Sämtliche Werke 22: Ein kleiner Held : Vier Novellen

By Fyodor Dostoyevsky

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Title: Sämtliche Werke 22: Ein kleiner Held
        Vier Novellen

Author: Fyodor Dostoyevsky

Contributor: Dmitriĭ Vladimirovich Filosofov
        Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky

Editor: Arthur Moeller van den Bruck

Translator: E. K. Rahsin

Release date: October 5, 2025 [eBook #76986]

Language: German

Original publication: Muenchen: Piper, 1912

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 22: EIN KLEINER HELD ***


                   F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

           Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,
                    Dmitri Philossophoff und anderen
                herausgegeben von Moeller van den Bruck

                      Übertragen von E. K. Rahsin


               Zweite Abteilung: Zweiundzwanzigster Band


                           F. M. Dostojewski




                            Ein kleiner Held


                             Vier Novellen

                          München und Leipzig
                             R. Piper & Co.
                                  1912


            R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1912

                Druck von Mänicke u. Jahn in Rudolstadt




                                 Inhalt


                      Vorwort                 VII
                      Ein kleiner Held          1
                      Weihnacht und Hochzeit   67
                      Njetotschka Neswanowa    83
                      Der Bettelknabe         373




                                Vorwort


Der Band bringt, als der letzte der Ausgabe, vier Geschichten, die
dadurch in einer gewissen abschließenden und versöhnenden Weise
verbunden sind, daß sie, wenn auch mehr oder weniger tragisch, von
Kindern und Kinderseelen handeln. Die drei ersten dieser Geschichten –
„Kleiner Held“, „Weihnacht und Hochzeit“, „Njetotschka Neswanowa“ –
stammen aus der frühesten Zeit Dostojewskis und gehören den Jahren 1848
und 1849 an. Die größte von ihnen, „Njetotschka Neswanowa“, ist das
Bruchstück eines Romanes, in der Wirkung ein liegengebliebenes
Manuskript, ein unausgearbeiteter Entwurf, doch eben deshalb von einer
Größe der psychologischen Anlage und übrigens auch von einer
Großartigkeit der künstlerischen Erfassung, die ihn zu den tiefsten und
gewaltigsten Dingen zählen lassen, die wir von Dostojewski besitzen. Die
Dichtung erschien in den „Vaterländischen Annalen“, ihre Fortsetzung
wurde durch Dostojewskis Verhaftung im Jahre 1848 unterbrochen, und nach
der Rückkehr aus Sibirien ist das Fragment dann unausgeführt und
unvollendet geblieben. – Die vierte Geschichte des Bandes, der
„Bettelknabe“, gehört zu jenen „letzten Novellen“ von der Art der
„Kleinen“ in Band XX der Ausgabe, die dem „Tagebuch eines
Schriftstellers aus dem Jahre 1876“ entnommen sind und wohl von
unmittelbaren Tagesereignissen angeregt waren, wie Dostojewski sie in
den Zeitungen aufgezeichnet fand, oder selbst auf der Straße erlebte.

                                                              E. K. R.




                            Ein kleiner Held


Damals war ich noch nicht volle elf Jahre alt. Im Juli schickte man mich
zum Besuch auf ein Gut in der Nähe von Moskau, zu meinem Verwandten
T–off. Bei diesem hatten sich zu der Zeit einige fünfzig Gäste
eingefunden, vielleicht sogar noch mehr ... genau weiß ich nicht, wie
viele es ihrer waren – gezählt habe ich sie nicht. Es ging hoch her und
man vergnügte sich nach Kräften. Fast hatte es den Anschein, als habe
man die Feste zu feiern begonnen, damit sie nie wieder aufhören sollten,
und der Hausherr schien sich geradezu geschworen zu haben, so schnell
wie möglich sein ganzes Riesenvermögen zu vergeuden, ein Ziel, das er
denn auch vor kurzem glücklich erreicht hat: er ist tatsächlich alles,
auch den letzten Quadratfuß Land losgeworden.

Jeden Augenblick trafen neue Gäste ein. Moskau war ja so nahe, daß man
die Stadt vom Gute aus sehen konnte. Infolgedessen traten die
aufbrechenden Gäste den zuletzt eingetroffenen meist nur den Platz ab
und die Feste konnten schier endlos fortgesetzt werden. Vergnügungen
aller Art folgten einander ununterbrochen und ein Ende dieser
Reihenfolge war nicht abzusehen. Bald machte man hoch zu Roß Ausflüge in
die Umgegend, bald weite Spaziergänge längs dem Fluß oder in den Wald;
Picknicks und Diners im Freien gehörten zur Tagesordnung, und an schönen
Abenden wurde regelmäßig auf der großen Terrasse des Herrenhauses
gespeist. Diese war mit seltenen Blumen überreich geschmückt. Ihre
duftende Blütenfülle ließ, vereint mit der glänzenden Beleuchtung der
Tafel, unsere fast ausnahmslos hübschen jungen Damen noch viel schöner
erscheinen, wenn sie in ihren frischen Farben nach den Ausflügen am Tage
mit belebten Gesichtern und glänzenden schalkhaften Augen an der Tafel
saßen und ein keckes Wortgeplänkel hin und her mutwillig und geschickt
zu führen wußten, indes zwischen Scherz und Scherz ihr silberhelles
Lachen erklang. Es wurde getanzt, musiziert, gesungen; bei schlechtem
Wetter stellte man lebende Bilder, erfand Gesellschaftsspiele, bei denen
es allerlei zu raten gab, und natürlich wurde auch Theater gespielt.
Außerdem gab es manchmal Vorträge, die merkwürdigsten Erlebnisse wurden
erzählt, Anekdoten herumgetragen usw.

Aus der Gästeschar traten einige wenige von persönlicherem Gepräge
ziemlich scharf hervor: und die waren denn auch anerkanntermaßen die
Hauptpersonen. Selbstverständlich fehlte es auch hier nicht an Neid,
Klatsch und den üblichen kleinen Verleumdungen, ohne die die Welt nun
einmal nicht bestehen kann und ohne die wohl Millionen von Personen an
ihrem Stumpfsinn sterben würden, wie die Fliegen im Herbst umkommen. Da
ich aber damals erst elf Jahre zählte, fehlte mir noch das Verständnis
für diese Menschensorte, und da meine Gedanken überdies mit ganz anderem
beschäftigt waren, so blieb nur ein Teil von dem, was ich hin und wieder
zufällig hörte, in meinem Gedächtnis haften. Später ist mir dann
allerdings manches wieder eingefallen, was ich damals überhört oder
nicht begriffen hatte. Sonst konnte sich nur das glänzende Äußere des
Bildes meinen Kinderaugen dauernd einprägen. Und die allgemeine
festliche Stimmung, die sorglose Fröhlichkeit, das heitere, glanzvolle
Leben – alles das, was ich bis dahin noch nie gesehen und gehört hatte,
konnte denn auch allerdings einen solchen Eindruck auf mich machen, daß
ich mich in den ersten Tagen förmlich verlor und mir mein junger Kopf
schwindlig wurde.

Ich war natürlich noch ein Kind, nicht mehr als ein Kind, und die
schönen Damen, die mich liebkosten, machten sich weiter keine Gedanken
über mein Alter. Aber – merkwürdig! – trotz meiner elf Jahre bemächtigte
sich meiner zuweilen doch schon eine seltsame Empfindung, die ich
freilich selbst vorläufig noch nicht begreifen konnte: es war, als
streiche irgend etwas ganz leise und zart über mein Herz, etwas
Unbekanntes und Ungeahntes, wovon dann mein Herz wie nach einem heftigen
Schreck zu brennen und zu pochen begann und mir oft ganz plötzlich das
Blut heiß ins Gesicht trieb. Es kamen Augenblicke, in denen ich mich der
verschiedenen kindlichen Vorrechte, die ich genoß, geradezu schämte und
sie fast als persönliche Beleidigung empfand. Zuweilen aber bemächtigte
sich meiner wiederum so etwas wie Verwunderung und ich schlich mich dann
fort, irgendwohin, wo mich niemand sehen konnte, gleichsam nur, um
einmal Atem zu schöpfen und mich an etwas zu erinnern, an irgend etwas,
das da, wie mir schien, noch vor kurzem gewesen war ... wovon aber
gleichwohl und ganz plötzlich jede Spur in meinem Gedächtnis wie
ausgelöscht war ... – und ohne das ich doch, wie ich glaubte, nicht mehr
auskommen konnte, wenn ich es auch keinem Menschen zeigen durfte.

Zu guter Letzt schien es mir, daß ich den Menschen allen irgend etwas
verheimlichte, wovon ich aber um keinen Preis auch nur ein Wort jemandem
gesagt hätte, da ich kleiner Bursche mich dessen bis zu Tränen schämte.
Bald aber begann ich in dem Trubel, der mich hier umgab, eine gewisse
Einsamkeit zu empfinden. Es waren wohl noch andere Kinder da, aber sie
waren alle entweder viel jünger oder viel älter als ich, und übrigens
war es mir auch gar nicht um Spielgefährten zu tun. Freilich wäre mit
mir nichts Besonderes geschehen, wenn ich nicht in der Gesellschaft eine
Ausnahmestellung eingenommen hätte. In den Augen aller dieser reizenden
Damen war ich noch das kleine unbestimmte Lebewesen, das sie liebkosten
und mit dem sie wie mit einer Puppe spielen zu dürfen glaubten.
Namentlich eine von ihnen, eine entzückende junge Blondine mit dem
schönsten und reichsten Haar, das ich je gesehen habe und sehen werde,
schien sich geradezu geschworen zu haben, mich nicht in Ruhe zu lassen.
Während mich das Lachen, das sie unter den Gästen durch ihre
ausgelassenen Scherze, die sie mit mir trieb, hervorrief, entschieden
verwirrte und ärgerte, schien es ihr im Gegenteil und ganz fraglos ein
riesiges Vergnügen zu bereiten. Sie benahm sich oft wie ein richtiges
Pensionsmädel, doch sah sie dafür entzückend aus und in ihrer Schönheit
war etwas, das sogleich in die Augen stach und einen einfach bestrickte.
Natürlich glich sie nicht jenen kleinen verschämten blonden Mädelchen,
die so zart und rosig sind und zutunlich wie weiße Mäuschen, oder die so
lieblich aussehen wie Pastorentöchterchen. Sie war nicht sehr groß von
Wuchs und ihre Gestalt ein wenig voll, ihr Gesicht aber hatte zarte,
feine Züge, die entzückend gezeichnet waren. Es lag eine Elektrizität in
diesem Gesicht, so daß es in ihm oft wie ein Blitz aufleuchten konnte,
und überhaupt war sie – ganz Feuer, wie man zu sagen pflegt, lebendig,
lebhaft, leicht. Aus ihren großen offenen Augen sprühten förmlich
Funken, als wären sie Edelsteine. Nie würde ich solche blauen,
strahlenden Augen gegen die schwarzen des Südens eintauschen, und
sollten sie auch noch hundertmal dunkler sein, als der dunkelste
andalusische Blick, denn meine Blondine war wirklich jener
Schwarzäugigen ebenbürtig, die ein berühmter Dichter in so schönen
Versen besingt, daß er zum Schluß dem ganzen Kastilien schwören konnte,
sein Leben freudig hingeben zu wollen, wenn man ihm dafür erlaube, nur
mit der Fingerspitze die Mantilla seiner Schönen zu berühren. Jetzt füge
man noch hinzu, daß _meine_ Schöne die lustigste aller Schönen war und
dazu das unvernünftigste, lachlustigste, unartigste Kind, und das alles,
obwohl sie schon seit etwa fünf Jahren verheiratet war. Das Lachen wich
fast nie von ihren Lippen, die so frisch und jung aussahen, wie die
zarten Blätter einer Rose, wenn sie unter den Strahlen der Morgensonne
kaum erst ihren duftenden Blütenkelch geöffnet und ihr die Sonne noch
nicht die kühlen glitzernden Tautropfen abgetrunken hat.

Ich weiß noch, am zweiten Tage nach meiner Ankunft wurde Theater
gespielt. Der Saal war buchstäblich überfüllt: es gab keinen einzigen
freien Platz, und da ich mich zufällig etwas verspätet hatte, mußte ich
stehend der Aufführung zusehen. Aber das lustige Spiel zog mich immer
mehr nach vorn und bald hatte ich mich ganz unbemerkt bis zu den ersten
Reihen durchgearbeitet, wo ich dann endlich stehen blieb und mich auf
die Lehne eines Stuhles stützte, auf dem eine Dame saß. Diese Dame war
meine schöne Blondine. Ich muß aber hinzufügen, daß wir damals noch
nicht bekannt miteinander waren. Und da nun – ich weiß nicht, wie es kam
– begann ich ihre märchenhaft schönen Schultern zu betrachten, die so
zart und weiß aussahen wie Milchschaum: obgleich es mir damals gewiß
noch ganz gleichgültig war, ob ich die schönsten Frauenschultern sah
oder den Kopfputz mit feuerfarbenen Bändern, der das graue Haar einer
ehrwürdigen Dame in der ersten Reihe vor mir verdeckte. Neben der
blonden Schönheit saß aber ein älteres Fräulein, eine von jenen, die,
wie ich später beobachtet habe, sich immer möglichst in der Nähe junger
und hübscher Damen aufhalten, und in der Regel gerade diejenigen wählen,
die die männliche Jugend nicht zu verscheuchen pflegen. Doch dies nur
nebenbei; ich erwähnte es bloß deshalb, weil dieses ältere Fräulein
meine betrachtenden Blicke bemerkte, sich sogleich zu ihrer schönen
Nachbarin beugte und ihr mit maliziösem Lächeln etwas ins Ohr flüsterte.
Plötzlich sah sich diese nach mir um und ihr flammender Blick traf mich
im Halbdunkel, so daß ich, der ich darauf nicht vorbereitet war,
erschrocken zusammenfuhr. Da lächelte sie.

„Gefällt dir das Stück?“ fragte sie mich und sah mir spöttisch mit
zuzwinkerndem Blick in die Augen.

„Ja–a,“ antwortete ich und sah sie immer noch mit einer gewissen
Verwunderung an, an der wiederum sie Gefallen zu finden schien.

„Warum stehst du denn? So wirst du doch müde. Oder sind alle Stühle
besetzt?“

„Ja, alle, es ist kein Platz mehr frei,“ sagte ich, diesmal mehr mit
meiner Sorge um einen Stuhl beschäftigt, als mit dem blitzenden Blick
der schönen Dame, und dabei herzlich froh darüber, daß sich endlich ein
gutes Herz fand, dem ich mein Leid mitteilen konnte. „Ich habe bereits
gesucht, aber auf jedem Stuhl sitzt schon jemand,“ fügte ich hinzu, als
wollte ich mich bei ihr darüber beklagen, daß alle Stühle besetzt waren.

„Komm her!“ sagte sie schnell entschlossen, wie sie sich zu allem immer
blitzschnell entschloß, gleichviel was für eine tolle Idee ihr in den
Kopf kam. „Komm her zu mir, schnell, und setz’ dich auf meinen Schoß.“

„Auf den Schoß? ...“ wiederholte ich einigermaßen verwundert, und ich
wußte nicht recht, was ich tun sollte.

Wie ich bereits sagte, fingen meine Kindervorrechte nachgerade an, mich
zu kränken und zu beschämen. Diese Blondine aber trieb es weit ärger als
alle anderen. Überdies begann ich, der ich schon von jeher ein etwas
schüchterner und verschämter Knabe war, mich gerade zu jener Zeit vor
Damen ganz besonders zu fürchten, und deshalb machte mich ihre
Aufforderung vollends unsicher.

„Nun ja, auf den Schoß! Warum willst du denn nicht auf meinem Schoß
sitzen?“ Und sie lachte, lachte immer übermütiger, lachte Gott weiß
worüber – vielleicht über ihren eigenen Einfall oder vielleicht auch vor
Freude darüber, daß sie mich so verlegen gemacht hatte.

Ich errötete und sah mich in meiner Verwirrung verstohlen um – wie um
eine Möglichkeit zu erspähen, irgendwohin zu entschlüpfen. Aber sie kam
mir zuvor, erwischte meine Hand, zog mich geschwind zu sich und
plötzlich – ganz unvermutet und zu meiner größten Verwunderung – preßte
sie meine Hand mit ihren heißen Fingern wie in einen Schraubstock. Es
tat schrecklich weh und ich mußte meine ganze Kraft zusammennehmen, um
nicht aufzuschreien. Da war es denn wohl kein Wunder, daß ich die
seltsamsten Gesichter schnitt. Hinzu kam noch, daß ich nicht nur
verwundert und erschrocken war, sondern einfach entsetzt, und zwar über
die Tatsache, die ich nun plötzlich am eigenen Körper erfahren mußte:
daß so schöne Damen zugleich so böse sein und sich so schlimm an kleinen
Jungen vergreifen konnten, die ihnen doch nichts getan hatten, und das
noch dazu vor so vielen fremden Menschen! Wahrscheinlich spiegelte aber
mein unglückliches Gesicht alle meine Seelenregungen wieder, denn die
unartige Dame lachte unbändig und preßte dabei meine armen Finger, als
wollte sie sie zerquetschen. Es schien ihr ein rasendes Vergnügen zu
bereiten, etwas recht Tolles anzustellen und einen armen Jungen recht
bis zur Verzweiflung zu peinigen und zum besten zu haben. Ich war in der
Tat der Verzweiflung nahe. Erstens verging ich fast vor Scham, da alle,
die in der Nähe saßen, sich nach uns umsahen, die einen erstaunt und
verständnislos, die anderen lachend, da sie sogleich begriffen, daß die
schöne Blondine wieder jemandem einen Streich spielte. Und zweitens
wollte ich schreien vor Schmerz, denn die Schöne schien ihren ganzen
Ehrgeiz darein zu setzen, meine Finger mit wahrem Ingrimm, gerade weil
ich nicht schrie, zusammenzupressen. Ich aber hielt wie ein kleiner
Spartaner stand und schrie nicht. Ich fürchtete, mit meinem Schrei das
Publikum zu erschrecken und die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zu
lenken: was aber dann mit mir geschehen wäre, das vermochte ich nicht
einmal auszudenken! In meiner Verzweiflung begann ich einen erbitterten
Kampf mit ihr, um meine Hand aus ihren Fingern zu reißen, aber die
Grausame war ja viel, viel stärker als ich. Endlich hielt ich den
Schmerz nicht länger aus und schrie auf – aber nur darauf hatte sie
gewartet! Im Nu ließ sie meine Hand fahren und saß da, als wäre gar
nichts geschehen, als wäre sie das unschuldigste Geschöpf der Welt, das
nichts damit zu schaffen hat, wenn ein anderer unartig ist: kurz, wie es
ein echter Schulbube tut, der, kaum daß der Lehrer ihm den Rücken kehrt,
im Handumdrehen etwas anrichtet – und wäre es auch nur, daß er einem
kleinen Schwächling einen Rippenstoß versetzt oder ähnliches mit dem
Erfolg verbricht, daß der andere aufschreit – in der nächsten Sekunde
aber wieder stramm und artig auf seinem Platz sitzt und fromm die Augen
niederschlägt oder mit ungeteilter Aufmerksamkeit in seinem Buch liest
und somit den Herrn Lehrer, der auf den Lärm hin wie ein Habicht auf ihn
losschießt, mit einer langen Nase wieder abziehen läßt.

Zu meinem Glück jedoch wurde gerade in diesem Augenblick die
Aufmerksamkeit der übrigen durch das meisterhafte Spiel unseres
Hausherrn in Anspruch genommen – er spielte nämlich in der Komödie die
Hauptrolle. Stürmischer Beifall erscholl und ich benutzte schnell die
Gelegenheit zur Flucht, drängte mich durch ein paar Reihen und lief in
die entgegengesetzte Ecke, von wo aus ich halbversteckt hinter einer
Säule mit Grauen dorthin spähte, wo mein grausamer Quälgeist saß. Sie
lachte so, daß sie das Taschentuch an die Lippen pressen mußte. Und
lange noch sah sie sich immer wieder nach mir um, jedoch ohne mich zu
entdecken. Allem Anscheine nach tat es ihr sehr leid, daß unsere
verrückte Balgerei so schnell ein Ende gefunden hatte, ja vielleicht
heckte sie schon einen neuen Streich aus.

Damit begann also unsere Bekanntschaft, und seit jenem Abend war ich
meines Lebens nicht mehr sicher vor ihr. Sie verfolgte mich ohne Maß und
Gewissen. Sie wurde einfach zu meinem Schreckgespenst. Das Groteske
ihrer Scherze mit mir bestand hauptsächlich darin, daß sie beteuerte,
bis über die Ohren in mich verliebt zu sein – und zwar sagte sie das
ganz ungeniert in Gegenwart aller Gäste. Natürlich war das für mich, dem
ohnehin mehr als nötig verschämten Knaben, ungefähr das Fürchterlichste,
was ich mir denken konnte, und es ärgerte mich fast bis zu Tränen; ja
ein paarmal brachte sie mich in eine so unangenehme und bedenkliche
Lage, daß ich nahe daran war, mit dieser heimtückischen Anbeterin einen
regelrechten Faustkampf zu eröffnen. Aber meine naive Verwirrung, meine
Verzweiflung und Wut schienen sie nur anzustacheln, mich noch lebhafter
zu verfolgen. Sie kannte kein Erbarmen, ich aber wußte nicht, wo ich
mich vor ihr verbergen sollte, und zum Unglück wirkte noch das Gelächter
der anderen, das sie durch ihre Scherze mit mir hervorzurufen verstand,
anfeuernd auf sie, so daß man zu guter Letzt fand, sie gehe mit ihren
Scherzen denn doch zu weit. Und wirklich muß auch ich zugeben – ich
meine heute, denn damals konnte ich das noch nicht beurteilen –, daß sie
sich zu viel mit einem solchen Kinde erlaubte, wie ich es damals war.

Aber so war nun einmal ihr Wesen, das ja deshalb noch nicht schlecht zu
sein brauchte: sie war eben auch noch ein richtiges verwöhntes Kind. Wie
ich nachher erfuhr, soll gerade ihr Mann sie am meisten verwöhnt haben –
ein dicker kleiner Herr mit einem frischen Gesicht, sehr reich und sehr
beschäftigt, letzteres wenigstens nach seiner Lebensweise zu urteilen:
ewig hatte er etwas vor, und keine zwei Stunden hielt er es an einem Ort
aus, jeden Tag fuhr er vom Gut nach Moskau, oft sogar zweimal am Tage,
und zwar, wie er behauptete, wegen geschäftlicher Angelegenheiten. Etwas
Lustigeres und Gutmütigeres als es seine komische, aber dabei doch immer
gesetzte Miene und Haltung war, hätte man schwerlich irgendwo finden
können. Seine Frau liebte er nicht nur bis zur Schwäche – nein, er
betete sie geradezu an wie seinen Abgott.

Da versteht es sich wohl von selbst, daß er ihr nichts verbot, und daß
sie tun konnte, was ihr gerade einfiel. Freunde und Freundinnen besaß
sie eine Menge. Denn erstens gab es überhaupt wenige, die sie nicht
liebten, und zweitens war sie gar nicht wählerisch in der Wahl ihrer
guten Bekannten, obgleich auch ihrem Charakter viel mehr Ernst zugrunde
lag, als man nach dem, was ich soeben erzählt habe, annehmen könnte.
Aber von allen ihren Freundinnen liebte sie eigentlich nur eine junge
Frau, eine entfernte Verwandte von ihr, die gleichfalls als Gast auf
dem Gute weilte. Zwischen ihnen bestand ein ganz eigenes
Freundschaftsverhältnis, eines von jenen seltsam zarten, geistig
vornehmen, wie es sich zuweilen aus der Begegnung zweier sonst recht
verschiedener Charaktere ergibt, die vielleicht sogar einander ganz
entgegengesetzt sind, von denen aber der eine strenger und tiefer und
reiner ist als der andere, während dieser mit feinem Taktgefühl
ehrlicher Selbsteinschätzung und neidloser Liebe sich dem anderen
unterordnet, indem er dessen Überlegenheit anerkennt und seine
Freundschaft wie ein Glück und einen kostbaren Schatz im Herzen bewahrt.
Daraus entwickelt sich dann dieses zarte, innerlich vornehme Verhältnis
zueinander, das Güte und Nachsicht auf der einen Seite, auf der anderen
Liebe und Verehrung des Höherstehenden kennzeichnen – eine Verehrung,
der freilich eine gewisse Furcht nicht fehlt: die Furcht nämlich, sich
in den Augen desjenigen, der für einen so hoch steht, etwas zu vergeben,
was zugleich den glühenden Wunsch hervorruft, mit jedem Schritt und
jeder Tat dem Herzen des Freundes näher zu treten. Sie waren beide in
gleichem Alter, aber es war doch in allem ein schier unermeßlicher
Unterschied zwischen ihnen, vor allem auch in ihrer äußeren Erscheinung.
^M–me^ M. war gleichfalls sehr schön, aber ihre Schönheit hatte etwas
Eigenartiges, was sie auf den ersten Blick von der Schar der hübschen
Damen unterschied; und dieses nur schwer erklärbare Etwas wirkte mit
einer unwiderstehlichen Anziehungskraft auf Menschen oder richtiger, es
erweckte in jedem, der ihr begegnete, ein gutes, reines Gefühl, das
einen alsbald wie eine geheime, aber mächtige Sympathie zu ihr hinzog.
Es gibt solche Gesichter. In ihrer Nähe fühlt ein jeder sich irgendwie
besser, irgendwie freier und wärmer: und doch war der Blick ihrer
traurigen großen Augen, aus denen Geist und Kraft sprachen, zugleich
schüchtern und unruhig, wie in immerwährender Flucht vor etwas
Feindlichem und drohend Grausamem, und diese seltsame Scheu breitete
zuweilen solch eine Wehmut über ihre stillen Züge, die an die heiligen
Gesichter italienischer Madonnen gemahnten, daß man bald ebenso traurig
wurde, als hätte man selbst einen Kummer, vielleicht den gleichen wie
sie, deren Leid man so recht nachfühlen konnte. Aus ihrem bleichen,
schmalen Gesicht sah, trotz der vollendeten Schönheit seiner reinen,
regelmäßigen Züge und der wehmütigen Strenge einer dumpfen, verborgenen
Qual, doch noch das ursprüngliche klare Kinderantlitz hervor, das
Gesicht der noch nicht vergessenen, vertrauensseligen Jahre – der Jahre
eines vielleicht unbewußten Glücks. Und dazu kam dieses stille, etwas
scheue, unbestimmte Lächeln und alles das erweckte eine so unerklärliche
Teilnahme für diese Frau, daß im Herzen eines jeden unwillkürlich eine
süße, innige Sorge um sie erwachte, eine Sorge, die für sie noch aus der
Ferne sprach und einen über Zeit und Raum hinweg mit ihr verband. Sie
war vielleicht etwas schweigsam und verschlossen, obwohl es zugleich
schwerlich ein aufmerksameres und liebevolleres Wesen gab, als sie es
zeigen konnte, wenn jemand der Teilnahme bedurfte. Es gibt Frauen, die
im Leben geradezu wie barmherzige Schwestern sind. Vor ihnen braucht man
nichts zu verbergen, nichts zu verschweigen, wenigstens nichts, was in
unserer Seele krank und verwundet ist. Wer leidet, der gehe getrost zu
ihnen und fürchte nicht, ihnen zur Last zu fallen, denn nur selten weiß
jemand von uns, wieviel unendlich geduldige Liebe, wieviel Mitgefühl und
welch ein Allverzeihen in manchem Frauenherzen sein kann. Ganze Schätze
an Mitempfinden, Trost und Hoffnung ruhen in diesen reinen Herzen, die
so oft selbst verwundet sind – Herzen, die viel trauern, mehr als andere
lieben, aber die Wunden behutsam vor jedem neugierigen Blick verbergen,
denn tiefes Leiden schweigt und verbirgt sich. Diese Frauen schreckt
weder die Tiefe der Wunde noch ihre Fäulnis: wer an sie mit seinem
Vertrauen herantritt, ist ihrer schon wert. Sie sind wie zum Helfen
geboren ... ^M–me^ M. war von hohem Wuchs, biegsam und schlank, aber ein
wenig mager. Ihre Bewegungen waren alle irgendwie ungleichmäßig, bald
langsam und sanft und nicht ohne eine gewisse Würde, bald wieder
kindlich schnell. Dabei sprach aus ihrer Geste zugleich so etwas wie ein
Bangen, wie eine Schutzlosigkeit, die aber doch wieder niemanden um
Schutz anflehte oder um Beistand bat.

Ich sagte bereits, daß die bösen Bemerkungen der tückischen Blondine
mich beschämten, ärgerten, peinigten, daß mein Herz mir blutete. Aber
hierfür gab es noch einen anderen Grund, sogar einen recht seltsamen und
dummen, den ich jedoch wie ein Heiligtum vor allen geheimhielt, für den
ich wie ein Geizhals für seinen Schatz zitterte und der mir schon beim
bloßen Gedanken, auch wenn ich ganz allein mit meinem verwirrten Kopf
irgendwo in einer dunkeln Ecke saß, wo der forschende spöttische Blick
meines Plagegeistes mich nicht erreichen konnte und ich mich vor allen
blauen Augen sicher fühlte – der mir schon bei dem bloßen Gedanken an
den Gegenstand dieser Ursache das Herz vor lauter Verwirrung, Scham und
Furcht stille stehen machte. Mit einem Wort: ich war in ^M–me^ M.
verliebt. Und doch – muß ich nicht annehmen, daß ich soeben den größten
Unsinn gesagt habe: denn das war ja ganz undenkbar!? Trotzdem – warum
machte von allen Gesichtern, die ich sah, nur ihr Gesicht einen solchen
Eindruck auf mich? Weshalb folgte mein Blick nur ihr allein, wo sie ging
oder stand, weshalb _liebte_ ich es, sie zu betrachten, obschon doch
damals mein Sinn entschieden noch nicht danach stand, Frauen zu
entdecken und ihnen nahezutreten? Es geschah das namentlich abends, wenn
sich bei trübem oder kühlem Wetter die ganze Gesellschaft in den Sälen
versammelte und ich dann aus irgendeiner Saalecke, wo ich einsam und
verlassen saß, ziellos nach allen Seiten ausguckte – wohin die Augen
selbst gerade wollten, da ich keine andere Beschäftigung für sie zu
finden wußte. Außer meiner Verfolgerin sprach selten jemand ein Wort zu
mir, so daß ich mich an solchen Abenden gewöhnlich sträflich langweilte.
Dann betrachtete ich die Menschen und spitzte die Ohren, wenn ich
Gespräche hörte, von denen ich oft kein Wort begriff. Da kam es denn
ganz von selbst, daß die traurigen Augen und das stille Lächeln der
schönen ^M–me^ M. Gott weiß weshalb meine Aufmerksamkeit fesselten, und
dann konnte nichts mehr den seltsamen, unbestimmten und unfaßbar süßen
Eindruck verwischen, den sie auf mich machte. Oft saß ich stundenlang
und sah sie an und konnte meinen Blick nicht von ihr losreißen. Jede
Geste, jede Bewegung, jeder Ausdruck ihres Gesichts prägte sich meinem
Gedächtnis ein und ich lauschte auf jede Veränderung ihrer Stimme, die
nicht laut war, sondern von einer tieferen, dunkleren, etwas
verschleierten Klangfarbe – und merkwürdig! – aus diesen Beobachtungen
und ihren seltsamen süßen Eindrücken erwuchs in mir eine ganz
unerklärliche Neugier. Es war fast, als ahnte ich ein Geheimnis in ihr,
das ich alsbald unbedingt ergründen wollte.

Am quälendsten war mir daher meine Lage in ihrer Gegenwart. Denn alle
diese Scherze und Neckereien erniedrigten mich in meinen Augen und waren
für mein Gefühl die schrecklichsten Beleidigungen. Und wenn nun gar bei
dem allgemeinen Gelächter über mich auch ^M–me^ M. zuweilen
unwillkürlich mitlachte, dann kannte meine Verzweiflung keine Grenzen:
ich war außer mir vor Schmerz und Scham und riß mich mit der Wut eines
Besessenen aus den Händen meiner Verfolgerin – rannte nach oben, in den
zweiten Stock, wo ich dann den ganzen Rest des Tages verbrachte, da ich
mich nicht mehr im Saal zu zeigen wagte. Übrigens war ich mir damals
weder über meine Scham noch über meine Erregung im klaren: der ganze
Prozeß spielte sich vollkommen unbewußt ab. Mit ^M–me^ M. hatte ich noch
keine zwei Worte gesprochen, und ich hätte natürlich nie den Mut gehabt,
sie anzureden. Eines Abends aber, nach einem für mich elend verlaufenen
Tage, blieb ich während des Spaziergangs hinter den anderen zurück und
da ich schrecklich müde geworden war, ging ich durch den Garten wieder
nach Hause. Ich wählte den kürzesten Weg – eine entlegene Allee – und da
erblickte ich auf einer Bank plötzlich ^M–me^ M. Sie saß dort ganz
allein, als habe sie diese Einsamkeit gesucht, saß zurückgelehnt, mit
gesenktem Kopf, und ihre Finger bewegten mechanisch das Taschentuch, das
sie in der Hand hielt. Sie war so in Nachdenken versunken, daß sie es
gar nicht hörte, wie ich mich ihr näherte.

Als sie mich erblickte, erhob sie sich schnell von der Bank, wandte das
Gesicht fort und ich sah, wie sie das Taschentuch an die Augen führte,
um die Tränenspuren fortzuwischen. Sie hatte geweint. Dann tat sie, als
wäre nichts geschehen, lächelte mir zu und ging mit mir zum Hause. Ich
habe vergessen, wovon wir sprachen; nur schickte sie mich unterwegs
immer wieder unter verschiedenen Vorwänden von sich fort: bald bat sie
mich, eine Blume zu bringen – bald sollte ich ihr sagen, wer dort in der
nächsten Allee ritt. Sobald ich mich aber von ihr fortwandte, fuhr sie
wieder schnell mit dem Tuch über die Wangen, da die ungehorsamen Tränen
nicht versiegen wollten, vielmehr aus dem wehen, kämpfenden Herzen immer
wieder in ihre armen Augen traten. Ich begriff sehr wohl, daß ich ihr
lästig war, da sie mich so oft fortschickte. Sie aber sah doch, daß ich
schon alles bemerkt hatte, und trotzdem konnte sie sich nicht
beherrschen – das quälte mich für sie noch viel mehr! Ich ärgerte mich
über mich selbst fast bis zur Verzweiflung, ich verwünschte mein Unglück
und meine Dummheit, die mich keinen Vorwand finden ließ, unter dem ich
mich hätte entfernen können, ohne sie noch obendrein merken zu lassen,
daß ich um ihr Leid wußte. So ging ich denn betrübt und unglücklich, mit
meinem Zwiespalt im Herzen, neben ihr her und fand trotz aller
Anstrengung kein einziges Wort, mit dem ich unsere einsilbige
Unterhaltung hätte beleben können.

Diese Begegnung machte einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich ^M–me^
M. den ganzen Abend mit unersättlicher Neugier verstohlen betrachtete.
Aber ungeachtet meiner Vorsicht trafen unsere Blicke sich doch ein
paarmal, und als sie das zweite Mal diesen meinen Blick bemerkte, da
lächelte sie. Es war das an diesem Abend das einzige Mal, daß ich sie
lächeln sah. Die Trauer war jedoch noch nicht aus ihrem Gesicht gewichen
und sie war sogar noch bleicher als sonst. Die ganze Zeit unterhielt sie
sich mit einer alten Dame, die eigentlich, weil sie immer spionierte und
Klatschgeschichten verbreitete, niemand ausstehen konnte, die vielmehr
von allen gefürchtet wurde, weshalb man sich denn gewissermaßen
gezwungen fühlte, im Verkehr mit ihr liebenswürdig und aufmerksam zu
sein, ob man wollte oder nicht ...

Gegen zehn Uhr traf plötzlich der Mann von ^M–me^ M. ein. Ich sah, wie
sie bei dem unerwarteten Erscheinen ihres Gatten zusammenzuckte und wie
ihr ohnehin schon so bleiches Gesicht noch um einen unheimlichen Grad
stärker erblaßte. Es war das so auffallend, daß auch andere es
bemerkten: wenigstens fing ich von einem leisen Gespräch in meiner Nähe
ein paar Bemerkungen auf, aus denen ungefähr hervorging, daß die arme
^M–me^ M. kein gerade beneidenswertes Leben habe. Ihr Mann sei, wie man
wisse, eifersüchtig wie ein Mohr, jedoch nicht aus Liebe zu ihr, sondern
nur aus Liebe zu sich selbst. Dieser Mensch war nämlich ... in erster
Linie ein „Europäer“, und zwar einer der neuzeitlichen, von modernen
Ideen angekränkelten, mit denen er gerne großtat. Was sein Äußeres
betraf, so war er ein brünetter, großer und sehr stämmiger Herr mit
europäisch geschnittenem Backenbart und einem selbstzufriedenen,
frischen Gesicht, mit zuckerweißen Zähnen und dem Auftreten eines
vollendeten Gentleman. Man nannte ihn einen „klugen Menschen“. So nennt
man nämlich in gewissen Kreisen einen besonderen, auf Kosten anderer
fett gewordenen Menschenschlag, der so gut wie nichts tut und auch so
gut wie nichts tun will, der vielmehr vom ewigen Müßiggang und Nichtstun
anstatt des Herzens sozusagen nur ein Stück Speck im Leibe hat. Gerade
von diesen Leuten aber hört man jeden Augenblick, daß sie nur infolge
gewisser höchst verwickelter und ihnen feindlicher Umstände nichts zu
tun hätten, daß sie ihren „Genius ermüdeten“ und daß es deshalb „traurig
sei“, sie „unbeschäftigt zu sehen“. Das ist nun einmal ihre
schönklingende Phrase, ihr ^Mot d’ordre^, das diese satten Fettwänste
überall anbringen – weshalb sie einen denn auch schon längst langweilen,
um nicht mehr zu sagen; wie eben jede ausgesprochene Tartüfferie oder
jedes leere, alberne Wort. Übrigens scheinen einige dieser spaßigen
Käuze, die auf keinerlei Weise eine Arbeit für sich finden können –
zumal sie auch nie eine solche ernstlich suchen – gerade danach zu
trachten, alle davon zu überzeugen, daß sie an Stelle des Herzens nicht
ein Stück Speck, sondern im Gegenteil etwas sehr Tiefgründiges besäßen.
Was dies Etwas freilich sei, eigentlich und im letzten Grunde, das würde
auch der beste Chirurg nicht sagen können – nur aus Höflichkeit,
versteht sich, könnte er es nicht! Diese Herren bringen ihr Leben damit
zu, daß sie alle ihre Fähigkeiten zu billigem Spott, kurzsichtigster
Kritik und maßlos dünkelhaftem Auftreten verwerten. Da sie aber nichts
weiter zu tun haben, als die Fehler und Schwächen anderer zu entdecken
und ans Licht zu zerren, und da sie von Güte und Nachsicht genau nur so
viel besitzen, wie die Natur etwa einer Auster verliehen hat, so fällt
es ihnen auch nicht schwer, unter solchen Umständen ziemlich umsichtig
und mit viel Vorsicht unter den Menschen zu leben. Dessen rühmen sie
sich denn auch über alle Maßen. So sind sie zum Beispiel fest überzeugt,
daß womöglich die ganze Welt ihnen tributpflichtig sei, und sie
betrachten diese Welt nahezu als ihre Vorratskammer. Sie sehen in allen
anderen Menschen um sich her Dummköpfe und glauben, ein jeder gleiche
einer Apfelsine oder einem Schwamm, aus dem sie, sobald sie nur wollen,
auch den letzten Tropfen herauspressen können. Sie halten sich in
gewissem Sinne für die Herren der Welt und scheinen anzunehmen, daß
diese ganze löbliche Ordnung der Dinge einzig davon herrühre, daß sie so
kluge und gewichtige Menschen sind. In ihrem maßlosen Eigendünkel werden
sie nie eigene Mängel zugeben, sondern sich immer unter allen Umständen
und in jeder Beziehung für vollkommen halten. Sie gleichen jenem
besonderen Menschentyp, dessen Ahnherren Tartüffe und Falstaff sind,
jenen Schelmen, die so viel und so oft betrügen, daß sie selbst
schließlich glauben, alles was sie sagen, tun und lassen habe seine
Richtigkeit, d. h. es sei von ihnen durchaus richtig, so zu leben und zu
betrügen: sie haben eben ihre Beteuerungen, daß sie ehrlich und
uneigennützig seien, so oft gehört, daß sie zu guter Letzt selbst
glauben, sie seien uneigennützig und ihre Betrügereien zeugten von
aufrichtigster Ehrlichkeit. Zu einer unparteiischen Selbstkritik und
Selbsterkenntnis langt es bei ihnen nie. Zum Erfassen mancher Dinge sind
sie eben viel zu schwerfällig. Im Vordergrunde aller Dinge und
Geschehnisse steht ihnen immer die eigene goldene Person, der Moloch,
dem sie alles opfern, ihr herrliches „Ich“! Die ganze Natur, die ganze
Welt ist für sie nicht mehr als ein großer schöner Spiegel, der nur dazu
geschaffen scheint, damit ein kleiner Gott sich ununterbrochen in ihm
bewundern kann und außer seiner eigenen Person niemand und nichts zu
sehen braucht. Da ist es denn kein Wunder, wenn sie unter solchen
Umständen alle übrigen Erscheinungen der Welt immer irgendwie entstellt
sehen und nie so, wie sie wirklich sind. Für alles haben sie eine
fertige Phrase vorrätig und zwar – was übrigens äußerst geschickt von
ihnen ist – immer nur eine der allermodernsten. Ja, man kann sagen, daß
hauptsächlich sie es sind, die die Verbreitung der Phrase besorgen,
deren Erfolg sie beizeiten wittern. Jawohl, Spürsinn – das ist das
einzige, was man ihnen nachrühmen kann, denn in dieser Beziehung haben
sie wirklich eine feine Nase; wenigstens ist sie fein genug, um
derartige moderne Ausdrücke früher als andere herauszuschnüffeln und
sich rechtzeitig anzueignen, so daß es fast den Anschein hat, als
stammten sie von ihnen. Namentlich versehen sie sich mit solchen, die
ihrer tiefen Liebe zur Menschheit Ausdruck geben sollen und die
angeblich einzig richtige und vernunftgemäße Menschenfreundschaft
dartun, um dabei gleichzeitig rücksichtslos über die veraltete Romantik
herzufallen, mit ihr nicht selten alles Schöne und Erhabene zu
verurteilen, ohne zu begreifen, daß jedes kleinste Gefühl derselben
wertvoller ist, als ihre ganze Weichtierexistenz. In ihrer geistigen
Stumpfheit sind sie unfähig, die Wahrheit in einer noch unfertigen, von
der altbekannten abweichenden Form, in einem Übergangsstadium zu
erkennen, und so lehnen sie denn alles ab, was noch im Entstehen ist und
seine Form erst sucht und deshalb noch nicht ganz feststeht. Diese
wohlgenährten satten Menschen haben ihr Leben gewöhnlich gleichsam im
Zustande eines fortgesetzten Räuschchens heiter verbracht. Alles ist
ihnen von anderen zurecht gemacht worden, selbst aber haben sie noch nie
etwas geleistet und wissen natürlich nicht, wie schwer es ist, etwas zu
vollbringen. Wehe dem aber, der mit irgendeiner Rauheit ihre satten
Gefühle streift: das würde niemals verziehen, noch vergessen werden,
Rache üben sie aber dafür mit Wonne. In der Summe ergibt sich, daß ein
derartiger Held nichts mehr und nichts weniger ist als ein riesengroßer,
bis zur letzten Möglichkeit aufgeblasener Sack, voll von Sentenzen,
Modephrasen und Schlagwörtern aller Art.

Übrigens war ^M–r^ M. doch ein etwas bemerkenswerterer Herr, zumal er
eine Gabe besaß, die ihn immerhin durch eine gewisse Eigenart
auszeichnete: er war nämlich ein guter Erzähler, war witzig und
redselig, so daß in der Gesellschaft sich immer ein Kreis um ihn
versammelte. An jenem Abend war er besonders gut aufgelegt; er riß die
Unterhaltung an sich, war schlagfertig, beinahe geistvoll, gut gelaunt
und brachte es so weit, daß alle nur ihm zuhörten und ihn anstaunten.
Dagegen war ^M–me^ M. die ganze Zeit schweigsam und litt sichtlich: sie
sah so traurig aus, daß ich fürchtete, jeden Augenblick wieder Tränen an
ihren Wimpern erglänzen zu sehen. Alles das machte, wie gesagt, einen
tiefen Eindruck auf mich. Ich war bestürzt und verwundert und eine
seltsame Neugier erfaßte mich. Die ganze Nacht träumte mir von ^M–r^ M.,
während ich bis dahin selten von so peinigenden und aufregenden Träumen
heimgesucht worden war.

Am anderen Morgen wurde ich schon früh nach unten in den Saal gerufen,
wo die Proben zu den lebenden Bildern, zu denen auch ich mich hergeben
mußte, stattfanden. Diese lebenden Bilder, ferner eine Theateraufführung
und ein großer Ball, alles an einem Abend, sollten zur Feier des
Geburtstages der jüngsten Tochter unseres verschwenderischen Hausherrn
stattfinden. Wir hatten im ganzen nur noch etwa fünf Tage Zeit. Zu
diesem Fest waren aus Moskau und von den benachbarten Landgütern nicht
viel weniger als hundert Personen eingeladen, so daß große
Vorbereitungen getroffen werden mußten, die natürlich den Trubel noch
erhöhten. Die Proben oder richtiger die Durchsicht der vorhandenen
Kostüme fand zu einer so ungelegenen Zeit statt, weil der bekannte
Künstler R., ein Freund und Gast unseres Hausherrn, der aus Gefälligkeit
sich bereit erklärt hatte, die Bilder zu stellen, noch nach Moskau
fahren wollte, um die fehlenden Requisiten einzukaufen. So hieß es denn:
sich beeilen. Mich hatte man für ein lebendes Bild zusammen mit ^M–me^
M. ausersehen. Das Bild stellte eine Szene aus dem mittelalterlichen
Leben dar und hieß: „Die Schloßherrin und ihr Page“.

Ich war entsetzlich verwirrt, als ich mit ^M–me^ M. auf der Probe
zusammentraf. Natürlich war ich überzeugt, daß sie sogleich alle meine
Gedanken, Zweifel und Vermutungen, die mir seit dem letzten Abend durch
den Kopf gefahren waren, aus meinen Augen erraten würde. Und überdies
bedrückte mich noch so etwas wie ein Schuldgefühl ihr gegenüber, weil
ich sie in ihrem Leid überrascht und ihre Tränen bemerkt hatte. Wußte
ich denn, ob sie nicht vielleicht sogar sehr ärgerlich über mich war?
Aber, Gott sei Dank, es verlief alles ohne irgendwelche
Unannehmlichkeiten: ich wurde von ihr ganz einfach – gar nicht bemerkt.
Ihre Gedanken waren offenbar mit etwas ganz anderem beschäftigt und sie
schien weder mich noch sonst etwas von der Probe zu sehen. Sie machte
den Eindruck, als laste eine große quälende Sorge auf ihr. Nach
beendeter Probe lief ich schnell fort und kleidete mich um. Etwa zehn
Minuten später trat ich auf die Terrasse, um in den Garten zu gehen. In
demselben Augenblick trat aus einer anderen Tür auch ^M–me^ M. auf die
Terrasse und zugleich erblickten wir beide vor uns ihren
selbstzufriedenen Herrn Gemahl, der aus dem Garten heraufkam, wohin er
gerade eine Schar junger Damen begleitet hatte. Die Begegnung mit seiner
Frau kam auch für ihn ganz unerwartet. ^M–me^ M. errötete plötzlich und
in ihrer hastigen Bewegung drückte sich ein gewisser Unmut aus. Der Herr
Gemahl, der sorglos eine Arie vor sich hingepfiffen und unausgesetzt mit
tiefsinniger Miene seinen schönen Backenbart geglättet hatte, runzelte
ein wenig die Stirn, als er seine Frau erblickte und betrachtete sie,
wie ich mich jetzt entsinne, mit entschieden inquisitorischem Blick.

„Sie gehen in den Garten?“ fragte er, da er in ihrer Hand einen
Sonnenschirm und ein Buch bemerkte.

„Nein, in den Wald,“ sagte sie und errötete leicht.

„Allein?“

„Mit ihm ...“ Sie wies auf mich. „Ich gehe morgens immer allein
spazieren,“ fügte sie wie zur Erklärung hinzu, aber mit einer etwas
unsicheren Stimme, die wohl gleichgültig klingen sollte, statt dessen
aber genau so klang, wie wenn man zum erstenmal im Leben bewußt lügt.

„Hm ... Ich habe soeben eine ganze Gesellschaft hinbegleitet. Sie
versammeln sich dort alle bei der Rosenlaube, um N. das Geleit zu geben.
Er verläßt uns, wie Sie wissen ... Es ist ihm da irgendwo in Odessa ein
Malheur passiert ... Ihre Kusine (das war mein blonder Plagegeist) lacht
und weint, beides zugleich, so daß man nicht aus ihr klug werden kann.
Übrigens sagte sie mir, daß Sie aus irgendeinem Grunde auf N. böse seien
und ihn deshalb nicht begleiten wollten. Natürlich ein Unsinn?“

„Sie scherzt nur,“ sagte ^M–me^ M. und stieg die Stufen der Terrasse
hinab.

„Also das ist jetzt Ihr täglicher ^Cavalier servant^?“ fragte er noch
beiläufig mit spöttisch zuckenden Mundwinkeln und musterte mich durch
sein Monokel.

„Page!“ rief ich, wütend über seinen Blick, über seinen Spott, und dann
lachte ich ihm gerade ins Gesicht und sprang mit einem Satz über drei
Stufen ...

„Nun, viel Vergnügen,“ brummte ^M–r^ M. und ging weiter.

Ich war natürlich gleich zu ^M–me^ M. getreten, als sie auf mich wies,
und hatte mir den Anschein gegeben, als hätten wir uns schon vor einer
Stunde verabredet, und ich tat so, als sei ich schon einen ganzen Monat
jeden Morgen mit ihr spazierengegangen. Nur konnte ich nicht begreifen,
weshalb diese Begegnung sie so verwirrte, und was sie eigentlich im
Sinne hatte, als sie sich zu der kleinen Lüge entschloß. Warum hatte sie
nicht ganz einfach gesagt, daß sie allein gehe? So aber wußte ich nicht,
was ich davon denken sollte. Dennoch begann ich allmählich, trotz meiner
Unsicherheit und aller Befürchtungen, mit naiver Neugier verstohlen zu
ihr aufzusehen: doch ganz wie vor einer Stunde in der Probe bemerkte sie
auch jetzt weder meine Blicke noch meine stumme Frage. Nur dieselbe
quälende Sorge spiegelte sich noch deutlicher, noch tiefer in ihren
erregten Zügen wieder und sprach aus jeder Bewegung, sprach vor allem
aus ihrem schnellen Gang. Sie mußte Eile haben, denn sie beschleunigte
ihre Schritte und unruhig blickte sie in jede Allee, in jeden Durchhau
im Walde, und zwar immer nach der Seite des Gartens hin. Auch ich begann
etwas zu erwarten. Da vernahmen wir Pferdegetrappel hinter uns. Es war
eine ganze Kavalkade, Damen und Herren, hoch zu Roß, die alle jenen N.,
der uns so plötzlich verließ, begleiteten.

Unter den Reiterinnen erblickte ich auch meine Blondine, von der ^M–r^
M. uns erzählt hatte, daß sie gelacht und geweint habe, beides zugleich.
Ihrer Gewohnheit gemäß lachte sie nun wieder wie ein Kind und war so
mutwillig und lustig wie nur je. Sie ritt einen prächtigen Schimmel. Als
die Gesellschaft uns erreichte, zog N. den Hut, hielt aber weder sein
Pferd an, noch sagte er ein Wort zu ^M–me^ M. Bald waren sie alle hinter
einer Wegbiegung verschwunden. Ich blickte zu ^M–me^ M. auf und –
beinahe hätte ich aufgeschrien vor Überraschung: sie war totenbleich und
rührte sich nicht, nur große Tränen standen in ihren Augen. Unsere
Blicke trafen sich: ^M–me^ M. errötete jäh, wandte sich für einen
Augenblick fort und ich las Unruhe und Ärger in ihrem Gesicht, obschon
sie sich schnell und mit aller Gewalt zusammennahm. Ich war überflüssig,
war lästiger noch als tags zuvor: das war mir klar. Aber wie sollte ich
mich entfernen, unter welchem Vorwande?

Da schlug ^M–me^ M. plötzlich, als habe sie meine Gedanken erraten, das
Buch auf, das sie mitgenommen hatte, und, indem ihr wieder das Blut in
die Wangen stieg, sagte sie – sichtlich bemüht, mich dabei nicht
anzusehen – als habe sie es soeben erst bemerkt:

„Ach! Das ist ja der zweite Band, ich habe mich versehen! Bitte, bring
mir den ersten!“

Es war nicht mißzuverstehen! Ich hatte meine Rolle ausgespielt und auf
einem geraderen Wege hätte man mich schwerlich fortschicken können.

Ich lief mit dem Buche fort und kehrte nicht zurück. Der erste Band
blieb an diesem Morgen unberührt auf dem Tische liegen ...

Aber seitdem war ich so verändert, daß ich mir selbst ganz fremd vorkam:
mein Herz pochte wie in fortwährender Angst. Ich wandte die größte
Vorsicht an, um nicht irgendwie ^M–me^ M. zu begegnen. Dafür aber
betrachtete ich von nun an mit einer nahezu wilden Neugier ihren
selbstzufriedenen Herrn Gemahl, als wollte ich an ihm etwas Besonderes
entdecken. Ich begreife jetzt selbst nicht, wie ich damals zu dieser
lächerlichen Neugier kam, doch entsinne ich mich, daß alles, was ich an
jenem Morgen erlebt, mich in ein ganz eigenartiges Erstaunen versetzt
hatte. Und doch war es nur erst ein Anfang an diesem Tage gewesen, an
dem mir noch ganz andere und noch viel größere Erlebnisse bevorstanden.

Es wurde ausnahmsweise früher als sonst zu Mittag gespeist. Am
Nachmittage sollten wir eine Ausfahrt nach einem Nachbardorf machen, um
einmal ein richtiges Dorffest, das dort gefeiert wurde, kennen zu lernen
– deshalb speisten wir früher. Ich hatte mich schon drei Tage auf dieses
Fest gefreut, von dem ich Gott weiß wie viel erwartete. Den Kaffee
tranken alle auf der Terrasse. Vorsichtig folgte ich den anderen aus dem
Speisesaal und verbarg mich hinter mehreren Sesseln. Mich zog wieder
meine Neugier dorthin: und die war so groß, daß ich ihr sogar auf die
Gefahr hin folgte, von ^M–me^ M. bemerkt zu werden. Der Zufall fügte es
jedoch anders: ich geriet in die Nähe meiner blonden Verfolgerin. An dem
Tage war mit ihr ein Wunder geschehen, etwas schier Unglaubliches: sie
sah plötzlich noch einmal so schön aus, als sie bis dahin ausgesehen
hatte. Wie und warum das gekommen war – das weiß ich nicht, aber mit
Frauen geschieht dieses Wunder ja recht oft! Unter uns befand sich ein
neuer Gast, ein langer, blonder, junger Mann, der gerade aus Moskau
eingetroffen war, fast wie um N. zu ersetzen, der uns am Morgen
verlassen hatte, und von dem das Gerücht ging, daß er in unsere blonde
Schönheit sterblich verliebt gewesen sei. Der neue Gast aber stand schon
seit langer Zeit in einem Verhältnis zu ihr, wie Benedikt zu Beatrice in
Shakespeares „Viel Lärm um nichts“. Kurz, unsere Schönheit fand an
diesem Tage ungeheuren Beifall. Ihre Scherze und ihre Unterhaltung waren
so entzückend, so zutraulich naiv, so verzeihlich unvorsichtig, sie war
dabei selbst mit einer so graziösen Sicherheit vom allgemeinen Beifall
überzeugt, daß sie die ganze Zeit über von allen Anwesenden tatsächlich
nur bewundert wurde. Um sie herum bildete sich ein dreifacher Kreis von
überraschten, verwunderten und entzückten Zuhörern, denn so bezaubernd
hatte man sie noch nie gesehen. Jedes Wort von ihr ward wie ein
verführerisches Wunderding erhascht und weitergegeben, jeder Scherz,
jede schlagfertige Antwort erregte Begeisterung. Wie es schien, hatte
niemand soviel Geschmack, Geist und Verstand an ihr vermutet. Ihre
besten Eigenschaften wurden durch ihre täglichen kindischen Tollheiten,
die oft fast zu Narrheiten ausarteten, in den Schatten gestellt und
selten von jemand bemerkt – oder wer sie zwischen jenen Kindereien
bemerkte, der hielt sie für Zufall, so daß ihr plötzlicher Erfolg mit
einem allgemein verwunderten Geflüster aufgenommen wurde.

Übrigens trug zu diesem Erfolg noch ein besonderer, etwas kitzliger
Umstand bei – kitzlig wenigstens im Hinblick auf die Rolle, die der Herr
Gemahl der ^M–me^ M. dabei spielte. Der Wildfang hatte sich nämlich
vorgenommen – und wie ich bemerken muß: zu allseitigem Gaudium oder zum
mindesten doch zu dem der goldenen Jugend – wahrhaft unbarmherzig ^M–r^
M., immer nur M., anzugreifen, und dies wohl aus verschiedenen Gründen,
die in ihren Augen wahrscheinlich alle sehr gewichtig waren. Sie
eröffnete im Kampf mit ihm ein richtiges Schnellfeuer von spöttischen
Herausforderungen, Seitenhieben und Sarkasmen von der boshaftesten Art,
die von allen Seiten so geschlossen, glatt und rund waren, daß man sie
nirgends fassen konnte, um sie der gütigen Spenderin zurückzuwerfen,
Sarkasmen, denen der Gegner nahezu wehrlos ausgeliefert war, die nie ihr
Ziel verfehlten und ihr Opfer, das sich in vergeblichen Anstrengungen
erschöpfte, schließlich in die wildeste Wut versetzten und zur
komischsten Verzweiflung brachten.

Ich weiß es zwar nicht genau, aber ich glaube doch sagen zu dürfen, daß
dieser Zweikampf nicht zufällig entbrannte, sondern von ihr mit Absicht
herbeigeführt wurde. Eigentlich begann der verzweifelte Kampf schon bei
Tisch. Ich nenne ihn „verzweifelt“, denn M. streckte die Waffen nicht so
bald. Er mußte mit Aufbietung seiner ganzen Geistesgegenwart all seinen
Scharfsinn und seine allerdings recht geringe Gewandtheit
zusammennehmen, um nicht eine Schlappe sondergleichen davonzutragen – um
nicht mit Schmach und Schande das Feld räumen zu müssen. Der Kampf
verlief unter fast unaufhörlichem Gelächter aller Zeugen und Teilnehmer.
Jedenfalls hatte sich das Blatt für ihn an diesem zweiten Tage völlig
gewendet und mit dem Beifall, den er am ersten Abend eingeerntet, war es
zu Ende. Wie ich und auch andere bemerkten, war ^M–me^ M. mehrmals im
Begriff, ihrer unvorsichtigen Freundin ins Wort zu fallen. Diese aber
schien ihrerseits dem eifersüchtigen Gatten unbedingt eine Narrenkappe
aufsetzen oder ihn wenigstens eine lächerliche Rolle spielen lassen zu
wollen – etwa diejenige eines Blaubart, wenigstens nach dem zu urteilen,
was ich noch behalten habe, und nach der Rolle, die ich selbst durch
einen Zufall in dieser Komödie spielen sollte.

Es geschah ganz plötzlich und so unvorhergesehen, daß ich kaum zur
Besinnung kam. Ich stand und hörte zu, ohne etwas Böses zu ahnen, und
hatte sogar meine Vorsicht vergessen, als ich mich mit einemmal mitten
in den Streit hineingezogen sah: sie stellte mich plötzlich als den
Todfeind und natürlichen Gegner des ^M–r^ M. vor, als den sterblich bis
zur Verzweiflung verliebten Anbeter seiner Frau. Mit ihrem Ehrenwort
verbürgte sich die Schreckliche für die Wahrheit ihrer Behauptungen, und
sie beteuerte hoch und heilig, daß sie die sichersten Beweise besitze,
z. B. habe sie noch an diesem Morgen im Walde gesehen ... –

Doch sie konnte den Satz nicht beenden: ich unterbrach sie in dem für
mich entscheidenden Augenblick. Aber dieser Augenblick wiederum war von
ihr so geschickt abgepaßt, der Knoten war so genial geschürzt und die
scherzhafte Lösung so wohl vorbereitet, und dabei alles so unnachahmlich
wiedergegeben, daß eine schallende Lachsalve diesen letzten Trumpf
begrüßte. Und obschon ich damals gleich erriet, daß die lächerlichste
Rolle gar nicht mir zufiel, war ich doch so verwirrt, aufgebracht und
erschrocken, daß ich mit Tränen in den Augen, mit dem Schmerz und der
Erschütterung der Verzweiflung und Scham mich zwischen den Stühlen im Nu
durchgedrängt hatte, mitten im Kreise stand und mit vor Tränen
stockender Stimme empört meiner Feindin zurief:

„Und Sie schämen sich nicht ... ganz laut ... und vor allen Damen ...
eine solche Unwahrheit zu sagen!? ... Sie gebärden sich wie ein dummes
Mädchen ... und das noch dazu vor Männern! Was werden die dazu sagen?
Sie sind doch schon groß und ... verheiratet! ...“

Ohrenbetäubender Beifall unterbrach meine kindlichen Vorwürfe. Meine
Standrede machte Furore. Es war aber nicht meine Geste, es waren auch
nicht die Tränen in meinen Augen, die so erheiternd wirkten, sondern es
war vor allem das, daß ich quasi als Verteidiger des ^M–r^ M. auftrat,
was ein so unbändiges Gelächter hervorrief. In der Erinnerung muß ich
jetzt gleichfalls lachen ... Damals aber erstarrte ich beinahe und
verlor fast die Besinnung vor Entsetzen über diese Menschen – ich
erbebte, bedeckte das Gesicht mit den Händen und stürzte fort, stieß in
der Tür mit einem Diener zusammen, dem das Teebrett aus den Händen fiel,
und lief wie der Wind nach oben in mein Zimmer. Ich riß den Schlüssel
heraus, der von außen in der Tür stak, und schloß mich ein. Das war aber
auch mein Glück, denn schon folgte mir eine wilde Jagd: eine halbe
Minute später lief eine ganze Bande Sturm gegen meine Tür. Es waren alle
unsere jungen Damen: ich hörte ihr Lachen, ihr Geschwätz, tausend
Stimmen durcheinander, eine schneller als die andere – wie ein
Schwalbenvolk zwitscherten sie durcheinander. Alle, alle ausnahmslos
baten sie, flehten sie mich an, die Tür wenigstens auf einen Augenblick
zu öffnen; sie schwuren, daß mir nichts Böses widerfahren werde, sie
wollten mich nur totküssen, wie sie versicherten. Welche Drohung hätte
fürchterlicher sein können? Ich verging vor Scham und preßte das Gesicht
in die Kissen und hätte um keinen Preis die Tür geöffnet oder auch nur
mit einer Silbe geantwortet. Sie lärmten und bettelten noch lange hinter
der Tür, ich aber blieb gefühllos und taub, wie nur ein Elfjähriger sein
kann.

Was sollte ich jetzt tun? alles war aufgedeckt, alles verraten, was ich
so eifersüchtig geheimgehalten und vor allen Blicken verborgen hatte!
... Ich war für ewig mit Schmach und Schande bedeckt! In Wirklichkeit
hätte ich freilich nicht zu sagen gewußt, was ich so ängstlich
geheimhalten wollte; immerhin aber hatte ich doch vor der Entdeckung
dieses geheimgehaltenen Etwas wie ein Blättchen gezittert. Auch war ich
mir bis dahin durchaus nicht klar darüber gewesen, ob es etwas Gutes
oder Schlechtes, etwas Rühmliches oder Schmähliches sei. Nun aber kam
mir, plötzlich, zu meinem großen Kummer unter Qualen die Erkenntnis, daß
dies alles _komisch_ und _beschämend_ war! Mein Instinkt sagte mir zwar
gleichzeitig, daß eine solche Auffassung falsch, unnatürlich und roh
sei; aber ich war geschlagen, vernichtet; das Denkvermögen, oder
vielmehr die Erkenntnisfähigkeit war in mir gleichsam gelähmt und schien
sich irgendwie verwickelt und verwirrt zu haben. Es war mir unmöglich,
mich gegen dieses Urteil aufzulehnen oder es auch nur gründlich zu
untersuchen: ich war wie betäubt und fühlte nur, daß man mein Herz
unmenschlich und schamlos verwundet hatte. Ich weinte ohnmächtige
Tränen. Zugleich war ich gereizt: machtlose Wut kochte in mir und
alsbald stieg sogar Haß auf, den ich zum erstenmal in meinem Leben
empfand, denn zum erstenmal in meinem Leben hatte ich ernstes Leid und
eine wirkliche Kränkung erfahren. In mir, dem unwissenden Kinde, war das
erste noch unbewußte, noch unentwickelte Gefühl mit roher Hand berührt,
das erste scheue mädchenhaft zarte Schamgefühl entblößt und entheiligt
und der erste und vielleicht sehr ernste ästhetische Eindruck ins
Lächerliche gezogen worden. Allerdings konnten die Lacher vieles nicht
wissen und meine Qualen nicht voraussehen. Hinzu kam noch ein besonderer
Umstand, über den ich mir selbst noch nicht ganz klar geworden war, oder
richtiger: den zu untersuchen ich mich bis dahin nicht recht getraut
hatte. In Kummer und Verzweiflung blieb ich auf meinem Bett liegen und
verbarg das Gesicht in den Kissen. Frostschauer überliefen meinen Körper
und ich fieberte. Zwei Fragen quälten mich: was hatte diese
nichtsnutzige Blondine am Morgen im Walde zwischen mir und ^M–me^ M.
gesehen, was hatte sie sehen können? Und die zweite Frage: wie, auf
welche Weise, mit welchen Augen konnte ich jetzt noch ^M–me^ M. ins
Gesicht sehen, ohne auf der Stelle in demselben Augenblick vor Scham und
Verzweiflung zu vergehen?

Ein ungewohnter Lärm auf dem Hof weckte mich aus der halben
Bewußtlosigkeit, in der ich mich befand. Ich stand auf und trat ans
Fenster. Der Hof war voll von Equipagen, Reitpferden, Stallknechten und
Kutschern: es sah aus, als wollten alle Gäste uns verlassen. Ein paar
Reiter saßen schon auf den Pferden, die übrigen Gäste nahmen in den
verschiedenen Wagen Platz ... – Da fiel mir ein, daß wir ja nach dem
Nachbardorf fahren sollten und eine gewisse Unruhe erfaßte mich: ich
begann, mit den Augen meinen Klepper zu suchen, aber der war nicht zu
sehen – folglich hatte man mich vergessen. Da hielt ich es nicht aus und
lief Hals über Kopf nach unten, ohne an alle unangenehmen Folgen und den
ganzen Vorfall noch weiter zu denken ...

Unten erwartete mich eine vernichtende Nachricht: es gab für mich
diesmal weder ein Pferd, noch einen Platz in einem Wagen – alle waren
bereits besetzt und ich mußte das Vergnügen anderen abtreten.

Von neuem Leid betroffen blieb ich an der Freitreppe stehen und blickte
traurig auf die lange Wagenreihe und die Reiter und Reiterinnen, deren
Tiere bereits unruhig tänzelten.

Man wartete nur noch auf einen der Herren, der sich wohl etwas verspätet
hatte. Unten vor der Freitreppe stand ein Reitpferd, schäumte ins Gebiß,
scharrte mit dem Huf und zuckte bei jeder Kleinigkeit zusammen, wobei es
große Lust verriet, sich zu bäumen. Zwei Stallknechte hielten das Tier
am Zaum und zugleich sich selbst etwas bänglich nach Möglichkeit außer
dem Bereich seiner Hufe, wie denn überhaupt alle in achtungsvoller
Entfernung von ihm standen.

Es hatte in der Tat seinen Grund, und einen sehr unangenehmen dazu,
weshalb ich nicht mitkonnte. Abgesehen davon, daß noch neue Gäste
angekommen waren, die die freien Plätze in den Wagen einnahmen, wollte
es das Unglück, daß zwei Reitpferde erkrankten, von denen das eine mein
Klepper war. Durch dieses Unglück wurde aber nicht ich allein betroffen:
auch für unseren neuen Gast, den blassen, jungen Mann, von dem ich
bereits gesprochen, stand kein Reitpferd mehr zur Verfügung.
Infolgedessen hatte sich unser Hausherr gezwungen gesehen, seinen
wilden, noch nicht ganz zugerittenen jungen Hengst dem Gast anzubieten,
wobei er freilich zur Beruhigung seines Gewissens hinzufügte, daß es ein
Ding der Unmöglichkeit sei, auf dem Tier zu reiten, und daß er schon
längst beschlossen habe, den Hengst wegen seiner Wildheit zu verkaufen,
sobald er nur einen Käufer finden würde. Doch der junge Mann erklärte
trotz der Warnung, daß er sich im Sattel sicher genug fühle, und im
übrigen auch völlig bereit sei, sich gleichviel auf was für einen
Pferderücken zu setzen, wenn er nur mitreiten könne. Da schwieg denn der
Hausherr – doch wie mir schien, spielte ein etwas zweideutiges
verschmitztes Lächeln um seine Lippen: er stand in Erwartung des
Reiters, der sich im Sattel so sicher wähnte, auf der Treppe, ließ auch
sein Pferd noch warten, rieb sich die Hände und blickte immer wieder
nach der Tür. Ähnliche Gedanken wie ihr Herr schienen auch die beiden
Stallburschen zu haben, die den Hengst hielten und sehr stolz darauf
waren, sich vor soviel Zuschauern als die Bändiger eines wilden Tieres
zeigen zu können, das jeden Augenblick einen Menschen totzutrampeln
vermochte. In ihren Augen aber schien das verschmitzte Lächeln des Herrn
sich widerzuspiegeln und sie guckten gleichfalls immer wieder nach der
Tür, in der der kühne Reiter doch bald erscheinen mußte. Übrigens
verhielt auch das Tier sich nicht anders, als habe es sich mit seinem
Besitzer samt den Stallburschen verabredet: es stand stolz und bis auf
weiteres ruhig mit hocherhobenem Kopf da, wie wenn es fühle, daß einige
Dutzend neugieriger Blicke auf ihm ruhten, und wie wenn es gerade auf
seinen schlechten Ruf stolz sei – tat also ganz so wie mancher
unverbesserliche Galgenstrick, der mit seinen Galgenstreichen prahlt.
Und es war, als wollte das Tier den Kühnen herausfordern, der es wagen
würde, ihm seine Freiheit zu nehmen.

Dieser Kühne erschien endlich. Es war ihm peinlich, daß er die
Gesellschaft so lange hatte warten lassen, und indem er sich eilig die
Handschuh anzog, stieg er die Stufen hinab und sah erst auf, als er
schon die Hand nach dem Pferdehals ausstreckte und ein wildes Bäumen des
Tieres, begleitet von einem warnenden Schrei der Zuschauer, ihn
verblüfften. Der junge Mann trat einen Schritt zurück und betrachtete
verwundert den Hengst, der jetzt am ganzen Körper zitterte, wütend
schnaufte und wild die blutunterlaufenen Augen rollte, wobei er sich
immer wieder auf die Hinterbeine setzte und die Vorderbeine hob, als
wäre er im Begriff, sich im nächsten Augenblick loszureißen und in
wilden Sätzen davonzujagen – die Stallburschen womöglich hinter sich
herschleifend. Der junge Mann betrachtete ihn immer noch mit einem
gewissen Befremden: dann errötete er leicht, wie in einer kleinen
Verwirrung – sah auf, sah sich im Kreise um und sah die erschreckten
Damen ...

„Es ist ein schönes Tier,“ sagte er, wie zu sich selbst, „und meiner
Meinung nach muß es prächtig sein, darauf zu reiten, – aber ... aber
wissen Sie was? _Ich_ werde es doch nicht versuchen,“ schloß er, sich
mit seinem stillen, freundlichen Lächeln, das seinem guten und klugen
Gesicht so vortrefflich stand, an unseren Hausherrn wendend.

„Und dennoch halte ich Sie für einen vorzüglichen Reiter, mein Wort
darauf,“ versetzte dieser sichtlich erfreut und drückte unwillkürlich
und dankbar seinem Gast die Hand, „eben weil Sie auf den ersten Blick
erkannt haben, was für ein Tier es ist,“ fügte er stolz hinzu. „Werden
Sie es mir glauben, daß ich, der ich dreiundzwanzig Jahre lang Husar
gewesen bin, schon dreimal das Vergnügen hatte, dank seiner Gnaden auf
der Erde zu liegen, nämlich genau so oft, wie ich mich auf diesen ...
nichtsnutzigen Satan gesetzt habe. – Tankred, he! mein Freund, hier ist
man dir nicht gewachsen! Dein Reiter muß offenbar ein zweiter Ilja von
Murom[1] sein, der vorläufig noch in seinem uns unbekannten Dorf
Karatscharowo sitzt und wartet, bis dir die Zähne ausfallen. Na, führt
ihn fort! Wir haben genug von ihm! Habt ihn umsonst herausgeführt!“ rief
er den Stallburschen zu und rieb sich wieder selbstzufrieden die Hände.

Ich muß hier bemerken, daß Tankred ihm nicht den geringsten Nutzen
brachte und ganz umsonst seinen Hafer fraß. Überdies hatte er, der alte
Husar, mit dem Ankauf dieses Pferdes seinen Ruhm als Pferdekenner
eingebüßt, da er für dieses Tier, das außer seiner Schönheit gar keinen
Wert besaß, eine märchenhafte Summe bezahlt hatte ... Nichtsdestoweniger
war er jetzt sehr zufrieden mit dem Tier, das seinen schlimmen Ruf
bewährte und sich somit immerhin einen gewissen Ruhm erwarb, gleichviel
welcher Art dieser auch war.

„Wie, Sie wollen nicht mit uns reiten?“ rief die Blondine, der es sehr
darum zu tun war, daß ihr ^Cavalier servant^ gerade diesmal sie
begleitete, „haben Sie denn wirklich keinen Mut?“

„Bei Gott, diesmal hab’ ich ihn nicht!“ antwortete der junge Mann
lachend.

„Und Sie sagen das im Ernst?“

„So wollen Sie denn wirklich, daß ich mir den Hals breche?“

„So setzen Sie sich schnell auf mein Pferd: fürchten Sie sich nicht, es
ist lammfromm. Wir halten nicht auf – im Nu ist umgesattelt! Ich werde
es auf Ihrem Pferde versuchen. Tankred kann doch nicht immer so
unhöflich sein!“

Gesagt – getan. Sie sprang aus dem Sattel und stand schon vor uns, noch
bevor sie zu Ende gesprochen.

„Oh, da kennen Sie meinen Tankred schlecht, wenn Sie glauben, er werde
Ihren Damensattel sich auflegen lassen! Und übrigens kann ich auf keinen
Fall gestatten, daß Sie sich das Genick brechen – das wäre doch zu
jammerschade!“ versetzte unser Hausherr seiner Gewohnheit gemäß mit
affektierter Galanterie, die seiner Ansicht nach, gepaart mit einer
gewissen Derbheit, wenn nicht mitunter gar verfänglichen Ungeniertheit,
den alten Soldaten und „guten Kerl“ markierte, der, wie er sich
einbildete, besonders den Damen gefallen müsse. Das war nun einmal eine
seiner Marotten, die wir alle kannten.

„Na, du, Schreihals – willst du’s nicht versuchen? Du wolltest doch so
gern mitkommen,“ wandte sich die unerschrockene Reiterin plötzlich an
mich, auf Tankred deutend. Sie meinte es mit ihrem Vorschlag wohl selber
nicht sonderlich ernst, sondern sprach ihn nur aus, um nicht so ganz
ohne weiteres das eigene Reitpferd wieder besteigen zu müssen, nachdem
sie nun doch schon unnütz abgesprungen war, und ferner, um auch mich
nicht „ungerupft“ zu lassen, der ich so vorwitzig gewesen war, mich
wieder vor ihr zu zeigen.

„Du bist gewiß nicht so, wie ... na, wozu Namen nennen – wie ein
bekannter Held, und wirst dich nicht schämen, den Mut zu verlieren ...
noch dazu, wenn ‚man‘ dir zuschaut, schöner Page,“ fügte sie hinzu, mit
einem flüchtigen Blick auf ^M–me^ M., deren Wagen der Treppe am nächsten
hielt.

Haß und Rachedurst hatten mein Herz erfüllt, als sie, in der Absicht,
Tankred gegen ihr Reitpferd einzutauschen, zu uns getreten war ... Wie
aber soll ich das wiedergeben, was ich bei dieser plötzlichen
Herausforderung empfand? Es wurde dunkel vor meinen Augen, als ich den
Blick bemerkte, den sie ^M–me^ M. zuwarf. Wie ein Blitz durchzuckte mich
die Idee ... ja, in einer Sekunde, in dem Bruchteil einer Sekunde, war
die Idee schon Wille geworden ... Ihr Blick wirkte auf mich wie ein
Funke auf ein Pulverfaß – oder war das Maß schon so zum Überlaufen voll,
daß ich bei diesem letzten Tropfen plötzlich wie mit einem Schlage
wieder ich selbst war und alles sich in mir aufbäumte – daß ich mit
einer einzigen Tat alle meine Feinde schlagen und mich vor allen Zeugen
an ihnen rächen wollte, indem ich zeigte, was für ein Held ich sei? Oder
war es vielleicht das, daß jemand mir in diesem Augenblick, von dem ich
noch nichts wußte, ein Stück Mittelalter durch irgendein Wunder oder
eine Zauberei offenbarte und ich in meinem erhitzten Kopfe Turniere,
Paladine, Knappen, schöne Edelfrauen, brechende Lanzen sah und
Schwertergeklirr, Geschrei und Beifallruf der Menge hörte und zwischen
all dem den schüchternen Schrei eines erschrockenen Herzens, der dem
Stolzen auf dem Kampfplatz süßer klingt als alle Siegesfanfaren? ...
Nein, ich weiß wirklich nicht, ob dieser Unsinn mir schon damals den
Kopf verwirrte, oder ob ich, wie mir scheint, nichts anderes dachte und
fühlte, als daß meine Stunde geschlagen hatte! Mein Herz stand still,
und dann gab ich mir einen Ruck und mit einem Sprunge war ich von der
Treppe und stand neben Tankred.

„Ach, Sie glauben, ich fürchte mich?“ rief ich frech und stolz zugleich,
in einer Erregung, die mir die Sinne benahm und das Blut ins Gesicht
trieb. „Dann sollen Sie sehen!“ ... Und noch bevor jemand mich
zurückhalten konnte, hatte ich schon eine Hand in Tankreds Mähne und
einen Fuß im Steigbügel: Tankred bäumte sich, warf wild den Kopf in die
Luft, riß sich mit einem Ruck und Satz von den Stallknechten los und
raste vom Hof – ein Schrei des Entsetzens entrang sich allen Zuschauern.

Gott weiß, wie es mir gelang, im Fluge noch den anderen Steigbügel zu
finden; ebensowenig begreife ich, wie ich nicht den Zaum verlor. Tankred
raste mit mir durch das offene Gittertor, bog scharf nach rechts zur
Seite und jagte mit hochgestrecktem Kopf blindlings längs dem Gitterzaun
weiter. Erst in diesem Augenblick hörte ich hinter mir das Geschrei der
fünfzig Stimmen: und dieser Schrei erweckte in meiner Brust soviel
Freude und Stolz, daß ich diesen verrückten Augenblick meiner Kindheit
nie vergessen werde. Das Blut stieg mir zu Kopf und betäubte, erstickte
meine Angst. Ich war mir meiner selbst nicht bewußt. Übrigens hatte das
alles, soweit ich mich erinnere, wirklich etwas Ritterliches.

Indessen begann und endete mein Rittertum in kaum einer Minute –
anderenfalls wäre es dem Ritter auch sehr schlecht bekommen. Und auch so
verdanke ich meine Rettung nur einem Wunder. Zu reiten verstand ich
freilich, aber mein gewohnter Klepper erinnerte doch weit eher an ein
Lamm als an ein Reitpferd. Selbstverständlich wäre ich von Tankred aus
dem Sattel geworfen worden, wenn er dazu nur Zeit gehabt hätte. Am Ende
des Hofzaunes scheute er aber vor einem großen Stein am Wege, bäumte
sich und warf sich so wild herum, daß es mir noch jetzt ein Rätsel ist,
wie ich im Sattel blieb und nicht wie ein Ball drei Klafter weit zu
Boden flog, um zerschmettert liegen zu bleiben, und wie Tankred selbst
bei dieser plötzlichen wilden Wendung sich nicht einfach überschlug. So
aber jagte er zurück zum Gittertor, schüttelte wild den Kopf, warf die
Beine scheinbar wie sie wollten in die Luft und schien mit jedem Satz
und Seitensprung nur eines zu wollen: mich abzuschütteln, als wäre ich
ein Tiger, der ihm auf den Rücken gesprungen und sich mit allen Zähnen
und Pranken in sein Fleisch einkrallte. Noch ein Augenblick – und ich
wäre geflogen –! Doch schon sprengten mehrere Reiter zu meiner Rettung
herbei. Zwei von ihnen versperrten den Weg, zwei andere drängten ihre
Tiere so dicht heran, daß sie mir fast die Beine zerdrückten, und schon
hielten sie Tankred fest am Zaum. In wenigen Augenblicken waren wir
wieder vor der Freitreppe.

Ich wurde aus dem Sattel gehoben, bleich und an allen Gliedern zitternd.
Tankred stand unbeweglich mit sich hebenden und senkenden Flanken, mit
bebenden roten Nüstern und schnaufendem Atem; dabei zitterten alle seine
Nerven wie vor Wut und Empörung über die ungestrafte Frechheit eines
Kindes, das ihn so beleidigt hatte! Ringsum ertönten noch immer Ausrufe
der Angst und des Schrecks und der Verwunderung.

Da begegnete mein irrender Blick dem der ^M–me^ M., die erregt und
bleich aussah, und – nie werde ich diesen Augenblick vergessen! – in dem
Augenblick wurde ich feuerrot. Ich weiß nicht, was in mir vorging, aber
verwirrt und erschreckt durch eine neue Empfindung senkte ich beschämt
den Blick zu Boden. Doch mein Blick war bemerkt, war aufgefangen, war
mir wieder gestohlen worden! Aller Augen wandten sich ^M–me^ M. zu, und
als diese so plötzlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet
sah, erschrak sie und errötete plötzlich selbst wie ein Kind, gleichsam
infolge einer Empfindung, die gegen ihren Willen über sie kam, obgleich
sie sich ganz unschuldig fühlte. Und in ihrer Verlegenheit zwang sie
sich zu einem Lachen ... Doch half ihr auch das nicht, ihr Erröten zu
verbergen ...

Alles dies hätte einem unbeteiligten Beobachter natürlich sehr komisch
erscheinen müssen – aber da bewahrte mich ein höchst naiver und
unerwarteter neuer Ausfall der Ungezogenen vor dem allgemeinen
Gelächter, indem er den ganzen Zwischenfall in ein besonderes Licht
rückte. Sie, die mich zu meiner Tollkühnheit herausgefordert hatte und
die ganze Zeit über mein unversöhnlichster Feind gewesen war, stürzte
plötzlich zu mir, umschlang mich mit beiden Armen und bedeckte mich mit
Küssen. Sie hatte ihren Augen nicht getraut, als ich ihre
Herausforderung annahm und den Handschuh aufhob, den sie mir mit ihrem
Blick auf ^M–me^ M. zuwarf. Und als ich auf Tankred dahinjagte, da war
sie vor Angst und Gewissensbissen schier ohnmächtig geworden. Jetzt
aber, nachdem alles überstanden war und sie wie alle anderen meinen
Blick auf ^M–me^ M. bemerkte, dazu meine Verwirrung und mein plötzliches
Erröten wahrnahm – jetzt, da sie dem Vorfall mit einer romantischen
Deutung einen ganz anderen Sinn beilegen konnte – jetzt geriet sie in
solches Entzücken ob meiner „Rittertat“, daß sie zu mir eilte und mich
in ihre Arme schloß, gerührt, stolz, begeistert! Einen Augenblick später
richtete sie sich schnell auf und wandte den übrigen, die sich um uns
drängten, ihr Gesicht mit der ernsthaftesten Miene zu, in der unendlich
viel kindlich naiver Stolz lag, und sagte, indes zwei kristallklare
Tränen an ihren Wimpern hingen, mit einer so ernsten, wichtigen Stimme,
wie ich sie von ihr noch nie gehört hatte:

„^Mais c’est très sérieux, messieurs, ne riez pas!^“ Und sie deutete auf
mich, ohne zu gewahren, daß alle wie bezaubert vor ihr standen und nur
sie ansahen. Diese ihre unerwartete schnelle Bewegung, ihr ernstes
liebes Gesicht, ihre offenherzige Naivität und diese aufrichtigen Tränen
in ihren ewig lachenden Augen – alles das erschien ihnen als ein so
unerwartetes Wunder, daß alle sie ansahen, wie gebannt durch diesen
Zauber ihrer Leidenschaftlichkeit, ihres Blickes und ihrer Stimme.
Niemand konnte die Augen von ihr abwenden, so schön war sie in ihrer
Rührung und Begeisterung. Sogar unser alter Hausherr wurde rot wie eine
Tulpe. Und wie man später behauptete, soll er gesagt haben: „Zu seiner
Schande müsse er gestehen, daß er mindestens eine ganze Minute lang in
seinen schönen Gast verliebt gewesen sei.“ Ich aber war jetzt natürlich
ein Ritter, war ein Held!

