, so ist es, weil das von
Natur so ist, und wenn Ihre Bürde Ihnen vielleicht schwerer ist, so
kommt das auch, weil die Natur so ist. Sehr zu schämen braucht man sich
deshalb nicht, nur ein wenig.«

»Ich weiß, daß ich ein nichtiger Charakter bin, aber ich dränge mich ja
auch nicht unter die Starken.«

»Tun Sie's auch nicht. Sie sind kein starker Mensch. Kommen Sie wieder
Tee trinken.«

Stawrogin trat verwirrt und erregt bei sich ein.


                                  IV.

Alexei Jegorowitsch meldete ihm sofort, daß Warwara Petrowna, die sich
über den Spazierritt Nicolai Wszewolodowitschs -- den ersten nach acht
Tagen Krankheit -- sehr gefreut hatte, nun gleichfalls ausgefahren sei,
»so wie früher alle Tage, um wieder einmal frische Luft zu atmen,
dieweil sie es seit acht Tagen nicht mehr getan haben.«

»Ist sie allein gefahren oder mit Darja Pawlowna?« unterbrach Stawrogin
den alten Diener hastig und sein Gesicht verdüsterte sich sehr, als er
hörte, daß Darja Pawlowna »krankheitshalber vorgezogen haben, nicht
mitzufahren und sich augenblicklich in ihren Zimmern befinden«.

»Höre, Alter,« sagte er, wie nach einem plötzlichen Entschluß, »paß auf
sie heute den ganzen Tag auf, und wenn du bemerkst, daß sie zu mir
kommen will, so halte sie zurück und sag ihr, daß ich sie nicht
empfangen kann, wenigstens in diesen Tagen nicht ... daß ich sie selbst
darum bitten lasse ... und wenn es Zeit sein wird, werde ich sie selbst
rufen -- hörst du?«

»Zu Befehl,« sagte Alexei Jegorowitsch mit Kummer in der Stimme und
senkte die Augen.

»Aber nicht früher, als bis du sicher bist und genau siehst, daß sie zu
mir kommen will.«

»Der gnädige Herr können unbesorgt sein, es wird alles so gemacht
werden. Durch mich sind bis jetzt auch alle Besuche ermöglicht worden,
sie haben sich immer an mich gewandt.«

»Ich weiß. Also nicht früher, als bis sie selbst kommt. Und jetzt bring
mir Tee, wenn es geht, möglichst schnell.«

Kaum hatte der Alte das Zimmer verlassen, als dieselbe Tür sich wieder
öffnete und Darja Pawlowna auf der Schwelle erschien. Ihr Blick war
ruhig, doch das Gesicht bleich.

»Woher kommen Sie?« rief Stawrogin.

»Ich stand hier an der Tür und wartete, bis er hinausging, um dann bei
Ihnen einzutreten. Ich habe gehört, was Sie ihm angaben. Als er
fortging, versteckte ich mich hinter den Mauervorsprung rechts, und so
hat er mich nicht bemerkt.«

»Ich wollte schon lange mit Ihnen brechen, Dascha ... so lange ... es
noch Zeit ist. Ich konnte Sie heute Nacht nicht empfangen, trotz Ihrer
brieflichen Bitte. Ich wollte Ihnen gleichfalls schreiben, aber ich
verstehe nicht zu schreiben,« fügte er mit Ärger und sogar wie angeekelt
hinzu.

»Auch ich habe bereits daran gedacht, daß wir brechen müssen. Warwara
Petrowna argwöhnt schon zu sehr unsere Beziehungen.«

»Nun, mag sie doch.«

»Sie soll sich nicht beunruhigen. Und so bleibt es denn jetzt bis zum
Ende?«

»Sie erwarten immer noch unbedingt ein Ende?«

»Ja, ich bin überzeugt, daß es kommen wird.«

»Auf der Welt hat nichts ein Ende.«

»Hier aber wird es ein Ende geben. Rufen Sie mich dann, ich werde
kommen. Und jetzt leben Sie wohl.«

»Und was für ein Ende wird denn das sein?« fragte Stawrogin halb
lachend.

»Sie sind nicht verwundet und ... haben auch kein Blut vergossen?«
fragte sie, ohne auf die Frage nach dem Ende zu antworten.

»Es war dumm; ich habe niemanden getötet, beunruhigen Sie sich nicht.
Übrigens werden Sie heute noch alles von allen hören. Ich fühle mich
nicht ganz wohl.«

»Ich gehe schon. Die Anzeige der Heirat wird heute nicht erfolgen?«
fragte sie noch wie unschlüssig.

»Heute nicht; morgen nicht ... übermorgen -- sind wir vielleicht alle
tot, ... um so besser. Lassen Sie mich, lassen Sie mich doch endlich!«

»Sie werden die andere nicht zugrunde richten ... die Wahnsinnige?«

»Ich werde keine Wahnsinnige zugrunde richten, weder die eine noch die
andere, aber ich glaube, die Vernünftige richte ich zugrunde: ich bin so
gemein, so niedrig, Dascha, daß ich Sie vielleicht wirklich rufen werde
-- >ganz zum Schluß<, wie Sie sagen, und Sie werden dann, trotz Ihrer
Vernunft, zu mir kommen. Warum richten Sie sich selbst zugrunde?«

»Ich weiß, daß zum Schluß nur ich bei Ihnen bleiben werde und ... ich
warte darauf.«

»Wenn ich Sie aber zum Schluß nicht rufe und von Ihnen fortlaufe?«

»Das ist unmöglich, Sie werden mich rufen.«

»Darin liegt viel Verachtung für mich.«

»Sie wissen, daß nicht nur Verachtung ...«

»Also ist Verachtung immerhin dabei?«

»Ich wollte es nicht so sagen. Gott ist mein Zeuge, daß ich von Herzen
wünschte, Sie hätten mich niemals nötig.«

»Die eine Phrase ist die andere wert. Auch ich wünschte, Sie nicht
zugrunde zu richten.«

»Niemals und durch nichts werden Sie mich zugrunde richten können -- und
das wissen Sie ja selbst am besten,« sagte Darja Pawlowna schnell und
überzeugt. »Wenn ich nicht zu Ihnen komme, so werde ich barmherzige
Schwester, Krankenwärterin. Oder werde als Büchertrödlerin Bibeln
verkaufen. Das habe ich beschlossen. Ich kann nicht in solchen Häusern
leben, wie dieses hier. Nicht das ist es, was ich will ... Sie wissen
alles ... --«

»Nein, ich habe es nie erfahren können, was Sie wollen; ich glaube, Sie
interessieren sich für mich, wie zuweilen alte Krankenwärterinnen aus
irgendeinem Grunde einen Pflegling den anderen vorziehen, oder, noch
besser, wie auf unseren Kirchhöfen die betenden Greisinnen von den
vielen Leichen sich eine etwas ansehnlichere aussuchen, die sie dann
besonders in ihr Herz schließen.[41] Warum sehen Sie mich so sonderbar
an?«

»Sind Sie sehr krank?« fragte sie teilnehmend und sah ihn dabei ganz
eigentümlich nachdenklich und forschend an. »Gott! Und dieser Mensch
will ohne mich auskommen!«

»Hören Sie, Dascha, ich sehe jetzt immer Gespenster. Heute nacht bot
sich mir ein kleiner Teufel auf der Brücke an, -- erbot sich, Lebädkin
und Marja Timofejewna zu ermorden, um meiner gesetzlichen Ehe ein Ende
zu machen, und so, daß nichts ruchbar wird. Als Handgeld verlangte er
nur drei Rubel, doch gab er deutlich zu verstehen, daß die ganze
Operation nicht weniger als tausendfünfhundert kosten werde. Das war mir
mal ein gut berechnender Teufel! Ein Buchhalter! Ha--ha!«

»Und Sie sind fest überzeugt, daß es ein Gespenst war?«

»O nein, durchaus kein Gespenst! Das war ganz einfach der entsprungene
Zuchthäusler Fedjka, ein sibirischer Sträfling und Raubmörder. Doch das
ist Nebensache. Aber was glauben Sie, daß ich getan habe? Ich habe ihm
das ganze Geld aus meinem Portemonnaie hingeworfen, und er ist jetzt
vollkommen überzeugt, daß ich ihm damit das Handgeld gezahlt habe!«

»Sie haben ihn in der Nacht getroffen und er hat Ihnen diesen Vorschlag
gemacht? Ja, sehen Sie denn wirklich nicht, daß Sie von dem Netz jener
Leute schon vollständig umstrickt sind?«

»Nun, mögen sie. Aber soll ich Ihnen sagen, was für eine Frage sich
jetzt in Ihnen dreht und windet? -- ich sehe sie in Ihren Augen,« fügte
er gereizt mit bösem Lächeln hinzu.

Dascha erschrak:

»Gar keine Frage und es gibt da überhaupt keinen Zweifel, schweigen
Sie!« rief sie in Unruhe, die Frage gleichsam von sich fortscheuchend.

»Sie sind also überzeugt, daß ich nicht zu Fedjka in die Kneipe gehen
werde?«

»O Gott!« Sie erhob die Hände. »Warum quälen Sie mich so?«

»Nun, verzeihen Sie mir meinen dummen Scherz, offenbar habe ich mir von
jenen deren schlechte Manieren angeeignet. Wissen Sie, seit dieser Nacht
habe ich so wahnsinnige Lust zu lachen, immerzu, ununterbrochen, lange,
aus vollem Halse zu lachen. Ich bin wie geladen mit Gelächter ... Hu!
Mama ist angekommen; ich kenne den Ruck, mit dem ihre Equipage vor dem
Portal anhält.«

Dascha ergriff seine Hand.

»Wird doch Gott Sie vor Ihrem Dämon bewahren und ... rufen Sie mich,
rufen Sie mich dann schnell!«

»Oh, mein Dämon! Der ist ja nur ein kleines, widerliches, skrofulöses
Teufelchen, das sich erkältet und den Schnupfen hat, eines von den
mißlungenen. Aber Sie, Dascha, Sie wagen ja wieder nicht, etwas
auszusprechen?«

Sie sah ihn mit Schmerz und Vorwurf an und wandte sich zur Tür.

»Hören Sie,« rief er ihr mit boshaftem, verzerrtem Lächeln nach. »Wenn
... nun, da, mit einem Wort, _wenn_ ... Sie verstehen schon, wenn ich
selbst zu Fedjka in die Kneipe ginge ... und Sie nachher riefe, --
würden Sie dann auch noch kommen, selbst nach meinem Gang in die
Kneipe?«

Sie ging hinaus, ohne zurückzusehen, ohne zu antworten, das Gesicht mit
den Händen bedeckt.

»Sie wird kommen, auch nach meinem Gang in die Kneipe!« murmelte er nach
kurzem Nachdenken vor sich hin, und in seinem Gesicht drückte sich
angewiderte Verachtung aus: -- »Krankenwärterin! Hm ... Doch übrigens,
vielleicht brauche ich gerade das.«




                            Neuntes Kapitel.
                           Alle in Erwartung


                                   I.

Die Geschichte dieses Duells wurde in unserer Gesellschaft ungemein
schnell bekannt. An dem Eindruck, den sie machte, war das
Bemerkenswerteste die Einstimmigkeit, mit der alle sich schon am
nächsten Tage rückhaltlos für Nicolai Stawrogin erklärten. Selbst viele
von seinen ehemaligen Feinden zählten sich plötzlich entschieden zu
seinen Freunden.

Den Anstoß zu diesem überraschenden Umschwung der öffentlichen Meinung
hatte zunächst nur eine einzige treffende Bemerkung gegeben; diese aber
war von einer Persönlichkeit gemacht worden, die sich bis dahin noch nie
öffentlich geäußert oder gar ihre Stellungnahme verraten hatte. So ward
denn jene Bemerkung sogleich von ungeheurer Bedeutung für den größten
Teil unserer Gesellschaft. Zugetragen aber hatte sich das alles
folgendermaßen:

Gerade an dem Tage nach dem Duell feierte die Gemahlin des
Adelsmarschalls unseres Gouvernements ihren Geburtstag. Die ganze höhere
Gesellschaft war bei ihr versammelt. Unter den Gästen befand sich auch,
oder richtiger, präsidierte, als Gattin unseres neuen Gouverneurs,
Julija Michailowna, die in Begleitung von Lisaweta Nicolajewna
erschienen war. Lisa war von geradezu strahlender Schönheit und sah ganz
besonders froh und glücklich aus -- was freilich viele Damen sogleich
äußerst verdächtig fanden. Hier muß ich erwähnen, daß an ihrer
tatsächlichen Verlobung mit Mawrikij Nicolajewitsch eigentlich nicht
mehr zu zweifeln war: auf die scherzhafte Frage eines alten Generals,
von dem gleich noch die Rede sein wird, antwortete Lisa selbst, daß sie
Braut sei. Und doch -- wie sonderbar das auch erscheinen mag --: keine
einzige von unseren Damen wollte daran glauben und alle fuhren sie
eigensinnig fort, von einem verhängnisvollen Familiengeheimnis, von
einem Roman zu munkeln, der sich in der Schweiz abgespielt haben sollte,
und zwar -- ich weiß nicht, weshalb -- unbedingt unter Mitwirkung von
Julija Michailowna. Es ist wirklich schwer zu sagen, wie alle diese
Gerüchte sich so lange und hartnäckig behaupten konnten, und warum immer
wieder und unbedingt gerade Julija Michailowna in diese Geschichten
hineingeflochten wurde und warum man glaubte, daß sie auch in die
Geheimnisse der Ohrfeigengeschichte eingeweiht sei.

So kam es denn, daß man ihr auch auf der Abendgesellschaft beim
Adelsmarschall, als sie mit Lisa eintrat, sogleich und ganz allgemein
mit Spannung entgegensah, mit Blicken, die die Erwartung deutlich
verrieten. Von dem Duell wagte man noch nicht laut zu sprechen, nur
unter Bekannten tuschelte man sich dies und jenes zu. Es geschah das
wohl vor allem deshalb, weil man noch nicht wußte, wie sich die Behörden
zu dem Vorfall stellen würden. Soweit bekannt war, hatte man die beiden
Duellanten bis jetzt noch völlig unbehelligt gelassen, und Gaganoff war,
wie man wußte, schon am Morgen dieses Tages auf sein Gut Duchowo
zurückgekehrt, ohne vorher irgendwelchen Belästigungen ausgesetzt
gewesen zu sein. Selbstredend warteten nun alle darauf, daß endlich
jemand laut davon zu sprechen anfange und damit der allgemeinen Ungeduld
und Neugier, die sich so nicht äußern konnten, gewissermaßen die Tür
öffne. Dabei rechnete man ganz besonders auf den bereits erwähnten alten
General, und richtig: man verrechnete sich dabei nicht.

Dieser General war eines der angesehensten Mitglieder unseres
Adelsklubs: Gutsbesitzer, doch nicht sonderlich reich, mit Anschauungen,
die in ihrer Art geradezu einzig waren, und in Damengesellschaft ein
unverbesserlicher Kurmacher. Unter anderem liebte er es besonders, auf
großen Versammlungen, sei es nun im Klub oder in der Gesellschaft, mit
der ganzen Würde seines Ranges und Alters plötzlich laut gerade davon zu
sprechen, wovon alle nur ängstlich und heimlich zu flüstern wagten. Es
war das gewissermaßen eine Spezialität von ihm. Und so tat er es denn
auch diesmal wieder nach seiner alten Gewohnheit. -- Mit Gaganoff war er
irgendwie entfernt verwandt, jetzt aber entzweit; ich glaube, er
prozessierte sogar mit ihm. Außerdem hatte er in seiner Jugend selbst
zwei Duelle gehabt und war wegen des letzten zeitweilig als Gemeiner
nach dem Kaukasus verbannt gewesen.

Nun ließ jemand ein paar Worte über Warwara Petrowna fallen, die »nach
der Krankheit« jetzt wieder ausgefahren sei -- oder eigentlich nicht
gerade über sie, sondern mehr über den herrlichen grauen Viererzug
eigener, Stawroginscher, Zucht, mit dem sich dies Ereignis begeben
hatte. Da bemerkte plötzlich der alte General, daß er heute den »jungen
Stawrogin« zu Pferde angetroffen habe ... Alles verstummte sofort. Der
General aber schob eine Weile lang die Lippen hin und her, spielte mit
seiner goldenen, ihm hohen Orts geschenkten Tabaksdose und sagte
schließlich, die Worte wie ein Feinschmecker auseinanderziehend:

»Tut mir faktisch un--gemein leid, daß ich vor einigen Jahren nicht hier
war ... Hielt mich gerade in Karlsbad auf. Hm ... Dieser junge Mensch
in--te--ressiert mich, in der Tat, se--ehr. Es kursi--ierten ja
seinerzeit die tollsten Gerüchte über ihn. Hm ... Aber wie, -- sollte es
fak--tisch wahr sein, daß er nicht ganz, hm, zu--rechnungs--fähig ist?
Hab so etwas gehört ... Jetzt aber hörte ich, ein Student habe ihn in
Gegenwart seiner Kusinen beleidigt, und er soll vor ihm unter den Tisch
gekrochen sein. Und nun sagt mir plötzlich Stepan Wyssotzki, daß dieser
Stawro--gin sich mit diesem ... Gaga--noff geschlagen hat. Und das
ein--zig in der chevaleres--ken Ab--sicht, sei--ne Stirn der Kugel eines
... Toll--gewordenen zu bieten, bloß um ihn ... äh ... loszuwerden. Hm
... Das ist so ungefähr im Stil der Garde der zwanziger Jahre. Verkehrt
er übrigens hier mit jemandem?«

Der General verstummte, als erwarte er eine Antwort, und alle Blicke
wandten sich, fast wie auf ein Kommando, Julija Michailowna zu.

»Das ist doch ganz erklärlich!« sagte diese gereizt, da alle gleichsam
überzeugt schienen, gerade _sie_ müsse jetzt etwas sagen. »Wie kann man
sich darüber wundern, daß Stawrogin sich mit Gaganoff schlägt und mit
dem Studenten nicht? Er konnte doch nicht seinen früheren Leibeigenen
fordern!«

Bemerkenswerte Worte! Eine einfache und auf der Hand liegende Erklärung,
auf die aber noch niemand verfallen war. So war sie denn auch von
entscheidender Wirkung. Alles Skandalöse, Anekdotenhafte und Kleinliche
war mit einem Schlage zurückgedrängt und etwas anderes tauchte vor einem
auf. Man sah plötzlich einen neuen Menschen vor sich, in dem sich bis
jetzt alle getäuscht hatten, einen Menschen mit Ehrbegriffen von fast
idealer Strenge. Von einem Studenten, also einem gebildeten und nicht
mehr leibeigenen Menschen, tödlich beleidigt, übersieht er die
Beleidigung, weil der Student -- sein ehemaliger Leibeigener ist. Die
Gesellschaft zerreißt sich den Mund darüber und blickt mit Verachtung
auf den Menschen, der einen Schlag ins Gesicht hingenommen hat: dieser
aber mißachtet, übersieht einfach auch die Meinung der Gesellschaft, die
ja doch zur richtigen Beurteilung der Dinge viel zu unreif ist, obschon
sie sich selber stets dazu berufen fühlt.

»Und währenddessen sitzen wir hier, Iwan Alexandrowitsch, und
philosophieren darüber, welches die richtigen Ehrbegriffe sind!« bemerkt
in einem edlen Anfall von Selbsterkenntnis ein alter Klubherr zum
anderen.

»Ja, ja, Sie haben recht, Pjotr Michailowitsch,« pflichtet ihm dieser
reuig bei. »Und da schilt man noch auf die Jugend von heute!«

»Ach was, hier kann doch von der Jugend im allgemeinen überhaupt nicht
die Rede sein,« sagt ein Dritter. »Die Jugend von heute hat damit nichts
gemein. Hier handelt es sich einfach um einen Stern, eine einzigartige
Ausnahme, um einen neuen Menschen, nicht aber um irgendeine
durchschnittliche Jugend von heute! Sehen Sie, so ist das aufzufassen.«

»Ja, ja ... und gerade das ist es ja, was wir brauchen; wir sind arm
geworden an Persönlichkeiten.«

Doch das Wichtigste war hierbei, daß diese »Persönlichkeit« oder dieser
»neue Mensch« sich nicht nur als »unzweifelhafter Edelmann« erwiesen
hatte, sondern außerdem noch der allerreichste Grundbesitzer unseres
Gouvernements war, und folglich sogleich als Beistand und Faktor zu
betrachten war. Ich habe übrigens schon früher andeutungsweise die
Stimmung unserer Grundbesitzer erwähnt.[42]

Ja, man geriet sogar ordentlich in Hitze:

»Und nicht nur, daß er den Studenten nicht gefordert hat,« hob ein
anderer hervor, »er hat sogar die Hände ostentativ zurückgezogen! --
Bitte das wohl zu bemerken, Exzellenz!«

»Und hat ihn nicht einmal vor unser neues Zivilgericht geschleppt ...«
meinte wieder ein anderer.

»Ungeachtet dessen, daß dieses unser hochlöbliches neues Gericht ihn
dafür, daß _er_ beleidigt worden ist, zu einer Strafe von fünfzehn
Silberrubeln verurteilt hätte, ha--ha--ha!«

»Nein, hören Sie, ich werde Ihnen gleich das ganze Geheimnis unserer
neuen Gerichte sagen!« regte sich ein Dritter auf. »Hat jemand einen
anderen bestohlen oder begaunert, und hat man ihn womöglich auf frischer
Tat ertappt und überführt -- so laufe er nur schnell nach Hause, so
lange er noch Beine hat, und schlage seine Mutter tot! Dann spricht man
ihn im Nu von allem frei, und die Damen werden ihm noch mit ihren
Batisttüchlein von der Estrade zuwinken und Ovationen bereiten!
Ehrenwort, so ist es!«

»Ein wahres Wort, bei Gott, so ist es!«

Natürlich begnügte sich die Gesellschaft auch diesmal nicht mit den
bekannten Tatsachen. Man sprach wieder über die Freundschaft Stawrogins
mit dem berühmten Grafen K., dessen strenger, isolierter Standpunkt den
neuesten Reformen gegenüber allgemein bekannt war, ebenso wie seine
aufsehenerregende Tätigkeit noch bis in die jüngste Zeit. Und plötzlich
stand für alle vollständig fest, daß Nicolai Wszewolodowitsch sich mit
einer von den Töchtern des Grafen K. verloben werde, obgleich zu einer
solchen Annahme in Wirklichkeit auch nicht der geringste Grund vorhanden
war. Was aber da irgendwelche romantische schweizer Abenteuer mit
Lisaweta Nicolajewna anbetraf, oh, so erwähnten unsere Damen diese
»Märchen« überhaupt nicht mehr. Ich muß hier bemerken, daß Drosdoffs
inzwischen schon überall ihre Visite gemacht hatten, und nun fand man,
daß Lisa ein ganz gewöhnliches junges Mädchen sei, das mit seinen
»kranken Nerven« nur »kokettierte«. Ihren Ohnmachtsanfall am Tage der
Ankunft Nicolai Wszewolodowitschs erklärte man einfach mit dem Schreck
über die schändliche Tat des Studenten. Ja, man bemühte sich sogar, das,
was man noch vor kurzem so phantastisch aufgefaßt hatte, jetzt so
prosaisch wie möglich zu erklären; -- und die Hinkende vergaß man
völlig, schämte sich fast, sie überhaupt erwähnt zu haben. Die Männer
aber pflegten zu sagen: »Und wenn auch hundert lahme Frauenzimmer -- wer
ist denn nicht jung gewesen!« Jetzt hob man auch allgemein die
Ehrerbietung Nicolai Wszewolodowitschs zu seiner Mutter hervor, sprach
wohlwollend von seinem großen Wissen, das er sich in diesen vier Jahren
an deutschen Universitäten erworben hatte. Die Handlungsweise Gaganoffs
aber erklärte man endgültig für taktlos -- »die Eigenen erkennen die
Eigenen nicht!« --, und Julija Michailowna sprach man gar »höhere
Einsicht« zu.

So wurde denn Stawrogin, als er endlich selbst in der Gesellschaft
erschien, mit dem naivsten Ernst und der ungeduldigsten Erwartung
angesehen. Er aber schwieg. Natürlich befriedigte das wieder weit mehr,
als es endlose Erklärungen getan hätten. Kurz, er machte einen großen
Eindruck auf alle, er wurde Mode. In der Gesellschaft kam er mit
feinstem Takt allen seinen Pflichten nach. Ein Zurückziehen, sich
Absondern war freilich unmöglich, nachdem er einmal in der Gesellschaft
erschienen war. Das ist schon so in der Provinz. Man fand ihn zwar nicht
»gemütlich« oder »unterhaltsam«, aber »der Mensch hat gelitten, ist
nicht so wie andere; hat auch was, worüber er nachdenken kann,« hieß es
zu seiner Entschuldigung. Sogar sein Stolz und die Unnahbarkeit, die ihm
vor vier Jahren so viel Haß eingetragen hatten, gefielen jetzt und
wurden sehr geachtet.

Am meisten triumphierte Warwara Petrowna. Ich weiß nicht, ob sie sich
über ihre verunglückten Pläne mit Lisa sehr grämte: darüber half ihr
vielleicht der Familienstolz hinweg. Sonderbar war nur eines: Warwara
Petrowna glaubte plötzlich gleichfalls, daß ihr _Nicolas_ eine Tochter
des Grafen K. erwählt habe, und zwar -- was das Sonderbarste dabei war
-- sie glaubte es gleichfalls nur auf die Gerüchte hin, die auch zu ihr
bloß der »Zufall« verschlagen hatte; selbst aber ihren Sohn zu fragen,
fürchtete sie sich. Zwei- oder dreimal konnte sie sich freilich nicht
bezwingen, und machte ihm vorsichtig, wenn auch heiter, den Vorwurf,
nicht ganz aufrichtig zu ihr zu sein: Nicolai Wszewolodowitsch lächelte
aber nur und fuhr fort, zu schweigen. So hielt sie sein Schweigen für
eine Bestätigung. Und doch konnte sie bei all dem die Hinkende nicht
vergessen. Der Gedanke an diese lag ihr wie ein Stein auf dem Herzen,
raubte ihr den Schlaf oder schreckte sie mit unheimlichen Träumen -- und
das zu derselben Zeit, als sie an die Töchter des Grafen K. dachte. Aber
davon später. Es versteht sich im übrigen von selbst, daß die
Gesellschaft sich wieder ganz wie früher mit außerordentlicher Ehrfurcht
zu Warwara Petrowna verhielt, wenn auch diese sich jetzt nur noch selten
sehen ließ.

Indessen machte sie doch der Gouverneurin einen feierlichen Besuch.
Natürlich war niemand über die schon erwähnte Bemerkung Julija
Michailownas so entzückt, wie Warwara Petrowna: diese Worte hatten viel
Leid von ihrem Herzen genommen. »Ich habe diese Frau mißverstanden!«
sagte sie sich, und mit der ihr eigenen Aufrichtigkeit erklärte sie
Julija Michailowna sofort, daß sie gekommen sei, um sich bei ihr zu
bedanken. Julija Michailowna war natürlich sehr geschmeichelt, verlor
jedoch nicht ihre Würde. Zu gleicher Zeit stieg sie in ihren eigenen
Augen ganz beträchtlich, und vielleicht sogar etwas zu hoch. So beging
sie beispielsweise im Laufe des Gesprächs die Unhöflichkeit, Warwara
Petrowna zu sagen, daß sie noch nie etwas von einer literarischen
Tätigkeit Stepan Trophimowitschs gehört habe.

»Ich empfange und verwöhne natürlich den jungen Werchowenski, er ist
zuweilen etwas unbesonnen, aber er ist ja noch jung. Jedenfalls hat er
solide Kenntnisse, und ist doch immerhin schon etwas mehr, als irgend
ein verabschiedeter ehemaliger Kritiker.«

Warwara Petrowna beeilte sich sofort, zu bemerken, daß Stepan
Trophimowitsch niemals Kritiker gewesen sei, sondern sein ganzes Leben
in ihrem Hause verbracht habe. Berühmt aber sei er durch gewisse
Umstände zu Anfang seiner Karriere, die »aller Welt nur zu gut bekannt
sind«, und in der letzten Zeit durch seine Studien über die spanische
Geschichte; augenblicklich beabsichtige er, über die deutschen
Universitäten zu schreiben und, wenn sie recht unterrichtet sei, auch
etwas über die Dresdener Madonna ... Warwara Petrowna wollte ihren
Stepan Trophimowitsch um keinen Preis von Julija Michailowna herabsetzen
lassen.

»Über die Dresdener Madonna? Die Sixtinische? _Chère_ Warwara Petrowna,
ich habe zwei Stunden vor diesem Bilde gesessen und bin schließlich
vollkommen enttäuscht fortgegangen. Ich habe nichts verstanden und mich
nur über die Menschen gewundert. Auch Karmasinoff sagt, daß es schwer
sei, dieses Bild zu verstehen. Jetzt finden alle nichts Besonderes an
diesem Bilde, sowohl Russen wie Engländer. Den ganzen Ruhm haben ihm nur
die alten Professoren verschafft.«

»Also eine neue Mode?«

»Ach, ich aber glaube, daß man unsere Jugend nicht so geringschätzen
darf. Überall klagt man jetzt, unsere jungen Leute seien Kommunisten,
und verachtet sie womöglich, doch meiner Meinung nach sollte man sie
lieber schonen und hochschätzen. Ich lese jetzt alles: alle Zeitungen,
Revuen, treibe Naturwissenschaft -- ich bekomme alles, denn man muß
doch, nicht wahr, endlich wissen, wo man lebt und mit wem man es zu tun
hat?! Man kann doch nicht das ganze Leben lang auf den Wolken seiner
Phantasie leben! Ich habe mir zum Grundsatz gemacht, die Jugend zu
protegieren, und hoffe, sie auf diese Weise an dem Rande des Abgrundes
zurückzuhalten, in den sie, das gebe ich zu, sonst hinabgleiten könnte.
Glauben Sie mir, Warwara Petrowna, nur mit gutem Einfluß und vor allem
mit Liebe können wir sie von dem Abgrund zurückhalten, in den sie die
Unduldsamkeit aller dieser zurückgebliebenen alten Leute treibt. Aber
wirklich: es freut mich, was ich von Ihnen über Stepan Trophimowitsch
gehört habe. Sie haben mich auf einen guten Gedanken gebracht: er könnte
auf unserer literarischen Matinee gleichfalls etwas vortragen. Wissen
Sie es schon? Ich arrangiere einen ganzen Festtag, mit Hilfe einer
Kollekte -- für die armen Gouvernanten unseres Gouvernements. Sie sind
in ganz Rußland verstreut; aus unserem Kreise sind allein schon sechs;
außerdem noch zwei Telegraphistinnen und zwei, die die Akademie
besuchen; viele würden das gleichfalls gern, haben aber nicht die Mittel
dazu. Ach, das Los der russischen Frau ist entsetzlich, Warwara
Petrowna! Jetzt wird daraus eine Universitätsfrage gemacht, und der
Reichsrat hat sich sogar schon deswegen einmal versammelt. In unserem
sonderbaren Rußland kann man wirklich alles machen, was einem einfällt.
Und darum, noch einmal sei es gesagt, könnten wir nur mit Liebe und
unmittelbarer warmer Teilnahme der ganzen Gesellschaft diese große,
allgemeine Sache auf den richtigen Weg führen. O Gott, als ob wir viele
große Menschen hätten! Es gibt ja natürlich welche, aber die sind so
verstreut! Tun wir uns doch zusammen, um stärker zu werden! Wie gesagt,
ich werde erst eine literarische Matinee arrangieren, darauf ein
leichtes Frühstück, und dann, am Abend, einen Ball. Zuerst wollten wir
den Abend mit lebenden Bildern eröffnen, aber das käme wohl etwas zu
teuer, und deshalb sollen zur Unterhaltung des Publikums nur zwei
Quadrillen von Masken getanzt werden -- in charakteristischen Kostümen,
die bestimmte literarische Richtungen darstellen. Diesen spaßigen
Vorschlag hat Karmasinoff gemacht -- er ist mir überhaupt sehr
behilflich. Und wissen Sie, er wird zur Matinee sein letztes Werk, das
noch niemand kennt, vorlesen. Er will seine Feder jetzt niederlegen und
nie mehr schreiben. Dieses letzte Werk ist sein Abschied vom Publikum.
Ein herrliches Ding, unter dem Titel: >_Merci_<. Allerdings ein
französisches Wort, aber er findet es scherzhafter und sogar feiner. Ich
auch -- ja eigentlich habe ich es ihm vorgeschlagen. Nun denke ich,
vielleicht könnte auch Stepan Trophimowitsch etwas vorlesen, etwas
Kürzeres und, wenn möglich ... nicht gar zu Gelehrtes. Ich glaube, auch
Pjotr Stepanowitsch und noch jemand werden irgend etwas vortragen. Ich
werde Pjotr Stepanowitsch zu Ihnen schicken, mit dem Programm, oder
besser, erlauben Sie mir, es Ihnen selbst zu übergeben, wenn ich einmal
vorüberfahre.«

»Gern! -- Und Sie erlauben mir gewiß, meinen Namen gleichfalls auf die
Liste zu setzen ... Ich werde es Stepan Trophimowitsch mitteilen und ihn
selbst darum bitten.«

Ganz bezaubert kehrte Warwara Petrowna heim; jetzt stand sie wie ein
Fels für Julija Michailowna! Über Stepan Trophimowitsch aber ärgerte sie
sich plötzlich grenzenlos. Er aber, der Arme, ahnte natürlich von
alledem nichts.

»Ich habe mich geradezu in sie verliebt. Ich begreife nicht, wie ich
mich in dieser Frau so habe täuschen können,« sagte sie zu Nicolai
Wszewolodowitsch und zu Pjotr Stepanowitsch, der am Abend dieses Tages
wieder auf einen Augenblick bei ihr vorsprach.

»Aber Sie müssen sich mit dem Alten wieder aussöhnen,« meinte Pjotr
Stepanowitsch, »er ist ganz verzweifelt. Sie haben ihn ja schon geradezu
in die Küche geschickt. Gestern hat er Sie in der Equipage gesehen und
gegrüßt, Sie aber sollen sich abgewendet haben. Wissen Sie, wir wollen
ihn ein wenig herausheben, ich habe sogar gewisse Absichten mit ihm und
er kann uns noch nützlich sein.«

»Oh, er wird ja jetzt auf der Matinee vortragen.«

»Ich spreche nicht davon allein. Übrigens, ich wollte selbst noch heute
zu ihm gehen. Soll ich es ihm sagen?«

»Wenn Sie wollen. Oder nein, ich weiß nicht, wie Sie das anfangen
werden,« sagte sie ein wenig unentschlossen. »Ich hatte schon selbst die
Absicht, mich mit ihm auszusprechen und wollte ihm Ort und Stunde
angeben.« Ihr Gesicht verfinsterte sich.

»Na, das lohnt sich gerade! Ich werde es ihm einfach sagen.«

»Nun, meinetwegen. Sagen Sie es ihm. Aber fügen Sie hinzu, daß ich ihm
unbedingt einen Tag angeben werde. Fügen Sie das unbedingt hinzu.«

Pjotr Stepanowitsch eilte sogleich schmunzelnd zu seinem Vater. Im
allgemeinen war er in dieser Zeit, so weit ich mich dessen noch erinnern
kann, ganz besonders schlechter Laune und erlaubte sich unglaubliche
Sachen fast allen gegenüber, was man ihm aber sonderbarerweise stets
verzieh. Überhaupt hatte sich die Meinung verbreitet, daß man auf ihn
irgendwie besonders sehen müsse. Hier muß ich aber erwähnen, daß ihn
Stawrogins Duell in eine schon beinahe unnatürliche Wut versetzt hatte;
die Nachricht traf ihn unvorbereitet. Er wurde geradezu grün im Gesicht,
als man ihm das erzählte. Vielleicht litt hierbei seine Eigenliebe: er
erfuhr es erst am anderen Tage, als schon alle davon wußten.

»Aber Sie hatten ja gar nicht das Recht, sich zu schlagen!« flüsterte er
Stawrogin zu, als er ihn erst am fünften Tag darauf zufällig im Klub
traf.

Es ist bemerkenswert, daß sie sich in diesen fünf Tagen nirgends
begegnet waren, obgleich Pjotr Stepanowitsch fast täglich bei Warwara
Petrowna vorsprach.

Stawrogin blickte ihn stumm und wie zerstreut an, als verstünde er
nicht, wovon jener sprach, und ging weiter, ohne stehen zu bleiben. Er
ging durch den großen Saal zum Büfettraum.

»Sie sind auch zu Schatoff gegangen ... Sie wollen Ihre Heirat mit Marja
Timofejewna bekannt machen,« flüsterte Pjotr Stepanowitsch, der ihm
nachlief, und faßte ihn an der Schulter.

Da schüttelte Stawrogin plötzlich seine Hand ab und drehte sich schnell
mit drohend finsterem Gesicht zu ihm um. Pjotr Stepanowitsch sah ihn an
und lächelte ein sonderbares langes Lächeln. Das Ganze dauerte nur einen
Augenblick. Stawrogin ging allein weiter.


                                  II.

Von Warwara Petrowna begab sich Pjotr Stepanowitsch an jenem Abend
schleunigst zu seinem Vater. Daß er sich so beeilte, geschah vor allem
aus Bosheit: um sich für eine Beleidigung, von der ich noch keine Ahnung
hatte, sobald wie möglich zu rächen. Stepan Trophimowitsch hatte ihn
nämlich bei seinem letzten Besuch nach einem Streit, der übrigens von
ihm selbst begonnen worden war, mit dem Stock hinausgejagt. Damals war
ich, wie gesagt, nicht zugegen gewesen, diesmal aber, als Pjotr
Stepanowitsch mit seinem gewöhnlichen spöttischen Lächeln eintrat,
während sein unangenehm neugieriger Blick das Zimmer gleichsam absuchte,
gab mir Stepan Trophimowitsch sogleich durch einen Wink zu verstehen,
ich solle den Raum nicht verlassen. So erfuhr ich denn, wie sie zu
einander standen.

Stepan Trophimowitsch saß halb liegend auf dem Diwan. Seit jenem letzten
Besuch seines Sohnes, am Donnerstag, war er magerer und bleicher
geworden. Pjotr Stepanowitsch setzte sich in der ungeniertesten Weise
neben ihn, und nahm weit mehr Platz auf dem Diwan ein, als es die
Achtung vor dem Vater erlaubt hätte. Stepan Trophimowitsch rückte
wortlos, seine Würde wahrend, zur Seite.

Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch: der Roman »Was tun?«[43]
Leider muß ich hier eine gewisse Schwäche meines Freundes eingestehen:
der Gedanke, daß er noch einmal aus seiner Einsamkeit hervortreten
müsse, um »die letzte Schlacht zu schlagen«, hatte sich mehr und mehr in
seiner verblendeten Einbildung festgesetzt. Ich erriet, daß er sich
diesen Roman nur vorgenommen hatte und nun _studierte_, um für den Fall
eines Zusammenstoßes mit den Feinden ihren ganzen »Katechismus« zu
kennen. So vorbereitet, wollte er sie dann alle widerlegen und feierlich
vor »_ihr_« über jene Jungen triumphieren! Oh, wie quälte ihn dieses
Buch! Ganz verzweifelt warf er es oft fort, sprang auf und ging erregt,
ja fast außer sich hin und her.

»Ich gebe zu, daß der Grundgedanke des Autors richtig ist,« sagte er wie
im Fieber zu mir, -- »aber das ist doch noch schrecklicher! Es ist ja
derselbe Gedanke, den wir gehegt haben, gerade unser eigener! Wir haben
ihn selbst gepflanzt, erzogen, alles vorbereitet, -- ja und was könnten
die denn überhaupt noch Neues sagen, nach _uns_! Aber, Gott, wie ist das
alles mißverstanden, wie entstellt, wie verdorben!« rief er, nervös mit
den Fingern auf das Buch klopfend. »Haben wir je solche Folgerungen
gezogen, _das_ etwa erstrebt? Wer kann hier überhaupt den Grundgedanken
herauslesen?!«

»Bildest dich?« fragte Pjotr Stepanowitsch spöttisch, nachdem er das
Buch vom Tisch genommen und den Titel gelesen hatte. »War schon längst
an der Zeit. Kann dir noch bessere Bücher bringen, wenn du willst.«

Stepan Trophimowitsch schwieg wieder. Ich saß auf dem anderen Diwan in
der Ecke.

Pjotr Stepanowitsch erklärte schnell, warum er gekommen sei. Stepan
Trophimowitsch war ganz unverhältnismäßig betroffen und hörte mit einem
Schrecken zu, der sich mit äußerstem Unwillen mischte.

»Und diese Julija Michailowna ist ohne weiteres überzeugt, daß ich bei
ihr vorlesen werde!«

»Das heißt, sieh mal, sie brauchen dich ja eigentlich überhaupt nicht.
Im Gegenteil, es geschieht nur, um dir eine Ehre zu erweisen und somit
Warwara Petrowna zu schmeicheln. Na, versteht sich doch von selbst, daß
du nicht wagen darfst, etwa abzusagen. Und selber willst du doch auch
riesig gern vorlesen,« schmunzelte er. »Ihr Alten habt ja alle 'ne
höllische Ambition. Aber, hör mal, damit es nicht zu langweilig ist --
du hast da etwas aus der spanischen Geschichte, nicht? Du, also gib mir
das Ding drei, zwei Tage vorher, damit ich es mal durchsehe, sonst
schläferst du uns am Ende noch alle ein.«

Die Grobheit seiner Bemerkungen war augenscheinlich beabsichtigt. Er
tat, als könne man mit Stepan Trophimowitsch eben unmöglich feiner
sprechen. Mein Freund fuhr unerschütterlich fort, die Beleidigungen
nicht zu bemerken. Indessen regte ihn der Inhalt des Gehörten doch immer
mehr auf.

»Und sie selbst, _sie selbst_ hat ... dir gesagt, daß du es mir
mitteilen sollst?« fragte er.

»Das heißt, sieh mal, sie wollte dir Ort und Zeit angeben, um sich mit
dir auszusprechen -- die letzten Überreste eurer Sentimentalitäten. Du
hast zwanzig Jahre mit ihr kokettiert und ihr die lächerlichsten
Albernheiten angewöhnt. Na, beruhige dich, jetzt hat das aufgehört;
jetzt wiederholt sie ja selbst stündlich, daß sie dich nun erst
>durchschaut<. Ich habe ihr logisch auseinandergesetzt, daß eure ganze
Freundschaft weiter nichts als ein gegenseitiger Erguß von Spülicht
gewesen ist. Sie hat mir viel erzählt, weißt du. Pfui, was für ein
Lakaienamt du bei ihr bekleidet hast. Sogar ich habe für dich erröten
müssen.«

»Ich -- ein Lakaienamt bekleidet?« rief Stepan Trophimowitsch, der nun
doch nicht mehr an sich halten konnte.

»Sogar noch schlimmer als das, denn du warst ja ein Schmarotzer, also
ein freiwilliger Lakai. Zur Arbeit zu faul -- aber auf Geld haben wir
Appetit. Kennt man! Auch sie begreift das jetzt. Haarsträubend, was sie
von dir alles erzählt hat! Ach, Freund, hab ich aber über deine Briefe
an sie gelacht! Wie gewissenlos und wie ekelhaft! Aber ihr seid ja so
verderbt, so unglaublich verderbt! Im Almosenempfangen liegt doch etwas,
das den Menschen für immer verdirbt -- du bist ein glänzendes Beispiel
dafür!«

»Sie hat dir meine Briefe gezeigt!«

»Alle. Das heißt, wo denkst du hin, wer soll denn die alle durchlesen!
Pfui, ich glaube, es sind über zweitausend Briefe. Verboten viel Papier
verschmiert ... Aber weißt du auch, Alter, ich vermute, es muß da einmal
einen Augenblick gegeben haben, wo sie vielleicht sogar bereit gewesen
wäre, dich zu heiraten? Dümmsterweise hast du's verpaßt! Ich meine
natürlich -- von deinem Standpunkt aus. Immerhin besser als jetzt, da
man dich beinah mit >fremden Sünden< verkuppelt hätte, wie einen Narren
zum Scherz, -- und das für Geld.«

»Für Geld! _Sie, sie_ sagt -- ich hätte für Geld! ...« rief Stepan
Trophimowitsch in krankhafter Erregung.

»Ja, wie denn sonst? Was fällt dir denn ein? Unter diesem Gesichtswinkel
habe ich dich noch verteidigt! Das ist doch deine einzige
Entschuldigung. Sie hat jetzt selbst eingesehen, daß du Geld brauchtest,
wie nun einmal alle Menschen -- und von dem Standpunkte aus sogar ganz
recht hattest. Ich habe ihr denn auch klar wie zweimalzwei bewiesen, daß
ihr zu Eurem gegenseitigen Vorteil gelebt habt: sie als Kapitalistin,
und du bei ihr als ihr sentimentaler Narr. Übrigens: über das viele
verschwendete Geld ärgert sie sich nicht, obgleich du sie doch wirklich
wie eine Ziege gemolken hast. Was sie jetzt erbost, ist nur, daß sie dir
zwanzig Jahre lang geglaubt hat, daß sie sich von deinem _Anstand_ hat
betölpeln lassen und daß du sie gezwungen hast, so lange zu lügen. Daß
sie selbst auch gelogen hat, wird sie sich nie eingestehen, aber du
wirst dafür doppelt büßen müssen. Ich verstehe nur nicht, wie du nicht
hast begreifen können, daß es irgend einmal doch zu einer Abrechnung
kommen mußte. Denn immerhin hattest du doch so etwas wie einen Verstand.
Ich habe ihr gestern geraten, dich in ein Armenhaus zu stecken. Beruhige
dich, in ein anständiges: es wird schon nicht erniedrigend sein. Ich
glaube, sie wird es auch so machen. Erinnerst du dich noch deines
letzten Briefes an mich, ins H--sche Gouvernement, vor drei Wochen?«

»Den hast du ihr gezeigt?« Stepan Trophimowitsch sprang vor Entsetzen
auf.

»Na, selbstredend! Als ersten! Denselben, in dem du schreibst, daß sie
dich ausnutzt, dich um deines Talentes willen beneidet, na, und noch
allerlei über die >fremden Sünden< ... -- Ach, Freund, hast du aber eine
Eigenliebe! Ich habe mir vor Lachen die Seiten gehalten. Sonst sind
deine Briefe mordslangweilig -- hast einen entsetzlichen Stil. Habe sie
überhaupt nur selten gelesen und ein Brief liegt da bei mir noch jetzt
uneröffnet herum; werde ihn dir morgen schicken. Aber dieser, dieser
letzte Brief -- der ist ja einfach die Krone von allen! Wie ich gelacht
habe, nein, wie ich gelacht habe!«

»Du Unmensch, du Ungeheuer!« brüllte plötzlich Stepan Trophimowitsch
außer sich vor Empörung.

»Pfui Teufel, mit dir kann man ja überhaupt nicht reden. Hör mal, du
fühlst dich wohl wieder gekränkt, wie vorigen Donnerstag?«

Stepan Trophimowitsch richtete sich drohend auf.

»Wie wagst du es, so mit mir zu reden?«

»Ja, wie denn? Ich rede doch einfach und klar.«

»Aber so sag mir doch, bist du mein Sohn oder bist du's nicht!«

»Das müßtest du besser wissen als ich. Natürlich, jeder Vater ist ja in
solchen Fällen zu Zweifeln geneigt ...«

»Schweig, schweig!« Stepan Trophimowitsch erzitterte am ganzen Körper.

»Sieh mal, nun schreist und schimpfst du schon wieder, ganz wie vorigen
Donnerstag; wolltest ja damals schon deinen Stock erheben, inzwischen
aber habe ich das Dokument gefunden. Hab den ganzen Abend in meinem
Reisekoffer aus Neugier gesucht. Kannst dich beruhigen, es ist kein
Beweis vorhanden. Nur ein kurzer Brief meiner Mutter an jenen Polen.
Aber nach ihrem Charakter zu urteilen ...«

»Noch ein Wort und ich schlage dich --!«

»Na, das sind mir mal Menschen!« wandte sich Pjotr Stepanowitsch
plötzlich an mich. »Sehen Sie, das geht nun schon so seit dem vorigen
Donnerstag. Es freut mich, daß diesmal wenigstens Sie dabei sind und
urteilen können. Zuerst eine Tatsache: er macht mir Vorwürfe, weil ich
so von meiner Mutter rede, aber war er es nicht selbst, der mich darauf
gebracht hat? In Petersburg, als ich noch Gymnasiast war, weckte er mich
womöglich zweimal in der Nacht, umarmte mich und weinte wie ein altes
Weib. Und was glauben Sie wohl, was er mir dann erzählte, so in der
Nacht? Na, eben diese selben keuschen Anekdoten über meine Mutter! Er
war ja der erste, von dem ich es hörte.«

»Oh, ich tat es damals im höheren Sinne! Oh, du hast mich nicht
verstanden. Nichts, nichts hast du verstanden!«

»Aber immerhin war es von dir doch gemeiner, als von mir, viel gemeiner,
gestehe es nur! Sieh, wenn du willst: mir ist es ja einerlei. Von deinem
Standpunkt betrachtet. Von meinem -- na, beruhige dich: ich mache meiner
Mutter durchaus keinen Vorwurf. Bist du's, na, dann bist du es, -- ist's
der Pole, -- na, meinetwegen, mir ist's egal. Ich bin doch nicht daran
schuld, daß es bei euch in Berlin so dumm herausgekommen ist. Ja und
hätte denn überhaupt jemals etwas Gescheites bei euch herauskommen
können? Und seid ihr nun nach alledem nicht komische Leute? Kann es dir
denn nicht ganz egal sein, ob ich dein Sohn bin, oder nicht? Hören Sie
mal,« wandte er sich wieder zu mir, »er hat für mich in seinem ganzen
Leben nicht einen einzigen Rubel ausgegeben; bis zum sechzehnten Jahre
hat er mich überhaupt nicht gekannt, darauf hat er mich hier bestohlen,
und jetzt schreit er, daß ihn sein Herz sein Lebelang um mich geschmerzt
habe, und geberdet sich vor mir wie ein Schauspieler. Aber ich bin doch
nicht Warwara Petrowna, ich bitte dich!«

Er stand auf und nahm seinen Hut.

»Ich -- verfluche dich!« rief Stepan Trophimowitsch, bleich wie der Tod,
und streckte seine Hand aus.

»Seht doch, was ein Mensch alles fertig bringt!« Pjotr Stepanowitsch
wunderte sich wirklich. »Na, leb wohl, Alter, werde nie mehr zu dir
kommen. Den Aufsatz schick etwas früher, vergiß es nicht, und bemühe
dich, wenn du kannst, ohne Albernheiten zu schreiben. Nur Tatsachen,
Tatsachen und nochmals Tatsachen, und die Hauptsache: so kurz wie
möglich. Adieu!«


                                  III.

Pjotr Stepanowitsch hatte übrigens noch andere Gründe dafür, mit seinem
Vater in dieser Weise umzugehen. Meiner Meinung nach beabsichtigte er
ganz einfach, ihn zur Verzweiflung zu bringen, um ihn auf diese Weise zu
einem Skandal zu treiben, der die Öffentlichkeit in einer ganz
bestimmten Richtung in Anspruch nehmen mußte. Etwas Derartiges hatte er
für seine ferneren Ziele, von denen jedoch erst später die Rede sein
soll, unbedingt nötig. Noch eine ganze Reihe ähnlicher und miteinander
in Zusammenhang stehender Pläne -- freilich alle von einer gewissen
Phantastik -- gingen damals durch seinen Kopf. Außer Stepan
Trophimowitsch hatte er noch einen anderen Märtyrer im Auge. Überhaupt
hatte er deren nicht wenige, wie sich später herausstellte; doch auf
diesen anderen Märtyrer rechnete er ganz besonders, und der war -- Herr
von Lembke in eigener Person.

Andrei Antonowitsch von Lembke gehörte zu jenem bevorzugten (von der
Natur bevorzugten) Volke, von dem in Rußland mehrere hunderttausend
Vertreter leben, die vielleicht selbst nicht wissen, daß sie in ihrer
ganzen Masse und Gesamtheit einen streng organisierten Bund bei uns
bilden. Selbstredend ist dieser Bund nicht etwa ausgedacht, sondern
besteht wortlos, ohne Vereinbarungen, einfach wie eine moralische
Selbstverständlichkeit -- eben durch das unbedingte Zusammenhalten und
die Unterstützung, die sie sich überall und unter allen Umständen
wechselseitig zuteil werden lassen.

Andrei Antonowitsch hatte die Ehre gehabt, in einer jener höheren
russischen Schulen erzogen zu werden, in die in der Regel nur die Söhne
solcher Familien eintreten können, die mit Reichtum oder Verbindungen
beglückt sind. Die Zöglinge dieser Schule wurden fast sofort nach dem
Abiturientenexamen so untergebracht, daß sie selbst bei geringer
Begabung noch eine gute Karriere machen konnten. Andrei Antonowitschs
Großväter waren: ein Oberstleutnant und ein Bäcker. Trotzdem hatte man
ihn in jener hohen Schule aufgenommen, und siehe da -- er fand noch
andere junge Leute ähnlicher Herkunft vor. Er war ein lustiger Kamerad;
mit dem Lernen ging es zwar ziemlich schwer, aber das störte weiter
nicht -- man hatte ihn trotzdem gern. Als später, in den höheren
Klassen, die Jünglinge, die meistens Russen waren, schon über alle
möglichen Tagesfragen zu disputieren begannen, und zwar in einem Tone,
der keinen Zweifel darüber bestehen ließ, daß sie, sobald sie nur erst
die Schule hinter sich gebracht hätten, sofort sämtliche Probleme mit
einem Schlage lösen würden -- da fuhr Andrei Antonowitsch immer noch
fort, sich mit den allerunschuldigsten Jungenstreichen zu beschäftigen.
Es schien in seinen Augen geradezu sein Lebenszweck zu sein, seine
Mitschüler auch jetzt noch durch alle möglichen Einfälle zu unterhalten
-- Einfälle, die sich zwar nicht durch allzu großen Geistesreichtum
auszeichneten, dafür aber die junge Gesellschaft zu erheitern
vermochten. Entweder schneuzte er sich, wenn der Lehrer ihn etwas
fragte, auf irgendeine ganz besonders laute und mißtönende Weise die
Nase, wodurch er dann sowohl die Kameraden wie den Lehrer selber
belustigte; oder er machte im gemeinsamen Schlafsaal irgendwelche
equilibristischen Kunststücke, die ihm einen allgemeinen und
begeisterten Beifall einzutragen pflegten; oder er spielte gar einzig
auf seiner Nase (und wirklich kunstvoll) die Ouvertüre zu »Fra Diavolo«.
Im letzten Schuljahr zeichnete er sich wohl auch durch eine absichtliche
Unordentlichkeit in der Kleidung aus, was er für genial hielt, dieweil
er nämlich zu dichten begonnen hatte: und zwar in russischer Sprache,
denn seine Muttersprache beherrschte er nur äußerst ungrammatisch, wie
so viele seiner in Rußland lebenden Volksgenossen.

Diese Neigung zur Poesie hatte ihn dann mit einem Kameraden, dem Sohn
eines armen Offiziers, den die ganze Schule für einen zukünftigen großen
Poeten, so eine Art zweiten Puschkin hielt, zusammengeführt. Wie
erstaunt aber war dieser Kamerad, der sich Lembkes auf der Schule nur
von oben herab, gnädig, beinahe gönnerhaft angenommen hatte, als er drei
Jahre später seinen Protegé, den »Lembka«, wie man ihn allgemein genannt
hatte, an einem kalten Tage an der Anitschkoffbrücke traf! Der
»zukünftige große Poet« hatte sich inzwischen ganz der russischen
Literatur gewidmet und es bereits glücklich bis zu zerrissenen Stiefeln
und einem dünnen Sommerpaletot im Spätherbst gebracht. Um so
eigentümlicher mußten seine Empfindungen sein, als er jetzt seinen
»Lembka« wiedersah: zuerst traute er seinen Augen nicht -- vor ihm stand
ein tadellos gekleideter junger Mann mit bewunderungswürdig bearbeitetem
rötlich-blondem Backenbart, mit einem Klemmer auf der Nase, elegant
behandschuht, dazu in Lackstiefeln und kostbarem Pelz mit einer
Ledermappe unter dem Arm. Lembke begrüßte ihn sehr freundlich, gab ihm
seine Adresse, und forderte ihn sogar auf, ihn einmal abends zu
besuchen. Es stellte sich bei der Gelegenheit heraus, daß er jetzt nicht
mehr einfach der »Lembka«, sondern Herr _von_ Lembke war. Doch als nun
der Schulfreund der Aufforderung nachkam und ihn tatsächlich einmal
besuchte, da fand er keineswegs die Reichtümer vor, die er erwartet
hatte, fand seinen »Lembka« vielmehr in einem schmalen Zimmerchen, das
ziemlich alt aussah, mit einem dunkelgrünen Vorhang in zwei ungleiche
Hälften geteilt und mit ebenfalls dunkelgrünen, zwar gepolsterten, aber
bereits ziemlich verschossenen Möbeln eingerichtet war. Von Lembke
wohnte bei einem General, mit dem er in sehr weitläufiger Verwandtschaft
stand und der den jungen Mann nach Möglichkeit in seiner Laufbahn
förderte. Von Lembke empfing den Schulfreund freundlich, war aber sonst
ernst und von gesellschaftlicher Höflichkeit. Über Literatur sprachen
sie nur beiläufig. Ein Diener in weißer Weste brachte einen etwas
bläßlichen Tee und hartes kleines, rundes Gebäck. Als der Freund aus
Bosheit um eine Flasche Selterwasser bat, wurde sie ihm zwar gebracht,
doch erst nach auffallend langer Zeit, während der Lembke etwas betreten
zu sein schien. Übrigens muß ich hinzufügen, daß er dem Schulfreunde
auch einen Imbiß anbot, doch offenbar nicht unzufrieden war, als der
Gast dankte und sich bald darauf verabschiedete. Mit einem Wort: Lembke
begann damals, trotz ärmlicher Verhältnisse, seine »Karriere« und lebte
bei einem Stammgenossen, der ein angesehener General war.

In dieser Zeit hatte er sich in die fünfte Tochter des Generals
verliebt, und sein Antrag war, wenn ich nicht irre, auch so gut wie
angenommen worden. Nur verheiratete man Amalie, als sich die Gelegenheit
bot, nichtsdestoweniger mit einem deutschen Fabrikbesitzer, einem alten
Freunde des alten Generals. Andrei Antonowitsch trauerte seiner Liebe
nicht sehr lange nach, sondern -- klebte aus Pappe ein Theater. Das ward
ein richtiges Kunstwerk: der Vorhang hob sich, die Schauspieler traten
auf und gestikulierten mit den Händen, in den Logen saßen Damen, im
Orchester fuhren die Musiker mit den Bögen über die Instrumente, der
Kapellmeister fuchtelte mit einem Stöckchen und das Publikum klatschte
in die Hände. Alles das war aus Pappe hergestellt, und ausgedacht und
ausgeführt von Andrei Antonowitsch von Lembke. Ein halbes Jahr lang
hatte er über diesem Theater gesessen. Als er fertig war, gab der
General eine intimere Abendgesellschaft; viele deutsche Damen und junge
Mädchen, sowie die fünf Töchter des Generals, darunter die neuvermählte
Amalie und deren Gatte, waren sehr entzückt, als das Theater vorgeführt
wurde, und ergingen sich in hohen Lobsprüchen über den Verfertiger --
worauf dann getanzt wurde. Lembke war sehr zufrieden und vergaß seinen
Liebesgram alsbald.

Ein paar Jahre vergingen und seine »Karriere« machte sich mehr und mehr.
Er bekleidete stets Vertrauensposten unter Vorgesetzten, die gleicher
Abstammung waren, und erreichte in verhältnismäßig jungen Jahren einen
recht ansehnlichen Rang. Schon lange hatte er, jetzt aber ernstlich, den
Wunsch gehabt, zu heiraten, und schon lange hatte er sich verstohlen
nach einer passenden Partie umgesehen. Übrigens dichtete er auch jetzt
noch hin und wieder, doch ohne jemandem etwas davon zu verraten, und
einmal sandte er sogar eine Novelle an die Redaktion eines Blattes: sie
wurde jedoch zu seinem Kummer nicht abgedruckt, sondern ihm höflich
wieder zur Verfügung gestellt. Da begann er denn wieder zu kleben:
diesmal einen ganzen Eisenbahnzug. Auch der gelang ihm vorzüglich: die
Leute kamen aus dem Bahnhof und drängten sich, mit Koffern und Taschen
in der Hand, mit Kindern und Hunden, zu den Waggons, die Schaffner und
die Bahnbeamten gingen hin und her, ein Glöckchen klingelte und der Zug
setzte sich in Bewegung. Über diesem Kunststück hatte er ein ganzes Jahr
gesessen, seine Heiratspläne aber diesmal nicht darüber vergessen. Sein
Bekanntenkreis war ziemlich groß, meistens deutsche Gesellschaft, doch
verkehrte er auch in einigen russischen Familien -- selbstverständlich
nur in denen seiner Vorgesetzten. Da fiel ihm endlich, als er schon
achtunddreißig Jahre zählte, eine kleine Erbschaft zu: sein Großvater,
der Bäcker, starb und hinterließ ihm testamentarisch dreizehntausend
Rubel. Nun war Herr von Lembke im Grunde trotz der schon recht
ansehnlichen Stellung, die er in jungen Jahren erklommen hatte, durchaus
kein Streber, vielmehr ein Mensch, der auch ganz gewiß mit einem
kleineren, wenn nur recht bequemen und unabhängigen Posten vollkommen
zufrieden gewesen wäre. Doch eben jetzt kreuzte, anstatt einer sanften
Minna oder Ernestine, plötzlich Julija Michailowna seinen Weg, und seine
Stellung stieg sofort um ein paar Stufen höher. Der bescheidene und
gewissenhafte von Lembke fühlte, daß auch er ehrgeizig zu sein
vermochte.

Julija Michailowna besaß, nach der alten Einschätzung, zweihundert
Leibeigene und erfreute sich außerdem guter Protektionen. Andererseits
war von Lembke ein hübscher Mann und sie schon über 40 Jahre alt.
Obendrein verliebte er sich nach und nach wirklich in sie, und zwar
genau proportional der Verstärkung des Gefühls, daß er nun Bräutigam
war. Am Hochzeitstage schickte er ihr sogar ein Gedicht, das ihr sehr
gefiel -- vierzig Jahre sind nun einmal kein Spaß. Bald darauf bekam er
auch einen gutklingenden Titel und dazu einen bestimmten Orden, und
schließlich wurde er zum Gouverneur unseres Gouvernements ernannt. Seit
dieser Auszeichnung begann Julija Michailowna sich um ihren Gatten
doppelt zu bemühen. Ihrer Meinung nach war er nicht gerade unbegabt: er
verstand, in einen Salon einzutreten, es war ihm gegeben, eine elegante
Verbeugung zu machen, er vermochte sogar ernst und tiefsinnig zuzuhören,
wenn andere sprachen, hielt sich dabei immer gut und konnte sogar eine
Rede halten; ja, er hatte hin und wieder sogar eigene Gedanken, wenn sie
auch etwas kurz waren und unvermittelt wirkten, und hinzukam, daß er
sich schon die Politur des neuesten, so notwendigen Liberalismus
angeeignet hatte. Doch trotz alledem beunruhigte sich Julija Michailowna
nicht wenig: vor allen Dingen mißfiel es ihr entschieden, daß ihr
Lembke, nachdem er so lange hinter seiner Karriere hergelaufen war,
jetzt doch wieder ein immer ausgesprocheneres Ruhebedürfnis zu empfinden
schien. Sie hätte zu gern ihren ganzen Ehrgeiz zu dem seinen gemacht, er
aber begann wieder -- zu kleben. Diesmal war es eine Kirche: der Pastor
trat auf die Kanzel, die Gemeinde hörte mit andächtig gefalteten Händen
zu, ein alter Mann schneuzte sich, eine Dame wischte sich mit einem
Taschentuch die Tränen ab und zum Schluß begann noch eine Orgel zu
spielen, die er um teures Geld eigens dazu aus der Schweiz verschrieben
hatte. Als Julija Michailowna von dieser neuen Arbeit erfuhr, erschrak
sie geradezu, nahm ihm das Spielzeug kurzerhand fort und versteckte es
in einen Koffer, zur Entschädigung aber erlaubte sie ihm, einen Roman zu
schreiben, freilich nur unter der Bedingung, daß niemand etwas davon
erführe. Seit der Zeit verließ sie sich nur noch auf sich selbst. Eine
Idee nach der anderen entstand in ihrem ehrgeizigen und ein wenig
überspannten Geiste. Sie hatte in der Tat die Absicht, das Gouvernement
zu regieren, und träumte bereits von den bestimmt nicht mehr fernen
Tagen, wo sie der Mittelpunkt der Gesellschaft, aller Meinungen und
Veranstaltungen unseres Gouvernements sein würde. Von Lembke selbst soll
übrigens zuerst nicht wenig erschrocken gewesen sein, als er den hohen
Posten erhielt, doch hatte er mit seinem Beamteninstinkt sehr bald
herausgefunden, daß er eigentlich gar keinen Grund hatte, sich zu
fürchten. Die ersten zwei, drei Monate seiner Tätigkeit verliefen denn
auch äußerst zufriedenstellend. Da aber erschien plötzlich Pjotr
Stepanowitsch -- und alsbald nahm alles eine unheilvolle Wendung.

Die Sache fing damit an, daß der junge Werchowenski gleich bei der
ersten Begegnung Andrei Antonowitsch von Lembke eine entschiedene
Nichtachtung entgegenbrachte und sich ganz sonderbare Rechte ihm
gegenüber herausnahm, Julija Michailowna aber, die sonst immer so
eifersüchtig die Bedeutung ihres Mannes geachtet wissen wollte, tat
plötzlich, als merkte sie davon nichts. Der junge Werchowenski wurde
sozusagen ihr Schützling, aß, trank und schlief fast bei ihnen. Von
Lembke suchte sich zwar des Ankömmlings zu erwehren, nannte ihn in der
Gesellschaft »junger Mann«, klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter,
doch konnte er mit all dem nicht das gewünschte Resultat erzielen. Pjotr
Stepanowitsch tat immer, selbst während scheinbar ernster Gespräche, als
nehme er ihn überhaupt nicht ernst, und im übrigen nahm er sich sogar in
Gegenwart fremder Menschen heraus, ihm die unerwartetsten,
unglaublichsten Dinge ins Gesicht zu sagen. Einmal, als von Lembke nach
Hause kam und in sein Arbeitszimmer trat, fand er den »jungen Mann« auf
seinem Lederdiwan vor. Er gab zur Erklärung, und zwar nicht etwa, um
sich zu entschuldigen, sondern nur so oben hin, daß er, da er niemanden
angetroffen, sich »bei der Gelegenheit ausgeschlafen« habe. Von Lembke
war natürlich tief gekränkt und beklagte sich bei seiner Frau; diese
aber erklärte, nachdem sie zuerst über »seine Empfindlichkeit« gelacht
hatte, daß er wohl selbst die Schuld daran trüge, wenn der junge Mann
sich nicht »_comme il faut_«{[113]} zu ihm verhalte. Wenigstens erlaubte
sich »dieser Junge« ihr gegenüber nie irgend welche Familiaritäten, und
im übrigen sei er »naiv und unverdorben, wenn auch gewiß nicht
gesellschaftlich erzogen«. Von Lembke schmollte zwar, doch diesmal
gelang es Julija Michailowna noch, die beiden zu versöhnen: nicht
gerade, daß Pjotr Stepanowitsch jetzt eine Entschuldigung gemacht hätte,
aber er riß irgend einen Witz, den man zwar in einem anderen Fall für
eine neue Beleidigung hätte halten können, den man aber diesmal gnädig
als Besserungsversprechen auffaßte. Am meisten ärgerte es Herrn von
Lembke, daß er dem jungen Mann geradezu machtlos gegenüberstand, denn
... er hatte ihm gleich zu Anfang ihrer Bekanntschaft -- seinen Roman
anvertraut. Im Glauben, einen jungen Menschen mit literarischen
Interessen getroffen zu haben, hatte er ihm, da er sich schon lange
einen Zuhörer wünschte, eines Abends die beiden ersten Kapitel
vorgelesen. Pjotr Stepanowitsch hatte zunächst zugehört, ohne zu
verbergen, daß er sich langweilte, dann unhöflich gegähnt, nicht ein
einziges Mal etwas gelobt, doch beim Fortgehen sich das Manuskript
ausgebeten, um es zu Hause aufmerksam durchlesen und sein Urteil darüber
fällen zu können, -- und der arme Herr von Lembke hatte es ihm auch
gegeben ... Seit der Zeit konnte er es nun nicht mehr zurückbekommen:
auf seine täglichen Fragen gab ihm Pjotr Stepanowitsch meist nur eine
ausweichende und nicht selten geradezu höhnische Antwort, bis er zum
Schluß einfach erklärte, das Manuskript auf der Straße verloren zu
haben. Als Julija Michailowna von dieser Unvorsichtigkeit ihres Gatten
Kenntnis erhielt, ärgerte sie sich entsetzlich.

»Hast du ihm vielleicht auch etwas von der Kirche gesagt?« fragte sie
fast mit Schrecken.

Von Lembke begann ernstlich nachzudenken; nachdenken aber war für ihn
schädlich und ihm von den Ärzten strengstens verboten worden. Und
abgesehen davon, daß es plötzlich viele Scherereien im Gouvernement für
ihn gab, wovon später die Rede sein wird, gab es hier auch noch einen
besonderen Umstand -- demzufolge diesmal sogar das Herz des Gatten litt,
nicht nur die Eigenliebe eines Machthabers allein. Als von Lembke in die
Ehe trat, hätte er sich niemals träumen lassen, daß sie ihm auch irgend
welche Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Er hatte sich die Ehe in
seinen Gedanken an Minna oder Ernestine stets durchaus friedlich
vorgestellt. Und jetzt fühlte er, daß häusliche Gewitter über seine
Kräfte gingen.

Endlich sprach sich Julija Michailowna offen mit ihm aus.

»Beleidigen kann dich das überhaupt nicht,« sagte sie, »schon deswegen
nicht, weil du doch immerhin dreimal vernünftiger bist, als er, und
gesellschaftlich turmhoch über ihm stehst. In diesem Jungen steckt noch
viel von dem früheren freigeistigen Unsinn; ich aber finde ihn nur
einfach unartig. Nur kann man nicht verlangen, daß diese jungen Leute
sich so schnell verändern sollen: man muß sie langsam erziehen. Wir
müssen die Jugend schonen; ich wenigstens halte sie mit Liebe und
Freundschaft am Rande des Abgrundes zurück.«

»Aber, zum Teufel, ich kann mich doch nicht tolerant zu ihm verhalten,
wenn er --« rief von Lembke erregt, »wenn er in Gegenwart fremder
Menschen behauptet, die Regierung vergifte das Volk absichtlich mit
Branntwein, um es zu verdummen und auf diese Weise von etwaigen
Aufstandsgedanken abzubringen. Denk doch nur, bitte, an meine Rolle,
wenn ich in Gegenwart der ganzen Gesellschaft so etwas mit anhören muß!«

Als Lembke das sagte, mußte er wieder an ein Gespräch denken, das er vor
nicht langer Zeit mit Pjotr Stepanowitsch gehabt hatte ... In der
unschuldigen Absicht, den jungen Mann durch Liberalismus zu entwaffnen,
zeigte er ihm eines Tages seine Sammlung von allen möglichen
revolutionären Proklamationen und Flugblättern, sowohl russischen wie
ausländischen, die er seit 1859 sorgfältig aufbewahrte, doch nicht etwa
wie ein Liebhaber solcher Dinge, sondern einfach aus Neugier und weil
sie ihm einmal vielleicht zustatten kommen konnten. Pjotr Stepanowitsch,
der sofort seine Absicht durchschaute, sagte ganz ungeniert, daß in
einer einzigen Zeile solch einer Brandschrift mehr Sinn stecke, als in
irgend einer Kanzlei, »die Ihrige übrigens nicht ausgenommen.«

Von Lembke sah ihn groß an.

»Aber es ist doch noch zu früh, viel zu früh,« sagte er fast bittend,
indem er auf die Blätter wies.

»Nein, keineswegs zu früh: Sie fürchten sich doch, also ist es durchaus
nicht zu früh.«

»Aber ich bitte Sie, hier ist zum Beispiel eine Aufforderung, die
Kirchen zu zerstören!«

»Na, warum soll man das denn nicht? Sie sind doch ein kluger Mensch,
glauben ja selbst an nichts und wissen doch nur zu gut, daß die
Regierung die Religion bloß braucht, um das Volk dumm zu erhalten ...
Wahrheit aber ist ehrlicher als Lüge.«

»Einverstanden, einverstanden, ich bin mit Ihnen vollkommen
einverstanden, aber hier bei uns in Rußland ist es doch noch zu früh!«
Von Lembke runzelte unwillig die Stirn.

»Was sind Sie denn eigentlich für ein Regierungsbeamter, wenn Sie selbst
damit einverstanden sind, daß man die Kirchen zerstören und mit Keulen
bewaffnet auf Petersburg losmarschieren soll, und nur an der ins Auge
gefaßten Zeit etwas auszusetzen haben?«

So unhöflich festgelegt, fühlte von Lembke sich äußerst pikiert.

»Ich meinte das nicht _so_, durchaus nicht _so_!« Er ließ sich von
seiner gereizten Eigenliebe immer weiter fortreißen. »Sie, als junger
Mensch, der Sie mit unseren Zielen gar nicht bekannt sein können, Sie
täuschen sich vollkommen! Sehen Sie, mein lieber Pjotr Stepanowitsch,
Sie nennen uns Beamte der Regierung? Schön. Selbständige Beamte? Schön.
Aber, erlauben Sie mal, wie handeln wir denn? Auf uns ruht die
Verantwortung, und Summa Summarum dienen wir genau so der allgemeinen
Sache, wie auch Sie. Nur halten wir das zusammen, was Sie
auseinanderschütteln wollen und was ohne uns nach verschiedenen Seiten
auseinandergleiten würde. Wir sind dabei nicht etwa eure Feinde;
durchaus nicht, wir sagen euch sogar: geht voran, bereitet vor, ja
schüttelt meinetwegen ... -- das heißt, ich meine jetzt nur jenes Alte,
das sowieso umgeändert werden muß. Wir aber werden euch dann, wenn's
nötig wird, schon in den nötigen Grenzen zurückzuhalten verstehen und
euch somit vor euch selber behüten, denn ohne uns würdet ihr doch nur
ganz Rußland ins Wanken und Schwanken bringen und ihm das anständige
Aussehen nehmen, das es so doch wenigstens hat. Denn das ist ja gerade
unsere Aufgabe, dieses anständige Äußere, wie gesagt, zu erhalten.
Begreifen Sie doch, daß wir uns gegenseitig unentbehrlich sind, ganz wie
in England die Tory und Whig. Nun, sehen Sie, wir sind die Tory und Sie
die Whig -- so verstehe ich es wenigstens.«

Von Lembke verfiel sogar in Pathos. Er liebte es, klug und liberal zu
reden, noch von Petersburg her, und hier hörte zudem kein Vorgesetzter
zu. Pjotr Stepanowitsch schwieg und war plötzlich von einem seltsamen,
ganz ungewohnten Ernst. Das reizte den Redner noch mehr.

»Wissen Sie auch, daß ich der >Herr des Gouvernements< bin?« fuhr er
daher fort, während er im Kabinett auf- und abging. »Wissen Sie auch,
daß ich vor lauter Pflichten keine einzige zu erfüllen vermag, und
andererseits kann ich sagen, und es ist ebenso wahr, daß ich hier
überhaupt nichts zu tun habe. Das ganze Geheimnis besteht darin, daß
hier alles von der Auffassung der Regierung abhängt. Mag die Regierung
doch, wenn sie will, die Republik verkünden, nun da ... ich meine nur
so, meinetwegen aus Politik oder zur Beruhigung der Leidenschaften --
... aber dann soll sie andererseits, parallel dem, die Macht der
Gouverneure verstärken: und Sie werden sehen, wir Gouverneure
verschlingen die Republik! Was sage ich, Republik! -- Alles, was Sie
wollen, werden wir verschlingen! Ich wenigstens fühle, daß ich imstande
bin ... Mit einem Wort: mag die Regierung mir telegraphisch _activité
dévorante_{[114]} befehlen, und ich werde sofort mit der _activité
dévorante_ beginnen. Ich habe es ihnen hier gleich ins Gesicht gesagt:
>Meine Herren, zum Gedeihen aller Institutionen sowie des ganzen
Gouvernements ist vor allem eines nötig: die Verstärkung der
Gouverneursmacht.< Sehen Sie, es ist unbedingt nötig, daß alle diese
Institutionen -- mögen es nun die der Landschaft oder der Justiz sein --
gewissermaßen ein Doppelleben leben, das heißt, es ist nötig, daß sie da
sind (ich gebe zu, daß sie unentbehrlich sind), aber andererseits ist es
nötig, daß sie auch _nicht_ da sind. Immer nach der Auffassung der
Regierung geurteilt! So stellt es sich denn heraus, daß die
Institutionen, wenn sie sich plötzlich als notwendig erweisen, dann da
sein müssen. Vergeht aber diese Notwendigkeit, dann müssen sie wie
überhaupt nicht vorhanden sein. Sehen Sie, so verstehe ich die _activité
dévorante_. Aber die wird es nicht ohne Verstärkung der Gouverneursmacht
geben. Wir sprechen ja hier unter vier Augen. Wissen Sie auch, daß ich
schon nach Petersburg geschrieben habe, daß es unbedingt nötig ist, eine
Schildwache vor das Gouvernementsgebäude zu stellen? Jetzt warte ich auf
die Antwort.«

»Sie brauchen zwei Schildwachen,« sagte Pjotr Stepanowitsch.

»Warum zwei?« von Lembke blieb vor ihm stehen.

»Na so, damit man Sie respektiere, ist eine zu wenig. Sie brauchen
unbedingt zwei.«

Andrei Antonowitsch verzog das Gesicht.

»Sie ... Sie erlauben sich, weiß Gott, schon etwas zu viel, Pjotr
Stepanowitsch. Sie mißbrauchen meine Güte, um mir Anzüglichkeiten zu
sagen, und spielen dabei immer noch so irgend einen _bourru
bienfaisant_{[115]} ...«

»Na, das schon, wie Sie wollen,« meinte Pjotr Stepanowitsch, »aber Sie
bahnen uns trotzdem den Weg und bereiten unseren Erfolg vor.«

»Wen meinen Sie mit diesen >uns< und was ist das für ein >ErfolgAch, ihr Liebäugelndendrückte mein Herze
nieder<,« erzählte er mir später. »Das war nicht mehr die Frau, die ich
zwanzig Jahre lang gekannt hatte. Doch die Überzeugung, daß jetzt alles
zu Ende sei, gab mir eine Kraft, die selbst sie in Erstaunen setzte. Ich
schwöre Ihnen, sie wunderte sich im stillen über meine Haltung in dieser
letzten Stunde.«

Warwara Petrowna legte plötzlich den Bleistift auf das Marmortischchen,
das neben ihrem Sofa stand, und wandte sich ihm zu.

»Stepan Trophimowitsch, wir müssen jetzt sachlich sprechen. Ich bin
überzeugt, daß Sie wieder Ihre üblichen hochtrabenden Worte und Wörtchen
vorbereitet haben, aber es ist wohl besser, wenn wir gleich zur Sache
kommen. Nicht wahr?«

In ihm krampfte sich etwas zusammen. Sie beeilte sich schon zu sehr, den
neuen Ton anzugeben. Was mochte noch weiter kommen?

»Warten Sie, schweigen Sie,« fuhr sie schnell fort. »Lassen Sie mich
zuerst sprechen. Nachher können Sie reden. Obgleich ich eigentlich nicht
weiß, was Sie mir noch zu sagen hätten. Ihnen Ihre Pension auszuzahlen,
halte ich für meine heilige Pflicht. Tausendzweihundert Rubel jährlich
bis zu Ihrem Lebensende. Aber wozu nenne ich das >heilige PflichtArmenhaus<.
Nun ja, jenes Armenhaus, von dem da die Rede war, das ist wirklich ein
besonderes >Armenhaus<, über das nachzudenken sich wirklich lohnte. Wie
Sie selbst wissen, leben dort die ehrenwertesten alten Herren. Meistens
Offiziere a. D., jetzt will sogar ein alter General sein Leben dort
beschließen. Wenn Sie mit Ihrem Gelde dort eintreten wollen, so können
Sie Ruhe, Zufriedenheit und Zuhörer finden. Sie werden sich mit der
Wissenschaft beschäftigen, und jederzeit eine Partie Préférence spielen
können ...«

»_Passons._«{[100]}

»_Passons?_« Warwara Petrowna richtete sich steifer auf. »In dem Falle
ist alles gesagt. Sie sind benachrichtigt. Von nun ab leben wir jeder
für sich und sehen uns nicht mehr.«

»Und das ist alles? Alles, was von den zwanzig Jahren geblieben ist? Ihr
letzter Abschied?«

»Sie lieben wirklich die Phrasen in einem Maße, daß es schon nicht mehr
schön ist, Stepan Trophimowitsch. Heutzutage ist derlei nicht mehr
modern. Man spricht jetzt derb, aber verständlich. Und ewig kommen Sie
mir mit diesen zwanzig Jahren! Zwanzig Jahre beiderseitiger Eigenliebe
und weiter nichts. Jeder Ihrer Briefe ist nicht an mich geschrieben,
sondern für die Nachwelt berechnet. Ja, Sie sind Stilist, aber kein
Freund. Freundschaft ist doch nur ein berühmtes Wort, in Wirklichkeit
aber ist sie bloß ein -- gegenseitiger Erguß von Spülicht.«

»Gott, wie viel fremde Worte! Lauter gut behaltene Lektionen! Auch Ihnen
haben sie schon ihre Uniform übergeworfen! Auch Sie sind jetzt fröhlich,
auch Sie an der Sonne! _Chère, chère_, für welch ein Linsengericht haben
Sie ihnen Ihre Selbständigkeit verkauft!«

»Ich bin kein Papagei, der fremde Worte wiederholt,« versetzte Warwara
Petrowna böse. »Seien Sie versichert, daß in mir sich eigene Worte zur
Genüge angesammelt haben. Was aber haben Sie für mich in diesen zwanzig
Jahren getan? Nicht einmal die Bücher haben Sie mir gegeben, die ich für
Sie bestellte, und die heute noch unaufgeschnitten wären, wenn Ihre
Freunde sie nicht gelesen hätten. Was gaben Sie mir zu lesen, als ich
Sie in den ersten Jahren immer wieder bat, mich doch zu belehren, zu
leiten? Nur Romane und immer wieder Romane. Sie waren sogar auf meine
Entwicklung eifersüchtig. Und währenddessen lachte doch schon alle Welt
über Sie. Ich gestehe, ich habe Sie immer nur für einen Kritiker
gehalten und für weiter nichts. Als ich Ihnen während der Fahrt nach
Petersburg meine Absicht mitteilte, eine Zeitschrift zu gründen und ihr
mein ganzes Leben zu widmen, da sahen Sie plötzlich ironisch auf mich
herab und wurden furchtbar hochmütig.«

»Das war doch nicht so ... nicht das ... wir fürchteten damals, verfolgt
zu ...«

»Doch, das war genau das. Und Verfolgung konnten Sie in Petersburg
überhaupt nicht fürchten. Sie erinnern sich wohl noch, wie Sie damals im
Februar erschrocken zu mir gelaufen kamen? Wie Sie verlangten, ich solle
es Ihnen sofort schriftlich geben, in Gestalt eines Briefes, aus dem
hervorginge, daß Sie mit dem beabsichtigten Blatte nichts zu tun hätten?
Daß Sie lediglich der Hauslehrer seien, der bloß in meinem Hause wohnt,
weil ihm sein Gehalt noch nicht ausgezahlt worden ist? War es nicht so?
Sollten Sie es wirklich vergessen haben? Ich sehe, Sie haben es nicht
vergessen. Ja, Sie haben sich Ihr Lebelang tatsächlich ungewöhnlich
ausgezeichnet!«

»Das war nur ein Augenblick des Kleinmuts damals, unter vier Augen ...«
rief er schmerzlich aus. »Aber soll denn wirklich, wirklich, wegen
dieser kleinlichen Eindrücke, nun alles zerrissen sein? Ist es möglich,
daß von diesen langen Jahren nichts mehr zwischen uns verblieben ist?«

»Sie verstehen sich aufs Rechnen, das weiß ich. Sie wollen immer alles
so drehen, daß schließlich ich Ihnen noch schulde. Als Sie aus dem
Auslande zurückkehrten, sahen Sie auf mich von oben herab und ließen
mich nicht einmal zu Wort kommen. Und als ich Ihnen nach meiner Reise
von dem Eindruck, den die Sixtinische Madonna auf mich gemacht hatte,
erzählen wollte, da hörten Sie nicht einmal so lange zu, bis ich geendet
hatte, und lächelten nur hochmütig, ganz als könnte ich nicht ebensolche
Gefühle haben wie Sie.«

»Das wird sicher anders gewesen sein ... ich entsinne mich nicht mehr
... _J'ai oublié._«{[120]}

»Nein, das war ganz genau so, und dabei war da gar kein Grund, vor mir
so wichtig zu tun, denn das war ja alles Unsinn und nur Ihre Phantasie.
Heutzutage begeistert sich niemand mehr für die Sixtinische Madonna.
Höchstens ein paar alte Professoren. Das ist bewiesen.«

»Auch schon bewiesen?«

»Diese Madonna dient überhaupt zu nichts. Diese Schale hier ist
nützlicher, denn man kann in sie Wasser gießen. Dieser Bleistift ist
nützlich, denn mit ihm kann man schreiben. Hier aber ist es bloß ein
gemaltes Frauengesicht, das schlechter ist als alle lebenden Gesichter.
Versuchen Sie einen Apfel zu malen und legen Sie dann neben das Bild
einen wirklichen. Welchen werden Sie dann nehmen? Bin sicher, daß Sie
nicht schwanken werden. Sehen Sie, darauf laufen jetzt alle unsere
Theorien hinaus, nachdem sie erst einmal von der modernen freien
Forschung nachgeprüft sind.«

»... stimmt!«

»Ah, Sie lächeln ironisch! Aber was haben Sie mir, zum Beispiel, über
das Almosengeben gesagt? Und dabei ist das Gefühl, das man hat, wenn man
Gutes tut, ein hochmütiges und unsittliches, genau wie die Genugtuung
des Reichen, wie sein Genuß, wenn er seine Macht und Bedeutung mit der
des Bettlers vergleicht. Almosengeben verdirbt sowohl den Gebenden wie
den Nehmenden und erfüllt außerdem noch nicht einmal seinen Zweck, denn
es vermehrt nur die Bettler. Jeder Faulpelz, der nicht arbeiten will,
drängt sich zum Reichen, wie der Spieler an den Kartentisch, um etwas zu
gewinnen. Die Groschen aber, die man ihnen zuwirft, reichen ja nicht
einmal für den hundertsten Teil. Haben Sie viele Almosen in Ihrem Leben
gegeben? Vielleicht achtzig Kopeken, aber bestimmt nicht mehr. Denken
Sie nur nach. Strengen Sie sich ein bißchen an und versuchen Sie, sich
zu erinnern, wann Sie zum letztenmal ein Almosen gegeben haben. Das wird
wohl schon zwei, wenn nicht vier Jahre her sein. Sie reden bloß große
Worte, die Tat aber behindern Sie nur. Ja, Almosengeben müßte auch schon
im jetzigen Staate ganz einfach gesetzlich verboten werden. Im
Zukunftsstaat wird es überhaupt keine Armen mehr geben.«

»Oh, welch eine Sammlung fremder Schlagworte! Also ist es schon bis zum
Zukunftsstaat mit Ihnen gekommen? Sie Unglückliche, möge Gott Ihnen
helfen!«

»Ja, es ist bis zum Zukunftsstaat gekommen, Stepan Trophimowitsch. Sie
haben so sorgfältig die neuen Ideen vor mir verborgen, aber es hat
nichts genützt. Sie haben das einzig und allein aus Eifersucht getan, um
Macht über mich zu besitzen. Jetzt ist mir sogar diese Julija
Michailowna schon an hundert Werst voraus. Doch ich erkenne jetzt
wenigstens. Trotzdem habe ich Sie verteidigt, Stepan Trophimowitsch, so
viel ich nur konnte. Sie werden buchstäblich von allen angeklagt.«

»_Assez!_«{[121]} er erhob sich von seinem Platz. »Und was sollte ich
Ihnen nun wünschen? Doch nicht Reue?«

»Setzen Sie sich noch auf einen Augenblick, Stepan Trophimowitsch. Sie
wissen doch schon, daß man Sie auffordert, auf der literarischen Matinee
irgend etwas vorzutragen? Sagen Sie, worüber werden Sie lesen?«

»Gerade über dieses Ideal, die Sixtinische Madonna, die Ihrer Meinung
nach weder einen Bleistift noch ein Glas Wasser wert ist.«

»Und nicht aus der Geschichte?« fragte Warwara Petrowna enttäuscht.
»Aber dann wird man Sie ja gar nicht hören wollen. Und ewig diese
Madonna! Was haben Sie denn davon, wenn Sie alle damit einschläfern? Ich
versichere Sie, Stepan Trophimowitsch, ich sage das nur in Ihrem
Interesse. Es wäre doch eine ganz andere Sache, wenn Sie eine kurze,
aber unterhaltende Geschichte aus dem mittelalterlichen Hofleben nehmen
würden; sagen wir, aus der spanischen Geschichte. Oder eine Anekdote,
die Sie dann noch mit eigenen Zutaten ausschmücken könnten. Im
Mittelalter gab es doch so prunkvolle Höfe, mit Damen, wissen Sie, und
Mordgeschichten. Karmasinoff sagt, daß es sonderbar zugehen müßte, wenn
man in der spanischen Geschichte nicht etwas Interessantes finden
könnte.«

»Karmasinoff! Dieser ausgeschriebene Dummkopf sucht für mich ein
Thema!!«

»Karmasinoff, dieser erhabene Verstand! Sie drücken sich heute schon
wirklich etwas zu unvorsichtig aus, Stepan Trophimowitsch.«

»Ihr Karmasinoff ist ein altes, ausgeschriebenes, gereiztes Weib!
_Chère, chère_, haben Sie sich schon lange so von ihnen unterjochen
lassen? O Gott!«

»Ich kann ihn auch jetzt nicht leiden. Wegen seiner Wichtigtuerei. Doch
seinem Verstande muß ich Gerechtigkeit zollen. Ich wiederhole nochmals,
daß ich Sie, so viel ich nur konnte, verteidigt habe. Aber warum wollen
Sie sich denn unbedingt als lächerlich und langweilig hinstellen? Im
Gegenteil, treten Sie mit einem würdigen Lächeln auf das Podium, als der
Repräsentant des vergangenen Jahrhunderts, und erzählen Sie mit Ihrem
ganzen Witz drei kleine Geschichten, so wie nur Sie zuweilen zu erzählen
verstehen. Mögen Sie meinetwegen ein alter Mann sein, meinetwegen ein
Mensch aus dem vorigen Jahrhundert, mögen Sie sogar zurückgeblieben
sein: vielleicht sprechen Sie lächelnd selbst davon -- sagen wir in
einer Vorbemerkung. Doch alle werden dann sehen, daß Sie ein lieber,
guter, geistreicher Mensch sind. Kurz, ein Mensch vom alten Schrot und
Korn. Und doch so weit vorgeschritten, daß er selber über den ganzen
Unsinn gewisser Begriffe, die er bis dahin gehabt hat, objektiv und
richtig zu urteilen versteht. Nun, machen Sie es doch so, ich bitte
Sie!«

»_Chère, assez!_{[122]} Bitten Sie mich nicht, ich kann nicht. Ich werde
über die Madonna reden, und ich will einen Sturm erheben, der entweder
sie alle vernichten oder mich allein zu Boden schlagen soll!«

»Bestimmt nur Sie allein, Stepan Trophimowitsch.«

»Gut! Das ist dann mein Los! Ich werde von jenem gemeinen Sklaven reden,
von jenem stinkenden, verderbten Sklaven, der als erster mit dem Messer
auf die Leiter steigt und das göttliche Antlitz des großen Ideals
zerschneiden will -- im Namen der Gleichheit, des Neides und ... der
Verdauung. Mag mein Fluch also durch die Welt donnern und dann, dann
...«

»In die Irrenanstalt?«

»Vielleicht. Aber in jedem Fall, ob ich nun siege oder besiegt werde: am
selben Abend noch werde ich meinen Koffer nehmen, meinen armseligen
Koffer, und werde all mein Hab und Gut verlassen, alle Ihre Geschenke,
alle Pensionen und Versprechungen für die Zukunft, und werde zu Fuß aus
der Stadt gehen, um bei irgend einem Kaufmann als Hauslehrer mein Leben
zu beenden oder hinter einem Zaun Hungers zu sterben. _Alea jacta est!_«

Er stand auf.

»Ich habe es ja gewußt!« Mit blitzenden Augen erhob sich nun auch
Warwara Petrowna. »Ich habe es ja gewußt, daß Sie doch nur dazu leben,
um zum Schluß noch mich und mein Haus zu beschimpfen. Was wollen Sie mit
der Stelle beim Kaufmann oder dem Tod hinterm Zaun sagen? Bosheit und
Verleumdung, weiter ist's nichts!«

»Sie haben mich immer verachtet, aber ich werde wie ein Ritter, der
seiner Dame bis ins Grab treu bleibt, mein Leben beenden -- denn Ihre
Meinung von mir war mir immer teurer, als alles andere auf der Welt. Ich
nehme von Ihnen nichts mehr an, und die Rede halte ich ohne
Entschädigung.«

»Wie dumm das ist!«

»Sie haben mich niemals geachtet. Ich weiß, ich habe unendlich viele
Schwächen. Ja, es ist wahr: ich habe als Ihr Schmarotzer gelebt; -- in
der Sprache des Nihilismus ausgedrückt. Doch das war niemals das höhere
Prinzip meiner Handlungen. Das geschah alles -- so -- so ... ganz von
selbst ... ich weiß nicht, wie ... Ich habe nur immer geglaubt, daß
zwischen uns etwas Höheres als Kost und Geld besteht, und _nie_, hören
Sie, _nie_ bin ich ein -- Schurke gewesen! So -- und nun gehe ich, um es
wieder gut zu machen! Ich gehe meinen späten Weg, es ist schon Herbst,
der Nebel liegt auf den Feldern, kalter, grauer Reif bedeckt meine
Straße und der Wind singt das Lied vom nahen Grabe ... Aber ich gehe,
ich gehe schon meinen neuen Weg! Und ich gehe --

   >Ganz erfüllt von reiner Liebe,
   Treu dem süßen Traum ...<

Oh, lebt wohl, meine Träume! Zwanzig Jahre! _Alea jacta est._«

Tränen rollten plötzlich aus seinen Augen. Er nahm schnell seinen Hut.

»Ich verstehe kein Latein,« sagte Warwara Petrowna, die sich krampfhaft
zusammennahm.

Wer weiß, vielleicht wollte sie gleichfalls weinen, doch Unwille und
Eigensinn siegten wiederum.

»Ich weiß nur eines,« sagte sie, »daß das nur Phrasen sind. Niemals
werden Sie imstande sein, Ihre Worte wahr zu machen. Nirgendwohin werden
Sie gehen, sondern seelenruhig bei uns weiterleben und jeden Dienstag
wieder Ihre unmöglichen Freunde versammeln. Leben Sie wohl, Stepan
Trophimowitsch.«

»_Alea jacta est!_« Er verneigte sich tief vor ihr und fuhr nach Hause
-- halbtot vor Aufregung.




                            Elftes Kapitel.
                    Pjotr Stepanowitsch in Tätigkeit


                                   I.

Der Tag, an dem die literarische Matinee und der Ball stattfinden
sollten, war endgültig festgesetzt, doch von Lembkes Stimmung wurde
immer trüber und nachdenklicher. Er hatte so sonderbare, unheilvolle
Vorgefühle, und das beunruhigte Julija Michailowna sehr. Es war doch
nicht so angenehm, Gouverneur zu sein, zumal unser gutmütiger Iwan
Ossipowitsch seinem Nachfolger nicht alles im Gouvernement in bester
Ordnung übergeben hatte. Dazu drohte jetzt noch die Cholera, und in
einzelnen Kreisen waren Rinderseuchen ausgebrochen; ferner hatten den
ganzen Sommer über in Dörfern und Städten Feuersbrünste gewütet, im
Volke aber begann sich schon der Glaube festzusetzen, daß man
absichtlich Brandstifter umherschicke; und die Diebe hatten sich im
Verhältnis zu früheren Jahren um das Doppelte vermehrt. Das alles wäre
aber, wenn auch außergewöhnlich, so doch längst nicht in dem Maße
beunruhigend gewesen, wenn Andrei Antonowitsch von Lembke nicht noch
schwerwiegendere Sorgen gehabt hätte, die ihm nun die Ruhe seiner bis
dahin so glücklichen und zufriedenen Seele raubten.

Am meisten erschreckte Julija Michailowna der Umstand, daß ihr Lembke
mit jedem Tage schweigsamer wurde und manchmal beinahe verschlossen war.
Doch wenn man darüber nachdachte -- was konnte er denn überhaupt zu
verbergen haben? Dabei widersprach er ihr selten, vielmehr fügte er sich
ihr fast in allen Dingen. So wurden z. B. auf ihr hartnäckiges Verlangen
hin ein paar recht gewagte Maßnahmen getroffen, die fast gegen das
Gesetz verstießen, doch dafür die Macht des Gouverneurs vergrößern
sollten. Aus demselben Grunde wurde z. B. ein paarmal unheilvolle
Nachsicht geübt: Leute, die eigentlich den Prozeß und Sibirien verdient
hatten, wurden einzig auf Julija Michailownas unbedingtes Verlangen hin
zur Auszeichnung vorgeschlagen. Wie sich später herausstellte, wurde auf
eine gewisse Art von Klagen ganz systematisch überhaupt nicht mehr
reagiert. Außerdem unterschrieb von Lembke fast alles, was Julija
Michailowna von ihm verlangte, und gewöhnlich widerspruchslos. Nur
zuweilen setzte er seine Gattin durch eine plötzliche und hartnäckige
Widerspenstigkeit in nicht geringes Erstaunen, und zwar immer durch eine
Widerspenstigkeit in den kleinsten Nebensachen. Der Wunsch, nachdem er
ihr tagelang stumm und wortlos gehorcht hatte, wieder eine eigene Rolle
zu spielen, war am Ende begreiflich. Julija Michailowna jedoch wußte in
solchen Fällen trotz ihres ganzen Verstandes diese edle Regung eines
edlen Charakters durchaus nicht zu würdigen: von Lembke persönlich war
ihr gerade in dieser Zeit vollkommen gleichgültig -- und leider sollte
eben hieraus viel Unheil entstehen.

Die gute Dame (sie tut mir aufrichtig leid) hätte das, was sie so sehr
lockte -- Ruhm, Bedeutung usw. -- viel einfacher erreichen können, ja,
fast noch schneller, wenn sie ihren Wünschen mit etwas weniger
Exzentrizität nachgegangen wäre. Aber wie das gewöhnlich zu geschehen
pflegt: denen, die ihr abrieten, hörte sie weiter nicht zu; den anderen
aber, die sie in ihren eigenen Ideen bestärkten, denen folgte sie
blindlings. So war denn die Arme bald nur noch ein Spielzeug der
verschiedensten Einflüsse, während sie sich selbst für durchaus
individuell hielt. Ihre Gutmütigkeit wurde in der kurzen Zeit ihrer
Herrschaft als Gattin des Gouverneurs von vielen ausgenutzt, und gar
manche schnitten dabei nicht übel ab. Aber was war das im Grunde für ein
Mischmasch unter dem Anschein von Selbständigkeit! Ihr gefielen die
Großgrundbesitzer und das aristokratische Element, die Erweiterung der
Gouvernementsmacht wie das demokratische Prinzip mit den neuen
Anschauungen, der Freidenkerei und den sozialen Lehren; und ihr gefiel
der strenge Ton eines vornehmen Salons, wie die Ausgelassenheit, die oft
schon an einen Gasthauston gemahnte, der sie umgebenden goldenen Jugend.
Sie träumte davon, »glücklich zu machen« und Unvereinbares zu vereinen,
oder richtiger: alle und alles in schwärmerischer Verehrung um ihre
Person zu versammeln. Aber sie hatte auch einige ganz besondere und
bevorzugte Lieblinge. Zu diesen gehörte vor allen Pjotr Stepanowitsch,
der sie mit den plattesten Schmeicheleien beherrschte. Freilich gab es
da noch einen besonderen Grund, weshalb er zu ihrem Liebling ward, und
dieser Grund dürfte sie vielleicht am besten charakterisieren: sie
hoffte nämlich, daß er ihr -- eine ganze Verschwörung aufdecken werde.
Ich übertreibe keineswegs. Allerdings ist es schwer zu sagen, warum sich
in ihr, fast von Anfang an, der Glaube festgesetzt hatte, gerade in
unserem Gouvernement werde eine Verschwörung gegen die Regierung
vorbereitet. Nun, und Pjotr Stepanowitsch verstand es vorzüglich, mit
seinem zweideutigen und geheimnisvollen Schweigen in gewissen, und
seinen kurzen Bemerkungen in anderen Fällen, diesen Glauben noch zu
verstärken. Sie glaubte schon nach ihrem ersten Gespräch mit ihm, daß er
unbedingt über das ganze revolutionäre Rußland unterrichtet sei, und
außerdem und gleichzeitig hielt sie ihn für ihr persönlich bis zur
Vergötterung ergeben. In ihrer Phantasie malte sie sich schon mit allen
Einzelheiten aus, wie von Lembke die Verschwörung melden würde, dann der
Dank aus Petersburg und die große Karriere; und schließlich, wie sie
selber mit »Liebe und Nachsicht« die Jugend »am Rande des Abgrunds«
zurückhielt! War sie doch fest überzeugt, daß sie Pjotr Stepanowitsch
bereits bekehrt hatte! Warum sollte es ihr dann nicht auch bei den
anderen gelingen? Kein einziger von den Verschwörern sollte umkommen:
sie wollte sie alle, alle retten, und in eben diesem Sinne, nur mit dem
Ziel der höheren Gerechtigkeit vor Augen, wollte sie handeln. Vielleicht
-- was kann man wissen -- würde noch einst der ganze russische
Liberalismus -- und warum nicht auch die Geschichte? -- ihren Namen
segnen. Die Verschwörung aber würde doch aufgedeckt werden ... Also alle
Vorteile zugleich.

Zunächst aber war es nötig, daß Andrei Antonowitsch zum Feste etwas
heiterer wurde, und so galt es denn jetzt, ihn zu zerstreuen und zu
beruhigen. Zu diesem Zweck kommandierte sie Pjotr Stepanowitsch zu ihrem
Mann, in der Hoffnung, daß der auf irgendeine Weise die gewünschte
Wirkung erzielte. Vielleicht konnte er ihm etwas Beruhigendes mitteilen,
sozusagen aus erster Hand. Jedenfalls verließ sie sich vollkommen auf
seine Geschicklichkeit.

Pjotr Stepanowitsch war schon seit Längerem nicht mehr in Herrn von
Lembkes Arbeitszimmer gewesen. Er schwirrte jetzt gerade in einem
Augenblick zu ihm hinein, als der Patient sich in einer ganz besonders
gespannten und reizbaren Verfassung befand.


                                  II.

Es gab da eine Kombination, die Herr von Lembke nun schon gar nicht mehr
fassen konnte.

In einer kleinen Kreisstadt (in derselben, in der Pjotr Stepanowitsch
vor nicht langer Zeit mit den Offizieren ein paar Abende lustig
zusammengewesen war) hatte der Kommandeur einem Leutnant einen Verweis
erteilt. Es geschah vor der ganzen Front. Der Leutnant war ein noch ganz
junger Mensch, erst vor kurzem aus Petersburg eingetroffen, immer
schweigsam und finster und anscheinend sich sehr erhaben dünkend, dabei
aber klein von Wuchs, dick und rotwangig. Er ertrug den Verweis nicht,
und plötzlich warf er sich mit einem eigentümlichen Geschrei oder
Gekreisch, über das sich die ganze Front wunderte, und mit absonderlich
gesenktem Kopf auf seinen Kommandeur und biß diesen mit solcher Gewalt
in die Schulter, daß man ihn nur mit Mühe loszureißen vermochte.
Zweifellos war der Mensch verrückt geworden. Wenigstens stellte sich nun
heraus, daß er in der letzten Zeit schon mehrfach die unglaublichsten
Sachen gemacht hatte. So hieß es u. a., er habe in seiner Wohnung zwei
Heiligenbilder der Wirtin zum Fenster hinausgeworfen und ein drittes mit
dem Beil zerhackt; an ihre Stelle aber habe er in seinem Zimmer auf
Postamenten drei Bücher, die Werke von Vogt, Moleschot und Büchner,
aufgestellt und vor jedem ein Kirchenwachslicht angezündet. Aus der
Menge von Büchern, die man bei ihm fand, konnte man schließen, daß er
ziemlich belesen war. Bei der Durchsuchung fand man in seinen Taschen
und Koffern einen ganzen Stoß der wildesten Proklamationen.

Nun, an sich waren diese Blätter ja nichts Neues; man hatte ihrer im
Laufe der Jahre so viele gesehen! Wozu da noch weiter nachdenken? Zudem
waren es nicht einmal neue Proklamationen, sondern genau dieselben, die
man auch im H--schen Gouvernement gefunden hatte und von denen Liputin
behauptete, daß er sie vor anderthalb Monaten auf seiner Reise in einer
andern Kreisstadt gleichfalls gesehen habe. Aber Andrei Antonowitsch
erschrak doch: vor allem über den einen Umstand, daß der Direktor der
Spigulinschen Fabrik zur selben Zeit der Polizei drei große Pakete
Proklamationen übersandt hatte, die in der Nacht auf den Fabrikhof
geworfen worden waren, und diese Proklamationen stimmten Wort für Wort
mit jenen überein, die man bei dem Leutnant gefunden hatte. Die drei
Pakete waren noch nicht einmal aufgebunden, also hatte von den Arbeitern
noch keiner etwas lesen können. Eigentlich war ja die ganze Sache
harmlos genug; doch Herr von Lembke begann zu grübeln, denn ihm erschien
sie unendlich bedeutsam und verwickelt.

In der erwähnten Spigulinschen Fabrik hatte gerade die sogenannte
»Spigulinsche Geschichte« begonnen, von der später so viel geredet
worden ist, und über die sogar die Petersburger und Moskauer Zeitungen
so lange und in so verschiedenen Lesarten berichtet haben. Vor ungefähr
drei Wochen war dort ein Arbeiter an sibirischer Cholera erkrankt, und
nach ihm noch ein paar andere. In der Stadt verbreitete sich nicht
geringe Angst, obgleich alle möglichen ärztlichen Vorkehrungen getroffen
wurden. Doch die Spigulinsche Fabrik -- die Besitzer hatten Geld und
Verbindungen -- wurde aus irgendeinem guten Grunde nicht geschlossen. Da
aber hieß es plötzlich, gerade in ihr stecke der Herd der Krankheit.
Andrei Antonowitsch bestand sofort energisch darauf, daß sie einmal
gründlich gereinigt werde, was man denn auch tat. Kurz darauf aber
schlossen die Spigulins die Fabrik -- warum, wußte eigentlich niemand.
Der eine Bruder lebte beständig in Petersburg, und der andere war nach
der ihm befohlenen Fabrikreinigung nach Moskau gereist. Der Direktor,
der den Arbeitern den Lohn auszahlen sollte, betrog dabei, wie es sich
später herausstellte, die Leute geradezu unerhört. Die Arbeiter begannen
zu murren und verlangten eine gerechtere Abrechnung und gingen aus
Dummheit schließlich sogar auf die Polizei. Doch führten sie sich dort
lange nicht so erregt auf, wie es die Zeitungen nachträglich
schilderten. Und gerade in dieser Zeit geschah es denn, daß der Direktor
dem Gouverneur die gefundenen Proklamationen zustellte.

Pjotr Stepanowitsch trat schnell und ohne anzuklopfen, wie ein alter
Bekannter oder guter Freund, in von Lembkes Arbeitszimmer. Als Andrei
Antonowitsch ihn erblickte, blieb er unfreundlich und augenscheinlich
geärgert am Schreibtisch stehen, während er bis dahin auf und ab
gegangen war, was er gewöhnlich tat, wenn er sich mit seinem
Kanzleibeamten Blümer unter vier Augen beriet. Diesen Blümer, der
übrigens ein mürrischer, ungelenker Deutscher war, hatte er trotz Julija
Michailownas heftigster Opposition aus Petersburg mitgebracht. Der
Kanzleibeamte trat nach Pjotr Stepanowitschs Erscheinen zur Tür, ging
jedoch noch nicht hinaus. Es schien Pjotr Stepanowitsch sogar, daß er
mit von Lembke einen vielsagenden Blick austauschte.

»Oho, da habe ich Sie ertappt, Sie geheimer Stadtdespot!« rief Pjotr
Stepanowitsch lachend aus und legte schnell seine Hand auf eine
Proklamation, die auf dem Tisch lag. »Die soll wohl wieder Ihre Sammlung
vergrößern, wie?«

Von Lembke wurde rot, und sein ganzes Gesicht verzerrte sich plötzlich.

»Lassen Sie, lassen Sie das sofort!« schrie er zitternd vor Wut. »Und
wagen Sie es nicht, mein Herr ...«

»Was haben Sie nur? Sie scheinen sich ja zu ärgern?«

»Gestatten Sie, mein Herr, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich Ihr
_sans façon_{[123]} hinfort nicht mehr dulden werde und Sie ersuche,
nicht zu vergessen ...«

»Pfui Teufel, er ärgert sich ja in der Tat!«

»Schweigen Sie!« von Lembke stampfte mit dem Fuß. »Und wagen Sie es
nicht ...«

Gott mag wissen, wozu es noch gekommen wäre, denn zu seinem Zorn gab es
hier noch einen gewissen anderen Grund, den sich weder Pjotr
Stepanowitsch noch Julija Michailowna auch nur hätten träumen lassen
können. Mit dem unglücklichen Andrei Antonowitsch war es nämlich schon
so weit gekommen, daß er wegen seiner Frau auf Pjotr Stepanowitsch
eifersüchtig war und deshalb in einsamen Stunden, besonders nachts,
höchst unangenehme Minuten auszustehen hatte.

»Und ich dachte, daß ein Mensch, der einem zweimal bis nach Mitternacht
seinen Roman vorliest und einen um ein offenes Urteil bittet, daß dieser
Mensch dann schon selber das Formelle abgetan hat ... Und Julija
Michailowna empfängt mich wie einen guten Bekannten -- nun soll einer
aus Ihnen klug werden!« sagte Pjotr Stepanowitsch, und sagte es sogar
nicht ohne eine gewisse Würde. »Hier haben Sie übrigens Ihren Roman,«
und damit legte er ein großes, schweres, fest zusammengerolltes Heft,
das in blaues Papier eingewickelt war, auf den Tisch.

Von Lembke errötete und wußte nichts zu sagen.

»Wo haben Sie es denn gefunden?« fragte er unsicher, mit einem Zustrom
von Freude, den er doch nicht abhalten konnte, obschon er ihn mit Gewalt
zurückzudrängen suchte.

»Ja, denken Sie sich, so zum Rohr zusammengerollt, wie es da ist, war es
hinter meine Kommode gefallen. Ich werde es wohl damals, als ich nach
Hause kam, irgendwie nachlässig auf die Kommode geworfen haben.
Vorgestern fand man es beim Dielenscheuern. War das aber eine Arbeit,
die Sie mir da beschert hatten!«

Lembke senkte streng die Augen.

»Zwei Nächte wegen Euer Gnaden nicht geschlafen. Vorgestern fand man es,
so behielt ich es denn noch und las die ganze Geschichte durch. Habe am
Tage keine Zeit, mußte es also in der Nacht tun. Na, und -- kann nichts
dafür: bin unzufrieden. Nicht mein Geschmack. Doch übrigens zum Teufel
damit, Kritiker bin ich nie gewesen. Aber losreißen konnte ich mich doch
nicht, wenn ich auch unzufrieden war. Das vierte und fünfte Kapitel, die
... die sind ... weiß der Teufel, was die eigentlich sind! Und mit
wieviel Komik das vollgestopft ist! Hab' ich gelacht! Nein, wirklich,
Sie verstehen es, etwas lächerlich zu machen, _sans que cela
paraisse_!{[124]} Na, das da im neunten Kapitel, wo nur von Liebe die
Rede ist, na, nicht meine Sache; aber immerhin sehr effektvoll. Nach dem
Brief von Igrenjeff wollte ich beinah zu heulen anfangen, obgleich Sie
ihn ja so fein karikiert haben ... Wissen Sie, der Brief ist gewiß
gefühlvoll, aber zu gleicher Zeit wollten Sie den Mann doch irgendwie
karikieren, wenn ich Sie richtig verstanden habe? nicht? Hab's mir
gleich so gedacht. Na, aber für den Schluß könnte ich Sie einfach
verprügeln. Was ist denn das für eine Idee, die Sie da durchführen? Das
ist ja doch dieselbe alte Vergötterung des Familienglücks nebst
Vermehrung der Kinder wie des Kapitals, und >wenn sie nicht gestorben
sind, so leben sie noch heuthelle
PersönlichkeitFreiheit, Gleichheit, sie sind nah!<
   Häscher fingen ihn alsbald.
   Doch er floh in fremdes Land
   -- aus des Zaren Kasematte,
   Wo man Peitschen, Zangen hatte --,
   Fuhr von dort fort, hier zu schüren,
   Und die Wirkung war zu spüren,
   Denn das Volk begann zu warten
   Und zu murren ob des harten
   Schicksals, doch sieh da:
   »Freiheit, Gleichheit, sie sind nah!«
   Also sagt's Euch der Student,
   Hört es jetzt bis nach Taschkent!
   Komme schleunigst jeder Mann,
   Um den Adel und alsdann
   Selbst das Zartum zu vernichten!
   Hört und kommt und laßt uns richten!
   Hört auf des Studenten Wort:
   Aller alter Kram muß fort --
   Kirchen, Ehen und Familien
   Nebst den Kindern, den Reptilien!
   Doch das Hab und Gut der Welt,
   Land, Besitz und alles Geld --
   Das soll Allgemeingut werden
   In dem neuen Reich auf Erden!«

»Das haben Sie wohl bei jenem Leutnant gefunden, nicht?« fragte Pjotr
Stepanowitsch.

»Wie, Sie kennen auch diesen Leutnant?«

»Wie denn nicht! Habe zwei Tage lang mit ihm gekneipt. Der mußte
unbedingt mal überschnappen.«

»Er ... Vielleicht ist er überhaupt nicht irrsinnig geworden.«

»Etwa darum nicht, weil er zu beißen anfing?«

»Aber, erlauben Sie: wenn Sie dieses Gedicht im Auslande gesehen haben
-- und später findet es sich hier bei diesem Offizier ...«

»Hm! Ganz scharfsinnig! Sie, Andrei Antonowitsch, Sie scheinen mich ja,
wie ich sehe, examinieren zu wollen? Sehen Sie,« begann er plötzlich mit
ungewöhnlicher Wichtigkeit, »darüber, was ich im Auslande gesehen, habe
ich sofort nach meiner Rückkehr einer bestimmten Stelle Mitteilung
gemacht, und meine Erklärungen wurden als befriedigend befunden.
Andernfalls hätte ich ja auch diese liebe Stadt hier gar nicht mit
meinem Besuch beglücken können. Ich glaube also, daß meine Pflichten auf
diesem Gebiet erledigt sind und ich weiter niemandem Rechenschaft
schuldig bin. Und nicht etwa deswegen erledigt, weil ich vielleicht ein
Denunziant bin, sondern weil ich einfach gar nicht anders handeln
konnte. Diejenigen, die an Julija Michailowna über mich geschrieben
haben, kannten die ganze Sachlage ... und haben mich als ehrlichen
Menschen empfohlen. Na, aber zum Teufel damit! Eigentlich bin ich zu
Ihnen gekommen, um über etwas sehr Ernstes mit Ihnen zu sprechen. Es ist
gut, daß Sie diesen Ihren Schornsteinfeger fortgeschickt haben. Es ist
eine wichtige Sache, Andrei Antonowitsch. Ich habe nämlich eine sehr
große Bitte an Sie.«

»Eine Bitte? Hm ... haben Sie die Güte, ich ... bin gespannt ... hm! ...
wird mich sehr interessieren. Überhaupt muß ich sagen, Sie setzen mich
heute ein wenig in Erstaunen.«

Von Lembke war merklich erregt. Pjotr Stepanowitsch schlug ein Bein
übers andere.

»In Petersburg,« begann er, »war ich in vieler Hinsicht aufrichtig, doch
über gewisse Einzelheiten ... zum Beispiel diese da« -- er wies mit dem
Finger auf die »helle Persönlichkeit« -- »habe ich geschwiegen, erstens
weil es sich nicht lohnte, darüber zu sprechen, und zweitens, weil ich
nur das sagte, wonach man mich fragte. Ich liebe es nicht, in diesem
Sinne vorzugreifen; darin sehe ich auch den Unterschied zwischen einem
Schurken und einem ehrlichen Menschen, den ganz einfach nur die Umstände
überrumpelt haben und zwingen ... Na, das mag nebenbei gesagt sein. Nun
und jetzt ... jetzt, nachdem diese Dummköpfe ... na, ich meine, da es
jetzt herausgekommen ist, sich bereits in Ihren Händen befindet und sich
vor Ihnen schon nicht mehr wird verstecken können -- denn Sie sind doch
ein Mensch mit Augen, es ist gar nicht so leicht, hinter Sie zu kommen
-- diese Dummköpfe aber in ihrem Vorhaben fortfahren ... na, nun ja ...
also: ich bin ... ganz einfach ... zu Ihnen gekommen, um Sie zu bitten,
einen Menschen zu retten, einen ebensolchen Dummkopf oder meinetwegen
Verrückten ... in Anbetracht seiner Jugend, seines Unglücks, und ... und
Ihrer Humanität ... zum Kuckuck, Sie wollen doch nicht nur in Romanen
human und gut und edel sein!« unterbrach er plötzlich, anscheinend aus
lauter Verlegenheit grob, seine ungeschickte Rede.

Kurz: man sah einen ehrlichen, offenherzigen Menschen vor sich, der bloß
ungeschickt und unpolitisch war, und das wohl aus Gutmütigkeit oder
übergroßer Gewissenhaftigkeit. Und jedenfalls mußte er »nicht von weitem
her« sein, urteilte von Lembke sofort mit außerordentlichem Feingefühl:
genau so, wie er ihn eigentlich schon immer eingeschätzt hatte --
besonders wenn er ihn in den schlaflosen Nächten der letzten Woche wegen
seines Erfolges bei Julija Michailowna in seiner Seele beschimpft und
heruntergerissen hatte.

»Für wen bitten Sie denn und was soll das alles bedeuten?« erkundigte er
sich würdevoll, bemüht, seine Neugier zu verbergen.

»Für ... ja das ... zum Teufel, ich bin doch nicht schuld daran, daß ich
an Sie glaube! Was kann ich denn dafür, daß ich Sie für den
edelmütigsten Menschen halte und, vor allem, für einen verständigen ...
der fähig ist, zu begreifen, das heißt, zu verstehen ... nun, zum Henker
...«

Der Arme! Augenscheinlich verstand er sich nicht recht auszudrücken und
verwickelte sich nur!

»Sie verstehen doch,« fuhr er fort, »begreifen doch, daß ich, wenn ich
Ihnen seinen Namen nenne, ihn damit sozusagen in Ihre Hände liefere,
nicht wahr, ich liefere ihn dann Ihnen doch aus? Nicht wahr?«

»Aber wie soll ich es denn erraten, für wen Sie bitten, wenn Sie sich
nicht entschließen können, mir seinen Namen zu nennen?«

»Ach, ja, in der Tat, das ist es ja gerade! Sie stellen einem, weiß der
Teufel, mit Ihrer Logik immer ein Bein ... Na, zum Henker ... Also diese
>helle Persönlichkeit<, dieser >Student< ist -- _Schatoff_ ... So, da
haben Sie's jetzt!«

»Schatoff? Das heißt, wie denn Schatoff?«

»Schatoff -- das ist der >Student<, von dem da im Gedicht die Rede ist!
Er lebt hier! Früherer Leibeigener! Derselbe, der neulich die Ohrfeige
gegeben hat! Sie wissen schon!«

»Ich weiß, ich weiß!« von Lembke kniff die Augen zusammen. »Aber
erlauben Sie, worin besteht denn eigentlich seine Schuld und, die
Hauptsache, -- um was bitten Sie denn eigentlich?«

»Aber ihn zu retten, verstehen Sie doch endlich! Ich kenne ihn ja schon
seit acht Jahren! Ich -- ich war ja sein Freund!« Pjotr Stepanowitsch
regte sich anscheinend furchtbar auf. »Nun ja, ich bin doch nicht
verpflichtet, Ihnen Rechenschaft über Früheres zu geben,« meinte er und
winkte mit der Hand ab, »das ist alles so belanglos. Sind ja nur
dreieinhalb Menschen, und mit denen im Auslande noch nicht mal zehn ...
Aber, die Hauptsache, -- ich hoffte auf Ihre Humanität und zugleich auf
Ihren Verstand. Sie verstehen mich doch, Sie werden die Sache dann schon
selber so darstellen, wie sie wirklich ist, und nicht als weiß der
Teufel was! -- vielmehr als den dummen Gedanken eines verdrehten
Menschen ... infolge seines Unglücks, vergessen Sie das nicht, infolge
seines Unglücks, und nicht als weiß der Teufel was da -- für eine
Verschwörung gegen den Staat ...«

Pjotr Stepanowitsch geriet vor Eifer fast außer Atem.

»Hm ... Ich sehe schon, daß er der Schuldige ist -- an den
Proklamationen mit dem Beil!« schloß von Lembke mit nahezu erhabener
Miene. »Aber, erlauben Sie, wenn er allein es ist, wie konnte er sie
dann hier und zugleich in der Provinz verstreuen und sogar im H--schen
Gouvernement und ... schließlich, die erste Frage: wo hat er sie
überhaupt herbekommen?«

»Aber ich sage Ihnen doch, daß es im ganzen vielleicht fünf Menschen
sind, na, sagen wir, zehn -- wie soll ich es wissen!«

»Sie wissen es nicht?«

»Ja, zum Henker, warum soll ich es denn wissen?«

»Aber Sie wußten doch, daß Schatoff einer von ihnen ist?«

»Ach!« Pjotr Stepanowitsch winkte wieder mit der Hand ab, als wolle er
den erdrückenden Scharfsinn des anderen zurückscheuchen. »Na, hören Sie,
ich werde Ihnen die ganze Wahrheit sagen: von den Proklamationen weiß
ich nichts, das heißt, so gut wie nichts, -- zum Teufel, Sie verstehen
doch, was >nichts< bedeutet? ... Nun, versteht sich, hier ist es der
eine Leutnant, nun, und Schatoff, nun, und vielleicht noch irgend
jemand, na -- aber das ist auch alles! Nicht der Rede wert! ... Einfach
kläglich! ... Ich aber bin nur zu Ihnen gekommen, um Sie für Schatoff zu
bitten: man muß ihn retten, denn dieses Gedicht da -- ist von ihm, sein
eigenes Werk und im Auslande durch ihn gedruckt. So, das ist alles, was
ich genau weiß, aber von den Proklamationen weiß ich so gut wie gar
nichts!«

»Wenn das Gedicht von ihm verfaßt ist, so werden wohl auch die
Proklamationen von ihm verfaßt sein. Aber welche Beweise haben Sie denn,
um Herrn Schatoff zu verdächtigen?«

Pjotr Stepanowitsch riß seine Brieftasche hervor, wie ein Mensch, der
schon nahe daran ist, aus der Haut zu fahren, und warf einen Zettel auf
den Tisch.

»Da haben Sie die Beweise!« rief er.

Von Lembke faltete den Zettel auseinander: er war vor einem halben Jahr
aus unserer Stadt geschrieben worden und enthielt nur die kurze
Mitteilung:

   »Die helle Persönlichkeit« kann ich hier nicht drucken, und
   überhaupt kann ich nichts machen. Drucken Sie im Auslande.

                                                        Iwan Schatoff.

Von Lembke blickte Pjotr Stepanowitsch unverwandt an ... Warwara
Petrowna hatte recht, wenn sie behauptete, daß Herr von Lembke einen
manchmal etwa wie ein Schaf anblicken konnte.

»Sehen Sie,« begann Pjotr Stepanowitsch ungeduldig, »das bedeutet, daß
er dieses Gedicht vor einem halben Jahr hier geschrieben hat. Er konnte
es aber nicht hier drucken lassen, na, in irgendeiner, sagen wir,
geheimen Druckerei, -- und darum bittet er, es im Auslande zu drucken
... Das ist doch klar, sollte ich meinen?«

»Ja, das ist natürlich klar, aber wen bittet er denn darum? Das ist, wie
Sie sehen, durchaus noch nicht klar,« bemerkte von Lembke mit
schlauester Ironie.

»Aber Kirilloff doch! Der Brief ist doch an Kirilloff ins Ausland
geschrieben ... Wußten Sie das etwa nicht? Ärgerlich an der ganzen Sache
ist ja nur, daß Sie sich vor mir vielleicht nur verstellen und selbst
schon lange von diesem Gedicht wissen, na, und auch alles andere! Wie
ist es denn auf Ihren Tisch gekommen? Wenn Sie es überhaupt zu erwischen
verstanden haben! -- wozu foltern Sie mich dann noch mit Ihren Fragen,
wenn's so ist?«

Er wischte sich fast bebend den Schweiß von der Stirn.

»Vielleicht ist auch mir einiges bekannt ...« bemerkte Herr von Lembke,
geschickt ausweichend, »aber wer ist denn dieser Kirilloff?«

»Nun, ein Ingenieur, vor kurzem hier angekommen. War Stawrogins
Sekundant. Einfach ein Maniak, total verrückt. Ihr Leutnant hatte
vielleicht wirklich nur Schnupfenfieber als er biß, na, aber dieser, ich
sage Ihnen, der ist schon längst fürs Tollhaus reif -- dafür garantiere
ich. Ach, Andrei Antonowitsch, wenn die Regierung nur wüßte, was das da
für Leutchen sind, sie würde ja keinen Finger rühren. Hab mich in der
Schweiz und auf den Kongressen an ihnen satt gesehen, übersatt!«

»Dort, von wo aus man die Bewegungen bei uns leitet?«

»Ja, wer leitet denn? Dreieinhalb Menschen! Wenn man sie ansieht, sage
ich Ihnen, kann man bloß Lust zum Gähnen bekommen. Und was sind denn das
für >Bewegungen bei unsSeht, das ist
Herzens eigene Meinung über michzu früh< meinte ich etwas anderes ...«

»Dann ist also jedes Ihrer Worte mit einem Haken versehen, he--he! Sind
wirklich ein vorsichtiger Mensch!« bemerkte Pjotr Stepanowitsch
plötzlich sehr heiter. »Hören Sie, mein Teuerster, ich mußte Sie doch
erst ein wenig kennen lernen, na, und da habe ich denn zu diesem Zweck
eben in meinem Stile gesprochen. Das habe ich nicht nur mit Ihnen allein
so gemacht, sondern mit vielen. Vielleicht wollte ich erst nur Ihren
Charakter kennen lernen.«

»Wozu denn meinen Charakter?«

»Na, wie soll ich es denn wissen, wozu!« (er lachte wieder). »Sehen Sie
mal, mein lieber und hochverehrter Andrei Antonowitsch, Sie sind schlau,
aber dazu ist es noch nicht gekommen, wird es auch bestimmt nicht
kommen, Sie verstehen doch? Vielleicht verstehen Sie mich wirklich? Wenn
ich auch dort zuständigen Orts Erklärungen gegeben habe, als ich aus dem
Auslande zurückkehrte, und ich weiß wirklich nicht, warum ein Mensch mit
gewissen Überzeugungen nicht zum Vorteil dieser seiner aufrichtigen
Überzeugungen handeln sollte ... so hat mir _dort_ doch niemand etwas
über Ihren Charakter gesagt, und ich habe mir noch gar keine Pflichten
von _dort_ aufladen lassen. Sie begreifen doch: ich hätte ebensogut
nicht Ihnen als erstem zwei Namen zu nennen gebraucht, sondern einfach
_dahin_, na, Sie verstehen schon, -- einen Wink geben können, ich meine,
dahin, wo ich die ersten Erklärungen abgab. Na, und wenn ich mich etwa
für Geld bemühte, oder für sonst irgendeinen Vorteil, so wäre das
meinerseits keine Berechnung gewesen, denn dankbar wird man jetzt bloß
Ihnen sein, nicht mir. Aber ich tue es, wie gesagt, nur wegen Schatoff,«
sagte Pjotr Stepanowitsch mit viel Edelmut, »-- nur für Schatoff, aus
alter Freundschaft ... Na, aber dann, meinetwegen, wenn Sie _dorthin_
schreiben, na, dann könnten Sie mich vielleicht auch ein bißchen loben,
wenn Sie wollen ... werde nicht widersprechen. He--he ... Aber jetzt
adieu, hab schon verboten lange hier gesessen, und eigentlich sollte man
überhaupt nicht so viel sprechen!« fügte er nicht unzufrieden hinzu und
erhob sich vom Diwan.

»Im Gegenteil, es freut mich sehr, daß diese Angelegenheit sozusagen
bestimmtere Formen annimmt.« Von Lembke erhob sich gleichfalls und sehr
liebenswürdig, -- augenscheinlich noch unter dem Eindruck der letzten
Worte. »Mit Dank nehme ich Ihre Hilfe an, und seien Sie überzeugt, daß
ich die Bemerkung über Ihren Eifer ...«

»Sechs Tage, nur sechs Tage Frist, das ist die Hauptsache und alles, was
ich brauche ... aber daß Sie sich in diesen sechs Tagen nicht rühren!«

»Gut!«

»Versteht sich, ich binde Ihnen ja nicht die Hände, wie sollte ich das
auch! Sie können doch gar nicht etwa nicht beobachten lassen. Nur --
schrecken Sie das Nest nicht vor der Zeit auf, -- das ist es, worin ich
mich jetzt auf Ihre Klugheit und Ihre Erfahrung verlasse! Na, Sie haben
wohl schon unzählige Jagdhunde bereit? He--he!« platzte lustig und
leichtsinnig (eben wie ein junger Mensch) Pjotr Stepanowitsch heraus.

»So schlimm ist es gerade nicht,« sagte von Lembke ausweichend, doch
angenehm berührt. »Das ist ein Vorurteil der Jugend, die immer alles
vorbereitet glaubt ... Aber erlauben Sie, noch ein Wort: wenn dieser
Kirilloff Stawrogins Sekundant war, so muß doch auch Herr Stawrogin in
diesem Falle ...«

»Wieso Stawrogin?«

»Ich meine, wenn sie solche Freunde sind?«

»Oh, nein, nein, nein! Diesmal haben Sie fehlgeschossen, wenn Sie auch
sonst schlau sind! Aber Sie setzen mich geradezu in Erstaunen! Denn ich
glaubte doch, daß Sie in betreff dieser Dinge unterrichtet sind ... Hm
... Stawrogin -- das ist das vollkommenste Gegenteil, das heißt, das
vollkommenste! ... _Avis au lecteur._«{[125]}

»In der Tat? Ist's möglich?« fragte von Lembke ungläubig. »Mir hat
Julija Michailowna gesagt, daß Stawrogin, nach ihren Erkundigungen in
Petersburg, ein Mensch mit einigen, sozusagen, Instruktionen ...«

»Ich weiß nichts, nichts, nichts, keine Ahnung. Adieu. _Avis au
lecteur!_« wich Pjotr Stepanowitsch plötzlich und nur zu offensichtlich
allen weiteren Fragen aus und schwirrte schon zur Tür.

»Erlauben Sie, Pjotr Stepanowitsch, erlauben Sie, noch einen
Augenblick!« rief ihn von Lembke zurück. »Noch ein Wort, und dann halte
ich Sie nicht mehr auf.« Er nahm aus einem Schubfach einen Brief heraus.

»Sehen Sie, -- gleichfalls ein Exemplar, das in diese Kategorie gehört.
Und hiermit beweise ich Ihnen, daß ich das größte Vertrauen zu Ihnen
habe. Was sagen Sie zu diesem Brief?«

Es war ein sonderbarer Brief: ohne Unterschrift, an Herrn von Lembke
adressiert, und gestern erst hatte er ihn erhalten. Pjotr Stepanowitsch
las zu seinem größten Ärger folgendes:

   »Eure Exzellenz!

   Sintemal Sie das nach Ihrem Range sind. Hiermit melde ich
   Mordanschläge auf alle hohen Würdenträger und das Vaterland;
   sintemal es gerade dazu führt. Habe selbst vieles ununterbrochen
   jahrelang verstreut. Auch Gottlosigkeit ist dabei. Ein Aufstand
   bereitet sich vor und Proklamationen gibt es Tausende, und nach
   jeder laufen dann hundert Mann mit herausgestreckter Zunge, wenn sie
   die Regierung nicht vorzeitig fortnimmt, sintemal man viel
   verspricht und das einfache Volk dumm ist, und hinzu kommt dann noch
   der Schnaps. Das Volk sucht den Schuldigen und wird diese wie jene
   verderben. Ich fürchte aber diese wie jene, und bereue, woran ich
   gar nicht teilgenommen, denn meine Verhältnisse sind einmal so. Wenn
   Sie wollen, daß ich Anzeige erstatte zur Rettung des Vaterlandes und
   ebenso der Kirchen und Heiligenbilder, so kann das nur ich allein.
   Aber mit der Bedingung, daß man mir Begnadigung aus der dritten
   Abteilung telegraphisch zusagt, sofort und mir allein von allen; die
   anderen können es dann ausbaden. Auf das Fenster beim Portier
   stellen Sie zum Zeichen jeden Tag abends um sieben Uhr ein Licht.
   Sehe ich dieses, so werde ich glauben und komme dann, um die
   barmherzige Hand aus Petersburg zu küssen, aber mit der Bedingung,
   daß ich eine Pension erhalte, sintemal wovon soll ich denn sonst
   leben? Sie werden es nicht zu bereuen brauchen, denn für Sie kommt
   dabei ein Orden heraus. Aber vorsichtig muß man sein, sonst drehen
   sie einem den Hals um!

                                   Euer Exzellenz verzweifelter Mensch
                                 fällt vor Euer Exzellenz auf die Knie
                                                als reuiger Freidenker

                                                         _Inkognito_.«

Von Lembke erklärte, daß man den Brief gestern beim Portier gefunden
hatte.

»Was halten Sie davon?« fragte Pjotr Stepanowitsch beinahe grob.

»Ich würde annehmen, daß das ein Schmähbrief ist ... ein anonymer, zum
Spott ...«

»Höchstwahrscheinlich wird es auch so sein. Sie kann man wirklich nicht
so leicht hinters Licht führen.«

»Und vor allen Dingen deshalb, weil es so dumm ist.«

»Haben Sie hier noch irgendwelche Schmähbriefe bekommen?«

»Ja, zweimal, und beide anonym.«

»Na, versteht sich doch von selbst, daß die sich nicht unterzeichnen
werden! -- Derselbe Stil? Dieselbe Handschrift?«

»Nein, verschiedener Stil und verschiedene Handschrift.«

»Und ebenso närrisch wie dieser?«

»Ja, auch närrisch, und wissen Sie ... sehr gemeine Briefe.«

»Na, wenn Sie schon welche bekommen haben, so wird es jetzt wohl
derselbe Absender sein.«

»Und vor allen Dingen, weil die Briefe so dumm sind. Diese Leute sind
doch gebildet und würden schon so dumm nicht schreiben.«

»Natürlich, versteht sich.«

»Aber wie, wenn nun wirklich jemand etwas anzeigen will?«

»Das ist sehr unwahrscheinlich,« schnitt Pjotr Stepanowitsch trocken ab.
»Was soll denn das Telegramm aus der dritten Abteilung bedeuten? und die
Pension? Es ist ja sonnenklar, daß es eine Anulkung ist!«

»Ja ... Natürlich,« von Lembke war ein wenig beschämt.

»Wissen Sie was! Überlassen Sie mir den Brief. Ich werde Ihnen sofort
den Verfasser herausfinden. Früher noch als die anderen.«

»Nehmen Sie ihn,« sagte von Lembke, doch erst nach einigem Zögern.

»Haben Sie ihn schon jemandem gezeigt?«

»Nein, bewahre! Niemandem!«

»Auch nicht Julija Michailowna?«

»Da sei Gott vor! und ums Himmels willen, zeigen Sie ihn ihr auch
nicht!« rief von Lembke erschrocken. »Er würde sie so aufregen ... und
sie würde sich furchtbar über mich ärgern.«

»Natürlich, verstehe schon! Sie würde sagen, daß Sie selbst daran schuld
sind, wenn man Ihnen so was zu schreiben wagt! Man kennt doch
Weiberlogik. Na, aber jetzt leben Sie wohl. Vielleicht kann ich Ihnen
schon in drei Tagen den Verfasser nennen. Aber vergessen Sie nur unsere
Abmachung nicht!«


                                  IV.

Pjotr Stepanowitsch war gewiß kein dummer Mensch, doch Fedjka, der
Zuchthäusler, hatte ihn richtig charakterisiert mit dem Ausspruch: »Der
stellt sich einen Menschen so vor, wie er ihn haben will, und so lebt er
dann mit ihm.«

Pjotr Stepanowitsch verließ Herrn von Lembke in der festen Überzeugung,
daß er ihn auf wenigstens sechs Tage beruhigt habe, diese Frist aber
brauchte er unbedingt. Doch seine Berechnung war falsch, und zwar weil
er sich Herrn von Lembke von allem Anfange an und gleich für immer als
vollkommen beschränkten Menschen vorgestellt hatte.

Herr von Lembke war, wie jeder qualvoll mißtrauische Mensch, im ersten
Augenblick des Aus-sich-selbst-hinausgehens stets von größter und
freudiger Vertrauensseligkeit. Die neue Wendung der Dinge erschien ihm
nun zunächst in recht angenehmer Form, trotz der etlichen
neueingetretenen Verwicklungen, die Achtsamkeit erheischten. Doch
wenigstens zerfielen seine alten Zweifel jetzt in Staub und Asche. Aber
die letzten Tage hatten ihn so müde gemacht, und er fühlte sich so
gequält und so hilflos, daß seine Seele sich unwillkürlich nach Ruhe
sehnte. Leider kam gerade jetzt diese Unruhe wieder über ihn. Das lange
Leben in Petersburg hatte in seiner Seele unverwischbare Spuren
hinterlassen. Die offizielle und sogar die geheime Geschichte der »neuen
Generation« war ihm ziemlich bekannt -- war er doch ein wißbegieriger
Mensch, der selbst Proklamationen sammelte --, nur hatte er noch nie
auch nur ein Wort von dieser ganzen Geschichte begriffen. Jetzt aber
stand er da wie in einem Walde: mit allen Instinkten ahnte er, daß in
Pjotr Stepanowitschs Worten etwas schier Unmögliches enthalten war,
irgend etwas außerhalb aller Formen und Vereinbarungen -- »wenn auch
übrigens der Teufel wissen mag, was da in dieser >neuen Generation<
alles möglich ist und überhaupt ... wie sie das da alles machen!« dachte
er bei sich und verlor sich in Erwägungen.

