The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 15 This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Sämtliche Werke 15 Helle Nächte : Vier Novellen Author: Fyodor Dostoyevsky Contributor: Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky Editor: Arthur Moeller van den Bruck Translator: E. K. Rahsin Release date: March 23, 2025 [eBook #75698] Language: German Original publication: Muenchen: Piper, 1920 Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library. *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 15 *** F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski herausgegeben von Moeller van den Bruck Übertragen von E. K. Rahsin Zweite Abteilung: Fünfzehnter Band F. M. Dostojewski Helle Nächte Vier Novellen R. Piper & Co. Verlag, München, 1920 R. Piper & Co. Verlag, München, 1920 Siebentes bis zwölftes Tausend Copyright 1920 by R. Piper & Co., G. m. b. H., Verlag in München Inhalt Einleitung VII Vorbemerkung XV Helle Nächte 1 Das junge Weib 99 Ein schwaches Herz 243 Ein Roman in neun Briefen 317 Dostojewski, Petersburg und die Schönheit der Stadt Die hellen Nächte sind die Lyrik des Nordens. In ihrem Lichte, in der geisternden Unwirklichkeit des finnischen Sumpfes, dort, wo Norden und Osten sich treffen, hat Peter seine Stadt gegründet. Und in dem Od dieser Stadt hat Dostojewski seine Menschen gesehen, Petersburger Menschen, die in dem Widerspruche leben müssen, daß sie als Russen wirkliche und als Europäer unwirkliche Menschen sind. Es ist nicht das Licht des reinen Nordens, das vom Pol kommt und in der Arktis seine harten elektrischen Phänomene empfängt. Es ist nicht das mythische Licht der Edda, in dem die Gestirne wie Runen am Himmel stehen und unter dem von einem großen Magus das Buch von der Welt aufgeschlagen wurde. Es ist auch nicht das Licht jener klaren dualistischen Nacht, in der Kant den bestirnten Himmel über ihm und das moralische Gesetz in ihm in Ehrfurcht bewundern lernte. Es ist vielmehr die Macht der finnischen Zauberer, die Kalews Söhne durchbrachen und in der Wanemuine sang: das Licht einer weicheren Helle, in der die Fläche der unendlichen Steppe zwischen Kaukasus und Skandinavien gen Norden zurückgeschlagen wurde. Es ist das Stadtlicht einer Halbhelle, in der die Menschen unsicher gehen, wie Schatten auftauchen, wie Schatten verschwinden, ohne Willen, wie ihn nur einmal Peter an dieser Stelle hatte, aber dafür mit einer äußersten Verinnerlichung, die Dostojewski hier in einer schrecklichen alltäglichen strindbergischen Wirklichkeit aufdeckte. Der erste Eindruck von Petersburg ist die Häßlichkeit seiner Menschen. Die finnische Urbevölkerung scheint in grauen und unscheinbaren Verkümmerungen fortzuleben. Die Verbindung zu einer neuen Stadtrasse mißlang und in zweihundertjähriger Großstadtinzucht wurde ein Bastardgeschlecht erzeugt, das in der Luft feuchter Stuben in naturlosem Nebelleben vollends verdarb. Dieser Eindruck wird noch gesteigert durch den Gegensatz, daß so viel fade und verdächtige Hübschheit sich hineinmischt, Schönheit, die aus polnischer, grusinischer und wer weiß welcher orientalischen Rasse stammt und hier auf ihren verweichlichten Rest zurückgeführt wurde: Schönheit ganz kleiner spitzer glatter Züge, die doppelt widerlich am Manne ist und über die auch der selbstgefällige Bart eines Würdenträgers nicht hinwegzutäuschen vermag. Wohl sieht man auch Erscheinungen: sieht Rasse zwischen Entrassung. Im Wagen oder Schlitten fährt eine glücklichere Gesellschaft vorüber, die in russischer Ungebundenheit gepflegteste Westlichkeit nachahmt. Doch die Menge ist ohne Bodenständigkeit, haltlos in sich, und auf den Straßen sieht man allenthalben diese leidenden Menschen mit