„Delorges! Toggenburg!“ ertönte es aus dem Kreise.

Viele applaudierten.

„Ja, ja, die junge Generation!“ bemerkte unser Hausherr.

„Aber jetzt kommt er mit, jetzt muß er unbedingt mit uns mitkommen!“
rief die Blondine schnell, „wir müssen ihm einen Platz verschaffen! Oder
er setzt sich zu mir aufs Pferd, auf meinen Schoß ... ach, nein, nein!
Das geht ja nicht!“ ... unterbrach sie sich, auflachend, und konnte
dabei ihr Lachen nicht bezwingen bei der Erinnerung an unsere erste
Bekanntschaft. Doch während sie lachte, streichelte sie zärtlich meine
Hand, sichtlich von Herzen bemüht, meine Freundschaft zu gewinnen und
die Kränkung vergessen zu machen.

„Unbedingt! Unbedingt!“ riefen gleich mehrere Stimmen, „den Platz hat er
sich erobert!“

Und im Augenblick war alles besorgt: jenes selbe ältere Fräulein, das
mich mit ihrer schönen Freundin bekannt gemacht hatte, wurde sogleich
von der ganzen Jugend mit Bitten bestürmt, ihren Platz mir abzutreten
und statt meiner zu Haus zu bleiben. Zu ihrem größten Ärger blieb ihr
denn auch nichts anderes übrig, als den Bitten Gehör zu geben und mit
sauersüßem Lächeln auszusteigen – innerlich wohl dem Bersten nahe vor
Wut über mich. Ihre Beschützerin, meine gewesene Feindin und nun größte
Freundin, rief ihr jedoch, als sie an ihr vorüberritt, wie ein Kind
lachend zu, daß sie sie beneide und gern mit ihr tauschen wollte, denn
es werde gleich regnen und dann würden wir alle naß.

Ihre Prophezeiung traf wirklich ein. Etwa eine Stunde später überraschte
uns ein Platzregen und wir mußten mehrere Stunden in den Bauernhäusern
warten. Erst gegen zehn Uhr kehrten wir zurück, in feuchter,
frisch-kühler Regenluft. Kurz bevor wir aufbrachen, trat ^M–me^ M. zu
mir und fragte mich verwundert, warum ich nichts weiter angezogen hätte,
als meine leichte Matrosenbluse. Ich sagte, ich hätte keine Zeit gehabt,
meinen Mantel mitzunehmen. Da nahm sie eine Nadel und steckte meinen
Kragen höher fest und nahm von ihrem Halse ein kleines, seidenes Tuch,
das sie mir um den Hals band. Sie beeilte sich dabei aber so sehr, daß
ich ihr nicht einmal danken konnte.

Zu Haus angekommen, suchte ich sie und fand sie schließlich im kleinen
Salon, im Gespräch mit der Blondine und dem freundlichen jungen Mann,
der den Ruf eines guten Reiters damit eingebüßt hatte, daß er Tankred
nicht zu reiten wagte. Ich trat an sie heran, bedankte mich und gab ihr
das Halstuch zurück. Ich schämte mich jetzt des Vorgefallenen und wollte
schnell fortgehen, nach oben auf mein Zimmer, um dort in aller Ruhe und
Muße über irgend etwas, was ich im Augenblick selbst nicht zu nennen
vermocht hätte, nachzudenken und mir darüber Klarheit zu verschaffen.
Ich war so voll von neuen Eindrücken. Indem ich das Tuch zurückgab,
errötete ich natürlich wieder bis über die Ohren.

„Ich wette, der Junge hat das Ding behalten wollen,“ bemerkte der junge
Mann lachend, „man sieht es ja seinen Augen an, wie leid es ihm tut,
sich von Ihrem Tuch trennen zu müssen ...“

„Natürlich, natürlich doch!“ fiel ihm die Blondine ins Wort. „So ein
Schlingel! Ach du!“ ... sagte sie scheinbar sehr angehalten und
schüttelte mißbilligend den blonden Kopf, verstummte aber sogleich unter
dem ernsten Blick der ^M–me^ M., der sie bat, ihre Scherze mit mir nicht
wieder zu weit zu treiben.

Ich ging schnell fort.

„Wohin läufst du denn! So lauf doch nicht weg!“ – damit holte sie mich
im Nebenzimmer ein und erfaßte freundschaftlich meine beiden Hände –
„hättest du es doch einfach nicht zurückgegeben, wenn du’s so gern
behalten wolltest! Hättest doch sagen können, daß du es verloren hast
oder irgendwohin gelegt, und damit basta! Und das hast du nicht
verstanden? Du bist mir mal ein Tor!“

Und sie gab mir mit dem Finger einen leichten Backenstreich und lachte,
weil ich wieder feuerrot wurde.

„Jetzt sind wir doch gute Freunde, nicht wahr? Hat unsere Feindschaft
ein Ende, sag’!? Ja oder nein?“

Ich lachte und drückte ihr ohne ein Wort die Hand.

„Nun, das ist gut! ... Aber warum bist du so bleich geworden und warum
zitterst du? Hast du dich erkältet?“

„Ja, ich fühle mich nicht ganz wohl ...“

„Ach, du Armer! Das kommt von der Aufregung! Weißt du was? Geh jetzt
lieber gleich ins Bett, warte nicht erst auf das Abendessen, und wenn du
dich gut ausschläfst, wird es vergehen. Komm!“

Sie führte mich nach oben, und wie es schien, konnte sie mir nicht genug
Liebes erweisen. Während sie mich zum Auskleiden allein ließ, lief sie
nach unten in die Küche und brachte mir heißen Tee, den ich, als ich
schon im Bett lag, trinken mußte. Dann brachte sie mir noch eine warme
Decke und deckte mich sorgfältig zu. Ihre liebevolle Sorge wunderte und
rührte mich nicht wenig, – oder vielleicht waren auch meine Nerven nach
allen Erlebnissen an diesem Tage und obendrein noch durch das Fieber
besonders empfänglich dafür. Ich schlang plötzlich meine Arme um ihren
Hals, als wäre sie mein liebster und bester Freund, und mit einem Male
kamen alle Eindrücke des Tages wieder und stürmten auf mein ermattetes
Herz: ich war den Tränen nahe und schmiegte mich fest an ihre Brust. Sie
erriet meine überwallende Empfindung und ich glaube, mein Wildfang war
selbst beinahe gerührt.

„Du bist ein guter Junge,“ flüsterte sie mir zu und sah mich mit stillen
Augen an, „so sei mir nun nicht mehr böse, ja? wirst mir nicht mehr böse
sein?“

Mit einem Wort: uns verband von nun an die treueste, zärtlichste
Freundschaft.

Es war ziemlich früh am Morgen, als ich erwachte, aber die Sonne
erfüllte das Zimmer schon mit goldigem Licht. Ich sprang gesund und
munter aus dem Bett, von der Erkältung empfand ich nichts mehr, statt
dessen aber eine unendliche, unerklärliche Freude. Ich dachte an den
ereignisreichen letzten Tag und Abend und ich hätte ein ganzes Glück
dafür hingegeben, wenn ich in diesem Augenblick wieder meinen neuen
Freund, unsere blondlockige Schönheit hätte umarmen können. Aber es war
noch zu früh und sie schliefen wohl noch alle. Ich kleidete mich schnell
an, ging in den Garten und von dort in den Wald. Ich schlug die Richtung
ein, in der der Wald am dichtesten war, der Duft der Bäume harziger, und
wo die Sonnenstrahlen neckisch und nur wie verstohlen hier und da durch
das dichte Blattgewirr lugten. Es war ein wundervoller Morgen.

Ich ging weiter und weiter, bis ich schließlich am anderen Waldrande
anlangte, auf einem Bergabhange nicht weit vom Fluß. Die Moskwa ist dort
keine zweihundert Schritte vom Waldesrande entfernt, wenn man den Abhang
hinabgeht. Auf dem anderen Ufer wurde Heu gemäht. Ich blieb stehen und
schaute hinüber: ich sah, wie ganze Reihen scharfer Sensen bei jedem
Ausholen der Schnitter in der Sonne aufblitzten und dann wieder
verschwanden, gleich kleinen glänzenden Schlangen, die schnell immer von
neuem ins Gras huschten, als wollten sie sich verstecken, und wie das
gemähte Gras in dicken bauschigen Büscheln zur Seite flog und in langen
geraden Streifen liegen blieb. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich so
hinübergeschaut haben mochte, als ich plötzlich aus meinen Träumen zur
Besinnung kam: aus dem Walde, ungefähr aus der Richtung des Durchhaus,
der sich zwischen dem Fahrweg und dem Herrenhause hinzog, vernahm ich
Pferdegeschnauf und ungeduldiges Scharren mit dem Huf. Ich konnte jedoch
nicht sagen, ob der Reiter sein Tier gerade erst anhielt, oder ob schon
längere Zeit das Stampfen und Schnaufen zu hören gewesen war, das ich –
in mich selbst versunken, wie ich, während ich den Schnittern zusah,
dagestanden – nur nicht gehört hatte. Neugierig kehrte ich zurück in den
Wald und schon nach wenigen Schritten vernahm ich Stimmen, die schnell,
aber leise durch die Stille erklangen. Ich ging noch näher und bog die
Äste der letzten Büsche zur Seite und – erschrocken wich ich zurück –
durch die Zweige schimmerte ein weißes Kleid: eine weiche Frauenstimme
schlug an mein Ohr und ließ mein Herz erzittern. Es war ^M–me^ M. Sie
stand neben einem Reiter, der vom Pferde herab schnell auf sie
einsprach, und zu meiner Verwunderung erkannte ich in ihm N., jenen
jungen Mann, der uns tags zuvor verlassen hatte, begleitet von allen
jungen Damen und auch von ^M–r^ M. Hatte man nicht gesagt, er müsse
irgendwohin, weit nach dem Süden Rußlands reisen? Wahrlich, es war nur
zu erklärlich, daß ich mich recht verwunderte, als ich ihn wieder bei
uns und noch dazu so früh am Morgen und allein mit ^M–me^ M. im Walde
erblickte!

Sie schien geweint zu haben und sah erregt aus, aber so schön hatte ich
sie noch nie gesehen. Der junge Mann hielt ihre Hand in der seinen und
führte sie, im Sattel sich herabneigend, an seine Lippen. Ich hatte sie
beim Abschied überrascht. Ich glaube, sie beeilten sich. Endlich zog er
aus der Brusttasche einen Brief, reichte ihn ^M–me^ M., umfing sie mit
dem einen Arm, sich wie vorher im Sattel herabbeugend, und küßte sie –
fest und lange. Einen Augenblick später wippte die Peitsche und er
sprengte schnell an mir vorüber, auf und davon. Sie aber stand noch eine
Weile und blickte ihm nach, dann wandte sie sich um und kehrte langsam,
nachdenklich und traurig zum Hause zurück. Nach wenigen Schritten schien
sie plötzlich zu sich zu kommen, wie aus einem Traum zu erwachen – und
sie bog schnell die Zweige der Büsche am Durchhau zur Seite und ging
durch den Wald.

Ich folgte ihr, erstaunt und verwirrt durch das, was ich gesehen hatte.
Mein Herz pochte laut, wie nach einem großen Schreck. Und dennoch war
ich wie erstarrt und betäubt: meine Gedanken waren zerstreut und ich
konnte sie nicht sammeln; aber ich erinnere mich, daß ich furchtbar
traurig war. Hin und wieder sah ich ihr weißes Kleid durch das Grün
schimmern. Ich folgte ihr ganz willenlos, fast mechanisch, und hatte
dabei nur den einen Gedanken, sie nicht aus dem Auge zu verlieren und
doch selbst nicht von ihr gesehen zu werden. Endlich trat sie auf den
Weg, der aus dem Walde in den Garten führte. Ich wartete eine Weile,
dann trat ich gleichfalls aus dem Walde. In demselben Augenblick
bemerkte ich auf dem gelben Kies des Weges ein geschlossenes Kuvert, das
ich auf den ersten Blick erkannte – es war dasselbe, das vor etwa zehn
Minuten N. ^M–me^ M. eingehändigt hatte.

Ich hob es auf, betrachtete es von allen Seiten: ein weißes Kuvert ohne
Aufschrift, ohne ein Zeichen, dem Format nach nicht sehr groß, aber
recht dick und schwer, wie wenn mindestens drei Bogen Postpapier in ihm
waren.

Was enthielt dieser Brief? Vielleicht das ganze Geheimnis! Vielleicht
war in ihm alles das ausgesprochen, was N. in den wenigen Minuten des
kurzen Wiedersehens nicht zu sagen gewagt hatte. Er war ja dem Anscheine
nach nicht einmal abgestiegen ... Sollte er sowenig Zeit gehabt haben
oder fürchtete er vielleicht bei einem längeren Abschied seinem
gegebenen Wort nicht treu bleiben zu können – Gott mag es wissen ...

Ich blieb stehen, legte den Brief mitten auf den Weg, gerade auf die
sichtbarste Stelle und versteckte mich hinter einem Baum, so daß ich den
Brief im Auge behalten konnte, denn ich dachte, ^M–me^ M. werde bald
bemerken, daß sie ihn verloren hatte, und dann, um ihn zu suchen, auf
demselben Wege in den Wald zurückkehren. Ich hielt aber das Warten nicht
lange aus, hob den Brief wieder auf, steckte ihn in die Tasche und lief
ihr nach. Sie war aber schon im Garten und ging in der großen Allee
geradeswegs zum Hause, ging schnell, doch mit gesenktem Kopf. Da wußte
ich nicht, was ich tun sollte. Sie einholen und ihr den Brief geben? Das
hätte verraten, daß ich alles gesehen, daß ich alles wußte. Wie sollte
ich ihr dann noch in die Augen blicken? und was würde sie von mir
denken? Ich hoffte immer noch, daß sie zu sich kommen, sich des Briefes
erinnern und dann bemerken werde, daß sie ihn verloren hatte. In dem
Falle hätte ich ihn unbemerkt fallen lassen: und sie würde ihn sogleich
gefunden haben. Aber nein, sie dachte offenbar nicht an den Brief! Sie
näherte sich schon dem Hause, und auf der Terrasse hatte man sie bereits
erblickt.

An diesem Morgen waren alle viel früher aufgestanden, denn am Abend nach
der mißlungenen Ausfahrt hatte man sogleich einen neuen Ausflug
verabredet, wovon ich noch nichts wußte. Alle hatten sich schon zur
Abfahrt bereitgemacht und saßen gerade beim Frühstück auf der Terrasse.
Ich wartete gute zehn Minuten, damit man mich nicht zusammen mit ^M–me^
M. aus dem Garten kommen sah, machte einen Umweg und näherte mich von
einer anderen Seite dem Hause. Sie ging auf der Terrasse unruhig hin und
her, sah bleich und erregt aus und aus allem war zu ersehen, daß sie
sich Gewalt antat, um ihre Erregung und Angst nicht zu verraten; dennoch
sprach aus ihren Augen, ihrem unruhigen Gang, aus jeder Bewegung soviel
Qual und Pein, daß sie wohl jedem, der sie beobachtet hätte, aufgefallen
wäre. Sie stieg die Stufen hinab und ging ein paar Schritte auf dem Wege
in den Garten; ihre Augen suchten angstvoll und sogar unvorsichtig und
auffällig auf dem Kies und dem Fußboden der Terrasse. Da wußte ich:
jetzt endlich vermißte sie den Brief und fürchtete wohl, ihn in der Nähe
des Hauses verloren zu haben – ja, sie schien davon überzeugt zu sein.

Jemand machte die Bemerkung, und nach ihm wiederholten sie alle anderen,
daß sie bleich und nervös aussehe. Es folgten Fragen nach ihrer
Gesundheit, lästige Ratschläge. Sie mußte beruhigen, scherzen, lachen,
mußte eine heiter gelassene Miene zur Schau tragen. Zuweilen flog ihr
Blick zu ihrem Mann hinüber, der am anderen Ende der Terrasse sich mit
zwei Damen unterhielt, und dann überlief wieder jenes Zittern ihren
Körper und jene große Befangenheit kam über sie, wie an dem Abend, als
er unerwartet hier eingetroffen war. Ich stand, die Hand in der Tasche,
in der ich den Brief krampfhaft festhielt, etwas abseits auf der
Terrasse und flehte das Schicksal an, daß sie mich endlich bemerken
möge. Ich wollte sie beruhigen, trösten, und war’s auch nur mit einem
Blick, oder ihr, wenn es anging, heimlich ein paar Worte zuflüstern.
Doch als sie mich dann zufällig ansah, da zuckte ich zusammen und senkte
den Blick.

Ich sah ihre Qual und täuschte mich nicht in meiner Annahme. Auch jetzt
weiß ich von ihrem Geheimnis nicht mehr als damals, nichts weiter als
das, was ich soeben wiedergegeben. Aber ihr Verhältnis zu N. war
vielleicht doch nicht von der Art, wie man es auf den ersten Blick
vermuten könnte. Vielleicht war dieser Kuß ein letzter Abschiedskuß, ein
dürftiger Lohn für ein Opfer, das er ihrer Ruhe und Ehre brachte? Er
verließ sie. Er reiste irgendwohin, weit fort, vielleicht fürs ganze
Leben, um sie nie wiederzusehen. Und schließlich, dieser Brief, den ich
kampfhaft umklammerte – wer weiß, was er enthielt? Wer konnte da
urteilen? Zweifellos wäre die plötzliche Aufdeckung ihres Geheimnisses
ein entsetzlicher, ein vernichtender Schlag für sie gewesen. Ich sehe
noch heute ihr Gesicht vor mir, wie sie dort ging und stand: nein, mehr
konnte man nicht leiden! Fühlen, wissen, überzeugt sein, und wie auf
seine Hinrichtung darauf warten, daß in einer Viertelstunde oder schon
in der nächsten Minute alles der Öffentlichkeit preisgegeben sein würde
– der Brief konnte doch jeden Augenblick von jemandem gefunden werden!
Er war ohne Aufschrift, man würde ihn erbrechen und dann ... was dann?
Welche Hinrichtung könnte furchtbarer sein, als die, die sie erwartete?
Sie stand und ging hier mitten unter ihren zukünftigen Richtern. Nach
wenigen Minuten würden alle diese lächelnden, schmeichelnden Gesichter
streng und unerbittlich aussehen. Spott, Bosheit und eisige Verachtung
würde sie in ihnen lesen und dann würde ewige, hoffnungslos dunkle Nacht
ihr Leben abschließen ... Damals freilich begriff ich das alles noch
nicht so, wie jetzt. Ich konnte es nur ahnen und Mitleid mit ihr
empfinden, tiefes, unsagbares Mitleid mit ihrer Angst, die ich nicht
einmal ganz verstand. Doch was auch immer ihr Geheimnis gewesen sein mag
– durch jene qualvolle Stunde, deren Zeuge ich war und die ich niemals
vergessen werde, hat sie viel gesühnt, wenn hier überhaupt etwas zu
sühnen war.

Plötzlich erscholl der fröhliche Ruf zur Abfahrt. Ein lautes
Stimmengewirr war die Antwort, und unter Scherzen und Lachen brach man
auf. In wenigen Minuten hatten alle die Terrasse verlassen. ^M–me^ M.
weigerte sich, mitzufahren und gestand schließlich, daß sie sich nicht
wohl fühle. Doch Gott sei Dank, alle beeilten sich und niemand
belästigte sie weiter mit Fragen oder Ratschlägen: dazu hatten sie jetzt
keine Zeit. Nur wenige blieben zu Haus. Ihr Mann war zu ihr getreten und
sagte ihr irgend etwas: sie erwiderte, daß ihr Unwohlsein schnell
vergehen werde, er solle sich deshalb nicht beunruhigen; hinlegen wolle
sie sich nicht, sie werde in den Garten gehen, allein ... oder mit mir
... Dabei sah sie sich nach mir um. Ich errötete vor Freude: das war ja
die beste Gelegenheit, die sie mir damit bot! Einen Augenblick später
machten wir uns auf den Weg.

Sie ging denselben Weg, den sie gekommen war, sie schien sich
unwillkürlich jeder Allee, jedes Umweges im Garten, jedes Fußsteiges zu
erinnern, und sie ging, ohne den Blick vom Boden zu erheben, ohne mich
zu beachten – vielleicht hatte sie es schon vergessen, daß ich mit ihr
ging.

Als wir an den Waldrand kamen, wo ich den Brief gefunden hatte und wo
der Kiesweg aufhörte, blieb sie plötzlich müde stehen und sagte mit
einer Stimme, die mir ins Herz schnitt, so verzweifelt und hoffnungslos
traurig klang sie, daß sie sich schlecht fühle und zurückkehren wolle.
Doch kaum waren wir wieder beim Gartenzaun angelangt, da blieb sie von
neuem stehen und starrte vor sich hin. Ein wehes, qualvolles Lächeln
zuckte um ihre Lippen und wie erschöpft und wie aus Erschöpfung sich
allem ergebend, sich in alles fügend, was auch über sie hereinbrechen
sollte, kehrte sie stumm zum Walde zurück, diesmal ohne mir ein Wort zu
sagen, ohne mich zu beachten ...

Ich hätte mich selbst zerreißen mögen, und doch verfiel ich nicht auf
einen Ausweg ...

Wir gingen, oder richtiger, ich führte sie an jene Stelle, wo ich vor
etwa einer Stunde gestanden und plötzlich den Hufschlag gehört hatte.
Nicht weit von dort war am Fuß einer alten Ulme ein bankartig gehauener
großer Feldstein, von Hagebutten, wildem Jasmin und Efeu umgeben. (Der
Wald hatte eine Menge solcher „Überraschungen“, wie Bänke, Grotten,
kleine Brücken und ähnliches.) Sie setzte sich auf die Bank und sah
geistesabwesend auf das entzückende Landschaftsbild, das sich uns bot.
Nach einer Weile schlug sie das Buch auf und tat, als läse sie, aber sie
saß reglos, wandte weder ein Blatt, noch las sie: sie wußte wohl selbst
nicht, was sie tat. Es war gegen halb zehn Uhr. Die Sonne stand schon
hoch am klaren, endlos hohen blauen Sonnenhimmel und schien in ihrem
eigenen Feuer zu verbrennen. Die Schnitter waren bereits weit, man
konnte sie von unserem Ufer kaum noch sehen. Ununterbrochen folgten
ihnen die langen Streifen des gemähten Grases und wenn die Luft sich ab
und zu wie in einem leisen Wehen regte, dann trug sie frischen Heuduft.
Ringsum aber ertönte unermüdlich das Zwitschern jener, die „weder säen,
noch ernten“ und frei sind wie die Luft, in der sie fliegen. Es lag
solch ein seliges Wohlsein in der ganzen Natur!

Ich blickte scheu auf die arme Frau, die allein wie eine Tote inmitten
dieses frohen Lebens war: an ihren Wimpern hingen Tränen, die ihr das
Leid aus den Augen gepreßt. In meiner Macht war es, diese arme, traurige
Seele aufzurichten und zu beglücken, und doch wußte ich nicht, wie ich
es anfangen sollte, und ich quälte mich entsetzlich. Hundertmal war ich
schon im Begriff, zu ihr zu treten, um ihr den Brief zu übergeben, und
jedesmal stieg mir dann die Röte wie Feuer ins Gesicht.

Plötzlich erleuchtete mich ein guter Gedanke: ich war auf ein Mittel
verfallen und wie erlöst!

„Ich werde Ihnen Blumen pflücken! Wollen Sie?“ fragte ich sie so froh,
daß sie aufsah und mich anblickte.

„Gut,“ sagte sie endlich mit müder Stimme, kaum merkbar lächelnd, und
wieder sah sie ins Buch.

„Sonst wird hier auch das Gras gemäht und dann mähen sie alle Blumen
nieder!“ rief ich fröhlich und sprang davon.

Bald hatte ich schon eine ganze Menge gepflückt, wenn es auch nur ein
Strauß einfacher, unscheinbarer Feldblumen war, die man wohl kaum in
einer Vase ins Zimmer stellen würde. Und doch, wie froh schlug mein
Herz, als ich die Blumen suchte und zum Strauße zusammenband!
Heckenrosen und wilden Jasmin brach ich. Dann lief ich zu einem nahen
Kornfeld. Dort, das wußte ich, blühten Kornblumen. Die pflückte ich, und
dazu lange goldgelbe Ähren, die schönsten suchte ich aus. Am Wegrande
fand ich auch ein ganzes Büschel Vergißmeinnicht und mein Strauß konnte
sich eigentlich schon sehr wohl sehen lassen. Weiter im Felde fand ich
hellblaue Glockenblumen und wilde Nelken und unten am Flußufer gelbe
Wasserrosen. Endlich, schon auf dem Rückwege, als ich noch auf einen
Augenblick in den Wald trat, um einige Silberahornzweige zu brechen und
sie unten kranzartig um die Blumen zu legen, fand ich wilde
Stiefmütterchen und in ihrer Nähe, durch ihren Geruch aufmerksam
gemacht, im Grase ganz versteckt, süß duftende Veilchen, die vom Tau
noch feucht waren. Mein Strauß war fertig. Mit dünnen langen Gräsern
umwand ich die Stiele und zwischen die Blumen, ganz vorsichtig, steckte
ich den Brief, so daß man ihn deutlich sehen konnte, wenn man dem Bukett
nur einige Beachtung schenkte.

So brachte ich es ^M–me^ M.

Unterwegs schien es mir, daß der Brief doch gar zu auffallend
hervorragte: deshalb verdeckte ich ihn etwas mehr mit den Blüten. Als
ich mich ihr schon näherte, schob ich ihn noch etwas tiefer hinein, und
als ich schon ganz nahe bei ihr war, stieß ich ihn so tief in den
Strauß, daß man von ihm nichts mehr sehen konnte. Das Blut schoß mir
wieder ins Gesicht, ich wollte es mit den Händen bedecken und sogleich
fortlaufen, aber sie sah nur so zerstreut auf meine Blumen, als habe sie
ganz vergessen, daß ich sie für sie gepflückt hatte. Mechanisch hob sie
die Hand, nahm, fast ohne aufzusehen, mein Geschenk in Empfang und legte
es achtlos auf die Bank – und wieder sah sie ins Buch, wie in Gedanken
verloren. Ich hätte weinen mögen vor lauter Ärger über den Mißerfolg
meines Planes. „Wenn der Strauß nur bei ihr bleibt,“ dachte ich, „wenn
sie ihn nur nicht vergißt!“ Ich legte mich in der Nähe der Bank ins
Gras, schob die rechte Hand unter den Kopf und schloß die Augen, als
wollte ich schlafen. Dabei aber beobachtete ich sie heimlich
unausgesetzt.

Es verging eine geraume Zeit, vielleicht zehn Minuten; wie mir schien,
wurde ihr Gesicht immer bleicher ... Plötzlich kam ein glücklicher
Zufall mir zu Hilfe.

Es war das eine große goldbraune Hummel, die ein freundliches Lüftchen
zu uns führte. Sie summte zuerst über meinem Kopf, dann flog sie zu
^M–me^ M. Diese schlug mit der Hand nach ihr, schlug noch einmal, aber
die Hummel wurde wie zum Trotz nur noch zudringlicher. Da griff ^M–me^
M. nach meinem Strauß, um mit ihm das Tier zu verscheuchen. In dem
Augenblick löste sich aus den Blumen der Brief und fiel gerade auf das
aufgeschlagene Buch. Ich zuckte zusammen. Sie blickte, stumm vor
Verwunderung, bald auf den Brief, bald auf die Blumen und schien ihren
Augen nicht zu trauen. Plötzlich wurde sie feuerrot, erhob schnell den
Blick und sah sich nach mir um. Doch schon hatte ich die Augen
geschlossen und tat, als schliefe ich fest: für keinen Preis hätte ich
ihr jetzt offen in die Augen geschaut. Mein Herz pochte laut und schien
doch stillstehen zu wollen – ich hielt den Atem an. Ich weiß nicht, wie
lange ich so lag: zwei bis drei Minuten vielleicht. Endlich wagte ich
es, ganz, ganz vorsichtig die Augen zu öffnen. Sie saß und las den
Brief, und an ihren glühenden Wangen und glänzenden Augen, die
tränenfeucht waren, ihrem verklärten Gesicht, in dem jeder Zug vor
freudiger Erregung zu beben schien, erriet ich, daß der Brief ihr Glück
gab und ihr Kummer wie eine trübe Wolke verscheucht wurde. Ein
schmerzlich süßes Gefühl schlich in mein Herz und es fiel mir schwer,
mich noch weiter schlafend zu stellen ...

Niemals werde ich diese Stunde vergessen!

Plötzlich hörte ich rufen, nicht weit von uns erklangen Stimmen:

„^M–me^ M.! ^Natalie! Natalie!^“

Sie antwortete nicht, stand aber schnell auf, trat zu mir und beugte
sich über mich. Ich fühlte es, daß sie mir gerade ins Gesicht sah. Meine
Lider wollten schon zucken, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen und
rührte mich nicht. Ich versuchte, möglichst gleichmäßig und ruhig zu
atmen, aber das Herz wollte mich ersticken mit seinen ungestümen
Schlägen. Da brannten plötzlich Tränen und ein Kuß auf meiner Hand, die
auf meiner Brust lag. Und noch einmal, zweimal küßte sie mir die Hand.

„^Natalie! Natalie!^ Wo bist du?“ klang es wieder.

„Gleich!“ sagte ^M–me^ M. mit ihrer weichen, dunklen, von Tränen
durchzitterten Stimme, und so leise, daß nur ich es hören konnte.

Da stockte mein Herz und verriet mich: heiß trieb es mir all mein Blut
ins Gesicht. Im nächsten Augenblick glühte ein schneller heißer Kuß auf
meinen Lippen. Ich schlug vor Schreck mit einem schwachen Schrei die
Augen auf, doch da fiel auf sie etwas seidig Weiches – es war jenes
kleine Tuch –, als sollte es meine Augen vor der Sonne schützen. Einen
Augenblick später war sie schon fort. Ich vernahm nur noch das Geräusch
eilig sich entfernender Schritte. Dann war ich allein ...

Ich riß das Tuch vom Gesicht und küßte es außer mir vor Entzücken. Ich
war wie fassungslos! ... Lange lag ich im Grase, hatte die Ellbogen
aufgestützt und schaute sinnverloren und ohne mich zu rühren geradeaus
auf die Hügel, die Felder und Wiesen, den Fluß, der sich zwischen ihnen
in großen Biegungen hinwand und weit, soweit das Auge nur folgen konnte,
sich hinschlängelte, zwischen neuen Bergen und Gütern und Dörfern, deren
Häuser in der sonnenhellen Ferne wie kleine Punkte vom Grün sich
abhoben, schaute auf die blauen kaum sichtbaren Wälder, die wie in Rauch
gehüllt am Horizonte sich hinzogen: und eine seltsam süße Stille, die
aus der feierlichen Ruhe der Landschaft hervorzugehen schien, beruhigte
allmählich mit einer unendlichen Sanftheit mein erregtes Herz. Wie eine
Erleichterung war es, ich atmete freier ... Aber meine ganze Seele
begann, sich seltsam dumpf und süß zu sehnen, als sähe sie etwas, was
sie noch nie gesehen, als wäre plötzlich ein Ahnen in ihr erwacht.
Furchtsam und doch voll Freude begann mein Herz etwas Geheimnisvolles zu
erraten, leicht bebend vor Erwartung ... Und plötzlich weitete sich
meine Brust, und in ihr wogte und schmerzte es, als wäre sie durchbohrt
– und Tränen, selige Tränen entströmten meinen Augen. Ich bedeckte das
Gesicht mit den Händen und zitternd wie ein Grashalm gab ich mich
wehrlos der ersten Erkenntnis und Offenbarung des Herzens hin, dem
ersten noch unklaren Einblick in meine Menschennatur. Mit diesem
Augenblick endete meine Kindheit. – – – – – – – – – – – – – – –

                   *       *       *       *       *

Als ich zwei Stunden später ins Haus zurückkehrte, befand ^M–me^ M. sich
nicht mehr unter den Gästen. Sie war mit ihrem Mann nach Moskau
gefahren, wie es hieß, auf irgendeine plötzlich eingetroffene Nachricht
hin. Ich habe sie nie wiedergesehen.




                         Weihnacht und Hochzeit


Vor ein paar Tagen sah ich einer Trauung zu ... oder nein! Ich werde
Ihnen zuerst von einer Weihnachtsfeier erzählen. Eine Trauung ist ja an
sich sehr schön und auch diese gefiel mir sehr ... aber das andere
Erlebnis ergriff mich doch noch mehr. Als ich der Trauung zusah, wurde
ich an jene Weihnachtsfeier erinnert. Doch ich will erzählen, wie das
zuging.

Vor etwa fünf Jahren erhielt ich eines Tages zwischen Weihnacht und
Neujahr eine Einladung zu einem Kinderball, der in dem Hause einer mir
bekannten, angesehenen Familie stattfinden sollte. Der Hausherr war eine
einflußreiche Persönlichkeit, die gute Verbindungen besaß, einen großen
Bekanntenkreis hatte, eine gewichtige Rolle in der Gesellschaft spielte
und alle möglichen Intrigen zu spinnen pflegte, so daß man ohne weiteres
annehmen konnte, dieser Kinderball sei nur ein Vorwand für die Eltern,
namentlich für die Herren Väter, einmal ganz harmlos in größerer Anzahl
zusammenzukommen und bei der Gelegenheit ganz zufällig über allerlei
bemerkenswerte Dinge und Ereignisse zu reden. Da mich aber besagte Dinge
und Ereignisse nichts angingen und ich unter den Anwesenden so gut wie
gar keine Bekannten vorfand, verbrachte ich den Abend in der
Gesellschaft ziemlich ungestört und mir selbst überlassen. Dasselbe tat
auch noch ein anderer Herr, der, wie mir schien, sich weder durch Rang
noch Namen auszeichnete und wohl gleich mir nur durch einen Zufall auf
diesen Kinderball geraten war ... Er fiel mir sofort auf. Sein Äußeres
machte einen guten Eindruck: er war groß von Wuchs, hager, auffallend
ernst und sehr gut gekleidet. Man sah ihm deutlich an, daß es ihn nicht
nach Zerstreuung und fröhlicher Unterhaltung verlangte. Wenn er sich in
einen stilleren Winkel zurückzog, nahm sein Gesicht, dessen dichte
schwarze Brauen sich zusammenzogen, einen harten, fast finsteren
Ausdruck an. Bekannt war er offenbar, außer mit dem Hausherrn, mit
keinem einzigen Anwesenden. Und es war wohl unschwer zu erraten, daß das
ganze Fest ihn entsetzlich langweilte. Gleichwohl spielte er bis zum
Schluß mutig die Rolle eines angenehm unterhaltenen, glücklichen
Menschen. Nachher erfuhr ich, daß er aus der Provinz stammte und nur auf
kurze Zeit nach Petersburg gekommen war, wo sich ein verwickelter
Prozeß, von dem für ihn alles abhing, in den nächsten Tagen entscheiden
sollte. Zu unserem Hausherrn hatte ihn ein Empfehlungsschreiben
gebracht, infolgedessen er von diesem höflichkeitshalber zu dem Abend
eingeladen worden war – doch durfte er, wie es hieß, durchaus nicht
darauf rechnen, daß sich der einflußreiche Mann deshalb für ihn
verwenden werde. Und da man nicht Karten spielte, dem unbekannten
Fremden keine Zigarren anbot und auch sonst niemand ein Gespräch mit ihm
anknüpfte – wahrscheinlich erkannte man den Vogel schon von weitem an
den Federn –, so war der Mann gezwungen, um doch irgendwo seine Hände zu
lassen, sich den ganzen Abend über den Backenbart zu streichen. Freilich
war dieser Bart sehr schön, nur strich er ihn doch etwas gar zu viel, so
daß man tatsächlich glauben konnte, zuerst sei der Backenbart erschaffen
worden und dann erst zu diesem Bart, und auch nur, um ihn zu streichen,
der ganze Mann.

Außer diesem Herrn, der sich um das Fest der fünf dicken kleinen Söhne
des Hausherrn wenig kümmerte, fiel mir noch ein zweiter Herr auf. Doch
der war eine ganz andere Erscheinung. Der war nämlich eine
Persönlichkeit!

Er hieß Julian Mastakowitsch. Auf den ersten Blick erriet man, daß er
ein Ehrengast war und zum Hausherrn in ungefähr demselben Verhältnis
stand, wie dieser zu jenem Unbekannten, der sich den Backenbart strich.
Der Hausherr und die Hausfrau sagten ihm unendlich viele
Liebenswürdigkeiten, machten ihm geradezu den Hof, führten alle ihre
Gäste zu ihm, um sie ihm vorzustellen, ihn selbst aber stellten sie
keinem vor. Wie ich bemerkte, erglänzte im Auge des Hausherrn sogar eine
Träne der Rührung, als Julian Mastakowitsch zum Lobe des Festes
versicherte, er habe selten so angenehm die Zeit verbracht. Mir ward
ordentlich unheimlich in der Gegenwart eines solchen Menschen: und so
zog ich mich denn, als ich mich am Anblick der Kinder genugsam ergötzt
hatte, in ein kleines Boudoir zurück, in dem zufällig kein Mensch war,
und setzte mich dort in die Blumenlaube der Hausherrin, die fast das
halbe Zimmer einnahm.

Die Kinder waren alle unglaublich nett und lieb und echt kindlich und
wollten unter keiner Bedingung den „Großen“ gleichen, ungeachtet aller
Ermahnungen der Gouvernanten und Mütter. Im Nu hatten sie den ganzen
Weihnachtsbaum bis auf das letzte Anhängsel geplündert und auch schon
Zeit gehabt, die Hälfte der Spielsachen zu zerbrechen, noch bevor sie
festgestellt hatten, für wen ein jedes Spielzeug überhaupt bestimmt war.
Ein kleiner Knabe mit dunklen Augen und braunen Locken gefiel mir ganz
besonders: er wollte mich unbedingt erschießen, denn er hatte ein
hölzernes Gewehr bekommen. Doch am meisten lenkte seine kleine Schwester
die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich. Sie war etwa elf Jahre alt, zart
und bleich, mit großen, nachdenklichen Augen. Die anderen Kinder hatten
sie irgendwie gekränkt, und da kam sie denn in das Zimmer, in dem ich
saß, setzte sich in einen Winkel und beschäftigte sich mit ihrer Puppe.
Die Gäste deuteten unter sich respektvoll auf einen reichen Kaufmann,
den Vater der Kleinen, und jemand wußte flüsternd mitzuteilen, daß an
barem Gelde bereits jetzt dreihunderttausend Rubel für sie als Mitgift
beiseite gelegt seien. Ich sah mich unwillkürlich nach der Gruppe um,
die ein so interessantes Gespräch führte, und mein Blick fiel auf Julian
Mastakowitsch, der, die Hände auf dem Rücken gekreuzt und den Kopf ein
wenig zur Seite geneigt, sehr aufmerksam dem müßigen Gespräch zuzuhören
schien. Gleichzeitig mußte ich mich über die Weisheit der Gastgeber, die
diese in der Verteilung der Geschenke zu bezeugen gewußt hatten, nicht
wenig wundern. Das kleine Mädchen z. B., das bereits dreihunderttausend
Rubel besaß, hatte die schönste und teuerste Puppe erhalten. Der Wert
der anderen Geschenke dagegen sank von Stufe zu Stufe herab, je nach dem
Range der Eltern dieser Kinder. Das letzte Kind, ein kleiner Knabe von
etwa zehn Jahren, ein mageres, rötlichblondes Kerlchen mit
Sommersprossen, bekam nur ein Buch, das belehrende Geschichten enthielt
und von der Größe der Natur, von Tränen der Rührung und ähnlichem
handelte, ein nüchternes Buch, ohne Bild, ohne eine Verzierung.

Er war der Sohn einer armen Witwe, die die Kinder des Hausherrn
unterrichtete und kurzweg die Gouvernante hieß. Er selbst war ein
ängstlicher, verschüchterter Knabe. Er trug eine kleine russische Bluse
aus billigem Nanking. Nachdem ihm sein Buch eingehändigt worden war,
ging er lange Zeit um die Spielsachen der anderen Kinder herum; er hätte
wohl furchtbar gern mit diesen anderen gespielt, aber er wagte es nicht
– man sah es ihm an, daß er seine gesellschaftliche Stellung bereits
vollkommen begriff. Ich beobachte gern Kinder beim Spiel. Ungeheuer
interessant ist ihre erste selbständige Äußerung im Leben. Es fiel mir
auf, daß der kleine arme Knabe sich von den reichen Geschenken der
anderen so hinreißen ließ, namentlich von einem Puppentheater, in dem er
gewiß gern eine Rolle übernommen hätte, daß er sich zu einer
Schmeichelei entschloß. Er lächelte und suchte sich angenehm zu machen,
er gab seinen Apfel einem kleinen pausbackigen Jungen, der bereits einen
ganzen Sack voll Naschwerk hatte, und er entschloß sich sogar, einen von
ihnen huckepack zu tragen, nur damit man ihn nicht vom Theater fortjage.
Doch im nächsten Augenblick wurde er von einem Erwachsenen, der
gewissermaßen den Oberaufseher spielte, mit Püffen und Stößen
fortgetrieben. Der Junge wagte nicht, zu weinen. Sogleich erschien auch
schon die Gouvernante, seine Mutter, und sagte ihm, er solle die anderen
nicht stören. Da kam denn der Kleine in jenes Zimmer, in dem das Mädchen
saß. Sie ließ ihn zu sich kommen und beide begannen eifrig, die schöne
Puppe anzukleiden.

Ich hatte schon über eine halbe Stunde in der Efeulaube gesessen und war
fast eingeschlummert, unbewußt eingelullt durch das Kindergespräch des
kleinen rotblonden Jungen und der zukünftigen Schönheit mit der Mitgift
von dreihunderttausend Rubeln, als plötzlich Julian Mastakowitsch ins
Zimmer trat. Er benutzte die Gelegenheit, die ihm ein großer Streit
unter den Kindern im Saale bot, unbemerkt zu verschwinden. Vor wenigen
Minuten hatte ich ihn noch an der Seite des reichen Kaufmannes, des
Vaters der Kleinen, in lebhaftem Gespräch gesehen, und aus einzelnen
Worten, die ich auffing, erriet ich, daß er die Vorzüge der einen
Stellung im Vergleich mit einer anderen pries. Jetzt stand er
nachdenklich an der Efeulaube, ohne mich zu sehen, und schien zu
überlegen.

„Dreihundert ... dreihundert ...“ murmelte er. „Elf ... zwölf, dreizehn
– sechzehn. Fünf Jahre! Nehmen wir an, zu vier Prozent – zwölf mal fünf
... das macht sechzig. Ja, von diesen sechzig ... nun, sagen wir, im
ganzen nach fünf Jahren – vierhundert. Ja! ... tja! ... Aber der wird
doch nicht bloß vier Prozent nehmen, dieser Hund! Mindestens acht, wenn
nicht sogar zehn. Na, sagen wir – fünfhunderttausend! Hm! eine halbe
Million Rubel, das ist schon besser – nun, und dann noch die Aussteuer
... hm ...“

Sein Entschluß stand fest. Er räusperte sich und wollte das Zimmer
bereits verlassen – da sah er plötzlich die Kleine im Winkel mit ihrer
Puppe neben dem armen Jungen, und blieb stehen. Mich bemerkte er hinter
dem dichten Efeu nicht. Wie mir schien, war er sehr erregt. Ob diese
Erregung nun auf die Berechnung, die er soeben angestellt hatte, oder
auf etwas anderes zurückzuführen war, das ist schwer zu sagen, doch rieb
er sich lächelnd die Hände und schien kaum ruhig stehen zu können. Die
Erregung wuchs noch bis ins ganz Unbegreifliche, als er einen zweiten
entschlossenen Blick auf die reiche Erbin warf. Er wollte einen Schritt
vortreten, blieb aber wieder stehen und blickte sich zuerst nach allen
Seiten um. Dann näherte er sich auf den Fußspitzen, als sei er sich
einer Schuld bewußt, langsam und ganz leise dem Kinde. Er lächelte. Als
er dicht hinter der Kleinen stand, beugte er sich zu ihr nieder und
küßte sie auf den Kopf. Die Kleine schrie vor Schreck auf, denn sie
hatte ihn bis dahin nicht bemerkt.

„Was tust du denn hier, mein liebes Kind?“ fragte er leise, blickte sich
um und klopfte ihr dann die Wange.

„Wir spielen ...“

„Ah? Mit ihm?“ Julian Mastakowitsch warf einen Blick auf den Knaben.

„Du könntest, mein Lieber, in den Saal gehen,“ riet er ihm.

Der Knabe schwieg und blickte ihn groß an. Julian Mastakowitsch sah sich
wieder schnell nach allen Seiten um und beugte sich von neuem zu der
Kleinen.

„Was hast du denn da, mein liebes Kind? Ein Püppchen?“ fragte er.

„Ein Püppchen ...“ antwortete die Kleine etwas zaghaft und runzelte
leicht die Stirn.

„Ein Püppchen ... Aber weißt du auch, mein liebes Kind, woraus diese
Puppe gemacht ist?“

„N–nein ...“ antwortete die Kleine flüsternd und senkte das Köpfchen
noch tiefer.

„Nun, aus alten Läppchen, mein Herzchen. Aber du könntest doch in den
Saal gehen, Junge, zu den anderen Kindern,“ wandte sich Julian
Mastakowitsch mit einem strengen Blick abermals an den Knaben. Doch das
Mädchen und der Kleine runzelten die Stirn und faßten sich gegenseitig
an. Sie wollten sich offenbar nicht voneinander trennen.

„Aber weißt du auch, wofür man dir dieses Püppchen geschenkt hat? ...“
fragte Julian Mastakowitsch, dessen Stimme immer einschmeichelnder
wurde.

„N–nein ...“

„Nun, dafür, daß du ein liebes und artiges Kind gewesen bist.“

Hier blickte sich Julian Mastakowitsch wieder nach der Tür um und fragte
dann mit kaum hörbarer, vor Erregung und Ungeduld zitternder Stimme:

„Aber wirst du mich auch lieben, kleines Mädchen, wenn ich zu deinen
Eltern zum Besuch komme?“

Bei diesen Worten wollte Julian Mastakowitsch noch einmal das Mädchen
küssen, doch als der kleine Knabe sah, daß sie dem Weinen schon ganz
nahe war, umklammerte er sie plötzlich angstvoll und begann vor lauter
Teilnahme und Mitleid mit ihr selbst laut zu weinen. Julian
Mastakowitsch wurde ernstlich böse.

„Geh, geh fort, geh fort von hier!“ sagte er ärgerlich. „Geh in den
Saal! Geh zu deinen Kameraden!“

„Nein, nicht, nicht! Er soll nicht gehn! Gehen Sie fort,“ sagte das
kleine Mädchen, „er aber soll hier bleiben, lassen Sie ihn hier!“ fügte
sie fast weinend hinzu.

Da ertönten laute Stimmen an der Tür und Julian Mastakowitschs
gewichtiger Oberkörper schnellte empor. Er war sichtlich erschrocken.
Doch der kleine Knabe erschrak noch mehr als Julian Mastakowitsch, gab
das kleine Mädchen frei und schlich geduckt längs der Wand ins Eßzimmer
zurück. Auch Julian Mastakowitsch ging ins Eßzimmer, ganz als wäre
nichts vorgefallen. Er war purpurrot im Gesicht, und als er im
Vorübergehen einen Blick in den Spiegel warf, schien sein Aussehen ihn
selbst zu verwirren. Vielleicht ärgerte er sich darüber, daß er so
erregt war, und daß er so unvorsichtig gesprochen hatte. Offenbar hatte
ihn seine Berechnung selbst so bestrickt und begeistert, daß er trotz
seiner ganzen Würde und Klugheit recht wie ein Knabe handelte und schon
jetzt und unbedacht genug auf sein Ziel geradeswegs loszusteuern begann.
Ich folgte ihm alsbald in das andere Zimmer – und wahrlich, was ich dort
erblickte, war ein seltsames Schauspiel! Ich sah nämlich, wie Julian
Mastakowitsch, der hochangesehene würdevolle Julian Mastakowitsch, den
kleinen Knaben einschüchterte, der immer weiter vor ihm zurückwich und
nicht wußte, wo er sich vor Angst lassen sollte.

„Marsch, wirst du wohl! Was tust du hier, Taugenichts? Geh! Geh! Du
stiehlst hier Früchte, wie? Du willst hier Früchte stehlen? Marsch,
mach’, daß du fortkommst, wirst du wohl, ich werd’ dir zeigen!“

Der eingeschüchterte Knabe entschloß sich schließlich zu einem
verzweifelten Rettungsversuch: er kroch unter den Tisch. Das rief aber
in seinem Verfolger noch größere Wut hervor. Zornig riß er sein langes
Batisttaschentuch aus der Tasche und begann damit den Kleinen unter dem
Tisch zu peitschen, damit er von dort hervorkrieche. Doch der Kleine war
mäuschenstill vor Angst und rührte sich nicht. Ich muß bemerken, daß
Julian Mastakowitsch ein wenig korpulent war. Er war, was man so nennt,
ein satter Mensch, mit roten Wänglein, einem kleinen Schmerbäuchlein,
untersetzt und mit dicken Schenkeln, – kurz, ein stämmiger Bursche, an
dem alles so rund war wie an einer Nuß. Schweißtropfen standen ihm schon
auf der Stirn, er atmete schwer und fast röchelnd. Das Blut drang ihm
vom Bücken rot und heiß zu Kopf. Er wurde jähzornig, so groß war sein
Unwille oder – wer kann es wissen? – seine Eifersucht. Ich lachte
schallend auf. Julian Mastakowitsch wandte sich blitzschnell nach mir um
und wurde ungeachtet seines gesellschaftlichen Ansehens, seiner
einflußreichen Stellung und seiner Jahre geradezu fassungslos verlegen.
In dem Augenblick trat durch die gegenüberliegende Tür der Hausherr ins
Zimmer. Der kleine Junge kroch unter dem Tisch hervor und rieb sich den
Staub von den Knien und Ellenbogen. Julian Mastakowitsch kam zu sich und
führte schnell das Taschentuch, das er noch an einem Zipfel hielt, an
die Nase und schnaubte sich.

Der Hausherr blickte uns drei etwas verwundert an, doch als lebenskluger
Mensch, der das Leben ernst auffaßte, wußte er sogleich die Gelegenheit,
mit seinem Gast unter vier Augen sprechen zu können, auszunutzen.

„Ach, sehen Sie, das ist jener Knabe, für den ich die Ehre hatte, zu
bitten ...“ begann er, auf den armen Kleinen weisend.

„Ah!“ versetzte Julian Mastakowitsch, noch immer nicht ganz auf der Höhe
der Situation.

„Er ist der Sohn der Gouvernante meiner Kinder,“ fuhr der Hausherr
erklärend und in verbindlichem Tone fort, „einer armen Frau. Sie ist die
Witwe eines ehrlichen Beamten. Ginge es nicht irgendwie, Julian
Mastakowitsch ...“

„Ach, ich entsinne mich! Nein, nein!“ unterbrach dieser ihn eilig.
„Nehmen Sie es mir nicht übel, mein bester Philipp Alexejewitsch, aber
es geht ganz und gar nicht. Ich habe mich erkundigt: Vakanzen gibt es
nicht und selbst wenn eine bestünde, so kämen doch zehn Kandidaten eher
in Betracht als dieser, da sie eben ein größeres Anrecht darauf hätten
... Es tut mir sehr leid, aber ...“

„Schade,“ sagte der Hausherr nachdenklich, „es ist ein stiller,
bescheidener Knabe ...“

„Scheint mir eher ein richtiger Bengel zu sein, soweit ich sehe,“
bemerkte Julian Mastakowitsch mit verzogenem Lächeln. „Geh, was stehst
du hier, mach’ dich fort! Geh zu deinen Spielkameraden,“ wandte er sich
an den Kleinen.

Dann konnte er offenbar der Versuchung nicht widerstehen, auch mir einen
Blick zuzuwerfen. Ich aber hielt nicht an mich, sondern lachte ihm offen
ins Gesicht. Julian Mastakowitsch wandte sich sogleich ab und fragte
sehr vernehmlich den Hausherrn, wer dieser sonderbare junge Mann
eigentlich sei. Sie begannen miteinander zu flüstern und verließen das
Zimmer. Ich sah nur noch durch die offene Tür wie Julian Mastakowitsch,
der dem Hausherrn aufmerksam zuhörte, verwundert und mißtrauisch den
Kopf schüttelte.

Als ich genügend gelacht hatte, begab ich mich gleichfalls in den Saal.
Dort stand jetzt der einflußreiche Mann, umringt von Vätern, Müttern und
den Festgebern und sprach lebhaft auf eine Dame ein, der man ihn soeben
vorgestellt hatte. Die Dame hielt das kleine Mädchen an der Hand, das
Julian Mastakowitsch vor zehn Minuten geküßt hatte. Er lobte die Kleine
bis in den siebenten Himmel, pries ihre Schönheit, ihre Grazie, ihre
Wohlerzogenheit, und die Mutter hörte ihm fast mit Tränen in den Augen
zu. Die Lippen des Vaters lächelten. Der Hausherr nahm mit sichtlichem
Wohlgefallen teil an der allgemeinen Freude. Die übrigen Gäste waren
gleichfalls angenehm berührt und selbst die Spiele der Kinder wurden
unterbrochen, damit sie durch ihr Geschrei nicht störten. Die ganze Luft
war voll von gehobener Stimmung. Später hörte ich, wie die tiefgerührte
Mutter der Kleinen in ausgesucht höflichen Redewendungen Julian
Mastakowitsch bat, ihrem Hause die besondere Ehre zu erweisen und sie zu
besuchen, und ich hörte weiter, mit wie ungefälschtem Entzücken Julian
Mastakowitsch der liebenswürdigen Aufforderung unfehlbar nachzukommen
versprach, und wie die Gäste, als sie darauf, so wie es der
gesellschaftliche Brauch verlangte, nach allen Seiten auseinandergingen,
sich in geradezu gerührten Lobpreisungen ergingen, die den Kaufmann,
dessen Frau und Töchterchen, namentlich aber Julian Mastakowitsch hoch
über sie selbst erhoben.

„Ist dieser Herr verheiratet?“ fragte ich hörbar laut einen meiner
Bekannten, der neben Julian Mastakowitsch stand.

Julian Mastakowitsch warf mir einen zornigen Blick zu, der wohl seinen
Gefühlen entsprach.

„Nein!“ antwortete mein Bekannter, offenbar höchst peinlich berührt
durch meine ungeschickte Frage, die ich absichtlich so laut an ihn
gerichtet hatte ...

                   *       *       *       *       *

Vor ein paar Tagen ging ich an der –schen Kirche vorüber. Die
Menschenmenge, die sich vor dem Portal drängte, und der reiche Schmuck
desselben fielen mir auf. Ringsum sprach man von einer Hochzeit. Es war
ein trüber Herbsttag und es begann zu frieren. Ich drängte mich mit den
anderen in die Kirche und erblickte den Bräutigam. Es war das ein
kleiner, rundlicher Herr mit einem Schmerbauch und vielen Orden auf der
Brust. Er war überaus beschäftigt, eilte hin und her, traf Anordnungen
und schien sehr aufgeregt zu sein. Endlich verbreitete sich von der Tür
her lautes Gemurmel: die Braut war erschienen. Ich drängte mich weiter
durch die Menge und erblickte eine wunderbare Schönheit, für die kaum
der erste Lenz angebrochen war. Sie war aber bleich und traurig. Ihre
Augen blickten zerstreut. Es schien mir sogar, daß diese Augen noch
gerötet waren von vergossenen Tränen. Die strenge Schönheit ihrer
Gesichtszüge verlieh ihrer ganzen jungen Erscheinung eine gewisse
hoheitsvolle Würde und Feierlichkeit. Und doch schimmerte durch diese
Strenge und Würde und diese Trauer noch das unschuldige unberührte
Kindergemüt – und es verriet sich darin etwas unsäglich Unerfahrenes,
Unbewußtes, Kindliches, das, wie es schien, ohne eine Bitte wortlos für
sich um Schonung flehte.

Man sagte, sie sei kaum erst sechzehn Jahre alt geworden. Ich blickte
aufmerksamer auf den Bräutigam und plötzlich erkannte ich in ihm Julian
Mastakowitsch, den ich seit fünf Jahren nicht wiedergesehen hatte. Ich
blickte nochmals auf die Braut ... Mein Gott! Ich drängte mich durch die
Gaffenden zum Ausgang, um schneller aus der Kirche zu kommen. In der
Menge erzählte man sich, daß die Braut reich sei: sie bekäme allein an
barem Kapital eine halbe Million Rubel mit und eine Aussteuer im Werte
von soundsoviel ...

„Dann stimmte also die Berechnung!“ dachte ich bei mir und trat auf die
Straße hinaus ...




                         Njetotschka Neswanowa


                                   I.

Meinen Vater habe ich nicht gekannt. Er starb, als ich zwei Jahre alt
war. Dann heiratete meine Mutter zum zweitenmal. Diese zweite Ehe
brachte ihr viel Leid, obgleich es eine Liebesheirat war. Mein
Stiefvater war Musiker. Er hatte ein sehr merkwürdiges Schicksal, und
überhaupt war er der seltsamste und wunderlichste Mensch, den ich bisher
kennen gelernt habe. Sein Einfluß auf mich war groß und die Eindrücke,
die ich von ihm empfing, waren so stark, daß ich sie mein Leben lang
nicht vergessen werde. Doch muß ich zunächst, damit meine Erzählung
verständlicher sei, seine Lebensgeschichte wiedergeben. Alles was sich
auf dieselbe bezieht, habe ich von dem berühmten Geigenvirtuosen B.
erfahren, der in seiner Jugend ein guter Freund meines Stiefvaters
gewesen ist.

Der Familienname meines Stiefvaters lautete Jefimoff. Geboren wurde er
auf dem Gute eines reichen Großgrundbesitzers als Sohn eines armen
Musikers, der nach langen Irrfahrten sich dort niedergelassen hatte und
in das Orchester des Gutsherrn eingetreten war. Sein Brotherr lebte auf
großem Fuß und liebte Musik bis zur Leidenschaft. Man erzählte von ihm,
daß er, der sich nie von seinem Gute rührte und nicht einmal nach Moskau
fuhr, sich plötzlich aufgemacht habe und ins Ausland gereist sei, in
irgendeinen Kurort, nur um einen berühmten Geigenvirtuosen zu hören, der
dort, wie die Zeitungen berichteten, drei Konzerte geben sollte. Auf
seinem Gut unterhielt er ein großes Orchester und gab fast seine ganzen
Einkünfte für die Besoldung und den Unterhalt der Musiker aus. In dieses
Orchester nun trat mein Stiefvater als Klarinettist ein. Als er
zweiundzwanzig Jahre alt war, machte er die Bekanntschaft eines
eigenartigen Menschen. In demselben Gouvernementskreise lebte ein
reicher Graf, der sich durch den Unterhalt eines Haustheaters ruinierte.
Dieser Graf hatte den Kapellmeister seines Orchesters, einen Italiener,
wegen seiner schlechten Aufführung entlassen. Der Kapellmeister war in
der Tat ein schlechter Mensch. Als er seine Stellung verloren, kam er
bald ganz herunter, trieb sich in den Dorfschenken umher, betrank sich,
ja er bettelte sogar, und da hatte natürlich niemand mehr Lust, ihm eine
Anstellung zu geben. Mit diesem Menschen befreundete sich nun mein
Stiefvater. Ihre Freundschaft war aber von einer ganz besonderen Art,
denn niemand konnte behaupten, daß der Jüngere sich durch diesen Umgang
irgendwie zu seinem Nachteil veränderte, und selbst der Gutsbesitzer,
der ihm anfangs verboten hatte, mit dem Italiener zu verkehren, ließ
schließlich diese sonderbare Freundschaft gewähren. Da starb plötzlich
der Italiener. Bauern fanden ihn eines Morgens im Graben an einem Zaun
liegen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet und ergab, daß er am
Herzschlage gestorben war. Sein ganzes Hab und Gut befand sich bei
meinem Stiefvater, der sogleich an der Hand von Dokumenten nachwies, daß
er das volle Recht hatte, die Sachen zu behalten: er besaß ein
eigenhändiges Schreiben des Verstorbenen, in dem dieser Jefimoff zu
seinem Erben erklärte, falls er, der Italiener, früher sterben sollte,
als Jefimoff. Die Hinterlassenschaft bestand aus einem schwarzen Frack,
den er sorgfältig aufbewahrt hatte, in der Hoffnung, doch noch einmal
eine Anstellung zu finden, und einer Geige, an der nichts Sonderliches
auffiel. Dieses Erbe machte denn auch niemand dem Klarinettisten
streitig. Da erschien nach einiger Zeit ein Musiker, der im Orchester
des Grafen die erste Geige spielte, bei dem Gutsbesitzer und überreichte
ihm einen Brief vom Grafen. In diesem Brief bat der Graf den
Gutsbesitzer, seinen Klarinettisten Jefimoff zu bereden, ihm, dem
Grafen, die Geige des verstorbenen Italieners zu verkaufen. Er bot für
dieselbe dreitausend Rubel und schrieb, daß er den Jegor Jefimoff schon
mehrmals zu sich habe bitten lassen, um den Kauf persönlich
abzuschließen, doch dieser Mensch sei leider zu nichts zu bewegen. Der
Graf schloß seinen Brief mit der Bemerkung, daß er für die Geige das
biete, was sie wert sei: deshalb sehe er in der hartnäckigen Weigerung
Jefimoffs, sie ihm dafür abzutreten, den beleidigenden Verdacht, er, der
Graf, wolle bei diesem Kauf die Unkenntnis des Klarinettisten ausnutzen.
Aus diesem Grunde bäte er jetzt um seine, des Gutsbesitzers,
Vermittelung.

Dieser ließ Jefimoff sogleich zu sich rufen.

„Weshalb willst du die Geige nicht verkaufen?“ fragte er ihn, „du
brauchst sie doch nicht. Man bietet dir dreitausend Rubel, gerade so
viel, wie sie wert ist, und du irrst dich, wenn du glaubst, daß dir
jemand mehr für sie zahlen wird. Der Graf will dich doch nicht
übervorteilen.“

Jefimoff erwiderte, daß er aus freien Stücken zu dem Grafen nicht gehen
werde, doch wenn man ihn zwingen wolle, so müsse er sich eben dem Willen
seines Herrn fügen. Dem Grafen werde er aber die Geige nicht verkaufen,
und wenn man sie ihm mit Gewalt nehmen werde, so hinge auch das wiederum
nur von dem Willen seines Herrn ab.

Natürlich verletzte er mit einer solchen Antwort die empfindlichste
Charakterseite des Gutsbesitzers. Dieser pflegte nämlich immer mit Stolz
von sich zu sagen, daß er wisse, wie er mit seinen Musikern umzugehen
habe, denn sie seien alle bis auf den letzten wirkliche Künstler, und
deshalb sei sein Orchester nicht nur besser als dasjenige des Grafen,
sondern besser sogar als eines in der Hauptstadt!

„Nun, schön,“ entgegnete der Gutsbesitzer, „ich werde dem Grafen
schreiben, daß du die Geige nicht verkaufen willst, weil du eben nicht –
willst ... basta! weil du das volle Recht hast, sie zu verkaufen oder
nicht zu verkaufen, wie es dir beliebt, hast du mich verstanden? Aber
ich frage dich jetzt selber: was machst du mit der Geige? Dein
Instrument ist die Klarinette, die du leider noch recht mittelmäßig
spielst. Verkauf’ die Geige mir. Ich gebe dir dreitausend.“ (Wer wußte
denn, daß es ein solches Instrument war!)

Jefimoff lächelte.

„Nein, Herr, ich werde sie Ihnen nicht verkaufen,“ sagte er, „aber
versteht sich, wenn Sie mit Gewalt ...“

„Ja, zwinge ich dich denn, will ich dir denn Gewalt antun!“ rief der
Gutsbesitzer empört – um so mehr empört, als es sich in Gegenwart des
gräflichen Musikers zutrug und dieser nach solchen Antworten eine recht
unvorteilhafte Vorstellung von der Stellung der Musiker des
Gutsbesitzers gewinnen mußte. „Mach’, daß du fortkommst, du Undankbarer!
Geh mir aus den Augen! Was würdest du ohne mich überhaupt anfangen mit
deiner Klarinette, auf der du nicht einmal zu spielen verstehst? Bei mir
aber wirst du satt, wirst du bekleidet und erhältst dein Gehalt; du
lebst hier in einem vornehmen Hause, spielst nur hier die Rolle eines
Künstlers, aber du willst das nicht einsehen! Geh mir aus den Augen und
reiz’ mich nicht durch deine Anwesenheit!“

Der Gutsbesitzer pflegte denjenigen immer fortzuschicken, über den er
sich ärgerte, denn er fürchtete seine eigene Heftigkeit. Mit einem
„Künstler“, wie er seine Musiker nannte, wollte er aber unter keinen
Umständen streng ins Gericht gehen.

Der Kauf kam nicht zustande und damit schien die Sache abgetan zu sein –
als plötzlich, etwa einen Monat nach jener Auseinandersetzung, der erste
Violinist des Grafen etwas Unerhörtes angab: auf eigene Verantwortung
nämlich reichte er eine Anzeige ein, nach der Jefimoff die Schuld am
Tode des Italieners trug, den er umgebracht habe, um in den Besitz der
Hinterlassenschaft zu gelangen. Ferner beschuldigte er ihn, jenes
Schriftstück, in dem der Italiener Jefimoff zu seinem Erben einsetzte,
mit List und Gewalt dem Verstorbenen abgerungen zu haben, was er durch
Zeugen beweisen zu können vorgab. Weder die Bitten des Gutsbesitzers,
der für Jefimoff eintrat, noch die Vorhaltungen des Grafen konnten ihn
von seinem Vorhaben abbringen. Man gab ihm zu bedenken, daß gegen die
ärztliche Untersuchung der Leiche sich nichts einwenden lasse, daß er
gegen sein Gewissen handle, vielleicht aus persönlicher Rache, weil
jener ihm das kostbare Instrument nicht abgetreten hatte. Der Musiker
blieb aber bei seiner Behauptung, schwur sogar, daß er im Recht sei und
der Herzschlag nicht infolge des Trunkes eingetreten wäre, sondern als
Folge einer Vergiftung, weshalb er eine nochmalige Untersuchung der
Leiche verlangte. Auf den ersten Blick konnte man seine Beweise sehr
wohl ernst nehmen. Natürlich wurde das Verfahren sogleich eingeleitet.
Jefimoff wurde verhaftet und nach dem Stadtgefängnis abgeführt. Die
Gerichtsverhandlungen, die das ganze Gouvernement mit Spannung
verfolgte, nahmen einen sehr schnellen Verlauf und endeten damit, daß
der Musiker der falschen Anklage überführt wurde. Man verurteilte ihn zu
einer gerechten Strafe, ungeachtet dessen, daß er bei seiner Behauptung
beharrte. Endlich gestand er, daß er zwar keine positiven Beweise besaß
und die angeführten selbst erfunden hatte, jedoch habe er sich dabei von
seinen Vermutungen leiten lassen, die schließlich zu seiner festen
Überzeugung geworden seien, und deshalb bliebe er auch jetzt – nachdem
die Unschuld Jefimoffs vom Gericht bereits unzweifelhaft festgestellt
worden war – bei seiner Überzeugung, daß die Ursache des Todes jenes
italienischen Kapellmeisters einzig und allein Jefimoff gewesen, der
ihn, wenn nicht gerade vergiftet, dann eben auf irgendeine andere Weise
umgebracht habe. Es blieb ihm übrigens erspart, seine Strafe abzubüßen:
er erkrankte plötzlich an einer Gehirnentzündung, verfiel in Wahnsinn
und starb im Krankenhause.

Während dieser ganzen Zeit sorgte der Gutsbesitzer für Jefimoff wie ein
Vater für seinen Sohn. Er, der sonst nie sein Gut verließ, fuhr mehrmals
in die Stadt, um den Armen im Gefängnis zu besuchen und ihn zu trösten;
er schenkte ihm Geld, und als er erfuhr, daß Jefimoff gern rauchte,
brachte er ihm die besten Zigaretten; und als dann mein Stiefvater
endlich freigesprochen wurde, veranstaltete er für sein ganzes Orchester
ein großes Freudenfest. Er betrachtete die gegen Jefimoff erhobene
Anklage als etwas, was sein gesamtes Orchester anging, denn auf die gute
Aufführung seiner Musiker legte er wenn nicht mehr, so doch ebensoviel
Wert, wie auf ihr musikalisches Können.

Es verging ein Jahr, als man eines Tages auf dem Gute erfuhr, daß in der
Gouvernementsstadt ein bekannter französischer Violinvirtuose
eingetroffen sei und daselbst konzertieren werde. Als der Gutsbesitzer
dies hörte, bot er sogleich alles auf, um diesen Künstler als Gast bei
sich auf dem Gute zu sehen. Zu seiner Freude nahm der Franzose die
Einladung an. Schon war alles zu seinem Empfang bereit, die ganze
Gesellschaft der Umgegend eingeladen, als plötzlich etwas Überraschendes
geschah.

Eines Morgens wurde dem Gutsbesitzer gemeldet, Jefimoff sei nirgends zu
finden. Man suchte, forschte, schickte Boten aus – er war und blieb
spurlos verschwunden. Das Orchester befand sich in einer verzweifelten
Lage: der Klarinettist fehlte, was tun? Da erhielt der Gutsbesitzer am
dritten Tage nach der Flucht Jefimoffs einen Brief von dem Franzosen, in
dem dieser mit verletzendem Hochmut absagte und hinzufügte, er werde
hinfort sehr vorsichtig sein müssen mit solchen Herren, die ein eigenes
Orchester hielten: es sei so „deprimierend“, ein großes Talent im Dienst
eines Menschen zu sehen, der es nicht zu schätzen wisse. Er brauche als
Beispiel nur Jefimoff zu nennen, den genialsten Künstler und besten
Violinisten, den er in Rußland gehört habe!

Der Gutsbesitzer las den Brief mit wachsender Verwunderung. Wie?
Jefimoff, derselbe Jefimoff, um den er sich so gesorgt hatte, dem er
soviel Gutes erwiesen, derselbe Jefimoff hatte es fertiggebracht, ihn so
gewissenlos, so unverschämt zu verleumden, und das noch bei einem
berühmten Künstler, auf dessen gute Meinung von seinem Orchester er
soviel Wert legte! Und dann – der Brief enthielt noch ein anderes
Rätsel: der Franzose nannte Jefimoff den genialsten Künstler und besten
Violinisten, den er in Rußland gehört, und aus seiner Schlußbemerkung
ging hervor, daß er dachte, man wolle Jefimoffs Talent nicht anerkennen,
und zwinge ihn, ein anderes Instrument zu spielen, als dasjenige,
welches ihm zukam. Dies überraschte den Gutsbesitzer dermaßen, daß er
beschloß, sogleich in die Stadt zu fahren, um mündlich mit dem Franzosen
zu sprechen. Da traf kurz vor seiner Abfahrt ein Schreiben vom Grafen
ein, in dem dieser ihn zu sich aufforderte und ihm mitteilte, daß der
französische Künstler und Jefimoff beide bei ihm seien und der Franzose
ihm den Fall erzählt habe. Er, der Graf, sei über die Frechheit der
Verleumdung Jefimoffs so empört, daß er ihn vorläufig nicht aus dem
Hause lasse, und außerdem sei die Anwesenheit des Gutsbesitzers auch
deshalb notwendig, weil die Verleumdungen Jefimoffs auch ihn, den Grafen
selbst, beträfen. Kurz, man müsse in der Sache Klarheit schaffen, und
zwar je eher, desto besser.

Da begab sich denn der Gutsbesitzer unverzüglich zum Grafen, ließ sich
dem Franzosen vorstellen und erklärte ihm den Sachverhalt. Er sagte, er
habe es nicht geahnt, daß in Jefimoff ein so großes Talent stecke: er
kenne ihn nur als einen recht mittelmäßigen Klarinettisten – daß der
Mensch auch die Geige spiele, habe er erst aus dem Brief erfahren.
Außerdem, fügte er hinzu, sei Jefimoff ein freier Mensch gewesen und
hätte ihn zu jeder Zeit verlassen können, wenn er wirklich so unzulässig
behandelt worden wäre. Der Franzose war sehr verwundert. Man ließ
Jefimoff kommen. Der war aber in seinem Benehmen kaum wiederzuerkennen:
hochmütig trat er ein, antwortete spöttisch und hatte die Frechheit, zu
behaupten, daß alles wahr sei, was er dem Franzosen gesagt. Diese
Unverschämtheit ärgerte den Grafen dermaßen, daß er meinem Stiefvater
ins Gesicht sagte, er sei ein Lump und Lügner und habe verdient, daß man
ihn schonungslos bestrafe.

„Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Graf,“ versetzte mein Stiefvater
höhnisch, „dank Ew. Gnaden bin ich nur mit genauer Not der Strafe für
ein Kriminalverbrechen entgangen. Ich weiß ja doch nur zu gut, auf
wessen Veranlassung hin Alexei Nikiforytsch, Ihr ehemaliger Musiker, die
Anzeige gegen mich erstattet hat.“

Das war zu viel für den Grafen. Er geriet außer sich vor Wut über diese
empörende Beschuldigung. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen. Und
ein Polizeibeamter, der sich gleichfalls im Saal befand und wegen einer
Rücksprache mit dem Grafen kurz zuvor eingetroffen war, erklärte
hierauf, daß die beleidigende Frechheit Jefimoffs eine böswillige
Verleumdung sei, weshalb er höflichst um die Erlaubnis bäte, ihn
sogleich und ohne weiteres hier im Hause des Grafen arretieren zu
dürfen. Auch der Franzose äußerte seinen größten Unwillen und sagte,
eine solche Undankbarkeit hätte er nie für möglich gehalten. Da brauste
mein Stiefvater jähzornig auf und rief aus, selbst Gefängnishaft unter
dem Verdacht eines Kriminalverbrechens und alle Gerichtsverhandlungen
der Welt ziehe er jenem Leben vor, das er bisher erduldet, da er als
Musiker im Orchester des Gutsbesitzers sein Brot habe verdienen müssen
und in seiner Armut keine Mittel und folglich keine Möglichkeit gehabt
habe, sich früher freizumachen. Er wurde aus dem Saal geführt. Man
schloß ihn in einem entlegenen Zimmer ein und sagte ihm, daß man ihn am
nächsten Tage nach der Stadt bringen werde.

Gegen Mitternacht öffnete sich die Tür des Zimmers, in dem Jefimoff
gefangen saß. Es war der Gutsbesitzer. Er war im Schlafrock und in
Morgenschuhen und hielt eine brennende Laterne in der Hand. Offenbar
hatte er nicht einschlafen können, hatte wach gelegen, bis er
schließlich, um den quälenden Gedanken ein Ende zu machen, trotz der
späten Stunde wieder aufgestanden war. Jefimoff schlief nicht: mit
Verwunderung sah er den späten Gast eintreten. Der stellte die Laterne
auf den Tisch und setzte sich in schwerer Erregung ihm gegenüber auf
einen Stuhl.

„Jegor,“ sagte er, „warum hast du mir das angetan?“

Jefimoff antwortete nicht. Der Gutsbesitzer wiederholte die Frage und
ein seltsam tiefes Gefühl, ein seltsamer Kummer klang aus seinen Worten.

„Ja, das mag Gott wissen, warum!“ entgegnete endlich mein Stiefvater und
wandte das Gesicht fort. „Da muß schon der Teufel seine Hand im Spiel
gehabt haben! Ich weiß es selber nicht, wer mich zu all dem treibt! Nun
ja, ich kann nicht mehr bei Ihnen bleiben, ich kann nicht ... Der Teufel
sitzt mir auf dem Halse!“

„Jegor!“ hub der Gutsbesitzer an, „komm zu mir zurück! Ich werde alles
vergessen, werde dir alles verzeihen. Höre: du wirst der Erste unter
meinen Musikern sein, ich werde dich unvergleichlich besser stellen ...“

„Nein, Herr, nein, reden Sie nicht weiter – ich gehöre nicht mehr zu
Ihnen! Ich sagte Ihnen schon, der Teufel sitzt mir auf dem Halse. Ich
würde Ihr Haus anzünden, wenn ich bliebe. Es kommt so über mich – und
zuweilen ist es solch eine Qual, daß es besser wäre, ich wär’ nicht
geboren! Jetzt kann ich nicht mehr für mich einstehen, also lassen Sie
mich schon lieber in Ruh, Herr. Das ist alles über mich gekommen,
seitdem dieser Teufel mit mir Freundschaft schloß ...“

„Wer das?“ fragte der Gutsbesitzer.

„Nun, jener doch, der dort wie ein Hund am Zaun krepierte, von dem
keiner mehr was wissen wollte, der Italiener!“

„Hat _er_ dich, Jegoruschka, im Geigenspiel unterrichtet?“

„Ja. Er. Vieles habe ich von ihm gelernt – zu meinem Verderben. Hätt’
ich ihn doch lieber nie gesehn!“

„Aber spielte er denn auch so meisterhaft die Geige, Jegoruschka?“

„Nein, er selbst spielte schlecht, aber er unterrichtete gut. Gelernt
habe ich allein, er hat mich nur geleitet – und eher könnte mir die Hand
verdorren, als daß ich diese Kunst verlernte! Ich weiß jetzt selbst
nicht, was ich will. Versuchen Sie es, fragen Sie mich: ‚Jegorka! was
willst du? Ich kann dir alles geben!‘ – Ich würde gewiß, so wahr ich
lebe, Ihnen kein Wort zu antworten wissen, denn ich weiß selbst nicht,
was ich will. Nein, Herr, lassen Sie mich lieber in Ruh. Ich werde doch
unbedingt so etwas mit mir anstellen, daß man mich ... etwas weiter
fortschickt, und damit Punktum!“

„Jegor!“ begann der Gutsbesitzer nach einer Weile wieder, „so ohne
weiteres werde ich dich nicht verlassen. Willst du nicht bei mir
bleiben, dann geh; du bist ein freier Mensch, halten kann ich dich
nicht. So einfach aber werde ich jetzt doch nicht von dir fortgehen,
Jegor. Spiel’ mir etwas vor, auf deiner Geige, tu mir den Gefallen,
Jegor. Ich bitte dich, spiel’! – um Christi willen! Ich befehle dir
nicht, verstehe mich nicht falsch, ich will dich nicht zwingen; aber ich
bitte dich von Herzen: spiel’ mir, Jegoruschka, spiel’ mir das vor, was
du dem Franzosen vorgespielt hast! Erleichtere mein Herz! Du bist
halsstarrig – gut, ich bin’s auch. Du siehst, ich habe gleichfalls
meinen Dickschädel, Jegoruschka. Ich kann dir nachfühlen, so fühl’ auch
du, wie ich fühle. Ich will nicht leben, wenn du mir nicht aus eigenem
freiem Willen das vorspielst, was du dem Franzosen vorgespielt hast!“

„Nun gut, es sei!“ sagte Jefimoff. „Ich hatte mir wohl geschworen, Ihnen
niemals vorzuspielen, gerade Ihnen nicht, aber mein Herz entbindet mich
jetzt von meinem Schwur. Ich werde Ihnen vorspielen, doch, damit Sie’s
wissen, zum ersten und zum letzten Mal, Herr, Sie sollen mich nie wieder
hören, niemals, und sollten Sie mir auch – tausend Rubel bieten.“

Er nahm seine Geige und begann, seine Variationen russischer Lieder zu
spielen. B. sagte mir, nichts habe er mit solcher Leidenschaft und so
wundervoll gespielt, wie diese Variationen – sie wären sein erstes und
bestes Können gewesen. Dem Gutsbesitzer, der ohnehin Musik nicht
gleichmütig anhören konnte, rannen die hellen Tränen über die Wangen.
Als das Spiel zu Ende war, stand er auf, nahm dreihundert Rubel aus
seiner Brieftasche, reichte sie meinem Stiefvater und sagte:

„Jetzt geh, Jegor. Ich werde dich von hier hinauslassen, und deine
Beleidigung des Grafen – auch das laß meine Sorge sein: ich werde alles
beilegen. Aber nun höre: komme mir nie wieder in den Weg. Die Welt steht
dir offen, und wenn wir uns begegnen sollten, so wird es sowohl mir wie
dir peinlich sein. Nun, leb’ wohl! ... Wart’! Noch einen Rat gebe ich
dir auf den Weg, nur einen: trink nicht und lerne, lerne unermüdlich.
Auch bilde dir nicht zu viel ein! Das sage ich dir, sage es dir wie dein
leiblicher Vater es dir sagen würde. Also gib acht, ich wiederhole es:
lerne und rühre das Glas nicht an, greifst du aber einmal nach ihm und
trinkst einen Schluck aus Kummer (und den wirst du reichlich kennen
lernen!) – dann ist alles verloren, das wisse, dann geht dir alles zum
Teufel und dann wirst auch du vielleicht genau so, wie dein Italiener,
irgendwo in einem Graben verrecken. Jetzt lebe wohl! ... wart’, küss’
mich.“

Sie küßten sich, und darauf erhielt er seine Freiheit.

Doch kaum war er frei, da begann er damit, daß er in der nächsten
Kreisstadt seine dreihundert Rubel verjubelte, und zwar in Gesellschaft
heruntergekommener, ganz verwahrloster Menschen, worauf er sich
gezwungen sah, in das jämmerliche Orchester einer wandernden
Theatertruppe einzutreten, wo er die erste und wahrscheinlich einzige
Geige spielte. Das stimmte nun freilich nicht ganz überein mit seinen
anfänglichen Absichten: so bald als möglich nach Petersburg zu fahren,
dort in ein gutes Orchester einzutreten, um seinen Lebensunterhalt zu
verdienen, und die übrige Zeit des Tages ausschließlich dazu zu
benutzen, um sich zu einem vollendeten Künstler auszubilden. In jener
kleinen Musikkapelle hielt er es denn auch nicht lange aus: er geriet
mit dem Unternehmer in Streit, kündigte ihm und verließ die
Gesellschaft. Dann brach für ihn eine Zeit an, in der er schließlich
seinen Mut so weit verlor, daß er sich zu einer verzweifelten Tat
entschloß, die seinen Stolz tief erniedrigte. Er schrieb an den
Gutsbesitzer, seinen früheren Brotherrn, schilderte seine Lage und bat
um Geld. Der Brief war noch in ziemlich selbstbewußtem Tone geschrieben,
eine Antwort aber erhielt er auf ihn nicht. Dann schrieb er einen
zweiten, diesmal einen erniedrigend schmeichelhaften Brief, in dem er
den Gutsbesitzer seinen Wohltäter und einen wirklichen Kunstkenner
nannte, um ihn zum Schluß wieder um eine Unterstützung zu bitten. Auf
diesen Brief erhielt er endlich eine Antwort. Der Gutsbesitzer sandte
ihm hundert Rubel mit ein paar von der Hand seines Kammerdieners
geschriebenen Zeilen, in denen er erklärte, daß er hinfort mit Ähnlichem
verschont zu bleiben wünsche. Nach Empfang dieses Geldes wollte mein
Stiefvater sogleich nach Petersburg reisen, als er aber seine Schulden
bezahlt hatte, blieb ihm nur noch so wenig von dem Gelde übrig, daß er
an die Ausführung der geplanten Reise nicht mehr denken konnte. Er blieb
also in der Provinz, trat wieder in irgendeine Musikkapelle ein, geriet
dort wieder in Streit mit den anderen, und indem er sich so durchschlug,
immer in der Hoffnung, bald nach Petersburg reisen zu können, verlebte
er ganze sechs Jahre in der Provinz – bis ihn eines Tages Entsetzen
erfaßte. Mit Verzweiflung sah er ein, wie viel seine Kunst durch dieses
bedrückende und ungeordnete Bettlerleben bereits eingebüßt hatte. So
ließ er eines Morgens seine Kapelle im Stich, nahm seine Geige und
machte sich auf den Weg nach Petersburg, wo er nahezu als Strolch ankam.
Er mietete sich irgendwo in einer elenden Dachkammer ein: und dort traf
er zum erstenmal mit B. zusammen, der damals gerade erst aus Deutschland
herübergekommen war und gleichfalls hier Karriere machen wollte. Sie
schlossen bald Freundschaft miteinander. B. denkt jetzt noch mit tiefer
Rührung an jene Zeit. Sie waren beide jung, beide hatten sie dieselben
Hoffnungen und dasselbe Ziel, dem sie zustrebten. Nur war B. noch jünger
und hatte von Armut und Leid und Künstlerelend erst wenig erfahren:
überdies war er vor allen Dingen Deutscher und strebte zu seinem Ziel
gewissermaßen systematisch und starrköpfig hin, mit ganz objektiver
Einschätzung seiner Begabung, nachdem er schon im voraus genau berechnet
hatte, wie weit er es bringen würde. Sein neuer Freund dagegen war
immerhin schon dreißig Jahre alt, hatte sich durch das Elend bereits
ermüden lassen, hatte schon an Geduld und Spannkraft verloren und seine
ersten Kräfte eingebüßt, da er ganze sieben Jahre für sein täglich Brot
in Provinztheatern und kleinen Orchestern auf verschiedenen Gütern hatte
fiedeln müssen. Was ihn in dieser Zeit aufrechterhalten, war der ewige
unverrückbare Gedanke, sich endlich aus seiner Misere herauszuarbeiten,
Geld zu sparen und dann nach Petersburg zu reisen. Aber der Gedanke war
unklar, dunkel, fast nur wie ein innerliches „Sich zu etwas berufen
fühlen“, so daß er denn auch mit den Jahren viel von der anfänglichen
Klarheit verlor. Als er nun endlich in Petersburg eintraf, da war
eigentlich alles gleichsam unbewußt geschehen, wie aus einer alten
Gewohnheit an einen ewigen Wunsch und ein ewiges Sichausmalen dieser
Reise, so daß er beinahe selbst nicht mehr wußte, was er hier eigentlich
suchte. Sein Enthusiasmus war konvulsivisch, sprunghaft, oft mit
geradezu galliger Bitterkeit gepaart, oft sinnverwirrend, als wollte er
mit diesem Enthusiasmus sich selbst betrügen und glauben machen, daß
seine Kraft noch ungebrochen, daß seine erste Glut, seine erste
Begeisterung noch ungeschwächt seien. Diese immerwährende Begeisterung
machte auf den kühlen, mehr wissenschaftlich veranlagten B. den größten
Eindruck. Sie blendete ihn und er sah in meinem Stiefvater geradezu ein
zukünftiges Weltgenie. Anders konnte er sich die Zukunft seines
Gefährten gar nicht vorstellen. Doch bald wurden ihm die Augen geöffnet
und er erkannte, mit wem er es zu tun hatte. Er sah und begriff, daß
diese ganze gewaltsame Begeisterung, diese Hitze und Ungeduld nichts
anderes waren, als eine unbewußte Verzweiflung in der Erinnerung an die
verlorene Zeit, in der er seine Begabung nicht auszuentwickeln vermocht
hatte, begriff, daß schließlich sogar das Talent an sich, vielleicht
sogar auch in den Anfangsjahren, gar nicht so groß gewesen war, fühlte
heraus, daß da viel Verblendung mitspielte, unnützes Selbstgefühl,
ursprünglicher Ehrgeiz und eine unausgesetzt arbeitende Phantasie, die
sich immer nur mit dem eigenen Genie beschäftigt hatte.