Da steckte zum Unglück wieder Blümer seinen Kopf durch die Tür. Die
ganze Zeit während der Anwesenheit Pjotr Stepanowitschs hatte er in der
Nähe gewartet. Dieser Blümer war mit Herrn von Lembke sogar verwandt,
wenn auch allerdings nur weitläufig, doch diese Verwandtschaft wurde
sorgfältig und ängstlich geheimgehalten. Ich bitte den Leser um
Entschuldigung, daß ich hier über diesen unbedeutenden Menschen ein paar
Bemerkungen einfüge. Blümer gehörte als Mensch zu der sonderbaren Abart
der »unglücklichen« Deutschen -- jedoch nicht infolge seiner tatsächlich
großen Talentlosigkeit, sondern einfach Gott weiß weshalb. Diese
»unglücklichen« Deutschen sind keine Mythe, sondern sind wirklich
vorhanden, sogar in Rußland, und haben ihren besonderen Typ. Herr von
Lembke hatte für diesen Blümer von jeher ein geradezu rührendes
Mitgefühl und verschaffte ihm, wo er nur konnte, und natürlich im
Verhältnis zu seinen eigenen Fortschritten, immer bessere Stellen in
seinem Ressort; doch Blümer hatte nirgends Glück. Bald wurde der Posten
aufgehoben, bald bekam er einen neuen Vorgesetzten, und einmal hätte man
ihn beinahe mit anderen zusammen vors Gericht gebracht. Er war
gewissenhaft, doch leider irgendwie so, daß es schon zuviel war --
zwecklos gewissenhaft, und außerdem ewig mürrisch, was ihm überall
schadete, -- dabei rothaarig, groß, ein wenig krumm, wehmütig, sogar
gefühlvoll, und bei all seiner Unterwürfigkeit doch eigensinnig und
halsstarrig wie ein Stier, freilich immer am unrechten Ort und zur
unrechten Zeit. An Lembke hing er nebst seiner Frau und seinen zahllosen
Kindern mit einer langjährigen und ehrfürchtigen, treuen und ergebenen
Anhänglichkeit. Außer Lembke gab es keinen Menschen, der ihn je auch nur
gemocht hatte. Julija Michailowna hatte ihn sofort und mit aller
Entschiedenheit abgelehnt, doch verabschieden konnte sie ihn nicht, weil
der Widerstand ihres Mannes in diesem Punkte nicht zu brechen war. Ja,
dieser Blümer war die Ursache ihres ersten ehelichen Streites gewesen,
und zwar gleich in den ersten süßen Tagen nach der Hochzeit, als sie
plötzlich das kränkende Geheimnis dieser neuen Verwandtschaft erfahren
hatte. Es half auch nichts, daß ihr Gatte flehend, mit gefalteten
Händen, auf sie einredete und ihr gefühlvoll Blümers ganze
Lebensgeschichte erzählte, sowie die Geschichte ihrer Freundschaft von
Kindheit an: Julija Michailowna hielt sich für unwiderruflich blamiert
und versuchte sogar mit Ohnmachtsanfällen ihren Willen durchzusetzen.
Doch von Lembke wich trotzdem nicht einen Schritt von seinem Standpunkt
und erklärte nur, daß er seinen Blümer um keinen Preis von sich
entfernen werde, so daß sie sich schließlich ehrlich über ihn wunderte
und gezwungen war, ihm diesen Blümer zu »gestatten«. Es wurde nur
beschlossen, die Verwandtschaft mit ihm noch sorgfältiger als bisher
geheimzuhalten, wenn das überhaupt möglich war, und sogar seinen Ruf-
und Vatersnamen durch andere zu ersetzen, denn auch Blümer hieß
sonderbarerweise genau wie von Lembke Andrei Antonowitsch. Hier bei uns
verkehrte Blümer mit keinem Menschen, außer mit einem deutschen
Apotheker, hatte auch bei niemandem Besuch gemacht und, seiner
Gewohnheit getreu, zurückgezogen und sparsam gelebt. Ihm waren auch die
literarischen Sünden von Lembkes bekannt, denn er war es, der den
Zuhörer abgeben mußte, wenn von Lembke seinen Roman vorlesen wollte, was
er natürlich nur mit aller Vorsicht und bei verschlossenen Türen tat:
dann saß Blümer an die sechs Stunden wie ein Pfosten da, schwitzte und
strengte sich krampfhaft an, nicht einzuschlafen, sondern wach zu
bleiben und zu lächeln. Kam er dann nach Hause, so seufzte er zusammen
mit seiner hageren, großfüßigen Frau über die unselige Vorliebe ihres
Wohltäters für die russische Literatur.

Andrei Antonowitsch litt geradezu, als er den eintretenden Blümer
erblickte.

»Ich bitte dich, Blümer, mich jetzt in Ruh zu lassen,« begann er erregt
und schnell, sichtlich bemüht, eine Fortsetzung des Gespräches, das
Pjotr Stepanowitsch unterbrochen hatte, zu vermeiden.

»Man kann das ja auf die schonendste Weise machen. Sie haben doch die
Vollmacht,« bestand Blümer ehrerbietig aber hartnäckig auf dem Seinen,
und näherte sich mit kleinen Schritten und krummem Rücken immer mehr dem
Schreibtisch.

»Blümer, du bist mir wirklich in einem Grade zugetan und in deinem Amt
diensteifrig, daß mir schon angst und bange vor dir wird, wenn ich dich
nur erblicke!«

»Sie machen immer scharfsinnige Bemerkungen, aber dann lassen Sie sich
von dem Vergnügen an dem Gesagten ruhig einschläfern. Damit schaden Sie
sich selbst.«

»Blümer, ich habe mich soeben überzeugt, daß etwas ganz anderes
dahintersteckt, etwas ganz anderes!«

»Doch nicht aus den Worten dieses falschen, lasterhaften Menschen, den
Sie selbst verdächtigen? Hat er Sie glücklich mit falschem Lob Ihres
literarischen Talentes so weit geblendet?«

»Blümer, du ahnst ja nichts! Dein Projekt ist eine Absurdität, sage ich
dir. Wir werden nichts finden, es wird sich nur unnützes Geschrei
erheben und dann Gelächter und dann Julija Michailowna ...«

»Wir werden bestimmt alles finden, was wir suchen,« Blümer schritt fest
auf ihn zu, die rechte Hand ans Herz gepreßt. »Wir können die
Durchsuchung seiner Wohnung ganz früh am Morgen vornehmen, und ganz
plötzlich, ohne alle Vorbereitungen, mit aller Schonung seiner Person,
und dabei streng nach der Vorschrift des Gesetzes. Die jungen Leute,
Lämschin und Telätnikoff, versichern felsenfest, daß wir bei ihm alles
Gewünschte finden werden. Sie haben ihn früher oft besucht. Für Herrn
Werchowenski ist hier niemand sehr zu haben, und die Generalin Stawrogin
hat ihm formell ihre Wohltaten für weiterhin gekündigt, und jeder
ehrliche Mensch, wenn es solch einen in dieser rohen Stadt überhaupt
gibt, ist überzeugt, daß dort immer die Quelle des Unglaubens und der
sozialen Lehren gewesen ist. Er besitzt alle verbotenen Bücher,
sämtliche Werke Herzens, Rylejeffs >Dumy<[44] ... Ich habe mir schon auf
alle Fälle ein Verzeichnis seiner Bücher ...«

»Gott, diese Bücher hat heute doch schon ein jeder! Wie naiv du bist,
mein armer Blümer!«

»Und eine Menge Proklamationen,« fuhr Blümer fort und tat, als habe er
die Bemerkung nicht gehört. »Wir werden auf diese Weise bestimmt auf die
Spur der neuen Proklamationen kommen. Dieser junge Werchowenski kommt
mir ungemein, ungemein verdächtig vor.«

»Aber du verwechselst ja den Vater mit dem Sohn! Sie vertragen sich
durchaus nicht. Der Sohn verspottet ihn ja ganz ungeniert.«

»Das ist doch nur Verstellung, Maske!«

»Blümer, du hast wohl geschworen, mich zu Tode zu quälen! Denk doch ein
bißchen nach! Er ist doch hier in der Stadt immerhin eine geachtete
Persönlichkeit. Er war Professor, er ist überall bekannt, und wenn er zu
schreien anfängt, wird es gleich alle Welt wissen, und dann beginnt das
Witzeln über uns, und dann gelingt uns nichts mehr ... und bedenke doch
nur, was wird Julija Michailowna sagen ...«

Blümer kam immer näher und hörte auf keinen Einwand.

»Er war nur Dozent und weiter nichts, nur Dozent, und ist dem Titel nach
nur Kollegienassessor außer Dienst.« Blümer preßte heftig seine rechte
Hand auf die Brust. »Keinen einzigen Orden hat er und zum Staatsdienst
ist er überhaupt nicht herangekommen, weil man seine Absichten gegen die
Regierung kannte. Er stand im geheimen unter polizeilicher Aufsicht und
steht wohl zweifellos auch jetzt noch darunter. In Anbetracht der
beginnenden Unordnungen sind Sie geradezu verpflichtet, zu tun, was ich
Ihnen riet. Sie aber lassen eine solche Möglichkeit, sich auszuzeichnen,
wieder vorübergehen! Sehen dem Hauptschuldigen einfach durch die Finger!
...«

»Julija Michailowna! Sch--scher dich zum ...« rief plötzlich von Lembke,
der die Stimme seiner Frau im Nebenzimmer gehört hatte.

Blümer zuckte zusammen, doch ergab er sich noch nicht.

»So erlauben Sie doch, erlauben Sie doch,« er trat immer näher und
preßte jetzt schon beide Hände an die Brust.

»Sch--scher dich, pack dich!« knirschte Andrei Antonowitsch. »Mach, was
du willst ... später ... O Gott!«

Die Portiere wurde zur Seite geschlagen, und Julija Michailowna
erschien. Als sie Blümer erblickte, blieb sie stehen und musterte ihn
hochmütig und beleidigend vom Kopf bis zu den Füßen, als wäre schon
seine bloße Anwesenheit kränkend für sie. Blümer machte stumm eine
tiefe, ehrerbietige Verbeugung vor ihr und ging dann, noch krumm vor
Ehrerbietung, auf den Fußspitzen zur Tür.

War es nun, daß er die letzten Worte von Lembkes für die Erlaubnis nahm,
so zu handeln, wie er wollte, oder ob er es von sich aus unrechterweise,
jedoch in der festen Überzeugung tat, seinem Wohltäter zu einem Orden zu
verhelfen, -- das mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls erwuchs, wie wir
weiterhin sehen werden, aus diesem Gespräch des Vorgesetzten mit seinem
Untergebenen etwas ganz Unvorhergesehenes, das viele zum Lachen reizte,
als es bekannt ward, aber Julija Michailownas hellen Zorn erregte. Von
Lembke dagegen wurde dadurch in der entscheidendsten Zeit in die
bedauernswerteste Unentschlossenheit versetzt.


                                   V.

Für Pjotr Stepanowitsch war es ein geschäftiger Tag. Nachdem er von
Lembke verlassen hatte, begab er sich schnell zur Bogojawlenskstraße,
doch als er unterwegs in der Bykoffstraße an dem Hause vorüberkam, in
dem Karmasinoff wohnte, blieb er plötzlich stehen, lächelte und trat ins
Haus. Man öffnete ihm mit einem: »Der Herr erwarten bereits --,« was
Pjotr Stepanowitsch sehr bemerkenswert erschien, denn er hatte durchaus
nicht gesagt, daß er kommen werde.

Der »große Schriftsteller« erwartete ihn in der Tat, und zwar schon seit
drei Tagen, denn vor vier Tagen hatte er das Manuskript seines »Merci«
(seinen Abschiedsgruß ans Publikum, den er auf der literarischen Matinee
zum Besten armer Gouvernanten vorzulesen gedachte) Werchowenski
eingehändigt. Er hatte es aus Liebenswürdigkeit getan, in der
Überzeugung, dem jungen Manne außerordentlich zu schmeicheln, wenn er
ihm das große Werk schon vorher zeigte. Pjotr Stepanowitsch hatte schon
längst begriffen, daß dieser ruhmsüchtige, eitle und für Nichterwählte
so beleidigend unnahbare Herr, dieser »erhabene Verstand«, sich einfach
an ihn herandrängen wollte. Er erriet, daß Karmasinoff ihn, wenn auch
vielleicht nicht für den erklärten Führer alles dessen hielt, was in
ganz Rußland heimlich revolutionär war, so doch wenigstens für einen,
der in alle Geheimnisse der russischen Revolution eingeweiht war und
zweifellos großen Einfluß auf die Jugend hatte. Die Gedanken dieses
»klügsten Menschen in ganz Rußland« interessierten Pjotr Stepanowitsch,
doch bisher hatte er aus gewissen Gründen eine Aussprache vermieden.

Der »große Schriftsteller« wohnte im Hause seiner Schwester, der Frau
eines Kammerherrn und Gutsbesitzers, die nebst ihrem Mann den »berühmten
Verwandten« geradezu vergötterte. Augenblicklich mußten sie leider
beide, zu ihrem größten Schmerz, in Moskau leben, so daß denn eine alte
Dame, eine arme Verwandte des Kammerherrn, die schon lange im Hause die
Wirtschaft führte, die Ehre hatte, Karmasinoff zu empfangen und
aufzunehmen. Seit seiner Ankunft ging das ganze Haus auf den Fußspitzen,
und niemand wagte mehr, laut zu sprechen. Die alte Dame berichtete fast
täglich nach Moskau, wie Karmasinoff geschlafen und was er gegessen
hatte, und einmal, als er nach einem Diner beim Stadthaupt einen Löffel
voll einer gewissen Medizin hatte einnehmen müssen, schickte sie sogar
ein Telegramm ab, in ihrer Furcht, er könne vielleicht krank werden.
Karmasinoff selbst sprach, wenn auch höflich, so doch nur ganz trocken
mit ihr, und nur wenn es unbedingt nötig war. Als Pjotr Stepanowitsch
bei ihm eintrat, aß er gerade ein Kotelett. Vor ihm stand ein Glas
Portwein. Pjotr Stepanowitsch war auch früher schon bei ihm gewesen, und
jedesmal hatte er ihn bei diesem Morgenfrühstück angetroffen, das er
dann ruhig weiter zu essen pflegte, ohne seinem Gast auch nur einmal
etwas anzubieten. Nach dem Kotelett trank er dann ein Täßchen Kaffee.
Der Diener war in blauem Frack, weichen, unhörbaren Stiefeln und weißen
Handschuhen.

»A--ah!« rief Karmasinoff aus und erhob sich vom Sofa, während er sich
den Mund mit der Serviette abwischte; darauf trat er auf Pjotr
Stepanowitsch zu, um ihn auf die Wange zu küssen -- die
charakteristische Angewohnheit aller Russen, wenn sie schon gar zu
berühmt sind.

Pjotr Stepanowitsch wußte aber schon von früher, daß Karmasinoff bei
diesem bei ihm üblichen Kuß nur die Wange hinzuhalten pflegte -- da
machte er es diesmal ebenso: und so legten sich denn beide Wangen flach
aneinander. Karmasinoff tat, als hätte er nichts bemerkt, setzte sich
wieder auf sein Sofa und lud seinen Gast ein, ihm gegenüber auf einem
Lehnstuhl Platz zu nehmen, was dieser auch sofort mit seiner ganzen
Nonchalance tat.

»Sie wollen doch nicht ... Wollen Sie nicht frühstücken?« fragte
Karmasinoff ganz gegen seine Gewohnheit, doch selbstverständlich in der
Annahme, eine höflich ablehnende Antwort zu erhalten.

Aber ungeachtet dessen oder vielleicht gerade deshalb wünschte Pjotr
Stepanowitsch sofort zu frühstücken. Ein Schatten beleidigten Erstaunens
glitt über das Gesicht des Hausherrn, doch nur auf einen Augenblick:
nervös klingelte er darauf nach dem Diener und erhob, trotz seiner guten
Erziehung, launisch die Stimme, als er ein zweites Frühstück bestellte.

»Wollen Sie denn ein Kotelett oder Kaffee?« erkundigte er sich bei
seinem Gast.

»Beides, und bestellen Sie noch Portwein dazu, ich bin hungrig,« sagte
Pjotr Stepanowitsch seelenruhig und betrachtete Karmasinoffs Kostüm. Es
bestand aus einer Art von Hausjackett, oder Jäckchen, jedenfalls war es
wattiert, mit Perlmutterknöpfen versehen und sehr kurz, was sich zu
seinem runden Bäuchlein und dem runden, festen Körperteil der Rückseite
wenig gut ausnahm. Über seine Knie hatte er ein kariertes wollenes Plaid
gebreitet, obgleich es im Zimmer warm war.

»Krank etwa?« fragte Pjotr Stepanowitsch.

»Nein, nicht krank, aber ich fürchte, krank zu werden -- in diesem
schrecklichen Klima,« antwortete Karmasinoff mit seinem kreischenden
Stimmchen, wenn auch freundlich. »Ich erwartete Sie schon gestern.«

»Warum das? Ich hatte Ihnen doch nicht versprochen, zu Ihnen zu kommen.«

»Ja, aber Sie haben doch mein Manuskript! Sie ... haben Sie es gelesen?«

»Manuskript? Was für eines?«

Karmasinoff wunderte sich maßlos.

»Aber Sie haben es doch wenigstens mitgebracht?« rief er plötzlich so
aufgeregt, daß er sogar im Essen innehielt und mit aufgerissenen Augen
sein Gegenüber anstarrte.

»Ach so, Sie sprechen von Ihrem >_Bonjour_<, oder wie es da hieß ...«

»>_Merci_<.«

»Na, bleibt sich gleich. Habe es ganz vergessen und noch kein Wort
gelesen. Keine Zeit. Wirklich, ich weiß nicht, in den Taschen ist das
Ding nicht mehr. Na, wird sich schon finden ...«

»Nein, verzeihen Sie, ich sende lieber sofort zu Ihnen! Es könnte
verloren gehen, man könnte es stehlen!«

»Ach wo! wer braucht denn so was! Warum regen Sie sich denn überhaupt so
auf? Sie haben doch, wie mir Julija Michailowna sagte, immer mehrere
Abschriften, eine im Auslande beim Notar, eine in Petersburg, eine in
Moskau ... und eine schicken Sie dann womöglich noch in die Bank --?«

»Aber Moskau kann doch abbrennen, mitsamt meinem Manuskript! Nein, ich
sende doch lieber sofort zu Ihnen ...«

»Warten Sie, hier ist es ja!« Pjotr Stepanowitsch zog aus der hinteren
Rocktasche das Manuskript hervor. »Ein wenig verknittert. Denken Sie
sich nur, so wie ich es damals nahm, so hat es ruhig mit meinem
Schnupftuch in der Tasche gelegen. Hatte es völlig vergessen.«

Karmasinoff warf sich gierig auf sein Manuskript, besah es von allen
Seiten, zählte die Blätter nach und legte es dann fast andächtig neben
sich auf ein kleines Tischchen, doch so, daß er es jeden Augenblick
wieder ergreifen konnte.

»Sie lesen wohl nicht viel?« konnte er sich schließlich nicht enthalten
zu fragen.

»Nein, nicht sehr viel.«

»Und von russischer Belletristik -- wohl überhaupt nichts?«

»Von russischer Belletristik? Warten Sie mal, ich glaube, ich habe
einmal so etwas gelesen ... >Unterwegs< ... oder >Auf dem Weg< ... oder
>Am Kreuzweg<, oder wie es da hieß, hab's vergessen. Es ist lange her.
Las es vor etwa fünf Jahren. Hab keine Zeit.«

Ein kurzes Schweigen trat ein.

»Als ich herkam, versicherte ich allen, daß Sie ein ungewöhnlich kluger
Mensch sind -- und jetzt scheinen ja auch alle von Ihnen entzückt zu
sein.«

»Danke,« sagte Pjotr Stepanowitsch ruhig.

Der Diener brachte das Frühstück, und Pjotr Stepanowitsch machte sich
mit gutem Appetit an das Kotelett, aß es im Nu auf, stürzte den Wein
hinunter und trank den Kaffee.

»Dieser Grobian,« dachte Karmasinoff, indem er noch das letzte kleine
Stückchen von seinem eigenen Teller aß und das letzte Schlückchen trank,
»dieser Grobian hat gewiß sofort die Stichelei in meinen Worten
begriffen ... und das Manuskript wird er bestimmt mit Spannung gelesen
haben, also lügt er jetzt, um sich den Anschein zu geben, als ob ...
Oder sollte er doch nicht lügen, sondern einfach aufrichtig dumm sein?
Einen genialen Menschen liebe ich eigentlich so, wenn er ein wenig dumm
ist. Ist er nicht gar für die da wirklich so was wie ein Genie? Doch
übrigens hol' ihn der Teufel.«

Er erhob sich vom Sofa und begann, aus einer Ecke des Zimmers in die
andere zu gehen, um sich Bewegung zu machen, was er nach dem Frühstück
stets zu tun pflegte.

»Reisen Sie bald zurück?« fragte Pjotr Stepanowitsch aus dem Lehnstuhl
und rauchte eine Zigarette an.

»Ich bin eigentlich hergekommen, um mein Gut zu verkaufen, und hänge nun
von meinem Verwalter ab.«

»Na, aber eigentlich sind Sie doch hierher gekommen, weil Sie dort
Epidemien nach dem Kriege erwarteten?«

»N--nein, nicht eigentlich deshalb,« sagte Karmasinoff, großmütig die
Worte skandierend, und fuhr fort, durch das Zimmer zu spazieren, wobei
er bei jedem Kehrt in der Ecke munter mit dem rechten Beinchen
ausschritt. »Ich beabsichtige in der Tat, so lange wie nur möglich zu
leben,« lächelte er nicht ganz ohne Ironie. »Im russischen Herrenstand
ist etwas, das den Menschen schnell verbraucht, in jeder Beziehung. Ich
aber möchte mich so spät wie möglich verbrauchen und werde deshalb auch
in Bälde endgültig ins Ausland übersiedeln. Dort ist auch das Klima
besser, und das ganze Gebäude ist aus Stein, und alles steht fester. Für
meine Lebenszeit wird Europa noch vorhalten, denke ich. Was meinen Sie?«

»Wie soll ich's wissen!«

»Hm ... Wenn dort wirklich einmal Babylon kracht, und sein Fall wird
groß sein -- darin stimme ich vollkommen mit Ihnen überein, obgleich ich
denke, daß es für meine Lebenszeit noch vorhalten wird -- so ist doch
bei uns in Rußland überhaupt nichts vorhanden, das da zusammenstürzen
könnte ... im Verhältnis betrachtet. Bei uns werden keine Steine fallen,
sondern alles wird sich in Schmutz auflösen. Das heilige Rußland kann am
wenigsten von allem in der Welt irgendeinen Widerstand leisten. Das
einfache Volk hält sich noch irgendwie mit dem russischen Gott; aber
selbst der russische Gott hat sich ja nach den letzten Erfahrungen als
äußerst unzuverlässig erwiesen. Sogar gegen die Bauernreform hat er kaum
standzuhalten vermocht -- jedenfalls hat er arg gewankt. Und dazu kommen
jetzt noch die Eisenbahnen, und dann ... Nein, an den russischen Gott
glaube ich schon gar nicht.«

»Aber an den europäischen?«

»Ich glaube an keinen einzigen. Man hat mich bei der russischen Jugend
verleumdet. Ich habe stets jede ihrer Handlungen nachfühlen können. Man
hat mir hier auch diese Proklamationen gezeigt. Man steht diesen
Flugblättern allgemein verständnislos gegenüber, denn die Form schreckt
ab; doch von ihrer Macht sind alle überzeugt, wenn sie sich auch selbst
noch nicht dessen bewußt sind. Alles fällt hier schon längst, und alle
wissen auch schon längst, daß nichts da ist, wonach man greifen oder
woran man sich festhalten könnte. Ich bin schon deswegen von dem Erfolg
dieser geheimnisvollen Propaganda überzeugt, weil Rußland jetzt auf der
ganzen Welt im wahrsten Sinne des Wortes derjenige Ort ist, wo alles
geschehen kann, ohne den geringsten Widerstand zu finden. Ich verstehe
nur zu gut, warum alle wohlhabenden Russen jetzt ins Ausland strömen und
von Jahr zu Jahr immer mehr Leute auswandern. Hier ist es einfach ein
Instinkt. Wenn das Schiff untergeht, wandern die Ratten aus. Das heilige
Rußland ist ein hölzernes Land, ein bettelarmes und ... gefährliches
Land, ein Land eitler Bettler in seinen höheren Schichten, während die
riesige Mehrzahl in Hütten auf Hühnerbeinen hockt. Es wird über jeden
Ausweg froh sein, wenn man ihm einen solchen zeigt und erklärt. Nur die
Regierung will sich noch wehren, doch fuchtelt sie mit ihrem Knüttel im
Dunkeln umher und trifft womöglich die eigenen Leute. Hier ist schon
alles vorausbestimmt und verurteilt. Rußland hat, so, wie es jetzt ist,
keine Zukunft. Ich bin Deutscher geworden und rechne mir das als Ehre
an.«

»Sie begannen da, sich über die Proklamationen zu äußern: sagen Sie, was
halten Sie von denen?«

»Alle fürchten die Proklamationen, folglich sind sie mächtig. Sie decken
öffentlich den Betrug auf und beweisen, daß hier nichts mehr ist, an dem
man sich festhalten, auf das man sich stützen könnte. Sie sprechen laut,
während alle schweigen. Und womit sie am meisten besiegen, das ist --
abgesehen von der Form -- dieser bis jetzt unerhörte Mut, der Wahrheit
offen ins Angesicht zu schauen. Diese Fähigkeit, der Wahrheit gerade ins
Angesicht schauen zu können, hat einzig und allein die russische
Generation. Nein, in Europa ist man noch nicht so mutig: dort ist's eine
steinerne Herrschaft, -- dort gibt es noch etwas, auf das man sich
tatsächlich stützen kann. So viel ich sehe und so viel ich zu beurteilen
vermag, ist der Kern der russischen revolutionären Idee die Verneinung
der Ehre. Es gefällt mir, daß das so mutig und furchtlos ausgedrückt
wird. Nein, in Europa begreift man das noch nicht, bei uns aber wird man
sich gerade darauf stürzen. Dem russischen Menschen ist die Ehre nur
eine überflüssige Last. Ja, und sie ist ihm immer eine Last gewesen, in
seiner ganzen Geschichte. Mit dem öffentlichen >Recht auf Unehre< kann
man ihn am ehesten verlocken. Ich gehöre ja noch zur alten Generation
und, ich muß gestehen, bin noch für die Ehre, aber doch nur aus
Gewohnheit. Mir gefallen bloß die alten Formen, wenn auch vielleicht aus
Kleinmut -- aber man muß doch irgendwie sein Jahrhundert zu Ende leben.«

Er brach plötzlich ab.

»Da rede ich und rede,« dachte er bei sich, »er aber schweigt und
beobachtet mich. Er ist ja nur gekommen, damit ich ganz offen die Frage
an ihn stelle. Gut, kann er haben.«

»Julija Michailowna hat mich gebeten, einmal irgendwie auf schlaue Weise
von Ihnen herauszubekommen, was das für eine Überraschung ist, die Sie
zu übermorgen, zum Ball, vorbereiten?« fragte plötzlich Pjotr
Stepanowitsch.

»Ja, das wird wirklich eine Überraschung sein; ich werde in der Tat in
Erstaunen setzen,« sagte Karmasinoff wichtig, »aber ich verrate Ihnen
das Geheimnis nicht.«

Pjotr Stepanowitsch bestand weiter nicht darauf.

»Hier soll ein gewisser Schatoff leben,« erkundigte sich plötzlich der
»große Schriftsteller«, »und denken Sie nur, ich habe ihn noch nie
gesehen.«

»Ein sehr guter Mensch. Warum fragen Sie?«

»Nur so, er soll über gewisse Dinge besonderer Ansicht sein. Das ist
doch derselbe, der Stawrogin ins Gesicht geschlagen hat?«

»Ja.«

»Und Stawrogin -- wie denken Sie über den?«

»Ich weiß nicht; irgendein Wüstling.«

Karmasinoff haßte Stawrogin, weil dieser die Gewohnheit hatte, ihn
überhaupt nicht zu beachten.

»Diesen Wüstling wird man wohl -- wenn sich jemals das verwirklicht, was
die Proklamationen da verkünden, -- wahrscheinlich als ersten an einen
Ast knüpfen,« meinte Karmasinoff kichernd.

»Vielleicht auch schon früher,« bemerkte plötzlich Pjotr Stepanowitsch.

»So wär's auch recht,« stimmte Karmasinoff bei.

»Das haben Sie schon einmal gesagt, und wissen Sie, ich habe es ihm
wiedererzählt.«

»Wie, haben Sie das wirklich?« lachte Karmasinoff wieder auf.

»Ja. Er sagte darauf, daß, wenn man _ihn_ an einen Ast knüpfen solle, es
für _Sie_ genügen würde, wenn man Ihnen einmal ordentlich Ruten gäbe,
aber nicht etwa um der Ehre willen, sondern schmerzhaft, wie man so
einem Burschen Ruten zu geben pflegt.«

Pjotr Stepanowitsch nahm seinen Hut und erhob sich. Karmasinoff streckte
ihm zum Abschied beide Hände entgegen.

»Aber wie,« fragte er plötzlich mit kreischendem, doch honigsüßem
Stimmchen in einem ganz besonderen Tonfall, während er ihn immer noch an
beiden Händen hielt, »-- wie, wenn es nun einmal alledem bestimmt ist,
sich zu verwirklichen ... alledem, was man da beabsichtigt, so ... wann
könnte denn das wohl geschehen?«

»Wie soll ich denn das wissen?« fragte Pjotr Stepanowitsch grob.

Sie sahen sich beide aufmerksam in die Augen.

»Nun, zum Beispiel? Ungefähr?« flötete Karmasinoff noch süßer.

»Ihr Gut zu verkaufen werden Sie noch Zeit haben, und sich selbst zu
retten werden Sie auch noch Zeit haben,« murmelte Pjotr Stepanowitsch
mit noch größerer Grobheit.

Sie sahen sich unverwandt, sahen sich noch aufmerksamer an.

Eine Minute lang herrschte Schweigen.

Plötzlich sagte Pjotr Stepanowitsch:

»Im nächsten Mai wird es beginnen, und zum Oktober wird es beendet
sein.«

»Ich danke Ihnen aufrichtig!« sagte mit von Dank durchdrungener Stimme
Karmasinoff und drückte ihm beide Hände.

»Wirst noch Zeit haben, Ratte, vom Schiff auszuwandern!« dachte Pjotr
Stepanowitsch, als er auf die Straße trat. »Aber wenn sogar dieser
>geradezu staatsmännische Kopf< sich so überzeugt schon nach Tag und
Stunde erkundigt und so ehrerbietig für die erhaltene Mitteilung dankt,
dann dürfen wir doch wahrlich nicht mehr an uns zweifeln.« (Er lächelte
seltsam). »Hm ... Aber er ist doch unter ihnen wirklich nicht dumm und
... aber alles in allem doch nur eine auswandernde Ratte; eine solche
zeigt nicht an.«

Er eilte in die Bogojawlenskstraße zum Filippoffschen Hause.


                                  VI.

Pjotr Stepanowitsch ging zuerst zu Kirilloff. Der war wie gewöhnlich
allein zu Hause und turnte gerade, d. h. er drehte, breitbeinig mitten
im Zimmer stehend, die Arme nach einer besonderen Methode durch die
Luft. Auf dem Fußboden lag ein großer Ball; vom Tisch war der Morgentee
noch nicht weggeräumt. Pjotr Stepanowitsch blieb eine ganze Weile auf
der Türschwelle stehen.

»Sie sorgen aber einstweilen nicht wenig für Ihre Gesundheit,« sagte er
dann laut und trat lustig ins Zimmer. »Was für ein famoser Ball! Ei der
Teufel, wie der springt! Auch zur Gymnastik?«

Kirilloff, der in Hemdsärmeln war, zog sich den Rock an.

»Ja, auch zur Gesundheit,« sagte er trocken. »Setzen Sie sich.«

»Ich bin nur auf einen Augenblick gekommen. Aber, na, setzen kann ich
mich schon. Doch Gesundheit hin, Gesundheit her, -- ich wollte nur an
die Abmachung erinnern. Unsere Frist nähert sich >in gewissem Sinne<
ihrem Ende,« schloß er mit einer ungeschickten Ausrede.

»Was für eine Abmachung?«

»Wieso, was für eine Abmachung?« rief Pjotr Stepanowitsch aufhorchend,
fast erschrocken.

»Das ist keine Abmachung und keine Pflicht, ich habe mich mit nichts
gebunden, Sie irren sich.«

»Hören Sie, aber das geht doch nicht so!« Pjotr Stepanowitsch sprang
sogar vom Stuhl auf.

»Mein eigener Wille.«

»Wie, was?«

»Derselbe Wille.«

»Das heißt, wie ist denn das zu verstehen?! Bedeutet das, daß Sie noch
denselben Willen haben?«

»Ja, das bedeutet das. Nur eine Abmachung war nicht dabei und ist nie
gewesen, und ich habe mich mit nichts gebunden. Es war nur mein Wille
und ist auch jetzt nur mein Wille.«

Kirilloff sprach schroff und widerwillig.

»Na, schön, dann meinetwegen bloß Ihr Wille, wenn dieser Wille sich nur
nicht verändert!« Pjotr Stepanowitsch setzte sich wieder,
augenscheinlich befriedigt. »Sie ärgern sich über Worte. In der letzten
Zeit sind Sie ganz besonders reizbar geworden. Darum habe ich es auch
vermieden, Sie zu besuchen. War übrigens immer überzeugt, daß Sie nicht
treulos sein würden.«

»Ich mag Sie gar nicht, aber Sie können ganz überzeugt sein! Wenn ich
auch Treue oder Untreue nicht anerkenne.«

»Aber, wissen Sie, einstweilen ...« Pjotr Stepanowitsch regte sich doch
wieder auf, »man muß doch vernünftig darüber reden, damit keine
Mißverständnisse entstehen. Die ganze Sache verlangt eben Bestimmtheit.
Sie aber haben mich wirklich stutzig gemacht. Darf ich sprechen?«

»Sprechen Sie,« sagte Kirilloff, blickte ihn aber nicht an, sondern sah
in die Ecke.

»Sie hatten schon längst beschlossen, sich das Leben zu nehmen ... das
heißt, Sie hatten solch eine Idee. Habe ich mich so richtig ausgedrückt?
Habe ich keinen Fehler gemacht?«

»Ich habe auch jetzt dieselbe Idee.«

»Vorzüglich. Vergessen Sie aber nicht, daß niemand Sie dazu gezwungen
hat.«

»Das fehlte noch! Wie dumm Sie sprechen!«

»Gut, gut. Ich gebe zu, daß ich mich vielleicht sehr töricht ausgedrückt
habe. Es wäre ja auch zweifellos sehr dumm gewesen, einen Menschen dazu
zwingen zu wollen. Ich fahre also fort: Sie waren ein Glied des
Verbandes -- noch zur Zeit der alten Organisation -- und vertrauten sich
damals einem anderen Gliede dieser Gesellschaft an.«

»Ich habe mich gar nicht anvertraut, ich habe einfach gesagt.«

»Gut. Schön. Wäre ja auch lächerlich, sich >anzuvertrauen<, als ob es
eine Beichte wäre! Sie haben also einfach gesagt ... na, wunderschön.«

»Nein, gar nicht wunderschön, Sie verstehen nicht zu sprechen. Ich bin
Ihnen gar keine Rechenschaft schuldig, ja, und meine Gedanken können Sie
gar nicht verstehen. Ich will mir das Leben nehmen, darum, weil ich
solch einen Gedanken habe, weil ich nicht haben will, daß es Angst vor
dem Tode gibt, weil ... weil Sie davon gar nichts zu wissen brauchen ...
Was wollen Sie? Tee trinken? Er ist kalt. Warten Sie, ich werde Ihnen
ein anderes Glas geben.«

Pjotr Stepanowitsch hatte nach der Teekanne gegriffen und suchte ein
leeres Gefäß. Kirilloff stand auf, ging zum Schrank und brachte ihm ein
reines Glas.

»Ich habe soeben bei Karmasinoff gefrühstückt,« bemerkte der Gast,
»darauf hörte ich zu, wie er redete und da wurde mir heiß ... lief
hierher -- habe jetzt schrecklichen Durst.«

»Trinken Sie. Kalter Tee ist gut.«

Kirilloff setzte sich wieder auf seinen Stuhl und blickte von neuem in
die Ecke.

»In der Gesellschaft entstand der Gedanke,« fuhr er mit derselben Stimme
fort, »daß ich damit nützlich sein kann, wenn ich mich töte und daß,
wenn Sie hier vieles gemacht haben und man die Schuldigen sucht, so
erschieße ich mich plötzlich und hinterlasse einen Brief, daß ich alles
getan habe, so daß man Sie ein Jahr lang nicht verdächtigen wird.«

»Wenn auch nur ein paar Tage lang nicht. Auch ein Tag ist schon
kostbar!«

»Gut. So sagte man mir, daß ich, wenn ich will, warten soll. Ich sagte,
ich werde warten, bis man mir die Frist von der Gesellschaft aus sagt,
weil mir doch alles einerlei ist.«

»Ja, aber vergessen Sie nicht, Sie verpflichteten sich noch, diesen
letzten Brief vor dem Tode nicht anders als mit mir zusammen zu
schreiben -- und, daß Sie, wenn Sie in Rußland angekommen sein würden,
in meiner, ... na, mit einem Worte, zu meiner Verfügung stehen, das
heißt, versteht sich, nur in dieser einen Beziehung ... In allen anderen
sind Sie natürlich vollkommen frei,« fügte Pjotr Stepanowitsch fast
liebenswürdig hinzu.

»Ich habe mich nicht verpflichtet, war nur einverstanden, weil es mir
einerlei ist.«

»Vorzüglich, vorzüglich, ich habe nicht die geringste Absicht, Ihre
Eigenliebe zu verletzen, aber ...«

»Hier ist gar keine Eigenliebe.«

»Aber vergessen Sie nicht, daß man Ihnen hundertundzwanzig Taler zur
Reise gegeben hat, also haben Sie Geld genommen.«

»Gar nicht,« fuhr Kirilloff auf, »das Geld war gar nicht dafür! Das tut
man nicht für Geld.«

»Zuweilen tut man es doch.«

»Sie lügen! Ich habe brieflich aus Petersburg alles erklärt, und in
Petersburg habe ich Ihnen hundertundzwanzig Taler zurückgezahlt, Ihnen
in die Hand ... und die sind dorthin zurückgeschickt, wenn Sie sie nicht
bei sich behalten haben.«

»Gut, gut, ich will nicht widersprechen, sie sind zurückgeschickt. Die
Hauptsache ist ja nur, daß Sie noch dieselben Gedanken haben, wie
früher.«

»Dieselben. Wenn Sie kommen und sagen: >jetzt<, dann werde ich alles
erfüllen. Wie -- wird es sehr bald sein?«

»Nicht mehr viele Tage ... Aber vergessen Sie nicht: den Brief schreiben
wir zusammen, in derselben Nacht.«

»Meinetwegen auch am Tage. Sie sagten, ich muß die Proklamationen auf
mich nehmen?«

»Und noch einiges.«

»Ich nehme nicht alles auf mich.«

»Was werden Sie denn nicht auf sich nehmen?« Pjotr Stepanowitsch
erschrak wieder.

»Das, was ich nicht will. Genug jetzt. Ich mag nicht mehr davon
sprechen.«

Pjotr Stepanowitsch bezwang sich und änderte das Gespräch.

»Ich rede jetzt von etwas anderem,« schickte er voraus, »werden Sie
heute Abend zu den Unsrigen kommen? Wirginski feiert seinen Namenstag,
und unter diesem Vorwande versammelt man sich.«

»Nein, ich will nicht.«

»Nun, seien Sie schon so liebenswürdig und kommen Sie. Es ist unbedingt
nötig. Man muß Eindruck machen mit der Zahl wie mit dem Gesicht ... Sie
aber haben so ein Gesicht ... nun, mit einem Wort, Sie haben ein fatales
Gesicht.«

»Sie finden?« Kirilloff lachte. »Gut, ich komme; aber nicht wegen des
Gesichtes. Wann?«

»O, vielleicht schon etwas früher, um halb sieben. Und wissen Sie, Sie
können hereinkommen, sich setzen und mit keinem einzigen ein Wort
sprechen, wie viele da auch sein mögen. Doch noch eines! Hören Sie:
vergessen Sie nicht, ein Blatt Papier und einen Bleistift mitzunehmen.«

»Wozu das?«

»Aber Ihnen ist doch alles einerlei, und das ist nun einmal meine
besondere Bitte. Sie werden also nur sitzen, mit niemandem sprechen,
zuhören und hin und wieder so was wie Notizen machen, na -- zeichnen Sie
meinetwegen.«

»Welch ein Unsinn. Wozu?«

»Aber wenn Ihnen doch alles ganz egal ist? Sie sagen doch selbst immer,
daß Ihnen alles egal ist.«

»Nein, wozu?«

»Na, weil ein bestimmtes Mitglied des Bundes, der Revisor, sich in
Moskau niedergelassen hat, und ich habe da einigen gesagt, daß er
vielleicht erscheinen wird. Sie werden dann denken, daß Sie dieser
Revisor sind. Und da Sie schon drei Wochen hier sind, so wird man sich
noch mehr wundern.«

»Albernheiten. Sie haben ja überhaupt keinen Revisor in Moskau ...«

»Na, meinetwegen nicht, hol ihn der Teufel, aber was macht denn Ihnen
das aus? Sie sind doch immerhin auch ein Glied des Bundes.«

»Sagen Sie ihnen meinetwegen, daß ich der Revisor bin, ich werde sitzen
und schweigen, aber Papier und Bleistift will ich nicht.«

»Ja, warum denn nicht?«

»Ich will nicht.«

Pjotr Stepanowitsch ärgerte sich dermaßen, daß er ganz fahl im Gesicht
wurde, bezwang sich aber wieder; er stand auf und nahm seinen Hut.

»Und _jener_ -- ist bei Ihnen?« fragte er plötzlich halblaut.

»Ja, bei mir.«

»Das ist gut. Ich werde ihn bald wieder fortschaffen, beunruhigen Sie
sich nicht.«

»Ich beunruhige mich gar nicht. Er schläft nur hier. Die Alte ist im
Krankenhaus. Die Schwiegertochter ist gestorben; ich bin zwei Tage
allein. Ich habe ihm eine Stelle im Zaun gezeigt, wo er ein Brett
herausnehmen kann; er kriecht durch, niemand sieht ihn.«

»Ich werde ihn schon bald nehmen.«

»Er sagte, daß er viele Stellen hat, wo er übernachten kann.«

»Das lügt er, man sucht ihn, hier aber ist es noch unverdächtig. Lassen
Sie sich denn mit ihm in Gespräche ein?«

»Ja, die ganze Nacht. Er schimpft sehr auf Sie. Ich lese ihm in der
Nacht die Apokalypse vor. Und Tee. Er hört aufmerksam zu, sogar sehr,
die ganze Nacht.«

»Zum Teufel, Sie bekehren ihn mir noch zum Christentum!«

»Er ist auch so schon Christ. Seien Sie unbesorgt, er wird schon
erstechen. Wen wollen Sie ermorden lassen?«

»Nein, ich habe ihn nicht zu dem Zweck ... ich brauche ihn zu etwas
anderem ... Aber Schatoff, weiß der etwas von Fedjka?«

»Ich spreche nicht mit Schatoff, ja, und sehe ihn auch gar nicht.«

»Ärgert sich wohl über Sie, was?«

»Nein, wir ärgern uns nicht, wir wenden uns nur ab. Haben zu lange in
Amerika zusammen auf dem Stroh gelegen.«

»Ich werde jetzt gleich zu ihm gehen.«

»Wie Sie wollen.«

»Vielleicht komme ich mit Stawrogin auf einen Augenblick auch zu Ihnen,
auf dem Rückwege von _dort_, so um zehn Uhr.«

»Kommen Sie.«

»Ich muß über Wichtiges mit ihm sprechen. Wissen Sie was, schenken Sie
mir Ihren Ball -- wozu brauchen Sie ihn jetzt noch? Ich will ihn
gleichfalls zur Gymnastik. Übrigens kann ich Ihnen ja auch Geld für ihn
zahlen, wenn Sie wollen.«

»Nehmen Sie ihn so.«

Pjotr Stepanowitsch steckte den Ball in die hintere Rocktasche.

»Aber ich gebe Ihnen nichts gegen Stawrogin,« sagte Kirilloff plötzlich
leise, während er den Gast hinausließ.

Der sah ihn erstaunt an, doch sagte er nichts.

Die letzten Worte Kirilloffs verwirrten Pjotr Stepanowitsch nicht wenig,
aber er begriff sie noch nicht ganz. Doch jedenfalls strengte er sich
an, auf dem Wege zu Schatoff sein unzufriedenes Gesicht in ein
freundliches zu verwandeln. Schatoff war zu Hause und lag, da er sich
nicht wohlfühlte, auf dem Bett, war aber vollkommen angekleidet.

»Das ist aber ein Pech!« rief Pjotr Stepanowitsch von der Tür aus. »Sind
Sie ernstlich krank?«

Der liebenswürdige Ausdruck seines Gesichts verschwand plötzlich: etwas
Böses blitzte in seinen Augen.

»Durchaus nicht,« rief Schatoff, nervös aufspringend. »Ich bin
keineswegs krank, habe nur ein wenig Kopfschmerzen.«

Er war sogar sichtlich befangen, denn das plötzliche Erscheinen gerade
dieses Menschen erschreckte ihn.

»Ich bin in einer Angelegenheit zu Ihnen gekommen, zu der Kranksein
nicht paßt,« begann Pjotr Stepanowitsch schnell und gewissermaßen
gebieterisch. »Erlauben Sie, daß ich mich setze,« -- er setzte sich auf
einen Stuhl -- »und Sie, legen Sie sich mal wieder auf Ihre Pritsche.
Heute werden sich die Unsrigen bei Wirginski versammeln, er feiert
seinen Namenstag, und das dient als Vorwand. Aber es ist schon alles
vorgesehen, damit es keine andere Nuance annimmt. Ich werde mit Nicolai
Stawrogin hinkommen. Selbstverständlich würde ich Sie jetzt nicht
dorthin ziehen, da ich ja Ihre jetzigen Anschauungen kenne ... das
heißt, ich meine -- um Sie nicht zu reizen, und nicht etwa, weil wir von
Ihnen angezeigt zu werden fürchten. Aber leider hat es sich so gemacht,
daß Sie hinkommen müssen. Sie werden dort diejenigen treffen, mit denen
wir dann endgültig beraten können, wie es für Sie möglich ist, aus dem
Verbande auszuscheiden, und wem Sie das abgeben sollen, was Sie von uns
besitzen. Wir machen es ganz unauffällig: ich werde Sie in eine Ecke
führen, denn es sind dort viele Menschen, die nichts davon zu wissen
brauchen. Ich muß gestehen, ich habe Ihretwegen meine Zunge gehörig
anstrengen müssen, glaube aber, daß sie jetzt vollkommen einverstanden
sind, Sie frei zu geben, versteht sich, unter der Bedingung, daß Sie die
Druckmaschine und alle Papiere abliefern. Dann sind Sie frei und können
gehen, wohin Sie wollen, nach allen vier Himmelsrichtungen.«

Schatoff hörte ihm finster und böse zu. Seine erste nervöse Aufregung
war vollständig vergangen.

»Ich erkenne diese Pflicht, weiß der Teufel wem da Rechenschaft geben zu
müssen, nicht an,« sagte er schroff. »Niemand kann mich >frei geben<.«

»Das ist doch wohl nicht ganz so. Man hat Ihnen vieles anvertraut. Sie
hatten nicht das Recht, so abzubrechen. Und schließlich haben Sie sich
niemals klar darüber ausgedrückt.«

»Als ich hierher kam, habe ich es Ihnen klar und deutlich geschrieben.«

»Nein, nicht klar und deutlich,« bestritt Pjotr Stepanowitsch ruhig.
»Ich schickte Ihnen zum Beispiel >Die helle Persönlichkeit<, damit Sie
das Gedicht drucken und die Exemplare hier irgendwo bei sich
aufbewahren, bis sie abverlangt werden würden. Dazu noch zwei
Proklamationen. Sie schickten alles mit einem zweideutigen Brief zurück,
der eigentlich nichts sagte.«

»Ich habe mich offen und ehrlich geweigert, es zu drucken.«

»Nein, nicht offen. Sie schrieben: >ich kann nicht<, aber Sie sagten
nicht, warum Sie nicht können. >Ich kann nicht< heißt nicht >ich will
nicht<. Man konnte also denken, daß Sie einfach aus materiellen Gründen
nicht können. So hat man es denn auch aufgefaßt, -- daß Sie immerhin
einverstanden sind, in dem Verbande zu bleiben und man Ihnen wieder
etwas anvertrauen, also sich gegebenenfalls bloßstellen kann. Einige
sagen, daß Sie uns offenbar haben betrügen wollen, um zu denunzieren,
sobald Sie irgendeine wichtigere Mitteilung erhielten. Ich habe Sie
natürlich verteidigt, wie ich nur konnte, und zeigte Ihre briefliche
Antwort vor, jene zwei Zeilen, als ein Dokument zu Ihrer Rechtfertigung.
Aber ich mußte selbst zugeben, als ich den Brief dann nochmals las, daß
er wirklich nicht eindeutig ist und leicht irreführen kann.«

»Sie haben diesen Brief so sorgfältig verwahrt?«

»Das hat weiter nichts zu sagen, daß er sich noch erhalten hat. Ich habe
ihn auch jetzt bei mir.«

»Eh, machen Sie doch damit, was Sie wollen, zum Teufel! ...« schrie
Schatoff zornig auf. »Mögen doch Ihre Dummköpfe meinetwegen glauben, daß
ich denunziert habe, was geht das mich an! Ich möchte bloß sehen, was
Sie mir anhaben können!«

»Man würde Sie sich notieren und beim ersten Erfolg der Revolution
aufknüpfen.«

»Das heißt, dann, wenn Ihr die Macht ergriffen und Rußland besiegt
habt?«

»Lachen Sie nicht. Ich wiederhole, daß ich Sie verteidigt habe. Aber wie
dem auch sei, ich würde Ihnen doch raten, heute hinzukommen. Wozu so
viele unnütze Worte aus irgendeinem falschen Stolz? Ist es nicht besser,
friedlich auseinander zu gehen? Jedenfalls werden Sie doch das Gestell,
die alten Buchstaben und das Papier abgeben müssen, und gerade darüber
wollen wir ja sprechen.«

»Ich werde kommen,« brummte Schatoff endlich, nachdenklich den Kopf
gesenkt.

Pjotr Stepanowitsch beobachtete ihn heimlich von seinem Platze aus.

»Wird Stawrogin dort sein?« fragte Schatoff plötzlich und erhob den
Kopf.

»Unbedingt.«

»Ha--ha!«

Wieder schwiegen sie. Schatoff lächelte verächtlich und gereizt.

»Und diese Ihre erbärmliche >helle Persönlichkeit<, die ich hier nicht
drucken wollte -- ist die jetzt gedruckt?«

»Ja, sie ist gedruckt.«

»Gymnasistoff versichert, daß Herzen sie Ihnen persönlich ins Album
geschrieben haben soll?«

»Ja, Herzen persönlich.«

Wieder schwiegen sie eine lange Zeit. Endlich stand Schatoff von seinem
Bette auf.

»Gehen Sie fort von mir, ich will nicht mit Ihnen zusammensitzen.«

»Ich gehe schon,« sagte Pjotr Stepanowitsch gleichsam lustig und erhob
sich schnell. »Nur noch ein Wort: Kirilloff scheint jetzt ganz allein im
Flügel zu wohnen, ohne Aufwartefrau?«

»Ja, ganz allein. Gehen Sie, ich kann nicht mit Ihnen in einem Zimmer
sein.«

»Na, du bist ja jetzt vorzüglich!« dachte Pjotr Stepanowitsch heiter,
als er auf der Straße war. »Wirst ja heute abend gut sein, und so brauch
ich dich gerade, besser könnte ich's gar nicht wünschen, gar nicht
wünschen! Der russische Gott scheint ja selber noch zu helfen!«


                                  VII.

Es ist anzunehmen, daß ihm an diesem vielgeschäftigen Tage alles gut
gelang, denn als er am Abend um sechs Uhr bei Nicolai Stawrogin
erschien, drückte sich auf seinem Gesicht volle Selbstzufriedenheit aus.
Man ließ ihn jedoch nicht sofort vor: Stawrogin hatte gerade Besuch:
Mawrikij Nicolajewitsch war bei ihm, in seinem Arbeitszimmer. Das gefiel
nun Pjotr Stepanowitsch äußerst wenig und bereitete ihm sogleich Sorge.
Er setzte sich dicht neben die Tür hin, um den Gast, wenn dieser das
Zimmer verließ, sehen zu können. Die Stimmen der beiden konnte er hören,
doch die Worte ließen sich nicht unterscheiden. Der Besuch Drosdoffs
dauerte nicht lange: alsbald vernahm er das Geräusch von fortgeschobenen
Stühlen, eine laute, erregte Stimme, und dann öffnete sich auch schon
die Türe. Mawrikij Nicolajewitsch trat mit bleichem Gesicht heraus und
ging schnell an Pjotr Stepanowitsch vorüber, ohne ihn zu bemerken.
Dieser lief sofort ins Arbeitszimmer.

Doch zunächst muß ich jetzt berichten, was während dieses äußerst kurzen
Zusammenseins der beiden »Nebenbuhler« vorging -- während dieses
Besuches, den man aus gewissen Gründen, im Hinblick auf die besonderen
Verhältnisse, für unmöglich halten mußte, und der doch stattfand.

Nicolai Wszewolodowitsch hatte sich nach dem Essen in seinem
Arbeitszimmer auf dem Diwan ausgestreckt und war halb eingeschlummert,
als plötzlich der alte Diener Alexei Jegorowitsch eintrat und den
unerwarteten Besuch Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoffs meldete. Als
Stawrogin diesen Namen hörte, sprang er sogar auf und wollte es zuerst
gar nicht glauben. Doch alsbald legte sich ein Lächeln um seine Lippen
-- ein Lächeln hochmütigen Triumphes und zu gleicher Zeit wie einer
gewissen stumpfen, mißtrauischen Verwunderung. Den eintretenden Mawrikij
Nicolajewitsch machte dieses Lächeln, wie es schien, stutzig, wenigstens
blieb er plötzlich mitten im Zimmer stehen, als sei er unentschlossen --
sollte er weitergehen, oder umkehren? Doch Stawrogins Miene hatte sich
bereits wieder verändert und er trat dem Gast sogar entgegen. Mawrikij
Nicolajewitsch übersah freilich die entgegengestreckte Hand, zog einen
Stuhl heran und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, noch bevor ihn
Stawrogin dazu aufgefordert hatte. Dieser setzte sich darauf ihm
gegenüber auf den Diwan, und während er seinen Gast aufmerksam
betrachtete, schwieg er und wartete.

»Wenn es Ihnen möglich ist, so heiraten Sie Lisaweta Nicolajewna,« sagte
plötzlich Mawrikij Nicolajewitsch, und zwar so, daß man, was das
Merkwürdigste war, aus der Stimme, der Intonation überhaupt nicht
heraushören konnte, was das nun war: eine Bitte, eine Empfehlung, eine
Abtretung, oder ein Befehl.

Stawrogin fuhr fort zu schweigen. Doch Drosdoff schien bereits alles
gesagt zu haben, was er sagen wollte, und sah jetzt, in Erwartung einer
Antwort, starr vor sich hin.

»Wenn ich mich nicht irre, was mir jetzt ausgeschlossen erscheint, so
ist Lisaweta Nicolajewna schon mit _Ihnen_ verlobt,« sagte Stawrogin
endlich.

»Ja, sie hat sich mit mir verlobt,« bestätigte fest und deutlich
Mawrikij Nicolajewitsch.

»Sie ... haben sich entzweit ... Verzeihen Sie, Mawrikij Nicolajewitsch
--«

»Nein, sie >liebt und achtet< mich, nach ihren eigenen Worten. Und ihre
Worte gehen mir über alles.«

»Daran ist selbstredend nicht zu zweifeln.«

»Aber wenn sie mit mir schon in der Kirche vor dem Altar stünde und Sie
sie riefen, so würde sie doch mich und alle verlassen und zu Ihnen
gehen.«

»Vom Altar?«

»Ja, vom Altar.«

»Täuschen Sie sich nicht?«

»Nein. Unter ihrem Haß, dem aufrichtigsten und stärksten Haß, den sie
für Sie empfindet, lodert doch jeden Augenblick ihre Liebe hervor, und
... ihr Wahnsinn ... die größte, die grenzenloseste Liebe und -- wie
gesagt: ihr Wahnsinn! Andererseits aber, aus _der_ Liebe, die sie für
mich empfindet, gleichfalls aufrichtig empfindet, bricht immer und immer
wieder der Haß -- der allergrößte Haß hervor. Ich hätte früher alle
diese ... Metamorphosen nie für möglich gehalten.«

»Mich wundert nur, wie Sie so einfach über Lisaweta Nicolajewnas Hand
verfügen können? Haben Sie ein Recht dazu? Oder sind Sie von ihr
bevollmächtigt?«

Mawrikij Nicolajewitschs Gesicht verfinsterte sich und er senkte auf
einen Augenblick den Kopf.

»Wozu diese Phrasen?« fragte er plötzlich. »Das sind doch nur
rachsüchtige Worte von Ihnen. Ich bin überzeugt, daß Sie das
Nichtausgesprochene sehr wohl verstehen. Und ist denn hier Platz für
kleinliche Eitelkeit? Ist das noch zu wenig Genugtuung für Sie? Soll man
denn noch den Punkt aufs i setzen? Nun gut, dann werde ich auch noch den
Punkt aufs i setzen, wenn Sie meine Erniedrigung so wünschen. Also: Ein
Recht dazu habe ich nicht; eine Bevollmächtigung ist doch
ausgeschlossen. Lisaweta Nicolajewna weiß nichts davon, ihr Verlobter
aber hat den letzten Verstand verloren und ist fürs Irrenhaus reif und
obendrein -- obendrein kommt er noch selbst und teilt Ihnen das mit. In
der ganzen Welt sind es nur Sie allein, der Lisa wirklich glücklich
machen kann! Und nur ich allein, der sie unglücklich machen kann! Sie
wollen sie niemandem abtreten, Sie verfolgen sie, aber Sie heiraten sie
nicht. Ich weiß nicht, warum Sie das nicht tun. Liegt hier ein
Mißverständnis vor, das vielleicht schon im Auslande entstanden ist,
oder ein Liebesstreit, und muß man, um ihn beilegen zu können, etwa --
mich ausstreichen ... so tun Sie es. Sie ist zu unglücklich, und das
kann ich nicht mehr ertragen. Was ich sage, soll Ihnen nichts
vorschreiben, und darum kann auch Ihre Eigenliebe gar nicht verletzt
sein. Wenn Sie meinen Platz am Altar einnehmen wollten, so könnten Sie
das ohne jegliche >Erlaubnis< meinerseits tun, und ich hätte es mir
sparen können, so zu Ihnen zu kommen. Um so mehr, als unsere Hochzeit
nach meiner jetzigen Handlungsweise sowieso unmöglich geworden ist. Ich
kann sie doch nicht mehr zum Altar führen, nachdem ich hier so
gehandelt, so gemein gehandelt habe. Denn das, was ich hier tue, daß ich
sie Ihnen, vielleicht ihrem schlimmsten Feinde, einfach übergebe, ist
meiner Meinung nach eine solche Gemeinheit, daß ich sie
selbstverständlich nicht werde überleben können.«

»Sie werden sich erschießen, wenn man uns traut?«

»Nein, erst viel später. Warum soll ich mit meinem Blut ihr
Hochzeitskleid beflecken? Vielleicht werde ich mich auch nicht
erschießen, weder jetzt, noch später.«

»Mit diesem Nachsatz wollen Sie mich wohl beruhigen?«

»Sie beruhigen? Was macht Ihnen denn ein Tropfen mehr verspritzten
Blutes aus?«

Er erbleichte und seine Augen begannen zu brennen. Sie schwiegen beide
eine Zeitlang.

»Verzeihen Sie mir, bitte, die an Sie gestellten Fragen,« begann
Stawrogin von neuem. »Zu einigen hatte ich durchaus kein Recht, doch um
so mehr habe ich das, glaube ich, zu einer anderen Frage: sagen Sie mir,
was Sie eigentlich veranlaßt hat, in mir solche Gefühle zu Lisaweta
Nicolajewna vorauszusetzen? Ich meine, daß Sie so überzeugt waren, um zu
mir kommen zu können ... und solch einen Antrag zu wagen?«

»Wie?« Mawrikij Nicolajewitsch zuckte zusammen. »-- Haben Sie denn nicht
bei ihr angehalten? Werben Sie denn jetzt nicht um sie und wollen Sie es
auch später nicht tun?«

»Über meine Gefühle zu dieser oder jener Frau vermag ich nicht laut zu
einem Dritten zu sprechen, zu wem es auch sei, außer zu dieser Frau
selbst. Verzeihen Sie, aber das ist nun einmal meine Eigenart. Doch
dafür werde ich Ihnen die ganze übrige Wahrheit sagen: ich bin bereits
verheiratet, und so ist mir ein Heiraten oder >Werben< schon nicht mehr
möglich.«[45]

Mawrikij Nicolajewitsch fuhr förmlich zurück vor Bestürzung, und starrte
Stawrogin eine Weile unbeweglich ins Gesicht.

»Denken Sie sich ... das habe ich wirklich nicht gedacht,« murmelte er
endlich. »Sie sagten an jenem Morgen, daß Sie nicht verheiratet seien
... und so glaubte ich, Sie wären wirklich unverheiratet.«

Er erblaßte unheimlich. Plötzlich schlug er aus aller Kraft mit der
Faust auf den Tisch.

»Wenn Sie nach solch einem Bekenntnis Lisaweta Nicolajewna nicht in Ruhe
lassen und sie ins Unglück bringen, so schlage ich Sie tot, wie einen
Hund hinterm Zaun!«

Damit sprang er auf und verließ das Zimmer. Pjotr Stepanowitsch lief
schnell hinein -- fand aber den Hausherrn in einer von ihm völlig
unerwarteten Gemütsverfassung.

»Ah, das sind Sie!« rief Stawrogin und lachte laut auf --, lachte, wie
es schien, nur über die Erscheinung Pjotr Stepanowitschs, der mit so
maßlos neugierigem Gesicht hereingeeilt kam.

»Haben Sie an der Tür gehorcht? Warten Sie, warum sind Sie doch jetzt
gekommen? Habe ich Ihnen nicht irgend etwas versprochen ... Ach,
richtig! ich weiß schon: zu den >UnsrigenUnsrigenDie ernsten Dummköpfe<, wie Sie sich einmal auszudrücken beliebten.«

»Es gibt nichts Lustigeres, als manch einen ernsten Dummkopf.«

»Ah, Sie denken an Mawrikij Nicolajewitsch! Bin überzeugt, daß er zu
Ihnen gekommen war, um seine Braut abzutreten -- wie? Das habe ich ihm
indirekt eingeblasen, wenn Sie es wissen wollen! Und wenn er sie nicht
abtreten will, so nehmen wir sie eigenmächtig -- wie?«

Pjotr Stepanowitsch wußte natürlich, was er wagte, wenn er sich solche
Reden erlaubte; doch lieber wagte er schon alles, als daß er die
Ungewißheit noch länger ertrug. Nicolai Wszewolodowitsch aber lachte
nur.

»Und Sie beabsichtigen immer noch, mir zu helfen?« fragte er.

»Sobald Sie rufen. Aber wissen Sie auch, daß es einen anderen, noch viel
besseren Weg gibt?«

»Ich kenne Ihren Weg.«

»Nun, nein, der ist vorläufig noch ein Geheimnis. Nur vergessen Sie
nicht, daß das Geheimnis Geld kostet.«

»Ich weiß auch, wieviel es kostet,« brummte Stawrogin vor sich hin,
bezwang sich aber sofort und verstummte.

»Wie viel? Wie? Was sagten Sie?« fuhr Pjotr Stepanowitsch auf.

»Ich sagte: zum Teufel mit Ihnen samt dem Geheimnis. Sagen Sie mir
lieber, wer dort sein wird. Ich weiß, daß wir zum Namensfest gehen, aber
wen wird man dort eigentlich antreffen?«

»Oh, alle möglichen Leute! Sogar Kirilloff wird dort sein.«

»Alles Mitglieder von Gruppen?«

»Teufel noch eins, Sie beeilen sich aber! Hier hat sich noch nicht
einmal eine einzige Gruppe gebildet.«

»Wie haben Sie denn so viele Proklamationen verbreiten können?«

»Dort werden im ganzen nur vier Mitglieder der Gruppe sein. Die übrigen
bespionieren sich mittlerweile um die Wette, und teilen mir alles mit.
Wirklich vielversprechendes Volk! Alles Material, das man organisieren
muß und dann kann man sich aus dem Staube machen. Aber Sie haben ja
selbst unser Gesetzbuch geschrieben. Da braucht man Ihnen doch nichts
mehr zu erklären.«

»Nun wie, es geht wohl schwer? Ist es mißglückt?«

»Wie es geht? Wie man es sich leichter gar nicht wünschen kann. Warten
Sie, ich werde Sie zum Lachen bringen! Also, das erste, das ungeheuer
wirkt -- das ist die Montur. Es gibt nichts, das eine größere Zugkraft
hätte, als diese. Ich denke mir absichtlich Titel und Posten aus: habe
da Sekretäre, Geheime Kundschafter, Vorsitzende, Registratoren, deren
Gehilfen -- das gefällt ungemein und wirkt vorzüglich. Darauf, die
zweite Kraft, das ist die Sentimentalität, versteht sich. Wissen Sie,
der Sozialismus verbreitet sich ja bei uns hauptsächlich infolge der
Sentimentalität der Leute. Nur eines ist hier ein wahrer Jammer -- das
sind diese beißenden Leutnants. Da ist man nie sicher. Dann kommen die
echten Spitzbuben. Nun, das ist ein guter Schlag, zuweilen ungemein
vorteilhaft, doch muß man viel Zeit auf sie vergeuden: verlangen
ununterbrochene Aufsicht. Na, und dann natürlich die Hauptkraft -- der
Zement, der alles zusammenhält -- das ist die Schande, eine eigene
Meinung zu haben. Ich sag' Ihnen, das ist mir mal eine Kraft! Wer das
nur so eingerichtet haben mag? und welcher >liebe Kerl< uns da wohl so
nett vorgearbeitet hat, daß auch wirklich keine einzige eigene Idee in
irgendeinem Kopf geblieben ist! Halten so was geradezu für eine
Schande.«

»Aber wenn es so ist, wozu mühen Sie sich dann noch?«

»Ja aber, wenn es doch so einfach ist, öffnet sich ja der Mund von
selber -- wie soll man sie da nicht schlucken! Als ob Sie im Ernst nicht
glaubten, daß ein Erfolg möglich ist? He, der Glaube ist ja da, aber das
Wollen fehlt. Aber gerade mit solchen ist der Erfolg nur möglich. Ich
sage Ihnen, sie gehen mir durchs Feuer -- man braucht ihnen nur zu
sagen, daß sie nicht genügend liberal sind. Die Esel werfen mir übrigens
vor, daß ich sie alle mit einem >Zentralkomitee< und >zahllosen
Verzweigungen< beschwindelt haben soll. Sie selbst haben es mir ja auch
einmal vorgeworfen -- aber wie kann denn hier von Beschwindeln die Rede
sein? Das Zentralkomitee sind doch -- ich und Sie, und an Verzweigungen
werden alsbald so viele vorhanden sein, wie man sich nur wünscht.«

»Und durchweg solches Pack?«

»Nur Material. Auch dies wird zustatten kommen.«

»Sie rechnen noch immer auf mich?«

»Sie sind der Führer, Sie sind die Kraft; ich werde nur seitlich neben
Ihnen stehen als Sekretär. Und dann, wissen Sie, setzen wir uns >in eine
Barke und die Ruder sind aus Eichenholz und die Segel sind aus
Seidenzeug, und außerdem sitzt da die schöne Braut, die lichte Lisaweta
Nicolajewna< ... oder weiß der Teufel wie es da im alten Volkslied heißt
...«

»Und stocken schon,« lachte Stawrogin. »Nein, ich werde Ihnen einen
besseren Zusatz sagen. Sie zählen da an den Fingern her, aus welchen
Kräften sich die Gruppen zusammensetzen? Das ist doch alles Beamtengeist
und Sentimentalität -- meinetwegen auch ein guter Kleister, aber es gibt
doch einen noch weit besseren: bereden Sie mal vier Mitglieder, dem
fünften den Garaus zu machen, unter dem Vorwand, daß er denunzieren
wird, und Sie binden sie alle mit dem vergossenen Blut wie mit einem
Strick zusammen. Dann werden sie zu Ihren Sklaven und werden nie mehr
wagen, widerspenstig zu sein oder Abrechnungen zu verlangen.
Ha--ha--ha!«

»Also so bist du ... na warte ... diese Worte wirst du mir bezahlen
müssen,« dachte Pjotr Stepanowitsch bei sich -- »und zwar noch heute
abend.«

So, oder fast so mußte Pjotr Stepanowitsch bei sich denken.

Inzwischen hatten sie den Weg zum Wirginskischen Hause schon
zurückgelegt -- das Haus war schon zu sehen.

»Sie haben mich natürlich als irgendein großes Tier hingestellt -- mit
Beziehungen zur _Internationale_, oder als Revisor?« fragte plötzlich
Stawrogin.

»Nein, nicht als Revisor; der Revisor wird ein anderer sein. Aber Sie
sind der Gründer, der Anordner aus dem Auslande, der die wichtigsten
Geheimnisse kennt -- das ist Ihre Rolle. Sie werden natürlich reden?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sie sind jetzt verpflichtet zu reden.«

Stawrogin blieb vor Verwunderung sogar mitten auf der Straße stehen,
nicht weit von einer Laterne. Pjotr Stepanowitsch hielt frech und ruhig
seinen Blick aus. Stawrogin spie aus und ging weiter.

»Werden Sie denn reden?« fragte er plötzlich Pjotr Stepanowitsch.

»Nein, ich werde lieber zuhören, wenn Sie reden.«

»Der Teufel hole Sie! ... Aber Sie geben mir wirklich eine Idee!«

»Was für eine?« Pjotr Stepanowitsch horchte sofort auf.

»Ich werde dort meinetwegen reden, aber dafür werde ich Sie dann nachher
durchprügeln, aber gründlich.«

»Bei der Gelegenheit: ich habe vorhin Karmasinoff gesagt, Sie hätten
einmal über ihn geäußert, daß man ihm kräftig Ruten geben müßte, und
zwar nicht um der Ehre willen, sondern einfach, wie man einen Burschen
drischt, schmerzhaft.«

»Aber das habe ich doch nie gesagt, ha--ha!«

»Macht nichts. _Se non è vero._«

»Nun, danke, besten Dank.«

»Aber wissen Sie, was dieser Karmasinoff noch sagte: daß unsere Lehre im
Grunde genommen die Verneinung der Ehre ist, und daß man mit dem
öffentlichen Recht auf Ehrlosigkeit einen Russen am leichtesten ködern
kann.«

»Aber das ist ja eine ausgezeichnete Bemerkung! Ganz wunderbar!« rief
Stawrogin. »Da hat er wirklich den Nagel gerade auf den Kopf getroffen!
Das Recht auf Ehrlosigkeit -- aber dann laufen ja alle zu uns über, kein
einziger bleibt dort! Übrigens hören Sie, Werchowenski, sind Sie nicht
von der höheren Polizei?«

»Wer solche Fragen im Sinne hat, der spricht sie nicht aus.«

»Verstehe, aber wir sind ja jetzt unter uns.«

»Nein, vorläufig noch nicht von der höheren Polizei. Genug davon, wir
sind schon angekommen. Komponieren Sie mal Ihre Physiognomie, Stawrogin.
Ich tue das jedesmal, wenn ich bei diesen erscheine. Nur etwas mehr
Finsterheit, und das ist alles, weiter braucht man nichts; sehr einfache
Sache.«




                           Zwölftes Kapitel.
                            Bei den Unsrigen


                                   I.

Wirginski wohnte in seinem eigenen Hause, oder richtiger, in dem seiner
Frau. Es war ein einstöckiges Holzgebäude, das keine anderen Mieter
hatte. Unter dem Vorwande, daß der Hausherr seinen Namenstag feiern
wolle, versammelten sich an diesem Abend bei ihm ungefähr fünfzehn
Gäste, doch glich die kleine Abendgesellschaft sehr wenig den bei uns in
der Provinz üblichen »Geburtstagsgesellschaften«. Das Ehepaar Wirginski
war schon gleich zu Anfang seiner Ehe darin übereingekommen, daß
»Geburtstage feiern« furchtbar dumm sei: es sei doch durchaus kein Grund
vorhanden, sich an solchen Tagen besonders zu freuen! Und da sie diesen
Grundsatz schließlich auch auf alle anderen Festtage übertrugen, so war
es ihnen schon in ein paar Jahren gelungen, ohne jeden Verkehr zu leben.
Wirginski kam zudem den Leuten wirklich nur wie ein Sonderling vor, der
bloß die Einsamkeit liebte und zum Überfluß noch »anmaßend« erschien --
warum »anmaßend«, das weiß ich allerdings nicht. Frau Wirginski aber
stand, da sie Hebamme war, gesellschaftlich sowieso sehr niedrig -- und
hinzu kam dann noch ihr dummes und unverzeihlich offenes Verhältnis zu
dem »Hauptmann« Lebädkin, das sie eigentlich nur »aus Prinzip« begonnen
hatte. Nachdem dieses Verhältnis bekannt geworden war, wandten sich
selbst unsere nachsichtigsten Damen mit deutlicher Verachtung von ihr
ab. Frau Wirginskaja aber tat noch, als hätte sie gerade das nötig und
wünsche es selber so. Bemerkenswert ist jedoch, daß dieselben
strengdenkenden Damen sich in gewissen Fällen nur und ausschließlich an
sie wandten, obgleich wir noch drei andere Hebammen in der Stadt hatten.
Man schickte sogar aus den Kreisstädten nach Arina Prochorowna: so
anerkannt und allgemein bekannt waren ihre Kenntnisse, war ihr Glück und
ihre Geschicktheit in ihrem Beruf. Daher kam es denn ganz von selbst,
daß sie ihre Praxis nur in den reichsten Häusern hatte: denn Geld liebte
sie bis zur Habgier. Nachdem sie erst einmal ihre Macht erkannt hatte,
tat sie auch ihrem Charakter keinen Zwang mehr an. Unser Stabsarzt
Rosanoff beteuerte, daß Arina Prochorowna gerade in den Augenblicken,
wenn ihre schwachnervigen Patientinnen alles Heilige anzurufen pflegen,
plötzlich »wie ein Flintenschuß« mit einer unerhörten Blasphemie
herausfahre, die dann gewöhnlich entscheidend auf die armen Frauen
wirke. Übrigens vergaß Arina Prochorowna, wenn sie sonst auch Nihilistin
war, doch nie gewisse alte Bräuche, die ihr etwas einbrachten. So hätte
sie zum Beispiel für keinen Preis die Taufe des von ihr empfangenen
Erdenbürgers versäumt: dann erschien sie stets in einem grünen
Seidenkleide, das sogar eine Schleppe hatte, und mit eingelegten Locken,
während sie sich sonst unglaublich nachlässig kleidete. Und wenn sie
auch sonst unentwegt, ja sogar während der Erfüllung des Wunders der
Geburt, ihre Frechheit zum Entsetzen aller Anverwandten bewahrte, so
trug sie doch nach der Taufe sehr sittsam und eigenhändig den Champagner
herein (nur zu dem Zweck erschien sie und putzte sie sich heraus) und
dann hätte es einer nur versuchen sollen, ihr, nachdem er einen Pokal
genommen, nicht das übliche Taufschmausgeld auf den Teller zu legen!

Die Gesellschaft -- fast nur Herren --, die sich diesmal bei Wirginski
versammelt hatte, nahm sich eigentlich recht sonderbar aus. Es gab weder
Imbiß noch Karten. Im großen Gastzimmer, das schon seit undenklich
langer Zeit immer ein und dieselben alten blauen Tapeten hatte, waren
zwei Tische zusammengerückt und mit einem großen, nicht einmal ganz
sauberen Tischtuch bedeckt. Auf ihnen kochten zwei Samoware und stand
ein riesiges Teebrett mit fünfundzwanzig Gläsern, sowie ein flacher Korb
mit gewöhnlichem Weißbrot, das wie in Pensionen für junge Mädchen oder
Knaben in viele, viele gleiche Stücke geschnitten war. Den Tee goß die
Schwester der Hausfrau ein -- ein dreißigjähriges, hochblondes Fräulein,
ohne Augenbrauen, sonst schweigsam, aber tödlich boshaft --, eine Dame,
die gleichfalls die »neuesten Anschauungen« teilte und vor der Wirginski
in seinem eigenen Hause zitterte. Außer der Hausfrau und ihrer
augenbrauenlosen Schwester war noch ihre Schwägerin anwesend: Fräulein
Wirginskaja, die gerade aus Petersburg eingetroffen war. Arina
Prochorowna (Wirginskis Frau), an sich eine nicht häßliche Frau von
siebenundzwanzig Jahren, saß, in einem wollenen Alltagskleide von
grünlicher Farbe, am oberen Tischende und betrachtete die Gäste mit
einem Blick, als wollte sie sagen: »Seht, wie ich mich vor nichts
fürchte!« Wirginskis Schwester, die gleichfalls nicht häßlich aussah,
dabei Studentin und Nihilistin, war rotwangig und rundlich wie ein
kleiner Ball: sie saß halbwegs noch in ihren Reisekleidern neben Arina
Prochorowna, mit irgendeiner Papierrolle in der Hand, und sah sich mit
ungeduldigen, springenden Blicken die Gäste an. Wirginski fühlte sich an
diesem Abend nicht ganz wohl, doch hatte er sich trotzdem in einem
Lehnstuhl an den Teetisch gesetzt. Die Gäste saßen auf Stühlen um den
ganzen Tisch herum, und in dieser steifen Gruppierung lag etwas, was
nicht an ein Fest, sondern an eine Sitzung erinnerte. Ganz ersichtlich
erwarteten alle irgend etwas, und wenn sie auch über alles mögliche laut
miteinander sprachen, so merkte man doch sofort, daß es Nebensachen
waren, die eigentlich niemanden interessierten: es war ein künstliches,
gezwungenes Gespräch.

Als Stawrogin und Werchowenski eintraten, verstummten plötzlich alle.

Zur besseren Übersicht werde ich wohl einige weitläufigere Erklärungen
geben müssen.

Ich glaube, wie gesagt, daß sich damals alle in der angenehmen Hoffnung,
etwas ganz besonders Interessantes zu erfahren, eingefunden hatten. Sie
gehörten sämtlich zu den knallrotesten Liberalen unserer Stadt und waren
von Wirginski zu dieser »Sitzung« sorgfältigst ausgesucht worden. Einige
von ihnen waren noch nie bei Wirginski gewesen und hätten ihn auch sonst
bestimmt nicht mit ihrem Besuche beehrt. Natürlich hatte die Mehrzahl
der Gäste keine rechte Vorstellung davon, was eigentlich geschehen
sollte: sie alle hielten damals Pjotr Stepanowitsch für einen vom
ausländischen Verbande geschickten Auskundschafter, dem bestimmte
Vollmachten gegeben worden waren -- eine Ansicht, die sich sofort und
ganz plötzlich festgesetzt hatte und ihnen ungeheuer schmeichelte.
Währenddessen aber gab es auch unter den versammelten Gästen einige,
denen bereits ganz bestimmte Vorschläge gemacht worden waren. Pjotr
Werchowenski war es inzwischen schon gelungen, bei uns eine ähnliche
»Fünf« zu gründen, wie er es in Moskau getan hatte -- und außerdem noch
eine, wie es sich jetzt erwiesen hat, in der Kreisstadt, unter den
Offizieren. Es heißt sogar, daß er noch eine dritte im H--schen
Gouvernement zustande gebracht habe. Die fünf Auserwählten saßen jetzt
am großen Tisch und verstanden es vorzüglich, sich den Anschein der
harmlosesten Leute zu geben. Es waren das -- da es heute kein Geheimnis
mehr ist -- erstens: Liputin und Wirginski, dann dessen Schwager mit den
trauernden Ohren, Schigaleff, ferner Lämschin und ein gewisser
Tolkatschenko, ein sonderbarer Mensch, etwa vierzig Jahre alt, und
bekannt wegen seiner Studien, die er am Volk, hauptsächlich an
Spitzbuben und Banditen machte, und der absichtlich zu diesem Zweck (das
heißt, nicht gerade ausschließlich zu diesem Zweck) in den schmutzigsten
Schenken verkehrte und auch unter uns sich in schlechten Kleidern,
Schmierstiefeln und Kernausdrücken am besten gefiel. Ein oder zweimal
hatte ihn Lämschin auch zu Stepan Trophimowitsch mitgebracht, wo er
jedoch nicht besonders gut abschnitt. In der Stadt erschien er
gewöhnlich nur zeitweilig, meistens dann, wenn er wieder einmal ohne
Stellung war. Diese fünf nun befanden sich in dem festen Glauben, eine
»Fünf« zu bilden -- eine unter hunderten, tausenden gleicher
»Fünfer-Gruppen«, die angeblich über ganz Rußland verstreut und alle von
irgendeiner mächtigen »Zentrale« abhängig waren, welche wiederum
ihrerseits mit der europäischen Revolutionsbewegung verbunden sein
sollte. Nur muß ich zu meinem Bedauern hinzufügen, daß sogar schon
damals Uneinigkeit zwischen ihnen herrschte. Die Sache war nämlich die,
daß sie, die schon seit dem Frühling Pjotr Werchowenski erwarteten, der
ihnen zuerst von Tolkatschenko und dann von Schigaleff angekündigt
worden war, nun, als er endlich erschien, sofort auf seinen ersten Wink
hin den von ihm geplanten Kreis oder die »Gruppe« gebildet hatten: kaum
aber hatten sie sich zu ihrer »Fünf« zusammengeschlossen, als sie sich
auch alle ohne Ausnahme irgendwie dadurch gekränkt fühlten, daß sie es
getan hatten -- so schnell und ohne weitere Erwägung, im Grunde wohl nur
deshalb, damit man von ihnen nicht sagen könne, sie hätten es nicht
gewagt! Vor allem, so empfanden sie, hätte Pjotr Werchowenski ihre edle
Heldentat doch auch wirklich schätzen und ihnen nun zur Belohnung
wenigstens irgendein Hauptgeheimnis mitteilen müssen. Werchowenski aber
dachte nicht einmal daran, ihre gerechte Neugier zu befriedigen, und
erzählte so gut wie gar nichts, behandelte sie im Gegenteil mit Strenge
und andererseits wiederum fast mit Nachlässigkeit. Das aber reizte
natürlich die »Fünf«, und einer von ihnen, Schigaleff, stachelte denn
auch schon die anderen auf, von ihm einen »Rechenschaftsbericht« zu
fordern, allerdings nicht gleich heute bei Wirginski, denn dort gab es
zu viele Fremde ...

Was aber diese Fremden betrifft, so glaube ich, daß die vorhin genannten
Glieder der ersten »Fünf« geneigt waren, an jenem Abend bei Wirginski
unter den Gästen noch andere Mitglieder anderer »Gruppen«, von denen sie
nichts wußten und die derselbe Werchowenski vielleicht geheimnisvoll
organisiert hatte, zu vermuten. So kam es denn, daß zu guter Letzt sich
alle Gäste gegenseitig verdächtigten und ein jeder eine ganz besondere
Haltung annahm, was denn der ganzen Versammlung etwas Irreführendes, ja
zum Teil sogar Romantisches verlieh. Außerdem gab es da einen Major,
einen vollkommen unschuldigen Menschen und nahen Verwandten Wirginskis,
der uneingeladen zum Namenstage erschienen war. Der Hausherr beunruhigte
sich nun freilich weiter nicht, denn der Major hätte »auf keine Weise
denunzieren können«: trotz seiner Dummheit liebte es dieser Verwandte
Wirginskis, dorthin zu gehen, wo es Liberale gab, doch nicht etwa, weil
er deren Anschauungen teilte, sondern einfach, weil er ihnen gerne
zuhörte. Und dazu war er selbst, von früher her, noch ein wenig
kompromittiert: in seiner Jugend waren einmal ganze Lager revolutionärer
Schriften durch seine Hände gegangen, und wenn er für seine Person sich
auch gefürchtet hatte, sie auch nur aufzubinden, so würde er doch die
Weigerung, die Gefälligkeit zu erweisen und sie zu verbreiten, für eine
grenzenlose Gemeinheit gehalten haben -- solche Russen gibt es nun
einmal und sogar heute noch. Die übrigen Gäste gehörten entweder zu dem
Typ der »zu Galle gewordenen gekränkten Eigenliebe«, oder zu dem des
»ersten edlen Ausbruchs feuriger Jugend«. Da waren auch zwei oder drei
Lehrer, von denen der eine -- ein Lehrer am Gymnasium -- lahm und schon
fünfundvierzig Jahre alt war, ein ungewöhnlich boshafter und eitler
Mensch, und zwei oder drei Offiziere. Zu den letzteren gehörte ein ganz
junger Artillerist, ein Fähnrich, der erst vor ein paar Tagen aus einer
Kriegsschule gekommen war, ein netter, schweigsamer Jüngling. Noch hatte
er in der Stadt keine einzige Bekanntschaft gemacht, und schon saß er
bei Wirginski im Kreise der Eingeladenen mit einem Bleistift in der Hand
und machte sich von Zeit zu Zeit in sein Taschenbuch irgendwelche
Notizen. Alle sahen das, doch alle taten aus irgendeinem Grunde, als
bemerkten sie es nicht. Außerdem war ein herumbummelnder Seminarist
anwesend, der Lämschin geholfen hatte, jene schändlichen Photographien
in den Sack der Bibelverkäuferin zu stecken, ein großer Bursche mit
ungezwungenem Benehmen, jedoch immer etwas argwöhnisch, und mit einem
ewig alles besser wissenden Lächeln, dabei aber von dem ruhigen Gehaben
der siegenden Vollkommenheit, die für ihn in seiner Person verkörpert
war. Ferner war, ich weiß nicht, weshalb, noch der Sohn unseres
Stadthauptes zugegen, ein schändlicher, früh verlebter junger Mann. Der
schwieg aber fast nur. Und schließlich war da noch ein achtzehnjähriger
Gymnasiast, der mit der finsteren Miene eines in seiner Würde gekränkten
jungen Mannes da saß und augenscheinlich unter seinen achtzehn Jahren
litt. Dieser Bengel war schon der »Chef« einer Verschwörung der
Oberprimaner, die sich, wie sich später zum allgemeinen Erstaunen
herausstellte, im Gymnasium gebildet hatte, und zwar vollkommen
selbständig. Beinahe hätte ich Schatoff vergessen, der am unteren
Tischende saß, seinen Stuhl ein wenig aus der Reihe zurückgeschoben
hatte, die ganze Zeit schwieg, auch für den Tee dankte, beständig zu
Boden sah und seine Mütze nicht aus der Hand legte, als hätte er damit
zu verstehen geben wollen, daß er nicht als Gast, sondern nur aus
irgendwelchen sachlichen Gründen gekommen war, und, wenn es ihm einfiel,
einfach aufstehen und fortgehen könne. Nicht weit von ihm hatte sich
dann noch Kirilloff hingesetzt: dieser schwieg gleichfalls, doch sah er
nicht zu Boden, sondern blickte im Gegenteil jedem, der da sprach,
gerade ins Gesicht, mit seinem unbeweglichen, glanzlosen Blick, und
hörte allen ohne die geringste Verwunderung vollkommen ruhig zu. Einige
von den Gästen, die ihn noch nicht gesehen hatten, beobachteten ihn
verstohlen. Es ist bis heute ungewiß, ob eigentlich Frau Wirginskaja
etwas von der bestehenden »Fünf« wußte. Ich nehme an, daß sie durch
ihren Mann über alles unterrichtet war. Die Studentin hatte natürlich
von nichts eine Ahnung, doch dafür war sie mit ihrer eigenen Sorge
beschäftigt: sie beabsichtigte, nur einen oder zwei Tage bei Wirginskis
zu bleiben und dann weiter und weiter zu reisen, durch alle
Universitätsstädte, um »Teilnahme an den Leiden der armen Studierenden
zu erwecken und sie zum Protest aufzurufen«. Sie führte einige hundert
Exemplare eines lithographierten, wenn ich mich nicht täusche, von ihr
selbst verfaßten Aufrufs mit sich. Merkwürdigerweise begann der
Gymnasiast die Studentin schon vom ersten Blick an zu hassen, und zwar
gleich bis aufs Blut, ungeachtet dessen, daß er sie zum erstenmal im
Leben sah, und sie erwiderte diesen Haß in genau demselben Maße. Der
Major war ihr leiblicher Onkel, der sie vor gut zehn Jahren zum
letztenmal gesehen hatte. Als Stawrogin und Werchowenski eintraten,
waren ihre Wangen rot wie Preißelbeeren: sie hatte mit dem Onkel gerade
über die Frauenfrage aufs heftigste gestritten.


                                  II.

Werchowenski warf sich auffallend nachlässig auf einen Stuhl am oberen
Tischende, fast ohne jemanden zu grüßen. Er sah mißgestimmt und sogar
hochmütig aus. Stawrogin dagegen grüßte höflich die Anwesenden. Obgleich
man nur auf diese beiden gewartet hatte, taten doch alle wie auf ein
Kommando, als ob sie sie überhaupt nicht bemerkten. Kaum hatte Stawrogin
sich gesetzt, als Frau Wirginskaja sich in strengem Ton an ihn wandte:

»Stawrogin, wollen Sie Tee?«

»Sehr gern,« antwortete dieser.

»Reiche Herrn Stawrogin ein Glas Tee,« befahl sie der Schwester, »-- und
Sie?« fragte sie Werchowenski.

»Selbstverständlich, nur her damit, wer fragt denn die Gäste noch
danach? Und geben Sie auch Sahne diesmal, sonst wird ja hier immer solch
eine Abscheulichkeit anstatt Tee gereicht -- und dabei gibt's heute noch
ein >Geburtstagskind< im Hause!«

»Wie, auch Sie erkennen das >Geburtstagefeiern< an?« fragte die
Studentin auflachend. »Wir haben soeben darüber gesprochen.«

»Abgedroschen!« bemerkte sogleich am anderen Tischende der Gymnasiast
mit überlegener Miene.

»Was ist abgedroschen? Vorurteile vergessen ist durchaus nicht
abgedroschen, und wenn es auch die unschuldigsten von der Welt sind,
sondern ist, im Gegenteil, zur allgemeinen Schande noch heute neu,« gab
die Studentin sofort empfindlich zurück. »Und zudem gibt es überhaupt
keine unschuldigen Vorurteile,« fügte sie geradezu erbittert hinzu.

»Ich wollte nur bemerken,« regte sich der Gymnasiast furchtbar auf, »daß
Vorurteile, wenn sie auch eine alte Sache sind, und man sie ausrotten
muß ... was aber Namenstag- und Geburtstagfeiern anbetrifft ... so
wissen schon alle längst, daß das Dummheiten sind und das Gerede darüber
viel zu alt und abgedroschen ist, um darauf noch die kostbare Zeit zu
vergeuden, die ohnehin schon von aller Welt vergeudet worden ist, so daß
man seine Worte lieber einem bedürftigeren ...«

»Was ist das für ein Satz! Ich kann nichts verstehen!« unterbrach ihn
die Studentin.

»Ich glaube, daß ein jeder gleich anderen das Recht des Wortes hat, und
wenn ich meine Meinung sagen will, wie jeder andere, so ...«

»Ihnen nimmt niemand das Recht des Wortes,« unterbrach ihn die Hausfrau,
»Sie sind nur gebeten worden, nicht so undeutlich zu sprechen, denn so
kann Sie ja kein Mensch verstehen.«

»Aber, erlauben Sie mir, zu bemerken, daß Sie mich gar nicht achten:
wenn ich vorhin meinen Gedanken nicht zu Ende sprechen konnte, so kam
das nicht daher, daß ich keinen Gedanken hatte, sondern eher vom
Überfluß von Gedanken ...« stotterte der Gymnasiast fast verzweifelt und
verwickelte sich endgültig.

»Wenn Sie nicht zu sprechen verstehen, so schweigen Sie lieber,« platzte
die Studentin heraus.

Der Gymnasiast sprang jetzt sogar vom Stuhl auf.

»Ich wollte nur sagen,« rief er laut und brennend rot vor Schande, doch
fürchtete er sich, jemanden anzusehen, »daß Sie sich nur deswegen mit
Ihrem Verstande breitmachen wollen, weil Herr Stawrogin gekommen ist --
da haben Sie's!«

»Ihr Gedanke ist schmutzig und unsittlich und beweist nur die ganze
Nichtigkeit Ihrer geistigen Entwickelung. Ich bitte Sie, sich weiter
nicht an mich zu wenden!« knatterte sofort die Antwort der Studentin.

»Stawrogin,« begann die Hausfrau, »bevor Sie kamen, regten sie sich hier
über Familienrechte auf -- besonders der Herr Major,« sie wies auf ihren
Verwandten. »Aber ich werde Sie mit diesen alten Streitfragen, die doch
schon längst erledigt sind, nicht weiter belästigen. Ich frage mich nur,
woher sind nun diese Rechte und Pflichten der Familie gekommen, ich
meine, im Sinne dieses Vorurteils, wie es jetzt besteht? Das ist die
Frage. Was meinen Sie?«

»Wieso -- woher gekommen?« fragte Stawrogin zurück.

»Das heißt, wir wissen zum Beispiel, daß das Vorurteil, daß es einen
Gott geben müsse, durch den Donner und Blitz hervorgerufen worden ist,«
ereiferte sich sofort wieder die Studentin, die mit den Augen förmlich
auf Stawrogin lossprang. »Man weiß jetzt ganz genau, daß die Urmenschen,
die sich vor Donner und Blitz fürchteten, den unsichtbaren Feind zum
Gott erhoben, da sie ihre eigene Machtlosigkeit vor ihm fühlten. Aber
wie ist nun das Vorurteil der Familie entstanden? Und wie ist überhaupt
die Familie entstanden?«

»Das ist doch wohl nicht dasselbe ...« versuchte die Hausfrau
einzuwenden.

»Ich denke, die Antwort auf diese Frage dürfte nicht ganz -- sagen wir,
sittsam sein,« antwortete Stawrogin.

»Wie das?« rückte die Studentin wieder vor.

Aber schon hörte man aus der Lehrergruppe leises Lachen, das sofort am
anderen Ende des Tisches, bei Lämschin und dem Gymnasiasten, ein Echo
fand, worauf der Major plötzlich hell und laut loslachte.

»Sie sollten Vaudevilles schreiben,« sagte die Hausfrau zu Stawrogin.

»Das macht Ihnen wirklich keine Ehre, -- ich weiß nicht, wie Sie
heißen,« sagte die Studentin mit entschiedenem Unwillen zu Stawrogin.

»Du aber solltest nicht so vorwitzig sein!« tadelte der Major. »Bist ein
Fräulein, mußt dich sittsam halten, du aber bist ja ganz, als hättest du
dich auf eine Nadel gesetzt.«

»Könnten Sie nicht lieber schweigen? Zum mindesten möchte ich Sie
bitten, sich im Gespräch mit mir nicht so familiär auszudrücken. Und
diese widerlichen Vergleiche verbitte ich mir einfach. Ich sehe Sie
heute zum erstenmal und will nichts von Ihrer Verwandtschaft wissen.«

»Aber ich bin doch dein Onkel! Ich habe dich doch als Säugling auf
meinen Armen geschleppt!«

»Was geht das mich an, was Sie da alles geschleppt haben! Ich habe Sie
damals nicht darum gebeten, mein unhöflicher Herr Major, also muß es
Ihnen wohl selbst Spaß gemacht haben, mich zu tragen. Und gestatten Sie
mir noch zu bemerken, daß Sie sich nicht unterstehen dürfen, mich zu
duzen, es sei denn als Bürgerin, sonst aber untersage ich es Ihnen ein
für allemal.«

»So sind sie nun alle!« Der Major schlug mit der Faust auf den Tisch und
wandte sich an Stawrogin, der ihm gegenüber saß. »Nein, erlauben Sie,
ich liebe Liberalismus und alles Zeitgemäße. Ich liebe auch klugen
Gesprächen zuzuhören, aber -- wohlgemerkt: von Männern! Doch von Frauen,
von diesen da, von diesen Flattervögeln -- nein, Verzeihung, aber das
ist schon mein wunder Punkt! Du, dreh dich nicht so viel!« fuhr er die
Studentin an, die vor Ungeduld schon wieder fast vom Stuhl sprang. »Ich
will auch einmal zu Wort kommen! Jetzt bin ich der Gekränkte!«

»Sie stören nur die anderen und selbst verstehen Sie doch nichts zu
sagen,« bemerkte die Hausfrau unwirsch.

»Nein, ich werde schon zu sagen verstehen, was ich sagen will,«
ereiferte sich der Major, und wandte sich an Stawrogin. »Ich rechne auf
Sie, Herr Stawrogin, da Sie ein Neueingetretener sind, obgleich ich
nicht die Ehre habe, Sie zu kennen. Ich hoffe, daß Sie mir beipflichten
werden. Ohne Männer wären die Frauen einfach verloren, wie die Fliegen,
-- das ist meine Meinung. Die ganze Frauenfrage ist nichts weiter als
Mangel an Originalität. Ich sage Ihnen; diese Frauenfrage haben ihnen
nur die Männer ausgedacht, einfach aus purer Dummheit sich selbst auf
den Hals geladen, -- ich danke bloß Gott, daß ich nicht verheiratet bin!
Nicht die geringste Verschiedenheit ist in den Frauen, nicht einmal ein
einfaches Stickmuster können sie sich ausdenken, auch das müssen die
Männer für sie tun! Sehen Sie, da habe ich sie als Kind auf den Händen
getragen, habe mit ihr, als sie zehn Jahre alt war, Mazurka getanzt, --
heute kommt sie an und wie ich ihr entgegenfliege, um sie abzuküssen, da
erklärt sie mir schon nach dem zweiten Wort, daß es einen Gott überhaupt
nicht gibt. Wenn sie es doch wenigstens nach dem dritten getan hätte,
aber nein, sie muß es schon nach dem zweiten tun -- so eilig hat sie's!
Nun schön, angenommen, kluge Leute glauben nicht an Gott, das soll ja
bloß vom Verstande abhängen, aber du, sage ich ihr, was verstehst du
denn unter Gott? Dich hat das doch wieder nur der Student gelehrt, hätte
er dich aber die Lämpchen vor den Heiligenbildern anzünden gelehrt, so
würdest du eben Lämpchen anzünden!«

»Das ist alles nicht wahr, was Sie da sagen. Sie sind ein sehr boshafter
Mensch. Ich aber habe Ihnen vorhin bloß Ihre Dummheit beweisen wollen,«
sagte die Studentin nachlässig, als verachtete sie es im Grunde, sich
mit solch einem Menschen noch weiter zu streiten. »Ich habe Ihnen vorhin
gesagt, daß man uns nach dem Katechismus lehrt: >Ehre Vater und Mutter,
damit es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden<. Das steht in
den zehn Geboten. Wenn nun Gott es für nötig hielt, für Liebe eine
Belohnung zu versprechen, so ist meines Erachtens dieser euer Gott
einfach unmoralisch. Das war es, was ich Ihnen vorhin auseinandersetzte,
und durchaus nicht nach dem zweiten Wort, sondern einfach, weil Sie auf
Ihre Verwandtenrechte pochten. Was kann ich dafür, daß Sie stumpfsinnig
sind und mich bis jetzt noch nicht begriffen haben? Das kränkt Sie und
Sie ärgern sich: das ist die ganze Lösung des Rätsels von Ihnen und
Ihresgleichen.«

»Närrin!« nannte sie der Major.

»Sie sind selbst ein Narr.«

»Schimpf nur!«

»Aber erlauben Sie, Kapiton Maximowitsch, Sie haben mir doch selbst
gesagt, daß Sie an Gott nicht glauben,« rief Liputin mit seiner
unangenehmen Stimme vom anderen Tischende.

»Was hat das damit zu tun, was ich gesagt habe, ich -- ich bin eine ganz
andere Sache! Ich -- nun, vielleicht glaube ich doch, nur glaube ich
nicht so ganz. Wenn ich aber auch nicht ganz glaube, so sage ich doch
noch nicht, daß man Gott gleich totschießen soll. Ich habe schon, als
ich noch Husar war, über Gott nachgedacht. Es heißt sonst wohl in allen
Gedichten, daß ein Husar bloß trinkt und durchgeht, schön, ich habe
vielleicht auch getrunken, aber, glauben Sie mir, wenn es manchmal in
der Nacht so dunkel ist, da springt man wohl plötzlich auf und kniet vor
dem Heiligenbild nieder und schlägt ein Kreuz über das andere, damit
Gott einem Glauben schicke, denn selbst damals konnte ich mich über
diese Frage nicht beruhigen: gibt es einen Gott, oder gibt es keinen?
Dermaßen bitter ist mir das geworden! Morgens, natürlich, da zerstreut
man sich und wieder geht der Glaube gleichsam flöten, ja und überhaupt
ist mir eigentlich aufgefallen, daß man am Tage den Glauben viel weniger
nötig hat.«

»Haben Sie vielleicht Karten?« fragte Werchowenski, sich zur Hausfrau
wendend, und gähnte ungeniert.

»Ich kann Ihnen diese Frage nur zu sehr, nur zu sehr nachfühlen!«
beteuerte die Studentin eifrig.

»Man verliert bloß die goldene Zeit, wenn man so leerem Geschwätz
zuhört,« sagte die Hausfrau und blickte ihren Mann bedeutsam an.

Die Studentin raffte sich auf.

»Ich wollte der Versammlung von den Leiden und dem Protest der Studenten
Mitteilung machen, und da die Zeit über unmoralischen Gesprächen
vergeudet wird ...«

»Es gibt überhaupt weder Moralisches noch Unmoralisches!« fiel ihr der
Gymnasiast sogleich ins Wort, kaum daß er sah, daß die Studentin mit
einer Rede beginnen wollte.

»Das habe ich, mein Herr Gymnasiast, schon viel früher gewußt, als Sie
das aufgeschnappt haben!«

»Und ich behaupte,« raste der Gymnasiast geradezu, »Sie sind -- ein aus
Petersburg angekommenes Kind, das uns bilden will! Daß das vierte Gebot,
das Sie nicht einmal richtig aufzusagen verstanden, unmoralisch ist, das
weiß schon seit Belinski ganz Rußland!«

»Wird das jemals ein Ende nehmen?« fragte Frau Wirginskaja gereizt ihren
Mann.

Als Hausfrau errötete sie wegen der nichtigen Gespräche, besonders
nachdem sie einige fragende Blicke der Gäste untereinander bemerkt
hatte.

»Meine Herren!« Wirginski erhob plötzlich die Stimme, »falls jemand von
Ihnen etwas, was mehr zur Sache paßt, zu sagen hat, so bitte ich, ohne
Zeitverlust damit beginnen zu wollen.«

»Gestatten Sie mir eine Frage,« sagte plötzlich der lahme Lehrer, der
bis dahin nur geschwiegen und sehr zurückhaltend dagesessen hatte, »ich
würde doch gern wissen, ob wir hier eine Sitzung halten sollen, oder ob
wir uns wie gewöhnliche Sterbliche zu einer Geburtstagsfeier versammelt
haben? Ich frage es mehr der Ordnung wegen.«

Die Frage machte nicht geringen Eindruck: man sah sich an, als ob ein
jeder vom anderen die Antwort erwartete, und plötzlich wandten sich
aller Augen, wie auf ein Kommando, auf Stawrogin und Werchowenski.

»Ich schlage vor, über die Antwort einfach abzustimmen. Die Frage ist:
>Halten wir eine Sitzung oder nicht?<« sagte Frau Wirginskaja.

»Ich stimme ganz Ihrem Vorschlage bei,« rief Liputin, »wenn er auch ein
wenig unbestimmt ist.«

»Ich gleichfalls!« »Ich auch!« riefen noch andere Stimmen.

»Ich denke gleichfalls, daß das mehr Ordnung schaffen wird,« meinte
Wirginski.

»Also bitte die Stimmen abzugeben!« rief die Hausfrau. »Lämschin, seien
Sie so freundlich und setzen Sie sich so lange ans Klavier. Sie werden
auch von dort aus Ihre Stimme abgeben können, wenn wir so weit sind.«

»Schon wieder!« rief Lämschin. »Ich dächte, ich hätte Ihnen nachgerade
genug vorgetrommelt!«

»Ich bitte Sie ausdrücklich darum: Wollen Sie denn der Sache nicht
nützlich sein?«

»Aber ich versichere Sie, Arina Prochorowna, daß draußen niemand horcht.
Das ist nur Ihre Phantasie. Die Fenster sind außerdem viel zu hoch; und
wer würde denn hier überhaupt etwas verstehen, selbst wenn er alles
hörte?«

»Wir verstehen uns ja selbst nicht,« murmelte eine Stimme.

»Und ich behaupte, daß Vorsicht immer angebracht ist. Für den Fall, daß
es Spione gibt,« wandte sie sich darauf zu Werchowenski, »-- mögen sie
dann auf der Straße hören, daß es bei uns Musik und lustige Gäste gibt.«

»Zum Teufel!« schimpfte Lämschin, setzte sich aber doch ans Klavier und
begann irgendwie, fast mit den Fäusten, einen Walzer zu spielen.

»Ich schlage vor, daß alle, die eine Sitzung wünschen, die rechte Hand
erheben,« beantragte Frau Wirginskaja.

Einige erhoben die rechte Hand, einige wiederum nicht; andere erhoben
sie und senkten sie wieder oder senkten sie und erhoben sie von neuem.

»Pfui, Teufel! Hab nichts kapiert!« rief ein Offizier geärgert.

»Und ich verstehe auch nichts!« rief ein anderer.

»Nein, ich verstehe wohl!« rief ein dritter. »Wenn >ja<, so hebt man die
Hand auf.«

»Aber was bedeutet denn das >jaJa< bedeutet: Sitzung!«

»Nein, umgekehrt!«

»Ich habe für die Sitzung gestimmt!« rief der Gymnasiast Frau
Wirginskaja zu.

»Warum haben Sie dann die Hand nicht erhoben?«

»Ich habe die ganze Zeit auf Sie gesehen: Sie hoben sie nicht, und so
hob ich sie auch nicht.«

»Wie dumm das ist! Ich habe sie doch nur deswegen nicht erhoben, weil
ich das Abstimmen vorgeschlagen hatte. Meine Herren, ich schlage
nochmals vor: wer eine Sitzung will, der soll ruhig sitzen bleiben und
keine Hand erheben, wer aber keine Sitzung will, der soll die rechte
Hand aufheben.«

»Wer _nicht_ will?« fragte der Gymnasiast.

»Ach, Sie stellen sich wohl mit Absicht so stupid?« rief Frau
Wirginskaja zornig.

»Nein, erlauben Sie mal, wer _nicht_ will, oder wer da will, das muß
schon genauer festgestellt werden,« ertönten zwei, drei Stimmen.

»Wer nicht will, _nicht_ will!«

»Nun schön, aber was soll man denn jetzt tun, aufheben oder nicht
aufheben, wenn man _nicht_ will?« rief ein Offizier.

»Ach ja, an eine Konstitution ist bei uns noch nicht zu denken!«
bemerkte der Major.

»Herr Lämschin, haben Sie die Güte, Sie hämmern ja dermaßen, daß niemand
etwas verstehen kann,« bemerkte der lahme Lehrer.

»Ja, bei Gott, Arina Prochorowna, es horcht doch wirklich kein Spion an
den Türen!« rief Lämschin aufspringend. »Und ich will auch nicht mehr
spielen! Ich bin zu Ihnen zu Besuch gekommen, aber nicht, um hier das
Klavier zu bearbeiten!«

»Meine Herren,« begann Wirginski, »antworten Sie alle laut: halten wir
Sitzung oder nicht?«

»Sitzung, Sitzung!« ertönte es von allen Seiten.

»Gut, dann brauchen wir nicht mehr abzustimmen. Sind Sie einverstanden,
meine Herren, oder sollen wir doch noch abstimmen?«

»Nicht nötig, genug, haben schon verstanden!«

»Vielleicht will aber irgend jemand doch nicht?«

»Nein, nein, alle wollen!«

»Ja, aber was ist denn das für eine Sitzung?« erhob sich eine Stimme,
die jedoch keine Antwort erhielt.

»Man muß einen Präsidenten wählen!« riefen mehrere zugleich.

»Den Hausherrn, selbstverständlich, den Hausherrn!«

»Meine Herren, wenn es so ist,« begann der erwählte Wirginski, »-- dann
mache ich nochmals meinen Vorschlag: falls jemand von Ihnen etwas, was
mehr zur Sache paßt, zu sagen hat, so bitte ich, damit zu beginnen.«

Allgemeines Schweigen. Wieder wandten sich alle Blicke Stawrogin und
Werchowenski zu.

»Werchowenski, hätten Sie nichts zu sagen?« fragte ihn die Hausfrau.

»Nicht, daß ich wüßte,« sagte der gähnend und lehnte sich nachlässig auf
seinem Stuhl zurück. »Übrigens, ich würde gern einen Kognak trinken.«

»Stawrogin, wollen Sie nicht?«

»Nein, danke, ich trinke nicht.«

»Ich meinte, ob Sie nicht reden wollen, und nicht, ob Sie einen Kognak
wünschen!«

»Reden, worüber? Nein, ich will nicht.«

»Sie werden sofort Ihren Kognak bekommen,« sagte sie zu Werchowenski.

Die Studentin erhob sich wieder, was sie mittlerweile schon mehrmals
halbwegs getan hatte.

»Ich bin gekommen, um von den Leiden der unglücklichen Studenten zu
berichten und sie allerorten zum Protest aufzufordern ...«

Sie kam nicht weiter: am anderen Tischende erhob sich ein neuer
Konkurrent und alle Blicke flogen ihm sofort zu. Schigaleff, der Mann
mit den langen Ohren, erhob sich mit finsterem, geärgertem Gesicht
bedächtig vom Stuhl und legte mit melancholischer Miene ein dickes,
unendlich klein und eng beschriebenes Heft vor sich auf den Tisch. Die
meisten sahen bestürzt auf das dicke Heft, doch Liputin, Wirginski und
der lahme Lehrer waren augenscheinlich mit irgend etwas sehr zufrieden.

»Ich bitte ums Wort,« sagte Schigaleff endlich finster, doch bestimmt.

»Herr Schigaleff hat das Wort,« verkündete Wirginski.

Der Redner setzte sich, schwieg wieder und begann darauf feierlichst:

»Meine Herrschaften! ...«

»Hier haben Sie den Kognak!« sagte die Verwandte, die den Tee
eingegossen hatte und die inzwischen nach dem Kognak gegangen war, mit
sichtlicher Verachtung. Sie stellte die Flasche und das Glas, die sie in
der Hand ohne Untersetzer brachte, ärgerlich auf den Tisch vor
Werchowenski hin.

Der unterbrochene Redner verstummte würdevoll.

»Fahren Sie nur fort, ich höre nicht zu!« rief Werchowenski, der sich
den Kognak eingoß.

»Meine Herren, indem ich Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehme,« begann
Schigaleff von neuem, »und wie Sie später sehen werden, Ihre Hilfe in
einem Punkte von erstklassiger Wichtigkeit erbitte, muß ich vorher
einige Worte zur Einleitung sagen.«

»Arina Prochorowna, haben Sie vielleicht eine Schere?« fragte plötzlich
Pjotr Stepanowitsch.

»Wozu brauchen Sie eine Schere?« Sie sah ihn verwundert mit großen Augen
an.

»Hab mir die Nägel zu schneiden vergessen, obgleich ich's mir schon drei
Tage immer wieder vorgenommen habe,« sagte er, gelassen seine langen und
ungeputzten Nägel betrachtend.

Arina Prochorowna wurde rot vor Ärger, doch die Studentin schien daran
Gefallen zu finden.

»Ich glaube, ich habe vorhin hier auf einem Fenster eine Schere
gesehen,« sagte sie, erhob sich, suchte die Schere und kam sofort wieder
zurück.

Pjotr Stepanowitsch sah sie nicht einmal an, als er die Schere nahm.
Arina Prochorowna sagte sich, daß das wohl unter freien Menschen so sein
müsse, und schämte sich ihrer Empfindlichkeit. Die Gäste sahen sich
stumm untereinander an. Der lahme Lehrer lächelte boshaft und
beobachtete Werchowenski mit gehässigem Ausdruck.

Schigaleff fuhr fort:

»Nachdem ich meine Energie dem Studium des Problems der sozialen
Verfassung der zukünftigen Gesellschaft, mit dem sich alle
Gegenwartsmenschen beschäftigen, gewidmet, bin ich zu der Überzeugung
gekommen, daß alle Gründer sozialer Systeme, seit den ältesten Zeiten
bis zu unserem 187...sten Jahre, bloß Grübler, Märchenerzähler,
Dummköpfe gewesen sind, die sich selbst widersprochen und so gut wie
nichts von der Naturwissenschaft und diesem sonderbaren Tiere, das wir
Mensch nennen, gewußt haben. Plato, Rousseau, Fourier sind Säulen aus
Aluminium, alles das taugt vielleicht für Spatzen, aber nicht für die
menschliche Gesellschaft. Da aber die zukünftige Gesellschaftsform
gerade jetzt festzusetzen unumgänglich nötig ist, gerade in diesem
Augenblick, da wir uns endlich zu handeln anschicken, um dann nicht mehr
nachdenken zu müssen, so schlage ich denn mein eigenes System der
Welteinrichtung vor. Hier ist es!« und er schlug mit der Hand auf sein
dickes Heft. »Zuerst wollte ich der Versammlung mein Buch in gekürzter
Form vorlegen, aber ich sah ein, daß ein derartiges Verfahren noch viele
mündliche Erklärungen nötig machen würde. Daher habe ich mich denn
entschlossen, es Ihnen an mindestens zehn Abenden -- da es in zehn
Kapitel eingeteilt ist -- vorzutragen. (Leises Gelächter.) Ich muß Sie
jedoch im voraus darauf aufmerksam machen, daß mein System noch nicht
beendet, das heißt, noch nicht ganz ausgearbeitet ist. (Lauteres
Gelächter.) Ich habe mich nämlich in meinen eigenen Argumenten
verwickelt: meine schließliche Folgerung steht in geradem Widerspruch zu
der anfänglichen Idee. Nachdem ich von unbeschränkter Freiheit
ausgegangen bin, komme ich zum Schluß zu unbeschränktem Despotismus.
Jedenfalls aber füge ich hinzu, daß es außer meiner Lösung der
Gesellschaftsformel eine andere Lösung überhaupt nicht geben kann.«

Das Gelächter war lauter und immer lauter geworden, doch waren es
eigentlich nur die jüngeren, die gewissermaßen nicht ganz eingeweihten
Gäste, die da lachten. Auf dem Gesicht der Hausfrau, Liputins und des
lahmen Lehrers drückte sich einiger Unwille aus.

»Wenn Sie selbst es nicht einmal verstanden haben, Ihr eigenes System zu
vollenden, und darüber in Verzweiflung geraten sind, so sagen Sie doch
bitte, was wir noch machen sollen?« bemerkte vorsichtig einer der
Offiziere.

»Sie haben recht, mein Herr aktiver Offizier,« wandte sich Schigaleff
schroff an ihn, »und vor allen Dingen darin, daß Sie das Wort
>Verzweiflung< gebrauchten. Ja, ich geriet in Verzweiflung; doch
nichtsdestoweniger ist alles, was in meinem Buche steht, unersetzlich,
und einen anderen Ausweg gibt es nicht; einen solchen wird keiner
finden. Und darum beeile ich mich, ohne Zeit zu verlieren, die ganze
Gesellschaft aufzufordern, später, also nachdem ich mein System an zehn
Abenden vorgetragen habe, ihre Meinung über dasselbe zu äußern. Wollen
aber die Mitglieder mir nicht zuhören, so ist es besser, wir gehen
sofort alle auseinander, -- die Männer, um sich mit Verwaltungsarbeiten
abzugeben, und die Frauen -- in ihre Küchen, aus dem Grunde, weil sie,
wenn sie mein System ablehnen, einen anderen Ausweg doch nicht mehr
finden können. Kei--nen einzigen! Lassen sie aber die Zeit sich
entgehen, so schaden sie sich damit nur, da sie dann doch unfehlbar zum
ewig Alten zurückkehren werden.«

Man wurde ein wenig unruhig: »Was soll das ...? Wie ...? Etwa
übergeschnappt ...?« hörte man flüstern.

»Das heißt also, daß die Hauptsache jetzt bloß in Schigaleffs
Verzweiflung besteht,« folgerte Lämschin, »und die Tagesfrage nur lauten
kann: hat er nun das Recht, verzweifelt zu sein, oder hat er es nicht?«

»Schigaleffs Verzweiflung ist eine vollkommen persönliche Frage,«
verkündete der Gymnasiast.

»Ich schlage vor, abzustimmen, inwieweit die Verzweiflung Schigaleffs
die allgemeine Sache angeht, und ferner, ob es sich überhaupt lohnt,
sein System anzuhören oder nicht?« schlug heiter einer von den
Offizieren vor.

»Hier handelt es sich nicht darum,« mischte sich endlich der lahme
Lehrer ins Gespräch. Er sprach gewöhnlich mit einem gewissen gleichsam
spöttischen Lächeln, so daß es eigentlich schwer war, festzustellen, ob
er im Ernst sprach oder nur scherzte. »Hier, meine Herrschaften, handelt
es sich um etwas ganz anderes. Herr Schigaleff hat sich seiner Aufgabe
gar zu gewissenhaft gewidmet und ist dabei allzu bescheiden. Ich kenne
sein Buch. Er schlägt darin vor, und zwar als endgültige Lösung des
Problems, die Teilung der Menschheit in zwei ungleiche Teile. Der
kleinere Teil, ungefähr nur ein Zehntel der Menschheit, erhält allein
persönliche Freiheit und das unbeschränkte Recht über die übrigen neun
Zehntel. Diese neun Zehntel der Menschheit aber sollen ihre
Persönlichkeit vollkommen einbüßen und zu einer Art Herde werden, um bei
grenzenlosem Gehorsam mittels einer Reihe von Wiedergeburten die
uranfängliche Unschuld wiederzugewinnen, etwa in der Form des alten
Paradieses, wenn sie auch, nebenbei bemerkt, arbeiten müssen. Die
Maßregeln, die der Autor vorschlägt, um den neun Zehnteln der Menschheit
den persönlichen Willen zu nehmen, sowie um sie mittels einer neuen
Erziehung ganzer Generationen in eine Herde umzubilden, -- diese
Maßregeln sind ungemein bemerkenswert, stützen sich zudem auf
naturwissenschaftliche Tatsachen und sind sehr logisch. Man kann sich
vielleicht mit einigen seiner Folgerungen nicht einverstanden erklären
und ihm widersprechen, doch deshalb kann man noch nicht den Verstand und
das Wissen des Autors anzweifeln. Das wäre auch unsinnig. Schade, daß
seine Absicht, den Inhalt seines Buches an zehn Abenden vorzutragen mit
den Umständen so unvereinbar ist, sonst bekämen wir viel Interessantes
zu hören.«

»Meinen Sie das wirklich im Ernst?« fragte Frau Wirginskaja fast
beunruhigt den lahmen Lehrer. »Weil dieser Mensch nicht weiß, wohin er
mit den Menschen soll, verlangt er, daß man neun Zehntel zu Sklaven
macht? Ich habe ihn schon längst im Verdacht gehabt ... --«

»Sprechen Sie von Ihrem Bruder?« fragte der Lahme.

»Wie, Sie erkennen Verwandtschaft an? Oder wollen Sie sich über mich
lustig machen?«

»Und dazu noch für die Aristokraten arbeiten und ihnen wie Göttern
gehorchen -- das ist eine Gemeinheit!« rief die Studentin empört.

»Ich schlage keine Gemeinheit vor, sondern ein Paradies, das irdische
Paradies, und ein anderes kann es hier auf Erden überhaupt nicht geben,«
schloß Schigaleff mit Nachdruck.

»Ich aber würde anstatt des Paradieses,« schrie Lämschin, »diese ganzen
neun Zehntel der Menschheit nehmen und sie, da man mit ihnen doch nichts
anzufangen weiß, einfach in die Luft sprengen, und würde nur ein
Häufchen gebildeter Leute übriglassen, die dann nach der Wissenschaft
herrlich und in Freuden leben könnten.«

»So etwas kann nur ein Narr sagen!« fuhr die Studentin auf.

»Er ist ein Narr, aber er ist nützlich,« flüsterte ihr Frau Wirginskaja
zu.

»Und vielleicht wäre das die beste Lösung der Aufgabe!« wandte sich
Schigaleff lebhaft zu Lämschin. »Sie wissen natürlich nicht mal, welch
einen tiefen Gedanken Sie da ausgesprochen haben, mein lustiger Herr. Da
aber Ihr Vorschlag kaum erfüllbar ist, so muß man sich eben mit dem
sogenannten Erdenparadies begnügen.«

»Einstweilen ist das schon genügender Unsinn!« bemerkte plötzlich
Werchowenski, anscheinend ganz unwillkürlich als Betrachtung, die einem
mal so entschlüpft. Übrigens fuhr er dabei gelassen und ohne
aufzublicken fort, seine Nägel zu beschneiden.

»Wieso, warum soll denn das ein Unsinn sein?« griff sofort der lahme
Lehrer die Bemerkung auf, als hätte er nur auf das erste Wort von
Werchowenski gewartet, um ihn angreifen zu können. »Warum denn gerade
ein Unsinn? Herr Schigaleff ist zum Teil ein Fanatiker der
Menschenliebe; und erinnern Sie sich nur, daß selbst Fourier, Cabet ganz
besonders, und sogar Proudhon eine Menge der allerdespotischsten und
allerfanatischsten theoretischen Lösungen der Frage gegeben haben. Herr
Schigaleff hat vielleicht noch am nüchternsten von ihnen allen die Sache
angefaßt. Ich versichere Sie, daß es nach der Lektüre seines Buches fast
unmöglich ist, mit einigen seiner Behauptungen nicht übereinzustimmen.
Er hat sich vielleicht am allerwenigsten von der Realität entfernt, und
sein Erdenparadies ist beinahe das wirkliche Paradies, dasselbe, über
dessen Verlust die ganze Menschheit seufzt -- vorausgesetzt natürlich,
daß es wirklich einmal existiert hat.«

»Ich konnte mir ja denken, daß ich mir da was auf den Hals lade,«
murmelte Werchowenski wieder nachlässig.

»Erlauben Sie,« regte sich der Lahme mehr und mehr auf, »Gespräche und
Betrachtungen über die zukünftige soziale Einrichtung sind fast die
dringendste Pflicht aller denkenden Menschen der Gegenwart. Alexander
Herzen hat sich sein Leben lang einzig und allein darum gesorgt, und
Belinski hat, wie ich aus der sichersten Quelle weiß, ganze Abende mit
seinen Freunden verbracht, indem er mit ihnen im voraus über die
kleinsten Einzelheiten der zukünftigen sozialen Welteinrichtung
debattierte, ja, sozusagen über deren Küchenfragen stritt.«[46]

»Und einige werden darüber gar vollends verrückt,« bemerkte der Major.

»Immerhin kann man sich so doch zu irgendeinem Ergebnis durchsprechen,
und das ist, denke ich, jedenfalls besser, als wie die Diktatoren
dazusitzen und zu schweigen,« rief Liputin gehässig, der es jetzt
endlich zu wagen schien, Werchowenski anzugreifen.

»Ich habe nicht zu Schigaleffs Ideen >Unsinn< gesagt,« murmelte
Werchowenski nachlässig, fast kaum verständlich seine Worte. »Sehen Sie,
meine Herrschaften,« er blickte kurz auf -- »meiner Meinung nach sind
alle diese Bücher Fouriers, Cabets, alle diese >Arbeitsrechte<, der
Schigalewismus -- alles das erinnert an Romane, die man ja zu
Hunderttausenden schreiben kann. Ästhetischer Zeitvertreib. Ich begreife
ja, daß Sie es hier im Städtchen langweilig haben und sich eben darum
aufs Schreibpapier stürzen.«

»Erlauben Sie,« der Lahme rückte ungeduldig auf dem Stuhl, »wenn wir
auch Provinzler sind und natürlich schon deswegen allein Mitleid
verdienen, so wissen wir doch, daß inzwischen in der Welt nichts so
Besonderes oder Neues geschehen ist, als daß wir Grund hätten, darüber
zu klagen, daß wir es nicht mit unseren Augen gesehen haben. Da fordert
man uns nun auf, durch verschiedene Schandblätter ausländischen
Fabrikats, die hier verbreitet werden, uns zusammenzutun und Geheimbünde
zu gründen, einzig zu dem Zweck der allgemeinen Zerstörung -- unter dem
Vorwande: wie man an der Welt auch herumdoktern wollte, ganz gesund
könne man sie doch nicht machen; schneidet man aber radikal hundert
Millionen Köpfe ab, so könne man nach dieser Erleichterung besser über
den Graben springen. Ein herrlicher Gedanke, zweifellos, aber -- mit der
Wirklichkeit mindestens ebenso unvereinbar wie der Schigalewismus, über
den Sie sich noch im Augenblick so verächtlich äußerten.«

»Na, ja, ich bin aber nicht zu dem Zweck hergekommen, um hier
Betrachtungen anzustellen,« versprach sich Werchowenski gleichsam mit
einem bedeutsamen Wort, tat aber dabei, als hätte er das selbst gar
nicht bemerkt, und zog ruhig ein Licht zu sich heran, damit er es heller
habe.

»Schade, wirklich sehr schade, daß Sie nicht zu dem Zweck hergekommen
sind, und desgleichen, daß Sie jetzt mit Ihrer Toilette beschäftigt
sind!«

»Was hat das mit meiner Toilette zu tun?«

»Die Idee, die Menschheit um hundert Millionen Köpfe zu verringern, ist
ebenso schwer zu verwirklichen, wie die Welt mittels Propaganda
umzuändern. Vielleicht sogar noch schwerer, besonders in Rußland,« wagte
sich Liputin wieder vor.

»Man scheint jetzt allgemein auf Rußland zu hoffen,« bemerkte einer von
den Offizieren.

»Ja, auch wir haben davon gehört, daß man auf Rußland hofft,« griff der
lahme Lehrer die Bemerkung auf. »Wir wissen, daß auf unser herrliches
Vaterland ein geheimnisvoller Inder weist, wie auf ein Land, das am
meisten zur Ausführung der großen Aufgabe befähigt ist. Nur eines muß
man dabei nicht außer acht lassen: im Falle einer allmählichen Lösung
der Aufgabe durch Propaganda kann ich persönlich doch immerhin etwas
dabei gewinnen, nun, wenn auch meinetwegen nur dies, daß ich angenehm
habe plaudern können, oder ich erhalte von den Vorgesetzten gar einen
Orden für meine Dienste für die soziale Sache. Aber im zweiten Falle,
bei der schnellen Entscheidung durch das Abhauen von hundert Millionen
Köpfen -- was hätte ich da für eine Belohnung zu erwarten? Fange ich an
dafür Propaganda zu machen, so schneidet man mir womöglich noch die
Zunge ab.«

»Ihnen wird sie bestimmt abgeschnitten,« sagte Werchowenski.

»Sehen Sie wohl. Da man aber selbst unter den günstigsten Umständen eine
solche Metzelei vor fünfzig Jahren, oder meinetwegen auch nur dreißig,
nicht beenden kann, -- denn das sind doch keine Lämmer, die sich
protestlos den Hals abschneiden lassen --, so meine ich: sollte es da
nicht ratsamer sein, Hab und Gut aufzupacken und irgend wohin auf eine
stille Insel im Stillen Ozean zu gehen und dort in Frieden seine Augen
zu schließen? Glauben Sie mir,« rief er lauter und klopfte dabei mit dem
Finger an den Tischrand, »mit solch einer Propaganda rufen Sie nur
allgemeine Auswanderung hervor und sonst nichts weiter!«

Er schloß sichtlich triumphierend. Er war bei uns bekannt als kluger
Kopf. Liputin lächelte schadenfroh, Wirginski hörte ein wenig wehmütig
zu, die anderen aber folgten ungewöhnlich aufmerksam dem ganzen Streit,
besonders die Offiziere und die Damen. Alle begriffen, daß der Agent der
hundert Millionen abgeschnittener Köpfe an die Wand gedrückt war und
warteten nun, was aus all dem werden würde.

»Das haben Sie übrigens ganz gut gesagt,« bemerkte womöglich noch
gleichgültiger als vorher, ja, beinahe schon gelangweilt, Werchowenski.
»Auswandern ist ein guter Gedanke. Aber da sich trotz all der
augenscheinlichen Nachteile, die Sie ja vorausfühlen, doch von Tag zu
Tag immer mehr Anhänger oder Soldaten für die neue Sache melden, so wird
man auch ohne Sie auskommen. Hier ist, mein Bester, eben die neue
Religion dabei, die die alte ersetzt, darum finden sich auch so viele
Jünger ein. Also Sie wandern aus! Hm, wissen Sie, da würde ich Ihnen
aber raten, doch lieber nach Dresden zu gehen, und nicht auf eine stille
Insel. Erstens ist das eine Stadt, die noch nie eine Epidemie gesehen
hat, und da Sie ja ein vernünftiger Mensch sind, so fürchten Sie doch
bestimmt den Tod. Zweitens ist Dresden nicht sehr weit von der
russischen Grenze, so daß man denn sehr schnell die Renten aus dem
liebenswürdigen Vaterlande erhalten kann. Drittens hat es in seinen
Mauern sogenannte Kunstschätze, Sie aber sind ein ästhetischer Mensch,
gewesener Lehrer der Literatur, wenn ich mich nicht täusche. Na, und
endlich hat es noch seine eigene kleine Schweiz, eine in der
Taschenausgabe -- so etwas aber ist doch für die poetische Inspiration
unumgänglich nötig, zumal Sie doch gewiß Gedichte schreiben. Mit einem
Wort, ein Schatz in einer Tabaksdose!«

Die Gäste wurden unruhig; besonders die Offiziere. Noch ein Augenblick,
so schien es, und alle hätten plötzlich gesprochen. Der lahme Lehrer
jedoch biß sofort nach dem Köder:

»Erlauben Sie, ich habe durchaus noch nicht gesagt, daß ich die
allgemeine Sache im Stich lassen will! Das sollte man auseinanderhalten
...«

»Wieso, würden Sie denn in eine >Fünf< eintreten, wenn ich Ihnen das
vorschlüge?« warf plötzlich Werchowenski die Frage hin und legte die
Schere auf den Tisch.

Die ganze Versammlung zuckte gleichsam zusammen. Der rätselhafte Mensch
hatte sich etwas zu plötzlich aufgedeckt. Sogar das Wort »die Fünf«
hatte er ausgesprochen.

»Jeder, der sich für einen ehrlichen Menschen hält, zieht sich nicht von
der allgemeinen Sache zurück,« versuchte der Lehrer die offene Antwort
zu umgehen, »aber ...«

»Nein, bitte, hier kann man mir nicht mit einem >aber< kommen,«
unterbrach ihn Werchowenski schroff und gebieterisch. »Ich erkläre
hiermit, meine Herrschaften, daß ich eine offene, gerade Antwort
verlange. Ich weiß nur zu gut, daß ich, der ich nicht grundlos hierher
gekommen bin und Sie alle selbst versammelt habe, Ihnen Erklärungen
schuldig bin.« (Wieder ein unerwarteter Aufschluß.) »Wie aber soll ich
Erklärungen geben, wenn ich nicht weiß, welcher Art Ihre Gedanken sind?
Gespräche vermeide ich, -- denn wozu soll man wieder dreißig Jahre lang
schwatzen, wie man bisher schon dreißig Jahre geschwatzt hat -- und
frage Sie deshalb einfach, was Sie lieber wollen: den langsamen Weg, der
im Schreiben sozialer Romane besteht und der kanzleimäßigen
Vorausbestimmung der menschlichen Schicksale auf tausend Jahre, jedoch
nur auf dem Schreibpapier, während der Despotismus in dieser Zeit die
gebratenen Stücke schluckt, die eigentlich Ihnen in den Mund fliegen
sollten und das bloß nicht können, weil Sie den Mund geschlossen halten?
Oder sind Sie für die schnelle Entscheidung, worin diese auch bestehen
sollte, die aber auf jeden Fall endlich die Hände befreit und der
Menschheit erlaubt, sich frei ihr eigenes Schicksal zu schaffen, und
zwar in der Wirklichkeit und nicht nur auf dem Papier? Da schreit man
nun: >Aber hundert Millionen Köpfe!< Das ist vielleicht nur eine
Metapher, aber wozu denn davor zurückschrecken, wenn der Despotismus bei
der langsamen Papierlösung schon in irgend welchen hundert Jahren nicht
nur hundert Millionen, sondern fünfhundert Millionen Köpfe verschlingen
wird? Und vergessen Sie nicht, daß ein unheilbarer Kranker so wie so
nicht gesund werden kann, was für Rezepte Sie ihm auch verschreiben
mögen, -- daß seine Krankheit sich, im Gegenteil, nur verschlimmert, je
länger man sie hinzieht, bis er schließlich bei lebendigem Leibe
verfault, derart, daß er auch uns ansteckt und alle frischen Kräfte, auf
die wir jetzt rechnen, verdirbt -- so daß wir dann womöglich überhaupt
nichts mehr zustande bringen können. Ich gebe ja gern zu, daß >liberal<
und schön zu reden, sehr angenehm ist, handeln aber -- etwas >angreift<
... Nun ja, übrigens verstehe ich nicht zu reden. Ich bin mit
Nachrichten hierher gekommen, und darum bitte ich jetzt die ganze
verehrte Gesellschaft, nicht etwa abzustimmen, nein, sondern einfach und
ohne Umschweife zu sagen, was Sie lustiger fänden: einen
Schildkrötengang im Sumpf, oder mit Volldampf durch den Sumpf hindurch?«

»Ich erkläre mich positiv für den Volldampf!« rief der Gymnasiast
begeistert.

»Ich auch!« rief Lämschin.

»Bei solcher Wahl bleibt natürlich kein Zweifel ...« meinte einer der
Offiziere. Nach ihm stimmte noch jemand bei und dann noch jemand.

Am meisten frappierte es alle, daß Werchowenski mit »Nachrichten«
hergekommen war und offenbar sofort reden würde.

»Meine Herrschaften, ich sehe, daß fast alle im Sinne der Proklamationen
entscheiden,« sagte er, während sein Blick alle Anwesenden überflog.

»Alle, alle!« riefen die meisten.

»Ich muß gestehen, daß ich eigentlich mehr für eine humane Lösung bin,«
sagte der Major, »da aber schon alle dafür stimmen, so halte auch ich
mit.«

»Es scheint also, daß auch Sie nicht widersprechen?« wandte sich
Werchowenski an den lahmen Lehrer.

»Ich kann nicht sagen, daß ich gerade ...« erwiderte dieser zögernd und
wurde ein wenig rot, »aber wenn ich mich jetzt den anderen anschließe,
so tue ich es nur, um nicht zu stören ...«

»Na ja, so seid ihr ja alle! Seid bereit, ein halbes Jahr lang um der
liberalen Redekunst willen zu streiten, und endet dann damit, daß ihr
euch bloß >den anderen anschließtich denunziere nicht< -- vor Ihnen aber zu lügen
für unter seiner Würde hält. Doch wozu brauchen Sie mich, mich jetzt
eigentlich? Was soll ich bei all dem? Nachdem ich aus dem Auslande
zurückgekehrt bin, drängen Sie sich mir immer wieder auf. Das, womit Sie
mir Ihr Benehmen bis jetzt erklärt haben, ist nur Fieberphantasie. Dabei
wollen Sie, daß ich, indem ich Lebädkin tausendfünfhundert Rubel
einhändige, damit Ihrem Fedjka das Zeichen gebe, ihn zu erstechen. Ich
weiß, Sie denken, daß ich zu gleicher Zeit auch meine Frau ermorden
lassen will. Und wenn Sie mich dann mit einem Verbrechen an sich
gebunden haben, so hoffen Sie, Macht über mich zu bekommen -- ist es
nicht so? Wozu aber wollen Sie diese Macht? Für welch eine Teufelei in
aller Welt brauchen Sie mich? Ich sage Ihnen ein für allemal: machen Sie
doch endlich einmal Ihre Augen auf und sehen Sie näher zu, ob ich
überhaupt ein Mensch für Sie bin, und lassen Sie mich dann endlich in
Ruh!«

»Fedjka ist selbst zu Ihnen gekommen?« fragte Werchowenski beklommen.

»Ja, er ist selbst zu mir gekommen. Sein Preis ist gleichfalls genau
tausend fünfhundert ... Da -- er kann es ja selbst bestätigen, da ist er
ja ...« rief Stawrogin und streckte seine Hand gegen die Tür hin aus.

Pjotr Stepanowitsch drehte sich schnell um. Auf der Schwelle stand, aus
der Dunkelheit hervortretend, eine Menschengestalt -- Fedjka, im kurzen
Pelz, doch ohne Mütze, ganz wie einer, der im Hause wohnt. Er stand da
und lächelte, daß man seine gleichmäßigen weißen Zähne schimmern sah.
Die schwarzen Augen mit dem gelben Zigeunerglanz huschten vorsichtig
durch das Zimmer und gingen von einem zum anderen der Herren. Er schien
irgend etwas nicht zu verstehen: wahrscheinlich hatte ihn Kirilloff
herangewinkt, denn zu dem wandte sich immer wieder sein fragender Blick.
Er blieb auf der Schwelle stehen und schien nicht eintreten zu wollen.

»Er ist hier wohl in Bereitschaft gehalten worden, um unseren ganzen
Schacher mit anzuhören, vielleicht gar um das Geld gleich in Empfang zu
nehmen -- ist's nicht so?« fragte Stawrogin, und ohne die Antwort
abzuwarten, verließ er das Haus.

Werchowenski lief ihm sofort nach, und holte ihn noch bei der Hofpforte
ein.

»Bleib! Keinen Schritt!« rief er und packte ihn am Ellenbogen.

Stawrogin riß seinen Arm zurück, konnte ihn jedoch nicht befreien. Da
packte ihn die Wut und mit der linken Hand ergriff er Werchowenski bei
den Haaren, schleuderte ihn mit aller Kraft zu Boden und trat dann
hinaus auf die Straße. Aber noch war er nicht dreißig Schritt gegangen,
als der andere ihn schon wieder einholte.

»Versöhnen wir uns, versöhnen wir uns,« kam es in bebendem Flüsterton,
fast bettelnd, von seinen Lippen.

Stawrogin zuckte mit der Schulter und ging weiter.

»Hören Sie, ich bringe morgen Lisaweta Nicolajewna zu Ihnen, wollen Sie?
Nicht? Warum antworten Sie denn nicht? Sagen Sie nur, was Sie wollen,
und ich tue es. Hören Sie: ich lasse Ihnen auch Schatoff, wollen Sie?«

»Dann ist es also wahr, daß Sie ihn wirklich ermorden wollten?«

»Nun, wozu brauchen Sie Schatoff? Was haben Sie von ihm?« fuhr atemlos
schnell Werchowenski fort, indem er ihm bald in den Weg lief, bald
wieder ihn am Ellenbogen ergriff, augenscheinlich, ohne sich dessen
überhaupt bewußt zu werden. »Hören Sie: ich gebe Ihnen Schatoff,
versöhnen wir uns nur, versöhnen wir uns! Ihre Rechnung ist groß, aber
... versöhnen wir uns!«

Stawrogin sah ihn schließlich an und war betroffen. Das war nicht mehr
derselbe Blick, nicht mehr dieselbe Stimme, wie sonst und wie noch dort
im Zimmer. Das war fast ein ganz anderes Gesicht, das er da vor sich
sah. Und auch die Stimme war eine ganz andere: Werchowenski flehte,
winselte geradezu. Das war ja ein Mensch, dem man das Teuerste auf Erden
nimmt, oder schon fortgenommen hat, und der noch nicht zur Besinnung
gekommen ist.

»Was ist mit Ihnen geschehen?« rief Stawrogin unwillkürlich.

Werchowenski antwortete nicht und lief immer noch neben ihm her und sah
mit demselben flehenden und doch gleichzeitig unnachgiebigen Blick zu
ihm auf.

»Versöhnen wir uns!« flüsterte er noch einmal. »Hören Sie, ich halte wie
Fedjka ein Messer im Stiefel bereit, aber -- ich will mich mit Ihnen
versöhnen!«

»Zum Teufel, wozu brauchen Sie mich denn! Was wollen Sie von mir?« rief
Stawrogin in hellem Zorn, trotz seiner ganzen Verwunderung. »Soll das
etwa ewig ein Geheimnis bleiben? Bin ich denn ein Talisman für Sie?«

»Hören Sie, wir machen einen Aufruhr,« redete der andere schnell und
wirr, fast wie im Fieber. »Sie glauben nicht, daß wir einen Aufruhr
machen? Wir werden einen solchen Aufruhr machen, daß alles in den
Grundfesten erbebt. Karmasinoff hat recht: es gibt nichts, woran man
sich noch halten könnte. Karmasinoff ist sehr klug. Nur noch zehn
solcher Gruppen in ganz Rußland, und ich bin nicht zu fangen.«

»Und überall dieselben Dummköpfe!« entfuhr es Stawrogin wider Willen.