dem Ausdruck von Krankheit, Verlebtheit, Verbrechen: Menschen, denen man alle Laster zutraut, worunter Spitzeltum und Bestechlichkeit, als die amoralischen Grundlagen der russischen Gesellschaft wie des russischen Staates im Volke, noch die gewöhnlichsten und von beinahe bürgerlicher Selbstverständlichkeit sind. Nirgendwo sonst gibt es diese mageren rachitischen Gestalten, diese fahlen hektischen Gesichter, verkümmert durch Not oder durch Ausschweifung, diese zweideutigen Mienen von Winkel- oder Kellermenschen, diesen Zug eines schlechten und doch gleichgültigen Gewissens auf einem gestempelten Gesicht. Abgearbeitetes und schlechtentlohntes Beamtentum mischt sich mit einer mißverstandenen und übertriebenen Halbwelteleganz. Verkommene sind da, von denen man nicht weiß, ob es Schwärmer sind, Ideologen in Entsagung, oder Zuchthäusler in Scheuheit und Frechheit zugleich. Es ist ein Fluch über dieser Stadt: Erbe einer großen Bestimmung auf unsicherem Grunde zu sein, in Entwurzelung und Ziellosigkeit, Erbe des petrinischen Irrtums und Verhängnisses, daß es in Rußland nie eine petrinische Nachfolge in Ebenbürtigkeit geben sollte. Doch immer wieder warf das Land seine Menschen in diese Stadt, Bauern, die hier zu Industriearbeitern wurden, Popensöhne, die als Nihilisten anfingen, um als Kanzlisten zu enden. Man glaubt sie noch herauszukennen, diese Generation der zuletzt Angekommenen. Und an einem Soldaten, an einem Dwornik, oder an diesen herrlichen Kutschern mit den prallen Pelzröcken, diesen steifen ausgestopften breitbärtigen Riesenpuppen, die mit der Würde von Königen die Gesellschaft über den Newskij fahren, erkennt man plötzlich, was Rasse auch hier ist, großrussische Rasse, tatarische Rasse, volklich, eigentümlich, ursprünglich, dort hinten, um Moskau, weit in Rußland. In dieser belasteten und verdorbenen, dieser unfertigen und doch schon frühalten Stadtbevölkerung, die Peter aufeinander angewiesen hatte und die seitdem von dem Staate in einer fahrlässigen und doch wieder großzügigen Ordnung zusammengehalten wurde, während sie selbst vorwiegend durch Betrug mit sich und dem Staate auskam – in ihr entdeckte Dostojewski den Menschen. Puschkin und Lermontoff hatten den romantischen Helden entdeckt, den byronischen Jüngling mit skeptischen und ironischen, aber auch mit heroischen und enthusiastischen Zügen, der freilich der Gesellschaft, nicht dem Volke angehörte, und hatten ihn mit Gestalten der Nation, der Sphären der Armee und Beamtenschaft, der Kleinbürger und Bauern nur umgeben. Dostojewski dagegen entdeckte den seelischen Menschen, die Tragödie der Unscheinbarkeit, die im Unbemerkten, in einem Mensch-für-sich-sein dahinlebte, und entdeckte, daß er voll von rührenden oder erschütternden inneren Werten war. Er tat es moralisch, mit einer leisen Beinote des Sozialen, in seinen Jugendwerken, von den „Armen Leuten“ bis zu den „Erniedrigten und Beleidigten“, und schließlich religiös, nachdem ihn seine sibirische Zeit mit den Ausgestoßenen dieser Gesellschaft und dieses Staates zusammengebracht und er selbst im Dulden die Erlösung von allen russischen und petersburgischen Leiden erlebt hatte, in den Heilandgestalten seiner großen Romane. Er tat es wohl auch humoristisch, indem er zu der Allmenschlichkeit, mit der er diesen Leiden in Güte begegnete, die behäbige oder verdrehte Allzumenschlichkeit fügte, die versöhnend in den Menschen selbst lag, oder die er hineinlegte. Und er tat es schließlich lyrisch, mit einer Behutsamkeit der tiefen Empfindung, aber auch der schwebenden Form, indem er die beseligte und beseligende Schönheit offenbar machte, die ihr Leben in der Armut seiner Geschicke und in der Häßlichkeit seiner Umgebung von innen