„Aber trotzdem,“ erzählte B., „muß ich die eigenartige Natur meines
Freundes immer wieder bewundern. Vor meinen Augen spielte sich ein
steter Kampf ab – der verzweifelte, fieberhafte Kampf eines krampfhaft
angespannten Willens mit einer inneren Kraftlosigkeit. Der Unglückliche
hatte sich bis dahin ganze sieben Jahre mit den bloßen Gedanken an
seinen zukünftigen Ruhm begnügt und über diesen Zukunftsträumen gar
nicht bemerkt, wie ihm mit der Zeit die Grundlage der Kunst immer mehr
abhanden kam, wie er nach und nach seine Technik verlor und damit das
Werkzeug seiner Kunst. Währenddessen aber entstanden in seiner wirren
Phantasie jeden Augenblick die großartigsten Zukunftspläne. Er wollte
nicht etwa nur ein erstklassiges Genie sein, der größte aller
Violinvirtuosen der Welt, für den er sich bereits allen Ernstes hielt, –
nein, er wollte überdies noch Komponist werden, – ohne vom Kontrapunkt
auch nur eine Ahnung zu haben. Am meisten jedoch wunderte mich,“ fuhr B.
fort, „daß dieser Mensch bei seinen geringen Kenntnissen von der Theorie
der Kunst ein so tiefes, klares und man kann wohl sagen instinktives
Kunstverständnis hatte. Er erfaßte und fühlte die Kunst so tief, daß es
schließlich kein Wunder war, wenn er sich in seiner Selbsterkenntnis
verirrte und sich, anstatt für einen tief nachempfindenden Kunstkritiker
zu halten, für einen Kunstschöpfer, für ein Genie hielt. Zuweilen konnte
er in seiner ungeschliffenen einfachen Ausdrucksweise, ohne, wie gesagt,
etwas von einer Theorie oder Musikwissenschaft zu ahnen, so tiefe
Wahrheiten sagen, daß ich ihn ganz verblüfft ansah und nicht begriff,
wie er das alles erraten hatte, er, der nie etwas las, nie etwas lernte!
Ich verdanke ihm viel,“ gestand B. freimütig, „denn er hat mit seinen
Ratschlägen mir nicht wenig bei meiner Selbstvervollkommnung geholfen.
Was nun mich betrifft,“ fuhr B. fort, „so war ich über meine Zukunft
ganz ruhig. Auch ich liebte meine Kunst leidenschaftlich, obwohl ich von
Anfang an wußte, was aus mir werden konnte, eben, daß ich im Grunde doch
nur so etwas wie ein Handwerker in der Kunst bleiben würde.

Ich bin aber doch stolz darauf, daß ich das, was die Natur mir gegeben,
nicht wie ein fauler Knecht verscharrt, sondern hundertfältig vergrößert
habe. Und wenn man jetzt die Reinheit meines Spiels hervorhebt und meine
ausgearbeitete Technik bewundert, so verdanke ich das nur meiner
ununterbrochenen, unermüdlichen Arbeit, der vollen Erkenntnis, d. h. der
sachlichen Einschätzung meiner Kräfte, meiner freiwilligen
Selbstverleugnung und meinem ewigen Kampf gegen Eigendünkel, gegen
Zufriedenheit mit dem eigenen Können, gegen die Faulheit, der
natürlichen Folge dieser Zufriedenheit.“

B. hatte dann versucht, auch seinerseits auf den Gefährten einzuwirken,
nachdem er sich ihm anfangs ganz untergeordnet, aber sein gutgemeinter
Rat hatte den anderen nur geärgert. Die Folge davon war eine langsam
zunehmende Entfremdung. Bald bemerkte B., daß sein Genosse sich immer
häufiger einer gewissen Apathie hingab, verstimmt und gelangweilt war,
daß die Ausbrüche seiner Begeisterung immer seltener wurden, und sich
statt dessen eine trostlose Mutlosigkeit bemerkbar machte. Zu guter
Letzt schien Jefimoff auch seine Geige zu vergessen und rührte sie oft
wochenlang nicht an. Da war es denn nicht mehr weit bis zum endgültigen
Verkommen – und bald gab der Arme sich allen Lastern hin. Wovor ihn der
Gutsbesitzer gewarnt hatte, gerade das geschah: er ergab sich dem Trunk.
B. beobachtete ihn mit Entsetzen. Raterteilen und Zureden half nichts,
das wußte er, und übrigens getraute er sich kaum noch, dem anderen ein
Wort zu sagen. Allmählich verfiel Jefimoff in den größten Zynismus und
verlor offenbar jedes Ehrgefühl. So, zum Beispiel, schämte er sich nicht
im geringsten, auf B.s Kosten zu leben, und zwar tat er das in einer
Art, als habe er das volle Recht dazu. Dabei waren die Mittel knapp. B.
schlug sich noch irgendwie durch, erteilte Unterricht, spielte bei
Kaufleuten, Deutschen und geringeren Beamten, wenn diese ihre Kränzchen
und Tanzabende hatten, bekam dafür zwar nicht viel, aber immerhin genug,
nun, um sich eben durchzuschlagen. Jefimoff dagegen wollte, wie es
schien, die Notlage seines Freundes überhaupt nicht bemerken. Er nahm
nicht die geringste Rücksicht auf ihn, sprach mit ihm in strengem Tone
oder würdigte ihn mehrere Tage lang keines Wortes. Einmal äußerte B. mit
aller Rücksicht und Vorsicht zugleich, daß es nicht schlecht wäre, wenn
er sein Geigenspiel nicht gar zu sehr vernachlässigte, da er sonst ganz
aus der Übung kommen könnte. Darüber ärgerte sich Jefimoff sehr und
erklärte, er werde seine Geige hinfort überhaupt nicht mehr anrühren, –
ganz als erwartete er, daß jemand ihn kniefällig darum bitte. Ein
anderes Mal forderte B. ihn auf, mit ihm auf einem jener Bälle zu
spielen: es sei ein größeres Fest, eine Geige genüge nicht. Diese
Aufforderung versetzte Jefimoff in helle Wut. Empört erklärte er, er sei
kein Straßenfiedler und könne nicht so gemein sein wie B. und die edle
Kunst dermaßen erniedrigen, daß er simplen Spießbürgern, die von seinem
Spiel und Talent doch nichts begriffen, zum Tanze aufspielte. B.
erwiderte darauf kein Wort, Jefimoff aber begann in der Abwesenheit des
Genossen, der fortgegangen war, um zu spielen, über den Zwischenfall
nachzudenken und kam zu dem Schluß, B. habe ihm damit nur sagen wollen,
daß er, Jefimoff, auf seine Rechnung lebe, und mit dieser Andeutung habe
er ihm den Gedanken nahelegen wollen, gleichfalls Geld zu verdienen. Als
B. zurückkehrte, begann Jefimoff plötzlich, ihm wegen seiner gemeinen
Handlungsweise Vorwürfe zu machen, und schloß damit, daß er keine Minute
länger mit ihm unter einem Dach bleiben werde. Er verschwand auch
wirklich auf zwei Tage, am dritten aber erschien er wieder bei B., als
wäre nichts geschehen, und setzte ruhig seine alte Lebensweise bei ihm
fort.

Nur die frühere Freundschaft und die alte Gewohnheit, und überdies wohl
auch noch das Mitleid, das B. mit dem verlorenen Menschen empfand,
hielten ihn davon ab, dieser schmählichen Lebensweise ein Ende zu machen
und sich endgültig von seinem Stubengenossen loszusagen. Schließlich
trennten sie sich aber doch. B. hatte Glück: er gewann die Protektion
eines hohen Würdenträgers und bald darauf gab er sein erstes Konzert,
das glänzend ausfiel. Damals war er schon ein vorzüglicher Künstler und
bald verschaffte ihm seine schnell zunehmende Berühmtheit eine Stellung
im Orchester der Kaiserlichen Oper, wo er vollauf verdienten Erfolg
errang. Beim Abschied gab er Jefimoff noch Geld und beschwor ihn, doch
wieder auf den rechten Weg zurückzukehren. Auch jetzt kann B. nicht ohne
ein inniges Mitgefühl an ihn zurückdenken. Seine Bekanntschaft mit
Jefimoff ist eben eines der größten Erlebnisse seiner Jugend gewesen und
hat den tiefsten Eindruck in ihm hinterlassen. Gemeinsam hatten sie das
gleiche Ziel erreichen wollen, wie sollten sie sich da nicht einander
anschließen. Einerseits kam es, wie es nicht anders kommen konnte;
anderseits waren es vielleicht gerade die Seltsamkeiten und die
gröbsten, unangenehmsten Mängel Jefimoffs, die B. noch mehr an ihn
fesselten. B. begriff ihn vollkommen. Er durchschaute ihn völlig und
ahnte, wie das ganze enden mußte. Beim Abschied umarmten sie sich und
ihre Augen wurden feucht. Da sagte Jefimoff unter Tränen mit versagender
Stimme, daß er ein verlorener Mensch sei, er wisse es ja schon längst,
aber jetzt erst habe er die ganze Größe seines Elends erfaßt.

„Ich habe kein Talent!“ stieß er hervor, totenblaß.

B. war erschüttert.

„Höre, Jegor Petrowitsch,“ begann er, „was machst du aus dir? Du
richtest dich mit deiner Verzweiflung nur zugrunde, hab’ doch nur ein
bißchen Ausdauer und Mannhaftigkeit! Jetzt sagst du in einer Anwandlung
von Mutlosigkeit, du hättest kein Talent. Das ist aber doch nicht wahr!
Du hast Talent, ich versichere dich! Gerade _du_ hast es! Ich ersehe das
schon daraus, wie du Kunst fühlst und begreifst. Und ein Beweis dafür
ist auch schon dein ganzes früheres Leben. Du hast mir doch alles
erzählt, und auch damals schon hat dich unbewußt dieselbe Verzweiflung
ergriffen. Damals hat dein erster Lehrer, jener seltsame Mensch, von dem
du mir so oft gesprochen hast, deine Liebe zur Kunst geweckt und dein
Talent erraten. Du fühltest das damals ebenso stark und schwer, wie du
es auch jetzt wieder fühlst. Damals wußtest du selbst nicht, was in dir
vorging. Du hieltest es nicht aus bei deinem Gutsbesitzer und du
wolltest fort von ihm, du wolltest etwas anderes, – aber was eigentlich,
das wußtest du nicht. Dein Lehrer starb viel zu früh. Er ließ dich mit
einem unklaren Streben zurück und vor allen Dingen erklärte er dir nicht
dich selbst. Du fühltest, daß jener Weg nichts für dich war, du
brauchtest einen anderen, einen breiteren, du fühltest, daß dir anderes
zu erreichen bestimmt war, aber du begriffst nicht, wie dieses andere zu
erreichen sei, und in deiner Sehnsucht und Qual ward dir deine ganze
Umgebung zuwider und verhaßt. Deine sechs Jahre Armut und Elend hast du
nicht umsonst durchgemacht: du hast in der Zeit gelernt, du hast
gedacht, du hast dich selbst, hast deine Kraft erkannt. Jetzt kennst du
die Kunst und zugleich deine Bestimmung. Mein Freund, glaub’ mir, jetzt
tut dir nur noch Ausdauer und Mannhaftigkeit not. Dir steht Größeres
bevor, als mir: du bist hundertmal mehr Künstler, als ich, doch gäbe
Gott dir wenigstens ein Zehntel von meiner Ausdauer. Lerne und trink
nicht, wie dir dein prächtiger alter Gutsbesitzer bereits sagte, und die
Hauptsache – fange von neuem an, fang von Anfang an, fang mit dem
Alphabet an, wenn du willst. Was quält dich denn jetzt? Armut? Hunger?
Aber Armut und Hunger entwickeln doch den Künstler. Sie gehören zum
Anfang, sind sogar untrennbar mit ihm verbunden. Vorläufig kennt dich
noch niemand, und es will dich auch niemand kennen, so ist nun einmal
die Welt. Das wird anders werden, sobald man erfährt, daß du Talent
hast. Dann werden dich wieder Neid, kleinliche Gemeinheit, vor allem
aber Dummheit viel mehr bedrücken, als Armut es je vermag. Ein Talent
bedarf der Teilnahme, es will verstanden sein. Du aber wirst dann erst
sehen, wie die Leute sind, die dich umgeben, sobald du nur annähernd
etwas erreicht hast. Was sich in dir durch mühevolle Arbeit,
Entbehrungen, Hunger und schlaflose Nächte herausgearbeitet hat, das
werden sie geringschätzen, verachten oder überhaupt nicht beachten. Sie
werden dich nicht ermutigen, dich nicht trösten, diese deine zukünftigen
Freunde. Sie werden dir auch nicht sagen, was in dir gut und echt ist,
wohl aber werden sie mit boshafter Freude deine Fehler hervorheben,
werden gerade darauf hinweisen, was an dir schlecht ist, und darauf,
worin du irrst, und unter dem äußeren Anschein der Kaltblütigkeit und
der Gleichgültigkeit oder gar Verachtung deiner Person werden sie über
jeden deiner Fehler frohlocken, als hätten sie ein Fest zu feiern – und
Fehler hat doch wohl ein jeder! Du aber bist hochmütig, bist oft am
unrechten Platz stolz, du könntest leicht einen dünkelhaften Wicht
kränken, und dann wehe dir! Du bist allein und ein einziger, sie aber
sind viele – sie werden dich mit Stecknadeln zu Tode quälen. Sogar ich
fange schon an, das kennen zu lernen. So nimm dich doch jetzt endlich
zusammen! Du bist noch längst nicht so arm, daß du nicht leben könntest,
nur mißachte die Arbeit nicht, säge Holz, wie ich Holz gesägt habe bei
den Bürgern und Beamten, wenn sie tanzten. Aber du bist ungeduldig, du
bist krank vor Ungeduld, es ist zu wenig Einfachheit in dir, du
verstellst dich zu viel, du denkst zu viel, du gibst deinem Kopf zu viel
Arbeit. In Worten bist du dreist, sobald du aber den Violinbogen in die
Hand nehmen mußt, wirst du mutlos. Du bist eigenliebig und es steckt in
dir wenig Tapferkeit. So sei doch mutiger, warte ab, lerne, und wenn du
auch deinen Kräften nicht traust, so arbeite nur. Es steckt Glut in dir,
du hast etwas Elementares! Vielleicht erreichst du dein Ziel, oder wenn
nicht, so laß es doch immerhin auf das Vielleicht ankommen. Verlieren
kannst du dabei auf keinen Fall etwas, um so größer aber ist der
mögliche Gewinn. Hier, Freund, ist euer russisches ‚Vielleicht‘ eine
große Sache!“

Jefimoff hörte seinen einstigen Genossen mit tief aufgewühlten Gefühlen
an. Während jener noch sprach, trat allmählich wieder Farbe in seine
bleichen Wangen, seine Augen leuchteten auf und Mut und Hoffnung
erglänzte in ihnen. Aber der gute Mut wurde schnell zum Selbstgefühl und
dann zu der bei ihm üblichen Anmaßung: als B. sich dem Schluß seiner
Standrede näherte, da hörte Jefimoff nur noch zerstreut und schon
ungeduldig zu. Trotzdem drückte er ihm zum Schluß kräftig die Hand,
dankte und – schnell wie immer in seinen Übergängen von tiefster
Mutlosigkeit und Selbstverurteilung zum größten Hochmut, wenn nicht gar
zur frechsten Vermessenheit – erklärte er selbstbewußt, der Freund möge
sich nicht um ihn sorgen, er wisse, wie er seine Zukunft zu gestalten
habe. Er hoffe, bald gleichfalls Protektion zu finden, dann werde er ein
Konzert geben und mit einem Schlage Ruhm und Geld erwerben. – B. zuckte
mit den Achseln, erwiderte nichts darauf und sie schieden voneinander,
natürlich nicht auf lange. Jefimoff verjubelte sogleich das empfangene
Geld und suchte ihn dann auf, um ihn wieder um Geld anzugehen. Dasselbe
tat er zum dritten-, vierten- und bald zum zehntenmal, bis endlich die
Geduld B.s erschöpft war und er ihm sagen ließ, er sei nicht zu Hause.
Von da an verlor er ihn ganz aus den Augen ...

Es vergingen ein paar Jahre. Da stieß B. eines Tages auf dem Heimwege
aus der Probe in einer Gasse vor einer schmutzigen Trinkstube mit einem
schlecht gekleideten, betrunkenen Menschen zusammen, der ihn plötzlich
beim Namen nannte. Es war Jefimoff. Er hatte sich sehr verändert, sein
Gesicht war gelb und aufgedunsen. Man sah es ihm auf den ersten Blick
an, daß das liederliche Leben bereits seinen Zügen einen unverwischbaren
Stempel aufgedrückt hatte. B. war trotzdem sehr erfreut, ihn
wiederzusehen, und folgte ihm in die Trinkstube, wohin Jefimoff ihn
schon nach den ersten zwei Worten zog. Dort, in einer abgelegenen
kleinen verräucherten Stube, musterte er etwas eingehender seinen
ehemaligen Stubengenossen. Da erst sah er, daß jener ganz zerlumpt war
und daß seine Stiefel zerrissen waren. Die zerknüllte Hemdbrust hatte
Weinflecke. Sein Haar fing schon an zu ergrauen und sich zu lichten.

„Wie geht es dir jetzt? Wo lebst du?“ fragte B.

Jefimoff schaute etwas betreten darein, im ersten Augenblick sogar
beinahe eingeschüchtert, und antwortete so unzusammenhängend und
stockend, daß B. nahe daran war, ihn für halbwegs verrückt zu halten.
Endlich gestand Jefimoff, er könne nicht sprechen, bevor er nicht einen
Schnaps getrunken, hier aber habe er schon lange keinen Kredit mehr. Er
errötete, als er das sagte, wollte sich aber mit einem gewissen flotten
Gehaben darüber hinweghelfen, was ihm jedoch mißlang: es wurde daraus
etwas aufdringlich Gemeines, Unnatürliches, so daß der ganze Eindruck
ein recht trauriger war und in dem gutmütigen B. aufrichtiges Mitleid
erweckte. Er sah, daß alle seine Befürchtungen eingetroffen waren. Er
bestellte also Schnaps. Jefimoffs Gesicht veränderte sich vor
Dankbarkeit und er geriet so aus dem Gleichgewicht, daß er mit Tränen in
den Augen fast im Begriffe war, B. die Hand zu küssen. Während des
Essens erfuhr dann B. zu seiner größten Verwunderung, daß der
Unglückliche inzwischen geheiratet hatte. Aber seine Verwunderung nahm
noch zu, als er gleich darauf hören mußte, daß die Frau an seinem ganzen
Unglück und Elend schuld sei, daß die Heirat sein ganzes Können
vernichtet habe.

„Aber wie denn das?“ fragte B.

„Ja, Freund, seit zwei Jahren nehme ich meine Geige nicht mehr in die
Hand,“ antwortete Jefimoff. „Sie ist eben ein ungebildetes, rohes Weib,
eine richtige Köchin. Daß sie der ...! Na ja. Wir liegen uns nur in den
Haaren, das ist alles, was wir tun.“

„Aber warum hast du sie denn geheiratet, wenn sie so ist?“

„Hatte nichts zu essen. Da machte ich ihre Bekanntschaft. Sie besaß etwa
tausend Rubel ... da heiratete ich sie denn. Sie aber hatte sich in mich
verliebt. Hat sich selbst mir an den Hals gehängt. Wer hatte sie drum
gebeten! Das Geld ist verlebt, vertrunken, Freund, und – was Kunst! Es
ist alles zum Teufel gegangen!“

B. hatte die Empfindung, als wolle Jefimoff sich gewissermaßen
rechtfertigen, und zwar schien er sich damit sehr zu beeilen, wie um
einer Bemerkung oder einer Frage zuvorzukommen.

„Habe alles an den Nagel gehängt, alles,“ fuhr er fort und erzählte
dann, daß er es in der letzten Zeit im Spiel fast bis zur Vollendung
gebracht habe, so daß ... nun ja, B. sei zwar einer der ersten
Violinspieler in Petersburg, aber ihm, Jefimoff, könne er doch nicht
einmal das Wasser reichen, wenn er, Jefimoff, mal spielen wollte.

„Ja, aber wie steht es denn jetzt mit dir?“ fragte B., dem der ganze
Sachverhalt noch unklar war. „Warum suchst du dir dann nicht einen
Verdienst?“

„Äh! – lohnt nicht!“ bemerkte Jefimoff mit wegwerfender Gebärde. „Wer
versteht denn bei euch etwas von wirklicher Kunst! Was wißt ihr
überhaupt? Nicht so viel, gar nichts wißt ihr! Irgend so einen
Hopserwalzer den Ballettspringern vorzufiedeln – das könnt ihr
allenfalls noch. Aber das ist auch alles. Wirkliche Künstler habt ihr ja
überhaupt noch nicht gesehn, noch viel weniger gehört. Wozu euch
aufrütteln! Bleibt, was ihr seid!“

Hierbei machte Jefimoff wieder eine geringschätzige Bewegung – geriet
aber ins Wanken, da er schon ziemlich viel getrunken hatte. Dann
forderte er B. auf, zu ihm zu kommen. Dieser lehnte das vorläufig ab,
fragte ihn aber nach seiner Adresse und versprach, ihn am nächsten Tage
aufzusuchen. Jefimoff, der nun schon genug gegessen und getrunken hatte,
blickte spöttisch seinen früheren Genossen an und schien die größte Lust
zu verspüren, ihn irgendwie zu verletzen. Als sie aufbrachen, griff er
schnell nach B.s kostbarem Pelz und hielt ihn, wie ein Geringerer einem
Höherstehenden, dem er beim Anziehen behilflich sein will. Und als sie
durch das vordere Zimmer, die eigentliche Schenkstube, gingen, blieb er
stehen und stellte B. den Wirtsleuten und dem Publikum als den ersten
und einzigen Violinvirtuosen der ganzen Hauptstadt vor. Kurz, er benahm
sich schmutzig.

Nichtsdestoweniger suchte B. ihn am anderen Morgen in der Dachkammer
auf, wo wir in größter Armut lebten. Ich war damals vier Jahre alt und
meine Mutter war schon seit zwei Jahren mit Jefimoff verheiratet. Meine
arme Mutter! Als völlig unbemittelte Gouvernante hatte sie, die eine
vortreffliche Bildung besaß und schön war, einen älteren Bekannten
geheiratet, meinen Vater, um aus der Armut herauszukommen. Aber die Ehe
dauerte kaum drei Jahre. Mein Vater starb ganz plötzlich. Und als sein
geringer Nachlaß unter seinen Erben verteilt wurde, blieb meine Mutter
mit mir und einer nur kleinen Summe zurück, die von der
Hinterlassenschaft ihres Mannes ihr zufiel. Wieder eine
Gouvernantenstelle anzunehmen, wäre kaum möglich gewesen, jetzt, wo sie
ein kleines Kind hatte. In dieser Zeit machte sie durch einen Zufall die
Bekanntschaft Jefimoffs und verliebte sich tatsächlich in ihn. Auch sie
war eine Enthusiastin, eine phantastische Träumerin. Auch sie sah in ihm
ein großes Genie und glaubte seinen stolzen Worten, wenn er von seiner
glänzenden Zukunft sprach. Ihrer Phantasie schmeichelte die Vorstellung
von dem beneidenswerten Los, die Stütze und Gefährtin eines genialen
Künstlers zu sein, und so heiratete sie ihn. Schon im ersten Monat
schwanden alle ihre Hoffnungen und Träume: vor ihr blieb nichts, als die
armselige Wirklichkeit. Jefimoff, der sie vielleicht nur aus dem Grunde
geheiratet hatte, weil sie etwa tausend Rubel besaß, legte, als das Geld
zu Ende war, sogleich die Hände in den Schoß und erklärte allen und
jedem – es war geradezu, als hätte er sich über den Vorwand gefreut –,
daß die Heirat sein Talent vernichtet habe, daß er in einer dumpfen
Stube nicht arbeiten könne, unter den Augen einer hungrigen Familie ...
da könne der Verstand weder Noten noch Melodien fassen, und schließlich:
dieses Unglück sei ihm eben offenbar von Anfang an bestimmt gewesen. Wie
es scheint, hat er bald selbst an die Richtigkeit seiner Klagen geglaubt
und sich vermutlich über diese neue Rechtfertigungsmöglichkeit wirklich
gefreut. Dieser unselige, trotz aller Begabung verlorene Mensch hatte
wohl schon lange nach einem äußeren Vorwand gesucht, dem er alles
Unglück und alle Mißerfolge zuschreiben konnte. An den furchtbaren
Gedanken, daß er für die Kunst schon längst und unrettbar verloren war,
an den konnte er sich natürlich nicht gewöhnen. Er kämpfte krampfhaft
gegen diese unheimliche Erkenntnis an, kämpfte wie mit einem Alb, der
auf ihm lastete, und als die Wirklichkeit ihn endlich zu besiegen begann
und seine Augen für Sekunden öffnete, da war es ihm, als müßte er vor
Entsetzen den Verstand verlieren. Wie sollte er auch auf das verzichten,
was so lange Ziel und Zweck seines Lebens gewesen war, und so glaubte er
bis zur letzten Minute, oder redete es sich wenigstens ein, daß noch
nichts verloren sei. Kamen aber Stunden des Zweifels, dann gab er sich
wieder dem Trunk hin, um vom Rausch die Qual verdrängen zu lassen. Zu
guter Letzt wußte er vielleicht selbst nicht, wie unentbehrlich ihm die
Frau in dieser Zeit war. Sie war ja für ihn eine lebendige
Rechtfertigung, wie es denn fast zu seiner fixen Idee wurde, daß erst
dann alles wieder gut werden würde, wenn er seine Frau, _die an allem
Schuldige_, begraben habe. Meine arme Mutter verstand ihn aber nicht.
Als geborene Träumerin ertrug sie nicht einmal den ersten Schritt in der
feindlichen Wirklichkeit. Sie wurde heftig, böse, zänkisch, geriet jeden
Augenblick in Streit mit dem Mann, dem es geradezu ein Vergnügen zu sein
schien, sie zu quälen, und immer wieder sagte sie ihm, er solle doch
arbeiten, sonst verlerne er ja alles. Aber die Verblendung und die fixe
Idee meines Stiefvaters, überhaupt seine ganze Überspanntheit machten
ihn gefühllos und fast unmenschlich grausam gegen sie. Er lachte nur und
schwor, die Geige vor ihrem Tode nicht wieder in die Hand zu nehmen,
ohne sich über seine grausame Rücksichtslosigkeit auch nur Gedanken zu
machen, wenn er ihr dies ganz unumwunden ins Gesicht sagte. Meine
Mutter, die ihn trotz allem bis zu ihrem Tode leidenschaftlich liebte,
war einem solchen Leben nicht gewachsen. Sie wurde kränklich und zuletzt
wirklich krank, und da sie sich nie erholen konnte, lebte sie, leidend
wie sie war, nur unter ewigen Qualen. Und überdies mußte sie ganz allein
für den Unterhalt der Familie sorgen. Sie begann zu kochen und richtete
einen Mittagstisch für Fremde ein, aber ihr Mann entwand ihr heimlich
alles Geld, und da kam es denn nicht selten vor, daß sie diejenigen, die
das Essen abholen wollten, mit leerem Geschirr zurückschicken mußte. Als
B. uns aufsuchte, hatte sie das Kochen schon aufgegeben; sie
beschäftigte sich damals mit dem Färben alter Kleider und wusch außerdem
Wäsche. So fristeten wir unser Leben dort oben in der Dachstube.

Unsere Armut überraschte B.

„Hör’ mal, was redest du denn da von deiner vernichteten Kunst?“ wandte
er sich an meinen Stiefvater. „Sie ernährt dich doch, und was tust du?“

„Nichts!“ versetzte mein Stiefvater.

Doch B. kannte noch nicht das ganze Unglück meiner Mutter. Ihr Mann
brachte oft, wenn er nach Hause kam, eine ganze Bande der
verschiedensten Kumpane mit und dann – was gab es dann nicht alles!

B. redete lange Zeit auf seinen früheren Genossen ein. Er sagte ihm
auch, daß er ihm in keiner Beziehung helfen werde, wenn er sich nicht
besserte, auch Geld werde er ihm nicht geben, da er es doch nur
vertrinke. Zum Schluß bat er ihn, ihm etwas vorzuspielen, damit er
beurteilen könne, was sich für ihn tun ließ. Während mein Stiefvater die
Geige hervorholte, wollte B. meiner Mutter heimlich Geld zustecken, aber
sie nahm es nicht. Zum erstenmal sollte sie Almosen annehmen! Da gab B.
das Geld mir, und die arme Frau brach in Tränen aus. Mein Stiefvater
nahm die Geige aus dem Kasten, besah sie, sagte aber dann, daß er zuerst
Schnaps trinken müsse, ohne den könne er nicht spielen. Der Schnaps
wurde geholt. Er trank und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Ich werde dir aus alter Freundschaft etwas von meinen eigenen
Kompositionen vorspielen,“ sagte er B. und zog unter der Kommode ein
dickes, verstaubtes Heft hervor.

„Alles dies habe ich selbst geschrieben,“ sagte er, auf das Heft
deutend. „Nun, du wirst ja sehen ... Das, Freund, ist etwas anderes als
eure Ballettstückchen!“

B. blätterte schweigend ein paar Seiten um; dann schlug er die Noten
auf, die er bei sich hatte, und bat ihn, daraus etwas vorzuspielen.

Es kränkte Jefimoff, daß seine Kompositionen so zur Seite geschoben
wurden, aber er kam doch der Aufforderung nach, wohl in der Furcht, B.s
Gunst und Anteilnahme zu verlieren.

Er spielte. B. erkannte, daß er in der Zeit nach ihrer Trennung viel
zugelernt, also auch viel gearbeitet haben mußte, obgleich er damit
geprahlt, daß er die Geige seit seiner Heirat nicht mehr angerührt habe.
Da hätte man die Freude meiner armen Mutter sehen sollen! Sie sah ihren
Mann an und war wieder stolz auf ihn. Der gute B. war aufrichtig erfreut
und wollte unbedingt meinem Stiefvater helfen. Er hatte schon damals
gute Beziehungen und so tat er denn auch alles mögliche für seinen armen
Studiengenossen, nachdem er von diesem das ehrenwörtliche Versprechen
gefordert und erhalten hatte, daß er sich gut aufführen werde. Zunächst
kleidete er ihn besser ein, natürlich auf seine Rechnung, dann ging er
mit ihm zu ein paar bekannten Persönlichkeiten, von denen es abhing, ob
Jefimoff in dem Orchester ankam, wo B. ihn unterbringen wollte. Was nun
die Annahme einer Stellung betraf, so hatte Jefimoff natürlich nur
großgetan, wie gewöhnlich, wenn es sich bloß um Worte handelte.
Wenigstens nahm er das Anerbieten seines alten Freundes mit der größten
Bereitwilligkeit an. B. erzählte mir, er habe sich für ihn geschämt
wegen der Schmeicheleien und der geheuchelten Bewunderung, mit denen
mein Stiefvater seine Dankbarkeit habe bezeugen wollen, wahrscheinlich
in der Absicht, sich dadurch B.s Wohlwollen zu sichern. Er begriff
endlich, daß man ihn auf den rechten Weg stellen wollte und er hörte
sogar auf, zu trinken. Schließlich erhielt er auch wirklich eine
Anstellung im Orchester eines Theaters. Die Prüfung bestand er gut, denn
in einem Monat hatte er sich durch Fleiß und guten Willen alles wieder
angeeignet, was er in anderthalb Jahren des Nichtstuns verlernt hatte.
Er versprach, auch hinfort gut zu üben, seinen neuen Pflichten getreu
nachzukommen und pünktlich und nüchtern zu sein. Unsere Verhältnisse
besserten sich jedoch deshalb noch keineswegs. Mein Stiefvater gab
nämlich von seinem Monatsgehalt meiner Mutter nicht einen Kopeken, er
verlebte alles allein, vertrank und verjubelte das Geld mit seinen neuen
Freunden, von denen er sich sogleich eine ganze Schar anlegte. Es waren
das größtenteils am Theater Angestellte, Choristen, Statisten, mit einem
Wort Leute, unter denen er der Erste sein konnte, während er alle
Talentvolleren geflissentlich mied. Diesen dagegen konnte er imponieren
und eine ganz besondere Achtung einflößen, was ihm schon gleich zu
Anfang gelungen war, indem er ihnen sofort erklärt und sie durch seine
Überzeugung gleichfalls überzeugt hatte, daß er eine verkannte Größe,
ein Genie sei, daß seine Frau ihn zugrunde gerichtet und daß ihr
Kapellmeister von der ganzen Musik keine Ahnung habe. Er machte sich
über alle Solisten des Orchesters lustig, ebenso über die Wahl der
Stücke, die gespielt wurden, wie auch über die Komponisten der Opern.
Schließlich fing er an, eine ganz neue Theorie der Musik zu erklären.
Kurz, er wurde dem ganzen Orchester lästig, geriet mit allen in Streit,
nicht zuletzt auch mit dem Kapellmeister, wurde seinen Vorgesetzten
gegenüber grob, erwarb sich den Ruf, der unruhigste, verdrehteste und
zugleich der nichtsnutzigste Mensch zu sein, und brachte es so weit, daß
er allen unerträglich wurde.

Und in der Tat, es war doch recht seltsam anzusehen, daß ein so
unansehnlicher Mensch, ein so schlechter und fahrlässiger Musiker so
riesige Ansprüche stellte und in einem so selbstbewußten Ton prahlte.

Es endete damit, daß er sich mit B. verfeindete: er erfand eine häßliche
Klatschgeschichte, eine ganz niederträchtige Verleumdung seines
Wohltäters und gab sie als selbsterlebte Wirklichkeit zum besten. Nach
einem halben Jahr wurde er aus diesem Orchester wegen Nachlässigkeit und
unzulässiger Aufführung in nicht nüchternem Zustande ausgeschlossen.
Doch damit hatte man ihn noch nicht abgeschüttelt. Bald sah man ihn
wieder in zerlumpten Kleidern, denn die guten waren verkauft oder
versetzt, und in diesen Kleidern suchte er seine gewesenen Kollegen vom
Orchester auf, ohne darauf zu achten, ob diese davon erbaut waren oder
nicht, erzählte Klatschgeschichten, schwätzte Unsinn, klagte über sein
Leben und forderte alle auf, zu ihm zu kommen, um seinen Hausdrachen zu
sehen. Natürlich fanden sich Zuhörer, es fanden sich auch solche, denen
es Spaß machte, dem an die Luft gesetzten Kollegen mittels Alkohol die
Zunge zu lösen und sich durch sein Geschwätz erheitern zu lassen.
Übrigens sprach er dann immer mit Geist und Witz, untermischte seine
Reden mit beißendem Spott und diversen Zynismen, die namentlich bei
gewissen Zuhörern stets des Beifalls sicher sind. Man nahm ihn für einen
etwas verschrobenen Narren, den plaudern zu hören in müßigen Stunden
ganz amüsant war. Auch zogen die Kollegen ihn gern auf, indem sie in
seiner Gegenwart von einem neuen großen Violinvirtuosen zu sprechen
anfingen, der sich angeblich auf einer Konzertreise in Rußland befinden
sollte und auch nach Petersburg kommen werde. Sobald er das hörte,
veränderte sich sein Gesicht, er wurde kleinlauter, erkundigte sich, wie
der Künstler hieß, wo er konzertierte, wie groß denn sein Talent sei,
und war offenbar eifersüchtig auf den Ruhm der ihm unbekannten Größe. Es
scheint, daß erst in dieser Zeit sein systematischer Wahnsinn, sein
Größenwahnsinn begann, diese fixe Idee, daß er der erste Geigenvirtuose,
mindestens in Petersburg sei, daß aber das Schicksal ihn verfolge und er
dank verschiedenen Intrigen natürlich nicht verstanden werde und deshalb
in seiner Unbekanntheit verbleibe. Letzteres schmeichelte ihm sogar,
denn es gibt solche Charaktere, die sich mit Vorliebe für verfolgt und
unverstanden halten und sich laut darüber beschweren, oder im stillen
zur Sättigung ihres Ehrgeizes wenigstens selber ihre nicht anerkannte
Größe anbeten. Jefimoff kannte alle Petersburger Violinvirtuosen und
konnte sie an den Fingern herzählen, doch war von ihnen allen, nach
seiner Ansicht, kein einziger ihm gewachsen. Seine Kollegen aber und
andere Sachverständige, auch manche Laien, die seinen Größenwahn
kannten, brachten das Gespräch gerade deshalb auf die angebliche neue
Größe, um ihn zu veranlassen, den vermeintlichen Rivalen im voraus zu
kritisieren. Ihnen gefiel sein Grimm, seine boshaften Einfälle, es
gefielen vor allen Dingen die sachlichen, klugen Bemerkungen, die er
machte, wenn er das Spiel der anderen kritisierte. Oft verstanden sie
ihn nicht, doch dafür waren sie überzeugt, daß kein zweiter auf der Welt
so geschickt und in so packenden Karikaturen die Größen unter den
zeitgenössischen Musikern darzustellen und herunterzureißen wußte. Und
sogar diese Künstler, über die er so schonungslos spottete, fürchteten
ihn ein wenig, denn sie kannten nicht nur seinen beißenden Witz, sondern
erkannten auch die Richtigkeit seiner Angriffe und Urteile. Man hatte
sich gewissermaßen schon daran gewöhnt, ihn in den Korridoren und hinter
den Kulissen des Theaters zu sehen. Die Bedienten gewährten ihm
widerspruchslos den Zutritt, wie einer unentbehrlichen Person. So wurde
er im Theater zu einer Figur, etwa von der Art eines musikalischen
Thersites. Das dauerte etwa zwei bis drei Jahre. Endlich aber fiel er
allen auch in dieser seiner letzten Rolle lästig. Man setzte ihn formell
vor die Tür und in den zwei letzten Jahren seines Lebens war mein
Stiefvater für diese Leute wie verschollen, keiner von ihnen sah ihn je
wieder. Übrigens – B. ist ihm doch noch zweimal begegnet, und zwar sah
er ihn in einer so elenden Verfassung, daß noch einmal das Mitleid
seinen Ekel besiegte. Er rief ihn an, aber das kränkte Jefimoff und er
tat, als hätte er nichts gehört, zog seinen alten verbeulten Filz noch
mehr über die Augen und ging vorüber. Es verging einige Zeit, da wurde
B. am Morgen eines großen Festtages gemeldet, daß sein ehemaliger
Kollege Jefimoff ihm zum Fest zu gratulieren wünsche. B. ging ihm
entgegen. Jefimoff stand berauscht im Vorzimmer, verbeugte sich äußerst
tief, fast bis zur Erde, seine Lippen murmelten etwas Unverständliches,
doch weigerte er sich hartnäckig, näherzutreten. Der Sinn seines
Besuches war ungefähr der: „Wie können wir unbegabten Leute mit so
großen und vornehmen Berühmtheiten wie Euer Wohlgeboren Umgang pflegen?
Für uns Geringe genügt auch ein Dienerplatz, wenn wir zum Fest
gratulieren kommen: wir machen unseren Bückling und gehen wieder.“ Mit
einem Wort, er war schmutzig, dumm und widerlich gemein. Seit jenem
Morgen sah ihn B. lange Zeit nicht mehr, bis – bis zu der Katastrophe,
mit der dieses ganze traurige, erstickend trostlose, kranke Leben
endete. Es geschah das auf eine furchtbare Weise. Diese Katastrophe ist
nicht nur das erschütterndste Erlebnis meiner Kindheit, sie ist sogar
für mein ganzes Leben entscheidend gewesen. Doch zuvor muß ich noch
erzählen, wie meine Kindheit war, und erklären, welche Bedeutung dieser
Mensch für mich hatte, dieser Mensch, der einen so qualvollen Eindruck
auf mein Kindergemüt machte und der die Ursache des Todes meiner armen
Mutter gewesen.


                                  II.

Meine Erinnerung an meine Kindheit reicht nicht sehr weit zurück,
eigentlich nur bis zu meinem zehnten Jahr. Ich weiß nicht, wie es zu
erklären ist, daß alles, was ich bis dahin erlebt habe, keinen einzigen
klaren Eindruck in mir hinterlassen hat, an den ich mich jetzt noch
erinnern könnte. Aber ungefähr von der Mitte meines neunten Jahres an,
da erinnere ich mich des Erlebten fast Tag für Tag: es ist wie eine
laufende Kette von Erinnerungen, ganz als wäre das alles erst gestern
geschehen ... Allerdings kann ich mich auch noch einiger früherer
Erlebnisse entsinnen, aber doch nur wie im Traum. So erinnere ich mich
z. B. des immer brennenden Lämpchens in der dunklen Ecke vor einem
altertümlichen Heiligenbilde; dann, wie ich einmal auf der Straße einem
Pferde unter die Beine geriet, worauf ich, wie man mir später erzählt
hat, drei Monate lang krank gelegen habe; ferner, wie ich während dieser
Krankheit einmal in der Nacht neben meiner Mutter, in deren Bett ich
schlief, plötzlich im Traum aufschrak und vom Schreck erwachte, und wie
ich mich dann vor der nächtlichen Stille und Dunkelheit und den in der
Ecke raschelnden und knabbernden Mäusen fürchtete; Ich zitterte die
ganze Nacht vor Angst, ich zog mir sogar die Decke über den Kopf, aber
ich wagte trotzdem nicht, meine Mutter zu wecken, woraus ich schließe,
daß meine Furcht vor ihr noch größer war als vor den Mäusen und der
Dunkelheit. Aber von der Stunde an, wo plötzlich das Bewußtsein in mir
erwachte, entwickelte ich mich schnell, wider Erwarten schnell, und
viele nichts weniger als kindliche Geschehnisse wurden mir mit einemmal
in geradezu unheimlicher Weise faßbar. Alles klärte sich vor mir auf,
alles wurde mir in kürzester Zeit verständlich. Und diese Zeit, in der
ich bewußt zu leben anfing, an die ich mich, im Gegensatz zu den
vorhergegangenen Jahren, mit ungewöhnlicher Deutlichkeit erinnere, hat
in mir einen tiefen und traurigen Eindruck hinterlassen. Dieser Eindruck
wiederholte sich dann jeden Tag und wuchs mit jedem Tag; er verlieh der
ganzen Zeit meines Zusammenlebens mit meinen Eltern und somit meiner
ganzen Kindheit eine dunkle und eigenartige Farbe.

Jetzt scheint es mir, daß ich damals ganz plötzlich wie aus einem tiefen
Traum erwachte (obschon dies mir, als es geschah, natürlich gar nicht
weiter auffiel). Ich fand mich in einem großen Zimmer mit einer
niedrigen Decke. Es war unsauber und die Luft darin dumpf. Die
getünchten Wände waren von schmutziggrüner Farbe, in einer Ecke stand
ein riesiger russischer Ofen. Durch die Fenster sah man auf die Straße,
oder richtiger auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses, und diese
Fenster waren breit und niedrig, fast nur wie horizontale Spalten in der
Wand. Die Fensterbretter waren so hoch vom Fußboden, daß ich auf einen
Stuhl und eine Fußbank klettern mußte, um mich, und auch noch immer mit
Mühe, auf meinen Lieblingsplatz hinaufschwingen zu können – wenn niemand
zu Hause war, der es mir verbot. Aus unserer Wohnung konnte man fast die
halbe Stadt sehen, denn wir wohnten unter dem Dach in einem
sechsstöckigen, sehr, sehr großen Hause. Unsere ganze Einrichtung
bestand aus der Ruine eines alten zerrissenen Ledersofas, das ganz
verstaubt war und aus dem überall der Bast der Polsterung hervorsah,
ferner einem einfachen, ungestrichenen Tisch, zwei Stühlen, einem Bett,
in dem meine Mutter schlief, einem Schränkchen in der Ecke, einer
Kommode, die immer schief stand, und einem zerrissenen papierenen
Wandschirm.

Ich erinnere mich, es war einmal in der Dämmerung: das ganze Zimmer
befand sich in Unordnung, auf der Diele lag alles durcheinander, Bürsten
und Lappen, unser hölzernes Eßgeschirr, eine zerschlagene Flasche und
ich weiß nicht was noch. Ich erinnere mich, meine Mutter war sehr
aufgeregt und aus irgendeinem Grunde weinte sie. Mein Stiefvater saß in
der Ecke, wie immer in einem zerrissenen Rock. Er antwortete ihr irgend
etwas, antwortete unter einem höhnischen Auflachen, was meine Mutter
noch mehr ärgerte, und dann flogen wieder Bürsten und Teller auf den
Boden. Ich begann zu weinen und zu schreien und stürzte zu ihnen beiden.
Ich war entsetzlich erschrocken und umklammerte wie verzweifelt meinen
Vater, um ihn mit meinem Körper zu schützen. Gott mag wissen, weshalb es
mir schien, daß der Ärger meiner Mutter grundlos und mein Vater
unschuldig sei. Ich wollte für ihn um Verzeihung bitten, gleichviel was
für eine Strafe an seiner Stelle auf mich nehmen. Ich fürchtete mich
entsetzlich vor meiner Mutter und glaubte, daß alle sie ebenso
fürchteten. Meine Mutter sah mich im ersten Augenblick ganz verwundert
an, dann faßte sie mich an der Hand und zog mich hinter den Schirm. Ich
beschädigte meine Hand am Bett – es schmerzte sehr –, aber der Schreck
war doch größer als der Schmerz, und ich wagte nicht mal zu mucksen. Ich
weiß noch, meine Mutter machte darauf meinem Vater bittere Vorwürfe,
indem sie auf mich deutete. (Übrigens nenne ich ihn hier meinen Vater,
obgleich er doch nur mein Stiefvater war, aber ich habe es erst viel
später erfahren, daß zwischen uns überhaupt keine Verwandtschaft
bestand.) Diese ganze Szene dauerte etwa zwei Stunden und zitternd vor
Spannung bemühte ich mich, zu erraten, womit das alles enden werde.
Endlich verstummte der Streit und die Mutter ging irgendwohin fort. Da
rief mich der Vater zu sich, küßte mich, streichelte mein Haar, nahm
mich auf den Schoß und ich schmiegte mich fest und süß an seine Brust.
Es war die erste väterliche Zärtlichkeit, die ich empfand, und
vielleicht kann ich mich deshalb von der Zeit an so gut alles Erlebten
erinnern. Auch begriff ich, daß ich mir diese Liebe des Vaters durch
meine Parteinahme für ihn verdient hatte, und da kam mir, ich glaube,
zum erstenmal der Gedanke, daß er von der Mutter viel zu erdulden und
viel Leid zu ertragen habe. Seit der Zeit konnte ich mich von dieser
Vorstellung nicht mehr befreien und mit jedem Tag erregte und empörte
sie mich mehr.

In jener Stunde erwachte in mir eine grenzenlose Liebe zum Vater, aber
es war eine wunderliche, gleichsam gar nicht kindliche Liebe. Ich würde
sagen, daß es eher ein gewisses mitleidvolles _mütterliches_ Gefühl war,
wenn eine solche Bezeichnung nicht komisch wäre – für ein Kind! Der
Vater erschien mir immer dermaßen bedauernswert, so ungerecht verfolgt,
so tyrannisiert, kurz, ich sah in ihm einen solchen Märtyrer, daß es für
mich etwas ganz Unmögliches gewesen wäre, ihn nicht bis zur
Besinnungslosigkeit zu lieben, zu trösten, nicht zärtlich zu ihm zu
sein, mich nicht aus allen Kräften zu bemühen, für ihn zu sorgen und ihm
Gutes zu tun. Ich verstehe bis jetzt noch nicht, woher mir gerade das in
den Kopf gekommen sein mag, daß er ein solcher Märtyrer, ein so
unglücklicher Mensch sei! Wer hat mir das eingegeben? Wie konnte ich,
ein Kind, von seinen persönlichen Mißerfolgen und Enttäuschungen
überhaupt etwas verstehen? Und doch verstand ich sie, wenn ich mir auch
alles nach meiner Art zurechtlegte. Aber vorzustellen vermag ich mir
trotzdem nicht, wie ich zu einer solchen Auffassung gelangen konnte.
Vielleicht kam das daher, daß meine Mutter gar zu streng mit mir umging,
weshalb ich mich denn an den Vater hielt, als an einen Menschen, der,
wie ich glaubte, ebenso ungerecht von ihr behandelt wurde und in dem ich
deshalb meinen Leidensgenossen sah.

Ich erzählte bereits von meinem ersten Erwachen aus dem Kindheitsschlaf,
von meiner ersten Regung in einem bewußten Leben. Mein Herz war von dem
Augenblick an verwundet, meine Entwicklung setzte ein und vollzog sich
mit unglaublicher, sich überhastender, ermüdender Schnelligkeit. Jetzt
konnte ich mich nicht mehr mit bloßen äußeren Eindrücken zufriedengeben.
Ich begann nachzudenken, zu überlegen, zu beobachten; aber dieses
Beobachten geschah meinerseits so unnatürlich früh, daß mein Verstand
nicht umhin konnte, alles nach eigenen Begriffen und Vorstellungen sich
zurechtzulegen, und so befand ich mich denn plötzlich in einer anderen
nur mir eigenen Welt. Alles um mich herum wurde immer ähnlicher jenem
Wundermärchen, das der Vater mir oft erzählt hatte und das ich damals
natürlich für lauterste Wahrheit hielt. So entstanden in mir seltsame
Vorstellungen. Ich begriff sehr gut – aber wie das geschah, vermag ich
nicht zu sagen –, daß ich in einer sonderbaren Familie lebte und daß
meine Eltern irgendwie ganz und gar nicht den anderen Menschen glichen,
die ich in dieser Zeit kennen lernte. Ich fragte mich, weshalb sind die
anderen Menschen, die ich sehe, meinen Eltern auch äußerlich so
unähnlich? Weshalb sah ich andere lachen und warum fiel es mir plötzlich
auf, daß in unserem Winkel niemals gelacht wurde und niemand sich
freute? Welche Macht zwang mich, das neunjährige Kind, so aufmerksam
meine Umgebung zu beobachten und auf jedes Wort zu achten, das ich
zufällig von den Leuten vernahm, die mir auf der Treppe oder auf der
Straße begegneten, wenn ich abends meine Lumpen mit der alten Jacke
meiner Mutter bedeckte, um in den nächsten Krämerladen zu gehen und für
einige wenige Kupferlinge Zucker, Tee oder Brot zu kaufen? Ich begriff,
und ich weiß nicht wie, daß in unserem Winkel irgendein ewiger Kummer,
ein unerträgliches Leid herrschte. Ich zerbrach mir den Kopf, um zu
erraten, warum das so war, und ich weiß nicht, wer mir dabei half, das
Rätsel auf meine Art zu deuten: ich beschuldigte meine Mutter, ich hielt
sie für die Todfeindin meines Vaters, aber ich wiederhole – ich verstehe
es selber nicht, wie eine so ungeheuerliche Auffassung in meiner
Phantasie entstehen konnte. Und je mehr ich mich dem Vater anschloß, um
so mehr mußte ich meine arme Mutter hassen. Die Erinnerung an all das
quält mich noch jetzt schmerzlich. Doch da gab es noch einen anderen
Zwischenfall, der noch mehr als jener erste meine seltsame Annäherung an
den Vater bewirkte.

Einmal, es war gegen zehn Uhr abends, schickte mich meine Mutter in den
Laden nach Hefe. Der Vater war nicht zu Hause. Auf dem Rückwege
stolperte ich versehentlich und fiel hin, mitten auf dem Trottoir, und
verschüttete den ganzen Inhalt der Tasse. Mein erster Gedanke war, wie
sehr sich die Mutter ärgern werde. Da fühlte ich einen schrecklichen
Schmerz im linken Arm, und zugleich merkte ich, daß ich mich nicht
aufrichten konnte. Die Menschen blieben stehen. Ein altes Frauchen
versuchte, mich aufzuheben, ein Knabe aber, der vorüberlief, schlug mit
einem Schlüssel auf meinen Kopf. Endlich wurde ich wieder auf die Füße
gestellt, ich hob die Scherben der zerschlagenen Tasse auf und ging
wankend weiter, kaum fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Plötzlich sah ich den Vater. Er stand in der Volksmenge vor einem
schönen Hause, das dem unsrigen gegenüberlag. Dieses Haus gehörte
irgendwelchen vornehmen Leuten und war an jenem Abend herrlich
erleuchtet. Vor dem Portal standen viele Equipagen und aus dem Inneren
hörte man Orchestermusik. Ich faßte den Vater am Rockschoß, zeigte ihm
die zerschlagene Tasse und sagte unter Tränen, daß ich vor Angst nicht
wagte, zur Mutter zu gehen. Ich war plötzlich ohne weiteres überzeugt,
daß er mich beschützen werde. Aber weshalb ich davon überzeugt war und
wer es mir gesagt oder mich sonst irgendwie darauf gebracht hatte, daß
ich von ihm mehr geliebt wurde, als von meiner Mutter, das weiß ich
nicht. Warum ging ich zu ihm ganz furchtlos, während ich mich vor der
Mutter aus lauter Furcht nicht zu zeigen wagte? Er nahm mich an der
Hand, tröstete mich, und dann sagte er, er wolle mir etwas Schönes
zeigen, und er hob mich auf und nahm mich auf den Arm. Ich konnte
freilich nichts sehen vor Schmerz, denn er hatte meinen Arm gerade an
der Stelle angefaßt, wo ich ihn mir beim Fall verletzt hatte, und das
tat entsetzlich weh, aber ich schrie nicht, nur um ihn nicht zu
beunruhigen. Er fragte mich mehrmals, ob ich etwas sähe. Und ich bemühte
mich mit allen Fibern, ihm so zu antworten, daß es ihm recht wäre, und
ich sagte, ich sähe rote Vorhänge hinter den Fenstern. Als er mich aber
über die Straße auf das andere Trottoir tragen wollte, näher zum Hause,
da fing ich plötzlich an zu weinen – ich weiß nicht, weshalb – umarmte
seinen Hals und bat ihn, schneller nach Haus zur Mutter zu gehen. Ich
weiß noch, seine Zärtlichkeit bedrückte mich und ich konnte es nicht
mehr ertragen, daß der eine von ihnen, der Vater, – während ich doch
beide so lieben wollte – gut und lieb zu mir war, und ich zur anderen,
zur Mutter nicht zu gehen mich getraute und mich vor ihr nur fürchtete.
Sie war übrigens fast gar nicht böse und sagte nur, ich solle schlafen
gehen. Ich weiß noch, der Schmerz im Arm wurde immer heftiger, ich
begann zu fiebern, doch war ich trotzdem ganz besonders glücklich und
froh darüber, daß alles so gut verlaufen, und die ganze Nacht träumte
mir von dem Hause gegenüber und von den schönen roten Vorhängen.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mein erster Gedanke, meine
erste Sorge das Haus mit den roten Vorhängen. Kaum hatte die Mutter das
Zimmer verlassen, da kletterte ich gleich auf das Fensterbrett, um das
schöne Haus zu betrachten. Eigentlich hatte dieses Haus auch früher
schon meine kindliche Neugier erregt. Am besten gefiel es mir abends,
wenn auf der Straße die Laternen angezündet wurden und wenn dann aus dem
Hause und in einem nahezu blutigen Licht die purpurroten Gardinen hinter
den großen Scheiben zu leuchten begannen. Vor dem Portal hielten meist
vornehme Equipagen, oder die Leute kamen gerade mit schönen, stolzen
Pferden angefahren, und alles das fesselte mich sehr: das Geräusch und
das Rufen der Kutscher und Diener, das ganze Hin und Her vor dem Hause
und die farbigen Laternen an den Wagen und die geputzten Damen, die dann
ausstiegen. Das ganze wurde in meiner kindlichen Phantasie zu etwas
kaiserlich Großartigem und märchenhaft Wundervollem. Und gar nach meiner
Begegnung mit dem Vater vor diesem reichen Hause, da wurde es in meinen
Augen noch einmal so schon und beachtenswert. Nun entstanden in meiner
erwachten Phantasie seltsame Vorstellungen und Vermutungen. Es ist wohl
auch kein Wunder, daß ich unter so eigentümlichen Menschen, wie meine
Eltern waren, gleichfalls zu einem eigentümlichen, zu einem
leidenschaftlich phantastischen Kinde wurde. Was mich ganz besonders
betroffen machte, war der Kontrast der Charaktere meiner Eltern. So z.
B. wunderte es mich, daß die Mutter sich beständig um unsere armselige
Wirtschaft sorgte und mühte und fortwährend dem Vater darüber Vorwürfe
machte, daß sie allein für alle arbeiten und alle ernähren müsse, – ich
fragte mich deshalb unwillkürlich, warum denn der Vater ihr gar nicht
half, warum er fast wie ein Fremder bei uns wohnte? Einzelne Worte
meiner Mutter gaben mir hierüber eine gewisse Aufklärung. So vernahm ich
mit Verwunderung, daß Papa ein Künstler sei (dieses Wort merkte ich mir
sogleich), ein Mensch mit einem großen Talent. Meine Vorstellungskraft
schuf nun sofort den Begriff für das neue Wort, eben daß ein „Künstler“
etwas ganz Besonderes, jedenfalls ein außergewöhnlicher Mensch, also
etwas ganz anderes als die übrigen Menschen sein müsse. Vielleicht war
es zum Teil auch das Verhalten meines Vaters, das gerade diese
Auffassung begünstigte; oder vielleicht hatte ich auch vorher schon das
eine oder das andere gehört, was ich jetzt vergessen habe. Seltsam
verständlich war mir der Sinn der Worte, die der Vater einmal in meiner
Gegenwart mit einem ganz besonderen Gefühl sagte: „Es werde eine Zeit
kommen, wo auch er nicht mehr arm, sondern gleichfalls ein reicher Herr
sein werde, und erst wenn die Mutter gestorben sei, würde er endlich
aufleben.“

Ich weiß noch, ich erschrak entsetzlich, als ich diese Worte hörte. Mein
Schreck und Entsetzen waren so groß, daß ich nicht im Zimmer bleiben
konnte und auf unseren kalten Flur hinauslief, wo ich in Tränen
ausbrach: und ich weinte dort herzbrechend, die Ellenbogen auf das
Fensterbrett gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben. Dann aber,
als ich fortwährend darüber nachdachte und mich allmählich an diese
schreckliche Hoffnung des Vaters gewöhnte – kam mir bald meine eigene
Phantasie zu Hilfe. Wenigstens ertrug ich diese Qual der Ungewißheit
nicht lange und mußte wohl naturgemäß zu irgendeiner Vermutung gekommen
sein. Und da – ich weiß nicht, wie es anfing, aber zu guter Letzt
glaubte ich wirklich, daß der Vater, wenn erst die Mutter gestorben sei,
alsbald diese langweilige Wohnung verlassen und mit mir irgendwohin
fortziehen werde. Aber wohin? – das konnte ich mir auch bis zuletzt
nicht klar vorstellen. Ich erinnere mich nur, daß alles, womit ich jenen
Ort, wohin wir beide gehen würden (daß wir zwei unbedingt zusammen gehen
würden, stand für mich außer Frage), schmücken konnte, daß alles, was
ich mir an Schönheit und Glanz und Großartigkeit vorzustellen vermochte
– daß all das Verwendung in meinen Träumen von jener Zukunft fand. Ich
glaubte, wir würden dann sofort reich sein und ich brauchte nicht mehr
in den kleinen Laden zu gehen, um für die Mutter etwas zu besorgen, was
mir immer sehr schwer fiel, da die Kinder aus dem Nachbarhause mich nie
in Ruhe ließen, sobald ich aus dem Hause trat – und davor fürchtete ich
mich sehr, namentlich wenn ich Milch trug oder Eier, denn ich wußte, daß
ich fürs Verschütten oder Zerschlagen strenge Strafe zu erwarten hatte.
Und dann malte ich mir aus, wie der Vater sich sogleich schöne Kleider
bestellen und wir in ein glänzendes Haus ziehen würden, und da – da kam
nun jenes reiche Haus mit den roten Vorhängen, meine Begegnung mit dem
Vater vor demselben und der Umstand, daß er mir dort etwas zeigen
wollte, meiner Phantasie sehr zu Hilfe. In meinen Zukunftsträumen war es
ganz selbstverständlich, daß wir gerade in dieses Haus zogen, um dort
wie in ewiger Seligkeit zu leben. Seit der Zeit sah ich täglich,
namentlich abends, mit angespannter Neugier und Teilnahme aus unserem
Fenster nach diesem für mich gleichsam verzauberten Hause, dachte an die
Vorfahrt der Equipagen an jenem Abend und an die Gäste in den festlichen
Gewändern, wie ich sie vorher noch nie gesehen. Und dann bildete ich mir
ein, wieder die weichen Töne der Musik zu hören, die gedämpft aus dem
Hause drang, und ich beobachtete die Schattenbilder der Gestalten, die
sich auf den Vorhängen bewegten, und ich bemühte mich, zu erraten, was
dort hinter den Fenstern vorging, – und immer schien es mir, daß dort
das Paradies sei und ein ewiger Feiertag. Ich fing an, unsere armselige
Dachstube und die zerlumpten Kleider, die ich trug, zu hassen. Und als
einmal die Mutter mich schalt und mir befahl, vom Fensterbrett
herabzuklettern, wo ich gerade wie gewöhnlich saß, da kam mir sogleich
der Gedanke, sie sei eifersüchtig und wünsche nicht, daß ich dieses Haus
betrachtete oder an dasselbe auch nur dachte, unser Glück sei ihr
unangenehm und deshalb wolle sie es hintertreiben, wenigstens so lange,
wie sie noch lebte ... Und den ganzen Abend beobachtete ich sie
mißtrauisch.

Wie konnte mein Herz sich nur so verstocken gegen ein so armes,
unglückliches Wesen, wie es meine Mutter war! Jetzt erst begreife ich
die ganze Qual ihres Lebens und kann nicht ohne stechenden Schmerz im
Herzen an ihr Martyrium denken. Ja selbst damals schon, in jener dunkeln
Zeit meiner wunderlichen Kindheit, während meiner unnatürlich schnellen
Entwicklung, krampfte sich mein Herz oft zusammen vor Schmerz und
Mitleid – und Unruhe, Verwirrung und Zweifel drängten sich in meine
Seele. Auch damals schon lehnte sich mein Gewissen gegen mich selbst auf
und ich empfand es sehr wohl, daß ich ungerecht gegen sie war. Aber es
war, als scheuten und mieden wir einander. Ich entsinne mich nicht,
jemals zärtlich zu ihr gewesen zu sein. Jetzt sind es oft die
geringfügigsten Erinnerungen, die meine Seele nachträglich erschüttern
und martern. Einmal, ich weiß noch (natürlich ist das, was ich jetzt
erzählen werde, nichtig, fast belanglos, aber gerade solche Erinnerungen
quälen mich nun am meisten und haben sich am tiefsten meinem Gedächtnis
eingeprägt), – einmal, an einem Abend, als der Vater nicht zu Hause war,
wollte die Mutter mich in den kleinen Laden schicken, um für sie etwas
Tee und Zucker zu kaufen. Aber sie dachte lange nach und konnte sich
immer nicht entschließen und zählte halblaut die Kupferstücke – ein
Bettelsümmchen, über das sie noch verfügen konnte. Sie zählte und
rechnete, wenn ich nicht irre, wohl eine halbe Stunde lang und konnte
doch nicht die Rechnung beenden. Zudem verfiel sie in manchen
Augenblicken, wahrscheinlich vom Leid, gleichsam in einen Zustand
vollkommener Gedankenversunkenheit. Als sähe ich sie vor mir, so
deutlich erinnere ich mich, wie sie vor sich hin sprach, langsam, dazu
die Geldstücke einzeln zählend, als wäre jedes Wort ein wichtiges Ding.
Ihre Wangen und Lippen waren blaß, ihre Hände zitterten beständig und
wenn sie allein dasaß und nachdachte, dann bewegte sie immer den Kopf
dazu.

„Nein, nicht nötig,“ sagte sie endlich mit einem Blick auf mich, „ich
werde lieber zu Bett gehen und schlafen. Wie? Willst du schlafen,
Njetotschka?“ Ich schwieg; da hob sie ein wenig mein Kinn und sah mich
so still und freundlich an, und ihr trauriges Antlitz klärte sich auf
und verklärte sich in einem so mütterlichen und stillen Lächeln, daß
mein Herz weich wurde und zu pochen begann. Überdies hatte sie mich
„Njetotschka“ genannt, was bedeutete, daß sie mich in diesem Augenblick
besonders lieb hatte. Diese Koseform meines Namens hatte sie selbst
erfunden, indem sie meinen eigentlichen Namen Anna in ihn umwandelte.
Wenn sie mich so nannte, „Njetotschka“, dann wußte ich, daß sie damit
zärtlich zu mir sein wollte. Das rührte mich: ich hätte sie umarmen,
mich an sie schmiegen, zusammen mit ihr weinen mögen. Sie, die Arme,
streichelte dann lange meinen Kopf – vielleicht schon ganz mechanisch,
ohne daran zu denken, daß sie mich streichelte, und dazu sagte sie
immer: „Mein Kind, Annjeta, Njetotschka!“ Tränen wollten mir über die
Wangen rollen, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen und beherrschte
mich. Ich widersetzte mich gewissermaßen sogar ihrer Zärtlichkeit, indem
ich ihr gegenüber nicht das geringste Empfinden äußerte, obschon ich
mich damit selber quälte. Nein, diese Verstocktheit konnte nichts
Natürliches sein! Der Mutter Strenge allein hätte mich nicht so gegen
sie einnehmen können. Aber ich weiß, was es war: es war diese
meine phantastische Liebe zu meinem Vater, die mich in ihrer
Ausschließlichkeit verdarb. Zuweilen, wenn ich nachts auf meiner harten
Unterlage in meinem Schlafwinkel unter der dünnen Decke erwachte, dann
wandelte mich immer eine gewisse Furcht an. Halb im Schlaf erinnerte ich
mich, wie ich bis vor kurzem, als ich noch etwas jünger und kleiner war,
mit der Mutter in einem Bett geschlafen und mich dann nachts beim
Erwachen weniger gefürchtet hatte: da brauchte ich mich nur fest an sie
zu schmiegen, die Augen zu schließen und ich schlief sofort wieder ein.
Ich fühlte, daß ich sie, ob ich nun wollte oder nicht, im geheimen doch
lieben mußte. In meinem späteren Leben habe ich die Beobachtung gemacht,
daß viele Kinder oft entsetzlich gefühllos sind, und daß sie, wenn sie
jemand liebgewinnen, diesen einen Menschen ganz ausschließlich lieben,
und selbstverständlich auf Kosten anderer. So war’s auch mit mir.

Bisweilen herrschte in unserer Dachstube ganze Wochen lang Totenstille.
Der Vater und die Mutter waren dann müde vom Streiten und ich lebte
zwischen ihnen wie gewöhnlich, immer schweigend, immer denkend,
träumend, mich sehnend, und stets in meinem Denken irgendwie bestrebt,
irgend etwas mir Unbekanntes zu enträtseln. Indem ich sie beide
beobachtete, begriff ich vollkommen, wie sie zueinander standen: ich
begriff diese ihre dumpfe ewige Feindschaft, begriff das ganze Leid und
diesen beklemmenden Druck des unordentlichen Lebens, das sich in unserer
Dachstube eingenistet hatte, – begriff sie natürlich ohne ihre Ursachen
und ihre ganze Tragweite, begriff sie eben nur so weit, wie ich sie
damals begreifen konnte. An langen, stillen Winterabenden beobachtete
ich sie aus meinem Winkel oft ganze Stunden ungestört, verfolgte jede
Bewegung, studierte förmlich das Gesicht des Vaters, und gab mir die
größte Mühe, zu erraten, woran er wohl denken mochte, und was ihn
geistig so beschäftigte. Und dann war es wieder die Mutter, die mich
betroffen machte und ängstigte. Sie konnte unermüdlich im Zimmer hin und
her gehen, stundenlang, oft ging sie sogar mitten in der Nacht, wenn sie
nicht schlafen konnte – sie litt überhaupt an Schlaflosigkeit – dabei
flüsterte sie vor sich hin, als wäre außer ihr niemand im Zimmer, bald
streckte sie die Arme aus, bald kreuzte sie sie über der Brust, bald
rang sie die Hände wie in Verzweiflung oder unendlichem Weh und Kummer.
Bisweilen rollten ihr Tränen aus den Augen, Tränen, die sie vielleicht
selbst nicht verstand, denn es kam vor, daß sie zeitweilig wie in ein
vollständiges Sich-selbst-vergessen versank. Sie hatte, zudem, außer
ihren Sorgen, irgendein sehr schweres körperliches Leiden, das sie aber
gar nicht beachtete.

Die Einsamkeit und das Schweigen, das ich nicht zu brechen wagte, fingen
an, immer schwerer auf mir zu lasten. Schon ein ganzes Jahr hatte ich
mit erwachtem Geiste gelebt, immer gedacht, gegrübelt, geträumt und im
geheimen mich mit unbekannten, unklaren Wünschen gequält, die plötzlich
auftauchten. Ich war wie in einem Walde verirrt. Da war es der Vater,
der mich zuerst bemerkte, mich zu sich rief und mich fragte, warum ich
ihn so unverwandt ansähe. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm antwortete:
ich weiß nur noch, daß er nachdenklich wurde und zum Schluß sagte, er
werde ein Abc-Buch bringen und mich im Lesen unterrichten. Mit Ungeduld
erwartete ich nun dieses sonderbare Buch und baute die ganze Nacht
phantastische Träume auf – denn meine Vorstellung von einem Abc war
nichts weniger als klar. Endlich, d. h. am nächsten Tage, begann der
Vater auch wirklich mit dem Unterricht. Ich begriff sogleich, was von
mir verlangt wurde, und lernte schnell und gut, denn ich wußte, daß ich
ihm damit etwas zu Gefallen tat. Das war die glücklichste Zeit meines
damaligen Lebens. Wenn er mich lobte, meinen Kopf streichelte und mich
küßte, traten mir vor Freude sogleich Tränen in die Augen. So gewann
mich der Vater allmählich lieb. Bald wagte ich denn auch schon, ihn
anzureden, und dann sprachen wir oft ganze Stunden unermüdlich
miteinander, obschon ich mitunter kaum ein Wort von dem, was er mir da
erzählte, verstand. Aber ich fürchtete ihn doch noch irgendwie,
fürchtete vor allem, er könnte denken, daß ich mich mit ihm langweilte,
und deshalb bemühte ich mich nach Kräften, so zu tun, als verstünde ich
alles. Zu guter Letzt wurde es ihm zur Gewohnheit, abends mit mir zu
sitzen und zu sprechen. Sobald er mit sinkender Dämmerung nach Haus
zurückkehrte, kam ich unverzüglich mit meinem Abc-Buch. Er setzte mich
sich gegenüber auf die Bank und nach der Stunde las er mir gewöhnlich
noch aus einem Buch irgend etwas vor. Davon verstand ich in der Regel
fast nichts, aber ich lachte soviel ich konnte, denn ich glaubte, ihm
damit Vergnügen zu bereiten. Und in der Tat, ich unterhielt ihn und mein
Lachen schien ihn zu belustigen. Einmal aber erzählte er mir nach der
Stunde ein Märchen. Es war das erste Märchen, das ich hörte. Ich saß wie
verzaubert, fieberte vor Spannung, fühlte mich wie in ein Paradies
versetzt, während ich ihm zuhörte, und zum Schluß wußte ich kaum noch,
wo ich mich lassen sollte vor Begeisterung. Nicht, daß das Märchen an
sich mir dermaßen gefallen hätte – nein, das war es nicht; aber das
Unmöglichste war nun plötzlich möglich geworden, denn ich nahm doch
alles für bare Münze. Natürlich ließ ich sogleich meiner eigenen
Phantasie die Zügel schießen und im Nu waren alle meine phantastischen
Träume für mich ebensogut wie bereits verwirklicht. Da stand natürlich
gleich an erster Stelle das Haus mit den roten Vorhängen, die handelnde
Person aber war – aus unbekannten Gründen – der Vater, obwohl er selbst
das Märchen erzählte; dann kam die Mutter, die uns hinderte, ich weiß
nicht wohin fortzuziehen; ferner – oder richtiger – ganz zuerst ich
selbst mit meinen wunderschönen Träumen, mit allen meinen
phantastischen, meinen tollen, meinen ganz unmöglichen Zukunftsbildern:
alles das verwirrte sich dermaßen in meinem Kopf, daß es bald ein
unentwirrbares Chaos bildete und mir für eine Zeitlang den Eltern
gegenüber jedes Zartgefühl, sowie den Dingen gegenüber jedes
Unterscheidungsvermögen für das, was Wirklichkeit und das, was
Einbildung war, abhanden kam und ich Gott weiß wo lebte. In dieser Zeit
verging ich fast vor Verlangen, mit dem Vater darüber zu sprechen, was
uns bevorstand, was er selber erwartete und wohin er mich führen werde,
wenn wir endlich unsere Dachstube verließen. Ich war meinerseits
überzeugt, daß alles dies irgendwie sehr schnell in Erfüllung gehen
werde, wie aber und in welcher Art – das wußte ich nicht, und gerade
damit quälte ich mich so, daß ich mir beständig den Kopf darüber
zerbrach. Bisweilen – und zwar vornehmlich abends – schien es mir, daß
der Vater mir nun gleich heimlich zuzwinkern und mich auf den Flur
hinausrufen werde, und ich nahm schon heimlich, so daß die Mutter es
nicht sah, mein Abc-Buch und dann noch unser Bild, das seit undenklichen
Zeiten uneingerahmt an der Wand hing und das unbedingt mitzunehmen ich
in meinem Sinn fest beschlossen hatte – und dann liefen wir heimlich
irgendwohin fort und kehrten nie wieder zur Mutter zurück. Und eines
Tages, als die Mutter nicht zu Haus und der Vater gerade bei besonders
guter Laune war – das aber war er regelmäßig, wenn er etwas getrunken
hatte – da faßte ich mir ein Herz und ging zu ihm und fing an, von
irgend etwas zu sprechen, in der Absicht, bei der ersten Gelegenheit auf
mein geliebtes Thema überzugehen. Endlich erreichte ich es auch, daß er
belustigt auflachte und da – da umschlang ich ihn fest und begann mit
bebendem Herzen ganz angstvoll, als wäre ich im Begriff, von etwas
Geheimnisvollem und Furchtbarem zu sprechen, verwirrt und
zusammenhanglos und stockend ihn auszufragen: wohin wir denn eigentlich
gehen sollten und wann denn und was wir mitnehmen und wo wir wohnen
wollten und schließlich, ob wir denn nicht in das Haus mit den roten
Vorhängen einziehen würden?

„Was für ein Haus? Rote Vorhänge? Was soll das? Was phantasierst du,
dummes Kind?“

Ich erschrak und versuchte angstvoll, ihm zu erklären, daß wir beide,
wenn die Mutter einmal gestorben sei, doch nicht mehr hier auf dem
Dachboden bleiben würden, daß er mich dann doch irgendwohin fortführen
müsse, wo wir zwei reich und glücklich leben könnten. Und zu guter Letzt
versicherte ich ihm noch, daß er selbst mir das alles versprochen habe.
Dabei war ich vollkommen überzeugt, daß er mir wirklich früher einmal so
etwas gesagt hatte, wenigstens schien es mir in dem Augenblick so.

„Die Mutter? Gestorben? Wenn sie gestorben sein wird? ...“ wiederholte
er und er sah mich verwundert an, während sich zwischen seinen
buschigen, graumelierten Brauen eine Falte bildete und sein Gesicht sich
ein wenig veränderte. „Was phantasierst du, Kind, dummes, armes Ding
...“

Und dann schalt er mich, und schalt mich sogar sehr und sagte, ich sei
ein dummes Kind, ich könne nichts begreifen ... und ich weiß nicht, was
er noch alles sagte, – sicher war er sehr betrübt.

Ich begriff allerdings kein Wort von seinen Vorwürfen, begriff vor allem
nicht, wie schmerzlich es für ihn sein mußte, daß ich seine Worte, die
er der Mutter im Zorn und unter dem Druck des Elends gesagt, aufgefangen
und behalten, sie womöglich auswendig gelernt und schon viel über sie
nachgedacht hatte. Aber was es auch sein mochte und so groß auch seine
eigene Überspanntheit war, dieser Zwischenfall mußte ihm doch zu denken
geben. Ich aber konnte gar nicht verstehen, weshalb er sich über mich
ärgerte, und ich fühlte eine gewisse Bitterkeit und Trauer in mir
aufsteigen, immer höher und höher, bis ich zu weinen anfing. Dann dachte
ich, daß alles, was uns dort in dem schönen Leben erwartete, wohl so
wichtig sei, daß ich dummes Kind weder davon sprechen noch daran denken
durfte. Nebenbei aber fühlte ich doch, obwohl ich ihn nicht sogleich
verstand, daß ich die Mutter gekränkt hatte. Darob erfaßten mich Angst
und Entsetzen und dann schlichen sich auch leise Zweifel in meine Seele
und machten dort alles in mir unsicher. Als er jedoch sah, daß ich
weinte und mich quälte, versuchte er mich wieder zu trösten, wischte mir
mit dem Ärmel die Tränen ab und bat mich, ich solle nicht mehr weinen.
So saßen wir denn eine Zeitlang schweigend. Er machte ein finsteres
Gesicht und schien nachzudenken; dann fing er von neuem zu sprechen an;
aber wie sehr ich mich auch anstrengte, es war mir doch alles, was er da
sagte, zum mindesten unklar. Ich schließe aus einzelnen Worten, die ich
noch behalten habe, daß er mir damals erklärte, wer er sei, was für ein
großer Künstler er wäre; ferner, wie ihn niemand verstehe, und zuletzt,
daß er ein ungeheures Talent habe. Ich weiß noch, daß er mich dann
fragte, ob ich auch alles verstanden und daß er nach meiner
selbstverständlich bejahenden Antwort die Frage wiederholte: „Also hat
er Talent?“ Und ich antwortete: „Ja, er hat Talent,“ worüber er leise
auflachen mußte, wahrscheinlich weil es ihm selbst zuletzt lächerlich
erschien, daß er über einen für ihn so ernsten Gegenstand mit einem
Kinde sprach. Unsere Unterhaltung unterbrach Karl Fedorytsch, der ganz
unerwartet bei uns eintrat, und der Vater wies auf ihn und sagte:

„Dieser dagegen, der Karl Fedorytsch, der hat zum Beispiel für keine
fünf Kopeken Talent.“

Darüber mußte ich lachen, denn das kam mir, Gott weiß weshalb, sehr
komisch vor und ich war wieder ganz froh und glücklich.