»Oh, seien Sie selbst etwas dümmer, Stawrogin, seien Sie selbst etwas
dümmer! Wissen Sie, Sie sind ja auch gar nicht so klug, daß Sie dies
noch wünschen sollten. Sie fürchten sich, Sie glauben nicht daran, der
Umfang schreckt Sie. Und warum sollen sie Dummköpfe sein? Dabei sind sie
gar nicht mal solche Dummköpfe! Heutzutage hat niemand seinen eigenen
Verstand. Heutzutage gibt es überhaupt furchtbar wenig eigenen Verstand.
Wirginski ist der reinste Mensch, viel reiner als solche wie wir,
zehnmal reiner. Doch lassen wir ihn beiseite, was geht er uns an.
Liputin ist ein Spitzbube, aber ich kenne seine Achillesferse. Es gibt
keinen Spitzbuben, der nicht eine Achillesferse hätte. Nur Lämschin
allein hat keine, dafür ist er ganz in meiner Hand. Und noch ein paar
solcher Gruppen, und ich habe überall Pässe und Geld -- beachten wir
schon das allein! Wenn auch nur das allein! -- was? Dazu sichere
Verstecke. Mögen sie dann suchen! _Eine_ Gruppe reißt man heraus, und
auf die andere setzt man sich ahnungslos. Wir wiegeln auf ... Hören Sie,
wir machen einen Aufruhr ... Glauben Sie denn wirklich nicht, daß wir
zwei vollkommen genügen?«

»Nehmen Sie Schigaleff, mich aber lassen Sie in Ruh ...«

»Schigaleff ist ein genialer Mensch! Wissen Sie, das ist ein Genie _à
la_ Fourier, nur mutiger als Fourier, nur stärker als Fourier. Ich werde
mich mit ihm beschäftigen. Er hat die >Gleichheit< erdacht!«

-- »Er hat offenbar Fieber und phantasiert. Es muß etwas ganz Besonderes
mit ihm geschehen sein,« dachte Stawrogin und sah ihn noch einmal von
der Seite an. Sie gingen beide, ohne stehen zu bleiben.

»In seiner Schrift ist das eine gut,« fuhr Werchowenski fort, »er hat
die Idee der Spionage. Bei ihm beobachtet innerhalb des Verbandes ein
jeder den anderen, und ist verpflichtet, ihn nötigenfalls anzuzeigen.
Jeder einzelne gehört allen und alle jedem einzelnen. Alle sind Sklaven
und in der Sklaverei einander gleich. In äußersten Fällen Verleumdung
und Mord, -- aber die Hauptsache: Gleichheit! Als erstes senkt sich dann
das Niveau der Bildung, der Wissenschaft und der natürlichen,
angeborenen Begabung. Ein hohes geistiges Niveau ist nur höheren
Begabungen zugänglich -- wir aber brauchen keine höheren Begabungen!
Höhere Begabungen haben stets die Macht an sich gerissen und waren
Despoten. Höheren Begabungen ist es unmöglich, nicht Despoten zu sein,
und stets haben sie mehr demoralisiert als Nutzen gebracht; man verjagt
sie deshalb oder man richtet sie hin. Cicero wird die Zunge
abgeschnitten, Kopernikus werden die Augen ausgestochen und Shakespeare
wird gesteinigt -- das ist der Schigalewismus! Sklaven müssen gleich
sein: ohne Despotismus hat es noch nie weder Freiheit noch Gleichheit
gegeben, in der Herde aber muß Gleichheit sein, und da haben Sie den
Schigalewismus! Ha--ha--ha, Ihnen kommt das sonderbar vor? Ich bin für
den Schigalewismus!«

Stawrogin schritt schneller aus, um endlich nach Hause zu kommen. --
»Wenn dieser Mensch betrunken sein sollte, wo hat er denn inzwischen
trinken können?« fuhr es ihm durch den Kopf. »Sollte wirklich der eine
Kognak --?«

»Hören Sie, Stawrogin: Berge zur Ebene machen -- ist ein guter Gedanke,
nicht ein lächerlicher. Ich bin für Schigaleff! Bildung ist nicht nötig,
von Wissenschaft haben wir genug! Auch ohne Wissenschaft reicht das
Material für tausend Jahre, aber zuerst muß sich der Gehorsam
durchsetzen. Nur eines ist noch nicht genug vorhanden in der Welt -- und
das ist Gehorsam. Jeder Bildungsdurst ist schon ein aristokratischer
Trieb. Familie, Liebe -- das ist gleich schon Wunsch nach Eigentum. Wir
bringen ihn um, den Wunsch: wir verbreiten Trunksucht, Klatsch,
Angeberei; wir verbreiten unerhörte Demoralisation; wir ermorden jedes
Genie schon als Kind. Alles wird auf einen Nenner gebracht, vollständige
Gleichheit durchgesetzt. >Wir haben ein Handwerk erlernt und wir sind
ehrliche Leute, weiter brauchen wir nichts< -- diese Antwort haben
kürzlich englische Arbeiter gegeben. Unentbehrlich ist nur das
Unentbehrliche, -- das sei die Devise des Erdballs von nun an. Aber auch
Krämpfe sind nötig; dafür werden wir sorgen, die Regenten. Sklaven
müssen Regenten haben. Vollkommener Gehorsam, vollkommene
Unpersönlichkeit, aber einmal in jeden dreißig Jahren gönnt Schigaleff
doch einen Krampf, und dann frißt sich alles plötzlich gegenseitig auf,
bis zu einer gewissen Grenze natürlich nur, einzig damit das Leben nicht
zu langweilig wird. Langeweile ist eine aristokratische Empfindung; im
Schigalewismus wird es keine Wünsche geben. Wünsche und Leiden für uns,
für die Sklaven aber Schigalewismus.«

»Sich selbst schließen Sie aus?«

»Und Sie. Wissen Sie, zuerst wollte ich die Welt dem Papst geben. Mag er
sich barfuß dem Pöbel zeigen: >Seht, wozu man mich gebracht hat!< und
alles wird ihm nachlaufen, sogar das Heer. Der Papst oben, wir um ihn
herum und unter uns Schigalewismus. Nur müßte sich die Internationale
mit dem Papst einverstanden erklären; was sie auch tun wird. Der Alte
selbst wird natürlich sofort einverstanden sein. Es wird ihm ja auch gar
kein anderer Ausweg übrigbleiben, behalten Sie mein Wort, ha--ha--ha,
dumm? Sagen Sie, ist's dumm oder nicht?«

»Genug,« murmelte Stawrogin geärgert.

»Genug! Hören Sie, ich habe den Papst Papst sein lassen! Zum Teufel mit
dem Papst! Zum Teufel mit dem Schigalewismus! Wir brauchen die brennende
Tagesfrage, aber nicht den Schigalewismus, denn der ist eine
Juwelierarbeit. Schigalewismus ist ein Ideal, kommt erst für die Zukunft
in Frage. Schigaleff ist ein Juwelier und dumm wie jeder Philantrop.
Doch zunächst tut grobe Arbeit not, Schigaleff aber verachtet die grobe
Arbeit. Hören Sie, der Papst wird im Westen sein, bei uns aber, bei uns
-- sind Sie!«

»Lassen Sie mich in Ruh, Sie Betrunkener!« murmelte Stawrogin und ging
noch schneller weiter.

»Stawrogin, Sie sind schön!« rief Pjotr Stepanowitsch fast wie in einem
Rausch. »Wissen Sie es auch selbst, daß Sie schön sind? Das Teuerste an
Ihnen ist, daß Sie es zuweilen selbst gar nicht zu wissen scheinen, wie
schön Sie sind. Oh, ich kenne Sie jetzt auswendig! Ich sehe Sie mir oft
heimlich, von der Seite an, aus einem Winkel! In Ihnen ist sogar
Treuherzigkeit und echte Einfalt -- wissen Sie das auch? Ja, noch, noch
sind die in Ihnen! Sie leiden offenbar, und leiden aufrichtig, dank
dieser Treuherzigkeit. Ich liebe die Schönheit! Ich bin ein Nihilist,
aber ich liebe Schönheit! Lieben denn Nihilisten die Schönheit nicht?
Die lieben doch bloß Götzen nicht, nun, ich aber liebe einen Götzen! Und
Sie, Sie sind mein Götze! Sie kränken niemanden, und doch werden Sie von
allen gehaßt. Sie sehen auf alle gleich und doch werden Sie von allen
gefürchtet, und das ist gut. An Sie wird niemand herantreten, um Sie auf
die Schulter zu klopfen. Sie sind ein furchtbarer, ein geborener
Aristokrat. Wenn ein Aristokrat unter die Demokraten geht, ist er
bezaubernd! Ihnen macht es nichts aus, das Leben zu opfern, Ihr eigenes
ebenso wenig, wie das anderer Menschen. Sie sind genau so, wie er sein
muß. Und ich, ich brauche gerade solch einen, wie Sie. Außer Ihnen wüßte
ich keinen. Sie sind der Anführer, Sie sind Sonne, ich aber bin Ihr Wurm
...«

Und plötzlich küßte er ihm die Hand. Kalt lief es Stawrogin über den
Rücken und entsetzt riß er seine Hand zurück.

Sie blieben stehen.

»Wahnsinniger!« murmelte Stawrogin.

»Vielleicht bin ich wahnsinnig, vielleicht phantasiere ich im Fieber!«
hastete Werchowenski weiter in seiner Rede, »aber ich habe den ersten
Schritt ausgedacht. Niemals kann Schigaleff den ersten Schritt
ausdenken. Es gibt viele Schigaleffs! Aber nur ein einziger, ein
einziger in ganz Rußland hat den ersten Schritt ausgedacht und weiß, wie
man ihn machen muß. Dieser Mensch bin ich. Warum sehen Sie mich so an?
Ich brauche aber Sie, Sie, ohne Sie bin ich eine Null. Ohne Sie bin ich
eine Fliege, eine Idee im Fläschchen; ein Kolumbus ohne Amerika!«

Stawrogin stand und sah aufmerksam in Werchowenskis sinnlose Augen.

»Hören Sie, wir machen zuerst einen Aufruhr,« eilte jener wie gehetzt
weiter in seiner Rede, während er immer wieder Stawrogins linken Ärmel
anfaßte. »Ich habe Ihnen schon gesagt: wir dringen unmittelbar ins Volk.
Wissen Sie auch, daß wir auch jetzt schon furchtbar stark sind? Unser
sind nicht nur die, die da brennen und morden, oder klassische Schüsse
abfeuern oder in Schultern beißen. Solche stören nur. Ich verstehe
nichts ohne Disziplin. Ich bin doch ein Betrüger, aber kein Sozialist,
ha--ha! Hören Sie, ich habe sie bereits alle zusammengezählt: der
Lehrer, der mit den Kindern über ihren Gott und über ihre Wiege lacht,
ist schon unser. Der Advokat, der den gebildeten Mörder damit
verteidigt, daß der Mörder entwickelter gewesen ist, als seine Opfer und
somit, um Geld zu bekommen, unmöglich _nicht_ töten konnte, ist schon
unser. Die Schuljungen, die einen Bauern töten, um zu sehen, was man
dabei empfindet, sind unser. Die Geschworenen, die Verbrecher ohne
Ausnahme freisprechen, sind unser. Unser sind Administratoren,
Literaten, oh, unser sind viele, ihrer sind Legion, und sie wissen es
selbst nicht einmal, daß sie unser sind! Andererseits hat der Gehorsam
der Schuljungen und Dummköpfe den höchsten Grad erreicht. Bei denen
aber, die sie leiten und lehren sollten, ist nichts als Galle. Überall
grenzenlose Ruhmsucht, unerhörte, tierische Genußsucht ... Wissen Sie
überhaupt, wie viele wir allein schon mit fertigen Ideechen einfangen?
Als ich Rußland verließ, wütete die These Littrés, nach der Verbrechen
Wahnsinn ist. Ich komme wieder -- und schon ist das Verbrechen nicht
mehr Wahnsinn, sondern gerade der wahre, der einzige Sinn, ist beinahe
Pflicht oder zum mindesten ein edler Protest. -- >Wie soll denn ein
geistig entwickelter Mensch nicht morden, wenn er Geld braucht?< -- Doch
das sind erst kleine Pröbchen. Der russische Gott hat vor dem Schnaps
schon die Flucht ergriffen. Das Volk ist betrunken, die Mütter sind
betrunken, die Kinder sind betrunken, die Kirchen sind leer und an den
Gerichtshöfen heißt es: >zweihundert Rutenstreiche oder schlepp den
Eimer<. Oh, gebt nur dieser Generation Zeit, aufzuwachsen! Der Jammer
ist ja nur, daß wir keine Zeit zum Warten haben, sonst könnten wir sie
noch betrunkener werden lassen! Ein Jammer, daß wir keine Proletarier
haben! Aber wir werden sie schon bekommen, wir werden schon, denn dazu
führt es ...«

»Ein Jammer gleichfalls, daß wir dümmer geworden sind,« brummte
Stawrogin und setzte seinen früheren Weg fort.

»Hören Sie, ich habe ein sechsjähriges Kind gesehen, das seine
betrunkene Mutter nach Hause führte, und die schimpfte es noch mit
gemeinen Worten. Sie glauben, daß ich mich darüber freue? Bekommen wir
es in die Hände, so werden wir es vielleicht auch gesund machen ... wenn
es nötig ist, treiben wir es auf vierzig Jahre in die Wüste hinaus ...
Aber eine oder zwei Generationen mit unerhörter Sittenverderbnis sind
jetzt unbedingt nötig: vertierte Sitten, gemeine, schändliche Sitten, so
daß der Mensch sich in einen einzigen widrigen, feigen, grausamen,
selbstsüchtigen Ekel verwandelt -- das ist es, was nötig ist! Und dann
ein bißchen >frisches Blut<, damit er sich daran gewöhnt. Warum lachen
Sie? Ich widerspreche mir nicht. Ich widerspreche nur den Philantropen
und dem Schigalewismus, aber nicht mir! Ich bin ein Betrüger, aber kein
Sozialist. Ha--ha--ha! Schade nur, daß wir so wenig Zeit haben. Ich habe
Karmasinoff versprochen, im Mai zu beginnen und zum Oktober zu beenden.
Schnell -- wie? Ha--ha! Wissen Sie, was ich Ihnen sagen werde,
Stawrogin: im russischen Volk hat es bis jetzt noch keinen Zynismus
gegeben, wenn es sich auch mit gemeinen Worten zu schimpfen pflegte.
Wissen Sie auch, daß dieser leibeigene Sklave sich mehr achtete, als
Karmasinoff sich achtet? Er wurde gedroschen, aber er stand für seinen
Gott ein, Karmasinoff aber steht nicht für seinen Gott ein.«

»Nun, Werchowenski, ich höre Sie zum ersten Male, und höre Sie mit
Verwunderung,« sagte Stawrogin, »Sie sind also wirklich kein Sozialist,
sondern ein politischer ... Streber?«

»Ein Betrüger, ein Betrüger. Macht Ihnen das Sorge, was ich eigentlich
bin? Ich werde Ihnen sogleich sagen, wer ich bin, darauf komme ich
jetzt. Habe Ihnen doch nicht umsonst die Hand geküßt. Aber es ist nötig,
daß auch das Volk es glaubt, daß wir wissen, was wir wollen, und daß
jene nur mit der >Keule fuchteln und die Eigenen schlagen<. Ach, nur
Zeit! Der einzige Jammer ist bloß der, daß wir keine Zeit haben! Wir
verkünden die Zerstörung ... warum nur, warum ist diese Idee so
bezaubernd? Aber man muß, man muß die Knochen gelenkig machen. Wir legen
Feuer an ... Wir verbreiten Legenden ... Hierbei wird uns jede kleine
räudige >Gruppe<, jedes Häufchen zu statten kommen. Ich kann Ihnen aus
diesen Gruppen solche Jäger heraussuchen, die zu jedem Schuß bereit sind
und für die Ehre noch ewig dankbar bleiben. Und dann beginnt der
Aufruhr! Ein Schaukeln hebt an und gerät in Schwung, wie's die Welt
bisher noch nie gesehen hat! ... Verfinstern wird sich Rußland und
weinen wird die Erde nach den alten Göttern ... Und dann, dann bringen
wir ... Wen?«

»Wen?«

»Den Zarewitsch Iwan!«

»We--en?«

»Den Zarewitsch Iwan; Sie, Sie!«

Stawrogin dachte einen Augenblick nach.

»Einen Usurpator?« fragte er plötzlich und sah mit tiefer Verwunderung
den Verzückten an. »Ah, also das ist Ihr Plan!«

»Wir sagen zuerst, daß er sich >verbirgt<,« flüsterte leise wie ein
Liebesgeständnis Werchowenski, der in der Tat wie betrunken war. »Wissen
Sie auch, was dieses Wörtchen bedeutet: >er verbirgt sichAber er
wird kommen, er wird kommen!< sagen wir. Die Legende, die wir
verbreiten, wird besser sein, als die der Skopzen.[47] Er ist da -- aber
noch hat ihn niemand gesehen. Oh, was für eine Legende wir zuraunen
können! Doch die Hauptsache -- eine neue Kraft kommt! Gerade die aber
tut ja not, gerade nach einer solchen sehnt man sich ja weinend! Was ist
denn der Sozialismus: er hat ja nur alte Kräfte zerstört, neue aber
nicht gebracht. Hier dagegen ist's eine Kraft, und noch was für eine!
Eine noch nie dagewesene! Wir brauchen ja nur für einmal den Hebel, um
die Erde aufzuheben. Alles wird sich erheben!«

»So haben Sie im Ernst auf mich gerechnet?« fragte Stawrogin ironisch.

»Warum lachen Sie und warum lachen Sie so boshaft? Erschrecken Sie mich
nicht. Ich bin jetzt wie ein Kind, man kann mich zu Tode erschrecken,
schon allein mit solch einem Lächeln. Hören Sie, ich werde Sie niemandem
zeigen, niemandem: so muß es sein. Er ist da, aber keiner hat ihn
gesehen. Er verbirgt sich. Oder wissen Sie, einem kann man Sie auch
zeigen, von je Hunderttausend nur einem. Und über die ganze Erde hin
wird es heißen: >Wir haben ihn gesehen, gesehen!< Haben doch die Leute
den Iwan Filippowitsch,[48] ihren Zebaoth, den Herrn der Heerscharen,
>gesehen<, wie er im Wagen gen Himmel fuhr vor allen Menschen, haben es
>mit _eigenen_ Augen gesehen<. Sie aber sind nicht nur ein Iwan
Filippowitsch: Sie sind schön, sind stolz wie ein Gott, mit der Aureole
des Opfers, wollen nichts für sich selbst, und >verbergen< sich. Die
Hauptsache ist die Legende! Sie werden alle besiegen, Sie sehen sie nur
einmal an und siegen. Er bringt die neue Wahrheit und -- >verbirgt<
sich. Und mittlerweile verbreiten wir ein paar Salomonische Aussprüche.
Haben ja die Gruppen, die >Fünfer< -- brauchen keine Zeitungen! Wenn von
zehntausend Bitten nur eine einzige erfüllt wird, so kommen alle mit
Bitten. In jedem Kreise wird jeder Bauer wissen, daß da in einem
gewissen Baumstamm eine Höhlung ist, in die man Bittschriften
hineinlegen kann. Und die ganze Erde jauchzt auf: >Das neue gerechte
Gesetz kommt zu uns!< und das Meer gerät ins Wogen und die Schaubude
stürzt, -- dann aber werden wir daran denken, wie wir ein steinernes
Gebäude errichten! Zum erstenmal! Denn bauen werden _wir_, nur wir, wir
allein!«

»Raserei!« murmelte Stawrogin.

»Warum, warum wollen Sie nicht? Fürchten Sie sich etwa? Ich habe doch
gerade deshalb Sie erwählt, weil Sie nichts fürchten. Unvernünftig, wie?
Aber ich bin doch vorläufig noch Kolumbus ohne Amerika -- ist denn
Kolumbus ohne Amerika vernünftig?«

Stawrogin schwieg. Sie waren bei dem Hause angelangt und blieben an der
Vorfahrt stehen.

»Hören Sie,« Werchowenski beugte sich zu seinem Ohr, »ich mache es Ihnen
ohne Geld, morgen beende ich es mit Marja Timofejewna ... ohne Geld, und
morgen noch bringe ich Ihnen Lisa. Wollen Sie Lisa, morgen noch?«

»Sollte er wirklich verrückt geworden sein?« fragte sich Stawrogin und
lächelte. Die Tür öffnete sich.

»Stawrogin, ist Amerika unser?« Werchowenski ergriff zum letztenmal
seine Hand.

»Wozu?« fragte Stawrogin ernst und streng.

»Keine Lust also! -- das konnte ich mir ja denken!« stieß Pjotr
Stepanowitsch in einem wahren Wutanfall hervor. »Aber das lügen Sie ja,
Sie erbärmlicher, ausschweifender, brüchiger Herrensohn, ich weiß es
besser: Sie haben sogar einen Wolfshunger danach! ... Begreifen Sie
doch, daß Ihre Rechnung jetzt schon viel zu groß ist! Und ich kann doch
nicht auf Sie verzichten! Es gibt keinen anderen auf der Welt als nur
Sie! Ich habe Sie mir schon im Auslande ausgedacht; hab's getan, indem
ich Sie sah. Hätte ich Sie nicht mit Augen gesehn, aus meiner Ecke, mir
wäre auch nichts in den Sinn gekommen! ...«

Stawrogin stieg, ohne zu antworten, die Stufen hinan.

»Stawrogin!« rief ihm Werchowenski nach, »-- ich gebe Ihnen noch einen
Tag Bedenkzeit ... nun, zwei ... nun, meinethalben drei! ... Mehr als
drei kann ich nicht, dann aber -- Ihre Antwort!«




                          Vierzehntes Kapitel.
             Wie Stepan Trophimowitsch beschlagnahmt wurde


Inzwischen geschah bei uns etwas, das mich zunächst nur in Erstaunen
versetzte, Stepan Trophimowitsch aber erschütterte.

Eines Morgens, noch vor acht Uhr, kam Nastassja, Stepan Trophimowitschs
Mädchen, atemlos zu mir gelaufen, mit der Nachricht, ihr Herr sei
»beschlagnahmt« worden. Anfangs konnte ich aus ihren Reden überhaupt
nicht klug werden, doch schließlich erfuhr ich immerhin, daß Beamte in
der Frühe zu ihm gekommen waren und Papiere beschlagnahmt hatten; diese
hatte dann ein Soldat »zu einem Bündel zusammengebunden und auf einer
Schiebkarre weggeschleppt.«

Ich eilte sogleich zu meinem Freunde.

Der befand sich in einer sonderbaren Verfassung: er war erschrocken und
erregt, und schien doch zu gleicher Zeit zu triumphieren. Auf dem Tisch
kochte der Samowar und daneben stand ein Glas Tee, das schon des
längeren eingegossen, doch noch nicht angerührt war. Stepan
Trophimowitsch ging hin und her, ging rund um den Tisch herum, ging in
alle Winkel des Zimmers, doch augenscheinlich ohne sich über seine
Bewegungen Rechenschaft zu geben. Als ich kam, war er, wie vormittags
gewöhnlich, in seinem roten Morgenrock, doch diesmal ging er, kaum daß
er mich erblickt hatte, schnell ins andere Zimmer und zog sich Weste und
Rock an -- was er sonst nie getan hatte, wenn ihn einer seiner nahen
Freunde in diesem Morgenrock antraf. Er ergriff sofort erregt meine
Hand.

»_Enfin un ami!_«{[126]} (Er atmete tief auf.) »_Cher_, ich habe nur zu
Ihnen allein geschickt und sonst weiß noch niemand etwas davon. Man muß
Nastassja sagen, daß sie die Türen schließt und keinen Menschen
hereinläßt, außer natürlich _jene_, falls sie ... _Vous
comprenez?_«{[111]}

Er sah mich dabei unruhig an, als ob er eine Antwort erwartete.
Selbstverständlich begann ich ihn sofort nach dem Vorgefallenen
auszufragen, und so erfuhr ich denn schließlich, nach zahllosen
Unterbrechungen und unnützen Zwischensätzen, daß um sieben Uhr morgens
»plötzlich« ein Gouvernementsbeamter zu ihm gekommen war ...

»_Pardon, j'ai oublié son nom. Il n'est pas du pays_, aber ich glaube,
Lembke hat ihn mitgebracht, _quelque chose de bête et d'allemand dans la
physionomie. Il s'appelle_ Rosenthal.«{[127]}

»Rosenthal? Hieß er nicht Blümer?«

»Blümer? Ja, richtig, Blümer hieß er. _Vous le connaissez? Quelque chose
d'hébété et de très content dans la figure, pourtant très sévère, roide
et sérieux._{[128]} Ein Polizeimensch, aber einer von den Ergebenen, _je
m'y connais_.{[129]} Ich schlief noch, und denken Sie sich, er bat mich,
auf meine >Bücher und Manuskripte< einen Blick werfen zu dürfen, _oui,
je m'en souviens, il a employé ce mot_.{[130]} Er hat mich nicht
arretiert, sondern nur die Bücher ... _Il se tenait à distance_,{[131]}
und als er seinen Besuch zu erklären begann, da sah er aus, als ob ich
... _enfin il avait l'air de croire que je tomberai sur lui
immédiatement et que je commencerai à le battre comme plâtre. Tous ces
gens du bas étage sont comme ça_,{[132]} wenn sie es mit einem
anständigen Menschen zu tun haben. Natürlich begriff ich sofort alles.
_Voilà vingt ans que je m'y prépare!_{[133]} Ich öffnete vor ihm alle
Schubfächer und übergab ihm alle Schlüssel. Ich übergab sie selbst, ich
habe ihm alles selbst übergeben. _J'étais digne et calme._{[134]} Von
den Büchern nahm er die ausländische Ausgabe Herzens, ein gebundenes
Exemplar der >Glocke<, vier Abschriften meiner Dichtung _et enfin tout
ça_.{[135]} Dann noch Papiere und Briefe _et quelques unes de mes
ébauches historiques, critiques et politiques_.{[136]} Das alles haben
sie dann mitgenommen. Nastassja sagt, der Soldat habe es auf einer
Schiebkarre fortgeschleppt und mit einer Schürze bedeckt. _Oui, c'est
cela_,{[137]} mit einer Schürze.«

Das war ja Wahnsinn. Wer hätte hier etwas begreifen können? Ich suchte
Wesentlicheres aus ihm herauszubekommen. War Blümer ganz allein
erschienen, oder waren, außer dem Soldaten, noch andere mit ihm
gekommen? In wessen Namen? Mit welchem Recht? Wie hatte man so etwas
wagen können? Womit hatte er es erklärt?

»_Il était seul, bien seul_, übrigens war noch jemand _dans
l'antichambre, oui, je m'en souviens, et puis_{[138]} ... Übrigens, ich
glaube, es war außerdem noch jemand da, und im Vorzimmer stand eine
Wache. Man muß Nastassja fragen. Die hat das alles besser gesehen.
_J'étais surexcité, voyez-vous. Il parlait, il parlait ... un tas de
choses_{[139]} ..., übrigens, nein, er sprach sehr wenig, ich war es
eigentlich, der immer sprach ... Ich habe ihm mein ganzes Leben erzählt,
natürlich nur unter diesem Gesichtswinkel ... _J'étais surexcité, mais
digne, je vous l'assure._{[140]} Ich fürchte übrigens, daß ich, ich
glaube wenigstens, geweint habe. Die Schiebkarre haben sie vom Krämer
nebenan genommen ...«

»Aber wie hat sich das alles nur zutragen können! So sprechen Sie doch
um Gottes willen etwas genauer, Stepan Trophimowitsch. Das ist doch ein
Traum, den Sie da erzählen!«

»_Cher_, ich bin auch selbst noch wie im Traum ... _Savez-vous! Il a
prononcé le nom de Teliatnikoff_,{[141]} und ich glaube, gerade dieser
war es, der sich im Vorzimmer versteckte. Ja, da fällt mir ein, er
schlug einen Zeugen vor, und ich glaube, eben diesen Dmitri Mitritsch
... _qui me doit encore quinze roubles de Whist, soit dit en passant.
Enfin, je n'ai pas trop compris._{[142]} Aber ich war noch schlauer als
sie, und was geht mich Dmitri Mitritsch an! Ich habe, glaube ich, sehr
gebeten, daß niemand etwas davon erfahre, sehr gebeten, sehr, fürchte
sogar, daß ich mich erniedrigt habe, _comment croyez-vous? Enfin il a
consenti_{[143]} ... Nein, warten Sie, da fällt mir ein, das war er
selbst, der darum bat, denn er sei nur gekommen, um zu >besehen<, sagte
er, _et rien de plus_,{[144]} und weiter nichts ... und daß, falls man
nichts findet, auch nichts weiter geschehen wird. So haben wir denn auch
alles beendet _en amis, et je suis tout-à-fait content_.«{[145]}

»Aber ich bitte Sie, er hat Ihnen doch einfach die in solchen Fällen
üblichen Garantien angeboten, und Sie -- Sie haben ihn noch selbst davon
abgebracht!« rief ich in freundschaftlichem Unwillen.

»Nein, es ist schon besser so, ohne Garantien. Und wozu ein Skandal?
Lieber so lange es noch geht _en amis_ ... Sie wissen doch, wenn man in
der Stadt erfährt ... _mes ennemis ... et puis à quoi bon ce procureur,
ce cochon de notre procureur, qui deux fois m'a manqué de politesse et
qu'on a rossé à plaisir l'autre année chez cette charmante et belle
Natalia Pawlowna, quand il se cacha dans son boudoir. Et puis, mon
ami_,{[146]} widersprechen Sie mir nicht und entmutigen Sie mich nicht,
ich bitte Sie, denn es gibt nichts Unerträglicheres, als wenn ein Mensch
schon unglücklich ist und ihm dann hundert Freunde sofort noch erklären,
wie dumm er gehandelt hat. Setzen Sie sich und trinken Sie Tee. Ich muß
gestehen, ich bin sehr müde geworden ... sollte ich mich nicht hinlegen
und eine Essigkompresse machen? Was meinen Sie?«

»Aber selbstverständlich,« sagte ich, »und besser noch eine mit Eis. Sie
sind sehr aufgeregt. Sie sind ja ganz bleich und Ihre Hände zittern.
Legen Sie sich hin, erholen Sie sich und sprechen Sie vorläufig nicht.
Ich werde mich zu Ihnen setzen und warten. Und nachher können Sie mir
dann alles erzählen.«

Doch er konnte sich noch nicht entschließen, sich hinzulegen, ich aber
bestand darauf. Nastassja brachte Essig in einer Tasse, ich feuchtete
ein Handtuch damit an, das ich ihm dann auf den Kopf legte. Darauf
kletterte Nastassja auf einen Stuhl und schickte sich zu meiner nicht
geringen Verwunderung an, in der Ecke vor dem Heiligenbilde das Lämpchen
anzuzünden. Noch nie hatte ich früher ein Lämpchen bei ihm gesehen und
nun war es plötzlich da und wurde sogar angezündet.

»Das habe ich vorhin angeordnet, gleich nachdem sie fortgegangen waren,«
sagte Stepan Trophimowitsch leise zu mir und sah mich dabei schlau an,
»_quand on a de ces choses-là dans sa chambre et qu'on vient vous
arrêter_,{[147]} so macht das unbedingt einen guten Eindruck und die
müssen dann doch aussagen, daß sie gesehen haben ...«

Als Nastassja mit dem Lämpchen fertig war, ging sie zur Tür, blieb aber
dort stehen, legte mitleidig die rechte Hand an die Wange und begann,
ihn mit bekümmertem Blick anzusehen.

»_Eloignez-la_ unter irgendeinem Vorwand,« winkte er mir vom Diwan zu.
»Kann dieses russische Mitleid nicht ausstehen, _et puis ça
m'embête_.«{[148]}

Doch sie ging schon von selbst hinaus. Es fiel mir auf, daß er immer
wieder zur Tür blickte und zum Vorzimmer hinhorchte.

»_Il faut être prêt, voyez-vous_,« (er sah mich dabei bedeutungsvoll an)
»_chaque moment_{[149]} können sie kommen, einen festnehmen und huitt --
weg ist ein Mensch!«

»Herrgott! Wer kann kommen? Wer kann Sie festnehmen?«

»_Voyez-vous, mon cher_,{[150]} ich habe ihn ganz einfach gefragt, als
er schon fortgehen wollte: was wird man jetzt mit mir machen?«

»Hätten Sie doch lieber gleich gefragt, wohin man Sie verschicken will!«
rief ich unwillig.

»Das meinte ich ja auch damit, aber er ging fort und sagte nichts.
_Voyez-vous_: was die Wäsche anbetrifft, die Kleider, die warmen Kleider
besonders, ich glaube, das kann man schon mitnehmen, denke ich, doch
vielleicht schicken sie einen auch im Soldatenmantel fort. Aber ich habe
fünfunddreißig Rubel« (er senkte plötzlich die Stimme und blickte
ängstlich nach der Tür, durch die Nastassja hinausgegangen war)
»heimlich durch die Westentasche, die ich ein bißchen aufgeschnitten
habe, in die Weste hineingesteckt, sehen Sie hier, fühlen Sie ... Ich
glaube, die Weste werden sie mir doch nicht ausziehen, u--und zum Schein
habe ich in mein Portemonnaie sieben Rubel gelegt >alles, sozusagen, was
ich habe<. Und hier im Tisch ist noch Kleingeld und Kupfergeld, so daß
sie gar nicht auf den Gedanken kommen werden, daß ich noch Geld
versteckt habe. Sie werden glauben, das sei wirklich alles. Denn Gott
mag wissen, wo ich heute noch nächtigen werde.«

Mir sank der Kopf auf die Brust ob solchem Wahnsinn. So, wie er es
wiedergab, konnte man doch weder einen Menschen verhaften, noch
Haussuchungen vornehmen. Daß er sich irgendwie täuschte, auch über das,
was geschehen war, daran zweifelte ich jetzt nicht mehr. Allerdings
hatte man ihm (nach seinen eigenen Worten) ein gesetzmäßigeres Vorgehen
zugedacht, er aber war »_noch schlauer_« gewesen und hatte das selbst
verhindert ... Freilich geschah das damals noch vor den neuen
diesbezüglichen Gesetzen ... und freilich durfte damals, also noch vor
kurzem, der Gouverneur in äußersten Fällen ... Aber was konnte denn hier
für ein äußerster Fall vorliegen?

»Es ist bestimmt ein Telegramm aus Petersburg gekommen,« sagte plötzlich
Stepan Trophimowitsch.

»Ein Telegramm! Ihretwegen? Weil Sie Herzens Bücher besitzen? Oder gar
wegen Ihres Poems? Sie scheinen ja wirklich krank zu sein -- was für
einen Grund kann man denn deshalb haben, _Sie zu arretieren_?«

»Wer kann das wissen, in unserer Zeit, warum man arretiert wird?«
flüsterte er rätselhaft.

Ein unglaublicher, unmöglicher Gedanke fuhr mir durch den Kopf.

»Stepan Trophimowitsch, sagen Sie mir jetzt einmal wie einem Freunde,«
rief ich, »wie einem aufrichtigen, treuen Freunde, ich werde Sie nicht
verraten: gehören Sie nicht irgendeinem geheimen Verbande an?«

Und da antwortete er mir zu meiner Verwunderung keineswegs sicher und
bestimmt, ob er zu solch einem geheimen Verbande gehörte oder nicht
gehörte. Ich wurde nicht klug daraus.

»Ja, _voyez-vous_, es kommt darauf an, wie man's nimmt. _Voyez-vous_
...«

»Wie man was >nimmtan der Nase<,
aber wahr ist es doch! ... Nein, meine Gnädige, jetzt ist der Augenblick
gekommen. Jetzt handelt es sich nicht mehr um spöttisches Lächeln und
Weiberkoketterie. Wir sind jetzt nicht im Boudoir einer Zierdame,
sondern wir sind wie zwei abstrakte Wesen im ... sagen wir in einem
Luftballon, um uns die Wahrheit zu sagen.« (Er verhaspelte sich
natürlich ein wenig, doch das machte weiter nichts, daß er nicht immer
den richtigen Ausdruck für seine an sich ganz richtigen Gedanken fand.)
»Sie, meine Gnädige, Sie sind es, die mich aus meinem früheren Stande
herausgerissen hat. Diesen Posten habe ich nur Ihretwegen angenommen, um
Ihren Ehrgeiz zu befriedigen ... Sie lächeln spöttisch? Triumphieren Sie
nicht, noch ist es dazu zu früh! Wissen Sie, meine Gnädige, ich könnte
mit diesem Posten vorzüglich fertig werden, und nicht nur mit diesem
allein, sondern noch mit weiteren zehn, denn ich besitze Fähigkeiten ...
aber mit Ihnen, meine Gnädige, in Ihrer Gegenwart -- kann man mit
_nichts_ fertig werden, mit Ihnen zusammen, meine Gnädige, habe ich
keine Fähigkeiten mehr! Zwei Mittelpunkte können nicht nebeneinander
sein. Sie aber haben zwei zustande gebracht -- einen bei mir und den
anderen bei sich im Boudoir -- zwei Zentren der Macht, meine Gnädige:
aber ich werde das nicht mehr erlauben, hören Sie, ich werde das nicht
länger dulden!! Im Dienst wie in der Ehe ist nur ein Zentrum möglich,
zwei aber sind ein Ding der Unmöglichkeit ... Womit lohnen Sie es mir?«
rief er plötzlich gereizt. »Unsere Ehe bestand bis jetzt nur darin, daß
Sie mir täglich, stündlich bewiesen, daß ich nichtig, dumm und sogar
gemein sei, und daß ich die ganze Zeit gezwungen war, Ihnen
erniedrigenderweise zu beweisen, daß ich nicht nichtig und gar nicht
dumm bin und, was die Gemeinheit angeht, sogar alle durch meinen Edelmut
in Erstaunen setze. Sagen Sie mir doch bitte: ist das denn nicht
erniedrigend? und zwar für beide Teile?« Hier begann er mit beiden Füßen
auf dem Teppich zu trampeln, so daß Julija Michailowna gezwungen war,
sich in strenger Würde aufzurichten. Da wurde er sofort ganz still,
verfiel aber nun ins Gefühlvolle und begann zu schluchzen (jawohl, zu
schluchzen) und schlug sich vor die Brust, und das dauerte wohl ganze
fünf Minuten, während welcher Zeit das unerschütterliche Schweigen
seiner Gattin ihn vollends um seine Fassung brachte, -- bis er
schließlich das Falscheste tat, was er tun konnte: er gestand ihr, daß
er auf Pjotr Stepanowitsch eifersüchtig war. Doch fast im selben
Augenblick erriet er schon, daß er damit eine grenzenlose Dummheit
begangen hatte, und wurde geradezu tierisch wild. Im Jähzorn schrie er
alles Mögliche, schrie »Ich erlaube nicht, Gott zu verstoßen!« »werde
Ihren unverzeihlichen gottlosen Salon in alle Winde auseinanderjagen!«
»ein Gouverneur muß an Gott glauben und folglich auch seine Frau!« »Sie,
Sie, meine Gnädige, gerade Sie müßten schon um der eigenen Würde willen
für Ihren Mann stehen, selbst wenn er gar keine Fähigkeiten hätte (dabei
habe ich aber Fähigkeiten!) und währenddessen sind gerade Sie der Grund,
daß man mich hier verachtet, gerade Sie haben diese Auffassung von mir
allen beigebracht! ...« Er schrie, er werde die ganze Frauenfrage
vernichten, er werde dieses blödsinnige Fest für die Gouvernanten -- die
der Teufel holen solle! -- morgen noch untersagen, und die erste
Gouvernante, die ihm in den Weg komme, »von Kosaken« aus dem
Gouvernement jagen lassen. »Absichtlich, absichtlich!« schrie er.
»Wissen Sie auch, daß Ihre Nichtsnutze die Fabrikarbeiter aufhetzen und
daß ich das weiß? Wissen Sie auch, daß diese selben jungen Leute
_absichtlich_ Proklamationen verbreiten, ab--sicht--lich!? Wissen Sie
auch, daß ich die Namen von vier solchen Banditen kenne und daß ich den
Verstand verliere, endgültig, endgültig den Verstand!!! ...« Nun aber
brach Julija Michailowna plötzlich ihr Schweigen und erklärte streng,
sie wüßte selbst schon längst, was für verbrecherische Absichten gehegt
würden, daß aber dies alles nur Dummheiten seien, die er viel zu ernst
nähme, und was die unartigen Jungen beträfe, so kenne sie nicht nur vier
Namen, sondern alle. (Das log sie.) Im übrigen aber habe sie deswegen
noch lange nicht die Absicht, ihren Verstand zu verlieren, an den sie
jetzt mehr denn je glaube, und ihr großes Ziel sei, alles in Harmonie
aufzulösen: die Jugend zu ermutigen, sie zur Einsicht zu bringen,
plötzlich und unerwartet diesen Jünglingen zu eröffnen, daß alle ihre
Absichten bereits bekannt seien, und sie dann auf neue Ziele und eine
vernünftige, segensreiche Tätigkeit hinzuweisen.

Doch was geschah nun mit Andrei Antonowitsch! Als er erfuhr, daß Pjotr
Stepanowitsch ihn wieder übertölpelt und sich offen über ihn lustig
gemacht, daß er ihr weit mehr und viel früher als ihm alles mitgeteilt
hatte, und schließlich, daß vielleicht gerade Pjotr Stepanowitsch der
Urheber aller verbrecherischen Absichten war -- da geriet er einfach
außer sich. »So wisse denn, du einfältiges, hämisches Frauenzimmer,«
schrie er, gleichsam alle Ketten sprengend, »wisse denn, daß ich deinen
verächtlichen Liebhaber im Augenblick noch verhaften lasse, ihn in
Ketten lege und in eine Kasematte werfe, oder -- sofort unter deinen
Augen aus dem Fenster auf die Straße springe!« Auf diese Tirade aber
antwortete Julija Michailowna, fahl vor Ärger, mit einem langen, hellen
Gelächter, einem Gelächter mit Abstufungen und Anschwellungen, genau,
aber genau so wie im französischen Theater die für hunderttausend Francs
engagierte Pariser Schauspielerin zu lachen pflegt, wenn ihr Mann es
wagt, sie der Untreue zu verdächtigen. Von Lembke stürzte zum Fenster,
plötzlich aber blieb er wie angewachsen stehen, faltete die Hände auf
der Brust und blickte sich totenbleich mit Unheil verkündendem Blick
nach der Lachenden um: »Weißt du, weißt du, Julä ...« murmelte er
atemlos, mit beschwörender Stimme, »weißt du, ich kann mir wirklich
etwas antun!« Aber dem neuen, noch stärkeren Gelächter, das diesen
Worten folgte, hielt er nicht mehr stand: er biß die Zähne zusammen,
stöhnte und plötzlich stürzte er sich -- nicht aus dem Fenster, sondern
-- auf seine Frau, über der er die Faust erhob! Doch er ließ sie nicht
sinken, nein, dreimal nein; aber er verging auf der Stelle. Ohne die
Füße unter sich zu spüren, stürzte er in sein Zimmer, wo er sich, so wie
er war, in den Kleidern auf das Bett warf und den Kopf in die Decke
wickelte. So lag er zwei Stunden lang -- ohne Schlaf, ohne Gedanken, mit
einem Stein auf dem Herzen und mit stumpfer, unbeweglicher Verzweiflung
in der Seele. Hin und wieder erschauerte er am ganzen Körper unter einem
quälenden Schüttelfrost. Gedanken hatte er nicht, doch fielen ihm
allerhand unzusammenhängende Sachen ein, die mit seinem jetzigen
Zustande nichts zu tun hatten: so dachte er zum Beispiel an eine alte
Wanduhr, die er vor fünfzehn Jahren in Petersburg besessen hatte und von
der der große Zeiger abgefallen war ... oder an seinen lustigen Freund
Milbois -- wie dieser einmal mit ihm im Alexanderpark einen Sperling
gefangen und darauf furchtbar über diesen Jungenstreich gelacht hatte,
als es ihnen plötzlich einfiel, daß der eine von ihnen schon
»Kollegien-Assessor« war. Erst gegen sieben Uhr morgens schlief er
langsam ein, ohne es selbst zu merken, und schlief ruhig und mit
wundervollen Träumen. Erst gegen zehn Uhr erwachte er, besann sich,
sprang plötzlich wild auf und schlug sich mit der Hand vor die Stirn:
jäh war ihm alles wieder eingefallen. Weder das Frühstück, noch Blümer,
noch der Polizeimeister, noch Beamte mit Meldungen wurden vorgelassen,
von all dem wollte er nichts mehr wissen -- lief vielmehr wie von Sinnen
in die Gemächer seiner Frau. Dort aber sagte ihm Sophia Antropowna, eine
adlige alte Frau, die schon lange bei Julija Michailowna lebte, daß
diese bereits vor einer Stunde mit einer ganzen Gesellschaft, in nicht
weniger als drei Equipagen, nach Skworeschniki zu Warwara Petrowna
Stawrogina gefahren sei, um dort die Säle zu besichtigen, da man das
zweite Fest, das in zwei Wochen stattfinden sollte, dort zu arrangieren
beabsichtigte, und der heutige Besuch schon vor drei Tagen mit Warwara
Petrowna verabredet worden war. Bestürzt kehrte Andrei Antonowitsch in
sein Arbeitszimmer zurück und befahl sofort, die Pferde anzuschirren.
Kaum hielt er es aus, so lange zu warten, bis der Wagen vorfuhr. Seine
Seele sehnte sich nach Julija Michailowna -- nur sehen wollte er sie,
nur ein paar Minuten lang bei ihr sein! Vielleicht wird sie ihm einen
Blick schenken? ihm zulächeln wie früher? und ihm verzeihen? Oh -- oh!
»Wo bleiben denn die Pferde!« Mechanisch schlug er ein dickes Buch auf,
das auf dem Tisch lag (es kam vor, daß er zuweilen so ein Buch befragte,
indem er es aufs Geratewohl aufschlug und dann auf der rechten Seite die
ersten drei Zeilen las). Sein Blick fiel auf den Satz: »_Tout est pour
le mieux dans le meilleur des mondes possibles._«{[165]} _Voltaire_,
»_Candide_«. Er spuckte wütend aus und eilte die Treppe hinab zum
vorgefahrenen Wagen. »Nach Skworeschniki!« befahl er. Der Kutscher
erzählte später, der Herr habe ihn die ganze Zeit zu schnellerem Fahren
angetrieben, bis er plötzlich, als sie sich dem Herrenhause näherten,
befahl, umzukehren und in die Stadt zurück zu fahren. »Schneller,
schneller!« habe er auch dann noch ununterbrochen gerufen. »Doch als wir
uns dem Stadtwall näherten,« erzählte der Kutscher, »da befahl der Herr,
wieder anzuhalten, stieg dann aus und ging aufs Feld, ich dachte ... aus
irgendeinem Grunde ... -- aber nein, er blieb mitten im Feld stehen und
begann die Blümchen zu besehen ... so stand er dann lange Zeit, so daß
ich gar nicht mehr wußte, was ich denken sollte.« Ich erinnere mich noch
des Wetters an jenem Morgen: es war ein kalter und klarer, doch windiger
Septembertag. Vor Andrei Antonowitsch, der vom Wege aufs Feld getreten
war, lag die herbe Landschaft der kahlen Felder, von denen das Getreide
schon längst fortgeschafft war; der rauschende Wind schaukelte noch hier
und da armselige Stiele vergilbter Feldblumen ... Wollte er vielleicht
sich und sein Schicksal mit den spärlichen, von Wind und Frost schon
siechen und zerzausten Feldblumen vergleichen? Das glaube ich nicht. Ja,
ich bin sogar überzeugt, daß Lembke die Blumen kaum bemerkt hat, daß er
vielmehr alles, was er tat, ganz gedankenlos tat. Doch was man
jedenfalls mit Sicherheit weiß, ist nur, daß jener Polizeioffizier des
ersten Stadtreviers, der ihm mit dem Wagen des Polizeimeisters
nachgeschickt ward, den Gouverneur unterwegs tatsächlich mit einem
Strauß gelber Blümchen in der Hand antraf. Dieser Polizeioffizier, --
Wassilij Iwanowitsch Flibustjeroff mit Namen, ein Beamter mit
Begeisterung für seinen Beruf -- war auch erst seit kurzer Zeit in
unserer Stadt, doch hatte er sich nichtsdestoweniger durch seinen
unmäßigen Diensteifer und seinen angeboren unnüchternen Zustand schon
allgemein bekannt gemacht. Kaum hatte er den Gouverneur erblickt, als er
sofort aus dem Wagen sprang, um, ohne Rücksicht auf das Blumenbukett,
sofort zu melden:

»Exzellenz, in der Stadt ist Aufruhr.«

»Wie?« fragte Andrei Antonowitsch, mit strengem Gesicht sich umwendend,
doch ohne jedes Erstaunen, ganz wie er gewöhnlich in seinem Kabinett zu
fragen pflegte.

»Pristaff des ersten Reviers, Flibustjeroff, Exzellenz. In der Stadt ist
Aufruhr!«

»Flibustier?« wiederholte Andrei Antonowitsch nachdenklich.

»Zu Befehl, Exzellenz. Die Spigulinschen sind aufständisch.«

»Die Spigulinschen! ...«

Irgendetwas schien ihm beim Namen Spigulin einzufallen. Er zuckte sogar
zusammen und legte den Zeigefinger an die Stirn: »Die Spigulinschen!«
Schweigend und immer noch nachdenklich ging er, ohne sich zu beeilen,
zum Wagen zurück, setzte sich und befahl, nach der Stadt zu fahren.
Flibustjeroff fuhr im Wagen des Polizeimeisters hinter ihm her.

Ich glaube, Lembke wird unterwegs unklar an sehr verschiedene Sachen
gedacht haben: doch es ist kaum anzunehmen, daß er, als er in die Stadt
einfuhr, irgend eine bestimmte Absicht gehabt, noch sich eine
Vorstellung von dem gemacht habe, was geschehen war. Als er aber
plötzlich auf dem Platz vor dem Gouvernementsgebäude die fest und ruhig
wartenden »Aufständischen«, die Reihe der Polizisten und den machtlosen
-- vielleicht auch absichtlich machtlosen -- Polizeimeister erblickte,
da strömte ihm alles Blut zum Herzen. Totenbleich stieg er aus dem
Wagen.

»Die Mützen ab!« sagte er kaum hörbar und atemlos. »Auf die Kniee!« rief
er dann plötzlich laut -- am unerwartetsten wohl für ihn selbst. Und
vielleicht war es gerade diese erschreckende Überraschung, die alles
Weitere von selbst nach sich zog, wie auf den Rutschbergen in der
Fastnachtswoche ein Schlitten, der schon hinabsaust, nicht mehr mitten
auf der Strecke stehenbleiben kann. Andrei Antonowitsch hatte sich stets
durch Geistesgegenwart ausgezeichnet; für solche Menschen aber ist es am
gefährlichsten, wenn es einmal geschieht, daß ihr »Schlitten« sich auf
irgendeine Weise losreißt und den Berg hinabsaust.

Als Lembke aus dem Wagen stieg, drehte sich alles vor seinen Augen.

»Flibustier!« rief er noch schneidender, fast kreischend und ganz
sinnlos, und seine Stimme brach plötzlich ab. Er stand und wußte noch
nicht, _was_ er tun würde, doch fühlte er mit jeder Fiber, _daß_ er
sofort irgend etwas tun werde.

»Herrgott!« hörte man das Volk murmeln. Ein Arbeiter bekreuzte sich,
drei, vier wollten tatsächlich niederknieen, doch da schoben sich die
anderen als ganze Schar um einige Schritte vor, und plötzlich fingen sie
alle auf einmal zu sprechen an: »Exzellenz ... General ...« riefen sie
durcheinander, »wir haben uns verdingt zu vierzig ... der Direktor ...
kannst du nicht ein Wort einlegen ...« usw., usw. Man konnte nichts
verstehen.

Der arme Andrei Antonowitsch von Lembke stand wie betäubt da, begriff
nichts und hielt immer noch die Blümchen in der Hand. Den »Aufruhr«
glaubte er jetzt ebenso deutlich vor Augen zu sehen, wie Stepan
Trophimowitsch schon den Bauernschlitten sah, der ihn nach Sibirien
bringen sollte. Und zu alledem kam für ihn jetzt noch, daß er zwischen
der Menge der »Aufständigen«, die ihn alle mit Glotzaugen anstarrten,
plötzlich Pjotr Stepanowitsch nur so hin und herspringen und die Leute
»aufwiegeln« sah, diesen unseligen Pjotr Stepanowitsch, den Lembke seit
dem vergangenen Tage nicht einmal auf eine Minute vergessen konnte, den
er ständig vor Augen hatte, diesen von ihm so gehaßten Pjotr
Stepanowitsch.

»Ruten!« schrie von Lembke plötzlich noch überraschender.

Totenstille trat ein.

Das war der Anfang -- wenigstens soweit mir alles Nähere bekannt
geworden ist und soweit ich selbst manches mir zu erklären vermag. Doch
die weiteren Begebenheiten sind schon viel weniger verbürgt, und auch
ich vermag mir manches nicht recht zu deuten. Übrigens gibt es noch
einige Tatsachen.

Doch vor allen Dingen kamen die Ruten gar zu schnell: sie waren
augenscheinlich vom ahnungsvollen Polizeimeister schon während der
Wartezeit vorbereitet worden. Dann aber wurden nur zwei, höchstens drei,
doch bestimmt nicht mehr, mit Ruten bestraft. Rein erfunden ist es, daß
alle oder die Hälfte der Arbeiter durchgeprügelt worden seien. Nicht
wahr ist gleichfalls, daß man eine anständige vorübergehende Dame
ergriffen und gleichfalls durchgeprügelt habe, wie später eine
Petersburger Zeitung zu berichten wußte. Viel wurde ferner von einer
Awdotja Petrowna Tarapygina gesprochen, einer alten Frau aus dem
Armenhause, von der es hieß, sie habe, als sie auf dem Heimwege von
einem Besuch in der Stadt auf dem Platz die Menschenmenge erblickte,
sich in verständlicher Neugier vorgedrängt, und als sie sah, was da
geschah, »solch eine Schmach!« ausgerufen und dazu ausgespieen. Und
dafür, so hieß es, hatte man sie sofort gleichfalls »beschlagnahmt«.
Dieser Fall wurde nicht nur in den Zeitungen erwähnt, sondern man begann
im Eifer sogar schon für sie zu sammeln. Auch ich habe zwanzig Kopeken
gestiftet. Doch nun hat es sich herausgestellt, daß es eine solche
Tarapygina hier überhaupt nicht gibt! Ich habe mich noch persönlich im
Armenhause am Kirchhof nach ihr erkundigt: dort hat man von einer
Tarapygina nie auch nur etwas gehört, ja, man war sogar richtig
beleidigt, als ich zur Aufklärung der Sache das erwähnte Gerücht
mitteilte. Wenn ich nun dieses leere Gerede hier überhaupt wiedergebe,
so tue ich es nur deshalb, weil mit Stepan Trophimowitsch beinahe
dasselbe geschah (d. h. falls jene Geschichte nicht frei erfunden
gewesen wäre). Vielleicht aber ist diese ganze Geschichte von der
Tarapygina nur durch Stepan Trophimowitsch entstanden, oder genauer
ausgedrückt, durch einen kleinen Vorfall, den er heraufbeschwor. Es ist
mir auch heute noch nicht klar, wie es geschah, daß Stepan
Trophimowitsch mir plötzlich abhanden kam, kaum daß wir auf dem Platz
vor dem Gouvernementsgebäude anlangten. Mir ahnte sogleich nichts Gutes
und ich wollte ihn auf einem anderen Wege, nicht über den Platz,
hinführen, doch aus Neugier blieb ich einen Augenblick stehen, um mich
bei einem Bekannten zu erkundigen, was hier vorging, -- und da war
Stepan Trophimowitsch plötzlich verschwunden. Mein Instinkt sagte mir
sofort, daß er bestimmt an der gefährlichsten Stelle am ehesten zu
finden sein werde, denn aus einem ungewissen Grunde fühlte ich, daß auch
bei ihm »der Schlitten« sich losgerissen hatte und nun den Rutschberg
hinabflog. Und richtig: er war schon mitten in der Menge. Ich weiß noch,
ich erfaßte schnell seine Hand, doch er sah mich still und stolz, mit
unermeßlicher Überlegenheit an.

»_Cher_,« sagte er mit einer Stimme, in der etwas wie eine gesprungene
Saite klang, »wenn man schon öffentlich hier auf dem Platz so
zeremonielos verfährt, was soll man dann noch von _diesem_ erwarten ...
wenn er selbständig handeln dürfte?«

Und er wies zitternd vor Unwillen, mit dem heißen Verlangen, jemanden
herauszufordern, auf den zwei Schritt vor uns stehenden und uns
anstarrenden Flibustjeroff.

»_Diesem?_« rief Flibustjeroff sofort zornbebend und es wurde ihm
offenbar dunkel vor den Augen. »Was für einen >diesenVerzeihen Sie ... ich habe mich geirrt, das war ein
Mißverständnis, nur ein Mißverständnis.< Und als der Beleidigte darauf
immer noch gekränkt war und seiner Empörung Ausdruck gab, da sagte er
schließlich ärgerlich: >Aber ich versichere Ihnen doch, daß das ein
Mißverständnis war, was schreien Sie hier denn noch_Merci_<. Er
kündet in dieser Arbeit an, daß er künftig nichts mehr schreiben werde,
unter keiner Bedingung, für keinen Preis, selbst dann nicht, wenn ein
Engel vom Himmel käme und ihn bäte, den unwiderruflichen Entschluß
aufzugeben. Mit einem Wort, er legt jetzt die Feder für immer aus der
Hand. Und dieses graziöse >_Merci_< ist an das Publikum gerichtet, ist
sein Dank für die unermüdliche Begeisterung, mit der es so viele Jahre
lang seine treue Arbeit für den russischen Gedanken begleitet hat.«

Julija Michailowna war auf der Höhe der Seligkeit.

»Ja, ich verabschiede mich, ich sage mein >_Merci_< und reise dann weg,
und dort ... in Karlsruhe ... werde ich meine Augen schließen,« bemerkte
Karmasinoff, den das Mitleid mit sich selbst mehr und mehr ergriff.

Wie so viele unserer großen Schriftsteller (und wir haben ungeheuer viel
große Schriftsteller) konnte er Lobsprüche nicht gleichmütig hinnehmen,
sondern wurde ungeachtet seines ganzen Scharfsinnes sofort schwach und
weich. Aber ich denke, das ist am Ende verzeihlich. Erzählt man doch,
daß einer von unseren Shakespeares in einem Privatgespräch ganz offen
gesagt habe: »Ja, wir _großen Männer_, wir« usw., und zwar ohne daß es
ihm selbst aufgefallen wäre.

»Ja, dort in Karlsruhe schließe ich dann für immer meine Augen. Uns
großen Männern bleibt ja nichts anderes übrig, als, nachdem wir unser
Werk getan, schnell die Augen zu schließen, ohne noch lange auf Dank zu
warten. So werde auch ich es denn machen.«

»Geben Sie mir Ihre Adresse, damit ich nach Karlsruhe zu Ihrem Grabe
pilgern kann!« rief der Deutsche und lachte selbst maßlos laut darüber.

»Jetzt kann man Tote auch mit der Eisenbahn versenden,« sagte plötzlich
einer der unbedeutenderen jungen Herren.

Lämschin quiekte nur so vor Vergnügen. Julija Michailowna zog, peinlich
berührt, die Brauen zusammen.

In diesem Augenblick trat Nicolai Stawrogin ein.

»Und mir hat man gesagt, Sie wären aufs Polizeibureau gebracht worden?«
sagte er, sich gleich an Stepan Trophimowitsch wendend.

»Nein, es war im ganzen nur ein ... _bureaukratischer_ Zwischenfall,«
antwortete Stepan Trophimowitsch lächelnd.

»Ich kann aber versichern, daß dieses Mißverständnis auf meine
Veranlassung hin wieder gutgemacht werden wird,« griff Julija
Michailowna in das Gespräch ein. »Ich denke, daß Sie diese
Unannehmlichkeit, die mir jetzt noch unerklärlich ist, nicht weiter
beachten und uns trotzdem das Vergnügen bereiten werden, auf der
literarischen Matinee etwas vorzutragen?«

»Ich weiß nicht ... jetzt ... eigentlich ...«

»Glauben Sie mir, Warwara Petrowna, ich bin so unglücklich ... und
denken Sie nur, gerade jetzt, wo ich mich am meisten darauf freute,
einen der bemerkenswertesten und unabhängigsten russischen Geister
endlich persönlich kennen zu lernen, äußert Stepan Trophimowitsch
plötzlich die Absicht, sich von uns zurückzuziehen.«

»Das Lob ist ja so laut, daß ich es wohl nicht hören soll,« bemerkte
Stepan Trophimowitsch, jedes Wort prägend, »aber ich glaube nun einmal
nicht, daß meine unwichtige Person für das Fest so unbedingt vonnöten
sei. Übrigens, ich ...«

»Aber Sie verwöhnen ihn mir ja viel zu sehr!« rief plötzlich Pjotr
Stepanowitsch, schnell ins Zimmer schwirrend, dazwischen. »Kaum habe ich
ihn in die Hand genommen, da, eines Morgens Haussuchung, Arrest, die
Polizei packt ihn am Kragen, und nun verhätscheln ihn die Damen im Salon
unseres Stadtgewaltigen! Na, in ihm muß ja jetzt jeder Knochen vor
Entzücken einfach singen. Hat sich solch ein Benefiz wohl nicht mal
träumen lassen, -- kein Wunder, wenn er da anfängt, die Sozialisten
anzuschwärzen.«

»Das kann nicht sein, Pjotr Stepanowitsch, der Sozialismus ist ein zu
großer Gedanke, als daß Stepan Trophimowitsch das nicht auch einsähe,«
verteidigte Julija Michailowna den letzteren energisch.

»Der Gedanke ist zwar groß, doch seine Verkünder sind das nicht immer,
_mais brisons là, mon cher_,«{[172]} sagte Stepan Trophimowitsch, sich
mit weltmännischer Sicherheit vom Platz erhebend, zu seinem Sohn.

Da geschah plötzlich etwas völlig Unerwartetes.

Auch Herr von Lembke war den anderen gefolgt und befand sich gleichfalls
schon seit einiger Zeit im Salon seiner Frau, doch sonderbarerweise tat
man allgemein, als bemerke man ihn nicht, obgleich gewiß alle gesehen
hatten, wie er eingetreten war. Aber Julija Michailowna fuhr nun einmal
eigensinnig fort, ihrem Vorsatz getreu, ihn zu ignorieren. Er war nicht
weit von der Tür stehen geblieben und hatte bisher finster, mit strengem
Gesicht, dem Gespräch zugehört. Als jetzt die Bemerkungen über die
Vorfälle des Morgens fielen, wurde er unruhig, sah plötzlich starr den
jungen Fürsten an, dessen steifer Kragen wohl seinen Verdacht erregte.
Da schlug die Stimme des hereinschwirrenden Pjotr Stepanowitsch an sein
Ohr: er zuckte heftig zusammen, -- und kaum hatte Stepan Trophimowitsch
seine Sentenz über die Sozialisten ausgesprochen, als von Lembke schon
schnurstracks auf ihn zutrat, ohne es zu beachten, daß er dabei
Lämschin, der im Wege stand, zur Seite stieß. Lämschin sprang natürlich
sofort mit gemachtem und übertriebenem Erstaunen zur Seite, rieb sich
mit verwundertem Gesicht den Arm und tat, als habe von Lembke ihn
wirklich furchtbar verletzt.

»Genug!« rief dieser, indem er energisch die Hand des erschrockenen
Stepan Trophimowitsch ergriff und sie mit aller Kraft in der seinigen
drückte. »Genug, über die Flibustiers ist das Urteil schon gefällt. Kein
Wort weiter. Ich habe schon Vorkehrungen getroffen ...«

Er sprach es laut und schloß mit scharfer Betonung. Der Eindruck, den
seine Worte machten, war ein äußerst unangenehmer. Alle fühlten etwas
Unheilvolles in der Luft. Ich sah, wie Julija Michailowna erbleichte.
Der Eindruck wurde durch einen dummen Zufall abgeschlossen. Nachdem
Lembke das von den Vorkehrungen gesagt hatte, wandte er sich schroff um
und schritt schnell zur Tür, doch kurz bevor er sie erreichte, stolperte
er über einen der Teppiche, klappte mit dem Oberkörper nach vorn und
wäre beinahe gefallen. Einen Augenblick stand er stumm da, blickte auf
die Stelle, wo er gestolpert war, sagte laut: »Das ist umzustellen,« und
verließ das Zimmer. Julija Michailowna erhob sich sofort und ging ihm
eilig nach. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, da sprach und tuschelte
schon alles durcheinander, so daß es schwer war, aus dem Gewirr klug zu
werden. Die einen sagten, er sei »nervös« und »überarbeitet«; andere
wollten gehört haben, daß er gewissen Anfällen ausgesetzt sei; die
dritten tippten heimlich mit dem Finger an die Stirn, und in einer Ecke,
im Kreise der Jugend, hielt Lämschin sogar zwei Finger wie Hörnchen an
die Stirn. Ja, man machte Andeutungen, munkelte von Familienszenen --
doch sprach man davon selbstverständlich nicht laut, sondern nur
flüsternd. Jedenfalls dachte niemand daran, jetzt fortzugehen; und
vorläufig wartete man. Ich weiß nicht, was Julija Michailowna inzwischen
hatte ausrichten können, doch schon nach einigen fünf Minuten kam sie
zurück, und man merkte ihr nur an, daß sie sich sehr zusammennahm, um
ruhig zu erscheinen. Sie antwortete ausweichend, sagte, Andrei
Antonowitsch sei ein wenig erregt, aber das habe nichts auf sich, das
wiederhole sich bei ihm schon von Kindheit an, sie wisse das alles »ganz
genau«, und selbstredend werde das Fest morgen ihn wieder erheitern.
Darauf richtete sie noch ein paar schmeichelhafte Worte an Stepan
Trophimowitsch, jedoch nur um der gesellschaftlichen Form willen, und
dann forderte sie mit erhobener Stimme die Mitglieder des Komitees auf,
jetzt sofort mit der Sitzung zu beginnen. Nun erst begannen die anderen
aufzubrechen, doch die beklagenswerten Vorfälle dieses verhängnisvollen
Tages waren noch nicht zu Ende ...

Schon in dem Augenblick, als Nicolai Stawrogin eintrat, hatte ich
bemerkt, daß Lisa ihn schnell und forschend ansah und dann lange den
Blick nicht von ihm abwandte, so lange nicht, daß es bereits auffiel.
Ich sah, wie Mawrikij Nicolajewitsch, der hinter ihrem Stuhle stand,
sich niederbeugte, wie um ihr etwas zu sagen, doch plötzlich seine
Absicht wieder aufgab und sich schnell aufrichtete, worauf er mit
schuldbewußtem Blick die Anwesenden überflog. Auch Nicolai Stawrogin
erregte einige Neugier: sein Gesicht war bleicher als sonst und sein
Blick ungewöhnlich zerstreut. Nachdem er beim Eintreten seine Frage an
Stepan Trophimowitsch gerichtet hatte, vergaß er ihn gleich wieder --
ja, ich glaube, vergaß sogar, zur Hausfrau zu treten. Lisa sah er kein
einziges Mal an, doch nicht etwa, weil er es nicht wollte, sondern weil
er, wie ich mit Sicherheit behaupten kann, auch sie nicht bemerkte. Und
nun, in der Stille, die Julija Michailownas Aufforderung an die
Mitglieder des Komitees folgte, hörten wir plötzlich Lisas klare und
absichtlich laute Stimme:

»Nicolai Wszewolodowitsch, mir schreibt irgendein Hauptmann, der sich
für Ihren Verwandten ausgibt, für den Bruder Ihrer Frau, ein Hauptmann
namens Lebädkin, fortwährend unanständige Briefe, in denen er sich über
Sie beklagt und sich bereit erklärt, Geheimnisse, die Sie betreffen, mir
mitzuteilen. Wenn Sie tatsächlich sein Verwandter sind, so verbieten Sie
ihm doch derlei Beleidigungen und befreien Sie mich von diesen
Belästigungen.«

Eine ungeheuere Herausforderung lag in diesen Worten, und das begriffen
alle. Die Beschuldigung lag auf der Hand, wenn sie auch für sie selbst
vielleicht ganz überraschend kam. Es war, wie wenn ein Mensch die Augen
schließt, die Zähne zusammenbeißt und sich vom Dach hinabstürzt.

Doch die Antwort Nicolai Stawrogins war noch sonderbarer. Vor allem war
schon das seltsam, daß er durchaus nicht erstaunt oder erschrocken zu
sein schien und Lisa bis zum Schluß mit der ruhigsten Aufmerksamkeit
anhörte. Weder Verwirrung noch Zorn drückte sich auf seinem Gesicht aus.
Und einfach, fest, sogar mit voller Bereitwilligkeit, antwortete er auf
die verhängnisvolle Frage:

»Ja, ich habe das Unglück, mit diesem Menschen verwandt zu sein. Ich bin
der Mann seiner Schwester, der geborenen Lebädkina, jetzt schon seit
fast fünf Jahren. Seien Sie versichert, daß ich ihm Ihre Forderungen in
kürzester Zeit ausrichten werde, und ich verbürge mich dafür, daß er Sie
hinfort nicht mehr belästigen wird.«

Nie werde ich das Entsetzen vergessen, das sich in Warwara Petrownas
Gesicht ausdrückte. Wie von Sinnen erhob sie sich von ihrem Stuhl und
streckte langsam wie zur Abwehr die rechte Hand vor sich aus. Nicolai
Wszewolodowitsch sah sie an, sah Lisa an, die Zuschauer, und plötzlich
lächelte er mit grenzenlosem Hochmut; und wortlos, ohne sich zu beeilen,
verließ er den Salon. Alle sahen, wie Lisa vom Diwan aufsprang, kaum daß
Stawrogin sich zur Tür wandte, und bereits eine Bewegung machte, um ihm
nachzueilen, doch schon im nächsten Augenblick kam sie zur Besinnung und
lief nicht, sondern ging still und leise, gleichfalls ohne ein Wort zu
sagen und ohne jemanden anzusehen, hinaus, natürlich in Begleitung
Mawrikij Nicolajewitschs, der sofort an ihrer Seite war ...

Von der Aufregung und dem Gerede an diesem Abend in der Stadt schweige
ich lieber. Warwara Petrowna hatte sich in ihrem Stadthause
eingeschlossen, und Nicolai Wszewolodowitsch war, wie man zu berichten
wußte, ohne die Mutter gesehen zu haben, nach Skworeschniki gefahren.
Stepan Trophimowitsch bat mich am Abend, zu »_cette chère amie_«{[173]}
zu gehen und anzufragen, ob er nicht zu ihr kommen dürfe. Ich wurde aber
nicht empfangen. Er war maßlos erschüttert und weinte sogar. »Solch eine
Ehe! Solch eine Ehe! Solch ein Schrecken in der Familie!« wiederholte er
einmal über das andere. Aber zwischendurch gedachte er doch auch
Karmasinoffs und schimpfte furchtbar über ihn. Zu dem Vortrag, den er
auf der literarischen Matinee am nächsten Tage halten wollte, bereitete
er sich eifrig vor, und -- o künstlerische Natur! -- tat es vor dem
Spiegel. Und er suchte alle geistreichen Bemerkungen und alle Bonmots
zusammen, die er je im Leben gemacht und die er in einem besonderen
Heftchen notiert hatte, um sie nun in seinen Vortrag über die
Sixtinische Madonna hineinzuflechten. »Mein Freund, ich tue das ja nur
für die große Idee,« sagte er zu mir, offenbar um sich zu rechtfertigen.
»_Cher ami_, ich habe mich nach fünfundzwanzigjährigem Stillsitzen
plötzlich von meinem Platze gerissen und bin losgefahren, wohin -- das
weiß ich nicht, aber ich bin losgefahren ...«




                          Sechzehntes Kapitel.
                              Die Matinee


                                   I.

Das Fest fand statt, ungeachtet der bedenklichen Ereignisse des
vorhergegangenen »Spigulinschen« Tages. Ja, ich glaube, selbst wenn
Lembke in der dazwischenliegenden Nacht gestorben wäre, hätte das Fest
an diesem Vormittage doch seinen Anfang genommen -- eine so große und
besondere Bedeutung legte ihm Julija Michailowna bei. Zum Unglück blieb
sie bis zum letzten Augenblick in ihrer Verblendung und begriff die
Stimmung der Gesellschaft überhaupt nicht. Zu guter Letzt glaubte
niemand mehr, daß der feierliche Tag ohne irgendein ungeheueres Ereignis
vorübergehen werde, oder ohne »Entscheidung«, wie einige, sich im voraus
die Hände reibend, sagten. Freilich bemühten sich viele, eine sehr
finstere und politische Miene zur Schau zu tragen; doch -- im
allgemeinen gesprochen -- den russischen Menschen freut nun einmal über
alle Maßen jeglicher öffentliche skandalöse Tumult. Allerdings kam bei
uns noch etwas unvergleichlich Ernsteres hinzu, als es bloße
Skandalsucht gewesen wäre: es war da eine allgemeine Gereiztheit, etwas
unstillbar Böses; anscheinend hatten alle alles bis zum schrecklichsten
Überdruß satt. Es hatte sich ein gewisser irreführender Zynismus
eingenistet, ein Zynismus, zu dem man sich anstrengte, der einem über
die eigene Kraft ging. Nur die Damen waren sich über ihre Gefühle im
klaren, wenn auch nur in einem Punkte, und zwar: in ihrem unbarmherzigen
Haß gegen Julija Michailowna. In diesem Punkte stimmten alle
verschiedenen Richtungen unserer Damenwelt überein. Julija Michailowna
aber ahnte nichts davon und war noch bis zur letzten Stunde überzeugt,
daß sie »umschwärmt« und alle Welt ihr »fanatisch ergeben« sei.

Ich habe schon erwähnt, daß in unserer Stadt mittlerweile verschiedene
sonderbare und befremdliche Gestalten aufgetaucht waren. In den trüben
Zeiten des Schwankens oder in Zeiten des Übergangs finden sich immer und
überall verschiedene Leutchen ein. Ich rede nicht von den sogenannten
»Anführern«, die stets allen voran (das ist ihre wichtigste Sorge, daß
es allen voran geschieht) zu einem -- wenn auch sehr oft allerdümmsten,
so doch immerhin mehr oder weniger bestimmten -- Ziele eilen. Nein, ich
rede nur von dem Gesindel selbst. In jeder Übergangszeit pflegt dieses
Gesindel, das in jeder Gesellschaft zu finden ist, sich zu erheben, und
zwar nicht nur ohne ein Ziel, sondern sogar ohne auch nur eine Spur von
einem Gedanken zu haben; statt dessen drückt es aus allen Kräften bloß
Unruhe und Ungeduld aus. Indes pflegt dieses Gesindel, ohne sich dessen
bewußt zu werden, fast immer unter das Kommando jenes kleinen Häufchens
der »Anführer« zu geraten, die mit einem bestimmten Ziel handeln, und
jenes Häufchen lenkt dann diesen ganzen Kehricht wohin es ihm gefällt,
wenn es nur nicht selber aus vollkommenen Idioten besteht, was übrigens
auch vorzukommen pflegt. Jetzt, wo alles schon der Vergangenheit
angehört, sagt man bei uns, die Internationale habe Pjotr Stepanowitsch
gelenkt, dieser aber wiederum Julija Michailowna, von der dann nach
seinem Kommando alle möglichen Leute gelenkt worden seien. Und jetzt
wundern sich alle unsere soliden, klugen Köpfe über sich selbst: wie
hatten sie damals nur so versagen, so ihre Pflicht verabsäumen können?
Doch worin nun eigentlich die Unruhe unserer Zeit bestand oder wovon und
zu was es einen Übergang bei uns gab -- das weiß ich nicht, und ich
denke, das vermag niemand zu sagen, oder höchstens ein paar auswärtige
Beobachter. Indessen war es nicht zu leugnen, daß plötzlich die
erbärmlichsten Leutchen ein gewisses Übergewicht bekamen, sich u. a.
erlaubten, alles Heilige laut zu kritisieren, während sie früher nicht
einmal gewagt hätten, auch nur den Mund aufzutun; und die angesehensten
Leute, die bis dahin in so wohltuender Weise die Oberhand gehabt hatten,
begannen plötzlich, diesen Leuten zuzuhören und selber zu schweigen,
manche aber fingen schon an, ihnen schmählichst und mit schadenfrohem
Grinsen zuzunicken. Irgendwelche Lämschins, Telätnikoffs, kleine
Gutsbesitzer Tentetnikoffs, einheimische Schmutznasen, Radischtscheffs,
wehleidig und hochmütig lächelnde Jüdchen, Lachbrüder unter angereisten
Reisenden, Dichter mit Großstadtrichtung und Dichter, die sich statt
durch Richtung oder Talent, durch Wamse und Schmierstiefel
auszeichneten, Majore und Obersten, die sich über die Sinnlosigkeit
ihres Berufs lustig machten und für einen Rubel mehr sofort bereit
waren, ihren Degen abzulegen und sich als bessere Schreiber in die
Eisenbahnverwaltung zu drücken; Generale, die es vorzogen, Advokaten zu
werden, gerissene Vermittler, vielversprechende Geschäftsleute,
unzählige Seminaristen, Frauen, die die Frauenfrage personifizierten, --
all das bekam bei uns das Übergewicht. Und über wen? Über den Klub, über
alte Würdenträger, über Generale mit Stelzfüßen, über unsere strengsten
und unzugänglichsten Damen der Gesellschaft. Wenn schon eine Warwara
Petrowna (bis zu der Katastrophe mit ihrem Sohne) sich derartig von
diesem ganzen Pack ausnutzen und lenken ließ, so ist den anderen unserer
Minerven ihre damalige Dummheit, die sich so betölpeln ließ, zum Teil
doch wohl verzeihlich. Heute sieht man in alledem, wie ich schon
erwähnte, die Wirkung der _Internationale_. Diese Ansicht hat sich so
festgesetzt, daß man in diesem Sinne sogar angereisten Fremden die
Vorgänge erklärt. Und noch kürzlich hat der Ratsherr Kubrikoff, ein Mann
von zweiundsechzig Jahren, mit dem Stanislausorden am Halse,
unaufgefordert in überzeugtem Tone gesagt, daß er im Laufe von ganzen
drei Monaten unzweifelhaft unter dem Einfluß der Internationale
gestanden habe. Als man ihn jedoch, bei aller Achtung, die man seinem
Alter und seinen Verdiensten schuldig ist, bat, sich näher zu erklären,
da konnte er allerdings keinerlei Belege dafür anführen, außer dem
einen, daß er es »mit allen Sinnen so empfunden« habe. Und überzeugt
blieb er bei seiner Behauptung, so daß man schließlich nach Begründungen
nicht weiter in ihn drang.

Doch ich sage nochmals: eine kleine Gruppe Vorsichtiger, die sich schon
gleich zu Anfang abgesondert hatte, hielt sich dennoch abseits, und zwar
womöglich hinter verschlossenen Türen. Doch welches Türschloß hält dem
Naturgesetz stand? Auch in den vorsichtigsten Familien wachsen genau so
wie in allen anderen Töchter heran, die einmal tanzen wollen. Nun, und
so kam es denn, daß auch alle diese Abgesonderten sich zu guter Letzt
gleichfalls in die Liste zum Gouvernantenfest eintrugen. Der Ball sollte
ja so glänzend, so unvergleichlich werden; man erzählte schon
Wunderdinge, sprach von zugereisten Fürsten mit Lorgnettes, von den zehn
Anordnern, lauter jungen Kavalieren, die eine Bandschleife an der linken
Schulter tragen sollten. Manche wußten zu berichten, daß Karmasinoff zur
Erhöhung der Einnahme eingewilligt habe, sein »_Merci_« in dem Kostüm
einer Gouvernante vorzulesen, und daß die »Quadrille der Literatur«
gleichfalls in Kostümen getanzt werden und jedes Kostüm eine bestimmte
literarische Richtung darstellen werde; und zu guter Letzt werde in
einem besonderen Kostüm der »ehrliche russische Gedanke« -- an sich
schon eine vollkommene Neuheit -- auftreten und tanzen. Wie sollte man
da seinen Namen nicht auf die Liste setzen? Und so zeichneten sich denn
alle ein.


                                  II.

Das Fest war nach dem Programm in zwei Teile geteilt: zunächst, am
Vormittage, von zwölf bis vier, sollte die literarische Matinee
stattfinden, der Ball aber sollte erst abends um zehn Uhr beginnen und
dann die ganze Nacht dauern. Doch gerade in dieser Teilung lagen die
Keime zur Unzufriedenheit und Unordnung. Vor allem konnte sich auf
dieser Grundlage das Gerücht verbreiten, daß es nach der literarischen
Matinee in der angeblich nur zu diesem Zweck vorgesehenen Pause ein
Frühstück geben werde, selbstredend unentgeltlich, und zwar ein
Frühstück mit Champagner. Der hohe Preis der Eintrittskarten (die Karte
kostete drei Rubel) verlieh diesem Gerücht etwas durchaus Glaubwürdiges,
was zu seiner Verbreitung nicht wenig beitrug. »Würde ich denn sonst für
nichts und wieder nichts mich eingeschrieben haben? Das Fest währt ja
vierundzwanzig Stunden, na also -- ernährt einen dann auch. Sonst würde
man ja verhungern.« So philosophierte man ganz allgemein bei uns. Ich
muß aber gestehen, daß Julija Michailowna selbst durch ihren Leichtsinn
diesem verderblichen Gerücht Vorschub geleistet hatte. Schon vor einem
Monat, in der ersten Begeisterung für ihren großen Plan, hatte sie jedem
ersten besten von ihrem Fest erzählt; und daß auf diesem Fest Reden und
Toaste gehalten werden würden, hatte sie sogar in eine der
hauptstädtischen Zeitungen lanciert. Gerade diese Toaste hatten es ihr
damals angetan: wollte sie doch selber eine Rede halten, die sie im
stillen denn auch schon auszuarbeiten begann. Diese Tischrede sollte
unser Hauptziel erklären und was sie auf ihre Fahne geschrieben hatte
(ich wette, daß die Arme es nicht einmal zu einem Entwurf einer solchen
Tischrede gebracht hat), sollte dann als »Korrespondenz« in die
Zeitungen der Hauptstadt gelangen, die höchsten Vorgesetzten zugleich
rühren und begeistern, um dann in alle Gouvernements zu flattern und
überall Bewunderung wie Nachahmung zu finden. Doch zu Tischreden gehört
nun einmal Champagner, und da man Champagner doch nicht gut auf
nüchternen Magen trinken kann, so war selbstredend eine Tafel und ein
Frühstück Voraussetzung. Später aber, als sich dank ihrer Bemühungen
schon ein Komitee gebildet hatte und man sich ernstlich an die Sache
machte, ward ihr sogleich klar und überzeugend bewiesen, daß, wenn man
an ein Festessen dachte, für die Gouvernanten nur eine sehr geringe
Summe verbliebe, selbst bei einer noch so hohen Einnahme. Die Frage war
somit: entweder ein Gastmahl im Stile Belsazars, mit Reden und einigen
neunzig Rubeln für die armen Gouvernanten, oder die Beschaffung einer
ansehnlichen Summe durch ein Fest, das man sozusagen nur um der Form
willen veranstaltete. Übrigens wollte das Komitee damit allen
hochfliegenden Plänen zunächst nur einen Dämpfer aufsetzen, denn man war
ja selbst keineswegs nur für das eine oder das andere, sondern man hatte
sich eine dritte Möglichkeit ausgedacht, die sowohl versöhnend wie
vernünftig war, nämlich ein in jeder Beziehung gutes Festessen, jedoch
ohne Champagner, und folglich als Ergebnis einen recht annehmbaren
Betrag für die Gouvernanten. Aber darauf ging Julija Michailowna nicht
ein; ihr Charakter verachtete die kleinbürgerliche Mitte. Und so
beschloß sie sofort, daß, wenn das erste Projekt sich nicht
verwirklichen ließ, man sich für das andere Extrem entscheiden müsse,
also für eine ungeheuere Einnahme, deren Höhe den Neid aller anderen
Gouvernements erwecken mußte.

»Das Publikum muß doch endlich einsehen,« schloß Julija Michailowna ihre
temperamentvolle Erklärung auf der Sitzung des Komitees, »daß der
humanitäre Zweck unvergleichlich erhabener ist, als kurze körperliche
Genüsse, daß das Fest im Grunde nur die Verkündung einer großen Idee
ist, und deshalb muß es sich mit einem so ökonomisch wie nur möglich
veranstalteten kleinen deutschen Ball begnügen, der einzig _pro forma_
gegeben wird -- wenn man ohne diesen unausstehlichen Ball nun einmal
nicht auskommen kann!« -- so sehr war er ihr plötzlich verhaßt.

Schließlich war es aber dem Komitee doch gelungen, sie zu besänftigen.
So hatte man denn u. a. die »Quadrille der Literatur« und ähnliche
ästhetische Scherze als Ersatz für körperliche Genüsse in Vorschlag
gebracht. Und auf eben dieser Sitzung hatte dann auch Karmasinoff
endgültig eingewilligt, sein »_Merci_« vorzutragen (bis dahin hatte er
alle mittels ausweichender Antworten in quälender Ungewißheit belassen)
um somit in unserem unenthaltsamen Publikum sogar jeden Gedanken an
Essen und Trinken schon im voraus zu ersticken. Auf diese Weise hatte
dann der Ball wiederum eine großartige Anziehungskraft erhalten, wenn
auch eine von ganz anderer Art. Um jedoch nicht völlig dem Irdischen zu
entschweben, beschloß man, zu Anfang des Balles Tee mit Zitrone und
kleinem rundem Gebäck zu reichen, darauf einen Kühltrank und Limonade,
und zum Schluß sogar noch Eis -- doch das sollte denn auch alles sein.
Für diejenigen aber, die immer und überall Hunger und besonders Durst zu
verspüren pflegen, wollte man dann noch am Ende der Zimmerflucht ein
Büfett errichten, das Prochorytsch (der erste Koch des Klubs) übernehmen
sollte. Natürlich mußte für die verabfolgten Speisen und Getränke
gezahlt werden, was gleich am Eingang auf einem besonderen Plakat dem
Publikum mitzuteilen war. Doch während der Matinee sollte das Büfett
unbedingt geschlossen bleiben, damit auch nicht das geringste Geräusch
den Vortrag störte, obgleich man für das Büfett einen Raum vorsah, der
fünf Zimmer von dem weißen Saal entfernt war, in dem Karmasinoff sein
»_Merci_« vorzutragen eingewilligt hatte. Merkwürdigerweise wurde diesem
Ereignis, dem Vortrag dieses »_Merci_«, wie mir scheint, von dem Komitee
eine übertriebene Bedeutung beigelegt, und das taten sogar die
nüchternsten Leute. Von den poetischen Naturen aber hatte z. B. die
Gattin des Adelsmarschalls Karmasinoff schon mitgeteilt, daß sie
sogleich nach dem Vortrag an der Wand ihres weißen Saales eine
Marmorplatte anbringen lassen werde, auf der mit goldenen Lettern das
Ereignis verewigt werden sollte, daß in dem und dem Jahre, an dem und
dem Tage, hier in diesem Saal der große russische und europäische
Schriftsteller, seine Feder niederlegend, persönlich sein »_Merci_«
gesprochen und somit zum erstenmal von dem russischen Publikum, in
Gestalt der Vertreter unserer Stadt, Abschied genommen hat, und daß
schon abends auf dem Ball, also kaum einige fünf Stunden nach dem
Vortrage, alle diese Gedächtnistafel würden lesen können. Wie ich genau
weiß, war es vor allen anderen gerade Karmasinoff gewesen, der verlangt
hatte, daß das Büfett während der Matinee, wenn er las, unter keiner
Bedingung geöffnet werde, trotz der Einwände etlicher Komiteemitglieder,
daß ein solches Ansinnen sich mit unseren Landesbräuchen nicht ganz in
Übereinstimmung befinde.

So lagen die Dinge in Wirklichkeit, während man in der Stadt immer noch
an ein Festmahl im Stile Belsazars glaubte, d. h. an unentgeltliches
Essen und Trinken auf Kosten des Komitees. Daran glaubte man bis zur
letzten Stunde. Unsere jungen Damen träumten nur noch von Konfekt und
Eis. Man wußte, daß die Sammlung ungeheuer reich ausgefallen war, daß
die ganze Stadt sich eifrigst zum Fest vorbereitete, daß sogar aus der
Umgegend viele kommen würden, und daß die Eintrittskarten bei diesem
Andrang nicht ausreichten. Bekannt war gleichfalls, daß außer der
Einnahme durch den Verkauf der Eintrittskarten noch bedeutende
Schenkungen gemacht worden waren: Warwara Petrowna beispielsweise hatte
für ihre Eintrittskarte dreihundert Rubel gezahlt und zur Ausschmückung
des Saales alle Blumen und Blattpflanzen ihrer Orangerie hergegeben. Die
Gattin des Adelsmarschalls (ein Mitglied des Komitees) stellte das Haus
und die Beleuchtung, der Klub die Musikkapelle, die Bedienung und den
Koch. Hinzu kamen noch andere Schenkungen, wenn auch nicht so
bedeutende, weshalb denn auch das Komitee schon den Gedanken erwog, den
Preis für die Eintrittskarte von drei Rubel auf zwei Rubel
herabzusetzen. Man hatte nämlich zu Anfang tatsächlich befürchtet, es
vermöchten doch nicht alle jungen Damen drei Rubel dafür auszugeben, und
in Erwägung gezogen, ob man nicht Familienkarten ausgeben sollte, wobei
man besonders an die Familien dachte, in denen es viele Töchter gab.
Aber diese Befürchtung erwies sich als überflüssig; im Gegenteil, gerade
die Töchter erschienen vollzählig. Selbst die ärmsten Beamten führten
ihre sämtlichen Töchter heran, und es war ja klar, daß sie, falls sie
keine Töchter gehabt hätten, auch im Traum nicht daran gedacht haben
würden, ihren Namen auf die Liste zu setzen. Ja, ein armseliger kleiner
Sekretär erschien mit ganzen sieben Töchtern, dazu noch die Frau und
eine Nichte, und jede von ihnen hielt eine Eintrittskarte zu drei Rubel
in der Hand. Man kann sich also vorstellen, was für eine Revolution das
in der Stadt abgab! Man bedenke bloß das eine, daß die Teilung des
Festes zweierlei verschiedene Toiletten für jede Dame verlangte: ein
Kleid für die literarische Matinee und ein Ballkleid für den Abend. Man
bedenke, was das für manche Verhältnisse bedeutete! Wie sich später
herausstellte, hatten denn auch viele aus den mittleren Klassen zu
diesem Tage so ziemlich alles versetzt, was sie besaßen, sogar ihre
Bettwäsche, ja, manche hatten womöglich ihre Matratzen zu den Juden
getragen, von denen sich seit nun schon zwei Jahren erschreckend viele
in unserer Stadt festgesetzt haben und immer mehr sich festsetzen. Fast
alle Beamten hatten ihr Monatsgehalt vorausgenommen und von den
Gutsbesitzern hatten manche sogar ihr notwendigstes Vieh verkauft, und
all das nur, um ihre Damen als Marquisen und Komtessen auf den Ball zu
führen und damit keine der anderen nachstehe. Die Toiletten waren
diesmal von einer bei uns noch nie gesehenen Kostbarkeit. Schon zwei
Wochen vor dem Fest war die ganze Stadt geradezu vollgestopft mit
Familienanekdoten, die von unseren jungen Spottvögeln mit Vergnügen am
»Hofe« Julija Michailownas zum besten gegeben wurden. Bald folgten ganze
Familienkarikaturen. Ich habe selbst etliche dieser Spottzeichnungen in
Julija Michailownas Album gesehen. All das kam aber selbstredend auch
denen zu Ohren, die den Stoff zu diesen Anekdoten und Karikaturen
abgaben, -- und das war wohl der Grund, wie mir scheint, weshalb in den
Familien gerade in der letzten Zeit ein solcher Haß gegen Julija
Michailowna sich aufspeicherte. Ich rede nicht von heute: denn jetzt
schimpfen natürlich alle über sie und knirschen, wenn sie an diese Zeit
denken. Nein, schon damals war es vorauszusehen, daß, wenn der Ball
nicht geradezu glänzend ausfiel und das Komitee auch nur den geringsten
Anlaß zur Unzufriedenheit gab, der Ausbruch des allgemeinen Unwillens
ein ungeheuerer werden würde. Und eben deshalb erwartete denn im
geheimen wohl ein jeder einen Skandal; wenn aber ein Skandal schon so
erwartet wurde, wie hätte er dann noch ausbleiben können?

Um punkt zwölf Uhr begann das Orchester mit klingendem Spiel. Da ich zu
den Festordnern gehörte, d. h. einer von den zehn »jungen Kavalieren mit
der Bandschleife an der Schulter« war, so blieb ich Augenzeuge aller
Ereignisse dieses blamablen Tages. Das Fest begann mit einer furchtbaren
Drängerei am Eingange. Wie es kam, daß alles schon vom ersten Schritt an
fehlschlug oder versagte, wie z. B. die Polizei? Dem Publikum kann ich
keinen Vorwurf machen: die Familienväter waren es nicht, die die
Drängerei hervorriefen, im Gegenteil, man sagt sogar, sie seien schon
auf der Straße ein wenig scheu geworden, als sie den für unsere Stadt
ungewöhnlichen Andrang erblickten und dazu diese ungeduldige Menge, die
das Haus förmlich belagerte und sich gerader hineinwälzte, statt ruhig
einzutreten. Dabei fuhren unausgesetzt Equipagen vor, die schließlich
die ganze Straße versperrten. Im übrigen bin ich heute überzeugt, daß
manche Leute, die eigentlich zum abscheulichsten Pöbel unserer Stadt
gehörten, von Lämschin und Liputin einfach ohne Eintrittskarten
eingeführt wurden, und vielleicht noch von einigen anderen, die
gleichfalls »Anordner« waren. Wenigstens erschienen auch vollkommen
unbekannte Personen, die aus Kreisstädten oder Gott weiß woher angereist
waren. Diese Wilden begannen nun, kaum daß sie den Saal betreten hatten,
sogleich und merkwürdig übereinstimmend (ganz als wären sie instruiert
worden) nach dem Büfett zu fragen, und als sie erfuhren, daß es jetzt
noch kein Büfett gab, da fingen sie sofort und ohne jede Politik mit
einer bei uns bisher unerhörten Frechheit zu schimpfen an. Allerdings
waren einige von ihnen bereits betrunken erschienen. Viele waren
zunächst verblüfft durch die nie geschaute Pracht des Saales,
verstummten im ersten Augenblicke und sahen sich nur mit offenem Munde
die Herrlichkeit an. Freilich war dieser große Weiße Saal tatsächlich
sehr prunkvoll: zwei Stockwerke hoch, mit alter Deckenmalerei, die von
goldenen Verzierungen umrahmt war, mit Chören und Spiegelwänden, mit
roten Vorhängen zwischen weißen Wandflächen, mit Marmorstatuen
(gleichviel was für welchen, aber immerhin Statuen), mit alten, schweren
Möbeln aus der Napoleonischen Zeit, weiß mit Gold und mit rotem Samt
ausgeschlagen. An dem einen Ende des Saales erhob sich eine Tribüne für
die Vortragenden und der ganze Saal war, wie das Parkett eines Theaters,
mit Stühlen in dichten Reihen völlig angefüllt, ausgenommen nur die drei
breiten Durchgänge für das Publikum. Doch schon nach den ersten
Augenblicken der Bewunderung und des Schweigens begannen die
sinnlosesten Fragen und Bemerkungen. »Wir wollen vielleicht überhaupt
keine Vorträge ... Wir haben unser Geld gezahlt ... Man hat das Publikum
unverschämt betrogen ... Wir, nicht Lembkes, sind hier die Herren! ...«
Kurz, es war, als habe man sie nur zu diesem Zweck hereingelassen. Unter
anderem erinnere ich mich besonders eines Zwischenfalles, bei dem der
junge angereiste Fürst mit dem hohen steifen Kragen und dem Aussehen
einer Holzpuppe sich auszeichnete. Auf Julija Michailownas dringende
Bitte hin hatte auch er schließlich eingewilligt, das Festordnerband an
seine linke Schulter zu stecken und somit zu unserem Kollegen zu werden.
Tags zuvor, an eben jenem denkwürdigen Vormittage, hatte ich ihn in
Julija Michailownas Salon zum erstenmal gesehen. Nun zeigte es sich, daß
diese stumme Wachsfigur, wenn auch nicht zu sprechen, so doch auf ihre
Art zu handeln verstand. Als nämlich ein riesiger, pockennarbiger
verabschiedeter Hauptmann, unterstützt von einem ganzen Haufen ihm
nachdrängender fragwürdiger Gestalten, dem jungen Fürsten auf den Leib
rückte und unablässig nach dem Büfett fragte, da winkte dieser kurz
entschlossen einen Polizisten heran, und der angetrunkene Ruhestörer
wurde ungeachtet seiner Proteste und seines Schimpfens einfach aus dem
Saal entfernt. Inzwischen begann auch schon das »eigentliche« Publikum
zu erscheinen und zog sich in drei langen Fäden durch die drei
Durchgänge zwischen den Stuhlreihen zu den Plätzen hin. Das schlechtere
Element im Hintergrunde wurde kleinlauter und beruhigte sich nach und
nach, aber das »gute« Publikum sah doch beunruhigt und befremdet aus;
manche Damen aber schauten entschieden mit Bangen drein.

Schließlich hatten sich alle gesetzt; nun verstummte auch die Musik. Man
schnaubte sich, man sah sich um ... Kurz, man wartete mit schon gar zu
feierlicher Miene -- was bereits an und für sich ein schlechtes Zeichen
ist. Doch »die Lembkes« erschienen noch immer nicht. Seiden, Samt und
Brillanten glänzten und funkelten von allen Seiten; Parfüm verbreitete
sich in der Luft. Die Herren trugen alle ihre Orden auf der Brust, die
Militärs und die Beamten waren selbstredend in Galauniform. Endlich
erschien auch die Gattin des Adelsmarschalls mit Lisa. Noch nie war Lisa
so blendend schön gewesen wie an diesem Vormittage. Sie trug ein
entzückendes Kleid. Ihre Haare lagen in Locken, ihre Augen glänzten, in
ihrem ganzen Gesicht lag ein Lächeln. Wie man sah, machte sie auf alle
einen großen Eindruck. Man steckte die Köpfe zusammen und tuschelte.
Jemand meinte, ihre Augen hätten, als sie in den Saal trat, Stawrogin
gesucht. Doch weder Stawrogin noch seine Mutter waren erschienen. Damals
begriff ich den Ausdruck ihres Gesichts nicht: warum war so viel Glück,
Freude, Energie und Kraft in diesem Gesicht? Ich dachte an den Vorfall
des vorhergegangenen Tages und stand verständnislos vor einem Rätsel.

Doch Lembkes erschienen noch immer nicht. Das war der schwerste Fehler,
der gemacht wurde. Später erfuhr ich, daß Julija Michailowna bis zum
letzten Augenblick auf Pjotr Stepanowitsch gewartet hatte. Ohne Pjotr
Stepanowitsch konnte sie nun einmal nichts mehr unternehmen, wenn sie
sich das auch nie eingestand. Nebenbei bemerkt, hatte Pjotr
Stepanowitsch auf der letzten Komiteesitzung es abgelehnt, ein
Festordnerband zu tragen, und damit Julija Michailowna bis zu Tränen
gekränkt. Nun kam er obendrein nicht. Was mochte das bedeuten? Und
tatsächlich blieb Pjotr Stepanowitsch den ganzen Tag über verschwunden:
zu der literarischen Matinee erschien er einfach überhaupt nicht. Und zu
Julija Michailownas Verzweiflung konnte ihr auch kein Mensch sagen, wo
er steckte, und bis zum Abend hatte ihn niemand gesehen.

Inzwischen wurde das Publikum immer ungeduldiger. Auch auf der Tribüne
erschien noch niemand. In den letzten Reihen des Saales applaudierte man
grundlos, ganz wie im Theater, wenn man zu lange auf die Vorstellung
warten muß. Die Väter und Mütter wurden unmutig: »Lembkes tun ja
wirklich furchtbar wichtig,« hieß es. Einige wußten zu erzählen, daß
Lembke krank sei. Andere äußerten laut die Vermutung, daß das Fest wohl
aufgeschoben werden würde.

Aber endlich erschienen sie doch. Andrei Antonowitsch führte Julija
Michailowna am Arm. Sofort versanken alle Märchen und die Wirklichkeit
trat in ihr Recht. Zudem schien Lembke selbst bei voller Gesundheit zu
sein. Überhaupt waren es in der höheren Gesellschaft nur wenige gewesen,
die vermutet hatten, daß es mit Lembke irgendwie nicht ganz stimmte.
Seine Amtsführung hielten alle für gut. Sogar die Rutengeschichte bezog
man in dieses Urteil ein. »Das wäre von Anfang an das Richtige gewesen,«
sagten die Honoratioren, »sonst beginnen sie immer mit der Philantropie,
bis sie schließlich doch bei der Strenge enden, ohne zu wissen, daß
gerade diese zur Philantropie als erstes nötig ist.« So urteilte man im
Klub und verurteilte eigentlich nur Lembkes Aufregung. »So etwas muß man
mit Kaltblütigkeit machen,« hieß es, »aber er ist es eben noch nicht
gewöhnt.«

Mit besonderer Neugier richteten sich die Blicke auf Julija Michailowna.
Man wird von mir gewiß nicht verlangen, daß ich bis in alle Einzelheiten
weiß, was am Tage vorher zwischen ihr und Lembke noch geschehen war: das
ist und bleibt ein Geheimnis, ein Frauengeheimnis. Ich weiß nur eines:
daß sie am Abend in das Arbeitszimmer Andrei Antonowitschs gegangen und
bis weit nach Mitternacht bei ihm geblieben war. Jedenfalls hatte Andrei
Antonowitsch sich beruhigt und es war ihm ausdrücklich vergeben worden.
Das Ehepaar hatte sich ausgesprochen, alles sollte vergessen sein ...
und als am Ende seiner weitläufigen Erklärungen von Lembke dennoch auf
die Knie fiel, gequält von der entsetzlichen Erinnerung, daß er zu guter
Letzt die Hand gegen sie erhoben hatte, da hatten die schönen Händchen
und schließlich auch die Lippen seiner Gattin die glühenden Ergießungen
der Reue dieses ritterlich zartfühlenden, doch nun von Rührung
überwältigten Mannes wunderbar zu beschwichtigen gewußt.

Jetzt sahen alle in ihrem Gesicht eitel Glück. Mit offener Miene, in
einer prachtvollen Toilette schritt sie am Arm ihres Gemahls durch den
mittleren Gang. Offenbar war sie auf der Höhe ihrer Wünsche: das Fest,
das Ziel und die Krönung ihrer ganzen Politik, war verwirklicht. Bei
ihren Plätzen -- in der ersten Reihe vor der Tribüne -- angelangt,
blieben beide Lembkes stehen, grüßten und erwiderten die Grüße nach
allen Seiten. Sie wurden sofort umringt. Die Adelsmarschallin schritt
auf sie zu ... Doch da passierte ein garstiges Mißverständnis: das
Orchester, das bisher geschwiegen hatte, schmetterte plötzlich mir
nichts, dir nichts einen Tusch in den Saal, -- nicht etwa irgendeinen
Marsch oder sonst ein Stück, sondern einfach einen Tusch, wie im Klub,
wenn dort bei einem offiziellen Diner ein Hoch ausgebracht wurde. Heute
weiß ich, daß Lämschin dahintersteckte, der gleichfalls zu den
Festordnern gehörte und als solcher diesen Tusch angeblich zu Ehren der
erschienenen Lembkes anbefohlen hatte. Natürlich konnte er sich immer
noch damit entschuldigen, daß er es aus Dummheit oder aus Übereifer
getan habe ... Doch ach, damals wußte ich noch nicht, daß jene an
Entschuldigungen schon gar nicht mehr dachten und mit diesem Tage alles
zu beenden glaubten. Zur Erhöhung der Peinlichkeit der Situation, die im
Publikum teils Befremden, teils ein gewisses Lächeln hervorrief, wurde
plötzlich im Hintergrunde des Saales, oben auf dem Chor, Hurra!
geschrien, gleichfalls wie Lembkes zu Ehren. Der Stimmen waren zwar nur
wenige, aber ich muß gestehen, sie hörten doch nicht so bald auf. Julija
Michailowna schoß das Blut in die Wangen, ihre Augen flammten. Lembke
blieb vor seinem Platz kerzengerade stehen und übersah, sich zu den
Ruhestörern umwendend, mit majestätischem und strengem Blick den Saal
... Man redete ihm aber schnell zu, sich doch nur zu setzen. Mit
Schrecken bemerkte ich auf seinem Gesicht dasselbe gefährliche Lächeln,
mit dem er tags zuvor im Salon seiner Gemahlin Stepan Trophimowitsch
angesehen hatte, bevor er auf ihn zutrat. Wie mir schien, nahm sein
Gesicht auch jetzt einen gewissermaßen unheilvollen Ausdruck an und, was
das schlimmste dabei war, einen gleichzeitig lächerlichen: den Ausdruck
eines Gatten, der sich schließlich -- also sei es denn! -- zum Opfer
bringt, nur um den höheren Zielen und Zwecken seiner Gattin zu dienen
... Julija Michailowna winkte mich schnell zu sich heran und flüsterte
mir zu, ich solle sofort zu Karmasinoff eilen und ihn beschwören,
unverzüglich zu beginnen, doch kaum hatte ich mich umgewandt, um
hinauszueilen, da geschah schon eine zweite Schändlichkeit, eine noch
viel größere als die erste. Auf der Tribüne, auf der leeren Tribüne,
wohin alle Blicke und alle Erwartungen sich wandten und auf der man
zunächst nur einen Stuhl und einen Tisch und auf letzterem ein Glas
Wasser auf silbernem Tablett sah -- auf dieser selben leeren Tribüne
erschien plötzlich die kolossale Gestalt des »Hauptmanns« Lebädkin in
Frack und weißer Binde. Ich war so bestürzt, daß ich meinen Augen nicht
traute. Augenscheinlich wurde der Hauptmann selbst etwas verlegen und
blieb hinten auf der Tribüne stehen. Da ertönte plötzlich aus dem
Publikum ein erstaunter Ausruf: »Lebädkin! du?« -- und die dumme, rote
Fratze des Hauptmanns (er war vollkommen betrunken) verzog sich zu einem
breiten, stumpfsinnigen Grinsen. Er hob die Hand, rieb sich die Stirn,
schüttelte plötzlich seinen struppigen Kopf und trat, wie auf einmal zu
allem entschlossen, zwei Schritte vor und -- platzte plötzlich in Lachen
aus, nicht in ein lautes, aber gallertiges, langes, glückliches Lachen,
von dem die ganze schwere Masse seines Körpers ins Schaukeln geriet und
die Äuglein im Fett nahezu verschwanden. Bei diesem Anblick begann fast
die Hälfte des Publikums zu lachen, in den hinteren Reihen klatschte man
Beifall. In dem ernsten Publikum dagegen sah man sich befremdet an und
wechselte finstere Blicke; aber das währte alles kaum länger als eine
halbe Minute. Da eilten schon Liputin (mit der Festordnerschleife) und
zwei Diener herbei; sie faßten behutsam den Hauptmann unter den Armen
und Liputin flüsterte ihm etwas zu. Lebädkin sah ihn unwirsch an,
brummte aber schließlich: »Nun denn, wenn's so besser ist!« und schlug
einmal mit der Hand durch die Luft, worauf er dem Publikum seine riesige
Rückseite zuwandte und mitsamt seinen Begleitern verschwand. Doch einen
Augenblick später erschien Liputin wieder auf der Tribüne. Auf seinen
Lippen lag das süßeste Lächeln, wenn es auch immer noch, wie stets bei
ihm, an eine Mischung von Essig und Zucker gemahnte, und in der Hand
hielt er ein Blatt Papier. Mit kleinen, schnellen Schritten trat er an
den vorderen Rand der Tribüne.

»Meine Damen und Herren!« begann er, sich an das Publikum wendend.
»Durch Unachtsamkeit ist ein komisches Mißverständnis entstanden, das
jetzt aber schon beseitigt ist. Hoffnungsvoll habe nunmehr ich den
Auftrag übernommen und zugleich die ehrerbietigste Bitte eines unserer
hiesigen Dichter ... Durchdrungen, wie er ist, von dem humanen und hohen
Ziele ... ungeachtet seines äußeren Zustandes ... von demselben Ziele,
das uns alle hier vereinigt hat ... die Tränen der armen gebildeten
Mädchen unseres Gouvernements hinfüro abzuwischen, ... will dieser Herr,
das heißt, ich meine, dieser unser einheimischer Dichter ... obzwar er
sein Inkognito gewahrt zu sehen wünscht ... würde er, wie gesagt,
dennoch sehr wünschen, daß seine Dichtung vor Beginn des Balles
vorgetragen werde ... das heißt, ich wollte vielmehr sagen: vor Beginn
der literarischen Vorträge. Obzwar nun besagtes Gedicht im Programm
nicht vorgesehen ist ... sintemal es uns erst vor einer halben Stunde
zugestellt wurde ... aber es will _uns_ (wen meinte er damit? Ich gebe
diese zerhackte und unklare Rede wortwörtlich wieder) dennoch scheinen,
daß es, im Hinblick auf die Naivität des Gefühls, die mit Humor
verbunden ist, daß ... wie gesagt, daß das Gedicht dennoch vorgetragen
zu werden verdiente, das heißt, nicht als etwas Ernstzunehmendes,
sondern bloß als etwas zum Feste Passendes ... ich meine, zu der Idee
... Um so mehr, als es ja nur ein paar Zeilen sind ... wozu ich nunmehr
um die Erlaubnis des hochverehrten Publikums gebeten haben wollte.«

»Lesen Sie!« dröhnte eine Stimme aus den letzten Reihen.

»So soll ich es vorlesen?«

»Jawohl! Lesen! Vorlesen! Lesen!« riefen jetzt schon viele Stimmen.

»Also denn -- mit Erlaubnis des verehrten Publikums ...« Liputin
verbeugte sich und wand sich mit demselben süßen Lächeln.

Aber es war doch, als könne er sich trotzdem nicht entschließen, und wie
mir schien, war er merklich aufgeregt. Bei aller Frechheit, die solche
Leute wie Liputin besitzen, werden sie manchmal doch unsicher. Übrigens
wäre ein Seminarist von heute gewiß nicht unsicher geworden, aber
Liputin gehörte ja schließlich doch noch zur alten Generation.

»Ich schicke voraus, oder vielmehr, ich habe die Ehre, Sie darauf
aufmerksam zu machen, daß dieses Gedicht keine Ode ist, wie sie früher
zu Festen verfaßt wurden, sondern es ist sozusagen eher ein Scherz,
jedoch unstreitig ein gefühlvoller, der überdies mit spielerischer
Heiterkeit verbunden ist und dabei sozusagen die realste Wirklichkeit
zum Gegenstande hat ...«

»Lesen! Lies doch! Nur los!«

Liputin faltete sein Papier auseinander. Natürlich kam niemand mehr
dazu, den Vortrag zu verhindern. Zudem trug auch Liputin das Band eines
Festordners an der Schulter, und so deklamierte er denn mit heller
Stimme darauf los.

»Unserer einheimischen Gouvernante zum Gouvernantenfest von einem
Dichter gewidmet:

   Lebe hoch! o Gouvernante!
   Freue dich und jubiliere,
   Denn jetzt bleibst du nicht mehr Tante,
   Oh, sei stolz und triumphiere!«

»Das hat ja Lebädkin gemacht!« »Das ist ja ein echter Lebädkin!«
ertönten aus den hinteren Reihen des Saales mehrere Stimmen. Viele
lachten, manche klatschten sogar Beifall.

   »Feministin oder sonst was!
   -- Schrecklich ist's, wenn man bedenkt,
   Wie du früher dich gequält hast,
   Und dich nutzlos angestrengt!«

»Hurra! Hurra!« unterbrach man wieder in den letzten Reihen.

   »Lehren, hieß es, dumme Göhren
   Manch französisches Gedicht,
   Doch die wollten dich nie hören,
   Wie das nun mal Kindespflicht.

   Ja, so war's, so ist's gewesen,
   Doch das laß begraben sein.
   Der Reformen großer Besen
   Führt 'ne andre Wertung ein ...«

»Bra--avoooo!«

   »Also hör': seit dem Betriebe
   Der Reformen -- jetzt gib acht! --
   Wird die Freiheit und die Liebe
   Einzig noch vom Geld gemacht ...«

»Stimmt! Bravooo! Hurra!«

   »Ja, mein Fräulein, sie ist bitter,
   Diese Wahrheit, -- nämelich:
   Auch der allergrößte Ritter
   Nimmt nicht ohne Mitgift dich!«

»Stimmt! stimmt! Das ist der wahre Realismus! Ohne Mitgift keinen
Schritt!«

   »Drum, -- da wir nun tanzend spenden
   Eine Mitgift für das Weib,
   Die wir dir dann übersenden
   Zu 'nem bessren Zeitvertreib --
   Feministin oder sonst was:
   (Bleibst doch stets vom selben Holz)
   Mit 'ner Mitgift bist du etwas,
   Spuck auf alles und sei stolz!«

Ich muß gestehen, ich traute meinen Ohren nicht. Das war eine so
erklärte Gemeinheit, daß die Möglichkeit, Liputin etwa mit Dummheit zu
entschuldigen, von vornherein ganz ausgeschlossen erschien. Und gerade
Liputin war doch alles andere eher als dumm. Die Absicht, die dahinter
steckte, war mir denn auch sofort klar: hier sollte Unordnung geschaffen
werden, und dazu war allerdings keiner geeigneter, als Liputin.

Übrigens schien Liputin selbst zu fühlen, daß er doch ein zu starkes
Stück auf sich genommen hatte. Er stand noch immer auf der Tribüne und
war sich offenbar nicht klar darüber, ob er noch etwas hinzusetzen
sollte oder nicht. Ein Teil des Publikums hatte das Gedicht übrigens
ganz ernst genommen. Die andere Hälfte war freilich um so gekränkter.
Julija Michailowna erzählte später, sie sei einer Ohnmacht nahe gewesen.
Einer der ehrwürdigsten alten Herren unserer Stadt erhob sich sogar und
verließ mit seiner Frau am Arm den Saal. Und wer weiß, vielleicht hätte
dieses Beispiel auch noch andere nach sich gezogen, wenn nicht gerade
jetzt Karmasinoff auf der Tribüne erschienen wäre. Sein kleines
Figürchen war tadellos gekleidet, selbstredend in Frack und weißer
Binde. In der Hand hielt er ein Heftchen. Julija Michailowna sah ihn wie
erlöst an, als wäre er ihr Retter ...

Doch ich war schon hinter den Kulissen: ich mußte unter allen Umständen
mit Liputin sprechen.

»Das haben Sie absichtlich getan!« rief ich empört und packte ihn am
Arm.

»Bei Gott, ich habe gar nicht daran gedacht,« log er und spielte den
Unglücklichen. »Die Verse hatte man mir soeben erst gegeben, ich dachte,
es wäre ein lustiger Scherz ...«

»Das haben Sie durchaus nicht gedacht! Halten Sie denn wirklich diesen
Blödsinn in Knüttelversen für einen Scherz?!«

»Ja, gewiß, jawohl.«

»Das lügen Sie einfach! Und man hat Ihnen diese Verse durchaus nicht
erst vorhin gebracht. Sie, Sie selbst haben diese Reime zusammen mit
Lebädkin geschmiedet, vielleicht noch gestern abend, damit es nur ja zum
Skandal kommt! Die letzte Strophe war schon sicher von Ihnen. Und warum
erschien denn Lebädkin im Frack? Schon daraus geht hervor, daß alles von
Ihnen vorbereitet war: das Gedicht sollte er wohl selber vortragen, nach
Ihrer Absicht! Wenn er sich nur nicht wieder betrunken hätte!«

»Was geht das Sie an?« fragte mich da Liputin plötzlich mit sonderbarer
Ruhe.

»Wie soll mich das nichts angehen? Sie tragen doch gleichfalls das
Festordnerband ... Wo ist Pjotr Stepanowitsch?«

»Ich weiß nicht, hier irgendwo. Was soll das alles?«

»Was das soll? Daß ich Sie jetzt durchschaue! Es ist einfach eine
Intrige gegen Julija Michailowna -- damit Sie's wissen!«

Liputin sah mich von der Seite an.

»Ja, und was geht das Sie an?« fragte er nochmals, lächelte, zuckte mit
den Achseln und ging davon.

Mich überlief es kalt. So gingen denn alle meine Vorahnungen schon in
Erfüllung. Und ich hatte immer noch gehofft, mich getäuscht zu haben!
Was sollte ich tun? Ich hätte mich gern mit Stepan Trophimowitsch
beraten, aber der stand vor dem Spiegel und probierte auf verschiedene
Arten zu lächeln; zwischendurch blickte er immer wieder auf ein Blatt
Papier, auf dem er sich seine Notizen gemacht hatte. Er sollte gleich
nach Karmasinoff an die Reihe kommen und war jetzt nicht imstande, mit
mir auch nur ein Wort zu sprechen. Sollte ich zu Julija Michailowna
eilen? Doch dazu war es noch zu früh: sie mußte eine noch viel
nachhaltigere Lehre bekommen, um von der Überzeugung, alle Welt sei ihr
»fanatisch ergeben«, geheilt zu werden. Sie hätte mir doch nicht
geglaubt und mich nur für einen »Gespensterseher« gehalten. Ja, und was
konnte sie jetzt noch tun? »Ach,« dachte ich, »was geht denn das
schließlich mich an, ich nehme meine Schleife von der Schulter und gehe
nach Hause, _sobald es anfängt_.« (Ich gebrauchte wirklich diesen
Ausdruck: »sobald es anfängt«, ich erinnere mich noch genau.)

Aber jetzt mußte ich doch vor allen Dingen Karmasinoff hören! Als ich
noch ein letztes Mal hinter die Kulissen sah, bemerkte ich, daß da eine
Menge mir ganz unbekannter Leute sich angesammelt hatte, darunter sogar
Frauen. Dieses »hinter den Kulissen« war ein recht enger Raum,
eigentlich ein Korridor, der den Saal mit den anderen Räumen verband und
zum Publikum hin mit einem Vorhang abgeschlossen war. In diesem Korridor
warteten die Vortragenden, bis sie an die Reihe kamen. Besonders setzte
mich einer in Erstaunen: der Nächstfolgende nach Stepan Trophimowitsch.
Das war auch so etwas wie ein Professor, der sich freiwillig aus
irgendeiner Lehranstalt wegen irgendwelcher Studentengeschichten
entfernt hatte und aus irgendeinem Grunde erst ein paar Tage vorher in
unserer Stadt aufgetaucht war. Auch ihn hatte man Julija Michailowna
empfohlen und sie hatte ihn fast mit Ehrfurcht empfangen. Er war bei ihr
den Abend vorher eingeladen gewesen, hatte während des ganzen Essens
geschwiegen und nur hin und wieder mokant zum Tone und zu den Scherzen
der anderen Gäste, Julija Michailownas Suite, gelächelt, und auf alle
durch sein beleidigendes Aussehen und Benehmen einen unangenehmen
Eindruck gemacht. Julija Michailowna hatte ihn selbst darum gebeten, auf
dem Fest zum Besten der Gouvernanten irgend etwas vorzutragen. In diesem
Augenblick ging er aus einer Ecke in die andere, ganz wie Stepan
Trophimowitsch, flüsterte auch vor sich hin, sah aber dabei zu Boden und
nicht in den Spiegel. Zwar studierte und probierte er nicht zu lächeln,
aber er lachte von Zeit zu Zeit grimmig in sich hinein. Es war klar, daß
man auch mit ihm nicht sprechen durfte. Er war klein von Wuchs, etwa
vierzig Jahre alt, kahlköpfig, mit einem ergrauenden Bärtchen. Gekleidet
war er anständig. Am merkwürdigsten an ihm war, daß er bei jeder
Wendung, die er machte, seine rechte Faust erhob, sie über seinem Haupte
schüttelte und dann plötzlich niederfallen ließ, als wollte er einen
Gegner kurz und klein schlagen. Und diese Bewegung machte er fast jede
Minute einmal. Mir wurde angst und bange. Ich machte mich davon, um, wie
gesagt, Karmasinoff zu hören.


                                  III.

Im Saale war wieder etwas nicht ganz in Ordnung. Jedes Genie in Ehren!
Und volles Verständnis für seine Eigentümlichkeiten im voraus! Aber
warum müssen sich Genies, wenn sie älter werden, so oft wie -- nun,
einfach wie kleine Knaben benehmen? Selbst wenn man ein Karmasinoff war
und mit der Würde von fünf Kammerherren auftrat, wie konnte er nur ein
solches Publikum eine ganze Stunde mit einem solchen Aufsatz langweilen?
Nicht mehr als zwanzig Minuten hätte man es mit einem leicht
verständlichen literarischen Vortrag ungestraft unterhalten dürfen.
Dabei war man ihm, als er zuerst auftrat, äußerst ehrerbietig begegnet:
selbst die allergesetztesten Herren hatten Wohlgefallen und Neugier, die
Damen sogar Entzücken bekundet. Der Begrüßungsapplaus war indessen nur
kurz und abgerissen gewesen. Dafür war aber in den letzten Reihen auch
kein einziger Ausfall erfolgt. Und auch dann, als Karmasinoff zu
sprechen angefangen hatte, geschah zunächst nichts eigentlich Störendes:
lediglich Verwunderung griff allmählich um sich. Nur ganz am Anfang
hatte sich ein kleiner Zwischenfall zugetragen: als Karmasinoffs
piepsendes und quäkendes Stimmchen ertönte, lachte im Publikum jemand
einfach laut auf. Ich habe schon früher erzählt, daß Karmasinoff eine
hohe, schreiende Stimme hatte, die einer Frauenstimme glich, ein
Eindruck, der noch dadurch verstärkt wurde, daß er fein und vornehm
lispelte. Die Umsitzenden wiesen den Störer übrigens sofort durch
Zischen zur Ruhe, und so konnte denn Karmasinoff ungestört seine Rede
beginnen. Zunächst erklärte er, daß er »ursprünglich überhaupt nicht
habe lesen wollen« (was zu erklären eigentlich gar nicht nötig war),
denn es gebe Zeilen, die »so unmittelbar aus dem Herzen fließen«, daß
man sie gar nicht an die Öffentlichkeit tragen dürfe (ja warum trug er
sie denn?). Aber da man ihn nun einmal so gebeten habe, so tue er es
doch, und da er jetzt seine Feder für immer hingelegt und sich
geschworen habe, nichts mehr zu schreiben, und weil das nun einmal
beschlossene Sache sei, so habe er dieses Abschiedsopus doch noch
geschrieben; und da er sich gelobt, nie etwas öffentlich vorzulesen,
niemals und unter keiner Bedingung, so werde er denn jetzt einmal eine
Ausnahme machen und, also sei es, dieses letzte Opus einem Publikum
persönlich vorlesen, usw. usw. -- noch allerhand in diesem Sinne.

Doch das wäre alles noch nicht so schlimm gewesen, und wer kennt denn
schließlich nicht die Vorreden der Autoren? Ich will aber zugeben, daß
bei der geringen literarischen Bildung unseres Publikums und der
Reizbarkeit der hinteren Reihen auch das schon aufreizend mitwirken
konnte. Nun wohl: wäre es unter diesen Umständen nicht weit besser
gewesen, er hätte eine kurze Novelle vorgetragen oder ein kleines
Geschichtchen von der Art, wie er sie früher manchmal schrieb -- zwar
gedrechselt und geziert, aber mitunter doch ganz witzig? Damit wäre
alles gerettet gewesen. Aber es sollte nun einmal nicht sein. Und so
begann denn die Litanei! Oh Gott, was hatte er da alles
zusammengetragen! Ich bin überzeugt, daß selbst ein Großstadtpublikum
schließlich einen Starrkrampf bekommen hätte, nicht bloß ein Publikum
wie unseres. Man denke sich das gezierteste und müßigste Geschwätz in
einer Länge von fast zwei Druckbogen; und das trug dieser Herr zum
Überfluß mit einer gewissen wehmütigen Herablassung vor, als wenn er
eine Gnade erwiese, und schon darin allein lag etwas nahezu
Beleidigendes für unser Publikum. Das Thema ... Aber wer konnte denn
daraus klug werden, aus diesem Thema! Das war gewissermaßen ein Bericht
über irgendwelche Eindrücke, untermischt mit irgendwelchen Erinnerungen.
Doch Eindrücke wovon? Erinnerungen an was? -- Wie sehr unsere
Gouvernementsköpfe während der ganzen ersten Hälfte des Vortrags auch
die Stirn in Falten legten, -- sie konntens doch nicht bewältigen, so
daß sie die zweite Hälfte bloß aus Höflichkeit anhörten. Nun ja, es war
da viel von Liebe die Rede, von der Liebe des Genies zu einer Person,
aber ich muß gestehen, das wirkte einigermaßen peinlich. Es paßte
irgendwie nicht recht zu dem kleinen, dicken Figürchen des genialen
Schriftstellers (wenigstens für mein Empfinden), daß er von seinem
ersten Kuß sprach ... Und zudem sollten diese Küsse, was wiederum
verletzend wirkte, durchaus ganz anders geküßt worden sein, als von der
ganzen übrigen Menschheit, und dazu noch unter ganz besonderen
Nebenumständen. Bei Karmasinoffs erstem Kuß wuchs ringsum Ginster
(unbedingt gerade Ginster, oder wenigstens irgend so ein Kraut, von dem
man sich erst nach einem botanischen Handbuch eine Vorstellung machen
kann). Der Himmel aber hatte derweil unbedingt einen violetten
Farbenton, den natürlich noch nie zuvor ein Sterblicher bemerkt hat,
obschon ihn alle zwar gesehen haben, sogar schon mehrfach, doch ihn
wahrzunehmen hat eben bisher noch kein einziger verstanden. »Nun aber
seht,« -- so ungefähr wirkte Karmasinoffs Art -- »ich allein habe diesen
Farbenton zum erstenmal wahrgenommen und beschreibe ihn jetzt euch
Tölpeln wie eine ganz bekannte Sache!« Der Baum dagegen, unter dem das
interessante Paar Platz genommen, war durchaus orangefarben. Der Ort, wo
sie saßen, lag irgendwo in Deutschland. Plötzlich sahen sie Pompejus
oder Kassius am Abend vor einer Schlacht und die Kälte der Begeisterung
durchdrang sie sofort alle beide. Dann begann eine Nixe im Gebüsch zu
zirpen und im Schilf spielte plötzlich Gluck auf der Geige. Das Stück,
das er vortrug, wurde _en toutes lettres_{[174]} genannt, doch blieb es
trotzdem uns allen unbekannt, so daß man in einem Musiklexikon
nachschlagen müßte. Währenddessen aber stieg ein Nebel auf und ballte
sich und ballte sich, und ballte sich so, daß er alsbald eher Millionen
von Kissen glich, als einem Nebel. Plötzlich aber verschwand alles und
das große Genie begibt sich an einem Wintertage, jedoch bei Tauwetter,
über das Eis der Wolga. Zweieinhalb Seiten Übergang; und dennoch kommt
er nicht hinüber, sondern fällt in ein Loch im Eise. Das Genie sinkt,
versinkt, -- Sie meinen, es ertrinkt? Nein, es denkt auch nicht einmal
daran: es fiel überhaupt nur deshalb in das Loch, um in dem Augenblick,
als es schon bis über die Nase im Wasser versank und bereits zu
schlucken begann, plötzlich ein Eisstückchen zu erblicken, ein winziges
Eiskörnchen von der Größe einer kleinen Erbse, aber so rein und klar
»wie eine gefrorene Träne«. In diesem Eisperlchen spiegelte sich dann
Deutschland oder richtiger der Himmel Deutschlands, und das Spiel der
Regenbogenfarben in diesem Eisperlchen erinnerte ihn an just die Träne,
die, »weißt du noch, aus deinem Auge rann, als wir unter dem smaragdenen
Baume saßen und du freudig ausriefst: >Es gibt kein Verbrechen!< --
>Ja<, sagte ich unter Tränen, >doch wenn es so ist, dann gibt es auch
keine Gerechten<. Wir schluchzten auf und nahmen Abschied voneinander.«
Sie ging an einen Meeresstrand und er begab sich in eine Höhle tief
unter der Erde: er sinkt also hinab und hinab, drei Jahre lang sinkt er
genau unter dem Moskauer Ssuchareffturm hinab, bis er plötzlich mitten
im Innern der Erde ein Lämpchen findet und vor diesem Lämpchen einen
Asketen. Der Asket betet. Das Genie drückt die Stirn an ein kleines
vergittertes Fensterchen. Und plötzlich vernimmt es einen Seufzer. Sie
glauben, der Asket habe geseufzt? Weit gefehlt! Das Genie wird doch
nicht einen Asketen beachten! Nein, das war nur so ein Seufzer, doch
dieser Seufzer erinnerte ihn an _ihren_ ersten Seufzer vor
siebenunddreißig Jahren, »als wir, weißt du noch, in Deutschland unter
dem achatenen Baume saßen und du zu mir sprachst: >Wozu lieben? Sieh,
ringsum blüht es ockergelb und ich liebe, doch das Gelb wird aufhören zu
blühen und ich werde aufhören zu lieben<. -- Dann ballte sich wieder ein
Nebel zusammen, Ernst Amadeus Hoffmann erschien, eine Nixe flötete eine
Melodie von Chopin und plötzlich tauchte aus dem Nebel über den Dächern
Roms, einen Lorbeerkranz im Haar, Ancus Marcius auf. Ein Schauer der
Ekstase lief uns über den Rücken und wir trennten uns auf ewig« usw.
usw.

Mit einem Wort, wenn ich es auch vielleicht nicht richtig wiedergebe
oder es überhaupt nicht wiederzugeben verstehe, so war doch der Sinn des
Geschwätzes gerade von dieser Art. Und dann: was ist das doch für eine
schmähliche Sucht in unseren großen Geistern, Witze und Wortspiele im
»höheren« und »literarischen« Sinne anzubringen! Der große europäische
Philosoph, der große Gelehrte, Erfinder, der mühevoll Schaffende und
Märtyrer, -- alle diese sich Mühenden und Beladenen sind für unser
großes russisches Genie entschieden nur so eine Art Köche in seiner
Küche. Er ist der Herr, sie aber erscheinen vor ihm mit der Zipfelmütze
in der Hand und warten auf seine Befehle. Allerdings, er spöttelt
hochmütig auch über Rußland, und überhaupt ist ihm nichts so angenehm,
wie den Bankrott Rußlands in jeder Hinsicht vor den großen Geistern
Europas wieder einmal festzustellen. Doch was ihn selbst betrifft, --
oh, mit Verlaub, er selbst hat sich über diese großen Geister Europas
natürlich schon längst emporgeschwungen: für ihn sind sie bloß Material
zu seinen Wortspielen. Er nimmt eine Idee, die nicht in seinem Kopfe
entstanden ist, verknüpft sie mit ihrer Antithese und das Wortspiel ist
fertig. Es gibt Verbrechen, es gibt kein Verbrechen; es gibt keine
Wahrheit, also gibt es auch keine Gerechten; Atheismus, Darwinismus,
Moskauer Glocken ... Doch wehe, er glaubt schon nicht mehr an Moskauer
Glocken. Rom, Lorbeeren ... Doch er glaubt nicht einmal an Lorbeeren ...
Hier ein obligatorischer Anfall von Byronschem Weltschmerz, dort eine
Heinesche Grimasse, dann wiederum Anklänge an Petschorin[49], -- und so
ging das fort und fort, wie eine in Schwung geratene Maschine ...
»Übrigens, so lobt mich doch, lobt mich doch, denn das liebe ich über
alle Maßen! Und ich sage ja nur so, daß ich die Feder für immer aus der
Hand lege; nein, wartet nur und ihr werdet meiner noch dreihundertmal
überdrüssig werden, werdet noch müde werden, mich zu lesen ...«

Natürlich konnte das kein gutes Ende nehmen; das Schlimme war aber, daß
es damit nun überhaupt anfing. Schon lange hatte im Saale ein Räuspern,
Hüsteln, Schnauben begonnen, ein Hin- und Herrücken auf den Stühlen und
Husten, kurz, es gab alle die bekannten Lebenszeichen, die stets
einzusetzen pflegen, wenn bei einer literarischen Veranstaltung der
Vortragende, wer er auch sei -- ja selbst wenn er das größte Genie ist
--, das Publikum länger als zwanzig Minuten in Anspruch nimmt. Doch der
geniale Schriftsteller merkte nichts davon. Er fuhr fort zu lispeln und
zu schnarren, ohne das Publikum überhaupt einer Beachtung zu würdigen,
so daß schließlich eine allgemeine Verständnislosigkeit Platz griff. Und
da nun geschah es, daß aus einer der hinteren Reihen plötzlich eine
einsame, doch laute Stimme sich vernehmen ließ:

»Gott, was für ein Unsinn!«

Das war irgend jemandem wohl ganz unfreiwillig entschlüpft und gewiß --
davon bin ich überzeugt -- ohne jede Absicht einer Demonstration. Ein
Mensch war einfach müde geworden. Doch Herr Karmasinoff brach sofort ab,
blickte spöttisch aufs Publikum, und plötzlich fragte er mit derselben
affektierten Aussprache und der Miene eines verletzten Kammerherrn:

»Mir scheint, meine Herrschaften, Sie sind des Zuhörens bereits gehörig
überdrüssig?«

Gerade hiermit aber beging er einen unverzeihlichen Fehler: daß er
überhaupt ein Gespräch anknüpfte. Denn mit dieser Frage forderte er doch
eine Antwort heraus, gab er jedem beliebigen aus dem Gesindel der
hinteren Reihen die Möglichkeit, ja das Recht, nun gleichfalls laut im
Saale zu reden, während man anderenfalls, wenn diese Frage und
Unterbrechung nicht erfolgt wäre, sich zwar noch weiter geschnaubt und
geschnaubt, aber schließlich doch alles bis zum Ende angehört hätte ...
Oder erwartete er vielleicht als Antwort auf seine Frage stürmischen
Beifall? Der blieb jedoch vollständig aus; im Gegenteil: alle waren
gleichsam erschrocken, zogen sich in sich selbst zurück und verhielten
sich ganz still.

»Sie haben Ancus Marcius überhaupt nie gesehn, das sind lauter
stilisierte Phrasen!« ertönte plötzlich eine gereizte, vor Verbissenheit
schon überreizte Stimme.

»Natürlich nicht!« stimmte sofort eine andere Stimme bei. »Heutzutage
gibt's keine Gespenster, es gibt nur noch Naturwissenschaften. Werden
Sie mit diesen fertig!«

»Meine Herrschaften, nichts habe ich weniger erwartet, als solche
Einwendungen,« sagte Karmasinoff, in der Tat maßlos verwundert. -- Dem
großen Genie war in Karlsruhe das Vaterland völlig fremd geworden.

»In unserem Jahrhundert ist es eine Schande, solchen Schwindel
vorzutragen! -- gleich dem von den drei Walfischen, auf denen die Welt
ruhen soll!«[50] schmetterte plötzlich eine Jungfrau in den Saal. »Zudem
haben Sie, Karmasinoff, überhaupt nicht in das Innere der Erde zu einem
Asketen hinabsinken können. Und wer redet denn jetzt noch von Asketen?«

»Meine Herrschaften, am meisten wundert mich, daß das so ernst genommen
wird. Übrigens ... übrigens ... Sie haben vollkommen recht. Niemand
achtet die reale Wahrheit mehr als ich ...«

Er lächelte zwar ironisch, war aber merklich doch sehr betroffen. Der
Ausdruck seines Gesichts sagte indessen geradezu wörtlich: »Ich bin doch
nicht so einer, wie ihr glaubt, ich bin doch ganz eurer Meinung, nur
lobt mich, lobt mich mehr, lobt mich soviel wie möglich; denn das liebe
ich über alles ...«

»Meine Herrschaften,« rief er schließlich, aber nun schon durchaus
verletzt, »ich sehe, daß mein armes Poemchen hier deplaziert war. Ja und
auch ich selbst bin hier, wie mir scheint, deplaziert.«

»Er zielte auf eine Krähe, traf aber eine Kuh!« schrie nun bereits mit
lautester Stimme irgendein Esel in den Saal, wahrscheinlich ein
Angeheiterter, doch diesen Ausruf hätte man schon unter keinen Umständen
beachten sollen.

»Ein wahres Wort!« Dazu respektloses Lachen.

»Eine Kuh, sagen Sie?« griff dagegen Karmasinoff das Sprichwort sofort
auf. Seine Stimme wurde immer kreischender. »Bezüglich des Vergleichs
mit Krähen und Kühen erlaube ich mir keine Äußerung, meine Herrschaften.
Ich achte sogar _jedes_ Publikum doch allzusehr, um mir Vergleiche, und
seien es auch ganz unschuldige, zu erlauben. Aber ich dachte ...«

»Ach, mein Herr, Sie sollten doch lieber nicht gar so ...,« fiel ihm
jemand aus den letzten Reihen ins Wort.

»... aber ich dachte, daß ich, da ich nun meine Feder für immer aus der
Hand lege und Abschied nehme von meinem Leser, wenigstens bis zum Ende
angehört werden würde ...«

»Ja, aber ja, wir wollen Sie doch auch anhören, wir wollen doch ...«
ertönten ein paar endlich mutig gewordene Stimmen aus der ersten Reihe.

»Lesen Sie, lesen Sie!« fielen mehrere begeisterte Damenstimmen ein und
schließlich ertönte auch ein Applaus, freilich nur ein dünner,
spärlicher.

Karmasinoff lächelte schief und erhob sich von seinem Platz.

»Glauben Sie mir, Karmasinoff, wir alle halten es sogar für eine Ehre,«
konnte sich selbst die Adelsmarschallin nicht enthalten zu versichern.

»Herr Karmasinoff,« erklang plötzlich eine junge, frische Stimme aus der
Tiefe des Saales. Es war die Stimme eines sehr jungen Lehrers aus der
Kreisschule, eines stillen, anständigen und prächtigen Menschen, der
noch nicht lange Zeit bei uns weilte. Er war jetzt sogar von seinem
Platze aufgestanden. »Herr Karmasinoff, wenn ich das Glück gehabt hätte,
so zu lieben, wie Sie es uns beschreiben, so hätte ich wirklich nicht
davon in einem Aufsatz gesprochen, der zum öffentlichen Vorlesen
bestimmt war ...«

Dabei errötete er über und über.

»Meine Herren,« rief Karmasinoff, »ich habe nichts mehr hinzuzufügen!
Ich übergehe den Schluß und entferne mich. Erlauben Sie mir nur noch,
die letzten Zeilen zum Abschied zu lesen!«

Und ohne sich hinzusetzen, begann er sogleich: »Ja, mein Freund und
Zuhörer, lebe wohl! -- lebe wohl, mein Leser, ich bestehe nicht einmal
darauf, daß wir als Freunde scheiden: In der Tat, wozu dich beunruhigen?
Schilt, wenn du willst, schilt, wenn es dir Vergnügen macht! Aber mich
deucht, es wäre besser, wir vergäßen uns für immer. Und wenn ihr alle,
meine Zuhörer, plötzlich so gut wäret, mich auf den Knien und mit Tränen
in den Augen zu bitten: >Schreibe noch, Karmasinoff, -- für uns, für das
Vaterland, für die Nachwelt, für die Lorbeerkränze!< so würde ich euch
sogar dann noch antworten, selbstredend mit allem Dank: >Nein, wir haben
uns schon genug miteinander abgegeben, liebe Kompatrioten, _merci_! Es
ist Zeit, daß wir uns trennen! _Merci, merci, merci!_<«

Karmasinoff verbeugte sich zeremoniell, -- und ganz rot im Gesicht, als
hätte man ihn gekocht, begab er sich hinter die »Kulissen«.

»Niemand wird auf die Knie fallen, eitle Phantasie!« rief ihm eine
Stimme nach.

»Was für eine Eigenliebe!«

»Aber das ist doch Humor,« glaubte jemand erklären zu müssen.

»Nein, verschonen Sie uns bitte mit solchem Humor.«

»Das war einfach eine Frechheit, meine Herren!«

»Na, wenigstens hat er endlich Schluß gemacht!«

»Das war aber eine Langeweile! -- daß Gott erbarm'!«

Aber alle diese unhöflichen Ausrufe der letzten Reihen wurden übertönt
von dem Applaus des anderen Publikums. Man rief Karmasinoff hervor.
Einige Damen, an der Spitze Julija Michailowna und die Adelsmarschallin,
versammelten sich vor der Tribüne. In den Händen hielt Julija
Michailowna ein weißes Samtkissen, auf dem ein Lorbeerkranz in einem
zweiten Kranz von Rosen lag.