erleuchtete. Die Menschen selbst wurden schön. Mädchen wurden reizend. Jünglinge erhielten, obwohl sie Petersburger blieben, frische Knabenhaftigkeit zurück. Und ein paar Alte bekamen die würdige Schönheit von Philemon und Baucis. Es war nicht klassische, nicht romantische Schönheit, sondern russische und seelische Schönheit, die sich von dem Nerv der Gefühle unmittelbar auf die Linie des Körpers übertrug, auf die Farbe des Ausdrucks, auf die Liebenswürdigkeit der Gestalt. Es war nicht moralische Schönheit im Sinne Kants, der aus der Schönheit eine Tugend gemacht hatte, jenes immer etwas umständliche Symbol des Sittlich-Guten, das man erst mit dem Verstande erfassen muß, ehe man es am Menschen entdecken kann. Es war eine ganz persönliche Schönheit, ohne Umwege, ohne Symbolik, in sich selber kniend, eingeboren in Worten und Handlungen. Zugleich entdeckte Dostojewski die Schönheit von Petersburg. Puschkin hatte ihr Pathos besungen, die Stadt des ehernen Reiters, die Nadel der Admiralität, den Granit der Newakais, die schreckende Nähe der Peterpaulsfeste, in deren Kirche die Romanoffs ruhen, der kriegerischen Stätte, deren Kanonen alle Ereignisse in der Dynastie und die Taten des Heeres donnernd über den Fluß verkündeten. Petersburg war immer schön, solange es petrinisch blieb. Aber zwischen Puschkin und Dostojewski lag die Entwicklung von der Residenz, die auch in ihren Furchtbarkeiten und Geheimnissen noch vornehm war, zu der grauen und grausamen Großstadt, in der die Menge die weiten Straßenzüge und hohen Mietshäuser zu füllen begann. Nun mußte die weiße Magie der Natur, atmosphärisches Licht und vibrierende Stimmung, die Schönheit des Alltags ersetzen, die Dostojewski, je länger er in ihr lebte, um so stärker empfand. Er hat Petersburg wohl auch mit harten, mit verfluchenden Worten bedacht. Aber er hat die Stadt doch immer wieder geliebt, ja die Liebe zu ihr, die Tatsache, daß er sie lieben konnte, teilte sich ihr selbst mit, wurde durch ihn zur Schönheit an ihr. Es war nicht ihr Stil, den er an ihr so liebte. Er scheint ihn gar nicht gekannt, gar nicht bemerkt zu haben. Dostojewskis Liebe zu Petersburg war unarchitektonisch, rein sensibel. Die majestäthaften Baulichkeiten, die immer der Ruhm der Zaren in dieser Stadt bleiben, werden niemals erwähnt, und nichts deutet darauf hin, daß er überhaupt wußte, daß Petersburg die Stadt eines großartigen Klassizismus und großer Klassizisten, der Sacharoff und Woronichin ist. Aber Dostojewski hat dafür jedes einzelne Haus geliebt und geliebkost. Er scheint mit allen vertraut und befreundet gewesen zu sein, und mit den unscheinbarsten am innigsten. An einer besonders schönen Stelle der „Hellen Nächte“ schildert er einmal, ganz in der treuherzigen Weise bunter russischer Märchen, wie in einer Straße, durch die ihn sein Weg des öfteren führt, jedes einzelne Haus vortritt und ihm sein neuestes Schicksal erzählt. Es war mit den Häusern von Petersburg wie mit den Menschen bei Dostojewski. Er belebte die Häuser menschlich, gab ihnen eine seelische Schönheit, wie es seelische Leidenschaften waren, in denen er seine Menschen leben ließ. Man empfindet diese Geistigkeit doppelt, wenn einmal, wie es in der Erzählung von dem „jungen Weibe“ geschah, südliche und sinnliche Schönheit, südliche und sinnliche Leidenschaft, wenn Menschen von Südrußland, von der Wolga, vom Schwarzen Meere sich in dieses Nebelland und in diese Nebelstadt verirren. Dann verbindet sich der Mythe die Kabbala, und der Dithyrambos einer dunkleren Romantik klingt in die helle Lyrik dieser nordisch-phantastischen Überwirklichkeit. Dann wird Petersburg zu Rußland, und auf den Straßen, die zu seiner Hauptstadt führen, ziehen seine Völker heran, um