Dieser Karl Fedorytsch war eine äußerst merkwürdige Erscheinung. Ich sah
damals so wenige Menschen, daß ich mich seiner noch lebhaft erinnere.
Ja: als stände er hier, so deutlich sehe ich ihn vor mir. Er war ein
Deutscher, Meyer mit Namen, der nach Rußland gekommen war, weil er nur
den einen Wunsch hatte: zum Petersburger kaiserlichen Ballett zu
gehören. Leider war er aber ein so schlechter Tänzer, daß man ihn nicht
einmal unter die Chortänzer, die den Hintergrund der Bühne ausfüllen
mußten, aufnehmen konnte und ihn nur als Statisten verwandte. So spielte
er stumme Rollen, etwa in der Suite des Fortinbras oder als einer der
Ritter von Verona, die alle zwanzig mit einem Male ihre gepappten
Klingen ziehen und ^unisono^ ausrufen: „Wir sterben für den König!“

Nichtsdestoweniger gab es wohl keinen einzigen Künstler auf Erden, der
an seinen Rollen so leidenschaftlich hing wie Karl Fedorytsch. Sein
größtes Unglück und Lebensleid war, daß er nicht ins Ballettkorps
aufgenommen wurde. Die Tanzkunst stellte er über jede andere Kunst und
in seiner Art hing er an ihr ebensosehr, wie der Vater an seiner Geige.
Sie waren beide an demselben Theater angestellt gewesen, dort hatten sie
sich kennen gelernt, und seit der Zeit besuchte der Statist, der nun
auch schon außer Diensten war, seinen ehemaligen Kollegen vom Orchester
und blieb ihm als einziger von allen bis zuletzt treu. Sie sahen sich
sogar recht oft und beklagten dann beide ihr trauriges Los, das ihnen
den Fluch auferlegt hatte, von den Menschen nicht verstanden zu werden.
Der Deutsche war der gefühlvollste, der liebevollste Mensch der Welt und
meinem Stiefvater in glühendster, uneigennützigster Freundschaft
zugetan. Der Vater dagegen hatte, glaube ich, keine gerade besondere
Zuneigung zu ihm, er duldete ihn eben nur als seinen Bekannten in
Ermangelung anderer. Leider konnte der Vater in seiner Einseitigkeit
durchaus nicht begreifen, daß die Tanzkunst auch eine Kunst sei, womit
er den armen Deutschen bis zu Tränen kränkte. Da er nun diese schwache
Seite des anderen kannte, machte es ihm Spaß, sie immer wieder wie von
ungefähr zu berühren, um sich dann an dem Eifer des armen Karl
Fedorytsch zu ergötzen, der fast aus der Haut fuhr vor Empörung und
Leidenschaft in seinem Bemühen, für seine geliebte Tanzkunst das
Gegenteil zu beweisen. Von diesem Karl Fedorytsch und seiner
Freundschaft mit meinem Stiefvater hat mir nachher noch manches derselbe
B. erzählt, der diesen begeisterten Ballettänzer immer den Nürnberger
Springkäfer nannte. Unter anderem entsinne ich mich noch lebhaft ihrer
Zusammenkünfte, wenn sie beide etwas getrunken hatten und dann als
verkannte Größen ihr Schicksal betrauerten. Auch ich, die ich diese
beiden Sonderlinge still für mich betrachtete, trauerte mit ihnen, und
wenn sie Tränen vergossen, so heulte ich mit, wenn ich auch selber nicht
wußte, worüber und warum. Das trug sich aber immer in der Abwesenheit
der Mutter zu, denn der Deutsche fürchtete sie sehr und wartete deshalb,
wenn er kam, gewöhnlich so lange auf dem Treppenflur, bis jemand aus dem
Zimmer trat: erfuhr er dann, daß die Mutter zu Hause war, so machte er
schleunigst kehrt und lief die Treppe hinunter. Jedesmal brachte er
deutsche Gedichte mit, begeisterte sich an ihnen, indem er sie uns laut
vorlas, und dann deklamierte er mit Gesten, wobei er zwischendurch die
Sätze mit Müh und Not in ein zum mindesten eigenartiges Russisch
übersetzte, damit auch wir den Sinn verstanden. Das belustigte den
Vater, ich aber lachte oft Tränen. Einmal hatten sie sich irgendein
russisches Werk verschafft, das sie beide ungeheuer begeisterte, in
einem solchen Maße begeisterte, daß sie es nachher fast bei jeder
Zusammenkunft immer wieder von neuem lasen. Ich erinnere mich, es war
ein Drama in Versen von irgendeinem vorübergehend berühmten russischen
Schriftsteller. Die ersten Strophen hatte ich so gut behalten, daß ich
später nach mehreren Jahren dieses Drama gleich wiedererkannte, als ich
das Buch einmal zufällig in die Hände bekam. Es handelte von dem Unglück
eines großen Künstlers, irgendeines Jacopo, der auf der einen Seite
ausruft: „Ich bin verkannt!“ und auf der folgenden: „Ich bin erkannt!“ –
oder war es: „Ich bin talentlos!“ und dann: „Ich habe Talent!“? Kurz,
etwas Ähnliches war es jedenfalls. Es endete natürlich höchst tragisch.
Das Drama war freilich an sich ganz wertlos. Nur auf diese beiden Leser,
die in dem Helden viel Ähnlichkeit mit sich selbst entdeckten, wirkte es
in der naivsten und zugleich tragischsten Weise. Ich weiß noch, Karl
Fedorytsch geriet dann zuweilen in solche Ekstase, daß er aufsprang, zur
anderen Wand des Zimmers eilte und den Vater und mich, die er
„Madmuasell“ nannte, unabweisbar beschwörend, mit Tränen in den Augen
und im heiligen Verlangen nach ausgleichender Gerechtigkeit bat,
„sogleich hierselbst“ zwischen ihm, seinem Schicksal und dem Publikum
die Schiedsrichter zu sein. Darauf begann er zu tanzen, und während der
verschiedenen Pas, die er uns nun vortanzte, schrie er uns zu, wir
sollten ihm sogleich sagen, was er sei, ein Künstler oder nicht, und ob
man wohl das Gegenteil sagen könne, d. h. daß er etwa kein Talent habe?
Der Vater war dann sofort höchst aufgeräumt, gab mir heimlich Winke, als
wollte er sagen, ich solle nur aufpassen, wie vorzüglich er sich gleich
über den Armen lustig machen werde. Mich wandelte die Lachlust an, aber
der Vater drohte heimlich mit dem Finger und ich nahm mich aus allen
Kräften zusammen, um mir das Lachen zu verbeißen. Auch jetzt noch, bei
der bloßen Vorstellung jenes Bildes, ist es mir unmöglich, nicht zu
lachen. Ich sehe ihn so deutlich vor mir, diesen armen Karl Fedorytsch!
Er war äußerst klein von Wuchs, dazu spindeldünn, das Haar schon grau,
die Nase gebogen und rot und immer mit Tabakspuren geschmückt. Seine
Beine hatten eine ganz absonderlich krumme Form; trotzdem schien er auf
ihren Bau noch stolz zu sein und trug Beinkleider, die so eng wie Trikot
anlagen. Wenn er dann endlich nach dem letzten Sprunge stehen blieb, mit
zu uns ausgestreckten Armen und uns zulächelnd – in der Pose und mit dem
Lächeln der Ballettänzer auf der Bühne – da wahrte der Vater noch eine
gute Weile das Schweigen, als könne er sich nicht entschließen, das
Urteil zu fällen, und ließ absichtlich den verkannten Tänzer in dieser
schwierigen Pose verharren, bis jener auf seinem einen dünnen Bein schon
zu schwanken begann, trotz seiner krampfhaften Anstrengung, das
Gleichgewicht nicht zu verlieren. Schließlich erbarmte sich der Vater:
zunächst sah er nur mit ernster Miene mich an, als wolle er mich fragen:
„Was sagen wir ihm nun?“ – und gleichzeitig richtete sich auch der
furchtsam flehende Blick des Tänzers auf mich.

„Nein, Karl Fedorytsch, man sieht, es ist verlorene Liebesmüh, du
triffst doch nicht das Richtige!“ sagte der Vater dann endlich in einem
Ton, als fiele es ihm schwer, die bittere Wahrheit sagen zu müssen. Dann
entrang sich der Brust Karl Fedorytschs ein richtiges Stöhnen, aber im
Nu faßte er wieder Mut, erbat mit beschleunigten Gesten von neuem unsere
Aufmerksamkeit, versicherte, er habe nicht nach dem betreffenden System
getanzt, und flehte uns an, nochmals die Schiedsrichter zu sein. Und
wieder eilte er zur anderen Wand und sprang dann zuweilen mit solchem
Eifer umher, daß er mit dem Kopf an die Stubendecke stieß, und zwar
schmerzhaft stark – aber er verwand den Schmerz wie ein Spartaner, stand
dann wieder in der schwierigen Pose, streckte wieder mit einem Lächeln
die zitternden Arme aus und erwartete wieder unser Urteil. Doch der
Vater war unerbittlich und wiederholte nur ebenso düster:

„Nein, Karl Fedorytsch, das scheint nun einmal dein Schicksal zu sein:
du triffst es nicht!“

Dann versagte gewöhnlich meine letzte Selbstbeherrschung und ich brach
in erlösendes Lachen aus, und der Vater desgleichen. Karl Fedorytsch,
der nun endlich den Scherz begriff, wurde rot vor Zorn und sagte mit
Tränen in den Augen und mit einem tiefen, wenn auch komischen Gefühl,
das mich später quälte, weil es mein aufrichtiges Mitleid mit diesem
armen Unglücklichen erweckte, zum Vater gewandt:

„Du bist ein treuloser Freund!“

Und er griff nach seinem Hut und lief von uns fort, mit allen Schwüren
schwörend, daß er nie wieder zu uns kommen werde.

Aber der Schatten dieses Streites pflegte nie lang zu sein. Nach ein
paar Tagen erschien er wieder bei uns, wieder wurde das berühmte Drama
gelesen, wieder wurden Tränen vergossen und zum Schluß bat uns der naive
Karl Fedorytsch abermals, die Schiedsrichter zwischen ihm, den Menschen
und dem Schicksal zu sein, bat flehentlich, diesmal aber wirklich im
Ernst über ihn zu urteilen, wie es sich wahren Freunden gezieme, und
nicht wieder unseren Spott mit ihm zu treiben.

Einmal schickte mich die Mutter in den kleinen Laden, wo ich etwas
Notwendiges kaufen sollte, und als ich zurückkehrte, hielt ich hübsch
achtsam das silberne Kleingeld in der Hand, das man mir herausgegeben
hatte. Auf der Treppe traf ich den Vater, der im Begriff war,
auszugehen. Ich lachte ihn an, denn ich konnte mein Gefühl der Freude
nicht verbergen, wenn ich ihn sah. Als er sich zu mir herabbeugte, um
mich zu küssen, bemerkte er das silberne Geldstück in meiner Hand ...
Ich habe noch nicht erwähnt, daß ich jeden Ausdruck seines Gesichts so
gut kannte, daß ich seine Wünsche gewöhnlich auf den ersten Blick
erriet. Sah ich ihn bedrückt und traurig, so hätte ich vergehen mögen
vor Leid. Am niedergeschlagensten war er, wenn er gar kein Geld hatte
und sich nichts zu trinken kaufen konnte – denn das Trinken hatte er
sich schon zur Gewohnheit gemacht. In jenem Augenblick nun, als wir
einander auf der Treppe begegneten, schien es mir, daß in ihm etwas
Besonderes vorgehe. Seine trüben Augen irrten eigentümlich unruhig
umher, ja, ich glaube, im ersten Augenblick sah er mich gar nicht. Als
er aber dann das Geld in meiner Hand bemerkte, da wurde er plötzlich rot
und gleich darauf sehr bleich, dann streckte er die Hand aus, wie um das
Geld von mir zu nehmen, zog sie aber sofort wieder zurück. Offenbar
kämpfte er mit sich. Endlich war es, als habe er sich überwunden und er
sagte, ich solle nur zur Mutter hinaufgehen; er selbst aber ging schnell
ein paar Stufen hinab – bis er plötzlich von neuem stehen blieb und mich
zurückrief.

Er sah sehr verlegen aus.

„Hör mal, Njetotschka,“ sagte er hastig, „gib mir dieses Geld, ich werde
es dir zurückgeben. Nicht? Du gibst es doch deinem Papa? Du bist doch
ein gutes Kindchen, Njetotschka?“

Ich hatte das fast vorausgefühlt. Aber im ersten Augenblick ließen mich
doch der Gedanke, wie böse die Mutter sein werde, meine Ängstlichkeit
und vor allem die instinktive Scham für mich und für den Vater
unwillkürlich zögern und hielten mich davon ab, ihm das Geld zu geben.
Er bemerkte es sofort und sagte rasch:

„Nein, nein, nicht nötig, ist nicht nötig! ...“

„Nein, nein, Papa, da, nimm! Ich werde sagen, ich habe es verloren oder
die Nachbarkinder haben es mir fortgenommen.“

„Nun gut, gut; ich wußte doch, daß du ein kluges Mädchen bist,“ sagte
er. Und er lächelte mit zitternden Lippen, ohne sein Entzücken zu
verbergen, als er das Geld in seiner Hand fühlte. „Du bist ein gutes
Mädchen, bist ja mein Engelchen! Gib her, ich werde dir dein Händchen
küssen!“

Und er griff nach meiner Hand, aber ich zog sie schnell zurück. Ein
gewisses Mitleid mit ihm bemächtigte sich meiner und die Scham stieg in
mir immer höher und wurde qualvoll. Ich hielt es nicht aus und lief in
meinem Schreck nach oben, ohne mich nach dem Vater weiter umzusehen, den
ich stehen ließ, wo er stand. Als ich ins Zimmer trat, glühten meine
Wangen und mein Herz schlug laut in einer quälenden, mir bis dahin noch
unbekannten Empfindung. Dennoch sagte ich der Mutter ganz furchtlos, ich
hätte das Geld im Schnee verloren und lange gesucht, trotzdem aber nicht
wiederfinden können. Ich hatte mindestens Schläge erwartet, doch die
bekam ich nicht. Die Mutter war anfangs allerdings außer sich, denn wir
waren damals furchtbar arm. Sie schrie mich an, aber schon im nächsten
Augenblick schien sie sich zu besinnen und hörte auf, mich zu schelten;
sie sagte nur, ich sei ein ungeschicktes, nachlässiges Mädchen und
offenbar liebte ich sie nicht, da ich mit ihrem schwer erworbenen Gelde
so unachtsam umginge. Diese Bemerkung betrübte mich mehr, als Schläge es
vermocht hätten. Denn meine Mutter kannte mich bereits: meine
Empfindsamkeit, die oft schon an eine krankhafte Reizbarkeit grenzte,
war von ihr nicht unbemerkt geblieben, und so glaubte sie gerade mit
diesen bitteren Vorwürfen – wie dem, daß ich sie wohl nicht liebte –
mich mehr zu strafen und eher zu größerer Achtsamkeit erziehen zu
können, als mit den sonst üblichen Strafmitteln.

In der Dämmerung, um die Zeit, wo der Vater gewöhnlich zurückkehrte,
erwartete ich ihn wie immer auf dem Flur. Ich war in großer Verwirrung.
Meine Gefühle waren aufgepeitscht durch etwas, das auch mein Gewissen
geradezu krankhaft peinigte. Endlich kam der Vater und ich war sehr froh
über sein Kommen, ganz als hätte ich gehofft, daß es mir dadurch
leichter werden würde. Er war heiterer Laune, aber als er mich
erblickte, nahm sein Gesicht sofort einen geheimnisvollen, ein wenig
verzerrten Ausdruck an. Er blickte ängstlich nach unserer Tür und zog
mich in den verstecktesten Winkel, blickte wieder scheu nach der Tür,
nahm dann aus der Tasche einen von ihm gekauften Pfefferkuchen und
begann nun flüsternd, jedoch in ermahnendem Tone mir zu erklären, daß
ich der Mutter niemals mehr Geld entwenden und es ihr verheimlichen
dürfe: das sei häßlich und eine Schande und überhaupt sehr schlecht.
Diesmal sei es nur deshalb so gekommen, weil er das Geld gerade sehr
notwendig gebraucht habe, aber er werde es zurückgeben und dann könne
ich sagen, ich hätte das Geld wiedergefunden; es der Mutter abzunehmen
sei jedoch eine Schande, und ich solle in Zukunft nicht einmal mehr
daran denken, so etwas wieder zu tun, er aber werde mir, wenn ich auf
ihn hörte, noch mehr solcher Pfefferkuchen kaufen. Zum Schluß sagte er
sogar, ich möchte mit der Mutter Mitleid haben, sie sei so krank, die
Arme, und sie allein arbeite für uns alle und ernähre uns. Ich hörte in
großer Angst zu, ja ich zitterte am ganzen Körper und die Tränen wollten
mich fast überwältigen. Ich war so bestürzt, daß ich kein Wort zu sagen
wußte und mich nicht von der Stelle rührte. Endlich ging er ins Zimmer,
nachdem er mir vorher noch verboten hatte, zu weinen oder der Mutter
etwas davon zu sagen – letzteres schärfte er mir ganz besonders ein. Wie
ich bemerkte, war auch er sehr verwirrt. Den ganzen Abend verbrachte ich
wie unter einem entsetzlichen Bann und zum erstenmal wagte ich nicht,
ihn anzusehen oder zu ihm zu gehen. Und auch er mied sichtlich meinen
Blick. Die Mutter ging im Zimmer auf und ab und sprach vor sich hin, wie
sie es gewöhnlich in ihrer Gedankenversunkenheit tat. An jenem Tage
fühlte sie sich bedeutend schlechter und hatte auch schon die Anzeichen
von einem Anfall zu überstehen gehabt. Kurz, infolge dieser ganzen
inneren Qual stellte sich bei mir Fieber ein. Krankhafte, wirre Träume
peinigten mich – bis ich es schließlich nicht mehr aushielt und zu
weinen anfing. Mein Weinen weckte die Mutter; sie rief mich leise an und
fragte, ob mir etwas fehle. Ich antwortete nicht, weinte aber noch
verzweifelter. Da zündete sie das Licht an, kam zu mir und versuchte
mich zu beruhigen, im Glauben, ein Traum habe mich erschreckt.

„Ach, du kleines, dummes Kind!“ sagte sie, „immer noch weinst du, wenn
dir etwas träumt. Nun, schon gut, sei ruhig!“ Und sie küßte mich und
sagte, ich solle in ihr Bett kommen und bei ihr schlafen. Aber ich
wollte nicht, denn ich wagte nicht, sie zu umarmen und zu ihr zu gehen.
Ich wand mich innerlich vor Qual. Ich wollte ihr alles erzählen. Ich war
schon im Begriff anzufangen, aber da fiel mir wieder der Vater ein und
sein Verbot, und ich sagte nichts.

„Mein armes Kindchen ... Njetotschka ...“ hörte ich die Mutter leise
sprechen, während sie mich noch mit ihrer alten Jacke zudeckte, da sie
bemerkt hatte, daß ich wie von Schüttelfrost am ganzen Körper zitterte,
„du wirst wohl ebenso krank werden wie ich.“ Und sie sah mich dabei so
traurig an, daß ich ihren Blick nicht ertragen konnte, krampfhaft die
Augen schloß und mich fortwandte. Ich erinnere mich nicht mehr, daß ich
einschlief, aber noch lange hörte ich im Halbschlaf, wie die arme Mutter
mich leise beruhigte, um mich in den Schlaf zu lullen. Noch nie hatte
ich eine schwerere Qual zu erdulden gehabt. Mein Herz krampfte sich bis
zum körperlichen Schmerz zusammen. Am nächsten Tage ward mir etwas
leichter zumut. Ich fing wieder an mit dem Vater zu sprechen, aber ohne
des Vorgefallenen zu erwähnen, denn ich erriet, daß ihm das sehr
unangenehm sein müsse. Ich täuschte mich nicht: er war sogleich zur
Unterhaltung bereit und sofort guter Dinge, denn auch er schien die
Spannung zwischen uns als ungemütlich empfunden zu haben, wenigstens
hatte er immer ein finsteres Gesicht gemacht, wenn unsere Blicke sich
trafen. Jetzt bemächtigte sich seiner eine seltsame Freude, eine fast
kindliche Zufriedenheit, als er mich wieder ganz arglos und munter sah.
Die Mutter ging wie gewöhnlich bald fort und dann tat er sich keinen
Zwang mehr an. Er küßte mich so, daß ich in ein nahezu übertriebenes
Entzücken geriet und weinte und lachte – beides zugleich. Schließlich
sagte er, er wolle mir etwas Schönes zeigen, das zu sehen mich sehr
freuen werde – als Belohnung dafür, daß ich ein so kluges und gutes
kleines Mädchen bin. Damit knöpfte er seine Weste auf und nahm einen
Schlüssel, den er an einer schwarzen Schnur am Halse trug, sah mich
geheimnisvoll bedeutsam an, als wolle er in meinen Augen das ganze
Vergnügen sehen, das ich seiner Meinung nach empfinden mußte, öffnete
unseren großen Koffer und entnahm ihm behutsam einen länglichen
schwarzen Kasten, den ich bis dahin noch niemals gesehen hatte. Diesen
Kasten berührte er mit einer gewissen Zaghaftigkeit – überhaupt war er
plötzlich ganz verändert: das Lachen war aus seinem Gesicht
verschwunden, das nun einen wahrhaft feierlichen Ausdruck annahm. Diesen
geheimnisvollen Kasten also öffnete er ganz behutsam und entnahm ihm
einen absonderlichen Gegenstand, den ich bis dahin auch noch nicht
gesehen hatte – ein Ding von äußerlich recht seltsamer Form. Er nahm es
gleichfalls mit großer Vorsicht und nahezu mit Andacht in die Hand und
sagte, das sei seine Geige, sein Instrument. Hierauf fing er an mit
leiser, feierlicher Stimme zu mir zu sprechen – und er redete sehr
lange, aber ich verstand ihn nicht. Ich behielt nur die mir bereits
bekannten Ausdrücke, daß er ein Künstler sei, daß er Talent habe, daß er
einmal auf dieser Geige spielen werde und zu guter Letzt, daß wir dann
alle reich sein werden und daß uns schließlich irgendein großes Glück
blühen werde. Tränen traten ihm in die Augen und rollten über seine
Wangen. Ich war sehr ergriffen. Zum Schluß küßte er seine Geige und ließ
auch mich sie küssen. Als er sah, daß ich sie gern näher betrachtet
hätte, führte er mich zum Bett der Mutter und gab mir die Geige in die
Hand; aber ich sah wohl, daß er zitterte vor Angst, ich könnte sie
vielleicht irgendwie zerschlagen oder zerbrechen. Ich nahm die Geige und
berührte die Saiten, die in einem leisen schwingenden Ton erklangen.

„Das ist Musik!“ sagte ich, indem ich zu ihm aufsah.

„Ja, ja, das ist Musik,“ wiederholte er, sich freudig die Hände reibend,
„du bist ein kluges Kind, bist ein gutes Kind!“

Aber trotz seines Lobes und Entzückens sah ich doch, daß er sich um
seine Geige ängstigte, und da ergriff mich gleichfalls eine Angst, – ich
gab sie ihm schnell zurück. Sie wurde mit derselben Behutsamkeit wieder
eingepackt, der Kasten verschlossen und in den Koffer zurückgelegt; der
Vater aber, der nochmals meinen Kopf streichelte, versprach, mir
jedesmal die Geige zu zeigen, wenn ich wieder so klug, brav und gehorsam
sein würde wie jetzt. So hatte die Geige unseren gemeinsamen Kummer
vertrieben. Erst am Abend flüsterte er mir im Fortgehen heimlich zu, ich
solle nicht vergessen, was er mir tags zuvor auf dem Treppenflur gesagt
habe.

So wuchs ich in unserer Dachstube auf, und allmählich steigerte sich
meine Liebe, – nein, richtiger gesagt, meine Leidenschaft, denn ich
kenne kein anderes Wort, das ein so unbezwingbares, mich selbst
quälendes Gefühl, wie ich es für den Vater empfand, ausdrücken könnte –
steigerte sich bis zu einer krankhaft ausgearteten Empfindsamkeit. Ich
kannte nur noch eine einzige Lust: an ihn zu denken, von ihm zu träumen,
nur noch einen Wunsch und Willen – alles zu tun, nur um ihm eine Freude
oder sei es auch ein noch so kleines Vergnügen zu bereiten. Wie oft
erwartete ich ihn, zitternd und blau vor Kälte, auf der zugigen Treppe,
nur um wenigstens ein paar Augenblicke früher sein Kommen zu hören und
ihn zu sehen. Streichelte er mich, wenn er bisweilen zärtlich zu mir
war, so wurde ich ganz wirr vor Freude. Und doch peinigte es mich oft
bis zum körperlichen Schmerz, daß ich in meinem Verhalten zu meiner
armen Mutter so hartnäckig kühl blieb. Es gab Augenblicke, wo ich hätte
vergehen mögen vor Qual und Mitleid, wenn ich sie ansah. Bei dem ewigen
Streit der Eltern konnte ich nicht gleichmütig bleiben und unparteiisch
zusehen, ich mußte zwischen ihnen wählen und mich für einen von ihnen
entscheiden. Und so stellte ich mich denn auf die Seite dieses halb
wahnsinnigen Menschen, nur weil er in meinen Augen so mitleiderregend,
so erniedrigt war und ganz zu Anfang einen so unauslöschlichen Eindruck
auf mich gemacht, meine Phantasie entfesselt hatte. Doch schließlich –
wer könnte das so genau sagen, weshalb ich gerade seine Partei ergriff?
Vielleicht fühlte ich mich gerade deshalb so zu ihm hingezogen, weil er
so eigenartig war, sogar in seiner äußeren Erscheinung eigenartig, und
nicht so ernst und unwirsch wie die Mutter, weil er fast wahnsinnig,
weil an ihm hin und wieder so etwas von Gauklerart war, und schließlich,
weil ich ihn weniger fürchtete und sogar weniger achtete als die Mutter.
Er war irgendwie – mehr meinesgleichen. Ja allmählich bemächtigte sich
meiner das Gefühl, daß ich ihm sogar überlegen sei, daß ich ihn mir
unmerklich unterwarf, und daß ich ihm unentbehrlich wurde, ja zuweilen
kokettierte ich geradezu mit ihm. In der Tat, diese wunderliche
Anhänglichkeit meinerseits erinnerte in etwas an einen Roman ... Doch
dieser Roman sollte nicht von langer Dauer sein: ich verlor bald meine
Mutter und meinen Vater. Ihr Leben fand ein schreckliches Ende, das sich
schwer und qualvoll meiner Erinnerung eingeprägt hat. Wie sich das
zutrug, will ich jetzt erzählen.


                                  III.

Zu jener Zeit wurde ganz Petersburg alarmiert durch eine große
Neuigkeit: es verbreitete sich das Gerücht von der bevorstehenden
Ankunft des berühmten S–z. Alles, was musikalisch war in Petersburg,
geriet in Aufregung. Sänger, Schauspieler, Dichter, Maler, sämtliche
Musiknarren, aber auch solche, die niemals Musiknarren gewesen waren und
mit bescheidenem Stolz gestanden, daß sie keinen Ton von der ganzen
Musik begriffen, jagten nun alle mit wahrer Gier nach den Billetten zu
diesem Konzert. Der Saal konnte kaum den zehnten Teil der Enthusiasten
fassen, die die Möglichkeit hatten oder sich schufen, fünfundzwanzig
Rubel Eintrittsgeld zu zahlen. Doch die europäische Berühmtheit dieses
S–z, sein lorbeerumkränztes hohes Alter, dabei die unverwüstliche
Frische seines Talentes, sowie die Tatsache, daß er in letzter Zeit nur
noch äußerst selten öffentlich spielte, und ferner die Versicherung, daß
er zum letztenmal eine europäische Konzertreise unternehme, dann aber
das Spielen endgültig aufgeben werde, erregten die Gemüter und die
Neugier der Menschen. Mit einem Wort, die Spannung war eine ungeheuere.

Ich erzählte bereits, daß die Ankunft jedes neuen Violinvirtuosen, jeder
auch noch so kleinen „Berühmtheit“, auf meinen Stiefvater stets den
unangenehmsten Eindruck machte. Er war dann immer einer der ersten, die
sich beeilten, den angereisten Künstler zu hören, um möglichst bald die
Größe seiner Kunst beurteilen zu können. Nicht selten wurde er geradezu
krank, nur dadurch, daß er das Lob anhören mußte, das irgendeinem neuen
Stern gespendet wurde, und er beruhigte sich nicht eher, als bis er an
dem Spiel des Gelobten irgend etwas auszusetzen fand, was er dann als
seine „unmaßgebliche Meinung“ mit beißendem Spott überall, wo er nur
konnte, zum besten gab. Der arme Wahnsinnige glaubte, daß es nur ein
einziges Genie in der ganzen Welt gäbe, nur einen einzigen Künstler, und
dieser Künstler war natürlich er selbst. Das Gerücht nun, und alsbald
die Gewißheit, daß das Weltgenie S–z in Petersburg konzertieren werde,
wirkte auf ihn geradezu wie eine Erschütterung. Übrigens muß ich
bemerken, daß Petersburg in den letzten zehn Jahren kein einziges
größeres Talent gehört hatte, geschweige denn ein Genie gleich S–z.
Deshalb hatte auch mein Stiefvater von dem Spiel wirklich erstrangiger
europäischer Künstler noch gar keine richtige Vorstellung.

Man hat mir erzählt, mein Vater habe sich damals schon nach dem ersten
unsicheren Gerücht wieder hinter den Kulissen eingefunden. Er sei sehr
aufgeregt gewesen und habe sich mit größter Unruhe nach S–z und dessen
bevorstehendem Konzert erkundigt. Da man ihn lange nicht gesehen, soll
sein plötzliches Wiederauftauchen sogar einen gewissen Effekt gemacht
haben. Jemand habe ihn reizen wollen und herausfordernd gemeint: „Ja,
mein lieber Jegor Petrowitsch, jetzt werden Sie nicht mehr Ballettmusik
zu hören bekommen, sondern eine, die Sie nicht mehr leben lassen wird
auf Erden!“ Er soll erbleicht sein, als er diesen Spott hörte, habe aber
doch noch ruhig geantwortet, wenn auch mit verzerrtem Lächeln:

„Warten wir ab. Aus der Ferne hält man oft für einen Berg, was sich in
der Nähe als ein Kamel entpuppt. Dieser S–z ist ja doch nur in Paris
gewesen, da haben eben die Franzosen seinen Ruhm ausgeschrien, aber –
nun ja, man weiß doch, was Franzosen sind!“ usw.

Alles lachte. Der Arme fühlte sich gekränkt, aber er bezwang sich und
fügte nur hinzu, daß er übrigens gar nichts sagen wolle, man werde es ja
bald erleben, vorläufig müsse man abwarten, bis übermorgen sei nicht
lange, die Wunder würden schon an den Tag kommen.

B. erzählte mir, an demselben Tage, kurz vor der Dämmerung, sei ihm auf
der Straße Fürst H. begegnet – ein Dilettant als ausübender Künstler,
als Mensch jedoch ein unvergleichlicher Kunstkenner und Kunstliebhaber.
Sie setzten gemeinsam ihren Weg fort, sprachen natürlich auch von dem
bereits eingetroffenen großen Virtuosen, als B. plötzlich meinen Vater
erblickte, der vor dem Fenster einer Musikalienhandlung stand und
aufmerksam ein Konzertprogramm studierte, das in großen Lettern das
Konzert des berühmten Geigenvirtuosen S–z ankündigte.

„Sehen Sie dort diesen Menschen, der vor dem Fenster steht?“ wandte sich
B. schnell an den Fürsten.

„Wer ist das?“ fragte der Fürst.

„Sie haben von ihm schon gehört. Das ist derselbe Jefimoff, von dem ich
Ihnen mehrmals erzählt habe, und der einmal durch Ihre Protektion eine
Anstellung erhielt.“

„Ach ja, ich entsinne mich!“ sagte der Fürst. „Sie haben mir viel von
ihm erzählt. Er soll ja sehr interessant sein, sagt man. Könnte ich ihn
nicht mal spielen hören?“

„Lohnt nicht,“ versetzte B. kurz. „Und es ist auch so niederdrückend.
Das heißt, ich weiß nicht, wie es auf Sie wirkt, aber auf mich macht es
immer einen schrecklichen Eindruck. Sein Leben ist – eine einzige
entsetzliche Tragödie. Eine Hölle. Ich habe tiefes Mitgefühl mit ihm,
wie schmutzig er auch sein mag, immer wieder nehme ich Anteil an ihm.
Sie sagten, er müsse interessant sein. Das ist er wirklich, aber der
Eindruck, den er in einem hinterläßt, ist gar zu schmerzhaft und schwer.
Erstens ist er ein Wahnsinniger, und zweitens hat dieser Wahnsinnige
drei Verbrechen auf dem Gewissen, denn außer seinem eigenen Leben hat er
noch zwei andere Menschenleben zugrunde gerichtet: das seiner Frau und
seiner Tochter. Wie ich ihn kenne, würde es ihn auf der Stelle töten,
wenn er sich von seinem Verbrechen überzeugte. Aber das ganze Entsetzen
besteht ja gerade darin, daß er es sich nun schon acht Jahre lang _fast_
eingesteht und daß er acht Jahre lang mit seinem Gewissen ringt, um es
sich nicht nur ‚fast‘, sondern vollkommen einzugestehen.“

„Sie sagten, er sei arm?“ fragte der Fürst.

„Ja; aber die Armut ist für ihn jetzt eher ein Glück, denn sie ist in
seinen Augen seine Rechtfertigung. Solange er arm ist, kann er einem
jeden versichern, daß nur die Armut ihn zurückhalte und daß er, wenn er
reich wäre, dann auch genügend Zeit hätte, und vor allem keine Sorgen,
um zeigen zu können, was für ein Künstler er sei. Er hat mit der
sonderbaren Hoffnung geheiratet, daß tausend Rubel, die seine Frau
damals besaß, ihm helfen würden, sein Ziel zu erreichen. Er handelte wie
ein Phantast, wie ein Dichter, und so hat er stets gehandelt. Wissen
Sie, was er in diesen acht Jahren immer behauptet hat und auch jetzt
noch zu behaupten nicht müde wird? – Daß die Ursache seines ganzen
Elends seine Frau sei: die hindere ihn an allem. Und er selbst tut dabei
nichts: denkt nicht einmal daran, zu arbeiten. Nehmen Sie ihm aber diese
Frau – da wäre er der unglücklichste Mensch der Welt. Jetzt hat er schon
mehrere Jahre lang die Geige nicht angerührt – und wissen Sie, warum
nicht? Weil er jedesmal, sobald er den Bogen in die Hand nimmt, sich
innerlich doch gestehen muß, daß er nichts ist, eine Null, aber kein
Künstler. So dagegen, wenn er den Bogen nicht anrührt, kann er sich noch
dem schönen Glauben hingeben, daß es doch wieder nicht wahr sei. Er ist
ein Träumer. Er glaubt, daß er mit einemmal, wie durch ein Wunder,
plötzlich der berühmteste Mensch der Welt sein werde. Sein Wahlspruch
ist: ^aut Caesar, aut nihil^, als könnte man so einfach und in einem
Augenblick ein Cäsar werden. Sein ganzes Verlangen, seine einzige
Begierde ist – Ruhm. Wenn aber ein solches Gefühl zum ersten und
einzigen Antrieb eines Künstlers wird, so ist der Betreffende schon
nicht mehr Künstler, da er dann den Grundtrieb des Künstlers eingebüßt
hat, nämlich die Liebe zur Kunst einzig um der Kunst willen, und nicht
aus anderen Gründen, wie etwa, weil sie Ruhm verschafft. Da nehmen Sie
zum Beispiel diesen S–z: wenn er den Bogen in die Hand nimmt, dann gibt
es für ihn in der ganzen Welt nichts mehr außer seiner Musik. Nach der
Musik ist für ihn das Geld die Hauptsache, und erst an dritter Stelle,
glaube ich, steht für ihn der Ruhm. Aber er hat sich wenig um ihn
gesorgt ... Wissen Sie, was dagegen diesen Unglücklichen jetzt am
meisten beschäftigt,“ fuhr B. fort, mit einer Kopfbewegung auf Jefimoff
deutend. „Ihn beschäftigt jetzt nur eine allerdümmste, nichtigste, ja
sogar erbärmlichste und lächerlichste Sorge, und zwar die: ist er,
Jefimoff, größer als S–z oder ist S–z größer als er – und nichts weiter,
denn er ist auch jetzt noch überzeugt, daß er der erste Künstler der
Welt sei. Versuchen Sie ihn zu überzeugen, daß er kein Künstler ist, und
ich versichere Sie, er wird tot hinfallen – es wäre zu schwer, zu
schrecklich für ihn, auf seine fixe Idee zu verzichten, der er schon
sein ganzes Leben geopfert hat und deren Grundlage immerhin tief und
ernst war, denn anfangs gehörte er wirklich zu den Berufenen.“

„Dann kann das ja interessant werden, wenn er jetzt S–z zu hören
bekommt,“ bemerkte der Fürst.

„Ja,“ sagte B. nachdenklich. „Doch nein: er wird sich auch dann wieder
mit sich zurechtfinden. Seine Einbildung ist stärker als die Wahrheit,
die er erfahren könnte: deshalb würde er auch sicherlich gleich
irgendeine neue Erklärung für sie finden.“

„Meinen Sie?“ fragte der Fürst.

Sie hatten sich inzwischen meinem Vater genähert. Dieser wollte, als er
sie erblickte, unbemerkt an ihnen vorübergehen, doch B. hielt ihn auf
und redete ihn an. Er fragte ihn, ob er das Konzert des berühmten S–z
besuchen werde. Jefimoff antwortete gleichmütig, er wisse das noch
nicht, er habe da etwas vor, was wichtiger sei als Konzerte und alle
angereisten Virtuosen: doch übrigens, er werde sehen, bestimmt könne er
es noch nicht sagen, aber wenn sich gerade ein freies Stündchen
erübrigen sollte – warum dann schließlich nicht? – vielleicht, wie
gesagt, werde er sich die Mühe nehmen. Ein schneller, etwas unruhiger
Blick streifte B. und den Fürsten, ein mißtrauisches, flüchtiges
Lächeln, dann hob er den Hut, nickte B. zu und ging weiter, unter dem
Vorwand, daß er keine Zeit habe.

Doch ich wußte schon seit einem Tage um die Sorge des Vaters. Was es nun
gerade war, was ihn quälte, das wußte ich freilich nicht, aber meiner
Beobachtung war natürlich nicht entgangen, daß er in der letzten Zeit
etwas auf dem Herzen hatte. Sogar die Mutter schien dies bemerkt zu
haben. Sie war in diesen Tagen sehr krank und konnte kaum die Füße
bewegen, was ihr das Gehen fast unmöglich machte. Der Vater kam bald
nach Haus, bald ging er wieder fort. Am Morgen erschienen bei uns drei
oder vier Gäste, seine ehemaligen Freunde, worüber ich mich sehr
wunderte, da sonst außer Karl Fedorytsch so gut wie kein Mensch zu uns
kam. Die anderen hatten ja alle schon längst ihre Besuche bei uns
eingestellt, eben seitdem der Vater nicht mehr am Theater angestellt
war. Schließlich erschien auch noch Karl Fedorytsch ganz außer Atem und
in höchster Eile und brachte ein Konzertprogramm. Ich hörte ihren
Gesprächen zu und beobachtete sie aufmerksam: alles das peinigte mich
so, daß ich mich gewissermaßen schuld fühlte an dieser ganzen Aufregung
und Unruhe, die ich im Gesicht des Vaters las. Ich wollte unbedingt
wissen, wollte verstehen, wovon sie sprachen: und da hörte ich denn zum
erstenmal den Namen S–z. Aus den weiteren Gesprächen erfuhr ich, daß man
mindestens fünfzehn Rubel zahlen mußte, wenn man diesen S–z hören
wollte. Ferner entsinne ich mich noch, wie der Vater plötzlich irgendwie
die Geduld verlor, mit der Hand geringschätzig durch die Luft schlug und
halb spöttisch sagte, er kenne diese fremdländischen Wunder, die
angeblich unerreichbaren Größen mit ihren fabelhaften Talenten, kenne
auch diesen S–z. Das seien alles Juden, die auf russisches Geld Jagd
machten, was ihnen hier besonders leicht fiele, da die Russen in ihrer
Einfalt sowieso schon jeden Unsinn bewunderten, um wieviel mehr noch
das, was der Franzose aus Chauvinismus in den Himmel höbe, ohne
beurteilen zu können, was Talent sei und was nicht. Damals wußte ich
bereits, was das bedeutete: kein Talent haben. Die Gäste lachten und
bald gingen sie alle wieder fort, während der Vater ganz verstimmt
zurückblieb. Ich erriet, daß er aus irgendeinem Grunde auf diesen S–z
böse war, und so trat ich, um ihm zu gefallen und seinen Kummer zu
zerstreuen, an den Tisch, nahm das Programm, versuchte das Gedruckte zu
buchstabieren und las laut den Namen S–z. Dann lachte ich, sah den Vater
an, der in Nachdenken versunken auf dem Stuhl saß, und sagte: „Ach, das
ist gewiß auch so einer wie Karl Fedorytsch, der wird’s auch nie zu
etwas bringen!“ Der Vater zuckte zusammen, als hätte ich ihn erschreckt,
entriß mir das Programm, schrie mich an und trampelte mit den Füßen,
ergriff seinen Hut und wollte schon aus dem Zimmer gehen, kehrte aber
sogleich zurück und rief mich auf den Flur hinaus. Dort küßte er mich,
sagte mir, ich sei ein gutes Kind, ein kluges Kind, und ich würde ihn
deshalb bestimmt nicht betrüben wollen, er erwarte von mir einen großen
Dienst – worin dieser aber bestehen sollte, das sagte er nicht. Zudem
bedrückte es mich, ihn anzuhören: ich sah und fühlte, daß seine
Freundlichkeit nicht aufrichtig war – und das erschütterte mich
geradezu. Ich fing an, mich um seinetwillen zu quälen.

Am folgenden Tage beim Mittagessen – d. h. am Tage vor dem Konzert – war
der Vater wie zerschlagen. Er war so ganz anders und sah immer wieder
nach der Mutter hin. Schließlich – ich wunderte mich nicht wenig – fing
er sogar an, mit ihr zu sprechen (ich wunderte mich deshalb, weil er
sonst fast nie mit ihr sprach). Nach dem Essen aber ließ er es sich
plötzlich angelegen sein, um meine Gunst zu werben: jeden Augenblick
rief er mich, bald unter diesem, bald unter jenem Vorwand auf den
Treppenflur und nachdem er sich vorher umgesehen, als hätte er
gefürchtet, daß jemand kommen könnte, streichelte und küßte er mich,
nannte mich ein gutes Kind und ein folgsames Kind, ganz gewiß, sagte er,
liebte ich meinen Papa und deshalb würde ich auch bestimmt das tun,
worum er mich bitten werde. Alles das versetzte mich in eine höchste
Spannung, die schließlich unerträglich wurde. Endlich, als er mich zum
zehntenmal auf den Treppenflur gerufen hatte, fand die Sache ihre
Erklärung. Mit schuldbewußter, gequälter Miene, sich fortwährend unruhig
nach allen Seiten umsehend, fragte er mich, ob ich wisse, wo die Mutter
jene fünfundzwanzig Rubel aufbewahrte, die sie vor einem Tage nach Haus
gebracht. Ich erstarrte vor Schreck, als ich diese Frage vernahm. Da
hörten wir plötzlich ein Geräusch auf der Treppe, der Vater erschrak,
ließ mich stehen und eilte fort. Er kam erst gegen Abend zurück,
verwirrt, betreten, niedergeschlagen und besorgt, setzte sich schweigend
auf einen Stuhl und seine Blicke suchten nun wieder mich, ja er sah mich
geradezu frohen Mutes an. Da erfaßte mich wieder eine sonderbare Angst
und ich wich absichtlich seinem Blick aus. Als es schon ganz dunkel
geworden war, rief mich die Mutter, die den ganzen Tag im Bett gelegen,
zu sich und gab mir etwas Kupfergeld, für das ich ihr aus dem kleinen
Laden ein wenig Tee und Zucker kaufen sollte. Tee wurde bei uns sehr
selten getrunken. Die Mutter erlaubte sich diesen Luxus – denn das war
er bei unseren beschränkten Mitteln – nur dann, wenn sie sich krank
fühlte und fieberte. Ich nahm das Geld und kaum war ich auf dem Flur, da
lief ich, was ich laufen konnte, lief in der Furcht, daß man mir
nachkommen könnte. Meine Vorahnung täuschte mich auch nicht: der Vater
holte mich auf der Straße ein und zog mich ins Haus zurück.

„Njetotschka!“ begann er mit unsicherer Stimme. „Mein Täubchen! Höre:
gib mir dieses Geld, ich werde es dir gleich morgen ...“

„Papa! Papachen!“ rief ich flehend und zitternd und ich warf mich vor
ihm auf die Knie, um ihn zu beschwören, „Papachen! Ich kann nicht! Ich
darf nicht! Mama ist krank, sie muß Tee trinken ... Man kann das Geld
doch nicht Mama nehmen, wirklich nicht, glaub mir! Ein anderes Mal,
nächstens werde ich dir ...“

„Du willst nicht? Du willst nicht?“ flüsterte er wie in rasender Wut.
„Also du willst mich nicht mehr lieben? Nun gut! Jetzt verlasse ich
dich! Bleib denn allein bei Mama, ich werde von euch fortgehen und dich
nehme ich nicht mit. Hörst du, böses Mädchen, hörst du, was ich sage?“

„Papachen!“ rief ich entsetzt, „nimm das Geld, nimm! Was soll ich jetzt
tun?“ stammelte ich, mich an seinen Rockschoß klammernd, „Mama wird doch
weinen, sie ist doch krank, sie wird mich doch wieder schelten!“

Ich glaube, er hatte diesen Widerstand nicht erwartet, aber das Geld
nahm er; dann – wohl in der Furcht, meinem Jammern und Weinen nicht
standhalten zu können – verließ er mich schnell und lief auf die Straße.
Ich stieg die Treppen hinauf, aber vor unserer Stubentür verließen mich
meine Kräfte. Ich wagte nicht, einzutreten, ich konnte nicht eintreten;
alles, was an Herz in mir war, war erschüttert und in Aufruhr gebracht.
Ich vergrub das Gesicht in den Händen und wankte zum Fenster, wie
damals, als ich den Vater hatte sagen hören, er wünsche, die Mutter
stürbe bald. So stand ich, die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt,
wie benommen und erstarrt, und doch lauschte ich und gab acht auf jedes
noch so leise Geräusch unten auf der Treppe. Endlich hörte ich jemand
schnell heraufkommen. Das war er; ich erkannte ihn am Gang.

„Bist du hier?“ flüsterte er, als er mich erblickte.

Ich warf mich ihm entgegen.

„Da!“ stieß er rauh hervor und steckte mir das Geld in die Hand, „nimm
es! Nimm es zurück! Ich bin jetzt nicht mehr dein Vater, hörst du? Ich
will nicht mehr dein Vater sein! Du liebst Mama mehr als mich! So geh zu
Mama! Ich will von dir nichts mehr wissen!“ Damit stieß er mich fort und
eilte wieder die Treppe hinunter. Ich lief ihm weinend nach.

„Papa! Papa! lieber Papa! Ich werde gehorchen!“ rief ich schluchzend,
„ich liebe dich mehr als Mama! Nimm das Geld, behalt es! – Papa! ...“

Er hörte mich nicht mehr – ich sah nur, daß er verschwunden war.

Diesen ganzen Abend war ich wie krank und zitterte in Fieberschauern.
Ich weiß noch, die Mutter sagte mir irgend etwas, rief mich zu sich: ich
war aber nicht bei Besinnung, ich hörte nichts und sah nichts. Es endete
mit einem Anfall: ich fing an zu weinen, zu schreien – Mama erschrak
sehr und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie nahm mich zu sich ins Bett
und ich umschlang ihren Hals und schlief denn auch allmählich ein, doch
zuckte ich im Schlaf noch jeden Augenblick zusammen oder erschrak über
irgend etwas. So verging die Nacht. Am anderen Morgen erwachte ich erst
sehr spät, als die Mutter schon fortgegangen war. Sie ging um diese Zeit
immer ihrer Arbeit nach. Der Vater und ein Unbekannter saßen im Zimmer
und beide sprachen sehr laut. Ich konnte es kaum abwarten, bis der
Fremde endlich aufbrach, und als wir allein waren, lief ich zum Vater
und bat ihn leise, unter Tränen, mir doch zu verzeihen.

„Und wirst du auch wieder ein gutes Kind sein wie früher?“ fragte er
mich streng.

„Ja, Papa, ja!“ stammelte ich. „Ich werde dir sagen, wo Mamas Geld
liegt. Sie hat es in ihrem Kasten, in der Schatulle, dort lag es
wenigstens gestern.“

„Gestern? Wo?!“ rief er und sprang auf. „Wo lag es?“

„Aber der Kasten ist verschlossen, Papa!“ sagte ich schnell. „Du mußt
warten, bis Mama mich am Abend schickt, um das Geld zu wechseln, denn
das Kupfergeld, das habe ich gesehen, ist ausgegangen.“

„Ich brauche fünfzehn Rubel, Njetotschka! Hörst du? Nur fünfzehn Rubel!
Verschaff’ sie mir heute; morgen werde ich dir alles zurückgeben. Ich
werde gleich gehen und dir Bonbons bringen, Nüsse auch ... auch eine
Puppe werde ich dir kaufen ... und morgen wieder eine ... und jeden Tag
werde ich dir Naschwerk bringen, wenn du ein gutes und folgsames Kind
sein wirst!“

„Ach nein, das ist nicht nötig, Papa, das ist nicht nötig! Ich will kein
Naschwerk, ich werde es nicht essen, ich werde es dir zurückgeben!“ rief
ich, während die Tränen mich fast erstickten, denn mein Herz krampfte
sich zusammen und wollte vergehen. Ich fühlte in diesem Augenblick, daß
ich ihm nicht leid tat und daß er mich auch gar nicht liebte, da er doch
nicht sah, wie ich ihn liebte, und sogar glauben konnte, daß ich für
Naschwerk ihm dienen werde. In diesem Augenblick begriff ich
zehnjähriges Kind ihn vollkommen, ich durchschaute ihn ganz und gar und
schon fühlte ich, daß diese Erkenntnis mich nun für immer durchdrungen
hatte, daß ich ihn nicht mehr lieben konnte, daß ich meinen früheren
Papa für immer verloren. Er aber war geradezu begeistert von der
Aussicht, durch mich das Geld zu bekommen. Er sah nun, daß ich für ihn
zu allem bereit war, daß ich alles für ihn tun werde, aber nur Gott weiß
es wie viel dieses „alles“ damals für mich war. Ich wußte, was dieses
Geld für meine arme Mutter bedeutete; ich wußte, daß sie krank werden
konnte vor Aufregung und Sorge, wenn ihr dieses Geld abhanden kam, und
meine Reue schrie in mir. Er aber sah nichts davon, er hielt mich immer
noch für ein dreijähriges Kind, während ich schon alles begriff. Seine
Freude kannte keine Grenzen: er küßte mich, redete mir zu, nicht zu
weinen, versprach mir, heute noch mit mir von der Mutter fortzugehen –
wahrscheinlich um meiner in dieser Richtung unermüdlich arbeitenden
Phantasie zu schmeicheln. Schließlich zog er aus seiner Tasche ein
Konzertprogramm: und nun erzählte er und beteuerte, daß dieser Mensch,
zu dem er am Abend gehen werde, sein Feind sei, sein Todfeind, aber
seinen Feinden werde der Anschlag gegen ihn nicht gelingen. Er glich
entschieden selber einem Kinde, während er von seinen Feinden sprach.
Als er dann aber bemerkte, daß ich nicht wie gewöhnlich während seiner
Erzählungen lächelte, sondern ernst und schweigend zuhörte, da nahm er
seinen Hut und ging aus dem Zimmer, da er noch irgendeinen eiligen Gang
vorhatte, wie er sagte, aber im Fortgehen küßte er mich noch einmal und
nickte mir mit einem ungewissen Lächeln zu, als hätte er sich meiner
doch nicht ganz sicher gefühlt, und wie um der Möglichkeit vorzubeugen,
daß ich meine Absicht etwa wieder änderte.

Ich sagte bereits, daß er wie ein Wahnsinniger war: das fühlte ich schon
am Tage vor dem Konzert. Das Geld brauchte er, um ein Billett zu diesem
Konzert kaufen zu können – als wenn sein Vorgefühl ihm ganz richtig die
Ahnung eingegeben hätte, daß dieses Konzert sein ganzes Schicksal
entscheiden mußte! Darüber verlor er so den Kopf, daß er am Vorabend das
bißchen Kupfergeld von mir nehmen wollte, als hätte er sich schon damit
das Billett verschaffen können. Noch stärker machte sich sein seltsames
Wesen bei Tisch bemerkbar, als wir wie gewöhnlich spät am Nachmittag zu
Mittag aßen. Er konnte einfach nicht stillsitzen und aß keinen Bissen,
jeden Augenblick stand er auf und setzte sich, wie sich besinnend,
wieder hin; bald griff er nach dem Hut, als wollte er fortgehen, bald
war er seltsam zerstreut, bald flüsterte er vor sich hin, bald sah er
plötzlich auf und suchte mich mit den Augen, um mir dann zuzuzwinkern
und verschiedene Zeichen zu machen, vor lauter Ungeduld, endlich in den
Besitz des Geldes zu gelangen, und als ärgere er sich über mich, daß ich
es noch immer nicht der Mutter entwendet hatte. Sogar der Mutter fiel
sein fremdes Wesen auf und sie sah ihn verwundert an. Ich aber war wie
zum Tode verurteilt. Nach dem Essen zog ich mich in meinen Winkel zurück
und zitternd vor Fieber zählte ich die Sekunden bis zu der Zeit, wo die
Mutter mich gewöhnlich nach Kleinigkeiten in den Laden schickte. In
meinem Leben habe ich nicht qualvollere Stunden verbracht: sie werden
ewig und unverwischbar in meiner Erinnerung stehen. Was durchfühlte ich
da nicht alles in Gedanken! Es gibt Zeitspannen – man könnte sie mit
einer Anzahl Minuten beziffern –, wo man in seiner Erkenntnis viel mehr
erlebt, als in ganzen Jahren. Mein Gefühl wußte, daß ich etwas
Schlechtes und Häßliches zu tun im Begriff war; er selbst hatte ja noch
meine guten Instinkte bestärkt, als er mich das erstemal kleinmütig zum
Schlechten verleitet, um mir dann, vielleicht erschrocken, jedenfalls
aber das Geschehene bereuend, zu erklären, daß ich sehr schlecht
gehandelt hatte. Begriff er denn nicht, wie schwer es ist, eine Natur zu
betrügen, die begierig ist, ihre Eindrücke ganz zu erfassen und die
schon viel Schlechtes und Gutes durchfühlt und durchdacht hat? Ich
begriff doch, daß es die äußerste Not war, die ihn bewog, mich nochmals
ins Laster zu stoßen und somit meine arme, schutzlose Kindheit zu opfern
– die ihn bewog, es nochmals zu wagen, meinem noch ungefestigten
Gewissen diesen Stoß zu versetzen. Und während ich dort in meinem Winkel
kauerte, fing ich an, bei mir darüber nachzudenken: warum versprach er
mir noch eine Belohnung für das, was ich schon aus eigenem freiem Willen
tun wollte? Neue Empfindungen, neue, bis dahin noch nie empfundene
Triebe, neue Fragen erhoben sich scharenweis in mir, und ich quälte mich
mit ihnen. Dann mußte ich plötzlich an die Mutter denken. Ich stellte
mir ihre Verzweiflung vor, wenn ihr dieser mühselig erarbeitete Lohn
genommen würde. Endlich legte die Mutter die Arbeit, die sie schon über
ihre Kräfte verrichtete, aus der Hand und rief mich. Ich erbebte und
ging zu ihr. Sie nahm aus der Kommode das Geld und indem sie es mir gab,
sagte sie:

„Geh, Njetotschka. Nur laß dir um Gottes willen nicht falsch
zurückgeben, wie neulich, und sieh dich vor, daß du auch nichts
verlierst.“

Ich sah flehend zum Vater hinüber, aber er nickte mir zu, lächelte
zustimmend und rieb sich die Hände vor Ungeduld. Die Uhr schlug sechs,
das Konzert sollte um acht beginnen. Auch er muß während dieses Wartens
viel erduldet haben.

Ich blieb auf der Treppe stehen, um auf ihn zu warten. Er war aber so
aufgeregt und ungeduldig, daß er alle Vorsicht vergaß und mir hastig und
fast auf dem Fuß folgte. Ich gab ihm das Geld: auf der Treppe war es
dunkel, sein Gesicht konnte ich nicht sehen; aber ich fühlte, daß er am
ganzen Körper zitterte, als er das Geld empfing. Ich stand erstarrt wie
im Krampf, und rührte mich nicht vom Fleck. Ich kam erst zu mir, als er
mich nach oben schickte, um ihm seinen Hut aus dem Zimmer zu holen. Er
wollte nicht einmal mehr hineingehen.

„Papa! Wirst du ... denn nicht mitkommen ins Zimmer?“ fragte ich mit
versagender Stimme, mich noch an meine letzte Hoffnung klammernd – an
seinen Beistand.

„Nein ... du geh lieber allein ... was? Wart’ wart’!“ rief er, sich
schnell besinnend, „wart’, ich werde dir gleich Naschwerk bringen – aber
du geh nur erst ins Zimmer und bring mir meinen Hut her.“

Mir war, als presse eine eiskalte Hand mein Herz zusammen. Plötzlich –
stieß ich ihn fort und eilte wie gejagt die Treppe hinauf. Als ich ins
Zimmer trat – sah ich verstört aus, und wenn ich damals gesagt hätte,
daß man mir das Geld genommen, da hätte die Mutter es mir wohl geglaubt.
Aber ich konnte keinen Laut hervorbringen. In einem Anfall der
Verzweiflung, die mich plötzlich wie ein Krampf packte, warf ich mich
über das Bett der Mutter und vergrub das Gesicht in den Händen. Nach
einer Weile hörte ich die Tür leise kreischen und der Vater trat ins
Zimmer. Er kam, um sich seinen Hut zu holen.

„Wo ist das Geld?!“ rief plötzlich die Mutter, die jetzt blitzartig
erriet, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war. „Wo ist das Geld?
Sprich! Sprich!“ Und sie riß mich vom Bett und stellte mich vor sich
hin, mitten ins Zimmer.

Ich schwieg, den Blick zu Boden gesenkt; ich wußte kaum, was in mir
vorging und was man mit mir tat.

„Wo ist das Geld?!“ schrie sie mich an und plötzlich – sah sie sich nach
dem Vater um, der schon nach dem Hut griff. „Wo ist das Geld?“
wiederholte sie. „Ah! Dir hat sie es gegeben? Du Verruchter! Mein Mörder
du! Mein Henker! So willst du auch sie verderben! Das Kind! sie, sie?!
Nein doch! So gehst du mir nicht fort!“

Und schon war sie bei der Tür, verschloß sie und steckte den Schlüssel
zu sich.

„Sprich! Gestehe!“ wandte sie sich an mich – mit einer Stimme, die vor
Erregung kaum hörbar war, „gestehe mir alles! So sprich doch, sprich!
Oder ... ich weiß nicht, was ich mit dir mache!“

Sie ergriff meine Hände und zerdrückte sie beinahe, um mich zum
Geständnis zu zwingen. Sie war außer sich und sich gewiß nicht
vollkommen bewußt dessen, was sie tat. Ich aber schwor mir, zu
schweigen, kein Wort vom Vater zu sagen, – doch schlug ich schüchtern
zum letzten Male die Augen zu ihm auf ... Ein Blick von ihm, nur ein
Wort, irgend etwas, was ich von ihm erwartete und worum ich bei mir im
stillen betete – und ich wäre glücklich gewesen trotz aller Schmerzen,
trotz jeder Folter ... Doch – mein Gott! Mit einer gefühllosen,
drohenden Geste befahl er mir, zu schweigen, als hätte ich in diesem
Augenblick noch irgendeines anderen Drohung fürchten können. Es schnürte
mir die Kehle zu, benahm mir den Atem, meine Füße – ich fühlte sie nicht
mehr ... bewußtlos fiel ich hin ... Der Anfall, den ich tags zuvor
gehabt, wiederholte sich.

Ich erwachte, als plötzlich an unsere Tür geklopft wurde. Die Mutter
öffnete sie und erblickte einen Menschen in einer Livree, der etwas
zögernd ins Zimmer trat, sich verwundert umsah und nach dem Musiker
Jefimoff fragte. Der Vater sagte, daß er derjenige sei, den er suche. Da
überreichte ihm der Diener ein Kuvert und erklärte, Herr B., der
augenblicklich beim Fürsten H. weile, habe ihn geschickt. Das Kuvert
enthielt ein Billett zum Konzert des berühmten S–z.

Das Erscheinen dieses Dieners in der glänzenden Livree, dieses
Abgesandten vom Fürsten H., der ihn zu dem armen Musiker schickte – all
das machte im ersten Augenblick einen großen Eindruck auf die Mutter.
Ich sagte bereits, daß die arme Frau meinen Vater immer noch liebte.
Selbst nach ganzen acht Jahren der Enttäuschungen, des Kummers und Leids
hatte ihr Herz sich noch nicht verändert: ja, sie konnte ihn immer noch
lieben! Weiß Gott, vielleicht sah sie nun wieder eine Veränderung in
seinem Leben bevorstehen. Sogar der Schatten einer Hoffnung konnte sie
schon beeinflussen. Wer weiß, vielleicht hatte er sie in seiner
Verschrobenheit einfach angesteckt mit seinem unerschütterlichen
Selbstbewußtsein! Und es wäre doch auch gar nicht anders möglich
gewesen, als daß dieses Selbstbewußtsein auf sie, die schwache Frau,
nicht einen gewissen Einfluß gehabt hätte – was Wunder, wenn sie da auf
diese Aufmerksamkeit des Fürsten gleich tausend Pläne für ihn baute.
Sofort war sie bereit, wieder gut zu ihm zu sein, ihm alles zu
verzeihen, die Qual der ganzen Zeit ihres gemeinsamen Lebens, sogar
diese letzte Schandtat miteinbegriffen, – daß er ihr einziges Kind zu
opfern sich nicht scheute – war bereit, getragen von der Flut ihrer
wieder hervorbrechenden Hoffnung, diese Schandtat als ein einfaches,
kleines Vergehen aufzufassen, als einen Kleinmut, wenn man will, den die
Armut, das elende Leben und seine verzweifelte Lage entschuldigen
konnten. So verzieh sie ihm, und empfand in diesem Augenblick
unendliches Mitleid für den verkommenen Mann.

Der Vater geriet in Aufregung. Auch ihn überraschte die Aufmerksamkeit
B.s und des Fürsten. Er wandte sich ohne weiteres an die Mutter,
flüsterte ihr etwas zu und sie verließ das Zimmer. Nach etwa zwei
Minuten kehrte sie zurück, brachte das gewechselte Geld und der Vater
gab dem Diener sogleich einen Silberrubel, worauf dieser nach einer
höflichen Verbeugung fortging. Die Mutter verließ nun wieder für einen
Augenblick das Zimmer und kehrte mit einem Bügeleisen zurück, suchte das
beste Vorhemd ihres Mannes heraus und bügelte es auf. Sie band ihm
eigenhändig die weiße Batistkrawatte um den Hals, die sich seit
undenklichen Zeiten noch erhalten hatte samt einem schwarzen, schon
recht abgetragenen Frack, der für ihn noch vor seinem Eintritt ins
Orchester angefertigt worden war. Nachdem er die Toilette beendet hatte,
nahm er den Hut, doch vor dem Fortgehen bat er noch um ein Glas Wasser.
Er war bleich und setzte sich in vollkommener Erschöpfung auf einen
Stuhl. Das Wasser mußte ich ihm übrigens reichen – vielleicht hatte sich
schon ein feindseliges Gefühl ins Herz der Mutter geschlichen und ihre
erste Aufwallung abgekühlt?

Dann ging der Vater. Wir waren allein. Ich zog mich wieder in meinen
Winkel zurück und von dort aus sah ich lange schweigend auf die Mutter.
Zum erstenmal sah ich sie in einer solchen inneren Aufregung: ihre
Lippen bebten, die bleichen Wangen hatten sich gerötet und von Zeit zu
Zeit bemerkte ich an ihr nervöse Zuckungen. Zuletzt brach ihre Qual das
Schweigen und ihr ganzes Elend drängte sich in Klagen unter dumpfem,
verzweifeltem Aufschluchzen hervor.

„Ich, ich allein bin an allem schuld, ich Unselige!“ klagte sie sich an.
„Und was soll aus ihr werden? Was wird aus ihr, wenn ich sterbe?“ Sie
blieb plötzlich mitten im Zimmer stehen wie getroffen durch diesen einen
Gedanken. „Njetotschka! Mein Kind! Mein armes Kind! Du Unglückliche, du
Arme!“ sagte sie, meine Hände erfassend und mich krampfhaft umarmend.
„Bei wem lasse ich dich, wenn ich dich nun nicht mehr erziehen, dich
nicht mehr hegen und pflegen kann? Mein armer Liebling! Oh, du verstehst
mich nicht! Oder doch? Wirst du behalten, was ich dir jetzt sage,
Njetotschka? Wirst du dich später noch dessen erinnern?“

„Ja, Mamachen, ja!“ beteuerte ich und faltete die Hände, wie um es zu
beschwören.

Lange und fest hielt sie mich in ihren Armen, als bangte ihr vor dem
Gedanken, daß sie sich von mir trennen mußte. Mein Herz wollte brechen.

„Mamachen! Mama ...“ stammelte ich stockend, denn das Schluchzen saß mir
in der Kehle, „warum ... warum liebst du Papa nicht?“ Und die
unterdrückten Tränen liefen mir über die Wangen.

Ein Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Und wieder, von neuer Qual
gepeinigt, setzte sie ihre Wanderung durch das Zimmer fort.

„Die Arme, die Arme! Und ich hab’ es nicht einmal bemerkt, wie sie
herangewachsen ist! Sie weiß, sie weiß alles! Mein Gott! Und was waren
das hier für Eindrücke, welch ein Beispiel!“ Und sie rang die Hände in
ihrer Verzweiflung.

Dann kam sie wieder zu mir und küßte mich in wahnsinniger Liebe, küßte
meine Hände, auf die ihre Tränen fielen, bat, flehte um Verzeihung ...
Ich hatte noch nie soviel Leid, noch nie einen Menschen so vor Leid
zusammenbrechen gesehen ... Schließlich versank sie gleichsam ermattet
in stumpfes Brüten. So verging wohl eine ganze Stunde. Endlich stand sie
müde auf, sichtlich erschöpft, und sagte mir, ich solle schlafen gehen.
Ich ging in meinen Winkel, tat wie sie geheißen, wickelte mich fest in
die Decke – aber einschlafen konnte ich nicht. Mich quälten die Gedanken
an sie und die Gedanken an den Vater. Mit Ungeduld erwartete ich seine
Rückkehr. Entsetzen erfaßte mich bei dem Gedanken an ihn. Ungefähr nach
einer halben Stunde nahm die Mutter das Licht und trat leise an mein
Bett, um zu sehen, ob ich schlafe. Ich schloß schnell die Augen und
stellte mich schlafend, damit sie sich beruhigte. Als sie sich dann von
meinem Schlaf überzeugt hatte, ging sie leise zum Schrank, öffnete ihn
und schenkte sich ein Glas Wein ein. Sie trank und legte sich dann
schlafen. Das brennende Licht blieb auf dem Tisch und die Tür
unverschlossen, wie das immer geschah, wenn der Vater spät nach Hause
kam.

Ich lag in halber Bewußtlosigkeit, doch kein Schlaf schloß meine Augen.
Kaum sank ich in Schlummer, da wachte ich auch schon wieder auf,
erschreckt durch furchtbare Traumgesichte. Die Beklemmung wuchs und
wurde immer bedrückender. Ich wollte schreien, doch der Schrei erstarb
in meiner Brust. Endlich – schon spät in der Nacht – hörte ich, wie
unsere Tür geöffnet wurde. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit darüber
verstrich, als ich aber die Augen plötzlich ganz aufschlug, da erblickte
ich den Vater. Wie es mir schien, war er sehr bleich. Er saß auf dem
Stuhl gleich neben der Tür und war in Gedanken versunken. Im Zimmer
herrschte Totenstille. Das tropfende Talglicht erhellte traurig unser
Heim.

Ich sah lange auf den Vater, aber er rührte sich noch immer nicht. Er
saß unbeweglich, immer in derselben Stellung, den Kopf auf die Brust
gesenkt und die Hände starr auf die Knie gestützt. Zwei-, dreimal wollte
ich ihn anrufen, aber ich konnte es nicht. Meine Erstarrung wich nicht
von mir. Plötzlich erwachte er gleichsam aus seiner Versunkenheit, sah
auf und erhob sich vom Stuhl. Eine Weile stand er mitten im Zimmer – es
war, als suchte er nach einem Entschluß. Dann trat er plötzlich ans Bett
der Mutter, horchte, und nachdem er sich überzeugt, daß sie schlief,
ging er zum Koffer, in dem seine Geige lag.

Er öffnete den Verschluß, nahm den schwarzen Violinkasten und stellte
ihn auf den Tisch; dann sah er sich wieder um; sein Blick war trüb und
unstet, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.

Er nahm die Violine, legte sie aber gleich wieder hin, kehrte zurück zur
Tür und verschloß sie. Dann, als er den offenstehenden Schrank bemerkte,
ging er leise hin, sah dort das Glas und den Wein stehen, schenkte sich
ein und trank. Darauf griff er zum drittenmal zur Geige, legte sie aber
zum drittenmal wieder hin und ging nochmals zum Bett der Mutter. Starr
vor Angst erwartete ich, was nun geschehen werde.

Er stand lange horchend, zu lange, wie mir schien. Dann schlug er
plötzlich die Decke von ihrem Gesicht zurück und befühlte es mit der
Hand. Ich zuckte zusammen. Er beugte sich nochmals über sie, ganz tief,
sein Kopf berührte sie fast, als er sich aber zum letztenmal
aufrichtete, da glitt es wie ein Lächeln über sein unheimlich bleiches
Gesicht. Leise und behutsam breitete er die Decke wieder über die
Schlafende, bedeckte den Kopf, die Füße ... ich aber begann zu zittern,
in einer dunklen, unklaren Angst: ich fürchtete für die Mutter,
fürchtete ihren tiefen Schlaf, mit bangem Herzklopfen sah ich unverwandt
auf diese unbewegliche Linie der Decke, die in eckigen Umrissen über den
Gliedmaßen ihres Körpers lag ... Wie ein Blitz durchzuckte plötzlich ein
furchtbarer Gedanke mein Gehirn!

Nachdem er alle Vorbereitungen beendet, ging er wieder zum Schrank und
trank den Rest des Weines aus. Er zitterte am ganzen Körper, als er an
den Tisch trat. Man konnte ihn kaum wiedererkennen – so totenblaß war
er. Wieder nahm er die Geige. Ich hatte sie schon gesehen und wußte, daß
sie ein Instrument zum Spielen war, aber jetzt erwartete ich von ihr
etwas Schreckliches, Unheimliches, Wunderbares ... und ich fuhr zusammen
unter ihren ersten Tönen. Der Vater begann zu spielen. Doch die Töne
sprangen seltsam und unterbrochen durcheinander; auch hielt er jeden
Augenblick inne, wie um sich an etwas zu erinnern; – bis er mit
zerquältem Antlitz den Bogen hinlegte und so eigentümlich auf das Bett
sah. Dort schien ihn etwas immer noch zu beunruhigen. Wieder ging er zum
Bett ... Jede seiner Bewegungen verfolgte ich und ließ ihn nicht aus den
Augen, obgleich mir das Herz stillstand vor Angst.

Plötzlich begann er eilig nach irgend etwas zu suchen – und wieder
durchzuckte mich jener furchtbare Gedanke. Ich fragte mich: warum wachte
sie denn nicht auf, als er ihr Gesicht befühlte? Dann sah ich, daß er
alles zusammenschleppte, was es an Kleidern bei uns gab: er nahm die
Jacke der Mutter, seinen alten Rock und seinen Schlafrock, sogar mein
Kleid, das ich über eine Stuhllehne geworfen hatte, und mit all dem
deckte er sie zu, so daß von ihr unter dem Kleiderhaufen nichts mehr zu
sehen war. Sie lag immer noch regungslos, ohne ein Glied zu rühren.

Sie schlief einen tiefen Schlaf.

Es war mir, als atmete er freier auf, sobald auch diese Arbeit getan
war. Jetzt störte ihn nichts mehr, nur irgend etwas beunruhigte ihn
noch: er rückte das Licht von seinem Platz und setzte es etwas weiter,
und sich selbst stellte er mit dem Gesicht zur Tür, um vom Bett nichts
mehr zu sehen. Dann nahm er die Geige und wie mit einer Geste der
Verzweiflung schlug er mit dem Bogen auf die Saiten ... Die Musik
begann.

Doch das war nicht Musik ... Ich erinnere mich deutlich jener Nacht,
erinnere mich alles dessen, was ich damals sah und hörte, und um wieviel
mehr noch dessen, was einen so erschütternd tiefen Eindruck auf mich
machte. Nein, das war nicht Musik, wie ich sie später zu hören
Gelegenheit gehabt habe! Das waren nicht Töne einer Geige, sondern es
war, als wenn zum erstenmal in unserer dunklen Wohnung jemandes
grauenhafte Stimme donnernd erscholl. Oder waren meine Empfindungen
falsch, vielleicht krankhaft und überreizt, oder hatte das, was ich
bereits erlebt und gesehn, meine Gefühle auf diese erschütternden und
erlösungslos qualvollen Eindrücke schon derartig vorbereitet –
gleichviel! – ich bin trotzdem fest überzeugt, daß ich Gestöhn, eines
Menschen Schreie und Schluchzen hörte. Tiefste Verzweiflung ergoß sich
in diesen Tönen, und als es schließlich zum furchtbaren Finale kam, in
dem alles hervorbrach, was es an schluchzendem Weh, was es an Qual in
zerquälten Herzen und an Sehnsucht in hoffnungslosem Sehnen gibt, und
als all das sich plötzlich wie zu einem einzigen Ausdruck vereinigte ...
da konnte ich es nicht mehr aushalten – ich erbebte, Tränen entströmten
meinen Augen und mit einem verzweifelten Schrei stürzte ich zum Vater
und umklammerte ihn mit meinen Armen. Er schrie auf und ließ seine Geige
sinken.

Eine Weile stand er betäubt, wie verloren. Dann begannen seine Augen
nach allen Seiten hin zu springen und zu laufen, als suche er etwas –
plötzlich erfaßte er die Geige, holte mit ihr über meinem Kopfe aus ...
noch ein Augenblick, und er hätte mich wohl auf der Stelle erschlagen.

„Papa!“ schrie ich auf, „Papachen!“

Er erzitterte am ganzen Körper und trat taumelnd zwei Schritte zurück.

„Ach! Da bist ja auch du noch! So ist noch nicht alles aus! So bist du
mir noch geblieben!“ schrie er, mich an den Schultern mit Wucht
emporhebend.

„Papachen!“ rief ich, in der Luft von ihm gehalten, „nicht, nicht! Ich
fürchte mich! Ach, bitte, nicht!“

Mein Weinen schien Eindruck auf ihn zu machen. Er stellte mich
vorsichtig wieder hin und sah mich eine Weile stumm an, als erkenne er
mich – und erinnere er sich nach und nach an etwas Vergessenes. Und
plötzlich war es, als drehe ihn innerlich irgend etwas um, als träfe ihn
plötzlich ein furchtbarer Gedanke – aus seinen trüben Augen brach ein
Strom von Tränen, und er beugte sich zu mir nieder und begann mir
aufmerksam ins Gesicht zu sehen.

„Papachen!“ bettelte ich angstvoll, „sieh mich nicht so an, Papachen!
Laß uns von hier fortgehen! Komm schnell! Komm, wir wollen laufen!“

„Ja, laufen wir, laufen wir! Es ist Zeit! gehen wir, Njetotschka!
Schnell, schnell!“ Und eine Hast kam über ihn, als sei er erst jetzt
drauf verfallen, was er zu tun hatte. Geschäftig sah er sich nach allen
Seiten um, – ein Taschentuch der Mutter, das auf dem Fußboden lag, hob
er schnell auf und steckte es zu sich, dann erblickte er noch eine
Kopfbedeckung und auch diese hob er auf und verbarg sie bei sich, als
rüste er sich zu einer weiten Reise und wolle sich nun mit allem
versorgen, was er vielleicht brauchen konnte.

Ich zog mir im Nu mein Kleid an und begann gleichfalls in großer Eile
zusammenzuraffen, was mir für die Reise notwendig erschien.

„Hast du alles? hast du alles?“ fragte er, mich zur Eile antreibend,
„ist alles fertig? Dann schnell, schnell!“

Ich machte eilig mein Bündel fertig, warf mir ein Tuch um den Kopf und
schon waren wir im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als es mir
plötzlich einfiel, daß ich ja auch noch das Bild, das an der Wand hing,
mitnehmen mußte. Der Vater war damit sogleich einverstanden. Er war
jetzt ganz still, sprach nur flüsternd und trieb mich nur zur Eile an.
So holten wir beide einen Stuhl herbei, stellten auf ihn die Bank – und
dann erst gelang es uns, als wir endlich mit Mühe und Not auf dieses
wackelige Gestell hinaufgeturnt waren, das Bild zu erreichen. Damit
hatten wir alle Vorbereitungen getroffen. Er nahm mich an der Hand und
wir wollten schon gehen – aber plötzlich blieb er stehen. Er rieb sich
lange die Stirn, als müsse er sich auf irgend etwas besinnen, was wir
noch vergessen hatten. Endlich fiel es ihm ein: er suchte unter dem
Kopfkissen der Mutter nach dem Schlüsselbund, schloß die Kommode auf und
begann eilig nach etwas zu kramen und zu wühlen. Endlich kehrte er zu
mir zurück und brachte mir einiges Geld, das er in der Schatulle
gefunden hatte.

„Hier, nimm, nimm das, verwahre es,“ flüsterte er, „verlier’s nicht, und
vergiß es nicht, vergiß es nicht!“

Er gab mir zuerst das Geld in die Hand, nahm es aber wieder zurück und
steckte es mir in das Leibchen. Ich weiß noch, daß ich zusammenzuckte,
als dieses Silber meinen Körper berührte, und es war, als begriffe ich
jetzt zum erstenmal, was Geld ist. Wir waren nun wieder fertig zum
Aufbruch, doch plötzlich hielt er mich nochmals zurück.

„Njetotschka!“ – er dachte ersichtlich mit großer Anstrengung nach.
„Mein Kindchen, ich ... ich vergaß ... Ja was denn? ... was war’s doch?
... Ich weiß nicht mehr ... Ja, ja richtig! da fällt’s mir ein! ... Komm
her, Njetotschka!“

Er führte mich nach dem Winkel, wo das Heiligenbild hing und sagte, ich
solle niederknien.

„Bete, mein Kind, bete! Es wird dir besser sein! ... Ja, wirklich, es
wird besser sein,“ flüsterte er mir zu, auf das Heiligenbild deutend,
und dabei sah er mich so seltsam an. „Bete, Njetotschka, bete, bete!“
sagte er mit eigentümlich flehender, beschwörender Stimme.

Ich warf mich auf die Knie, faltete die Hände, und, erfüllt von
Entsetzen, von Verzweiflung, die sich meiner bemächtigt hatten, schlug
ich mit der Stirn auf den Boden und lag minutenlang wie erstarrt. Ich
nahm krampfhaft alle meine Gedanken zusammen, sammelte alle meine
Gefühle in meinem Gebet – aber die Angst überwältigte mich. Ich erhob
mich wie gemartert von Leid. Ich wollte nicht mehr mit ihm gehen; ich
fürchtete ihn; ich wollte dableiben. Schließlich brach das, was mich so
quälte und bedrückte, mit Gewalt aus mir hervor.

„Papa!“ rief ich unter strömenden Tränen, „aber Mama? ... – Was wird mit
Mama? Wo ist sie? Wo ist meine Mama?“ ...

Die Tränen erstickten meine Stimme, ich brachte nichts mehr hervor.

Auch er sah mich unter Tränen an. Dann faßte er mich an der Hand, führte
mich zum Bett, schob den draufgeworfenen Haufen Kleider fort und schlug
die Decke zurück. Mein Gott! Sie lag tot, schon erkaltet und erstarrt.
Das Gesicht hatte bereits bläuliche Leichenfarbe. Da warf ich mich, als
wäre mir jede Empfindung abhanden gekommen, über sie und umklammerte
ihre Leiche. Der Vater stellte mich auf die Knie.

„Verneige dich vor ihr, Kind!“ sagte er, „nimm Abschied von ihr ...“

Ich neigte mich tief. Der Vater tat es zugleich mit mir ... Er war
unheimlich bleich; seine Lippen bewegten sich und schienen zu flüstern.

„_Ich_ war es _nicht_, Njetotschka, _ich nicht_,“ sagte er zu mir, mit
zitternder Hand auf die Leiche deutend. „Hörst du, _ich nicht_: _ich bin
nicht schuld daran_. Behalt das, Njetotschka.“

„Papa, laß uns jetzt gehen,“ flüsterte ich angstvoll. „Es ist Zeit!“

„Ja, jetzt ist’s Zeit, schon längst Zeit!“ sagte er schnell, faßte fest
meine Hand und beeilte sich, das Zimmer zu verlassen. „So, jetzt brechen
wir auf! Gott sei Dank, Gott sei Dank, jetzt hat alles ein Ende!“

Wir stiegen die Treppen hinunter. Der verschlafene Hausknecht öffnete
uns die Tür, während er uns etwas mißtrauisch musterte und sich fragen
mochte, weshalb der Vater sich so beeilte, daß ich ihm kaum nachkam. Wir
gingen unsere Straße bis zum Ende und gelangten auf den Kai des Kanals.
In der Nacht war Schnee gefallen, der lag weiß auf der Straße, und es
schneite auch jetzt noch in feinen Flöckchen. Es war kalt; mich fror bis
ins Mark und ich lief dem Vater nach, mich krampfhaft an seinem
Frackschoß festhaltend. Die Geige hatte er unterm Arm und immer wieder
blieb er stehen, um das Futteral, das zurückglitt, nach vorn zu ziehen.

Wir gingen etwa eine Viertelstunde. Da bog er vom Trottoir auf den
abschüssigen Weg, der zum Kanal hinabführt, und setzte sich auf den
letzten Prellstein. Zwei Schritte von uns war ein Durchgang. Ringsum war
keine Menschenseele zu sehen. Gott! Als erlebte ich es noch in diesem
Augenblick, so deutlich erinnere ich mich jenes furchtbaren Gefühls, das
mich dort plötzlich erfaßte! Endlich also ging das in Erfüllung, wovon
ich schon ein Jahr lang geträumt: wir hatten unser armseliges Heim
verlassen ... Aber war es denn das, was ich ersehnt, was ich erträumt
und erhofft, was meine Kinderphantasie sich aufgebaut, wenn ich mir das
Glück desjenigen, den ich so unkindlich liebte, vorzustellen versucht
hatte? Doch am meisten quälte mich plötzlich der Gedanke an die Mutter.
Warum hatten wir sie verlassen? fragte ich mich, – so ganz allein? Warum
hatten wir ihren Leib wie eine unnütze Sache dort liegen lassen? Und ich
weiß noch, das quälte und beunruhigte mich mehr als alles andere.

„Papachen,“ begann ich, unfähig, meine qualvolle Sorge länger zu
ertragen, „Papachen!“

„Was willst du?“ fragte er rauh.

„Warum haben wir, Papa, warum haben wir Mama dort gelassen? Warum
verließen wir sie?“ fragte ich weinend. „Papachen! Laß uns nach Haus
zurückkehren! Laß uns jemand zu ihr rufen.“

„Ja, ja!“ rief er plötzlich auffahrend und er erhob sich vom Prellstein,
als sei ihm etwas Neues eingefallen, das alle seine Zweifel aufhob. „Ja,
Njetotschka, so geht das nicht: wir müssen zur Mama zurückkehren; sie
hat es dort kalt! Geh zu ihr, Njetotschka, dort ist ein Licht, du weißt
doch! Fürchte dich nicht, ruf jemand zu ihr und dann komm wieder her zu
mir. Geh allein, ich werde dich hier erwarten ... Ich werde nirgendwohin
fortgehen ...“

Ich ging, aber kaum war ich wieder auf dem Trottoir, als plötzlich ein
Etwas durch mein Herz fuhr ... Jäh blickte ich mich um und da – sah ich
ihn laufen, schon auf der anderen Seite, sah ihn von mir fortlaufen! Er
verließ mich also, verließ mich in diesem Augenblick! Ich schrie aus
aller Kraft und lief ihm in furchtbarer Angst nach. Ich war außer Atem,
er aber lief immer schneller, immer schneller ... ich verlor ihn schon
aus den Augen. Ich fand seinen Hut, den er im Laufen verloren hatte. Ich
hob ihn auf und lief wieder weiter. Ich rang nach Atem und meine Füße
wollten mir versagen. Ich hatte die Empfindung, daß etwas Schreckliches
mit mir geschah: es schien mir die ganze Zeit, daß das ein Traum sei,
und zuweilen hatte ich sogar dasselbe Gefühl wie in einem Traum, wenn
mir träumte, daß ich von irgend jemand fortlief, meine Füße aber brechen
wollten, während meine Verfolger mich bereits erreichten – und ich
selbst jäh in einen Abgrund stürzte. Qual wollte mich zerreißen: er tat
mir so leid, mein Herz schrie nach ihm und es wollte brechen, als ich
mir vorstellte, wie er lief, so ohne Mantel, ohne Hut, und noch dazu von
mir fort, von mir, seinem geliebten Kinde ... Ich wollte ihn schließlich
nur erreichen, um ihn noch einmal mit meinen Armen fest zu umschlingen
und ihn zu küssen und ihm zu sagen, daß er mich nicht fürchten solle: um
ihn meiner Liebe zu versichern, ihn zu beruhigen, um ihm zu sagen, daß
ich ihm ja nicht weiter nachlaufen wolle, wenn er das nicht wünsche, daß
ich vielmehr allein zur Mutter zurückgehen werde. Ich sah, wie er in
eine Straße einbog. Als ich gleichfalls an diese Ecke kam und auch in
die Straße einbog, sah ich ihn noch einmal, doch weit vor mir,
dahinlaufen ... Dann verließen mich meine Kräfte: ich fing an zu weinen,
zu schreien. Ich weiß noch, daß ich während des Laufens mit zwei Männern
zusammenstieß, die mitten auf dem Trottoir stehenblieben und verwundert
uns beiden nachschauten.

„Papa! Papachen!“ rief ich zum letztenmal, doch plötzlich glitt ich aus
auf dem Trottoir und fiel hin, gerade vor dem Portal eines Hauses. Ich
fühlte, wie Blut mein ganzes Gesicht überströmte. Im nächsten Augenblick
verlor ich die Besinnung. – – – –

                   *       *       *       *       *

Ich erwachte in einem weichen, warmen Bett und erblickte vor mir
freundliche, liebevolle Gesichter, die über mein Erwachen sehr froh zu
sein schienen. Ich sah eine alte kleine Frau mit einer Brille auf der
Nase, einen großen Herrn, der mit tiefem Mitleid auf mich blickte, dann
eine wunderschöne junge Dame und zuletzt einen grauen alten Herrn, der
meine Hand am Gelenk festhielt und auf seine Uhr sah. Ich war zu einem
neuen Leben erwacht. Der eine von den beiden Männern, die mir begegnet
waren, während ich dem Vater nachlief, war Fürst H. gewesen, und gerade
vor dem Portal seines Hauses war ich hingefallen. Als man nach vieler
Mühe endlich erfuhr, wer ich war, entschloß sich der Fürst, der meinem
Vater das Billett geschickt hatte und nun nicht wenig bestürzt war über
den seltsamen Zufall, mich in sein Haus zu nehmen und mich zusammen mit
seinen Kindern zu erziehen. Nachforschungen nach dem Vater ergaben, daß
er irgendwo außerhalb der Stadt angehalten und festgenommen worden war,
wobei er sich in einem Anfall von Tobsucht wie rasend gewehrt hatte. Er
wurde in die Irrenabteilung eines Hospitals geschafft, wo er nach zwei
Tagen starb.