»Lorbeer!« rief Karmasinoff mit einem feinen und etwas boshaften
Lächeln. »Ich bin natürlich gerührt und ich nehme diesen im voraus
geflochtenen Kranz, der noch nicht verwelkt ist, mit aufrichtigem Danke
an: aber ich versichere Sie, _Mesdames_,{[175]} ich bin plötzlich soweit
Realist geworden, daß ich Lorbeeren heutzutage in den Händen eines Kochs
besser aufgehoben fände, als in den meinigen ...«

»Ja, ein Koch ist auch nützlicher!« rief der Seminarist, der mit auf der
»Sitzung« bei Wirginskis gewesen war.

Die Ordnung wurde gestört. In vielen Reihen stieg man auf die Stühle, um
besser die Zeremonie der Überreichung des Lorbeerkranzes sehen zu
können.

»Ich würde jetzt für einen Koch noch drei Rubel zuzahlen,« ertönte eine
laute Stimme.

»Ich gleichfalls!«

»Ich auch!«

»Gibt es denn hier wirklich kein Büfett?«

»Meine Herren, das ist einfach ein Betrug ...«

Immerhin bewahrten die Ruhestörer noch einigen Respekt vor unseren
Honoratioren und den anwesenden Polizeioffizieren. Ungefähr zehn Minuten
nachher hatten sie sich denn auch alle wieder gesetzt. Aber die
ursprüngliche Ordnung war doch nicht mehr vorhanden. Und in diesem
Anfangsstadium eines drohenden Tumults mußte nun der arme Stepan
Trophimowitsch auftreten ...


                                  IV.

Ich hielt es nicht aus und eilte doch noch zu ihm hinter die Kulissen,
um ihn anzuflehen, jetzt seinen ganzen Vortrag aufzugeben, ein
Unwohlsein vorzuschützen und nach Hause zu fahren. Es sei nun alles
schon verspielt und verloren, auch ich würde mein Festordnerband
ablegen, meinen Ehrenposten aufgeben und mit ihm davongehen. Er war in
diesem Augenblick gerade im Begriff, die Tribüne zu betreten: nun blieb
er stehen, maß mich hochmütig vom Kopf bis zu den Füßen und fragte mit
geradezu feierlichem Ernst:

»Wie kommen Sie dazu, mein Herr, von mir eine solche Schändlichkeit zu
erwarten?«

Ich trat zurück, überzeugt, daß er ohne Katastrophe von dort nicht
zurückkehren werde. In vollständiger Mutlosigkeit stand ich da, als
plötzlich wieder die Figur des angereisten Professors vor mir
auftauchte. Er ging immer noch auf und ab, in sich versunken und vor
sich hinmurmelnd, aber ein triumphierendes Lächeln glitt hin und wieder
über sein Gesicht, und von Zeit zu Zeit hob er immer noch die Faust, um
sie dann wuchtig niedersausen zu lassen. Ich trat ganz unabsichtlich auf
ihn zu.

»Wissen Sie,« sagte ich, »erfahrungsgemäß hört kein einziges Publikum
länger als zwanzig Minuten jemandem zu. Selbst die größte Berühmtheit
wird es keine halbe Stunde ...«

Er blieb stehen. Ein ungeheurer Hochmut lag auf seinem Gesicht.

»Seien Sie unbesorgt,« brummte er verächtlich und ging an mir vorüber.

In dieser Minute ertönte im Saale die Stimme Stepan Trophimowitschs.

»Ach, daß Euch der ...!« fluchte ich und eilte in den Saal.

Stepan Trophimowitsch hatte sich in den Stuhl gesetzt, noch bevor die
Ordnung im Saale einigermaßen hergestellt war. Aus den ersten Reihen
empfingen ihn nicht gerade wohlwollende Blicke. Im Klub hatte man in der
letzten Zeit aufgehört, ihn besonders zu schätzen oder gar zu lieben.
Aber immerhin war es schon viel, daß man ihn nicht einfach auszischte.
Mich hatte die ganze Zeit die fixe Idee verfolgt, daß etwas Derartiges
geschehen werde. Vermutlich bemerkte man ihn bei der allgemeinen
Unordnung zunächst gar nicht. Doch was konnte er denn überhaupt
erwarten, wenn man sogar mit Karmasinoff so verfahren war? Er war
bleich; aus seiner Aufregung ersah ich, der ich ihn doch so gut kannte,
daß er sein Erscheinen auf dieser Tribüne selber als eine Art
Schicksalsfügung empfand. So stand er denn nach zehn Jahren wieder vor
der Öffentlichkeit! Lieb und teuer war mir dieser Mensch. Und was fühlte
ich nicht alles für ihn, als ich nun seine ersten Worte vernahm!

»Meine Damen und Herren!« stieß er hervor, wie zu allem entschlossen,
und doch mit einer Stimme, die vor innerer Erregung gleichsam keinen
Atem hatte. »Meine Damen und Herren! Noch heute morgen lag einer dieser
verbotenen und gesetzwidrigen Aufrufe vor mir, und ich stellte mir wohl
zum hundertsten Mal die Frage: >Worin besteht das Geheimnis ihrer
Macht?<«

Der ganze Saal verstummte im Augenblick; alle Blicke wandten sich ihm
zu. Kein Zweifel: wenigstens hatte er es verstanden, gleich mit den
ersten Worten zu fesseln. Sogar hinter den Kulissen steckte man die
Köpfe hervor: Liputin und Lämschin lauschten geradezu gierig. Julija
Michailowna rief mich wieder mit einem Wink zu sich.

»Halten Sie ihn auf, was es auch koste, halten Sie ihn auf!« flüsterte
sie mir erregt zu.

Ich zuckte nur mit der Achsel. Wie konnte man einen Menschen, der sich
schon zu allem entschlossen hatte, noch aufhalten? Und ich verstand
Stepan Trophimowitsch nur zu gut.

»Aha, von den Proklamationen!« flüsterte man im Publikum.

»Meine Damen und Herren, ich habe das ganze Geheimnis erraten. Das
Geheimnis ihrer Macht und ihres Erfolges liegt in ihrer -- Dummheit!«
(Seine Augen erglänzten.) »Ja, wäre das eine erklügelte Dummheit, eine
Dummheit aus Berechnung -- oh, dann wäre sie genial! Aber man muß den
Verfassern volle Gerechtigkeit widerfahren lassen: sie bringen sie nicht
aus Berechnung, nein, sondern es ist einfach die allernaivste, die
alleroffenherzigste, die allerbilligste Dummheit -- _c'est la bêtise
dans son essence la plus pure, quelque chose comme un simple
chimique_.{[176]} Wäre das alles ein wenig klüger ausgedrückt, so würde
ein jeder die ganze Armseligkeit dieser billigen Dummheit einsehen. So
dagegen bleiben alle in der Ungewißheit, denn keiner will es doch
glauben, daß es wirklich so erstklassig dumm sei. >Es kann doch nicht
sein, daß _nichts_ dahinter stecke<, sagt sich ein jeder, und man sucht
nach dem geheimen Sinn, glaubt an ein Geheimnis und will zwischen den
Zeilen lesen. Damit aber ist der Erfolg schon gesichert! Oh, noch nie
hat die Dummheit eine so feierliche Belohnung erhalten, ungeachtet
dessen, daß sie sie so oft verdient ... Denn, _en parenthèse_,{[177]}
die Dummheit, wie das höchste Genie, sind innerhalb des Geschickes der
Menschheit beide von gleichem Nutzen.«

»Sentenzen der vierziger Jahre!« hörte man eine übrigens recht
bescheidene Stimme sagen.

Doch nun war es mit der Ruhe zu Ende: alles schrie und lärmte los.

»Meine Herren, Hurra! Ich schlage vor, einen Toast auf die Dummheit
auszubringen!« rief Stepan Trophimowitsch, den ganzen Saal gleichsam
herausfordernd.

Ich lief zu ihm, unter dem Vorwande, Wasser ins Glas zu gießen.

»Stepan Trophimowitsch, lassen Sie davon ab, Julija Michailowna bittet
Sie inständig ...« flüsterte ich schnell.

»Nein, lassen _Sie_ von _mir_ ab, Sie müßiger junger Mann!« rief er mir
mit lauter Stimme zu.

Ich zog mich zurück.

»_Messieurs!_« fuhr er fort, »wozu die Aufregung, warum dieses Geschrei
des Unwillens, das ich höre? Ich bin ja mit dem Olivenzweig gekommen.
Ich bringe das letzte Wort, denn in dieser Sache habe ich das letzte
Wort -- und wir können uns versöhnen.«

»Fort mit ihm!« riefen die einen.

»Ruhig, laßt doch hören, laßt ihn zu Ende sprechen!« schrien die
anderen.

Besonders regte sich der junge Lehrer auf, der, nachdem er einmal zu
sprechen gewagt hatte, nun sich nicht mehr halten konnte.

»_Messieurs_, das letzte Wort in dieser Sache ist -- die gegenseitige
Vergebung. Ich, ein alter Mann, ich erkläre feierlich, daß der Geist des
Lebens noch ebenso stürmt wie früher und die lebendige Kraft auch in der
jungen Generation nicht versiegt ist. Der Enthusiasmus unserer jetzigen
Jugend ist noch ebenso rein und licht, wie er es zu meiner Zeit war. Es
ist nur eines geschehen: man hat die Ziele geändert, die eine Schönheit
ward durch die andere ersetzt! Das ganze Mißverständnis liegt nur darin,
was ist schöner: Shakespeare oder ein Paar Stiefel, Rafael oder ein
Petroleur?«

»Das ist eine Anklage!« brüllte man irgendwoher.

»Das sind kompromittierende Fragen!«

»_Agent-provocateur!_«{[178]}

»Ich aber erkläre,« rief Stepan Trophimowitsch wie rasend, »ich aber
erkläre, daß Shakespeare und Rafael -- höher als die Aufhebung der
Leibeigenschaft, höher als das Volk, höher als der Sozialismus, höher
als die gesamte junge Generation, höher als die Chemie, höher fast als
die ganze Menschheit stehen, und vielleicht die höchste Frucht sind, die
es überhaupt geben kann! Die Form der Schönheit ist damit schon
erreicht, die Prägung, ohne die ich vielleicht gar nicht einwilligen
würde, zu leben ... O Gott!« er erhob die Arme, »vor zehn Jahren habe
ich das in Petersburg genau so von einer Tribüne den Menschen zugerufen,
mit denselben Worten, und ebensowenig haben sie mich damals verstanden,
haben gelacht und gepfiffen wie jetzt ... O ihr kleinen, kleinen
Menschen, was fehlt euch, daß ihr das nicht verstehen könnt? Ja, wißt
ihr denn nicht, wißt ihr denn nicht, daß ohne den Engländer die
Menschheit noch leben kann, auch ohne den Deutschen, ohne den russischen
Menschen schon ohne weiteres, auch ohne die Wissenschaft, auch ohne
Brot, nur ohne die Schönheit, nur ohne Schönheit kann sie nicht leben,
denn da gäbe es überhaupt nichts mehr zu tun auf der Welt! Hier liegt
das ganze Geheimnis, liegt die ganze Weltgeschichte! Selbst die
Wissenschaft würde ohne die Schönheit nicht einen Augenblick bestehen --
wißt ihr das auch, ihr Lacher --, alles würde sich in Hamitentum
verwandeln, nichts mehr würdet ihr erfinden, nicht einmal einen Nagel!
... Dabei bleibe ich!« und er schlug aus aller Kraft mit der Faust auf
den Tisch.

Viele sprangen von ihren Plätzen, andere drängten sich näher zu der
Tribüne. Alles das geschah schneller, als sich's beschreiben läßt, und
erst recht schneller, als daß man Vorsichtsmaßregeln hätte treffen
können -- wenn man überhaupt welche hätte treffen wollen!

»Ihr habt es gut, ihr Verwöhnten an euren vollen Tischen!« brüllte schon
unmittelbar vor der Tribüne der Seminarist und fletschte Stepan
Trophimowitsch höhnisch an.

Der bemerkte es und trat sofort bis an den äußersten Rand:

»Habe nicht ich, nicht ich soeben noch gesagt, daß der Enthusiasmus
unserer jungen Generation ebenso rein und licht ist wie früher, und daß
sie nur deshalb ins Verderben geht, weil sie sich in den Formen des
Schönen täuscht? Ist euch das zu wenig? Und wenn ihr bedenkt, daß ein
gebeugter und beleidigter Vater zu euch spricht, ist es dann, -- o ihr
kleinen Menschen! ... Kann man denn überhaupt noch leidenschaftsloser
und klarer schauend über den Ansichten stehen? Undankbare, ungerechte
Menschen ... warum wollt ihr nicht Frieden schließen ...«

Und plötzlich brach er in hysterisches Schluchzen aus. Er wischte sich
mit den Fingern die Tränen ab. Die Brust und die Schultern zitterten vor
Schluchzen -- er vergaß alles um sich her.

Eine wirkliche Panik ergriff das Publikum, fast alle erhoben sich von
ihren Plätzen. Auch Julija Michailowna erhob sich schnell und zog ihren
Mann von seinem Stuhle in die Höhe.

»Stepan Trophimowitsch!« brüllte triumphierend der Seminarist. »Hier in
der Stadt und in der Umgegend treibt sich jetzt ein entsprungener
Zuchthäusler herum, Fedjka mit Namen. Er stiehlt überall und vor nicht
langer Zeit hat er einen neuen Mord verübt. Gestatten Sie die Frage:
wenn Sie ihn vor fünfzehn Jahren nicht zur Begleichung einer
Kartenschuld als Rekruten verkauft hätten, wäre er dann auch nach
Sibirien gekommen? Hätte er dann auch Menschen ermordet im Kampfe ums
Dasein? Was sagen Sie dazu, Herr Ästhetiker?«

Ich verzichte darauf, die nun folgende Szene zu beschreiben. Zunächst
ertönte ein rasender Applaus. Es applaudierten natürlich nicht alle,
vielleicht nur der fünfte Teil des Saales, aber der applaudierte dafür
auch wie wahnsinnig. Der Rest des Publikums strömte zum Ausgang, der
applaudierende Teil dagegen zur Tribüne hin, und so entstand ein
allgemeines Gewühl. Damen schrien auf. Junge Mädchen weinten und wollten
nach Hause. Lembke stand noch immer an seinem Platz und sah drohend um
sich. Julija Michailowna verlor zum erstenmal in ihrem Leben völlig den
Kopf. Stepan Trophimowitsch schien von den Worten des Seminaristen
zuerst völlig zerschmettert zu sein, doch plötzlich erhob er beide Hände
und rief:

»Ich schüttle den Staub von meinen Füßen und verfluche ... Das ist das
Ende ... das Ende ...«

Und sich umkehrend lief er, gestikulierend und noch mit den Händen
drohend, hinter die Kulissen.

»Er hat die Gesellschaft beleidigt! ... Er schmäht uns! Werchowenski!«
schrie man.

Und schon wollte man hinter ihm her stürzen, was in diesem Augenblick
schwer zu verhindern gewesen wäre, -- aber siehe da! nun sollte noch die
letzte Katastrophe wie eine Bombe in die Versammlung einschlagen! Der
dritte Redner, jener Maniak, der hinter den Kulissen hin und her
geschritten war und in einem fort die Faust hochgehoben hatte, erschien
plötzlich auf der Tribüne.

Er hatte entschieden das Aussehen eines Verrückten. Mit breitem,
triumphierendem Lächeln, voll unermeßlichen Selbstvertrauens übersah er
die aufgeregte Menge, und es schien ihn nicht im geringsten zu
verwirren, daß er vor solchem Publikum reden sollte, vielmehr schien er
an der Unordnung sogar seine Freude zu haben, und zwar so
augenscheinlich, daß gerade das die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn
lenkte.

»Wer ist denn das?« hörte man fragen. »Was will denn der noch? Still!
Pst! Was?«

»Meine Herren!« begann dieser Mensch, ganz am äußersten Rande der
Tribüne stehend, schreiend laut und fast mit einer ebenso
kreischend-weibischen Stimme, wie Karmasinoff sie hatte, nur lauter und
ohne das aristokratische Lispeln.

»Meine Herren! Vor zwanzig Jahren, am Vorabend unseres Krieges mit dem
halben Europa, war Rußland das Ideal aller Staats- und Geheimräte! Die
Literatur stand im Dienst der Zensur! An den Universitäten lehrte man
exerzieren! Das Heer wurde zum Ballett! Das Volk aber bezahlte stier und
stumm Abgaben, schwieg und schmachtete unter der Knute der
Leibeigenschaft! Patriotismus wurde zum Geschäft: man erpreßte von
Lebenden und von Toten! Die nicht Schmiergelder nahmen, galten für
revolutionär, denn sie störten die Harmonie! Die Birkenwälder wurden
rasiert als Hilfe zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung. Europa zitterte.
Doch in Rußland hatte es in dem ganzen sinnlosen Jahrtausend seiner
Existenz noch niemals elender ausgesehen! Rußland war nur noch eine
einzige Schmach und weiter nichts!« Und mit einer wüsten Bewegung erhob
er die Faust, schüttelte sie drohend über seinem Haupte und ließ sie
dann ingrimmig niedersausen, als wollte er mit einem einzigen Schlage
einen unsichtbaren Gegner zerschmettern.

Ein unbändiges Gebrüll erhob sich von allen Seiten. Ohrenbetäubendes
Klatschen und Trampeln erschütterte den Saal. Es applaudierte schon
beinahe die Hälfte der Anwesenden. Die Harmlosesten wurden mitgerissen:
Rußland wurde öffentlich geschmäht, entehrt, vor dem ganzen Publikum
heruntergerissen -- wie sollte man da nicht brüllen vor Entzücken?

»Das ist's! ... Der weiß es! ... Der hat recht! Hurra ... Das ist besser
als Ästhetik! ... Hurra!«

Triumphierend fuhr der Maniak in seiner Rede fort: »Seit der Zeit sind
zwanzig Jahre vergangen! Die Universitäten haben sich vermehrt! Das
Exerzieren in den Hörsälen ist zur Legende geworden! An Offizieren im
Heer fehlt's jetzt zu Tausenden! Die Eisenbahnen haben alles Kapital
verschlungen und Rußland wie mit einem Spinngewebe überzogen, so daß man
in zehn bis fünfzehn Jahren vielleicht auch wirklich wird reisen können.
Die Brücken brennen nur selten, aber die Städte dafür um so häufiger.
Auf den Gerichten werden salomonische Urteile gefällt, doch die
Geschworenen nehmen Schweigegelder an, um nicht Hungers zu sterben! Die
befreiten Leibeigenen peitschen sich jetzt gegenseitig, an Stelle der
Gutsbesitzer, die es früher taten! Ozeane von Schnaps trinkt man aus,
damit das Budget zustande kommt! Und in Nowgorod hat man vor der alten
und unnützen Sophienkirche eine kolossale Kugel aufgestellt und
feierlich enthüllt, als Denkmal der tausendjährigen Unordnung und
Sinnlosigkeit, die wir jetzt glücklich hinter uns haben! Europa aber
ärgert sich und fühlt sich von neuem beunruhigt ... Fünfzehn Jahre der
Reformen! Indessen ist Rußland noch niemals, nicht einmal in den
groteskesten Zeiten seines ganzen unsinnigen Bestehens, zu solch einer
...«

Seine letzten Worte wurden schon vom Gebrüll der Menge verschlungen. Man
sah nur noch, wie er wieder die Faust erhob und sie dann wieder
niedersausen ließ. Der Jubel überstieg bereits alle Grenzen. Man schrie,
man heulte, man klatschte unbändig in die Hände. Sogar einzelne Damen
riefen: »Genug! Besseres können Sie nicht mehr sagen!« Man war wie
betrunken. Oben auf der Tribüne aber stand der Redner, überschaute alle
und schmolz gleichsam in seinem Triumphgefühl.

Ich sah nur noch, wie Lembke in unaussprechlicher Aufregung
irgendjemandem irgendetwas befahl. Neben ihm stand Julija Michailowna
kreideweiß. Der junge Fürst näherte sich ihnen schnell. Sie flüsterte
ihm etwas zu. Doch in diesem Moment sah ich schon mehrere Herren auf der
Tribüne, meist offizielle Persönlichkeiten, die sich blitzschnell auf
den Redner warfen und ihn hinter die Kulissen schleppten. Irgendwie
gelang es aber diesem doch noch, sich loszureißen, und im Augenblick
stand er wieder auf der Tribüne, um, mit erhobener Faust, gerade noch
schreien zu können:

»Aber noch nie ist Rußland zu solch einer ...«

Doch schon hatte man ihn wieder gepackt, überwältigt und schleppte ihn
weg. Sogleich stürmte ein ganzer Haufe von etwa fünfzehn Mann hinter die
Kulissen, um ihn zu befreien, stürmte seitlich an der Tribüne vorüber,
riß eine Barriere um ...

Ich sah nur noch, daß plötzlich -- ich traute meinen Augen nicht -- die
Studentin (Wirginskis Schwester) auf der Tribüne stand. Sie hielt
dieselbe Papierrolle in der Hand, war ebenso angezogen, ebenso rundlich,
doch hinter ihr standen noch zwei oder drei Gesinnungsgenossinnen und
zwei oder drei Genossen, unter diesen auch ihr Todfeind, der Gymnasiast.
Ich vernahm sogar noch ihre ersten Worte:

»Ich bin gekommen, um Ihnen von den Leiden der unglücklichen Studenten
zu erzählen und alle zu einem Protest aufzurufen!« ...

Doch da lief ich schon hinaus. Mein Festordnerband steckte ich in die
Tasche, durch eine Hintertür gelangte ich auf die Straße. Mein erster
Weg war natürlich zu Stepan Trophimowitsch.




                          Siebzehntes Kapitel.
                          Das Ende des Festes


                                   I.

Stepan Trophimowitsch empfing mich nicht. Er hatte sich eingeschlossen
und schrieb. Auf mein Klopfen und Rufen hin antwortete er mir nur durch
die verschlossene Tür:

»Lieber Freund, ich habe mit allem abgeschlossen, wer kann noch mehr von
mir verlangen?«

»Sie haben gar nicht mit allem abgeschlossen! Sie haben nur das Ihre
dazu beigetragen, daß alles zusammenbrach! Im Ernst, Stepan
Trophimowitsch, machen Sie die Tür auf, man muß Vorkehrungen treffen.
Die Bande kann schließlich noch zu Ihnen kommen, um Sie zu beschimpfen
...«

Ich hielt mich für berechtigt, streng mit ihm zu reden. Vor allem
fürchtete ich, daß er irgendeine Torheit begehen könnte. Aber zu meinem
Erstaunen stieß ich bei ihm auf feste Entschlossenheit.

»Wenn Sie mich nur nicht als erster beleidigen wollten. Ich danke Ihnen
für alles Gewesene, aber ich muß Ihnen wiederholen, daß ich mit allem
abgeschlossen habe, mit dem Guten, wie mit dem Bösen. Ich schreibe
soeben einen Brief an Darja Pawlowna, die ich unverzeihlicherweise bis
jetzt ganz vergessen hatte. Morgen bringen Sie ihr dann den Brief, wenn
Sie so freundlich sein wollen. Heute aber -- >_Merci_<.«

»Stepan Trophimowitsch, ich versichere Ihnen, daß die Sache ernster ist,
als Sie glauben. Oder glauben Sie vielleicht, daß Sie dort jemanden
zerschmettert haben? Ach, doch nur sich selbst, wie ein leeres Glas!«
(Oh, ich war roh und grausam; heute ist mir das eine schmerzliche
Erinnerung!) »An Darja Pawlowna haben Sie jetzt entschieden nichts zu
schreiben ... und was wollen Sie jetzt ohne mich anfangen? Was wissen
Sie denn von der Wirklichkeit? Sicher haben Sie jetzt irgendeine
besondere Absicht! Was haben Sie vor, Stepan Trophimowitsch? Sicher
werden Sie sich noch einmal blamieren, wenn Sie wieder etwas unternehmen
...«

Er stand auf und kam zur Tür.

»Sie haben noch nicht lange mit diesen Leuten verkehrt, und doch haben
Sie deren Sprache und Ton schon angenommen. _Dieu vous pardonne, mon
ami, et Dieu vous garde._{[179]} Aber ich habe in Ihnen immer einen
gewissen inneren Anstand wahrgenommen, und so hoffe ich, daß Sie noch
zur Besinnung kommen werden -- _après le temps_{[180]} natürlich, wie
wir alle, wir russischen Menschen. Was Ihre Bemerkung über meine
Unkenntnis der Wirklichkeit betrifft, so möchte ich Sie an einen alten
Gedanken von mir erinnern: daß bei uns in Rußland unzählige Menschen
sich nur damit beschäftigen, mit größtem Wuteifer und mit einer
Unermüdlichkeit, die an Fliegen im Sommer gemahnt, über alle anderen
herzufallen, indem sie ihnen Unkenntnis der Wirklichkeit vorwerfen.
Jedem Menschen machen sie den Vorwurf, er sei >unpraktisch<, nur sich
selbst machen sie ihn nie. _Cher_, bedenken Sie, daß ich erregt bin, und
quälen Sie mich nicht. Noch einmal Dank für alles und scheiden wir
voneinander, wie Karmasinoff vom Publikum -- das heißt, vergessen wir
uns gegenseitig so großmütig wie möglich. Das war von ihm übrigens nur
eine Finte, daß er seine alten Leser so inständig bat, ihn zu vergessen.
_Quant à moi_,{[181]} so bin ich nicht so selbstsüchtig und verlasse
mich vor allem auf die Jugend Ihres unversuchten Herzens: wozu sollten
Sie sich lange eines nutzlosen Greises erinnern? Darum, mein Freund,
>leben Sie mehr<, wie mir Nastassja zu meinem letzten Namenstage
wünschte (_ces pauvres gens ont quelque fois des mots charmants et
pleins de philosophie_{[182]}). Nicht zu viel Glück wünsche ich Ihnen,
das würde langweilig werden. Aber ich wünsche Ihnen auch kein Unglück,
sondern sage nur wie der Volksmund: >Leben Sie mehrVortrag<, und Sie taten recht. Aber man
wird Ihnen erzählen, daß in unserem an Charakteren gänzlich verarmten
Rußland ein Mensch sich erhoben und trotz der Gefahren, die er lief,
diesen kleinen Dummköpfen die ganze Wahrheit gesagt hat, das heißt: daß
sie dumme Närrchen sind. _Oh, ce sont des pauvres petits vauriens et
rien de plus, des petits_ Närrchen -- _voilà le mot_!{[184]} Der Würfel
ist gefallen. Ich verlasse diese Stadt. Ich kehre niemals wieder. Ich
weiß noch nicht, wohin ich meinen Fuß setzen werde. Alle, die ich
liebte, haben sich von mir abgewandt. Nur Sie, Sie reines und gutes
Geschöpf, Sie Sanfte, deren Schicksal sich beinahe mit dem meinen
vereinigt hätte, nach dem Willen eines kapriziösen und herrschsüchtigen
Frauenherzens, Sie, die vielleicht mit Verachtung auf mich herabsehen,
seit ich am Vorabend unserer nicht zustande gekommenen Heirat meine
kleinmütigen Tränen vergossen habe; Sie, die in mir gewiß nichts anderes
sehen können, als einen lächerlichen Menschen, nur Sie, oh, nur Sie
grüße ich noch! Nur Ihnen noch diesen letzten Schrei meines Herzens,
Ihnen meine letzte Pflicht, Ihnen allein! Kann ich Sie doch nicht so auf
ewig verlassen! -- mit der Vorstellung von mir als einem undankbaren,
unwissenden, selbstsüchtigen Toren, wie mich Ihnen wohl täglich ein
undankbares und grausames Herz schildert, ein Herz, das ich -- o
Schmerz! -- nicht vergessen kann ...«

Der Brief war auf einem Bogen großen Formats geschrieben und vier Seiten
lang ...

... Ich pochte noch dreimal an die Tür, nachdem er mit den Worten, er
werde nicht aufmachen, ins Zimmer zurückgegangen war. Dann rief ich ihm
zu, daß er heute noch dreimal Nastassja zu mir schicken werde mit der
Bitte, zu ihm zu kommen, aber dann werde das gleichfalls vergeblich
sein. Damit ging ich fort und begab mich zu Julija Michailowna.


                                  II.

Hier sollte ich Zeuge einer empörenden Szene werden: die arme Frau wurde
auf eine geradezu infame Weise betrogen. Ich sah es, aber ich war ja
machtlos. Was hätte ich ihr denn sagen sollen? Ich hatte ja selbst nur
erst unklare Vorgefühle, doch keinen einzigen Beweis für meinen
Verdacht.

Als ich eintrat, lag sie weinend unter Eau de Cologne-Kompressen und
Eiswasser auf der Chaiselongue. Vor ihr standen Pjotr Stepanowitsch, der
ununterbrochen redete, und der junge Fürst, der ununterbrochen schwieg,
als hätte man ihm mit einem Schlüssel den Mund verschlossen.

Unter Tränen warf sie Pjotr Stepanowitsch seine »Abtrünnigkeit« vor.
Sonderbar war dabei, daß sie nur ihm allein und seiner Abwesenheit das
Mißlingen und den ganzen Zusammenbruch des Festes zuschrieb.

An Pjotr Stepanowitsch selber fiel mir eine merkwürdige Veränderung auf:
er war ungewöhnlich ernst und offenbar mit irgendwelchen Gedanken
beschäftigt. Sonst war er ja nie ernst gewesen, sondern hatte immer
gelacht, selbst dann, wenn er sich ärgerte -- und er ärgerte sich oft.
Auch jetzt war er sichtlich geärgert, sprach grob, nachlässig und
rücksichtslos, voll Hast und Ungeduld. Er versicherte, daß er die ganze
Zeit mit Kopfschmerzen und Übelkeit bei Gaganoff gelegen hätte, zu dem
er, wie er sagte, schon am frühen Morgen gegangen wäre: an ein
Erscheinen auf der Matinee sei auch nicht einmal zu denken gewesen.

Jetzt drehte sich der ganze Streit hauptsächlich darum, ob die andere
Hälfte des Festes, der Ball am Abend, stattfinden sollte oder nicht?

Julija Michailowna wollte unter keiner Bedingung auf ihm erscheinen --
oder vielmehr, sie wollte mit aller Gewalt darum gebeten werden, und
zwar gerade von Pjotr Stepanowitsch. Sie hörte noch immer auf ihn wie
auf ein Orakel, und da es durchaus in seinen dunklen Plänen lag, daß der
Ball heute noch stattfand und Julija Michailowna auf ihm erschien, so
bat er denn auch.

»Warum weinen Sie denn? Sie müssen natürlich wieder eine Szene machen!
Wir aber müssen jetzt zu einem Entschluß kommen. Was am Morgen verdorben
wurde, machen wir am Abend wieder gut! Auch der Fürst ist ganz meiner
Meinung. Tja, wenn der Fürst nicht gewesen wäre, womit würde das wohl
geendet haben!«

Daß dies auch die Meinung des Fürsten sei, war nun freilich nicht ganz
richtig. Dieser war nämlich zunächst nur dafür, daß der Ball stattfand,
nicht aber dafür, daß Julija Michailowna auf ihm erschien. Schließlich
schien er aber auch dagegen nichts mehr einzuwenden zu haben.

Mich setzte nun vor allem die unglaubliche Frechheit Pjotr
Stepanowitschs in Erstaunen. Daß an den gewöhnlichen Klatschgeschichten,
die über die Art seines Verhältnisses zu Julija Michailowna umliefen,
kein wahres Wort war, wußte ich. Er beherrschte diese Frau einfach
dadurch, daß er auf alle ihre gesellschaftlichen Träume und ehrgeizigen
Pläne, auf ihre Absicht, im Gouvernement eine besondere Rolle zu spielen
und selbst den Petersburgern zu imponieren, in geschickter Weise einging
und ihr mit den gröbsten Schmeicheleien um den Mund redete. Aber
erstaunlich war es doch, wie rasch er sich jetzt wieder bei ihr in Gunst
zu setzen wußte.

Als sie mich eintreten sah, rief sie mit blitzenden Augen:

»Da! fragen Sie ihn, er ist die ganze Zeit nicht von mir gewichen, ganz
wie der Fürst! Und Sie, -- erklären Sie ihm doch bitte, daß dieser ganze
Skandal nichts als eine Verschwörung gegen mich und Andrei Antonowitsch
war! Oh, die hatten sich alle verschworen! Sie hatten einen gemeinsamen
Plan! Es war alles im voraus darauf abgesehen!« ...

»Sie irren sich, wie immer! Stets ein Poem im Kopf! Ich bin übrigens
froh, den Herrn ...« er tat, als habe er meinen Namen vergessen ... »er
wird uns seine Meinung sagen.«

»Ich bin ganz der Ansicht Julija Michailownas,« beeilte ich mich zu
erklären. »Daß eine Verabredung vorlag, das sah man doch nur zu
deutlich. Ich bringe Ihnen im übrigen hier meine Bänder, Julija
Michailowna. Ob der Ball zustande kommt oder nicht, das ist natürlich
nicht meine Sache. Doch meine Rolle als Anordner ist zu Ende.
Entschuldigen Sie, aber ich kann nicht gegen meine Überzeugung handeln
und -- gegen allen gesunden Menschenverstand.«

»Hören Sie, hören Sie!« rief sie und schlug die Hände zusammen.

»Ich höre ja schon ... Aber was ich noch sagen wollte,« wandte sich
Pjotr Stepanowitsch zu mir, »ich bin jetzt überzeugt, daß alle irgend
etwas gegessen haben müssen, wovon sie krank geworden sind. Meiner
Meinung nach ist nichts geschehen, nichts, was nicht auch früher schon
bei solchen Festen fast immer geschehen ist. Was für eine Verabredung
sollte denn das gewesen sein? Es sind da ein paar scheußliche Dummheiten
passiert, aber was hat das mit einer Verschwörung zu tun? Das war nicht
gegen Julija Michailowna persönlich, sondern höchstens gegen ihre
Günstlinge und Schützlinge gerichtet! Julija Michailowna! Was habe ich
Ihnen den ganzen Monat ununterbrochen vorgehalten? Wovor habe ich Sie
gewarnt? Nun, sagen Sie mir doch: wozu, wozu brauchten Sie dieses ganze
Volk da? -- Wozu mit solch einem Pack sich abgeben? Warum und wozu war
das nötig?«

»Wann haben Sie mich gewarnt? Im Gegenteil, Sie begünstigten das, Sie
verlangten sogar ... Sie selbst haben mir allerhand sonderbare Menschen
zugeführt!«

»Im Gegenteil, ich habe mich mit Ihnen wegen dieser Leute
herumgestritten, aber nicht sie begünstigt und eingeführt! Jetzt soll
ich es gewesen sein, der dieses Pack hier eingeführt hat, womöglich noch
in letzter Zeit, als sie schon zu Dutzenden herbeiströmten, um diese
>literarische Quadrille< mitzumachen! Ich könnte wetten, daß es gerade
diese Mimen gewesen sind, die alles mögliche Volk ohne Billetts
eingeführt haben.«

»Das dürfte stimmen!« bemerkte ich.

»Sehen Sie, schon müssen Sie mir recht geben. Und erinnern Sie sich doch
nur, welch ein Ton hier in der letzten Zeit eingerissen war! Das war ja
schon die richtige Gemeinheit, das war ja ein Skandal und Lärm, daß
einem die Ohren davon weh taten! Und wer begünstigte das? Wer deckte das
alles mit seiner Autorität? Wer hat hier alle irre gemacht? Wer hat hier
alle Spießer erbittert? Sind doch in Ihrem Album alle hiesigen
Familiengeheimnisse karikiert! Und haben nicht Sie, gerade Sie alle
unsere Stegreifdichter und Karikaturisten verwöhnt, haben Sie sich nicht
sogar von einem Lämschin die Hand küssen lassen? Und hat nicht in Ihrer
Gegenwart der Seminarist einen Staatsrat beschimpfen dürfen und der
Tochter des Staatsrats mit seinen Schmierstiefeln das Kleid abgetreten?
Warum wundern Sie sich nun noch, daß das Publikum Ihnen jetzt nicht
gerade freundlich gesinnt ist?«

»Aber das haben doch alles Sie selbst ... O Gott!«

»Ich? ich habe Sie immer nur gewarnt! Worüber hätten wir uns denn sonst
die ganze Zeit gestritten?«

»Aber Sie lügen mir ja ins Gesicht!«

»Nun ja, das kostet Ihnen ja weiter nichts, so was zu sagen. Sie haben
jetzt ein Opfer nötig, an dem Sie Ihren Ärger auslassen können -- da
komme ich Ihnen gerade recht. Ich werde mich lieber an Sie wenden, Herr
...« Er konnte sich offenbar noch immer nicht auf meinen Namen besinnen.
»Zählen wir's doch an den Fingern ab: ich behaupte, daß außer der
Liputingeschichte keine einzige Verabredung sich nachweisen läßt,
kei--ne ein--zige! Das werde ich Ihnen sogleich beweisen; aber nehmen
wir zuerst Liputin. Er trat mit dem Gedicht des Dummkopfs Lebädkin auf
-- schön! oder vielmehr, das war nicht schön. Aber was soll denn das für
eine >Verschwörung< sein? Er kam sich einfach geistreich vor! Im Ernst:
geistreich! Er wollte einen Witz machen, uns unterhalten, erheitern, --
verlassen Sie sich darauf! ... und nicht nur uns, sondern vor allen
anderen die Protektrice Julija Michailowna erheitern! Und das ist alles!
Sie glaubens nicht? Aber war denn das nicht ein Witz in genau demselben
Tone, wie er hier schon den ganzen letzten Monat herrschte? Und wenn Sie
wollen, daß ich alles sage: bei Gott, unter anderen Umständen wäre er
vielleicht auch glatt durchgegangen! Der Scherz war meinethalben roh,
na, sagen wir, war vielleicht ein starkes Stück, aber an sich doch
schließlich witzig.«

»Wie! Sie halten diese elende Handlungsweise Liputins auch noch für
geistreich?« fragte Julija Michailowna empört, »eine solche Dummheit,
eine solche Taktlosigkeit, eine solche Niederträchtigkeit und
Gemeinheit, dieser Anschlag! Ja, dann gibt es keine andere Erklärung:
dann sind Sie selbst mit jenen im Bunde!«

»Na, natürlich doch! Ich saß ja hinter den Kulissen, habe von dort aus
die ganze Maschine dirigiert. -- Wenn ich hinter einer Verschwörung
gesteckt hätte, dann, glauben Sie mir, dann wäre das nicht bei Liputin
allein geblieben! Folglich steckte ich wohl auch, Ihrer Meinung nach,
hinter meinem Papachen? damit er absichtlich einen solchen Skandal
heraufbeschwört? Ja, sagen Sie doch: wer ist nun _daran_ schuld, daß man
auch Papachen zum Lesen aufforderte? Wer hat Ihnen noch gestern davon
abgeraten, noch gestern, gestern!!«

»_Oh, hier il avait tant d'esprit_,{[185]} und ich rechnete so auf ihn!
Und dann, er hat doch Manieren! Ich dachte: er und Karmasinoff ... und
nun statt dessen!« ...

»Tja, und nun statt dessen! Aber ungeachtet des _tant d'esprit_, hat
Papachen alles verpfuscht. Doch da ich das voraussah, so hätte ich, als
Mitglied der überzeugend nachweisbaren Verschwörung gegen Ihr Fest,
Ihnen doch wohl nicht abgeraten, diesen Ziegenbock zum Gärtner zu
machen? Ist's nicht so? Indessen habe ich Ihnen tatsächlich abgeraten,
habe noch gestern abgeraten, und zwar, weil ich schon so 'ne Vorahnung
hatte, wie das enden würde. Natürlich habe ich nicht alle Details
vorausgesehen, das wäre ja auch gar nicht möglich gewesen: er hat doch
sicher selber nicht gewußt, womit er im nächsten Augenblick
herausplatzen wird. So 'n nervöser Alter ist doch überhaupt kein Mensch
mehr! Aber man kann da noch manches retten: schicken Sie gleich morgen,
zur Genugtuung des Publikums, zwei Ärzte zu ihm, die sich nach seinem
Gesundheitszustande erkundigen, oder schon heute, und dann so -- na, auf
administrativem Wege in eine Kaltwasserheilanstalt mit ihm. Wenigstens
würden dann alle lachen und einsehen, daß man keine Ursache hat, sich
gekränkt zu fühlen. Ich kann ja noch heute auf dem Ball unter der Hand
ein paar diesbezügliche Erklärungen abgeben, da ich ja der Sohn bin.
Eine andere Sache ist es mit Karmasinoff, der hat sich schön als grüner
Esel entpuppt und seinen Gallimathias eine ganze Stunde lang geleiert,
-- na, mit dem steckte ich Ihrer Ansicht nach doch zweifellos unter
einer Decke! Den habe ich wohl ausdrücklich gebeten, mitzutun, um Julija
Michailowna zu schaden!«

»Oh, Karmasinoff, _quelle honte_!{[186]} Ich verging, ich verging vor
Schande für unser Publikum!«

»Na, ich wäre nicht vergangen, sondern hätte lieber ihm das Gehen
beigebracht. Das Publikum war durchaus im Recht. Aber wer ist nun in
diesem Fall wieder der Schuldige? Habe etwa ich Ihnen auch diesen
aufgebunden? Habe ich bei seiner Vergötterung mitgeholfen? Doch, zum
Teufel mit ihm! Aber der dritte, der Maniak, der Politiker! Das war
schon eine andere Nummer! An dem haben sich schon alle versehen, aber
nicht ich allein etwa!«

»Ach, reden Sie nicht davon, das ist schrecklich, schrecklich! Daran bin
ich, ich allein schuld!«

»Tja, freilich, aber nun muß ich Sie doch verteidigen. So etwas kann
niemand voraussehen, -- und wer, zum Teufel, kennt sich denn heute unter
diesen >Aufrichtigen< überhaupt noch aus? Vor so einem ist man selbst in
Petersburg nicht sicher. Er war Ihnen doch empfohlen! und wie noch!
Sehen Sie nun nicht ein, daß Sie sogar verpflichtet sind, auf dem Ball
zu erscheinen? Man weiß doch, daß Sie es waren, die ihn auf die Tribüne
brachte: darum müssen Sie nun öffentlich zu erkennen geben, daß Sie sich
mit ihm nicht solidarisch fühlen, daß der Kerl schon in den Händen der
Polizei ist und daß man Sie auf unerklärliche Weise betrogen hat. Sie
müssen es mit Unwillen kundgeben, daß Sie das Opfer eines Verrückten
gewesen sind. Denn daß der Kerl ein Verrückter ist, sieht doch ein
jeder! Ich kann diese Beißenden nicht ausstehen. Freilich rede ich
selber manchmal noch schärfer, aber ich tu's doch nicht von der Tribüne
aus! Und da reden noch die Leute wie absichtlich gerade jetzt von dem
Senator!«

»Von was für einem Senator? Wer redet ...?«

»Tja, was weiß ich! Aber wie, haben Sie denn nichts von einem Senator
gehört?«

»Einem Senator? Nein!«

»Ja, sehen Sie, man erzählt sich, daß irgendein Senator hierher
geschickt werde, und daß man Sie von Petersburg aus absetzen will. Ich
habe es von vielen gehört.«

»Ich allerdings auch!« bestätigte ich.

»Wer hat das gesagt?« fuhr Julija Michailowna auf und das Blut schoß ihr
ins Gesicht.

»Wer das zuerst gesagt hat? ... Wie soll ich das wissen. Die ganze Stadt
redet so. Besonders gestern sprach man davon. Alle tun so ernst dabei,
obgleich man gar nicht recht klug daraus werden kann. Natürlich -- die
bißchen Klügeren und Kompetenteren, die reden ja nicht davon, aber auch
von diesen hören manche aufmerksam zu.«

»Welch eine Niederträchtigkeit! Und ... welch eine Dummheit!«

»Na, wie gesagt, und schon deshalb müssen Sie erscheinen, um diesen
Dummköpfen ...«

»Ich sehe ein, ja, ich fühle es jetzt selbst, daß ich verpflichtet bin
... aber wie, wenn mich eine neue Schande erwartet? Und wenn der Ball am
Ende gar nicht zustande kommt? Keiner wird kommen, keiner, keiner! Sie
werden sehen!«

»Ach, da sollte man die Menschen nicht kennen! Wo blieben denn da die
Toiletten? Sie als Frau sollten sich das doch selbst sagen! Sonderbare
Menschenkenntnis!«

»Die Adelsmarschallin wird bestimmt nicht erscheinen!«

»Zum ... was ist da denn nun eigentlich passiert! Warum soll sie denn
nicht erscheinen?« rief er plötzlich ganz wütend vor Ungeduld.

»Die Schmach, die Blamage! Ich weiß nicht, was passiert ist, ich weiß
nur, daß es mir nach alledem unmöglich ist, hinzugehen!«

»So! Warum denn nicht? Ja, woran sind Sie denn eigentlich schuld? Ist
denn nicht das Publikum an allem schuld? Wo waren denn die
Stadtältesten, die Familienväter? -- deren Pflicht wäre es doch gewesen,
die Taugenichtse zurückzuhalten. In keiner Gesellschaft und überhaupt
nirgendwo kann die Polizei allein für alles einstehen. Bei uns verlangt
aber jeder, der eintritt, daß hinter ihm ein Polizist stehe und ihn
beschütze. Niemand begreift hier, daß jede Gesellschaft sich selbst
beschützen muß. Aber was machen bei uns die Herren Honoratioren samt
Frauen und Töchtern in solchen Fällen? Sie schweigen und blähen sich!
spielen die Gekränkten! Nicht einmal diese Bengel von Störenfrieden im
Zaum zu halten verstehen sie, selbst dazu reicht ihr gesellschaftlicher
Instinkt nicht aus!«

»Ach, das ist ja nur zu wahr! Sie schweigen, blähen sich und ... sehen
sich um.«

»Und wenn das wahr ist, so muß man das auch so sagen, daß alle es hören,
furchtlos und streng! Sie müssen auf dem Ball erscheinen, und in den
Zeitungen muß es stehen, daß Sie erschienen sind! Ich werde die Sache
selbst in die Hand nehmen und Ihnen alles arrangieren. Wir bringen den
Bericht in die Petersburger >Stimme< und in die >Börsennachrichten<.
Versteht sich: mehr Aufmerksamkeit, das Büfett strenger beaufsichtigen,
den Fürsten bitten, den Herrn da bitten! Und dann müssen Sie erscheinen,
offen vor aller Welt, am Arme Andrei Antonowitschs. Wie geht es ihm
übrigens?«

»Oh, wie ungerecht, wie falsch, wie beleidigend haben Sie immer über
diesen engelsguten Menschen geurteilt!« rief Julija Michailowna
plötzlich, mit ganz überraschender Glut, fast unter Tränen aus und
drückte ihr Taschentuch an die Augen.

Diese Wendung kam für Pjotr Stepanowitsch so unerwartet, daß er im
Augenblick nicht wußte, was er sagen sollte.

»Aber ich bitte Sie, ich ... ja, was denn! ... ich habe doch immer ...«

»Niemals, niemals, niemals haben Sie ihm Gerechtigkeit widerfahren
lassen!«

»Eine Frau kann man doch nie auskennen!« brummte Pjotr Stepanowitsch mit
einem eigentümlichen Spottlächeln.

»Das ist der gerechteste, der feinfühlendste Mensch! Der beste, der
gütigste von allen!«

»Aber ... ich bitte Sie, ich ... wieso, ich habe doch immer --
namentlich in betreff der Güte ... habe ich ihm immer ...«

»Nein, niemals! Aber lassen wir das. Ich bin schlecht für ihn
eingetreten. Und vorhin hat diese Jesuitin, die Adelsmarschallin, auch
einige sarkastische Bemerkungen wegen gestern fallen lassen.«

»Oh, der ist es jetzt nicht mehr ums Gestrige zu tun, die hat von heute
genug! Aber machte es Ihnen denn wirklich etwas aus, wenn sie nicht auf
den Ball käme? Denn natürlich wird sie nicht kommen, nachdem sie selbst
in einen solchen Skandal verwickelt worden ist! Möglich, daß sie nicht
schuld ist, aber die Reputation ist doch hin: schmutzige Hände!«

»Was heißt das? ... ich verstehe nicht, -- warum schmutzige Hände?«
Julija Michailowna sah ihn verständnislos an.

»Das heißt, ich will ja nichts behaupten, aber die ganze Stadt läutet es
schon aus, daß sie die Geschichte begünstigt habe.«

»Was? Aber was denn begünstigt?«

»Ja, wissen Sie es denn noch nicht?« rief er mit vorzüglich gespieltem
Erstaunen. »Stawrogin und Lisaweta Nicolajewna!« ...

»Wie? Was?« riefen wir alle.

»Ja, wissen Sie denn wirklich noch nichts? Na, hören Sie mal! Aber es
haben sich doch soeben Tragiromane abgespielt! -- Es hat Lisaweta
Nicolajewna gefallen, sich unmittelbar aus der Equipage der
Adelsmarschallin in die Equipage Stawrogins hinüberzusetzen und >mit
diesem letzteren< nach Skworeschniki zu entschlüpfen, mitten am
hellichten Tage. Erst vor einer Stunde, noch nicht einmal einer Stunde.«

Wir erstarrten. Natürlich stürzten wir uns dann ins Ausfragen, doch
wunderlicherweise konnte er, obschon er selbst »zufällig« Augenzeuge
gewesen sein wollte, von den näheren Umständen nichts Genaues erzählen.
Geschehen war es angeblich folgendermaßen: Als die Adelsmarschallin nach
der Matinee Lisa und Mawrikij Nicolajewitsch in ihrer Equipage
heimbrachte und der Wagen vor dem Hause von Lisas Mutter (deren Füße
immer noch krank waren) hielt, da wartete nicht weit, ungefähr
fünfundzwanzig Schritt von der Vorfahrt, etwas abseits, eine andere
Equipage. Und kaum war Lisa vor der Treppe ausgestiegen, -- da sei sie
sofort zu jener Equipage geeilt; der Schlag habe sich geöffnet, sei
zugeklappt; Lisa habe Mawrikij Nicolajewitsch nur noch zugerufen:
»Schonen Sie mich!« -- und die Equipage sei in voller Karriere
davongefahren nach Skworeschniki. Auf unsere hastigen Fragen: War das
eine Verabredung? Wer saß in jener Equipage? -- antwortete Pjotr
Stepanowitsch, er wisse nichts; zweifellos sei das abgekartet gewesen,
doch Stawrogin habe er in der Equipage nicht gesehen; vielleicht saß nur
der Kammerdiener im Wagen, der alte Alexei Jegorytsch. Auf die Frage:
»Wie kam es denn, daß gerade Sie zugegen waren? Und woher wissen Sie,
daß die Equipage nach Skworeschniki gefahren ist?« -- antwortete er, daß
er zugegen gewesen sei, weil er gerade vorüberging, und als er da Lisa
erblickte, sei er sogar zu jener Equipage geeilt (und dennoch wollte er
nicht gesehen haben, wer in der Equipage saß, ein so neugieriger Mensch
wie er!), Mawrikij Nicolajewitsch aber sei ihr nicht nur nicht
nachgejagt mit dem anderen Gefährt, sondern habe nicht einmal versucht,
Lisa zurückzuhalten, ja er habe noch mit beiden Händen die
Adelsmarschallin zurückgehalten, die mit lauter Stimme geschrien habe:
»Sie fährt zu Stawrogin! zu Stawrogin!« Da aber riß mir die Geduld und
ich schrie, toll vor Wut, Pjotr Stepanowitsch ins Gesicht:

»Das hast du, Schurke, alles veranstaltet! Nur dazu hast du auch den
ganzen Vormittag gebraucht! Du hast Stawrogin geholfen, du hast die
Equipage hingebracht, du hast sie aufgenommen, den Schlag geöffnet und
zugeklappt ... du, du, du! ... Julija Michailowna, das ist Ihr Feind, er
wird auch Sie ins Verderben bringen! Nehmen Sie sich in acht vor ihm!«

Und ich stürzte Hals über Kopf hinaus.

Noch heute begreife ich nicht und wundere mich, wie ich ihm das damals
so zuschreien konnte. Aber ich hatte den Zusammenhang erraten: es war
fast alles tatsächlich so geschehen, wie ich es ihm dort ins Gesicht
schrie, doch das stellte sich erst später heraus. Das Entscheidende war
wohl die gar zu offenkundige Unnatürlichkeit der Art, wie er die
Nachricht mitteilte. Er hatte sie nicht sofort erzählt, als erste und
außergewöhnliche Neuigkeit, sondern hatte getan, als wüßten wir sie
bereits, als hätten wir sie schon von anderen hören können, -- was doch
in dieser kurzen Zeit ganz unmöglich war. Und selbst wenn uns diese
Kunde schon zu Ohren gekommen wäre, so hätten wir doch nicht so lange
darüber geschwiegen, bis er davon anfing. Auch konnte er, gleichfalls
wegen der Kürze der Zeit, unmöglich schon gehört haben, daß »die ganze
Stadt« der Adelsmarschallin eine Schuld daran zuschrieb oder sonst etwas
»ausläutete«. Zudem hatte er, als er uns Auskunft gab, etwa zweimal ganz
eigentümlich, gewissermaßen gemein und leichtfertig, gelächelt,
wahrscheinlich in dem Glauben, daß er uns Dummköpfe schon vollkommen
überzeugt habe. Doch jetzt war es mir nicht mehr um ihn und seine
Entlarvung zu tun; da ich ihm die wichtigste Tatsache doch glaubte, lief
ich geradezu außer mir von Julija Michailowna weg. Diese Katastrophe
traf mich mitten ins Herz. Ich hätte weinen mögen vor Schmerz, ja
vielleicht weinte ich auch wirklich. Ich wußte nicht und konnte nicht
überlegen, was jetzt zu tun wäre. So eilte ich denn zunächst zu Stepan
Trophimowitsch, aber der ärgerliche Mensch machte wieder nicht auf.
Nastassja versicherte ehrfurchtsvoll flüsternd, daß er sich schlafen
gelegt habe, doch ich glaubte ihr das nicht. Im Hause Lisas erfuhr ich
einiges von den Dienstboten; sie bestätigten die Flucht, wußten aber
selbst nichts Näheres. Im Hause herrschte große Unruhe; die kranke
gnädige Frau hatte einen Ohnmachtsanfall nach dem anderen und Mawrikij
Nicolajewitsch war bei ihr. Es erschien mir unmöglich, Mawrikij
Nicolajewitsch herausbitten zu lassen. Bezüglich Pjotr Stepanowitschs
sagte man mir auf meine Frage, daß er in den letzten Tagen allerdings
sehr oft ins Haus gekommen sei, manchmal sogar zweimal am Tage. Die
Dienstboten waren traurig und sprachen von Lisa mit einer gewissen ganz
besonderen Ehrerbietung; sie wurde von ihnen geliebt. Daß sie verloren,
rettungslos verloren war, -- daran zweifelte ich nicht, aber die
psychologische Seite der Tat konnte ich entschieden nicht begreifen,
besonders nicht nach der Szene zwischen Lisa und Stawrogin am
vergangenen Tage bei Julija Michailowna. Mich in der Stadt bei
schadenfrohen Bekannten zu erkundigen, unter denen die Nachricht sich
jetzt natürlich schon verbreitet hatte, erschien mir widerlich, ja und
für Lisa auch erniedrigend. Doch sonderbar war, daß ich zu Darja
Pawlowna ging, wo ich übrigens nicht empfangen wurde (im Stawroginschen
Hause wurde seit dem vergangenen Tage niemand empfangen); und ich weiß
auch nicht, was ich ihr hätte sagen mögen und wozu ich dorthin eilte.
Von dort begab ich mich zu ihrem Bruder. Schatoff hörte mich finster und
schweigend an. Erwähnen muß ich, daß ich ihn in einer so düsteren
Stimmung antraf, wie noch nie zuvor; er war wie ganz in Gedanken
vertieft und hörte mich an, als müßte er sich dazu überwinden. Er sagte
so gut wie nichts und begann in seiner Dachstube auf und ab zu gehen,
aus einer Ecke in die andere, wobei er lauter als sonst mit den Stiefeln
auftrat. Als ich die Treppe bereits hinuntergegangen war, rief er mir
plötzlich nach, ich solle doch zu Liputin gehen: »Dort werden Sie alles
erfahren.« Zu Liputin ging ich nicht, doch, nachdem ich schon weit
gegangen war, kehrte ich wieder um und ging zu Schatoff zurück, und
nachdem ich die Tür halb aufgemacht, fragte ich lakonisch und ohne alle
Erklärungen: ob er nicht heute noch zu Marja Timofejewna gehen könnte?
Als Antwort darauf schimpfte Schatoff und ich ging weg. Ich füge hier
gleich hinzu, um es nicht zu vergessen, daß er noch an demselben Abend
tatsächlich nach jener äußersten Vorstadt zu Marja Timofejewna gegangen
ist, die er seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Er fand sie bei
bester Gesundheit und in heiterer Stimmung, Lebädkin dagegen in schwerer
Betrunkenheit schlafend auf dem Diwan im ersten Zimmer. Schatoff war
dort um neun Uhr abends. Das sagte er mir bereits am folgenden Tage, als
wir uns in der Eile auf der Straße begegneten. Gegen zehn Uhr abends
aber entschloß ich mich doch noch, auf den Ball zu gehen, freilich nicht
mehr als »Festordner« (mein Band war ja auch bei Julija Michailowna
geblieben), sondern nur aus quälender Neugier: ich wollte hören (ohne zu
fragen), wie man im allgemeinen über alle diese Vorfälle sprach. Und
dann wollte ich auch Julija Michailowna sehen, wenn auch nur von ferne.
Ich machte mir Vorwürfe und bereute es sehr, daß ich vorhin so von ihr
weggelaufen war.


                                  III.

Diese ganze Nacht mit ihren fast absurden Ereignissen und mit ihrem
entsetzlichen »Ausgang« gegen Morgen kommt mir noch immer wie ein
gräßlicher Traum oder Albdruck vor und ist -- wenigstens für mich -- der
schwerste Teil meiner Chronik. Ich kam zwar etwas spät auf den Ball,
doch immerhin noch rechtzeitig, um sein Ende mitzuerleben, -- so früh
war es ihm bestimmt, sein Ende zu finden. Die Uhr ging schon auf elf,
als ich an der Vorfahrt des Hauses der Adelsmarschallin anlangte.
Derselbe weiße Saal, in dem die literarischen Vorträge stattgefunden
hatten, war bereits, trotz der kurzen Zwischenzeit, ausgeräumt und in
den Haupttanzsaal, wie man annahm, »für die ganze Stadt«, verwandelt
worden. Aber wie schlimm meine Befürchtungen, nach diesem Verlauf der
Matinee, für den Ball auch waren, eine solche Wirklichkeit hatte ich
doch nicht vorausgesehen: von der höheren Gesellschaft hatte sich auch
nicht eine einzige Familie eingefunden; selbst die Beamten von auch nur
einiger Bedeutung fehlten alle; das aber war doch schon ein äußerst
starkes Symptom. Was nun die Damen und jungen Mädchen betrifft, so
erwiesen sich Pjotr Stepanowitschs Berechnungen (jetzt war seine
Hinterlist schon offenkundig) als im höchsten Grade falsch: es waren nur
äußerst wenige erschienen; auf vier Herren kam vielleicht eine Dame, und
was waren das für Damen! »Irgendwelche« Frauen von Oberoffizieren
gewöhnlicher Linienregimenter, von Postbeamten und anderen beamteten
kleinen Leuten, drei Frauen von Ärzten mit ihren Töchtern, zwei bis drei
Gutsbesitzerinnen (von den ärmeren dieses Standes), die sieben Töchter
und die eine Nichte jenes Sekretärs, den ich gelegentlich schon erwähnt
habe, Kaufmannsfrauen ... War das die Gesellschaft, die Julija
Michailowna vorzufinden erwartet hatte? Selbst von den Kaufleuten war
fast die Hälfte fern geblieben. Was nun die Männer anbelangt, so
bildeten sie, trotz der geschlossenen Abwesenheit unserer ganzen
Notabilität, dennoch eine dichte Masse, aber diese Masse machte einen
zweideutigen, Mißtrauen erweckenden Eindruck. Natürlich gab es da auch
ein paar überaus stille und ehrenwerte Offiziere mit ihren Frauen, ein
paar gehorsamste Familienväter, wie z. B. jener selbe Sekretär und Vater
seiner sieben Töchter. Doch alle diese stillen bescheideneren Leute
waren sozusagen nur »in Ermangelung eines anderen Auswegs« gekommen, wie
sich einer dieser Herren buchstäblich ausdrückte. Andererseits aber
hatte sich die Menge der kecken Persönlichkeiten, im Vergleich zum
Vormittage, anscheinend noch vermehrt und desgleichen die Anzahl
solcher, die offenbar ohne Eintrittskarten hereingelassen waren, --
diesen Verdacht hatten ich und Pjotr Stepanowitsch bereits am
Nachmittage ausgesprochen. Vorläufig saßen sie alle noch im Büfettraum,
und zwar begaben sie sich, wenn sie erschienen, sofort geradenwegs
dorthin, wie zu einem verabredeten Sammelplatz. Wenigstens hatte ich
diesen Eindruck. Das Büfett befand sich ganz am Ende der Zimmerreihe in
einem geräumigen Saal, wo Prochorytsch sich mit sämtlichen Verlockungen
der Klubküche etabliert und eine verführerische Ausstellung aller
Imbisse, Liköre und Getränke aufgebaut hatte. Hier fielen mir Gestalten
auf, die fast in zerrissenen Röcken, wenigstens in höchst zweifelhaften,
gar zu wenig ballmäßigen Anzügen erschienen waren; dazu waren sie
augenscheinlich nur mit größter Mühe und selbstredend nur für kurze Zeit
ernüchtert, Leute, die man Gott weiß wo aufgetrieben hatte, jedenfalls
nicht Einheimische, sondern Hergereiste aus anderen Städten. Es war mir
natürlich bekannt, daß vom Komitee nach Julija Michailownas Idee
beschlossen worden war, den Ball nach durchaus demokratischen
Grundsätzen zu veranstalten, »ohne selbst Kleinbürgern den Zutritt zu
verweigern, falls es geschehen sollte, daß jemand dieses Standes eine
Eintrittskarte erwirbt«. Diese Worte hatte sie in ihrem Komitee dreist
aussprechen können, denn sie durfte überzeugt sein, daß es von den
ausnahmslos bettelarmen Kleinbürgern unserer Stadt auch nicht einem in
den Sinn kommen würde, für drei Rubel eine Eintrittskarte zu lösen.
Nichtsdestoweniger bezweifelte ich, daß man diese finsteren Leute in den
fast zerrissenen Röcken hereinlassen konnte, selbst wenn das Komitee
noch so demokratisch gesinnt war. Aber wer hatte sie denn jetzt
hereingelassen und zu welchem Zweck schließlich? Liputin und Lämschin
waren ihres Amtes als Festordner bereits enthoben (was sie jedoch nicht
hinderte, auf dem Ball anwesend zu sein, zumal sie auch zu den in der
»Quadrille der Literatur« Mitwirkenden gehörten); doch an die Stelle
Liputins war jetzt, zu meiner Verwunderung, jener selbe Seminarist
getreten, der durch seinen Zusammenstoß mit Stepan Trophimowitsch mehr
als alles andere den »Skandal der Matinee« heraufbeschworen hatte, und
Lämschin wurde gar ersetzt durch -- Pjotr Stepanowitsch in eigener
Person. Was konnte man in dem Falle noch erwarten?

Ich versuchte, von den Gesprächen einiges aufzufangen. Manche Ansichten
überraschten durch ihre Ungereimtheit. So wurde z. B. in einer Gruppe
behauptet, diese ganze Geschichte mit Stawrogin und Lisa sei von Julija
Michailowna arrangiert worden und sie habe von Stawrogin Geld dafür
angenommen. Man nannte sogar die Summe. Man behauptete, daß sogar das
ganze Fest von ihr zu diesem Zweck veranstaltet worden sei; eben deshalb
sei auch die halbe Stadt nicht gekommen, nachdem man erfahren, um was es
sich handelte; Lembke selbst aber sei dadurch so erschüttert worden, daß
diese Erschütterung seinen Verstand »zerrüttet« habe und nun »führe« sie
ihn als Verrückten umher. -- Hierzu gab es viel Gelächter, sowohl
lautes, offenes, wie heiseres, gemeines und lautlos verschlagenes,
hinter dem sich eigene Gedanken bargen. Auch der Ball wurde von allen
fürchterlich kritisiert und auf Julija Michailowna wurde schon ohne jede
Rücksicht geschimpft. Es war das überhaupt ein merkwürdig ungeordnetes,
bruchstückhaftes, betrunkenes und ruheloses Schwatzen, so daß es schwer
hielt, sich darauf einen Vers zu machen oder etwas Bestimmtes daraus zu
folgern. Doch in demselben Büfettsaal hatten sich auch viele harmlos
lustige Leute niedergelassen, sogar einzelne Damen von der Sorte, die
man mit nichts in Erstaunen setzen oder einschüchtern kann, äußerst
liebenswürdige und lustige Geschöpfe, meist jene erwähnten
Offiziersfrauen mit ihren Männern. Sie hatten sich in Gruppen an
mehreren Tischchen niedergelassen und tranken fröhlich Tee. Der
Büfettsaal wurde zur warmen Herberge nahezu für die Hälfte des
erschienenen Publikums. Und dieses ganze hier versammelte Publikum mußte
doch bald, wenn die Quadrille der Literatur begann, voll Neugier auf
einmal in den Tanzsaal fluten. Es war geradezu unheimlich, sich das auch
nur vorzustellen.

Inzwischen hatte man im weißen Saale, dank der Mitwirkung des jungen
Fürsten, drei magere Quadrillen zustande gebracht. Die jungen Töchter
tanzten also und die Eltern sahen zu und freuten sich. Doch selbst von
diesen ehrenwerten Familienhäuptern begannen schon viele heimlich zu
überlegen, wie sie sich, nachdem die Töchter ihr Vergnügen gehabt,
zeitiger entfernen könnten, und nicht erst dann, »wenn's anfängt«. Daß
es aber unfehlbar wieder »anfangen« werde, davon waren entschieden alle
überzeugt.

Julija Michailownas Gemütszustand zu schildern, dazu wäre ich wohl kaum
imstande. Ich habe dort nicht mit ihr gesprochen, obschon ich ziemlich
in ihrer Nähe war. Meinen Gruß erwiderte sie nicht, da sie ihn nicht
bemerkte (sie bemerkte ihn tatsächlich nicht). In ihrem Gesicht lag
etwas Krankhaftes, ihr Blick war hochmütig und voll Verachtung, aber
unstät und erregt. Sie überwand sich mit sichtlicher Qual, -- doch wozu
eigentlich und für wen? Sie hätte unbedingt den Ball verlassen und vor
allen Dingen ihren Gatten heimbringen sollen, sie aber blieb! Dabei
konnte man es schon ihrem Gesicht ansehen, daß die Augen ihr nun
»endlich aufgegangen« waren und daß sie auf nichts mehr hoffte. Sie rief
auch nicht ein einziges Mal Pjotr Stepanowitsch zu sich (der ging ihr
auch, glaube ich, schon selbst aus dem Wege; ich sah ihn im Büfettraum,
er war übertrieben lustig). Aber sie blieb doch auf dem Ball und ließ
ihren Mann nicht auf einen Augenblick von ihrer Seite. Oh, sie hätte
noch vorhin am Nachmittage jede Anspielung auf seinen Gesundheitszustand
mit aufrichtiger Empörung zurückgewiesen. Jetzt aber mußten ihr auch in
der Beziehung die Augen endlich aufgegangen sein. Mir wenigstens war es
schon auf den ersten Blick klar, daß sein Zustand sich im Vergleich zum
Vormittage verschlimmert hatte. Er machte den Eindruck, als sei er sich
überhaupt nicht dessen bewußt, wo er sich befand. Hin und wieder
richtete er seinen Blick plötzlich mit ganz unerwarteter Strenge auf den
einen oder anderen, zweimal z. B. auch auf mich. Einmal begann er zu
sprechen, begann laut und wichtig, sprach aber den Satz nicht zu Ende,
wodurch er einen bescheidenen alten Beamten, der zufällig in seiner Nähe
stand, geradezu erschreckte. Doch selbst dieser Teil des Publikums, das
im weißen Saale anwesend war, selbst diese Bescheidenen und Scheuen
gingen finster und ängstlich Julija Michailowna aus dem Wege, obschon
sie gleichzeitig äußerst sonderbare Blicke auf ihren Gemahl warfen,
Blicke, deren Unverwandtheit und Offenheit mit der sonstigen
Schüchternheit dieser Leute gar zu wenig harmonierte.

»Sehen Sie, gerade dieser Zug war es, der mich plötzlich durchbohrte,
und ich begann endlich zu erraten, wie es um Andrei Antonowitsch stand,«
sagte Julija Michailowna später einmal zu mir.

Ja, wieder war sie die Schuldige. Wahrscheinlich hatte sie sich am
Nachmittage, als nach meiner Flucht aus ihrem Hause auf Pjotr
Stepanowitschs Zureden hin beschlossen worden war, daß der Ball
stattfinden und sie auf ihm erscheinen solle, -- wahrscheinlich hatte
sie sich dann wieder in das Kabinett ihres Gatten begeben, zu ihrem
Andrei Antonowitsch, den, wie sie meinte, nur der Skandal der Matinee
»erschüttert« hatte, und dort wird sie wohl wieder alle ihre
Verführungskünste angewandt haben, um ihn zum Mitgehen zu bewegen. Wie
groß mußte demnach ihre Qual jetzt sein! Und dennoch blieb sie auf dem
Ball! War es nun ihr Stolz, der sie trotz aller Pein auf ihrem Platz
auszuharren zwang, oder hatte sie bereits den Kopf verloren -- ich weiß
es nicht. Jedenfalls versuchte sie in geradezu erniedrigender Weise und
mit freundlichem Lächeln (bei ihrem Hochmut!) einzelne Damen in ein
Gespräch zu ziehen, doch die wurden sofort unsicher, antworteten
mißtrauisch und einsilbig mit einem »ja« oder »nein« und gingen ihr
sichtlich aus dem Wege.

Von den wirklichen Würdenträgern unserer Stadt befand sich auf diesem
Ball nur ein einziger, -- jener selbe wichtige General a. D., von dem
ich schon einmal erzählt habe: der bei der Adelsmarschallin nach dem
Duell zwischen Stawrogin und Gaganoff seiner alten Gewohnheit gemäß
»gerade davon laut zu sprechen anfing, wovon alle nur heimlich zu
flüstern wagten«, und der somit wieder einmal der allgemeinen Spannung
die Tür öffnete. Jetzt spazierte er würdevoll durch alle Säle,
beobachtete und hörte zu und bemühte sich, durch sein Mienenspiel recht
offenkundig zu zeigen, daß er nur so, um die Sitten zu beobachten, mehr
Studien halber, als um eines reinen Vergnügens willen, gekommen sei. Er
endete damit, daß er sich ganz und gar Julija Michailowna zugesellte und
nicht einen Schritt von ihr wich, sichtlich bestrebt, sie zu ermutigen
und zu beruhigen. Gewiß war er ein Mensch von großer Herzensgüte, sehr
vornehm und bereits so alt, daß man von ihm sogar Mitleid hinnehmen
konnte; doch sich gestehen zu müssen, daß dieser alte Schwätzer sie,
Julija Michailowna, zu bemitleiden und fast zu beschützen wagte, indem
er sehr wohl begriff, daß er ihr mit seiner Anwesenheit eine Ehre
erwies, das war doch mehr als ärgerlich. Der General aber hielt
unentwegt Stand und schwatzte ohne aufzuhören.

»Hm, man sagt, keine Stadt könne bestehen ohne sieben Gerechte ...
sieben, glaub' ich, müssen es sein, entsin--ne mich nicht mehr genau der
vor--schriftsmäßigen Zahl. Ich weiß nicht, wieviele von diesen sieben
... unzwei--felhaft Gerechten unserer Stadt ... die Ehre haben auf Ihrem
Ball anwesend zu sein, doch was mich betrifft, so beginne ich, trotz der
Anwesenheit derselben, mich nicht außer--halb jeder Gefahr zu empfinden.
_Vous me pardonnerez, charmante dame, n'est-ce pas?_{[187]} Ich spreche
natürlich allegorisch. Begab mich vorhin zum Büfett, bin aber faktisch
froh, daß ich heil und ganz wieder herausgekommen bin ... Unser
unschätz--barer Prochorytsch ist dort nicht an seinem Platz, und mich
deucht, zum Morgen hin wird seine ganze Bude vertilgt sein. Übrigens,
amüsant. Warte nur noch auf diese >Quadrille der Li--te--ratur<, dann
aber -- ins Bett. Verzeihen Sie das schon einem alten Podagristen, muß
mich früh hinlegen. Aber auch Ihnen würde ich raten, >in die Federchen
zu gehen<, wie man _aux enfants_{[188]} zu sagen pflegt ... Bin
eigentlich wegen der jungen Schön--heiten gekommen ... die ich natürlich
nirgendwo in solcher Voll--zähligkeit antreffen könnte, wie hier ...
Alle von jenseits des Flusses, und dorthin pflege ich nicht zu fahren.
Die Frau eines Leutnants ... ich glaube, von den Jägern ... ist sogar
wirklich nicht übel ... hm, in der Tat ... und das weiß sie auch selbst.
Hab' mit ihr gesprochen; schlagfertig und ... so, nun ja. Nun und die
Mädel, gleichfalls frisch ... Ja; aber das ist auch alles. Außer der
Frische fak--tisch nichts. Übrigens, amüsant. Wenigstens für mich. Es
gibt da Knöspchen ... nur die Lippen ein wenig dick. Überhaupt ist in
der russischen Schönheit der Frauenantlitze wenig von jener
Regelmäßigkeit vorhanden und ... und ein bißchen läuft sie doch auf
einen Pfannkuchen hinaus ... _Vous me pardonnerez, n'est-ce pas_{[189]}
... übrigens immer bei gleichzeitig schönen Augen ... lachenden Augen.
Diese Knöspchen sind so in den ersten zwei Jahren ihrer Jugend
be--zau--bernd, sogar drei Jahre lang ... dann aber, nun ja, dann werden
sie unwiderruflich dick ... wodurch sie in ihren Männern jenen traurigen
In--dif--ferentismus erzeugen, der die Entwicklung der Frauenfrage so
überaus begünstigt ... vorausgesetzt, daß ich diese Frauenfrage richtig
verstehe ... Hm! Der Saal ist nicht übel; die Räume schön geschmückt. Es
hätte schlechter sein können. Die Musik könnte sogar sehr viel
schlechter sein ... ich sage nicht >sollte<. Ein übler Eindruck, daß
überhaupt wenig Damen vorhanden sind. Die Toiletten übergehe ich. Böse
ist, daß dieser dort in den grauen Beinkleidern sich so unverhüllt
Cancan zu tanzen erlaubt. Ich würde es verzeihen, wenn es von ihm aus
Freude geschähe, und zumal er ein hiesiger Apotheker ist ... aber um elf
ist es immer--hin noch zu früh, selbst für einen Apotheker ... Dort im
Büfettsaal begannen zwei sich zu prügeln und wurden nicht
hinausbefördert. Um elf aber müssen Raufbolde noch hinausbefördert
werden, gleichviel welcher Art die Sitten des Publikums sonst sind ...
ich will nicht sagen, um drei Uhr morgens, dann muß man der öffentlichen
Meinung schon eine Konzession machen, -- vorausgesetzt, daß dieser Ball
die dritte Morgenstunde überhaupt erlebt ... Warwara Petrowna aber hat
doch nicht Wort gehalten, und ihre Blumen sind nicht eingetroffen. Hm!
Die hat jetzt an anderes zu denken, als an Blumen. _Pauvre mère!_{[190]}
Und die arme Lisa, -- Sie haben doch schon gehört? Man sagt, eine
geheimnisvolle Geschichte und ... und wieder ist dieser Stawrogin in der
Arena ... Hm! Ich müßte nun doch ins Bett ... Meine Nase nickt schon von
selbst. Aber wann wird denn eigentlich diese >Quadrille der
Li--te--ratur< beginnen?«

Und schließlich begann denn auch die »Quadrille der Literatur«. Wenn in
der letzten Zeit irgendwo in der Stadt das Gespräch auf den
bevorstehenden Ball gekommen war, dann hatte man bereits nach den ersten
Worten unfehlbar von dieser »Quadrille der Literatur« gesprochen, und da
sich niemand eine Vorstellung von dieser Aufführung machen konnte, so
erregte sie natürlich übermäßige Neugier. Das aber war schon an sich die
größte Gefahr für einen Erfolg, und -- wie groß war daher die
Enttäuschung!

Eine Seitentür des weißen Saales, die bis dahin geschlossen war, wurde
geöffnet und plötzlich erschienen ein paar Masken im Saal. Das Publikum
drängte sich sofort gierig um sie herum. Im Augenblick verbreitete sich
die Kunde bis zum Büfett und schon stürzte, wälzte sich von dort der
ganze Menschenschwarm bis auf den letzten zum weißen Saal, in den er wie
eine Flut hineinbrach. Die Masken begannen sich zum Tanze aufzustellen.
Es gelang mir noch, mich bis zu den ersten Reihen durchzudrängen und ich
blieb dicht hinter Lembkes und dem alten General stehen. Da tauchte
plötzlich flink Pjotr Stepanowitsch neben Julija Michailowna auf,
nachdem er sich ihr bis dahin gar nicht gezeigt hatte.

»Ich sitze die ganze Zeit am Büfett und beobachte,« flüsterte er ihr mit
der Miene eines schuldbewußten Schulbuben zu, die er übrigens
absichtlich annahm, um sie noch mehr aufzubringen.

Sie wurde feuerrot vor Zorn.

»Wenn Sie mich doch wenigstens jetzt nicht mehr betrügen wollten, Sie
unverschämter Mensch!« entfuhr es ihr fast mit lauter Stimme, so daß es
die Umstehenden hörten.

Pjotr Stepanowitsch schlüpfte, äußerst zufrieden mit sich selbst, wieder
flink davon.

Es wäre schwer, sich eine armseligere, billigere, noch talentlosere und
fadere Allegorie vorzustellen, als es diese »Quadrille der Literatur«
war. Und gewiß hätte man nichts ersinnen können, das weniger zu unserem
Publikum paßte, als diese Allegorie; dabei hieß es, daß Karmasinoff sie
erdacht habe. Freilich, in Szene gesetzt war sie von Liputin, der sich
mit dem lahmen Lehrer beraten hatte (mit demselben, der an jenem Abend
auch bei Wirginski war). Aber die Idee stammte doch von Karmasinoff und
man sagte, er habe sogar selbst mitwirken, sich maskieren und eine
besondere, selbständige Rolle übernehmen wollen. Die Quadrille bestand
aus sechs kläglichen Maskenpaaren, ja eigentlich waren es nicht einmal
richtige Masken, denn die Maskerade bestand nur darin, daß sie sich etwa
einen künstlichen Bart oder sonst einen billigen Blödsinn angeklebt
hatten. Da war z. B. ein älterer Herr, nicht groß von Wuchs, im Frack --
also genau so angezogen, wie alle Herren auf einem Ball erscheinen --,
mit einem ehrwürdigen grauen Bart (der Bart war allerdings nur angeklebt
und das war seine ganze Verkleidung). Dieser Herr strampelte, trippelte
und tänzelte mit biederem Gesichtsausdruck fast nur auf einer Stelle
umher, ohne sich recht vom Fleck zu bewegen. Dazu brachte er mit
gemäßigtem, doch schon heißer gewordenem Baßstimmchen allerhand Laute
hervor. Diese Heiserkeit der Stimme aber sollte eine unserer bekannten
Tageszeitungen gerade besonders charakterisieren[51]. Dieser Maske
_vis-à-vis_ tanzten zwei Riesen X und Z, und zwar waren ihnen diese
Buchstaben am Frack angesteckt, doch was dieses X und dieses Z bedeuten
sollten, das blieb unaufgeklärt. »Der ehrliche russische Gedanke« wurde
dargestellt von einem Herrn in mittleren Jahren mit einer Brille, im
Frack, in Handschuhen und -- in Fesseln (es waren richtige eiserne
Fesseln, wie sie Gefangenen angelegt werden). Unter dem Arm trug dieser
»Gedanke« eine Mappe mit Akten über eine zu unternehmende Sache oder
eine bevorstehende »Tat«. Aus seiner Fracktasche schaute ein
entsiegelter, aus dem Auslande gekommener Brief hervor, der die
Ehrlichkeit des »ehrlichen russischen Gedankens« allen denen, die seine
Ehrlichkeit bezweifelten, verbürgen sollte. Dies alles wurde von den
Festordnern bereits mündlich erklärt, denn lesen konnte man den aus der
Tasche hervorlugenden Brief natürlich nicht. In der erhobenen rechten
Hand hielt der »ehrliche russische Gedanke« einen Pokal, ganz als wollte
er einen Toast ausbringen. Zu beiden Seiten dieses Gedankens und in
einer Reihe mit ihm tanzten zwei kurzgeschorene Nihilistinnen; ihm
gegenüber aber tanzte ein gleichfalls schon älterer Herr, im Frack, doch
mit einem schweren Knüppel in der Hand: diese Gestalt sollte eine
gefürchtete, doch nicht in Petersburg erscheinende Zeitschrift
darstellen. Der Knüppel aber sollte wohl sagen: »Wenn ich mal zuschlage,
bleibt von meinem Feinde nur noch ein nasses Fleckchen übrig.« Doch
ungeachtet seines Knüppels konnte er auf keine Weise den durch die
Brillengläser unverwandt auf ihn gerichteten Blick des »ehrlichen
russischen Gedankens« ertragen, weshalb er sich alle Mühe gab, nach
links oder rechts diesem Blick auszuweichen, und jedes Mal, wenn es zum
_pas de deux_ kam, wand, drehte, kringelte er sich förmlich und wußte
nicht, wohin er sehen sollte, -- so sehr quälte ihn wahrscheinlich das
Gewissen ... Doch wer kann schließlich alle diese stumpfsinnigen
erklügelten Witzchen aufzählen und behalten! Alles war von dieser Art,
so daß ich mich zu guter Letzt qualvoll zu schämen begann. Und siehe,
genau dieselbe Empfindung gleichsam eines Schamgefühls spiegelte sich
auch in allen übrigen Gesichtern des Publikums wieder, sogar in den
mürrischsten Physiognomien aus dem Büfettraum. Eine Zeitlang schwiegen
alle und sahen mit geärgerter Verständnislosigkeit zu. Wenn ein Mensch
sich schämt, fängt er gewöhnlich an sich zu ärgern und ist dann zum
Zynismus geneigt. Allmählich aber begann ein Gebrumm:

»Was soll das denn eigentlich bedeuten?« brummte in einer Gruppe jemand
von denen, die das Büfett belagert hatten.

»Irgend 'nen Blödsinn.«

»Das soll eine Art Literatur sein. Die >Stimme< wird kritisiert.«

»Was geht das mich an!«

In einer anderen Gruppe:

»Diese Esel!«

»Nein, nicht sie sind die Esel, sondern die Esel sind wir.«

»Warum bist du denn ein Esel?«

»Nein, ich bin kein Esel, aber ...«

»Na, wenn selbst du kein Esel bist, dann bin ich schon lange keiner!«

In einer dritten Gruppe:

»Mit einem Tritt sie alle hinauswerfen und dann hole sie der Teufel!«

»... Den ganzen Saal ausfegen ...«

In einer vierten:

»Daß die Lembkes sich nicht schämen, zuzusehen!«

»Warum sollen sie sich denn schämen? Du schämst dich doch nicht?«

»Nein, ich schäme mich schon, er aber ist noch der Gouverneur!«

»Ja, und du bist nur ein Schwein ...«

»In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen so einfachen Ball
erlebt,« sagte eine Dame gehässig in nächster Nähe von Julija
Michailowna, sichtlich mit dem Wunsch, gehört zu werden.

Diese Dame -- eine korpulente und geschminkte Frau von etwa vierzig
Jahren, in einem grellfarbenen Seidenkleide -- war in der Stadt zwar
allen Leuten bekannt, doch wurde sie in keinem Hause empfangen. Sie war
die Witwe eines Staatsrates, der ihr ein hölzernes Wohnhaus und eine
karge Pension hinterlassen hatte, aber sie lebte gut und hielt sich
sogar eigene Pferde. Vor etwa zwei Monaten hatte sie als erste von allen
Damen bei Julija Michailowna ihre Visite machen wollen, war aber von
dieser nicht empfangen worden.

»Und das war ja auch wirklich vorauszusehen,« fügte sie hinzu, indem sie
frech Julija Michailowna in die Augen sah.

»Wenn es vorauszusehen war, warum sind Sie dann noch erschienen?« fragte
plötzlich Julija Michailowna, die sich nicht mehr bezwingen konnte.

»Ach, aber doch wirklich nur aus Gutgläubigkeit!« versetzte jene Dame
sofort schlagfertig und im Augenblick ungemein belebt (sie hätte gar zu
gern einen Wortwechsel angeknüpft), doch der alte General trat zwischen
sie und Frau von Lembke.

»_Chère dame_,« -- er beugte sich zu Julija Michailowna -- »wenn ich
einen Rat geben dürfte, so wäre es der, jetzt heimzufahren. Wir
behindern die Gesellschaft nur, ohne uns wird man sich vortrefflich
amüsieren. Sie haben alles getan, was nötig war, haben den Ball
eröffnet, nun und ... jetzt überlassen Sie die Leute sich selbst ...
Zumal auch Andrei Antonowitsch sich an--schei--nend nicht wohl fühlt ...
Ich meine, damit ihm nicht hier noch ein Unglück zustößt ...«

Doch es war bereits zu spät.

Herr von Lembke hatte schon die ganze Zeit die Tänzer der »Quadrille«
mit einer gewissen ungehaltenen Verständnislosigkeit betrachtet, als
aber die ersten kritischen Bemerkungen im Publikum laut wurden, begann
er sich sogleich unruhig umzuschauen. Da fielen ihm offenbar zum
erstenmal auch einzelne Gestalten aus dem Büfettraum auf; sein Blick
drückte das größte Befremden aus. Plötzlich erscholl lautes Gelächter
über eines der in der »Quadrille« produzierten Stückchen: der
Herausgeber der »gefürchteten, doch nicht in Petersburg erscheinenden
Zeitschrift«, der mit dem Knüppel in der Hand tanzte, empfand wohl
endgültig, daß er die Brillengläser des »ehrlichen russischen Gedankens«
nicht mehr zu ertragen vermochte, und da er nicht wußte, wie er ihnen
ausweichen sollte, begann er plötzlich, in der letzten Tour, den
Brillengläsern verkehrt, d. h. auf den Händen, mit den Beinen in
der Luft, entgegen zu gehen, was gleichzeitig die bekannte
Entstellungsmanier der »gefürchteten, doch nicht in Petersburg
erscheinenden Zeitschrift« veranschaulichen sollte, die unter Umständen
selbst die gesunde Vernunft auf den Kopf stellt. Da nur Lämschin auf den
Händen zu gehen verstand, hatte er es übernommen, den Herausgeber mit
dem Knüppel zu mimen. Julija Michailowna hatte nicht das Geringste davon
gewußt, daß jemand auf den Händen gehen werde. »Das hatte man mir
verheimlicht, absichtlich verheimlicht!« sagte sie später immer wieder,
als sie in ihrer Verzweiflung und Empörung mir alles erzählte. Das
Gelächter der Menge wurde natürlich nicht von der Allegorie
hervorgerufen, an die man überhaupt nicht dachte, sondern galt einfach
dem Anblick eines auf den Händen gehenden Menschen in einem Frack,
dessen Schoße nun selbstredend umgeklappt herabhingen.

Lembke brauste auf und bebte vor Erregung.

»Der Nichtswürdige!« schrie er, indem er auf Lämschin wies. »Ergreift
den Spitzbuben! Umkehren! Umkehren auf die Füße ... der Kopf ... damit
der Kopf nach oben ... oben!«

Lämschin sprang wieder auf die Füße. Das Gelächter verstärkte sich.

»Hinausjagen alle Spitzbuben, die da lachen!« befahl plötzlich Lembke.

Die Menge begann zu murren und zu johlen.

»So geht das denn doch nicht, Exzellenz.«

»Das Publikum darf man nicht beschimpfen.«

»Selber ein Esel!« tönte es irgendwoher aus einer ferneren Ecke.

»Die Flibustiers!« rief jemand vom entgegengesetzten Ende des Saales.

Lembke drehte sich bei diesem Ruf hastig nach dieser Seite hin um und
wurde ganz bleich. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem
stumpfsinnigen Lächeln, als habe er plötzlich etwas begriffen, als
erinnere er sich an etwas.

»Meine Herren« ... angstvoll wandte sich Julija Michailowna an die
näherrückende Menge, während sie gleichzeitig ihren Mann mit sich
fortzuziehen suchte, »entschuldigen Sie Andrei Antonowitsch, meine
Herren, Andrei Antonowitsch fühlt sich nicht wohl ... er ist krank ...
entschuldigen Sie ... verzeihen Sie ihm, meine Herren!«

Ich hörte es mit eigenen Ohren, wie sie »verzeihen Sie« sagte. Die Szene
spielte sich sehr schnell ab. Aber ich weiß noch genau, daß schon in
diesem Augenblick ein Teil des Publikums wegdrängte zum Ausgang des
Saales, gleichsam erschrocken, und zwar geschah das gerade nach diesen
Worten Julija Michailownas. Ich erinnere mich sogar noch eines
hysterischen weiblichen Ausrufs halb unter Tränen:

»Ach, wieder ist's ganz so wie am Vormittage!«

Und plötzlich, mitten in dieses bereits beginnende Gedränge, schlug auf
einmal wieder eine Bombe ein, also tatsächlich »ganz so wie am
Vormittage«:

»Es brennt! Die ganze Vorstadt brennt überm Fluß!«

Ich erinnere mich bloß nicht, wo dieser entsetzliche Schrei zuerst
erschallte: ob im Saal oder -- ich glaube, es kam jemand aus dem
Vestibül, vom Eingang hereingestürzt. Jedenfalls entstand sofort ein
solcher Tumult, daß ich nicht einmal versuchen will, ihn zu schildern.
Von dem Publikum, das sich zum Ball noch eingefunden hatte, stammte die
Mehrzahl aus eben jener Vorstadt: es waren zumeist die Besitzer der
dort, auf der anderen Seite des Flusses, belegenen hölzernen Häuser,
oder deren Einwohner. Man stürzte zu den Fenstern, im Nu waren die
Vorhänge zur Seite gezogen, die Stores herabgerissen. Die Vorstadt
lohte. Freilich, der Brand begann erst, aber es lohte schon an drei ganz
verschiedenen Stellen, -- und gerade das war das Erschreckendste.

»Brandstiftung!« -- »Die Spigulinschen!« brüllte man im Gedränge.

Ich habe noch ein paar überaus charakteristische Ausrufe behalten:

»Hat doch mein Herz das vorausgefühlt, daß sie brandstiften werden, das
hat es die ganzen letzten Tage vorausgefühlt!«

»Die Spigulinschen, die Spigulinschen, wer denn sonst!«

»Man hat uns absichtlich hier versammelt, um dort derweil anzünden zu
können!«

Diesen letzten, wunderlichsten Schrei stieß eine Frauenstimme aus; es
war der unbedachte, der unwillkürliche Schrei einer Koróbotschka[52],
die ihr Hab und Gut brennen sieht. Alles stürzte zum Ausgang. Das
Gequetsche und Gedränge im Vorraum beim Suchen nach den Pelzen, Tüchern
und Umhängen, das Gekreisch erschreckter Frauen und das Weinen der
Töchter werde ich nicht weiter beschreiben. Es ist kaum anzunehmen, daß
hierbei direkt gestohlen wurde, doch es ist schließlich kein Wunder, daß
bei einem solchen Durcheinander manche ohne ihre Überkleider, die nicht
zu finden waren, wegfuhren, worüber noch lange nachher in der Stadt
vieles erzählt wurde, natürlich mit Erdichtungen und Übertreibungen.
Lembke und Julija Michailowna wurden in der Tür von der Menge nahezu
erdrückt.

»Alle zurückhalten! Nicht einen hinauslassen!« brüllte plötzlich Lembke,
indem er drohend die Hand gegen die Andrängenden ausstreckte. »Alle
einzeln strengstens untersuchen, sofort!«

Die Antwort darauf war aus dem Saal ein Hagel von kräftigen
Schimpfwörtern.

»Andrei Antonowitsch! Andrei Antonowitsch!« rief Julija Michailowna in
vollständiger Verzweiflung.

»Als erste verhaften!« schrie dieser und wies streng mit dem Finger auf
sie. »Als erste untersuchen! Der Ball war inszeniert zum Zweck der
Brandstiftung ...«

Sie stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht (oh, dieser
Ohnmachtsanfall war natürlich schon ein echter). Ich, der Fürst und der
General stürzten zur Hilfe herbei; auch andere halfen uns in diesem
schweren Augenblick, sogar einige von den Damen. Wir trugen die
Unglückliche aus dieser Hölle zu ihrer Equipage; doch sie kam erst
unterwegs, kurz vor ihrem Hause, zu sich und ihr erstes war, daß sie
wieder nach Andrei Antonowitsch rief. Nach dem Zusammenbruch aller ihrer
Phantastereien verblieb ihr als einziges nur noch ihr Andrei
Antonowitsch. Es wurde sofort nach dem Doktor geschickt. Ich wartete
eine ganze Stunde bei ihr, der Fürst gleichfalls; der General wollte in
einer Anwandlung von Großmut (obgleich ihm der Schreck arg in die
Glieder gefahren war) die ganze Nacht »am Bette der Unglücklichen«
verbringen, schlief aber schon nach zehn Minuten, noch bevor der Arzt
erschien, im Saal auf einem Lehnstuhl ein, wo wir ihn dann auch so
schlafen ließen.

Dem Polizeimeister, der vom Ball zur Brandstätte eilte, gelang es noch,
Andrei Antonowitsch gleich nach uns hinauszuführen, und er wollte ihn zu
Julija Michailowna in den Wagen setzen, indem er aus allen Kräften
Seiner Exzellenz zuredete, »der Ruhe zu pflegen«. Ich verstehe nicht,
warum er das nicht durchsetzte. Selbstredend wollte Andrei Antonowitsch
von Ruhe nichts wissen und strebte mit Gewalt zur Brandstätte; aber das
war doch kein vernünftiger Grund. So endete es denn damit, daß der
Polizeimeister ihn noch in seinem eigenen Wagen zur Brandstätte brachte.
Später erzählte er, Lembke habe unterwegs die ganze Zeit gestikuliert
und »solche Ideen als Befehle hervorgestoßen, daß es wegen ihrer
Ungewöhnlichkeit unmöglich war, sie auszuführen«. So ist denn nachher
auch rapportiert worden: daß Se. Exzellenz sich zu der Zeit, infolge der
»Plötzlichkeit des Schrecks«, bereits im Fieberdelirium befunden habe.

Es erübrigt sich wohl, zu erzählen, wie der Ball endete. Einige Dutzend
Taugenichtse und sogar ein paar Damen blieben in den Sälen. Die Polizei
war nicht mehr da. Das Orchester mußte spielen, denn die Musikanten, die
weggehen wollten, wurden verprügelt. Zum Morgen hin war »Prochorytschs
ganze Bude« vertilgt, man soff bis zur Bewußtlosigkeit, tanzte den
Kamarinskij ohne Zensur, besudelte die Räume; und erst bei Morgengrauen
langte ein Teil dieser Bande, vollkommen betrunken, auf dem erlöschenden
Brandplatz an, -- zu neuen Unruhen. Die andere Hälfte blieb und schlief
gleich dort in den Sälen in steif besoffenem Zustande, mit allen Folgen
eines solchen, auf den Plüschdiwans und in den Ecken auf dem Fußboden.
Am nächsten Morgen wurden sie -- das war das erste, was man tat -- an
den Beinen hervorgezogen und hinausgeschleift auf die Straße. Und damit
endete das Fest zum Besten der Gouvernanten unseres Gouvernements.


                                  IV.

Die Feuersbrunst erschreckte unser Publikum vom anderen Flußufer gerade
dadurch am meisten, daß es sich hierbei um eine so offenkundige
Brandstiftung handelte. Beachtenswert ist, daß schon nach dem ersten
Schrei »wir brennen«, sofort auch geschrien wurde, »die Spigulinschen«
seien die Brandstifter. Jetzt hat es sich bereits mit aller Sicherheit
herausgestellt, daß in der Tat drei »Spigulinsche« an der Brandstiftung
beteiligt waren, aber nur drei, nicht mehr; alle anderen Arbeiter der
Fabrik wurden vollkommen freigesprochen, sowohl von der öffentlichen
Meinung, wie vom Gericht. Außer diesen drei Taugenichtsen (von denen
einer bald gefangen wurde und alles gestand, während man der beiden
anderen noch bis heute nicht habhaft geworden ist), war zweifellos auch
der sogenannte »Zuchthäusler-Fedjka« an der Brandstiftung beteiligt. Das
ist aber auch alles, was man bisher über die Entstehung des Brandes
sicher weiß; die Vermutungen sind eine Sache für sich. Was nun diese
drei Taugenichtse zu dieser Tat bewogen hat, ob sie von jemandem dazu
angestiftet worden sind oder nicht -- diese Fragen sind selbst heute
noch schwer zu beantworten.

Das Feuer verbreitete sich infolge des starken Windes und da die
Vorstadt dort überm Fluß fast nur aus hölzernen Häusern bestand, sowie
infolge der Brandstiftung an drei verschiedenen Stellen, mit
unglaublicher Schnelligkeit und Gewalt (übrigens ging der Brand genau
genommen doch nur von zwei Stellen aus, denn an der dritten Stelle
gelang es, das Feuer fast gleich nach seinem Ausbruch zu ersticken,
wovon später noch die Rede sein wird). Aber in den Berichten der
Residenzblätter wurde unser Unglück doch stark vergrößert: was
niederbrannte, war nicht mehr (ja vielleicht sogar noch weniger) als
ungefähr der vierte Teil der ganzen Vorstadt überm Fluß. Unsere
Feuerwehr, deren Mannschaft im Verhältnis zur Ausdehnung der Stadt und
der Einwohnerzahl nur ein schwaches Häuflein ist, verrichtete ihre
Aufgabe doch mit großer Hingabe und Sorgfalt. Dennoch hätte sie wohl
kaum des Brandes Herr werden können, selbst bei einmütiger Unterstützung
von seiten der Bevölkerung, wenn der Wind sich nicht gedreht und kurz
vor Morgengrauen plötzlich ganz gelegt hätte.

Als ich kaum eine Stunde nach der Flucht vom Ball am anderen Ufer
anlangte, tobte das Feuer bereits mit größter Wut. Die ganze Straße, die
dem Fluß parallel läuft, lohte. Es war taghell. Das Bild, das die
Brandstätte bot, werde ich nicht weiter beschreiben: wer kennt es in
Rußland nicht? In den Quergassen neben der brennenden Hauptstraße war
ein maßloses Hasten und Gedränge. Hier war das Feuer mit Sicherheit zu
erwarten und die Einwohner schleppten ihr Hab und Gut hinaus, gingen
aber vorläufig doch noch nicht weg von ihren Häusern und saßen wartend
auf ihren hinausgeschafften Kästen und Federbetten, ein jeder vor seinen
Fenstern. Ein Teil der männlichen Einwohnerschaft verrichtete schwere
Arbeit: da wurden erbarmungslos Zäune gefällt, ja wurden sogar ganze
Hütten abgetragen, die nahe dem Feuer und unter dem Winde standen. Aus
dem Schlaf geweckte kleine Kinder weinten, und Weiber, die ihr Gerümpel
schon herausgeschleppt hatten, jammerten und heulten. Andere, die mit
dem Herausschaffen noch nicht fertig waren, schafften inzwischen
schweigend und energisch noch weiter heraus, was sie besaßen. Funken und
fliegende Feuerbrände sprühten weit mit dem Winde; man löschte sie nach
Möglichkeit. Auf dem Brandplatze selbst drängten sich die Zuschauer, die
aus allen Ecken und Enden der Stadt herbeigelaufen waren. Manche halfen
löschen, andere gafften nur so als Liebhaber. Ein großes Feuer in der
Nacht macht immer einen erregenden und lustigen Eindruck; darauf beruhen
die Feuerwerke. Doch bei diesen verläuft das Feuerspiel in schönen
Linien und Formen und erweckt im Zuschauer, da er sich selbst vollkommen
außer Gefahr weiß, eine fröhliche und leichte Empfindung, wie nach einem
Glase Champagner. Etwas anderes ist ein wirklicher Brand: hierbei
erzeugen der Schrecken und das doch immer vorhandene Gefühl einer
gewissen persönlichen Gefahr im Zuschauer (selbstredend nicht im
Bewohner des brennenden Hauses), neben dem erwähnten lustigen Eindruck
eines nächtlichen Feuers, eine Art Gehirnerschütterung und wirken wie
eine Herausforderung seiner eigenen zerstörenden Instinkte, die sich,
ach! in jeder Seele verbergen, selbst in der Seele des sanftmütigsten
Familienmenschen und Titularrats ... Diese lichtscheue Empfindung ist
fast immer berauschend. »Ich weiß wirklich nicht, ob man einem
Schadenfeuer ohne ein gewisses Vergnügen zusehen kann?« Diesen Satz
sprach einmal wortwörtlich Stepan Trophimowitsch zu mir, als wir von
einem nächtlichen Brande, dessen Zuschauer er ganz zufällig geworden
war, heimgingen -- noch unter dem ersten Eindruck des Anblicks.
Natürlich würde sich der nämliche Liebhaber nächtlicher Feuersbrünste
auch selbst ins Feuer stürzen, um aus den Flammen ein Kind oder eine
Greisin zu retten; aber das ist doch schon ein ganz anderes Kapitel.

Ich schob mich hinter anderen Neugierigen durch das Gedränge und kam so
ohne zu fragen zur wichtigsten und gefährlichsten Stelle, wo ich endlich
Lembke erblickte. Ich suchte ihn im Auftrage von Julija Michailowna.
Seine Stellung war seltsam und außergewöhnlich. Er stand auf einem
niedergerissenen Bretterzaun; links von ihm, keine dreißig Schritte
weit, ragte das schwarze Gerüst eines fast schon ganz ausgebrannten
zweistöckigen hölzernen Hauses empor, mit Löchern statt der Fenster in
beiden Stockwerken, mit eingestürztem Dach und mit immer noch leckenden
Feuerzungen an den verkohlten Balken. Im Hintergrunde des Hofes, etwa
zwanzig Schritt von diesem Hause, begann gerade ein gleichfalls
zweistöckiges Nebengebäude zu brennen, und um dieses mühte sich aus
allen Kräften die Feuerwehr. Rechts von Lembke wurde ein ziemlich großes
hölzernes Gebäude, das zwar noch nicht brannte, aber schon mehrmals
Feuer gefangen hatte, von der Feuerwehr und anderen Helfern zu retten
gesucht, obschon es zweifellos nicht zu retten war. Lembke schrie und
gestikulierte -- er stand mit dem Gesicht zu jenem Nebengebäude auf dem
Hof -- und gab Befehle, die niemand ausführte. Ich dachte schon, daß man
ihn hier ganz sich selbst überlassen und sich von ihm völlig
zurückgezogen habe. Wenigstens fiel es mir auf, daß die dichte und aus
Menschen sehr verschiedenen Standes bestehende Menge -- es waren da auch
Herren und sogar der Oberpriester unserer Kathedralkirche -- seinen
Ausrufen wohl neugierig und verwundert zuhörte, jedoch niemand mit ihm
sprach oder den Versuch machte, ihn wegzuführen. Lembke, der bleich,
doch mit blitzenden Augen dastand, stieß allerdings die sonderbarsten
Dinge hervor; zum Überfluß war er noch ohne Hut, den er schon längst
verloren hatte.

»Alles Brandstiftung! Das ist Nihilismus! Wenn hier etwas loht, so ist
das der Nihilismus!« vernahm ich von ihm fast mit Entsetzen, und wenn
das auch schon vorauszusehen gewesen war, so hat doch die greifbare
Wirklichkeit immer etwas Erschütterndes in sich.

»Exzellenz,« -- neben ihm stand plötzlich ein Revierschutzmann -- »wenn
Euer Exzellenz geruhen wollten, es mit der häuslichen Erholung zu
versuchen ... Denn hier ist doch schon das bloße Stehen gefährlich,
Exzellenz.«

Dieser Polizeimann war, wie ich später erfuhr, vom Polizeimeister
absichtlich zu Andrei Antonowitsch abkommandiert worden, mit dem
Auftrage, auf ihn acht zu geben und nach Möglichkeit zu versuchen, ihn
nach Hause zu bringen, im Falle einer Gefahr aber, wenn nötig, sogar
Gewalt anzuwenden -- ein Auftrag, der ersichtlich über die Kraft des
Beauftragten ging.

»Die Tränen der Abgebrannten werden weggewischt werden, aber die Stadt
werden sie niederbrennen. Das sind alles die vier Schurken, vier und ein
halber! Man verhafte den Schurken! Er schleicht sich in die Ehre der
Familien ein. Zum Anzünden der Häuser hat man die Gouvernanten benutzt.
Das ist gemein, gemein! Ach, was tut der dort!« rief er plötzlich, als
er auf dem Dach des nun bereits brennenden Nebengebäudes einen
Feuerwehrmann erblickte, unter dem das Dach schon durchgebrannt war und
um den ringsum Flammen hervorschlugen. »Holt ihn herunter, er wird
durchs Dach fallen, er wird anbrennen, löscht ihn ... Was tut er dort?«

»Er löscht selbst, Exzellenz.«

»Das ist unwahrscheinlich. Die Feuersbrunst ist in den Gehirnen der
Menschen, aber nicht auf den Dächern der Häuser. Man soll ihn
herunterholen und alles liegen lassen! Lieber liegen lassen, lieber
liegen lassen! Mag es selbst irgendwie! ... Ach, wer weint dort noch?
Eine Alte! Eine Alte schreit, warum hat man die Alte vergessen?«

Tatsächlich: im unteren Stock dieses bereits brennenden Nebenhauses
schrie ein altes Weib, eine achtzigjährige Verwandte des Kaufmanns, dem
das Haus gehörte. Aber man hatte sie nicht dort vergessen, sondern sie
war selbst in das Haus zurückgekehrt, so lange das noch möglich war, mit
der wahnsinnigen Absicht, aus ihrem Kämmerlein an der Ecke des Hauses
ihr Federbett zu retten. Fast erstickend im Rauch und schreiend vor
Hitze, denn die Flammen hatten das Kämmerlein nun schon erreicht, mühte
sie sich, mit ihren altersschwachen Armen das Pfühl durch den
Fensterrahmen, dessen Glasscheibe herausgeschlagen war,
hindurchzuzwängen. Lembke stürzte zu ihr, um ihr zu helfen. Alle sahen,
wie er zum Fenster lief, einen Zipfel des Pfühls ergriff und es mit
aller Gewalt durch das Fenster zu ziehen begann. Da wollte es das
Unglück, daß in eben diesem Augenblick ein herausgebrochenes Brett vom
Dach herabfiel und den Helfer traf; es schlug ihn nicht tot, nur das
eine Ende traf ihn am Halse, doch damit war die Laufbahn Andrei
Antonowitschs eigentlich beendet, wenigstens bei uns; der Schlag warf
ihn um und er blieb bewußtlos liegen.

Endlich brach ein trübes, düsteres Morgengrauen an. Der Brand sank in
sich zusammen; nach dem Winde trat plötzlich Windstille ein und dann
begann ein langsamer, feiner Regen, wie durch ein feines Sieb. Ich war
schon in einer anderen Gegend dieser Vorstadt, weit von jener Stelle, wo
Lembke hingefallen war, und hier hörte ich unter den Leuten sehr
sonderbare Gespräche. Eine seltsame Tatsache stellte sich heraus: ganz
am Rande der Vorstadt, hinter Gemüsegärten auf freiem Platz, über
fünfzig Schritte weit von den nächsten Gebäuden, stand ein erst kürzlich
erbautes, nicht großes hölzernes Wohnhaus, und dieses entlegene Haus
hatte ganz zu Anfang des Brandes gleichfalls, ja womöglich noch früher
als alle anderen, zu brennen begonnen. Selbst wenn es niedergebrannt
wäre, hätte es bei seiner einsamen Lage keines der anderen Häuser dieser
Vorstadt anstecken können, und umgekehrt: auch wenn der ganze Stadtteil
auf dieser Seite des Flusses niedergebrannt wäre, so hätte einzig dieses
Haus verschont bleiben können, sogar bei noch so starkem Winde. Also
mußte es selbständig und für sich allein in Brand geraten sein und
folglich nicht ohne besondere Ursache. Doch die Hauptsache war, daß man
ihm zum Niederbrennen keine Zeit gelassen hatte und daß in seinem
Inneren dann sonderbare Dinge entdeckt worden waren. Der Besitzer dieses
neuerbauten Hauses, ein Kleinbürger, der in der nächsten Gasse wohnte,
war sogleich bei Ausbruch des Feuers herbeigeeilt und hatte noch
rechtzeitig den Brand ersticken können, indem er mit Hilfe der Nachbarn
den in Brand gesteckten Holzvorrat für den Winter, dessen Stapel an der
einen Seitenwand des Hauses stand, auseinanderriß und löschte.

Doch in dem Hause hatten Menschen gewohnt: der in der Stadt wohlbekannte
»Hauptmann« Lebädkin mit seiner Schwester und einer schon älteren
Arbeiterin als Aufwartefrau. Und diese drei Einwohner, der Hauptmann,
seine Schwester und die Arbeiterin, wurden nun, als man in das Haus
eindrang, ermordet und augenscheinlich beraubt vorgefunden. (Eben
hierher hatte sich dann der Polizeimeister vom Brandplatz begeben, kurz
bevor Lembke das Pfühl rettete.) Bei Morgengrauen hatte sich das Gerücht
von der Untat schon verbreitet und eine ungeheure Menge der
verschiedensten Menschen, darunter sogar viele der soeben Abgebrannten,
strömte zu diesem abgelegenen neuen Hause. Es war schwer, näher zu
gelangen, so groß war dort das Gedränge. Man erzählte mir sogleich, daß
man den Hauptmann mit durchgeschnittener Kehle, angekleidet auf der
Schlafbank liegend, gefunden habe. Wahrscheinlich sei er wieder steif
betrunken gewesen und man habe ihn wohl nur so hingeschlachtet, ohne daß
ihm zu Bewußtsein kam, was da geschah. Blut aber sei aus ihm so viel
geflossen »wie aus einem Ochsen«. Seine Schwester Marja Timofejewna
dagegen sei von Messerstichen »ganz zerstochen« und habe an der Tür auf
dem Fußboden gelegen, also habe sie mit dem Mörder gewiß schon im Wachen
gekämpft und sich wohl wie rasend gewehrt. Der Aufwartefrau, die
anscheinend gleichfalls vorher erwacht war, sei der Schädel
eingeschlagen.

Wie der Besitzer des Hauses erzählte, sei der »Hauptmann« noch am Morgen
dieses Tages betrunken zu ihm gekommen, habe geprahlt und viel Geld
gezeigt, an die zweihundert Rubel. Die alte, abgenutzte grüne
Brieftasche des »Hauptmanns« fand man leer auf dem Boden liegen; doch
Marja Timofejewnas Koffer war unangerührt, ebenso die silberne
Verzierung des Heiligenbildes. Desgleichen fand man alles, was der
»Hauptmann« an Kleidern besessen, vollzählig vor. Daraus ersah man, daß
der Dieb sich beeilt hatte und jedenfalls ein Mensch gewesen sein mußte,
der den Hauptmann und seine Gewohnheiten gut kannte, es nur auf das bare
Geld abgesehen hatte und wußte, wo dieses sich befand. Hätte der
Besitzer des Hauses den Brand nicht sofort bemerkt, so hätte der
angezündete Holzstapel sicher das Haus in Brand gesteckt, »vor den
verkohlten Leichen aber wäre man schwerlich hinter den wahren
Sachverhalt gekommen«.

So wurde der Tatbestand wiedergegeben. Hinzu kam dann noch ein Bericht:
daß der eigentliche Mieter dieser Wohnung der Herr Stawrogin sei,
Nicolai Wszewolodowitsch, der einzige Sohn der Generalin Stawrogina. Er
sei sogar persönlich gekommen, um die Wohnung zu mieten, habe noch sehr
zugeredet, denn der Besitzer habe sie gar nicht vermieten, sondern hier
eine Kneipe einrichten wollen, aber Nicolai Wszewolodowitsch habe auf
den Preis nicht geachtet und die Miete gleich für ein halbes Jahr
vorausbezahlt.

»Dieser Brand ist nicht ohne Grund entstanden,« hörte man in der Menge
sagen.

Doch die Mehrzahl schwieg. Die Gesichter waren finster, aber eine große,
sichtliche Empörung war eigentlich nicht wahrzunehmen. Nur erzählte man
sich ringsum noch mehr Geschichten von dem Herrn Stawrogin. So sprach
man u. a. auch davon, daß die Ermordete seine Frau war, gestern aber
habe er aus einem der ersten Häuser der Stadt, aus dem der Generalin
Drosdowa, ein junges Mädchen, die Tochter der Generalin, zu sich
gelockt, »auf unehrliche Weise«, und daß man eine Klage über ihn nach
Petersburg einreichen werde. Daß aber seine Frau nun ermordet worden
ist, das sei doch, wie man sieht, nur deshalb geschehen, damit er frei
werde und jetzt die Drosdowa heiraten könne.

Skworeschniki war nicht mehr als nur zwei und eine halbe Werst entfernt
und ich weiß noch, mir kam der Gedanke: sollte ich nicht dorthin
Nachricht schicken? Übrigens ist es mir nicht aufgefallen, daß jemand
die Menge im besonderen aufgehetzt hätte, das muß ich schon der Wahrheit
gemäß sagen, wenn mir auch flüchtig zwei oder drei Fratzen aus der Schar
der »Büfettleute« auffielen, die gegen Morgen auf der Brandstätte
erschienen und die ich sofort wiedererkannte. Doch besonders erinnerlich
ist mir ein hagerer, großer Bursche, ein Kleinbürger, mit ausgemergeltem
Gesicht und krausem Haar, dazu wie mit Ruß geschwärzt, -- ein Schmied,
wie ich später erfuhr. Er war nicht betrunken, doch, im Gegensatz zu der
finster dastehenden Menge, wie außer sich. Er wandte sich immer wieder
an das ringsum stehende Volk, aber ich erinnere mich nicht mehr seiner
Worte. Alles, was er zusammenhängend hervorbrachte, war nicht länger
als: »Ja aber wie denn, Brüder, wie ist denn das? Bleibt das nun alles
so und wird da nichts geschehen?« und er gestikulierte mit den Armen.




                          Achtzehntes Kapitel.
                          Ein beendeter Roman


                                   I.

Aus dem großen Saal des Herrenhauses von Skworeschniki (demselben Saal,
wo die letzte Zusammenkunft von Warwara Petrowna und Stepan
Trophimowitsch stattgefunden hatte) konnte man das Feuer wie auf der
Handfläche sehen. Bei Tagesgrauen, zwischen fünf und sechs Uhr morgens,
stand dort, rechts am letzten Fenster des Saales, Lisa und sah starr in
den verlöschenden Widerschein des Brandes. Sie war allein. Sie trug
dasselbe Kleid, in dem sie auf dem Fest erschienen war, ein duftiges,
zartgrünes Gewand, von Spitzen überrieselt, doch schon zerdrückt und
jetzt in der Hast unordentlich angezogen. Als sie plötzlich bemerkte,
daß es über der Brust nicht richtig geschlossen war, errötete sie und
hakte es schnell zu, raffte ihr rotes Tuch vom Lehnstuhl auf, das sie
gestern beim Eintreten dorthin geworfen hatte und schlang es sich um den
Hals. Ihr prachtvolles Haar fiel in gelösten Locken auf ihre rechte
Schulter. Ihr Gesicht sah müde aus, besorgt, doch ihre Augen brannten
unter den zusammengezogenen Brauen. Sie trat wieder ans Fenster und
drückte ihre heiße Stirn an das kalte Glas. Die Tür öffnete sich und
Nicolai Wszewolodowitsch trat ein.

»Ich habe einen Diener zu Pferde hingeschickt,« sagte er, »in zehn
Minuten werden wir alles wissen. Die Leute sagen, daß der Stadtteil über
dem Fluß, rechts von der Brücke, niedergebrannt sei. Das Feuer soll um
Mitternacht ausgebrochen sein; jetzt ist es schon im Abflauen.«

Er ging nicht bis ans Fenster heran, sondern blieb drei Schritte hinter
ihr stehen; sie wandte sich nicht nach ihm um.

»Nach dem Kalender hätte es schon seit einer Stunde hell sein müssen,
und noch ist es dunkel wie in der Nacht,« sagte sie ärgerlich.

»Die Kalender lügen alle,« bemerkte er schon mit liebenswürdigem Spott,
schämte sich aber sofort und fügte schnell hinzu: »Nach dem Kalender ist
es langweilig zu leben, Lisa.«

Aber er fühlte, daß er dadurch das Gesprochene nur noch schlimmer
gemacht hatte. Ärgerlich über sich selbst schwieg er ganz. Lisa lächelte
bitter.

»Sie scheinen in einer so niedergeschlagenen Stimmung zu sein, daß Ihnen
zu einem Gespräch mit mir sogar die Worte fehlen. Aber beruhigen Sie
sich, Sie haben das sehr zur rechten Zeit gesagt: ich lebe immer nach
dem Kalender. Jeder meiner Schritte ist nach dem Kalender berechnet. Sie
wundern sich?«

Sie wandte sich schnell vom Fenster ab und setzte sich in den Sessel.

»Bitte, setzen Sie sich gleichfalls. Wir werden nicht lange zusammen
sein und ich möchte alles sagen, was ich sagen mag ... Warum sollten
nicht auch Sie alles sagen, was Sie vielleicht sagen wollen?«

Nicolai Wszewolodowitsch setzte sich neben sie und nahm leise, beinahe
furchtsam, ihre Hand.

»Was bedeutet diese Sprache, Lisa? Woher das plötzlich? Was soll das
bedeuten: >Wir bleiben nicht lange zusammenIch komme nur
auf einen Augenblick<, und dann blieb er den ganzen Tag. Ich möchte es
nicht wie Christophor Iwanowitsch machen und den ganzen Tag bleiben.«

Eine schmerzhafte Empfindung spiegelte sich in seinem Gesicht wider.

»Lisa, es tut mir weh um diese verzerrte Sprache. Diese Grimasse kostet
dich selbst zu viel. Wozu das alles? Warum?«

Seine Augen brannten.

»Lisa,« rief er aus, »ich schwöre es dir, ich liebe dich jetzt mehr als
gestern, als du bei mir eintratest!«

»Was für ein sonderbares Geständnis! Was soll das jetzt, dieses Gestern
und Heute, und wozu beides mit dem Maß messen?«

»Du verläßt mich nicht,« fuhr er fast verzweifelt fort, »wir verreisen
zusammen, heute noch! Nicht? Nicht?«

»Ah, pressen Sie meine Hand nicht so schmerzhaft! Wohin sollen wir denn
heute noch reisen? Wieder irgendwohin, um >aufzuerstehenso viel Glückso viel Glück< verurteilen wird? Oh,
wenn es das ist, so beunruhigen Sie sich um Gottes willen nicht. Sie
haben ja in diesem Fall nicht die geringste Veranlassung gegeben und
sind niemandem Verantwortung schuldig. Als ich gestern Ihre Tür
aufmachte, da wußten Sie nicht einmal, wer da eintrat. Es war eben nur
meine Phantasie, um Ihren Ausdruck zu gebrauchen, und nichts weiter. Sie
können allen dreist und siegesbewußt in die Augen blicken!«

»Deine Worte, dein Hohn, jetzt schon eine ganze Stunde, bringen die
Kälte des Grauens über mich! Dieses >Glück<, von dem du so gehässig
sprichst, kostet mich ... alles. Kann ich dich denn jetzt verlieren? Ich
schwöre dir, ich liebte dich gestern weniger. Warum nimmst du mir denn
heute alles wieder? Weißt du auch, was sie mich kostet, diese neue
Hoffnung? Ich habe sie mit dem Leben bezahlt!«

»Mit dem eigenen oder dem anderer?«

Stawrogin stand hastig auf.

»Was heißt das?« fragte er und sah sie starr an.

»Bezahlen Sie mit Ihrem oder mit meinem Leben? Das war es, was ich damit
fragen wollte. Oder haben Sie jetzt völlig aufgehört, zu verstehen?« Das
Blut schoß ihr ins Gesicht. »Warum sind Sie aufgesprungen? Warum starren
Sie mich mit solch einem Ausdruck an?« Lisa blickte ihm plötzlich
angstvoll in die Augen. »Sie erschrecken mich ... Was fürchten Sie denn
so? Ich habe es schon die ganze Zeit bemerkt, daß Sie etwas fürchten,
gerade jetzt, in dieser Minute ... Mein Gott, wie blaß Sie werden!«

»Wenn du irgend etwas weißt, Lisa, ich schwöre dir, _ich_ weiß nichts
... und habe soeben überhaupt nicht _davon_ gesprochen, als ich sagte,
daß ich es mit dem Leben bezahlt hätte ...«

»Ich verstehe Sie gar nicht,« sagte sie ängstlich stockend.

Da erschien schließlich ein langsames, nachdenkliches Lächeln auf seinen
Lippen. Er setzte sich still wieder hin, stützte die Ellenbogen auf die
Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Ein böser Traum und Wahn ... Wir sprachen von zwei ganz verschiedenen
Dingen.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie gesprochen haben. Aber wußten Sie denn
gestern wirklich nicht, daß ich Sie heute verlassen würde? Wußten Sie
das wirklich nicht? Lügen Sie nicht! Sagen Sie, wußten Sie es oder
wußten Sie es nicht?«

»Ich wußte es ...« sagte er leise.

»Nun also, was wollen Sie dann noch: Sie wußten es und nahmen den
>Augenblick<. Wozu nun diese Abrechnungen?«

»Sage mir die ganze Wahrheit,« rief er in tiefem Leid: »als du gestern
meine Tür aufmachtest, wußtest du es selbst, daß du sie nur auf eine
Stunde aufmachtest?«

Sie sah ihn mit Haß an.

»Es ist doch wahr, daß selbst der ernsteste Mensch die sonderbarsten
Fragen stellen kann. Was beunruhigen Sie sich deswegen? Sollte es
wirklich aus Eigenliebe geschehen, weil eine Frau Sie zuerst verläßt,
und nicht Sie die Frau? Wissen Sie, Nicolai Wszewolodowitsch, ich merke
unter anderem, seit ich bei Ihnen bin, daß Sie furchtbar großmütig zu
mir sind, und gerade das kann ich von Ihnen nicht ertragen.«

Er erhob sich vom Platz und ging ein paar Schritte durchs Zimmer.

»Gut, mag das nun so enden ... Aber wie konnte das alles geschehen?«

»Auch eine Sorge! Und die Hauptsache -- Sie wissen das ja selbst, so
gut, als hätten Sie es an den Fingern abgezählt, wissen es besser, als
alle auf der Welt, und rechneten sogar selbst damit! Ich bin eine höhere
Tochter, mein Herz ist in der Oper erzogen, sehen Sie, das war die
Ursache, das ist die ganze Lösung des Rätsels!«

»Nein.«

»Darin liegt nichts, was Ihre Eigenliebe kränken könnte. Es ist einfach
die Wahrheit. Es begann mit einem schönen Augenblick, den ich nicht
ertrug. Vor drei Tagen, als ich Sie vor aller Welt >beleidigte< und Sie
mir so ritterlich antworteten, fuhr ich nach Hause und sagte mir, daß
Sie mich gemieden hatten, weil Sie verheiratet waren, und nicht aus
Verachtung, was ich als Dame der Gesellschaft am meisten fürchtete. Ich
begriff, daß Sie mich Unsinnige beschützten, indem Sie mich mieden.
Sehen Sie wohl, wie ich Ihre Großmut schätze. Da sprang dann Pjotr
Stepanowitsch für Sie ein und erklärte mir alles. Er offenbarte mir, daß
ein großer Gedanke Sie beherrsche, ein Gedanke, vor dem er und ich
nichts sind, aber daß ich Ihnen dennoch >im Wege< stehe. Und sich zählte
er immer mit; er wollte unbedingt, daß wir zu dreien seien, und er
sprach noch die phantastischsten Dinge, sprach von einer großen Barke
mit Rudern aus nordischem Ahorn, wie es in irgendeinem russischen Liede
heißt. Ich lobte ihn, sagte ihm, er sei ein Dichter, und er nahm das
alles für die barste Münze. Da ich aber auch ohnedem schon längst wußte,
daß ich nur für einen Augenblick ausreichen würde, so nahm ich mich und
entschloß mich. Nun, und das war alles, aber jetzt genug davon, und
bitte keine Erklärungen mehr. Sonst geraten wir womöglich noch in
Streit. Wie gesagt, fürchten Sie niemanden, ich nehme alles auf mich.
Ich bin schlecht, kapriziös, ich habe mich von der opernhaften Barke
blenden lassen, ich bin eine junge Dame der Gesellschaft ... Aber wissen
Sie, ich habe bei alledem doch gedacht, daß Sie mich furchtbar lieben.
Verachten Sie nicht die Törin und lachen Sie nicht über diese Träne, die
jetzt fiel. Ich liebe es sehr, >mich selbst bemitleidend< zu weinen.
Nun, genug, genug. Ich bin zu allem unfähig und Sie sind zu allem
unfähig; zwei Nasenstüber beiderseits, finden wir uns also damit ab.
Wenigstens leidet so die Eigenliebe nicht.«

»Ein Traum und Wahn!« rief Nicolai Wszewolodowitsch und schritt, die
Hände ringend, im Zimmer auf und ab. »Lisa, du Arme, was hast du dir
angetan?«

»Habe mich am Licht verbrannt, und das ist alles. Wie, Sie weinen doch
nicht gleichfalls? Seien Sie anständiger, seien Sie gefühlloser ...«

»Warum, warum bist du zu mir gekommen?«

»Aber verstehen Sie denn nicht endlich, in welch eine komische Lage Sie
sich mit solchen Fragen selbst bringen?«

»Warum hast du dich selbst zugrunde gerichtet, so ungeheuerlich und
töricht! Und was soll jetzt geschehen?«

»Und das ist Stawrogin, der >blutdürstige Stawrogin<, wie hier eine
Dame, die in Sie verliebt ist, Sie nennt! Hören Sie, ich habe es Ihnen
doch schon gesagt: ich habe mein Leben auf eine Stunde gesetzt und bin
jetzt ruhig. Tun Sie dasselbe auch mit Ihrem Leben ... übrigens, wozu
sollten Sie das, Sie werden noch viele solcher >Stunden< und
>Augenblicke< haben!«

»Ebensoviele wie du: ich gebe dir mein heiliges Wort, nicht eine Stunde
mehr als du!«

Er ging immer noch auf und ab und sah ihren schnellen, durchbohrenden
Blick nicht, in dem plötzlich gleichsam Hoffnung aufleuchtete. Aber
dieser Lichtstrahl erlosch in derselben Minute.

»Wenn du den Preis meiner jetzigen _unmöglichen_ Aufrichtigkeit wüßtest,
Lisa, wenn ich dir nur enthüllen könnte ...«

»Enthüllen? Sie wollen mir irgend etwas enthüllen? Gott bewahre mich vor
Ihren Enthüllungen!« unterbrach Sie ihn fast mit Schrecken.

Er blieb stehen und wartete in Unruhe.

»Ich muß Ihnen gestehen, in mir hat sich schon damals, schon in der
Schweiz, der Gedanke festgesetzt, daß Sie etwas Entsetzliches auf der
Seele haben müssen, etwas Schmutziges und Blutiges, und ... gleichzeitig
etwas, das Sie furchtbar lächerlich macht. Hüten Sie sich, mir das zu
enthüllen, wenn es so ist: ich würde Sie verspotten. Ich würde über Sie
lachen solange Sie leben ... Oh, Sie erbleichen wieder? Ich werde ja
nicht, ich werde nicht, ich gehe gleich fort.« Und sie erhob sich
schnell mit einer angeekelten und verachtenden Bewegung.

»Quäle mich, richte mich, schütte alle Wut über mich aus!« rief er in
Verzweiflung. »Du hast das volle Recht dazu! Ich wußte, daß ich dich
nicht liebe, und richtete dich zugrunde. Ja, ich >nahm den Augenblick<,
ich nahm ihn an: ich hatte noch eine Hoffnung ... schon lange ... eine
letzte ... Ich konnte dem Licht nicht widerstehen, das plötzlich mein
Herz erhellte, als du bei mir eintratst, allein, als erste. Ich glaubte
plötzlich ... Vielleicht glaube ich auch jetzt noch ...«

»Eine so edle Aufrichtigkeit bezahle ich Ihnen mit gleichem: ich will
nicht Ihre barmherzige Schwester sein. Es ist möglich, daß ich wirklich
Krankenpflegerin werde, wenn ich nicht heute noch zur rechten Zeit zu
sterben verstehe; aber wenn ich das auch würde, so ginge ich doch nicht
zu Ihnen, obschon Sie selbstredend jedem Bein- oder Armlosen
gleichwertig sind. Es hat mir immer geschienen, daß Sie mich an
irgendeinen Ort bringen würden, wo eine böse Riesenspinne von
Menschengröße sitzt, und wir würden dort unser Lebelang auf diese Spinne
sehen und uns vor ihr fürchten. Und darüber wird dann unsere
gegenseitige Liebe vergehen. Wenden Sie sich an Daschenka; die wird mit
Ihnen gehen, wohin Sie wollen.«

»Sie konnten es auch jetzt nicht unterlassen, sie zu erwähnen?«

»Das arme Hündchen! Grüßen Sie sie von mir. Wußte sie es, daß Sie sie
schon damals in der Schweiz für Ihr Alter bestimmten? Welch eine
Fürsorge! Welch eine Vorsicht! -- Ach! Wer ist da?«

In der Tiefe des Saales hatte sich kaum die Tür geöffnet: ein Kopf schob
sich durch und zog sich schnell wieder zurück.

»Bist du es, Alexei Jegorytsch?« fragte Stawrogin.

»Nein, das bin nur ich,« sagte Pjotr Stepanowitsch, der sich nun von
neuem und diesmal gleich bis zur Hälfte durch die Tür schob. »Guten Tag,
Lisaweta Nicolajewna; auf alle Fälle wünsche ich einen guten Morgen.
Wußte ich's doch, daß ich Sie beide in diesem Saal antreffen würde. --
Ich bin wirklich nur auf einen Augenblick gekommen, Nicolai
Wszewolodowitsch, -- bin um jeden Preis hergeeilt, nur auf ein paar
Worte ... die allernotwendigsten ... nur ein paar Wörtchen!«

Stawrogin ging, aber nach drei Schritten kehrte er zu Lisa zurück.

»Wenn du jetzt gleich etwas erfahren wirst, Lisa, so wisse: ich bin
schuld!«

Sie fuhr zusammen und sah ihn scheu an; doch er ging schnell hinaus.


                                  II.

Das Zimmer, in das sich Pjotr Stepanowitsch zurückzog, war ein großes
ovales Vorzimmer. Bis zu seinem Erscheinen hatte der alte Diener Alexei
Jegorytsch hier gesessen, den hatte er aber jetzt weggeschickt.

Nicolai Wszewolodowitsch schloß die Saaltür hinter sich und blieb in
Erwartung stehen. Pjotr Stepanowitsch sah ihn schnell und prüfend an.

»Nun?«

»Das heißt, wenn Sie es schon wissen sollten --« begann Pjotr
Stepanowitsch eilig und als wolle er mit den Augen Stawrogin in die
Seele springen, »so ist selbstverständlich niemand von uns schuld daran,
besonders nicht Sie, denn es ist nur ein zufälliges Zusammentreffen ...
eine Reihe von Zufällen ... mit einem Wort, juridisch kann man Ihnen
nichts anhaben, und ich bin nur gekommen, um Sie zu benachrichtigen.«

»Sie sind verbrannt? Ermordet?«

»Ermordet, aber nicht verbrannt, das ist eben das Dumme! Doch ich gebe
Ihnen mein Ehrenwort, ich bin nicht schuld daran! Das heißt, wenn Sie
die ganze Wahrheit wissen wollen: sehen Sie, ich hatte wirklich einmal
den Gedanken -- Sie selbst haben ihn mir eingegeben (nicht im Ernst,
natürlich, Sie neckten mich ja nur damit, denn Sie werden doch nicht im
Ernst so etwas sagen!) -- doch ich hätte mich niemals zur Ausführung
entschlossen, für nichts in der Welt, nicht für hundert Rubel, -- denn
ich habe ja gar keinen Vorteil davon, gar keinen -- das heißt, ich, ich
persönlich ...« (Er überhastete sich furchtbar und sprach wie eine
Plappermühle.) »Aber nun hören Sie, was für ein Zusammentreffen von
Zufällen: ich gab ihm von meinem Gelde, von Ihrem war nicht ein Rubel
dabei, Sie wissen das selbst, ich gab also dem betrunkenen Dummkopf
Lebädkin zweihundertunddreißig Rubel, vor drei Tagen, noch am Abend, --
hören Sie: vor drei Tagen, und nicht erst gestern nach der Matinee,
beachten Sie das: das ist sehr wichtig! Denn ich wußte damals noch
nicht, ob Lisaweta Nicolajewna zu Ihnen fahren würde oder nicht: -- gab
ihm von meinem eigenen Gelde, nur darum, weil Sie nun mal die Idee
hatten, Ihr Geheimnis allen aufzudecken. Nun, darüber werde ich mich
nicht weiter verbreiten, ... das ist Ihre Sache ... Ritter, und so
weiter ... Ich gestehe aber, ich wunderte mich doch sehr, als ob ich mit
einer Keule einen Schlag vor den Kopf bekommen hätte. Da mir aber diese
Tragödien scheußlich langweilig geworden waren -- ich spreche jetzt,
merken Sie sich das wohl, im Ernst, wenn ich auch burschikose Ausdrücke
gebrauche --, da nun alles das meine Pläne kreuzte, so schwor ich mir,
Lebädkin, was es auch koste, und auch ohne Ihr Wissen, nach Petersburg
zu schicken. Nur einen Fehler habe ich da vielleicht begangen: ich gab
ihm das Geld in Ihrem Namen! War das nun ein Fehler oder nicht?
Vielleicht war es auch kein Fehler! Aber hören Sie jetzt, hören Sie,
wohin das alles geführt hat ... --«

Im Eifer der Rede war er Stawrogin immer näher gerückt und wollte ihn
schließlich am Rockaufschlag anfassen (vielleicht, bei Gott, mit
Absicht). Stawrogin schlug ihm mit einem heftigen Schlag die Hand
herunter.

»Wie ... was!? ... Na ... bloß, so können Sie einem ja die Hand brechen
... Die Hauptsache ist nun, was daraus alles entstanden ist ...«
schnatterte er dann schon weiter, ohne sich über den Schlag viel zu
wundern. »Am Abend gebe ich ihm das Geld, damit er mit seiner Schwester
am nächsten Morgen, sowie es hell wird, sich davonmacht: beauftrage mit
dieser Sache den Schuft Liputin, der ihn selbst einpacken und
fortschicken soll. Aber der Schuft Liputin mußte mit dem Publikum seinen
dummen Schulbubenstreich machen, -- Sie haben wohl schon davon gehört?
auf der Matinee? Nun hören Sie, hören Sie doch: beide betrinken sich und
schmieden Verse. Liputin zieht dem anderen einen Frack an und versteckt
ihn hinter den Kulissen (mir versichert er dabei, er habe ihn am Morgen
auf die Bahn gebracht), um ihn im gegebenen Moment auf die Tribüne zu
schubsen. Lebädkin aber betrinkt sich inzwischen wieder vollständig.
Darauf folgt der bekannte Skandal -- Lebädkin wird steif betrunken nach
Hause gebracht, schlafend, Liputin nimmt ihm die zweihundert Rubel aus
der Brieftasche und läßt ihm nur das Kleingeld. Zum Unglück aber hatte
Lebädkin schon am Morgen das Geld gezeigt und damit herumgeprahlt. Da
aber Fedjka nur darauf wartete -- er hatte bei Kirilloff etwas davon
gehört (erinnern Sie sich noch Ihrer Anspielung?), so entschloß er sich,
die Gelegenheit zu benutzen. Ich bin aber doch froh, daß Fedjka
wenigstens das Geld nicht vorgefunden hat, -- dabei hat der Schurke
eigentlich auf Tausende gerechnet! Er beeilte sich also, aber das Feuer
scheint ihn dann selbst erschreckt zu haben ... Glauben Sie, mir ist
dieser Brand wie ein Keulenschlag vor den Kopf! Das ist ja ... der
Teufel weiß, was das ist! Das ist eine solche Eigenmächtigkeit ... Sehen
Sie, ich werde Ihnen, da ich so viel von Ihnen erwarte, nichts
verheimlichen: ich habe schon lange selber diese Idee, Feuer anzulegen,
in mir herumgetragen. Das ist so populär, so volklich ... aber ich habe
sie immer für die kritische Zeit aufbewahrt, für den großen Augenblick,
wenn wir uns alle erheben und ... Und da haben sie das jetzt plötzlich
eigenmächtig und ohne Befehl getan, und das noch in einem Augenblick, wo
man den Atem anhalten und alles verheimlichen müßte! Nein, das ist eine
solche Eigenmächtigkeit! ... Ich weiß ja noch nichts darüber: man
spricht von zweien aus der Spigulinschen Fabrik ... wenn aber von den
_unseren_ jemand dabei war, wenn auch nur einer seine Hand dabei im
Spiele hat -- gnade ihm Gott! Sehen Sie, was das heißt, sie ein bißchen
vernachlässigen! Oh, dieses demokratische Pack mit seinen >Fünfern< ist,
das sehe ich, eine schlechte Stütze! Ein einziger großartiger,
götzenhafter, despotischer Wille tut not, einer, der sich nicht auf
etwas Zufälliges und außerhalb Stehendes stützt ... Dann werden auch die
>Fünfer< gehorsam und vielleicht noch von Nutzen sein. Doch jedenfalls,
wenn sie jetzt auch alle schreien und in die Trompete blasen, daß
Stawrogin sich von seiner Frau befreien wollte, und daß darum die Stadt
brennen mußte, so --«

»Also man schreit das schon?«

»Das heißt, nein, noch gar nicht, und ich muß gestehen, ich habe davon
bis jetzt noch nichts gehört, aber was ist mit dem Volk denn anzufangen,
besonders mit den Abgebrannten? _Vox populi, vox Dei!_ Braucht es denn
viel Zeit, um selbst das dümmste Gerücht zu verbreiten? Sie, wie gesagt,
haben sich vor nichts zu fürchten. Juridisch ist alles einwandfrei, vor
Ihrem Gewissen gleichfalls, denn Sie wollten das doch nicht? Sie wollten
das doch nicht? Beweise gibt es keine, alles war nur Zufall ... Es sei
denn, daß Fedjka sich Ihrer damaligen unvorsichtigen Worte bei Kirilloff
erinnert (wozu haben Sie sie damals auch ausgesprochen?), aber das
beweist doch nichts. Und Fedjka machen wir schnell mundtot. Ich werde
ihm noch heute ...«

»Und die Leichen sind gar nicht verbrannt?«

»Nein: diese Kanaille hat nichts wie es sich gehört zu machen
verstanden. Aber ich freue mich vor allen Dingen, daß Sie so ruhig sind
... denn wenn Sie daran auch gar keine Schuld tragen, nicht mal in
Gedanken, so ist es doch -- na, immerhin. Jedenfalls werden Sie mir aber
zugeben, daß das alles sehr schön Ihre Angelegenheiten in Ordnung
bringt: Sie sind plötzlich ein freier Witwer und können noch in dieser
Stunde das schönste Mädchen mit einem riesigen Vermögen heiraten, -- ein
Mädchen, das noch dazu schon in Ihren Händen ist. Sehen Sie, was ein
einfacher, grober Zufall alles tun kann, nicht wahr?«

»Sie wollen mich einschüchtern, Sie Dummkopf?«

»Nun, schon gut, schon gut, warum gleich Dummkopf, und was ist das für
ein Ton? Wer sollte sich mehr freuen, als Sie? Ich bin hergelaufen, um
Sie zu benachrichtigen ... Womit sollte ich Sie denn einschüchtern? Als
ob ich Ihnen zu drohen nötig hätte! Ich brauche Ihren freien Willen,
aber nicht einen erzwungenen! Sie sind das Licht und die Sonne. Ich
fürchte Sie, aber nicht Sie mich! Ich bin doch nicht Mawrikij
Nicolajewitsch ... Stellen Sie sich vor, ich sause hierher in einer
Droschke -- und wen sehe ich? -- Mawrikij Nicolajewitsch! An Ihrem
Gartenzaun, ganz am Ende des Gartens, -- im Mantel, völlig durchnäßt, er
muß wohl die ganze Nacht dort gewartet haben! Wunderbar! Wie weit die
Menschen doch den Verstand verlieren können!«

»Mawrikij Nicolajewitsch! Ist das wahr?«

»Es ist wahr, es ist wahr. Steht am Gartenzaun. Von hier -- na,
dreihundert Schritte von hier, wenn ich mich nicht irre. Ich beeilte
mich, an ihm vorüber zu kommen, aber er hat mich doch gesehen. Sie
wußten es nicht? In dem Fall bin ich sehr froh, daß ich nicht vergessen
habe, es Ihnen mitzuteilen. Sehen Sie, solch einer ist am
gefährlichsten! wenn der einen Revolver bei sich hat! und zuletzt, die
Nacht, die Nässe, die Erregung, und dann -- wie ist denn seine Lage
jetzt, ha, ha! Was meinen Sie, warum sitzt er da?«

»Er wartet natürlich auf Lisaweta Nicolajewna.«

»So--o! Ja warum sollte sie denn zu ihm hinausgehen? Und ... in diesem
Regen ... so ein Esel!« ...