sich in dieser einsamen grausamen frierenden Schönheit von Petersburg zu verlieren, die sie mit ihrem kalten Lichte aufnimmt und die doch eine so innige Schönheit ist, daß ihr Dichter die Häuser und die Herzen mit der gleichen Liebe umfangen kann. M. v. d. B. Vorbemerkung Der Band enthält die drei kürzeren Petersburger Novellen, die Dostojewski nach dem großen Erfolge der „Armen Leute“ zu Ende der vierziger Jahre geschrieben hat und die in der literarischen Zeitschrift „Vaterländische Annalen“ erschienen. Dem Bande ist eine kleine Halbhumoreske „Ein Roman in neun Briefen“ hinzugefügt, die in der Zeit der „Hellen Nächte“ mit entstand: als das erste Stück Prosa mit komischem Unterton, in dem sich Dostojewski versuchte, und das so hinüberleiten mag zu seiner nächsten größeren Arbeit, dem Humoreskenroman „Das Gut Stepantschikowo“, den der folgende Band der Ausgabe bringt. E. K. R. Helle Nächte Ein empfindsamer Roman aus den Erinnerungen eines Träumers „... Oder ward er nur erschaffen, um eine kleine Weile lang Deinem Herzen nah zu sein? ...“ Iwan Turgenjeff. Die erste Nacht. Es war eine wundervolle Nacht – eine Nacht, wie wir sie vielleicht nur sehen, wenn wir jung sind, mein lieber Leser. Der Himmel war so tief und nachthell, daß man sich bei seinem Anblick unwillkürlich fragen mußte, ob denn wirklich unter einem solchen Himmel böse und launische Menschen leben können? Das ist nun freilich eine Frage, auf die man nur in jungen Jahren verfallen kann, nur in sehr jungen sogar, mein lieber Leser! Doch möge der Herr sie öfter in Ihrer Seele erwecken! ... Während ich noch in dieser Weise an die verschiedensten Menschen dachte, mußte ich mich unwillkürlich auch meiner eigenen löblichen Aufführung an diesem Tage erinnern. Schon vom Morgen an hatte mich eine wunderliche Stimmung bedrückt. Ich hatte die Empfindung, daß ich, der ohnehin Einsame, von allen verlassen wurde, daß alle sich von mir zurückzogen. Natürlich hat jetzt ein jeder das Recht, mich zu fragen: ja, wer sind denn diese „alle“? Lebe ich doch bereits das achte Jahr in Petersburg und habe trotzdem noch so gut wie keine einzige Bekanntschaft zu machen verstanden. Wozu brauchte ich auch Bekannte? Ich bin sowieso schon mit ganz Petersburg bekannt. Eben deshalb schien es mir aber, als ob alle mich verließen, als ob sich jetzt ganz Petersburg aufmachte, um in die Sommerfrische zu gehen. Mir wurde es fast unheimlich, allein zu bleiben, und drei Tage lang strich ich tief bekümmert in der Stadt umher, entschieden unfähig zu begreifen, was in mir vorging. Auf dem Newskij, im Sommergarten, an den Kais war kein einziges von den Gesichtern zu sehen, denen ich tagtäglich zu bestimmter Stunde an derselben Stelle zu begegnen pflegte. Die Betreffenden kennen mich natürlich nicht, aber ich – ich kenne sie. Ich kenne sie sogar ganz genau: ich habe ihre Physiognomien studiert und freue mich, wenn sie froh sind, und fühle mich verstimmt, wenn sie betrübt sind. Ja ich kann sogar sagen, daß ich einmal fast eine Freundschaft geschlossen hätte: das war mit einem alten kleinen Herrn, dem ich jeden Tag, den Gott werden ließ, zur selben Stunde an der Fontanka begegnete. Er hatte eine so wichtige, nachdenkliche Miene und sein Unterkiefer bewegte sich immer, ganz so als kaue er etwas, der linke Arm schlenkerte ein wenig und in der rechten Hand hatte er einen langen Knotenstock mit einem goldenen Knopf. Auch er hatte mich bemerkt und nahm seitdem innigen Anteil an mir. So bin ich überzeugt, daß er, wenn er mich einmal nicht zur gewohnten Stunde an der gewohnten Stelle der Fontanka treffen sollte, sich gleichfalls entschieden verstimmt fühlen würde. Deshalb fehlte denn auch nicht viel, daß wir uns grüßten, namentlich