Er starb, weil ein solcher Tod die natürliche Folge seines Lebens war.
Er mußte so sterben, als alles, was ihn im Leben bis dahin
aufrechterhalten hatte, mit einemmal zusammengebrochen, als es wie ein
Phantom, wie ein Traum vergangen war, wie ein körperloses leeres
Phantasiegebilde. Er starb, als auch seine letzte Hoffnung verschwunden,
als wie mit einem einzigen Schlage vor seinen eigenen Augen das ganze
Werk seiner Einbildung zerspellt worden war und ihm plötzlich alles das
klar zur Erkenntnis kam, womit er sich sein Leben lang betrogen und
worauf er sich sein Leben lang gestützt hatte. Die Wahrheit blendete ihn
mit ihrem unerträglichen Licht, und das, was Irrtum gewesen war, wurde
nun auch für ihn selbst Lüge. An jenem Abend hörte er die Kunst eines
wirklichen Genies, das unmittelbar zu ihm von sich sprach und das ihn
zugleich auf ewig verurteilte. Mit dem letzten Ton, der den Saiten der
Geige des großen S–z entflog, tat sich vor ihm das ganze Geheimnis der
Kunst auf, und das Genie, das ewig junge, mächtige und echte, erdrückte
ihn mit seiner Wahrheit. Als ob alles, was ihn sein ganzes Leben lang
nur in geheimen, ungreifbaren Qualen gepeinigt, alles, was ihn bis dahin
nur wie ein Spuk geschreckt und in seinen Träumen unfühlbar,
unerhaschbar gequält hatte, was sich ihm, wenn auch nur von Zeit zu
Zeit, ins Bewußtsein gedrängt, doch wovor er stets mit Entsetzen
geflohen war, wovor er sich hinter der Lüge seines ganzen Lebens zu
verschanzen gesucht, und alles, was ihm sein Vorgefühl gesagt, aber was
er bis dahin nicht hatte einsehen wollen, – als ob all das plötzlich
strahlend hell vor ihm aufleuchtete und sich seinen Augen offenbarte,
die sich bis dahin so eigensinnig geweigert hatten, das Licht als Licht
anzuerkennen, und die Finsternis als Finsternis! Doch die Wahrheit war
unerträglich für seine Augen, die zum erstenmal in all das hineinsahen,
was gewesen, in das, was war und in das, was ihn erwartete: sie blendete
ihn und verbrannte seine Vernunft. Sie traf ihn jäh wie ein Blitz, und
sie zündete auch wie ein Blitz. So war denn das geschehen, was er sein
Leben lang mit Bangen und Schauder erwartet hatte. Das Richtschwert, das
schon immer über seinem Kopf gehangen, als habe er zeit seines Lebens in
unsagbaren Qualen jeden Augenblick erwartet, daß es auf ihn fallen
werde, – nun endlich war es wirklich gefallen! Der Schlag war tödlich.
Er wollte fliehen vor dem Gericht über sich, aber es gab für ihn kein
Wohin, denn seine letzte Hoffnung war verschwunden, seine letzte
Entschuldigung ihm genommen. Diejenige, deren Leben so viele Jahre auf
ihm gelastet, die ihn angeblich nicht leben ließ, die, nach deren Tode
er seinem blinden Glauben nach plötzlich aufleben, ja gewissermaßen
auferstehen würde, – die war nun tot. Jetzt war er endlich allein,
nichts bedrückte ihn mehr, nichts fesselte ihn mehr: jetzt war er
endlich frei! Da wollte er zum letztenmal in krampfhafter Verzweiflung
über sich ein Urteil fällen, wollte wie ein unparteiischer Richter ohne
Ansehen der Person unerbittlich streng und gerecht über sich selbst
Gericht halten. Doch sein entkräfteter Bogen war unfähig, seinen
innersten musikalischen Willen zu gestalten ... Und in dem Augenblick,
in dem er das erkannte, ergriff der Wahnsinn, der schon zehn Jahre lang
auf ihn gelauert hatte, von ihm Besitz.


                                  IV.

Meine Genesung machte nur langsame Fortschritte; doch auch dann noch,
als ich schon nicht mehr zu Bett lag, waren meine Sinne noch lange Zeit
wie gelähmt und ich konnte nicht begreifen, was nun eigentlich mit mir
geschehen war. Es gab Augenblicke, in denen es mir schien, daß ich
träumte, und ich weiß noch, wie sehr ich wünschte, daß alles Geschehene
wirklich nur ein Traum gewesen sein möge! Wenn ich abends einschlief,
dann hoffte ich, plötzlich wieder in unserer ärmlichen Dachstube zu
erwachen und den Vater und die Mutter zu erblicken ... Allmählich aber
wurde mir doch meine neue Lage klarer und ich begriff nach und nach, daß
ich ganz allein zurückgeblieben war und bei fremden Menschen lebte. Da
fühlte ich es denn zum erstenmal, daß ich eine Waise war.

Wißbegierig begann ich, all das Neue, das mich nun umgab, zu betrachten
und zu beobachten. Anfangs erschien mir das Ganze so seltsam und
märchenhaft, alles verwirrte mich: sowohl die neuen Gesichter wie die
neue Lebensart und die Gemächer des alten fürstlichen Hauses, die mir
noch heute so deutlich vor Augen stehen, – so groß und hoch und
prächtig, aber auch so düster und dunkel waren sie, daß ich, ich weiß es
noch wie heute, im Ernst fürchtete, durch irgendeinen langen, langen
Saal gehen zu müssen, in dem ich mich, wie mir schien, vollständig zu
verlieren glaubte. Meine Krankheit war noch nicht ganz überstanden und
deshalb waren auch meine Eindrücke so lastend, wie es bei meiner
Stimmung und dem Düster-Feierlichen dieses Hauses wohl eben nicht anders
sein konnte. Hinzukam, daß eine mir selbst unklare Sehnsucht und
Bangigkeit in meinem kleinen Kinderherzen immer größer wurde. Mit
Verwunderung blieb ich zuweilen vor einem Gemälde, einem Spiegel, einem
Kamin von kunstvoller Arbeit stehen, oder vor einer Statue, die sich
gleichsam nur zu dem Zweck in einer tiefen Nische versteckt hatte, um
von dort aus mich besser beobachten zu können oder mich irgendwie zu
erschrecken. – Ich blieb stehen und dann wußte ich plötzlich selbst
nicht mehr, weshalb ich stand, was ich wollte, woran ich dachte, und
nach diesem Erwachen befiel mich immer eine gewisse Angst und Verwirrung
und mein Herz schlug laut.

Von den Menschen, die ich während meiner Krankheit außer dem alten
kleinen Hausarzt hin und wieder zu sehen bekam, machte ein schon
ältlicher Herr den größten Eindruck auf mich. Er war immer ernst, aber
zugleich war er so gütig, und er konnte mich bisweilen mit so tiefem,
aufrichtigem Mitleid ansehen! Sein Gesicht war mir bald das liebste von
allen. Gern hätte ich mit ihm gesprochen, aber ich wagte nicht
anzufangen: er sah fast immer niedergeschlagen aus, auch sprach er
wenig, meist nur ein paar Worte, und niemals erschien ein Lächeln auf
seinen Lippen. Das war der Fürst H., der mich gefunden und in seinem
Hause aufgenommen hatte. Als ich mich schon auf dem Wege der Besserung
befand, wurden seine Besuche seltener. Und als er, wie es hieß, zum
letztenmal kam, brachte er mir Konfekt, ferner ein Kinderbuch mit
Bildern mit und küßte und bekreuzte mich und bat mich, doch nicht mehr
so traurig zu sein. Während er mir tröstend zuredete, sagte er mir, daß
ich bald eine Freundin haben werde, ein kleines Mädchen wie ich, seine
Tochter Katjä, die vorläufig noch in Moskau sei. Darauf sprach er mit
einer ältlichen Französin, der Erzieherin seiner Kinder, und mit dem
mich pflegenden Mädchen, wies auf mich und verließ uns. Seitdem sah ich
ihn ganze drei Wochen nicht. Der Fürst lebte in seinem Hause sehr
einsam. Die größere Hälfte des Hauses bewohnte die Fürstin, doch sah sie
ihren Mann oft wochenlang nicht ein einziges Mal. Mit der Zeit fiel es
mir auf, daß auch die Dienstboten, daß überhaupt alle Hausbewohner
selten von ihm sprachen, als hätte er gar nicht im Hause gelebt. Alle
achteten ihn und augenscheinlich liebten sie ihn sogar, indessen
schienen sie ihn doch für so etwas wie einen Sonderling zu halten. Und
es war, als wisse auch er, daß er sehr seltsam erschien, irgendwie
unähnlich den anderen Menschen, und als vermeide er es deshalb nach
Möglichkeit, sich zu zeigen ... Ich werde an einer anderen Stelle noch
auf ihn zurückkommen und sehr viel und recht ausführlich von ihm
erzählen müssen.

Eines Morgens zog man mir reine, feine Wäsche an und ein schwarzes
wollenes Kleid mit weißem Trauerbesatz – ein Kleid, auf das ich mit
trauriger Verwunderung sah; mein Haar wurde sorgfältig gebürstet, und
dann führte man mich aus den oberen Zimmern nach unten in die Gemächer
der Fürstin. Ich stand wie gebannt, als die mich Führende schließlich
meine Hand freigab: eine solche Pracht, solch einen Reichtum ringsum
hatte ich noch nie gesehen. Doch dieser Eindruck währte nur einen
Augenblick und ich erbleichte, als ich die Stimme der Fürstin vernahm,
die mich näher herantreten hieß. Schon während des Ankleidens hatte ich
gefühlt und gefürchtet, daß mich irgendeine Qual erwartete, obschon ich
selber nicht begreife, wie ich auf diesen Gedanken kam. Überhaupt trat
ich mit einem seltsamen Mißtrauen in die Welt meines neuen Lebens und
dieses Mißtrauen brachte ich ohne Ausnahme allem entgegen, was an mich
an Neuem herankam.

Die Fürstin war sehr freundlich zu mir und küßte mich. Da wagte ich
denn, sie etwas weniger befangen anzusehen. Sie war dieselbe schöne
Dame, die ich schon an meinem Bett gesehen hatte, als ich aus meiner
Bewußtlosigkeit zu mir kam. Ich küßte ihre Hand, zitterte aber dabei
doch so sehr, daß ich auf ihre Fragen keine einzige Antwort zu geben
vermochte – ich konnte mich einfach nicht so weit sammeln. Sie ließ mich
auf einem niedrigen Taburett neben sich hinsetzen. Ich glaube, dieser
Platz war schon im voraus für mich bestimmt. Allem Anschein nach hatte
die Fürstin nur den einen Wunsch, mich mit ganzer Seele an sich zu
schließen, mich ganz zu gewinnen und mir vollständig die Mutter zu
ersetzen. Ich dagegen konnte nicht begreifen, daß ich bereits in ihrer
Gunst stand, durch mein Verhalten aber in ihrer Einschätzung nichts
gewann. Man gab mir ein schönes Bilderbuch und sagte, ich solle die
Bilder betrachten. Die Fürstin selbst schrieb an einem Brief, hielt aber
hin und wieder im Schreiben inne, um verschiedene Fragen an mich zu
stellen, auf die ich jedoch nichts Gescheites zu antworten wußte – ich
war verwirrt, stockte, verlor den Faden und wagte nicht, von neuem
anzufangen. Kurz, obschon mein früheres Leben ein recht ungewöhnliches
gewesen war und die größere Rolle das Schicksal in ihm gespielt hatte,
das die Wege der Eltern, man kann wohl sagen, mystisch verbunden, und
obgleich es überhaupt viel Interessantes und Unerklärliches, ja sogar
etwas Phantastisches gehabt, so erschien ich doch in diesem Augenblick –
es wirkte ordentlich komisch inmitten der ganzen melodramatischen
Situation, in der ich mich befand – als ein ganz gewöhnliches,
schüchternes oder eingeschüchtertes und genau genommen sogar dummes
Kind. Namentlich letzteres gefiel der Fürstin äußerst wenig, und ich
glaube, sie hatte mich sehr bald satt, was natürlich nur meine Schuld
war. Gegen drei Uhr kamen die ersten Gäste – es war der Empfangstag der
Fürstin – und sie war nun wieder sehr freundlich und lieb zu mir. Auf
die Fragen der Fremden nach mir, antwortete sie: oh, das sei ein sehr
interessanter Fall – und dann erzählte sie auf französisch alles
Weitere. Während ihrer Erzählung sahen mich alle an, man schüttelte die
Köpfe, Ausrufe des Bedauerns wurden laut. Ein junger Herr richtete seine
Lorgnette auf mich und musterte mich eingehend; ein wohlriechender alter
kleiner Herr wollte mich küssen, ich aber saß erbleichend und errötend,
mit niedergeschlagenen Augen, wagte mich nicht zu rühren und zitterte am
ganzen Körper. Mein Herz schlug dumpf und tat mir zum Brechen weh. Ich
versetzte mich in mein früheres Leben, in unsere ärmliche Dachkammer,
ich dachte an den Vater, an unsere langen, schweigsamen Abende, an die
Mutter, und als ich an die Mutter dachte – da schwammen meine Augen
plötzlich in Tränen und die Kehle war mir wie zugeschnürt. Ach, und ich
wäre so gern fortgelaufen, verschwunden, allein geblieben ... Dann, als
der letzte Besuch gegangen war, wurde das Gesicht der Fürstin wieder
merklich strenger. Sie sah mich jetzt nichts weniger als freundlich an,
sprach trocken zu mir, indes ihre durchdringend blickenden fast
schwarzen Augen auf mir ruhten, die bisweilen wohl eine Viertelstunde
lang auf mich gerichtet waren, und ihre fest zusammengepreßten schmalen
Lippen mich ganz besonders einschüchterten. Am Abend wurde ich nach oben
zurückgeführt. Ich fieberte im Einschlafen, erwachte in der Nacht aus
wirren Träumen, weinte und war so unglücklich! Am nächsten Tage aber
begann wieder dasselbe Spiel, d. h. man brachte mich wieder zur Fürstin.
Schließlich wurde es ihr langweilig, ihren Gästen von mir zu erzählen,
und den Gästen – ihr Mitleid und Bedauern zu äußern. Überdies war ich
auch noch ein so gewöhnliches Kind, „ohne jegliche Naivität“, wie, ich
weiß noch, die Fürstin sich in einem Gespräch mit einer älteren Dame
unter vier Augen auf deren Frage ausdrückte, ob es sie denn wirklich
nicht langweile, sich mit mir „abzugeben“? Da wurde ich denn am Abend
fortgeführt und brauchte nicht wieder zu ihr zurückzukehren. Ich hatte
meine Rolle in ihrer Gunst ausgespielt. Übrigens durfte ich überall
hingehen und mich aufhalten wo ich wollte. Und ich konnte auch nicht
stillsitzen: eine tiefe, krankhafte Unruhe, die wohl aus dem Heimweh und
einer unbestimmten Sehnsucht irgendwohin entstand, peinigte mich und ich
war froh, wenn ich endlich von allen fortgehen konnte, nach unten in die
großen Räume. Ich weiß noch, ich hätte so gern mit den Dienstboten
gesprochen, aber ich fürchtete, sie könnten böse werden, und so schwieg
ich lieber und blieb einsam. Mein liebster Zeitvertreib war: mich
irgendwo in einem Winkel zu verstecken, wo es möglichst unauffällig war
– hinter einem Stuhl oder einem anderen Gegenstand, der mich vollständig
verbarg – und mich dann dort gleich in die Erinnerung zu versenken und
über alles, was mit mir geschehen war, nachzudenken. Doch sonderbar! –
Das Ende meines Zusammenseins mit den Eltern, diese furchtbaren letzten
Tage unseres gemeinsamen Lebens, die hatte ich wie vergessen, wenigstens
als lebendige Vorgänge lebten sie nicht mehr in mir. Freilich wußte ich
noch alles – entsann mich der Nacht und der Geige und des Vaters, ich
wußte, wie ich ihm das Geld verschafft hatte; aber alle diese Vorgänge,
sagen wir, begreifen, sie mir erklären – das konnte ich nicht ... Es
wurde mir nur noch schwerer ums Herz, und wenn ich in der Erinnerung zu
jenem Augenblick gelangte, in dem der Vater mich vor der toten Mutter
niederknien hieß, dann erschauerte ich plötzlich vor Kälte. Ich zitterte
und hätte schreien mögen. Das Atmen wurde mir schwer, so eng wurde mir
die Brust und so laut pochte mein Herz, daß ich schließlich erschrocken
aus meinem Winkel hinausstrebte und wieder nach oben lief. Übrigens –
ich sagte, daß man mich allein ließ, doch ist das nicht ganz wörtlich zu
nehmen: ich wurde die ganze Zeit mit peinlicher Gewissenhaftigkeit
beaufsichtigt, denn der Fürst hatte es so angeordnet, daß man mir volle
Freiheit geben, jedoch mich gleichzeitig nie aus den Augen lassen solle.
Es fiel mir auf, daß von Zeit zu Zeit jemand von den Dienstboten oder
von den anderen, die im Hause lebten, in das Zimmer sah, wo ich mich
gerade aufhielt, und dann wieder fortging, ohne mir ein Wort zu sagen.
Diese Aufmerksamkeit wunderte mich und zum Teil beängstigte sie mich
sogar. Ich begriff nicht, warum man das tat. So dachte ich mir denn, man
wolle mich zu irgendeinem Zweck aufbewahren und dann später Gott weiß
was mit mir angeben. Ich weiß noch, deshalb wollte ich auch das Haus
immer weiter durchsuchen, um ein Versteck auszukundschaften, in dem ich
mich im Notfall verbergen konnte.

So verirrte ich mich einmal und kam ganz unvermutet ins Treppenhaus. Da
war alles aus weißem Marmor, die Treppe selbst mit Läufern bedeckt und
mit Blumen und Vasen geschmückt. Auf jedem Absatz der Treppe saßen je
zwei große Menschen, die sehr bunt gekleidet waren, in Handschuhen und
blendend weißen Halsbinden. Ich sah sie in höchster Verwunderung an und
konnte trotz eifrigen Nachdenkens nicht begreifen, warum sie dort saßen,
schwiegen und nur einander ansahen, sonst aber nichts taten.

An diesen einsamen Streifzügen durch das fürstliche Palais fand ich mit
der Zeit immer mehr Gefallen. Aber es gab da noch einen anderen Grund,
weshalb ich so gern aus den oberen Zimmern fortlief. Dort oben lebte
eine alte Tante des Fürsten, ein altes Fräulein, das so gut wie nie das
Haus, ja fast nicht einmal ihre Zimmer verließ. Diese alte Dame war
womöglich die wichtigste Person im Hause und ich fürchtete sie sehr. Im
Verkehr mit ihr beobachteten alle eine geradezu feierliche Etikette und
sogar die Fürstin, die so stolz und selbstbewußt auf alle herabsah,
mußte genau zweimal wöchentlich, an bestimmten Tagen, der Tante
persönlich ihren Besuch machen. Sie kam gewöhnlich vormittags; es
entspann sich ein trockenes Gespräch, das häufig von feierlichem
Schweigen unterbrochen wurde, während die Alte ein Gebet flüsterte oder
den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten ließ. Der Besuch dauerte so
lange, wie die Tante es gerade für gut befand: sie erhob sich dann von
ihrem Platz und küßte die Fürstin auf den Mund, womit sie zu verstehen
gab, daß die Fürstin sie nun verlassen konnte. Anfangs hatte die Fürstin
diese Tante sogar jeden Tag besuchen müssen, doch war in der Folge auf
Wunsch der alten Dame eine Änderung und Erleichterung erfolgt: und zwar
brauchte die Fürstin hinfort an den übrigen fünf Tagen der Woche nicht
mehr persönlich zu erscheinen, sondern mußte sich nur an jedem Morgen
durch einen Diener nach dem Befinden des alten fürstlichen Fräuleins
erkundigen. Überhaupt verbrachte sie ihr Leben fast wie in einer
Klosterzelle. Mit fünfunddreißig Jahren hatte sie sich auch wirklich
einmal in ein Kloster zurückgezogen und siebzehn Jahre daselbst verlebt,
jedoch nicht den Schleier genommen. Dann hatte sie das Kloster wieder
verlassen und war nach Moskau gezogen, um bei ihrer Schwester, einer
verwitweten Gräfin L., deren Gesundheit mit jedem Jahr mehr zu wünschen
übrigließ, zu wohnen und sich auch mit der älteren Schwester, einer
gleichfalls unverheirateten Fürstin H., zu versöhnen, nachdem sie etwa
zwanzig Jahre lang in Feindschaft mit ihr gelebt hatte. Man sagt aber,
die drei alten Damen sollen keinen Tag in Eintracht verbracht haben,
tausendmal seien sie schon im Begriff gewesen, auseinanderzugehen, was
sie dann aber doch nicht taten, da schließlich eine jede von ihnen den
beiden anderen unentbehrlich geworden war, eben weil die Streitigkeiten
die Langeweile und damit die trüben Stunden des Alterns verscheuchten.
Doch ungeachtet dieses ihres wenig anziehenden Lebens und des
feierlichen Stumpfsinns, der in ihrem Moskauer Palais herrschte, hielt
es doch die ganze Moskauer Gesellschaft für ihre Pflicht, die Besuche
bei den drei alten Damen fortzusetzen. Man sah in ihnen einfach die
Hüterinnen aller aristokratischen Überlieferungen und Gesetze des alten
Bojarentums. Die Gräfin soll übrigens eine prächtige Frau gewesen sein,
wenigstens lebte sie noch nach ihrem Tode in vielen guten Erinnerungen
fort. Petersburger, die nach Moskau kamen, machten bei ihnen ihre ersten
Besuche. Wer in ihrem Hause empfangen wurde, der wurde überall
empfangen. Nach dem Tode der Gräfin trennten sich die unverheirateten
Schwestern: die ältere blieb in Moskau und trat dort ihren Teil von der
Hinterlassenschaft der kinderlosen Gräfin an, und die jüngere, die
zeitweilige Klosterfrau, siedelte nach Petersburg zu ihrem Neffen, dem
Fürsten H., über. Dafür mußten die beiden Kinder des Fürsten, Katjä und
Alexander, nach dem Tode der Gräfin in Moskau bei der Großtante bleiben,
zu ihrer Zerstreuung und zu ihrem Trost in der Einsamkeit. Die Fürstin,
die ihre Kinder leidenschaftlich liebte, durfte kein Wort dawider reden
und mußte für die ganze Zeit der Trauer auf ihre Kinder verzichten. Ich
vergaß zu sagen, daß das ganze Haus noch Trauer trug als ich hinkam,
aber die Frist nahte sich schon ihrem Ende.

Die alte kleine Dame kleidete sich nur in Schwarz und die Kleider waren
alle von gewöhnlichem schwarzem Wollenstoff. Dazu trug sie fein
gefältelte und gesteifte weiße Krägelchen, die ihr das Aussehen einer
Stiftsdame verliehen. Der Rosenkranz kam nie aus ihrer Hand, und
feierlich fuhr sie regelmäßig zum Morgengottesdienst, fastete nahezu
täglich, empfing verschiedene höhere Geistliche und andere ehrbare
Personen und las in frommen Büchern. Sie führte, mit einem Wort, ein
richtiges Klosterleben. Deshalb herrschte auch in den oberen Zimmern
eine unheimliche Stille; nicht einmal eine Tür durfte kreischen: die
Alte hatte ein Gehör wie eine fünfzehnjährige und ließ sogleich nach der
Ursache des geringsten Geräusches fragen. Deshalb sprachen dort alle nur
flüsternd und schlichen auf den Fußspitzen, ja die arme Französin, auch
ein altes Dämchen, mußte sogar auf ihr geliebtes Schuhwerk verzichten –
auf Stiefel mit hohen Absätzen! Denn: Absätze waren verpönt. Zwei Wochen
nach meiner Aufnahme im Hause, ließ die alte Dame sich plötzlich nach
mir erkundigen: wer ich sei, was ich tue, wie ich ins Haus gekommen
usw., usw. Ihre Wißbegier wurde sogleich mit größter Diensteifrigkeit
befriedigt. Darauf erschien der zweite Abgesandte bei der Französin, um
zu fragen, warum die Prinzessin mich bis jetzt noch nicht zu Gesicht
bekommen habe. Da war die Aufregung groß: mir wurde schnell das Haar
gekämmt, wurden Gesicht und Hände gewaschen, obschon sie ganz rein
waren, man zeigte mir, wie ich mich verbeugen, wie ich die Hand küssen
mußte, auch sollte ich freundlich dreinschauen und munter sprechen –
kurz, man brachte mich vollständig aus dem Gleichgewicht. Darauf machte
sich von uns aus eine Abgesandte auf den Weg, um die Prinzessin zu
fragen, ob sie nicht das Waisenkindchen zu sehen wünsche? Die Antwort
lautete zunächst verneinend, doch gab sie dann eine andere Stunde an:
man solle mich am nächsten Tage nach der Morgenandacht zu ihr bringen.
Ich schlief die ganze Nacht nicht und man sagte mir später, ich hätte
viel phantasiert, wohl weil ich im Traum schon zu ihr gegangen sei, denn
ich habe sie aus Gott weiß welchem Grunde immer wieder um Verzeihung
gebeten. Endlich erfolgte meine Vorstellung. Ich erblickte eine hagere,
kleine Dame, die auf einem riesengroßen Lehnstuhle saß. Sie nickte mir
zu und setzte sich die Brille auf, um mich besser betrachten zu können.
Ich weiß noch, daß ich ihr gar nicht gefiel. Sie machte die Bemerkung,
ich sei ganz verwildert, verstände weder die Hand zu küssen, noch zu
knixen. Es folgten Fragen, auf die ich keine Silbe zu antworten wußte;
als sie mich aber nach meinen Eltern zu fragen anfing, da begann ich zu
weinen. Das war der alten Dame sehr unangenehm. Übrigens versuchte sie
mich zu trösten und sagte mir, ich solle auf Gott vertrauen. Darauf
fragte sie, wann ich zum letztenmal in der Kirche gewesen sei, und da
ich ihre Frage kaum verstand – denn in der Beziehung wußte ich noch so
gut wie nichts – geriet sie in Entsetzen über meine bisherige Erziehung.
Sie ließ die Fürstin zu sich bitten. Es folgte eine ernste Beratung, die
damit endete, daß man beschloß, mich sogleich am nächsten Sonntag in die
Kirche zu führen. Bis dahin wollte die alte Dame für mich beten.
Zugleich sagte sie, man solle mich wegbringen, ich hätte einen sehr
ungünstigen Eindruck auf sie gemacht. Das war freilich kein Wunder,
anders hätte es wohl gar nicht sein können. Aber ihr Mißfallen war doch
schon mehr als augenscheinlich. Am selben Tage noch ließ sie sagen, ich
sei zu unartig, man höre mich im ganzen Hause – während ich die Zeit
über mäuschenstill gesessen hatte. Natürlich hatte es der alten Dame nur
so geschienen. Indes erfolgte diese Bemerkung auch am nächsten Tage. Zum
Unglück ließ ich noch eine Tasse fallen, die auf dem Parkett zerschlug.
Darüber gerieten die Französin und alle Dienerinnen fast außer sich, und
ich wurde sogleich ins entlegenste Zimmer gebracht, wohin mir alle
händeringend und kopfschüttelnd folgten.

Ich erinnere mich nicht mehr, wie die Sache schließlich auslief.
Jedenfalls lag hier der andere Grund, weshalb ich mich so viel lieber
unten in den großen Räumen aufhielt, denn dort, das wußte ich,
beunruhigte ich keinen Menschen.

Einmal saß ich unten in einem Saal ganz allein. Ich saß, das Gesicht
wieder in den Händen vergraben, den Kopf gesenkt, und rührte mich nicht.
Ich weiß nicht, wie viele Stunden darüber vergingen. Ich dachte und
dachte vergeblich, denn mein junger unreifer Verstand konnte meinen Gram
nicht bewältigen und es wurde mir immer schwerer ums Herz und mein
Kummer wurde immer größer. Da vernahm ich plötzlich eine leise Stimme
über mir:

„Was fehlt dir, meine Arme?“

Ich sah auf: es war der Fürst. Aus seinem gütigen Gesicht sprach soviel
tiefes Mitleid, so aufrichtige Teilnahme! Aber ich sah ihn so
unglücklich, so traurig an, daß seine großen blauen Augen feucht wurden.

„Arme kleine Waise!“ sagte er leise und streichelte meinen Kopf.

„Nein, nein, nicht Waise! Nein!“ stammelte ich – und ich stöhnte, denn
alles erhob sich in mir und ich wollte mich gleichsam losringen von
etwas Ungreifbarem, das mich zu umklammern drohte. Ich glitt vom Stuhl,
hielt seine Hand umfaßt, küßte sie, daß meine Tränen sie benetzten, und
wiederholte nur flehend:

„Nein, nein, nicht Waise! Nicht!“

„Mein Kind, – was hast du nur, meine arme Kleine? Was fehlt dir,
Njetotschka?“

„Wo ist Mama? Wo ist meine Mama?“ rief ich laut weinend, unfähig, meinen
Kummer noch länger zu verbergen – und kraftlos sank ich vor ihm auf die
Knie. „Wo ist meine Mama? Sag’ mir, wo ist meine Mama?“

„Verzeih mir, mein Kind! ... Ach, du arme Kleine, da habe ich sie daran
erinnert ... Mein Gott, was habe ich getan! Komm, komm mit mir,
Njetotschka, komm!“

Er faßte mich an der Hand und führte mich mit sich fort. Er war
sichtlich erschüttert. Wir gelangten in einen Raum, in dem ich noch nie
gewesen war.

Es war das Betzimmer. Draußen herrschte bereits Dämmerung. Im Licht der
Lämpchen strahlten hell die goldenen Einfassungen und die Edelsteine der
Heiligenbilder. Aus all diesem Glanz und Gold schauten dunkel und matt
die Antlitze der Heiligen. Alles erinnerte hier so wenig an die anderen
Zimmer, war so unähnlich dem, was ich bis dahin überhaupt gesehen hatte,
war so geheimnisvoll und ernst, daß ich bestürzt stillstand und der
Schreck sich meines Herzens bemächtigte. Meine Nerven waren ja ohnehin
schon in krankhafter Erregung.

Der Fürst ließ mich vor dem Muttergottesbilde niederknien und blieb
neben mir stehen.

„Bete, Kind, bete hier; oder laß uns gemeinsam beten,“ sagte er mit
leiser, stockender Stimme.

Doch ich konnte nicht beten: ich war zu bestürzt, zu erschrocken – mir
fielen die Worte des Vaters ein, in jener letzten Nacht, an der Leiche
der Mutter, und ich bekam einen neuen Nervenanfall. Ich mußte wieder das
Bett hüten, und während dieser zweiten Periode meiner Krankheit wäre ich
fast gestorben. Die Ursache dieser Verschlimmerung war folgende:

Eines Morgens schlug ein bekannter Name an mein Ohr: S–z. Eines von den
Dienstmädchen hatte den Namen an meinem Bett genannt. Ich fuhr zusammen:
die Erinnerungen stürzten über mich, und sinnend, träumend und mich
quälend lag ich in Fieberphantasien, ich weiß nicht wie viele Stunden.
Als ich erwachte, mußte es schon sehr spät sein: im Zimmer war es
dunkel. Die Nachtlampe war erloschen, das Mädchen, das im Zimmer
gesessen hatte, war nicht da. Plötzlich hörte ich ferne Musik. Bisweilen
verstummten die Töne ganz, dann aber wurden sie wieder deutlicher und
deutlicher, als näherten sie sich mir. Ich weiß nicht, welch ein Gefühl
sich meiner bemächtigte, noch welch eine Absicht in meinem fiebernden
Kopf plötzlich entstand. Ich erhob mich, stieg aus dem Bett – woher ich
die Kraft dazu nahm, weiß ich nicht – zog mir schnell mein
Trauerkleidchen an und verließ tastend das Zimmer. Im zweiten und
dritten Zimmer traf ich auch keinen Menschen. Endlich erreichte ich den
Korridor. Die Musik wurde lauter und lauter. In der Mitte des Korridors
war die Treppe; auf diesem Wege hatte ich mich immer nach unten in die
großen Säle geschlichen. Die Treppe war hell erleuchtet; unten hörte ich
Schritte. Ich verbarg mich in einem Winkel, um nicht gesehen zu werden,
und bei der ersten Möglichkeit schlich ich nach unten in den großen
Korridor. Die Musik tönte aus dem angrenzenden großen Saal; von dorther
kam auch Geräusch und ein Stimmengewirr, als hätten sich an tausend
Menschen dort versammelt. Die große Tür, die aus dem Korridor in den
Saal führte, war verhängt mit doppelten purpurroten Sammetportieren. Ich
hob die erste auf, die auf der Korridorseite hing, und stellte mich
zwischen beide Portieren. Mein Herz schlug so stark, daß ich mich kaum
auf den Füßen hielt. Nach ein paar Minuten hatte ich meine Aufregung so
weit bezwungen, daß ich schon wagte, den Rand der anderen Portiere, die
an der Saalseite der Tür hing, ein wenig umzubiegen ... Mein Gott!
Dieser riesengroße düstere Saal, den am Tage zu betreten ich mich kaum
getraut hatte, flimmerte jetzt im Licht von tausend Kerzen. Wie ein Meer
von Licht strahlte es mir entgegen, so daß meine Augen, die sich an das
Dunkel gewöhnt hatten, im ersten Moment bis zum Schmerz geblendet waren.
Aromatische Luft schlug mir wie ein heißer duftender Wind entgegen. Eine
Unmenge Menschen wogte dort durcheinander und alle sahen, wie mir
schien, froh, heiter, glücklich aus. Die Damen hatten so schöne, so
helle Toiletten, überall sah ich vor Vergnügen leuchtende Augen. Ich
stand wie bezaubert. Doch war es mir, als hätte ich das alles schon
irgendwo, irgendwann wie im Traum gesehen ... Mir fielen die Stunden der
Dämmerung ein, unsere Dachstube, das hohe Fenster, tief unten die Straße
mit den strahlenden Laternen, die Fenster des gegenüberliegenden Hauses
mit den roten Vorhängen, die Equipagen vor dem Portal, der Hufschlag und
das Schnaufen der stolzen Pferde, das Rufen und Durcheinander auf der
Straße, die Schattenbilder hinter den Fenstern auf den leuchtend roten
seidenen Vorhängen, und dazu eine gedämpfte ferne Musik ... Also hier
war dieses Paradies! fuhr es mir durch den Sinn, hierher also wollte ich
mit dem armen Vater gehen ... So war denn das alles kein Traum? ... Ja,
ich hatte das alles in meinen Träumen schon gesehen! ... Hellauf lohte
meine Phantasie, deren Feuer von der Krankheit bereits doppelt geschürt
sein mochte, und Tränen einer geradezu schrankenlosen Seligkeit rollten
mir über die Wangen. Ich suchte mit den Augen den Vater in dieser
Gesellschaft: „der muß hier sein, er ist gewiß hier,“ dachte ich und
mein Herz schlug so vor Erwartung und Spannung, daß mir der Atem stockte
... Die Musik verstummte, doch gleich darauf erhob sich ein großes
Getöse, und dann ging es durch den ganzen Saal wie ein Geflüster. Ich
betrachtete voll Neugier und Unruhe die Gesichter, die ich sehen konnte,
und bemühte mich, jemanden zu erkennen. Plötzlich ging eine neue große
Erregung durch den Saal. Ich erblickte auf einer Erhöhung einen großen,
hageren Greis. Sein bleiches Gesicht lächelte, er verbeugte sich etwas
steif und grüßte nach allen Seiten. In der Hand hatte er eine Geige.
Tiefes Schweigen trat ein, es war, als hielten alle den Atem an, alle
sahen auf den Greis, alle schienen etwas zu erwarten. Da nahm er die
Geige, hob den Arm und berührte mit dem Bogen die Saiten. Die Musik
begann, und ich fühlte, wie etwas mir das Herz zusammenpreßte. Mit einem
Gefühl von unsagbarer Angst und mit zurückgehaltenem Atem horchte ich
auf diese Töne: etwas Bekanntes erklang in meinen Ohren, als hätte ich
das schon irgendwo gehört: – und wie eine Vorahnung stieg es in mir auf,
wie eine Erwartung von etwas Furchtbarem, etwas Entsetzlichem, das sich
auch in meinem Herzen entscheiden sollte. Schon klang die Geige lauter,
schneller und greller folgten die Töne. Da klang es bereits wie eines
Menschen Gestöhn, darauf wie klagendes Schluchzen, wie jemandes
vergebliches Flehen, doch die Menge blieb stumm, während die Töne über
sie hinklangen – dann stöhnten sie auf und versagten wie in
Verzweiflung. Immer bekannter, immer bekannter wurde mir etwas im
Herzen. Aber das Herz weigerte sich noch, daran zu glauben ... Ich biß
die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen vor Schmerz, ich klammerte
mich an die Portiere, um nicht hinzufallen ... Ich schloß die Augen, und
schlug sie plötzlich wieder auf: ich glaubte nichts anderes, als daß es
ein Traum sei, aus dem ich in einem furchtbaren, mir aber schon
bekannten Augenblick erwachen werde, und ich sah wie im Traum wieder
jene letzte Nacht, ich hörte dieselben Töne ... Ich schlug wieder die
Augen auf, um mich zu überzeugen – sah die Menschenmenge ... Nein, das
waren andere Menschen, andere Gesichter ... Und doch war es mir, als ob
alle ganz wie ich etwas erwarteten, ganz wie ich sich in tiefer
Sehnsucht quälten, wie ich diesen Tönen der Verzweiflung
entgegenschreien wollten: doch aufzuhören, nicht ihre Seelen zu
zerreißen – aber das zitternde Beschwören und Flehen der Töne wurde nur
noch herzzerreißender, verzweifelter und haltloser ... bis plötzlich der
letzte furchtbare, rasende Schrei ertönte und mir fast die Sinne nahm
... Kein Zweifel! das war derselbe, derselbe Schrei! Ich erkannte ihn,
ich hatte ihn schon einmal gehört, wie damals in jener Nacht durchbohrte
er mich. „Der Vater! der Vater!“ durchzuckte es mich wie ein Blitz, „er
ist hier, das ist er, er ruft mich, das ist seine Geige!“ Und wie ein
Stöhnen erhob es sich aus dieser Menschenmasse, ohrenbetäubendes Getöse
erschütterte den Saal. Lautes, verzweifeltes Weinen brach aus meiner
Brust. Ich hielt es nicht mehr aus, ich schlug die Portiere zurück und
stürzte in den Saal.

„Papa! Papa! das bist du! Wo bist du?“ rief ich wie von Sinnen.

Ich weiß nicht, wie ich zu ihm hinkam: man ließ mich durch, man trat vor
mir auseinander, und ich warf mich mit einem gequälten Schrei ihm
entgegen – ich glaubte, den Vater zu umarmen ... Plötzlich sah ich, daß
mich jemandes lange, hagere Hände erfaßten und hoch in die Luft hoben.
Jemandes schwarze Augen sahen mich an und schienen mich verbrennen zu
wollen mit ihrem Feuer. Ich starrte ihn an: „Nein! Das ist nicht der
Vater! Das ist sein Mörder!“ fuhr es mir durch den Sinn. Da geriet ich
so außer mir, eine so rasende Verzweiflung erfaßte mich – und plötzlich
schien es mir, daß über mir ein Lachen erklang und dieses Lachen vom
ganzen Saal widerhallte, wie ein einziger brausender Beifall ... Ich
verlor das Bewußtsein.


                                   V.

Das war die zweite und letzte Periode meiner Krankheit.

Als ich wieder zu Bewußtsein erwachte, erblickte ich das Gesicht eines
Kindes vor mir, eines Mädchens von ungefähr meinem Alter, und
unwillkürlich streckte ich ihr die Hände entgegen. Schon der erste Blick
auf diese Altersgenossin hatte meine Seele wie mit einem Glücksgefühl,
wie mit einer süßen Vorahnung erfüllt. Es war ein ideal schönes
Gesichtchen, eine geradezu ergreifende, eine strahlende Schönheit – von
jener Schönheit, vor der man plötzlich stehen bleibt, wie durchbohrt in
süßer Verwirrung, wie erschrocken vor Entzücken, und der man dankbar ist
allein schon für ihr Vorhandensein, dafür, daß unsere Augen sie schauen
dürfen, und daß sie uns begegnet ist. Es war die Tochter des Fürsten,
Katjä, die während meiner Krankheit aus Moskau zurückgekehrt war. Sie
lächelte mir zu, als sie meine unwillkürliche Bewegung sah, und meine
geschwächten Nerven erbebten bei diesem Lächeln in süßem Entzücken.

Die kleine Prinzeß rief sogleich ihren Vater, der keine zwei Schritte
vom Bett mit dem Arzt sprach.

„Nun, gottlob! Endlich! Nun, Gott sei Dank!“ rief der Fürst, meine Hand
erfassend, und sein Gesicht verriet aufrichtige Freude. „Das freut mich,
das freut mich, das ist doch ein Glück!“ fuhr er schnell zu sprechen
fort – es war seine Art, schnell, wenn auch meist leise zu sprechen.
„Und dies kleine Mädchen hier ist meine Katjä, mein Töchterchen. Nun
könnt ihr Freundschaft schließen – jetzt hast du eine Spielgefährtin.
Aber du mußt nun auch schnell gesund werden, Njetotschka. Du böses
kleines Mädchen, wie wir uns um dich geängstigt haben! ...“

Meine Genesung machte auch wirklich sehr schnelle Fortschritte. Nach ein
paar Tagen konnte ich schon das Bett verlassen. Jeden Morgen kam Katjä
an mein Bett, immer mit einem Lächeln oder gar Lachen, das nicht von
ihren Lippen wich. Auf ihr Erscheinen wartete ich wie auf ein Glück. Ich
hätte sie so gern geküßt! Aber das mutwillige Prinzeßchen kam immer nur
auf ganz kurze Zeit, sie konnte fast überhaupt nicht stillsitzen. Ewige
Unruhe, laufen, springen, lachen und tollen, daß man es im ganzen Hause
hörte – das war für sie einfach Lebensbedingung. Deshalb erklärte sie
mir auch gleich am ersten Tage, daß es sie furchtbar langweile, bei mir
zu sitzen: sie werde daher nur sehr selten zu mir kommen, und auch das
nur deshalb, weil ich ihr leid täte – da ginge es eben nicht anders,
denn gar nicht kommen, das ginge wiederum auch nicht. Aber wenn ich
gesund sein würde, dann sollten wir – so versprach sie – sehr gut
miteinander auskommen. Es war denn auch jeden Morgen ihr erstes Wort:

„Nu, bist du jetzt gesund?“

Da ich aber immer noch mager und bleich war und das Lächeln sich nur
schüchtern, mit zaghafter Angst gepaart, in meinem traurigen Gesicht
hervorwagte, so runzelte das Prinzeßchen die Stirn, schüttelte
mißbilligend das Köpfchen und ihr kleiner Fuß stampfte oft ungeduldig
auf.

„Aber ich sagte dir doch gestern, daß du heute gesund sein sollst! Was?
Man gibt dir wohl nichts zu essen?“

„Ja, wenig,“ antwortete ich schüchtern, denn ich fürchtete mich schon
vor ihr. Ich hatte nur den einen Wunsch: ihr zu gefallen, und deshalb
fürchtete ich für jedes Wort, für jede Bewegung. Ihr Kommen entzückte
mich mit jedem Tage mehr. Solange sie bei mir saß, ließ ich sie nicht
aus den Augen, und wenn sie fortgegangen war, sah ich immer noch
dorthin, wo sie zuletzt gestanden oder gesessen hatte. Ja, in der Nacht
sah ich sie sogar schon in meinen Träumen. Im Wachen aber, wenn sie
nicht bei mir war, ersann ich ganze Gespräche mit ihr, war ihr Freund,
tollte, spielte und weinte mit ihr, wenn man uns schalt oder für
irgendeine besondere Tollheit bestrafen wollte. Kurz, ich dachte an sie
und sah sie im Traum und träumte von ihr, als wäre ich in sie verliebt
gewesen. Ich wollte um jeden Preis bald gesund werden und schnell
zunehmen, wie sie es wünschte. Wenn sie zuweilen morgens in mein Zimmer
gestürmt kam und ich dann wieder ihre ungeduldige Frage hörte: „Bist
noch nicht gesund? Ach Gott, immer noch bist du so mager!“ dann wurde
ich ängstlich, als wäre dies meine Schuld. Es konnte aber auch
schwerlich etwas Ernsteres geben, als die Verwunderung Katjäs darüber,
daß ich nicht binnen vierundzwanzig Stunden genas, worüber sie sich
bereits allen Ernstes zu ärgern anfing.

„Nu, dann – willst du, ich bringe dir heute eine Pastete?“ sagte sie mir
einmal. „Iß sie, davon wirst du bald wieder dick.“

„Bring,“ sagte ich, froh darüber, daß ich sie nochmals zu sehen bekommen
würde.

Nach der Erkundigung, ob ich schon gesund sei, setzte sich das
Prinzeßchen gewöhnlich mir gegenüber und begann mich mit ihren dunklen
Augen ernsthaft zu betrachten. Und auch jedesmal, wenn sie mir etwas
sagte oder mich fragte, betrachtete sie mich zuvor von oben bis unten
mit der naivsten Verwunderung. Aber unsere Unterhaltung kam nie so recht
in Gang. Ich fürchtete mich vor Katjä und ihren schroffen Ausfällen,
während ich anderseits fast verging vor Verlangen, mit ihr zu sprechen.

„Warum schweigst du?“ begann sie, nachdem wir uns eine Zeitlang stumm
betrachtet hatten.

„Was macht dein Papa?“ fragte ich, froh über die plötzlich gefundene
Frage, mit der ich nun jedesmal ein Gespräch anfangen konnte.

„Nichts. Es geht ihm gut. Ich habe heute zwei Tassen Tee getrunken,
nicht eine. Und du wieviel?“

„Eine.“

Wieder Schweigen.

„Heute hätte mich Falstaff beinahe gebissen.“

„Ist das ein Hund?“

„Ja, ein Hund. Hast du ihn denn noch nicht gesehen?“

„Nein, ich hab’ ihn wohl nicht gesehen.“

Ich wußte nichts mehr zu sagen und das Prinzeßchen sah mich wieder mit
Verwunderung an.

„Sag? Gefällt es dir, wenn ich mit dir spreche?“

„Ja, sehr: komm öfter, wenn du kannst.“

„Das hat man mir auch gesagt, daß es dich freuen werde, wenn ich zu dir
komme, aber du, steh schneller auf. Die Pastete werde ich dir heute ganz
bestimmt bringen ... Aber warum schweigst du denn immer?“

„So.“

„Du denkst wohl viel?“

„Ja, ich denke viel.“

„Mir aber sagt man immer, daß ich viel spreche und wenig denke. Ist es
denn schlecht, wenn man spricht?“

„Nein. Ich bin froh, wenn du sprichst.“

„Hm! ich werde Madame Léotard fragen, die weiß alles. Aber woran denkst
du denn?“

„Ich denke an dich,“ sagte ich nach kurzem Schweigen.

„Und das macht dir Spaß?“

„Ja.“

„Dann liebst du mich wohl?“

„Ja.“

„Aber ich liebe dich noch nicht. Du bist so mager! Wart’, ich werde dir
gleich die Pastete bringen! Nu, adieu!“

Und das Prinzeßchen, das mich fast im Fluge abküßte, war schon
verschwunden.

Nach dem Essen brachte sie mir auch wirklich die Pastete. Sie kam
hereingelaufen, ausgelassen wie ein Kobold, lachend und jauchzend vor
Freude, daß sie mir etwas zu essen brachte, was mir zu essen verboten
worden war.

„Iß, iß mehr, iß recht viel, das ist nämlich meine eigene Pastete, ich
habe selbst nicht gegessen. Nu, adieu!“ Und schon war sie fort.

Ein anderes Mal kam sie wie ein Wirbelwind ins Zimmer, gleichfalls nach
dem Essen. Ihre schwarzen Locken waren wie vom Sturm verwirrt, ihre
Augen blitzten und die Bäckchen glühten wie Purpur: sie mußte nach ihren
Lernstunden schon etliche Stunden gelaufen und gesprungen sein.

„Kannst du Federball spielen?“ rief sie atemlos, übersprudelnd und in
größter Eile.

„Nein,“ sagte ich, und es tat mir schrecklich leid, daß ich nicht „ja“
sagen konnte.

„Ach, wie du bist! Nu, werd schnell gesund, dann zeig’ ich es dir. Ich
kam nur deshalb. Ich spiele jetzt mit Madame Léotard. Adieu, man wartet
auf mich!“

Endlich durfte ich das Bett verlassen, obschon ich mich noch immer
schwach und kraftlos fühlte. Mein erster Gedanke war, mich jetzt nie
mehr von Katjä zu trennen. An ihr war etwas, was mich unwiderstehlich zu
ihr hinzog. Ich konnte mich kaum sattsehen an ihr, worüber Katjä sich
sehr zu verwundern schien. Dieser Drang zu ihr war so stark und ich gab
mich diesem neuen Gefühl so leidenschaftlich hin, daß es von ihr
natürlich nicht unbemerkt bleiben konnte, und anfangs erschien es ihr
denn auch unerhört seltsam. Ich weiß noch, einmal während eines
gemeinsamen Spiels hielt ich es plötzlich nicht mehr aus und warf mich
ihr an den Hals, um sie zu küssen. Sie befreite sich aus meiner
Umarmung, erfaßte meine Hände – und mit zusammengezogenen Brauen, als
hätte ich sie beleidigt, fragte sie mich:

„Was fällt dir ein? Warum küßt du mich?“

Ich fuhr schuldbewußt zusammen bei ihrer schnellen Frage und sagte kein
Wort. Die Prinzeß zuckte mit ihren kleinen Schultern, zum Zeichen ihres
Nichtbegreifenkönnens (dieses Achselzucken war ihr schon zur
Angewohnheit geworden), dann preßte sie überernst ihre kleinen weichen
Lippen zusammen, ließ die Spielsachen liegen und setzte sich auf den
Diwan, von wo aus sie mich sehr lange betrachtete – wobei sie
anscheinend tief und ernsthaft über etwas nachdachte, ganz als habe sie
da ein schwieriges Problem zu lösen, das plötzlich in ihren Gedanken
aufgetaucht war. Es war dies gleichfalls so ihre Angewohnheit in allen
unklaren Fällen. Ich aber konnte mich an diese schroffen Äußerungen
ihres Charakters lange nicht gewöhnen.

In der ersten Zeit beschuldigte ich nur mich allein und dachte, daß ich
wirklich sehr viele Eigenheiten haben mußte. Aber wenn dies auch zum
Teil zutreffen mochte, so quälte ich mich doch in einer gewissen
Ungewißheit mit der einen Frage: warum ich mit Katjä nicht gleich
Freundschaft schließen und ihr ein für allemal gefallen konnte? Meine
Mißerfolge in der Beziehung kränkten mich bis zum körperlichen Schmerz
und ich hätte über jedes unbedachte Wort Katjäs, über jeden
mißtrauischen Blick von ihr weinen mögen. Mein Leid wuchs nicht nur mit
jedem Tage, sondern sogar mit jeder Stunde, denn mit Katjä ging alles
sehr schnell. Schon nach ein paar Tagen merkte ich, daß sie mich gar
nicht mehr leiden konnte, ja daß ich ihr schon verhaßt wurde. In der
Seele dieses kleinen Mädchens geschah alles schnell, schroff, – manch
einer würde sagen brutal, und vielleicht mit Recht, wenn in allen diesen
blitzschnellen Veränderungen eines geraden, naiv-offenherzigen
Charakters nicht zugleich eine angeborene, eine gewisse vornehme Grazie
gewesen wäre. Unsere Entfremdung begann damit, daß zuerst Zweifel in ihr
aufstiegen und aus den Zweifeln wurde Verachtung, und zwar wie ich
glaube, deshalb, weil ich kein einziges Spiel zu spielen verstand. Die
Prinzeß liebte zu tollen, zu laufen, sie war stark, lebhaft, gewandt,
ich aber – gerade das Gegenteil. Ich war noch von der Krankheit her
schwach, war still und nachdenklich: Kinderspiele machten mir kein
Vergnügen. Mit einem Wort, mir fehlten alle Eigenschaften, deren ich
bedurft hätte, um Katjä zu gefallen. Außerdem konnte ich es nicht
ertragen, andere mit mir unzufrieden zu sehen: dann wurde ich traurig,
verlor allen Mut und hatte erst recht nicht mehr die Kraft, das
Verfehlte wieder gutzumachen und den schlechten Eindruck zu verwischen,
– kurz, ich verfiel dem Unglück ganz. Das war nun etwas, was Katjä nicht
begreifen konnte. Anfangs schien es sie eher zu verblüffen, sie sah mich
dann, wie es ihre Art war, mit stummer Verwunderung an, nachdem sie
sich, wie es zuweilen vorkam, eine ganze Stunde mit mir abgemüht hatte,
um mich z. B. das Reifenspiel zu lehren, das ich immer noch nicht
begreifen wollte. Und da ich gleich traurig wurde und Tränen mir in die
Augen traten, so wandte sie sich, nachdem sie über mich nachgedacht und
doch weder durch ihr Denken noch durch mich selbst einen Aufschluß
erhalten hatte, einfach von mir ab und spielte allein weiter, ohne mich
noch zum Mitspielen aufzufordern, ja sogar ohne überhaupt noch mit mir
zu sprechen, – und das nicht nur an diesem einen Tage, sondern gleich
ein paar Tage lang. Von diesem Verhalten war ich so betroffen, daß ich
ihre Geringschätzung kaum ertragen konnte. Meine neue Einsamkeit wurde
nun fast noch bedrückender als die frühere in der Dachstube, und ich
begann wieder zu trauern und zu grübeln: wieder bedrückten dunkle
Gedanken mein Herz.

Madame Léotard, die uns beaufsichtigte, bemerkte schließlich diese
Veränderung in unserem Verhalten zueinander. Und da ihr natürlich mein
fremdes Wesen zuerst auffiel, vor allem meine Verlassenheit, so wandte
sie sich ohne weiteres an die Prinzeß und schalt sie sehr, weil sie mit
mir nicht umzugehen verstünde. Die Prinzeß runzelte die Stirn, zuckte
mit den Schultern und erklärte darauf, sie könne mit mir nichts
anfangen, zu spielen verstände ich nicht, ich dächte immer Gott weiß
woran, sie aber werde lieber auf den Bruder warten, der bald aus Moskau
zurückkehren müsse, dann könne sie mit ihm ganz anders spielen, mit ihm
sei es viel lustiger.

Doch Madame Léotard begnügte sich nicht mit dieser Antwort, sie hielt
ihr vor, daß sie mich allein sitzen lasse und nicht bedenke, daß ich
noch krank wäre, deshalb könne ich auch nicht so lustig und ausgelassen
sein wie sie, Katjä, was übrigens auch viel besser sei, denn das, was
Katjä anrichte, sei unerhört, sie habe dies verbrochen und jenes
angestiftet und vorvorgestern hätte die Bulldogge sie deshalb zur Strafe
fast aufgefressen. Kurz, Madame Léotard schalt ohne Nachsicht und schloß
ihre Strafpredigt damit, daß sie sie zu mir schickte, mit der Weisung,
sich sogleich mit mir zu versöhnen.

Katjä hatte die Standrede mit großer Aufmerksamkeit angehört, als sage
man ihr nun wirklich etwas Neues, und es schien ihr einzuleuchten, daß
in diesem Neuen etwas richtig und gerecht war. Sie ließ ihren Reifen,
den sie durch das Zimmer gerollt hatte, liegen, trat auf mich zu, sah
mich ernst an und fragte etwas ungläubig:

„Willst du denn spielen?“

„Nein,“ sagte ich schnell, noch erschrocken von der Standrede der Madame
Léotard.

„Was willst du denn?“

„Ich werde hier sitzen, denn mir fällt das Laufen schwer. Nur sei mir
deshalb nicht böse, Katjä, ich habe dich sehr lieb.“

„Nun gut, dann werde ich allein spielen,“ sagte sie langsam, gleichsam
überlegend und als wundere sie sich darüber, wenn sich jetzt beinahe
herausstellte, daß sie an gar nichts schuld wäre. „Nun denn, adieu, ich
werde dir nicht böse sein.“

„Adieu,“ sagte ich, stand auf und reichte ihr die Hand.

„Vielleicht wollen wir uns küssen?“ fragte sie nach kurzem Nachdenken –
wohl in der Erinnerung an jenen Kußzwischenfall und zugleich, um mir
etwas Angenehmes zu erweisen und dadurch schneller den Zwist mit mir
beizulegen.

„Wie du willst,“ sagte ich in scheuer Hoffnung.

Sie trat an mich heran und küßte mich todernst, ohne auch nur im
geringsten zu lächeln. Und als sie so alles getan, was man von ihr
verlangte, ja sogar noch mehr als das, nur um einem armen Mädchen ein
Vergnügen zu bereiten, da lief sie zufrieden und froh von mir fort, und
bald hörte man wieder in allen Zimmern ihr Lachen und Tollen, bis sie
sich erschöpft und atemlos auf einen Diwan warf, um sich zu erholen und
neue Kräfte zu sammeln. Dann sah sie mich aber doch die ganze Zeit
mißtrauisch an, da ich ihr offenbar wunderlich erschien. Es war, als
hätte sie gern mit mir gesprochen, als hätte sie gern gewisse Fragen,
die ihr in bezug auf mich durch den Sinn fuhren, beantwortet, aber ich
weiß nicht, weshalb sie diesmal nicht fragte und sich bezwang.

Katjä lernte gewöhnlich morgens. Madame Léotard unterrichtete sie nur in
der französischen Sprache. Der ganze Unterricht bestand im Wiederholen
der Grammatik und im Lesen der Fabeln von Lafontaine. Man unterrichtete
sie deshalb nur in diesem Fach, weil es ohnehin schon schwer gewesen
war, sie dazu zu bewegen, wenigstens zwei Stunden täglich zu lernen. Auf
diesen Ausgleich war sie schließlich nur auf Bitten des Vaters
eingegangen, und auf Befehl der Mutter. Ihr Versprechen aber erfüllte
sie sehr gewissenhaft. Sie war außerordentlich begabt, sie begriff
leicht und behielt das Begriffene. Aber auch in der Art ihres Lernens
hatte sie ihre kleinen Eigenheiten: wenn sie z. B. irgend etwas einmal
nicht sofort begriff, dann begann sie gleich selbst nachzudenken, denn
eher tat sie alles Mögliche, als daß sie andere um eine Erklärung dessen
bat, was sie sich selbst mit eigenem Verstande nicht zu erklären
vermochte, – sie schien sich dann einfach zu schämen. Ja, es soll sogar
vorgekommen sein, daß sie sich tagelang mit einer Frage gequält und über
sich selbst geärgert hatte, weil sie sie nicht ohne fremde Hilfe
beantworten konnte: denn nur im äußersten Fall, wenn sie schon ganz müde
geworden war vom Denken, ging sie zu Madame Léotard und bat sie, ihr die
Sache zu erklären, der ihr eigener Verstand noch nicht gewachsen war.
Und so war sie in allem. Sie hatte schon viel nachgedacht, was man ihr
freilich auf den ersten Blick gar nicht zugetraut hätte. Und doch konnte
sie mitunter noch furchtbar naiv sein: zuweilen stellte sie für ihr
Alter unglaublich dumme Fragen, und zuweilen wiederum verrieten ihre
Antworten die spitzfindigste Schlauheit und das weitsichtigste, feinste
Verständnis.

Da ich mit der Zeit auch zu lernen anfangen konnte, so nahm mich Madame
Léotard eines Tages gewissermaßen ins Verhör, und nachdem sie
festgestellt, daß ich schon sehr gut las, aber noch sehr schlecht
schrieb, erklärte sie, es sei nun die höchste Zeit und die größte
Notwendigkeit, daß ich mit dem Französischen anfinge.

Ich widersprach natürlich nicht und am nächsten Vormittage setzten wir
uns, Katjä und ich, an den Lerntisch zu beiden Seiten von Madame
Léotard. Unglücklicherweise war Katjä gerade an diesem Tage so zerstreut
und auch schwerfällig im Begreifen, daß Madame Léotard sie gar nicht
wiedererkannte. Ich aber lernte im Nu das französische Alphabet, denn
ich hatte nur den einen Wunsch, es Madame Léotard recht zu machen. Sie
aber ärgerte sich die ganze Zeit über Katjä und zum Schluß wurde sie so
böse, daß sie sie heftig schalt:

„Nehmen Sie sich an ihr ein Beispiel,“ sagte sie, auf mich weisend, „ein
noch halbkrankes Kind lernt zum erstenmal und hat in einer Stunde
zehnmal mehr begriffen als Sie. Schämen Sie sich!“

„Sie weiß mehr als ich?“ fragte Katjä verwundert, „aber sie lernt doch
erst das Alphabet!“

„In wieviel Stunden haben Sie das Alphabet gelernt?“

„In drei.“

„Und sie in einer einzigen. Folglich begreift sie dreimal schneller als
Sie und wird Sie im Nu überholen. Das sehen Sie doch ein?“

Katjä dachte einen Augenblick nach und plötzlich wurde sie feuerrot.
Überhaupt war Erröten, Beschämtsein – das erste bei ihr, gleichviel ob
es sich um einen Mißerfolg, einen Ärger, um eine Kränkung handelte oder
ob man sie bei einer Unart ertappte und schalt. Diesmal traten ihr fast
Tränen in die Augen, aber sie schwieg und sah mich nur einmal so an, als
wolle sie mich verbrennen mit ihrem Blick. Da erriet ich, was sie
empfand. Die Arme war über alle Maßen stolz und ehrgeizig!

Als wir Madame Léotard verließen, versuchte ich, ein Gespräch mit ihr
anzuknüpfen, um ihren Ärger zu verscheuchen und zu zeigen, daß es mich
nichts anging, was die Französin sagte, aber Katjä schwieg, als hätte
sie mich überhaupt nicht gehört.

Etwa nach einer Stunde kam sie in das Zimmer, wo ich mit einem Buch saß,
jedoch ohne zu lesen, denn ich dachte die ganze Zeit nur an Katjä – ich
war doch noch zu bestürzt und erschrocken bei dem Gedanken, der nicht
von mir wich, daß Katjä nun wieder nicht mit mir sprechen wollte.

Sie sah mich finster an, setzte sich wie gewöhnlich auf den Diwan und
betrachtete mich eine gute halbe Stunde. Länger hielt ich es nicht aus:
ich hob den Kopf und sah sie fragend an.

„Kannst du tanzen?“ fragte sie mich darauf.

„Nein.“

„Aber ich.“

Schweigen.

„Kannst du denn Klavier spielen?“

„Nein, auch nicht.“

„Aber ich spiele. Das ist sehr schwer zu erlernen.“

Ich schwieg.

„Madame Léotard sagt, du seist klüger als ich.“

„Madame Léotard war nur böse auf dich,“ sagte ich.

„Wird Papa auch böse sein?“

„Das weiß ich nicht,“ antwortete ich.

Wieder Schweigen. Plötzlich stampfte die Prinzeß ungeduldig mit dem Fuß
auf.

„So wirst du jetzt über mich lachen, weil du schneller begreifen kannst
als ich?“ rief sie, unfähig ihren Ärger zu verbergen.

„Ach nein, nein!“ Ich sprang auf, um zu ihr zu laufen und sie zu
umarmen.

„Und Sie schämen sich nicht, so etwas zu denken und so zu fragen,
Prinzeß?“ ertönte plötzlich die Stimme der Madame Léotard, die uns schon
eine Weile aus dem anderen Zimmer beobachtet und das Gespräch gehört
hatte. „Schämen Sie sich! Sie beneiden das arme Kind und prahlen vor
ihr, daß Sie tanzen und Klavier spielen können. Wie häßlich von Ihnen!
Ich werde alles dem Fürsten erzählen.“

Die Prinzeß errötete.

„Das war schlecht von Ihnen. Sie haben Sie mit Ihren Fragen absichtlich
gekränkt. Ihre Eltern waren arm und konnten keine Gouvernanten für sie
halten; sie hat alles aus sich selbst gelernt, weil sie ein kluges Kind
ist. Sie sollten Sie lieben und gut zu ihr sein, Sie aber wollen mit ihr
nur streiten und sie kränken. Schämen Sie sich! Schämen Sie sich! Sie
ist doch eine Waise! Sie hat keinen Menschen, der ihr nahe steht. Es
fehlte nur noch, daß Sie auch damit zu prahlen anfangen, daß Sie eine
Prinzeß sind und sie nicht. Ich lasse Sie allein. Denken Sie darüber
nach, was ich Ihnen gesagt habe und bessern Sie sich.“

Die Prinzeß dachte genau zwei Tage nach. Zwei Tage lang hörte man sie
weder lachen noch tollen. In der Nacht hörte ich, wie sie sogar im Traum
mit Madame Léotard stritt. Ja, es schien fast, als magere sie ein wenig
ab in diesen zwei Tagen, wenigstens wurde ihr zartes Gesichtchen
merklich bleicher. Am dritten Tage begegneten wir uns zufällig unten in
den großen Räumen. Die Prinzeß kam von der Mutter und als sie mich
erblickte, blieb sie stehen und setzte sich nicht weit von mir auf einen
Stuhl. Ich erwartete mit Bangen, was nun kommen würde.

„Njetotschka, weshalb hat man mich deinetwegen gescholten?“ fragte sie
plötzlich.

„Oh, das geschah nicht meinetwegen, Katenjka[2],“ sagte ich schnell, wie
um mich zu rechtfertigen.

„Aber Madame Léotard sagt doch, ich hätte dich beleidigt.“

„Nein, Katenjka, du hast mich nicht beleidigt.“

Die Prinzeß zuckte mit der Achsel – ein Zeichen, daß sie mich nicht
verstand.

„Warum weinst du denn immer?“ fragte sie nach kurzem Schweigen.

„Ich werde nicht mehr ... wenn du es nicht willst,“ sagte ich und die
Tränen traten mir schon in die Augen.

Sie hatte dafür wieder nur ein Achselzucken.

„Hast du auch früher immer geweint?“

Ich antwortete nicht.

„Warum lebst du bei uns?“ fragte sie plötzlich, wieder nach neuem kurzem
Schweigen.

Ich sah sie verwundert an und fühlte so etwas wie einen Stich ins Herz.

„Weil ich eine Waise bin,“ sagte ich schließlich, nachdem ich mich
zusammengenommen.

„Hattest du Eltern?“

„Ja.“

„Nun, und – die haben dich nicht geliebt?“

„Nein ... sie liebten mich,“ antwortete ich mit Mühe.

„Sie waren aber arm?“

„Ja.“

„Sehr arm?“

„Ja.“

„Und bei denen hast du nichts gelernt?“

„Nur lesen.“

„Hattest du Spielsachen?“

„Nein.“

„Hattest du Kuchen?“

„Nein.“

„Wieviel Zimmer hattet ihr?“

„Ein Zimmer.“

„Nur ein Zimmer?“

„Ja.“

„Und hattet ihr Dienstboten?“

„Nein, wir hatten keine Dienstboten.“

„Aber wer hat euch denn bedient?“

„Ich ging selbst ... einkaufen ...“

Die Fragen der Prinzeß zerrissen mir immer mehr das Herz. Dazu kamen die
Erinnerungen ... und meine Verlassenheit und die Verwunderung der
Prinzeß – all das traf und verletzte mein Herz, daß es wie aus Wunden
blutete. Ich zitterte fieberhaft vor Erregung und die Tränen drohten
mich zu ersticken.

„Dann bist du wohl froh, daß du bei uns wohnst?“

Ich schwieg.

„Hattest du schöne Kleider?“

„Nein.“

„Schlechte?“

„Ja.“

„Ich habe dein Kleid gesehn, man hat es mir gezeigt.“

„Warum fragst du mich dann noch?“ rief ich aufstehend, erschüttert von
einem neuen, noch nie empfundenen Gefühl, „warum fragst du dann noch?“
fuhr ich fort, und das Blut stieg mir vor Unwillen heiß ins Gesicht.
„Warum lachst du über mich?“

Die Prinzeß war gleichfalls errötet und erhob sich auch, aber sie
beherrschte sich schnell.

„Nein ... ich lache nicht,“ sagte sie. „Ich wollte nur wissen, ob es
wahr ist, daß deine Eltern arm waren?“

„Warum fragst du mich nach meinen Eltern?“ rief ich und Tränen rollten
mir über die Wangen vor Seelenschmerz. „Warum fragst du mich _so_ nach
ihnen? Was haben sie dir getan, Katjä?“

Katjä stand betreten vor ihrem Stuhl und wußte nicht, was sie antworten
sollte. Da trat der Fürst ins Zimmer.

„Was fehlt dir, Njetotschka?“ fragte er, als er meine Tränen bemerkte.
„Was fehlt dir, weshalb weinst du?“ fragte er nochmals und sah Katjä an,
die feuerrot geworden war. „Wovon spracht ihr? Worüber habt ihr
gestritten? Njetotschka, worüber weinst du?“

Ich konnte nicht antworten, aber ich ergriff die Hand des Fürsten und
küßte sie unter Tränen.

„Katjä, sag du, und sprich die Wahrheit: was ist hier vorgefallen?“

Katjä verstand nicht zu lügen.

„Ich sagte ihr, daß ich gesehen habe, was für ein schlechtes Kleid sie
trug, als sie noch bei ihrem Papa und ihrer Mama lebte.“

„Wer hat es dir gezeigt? Wer hat es dir zu zeigen gewagt?“

„Ich habe es selbst gesehen!“ sagte Katjä in bestimmtem Tone.

„Nun gut! Ich kenne dich, du willst niemanden angeben. Und was weiter?“

„Und dann fing sie an zu weinen und fragte: warum ich mich über ihren
Papa und ihre Mama lustig gemacht?“

Das hatte sie zwar nicht getan, aber offenbar war es ihre Absicht
gewesen, da auch ich es nach der ersten Frage so aufgefaßt hatte. Sie
antwortete dem Vater keine Silbe: und dies war ebenso gut wie ein
Geständnis.

„Du gehst sofort zu ihr und bittest sie um Verzeihung,“ befahl der
Fürst, auf mich weisend.

Die Prinzeß stand bleich und stumm und rührte sich nicht.

„Nun,“ sagte der Fürst.

„Ich will nicht,“ sagte Katjä schließlich halblaut, aber mit fest
entschlossener Miene.

„Katjä!“

„Nein, ich will nicht, ich will nicht!“ schrie sie plötzlich mit
blitzenden Augen und stampfte mit beiden Füßchen. „Ich will nicht, Papa,
ich will nicht um Verzeihung bitten. Ich liebe sie nicht. Ich will nicht
mit ihr zusammenwohnen ... Ich bin nicht schuld, daß sie den ganzen Tag
weint. Ich will nicht, ich will nicht!“

„Komm mit,“ sagte der Fürst, sie an der Hand fassend, um sie in sein
Kabinett zu führen. „Njetotschka, geh nach oben,“ wandte er sich zu mir.

Ich wollte ihn zurückhalten, wollte für Katjä um Verzeihung bitten, doch
der Fürst wiederholte streng seinen Befehl und ich ging nach oben,
eiskalt vor Schreck, wie eine Tote. In unserem Zimmer sank ich auf den
Diwan und umklammerte meinen Kopf mit den Händen. Ich zählte die
Minuten. Ich erwartete Katjä mit fiebernder Ungeduld, ich wollte mich
ihr zu Füßen werfen. Endlich kam sie: sie ging ohne ein Wort an mir
vorüber und setzte sich in den fernsten Winkel; Ihre Augen waren rot und
die Wangen geschwollen von Tränen. Da schwand meine ganze
Entschlossenheit. Ich sah sie angstvoll an und meine Angst lähmte mich.

Ich beschuldigte mich mit allen Fibern, ich mühte mich krampfhaft, mir
vor mir selbst zu beweisen, daß ich allein an allem schuld sei.
Tausendmal wollte ich zu Katjä gehen und tausendmal sank mir der Mut, da
ich nicht wußte, wie sie sich zu mir verhalten würde. So verging ein Tag
und noch einer. Am Abend dieses zweiten Tages wurde Katjä wieder
munterer und nahm sogar ihr Reifenspiel vor, doch bald ließ sie den
Reifen liegen und zog sich wieder in ihren Winkel zurück. Kurz bevor wir
zu Bett gingen, wandte sie sich plötzlich zu mir und kam sogar zwei
Schritte auf mich zu: ihre weichen Lippen zuckten, als setze sie zum
Sprechen an, aber sie blieb stehen, wandte sich wieder fort und ging zu
Bett. Nach diesem Tage verging noch ein Tag, und die erstaunte Madame
Léotard nahm Katjä zu guter Letzt ins Verhör: ob sie krank sei oder was
mit ihr geschehen, daß sie sich mit einemmal so still verhalte? Katjä
antwortete ausweichend irgend etwas, was ich nicht hören konnte, doch
kaum hatte Madame Léotard ihr den Rücken gekehrt, da wurde sie rot und
begann zu weinen. Sie lief aus dem Zimmer, um von mir nicht weinend
gesehen zu werden. Einmal aber mußte doch die Erlösung kommen; und dies
geschah denn auch am dritten Tage nach unserem Streit: nach dem Essen
kam sie in mein Zimmer und näherte sich mir zaghaft.

„Papa hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu bitten,“ sagte sie. „Wirst
du mir verzeihen?“

Ich erfaßte schnell ihre beiden Hände und stieß in atemloser Hast
hervor:

„Ja! Ja!“

„Papa befahl mir, dich zu küssen, – wirst du mich küssen?“

Als Erwiderung auf ihre Frage küßte ich ihre Hände. Als ich aufsah,
bemerkte ich in ihrem Gesicht eine seltsame Bewegung. Ihre Lippen und
ihr Kinn bebten, in ihren Augen standen Tränen, aber sie unterdrückte
schnell ihre Erregung und flüchtig erschien sogar ein Lächeln auf ihren
Lippen.

„Ich werde gehen und Papa sagen, daß ich dich geküßt und um Verzeihung
gebeten habe,“ sagte sie leise, fast wie zu sich selbst. „Ich habe ihn
schon drei Tage nicht gesehen. Er sagte, ich dürfe nicht eher zu ihm
kommen, als bis ich sein Gebot erfüllt habe,“ fügte sie nach kurzem
Nachdenken hinzu.

Und sie ging zögernd und mit nachdenklichem Gesichtchen zum Vater, als
wäre sie selbst noch nicht sicher, wie nun der Empfang beim Vater
ausfallen würde.

Eine Stunde später hörte ich oben wieder den alten Lärm, Katjäs Lachen
und Laufen, Falstaffs Gebell, ja irgend etwas wurde umgeworfen und
zerschlagen, Bücher fielen von einem Tisch, der Reifen rollte wieder
federleicht durch alle Räume – kurz, ich hörte, daß Katjä sich mit dem
Vater versöhnt hatte, und mein Herz erbebte vor Freude.

Doch zu mir kam sie nicht und vermied es sichtlich, mit mir zu sprechen.
Dafür hatte ich die Ehre, in hohem Maße ihre Neugier zu erregen. Immer
öfter setzte sie sich mir gegenüber, um mich in Ruhe zu betrachten. Und
ihre Beobachtungen wurden immer naiver. Das verwöhnte, eigenwillige
Kind, das von allen im Hause verzogen und gehätschelt und wie ein
kostbarer Schatz gehegt wurde, konnte es nicht begreifen, wie es kam,
daß ich schon ein paarmal auf ihrem Wege mit ihr zusammengestoßen war,
während sie das gar nicht gewollt hatte. Sie hatte aber ein gutes,
prächtiges Herzchen, das allein schon mit seinem guten Instinkt immer
den richtigen Weg fand. Den größten Einfluß auf sie hatte der Vater, den
sie geradezu vergötterte. Von der Mutter wurde sie bis zum Wahnsinn
geliebt, nur war die Mutter gleichzeitig unglaublich streng, und von ihr
hatte Katjä den Eigensinn, den Stolz und die Charakterfestigkeit geerbt,
dafür aber mußte sie auch alle Launen der Mutter ertragen, obschon diese
oft in moralische Tyrannei ausarteten. Doch – sie ertrug sie. Die
Fürstin hatte eine sonderbare Auffassung von dem, was Erziehung ist, und
so war Katjäs Erziehung eine eigenartige Mischung von grenzenloser
Verwöhnung und unerbittlicher Strenge. Was gestern erlaubt war, war
heute plötzlich verboten, und zwar ganz grundlos, so daß das
Gerechtigkeitsgefühl im Kinde völlig mißachtet und ständig verletzt
wurde ... Doch davon später. Ich will hier nur bemerken, daß das Kind
sein Verhalten zu den Eltern danach richtete. Dem Vater gegenüber war
sie ganz so, wie sie war, sie gab sich ihm rückhaltlos, mit vollen
Händen: da war in ihrem Wesen nichts Verborgenes, nichts
Zurückhaltendes. Im Verkehr mit der Mutter dagegen war sie das gerade
Gegenteil: verschlossen, mißtrauisch und widerspruchslos gehorsam. Aber
ihr Gehorsam war nicht aufrichtig, sie gehorchte nicht aus Überzeugung,
sondern sozusagen einem notwendigen System gemäß. Ich werde später noch
darauf zurückkommen und mich dann klarer auszudrücken versuchen.
Übrigens sei es hier noch zur besonderen Ehre meiner Katjä gesagt, daß
sie schließlich ihre Mutter vollkommen verstand, und wenn sie ihr
gehorchte, so tat sie das schon mit der vollen Erkenntnis der
grenzenlosen Mutterliebe, die die Fürstin zu ihr hatte und die sich bis
zur krankhaften Exaltation steigern konnte – dem aber trug die Prinzeß
in nachsichtiger Großmut Rechnung. Leider sollte dies später ihrem
heißen Köpfchen wenig helfen!

Doch ich habe fast noch gar nicht erwähnt, was in mir vorging.

Ein neues, mir unerklärliches Gefühl erregte mich damals in einer ganz
ungewohnten Weise und ich übertreibe wohl nicht, wenn ich sage, daß ich
unter diesem neuen Gefühl wie unter einer Pein litt. Kurz – man verzeihe
mir das Wort, aber – ich war in meine Katjä verliebt. Ja, das war
Verliebtheit, richtige Verliebtheit, Verliebtheit mit Tränen und
Entzücken, leidenschaftliche Verliebtheit! Was zog mich so zu ihr?
Woraus entstand diese meine Liebe? Sie begann mit dem ersten Blick auf
Katjä, als alle meine Sinne plötzlich so – so süß betroffen wurden von
dieser Schönheit. Alles an ihr war schön: keine einzige ihrer schlechten
Eigenschaften war angeboren, – alle waren sie nur angenommen und alle
standen sie mit ihrem Instinkt auf Kriegsfuß. Aus allem ersah man die
gute Veranlagung, die nur zeitweilig eine falsche Form annehmen konnte,
doch alles an ihr, angefangen mit jenem inneren Kampf, leuchtete in
froher Zuversicht, alles versprach, in Zukunft Schönheit zu sein. Alle
Menschen hatten Freude an ihr, alle liebten sie, verwöhnten sie. Wenn
man uns spazieren führte – gewöhnlich gegen drei Uhr – blieben die
Menschen, die uns begegneten und sie erblickten, beinahe betroffen
stehen, und nicht selten hörten wir hinter uns einen Ausruf der
Bewunderung. Sie war zum Glücklichsein geboren, sie mußte dazu geboren
sein – das war die erste Empfindung eines jeden, der sie sah. Vielleicht
hatte sich damals, als ich aus tiefem Schlaf erwachte und sie erblickte,
zum erstenmal mein ästhetisches Empfinden geregt, war mein Gefühl für
das Schöne durch ihre Schönheit erweckt worden, – und dies wird wohl die
ganze Ursache meiner Liebe gewesen sein.

Der größte Fehler der Prinzeß – oder richtiger der Grundzug ihres
Charakters, der sich gewaltsam in seine natürliche Form prägen wollte
und sich deshalb naturgemäß in einem unnormalen, eben in einem
Kampfzustand befand – war _Stolz_. Dieser Stolz erstreckte sich bis in
naive Kleinigkeiten, schlug oft in Eigenliebe um und wurde zu einer
unbewußten Überhebung, so daß z. B. Widerspruch, gleichviel welcher Art,
sie nicht kränkte und auch nicht einmal ärgerte, sondern nur in
Verwunderung setzte. Sie begriff nicht, wie etwas anders sein konnte,
als wie sie es wünschte. Aber das Gerechtigkeitsgefühl siegte doch immer
in ihrem Herzen. Wenn sie sich einmal überzeugt hatte, daß sie wirklich
unrecht getan, dann fügte sie sich ohne zu murren und mit fester
Entschlossenheit dem Urteilsspruch ihrer Erzieher. Daß sie aber anfangs
im Verkehr mit mir sich selbst nicht immer ganz treu blieb, erkläre ich
mir mit ihrer unüberwindlichen Abneigung, die zeitweilig die Geradheit
und Einheit ihres ganzen Wesens störte. Anders aber konnte es wohl gar
nicht sein: sie war viel zu leidenschaftlich in ihren Empfindungen, und
so waren es immer erst die Zusammenstöße mit der Wirklichkeit, die ihr
allmählich die Augen öffneten und sie auf den richtigen Weg
zurückführten. Alles, was sie unternahm und anfing, hatte ein gutes
Endergebnis, doch wurden diese Endergebnisse regelmäßig mit
fortwährenden Abweichungen und unter ständigen Verirrungen erkauft.

Katjä hatte mich bald genügend beobachtet und entschloß sich deshalb,
mich fortab in Ruhe zu lassen. Sie tat, als wäre ich überhaupt nicht da.
Sie sprach mit mir kein überflüssiges Wort, ja fast nicht einmal das
Notwendige. An ihren Spielen beteiligte ich mich nicht mehr – doch hatte
sie mich nicht etwa mit Gewalt verdrängt, sondern es so geschickt
einzurichten verstanden, daß es den Anschein hatte, als wäre ich selbst
damit einverstanden gewesen. Der Unterricht wurde fortgesetzt, aber wenn
man mich ihr noch wegen meiner Aufmerksamkeit und meines schnellen
Begreifens als Beispiel vorhielt, so würdigte sie mich nicht mehr der
Ehre, sich dadurch in ihrer Eigenliebe gekränkt zu fühlen, obschon diese
Eigenliebe eine höchst peinlich ausgeprägte war – eine so heikele, daß
sogar unsere Bulldogge, Sir John Falstaff, sie verletzen konnte.
Falstaff war ein kaltblütiger Phlegmatiker, dabei aber böse wie ein
Tiger, ja wenn man ihn reizte, ging er sogar so weit, daß er nicht
einmal mehr seinem Herrn gehorchte. Und noch ein bedeutsamer
Charakterzug: er liebte entschieden keinen einzigen Menschen im ganzen
Hause; sein größter Feind aber war zweifellos die alte Prinzessin, die
Tante des Fürsten ... Doch davon später. Die ehrgeizige Katjä gelüstete
es nun eines Tages, den unfreundlichen Falstaff zu besiegen. Es war ihr
unangenehm, daß es ein Wesen gab, sei es auch nur ein vierbeiniges, das
ihre Autorität nicht anerkannte, sich ihr nicht unterwarf, ja, sie nicht
einmal liebte. So beschloß denn die Prinzeß, Falstaff anzugreifen. Sie
wollte über alle herrschen – warum sollte nun Falstaff allein ungestört
seine Freiheit genießen dürfen? Aber die unbeugsame Bulldogge ergab sich
ihr doch nicht.

Es war einmal nach dem Essen, wir saßen beide unten im großen Saal,
während Falstaff mitten im Saal auf der Diele lag und faul seine
Nachmittagssiesta genoß. Da fiel es der Prinzeß plötzlich ein, ihn sich
unterwerfen zu wollen. Sie ließ ihr Spiel liegen und begann sogleich mit
dem Versuch, sich Falstaff zu nähern: vorsichtig, auf den Fußspitzen
schleichend, umschmeichelte sie Falstaff mit den zärtlichsten Kosenamen,
winkte liebevoll beschwichtigend mit der Hand und ging immer näher,
immer näher. Falstaff aber zeigte schon von ferne seine furchtbaren
Zähne. Prinzeßchen blieb stehen. Ihr ganzes Vorhaben bestand ja nur
darin, zu Falstaff zu gelangen und ihn einmal zu streicheln – eine
Kühnheit, die er bisher noch keinem gestattet hatte, außer der Fürstin –
und ihn dazu zu bringen, daß er ihr folge. Das war nun eine schwere
Aufgabe, verbunden mit einer ernsten Gefahr, denn Falstaff hätte sich
keineswegs gescheut, ihr eine Hand abzubeißen oder auch das ganze
Prinzeßchen zu zerfleischen. Er war stark wie ein Bär und ich verfolgte
von meinem Platze aus nicht grundlos mit angstvoller Spannung Katjäs
Vorgehen. Ich wußte, wie schwer es war, sie zum Verzicht auf eine
Absicht, wenn sie sich eine solche einmal in den Kopf gesetzt, zu
bewegen, und selbst das Gebiß Falstaffs, das dieser ihr in äußerst
unmanierlicher Weise zeigte, war für sie noch kein genügendes Argument.
Sie begriff nur, daß sie sich doch nicht so geradeswegs ihm nähern
konnte und änderte nach kurzem Zögern ihre Taktik, indem sie nun im
Kreise um ihn herumging und diese Kreise immer enger machte. Als sie
aber bei der dritten Umkreisung der Grenze zu nahe kam, die Falstaff als
nächste und eben noch erlaubte Distanz zu sich nicht überschritten
wissen wollte, da zeigte er wieder die Zähne. Die Prinzeß stampfte mit
den Füßchen auf, kehrte ihm geärgert den Rücken und setzte sich aufs
Sofa, um nachzudenken.