»Sie wird sogleich zu ihm hinausgehen.«

»Aha! Das ist mir mal eine Neuigkeit! Also ... Aber hören Sie, jetzt hat
sich doch Ihre Situation völlig geändert: wozu braucht sie jetzt den
Mawrikij? Sie sind doch jetzt ein freier Witwer und können sie doch
morgen heiraten? Weiß sie noch nichts? Dann überlassen Sie es mir, ich
werde gleich alles in Ordnung bringen. Wo ist sie, man muß ihr doch auch
eine Freude machen!«

»Eine Freude?«

»Sie fragen noch! Gehen wir.«

»Und Sie glauben, daß sie vor diesen Leichen nichts errät?« fragte
Stawrogin, indem er ihn mit halb zugekniffenen Augen ansah.

»Natürlich nicht,« antwortete Pjotr Stepanowitsch, den Dummen spielend,
»denn juridisch ... Ach, Sie! Und wenn sie es auch errät! Von den Frauen
wird das alles so schnell abgetan! Sie kennen die Frauen noch nicht!
Außerdem muß sie Sie doch ganz einfach heiraten, denn sie hat sich doch
nun mal kompromittiert, ganz abgesehen davon, daß ich ihr von der
>Barke< schon erzählt habe: und habe gesehen, daß man gerade damit
Eindruck auf sie macht -- da sieht man gleich, von welchem Kaliber das
Mädchen ist. Beruhigen Sie sich, sie wird über diese Leichen so
hinwegtreten, wie nichts! Außerdem sind Sie ja doch tatsächlich ganz
unschuldig, vollständig unschuldig, nicht wahr? Sie wird die Erinnerung
an diese Leichen nur aufbewahren, um Sie vom zweiten Jahre Ihrer Ehe an
damit zu peinigen. Jedes Weib, das zum Altar geht, rächt sich so an
ihrem Mann, aber was dann sein wird ... was wieder übers Jahr sein wird?
Ha, ha, ha!«

»Sie sind mit einer Droschke gekommen? Die Droschke wartet noch? Dann
fahren Sie in dieser Droschke mit Lisa zu Mawrikij Nicolajewitsch. Sie
hat mir soeben gesagt, daß sie mich nicht lieben kann, daß sie von mir
geht, da wird sie selbstverständlich keine Equipage von mir annehmen.«

»Aber was soll denn das bedeuten? Ist das wirklich ihr Ernst? Was hat
denn das veranlassen können?« Pjotr Stepanowitsch sah ihn mit einem
recht dummen Gesicht an.

»Sie hat es irgendwie erraten, in dieser Nacht, daß ich sie gar nicht
liebe ... was sie natürlich schon immer gewußt hat.«

»Ja, aber wie -- lieben Sie sie denn nicht?« fragte Pjotr Stepanowitsch
mit der Miene grenzenlosen Erstaunens. »Aber wenn das so ist, warum
haben Sie ihr das dann nicht gestern gleich gesagt, daß Sie sie nicht
lieben? Das ist doch eine schreckliche Gemeinheit von Ihnen, und wie
stehe ich denn jetzt vor ihr da?«

Stawrogin begann plötzlich zu lachen.

»Ich lache über meinen Affen,« erklärte er sofort.

»Ah! Sie haben's durchschaut, daß ich den Bajazzo spiele!« Pjotr
Stepanowitsch lachte sogleich furchtbar lustig mit. »Ich hab's ja nur
getan, um Sie zu amüsieren! Stellen Sie sich vor, ich hab's doch im
Augenblick, wie Sie aus der Tür traten, Ihrem Gesicht angesehen, daß es
bei Ihnen >Unglück< gegeben hat. Vielleicht sogar einen vollständigen
Mißerfolg, wie? Nun, ich möchte schwören,« rief er, sich vor Entzücken
fast verschluckend, »daß Sie die ganze Nacht im Saal nebeneinander wie
Puppen auf den Stühlen gesessen, über hohe Sachen sich gestritten und so
die ganze kostbare Zeit verbracht haben ... Doch, verzeihen Sie,
verzeihen Sie, was geht das mich an! Ich wußte ja schon gestern, daß es
bei Ihnen mit einer Dummheit enden werde. Ich habe sie Ihnen ja auch
überhaupt nur gebracht, um Ihnen ein Vergnügen zu verschaffen, und um
Ihnen zu beweisen, daß Sie es mit mir nicht langweilig haben werden!
Dreihundertmal kann ich Ihnen noch mit so was dienen! Ich liebe es
überhaupt, den Menschen gefällig zu sein. Und wenn Sie sie jetzt also
nicht mehr brauchen, worauf ich ja rechnete, dann -- nun ja, dann bin
ich eben hierhergefahren, um ...«

»So haben Sie sie mir also nur zu meinem Vergnügen gebracht?«

»Wozu denn sonst?«

»Und nicht deshalb, um mich zu zwingen, meine Frau zu ermorden?«

»So--o, ja haben Sie sie denn ermordet? Was für ein tragischer Mensch
Sie sind!«

»Gleichviel, Sie haben sie ermordet.«

»Wieso denn ich? Aber ich sage Ihnen doch, ich bin da auch nicht mit
einem Tropfen beteiligt. Indessen, Sie fangen an mich zu beunruhigen
...«

»Fahren Sie fort, Sie sagten: >Wenn Sie sie also jetzt nicht mehr
brauchen, so ...<«

»So überlassen Sie sie mir, selbstverständlich! Ich werde sie glänzend
mit Mawrikij Nicolajewitsch verheiraten, den nicht ich unten am
Gartenzaun aufgestellt habe -- setzen Sie sich nicht auch das noch in
den Kopf! Ich fürchte ihn jetzt sogar. Wahrhaftig, wenn er vorhin einen
Revolver gehabt hätte! ... Gut, daß auch ich einen habe! Da ist er --«
(er zog einen Revolver aus der Tasche, zeigte ihn, steckte ihn aber
schnell wieder ein), »ich habe ihn wegen des weiten Weges zu mir
gesteckt ... Übrigens, ich werde das alles im Augenblick beilegen: es
wird ihr gerade jetzt wegen Mawrikij am Herzchen nagen ... es muß ja so
sein ... und wissen Sie, bei Gott, sie tut mir sogar ein wenig leid!
Bringe ich sie wieder mit Mawrikij zusammen, so wird sie von Stund an
nur an Sie denken, Sie verhimmeln und ihn schelten, -- ein Weiberherz!
Nun, Sie lachen schon wieder? Es freut mich riesig, daß Sie so heiter
geworden sind. Nun, wie -- gehen wir? Ich fange sogleich von Mawrikij
an, von denen aber ... den Toten ... wissen Sie, sollte man nicht jetzt
lieber darüber schweigen? Sie wird es ja später doch erfahren.«

Plötzlich stand Lisa in der Tür.

»Was werde ich erfahren? Wer ist tot? Was sagten Sie von Mawrikij
Nicolajewitsch?«

»Ah! Sie haben uns belauscht?«

»Was sagten Sie von Mawrikij Nicolajewitsch? Ist er tot?«

»Ah! so haben Sie doch nichts gehört! Beruhigen Sie sich, Mawrikij
Nicolajewitsch lebt und ist gesund, wovon Sie sich schon im Augenblick
werden überzeugen können, denn er steht hier unten, am Wege, am
Gartenzaun ... und steht dort, glaube ich, die ganze Nacht, durchnäßt,
im Mantel ... Ich fuhr an ihm vorüber, er hat mich gesehn.«

»Das ist nicht wahr. Sie sagten ... Wer ist getötet?«

»Ermordet ist nur meine Frau, ihr Bruder Lebädkin und die Aufwärterin,«
sagte Stawrogin mit fester Stimme.

Lisa zuckte zusammen und erbleichte unheimlich.

»Ein ganz sonderbarer Zufall, Lisaweta Nicolajewna, der dümmste Fall von
einem Raubmord,« trommelte sofort wieder Pjotr Stepanowitsch los -- »ein
Räuber, der den Brand benutzen wollte: der Dummkopf Lebädkin hatte allzu
offen sein Geld gezeigt ... das benutzte dann Fedjka, ein entsprungener
Zuchthäusler -- Sie werden von ihm gehört haben ... Ich bin sofort
hierher geeilt ... ich war wie von einem Stein getroffen, wie Sie sich
denken können, und Stawrogin war denn auch so erschüttert, als ich ihm
das Geschehene mitteilte. Wir berieten uns gerade: ob man es Ihnen jetzt
gleich sagen sollte oder noch nicht?«

»Nicolai Wszewolodowitsch, sagt er die Wahrheit?« brachte Lisa kaum
hörbar hervor.

»Nein, er sagt die Unwahrheit.«

»Wie, die Unwahrheit?« fuhr Pjotr Stepanowitsch erschrocken auf. »Was
soll denn das wieder heißen?«

»Mein Gott, ich verliere den Verstand!« schrie Lisa auf.

»Bedenken Sie doch, daß der Mensch ja wahnsinnig ist!« suchte Pjotr
Stepanowitsch alles zu überschreien, »denn immerhin, es ist doch nun mal
seine Frau, die man erschlagen hat! Sehen Sie doch, wie bleich er ist
... Er war doch die ganze Nacht mit Ihnen zusammen, hat Sie nicht auf
eine Minute verlassen, da kann er es doch nicht getan haben, wer wird
denn ihn verdächtigen?!«

»Nicolai Wszewolodowitsch, sagen Sie mir wie vor Gott, ob Sie schuld
sind oder nicht, und ich schwöre Ihnen, ich werde Ihrem Wort glauben,
wie dem Worte Gottes, und bis ans Ende der Welt werde ich Ihnen folgen,
oh, ich folge! Ich folge wie ein Hündchen ...«

»Was quälen Sie sie, warum, wozu, Sie phantastischer Kopf!« rief Pjotr
Stepanowitsch wütend. »Lisaweta Nicolajewna, hören Sie mich an, Wort für
Wort: er ist unschuldig, im Gegenteil, er ist wie vernichtet, er ist
krank und phantasiert, Sie sehen es doch! In nichts, in nichts ist er
schuldig! Das haben Raubmörder getan, denen man vielleicht schon morgen
auf der Spur sein wird! Das hat Fedjka, der Zuchthäusler, getan, und
noch einige aus der Spigulinschen Fabrik, die ganze Stadt spricht schon
davon, deshalb bin ich ...«

»Ist es so? Ist es so?« Am ganzen Körper zitternd erwartete Lisa ihren
Urteilsspruch.

»Ich habe nicht gemordet und ich war dagegen, aber ich wußte, daß man
sie umbringen werde und habe nichts getan, um den Mord zu verhindern.
Gehen Sie von mir, Lisa,« murmelte Stawrogin und ging in den Saal.

Lisa bedeckte das Gesicht mit den Händen und ging hinaus aus dem Hause.
Pjotr Stepanowitsch wollte ihr schon nachstürzen, kehrte aber sofort um
und ging in den Saal zu Stawrogin.

»Also so sind Sie? So sind Sie? Also nichts fürchten Sie?« stieß er, wie
irrsinnig vor Wut, unzusammenhängend, mit Schaum vor dem Munde, hervor.

Stawrogin stand in der Mitte des Saales und erwiderte kein Wort. Er
griff mit der linken Hand in sein Haar und lächelte blicklos. Pjotr
Stepanowitsch riß ihn heftig am Ärmel.

»Jetzt sind Sie verloren! Was? Also darauf haben Sie es angelegt? Alle
geben Sie preis! Und selbst gehen Sie ins Kloster oder zum Teufel! Aber
ich werde Ihnen ja doch den Garaus machen, auch wenn Sie mich nicht
fürchten sollten!«

»Ach, Sie sind es, der hier plappert?« Stawrogin bemerkte ihn jetzt
erst. Und plötzlich, wie erwachend, rief er: »Laufen Sie, laufen Sie ihr
nach, befehlen Sie einen Wagen, verlassen Sie sie nicht ... Laufen Sie,
laufen Sie doch! Bringen Sie sie nach Haus, damit es niemand weiß, und
sie nicht dorthin geht ... zu den Leichen ... den Leichen ... Setzen Sie
sie mit Gewalt in die Equipage ... Alexei Jegorytsch! Alexei
Jegorytsch!«

»Still, schreien Sie nicht! Sie ist jetzt schon in Mawrikijs Armen ...
Mawrikij wird sich nicht in Ihre Equipage setzen. Bleiben Sie! Das hier
ist wichtiger, als die Equipage!«

Er riß wieder den Revolver hervor. Stawrogin sah ihn ernst an.

»Nun was, erschießen Sie mich,« sagte er leise, beinahe versöhnlich.

»Pfui Teufel, welch eine Lüge der Mensch auf sich laden kann!« Pjotr
Stepanowitsch erzitterte förmlich. »Bei Gott, ja, man sollte Sie
totschlagen! Wahrlich, sie mußte ja einfach auf Sie spucken! ... Was
können Sie denn noch für eine tragende Barke sein, Sie alter, morscher,
hölzerner Kahn, der nur noch zum Abbruch taugt! ... Nun, wenn Sie sich
doch wenigstens aus Bosheit, aus Bosheit jetzt aufrafften! Ach! So ist
Ihnen wohl schon alles gleich, wenn Sie bereits selber um eine Kugel in
Ihre Stirn bitten?«

Stawrogin lächelte sonderbar.

»Wenn Sie nicht solch ein Narr wären, so würde ich jetzt vielleicht >ja<
sagen ... Wenn Sie nur ein bißchen klüger wären ...«

»Gut, mag ich ein Narr sein, aber ich will nicht, daß Sie, meine
wichtigere Hälfte, auch ein Narr sind! Verstehen Sie mich?«

Stawrogin verstand ihn, vielleicht konnte nur er allein ihn verstehen.
War doch Schatoff erstaunt gewesen, als Stawrogin ihm gesagt hatte, daß
in Pjotr Stepanowitsch Enthusiasmus sei.

»Gehen Sie jetzt zum Teufel, morgen werde ich vielleicht irgend was aus
mir herausbringen. Kommen Sie morgen wieder.«

»Ja? Ja?«

»Was kann ich wissen! ... Gehen Sie zum Teufel, zum Teufel!«

Und er verließ den Saal.

»Wer weiß, vielleicht ist es auch besser so,« murmelte Pjotr
Stepanowitsch und steckte den Revolver wieder ein.


                                  III.

Er eilte hinaus, um Lisaweta Nicolajewna einzuholen. Sie war noch nicht
weit gekommen: -- ein paar Schritte vom Hause entfernt, erreichte er
sie. Alexei Jegorytsch, der ihr im Frack und ohne Hut, in einem Abstande
von einem Schritt, in ehrerbietiger Haltung folgte, suchte sie
zurückzuhalten: er sprach auf sie ein und suchte ihr vergeblich klar zu
machen, daß sie doch auf die Equipage warten müsse; der Alte war dabei
dem Weinen nahe.

»Mach dich fort, der Herr wünscht Tee,« damit schob Pjotr Stepanowitsch
den Alten beiseite und legte Lisaweta Nicolajewnas Hand auf seinen Arm.

Sie zog die Hand nicht fort: offenbar war sie noch gar nicht bei voller
Besinnung.

»Erstens müssen Sie nicht dahin, nicht am Park vorüber,« begann Pjotr
Stepanowitsch, »sondern hierher. Zweitens können Sie unmöglich zu Fuß
gehen, denn bis zu Ihnen sind es gute drei Werst, und Sie sind nur in
einem leichten Kleide. Wenn Sie nur ein wenig warten wollten. Ich bin in
einer Droschke gekommen und die wartet noch auf mich. Ich werde Sie
sofort hineinsetzen und dann so zurückbringen, daß niemand Sie sieht.«

»Wie gut Sie sind ...« sagte Lisa freundlich.

»Aber ich bitte Sie, in einem solchen Fall würde doch jeder humane
Mensch an meiner Stelle ebenso ... --«

Lisa sah ihn an und war verwundert.

»Ach, mein Gott, und ich dachte, daß immer noch der Alte ...«

»Hören Sie mal, es freut mich sehr, daß Sie es so ruhig auffassen, denn
alles das ist doch ein fürchterliches Vorurteil. Wäre es also nicht das
Vernünftigste, ich befehle dem Alten, sofort die Equipage anspannen zu
lassen? Das dauert höchstens zehn Minuten, und wir gehen so lange auf
die Treppe zurück und warten, wie?«

»Ich möchte zuerst ... wo sind die Ermordeten?«

»Natürlich! Das befürchtete ich ja! Nein, die lassen wir hübsch
beiseite. Und das ist auch nichts für Sie!«

»Ich weiß, wo sie sind, ich kenne das Haus.«

»Nun, was, was wissen Sie? Ich bitte Sie, jetzt im Regen, im Nebel (da
habe ich mir eine schöne Verpflichtung aufgeladen!) ... Hören Sie,
Lisaweta Nicolajewna, entweder oder: Sie können mit mir auf die Droschke
warten und gehen jetzt keinen Schritt weiter, oder aber, wenn Sie noch
zwanzig Schritte weiter gehen, so erblickt uns Mawrikij Nicolajewitsch.«

»Mawrikij Nicolajewitsch! Wo? Wo?«

»Nun, wenn Sie zu ihm gehen wollen, so kann ich Sie meinethalben noch
ein Stückchen begleiten und Ihnen zeigen, wo er steht. Ich selbst aber
mache dann meinen ergebensten Diener: ich möchte jetzt nicht mit ihm
sprechen.«

»Er wartet auf mich, mein Gott!« Sie blieb plötzlich stehen und wurde
über und über rot. --

»Nun, was soll das! Wenn er ein Mensch ohne Vorurteile ist! Wissen Sie,
Lisaweta Nicolajewna, das ist ja alles nicht mehr meine Sache, -- ich
bin ja ganz unbeteiligt dabei, das wissen Sie selbst. Aber ich will doch
Ihr Bestes ... Wenn es mit unserer >Barke< nun einmal nichts ist, wenn
es sich herausgestellt hat, daß sie nur ein alter, verfaulter Kahn war,
der nur noch zum Abbruch taugt ...«

»Ach, wunderbar!« Lisa lachte hysterisch auf.

»Ja, wunderbar, aber dabei fließen Ihnen die Tränen über die Wangen. Da
ist mehr Festigkeit nötig. Die Frau soll den Männern nicht nachstehen.
In unserer Zeit, wenn die Frau ... pfui, zum Teufel!« (Pjotr
Stepanowitsch hätte beinahe ausgespuckt.) »Und die Hauptsache, nichts
bedauern: vielleicht wird sich alles noch zum besten kehren. Mawrikij
Nicolajewitsch ist ein Mensch ... mit einem Wort, ein gefühlvoller
Mensch, wenn auch nicht gesprächig, was übrigens nichts auf sich hat,
vorausgesetzt, daß er nur ein vorurteilsfreier Mensch ist ...«

»Wunderbar, wunderbar,« lachte Lisa immer noch.

»Ach nun, zum Teufel ... Lisaweta Nicolajewna,« sagte Pjotr
Stepanowitsch plötzlich pikiert, »ich rede doch nur in Ihrem Interesse
... denn was geht das schließlich mich an? Ich war Ihnen gestern zu
Diensten, habe getan, was Sie selbst wollten, und heute ... Nun sehen
Sie, von hier sieht man schon Mawrikij Nicolajewitsch! Dort steht er und
sieht uns nicht. Haben Sie >Polinka Sachs< gelesen, Lisaweta
Nicolajewna?« -- »Was ist das?«

»Das ist eine Erzählung. Ich habe Sie als Student mal gelesen ... Da
läßt ein Mann seine Frau auf der Villa wegen Untreue verhaften ...[53]
Ah, nun, zum Teufel damit! Sie werden sehen, daß Mawrikij Nicolajewitsch
Ihnen, noch bevor Sie zu Hause ankommen, einen Heiratsantrag macht. Er
sieht uns noch immer nicht.«

»Ach, möge er uns auch nicht sehen!« rief Lisa plötzlich in großer
Angst. -- »Gehen wir fort, fort! In den Wald, aufs Feld!« Und sie lief
zurück.

»Aber Lisaweta Nicolajewna, das ist doch so kleinmütig!« rief Pjotr
Stepanowitsch hinter ihr drein. »Und warum wollen Sie denn nicht, daß er
Sie sieht? Im Gegenteil, blicken Sie ihm offen und stolz in die Augen
... Wenn Sie etwa _deswegen_ ... ich meine, wegen der ... Jungfernschaft
... so ist das doch das größte Vorurteil von allen, ist doch eine solche
Rückständigkeit ... Aber wohin gehen Sie denn, wohin? Teufel, da läuft
sie nun ... Kehren wir doch lieber zu Stawrogin zurück! Nehmen wir meine
Droschke! ... Wohin laufen Sie? Dort ist das Feld, und ... So! -- da ist
sie nun gefallen!«

Er blieb stehen. Lisa war wie ein Vogel davongeflogen, ohne zu wissen,
wohin. Pjotr Stepanowitsch war schon auf fünfzig Schritt
zurückgeblieben. Da stolperte sie über einen kleinen Erdhügel und fiel.

Im selben Augenblick hörte man einen kurzen Schrei: das war Mawrikij
Nicolajewitsch, der sie jetzt plötzlich erblickt und fallen gesehen
hatte, und im Augenblick schon quer über das Feld zu ihr lief.

Pjotr Stepanowitsch stand im Nu hinter dem Parktor und zog sich dann
schleunigst zurück, um sich ohne Zeitverlust in seine Droschke zu
setzen.

Mawrikij Nicolajewitsch aber stand schon, angstvoll erschrocken, neben
Lisa, half ihr aufstehen und hielt, über sie gebeugt, ihre Hand in
seinen Händen. Das Unglaubliche, Unmögliche, das in dieser Begegnung
lag, erschütterte ihn so, daß ihm Tränen über das Gesicht rannen. Er
hatte sie erblickt, wie sie, die er so andächtig verehrte, wie
wahnsinnig über das Feld lief, und das zu dieser Stunde, bei solchem
Wetter, im Kleide, im zarten Kleide von gestern, das jetzt zerdrückt und
vom Fall beschmutzt an ihr herabhing ... Er konnte kein Wort
hervorbringen, nahm hastig seinen Mantel ab und bedeckte mit zitternden
Händen ihre Schultern. Plötzlich schrie er auf: er hatte gefühlt, wie
sie mit ihren Lippen seine Hand berührte.

»Lisa!« rief er aus, »ich verstehe nichts, aber stoßen Sie mich nicht
von sich!«

»Oh, ja, gehen wir schnell von hier weg, verlassen Sie mich nicht!« und
sie zog ihn an der Hand mit sich fort.

»Mawrikij Nicolajewitsch,« erschreckt senkte sie die Stimme, »dort tat
ich die ganze Zeit sehr tapfer, aber hier fürchte ich den Tod. Ich werde
sterben, ich werde bald sterben, aber ich fürchte mich zu sterben,«
flüsterte sie, und preßte krampfhaft seine Hand.

»Oh, wenn doch irgend jemand! ...« er blickte sich in Verzweiflung um.
»Wenn doch ein Vorüberfahrender! Ihre Füße werden naß, Sie ... werden
den Verstand verlieren!«

»Tut nichts, tut nichts,« beruhigte sie ihn, »mit Ihnen zusammen fürchte
ich mich weniger, halten Sie mich an der Hand, führen Sie mich ... Wohin
gehen wir jetzt? Nach Hause? Nein, ich will zuerst die Leichen sehn! Die
Menschen sagen, daß man seine Frau ermordet hat, er aber sagt, er habe
sie selbst ermordet; aber das ist doch nicht wahr, das ist doch nicht
wahr? Ich möchte selbst die Ermordeten sehen ... die für mich ...
ihretwegen hat er diese Nacht aufgehört, mich zu lieben ... Ich werde
sie sehen und alles erfahren. Schnell, schnell, ich kenne dieses Haus
... es hat dort gebrannt ... Mawrikij Nicolajewitsch, mein Freund,
verzeihen Sie mir Ehrlosen nicht! Warum mir verzeihen? -- Warum weinen
Sie? Geben Sie mir eine Ohrfeige und schlagen Sie mich tot hier auf dem
Felde, wie einen Hund!«

»Niemand ist jetzt Ihr Richter,« sagte Mawrikij Nicolajewitsch fest,
»möge Gott Ihnen verzeihen, am wenigsten von allen aber bin ich Ihr
Richter!«

Doch sonderbar wäre es, wollte man ihr Gespräch wiedergeben. Dabei
gingen sie weiter, Hand in Hand, schnell und eilig, wie Halbwahnsinnige
-- gerade in der Richtung zur Brandstätte.

Mawrikij Nicolajewitsch hatte noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben,
irgendwo einen Wagen anzutreffen, aber ringsum blieb alles still und
leer. Ein feiner, dünner Nebelregen verschleierte die ganze Landschaft.
Jedes Licht und jede Farbe sog er auf und verwandelte Nähe und Ferne,
Himmel und Erde unterschiedslos in eine einzige rauchige, bleierne
Masse. Es war schon längst Tag und doch schien es noch nicht hell
geworden zu sein. Und plötzlich tauchte aus diesem rauchigen, kalten
Nebel eine Gestalt auf und kam den beiden entgegen, eine eigentümliche,
seltsame Figur.

Ich glaube, ich hätte meinen Augen nicht getraut, wenn ich an Lisaweta
Nicolajewnas Stelle gewesen wäre; sie aber, im Gegenteil, sie schrie
freudig auf und erkannte den Menschen sofort: Es war Stepan
Trophimowitsch.

Auf welche Weise er aus dem Hause gekommen war, wie er den Gedanken der
Flucht, diese erklügelte Idee, verwirklicht hatte -- davon später.

Er wird wohl schon an diesem Morgen Fieber gehabt haben, aber selbst die
Krankheit, von der er übrigens selber vielleicht nichts gemerkt hat,
vermochte ihn nicht zurückzuhalten. Tapfer stapfte er auf dem vom Regen
aufgeweichten Wege darauf los. Offenbar hatte er bei seinem Unternehmen
möglichst allein sein wollen, trotz seiner ganzen Lebensunerfahrenheit.

Angezogen war er reisemäßig, das heißt, er hatte einen Mantel an, der
von einem breiten lackledernen Gurt zusammengehalten wurde. Die
Beinkleider staken in hohen, glänzenden Stiefelschäften, in denen er
noch nicht recht zu gehen verstand. Augenscheinlich war alles neu und
erst in diesen Tagen angeschafft. Ein Hut mit breitem Rand, ein
wollener, fest um den Hals geschlungener Schal, ein Stock in der rechten
Hand und in der Linken ein kleiner, aber sehr fest vollgestopfter
Reisesack, vollendeten sein Kostüm. In derselben rechten Hand hielt er
dann noch einen aufgespannten Regenschirm. Diese drei Gegenstände zu
schleppen, den Regenschirm, den Stock und den Handkoffer, war ihm schon
in der ersten Stunde recht unbequem, in der zweiten aber bereits
furchtbar schwer.

»Sind Sie das wirklich?« rief Lisa, und betrachtete ihn mit einem
traurigen Erstaunen, nachdem der erste Ausbruch ihrer unbewußten Freude
vorüber war.

»_Lise!_« fuhr Stepan Trophimowitsch auf. »_Chère, chère_, sind Sie es
wirklich ... in diesem Nebel? Sehen Sie, das Morgenrot! _Vous êtes
malheureuse, n'est-ce pas?_{[191]} Ich sehe, ich sehe schon, erzählen
Sie nichts und fragen Sie auch mich nicht. _Nous sommes tous malheureux,
mais il faut les pardonner tous. Pardonnons, Lise_,{[192]} und wir
werden frei sein auf ewig. Um sich von der Welt zu lösen und vollständig
frei zu werden -- _il faut pardonner, pardonner et pardonner_!«{[193]}

»Aber warum knien Sie denn vor mir nieder?«

»Weil ich, indem ich von der Welt Abschied nehme, in Ihrem Bilde von
meinem ganzen vergangenen Leben Abschied nehmen will!« Er weinte und
führte ihre beiden Hände an seine verweinten Augen. »Ich knie jetzt vor
allem, was in meinem Leben schön war, ich küsse es und danke ihm! Jetzt
habe ich mich in zwei Hälften geteilt: dort der Wahnsinnige, der vom
Himmel träumte, _vingt-deux ans_!{[194]} hier der niedergebeugte und
verfrorene alte Erzieher ... _chez ce marchand, s'il existe pourtant ce
marchand_{[195]} ... Aber wie Sie durchnäßt sind, _Lise_!« rief er
plötzlich, wieder aufstehend, denn er fühlte, daß auch seine Knie auf
der feuchten Erde naß geworden waren. »Und wie ist das möglich, Sie in
diesem Kleide? ... und zu Fuß, und auf freiem Felde ... Sie weinen?
_Vous êtes malheureuse?_ Ja richtig, ich habe doch etwas gehört ... Aber
woher kommen Sie denn?« verdoppelte er seine Fragen, mit tiefer
Verwunderung Mawrikij Nicolajewitsch ansehend, »_mais savez-vous l'heure
qu'il est_?«{[196]}

»Stepan Trophimowitsch, haben Sie dort etwas von Ermordeten gehört ...
Ist es wahr? Ist es wahr?«

»Diese Menschen! Ich sah den Feuerschein ihrer Taten die ganze Nacht am
Himmel. Sie konnten ja gar nicht anders enden!« (Seine Augen flammten
wieder auf.) »Ich laufe aus dem Dunst eines Fiebertraumes, laufe und
suche Rußland, -- _existe-t-elle la Russie? Bah, c'est vous, cher
capitaine!_{[197]} Niemals habe ich daran gezweifelt, daß ich Sie bei
einem großen Ereignis treffen würde. ... Nehmen Sie aber wenigstens
meinen Schirm! Und -- warum denn gerade zu Fuß? Um Gottes willen, nehmen
Sie doch wenigstens meinen Schirm, denn ich werde sowieso irgendwo ein
Fuhrwerk mieten. Sehen Sie, ich bin darum zu Fuß, weil _Stasie_« (das
heißt: Nastassja) »es sonst durch die ganze Stadt geschrien hätte, daß
ich fortfahre! So bin ich möglichst inkognito entschlüpft. Ich weiß
nicht, in der Zeitung schreibt man jetzt von Mord und Totschlag auf den
Landstraßen -- aber es kann doch nicht sein, denke ich, daß mich Räuber
überfallen? _Chère Lise_, sagten Sie nicht, man hätte jemand ermordet?
_Oh, mon Dieu_,{[198]} wie sehen Sie aus?«

»Gehen wir, gehen wir!« rief Lisa wieder hysterisch weinend, und zog
Mawrikij Nicolajewitsch mit sich fort. »Warten Sie, Stepan
Trophimowitsch,« sie kehrte plötzlich zu ihm zurück, »warten Sie, lieber
Armer, ich werde Sie segnen. Vielleicht wäre es besser, Sie zu binden,
aber ich segne Sie lieber. Beten auch Sie für die >arme< Lisa -- so, ein
wenig, ohne sich zu sehr anzustrengen, ja? Mawrikij Nicolajewitsch,
geben Sie diesem Kinde seinen Schirm wieder, geben Sie unbedingt,
unbedingt! So ... Gehen wir, gehen wir!«

Sie langten vor dem verhängnisvollen Hause gerade in dem Augenblicke an,
als die Volksmenge, die sich dort angesammelt hatte, davon sprach, wie
vorteilhaft es für Stawrogin doch sei, daß man »seine Frau« ermordet
hatte. Einige waren sehr erregt. Andere hörten schweigend zu. Am
lebhaftesten ging es wie gewöhnlich unter den Angetrunkenen her:
Schreihälse, Leute aller Art standen in Gruppen zusammen und erörterten
heftig gestikulierend das Geschehene. Besonders fiel mir wieder jener
Kleinbürger auf, der Schmied, den man sonst als stillen Menschen kannte,
der aber, wenn ihn etwas seelisch aus dem Gleichgewicht brachte, dann
plötzlich aus Rand und Band geraten konnte.

Ich habe davon, was jetzt geschah, nicht alles gesehen: zu oft schob
sich die Menge vor.

Zuerst erblickte ich Lisa, plötzlich mitten im dichtesten Haufen, und
ich erstarrte vor Schreck. Mawrikij Nicolajewitsch sah ich dagegen
nicht, wahrscheinlich war er im Gedränge von ihr abgekommen, vielleicht
nur auf ein paar Schritte. Natürlich mußte Lisa, die sich wie eine
Irrsinnige durch die Menge drängte, allen auffallen, alle erregen.

»Da ist die Stawroginsche!« rief mit einemmal jemand.

»Sie morden nicht nur, sie wollen sich die Bescherung auch noch
ansehen!« rief ein anderer.

In diesem Augenblick sah ich, wie über ihrem Haupte eine Hand sich erhob
und auf sie niederschlug.

Lisa stürzte zu Boden.

Hinter ihr ertönte ein wilder Schrei und Mawrikij Nicolajewitsch suchte
sich mit aller Kraft zu ihr Bahn zu brechen und riß und stieß den
Menschen, der ihm im Wege stand. Da wurde auch er schon von eben jenem
Kleinbürger gepackt und zu Boden geworfen. Für einen Augenblick
verschwamm alles im Gewühl. Einmal sah ich auch Lisa wieder: sie hatte
sich erhoben, aber da traf sie schon ein zweiter, noch furchtbarerer
Schlag. Ich konnte nichts mehr sehen. Da drängte aber die Menge schon
zurück, es bildete sich ein leerer Kreis um die wie tot Daliegende: über
sie gebeugt sah ich Mawrikij Nicolajewitsch, blutüberströmt, wimmernd
vor Schmerz und verzweifelnd die Hände ringend. Ich weiß nicht mehr, was
weiter geschah. Aber ich erinnere mich noch, wie ich plötzlich sah, daß
man Lisa davontrug: man sagte, sie lebte noch.

Der Schmied und noch drei andere wurden verhaftet. Vor Gericht erklärten
sie später, daß sie selbst nicht wüßten, wie es eigentlich geschehen
war. Auch ich war als Zeuge geladen und auch ich konnte nichts anderes
aussagen, als daß es sich meiner Meinung nach um eine jähe, blinde und
gleichsam zufällige Tat der Menge gehandelt hatte, um eine fast
unbeabsichtigte, ja fast sogar unbewußte Tat, bei der es Schuldige
eigentlich nicht gab. Das ist auch jetzt noch meine Meinung.




                          Neunzehntes Kapitel.
                          Der letzte Beschluß


                                   I.

An diesem Morgen ist Pjotr Stepanowitsch von sehr vielen gesehen worden,
und sie alle sagen jetzt aus, er habe sich in einem ungewöhnlich
angeregten Zustande befunden.

Um zwei Uhr nachmittags sprach er bei Gaganoff vor, der erst vor einem
Tage von seinem Gut in die Stadt gekommen war und bei dem sich nun ein
ganzer Schwarm von Gästen eingefunden hatte, die alle viel und eifrig
über die Ereignisse sprachen. Dort hatte Pjotr Stepanowitsch dann noch
weit mehr als die anderen gesprochen und schließlich auch erreicht, was
er wollte. Vor allem sprach er über Julija Michailowna, ein Thema, das
nach dem Vorgefallenen natürlich ungemein interessierte. Er erzählte von
ihr, als ihr Vertrauter, der er kürzlich noch gewesen war, viele
unerwartete Einzelheiten, und aus Versehen, selbstredend nur aus
Versehen, teilte er einige ihrer Bemerkungen über einzelne allen
bekannte Persönlichkeiten mit, womit er sofort die Eigenliebe mehrerer
Anwesenden empfindlich traf. Es kam bei ihm heute alles so unklar und
wirr heraus, ganz so wie bei einem nicht sehr schlauen Menschen, der
sich von seinem ehrlichen Gewissen gezwungen sieht, so schnell wie
möglich einen ganzen Berg angesammelter Mißverständnisse abzutragen, und
der nun in seiner gradherzigen Ungewandtheit selbst nicht weiß, wo er
anfangen und wo er enden soll. Ziemlich unvorsichtig, selbstverständlich
nur unvorsichtig wirkte es auch, als er die Bemerkung fallen ließ, daß
Julija Michailowna um das Ehegeheimnis Stawrogins gewußt und die ganze
Intrige geleitet habe. In dieser Weise habe sie dann auch ihn, Pjotr
Stepanowitsch, »hereingezogen«, weil er doch auch in diese arme Lisa
verliebt war, und dabei habe sie ihn sogar so »gehandhabt«, daß er Lisa
_beinahe_ selbst im Wagen zu Stawrogin begleitet hätte.

»Ja, ja, meine Herren, Sie haben gut lachen, aber wenn ich nur gewußt
hätte, wenn ich's nur gewußt hätte, womit das alles enden würde!« schloß
er sein Gerede.

Auf verschiedene erregte Fragen nach Stawrogin erklärte er noch, und
zwar mit unerschütterlicher Bestimmtheit, daß die ganze Katastrophe mit
den Lebädkins bloß ein reiner Zufall wäre: schuld an ihr sei einzig und
allein Lebädkin selbst, da er das erhaltene Geld offen in den Kneipen
gezeigt hatte. Das setzte er ganz besonders gut auseinander.

Einer der Zuhörer bemerkte darauf, daß er sich vergeblich »verstelle«,
daß er im Hause Julija Michailownas gegessen, getrunken und fast schon
geschlafen habe, nun aber sie als erster verleumde -- was doch wohl
nicht gerade so schön sei, wie er zu glauben scheine.

Doch Pjotr Stepanowitsch verteidigte sich sofort:

»Ich habe nicht deswegen dort gegessen und getrunken, weil ich kein Geld
für meine Kost ausgeben wollte, und kann nichts dafür, daß man mich
immer eingeladen hat. Im übrigen erlauben Sie mir wohl, selbst zu
beurteilen, wie viel Dankbarkeit ich dafür jemandem schuldig bin.«

Der Eindruck, den seine langen, krausen Reden machten, war im
allgemeinen für ihn durchaus vorteilhaft. »Mag er auch nicht von weitem
her sein,« meinte man im allgemeinen, denn einige in dem Kreise hielten
ihn in der Tat nur für einen unbedeutenden Studenten oder für nicht sehr
viel mehr, »aber was kann er denn für Julija Michailownas Dummheiten? Im
Gegenteil, jetzt stellt es sich ja heraus, daß er sie noch
zurückgehalten hat ...«

Plötzlich, noch während er bei Gaganoff war, bald nach zwei Uhr, kam die
Nachricht, daß Stawrogin, über den so viel geredet wurde, mit dem
Mittagszuge nach Petersburg abgereist sei. Diese Kunde überraschte alle
nicht wenig und erregte neue Dispute; viele runzelten die Stirn. Pjotr
Stepanowitsch war so betroffen, daß, wie man erzählt, sein ganzes
Gesicht sich veränderte und er sonderbar ausrief: »Wer hat ihn denn
fortlassen können?« Und er verließ sogleich die Gesellschaft. Aber man
hat ihn an diesem Tage noch in drei oder vier anderen Häusern gesehen.

In der Dämmerstunde gelang es ihm endlich, wenn auch erst nach vieler
Mühe, zu Julija Michailowna, die nichts mehr von ihm wissen wollte,
vorzudringen. Von dieser ihrer Begegnung erfuhr ich erst drei Wochen
später, und zwar von Julija Michailowna selbst, -- es war kurz vor ihrer
Abreise nach Petersburg: sie teilte mir allerdings nichts Näheres mit,
sondern bemerkte nur zusammenschaudernd, er hätte sie damals »über alle
Maßen in Erstaunen versetzt«. Ich nehme an, daß er ihr einfach gedroht
hat, sie als Helfershelferin anzuzeigen, wenn es ihr einfiele, irgend
etwas zu »sagen«. Die Notwendigkeit aber, sie einzuschüchtern, war mit
seinen damaligen Absichten, die sie natürlich nicht kannte, eng
verbunden, und erst später, nach fünf Tagen, erriet sie, warum er ihrem
Schweigen noch nicht getraut und sich vor neuen Ausbrüchen ihres
Unwillens gefürchtet hatte.

Es war gegen acht Uhr abends und schon ganz dunkel, als am Rande der
Stadt, in einem kleinen, schiefen Häuschen, in dem der Fähnrich Erkel
wohnte, die _Unsrigen_ sich versammelten. Diese Zusammenkunft der »Fünf«
war von Pjotr Stepanowitsch selbst angesagt worden, er aber, der
präsidieren sollte, verspätete sich unverzeihlich: die fünf warteten
schon über eine Stunde auf ihn. Der junge Erkel war derselbe Fähnrich,
der an jenem Abend bei Wirginski die ganze Zeit mit einem Bleistift in
der Hand und einem Notizbuch vor sich stumm dagesessen hatte. Er war vor
nicht langer Zeit bei uns eingetroffen, hatte sich in einer stillen
Gasse am Rande der Stadt bei zwei alten Schwestern aus dem Bauernstande
eingemietet und sollte schon bald wieder wegreisen. Bei ihm nun war es
wohl am unauffälligsten, sich zu versammeln. Dieser sonderbare Junge
zeichnete sich durch eine ganz außergewöhnliche Schweigsamkeit aus: er
konnte zehn Abende in lustiger Gesellschaft und bei den ungewöhnlichsten
Gesprächen zubringen, ohne selbst ein Wort zu sprechen, und bloß mit
seinen großen Kinderaugen aufmerksam die Sprechenden beobachten und
ihnen zuhören. Sein Gesicht war reizend und sogar durchaus nicht dumm.
Zur »Fünf« gehörte er zwar nicht, doch die anderen glaubten, er hätte
irgendwelche besonderen Aufträge. Jetzt weiß man, daß er überhaupt keine
Aufträge gehabt hat und vielleicht selbst nicht einmal seine Stellung zu
den anderen begriff. Er richtete sich einfach in allen Dingen nach Pjotr
Stepanowitsch, den er erst vor kurzem kennen gelernt hatte. Ich glaube,
wenn er statt seiner irgendein Monstrum kennen gelernt hätte und von
diesem unter irgendeinem sozial-romantischen Vorwande überredet worden
wäre, eine Räuberbande zu gründen und zur Kraftprobe irgendeinen ersten
Besten zu ermorden und zu bestehlen -- er hätte es getan, er wäre
hingegangen und hätte den ersten Besten ermordet und bestohlen. Er besaß
noch irgendwo eine kranke Mutter, der er die Hälfte seines armseligen
Gehaltes zuschickte, -- wie muß die wohl dieses blonde Köpfchen ihres
Einzigen geküßt, wie für ihn gezittert, wie für ihn gebetet haben! Ich
erzähle so viel von ihm, weil er mir so leid tut.

Die Versammelten waren sehr erregt. Die Ereignisse der letzten Nacht
hatten sie doch betroffen gemacht, und ich glaube, ihnen war sogar recht
bange geworden. Der simple, wenn auch systematisch vorbereitete Skandal,
an dem sie bis jetzt so eifrig Anteil genommen, hatte sich plötzlich auf
eine für sie ganz unerwartete Weise entladen. Der Brand, die Ermordung
der Lebädkins, die Wut des Volkes auf Lisa und deren Tod -- das waren
lauter Überraschungen, die sie in ihrem Programm nicht vorgesehen
hatten. Erregt warfen sie der sie lenkenden Hand Despotismus und
Unaufrichtigkeit vor, und, während sie nun auf Pjotr Stepanowitsch
warteten, redeten sie sich so in Hitze, daß sie zum Schluß beschlossen,
endgültig eine kategorische Erklärung von ihm zu verlangen; sollte er
aber auch diesmal eine Antwort umgehen wollen, so wollte man die »Fünf«
einfach auflösen und an ihrer Stelle einen neuen geheimen Verband zur
»Propaganda der Idee« gründen -- jetzt aber von sich aus und auf
wirklich gleichberechtigenden und demokratischen Grundsätzen. Liputin,
Schigaleff und der Volkskenner unterstützten besonders diesen Gedanken.
Lämschin schwieg, doch sah er einverstanden aus. Wirginski war noch
unentschlossen und wollte erst noch Pjotr Stepanowitsch anhören. Und so
kam denn der Beschluß zustande, nach dem man zuerst Pjotr Stepanowitsch
noch einmal vernehmen sollte. Dieser aber kam noch immer nicht; eine
solche Vernachlässigung trug entschieden nicht zur Beruhigung der
Gemüter bei. Erkel schwieg natürlich und reichte bloß den Tee herum, den
er persönlich von den beiden Schwestern in Gläsern auf einem Teebrett
brachte, da er das Dienstmädchen nicht hereinlassen wollte und auch den
Samowar nicht im Zimmer aufstellen ließ.

Endlich erschien Pjotr Stepanowitsch. Es war schon neun Uhr. Er trat mit
schnellen Schritten an den runden Tisch vor dem Sofa, an dem die
Gesellschaft Platz genommen hatte, behielt die Mütze in der Hand und für
Tee dankte er. Er sah böse, streng und hochmütig aus. Offenbar hatte er
den Gesichtern sofort angemerkt, daß man »rebellierte«.

»Bevor ich meinen Mund aufmache, bringen Sie Ihre Sachen vor. Scheinen
ja so was zu beabsichtigen,« bemerkte er mit einem bösen Spottlächeln,
während seine Augen über die Physiognomien glitten.

Da begann Liputin »im Namen aller« und erklärte mit einer Stimme, der
man das Gekränktsein anhörte, daß man, wenn man so fortfahren wollte, um
seinen eigenen Kopf spielte. Oh, nicht, daß sie sich fürchteten, nein,
durchaus nicht, und sie seien sogar zu allem bereit, jedoch nur für die
allgemeine Sache! (Bewegung und Zustimmung der anderen.) Darum soll man
aber aufrichtig zu ihnen sein, damit sie im voraus Bescheid wüßten, denn
»wohin soll das sonst führen?« (wieder zustimmende Bewegung und ein paar
dumpfe Kehllaute). So zu handeln sei aber erniedrigend und gefährlich
... Nicht, daß man sich fürchte, wie gesagt, aber wenn nur ein einziger
handeln wolle und die anderen bloß gehorchen müßten, so könne zum
Beispiel dieser eine lügen und die anderen fielen dann alle »wie die
Tölpel herein«, (Ausrufe: ja, ja! Allgemeine Zustimmung.)

»Zum Teufel, was wollen Sie denn?«

»Was für eine Beziehung haben die Intrigen des Herrn Stawrogin zu der
allgemeinen Sache?« brauste Liputin auf. »Mag er da meinetwegen auf
irgendeine geheimnisvolle Weise zur Zentrale gehören, -- wenn nur diese
phantastische Zentrale überhaupt existiert! -- Das ist es, was wir
wissen wollen! Und währenddessen wird ein Mord begangen, die Polizei
aufgeweckt -- und nach dem Faden kann man bis zum Knäuel gehen.«

»Sie werden mit diesem Stawrogin schon hereinfallen, und wir
gleichfalls,« fügte der Volkskenner hinzu.

»Und ganz unnütz für die allgemeine Sache,« schloß Wirginski wehmütig.

»Welch ein Blödsinn! Dieser Mord ist ein Zufall, von Fedjka begangen, um
zu rauben.«

»Hm! Ein merkwürdiges Zusammentreffen,« meinte Liputin gewunden.

»Aber wenn Sie wollen, so sind gerade Sie daran schuld.«

»Wieso ich?«

»Ja, gerade Sie. Erstens haben Sie selbst an dieser Intrige
teilgenommen, und zweitens, die Hauptsache, Ihnen war befohlen, Lebädkin
fortzuschicken, das Geld hatten Sie schon erhalten -- was aber taten
Sie? Wenn Sie ihn fortgeschickt hätten, wäre nichts passiert.«

»Was? Aber waren denn Sie es nicht selbst, der die Idee gab, daß es
nicht übel wäre, wenn man ihn das Gedicht vorlesen ließe?«

»Eine Idee ist kein Befehl. Der Befehl war: abschicken!«

»Befehl! Ein etwas sonderbarer Ausdruck ... Nein, im Gegenteil, Sie
befahlen ja gerade, das Abschicken aufzuschieben.«

»Sie haben sich getäuscht und nichts als Dummheit und Eigenmächtigkeit
gezeigt. Der Mord aber ist Fedjkas Sache, und der hat ihn aus keinem
anderen Grunde begangen, als dem, zu rauben. Sie hören bloß, daß man so
redet, und schon glauben Sie alles aufs Wort! Haben ja einfach Angst
bekommen! Stawrogin ist nicht so dumm, und der Beweis -- er ist um zwölf
Uhr mittags nach einer Aussprache mit dem Vizegouverneur fortgefahren:
wenn etwas derartiges gewesen wäre, so hätte man ihn nicht am hellichten
Tage nach Petersburg reisen lassen!«

»Aber wir behaupten ja gar nicht, daß Herr Stawrogin selber ermordet
hat!« versetzte Liputin bissig und schon ohne Zurückhaltung. »Er hat
sogar überhaupt nichts davon wissen können, ganz so wie ich; Sie aber
wissen nur zu gut, daß ich von nichts wußte, wenn ich auch gleichzeitig
selber wie ein Schaf in den Kessel kroch!«

»Wen beschuldigen Sie denn?« fragte Pjotr Stepanowitsch und sah ihn
finster an.

»Ja, eben dieselben, die es nötig haben, Städte in Brand zu stecken.«

»Das Dümmste ist dabei, daß Sie sich herauszureden suchen. Übrigens,
wollen Sie nicht so freundlich sein, das durchzulesen und dann den
anderen zu zeigen. Nur zur Kenntnisnahme.« Mit diesen Worten zog er
Lebädkins Brief an Lembke aus der Tasche und reichte ihn Liputin. Der
las den Brief augenscheinlich erstaunt durch und reichte ihn dann
nachdenklich dem nächsten. Der Brief machte schnell die Runde um den
Tisch.

»Ist das aber auch wirklich Lebädkins Handschrift?« erkundigte sich
Schigaleff.

»Ja, es ist seine Handschrift,« bestätigten Liputin und Tolkatschenko
(der Volkskenner).

»Ich zeigte ihn nur zur Kenntnisnahme, und da ich wußte, daß Sie sich
Lebädkins Tod so zu Herzen nehmen,« sagte Pjotr Stepanowitsch, indem er
den Brief wieder zu sich steckte. »Auf diese Weise hat uns nun Fedjka
vollkommen zufällig von einem sehr gefährlichen Menschen befreit. So
kann einem manchmal der _Zufall_ zustatten kommen! Lehrreich, nicht
wahr?«

Die fünf tauschten schnell vielsagende Blicke aus.

»Jetzt aber, meine Herren, ist die Reihe an mir, zu fragen,« sagte Pjotr
Stepanowitsch, und nahm eine steifere Haltung an. »Gestatten Sie mir,
Sie zu fragen, aus welchem Grunde Sie ohne Erlaubnis die Stadt in Brand
gesteckt haben?«

»Wa--as! Was heißt das? Wir die Stadt in Brand gesteckt? Der Kerl ist
wohl krank!« ertönten erregte Ausrufe in der Runde.

»Ich verstehe ja, Sie waren schon zu sehr in Schwung gekommen,« fuhr
Pjotr Stepanowitsch unbeirrt fort, »aber so etwas ist doch nicht mehr
ein Skandälchen mit Julija Michailowna. Ich habe Sie, meine Herren,
hierhergerufen, um Ihnen die Größe der Gefahr zu zeigen, einer Gefahr,
die Sie sich so dumm auf den Hals geladen haben und die jetzt außer
Ihnen noch so viele andere bedroht.«

»Erlauben Sie, wir wollten gerade Sie auf diesen Grad von Despotismus,
mit dem man hinter dem Rücken der Mitglieder eine so ernste und zugleich
so sonderbare Maßregel getroffen hat, aufmerksam machen,« sagte fast
unwillig der bis dahin schweigsame Wirginski.

»Sie leugnen also? Ich aber behaupte, daß Sie die Stadt in Brand
gesteckt haben, Sie allein, meine Herren, und sonst niemand. Meine
Herren, leugnen Sie es nicht, ich bin genau unterrichtet. Mit Ihrer
eigenmächtigen Handlung haben Sie sogar die allgemeine Sache der Gefahr
ausgesetzt. Sie sind hier nur ein einziger kleiner Knoten in einem
riesigen Netz, und sind der Zentrale blinden Gehorsam schuldig.
Währenddessen haben aber drei von Ihnen die Spigulinschen zur
Brandstiftung überredet, ohne dazu auch nur die geringste Instruktion zu
haben.«

»Welche drei? Wer das? Welche drei von uns?«

»Vorgestern haben Sie, Tolkatschenko, gegen vier Uhr nachts Fomka
Sawjäloff in der Kneipe >Zum Vergißmeinnicht< zur Brandstiftung
beredet.«

»Aber hören Sie mal!« rief dieser aufspringend. »Ich habe ihm kaum ein
Wort gesagt, ja, und selbst das ganz absichtslos, ganz einfach, nur so,
weil man ihn mit den anderen am Morgen geprügelt hatte! Und ich ließ es
gleich wieder bleiben, da ich sah, daß er doch zu betrunken war. Hätten
Sie mich jetzt nicht daran erinnert, so würde ich es überhaupt ganz
vergessen haben! Von diesem einen Worte konnte kein Brand entstehen!«

»Sie sind wie der Mann, der sich wundert, daß von einem einzigen kleinen
Funken eine ganze Pulverfabrik in die Luft fliegt.«

»Ich habe es ihm in der Ecke und flüsternd ins Ohr gesagt ... Wie haben
Sie das überhaupt erfahren können?« fragte plötzlich Tolkatschenko,
selbst ganz betroffen.

»Ich saß dort unterm Tisch. Beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren,
ich weiß jeden einzelnen Ihrer Schritte. Sie belieben hämisch zu
lächeln, Herr Liputin? Ich weiß aber, zum Beispiel, daß Sie vorgestern
um Mitternacht in Ihrem Schlafzimmer Ihre Frau gekniffen haben.«

Liputin blieb der Mund offen und er wurde blaß.

(Später stellte es sich heraus, daß Pjotr Stepanowitsch von dieser
nächtlichen Heldentat Liputins durch dessen Magd Agafja, der er von
Anfang an für Spionage Geld gezahlt hatte, unterrichtet worden war.)

»Dürfte ich eine Tatsache konstatieren?« fragte plötzlich Schigaleff,
sich vom Stuhl erhebend.

»Konstatieren Sie.«

Schigaleff setzte sich und sammelte seine Gedanken.

»Soweit ich verstanden habe, und man kann ja da gar nichts mißverstehen,
haben Sie selbst in der ersten Zeit und später noch einmal äußerst
beredt -- wenn auch gar zu theoretisch -- von Rußland ein Bild
entworfen, nach dem es von einem endlosen Netz von Fünfergruppen bedeckt
ist. Jede der tätigen Gruppen hat, indem sie Proselyten macht und sich
ins Endlose verzweigt, die Aufgabe, mit systematisch sich ausbreitender
Propaganda das Ansehen der Regierung und ihrer Vertreter zu untergraben,
in den Dörfern Zweifel, Zynismus, Skandale, volle Glaubenslosigkeit um
jeden Preis zu verbreiten, was dann alles die Sehnsucht nach einem
besseren Zustande hervorrufen soll, und schließlich mit Brandstiftungen,
als dem volkstümlichsten Mittel, das Land im vorgeschriebenen Moment,
wenn's nicht anders geht, selbst ins Verderben zu stürzen. -- Sind das
Ihre Worte, die buchstäblich zu behalten ich mich bemüht habe? Ist das
Ihr Programm, das Sie in der Eigenschaft eines von dem Zentralkomitee
Bevollmächtigten uns mitgeteilt haben? eines zentralen, aber für uns bis
jetzt vollkommen unbekannten und nahezu phantastischen Komitees?«

»Allerdings, nur könnten Sie sich kürzer fassen.«

»Jeder hat das Recht, so zu sprechen, wie er spricht. Indem Sie uns zu
verstehen geben, daß es solcher einzelnen Knotenpunkte eines großen
Netzes, das ganz Rußland bedeckt, schon mehrere hundert gibt, und indem
Sie die Voraussetzung entwickeln, daß, falls jede Gruppe ihre Sache
erfolgreich macht, ganz Rußland zum festgesetzten Termin, auf das Signal
...«

»Ach, zum Teufel, auch ohne Sie hat man schon genug zu tun!« fiel ihm
Pjotr Stepanowitsch ungeduldig ins Wort und bewegte sich auf seinem
Sessel.

»Gut, ich werde mich kürzer fassen und nur noch eine Frage stellen: wir
haben doch schon mehrere Skandale hier gehabt, wir haben die
Unzufriedenheit der Bevölkerung gesehen, wir waren anwesend und
beteiligten uns bei dem Sturz der hiesigen Administration und, endlich,
sahen wir mit eigenen Augen den Brand. Womit sind Sie nun unzufrieden?
Ist das nicht Ihr Programm? Und wessen können Sie uns beschuldigen?«

»Der Eigenmächtigkeit!« schrie Pjotr Stepanowitsch jähzornig auf.
»Solange ich hier bin, haben Sie nicht das Recht, ohne meine Erlaubnis
zu handeln. Basta! Jetzt ist die Anzeige bereits fertig und vielleicht
morgen oder heute Nacht schon wird man Sie alle verhaften. Da haben Sie
es jetzt! Ich weiß es genau.«

Nun blieben schon alle Münder offen.

»Man wird Sie nicht nur als Brandstifter verhaften, sondern als >Fünfaberaber< ... und ich warte.«

»Ich glaube, ich sagte nicht >aber< ... Ich wollte nur sagen, daß, wenn
man sich dazu entschließt, so ...«

»So?«

Wirginski verstummte.

»Ich denke, man kann sich über die eigene Lebensgefahr hinwegsetzen,«
sagte plötzlich Erkel, der jetzt zum erstenmal den Mund auftat, »-- wenn
das aber der allgemeinen Sache schaden kann, so, denke ich, darf man es
nicht mehr wagen ... sich über die eigene Lebensgefahr hinwegzusetzen
...«

Er verwirrte sich und wurde rot. Wie beschäftigt auch ein jeder mit sich
selbst war, sie blickten ihn doch alle erstaunt an -- dermaßen
unerwartet kam es, daß auch er einmal sprach.

»Ich bin für die allgemeine Sache,« sagte plötzlich Wirginski leise.

Alle erhoben sich von den Plätzen. Es wurde beschlossen, einander am
nächsten Tage um die Mittagszeit noch einmal zu benachrichtigen, ohne
daß sich alle zu versammeln brauchten, und dann alles endgültig
festzusetzen. Die Stelle, wo die Setzmaschine vergraben war, wurde
mitgeteilt, und jedem seine Rolle und seine besondere Aufgabe
eingeschärft. Darauf begaben sich Liputin und Pjotr Stepanowitsch, ohne
Zeit zu verlieren, zu Kirilloff.


                                  II.

An Schatoffs Denunziation zweifelte niemand; aber auch daran, daß Pjotr
Stepanowitsch mit ihnen wie mit Hampelmännern spielte, zweifelte
niemand. Trotzdem wußten sie alle, daß sie am nächsten Tage vollzählig
zum Stelldichein erscheinen würden, und sie wußten, daß Schatoffs
Schicksal entschieden war. Sie hatten das Gefühl, wie Fliegen in das
Spinngewebe einer großen, giftigen Spinne gefallen zu sein; sie waren
alle erbost, aber sie zitterten vor Angst.

Pjotr Stepanowitsch hatte zweifellos sträflich unrecht an ihnen getan;
es wäre alles viel harmonischer und _leichter_ gewesen, wenn er sich nur
ein wenig bemüht hätte, die Wirklichkeit zu verschönen. Anstatt
die Tat in einem anständigen Licht zu zeigen, sie als eine
altrömisch-staatsbürgerliche Heldentat oder etwas Ähnliches auszumalen,
hatte er nur die plumpe Angst vor sie hingestellt und die Gefahr für die
eigene Haut, was doch schon einfach unhöflich war. Natürlich: alles ist
nur Kampf ums Dasein, und ein anderes Prinzip gibt es überhaupt nicht,
das weiß doch ein jeder, aber schließlich ... immerhin ...

Doch Pjotr Stepanowitsch hatte keine Zeit, die alten Römer und ihre
Tugenden heraufzubeschwören. Die Flucht Stawrogins hatte ihn für einen
Augenblick vollständig aus der Fassung gebracht. Daß Stawrogin vor
seiner Abfahrt den Vizegouverneur gesprochen habe, hatte er ihnen
einfach vorgelogen: das war es ja gerade, daß er fortgefahren war, ohne
auch nur einen Menschen zu sehen, selbst die eigene Mutter nicht! Und
war es nicht tatsächlich rätselhaft, daß man ihn so ganz unbehelligt
gelassen hatte? (Späterhin mußte die Stadtobrigkeit darüber besondere
Rechenschaft geben.) Pjotr Stepanowitsch hatte sich den ganzen Tag
überall nach Näherem erkundigt, jedoch nichts erfahren. Noch nie war er
so beunruhigt, so erregt gewesen. Aber wie sollte er denn auch so
einfach, so plötzlich auf Stawrogin verzichten können! Das war der
Grund, warum er mit den »Unsrigen« nicht so rücksichtsvoll umging. Dazu
banden sie ihm noch die Hände: er wollte Stawrogin sofort nachfahren,
und statt dessen mußte er hier bleiben, um vorher noch auf alle Fälle
die fünf »unlösbar zusammenzubinden«. Sein Vorhaben mit Schatoff hielt
ihn zurück. »Werde doch diese fünf nicht umsonst aus der Hand lassen,
können mir noch sehr zustatten kommen.« So ungefähr wird er wohl bei
sich gedacht haben, denke ich mir.

Pjotr Stepanowitsch war wirklich fest überzeugt, daß Schatoff
denunzieren werde. Alles, was er den »Unsrigen« von der Anzeige gesagt
hatte, war natürlich gelogen, denn nie hatte er eine solche bei Schatoff
gesehen, noch ähnliches von seinen Spionen gehört; aber er war nun
einmal überzeugt davon und konnte sich folglich nichts anderes denken.
Er glaubte, Schatoff werde auf keinen Fall das jetzt Geschehene ruhig
hinnehmen -- den Tod Lisas, Marja Timofejewnas Ermordung -- und sich
gerade jetzt zur Denunziation entschließen. Wer kann es wissen,
vielleicht hatte er auch einige Gründe, gerade das von Schatoff zu
erwarten. Bekannt ist jetzt nur, daß er Schatoff persönlich haßte. Es
hatte einmal einen Streit zwischen ihnen gegeben, Pjotr Stepanowitsch
aber verzieh nie eine Beleidigung. Ich glaube sogar, daß dieses
Persönliche der hauptsächlichste Beweggrund war.

Die Bürgersteige sind in unserer Stadt sehr schmal, doch Pjotr
Stepanowitsch schritt gerade in der Mitte, somit den ganzen Fußweg mit
seiner Person einnehmend, und ohne Liputin überhaupt zu beachten. Dieser
mußte nun entweder einen Schritt hinter ihm herlaufen oder, um mit ihm
sprechen zu können, auf der schmutzigen Fahrstraße neben ihm traben.
Plötzlich erinnerte sich Pjotr Stepanowitsch, wie er selbst vor zwei
Tagen so durch den Schmutz gelaufen war, um mit Stawrogin, der ganz so
wie er jetzt mitten auf dem Bürgersteig ging, Schritt halten und
sprechen zu können. Ihm fiel der ganze Weg zu Wirginski ein und eine
grenzenlose Wut ergriff ihn jäh.

Doch auch Liputin verging der Atem vor Wut ob dieser beleidigenden
Unhöflichkeit. Mochte Pjotr Stepanowitsch mit den »Unsrigen« umgehen,
wie er wollte, aber mit ihm? -- mit ihm! Er, Liputin, _wußte_ doch mehr
von der ganzen Geschichte, als alle die anderen der »Fünf«, er stand der
Sache doch am nächsten, war am intimsten eingeweiht und hatte doch
bisher, wenn auch nur mittelbar, aber jedenfalls erfolgreich, bei allen
diesen Anzettelungen mitgewirkt! Oh, er wußte, daß Pjotr Stepanowitsch
ihn sogar schon jetzt vernichten konnte, wenn es ihm darauf ankam, sagen
wir, in einem _äußersten Fall_. Aber er haßte ihn schon lange; und weit
mehr noch, als wegen dieser Gefahr, haßte er ihn wegen seines
anmaßend-hochmütigen Verhaltens. Und jetzt, wo man sich zu einer solchen
Sache entschließen mußte, erboste er sich über diese Umgangsart mehr als
alle die anderen zusammen. Doch ach, trotzdem wußte er, daß er morgen
bestimmt als erster »wie ein Sklave« zur Stelle sein und womöglich noch
die anderen heranschleppen werde! Aber wenn er jetzt, noch vor morgen,
diesen Pjotr Stepanowitsch auf irgendeine Weise hätte totschlagen
können, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, so hätte er es unbedingt
getan.

In seine Empfindungen versunken, schwieg er und trottete hinter seinem
Quälgeist her, der ihn ganz vergessen zu haben schien. Da blieb Pjotr
Stepanowitsch plötzlich auf einer unserer belebtesten Straßen stehen und
trat in ein Gasthaus.

»Wohin denn?« rief erschrocken Liputin. »Das ist doch ein Gasthaus!«

»Ich will ein Beefsteak essen.«

»Ich bitte Sie! ... aber hier ist es doch allezeit vollgepfropft!«

»Macht nichts.«

»Aber ... wir verspäten uns! Es ist schon gleich zehn.«

»Zu dem da kann man nie zu spät kommen.«

»Aber ich komme dann doch zu spät! Die warten doch dort auf mich!«

»Na, mögen sie doch. Es wäre nur dumm von Ihnen, wenn Sie zu jenen noch
zurückkehrten. Dank der Schererei mit Ihnen da habe ich heute noch nicht
zu Mittag gespeist. Zu Kirilloff aber kommt man je später, desto
besser.«

Pjotr Stepanowitsch wünschte in einem besonderen Zimmer zu speisen.
Liputin setzte sich geärgert und gekränkt in einen Sessel und sah zu,
wie er aß. Es verging eine gute halbe Stunde. Pjotr Stepanowitsch
beeilte sich nicht, aß mit großem Appetit, klingelte und verlangte
anderen Senf, darauf Bier und sprach die ganze Zeit über kein Wort. Er
war tief nachdenklich -- er konnte tatsächlich beides zugleich: mit
Appetit essen und tief nachdenklich sein. Liputins Haß steigerte sich
schließlich so weit, daß er nicht mehr fähig war, seine Blicke von ihm
loszureißen: das war fast schon eine Art Nervenkrampf. Er begleitete
jedes Stückchen Fleisch vom Teller bis zum Munde, und er haßte Pjotr
Stepanowitsch sogar schon dafür, wie er den Mund aufmachte, wie er
kaute, wie er die saftigeren Bissen sich schmecken ließ, ja er haßte
schließlich das Beefsteak selbst. Zum Schluß begann alles sich vor
seinen Augen zu drehen; dazu im Kopf ein leises Schwindelgefühl; heiß
und kalt lief es ihm abwechselnd über den Rücken.

»Sie haben nichts zu tun, lesen Sie dies,« sagte plötzlich Pjotr
Stepanowitsch und warf ihm ein Blatt Papier zu.

Liputin näherte sich dem Licht. Das Papier war mit einer kleinen,
unleserlichen Handschrift eng beschrieben und fast auf jeder Zeile
korrigiert. Als er es durchgelesen, bemerkte er, daß Pjotr Stepanowitsch
schon bezahlt hatte und bereits im Begriff war, fortzugehen. Auf der
Straße reichte ihm Liputin das Papier zurück.

»Behalten Sie es,« sagte Pjotr Stepanowitsch, »werde Ihnen später sagen,
wozu. Übrigens: wie finden Sie es?«

Liputin erbebte förmlich vor Wut.

»Ich finde ... eine solche Proklamation ... ist nichts weiter als eine
einzige blödsinnige Lächerlichkeit ...«

Seine Wut brach durch; es war ihm, als werde er plötzlich hochgehoben
und weggetragen.

»Wenn wir uns entschließen,« sagte er, am ganzen Körper vibrierend,
»solche Proklamationen zu verbreiten, so erreichen wir nur, daß man uns
ob unserer Dummheit und Unkenntnis der wahren Verhältnisse einfach
verachtet!«

»Hm! Ich denke anders,« meinte Pjotr Stepanowitsch, fest
weiterschreitend.

»Ich aber so. Sollten Sie das wirklich selbst verfaßt haben?«

»Das ist nicht Ihre Sache.«

»Ich glaube auch, daß das jämmerliche Gedicht >Die helle
Persönlichkeit<, diese erbärmlichste Reimerei, die es überhaupt geben
kann, nie und nimmer von Herzen selbst verfaßt worden ist!«

»Das ist nicht wahr, das Gedicht ist gut.«

»Ich wundere mich auch darüber,« fuhr Liputin zitternd und atemlos fort,
»wie man uns überhaupt anempfehlen kann, so zu handeln, daß alles
zusammenkracht. In Europa mag das zu wünschen, und für Europa mag's auch
das einzig Richtige sein, denn dort gibt es Proletariat, wir aber sind
hier, meiner Meinung nach, bloß Liebhaber und tun nur groß.«

»Ich dachte, Sie wären Fourierist.«

»Bei Fourier ist das ganz anders, ist es gar nicht das.«

»Ich weiß, daß es Unsinn ist.«

»Nein, das ist es nicht bei Fourier ... Verzeihung, aber ich kann
unmöglich glauben, daß im Mai der Aufstand beginnen werde!«

Liputin knöpfte sogar seinen Mantel auf, dermaßen heiß war ihm geworden.

»Na, genug davon. Jetzt aber, damit ich es nicht vergesse,« Pjotr
Stepanowitsch ging erstaunlich kaltblütig auf ein anderes Thema über,
»dieses Blatt werden Sie eigenhändig setzen und drucken. Schatoffs
Setzmaschine graben wir aus und morgen noch nehmen Sie sie zu sich. In
möglichst kurzer Zeit setzen Sie und drucken Sie so viele Exemplare
davon wie nur möglich, und dann werden wir sie den ganzen Winter über
verbreiten. Die Mittel werden Ihnen angewiesen werden. So viele
Exemplare wie nur möglich! Man wird sich von verschiedenen Stellen an
Sie wenden.«

»Nein, erlauben Sie schon, ich übernehme nicht eine solche ... Ich lehne
es ab.«

»Und werden es doch übernehmen. Ich handle nach der Instruktion der
Zentrale und Sie müssen gehorchen.«

»Ich glaube aber, daß unsere ausländischen Zentren die russische
Wirklichkeit vergessen und jede Verbindung mit ihr eingebüßt haben, und
darum einfach phantasieren ... Ich glaube sogar, daß statt der vielen
Hunderte von >Fünfer<-Gruppen in Rußland wir allein die einzige sind,
und ein Netz überhaupt nicht existiert!« keuchte Liputin endlich hervor.

»Um so verächtlicher von Ihnen, daß Sie, ohne an die Sache zu glauben,
ihr doch nachgelaufen sind ... und jetzt noch mir nachlaufen wie ein
Hündchen.«

»Nein, ich laufe nicht nach. Wir haben das volle Recht, zurückzutreten
und eine neue Gesellschaft zu gründen.«

»R--rrrüpel!« donnerte plötzlich Pjotr Stepanowitsch drohend und mit
blitzenden Augen.

Beide standen sich eine Zeitlang gegenüber. Dann wandte sich Pjotr
Stepanowitsch und setzte selbstbewußt seinen Weg fort.

Wie ein Blitz zuckte es durch Liputins Kopf:

»Ich kehre um und gehe zurück. Wenn ich jetzt nicht umkehre, so werde
ich nie mehr umkehren.«

So dachte er genau zehn Schritte lang, beim elften aber flammte in ihm
ein neuer und tollkühner Gedanke auf: er kehrte nicht um und ging nicht
zurück.

Sie näherten sich dem Filippoffschen Hause, doch noch bevor sie es
erreichten, bogen sie in eine Quergasse ein, oder richtiger, in einen
Fußweg auf dem abschüssigen Grabenrande am Zaun, an dem man sich halten
mußte, um nicht auszugleiten. An der dunkelsten Ecke dieses alten
schiefen Zaunes nahm Pjotr Stepanowitsch ein Brett heraus und kroch dann
selbst schnell durch die Öffnung. Liputin wunderte sich, kroch aber
trotzdem nach. Daran lehnten sie das Brett wieder so an, wie es vorher
gestanden hatte. Das war derselbe geheime Gang, durch den Fedjka sich
nachts zu Kirilloff stahl.

»Schatoff darf es nicht wissen, daß wir hier sind,« flüsterte Pjotr
Stepanowitsch in strengem Tone Liputin zu.


                                  III.

Kirilloff saß wie gewöhnlich um diese Zeit auf seinem harten Sofa beim
Tee. Er stand nicht auf, um den Eintretenden entgegenzugehen, warf nur
erschrocken den Oberkörper vor und sah ihnen erregt entgegen.

»Sie irren sich nicht,« sagte Pjotr Stepanowitsch, »ich komme deswegen
...«

»Heute?«

»Nein, nein, morgen ... ungefähr um dieselbe Zeit.«

Und Pjotr Stepanowitsch setzte sich schnell an den Tisch und betrachtete
mit einiger Unruhe Kirilloff. Der hatte sich aber schon wieder beruhigt
und sah wie gewöhnlich aus.

»Sehen Sie, diese da wollen es nicht glauben,« Werchowenski wies mit dem
Kopf auf Liputin. »Sie ärgern sich doch nicht darüber, daß ich ihn
mitgebracht habe?«

»Heute nicht. Aber morgen will ich es allein.«

»Aber nicht früher, als bis ich gekommen bin, und dann in meiner
Gegenwart --«

»Ich würde lieber nicht in Ihrer Gegenwart --«

»Sie erinnern sich doch noch, daß Sie versprachen, alles zu schreiben
und zu unterzeichnen, was ich Ihnen diktiere?«

»Mir ist alles einerlei. Aber werden Sie jetzt lange bleiben?«

»Ich muß einen gewissen Menschen sprechen und ungefähr eine halbe Stunde
bleiben, dann gehe ich, aber diese halbe Stunde bleibe ich noch.«

Kirilloff schwieg. Liputin hatte sich inzwischen etwas abseits, unter
dem Bilde des Bischofs auf einen Stuhl gesetzt. Der vorige tollkühne
Gedanke bemächtigte sich seiner mehr und mehr. Kirilloff bemerkte ihn an
der dunklen Wand fast gar nicht. Liputin kannte die Theorie Kirilloffs
schon von früher und hatte sie immer verlacht, jetzt aber schwieg er und
sah sich finster im Zimmer um.

»Ich möchte ganz gern Tee trinken,« sagte Pjotr Stepanowitsch, »habe
soeben ein Beefsteak gegessen und rechnete eigentlich darauf, bei Ihnen
den Tee zu trinken.«

»Trinken Sie, wenn Sie mögen.«

»Früher boten Sie ihn selbst an,« bemerkte Pjotr Stepanowitsch
säuerlich.

»Das ist einerlei. Auch Liputin mag trinken.«

»Nein, danke, ich ... kann nicht.«

»Kann nicht oder will nicht?« Pjotr Stepanowitsch drehte sich schnell zu
ihm um.

»Ich werde bei ihm nicht noch anfangen Tee zu trinken,« lehnte Liputin
ausdrucksvoll ab.

Pjotr Stepanowitsch zog die Brauen zusammen.

»Das riecht nach Mystizismus. Der Teufel soll aus euch allen klug
werden!«

Niemand antwortete ihm. Sie schwiegen wohl eine ganze Minute.

»Aber eines weiß ich,« fügte er plötzlich schroff hinzu, »kein einziges
Vorurteil kann auch nur einen von uns abhalten, seine Pflicht zu
erfüllen.«

»Stawrogin ist fortgefahren?« fragte Kirilloff.

»Ja.«

»Das hat er gut gemacht.«

Pjotr Stepanowitschs Augen blitzten schon auf, doch er bezwang sich.

»Mir kann's gleich sein, was Sie denken, wenn nur ein jeder sein Wort
hält.«

»Ich werde mein Wort halten.«

»Übrigens, ich war immer überzeugt, daß Sie Ihre Pflicht erfüllen
würden, wie ein unabhängiger und fortgeschrittener Mensch.«

»Sie aber sind lächerlich.«

»Meinetwegen, es freut mich sehr, daß ich Sie erheitere. Es freut mich
immer, wenn ich mit irgend etwas gefällig sein kann.«

»Sie wollen furchtbar gern, daß ich mich erschieße und fürchten doch,
daß ich plötzlich nicht will.«

»Das heißt, sehen Sie mal, Sie haben ja selbst Ihren Plan mit unserer
Tätigkeit verbunden. Da wir nun mit Ihrer Absicht gerechnet haben, so
ist schon Verschiedenes unternommen worden, so daß Sie jetzt auf keine
Weise mehr zurücktreten können.«

»Nur nichts von Pflicht.«

»Verstehe, verstehe, es ist Ihr eigener freier Wille. Nur, daß sich
dieser Ihr freier Wille in Tat umsetzt.«

»Und ich werde alle Ihre Gemeinheiten auf mich nehmen müssen?«

»Hören Sie, Kirilloff, haben Sie vielleicht plötzlich Angst bekommen?
Wenn Sie zurücktreten wollen, so sagen Sie es bitte gleich.«

»Ich habe keine Angst bekommen.«

»Ich meinte nur, weil Sie etwas viel fragen.«

»Werden Sie bald fortgehen?«

»Sie fragen schon wieder?«

Kirilloff betrachtete ihn mit Verachtung.

»Nun, sehen Sie mal,« fuhr Pjotr Stepanowitsch, der sich immer mehr
ärgerte und beunruhigte, fort, doch ohne den richtigen Ton finden zu
können, -- »Sie wollen um der Einsamkeit willen, daß ich fortgehe, um
sich sammeln zu können, doch all das sind gefährliche Anzeichen, für
Sie, für Sie vor allen anderen. Sie wollen viel denken. Meiner Meinung
nach wäre es besser, nicht zu denken, sondern es ohne dem zu tun. Nein,
Sie -- wirklich, Sie beunruhigen mich.«

»Mir ist nur das nicht recht, daß in jenem Augenblick solch ein Ekel bei
mir sein wird, wie Sie.«

»Nun, das ist doch einerlei. Ich kann ja auch hinausgehen und so lange
draußen auf der Treppe stehen. Wenn Sie aber sterben wollen und dabei so
wenig gleichmütig sind, so -- nun, ich meine, das ist alles sehr
gefährlich. Ich werde also auf die Treppe gehen und Sie können
meinetwegen denken, was Sie wollen: daß ich nichts von Ihnen verstehe,
daß ich als Mensch unermeßlich tief unter Ihnen stehe ...«

»Nein, nicht unermeßlich. Sie haben Begabungen; aber Sie verstehen sehr
vieles nicht, weil Sie ein niedriger Mensch sind.«

»Freut mich, freut mich. Wie gesagt, es freut mich sehr, Zerstreuung zu
bieten ... in einer solchen Minute.«

»Sie begreifen nichts.«

»Das heißt, ich ... jedenfalls höre ich mit Hochachtung --«

»Sie können nichts. Sie können sogar jetzt nicht Ihre kleinliche Wut
verstecken, obgleich es für Sie doch unvorteilhaft ist, sie zu zeigen.
Sie werden mich ärgern und ich werde vielleicht plötzlich noch ein
halbes Jahr wollen ...«

Pjotr Stepanowitsch sah nach der Uhr.

»Ich habe niemals etwas von Ihrer Theorie verstanden, aber ich weiß, daß
Sie sie nicht für uns ausgedacht haben, folglich werden Sie es auch ohne
uns tun. Auch weiß ich, daß nicht Sie die Idee verschlungen haben,
sondern die Idee hat Sie verschlungen, also werden Sie es auch nicht
aufschieben.«

»Wie? Mich hat die Idee verschlungen?«

»Ja.«

»Und nicht ich die Idee? Das ist gut gesagt. Sie haben einen kleinen
Verstand. Nur necken Sie, ich aber bin stolz darauf.«

»Vorzüglich, sehr schön so. Gerade so muß es ja sein, daß Sie stolz
darauf sind.«

»Genug, Sie haben ausgetrunken, gehen Sie jetzt.«

»Zum Teufel, da wird man wohl müssen,« Pjotr Stepanowitsch erhob sich.
»Aber immerhin ist es noch früh. Hören Sie, Kirilloff, bei der
Mäßnitschicha treffe ich diesen Menschen, Sie wissen schon? Oder hat
auch sie gelogen?«

»Werden ihn nicht treffen, denn er ist hier und nicht da.«

»Wie, hier! zum Teufel, wo?«

»Sitzt in der Küche, ißt und trinkt.«

»Wie wagt der Kerl! ...« Pjotr Stepanowitsch wurde rot vor Zorn. »Er war
verpflichtet zu warten ... Unsinn! Er hat ja weder Geld noch einen Paß!«

»Ich weiß nicht. Er ist gekommen, um sich zu verabschieden. Ist
angekleidet und bereit, geht fort und kommt nicht wieder. Er sagte, daß
Sie ein gemeiner Mensch sind und will nicht auf Ihr Geld warten.«

»A--ah! Er fürchtet, daß ich ... nun ja, ich kann ihn auch jetzt, wenn
... Wo ist er, in der Küche?«

Kirilloff öffnete eine Seitentür zu einem kleinen, dunklen Zimmer, aus
dem drei Stufen in die Küche hinabführten. Von der Küche war, gleich bei
der Tür, durch eine Bretterwand eine Kammer abgeteilt, in der gewöhnlich
das Bett des Dienstmädchens stand. Hier saß nun in der Ecke unter den
Heiligenbildern Fedjka vor einem unbedeckten Brettertisch, auf dem ein
halbes Liter Schnaps, Brot auf einem Teller und in einer irdenen
Schüssel ein kaltes Stück Rindfleisch und Kartoffeln standen. Er aß mit
Genuß und schien schon halb betrunken zu sein, doch war er in kurzem
Pelz und augenscheinlich zum Aufbruch bereit. Hinter der Bretterwand in
der Küche summte schon der Samowar, doch der war nicht für Fedjka
aufgestellt, sondern Fedjka selbst blies ihn jeden Abend mit seiner
ganzen Lungenkraft für »Alexei Nylitsch« an, »dieweil Sie daran überaus
gewöhnt sind, nachts immerzu Tee zu trinken!« Ich vermute stark, daß das
Rindfleisch und die Kartoffeln, da kein Mädchen im Hause war, von
Kirilloff selbst schon am Morgen für Fedjka gebraten worden waren.

»Was ist dir eingefallen?« rief Pjotr Stepanowitsch und stürzte die
Stufen hinunter. »Warum hast du nicht dort auf mich gewartet, wo man es
dir befohlen hat?«

Und zornig schlug er mit der Faust auf den Brettertisch.

Fedjka nahm eine würdevollere Haltung an.

»Du, wart ein bißchen, Pjotr Stepanowitsch, wart ein bißchen,« sagte er,
fast mit stutzerhafter Deutlichkeit die Worte aussprechend, »du mußt als
erste Pflicht verstehen, daß du hier auf edlen Besuch bei Herrn
Kirilloff, Alexei Nylitsch, bist, bei dem du dessen Stiefel putzen
kannst, denn er ist vor dir ein gebildeter Verstand, du aber bist nur
ein -- Pfui!«

Und er spie elegant zur Seite, daß der Speichel trocken wie ein Wurf zu
Boden flog. Man sah ihm Hochmut, Entschlossenheit und ein gewisses,
höchst gefährliches, trügerisch ruhiges Klugredenwollen an -- bis zum
ersten Ausbruch. Doch Pjotr Stepanowitsch hatte schon keinen Sinn mehr
dafür, auf die Gefahr zu achten, und das vertrug sich schließlich auch
nicht mit seiner Auffassung der Dinge. Und die Ereignisse und Mißerfolge
dieses Tages hatten ihn zudem schon um jede Überlegung gebracht ...
Liputin, der über den drei Stufen in der Tür stehen blieb, sah neugierig
aus dem dunklen Zimmer in die Kammer hinab.

»Willst du, oder willst du nicht einen richtigen Paß haben und gutes
Geld zur Fahrt, wohin man dir gesagt hat? Ja oder nein?«

»Siehst du, Pjotr Stepanowitsch, du hast mich von Anfang an betrogen,
und darum bist du vor mir der reine Gauner, bist ganz wie eine
verfluchte Hundelaus, -- siehst du, dafür halt ich dich. Du hast mir für
unschuldiges Blut großes Geld und das Blaue vom Himmel herunter
versprochen, und für Herrn Stawrogin hast du geschworen, und was ist
dahinter? Es kommt immer nur deine Gaunerei heraus! Ich, so wie ich bin,
bin mit keinem Tropfen Blut daran schuld, nicht, daß da
tausendfünfhundert, dir aber hat Herr Stawrogin neulich so um die Ohren
gewischt, daß auch wir das schon wissen. Jetzt drohst du mir von neuem
und versprichst mir Geld, aber wofür -- darüber schweigst du. Ich aber
denke so bei mir: du schickst mich nach Petersburg, um dich an Herrn
Stawrogin, Nicolai Wszewolodowitsch, zu rächen und rechnest auf meine
Leichtgläubigkeit. Und somit gehst du als der erste Mörder aus allem
hervor. Und weißt du auch, was du mit allein diesem einen Punkte schon
wert geworden bist, daß du an Gott selbst, den wahrhaftigen Schöpfer,
wegen deiner Verderbnis nicht mehr glaubst? Das ist schon ebenso wie
Heide sein, stehst also auf einer Stufe mit Tatar oder Mordwine. Herr
Kirilloff, Alexei Nylitsch, der ein großer Philosoph ist, hat dir schon
mehrmals den wahren Gott, den heiligen Schöpfer aller Dinge, erklärt,
und desgleichen die ganze Schöpfung der Erde wie alle zukünftigen
Schicksale und die Verwandlung aller Kreaturen und alles Gewürms aus dem
Buch der Apokalypse. Du aber bist wie ein unverständiges Götzenbild und
verharrst in Taubheit und Stummheit, und hast dazu auch den Offizier
Erteleff gebracht, ganz wie der leibhaftige Bösewicht und Verführer, so
da heißt Atheist ...«

»Ach du, besoffene Fratze! -- Beraubt selbst Heiligenbilder und
verkündet jetzt noch Gott!«

»Ja, siehst du, Pjotr Stepanowitsch, ich sage dir ganz aufrichtig, daß
ich sie beraubt habe, aber ich habe bloß ein einziges Perlchen
rausgenommen, und was kannst du wissen, vielleicht hat sich meine reuige
Träne in demselben Augenblick im Schmelzofen des Allerhöchsten
verwandelt für irgendein Unrecht, das mir geschehen ist, da ich doch
nicht mal was habe, wo ich mein Haupt hinlegen kann. Weißt du auch aus
den Büchern, daß einmal in alten Zeiten ein Kaufmann mit ganz genau so
einem Tränenseufzer und Gebet wie ich aus dem Heiligenschein der
heiligen Mutter Gottes eine Perle stibitzt und dann später kniefällig
vor allem Volk das ganze Geld der Gottesmutter zu Füßen gelegt hat, und
daß ihn da die heilige Fürsprecherin mit dem goldgestickten Tuch
gesegnet hat, daselbst vor allem Volk, so daß denn schon damals ein
Wunder daraus geschah und von der Obrigkeit anbefohlen wurde, alles
buchstäblich in die Reichsbücher einzutragen. Du aber hast eine Maus
hineingesteckt, also hast du Gott selber beschimpft. Und wenn du nicht
mein angeborener Herr wärst, den ich, als ich noch ein Junge war, auf
meinen Armen gewiegt habe, so würde ich dich jetzt, so wie du da bist,
mit eins totschlagen, ohne hier anders vom Fleck zu gehen!«

Pjotr Stepanowitsch geriet in maßlosen Zorn.

»Sprich, hast du heute Stawrogin gesehen?«

»Das darfst du nicht wagen, daß du mich ausfragen tust. Herr Stawrogin
steht in dieser Sache nur in Verwunderung vor dir da und hat sich nicht
mal mit 'nem Wunsch dran beteiligt, was aber von einer Anordnung oder
Geld, davon schon ganz zu schweigen. Du hast mich rundherum betrogen!«

»Das Geld bekommst du, und die zweitausend bekommst du auch, in
Petersburg, am angegebenen Ort, alle auf einmal, und wirst noch mehr
bekommen.«

»Du, mein Bester, du lügst nur wieder, und es ist mir fast lustig zu
sehen, was für ein leichtgläubiger Verstand du bist. Herr Stawrogin
steht vor dir wie auf einer hohen Treppe und du kläffst nur von unten
wie ein dummes Hündchen, während er von oben auf dich auch nur zu
spucken schon für eine große Ehre für dich halten würde.«

»Aber weißt du auch,« rief Pjotr Stepanowitsch in rasender Wut, »daß ich
dich, Schurke, nicht einen Schritt von hier lasse und dich sofort der
Polizei übergebe!«

Fedjka sprang auf und seine Augen blitzten vor Jähzorn. Pjotr
Stepanowitsch riß seinen Revolver hervor. Und nun kam es zu einem
widerlichen kurzen Auftritt: noch bevor Pjotr Stepanowitsch zielen
konnte, hatte Fedjka sich schon im Nu geduckt, gedreht und schlug ihn
aus aller Kraft auf die Wange. Und schon im selben Augenblick klatschte
der zweite furchtbare Schlag, dann der dritte, der vierte, immer auf die
Wange. Pjotr Stepanowitsch stand wie duselig, seine Augen stierten, er
murmelte etwas, und plötzlich stürzte er jäh zu Boden.

»Da habt ihr ihn, nehmt ihn jetzt!« rief Fedjka mit einer
triumphierenden Wendung, ergriff seine Mütze, zog schnell unter der Bank
ein Bündel hervor und war verschwunden.

Pjotr Stepanowitsch lag röchelnd am Boden. Liputin dachte schon, er
werde gleich sterben. Kirilloff lief schnell in die Küche.

»Mit Wasser muß man ihn!« rief er.

Er schöpfte in Hast mit einem Blechgefäß Wasser aus dem Eimer, kam
schnell zurück und goß es ihm über den Kopf. Pjotr Stepanowitsch bewegte
sich, erhob den Kopf, setzte sich langsam auf und blickte unverständig
vor sich hin.

»Nun, wie ist es?« fragte Kirilloff.

Pjotr Stepanowitsch sah ihn unbeweglich, doch noch ohne ihn zu erkennen,
an. Da bemerkte er aber Liputin, der aus der dunklen Tür hervorgetreten
war, und lächelte sein altes gemeines Lächeln. Plötzlich griff er
schnell nach seinem auf der Diele liegenden Revolver und sprang auf.

»Wenn es Ihnen morgen einfallen sollte, fortzulaufen ... wie der Schuft
Stawrogin,« schrie er in wildem Ausbruch, kreidebleich, Kirilloff an,
die Worte stockend und unklar hervorstoßend, »so hänge ich Sie am
anderen ... Ende der Welt ... wie eine Fliege auf ... zerdrücke Sie ...
verstanden!«

Und er zielte mit dem erhobenen Revolver gerade auf Kirilloffs Stirn, --
doch schon in derselben Sekunde besann er sich, riß seine Hand zurück,
steckte den Revolver wieder in die Tasche und stürzte, ohne ein Wort zu
sagen, aus dem Hause. Liputin lief ihm nach. Sie krochen wieder durch
den Zaun und gingen, wie sie gekommen waren, auf dem schrägen
Grabenrande, sich an den Brettern haltend, bis zur Bogojawlenskstraße.
Pjotr Stepanowitsch ging so schnell, daß Liputin ihm kaum nachkommen
konnte. Am nächsten Kreuzweg blieb er plötzlich stehen.

»Nun?« wandte er sich herausfordernd nach Liputin um.

Liputin erinnerte sich des Revolvers und zitterte noch von dem, was
geschehen war; aber die Antwort fiel ihm plötzlich wie von selbst von
den Lippen:

»Ich denke ... ich denke, daß man >bis nach Taschkent< keineswegs so
sehnsüchtig darauf wartet, was >der Student< da anpreist.«

»Haben Sie gesehen, was Fedjka in der Küche trank?«

»Was er trank? Branntwein trank er.«

»Nun, so wissen Sie denn, daß er zum letzten Mal im Leben Branntwein
getrunken hat. Ich empfehle, für fernere Erwägungen das zu behalten.
Jetzt aber scheren Sie sich zum Teufel! Bis morgen sind Sie weiter nicht
nötig ... Nur -- denken Sie an mich! keine Dummheiten machen!«

Liputin jagte Hals über Kopf nach Haus.


                                  IV.

Liputin hatte sich schon vor langer Zeit einen Paß auf einen fremden
Namen besorgt. Es ist eigentlich eine sonderbare Vorstellung, daß dieser
ordentliche kleine Mensch, dieser eigensinnige Familientyrann und vor
allem Beamte (wenn er auch Fourierist war), daß dieser Kapitalist und
Kuponschneider schon vor langer Zeit auf den phantastischen Gedanken
hatte verfallen können, sich auf alle Fälle so einen Paß zu verschaffen,
um sich mit ihm ins Ausland zu retten, _wenn_ ... Er gab also doch die
Möglichkeit dieses »_Wenn_« zu, obschon er gewiß nicht hätte formulieren
können, was er unter diesem »Wenn« verstand ...

Jetzt aber hatte es sich plötzlich selbst formuliert, und noch dazu auf
die allerunerwartetste Weise. Jener tollkühne Gedanke, mit dem er bei
Kirilloff eingetreten war, nachdem er Pjotr Stepanowitschs »R--rrrüpel«
eingesteckt hatte, bestand darin, morgen noch, womöglich vor
Sonnenaufgang, alles zu verlassen und sich ins Ausland in Sicherheit zu
bringen! Wer nicht glauben will, daß so phantastische Dinge in unserer
alltäglichen Wirklichkeit geschehen, der möge sich die Lebensgeschichten
unserer gegenwärtigen Emigranten im Ausland einmal näher ansehen. Kein
einziger von ihnen hat eine vernünftigere Flucht hinter sich. Immer war
es die gleiche ungebändigte Herrschaft der Hirngespinste und nichts
weiter.

Als Liputin zu Hause anlangte, war das erste, was er tat, daß er seinen
Reisesack hervorholte und zu packen begann. Seine größte Sorge war das
Geld, wie viel und wie er es retten konnte. Jawohl: »retten«, denn
seiner Meinung nach durfte er nicht eine Stunde mehr säumen und mußte
womöglich schon bei Sonnenaufgang unterwegs sein. Auch wußte er noch
nicht recht, wo er am besten in den Zug steigen sollte; schließlich
entschloß er sich, irgendwo auf der zweiten oder dritten Station
einzusteigen, bis dorthin aber zu Fuß zu laufen. So plagte er sich denn
mit seinem Reisesack herum, einen ganzen Wirbelsturm von Gedanken im
Kopf, und -- plötzlich warf er alles hin und sank mit einem tiefen
Stöhnen auf seinen Diwan und streckte sich auf ihm aus.

Er fühlte deutlich, und plötzlich erkannte er ganz klar, daß er
flüchten, nun ja, daß er wirklich flüchten werde, daß er aber die Frage,
ob er _vor_ oder _nach_ Schatoff flüchten sollte, jetzt zu beantworten
vollkommen außerstande war. Er empfand sich nur noch als einen
willenlosen Körper, eine passive Masse, die schon von einer fremden
unheimlichen Kraft gelenkt wurde, und er fühlte, daß er, obschon er
einen Auslandspaß besaß und ohne weiteres »_vor_ Schatoff« flüchten
konnte (nur deshalb hatte er sich doch so beeilt), -- daß er trotzdem
nicht »_vor_ Schatoff«, sondern unbedingt erst »_nach_ Schatoff«
flüchten werde, und daß es so schon beschlossen, unterschrieben und
versiegelt war. In unerträglicher Qual, zitternd und sich über sich
selbst wundernd, seufzend und vergehend vor Angst, erlebte er doch noch,
ohne selbst recht zu wissen wie, auf dem Diwan liegend, den nächsten
Morgen. Und dann erst erhielt er den entscheidenden Stoß, der seinem
schwankenden Entschluß die endgültige Richtung gab. Es war schon elf
Uhr, als er die Tür seines Zimmers aufschloß und hinaustrat. Und das
erste, was er von den Seinigen erfuhr, war, daß der Räuber, Mörder und
entsprungene Zuchthäusler Fedjka, der alle in Schrecken versetzt,
Kirchen beraubt und Häuser in Brand gesteckt hatte, daß Fedjka, der
berüchtigte Fedjka, den unsere Polizei schon lange verfolgte und immer
noch nicht hatte finden können, früh morgens, sieben Werst von der
Stadt, erschlagen gefunden worden war. Die ganze Stadt wußte es bereits.
Liputin stürzte aus dem Hause, um Näheres darüber zu erfahren. Er hörte,
daß man Fedjka, der allem Anscheine nach beraubt worden war, mit
zerspaltenem Kopf gefunden, und daß die Polizei auf Grund einiger
Anhaltspunkte den Spigulinschen Fomka, mit dem Fedjka bei Lebädkins
zweifellos zusammen gemordet und angezündet hatte, für den Mörder hielt.
Offenbar waren die beiden unterwegs in Streit geraten, wegen der von
Fedjka bei Lebädkin angeblich geraubten und unterschlagenen großen Summe
Geldes, die er mit Fomka, wie man annahm, noch nicht geteilt hatte ...
Liputin lief noch zu dem Hause, in dem Pjotr Stepanowitsch wohnte, und
erfuhr dort, daß der junge Herr, der zwar erst um ein Uhr nachts nach
Hause gekommen sei, doch seelenruhig bis acht Uhr morgens in seinem Bett
geschlafen habe. Augenscheinlich war also an dem plötzlichen Tode
Fedjkas nichts Ungewöhnliches, zumal ja Banditen meistens ein solches
Ende nehmen: aber das verhängnisvolle Übereinstimmen der Prophezeiung,
daß Fedjka an diesem Abend »zum letztenmal Branntwein getrunken« habe,
mit der nackten Tatsache seines gewaltsamen Endes, war doch so seltsam
und unheimlich, daß Liputin plötzlich aufhörte unschlüssig zu sein. Als
er nach Hause zurückkam, stieß er mit einem Fußtritt den Reisesack unter
den Diwan und am Abend war er der erste auf dem zum Stelldichein mit
Schatoff angegebenen Platz, allerdings -- mit dem Paß in der Tasche.




                          Zwanzigstes Kapitel.
                              Die Reisende


                                   I.

Die Katastrophe mit Lisa und der Tod Marja Timofejewnas hatten auf
Schatoff einen erschütternden und niederdrückenden Eindruck gemacht. Als
ich am Morgen mit ihm zusammentraf, erschien er mir ganz verstört.
Später ging er zur Mordstätte, um die Leichen zu sehen, doch soviel ich
weiß, ist er an diesem Tage weder vernommen worden, noch hat er
unaufgefordert irgend etwas ausgesagt. Aber je mehr der Tag vorrückte,
desto mehr quälte er sich. Es gab da einen Augenblick, in dem er schon
aufstehen wollte, hingehen und -- alles sagen. Was dieses »Alles« war,
das wußte er freilich selbst nicht genau. Beweise besaß er keine; er
hatte nur seine dunklen Ahnungen, die lediglich zu seiner eigenen
Überzeugung genügten. Er hätte schließlich bloß sich selbst angegeben
als ehemaliges Mitglied eines geheimen Bundes. Doch auch dazu wäre er
bereit gewesen, wenn er nur in seinem Sturz diese »Schurken« -- so
lautete sein eigener Ausdruck -- mitgerissen hätte!

Pjotr Stepanowitsch hatte diesen Ausbruch richtig vorausgesehen und
genau gewußt, wieviel er wagte, wenn er sein furchtbares Vorhaben auch
nur um einen Tag hinausschob. Aber dann hatte ihn doch wieder sein
Selbstvertrauen und seine höhnische Verachtung für »diese Leutchen« zu
dem Aufschub bestimmt. Er würde mit diesem unschlauen Schatoff schon
fertig werden, sagte er sich: er würde ihn einfach diesen ganzen Tag
über bewachen lassen und, wenn es not tat, auch früher schon
entscheidend eingreifen.

Einstweilen aber rettete Pjotr Stepanowitsch und die Seinen etwas
vollkommen Unerwartetes, das niemand von ihnen hätte voraussehen können.

Gegen acht Uhr abends -- gerade als die Unsrigen sich bei Erkel
versammelt hatten, auf Pjotr Stepanowitsch warteten, sich ärgerten und
aufregten -- lag Schatoff mit Kopfschmerzen und in leichtem Fieber auf
seinem Bett, in der Dunkelheit, ohne Licht. Er quälte sich, entschloß
sich, aber konnte sich immer wieder nicht endgültig entschließen: fühlte
vielmehr fluchend, daß das doch alles zu nichts führen werde.

Allmählich schlief er ein. Ihm träumte, daß er in seinem Bett mit
Schnüren gebunden sei und sich nicht bewegen könne, indes durch das
ganze Haus furchtbare Schläge hallten, Schläge an den Zaun, an die
Hoftür, an die Wand des Flügels, in dem Kirilloff wohnte --, so daß das
ganze Haus zitterte und in seinen Fugen krachte, während zugleich eine
ferne, bekannte, aber ihn quälende Stimme klagend seinen Namen rief.

Plötzlich wachte er auf und erhob sich im Bett. Zu seiner Verwunderung
dauerten die Schläge an die Hoftür immer noch fort, und wenn sie auch
längst nicht mehr so überlaut und hallend waren, wie im Traum, so waren
sie doch stark und heftig genug, und auch die sonderbare quälende Stimme
fuhr fort, von Zeit zu Zeit ihn von der Pforte her zu rufen, nur jetzt
nicht mehr klagend, sondern, im Gegenteil, ungeduldig und gereizt.

Dazwischen hörte er noch eine andere tiefe, brummige, aber ruhigere
Stimme.

Er sprang erschrocken sofort auf, öffnete das Klappfenster und steckte
den Kopf hinaus.

»Wer da?« rief er hinunter.

»Wenn Sie Schatoff sind,« klang in einem eigentümlich stolzen Ton von
unten eine Frauenstimme zurück, »so haben Sie die Güte, offen und
ehrlich zu sagen, ob Sie mich hereinlassen wollen oder nicht?«

Er hatte diese Stimme erkannt.

»Marie! ... Bist du es?«

»Ja, gewiß bin ich es, Marja Schatowa. Aber ich bin mit einer Droschke
hier und kann nicht länger --«

»Sofort ... ich will nur das Licht ...« Schatoff sprang eilig und
aufgeregt zurück, begann mit zitternden Händen die Streichhölzer zu
suchen, die sich aber, wie gewöhnlich in solchen Fällen, nicht finden
ließen, warf dabei noch den Leuchter mit dem Licht um, und da von unten
wieder die ungeduldige Stimme erklang, ließ er schließlich alles liegen
und stürzte Hals über Kopf die steile Treppe hinunter, um die Hofpforte
zu öffnen.

»Haben Sie die Güte, so lange diese Tasche zu halten, bis ich diesen
Mann hier bezahle,« empfing ihn unten Frau Marja Schatowa und reichte
ihm eine ziemlich leichte Handtasche aus Segeltuch mit Blechbeschlag.
Sie selbst aber wandte sich gereizt an den Droschkenkutscher.

»Sie verlangen viel zu viel. Wenn Sie mich hier eine ganze Stunde lang
durch diese schmutzigen Straßen gefahren haben, so sind Sie daran
schuld, denn folglich haben Sie nicht einmal gewußt, wo diese verdrehte
Straße eigentlich ist. Bitte die dreißig Kopeken zu nehmen und mir zu
glauben, daß Sie weiter nichts erhalten werden.«

»Ach, Fräuleinchen, Sie haben mich doch selbst zuerst in die
Wosnessensksche Straße befohlen, und diese hier ist die
Bogojawlensksche. Die Wosnessensksche war meilenweit: haben bloß meinen
Wallach unnütz in Schweiß gebracht.«

»Wosnessensksche, Bogojawlensksche, -- das müssen Sie als Einwohner
besser wissen als ich, und zudem irren Sie sich: ich habe Ihnen ganz
zuerst nur das Filippoffsche Haus genannt, und Sie behaupteten, Sie
wüßten, wo das sei.«

»Hier, hier sind noch fünf Kopeken,« damit zog Schatoff sein letztes
Geldstück aus der Westentasche.

»Was soll das? Sie werden hier nichts bezahlen!« fuhr Frau Schatowa auf,
doch der Kutscher setzte schon seinen »Wallach« in Bewegung, und
Schatoff zog sie an der Hand durch die Pforte auf den Hof und führte sie
in den finsteren Flur.

»Schneller, Marie, schneller ... das sind doch lauter Nebensachen und
... Wie du naß geworden bist! Vorsichtig, hier geht es hinauf -- wie
schade, daß ich das Licht nicht ... die Treppe ist steil, halt' dich am
Geländer ... Nun, hier, das ist meine Stube. Verzeih, daß ich kein Licht
... Ich werde sofort ...«

Er hob im Dunkeln den Leuchter vom Boden auf, doch die
Streichholzschachtel konnte er noch immer nicht finden. Marja Schatowa
stand solange mitten im Zimmer, schweigend und ohne sich zu bewegen.

»Gott sei Dank, endlich! Hier ist sie!« rief er schließlich freudig und
zündete das Licht an.

Marja Schatowa sah sich flüchtig im Zimmer um.

»Man hat mir zwar schon gesagt, daß Sie in einem entsetzlichen Zimmer
wohnen, aber ich hätte doch nicht gedacht, daß es so wäre,« sagte sie
launisch und ging zum Bett. »Ach, ich bin müde!« und sie sank kraftlos
auf das harte Lager. »Bitte, legen Sie die Reisetasche hin und setzen
Sie sich selbst auf einen Stuhl. Oder wie Sie wollen, nur zappeln Sie
mir nicht so vor den Augen herum ... Ich bin nur auf kurze Zeit zu Ihnen
gekommen, bis ich eine Arbeit gefunden habe, denn ich kenne hier
niemanden und mein Geld ist zu Ende ... Wenn ich Ihnen aber lästig
falle, so haben Sie die Güte und sagen Sie's bitte gleich! Ich werde
morgen irgend etwas von meinen Sachen verkaufen, um mir im Gasthaus ein
Zimmer nehmen zu können ... Ach, nur müde bin ich jetzt!«

Schatoff erbebte am ganzen Körper.

»Wozu, Marie, das ist doch nicht nötig, nicht nötig, du brauchst nicht
ins Gasthaus zu gehen! Was für ein Gasthaus überhaupt? Warum das, wozu?«
und flehend faltete er die Hände.

»Nun, wenn man ohne Gasthaus auskommen kann, meinetwegen -- aber man muß
trotzdem die Sache klarlegen. Sie erinnern sich wohl noch, Schatoff, daß
wir in Genf zwei Wochen und einige Tage als Ehepaar gelebt haben, vor --
nun sind es schon drei Jahre, daß wir auseinandergegangen sind, übrigens
ohne besonderen Streit. Aber denken Sie nur nicht, daß ich gekommen bin,
um irgendeine der früheren Dummheiten wieder zu beginnen! Ich bin nur
zurückgekehrt, um mir eine Arbeit zu suchen, und wenn ich gerade in
diese Stadt kam, nun, so geschah es, weil mir heute alles gleich ist.
Ich bin vor allem nicht gekommen, um irgend etwas zu bereuen. Denken Sie
nur das nicht!«

»Oh, Marie! Das ist doch alles unnötig, gar nicht nötig!« stammelte
Schatoff undeutlich.

»Nun, wenn das so ist, wenn Sie so weit gescheit sind, daß Sie das
verstehen können, so will ich mir erlauben hinzuzufügen, daß ich, wenn
ich jetzt zu Ihnen gekommen bin, es zum Teil auch deswegen getan habe,
weil ich Sie für keinen -- gemeinen Menschen halte, sondern vielleicht
sogar für einen viel besseren, als die anderen -- Schurken alle!«

Ihre Augen blitzten auf. Sie mußte wohl viel von irgendwelchen
»Schurken« erlitten haben!

»Ich meine das ganz im Ernst. Ich will mich durchaus nicht etwa über Sie
lustig machen, wenn ich Ihnen sage, daß Sie gut sind. Ich habe es offen
gesagt und Schönrednerei kann ich nicht leiden, das wissen Sie. Doch was
rede ich? Es ist ja alles Unsinn. Ich habe immer gehofft, daß Sie
vernünftig genug sein würden, um nicht lästig zu werden ... Ach, genug,
nur müde bin ich!«

Und sie sah ihn mit langem, gequältem, müdem Blick an. Schatoff stand
vor ihr, fünf Schritte weit, und hörte scheu, aber gleichsam erneut, mit
einem eigentümlichen Strahlen im Gesicht, was sie sagte. Dieser starke
und rauhe Mensch, der immer wie mit gesträubtem Fell wirkte, wie ein
Rühr-mich-nicht-an, dieser Mensch wurde plötzlich ganz weich und wie von
innen erhellt. In seiner Seele erzitterte etwas ganz Unerwartetes, ganz
Ungewöhnliches. Drei Jahre Trennung, drei Jahre zerrissene Ehe hatten in
seinem Herzen nichts zerstört. Vielleicht hatte er an jedem Tage dieser
drei Jahre an sie gedacht, an dieses teure Wesen, das einst zu ihm
gesagt, daß es ihn »liebe«. Für Schatoff hatte das eine Welt bedeutet:
für ihn, der sich nicht einmal zu träumen erlaubt hatte, daß ihm je
irgendein Weib sagen könnte, es »liebe« ihn. Er war keusch und schamhaft
bis zur Wildheit, hielt sich für eine Mißgeburt, haßte sein Gesicht und
seinen Charakter, und verglich sich mit irgendeinem Monstrum, das man
eigentlich nur auf Jahrmärkten herumschleppen und zeigen konnte. Deshalb
gab es für ihn nichts Heiligeres, als Wahrheit und Ehrlichkeit, und war
er in seiner ganzen finsteren, stolzen, jähzornigen und schweigsamen Art
seinen Überzeugungen bis zum Fanatismus ergeben! Und nun stand dieses
einzige Wesen, das ihn zwei Wochen lang geliebt hatte -- daran glaubte
er immer, immer, -- dieses Wesen, das er so maßlos hoch über sich
stellte, obschon er alle ihre Verirrungen kannte und ruhig und nüchtern
über sie urteilte: dieses Wesen, dem er alles, aber auch alles verzieh
(das stand für ihn einfach außer Frage, ja eher kam es bei ihm noch
umgekehrt heraus: daß er vor ihr ganz allein der Schuldige war), nun
stand diese Frau, diese Marja Schatowa plötzlich wieder vor ihm, er sah
sie wieder in seiner Wohnung ... es war fast unmöglich, das zu fassen!
So überrascht war er, und es lag für ihn in diesem Ereignis so viel von
etwas unsagbar Furchtbarem, und doch zu gleicher Zeit so viel Glück, daß
er gar nicht recht zur Besinnung kommen konnte, vielleicht aber auch gar
nicht wollte. Er ging und stand wie im Traum, und erst, als sie ihn mit
diesem gequälten Blick ansah, da begriff er plötzlich, daß dieses
einzige geliebte Geschöpf unsäglich gelitten haben mußte. Bei diesem
Gedanken setzte sein Herzschlag aus. Voll Schmerz und Mitleid sah er sie
an: in diesem müden Frauengesicht war der Glanz der ersten Jugend schon
erloschen. Sie war gewiß immer noch schön -- in seinen Augen immer noch
wie früher eine Schönheit. (In Wirklichkeit war sie fünfundzwanzig Jahre
alt, ziemlich stark gebaut, über mittelgroß -- größer als Schatoff --,
mit braunem, prachtvollem Haar, schmalem, bleichem Gesicht und großen
dunklen Augen, in denen jetzt ein fiebriger Glanz lag.) Aber die
leichtsinnige, naive und gutmütige frühere Energie, die ihr großer
Zauber gewesen war, hatte sich in diesen drei Jahren in mürrische
Reizbarkeit, Enttäuschung und fast in Zynismus verwandelt, in einen
Zynismus, an den sie sich freilich noch nicht gewöhnt zu haben schien
und der sie selbst sogar quälen mochte. Doch Schatoff sah vor allem, daß
sie krank war. Und trotz all seiner Angst vor ihr, trat er plötzlich zu
ihr und erfaßte ihre beiden Hände:

»Marie ... weißt du ... du bist vielleicht sehr müde, um Gottes willen,
sei nicht böse ... Wenn du einwilligen wolltest, zum Beispiel, ein wenig
Tee zu trinken, wie? Tee erfrischt doch sehr, nicht? Wenn du nur
wolltest --?«

»Was ist hier zu wollen? Natürlich will ich! was Sie noch immer noch für
ein Kind sind! Wenn Sie Tee haben, so geben Sie ihn. Wie eng es bei
Ihnen ist! Wie kalt es hier ist!«

»Oh, ich werde sofort Holz ... ja, Holz ... Holz habe ich!« Schatoff
ging hin und her, »-- Holz -- ja, aber ... das heißt ... übrigens auch
Tee, sofort!« Und plötzlich, wie nach einem harten Entschluß, schlug er
mit der Hand und ergriff seine Mütze.

»Wohin gehen Sie denn? Also haben Sie keinen Tee?«

»Gleich, sofort, sofort wird alles da sein ... ich ...«

Er nahm seinen Revolver vom Bücherbrett.

»Ich werde schnell diesen Revolver verkaufen ... oder versetzen ...«

»Was für Dummheiten, und wie lange das dauern wird! Nehmen Sie hier mein
Geld, wenn Sie nichts haben, hier sind achtzig Kopeken, glaub ich, --
alles, was ich besitze. Bei Ihnen ist es ja wie in einer Irrenanstalt.«

»Nicht nötig, nicht nötig, dein Geld, ich werde sofort, im Augenblick
... ich werde ohne Revolver ...«

Und er lief geraden Wegs zu Kirilloff. Das war etwa zwei Stunden vor
Pjotr Stepanowitschs und Liputins Besuch bei diesem. Schatoff und
Kirilloff sahen sich, obwohl sie auf demselben Hof wohnten, fast nie,
und auch wenn sie sich zufällig einmal trafen, so grüßten sie sich
weder, noch sprachen sie ein Wort miteinander: sie hatten zu lange in
Amerika nebeneinander »auf dem Fußboden gelegen«.

»Kirilloff, Sie haben immer Tee: können Sie mir Tee und einen Samowar
geben?«

Kirilloff, der in seinem Zimmer wieder auf und ab ging (gewöhnlich die
ganze Nacht aus einer Ecke in die andere), blieb plötzlich stehen und
sah aufmerksam Schatoff an, jedoch ohne besondere Verwunderung, obgleich
dieser ganz unerwartet hereingestürzt war.

»Tee ist da. Zucker auch. Ein Samowar auch. Aber der Samowar ist nicht
nötig, der Tee ist heiß. Setzen Sie sich und trinken Sie einfach.«

»Kirilloff, wir haben beide in Amerika gelegen ... Meine Frau ist zu mir
gekommen ... Ich ... Geben Sie mir Tee ... und ich brauche auch den
Samowar.«

»Wenn die Frau, so brauchen Sie den Samowar. Aber den Samowar später.
Ich habe zwei. Jetzt nehmen Sie die Teekanne vom Tisch. Heiß, ganz heiß.
Nehmen Sie alles, nehmen Sie Zucker, den ganzen. Brot ... Brot ist viel
da, nehmen Sie alles Brot. Habe auch Kalbsbraten. Geld einen Rubel.«

»Gib mir, Freund, ich gebe es dir morgen wieder! Ach, Kirilloff!«

»Das ist die Frau, die von der Schweiz? Das ist gut. Und das, daß Sie zu
mir gekommen sind, ist auch gut.«

»Kirilloff!« rief Schatoff, der die Teekanne in den Arm nahm und in die
Hände Zucker und Brot: »Kirilloff! Wenn Sie ... wenn Sie sich doch von
Ihren schrecklichen Phantasien lossagen und Ihren atheistischen Wahnsinn
lassen könnten ... was würden Sie dann für ein Mensch sein, Kirilloff!«

»Ich sehe, Sie lieben Ihre Frau nach der Schweiz. Das ist gut, falls
nach der Schweiz. Wenn Sie noch Tee brauchen, kommen Sie wieder. Kommen
Sie die ganze Nacht, ich schlafe nicht. Der Samowar wird heiß sein.
Nehmen Sie den Rubel, hier. Gehen Sie zur Frau, ich werde bleiben und
werde an Sie und Ihre Frau denken.«

Marja Schatowa schien mit der Schnelligkeit, mit der Schatoff alles
besorgt hatte, zufrieden zu sein und machte sich hastig an den Tee. Doch
trank sie nur eine halbe Tasse, und aß nur ein kleines Stückchen vom
Brot. Für den von Kirilloff angebotenen Kalbsbraten dankte sie mit
gereizter Launenhaftigkeit.

»Du bist krank, Marie, das ist alles so krankhaft an dir ...« bemerkte
Schatoff schüchtern; scheu bemüht, ihr zu dienen.

»Natürlich bin ich krank; bitte, setzen Sie sich. Wo haben Sie den Tee
hergenommen, da Sie keinen hatten?«

Schatoff erzählte kurz von Kirilloff. Sie hatte von diesem schon einiges
gehört.

»Ich weiß, daß er verrückt ist; bitte, von was anderem; als ob es nicht
genug Toren gäbe! So waren Sie in Amerika? Ich habe davon gehört, Sie
haben von dort geschrieben.«

»Ja, ich ... habe nach Paris geschrieben.«

»Genug, und bitte von was anderem. Sie sind aus Überzeugung Slawophile?«

»Ich ... das heißt, nicht daß ich gerade ... Infolge der Unmöglichkeit,
Russe zu sein, bin ich Slawophile geworden,« sagte er, gezwungen
lächelnd, mit der Schwerfälligkeit eines Menschen, der zur unrechten
Zeit und nur mit genauer Not einen Witz zustande bringt.

»Sie sind nicht Russe?«

»Nein, ich bin nicht Russe.«

»Nun, das sind alles Dummheiten. Setzen Sie sich doch endlich, ich bitte
Sie. Was laufen Sie immer hin und her? Sie denken, ich phantasiere?
Vielleicht werde ich auch phantasieren. Sie sagen, es gibt hier nur Sie
und ihn im Hause?«

»Ja, nur wir zwei ... und unten wohnte ...«

»Und alles solche Kluge! Wer wohnte unten? Sie sagten >untenjetzt nicht mehrEr_er__er_< ist -- ist mir unbekannt. Sie kennen die Grammatik
nicht mehr.«

»Das war doch im Geiste der Sprache ... Marie,« murmelte Schatoff.

»Ach, gehen Sie mir mit Ihrem Geist! Habe das satt. Warum würde denn der
hiesige Leser oder Einwohner nicht einbinden lassen?«

»Weil, ein Buch lesen und ein Buch einbinden lassen -- zwei ganz
verschiedene Zeiten der Entwicklung sind, und zwar zwei riesig große.
Zuerst lernt er allmählich das Lesen, in Jahrhunderten natürlich, aber
zerreißt und vernachlässigt das Buch, da er es noch nicht für eine
ernste Sache hält. Ein Buch aber einbinden lassen, heißt schon das Buch
achten, bedeutet, daß er nicht nur das Lesen lieben gelernt hat, sondern
auch als eine große Sache anerkennt. Bis zu dieser Periode ist Rußland
noch nicht gekommen. Europa bindet schon lange ein.«

»Das ist, wenn auch pedantisch ausgedrückt, doch nicht dumm gedacht und
erinnert mich an die Zeit von vor drei Jahren. Sie konnten zuweilen ganz
geistreich sein, vor drei Jahren.«

Sie sagte das ebenso gereizt, wie alle ihre früheren eigensinnigen
Phrasen.

»Marie, Marie,« wandte sich Schatoff gerührt zu ihr, »oh, Marie! Wenn du
wüßtest, was alles in diesen drei Jahren vergangen und verschwunden ist!
Ich hörte, daß du mich später verachtet haben sollst, weil ich meine
Überzeugungen geändert habe! Aber was habe ich denn fortgeworfen? Doch
nur die Feinde des lebendigen Lebens, veraltete Liberale, die sich vor
persönlicher Unabhängigkeit fürchten, die Lakaien der Gedanken, Feinde
der Persönlichkeit und Freiheit, die altersschwachen Anpreiser des Toten
und der stinkenden Verwesung! Was steht denn hinter ihnen? -- doch nur
Greisenhaftigkeit, die goldene Mittelmäßigkeit, spießerhafteste,
erbärmlichste Unbegabtheit, neidische Gleichheit, Gleichheit ohne
persönliche Würde, eine Gleichheit, wie ein Lakai sie begreift, oder
höchstens wie ein Franzose von dreiundneunzig sie begriff ... Doch die
Hauptsache: überall sind Schurken, Schurken und Schurken!«

»Ja, Schurken gibt es viele,« sagte sie kurz.

Sie lag ausgestreckt auf dem Bett, ein wenig auf der Seite, reglos, als
fürchte sie, sich zu bewegen, den Kopf auf dem Kissen zurückgebogen, und
sah mit müdem, doch heißem Blick auf die Zimmerdecke. Ihr Gesicht war
bleich, ihre Lippen trocken und heiß.

»Du stimmst mir bei, Marie, du stimmst mir bei?« rief Schatoff aus.

Sie wollte den Kopf schütteln zum Zeichen der Verneinung, doch plötzlich
wurde sie wieder von einem Krampf erfaßt. Wieder verbarg sie das Gesicht
in dem Kissen und wieder preßte sie mit aller Kraft die Hand Schatoffs,
der, außer sich vor Angst, zu ihr gestürzt war.

»Marie, Marie! Aber das ist vielleicht etwas furchtbar Ernstes, Marie!«

»Schweigen Sie ... Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht!« rief
sie fast jähzornig und drehte den Kopf auf dem Kissen, daß nun wieder
ihr Gesicht zu sehen war. »Wagen Sie es nicht, mich mit Ihrem Mitleid
anzusehen! Gehen Sie im Zimmer herum und sprechen Sie, sprechen Sie!«

Schatoff ging wieder auf und ab und gab sich verzweifelte Mühe, nur von
Gleichgültigem zu sprechen.

»Womit beschäftigen Sie sich hier?« fragte sie, mit gereizter Ungeduld
ihn unterbrechend.

»Ich arbeite bei einem Kaufmann im Kontor. Wenn ich wollte, Marie,
könnte ich hier ganz gutes Geld verdienen.«

»Desto besser für Sie ...«

»Ach, denk nur nicht, Marie, ich ... ich habe das nur so gesagt ...«

»Und was tun Sie denn sonst noch? Was predigen Sie denn jetzt? Sie
können doch nicht anders, als predigen. Das gehört schon einmal zu Ihrem
Charakter!«

»Ich predige Gott, Marie.«

»An den Sie selbst nicht glauben. Diese Idee habe ich nie begreifen
können.«

»Lassen wir das, Marie, davon können wir später sprechen.«

»Was war diese Marja Timofejewna hier?«

»Davon wollen wir auch später sprechen, Marie.«

»Wagen Sie es nicht, mir solche Bemerkungen zu machen! Ist es wahr, daß
ihr Tod ein Verbrechen ... dieser Menschen ist?«

»Zweifellos,« preßte Schatoff durch die Zähne hervor.

Marie erhob plötzlich den Kopf und rief krankhaft erregt:

»Wagen Sie es nie mehr, mir davon zu sprechen, nie mehr, nie mehr!«

Und wieder fiel sie zurück, wieder übermannt von einem krampfartigen
Schmerz. Das war schon der dritte Anfall. Ihr Gestöhn wurde lauter --
laut bis zum Geschrei.

»O Sie unerträglicher Mensch! O Sie entsetzlicher Mensch!« Sie warf sich
hin und her, sie stieß erbarmungslos Schatoff fort, der am Bett stand
und sich über sie beugte.

»Marie, ich werde alles tun, was du willst ... ich werde gehen ...
sprechen ...«

»Ja, sehen Sie denn wirklich nicht, was begonnen hat!«

»Was hat begonnen, Marie?«

»Ach, wie soll ich es wissen! Weiß ich denn etwas davon? ... Oh,
verfl...! Oh ... im voraus sei schon alles verflucht!«

»Marie, wenn du nur sagen wolltest, was begonnen hat ... denn sonst ...
wie soll ich denn sonst etwas verstehen?«

»Sie sind ein abstrakter Schwätzer ... Oh ... alles ... alles sei
verflucht!«

»Marie! Marie!«

Er begann schon ernstlich zu befürchten, daß sie wahnsinnig geworden
sei.

Da richtete sie sich plötzlich halb auf und sah ihn mit furchtbarer,
krankhafter, ihr Gesicht entstellender Wut an:

»Ja, sehen Sie denn noch immer nicht, daß ich mich in Geburtswehen
quäle? Mag es im voraus verflucht sein, dieses Kind!«

»Marie,« rief Schatoff, der jetzt endlich begriff, um was es sich
handelte. »Marie ... Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Er besann
sich sofort, und plötzlich ergriff er in energischer Entschlossenheit
seine Mütze.

»Wußte ich es denn, als ich hier eintrat? Wäre ich denn sonst zu Ihnen
gekommen? Man sagte mir: erst nach zehn Tagen! Aber wohin gehen Sie
denn, wohin wollen Sie, unterstehen Sie sich nicht!« ...

»Nach der Hebamme! Ich verkaufe den Revolver: ganz zuerst muß jetzt Geld
--!«

»Wagen Sie es nicht, unterstehen Sie sich nicht, nach der Hebamme zu
gehen, einfach ein Weib, irgendeine Alte, ich habe noch achtzig Kopeken
im Geldbeutel ... Bauernweiber gebären doch ohne fremde Hilfe ... Und
krepiere ich, um so besser ...«

»Das Weib schaffe ich zur Stelle, eine Alte gleichfalls. Nur wie ... wie
soll ich, Herrgott, wie soll ich dich so allein lassen, Marie?«

Doch er sagte sich, daß es immerhin besser war, sie jetzt allein zu
lassen, als später ohne Hilfe zu sein, und er eilte wie gehetzt die
Treppe hinunter.


                                  III.

Ganz zuerst lief er zu Kirilloff. Es war schon gegen ein Uhr nachts.
Kirilloff stand mitten im Zimmer.

»Kirilloff, meine Frau gebiert!«

»Das heißt, wie?«

»Sie gebiert, sie gebiert ein Kind!«

»Sie ... täuschen sich auch nicht?«

»O nein, nein, sie hat schon Krämpfe! ... Sie braucht ein Weib,
irgendeine Alte, unbedingt, sofort ... Kann man sie bekommen? Sie hatten
hier doch immer viele alte Weiber ...«

»Sehr schade, daß ich nicht zu gebären verstehe,« sagte Kirilloff ernst
und nachdenklich, »das heißt, nicht ich gebären, aber so zu machen, daß
ich nicht zu gebären verstehe ... oder ... Nein, das verstehe ich schon
nicht zu sagen.«

»Sie wollen wohl sagen, daß Sie bei der Geburt nicht zu helfen
verstehen? Aber davon spreche ich ja nicht! Eine Alte, ein altes Weib,
ich bitte Sie um ein altes Weib, eine Krankenwärterin, Pflegerin,
Aufwärterin!«

»Die Alte wird da sein, nur vielleicht nicht gleich. Wenn Sie wollen,
werde ich anstatt ...«

»Unmöglich! -- ich laufe jetzt zur Wirginskaja, zur Hebamme ...«

»Gemeines Frauenzimmer.«

»Ja, Kirilloff, ja, aber sie ist die beste! O ja, das wird alles ohne
Ehrfurcht, ohne Freude, mürrisch, mit Geschimpf und Gotteslästerungen
geschehen -- bei einem so großen, heiligen Geheimnis, wie es die Geburt
eines neuen Menschen ist! ... Oh, und sie -- sie verflucht das Kind
schon jetzt! ...«

»Wenn Sie wollen, ich ...«

»Nein, nein, aber während ich laufe (oh, ich werde die Wirginskaja schon
heranschleppen!) währenddem könnten Sie von Zeit zu Zeit zu meiner
Treppe gehen und vorsichtig hinaufhorchen, doch unterstehen Sie sich
nicht, hineinzugehen, Sie würden sie erschrecken, hören Sie, daß Sie
nicht hineingehen, horchen Sie bloß so -- auf alle Fälle! Nur wenn etwas
Äußerstes geschehen sollte -- gehen Sie hinein!«

»Verstehe. Geld noch einen Rubel. Hier. Ich wollte morgen ein Huhn,
jetzt will ich nicht. Laufen Sie schnell, laufen Sie so schnell Sie
können. Der Samowar ist die ganze Nacht.«

Kirilloff ahnte nichts von den Absichten gegen Schatoff. Auch früher war
ihm die Gefahr unbekannt gewesen, die Schatoff drohte. Er hatte nur
gehört, daß Schatoff alte Abrechnungen mit »diesen Leuten« habe, doch
wußte er nichts Näheres darüber, obschon er selbst durch gewisse
Instruktionen aus dem Auslande (übrigens waren es nur ganz
unverfängliche) mit dem »Fall Schatoff« gewissermaßen verknüpft war.
Doch in der letzten Zeit hatte er alles abgelehnt, hatte sich von allem
zurückgezogen, besonders was die »allgemeine Sache« irgendwie anging,
und sich ganz seinem kontemplativen Leben hingegeben. Pjotr
Werchowenski, der auf der Sitzung doch eigentlich nur deshalb Liputin
aufgefordert hatte, mitzukommen, um ihn zu überzeugen, daß Kirilloff den
»Fall Schatoff« tatsächlich auf sich nehmen werde, hatte im Gespräch mit
Kirilloff kein Wort über Schatoff verloren, ja, ihn nicht einmal
erwähnt: offenbar mit Absicht, da er nicht sicher war, ob Kirilloff
nicht alles ablehnen würde, wenn er erfuhr, daß Schatoff als Opfer mit
hineingezogen werden sollte. So hatte er denn diesen Teil der ganzen
Angelegenheit auf den folgenden Tag verschoben, wenn die Tat bereits
geschehen und alles schon »einerlei« war. Liputin war es allerdings
aufgefallen, daß Pjotr Stepanowitsch gerade über Schatoff kein Wort
sagte, doch war er andererseits selbst zu aufgeregt gewesen, um ihn
darauf aufmerksam zu machen.

Schatoff lief so schnell er nur konnte zu Wirginskis, fluchend über die
Entfernung, die ihm heute endlos erschien.

An dem Hause mußte er lange klopfen: alles schlief natürlich. Doch
Schatoff schlug rücksichtslos und mit aller Kraft an die Fensterläden.
Der Hofhund schlug an, riß an seiner Kette und heulte und bellte, daß
sämtliche Hunde der Umgegend gleichfalls anschlugen.

»Wer klopft? Was wünschen Sie?« ertönte endlich an einem Fenster die
weiche Stimme Wirginskis, deren Sanftheit in so gar keinem Verhältnis zu
der Störung stand.

Der Fensterladen wurde geöffnet und gleich darauf auch das Klappfenster.

»Wer ist da? Wer ist der Schuft?« kreischte wütend die Stimme der alten
Jungfer, Wirginskis Schwägerin, deren Ton schon mehr als im Verhältnis
zu der »Beleidigung« stand.

»Ich bin Schatoff, meine Frau ist zu mir zurückgekehrt und wird gleich
gebären ...«

»So mag sie doch, scheren Sie sich zum Kuckuck!«

»Ich bin nach Arina Prochorowna gekommen, ohne Arina Prochorowna gehe
ich nicht fort!«

»Sie kann doch nicht zu jedem gehen! In der Nacht ist eine andere Praxis
... Scheren Sie sich zur Makschejewa, und daß Sie sich nicht
unterstehen, noch weiterzulärmen!« rief zornknatternd die Weiberstimme.

Doch Schatoff hörte gleichzeitig, wie Wirginski sie zu beschwichtigen
und zu unterbrechen suchte. Die alte Jungfer aber ließ ihn einfach nicht
zu Wort kommen und verteidigte ihren Platz am Fenster.

»Ich gehe nicht fort!« schrie Schatoff wieder.

»Warten Sie, warten Sie!« rief Wirginski und es gelang ihm endlich, die
alte Jungfer zu verdrängen. »Ich bitte Sie, Schatoff, warten Sie noch
fünf Minuten, ich werde Arina Prochorowna wecken, nur bitte klopfen Sie
nicht mehr und schreien Sie bitte nicht ... Oh, wie ist das
schrecklich!«

Nach fünf endlosen Minuten erschien dann schließlich Arina Prochorowna.

»Ihre Frau ist zu Ihnen gekommen?« ertönte ihre Stimme durch das
Klappfenster, und zwar, zu Schatoffs nicht geringer Verwunderung,
diesmal durchaus nicht geärgert, sondern höchstens befehlend wie
gewöhnlich -- aber anders verstand Arina Prochorowna überhaupt nicht zu
sprechen.

»Ja, meine Frau -- und sie bekommt ein Kind.«

»Marja Ignatjewna?«

»Ja, Marja Ignatjewna. Natürlich, Marja Ignatjewna!«

Ein Schweigen entstand. Schatoff wartete. Hinter dem Fenster hörte er
flüstern.

»Ist sie schon vor langer Zeit angekommen?« fragte Frau Wirginskaja
wieder.

»Heute abend, um acht. Bitte schnell, wenn Sie können!«

Wieder wurde im Hause geflüstert, wieder schienen sie sich zu beraten.

»Hören Sie, irren Sie sich nicht? Hat sie selbst Sie zu mir geschickt?«

»Nein, sie hat mich nicht geschickt, sie will nur ein Weib haben, ein
einfaches Weib, um mich nicht mit Ausgaben zu belasten, aber seien Sie
unbesorgt, ich werde alles bezahlen.«

»Gut, ich komme, ob Sie zahlen oder nicht. Ich habe stets die
selbständigen Anschauungen Marja Ignatjewnas zu schätzen gewußt, wenn
sie sich auch meiner vielleicht nicht mehr erinnert. Haben Sie die
notwendigsten Sachen?«

»Ich habe nichts, aber es wird alles, alles gleich zur Stelle sein! ...
Also Sie kommen?«

Damit lief Schatoff auch schon fort: diesmal zu Lämschin.

»Es gibt doch in diesen Leuten noch Großmut!« dachte er auf dem Wege.
»Die Überzeugungen und der Mensch, -- das sind, glaube ich, in vielem
zwei ganz verschiedene Dinge. Ich habe ihnen vielleicht in manchem
Unrecht getan! ... Alle Menschen sind schuldig, alle sind schuldig und
... wenn doch alle das einsehen würden! ...«

Bei Lämschin brauchte er nicht lange zu klopfen: es wurde überraschend
schnell geöffnet. Lämschin war aber auch schon beim ersten Schlag aus
dem Bett gesprungen und steckte -- mit bloßen Füßen, nur im Hemd -- im
Nu den Kopf zum Luftfenster hinaus, ungeachtet dessen, daß er sich so
einen Schnupfen zu holen riskierte; er aber war sonst sehr vorsichtig
und stets um seine Gesundheit besorgt. Doch diese Scharfhörigkeit und
Eile hatten einen besonderen Grund: Lämschin hatte nämlich nach der
Sitzung bei Erkel überhaupt nicht einschlafen können und den ganzen
Abend und die halbe Nacht nur so gezittert vor Aufregung. Ihm schwante
die ganze Zeit, daß sogleich gewisse ungebetene und unerwünschte Gäste
bei ihm erscheinen würden. Denn ihn, Lämschin, quälte am meisten die
Nachricht von Schatoffs Denunziation. Und nun plötzlich, wie
absichtlich, wurde so furchtbar laut und befehlend an sein Fenster
geklopft! ...

Als er Schatoff erblickte, erschrak er so, daß er sofort das Fenster
zuschlug und ins Bett zurücklief. Schatoff aber begann wütend zu rufen
und zu klopfen.

»Wie dürfen Sie so schreien und klopfen mitten in der Nacht?« rief das
Jüdchen drohend und doch fast vergehend vor Angst, -- und auch das erst
nach ganzen zwei Minuten der Unentschlossenheit und erst nachdem er sich
überzeugt hatte, daß Schatoff ganz allein gekommen war.

»Hier haben Sie Ihren Revolver, nehmen Sie ihn zurück und geben Sie mir
fünfzehn Rubel.«

»Was soll das heißen, sind Sie besoffen? Das ist Raubmord! Und ich
erkälte mich nur. Warten Sie, ich nehme ein Plaid um.«

»Geben Sie sofort fünfzehn Rubel. Wenn nicht, so werde ich bis zum
Morgen klopfen und schreien. Ich schlage Ihnen das Fenster ein!«

»Aber ich werde die Polizei rufen und man nimmt Sie in Arrest!«

»Ah, und bin ich denn stumm? Als ob ich nicht auch die Polizei rufen
kann? Wer hat die wohl mehr zu fürchten, Sie oder ich?«

»Und Sie können so häßliche Absichten haben ... Ich weiß, worauf Sie
anspielen ... Warten Sie, warten Sie um Gottes willen, klopfen Sie nicht
mehr! Erbarmen Sie sich, wer hat denn Geld in der Nacht? Wozu brauchen
Sie überhaupt Geld, wenn Sie nicht betrunken sind?«

»Meine Frau ist zu mir gekommen. Ich habe Ihnen zehn Rubel abgelassen,
habe kein Mal geschossen, -- nehmen Sie den Revolver, nehmen Sie ihn
sofort!«

Lämschin streckte mechanisch seine Hand aus dem Fenster und nahm den
Revolver entgegen: einen Augenblick wartete er, dann aber steckte er
plötzlich den Kopf hinaus und lispelte mit steifer Zunge, ohne selbst zu
begreifen, was er tat, und mit einem Schauer im Rücken:

»Sie lügen, zu Ihnen ist gar keine Frau gekommen ... Das ... das ... Sie
wollen einfach irgendwohin fliehen!«

»Sie Kalb, wohin soll ich denn fliehen? Euer Pjotr Werchowenski flieht,
aber nicht ich. Ich war soeben bei der Wirginskaja und sie war sofort
bereit, zu mir zu kommen. Entschließen Sie sich! Meine Frau quält sich,
ich brauche Geld, geben Sie das Geld!«

Ein ganzes Feuerwerk von Gedanken sprühte sogleich im findigen Kopfe
Lämschins auf. Alles nahm in seinen Augen plötzlich eine andere Wendung,
aber die Angst ließ ihn immer noch nicht klar überlegen.

»Ja aber, wie ist denn das ... Sie leben doch nicht mit Ihrer Frau?«

»Für solche Fragen schlage ich Ihnen den Schädel ein!«

»Ach, mein Gott, verzeihen Sie, ich begreife, ich war nur so bestürzt
... Aber ich verstehe, verstehe. Aber ... aber wird denn Arina
Prochorowna wirklich kommen? Sie sagten, daß sie schon gegangen sei?
Wissen Sie, das ist doch gar nicht wahr. Sehen Sie, sehen Sie, sehen
Sie, wie Sie die Unwahrheit sagen, auf jedem Schritt!«

»Sie ist jetzt bestimmt schon bei meiner Frau ... Halten Sie mich nicht
auf, ich bin nicht schuld daran, daß Sie dumm sind.«

»Das ist nicht wahr, ich bin gar nicht dumm. Verzeihen Sie, aber ich
kann auf keine Weise ...«

Und er wollte schon, ganz aus der Fassung gebracht, zum drittenmal das
Luftfenster schließen. Doch Schatoff brüllte derart auf, daß der Kleine
sofort wieder den Kopf zum Fenster hinaussteckte.