wenn wir beide bei guter Laune waren. Vor kurzem noch, als wir uns ganze zwei Tage nicht gesehen hatten und dann einander am dritten Tage begegneten, hätten wir schon beinahe an die Hüte gegriffen, besannen uns aber zum Glück noch rechtzeitig, ließen die Hände sinken und gingen mit sichtlich anteilnehmender Zuvorkommenheit aneinander vorüber. Ich bin auch mit den Häusern bekannt. Wenn ich so gehe, dann ist es, als laufe jedes, sobald es mich erblickt, ein paar Schritte aus der Front und sehe mich aus allen Fenstern an und sage gewissermaßen: „Guten Tag, hier bin ich! und wie geht es Ihnen? Auch ich bin, Gott sei Dank, ganz frisch und munter, aber im Mai wird man mir noch ein Stockwerk aufsetzen.“ Oder: „Guten Tag! Wie geht’s? Denken Sie sich, ich werde morgen neu angestrichen!“ Oder: „Bei mir gab’s Feuer und ich wäre um ein Haar niedergebrannt – ich habe mich dabei so erschreckt!“ Und so weiter: in dieser Art. Unter ihnen habe ich natürlich meine Lieblinge, sogar gute Freunde. Eines von ihnen will sich in diesem Sommer von einem Architekten operieren lassen – umbauen, und ähnliches. Werde da unbedingt täglich hingehen, damit man mir den Freund nicht etwa vollkommen umbringt! Gott behüte ihn davor! ... Doch niemals werde ich die Geschichte mit dem einen kleinen allerliebsten hellrosa Häuschen vergessen! Es war das solch ein reizendes Häuschen, so freundlich sah es mich immer an und so stolz war es auf seine Reize unter den plumpen Nachbarn, daß mein Herz jedesmal lachte, wenn ich an ihm vorüberging. Plötzlich, in der vorigen Woche, wie ich in die Straße einbiege und nach meinem kleinen Liebling hinsehe – höre ich ein jammervolles Wehklagen: „Man tüncht mich gelb!“ Diese Barbaren! Diese Bösewichter! Nichts hatten sie verschont. Weder die Pfeiler noch die Karniese! Mein kleiner Freund war in der Tat gelb wie ein Kanarienvogel. Ich war nahe daran, vor Ärger selbst die Gelbsucht zu kriegen, so gallig machte mich der Fall, und bis jetzt bin ich noch nicht imstande gewesen, ihn wiederzusehen, meinen entstellten armen Kleinen, den die Unbarmherzigen in der Farbe des Reichs der Mitte angestrichen haben. Also folglich – jetzt begreifen Sie wohl, mein verehrter Leser, auf welche Weise ich mit ganz Petersburg bekannt bin. Ich sagte bereits, daß mich volle drei Tage eine seltsame Unruhe quälte, bis ich endlich ihre Ursache erriet. Auf der Straße fühlte ich mich nicht wohl (der eine war nicht zu sehen, der andere nicht, der dritte und vierte auch nicht – „wo mag wohl jener geblieben sein?“) – und auch zu Hause fühlte ich mich so anders, daß ich mich selbst kaum wiedererkannte. Zwei Abende versuchte ich vergeblich, zu ergründen, was mir nun eigentlich in meinen vier Wänden fehlen mochte. Warum fühlte ich mich mit einem Male so unbehaglich im Zimmer? Prüfend schaute ich mir meine grünen, verräucherten Wände an, musterte die Decke, an der Matrjona mit großem Erfolge das Spinngewebe behütete, besah mir meine Einrichtung, insbesondere jeden Stuhl, und fragte mich in Gedanken, ob nicht hier der Grund liege (denn wenn bei mir auch nur ein Stuhl nicht so steht, wie er gestern stand, dann bin ich nicht mehr ich selbst). Ich blickte nach dem Fenster – doch alles war umsonst ... mir ward deshalb nicht leichter zumute! Ja ich kam sogar auf den Gedanken, Matrjona zu rufen und ihr in väterlichem Tone einen gelinden Vorwurf wegen des Spinngewebes und der allgemeinen Vernachlässigung zu machen; aber sie sah mich nur verwundert an und ging fort, ohne ein Wort zu erwidern, so daß das Spinngewebe auch jetzt noch wohlbehalten an der Decke hängt. Erst heute morgen erriet ich endlich, um was es sich handelte. Also: sie zogen ja alle in die Sommerfrische und ließen