Da fiel ihr nach einigen Minuten ein neues Mittel ein; sie verließ
sofort den Saal und kehrte mit einem ganzen Vorrat von Kringeln, Kuchen
und Pasteten zurück – kurz, sie änderte die Waffen. Doch auch die neuen
Waffen ließen Falstaff völlig kalt, wohl weil er ohnehin schon viel zu
satt war. Den Kringel, den sie ihm zuwarf, würdigte er nicht einmal
eines Blickes; und als die Prinzeß wieder an der besagten äußersten
Grenze anlangte, erfolgte ein diesmal noch energischerer Protest: er
erhob den Kopf, zeigte die Zähne, knurrte und machte eine Bewegung, als
wolle er gleich aufspringen. Die Prinzeß wurde rot vor Zorn, ließ den
ganzen Vorrat liegen und setzte sich wieder auf ihren Platz.

Sie war sichtlich sehr erregt. Ihr kleiner Fuß schlug ununterbrochen auf
den Teppich, ihre Wangen glühten und in die Augen traten fast Tränen vor
Ärger. Da geschah es, daß sie plötzlich meinen Blick auffing – alles
Blut stieg ihr heiß ins Gesicht. Sie sprang auf und ging mit
entschlossenen Schritten gerade auf die furchtbare Dogge zu.

Vielleicht war es diesmal die Überraschung, die Falstaff lähmte. Er ließ
den Feind die Grenze überschreiten, und erst als sie nur noch zwei
Schritte von ihm entfernt war, empfing er die Unbedachte mit dem
unheimlichsten Knurren. Katjä blieb für eine Sekunde stehen –, aber nur
für eine Sekunde –: dann trat sie entschlossen vorwärts. Ich erstarb vor
Schreck. Sie war aber so beseelt von ihrem Entschluß, wie ich sie noch
nie gesehen hatte: ihre Augen blitzten in trotziger Siegesgewißheit. Sie
hätte ein entzückendes Modell für einen Künstler abgegeben. Mutig
widerstand sie dem drohenden Blick des bösen Tieres, und auch sein
unheimliches Gebiß schreckte sie nicht ab. Die Dogge hob den Kopf. Aus
der breiten Brust kam ein unheildrohendes Knurren – im nächsten Moment,
so schien es, werde das Tier sie zerfleischen. Doch die Prinzeß legte
stolz ihre kleine Hand auf seinen Rücken und streichelte ihm
dreimal über das Fell. Einen Augenblick verharrte Falstaff in
Unentschlossenheit. Dieser Augenblick war der furchtbarste: dann stand
das Tier schwerfällig auf, streckte sich und verließ in phlegmatischer
Ruhe den Saal, vermutlich in der Erwägung, daß mit Kindern zu kämpfen
sich doch nicht lohne. Die Prinzeß blieb triumphierend auf dem eroberten
Platz stehen und warf mir nur einen unbeschreiblichen Blick zu, einen
siegesgesättigten, siegesberauschten Blick. Ich war noch bleich wie ein
Handtuch. Sie bemerkte das und lächelte. Aber da breitete sich mit
einemmal auch über ihr Gesichtchen Totenblässe. Kaum konnte sie noch bis
zum Sofa gehen, auf das sie nahezu ohnmächtig niedersank.

Doch meine Liebe zu ihr kannte keine Grenzen. Seit diesem Tage, wo ich
eine solche Angst um sie ausgestanden, konnte ich mich nur noch mit Mühe
beherrschen. Ich verging vor Sehnsucht, tausendmal wollte ich mich ihr
an den Hals werfen, aber eine unerklärliche Scheu hielt mich regungslos
und wie gebannt auf meinem Platz zurück. Ich erinnere mich noch, daß ich
ein Zusammensein mit ihr absichtlich zu vermeiden suchte, damit sie
meine Erregung nicht sähe; trat sie aber zufällig in das Zimmer, in das
ich mich zurückgezogen hatte, dann fuhr ich zusammen und mein Herz
begann so stark zu pochen, daß ich wie von einem Schwindel erfaßt wurde.
Ich glaube, dies alles entging Katjä nicht, und nachdem sie es bemerkt
hatte, war sie die nächsten zwei Tage, wie mir schien, etwas verwirrt.
Bald aber hatte sie sich auch damit abgefunden. So verging ein ganzer
Monat, in dem ich einsam litt. Meine Gefühle besitzen eine gewisse
unerklärliche Dehnbarkeit, wenn man sich so ausdrücken kann; meine Natur
ist bis zur letzten Möglichkeit geduldig, so daß ein plötzlicher
Ausbruch der Gefühle nur im wirklich äußersten Fall eintritt. Man muß
nämlich wissen, daß Katjä und ich in dieser ganzen Zeit kaum fünf Worte
miteinander gewechselt haben. Nach und nach wurde es mir aber infolge
gewisser Anzeichen immer klarer, daß ihr Verhalten zu mir nicht auf
Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit zurückzuführen sei, sondern daß es
nur eine absichtliche Fernhaltung ihrerseits war: ganz als habe sie sich
das Wort gegeben, mich in gewissen Schranken zu halten. Doch ich schlief
schon nicht mehr in den Nächten und am Tage konnte ich meine Verwirrung
selbst vor Madame Léotard nicht verbergen. Meine Liebe zu Katjä verstieg
sich bis zu Seltsamkeiten: so nahm ich einmal heimlich ihr Taschentuch,
ein anderes Mal ihr Haarband an mich, und diese Gegenstände küßte ich
dann nachts unter Tränen. Anfangs kränkte mich ihre Gleichgültigkeit so
sehr, daß ich mich wirklich verletzt fühlte; hernach aber war alles in
mir verwirrt und ich konnte mir selbst nicht mehr über meine
Empfindungen Rechenschaft geben. So kam es, daß meine alten Eindrücke
allmählich von den neuen verdrängt wurden, und die Erinnerung an mein
früheres trauriges Leben verlor mit der Zeit ihre krankhafte Intensität,
da sie der neuen Wirklichkeit weichen mußte.

Ich weiß noch, wenn ich in der Nacht erwachte, stand ich bisweilen leise
auf und schlich auf den Fußspitzen zum Bett der Prinzeß. Stundenlang
konnte ich dann stehen und die Schlafende in dem milden Licht unserer
Nachtlampe betrachten. Manchmal setzte ich mich sogar auf ihr Bett und
beugte mich über ihr Gesicht, und ihr warmer regelmäßiger Atem berührte
mich wie ein traumhaft sanftes Wehen. Leise, bebend vor Unsicherheit,
küßte ich dann wohl oft ihre Händchen, ihre kleinen Schultern, Wangen,
auch ihr Füßchen küßte ich, wenn die Decke sich verschoben hatte und das
Füßchen hervorsah. Bald glaubte ich zu bemerken – ich beobachtete sie
doch unausgesetzt, wenn auch heimlich – daß sie von Tag zu Tag mehr
nachsann und ihr Charakter seine frühere gefestigte Gleichmäßigkeit
eingebüßt hatte: es kam vor, daß wir sie oft einen ganzen Tag nicht
tollen hörten, dann aber machte sie wieder solchen Lärm, wie ich ihn
zuvor noch nie gehört. Sie wurde reizbar, anmaßend, sie wurde
abwechselnd bleich und rot und trieb es mit mir oft bis zu kleinen
Grausamkeiten: bald wollte sie plötzlich nicht gleichzeitig mit mir
essen und nicht neben mir sitzen, ganz als flöße ich ihr Abscheu ein;
bald ging sie zur Mutter und saß dort fast ganze Tage, obschon sie genau
wußte, wie sehr die Sehnsucht nach ihr mich verzehrte; bald wiederum
setzte sie sich mir gegenüber und betrachtete mich stundenlang, so daß
ich vor tödlicher Verwirrung nicht wußte, wo ich mich lassen sollte, nur
immer errötete und erbleichte und doch nicht aus dem Zimmer zu gehen
wagte. Zweimal hatte Katjä sich bereits über Fieber beklagt, während man
sie früher nie krank gesehen hatte. Da erfolgte eines Morgens eine
besondere und bedeutungsvolle Wandlung: auf unbedingten Wunsch der
Prinzeß zog sie nämlich nach unten zur Mutter, die fast ohnmächtig wurde
vor Angst, als Katjä über Erkältung klagte. Ich muß bemerken, daß die
Fürstin mit mir sehr unzufrieden war und die ganze Veränderung, die sie
an Katjä bemerkte, meinem schädlichen Einfluß zuschrieb, oder doch dem
Einfluß meines „düsteren Charakters“, wie sie sich ausdrückte. Sie hätte
uns schon viel früher getrennt, doch hielt sie es für ratsamer, die
Trennung noch aufzuschieben, da sie damit, wie sie wußte, beim Fürsten
auf hartnäckigen Widerstand gestoßen wäre. Obschon der Fürst ihr in
allem ihren Willen ließ, konnte er bisweilen doch mit geradezu
eigensinniger Starrheit auf seinem Willen bestehen. Sie kannte den
Fürsten gut.

Dieser Umzug der Prinzeß machte mich so betroffen, daß ich eine ganze
Woche in der schrecklichsten Gemütsverfassung zubrachte. Ich quälte mich
mit meiner Sehnsucht nach ihr und zerbrach mir den Kopf über der Frage,
weshalb ich Katjä wohl solchen Abscheu einflößte. Meine Trauer darob
zerriß mir die Seele und das Gerechtigkeitsgefühl und ein bitterer
Unwille begann sich in meinem gekränkten Herzen zu erheben. Es entstand
plötzlich ein gewisser Stolz in mir, und wenn ich mit Katjä vor unserem
Spaziergang zusammentraf, dann sah ich sie so frei, so ernst an, so
anders als früher, daß es sie offenbar betroffen machte. Natürlich trat
diese meine Veränderung nur hin und wieder zutage, wie in sich
durchdringenden Ausbrüchen, dann aber tat mir das Herz von neuem weh und
der Schmerz wuchs und wuchs und ich wurde noch schwächer, noch
kleinmütiger als ich vorher gewesen war. Da, eines Morgens, zu meiner
größten, mich freudig verwirrenden Überraschung, kehrte die Prinzeß zu
uns nach oben zurück. Ihr erstes war, daß sie gleich unter unbändigem
Lachen Madame Léotard an den Hals flog und lachend erklärte, nun werde
sie wieder bei uns wohnen – dann grüßte sie mich mit einem Nicken, sah
aber schnell wieder fort und erbettelte sich die Erlaubnis, an diesem
Tage nichts lernen zu brauchen. Den ganzen Vormittag tollte sie umher.
Ich habe sie nie lebhafter und ausgelassener gesehen. Doch gegen Abend
wurde sie still, nachdenklich und wieder breitete eine gewisse
Traurigkeit einen Schatten über ihr reizendes Gesichtchen. Als die
Fürstin am Abend bei uns erschien, um nachzufragen, wie es ihr gehe, da
sah ich, daß Katjä sich aus allen Kräften bemühen mußte, froh und lustig
zu scheinen. Nachher aber, als wir allein zurückblieben, brach sie
plötzlich in Tränen aus. Ich war bestürzt. Die Prinzeß bemerkte, daß ich
sie beobachtete, und verließ das Zimmer. Es waren Anzeichen, daß eine
unerwartete Krisis sich in ihr vorbereitete. Die Fürstin beriet mit den
Ärzten, ließ sich von Madame Léotard jeden Tag ausführlich Bericht
erstatten, und wünschte, daß sie Katjä nicht aus den Augen ließ. Nur ich
ahnte den wahren Grund dieser Veränderung. Mein Herz begann vor Hoffnung
laut zu pochen.

In der Tat, unser kleiner Roman näherte sich der entscheidenden Wendung.
Am dritten Tage nach Katjäs Rückkehr zu uns nach oben fiel es mir auf,
daß sie mich den ganzen Vormittag mit so guten Augen ansah und so lange
ihre Blicke auf mir ruhen ließ ... Ein paarmal trafen sich unsere Blicke
und jedesmal erröteten wir und schlugen die Augen nieder, als schämten
wir uns. Da lachte zu guter Letzt Prinzeßchen auf und ging fort. Um drei
Uhr kleidete man uns für den Spaziergang an. Plötzlich trat Katjä an
mich heran.

„Dein Schuhband hat sich gelöst,“ sagte sie zu mir, „komm, ich werde es
zubinden.“

Ich wollte mich bücken, um selber die Schleife zu binden, tief errötend
darüber, daß Katjä nun endlich wieder etwas zu mir sprach, doch sie kam
mir zuvor.

„Gib her!“ sagte sie in lachender Ungeduld und kniete schnell nieder,
zog meinen Fuß zu sich und band die Schleife von neuem. Mir stockte der
Atem; ich wußte nicht, was tun, und ich empfand nur eine süße Wonne in
meiner Erschrockenheit. Als die Schleife fertig war, stand sie auf und
musterte mich vom Kopf bis zu den Füßen.

„Da ist auch das Hälschen bloß,“ sagte sie, mit dem Finger an meinen
Hals tippend. „Nein, laß nur, ich werde es dir schon richtig binden.“

Ich widersprach nicht. Sie löste die Schleife meines Halstüchleins und
band es von neuem nach ihrem Geschmack.

„So kann man sich ja einen Husten holen,“ sagte sie mit einem
schelmischen Lächeln und aus ihren dunklen feuchten Augen streifte mich
ein spitzbübischer Blick.

Ich war wie von Sinnen: ich wußte nicht, wie mir geschah, noch was in
Katjä vorging. Zum Glück dauerte unser Spaziergang nicht lange, sonst
hätte ich es nicht ausgehalten und sie auf der Straße geküßt. Als wir
aber die Treppe hinaufstiegen, gelang es mir, sie heimlich auf die
Schulter zu küssen. Sie bemerkte es, zuckte zusammen, sagte jedoch kein
Wort. Am Abend wurde sie festlich angekleidet und nach unten geführt.
Bei der Fürstin waren Gäste. Doch noch am selben Abend stand dem ganzen
Hause eine große Aufregung bevor.

Katjä bekam einen Nervenanfall. Die Fürstin war außer sich vor Schreck.
Der Arzt kam und wußte nicht, was er sagen sollte. Man schrieb alles den
üblichen Kinderkrankheiten zu, auch dem Alter Katjäs, ich aber dachte
darüber ganz anders. Am nächsten Morgen erschien Katjä wieder so wie
immer, rosig, lustig, von unerschöpflicher Gesundheit, dafür aber mit
solchen Launen und Eigenheiten, wie sie noch niemand an ihr beobachtet
hatte.

Erstens wollte sie den ganzen Vormittag Madame Léotard nicht gehorchen.
Darauf erklärte sie mit einemmal, zur Großtante, der alten Prinzessin,
gehen zu wollen. Und richtig, diesmal wurde der Prinzeß der Zutritt zu
den Gemächern der Großtante gewährt, freilich ganz gegen die
Gepflogenheit der alten Dame, die ihre Großnichte gar nicht leiden
konnte, ewig an ihr etwas auszusetzen fand und sie gewöhnlich überhaupt
nicht sehen wollte – diesmal aber, wie gesagt, entschloß sie sich, Gott
weiß weshalb, sie zu empfangen. Anfangs ging auch alles gut, die erste
Stunde verlief im schönsten Frieden, denn dem Schelm war es plötzlich
eingefallen, für alle ihre Ungezogenheiten, den verursachten Lärm und
alle Störungen freiwillig um Verzeihung zu bitten. Und die Großtante
verzieh ihr auch feierlich und sichtlich tief gerührt. Das war aber der
Spitzbübin noch zu wenig. Und es fiel ihr ein, auch solche Streiche zu
beichten, die sie noch gar nicht verbrochen hatte, die vorerst nur als
Pläne in ihrem Köpfchen lebten. So nahm sie den Ausdruck einer
reumütigen Büßerin an und beichtete, daß die fromme Dame ob solchen
Insichgehens anfangs ganz verzückt war, denn es schmeichelte ihrer
Eigenliebe nicht wenig, über Katjä diesen Sieg davonzutragen, über
Katjä, den Abgott des ganzen Hauses, den Liebling aller Menschen, deren
Launen gegenüber sogar die Fürstin machtlos war.

Katjä gestand also, daß sie die Absicht gehabt habe, eine Visitenkarte
an das Kleid der Großtante zu kleben; dann – Falstaff unter ihrem Bett
zu verbergen; dann – ihre Brille zu zerbrechen; dann – alle ihre frommen
Bücher fortzuschleppen und an deren Stelle die französischen Romane der
Mama zu legen; dann – Knallerbsen in ihren Zimmern auszustreuen; dann –
ein Spiel Karten in ihre Tasche zu stecken, usw., usw. Kurz, eine Sünde
war schlimmer als die andere. Die Großtante wurde starr und bleich und
schließlich gelb vor Ärger – bis Katjä zuletzt doch nicht mehr an sich
halten konnte, in tolles Lachen ausbrach und wie ein Wirbelwind
davonlief. Die alte Prinzessin ließ sogleich die Fürstin zu sich bitten,
und aus dem Vorfall wurde eine große Geschichte, in deren Verlauf die
Fürstin ihre Anverwandte fast unter Tränen bat, Katjä diese Unart zu
verzeihen und nicht auf einer Strafe zu bestehen, schon wegen ihres
krankhaften Zustandes nicht. Die Prinzessin jedoch wollte davon nichts
wissen und erklärte, am nächsten Tage noch das Haus zu verlassen, welche
Drohung sie erst dann zurückzog, als die Fürstin ihr auf ihr Ehrenwort
versprach, die Bestrafung nur bis zur völligen Genesung der Tochter
hinauszuschieben, dann aber dem gerechten Wunsch der alten Dame
gewissenhaft nachzukommen. Dennoch erhielt Katjä sogleich einen strengen
Verweis und mußte unten bei der Fürstin bleiben. Aber der Schelm blieb
dort nicht lange.

Als ich etwas später gleichfalls nach unten ging, traf ich sie bereits
auf der Treppe. Sie hatte die Tür aufgesperrt und rief Falstaff. Ich
aber erriet sofort, daß sie eine furchtbare Rache plante. Und wirklich:
die Sache verhielt sich folgendermaßen.

Unter allen Feinden der alten Dame gab es entschieden keinen
unversöhnlicheren als Falstaff. Er war zwar gegen niemand freundlich,
liebte die Menschen grundsätzlich nicht, war hochmütig, stolz, ja sogar
bis zur Rücksichtslosigkeit anmaßend. Er liebte, wie gesagt, niemanden,
verlangte aber von allen den schuldigen Respekt, den ihm denn auch alle
pflichtschuldigst und möglichst von weitem entgegenbrachten, wobei sie
dem Respekt noch eine Dosis Furcht beizumischen pflegten. Da traf nun
eines Tages die alte Prinzessin ein und mit einemmal veränderte sich
seine ganze Lebenslage – ihm ward schnödes Unrecht angetan: man verbot
ihm formell den Zutritt zur oberen Etage.

In der ersten Zeit war Falstaff außer sich vor Empörung über diese
Beleidigung und kratzte eine ganze Woche an der Tür, die ihm am Ende der
Treppe den Zugang versperrte. Bald jedoch erriet er, wer und was die
Veranlassung zu dieser Maßregel gewesen war, und als am nächsten Sonntag
die alte Prinzessin ihre Gemächer verließ, um sich zum Gottesdienst in
die Kirche zu begeben, da stürzte sich Falstaff mit einem Wutgeheul auf
die Arme. Nur dem glücklichen Zufall, daß mehrere Diener anwesend waren,
hatte sie es zu verdanken, daß sie der schrecklichen Rache des
gekränkten Köters entging. Falstaff wurde schmählich hinausgejagt und
von dem Tage an wurde er jedesmal ins entfernteste Zimmer gezerrt, bevor
die alte Dame ihre Gemächer verließ. Sämtliche Dienstboten erhielten die
strengsten Vorschriften. Aber dennoch fand das rachedurstige Tier zwei-
oder dreimal Gelegenheit, in das verbotene Gebiet einzubrechen. War er
erst auf der Treppe, so raste er wie der Blitz durch die ganze
Zimmerflucht bis zum Schlafgemach der Alten. Kein Dienertroß konnte ihn
dann mehr zurückhalten. Zum Glück war die Tür zu dem Schlafzimmer immer
verschlossen und Falstaff konnte weiter nichts tun, als so lange
fürchterlich heulen, bis die Diener ihn wieder fortgeschafft hatten. Die
alte Dame aber, die während des Geheuls so schrie, als werde sie von
Falstaff schon lebendig aufgefressen, wurde jedesmal krank von dem
Schreck und von der ausgestandenen Angst. Mehrmals schon hatte sie ihr
Ultimatum an die Fürstin gestellt und einmal war sie sogar so weit
gegangen – in einem Moment der Kopflosigkeit vermutlich – daß sie
erklärt hatte, entweder sie oder Falstaff müsse das Haus verlassen; aber
die Fürstin hatte in eine Trennung von Falstaff nicht eingewilligt.

Die Fürstin hatte im allgemeinen für andere nicht gerade viel Liebe
übrig, aber diesen Falstaff liebte sie, nächst den Kindern, mehr als
alles auf der Welt. Vor etwa sechs Jahren war der Fürst einmal von einem
Spaziergang mit einem kleinen jungen Hunde zurückgekehrt, einem
schmutzigen, kranken Wesen von wahrhaft mitleiderregendem Aussehen, der
aber nichtsdestoweniger eine Bulldogge reinster Rasse war. Der Fürst
hatte ihn irgendwie gerettet. Der Hund freilich benahm sich äußerst
unmanierlich und deshalb wurde er auf Wunsch der Fürstin auf den
Hinterhof geschafft und dort an die Kette gelegt. Der Fürst hatte nichts
dagegen einzuwenden. Zwei Jahre darauf nun, als die Familie den Frühling
in einem Landhause an der Newa verbrachte, fiel der kleine Alexander –
Katjäs jüngerer Bruder, gewöhnlich Ssascha genannt – in den Fluß. Die
Fürstin sah es, schrie auf und wollte sich sogleich in die Fluten
stürzen, nur mit Gewalt konnte man sie davon abhalten, denn es wäre ihr
Tod gewesen. Die Strömung aber riß schon das Kind mit sich fort und nur
das Kleidchen sah man noch an einer Stelle an der Oberfläche auftauchen.
In größter Hast versuchte man ein Boot loszubinden, aber eine Rettung
des Kindes wäre ein Wunder gewesen. Da jagte plötzlich in großen Sätzen
die riesige Bulldogge ans Ufer und sprang ins Wasser, schwamm in
mächtigen Stößen dem ertrinkenden Knaben nach, packte ihn mit dem Gebiß
und schwamm im Triumph ans Ufer zurück. Die Fürstin stürzte vor ihm
nieder, umarmte den schmutzigen, nassen Hund und küßte ihn wie von
Sinnen. Doch Falstaff, der übrigens damals noch auf den prosaischen, ja
sogar höchst plebejischen Namen „Frix“ hörte, war ein ausgesprochener
Feind aller Zärtlichkeiten und erwiderte die Liebe der Fürstin damit,
daß er sie in die Schulter biß, soweit sein Rachen nur fassen konnte.
Die Fürstin litt bis an ihr Lebensende an der Narbe, aber ihre
Dankbarkeit für die Rettung des Sohnes kannte trotzdem keine Grenzen.
Falstaff mußte in die Gemächer der fürstlichen Familie übersiedeln,
wurde gereinigt, gewaschen und bekam ein Halsband aus getriebenem
Silber. Er hielt sich fortan zumeist im Boudoir der Fürstin auf, lag
dort auf einem prachtvollen Bärenfell, und bald brachte es die Fürstin
so weit, daß sie ihn ungestraft streicheln durfte. Als sie erfuhr, daß
ihr Liebling „Frix“ hieß, war sie entsetzt über diese Geschmacklosigkeit
und sogleich mußten alle helfen, einen anderen passenderen Namen
ausfindig zu machen, wenn möglich einen klassischen, recht
altertümlichen. Hektor und Cerberus waren leider schon zu abgedroschen,
es mußte ein ganz besonderer Name sein, wie er dem Günstling der Fürstin
zukam. Nach langer vergeblicher Liebesmüh’ schlug der Fürst zu guter
Letzt, im Hinblick auf die ungeheure Gefräßigkeit der Dogge, den Namen
Falstaff vor. Der Name fand den größten Beifall und wurde gewählt.
Falstaff führte sich hinfort auch weit besser auf. Als reinblütiger
Engländer war er naturgemäß schweigsam und ernst, griff niemanden als
erster an, sondern verlangte nur, daß man sein Ruhelager auf dem
Bärenfell achtete, und ihm überhaupt die schuldige Ehrfurcht bezeuge.
Von Zeit zu Zeit jedoch bemächtigte sich seiner so etwas wie ein Spleen
und Falstaff gedachte mit bitteren Gefühlen der Tatsache, daß sein
unversöhnlicher Feind, der ihm seine souveränen Rechte genommen, immer
noch unbestraft weiterlebte. Dann schlich er heimlich bis zur Treppe,
die nach oben führte, und da er diese gewöhnlich verschlossen fand,
legte er sich dort in ihrer Nähe irgendwohin, möglichst unbemerkbar in
einen Winkel, oder wo er sonst am wenigsten auffiel, und nun wartete er
arglistig auf einen vergeßlichen Dienstboten, der die Tür vielleicht zu
schließen vergaß. Bisweilen wartete er in seiner Rachsucht drei Tage
lang vergeblich, denn es war allen aufs strengste eingeschärft, die Tür
nicht offen stehen zu lassen. Auf diese Weise hatte er zuletzt seine Wut
schon zwei Monate verbeißen müssen – vor zwei Monaten nämlich war er zum
letztenmal nach oben gerast.

„Falstaff, Falstaff!“ rief die Prinzeß, die Tür offen haltend, in den
freundlichsten Tönen Falstaff auf die Treppe bittend.

In diesem Augenblick hatte Falstaff bereits gewittert, daß die
Treppentür aufgemacht wurde und war schon im Begriff, über seinen
Rubikon zu springen. Aber die Aufforderung dazu von seiten der kleinen
Prinzeß erschien ihm dermaßen unbegreiflich, daß er im ersten Moment
entschieden seinen Ohren nicht traute. Er war schlau wie eine Katze, und
um sich den Anschein zu geben, als habe er die Fahrlässigkeit, die die
Tür offen stehen ließ, gar nicht bemerkt, ging er zum Fenster, legte die
Vorderpfoten auf das Fensterbrett und begann, das Haus gegenüber zu
betrachten ... Kurz, er benahm sich wie die argloseste Seele der Welt,
etwa wie ein gleichgültiger Spaziergänger, der für einen Augenblick
stehenbleibt, um die Architektur eines schönen Gebäudes zu bewundern.
Indessen schlug aber und wiegte sich sein Herz schon in süßester
Hoffnung. Wie groß war daher seine Überraschung, seine Freude, wie
geriet er förmlich außer sich vor Übermut, als die Tür vor ihm sogar
sperrangelweit aufgemacht wurde und er überdies noch gerufen, gebeten,
angefleht wurde, das verbotene Gebiet zu betreten und seinen gerechten
Rachedurst unverzüglich zu stillen! Er heulte auf vor Freude, zeigte die
Zähne, und raste, es war unheimlich anzuschauen, in wahrem Siegesrausch
wie der Wind an uns vorüber.

Er raste mit solcher Wucht, daß der Diener, der ihm oben in den Weg kam,
vom Stoß reichlich eine Klafter weit zur Seite flog und sich nach dem
entsprechenden Naturgesetz noch einmal in die Runde drehte. Falstaff
flog wie eine Kanonenkugel. Madame Léotard kreischte auf vor Schreck.
Doch Falstaff prallte schon an die verschlossene Tür, richtete sich hoch
auf und heulte los, daß Gott erbarm’. Als Antwort ertönte ein
fürchterliches Geschrei des alten Fräuleins. Und schon stürmte von allen
Seiten die Legion der Feinde herbei, das ganze Haus lief nach oben, und
das Ende war, daß Falstaff, der wilde Falstaff, gefesselt an allen vier
Beinen, mit einem geschickt über seinen Kopf geworfenen Maulkorb
unschädlich gemacht und schmachvoll am Lasso geschleift, wie ein
besiegter Sieger vom Felde des Kampfes nach unten zurückkehrte.

Ein Bote wurde zur Fürstin entsandt.

Diesmal war die Fürstin nicht mehr zum Entschuldigen und Begnadigen
geneigt. Aber wer sollte nun bestraft werden? Sie erriet natürlich
sofort, wer die Schuldige war, – ihr Blick fiel auf Katjä ... Die stand
bleich und schuldbewußt da. Die Arme dachte erst jetzt an die Folgen
ihres Streiches. Der Verdacht konnte aber auch auf die unschuldigen
Dienstboten fallen, und deshalb war Katjä schon im Begriff, die Wahrheit
zu gestehen.

„Du hast es getan?“ fragte die Fürstin streng.

Ich sah, wie Katjä totenblaß wurde – da trat ich schnell einen Schritt
vor und sagte mit fester Stimme:

„Ich habe Falstaff heraufgelassen ... Aus Versehen,“ fügte ich hinzu,
denn mein ganzer Mut sank zusammen vor dem drohenden Blick der Fürstin.

„Madame Léotard, bestrafen Sie sie. Aber ich wünsche, daß Sie mit dieser
Strafe ein Exempel statuieren!“ sagte die Fürstin und verließ das
Zimmer.

Ich sah Katjä an: sie stand wie getroffen, wie betäubt, ihre Arme hingen
schlaff herab, ihr erbleichtes Gesichtchen sah zu Boden.

Die einzige Strafe, die man in der Erziehung der Kinder des Fürsten
anwandte, war, daß man sie in einem leeren Zimmer einschloß. In einem
leeren Zimmer zwei Stunden allein zu sein – das ist wohl weiter nicht
schlimm. Wenn aber das Kind mit Gewalt, gegen seinen Willen,
eingeschlossen wird und man ihm erklärt, daß ihm die Freiheit genommen
ist, so ist die Strafe gar nicht so unbedeutend. Gewöhnlich wurde Katjä
oder ihr Bruder auf zwei Stunden eingesperrt. Mich sperrte man, in
Anbetracht der ganzen Ungeheuerlichkeit meines Vergehens, auf vier
Stunden ein. Ich verging fast vor Freude, als ich in mein Gefängnis
trat. Ich dachte an Katjä. Ich wußte, daß ich gesiegt hatte. Doch
anstatt der vier Stunden saß ich dort bis vier Uhr morgens. Und das
geschah auf folgende Weise.

Zwei Stunden nach meiner Einkerkerung erhielt Madame Léotard die
Nachricht, daß ihre Tochter aus Moskau eingetroffen und erkrankt sei und
sie zu sprechen wünsche. Sie fuhr sogleich hin und natürlich vergaß sie
mich darüber ganz und gar. Das Mädchen, welches nach uns zu sehen hatte,
nahm an, ich sei von Madame Léotard schon vor ihrer Abfahrt aus der Haft
entlassen worden. Katjä wurde bald darauf nach unten zur Mutter gerufen
und mußte dort bis elf Uhr abends sitzen. Als sie nach oben
zurückkehrte, war sie sehr erstaunt, mich nicht in meinem Bett zu sehen.
Nastjä half ihr beim Auskleiden, doch die Prinzeß hatte ihre Gründe,
weshalb sie sie nicht nach mir fragte. Sie legte sich hin und wartete
auf mich, denn obschon sie wußte, daß ich nur auf vier Stunden
eingesperrt war, dachte sie doch, das Kindermädchen werde mich sogleich
bringen. Nastjä aber hatte mich ganz vergessen, um so mehr, als ich mich
immer allein auskleidete. So kam es, daß ich in meinem Gefängnis
nächtigen mußte.

Es war gegen vier Uhr morgens, als mich plötzlich Lärm und Gepolter
aufweckten. Ich hatte mich auf die Diele gelegt und war eingeschlafen.
Im ersten Augenblick schrie ich auf vor Angst, doch dann unterschied ich
Katjäs Stimme, die von allen anderen am lautesten ertönte, darauf die
Stimmen von Madame Léotard, Nastjä und der Beschließerin. Endlich wurde
die Tür aufgemacht und Madame Léotard umarmte und drückte mich unter
Tränen an ihr Herz, und bat mich, ihr zu verzeihen, daß sie mich
vergessen hatte. Ich schlang meine Arme um ihren Hals und zerfloß in
Tränen. Dabei zitterte ich vor Kälte und alle Knochen taten mir weh von
der harten Diele. Ich suchte mit den Augen Katjä, sie lief aber schon in
unser Schlafzimmer zurück, und als ich hinkam, lag sie schon im Bett und
schlief oder stellte sich schlafend. Am Abend hatte sie anfangs
allerdings auf mich gewartet, war aber dann unwillkürlich und
unversehens eingeschlummert und hatte bis vier Uhr morgens geschlafen.
Nach ihrem plötzlichen Erwachen hatte sie dann alle aus den Federn
gebracht, zunächst die zurückgekehrte Madame Léotard, darauf Nastjä,
alle weiblichen Dienstboten – und zusammen mit diesen befreite sie mich.

Am nächsten Morgen wußte schon das ganze Haus von meinem Abenteuer.
Sogar die Fürstin soll gesagt haben, man sei gar zu streng mit mir
verfahren. Den Fürsten aber sah ich damals zum erstenmal wirklich
aufgebracht. Er kam in sichtlich großer Erregung gegen zehn Uhr zu uns
nach oben.

„Ich bitte Sie, Madame,“ wandte er sich an die Französin, „was soll denn
das für eine Methode sein? Wie sind Sie mit dem armen Kinde umgegangen?
Das ist ja barbarisch, wahrhaft barbarisch! einfach skythisch! Ein
armes, schwächliches Kind, und noch dazu solch ein verträumtes,
eingeschüchtertes, kleines Mädchen – und das sperren Sie in ein dunkles
Zimmer für die ganze Nacht ein! Das heißt doch das Kind geradezu dem
Verderben ausliefern! Wissen Sie denn nicht, was sie in ihrem jungen
Leben schon erlebt hat? Nein, das war von Ihnen einfach unmenschlich,
ich versichere Sie, Madame! Und wie ist eine solche Strafe überhaupt
möglich? Wer hat sich nur so etwas ausdenken können?“

Die arme Madame Léotard begann unter Tränen und in großer Verwirrung den
Sachverhalt zu erklären. Sie sagte, daß ihre Tochter angekommen sei, und
darüber habe sie mich vergessen, die Strafe an sich sei gut, wenn sie
nicht zu lange dauere, und sogar Jean Jacques Rousseau sage etwas
Ähnliches.

„Jean Jacques Rousseau, Madame! Was geht mich Jean Jacques an! Der ist
keine Autorität. Und übrigens hat Rousseau kein Recht, von Erziehung zu
sprechen, denn er hat sich von seinen eigenen Kindern losgesagt, Madame!
Jean Jacques Rousseau war ein unsittlicher Mensch, Madame!“

„Jean Jacques Rousseau! Jean Jacques ein unsittlicher Mensch! ^Prince!
Prince!^ Was sagen Sie!“

Und Madame Léotard wurde rot vor Entsetzen.

Sie war im Grunde eine prächtige Frau und nahm nicht gern etwas übel;
wenn man sich aber unterfing, an ihren Lieblingen etwas auszusetzen,
etwa den klassischen Schatten eines Corneille oder Racine im Jenseits zu
beunruhigen, oder Voltaire zu beleidigen oder Jean Jacques Rousseau
einen unsittlichen Menschen zu nennen – oh Gott! Tränen entstürzten den
Augen der guten alten Dame und sie bebte vor Erregung.

„Sie vergessen sich, ^mon prince^!“ rief sie außer sich, mit vor
Aufregung unsicherer Stimme.

Der Fürst besann sich denn auch sofort und entschuldigte sich, dann trat
er zu mir, küßte mich mit tiefem Gefühl, bekreuzte mich und verließ uns.

„^Pauvre prince!^“ seufzte Madame Léotard, die nun ihrerseits weich
wurde. Darauf setzten wir uns an den Lerntisch und der Unterricht
begann.

Die Prinzeß war aber sehr zerstreut. Bevor wir hernach zum Essen nach
unten gingen, kam sie auf mich zu, mit glühendem Gesichtchen, doch
lachenden Lippen, blieb vor mir stehen, faßte mich an den Schultern und
sagte schnell, als schäme sie sich Gott weiß aus welchem Grunde:

„Was? Hast du gestern lang genug für mich gesessen? Nach dem Essen
wollen wir heute in den Saal gehen und spielen.“

Jemand kam und die Prinzeß wandte sich blitzschnell von mir fort.

Nach dem Essen, in der Dämmerung, gingen wir beide Hand in Hand in den
großen Saal. Die Prinzeß war sehr aufgeregt und atmete schwer. Ich
dagegen war froh und glücklich wie nie zuvor.

„Willst du Ball spielen?“ fragte sie mich. „Stell’ dich hierhin!“

Sie stellte mich in die eine Saalecke, doch anstatt nun von mir
fortzugehen und den Ball mir zuzuwerfen, blieb sie drei Schritte vor mir
stehen, sah mich an, errötete, schlug die Hände vors Gesicht und warf
sich aufs Sofa. Ich machte eine Bewegung zu ihr hin – sie dachte aber,
ich wolle fortgehen.

„Geh nicht fort, Njetotschka, bleib bei mir,“ sagte sie schnell, „das
wird gleich vergehen.“

Da sprang sie auch schon auf, und über und über erglühend, mit Tränen in
den Augen, warf sie sich an meine Brust. Ihre Wangen waren feucht, ihre
Lippen wie Kirschen so rot – und die Locken in wirrem Durcheinander. Sie
küßte mich wie von Sinnen, küßte mein Gesicht, meine Augen, Lippen, den
Hals, die Hände, und dabei weinte sie, wie in einem Nervenanfall; ich
schmiegte mich fest an sie und wir umarmten uns süß und selig, wie zwei
gute Freunde oder – wie ein Liebespaar, das sich nach langer, langer
Trennung wiedersieht. Katjäs Herz pochte so stark, daß ich jeden Schlag
spürte.

Im Nebenzimmer ertönte eine Stimme: Katjä wurde zur Fürstin gerufen.

„Ach Njetotschka! Nu! Auf Wiedersehen – bis zum Abend! bis zur Nacht!
Geh jetzt nach oben und wart’ auf mich!“

Sie küßte mich noch ein letztes Mal leise, unhörbar, fest, und dann
eilte sie dem Ruf nach. Ich lief nach oben, sinnlos, trunken, wie
erlöst, warf mich auf den Diwan, preßte das Gesicht ins Kissen und
weinte vor Entzücken. Mein Herz schlug so heftig, als wolle es die Brust
sprengen. Ich weiß nicht, wie die Stunden bis zum Abend vergingen.
Endlich schlug es elf und ich ging zu Bett. Die Prinzeß kehrte erst um
zwölf zurück; sie lächelte mir von ferne zu, sagte aber kein Wort.
Nastjä entkleidete sie und schien es wie absichtlich langsam zu tun.

„Schneller, schneller, Nastjä!“ drängte Katjä.

„Was ist denn das, Prinzeßchen, sind wohl die Treppe heraufgelaufen, daß
das Herzchen so schlägt?“ fragte Nastjä.

„Ach, mein Gott, Nastjä! Wie kann man so langweilig sein! Schneller,
schneller doch!“ Und Prinzeßchen stampfte geärgert mit dem Fuß auf.

„Ach, was für’n Herzchen!“ sagte Nastjä und küßte das Füßchen der
Prinzeß, von dem sie gerade den Strumpf abzog.

Endlich war alles beendet, die Prinzeß lag im Bett und Nastjä verließ
uns. Im Nu sprang Katjä aus dem Bett und eilte zu mir. Ich empfing sie
mit einem Freudenschrei.

„Komm zu mir, komm in mein Bett!“ sagte sie schnell und selbst schon im
Begriff, mich aus dem Bett zu heben. Einen Augenblick später lagen wir
beide in ihrem Bett, umschlangen uns fest und schmiegten uns aneinander.
Die Prinzeß erstickte mich fast mit ihren Küssen.

„Ich weiß doch, wie du mich geküßt hast, wenn du glaubtest ich
schliefe!“ flüsterte sie, über und über errötend.

Ich weinte.

„Njetotschka!“ flüsterte Katjä unter Tränen, „du mein Engel, ich hab’
dich doch schon so lange, so lange schon lieb! Weißt du, seit wann?“

„Nein, seit wann?“

„Als Papa mir befahl, dich um Verzeihung zu bitten, nachdem du deinen
Papa verteidigt hattest, Njetotschka ... Du mein Wai–sen–kindchen!“
sagte sie gedehnt und wieder bedeckte sie mich mit Küssen. Sie weinte
und lachte zugleich.

„Ach, Katjä!“

„Nu was? – nu – was?“

„Warum hast du so lange ... so lange ...“ ich sprach nicht zu Ende. Wir
hielten uns krampfhaft umschlungen und sprachen wohl drei Minuten lang
kein Wort.

„Hör’ mal, was hast du denn alles von mir gedacht?“ fragte die Prinzeß.

„Ach, ich hab’ so vieles gedacht, Katjä! Ich habe nur an dich gedacht,
Tag und Nacht.“

„Und in der Nacht von mir gesprochen, das habe ich gehört.“

„Wirklich?“

„Und sogar geweint!“

„Siehst du! – warum warst du denn so stolz?“

„Ich war doch dumm, Njetotschka! Das kommt so zuweilen über mich und
dann bin ich machtlos. Ich war die ganze Zeit böse auf dich.“

„Weshalb?“

„Weil ich selber schlecht war. Anfangs deshalb, weil du besser warst als
ich. Dann deshalb, weil Papa dich mehr liebte! Papa aber ist ein guter
Mensch, Njetotschka. Nicht wahr?“

„Ach ja, das ist er!“ rief ich ganz begeistert.

„Ja, ein guter Mensch,“ wiederholte Katjä ernsthaft. „Aber was soll ich
mit ihm anfangen? Er ist immer so ... Nun, und dann bat ich dich um
Verzeihung und begann dabei fast zu weinen, und darüber ärgerte ich mich
wieder.“

„Das sah ich, das sah ich, daß du dem Weinen nahe warst.“

„Schweig, Dummchen, weinst selbst jeden Augenblick!“ rief Katjä und
hielt mir den Mund zu. „Weißt du, ich wollte dich furchtbar lieben, dann
aber wollte ich dich plötzlich wieder so hassen und ich haßte dich,
haßte dich so!“ ...

„Weswegen denn?“

„Ja so – ich war bös auf dich. Ich weiß nicht, weshalb! Dann aber sah
ich, daß du ohne mich nicht mehr leben konntest, und da dacht’ ich:
wart’, ich werde sie doch noch quälen, die Schändliche!“

„Ach, Katjä!“

„Mein Seelchen!“ rief sie, meine Hand küssend, „und dann, weißt du,
wollte ich mit dir nicht mehr sprechen, ich wollte nicht, für keinen
Preis! Und weißt du noch, wie ich Falstaff streichelte?“

„Ach du, du Unerschrockene!“

„Aber wie ich mich _fürchtete_!“ sagte sie und schüttelte sich. „Doch
weißt du auch, warum ich zu ihm ging?“

„Warum?“

„Ja, weil du zuschautest. Als ich sah, daß du mich ansahst ... Ach! – da
war mir alles andere gleich – ich ging! Hab’ ich dich erschreckt, was?
Fürchtetest du dich für mich?“

„Entsetzlich!“

„Ich weiß. Aber wie ich dann froh war, daß Falstaff abtrollte! Mein
Gott, und wie mich dann plötzlich die Angst packte, als er aus dem
Zimmer war! Solch ein Scheu–sal!“

Und die Prinzeß schüttelte sich wieder und lachte nervös, indes ein
Gruseln sie faßte. Plötzlich erhob sie ihr heißes Köpfchen und sah mich
lange aufmerksam an. Zwei Tränchen glänzten noch wie Diamanten an ihren
langen Wimpern.

„Nu, was ist denn eigentlich an dir, daß ich dich so liebgewonnen habe?
Du! – bleich bist du, die Haare blond, selbst solch ein Dummchen, das
immer gleich weint, die Augen blau ... Du mein Wai–sen–kindchen!“

Und Katjä umfing mich wieder, um mich von neuem mit Küssen zu bedecken.
Einige ihrer Tränen fielen auf meine Wangen. Sie war tief gerührt.

„Und wie ich dich doch liebte! – aber immer dachte ich: nein und nein,
ich sag’s ihr doch nicht! Ich war ja so eigensinnig! Was fürchtete ich
denn eigentlich, weshalb schämte ich mich vor dir? Sieh doch, wie gut
wir es jetzt haben!“

„Katjä! Es schmerzt mich so!“ sagte ich außer mir vor Freude. „Es bricht
mir das Herz entzwei!“

„Ja, Njetotschka! Hör’ weiter ... Ja aber, wart’, sag’ zuerst, wer hat
dir den Namen Njetotschka gegeben?“

„Mama!“

„Wirst du mir von deiner Mama erzählen?“

„Alles, alles!“ versprach ich begeistert.

„Aber wohin hast du meine zwei Taschentücher gesteckt, die mit den
Spitzen? Und mein Haarband, warum hast du das versteckt? Ach du, schämst
du dich nicht! Ich weiß doch alles!“

Ich lachte und errötete tief.

„Nein, da dachte ich doch: wart’, da werd’ ich sie noch ein bißchen
quälen, mag sie warten. Manchmal aber dachte ich wieder: aber ich lieb’
sie ja gar nicht, ich kann sie nicht ausstehen! Du aber warst immer so
still, wie so ein frommes Lämmchen! Und wie ich fürchtete, daß du mich
für dumm halten könntest! Du bist klug, Njetotschka, du bist doch sehr
klug, nicht?“

„Ach, pfui Katjä, was fällt dir ein!“ rief ich fast beleidigt.

„Nein, du bist klug,“ sagte Katjä in bestimmtem und ernstem Ton, „das
weiß ich. Nur, weißt du, eines Morgens stand ich auf und hatte dich
plötzlich so lieb, ganz furchtbar lieb! Die ganze Nacht hatte mir nur
von dir geträumt. Da dachte ich: ich werde zu Mama übersiedeln und ganz
dort wohnen. Ich will sie nicht lieben, ich will nicht! Als ich aber
dann am Abend unten bei Mama einschlief, da dachte ich: wenn sie jetzt
käme, wie in der vorigen Nacht – doch du kamst nicht. Und wieviel Mühe
es mich da kostete, zu tun als schlafe ich ganz ruhig! Ach, wie dumm wir
waren, Njetotschka!“

„Aber warum wolltest du mich denn nicht lieben?“

„So ... Ach, was sage ich! – ich hab’ dich doch die ganze Zeit geliebt!
Immer hab’ ich dich geliebt. Erst später kam das – daß ich dich nicht
ausstehen konnte. Ich dachte, ach, ich werde sie einmal totküssen oder
totkneifen! Da hast du’s nun, du Dummchen!“

Und sie kniff mich.

„Aber erinnerst du dich noch, wie ich dir deine Schuhschleife band?“

„O ja!“

„O ja! – war’s dir angenehm? Weißt du, ich sah dich an: wie lieb sie
doch ist, dachte ich, halt, ich werd’ ihr die Schleife binden – was sie
dann wohl denken wird? Und da hatte ich gleich selbst solch ein gutes
Gefühl. Und wirklich, ich wollte dich auf der Stelle abküssen ... Aber
ich küßte dich doch nicht. Dann aber fand ich das alles so komisch, so
schrecklich komisch! Und auf dem ganzen Wege, während unseres
Spazierganges, glaubte ich, jetzt, im nächsten Augenblick nicht mehr an
mich halten zu können und laut auflachen zu müssen. Ich konnte dich
nicht ansehen, so komisch war’s. Und wie froh ich doch war, daß du für
mich ins Gefängnis gingst!“ – Das leere Zimmer wurde „das Gefängnis“
genannt. – „Und hattest du Angst?“

„Ach, fürchterlich!“

„Ja, und weißt du, ich freute mich nicht nur darüber, daß du vor Mama
meine Schuld auf dich genommen hattest, sondern noch viel mehr darüber,
daß du für mich im Gefängnis sitzen mußtest! Ich dachte: jetzt sitzt sie
da und weint, ich aber – wie habe ich sie lieb! Morgen werde ich sie so
küssen, so küssen! Und du tatest mir doch kein bißchen leid, bei Gott,
du tatest mir gar nicht leid, obschon ich auch etwas weinte.“

„Ich aber, siehst du, habe nicht geweint, ich war dir zum Trotz gerade
sehr froh!“

„Hast nicht geweint? Ach, du Böse!“ rief die Prinzeß und saugte sich an
mir fest mit ihren weichen Lippen.

„Katjä, Katjä! Mein Gott, wie bist du reizend!“

„Nicht wahr? Aber jetzt mach’ mit mir, was du willst! Schlag mich, kneif
mich! Bitte, kneif mich! Täubchen, ach, nu, so kneif mich doch!“

„Wildfang!“

„Nu, und was noch?“

„Dummchen ...“

„Und was noch?“

„Küss’ mich!“

Und wir küßten uns, weinten, lachten, unsere Lippen waren schon
geschwollen vom Küssen.

„Njetotschka! Erstens, höre: du wirst jetzt immer zu mir schlafen
kommen. Küßt du gern? Dann werden wir uns auch küssen. Und dann: ich
will nicht, daß du so langweilig bist. Warum langweiltest du dich? Wirst
du mir das erzählen, ja?“

„Alles werde ich dir erzählen. Aber jetzt bin ich nicht mehr traurig,
sondern lustig!“

„Nein, wart’ nur, bald wirst du auch so rote Wangen haben wie ich! Ach,
wenn doch der Morgen schneller käme! Willst du schon schlafen,
Njetotschka?“

„Nein.“

„Nu, dann, laß uns erzählen!“

Und wir sprachen wohl gute zwei Stunden. Gott weiß was wir da alles
zusammenphantasierten. Zuerst entrollte Katjä alle ihre Zukunftspläne
und teilte mir mit, daß sie ihren Papa am meisten von allen liebte, fast
sogar mehr als mich. Dann kamen wir überein, daß Madame Léotard eine
gute Frau und gar nicht streng war. Dann setzten wir sogleich fest, was
wir am nächsten und übernächsten Tage tun würden, und überhaupt
bestimmten wir unser Leben etwa schon für zwanzig Jahre im voraus. Für
die allernächste Zukunft entwarf Katjä folgenden Plan: an einem Tage
würde sie mir befehlen und ich alles ausführen, und am nächsten Tage
umgekehrt, dann würde ich befehlen und sie widerspruchslos gehorchen;
und dann würden wir beides zugleich tun, also uns gegenseitig Befehle
erteilen; und dann würden wir es einmal absichtlich so machen, daß wir
in Streit gerieten, nur so zum Schein, und dann uns schnell wieder
versöhnen. Mit einem Wort, uns erwartete schier unendliches Glück.
Schließlich wurden wir aber doch müde. Meine Augen fielen mir schon zu.
Katjä lachte mich aus, nannte mich eine Schlafmütze und – schlief selbst
noch vor mir ein.

Am nächsten Morgen erwachten wir beide zugleich, küßten uns schnell,
denn wir hörten Schritte, und ich konnte gerade noch rechtzeitig in mein
Bett schlüpfen, bevor Nastjä ins Zimmer trat.

Den ganzen Tag wußten wir nicht, was wir miteinander anfangen sollten
vor Freude. Wir liefen aus einem Zimmer ins andere und versteckten uns
fast die ganze Zeit vor den anderen, denn fremde Augen fürchteten wir am
meisten. Zu guter Letzt begann ich ihr meine Lebensgeschichte zu
erzählen. Katjä war geradezu erschüttert.

„Du, du Böse! Warum hast du mir das alles nicht früher erzählt? Ich
hätte dich dann gleich so lieb gehabt, so lieb! Doch sag’: haben dich
die Jungen auf der Straße schmerzhaft geschlagen?“

„O ja. Und ich hatte schreckliche Angst vor ihnen!“

„Pfui, die schändlichen! Weißt du, Njetotschka, ich habe selbst einmal
gesehen, wie ein Knabe einen anderen auf der Straße schlug. Weißt du,
morgen werde ich heimlich Falstaffkas Hundepeitsche mitnehmen und wenn
mir noch solch einer begegnet, dann werde ich ihn so hauen, so hauen!“

Ihre Augen blitzten vor Zorn.

Wir erschraken, wenn jemand ins Zimmer trat; wir fürchteten, beim Küssen
überrascht zu werden, denn wir küßten uns an jenem Tage wenigstens
hundertmal. So vergingen der erste und der zweite Tag. Ich fürchtete
schon, zu sterben vor Entzücken. Das Glücksgefühl war so mächtig, daß es
mir den Atem raubte. Doch unser Glück sollte nicht von langer Dauer
sein.

Madame Léotard, die Katjä auf Wunsch der besorgten Fürstin nicht aus den
Augen lassen sollte, beobachtete uns drei Tage mit wachsender
Verwunderung und in dieser Zeit bemerkte sie manches, was ihr zu denken
gab. Am dritten Tage ging sie zur Fürstin und berichtete gewissenhaft,
was ihr an uns aufgefallen war: daß wir beide wie außer Rand und Band
seien, schon drei Tage uns nicht voneinander trennten – uns jeden
Augenblick küßten, weinten, lachten und unaufhörlich plauderten, was sie
früher nie bemerkt habe: sie wisse gar nicht, welchem Einfluß das
zuzuschreiben sei; aber es wolle ihr scheinen, daß die Prinzeß sich in
einem krankhaften Zustande befinde, und deshalb meine sie, es wäre
vielleicht besser, wir kämen seltener zusammen.

„Das habe ich schon längst gedacht,“ versetzte die Fürstin. „Ich ahnte
es, daß man von dieser sonderbaren Waise nur Scherereien haben werde!
Was man mir von ihr erzählt hat, von ihrem früheren Leben, – ist
geradezu haarsträubend, ist einfach entsetzlich! Sie hat augenscheinlich
Einfluß auf Katjä. Sie sagen, Katjä liebe sie sehr?“

„Ich glaube, sogar unsinnig!“

Die Fürstin errötete vor Ärger. Sie war schon damals eifersüchtig auf
die Liebe ihrer Tochter zu mir.

„Das ist mir doch zu unnatürlich,“ sagte sie. „Früher waren sie einander
so fremd, und ich muß gestehen, das freute mich. So klein dieses Mädchen
auch noch ist, aber ich bin vor nichts sicher. Sie verstehen mich? Sie
hat schon mit der Muttermilch alles das eingesogen, ihre Angewohnheiten
oder vielleicht sogar ihre Neigungen. Ich begreife nicht, was der Fürst
an ihr gefunden hat! Tausendmal habe ich ihm schon den Vorschlag
gemacht, sie in einer Pension unterzubringen.“

Madame Léotard versuchte nun, mich zu verteidigen, aber die Fürstin
hatte ihren Entschluß bereits gefaßt. Katjä wurde nach unten gerufen und
dort sagte man ihr, daß sie mich nicht vor dem nächsten Sonntag
wiedersehen dürfe, also erst nach einer ganzen Woche.

Ich erfuhr das erst am späten Abend und Entsetzen erfaßte mich. Ich
dachte an Katjä und fürchtete, sie werde unsere Trennung nicht
überleben. Ich geriet außer mir und meine Verzweiflung war so groß, daß
ich in der Nacht krank wurde. Am nächsten Morgen kam der Fürst zu mir
und sagte mir leise, als wir allein blieben, ich solle ruhig auf ein
baldiges Wiedersehen hoffen. Leider waren aber seine Bemühungen
vergeblich, denn die Fürstin blieb bei ihrem Entschluß. Meine
Verzweiflung dagegen wuchs mit jeder Stunde und der Schmerz würgte mich,
daß ich an ihm zu ersticken glaubte.

Am dritten Morgen brachte mir Nastjä einen Zettel von Katjä. Sie schrieb
mir mit dem Bleistift auf einem abgerissenen Stück Papier in
fürchterlichen Krähenfüßen folgendes:

„Ich liebe dich unsinnig. Ich sitze bei ^maman^ und denke nur darüber
nach, wie ich fortlaufen könnte. Ich werde unbedingt fortlaufen, das
schwöre ich dir, und deshalb weine nicht. Schreib’ mir, wie du mich
liebst. Ich aber umarme dich die ganze Nacht im Schlaf, und habe
furchtbar gelitten, Njetotschka. Ich schicke dir Konfekt. Adieu.“

Ich antwortete auf demselben Wege. Den ganzen Tag las ich immer wieder
Katjäs Brief und weinte. Madame Léotard quälte mich mit ihrer
Zärtlichkeit. Am Abend erfuhr ich, daß sie zum Fürsten gegangen war und
gesagt hatte, daß ich sicherlich zum drittenmal krank werden würde, wenn
ich Katjä nicht wiedersähe, und daß sie es bereue, die Fürstin
beunruhigt zu haben. Ich fragte Nastjä, was Katjä mache. Sie sagte,
Katjä weine nicht, sei aber sehr bleich.

Am nächsten Morgen flüsterte Nastjä mir zu:

„Gehen Sie ins Kabinett des Fürsten. Aber gehen Sie über die Treppe, die
rechts nach unten führt.“

Alles in mir wurde lebendig in froher Vorahnung. Atemlos vor Erwartung
lief ich nach unten und klinkte die Tür auf zum Kabinett. Es war niemand
da. Plötzlich wurde ich hinterrücks krampfhaft umschlungen und Katjä
küßte mich leidenschaftlich. Lachen, Tränen ... Im Nu riß sie sich aus
meinen Armen, lief zum Vater, kletterte wie eine Eichkatze an ihm empor
bis auf seine Schulter, konnte sich aber dort nicht halten und sprang
auf den Diwan. Das brachte auch den Fürsten so aus dem Gleichgewicht,
daß er sich setzen mußte. Katjä lachte unter Tränen.

„Papa, was bist du für ein guter Papa!“

„Wildfang! Ihr seid mir beide gut! Was ist denn mit euch geschehen?
Woher diese Freundschaft? Woher diese Liebe?“

„Ach, frag’ nicht, Papa, davon verstehst du nichts!“

Und wir hielten uns wieder fest umschlungen.

Ich betrachtete sie bang: sie hatte abgenommen in den drei Tagen. Die
frische Farbe ihres Gesichtchens war einer zarten Blässe gewichen. Da
mußte ich weinen vor Leid.

Nastjä klopfte an die Tür – ein Zeichen, daß Katjäs Abwesenheit der
Fürstin aufgefallen war. Katjä wurde leichenblaß.

„Laßt es jetzt genug sein, Kinder. Wir werden hier jeden Tag
zusammenkommen. Nehmt jetzt Abschied für heute und Gott mit euch!“ sagte
der Fürst.

Er war sichtlich gerührt, da er unseren Schmerz sah; doch es sollte
anders kommen. Am Abend desselben Tages kam aus Moskau die Nachricht,
daß der kleine Ssascha schwer erkrankt sei und fast schon in den letzten
Zügen liege. Die Fürstin beschloß sofort, am nächsten Morgen die Reise
anzutreten. Das geschah alles so schnell, daß ich es erst eine Minute
vor ihrer Abfahrt erfuhr. Daß wir uns überhaupt noch verabschieden
konnten, Katjä und ich, hatten wir nur dem Fürsten zu danken, denn die
Fürstin hatte davon nichts wissen wollen. Die Prinzeß war wie
zerschlagen. Ich lief wie von Sinnen nach unten und warf mich an ihre
Brust. Der Reisewagen wartete schon vor dem Portal. Katjä sah mich an
und plötzlich wurde sie ohnmächtig. Ich bedeckte sie mit Küssen. Die
Fürstin bemühte sich erschrocken um sie und gab ihr Essenzen zu riechen.
Endlich schlug sie die Augen auf und ihre erste Bewegung war, daß sie
mich wieder umarmte.

„Leb’ wohl, Njetotschka!“ sagte sie plötzlich und sie versuchte zu
lächeln, aber es sprach nur eine unsagbare Rührung aus ihrem
Gesichtchen. „Du, sieh nicht auf mich; das ist nur so; ich bin nicht
krank, nach einem Monat komme ich wieder. Dann werden wir uns nie mehr
trennen.“

„Genug, Katjä,“ sagte die Fürstin ruhig, „fahren wir!“

Aber die Prinzeß kehrte noch einmal zurück. Noch einmal umfing sie mich
krampfhaft.

„Mein Leben!“ konnte sie mir noch zuflüstern, „auf Wiedersehen!“

Wir küßten uns zum letztenmal und die Prinzeß verließ mich – für lange,
sogar für sehr lange Zeit. Es vergingen acht Jahre, bis wir uns
wiedersahen!

                   *       *       *       *       *

Ich habe von dieser Episode meiner Kindheit mit Absicht so ausführlich
erzählt. Unsere Lebensgeschichten sind eben untrennbar verbunden. Ihr
Roman – ist auch mein Roman. Es war mir wie vom Schicksal bestimmt, sie
kennen zu lernen, und ebenso ihr, mich zu finden. Und überdies konnte
ich der Lust nicht widerstehen, mich nochmals in meine Kindheit zu
versetzen ... Jetzt wird meine Erzählung schneller fortschreiten. Mein
Dasein sank damals wie in eine große Stille und erst als ich mein
sechzehntes Jahr bereits vollendet hatte, war es mir, als erwachte ich
wieder zu einem wirklichen Leben ...

Doch zuvor muß ich noch ein paar Worte über die erste Zeit nach der
Abfahrt der fürstlichen Familie sagen.

Ich blieb mit Madame Léotard zurück.

So vergingen zwei Wochen. Dann traf aus Moskau ein Abgesandter des
Fürsten ein und brachte die Nachricht, daß die Rückkehr nach Petersburg
auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben worden sei. Da nun Madame Léotard
aus Gründen, die ihre eigene Familie angingen, nicht nach Moskau
übersiedeln konnte, so hatte sie im Hause des Fürsten nichts mehr zu
tun. Sie blieb aber in derselben Familie, indem sie zur ältesten Tochter
der Fürstin übersiedelte.

Ich bin bisher noch nicht auf Alexandra Michailowna zu sprechen gekommen
– wohl deshalb, weil ich sie bis dahin nur ein einziges Mal gesehen
hatte. Sie war die Tochter der Fürstin aus deren erster Ehe. Die
Herkunft und Verwandtschaft der Fürstin waren etwas dunkel. Ihr erster
Mann war ein Gutspächter gewesen. Als sie dann zum zweitenmal geheiratet
hatte, wußte sie nicht, was sie mit ihrer ältesten Tochter anfangen
sollte. Auf eine glänzende Partie konnte sie nicht hoffen. Die Mitgift
war mäßig; aber schließlich, vier Jahre vor meiner Aufnahme, hatte man
für sie dennoch einen reichen Mann, der schon einen bedeutenden Posten
bekleidete, gefunden. Alexandra Michailowna kam in neue
Gesellschaftskreise und sah um sich eine andere Welt. Die Fürstin
besuchte ihre Tochter im ganzen nur zweimal im Jahre. Der Fürst, ihr
Stiefvater, besuchte sie dagegen in jeder Woche und nahm dann auch Katjä
mit. In der letzten Zeit sah die Fürstin es sehr ungern, daß Katjä zur
Schwester ging; da brachte der Fürst sie oft heimlich hin. Katjä
vergötterte die Schwester, obwohl sie ganz entgegengesetzte Charaktere
waren.

Alexandra Michailowna war damals zweiundzwanzig Jahre alt, still, zart,
sehr liebreich. Ja es war, wie wenn ein heimlicher Kummer, ein
verborgener Schmerz ihre schönen Züge verklärte. Und dennoch hatte ich
die Empfindung, als paßten der Ernst und die Trauer nicht gut zu ihrem
schönen lieben Antlitz, ganz wie etwa einem Kinde Trauer nicht steht.
Man konnte sie nicht ansehen, ohne sogleich tiefe Sympathie für sie zu
empfinden. Sie war fast durchsichtig bleich und wie es hieß, zur
Schwindsucht geneigt. Sie lebte sehr zurückgezogen und liebte weder bei
sich viele Gäste zu empfangen, noch selbst Besuche zu machen. Ihr Leben
war das einer Einsiedlerin. Kinder hatte sie zunächst nicht. Ich weiß
noch, sie kam einmal zu uns gefahren, um mit Madame Léotard zu sprechen,
und sie trat damals zu mir und küßte mich mit tiefem Gefühl. Mit ihr war
ein hagerer, schon älterer Herr gekommen. Ihm traten die hellen Tränen
in die Augen, als er mich sah. Das war der Geigenvirtuose B. ...
Alexandra Michailowna legte den Arm um mich und fragte, ob ich bei ihr
leben und ihr Töchterchen sein wolle. Ich sah ihr ins Gesicht und
erkannte in ihr die Schwester meiner Katjä, und ich umarmte sie mit
einem dumpfen Schmerz im Herzen und empfand wieder, wie groß meine
Einsamkeit war ... Ganz, als hätte mir wieder jemand gesagt: „Du bist
eine Waise!“ Darauf gab mir Alexandra Michailowna einen Brief des
Fürsten, den ich mit unterdrücktem Schluchzen las. Der Fürst schrieb in
Liebe und Güte, Gottes Segen möge auf mir ruhen und ich möge in dem
langen Leben, das mir noch bevorstehe, glücklich sein. Zum Schluß bat er
mich noch, auch seine andere Tochter zu lieben. Katjä schrieb mir
gleichfalls einige Zeilen. Sie schrieb, daß sie sich nun gar nicht mehr
von der Mutter trenne.

Bevor dieser Tag zu Ende ging, kam ich also wieder in ein anderes Haus,
zu anderen Menschen, nachdem ich mein Herz von neuem von allem hatte
losreißen müssen, was mir schon lieb und traut geworden war. Müde, wie
zerschlagen, betrat ich das neue Heim. Mein Herz blutete ...

Und so beginnt in meiner Erzählung denn jetzt ein neuer Abschnitt meines
Lebens.


                                  VI.

Mein neues Leben verlief so still und ruhig, als hätte ich unter
Einsiedlern gelebt ... Ich brachte bei ihnen mehr als acht Jahre zu und
erinnere mich nicht, daß in dieser Zeit, abgesehen von einigen wenigen
pflichtschuldigen Diners, jemals eine größere Gesellschaft im Hause
gewesen wäre oder daß Verwandte, Freunde und Bekannte sich bei uns
zusammengefunden hätten. Mit Ausnahme von zwei oder drei Personen, die
hin und wieder einmal vorsprachen – z. B. der Künstler B., der ein guter
Freund des Fürsten H. und auch seiner Stieftochter Alexandra Michailowna
war, und die Herren, die fast ausschließlich in Amtsangelegenheiten zu
dem Gemahl Alexandra Michailownas kamen – kam so gut wie niemand zu uns.
Alexandra Michailownas Mann war beständig von seinem Dienst in Anspruch
genommen, und konnte sich nur selten für eine kurze Zeit freimachen,
die er dann gleichmäßig zwischen dem Familienleben und den
gesellschaftlichen Pflichten teilte. Hervorragende Verbindungen, die er
unmöglich vernachlässigen konnte, zwangen ihn ziemlich oft, die
Gesellschaft an sich zu erinnern. Fast überall hielt sich das Gerücht
von seinem schrankenlosen Ehrgeiz, doch da er sich gleichzeitig des
Rufes erfreute, ein tüchtiger, ernster Mensch zu sein, da er überdies,
wie bereits erwähnt, schon ein hohes Amt bekleidete, und Glück und
Erfolg ihn wie es schien von selbst aufsuchten, so war die Gesellschaft
weit davon entfernt, ihm ihre Sympathie zu entziehen. Ja, noch mehr als
das: man brachte ihm beständig und ganz allgemein eine gewisse besondere
Teilnahme entgegen, die man dagegen seiner Frau vollständig versagte.
Alexandra Michailowna lebte in völliger Einsamkeit: aber es war, als sei
ihr das nur angenehm, ja als freue sie sich sogar darüber. Ihr stiller
Charakter war gleichsam geschaffen für dieses stille Leben.

An mir hing sie mit ganzer Seele, sie liebte mich wie ihr eigenes Kind,
und ich, deren Tränen ob der Trennung von Katjä noch nicht versiegt
waren, – ich, mit meinem wehen Herzen, ich warf mich wie erlöst in ihre
mütterlich zärtliche Umarmung. Und vom ersten Tage an hat meine glühende
Liebe zu ihr nie aufgehört, noch jemals etwas von ihrer Glut eingebüßt.
Sie war mir Mutter, Schwester, Freund, sie ersetzte mir alles und hegte
und pflegte meine Jugend. Hinzu kam, daß ich bald erriet und
herausfühlte, daß ihr Geschick durchaus nicht so glücklich war, wie man
es auf den ersten Blick wohl glauben konnte, wenn man nach ihrem stillen
und ruhigen äußeren Leben urteilte, nach ihrer scheinbaren Freiheit und
ihrem guten, stillen Lächeln, das so oft ihr liebes Gesicht verklärte.
Ich entdeckte vielmehr im Laufe meiner Entwicklung fast täglich etwas
Neues im Leben meiner Wohltäterin, etwas, das in langsamer Qual von
meinem Herzen erraten wurde, und mit dieser traurigen Erkenntnis wuchs
zugleich meine Liebe zu ihr und mit der Liebe meine Anhänglichkeit.

Ihr Charakter war schüchtern und weich. Wenn man ihre reinen, klaren
Gesichtszüge sah, die förmlich Ruhe ausströmten, dann hätte man es auf
den ersten Blick nicht für möglich gehalten, daß irgendeine Unruhe in
ihrem reinen Herzen wohnen konnte. Es war undenkbar, daß sie auch nur
irgendeinen Menschen nicht hätte lieben können; das Mitleid siegte stets
in ihrem Herzen, selbst über Ekel und Abscheu – indes war sie aber nur
sehr wenigen Freunden zugetan und lebte auch innerlich in vollständiger
Einsamkeit ... Ihrer Natur nach war sie leidenschaftlich und empfänglich
für alle Eindrücke, gleichzeitig aber war’s, als sei ihr selbst bange
vor ihrer Empfänglichkeit und als bewache sie deshalb ihr Herz jeden
Augenblick, damit es sich nicht vergäße – und wär’s auch nur in Träumen.
Es fiel mir auf, daß ihr bisweilen in den lichtesten Stunden mit einem
Male Tränen in die Augen traten: als sei plötzlich eine Erinnerung in
ihrer Seele aufgetaucht, die Erinnerung an etwas, was ihr Gewissen
qualvoll peinigen mochte und ewig wie auf der Lauer lag, um im
Augenblick des Glücks plötzlich hervorzuspringen und das Glück feindlich
zu verscheuchen. Und je ruhiger, glücklicher, zufriedener sie war, um so
näher, schien es, war der Kummer, um so unfehlbarer erschienen plötzlich
die Tränen – wie ein Anfall, der über sie kam. Ich entsinne mich keines
einzigen vollkommen ruhigen Monats in den ganzen acht Jahren. Ihr Mann
liebte sie anscheinend sehr, und sie – sie vergötterte ihn. Aber schon
auf den ersten Blick schien es einem, als gäbe es etwas
Unausgesprochenes zwischen ihnen. Es mußte da irgendein Geheimnis walten
– ein Geheimnis in ihrer Vergangenheit – wenigstens geschah es, daß ich
schon vom ersten Tage an etwas Ähnliches vermutete ...

Ihr Mann machte auf mich, als ich ihn zum erstenmal sah, den Eindruck
eines finsteren Menschen. Diesen ersten Eindruck empfing ich noch als
Kind und deshalb konnte ihn auch nichts verwischen. Äußerlich war er ein
hagerer Mensch von hohem Wuchs, und man hatte die Empfindung, als
verberge er mit Absicht seinen Blick hinter den großen, grünen Gläsern
seiner Brille. Er war trocken, nichts weniger als mitteilsam, und selbst
unter vier Augen im Verkehr mit seiner Frau fand er sozusagen niemals
ein rechtes Thema zur Unterhaltung. Offenbar war ihm die Gegenwart von
Menschen lästig. Mich beachtete er überhaupt nicht; dagegen fühlte ich
mich jedesmal, wenn wir abends im Salon Alexandra Michailownas zum Tee
zusammenkamen, während seiner Anwesenheit äußerst ungemütlich. Heimlich
beobachtete ich Alexandra Michailowna, und zu meinem Kummer bemerkte
ich, daß sie dann jedes ihrer Worte erwog und über jede Bewegung
nachdachte. Sie aber erbleichte, wenn sie sah, daß ihr Mann schroffer
oder unfreundlicher wurde; oder sie errötete auch wohl plötzlich, als
habe sie aus einem seiner Worte irgendeine Anspielung oder einen Vorwurf
herausgehört. Ich fühlte es, daß ihr das Zusammensein mit ihm schwer
fiel, und doch schien sie, wenigstens soweit sich das nach äußeren
Anzeichen beurteilen ließ, keinen Augenblick ohne ihn leben zu können.
Mir fiel besonders ihre ungeheure Aufmerksamkeit ihm gegenüber auf: kein
Wort, keine Bewegung wurde von ihr überhört oder übersehen. Es war, als
wolle sie nach allen Kräften es ihm recht machen und als fühle sie, daß
ihr das dennoch nicht gelang. Ja, es war fast, als erbettele sie von ihm
seinen Beifall: ein flüchtiges Lächeln, ein halbes freundliches Wort von
ihm – und sie war glücklich ... glücklich wie ein Mädchen in der ersten
Zeit einer noch schüchternen, noch hoffnungslosen Liebe. Sie ging mit
ihrem Manne um, so vorsichtig, wie mit einem Schwerkranken. Er aber sah
auf sie, wie mir schien, mit einem sie drückenden und quälenden Mitleid
herab. Sobald er mit einem Händedruck von ihr Abschied genommen und sich
wieder in sein Kabinett zurückgezogen hatte, war sie gleich wie
verwandelt. Ihre Bewegungen, ihre Unterhaltung, alles an ihr wurde
sofort viel freier, heiterer, sicherer. Nur eine gewisse Verwirrung war
an ihr noch lange nach jedem Wiedersehen mit ihm bemerkbar. Sie fing
dann gleich an, sich jedes von ihm gesprochene Wort ins Gedächtnis
zurückzurufen, wie um es nochmals zu prüfen. Oft wandte sie sich dann
auch an mich mit der Frage, ob sie sich nicht verhört habe: hatte Pjotr
Alexandrowitsch sich so oder so ausgedrückt? – und als suche sie noch
nach einem anderen Sinn in dem, was er gesagt! Erst nach etwa einer
Stunde wurde sie dann wieder sie selbst, als habe sie sich nun endlich
davon überzeugt, daß er mit ihr vollkommen zufrieden sei und daß sie
sich grundlos beunruhige. Dann wurde sie plötzlich froh und heiter und
gut, küßte mich, lachte mit mir oder setzte sich an den Flügel und
spielte, was ihr gerade einfiel. Oft spielte und improvisierte sie dann,
ohne es zu gewahren, wie zwei Stunden darüber verstrichen. Dann kam es
wohl auch vor, daß das Spiel plötzlich verstummte und ich sie weinen
sah. Sobald sie aber meine Aufregung bemerkte, versicherte sie mir
schnell und flüsternd – als fürchte sie, daß man uns hören könnte –, es
sei nichts, wirklich, es sei nichts, diese Tränen kämen nur so von
selbst, sie hätten nichts zu bedeuten, sie sei, im Gegenteil, sehr froh
und glücklich und ich solle mich nur nicht aufregen. War ihr Mann
abwesend, so geschah es oft, daß sie sich um ihn plötzlich beunruhigt
fühlte und sich nach ihm zu erkundigen begann: wohin er gefahren, warum,
wann, zu wann er die Pferde bestellt, ob er krank oder gesund, bei guter
oder schlechter Laune gewesen, was er gesagt usw., usw. Von seinen
Dienstangelegenheiten und seiner Arbeit mit ihm zu sprechen – das wagte
sie grundsätzlich nicht. Wenn er ihr einmal etwas riet oder sie um etwas
bat, dann hörte sie ihn ergeben an und schien sich in acht zu nehmen,
wie eine Sklavin vor ihrem Gebieter. Sie hatte es sehr gern, wenn er
irgend etwas von ihren Sachen lobte, etwa ein Buch, einen
Kunstgegenstand oder eine ihrer Handarbeiten. Sie war dann gleichsam
stolz darauf, und sah sofort glücklich aus. Ihr Glück aber kannte keine
Grenzen, wenn er einmal – es geschah freilich nur sehr selten und auch
dann fast wie aus Versehen – zu den beiden kleinen Kindern ein wenig
Zärtlichkeit äußerte. Ihr Gesicht verklärte sich dann geradezu, es
strahlte vor Glück, und in diesen Augenblicken gab sie sich in ihrem
Verhalten dem Mann gegenüber manchmal vielleicht etwas zu sehr ihrer
Freude hin. Z. B. trieb sie dann die Kühnheit bisweilen sogar so weit,
daß sie plötzlich selbst und unaufgefordert ihn bat – allerdings immer
noch zaghaft und mit schüchterner Stimme – irgendeine neue Komposition,
die ihr der Musikalienhändler zugesandt, anzuhören, oder seine Meinung
über ein Buch zu sagen, oder ihr gar zu erlauben, ihm ein bis zwei
Seiten daraus vorzulesen, wenn diese einen großen Eindruck auf sie
gemacht hatten. Gewöhnlich kam der Gatte gnädig allen ihren Wünschen
nach und lächelte, wie man über ein Kind nachsichtig lächelt, wenn man
ihm irgendein seltsames Spiel nicht verbieten will, um ihm nicht
vorzeitig seine Naivität zu rauben. Ich weiß nicht, weshalb mich dieses
Lächeln, diese hochmütige Nachsicht, diese Ungleichheit zwischen ihnen
immer so empörte! Ich schwieg aber, bezwang mich und beobachtete sie nur
aufmerksam mit kindlicher Neugier, jedoch mit frühreifen ernsten
Gedanken. Bisweilen bemerkte ich, daß ihm plötzlich etwas einzufallen
schien: es war, als besinne er sich, als erinnere er sich gegen seinen
Willen an etwas Schweres, Furchtbares, Unabwendbares, und im Nu
verschwand das nachsichtig herablassende Lächeln aus seinen Zügen und
seine Augen sahen plötzlich mit solchem Mitleid auf die Frau, daß es wie
eine Lähmung über sie kam und ich von diesem Mitleid förmlich
körperlichen Schmerz verspürte: hätte es mir gegolten – ich glaube, es
hätte mich zu Tode gequält. Im Augenblick verschwand dann auch alle
Freude aus dem Gesicht Alexandra Michailownas. Die Musik, wenn sie
gerade spielte, oder ihre Stimme, wenn sie gerade vorlas, brach ab. Sie
erbleichte, nahm sich krampfhaft zusammen und schwieg. Es folgte ein
peinliches, drückendes Schweigen, das bisweilen lange andauerte. Endlich
versuchte ihr Mann das Schweigen zu brechen. Er erhob sich, um wie mit
Gewalt den Ärger und die Erregung in sich niederzuzwingen, und nachdem
er ein paarmal in finsterem Schweigen durch das Zimmer geschritten war,
drückte er seiner Frau die Hand, atmete tief auf, preßte sichtlich
betreten ein paar abgerissene Worte hervor, die sie beruhigen sollten,
und verließ das Zimmer; Alexandra Michailowna aber brach in Tränen aus
und eine tiefe, qualvolle Traurigkeit kam über sie. Oft segnete und
bekreuzte er sie vor dem Fortgehen, wie ein Kind, abends beim Abschied,
und sie empfing den Segen mit Tränen der Dankbarkeit in stiller
Ehrfurcht. Aber es gab da ein paar Abende (nur zwei oder drei in den
ganzen acht Jahren), die ich nicht vergessen kann ... Dann war Alexandra
Michailowna plötzlich ganz verändert. In ihrem sonst so stillen Gesicht
spiegelten sich dann plötzlich anstatt der beständigen Unterwerfung und
Selbsterniedrigung vor dem Manne – Zorn und Empörung. Das Gewitter zog
langsam herauf. Der Mann wurde schweigsamer, schroffer und sein Gesicht
noch finsterer als sonst. Schließlich hielt es das wunde Herz der armen
Frau nicht mehr aus. Mit vor Aufregung stockender Stimme begann sie ein
Gespräch, anfangs in abgerissenen, unzusammenhängenden Sätzen voll von
Andeutungen und bitter verschwiegenen Worten; bis sie plötzlich, als
könne sie ihr Leid nicht mehr ertragen, in Tränen ausbrach – und dann
folgte ein Zornesausbruch mit Vorwürfen, Klagen und Verzweiflung wie in
einer schweren Krisis. Aber man hätte sehen müssen, mit welcher Geduld
ihr Mann das alles ertrug, mit welcher Teilnahme er sie zu beruhigen
suchte und wie er ihr die Hände küßte, bis schließlich auch ihm die
Tränen in die Augen traten: dann war’s als rufe ihr Gewissen ihr
plötzlich etwas zu und werfe ihr ein Verschulden vor. Die Tränen ihres
Mannes erschütterten sie und händeringend in neuer Verzweiflung warf sie
sich zu seinen Füßen nieder und flehte unter Schluchzen und Weinen um
seine Verzeihung, die er ihr denn auch sofort gewährte. Doch ihr
Gewissen ließ ihr noch lange keine Ruhe und sie fuhr fort, ihn unter
Tränen um Verzeihung zu bitten. Nach diesen Ausbrüchen war sie dann die
ganzen folgenden Monate noch schüchterner, noch ängstlicher vor ihrem
Mann als zuvor. Mir blieben alle diese Klagen und Vorwürfe vollkommen
unverständlich; überdies wurde ich dann immer unter irgendeinem Vorwande
aus dem Zimmer geschickt, aber ganz konnten sie dies alles doch nicht
vor mir verbergen. Ich beobachtete und sah ... und was ich nicht sah,
das erriet ich, und so schöpfte ich schon gleich zu Anfang den Verdacht,
daß es sich dabei um ein Geheimnis handeln mußte, daß diese plötzlichen
Ausbrüche eines wunden Herzens nicht gewöhnliche Nervenkrisen waren, daß
ihr Mann nicht ohne Grund immer so finster aussah und dieses zweideutige
Mitleid mit der armen kranken Frau hatte, daß auch ihre Schüchternheit
und Ängstlichkeit und auch diese bescheidene sonderbare Liebe, die sie
ihrem Manne kaum zu zeigen wagte, ihren besonderen Grund haben mußten,
und ebenso ihre Einsamkeit, ihre nahezu klösterliche Zurückgezogenheit,
sowie ihr plötzliches Erröten und Erbleichen in der Gegenwart ihres
Gatten, das mir immer wieder auffiel und immer wieder zu denken gab.

Doch solche Szenen kamen, wie gesagt, nur sehr, sehr selten vor, und da
unser Leben ohnehin so überaus eintönig verlief und Alexandra
Michailowna mir auch schon so nahe stand, als hätte ich sie mein Leben
lang gekannt, und ich andererseits mich schnell entwickelte und viel
Neues in mir erwachte –, wenn es mir auch noch nicht zu Bewußtsein kam
–, immerhin, ein Neues, das mich von meinen Beobachtungen ablenkte – so
gewöhnte ich mich eben an dieses Leben und an die Eigenheiten der
Menschen, die mich umgaben. Freilich dachte ich, wenn ich sie mitunter
betrachtete, über sie dennoch nach, das war wohl anders auch nicht gut
möglich, aber mein Denken führte vorläufig noch zu keinem Ergebnis.
Hinzu kam, daß ich sie glühend liebte und mich unwillkürlich hütete, mit
meiner Neugier ihre Wunde zu berühren – dazu achtete ich ihr Leid viel
zu sehr. Sie aber verstand mich vielleicht noch besser als ich selbst
mich verstand, und wie oft sagte sie mir für meine Liebe und
Anhänglichkeit ihren stummen Dank! Wie oft, wenn sie meine Sorge um sie
sah, lächelte sie mir unter Tränen zu oder sie scherzte selbst über ihr
häufiges Weinen, oder sie begann mir auch wohl zu erzählen, daß sie sehr
zufrieden, sehr glücklich sei, alle seien so gut zu ihr, alle hätten sie
lieb, nur quäle es sie sehr, daß Pjotr Alexandrowitsch sich ihretwegen
gräme und sich um ihre Seelenruhe sorge, während sie im Gegenteil so
glücklich sei, so glücklich ...! Und sie schloß mich mit tiefem Gefühl
in ihre Arme, innige Liebe verklärte ihr Gesicht, so daß mein Herz, wenn
man dies sagen kann, vor lauter Mitempfinden schmerzte.