»Aber das ist doch schon einfach eine ... eine Beschlagnahme der
Persönlichkeit! Was wollen Sie denn von mir, nun, was, was denn,
formulieren Sie es doch! Und beachten Sie, beachten Sie, mitten in solch
einer Nacht!«

»Fünfzehn Rubel verlange ich, Schafskopf!«

»Aber ich, ich will den Revolver vielleicht gar nicht zurücknehmen! Sie
haben gar nicht das Recht, so was zu verlangen. Sie haben das Ding
gekauft -- damit ist alles fertig, und Sie haben nicht das Recht! ...
Solch eine Summe habe ich überhaupt nicht in der Nacht! Wo soll ich
solch eine Summe hernehmen in der Nacht?«

»Du hast immer Geld bei dir; ich habe dir zehn Rubel abgelassen, aber du
bist ja ein bekannter Judenlümmel!«

»Kommen Sie übermorgen, -- hören Sie, übermorgen früh, punkt zwölf Uhr,
und ich gebe Ihnen alles, alles, ist's recht?«

Schatoff schlug wieder unbändig an den Fensterrahmen.

»Zehn Rubel her, und morgen früh fünf!«

»Nein, _über_morgen früh fünf, aber morgen kann ich bei Gott nicht.
Kommen Sie lieber gar nich! Kommen Sie lieber gar nich!«

»Zehn Rubel, sag ich; o Schuft!«

»Aber warum schimpfen Sie denn so? Warten Sie, ich muß doch erst Licht
machen! Sie haben den Kitt von den Scheiben losgeschlagen ... Wer
schimpft denn so in der Nacht? Hier!« und er reichte einen Schein aus
dem Fenster.

Schatoff ergriff ihn, -- es war ein Fünfrubelschein.

»Das sind ja nur fünf!«

»Bei Gott, ich kann nicht, und wenn Sie mich erstechen, ich kann nicht,
übermorgen kann ich alles, aber jetzt kann ich gar nichts.«

»Ich gehe nicht früher fort!« schrie Schatoff.

»Nu, nehmen Sie noch das, nu, hier ist noch, sehen Sie, hier ist noch,
aber mehr gebe ich nich. Schreien Sie sich meinetwegen die Kehle kaputt,
ich geb nich mehr, was Sie da auch nich machen -- geb nich mehr, geb
nich, geb nich!«

Er war außer sich, in Verzweiflung, in Schweiß. Die beiden Geldscheine,
die er noch gab, waren nur Einrubelscheine. Im ganzen hatte Schatoff
sieben Rubel bekommen.

»Daß dich der Teufel hole, ich komme morgen. Und ich haue dich,
Lämschin, wenn du die acht Rubel nicht bereit hast!«

»Und morgen bin ich einfach nich zu Haus, Dummkopf!« dachte Lämschin
blitzschnell.

»Warten Sie, warten Sie, Herr Schatoff!« rief er ihm plötzlich nach.
»Warten Sie, kommen Sie zurück! -- Sagen Sie, bitte, ist es wirklich
wahr, was Sie gesagt haben, daß Ihre Frau zurückgekommen ist?«

»Esel!« sagte Schatoff ausspuckend und lief so schnell er konnte nach
Hause.


                                  IV.

Arina Prochorowna wußte nichts von dem in der Sitzung gefaßten Beschluß.
Wirginski, der ganz schwach nach Hause gekommen war, hatte ihr in seiner
Aufregung zwar einiges mitgeteilt, alles jedoch noch nicht zu sagen
gewagt. Im Grunde war es nur die Nachricht von Schatoffs bevorstehender
Denunziation, die sie erfahren hatte. Wirginski fügte wohl noch hinzu,
daß er an diese Nachricht selber nicht ganz glaube, doch Arina
Prochorowna war nichtsdestoweniger heftig erschrocken. Aus diesem Grunde
entschloß sie sich sofort, als Schatoff sie zu seiner Frau rief, trotz
ihrer Müdigkeit (sie hatte in der Nacht vorher auch schon entbunden) zu
ihm zu gehen. Sie hatte schon längst, wie sie sagte, diesen Schatoff für
fähig gehalten, »eine bürgerliche Gemeinheit zu begehen«, und glaubte
darum an eine Anzeige von seiner Seite weit eher als ihr Mann. Als sie
aber hörte, daß Marja Ignatjewna zurückgekehrt war, da schöpfte sie
sofort neue Hoffnung: Schatoffs Angst, der verzweifelte Ton seiner Bitte
ließen sie eine gewisse »Umwandlung in den Gefühlen des Verräters«
ahnen. Ein Mensch, dachte sie, der sich entschlossen hat, sich selbst zu
verderben, nur um andere auszuliefern, würde anders aussehen und anders
sprechen. Jedenfalls entschloß sich Arina Prochorowna sofort, alles mit
eigenen Augen zu untersuchen. Und auf Wirginski wirkte der Entschluß
seiner Frau unendlich beruhigend -- als ob man ihm »fünf Pud« von der
Seele genommen hätte! Auch in ihm stieg eine neue Hoffnung auf: das
Aussehen Schatoffs schien ihm im höchsten Grade Werchowenskis Verdacht
zunichte zu machen.

Schatoff hatte sich nicht getäuscht: als er zurückkam, fand er Arina
Prochorowna schon in seinem Zimmer. Sie war erst vor ein paar Minuten
eingetroffen, hatte den unten an der Treppe Wacht haltenden Kirilloff
mit Verachtung weggejagt und sich schnell und so gut das möglich war,
mit Marie verständigt. Angetroffen hatte sie ihre Patientin »in der
gemeinsten Verfassung«, das heißt, böse, gereizt und »im allerdümmsten
Kleinmut« -- aber schon nach wenigen Worten hatte sie Maries sämtliche
Einwendungen besiegt.

»Was jammern Sie da, daß Sie keine teure Hebamme haben wollen?« sagte
sie gerade in dem Augenblick, als Schatoff eintrat, »der reinste
Blödsinn, verdrehte Gedanken, die von Ihrem unnormalen Zustande kommen.
Mit Hilfe irgendeines alten Bauernweibes hätten Sie fünfzig Chancen,
schlecht zu enden, jawohl, und dann gibt es schon mehr Scherereien und
Ausgaben, als wenn Sie eine teure nehmen. Und woher wissen Sie
überhaupt, daß ich teuer bin? Sie können später bezahlen, von Ihnen
werde ich nicht mehr verlangen als recht ist, und ich garantiere für
eine gute Entbindung: bei mir werden Sie schon nicht sterben, das ist
bei mir noch nie vorgekommen. Und das Kind -- das kann ich Ihnen morgen
noch in einer Anstalt unterbringen, und später geben wir es ins Dorf zur
Erziehung, womit die Sache dann abgetan ist. Sie aber werden schnell
gesund, machen sich an eine vernünftige Arbeit und >entschädigen< dann
meinetwegen Schatoff für das Zimmer und die Ausgaben, die durchaus nicht
so groß sein werden ...«

»Ach, nicht das ... Ich habe nicht das Recht, ihn zu belästigen ...«

»Sehr rationell und bürgerlich gedacht, aber, wie gesagt, Schatoff wird
fast überhaupt keine Auslagen haben, glauben Sie mir, -- wenn er sich
nur aus einem phantastischen Herrn in einen Menschen mit vernünftigen
Ideen verwandeln wollte! Vor allem sollte man ihn keine Dummheiten
machen, nicht gleich lostrommeln und mit herausgestreckter Zunge durch
die Stadt rennen lassen! Er hat jetzt hier zu bleiben! Wenn man ihn
nicht mit Gewalt festhält, so schleppt er uns bis zum Morgen womöglich
noch sämtliche Ärzte zusammen: er hat doch bei mir alle Hunde zum
Kläffen gebracht! Ärzte brauchen wir nicht, ich habe schon gesagt, daß
ich für alles garantiere. Ein altes Weib kann man meinetwegen noch zur
Bedienung annehmen, das kostet auch weiter nicht viel. Übrigens kann er
sich auch selbst nützlich machen, er braucht doch nicht nur zu
Dummheiten fähig zu sein. Er hat doch Arme und Beine, kann also in die
Apotheke laufen, ohne dabei irgendwie Ihre Gefühle mit >Wohltaten< zu
verletzen. Was Teufel >WohltatenJa, es ist richtig,
es ist gut.< Das ... das ist nicht ein Ergriffensein, sondern nur so, --
Freude. Man verzeiht auch nichts, denn es gibt nichts mehr, was zu
verzeihen wäre. Es ist nicht, daß man liebt, oh, -- das hier ist höher
als Liebe! Das Furchtbarste ist, daß es so schrecklich klar ist und eine
solche Freude. Wenn es mehr als fünf Sekunden wäre, so würde die Seele
es nicht aushalten und müßte vergehen. In diesen fünf Sekunden durchlebe
ich das Leben und würde für sie mein ganzes Leben hingeben, denn sie
sind das wert. Um zehn Sekunden zu ertragen, muß man sich physisch
verändern. Ich denke, der Mensch muß aufhören, zu gebären. Wozu Kinder,
wozu Entwicklung, wenn das Ziel erreicht ist? Im Evangelium ist gesagt,
daß man nach der Auferstehung nicht mehr gebären, sondern wie Engel
Gottes sein wird. Ein Fingerzeig. Ihre Frau gebiert?«

»Kirilloff, haben Sie das oft?«

»In drei Tagen einmal, in einer Woche einmal.«

»Haben Sie nicht die Fallsucht?«

»Nein.«

»Dann werden Sie sie bekommen. Nehmen Sie sich in acht, Kirilloff, ich
habe gehört, daß die Fallsucht gerade so beginnen soll. Mir hat ein
Epileptiker Wort für Wort so wie Sie den Zustand vor dem Anfall
geschildert: fünf Sekunden gab auch er an, und auch er sagte, daß man
mehr nicht ertragen könne. Denken Sie an Mohammeds Krug, der nicht Zeit
hatte, überzufließen, während der Prophet auf seinem Pferde das Paradies
umflog. Der Krug -- das sind dieselben fünf Sekunden; das erinnert zu
sehr an Ihre Harmonie, und Mohammed war bekanntlich Epileptiker. Nehmen
Sie sich in acht, Kirilloff, vor der Fallsucht!«

»Die kommt zu spät,« sagte Kirilloff mit stillem Lächeln.


                                  VI.

Die Nacht verging. Schatoff wurde fortgeschickt, gescholten,
zurückgerufen und wieder gescholten. Maries Angst um ihr Leben erreichte
den höchsten Grad: sie schrie, daß sie leben wolle, »unbedingt,
unbedingt!« und »nicht sterben! nicht sterben!« Wäre Arina Prochorowna
nicht bei ihr gewesen, so hätte es schlimm werden können; doch
allmählich bekam sie die nervöse Patientin vollkommen in ihre Hand, bis
diese schließlich wie ein Kind jedem einzelnen ihrer Worte gehorchte.
Arina Prochorowna faßte sie -- ihr erprobtes Mittel -- mit Strenge an,
sparte sich, wie gewöhnlich, jede Freundlichkeit, tat aber sonst
meisterhaft ihre Pflicht.

Der Tag brach an.

Arina Prochorowna fiel es plötzlich ein, zu erzählen, daß Schatoff im
Augenblick vorher auf den Treppenflur hinausgegangen sei, um zu Gott zu
beten, und sie lachte darüber. Marie begann gleichfalls zu lachen, hart
und höhnisch, als ob ihr von diesem Lachen leichter würde.

Schließlich wurde Schatoff ganz hinausgeschickt. Ein kalter, feuchter
Morgen brach an. Er stützte wieder die Stirn an die Flurwand, und stand
so, wie er vorhin gestanden hatte, als Erkel zu ihm gekommen war. Er
zitterte am ganzen Körper und fürchtete sich zu denken, aber sein Denken
heftete sich an alles vor seinem Geist Erscheinende, wie es im Traum zu
geschehen pflegt. Die Gedanken zogen ihn immer wieder mit sich fort,
rissen aber dabei selbst fortwährend ab, wie mürbe Fäden.

Aus dem Zimmer drang schon nicht mehr Gestöhn: das waren vielmehr
entsetzliche, rein tierische Schreie, unerträgliche, unmögliche. Er
wollte sich die Ohren zuhalten, doch konnte er es nicht und sank auf die
Knie, unbewußt, immer nur das eine Wort stammelnd: »Marie, Marie,
Marie!«

Und dann plötzlich hörte er einen neuen Schrei, der ihm durch Mark und
Bein fuhr und ihn aufspringen machte -- den schwachen, zitternden Schrei
eines Kindes. ... Er bekreuzte sich und stürzte ins Zimmer. In Arina
Prochorownas Händen wimmerte und bewegte sich mit winzigen Händchen und
Füßchen ein rotes, runzliges, kleines Wesen, das bis zur Kläglichkeit
hilflos war, das aber schrie und sich kund tat, ganz als hätte es
gleichfalls ein großes Recht auf das Leben ...

Marie lag wie ohnmächtig in den Kissen: nach einer Minute erst schlug
sie die Augen auf und sah sonderbar, ganz sonderbar Schatoff an: das war
ein ganz neuer Blick -- was für einer, das konnte er noch nicht
verstehen, aber noch nie vorher hatte er einen ähnlichen Blick an ihr
bemerkt.

»Ein Knabe? ein Knabe?« fragte sie mit leiser, schwacher Stimme Arina
Prochorowna.

»Ein Bengel!« rief die zurück, die gerade das Kleine einwickelte.

Als sie das Kindchen eingepackt hatte und sich nun anschickte, es
zwischen zwei Kissen quer aufs Bett zu legen, gab sie es auf einen
Augenblick Schatoff, damit er es halte. Marie, die das bemerkt hatte,
winkte ihn heimlich heran, als ob sie sich vor Arina Prochorowna
fürchtete. Er verstand sie sofort und trat mit dem kleinen Wesen zu ihr,
damit sie es sehen konnte.

»Wie ... nett er ist ...« flüsterte sie lächelnd, mit schwacher Stimme.

Arina Prochorowna bemerkte zufällig Schatoffs Gesichtsausdruck und brach
in heiteres Lachen aus: »Was der aber für ein Gesicht macht! So etwas
habe ich noch nie gesehn!«

»Lachen Sie nur, Arina Prochorowna ... Das ist eine große Freude ...«
sagte Schatoff mit einfältig seligem Gesichtsausdruck: nach den paar
Worten, die Marie über das Kind gesagt hatte, war er geradezu erstrahlt.

»Ach, was ist denn das für eine große Freude!« lachte Arina Prochorowna,
die geschäftig im Zimmer hin und her ging.

»Das Geheimnis, daß es ein neues Wesen auf der Welt gibt; das große und
unerklärliche Geheimnis, Arina Prochorowna -- wie schade, daß Sie das
nicht verstehen!«

Schatoff sprach wirr, wie benommen und verzückt. Als ob irgend etwas in
seinem Kopfe hin und her wogte und sich von selbst, ohne seinen Willen,
aus seiner Seele ergoß.

»Es waren zwei, und plötzlich ist ein dritter Mensch, ein neuer Geist,
ein ganzer, in sich vollendeter, wie ihn Menschenhand nimmer erschaffen
kann; ein neuer Gedanke und eine neue Liebe ... sogar unheimlich ... Und
es gibt nichts Höheres auf der Welt!«

»Der redet was zusammen! Das ist doch einfach die Weiterentwicklung des
Organismus und nichts anderes, nichts von Geheimnissen,« sagte Arina
Prochorowna wieder mit aufrichtig heiterem Lachen. »So wäre ja jede
Fliege ein Geheimnis. Nur sehen Sie: überflüssige Menschen sollten
lieber nicht geboren werden. Schmiedet erst alles so um, daß sie nicht
mehr überflüssig sind, dann könnt ihr sie gebären. Denn sonst -- da muß
man ihn nun übermorgen in die Findelanstalt schleppen ... Übrigens, so
muß es auch sein.«

»Niemals werde ich ihn von mir fort in eine Anstalt geben!« sagte
Schatoff, den Blick zu Boden gesenkt, mit fester Stimme.

»Sie adoptieren ihn?«

»Er _ist_ mein Sohn.«

»Natürlich, er heißt Schatoff, nach dem Gesetz ist er ein Schatoff, und
Sie haben keine Ursache, sich als Wohltäter des Menschengeschlechts
aufzuspielen. Ohne Phrasen geht's ja nicht. Nun, nun, schon gut, nur
noch eines, meine Herrschaften,« schloß sie endlich, sich bereits
ankleidend, »ich muß nämlich jetzt gehen. Ich werde am Vormittag
wiederkommen und auch am Abend, falls es nötig sein sollte; jetzt aber
muß ich, da hier alles so glücklich überstanden ist, zu meinen anderen
Patientinnen, die warten schon lange auf mich. Sie haben dort irgendwo
eine Alte ... Aber Alte hin, Alte her, deshalb können auch Sie sich
immer noch nützlich machen. Daß Sie sie mir nicht allein lassen! --
setzen Sie sich als liebes Männchen an ihr Bett -- Marja Ignatjewna wird
Sie, glaub' ich, jetzt nicht mehr fortjagen ... nun, nun, ich scherze ja
nur ...«

Bei der Pforte, die Schatoff für sie aufschloß, sagte sie noch zu ihm:

»Sie haben mich für mein ganzes Leben erheitert! Geld nehme ich von
Ihnen nicht, werd' noch im Schlaf lachen müssen. Komischeres als Sie in
dieser Nacht, habe ich in meinem Leben noch nicht gesehn.«

Sie ging vollkommen zufrieden fort. Nach Schatoffs Aussehen und allen
seinen Worten war es für sie klar wie das Sonnenlicht, daß dieser Mensch
»sich jetzt in die Rolle des Vaters einfühlen wird und der letzte Lappen
ist«, -- ans Denunzieren also überhaupt nicht denken werde. So eilte sie
denn, obgleich die Wohnung einer Patientin am Wege lag, zuerst nach
Haus, um diese Beobachtungen ihrem Mann zur Beruhigung mitzuteilen.

»Marie, sie hat dir gesagt, daß du nicht gleich schlafen sollst, wenn
das auch, fürchte ich, sehr schwer ist ...« begann Schatoff schüchtern.
»Ich werde mich hier ans Fenster setzen und auf dich acht geben, nicht?«

Und er setzte sich hinter dem Diwan ans Fenster, doch so, daß sie ihn
auf keine Weise sehen konnte. Aber es verging nicht eine Minute, da rief
sie ihn schon wieder und bat gereizt, ihr das Kissen zurechtzurücken. Er
versuchte es vorsichtig. Sie sah böse zur Wand.

»Nicht so, ach, nicht so ... Was für ungeschickte Hände!«

Schatoff bemühte sich, es besser zu machen.

»Beugen Sie sich zu mir,« sagte sie plötzlich und gab sich die größte
Mühe, ihn nicht anzusehen.

Er zuckte erschrocken zusammen, doch beugte er sich gehorsam zu ihr
nieder.

»Noch ... nicht so ... näher,« und plötzlich umschlang ihr linker Arm
ungestüm seinen Hals und er fühlte ihren starken, feuchten Kuß auf
seiner Stirn.

»Marie!«

Ihre Lippen bebten, sie bezwang sich sichtlich, doch plötzlich richtete
sie sich halb auf und sagte mit blitzenden Augen:

»Nicolai Stawrogin ist ein Lump!«

Und kraftlos, als ob ihr plötzlich alle Stützen entzogen worden wären,
fiel sie, hysterisch aufschluchzend, mit dem Gesicht auf das Kissen und
drückte fest, fest Schatoffs Hand in ihren glühenden Händen.

Von diesem Augenblick an ließ sie ihn nicht mehr von sich, und wollte
»unbedingt, unbedingt«, daß er an ihrem Bett sitzen blieb. Sprechen
konnte sie nur wenig, aber sie sah ihn an und lächelte ihm zu wie eine
Glückselige. Sie schien plötzlich ganz unklug, eine ganze Törin geworden
zu sein. Alles war jetzt gleichsam verwandelt. Schatoff weinte bald wie
ein kleiner Knabe, bald sprach er Gott weiß wovon, sprach wild, wie
benommen, begeistert; er küßte ihre Hände, und sie hörte ihm wie
berauscht zu, vielleicht ohne zu verstehen, was er sprach, streichelte
liebkosend mit ihrer geschwächten Hand sein Haar und schien sich an ihm
nicht satt sehen zu können. Er erzählte ihr von Kirilloff, erzählte
davon, daß sie beide jetzt »von neuem und auf ewig« zu leben beginnen
würden, sprach von Gott und davon, daß alle Menschen gut seien ... Und
in der Begeisterung holten sie dann wieder das Kindchen hervor, um es
von neuem zu betrachten.

»Marie,« rief er, als er das Kindchen in den Armen hielt, »nun hat das
ein Ende, das mit den alten Quälereien und der ganzen veralteten
Schmach! Wollen wir uns jetzt auf den neuen Weg durcharbeiten, wir drei
zusammen, ja, ja! ... Ach so: wie werden wir ihn denn nennen, Marie?«

»Ihn? Wie wir ihn nennen werden?« fragte sie verwundert, und plötzlich
drückte sich in ihrem Gesicht ein unsagbarer Schmerz aus.

Sie erhob die Hände, blickte Schatoff vorwurfsvoll an und warf sich dann
aufschluchzend mit dem Gesicht auf das Kissen.

»Marie, was hast du?« rief er maßlos erschrocken.

»Und Sie konnten ... konnten ... Oh, Sie Undankbarer!«

»Marie vergib, Marie ... Ich habe ja nur gefragt, wie wir ihn nennen
sollen. Ich weiß nicht ...«

»Iwan! Iwan!« rief sie, ihr glühendes, tränenüberströmtes Gesicht wieder
erhebend. »Haben Sie denn wirklich an irgendeinen anderen _furchtbaren_
Namen denken können!?«

»Marie, um Gottes willen, beruhige dich! Oh, wie du nervös bist!«

»Eine neue Kränkung, daß Sie das den Nerven zuschreiben! Ich könnte
wetten; wenn ich gesagt hätte, ihn ... mit jenem anderen schrecklichen
Namen zu nennen, so wären Sie sofort einverstanden gewesen, hätten es
nicht einmal bemerkt! Oh, ihr Undankbaren, ihr Niedrigen, alle, alle!«

Nach einer Minute versöhnten sie sich natürlich wieder. Schatoff
beredete sie schließlich, einzuschlafen. Sie tat es denn auch, doch gab
sie seine Hand auch jetzt noch nicht frei, wachte oft auf und blickte
ihn an, ganz als hätte sie gefürchtet, er könnte fortgegangen sein, bis
sie dann von neuem einschlief.

Kirilloff schickte die Alte, um zu »gratulieren«, und sandte zugleich
heißen Tee, heiße, selbstgebratene Koteletts und Bouillon mit Weißbrot
für »Marja Ignatjewna«. Die Kranke trank gierig die Bouillon aus und
zwang auch Schatoff, von den Koteletts zu essen, worauf die Alte das
Kind von neuem einwickelte.

Die Zeit verging. Schatoff schlief endlich gleichfalls ein, mit dem Kopf
auf ihr Kissen gebeugt, todmüde. So fand sie Arina Prochorowna, die
richtig ihr Wort hielt und wiederkam. Lachend weckte sie die beiden auf,
sprach mit Marie über das Nötige, besah das Kindchen und verbot Schatoff
wieder strengstens, die Kranke zu verlassen. Darauf ging sie, nach einem
Witz über das »Ehepaar«, in dem etwas Verachtung und Hochmut lag, ebenso
befriedigt fort, wie am Morgen.

Es war schon dunkel, als Schatoff erwachte. Er zündete schnell das Licht
an und lief nach der Alten. Gerade als er aus dem Zimmer trat, hörte er
unten auf der Treppe die leisen, vorsichtigen Schritte eines Menschen,
der herauf stieg. Er blieb erschrocken stehen. Es war Erkel.

»Nicht weiter!« flüsterte ihm Schatoff zu, erfaßte hastig seine Hand und
zog ihn mit sich nach unten zur Hofpforte. »Warten Sie hier, ich komme
gleich, ich hatte Sie ganz und gar vergessen!«

Er beeilte sich dermaßen, daß er nicht mal zu Kirilloff ging, sondern
nur die Alte herausrief. Marie geriet in Verzweiflung darüber, daß er
»auch nur daran denken« konnte, sie allein zu lassen!

»Dafür ist es der allerletzte Schritt!« rief er begeistert. »Dann kommt
der neue Weg, und niemals, niemals mehr werden wir an den alten
Schrecken zurückdenken!«

Es gelang ihm schließlich, sie irgendwie zu beruhigen. Er versprach
ausdrücklich, um neun Uhr wieder zurück zu sein. Darauf küßte er sie
fest, küßte das Kindchen und lief dann schnell nach unten zu Erkel.

Sie begaben sich nach Skworeschniki in den Stawroginschen Park, wo
Schatoff vor anderthalb Jahren an einer einsamen Stelle am Rande des
Parkes, dort, wo schon der alte Kiefernwald begann, die ihm anvertraute
Druckmaschine vergraben hatte. Es war ein wilder, abgelegener Ort, der
weit vom Herrenhause lag. Von der Bogojawlenskschen Straße war er
ungefähr eine Stunde entfernt.

»Sollen wir denn den ganzen Weg zu Fuß gehen? Ich nehme eine Droschke.«

»Ich möchte Sie sehr bitten, keine Droschke zu nehmen,« entgegnete
Erkel. »Der Droschkenkutscher wäre sonst auch ein Zeuge.«

»Zum Henker! ... Nun, einerlei, nur beenden, beenden!«

Sie gingen sehr schnell.

»Erkel, Sie kleiner Knabe!« rief Schatoff plötzlich und blieb stehen,
»sind Sie in Ihrem Leben schon einmal glücklich gewesen?«

»Sie sind jetzt wohl sehr glücklich?« fragte Erkel neugierig.




                       Einundzwanzigstes Kapitel.
                          Die mühevolle Nacht


                                   I.

Wirginski beeilte sich im Laufe des Tages, zu allen »Unsrigen« zu
laufen, um ihnen mitzuteilen, daß Schatoff »bestimmt nicht denunzieren
werde«, da jetzt seine Frau zu ihm zurückgekehrt und er Vater geworden
sei, und daß man, »da man doch das Menschenherz kennt«, unmöglich
irgendeine Gefahr von seiner Seite zu befürchten habe. Aber außer Erkel
und Lämschin traf Wirginski zu seiner Verwunderung niemand zu Hause.

Erkel hörte ihn schweigend an und sah ihm klar in die Augen. Auf die
Frage aber: »Werden Sie um sechs Uhr zu ihm gehen?« antwortete er mit
dem ungetrübtesten Lächeln, daß er »ganz selbstverständlich« zu ihm
gehen werde.

Lämschin lag, augenscheinlich wirklich krank, zu Bett und hatte sogar
die Decke um den Kopf gewickelt. Als Wirginski eintrat, erschrak er
entsetzlich, und als Wirginski zu sprechen begann, fing er zur Antwort
plötzlich an wie verrückt unter der Decke mit Händen und Füßen
abzuwinken, was wohl so viel bedeuten sollte, wie: man solle ihn doch
nur ums Himmels willen damit verschonen! Wirginskis Ausführungen über
Schatoff ließen ihn aber doch aufhorchen. Die Nachricht, daß Wirginski
von den anderen niemanden angetroffen hatte, regte den Kleinen aus
irgendeinem Grunde furchtbar auf, doch beunruhigte auch er wiederum
Wirginski mit der Mitteilung von Fedjkas Tod (Liputin hatte ihm diese
Neuigkeit gebracht), den er hastig und zusammenhanglos erzählte. Auf die
Frage aber, die Wirginski an ihn stellte: »Soll man nun hingehen oder
soll man nicht hingehen?« begann er wieder mit Händen und Füßen unter
der Decke abzuwinken, wobei er diesmal flehentlich hervorstieß, er sei
ja doch »bloß eine Nebenperson! Weiß nichts, gar nichts!« Und zum
Schluß: »Lassen Sie mich in Ru--u--uh!«

Bedrückt und erregt kehrte Wirginski wieder heim. Was ihn am meisten
bedrückte, war vielleicht, daß er seine Sorgen vor seiner Familie
verbergen mußte. Er hatte sich so daran gewöhnt, seiner Frau alles
mitzuteilen, daß er Geheimnisse kaum mehr ertragen konnte, und wenn
jetzt nicht plötzlich ein neuer Gedanke, ein gewisser friedenstiftender
Plan in ihm aufgetaucht wäre, so hätte er sich wohl auch wie Lämschin
vor Seelenangst zu Bett legen müssen. Aber dieser neue Plan stärkte ihn
allmählich und zum Schluß glaubte er sogar so fest an die Möglichkeit,
ihn verwirklichen zu können, daß er der Dämmerung fast mit Ungeduld
entgegensah und schon früher als verabredet zum Treffpunkt aufbrach.

Es war das ein sehr finsterer Ort am Rande des Parkes von Skworeschniki.
Ich bin später hingegangen, um mir die Stelle genau anzusehen: wie muß
es ihnen dort unheimlich gewesen sein, an jenem rauhen, dunklen
Herbstabend ...

Es war so dunkel unter den Bäumen, daß man auf zwei Schritte den anderen
nicht mehr sehen konnte, doch Pjotr Stepanowitsch, Liputin und später
auch Erkel brachten Laternen mit. Ich weiß nicht, von wem und zu welchem
Zweck hier irgendeinmal vor langer Zeit aus großen unbehauenen Steinen
eine Grotte erbaut worden war. Der Tisch und die Bänke waren jetzt schon
längst verfault und auseinander gefallen. Ungefähr zweihundert Schritte
rechts von dieser Grotte endete der dritte Teich des Parks. Diese drei
Teiche zogen sich, vom Herrenhause an, über eine Werst weit einer hinter
dem anderen durch den ganzen Park. Es war schwer anzunehmen, daß man
irgendein Geräusch, Geschrei oder selbst einen Schuß im Stawroginschen
Herrenhause hören würde. Da Nicolai Wszewolodowitsch am Tage vorher
fortgefahren und Alexei Jegorowitsch wieder in die Stadtwohnung
zurückgekehrt war, so durften im Herrenhause nicht mehr als fünf oder
sechs Dienstboten verblieben sein, lauter mehr oder weniger sozusagen
invalide Leute. Jedenfalls konnte man annehmen, wenigstens mit
ziemlicher Wahrscheinlichkeit, daß selbst in dem Falle, daß jemand von
ihnen Schreie hörte, er sich doch nicht von der warmen Ofenbank erheben
würde.

Zwanzig Minuten nach sechs hatten sich schon alle -- außer Erkel, der
mit Schatoff kommen sollte -- an der bezeichneten Stelle eingefunden.
Pjotr Stepanowitsch kam diesmal nicht zu spät: er erschien zusammen mit
Tolkatschenko, der finster und besorgt aussah und dessen ganze
vorgespiegelte, frech-prahlerische Entschlossenheit verschwunden war.
Tolkatschenko verließ Pjotr Stepanowitsch heute fast nicht auf einen
Schritt, war ihm plötzlich, wie es schien, unermeßlich zugetan und
flüsterte ihm jeden Augenblick geschäftig irgend etwas zu; dieser
antwortete ihm meist überhaupt nicht oder brummte geärgert nur ein paar
Worte, um ihn loszuwerden.

Schigaleff und Wirginski waren sogar ein wenig früher eingetroffen als
Pjotr Stepanowitsch. Als er erschien, traten sie sofort ein wenig zur
Seite, in tiefem und offenbar absichtlichem Schweigen. Pjotr
Stepanowitsch erhob die Laterne und betrachtete sie ungeniert mit
beleidigender Aufmerksamkeit. »Die wollen wieder reden,« zuckte es ihm
durch den Kopf.

»Lämschin ist nicht gekommen?« fragte er Wirginski. »Wer hat es gesagt,
daß er krank ist?«

»Ich bin hier,« meldete sich Lämschin, plötzlich hinter einem Baum
hervortretend.

Er war in einem warmen Paletot und dazu noch in ein großes Plaid fest
eingewickelt, so daß man ihn sogar mit der Laterne nur schwer in dieser
Umhüllung erkennen konnte.

»Also fehlt nur noch Liputin?«

Da trat Liputin schweigend aus der Grotte. Pjotr Stepanowitsch erhob
wieder die Laterne.

»Warum haben Sie sich dorthin verkrochen, warum kamen Sie nicht gleich
heraus?«

»Ich nehme an, daß wir alle das Recht der Freiheit bewahren ... unserer
Bewegungen ...« erwiderte Liputin, wahrscheinlich, ohne selbst recht zu
wissen, was er eigentlich sagen wollte.

»Meine Herren!« Pjotr Stepanowitsch erhob die Stimme -- gab somit zum
erstenmal den Flüsterton auf, was einen gewissen Eindruck machte: »Sie
verstehen, hoffe ich, daß wir hier nichts mehr breitzutreten brauchen.
Gestern ist alles gesagt und durchgekaut worden, klar und bestimmt. Aber
vielleicht will doch noch jemand, wie ich nach dem Ausdruck der
Gesichter vermute, irgend etwas sagen? In dem Fall bitte ich, sich zu
beeilen! Hol's der Teufel, wir haben wenig Zeit und Erkel kann ihn jeden
Augenblick bringen ...«

»Er wird ihn unbedingt mitbringen,« bemerkte aus einem unbekannten
Grunde Tolkatschenko.

»Wenn ich mich nicht irre, so muß er zuerst die Druckmaschine
abliefern?« erkundigte sich Liputin, wiederum gleichsam, als ob er
selbst nicht wußte, wozu er das eigentlich fragte.

»Selbstverständlich, wozu denn Sachen verlieren!« Pjotr Stepanowitsch
erhob wieder die Laterne und beleuchtete Liputins Gesicht. »Aber wir
sind doch gestern übereingekommen, daß man sie nicht wortwörtlich in
Empfang zu nehmen braucht. Er soll Ihnen nur die Stelle zeigen, wo sie
hier vergraben ist, später können wir sie dann selbst herausgraben. Ich
weiß, daß sie hier irgendwo zehn Schritt von irgendeiner Ecke der Grotte
liegt ... Aber zum Teufel, Liputin, wie haben Sie das nur vergessen
können!? Es war doch abgemacht, daß Sie ihn allein treffen und wir erst
später hervortreten ... Sonderbar, daß Sie noch fragen, -- oder taten
Sie es bloß so?«

Liputin schwieg mit finsterem Gesicht.

Alle schwiegen. Der Wind schaukelte die Wipfel der alten Kiefern.

»Ich hoffe, meine Herren, daß ein jeder seine Pflicht tun wird,« sagte
Pjotr Stepanowitsch, der die Geduld verlor, sichtlich gereizt.

»Ich weiß, daß Schatoffs Frau zu ihm zurückgekehrt ist und heute Nacht
ein Kind geboren hat,« begann plötzlich Wirginski aufgeregt,
gestikulierend und sich so überstürzend, daß er kaum die Worte
hervorzubringen vermochte. »Und da man doch das Menschenherz kennt ...
können wir sicher sein, daß er jetzt nicht denunzieren wird ... er ist
jetzt glücklich ... Ich war heute schon bei allen, fand aber niemanden
zu Hause ... Ich meine, daß jetzt vielleicht nichts mehr zu befürchten
ist ... --«

Er brach ab vor Atemlosigkeit.

»Wenn Sie, Herr Wirginski, plötzlich glücklich geworden wären,« -- Pjotr
Stepanowitsch trat auf ihn zu, »würden Sie dann etwas aufschieben, was
Sie sich vorgenommen haben, nicht eine Anzeige, davon kann hier
natürlich nicht die Rede sein, -- aber irgendeine gewagte, bürgerliche
Tat, die Sie schon vor Ihrem Glück beschlossen haben und die auszuführen
Sie für Ihre Pflicht und Schuldigkeit halten, trotz der Gefahr für Sie
und der Möglichkeit, Ihr Glück zu verlieren?«

»Nein, ich würde es nicht aufschieben! Auf keinen Fall würde ich es
aufschieben!« beteuerte Wirginski mit einem ganz eigentümlich
tölpelhaften Übereifer und wieder ganz in Bewegung.

»Sie würden lieber wieder unglücklich sein wollen, als die Tat nicht
ausführen -- und sich für einen Lump halten, nicht wahr?«

»Ja, ja ... Ich würde sogar ganz im Gegenteil ... würde sogar ein ganzer
Lump sein wollen ... Das heißt, nein ... nicht so ... durchaus nicht ein
Lump, sondern ... ich wollte sagen: im Gegenteil, lieber vollkommen
unglücklich, als ein Lump ...«

»Nun, so merken Sie sich, daß Schatoff diese Anzeige für seine
bürgerliche Heldentat hält, für eine Tat, die er seiner höchsten
Überzeugung schuldig ist. Und der Beweis: daß er doch auch sich selbst
damit in Gefahr begibt und der Regierung ausliefert, obschon man ihm für
die Anzeige natürlich manches verzeihen wird. So einer wird sein
Vorhaben schon nie aufgeben. Den kann kein Glück besiegen: schon am
nächsten Tage würde er sich besinnen, sich Vorwürfe machen, hingehen und
es tun. Außerdem kann ich kein besonderes Glück darin erblicken, daß die
Frau nach drei Jahren zu ihm zurückgekehrt ist, um Stawrogins Kind zu
gebären.«

»Aber es hat doch noch niemand seine Anzeige gesehen,« sagte Schigaleff
plötzlich und eindringlich.

»Die Anzeige habe _ich_ gesehen,« rief Pjotr Stepanowitsch, »sie ist
fertig, und dieses müßige Gerede ist furchtbar dumm, meine Herren!«

»Ich aber,« fuhr plötzlich Wirginski auf, »ich protestiere ... ich
protestiere aus aller Kraft ... Ich will ... Hören Sie, was ich will:
ich will, daß wir, wenn er kommt, ihm alle entgegengehen und ihn alle
fragen: wenn es wahr ist, so soll er bereuen, und wenn er sein Ehrenwort
gibt, so soll man ihn wieder freilassen. Auf jeden Fall aber -- Verhör,
und das Urteil _nach_ dem Verhör! Und nicht, daß wir uns alle verstecken
und ihn dann überfallen.«

»Auf ein Ehrenwort die ganze allgemeine Sache setzen! -- das ist schon
die Höhe aller Dummheit! Hol's der Teufel, wie das dumm ist!! Und was
ist das für eine Rolle, die Sie im Augenblick der Gefahr spielen?«

»Ich protestiere, ich protestiere, ich protestiere,« wiederholte
Wirginski immer wieder.

»Jedenfalls schreien Sie nicht so, wir können sonst das Signal nicht
hören. Schatoff, meine Herren ... (Teufel noch eins, wie das jetzt dumm
ist!) Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Schatoff Slawophile ist, das
heißt so viel, wie einer der dümmsten Menschen ... Aber übrigens, zum
Teufel, das ist schließlich gleichgültig! Sie bringen mich nur aus dem
Konzept! ... Schatoff, meine Herren, war ein verbitterter Mensch, und da
er immerhin noch zum Verband gehörte, ob er es wollte oder nicht, so
hoffte ich bis zum letzten Augenblick, daß die allgemeine Sache sich
seiner noch einmal werde bedienen können -- und zwar gerade als eines
verbitterten Menschen. Ich habe ihn gehegt und geschont, trotz der
ausdrücklichsten Instruktionen ... Ich habe ihn noch hundertmal mehr
geschont, als er es wert war! Er aber endete damit, daß er seine Anzeige
verfaßte, und nun -- hol's der Teufel, das ist ja zum Anspucken! ... Im
übrigen soll es jetzt nur jemand von Ihnen zu versuchen wagen, sich noch
zurückzuziehen! Kein einziger von Ihnen hat das Recht, die gemeinsame
Sache zu verlassen! Sie können ihn meinetwegen noch alle vorher
abküssen, wenn Sie durchaus wollen, aber die allgemeine Sache auf ein
Ehrenwort hin aufs Spiel zu setzen, dazu haben Sie nicht das Recht! So
können nur Schweine handeln, oder solche, die von der Regierung
bestochen sind!«

»Wer ist denn hier von der Regierung bestochen?« warf Liputin
dazwischen.

»Sie vielleicht. Es wäre schon besser, wenn Sie ganz den Mund hielten,
Liputin. Sie sprechen ja nur so, nur aus Angewohnheit. Bestochen, meine
Herren, sind alle diejenigen, die im Augenblick der Gefahr feig werden.
Aus Angst findet sich immer ein Rüpel, der in der letzten Minute
hinläuft und losschreit: >Ach, verzeihen Sie mir, und ich werde alle
ausliefern!< Aber wissen Sie auch, meine Herren, daß man Sie jetzt für
keine einzige Anzeige mehr begnadigen wird? Wenn man vielleicht auch
Milderungsgründe zulassen würde -- nach Sibirien ginge es doch mit jedem
von Ihnen! Abgesehen davon, daß Sie auch einem gewissen anderen
Richtschwert nicht entgehen würden. Dieses andere Schwert aber ist etwas
schärfer, als das der Regierung.«

Pjotr Stepanowitsch war so wütend, daß er viel Überflüssiges sagte. Da
trat Schigaleff fest drei Schritte auf ihn zu.

»Seit dem gestrigen Abend habe ich die Sache bedacht,« begann er
überzeugt und methodisch wie immer. (Ich glaube, selbst wenn die Erde
sich in diesem Augenblick unter ihm aufgetan hätte, auch dann würde er
weder den Ton, noch einen Ausdruck seiner Auseinandersetzung geändert
haben.) »Und nachdem ich die Sache bedacht, bin ich zu dem Schluß
gekommen, daß der beabsichtigte Mord nicht nur ein Verlust der kostbaren
Zeit ist, die zu etwas weit Wesentlicherem und Näherliegendem verwandt
werden könnte, sondern außerdem jenes verhängnisvolle Abweichen von der
geraden Straße darstellt, das der Sache immer am meisten geschadet und
ihren Erfolg auf Jahrzehnte hinausgeschoben hat, indem es die Sache dem
Einfluß leichtsinniger und vornehmlich politischer Menschen, statt
reinen Sozialisten unterstellt hat. Ich bin einzig zu dem Zweck
hergekommen, um gegen das beabsichtigte Vorhaben offen zu protestieren
und dann -- mich von diesem Augenblick an, den Sie, ich weiß nicht
warum, den Augenblick der Gefahr nannten, zurückzuziehen. Ich gehe fort
-- doch nicht aus Furcht vor der Gefahr oder aus besonderen Gefühlen zu
Schatoff, den >abzuküssen< ich absolut keine Lust habe, sondern einzig,
weil diese Sache vom Anfang bis zum Ende buchstäblich meinem Programm
widerspricht. Eine Denunziation haben Sie von mir nicht zu fürchten. Sie
können ruhig sein -- ich werde Sie nicht anzeigen.«

Und damit wandte er sich und ging.

»Teufel, er geht ihnen entgegen und wird Schatoff warnen!« rief Pjotr
Stepanowitsch und riß seinen Revolver hervor.

Man hörte das Knacken des Hahnes.

»Sie können überzeugt sein,« wandte sich Schigaleff ruhig wieder zurück,
»daß ich, wenn ich Schatoff unterwegs treffen sollte, ihn vielleicht
noch grüßen werde, ihn warnen aber, das ist nicht meine Sache!«

»Aber wissen Sie auch, mein Herr Fourier, daß Ihnen das teuer zu stehen
kommen kann?«

»Ich bitte Sie, zu beachten, daß ich kein Fourier bin. Dadurch, daß Sie
mich mit diesem süßlichen, apathischen Abstrahisten verwechseln,
beweisen Sie nur, daß Sie mein Manuskript, wenn es auch in Ihren Händen
gewesen ist, überhaupt nicht verstanden haben. In betreff Ihrer Rache
aber sage ich Ihnen nur, daß Sie ganz umsonst den Hahn gespannt haben,
in diesem Augenblick ist das für Sie durchaus unvorteilhaft. Wenn Sie
mir aber für morgen oder übermorgen drohen, so brächte Ihnen die
Ausführung, außer unnützer Mühe, doch keinen Gewinn: mich würden Sie
zwar erschießen, früher oder später aber würden Sie doch zu meinem
System kommen. Leben Sie wohl.«

In diesem Augenblick ertönte ungefähr zweihundert Schritte weit aus dem
Park, von der Seite des Teiches her, ein heller Pfiff. Liputin
antwortete, wie verabredet, sofort gleichfalls mit einem Pfiff -- er
hatte sich zu diesem Zweck am Morgen eine Kinderpfeife aus gebranntem
Ton für eine Kopeke auf dem Markt erstanden, da er sich auf seinen
ziemlich zahnlosen Mund nicht ganz verlassen konnte.

Erkel hatte Schatoff schon vorher mitgeteilt, daß er mit Liputin einen
Pfiff austauschen werde.

»Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde abseits von ihnen vorübergehen
und sie werden mich gar nicht bemerken,« sagte Schigaleff in
eindringlichem Flüsterton.

Und er ging ohne Hast und ohne den Schritt zu beschleunigen, tatsächlich
durch den dunklen Park nach Haus.

Heute ist es bis in die kleinsten Einzelheiten bekannt, wie diese
schreckliche Tat geschah. Zuerst trat Liputin Erkel und Schatoff ein
paar Schritte von der Grotte entgegen. Schatoff grüßte ihn nicht und gab
ihm auch nicht die Hand, sondern sagte sofort eilig und laut:

»Wo ist denn hier die Anhöhe? Haben Sie nicht noch eine Laterne?
Fürchten Sie sich nicht, hier ist so gut wie kein Mensch in der Nähe,
wir könnten selbst mit Kanonen schießen, in Skworeschniki würde es doch
niemand hören. Das ist übrigens hier, genau hier, genau auf dieser
Stelle ...«

Und er stieß mit dem Fuß auf die Erde -- es war gerade zehn Schritt von
der hinteren Ecke der Grotte zum Walde hin. In diesem Augenblick stürzte
sich, hinter einem Baum hervorlaufend, Tolkatschenko auf ihn, während
Erkel ihn hinterrücks an den Ellenbogen packte und Liputin sich von
vorne auf ihn warf. Die drei schlugen ihn sofort zu Boden und drückten
ihn an die Erde. Da erst lief Pjotr Stepanowitsch mit dem Revolver
herbei. Man sagt, Schatoff habe gerade noch Zeit gehabt, seinen Kopf zu
ihm zu wenden und ihn zu erkennen. Drei Laternen erhellten die Szene.
Schatoff stieß plötzlich einen kurzen und verzweifelten Schrei aus; doch
man ließ ihm keine Zeit zum Schreien: Pjotr Stepanowitsch setzte ihm
genau und sicher den Revolver mitten auf die Stirn, fest und senkrecht,
und -- drückte den Hahn ab. Der Schuß war, glaube ich, nicht sehr laut,
wenigstens hat ihn in Skworeschniki niemand gehört. Gehört hat ihn
natürlich Schigaleff, der erst einige dreißig Schritte gegangen war --
gehört hatte er auch den Schrei, doch hat er sich nach seiner eigenen
Aussage weder umgewandt, noch war er stehen geblieben. Der Tod trat fast
augenblicklich ein. Die volle Geistesgegenwart -- doch Kaltblütigkeit
wohl kaum -- behielt nur Pjotr Stepanowitsch. Er hockte sich hin und
durchsuchte eilig, doch mit fester Hand, die Taschen des Toten. Geld
fand sich nicht in ihnen (Marja Ignatjewnas Beutelchen war unter ihrem
Kissen geblieben); nur ein paar nichtssagende Zettelchen zog er hervor:
einen Kontorzettel, ein Notizblatt mit dem Titel irgendeines Buches und
eine alte ausländische Gasthausrechnung, die sich weiß Gott auf welche
Weise zwei Jahre in Schatoffs Tasche erhalten hatte. Die Papiere steckte
Pjotr Stepanowitsch zu sich, und als er plötzlich bemerkte, daß alle die
Leiche umstanden, sie ansahen und nichts taten, begann er wütend und
unhöflich zu schimpfen und sie anzutreiben. Tolkatschenko und Erkel
liefen sogleich, sich nun wieder besinnend, in die Grotte und brachten
zwei Steine, jeder an zwanzig Pfund schwer, die sie schon am Morgen
vorbereitet, das heißt, fest mit Schnüren umbunden hatten. Da man
verabredet hatte, die Leiche in den nächsten, den dritten Teich zu
versenken, so mußten ihr diese Steine an den Hals und die Beine gebunden
werden. Pjotr Stepanowitsch band sie an: Erkel und Tolkatschenko
reichten sie ihm nur hin. Erkel gab ihm seinen Stein zuerst, und während
Pjotr Stepanowitsch ihn murrend und schimpfend an die Füße der Leiche
band, hielt Tolkatschenko seinen schweren Stein diese ganze ziemlich
lange Zeit über senkrecht an den Schnüren in der Luft, wobei er sich
stark und fast wie ehrerbietig mit dem ganzen Oberkörper nach vorne
beugte, um ihn ohne Zeitverlust sofort hinreichen zu können, und verfiel
kein einziges Mal darauf, die schwere Last inzwischen auf die Erde zu
stellen. Als dann endlich beide Steine angebunden waren und Pjotr
Stepanowitsch sich erhob, um zunächst seinen Blick prüfend über die
Gesichter der Anwesenden zu führen -- da geschah plötzlich etwas ganz
Sonderbares, etwas, das niemand erwartet hatte und das alle nicht wenig
in Erstaunen setzte.

Wie schon erwähnt, standen fast alle und taten nichts. Wirginski war,
als die anderen sich auf Schatoff gestürzt hatten, wohl auch
hinzugelaufen, doch hatte er weder geholfen, ihn zu halten, noch ihn
überhaupt angerührt. Lämschin aber war erst nach dem Schuß unter den
anderen aufgetaucht. Während der ganzen, vielleicht zehn Minuten
währenden Untersuchung der Taschen und Anbindung der Steine hatten sie
dann alle gleichsam einen Teil ihres Bewußtseins verloren. Sie standen
um Pjotr Stepanowitsch herum und empfanden, statt Unruhe oder Erregung,
zunächst nur so etwas wie Verwunderung. Liputin stand ganz vorn neben
der Leiche. Wirginski, der sich hinter ihn gestellt hatte, sah über
Liputins Schulter mit einer sonderbaren und gewissermaßen
nebensächlichen Neugier auf die Leiche; ja er hob sich sogar auf die
Fußspitzen, um besser sehen zu können. Lämschin aber versteckte sich
hinter Wirginski und blickte nur zuweilen furchtsam hinter diesem
hervor, worauf er sich dann sofort wieder versteckte. Als nun die Steine
angebunden waren und Pjotr Stepanowitsch sich erhob, begann Wirginski
auf einmal zu zittern, und plötzlich -- warf er die Arme hoch und rief
traurig mit lauter Stimme:

»Das ist doch nicht das! nicht das! Nein, das ist doch gar nicht das!«

Er hätte vielleicht noch etwas hinzugefügt zu seinem verspäteten Ausruf,
aber Lämschin ließ ihm keine Zeit dazu: plötzlich packte er ihn
hinterrücks und quetschte ihn mit aller Gewalt und schrie dabei ein ganz
unmögliches Geschrei. Es gibt Augenblicke eines starken Schreckens, in
denen der Mensch plötzlich wie nicht mit seiner eigenen Stimme
aufschreit, sondern mit einer, die man nie an ihm gehört hat und deren
Vorhandensein in ihm man nie für möglich gehalten hätte, und das kann
manchmal sogar recht unheimlich sein. Lämschin schrie nicht mit einer
menschlichen, sondern mit einer gleichsam tierischen Stimme. Dabei
preßte er Wirginski krampfhaft von hinten zusammen, schrie ohne
Unterlaß, schrie ohne Atem zu schöpfen, schrie immer ein und denselben
Ton, während ihm die Augen fast hervorquollen und der Mund unheimlich
weit aufgerissen blieb; mit den Beinen aber strampelte er so
zitterschnell, als ob er mit ihnen einen Trommelwirbel auf der Erde
schlagen wollte. Wirginski erschrak dermaßen, daß er selbst sofort wie
ein Wahnsinniger losschrie und sich in einer so grimmigen Wut, wie man
sie von Wirginski nie im Leben erwartet hätte, aus Lämschins Krallen zu
befreien suchte, auf ihn, den er nur schwer fassen konnte, mit den
Fäusten nach hinten losschlug, ihn kniff und kratzte. Endlich gelang es
Erkel, Lämschin von ihm loszureißen. Doch kaum war Wirginski entsetzt
gleich auf zehn Schritt von ihm fortgelaufen, da stürzte sich Lämschin,
der nun Pjotr Stepanowitsch erblickte, plötzlich mit neuem Geschrei auf
diesen, stolperte jedoch über die vor seinen Füßen liegende Leiche und
riß Pjotr Stepanowitsch im Fall mit sich zu Boden. Er umkrallte ihn aber
so fest und drückte seinen Kopf so krampfhaft an dessen Brust, daß weder
Pjotr Stepanowitsch selbst, noch Tolkatschenko, noch Liputin ihn im
ersten Augenblick losreißen konnten. Pjotr Stepanowitsch schrie,
schimpfte, schlug ihn mit den Fäusten auf den Kopf, bis es ihm endlich
gelang, sich irgendwie zu befreien; im Augenblick riß er seinen Revolver
hervor -- doch Lämschin, den die anderen an den Armen hielten, fuhr fort
zu schreien, trotz des auf ihn zielenden Revolvers, er schrie, schrie
wie besessen! Bis schließlich Erkel, der schnell sein Taschentuch
zusammengerollt hatte, ihm dieses gewandt in den aufgesperrten Mund
steckte, so daß der Schrei dann ganz von selbst plötzlich abbrach.
Tolkatschenko band ihm sofort mit einem Stück der übrig gebliebenen
Schnur die Hände auf dem Rücken zusammen.

»Das ist sehr sonderbar,« sagte Pjotr Stepanowitsch und betrachtete in
beunruhigter Verwunderung den Verrückten.

Er war sichtlich betroffen.

»Ich hatte ihn ganz anders eingeschätzt,« fügte er nachdenklich hinzu.

Vorläufig übergab man ihn Erkel, denn man mußte sich mit der
Fortschaffung der Leiche beeilen: es war so viel geschrien worden, daß
es doch jemand gehört haben konnte. Tolkatschenko und Pjotr
Stepanowitsch nahmen die Laternen und hoben den Kopf des Toten, Liputin
und Wirginski faßten ihn an den Füßen, und so wurde er dann getragen.
Mit den beiden Steinen war die Last sehr schwer, die Entfernung aber
betrug über zweihundert Schritte. Der Stärkste von ihnen war
Tolkatschenko. Er gab wohl den Rat, gleichmäßig zu gehen, doch niemand
hörte auf ihn, und so ging man denn, wie es gerade kam. Pjotr
Stepanowitsch ging rechts und trug, ganz niedergebeugt, auf seiner
Schulter den Kopf des Toten, wobei er noch mit der linken Hand den Stein
von unten hielt. Da Tolkatschenko während der ganzen ersten Hälfte des
Weges nicht darauf verfiel, den Stein gleichfalls zu stützen, so schrie
ihn Pjotr Stepanowitsch schließlich fluchend an. Der Schrei war kurz und
seltsam in der Stille: schweigend trugen sie weiter, bis plötzlich,
schon dicht am Teich, wieder Wirginski, der unter der Last ganz gebeugt
ging und wie erschöpft von ihrer Schwere, mit derselben lauten und
weinenden Stimme ausrief:

»Das ist nicht das, nein, nein, das ist gar nicht das!«

Die Stelle, wo dieser dritte, ziemlich große Teich aufhört, zu dem man
den Toten trug, war die einsamste und abgelegenste des ganzen Parks. Der
Teich ist dort am Ufer vergrast. Sie stellten die Laternen nieder,
schwenkten die Leiche hin und her und warfen sie ins Wasser. Ein
dumpf-hohler Laut erscholl und klang lange nach. Pjotr Stepanowitsch
erhob die Laterne und alle reckten neugierig die Hälse, um zu sehen, wie
der Körper versank, aber es war schon nichts mehr zu sehen: die Leiche
mit den beiden Steinen war sogleich versunken. Die dicken Wellenringe,
die sich über die Fläche des Teiches ausbreiteten, vergingen schnell.
Die Tat war vollbracht.

»Meine Herren,« wandte sich Pjotr Stepanowitsch an alle, »jetzt gehen
wir auseinander. Zweifellos müssen Sie nunmehr jenen Stolz empfinden,
der mit der Erfüllung einer freien Pflicht verknüpft ist. Sollten Sie
vielleicht bedauerlicherweise für solche Gefühle zu erregt sein, so
werden Sie sie zweifellos morgen empfinden, wenn es schon eine Schande
wäre, sie nicht zu empfinden. Die unverzeihliche Erregung Lämschins will
ich als eine Art Fieberdelirium auffassen, zumal er ja tatsächlich seit
dem Morgen krank sein soll. Ihnen aber, Wirginski, wird schon der erste
Augenblick freien Nachdenkens beweisen, daß man im Interesse der
allgemeinen Sache unmöglich auf ein Ehrenwort eingehen konnte, sondern
einzig und allein so handeln mußte, wie wir es getan haben. Die Zukunft
wird Ihnen zeigen, daß Schatoffs Anzeige schon fertig war. Ich bin
bereit, auch Ihre Ausrufe zu vergessen. Eine Gefahr für uns ist nicht
vorhanden. Es wird niemandem einfallen, irgendeinen von Ihnen zu
verdächtigen, vorausgesetzt natürlich, daß Sie sich zu benehmen wissen.
So hängt denn die Hauptsache ganz von Ihnen ab und von Ihrer
Überzeugung, richtig gehandelt zu haben, -- eine Überzeugung, die, wie
ich hoffe, sich schon morgen in Ihnen befestigen wird. Darum haben Sie
sich ja auch -- unter anderem -- zu einer geschlossenen Organisation, zu
einer freien Gesellschaft Gleichdenkender zusammengetan, um für die
allgemeine Sache im gegebenen Moment die Energie miteinander zu teilen,
und, wenn es nötig ist, einer den anderen zu beobachten und immer auf
dem Posten zu sein. Jeder von Ihnen ist zu einer höheren Rechenschaft
verpflichtet. Sie sind berufen, ein altersschwaches und im Stillstand
langsam zu stinken anfangendes Reich zu erneuern. Das sollen Sie stets
zu Ihrer Aufmunterung vor Augen haben! Ihre ganze Aufgabe besteht
vorläufig nur darin, darauf hinzuwirken, daß alles zusammenstürzt: das
Reich wie seine Moral. Übrigbleiben werden nur wir, die wir uns schon
dazu vorausbestimmt und vorbereitet haben, die Macht in unsere Hände zu
nehmen. Die Klugen ziehen wir zu uns herüber, und auf den Dummen reiten
wir. Im übrigen muß man die Generation neu erziehen, um sie der Freiheit
würdig zu machen. Noch viele Tausend Schatoffs stehen uns bevor. Wir
organisieren uns, um die ganze Richtung in die Hand zu bekommen, da wäre
es dumm, alles, was müßig daliegt und das Maul aufsperrt, nicht
mitzunehmen. Ich begebe mich jetzt sofort zu Kirilloff und zum Morgen
hin werde ich von ihm besagtes Dokument erhalten, in dem er vor dem Tode
alles auf sich nimmt. Nichts kann wahrscheinlicher sein, als diese
Kombination. Erstens stand er mit Schatoff auf feindschaftlichem Fuße:
sie haben zusammen in Amerika gelebt, also haben sie Zeit gehabt, sich
zu überwerfen. Man weiß, daß Schatoff seine Überzeugungen geändert hat;
folglich ist ihre Feindschaft wegen dieser Überzeugungen entstanden.
Hinzu käme noch die Furcht vor einer Denunziation. Das wird auch alles
so geschrieben werden. Zum Schluß wird noch erwähnt, daß Fedjka in
Kirilloffs Wohnung geschlafen hat. Das alles wird jeden Verdacht von
Ihnen entfernen, denn es wird die Schafsköpfe in eine ganz andere
Richtung treiben. Morgen, meine Herren, werden wir uns nicht sehen: ich
muß auf ganz kurze Zeit in den nächsten Kreis fahren. Aber übermorgen
werden Sie meine Mitteilungen erhalten. Ich würde Ihnen eigentlich
raten, morgen zu Hause zu bleiben. Jetzt aber gehen wir alle je zwei
zusammen auf verschiedenen Wegen zurück. Sie, Tolkatschenko, bitte ich,
sich Lämschins anzunehmen und ihn nach Hause zu bringen. Sie können ihm
alles auseinandersetzen und vor allen Dingen erklären, daß er mit seinem
Kleinmut in erster Linie sich selbst schadet. Ihrem Schwager,
Schigaleff, Herr Wirginski, ganz wie auch Ihnen, will ich nicht
mißtrauen. Er wird nicht denunzieren. Es bleibt nur seine Handlung zu
bedauern. Übrigens hat er ja noch nicht gesagt, daß er aus dem Verbande
austreten will. Das letzte Wort ist also noch nicht gesprochen. Doch
jetzt schnell, meine Herren; wenn jene auch Schafsköpfe sind, so kann
doch Vorsicht immerhin nicht schaden ...«

Wirginski ging mit Erkel in die Stadt zurück. Letzterer trat noch, bevor
er Lämschin Tolkatschenko überließ, mit diesem zu Pjotr Stepanowitsch
und sagte, daß Lämschin sich besonnen habe, bereue, um Verzeihung bitte
und sogar selbst nicht mehr wisse, was eigentlich vorhin mit ihm
geschehen war. Pjotr Stepanowitsch ging allein fort: er wählte den
längsten Weg, an der anderen Seite der Teiche, am Rande des Parkes
entlang. Zu seiner Verwunderung holte ihn, als er schon die Hälfte des
Weges zurückgelegt hatte, plötzlich Liputin atemlos ein.

»Pjotr Stepanowitsch, aber Lämschin wird doch denunzieren!«

»Nein, er wird zur Besinnung kommen und sich sagen, daß er dann als
erster nach Sibirien ginge. Jetzt wird niemand mehr denunzieren. Auch
Sie nicht.«

»Aber Sie?«

»Zweifellos werde ich Sie alle verschwinden lassen, sobald Sie sich nur
einfallen ließen, etwas verraten zu wollen, und das wissen Sie. Aber Sie
werden nicht denunzieren. Sind Sie mir deshalb zwei Werst nachgelaufen?«

»Pjotr Stepanowitsch, Pjotr Stepanowitsch, aber wir werden uns doch
vielleicht nie mehr sehen!«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sagen Sie mir nur eines!«

»Nun, was denn? Übrigens wünsche ich, daß Sie sich packen.«

»Nur eine Antwort, aber daß sie auch richtig ist: sind wir die einzige
>Fünf< in der Welt, oder ist es wahr, daß es einige Hundert solcher
>Fünfer<-Gruppen gibt? Ich frage im höheren Sinne, Pjotr Stepanowitsch!«

»Das sehe ich Ihrer Verfassung an. Aber wissen Sie auch, daß Sie noch
weit gefährlicher sind, als Lämschin?«

»Ich weiß, ich weiß, aber -- die Antwort, Ihre Antwort!«

»Sie dummer Mensch! Jetzt könnte es Ihnen, denke ich, doch schon ganz
gleichgültig sein, ob es eine oder tausend sind.«

»Also _eine_! Ich wußte es ja!« rief Liputin. »Ich habe es ja die ganze
Zeit gewußt, daß es nur eine ist, bis jetzt, die ganze Zeit ...«

Und ohne eine andere Antwort abzuwarten, kehrte er um und verschwand
schnell in der Dunkelheit.

Pjotr Stepanowitsch wurde ein wenig nachdenklich.

»Nein, keiner wird denunzieren,« murmelte er dann überzeugt vor sich
hin, »aber die >Fünf< muß eine Gruppe bleiben und gehorchen, oder ich
werde sie ... Es ist doch ein Lumpenzeug, wirklich, dieses Volk!«


                                  II.

Werchowenski ging zuerst zu sich nach Hause und packte, ohne sich im
geringsten zu beeilen, seinen Reisekoffer. Um sechs Uhr morgens ging der
Schnellzug ab. Den »Unsrigen« hatte er zwar gesagt, er werde nur auf
kurze Zeit in die nächste Kreisstadt fahren, aber, wie es sich später
herausstellen sollte, hatte er doch ganz andere Absichten. Als er mit
dem Einpacken fertig war, bezahlte er seine Wirtin, die von ihm schon
früher von seiner Abreise benachrichtigt worden war, und fuhr dann mit
einer Droschke zu Erkel, der nicht weit vom Bahnhof wohnte. Und dann
erst, nach ein Uhr nachts, begab er sich zu Kirilloff und benutzte
wieder den geheimen Gang durch den Zaun.

Pjotr Stepanowitschs Stimmung war furchtbar. Außer verschiedenen
anderen, für ihn sehr wichtigen Unannehmlichkeiten (er hatte noch immer
nichts über Stawrogin erfahren können) soll er noch im Laufe des Tages
von irgendwoher (am wahrscheinlichsten wohl aus Petersburg) eine geheime
Mitteilung erhalten haben, nach der ihm schon in nächster Zeit eine
gewisse Gefahr drohte.

Natürlich erzählt man sich jetzt bei uns viele Geschichten und
Einzelheiten über diese ganze Zeit, doch wieviel mag davon wahr sein?
Das Nähere werden wohl nur die wissen, die sich von Amts wegen mit der
ganzen Angelegenheit haben beschäftigen müssen. Ich für mein Teil nehme
denn auch nur nach meinen eigenen Erwägungen an, daß Pjotr Stepanowitsch
außer in unserer Stadt noch andere Verbindungen hat haben können, und in
dem Fall ist es allerdings sehr leicht möglich, daß man ihm jetzt auf
der Spur war. Ja, ich bin sogar trotz des zynischen und schrecklichen
Zweifels selbst in Liputin fest überzeugt, daß Pjotr Stepanowitsch noch
zwei, drei andere »Fünfer«-Gruppen gegründet hatte, und daß er in allen
größeren Städten, wenn auch vielleicht nicht durchweg »Fünfer«-Gruppen
hatte, so doch geheime Verbindungen und Beziehungen zu allen möglichen
Menschen unterhielt. Nicht später als drei Tage nach seiner Abreise
erhielt unsere Stadtobrigkeit aus Petersburg denn auch tatsächlich den
Befehl, ihn zu verhaften: für welche Vergehen, ob für die bei uns
begangenen oder andere -- das weiß ich nicht. Dieser Befehl traf hier
gerade noch zur richtigen Zeit ein, um den unheimlichen Eindruck und die
Angst verstärken zu helfen, die plötzlich unsere immer noch so
leichtsinnige Gesellschaft samt Polizei und Verwaltung ergriffen hatte,
als mit einem Male die geheimnisvolle und schwerwiegende Ermordung des
Studenten Schatoff, sowie die rätselhaften Umstände, von denen sie
begleitet war, bekannt wurden. Aber der Befehl selbst kam zu spät: Pjotr
Stepanowitsch war schon unter fremdem Namen in Petersburg, von wo aus er
dann schnell über die Grenze entwischte. -- Doch ich greife vor.

Als Werchowenski bei Kirilloff eintrat, sah er böse und zanksüchtig aus:
es war, als ob er Kirilloff außer der Hauptsache noch ganz persönlich
etwas antun, sich an ihm für irgend etwas noch ganz besonders rächen
wollte.

Kirilloff war über sein Erscheinen gleichsam erfreut; man sah, daß er
schon furchtbar lange und in krankhafter Ungeduld auf ihn gewartet
hatte. Sein Gesicht war bleicher als gewöhnlich, der Blick der dunklen
Augen schwer und unbeweglich.

»Ich dachte, Sie kommen nicht,« sagte er schwer von der Sofaecke aus, in
der er übrigens sitzen blieb, statt seinem Gast entgegenzugehen.

Pjotr Stepanowitsch blieb vor ihm stehen und musterte zunächst, bevor er
ein Wort sprach, prüfend Kirilloffs Gesicht.

»Also alles in Ordnung und wir treten von unserem Vorhaben nicht zurück,
das ist brav!« sagte er mit beleidigend gönnerhaftem Lächeln. »Nun, und
daß ich etwas spät gekommen bin,« fügte er mit gemeiner Scherzhaftigkeit
hinzu, »darüber hätten Sie sich doch nicht zu beklagen: habe Ihnen doch
somit drei Stunden geschenkt.«

»Ich will von Ihnen gar keine überflüssigen Stunden geschenkt haben, und
du kannst mir überhaupt nichts schenken ... Dummkopf!«

»Was?« Pjotr Stepanowitsch fuhr schon auf, beherrschte sich aber sofort.
»Das ist mir mal eine Empfindlichkeit! Ach so, wir sind wohl erzürnt?«
fragte er scharf, mit demselben beleidigenden Hochmut. »In so einem
Augenblick ist Ruhe mehr am Platz. Am besten wäre es aber, sich für
Kolumbus zu halten, und auf mich wie auf eine Maus, die einen überhaupt
nicht beleidigen kann, herabzusehen. Das habe ich schon gestern
anempfohlen.«

»Ich will nicht auf dich wie auf eine Maus sehen.«

»Was soll das, ein Kompliment? ... Hm, auch der Tee ist kalt -- also
alles drunter und drüber. Nein, das ist mir zu unzuverlässig. Ah! aber
was sehe ich denn dort auf dem Fensterbrett?« (er ging hin). »Wahrhaftig
-- ein Huhn mit Reis! ... Warum haben Sie mir das bis jetzt noch nicht
angeboten? Wir befanden uns also in einer Gemütsverfassung, die sogar
ein Huhn ...«

»Ich habe gegessen, und das ist nicht Ihre Sache. Schweigen Sie!«

»Oh, natürlich, und zudem ist das an sich ja auch ganz gleichgültig.
Bloß mir ist es jetzt nicht gleichgültig: denken Sie sich, ich habe
heute so gut wie gar nicht zu Mittag gespeist und darum, wenn jetzt
dieses Huhn, wie ich annehme, nicht mehr nötig ist, -- wie?«

»Essen Sie, wenn Sie können.«

»Ei, danke, und dann nachher noch Tee.«

Er setzte sich im Nu an den Tisch, am anderen Ende des Sofas, und machte
sich mit ungewöhnlicher Gier ans Essen; doch gleichzeitig beobachtete er
jeden Augenblick sein Opfer. Kirilloff sah ihm mit bösem Widerwillen
regungslos zu, wie außerstande, seinen Blick von ihm loszureißen.

»Einstweilen,« -- Pjotr Stepanowitsch sah plötzlich auf, fuhr aber fort
zu essen -- »wie wird es denn damit? Also, wir treten nicht zurück, wie?
Und der Zettel?«

»Ich habe in dieser Nacht festgestellt, daß es mir einerlei ist. Werde
schreiben. Die Proklamationen?«

»Ja, auch die Proklamationen. Übrigens, ich werde Ihnen diktieren. Ihnen
ist es doch ganz gleich. Könnte denn der Inhalt Sie in diesen Minuten
wirklich noch beunruhigen?«

»Das geht dich nichts an.«

»Natürlich nicht. Übrigens ... im ganzen nur ein paar Zeilen: daß Sie
mit Schatoff die Proklamationen verbreitet haben, unter anderem, mit
Hilfe Fedjkas, der sich hier in Ihrer Wohnung verborgen hat. Dieser
letzte Punkt über Fedjka und die Wohnung ist sehr wichtig, sogar der
allerwichtigste. Sehen Sie, ich bin ganz aufrichtig zu Ihnen.«

»Schatoff? Warum mit Schatoff? Auf keinen Fall schreibe ich von
Schatoff.«

»Das fehlte noch, was macht Ihnen denn das aus? Schaden können Sie ihm
ja doch nicht mehr.«

»Seine Frau ist zu ihm gekommen. Sie wachte auf und schickte zu mir
fragen, wo er ist?«

»Sie hat zu Ihnen geschickt, um zu erfahren, wo er ist? Hm ... das ist
nicht ... Dann könnte sie ja wieder schicken ... Hören Sie, niemand darf
erfahren, daß ich hier bin ...«

Pjotr Stepanowitsch wurde unruhig.

»Sie wird nicht erfahren, schläft wieder. Bei ihr ist eine Frau, Arina
Wirginskaja.«

»Schön, schön, und ... wird es auch nicht hören, denke ich? Wissen Sie,
wäre es nicht besser, die Flurtür zu verriegeln?«

»Wird nichts hören. Und wenn Schatoff kommt, verstecke ich Sie ins
andere Zimmer.«

»Schatoff wird nicht kommen; und Sie werden schreiben, daß Sie sich mit
ihm wegen Verrat und Denunziation überworfen haben ... heute Abend ...
und die Ursache seines Todes sind.«

»Er ist tot!« stieß Kirilloff aufspringend hervor.

»Heute um acht Uhr abends, oder richtiger, gestern um acht Uhr abends,
denn jetzt ist es schon ein Uhr.«

»Du hast ihn ermordet! ... Und ich habe das gestern vorausgewußt!«

»Wäre auch was gewesen, das nicht vorauszusehen! Hier, sehen Sie, mit
diesem Revolver!« (Er zog seinen Revolver aus der Tasche, anscheinend
nur um ihn zu zeigen, doch steckte er ihn nicht wieder zurück, sondern
behielt ihn in der rechten Hand, wie in Bereitschaft.) »Sie sind doch
ein sonderbarer Mensch, Kirilloff, Sie wußten ja schon längst, daß es
mit diesem dummen Menschen gerade ein solches Ende nehmen mußte. Was ist
denn hier noch vorauszusehen? Ich habe es Ihnen schon mehrmals förmlich
in den Mund gelegt. Schatoff bereitete eine Anzeige vor: ich beobachtete
ihn; man konnte ihn auf keine Weise so lassen. Ja, und auch Sie hatten
doch den Auftrag, auf ihn aufzupassen: Sie haben mir doch selbst noch
vor drei Wochen ...«

»Schweig! Das hast du ihn dafür, daß er dir in Genf ins Gesicht gespuckt
hat!«

»Auch dafür, und auch noch für anderes. Für vieles andere; übrigens ohne
jede Bosheit meinerseits. Warum da aufspringen? Wozu Posen annehmen?
Oho! Also so sind wir! ...«

Er sprang auf und erhob seinen Revolver. Kirilloff hatte nämlich seinen
Revolver, der schon seit dem Morgen geladen war, vom Fensterbrett
genommen. Pjotr Stepanowitsch stellte sich in Positur und zielte auf
Kirilloff. Der lachte böse auf.

»Gesteh nur, Schurke, du hast deinen Revolver bloß darum genommen, daß
ich dich erschieße ... Aber ich werde dich nicht erschießen ... obgleich
... obgleich ...«

Und wieder erhob er seinen Revolver und zielte auf Pjotr Stepanowitsch,
wie außerstande, auf das Vergnügen zu verzichten: sich vorzustellen, wie
das wäre, wenn er Pjotr Stepanowitsch jetzt mit einem Schuß
niederstrecken würde. Pjotr Stepanowitsch wartete immer noch in Positur,
wartete bis zum letzten Augenblick, wartete mit gespanntem Hahn, wobei
er doch riskierte, selbst eine Kugel in die Stirn zu bekommen: von
diesem »Maniak«, wie er Kirilloff kurzweg nannte, war das zu erwarten.
Aber der »Maniak« ließ schließlich die Hand sinken, atemlos und zitternd
und unfähig zu sprechen.

»Sie haben gespielt, nun und genug jetzt.« Pjotr Stepanowitsch senkte
gleichfalls seinen Revolver. »Ich wußte es ja, daß Sie spielten. Nur,
wissen Sie, Sie wagten doch viel: ich hätte abdrücken können.«

Und er setzte sich ziemlich ruhig wieder auf das Sofa und goß sich --
übrigens doch mit ein wenig zitternder Hand -- Tee ein. Kirilloff legte
den Revolver auf den Tisch und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Ich werde nicht schreiben, daß ich Schatoff getötet habe, und ... ich
werde jetzt überhaupt nichts schreiben. Es wird keinen Zettel geben!«

»Nicht?«

»Nein.«

»Welch eine Gemeinheit und was für eine Dummheit!« Pjotr Stepanowitsch
wurde vor Wut ganz fahl im Gesicht. »Aber ich habe ja schon so etwas
geahnt. Wissen Sie auch, daß ich mich nicht überrumpeln lasse! Aber, --
wie Sie wollen! Wenn ich Sie mit Gewalt zwingen könnte, so würde ich es
tun. Sie sind übrigens ein Schurke,« er verlor immer mehr seine
Selbstbeherrschung, »Sie haben sich damals von uns Geld geliehen und uns
dafür Langes und Breites versprochen ... Nur werde ich Sie doch nicht
ganz ohne Resultat verlassen, werde wenigstens sehen, wie Sie sich jetzt
selbst die Kugel durch den Kopf jagen.«

»Ich will, daß du sofort gleich hinausgehst.« Kirilloff blieb
entschlossen vor ihm stehen.

»Nein, das tue ich auf keinen Fall,« lehnte Pjotr Stepanowitsch ab und
ergriff wieder seinen Revolver. »Jetzt kann Ihnen ja aus Wut und Bosheit
einfallen, alles aufzuschieben und morgen noch hinzugehen und zu
denunzieren, um wieder Geld zu erhalten: dafür wird doch gut gezahlt.
Hol' Sie der Teufel, solche Leutchen wie Sie sind zu allem fähig! Nur
beunruhigen Sie sich nicht, ich habe alles vorgesehen: ich werde nicht
vorher fortgehen, als bis ich Ihnen mit diesem Revolver gleichfalls den
Schädel geöffnet habe, wie dem Schufte Schatoff. Wenn Sie selbst zu
feige werden und es aufschieben wollen! Hol' Sie der Teufel!«

»Du willst wohl unbedingt auch mein Blut sehen?«

»Nicht aus Bosheit will ich es. Begreifen Sie doch, daß es mir
persönlich ganz gleichgültig ist. Ich will es nur, um für unsere Sache
ruhig sein zu können. Daß man sich auf einen Menschen nicht verlassen
kann, sehen Sie doch selbst. Ich verstehe nichts davon, was Sie da ...
-- ich meine, warum Sie sich umbringen wollen. Nicht ich habe diese
Phantasie für Sie ausgedacht, sondern Sie selbst, und mitgeteilt haben
Sie Ihre Ideen zuerst nicht mir, sondern den anderen ausländischen
Gliedern. Und vergessen Sie nicht, daß niemand es aus Ihnen
herausgezogen hat, es kannte Sie ja auch niemand, sondern Sie selbst
sind gekommen und haben Ihre Gedanken mitgeteilt -- aus Sentimentalität
wahrscheinlich. Wer ist aber jetzt daran schuld, wenn damals daraufhin
ein Plan für gewisse Taten hier in der Stadt entworfen wurde, und die
Hauptsache: mit Ihrer Einwilligung und auf Ihren Vorschlag hin
(vergessen Sie das nicht: auf Ihren Vorschlag hin!). Schon deshalb denke
ich, daß Sie die Sache jetzt nicht mehr im Stiche lassen dürfen. Sie
haben sich so benommen, daß Sie schon zu viel wissen. Wenn Sie nun
Furcht bekommen haben und morgen hingehen, um zu denunzieren, wird das
für uns dann vorteilhaft sein, oder nicht, was meinen Sie? Nein, Sie
haben sich verpflichtet, Sie haben Ihr Wort gegeben, haben Geld
genommen. Das können Sie alles unmöglich leugnen ...«

Pjotr Stepanowitsch ereiferte sich mächtig, aber Kirilloff hörte ihm
schon längst nicht mehr zu, sondern schritt wieder in Gedanken versunken
auf und ab.

»Schatoff tut mir leid,« sagte er endlich und blieb wieder vor Pjotr
Stepanowitsch stehen.

»Aber mir tut er ja auch lei... --«

»Schweig, Schurke!« brüllte Kirilloff wild auf und machte eine
furchtbare und unzweideutige Bewegung. »Ich schlage dich tot!«

»Nun, nun, nun, schon gut, ich habe gelogen, ich gebe selber zu, es tut
mir um ihn nicht ein bißchen leid; nun, schon gut!« Pjotr Stepanowitsch
war ängstlich aufgesprungen und hielt den Arm wie zum Schutz erhoben.

Kirilloff wandte sich plötzlich still von ihm ab und begann von neuem
durch das Zimmer zu schreiten.

»Ich werde es nicht aufschieben, gerade jetzt will ich mich umbringen:
alle sind solche Schurken!«

»Nun, das ist doch ein Gedanke! Selbstverständlich sind alle Schurken,
und da es einen anständigen Menschen auf der Welt anekelt, so ...«

»Dummkopf, ich bin ganz eben so ein Schurke wie du, wie alle, aber kein
anständiger. Ein anständiger ist noch niemals nirgends gewesen.«

»Na, endlich also erraten! Haben Sie denn wirklich bis jetzt noch nicht
begriffen, Kirilloff, Sie mit Ihrem Verstande, daß alle ein und
dieselben sind, daß es weder bessere noch schlechtere Menschen gibt,
sondern nur klügere und dümmere, und daß, wenn alle Schurken sind (was
nebenbei bemerkt Unsinn ist), es folglich einen Nichtschurken auch gar
nicht geben kann?«

»Ah! Und du lachst wirklich nicht?« fragte ihn Kirilloff mit einer
gewissen Verwunderung. »Du sprichst mit Eifer und einfach ... Haben denn
auch solche wie du Überzeugungen?«

»Kirilloff, ich habe nie verstehen können, warum Sie sich töten wollen.
Ich weiß nur, daß Sie es aus Überzeugung ... aus fester Überzeugung
wollen. Aber wenn Sie das Bedürfnis fühlen, sich, wie man sagt,
mitzuteilen, so stehe ich zu Ihrer Verfügung ... Nur muß man die Zeit im
Auge behalten ...«

»Wieviel ist die Uhr?«

»Oho, punkt zwei,« sagte Pjotr Stepanowitsch mit einem Blick auf seine
Uhr, und er zündete sich eine Zigarette an.

»Ich glaube, ich werde doch noch mit ihm fertig,« dachte er bei sich.

»Ich habe dir nichts zu sagen,« brummte Kirilloff.

»Ich erinnere mich noch, daß da irgend etwas von Gott dabei war ... Sie
haben es mir doch einmal erklärt, oder sogar zweimal ... Wenn Sie sich
erschießen, so werden Sie Gott, so war es doch, wenn ich mich nicht
täusche?«

»Ja, ich werde Gott.«

Pjotr Stepanowitsch lächelte nicht einmal, er wartete; Kirilloff blickte
ihn fein an.

»Sie sind ein politischer Betrüger und Intrigant, Sie wollen mich auf
die Philosophie hinüberleiten und in Begeisterung bringen, und eine
Versöhnung mit mir machen, um den Ärger zu vertreiben, und wenn ich mich
versöhne, dann den Brief erbitten, daß ich Schatoff getötet habe.«

Pjotr Stepanowitsch antwortete fast mit natürlicher Offenherzigkeit.

»Nun, mag ich das auch gedacht haben. Nur -- ist Ihnen denn das in
diesen letzten Augenblicken nicht ganz gleichgültig, Kirilloff? Worüber
zanken wir uns überhaupt, sagen Sie doch bitte selbst: Sie sind solch
ein Mensch, und ich bin wieder solch ein Mensch, nun, und was liegt denn
daran? Und beide noch dazu ...«

»Schurken.«

»Gut, meinetwegen auch Schurken. Sie wissen doch, daß das nur Worte
sind.«

»Ich habe mein ganzes Leben nicht gewollt, daß es nur Worte sind. Ich
habe auch nur deswegen gelebt, weil ich das immer nicht wollte. Ich will
auch jetzt jeden Tag, daß es nicht nur Worte sind.«

»Nun ja, ein jeder sucht, wo er es besser hätte. Ein Fisch ... das
heißt, jeder sucht seinen Komfort ... in seiner Art; und das ist alles.
Außerordentlich lange schon bekannt.«

»Komfort, sagst du?«

»Nun, lohnt es sich denn, sich um Worte zu streiten?«

»Nein, du hast das gut gesagt: meinetwegen -- Komfort. Gott ist
unentbehrlich und darum muß er sein.«

»Nun, und wunderbar.«

»Aber ich weiß, daß es ihn nicht gibt und nicht geben kann.«

»Das ist schon richtiger.«

»Begreifst du denn wirklich nicht, daß ein Mensch mit zwei solchen
Gedanken nicht leben bleiben darf?«

»Sich also erschießen muß?«

»Begreifst du denn wirklich nicht, daß man sich nur allein deswegen
erschießen kann? Du kannst es nicht begreifen, daß solch ein Mensch sein
kann, ein einziger Mensch von allen euren tausend Millionen, einer, der
nicht will und nicht erträgt.«

»Ich verstehe nur, daß Sie, wie's scheint, schwanken ... Das aber ist
höchst gemein.«

»Auch Stawrogin ist von der Idee verschlungen,« sagte Kirilloff, die
Bemerkung überhörend, und schritt finster durch das Zimmer.

»Wie?« Pjotr Stepanowitsch spitzte die Ohren, »von was für einer Idee?
Hat er Ihnen selbst irgend etwas gesagt?«

»Nein, ich habe selbst erraten: Stawrogin, wenn er glaubt, so glaubt er
nicht, daß er glaubt. Wenn er aber nicht glaubt, so glaubt er nicht, daß
er nicht glaubt.«

»Nun, Stawrogin hat noch etwas anderes, etwas Gescheiteres als das ...«
brummte Pjotr Stepanowitsch ärgerlich, während er unruhig die neue
Wendung des Gespräches verfolgte und den bleichen Kirilloff beobachtete.

»Zum Teufel, er wird sich nicht erschießen,« dachte Pjotr Stepanowitsch.
»Habe es ja immer vorausgefühlt, das war bei ihm nur eine Gehirnspirale,
die ganze Idee, und weiter nichts. Solch ein Lumpenpack, diese Kerls,
wahrhaftig!«

»Du bist der letzte, der bei mir ist: ich würde nicht böse mit dir
auseinandergehen wollen,« sagte plötzlich Kirilloff.

Pjotr Stepanowitsch antwortete nicht sofort. »Weiß der Teufel, was das
nun wieder bedeutet!« dachte er.

»Glauben Sie mir, Kirilloff, daß ich nie etwas gegen Sie persönlich
gehabt habe und immer ...«

»Du bist ein Schurke und bist ein falscher Verstand. Aber ich bin ganz
dasselbe wie du und erschieße mich, du aber bleibst lebendig.«

»Sie wollen wohl sagen, daß ich so niedrig sei, daß ich am Leben bleiben
will.«

Er war noch nicht ganz sicher, ob es vorteilhaft oder unvorteilhaft war,
ein solches Gespräch jetzt weiterzuführen, und entschloß sich daher,
sich »den Umständen anzupassen«. Doch der Ton der Überlegenheit und die
unverhohlene Verachtung, die Kirilloff immer für ihn hatte, reizten und
ärgerten ihn aus irgendeinem Grunde diesmal noch viel mehr, als sonst,
-- vielleicht deshalb, weil Kirilloff, der schon in ungefähr einer
Stunde sterben mußte (das behielt Pjotr Stepanowitsch trotz allem fest
im Auge) für ihn bereits nur noch ein halber Mensch war, also jemand,
dem man auf keine Weise mehr erlauben durfte, auch noch stolz und
hochmütig zu sein.

»Sie wollen, wie's scheint, damit vor mir großtun, daß Sie sich
erschießen werden?«

»Ich habe mich immer gewundert, daß alle leben bleiben,« sagte
Kirilloff, der auch diese Bemerkung wieder überhörte.

»Hm! nehmen wir an, daß das eine Idee ist, aber ...«

»Du Affe, du stimmst zu, um mich zu besiegen. Schweig, du kannst nichts
verstehen. Wenn es Gott nicht gibt, so bin ich Gott.«

»Sehen Sie, diesen Punkt habe ich bei Ihnen nie begreifen können: warum
sind Sie dann Gott?«

»Wenn es Gott gibt, so ist aller Wille sein, und aus Seinem Willen kann
ich nicht. Wenn nicht, so ist aller Wille mein und ich bin verpflichtet,
Eigenwillen zu bezeugen.«

»Eigenwillen? Und warum verpflichtet?«

»Darum, weil aller Wille mein geworden ist. Wird denn wirklich kein
einziger auf dem ganzen Planeten, nachdem er mit Gott ein Ende gemacht
hat und nur an seinen Eigenwillen glaubt, es wagen, Eigenwillen zu
beweisen, Eigenwillen gerade im Hauptpunkte? Das ist so, wie wenn ein
Armer eine Erbschaft bekommt und erschrickt und nicht wagt, zum Geldsack
zu gehen, weil er sich für nicht stark genug hält, zu besitzen. Ich will
Eigenwillen beweisen. Und wenn auch nur ich, ein einzelner, aber ich tue
es.«

»Tun Sie's nur!«

»Ich bin verpflichtet, mich zu erschießen, weil der vollste, höchste
Punkt meines Eigenwillens ist -- mich selbst zu töten.«

»Aber Sie sind doch nicht der einzige, der sich selbst tötet; es gibt
viele Selbstmörder.«

»Mit einer Ursache -- ja. Aber ganz ohne alle Ursache und nur für
Eigenwillen -- ich allein.«

»Wird sich nicht erschießen,« zuckte es wieder durch Pjotr
Stepanowitschs Gedanken.

»Wissen Sie was,« bemerkte er geärgert, »ich würde an Ihrer Stelle, um
Eigenwillen zu offenbaren, erst irgendeinen anderen, aber nicht mich
selbst, umbringen. Könnten sich damit noch nützlich machen. Ich werde
Ihnen sagen wen, wenn Sie nicht erschrecken. Dann brauchen Sie sich
meinetwegen heute auch noch nicht zu erschießen. Man könnte sich
besprechen.«

»Einen anderen töten würde gleich der allerniedrigste Punkt meines
Eigenwillens sein, und hierin bist du ganz enthalten. Ich bin nicht du:
ich will den höchsten Punkt und töte mich.«

»Glücklich mit eigenem Verstande darauf verfallen,« brummte Pjotr
Stepanowitsch boshaft.

»Ich bin verpflichtet, den Unglauben zu verkünden,« sprach Kirilloff
weiter, durch das Zimmer schreitend. »Für mich ist nichts höher, als die
Idee -- daß es Gott nicht gibt. Die ganze Geschichte der Menschheit
spricht für mich. Der Mensch hat nichts anderes getan, als Gott sich
ausdenken, um leben zu können, ohne sich totzuschlagen. Darin besteht
die ganze Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag. Ich allein in der
ganzen Weltgeschichte habe zum erstenmal Gott mir nicht ausdenken
wollen. Mag man das für immer erfahren.«

»Wird sich nicht erschießen,« dachte Pjotr Stepanowitsch wieder
beunruhigt.

»Wer soll es denn erfahren?« versuchte er ihn zu hetzen. »Hier sind nur
Sie und ich! Liputin etwa?«

»Alle sollen es erfahren; alle werden es erfahren ... Es gibt nichts in
der Welt, was nicht einmal offenbar wird. Das hat _Er_ gesagt.«

Und er wies in fieberhaftem Entzücken auf das Bild des Heilandes, vor
dem das Lämpchen brannte. Pjotr Stepanowitsch wurde endgültig wütend.

»An den also glauben Sie immer noch? Haben auch das Lämpchen angezündet!
Tun Sie das vielleicht auch >auf alle FälleWahrlich, ich sage dir,
heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.< Der Tag verging, beide
starben, gingen hin und fanden weder Paradies noch Auferstehung. Die
Worte bewahrheiteten sich nicht. Höre: dieser Mensch war der höchste auf
der ganzen Welt, war das, wozu sie lebt. Der ganze Planet, mit allem,
was auf ihm ist, ist ohne diesen Menschen -- nur ein Wahnsinn. Es war
weder vor Ihm, noch nach Ihm einer seinesgleichen, niemals, sogar bis
zum Wunder. Das ist eben das Wunder, daß keiner vor ihm war noch nach
ihm sein wird, niemals. Aber wenn dem so ist, wenn die Gesetze der Natur
auch _Diesen_ nicht verschont haben, sogar ihr eigenes Wunder nicht
verschont haben und auch _Ihn_ zwangen, mitten in Lüge zu leben und für
Lüge zu sterben, so ist folglich der ganze Planet Lüge und beruht nur
auf Lüge und dummem Spott. Folglich sind die Gesetze selbst des Planeten
-- Lüge und des Teufels Bühnenstück. Wozu dann leben, antworte, wenn du
ein Mensch bist?«

»Das ist die Kehrseite. Mir scheint, Sie haben hier zwei verschiedene
Ursachen vermischt; das ist aber sehr unzuverlässig. Doch erlauben Sie,
wenn Sie nun Gott sind? Wenn die Lüge zu Ende ist und Sie erraten haben,
daß die ganze Lüge nur daher kam, daß es den früheren Gott gab?«

»Endlich hast du es verstanden!« rief Kirilloff begeistert. »Also kann
man es doch verstehen, wenn sogar so einer wie du es verstanden hat!
Verstehst du jetzt, daß die ganze Errettung für alle ist -- allen diesen
Gedanken zu beweisen. Wer aber wird ihn beweisen? Ich! Ich verstehe
nicht, wie bis jetzt ein Atheist wissen konnte, daß es Gott nicht gibt,
und sich doch nicht sofort selbst tötete? Erkennen, daß es Gott nicht
gibt und nicht im selben Augenblick mit eins erkennen, daß man dadurch
selbst Gott geworden ist -- ist eine Ungereimtheit, denn anderenfalls
würde man sich unbedingt selbst töten. Wenn du erkenntest -- so bist du
Zar, und du brauchst dich nicht mehr selbst zu töten, sondern wirst in
der allergrößten Herrlichkeit leben. Aber einer, der erste, der das
erkennt, der muß sich unbedingt selbst töten, denn wer wird sonst
beginnen und beweisen? Also töte ich mich selbst, unfehlbar, um zu
beginnen und zu beweisen. Ich bin erst noch gezwungenermaßen Gott und
bin unglücklich, denn ich bin _verpflichtet_, Eigenwillen zu bezeugen.
Alle sind unglücklich, denn alle fürchten sich, Eigenwillen zu zeigen.
Eben deshalb ist der Mensch bis jetzt so unglücklich und arm gewesen,
weil er sich fürchtete, den Hauptpunkt, den Kern des Eigenwillens
durchzusetzen, und weil er nur so drumherum, am Rande ein wenig
Eigenwillen oder Mutwillen trieb wie ein Schuljunge. Ich bin schrecklich
unglücklich, denn ich habe schreckliche Angst. Die Angst ist der Fluch
des Menschen ... Aber ich werde Eigenwillen offenbaren, ich bin
verpflichtet, fest daran zu glauben, daß ich nicht glaube. Ich werde
beginnen und werde beenden, und werde das Tor öffnen. Und retten. Nur
dieses allein wird alle Menschen retten und schon in der nächsten
Generation physisch verändern. Denn in der jetzigen körperlichen Form
kann, so viel ich glaube, der Mensch ohne den früheren Gott nicht sein.
Ich habe drei Jahre das Attribut meiner Gottheit gesucht und habe es
schließlich gefunden: das Attribut meiner Gottheit ist -- Eigenwille!
Das ist alles, womit ich im Hauptpunkt meine Nichtunterwürfigkeit
beweisen kann und meine neue furchtbare Freiheit. Denn sie ist maßlos
furchtbar. Ich töte mich, um meine Nichtunterwürfigkeit zu beweisen und
meine neue furchtbare Freiheit.«

Sein Gesicht war unnatürlich bleich, sein Blick unerträglich schwer. Er
war wie im Fieber. Pjotr Stepanowitsch fürchtete schon, er werde
sogleich hinfallen.

»Gib die Feder!« rief Kirilloff plötzlich ganz unerwartet in
entschiedener Verzückung -- »diktiere, ich unterschreibe alles. Auch,
daß ich Schatoff getötet, unterschreibe ich. Diktiere, solange es mir
lachhaft ist! Ich fürchte die Gedanken der anmaßenden Sklaven nicht! Du
wirst selbst sehen, daß alles Geheimnisvolle offenbar werden wird. Du
aber wirst zerdrückt werden ... Ich aber glaube! Ich glaube!«

Pjotr Stepanowitsch schnellte empor, gab ihm im Nu das Tintenfaß und ein
Blatt Papier und begann sofort zu diktieren, um den günstigen Augenblick
nicht zu verpassen, zitternd für das Gelingen.

»Ich, Alexei Kirilloff, erkläre ...«

»Wart! So will ich nicht! Erkläre wem?«

Kirilloff bebte wie im Fieber. Diese Erklärung und irgendein besonderer
plötzlicher Gedanke in bezug auf diese Erklärung hatten ihn, wie es
schien, ganz und gar verschlungen, als ob sie ein Ausweg wäre, auf den
sich, wenn auch nur auf einen Augenblick, sein müdgequälter Geist
stürzte.

»Erkläre wem? Will wissen wem?«

»Ach, niemandem, allen, dem ersten, der es liest! Wozu das bestimmen?
Der ganzen Welt!«

»Der ganzen Welt? Bravo! Und daß keine Reue nötig ist! Ich will nicht
bereuen. Und ich will auch nicht an die Obrigkeit!«

»Aber nein doch, das ist ja auch gar nicht nötig, zum Teufel mit der
Obrigkeit! Aber so schreiben Sie doch, wenn Sie ernstlich! ...« schrie
Pjotr Stepanowitsch in hysterischer Nervosität ihn an.

»Wart! Ich will erst eine Fratze mit herausgestreckter Zunge malen.«

»Ach was, Unsinn! Teufel, das kann man auch ohne Malerei ausdrücken,
einfach mit dem Ton.«

»Mit dem Ton? Das ist gut. Ja, mit dem Ton, mit dem Ton! Diktier mir mit
dem Ton!«

»Ich, Alexei Kirilloff,« diktierte fest und befehlend Pjotr
Stepanowitsch, über die Schulter Kirilloffs gebeugt und jeden
Buchstaben, den dieser mit seiner zitternden Hand schrieb, mit den Augen
verfolgend, »-- ich, Kirilloff, erkläre, daß ich heute, am ...sten
Oktober, am Abend um acht Uhr, den Studenten Schatoff im Park getötet
habe und zwar für Verrat und Anzeige der Proklamationen, sowie Fedjkas,
der bei uns beiden im Filippoffschen Hause zehn Tage gewohnt und
genächtigt hat. Ich erschieße mich aber heute mit einem Revolver nicht
deswegen, weil ich bereue und euch fürchte, sondern weil ich schon im
Auslande die Absicht hatte, mir das Leben zu nehmen.«

»Und das ist alles?« fragte erstaunt und unwillig Kirilloff.

»Kein Wort mehr!« sagte Pjotr Stepanowitsch, mit der Hand abwinkend, und
suchte ihm das Papier zu entreißen.

»Wart!« rief Kirilloff und legte fest seine Hand auf das Blatt. »Wart,
Unsinn! Will noch sagen, mit wem ich erschlagen habe. Warum Fedjka? Und
die Brandstiftung? Ich will alles und will sie noch ausschimpfen mit dem
Ton, mit dem Ton!«

»Genug, Kirilloff, ich versichere Ihnen, das ist vollkommen genug!«
flehte Pjotr Stepanowitsch geradezu, denn er zitterte vor Angst, daß
Kirilloff das Papier vielleicht wieder zerreißen werde. »Damit die es
glauben, muß es so dunkel wie möglich sein, nur mit Andeutungen, gerade
so! Man muß nur ein Eckchen der Wahrheit zeigen, nur soviel, um sie
irrezuführen. Die werden sich schon selbst weit mehr vorlügen, als wir
es könnten, und sich selbst werden sie natürlich mehr glauben als uns --
und das ist doch gerade das Beste, das Allerbeste! Geben Sie her, es ist
wundervoll so. Geben Sie! Geben Sie!«

Und er bemühte sich immer noch, ihm das Papier zu entwenden, es ihm
unter der Hand wegzuziehen. Kirilloff hatte die Augen weit aufgerissen,
hörte wohl auch zu und schien sogar begreifen zu wollen, doch hatte er
wahrscheinlich schon aufgehört, zu verstehen.

»Teufel!« entfuhr es plötzlich wütend Pjotr Stepanowitsch. »Er hat ja
noch gar nicht unterschrieben! Was starren Sie denn so, unterschreiben
Sie doch!«

»Ich will ausschimpfen ...« murmelte Kirilloff, nahm aber doch gehorsam
die Feder und schrieb seinen Namen. »Ich will ausschimpfen ...«

»Schreiben Sie meinetwegen: _Vive la république_,{[199]} und damit dann
genug.«

»Bravo!« schrie, brüllte fast Kirilloff vor Entzücken auf. »_Vive la
république démocratique, sociale et universelle ou la mort!_ ... Nein,
nein, nicht so. _Liberté, egalité, fraternité ou la mort._{[200]} Das
ist noch besser, noch besser,« und er schrieb es mit sichtlichem
Hochgenuß unter seinen Namenszug.

»Genug jetzt, wirklich genug!« wiederholte Pjotr Stepanowitsch.

»Wart, noch ein ... Ich, weißt du, ich werde noch einmal auf französisch
unterschreiben: >_de Kirilloff, gentil-homme russe et citoyen du
monde_.<{[201]} Hahahahaha!« lachte er auf. »Nein, nein, nein, wart,
habe es noch besser gefunden, am allerbesten, Heureka! --
>_gentil-homme-séminariste russe et citoyen du monde civilisé_!<{[202]}
Das ist am allerbesten ...« -- -- -- und er sprang jäh auf, ergriff
plötzlich mit einer schnellen Bewegung seinen Revolver, stürzte in das
andere Zimmer und schlug die Tür fest hinter sich zu.

Pjotr Stepanowitsch stand einen Augenblick nachdenklich da und sah
gespannt auf die geschlossene Tür.

»Wenn sofort -- dann ist es möglich, daß er abdrückt, fängt er aber an
zu denken -- dann wird nichts geschehen.«

Vorläufig nahm er das Blatt in die Hand, setzte sich wieder und sah das
Geschriebene noch einmal durch. Die Abfassung gefiel ihm wieder
ungemein.

»Was fehlt uns jetzt! Es ist ja weiter nichts nötig, wie sie für eine
Zeitlang ganz aus der Fassung zu bringen und abzulenken. Park? In der
Stadt gibt es keinen Park. Aber sie werden schon mit ihrem eigenen
Verstande auf Skworeschniki verfallen. Bis sie aber darauf verfallen,
vergeht Zeit, bis sie suchen -- wieder Zeit, und finden sie die Leiche
-- so ist hier nur die Wahrheit geschrieben worden, folglich muß auch
alles andere richtig sein, auch das von Fedjka. Was aber bedeutet
Fedjka? Fedjka -- das ist der Brand, Fedjka, das sind Lebädkins:
folglich ist alles aus dem Filippoffschen Hause gekommen, sie aber haben
nichts davon gesehen, haben nichts durchschauen können, -- und gerade
das wird sie schon vollends verwirren! Auf die Unsrigen aber werden sie
überhaupt nicht verfallen. Es waren also Schatoff und Kirilloff und
Fedjka und Lebädkin; warum sie aber einander totgeschlagen haben -- das
ist dann für die Leute noch so eine kleine Frage zum Zeitvertreib. Zum
Teufel, wo bleibt denn der Schuß! ...«

Pjotr Stepanowitsch hatte die ganze Zeit, wenn er auch las und sich über
die Abfassung freute, doch gleichzeitig jeden Augenblick mit quälender
Unruhe gehorcht und -- plötzlich wurde er wütend. Erregt zog er die Uhr
hervor: es war schon sehr spät; und Kirilloff mochte vor bereits zehn
Minuten hinausgegangen sein ... Er ergriff das Licht und ging zur Tür
des Nebenzimmers. An der Tür sah er plötzlich und kam es ihm zu
Bewußtsein, daß auch das Licht schon heruntergebrannt war und vielleicht
nach zwanzig Minuten auslöschen werde, daß ein anderes aber nicht
vorhanden war. Vorsichtig umfaßte er mit der Hand die Klinke und
horchte. Kein einziger Laut drang aus dem anderen Zimmer. Plötzlich
öffnete er die Tür und erhob das Licht: da brüllte etwas auf und stürzte
auf ihn zu. Hastig schlug er die Tür zu und stemmte sich mit aller Kraft
gegen sie, aber schon war alles verstummt -- und wieder Totenstille.

Lange stand er so in seiner Unentschlossenheit mit dem Licht in der
Hand. In dem kurzen Augenblick, nach dem Öffnen der Tür, hatte er nur
sehr wenig sehen können, aber er erinnerte sich doch des Gesichts
Kirilloffs, der am anderen Ende des Zimmers am Fenster gestanden hatte,
und der tierischen Wut, mit der er zur Tür gestürzt war. Plötzlich regte
sich etwas im Nebenzimmer.

Pjotr Stepanowitsch stellte schnell das Licht auf den Tisch, ergriff
seinen Revolver und sprang auf den Fußspitzen zur Seite in die
entgegengesetzte Ecke, so daß er, falls Kirilloff die Tür öffnete und
auf den Tisch zuschritt, noch vor Kirilloff zielen und abdrücken konnte.

Aber es blieb wieder alles ruhig.

Daß Kirilloff jetzt noch den Selbstmord begehen werde, daran glaubte
Pjotr Stepanowitsch schon gar nicht mehr.

»Er stand offenbar und dachte,« ging es ihm blitzartig durch den Kopf.
»Dazu noch ein dunkles, unheimliches Zimmer ... Er brüllte auf und
stürzte zur Tür -- hier sind zwei Möglichkeiten: entweder störte ich ihn
gerade in dem Augenblick, als er den Hahn abdrücken wollte, oder ...
oder er stand und überlegte, wie er mich töten könnte. Ja, das wird's
gewesen sein, er überlegte ... Er weiß, daß ich nicht vorher fortgehe,
als bis er tot ist, daß ich ihn töten werde, wenn er selbst dazu zu
feige ist -- also muß er mich zuerst töten, damit nicht ich ihn töte ...
Und wieder, wieder bleibt dort alles still! ... Einfach gruselig:
plötzlich macht er die Tür auf ... Die Schweinerei ist ja bloß, daß er
an Gott noch mehr glaubt als ein Pope ... Wird sich nicht erschießen, um
keinen Preis! Oh ... Solche, wie er, die mit >eigenem Verstande so weit
kommen<, vermehren sich ja jetzt ungeheuer. Lumpenpack! Teufel, das
Licht, das Licht! In einer Viertelstunde ist es ausgebrannt, spätestens
... Muß Schluß machen, muß unbedingt, was es auch koste, Schluß machen
... Was, -- totschlagen kann man ihn ja jetzt ... Nach diesem Papier
kann niemand denken, daß ich ihn erschossen habe. Man kann ihn schon so
auf die Diele legen und zurechtbiegen, mit abgeschossenem Revolver in
der Hand, daß man unbedingt glauben muß, er selbst ... Teufel, aber wie
ihn nur erschießen? Wenn ich aufmache, wird er sich wieder auf mich
stürzen und noch vor mir abdrücken. Teufel, nein, er wird natürlich
nicht treffen ... Immerhin ...«

So quälte er sich hin und her und ward immer unruhiger infolge der
unumgänglichen Notwendigkeit der Tat einerseits und der eigenen
Unentschlossenheit andererseits. Schließlich nahm er wieder den Leuchter
und trat wieder leise zur Tür, wobei er den Revolver hob und den Hahn
spannte, dann mit der linken Hand, in der er das Licht hielt, die Klinke
zu öffnen versuchte -- aber es gelang nicht: das Schloß kreischte nur
und öffnete sich nicht. »Er wird sofort auf mich schießen!« dachte Pjotr
Stepanowitsch, riß die Tür auf und erhob Licht und Revolver ... Doch
kein Schuß ertönte ... Auch kein Schrei ... Im Zimmer war kein Mensch.

Er fuhr zusammen. Einen anderen Ausgang hatte das Zimmer nicht, aus ihm
zu entfliehen war unmöglich. Er hob das Licht noch höher und blickte
noch aufmerksamer hinein: nein, kein Mensch. Halblaut rief er einmal
Kirilloff und dann zum zweitenmal lauter, aber niemand antwortete.

»Sollte er aus dem Fenster gesprungen sein?«

Tatsächlich war das Luftfenster offen.

»Unsinn, durchs Luftfenster kann er doch nicht durch.« Pjotr
Stepanowitsch ging durch das ganze Zimmer zum Fenster. »Unmöglich konnte
er hier durch!« Plötzlich wandte er sich blitzschnell um und etwas
Ungewöhnliches erschütterte ihn.

An der Wand, die dem Fenster gegenüber lag, stand links von der Tür ein
Schrank. An der linken Seite dieses Schrankes aber, in der Ecke zwischen
der anderen Wand und dem Schrank, stand Kirilloff und stand furchtbar
sonderbar, -- unbeweglich, stramm, die Hände militärisch an den Nähten,
den Kopf erhoben und mit dem Rücken fest an die Wand gepreßt ... Allem
Anscheine nach wollte er sich verstecken, aber das war wiederum nicht
glaubhaft. Pjotr Stepanowitsch stand ein wenig schräg zu der Ecke und
sah nur die hervortretenden Teile der Gestalt. Er konnte sich aber noch
nicht entschließen, weiter nach links zu gehen und das Rätsel zu lösen.
Sein Herz schlug laut. Und plötzlich erfaßte ihn eine rasende Wut: er
riß sich von der Stelle, schrie auf und stürzte trampelnd zu der
furchtbaren Stelle.

Doch wie er unmittelbar vor ihm stand, blieb er wie angewurzelt stehen,
noch mehr von Entsetzen betäubt. Vor allem frappierte es ihn, daß die
Gestalt sich trotz seines Schreies und wütenden Anlaufs nicht einmal
bewegte, nicht einmal zuckte, auch nicht mit einem einzigen Gliede --
ganz, als ob sie versteint oder aus Wachs gewesen wäre. Die Blässe des
Gesichts war unnatürlich, die schwarzen Augen waren unbeweglich und
sahen auf irgendeinen Punkt im leeren Raum. Pjotr Stepanowitsch führte
das Licht von oben nach unten und wieder nach oben und sah aufmerksam
dieses Gesicht an. Und plötzlich gewahrte er, daß Kirilloff, wenn er
auch geradeaus in die Luft blickte, ihn doch seitlich sah und womöglich
noch beobachtete. Da kam ihm der Gedanke, das Licht »diesem Schurken« an
das Gesicht zu legen, es anzubrennen, um zu sehen, was er dann tun
werde. Plötzlich aber schien es ihm, daß Kirilloffs Kinn sich bewege und
über die Lippen ein Spottlächeln flimmere -- ganz als ob jener seinen
Gedanken erraten hätte. Er erbebte und außer sich vor Wut packte er
Kirilloff an der Schulter.

Da geschah aber etwas dermaßen Unglaubliches, und geschah so schnell,
daß Pjotr Stepanowitsch sich später in seiner Erinnerung selbst nicht
mehr zurechtfand. Kaum hatte er Kirilloff berührt, als dieser plötzlich
seinen Kopf fallen ließ und ihm mit dem Kopf das Licht aus der Hand
schlug. Der Leuchter fiel mit lautem Gepolter zu Boden, und das Licht
erlosch. Im selben Augenblick noch fühlte er einen furchtbaren Schmerz
im kleinen Finger seiner linken Hand. Er schrie auf, und später wußte er
nur noch, daß er, außer sich, Kirilloff, der seinen Finger nicht aus den
Zähnen ließ, dreimal mit dem Revolver auf den Kopf geschlagen hatte.
Doch es gelang ihm endlich, den Finger herauszureißen. Und er stürzte
fort, hinaus, so schnell er in der Dunkelheit nur konnte, aus dem
Zimmer, aus der Wohnung. Ihm nach aber drangen die furchtbaren Schreie:

»Sofort, sofort, sofort, sofort!«

Wohl mehr als zehnmal. Aber Werchowenski lief immer noch weiter, weiter,
durch die Dunkelheit, suchte schon im Flur die Ausgangstür, als
plötzlich ein lauter Schuß erschallte. Da erst blieb er stehen, im Flur,
in der Dunkelheit, und überlegte wohl fünf Minuten lang. Endlich kehrte
er wieder um und ging in die Wohnung zurück. Zuerst mußte Licht
geschafft werden. Dazu brauchte er nur den aus der Hand geschlagenen
Leuchter auf dem Boden aufzusuchen, rechts vom Schrank; aber womit dann
den Lichtstumpf anzünden? Er selbst hatte nichts bei sich. Eine dunkle
Erinnerung zog ihm durch den Kopf: es war ihm, als hätte er am Abend
vorher, als er in die Küche zu Fedjka gestürzt war, in der Ecke auf dem
Küchenbrett flüchtig eine große rote Streichholzschachtel bemerkt.
Tastend ging er also zuerst nach links, zur Küchentür, fand sie
schließlich und stieg dann die drei Stufen hinunter. Richtig: auf dem
Brett, gerade an der Stelle, an die er sich erinnert hatte, fand er in
der Dunkelheit eine große, noch nicht geöffnete Streichholzschachtel.
Ohne anzuzünden, kehrte er eilig zurück und erst beim Schrank, auf
derselben Stelle, wo er vorhin gestanden hatte, als er den ihn beißenden
Kirilloff mit dem Revolver auf den Kopf schlug, fiel ihm plötzlich sein
gebissener Finger ein, und in derselben Sekunde fühlte er auch einen
fast unerträglichen Schmerz in ihm. Er biß die Zähne zusammen, zündete
mit genauer Not noch den kleinen Lichtstumpf an und dann erst sah er
sich um: nicht weit von dem Fenster, dessen Luftfenster offen war, lag,
mit den Füßen zu jener Ecke des Zimmers, die Leiche Kirilloffs. Er hatte
sich in die rechte Schläfe geschossen und oben an der linken Seite des
Kopfes hatte die Kugel wieder den Schädel durchschlagen. Blut und
Hirnspritzer sah man auf der Diele. Der Revolver war in der Hand des
Selbstmörders geblieben. Der Tod mußte sofort eingetreten sein. Nachdem
Pjotr Stepanowitsch alles genau betrachtet hatte, erhob er sich wieder
und ging auf den Fußspitzen aus dem Zimmer, schloß hinter sich die Tür,
stellte das Licht auf den Tisch vor dem Sofa, dachte ein wenig nach und
beschloß dann, es nicht auszulöschen, da durch dieses Licht im Leuchter
doch kein Brand entstehen konnte. Er blickte noch einmal auf das
Dokument und lächelte mechanisch. Darauf verließ er, ich weiß nicht
warum, immer noch leise auf den Fußspitzen gehend, endgültig langsam das
Haus. Wieder kroch er durch Fedjkas geheimen Gang und schloß ihn hinter
sich sorgfältig mit dem Brett.


                                  III.

Zehn Minuten vor sechs gingen Pjotr Stepanowitsch und Erkel auf dem
Bahnhof längs des diesmal ziemlich langen Zuges auf und ab. Pjotr
Stepanowitsch fuhr fort und Erkel begleitete ihn. Das Gepäck war schon
aufgegeben, der Reisesack lag auf dem ausgesuchten Platz in einem Waggon
der zweiten Klasse. Das erste Glockenzeichen war schon ertönt und man
wartete auf das zweite. Pjotr Stepanowitsch sah sich wie gewöhnlich
neugierig nach allen Seiten um, und betrachtete die Einsteigenden.
Nähere Bekannte aber waren nicht zu sehen. Allem Anschein nach wollte
Erkel in diesen letzten Minuten noch von etwas Wichtigerem sprechen --
wenn er auch vielleicht selbst nicht wußte, wovon eigentlich; aber er
wagte nicht anzufangen. Es schien ihm sogar, daß er Pjotr Stepanowitsch
lästig fiel und daß dieser mit Ungeduld auf das zweite Glockenzeichen
wartete.

»Sie sehen so offen alle Menschen an,« bemerkte er etwas schüchtern, als
wollte er warnen.

»Warum soll ich denn nicht? Noch darf ich mich nicht verstecken. Ist
noch zu früh. Beunruhigen Sie sich nicht. Nur eines fürchte ich, daß der
Teufel mir den Liputin an den Hals schickt, der könnte es riechen und
herlaufen!«

»Pjotr Stepanowitsch, die sind nicht zuverlässig,« sagte Erkel endlich
schüchtern.

»Liputin?«

»Alle, Pjotr Stepanowitsch.«

»Unsinn, jetzt sind sie durch das Gestrige gebunden. Kein einziger wird
verraten. Wer wird sich denn selbst ins Unglück stürzen, wenn er nicht
den Verstand verloren hat?«

»Aber die haben doch den Verstand verloren!«

Dieser Gedanke war wohl auch Pjotr Stepanowitsch schon durch den Kopf
gegangen. Darum ärgerte ihn diese Bemerkung Erkels noch mehr.

»Sind Sie nicht auch schon feige geworden, Erkel? Ich verließ mich auf
Sie eigentlich mehr, als auf die anderen zusammen. Jetzt weiß ich, was
jeder von ihnen wert ist. Teilen Sie ihnen alles heute noch mündlich
mit. Ich vertraue sie Ihnen an. Gehen Sie schon am Morgen zu allen.
Meine schriftliche Instruktion können Sie ihnen morgen oder übermorgen
vorlesen, wenn sie versammelt sind und fähig, sie zu verstehen ...
Glauben Sie mir, die haben furchtbare Angst und werden jetzt weich wie
Wachs sein ... Aber die Hauptsache, werden Sie nur nicht melancholisch
...«

»Ach, Pjotr Stepanowitsch, es wäre wirklich besser, wenn Sie nicht
verreisten!«

»Aber ich verreise doch nur auf ein paar Tage: ich bin ja im Augenblick
wieder zurück.«

»Pjotr Stepanowitsch,« sagte Erkel schüchtern, »und selbst wenn Sie auch
nach Petersburg reisen sollten ... Ich verstehe doch, ich weiß doch, daß
Sie nur das für die allgemeine Sache Notwendige tun.«

»Von Ihnen habe ich auch nicht weniger als volles Verständnis erwartet,
Erkel. Wenn Sie erraten haben, daß ich nach Petersburg fahre, so werden
Sie auch verstehen, daß ich ihnen gestern, in jenem Augenblick, nicht
gleich sagen konnte, daß ich in der Tat so weit reise. Ich hätte sie nur
unnütz erschreckt. Sie haben ja selbst gesehen, wie sie da alle waren.
Aber Sie verstehen doch, daß ich es für die große und wichtige Sache tun
muß, für unsere allgemeine Sache, und nicht etwa, um mich persönlich in
Sicherheit zu bringen, wie vielleicht irgendein Liputin annimmt.«

»Ich verstehe es ohne weiteres, Pjotr Stepanowitsch, und selbst wenn Sie
ins Ausland fahren sollten, ich verstehe es doch, ich weiß, daß Sie Ihre
Person nicht so aufs Spiel setzen dürfen, denn Sie sind alles, wir aber
sind nichts. Oh, ich verstehe schon, Pjotr Stepanowitsch.«

Die Stimme des armen Knaben bebte sogar.

»Ich danke Ihnen, Erkel ... Au, Sie haben meinen kranken Finger
berührt.« (Erkel hatte ihm recht fest die Hand drücken wollen und dabei
nicht an die Verletzung gedacht; der kranke Finger war kunstvoll mit
schwarzem Taffett verbunden.) »Aber ich kann Ihnen nur wiederholen, daß
ich in Petersburg bloß ein wenig schnuppern will, bleibe dort im ganzen
vielleicht vierundzwanzig Stunden -- und dann sofort wieder hierher.
Zuerst werde ich mich hier auf dem Lande bei Gaganoff niederlassen, Sie
verstehen doch -- der Leute wegen. Wenn aber die Unsrigen irgendeine
Gefahr wittern sollten, so werde ich als erster diese Gefahr mit ihnen
teilen. Sollte ich aber etwas länger in Petersburg bleiben müssen, so
teile ich es Ihnen sofort mit ... auf dem bekannten Wege, und Sie sagen
es dann den anderen.«

Das zweite Glockenzeichen ertönte.

»Ah, also noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Wissen Sie, ich würde es
nicht wünschen, daß diese Gruppe hier auseinanderfällt. Das heißt nicht,
daß mir so sehr viel daran läge; nein; brauchen sich um mich weiter
keine Sorgen zu machen: solcher Knötchen des großen Netzes habe ich ja
genug und brauche nicht um eine einzige so sehr zu bangen. Aber eine
Gruppe mehr ist immerhin eine Gruppe mehr und als solche nicht zu
verachten. Übrigens, um Sie mache ich mir keine Sorgen, wenn ich Sie
auch fast allein mit diesen Mißgeburten hier zurücklasse: beunruhigen
Sie sich nicht, die werden nicht denunzieren, werden es gar nicht wagen
... -- A--ah, und auch Sie heute?« rief er plötzlich mit ganz anderer,
heiterer Stimme einem sehr jungen Menschen zu, der freundlich auf ihn
zutrat, um ihn zu begrüßen. »Sie fahren also auch mit dem Schnellzug?
Wohin denn? Zur Mama?«

Die Mutter des jungen Menschen war eine schwerreiche Gutsbesitzerin des
Nachbargouvernements, und der junge Mann, der weitläufig mit Julija
Michailowna verwandt war, hatte als Gast zwei Wochen in unserer Stadt
verbracht.

»Nein, ich fahre weiter, nach K... Acht Stunden Eisenbahnfahrt stehen
mir bevor. Und Sie nach Petersburg?« fragte der junge Mann frohgemut.

»Warum nehmen Sie so aufs blaue hin an, daß ich nach Petersburg fahre?«
fragte Pjotr Stepanowitsch noch fröhlicher und sah ihm lachend offen ins
Gesicht.

Der junge Mensch drohte ihm mit dem Finger der behandschuhten Rechten.

»Na, wenn Sie's erraten haben,« raunte ihm plötzlich Pjotr Stepanowitsch
mit gedämpfter Stimme geheimnisvoll zu, »ich reise mit Briefen von
Julija Michailowna und muß dort drei, vier Persönlichkeiten aufsuchen,
und was für welche noch dazu! -- na, Sie ahnen wohl schon. Übrigens
könnte sie meinethalben allesamt der Teufel holen, unter uns gesagt.
Eine verflixte Aufgabe!«

»Aber sagen Sie doch bitte, was fürchtet sie denn plötzlich so?«
flüsterte nun auch der junge Mensch. »Sie hat sogar mich gestern nicht
empfangen wollen. Meiner Meinung nach hat sie doch gar keinen Grund, für
ihren Mann etwas Unangenehmes zu erwarten. Im Gegenteil, er ist doch
noch so anständig auf dem Brandplatze hingefallen, hat ja förmlich, wie
man zu sagen pflegt, sein Leben aufs Spiel gesetzt.«

»Nun, natürlich doch,« lachte Pjotr Stepanowitsch noch lustiger. »Ja,
sehen Sie, sie fürchtet aber, daß man von hier aus schon geschrieben
haben könnte ... das heißt, daß gewisse Leute ... Mit einem Wort, hier
ist vor allem Stawrogin, oder richtiger Graf K... Ach, nun kurz: hier
steckt noch eine ganze Geschichte hinter der Geschichte -- ich werde
Ihnen vielleicht einiges unterwegs erzählen -- soviel mir die
Ritterlichkeit zu erzählen erlaubt ... Mein Verwandter, Fähnrich Erkel,
aus der Kreisstadt.«

Der junge Mensch blickte flüchtig auf Erkel und berührte den Hut. Erkel
grüßte militärisch.

»Ach, wissen Sie, Werchowenski, acht Stunden im Eisenbahnwagen ist ein
furchtbares Los. Mit uns fährt noch in der ersten Klasse Oberst
Berestoff, ein urkomischer Kauz, mein Gutsnachbar: verheiratet mit einer
Garina -- _née de Garine_.{[203]} Ist auch sonst in jeder Beziehung
tadellos. Und wissen Sie, dabei hat er sogar Ideen. Hier hat er sich nur
zwei Tage aufgehalten. Ein leidenschaftlicher Kartenspieler, nebenbei;
spielt mit Vorliebe Jeralásch[54], sollte man da nicht ein Spielchen
machen? Den vierten habe ich auch schon gefunden: Pripuchloff, ein
Kaufmann aus dem T.schen, Millionär, aber, wissen Sie, ein richtiger
Millionär, versichere Ihnen ... Ich mache Sie bekannt, eine urgemütliche
Haut, und lachen werden wir! ...«

»Oh, Jeralásch spiele ich mit dem größten Vergnügen, und besonders noch
auf der Reise, aber ich fahre in der zweiten Klasse.«

»Ach was, das ist doch ... auf keinen Fall, Sie setzen sich einfach zu
uns. Ich werde sofort dem Zugführer sagen, daß Ihre Sachen in die erste
Klasse zu bringen sind. Er gehorcht mir aufs Wort. Was haben Sie, einen
_sac de voyage_?{[204]} ein Plaid?«

»Famos, gehen wir!«

Und Pjotr Stepanowitsch nahm selbst seinen Reisesack, Plaid und Buch und
siedelte sofort mit der größten Bereitwilligkeit in die erste Klasse
über. Erkel half ihm, die Sachen zu tragen. Da ertönte auch schon das
dritte Glockenzeichen.

»Nun, Erkel,« sagte Pjotr Stepanowitsch eilig und reichte ihm mit
sichtlich anderweitig gefesseltem Interesse zum Abschied noch die Hand
aus dem Fenster, »ich werde also mit ihnen Karten spielen.«

»Aber wozu mir das noch erklären, Pjotr Stepanowitsch, ich verstehe ja
schon, ich verstehe doch alles, Pjotr Stepanowitsch.«

»Na, also dann auf glückliches ...« und auf den Anruf des jungen
Menschen, der ihn mit den Partnern bekannt machen wollte, wandte er sich
plötzlich vom Fenster zurück.

Erkel sah seinen Pjotr Stepanowitsch nicht wieder.

Traurig kehrte er nach Haus zurück. Nicht, daß es ihn beängstigt hätte,
daß Pjotr Stepanowitsch sie so plötzlich verließ, aber ... aber er hatte
sich so schnell von ihm fortgewandt, als dieser junge Zierbengel ihn
rief und ... er hätte doch etwas anderes sagen können, als diese nicht
zu Ende gesprochene Abschiedsredensart: »na, also dann auf glückliches«
oder ... oder wenn er doch wenigstens die Hand fester gedrückt hätte!

Gerade dieses letzte tat ihm am meisten weh. Und schon begann noch etwas
anderes an seinem armen Herzchen zu nagen, etwas, das er selbst noch gar
nicht begriff, das aber mit dem vergangenen Abend in Verbindung stand
...




                      Zweiundzwanzigstes Kapitel.
                  Stepan Trophimowitschs letzte Reise


                                   I.

Ich bin überzeugt, daß Stepan Trophimowitsch furchtbare Angst hatte, als
die für sein wahnsinniges Vorhaben bestimmte Zeit näher und näher
rückte. Ich bin überzeugt, daß er unter dieser Angst sehr gelitten hat,
besonders in der Nacht vor seinem Aufbruch, in jener furchtbaren Nacht.
Nastassja erinnerte sich nachher, daß er sich spät zu Bett gelegt, dann
aber fest geschlafen hatte. Doch das letztere will nicht allzuviel
besagen, denn auch zum Tode Verurteilte sollen in der letzten Nacht
sogar sehr fest schlafen.

Wenn Stepan Trophimowitsch auch erst nach Sonnenaufgang loswanderte,
also zu einer Zeit, in der ein nervöser Mensch sich immer ermutigt fühlt
(der Major, der Verwandte Wirginskis, hörte ja sogar auf, an Gott zu
glauben, sobald die Nacht vorüber war), so bin ich doch überzeugt, daß
er sich vorher nie ohne Grauen hat vorstellen können, wie er sich allein
und in einer solchen Lage auf der großen Landstraße befinden werde. Es
wird aber wahrscheinlich etwas Tollkühnes in seinen Gedanken gewesen
sein, das ihm zunächst die ganze Größe der schrecklichen Empfindung des
plötzlichen Alleinseins milderte, nachdem er »_Stasie_« und seinen
zwanzigjährigen warmen Platz verlassen hatte. Doch gleichviel: auch wenn
er alle Schrecken, die ihn erwarteten, klar und deutlich vorausgesehen
hätte, -- er wäre dennoch auf die große Landstraße hinausgegangen und
hätte den Weg fortgesetzt! Hierin lag etwas Stolzes, etwas, das ihn
trotz allem begeisterte. Oh, er hätte ja auf Warwara Petrownas herrliche
Bedingungen eingehen und bei ihr bleiben können »_comme un_{[205]}
gewöhnlicher Schmarotzer!« Er aber nahm die Gnade nicht an und blieb
nicht bei ihr. Und siehe, jetzt geht er selbst von ihr und verläßt sie
und erhebt »die Fahne der großen Idee«, um für diese auf der großen
Landstraße zu sterben! Gerade so und nicht anders mußte er das
empfinden; gerade so mußte seine Handlungsweise ihm selbst erscheinen.

Mehr als einmal habe ich mir die Frage gestellt: warum ging er denn
gerade zu Fuß fort, buchstäblich zu Fuß? Warum mietete er denn nicht
wenigstens einen Wagen, wenn er schon mit der Eisenbahn nicht fahren
wollte? Zuerst habe ich sie mir mit seiner fünfzigjährigen
Lebensunerfahrenheit beantwortet, schließlich aber mit einer
phantastischen Ideenverirrung unter dem Einfluß eines starken Gefühls
erklärt. Es schien mir, daß ihm der Gedanke an Postkutsche und Pferde
(selbst wenn sie Schellen und Glöckchen haben sollten) doch viel zu
banal und prosaisch vorkommen mußte. Dagegen war Pilgerschaft, wenn auch
mit dem Regenschirm in der Hand, viel schöner, viel liebend-rächender.
Heute freilich, nachdem alles vorüber ist, nehme ich an, daß es sich im
wesentlichen weit einfacher zugetragen hat. Er fürchtete sich wohl
einfach, Pferde zu mieten, denn erstens hätte Warwara Petrowna das
erfahren und ihn mit Gewalt zurückgehalten, er aber würde sich
selbstverständlich ergeben haben, und dann -- fahre wohl auf ewig,
große, heilige Idee! Und zweitens: wenn man schon Pferde und einen Wagen
nahm, mußte man doch wissen, wohin die Reise eigentlich gehen sollte?
Das aber war sein größtes Leid in diesem Augenblick: einen bestimmten
Ort wählen und nennen, wäre ihm geradezu unmöglich gewesen. Sobald er
sich für irgendeinen bestimmten Ort entschloß, mußte ihm sein ganzes
Unternehmen sofort in seinen eigenen Augen dumm und unmöglich erscheinen
-- das witterte er nur zu gut. Warum sollte es denn gerade diese Stadt
sein? Warum nicht eine andere? Und was soll er denn dort tun? _Ce
marchand_{[206]} suchen? Aber welchen _marchand_? Das war die
allerschrecklichste Frage! Im Grunde gab es für ihn nichts Furchtbareres
als _ce marchand_, den zu suchen er sich so Hals über Kopf vorgenommen
hatte, und den zu finden er im Grunde selbstverständlich am allermeisten
fürchtete. Nein, da war der weite Weg schon besser. Einfach drauf
loswandern, wandern, wandern und an nichts denken, so lange wie
nur möglich an nichts denken! Der weite Weg: das war etwas
Langes-Langes-Weites, dessen Ende man gar nicht sah -- ganz wie ein
Menschenleben, ganz wie ein Menschentraum ... Im weiten Wege lag eine
Idee. In der Postkutsche aber -- was war denn da für eine Idee? Da war
es zu Ende mit der Idee. Also: _Vive la grande route_{[207]} -- und dann
wie Gott will!

Nach dem plötzlichen und unerwarteten Zusammentreffen mit Lisa ging er
in tiefem Selbstvergessen weiter.

Der große Landweg führte in einer Entfernung von einer halben Werst an
Skworeschniki vorüber, und -- sonderbar -- er bemerkte es zuerst gar
nicht, daß er ihn betreten hatte. Klar zu denken oder auch nur die Dinge
mit Bewußtsein zu sehen, war für ihn in diesem Augenblick unerträglich.
Der feine Regen hörte bald auf, bald fing er wieder an; aber er bemerkte
auch den Regen nicht. Und ebensowenig bemerkte er, daß er die
Reisetasche sich über die Schulter geworfen hatte und daß ihm dadurch
das Gehen bedeutend leichter wurde. Und schließlich hatte er so ungefähr
eine ganze Werst oder anderthalb zurückgelegt, als er plötzlich stehen
blieb und sich umsah. Der alte, schwarze, von Wagenspuren durchfurchte
Weg mit seinen gepflanzten Weiden zog sich wie ein endloses Band vor ihm
hin; rechts lag die leere Fläche längst abgeernteter Getreidefelder;
links Gestrüpp und weiterhin ein Wäldchen. Und in der Ferne, weit, die
kaum wahrnehmbare, schräg weggleitende Linie des Eisenbahndammes und auf
ihm das Rauchwölkchen irgendeines Zuges, von dem aber kein Laut zu hören
war. Eine gewisse Verzagtheit überkam Stepan Trophimowitsch, aber nur
auf einen Augenblick. Er seufzte -- grundlos, stellte dann seine
Reisetasche neben eine Weide und setzte sich, um sich auszuruhen. Beim
Niedersetzen fühlte er, daß ihn fröstelte, und er wickelte sich in sein
Plaid; bei der Gelegenheit bemerkte er auch den Regen, und er spannte
den Schirm über sich auf. So saß er ziemlich lange, schob zuweilen die
Lippen hin und her und hielt krampfhaft den Schirmstiel umklammert.
Verschiedene Bilder zogen in fieberhaftem Reigen an ihm vorüber, eines
immer schnell das andere aus seinem Bewußtsein verdrängend. »_Lise,
Lise_,« dachte er, »und mit ihr _ce Maurice_ ... Sonderbare Menschen ...
Aber was war das eigentlich für ein Brand und worüber sprachen sie doch,
u--und ... und wer ist denn ermordet worden? Ich glaube, _Stasie_ hat
noch nichts gemerkt und wartet noch mit dem Kaffee auf mich ... Im
Kartenspiel? Habe ich denn Menschen im Kartenspiel verspielt? Hm! bei
uns in Rußland, zur Zeit der sogenannten Leibeigenschaft ... Ach, Gott,
aber Fedjka?«

Er fuhr auf vor Schreck und blickte sich angstvoll um.

»Wenn dieser Fedjka jetzt hier irgendwo hinter einem Strauch sitzt? Man
sagt doch, er habe hier eine ganze Räuberbande an der großen Landstraße?
O Gott, ich werde dann ... Ich werde ihm dann die ganze Wahrheit sagen,
daß ich schuldig bin ... und daß ich zehn Jahre um ihn gelitten habe, --
viel mehr, als er dort bei den Soldaten, und ... und ich gebe ihm mein
Portemonnaie. Hm! _j'ai en tout quarante roubles, il prendra les roubles
et il me tuera tout de même_.«{[208]}

Vor Angst klappte er, ich weiß nicht warum, den Schirm wieder zusammen
und legte ihn neben sich. Weit auf der Landstraße, zur Stadt hin,
bemerkte er plötzlich ein Gefährt: unruhig sah er ihm entgegen und
versuchte zu unterscheiden, was es war.

»_Grace à Dieu_,{[209]} es ist ein Wagen und -- er fährt Schritt ... das
kann nicht gefährlich sein. Diese hiesigen verhungerten Pferdchen ...
Ich habe schon immer gesagt, daß die Rasse ... Übrigens nein, das war
Pjotr Iljitsch, der im Klub immer von der Rasse gesprochen hat. Er hat
im Spiel mit mir verloren ... oder nein, die Partie blieb _remis ... et
puis_,{[210]} -- aber was ist denn da hinten ... es scheint ... ein Weib
sitzt auf dem Wagen. Ein Weib und ein Mann -- _cela commence à être
rassurant_.{[211]} Das Weib sitzt hinten und der Mann vorn, -- _c'est
très rassurant_. Hinten am Wagen ist eine Kuh an den Hörnern angebunden,
_c'est rassurant au plus haut degré_{[212]} ...«

Der Wagen kam immer näher: es war ein fester, guter Bauernwagen. Das
Weib saß auf einem vollgestopften Sack, der Mann vorn auf dem Wagenrand,
so daß seine Beine zu der Wegseite, auf der Stepan Trophimowitsch saß,
überm Rade herabbaumelten. Hinter dem Wagen trottete tatsächlich eine
rote Kuh, die mit einem Strick um die Hörner an den Wagen gebunden war.
Der Mann und das Weib starrten mit aufgerissenen Augen auf Stepan
Trophimowitsch, und dieser genau so auf sie. So zogen sie an ihm
vorüber. Doch als er sie schon gute zwanzig Schritt hatte weiterfahren
lassen, erhob er sich plötzlich eilig und lief ihnen nach, um sie
einzuholen. In der Nachbarschaft des Wagens schien es ihm
natürlicherweise bedeutend sicherer zu sein. Doch kaum hatte er sie
erreicht, da hatte er alles schon wieder vergessen und sich bereits von
neuem in seine Gedanken und Vorstellungen versenkt. Er ging einfach
nebenher und merkte gar nicht, daß er für den Mann und das Weib
mittlerweile das rätselhafteste und interessanteste Objekt abgab, das
man je auf der großen Landstraße antreffen konnte.

»Sie, was sind Sie denn, von welchen Leuten denn eigentlich, wenn es
nicht verboten is zu fragen?« fragte endlich das Weib, das nicht länger
an sich halten konnte, als Stepan Trophimowitsch in der Zerstreutheit
plötzlich auch sie ansah.

Sie war vielleicht siebenundzwanzig Jahre alt, rundlich, mit dunklen
Augenbrauen, roten Wangen und freundlich lächelnden roten Lippen,
zwischen denen gleichmäßige weiße Zähne glänzten.

»Sie ... Sie wenden sich an mich?« stotterte Stepan Trophimowitsch mit
bekümmerter Verwunderung.

»Muß wohl einer von den Kaufmännern sein,« meinte der Mann mit
Überlegenheit.

Der war ein stämmiger Bauer von ungefähr vierzig Jahren, mit einem
breiten, nicht dummen Gesicht und großem blonden Bart.

»Nein, ich bin nicht gerade von den Kaufleuten, ich ... ich ... _moi
c'est autre chose_,«{[213]} verteidigte sich, so gut es ging, Stepan
Trophimowitsch und blieb auf alle Fälle ein wenig zurück, so daß er
jetzt neben der Kuh ging.

»Muß wohl einer von den Herrschaften sein,« schätzte der Mann, als er
die nicht russischen Worte vernommen hatte, und zog die Leine, um sein
Pferd ein wenig aufzumuntern.

»Ja, ich mein' auch, das sieht man doch, denn es ist doch ganz, als ob
der Herr auf 'n Spaziergang gehen!« meinte wieder das muntere Weib.

»Das ... das fragten Sie mich?«

»Die Ausländer, die hier fahren, die gehen meistens da in die Eisenbahn,
die dort hinten auf Schienen läuft, und Ihre Stiefel sind auch gar nich
so wie hiesige ...«

»Stiefel sind militärisch,« bemerkte selbstzufrieden und bedeutsam der
Mann.

»Nein, nicht gerade, daß ich Militär ... ich ...«

»Was das doch für ein neugieriges Weibchen ist,« dachte Stepan
Trophimowitsch ärgerlich, »und wie sie mich betrachten ... _mais
enfin_{[214]} ... Mit einem Wort, es ist sonderbar, daß ich mir vor
ihnen geradezu irgendwie schuldig vorkomme, und ich bin doch durchaus
nicht schuldig vor ihnen!«

Das Weibchen neigte sich vor und flüsterte mit dem Mann.

»Wenn der Herr es nich für ungut nehmen will, so können wir Sie ja
mitnehmen, wenn es man bloß angenehm ist.«

Stepan Trophimowitsch wachte plötzlich gleichsam auf.

»Ja, ja, meine Freunde, ich bin mit dem größten Vergnügen dabei, denn
ich habe mich schon sehr müde gelaufen, nur -- wie komme ich denn dort
hinauf?«

»Wie sonderbar,« dachte er bei sich, »daß ich so lange neben dieser Kuh
gegangen bin und es mir nicht in den Kopf gekommen ist, sie schon früher
zu bitten, mich in den Wagen aufzunehmen ... Dieses >reale Leben< hat
doch etwas überaus Charakteristisches!«

Der Mann hielt aber das Pferdchen deshalb noch nicht an.

»Ja, wohin will er denn?« erkundigte er sich mit einigem Mißtrauen.

Stepan Trophimowitsch begriff nicht sofort.

»Wohl nach Hatoff, mein' ich?«

»Zu Hatoff? Nein, nicht gerade, daß ich zu Hatoff ... Und ich bin auch
nicht ganz bekannt mit ihm ... aber ich habe schon von ihm gehört ...«

»Nee, das Dorf Hatowo, 'n Dorf, neun gute Werst von hier.«

»Ein Dorf? _C'est charmant_,{[215]} ja, ja, ich glaube auch schon davon
gehört zu haben ...«

Stepan Trophimowitsch ging immer noch, denn man machte noch nicht Miene,
ihn aufzunehmen. Da kam ihm plötzlich ein genialer Einfall.