mich im Stich! – das war’s: sie kniffen aus! Verzeihen Sie das triviale Wort, aber es war mir in dem Augenblick nicht um einen klassischen Ausdruck zu tun ... Es hatte doch wirklich alles, was in Petersburg lebte, die Stadt bereits verlassen, oder verließ sie noch täglich und stündlich. Wenigstens verwandelte sich in meinen Augen jeder ältere Herr von solidem Äußeren, der sich in eine Droschke setzte, in einen ehrwürdigen Familienvater, der nach den alltäglichen Geschäften in der Stadt hinausfuhr, um den Rest des Tages im Schoße seiner Familie zu verbringen. Jeder Mensch auf der Straße hatte jetzt ein völlig anderes Aussehen, eines, das jedem etwa sagen zu wollen schien: „Wir sind ja nur so, sind nur noch kurze Zeit hier, in zwei Stunden bereits fahren wir hinaus ins Grüne!“ Oder öffnete sich ein Fenster, an dessen Scheiben zuerst schlanke, weiße Fingerchen getrommelt, und beugte sich das hübsche Köpfchen eines jungen Mädchens hinaus, um den Blumenhändler herbeizurufen, – da stellte ich mir vor, daß diese Blumen auch „nur so“ von ihr gekauft wurden und durchaus nicht deshalb, um sich an diesem Blumentopf mit den paar Knospen und Blüten wie an einem Stück Frühling in der dumpfen Stube zu erfreuen, und daß sehr bald alle die Stadt verlassen und auch die Blumen mitnehmen würden. Doch damit noch nicht genug, ich machte vielmehr in meinem neuen Entdeckerberuf solche Fortschritte, daß ich bald schon allein nach dem Äußeren unfehlbar festzustellen vermochte, welchen Villenort ein jeder gewählt hatte. Die Bewohner der fashionablen Inseln[1] oder der Villen an der Peterhofstraße zeichneten sich durch auserlesene Eleganz sowohl im Gang und in jeder Geste, wie in den Sommerkostümen und Hüten aus und besaßen prachtvolle Equipagen, in denen sie zur Stadt gefahren kamen. Die Einwohner von Pargolowo und dort weiter hinaus „imponierten“ einem auf den ersten Blick durch ihre vernünftige Gediegenheit, und die von der Krestowskij-Insel durch ihre unverwüstlich heitere Gemütsverfassung. Traf es sich, daß ich einer langen Prozession von Frachtfuhrleuten begegnete, die, die Leine in der Hand, gemächlich einhertrotteten ... neben ihren hochbeladenen Lastwagen, auf denen ganze Berge von Tischen, Betten, Stühlen, türkischen und nichttürkischen Diwans schaukelten und auf deren Gipfel oft noch eine Küchenfee mit etwas verzagten Mienen thronte, oder auch, wenn sie sich sicherer fühlte, das herrschaftliche Gut mit Argusaugen bewachte, damit nur ja nichts unterwegs verloren ginge, – oder sah ich auf der Newa oder der Fontanka ein paar mit Hausgerät beladene Boote nach den Inseln oder stromaufwärts nach der Tschornaja-rjetschka ziehen, – die Boote wie die Fuhren verzehn-, verhundertfachten sich in meinen Augen –: so schien es mir, als mache alle Welt sich auf und ziehe in Karawanen hinaus, und als verwandle Petersburg sich in eine Wüste, so daß ich mich zu guter Letzt entschieden beschämt und gekränkt fühlte, und natürlich auch betrübt, denn nur ich allein hatte keine Möglichkeit und wohl auch keinen Grund, in die Sommerfrische hinauszuziehen. Und doch war ich bereit, auf jeden Lastwagen zu springen, mit jedem Herrn, der sich in eine Droschke setzte, mitzufahren; aber nicht einer von ihnen, kein einziger forderte mich dazu auf. Es war, als hätten sie mich plötzlich alle vergessen, als wäre ich ihnen allen im Grunde doch vollkommen fremd. Ich spazierte oft und lange umher, so daß ich meiner Gewohnheit gemäß wieder einmal vergessen hatte, wo ich eigentlich ging, bis ich mich schließlich an der Stadtgrenze fand. Da ward mir im Augenblick fröhlich zumute und ich trat hinter den Schlagbaum und ging weiter zwischen den besäten Feldern und Wiesen, ohne Müdigkeit zu