Nie werde ich ihr Gesicht vergessen. Es waren regelmäßige Züge, und ihre
Magerkeit und Blässe, schien es, erhöhten nur noch den Reiz ihrer
strengen Schönheit. Das reiche schwarze Haar, das – in der Art wie es
damals getragen wurde – vom Scheitel glatt nach unten gekämmt war, warf
tiefe Schatten auf das Oval der Wangen; um so liebreizender aber war der
frappierende Kontrast ihrer großen kindlich klaren blauen Augen, aus
denen einen soviel Zärtlichkeit, Liebe und Güte ansah, und in denen
bisweilen auch soviel Naivität lag und soviel Zaghaftigkeit und
Schutzbedürftigkeit. Es waren Augen, die jede Empfindung zu scheuen
schienen, die jede Herzensregung fürchteten, gleichviel ob es flüchtige
Freude oder stille Trauer war. Doch in glücklichen ruhigen Stunden lag
in diesem Blick, der so tief ins Herz drang, soviel Klarheit und Wärme,
soviel ruhige Reinheit, dann schauten diese blauen Augen so zärtlich, so
süß einen an, dann spiegelte sich in ihnen soviel Sympathie mit allem,
was edel und gut war, was um Liebe oder um Mitleid bat, daß man sich ihr
mit ganzer Seele hingab, daß die Seele sich ihr vollkommen unterwarf und
zu ihr hinstrebte und von ihr, wie man meinte, dieselbe Klarheit und
Ruhe und Versöhnung und Liebe erhielt. So schaut man bisweilen hinauf in
den blauen Himmel und fühlt, daß man Stunden und Stunden in diesem süßen
Schauen verbringen könnte und daß die Seele freier und ruhiger wird,
ganz als spiegele sich in ihr wie in einem stillen Wasser die große
weite Himmelskuppel. Wenn aber – und das geschah so oft – die
Begeisterung ihr Farbe ins Gesicht trieb und ihre Brust sich vor
Erregung hob und senkte, dann sprühten ihre Augen in dunklem Feuer, als
wenn ihre Seele, die keusch die reine Flamme des sie so begeisternden
Schönen hütete, sich ganz in ihre Augensterne versetzt hätte. Dann war
sie geradezu wie vom Heiligen Geist erfüllt. Und in diesem plötzlichen
Aufschwung der Seele mitten aus stiller ruhiger Stimmung zu glühendster
Begeisterung und reiner strenger Vergeistigung lag so viel von naivem
kindlichen Glauben, daß ein Künstler wohl sein halbes Leben dafür
hingeben würde, wenn er dieses Frauenantlitz in einem solchen Augenblick
hätte sehen und diese Begeisterung auf der Leinwand hätte wiedergeben
können.

Schon in den ersten Tagen nach meiner Übersiedelung merkte ich, daß sie
sich in ihrer Einsamkeit über meine Anwesenheit freute. Damals hatte sie
nur ein Kind und war erst seit einem Jahre Mutter. Doch zu mir war sie
stets wie zu einer leiblichen Tochter und niemals machte sie einen
Unterschied zwischen mir und ihren eigenen Kindern. Und mit welchem
Eifer sie sich an meine Erziehung machte! Madame Léotard mußte oftmals
lächeln, wenn sie in der ersten Zeit ihren Übereifer sah. Und in der
Tat, wir fingen mit einem Mal so ziemlich alles an, wir begannen mit so
vielen Fächern, daß wir uns bald ganz verloren. Sie wollte mir auf ein
Mal so viel beibringen, daß es sie zu liebevoller Ungeduld trieb, ich
aber oder vielmehr mein Wissen keinen großen Nutzen daraus ziehen
konnte. Anfangs betrübte sie meine Hilflosigkeit; dann mußte sie aber
lachen und dann fingen wir nochmals von vorn an – doch trotz des ersten
Mißerfolges erklärte sich Alexandra Michailowna kühn gegen das
altbewährte System der Madame Léotard. Sie stritten lachend um ihre
Methoden, aber meine neue Lehrerin blieb kategorisch bei ihrer
Feindschaft gegen jegliches System und behauptete, wir würden nach
etlichen Versuchen den richtigen Weg schon finden und es habe keinen
Sinn, mir den Kopf mit toten Regeln vollzustopfen: der ganze Erfolg
hinge nur davon ab, daß man meine natürlichen Fähigkeiten erkannte und
weckte und davon, daß man auf meinen guten Willen zu wirken vermochte.
Darin aber hatte sie zweifellos recht, denn ihre Methode siegte mit
glänzendem Erfolg. Erstens fielen bei uns die Rollen der Lehrerin und
Schülerin ganz fort. Wir lernten wie zwei Freundinnen, und nicht selten
machte es sich so, daß ich Alexandra Michailowna belehrte, ohne ihre
kleine List zu bemerken. Und wir gerieten nicht selten sogar in Streit
und mit glühendem Eifer suchte ich die Sache ihr so zu erklären, wie ich
sie begriff, bis Alexandra Michailowna mich unmerklich auf den richtigen
Weg führte. Das endete dann gewöhnlich damit, daß ich, wenn mir endlich
ein Licht aufging und ich plötzlich ihre List erriet und einsah, daß
sie, was oft genug geschah, ganze Stunden zu meinem Nutzen geopfert
hatte – daß ich mich dann an ihren Hals warf und sie krampfhaft umarmte.
Später tat ich das nach jeder Stunde. Meine Empfindsamkeit überraschte
und rührte sie so, daß sie mich immer ganz verwundert ansah. Sie begann
mich nach meinem früheren Leben zu fragen, und nach meinen Erzählungen
wurde sie jedesmal zärtlicher zu mir und ernster – ernster, weil ich ihr
mit meiner traurigen Kindheit außer dem Mitleid auch noch eine gewisse
Achtung einflößte. Nach meinen Geständnissen führten wir gewöhnlich noch
lange Gespräche, in denen sie mir meine Erlebnisse zu erklären
versuchte, so daß es mir vorkam, als erlebe ich das alles nochmals und
als lerne ich dabei viel. Madame Léotard fand diese Gespräche viel zu
ernst für mein Alter, und wenn sie meine unwillkürlichen Tränen
bemerkte, sagte sie oft, sie seien gar nicht am Platz. Ich aber dachte
darüber ganz anders, denn nach _diesem_ Unterricht wurde es mir immer so
leicht und frei und süß ums Herz, ganz als hätte es in meinem Schicksal
nichts Dunkles und Trauriges gegeben. Und ich war auch Alexandra
Michailowna viel zu dankbar dafür, daß sie mich veranlaßte, sie mit
jedem Tage mehr zu lieben. Madame Léotard war natürlich nicht darauf
verfallen, daß auf diese Weise allmählich alles in mir sich glätten und
ordnen und seine Harmonie finden mußte, was sich früher wirr und
vorzeitig stürmisch in meiner Seele erhoben hatte, alles, wovor mein
wundes Kinderherz in seinem bitteren Schmerz so ratlos gestanden, daß es
hätte verstocken müssen, da es nur den Schmerz fühlte, aber nicht
begriff, warum und woher die Schläge es trafen.

Unsere Tage fingen damit an, daß wir uns im Kinderzimmer zusammenfanden,
ihr Kindchen weckten, es ankleideten, wuschen, fütterten, mit ihm
spielten und ihm das Sprechen beizubringen versuchten. Hatten wir uns
mit ihm genug abgegeben, dann begann das Lernen. Dies Lernen erstreckte
sich eigentlich auf alles und war doch an nichts gebunden. Wir lasen,
erzählten einander unsere Eindrücke und Gedanken während der Lektüre;
dann, wenn wir davon genug hatten, gingen wir zur Musik über, und die
Zeit verging wie im Fluge. Die Abende verbrachten wir meist sehr
gemütlich, zuweilen kam B., Alexandra Michailownas Freund, und auch
Madame Léotard gesellte sich zu uns. Oft wurde dann aus der Unterhaltung
ein eifriger Disput über die Kunst oder über das Leben (das wir fast
alle nur vom Hörensagen kannten) oder über die Wirklichkeit und das
Ideal, über Vergangenes und Zukünftiges, und es wurde darüber
Mitternacht und noch später, ohne daß wir es merkten. Ich hörte mit
allen Fibern zu, ich begeisterte mich mit ihnen, ich lachte oder ich war
ergriffen, und an diesen Abenden erfuhr ich denn auch nach und nach
alles Nähere, was meinen Stiefvater und meine erste Kindheit betraf.

Inzwischen wuchs ich heran; man nahm für mich Lehrer an, doch hätte ich
von diesen ohne Alexandra Michailownas Hilfe so gut wie nichts gelernt.
Bei meinem Geographielehrer hätte ich von dem ewigen Suchen der Städte
und Flüsse auf den Karten nur erblinden können! Mit Alexandra
Michailowna dagegen unternahm ich wahre Weltreisen, wir durchstreiften
so märchenhafte Länder, sahen so viele Wunder, verbrachten so viele
phantasieerfüllte Stunden miteinander, und unser Eifer war in der
Begeisterung so groß, daß alle Bücher, die sie gelesen hatte, nicht mehr
genügten und wir uns neue Bücher verschaffen mußten. Bald konnte ich
meinen Geographielehrer belehren, wenn er auch, das muß man ihm um der
Gerechtigkeit willen lassen, bis zum Schluß seine Überlegenheit insofern
bewahrte, als er die Lage jedes Städtchens mit peinlichster Genauigkeit
in Längen- und Breitengraden anzugeben wußte, sowie die Zahl der
Einwohner in Tausenden, Hunderten und Zehnern. Dem Geschichtslehrer
wurden die Stunden gleichfalls pünktlich bezahlt, aber erst nachdem er
gegangen war, fingen wir, Alexandra Michailowna und ich, mit der
Geschichte an: dann holten wir unsere Bücher hervor und lasen – lasen
bis tief in die Nacht. Nie habe ich größere Begeisterung empfunden als
bei diesem Lesen. Wir waren dann beide so begeistert, als wären wir
selber die Helden, die jene großen Taten vollbrachten. Natürlich lasen
wir zwischen den Zeilen noch mehr heraus als aus den Zeilen; überdies
verstand Alexandra Michailowna meisterhaft zu erzählen oder eine
Begebenheit zu erläutern, so daß man das Geschehnis förmlich miterlebte,
als geschähe es eben jetzt. Mag es nun auch meinetwegen komisch anmuten,
daß wir uns so begeisterten und bis nach Mitternacht saßen und lasen,
ich ein Kind, und sie eine Frau mit einem wunden Herzen, das so schwer
am Leben trug! – Aber es war so. Ich wußte, daß sie sich neben und mit
mir gleichsam erholte. Soweit ich mich erinnere, machte ich mir schon
damals seltsame Gedanken, wenn ich sie still betrachtete, und noch bevor
ich etwas aus ihrem Leben erfuhr, hatte ich schon vieles erraten.

Ich wurde dreizehn Jahre alt. Mit Alexandra Michailownas Gesundheit ging
es mehr und mehr bergab. Sie wurde reizbarer und die hoffnungslose
Trauer kam immer öfter über sie. Ihr Gatte verbrachte nun gewöhnlich
längere Zeit bei ihr, wenn er auch ebenso schweigsam und finster blieb
wie früher. Da begann ich denn, immer lebhafteren Anteil an ihrem
Schicksal zu nehmen. Ich entwuchs bereits der Kindheit, viele neue
Eindrücke, Beobachtungen und Vermutungen hatten in mir schon bestimmtere
Formen angenommen, und das Geheimnis, das so schwer auf dieser Familie
lag, begann mich immer mehr zu quälen. Es gab Augenblicke, wo es mir
schien, daß ich dieses Rätsel fast schon erriet. Doch dann kam auch
wieder eine gewisse Gleichgültigkeit, eine Apathie über mich, ja sogar
ein gewisser Ärger konnte mich erfassen, und ich vergaß meine
Anteilnahme, da ich auf die eine Frage doch keine Antwort erhielt.
Bisweilen – und das kam immer häufiger vor – hatte ich das seltsame
Bedürfnis, allein zu bleiben und zu denken, immer nur zu denken. Das war
ganz wie zu jener Zeit, als ich noch bei den Eltern lebte und damals –
noch vor meiner Freundschaft mit meinem Stiefvater – ein ganzes Jahr
lang nachdachte und aus meinem Winkel die Welt Gottes betrachtete, so
daß ich zu guter Letzt unter den von meiner eigenen Phantasie
geschaffenen Phantomen ganz vereinsamte. Der Unterschied bestand nur
darin, daß jetzt mehr neue unbewußte Triebe in mir waren und größere
Ungeduld, stärkere Sehnsucht, mächtigeres Verlangen nach Bewegung, nach
Auflehnung mich quälte, so daß ich nicht mehr wie früher meine Spannung
und Sammlung ausschließlich auf eine einzige Sache hinlenken konnte.
Aber auch Alexandra Michailowna fing an, sich von mir zu entfernen. In
diesem Alter konnte ich ihr fast nicht mehr Freundin sein. Ich war kein
Kind mehr, ich fragte nach gar zu vielem, und zuweilen sah ich sie so
an, daß sie ihre Augen vor mir niederschlagen mußte. Es gab sonderbare
Minuten. Ich konnte ihre Tränen nicht ertragen und oft traten bei ihrem
Anblick auch mir Tränen in die Augen. Ich warf mich an ihre Brust und
umfing sie leidenschaftlich. Was konnte sie mir antworten? Ich fühlte
es, daß ich ihr eine Last war. Bisweilen aber – und das waren dann
schwere traurige Minuten – war sie es, die mich plötzlich wie in innerer
Verzweiflung umarmte, als suche sie meine Teilnahme, als könne sie ihre
Einsamkeit nicht länger ertragen, als hätte ich sie schon ganz
verstanden, als hätten wir schon gemeinsam gelitten. Doch trotz alledem
blieb zwischen uns ein Geheimnis, das fühlten wir, und da war ich es,
die sich in diesen Minuten von ihr zu entfernen begann. Es wurde mir
schwer, mit ihr zusammen zu sein. Überdies verband uns fast nichts mehr,
außer der Musik. Doch auch die wurde ihr von den Ärzten schon verboten.
Bücher? Das war schließlich sogar das gefährlichste Gebiet. Sie wußte
entschieden nicht, was und wie sie mit mir lesen sollte. Wir wären nicht
einmal über die erste Seite hinausgekommen: jedes Wort hätte man als
Andeutung, jeden belanglosen Satz als Rätsel auffassen können. Gespräche
zu zweien, wie früher, in glühender Offenheit – mieden wir schon.

Gerade in dieser Zeit gab das Schicksal meinem Leben plötzlich und in
ganz unvorhergesehener Weise eine andere Richtung. Meine Aufmerksamkeit,
meine Gefühle, mein Herz, mein Kopf – alles wandte sich mit einem Mal
und mit ganzer angespannter Kraft, die bis zur Begeisterung stieg,
plötzlich einer anderen, mir bis dahin noch ganz unbekannten Tätigkeit
zu und ich versetzte mich, fast ohne dessen gewahr zu werden, in eine
neue Welt; ich hatte keine Zeit, zurückzusehen, mich umzuschauen, mich
zu besinnen; es konnte ja leicht mein Verderben sein, was ich auch
deutlich selbst fühlte; doch die Versuchung war größer als die Angst und
ich ging weiter aufs Geratewohl, mit geschlossenen Augen. Und auf lange
Zeit ließ ich mich so ablenken von jener Wirklichkeit, die mir bereits
so lästig geworden war und in der ich schon so durstig und doch
vergeblich einen Ausweg gesucht. Was das war, will ich jetzt erzählen.

Von den drei Ausgängen aus dem Eßzimmer führte der eine in die großen
Empfangsräume, der andere in mein Zimmer und in die Kinderzimmer, und
der dritte in die Bibliothek. In die Bibliothek führte aber noch eine
andere Tür, die von meinem Zimmer nur durch ein Arbeitskabinett getrennt
war, in dem gewöhnlich der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs saß. Der war
zugleich sein Sekretär und gewissermaßen seine rechte Hand. Den
Schlüssel zur Bibliothek und zu den Bücherschränken hatte er. Eines
Tages nach dem Essen, als er nicht zu Hause war, fand ich diesen
Schlüssel auf dem Teppich im Kabinett. Ich wurde neugierig, behielt den
Schlüssel und versuchte, ob sich mit ihm die Tür aufschließen ließ. Ich
trat in die Bibliothek. Es war das ein ziemlich großes, sehr helles
Zimmer, in dem an den Wänden acht große Bücherschränke standen. Die
vielen Bücher waren Pjotr Alexandrowitsch einmal mit einer Erbschaft
zugefallen, oder wenigstens ein großer Teil derselben. Die anderen
Bücher hatten sich nach und nach angesammelt, da Alexandra Michailowna
beständig welche kaufte. Mir hatte man bis dahin nur mit großer Vorsicht
Bücher zum Lesen gegeben, so daß es für mich unschwer zu erraten war,
daß man mich vieles nicht lesen lassen wollte, also vieles für mich noch
ein Geheimnis blieb. Dies nun erweckte in mir unbezwingbare Neugier, und
in einer Anwandlung von Furcht und Freude und mit einem ganz besonderen
Gefühl, über das ich mir keine Rechenschaft gab, schloß ich den ersten
Schrank auf und nahm das erste Buch aus der Reihe. In diesem Schrank
waren nur Romane. Ich behielt den Band, verschloß den Schrank und
brachte das Buch mit einem so eigentümlichen Empfinden, mit klopfendem
und doch wieder stillstehendem Herzen zu mir, auf mein Zimmer, als hätte
ich geahnt, daß damit eine große Umwälzung in meinem Leben eintreten
sollte. Erst als ich in meinem Zimmer in Sicherheit war und auch die Tür
verschlossen hatte, schlug ich das Buch auf. Doch zu lesen wagte ich
noch nicht – eine andere Sorge beschäftigte mich: zunächst mußte ich mir
ein für allemal den freien Zutritt zur Bibliothek sichern, und zwar so,
daß niemand etwas davon merkte, damit ich mir zu jeder Zeit jedes
beliebige Buch verschaffen und bei mir behalten konnte. Ich beschloß
daher, auf das Vergnügen, das entwendete Buch sogleich zu lesen,
vorläufig zu verzichten: statt dessen brachte ich das Buch zurück, aber
den Schlüssel behielt ich dafür bei mir. Ich behielt ihn und
verheimlichte es – das war die erste schlechte Tat in meinem Leben. Nun
wartete ich auf die Folgen, doch die waren nicht schlimm: nachdem der
Sekretär den Schlüssel einen ganzen Abend vergeblich gesucht hatte, ließ
er am nächsten Morgen einen Schlosser rufen und der fand nach kurzem
Suchen in einem mitgebrachten großen Schlüsselbund einen passenden neuen
Schlüssel. Damit war die Sache erledigt und niemand erfuhr, daß er den
alten Schlüssel verloren hatte. Trotzdem war ich vorsichtig und ging mit
List erst nach einer Woche in die Bibliothek, nachdem ich mich überzeugt
hatte, daß nicht der geringste Verdacht gegen mich bestand. Anfangs
wählte ich immer die Zeit, wenn der Sekretär nicht zu Hause war, und
ging dann durch sein Arbeitszimmer; später aber ging ich ruhig aus dem
Eßzimmer in die Bibliothek, denn der Sekretär hatte zwar den Schlüssel
in der Tasche, doch um die Bücher kümmerte er sich so wenig, daß er das
Zimmer überhaupt nicht betrat.

Mit wahrem Heißhunger begann ich zu lesen und das Gelesene nahm mich
ganz in seinen Bann. Alle meine neuen Bedürfnisse, alle unklaren Wünsche
meines Entwicklungsalters, die sich so unruhig und rebellisch in meiner
Seele erhoben hatten, vorzeitig durch meine Frühreife erweckt – all das
strömte von jetzt ab dem neuen Ausweg zu, als hätte es mit ihm den
richtigen Weg gefunden. Bald waren mir Herz und Sinne so bezaubert und
meine Phantasie entwickelte sich so schrankenlos, daß die ganze Welt,
die mich bis dahin umgeben hatte, für mich wie vergessen, irgendwo fern
versunken lag. Es war, als hielte mich das Schicksal selbst an der
Schwelle des neuen Lebens – nach dem es mich schon so stürmisch
verlangte, über das ich bereits Tag und Nacht wie über ein Rätsel
nachgedacht – bevor es mich in dieses Leben eintreten ließ, noch einen
Augenblick zurück, um mich auf eine Höhe zu führen und mir von dort aus
die Zukunft in einem Zauberpanorama zu zeigen, und als eine lockende,
glänzende Perspektive. Es war mir gewiß bestimmt, diese ganze Zukunft
gleichsam im voraus kennen zu lernen, sie zuerst in den Büchern zu lesen
und dann in Träumen, in Hoffnungen und leidenschaftlicher Sehnsucht, in
süßer Erregung meines jungen Geistes zu durchleben. Ich las ohne
Auswahl, wie mir die Bücher in die Hände kamen, doch das Schicksal
behütete mich: das, was ich bis dahin erfahren und empfunden hatte, war
alles so rein, so herb, daß die einzelnen, heimtückischen und
schmutzigen Seiten mir nichts mehr anhaben konnten. Mein guter
Kinderinstinkt, meine Jugend und meine ganze Vergangenheit beschützten
mich, und es war mir nur, als sähe ich plötzlich mein ganzes früheres
Leben bewußt in heller Beleuchtung. Tatsächlich erweckte jede Seite, die
ich las, gleichsam Erinnerungen in mir, als hätte ich das alles oder
doch etwas Ähnliches schon irgendeinmal selbst erlebt; ja gerade diese
Leidenschaften, dieses ganze Leben mit seinen märchenhaften Bildern
kamen mir so bekannt vor. Und wie hätte es denn auch anders sein können:
wie hätte ich darüber die Wirklichkeit nicht bis zur Entfremdung
vergessen sollen, da doch in jedem Buch vor mir die Gesetze desselben
Schicksals verkörpert waren, desselben Geistes, der über dem
Menschenleben thront, alle jedoch wie aus einem obersten Gesetz des
Menschenlebens fließend, das zugleich die Rettung und Erlösung der
Menschheit enthielt. Eben dieses oberste Gesetz, dessen Bestehen ich
schon vermutete, suchte ich nun aus allen Kräften, mit allen Instinkten,
die eine Art Selbsterhaltungstrieb in mir aufgeweckt hatte, zu erraten.
Es war, als sei ich schon im voraus durch irgendwen darauf aufmerksam
gemacht worden, weshalb meine Aufmerksamkeit sich mit einer solchen
Selbstverständlichkeit gerade darauf richtete. Es war, als dränge sich
ein Hellsehen in meine Seele, und mit jedem Tage wuchs und erstarkte in
ihr eine eigene Sehnsucht, obschon gleichzeitig mein Verlangen nach
dieser Zukunft, nach diesem Leben, von dem ich täglich las und das mich
täglich mit der ganzen nur der Kunst eigenen Gewalt und allen Reizen der
Dichtung erschütterte und lockte, immer mächtiger wurde. Doch wie
gesagt, meine Phantasie beherrschte auch meine Ungeduld und ich war, um
die Wahrheit zu gestehen, nur in meinen Träumen kühn, in Wirklichkeit
aber fürchtete ich mich instinktiv vor der Zukunft. Und deshalb, wie
nach geheimer Verabredung mit mir selbst, hatte ich es mir unbewußt zum
Vorsatz gemacht, mich vorläufig mit diesem Leben in der Phantasie zu
begnügen, in dem ich dafür die unbehinderte Selbstherrscherin sein
konnte und in dem es nur Glück und Freude gab; das Unglück aber, wenn es
auch zugelassen war, spielte dort nur eine passive Rolle, eine Art
Übergangsrolle, die notwendig war nur um der Kontraste willen: damit das
Schicksal sich in meinen begeistert erträumten Romanen zum Guten wenden
und zu einem glücklichen Schluß führen konnte. So deute ich mir jetzt
meine damalige Stimmung.

Und dieses Leben, dieses Leben ausschließlich in der Phantasie, dieses
Leben in schroffer Abkehr von allem, was mich umgab, konnte sich ganze
drei Jahre lang fortsetzen!

Dieses Leben war mein Geheimnis, und selbst nach ganzen drei Jahren
wußte ich noch nicht, ob ich mich vor einer plötzlichen Aufdeckung
desselben fürchten sollte oder nicht. Das, was ich in diesen drei Jahren
erlebt hatte, stand mir gar zu nah, war schon zu sehr verwachsen mit
mir! In allen diesen Träumen spiegelte ich mich selbst viel zu deutlich
wider, so daß fremde Augen, gleichviel wessen Augen, durch einen
unvorsichtigen Blick in meine Seele mich verwirrt und erschreckt hätten.
Hinzu kam, daß wir alle im Hause so einsam lebten, so außerhalb der
Gesellschaft, so klösterlich still, daß sich unwillkürlich in jedem von
uns ein Innenleben, eine Konzentration auf sich selbst entwickeln mußte.
Und das geschah denn auch mit mir. In diesen drei Jahren sah ich in
meiner Umgebung nicht die geringste Veränderung: nach wie vor herrschte
das farblose Einerlei, das, wie ich mir jetzt gestehe, wenn ich nicht
von meinem geheimen Leben erfüllt gewesen wäre, ganz entschieden meine
Seele zerrissen und mich aus diesem traurigen Kreise Gott weiß auf
welchen Ausweg getrieben hätte. Madame Léotard alterte merklich und zog
sich fast ganz in ihr Zimmer zurück; die Kinder waren noch so klein, daß
sie nicht in Frage kamen; B. war gar zu einseitig und Alexandra
Michailownas Gatte gar zu ernst, gar zu unnahbar und verschlossen.
Zwischen ihm und seiner Frau herrschte immer noch dasselbe rätselhafte
Verhältnis, das mich wie ein unheilvolles, düsteres Geheimnis immer mehr
bedrückte und meine angstvolle Sorge um Alexandra Michailowna von Tag zu
Tag vergrößerte. Ihr Leben, das so freudlos und farblos war, begann
schon zu erlöschen. Ihr Zustand verschlimmerte sich mit jedem Tage. Von
ihrer Seele hatte allmählich eine Art Verzweiflung Besitz ergriffen;
etwas Unbestimmtes, worüber wohl auch sie keine Rechenschaft zu geben
vermochte, schien lähmend auf ihr zu lasten, und sie trug es still, wie
ein unvermeidliches Kreuz, das zu tragen sie für die kurze Zeit ihres
Lebens nun einmal verurteilt war. Und doch schien es mir, als verstocke
allmählich ihr Herz in dieser dumpfen Qual; ja selbst ihr ganzes Denken
nahm eine andere Richtung und wurde düster, traurig, trostlos.
Namentlich eine Beobachtung traf mich: es schien mir, daß sie, je älter
ich wurde, sich um so mehr von mir entferne, so daß ihre
Verschlossenheit mir gegenüber schließlich die Form einer gewissen
Reizbarkeit annahm, die sich wie Ärger äußerte. Ja es gab Augenblicke,
wo ich die Empfindung hatte, sie liebe mich überhaupt nicht mehr; ich
schien ihr lästig zu sein. Deshalb begann auch ich mich von ihr
zurückzuziehen, und nachdem das einmal geschehen, wurde ich von ihrer
Verschlossenheit gleichsam angesteckt. So kam es denn, daß alles, was
ich in diesen drei Jahren erlebte und was allmählich in mir reifte, mein
Geheimnis blieb. Und da wir uns einmal voreinander verschlossen hatten,
konnte ich ihr später nie mehr ganz offen mein Innerstes zeigen, obschon
ich sie immer noch mehr lieben lernte. Ich kann jetzt nicht ohne Tränen
daran denken, wie sehr sie an mir hing, wie sie sich in ihrem Herzen
gelobt, ihren ganzen großen Liebesreichtum an mich zu verschwenden und
wie sie ihrem Gelübde, mir eine Mutter zu sein, bis zum Tode treu blieb.
Es ist wahr, das eigene Leid lenkte sie zuweilen für eine Zeitlang von
mir ab und ich glaube, daß sie mich dann einfach vergaß – um so mehr,
als ich mich nach Möglichkeit bemühte, sie nicht an mich zu erinnern.
Inzwischen wurde ich sechzehn Jahre alt, ohne daß sie mein Heranwachsen
gemerkt hätte. Aber in klareren Stunden, wenn sie bewußter um sich sah,
war es doch, als erschrecke sie plötzlich: und sie ließ mich dann eilig
aus meinem Zimmer, wo ich gewöhnlich gerade lernte, zu sich rufen, und
überschüttete mich mit Fragen, wie um mich zu prüfen, zu ergründen –
tagelang mußte ich dann bei ihr sitzen. Sie gab sich Mühe, alle meine
Wünsche, alle meine Gefühlsregungen zu erraten und war offenbar in Sorge
um mein Alter. Und wie sie sich um meine Gegenwart sorgte, so sorgte sie
sich auch um meine Zukunft, und mit unerschöpflicher Liebe, ja geradezu
mit Ehrfurcht vor meinem Leben suchte sie mich für alle Zeiten mit ihrer
Hilfe auszurüsten. Doch wir waren uns innerlich schon fremd geworden und
deshalb merkte sie es nicht, daß sie mitunter gar zu naiv vorging und
ich ihre Absicht viel zu sehr durchschaute. So z. B., als sie einmal –
das war schon nach meinem sechzehnten Geburtstag – in meinen Büchern
gekramt hatte, fragte sie mich plötzlich, was ich lese, und als sie sah,
daß es nur kleine Geschichten für etwa zwölfjährige Kinder waren, da
erschrak sie. Ich erriet sofort, was sie erschreckt hatte, und
beobachtete sie aufmerksam. Ganze zwei Wochen ließ sie es sich nun
angelegen sein, mich vorzubereiten und zu prüfen und vor allem meinen
Reifegrad festzustellen. Endlich entschloß sie sich: und auf unserem
Tisch erschien „Ivanhoe“ von Walter Scott, ein Roman, den ich schon
längst und mindestens dreimal gelesen hatte. Anfangs verfolgte sie mit
ängstlicher Erwartung, welcher Art der Eindruck war, den ich empfing;
bald jedoch wich diese Gespanntheit zwischen uns und wir begeisterten
uns beide, und ich war froh, so froh, daß ich mich jetzt nicht mehr vor
ihr zu verstellen brauchte! Als wir den Roman beendet hatten, war sie
entzückt von mir. Jede Bemerkung, die ich während der Lektüre gemacht,
jede Äußerung und Auffassung war richtig gewesen. Ja ihrer Meinung nach
war ich sogar schon zu weit entwickelt. Überrascht und entzückt davon,
machte sie sich nun wieder freudig daran, meine Entwicklung zu leiten;
sie wollte sich nie mehr von mir trennen; doch das lag nicht in ihrer
Macht. Das Schicksal trat sehr bald wieder trennend zwischen uns und
verhinderte eine beiderseitige Annäherung. Dazu bedurfte es nur der
ersten leisen Anwandlung ihrer Krankheit und ihr Leid siegte in ihrer
Seele; und dann folgte wieder eine Entfremdung, wieder stand ihr
Geheimnis, stand Mißtrauen zwischen uns, und vielleicht war es sogar
wieder wie eine Verstockung von ihrer wie von meiner Seite, die sich
zwischen uns schob.

Doch selbst dann gab es Augenblicke, die nicht in unserer Macht standen.
Spannende Lektüre, ein sympathisches Wort, die Macht der Musik – und wir
vergaßen uns, sprachen uns aus, oft sogar mehr als nötig, und dann
fühlten wir uns bedrückt voreinander. Es war dann immer wie ein
plötzliches Sichbesinnen und wir sahen uns wie erschrocken über uns
selbst mit argwöhnischer Neugier und mit Mißtrauen an. Jede von uns
hatte ihre Grenze, bis zu der sie sich der anderen nähern konnte; diese
Grenze zu überschreiten wagten wir nicht, auch wenn wir es gewollt
hätten.

Eines Nachmittags vor der Dämmerung las ich im Salon Alexandra
Michailownas zerstreut in einem Buch. Sie saß am Flügel und
improvisierte nach Motiven italienischer Musik. Als sie schließlich auf
die Melodie einer bekannten Arie überging, begann ich, von der Musik,
die mich gefangennahm, gleichsam dazu aufgefordert, leise die Melodie
mitzusingen. Die Musik bezauberte mich und ich stand plötzlich auf und
trat an den Flügel. Alexandra Michailowna schien meinen Wunsch zu
erraten und ging auf die Begleitung über, liebevoll jedem Ton meiner
Stimme folgend. Es war, als sei sie durch die Stärke meiner Stimme
überrascht. Ich hatte bis dahin noch nie in ihrer Gegenwart gesungen, ja
und auch ich wußte noch nicht, ob ich überhaupt irgendwelche Stimmittel
besaß. Jetzt aber waren wir plötzlich beide wie von einem Geist erfüllt.
Ich hob die Stimme mehr und mehr, eine mir bis dahin unbekannte Energie
erwachte in mir, eine Leidenschaft, die von Alexandra Michailownas
freudiger Verwunderung, die ich aus jedem Takt ihrer Begleitung
heraushörte, noch geschürt wurde. Und der Schluß der Arie gelang mir so
gut, ich war so beseelt, so hingerissen von dem Lied, daß sie ganz
begeistert meine Hände ergriff und mich strahlend ansah:

„Annjeta! Aber du hast ja eine wundervolle Stimme!“ rief sie entzückt.
„Mein Gott! und ich habe davon nichts gewußt!“

„Ja, ich habe es ja selbst jetzt erst bemerkt!“ versicherte ich,
gleichfalls ganz erschüttert vor Freude.

„Ach, Gott segne dich, Gott segne dich, mein liebes, unschätzbares Kind!
Danke Gott für diese Gabe! Wer weiß ... Ach, mein Gott, mein Gott!“ ...

Sie war so ergriffen von der Überraschung, so außer sich vor Freude, daß
sie nicht wußte, was sie mir sagen, wie sie mir ihre Liebe zeigen
sollte. Das war eine jener Stunden der Aufrichtigkeit, der Zuneigung und
Annäherung, die es in der letzten Zeit schon lange nicht mehr zwischen
uns gegeben hatte. Eine Stunde später war es wie ein Fest im Hause. Sie
schickte sogleich zu B. und ließ ihn zu sich bitten. In der Erwartung
seiner nahmen wir ein anderes Lied vor, das mir bekannter war. Diesmal
zitterte ich vor Angst. Ich wollte nicht durch einen Mißerfolg den
ersten Eindruck zerstören. Doch bald gab mir meine Stimme selbst wieder
Mut und machte mich sicher. Ich sang und wunderte, wunderte mich über
den Umfang meiner Stimme. Dieser zweite Versuch verscheuchte jeden
Zweifel. Alexandra Michailowna wußte vor Freude nicht, wo sie sich
lassen sollte, sie schickte nach den Kindern, sogar nach der Kinderfrau,
und schließlich – ließ sie sich so weit hinreißen, daß sie zu ihrem Mann
ging und ihn aus seinem Kabinett zu uns rief – eine Kühnheit, an die sie
zu jeder anderen Zeit nicht einmal zu denken gewagt hätte. Pjotr
Alexandrowitsch nahm die Neuigkeit wohlwollend auf, gratulierte mir und
war der erste, der da sagte, man müsse meine Stimme ausbilden. Alexandra
Michailowna, die vor Dankbarkeit so glücklich war, als hätte er für sie
Gott weiß was getan, wollte ihm dafür fast die Hände küssen. Endlich kam
B. Seine Freude war groß. Er liebte mich sehr und gedachte meines
Stiefvaters, der Vergangenheit, und als ich ihnen zwei oder drei Lieder
vorgesungen, erklärte er mit ernster und sogar besorgter Miene, ja sogar
mit einer gewissen geheimnisvollen Feierlichkeit, daß ich zweifellos
gute Stimmittel hätte, vielleicht auch sogar Talent, und deshalb sei es
natürlich ganz unmöglich, meine Stimme etwa nicht auszubilden ... –
jedoch ... Und nun war es, als besinne er sich, und er wie auch
Alexandra Michailowna schienen sich zu sagen, daß es gefährlich sei,
mich schon zu Anfang so zu loben, und ich bemerkte, wie sie sich nun mit
einigen Blicken schnell verständigten und sich später noch flüsternd
verabredeten, so daß ihre kleine Verschwörung gegen mich recht
ungeschickt und naiv ausfiel. Ich lachte im stillen den ganzen Abend,
denn als ich wieder gesungen hatte, sah ich, wie sie sich Mühe gaben,
gleichgültig zu bleiben und wie sie sogar einige Mängel mit Absicht
hervorheben und laut besprachen. Ihre Selbstbeherrschung währte aber
nicht lange und B. war der erste, der von der Freude übermannt, sich
untreu wurde. Ich hatte nicht vermutet, daß er mich so gern hatte. Den
ganzen Abend herrschte eine frohe Stimmung und die lebhafte Unterhaltung
war so freundschaftlich wie nie zuvor. B. gab die Lebensgeschichten
einiger Künstler zum besten und erzählte von der Kunst der berühmten
Größen mit der Begeisterung des Künstlers, oft sogar fast ehrfurchtsvoll
und ergriffen.

Es war auch die Rede von meinem Stiefvater, und dann ging die
Unterhaltung auf mich über, auf meine Kindheit, dann auf den Fürsten und
die Familie des Fürsten, von der ich nach der Trennung so wenig gehört
hatte. Auch Alexandra Michailowna wußte wenig von ihnen, B. dagegen am
meisten, da er mehrmals in Moskau gewesen war. Doch hier bekam das
Gespräch etwas Geheimnisvolles und Rätselhaftes, und zwei oder drei
Umstände, die hauptsächlich den Fürsten betrafen, blieben mir ganz
unverständlich. Alexandra Michailowna erkundigte sich nach Katjä, doch
B. wußte von ihr nichts Besonderes zu berichten oder schien vielmehr
absichtlich nichts berichten zu wollen. Das machte mich stutzig. Ich
hatte Katjä nicht nur nicht vergessen, sondern meine frühere Liebe zu
ihr hatte sich eher noch vertieft; aber es war mir nie in den Sinn
gekommen, daß mit ihr irgendeine Veränderung vor sich gegangen sein
könnte. Ich hatte weder an die langen Jahre der Trennung, noch an die
Verschiedenheit unserer Erziehung und unserer Charaktere gedacht. Sie
hatte mich in meinen Gedanken nie verlassen, sie lebte immer noch so,
wie ich sie als Kind gesehen, neben mir, und in meiner Phantasie gingen
wir stets Hand in Hand. Da ich mich selbst immer als Heldin jedes von
mir gelesenen Romanes sah, so ersann ich für meine Freundin, die
Prinzeß, immer eine Rolle neben mir und verdoppelte somit den Roman, von
dem dann der zweite Teil ausschließlich von mir handeln sollte, ersann
ihn mit Hilfe aller meiner Lieblingsautoren, die ich natürlich
erbarmungslos bestahl.

An jenem Abend wurde auch gleich im Familienrat beschlossen, welchem
Professor meine Ausbildung nun übertragen werden sollte. B. empfahl den
allerbesten. So fuhr denn schon am nächsten Tage der berühmte Italiener
D. bei uns vor, prüfte meine Stimme, sagte ungefähr dasselbe, was sein
Freund B. gesagt hatte, meinte aber, es wäre für mich von viel größerem
Nutzen, wenn ich zusammen mit seinen anderen Schülerinnen bei ihm
lernte, der Ehrgeiz und das gute Beispiel wären vortreffliche
Hilfsmittel usw., usw. Alexandra Michailowna war damit einverstanden,
und so ging ich von diesem Tage an regelmäßig dreimal wöchentlich früh
morgens um 8 Uhr in Begleitung eines Dienstmädchens ins Konservatorium.

Jetzt muß ich von einem sonderbaren Erlebnis erzählen, das auf mich
einen großen, nachhaltigen Eindruck machte und nach welchem ich wie nach
einem schroffen Bruch in ein anderes Alter eintrat. Ich war damals noch
nicht ganze siebzehn Jahre alt, als plötzlich eine mir selbst ganz
unverständliche Apathie von meiner Seele Besitz zu ergreifen begann;
eine eigentümliche, unerträgliche, schwermütige Stille, die ich selbst
nicht begriff, kam über mich. Alle meine Erwartungen, mein ganzes
Streben und Wollen war verstummt, sogar meine Phantasie schwieg wie vor
Kraftlosigkeit. Eine kalte Gleichgültigkeit war in mir an die Stelle der
früheren unbeholfenen drangvollen Glut getreten. Sogar für mein Talent,
das doch von allen, die ich mit ganzer Seele lieb hatte, so bewundert
wurde, konnte ich keine Neigung und Liebe bei mir mehr aufbringen und
ich mißachtete es gefühllos. An nichts nahm ich Anteil, und selbst für
Alexandra Michailowna empfand ich nur dieselbe kalte Gleichgültigkeit,
obschon ich mir deshalb Vorwürfe machte. Meine Apathie wurde nur von
grundloser Traurigkeit oder von plötzlichen Tränen unterbrochen. Ich
hatte das Verlangen nach Einsamkeit. Und in dieser eigentümlichen Zeit
wurde durch ein seltsames Erlebnis meine ganze Seele bis auf den Grund
erschüttert und diese Stille in einen wahren Sturm verwandelt. Mein Herz
wurde getroffen und verwundet. Und das geschah folgendermaßen.


                                  VII.

Ich trat in die Bibliothek (diese Stunde werde ich nie vergessen) und
nahm den letzten Roman von Walter Scott, den ich noch nicht gelesen
hatte. Ich weiß noch, daß ein gegenstandloser Kummer mich fast wie mit
einer Vorahnung quälte. Ich wollte weinen. Im Zimmer war es noch goldig
hell von den letzten schrägen Strahlen der sinkenden Sonne, die mit
einer Lichtfülle durch die hohen Fenster auf das glänzende Parkett
fielen. Es war still. Auch in den Nebenzimmern war keine Menschenseele.
Pjotr Alexandrowitsch war nicht zu Hause und Alexandra Michailowna war
krank und lag zu Bett. Ich weinte auch wirklich, und während ich im
zweiten Teil des Romans blätterte, versuchte ich, aus den einzelnen
abgerissenen Sätzen, die ich hier und da las, den Zusammenhang des
Ganzen zu erraten. Es war fast, wie wenn man ein Buch aufs Geratewohl
aufschlägt und den ersten besten Satz wie einen Orakelspruch liest. Es
gibt solche Augenblicke, wo alle geistigen und seelischen Kräfte sich
krankhaft anstrengen und plötzlich wie in einer hellen Flamme des
Bewußtseins aufflammen, und in diesem Augenblick wird dann die
erschütterte Seele, die sich gleichsam im Vorgefühl, ja vielleicht sogar
schon im Vorgenuß des Zukünftigen quält, wie von einem prophetischen
Traum erfüllt. Und man will so leben, so leben, und das Herz, das in
heißester, blindester Hoffnung aufflammt, will mit einemmal gleichsam
die Zukunft herausfordern – die Zukunft mit ihrer ganzen geheimnisvollen
Unbekanntheit, auch mit Stürmen und Ungewittern, wofern sie nur Leben
ist, wirkliches Leben! Gerade das war es, was ich empfand.

Ich erinnere mich, daß ich gerade das Buch schloß, um es dann aufs
Geratewohl wieder aufzuschlagen und mit dem Gedanken an meine Zukunft
einen Satz als Orakelspruch zu lesen. Doch als ich die Buchdeckel
aufklappte und die Blätter sich teilten, lag vor mir auf dem
aufgeschlagenen Buch ein beschriebener Bogen Postpapier, zweimal
gefaltet und so zusammengepreßt, als sei er schon vor Jahren in dieses
Buch gelegt und dann vergessen worden. Neugierig untersuchte ich meinen
Fund. Es war ein Brief, jedoch ohne Adresse, ohne Anrede und als
Unterschrift standen nur zwei Buchstaben: S. O. Meine Neugier
verdoppelte sich, ich entfaltete das fast zusammengeklebte Papier, das
vom langen Liegen auf den Blättern eine helle Stelle von der Größe
seines Formats hinterlassen hatte. An den Faltstellen war das Papier
schon stark mitgenommen: man hatte den Brief wohl oft gelesen. Die Tinte
war verblaßt – er mußte schon vor langer, langer Zeit geschrieben worden
sein. Einzelne Wörter stachen mir in die Augen und mein Herz begann zu
klopfen vor Erwartung. Verwirrt besah ich den Brief von allen Seiten,
wie um das Lesen noch hinauszuschieben. Zufällig sah ich näher hin und
hob ihn zum Licht: ja! es waren deutliche Tränenspuren zu sehen,
stellenweise waren sogar ganze Buchstaben verwischt. Wessen Tränen
mochten das sein? Und schließlich las ich mit stockendem Herzschlag die
erste halbe Seite und – fast hätte ich aufgeschrien. Ich stellte das
Buch zurück, schloß den Schrank, verbarg den Brief in meinem Kleide und
lief auf mein Zimmer, dessen Tür ich verschloß, und dann machte ich mich
daran, den Brief nochmals vom Anfang an zu lesen. Mein Herz schlug so
laut, daß die Buchstaben vor meinen Augen tanzten und ich lange nicht
begriff, was ich las. Der Brief war eine Aufklärung, für mich eine
Lösung des Geheimnisses, – wie ein Blitz durchzuckte es mich, denn ich
erriet sogleich, an wen er gerichtet war. Ich wußte, daß ich nahezu ein
Verbrechen beging, wenn ich diesen Brief las, doch der Augenblick war
stärker als ich! der Brief war an Alexandra Michailowna gerichtet.

Hier ist er: ich schreibe ihn wortgetreu ab. Unklar begriff ich, was er
enthielt und noch lange nachher habe ich über das Rätsel nachgedacht und
mich grübelnd zerquält. Mit diesem Augenblick brach mein früheres Leben
ab. Mein Herz war für lange Zeit erschüttert, fast für immer, denn
dieser Brief hatte viele Folgen. Die Vorahnung, mit der ich das Orakel
nach meiner Zukunft befragen gewollt, hatte mich nicht getäuscht.

Dieser Brief war das Letzte, war ein letzter, furchtbarer Abschied.
Während ich ihn las, krampfte sich mein Herz so schmerzhaft zusammen,
als verlöre ich selbst damit alles, als würden mir auf ewig sogar meine
Träume und Hoffnungen genommen, als bliebe mir nichts mehr als ein
unnötiges, überflüssiges Leben. Wer war er, der diesen Brief
geschrieben? Wie war nachher sein Leben? Dieser Brief enthielt so viele
Andeutungen, so viele Beweisstücke, daß man sich nicht täuschen konnte,
und doch auch so viele Rätsel, daß es unmöglich war, sich nicht in den
Vermutungen zu verlieren. Dennoch kann ich sagen, daß ich mich kaum
irrte; übrigens offenbarte allein schon der Stil des Briefes, der auch
sonst noch vieles verriet, den ganzen Charakter dieses Verhältnisses,
über dem zwei Herzen gebrochen sind. Die Gedanken und Gefühle des
Schreibenden lagen offen zutage. Doch hier ist der Brief – ich schreibe
ihn Wort für Wort ab:

„Du wirst mich nicht vergessen, sagtest Du – und ich glaube Dir, und von
nun an ist mein ganzes Leben in diesen Deinen Worten. Wir müssen uns
trennen, unsere Stunde hat geschlagen. Das wußte ich längst, meine
stille, meine traurige Schönheit, aber erst jetzt habe ich es begriffen.
Während der ganzen Zeit, die _uns_ gehörte, seitdem Du mich liebtest,
hat mein Herz mich geschmerzt und gezittert um unsere Liebe, und – wirst
Du’s glauben? – jetzt ist mir leichter! Ich wußte es schon längst, daß
es so enden werde, so war es schon vor uns bestimmt. Das ist Schicksal.
Und weißt Du, laß es mich Dir sagen, Alexandra: wir waren _nicht
ebenbürtig_; das habe ich immer, _immer_ gefühlt! Ich war Deiner nicht
wert, und ich, ich allein müßte die Strafe für mein durchlebtes Glück
tragen! Sag’, was war ich im Vergleich mit Dir, bevor ich Dich kennen
lernte? Gott! nun sind schon zwei Jahre darüber vergangen und ich bin
immer noch wie von Sinnen; ich kann es bis jetzt noch nicht begreifen,
daß _Du mich_ lieben konntest! Ich verstehe nicht, wie es zwischen uns
so weit kam, womit es begann. Erinnerst Du Dich noch, was ich war im
Vergleich mit Dir? War ich denn Deiner wert, was war an mir, wodurch
zeichnete ich mich aus? Bevor ich Dich kennen lernte, war ich roh und
einfältig, und mein Aussehen traurig und düster. Ein anderes Leben
wünschte ich nicht, ich rief es weder, noch wollte ich es rufen. Alles
in mir war niedergedrückt und ich kannte in der ganzen Welt nichts
Wichtigeres, als meine tägliche Arbeit. Ich hatte nur eine Sorge – das
war der nächste Tag; doch selbst zu dieser verhielt ich mich
gleichmütig. Früher, ja, einmal vor langer Zeit, da hatte ich wohl etwas
Ähnliches erträumt und wie ein Narr phantastische Schlösser gebaut.
Seitdem aber war viel, viel Zeit vergangen und ich richtete mich so gut
es ging in meinem Leben ein, lebte einsam, verschlossen, ruhig und sogar
ohne die Kälte zu fühlen, die mein Herz erstarren ließ. Und so
verstummte es. Ich wußte doch, daß für mich nie eine andere Sonne
aufgehen werde, und ich glaubte daran und murrte nicht, denn ich
begriff, daß es _so sein mußte_. Als Du an mir vorübergingst, wußte ich
nicht, daß ich es wagen durfte, meine Augen zu Dir zu erheben. Ich war
wie ein Sklave vor Dir. Mein Herz bebte nicht neben Dir, es sehnte sich
nicht und verhieß mir nichts von Dir: es war ruhig. Meine Seele erkannte
die Deine nicht, wenn es in ihr auch leicht war neben ihrer schönen
Schwester. Das weiß ich; das fühlte ich dumpf. Das konnte ich fühlen,
denn selbst in das letzte Stäubchen dringt Gottes Sonnenlicht und wärmt
und liebkost es ebenso wie die schönste Blume, neben der es in
wunschloser Demut fröstelt. Als ich aber alles erfuhr, weißt Du noch,
nach jenem Abend, nach jenen Worten, die meine Seele bis auf den Grund
erschütterten – da war ich wie geblendet, bestürzt, alles verwirrte sich
in mir, und – was glaubst Du? – ich war so betroffen, ich traute mir so
wenig, daß ich Dich nicht verstand! Davon habe ich Dir nie etwas gesagt.
Du wußtest nichts; nicht so war ich früher, wie Du mich kennen lerntest.
Wenn ich gekonnt hätte, wenn ich gewagt hätte, zu sprechen, so hätte ich
Dir längst alles gestanden. Doch ich schwieg, jetzt aber werde ich Dir
alles sagen, denn Du sollst wissen, wen Du verlierst, von was für einem
Menschen Du Dich trennst. Weißt Du auch, wie ich Dich anfangs verstand?
Die Leidenschaft erfaßte mich wie ein Feuer, wie ein Gift ergoß sie sich
in mein Blut; sie verwirrte alle meine Gedanken und Gefühle, ich war wie
von schwerem Wein berauscht, wie im Dunst ging ich umher und auf Deine
reine _mitleidige_ Liebe antwortete ich nicht wie ein Ebenbürtiger einer
Ebenbürtigen, nicht wie einer, der Deiner reinen Liebe wert wäre,
sondern besinnungslos, herzlos. Ich erkannte Dich nicht. Ich antwortete
Dir wie einer, die sich in meinen Augen _bis zu mir vergaß_, und nicht
wie einer, die mich bis zu sich erheben wollte. Weißt Du, was ich von
Dir dachte, was das für mich bedeutete: _die sich bis zu mir vergaß_?
Doch nein, ich werde Dich nicht mit meinem Geständnis beleidigen; nur
eines will ich Dir sagen: Du hast Dich bitter in mir getäuscht! Niemals,
niemals konnte ich mich bis zu Dir erheben. Ich konnte Dich nur unnahbar
anschauen, Dein Wesen geistig erfassen in meiner schrankenlosen Liebe.
Meine Leidenschaft aber war nicht Liebe. Liebe fürchtete ich; ich wagte
nicht, Dich zu lieben. In der Liebe – ist Gemeinsamkeit, Gleichheit,
ihrer aber war ich nicht wert ... Oder ich weiß nicht, was mit mir war!
Oh! wie soll ich mich nur ausdrücken, um von Dir verstanden zu werden
... Ich glaubte anfangs nicht ... Oh! weißt Du noch, als meine erste
Erregung sich gelegt und mein Blick sich geklärt hatte, als mir nur ein
reines, makelloses Gefühl geblieben war – da war meine erste Empfindung
Verwunderung, Verwirrung, Furcht und – weißt Du noch – wie ich mich
plötzlich aufschluchzend Dir zu Füßen warf? Weißt Du noch, wie Du
verwirrt, erschrocken, mit Tränen in den Augen mich fragtest, was mit
mir sei? Ich schwieg, ich konnte Dir nicht antworten; aber meine Seele
zerriß sich in Stücke. Mein Glück bedrückte mich wie eine unerträgliche
Last und mein Schluchzen sprach: „Wofür das? Womit habe ich das
verdient? Wofür mir dieses Glück? Meine Schwester, meine Schwester!“ Oh!
und wie oft – Du merktest es nicht – wie oft habe ich heimlich Dein
Kleid geküßt, heimlich, denn ich wußte, daß ich Deiner nicht wert war, –
und es benahm mir den Atem, mein Herz schlug langsam und stark, als
wolle es stehenbleiben und das – für immer. Wenn ich Deine Hand nahm,
erbleichte ich und zitterte; Du verwirrtest mich mit Deiner Reinheit.
Nein, ich verstehe nicht – das alles auszudrücken, wovon meine Seele
erfüllt war und was sich so mächtig in Worten aus ihr herausdrängen
will! Weißt Du auch, daß es mir oft schwer war, Deine mitleidige,
gleichmäßige Zärtlichkeit zu ertragen, daß sie mir eine Qual war? Als Du
mich küßtest (das tatest Du einmal, und ich werde es nie vergessen), da
umflorte sich mein Blick und mein Geist versank wie in einem dunklen
Nebel. Warum starb ich nicht in diesem Augenblick zu Deinen Füßen? Sieh,
ich sage zum erstenmal „Du“ zu Dir, und doch hast Du es schon so oft von
mir verlangt, schon vor langer Zeit. Wirst Du verstehen, was ich sagen
will? Ich will Dir _alles_ sagen und sage Dir dies: ja, Du liebst mich,
mit einer großen Liebe, Du liebtest mich wie eine Schwester ihren
Bruder; Du liebtest mich wie Dein Geschöpf, denn durch Dich ist mein
Herz auferstanden, Du hast meinen Geist aus dem Schlaf geweckt und ihn
mit süßer Hoffnung erfüllt; ich aber konnte es nicht, wagte es nicht ...
ich habe Dich nie meine Schwester genannt, weil ich nicht Dein Bruder
sein konnte, weil wir ungleich waren, weil Du Dich in mir täuschtest!

Doch Du siehst, ich schreibe nur von mir; selbst jetzt in dieser Stunde
des Elends, denke ich nur an mich, obschon ich weiß, daß Du Dich um mich
quälst. Oh, quäle Dich nicht meinetwegen, meine liebe Freundin! Wenn Du
wüßtest, wie ich jetzt in meinen eigenen Augen erniedrigt bin! All das
ist an den Tag gekommen und – wieviel Lärm um nichts! Du wirst statt
meiner verstoßen, Dich straft man mit Verachtung, mit Spott, denn ich
stehe ja so niedrig in den Augen der Menschen! Oh, wie groß ist meine
Schuld, daß ich Deiner nicht wert war! Hätte ich Rang und Titel oder
persönlichen Wert in ihren Augen, wenn ich ihnen mehr Achtung einflößte
– dann würden sie Dir verzeihen! Ich aber bin nichts, bin wertlos, bin
lächerlich, noch Niederigeres aber als das Lächerliche gibt es nicht.
Denn – _wer_ sind sie, die da schreien? Gerade deshalb, weil _diese_
schon schrien, verlor ich den Mut – ich war von jeher schwach. Weißt Du,
in welch einer Stimmung ich jetzt bin? – ich lache über mich selbst und
ich glaube, sie haben recht, wenn sie sagen, ich sei mir selbst verhaßt
und in meinen eigenen Augen lächerlich. Ich hasse sogar mein Gesicht,
meine Gestalt, alle meine Angewohnheiten, alle meine ungeschickten
Bewegungen; ich habe sie immer gehaßt! Oh, vergib mir meine rohe
Verzweiflung! Aber Du selbst hast mich gelehrt, Dir alles zu sagen. Ich
habe Dich ins Unglück gestürzt, durch mich bist Du ihrem Spott und
Gelächter verfallen – weil ich Deiner nicht wert war!

Und dieser eine Gedanke quält mich; er klopft unaufhörlich in meinem
Gehirn und foltert und zerreißt mein Herz. Und immer scheint es mir, daß
Du gar nicht _den_ Menschen geliebt hast, der ich war, sondern einen,
den nur Du in mir sahst –: daß Du Dich getäuscht hast in mir. Das ist
es, was mich schmerzt, das ist es, was mich jetzt quält, was mich zu
Tode quälen wird: oder aber – ich werde darüber wahnsinnig!

Ich muß Abschied von Dir nehmen, Abschied! Jetzt, wo alle es wissen, wo
ihr Geschrei und ihr scharfes Urteil ertönt (ich habe es gehört!),
jetzt, wo ich klein und erniedrigt bin in meinen eigenen Augen und mich
vor mir selber schäme, ja wo ich mich sogar für Dich schäme, wegen
Deiner Wahl, wo ich mich verflucht habe, – jetzt muß ich verschwinden um
Deiner Ruhe willen. So verlangt man es, und Du wirst mich nie mehr
wiedersehen, nie mehr. So muß es auch sein, so ist es vom Schicksal
bestimmt! Es hat mir gar zu viel gegeben; wohl aus Versehen; und jetzt
macht es seinen Irrtum gut, indem es mir alles wieder nimmt. Unsere Wege
haben sich gekreuzt, wir lernten uns kennen, und nun gehen wir
auseinander bis zu einem neuen Wiedersehen! Wo wird das sein, wann wird
das sein? Oh, sag’ mir, Du Liebe, wo werden wir uns wiedersehen, wo kann
ich Dich finden, wie kann ich Dich verstehen lernen – und wirst auch Du
mich dann verstehen? Meine Seele ist so voll von Dir! Oh, wofür, wofür
das uns? Warum gehen wir auseinander? Belehre mich – ich begreife das
nicht, ich werde es nie begreifen, ich kann es nicht – lehre Du mich,
wie man das Leben in zwei Hälften brechen, wie man das Herz sich aus der
Brust reißen und ohne Herz leben kann! Wenn ich daran denke, daß ich
Dich nie mehr sehen werde, nie mehr, nie mehr! ...

Gott, was für ein Geschrei sie erhoben haben! wie ich jetzt für Dich
fürchte! Vor einer Stunde habe ich mit Deinem Mann gesprochen: wir sind
beide seiner nicht wert, obschon wir schuldlos vor ihm sind. Er weiß
alles; er sieht uns so, wie wir sind, und er begreift alles, auch früher
schon ist ihm alles klar gewesen. Und jetzt ist er wie ein Held für Dich
eingetreten. Er wird Dich gegen ihr Geschrei verteidigen und beschützen;
er liebt und achtet Dich grenzenlos; er ist Dein Retter, während ich
verschwinde! ... Ich wollte ihm die Hände küssen! ... Er sagte mir, ich
solle unverzüglich verreisen. Es ist schon beschlossen! Es heißt, er
habe Deinetwegen mit ihnen allen gebrochen; dort sind ja alle gegen
Dich. Man wirft ihm zu große Nachsicht und Schwäche vor. Mein Gott! Was
sie nicht alles von Dir reden! Und dabei wissen sie nichts! _Sie können
ja nicht, sie sind nicht fähig_, die Wahrheit zu begreifen! Vergib,
vergib ihnen, Du Arme, wie auch ich ihnen vergebe. Mir aber haben sie
mehr genommen als Dir!

Ich weiß nicht – nein, ich weiß nicht, was ich Dir schreibe. Was sagte
ich Dir gestern beim Abschied? Ich habe doch alles vergessen. Ich war
wie von Sinnen – Du weintest ... Vergib mir diese Tränen! Ich bin so
schwach, so kleinmütig!

Ich wollte Dir noch etwas sagen ... Oh! Noch einmal Deine Hände küssen,
mit diesen Tränen benetzen, die hier auf dem Papier meine Worte
verwischen! Noch einmal zu Deinen Füßen sitzen! Wenn _sie_ nur wüßten,
wie rein und gut Dein Gefühl war! Aber sie sind ja blind; ihre Herzen
sind stolz und hochmütig; sie sehen nicht und werden das niemals sehen.
Denn _sie haben das nicht, womit man sieht_! Sie werden es nie glauben,
daß Du schuldlos bist, auch wenn die ganze Welt es ihnen schwören
sollte. Wie sollten sie auch das begreifen! Und doch werden sie mit
Steinen nach Dir werfen! Wessen Hand wird die erste sein? Oh, die werden
nicht zaudern, tausend Steine werden sie aufheben! Ja, sie werden sich
dazu erdreisten, weil sie wissen, wie man das macht. Sie werfen alle
zugleich und sagen, sie selber seien schuldlos, deshalb dürften sie es!
Oh, wenn sie wüßten, was sie tun! Wenn man ihnen nur alles sagen könnte,
alles, rückhaltlos alles, damit sie es hören, sehen, begreifen und sich
überzeugen könnten! Doch nein, sie sind nicht so schlecht ... Ich rede
in meiner Verzweiflung ... – vielleicht verleumde ich sie! Vielleicht
stecke ich Dich mit meiner Angst um Dich an! Nein, fürchte sie nicht,
fürchte sie nicht, Du Liebe! Man wird Dich verstehen lernen; wenigstens
hat einer Dich schon begriffen: Dein Mann. Also hoffe!

Leb’ – leb’ wohl! _Ich danke Dir nicht!_ Für immer leb’ wohl.

                                                                S. O.“

Meine Verwirrung war so groß, daß ich lange Zeit nicht wußte, was in mir
vorging. Ich war erschüttert, erschrocken. Die Wirklichkeit traf mich
gar zu plötzlich, gar zu unerwartet mitten in dem lustigen Leben meiner
Träumereien, wie ich es schon drei Jahre lang lebte. Mit Schrecken wurde
ich gewahr, daß ich ein großes Geheimnis in meinen Händen hielt und daß
dieses Geheimnis mein ganzes Leben in Fesseln schlug ... wie? – das
wußte ich selbst noch nicht. Ich fühlte, daß in diesem Augenblick eine
neue Zukunft für mich begann. Jetzt war ich ungewollt eine nahe, gar zu
nahe Teilhaberin an dem Leben und den Beziehungen jener Menschen, die
noch die ganze mich umgebende Welt ausmachten, und ich fürchtete für
mich. Als was würde ich in ihr Leben eintreten, ich, die Ungerufene,
ich, die ihnen Fremde? Was würde ich ihnen bringen? Was wird jemals
diese Fessel lösen können, die mich so plötzlich an ein fremdes
Geheimnis kettete? Wer konnte das wissen? Vielleicht wird meine neue
Rolle sowohl für sie wie für mich qualvoll sein? Ich konnte nicht
schweigen oder diese Rolle nicht annehmen oder das, was ich erfahren,
für alle Zeit in meinem Herzen verschließen. Aber was erwartete mich?
Was sollte ich tun? Und schließlich – was hatte ich denn eigentlich
erfahren? Tausend Fragen, alle noch unbestimmt und unklar, erhoben sich
vor mir und bedrückten mein Herz unerträglich. Ich war wie verloren.

Dann kamen, erinnere ich mich, andere Minuten mit neuen, seltsamen, von
mir noch nie empfundenen Eindrücken. Es war mir, als löse sich etwas in
meiner Brust, als fiele die frühere Sehnsucht plötzlich von mir ab und
als werde mein Herz langsam von etwas Neuem erfüllt, von dem ich noch
nicht wußte, ob ich darüber trauern oder mich freuen sollte. Meine
Stimmung in dem Augenblick glich derjenigen eines Menschen, der auf ewig
sein Haus, sein früheres, ruhiges, sorgenloses Leben verläßt, um sich
auf einen weiten unbekannten Weg zu begeben, und der sich nun zum
letztenmal im Kreise umschaut und in Gedanken von allem Abschied nimmt,
während es dem Herzen bitter weh ist in einer bangen Vorahnung all des
Unbekannten und Traurigen und vielleicht auch Feindseligen der Zukunft,
in die ihn sein neuer weiter Weg hineinführt. Zuletzt brach ich in
Tränen aus und das krampfhafte Weinen erleichterte mein Herz. Ich hatte
das Bedürfnis, jemanden zu sehen, zu hören, ihn fest, krampfhaft zu
umarmen. Jetzt konnte, jetzt wollte ich nicht mehr allein bleiben; ich
lief zu Alexandra Michailowna und verbrachte den ganzen Abend bei ihr.
Wir waren allein. Ich bat sie, nicht zu spielen, und weigerte mich,
trotz ihrer Bitten, ihr etwas vorzusingen. Ich fühlte mich bedrückt und
konnte mich zu nichts sammeln. Ich glaube, wir weinten beide. Wenigstens
soweit ich mich erinnere, erschrak sie über meine Stimmung und redete
mir in Sorge zu, mich doch zu beruhigen, und mich nicht aufzuregen. Sie
beobachtete mich angstvoll und versicherte mir, ich sei krank und müsse
mich mehr schonen. Ich verließ sie gequält und wie mit mir selbst
zerfallen. Ich war halb bewußtlos und fieberte, als ich zu Bett ging.

Es vergingen mehrere Tage, bevor ich aus diesem Zustande mich
herausfand, gleichsam erwachte und meine Lage klarer übersehen konnte.
Damals lebten wir ganz einsam, denn Pjotr Alexandrowitsch war in einer
besonderen Angelegenheit nach Moskau gereist und blieb dort drei Wochen.
Alexandra Michailowna hatte aber trotz dieser kurzen Zeit der Trennung
schreckliche Sehnsucht nach ihm. Zuweilen war sie innerlich ruhiger,
schloß sich aber dennoch in ihr Zimmer ein, woraus ich ersah, daß ich
ihr lästig war. Aber auch ich hatte das Verlangen nach Einsamkeit. Meine
Gedanken arbeiteten mit geradezu krankhafter Angespanntheit und doch kam
ich wie aus einem Nebel nicht heraus. Dann verfiel ich wiederum für
ganze lange Stunden einem quälenden, nicht abzuschüttelnden Sinnen, das
wie ein Traum über mich kam. Und es war mir dann, als lache jemand leise
über mich, als habe sich etwas in mir niedergelassen, was mir jeden
Gedanken verwirrte und vergiftete. Ich konnte die quälenden Bilder nicht
loswerden, die jeden Augenblick vor mir auftauchten und mir keine Ruhe
gaben. Ich sah ein langes, trostloses Martyrium, ein Opfer, das still
und ruhig und klaglos und – umsonst gebracht wurde. Es schien mir, daß
derjenige, dem dieses Opfer galt, sie verachtete und über sie lachte. Es
schien mir, daß ich einen Sünder sah, der einem Gerechten Sünden vergab,
und mein Herz riß in Stücke! Gleichzeitig aber wollte ich mich mit aller
Gewalt von meinem Verdacht befreien; ich verfluchte diesen Verdacht und
haßte mich selbst, weil alle meine Überzeugungen keine Überzeugungen
waren, sondern nur Vorahnungen, und weil ich meine Eindrücke und
Empfindungen vor mir selber nicht rechtfertigen konnte.

Dann wieder erinnerte ich mich all jener Sätze, dieser letzten
hervorgestoßenen Worte des furchtbaren Abschieds. Ich stellte mir diesen
Abschied vor, den – _unebenbürtigen_; ich bemühte mich, den ganzen
qualvollen Sinn dieses Wortes zu erfassen: „unebenbürtig“. Und furchtbar
erschütterte mich dieser letzte verzweifelte Abschiedsgruß: „Ich bin
lächerlich und schäme mich selber Deiner Wahl.“ Was war das? Was sind
das für Menschen? Wonach sehnen sie sich, was quält sie, was haben sie
verloren? Und ich überwand mich und las nochmals mit angespannter
Aufmerksamkeit diesen Brief, der soviel Verzweiflung enthielt, dessen
Sinn mir aber so fremd war, so unbegreiflich. Doch der Brief sank mir
aus der Hand und eine aufrührerische Erregung bemächtigte sich meines
Herzens ... Das alles mußte ja einmal seine Lösung finden, aber ich sah
den Ausweg nicht oder ich fürchtete ihn!

Ich war fast krank, als eines Tages die Reiseequipage Pjotr
Alexandrowitschs in den Hof fuhr. Er war aus Moskau zurückgekehrt.
Alexandra Michailowna eilte außer sich vor Freude ihrem Mann entgegen,
ich aber blieb wie gelähmt stehen. Ich weiß noch, daß ich selber bis zum
Schreck über meine plötzliche Erregung betroffen war. Ich hielt das
nicht lange aus und lief auf mein Zimmer. Ich begriff nicht, was mich so
erschreckt hatte, aber die Tatsache, daß ich erschrocken war, flößte mir
Furcht ein. Nach einer Viertelstunde wurde ich gerufen und ich erhielt
einen Brief vom Fürsten. Im Salon erblickte ich noch einen Unbekannten,
der mit Pjotr Alexandrowitsch aus Moskau angekommen war, und aus
einzelnen Worten, die ich aus dem Gespräch auffing, verstand ich nur so
viel, daß er für lange Zeit bei uns bleiben werde. Das war der
Bevollmächtigte des Fürsten, der in irgendwelchen wichtigen
Angelegenheiten der fürstlichen Familie, die bis dahin in den Händen
Pjotr Alexandrowitschs geruht hatten, nunmehr nach Petersburg
übersiedelte. Er war es, der mir den Brief des Fürsten übergab und
sagte, die Prinzeß habe mir gleichfalls schreiben wollen und noch bis
zum letzten Augenblick versichert, daß sie den Brief unbedingt schreiben
werde, aber zu guter Letzt habe sie ihn doch mit leeren Händen abreisen
lassen und ihn gebeten, mir mündlich folgendes zu sagen: daß sie mir
entschieden nichts zu schreiben habe, sie habe ganze fünf Briefbogen
zerrissen, und sei zu der Überzeugung gekommen, daß in einem Brief sich
doch nichts sagen ließe, wir müßten eben von neuem Freundschaft
schließen; und ferner solle er mich versichern, daß uns ein baldiges
Wiedersehen bevorstehe. Auf meine ungeduldige Frage, wann das sein
werde, antwortete mir der fremde Herr, daß die ganze fürstliche Familie
allerdings die Absicht habe, bald nach Petersburg zurückzukehren, und
vermutlich werde das auch geschehen. Meine Freude darüber war so groß,
daß ich nicht wußte, was ich tun oder sagen sollte, und ich ging schnell
nach oben auf mein Zimmer, schloß mich ein und erbrach unter Tränen den
Brief des Fürsten. Der Fürst verhieß mir ein baldiges Wiedersehen mit
ihm und Katjä und gratulierte mir tief gerührt zu meinem Talent; zum
Schluß gab er mir seinen Segen und versprach, für meine Zukunft zu
sorgen. Ich weinte, während ich den Brief las; doch zu den Tränen
gesellte sich eine so unerträgliche Traurigkeit, daß ich, wie ich mich
erinnere, um mich selber in Angst geriet. Ich wußte nicht, was mit mir
geschah.

Es vergingen ein paar Tage. In dem Zimmer zwischen dem meinigen und der
Bibliothek, wo früher Pjotr Alexandrowitschs Sekretär und Gehilfe
gearbeitet hatte, arbeitete jetzt jeden Vormittag und häufig auch abends
bis nach Mitternacht der neuangekommene Herr. Oft schlossen er und Pjotr
Alexandrowitsch sich im Kabinett des letzteren ein und arbeiteten
zusammen. An einem Nachmittage bat mich Alexandra Michailowna, zu ihrem
Mann ins Kabinett zu gehen und ihn zu fragen, ob er zum Tee zu uns
kommen werde. Im Kabinett war niemand, doch in der Annahme, daß er bald
zurückkehren werde, blieb ich dort und wartete. An der Wand hing sein
Porträt. Ich erinnere mich noch, daß ich zusammenfuhr, als ich plötzlich
dieses Bild erblickte, um es dann mit einer mir selbst unbegreiflichen
Erregung zu betrachten. Es hing ziemlich hoch und die Dämmerung machte
es noch undeutlicher; um es nun besser zu sehen, zog ich einen Stuhl
heran und stieg auf ihn hinauf. Ich wollte etwas aufdecken, ja es war,
als hoffte ich, eine Antwort auf meine Zweifel und Fragen zu finden, und
ich weiß noch, daß mir vor allem die Augen an diesem Porträt auffielen.
Zugleich fiel es mir auch ein, daß ich noch niemals die Augen dieses
Menschen gesehen hatte: er verbarg sie immer hinter den Brillengläsern.

Schon als Kind hatte ich seinen Blick nicht gemocht, und zwar infolge
eines unerklärlichen, seltsamen Vorurteils, das ich aber jetzt gleichsam
als gerechtfertigt empfand. Meine Phantasie war beeinflußt. Plötzlich
schien es mir, daß die Augen des Bildes sich verwirrt abwandten, um
meinem forschenden, prüfenden Blick auszuweichen, daß sie ihn krampfhaft
mieden, und daß Lüge und Betrug in diesen Augen waren; es schien mir,
daß ich es erraten hatte, und eine geheime Freude, die ich selbst nicht
begriff, antwortete in mir auf dieses Erraten. Ein halblautes „Ach!“
entschlüpfte mir unwillkürlich. Da war’s mir plötzlich, als sei noch
jemand im Zimmer. Ich sah mich um: vor mir stand Pjotr Alexandrowitsch
und betrachtete mich aufmerksam. Plötzlich errötete er. Ich wurde
feuerrot und sprang vom Stuhl herab.

„Was tun Sie hier?“ fragte er mich streng. „Warum sind Sie hier?“

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Doch ich nahm mich zusammen
und brachte so gut es ging die Aufforderung Alexandra Michailownas
hervor. Ich weiß nicht, was er mir antwortete; ich weiß auch nicht, wie
ich das Kabinett verließ; als ich aber zu Alexandra Michailowna kam, da
hatte ich die Antwort, auf die sie wartete, spurlos vergessen, und ich
sagte aufs Geratewohl, ja, er werde kommen.

„Aber was ist mit dir, Njetotschka?“ fragte sie, „du bist ja ganz rot;
sieh doch im Spiegel, wie du aussiehst ... Was fehlt dir, Kind?“

„Ich weiß nicht, ich bin schnell gegangen ...“ sagte ich.

„Und was hat denn Pjotr Alexandrowitsch gesagt?“ unterbrach sie mich
etwas verwirrt.

Ich antwortete nicht. Da hörten wir Schritte, er kam schon, und ich ging
schnell hinaus. Ganze zwei Stunden wartete ich in großem Kummer. Endlich
wurde ich zu Alexandra Michailowna gerufen. Sie war schweigsam und
bekümmert. Als ich eintrat, traf mich nur ein schneller forschender
Blick von ihr und sie schlug die Augen nieder. Ich glaubte, eine gewisse
Verwirrung in ihrem Gesicht zu bemerken. Bald sah ich, daß sie bei
schlechter Laune war; sie sprach wenig, vermied mich anzusehen und als
Antwort auf die besorgten Fragen B.’s klagte sie über Kopfschmerz. Pjotr
Alexandrowitsch war dagegen gesprächiger als sonst, unterhielt sich aber
nur mit B.

Alexandra Michailowna trat zerstreut an den Flügel.

„Singen Sie uns etwas vor,“ bat B., sich an mich wendend.

„Ja, Annjeta, singe deine neue Arie,“ sagte Alexandra Michailowna
schnell, als freue sie sich über den Vorwand.

Ich blickte zu ihr auf: sie sah mich in unruhiger Erwartung an.

Doch ich konnte mich nicht überwinden. Statt an den Flügel zu treten, um
wenigstens irgend etwas zu singen, geriet ich in Verwirrung, wurde
verlegen und wußte nicht, zu welcher Ausrede ich meine Zuflucht nehmen
sollte; schließlich ärgerte ich mich und schlug die Bitte rund ab.

„Warum willst du denn nicht singen?“ fragte Alexandra Michailowna, dabei
sah sie mich an und dann, für den Bruchteil einer Sekunde, ihren Gatten.

Diese zwei Blicke brachten mich um meine ganze Selbstbeherrschung. Ich
erhob mich in größter Verwirrung, die ich nicht mehr zu verbergen
vermochte, und zitternd von einer Empfindung, die wie Ärger und Ungeduld
war, wiederholte ich heftiger als angebracht, daß ich nicht wolle, nicht
könne – ich sei krank. Indem ich das sagte, sah ich alle offen an, doch
Gott weiß, wie gern ich mich in diesem Augenblick in meinem Zimmer vor
allen versteckt hätte.

B. war erstaunt und Alexandra Michailowna sichtlich bekümmert, doch
sagte sie kein Wort. Pjotr Alexandrowitsch aber erhob sich plötzlich von
seinem Platz, sagte, er habe etwas Wichtiges vergessen, und wie im Ärger
darüber, daß er soviel kostbare Zeit vergeudet, verließ er eilig das
Zimmer, nachdem er vorausgeschickt, daß er später vielleicht noch
vorsprechen werde – doch drückte er auf alle Fälle B. schon zum Abschied
die Hand.

„Aber was fehlt Ihnen nur?“ fragte mich B., „Sie sehen auch wirklich
krank aus.“

„Ja, ich bin nicht ganz wohl, wirklich nicht,“ versetzte ich ungeduldig.

„Du bist bleich, vorhin aber warst du so rot,“ sagte Alexandra
Michailowna und plötzlich stockte sie.

„Ach, das ist doch nichts!“ suchte ich sie zu beruhigen und ging
schnurstracks zu ihr. Ich sah ihr offen in die Augen. Die Arme hielt
meinen Blick nicht aus, senkte ihren Blick wie eine Schuldige und eine
leichte Röte stieg in ihre blassen Wangen. Ich nahm ihre Hand und küßte
sie. Sie sah mich – das fühlte ich – mit erheuchelter Freude an.

„Verzeihen Sie, daß ich heute ein so schlechtes, böses Kind war,“ bat
ich sie herzlich, „aber wirklich, ich bin krank. So seien Sie mir nicht
böse und erlauben Sie, daß ich jetzt auf mein Zimmer gehe ...“

„Wir sind alle Kinder,“ sagte sie mit einem schüchternen Lächeln, „auch
ich bin ein Kind, und schlechter, viel schlechter als du,“ flüsterte sie
mir leise ins Ohr. „Dann gute Nacht und bleibe gesund. Nur, um Gottes
willen, sei mir nicht böse.“

„Weswegen?“ fragte ich, so sehr traf mich dieses naive Geständnis.

„Weswegen?“ wiederholte sie in plötzlicher Verwirrung, ja sogar als
erschrecke sie über sich selbst. „Ja weswegen? Nun siehst du, wie ich
bin, Njetotschka. Was habe ich dir da gesagt? Gute Nacht! Du bist klüger
als ich ... Ich aber bin schlimmer als ein Kind.“

„Nun, schon gut!“ Ich war gerührt und wußte nicht, was ich ihr darauf
sagen sollte. Ich küßte sie nochmals und ging aus dem Zimmer.

Mein Unmut galt hauptsächlich mir selbst, denn ich fühlte, daß ich zu
unvorsichtig war und mich nicht zu benehmen verstand. Es war da etwas,
dessen ich mich bis zu Tränen schämte, und mit großem Leid im Herzen
schlief ich ein. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mein erster
Gedanke, daß der ganze letzte Abend – nur eine Gespensterseherei gewesen
sei, daß wir uns gegenseitig nur mystifiziert hatten, indem wir solchen
Nichtigkeiten die Bedeutung von Gott weiß was für Begebenheiten
beilegten, daß wir uns einfach übereilt hatten, und zwar alles das nur
infolge unserer Unerfahrenheit im Leben und unserer Ungewohntheit,
äußere Eindrücke zu empfangen. Ich fühlte es, daß dieser Brief an allem
schuld war, daß er mich gar zu sehr beunruhigte, daß meine
Einbildungskraft durch ihn aus ihrem gewöhnlichen Geleise gehoben war
und daß ich deshalb am besten tat, wenn ich in Zukunft überhaupt nicht
mehr an ihn dachte. Nachdem ich so meinen ganzen Kummer verscheucht
hatte, wurde ich – in der Überzeugung, daß ich den Entschluß, überhaupt
nicht mehr an den Brief zu denken, ebenso leicht werde ausführen können
– langsam ruhiger, ja fast sogar heiter, und begab mich in die
Gesangsstunde. Die Morgenluft erfrischte meinen Kopf endgültig. Diese
Wanderungen frühmorgens zu meinem Lehrer waren mir zu einer wahren
Erquickung geworden und ich liebte sie sehr. Es war so lustig, durch die
Stadt zu wandern, die sich schon zu beleben anfing und wie ein Uhrwerk
ihre tägliche Arbeit begann. Wir gingen gewöhnlich durch die
Hauptstraßen, die natürlich am belebtesten waren, und mir gefiel dieser
Anfang meiner Künstlerlaufbahn, eben dieser Kontrast zwischen der
alltäglichen Kleinlichkeit, der engen, doch lebendig pulsierenden Sorge,
und der Kunst, die mich zwei Schritte von diesem Leben entfernt
erwartete, im dritten Stock eines riesigen Hauses, das von oben bis
unten von Menschen bewohnt war, die die Kunst, wie mir schien, so gut
wie überhaupt nichts anging. Ich mit meinen Noten unterm Arm inmitten
dieser geschäftigen, besorgten Menschen – neben mir die alte Natalja,
die mich begleitete und mir jedesmal ahnungslos das Rätsel zu erraten
gab: woran sie eigentlich und vornehmlich denken mochte – und
schließlich mein Lehrer, halb Italiener, halb Franzose, ein ganzer
Sonderling, in manchen Augenblicken ein richtiger Enthusiast, viel öfter
aber ein Pedant und am meisten und vor allem ein Geizhals – alles das
zerstreute mich, brachte mich zum Lachen oder zum Nachdenken. Hinzu kam,
daß ich, so zaghaft ich in der Beziehung auch noch war, doch schon mit
leidenschaftlicher Hoffnung meine Kunst liebte. Ich baute mir schon
Luftschlösser, malte mir die schönste Zukunft aus, und nicht selten kam
ich nach Haus – glühend von meinen Phantasien! Kurz, in diesen Stunden
war ich fast glücklich.

Dasselbe empfand ich auch damals, als ich gegen zehn Uhr zurückkehrte.
Ich hatte alle Sorgen vergessen und war, wie ich mich noch deutlich
erinnere, so froh gelaunt, so ganz erfüllt von irgendwelchen
Zukunftsträumen. Doch plötzlich, wie ich die Treppe hinaufstieg, zuckte
ich zusammen, als hätte ich mich verbrannt. Über mir hörte ich die
Stimme Pjotr Alexandrowitschs, der in diesem Augenblick die Treppe
herabstieg. Das unangenehme Gefühl, das sich meiner bemächtigte, war so
stark, die Erinnerung an den letzten Abend traf mich so plötzlich und so
feindselig, daß ich meine Empfindung wirklich nicht verbergen konnte.
Ich verbeugte mich leicht vor ihm, doch mein Gesicht drückte wohl so
deutlich alles aus, daß er einen Augenblick verwundert vor mir stehen
blieb. Da errötete ich und ging schnell hinauf. Er brummte mir noch
etwas nach und ging dann seiner Wege.

Ich hätte weinen mögen vor Ärger und konnte doch nicht begreifen, was
eigentlich vorgegangen war. Den ganzen Tag war ich wie verwirrt und
wußte nicht, zu was ich mich entschließen sollte, um dieser ganzen Qual
ein Ende zu machen und sie endlich loszuwerden. Tausendmal nahm ich mir
vor, fortan vernünftiger zu sein, und tausendmal nahm mich die Angst
doch wieder gefangen. Ich fühlte, daß ich diesen Menschen haßte, und war
gleichzeitig in Verzweiflung über mich selbst. Ich wurde krank von der
ewigen Aufregung und verlor alle Gewalt über mich. Ich ärgerte mich
schließlich über alle, und verbrachte den ganzen langen Tag auf meinem
Zimmer. Auch zu Alexandra Michailowna ging ich nicht. Sie kam selbst zu
mir. Als sie mich erblickte, schrie sie fast auf. Ich war so bleich, daß
ich, als ich in den Spiegel sah, vor mir selber erschrak. Alexandra
Michailowna blieb eine ganze Stunde bei mir und ging mit mir um wie mit
einem kranken Kinde.