»Sie glauben vielleicht, daß ich ... Ich habe einen Paß, ich bin --
Professor, das heißt, wenn Sie wollen, Lehrer ... aber Oberlehrer. Ich
bin Oberlehrer. _Oui, c'est comme ça qu'on peut le traduire._{[216]} Ich
würde mich sehr gern in den Wagen setzen und ich werde ... ich werde
Ihnen dafür einen Liter Branntwein kaufen.«

»Ein halber Rubel von Sie, Herr, der Weg ist schwer.«

»Und sonstig würde es man gar nich für uns angehen,« meinte auch das
Weibchen.

»Ein halber Rubel? Nun gut, ein halber Rubel. _C'est encore mieux, j'ai
en tout quarante roubles, mais ..._«{[217]}

Der Mann hielt endlich das Pferdchen an und Stepan Trophimowitsch wurde
mit vereinten Kräften in den Wagen gezogen und neben das Weib auf den
Sack gesetzt. Der Wirbelsturm von Gedanken verließ ihn auch jetzt nicht.
Zuweilen fühlte er selbst, daß er irgendwie ganz besonders zerstreut war
und gar nicht an das dachte, woran er eigentlich denken sollte, und
wunderte sich darüber. Diese Erkenntnis bedrückte ihn schwer in manchen
Augenblicken und kränkte ihn sogar.

»Das ... was ist denn das da hinten eigentlich -- eine Kuh?« fragte er
plötzlich das Weib.

»Ach du mein! hat denn der Herr noch keine Kuh gesehn?« fragte das Weib
lachend zurück.

»In der Stadt gekauft,« bemerkte der Mann. »All unser Vieh ist im
vergangenen Frühjahr krepiert. Pest. In unserer Gegend sind rundherum
alle um die Ecke gegangen, kaum die Hälfte frißt noch weiter. Nichts zu
machen. Schrei, wieviel du willst, es krepiert dir doch.«

»Ja, das kommt bei uns vor in Rußland ... und überhaupt wir Russen ...
nun, ja, es kommt vor,« meinte Stepan Trophimowitsch.

»Wenn Sie nu Lehrer sind, was suchen Sie dann in Hatoff? Oder geht's
noch weiter?«

»Ich ... das heißt, nicht gerade, daß ich irgendwohin weiter wollte ...
_C'est à dire_,{[218]} ich will zu einem Kaufmann.«

»Ah, so! Dann wird's wohl nach Spassowo sein?«

»Ja, ja, nach Spassowo, nach Spassowo. Übrigens ist das einerlei.«

»Wenn Sie nu nach Spassowo zu Fuß gehen wollten, ach du mein! -- in
Ihren Stiefelchen brauchten Sie dazu eine ganze Woche!« Das Weibchen
lachte.

»Ja, ja, aber das ist ganz gleichgültig, _mes amis_,{[219]} ganz
gleichgültig,« brach Stepan Trophimowitsch ungeduldig ab.

»Schrecklich neugieriges Volk. Das Weib spricht übrigens besser als er,
und überhaupt habe ich bemerkt, daß seit der Aufhebung der
Leibeigenschaft der Stil sich ein wenig verändert hat ... Was geht es
sie übrigens an, ob ich nach Spassowo fahre oder nicht nach Spassowo?
Ich bezahle ihnen doch die Reise, was drängen sie sich da so auf?«

»Wenn man nach Spassoff will, so muß man noch mit'n Dampfschiff fahren,«
bemerkte der Mann.

»Ja, das muß er,« griff das Weib sofort auf, »denn mit Pferden längs dem
Ufer hat er dreißig Werst Umweg zu machen.«

»Vierzig,« verbesserte der Mann.

»Und morgen grad um zwei Uhr kriegen Sie den Dampfer in Ustjewo fest!«
triumphierte das Weibchen.

Stepan Trophimowitsch schwieg aber hartnäckig. Da verstummten denn
allmählich auch der Mann und das Weibchen. Der Mann zog hin und wieder
mit aufmunterndem Zuruf die Leine an und das Weibchen machte von Zeit zu
Zeit kurze Bemerkungen, auf die der Mann irgend etwas antwortete. Stepan
Trophimowitsch schlummerte allmählich ein. Er war furchtbar erstaunt,
als ihn plötzlich das Weibchen aufweckte und lachend sagte, daß sie
schon angekommen seien, und er sich auf einmal in einem Dorf vor der
Treppe eines dreifenstrigen Bauernhauses sah.

»Eingeschlafen, Herr?«

»Was ist das? Was?! Wo--o bin ich denn? Ach! Nun ... Nun, einerlei ...«
Stepan Trophimowitsch seufzte tief auf und kletterte dann aus dem Wagen.

Er sah sich traurig um; sonderbar und ganz furchtbar fremdartig erschien
ihm plötzlich das Aussehen eines Dorfes.

»Ach, den halben Rubel, den habe ich ganz vergessen!« wandte er sich mit
einer völlig unbegründeten Hast zu dem Manne.

Augenscheinlich bangte ihm schon vor der Trennung von den beiden.

»Kann man in der Stube abmachen, wenn man erst eingetreten ist,«
forderte ihn der Mann auf.

»Hier ist es gut!« versuchte das Weibchen ihn zu ermutigen.

Stepan Trophimowitsch trat auf die wackelige Holztreppe.

»Ja, wie ist denn das nur möglich,« flüsterte er in tiefer und
erschrockener Verständnislosigkeit vor sich hin und trat in das
Bauernhaus. »_Elle l'a voulu_,«{[220]} stach es ihm plötzlich ins Herz.

Und wieder vergaß er alles, vergaß selbst das, daß er ins Haus getreten
war.

Es war ein helles und ziemlich sauberes Bauernhaus mit drei Fenstern und
zwei Zimmern, doch nicht eine Herberge, sondern nur so ein Haus, in dem
vorüberfahrende Bekannte abstiegen. Stepan Trophimowitsch ging ohne die
geringste Verwirrung in die Gastecke des ersten Zimmers, vergaß zu
grüßen, setzte sich und verfiel in Gedanken. Das angenehme Gefühl der
Wärme nach dreistündiger feuchter Kälte ergoß sich ungemein wohlig über
seinen Körper. Sogar die Frostschauer, die ihm kurz und plötzlich über
den Rücken liefen, -- wie das bei allen sehr nervösen Menschen vor einer
Influenza zu sein pflegt, wenn sie plötzlich aus der Kälte in die Wärme
kommen, waren ihm mit einem Male ganz eigentümlich angenehm. Er erhob
den Kopf, und siehe da -- der leckere Duft von heißen Pfannkuchen, die
die Bäuerin im Ofen briet, reizte seinen Geruchssinn. Mit einem
kindlichen Lächeln auf den Lippen erhob er sich und trat vorsichtig zum
Weibe.

»Was ist denn das? Das sind doch Pfannkuchen, nicht wahr?« fragte er
sie. »_Mais c'est charmant!_«{[221]}

»Wollen der Herr vielleicht welche?« bot ihm das Weib sogleich höflich
an.

»Natürlich will ich, selbstverständlich will ich, und ... ich würde Sie
auch noch um etwas Tee bitten.«

»Ach, das Samowarchen aufsetzen? Ach, aber gern, gnädiger Herr!«

Und auf einem großen Teller mit dickem blauen Muster erschienen sogleich
die Pfannkuchen, wie nur die Bauern allein sie zu bereiten verstehen,
halb aus Weizenmehl, ganz dünn und mit heißer, frischer Butter
übergossen -- die herrlichsten Pfannkuchen der Welt. Stepan
Trophimowitsch kostete mit Hochgenuß.

»Wie schön sie sind, die Pfannkuchen, und wieviel Butter! Und wenn man
jetzt noch _un doigt d'eau de vie_{[222]} ...«

»Will der Herr nicht vielleicht ein Schnäpschen dazu?«

»Das ist's, das ist's ja gerade, ein wenig nur, _un tout petit
rien_{[223]} ...«

»Für fünf Kopeken?«

»Für fünf -- für fünf -- für fünf, _un tout petit rien_,« bestätigte
Stepan Trophimowitsch kopfnickend mit seligem Lächeln.

Bittet man einen einfachen Russen, etwas für einen zu tun, so wird er
gern zu allem bereit sein, was in seinen Kräften steht; bittet man ihn
aber, ein Schnäpschen für einen zu besorgen, so verwandelt sich die
freundliche Bereitwilligkeit sofort in einen geschäftigen, freudigen
Diensteifer, ja fast in verwandtschaftliche Fürsorge. Und wenn auch
derjenige, der das Schnäpschen besorgt, genau weiß, daß man den Schnaps
ganz allein trinken wird und er nicht einen Tropfen davon erhält, so
scheint er doch gleichsam einen Teil des Genusses, den man beim Trinken
haben wird, im voraus mitzuempfinden ... In kaum drei Minuten (die
Schenke war nur ein paar Schritte vom Hause entfernt) stand vor Stepan
Trophimowitsch eine Flasche und ein großes grünliches Schnapsglas.

»Und das alles ist für mich?« fragte er höchst verwundert. »Ich habe
immer Schnaps in meinem Weinschrank gehabt, aber ich habe nie gewußt,
daß man soviel für nur fünf Kopeken bekommt.«

Er goß das Glas bis zum Rande voll, erhob sich und schritt mit einer
gewissen Feierlichkeit durch die ganze Stube zu der anderen Ecke, wo
seine Reisegefährtin saß, -- das nette Weibchen, das ihm unterwegs mit
den vielen Fragen so lästig geworden war. Das Weibchen wurde verlegen
und sträubte sich, zu trinken, doch nachdem sie alles gesagt hatte, was
der Anstand in solchen Fällen verlangt, erhob sie sich, nahm das Glas
und trank ehrerbietig in drei Schlückchen (wie Frauen zu trinken
pflegen) den Branntwein aus, worauf sie, das Gesicht zu einem
schrecklichen Schmerzensausdruck ob des scharfen Weines verziehend, das
Glas mit einer höflichen Verbeugung Stepan Trophimowitsch zurückreichte.
Er erwiderte die Verbeugung würdevoll und kehrte mit geradezu stolzer
Miene an seinen Tisch zurück.

Es war das alles von ihm aus auf Grund einer plötzlichen Eingebung
geschehen: noch eine Sekunde vorher hatte er nicht gewußt, daß er
hingehen und dem Weibchen das Glas Branntwein anbieten werde.

»Ich verstehe es tadellos, tadellos, mit dem Volk umzugehen, und das
habe ich ihnen immer gesagt,« dachte er selbstzufrieden, als er sich den
Rest des Branntweins eingoß, der ihn, wenn auch kein volles Glas
übriggeblieben war, doch belebend erwärmte und ihm sogar ein wenig zu
Kopf stieg.

»_Je suis malade tout à fait, mais ce n'est pas trop mauvais d'être
malade._«{[224]}

»Wünschen Sie nicht eines davon zu kaufen?« ertönte plötzlich eine leise
Frauenstimme neben ihm.

Er sah auf und erblickte zu seiner Verwunderung eine Dame vor sich --
_une dame et elle en avait l'air_{[225]} -- eine Dame von mehr als
dreißig Jahren, die sehr bescheiden aussah, städtisch gekleidet war und
ein großes graues Tuch um die Schultern trug. In ihrem Gesicht lag etwas
sehr Angenehmes, das Stepan Trophimowitsch sofort ungemein gefiel. Sie
war erst vor ein paar Minuten ins Haus zurückgekehrt. Ihre Sachen lagen
noch auf der Bank neben Stepan Trophimowitsch: unter anderem eine
Ledertasche, die er -- dessen erinnerte er sich plötzlich -- bei seinem
Eintritt neugierig betrachtet hatte, und ein nicht sehr großer Sack aus
Wachstuch. Aus eben diesem Sack hatte sie jetzt zwei hübsch gebundene
kleine Bücher genommen, die sie Stepan Trophimowitsch hinhielt.

»_Eh ... mais je crois que c'est l'Evangile ..._{[226]} Aber mit dem
größten Vergnügen ... Ah, ich verstehe ... _Vous êtes ce qu'on appelle
une_{[227]} Bibelverkäuferin? Ich habe, glaub ich, vor nicht allzu
langer Zeit so etwas gelesen ... Fünfzig Kopeken?«

»Fünfunddreißig Kopeken,« antwortete die Bibelfrau.

»Mit dem größten Vergnügen. _Je n'ai rien contre l'Evangile, et
..._{[228]} Ich habe es schon lange wieder einmal lesen wollen ...«

Und im selben Augenblick kam es ihm zu Bewußtsein, daß er wohl seit
dreißig Jahren keine Bibel mehr in der Hand gehabt hatte und sich
überhaupt nur noch einiger Stellen erinnerte, die er vor ungefähr sieben
Jahren in Renans »_Vie de Jésus_«{[229]} gelesen. Da er kein Kleingeld
hatte, zog er seine vier Zehnrubelscheine hervor -- alles, was er besaß.
Die Wirtin erbot sich, ihm einen Schein auszuwechseln, und da erst
bemerkte er, daß sich inzwischen ziemlich viel Volk im Zimmer versammelt
hatte, das ihn wahrscheinlich schon lange beobachtete, jedenfalls aber
über ihn sprach. Doch auch über den Brand wurde gesprochen, von dem der
Besitzer des Wagens und der roten Kuh alles mögliche berichtete, da er
in der Stadt gewesen war und mehr wußte, als die anderen. Man sprach
auch von den Spigulinschen und darüber, daß man »absichtlich angezündet«
hätte.

»Mit mir hat er kein Wort über den Brand gesprochen, als er mich
herfuhr, sondern nur über anderes,« dachte Stepan Trophimowitsch
flüchtig.

»Väterchen, Stepan Trophimowitsch, gnädiger Herr! Sind Sie es denn
wirklich, den ich sehe? Ach Gott, das hätte ich aber wirklich schon gar
nicht erwartet! ... Haben mich wohl nicht erkannt?« rief plötzlich ein
ältlicher Mann, der mit seinem glattrasierten Gesicht wie ein alter,
altmodischer Hofsknecht aussah und einen langen Mantel mit
hochgeschlagenem Kragen trug. Stepan Trophimowitsch erschrak, als er
seinen Namen rufen hörte.

»Verzeihen Sie,« murmelte er, »aber ich kann mich Ihrer nicht mehr ganz
deutlich erinnern ...«

»Haben mich vergessen, ach ja! Ich bin doch Anissim, Anissim Iwanoff.
Ich diente beim seligen Herrn Gaganoff, und habe Euch, gnädiger Herr,
mehr wie hundertmal mit Warwara Petrowna bei der seligen Awdotja
Ssergejewna gesehn. Awdotja Ssergejewna aber hat mich mit Bücherchen
nach Skworeschniki geschickt, ja, und zweimal habe ich Euch, gnädiger
Herr, auch von ihr Petersburger Bonbons, oder wie sie da heißen, die
Konfektchen, gebracht ...«

»Ach doch, ich erinnere mich, Anissim,« sagte Stepan Trophimowitsch
lächelnd. »Und du lebst jetzt hier?«

»Ich lebe bei Spassoff, im W--schen Kloster, in der Ansiedlung, bei
Marfa Ssergejewna, bei der Schwester von unserer seligen Awdotja
Ssergejewna, vielleicht erinnert sich der gnädige Herr noch, die sich
das Bein brachen, als sie unterwegs aus dem Wagen sprangen -- fuhren zum
Ball. Jetzt leben sie allein beim Kloster und ich bin dortselbst bei
ihr. Heute aber wollte ich, wie der Herr sehen, ins Gouvernement, um die
Meinigen mal zu besuchen ...«

»Nun ja, nun ja.«

»Ach, hab ich mich was gefreut, als ich den gnädigen Herrn sah, waren
immer so gnädig zu mir,« sagte Anissim mit gerührtem Lächeln. »Aber
wohin fährt denn der gnädige Herr, und noch so ganz allein? ... Sind
doch sonstig, glaub ich, nie so allein ausgefahren?«

Stepan Trophimowitsch sah ihn erschrocken an.

»Fährt der gnädige Herr nicht vielleicht gerade zu uns, nach Spassoff?«

»Ja ... ja, ich fahre nach Spassoff. _Il me semble que tout le monde va
à Spassoff ..._«{[230]}

»Ach, und vielleicht gar zu Fjodor Matwejewitsch selber? Ach, wird der
sich aber freuen! Hat doch immer den gnädigen Herrn so geliebt und
spricht auch jetzt oft vom gnädigen Herrn ...«

»Ja, ja, auch zu Fjodor Matwejewitsch.«

»Das muß wohl sein. Das muß wohl sein. Hier die Männer, die wundern
sich, sagen, daß man den gnädigen Herrn zu Fuß unterwegs ganz allein
getroffen hat. Aber was! Dummes Volk bleibt doch immer dummes Volk!«

»Ich ... Ich ... Weißt du, Anissim, ich habe gewettet, wie die Engländer
das zuweilen machen, daß ich zu Fuß so und so viele Werst gehen könne,
und da bin ich nun ...«

Schweiß trat ihm an den Schläfen und auf der Stirn hervor.

»Muß wohl sein, muß wohl sein ...« meinte ohrenspitzend Anissim und
hörte mit wahrhaft unbarmherziger Neugier zu. Aber Stepan Trophimowitsch
hielt dem nicht stand. Er verwirrte sich so, daß er schon aufstehen
wollte, um aus dem Hause zu laufen. Da wurde aber der Samowar gebracht,
und im selben Augenblick kehrte auch die Bibelfrau zurück. Wie ein
Mensch, der sich an seinen Retter wendet, so bat Stepan Trophimowitsch
jetzt schnell die Bibelfrau, mit ihm Tee zu trinken. Da trat Anissim
zurück und ging bald darauf aus dem Zimmer.

Unter dem Volk hatte sich tatsächlich schon die Frage erhoben: Was ist
das für ein Mensch? War zu Fuß auf der Landstraße, sagt, er sei Lehrer,
gekleidet ist er wie ein Ausländer und sprechen tut er wie ein kleines
Kind, und mitunter antwortet er ganz so, als ob er fortgelaufen sei, und
dabei hat er noch Geld! Kurz, es dauerte nicht lange und man begann zu
erwägen, ob man nicht die Polizei benachrichtigen solle: »da es bei
alledem in der Stadt auch nicht ganz ruhig ist.« Da kam Anissim gerade
zur rechten Zeit in den Flur und beruhigte schnell die Gemüter. Er
verkündete dem ganzen Publikum, daß Stepan Trophimowitsch nicht so was,
wie ein Lehrer, sondern »selber ein großer Gelehrter« sei, der sich mit
allen Wissenschaften beschäftigt, und früher sei er selber hiesiger
Gutsbesitzer gewesen, lebe nun aber schon seit zweiundzwanzig Jahren im
Hause der Generalin Stawrogina an Stelle des seligen Herrn, und in der
ganzen Stadt sei er hoch angesehen und alle Menschen achteten ihn sehr.
Im Adelsklub habe er oft an einem einzigen Abend an die tausend Rubel
verspielt und dem Titel nach sei er »Rat«, was ebensoviel besagen wolle
wie ein Oberstleutnant, also nur etwas weniger als ein voller Oberst.
Und was das Geld anbeträfe, so könne man das, weil es doch die Generalin
Stawrogin sei, gar nicht abzählen, usw., usw.

»_Mais c'est une dame et très comme il faut_,«{[231]} dachte inzwischen
Stepan Trophimowitsch und seufzte wie erlöst nach dem Anissimschen
Angriff auf. Mit angenehmer Neugier betrachtete er seine neue Nachbarin,
die übrigens den Tee von der Untertasse trank und den Zucker vom
Stückchen dazu biß. »_Ce petit morceau de sucre ce n'est rien
..._{[232]} Es ist etwas Edles und Unabhängiges und gleichzeitig --
Stilles in ihr. _Le comme il faut tout pur_,{[233]} nur ein wenig wie
von einer anderen Art.«

Bald erfuhr er von ihr, daß sie Ssofja Matwejewna Ulitina hieß und
eigentlich in K. wohnte, wo sie eine verwitwete Schwester unter den
Bäuerinnen hatte. Auch sie war Witwe, da ihr Mann bei Sebastopol
gefallen war.

»Aber Sie sind noch so jung, _vous n'avez pas trente ans_.«{[234]}

»Vierunddreißig,« sagte Ssofja Matwejewna lächelnd.

»Wie, Sie sprechen auch französisch?«

»Ein wenig nur: ich habe nachher in einem adligen Hause vier Jahre
gelebt und da habe ich von den Kindern etwas gelernt.«

Sie erzählte ferner, daß sie nach dem Tode ihres Mannes zunächst in
Sebastopol als barmherzige Schwester geblieben sei, darauf habe sie
verschiedene Stellen gehabt und jetzt gehe sie und verkaufe Bibeln.

»_Mais, mon Dieu_,{[235]} waren Sie es vielleicht, mit der eine
sonderbare, sogar sehr sonderbare Geschichte bei uns passierte?«

Sie wurde rot: sie war es tatsächlich gewesen.

»_Ces vauriens, ces malheureux!_«{[236]} ... begann Stepan
Trophimowitsch mit einer Stimme, die vor Unwillen bebte: diese
widerliche Erinnerung preßte ihm qualvoll das Herz zusammen und er
verlor sich darob wieder in Gedanken.

»Ach, sie ist schon fortgegangen,« dachte er erstaunt, als er plötzlich
bemerkte, daß sie nicht mehr neben ihm saß. »Sie geht ziemlich oft fort
und scheint ja mit irgend etwas sehr beschäftigt zu sein; ich glaube,
sie ist sogar aufgeregt ... _Bah, je deviens égoïste!_«{[237]}

Als er nach einiger Zeit aufsah, erblickte er wieder Anissim, diesmal
aber mit einer geradezu bedrohlichen Gefolgschaft: das halbe Zimmer war
von Bauern eingenommen, die alle Stepan Trophimowitsch nach Spassoff
fahren wollten. Außer Anissim standen noch da: der Besitzer des Hauses,
ferner der Mann, der ihn hergefahren hatte, sodann mehrere andere Männer
-- wie es sich herausstellte, lauter Fuhrleute -- und ein kleiner
halbbetrunkener Mensch, der am allermeisten sprach, wie ein Tagelöhner
gekleidet war, doch mit seinem rasierten Gesicht wie ein
heruntergekommener Kleinbürger aussah. Und alle die zankten sich
seinetwegen, zankten sich um den armen Stepan Trophimowitsch! Der
Besitzer der Kuh versicherte in einem fort, daß im Wagen längs dem Ufer
mindestens »vierzig Werst Umweg« zu machen seien, und daß man unbedingt
mit dem Dampfer fahren müsse. Der halbbetrunkene Kleinbürger dagegen und
der Hauswirt widersprachen eifrig:

»Darum daß wenn du, mein Bruderherz, Seiner Hochwohlgeboren auch sagst,
daß es über'n See wohl näher is, so is das wie's is, aber der Dampfer
kommt doch nich!«

»Wird kommen, er wird sicher kommen, noch 'ne ganze Woche wird er
kommen!« beteuerte Anissim aufgeregt.

»Schön, er kommt, das is wie's is, aber er kommt doch nie nich akkurat,
und jetzt is doch die Zeit schon spät, und da kommt's vor, daß man ihn
in Ustjewo runde drei Tage nich sieht!« schimpfte der Halbbetrunkene.

»Morgen wird er sicher kommen, morgen um zwei Uhr, und in Spassoff kommt
dann der gnädige Herr gerade noch zum Abend an!« rief Anissim.

»_Mais qu'est-ce qu'il a cet homme?_«{[238]} fragte Stepan
Trophimowitsch, der nicht wußte, um was es sich handelte, sich schon das
Schlimmste dachte und zitternd sein Schicksal erwartete.

Da drängten sich schließlich die Fuhrleute immer näher und boten sich
an: bis Ustjewo verlangte jeder von ihnen drei Rubel. Die anderen
schrien, drei Rubel seien wirklich nicht zu viel, da man den ganzen
Sommer hindurch von hier bis Ustjewo für diesen Preis gefahren habe.

»Aber ... hier ist es ja auch gut ... Ich will gar nicht fort,«
stammelte Stepan Trophimowitsch abwehrend.

»Hier ist's gut, gnädiger Herr, das ist schon wahr, aber bei uns in
Spassoff ist es noch weit besser, und was wird Fjodor Matwejewitsch über
den Besuch sich freuen!« ...

»_Mon Dieu, mes amis_,{[239]} das kommt mir alles so unerwartet ...«

Endlich kehrte zum Glück auch Ssofja Matwejewna zurück. Sie setzte sich
aber traurig und wie zerschlagen auf die Bank.

»So komme ich denn schon nicht mehr nach Spassoff!« sagte sie
niedergeschlagen zur Wirtin.

»Wie, auch Sie wollen nach Spassoff?« fragte Stepan Trophimowitsch
plötzlich belebt.

Es stellte sich heraus, daß eine Gutsbesitzerin, Nadeschda Jegorowna
Swetlizyna, der Bibelfrau gestern gesagt hatte, sie solle sie in Hatoff
erwarten, da sie dort durchfahren und sie dann nach Spassoff mitnehmen
werde. Nun aber traf diese Nadeschda Jegorowna noch immer nicht ein.

»Was soll ich jetzt tun?« fragte Ssofja Matwejewna ängstlich.

»_Mais, ma chère et nouvelle amie_,{[240]} ich kann Sie doch
gleichfalls, ganz wie diese Gutsbesitzerin, mitnehmen! ... in dieses,
wie heißt es doch, in dieses Dorf, wohin ich fahre und den Fuhrmann
schon angenommen habe! -- nun, und morgen sind wir dann beide in
Spassoff ...«

»Ja, fahren Sie denn auch nach Spassoff?«

»_Mais que faire, et je suis enchanté!_{[241]} Und ich würde Sie mit dem
größten Vergnügen hinbringen. Sehen Sie, die wollen es doch alle, daß
ich hinfahre, und ich habe ja auch bereits einen ... Wen von euch habe
ich denn nun engagiert?« fragte Stepan Trophimowitsch lebhaft die
Bauern, plötzlich sehr damit einverstanden, nach Spassoff zu fahren.

Eine Viertelstunde später saßen sie bereits in dem verdeckten Wagen: er
ungemein angeregt und vollkommen zufrieden, sie mit ihrem Wachstuchsack
und einem dankbaren Lächeln neben ihm. Anissim lief rund um den Wagen
und bemühte sich wie für Geld.

»Glückliche Reise, gnädiger Herr, habe mich so gefreut über das
Wiedersehen!«

»Adieu, adieu, leb wohl, mein Freund, leb wohl, adieu.«

»Der gnädige Herr wird nun auch Fjodor Matwejewitsch wiedersehen ...«

»Ja, mein Freund, ja ... auch Fjodor Pawlowitsch ... nur Adieu.«


                                  II.

»Sehen Sie, mein Freund -- Sie erlauben mir doch, mich Ihren Freund zu
nennen, _n'est-ce pas_?«{[242]} begann Stepan Trophimowitsch eilig,
gleich nachdem sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte. »Sehen Sie, ich
... _J'aime le peuple, c'est indispensable, mais il me semble que je ne
l'avais jamais vu de près. Stasie ... cela va sans dire qu'elle est
aussi du peuple ... mais le vrai peuple_,{[243]} das heißt, das
wirkliche, das auf der weiten Landstraße ist, das, glaube ich, bekümmert
sich um weiter nichts in der Welt, als um dieses eine: wohin ich
eigentlich fahre ... Doch übergehen wir die Kränkungen. Ich glaube, ich
spreche heute etwas durcheinander, aber das kommt wohl nur, denke ich,
von der Eile ...«

»Ich fürchte, Sie sind nicht ganz wohl,« bemerkte Ssofja Matwejewna, die
ihn prüfend, wenn auch ehrerbietig ansah.

»Nein, nein, man muß sich nur ein wenig fester einwickeln, und überhaupt
... der Wind ist etwas frisch, etwas zu frisch, aber ... vergessen wir
das. Ja, die Hauptsache ... ich wollte eigentlich gar nicht das sagen.
_Chère et incomparable amie_,{[244]} ich glaube, daß ich fast glücklich
bin, und schuld daran -- sind Sie! Mir tut das Glück nicht gut, denn
dann vergebe ich gewöhnlich sofort allen meinen Feinden ...«

»Das ist aber doch sehr gut.«

»Nicht immer, _chère innocente. L'Evangile ... Voyez-vous, désormais
nous le prêcherons ensemble_{[245]} und ich werde mit Freuden Ihre
netten Büchlein da verkaufen. Ja, ich fühle, daß das sogar eine Idee
ist, _quelque chose de très nouveau dans ce genre_.{[246]} Das Volk ist
religiös, _c'est admis_,{[247]} aber es kennt noch nicht das Evangelium.
Ich werde es ihm erklären ... In mündlicher Auslegung kann man leichter
die Fehler dieses bemerkenswerten Buches korrigieren ... Dieses Buch ...
-- ich bin bereit, mich mit außerordentlicher Hochachtung zu diesem
Buche zu verhalten. Ich werde auch auf der großen Landstraße nützlich
sein können. Ich bin immer nützlich gewesen, ich habe _ihnen_ das immer
gesagt _et à cette chère ingrate aussi_{[248]} ... Oh, vergeben wir,
vergeben wir, lassen Sie uns vor allem vergeben, und allen allen
vergeben und immer vergeben. Und hoffen wir, daß man auch uns vergeben
wird. Ja, denn alle, jeder einzelne ist vor dem anderen schuldig. Alle
sind schuldig! ...«

»Das haben Sie, glaub ich, sehr schön gesagt.«

»Ja, ja ... Ich fühle, daß ich sehr gut spreche. Ich werde sehr schön zu
ihnen reden, aber ... aber ... was wollte ich denn eigentlich sagen? Ich
komme immer ab und vergesse ... Ja -- würden Sie mir erlauben, mich
nicht mehr von Ihnen zu trennen? Ich fühle, daß Ihr Blick und ... ich
wundere mich sogar über Ihre Art und Weise. Sie sind gütig, Sie sprechen
nur nicht ganz _comme il faut_{[113]} und gießen den Tee in die
Untertasse ... und dazu dieses schreckliche Zuckerstückchen ... aber
sonst ... -- in Ihnen ist etwas Wunderbares, und ich sehe in Ihren Zügen
... Oh, erröten Sie nicht und fürchten Sie mich nicht als Mann! _Chère
et incomparable, pour moi une femme c'est tout!_{[249]} Ich kann nicht,
kann überhaupt nicht anders leben, als neben einer Frau, aber eben nur
neben ihr ... Das heißt, ich meine, ich wollte sagen ... Oh, ich glaube,
ich habe mich da entsetzlich versprochen ... Nur kann ich mich nicht
mehr darauf besinnen, was ich eigentlich sagen wollte. Oh, selig ist
der, dem Gott immer eine Frau schickt und ... ich, ich glaube sogar, daß
ich in einer gewissen Begeisterung bin. Auch in der großen Landstraße
liegt eine höhere Idee! Ja, das -- das war es ja, was ich von dem
Gedanken sagen wollte! -- jetzt ist es mir wieder eingefallen, vorhin
hatte ich es ganz vergessen. Aber warum hat man uns fortgeschickt, in
diesen Wagen gedrängt? Dort war es doch sehr schön, hier aber -- _cela
devient trop froid. A propos, j'ai en tout quarante roubles et voilà cet
argent_,{[250]} nehmen Sie es, nehmen Sie es, ich verstehe nichts davon
... ich verliere es, man wird es mir stehlen, und ... Ich glaube, ich
würde ganz gern ein wenig schlafen ... es dreht sich da irgend etwas in
meinem Kopf. Ja, so, es dreht sich, dreht sich, dreht sich. Oh, wie Sie
gut sind, womit decken Sie mich denn zu?«

»Sie haben bestimmt eine gehörige Erkältung weg! Ich habe Sie mit meiner
Decke zugedeckt, aber das Geld würde ich ...«

»Oh, um Gottes willen, _n'en parlons plus, parce que cela me fait
mal_,{[251]} oh, wie gut Sie sind!«

Er hörte seltsam plötzlich auf zu sprechen und verfiel ungewöhnlich
schnell in fieberhaften Schlaf.

Der Landweg, auf dem sie siebzehn Werst bis Ustjewo zurückzulegen
hatten, war recht uneben und der Wagen auch nicht gerade sehr elastisch.
Stepan Trophimowitsch wachte von den Stößen oft auf, erhob sich dann
schnell von dem kleinen Kissen, das Ssofja Matwejewna ihm unter den Kopf
geschoben hatte, erfaßte erschrocken ihre Hand und fragte ängstlich:
»Sind Sie da?« ganz, als ob er gefürchtet hatte, sie könnte weggehen und
ihn allein lassen. Einmal sagte er, daß er im Traum einen offenen Rachen
mit scharfen Zähnen gesehen habe, und daß ihm das sehr unangenehm
gewesen sei. Ssofja Matwejewna machte sich schon nicht wenig Sorgen um
ihn.

Der Fuhrmann brachte sie zu einem großen Bauernhause, das vier Fenster
zur Straße und auf dem Hof noch verschiedene Wohngebäude hatte. Stepan
Trophimowitsch, der gerade in dem Augenblick der Ankunft aufwachte,
stieg schnell aus und ging sofort ins zweite, das größte und beste
Zimmer. Sein verschlafenes Gesicht nahm einen ungemein geschäftigen
Ausdruck an. Er erklärte der Wirtin, einem großen, vierzigjährigen, sehr
brünetten Weibe, das auf der Oberlippe fast einen Schnurrbart hatte, er
wünsche das ganze Zimmer für sich allein und »daß Sie mir keinen
Menschen hier herein lassen, schließen Sie die Türen zu, _parce que nous
avons à parler. Oui, j'ai beaucoup à vous dire, chère amie._{[252]} --
Ich bezahle Ihnen alles, ich bezahle, bezahle!« rief er, der Wirtin
erregt abwinkend.

Er sprach rasch, aber doch wie mit schwerer Zunge.

Die Bäuerin hörte ihn unfreundlich an, und zum Zeichen des
Einverständnisses schwieg sie nur; darin lag aber schon gleichsam etwas
Drohendes. Stepan Trophimowitsch bemerkte davon natürlich nichts und
verlangte eilig -- er beeilte sich entsetzlich --, sie solle nur schnell
aus dem Zimmer gehen und ihm sofort das Essen bringen -- »und keine Zeit
vertrödeln!« fügte er hinzu.

Da aber hielt die Bäuerin mit dem Schnurrbart nicht mehr an sich:

»Herr, das ist hier kein Gasthaus, wir haben kein Essen für die
Reisenden. Krebse kann ich Ihnen noch kochen oder einen Samowar
aufstellen, aber weiter auch nichts. Frischen Fisch wird's erst morgen
geben.«

Doch Stepan Trophimowitsch ertrug keinen Einwand und rief fuchtelnd in
zorniger Ungeduld: »Bezahle, bezahle alles, nur schneller, schneller!«
Endlich kamen sie dahin überein, daß eine Fischsuppe gekocht und ein
Huhn gebraten werden sollte. Die Bäuerin sagte zwar, daß ein Huhn im
ganzen Dorf nicht zu haben sei, einstweilen aber wollte sie doch
versuchen, eines aufzutreiben, wenn sie es auch mit einer Miene
versprach, als ob sie damit eine ungeheure Gefälligkeit erweise.

Kaum war sie aus dem Zimmer, als Stepan Trophimowitsch sich schnell auf
den Diwan setzte und Ssofja Matwejewna zwang, sich neben ihn zu setzen.
Es war, für eine Bauernstube, ein recht eigentümlich möbliertes großes
Zimmer. Außer einem gepolsterten Sofa standen noch zwei alte Lehnstühle
darin, und an den Wänden, die mit alten gelben, zerrissenen Tapeten
beklebt waren, hingen schauderhafte mythologische Öldruckbilder.
Nur eine Ecke war noch Bauernstube: mit einer langen Reihe
von Heiligenbildern, teils auf Holz, teils in dreiteiligen
Metallschränkchen. In einer anderen Ecke stand hinter einer niedrigen
Scheidewand ein Bett. Kurz, das Zimmer machte mit seiner halb
städtischen, halb bäurischen Einrichtung einen unschönen Eindruck. Doch
Stepan Trophimowitsch sah das alles überhaupt nicht, ja er warf
überhaupt nicht einmal einen Blick durch das Fenster auf den großen See,
der kaum dreißig Schritte vom Hause begann.

»Endlich sind wir allein! Wir werden niemanden hereinlassen! Ich will
Ihnen alles, alles, von Anfang an erzählen.«

Doch Ssofja Matwejewna fiel ihm in nicht geringer Unruhe ins Wort:

»Wissen Sie auch, Stepan Trophimowitsch ...«

»_Comment, vous savez déjà mon nom?_«{[253]} fragte er, freudig lächelnd
...

»Ich hörte vorhin, wie Anissim Iwanowitsch Sie anredete, als Sie mit ihm
sprachen. Aber ich möchte es wagen, Sie meinerseits auf etwas aufmerksam
zu machen ...«

Und sie flüsterte ihm, ängstlich nach der geschlossenen Tür blickend,
zu, daß es hier im Dorf ein wahrer Jammer sei: die Bauern seien zwar von
Hause aus Fischer, lebten aber mehr davon, daß sie im Sommer von den
Reisenden, die hier auf das Dampfschiff warteten, so viel Geld
verlangten, wie ihnen gerade einfiel. Das Dorf liege nicht an der großen
Landstraße, sondern abseits, und man komme nur deswegen hierher, weil
der Dampfer hier anlege, wenn aber nur etwas schlechteres Wetter sei, so
komme er überhaupt nicht, und dann sammelten sich hier sehr viele
Reisende an: jetzt zum Beispiel sei schon das ganze Dorf besetzt, und
darauf warteten die Hauswirte nur, denn dann könnten sie für alles das
Dreifache verlangen, der Mann aber dieser Bäuerin mit dem Schnurrbart
sei sehr stolz und hochmütig, denn er sei der reichste Mann im Dorf, ein
einziges seiner Netze koste allein schon an die tausend Rubel usw. usw.

Stepan Trophimowitsch blickte geradezu vorwurfsvoll in das ungewöhnlich
belebte Gesicht Ssofja Matwejewnas und machte mehrmals den Versuch, sie
zu unterbrechen. Sie aber ließ sich nicht aufhalten und bekräftigte das
Gesagte noch mit der Erzählung ihrer Erfahrungen, die sie im letzten
Sommer auf der Durchreise mit einer adligen Dame hier gemacht hatte, --
Erfahrungen, an die auch nur zurückzudenken für sie schon furchtbar war.

»Und nun haben Sie, Stepan Trophimowitsch, dieses Zimmer für sich ganz
allein verlangt ... Ich sage es ja nur, um zu warnen ... Dort im anderen
Zimmer sind schon viele Reisende, ein älterer Mann und ein jüngerer Mann
und noch eine Frau mit Kindern, und bis morgen zwei Uhr wird das ganze
Haus bis zum Dach voll sein, da das Dampfschiff morgen bestimmt kommen
wird, weil es jetzt schon zwei Tage nicht mehr gekommen ist. Und so
werden denn die Leute für das besondere Zimmer und dafür, daß Sie das
Essen bestellt haben, so viel von Ihnen verlangen, daß es selbst in den
Hauptstädten unerhört wäre ...«

Er aber litt, litt inzwischen aufrichtig.

»_Assez, mon enfant_, ich flehe Sie an, _nous avons notre argent et
après -- et après le bon Dieu_.{[254]} Es wundert mich nur, daß Sie mit
Ihren hohen Auffassungen ... _Assez, assez, vous me tourmentez_,«{[255]}
rief er nervös. »Vor uns liegt unsere ganze Zukunft, und Sie ... Sie
wollen mir Angst machen vor der Zukunft ...«

Und er begann nun, ihr seine Lebensgeschichte zu erzählen, wobei er zu
Anfang dermaßen schnell sprach, daß es schwer war, zu folgen. Die
Geschichte war sehr lang. Man brachte schon die Fischsuppe, brachte das
Huhn, brachte endlich auch den Samowar, er aber sprach immer noch ... Es
kam zwar alles ein wenig seltsam, wie eine Fieberphantasie, heraus, aber
-- er war ja auch tatsächlich krank. Das war eine plötzliche krampfhafte
Anspannung seiner Verstandeskräfte, die in kurzer Zeit -- das sah Ssofja
Matwejewna schon bekümmert voraus -- unfehlbar ins Gegenteil umschlagen
mußte.

Er begann mit seiner Kindheit, also mit der Zeit, als er noch »mit
frischer Brust über grüne Wiesen lief«. Erst nach einer Stunde hatte er
sich bis zu seinen beiden Ehen durchgearbeitet und dann begann die
Erzählung des Berliner Lebens. Ich wage aber nicht, darüber zu spotten.
Es lag für ihn tatsächlich etwas »Höheres« darin, oder um einen Ausdruck
unserer Zeit zu gebrauchen: eine Art Kampf ums Dasein. Er sah jetzt
diejenige Frau vor sich, die er schon für sein zukünftiges Leben erwählt
hatte, und er beeilte sich, sie in seine ganze Vergangenheit
einzuweihen. Seine Genialität sollte für sie kein Geheimnis mehr bleiben
... Es ist wahrscheinlich, daß er Ssofja Matwejewnas Wert und Bedeutung
vor sich selbst stark vergrößerte, aber das hatte weiter nichts auf
sich, denn sie war jetzt schon seine Erwählte. Er konnte nun einmal
nicht ohne Freundin auskommen auf der Welt ... Was machte es ihm da aus,
daß er ihrem Gesicht ansah, wie wenig sie ihn verstand ...

»_Ce n'est rien, nous attendrons_,{[256]} und vorläufig wird sie mit dem
Vorgefühl begreifen können ...,« meinte er bei sich.

»Mein Freund, ich brauche ja von Ihnen einzig und allein Ihr Herz!« rief
er ihr, seine Erzählung unterbrechend, begeistert zu, »und jetzt dieser
liebe, berückende Blick, mit dem Sie mir in die Augen sehen! Oh, erröten
Sie nicht! Ich habe Ihnen doch schon gesagt ...«

Am schleierhaftesten aber erschien die Geschichte der armen Ssofja
Matwejewna, als er eine ordentliche Rede über das Thema hielt: »wie ihn
niemand je hat verstehen können« und wie »bei uns in Rußland die Talente
umkommen«. »Das war alles viel zu klug für mich,« sagte sie uns später
melancholisch. Sie hörte ihm dabei mit sichtlichem Mitgefühl zu, wobei
sie die Augen nur ein wenig weiter aufriß. Als sich aber Stepan
Trophimowitsch auf den Humor warf und die geistreichsten Witzchen über
unsere »Führenden und Herrschenden« lossprühen ließ, da verließ sie
alles und jedes Verständnis und nur aus Mitgefühl mit dem Kranken
versuchte sie noch zuweilen ein Lächeln zustande zu bringen, um
wenigstens ein wenig auf seine Heiterkeit einzugehen, doch es gelang ihr
so schlecht, daß Stepan Trophimowitsch schließlich selber ganz verwirrt
davon abließ und mit noch größerer Wut und Bitterkeit auf die
»Nihilisten« und »neuen Menschen« überging. Da aber wurde es ihr angst
und bange zumut, und sie atmete erst wieder auf -- leider nur viel zu
früh --, als der eigentliche Roman begann. Eine Frau bleibt immer Frau
und wenn sie auch Nonne ist: so lächelte sie denn, schüttelte
mißbilligend den Kopf und errötete mit gesenkten Augen, wodurch sie
Stepan Trophimowitsch dermaßen in Ekstase brachte, daß er noch vieles
hinzudichtete. Warwara Petrowna erschien in seiner Erzählung als
wunderschöne Brünette -- »die Petersburg und noch viele europäische
Hauptstädte entzückt hat« -- deren Mann »bei Sebastopol gefallen« war
und das einzig darum, weil er sich ihrer Liebe nicht für würdig und sich
für verpflichtet gehalten hatte, sie demjenigen, den sie in Wirklichkeit
liebte, das heißt also Stepan Trophimowitsch, abzutreten ...

»Oh, werden Sie nicht verlegen, meine Stille, meine Christin!« rief er
Ssofja Matwejewna zu, als er fast schon selbst daran glaubte, was er
erzählte. »Das war etwas Höheres, etwas so Zartes, daß wir uns beide das
ganze Leben lang nicht ausgesprochen haben!«

Als Grund einer solchen Lage der Dinge erschien darauf im weiteren
Verlaufe der Erzählung eine schöne Blondine (wenn man darunter nicht
Darja Pawlowna verstehen soll, so weiß ich wirklich nicht, wen Stepan
Trophimowitsch damit gemeint haben könnte). Diese Blondine verdankte
alles, was sie besaß, der Brünetten, die sie erzogen hatte und deren
weitläufige Verwandte sie war. Die Brünette aber bemerkte bald die Liebe
der Blonden zu Stepan Trophimowitsch und zog sich in sich selbst zurück.
Die Blonde aber bemerkte gleichfalls die Liebe der Brünetten zu Stepan
Trophimowitsch und zog sich auch in sich selbst zurück. Und so schwiegen
sie denn alle drei, alle drei in sich selbst zurückgezogen, alle drei
nichts als verkörperter Edelmut, und das währte dann zwanzig Jahre lang
...

»Oh, was war das doch für eine Liebe, was war das doch für eine
Leidenschaft!« rief er in aufrichtigster Begeisterung aufschluchzend
aus. »Ich sah die volle Blüte ihrer Schönheit« (der Brünetten), »sah sie
mit wundem Herzen täglich an mir vorüberziehen, sie, die das stolze
Haupt neigte, als schäme sie sich ihrer Schönheit!« Einmal sagte er
statt ihrer Schönheit: »ihrer Fülle«. Schließlich behauptete er, er sei
jetzt erst aus diesem zwanzigjährigen Traume erwacht. -- »_Vingt
ans!_{[72]} Und nun plötzlich auf der großen Landstraße ...« Darauf
folgte dann zum Schluß -- wahrscheinlich in einem Augenblick noch
größerer Benommenheit -- die Erklärung dessen, was die heutige zufällige
und doch so entscheidende Begegnung mit Ssofja Matwejewna für ihn wie
für sie bedeutete.

Ssofja Matwejewna erhob sich in schrecklichster Verlegenheit vom Sofa.
Und als er gar noch den Versuch machte, vor ihr auf die Knie zu fallen,
da begann sie vor Schreck zu weinen.

Die Dämmerstunde neigte sich schon dem Abend zu: beide hatten sie
bereits etliche Stunden in dem verschlossenen Zimmer verbracht ...

»Ach nein, lassen Sie mich jetzt schon lieber in das andere Zimmer,«
flüsterte sie erregt, »denn was werden sonst die Leute denken!«

Endlich gelang es ihr, sich frei zu machen; er aber versprach ihr
folgsam, sich sofort ins Bett zu legen. Beim Abschied klagte er, daß er
starke Kopfschmerzen habe. Ssofja Matwejewna hatte ihre Sachen im
vorderen Zimmer gelassen, wo sie mit den anderen zusammen zu übernachten
beabsichtigte; doch es sollte anders kommen.

In der Nacht geschah es nämlich, daß sich bei Stepan Trophimowitsch die
mir und all seinen Freunden so wohlbekannte Cholerine einstellte, wie
gewöhnlich nach nervösen Aufregungen. Die arme Ssofja Matwejewna kam
also die ganze Nacht nicht zum schlafen. Da sie bei der Wartung des
Kranken häufig durch das vordere Familienzimmer aus dem Hause gehen
mußte, so störte sie die Schlafenden, die bald aufwachten und ungehalten
wurden. Und als Ssofja Matwejewna zum Morgen hin gar den Samowar
aufstellen wollte, da begannen sie auch noch zu schimpfen.

Stepan Trophimowitsch war so lange, wie die Cholerine andauerte, halb
bewußtlos: zuweilen schien es ihm wie durch einen Nebel, daß man den
Samowar aufstellte, daß man ihm ein Himbeergetränk zu trinken gab, daß
man ihm mit irgend etwas den Magen und die Brust wärmte. Dabei fühlte er
die ganze Zeit und empfand es jeden Augenblick, daß »_Sie_« bei ihm war
und für ihn sorgte, daß »_Sie_« es war, die da kam und ging, die ihn
zudeckte und wärmte! Um drei Uhr morgens wurde ihm ein wenig besser: er
setzte sich auf, ließ die Beine über den Bettrand baumeln, und
plötzlich, ohne sich dabei etwas zu denken, fiel er vor ihr auf die
Knie. Dieser zweite Kniefall war nicht mehr so harmlos wie der erste: er
fiel ihr einfach zu Füßen und küßte »den Saum ihres Kleides« ...

»Um Gottes willen, ich bin das doch gar nicht wert,« stammelte die Arme
erschrocken und bemühte sich vergeblich, ihn wieder auf das Bett zu
heben.

»Meine Retterin,« hauchte er andächtig und faltete wie im Gebet die
Hände. »_Vous êtes noble comme une marquise!_{[257]} Ich -- ich bin ein
Nichtswürdiger! Oh, ich bin mein ganzes Leben lang ehrlos gewesen ...«

»Ach, beruhigen Sie sich doch, bitte!« flehte Ssofja Matwejewna.

»Ich habe Ihnen vorhin alles vorgelogen, aus Ruhmsucht, zur
Verschönerung, aus Eitelkeit, -- alles, alles, bis aufs letzte Wort! Ich
Nichtswürdiger, ich Nichtswürdiger!«

So ging denn der Anfall von Cholerine in einen Anfall hysterischer
Selbstbeschuldigung über. (Ich habe ja schon früher von diesen Anfällen,
bei Gelegenheit der Reuebriefe an Warwara Petrowna, gesprochen.)
Plötzlich erinnerte er sich jetzt Lisas und der Begegnung mit ihr am
Morgen.

»Das war so furchtbar,« sagte er, »da war bestimmt ein Unglück
geschehen, ich aber habe in meinem Egoismus nicht einmal gefragt, und
nun weiß ich auch nichts! Ich habe nur an mich gedacht! Aber was war
denn mit ihr geschehen, wissen Sie es nicht, was da geschehen ist?«
flehte er wieder Ssofja Matwejewna an.

Gleich darauf schwor er, daß er nicht »untreu« werden könne und zu
»_Ihr_« -- d. h. zu Warwara Petrowna -- zurückkehren müsse.

»Wir werden jeden Tag zu ihrer Treppe gehen« (das hieß nun wieder er mit
Ssofja Matwejewna zusammen) »und wenn sie sich in ihre Equipage setzt,
um ihre Morgenspazierfahrt zu machen, so werden wir still zusehen ...
Oh, ich will, daß sie mich auch auf die andere Wange schlägt: mit
Begeisterung will ich es! Ich werde ihr auch meine andere Wange
hinhalten, _comme dans votre livre_!{[258]} Jetzt habe ich ... ja, jetzt
erst habe ich verstanden, was das heißt, seine andere Wange ...
hinhalten. Ich habe das früher niemals verstehen können!«

Für Ssofja Matwejewna waren das die zwei furchtbarsten Tage ihres
Lebens: noch heute denkt sie nicht anders als mit Schrecken an sie
zurück. Stepan Trophimowitsch erkrankte so ernstlich, daß er am nächsten
Tage unmöglich mit dem Dampfschiff, das diesmal pünktlich um zwei Uhr
ankam, nach Spassoff weiterfahren konnte, sie aber wagte es nicht, ihn
allein zu lassen, und so blieb sie denn in Ustjewo bei ihm. Nach ihren
Worten soll er sich sogar sehr darüber gefreut haben, daß das
Dampfschiff endlich fortgefahren war:

»Nun und wunderschön, so ist es sehr gut, sehr gut,« murmelte er aus dem
Bett heraus, »ich fürchtete schon die ganze Zeit, daß wir fortfahren
müssen. Hier aber ist es sehr schön, hier ist es am besten ... Sie
werden mich doch nicht verlassen? O nein, Sie verlassen mich nie mehr!«

Einstweilen war es aber »hier« durchaus nicht so schön. Er wollte jedoch
nichts von ihren Unannehmlichkeiten wissen. In seinem Kopf war jetzt nur
Platz für eine Menge Phantasien. An seine Krankheit dachte er überhaupt
nicht, denn er hielt sie ja nur für eine schnell vorübergehende
Erkältung, und sprach die ganze Zeit davon, wie sie beide, wenn er erst
wieder gesund sei, »diese kleinen Bücher« verkaufen würden. Und
plötzlich bat er sie, ihm aus dem Evangelium vorzulesen.

»Ich habe es lange nicht mehr gelesen ... im Original. Aber, nicht wahr,
es könnte mich doch jemand beim Kauf eines dieser kleinen Bücher dies
oder jenes fragen, und dann könnte ich mich irren ... Man muß sich doch
immerhin etwas vorbereiten ...«

Sie setzte sich an sein Bett und schlug das Buch auf.

»Sie lesen vorzüglich,« unterbrach er sie schon nach der ersten Zeile.
»Ich sehe schon, ich sehe, daß ich mich nicht getäuscht habe!« fügte er
unklar, aber begeistert hinzu.

Und überhaupt war er die ganze Zeit in einem ununterbrochen begeisterten
Zustande.

Sie begann ihm die Bergpredigt vorzulesen.

»_Assez, assez, mon enfant_,{[259]} genug ... Glauben Sie wirklich, daß
_das_ noch immer nicht genug ist?«

Und kraftlos schloß er die Augen. Er war sehr schwach, doch verlor er
noch nicht die Besinnung. Da erhob sich denn Ssofja Matwejewna, da sie
glaubte, daß er schlafen wolle. Aber siehe da -- er war sofort wieder
wach und hielt sie zurück.

»Mein Freund, ich habe mein Lebelang gelogen. Selbst dann, wenn ich die
Wahrheit sprach. Ich habe nie um der Wahrheit willen gesprochen, sondern
immer nur für mich, das habe ich auch früher schon gewußt, aber jetzt
erst sehe ich es so recht ein ... Oh, wo sind diese Freunde, die ich mit
meiner Freundschaft zeitlebens beleidigt habe?! Und sie alle, alle!
_Savez-vous_,{[260]} ich glaube, ich lüge auch jetzt! Bestimmt lüge ich
auch jetzt! Die Hauptsache ist, daß ich mir selbst glaube, wenn ich
lüge! Am allerschwersten ist es im Leben, zu leben und nicht zu lügen
... und ... und den eigenen Lügen nicht zu glauben, ja, ja, gerade das!
Aber warten Sie, das kommt alles später ... Wir werden zusammen,
zusammen ...« fügte er plötzlich enthusiastisch hinzu.

»Stepan Trophimowitsch,« begann Ssofja Matwejewna zaghaft, »sollte man
nicht in die Stadt nach einem Arzt schicken?«

Er war maßlos erstaunt.

»Warum? _Est-ce que je suis si malade? Mais rien de sérieux._{[261]} Und
wozu andere Menschen? Dann wird man es noch erfahren, daß ich hier bin,
und -- was wird dann sein? Nein, nein, keine fremden Menschen ... wir
beide, wir beide!«

»Wissen Sie,« sagte er nach kurzem Schweigen, »lesen Sie mir noch etwas
vor, so, schlagen Sie auf gut Glück das Buch auf und lesen Sie das,
worauf Ihr Blick zuerst fällt.«

Ssofja Matwejewna schlug das Buch auf und las.

»Wo es sich von selbst aufschlägt, wo es sich von selbst aufschlägt,«
wiederholte er.

»>Und dem Engel ... --<«

»Was ist das? Woraus? Woraus ist das?«

»Das ist aus der Apokalypse.«

»_Oh, je m'en souviens, oui, l'Apocalipse. Lisez, lisez._{[262]} Ich
wollte über unsere Zukunft etwas hören, darum ließ ich Sie so eine
Stelle auf gut Glück lesen, ich will wissen, was Sie da gefunden haben.
Lesen Sie weiter, vom Engel, vom Engel ...«

»>Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea schreibe: Das sagt Amen, der
treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes. Ich weiß
deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder
warm wärest! Weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, werde ich
dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe gar
satt, und bedarf nichts; und weißt nicht, daß du bist elend und
jämmerlich, arm, blind und bloß.<«

»Das ... und das steht in Ihrem Buch!« rief er erregt, mit glänzenden
Augen, und erhob sich vom Kissen, »diese wundervolle Stelle habe ich nie
gekannt! Hören Sie: eher kalt, kalt, als lau, _nur_ lau! Oh, ich werde
ihnen das auslegen! Nur verlassen Sie mich nicht, lassen Sie mich nicht
allein! Wir werden es ihnen beweisen, wir werden es auslegen!«

»Aber ich werde Sie ja nicht verlassen, Stepan Trophimowitsch, beruhigen
Sie sich, ich werde Sie nie verlassen!« sagte sie und erfaßte seine
Hand, die sie mit Tränen in den Augen an ihre Brust drückte. (»Er tat
mir schon gar zu leid in diesem Augenblick,« erzählte sie uns später.)

Seine Lippen begannen zu zucken wie im Krampf.

»Aber, Stepan Trophimowitsch, soll man nicht doch jemanden von den
Ihrigen benachrichtigen lassen, oder vielleicht auch -- Ihre Bekannten?«

Da aber erschrak er dermaßen, daß sie ganz unglücklich darüber war, ihn
noch einmal daran erinnert zu haben. Zitternd und bebend flehte er sie
an, »nur um Gottes willen niemanden zu benachrichtigen, noch sonst etwas
zu tun!« Und er nahm ihr das Wort ab und beschwor sie: »Niemanden,
niemanden! Wir allein, nur wir beide allein, _et nous partirons
ensemble_.«{[263]}

Schlimm war es auch, daß sich die Hauswirte beunruhigten, ungehalten
wurden und der armen Ssofja Matwejewna auf den Hals rückten. Sie
bezahlte ihnen und zeigte ihnen Geld: damit beruhigte sie sie für einige
Zeit; aber der Wirt wollte die Legitimationspapiere Stepan
Trophimowitschs sehen. Der Kranke wies mit hochmütigem Lächeln auf
seinen kleinen Reisekoffer, in dem Ssofja Matwejewna denn auch einen
alten Ausweis fand. Bald aber verlangte der Bauer, daß man den Kranken
fortschaffen solle, denn er könne schließlich sterben und was gäbe das
dann für Scherereien. Ssofja Matwejewna sprach auch mit ihm über den
Arzt, doch es stellte sich heraus, daß, wenn man ihn aus der Stadt holen
wollte, die Kosten unerschwinglich wären. Und so kehrte sie denn
niedergeschlagen zu ihrem Kranken zurück, der allmählich schwächer und
schwächer wurde.

»Jetzt lesen Sie mir noch eine Stelle vor ... von den Schweinen,« sagte
er plötzlich.

»Wovon?« fragte Ssofja Matwejewna entsetzt.

»Von den Schweinen ... das ist auch hier ... _ces cochons_{[264]} ...
ich erinnere mich, die Teufel fuhren in die Schweine und die Schweine
stürzten sich in den See und kamen alle um. Lesen Sie mir das unbedingt
vor: ich werde Ihnen nachher sagen, wozu ... Ich will es wortwörtlich
hören, wortwörtlich ...«

Ssofja Matwejewna kannte die Bibel gut und fand sofort jene Stelle aus
Lukas, Kapitel 8, 32--37, die ich der Erzählung all dieser Ereignisse
vorgeschrieben habe. Ich bringe sie hier noch einmal:

»>Es war aber daselbst eine große Herde Säue an der Weide auf dem Berge.
Und sie baten ihn, daß er ihnen erlaubte, in dieselben zu fahren. Und er
erlaubte ihnen.

Da fuhren die Teufel aus von dem Menschen, und fuhren in die Säue; und
die Herde stürzte sich vom Abhange in den See, und ersoffen.

Da aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie und verkündigten's
in der Stadt und in den Dörfern. Da gingen sie hinaus, zu sehen, was da
geschehen war, und kamen zu Jesu, und fanden den Menschen, von welchem
die Teufel ausgefahren waren, sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und
vernünftig, und sie erschraken.

Und die es gesehen hatten, verkündigten's ihnen, wie der Besessene war
gesund worden.<«

»Mein Freund,« sagte Stepan Trophimowitsch in großer Erregung,
»_savez-vous_, diese wundervolle und ... ungewöhnliche Stelle ist mir
mein ganzes Leben lang ein Stein des Anstoßes gewesen ... _dans ce
livre_{[265]} ... so daß ich diese Stelle noch aus der Kindheit --
behalten habe. Jetzt aber ist mir ein neuer Gedanke gekommen, _une
comparaison_.{[266]} Ich habe jetzt furchtbar viele Gedanken: Sehen Sie,
das ist genau so wie unser Rußland. Diese Teufel und Dämonen, die aus
dem Besessenen in die Schweine fahren -- das sind alle schlechten Säfte,
alle Miasmen, aller Schmutz, alle Teufel und Beelzebuben, die sich in
unserem lieben Kranken, in unserem Rußland angesammelt haben, schon seit
vielen, vielen Jahrhunderten! _Oui, cette Russie, que j'aimais
toujours._{[267]} Aber ein großer Gedanke und ein mächtiger Wille werden
es aus der Höhe segnen, ganz wie diesen wahnsinnigen Besessenen, und
alle diese Unreinlichkeit, diese ganze Gemeinheit, die sich auf der
Oberfläche angesammelt hat und langsam angefault ist ... sie werden noch
selbst darum bitten, in die Schweine fahren zu dürfen! Ja, und sie sind
ja vielleicht schon hineingefahren! Das sind wir, wir und jene und
Petruscha ... _et les autres avec lui_,{[268]} und ich vielleicht der
erste an der Spitze, und wir werden uns, wir Wahnsinnigen und
Besessenen, vom Fels in das Meer stürzen und alle ertrinken, und dorthin
gehören wir auch, dahin müssen wir, denn nur dazu allein taugen wir
noch! Aber der Kranke selbst wird wieder gesunden und wird sich >zu
Füßen Jesu< setzen ... und alle werden ihn mit Verwunderung schauen ...
Meine Liebe, _vous comprendrez après_, jetzt aber regt mich das sehr auf
... _Vous comprendrez après ... Nous comprendrons ensemble._«{[269]}

Er begann zu phantasieren und schließlich verlor er das Bewußtsein. So
verging der ganze folgende Tag. Ssofja Matwejewna saß an seinem Bett und
weinte, schlief schon die dritte Nacht nicht und vermied es nach
Möglichkeit, den Wirtsleuten unter die Augen zu kommen, denn sie ahnte
schon, daß diese irgend etwas beabsichtigten. Am nächsten Morgen wachte
Stepan Trophimowitsch auf, erkannte sie wieder und streckte ihr die Hand
entgegen. Sie bekreuzte sich mit neuer Hoffnung. Er aber wollte
plötzlich aus dem Fenster sehen.

»_Tiens, un lac_,«{[270]} sagte er, »ach Gott, und ich habe ihn noch gar
nicht gesehen ...«

In diesem Augenblick rollte eine Equipage vor das Haus und in den
Zimmern wurde es lebendig.


                                  III.

Es war Warwara Petrowna in eigener Person, die mit einem Viererzug in
ihrer größten Equipage mit zwei Dienern und Darja Pawlowna angefahren
kam. Das Wunder erklärte sich sehr einfach: der neugierige Anissim war
in der Stadt gleich am anderen Tage in das Haus Warwara Petrownas
gegangen und hatte dort den Dienstboten erzählt, daß er Stepan
Trophimowitsch allein in einem Dorf angetroffen habe, und daß der
gnädige Herr von dort nach Ustjewo weitergefahren sei, und zwar in
Begleitung einer gewissen Ssofja Matwejewna. Da nun Warwara Petrowna
sich über die Flucht ihres Freundes sehr aufgeregt und überall nach ihm
zu fragen und zu forschen befohlen hatte, so war ihr sogleich gemeldet
worden, was Anissim erzählt hatte. Selbstredend mußte Anissim nun
unverzüglich vor der Herrin erscheinen und alles nochmals erzählen, und
nachdem sie ihn aufmerksam angehört hatte -- besonders die Schilderung
der Abfahrt in einem Wagen mit irgendeiner Ssofja Matwejewna --, da ward
noch im selben Augenblick die Equipage bestellt. Auf frischer Spur
ging's dem Flüchtling nach. Von seiner Krankheit wußte sie natürlich
noch nichts.

Ihre strenge und befehlende Stimme machte selbst den Wirtsleuten bange.
Sie ließ hier nur halten, um sich zu erkundigen, wann Stepan
Trophimowitsch nach Spassoff weitergefahren sei. Als sie nun erfuhr, daß
er noch da war und krank zu Bett lag, da stieg sie sofort aus und trat
erregt in das Haus.

»Nun, wo ist er denn hier?« fragte sie. »Ah, das bist du!« rief sie
plötzlich, als sie Ssofja Matwejewna, die gerade in diesem Augenblick
aus dem Krankenzimmer trat, in der Tür erblickte. »Ich sehe es schon
deinem schamlosen Gesichte an, daß du es bist. Hinaus, Schändliche! Daß
mir sofort keine Spur mehr von ihr im Hause bleibe! Jagt sie hinaus, --
geh! oder ich lasse dich auf ewig ins Gefängnis stecken! Bewacht sie mir
solange in einem anderen Hause. Sie hat ja schon einmal im Gefängnis
gesessen, kann also wieder hinein. Und du,« wandte sie sich befehlend an
den Hauswirt, »daß du mir nicht wagst, jemanden hereinzulassen, solange
ich hier bin! Ich bin die Generalin Stawrogina und nehme das ganze Haus
für mich in Beschlag. Du aber, meine Beste, du wirst mir noch Rede
stehen!«

Die bekannte Stimme wirkte erschütternd auf Stepan Trophimowitsch. Er
begann zu zittern. Aber da trat sie schon ins Zimmer, trat an sein Bett.
Ihre Augen blitzten. Sie stieß mit dem Fuß einen Stuhl heran, setzte
sich, lehnte sich steif zurück und rief Dascha unwillig zu:

»Geh vorläufig hinaus! Kannst solange bei den Wirtsleuten bleiben! Was
ist das plötzlich für eine Neugier? Und die Tür zieh hinter dir etwas
fester zu!«

Eine ganze Weile fixierte sie stumm, mit einem seltsamen Raubtierblick
sein erschrockenes Gesicht.

»Nun, wie geht es Ihnen, Stepan Trophimowitsch? Wie war denn der
Spaziergang?« fragte sie plötzlich mit grimmiger Ironie.

»_Chère_,« stotterte Stepan Trophimowitsch wie benommen, »ich habe die
russische Wirklichkeit kennen gelernt ... _Et je prêcherai l'Evangile
..._«{[271]}

»Oh, Sie schamloser, undankbarer Mensch!« rief sie zornig aus, die Hände
erhebend. »Ist es Ihnen noch nicht genug, daß Sie mich so bloßstellen
und mit irgendeiner ... Oh, Sie alter, schamloser Wüstling!«

»_Chère ..._«

Seine Stimme versagte und er konnte nichts mehr hervorbringen, er sah
sie vor Entsetzen nur mit weit offenen Augen an.

»Was ist das für eine?«

»_C'est un ange ... C'était plus qu'un ange pour moi_,{[272]} sie hat
die ganze Nacht ... Oh, schreien Sie nicht, erschrecken Sie sie nicht,
_chère, chère_ ...«

Warwara Petrowna sprang plötzlich polternd vom Stuhl auf; angstvoll rief
sie: »Wasser, Wasser!«

Stepan Trophimowitsch kam allerdings schon wieder zu sich, aber sie
zitterte immer noch vor Schreck und blickte bleich in sein entstelltes
Gesicht: jetzt erst begriff sie, wie ernst sein Zustand war.

»Darja,« flüsterte sie schnell der hereinstürzenden Darja Pawlowna zu,
»sofort nach dem Arzt, nach Doktor Salzfisch! Schicke sofort Jegorytsch,
er soll hier Pferde mieten und in der Stadt einen anderen Wagen nehmen.
Daß er mit Salzfisch noch vor dem Abend hier ist!«

Dascha ging schnell hinaus, um den Befehl auszuführen. Stepan
Trophimowitsch sah Warwara Petrowna immer noch mit demselben
erschrockenen Blick aus weit offenen Augen an. Seine weiß gewordenen
Lippen bebten.

»Warte, Stepan Trophimowitsch, warte, Täubchen, nur einen Augenblick,«
redete sie ihm wie einem kleinen Kinde zu. »So warte doch, wart doch,
sieh, Darja wird gleich zurückkommen und ... Ach, mein Gott, Wirtin,
Wirtin, so komm doch du wenigstens, Mütterchen!«

Und in ihrer Ungeduld lief sie selbst nach der Bäuerin.

»Sofort, sofort _jene_ wieder zurückbringen! Bring sie mir sofort
zurück, zurück!«

Zum Glück war Ssofja Matwejewna mit ihren Sachen kaum aus dem Hause
gegangen, so daß man sie schon nach ein paar Schritten einholte. Sie
wurde zurückgebracht. Sie war aber so erschrocken, daß ihre Hände und
Knie zitterten. Warwara Petrowna ergriff ihre Hand, wie ein Geier ein
Küken, und zog sie eilig zu Stepan Trophimowitsch.

»Hier, hier haben Sie sie! Ich habe sie doch nicht aufgefressen! Sie
dachten wohl schon, daß ich sie einfach verschlungen habe?«

Stepan Trophimowitsch ergriff Warwara Petrownas Hand und drückte sie an
seine Augen, und plötzlich schluchzte er auf, schmerzhaft, krampfartig.

»Beruhige dich, beruhige dich doch, mein Täubchen, beruhige dich,
Väterchen ... Nun ... Ach, mein Gott, aber so beru--hi--gen Sie sich
doch!« rief sie außer sich. »Oh, mein Peiniger, mein ewiger, ewiger
Peiniger!«

»Meine Liebe,« brachte Stepan Trophimowitsch endlich, zu Ssofja
Matwejewna gewandt, hervor, »bleiben Sie, meine Liebe, dort -- im
anderen Zimmer ... ich will hier noch etwas sagen ...«

Ssofja Matwejewna beeilte sich sofort, hinauszugehen.

»_Chérie ... chérie ..._« -- er rang nach Atem.

»Sprechen Sie noch nicht, Stepan Trophimowitsch, warten Sie noch ein
wenig, bis Sie sich erholt haben. Hier ist Wasser. Aber so war--ten Sie
doch noch!«

Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Stepan Trophimowitsch hielt
krampfhaft ihre Hand fest. Sie ließ ihn noch lange nicht sprechen. Da
zog er ihre Hand an die Lippen und bedeckte sie immer wieder mit Küssen.
Sie biß die Zähne zusammen und blickte irgendwohin in einen Winkel.

»_Je vous aimais!_«{[273]} entrang es sich ihm endlich. Noch nie hatte
sie von ihm ein solches Wort gehört, und so gesprochen.

»Hm!« war ihre Antwort.

»_Je vous aimais toute ma vie ... vingt ans!_«{[274]}

Sie schwieg immer noch -- zwei, drei Minuten lang.

»Als aber Dascha in Aussicht stand, da erschien er parfümiert --« stieß
sie plötzlich unheimlich flüsternd hervor. Stepan Trophimowitsch
erstarrte nur so.

»... Mit einer neuen Krawatte ...«

Wieder Schweigen -- ungefähr zwei Minuten lang.

»Und die Zigarre, entsinnen Sie sich?«

»Mein Freund,« stammelte er, von Schrecken erfaßt.

»Die Zigarre, am Abend, am Fenster ... der Mond schien ... nach den
Stunden im Park ... in Skworeschniki? Entsinnst du dich, entsinnst du
dich!« und sie sprang auf, ergriff sein Kissen an beiden Ecken und
schüttelte es mitsamt seinem Kopf. »Entsinnst du dich noch, du leerer,
leerer, ehrloser, kleinmütiger, ewig, ewig leerer Mensch!« zischte sie
nahezu in ihrem ingrimmigen Geflüster, um nicht zu schreien. Dann ließ
sie ihn fahren und fiel zurück auf den Stuhl, das Gesicht mit den Händen
bedeckt. »Genug!« sagte sie kurz, sich steif aufrichtend. »Zwanzig Jahre
sind vergangen, die bringt man nicht zurück; dumm war auch ich.«

»_Je vous aimais_,« -- er legte beschwörend seine Hände zusammen.

»Was sagst du mir immer _aimais_ und _aimais_! Genug!« Sie fuhr wieder
auf. »Und wenn Sie jetzt nicht sofort einschlafen, so werde ich ... Sie
brauchen Ruhe! Schlafen Sie, schlafen Sie sofort! Schließen Sie die
Augen! Ach, mein Gott, vielleicht will er frühstücken? Was essen Sie?
Was darf er essen? Ach Gott, wo ist denn _jene_? wo ist _jene_?«

Warwara Petrowna setzte gleich das ganze Haus in Bewegung. Doch Stepan
Trophimowitsch stammelte, daß er jetzt allerdings lieber schlafen würde,
ein wenig nur, _une heure_, und dann -- _un bouillon, un thé ... enfin
il est si heureux_.{[275]} Er lag ganz still und es war wirklich, als
sei er im Einschlafen (wahrscheinlich stellte er sich nur so). Warwara
Petrowna wartete noch ein wenig und ging dann auf den Fußspitzen zur
Tür.

Im anderen Zimmer setzte sie sich hin, schickte die Hauswirte einfach
hinaus und befahl Dascha, »_jene_« hereinzuführen. Es begann ein ernstes
Verhör.

»Erzähle mir jetzt, meine Liebe, alle Einzelheiten. Setze dich hierher,
so! Nun?«

»Ich traf Stepan Trophimowitsch ...«

»Warte. Schweig. Ich sage dir im voraus, daß ich dich, falls es dir
einfallen sollte, mir etwas vorzulügen oder etwas zu verheimlichen, noch
aus deinem Grabe wieder herausholen werde! Nun?«

»Ich traf Stepan Trophimowitsch ... wie ich gerade in Hatowo war ...«
begann Ssofja Matwejewna, atemlos vor Angst.

»Wart, sei still! was trommelst du gleich los? Zuerst sage mir, was du
selbst für ein Vogel bist?«

Die erzählte nun, so gut sie konnte, übrigens in kurzen Worten, von sich
und ihrem Leben. Sie fing mit Sebastopol an. Warwara Petrowna hörte
schweigend zu, saß steif auf ihrem großen Stuhl und sah der Erzählerin
streng und unverwandt in die Augen.

»Warum bist du so erschrocken? Warum siehst du zu Boden? Ich liebe
solche, die mir offen in die Augen sehen und mit mir streiten. Fahre
fort!«

Jene erzählte von der Begegnung, von den Büchern, erzählte, wie Stepan
Trophimowitsch der Bäuerin den Schnaps angeboten hatte ...

»So ist's gut, vergiß nichts, erzähle alles,« sagte Warwara Petrowna.
Ssofja Matwejewna erzählte also weiter, wie sie mit Stepan
Trophimowitsch hierher nach Ustjewo gefahren war und wie er »schon ganz
krankes Zeug« gesprochen und hier dann sein ganzes Leben von Anfang an
und mehrere Stunden lang erzählt hatte.

»Erzähle von seinem Leben.«

Ssofja Matwejewna verstummte plötzlich und schaute hilflos drein.

»Hiervon verstehe ich schon gar nichts mehr zu erzählen,« stotterte sie,
dem Weinen nahe. »Und ich habe auch nichts davon verstanden.«

»Das lügst du. Nichts verstehen, das konntest du gar nicht.«

»Von einer schwarzhaarigen vornehmen Dame sprach er lange,« sagte Ssofja
Matwejewna schließlich zögernd und errötete entsetzlich, da es ihr
plötzlich auffiel, wie wenig Warwara Petrowna mit ihrem viel helleren
Haar jener geschilderten schwarzhaarigen Schönheit glich.

»Von einer Schwarzhaarigen? -- Was erzählte er denn? Sprich!«

»Er ... er erzählte, wie diese vornehme Dame schon ganz furchtbar in ihn
verliebt gewesen wäre, zwanzig Jahre lang, und wie sie immer nicht
gewagt hätte, es ihm zu sagen, und ... und wie sie sich vor ihm geschämt
hat, denn sie war schon gar zu dick ...«

»Dieser Esel!« sagte Warwara Petrowna nachdenklich, doch überzeugt vor
sich hin.

Ssofja Matwejewna war nun wirklich schon am Weinen.

»Ich weiß hiervon gar nichts mehr zu erzählen, denn ich war selbst in
großer Angst um ihn und habe auch gar nichts verstanden, da er doch ein
Mensch von so großem Verstande ist ...«

»Über seinen Verstand zu urteilen steht nicht so einer Krähe zu, wie du
eine bist. Hat er bei dir angehalten?«

Ssofja Matwejewna erzitterte.

»Ha! er sich in dich verliebt? -- Sprich!« herrschte Warwara Petrowna
sie an. »Hat er bei dir angehalten?«

»Beinah hörte es sich wirklich so an,« brachte sie aufschluchzend hervor
... »Nur habe ich das alles gar nicht beachtet, denn er war doch krank,«
fügte sie hinzu und sah mit festem Blick auf.

»Wie heißt du?«

»Ssofja Matwejewna.«

»Nun, dann wisse, Ssofja Matwejewna, daß dieser Mensch das
erbärmlichste, leerste Menschlein ist ... Mein Gott, mein Gott! Du
hältst mich wohl für eine Nichtswürdige?«

Die riß die Augen auf.

»Für eine Nichtswürdige, eine Tyrannin, die sein Leben zerstört hat?«

»Wie kann denn das sein, wenn Sie jetzt doch selbst weinen!«

Tatsächlich standen Warwara Petrowna Tränen in den Augen.

»Nun, setz dich, setz dich, brauchst nicht zu erschrecken. -- Sieh mir
noch einmal in die Augen, ganz offen! Warum wirst du rot? Dascha, komm
her, sieh sie dir an: was glaubst du, hat sie ein reines Herz ...«

Und zu Ssofja Matwejewnas größter Verwunderung, vielleicht aber zu ihrem
noch größeren Schreck, streichelte ihr Warwara Petrowna plötzlich die
Wange.

»Schade nur, daß du dumm bist. Dümmer als es deinen Jahren ansteht. Gut,
meine Liebe, ich werde mich deiner annehmen. Sehe schon, daß alles das
Unsinn ist. Bleibe solange hier in der Nähe, man wird dir hier eine
Wohnung mieten, -- Kost und alles übrige bekommst du von mir ... bis ich
dich rufen lasse.«

Ssofja Matwejewna versuchte erschrocken einzuwenden, daß sie fort müsse.

»Wohin? Deine Bücher kaufe ich dir alle ab, und du bleibst hier. Du
hättest ihn doch, wenn ich nicht gekommen wäre, auch nicht verlassen?«

»Für keinen Preis hätte ich ihn allein gelassen,« sagte Ssofja
Matwejewna leise, doch mit fester Stimme und trocknete sich die Augen.

Doktor Salzfisch traf erst spät in der Nacht ein. Es war ein ehrwürdiger
alter, kleiner Herr und ein recht erfahrener Arzt, der erst unlängst
infolge eines ambitiösen Streites mit der ihm vorgesetzten Behörde
seinen offiziellen Posten verloren hatte. In demselben Augenblick hatte
Warwara Petrowna ihn aus allen Kräften zu »protegieren« angefangen. Er
untersuchte Stepan Trophimowitsch aufmerksam und gewissenhaft, fragte
dies und das, und berichtete sodann Warwara Petrowna, daß der Zustand
des Kranken »sehr bedenklich« sei und daß man sich »auf das Schlimmste
gefaßt machen« müsse. Warwara Petrowna, die in den zwanzig Jahren sich
von der Vorstellung völlig entwöhnt hatte, daß irgend etwas, das Stepan
Trophimowitsch persönlich anging, ernst zu nehmen oder gar gefährlich
sein könnte, war tief erschüttert und erbleichte sogar.

»Ist denn wirklich gar keine Hoffnung mehr?«

»Das ist nicht gesagt, denn Hoffnung ist nie ausgeschlossen, aber ...«

Warwara Petrowna wachte die ganze Nacht bei dem Kranken und konnte kaum
den Morgen erwarten. Als Stepan Trophimowitsch die Augen aufschlug und
zu sich kam (er war die ganze Zeit bei Besinnung, nur wurde er von
Stunde zu Stunde schwächer), trat sie entschlossen zu ihm.

»Stepan Trophimowitsch, man muß auf alles vorbereitet sein. Ich habe den
Priester rufen lassen. Sie müssen Ihre Pflicht tun ...«

Da sie seine religiösen Überzeugungen kannte, so fürchtete sie sehr eine
Absage. Er aber sah sie nur erstaunt an.

»Unsinn, Unsinn!« rief sie erregt, denn sie glaubte schon, er wolle sich
widersetzen. »Jetzt handelt es sich nicht mehr um Kindereien. Haben doch
genug Dummheiten gemacht!«

»Aber ... bin ich denn wirklich schon so krank?«

Nachdenklich willigte er ein. Zu meiner nicht geringen Verwunderung
erfuhr ich später von Warwara Petrowna, daß das Sterben ihn gar nicht
geschreckt hat. Möglich, daß er einfach nicht an seinen Tod glaubte und
die Krankheit nur für eine vorübergehende Erkältung hielt.

Er beichtete und nahm das Abendmahl -- und zwar mit großer
Bereitwilligkeit. Alle, auch Ssofja Matwejewna, die Wirtsleute und
selbst die Dienstboten kamen, um ihn nach Empfang des heiligen
Sakraments zu beglückwünschen. Alle ohne Ausnahme weinten still, als sie
sein eingefallenes, müdes Gesicht sahen, und die bleichen, zuckenden
Lippen.

»_Oui, mes amis_, und es wundert mich nur, daß ihr euch alle so ...
sorgt. Morgen werde ich wahrscheinlich aufstehen, und wir ... fahren
dann ... _Toute cette cérémonie_{[276]} ... der ich natürlich alles
lasse, was recht und billig ist ... war doch ...«

»Ich würde Sie bitten, Väterchen, noch nicht fortzugehen,« hielt Warwara
Petrowna den Priester zurück, der sein Ornat schon ablegen wollte.
»Könnten Sie nicht, wenn der Tee gebracht wird, mit ihm noch über
Religiöses sprechen, um seinen Glauben zu stärken.«

Das tat der Priester denn auch; alle saßen oder standen in der Nähe des
Kranken.

»In unserer sündigen Zeit,« führte er aus, die Teetasse in der Hand und
in singendem Tone, »ist der Glaube an den Allmächtigen die einzige
Zuflucht des Menschengeschlechts, in allen Leiden und Nöten des Lebens,
ganz wie die Zuversicht auf die ewige Seligkeit, die den Gerechten
verheißen ...«

Stepan Trophimowitsch war plötzlich wie neu belebt: ein feines
Spottlächeln glitt über seine Lippen.

»_Mon père, je vous remercie, et vous êtes bien bon, mais ..._«{[277]}

»Was ist da noch für ein _mais_, durchaus kein _mais_!« fiel ihm Warwara
Petrowna aufspringend erregt ins Wort. »Väterchen,« wandte sie sich
wieder an den Popen, »das, das ist solch ein Mensch, das ist solch ein
Mensch ... nach einer Stunde wird man ihn noch einmal das Abendmahl
nehmen lassen müssen! Sehen Sie, solch ein Mensch ist das!«

Stepan Trophimowitsch lächelte zurückhaltend.

»Meine Freunde,« sagte er, »Gott ist mir schon deswegen unentbehrlich,
weil er das einzige Wesen ist, das man ewig lieben kann ...«

Ob er nun in der Tat gläubig geworden war, oder ob die mächtige
Zeremonie des letzten Abendmahls nur die künstlerische Empfänglichkeit
seiner Natur angeregt hatte, -- jedenfalls hat er noch mit fester Stimme
und, wie man mir sagte, auch mit echtem Gefühl einige Gedanken
ausgesprochen, die zu manchen seiner früheren Überzeugungen in geradem
Widerspruch standen.

»Meine Unsterblichkeit ist schon deswegen notwendig, weil Gott doch
nicht das Unrecht wird begehen wollen, das Feuer der Liebe, das einmal
in meinem Herzen zu Ihm entbrannt ist, ganz auszulöschen. Was aber ist
teurer als Liebe? Die Liebe steht höher als das Sein, die Liebe ist die
Krone des Seins, wie sollte da das Leben ihr nicht untertan sein? Wenn
ich Ihn jetzt lieben gelernt habe, und diese meine Liebe mir eine Freude
ist -- wie wäre es dann möglich, daß Er mich und meine Freude wieder
auslöschte und uns in Nichts verwandelte? Wenn es einen Gott gibt, so
bin auch ich unsterblich! _Voilà ma profession de foi._«{[278]}

»Es gibt einen Gott, Stepan Trophimowitsch, ich versichere Ihnen, es
gibt einen Gott,« beschwor ihn Warwara Petrowna, »lassen Sie doch
endlich Ihre Dummheiten, lassen Sie sie doch wenigstens einmal im
Leben!« (Sie hatte wohl seine _profession de foi_ nicht recht
verstanden.)

»Mein Freund,« sagte er mit wachsender Begeisterung, wenn auch seine
Stimme mehr und mehr versagte, »mein Freund, als ich begriff ... diese
andere hingehaltene Backe, da ... begriff ich im selben Augenblick --
noch manches. _J'ai menti toute ma vie_,{[279]} mein ganzes, ganzes
Leben lang! Ich würde gern ... übrigens, morgen ... Morgen fahren wir
alle ...«

Warwara Petrowna brach in Tränen aus. Er suchte jemanden mit den Augen.

»Hier ist sie, hier ist sie!« rief Warwara Petrowna schnell und zog
Ssofja Matwejewna an der Hand zu ihm hin. Er lächelte gerührt.

»Oh, ich würde sehr gern wieder leben wollen!« rief er mit einem
ungewöhnlichen Zustrom von Kraft. »Jede Minute, jeder Augenblick des
Lebens müssen für den Menschen eine Seligkeit sein ... müssen, müssen es
unbedingt! Das ist die Pflicht des Menschen, es selbst so zu machen; das
ist sein Gesetz, -- ein geheimes Gesetz, das es aber trotzdem unbedingt
gibt ... Oh, ich würde jetzt gern Petruscha sehen wollen ... und sie
alle ... und Schatoff!«

Ich muß hier bemerken, daß sie noch nichts von Schatoff wußten, weder
seine Schwester Darja Pawlowna, noch Warwara Petrowna, noch selbst Dr.
Salzfisch, der als letzter aus der Stadt gekommen war.

Stepan Trophimowitsch regte sich, statt ruhig zu sein, weit über seine
Kräfte auf.

»Allein schon der immerwährende Gedanke, daß es etwas unendlich
Gerechteres und Glücklicheres gibt als mich, erfüllt auch schon mein
ganzes Ich mit unermeßlicher Rührung und -- Herrlichkeit, -- oh, wer ich
auch sei, was ich auch getan habe! Viel notwendiger als das eigene Glück
ist für den Menschen das Wissen und der allgegenwärtige Glaube, daß es
irgendwo schon ein vollkommenes und ruhiges Glück für alle und für jeden
gibt ... Das ganze Gesetz des menschlichen Seins besteht nur darin, daß
der Mensch sich stets vor etwas unermeßlich Großem beugen kann. Wollte
man aber den Menschen das unermeßlich Große nehmen, so würden sie das
Leben nicht mehr auf sich nehmen und in Verzweiflung den Tod suchen. Das
Unermeßliche und Unendliche ist für den Menschen ebenso notwendig, wie
dieser kleine Planet, auf dem er lebt ... Meine Freunde, alle, alle: es
lebe der Große Gedanke! Der Ewige, unermeßliche Gedanke! Jeder Mensch,
wer er auch sei, muß sich davor beugen, daß der Große Gedanke existiert!
Sogar der dümmste Mensch braucht unbedingt wenigstens irgend etwas
Großes. Petruscha ... Oh, wie gern ich sie alle wiedersehen würde! Sie
wissen nicht, sie wissen nicht, daß auch in ihnen immer ganz derselbe
Ewige Große Gedanke enthalten ist!«

Doktor Salzfisch war bei der Zeremonie nicht zugegen gewesen. Als er nun
plötzlich eintrat, war er entsetzt: er trieb sofort die ganze
Versammlung auseinander und bestand darauf, daß der Kranke unbedingt
Ruhe haben müsse.

Stepan Trophimowitsch starb nach drei Tagen, nachdem er die letzte Zeit
in voller Bewußtlosigkeit gelegen hatte. Er erlosch gleichsam, wie ein
zu Ende gebranntes Licht. Warwara Petrowna ließ noch in Ustjewo das
Totenamt für den Verstorbenen halten und brachte dann die Leiche ihres
armen Freundes nach Skworeschniki. Sein Grab auf dem Kirchhofe ist heute
bereits mit einer Marmorplatte bedeckt, doch die Aufschrift und das
eiserne Gitter sollen erst im Frühling gemacht werden.

Die Abwesenheit Warwara Petrownas aus der Stadt dauerte ganze acht Tage.
Mit ihr zusammen, in derselben Equipage, kam auch Ssofja Matwejewna, die
sich nun, wie's scheint, endgültig bei ihr niedergelassen hat.
Bemerkenswert ist noch, daß Warwara Petrowna sofort, nachdem Stepan
Trophimowitsch die Besinnung verloren hatte -- also noch am selben
Morgen --, Ssofja Matwejewna aus dem Hause schickte und ganz allein den
Kranken bis zu seinem Tode pflegte. Kaum aber war er verschieden, da
ließ sie auch »jene« wieder zu sich rufen. Das Anerbieten (richtiger,
der Befehl) Warwara Petrownas, für immer nach Skworeschniki zu ziehen,
erschreckte die arme Ssofja Matwejewna entsetzlich, doch alle ihre
ängstlichen Einwendungen wurden von Warwara Petrowna überhaupt nicht
angehört:

»Unsinn! Ich werde selbst für dich die Bibeln verkaufen gehen. Habe ich
doch jetzt niemanden mehr auf der Welt.«

»Sie haben doch noch Ihren Sohn, gnädige Frau,« bemerkte Doktor
Salzfisch, der zugegen war.

»Ich habe keinen Sohn,« sagte Warwara Petrowna kurz und -- hatte es
somit vorhergesagt.




                      Dreiundzwanzigstes Kapitel.
                               Der Schluß


                                   I.

Alle die begangenen Schandtaten und Verbrechen wurden erstaunlich
schnell bekannt, weit schneller, als Pjotr Stepanowitsch angenommen
hatte. Es begann damit, daß die unglückliche Marja Ignatjewna nach der
Nacht, in der ihr Mann ermordet worden war, sehr früh, noch vor
Sonnenaufgang, aus tiefem Schlaf erwachte, und zu ihrem Schreck und zu
ihrer Angst Schatoff nicht bei sich, nicht an ihrem Bett, noch im Zimmer
sah. In einer Ecke schlief nur die von Arina Prochorowna besorgte
Wärterin. Diese vermochte aber die Kranke nicht zu beruhigen, und
schließlich wußte sie nichts anderes zu tun, als schnell zu Arina
Prochorowna zu laufen, nachdem sie ihrer Pflegebefohlenen noch
versichert hatte, daß Wirginskis bestimmt wissen würden, wo Schatoff
geblieben war, und wann er zurückkehren werde.

Währenddessen war auch Arina Prochorowna in nicht geringer Aufregung:
sie wußte schon durch ihren Mann, was im Park zu Skworeschniki geschehen
war. Wirginski war erst um elf Uhr nachts in einem furchtbaren Zustande
nach Hause gekommen: er hatte die Hände gerungen und sich auf das Bett
geworfen, um das Gesicht in den Kissen zu vergraben und immer nur unter
Zucken und Beben, schluchzend, immer nur dies eine zu wiederholen: »Das
ist doch nicht das, nicht das; das ist ja gar nicht das!«
Selbstverständlich endete es schließlich damit, daß er seiner Frau, die
unablässig in ihn drang, alles beichtete -- übrigens doch nur ihr
allein. Arina Prochorowna hieß ihn im Bett bleiben und schärfte ihm
strengstens ein, daß er, falls er heulen wolle, dann ins Kissen heulen
solle, damit es die anderen nicht hörten, und daß er ein Esel wäre, wenn
er sich am nächsten Tage etwas anmerken ließe. Darauf überlegte sie
rasch und machte sich dann schnell daran, auf alle Fälle gewisse
Vorkehrungen zu treffen: alle zweifelhaften Papiere und Bücher, und
vielleicht sogar Proklamationen konnte sie teils noch beiseite schaffen,
teils spurlos vernichten. Nach kurzem Nachdenken sagte sie sich aber,
daß sie selbst, ihre Schwester, die Tante und die Studentin weiter
nichts zu fürchten hatten, ja, und vielleicht nicht einmal ihr
langohriges Brüderlein -- Schigaleff. Als dann gegen Morgen die Wärterin
kam und sie zu Marja Ignatjewna rief, verlor sie weiter keinen
Augenblick und ging sofort zu ihrer Kranken. Übrigens wollte sie sich
auch selbst überzeugen, wie es sich damit verhielt, was ihr Mann in der
Nacht, halb unzurechnungsfähig, von den Versicherungen Pjotr
Stepanowitschs erzählt hatte: daß Kirilloff alles auf sich nehmen und
sich erschießen werde.

Aber sie kam zu spät. Marja Ignatjewna hatte, nachdem sie die Wärterin
zu Arina Prochorowna geschickt, es nicht lange allein ausgehalten, war
aufgestanden, hatte sich irgendwie halb angezogen, und war dann selbst
zu Kirilloff in den Flügel gegangen, da er, wie sie meinte, ihr am
ehesten sagen konnte, wo ihr Mann geblieben war. Man kann sich
vorstellen, wie das, was sie dort erblickte, auf die Wöchnerin wirkte.
Merkwürdigerweise hat sie dabei den Brief, den Kirilloff hinterlassen
hatte und der sichtbar auf dem Tische lag, gar nicht gelesen, -- sie
wird ihn in ihrem Schreck und Entsetzen wohl gar nicht bemerkt haben.
Sie lief in die Dachstube zurück, ergriff ihr kleines Kind und verließ
das Haus. Der Morgen war feucht, Nebel stand ringsum. Kein Mensch war in
dieser abgelegenen Straße zu sehen. Sie lief und lief, atemlos, immer
weiter durch den kalten sumpfigen Straßenschmutz und schließlich begann
sie, an die Häuser zu klopfen. Im ersten Hause wurde nicht aufgemacht,
im zweiten hörte sie endlich Stimmen. Doch sie verlor die Geduld, zu
warten, und lief zum dritten Hause. Das war das Haus unseres Kaufmanns
Titoff. Hier rief sie große Bestürzung hervor: sie schrie und
versicherte zusammenhanglos, man habe ihren Mann, Schatoff, ermordet.
Titoffs wußten, wer Schatoff war, und kannten zum Teil auch seine
Lebensgeschichte. Sie erschraken nicht wenig, als sie von dieser fremden
Frau hörten, daß sie vor noch nicht vierundzwanzig Stunden geboren habe
und nun kaum bekleidet in dieser Kälte mit dem fast nackten Kindchen
herumlief. Zuerst glaubte man, sie habe den Verstand verloren, um so
mehr, als man aus ihren Worten nicht recht klug werden konnte, wer nun
eigentlich ermordet worden war: Kirilloff oder ihr Mann? Marja
Ignatjewna aber wollte schon wieder aus dem Hause laufen, da sie wohl
trotz ihrer Erregung merkte, daß man ihr nicht ganz glauben zu wollen
schien; doch da hielt man sie mit Gewalt zurück, obgleich sie furchtbar
schrie und um sich schlug. Jedenfalls ging man sofort zu Kirilloff, um
zu sehen, was mit ihm geschehen war -- und so wußte denn schon nach zwei
Stunden die ganze Stadt von dem Selbstmord Kirilloffs und dem Brief, den
er hinterlassen hatte. Die Polizei erschien zum Verhör bei Marja
Ignatjewna, die noch bei Bewußtsein war. Und eben hierbei stellte es
sich heraus, daß sie Kirilloffs Schreiben gar nicht gelesen hatte, warum
sie aber zu dem Schluß gekommen war, daß auch ihr Mann tot sei --
darüber konnte man von ihr nichts Vernünftiges erfahren. Sie schrie
immer nur, wenn jener ermordet sei, dann sei auch ihr Mann ermordet,
denn -- »sie waren zusammen, zusammen!« Gegen Mittag verlor sie das
Bewußtsein; sie starb am übernächsten Tage, ohne noch einmal zu sich zu
kommen. Das erkältete Kindchen starb noch vor ihr.

Inzwischen war Arina Prochorowna bei Schatoffs angelangt: als sie weder
die junge Mutter noch das Kind vorfand, sagte sie sich sofort, daß hier
etwas Schlimmes geschehen sein müsse, und wollte schon wieder nach Haus
zu ihrem Mann laufen, doch noch an der Pforte besann sie sich und
schickte die Wärterin in den Flügel zu Kirilloff, damit sie sich bei
diesem erkundige, ob er etwas wisse, oder ob die Kranke bei ihm war. Die
Frau kam mit entsetztem Geschrei zurückgelaufen. Arina Prochorowna hielt
ihr sofort den Mund zu und brachte sie mit dem bekannten Argument: »Wenn
du was sagst, so wird man dich für die Schuldige halten!« zum Schweigen
und verließ dann selbst schnell den Hof.

Selbstredend erschien die Polizei noch am selben Morgen bei ihr, da sie
ja Schatoffs Frau entbunden hatte. Es war aber nicht viel, was man von
ihr erfuhr: kaltblütig und sehr sachlich erzählte sie, was sie bei
Schatoffs gesehen und gehört hatte, doch von den letzten Vorfällen
behauptete sie, weder etwas Näheres zu wissen, noch überhaupt das
Geschehnis begreifen zu können.

Man kann sich vorstellen, wie groß die Aufregung in der Stadt war.
Wieder eine »Geschichte«, wieder ein Mord! Und jetzt kam noch etwas
anderes hinzu: es war nun klar, daß es also doch eine geheime
Verschwörerbande gab: revolutionäre Brandstifter, Aufrührer und Mörder.
Der furchtbare Tod Lisas, die Ermordung der Frau Nicolai Stawrogins,
Stawrogins Verhalten, der Brand, der Ball für die Gouvernanten, die
Ungebundenheit in der Umgebung Julija Michailownas: das alles kam
zusammen! Sogar in dem plötzlichen Verschwinden Stepan Trophimowitschs
wollte man unbedingt etwas Bedeutsames sehen. Ja, es gingen schon sehr,
sehr schlimme Urteile und Gerüchte über Stawrogin um. Am Abend dieses
Tages erfuhr man auch die Abreise Pjotr Stepanowitschs, doch
sonderbarerweise wurde darüber am allerwenigsten gesprochen -- am
meisten dagegen sprach man von dem »Senator«, der aus Petersburg bereits
eingetroffen sein sollte. Vor dem Filippoffschen Hause stand den ganzen
Vormittag über eine ansehnliche Volksmenge. Die Polizei wurde durch
Kirilloffs »Brief an die ganze Welt« zunächst tatsächlich irre gemacht.
Man glaubte an die Ermordung Schatoffs durch Kirilloff und an den
Selbstmord des »Mörders«. Übrigens glückte die Irreführung doch nicht so
ganz. Das Wort »Park« zum Beispiel, das sich ohne nähere Ortsangabe in
dem Brief fand, war für keinen ein Rätsel, wie Pjotr Stepanowitsch
erwartet hatte. Die Polizei jagte vielmehr sofort nach Skworeschniki,
und zwar nicht nur deshalb, weil es einen anderen Park weder in der
Stadt noch in deren Umkreise gab, sondern gewissermaßen schon aus bloßem
Instinkt, da doch alle Schrecken der letzten Tage teils mittelbar, teils
unmittelbar mit Skworeschniki verbunden waren. (Ich muß hier bemerken,
daß Warwara Petrowna schon am Morgen dieses Tages aus ihrem Stadthause
auf die Suche nach Stepan Trophimowitsch ausgefahren war.) Die Leiche
Schatoffs wurde am Abend desselben Tages im Teich gefunden: neben der
Grotte hatten die Mörder in unglaublichem Leichtsinn Schatoffs Mütze
liegen lassen, und von dort aus ließen sich dann deutliche Spuren bis
zur Fundstelle verfolgen. Dieser Umstand sowie einige ärztliche
Feststellungen bei der Leichenschau legten sofort den Verdacht nahe, daß
Kirilloff Helfershelfer gehabt haben müsse. Man vermutete zunächst eine
»Schatoff-Kirilloffsche geheime Gesellschaft«, die mit den
Proklamationen irgendwie in Zusammenhang stehen mußte. Wer aber waren
diese Leute? Von den »Unsrigen« ahnte man an diesem Tage noch nicht das
geringste. Aus dem Briefe war nur hervorgegangen, daß Fedjka, den man
überall vergeblich gesucht, gerade in diesen Tagen völlig unbemerkt bei
Kirilloff hatte leben können! ... Der Hauptkummer aller blieb, daß man
aus dem ganzen Wirrwarr der Tatsachen nichts Allgemeines und
Zusammenhängendes kombinieren konnte. Und ganz unmöglich ist es
abzusehen, zu welchen abenteuerlichen Folgerungen man noch gekommen
wäre, wenn man nicht plötzlich, schon am anderen Tage, den ganzen wahren
Sachverhalt erfahren hätte -- dank Lämschin.

Der hielt es nicht aus. Es geschah mit ihm das, was sogar Pjotr
Stepanowitsch zum Schluß vorauszufühlen begonnen hatte. Lämschin war
zuerst der Obhut Tolkatschenkos, dann Erkels anvertraut worden und
verbrachte diesen ganzen Tag im Bett: er lag, anscheinend ganz zahm, mit
dem Gesicht zur Wand, sprach kein Wort und antwortete nicht einmal, wenn
man zu ihm redete. So erfuhr er denn auch nichts davon, was in der Stadt
geschah. Da fiel es aber Tolkatschenko, der natürlich alles wußte, gegen
Abend ein, den von Pjotr Stepanowitsch ihm ausdrücklich gegebenen
Auftrag, Lämschin zu bewachen, einfach abzuschütteln und die Stadt zu
verlassen, d. h. sich einfach aus dem Staube zu machen. Wahrlich, Erkel
hatte recht, als er sagte, sie hätten doch schon alle die Vernunft
verloren. Hier mag gleich erwähnt sein, daß auch Liputin an eben diesem
Tage aus der Stadt verschwand, und zwar schon am Morgen. Das erfuhr man
aber erst am Abend des nächsten Tages, als die Polizei sich zu Liputin
begab und dort nur dessen vor Angst über die Abwesenheit des Gatten und
Vaters zitternde Familie vorfand. Doch ich fahre fort, von Lämschin zu
erzählen. Kaum war er also allein geblieben (Erkel war, da er sich auf
Tolkatschenko verlassen zu können glaubte, fortgegangen), als er sofort
aus dem Hause lief und natürlich sehr bald die ganze Lage der Dinge
erfuhr. Ohne nach Haus zurückzukehren, begann er zu laufen, weiter und
immer weiter. Aber die Nacht war so dunkel und sein Vorhaben dermaßen
grausig und schwer, daß er schon nach ein paar Straßen umkehrte und doch
nach Hause ging, wo er sich für die ganze Nacht einschloß. Ich glaube,
gegen Morgen machte er einen Selbstmordversuch; aber der mißlang ihm. So
saß er in dem verschlossenen Zimmer bis zum Mittag des nächsten Tages,
und -- plötzlich lief er schnurstracks auf die Polizei. Man sagte, er
sei dort auf den Knien herumgerutscht, habe geschluchzt und gekreischt
und die Diele geküßt, habe in einem fort geschrien, er sei nicht einmal
wert, die Stiefel der vor ihm stehenden »Würdenträger« zu küssen. Man
beruhigte ihn und war sehr freundlich zu ihm. Das Verhör zog sich durch
ganze drei Stunden hin. Er gestand alles, alles, erzählte die letzten
Einzelheiten, griff vor, überhastete sich mit seinen Geständnissen und
mischte, ohne danach gefragt zu sein, alles mögliche Unnötige hinein. Im
allgemeinen aber wußte er die Sache doch ganz anschaulich darzustellen:
die Tragödie mit Schatoff und Kirilloff, die Feuersbrunst, die Ermordung
der Lebädkins usw. traten als das Unwichtigere mehr in den Hintergrund;
in den Vordergrund aber traten: Pjotr Stepanowitsch, der Geheimbund,
seine Organisation, die Fünfergruppen, das Netz. Auf die Frage, warum
man denn so viele Menschen ermordet, so viele Verbrechen begangen hatte,
antwortete er mit eilfertigem Eifer: »Zur systematischen Erschütterung
der Grundfesten und zur systematischen Zersetzung der ganzen
Gesellschaft und alles bisher Bestehenden; um alle zu entmutigen und aus
allem einen einzigen großen Brei zu machen, dann aber die auf diese
Weise zerrüttete, kranke, zynische, ungläubige Masse, die sich jedoch
bis zum äußersten nach einer leitenden Idee und nach Selbsterhaltung
sehnt, -- plötzlich in die Hand zu nehmen, die Fahne des Bundes zu
erheben und im übrigen sich auf das weitverzweigte Netz der
>Fünfergruppen< zu stützen, die inzwischen ihrerseits alle nicht müßig
gewesen sind, Jünger geworben und praktisch alle Möglichkeiten geprüft
und alle schwachen Stellen des Gegners ausfindig gemacht haben, so daß
man genau weiß, wo er am besten zu fassen ist.« Er schloß mit der
Mitteilung, daß hier in unserer Stadt von Pjotr Stepanowitsch nur der
erste Versuch einer solchen systematisch hervorgerufenen Unordnung
gemacht worden sei -- sozusagen eine Art Prüfung des Programms der
ferneren Tätigkeit nicht nur dieser, sondern auch aller übrigen
Fünfergruppen. Letzteres sei aber seine -- d. h. Lämschins -- eigene
Vermutung und er bäte nur, daß man das alles nicht vergesse, vielmehr in
Betracht ziehe, bis zu welchem Grade er aufrichtig sei und wie gut er
den Sachverhalt klarlege, so daß er noch sehr nützlich sein könnte, wenn
die Polizei sich seiner annehmen wollte. Auf die Frage, ob es viele
solcher »Fünfergruppen« in Rußland gäbe, antwortete er, es gäbe ihrer
eine unzählige Menge, die wie ein Netz ganz Rußland umspinne. Daran hat
er, wie mir scheint, selbst vollkommen aufrichtig geglaubt, wenn er auch
keine Beweise anführen konnte. Vorzeigen konnte er nur ein im Auslande
gedrucktes Programm der Gesellschaft und ferner ein Projekt der
»Entwicklung des Systems aller weiteren Handlungen«, das von Pjotr
Stepanowitsch selbst geschrieben war. Es erwies sich, daß Lämschin den
ganzen langen Satz von der »Erschütterung der Grundfesten« wortwörtlich,
ohne ein Komma oder einen Punkt zu vergessen, nach diesem Blatt zitiert
hatte, trotz seiner Beteuerung hinterher, daß es seine eigene Auffassung
sei. Über Julija Michailowna äußerte er sich erstaunlich scherzhaft und
sogar ohne gefragt zu sein, indem er wieder vorgriff, daß sie »ganz
unschuldig« sei und man sie »nur zum besten« gehabt habe. Bemerkenswert
ist aber, daß er auch Nicolai Stawrogin von jeder Teilnahme an dem
Geheimbunde, sowie von jedem Einverständnis mit Pjotr Stepanowitsch
freisprach. (Von den geheimnisvollen lächerlichen Hoffnungen Pjotr
Stepanowitschs auf Stawrogin ahnte Lämschin natürlich nichts.) Auch die
Ermordung der Lebädkins war nach seinen Worten von Pjotr Stepanowitsch
ganz allein den Mördern befohlen worden, ohne jeden Anteil Stawrogins,
und nur in der schlauen Absicht, diesen in ein Verbrechen
hereinzuziehen, um dann über ihn Macht zu bekommen -- anstatt der
Dankbarkeit aber, auf die er zweifellos gerechnet, habe Pjotr
Stepanowitsch nur heftigen Unwillen und sogar Verzweiflung in dem
»edlen« Nicolai Wszewolodowitsch hervorgerufen. Und zum Schluß fügte
Lämschin in seinen Aussagen über Stawrogin noch hinzu -- übrigens
gleichfalls ungefragt und sich überhastend, augenscheinlich in der
Absicht, einen Wink zu geben --, daß dieser ein ungeheuer wichtiges Tier
sei, nur müsse das unbedingt ein Geheimnis bleiben; aufgehalten habe er
sich bei uns sozusagen inkognito, und dabei habe er hochwichtige geheime
Aufträge gehabt, und deshalb sei es sehr möglich, daß er aus Petersburg
bald wieder zu uns zurückkehren werde (Lämschin war überzeugt, daß
Stawrogin in Petersburg sei), dann aber schon mit ganz anderen Aufträgen
und mit einer Suite von solchen Persönlichkeiten, von denen man
vielleicht auch bei uns schon bald hören werde, und alles das habe er
von Pjotr Stepanowitsch gehört, dem »geheimen Feinde Nicolai
Stawrogins«.

Hierzu eine Randbemerkung: zwei Monate später gestand Lämschin, er habe
Stawrogin absichtlich von allem freigesprochen, und zwar in der Hoffnung
auf dessen Protektion: er habe geglaubt, Stawrogin werde ihm dann aus
Dankbarkeit in Petersburg eine bedeutende Erleichterung seiner Strafe
erwirken können und ihm vielleicht auch nach Sibirien Geld und
Empfehlungen schicken. Aus diesem zweiten Geständnis ersieht man erst,
wie hoch Stawrogin auch von einem Lämschin eingeschätzt wurde.

Am selben Tage wurde natürlich auch Wirginski verhaftet, und im Eifer
verhaftete man auch gleich seine ganze »Familie«. (Heute sind Arina
Prochorowna, ihre Schwester und Tante sowie die Studentin schon längst
wieder frei und es heißt sogar, auch Schigaleff werde in kürzester Zeit
aus der Untersuchungshaft entlassen werden, da er in keine Kategorie der
Angeklagten hineinpasse.) Wirginski bekannte sich sofort in allen Dingen
schuldig: er war krank und hatte hohes Fieber, als man ihn verhaftete.
Man erzählt, er habe sich fast gefreut: nun sei es »vom Herzen gewälzt«,
soll er gesagt haben. Jetzt heißt es von ihm, daß er seine Aussagen
wahrheitsgetreu und sogar mit einer gewissen Würde mache, doch von
seinen »hellen Hoffnungen« noch immer nicht lasse und nur den
politischen Weg, auf den er so unverhofft und unschuldig gelockt worden
war, verwünsche (im Gegensatz zum sozialen). Sein Verhalten während des
Verbrechens im Park soll, glaube ich, zur Milderung seiner Strafe in
Betracht gezogen werden. Wenigstens behauptet man das allgemein bei uns.

Anders steht es mit dem Schicksal Erkels. Der schweigt seit seiner
Verhaftung hartnäckig, oder er entstellt die Wahrheit soviel er nur
kann. Noch hat man kein einziges Wort der Reue aus ihm herauszuholen
vermocht. Und doch hat er selbst in den strengsten Richtern Sympathie
erweckt, -- durch seine Jugend, durch seine Schutzlosigkeit, sowie durch
die erwiesene Tatsache, daß er nur das fanatische Opfer eines
politischen Verführers ist, vor allem aber durch sein jetzt bekannt
gewordenes Verhältnis zu seiner armen Mutter, der er monatlich fast die
Hälfte seines kleinen Gehaltes zugeschickt hat. Seine Mutter ist jetzt
hier: sie ist eine schwache, kranke, vorzeitig alt gewordene Frau. Sie
weint und wirft sich -- es ist wortwörtlich zu nehmen -- den Richtern zu
Füßen, um für ihren Sohn Gnade zu erflehen.

Liputin wurde schließlich in Petersburg verhaftet, nachdem er dort zwei
volle Wochen sich aufgehalten hatte. Mit ihm war etwas ganz
Unwahrscheinliches geschehen, etwas, das man sich nur schwer erklären
kann. Er, der einen Paß auf einen fremden Namen und bei beträchtlichen
Geldmitteln durchaus die Möglichkeit hatte, ins Ausland zu entkommen,
war trotzdem in Petersburg geblieben: eine Zeitlang hatte er Stawrogin
und Pjotr Stepanowitsch gesucht, dann aber hatte er plötzlich zu trinken
begonnen und ein über alle Maßen ausschweifendes Leben geführt, ganz wie
ein Mensch, der jede gesunde Vernunft sowie jede Vorstellung von seiner
Lage verloren hat. Verhaftet wurde er denn auch in einem Bordell, in
betrunkenem Zustande. Jetzt soll er aber wieder zur Vernunft gekommen
sein, durchaus nicht den Mut verloren haben, in seinen Aussagen lügen
und zu der Gerichtsverhandlung sich mit einer gewissen Feierlichkeit und
Hoffnungsfreudigkeit vorbereiten (?). Ja, er soll sogar die Absicht
haben, vor Gericht eine Rede zu halten.

Tolkatschenko dagegen, der irgendwo im Nachbarkreise zehn Tage nach
seiner Flucht verhaftet wurde, verhält sich weit bescheidener, lügt
nicht und verstellt sich nicht, sondern sagt alles, was er weiß, ohne
sich dabei freisprechen zu wollen, ist aber gleichfalls ein wenig zum
»Reden« geneigt: er spricht viel und gern, und wenn man auf die Kenntnis
des Volkes und dessen revolutionäre (?) Elemente zu sprechen kommt, dann
beginnt er sogar zu posieren und nach Effekt zu haschen. Auch er soll,
wie man hört, eine Rede zur Gerichtsverhandlung vorbereiten. Überhaupt
sind er und Liputin nicht allzu eingeschüchtert, und das ist eigentlich
sonderbar.

Wie gesagt, das gerichtliche Urteil in dieser Sache ist noch nicht
gesprochen.

Unsere Gesellschaft jedoch hat sich jetzt, nach drei Monaten, schon
wieder einigermaßen erholt, gesammelt, und sich sogar eine eigene
Meinung gebildet -- allerdings eine dermaßen eigene, daß jetzt viele bei
uns Pjotr Stepanowitsch für ein Genie halten, oder doch wenigstens für
einen Menschen mit »hoch genialen Anlagen«.

»Da sieht man, was Organisation bedeutet!« sagt man im Klub und erhebt
dabei den Finger. Übrigens ist das alles furchtbar harmlos, und
schließlich sind es nicht einmal viele, die so reden.

Andere dagegen urteilen weit weniger günstig über ihn, und wenn sie ihm
auch eine große Begabung nicht absprechen, so tadeln sie doch seine
vollkommene Unkenntnis der Wirklichkeit, bei schrecklicher Abstraktion
und ungeheuerlicher und stumpfer Entwicklung nur nach einer Seite hin
und daraus folgendem außergewöhnlichen Leichtsinn.

Das Urteil über seine Moral ist natürlich bei allen das gleiche; darüber
streitet schon niemand mehr.

Ich weiß eigentlich nicht, wen ich der Vollständigkeit halber noch zu
erwähnen hätte. Mawrikij Nicolajewitsch ist irgendwohin auf immer von
hier weggereist. Lisas Mutter ist kindisch geworden ... Nur eine düstere
Geschichte bleibt mir noch zu erzählen übrig. Ich werde mich mit den
Tatsachen begnügen.

Warwara Petrowna war nach ihrer Rückkehr mit der Leiche Stepan
Trophimowitschs aus Ustjewo wieder in ihrem Stadthause abgestiegen. Die
Neuigkeiten, die sich hier inzwischen angesammelt hatten und die sie nun
alle mit einem Male erfuhr, erschütterten sie entsetzlich. Es war Abend;
alle waren müde und man ging früher zu Bett.

Am folgenden Morgen übergab die Kammerzofe Darja Pawlowna mit
geheimnisvoller Miene einen Brief. Sie sagte, sie hätte ihn erst spät am
Abend erhalten, als alle schon schliefen, und nicht gewagt, Darja
Pawlowna aufzuwecken. Der Brief war nicht mit der Post gekommen, sondern
in Skworeschniki von einem unbekannten Menschen Alexei Jegorowitsch
eingehändigt worden. Dieser aber habe den Brief gestern Abend ihr -- der
Kammerzofe -- selbst überbracht und sei darauf sofort nach Skworeschniki
zurückgefahren.

Darja Pawlowna betrachtete mit klopfendem Herzen lange diesen Brief und
wagte nicht ihn zu öffnen. Sie wußte, von wem er war: so schrieb nur
Nicolai Stawrogin. Sie las die Aufschrift auf dem Kuvert: »An Alexei
Jegorytsch zur Übergabe an Darja Pawlowna, heimlich.«

Hier ist dieser Brief, Wort für Wort, ohne Korrektur auch nur des
geringsten Fehlers in den Sätzen dieses russischen Edelmannes, der
ungeachtet seiner ganzen europäischen Bildung die Grammatik seiner
Muttersprache nicht zu Ende gelernt hatte.

   »Liebe Darja Pawlowna,

   Sie wollten einmal >als Krankenschwester< zu mir kommen und nahmen
   mir das Wort ab, Sie zu rufen, wenn es nötig wird. Ich fahre in zwei
   Tagen und werde nie mehr wiederkehren. Wollen Sie mit mir gehen?

   Im vorigen Jahr habe ich mich wie seinerzeit Herzen als Bürger des
   Kantons Uri aufnehmen lassen, und das weiß niemand. Ich habe mir
   dort schon ein kleines Haus gekauft. Ich habe noch zwölftausend
   Rubel; wir fahren dann fort und werden dort ewig leben. Ich werde
   sonst niemals nirgend wohin mehr reisen.

   Die Stelle ist sehr öde, eine Schlucht; die Berge beengen den Blick
   und den Gedanken. Es ist sehr düster. Ich tat es, weil das kleine
   Haus gerade verkauft wurde. Wenn es Ihnen nicht gefällt, so verkaufe
   ich es und kaufe ein anderes an einem anderen Ort.

   Ich bin nicht gesund, aber von den Halluzinationen hoffe ich mich
   durch die dortige Luft zu befreien. Physisch; moralisch aber wissen
   Sie alles; nur, ist es auch wirklich alles?

   Ich habe Ihnen vieles aus meinem Leben erzählt. Aber nicht alles.
   Sogar Ihnen nicht alles! Übrigens, ich bestätige, daß ich mit dem
   Gewissen an dem Tode meiner Frau schuld bin. Ich habe Sie nachher
   nicht mehr gesehen und darum sage ich es hier. Schuld bin ich auch
   vor Lisaweta Nicolajewna; aber hiervon wissen Sie alles; hier haben
   Sie fast alles vorausgesagt.

   Kommen Sie lieber nicht. Daß ich Sie zu mir rufe, ist eine
   schreckliche Gemeinheit. Ja und warum sollten Sie auch mit mir Ihr
   Leben begraben? Mir sind Sie lieb und im Leid war es mir wohl bei
   Ihnen: nur bei Ihnen allein habe ich von mir laut sprechen können.
   Daraus folgt aber nichts. Sie haben es selbst geprägt: >als
   Krankenschwester< -- das ist Ihr Ausdruck; wozu so viel opfern?
   Begreifen Sie auch, daß ich Sie nicht bemitleide, wenn ich Sie rufe,
   und nicht achte, wenn ich Sie erwarte. Und währenddessen rufe ich
   Sie und erwarte ich Sie doch. Jedenfalls brauche ich Ihre Antwort,
   denn man muß sehr schnell fahren. In dem Falle werde ich allein
   fortfahren.

   Ich hoffe nichts von Uri; ich fahre einfach. Ich habe nicht mit
   Absicht diesen düsteren Ort gewählt. In Rußland bin ich an nichts
   gebunden, -- hier ist mir alles ebenso fremd wie überall. Es ist
   wahr, in Rußland liebte ich am allerwenigsten zu leben; aber selbst
   in Rußland habe ich nichts zu hassen vermocht!

   Ich habe überall meine Kraft versucht. Sie rieten mir einmal dazu:
   >um sich selbst zu erkennen<. In den Versuchen für mich selbst und
   in den Versuchen nach außen, um mit dieser Kraft zu prahlen, wie
   auch früher in meinem ganzen Leben, erwies sie sich immer als
   grenzenlos. Vor Ihren Augen ertrug ich die Ohrfeige von Ihrem
   Bruder. Ich bekannte öffentlich meine Ehe. Aber an was diese Kraft
   anlegen -- das ist es, was ich nie gesehen habe, auch jetzt nicht
   sehe, trotz Ihres Beifalls in der Schweiz und Ihres Zuspruchs, dem
   ich traute. Ich kann auch jetzt noch ganz so, wie auch früher immer,
   eine gute Tat zu begehen wünschen und empfinde Vergnügen dabei;
   daneben aber will ich auch Böses und empfinde dabei gleichfalls
   Vergnügen. Aber dieses wie jenes Gefühl ist, ganz wie früher, immer
   zu klein und flach, sehr stark aber pflegt es nie zu sein. Meine
   Wünsche sind viel zu wenig stark; sie können nicht leiten. Auf einem
   Balken kann man über einen Fluß schwimmen, auf einem Holzspan aber
   nicht. Ich schreibe das nur, damit Sie nicht denken, daß ich mit
   irgendwelchen Hoffnungen nach Uri fahre.

   Ich beschuldige wie immer niemanden. Ich habe ein grenzenlos
   ausschweifendes Leben versucht und meine Kraft in ihm erschöpft:
   aber ich liebe Ausschweifung nicht, noch wollte ich sie. Sie haben
   mich in der letzten Zeit beobachtet. Wissen Sie auch, daß ich sogar
   auf unsere Verneiner mit Haß geblickt habe, aus Neid auf ihre
   Hoffnungen? Aber Sie haben sich umsonst gefürchtet; ich konnte denen
   nicht Freund sein, denn ich erblickte nichts. Zum Spott aber, aus
   Bosheit, habe ich es auch nicht gekonnt und nicht, weil ich das
   Lächerliche fürchte, -- das Lächerliche kann mich nicht schrecken,
   -- sondern weil ich immerhin die Angewohnheiten eines anständigen
   Menschen habe und es mich anekelte. Doch wenn ich mehr Bosheit und
   Neid für sie hätte, so würde ich vielleicht auch mit ihnen gegangen
   sein. Urteilen Sie nun selbst, wie leicht es mir zumute war und wie
   ich mich hin und her gewälzt habe!

   Du, mein liebster Freund, Du zartes und großmütiges Geschöpf, das
   ich nun endlich erraten habe! Vielleicht träumen Sie davon, mir so
   viel Liebe zu geben und mich mit so viel Schönem aus Ihrer
   wundervollen Seele zu überschütten, daß Sie hoffen, schon damit
   endlich auch ein Ziel vor mich hinstellen zu können? Nein, Sie
   sollten lieber vorsichtiger sein; meine Liebe wird ebenso flach
   sein, wie ich selbst bin, Sie aber werden unglücklich sein. Ihr
   Bruder hat mir einmal gesagt, daß derjenige, der die Verbindung mit
   seiner Erde verliert, sofort auch seine Götter verliert, das heißt
   also alle seine Ziele. Über alles kann man endlos streiten, aber aus
   mir ist nur Verneinung gekommen, ohne jede Großmut und ohne jede
   Kraft. Sogar nicht einmal Verneinung! Alles ist immer flach und
   schlaff. Der hochherzige Kirilloff ertrug die Idee nicht und --
   erschoß sich: aber ich weiß doch, daß er deshalb hochherzig war,
   weil er nicht bei gesunder Vernunft war. Ich werde nie meine
   Vernunft verlieren können und werde nie in dem Maße an eine Idee
   glauben können, wie er. Ich kann mich in dem Maße nicht einmal mit
   einer Idee beschäftigen. Nie, nie werde ich mich erschießen können!

   Ich weiß, daß ich mich töten müßte, mich wie ein scheußliches Insekt
   von der Erde wegfegen; aber ich fürchte den Selbstmord, denn ich
   fürchte mich, Hochherzigkeit zu zeigen. Ich weiß, daß das noch ein
   Betrug sein würde, -- der letzte Betrug in der endlosen Reihe der
   Betrüge. Was hätte es für einen Nutzen, sich selbst zu betrügen, nur
   um einmal den Hochherzigen zu spielen? Unwille und Scham kann in mir
   niemals sein; folglich auch keine Verzweiflung.

   Verzeihen Sie, daß ich so viel schreibe. Ich bin wieder zur
   Besinnung gekommen. Ich habe das aus Versehen getan. So sind hundert
   Seiten zu wenig und zehn Zeilen genug. Zehn Zeilen genügen, wenn man
   jemand >als Krankenschwester< ruft.

   Seit ich fortgefahren bin, lebe ich auf der sechsten Station beim
   Stationschef. Seine Bekanntschaft habe ich vor fünf Jahren in
   Petersburg in der wüsten Zeit gemacht. Niemand weiß es, daß ich bei
   ihm bin. Schreiben Sie unter seinem Namen. Die Adresse füge ich bei.

                                                   Nicolai Stawrogin.«

Darja Pawlowna ging sofort zu Warwara Petrowna und gab ihr den Brief.
Diese las ihn durch und bat darauf Dascha, sie allein zu lassen, da sie
den Brief noch einmal lesen wolle. Aber sie rief sie schon sehr bald
zurück.

»Wirst du fahren?« fragte sie fast zaghaft.

»Ja, ich werde fahren,« antwortete Dascha.

»Dann mach dich bereit! Wir fahren zusammen!«

Dascha sah sie fragend an.

»Was soll ich hier jetzt noch? Ist es nicht einerlei, wo ich weiterlebe?
Ich werde mich gleichfalls in Uri aufnehmen lassen und in der Schlucht
leben ... Sei unbesorgt, werde euch nicht stören.«

Sie begannen schnell einzupacken, um noch mit dem Mittagzuge abfahren zu
können. Es war aber noch keine halbe Stunde vergangen, als Alexei
Jegorytsch aus Skworeschniki eintraf und meldete, daß Nicolai
Wszewolodowitsch plötzlich am Morgen angekommen war, mit dem Frühzuge,
und sich in Skworeschniki befinde, aber »in einem Zustande, daß der Herr
auf die Fragen nicht zu antworten geruhten, durch alle Zimmer gingen,
und sich dann in seiner Hälfte eingeschlossen haben ...«

»Ich bin ohne Befehl des Herrn hergefahren, um zu melden,« fügte Alexei
Jegorytsch verhalten, mit sehr aufmerksamem Blick hinzu.

Warwara Petrowna sah ihn durchdringend an und fragte nicht weiter. Im
Augenblick war der Wagen bereit. Sie fuhr mit Dascha nach Skworeschniki.
Während der Fahrt soll sie sich mehrmals bekreuzt haben.

In »seiner Hälfte« waren alle Türen unverschlossen, doch Nicolai
Wszewolodowitsch war nirgendwo zu finden.

»Sollte der Herr nicht vielleicht im oberen Stock sein?« fragte
Fomuschka vorsichtig.

Es war sonderbar, daß diesmal mehrere Dienstboten Warwara Petrowna in
die »Hälfte des Herrn« folgten, während die anderen im großen Saal
warteten. Noch nie hatten sie es gewagt, so die Etikette zu
überschreiten. Warwara Petrowna bemerkte es wohl, aber sie schwieg.

Man stieg in den oberen Stock. Dort waren nur drei Zimmer, doch in
keinem einzigen fand man ihn.

»Ja, sollte der Herr nicht vielleicht dahin gegangen sein?« fragte
jemand und wies auf die Tür zur Dachkammertreppe.

Tatsächlich war diese sonst stets geschlossene kleine Tür zur Dachkammer
diesmal offen. Eine schmale, lange und sehr steile Treppe führte hinauf.

»Dorthin gehe ich nicht! Aus welchem Grunde hätte er dorthin gehen
sollen?« fragte Warwara Petrowna, unheimlich erbleichend, und sah sich
nach den Dienstboten um. Die sahen sie an und schwiegen. Dascha
zitterte.

Dann stürzte Warwara Petrowna die Treppe hinauf. Dascha folgte ihr. Doch
kaum hatte Warwara Petrowna in die Dachkammer hineingesehen, als sie
aufschrie und bewußtlos hinfiel.

Der Bürger des Kantons Uri hing hier gleich hinter der kleinen Tür. Auf
dem kleinen Tisch lag ein Stück Papier, auf dem mit Blei gekritzelt die
Worte standen:

»Niemanden beschuldigen. Ich selbst.«

Auf demselben Tischchen lag ferner ein Hammer, ein Stück Seife und ein
großer Nagel. Die starke seidene Schnur, mit der Nicolai Stawrogin sich
erhängt hatte, war dick eingeseift. Alles wies auf volle Absicht hin und
auf klares Bewußtsein bis zum letzten Augenblick.

Die Annahme, daß die Tat in geistiger Umnachtung oder im Irrsinn
geschehen sei, wurde von unseren Ärzten nach der Obduktion mit aller
Entschiedenheit zurückgewiesen.




                             Erster Anhang.
                   Material zum Roman »Die Dämonen«.
              Aus den Notizbüchern F. M. Dostojewskis[55]


                                                       1. Januar 1870.


                        _Stawrogin_ (der Fürst)

Der vollkommen entgegengesetzte Typ jenes Sprosses aus gräflichem Hause,
den Graf Tolstoi in »Kindheit und Jugend« dargestellt hat[56]. Ein Typ
aus der Urbevölkerung, der unbewußt von seiner eigenen typischen Kraft
beunruhigt wird, ganz unmittelbar, und die nicht weiß, worauf sie sich
aufbauen [fußfassen] könnte. Solche autochthonen Typen sind häufig
entweder Stenka Rasins[57] oder Danila Filippowitschs[58], oder sie
gehen bis zum Äußersten des Geißler- oder Skopzentums. Es ist das eine
außergewöhnliche, für sie selbst schwere unmittelbare Kraft, die etwas
verlangt und sucht, worauf sie Fuß fassen [stehen bleiben] und das sie
sich zur Richtschnur nehmen könnte, die bis zur Qual Ruhe, Erlösung von
den Stürmen verlangt und die vorläufig doch unmöglich _nicht_ stürmen
kann bis zu der Zeit, da sie die Beruhigung findet. Er stellt sich
schließlich auf Christus, doch sein ganzes Leben war Sturm und
Unordnung. (Die Masse des Volkes lebt unmittelbar, still und harmonisch,
urtümlich, doch kaum zeigt sich in ihr Bewegung, d. h. einfache
Lebensfunktion, so stellt sie immer diese Typen hervor). Es ist eine
unumfaßbare unmittelbare Kraft, die Ruhe sucht, die erregt ist bis zu
Schmerzen und die sich während der Zeit des Suchens und des Umherirrens
mit Freuden in ungeheuerliche Abweichungen und Experimente stürzt, bis
sie auf einer so starken Idee Fuß faßt, die ihrer unmittelbaren
tierischen Kraft vollkommen proportional ist, -- auf einer Idee, die
dermaßen stark ist, daß sie diese Kraft endlich organisieren und bis zu
weihevoller Stille beruhigen kann.

Überhaupt ein ernsterer Charakter, ernst bis zur Seltsamkeit. Ist
zurückgekehrt mit Gedanken und Fragen, die ihn um so mehr stutzig
machen, als ihm alles neu ist. Manche halten ihn für einen Nihilisten
(z. B. die Mutter), ja er gilt sogar allgemein für einen Nihilisten. Nur
Gr. sieht, daß das nicht ein Nihilist ist (aber was denn sonst?). Er
meint, ein von sich selbst eingenommener Tor, wie es ihrer viele unter
ihnen gibt. Der Fürst spottlacht immer, was Gr. mißfällt und verletzt.
Gr. denkt schließlich, W. habe den Fürsten in der Hand. Mitunter
überraschen Gr. am Fürsten Ausbrüche sowohl von Ernst wie von Zartheit.
Ein sehr ernstes Gespräch. Ein tiefer Zug, daß der Fürst sehr viel und
aufmerksam zuhört. Aber die Mutter fürchtet ihn doch immer. W. nahm ihn
schon in die Hand (d. h. er glaubte, daß es ihm gelungen sei), doch bald
wurde es selbst dem sorglosen W. klar, daß das etwas anderes war. Er
will übrigens dennoch (auf den Rat und die Warnungen U--ffs hin) den
Fürsten in den Mord hineinziehen. Doch W. ist bloß leichtsinnig und
sorglos, wenn es aber nötig ist -- sehr klug: er gewahrt plötzlich, daß
er den Fürsten nicht in den Mord hineinziehen kann, daß es hier gar
nicht das ist, was er vermutet hatte, daß der Fürst nur zuhört, schweigt
und aufpaßt, ja sogar selbst auf Sch--ffs Seite steht. Da löst W. mit
einem Schlage das Mordproblem auf eine andere Weise und umgeht den
Fürsten. Der Verdacht fällt dennoch zum Teil auf den Fürsten; doch nun
nimmt plötzlich der Fürst selbst die Sache in die Hand und enthüllt
sich.

Er wird mit einem Schlage Herr der Sache und besiegt U--ff; dieser
gesteht. Geht geradeswegs zum Zögling, zeigt ihr seine ganze tiefe
Liebe, stellt aber Bedingungen -- sie ist mit Begeisterung
einverstanden. Neue Menschen, erneutes Leben! Götzen zerstören und
Schiffe verbrennen. Ist, falls nötig, bereit, sich von der Erbschaft
loszusagen; doch die Mutter zittert schon und fügt sich. Schreckt den
Gouverneur und den großen Schriftsteller. Hat großmütig Mitleid mit der
jungen Schönheit, die er brutal und schroff verstößt wegen eines
leichtfertigen Ausfalls. (Anfangs scherzte er mit ihr; sie hielt ihn für
einen Nihilisten und ließ es sich einfallen, mit ihm ein wenig zu
spielen; er ließ sie brutal im Stich, war aber im Unrecht: denn es war
nicht Verderbtheit, wie ihm schien, sondern leichtfertige und
gewissensruhige Überzeugung.) Überhaupt: er überzeugt sich, daß ehrlich
und besonders ein _neuer_ Mensch zu sein, nicht so leicht ist, daß dazu
nicht Enthusiasmus allein genügt, was er auch ihr, dem Zögling seiner
Mutter, erklärt: »Ich werde kein _neuer_ Mensch sein, ich bin viel zu
unoriginell dazu,« sagt er, »aber ich habe endlich einige wertvolle
Ideen gefunden, an die ich mich jetzt halten will.« Doch vor jeder
Wiedergeburt oder Auferstehung -- Selbstüberwindung; und deshalb: »du
bist mir nötig, du wirst mich retten mit deiner Stille«. Er sagt:
»Früher verurteilte ich den Nihilismus und war sein erbitterter Feind,
jetzt aber sehe ich ein, daß die Schuldigsten und Schlechtesten wir, die
Herren, sind, wir vom Erdboden Losgerissenen, und darum müssen zuerst
wir uns umgestalten. Wir sind die Hauptfäulnis, auf uns ruht der
Hauptfluch und aus uns ist alles gekommen.«

                                                         7. März 1870.


                          _Stawrogin_ (Fürst)

Der Fürst war der ausschweifendste Mensch und ein hochmütiger
Aristokrat. Er hat sich bereits bekannt gemacht als ein Erzfeind der
Aufhebung der Leibeigenschaft und als ein Unterdrücker der Bauern.

Er ist _Ideenmensch_. Die Idee, die ihn einmal ergreift, beherrscht ihn
ganz; herrscht aber dann nicht so sehr in seinen Gedanken, als wie sie
sich in ihm _verkörpert_, in seine Natur übergeht (immer mit Leiden und
Unruhe), und dann, einmal in seiner Natur inkarniert, verlangt sie ihre
sofortige Umsetzung in die Tat.

Während seiner Abwesenheit aus unserer Stadt hat er seine Überzeugungen
geändert. Seine Überzeugungen ändern heißt für ihn sofort auch sein
ganzes Leben ändern, so daß er schon mit der geheimen Absicht
zurückkehrt, sich von der Erbschaft loszusagen und mit allem zu brechen.
Er ist plötzlich ein furchtbarer Skeptiker geworden, ist maßlos
mißtrauisch und vermutet immer das Schlimmste, -- eine Erscheinung, die
bei einem festen Menschen, für den sich entscheiden, die Schiffe
verbrennen und handeln heißt, sehr verständlich ist. Dieser Mensch kann
noch vor dem Entschluß zweifeln, wenn er noch nicht ganz überzeugt ist;
zweifelt er aber, so wird er infolge der Leidenschaftlichkeit seiner
Natur zum Skeptiker bis zum Zynismus.

Die Ideen Goluboffs sind: Ergebung und Selbstüberwindung und daß Gott
und das Himmelreich in uns liegen, in der Selbstbeherrschung,
desgleichen die Freiheit.

                                                        11. März 1870.


               Der letzte Entwurf zum _Fürsten Stawrogin_

Als der Fürst ankam, hatte er bereits alle Zweifel überwunden. Er ist --
ein _neuer_ Mensch. Er bricht mit zwei Mädchen, beabsichtigt auch mit
der Mutter zu brechen. Besessen von wahnsinniger, nach innen
geschlagener und verhaltener Energie, spricht er sich wenig aus, schaut
spöttisch und skeptisch zu, wie ein Mensch, der schon die endgültige
Lösung und die große Idee gefunden hat. Er hört vorläufig alle an,
widerspricht selten. Macht sich innerlich hochmütig lustig über Gr., ist
krankhaft betroffen durch Sch. und sieht vollkommen deutlich dessen
Buchgelehrtheit und Aussichtslosigkeit, beginnt mit Erstaunen und
Neugier W. zu beobachten und horcht gespannt -- da er endlich erraten
will: worauf diese Menschen so fest stehen können? (_NB._ Mit W. frühere
Beziehungen.) Einzig Goluboff erschüttert ihn, doch mit Enthusiasmus
gesteht er ihm (aber kurz, in zwei Worten), daß dieses ganz und gar auch
sein Gedanke ist, die von ihm gefundene Überzeugung. Er ist
zurückgekehrt, um seine Verstöße, Beleidigungen usw. in der Stadt wieder
gutzumachen. Versöhnt sich mit den Beleidigten, nimmt eine Ohrfeige hin,
tritt für die verübte Religionsspötterei ein, sucht die Mörder auf, und
schließlich erklärt er feierlich dem Zögling, daß er sie liebt, erklärt
die Bedingungen. Sie bestehen darin, daß er von nun an ein Russischer
Mensch ist und daß man sogar an das glauben muß, was von ihm bei
Goluboff gesagt wurde, (daß Rußland und der russische Gedanke die
Menschheit retten wird). Er betet vor Heiligenbildern usw. Während der
ganzen Zeit, die er in der Stadt verlebt, zeichnet er sich durch die
wildeste Energie in der neuen Überzeugung aus und setzt seine Mutter in
Erstaunen. Dem Zögling sagt er, er habe sie beobachtet und sich
überzeugt, daß er sie liebt und mit ihr auferstehen wird, wenn sie
dieselben Überzeugungen hat. Und dann plötzlich erschießt er sich.


                 _Stawrogin_ (der Fürst) und _Schatoff_

Der Hauptgedanke, an dem der Fürst krankt und den er in sich trägt, ist
folgender: wir haben die Rechtgläubigkeit, unser Volk ist groß und
schön, weil es glaubt und weil es die _Rechtgläubigkeit_ hat; wir Russen
sind stark und stärker als alle, weil wir eine unermeßliche
rechtgläubige Volksmasse haben. Würde im Volk der Glaube an die
Rechtgläubigkeit wankend werden, so würde es sofort anfangen sich zu
zersetzen, ein Vorgang, der bei den Völkern des Westens bereits begonnen
hat, denn im Westen hat man den Glauben (Katholizismus, Protestantismus,
Sekten, Entstellungen des Christentums) schon eingebüßt, und hat ihn
dort einbüßen _müssen_. (Bei uns ist natürlich die obere Volksschicht,
die sogenannte höhere Gesellschaft, eine angeschwemmte Schicht, aus dem
Westen übernommen -- folglich hier nur »Gras im Feuer« und hat nichts zu
bedeuten.)

Jetzt aber fragt es sich: wer kann denn glauben? Glaubt denn auch nur
jemand (von den Panslawen und selbst Slawophilen)? und schließlich sogar
die Frage: _kann_ man überhaupt glauben? Wenn man es aber nicht kann,
wozu dann so viel von der Kraft des russischen Volkes, die in der
Rechtgläubigkeit liegen soll, reden? Folglich ist diese Kraft nur eine
Frage der Zeit. Dort hat die Zersetzung, der Atheismus, früher begonnen,
bei uns -- wird sie eben später beginnen, beginnen aber wird sie
unbedingt mit der Ausbreitung des Atheismus. Wenn das aber sogar
unvermeidlich ist, so muß man sogar wünschen, daß es noch schneller
geschehe -- je schneller desto besser.