Ihre Aufopferung und Liebe machten mich aber so traurig und ihre
Zärtlichkeit war für mich so schwer zu ertragen und es war mir so
qualvoll, sie anzusehen, daß ich sie bat, mich allein zu lassen. Sie
verließ mich in großer Sorge um meinen Zustand. Endlich brach ich in
Tränen aus und weinte wie in einem richtigen Weinkrampf. Danach wurde
mir bedeutend leichter ...

... Leichter, weil ich mich entschlossen hatte, zu ihr zu gehen. Ich
wollte vor ihr niederknien, ihr den Brief geben, den sie verloren hatte,
und ihr alles gestehen: alle Qualen, die ich ausgestanden, meine
Zweifel, und wollte sie mit der ganzen schrankenlosen Liebe, die in mir
für sie glühte, umfangen, wollte ihr sagen, daß ich ihr Kind, ihr Freund
sei, daß ich mein ganzes Herz vor ihr öffne, damit sie hineinschaue und
sähe, wieviel glühende Liebe und unerschütterliches Vertrauen zu ihr in
ihm waren. Mein Gott! Ich wußte, ich fühlte ja, daß ich die letzte war,
der sie ihr Herz aufdecken konnte, doch um so eher, so schien es mir,
wäre dann eine Rettung möglich, um so gewichtiger wäre dann mein Wort
... Ich erriet, ich begriff ihren Schmerz, wenn auch dunkel und unklar,
und mein Herz bebte vor Entrüstung bei dem Gedanken, daß sie vor mir
erröten könnte, _sie_ vor _meinem_ Richterstuhl ... „Du Arme, du Arme,
_du_ solltest jene Sünderin sein, für die du dich hältst?“ – das wollte
ich ihr sagen, wenn ich vor ihr kniete. Mein Gerechtigkeitsgefühl
empörte sich in mir, ich war meiner selbst nicht mehr mächtig. Ich weiß
nicht, was ich noch alles gesagt hätte – erst später kam ich zur
Besinnung, nachdem ein Zufall mich und sie vor dem Verderben bewahrt,
indem er mich fast beim ersten Schritt zurückhielt. Entsetzen erfaßte
mich. Hätte denn ihr zu Tode gequältes Herz überhaupt noch in neuer
Hoffnung auferstehen können? Ich hätte sie nur auf der Stelle getötet!

Es geschah aber folgendes: Als ich auf dem Wege zu ihr gerade durch das
vorletzte Zimmer vor ihrem Salon gehen wollte, trat plötzlich durch eine
andere Tür in dasselbe Zimmer Pjotr Alexandrowitsch und ging, ohne mich
zu bemerken, wenige Schritte vor mir gleichfalls zu ihr. Ich blieb wie
gelähmt stehen; er war der Letzte, den ich in diesem Augenblick hätte
sehen mögen. Ich wollte schon zurückkehren, doch plötzlich bannte mich
die Neugier regungslos an den Fleck.

Er durchschritt das Zimmer, blieb einen Augenblick vor dem Spiegel
stehen, ordnete mit der Hand das Haar, und mit einem Male – zu meiner
sprachlosen Verwunderung – hörte ich ihn irgendeine muntere Melodie
summen. Wie ein Blitz durchzuckte eine dunkle, ferne Erinnerung aus den
Kinderjahren mein Gedächtnis. Doch damit die seltsame Empfindung, die
ich in diesem Augenblick hatte, verständlicher wird, will ich jene
Erinnerung mitteilen. Noch im ersten Jahre meines Aufenthaltes in diesem
Hause machte mich einmal eine gleichfalls zufällige Beobachtung ganz
betroffen, die mir aber erst jetzt voll zu Bewußtsein kam, denn erst
jetzt, erst in diesem Augenblick begriff ich die Ursache meiner
unerklärlichen Abneigung gegen diesen Menschen! Ich erwähnte bereits,
daß ich mich schon damals in seiner Gegenwart immer bedrückt fühlte.
Auch habe ich bereits erzählt, was für einen Eindruck sein finsteres,
bedrückendes Wesen auf mich machte, sein oft trauriges, geradezu
gramvolles Gesicht; wie schwer es mir ums Herz war nach jenen Stunden,
die wir zusammen am Teetischchen Alexandra Michailownas verbrachten, und
dann – was für ein peinvolles Gefühl mein Herz erfüllte, als ich – was
nur zwei- oder dreimal geschah – fast Zeugin war jener niederdrückenden,
mir so ganz unklaren Szenen.

Es war in demselben Zimmer und um dieselbe Zeit, als er, ganz wie ich,
zu Alexandra Michailowna ging. Mich erfaßte eine rein kindliche Scheu,
als ich allein mit ihm zusammentraf, und ich versteckte mich gleichsam
schuldbewußt im Winkel und betete, daß er mich nicht bemerken möge.
Geradeso wie damals, blieb er vor dem Spiegel stehen und ich zuckte
zusammen von einer unbestimmten, gar nicht kindlichen Empfindung: es
schien mir, daß er sein Gesicht plötzlich verändere. Wenigstens hatte
ich vorher, als er zum Spiegel trat, deutlich ein Lächeln in seinem
Gesicht gesehen – ein Lächeln, während ich ihn früher noch niemals
lächeln gesehen hatte, denn (ich erinnere mich, das machte mich noch am
meisten betroffen) – er lachte nie in Alexandra Michailownas Gegenwart.
Und nun plötzlich, kaum daß er einen Blick in den Spiegel geworfen,
veränderte sich sein ganzes Gesicht: das Lächeln verschwand wie auf
Befehl und an seine Stelle trat der Ausdruck eines unsäglich bitteren
Gefühls, das sich anscheinend mit Gewalt aus dem Herzen drängte, eines
Gefühls, das zu verbergen scheinbar nicht mehr in menschlicher Macht
stand, wie groß auch immer jeder edelmütige Versuch dazu sein mochte,
und es zuckte um seine Lippen – ein anscheinend konvulsivischer Schmerz
ließ seine Stirn sich runzeln und zog die Brauen zusammen. Der Blick
verbarg sich düster hinter den Brillengläsern – kurz, sein Gesicht wurde
wie auf Kommando zum Gesicht eines ganz anderen Menschen. Ich erinnere
mich, daß ich, als ohnehin ängstliches Kind, vor Furcht erzitterte, vor
Furcht, das zu begreifen, das ganz zu erfassen und zu durchschauen, was
ich sah, und seit jenem Augenblick saß die bedrückende, unangenehme
Empfindung unausrottbar in meinem Herzen. Und nach dem Blick in den
Spiegel senkte er den Kopf, nahm eine müdere Haltung an, jene, in der er
gewöhnlich bei Alexandra Michailowna erschien, und ging leise in ihr
Boudoir. Diese Erinnerung war es, die mich nun plötzlich wie ein Blitz
durchzuckte.

Auch jetzt glaubte er, ganz wie damals, daß er allein im Zimmer sei und
blieb vor demselben Spiegel stehen. Ganz wie damals stand ich dort, von
ihm unbemerkt, mit einem feindseligen unangenehmen Gefühl. Als ich ihn
aber dieses Liedchen summen hörte (ein Lied von ihm, von dem man alles
eher als das hätte erwarten können!) und vor Überraschung wie gelähmt
stehenblieb, als mir in diesem Augenblicke blitzartig die Ähnlichkeit
mit dem einen von mir als Kind erlebten Augenblick einfiel – da, ich
kann es nicht wiedergeben, was für eine Empfindung mir plötzlich
messerscharf ins Herz schnitt. Alle meine Nerven zuckten davon zusammen
und als Antwort auf dieses unglückselige Liedchen brach ich in ein
solches Gelächter aus, daß der arme Sänger mit einem Aufschrei zwei
Schritte weit vom Spiegel fortsprang und, bleich wie der Tod, wie ein
schmachvoll auf frischer Tat ertappter Verbrecher, mich ansah, außer
sich vor Schreck, vor Verblüffung und vor Wut. Sein Blick reizte mich
krankhaft und ich antwortete auf ihn mit nervenschüttelndem,
unersättlichem Lachen – ihm gerade ins Gesicht. Dann ging ich lachend an
ihm vorüber und trat, ohne mit dem Lachen aufzuhören, bei Alexandra
Michailowna ein. Ich wußte, daß er hinter der Portiere stand, daß er
vielleicht unschlüssig war, ob er gleichfalls eintreten sollte oder
nicht, daß Wut und Feigheit ihn an den Fleck bannten, wo er stand – und
mit einer seltsam gereizten, herausfordernden Ungeduld erwartete ich,
wozu er sich entschließen werde. Ich hätte wetten können, daß er nicht
eintreten werde, und ich hätte meine Wette gewonnen. Er kam erst nach
einer halben Stunde. Alexandra Michailowna sah mich lange Zeit mit
größter Verwunderung an, doch sie fragte mich vergeblich nach der
Ursache meiner Erregung. Ich konnte nicht antworten, ich war zu atemlos.
Endlich begriff sie, daß ich einen Nervenanfall gehabt hatte, und ihre
Augen folgten mir beunruhigt. Als ich mich etwas erholt hatte, erfaßte
ich ihre Hände und bedeckte sie mit Küssen. Jetzt erst besann ich mich
und jetzt erst sagte ich mir, daß ich sie getötet hätte, wenn das
zufällige Zusammentreffen mit ihrem Mann nicht gewesen wäre. Ich sah sie
an, als sähe ich in ihr eine Auferstandene.

Pjotr Alexandrowitsch trat herein.

Ich blickte flüchtig zu ihm hin: er sah aus, als sei nichts geschehen,
also düster und verschlossen wie gewöhnlich. Es fiel mir nur auf, daß er
sehr bleich war und ich sah seine Mundwinkel zucken: da erriet ich, daß
er seine Erregung nur mit Mühe verbarg. Kühl grüßte er Alexandra
Michailowna und setzte sich schweigend auf seinen Platz. Seine Hand
zitterte ein wenig, als er die Tasse in Empfang nahm. Ich erwartete
einen Zornesausbruch und eine stumme Angst erfaßte mich. Ich wollte
schon hinausgehen, konnte mich aber nicht entschließen, Alexandra
Michailowna, deren Gesicht sich beim Anblick ihres Mannes verändert
hatte, zu verlassen. Sie hatte gleichfalls ein Vorgefühl, das ihr nichts
Gutes verhieß. Und das, was ich mit solcher Angst erwartete, geschah
denn auch endlich.

Inmitten des tiefsten Schweigens sah ich auf und mein Blick begegnete
den Brillengläsern Pjotr Alexandrowitschs, die geradeaus auf mich
gerichtet waren. Das war so überraschend, weil so ungewohnt, daß ich
zusammenzuckte, fast einen Schrei ausstieß, und die Augen niederschlug.
Alexandra Michailowna bemerkte meinen Schreck.

„Was ist mit Ihnen? Warum erröten Sie?“ fragte Pjotr Alexandrowitsch
schroff und fast grob.

Ich schwieg; mein Herz klopfte so stark, daß ich kein Wort hätte
hervorbringen können.

„Weshalb ist sie errötet? Weshalb errötet sie immer?“ fragte er, sich an
Alexandra Michailowna wendend, indem er frech auf mich wies.

Mein Unwille benahm mir den Atem. Ich warf einen flehenden Blick
Alexandra Michailowna zu. Sie verstand mich. In ihre bleichen Wangen
stieg edle Röte.

„Annjeta,“ sagte sie zu mir mit so fester Stimme, wie ich sie von ihr
unter keinen Umständen erwartet hatte, „geh auf dein Zimmer, ich werde
sogleich zu dir kommen; den Abend werden wir zusammen verbringen ...“

„Ich frage Sie, haben Sie mich gehört oder nicht?“ unterbrach Pjotr
Alexandrowitsch mit erhobener Stimme, als höre er gar nicht, was seine
Frau sagte. „Weshalb erröten Sie, wenn Sie mir begegnen? Antworten Sie!“

„Weil Sie sie erröten machen und mich gleichfalls,“ antwortete statt
meiner Alexandra Michailowna, vor Aufregung stockend.

Ich blickte erstaunt zu ihr auf. Die Schärfe ihrer Entgegnung schon
gleich zu Anfang war mir ganz unverständlich.

„_Ich_ mache Sie erröten, _ich_?“ fragte Pjotr Alexandrowitsch, wie es
schien auch über alle Maßen erstaunt und das „Ich“ stark betonend. „Für
_mich_ sind _Sie_ errötet? Ja kann _ich_ denn überhaupt _Sie_ für _mich_
erröten machen? An wem ist es, an _mir_ oder an _Ihnen_, zu erröten, was
meinen Sie?“

Diese Frage war so deutlich, auch für mich, und mit so gehässigem
beißenden Spott gesagt, daß ich vor Entsetzen aufschrie und zu Alexandra
Michailowna stürzte. Überraschung, Schmerz, Vorwurf und Entsetzen
sprachen aus ihrem todbleichen Gesicht. Ich blickte flehend auf Pjotr
Alexandrowitsch und faltete die Hände, um ihn zu beschwören. Wie es
schien, war er selber etwas erschrocken, doch die Wut, die ihm diese
Worte entrissen, war noch nicht vergangen. Aber meine stumme Bitte
schien ihn doch einigermaßen zu verwirren. Meine Geste mußte verraten,
daß ich schon vieles von dem wußte, was zwischen ihnen ein Geheimnis
gewesen war und daß ich den Sinn seiner Worte sehr gut verstanden hatte.

„Annjeta, geh auf dein Zimmer,“ wiederholte Alexandra Michailowna mit
schwacher, jedoch fester Stimme und sie erhob sich vom Stuhl, „ich habe
dringend mit Pjotr Alexandrowitsch zu sprechen ...“

Sie war anscheinend ruhig; doch diese Ruhe beängstigte mich mehr als
jede Aufregung es vermocht hätte. Ich stand, als habe ich ihre Worte
nicht gehört, und rührte mich nicht vom Fleck. Ich sah sie an und
versuchte mit Anspannung aller Kräfte aus ihrem Gesicht zu erraten, was
in ihrer Seele vorging. Es schien mir, daß sie weder meinen Ausruf, noch
meine Geste richtig verstanden hatte.

„Da sehen Sie jetzt Ihr Werk!“ sagte Pjotr Alexandrowitsch, auf seine
Frau weisend.

Mein Gott! Noch niemals hatte ich eine solche Verzweiflung gesehen, wie
ich sie jetzt in diesem vor Gram todmüden, gleichsam erstorbenen
Gesicht, sah. Er faßte mich am Handgelenk und führte mich zur Tür. Im
Hinausgehen blickte ich mich noch einmal nach ihnen um. Alexandra
Michailowna stand am Kamin, die Ellenbogen aufgestützt, den Kopf
zwischen beiden Händen, mit denen sie ihn krampfhaft zusammenpreßte. Die
ganze Stellung ihres Körpers drückte unerträgliche Qual aus. Ich griff
nach Pjotr Alexandrowitschs Hand und drückte sie flehend.

„Um Gottes willen! Um Gottes willen!“ flüsterte ich stockend, „haben Sie
Erbarmen mit ihr!“

„Fürchten Sie sich nicht, fürchten Sie sich nicht!“ sagte er und sah
mich dabei eigentümlich an. „Das ist nichts, nur ein Anfall. Gehen Sie,
gehen Sie.“

In meinem Zimmer warf ich mich auf das Sofa und vergrub das Gesicht in
den Händen. Ganze drei Stunden verblieb ich in dieser Stellung und in
der Zeit stand ich Höllenqualen aus. Schließlich konnte ich mich doch
nicht mehr bezwingen und ließ fragen, ob ich zu Alexandra Michailowna
kommen dürfe. Die Antwort brachte mir Madame Léotard. Pjotr
Alexandrowitsch ließ mir durch sie sagen, daß der Anfall überstanden und
eine Gefahr nicht vorhanden sei, doch bedürfe sie noch der Ruhe. Ich
blieb aber trotzdem bis drei Uhr nachts auf und ging ruhelos in meinem
Zimmer hin und her. Meine Gedanken arbeiteten. Ich befand mich in einer
Lage, die mir rätselhafter als jemals war, aber ich fühlte mich
gewissermaßen ruhiger – vielleicht deshalb, weil ich mich am
schuldigsten von allen fühlte. In ungeduldiger Erwartung des nächsten
Morgens ging ich zu Bett.

Am anderen Tage bemerkte ich zu meinem großen Kummer eine mir
unerklärliche Kälte im Wesen Alexandra Michailownas. Zuerst glaubte ich,
das sei nur deswegen, weil es ihrem reinen, vornehmen Herzen schwer
werde, nach der Szene mit ihrem Mann, deren Zeugin ich gewesen war, mit
mir zusammen zu sein. Ich wußte, daß dieses Kind imstande war, vor mir
zu erröten und _mich_ womöglich noch um Verzeihung zu bitten, weil diese
unglückliche Szene _meinem_ Herzen weh getan. Bald aber bemerkte ich an
ihr so etwas wie eine bestimmte Sorge, wie einen Unwillen, der einen
einzigen bestimmten Grund zu haben schien und sich nun in verschiedenen
Formen äußerte: bald antwortete sie trocken und kühl, bald klang aus
ihren Worten ein gewisser Doppelsinn, als wolle sie etwas Besonderes
andeuten; dann wurde sie wiederum sehr lieb und gut zu mir, als bereue
sie diese Schroffheit und Kälte, die ihr Herz ja doch nicht lange für
mich empfinden konnte, und ihre freundlichen leisen Worte suchten den
Eindruck zu verwischen und verrieten, daß ihre Unfreundlichkeit ihr von
Herzen leid tat. Schließlich fragte ich sie ganz offen, was mit ihr sei
und ob sie mir vielleicht etwas zu sagen habe. Meine plötzliche schnelle
Frage verwirrte sie ein wenig, doch sofort sah sie wieder auf, sah mich
mit großen, stillen Augen und einem zarten Lächeln an und fragte mich:

„Nichts, Njetotschka; nur, weißt du, als du mich so plötzlich fragtest,
da geriet ich in Verwirrung. Aber das geschah nur deshalb, weil es so
plötzlich kam ... ich versichere dir. Doch höre, sage mir die Wahrheit,
mein Kind: hast du nicht so etwas auf dem Herzen, wovon du ebenso
verwirrt werden könntest, wenn man dich ebenso plötzlich und unerwartet
danach fragen würde?“

„Nein,“ antwortete ich, und sah sie mit hellen Augen offen an.

„Nun, dann ist es ja gut! Wenn du wüßtest, mein Kind, wie ich dir
dankbar bin für diese schöne und offene Antwort. Nicht, daß ich dich
irgendeines Schlechten verdächtigt hätte, – niemals! Einen solchen
Gedanken würde ich mir nie verzeihen. Doch höre: ich nahm dich als Kind
zu mir und jetzt bist du siebzehn Jahre alt. Du hast ja selbst gesehen:
ich bin leidend; ich bin selbst wie ein Kind, das Nachsicht beansprucht.
Ich konnte dir die leibliche Mutter nicht vollständig ersetzen, obgleich
mein Herz für dich überreich an Liebe war. Wenn mich jetzt Sorgen um
dich quälen, so bin ich selbstverständlich schuld daran und nicht du.
Verzeihe daher meine Frage und vergib mir, wenn ich mein Versprechen
nicht erfüllt habe, das ich dir und dem Vater gegeben, als ich dich in
mein Haus nahm. Das quält mich sehr und hat mich immer gequält, mein
Kind.“

Ich umarmte sie und brach in Tränen aus.

„Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen für alles!“ sagte ich, und
benetzte ihre Hände mit meinen Tränen. „Sprechen Sie nicht so zu mir,
zerreißen Sie mir nicht das Herz. Sie sind mir mehr denn eine Mutter
gewesen, Gott segne Sie für alles, was Sie an mir getan haben, Sie und
der Fürst, an mir Armen, Verlassenen! meine Liebe, meine Gütige!“

„Genug, Njetotschka, genug! Umarme mich lieber, so, von Herzen! Denn,
siehe, Gott weiß, warum es mir scheint, daß du mich zum letztenmal
umarmen wirst.“

„Nein, nein,“ rief ich laut aufschluchzend wie ein Kind, „nein, nur das
nicht! Sie werden noch glücklich sein! ... Noch vieles steht Ihnen
bevor. Glauben Sie mir, wir werden alle noch glücklich sein.“

„Ich danke dir, ich danke dir für deine Liebe, Njetotschka. Nur wenige
lieben mich; sie haben mich alle verlassen!“

„Wer hat Sie denn verlassen? Wer denn?“

„Früher waren es ihrer mehr; du weißt es nicht, Njetotschka. Sie haben
mich alle verlassen, sie sind fortgegangen, als wären Zeichen geschehen.
Und ich habe auf sie gewartet, mein ganzes Leben lang gewartet; nun Gott
mit ihnen! Sieh Njetotschka, wie spät schon der Herbst ist; bald gibt es
Schnee: und mit dem ersten Schnee sterbe ich, – doch ich will nicht
klagen. Lebt alle wohl!“

Ihr Gesicht war schmal und durchsichtig; auf ihren Wangen brannten rote
Flecke; ihre Lippen bebten und waren wie von einem inneren Feuer
verbrannt.

Sie ging ans Klavier und schlug ein paar Akkorde an; in dem Augenblick
riß eine Seite und ein langer zitternder Ton heulte auf ...

„Hörst du, Njetotschka, hörst du?“ fragte sie mit verlöschender Stimme,
und wies auf das Klavier. „Diese Saite hat man zu sehr angespannt: sie
hielt’s nicht aus und zerriß. Hörst du, wie der Ton klagend erstirbt!“

Sie sprach mühevoll. Ein stumpfer, seelischer Schmerz lag auf ihrem
Gesicht, ihre Augen standen voll Tränen.

„Genug davon, Njetotschka, meine Liebe, genug; bringe die Kinder her.“

Ich führte sie herbei. Ihre Gegenwart schien sie zu beruhigen und sie
erholte sich. Nach einer Stunde aber mußten alle sie wieder verlassen.

„Wenn ich sterbe, so bleibst du bei ihnen, Annjeta? Ja?“ sagte sie
flüsternd, als fürchte sie, gehört zu werden.

„Haben Sie Erbarmen, Sie töten mich!“ konnte ich ihr nur antworten.

„Ich habe ja bloß gescherzt,“ sagte sie und verstummte lächelnd. „Und du
hast daran geglaubt? Ich sage doch manchmal, Gott weiß was! Ich bin wie
ein Kind, mir muß man alles verzeihen.“

Dabei sah sie mich ganz schüchtern an, als fürchtete sie sich, etwas
auszusprechen, was ihr auf dem Herzen lag. Ich wartete.

„Sieh zu, erschrick ihn nicht,“ sagte sie endlich mit niedergeschlagenen
Augen und mit heller Röte im Gesicht, so leise, daß ich es kaum hören
konnte.

„Wen?“ fragte ich verwundert.

„Meinen Mann. Du erzählst ihm am Ende alles wieder.“

„Wieso, warum denn?“ wiederholte ich meine Frage mit immer wachsendem
Erstaunen.

„Nun, vielleicht erzählst du es ihm auch nicht, wer kann es wissen!“
antwortete sie und sie versuchte offenbar, mich schlau anzusehen, und
ein gutmütiges Lächeln spielte in ihren Mundwinkeln und die Farbe stieg
ihr mehr und mehr zu Gesicht. „Lassen wir das; ich scherze ja nur.“

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

„Nur höre, du wirst sie aber lieben, wenn ich sterbe, – ja?“ fügte sie
ernst hinzu und wieder mit einem geheimnisvollen Gesicht, „so, als
liebtest du deine eigenen Kinder, – ja? Denke daran: ich habe dich immer
wie eine mir Verwandte behandelt und geliebt.“

„Ja, ja,“ antwortete ich, ohne zu wissen, was ich vor Tränen und
Erregung sagte.

Ein heißer Kuß brannte auf meiner Hand – es gelang mir nicht, sie ihr
rechtzeitig zu entziehen. Verwunderung lähmte meine Zunge.

„Was geht in ihr vor? Was denkt sie sich? Was war gestern mit ihr?“ ging
es mir durch den Kopf.

Dann klagte sie über Müdigkeit.

„Ich fühle mich schon längst krank, ich wollte euch nur nicht
ängstigen,“ sagte sie. „Ihr liebt mich doch beide, – nicht wahr? ... Auf
Wiedersehen, Njetotschka; verlaß mich jetzt, am Abend komme bestimmt
wieder?! Wirst du kommen?“

Ich gab ihr mein Wort, und freute mich, nur fort zu kommen. Länger
konnte ich es nicht mehr ertragen.

„Du Arme, Arme! Welch ein Verdacht treibt dich ins Grab?“ schluchzte ich
auf: „was für ein neuer Kummer zernagt und zerreißt dein Herz, ein
Kummer, den du nicht einmal auszusprechen wagst? Mein Gott! Dieses Leid,
das ich an ihr schon so lange kannte, dieses Leben ohne Freude, diese
bescheidene Liebe, die nichts fordert. Und noch dazu jetzt, jetzt, vor
dem Tode, da ihr Herz müde ist, fühlt sie sich als Schuldige, die nicht
einmal zu murren wagt, und nicht zu klagen – und jetzt überfällt sie
noch ein neues Leid, dem sie sich widerstandslos ergeben muß!“

Am Abend, in der Dämmerstunde, benutzte ich die Abwesenheit Owroffs
(desselben, der aus Moskau gekommen war), ging in die Bibliothek,
öffnete einen Schrank und suchte in den Büchern etwas, um es Alexandra
Michailowna vorzulesen. Ich wollte sie von ihren schweren Gedanken
ablenken und sie durch etwas Lustiges, Leichtes aufheitern ... Ich
suchte lange. Die Dunkelheit trat ein und mit ihr wuchs mein Leid. In
meine Hände fiel wieder dieses Buch, in dem sich der Brief befand,
dessen Folgen mich bis jetzt nicht mehr verlassen hatten – dessen
Geheimnisse mein Dasein von neuem zerbrachen, und es wehte aus ihm so
kalt, so unbekannt und geheimnisvoll, wehte noch jetzt aus der Ferne des
Gewesenen so drohend zu mir herüber ... Was wird mit uns, dachte ich:
der Winkel, in dem mir so warm war, so leicht und frei – verödet. Der
reine, helle Geist, der meine Jugend hütete, verläßt mich. Was steht mir
bevor? Ich stand in Versunkenheit, nachdenkend über alles Vergangene,
das meinem Herzen so teuer war, stand da, als fühlte ich das
Bevorstehende, Unbekannte und mir Drohende ... Ich erinnere mich dieses
Augenblicks so deutlich, als erlebte ich ihn noch einmal: so tief hat er
sich mir ins Gedächtnis eingeschnitten.

Ich hielt in meinen Händen den Brief und das aufgeschlagene Buch, meine
Wangen waren feucht von Tränen. Plötzlich fuhr ich zusammen: über mir
ertönte eine mir bekannte Stimme. In demselben Augenblick fühlte ich,
daß man mir den Brief aus den Händen riß. Ich schrie auf und wandte mich
um: vor mir stand Pjotr Alexandrowitsch. Er packte mich an der Hand und
zwang mich, auf dem Platz zu bleiben; mit der rechten Hand hielt er den
Brief ans Licht und mühte sich, die ersten Zeilen zu entziffern ... Ich
wäre bereit gewesen, eher zu sterben, als ihm den Brief zu überlassen.
An seinem triumphierenden Lächeln sah ich, daß es ihm gelungen war, den
Anfang des Briefes zu lesen. Ich verlor meine Sinne ...

Einen Augenblick später, ohne mir bewußt zu sein, was ich tat, stürzte
ich auf ihn und riß ihm den Brief aus der Hand. Das geschah so
unerwartet, daß ich selbst nicht mehr begreife, wie es mir gelingen
konnte, mich des Briefes zu bemächtigen. Doch, als ich bemerkte, daß
auch er wieder den Brief mir entwenden wollte, steckte ich ihn schnell
in meine Bluse und wich einige Schritte zurück.

Einen Augenblick sahen wir einander schweigend an. Mich schauerte, er –
bleich, mit zitternden, blau angelaufenen Lippen, – brach zuerst das
Schweigen.

„Nun wohl!“ sagte er mit einer Stimme, die vor Erregung schwach war –
„ich hoffe, Sie wollen selbst nicht, daß ich hier Gewalt anwende – geben
Sie mir also freiwillig den Brief.“

Erst jetzt kam ich zu mir. Scham und Unwille ob eines so groben
Überfalls überwältigten mich. Heiße Tränen stürzten mir aus den Augen.
Ich zitterte vor Aufregung und eine Zeitlang war ich nicht imstande, ein
Wort hervorzubringen.

„Haben Sie gehört?“ sagte er und trat einen Schritt auf mich zu.

„Lassen Sie mich, lassen Sie!“ rief ich und ich wich vor ihm zurück,
„Sie handeln niedrig an mir, unedel. Sie haben sich vergessen! ...
Lassen Sie mich gehen! ...“

„Wie? Was heißt das? Wie wagen Sie es noch, einen solchen Ton
anzuschlagen ... nach alledem, was Sie ... Geben Sie ihn mir zurück,
sage ich Ihnen!“

Er trat noch einen Schritt auf mich zu, doch als er in meinen Augen
soviel kalte Entschlossenheit sah, da blieb er stehen und überlegte ...

„Gut!“ sagte er endlich trocken, als hätte er einen Entschluß gefaßt,
wenn er sich auch immer noch mühsam beherrschte. „Eines nach dem andern,
doch zuerst ...“

Er sah sich im Zimmer um.

„Wer ... hat Sie in die Bibliothek gelassen? Warum steht dieser Schrank
offen? Wie kommt es, daß Sie den Schlüssel dazu haben?“

„Ich werde Ihnen darauf nicht antworten,“ sagte ich, „ich kann mit Ihnen
nicht darüber sprechen. Lassen Sie mich gehen!“

Ich ging zur Tür.

„Erlauben Sie,“ sagte er, und faßte mich an der Hand – „so werden Sie
nicht davonkommen!“

Ich entzog ihm schweigend meine Hand und wandte mich wieder zur Tür.

„Wie Sie wollen. Aber ich kann es Ihnen nicht gestatten, daß Sie in
meinem Hause Briefe von Liebhabern empfangen ...“

Ich schrie auf und sah ihn entsetzt an ...

„Und darum ...“

„Halten Sie ein!“ rief ich aus. „Wie können Sie das? ... Wie können Sie
mir das sagen? ... Mein Gott! Mein Gott! ...“

„Wie? Was! Sie drohen mir noch! ...“

Ich sah ihn verzweifelt an, wie zerschmettert. Der Kampf zwischen uns
stieg bis zur höchsten Erbitterung. Doch ich konnte nicht begreifen. Ich
flehte ihn mit einem Blick an, nicht weiter zu gehen. Ich war bereit,
ihm jede Beleidigung zu verzeihen, wenn er nur jetzt innehielt. Er sah
mich durchbohrend an und schien zu überlegen.

„Bringen Sie mich nicht zum Äußersten,“ flüsterte ich erschrocken.

„Nein, damit muß ein Ende gemacht werden!“ sagte er schließlich, als
besinne er sich wieder. „Ich muß Ihnen gestehen, ich wankte einen
Augenblick vor diesem Blick,“ fügte er mit eigentümlichem Lächeln hinzu.
„Doch unglücklicherweise spricht die Sache für sich selbst. Es ist mir
gelungen, den Anfang des Briefes zu lesen. Das war ein Liebesbrief! Sie
werden mich nicht davon abbringen! Nein, lassen Sie alles! Und wenn ich
einen Augenblick zögerte, so geschah es nur, weil ich zu Ihren übrigen
schönen Eigenschaften auch Ihre Fähigkeit zu lügen hinzufügen mußte, und
darum wiederhole ich ...“

Mit jedem Wort, das er sprach, füllte er sich mit Bosheit an. Er war
bleich; seine Lippen verzogen sich und zitterten und nur mit Mühe konnte
er die letzten Worte hervorbringen. Es war vollkommen dunkel geworden.
Ich stand schutzlos da, vor einem Menschen, der fähig war, einer Frau
das Schlimmste anzutun. Und im Grunde war alle Wahrscheinlichkeit gegen
mich; ich wand mich vor Scham, alles verwirrte sich in mir, ich konnte
die Wut dieses Menschen nicht verstehen. Ohne ihm zu antworten, außer
mir vor Angst, stürzte ich aus dem Zimmer, und ich kam erst zu mir, als
ich vor der Zimmertür Alexandra Michailownas stand. In dem Augenblicke
hörte ich seine Schritte; und schon wollte ich ins Zimmer stürzen, als
ich plötzlich wie vom Schlag gerührt stehen blieb.

„Was wird mit ihr geschehen?“ ging es mir durch den Kopf ... „Diesen
Brief ...! Nein, lieber alles auf der Welt, als diesen Stoß in ihr Herz
–“ und ich stürzte zurück. Doch schon war es zu spät: er stand neben
mir.

„Wohin wollen Sie, kommen Sie ... nur nicht hier, nicht hier!“ flüsterte
ich ihm zu und griff nach seiner Hand ... „Schonen Sie sie ...! Ich
komme zurück in die Bibliothek, oder ... wohin Sie wollen?! Sie werden
sie vernichten!“

„Sie sind es, die sie vernichtet!“ antwortete er, und trat von mir
zurück.

Alle meine Hoffnungen schienen verloren. Ich begriff, daß er die ganze
Szene vor Alexandra Michailowna tragen wollte.

„Um Gottes willen!“ rief ich und hielt ihn aus aller Kraft zurück. Doch
in diesem Augenblick hob sich die Portiere und Alexandra Michailowna
stand vor uns. Sie sah uns verwundert an. Ihr Gesicht wurde noch
bleicher. Mit Mühe hielt sie sich auf den Füßen. Es hatte sie viel
gekostet, bis zu uns zu kommen, als sie unsere Stimme gehört.

„Wer ist da? Wovon redet ihr hier?“ fragte sie, in großer Verwunderung.

Es trat Schweigen ein und sie erbleichte wie ein Leinentuch. Ich stürzte
auf sie zu, umarmte sie und führte sie zurück in ihr Kabinett. Pjotr
Alexandrowitsch folgte uns. Ich drückte mein Gesicht an ihre Brust und
umschlang sie immer fester und fester, ersterbend in Erwartung.

„Was ist mit dir, was ist mit euch?“ fragte noch einmal Alexandra
Michailowna.

„Fragen Sie sie. Sie haben sie noch gestern so verteidigt,“ sagte Pjotr
Alexandrowitsch und ließ sich schwer auf einem Sessel nieder.

Ich umklammerte sie immer fester und fester in meiner Umarmung.

„Aber, mein Gott, was bedeutet denn das?“ rief Alexandra Michailowna in
großem Schrecken angstvoll aus. „Sie zittert ja und ist in Tränen
aufgelöst. Annjeta sag’ mir doch, was ist zwischen euch geschehen.“

„Nein, erlauben Sie mir zuerst das Wort,“ sagte Pjotr Alexandrowitsch
und näherte sich uns. Er ergriff mich an der Hand und zog mich von ihr
fort. „Bleiben Sie dort stehen,“ sagte er und wies in die Mitte des
Zimmers. „Ich werde Sie richten vor derjenigen, die Ihnen die Mutter
ersetzte. Und Sie, bitte, beruhigen Sie sich, Alexandra Michailowna, und
setzen Sie sich in den Lehnstuhl. Mir tut es bitter leid, daß ich Sie
nicht mit dieser unangenehmen Aufklärung verschonen kann. Denn sie ist
nötig –!“

„Mein Gott! Was wird das sein?“ murmelte Alexandra Michailowna und sah
mit qualvollen Augen erst mich, dann ihren Mann an. Ich rang die Hände
vor diesem verhängnisvollen Augenblick. Von ihm erwartete ich keine
Schonung.

„Kurz,“ fuhr Pjotr Alexandrowitsch fort, ... „ich wünsche, daß Sie in
der Sache urteilen. Sie haben immer (und ich weiß nicht warum, das ist
so eine Ihrer Phantasien), Sie haben immer – noch gestern, zum Beispiel,
gedacht, gesagt ... ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ... ich
schäme mich dieser Voraussetzungen ... Kurz, Sie haben sie immer
verteidigt, und mich angegriffen, Sie warfen mir ungerechtfertigte
Strenge vor; Sie haben dabei noch auf ein anderes Gefühl hingewiesen,
das mich zu dieser unerlaubten Strenge beeinflusse; Sie ... ja, ich
begreife nicht, warum ich meiner Aufregung nicht Herr werden kann, warum
ich erröte bei dem Gedanken an Ihre Anspielungen, warum ich sie nicht
offen vor ihr auszusprechen vermag ... Kurz, Sie ...“

„Oh, das werden Sie nicht tun! Nein, Sie werden das nicht sagen!“ rief
Alexandra Michailowna aus, errötend vor Scham. „Nein, Sie werden sie
schonen. Das habe ich, ich, alles ausgedacht! Ich habe jetzt keinen
Verdacht mehr. Verzeihen Sie es mir, verzeihen Sie. Ich bin krank, man
muß mir verzeihen, nur sagen Sie ihr nichts, nein ... Annjeta, gehe fort
von hier, schnell, schnell! Er scherzt; an alledem bin ich schuld; oh,
das ist ein böser Scherz ...“

„Kurz, Sie sind auf sie eifersüchtig gewesen,“ warf Pjotr
Alexandrowitsch erbarmungslos ihr zur Antwort hin.

Sie schrie auf, erbleichte und stützte sich auf den Sessel, kaum noch
imstande, sich auf den Füßen zu halten.

„Möge Gott Ihnen verzeihen!“ murmelte sie endlich mit schwacher Stimme.
„Vergib mir für ihn, Njetotschka, vergib; ich bin an allem schuld. Ich
war krank, ich ...“

„Das ist Grausamkeit, Schamlosigkeit, Niedrigkeit!“ rief ich, außer mir,
denn ich begriff jetzt alles, alles, begriff vor allem, warum er mich
vor den Augen seiner Frau richten wollte. „Das ist nur verachtungswürdig
– Sie ...“

„Annjeta!“ rief Alexandra Michailowna, vor Schreck nach mir greifend.

„Komödie! Komödie und weiter nichts,“ Pjotr Alexandrowitsch trat in
unbeschreiblicher Erregung auf uns zu. „Komödie, sage ich Ihnen,“
während er ununterbrochen mit hämischem Lächeln seine Frau ansah, „und
die Betrogene in dieser ganzen Komödie sind nur – Sie. Glauben Sie, daß
wir,“ stieß er atemlos hervor und wies auf mich – „solche Erklärungen
fürchten; glauben Sie, daß wir noch so dumm sind, beleidigt zu sein und
bis an die Ohren zu erröten, wenn man uns von ähnlichen Dingen redet.
Entschuldigen Sie bitte, ich drücke mich vielleicht zu einfach, zu
aufrichtig, zu grob aus, doch – das muß geschehen. Sind Sie denn noch
immer überzeugt, meine Dame, von der ordentlichen Aufführung dieses ...
Mädchens?“

„Mein Gott! Was ist Ihnen? Sie vergessen sich!“ murmelte Alexandra
Michailowna, halb erstarrt vor Schreck.

„Bitte, nicht diese großen Worte!“ unterbrach sie verächtlich Pjotr
Alexandrowitsch. „Ich liebe das nicht. Hier liegt die Sache sehr
einfach: gemein bis zur höchsten Gemeinheit. Ich frage Sie nach ihrem
Betragen: wissen Sie ...“

Doch ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen, ich ergriff ihn an der Hand
und zog ihn zur Seite. Nur ein Augenblick und – alles war verloren.

„Sagen Sie nichts von dem Brief!“ flüsterte ich ihm zu, „Sie werden sie
auf der Stelle vernichten. Ein Vorwurf über mich, wird zugleich ein
Vorwurf für sie sein. Sie kann mich nicht verurteilen, denn ich weiß
alles ... verstehen Sie, _ich weiß alles_!“

Er sah mich scharf mit durchbohrender Neugier an und – das Blut trat ihm
ins Gesicht.

„Ich weiß _alles, alles_!“ wiederholte ich.

Er schien noch zu zögern. Auf seinen Lippen lag eine Frage. Ich griff
vor:

„An allem, was geschehen ist –“ sagte ich laut, mich zu Alexandra
Michailowna wendend, die uns mit schüchterner, mit trauriger
Verwunderung ansah, „bin ich allein schuld. Bereits seit vier Jahren
habe ich Sie betrogen. Ich habe den Schlüssel zur Bibliothek genommen
und seit vier Jahren lese ich heimlich Bücher. Pjotr Alexandrowitsch hat
mich überrascht – bei einem Buch ... das sich nicht in meinen Händen
befinden durfte. Aus Sorge um mich hat er die Gefahr vor Ihnen
vergrößert! ... Doch, ich will mich nicht verteidigen“ (beeilte ich mich
hinzuzufügen, als ich ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen
bemerkte): „ich bin an allem schuld. Die Versuchung war stärker als ich,
und da es einmal geschehen war, schämte ich mich, es Ihnen zu gestehen
... Das ist alles, fast alles, was zwischen uns vorgefallen ist.“

„O – ho, das ist aber kühn!“ flüsterte neben mir Pjotr Alexandrowitsch.

Alexandra Michailowna hörte mir mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Auf
ihrem Gesicht spiegelte sich ein Mißtrauen. Sie sah abwechselnd erst
mich, dann ihren Mann an. Es trat Schweigen ein. Ich wagte kaum zu
atmen. Sie senkte ihren Kopf auf die Brust und bedeckte die Augen mit
der Hand, offenbar um jedes Wort zu erwägen, das ich gesprochen hatte.
Endlich hob sie den Kopf und sah mich forschend an.

„Njetotschka, mein Kind, ich weiß, du verstehst nicht zu lügen,“ sagte
sie. „Ist das nun alles, was geschehen, wirklich alles?“

„Alles,“ antwortete ich.

„Alles?“ wandte sie sich fragend an ihren Mann.

„Ja, alles,“ antwortete er mit großer Überwindung, „alles!“

Ich atmete auf.

„Du gibst mir das Wort, Njetotschka?“

„Ja,“ antwortete ich, ohne mit der Wimper zu zucken.

Aber ich konnte mich doch nicht beherrschen und blickte auf Pjotr
Alexandrowitsch. Er lachte, als er hörte, wie ich mein Wort gab. Ich
wurde über und über rot und meine Verwirrung konnte der armen Alexandra
Michailowna nicht entgehn. Ein qualvolles Leid drückte sich auf ihrem
Gesicht aus.

„Genug,“ sagte sie traurig. „Ich glaube euch. Wie sollte ich euch nicht
glauben?“

„Ich denke, ein solches Geständnis genügt,“ bemerkte Pjotr
Alexandrowitsch. „Sie haben’s gehört? Was glauben Sie wohl?“

Alexandra Michailowna schwieg. Die Situation wurde immer unerträglicher
und unerträglicher.

„Ich werde morgen alle Bücher durchsehen,“ fuhr Pjotr Alexandrowitsch
fort. „Ich weiß nicht, um was es sich dort noch handelte; aber ...“

„Welches Buch las sie denn?“ fragte Alexandra Michailowna.

„Welches Buch? Antworten Sie doch,“ wandte er sich an mich. „Sie
verstehen es ja besser, die Sache zu erläutern,“ fügte er mit
verhaltenem Spott hinzu.

Ich verlor meine Fassung und konnte kein Wort mehr hervorbringen.
Alexandra Michailowna errötete und schlug die Augen nieder. Es folgte
ein langes Schweigen. Pjotr Alexandrowitsch ging geärgert im Zimmer auf
und ab.

„Ich weiß ja nicht, was zwischen euch vorging,“ begann endlich Alexandra
Michailowna, zaghaft jedes Wort aussprechend – „doch wenn das wirklich
alles gewesen ist,“ fuhr sie fort, bemüht, jedem Wort einen besonderen
Nachdruck zu geben, während sie gleichzeitig vermied, ihn anzusehen, da
der unbewegliche Blick ihres Mannes sie immer mehr verwirrte, „wenn es
nur das _gewesen ist_, dann weiß ich nicht, warum wir uns so quälen und
darüber fast verzweifeln wollen. Schuld daran bin nur ich, ich allein,
und das schmerzt mich sehr. Ich habe ihre Erziehung auf mich genommen,
ich muß auch für sie verantworten. Sie muß mir daher meine
Nachlässigkeit verzeihen. Ich wage es nicht, sie zu verurteilen. Und
doch, worüber sollen wir uns jetzt noch aufregen? Die Gefahr ist ja
vorüber. Sehen Sie sie doch an: hat ihre unvorsichtige Handlungsweise
auch nur irgendwelche Folgen hinterlassen? Als ob ich mein Kind, meine
geliebte Tochter nicht kennte? Weiß ich denn nicht, daß ihr Herz rein
und edel ist, und daß in diesem lieben Köpfchen,“ fuhr sie fort, indem
sie mich zu sich heranzog und mich streichelte, „der Verstand rein und
hell ist ... Laßt gut sein, meine Lieben! Hören wir damit auf! Offenbar
liegt etwas anderes in unserem Kummer, vielleicht lag auf uns allen nur
ein vorübergehender Schatten. Aber wir wollen durch Liebe und durch
unser gutes Einvernehmen alle Mißverständnisse zerstreuen. Vielleicht
ist vieles unausgesprochen zwischen uns und ich bin vor allem schuld
daran. In mir sind zuerst, weiß Gott was für Verdächtigungen
aufgestiegen, an denen nur mein armer kranker Kopf schuld ist ... Und
... und, wenn ich sie auch zum Teil schon ausgesprochen habe, so müßt
ihr sie mir beide verzeihen, weil ... weil die Sünde doch nicht so groß
ist, wenn ich vermutete ...“

Sie errötete und sah schüchtern ihren Mann an und erwartete mit Bangen
ein Wort von ihm. Während sie sprach, lag ein spöttisches Lächeln auf
seinen Lippen. Er brach seinen Gang durch das Zimmer ab und stellte sich
gerade vor sie hin, die Hände auf dem Rücken. Er betrachtete sie in
ihrer Erregung und ergötzte sich an ihr; als sie aber seinen
unverwandten Blick auf sich ruhen fühlte, wurde sie verwirrt. Er blieb
ruhig stehen, als erwartete er noch irgend etwas. Ihre Erregung
verdoppelte sich. Endlich unterbrach er diese erdrückende Szene durch
ein leises, anhaltendes boshaftes Lachen:

„Mir tun Sie leid, arme Frau!“ sagte er endlich, bitter und ernst,
nachdem er zu lachen aufgehört hatte. „Sie spielen eine Rolle, der Sie
nicht gewachsen sind. Was wollen Sie im Grunde genommen? Sie wollen mir
wieder neue Verdächtigungen unterschieben, oder, besser gesagt, die
alten Verdächtigungen, die Sie nur mangelhaft in ihren Worten verbergen
können. Der Sinn Ihrer Worte ist der, daß kein Grund vorhanden sei, ihr
böse zu sein, daß sie rein und gut sei auch nach der Lektüre
unsittlicher Bücher, deren Moral – das sage ich von mir aus – bereits
etliche Früchte gezeitigt zu haben scheint; und schließlich, daß Sie
selber für sie einständen; war es nicht so? Und dann – nachdem Sie das
erklärt, deuten Sie noch etwas anderes an. Sie denken, mein Argwohn und
meine Feindseligkeit entsprängen einem gewissen anderen Gefühl. Sie
deuteten mir gestern sogar an – bitte, unterbrechen Sie mich nicht, ich
liebe es, alles offen auszusprechen – Sie deuteten gestern an, daß bei
manchen Menschen (nach Ihrer Bemerkung, wenn ich mich recht erinnere,
wären diese Leute in der Regel gesetzte, ernste, gerade, kluge, starke
Menschen und Gott weiß was für Vorzüge Sie Ihnen in einer Anwandlung von
Großmut noch gaben!), daß bei gewissen Menschen also, sage ich, die
Liebe (und Gott weiß wozu Sie sich das ersannen!) sich auch gar nicht
anders äußern könne, als eben schroff, heftig, verletzend, oft mit
Argwohn und Feindseligkeit gepaart. Übrigens entsinne ich mich nicht
mehr genau, ob Sie sich gerade mit diesen Worten ausdrückten ... Bitte,
unterbrechen Sie mich nicht; ich kenne Ihren Zögling ausgezeichnet: sie
darf bereits alles hören, alles, wiederhole ich Ihnen zum hundertsten
Mal, – alles! Sie sind betrogen. Doch ich begreife nicht, warum es Ihnen
beliebt, auf der Behauptung zu bestehen, daß gerade ich solch ein Mensch
sei! – weshalb Sie gerade mich mit diesem Narrenhemd aufputzen wollen!
Liebe zu diesem jungen Mädchen steht meinen Jahren nicht mehr an; ja und
schließlich kann ich Sie versichern, meine Gnädigste, daß _ich weiß, was
meine Pflicht ist_, und wie großmütig Sie mich auch entschuldigen
wollten, ich bleibe dabei, was ich gesagt habe: _daß ein Verbrechen
immer ein Verbrechen, eine Sünde immer eine Sünde, immer eine
schmutzige, ehrlose Schandtat sein wird, auf welche Stufe der Größe und
Herrlichkeit Sie das lasterhafte Gefühl auch erheben mögen_! Doch genug!
Genug davon! Und daß mir nichts mehr von diesen Schändlichkeiten zu
Ohren kommt!“

Alexandra Michailowna weinte.

„Mag das mir gesagt sein, mag ich das verdient haben und tragen – ich
will’s ja!“ sagte sie, indem sie mich unter Schluchzen umarmte. „Mögen
meine Vermutungen schlecht und schändlich gewesen sein, daß Sie so
grausam über sie spotten können! Aber du, mein armes Kind, wofür bist du
verurteilt, solche Kränkungen zu hören? Und ich kann dich nicht einmal
beschützen! Ich muß stumm sein! Mein Gott! – nein! ich kann nicht
schweigen, das können Sie nicht von mir verlangen! Ich ertrage es nicht
... Ihr Benehmen ist widersinnig! ...“

„Lassen Sie, lassen Sie, beruhigen Sie sich nur!“ redete ich ihr
flüsternd zu, um sie in ihrer Aufregung zu beschwichtigen, denn ich
fürchtete, daß Vorwürfe von ihr ihn um seine letzte Beherrschung bringen
würden.

„Aber Sie blindes Weib! ...“ rief er denn auch heftig, „Sie wissen ja
nicht, Sie sehen ja nicht ...“

Er stockte einen Augenblick.

„Fort von ihr!“ befahl er heftig und riß meine Hand aus den Händen
Alexandra Michailownas. „Ich gestatte Ihnen nicht, meine Frau zu
berühren! Ihre Berührung besudelt! Ihre Anwesenheit ist eine Beleidigung
für sie! Aber ... ja aus welchem Grunde soll ich schweigen, wo doch
alles ausgesprochen werden muß!“ rief er, mit dem Fuß stampfend. „Und
ich werde es sagen, ich werde alles sagen. Ich weiß nicht, was Sie da
_wissen_, mein gnädiges Fräulein, und womit Sie mir drohen wollten, und
ich will es auch nicht wissen. So hören Sie denn ...“ fuhr er fort, sich
an Alexandra Michailowna wendend.

„Schweigen Sie!“ rief ich, und ich hätte mich fast auf ihn gestürzt,
„schweigen Sie! Sie sagen kein Wort!“

„So hören Sie denn ...“

„Schweigen Sie!! Im Namen ...“

„Im Namen wessen, mein Fräulein?“ griff er das Wort blitzschnell auf und
sah mir eine Sekunde lang durchdringend in die Augen. „Im Namen wessen?
... So hören Sie denn – ich habe ihr einen Brief ihres Geliebten
entrissen! Jetzt wissen Sie, was in unserem Hause geschieht! Nun haben
Sie es gehört, was unmittelbar neben Ihnen sich zuträgt! Das war es, was
Sie nicht gesehen, nicht bemerkt haben!“

Ich hielt mich kaum auf den Füßen. Alexandra Michailowna wurde
totenblaß.

„Das kann nicht sein,“ stammelte sie, kaum hörbar.

„Ich habe diesen Brief gesehen, ich habe ihn in der Hand gehabt und die
ersten Zeilen gelesen – von einer Täuschung kann also keine Rede sein.
Der Brief war von einem Geliebten. Sie entriß ihn mir und jetzt ist er
wieder in ihrem Besitz. Die Sache ist so klar, sie liegt ja auf der
Hand! Und wenn Sie noch zweifeln, so sehen Sie sie doch nur an und dann
versuchen Sie, auch nur auf den Schatten eines Zweifels noch zu hoffen!“

„Njetotschka!“ schrie Alexandra Michailowna plötzlich auf. „Nein, nein,
sag’ nichts, sprich nichts! Ich weiß nicht, was gewesen ist, was ... wie
... mein Gott, mein Gott!“

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte.

„Nein! Das ist nicht möglich!“ rief sie wieder. „Sie haben sich geirrt.
Das ... das ... ich weiß, was das bedeutet!“ sagte sie plötzlich
langsam, während sie ihren Mann mit unverwandtem Blick ansah. „Sie ...
ich ... konnte nicht, – nein, du wirst mich nicht betrügen, du kannst
mich nicht betrügen! Erzähl’ mir alles, sag’ mir alles: er hat sich doch
geirrt? Ja, nicht wahr, er hat sich geirrt? Er hat etwas anderes
gesehen, er war verblendet? Ja, nicht wahr? Nicht wahr? Höre: warum
solltest du mir nicht alles sagen, Annjeta, mein Kind, mein liebes
Kind?“

„Antworten Sie, antworten Sie schnell!“ ertönte über mir die Stimme
Pjotr Alexandrowitschs. „Antworten Sie: habe ich oder habe ich nicht den
Brief in Ihren Händen gesehen?“

„Ja!“ antwortete ich atemlos vor Aufregung.

„Dieser Brief war von Ihrem Geliebten?“

„Ja!“

„Mit dem Sie auch jetzt in Verbindung stehen?“

„Ja, ja, ja!“ sagte ich schon außer mir, bestätigte alles blindlings,
nur um unserer Qual ein Ende zu machen.

„Haben Sie gehört? Nun, und was sagen Sie jetzt! Glauben Sie mir, Sie
mit Ihrem guten, allzu vertrauensseligen Herzen,“ fügte er hinzu und
nahm die Hand seiner Frau, „glauben Sie mir und sehen Sie Ihren Irrtum
ein, – Ihren Irrtum in allem, was Ihre kranke Phantasie Ihnen
vorgegaukelt hat. Sie sehen jetzt, wer dieses ... Mädchen ist. Ich
wollte nur Ihre Vermutungen ^ad absurdum^ führen. Ich habe das alles
schon längst bemerkt und es freut mich, daß ich sie endlich vor Ihnen
entlarvt habe. Es war mir schwer, sie neben Ihnen zu sehen, in Ihren
Armen, an einem Tisch mit uns, ja, in meinem Hause. Und Ihre Blindheit
empörte mich. Deshalb, und zwar nur deshalb, schenkte ich ihr überhaupt
meine Aufmerksamkeit und beobachtete sie; und diese Aufmerksamkeit haben
Sie bemerkt; und nachdem Sie Gott weiß was für einen Verdacht als Grund
angenommen, haben Sie dann auf dieser Grundlage in Ihrer Einbildung
weitergebaut. Doch jetzt ist die Sache aufgeklärt, alle Zweifel sind
widerlegt, und morgen, mein Fräulein, morgen noch werden Sie nicht mehr
in meinem Hause sein!“ schloß er, sich an mich wendend.

„Halten Sie ein!“ sagte Alexandra Michailowna und sie erhob sich. „Ich
traue dieser ganzen Szene nicht. Sehen Sie mich nicht so zornig an,
lachen Sie nicht über mich. Ich rufe Sie selbst zum Richter auf, ich
will nur meine Meinung sagen. Annjeta, mein Kind, komm zu mir, gib mir
deine Hand, so. Niemand ist ohne Fehl, wir sind alle sündig!“ sagte sie
mit einer Stimme, in der Tränen zitterten, und sie sah gleichsam demütig
zu ihrem Mann auf. „Und wer von uns darf jemandes Hand von sich stoßen?
Gib mir doch deine Hand, Annjeta, mein liebes Kind! Ich bin nicht
würdiger, nicht besser als du; du kannst mich nicht durch deine
Gegenwart kränken, denn ich bin gleichfalls, _gleichfalls eine
Sünderin_.“

„Meine Gnädigste!“ rief Pjotr Alexandrowitsch betroffen. „Was reden Sie!
Vergessen Sie nicht! ...“

„Ich vergesse nichts. Unterbrechen Sie mich nicht, lassen Sie mich zu
Ende sprechen. Sie haben in ihren Händen einen Brief gesehen, Sie haben
ihn sogar gelesen; Sie sagen – und sie ... hat gestanden, daß dieser
Brief von demjenigen sei, den sie liebt. Aber beweist denn das, daß sie
sich vergangen habe? Gibt Ihnen denn das schon das Recht, sie so zu
behandeln, sie so in Gegenwart Ihrer Frau zu beleidigen? Ja, mein Herr,
in Gegenwart Ihrer Frau? Haben Sie denn schon alles ergründet? Wissen
Sie denn schon, wie sich das alles verhält?“

„Ja was! – jetzt soll ich sie wohl noch um Verzeihung bitten? Ist es
das, was Sie wollen?“ rief Pjotr Alexandrowitsch wütend. „Ich danke, ich
habe die Geduld verloren über Ihrem Gerede! Und wissen Sie überhaupt,
von wem Sie reden, was und _wen_ Sie verteidigen? Ich durchschaue doch
alles ...“

„Und sehen doch nicht einmal die Hauptsache, weil Ihr Zorn und Ihr Stolz
Sie blenden. Sie sehen das nicht, was ich verteidige und wovon ich rede.
Nicht das Laster verteidige ich. Doch haben Sie auch bedacht – und das
werden Sie einsehen, sobald Sie nachdenken – haben Sie bedacht, daß sie
vielleicht wie ein Kind unschuldig und unwissend ist! Noch einmal, nicht
das Laster verteidige ich! Ich beeile mich, mich zu rechtfertigen, wenn
Ihnen das erwünscht ist. Ja, wenn sie Gattin, wenn sie Mutter wäre und
ihre Pflichten vergessen hätte –, dann würde ich Ihnen beistimmen ...
Sie sehen, ich rechtfertige mich. So vergessen Sie das nicht und machen
Sie mir keine Vorwürfe! Wenn sie aber diesen Brief erhalten hat, ohne
etwas Böses zu ahnen? Wenn sie sich in ihrer Unerfahrenheit nur von
einem großen Gefühl hat verleiten lassen und weil sie keinen Menschen
fand, der sie zurückgehalten hätte? Wenn vielleicht gerade mich die
größte Schuld trifft, weil ich ihr Herz nicht behütet habe? Wenn dieser
Brief der erste war? Wenn Sie mit Ihrem rohen Verdacht ihr mädchenhaft
reines Empfinden verletzt haben? Wenn Sie ihre jugendliche Phantasie mit
Ihren zynischen Reden und Bemerkungen über diesen Brief beschmutzt
haben? – wenn Sie nicht sehen oder nicht sehen wollen, daß in diesem
keuschen mädchenhaften Antlitz nichts als Reinheit und Unschuld ist und
bange mädchenhafte Scham, – die Scham, die ich jetzt erkenne, die ich
auch dann erkannte, als sie wie verloren in dieser Pein nicht wußte, was
sie sagte, und in ihrer Herzensangst auf alle Ihre unmenschlichen Fragen
mit diesem ‚Ja, ja, ja!‘ antwortete. Das war unmenschlich von Ihnen, das
war grausam; ich erkenne Sie nicht wieder; das werde ich Ihnen niemals,
niemals verzeihen!“

„Ach, erbarmen Sie sich, erbarmen Sie sich!“ rief ich beschwörend, und
ich drückte sie mit meinen Armen fest an mich. „Hören Sie auf, glauben
Sie mir, verstoßen Sie mich nicht ...“

Ich fiel vor ihr auf die Knie.

„Und wenn,“ fuhr sie atemlos fort, „wenn nun ich nicht bei ihr wäre,
wenn Sie sie mit Ihren Worten erschreckt hätten und die Arme jetzt
selbst glaubte, sie sei schuldig, wenn Sie ihr Gewissen, ihre Seele
verwirrt, die Ruhe ihres Herzens zerstört hätten ... Mein Gott! Und Sie
wollten sie aus dem Hause jagen! Aber wissen Sie denn nicht, mit wem man
das tut? Sie wissen, daß Sie, wenn Sie sie aus dem Hause jagen, dann uns
beide, uns zusammen fortjagen, – mich gleichfalls. Haben Sie gehört,
mein Herr?“

Ihre Augen blitzten, ihre Brust arbeitete schwer; ihre krankhafte
Erregung steigerte sich bis zur letzten Krisis ...

„Jetzt habe ich aber wahrlich genug gehört, meine Gnädigste!“ rief Pjotr
Alexandrowitsch, „genug davon! Ich weiß, es gibt platonische
Leidenschaften – und weiß das zu meinem Verderben, meine Gnädigste!
Hören Sie? – zu meinem Verderben! Aber ich bedanke mich dafür, mit
diesem vergoldeten Laster unter einem Dach zu leben! Ich verstehe es
nicht. Und deshalb – fort mit ihm! Und wenn Sie sich schuldig fühlen,
wenn Sie sich irgendeiner Schuld bewußt sind (nicht an mir ist es, Sie
zu erinnern, meine Gnädigste), wenn Ihnen der Gedanke gefällt, mein Haus
zu verlassen ... so bleibt mir nichts weiter übrig, als zu sagen, als
Sie daran zu erinnern, daß Sie bedauerlicherweise vergessen haben, Ihre
Absicht auszuführen, als es die rechte Zeit war, die eigentliche Zeit,
vor Jahren, schon vor ... sollten Sie das Datum vergessen haben, so kann
ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen ...“

Ich sah sie an. Sie stützte sich krampfhaft auf mich, vergehend vor
Seelenschmerz, die Augen halb geschlossen, in unmenschlicher Qual. Noch
ein Moment – und sie wäre hingefallen.

„Oh, um’s Himmels willen, haben Sie wenigstens diesmal Erbarmen! Sagen
Sie nicht das letzte Wort!“ rief ich außer mir und warf mich Pjotr
Alexandrowitsch zu Füßen, ohne daran zu denken, was ich tat: doch – es
war schon zu spät. Nur ein leiser Schrei ertönte als Antwort auf meine
Worte und die Arme fiel bewußtlos hin.

„Da! Sie haben sie getötet!“ sagte ich. „Rufen Sie zu Hilfe, retten Sie
sie! – Ich erwarte Sie in Ihrem Kabinett. Ich muß mit Ihnen sprechen:
ich werde Ihnen alles sagen ...“

„Ja, was? Ja, was denn?“

„Später!“

Die Ohnmacht dauerte zwei Stunden. Das ganze Haus war in Aufregung. Der
Arzt schüttelte zweifelnd das Haupt. Nach zwei Stunden ging ich ins
Kabinett zu Pjotr Alexandrowitsch. Er war soeben erst von seiner Frau
gekommen. Jetzt ging er im Zimmer auf und ab, biß sich die Lippen fast
blutig und sah bleich und verstört aus. Ich hatte ihn noch nie so
gesehen.

„Was wollen Sie mir denn sagen?“ fragte er mich schroff. „Sie sagten
vorhin ...!“

„Hier ist der Brief, den Sie mir entrissen. Sie erkennen ihn doch?“

„Ja.“

„Nehmen Sie ihn.“

Er nahm den Brief und führte ihn ans Licht. Ich beobachtete ihn
aufmerksam. Nach wenigen Sekunden drehte er den Brief hastig um und sah
nach der Unterschrift. Ich sah, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß.

„Was ist das?“ fragte er mich starr vor Betroffenheit.

Ich blieb ihm die Antwort nicht schuldig.

„Vor drei Jahren fand ich diesen Brief in einem Buch. Ich erriet, daß er
vergessen war, las ihn und – erfuhr alles. Ich behielt ihn, denn ich
wußte niemanden, dem ich ihn hätte geben können. Ihr konnte ich ihn
nicht geben. Ihnen? Doch Ihnen konnte der Inhalt dieses Briefes nicht
unbekannt sein, er aber enthält die ganze traurige Lebensgeschichte ...
Welchen Zweck nun Ihre Verstellung hatte – das weiß ich nicht –, das ist
mir vorläufig noch unklar. Noch durchschaue ich Ihre dunkle Seele nicht
ganz. Sie wollten Ihre Überlegenheit bewahren – und das ist Ihnen denn
auch gelungen. Aber wozu? Um über ein Wahnbild den Sieg davonzutragen,
um über eine Kranke zu herrschen, um ihr zu beweisen, daß sie sich
verirrt habe und daß Sie dagegen _sündlos_ vor ihr ständen! Und Sie
haben Ihren Zweck erreicht, denn dieser Verdacht ist – zur fixen Idee
eines erlöschenden Geistes geworden, ist vielleicht die letzte Klage
eines gebrochenen Herzens über die Ungerechtigkeit des Urteils der
Menschen, mit dem Sie übereinstimmten. ‚Was ist denn dabei Schlimmes,
daß Sie mich liebten?‘ Das war es, was sie sagte, das wollte sie Ihnen
beweisen. Aber Ihr Stolz, Ihr eifersüchtiger Egoismus waren
unbarmherzig. Leben Sie wohl. Weitere Erklärungen sind nicht nötig! Aber
nehmen Sie sich in acht, ich kenne Sie jetzt, ich durchschaue Sie,
vergessen Sie das nicht!“

Ich ging auf mein Zimmer – fast bewußtlos. An der Türe hielt mich
Owroff, der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs, auf.

„Ich habe mit Ihnen zu sprechen,“ sagte er mit einer höflichen
Verbeugung.

Ich sah ihn an und begriff nicht gleich, was er sagte.

„Später, entschuldigen Sie mich, ich fühle mich nicht wohl,“ sagte ich
schließlich und ging an ihm vorbei.

„Also dann morgen,“ sagte er und machte seine Verbeugung mit einem
zweideutigen Lächeln.

Vielleicht schien es mir aber auch nur so? Es war fast wie eine Vision,
die vor meinen Augen flüchtig auftauchte ...




                            Der Bettelknabe


Kinder sind ein seltsames Volk: sie drängen sich in Träume und Gedanken.
Vor Weihnachten und dann wieder am Christabend selbst begegnete mir
regelmäßig an einer bestimmten Straßenecke ein kleiner Knabe, der gewiß
nicht älter war als, sagen wir, etwa siebenjährig. Trotz der grimmigen
Kälte war er fast sommermäßig gekleidet, doch um den Hals war ihm
irgendein altes abgetragenes Zeug gewickelt – also mußte ihn doch jemand
ausrüsten, bevor er hinausgeschickt wurde. – Er ging „mit dem Händchen“:
so lautet der technische Ausdruck und er bedeutet – betteln. Den
Ausdruck haben diese Knaben selbst erfunden. Solcher Knaben, wie er,
gibt es eine Menge, sie laufen einem überall in den Weg und jammern
etwas Auswendiggelerntes; dieser aber jammerte nicht und sprach auch
gewissermaßen unschuldig und außergewöhnlich, und seine Augen sahen mich
voll Vertrauen an – also mußte er noch ein Anfänger sein. Auf meine
Fragen antwortete er, daß er eine Schwester habe; sie sitze ohne Arbeit
und sei krank. Vielleicht sagte er die Wahrheit, nur erfuhr ich später,
daß es solcher Knaben unzählige gibt; sie werden „mit dem Händchen“ auf
die Straße geschickt, auch in der fürchterlichsten Kälte, und wenn sie
nichts erbetteln, so setzt es natürlich Hiebe. Hat der Knabe ein paar
Kopeken eingesammelt, dann kehrt er mit frosterstarrten Händen in
irgendeinen Kellerraum zurück, wo irgendeine Bande säuft – eine von
jenen, die, wie es heißt, „Sonnabends nach Arbeitschluß in den Fabriken
den Sonntag zu feiern anfangen und nicht vor dem Mittwochabend zur
Arbeit zurückkehren“. Dort, in den Kellern, trinken mit ihnen auch ihre
hungernden und geprügelten Weiber, dort schreien auch ihre hungrigen
kleinen Kinder nach der Mutterbrust. Schnaps und Schmutz und
Ausschweifung, aber vor allem – Schnaps: die sind dort zu finden. Mit
den erbettelten Kopeken wird der Knabe sogleich in die nächste Schenke
geschickt und muß ihnen noch mehr Schnaps bringen. Zum Scherz gießen sie
dann auch ihm das Feuerwasser in den Mund und gröhlen vor Lachen, wenn
es ihm den Atem verschlägt und er in die Knie bricht und fast erstickt
an der Abscheulichkeit, über der ihm Hören und Sehen vergeht.

   „... und in den Mund das Greuliche
   Erbarmungslos mir goß ...“[3]

Ist er ein wenig herangewachsen, so wird er in eine Fabrik gesteckt,
doch alles, was er erarbeitet, muß er wieder in den Keller bringen, und
jene setzen das Geld weiter in Branntwein um. Doch schon bevor sie in
die Fabrik kommen, sind diese Kinder kleine Verbrecher. Sie
durchstreifen die Stadt und kennen die verschiedensten Schlupfwinkel in
Kellern und Schuppen und auf Höfen, wo man unbemerkt nächtigen kann. Hat
doch ein Kleiner bei einem Hofknecht mehrere Nächte in einem Holzkorb
geschlafen, ohne daß der Knecht es gewahr wurde. In erster Linie sind
sie natürlich kleine Diebe. Das Stehlen wird bei ihnen zur Leidenschaft,
sogar bei Achtjährigen, und nicht selten ohne jedes Bewußtsein von dem
Verbrecherischen der Tat. Zu guter Letzt lernen sie alles ertragen –
Hunger, Kälte, Schläge – nur für das eine: für ihre Freiheit, und bald
laufen sie von ihren Aussaugern fort, um dann schon von sich aus, aus
eigenem Antriebe und zum eigenen Vergnügen zu vagabundieren. Solch ein
junger Wildling weiß oft so gut wie nichts, weder in welchem Lande er
wohnt, zu welcher Nation er gehört, ob es einen Gott gibt, einen Zaren;
ja man erzählt sogar solche Unwissenheit von ihnen, daß man es nicht
glauben will – und dennoch sind dies alles Tatsachen.


                  Der Knabe im Himmel zum Christfest.

Doch ich bin ein Schriftsteller, und ich glaube, diese „Geschichte“ habe
ich selbst erfunden. Da schreibe ich: „ich glaube“, und weiß doch genau,
daß ich sie selber erfunden habe; aber es scheint mir die ganze Zeit,
daß sie irgendwo irgendwann wirklich geschehen sei und zwar gerade am
Christabend in _irgendeiner_ großen, großen Stadt und bei grimmiger
Kälte.

Ich sehe einen Knaben, aber einen noch ganz kleinen, etwa von sechs
Jahren oder noch jünger. Dieser kleine Knabe erwachte an jenem Tage in
einem feuchten und kalten Keller. Er hatte nur ein altes Kittelchen an
und zitterte vor Kälte. Er sah seinen Atem, der wie weißer Dampf seinem
Munde entströmte, und da es langweilig war, auf dem Koffer im Winkel zu
sitzen, so hauchte er absichtlich diesen Atem recht stark heraus und sah
dann zu, wie der Dampf sich ballte und verschwand. Aber er hatte Hunger
und wollte etwas essen. Er war seit dem Morgen schon mehrmals zu der
Lagerstätte gegangen, wo auf einem alten, wie eine Hand dünnen
Schlafsack, irgendein Bündel als Kissen unter dem Kopf, seine kranke
Mutter lag. Wie sie hierher kam? Vermutlich war sie mit ihrem Knaben aus
einer anderen Stadt gekommen und hier erkrankt. Die Winkelvermieterin
des Kellers war schon vor zwei Tagen von der Polizei abgeführt worden;
und die anderen Winkelmieter hatten sich verlaufen, nur einer von ihnen
lag dort seit vierundzwanzig Stunden, noch bevor die Feiertage anbrachen
– schon stocksteif besoffen. In einem anderen Winkel ächzte vor
Rheumatismus eine Achtzigjährige, die irgendeinmal irgendwo als
Kinderfrau gelebt hatte, jetzt aber einsam und stöhnend auf den Tod
wartete; sie brummte und schalt immer auf den Knaben, so daß dieser sich
fürchtete, ihrem Winkel zu nah zu kommen. Auf dem Flur fand er etwas zu
trinken, aber eine Brotkruste war nirgends zu finden, und wohl zum
zehnten Mal versuchte er, seine Mutter aufzuwecken. Ihm wurde
schließlich bange in der Dunkelheit: es war schon längst dunkel
geworden, doch niemand machte Licht. Als seine Hand das Gesicht seiner
Mutter berührte, wunderte er sich, daß es so kalt war wie die Wand. „Das
ist hier aber mal kalt!“ dachte er, sann ein Weilchen, während seine
Hand unbewußt auf der Schulter der Toten ruhte, dann hauchte er auf
seine Fingerchen, um sie zu wärmen, und dabei fiel ihm sein Mützchen
ein, das auf seinem Lager lag; das setzte er sich auf den Kopf – und
plötzlich kam es ihm in den Sinn, den Kellerraum zu verlassen, und er
ging tastend zur Tür. Er wäre vielleicht sogar schon früher aus dem
Keller gegangen, aber er fürchtete den großen Hund, der ihm oben den
Ausgang versperrte und die ganze Zeit kläffte. Jetzt war es still, der
Hund war nicht zu sehen, und eh’ er sich dessen versah, stand der Kleine
auf der Straße.

O Gott! Was war das für eine Stadt! Noch nie hatte er Ähnliches gesehen!
Dort, von wo er mit der Mutter gekommen war, war es so finster in der
Nacht: auf eine ganze Straße kam nur eine einzige Laterne. Die Fenster
der niedrigen Häuser wurden abends mit Läden verschlossen; auf der
Straße war, sobald nur die Dämmerung sank, niemand mehr zu sehen, alle
schlossen sich in den Häusern ein und nur die Hunde, die es zu Hunderten
und Tausenden gab, bellten und heulten die ganze Nacht. Doch dafür war
es dort warm und man gab ihm zu essen, hier aber – ach, wenn er nur
etwas zu essen bekäme! Und was ist das nur für ein Lärm und Gesumm, und
wieviel Licht und Menschen und Pferde und Wagen – und die Kälte, die
Kälte! Aus den Nüstern der heißgejagten Tiere strömt weißer Dampf, durch
den weichen lockeren Schnee schlagen die Hufe zuweilen hellklingend auf
das Steinpflaster, und wie die Menschen sich alle drängen, und, lieber
Gott, wie gern er etwas essen würde, wenn auch nur ein kleines
Stückchen, gleichviel was, und die Fingerchen schmerzten so sehr. An ihm
vorbei ging ein Hüter der Ordnung und wandte sich ab, um den Knaben
nicht zu bemerken.

Und da ist wieder eine andere Straße – oh, und wie breit sie ist! Hier
ist es aber wirklich schön! Wie sie doch alle lärmen und laufen und
fahren, und Licht, wieviel Licht hier ist! Aber was ist denn das? Oh –
was für ein großes Fenster, und hinter dem Fenster ist ein Zimmer, ein
großes Zimmer, und in diesem Zimmer ist ein Baum bis an die Decke, ein
Christbaum, eine große Tanne, und an der flimmern so viele Flämmchen, so
viele goldene Sachen, und hängen Äpfel, und ringsum sind lauter Püppchen
und Pferdchen, und Kinder laufen im Zimmer umher und alle sind sie so
festlich angekleidet, so sauber und schön, und sie lachen und spielen
und trinken und essen schönes, schönes Naschwerk. Und dort tanzt jetzt
ein kleines Mädchen mit einem kleinen Knaben – was für ein schönes
kleines Mädchen! Und da hört man auch Musik, durch das Fenster mit den
großen Scheiben hört man sie ganz deutlich. Und der kleine Junge schaut
und wundert sich und schon lacht er, und doch schmerzen ihm schon seine
Füßchen und Zehen, und die Fingerchen an den Händen sind schon ganz rot,
schon wollen sich die Gelenke nicht mehr biegen und das Bewegen tut weh,
nur denkt er jetzt nicht daran. Aber dann spürt er plötzlich doch
wieder, daß ihm die Händchen so schmerzen, und er fängt an zu weinen und
läuft weiter, und wieder sieht er durch ein Fenster ein Zimmer und dort
sind mehrere solcher Bäume, aber nicht so große, und auf den Tischen
sind lauter Kuchen und Kuchen, rote und gelbe und weiße und braune und
hinter dem langen Tisch stehen vier reich gekleidete Damen, und jedem,
der an den Tisch kommt, geben sie von ihren schönen Kuchen, die Tür aber
öffnet sich jeden Augenblick und viele Menschen gehen von der Straße zu
ihnen hinein. Der Knabe steht und guckt, und wie die Tür sich wieder
öffnet, da schlüpft auch er hinein. Ach! wie man ihm böse ist, ihn
anschreit und fortjagt! Eine von den Damen kommt schnell auf ihn zu,
gibt ihm eine Kopeke und dann öffnet sie selbst die Tür und schickt ihn
hinaus auf die Straße. Wie er erschrak! Die Kopeke aber fiel ihm gleich
aus der Hand, und schlug klingend auf die Treppenstufe: er konnte seine
blauroten Fingerchen nicht mehr biegen, um das Geld zu halten. Und der
Knabe läuft auf die Straße und geht schnell weiter – so schnell er kann,
aber wohin, das weiß er nicht. Er möchte auch wieder weinen, aber er
wagt es nicht, und er läuft und läuft und haucht auf die Fingerchen. Und
so traurig wird er, so bitter traurig darüber, daß er sich so allein und
verlassen fühlt, und eine Bangigkeit will über ihn kommen, doch
plötzlich – ja was ist das? was ist denn da wieder zu sehen? Da stehen
die Menschen dicht gedrängt und staunen: hinter den Scheiben eines
großen Fensters stehen drei kleine Puppen in roten und grünen Kleidchen
und sind ganz, ganz wie lebendig! Und ein alter kleiner Mann sitzt dort
und spielt auf einer großen Geige, oder es sieht wenigstens so aus, als
spiele er, und noch zwei andere stehen dort und spielen auf kleinen
Geigen und nicken dazu im Takt mit den Köpfen und sehen einander an, und
ihre Lippen bewegen sich, als ob sie sprächen – nur hört man das eben
nicht durch die Fensterscheiben. Zuerst dachte der Knabe, daß sie alle
wirklich lebendig seien, als er aber dann erriet und sich überzeugte,
daß es „nur Püppchen“ waren – da mußte er lachen. Er hatte so etwas noch
nie gesehen und gar nicht gewußt, daß es solche Püppchen gab! Und er
will doch auch weinen, aber zugleich muß er lachen – lachen über die
Püppchen. Plötzlich fühlt er, daß ihn jemand hinterrücks am
Schlafittchen packt: ein großer böser Bube steht hinter ihm und haut ihn
plötzlich auf den Kopf, reißt ihm das Mützchen ab und versetzt ihm von
unten einen Stoß mit dem Fuß. Der Kleine fällt hin, doch da schreit
schon alles und schilt, daß ihm angst und bange wird und er aufspringt
und fortläuft und läuft – bis er gar nicht mehr weiß, wo er ist. Und da
kriecht er unter einem Hoftor auf einen fremden Hof und hockt dort
hinter einem Holzstapel hin: „Hier wird man mich nicht finden und es ist
auch dunkel!“ denkt er.

Und so hockt er ganz still und kauert sich zusammen und kann kaum noch
atmen vor Angst, und plötzlich, ganz plötzlich wird ihm so wohl: die
Füßchen und Händchen schmerzen nicht mehr und ihm wird so warm, so warm
wie auf dem Ofenbänkchen. Da fährt er auf einmal zusammen: ach, er wäre
ja fast eingeschlafen! Wie gut es hier einzuschlafen ist: „Ich werd’
hier noch ein Weilchen sitzen und dann gehe ich wieder zu den Püppchen,“
denkt er und lächelt bei dem Gedanken an sie: „ganz wie lebendig sind
sie ...!“ Und dann ist es ihm, als höre er auf einmal seine Mutter
singen, ganz leise, daß er es kaum hören kann, aber er hört es doch.
„Mama, ich schlafe! – ach, wie ist es hier schön zu schlafen!“

„Komm zu mir, mein Knabe, zum Christbaum, es ist Weihnacht, Kind,“
flüsterte über ihm eine leise Stimme.

Er denkt, das wäre nun seine Mama, aber nein, das ist nicht sie! Doch
wer rief ihn denn? – das sieht er nicht, aber jemand beugt sich über ihn
und umfängt ihn in der Dunkelheit; und er streckt ihm die Hand entgegen
und ... und plötzlich – oh, wieviel Licht! Oh, welch ein Christbaum! Das
war – oh, solche Bäume hatte er noch gar nicht gesehen! Wo ist er jetzt
– es leuchtet und strahlt alles um ihn und soviel schöne Puppen überall
– doch nein, das sind ja alles kleine Knaben und Mädchen, nur sind sie
alle so leicht, alle umringen sie ihn, sie schweben, sie küssen ihn, sie
nehmen und tragen ihn mit sich fort, und da fühlt er, daß er auch schon
schwebt und dort: ja dort ist seine Mama und sie nickt und lächelt ihm
selig zu.

„Mama! Mama! Ach, wie ist es hier schön, Mama!“ ruft der Knabe und er
umarmt die Kinder und will ihnen schnell alles von den Püppchen, die er
hinter dem Fenster gesehen, erzählen. „Ach, wer seid ihr, Jungen? und
wer seid ihr, Mädchen?“ fragt er sie lachend und hat sie alle schon so
lieb.

„Es ist hier Weihnacht beim Christkind,“ antworteten sie ihm, „dann ist
hier im Himmel immer ein Christfest für all die kleinen Kinder, die auf
Erden keinen Christbaum haben ...“ Und er erfährt, daß alle die Knaben
und Mädchen einst auf Erden ebensolche Kinder waren, wie er, nur daß die
einen schon kaum geboren als Findlinge in den Körben starben, in denen
sie auf die steinernen Treppen vor den Türen der Petersburger Beamten
ausgesetzt wurden, daß die anderen bei finnischen Bäuerinnen erstickten,
an die sie vom Findelhaus zur Erziehung gegeben waren; daß wieder andere
an den ausgezehrten Brüsten ihrer Mütter starben (während der Hungersnot
in Ssamara), und wieder andere in Waggons dritter Klasse an der
verpesteten Luft, und alle waren sie jetzt hier, alle waren sie jetzt
Engel beim Christkind und er selbst war unter ihnen und hieß sie zu ihm
kommen und segnete sie und ihre sündigen Mütter ... Die Mütter aber
dieser Kinder stehen auch dort, nur abseits, und weinen: und eine jede
erkennt ihren Knaben oder ihr Mädchen, und die schweben zu ihnen und
küssen sie, wischen ihnen die Tränen mit ihren Händchen von den Wangen
und bitten sie, nicht zu weinen, denn sie hätten es jetzt so gut ...

                   *       *       *       *       *

Unten auf Erden aber fanden am nächsten Morgen Hofknechte hinter einem
Holzstapel die kleine Leiche eines erfrorenen Knaben. Man fand auch
seine Mutter. Die war schon vor ihm gestorben. Im Himmel sahen sie
einander wieder.

Wozu ich eine solche Geschichte nur erfunden habe, die so gar nicht in
das gewöhnliche, vernünftige „Tagebuch“ paßt! Zudem habe ich
versprochen, ausschließlich oder doch fast nur von wirklichen
Begebenheiten zu erzählen! Aber – nun ja, das ist es eben: es scheint
mir, es ist mir doch, als hätte das wirklich alles so sein können – ich
meine das, was im Keller und hinter dem Holzstapel geschah, jenes andere
aber, von der Christnacht im Himmel –, ja da weiß ich nun nicht, was ich
Ihnen sagen soll, ob das auch wirklich so hätte sein können oder –
nicht? Doch dazu bin ich ja Dichter, um es zu wissen.




                                Fußnoten


[1] Der größte Held der russischen Volksdichtung, ein Bauernsohn aus dem
Dorf Karatscharowo, wo er gelähmt in der Hütte der Eltern sitzt, bis
vorüberziehende Bettler (mythische Gestalten) ihn durch Zauber heilen.
E. K. R.

[2] Diminutiv von Katjä. E. K. R.

[3] Strophe aus einem Gedicht von Nekrassoff, das das Leben eines
ähnlichen Knaben zum Gegenstand hat. E. K. R.


                     Anmerkungen zur Transkription.

Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
nach:

                  F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
               Zweite Abteilung: Zweiundzwanzigster Band
           R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1912.

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen
Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
nach der Titelseite eingefügt.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben
„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde
vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):

   Katjä (Kätja)

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 275]:
   ... Tages kaum aus Moskau die Nachricht, daß der ...
   ... Tages kam aus Moskau die Nachricht, daß der ...

   [S. 286]:
   ... atmetet tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar
       abgerissene ...
   ... atmete tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar
       abgerissene ...






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 22: EIN KLEINER HELD ***


    

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START: FULL LICENSE

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE

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1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation (“the
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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
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International donations are gratefully accepted, but we cannot make
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Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
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