(Der Fürst bemerkt plötzlich, daß er mit den Anschauungen W--s
übereinstimmt: daß alles verbrennen das Beste ist.)

Es ergibt sich also folgendes:

1. daß die geschäftigen Leute, die diese Frage für leer und überflüssig
halten und glauben, daß man auch ohne sie auskommen könne, Pöbel und
Insekten sind, Gras im Feuer;

2. daß es sich um die dringende Frage handelt: kann man, wenn man
zivilisiert, d. h. Europäer ist, überhaupt glauben? Ich meine:
einwandlos an die Göttlichkeit des Gottessohnes Jesus Christus glauben?
(Denn nur darin besteht doch der ganze Glaube, daß man an Christi
_Göttlichkeit_ glaubt.)

_NB._ Auf diese Frage antwortet die Zivilisation durch Tatsachen mit
einem Nein (Renan) und mit dem Beweis, daß die Gesellschaft das reine
Verständnis Christi nicht hat rein erhalten können (der Katholizismus
ist Antichrist, Hure, der lutherische Protestantismus aber ist
Molokanentum)[59].

3. Wenn es aber so ist (d. h. wenn man also nicht daran glauben kann),
vermag dann die Menschheit überhaupt ohne Glauben zu leben (mit der
Wissenschaft z. B., Alexander Herzen)?[60] Die sittlichen Grundlagen
werden den Menschen durch Offenbarung gegeben. Vernichtet man im Glauben
bloß irgend etwas, so stürzt die _ganze_ sittliche Grundlage des
Christentums ein, denn (alles ist untereinander verbunden) das eine
zieht das andere nach sich.

Ist nun also eine andere, eine wissenschaftliche Sittlichkeit (ein
wissenschaftliches Ethos) überhaupt möglich?

Wenn nicht, so wird folglich die Sittlichkeit nur vom russischen Volke
aufbewahrt, denn das russische Volk ist rechtgläubig.

Wenn aber die Rechtgläubigkeit für den Zivilisierten unmöglich ist (und
in hundert Jahren wird halb Rußland zivilisiert sein), so ist folglich
alles nur ein Naturspiel, und die ganze Kraft Rußlands nur eine
zeitweilige. Auf daß sie jedoch ewig sei, ist voller Glaube an alles
unbedingt erforderlich ... Aber kann man denn glauben?

Zuerst, vor allen anderen Dingen, gilt es, diese Frage zu lösen: Kann
man überhaupt ernstlich und wahrhaft glauben?

Hierin liegt _alles_, der ganze Lebensknoten des russischen Volkes,
seine ganze Bestimmung in der Zukunft und sein ganzes zukünftiges Sein.

Ist es aber unmöglich, so zu glauben, dann ist es doch durchaus nicht so
unverzeihlich, wenn jemand verlangt, daß man alles verbrennen soll.
Beide Forderungen sind vollkommen gleich menschenfreundlich. (Langes
Leiden und dann Tod oder kurzes Leiden und Tod. Das Letztere ist
selbstverständlich menschenfreundlicher.)

Das also wäre das Rätsel?

_NB._ Sie können natürlich gegen die Richtigkeit der logischen Folgerung
obiger Thesen vieles einwenden, können streiten, nicht zustimmen, z. B.
von der gelehrten rechten Seite behaupten, daß das Christentum nicht in
der Form des lutherischen Protestantismus fallen werde, d. h. indem man
Christus nur als gewöhnlichen Menschen, als segensreichen Philosophen
auffaßt (denn das ist doch der Ausgang des lutherischen
Protestantismus), oder von der linken Seite behaupten, das Christentum
sei keineswegs eine Notwendigkeit für die Menschheit und durchaus nicht
die _Quelle des lebendigen Lebens_ (die hitzigen Kleinen schreien ja
schon, daß es sogar schädlich sei), daß z. B. die Wissenschaft der
Menschheit das lebendige Leben sowie das vollendetste sittliche Ideal
geben könne. Diese Widersprüche sind natürlich zu erwarten, ist doch die
Welt voll von ihnen und das wird sie ja noch lange sein. Aber Sie,
Schatoff, und ich, wir beide wissen doch, daß das alles Unsinn ist, daß
Christus-Mensch im Gegensatz zu Christus-Gottessohn weder Erlöser noch
Quelle des Lebens sein kann, daß die Wissenschaft allein niemals das
ganze menschliche Ideal erfüllen wird, und daß die Lebensquelle, die
Beruhigung des Menschen und die Rettung aller Menschen vor der
Verzweiflung und die Bedingung _sine qua non_ für das Sein der ganzen
Welt in diesen Worten enthalten ist: _Und das Wort ward Fleisch_, und im
Glauben an diese Worte. Früher oder später werden doch alle darin
übereinstimmen, und somit ist denn wieder die ganze Frage nur: Kann man
an all das glauben, woran zu glauben die Rechtgläubigkeit befiehlt? Wenn
nicht, so ist es viel besser und humaner -- alles zu verbrennen und sich
Werchowenski anzuschließen.


                 _Stawrogin_ (der Fürst) und _Schatoff_

_Der Fürst_: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, und ich hebe es noch ganz
besonders hervor, daß diese Fragen unvergleichlich wichtiger sind, als
sie zu sein scheinen, wenn auch das sehr alte Neue an ihnen nur dies
ist, daß wir beide ihre unermeßliche Bedeutung und die unbedingte
Notwendigkeit ihrer Lösung erkannt haben.«

»_Ach!_ Wozu auf ganze tausend Jahre vorauslösen!« rief Schatoff (d. h.
also die langsame Zersetzung). »Besser ist, wir leben in der Gegenwart
und erfüllen das Gegenwärtige, ohne daran zu zweifeln, daß weiterhin
Gott helfen wird.«

»Versuchen Sie es, so zu leben!« sagte der Fürst lachend und ging.


                 _Stawrogin_ (der Fürst) und _Schatoff_

»Darum ist Werchowenski auch so ruhig,« sagt der Fürst, »weil er
überzeugt ist, daß das Christentum für das lebendige Leben der
Menschheit nicht nur nicht unbedingt nötig, sondern sogar positiv
schädlich sei, und daß die Menschheit, wenn man das Christentum
vollkommen ausrottete, sofort zu neuem, _wirklichem_ Leben aufleben
würde. Darin besteht seine furchtbare Kraft. Sie werden sehen: der
Westen wird mit diesen Leuten nicht fertig werden, alles wird dort durch
sie untergehen.«

»Und was wird dann sein?«

»Eine tote Maschine, die natürlich nicht zu verwirklichen ist, aber ...
vielleicht ist sie doch zu verwirklichen, denn in ein paar Jahrhunderten
wird man die Welt schon so weit ertöten können, daß sie vor Verzweiflung
wirklich lieber wird tot sein wollen. >Berge fallt über uns und deckt
uns zu.< Und so wird es auch sein. (Wenn z. B. die Mittel der
Wissenschaft sich für die Ernährung als unzureichend erweisen und es eng
sein wird, auf der Welt zu leben, so wird man die Neugeborenen in ...
werfen oder aufessen. Mich soll es nicht wundern, wenn das eine wie das
andere geschieht. Es wird so sein müssen, besonders wenn die
Wissenschaft es so für richtig hält).«

»Erklären Sie das näher,« sagt Schatoff.

»Wenn die Nahrungsmittel sich verringern und man mit keiner Wissenschaft
weder Nahrung noch Holz zum Heizen erlangen kann, die Menschheit sich
aber immer noch vermehrt, so wird man die Vermehrung aufhalten müssen.
Die Wissenschaft sagt: >Du bist nicht schuld daran, daß die Natur es so
eingerichtet hat<, und allem voran geht der Selbsterhaltungstrieb,
folglich heißt es, die Neugeborenen verbrennen. Das ist die Moral der
Wissenschaft. Malthus hat durchaus nicht so unrecht mit seiner Theorie,
nur ist bis jetzt noch zu wenig Zeit vergangen, um sie durch praktische
Erfahrung bestätigt zu sehen. Blicken Sie etwas weiter, fragen Sie sich,
was dann sein wird; und wird denn Europa eine Bevölkerung ohne Nahrung
und Heizmaterial aushalten können? Und wird dann die Wissenschaft zur
rechten Zeit helfen, selbst wenn sie helfen könnte? Das Verbrennen der
Kinder wird zur Angewohnheit werden, denn alle sittlichen Grundlagen im
Menschen, _der einzig seinen eigenen Kräften überlassen ist_, -- sind
bedingt. Der Wilde Nordamerikas skalpiert seinen Feind, wir aber finden
das vorläufig noch schändlich (wenn wir auch selbst eine Unzahl von
vielleicht noch schlimmeren Gemeinheiten begehen, Gemeinheiten, die wir
nicht einmal bemerken oder womöglich für Tugenden halten). Jetzt sehen
Sie einmal: wenn Sie glauben, daß das Christentum eine Notwendigkeit ist
und (ein Geschenk) eine Gnade Gottes für die Menschheit, die der Mensch
allein, von sich aus, nie würde erlangt haben, -- wenn Sie glauben, daß
der Mensch von seiner Wiege an in _unmittelbarer Verbindung mit Gott
steht_, zuerst durch die Offenbarung und dann durch das Wunder der
Erscheinung Christi, und schließlich, wenn Sie glauben, daß der Mensch,
nur auf seine eigenen Kräfte angewiesen, ganz auf sich allein gestellt,
unfehlbar untergegangen wäre, und man folglich glauben _muß_, daß Gott
mit dem Menschen in unmittelbarer Verbindung steht, -- dann (d. h. wenn
Sie sich dem Christentum ergeben haben) würden Sie sich niemals mit dem
Gefühl des Kinder-Verbrennens aussöhnen. Da haben Sie jetzt eine
vollkommen andere Sittlichkeit. Folglich enthält nur das Christentum
allein das lebendige Wasser, kann nur das Christentum allein den
Menschen zu den Quellen der Wasser des Lebens bringen und ihn vor der
Zersetzung bewahren. Ohne Christentum wird sich die Menschheit zersetzen
und untergehen.

Also kann man sowohl an dieses wie an jenes glauben. Somit besteht denn
die Frage bloß darin, was denn eigentlich richtiger ist und wo die
Quellen des lebendigen Wassers sind. Meiner Meinung nach wird die
Menschheit mit der Wissenschaft allein, wenn diese es bis zu
Gleichgültigkeit gegen die Neugeborenen gebracht hat, verwildern und
aussterben, und darum ist verbrennen besser als sterben. Doch
andererseits glaube ich fest, daß das Christentum die Menschheit retten
würde.«

_Schatoff_: »Wie, wie?«

_Der Fürst_: »Es enthält alle Bedingungen zur Rettung wie der Sklaven so
auch der Herren. Wenn man sich vorstellt, daß alle Christusse wären,
würde dann der Pauperismus überhaupt möglich sein? Im Christentum wäre
sogar der Mangel an Nahrung und Heizmaterial erträglich (nicht die
Neugeborenen umbringen, sondern selbst für meinen Bruder sterben).«

_Schatoff_: »Wenn das so ist, worin besteht dann das Problem?«

_Der Fürst_: »Immer in dem einen: kann denn ein zivilisierter Mensch
überhaupt glauben?

Nur aus Leichtsinn stellt der Mensch diese Frage nicht auf den ersten
Plan. Übrigens, viele mühen sich darum, schreiben und reden darüber. Wir
sorgen uns aus Leichtsinn und aus Ärger nur um das Gegenwärtige und
glauben, das sei alles, was nötig ist. Andere wiederum denken sich
verschiedene Verdauungsphilosophien aus, in dem Sinne, daß das
Christentum sogar mit der unendlichen Entwickelung der Zivilisation,
nicht nur mit der gegenwärtigen allein, vereinbar sei. Aber wir beide
wissen doch, daß das alles Unsinn ist und daß es nur zwei Initiativen
gibt: entweder der Glaube oder Verbrennen. Werchowenski hat sich für das
zweite entschieden und ist stark und ruhig. Ich beobachte ihn jetzt, um
festzustellen, was in seiner Kraft aus der Überzeugung kommt und was
einfach nur aus der Natur.«


                 _Stawrogin_ (der Fürst) und _Schatoff_

_Schatoff_: »Wenn der Mensch sich verändern wird -- wie wird er dann mit
seinem Verstande leben können? Der Besitz des Verstandes entspricht nur
dem gegenwärtigen Organismus.«

_Der Fürst_: »Woher wissen Sie, ob der jetzige Verstand überhaupt nötig
sein wird?«

_Schatoff_: »Was denn sonst? Wohl etwas Höheres?«

_Der Fürst_: »Zweifellos etwas viel Höheres.«

_Schatoff_: »Ja, kann es denn überhaupt etwas Höheres als den Verstand
geben?«

_Der Fürst_: »So fragt die Wissenschaft, aber -- sehen Sie, dort an der
Wand kriecht eine Wanze. Die Wissenschaft weiß, daß sie ein Organismus
ist, daß sie irgendein Leben lebt und Eindrücke hat, sogar ihre eigene
Vorstellung, und Gott weiß was noch alles. Kann aber die Wissenschaft
auch das Wesen des Lebens, der Vorstellungen und Empfindungen der Wanze
erfahren und sie mir mitteilen? Das kann sie natürlich nicht und das
wird sie auch niemals können. Um das erfahren zu können, müßte man
wenigstens auf eine Minute selbst zur Wanze werden. Wenn der
Wissenschaft das unmöglich ist, so kann ich annehmen, daß sie mir auch
das Wesen eines anderen höheren Organismus oder Seins nicht mitzuteilen
vermag, und folglich auch nicht den Zustand des Menschen nach seiner
Ausartung im Millennium, wenn es dann auch meinetwegen keinen Verstand
mehr geben sollte.«

»Sie haben mich ganz wirr gemacht,« sagt Schatoff, »aber ich werde von
Ihnen nicht ablassen.«

_Der Fürst_: »Ich verstehe nicht, warum Sie den Besitz des Verstandes,
d. h. der Erkenntnis, für das höchste Sein von allen, die es überhaupt
geben kann, halten? Meiner Meinung nach ist das schon nicht die
Wissenschaft, sondern der Glaube, und schließlich kann man sagen, daß
hier wiederum ein Gaukelspiel der Natur vorliegt, und zwar: sich selbst
zu schätzen (im Ganzen, d. h. als einzelner Mensch in der Menschheit),
ist zur Erhaltung des Menschen unbedingt nötig. Ein jedes Wesen muß sich
für das Allerhöchste halten. Die Wanze hält sich bestimmt für höher als
Sie, und sie würde bestimmt nicht zu einem Menschen werden wollen, ganz
abgesehen davon, daß sie es nicht kann, sondern würde unbedingt gerade
Wanze bleiben wollen. Die Wanze ist ein Geheimnis, und schließlich ist
alles ein Geheimnis. Warum leugnen Sie die Geheimnisse anderer? Und
merken Sie sich noch, daß der Unglaube dem Menschen vielleicht gerade
deswegen angeboren ist, weil der Unglaube den Verstand über alles
stellt, da aber der Verstand nur dem menschlichen Organismus eigen ist,
so kann und will er auch nicht ein Leben in einer anderen Gestalt
verstehen, d. h. ein Leben nach dem Tode, und darum glaubt er nicht, daß
es höher sei. Andererseits ist dem Menschen schon von Natur das Gefühl
der Verzweiflung und des auf ihm ruhenden Fluches eigen, denn der
menschliche Verstand ist so eingerichtet, daß er beständig an sich nicht
glaubt, sich selbst nicht befriedigt, und darum ist er geneigt, seine
Existenz für ungenügend zu halten. Daraus ergibt sich der Drang zum
Glauben an ein Leben jenseits des Grabes. Wir sind offenbar
Übergangswesen und unser Dasein auf der Erde ist augenscheinlich der
Vorgang oder das unausgesetzte Dasein einer Puppe, die sich in einen
Schmetterling verwandelt. Erinnern Sie sich des Ausspruchs: der Engel
fällt niemals, der Teufel ist so gefallen, daß er immer liegt, der
Mensch fällt und kann auferstehn. Ich glaube, die Menschen werden
entweder Teufel oder Engel. Man sagt, ewige Strafe sei ungerecht, und
die französische Verdauungsphilosophie hat sich ausgedacht, daß allen
verziehen wird. Aber das Erdenleben ist doch ein Prozeß der Umgeburt.
Wer ist schuld daran, daß man sich in einen Teufel umwandelt? Alles wird
natürlich aufgewogen werden. Aber das ist doch eine Tatsache, ein
Resultat -- ganz genau so, wie sich auch auf der Erde bei allem immer
eines aus dem anderen ergibt. Und vergessen Sie auch nicht, daß >die
Zeit nicht mehr sein wird<, wie der Engel in der Apokalypse schwört. Und
vergessen Sie gleichfalls noch das eine nicht, daß die Teufel -- wissen!
Folglich haben auch die Naturen des Jenseits Erkenntnis und Gedächtnis,
und nicht nur der Mensch allein, allerdings -- vielleicht nicht
menschliche Erkenntnis und menschliches Gedächtnis. Sterben kann man gar
nicht. Sein ist, aber Nichtsein ist überhaupt nicht.«

_Schatoff_: »Solcher Gespräche, wie das unsrige, gibt es in Rußland
unendlich viele. Aber ... wie, wenn Sie sich über mich nur lustig
machen?«

»Und was wäre denn dabei so schlimm?« fragte der Fürst lachend.

_Schatoff_: »Ich glaube es nicht. Ein Mensch, der die Rechtgläubigkeit
als das Wesen Rußlands begriffen hat, und das noch so begriffen hat wie
Sie, kann nicht darüber spotten.«

_Der Fürst_: »Das tue ich ja auch gar nicht.«

_Schatoff_: »Wirklich nicht? Ich bin ein Buchmensch. Ich würde gern kein
Buchmensch sein. Was muß ich dazu tun?«

_Der Fürst_: »Glauben Sie.«

_Schatoff_: »An die Rechtgläubigkeit und Rußland?«

_Der Fürst_: »Ja.«

_Schatoff_: »Ja, natürlich, dann ist man erlöst. Ich ... vielleicht
glaube ich. Warum schweigen Sie?«

_Der Fürst_: »Sie glauben also nicht.«

_Schatoff_: »Und Sie?«

_Der Fürst_: »Aber was habe ich denn damit zu tun?«

_Schatoff_: »Sollten wir uns beide wirklich auch ohne Worte verstehen?«

_Der Fürst_: »Leben Sie wohl ... Und erlauben Sie, Schatoff, Sie noch
auf eines aufmerksam zu machen: Sie sagten vorhin: >ich werde nicht von
Ihnen ablassen!< Das wünsche ich durchaus nicht, im Gegenteil, ich
wünsche, daß Sie mich vollkommen in Ruhe lassen. Ich sage das im Ernst.
Ich habe meine Gründe ...«


          _Stepan Trophimowitsch Werchowenski_ und _Schatoff_

_Stepan Trophimowitsch_ zitiert Tschatzki[61]:

   »Zur Feder von den Karten, von ihr zurück zum Spiel,
   Wie Flut und Ebbe wechselnd nach stehendem Gesetz ...«

_Schatoff_ greift sofort auf: »Tschatzki begriff überhaupt nicht, als
beschränkter Dummkopf, bis zu welch einem Grade er dumm war, als er
dieses, was Sie da soeben zitierten, sagte. Er ruft im stärksten
Unwillen: >Den Wagen mir, den Wagen!< weil er nicht einmal fähig ist,
von selbst darauf zu verfallen, daß man die Zeit auch anders als >zur
Feder von den Karten, von ihr zurück zum Spiel< verbringen kann -- sogar
in dem damaligen Moskau! Er war Herr und Gutsbesitzer und für ihn
existierte außer seinem Kreise überhaupt nichts, -- das ist der Grund,
warum er über das Leben der höheren Moskauer Gesellschaft in solche
Verzweiflung gerät, ganz als ob es außer diesem Leben in Rußland ein
anderes gar nicht gegeben hätte. Das russische Volk übersah er einfach,
wie dies alle unsere >Vorderen<[62] taten, übersah es um so mehr, je
mehr er zu den >Vorderen< gehörte. Je mehr Herr er war und je mehr
Vorderster, um so mehr empfand er Haß -- nicht gegen die russischen
Einrichtungen, sondern gegen das russische Volk. Über das russische
Volk, über seinen Glauben, seine Geschichte, seine Sitten, seine
Bedeutung und seine große Millionenmasse dachte er sich nichts mehr als
über den Pachtzinsparagraphen. Und genau so dachten auch die
Dekabristen[63] und Professoren und Dichter und Liberalen, und überhaupt
alle Reformatoren bis zum Zar-Befreier.[64]

Tschatzki ließ sich von seinen Bauern Pacht zahlen, um mit diesem Gelde
in Paris leben zu können, Cousin zu hören und womöglich mit
Tschaadajeffschem[65] oder Fürst Gagarinschem[66] Katholizismus zu enden
oder, wenn er Freidenker war, mit einem Haß auf Rußland, wie etwa
Belinski und _tutti quanti_[67]. Vor allem aber: er konnte es sich nicht
einmal vorstellen, daß es in Rußland noch eine andere Welt als die der
Moskauer höheren Gesellschaft geben könnte, weil -- er selbst ein
Moskauer Herr und Gutsbesitzer war. Und um wieviel doch diese
stumpfsinnigen, kartenspielenden Moskowiter klüger waren als er! Aber
wenn er auch dumm war, dafür hatte er ein gutes Herz, wenn er auch nicht
von weitem her war, dafür war sein Gedanke doch originell -- denn damals
waren doch diese Tiraden gegen Moskau immerhin originell! Aber Sie, Sie,
was sind Sie, wenn Sie das jetzt wiederholen? Oh, wenn Sie wüßten, wie
weit Sie sogar hinter den damaligen kartenspielenden und ihren Dienst
tuenden Moskowitern zurückgeblieben sind, und dabei halten Sie und
Ihresgleichen sich immer noch für >Vorderedas Wort ward Fleisch<
zu glauben, d. h. daß das Ideal leibhaftig gegenwärtig war, folglich auf
Erden nicht unmöglich und der ganzen Menschheit wirklich erreichbar ist?
Ja, kann denn die Menschheit ohne diesen Trost auskommen? Aber Christus
ist ja doch nur deswegen gekommen, damit die Menschheit es erfahre, daß
auch ihre irdische Natur, der menschliche Geist wirklich in einem so
himmlischen Glanze tatsächlich und leibhaftig erscheinen kann, und nicht
nur geistig, als Ideal -- daß das sowohl möglich wie natürlich ist. Die
Anhänger Christi, die dieses durchleuchtete Fleisch vergötterten,
bewiesen unter den grausamsten Martern, welch ein Glück es ist, diese
Leibhaftigkeit in sich zu tragen, der Vollkommenheit dieser Gestalt
nachzuahmen und an ihre Leibhaftigkeit zu glauben. Die anderen aber, die
da sahen, welch ein Glück diese Leibhaftigkeit gab, kaum daß der Mensch
anfing, ihrer teilhaftig zu werden und sich in Wirklichkeit ihrer
Schönheit zu nähern, -- wunderten sich, staunten, und wollten
schließlich selbst diese Seligkeit genießen: sie wurden Christen und
freuten sich schon im voraus der Qualen. Das Ganze liegt hier eben
darin, daß >das Wort< wirklich >Fleisch ward<. Darin liegt der ganze
Glaube und der ganze Trost der Menschheit, der Trost, auf den sie
niemals verzichten wird. Das aber ist es ja gerade, was Sie und
Ihresgleichen der Menschheit nehmen wollen. Übrigens, Sie würden es ihr
nehmen können, wenn Sie ihr etwas Besseres als Christus zeigen könnten.
So zeigen Sie es doch!«

                   *       *       *       *       *

_Stepan Trophimowitsch_ sagt: »Immerhin muß man sich doch über das
übermäßige Quantum Dummheit wundern, das in Rußland steckt.«

_Der Fürst_: »Aber das sind doch alles nur unreife Knaben, die weder von
der Gesellschaft noch vom Volk etwas verstehen.«

_Stepan Trophimowitsch_: »Die aber bei uns doch so viel Stützkraft
gefunden haben und finden, und zu denen alles hinströmt, -- wenn auch
die Hinströmenden meinetwegen nur Knaben und Mädchen sind, so sind es
doch nicht zehnjährige, sondern immerhin zwanzig- und über
zwanzigjährige. In diesem Alter aber ist es nicht mehr statthaft, so
dumm zu sein.«

_Schatoff_: »Ich bitte Sie! Sind denn bei uns nicht alle so dumm, selbst
die Sechzigjährigen der gebildeten Gesellschaft nicht ausgenommen?
Treten doch ganze Zeitungen und Zeitschriften, ernste Menschen, sogar
Professoren und Direktoren und alle möglichen Autoritäten für die Idee
der Aufteilung Rußlands und die Lostrennung unserer Grenzprovinzen ein!
Ist das denn nicht ebenso dumm?

Waren Sie es nicht selbst, Stepan Trophimowitsch, der uns noch vor
kurzem erzählte, wie die Herren Literaten oder die literarischen Herren
mit Belinski darüber diskutiert haben, wie dieses oder jenes in der
Zukunftsgesellschaft sein werde? Alles ist doch aus Ihrer Generation
gekommen, stammt aus Ihrer Zeit. Waren Sie denn klüger? Ist denn die
Idee, daß alle Völker des Westens national sein und wir sie deswegen
achten und die Sonderheit der ganzen nationalen Entwicklung eines jeden
Volkes andächtig anerkennen müssen, die Russen aber unter keinen
Umständen sie selbst sein dürfen, und ihnen nicht einmal in Gedanken
etwas Besonderes, Eigenes zugestanden werden darf[70], -- ist diese Idee
etwa nicht dümmer, als was diese Knaben in ihren Proklamationen von den
Genossenschaften reden? Ja, genau genommen stützen sich diese Knaben
gerade auf die Anschauungen Ihrer Generation, denn Ihre Generation hat
durch die Unkenntnis Rußlands und die Verleugnung seiner Selbständigkeit
die ganze Sache eingebrockt. Was aber diese Knaben anbetrifft, so
stellen sie sich ja durch ihr Programm selbst in ein Kriegsverhältnis zu
jeder Gesellschaft, also dürfen sie sich auch nicht wundern oder sich
beklagen, wenn die Gesellschaft sie vernichtet. Sie sagen, daß sie vor
moralischen Pedanterien nicht zurückschrecken, sondern morden und
brennen werden, folglich kann man auch mit ihnen so verfahren. Wenn sie
die Regierung geschlachtet haben werden, wollen sie nur ein paar Tage
Zeit lassen, damit alle ihr Hab und Gut ihnen übergeben, sich von allem
Besitz auf ewig lossagen und sich in die Genossenschaften als Schuster
einschreiben können. Folglich können alle, die das nicht wollen, auch
mit ihnen ebenso zeremonielos verfahren.«


                               _Schatoff_

_Schatoff_ spricht während der Sitzung:

»Ich schäme mich, ein solches Programm mit meinem Namen zu
unterschreiben. (In wenigen Tagen sind dann alle Schuster.) Zehnjährige
Knaben sind klüger als Sie. Nach dem Ton des Programms zu urteilen, sind
Sie, meine Herren, vollkommen überzeugt, daß alle, hingerissen von Ihrer
Kühnheit, Weib, Kind, Besitz und Kirchen verlassen werden, um mit Ihnen
zu stehlen, zu morden und zu brennen. Aus Ihren Worten ersieht man, wie
fest Sie glauben, daß das Volk den Zaren hasse und nur darauf warte,
endlich alles von sich werfen und sich Ihnen anschließen zu können. Sie
sind ja sogar dermaßen davon überzeugt, daß Sie mit ruhigem Gewissen
bereits angefangen haben, sowohl zu rauben, wie zu brennen und zu
morden. Sie sind so unreife Knaben, daß Sie nicht einmal die gewöhnliche
Eigenliebe der Menschen in Betracht ziehen -- ganz abgesehen von alldem
anderen --, wenn Sie glauben, die Menschen werden zu Ihnen gelaufen
kommen, zu Ihnen, den grünen Jungen! Sie sind dermaßen flach und dumm,
daß Sie überzeugt sind, Sie hätten eine große Entdeckung gemacht, ohne
auch nur ein einziges Mal auf den Gedanken zu kommen, daß die Menschheit
das alles wohl schon längst getan hätte, wenn das die Wahrheit wäre, und
nicht tausend Jahre lang gelitten hätte, einzig um auf Sie zu warten.
Sie schämen sich nicht, so zu lügen, wie Sie es in Ihren Proklamationen
tun, wenn Sie die Tatsachen entstellen und dazu übernaiv bemerken, dies
sei eben jesuitisch und die Jesuiten seien gewandte Leute, und daß Sie
genau so wie die Jesuiten handeln werden; und dabei lassen Sie es sich
nicht einmal träumen, daß jede Lüge und jede Entstellung der Tatsachen
in ungewöhnlich kurzer Zeit an den Tag kommt, und daß dann die Menschen
sehen werden, daß Sie absichtliche Lügner sind, und daß Ihnen dann
niemand folgen wird. Sie sind, im Gegenteil, wie dumme Jungen fest
überzeugt, daß die Lügen weiter nichts auf sich hätten, daß sie vielmehr
allen gefallen und die Menschen sich über Ihre geschickten Lügen nur
freuen und alles, was sie bis dahin heilig gehalten, was sie geliebt, im
Stich lassen werden -- Gott, Weib und Kinder, Ordnung, Anstand --, um zu
Ihnen überzulaufen, einzig weil Sie morden und brennen -- ohne dabei
selbst zu wissen, warum und wozu eigentlich. Sie schämen sich nicht, zu
schreiben, daß Sie dem Achtzigmillionenvolke eine Frist von nur ein paar
Tagen geben werden, innerhalb welcher Zeit es sein Hab und Gut Ihnen
auszuliefern, die Kinder zu verlassen, die Kirchen zu beschimpfen und
sich in die Genossenschaften als Schuster einzuschreiben habe. Sie sind
überzeugt, daß alle die Kirchen hassen und die Ehe als Last empfinden
und sich nur nach den Aluminiumpalästen sehnen, in denen man nach
Herzenslust tanzen und die gemeinsamen Frauen und Männer in besondere
Zimmer führen kann[71]. Sie verfallen gar nicht darauf, daß eine so
kindische Auffassung der Sache, als handle es sich hierbei um ein
Spielzeug, nur verrät, daß Sie noch Bengel sind, denen man schmerzhaft
die Rute geben müßte; und die Gesellschaft achten Sie so gering, daß Sie
sich nicht einmal bemüht haben, die Proklamation sorgfältiger zu
redigieren. Wenn das Publikum lesen wird, wie kindisch Rußland Ihrer
Meinung nach verfahren könnte, wie es in ein paar Tagen alles hinwerfen
und sich verwandeln soll, wird es sich nur über Ihre Dummheit wundern;
doch wenn es sehen wird, daß Sie außerdem noch Bösewichter sind, wird es
Sie als schädliche Irrsinnige beseitigen, und zwar mit aller Strenge
beseitigen. Doch leider sind ja auch _Alle_ nicht klüger als Sie und das
kommt alles nur daher, ist nur deshalb so, weil sie sich vom Boden
losgelöst und nicht ein eigenes, sondern ein fremdes Leben geführt und
beständig unter Vormundschaft gelebt haben.«

»Man hat in diesem unter Vormundschaft verlebten Leben gar zu Weniges
lieb gewonnen, um für dieses Leben einzustehen. Es hat sich viel Unzucht
und Leichtsinn aufgehäuft. Wenn man sich um das Leben gemüht, wenn man
es sich durch Arbeit erworben hätte, selbständig, mit Leid und Kampf,
mit Mühen und Plagen und allen Freuden des Erfolges nach dem Kampf, doch
vor allen Dingen durch Arbeit -- die eigene Mühe ist ja die Hauptsache
--, nicht aber nur unter administrativer Vormundschaft, so hätte man
Tatsachen erworben, viele Erlebnisse aufgespeichert, es würden sich
lebendige Erinnerungen an den Kampf und die Arbeit erhalten, und dieses
Erlebte und Durchlebte würde allen teuer sein. Teuer wäre dann auch das
Andenken an die verstorbenen Tatmenschen und hoch würde man die lebenden
Tatmenschen schätzen, die dann einen ganz anderen Einfluß auf die
Menschen hätten, und nicht so leichtsinnig wie jetzt würde die
Gesellschaft dann auf jeden Schwindel dummer und verderbter, seelenloser
Bengel antworten. Wahrlich, sie ist uns eine gute Lehre! -- diese
deutsche Vormundschaft! O Gott, was für eine Lehre das ist! Es gibt kein
einziges Volk, keine einzige Nation in Europa, die sich nicht aus
eigener Kraft hat retten können, -- selbst in der flammendsten
Revolution, selbst auf den Barrikaden ist das erste, was geschieht, daß
eine neue Ordnung festgesetzt wird und die Diebe, Plünderer und
Brandstifter erschossen werden. Sie aber, Sie wollen bei uns ein
Achtzigmillionenvolk einzig durch Brandstiftung, Totschlag und Zarenmord
anlocken und für sich Sympathie erwecken! So glauben Sie, daß diese
Gesellschaft überhaupt nichts aus ihrem durchlebten Leben achte, und daß
dieses Leben unter administrativer Vormundschaft so schön gewesen sei!
Zu was sind Sie entartet? Und Sie, Sie sehen noch immer nicht, daß das
Volk sich schon vollständig, aber vollständig von Ihnen losgesagt hat!
Nun wohl! -- versuchen Sie es doch noch einmal, das Volk unter
Vormundschaft zu nehmen, versuchen Sie es doch! Wahrlich, Sie haben doch
schon gar zu holsteinisch auf das Volk gesehen!«

Und dann sofort der Verfasser der Chronik von sich aus: So sprach Sch.
wie außer sich, und vielleicht war in seinen Worten auch wirklich
einiges doch ganz Wahres. In der Tat, Vormundschaft und Entfremdung vom
Volke haben ja gerade das bewirkt, daß die Gesellschaft erstens nichts
mehr hat, was ihr teuer ist und wofür sie einstehen würde, und zweitens,
da sie sieht, daß hingegen dem Volk zweifellos das Eigene teuer ist und
es dafür einsteht und dabei ein so volles Leben lebt -- so hat das der
Gesellschaft den Vorwand gegeben, das Volk nun endgültig zu hassen, also
gerade seines vollen Lebens wegen. Ich verstehe jetzt, was Schatoff
sagen wollte, als er von diesem Haß der Belinski und unserer sämtlichen
Westler gegen das Volk sprach, und wenn sie selbst diesen Haß leugnen
wollen, so ist es klar, daß sie selbst ihn nicht erkennen. Ja, so war es
doch: sie glaubten, daß sie das Volk »hassend liebten«, und so sagten
sie es auch von sich. Aber sie schämten sich nicht einmal ihres Ekels
vor dem Volke, wenn sie praktisch mit ihm in Berührung kamen. (In der
Theorie allerdings liebten sie es.)

_Stepan Trophimowitsch_ (Gr.) sagt: »Ja, aber das Volk wurde doch ebenso
bevormundet, wie die anderen, und Sie geben doch selbst zu, daß es
russisches Volk geblieben und _nicht_ unter der Vormundschaft entartet
ist und _nicht_ Rußland haßt.«

_Schatoff_: »Das Volk wurde mit der deutschen Reform verschont und von
Anfang an als hoffnungslos aufgegeben. Man erlaubte ihm auch sofort
wieder, den Bart zu tragen. Damals hielt man das Volk für etwas
Unwichtiges, man sah auf dasselbe wie auf Rohmaterial oder Steuerzahler
herab. Zwar bevormundete man es streng, das ist wahr, aber sein inneres,
eigenes Leben ließ man ihm unangerührt, und wenn es auch viel zu
erdulden und viel zu leiden hatte, so endete es doch damit, daß es auch
sein Leiden lieb gewann. Dagegen wurden alle Russen der oberen
Gesellschaftsschicht zu Deutschen, und diese vom Erdboden Losgerissenen
hatten dann bald nur für Deutschland noch Liebe übrig, für ihr Vaterland
aber und für ihr eigenes Volk nur Verachtung und Haß. So war es ja
überall. So begannen auch in Litauen die Stammrussen ihre eigene Rasse
zu mißachten.«


                          Fragen und Antworten

»Sie bieten das Glück an. Aber selbst wenn wir annehmen, daß Sie im
Endziel des Strebens vollkommen recht haben (was natürlich absurd ist,
doch worüber ich vorläufig nicht streiten will), so ersieht man doch
schon aus Ihrer Proklamation[72], bis zu welch einem Grade Ihre Köpfe
unreif, flach und leichtsinnig sind und somit -- wie wenig sie zum
Erreichen Ihres eigenen Zieles taugen. Sollten Sie denn wirklich nicht
einsehen, daß eine Umwandlung, wie die, die Sie vorschlagen, eine
Umgeburt des einzelnen Menschen wie des ganzen Volkes, sich doch nicht
so leicht und schnell vollziehen kann, wie Sie glauben!? Denn Sie sagen
doch, daß alles mit dem Beil und durch Raub gemacht werden werde, auf
daß sich aber der Mensch von Gott, von der Liebe zu Christus, von der
Liebe zu seinen Kindern und von seinen Pflichten ihnen gegenüber
lossage, von seiner Persönlichkeit und ihrer Sicherstellung, -- dazu
sind Jahrhunderte noch zu wenig. In Jahrtausenden hat sich z. B. die
gesellschaftliche, juridische Sicherstellung im Staate herausgearbeitet,
und doch -- bis zu welch einem Grade ist sie noch überall unzureichend!
So langsam arbeitet sich in der Praxis selbst ein so alltägliches
Bedürfnis eines jeden Menschen heraus! Darum aber, wenn auch das, was
bereits ist, was sich bereits herausgearbeitet hat, meinetwegen auch
unzureichend ist, so wird der Mensch doch nicht so leicht darauf
verzichten und Ihnen nachlaufen: denn wenn es auch nicht gut, wenn es
auch nur wenig ist, so ist damit doch immerhin schon etwas da, bei Ihnen
aber ist nichts, denn Sie sagen ja selbst ganz offen, daß alles auf
Grund liebevoller Vereinbarung geschehen und niemandem und für nichts
eine Garantie geboten werden soll, wenn's nicht gerade die
Genossenschaft betrifft. Um Fragen einfach abzuschneiden, behaupten Sie
kurzweg, daß es in der neuen Gesellschaft Verletzungen nicht mehr geben
werde und folglich seien Garantien gar nicht nötig. Aber so etwas kann
doch nur ein Verrückter behaupten, der noch nichts erprobt hat, und so
ohne alle Unterlagen, wie Sie da Ihre Versicherungen abgeben.

Wenn aber der Mensch nicht einmal darauf leicht verzichten wird, wie
wird er sich dann noch von seinen Kindern, von seiner Liebe zu ihnen,
von Gott und schließlich von seiner ganzen Freiheit lossagen? Sie
antworten auf keine einzige der Fragen, die die ganze Menschheit
erregen, Sie schieben alles beiseite. Doch wenn Sie die Fragen nicht
beantworten, wie wollen Sie dann die Aufgaben lösen? Und deshalb -- wie
könnten denn alle sich Ihnen anschließen und sich sofort zu der neuen
Gesellschaft umschaffen [umgebären]? Ihnen wird nur ein Häufchen
leichtsinniger Menschen folgen oder Nichtswürdige, die Sie mit der
Aussicht auf Plünderung anlocken. Wenn aber so etwas nur in
Jahrhunderten entstehen kann, wie können Sie dann versprechen, dasselbe
in wenigen Tagen zu schaffen (wie Sie sich ja buchstäblich ausdrücken)?
Also sind Sie nun nach alledem nicht leichtsinnig, und welch eine
Verantwortung übernehmen Sie für die Ströme von Menschenblut, die Sie
vergießen wollen? Aufbauen ist schwer; darum reißen Sie auch nur nieder,
weil das am leichtesten ist.«

»Überhaupt keine Verantwortung, wir bringen einfach unsere Köpfe. Die
zukünftige Gesellschaft wird vom Volke geschaffen werden nach der
allgemeinen Zerstörung, je schneller desto besser.«

»Aber erstens, das Volk wird nicht anfangen dreinzuschlagen, wenn es
nicht weiß, wofür; hauen, brennen und plündern wird nur ein Haufe
geheimer Bösewichter. Denn das Volk kann doch nicht Ihr Programm
annehmen: Vernichtung der Persönlichkeit, des Eigentums, Gottes und der
Familie. Ich sage nochmals: selbst wenn Ihr Programm gerecht wäre,
könnte es doch nur im Laufe von Jahrhunderten angenommen werden, in
Jahrhunderten friedlicher, praktischer Studien und Entwicklung. Und
selbst wenn das Volk sich vom Aufruhr und Plündern hinreißen lassen
sollte, so wird es sich doch sofort wieder beruhigen und dann etwas
anderes aufbauen, jedenfalls aber auf seine Art, und -- nun ja --
vielleicht sogar etwas noch viel Schlechteres.«

»Meinetwegen; aber auch das ist schon gut, daß wenigstens eine Welt
untergeht. Dann wird eben eine andere Welt beginnen, meinetwegen eine
mit Fehlern, eine vom Volk errichtete, aber sicher wird sie schon ein
wenig besser sein. Wenn man dann deren Fehler erkannt hat, werden wir
oder unsere Nachfolger auch diese Welt wieder stürzen, und so weiter,
bis schließlich unser ganzes Programm durchgesetzt ist. Doch auch beim
ersten Experiment werden wir unseren Zweck schon damit erreichen: daß
erst einmal das Prinzip des Beiles und der Revolution angenommen wird.«

»Aber auf Grund wessen sind Sie denn so überzeugt, daß Ihr Programm
unfehlbar ist? Wie nun, wenn das alles nur Unsinn ist und die absurdeste
Unkenntnis der menschlichen Natur im allgemeinen und des russischen
Volkes im besonderen? Sie können das Gegenteil doch mit nichts beweisen,
höchstens den Einwand vorbringen, daß es Ihnen unfehlbar erscheint. Aber
es ist doch möglich, daß Sie alle sehr dumm sind und es Ihnen nur
deshalb so erscheint; dann aber können Sie doch nicht verlangen, daß
alle übrigen Menschen ausschließlich zu diesem Zweck gleichfalls zu
Dummköpfen werden, nur um Ihnen folgen zu können. Aber siehe da, Sie
weigern sich ja, darüber auch nur zu reden. Sie sagen: wer nicht für uns
ist, der ist wider uns, und weihen alle, die entgegengesetzter Meinung
und Überzeugung sind, einfach dem Tode, wobei Sie ganz zu vergessen
scheinen, daß Streit unter allen Umständen Entwicklung der Sache ist.
Und mit welch einer Wut erkennen Sie diejenigen nicht einmal an, die
gegen Sie sogar handeln werden, da sie mit Ihren Überzeugungen nicht
übereinstimmen.«

»Alles das ist Unsinn und Finessen!«

»Wenn Sie aber nicht mit aller Sicherheit wissen, daß Ihr Programm
richtig ist, wie können Sie dann das Verbrechen der Zerstörung auf Ihr
Gewissen nehmen?«

»Wir glauben aber, daß unser Programm richtig ist, und daß ein jeder,
der es annimmt, glücklich wird. Deshalb entscheiden wir uns auch fürs
Blut, denn nur mit Blut wird Glück erkauft.«

»Wenn es aber nicht damit erkauft wird, was dann?! Geglaubt wird nur an
Gott, im Leben aber sind Tatsachen erforderlich.«

»Wir sind überzeugt, daß man es damit kaufen kann, und das genügt uns.«

»Oh Ihr Unseligen! Mich freut nur eines: daß es Ihnen um keinen Preis
gelingen wird, denn Sie kennen das Volk nicht. Gesetzt, Ihnen gelingen
einige Plünderungen, Brandstiftungen, Morde und Verführungen, nehmen wir
selbst an, daß Sie es bis zu einem Aufstande bringen, das ganze Volk
aber wird Sie dafür doch sofort aufknüpfen; nicht aber Ihr Programm
annehmen, denn dieses Programm ist widernatürlich und außerdem auf der
größten Unkenntnis des russischen Volkes aufgebaut. Niemals wird der
Mensch Ihnen seinen Glauben, seine Familie ausliefern und in dieses
Zuchthaus übersiedeln, das Sie ihm in Ihrem Programm anbieten, und
niemals wird er seine persönliche Freiheit für eine solche Knechtschaft
verkaufen ... Das Volk aber wird Ihnen niemals seinen Zar-Befreier
ausliefern.«

-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Sie wollen morden und plündern, weil das am leichtesten ist. Diese Lehre
tauchte in Frankreich gerade damals auf, als die Kommunisten überall
durchfielen und sich als nichtswürdige Bengel erwiesen.


     _Stepan Trophimowitsch_ und _Pjotr Stepanowitsch Werchowenski_

»Ich mache die Sache, weil sie gemacht werden muß. Damit (mit der
Zerstörung) muß naturgemäß jede Sache beginnen; das weiß ich, und darum
beginne ich eben. Das Ende geht mich nichts an, ich weiß nur, daß man
damit beginnen muß, alles übrige ist nur zeitraubendes Geschwätz. Alle
diese Reformen und Korrekturen und Verbesserungen -- sind Unsinn. Je
mehr man reformiert und verbessert, um so schlimmer ist's, denn auf
diese Weise erhält man noch einige Zeit künstlich das Leben eines
Dinges, das doch unbedingt sterben und einstürzen muß. Je schneller
desto besser, je früher damit begonnen wird, um so besser. (Zuerst
natürlich Gott, Verwandtschaft, Familie usw.) Man muß alles zerstören,
um das neue Gebäude aufbauen zu können, das alte Gebäude aber mit
Stützen noch zu stützen, ist nichts weiter als eine Pfuscherei.«

»Nun, z. B., du weißt, daß du früher oder später doch einmal sterben
mußt, warum erschießt du dich denn nicht jetzt gleich -- je schneller
desto besser?«

»Einzig weil ich noch nicht will und weil die Sache gemacht werden muß.«

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»Ich bin kein Genie, und ich will auch gar nicht eines sein, aber ich
weiß, daß man es jetzt machen muß, und so mache ich es denn. Auch ihr
wußtet das, du und deine Generation, doch ihr weintet bloß. Wir aber
weinen nicht, sondern tun's einfach.«

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            _Stepan Trophimowitsch_ und _Pjotr Werchowenski_

»Der verstorbene Belinski beschimpfte Christus, hätte dabei aber nicht
einmal einem Huhn etwas zuleide tun können.«

»Oh, in der Wirklichkeit und im Verstehen der wirklichen Dinge war
Belinski sehr schwach. Turgenjeff hatte ganz recht, als er von ihm
sagte, daß er, Belinski, sogar wissenschaftlich sehr wenig gewußt habe.
Aber er begriff doch besser als sie alle. Du lachst, du scheinst sagen
zu wollen: viel haben sie wahrlich allesamt begriffen! Mein Freund, ich
erhebe keinen Anspruch auf das Begreifen der Einzelheiten des wirklichen
Lebens. Doch ich kam ja auf Belinski zu sprechen. Ich erinnere mich des
Schriftstellers D., der damals fast noch ein Jüngling war[73]. Belinski
wollte ihn zum Atheismus bekehren und nach den Entgegnungen D's, der
Christus verteidigte, begann er Christus zu schmähen. >Und immer macht
er, wenn ich schimpfe, eine so betrübte, niedergeschlagene
Physiognomie,< sagte Belinski plötzlich, indem er mit dem gutmütigsten,
unschuldigsten Lachen auf D. wies. Einmal traf dieser D. zufällig
Belinski am Bahnhof der erst im Bau befindlichen ersten
Eisenbahnstrecke. >Ich kann nicht kaltblütig warten<, sagte Belinski zu
ihm, >ich habe mir den Weg hierher zum Spaziergang erwählt und jeden Tag
sehe ich mir den Bahnbau an.< Oh, wenn er, der Arme, gewußt hätte, mit
welchen Augen damals viele auf diese Eisenbahn sahen, besonders die
Erbauer der Bahn! Belinski sagte: >Ich bin nicht so wie die anderen, ich
bin schon, wie Sie sehen, gerade davon krank. Wenn ich verscharrt sein
werde, -- wird man erfahren, wen man begraben hat.<[74] D. schloß sich
ihm an und begann über die Eisenbahn zu sprechen, dann über die
zukünftigen Eisenbahnen überhaupt, über die Beheizung der Wagen und
schließlich über die Beheizungsfrage in Moskau, wo das Brennholz immer
teurer wurde und in Zukunft, wenn Moskau der Knotenpunkt aller
Eisenbahnen sein wird, noch sehr viel teurer werden müsse.
Wahrscheinlich werde man das Holz dann mit der Bahn aus den waldreichen
Gegenden herbeischaffen. Da begann Belinski zu lachen über diese, wie
ihm schien, geringe Kenntnis der Wirklichkeit: >Brennholz will er mit
der Eisenbahn befördern!< Das erschien ihm ungeheuerlich. Stellen Sie
sich vor, er glaubte wirklich, daß man mit der Eisenbahn nur Passagiere,
von Waren aber höchstens die feinsten und wertvollsten _articles de
Paris_{[280]} befördern werde. Das war seine Kenntnis der Wirklichkeit
... Aber er begriff doch mehr als alle.«

»Dann haben alle wohl viel begriffen!«

»Mein Freund, ich habe mich vom tätigen Leben zurückgezogen ... Jetzt
unter den Tätigen sein, das will und kann ich nicht ...«

»Ja, zu was könntest du jetzt auch noch taugen!«


                   Charakteristik Pjotr Werchowenskis

»Eigentlich geht mich ja weder das Volk noch die Kenntnis desselben
etwas an. Ich weiß nur, daß man das Volk jetzt zu einem Aufstand bringen
kann, und das ist alles, worauf es ankommt.«

Wenn er vom Volk spricht, bekundet er plötzlich in einem Punkt eine
himmelschreiende und ganz sonderbare Unwissenheit und Ahnungslosigkeit
(eine unbedingt so sonderbare, daß die Ungeheuerlichkeit sofort in die
Augen springt.) Unter Gelächter wird er überführt, werden seine
Behauptungen widerlegt; aber _bemerkenswert_ ist, daß ihn das nicht im
geringsten verwirrt, weder wankt er, noch ist er pikiert, ja er fühlt
sich nicht einmal in seiner Eigenliebe verletzt. Unglaublich kaltblütig
und nachlässig nimmt er es hin:

»Vielleicht ist es auch so,« sagt er, »aber das ist doch ganz einerlei,
nicht darauf kommt es an, sondern darauf, daß man jetzt einen Aufstand
machen kann, und so will ich ihn denn jetzt machen.«

Man antwortet ihm, daß auch ein Aufruhr ihm bestimmt nicht gelingen
wird, wenn er nicht das Volk kennt, und daß die Proklamation eine
Absurdität ist.

»Das ist Unsinn,« antwortet er, »laßt mich nur eine Viertelstunde ohne
Zensur mit dem Volke sprechen, und es wird mir sofort folgen.«

Man versichert ihm, daß das Volk weit fester sitze, er aber sagt: »Na,
das ist erst recht Unsinn!« und weist auf die Tatsachen hin --
Räuberhorden, Brandstiftungen, von Sohn[75] --. »Und ihr seht es ja
selbst ein, daß das eine unentschiedene Sache ist, da ihr jetzt selbst
verstummt und nichts mehr zu sagen wißt. (Auf die goldene Urkunde[76]
hin ging doch das Volk, warum soll es auf die Proklamationen hin nicht
gehen?«)

Ist mitunter ganz entsetzlich unwissend. Den ernsten Einwendungen seines
Vaters (z. B., daß nicht die ganze Natur des Menschen bekannt ist und
der Verstand nur 1/20 des ganzen Menschen ausmacht) schenkt er überhaupt
keine Beachtung und will und versucht auch nicht einmal, ihm zu
entgegnen, gibt sogar offen zu, daß er das nicht weiß, aber: »nicht
darauf kommt es an«.

Ist in seiner Unwissenheit vollkommen ruhig.

Die Rede seines Vaters bei der Fürstin hat er nicht einmal gehört.

Und dabei schlägt er den Vater doch vollkommen. (»Mit ihm kann man nicht
streiten,« sagt der Vater.)

Die Streitfragen der Slawophilen und Westler sind ihm nicht einmal
annähernd bekannt, er hat nur gehört, daß es so etwas wie Slawophile und
Westler gibt, aber: »_alles das ist Unsinn_« und »nicht darum handelt es
sich.«

Schreibt sogar unorthographisch.


                 Charakteristik Stepan Trophimowitschs

Porträt eines reinen und idealen Westlers mit allen Schönheiten.

Lebt vielleicht (in Moskau) in einer Gouvernementshauptstadt.

_Die charakteristischen Züge._ -- Eine lebenslängliche Ziellosigkeit und
Unfestigkeit in den Ansichten und in den Gefühlen, unter der er früher
gelitten hat, die aber jetzt zu seiner _zweiten Natur geworden_ ist.
(Der Sohn macht sich darüber lustig.)

Ist zum drittenmal verheiratet. (Ein höchst charakteristischer Zug.)

Wünscht sehnsüchtig, verfolgt zu werden, und liebt es, von den früheren
Verfolgungen, denen er ausgesetzt gewesen, zu sprechen.

Ein Mensch der vierziger Jahre. Denkt gern an dieses Jahrzehnt und die
Überlebenden zurück (»ich und Timofei Granowski«).

Er ist -- ein berühmt gewesener Name (zwei oder drei Artikel, eine
kritische Untersuchung, Reise durch Spanien, handschriftliche
Aufzeichnungen über den Krimkrieg, die unter seinen Bekannten von Hand
zu Hand gingen und ihm die Verfolgung eingetragen haben). Stellt sich
unbewußt auf ein Piedestal, wie etwa eine Reliquie, die man anbeten
kommt -- liebt das. Spricht häufig ohne Fürwörter.

Ist wirklich ehrlich, rein und hält sich für die tiefste Allwissenheit.
Widerstandsunfähigkeit in Ansichtssachen.

Großer Poet, jedoch nicht ohne Phrase.

Hat das russische Leben ganz übersehen.

»Tschurrt sich«[77] vor dem Nihilismus und begreift ihn nicht.

55 Jahre alt. Literarische Erinnerungen: Belinski, Granowski, Herzen,
Turgenjeff u. a.

Liebt Champagner.

Rolle eines Ssacks[78].

Liebt es, Klagebriefe zu schreiben. Hat hier und da Tränen vergossen.

»Laßt mir Gott und die Kunst. Trete auch Christus ab.«

George Sand und seine Götzen blicken fortwährend durch den Ernst hervor.

Echter Dichter. _Dies irae_, Goldenes Zeitalter, Griechische Götter! Ein
inspiriertes Kapitel. Hat das Pekuniäre gut geordnet. Bildchen,
Memoirchen (usw. in dieser Art).

Sein Sohn wird im Auslande erzogen.

Noch eine Gestalt: junge Frau (seit vier Monaten schwanger).

_NB._ Beweint alle seine Frauen und heiratet immer wieder.

»Kann mich nicht zufrieden geben, sehne mich ewig.«

Ist klug und geistreich.[79]




                            Zweiter Anhang.
   Bruchstück aus einem bisher unveröffentlichten Kapitel des Romans
                             »Die Dämonen«[80]


                                   I.

... Ungefähr um halb elf erreichte Stawrogin die hohe Pforte unseres
Spasso-Jefimjeffschen Bogorodskischen Klosters, das außerhalb der Stadt
am Fluß lag. Erst hier schien er wieder zu sich zu kommen und sich
plötzlich einer Sache zu erinnern: er blieb stehen, befühlte hastig und
erregt seine Seitentasche, und -- ein Lächeln glitt über sein Gesicht.
Nachdem er eingetreten war, erkundigte er sich bei einem kleinen
Klosterdiener, den er hier erblickte, wie er zu dem im Kloster lebenden
Bischof Tichon gelangen könnte. Der Kleine verneigte sich mehrmals
untertänigst vor ihm und bat ihn höflich, ihm zu folgen; doch an der
Treppe, die an dem einen Ende des langen zweistöckigen Klostergebäudes
lag, machte ihm ein dicker, grauhaariger Mönch den Gast geschickt und
wie mit vollstem Recht einfach abspenstig. Dieser führte nun Stawrogin
durch einen langen, schmalen Korridor, verneigte sich gleichfalls
fortwährend vor ihm oder eigentlich nickte er nur immer wieder mit dem
Kopf, da ihm das Verbeugen bei seiner Korpulenz augenscheinlich schwer
fiel, und forderte ihn ununterbrochen auf, ihm zu folgen, obgleich
Stawrogin das ohnehin schon tat. Der Mönch stellte auch noch
verschiedene Fragen an ihn und sprach vom Archimandriten, da er aber
keine Antwort erhielt, verstummte er ehrerbietig. Stawrogin fiel es auf,
daß man ihn im Kloster zu kennen schien, obgleich er doch, soweit er
sich erinnern konnte, nur in der Kindheit hier gewesen war. Als sie bei
der letzten Tür des Korridors angelangt waren, blieb der Mönch stehen
und öffnete sie mit einer Miene, als ob er der Bischof selber wäre,
erkundigte sich familiär bei dem flink herbeigelaufenen Zellendiener, ob
man eintreten könne, stieß aber dann, ohne die Antwort abzuwarten, die
Tür weit auf und ließ mit einer Verbeugung den »teuren« Gast an sich
vorüber. Nachdem er aber den klingenden »Dank« empfangen hatte,
verschwand er mit einer Geschwindigkeit, die man ihm gar nicht zugetraut
hätte.

Stawrogin trat in das kleine Zimmer, und fast im selben Augenblick
erschien in der Tür des Nebenzimmers eine hohe, hagere Gestalt: es war
ein Mann von ungefähr fünfundfünfzig Jahren, in einem einfachen
Leibrock, wie er unter dem Meßgewand getragen wird, ein Mensch, der dem
Aussehen nach leidend war, ein sonderbar unbestimmtes Lächeln hatte und
einen sonderbaren, gleichsam scheuen Blick. Das war jener Tichon, dessen
Namen Stawrogin zum erstenmal von Schatoff gehört hatte.

Stawrogin hatte inzwischen Näheres über ihn zu erfahren gesucht, doch
was er an Urteilen über ihn zu hören bekam, war sehr verschieden und
sogar äußerst widerspruchsvoll gewesen. Trotzdem hatten selbst die
entgegengesetztesten Aussagen etwas Gemeinsames gehabt, und zwar: sowohl
die Anhänger wie die Gegner Tichons (und solche gab es) hatten alle
gleichsam irgend etwas von ihm verschwiegen -- die einen wahrscheinlich
aus Geringschätzung oder Verachtung, die anderen, die Anhänger und sogar
die leidenschaftlichsten, aus einer gewissen Scheu, als ob sie etwas von
ihm hätten verheimlichen wollen, irgendeine seiner Schwächen, vielleicht
sogar -- eine gewisse Unzurechnungsfähigkeit. Stawrogin hatte erfahren,
daß er schon seit sechs Jahren in unserem Kloster wohnte, und daß zu ihm
nicht nur das einfache Volk pilgerte, sondern auch die angesehensten
Persönlichkeiten fuhren, daß er sogar im fernen Petersburg
leidenschaftliche Anhänger und vornehmlich Anhängerinnen hatte.
Andererseits aber hatte er von einem würdevollen alten »Klubherrn«, und
zwar einem gottesfürchtigen, gehört, daß »dieser Tichon« so gut wie
vollkommen verrückt oder wenigstens ein ganz unbegabter Mensch sei und
»zweifellos mitunter trinke«. Hierzu möchte ich von mir aus bemerken,
obgleich ich damit vorgreife, daß letzteres entschieden nicht der
Wahrheit entsprach; er hatte nur kranke Füße -- irgendein hartnäckiges
rheumatisches Leiden -- und von Zeit zu Zeit war er irgendwelchen
nervösen Krämpfen oder Anfällen unterworfen. Ferner hatte Stawrogin
gehört, daß der zurückgezogene Bischof -- sei es aus Charakterschwäche
oder aus einer »bei seinem Rang unverzeihlichen Nachlässigkeit« -- es
nicht verstanden habe, im Kloster besondere Ehrfurcht für sich zu
erwecken. Es hieß sogar, daß der Archimandrit, ein in seinen
Amtspflichten sehr strenger Mann, der außerdem wegen seiner
Gelehrsamkeit berühmt war, zu Tichon ein gewissermaßen feindliches
Gefühl nähre und ihm -- natürlich nicht offen, sondern nur mittelbar --
unordentliches Leben und fast Ketzerei vorwerfe. Die Brüderschaft des
Klosters verhielt sich zu dem Kranken, wenn auch nicht gerade
nachlässig, so doch, sagen wir, familiär.

Die zwei Zimmer, aus denen die Zelle Tichons bestand, waren etwas
sonderbar eingerichtet. Neben den klobigen alten Klostermöbeln, deren
Lederbezug schon recht abgenutzt war, befanden sich daselbst drei oder
vier elegante Gegenstände: ein teurer Lehnstuhl, ein prachtvoller großer
Schreibtisch, ein teurer geschnitzter Bücherschrank, Tischchen und
Etageren -- lauter geschenkte Sachen; auf dem Fußboden ein kostbarer
bucharischer Teppich und neben ihm eine einfache geflochtene Matte. An
den Wänden hingen Gravüren mit mythologischen oder »weltlichen«
Darstellungen, in der Ecke aber war ein großer Heiligenschrank, dessen
Heiligenbilder in Gold und Silber schimmerten. Eines von ihnen war sehr
alt und enthielt Reliquien. Seine Bibliothek, hieß es, sollte
gleichfalls sehr sonderbar zusammengesetzt sein: neben den Werken der
großen Kirchenväter sollte sie Werke »der Theaterdichtkunst (!),
vielleicht aber noch schlimmere« enthalten.

Nach den ersten Begrüßungsworten, die aus einem ungewissen Grunde von
beiden ein wenig befangen und sogar kaum verständlich ausgetauscht
wurden, führte Tichon den Gast in sein Kabinett, wies ihm einen Platz
neben dem Tisch auf dem Sofa an, und setzte sich selbst auf einen
geflochtenen Lehnstuhl. Stawrogin war immer noch sehr zerstreut -- er
schien es von einer inneren, bedrückenden Erregung zu sein. Man hätte
glauben können, daß er sich zu etwas Ungewöhnlichem entschlossen habe,
das, einmal getan, nicht mehr rückgängig zu machen wäre, dessen
Erfüllung aber seine Kraft doch zu übersteigen schien. Er blickte sich
im Zimmer um, doch augenscheinlich ohne etwas zu bemerken; er dachte,
doch wußte er natürlich selbst nicht, was. Die Stille weckte ihn
schließlich und es schien ihm plötzlich, daß Tichon gleichsam verschämt
die Augen zu Boden gesenkt hielt und daß ein ganz überflüssiges,
unbeholfenes Lächeln um seine Lippen spielte. Das rief sofort
Widerwillen in ihm hervor; er wollte schon aufstehen und weggehen, um so
mehr, als Tichon seiner Meinung nach entschieden betrunken war. Da erhob
aber Tichon plötzlich die Augen und sah ihn mit einem so festen,
gedankendurchdrungenen Blick an und zu gleicher Zeit mit einem so
unerwarteten und rätselhaften Ausdruck, daß er fast zusammenfuhr. Es
schien ihm plötzlich aus irgendeinem Grunde, daß Tichon schon wisse,
warum er zu ihm gekommen war, daß man ihn schon von seinem Besuch
benachrichtigt habe (obgleich kein Mensch in der ganzen Welt _diesen_
Grund seines Besuches wissen konnte), und wenn er nicht als erster zu
sprechen anfing, dies nur deshalb nicht tat, weil er ihn schonen wollte,
-- vielleicht weil er fürchtete, ihn zu demütigen.

»Sie kennen mich?« fragte Stawrogin schroff. »Habe ich mich Ihnen
vorgestellt oder nicht, als ich eintrat? Ich bin so zerstreut ...«

»Sie haben sich nicht vorgestellt, aber ich habe Sie schon einmal vor
vier Jahren gesehen, hier im Kloster ... zufällig.«

Tichon sprach nicht schnell, gleichmäßig, mit einer weichen Stimme, und
er sprach die Worte klar und deutlich aus.

»Vor vier Jahren bin ich überhaupt nicht in diesem Kloster gewesen,«
entgegnete Stawrogin in einem Ton, der an Grobheit grenzte; »nur als
Knabe bin ich hier gewesen, als Sie noch gar nicht hier waren.«

»Vielleicht haben Sie es vergessen?« bemerkte Tichon vorsichtig, doch
ohne darauf zu bestehen.

»Nein, ich habe es nicht vergessen; und es wäre auch lächerlich, wenn
ich mich dessen nicht mehr erinnern würde,« bestand Stawrogin wiederum
unverhältnismäßig heftig auf seiner Behauptung. »Sie haben vielleicht
nur von mir gehört und sich dann irgendeine Vorstellung von mir gemacht,
und so glauben Sie jetzt, daß Sie mich gesehen hätten.«

Tichon schwieg. Da bemerkte Stawrogin, daß es über sein Gesicht zuweilen
wie ein Nervenzucken lief, ein Kennzeichen seiner Krankheit.

»Ich sehe nur, daß Sie heute nicht ganz wohl sind,« sagte er, »ich
glaube, ich tue besser, wenn ich fortgehe.«

Er erhob sich sogar vom Sofa.

»Ja, ich fühle seit gestern starke Schmerzen in den Füßen, und in der
Nacht habe ich wenig geschlafen ...«

Tichon verstummte. Seinen Gast aber hatte die vorige Nachdenklichkeit
schon von neuem und ganz plötzlich überfallen. Das Schweigen dauerte
lange an, mehr als zwei Minuten.

»Sie haben mich vorhin beobachtet?« fragte Stawrogin plötzlich erregt
und mißtrauisch.

»Ich habe Sie angesehen und mich dabei der Gesichtszüge Ihrer Mutter
erinnert. Zwischen Ihnen und ihr ist bei äußerer Unähnlichkeit viel
innere, geistige Ähnlichkeit.«

»Durchaus keine Ähnlichkeit, besonders keine geistige. Sogar überhaupt
keine!« rief Stawrogin wieder ganz unverhältnismäßig erregt und heftig.
»Sie sagen das nur so aus Mitleid zu mir und ... Unsinn! ... Kommt denn
meine Mutter hierher?«

»Ja, zuweilen.«

»Das wußte ich nicht. Habe es niemals von ihr gehört. Kommt sie oft?«

»Fast in jedem Monat einmal; aber auch öfter.«

»Habe es niemals gehört. Kein einziges Mal ... Nie gehört ... Sie haben
dann natürlich von ihr schon erfahren, daß ich verrückt bin?« fügte er
plötzlich hinzu.

»Nein, nicht gerade verrückt. Übrigens habe ich auch von dieser
Auffassung gehört, aber von anderen.«

»Sie haben wohl ein gutes Gedächtnis, wenn Sie so viele Dummheiten
behalten können. Und von der Ohrfeige haben Sie gleichfalls gehört?«

»Ja, einiges.«

»Das heißt also alles. Sie haben ja ungemein viel Zeit übrig. Und vom
Duell?«

»Auch vom Duell.«

»Sie hören hier allerdings erstaunlich viel. Wozu druckt man bei uns
eigentlich Zeitungen? Schatoff hat Ihnen wohl gesagt, daß ich kommen
werde? Nicht?«

»Nein. Ich kenne Herrn Schatoff, aber jetzt habe ich ihn lange nicht
mehr gesehen.«

»Hm. Was haben Sie dort für eine Karte? Sehe ich recht! Die Karte des
letzten Krieges! Was machen Sie denn damit?«

»Ich orientiere mich auf der Landkarte nach dem Text. Es ist eine
interessante Beschreibung.«

»Zeigen Sie; ja, das ist keine schlechte Darstellung. Aber doch eine
sonderbare Lektüre für Sie.«

Er zog das Buch zu sich heran und blickte flüchtig hinein. Es war eine
umfangreiche Geschichte des letzten Krieges, gut dargestellt, --
übrigens nicht so sehr vom militärischen als vielmehr vom rein
literarischen Standpunkte aus. Nachdem er das Buch zu sich umgedreht
hatte, schob er es plötzlich ungeduldig wieder zurück.

»Ich weiß wirklich nicht, warum ich hergekommen bin!« stieß er gereizt
hervor, Tichon gerade in die Augen blickend, als ob er von ihm eine
Antwort darauf erwartete.

»Sie scheinen auch nicht ganz gesund zu sein?«

»Ja, ich bin nicht ganz gesund.«

Und plötzlich erzählte er in kurzen, schroffen Worten -- manches war nur
schwer zu verstehen --, daß er besonders nachts so etwas wie
Halluzinationen unterworfen sei, daß er zuweilen irgendein boshaftes,
ein spöttisches und »vernünftiges« Wesen neben sich sehe oder fühle, »in
verschiedenen Gestalten und von verschiedenem Charakter, doch ist es
stets ein und dasselbe Wesen -- ich aber ärgere mich dann immer ...«

Wild und wirr war dieses Geständnis; man hätte wirklich glauben können,
daß ein tatsächlich Wahnsinniger es machte. Doch bei alledem sprach
Stawrogin mit einer so sonderbaren Aufrichtigkeit, wie sie wohl noch nie
jemand an ihm gesehen hatte, mit einer Offenheit, die ihm sonst gar
nicht eigen war, daß man glauben konnte, der frühere Mensch in ihm sei
plötzlich -- und auch für ihn selbst ganz unverhofft -- spurlos
verschwunden. Er schämte sich nicht im geringsten, die Angst zu zeigen,
die er vor seinem Gespenst hatte. Doch das währte nur einen Augenblick
und verschwand dann ebenso schnell, wie es sich eingestellt hatte.

»Aber alles das ist natürlich Unsinn,« unterbrach er sich plötzlich
ärgerlich. »Ich werde zum Arzt gehen.«

»Tun Sie das unbedingt,« riet ihm Tichon zu.

»Sie sagen das so bestimmt ... Haben Sie denn solche Menschen schon je
gesehen, wie mich, mit solchen Erscheinungen?«

»Ja, aber nur sehr selten. Ich erinnere mich nur noch eines Offiziers,
nach dem Tode seiner Frau, seines unersetzlichen Kameraden. Von einem
anderen habe ich nur gehört. Beide sind sie im Auslande geheilt worden
... Leiden Sie schon lange daran?«

»Ungefähr seit einem Jahr, aber das ist ja alles Unsinn. Ich werde zum
Arzt gehen. Das ganze ist ja doch nur ein Unsinn, ein furchtbarer
Unsinn! Das bin ich selbst in verschiedenen Gestalten und weiter ist es
nichts. -- Da ich soeben diese ... Phrase hinzugefügt habe, denken Sie
jetzt gewiß, daß ich immer noch zweifle und mich noch nicht überzeugt
habe, daß ich es bin und nicht wirklich der Teufel?«

Tichon blickte ihn fragend an.

»Und ... Sie sehen ihn wirklich?« fragte er, ohne die Erklärung
Stawrogins, daß es ganz zweifellos eine krankhafte Halluzination sei,
überhaupt zu beachten, »sehen Sie wirklich eine Gestalt?«

»Sonderbar, daß Sie das noch fragen, nachdem ich Ihnen doch schon gesagt
habe, daß ich ihn sehe,« entgegnete Stawrogin, nach jedem Wort mehr und
mehr gereizt. »Selbstverständlich sehe ich ihn. Ich sehe ihn so, wie ich
jetzt Sie vor mir sehe, zuweilen aber sehe ich ihn und bin doch nicht
überzeugt, daß ich sehe, obgleich ich sehe ... zuweilen aber bin ich
überzeugt, daß ich sehe, und ich weiß bloß nicht, wen ich sehe: mich
oder ihn ... Ach, Unsinn ist das alles! Sie aber -- können Sie sich denn
das ganz und gar nicht vorstellen, daß es wirklich ein Teufel ist?«
fügte er lachend die Frage hinzu: er ging etwas gar zu schnell auf den
spöttischen Ton über. »Das wäre doch Ihrem Beruf angemessener?«

»Es ist wahrscheinlich nur Krankheit, wenn es auch ...«

»Wenn es auch was?«

»Wenn es auch Teufel zweifellos gibt, doch kann man sie sehr verschieden
auffassen.«

»Ich werde Ihnen sagen, warum Sie vorhin Ihren Blick senkten,«
unterbrach ihn Stawrogin mit gereiztem Spott. »Sie schämten sich für
mich, weil ich -- an den Teufel glaube, doch unter dem Anscheine, daß
ich selbst nicht glaube, Ihnen schlau die Frage stellte: gibt es ihn in
Wirklichkeit oder nicht?«

Tichon lächelte unbestimmt.

»Und wissen Sie, es steht Ihnen durchaus nicht, wenn Sie die Augen
niederschlagen: es ist unnatürlich, geziert und lächerlich. Und um Ihnen
in der Grobheit Genüge zu tun, werde ich Ihnen sofort vollkommen ernst
und unverschämt die ganze Wahrheit sagen: ja, ich glaube an den Teufel,
glaube kanonisch an ihn, an den Teufel als Persönlichkeit, nicht als
Allegorie, und ich brauche überhaupt niemanden zu fragen oder etwas über
ihn erfahren zu wollen, -- da haben Sie alles! Sie müssen jetzt sehr
froh sein ...«

Nervös, unnatürlich lachte er auf.

Tichon blickte ihn mit einem weichen, beinahe ein wenig schüchternen
Blick fast neugierig an.

»Glauben Sie an Gott?« warf ihm plötzlich Stawrogin die Frage zu.

»Ich glaube.«

»Es steht doch geschrieben, wenn du glaubst und dem Berge befiehlst, von
der Stelle zu rücken, so wird er von der Stelle rücken ... Übrigens,
Blödsinn! Aber ich will Sie doch fragen: werden Sie einen Berg von der
Stelle rücken oder nicht?«

»Wenn Gott es befiehlt, werde ich auch Berge versetzen,« sagte Tichon
leise und zurückhaltend, und allmählich senkte er wieder den Blick.

»Nun, das ist ebensogut, wie: Gott macht es selbst. Nein, _Sie, Sie_,
als Belohnung für den Glauben an Gott?«

»Es kann sein, daß ich ihn vielleicht auch nicht von der Stelle rücken
werde.«

»>Vielleicht_très peu_<{[281]} eines, der gleichfalls
Bischof, Erzbischof war ... Allerdings -- das ist wahr -- unter dem
Säbel ... Sie sind natürlich auch Christ?«

»Deines Kreuzes, Herr, werde ich mich nicht schämen,« sagte Tichon
flüsternd, -- es war ein sonderbares Flüstern, und er senkte den Kopf
noch tiefer. Seine Mundwinkel zuckten nervös.

»Aber kann man auch an den Teufel glauben, wenn man überhaupt nicht an
Gott glaubt?« fragte Stawrogin lächelnd.

»Oh, sogar sehr, das tun fast alle,« sagte Tichon, erhob seinen Blick
und lächelte gleichfalls.

»Ich bin überzeugt, daß Sie solch einen Glauben immerhin achtbarer
finden, als volle Glaubenslosigkeit ... Oh, Pope!« rief Stawrogin
auflachend. Wieder lächelte Tichon ihm zu.

»Im Gegenteil, der vollständige Atheismus ist weit achtbarer, als die
weltliche Gleichgültigkeit,« entgegnete er heiter und gutmütig.

»Oho, also so sind Sie!«

»Der vollständige Atheist steht auf der vorletzten höchsten Stufe zum
vollständigsten Glauben -- mag er sie dann betreten oder nicht --, der
Gleichmütige dagegen hat überhaupt keinen Glauben außer einer schlechten
Angst.«

»Aber Sie ... -- Haben Sie die Apokalypse gelesen?«

»Ja.«

»Erinnern Sie sich der Stelle: >Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea
schreibe ...<«

»Ich weiß, wundervolle Worte.«

»Wundervoll? Sonderbarer Ausdruck für einen Bischof, und überhaupt sind
Sie ein Sonderling ... wo haben Sie hier das Buch?« fragte Stawrogin
auffallend eilig und erregt und seine Augen suchten es auf dem Tisch,
»ich will es Ihnen vorlesen ... haben Sie die russische Übersetzung?«

»Ich weiß, ich kenne die Stelle, ich kenne sie ganz genau,« sagte
Tichon.

»Kennen Sie sie auswendig? Sagen Sie sie!« ...

Er senkte schnell die Augen, stützte beide Hände auf die Knie und
wartete ungeduldig.

Tichon sagte Wort für Wort:

»Und dem Engel der Gemeine zu Laodicea schreibe: Das saget Amen, der
treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes. Ich weiß
deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder
warm wärest! Weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, werde ich
dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich, und habe
gar satt, und bedarf nichts; und weißt nicht, daß du bist elend und
jämmerlich, arm, blind und bloß ...«

»Genug,« unterbrach ihn Stawrogin, »das ist für die Mittelsorte, für die
Gleichmütigen, nicht wahr? Wissen Sie, ich liebe Sie sehr.«

»Und ich Sie,« sagte Tichon halblaut.

Stawrogin verstummte und versank wieder in seine Gedanken. Das kam wie
ein Anfall über ihn, schon zum drittenmal. Und auch das »ich liebe Sie«
hatte er wie in einem Anfall gesagt, wenigstens ganz überraschend für
sich selbst. Es verging mehr als eine Minute.

»Ärgere dich nicht,« sagte Tichon plötzlich ganz leise, und berührte mit
dem Finger vorsichtig, als ob er sich scheue, seinen Ellenbogen.

Stawrogin fuhr zusammen und runzelte unwillig die Stirn.

»Woher wissen Sie, daß ich mich ärgerte?« fragte er hastig. Tichon
wollte etwas sagen, doch er unterbrach ihn in ungewöhnlicher Erregung.

»Warum glaubten Sie, daß ich mich unbedingt ärgern mußte? Ja, ich
ärgerte mich, Sie haben recht, und gerade deswegen, weil ich Ihnen
gesagt hatte: >ich liebe Sie<. Sie haben recht, aber Sie sind ein grober
Zyniker, niedrig denken Sie von der menschlichen Natur. Es hätte kein
Ärger zu sein brauchen, wenn es nur ein anderen Mensch gewesen wäre, und
nicht ich ... Übrigens, hier handelt es sich nicht um den Menschen,
sondern um mich. Immerhin sind Sie ein Sonderling und ein
Geistesschwacher ...«

Er regte sich immer mehr auf und, sonderbar, tat sich in den Worten
überhaupt keinen Zwang an:

»Hören Sie, ich liebe keine Spione und Psychologen, wenigstens nicht
solche, die in meine Seele kriechen. Ich rufe niemanden in meine Seele,
ich brauche niemanden, ich verstehe mit mir selbst auszukommen. Sie
glauben, daß ich Sie fürchte?« fragte er mit lauterer Stimme und erhob
herausfordernd sein Gesicht. »Sie sind wohl vollkommen überzeugt, daß
ich gekommen bin, Ihnen ein >furchtbares< Geheimnis zu offenbaren? Nun,
so hören Sie denn, daß ich Ihnen überhaupt nichts sagen werde, nichts
von einem Geheimnis, denn ich habe Sie überhaupt nicht nötig ...«

»Es hat Sie betroffen gemacht, daß das Lamm den kalten mehr liebt als
den bloß lauen,« sagte Tichon, »Sie wollen nicht _nur_ lau sein. Ich
ahne es, daß eine ungewöhnliche, vielleicht furchtbare Absicht Sie
quält. Wenn es so ist, so flehe ich Sie an, quälen Sie sich nicht und
sagen Sie alles, womit Sie gekommen sind.«

»Und Sie wissen es so genau, daß ich mit irgend etwas gekommen bin?«

»Ich ... erriet es an Ihrem Gesicht,« flüsterte Tichon und senkte wieder
den Blick.

Stawrogin war etwas bleich und seine Hände zitterten ein wenig. Einige
Sekunden lang sah er unbeweglich und stumm Tichon an, als ob er sich
endgültig entschlösse. Dann zog er aus der Seitentasche seines Rockes
irgendwelche Druckbogen hervor und legte sie auf den Tisch.

»Das sind die Blätter, die zur Verbreitung bestimmt sind,« sagte er mit
einer etwas stockenden Stimme. »Wenn auch nur ein einziger Mensch sie
liest, dann, das sage ich Ihnen, werde ich sie nicht mehr verbergen,
dann werden alle sie lesen. So ist es beschlossen. Ich habe Sie
überhaupt nicht nötig, denn ich habe selbst schon alles bei mir
beschlossen. Aber lesen Sie ... Während des Lesens sagen Sie nichts,
aber wenn Sie es gelesen haben -- dann sagen Sie alles ...«

»Soll ich?« fragte Tichon unentschlossen, zögernd.

»Lesen Sie; ich bin schon längst ruhig.«

»Nein, ohne Brille kann ich es nicht entziffern ... kleine Schrift ...
ausländisch.«

»Hier ist die Brille,« sagte Stawrogin, reichte sie ihm vom Tisch und
lehnte sich zurück in die Ecke des Sofas. Tichon versenkte sich in die
Lektüre.


                                  II.

Der Druck war tatsächlich ausländisch -- drei broschierte Druckbogen von
gewöhnlichem Postpapier kleineren Formats. Wahrscheinlich hatte er sie
in einer der geheimen russischen Druckereien im Auslande setzen lassen.
Auf den ersten Blick glichen sie sehr einer Proklamation. Als
Überschrift stand: »Von Stawrogin«.

Ich nehme dieses Dokument unverändert in meine Chronik auf.
Wahrscheinlich kennen es jetzt schon viele. Ich habe mir nur erlaubt,
die orthographischen Fehler zu korrigieren, die ziemlich zahlreich waren
und die mich sogar gewissermaßen wundernahmen, da doch der Autor
immerhin ein gebildeter und belesener Mensch war (natürlich relativ
gesprochen). Im Stil dagegen habe ich nichts verändert, trotz der
Unrichtigkeiten und sogar Unklarheiten. Jedenfalls ersieht man aus
ihnen, daß der Verfasser kein Schriftsteller war.

Nur eine Bemerkung will ich mir doch noch erlauben, obgleich ich damit
vorgreife. Meiner Meinung nach ist dieses Dokument -- ein krankhaftes
Erzeugnis, ein Werk des Teufels, der sich dieses Menschen bemächtigt
hatte. Es ist, wie wenn ein Kranker, den ein großer, scharfer Schmerz
peinigt, sich in seinem Bette wälzt, einzig in dem Verlangen, eine
Stellung einzunehmen, die ihm wenigstens auf einen Augenblick
Erleichterung schafft, oder nicht einmal Erleichterung, sondern bloß den
alten Schmerz durch einen anderen Schmerz verdrängt, wenn auch nur auf
einen Augenblick. Und dann kommt es ihm natürlich nicht mehr auf die
Schönheit oder Vernünftigkeit der Stellung an. Der Ausgangspunkt dieses
Dokuments war -- das furchtbare, ungeheuchelte Bedürfnis einer Strafe,
einer öffentlichen Hinrichtung. Und dabei war dieses Bedürfnis, das
Kreuz auf sich zu nehmen, in einem Menschen, der an das Kreuz nicht
glaubte, -- »doch auch das macht schon eine Idee aus«, -- wie einmal
Stepan Trophimowitsch gesagt hat, wenn auch in einem ganz anderen
Zusammenhange.

Und doch wirkt dabei das ganze Dokument wie etwas Wildes und Verwegenes,
obgleich es anscheinend mit einer ganz anderen Absicht geschrieben
worden ist. Der Autor erklärt darin, daß er das »unmöglich _nicht_
schreiben konnte«, daß er dazu »gezwungen« war -- und das ist ziemlich
wahrscheinlich: er hätte gern den Kelch umgangen, wenn er es gekonnt
hätte, aber er konnte es, wie es scheint, tatsächlich nicht und griff
nur nach der Möglichkeit einer neuen Gewalttat. Ja, fürwahr: ein Kranker
wälzt sich auf dem Lager und will den einen Schmerz durch den anderen
betäuben -- und siehe, da schien ihm der Kampf mit der Gesellschaft die
leichteste Lage, und so wirft er denn der Gesellschaft die
Herausforderung zu. Ja, schon aus der Tatsache, daß ein solches Dokument
entstehen konnte, fühlt man eine neue, unerwartete und ehrfurchtslose
Herausforderung der Gesellschaft. Da heißt es: nur schnell irgendeinen
Feind finden ...

Doch wer weiß, vielleicht ist das Ganze, d. h., sind diese Blätter mit
der ihnen zugedachten Veröffentlichung -- wiederum nichts anderes, als
ein gebissenes Gouverneursohr, nur in einer anderen Gestalt? Warum mir
das sogar jetzt noch in den Sinn kommt, jetzt, nachdem sich schon so
vieles erklärt hat, -- das weiß ich selbst nicht. Ich führe weiter keine
Beweise an gegen eine etwaige Vermutung, die Tat, von der in dem
Dokument die Rede ist, sei falsch, d. h., vollkommen erdichtet. Am
wahrscheinlichsten ist, daß man die Wahrheit irgendwo in der Mitte
suchen muß ... Doch ich greife zu weit vor; es ist besser, ich wende
mich zu dem Dokument selbst zurück.

                   *       *       *       *       *

Und Tichon las folgendes:




                               Anmerkung


S. 160. Die Antwort Kirilloffs auf die Frage nach Gott ist ein absoluter
Widerspruch, wie nein und ja: »_Jewó njet, no on jestj_«. Man könnte
ebensogut sagen: »Er ist nicht, aber es gibt ihn.«

S. 896 sagt Schatoff zu Kirilloff: »Gib mir, Bruder, ich gebe es dir
morgen wieder.« Die Anrede mit dem Wort »Bruder« ist unter Russen so
üblich, wie im Deutschen die Anrede mit »Freund« oder »Lieber«.

Die russische Frau wird von russischen Männern häufig »Freund« genannt,
obschon es die Form »Freundin« auch gibt. Es ist das psychologisch nicht
unwichtig.

                                                            _E. K. R._




                                Fußnoten


[1] Das Wort »bürgerlich« ist hier und im folgenden nur als
parteipolitische Bezeichnung zu verstehen, wie es nach der französischen
Revolution und besonders im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts von
liberalen, für europäische Kultur und Bürgerfreiheit schwärmenden,
republikanisch oder mindestens konstitutionell gesinnten Russen mit
Stolz gebraucht wurde. Es bezeichnete unter den russischen
Schillerianern den »sich seiner Würde bewußten Kulturmenschen«, im
Gegensatz zum »Untertan« der herrschenden Autokratie. E. K. R.

[2] Die Klassiker der russischen Literatur sind fast alle zeitweise
verbannt gewesen oder haben unter geheimer polizeilicher Aufsicht
gestanden. Vgl. S. 1119. Die nach Sibirien verbannten Dekabristen wurden
geradezu als heilige Opfer verehrt. Vgl. Anm. S. 1093, 1094. E. K. R.

[3] Ein Kreis junger Dichter in den dreißiger und vierziger
Jahren. Lyriker, schwächere Romantiker, die sich fast alle den
sozialen und politischen Fragen fernhielten. Ihre zum Teil
melancholisch-pessimistischen Dichtungen wurden von dem berühmten
Kritiker und »Realisten« Belinski alsbald schonungslos kritisiert und
damit war ihr Ruhm untergraben. E. K. R.

[4] Die vier bedeutendsten literarisch-politischen Persönlichkeiten
derselben Zeit. Vgl. die Anmerkungen S. 1099, 1112, 1118 und 1081. E. K.
R.

[5] Der unter Nikolai I. gebräuchliche vorsichtige Ausdruck für das
Eingreifen der politischen Geheimpolizei -- der sogenannten »Dritten
Abteilung« --, vor der niemand sicher war. E. K. R.

[6] D. h., er ist um Mitteilung seines politischen Bekenntnisses ersucht
worden wegen einiger Äußerungen in einem Privatbrief über
innerpolitische Maßnahmen (»Umstände«). Die Dritte Abteilung der
Geheimpolizei kontrollierte auch die Privatkorrespondenz, und ein jeder,
der zu einer Universität in Beziehung stand, galt unter Nikolai I.
bereits für »verdächtig«. E. K. R.

[7] Humoristische Anspielung auf die am 23. April 1849 in Petersburg
verhafteten 30 »Petraschewzen«, von denen 20 -- unter diesen auch
Dostojewski -- zum Tode verurteilt, doch zu Zuchthaus und Verbannung
begnadigt wurden. Über die von einzelnen Petraschewzen geplante
Fourier-Übersetzung vgl. Bd. XI der Ausgabe, »Autobiographische
Schriften«, S. 87. E. K. R.

[8] Die übliche Umschreibung für »von der Dritten Abteilung verfolgt,
bezw. bestraft worden sein«. E. K. R.

[9] Der unter Nikolai I. mundtot gemachten Fortschrittler. E. K. R.

[10] Eine Art Whistspiel. Wörtlich: Unsinn, Wirrwarr. E. K. R.

[11] Vgl. S. 1118, Anm. E. K. R.

[12] Die ersten Jahre nach der drückenden Regierungszeit Nikolais I.
(1825--55), als unter dem jungen »Zar-Befreier« die großen Reformen
vorbereitet wurden, bis 1861, 62. E. K. R.

[13] Die regierungsfeindlichen russischen Zeitschriften erschienen in
der Schweiz und in London und waren in Rußland nur als Konterbande
erhältlich. E. K. R.

[14] Verfasser eines empfindsamen Buches über die Schrecken der
Leibeigenschaft »Eine Reise von Petersburg nach Moskau«; wurde dafür
sofort (1790) zum Tode verurteilt, doch schließlich nur in Ketten nach
Ostsibirien verschickt, später von Paul I. begnadigt. Beging Selbstmord,
als man ihm wieder mit Sibirien drohte. E. K. R.

[15] Wjek, »Das Jahrhundert«, hier als Titel einer Zeitschrift gedacht.
L. Kambek ein Kritiker. E. K. R.

[16] Eine Redensart wie »am Ende der Welt,« wo Makar noch nie gewesen
ist, unter jenen Umständen in Petersburg das Verbannungsland Sibirien.
E. K. R.

[17] Der Tag der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861. E. K. R.

[18] Vgl. Vorbemerkung. E. K. R.

[19] Eine Dorfgeschichte von Grigorowitsch, die 1847 eine neue
Anschauungsweise einleitete (daß der Bauer auch ein Mensch sei) und der
Literatur ein neues Stoffgebiet erschloß. E. K. R.

[20] Der Führer einer größeren Schar aufsässiger Bauern nach der
Bauernbefreiung. Vgl. S. 1115, 2. Anmerkung. E. K. R.

[21] Der Aufstand der Polen im Jahre 1863 hatte zur Folge, daß der
russische Nationalstolz mächtig hervorbrach. E. K. R.

[22] Die beste deutsche Schule in Petersburg. E. K. R.

[23] Fürst von Nowgorod, 1151--1202, fiel auf einem Eroberungszuge gegen
die Polowzer. Anspielung auf den sorglosen Willen dieses Fürsten zu
nationaler (normannischer!) Ausbreitung. E. K. R.

[24] Gogol bekannte sich seit 1846 zur offiziellen Orthodoxie. E. K. R.

[25] Vetter und Cousine dürfen sich nach den Satzungen der russischen
Kirche nicht heiraten. E. K. R.

[26] In Karmasinoff hat Dostojewski I. Turgenjeff karikiert. E. K. R.

[27] Zu Kirilloffs eigenartig falscher Ausdrucksweise Näheres in der
»Vorbemerkung«. E. K. R.

[28] Der Held in Lermontoffs Roman »Der Held unserer Zeit«: Eroberer von
Frauenherzen. E. K. R.

[29] Die Gutsbesitzerin Frau Korobotschka in Gogols Roman »Die toten
Seelen«: der Typ einer beschränkten, engherzigen, geizigen alten Frau.
E. K. R.

[30] Antwort Gogols auf den Vorwurf, seine Menschen seien nur mit Spott
und Verachtung geschaut, weshalb er auch nicht einen guten Zug an ihnen
wahrgenommen habe. Dostojewski hat dagegen in seinem ersten Werk
denselben unscheinbaren russischen Menschen als einen Träger größter
Menschenliebe und seelischer Zartheit geschildert -- als Protest gegen
Gogols Darstellung. E. K. R.

[31] Volkstümliche Anrede der Droschkenkutscher. E. K. R.

[32] Die orthodoxe Kirche ließ damals eine Ehescheidung noch nicht zu.
E. K. R.

[33] Teilnehmer an der Verschwörung und dem Aufstande gegen die
Autokratie im Dezember 1825 -- meist Gardeoffiziere und die geistige
Elite Rußlands. Die Führer wurden gehenkt, die übrigen auf Lebenszeit
nach Sibirien verbannt (Siehe Anhang). E. K. R.

[34] Im Roman »Väter und Söhne« -- der erste Versuch einer
Charakterisierung des »Nihilisten«: von der Zensur sehr entstellt, da
sie alle geschilderten guten Eigenschaften Basaroffs strich. E. K. R.

[35] Der Typ eines Gutsbesitzers in Gogols Roman »Die toten Seelen«:
»Ein durchtriebener leichtsinniger Kerl, Schwätzer, Lügner, unehrlicher
Spieler ... der schnell mit jedem bekannt wird und, bevor man sich's
versieht, einen duzt ... Er erzählte lügenhafte Anekdötchen, brachte
Zwietracht zwischen Verlobte. Er war überhaupt sehr vielseitig und stets
zu allem bereit. Was er tat, geschah aber nicht aus Gewinnsucht, sondern
infolge einer eigentümlichen Sprunghaftigkeit und Unruhe des
Charakters.« E. K. R.

[36] Die altrussische Sitte, nach der Kinder ihre Eltern nicht duzen
durften, besteht auch heute noch in allen guten russischen Familien,
während das »Du« nur in herzlicher, unformeller Unterhaltung üblich ist.
E. K. R.

[37] Siehe Anmerkung S. 313. E. K. R.

[38] Anführer des Kosakenaufstandes von 1667--71. Freiheitsheld. 1671
hingerichtet. E. K. R.

[39] Burschikose Abkürzung für Petersburg. E. K. R.

[40] 1861. Siehe Anm. S. 451. E. K. R.

[41] Nach altrussischem Brauch werden Leichen in offenem Sarge auf den
Kirchhof getragen, wo der Sarg erst vor der Versenkung in die Gruft
geschlossen wird. E. K. R.

[42] Siehe S. 307, 430, 431. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft
durch Alexander II. (1861) machte sich alsbald unter dem zum Teil schwer
geschädigten Landadel eine reaktionäre Gegenbewegung bemerkbar, die die
Regierung zeitweilig nicht wenig beunruhigte. Zwanzig Jahre später
konnte man ihr öffentlich die Schuld an dem Attentat auf den Zaren (13.
III. 1881, einen Monat nach dem Tode Dostojewskis) zuschreiben, während
es im Grunde eine Tat des »Terrorismus« war: gleich den vielen anderen
Attentaten (seit 1866) eine Antwort der revolutionären Jugend auf die
scharfen Maßnahmen gegen ihre Führer und Kameraden. E. K. R.

[43] Berühmter Roman des »Realisten« und radikalen Publizisten
Tschernyschewski (1828--1889, seit 1865 politischer Sträfling):
geschrieben während der Untersuchungshaft 1863, als Kunstwerk belanglos,
doch als anschauliche Vorführung der erstrebten Reformen -- u. a. die
Möglichkeit der Ehescheidung -- von ungeheuerem Einfluß auf die Jugend.
E. K. R.

[44] Kondratij F. Rylejeff, geb. 1795, Dichter, von Puschkin und Byron
beeinflußt, suchte durch Verherrlichung historischer Gestalten
Bürgersinn und Unabhängigkeitsgefühl zu wecken, wurde als einer der 121
»Dekabristen« (siehe Anm. Bd. I, S. 300) abgeurteilt und am 14. Juli
1826 als einer der fünf zum Tode durch den Strang Verurteilten gehängt.
Seine »Dumy« (historische Lieder der Ukraine) waren lange Zeit nur
handschriftlich verbreitet. E. K. R.

[45] Die orthodoxe Kirche schied damals noch keine Ehe, die in ihr
geschlossen worden war, und grundsätzlich steht sie auch heute noch auf
dem Standpunkt, daß eine Ehe »nur der Tod lösen darf«. E. K. R.

[46] In den letzten Lebensjahren Belinskis ist Dostojewski (von
1845--1848) an diesen Abenden persönlich zugegen gewesen. E. K. R.

[47] Sekte der Schneidlinge, die ein legendäres Buch für die einzige
göttliche Offenbarung hält. E. K. R.

[48] Anspielung auf den Heiland der Geislersekte. E. K. R.

[49] Die Hauptperson in Lermontoffs Roman »Der Held unserer Zeit«
(1841), meist für ein Produkt des Byronismus in Rußland gehalten, im
Grunde jedoch etwas typisch Russisches: ein skeptisch-blasierter
»überflüssiger Mensch«, seelisch Nihilist, doch ohne die Kraft und den
Enthusiasmus der späteren sogenannten »Nihilisten«, die Tolstoi »die
einzigen Gläubigen« genannt hat und die z. T. auch hier in den »Dämonen«
geschildert sind. E. K. R.

[50] Bis zur Zeit der Aufklärung in Rußland verbreitete Vorstellung vom
Weltall, dessen Maschinerie angeblich von Engeln aufgezogen wurde. E. K.
R.

[51] Die »gemäßigt« liberale Petersburger Tageszeitung »Die Stimme«,
deren Bedeutung damals (1871) schon zurückgegangen war. Auch die übrigen
Masken verspotten liberale oder nicht ausgesprochen nationalistische
Zeitschriften. E. K. R.

[52] Der Typ einer beschränkten, engherzigen, geizigen Frau in Gogols
Roman »Die toten Seelen«: in ihren Kombinationsversuchen kommt sie auf
Vermutungen, die kein Mensch für möglich halten würde, -- eine
Charakterzeichnung von so genialem Realismus, daß ihr Name bereits
adjektivisch gebraucht wird. E. K. R.

[53] Roman von Drushinin, der 1847 großen Beifall fand: der Mann
verzeiht seiner reuig zuückgekehrten Frau und das Glück ist nachher
»tiefer«. E. K. R.

[54] Eine Art Whistspiel. E. K. R.

[55] In formgetreuer Wiedergabe der zum Teil sprunghaft notierten Sätze.
E. K. R.

[56] Irtenjeff -- Tolstois jugendliches Selbstporträt. E. K. R.

[57] Anführer des Kosakenaufstandes von 1667--1670. Machte das Land von
Kasan bis Persien unsicher, wollte dann gegen die unbeliebten
moskauschen Bojaren ziehen, wurde jedoch geschlagen, gefangen und
hingerichtet. Vielbesungener Freiheitsheld (s. S. 378). E. K. R.

[58] Der als Gott-Vater angebetete Heilige der Geißlersekte. Mitte des
XVII. Jahrhunderts. Spielt innerhalb der Sekte eine größere Rolle als
der Papst im Katholizismus. Der jeweilige regierende Nachkomme Danilas
nennt sich »Christus«. S. 650, 651, Anspielung, daß Stawrogin als »Prinz
Iwan« mehr sein würde als ein »Iwan Filippowitsch«. Der »Zarewitsch
Iwan« ist »der lichte Prinz« im russischen Märchen. E. K. R.

[59] Molokanen (Milchesser), russische Sekte an der Wolga seit dem
Anfang des XIX. Jahrhunderts, so genannt, da sie auch in der Fastenzeit
Milch genießen. Protestantisch insofern, als sie die Bibel sehr hoch
halten und die Entstehung der Sekte auf Berührung mit den
protestantischen deutschen Kolonisten zurückzuführen ist. Im übrigen
glauben sie das Urchristentum zu besitzen, und ein jeder kann sich die
Heilige Schrift nach eigener Überzeugung auslegen. E. K. R.

[60] Herzen, dem Sohn der Protestantin Louise Haag, war der um jeden
Preis geforderte blinde orthodoxe Glaube der Slawophilen -- besonders
der Romantiker unter diesen -- ebenso unmöglich, wie die mokante Skepsis
seines Vaters, des russischen Aristokraten Jakowleff. Die Wissenschaft
war für ihn »gleichfalls Liebe«. Das Gefühl der Religion ersetzte ihm
eine hohe Meinung von der »Würde des Menschen«. Auf dieser Grundlage
bekämpft Herzen das absolutistische Regierungssystem zunächst als
Republikaner, in seinen letzten Lebensjahren jedoch nicht mehr als
prinzipieller Antimonarchist. Als Fortsetzer der aufrufenden Arbeit
Belinskis, als Publizist und glänzender Schriftsteller hatte er um die
Mitte des 19. Jahrhunderts (1848--63) den größten Einfluß auf die
geistige Entwicklung Rußlands. (Geb. 1812 in Moskau, seit 1847 Emigrant,
1870 gest. in Paris.) Dostojewski hat erst später (1876 im »Jüngling«,
1880 in der »Puschkinrede«) die Westler, zu denen Herzen, Belinski,
Tschaadajeff und Granowski gezählt wurden, gleichfalls als Träger der
»russischen Idee« anerkannt. E. K. R.

[61] Die Hauptperson in Gribojedoffs klassischer Komödie »Verstand
schafft Leid« (geschrieben 1823, durfte erst 1833 verstümmelt gedruckt
werden): Tschatzki kehrt von seinen Reisen im Auslande, erfüllt von
Heimatliebe, nach Moskau zurück, ärgert sich aber sogleich dermaßen über
seine Landsleute, über ihren gedankenlosen Materialismus, ihr
Strebertum, das für sie der einzige Antrieb zu ihrem Staatsdienst ist,
über ihre stolzlose Ausländerverehrung, daß er noch am selben Tage in
Verzweiflung nach seinem Wagen ruft, um wieder zu verreisen. Der
aufrüttelnde Einfluß dieser im Originaltext bis in die sechziger Jahre
nur handschriftlich, doch in ungezählten Tausenden von Exemplaren
verbreiteten Satire ist nicht abzuschätzen: Die Jugend wollte sich nicht
mehr zu diesen von D. von Wisin, Gribojedoff, Gogol usw. gezeigten
Spiegelbildern der Gesellschaft entwickeln, gab in den dreißiger Jahren
mit Tschaadajeff Rußland fast auf, nannte sich international, um in den
vierziger Jahren mit Belinski, in den fünfziger Jahren mit Herzen, in
den sechziger Jahren mit Tschernyschewski immer wieder -- wie diese --
auf dem Umwege über Europa erst recht zu Rußland zurückzukehren. Ihr
Anschluß an Dostojewski -- nach ihrem Anschluß an Tolstoi -- steht im
wesentlichen erst noch bevor. E. K. R.

[62] Die im Russischen übliche Bezeichnung für geistige Führer,
Koryphäen, wie überhaupt für fortschrittlich gesinnte bedeutende
Menschen. Hier von dem slawophilen Schatoff-Dostojewski in feindlich
herabsetzendem Sinne gebraucht, da die Fortschrittler meist Westler
waren oder für Westler gehalten wurden. E. K. R.

[63] Siehe S. 300, Anm. Die Gründer des geheimen »Wohlfahrtsvereins« und
der anderen Geheimbünde -- meist Offiziere, sowie ehemalige Freimaurer
oder Söhne von solchen -- erstrebten anfangs (etwa 1816--18) nur eine
freiheitliche Umgestaltung der russischen Autokratie nach westlichen
Vorbildern (England). Doch ihr bedeutendster Vertreter, Oberst Paul von
Pestel (Adjutant des Feldmarschalls Grafen Wittgenstein und Haupt des
Südlichen Geheimbundes in Kiew) war von Anfang an für die Republik und
die Beseitigung des Kaiserhauses. Pestel arbeitete für Rußland eine
Verfassung in Anlehnung an die der Nordamerikanischen Staaten und der
Schweiz aus, ging aber in vielem sehr viel weiter und plante bereits
eine Bodenreform auf staatswirtschaftlicher Grundlage, weshalb er »ein
Sozialist vor dem Sozialismus«, aber wegen seines Absolutismus auch
»eher ein Bonaparte als ein Washington« genannt worden ist. Das Land
sollte nach seinem Plan den Bauern überwiesen werden, da anderenfalls
die Proklamation der Republik »nur eine leere Namensänderung wäre«. (Das
hat Dostojewski noch nicht gewußt).

Der plötzliche Tod Alexanders I. und die Ungewißheit über seinen
Nachfolger verleitete die Geheimbündler zu einem verfrühten Aufstand (am
14. Dezember 1825 -- daher »Dekabristen«), der von Nikolai I. mit
Kartätschen niedergeschlagen wurde. Es folgten über 1000 Verhaftungen.
Die Tragödie der Hinrichtung ihrer Führer durch den Strang (ursprünglich
sollten die 5 Hauptschuldigen, Oberst von Pestel, Oberst Murawjoff, der
»heilige« Dichter Rylejeff u. a. gevierteilt, 31 guillotiniert, die
übrigen als Sträflinge nach Sibirien verbannt werden), sowie die Haltung
der Verurteilten bis zur Hinrichtung oder während ihres sibirischen
Martyriums, das von ihren Frauen freiwillig geteilt wurde, hatte zur
Folge, daß die Dekabristen als Helden und Märtyrer verehrt wurden und so
unzählige Nachfolger fanden. Aus dieser besonders durch die Dekabristen
in Rußland hervorgerufenen Verehrung der politischen Verbannten ist dann
auch Stepan Trophimowitschs leidenschaftlicher Wunsch, ein »Verbannter«
und »Verfolgter« zu sein, zu erklären, und weshalb um diese beiden Worte
ein gewisser »klassischer Glanz spielt« (siehe Seite 2.) Die
literarischen und politischen Schriften der Dekabristen sind zum Teil
erst in jüngster Zeit herausgegeben worden, zum Teil sind sie auch jetzt
noch unveröffentlicht. E. K. R.

[64] Alexander II., der 1861 die Leibeigenschaft aufhob. E. K. R.

[65] Tschaadajeffs Vorliebe für den Papismus war so bekannt, daß sogar
das Gerücht von seinem Übertritt eine Zeitlang glaubwürdig erschien. E.
K. R.

[66] Freund und Zeitgenosse Tschaadajeffs, wurde Jesuit, gab 1862 eine
Auswahl von Tschaadajeffs Schriften heraus. E. K. R.

[67] In späteren Jahren (1877) urteilt Dostojewski gerechter über
Belinski. Vgl. Bd. XI., »Alte Erinnerungen«. E. K. R.

[68] Günstling der Zarin Anna Iwanowna, die ihn 1737 zum Herzog von
Kurland erhob. Nach ihrem Tode (1740) Vormund des minderjährigen
Thronfolgers Iwan und Regent, im selben Jahr von dessen Mutter Anna
Leopoldowna nach Sibirien verbannt, im nächsten Jahre von der Zarin
Elisabeth zurückgerufen. Zeichnete sich durch Grausamkeit in der
Regierung aus; ließ zwar vom Volk Abgaben für frühere Jahre eintreiben,
verfolgte aber besonders den russischen Adel und die Geistlichkeit. E.
K. R.

[69] Raskol = Spaltung: Bezeichnung für die russische Kirchenspaltung,
d. h. die Absonderung der sogenannten Altgläubigen von der Staatskirche
wegen der Korrektur der Gesang- und Gebetbücher, die durch das
Abschreiben immer fehlerhafter geworden waren und deshalb 1654 auf
Anordnung des Patriarchen Nikon in ihrem richtigen Text neuhergestellt
wurden. Mit diesem Raskol ist hier von Dostojewski die erste Absonderung
einer unteren Volksschicht gemeint. Mit der zweiten Absonderung einer
oberen Schicht seit Peter sind die Westler gemeint -- das Westlertum der
russischen Herrenkaste als Folge der Europäisierung Rußlands durch Peter
den Großen. E. K. R.

[70] Dostojewski hat ursprünglich Tschaadajeff zur Hauptfigur eines
Romans machen wollen, den bedeutenden »Westler«, der in einem Schreiben
von Rußland gesagt hatte, es habe keine Geschichte, keine Tradition,
»denn es hatte und hat keine leitende Idee, die Völker aber leben und
gedeihen nur, wenn sie eine [eigene] Idee haben und verwirklichen.« Nach
der Veröffentlichung seines »Schreibens« suchte Tschaadajeff sich in
einer »Apologie« zu rechtfertigen, in der er seine Kritik Rußlands zum
Teil abschwächt, doch auch so blieb sie für Dostojewski zeitlebens ein
Dorn im Fleisch. E. K. R.

[71] Anspielung auf Tschernyschewskis berühmten Roman »Was tun?« (1863),
in dem von der Heldin vier im Traume geschaute Zukunftsvisionen erzählt
werden (Aluminiumpaläste des Volkes, Arbeit bei Gesang, Wanderung nach
dem Süden, freie Liebe usw.). Den ungeheuren Erfolg jedoch errang der
phantastische Roman -- nach den künstlerisch hochwertigen, doch als
Spiegelbilder der Gegenwart auf die Jugend »trostlos« wirkenden Werken
Gogols, Herzens, Turgenjeffs -- durch die mit größtem Temperament und
Optimismus gezeigte Rettungsmöglichkeit aus diesem »korrumpierten«
Leben: »ins Volk« zu gehen, selbst wieder Volk zu werden. Die Ausführung
dieser Idee durch die Helden des Romans wirkte dazu wie eine Offenbarung
und bewog unzählige Menschen der gebildeten Schicht, ihr Leben hinfort
buchstäblich unter dem Volk wie unter Gleichstehenden zu verbringen oder
sich ihm ganz zu widmen. Die Möglichkeit zu gläubiger Hingabe war für
sie natürlich wichtiger als die Frage nach dem künstlerischen Wert des
Romans oder manchem selbstgeübten Dilettantismus. Zudem lag in dieser
Idee etwas sehr Russisches, das einem noch unbewußten Triebe in den
Menschen jener Zeit entgegenkam. Auch Tolstoi und viele andere sind ja
später diesen Weg gegangen. Überdies waren die im Roman geschilderten
Menschen in ihrer sich als Selbstverständlichkeit gebenden
Menschlichkeit trotz aller Utopien so entwaffnend, wie es etwa hier in
den »Dämonen« nicht die lauten Revolutionäre, sondern die fast stummen,
doch im Innersten neuen Menschen sind. (Auch die vier starken, stolzen
Frauengestalten in den »Dämonen« haben in der russischen Literatur viele
Vorgängerinnen). Daher Dostojewskis Geständnis im 9. Kapitel: »Oh, wie
quälte ihn dieses Buch!« usw. und seine wiederholten leidenschaftlichen
Angriffe gegen die übernaiven Zukunftsträume in diesem Roman, die bei
der Jugend die radikalsten politischen Forderungen zur Folge hatten,
jeden lebenserfahrenen Menschen aber beängstigen mußten. E. K. R.

[72] Näheres über diese und andere Proklamationen, die zu Anfang der
sechziger Jahre verbreitet wurden, siehe Band XI der Ausgabe
»Autobiographische Schriften«, Seite 169--173. E. K. R.

[73] D. war Dostojewski selbst, der in seinem vierundzwanzigsten
Lebensjahr (1845) Belinski kennen lernte. Dasselbe Erlebnis hat
Dostojewski später noch ausführlicher wiedergegeben: in Bd. XI,
»Autobiographische Schriften«, Seite 313. E. K. R.

[74] Belinski war schwindsüchtig und starb schon 1848, siebenunddreißig
Jahre alt. (Auch seine späteren, von der Jugend gleichfalls
angeschwärmten Nachfolger, die als Kritiker den Kampf gegen die »Kunst
um der Kunst willen« immer radikaler fortsetzten, sind jung gestorben:
Dobroljuboff 1861 mit vierundwanzig Jahren, Pissareff 1868 mit
siebenundzwanzig Jahren. Dobroljuboffs Art, dem berühmten Turgenjeff
Wahrheiten ungeniert ins Gesicht zu sagen, ist in der Unverfrorenheit
Pjotr Werchowenskis gegenüber Karmasinoff wiedergegeben.) E. K. R.

[75] Ein Herr, der in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in
einem Petersburger öffentlichen Hause ermordet wurde. Die gerichtliche
Untersuchung des Falles ergab ein abschreckendes Bild von der
großstädtischen Verrohung. E. K. R.

[76] Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft verbreitete sich unter den
Bauern das Gerücht, der Zar habe ihnen viel mehr Land zugedacht, und in
einer Goldenen Urkunde (sie glaubten, Zarenworte würden nur in Gold
geschrieben) sei dies zu lesen, aber die Beamten und der Adel hätten die
Urkunde unterdrückt. Gegen die aufsässigen, plündernden Bauernhaufen
mußte wiederholt Militär vorgeschickt werden. E. K. R.

[77] »Tschurr« heißt »Grenze«, doch bei Spielen im Freien zugleich: »Ich
darf nicht angerührt werden! ich stehe außerhalb (der Grenzen) des
Spiels!« -- Aus dem süddeutschen »Bonde!« und dem norddeutschen »Es
brennt!« läßt sich keine ähnlich drastische Ableitung bilden, die das
Verhalten Stepan Trophimowitschs so erschöpfend bezeichnete: die wenig
männliche Art, sich persönlich vor einer Gefahr zu sichern, indem man
sich mit einem billigen Mittelchen dem Kampfe entzieht, sich für
unantastbar erklärt und »abgrenzt«.

[78] In Drushinins Roman »Polinka Ssacks« der Gatte, der seiner Frau den
Ehebruch verzeiht, selbst jedoch bald darauf an Tuberkulose stirbt. E.
K. R.

[79] Dostojewski hat die Gestalt des Stepan Trophimowitsch zum Teil nach
dem schönen, doch sehr unbedeutenden Dichter Kukolnik gezeichnet, dessen
Romane Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre noch Beifall
gefunden hatten, ein Jahrzehnt später jedoch schon vergessen waren, --
zum Teil nach dem bekannten Moskauer Geschichtsprofessor T. N.
Granowski, dem Freunde von Herzen, Belinski, Bakunin, Stankewitsch u.
a., die um 1840 im geistigen Leben Moskaus eine Rolle spielten. Auch
Granowski war eine schöne Erscheinung, von gepflegtem Äußeren, das (nach
Herzens Ausspruch) ein wenig an einen feinen protestantischen Pastor
erinnerte. Seine Frau war eine Deutsche, kinderlos, in ihrer Erscheinung
ihm so ähnlich, daß sie wie seine Schwester wirkte. Seit 1839 hielt
Granowski, der bei den Studenten und freien Zuhörern sehr beliebt war,
und auch sonst allgemein verehrt wurde, an der Moskauer philosophischen
Fakultät seine Vorlesungen, doch war es ihm u. a. verboten, über die
Reformation oder eine Revolution zu lesen, da die Aufgabe der seit dem
Dekabristenaufstand vom Zaren gehaßten Universitäten nichts weiter sein
sollte, als die Erziehung der Studenten »zu treuen Söhnen der orthodoxen
Kirche, zu treuen Untertanen für den Kaiser und zu guten Bürgern für das
Vaterland«. Während der Regierung Nikolais I. (1825--1855) hatte jeder
Schriftsteller von einigem Wert unter dem geistigen Druck und den
persönlichen Verfolgungen der Reaktion zu leiden. So war das
»Verfolgtwerden« unbedingt eine Ehre. Stepan Trophimowitschs Ehrgeiz und
zugleich Furchtsamkeit in der Beziehung ist durchaus lebenswahr
geschildert, obschon sich für diesen Zug keine Porträtähnlichkeit
nachweisen läßt: Kukolnik war in seinen patriotischen Dramen
Überpatriot, Granowski als Westler zwar liberal gesinnt, doch ein
Charakter, dem ähnliche kleine Eitelkeiten und Schwächen fern lagen.
1876 schreibt Dostojewski selbst über Granowski: »Das war einer unserer
ehrlichsten Stepan Trophimowitsche (in meinem Roman >Die Dämonen< der
Typ des Idealisten der vierziger Jahre, den unsere Kritiker richtig
gezeichnet fanden ...) und vielleicht sogar einer ohne den geringsten
komischen Zug, der diesem Typ sonst leicht anhaftet ...« Während
Granowskis Freunde, die Hegelverehrer Bakunin, Belinski, Herzen u. a.
später Atheisten und Sozialisten wurden, blieb Granowski bei seinem
Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und hielt es mit den deutschen
Romantikern.

Gegen diesen sogenannten »_Idealismus der vierziger Jahre_«, den Stepan
Trophimowitsch vertritt, läßt Dostojewski die historischen Nachfolger
dieser Idealisten, die in den Seminaristen und dem Anhang Pjotr
Stepanowitschs geschildert sind, den sogenannten »_Realismus der
sechziger Jahre_« ausspielen: Der unrussischen Romantik und dem
unrussischen Symbolismus (in Karmasinoffs Potpourri »Merci« und in
Stepan Trophimowitschs »Dichtung in lyrisch-dramatischer Form«, wie in
seiner unrussischen Schwärmerei für Abstraktionen) werden die von den
Seminaristen vergötterten Naturwissenschaften und die angewandte
entsprechende Philosophie, d. i. radikale Politik, entgegengestellt.

Die Reden Schatoffs in den Notizbuchentwürfen sind Entgegnungen auf fast
wörtlich wiedergegebene Aussprüche Bakunins, des Begründers des
revolutionären Anarchismus, und des Terroristen Netschajeff.

Letzterer (Prototyp Pjotr Werchowenskis) hatte die Lehre Bakunins -- von
der Notwendigkeit der radikalen Zerstörung der bisherigen
Gesellschaftsform, damit die neue Form vom Volk nach ganz anderen,
wirklich neuen Grundsätzen geschaffen werden könne -- sogleich in die
Tat umzusetzen versucht und 1869 in Moskau die Mitglieder seines
Geheimbundes zur Ermordung eines ihrer Genossen (des Studenten Iwanoff)
zu zwingen gewußt. Wie W. Ssolowjoff hervorhebt, ist in den »Dämonen«
»der Netschajeffprozeß vorweggenommen«. Der Roman war 1871 zum Teil
schon gedruckt, als der Prozeß erst begann. (Näheres über Netschajeff
und die Netschajewzen -- den »Prozeß der Siebenundachtzig« -- siehe Band
XI, »Autobiographische Schriften«, S. 323--351.) Netschajeff selbst
entkam zunächst nach der Schweiz, wurde aber 1872 an Rußland
ausgeliefert und starb nach zwanzigjähriger Kerkerhaft im
Schlüsselburger Gefängnis. Seine Zeitgenossen schildern ihn als einen
Charakter von »stählerner Energie«. Seine Ideen über die
»Pandestruktion« veröffentlichte er 1869 in Genf in einem Blatt, das er
»Das Volksgericht« nannte. Pläne für den zukünftigen Aufbau wurden von
ihm überhaupt nicht geduldet. Unter sein Bild schrieb er die Worte: »Das
Werk der Zerstörung ist getan, -- das Werk des Aufbaus steht bevor und
wird nicht nur eine Generation beschäftigen.« Von seinem Grundsatz, daß
auch Jesuitismus und Macchiavellismus im Kampf der Klassen als Mittel
anzuwenden seien, haben sich seine Lehrer Bakunin und andere Anarchisten
alsbald losgesagt.

In der Philosophie Kirilloffs hat Dostojewski die Gedanken Michael
Bakunins wiedergegeben und weitergesponnen, -- wie übrigens auch in den
folgenden Romanen »Der Jüngling«, »Die Brüder Karamasoff«, und in
kleineren Werken. Bakunin wollte vor allem »die Idee >Gott< in den
Menschen töten«.

Vorläufer Stawrogins sind in gewissem Sinne fast alle Helden Puschkins.
Aber auch Tschatzki und die Helden Lermontoffs, Gontscharoffs,
Turgenjeffs u. a. sind eine Vorbereitung zu dieser Gestalt. E. K. R.

[80] S. Bd. I, Vorbemerkung. E. K. R.




                 Übersetzung französischer Textstellen


{[1]} Sie haben mich wie eine alte Stoffmütze behandelt!

{[2]} das heißt, ein [Narr], der meine Existenz einfach zerschmettern
kann

{[3]} in jedes Land, ..., wo Makar seine Kälber auf die Weide bringt

{[4]} Ich bin ein [einfacher Schmarotzer], nichts mehr! Aber wirklich
nichts mehr!

{[5]} unter den Seminaristen

{[6]} Lieber Freund

{[7]} Blumenstrauß der Kaiserin (französische Parfümmarke)

{[8]} für unser heiliges Rußland

{[9]} aber lassen Sie uns unterscheiden

{[10]} Unter uns gesagt

{[11]} Haudegen

{[12]} ausgezeichnete Freundin

{[13]} Sie wissen, unter uns ... Mit einem Wort

{[14]} um uns seine Macht zu zeigen

{[15]} was für eine wilde Idee!

{[16]} meine gute Freundin

{[17]} Schönes Kind!

{[18]} Aber, meine Liebe ...

{[19]} Aber, meine gute Freudin

{[20]} Und dann, da wir immer mehr Mönche als Gründe finden

{[21]} Nun ja, Teuerste

{[22]} und dann

{[23]} Ein Hitzkopf, aber ein guter Mensch.

{[24]} Oh, ein dumme Geschichte! Gute Freundin, ich habe auf Sie
gewartet, um Ihnen zu erzählen ...

{[25]} Alle klugen und fortschrittlichen Männer Rußlands waren, sind und
werden immer [Kartenspieler] und [Trinker] sein

{[26]} Aber, unter uns

{[27]} Mein Liebster, ich bin ein ...

{[28]} Aber sie ist ein Kind!

{[29]} Ja, ich benutzte das falsche Wort ... Aber ... Es spielt keine
Rolle ...

{[30]} gleich

{[31]} Ja, ja, ich kann nicht

{[32]} diesem lieben Sohn

{[33]} Er ist so ein Kindskopf!

{[34]} Und schließlich das Lächerliche

{[35]} Ich bin ein Galeerensträfling, ein Badinguet (Deckname Napoleons
III. auf der Flucht), ein ...

{[36]} Mir doch egal!

{[37]} Das ist mir egal, und ich rufe die Freiheit aus! Zum Teufel mit
Karmazinoff! Zum Teufel mit Lembke!

{[38]} Sie werden mich unterstützen als Freund und Zeuge, nicht wahr?

{[39]} ja, das ist das Wort

{[40]} oder etwas in dieser Art

{[41]} ich erinnere mich. Schließlich ...

{[42]} er war wie ein kleiner Idiot

{[43]} Wie!

{[44]} von userem armen Freund

{[45]} unser heiliges Rußland

{[46]} Aber das geht vorbei.

{[47]} ... zum Unglück. Sie werden mich begleiten, nicht wahr?

{[48]} Oh großer, gütiger Gott!

{[49]} und ich beginne zu glauben

{[50]} In Gott? Ein Gott hoch oben, der groß und gütig ist?

{[51]} Er tut alles, was ich will.

{[52]} Gott, Gott! ... Endlich eine Minute Glück!

{[53]} Sie und das Glück, Sie kommen zur gleichen Zeit!

{[54]} Aber

{[55]} ich war so nervös und krank. Und dann ...

{[56]} Das ist ein Träumer von hier. Er ist der beste und jähzornigste
Mann der Welt.

{[57]} und sie werden ihm eine Gefälligkeit erweisen

{[58]} Mein Freund!

{[59]} Letztendlich ist es lächerlich.

{[60]} Dieser Mawrikij

{[61]} ein anständiger Mann, immerhin ...

{[62]} an diese arme Freundin ... schließlich

{[63]} Tante, Tante

{[64]} Diese arme Tante

{[65]} dieser Liputin, den ich nicht verstehe ...

{[66]} Ich bin undankbar!

{[67]} alles ist gesagt, ... Es ist schrecklich!

{[68]} Sie ist ein Engel

{[69]} Nun ja

{[70]} schließlich

{[71]} Die arme Freundin

{[72]} Zwanzig Jahre!

{[73]} Er ist ein Ekel. Doch, ...

{[74]} ein anständiger Mann, immerhin

{[75]} Diese Leute glauben, daß die Natur und die menschliche
Gesellschaft in Wirklichkeit anders sind, als Gott sie gemacht hat

{[76]} Mit dieser lieben Freundin

{[77]} Aber laß uns von etwas anderem sprechen.

{[78]} in der Schweiz

{[79]} Das war dumm, aber was kann man tun? Alles ist gesagt.

{[80]} Schließlich -- alles ist gesagt

{[81]} Der liebe Gott

{[82]} wenn es Wunder gibt?

{[83]} und lasse alles gesagt sein!

{[84]} was man Altar nennt!

{[85]} Lassen Sie mich allein, mein Freund

{[86]} sehen Sie

{[87]} Aber Lisa, was haben Sie denn?

{[88]} liebe Kusine

{[89]} Aber meine gute und ausgezeichnete Freundin ... welche Unruhe!

{[90]} das schmerzende Pochen

{[91]} Kurz gesagt, das ist ein verlorender Mann, wie ein entlaufender
Sträfling.

{[92]} Das ist ein unredlicher Mann, und ich glaube, er ist ein
entlaufender Sträfling oder etwas Ähnliches.

{[93]} Peter, mein Kind

{[94]} Aber mein Kind!

{[95]} possenhafter Charakter

{[96]} Sie haben Recht

{[97]} Erhaben!

{[98]} Sohn, lieber Sohn

{[99]} Er lacht.

{[100]} Sei's drum

{[101]} Ja, das ist das Wort

{[102]} Krach um seinen Namen machen, [ohne zu bemerken, daß] sein Name
...

{[103]} Er lacht. Er lacht viel ... Er lacht ständig

{[104]} Umso besser. Doch lassen wir das.

{[105]} Ich wollte ihn bekehren. [Sie lachen natürlich.] Das arme
[Tantchen], sie wird Schönes zu hören kriegen!

{[106]} Dort ist irgendwas Blindes und Verdächtiges.

{[107]} Das sind einfach nur Faulenzer

{[108]} Ihr seid Faulpelze! Eure Flagge ist ein Lumpen, machtlos!

{[109]} Eine Dummheit dieser Art

{[110]} Du verstehst es nicht. Doch lassen wir das.

{[111]} Verstehen Sie?

{[112]} Kalesche

{[113]} gebührend

{[114]} mit voller Kraft

{[115]} wohltätiger Kauz

{[116]} Quadrille der Literatur

{[117]} Laßt ihr unreines Blut über unsere Felder fließen!

{[118]} Keinen Zoll von unserer Erde, nicht einen Stein aus unserem
Festungen!

{[119]} Ja, dieser Vergleich ist erlaubt. Es war wie ein kleiner
Donkosake, der auf seinem eigenen Grab hüpft.

{[120]} Ich habe das vergessen.

{[121]} Genug!

{[122]} Teuerste, genug!

{[123]} mangelndes Benehmen

{[124]} ohne daß es sichtbar wird!

{[125]} Vorwarnung

{[126]} Endlich ein Freund!

{[127]} Bitte entschuldigen Sie, Ich habe seinen Namen vergessen. Er ist
nicht von hier, ... eine irgendwie dumme und deutsche Physignomie. Er
heißt Rosenthal.

{[128]} Sie kennen Ihn? Irgendeine Stumpfsinnigkeit und
Selbstzufriedenheit ist in seiner Gestalt, und dennoch etwas Strenges,
Steifes und Ernsthaftes.

{[129]} Die kenne ich.

{[130]} ja, ich erinnere mich, er hat dieses Wort benutzt

{[131]} Er hält sich zurück

{[132]} Jedenfalls schien er zu glauben, daß ich ihn angreife und direkt
niederschlage. All die Leute aus den unteren Schichten sind so.

{[133]} Seit zwanzig Jahren bin ich bereit.

{[134]} Ich war würdevoll und ruhig.

{[135]} und kurzum, all das

{[136]} und einige meiner historischen, kritischen und politischen
Entwürfe

{[137]} Ja, so war es

{[138]} Er war allein, ziemlich allein, [übrigens war noch jemand] im
Vorzimmer, ja, ich erinnere mich. Und dann ...

{[139]} Sehen Sie, ich war stark erregt. Er redete und redete ... über
einen Haufen Sachen ...

{[140]} Ich war stark erregt, aber würdevoll, seien Sie versichert.

{[141]} Wissen Sie, er sprach den Namen Telätnikoff an

{[142]} der mir immer noch fünfzehn Rubel vom Whist schuldet, nebenbei
gesagt. Na ja, ich habe es nicht ganz verstanden.

{[143]} was denken Sie? Letztendlich stimmte er zu

{[144]} und nichts mehr

{[145]} als Freunde, und ich bin voll und ganz einverstanden.

{[146]} Meine Feinde ... und dann, wozu soll dieser Staatsanwalt gut
sein, dieses Schwein von einem Staatsanwalt, der mich zweimal beleidigte
und der letztes Jahr bei der charmanten und schönen Natalia Pawlowna
eine feine Abreibung erhalten hatte, als er sich in ihrem Boudoir
versteckte. Und dann, mein Freund

{[147]} wenn man diese Dinge in seinem Zimmer hat, und wenn sie kommen
um dich festzunehmen

{[148]} Schick sie fort ... und es geht mir auf die Nerven.

{[149]} Man muß vorbereitet sein, sehen Sie, ... jederzeit

{[150]} Sehen Sie, mein Teuerster

{[151]} Das kommt aus Petersburg

{[152]} Sie haben mich mit diesen Leuten zusammengebracht!

{[153]} Mit diesen Freidenkern der Feigheit!

{[154]} Wissen Sie, ... als wenn ich hier eine Art Skandal produziere.

{[155]} Meine Karriere ist heute beendet, ich fühle es.

{[156]} Ich schwöre es Ihnen

{[157]} Was wissen Sie davon

{[158]} meine Karrriere is zu Ende

{[159]} was wird sie sagen

{[160]} Sie wird mich ihr ganzes Leben lang verdächtigen

{[161]} Das ist unwahrscheinlich ... Und dann, die Frauen

{[162]} Man muß würdevoll und ruhig bei Lembke sein.

{[163]} Oh, glauben Sie mir, ich werde ruhig sein! ... auf dem Höhepunkt
von allem, was am heiligsten ist ...

{[164]} Gehen wir!

{[165]} Alles für das Beste in der besten aller möglichen Welten.

{[166]} Meine Stunde hat geschlagen.

{[167]} Sie machen nichts als Dummheiten

{[168]} Ausgezeichneter Freund!

{[169]} Dieser liebe Mann

{[170]} und da man überall mehr Mönche als Vernunft findet

{[171]} Bezaubernd, die Mönche

{[172]} aber lassen Sie uns hier abbrechen, meine Liebe

{[173]} dieser lieben Freindin

{[174]} in vollem Umfang

{[175]} meine Damen

{[176]} Das ist Dummheit in Reinform, etwa wie eine einfache Chemikalie.

{[177]} nebenbei gesagt

{[178]} Lockspitzel!

{[179]} Möge Gott dir vergeben, mein Freund, und möge Gott dich
beschützen.

{[180]} mit der Zeit

{[181]} Was mich betrifft

{[182]} diese armen Leute haben manchmal so bezaubernde Worte voller
Philosophie

{[183]} Mein Kind!

{[184]} Oh, das sind die armen kleinen Taugenichtse, sonst nichts, die
kleinen [Närrchen] -- Das ist das Wort

{[185]} Oh, gestern war er so geistreich

{[186]} Welche Schande!

{[187]} Charmante Dame, Sie werden mir vergeben, nicht wahr?

{[188]} den Kindern

{[189]} Sie werden mir verzeihen, nicht wahr

{[190]} Arme Mutter!

{[191]} Sie sind traurig, nicht wahr?

{[192]} Wir sind alle traurig, aber wir müssen vergeben. Lisa, lassen
sie uns vergeben

{[193]} man muß vergeben, vergeben und vergeben!

{[194]} zweiundzwanzig Jahre!

{[195]} Im Haus des Kaufmanns, wenn es den Kaufmann denn gibt!

{[196]} Aber wissen Sie wie spät es ist?

{[197]} Existiert Rußland? Ha, das sind Sie, lieber Hauptmann!

{[198]} Oh, mein Gott

{[199]} Es lebe die Republik

{[200]} Es lebe die demokratische, soziale und universale Republik, oder
Tod! ... Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod.

{[201]} von Kirilloff, einem russischen Gentleman und Weltbürger

{[202]} einem russischen Gentleman-Seminaristen und Bürger der
zivilisierten Welt!

{[203]} geborene Garin

{[204]} Reisetasche

{[205]} wie ein

{[206]} Diesen Kaufmann

{[207]} Es lebe die Fernstraße

{[208]} Ich habe zusammen vierzig Rubel, er wird das Geld nehmen und
mich trotzdem töten.

{[209]} Gott sei Dank

{[210]} unentschieden ... und dann

{[211]} Das fängt beruhigend an.

{[212]} Das ist sehr beruhigend ... das ist im höchsten Grad beruhigend

{[213]} Ich bin jemand anderes.

{[214]} aber schließlich

{[215]} Das ist reizend

{[216]} Ja, so könnte man das übersetzen.

{[217]} Das ist sogar besser, ich habe vierzig Rubel, aber ...

{[218]} Um es auszusprechen

{[219]} meine Freunde

{[220]} Sie wollte es

{[221]} Ach wie schön!

{[222]} einen Fingerbreit Wodka

{[223]} ein kleines bißchen

{[224]} Ich bin ziemlich krank, aber es ist nicht schlimm, krank zu sein

{[225]} Eine Dame, die auch so aussah

{[226]} Ah ... aber ich glaube das ist das Evangelium ...

{[227]} Sie sind, was man eine Bibelverkäuferin nennt?

{[228]} Ich habe nichts gegen des Evangelium, und ...

{[229]} Das Leben Jesu

{[230]} Mir scheint es, daß alle nach Spassoff gehen ...

{[231]} Aber sie ist eine Dame und eine wahre Respektsperson

{[232]} Dieses kleine Stück Zucker ist nichts ...

{[233]} makellos respektvoll

{[234]} Sie sind keine dreißig Jahre alt

{[235]} Aber, mein Gott

{[236]} Diese Bösewichte, diese Unglücklichen!

{[237]} Bah, ich werde zum Egoisten!

{[238]} Aber was ist mit dem Mann los?

{[239]} Mein Gott, meine Freunde

{[240]} Aber meine teure und neue Freundin

{[241]} Aber was tun, und ich bin begeistert!

{[242]} nicht wahr?

{[243]} Ich liebe die Menschen, das ist unerläßlich, aber es scheint
mir, daß ich ihnen niemals nahe war. Stasie ... Es versteht sich von
selbst, daß sie aus dem Volk stammt ... aber von den wahren Menschen

{[244]} Liebe und unvergleichliche Freundin

{[245]} liebste Unschuldige. Das Evangelium ... Sie sehen, von nun an
werden wir zusammen beten

{[246]} etwas ganz neues dieser Art

{[247]} zugegebenermaßen

{[248]} und dieser netten Undankbaren auch ...

{[249]} Liebe Unvergleichbare, für mich ist eine Frau alles!

{[250]} Es wird zu kalt. Übrigens, ich habe vierzig Rubel und hier ist
das Geld

{[251]} Laß uns nicht mehr reden, weil es mir weh tut

{[252]} Weil wir reden müssen. Ja teure Freundin, ich habe Ihnen viel zu
sagen.

{[253]} Wie, Sie kennen schon meinen Namen?

{[254]} Genug mein Kind, [ich flehe Sie an,] wir haben unser Geld und
dann -- und dann den gütigen Gott.

{[255]} Genug, genug, Sie quälen mich

{[256]} Es ist nichts, wir werden warten

{[257]} Sie sind edel wie eine Marquise!

{[258]} wie in Ihrem Buch!

{[259]} Genug, genug, mein Kind

{[260]} wissen Sie

{[261]} Bin ich wirklich so krank? Aber es ist nichts Ernstes.

{[262]} Oh, ich erinnere mich, ja, die Apokalypse. Lesen Sie, lesen sie.

{[263]} und wir werden zusammen weggehen

{[264]} diese Schweine

{[265]} in diesem Buch

{[266]} ein Vergleich

{[267]} Ja, dieses Rußland, was ich immer geliebt habe.

{[268]} und die andern mit ihm

{[269]} Sie werden später verstehen ... Zusammen werden wir es später
verstehen.

{[270]} Schau, ein See

{[271]} Und ich werde das Evangelium predigen ...

{[272]} Sie ist ein Engel ... Sie war mehr als ein Engel für mich

{[273]} Ich liebte Sie!

{[274]} Ich liebte sie man ganzes Leben lang ... zwanzig Jahre!

{[275]} Eine Stunde, [und dann] -- eine Brühe, einen Tee ... endlich ist
er so glücklich.

{[276]} Ja, meine Freunde, ... Die ganze Zeremonie

{[277]} Mein Vater, ich danke Ihnen, und Sie sind sehr gut, aber ...

{[278]} Dies ist mein Glaubensbekenntnis.

{[279]} Ich habe mein ganzes Leben gelogen

{[280]} Pariser Artikel

{[281]} sehr wenig


                     Anmerkungen zur Transkription

Die »Sämtlichen Werke« erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
Ausgaben 1906--1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
nach:

                  F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
                     Erste Abteilung: Fünfter Band.
                    Erste Abteilung: Sechster Band.
                              Die Dämonen
                 R. Piper & Co. Verlag, München, 1921.
                          11. bis 20. Tausend

Für diese ebook-Ausgabe wurden der fünfte und der sechste Band
vereinigt. Band 6 beginnt mit »Elftes Kapitel«.

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der »Sämtlichen
Werke« vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
nach der Titelseite eingefügt.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Die Bearbeiter haben diesem Text Übersetzungen der französischen
Textstellen in Form von Fußnoten hinzugefügt und der _public domain_ zur
Verfügung gestellt.

Diese zusätzlichen Fußnoten sind mit { } markiert.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
(»«) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (><) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
Buchstabe »ä« (oder auch »jä«) steht für den kyrillischen Buchstaben
»ja«. Die Schreibweise häufig vorkommender russischer Namen wurde
vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):

   Agafja (Agaphia)
   Bogojawlenskstraße (Bogojavlenskschen Straße)
   Marja Ignatjewna (Maria Ignatjewna)
   Iwan (Iwán)
   Iwanoff (Iwanow)
   Nicolai (Nikolai)
   Nicolajewitsch (Nikolajewitsch)
   Nicolajewna (Nikolajewna)
   Praskowja (Proskowja)
   Semjonytsch (Ssemjonytsch)
   Stawrogin (Stowrogin)
   Stepan (Stephan)
   Zarewitsch (Zaréwitsch)

Die abweichende Schreibweise der Namen im Personenverzeichnis wurde
unverändert übernommen, da sie die Aussprache verdeutlichen soll.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen oder des
russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 14]:
   ... die nur miteinander streiten, das ganzen Leben in ...
   ... die nur miteinander streiten, das ganze Leben in ...

   [S. 37]:
   ... jetzt irgendein Andrejeff, un rechtgläubiger Narr mit ...
   ... jetzt irgendein Andrejeff, c'est à dire un rechtgläubiger
       Narr mit ...

   [S. 78]:
   ... sozialen Republik und Harmonie« hätten sein können. ...
   ... sozialen Republik und Harmonie« hätte sein können. ...

   [S. 120]:
   ... ganze ungewöhnlichen Pose vor mir stehen. ...
   ... ganz ungewöhnlichen Pose vor mir stehen. ...

   [S. 139]:
   ... mir zu viel Geld kosten, und das ist er auch gar nicht wert ...
   ... mich zu viel Geld kosten, und das ist er auch gar nicht wert ...

   [S. 200]:
   ... beiden hatte man an Lebädkin vermietet. An Möbel ...
   ... beiden hatte man an Lebädkin vermietet. An Möbeln ...

   [S. 330]:
   ... zu ihren Diensten stehe, jederzeit und unter allen ...
   ... zu Ihren Diensten stehe, jederzeit und unter allen ...

   [S. 464]:
   ... wirklich wie eine Ziege gemolken hast. Was sie jetzt bost, ...
   ... wirklich wie eine Ziege gemolken hast. Was sie jetzt erbost, ...

   [S. 784]:
   ... hielt, sich daraus einen Vers zu machen oder etwas ...
   ... hielt, sich darauf einen Vers zu machen oder etwas ...

   [S. 880]:
   ... oder Geld, davon schon ganz zu geschweigen. Du hast ...
   ... oder Geld, davon schon ganz zu schweigen. Du hast ...

   [S. 1073]:
   ... autochthone Typen sind häufig entweder Stenka Rasins ...
   ... autochthonen Typen sind häufig entweder Stenka Rasins ...

   [S. 1085]:
   ... sehen Sie einmal: wenn sie glauben, daß das Christentum ...
   ... sehen Sie einmal: wenn Sie glauben, daß das Christentum ...






End of the Project Gutenberg EBook of Sämtliche Werke 5-6: Die Dämonen, by 
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 5-6: DIE DÄMONEN ***

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Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

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methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


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works.

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with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
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