verspüren, fühlte aber, daß mir eine Last von der Seele genommen wurde. Alle, die an mir vorüberfuhren, sahen mich so freundlich an, daß es fast wie ein Gruß war; alle schienen sie über irgend etwas froh zu sein. Und auch ich wurde so froh, wie ich noch nie in meinem Leben gewesen ... Ganz als befände ich mich plötzlich in Italien – so mächtig wirkte die Natur auf mich, den halbkranken Städter, der zwischen den Häusermauern fast schon erstickt war. Es liegt etwas unsagbar Rührendes in unserer Petersburger Natur, wenn sie im Frühling erwacht und plötzlich ihre ganze Macht offenbar und alle ihre vom Himmel verliehenen Kräfte entfaltet: wenn sie sich mit jungem weichem Laub umhüllt und mit bunten Blumen und zarten Blüten schmückt ... Dann erinnert sie mich unwillkürlich an ein sieches Mädchen, auf das man zuweilen mit Bedauern, zuweilen mit einer seltsam mitleidigen Liebe blickt oder das man zuweilen auch überhaupt nicht bemerkt, das dann aber plötzlich, auf einen Augenblick und ganz unverhofft, nahezu märchenhaft schön wird, so schön, daß man bestürzt und berauscht vor ihr steht und sich verwundert fragt: welche Macht hat in ihren traurigen, verträumten Augen dieses Leuchten erweckt? Was hat das Blut in ihre bleichen abgezehrten Wangen getrieben und läßt nun diese zarten Züge tiefe Leidenschaft widerspiegeln? Weshalb hebt sich ihre Brust? Was hat so plötzlich Kraft, Leben und Schönheit in das Antlitz des armen Mädchens gebracht, daß es in süßem Lächeln erglänzt und zu sprühendem Lachen fähig wird? Und man sieht sich im Kreise um, man sucht jemand, man beginnt zu ahnen, zu erraten ... Doch der Augenblick ist vergänglich und vielleicht morgen schon werden wir wieder dem zerstreuten, verträumten Blick begegnen, wie früher, und werden wieder das blasse Gesicht wahrnehmen und dieselbe Ergebung und Schüchternheit in den Bewegungen und sogar so etwas wie Reue, sogar Spuren eines lähmenden Kummers und Ärgers über dieses kurze Aufleben ... Und es tut einem leid, daß die Schönheit so schnell und unwiderruflich verwelkt ist, daß sie so trügerisch und vergeblich vor einem geleuchtet hat – leid, weil man nicht einmal Zeit gehabt, sie liebzugewinnen ... Und doch war meine Nacht noch schöner als der Tag. Ich kehrte erst spät in die Stadt zurück und es schlug bereits zehn, als ich mich meiner Wohnung näherte. Mein Weg führte am Kanal entlang, wo zu dieser Stunde gewöhnlich keine lebende Seele zu sehen ist. Freilich lebe ich auch in einem sehr stillen entlegenen Stadtteil. Ich ging und sang, denn wenn ich glücklich bin, muß ich unbedingt irgend etwas vor mich hinsummen, wie eben jeder glückliche Mensch, der weder Freunde noch gute Bekannte hat, noch einen Menschen, mit dem er seine frohen Augenblicke teilen kann. Da nun, in dieser Nacht, hatte ich plötzlich ein überraschendes Abenteuer. Nicht weit vor mir erblickte ich eine Gestalt in Frauenkleidern: sie stand und stützte die Ellbogen auf das Geländer des Kais und sah, wie es schien, aufmerksam in das trübe Wasser des Kanals. Sie trug ein entzückendes gelbes Hütchen und eine kokette kleine schwarze Mantille. „Das ist ein junges Mädchen und sicherlich ist sie brünett,“ dachte ich. Sie schien meine Schritte nicht zu hören, denn sie rührte sich nicht, als ich langsam mit angehaltenem Atem und laut pochendem Herzen an ihr vorüberging. „Sonderbar!“ dachte ich, „jedenfalls muß sie ganz in Gedanken versunken sein“ – und plötzlich zuckte ich zusammen und blieb wie gebannt stehen: ich hörte dumpfes Schluchzen ... Ja! ich täuschte mich nicht: das junge Mädchen weinte – nach einer Weile klang es wieder wie ein Aufschluchzen, und dann wieder. Mein Gott! Das Herz krampfte sich mir zusammen. Wie befangen ich auch sonst Frauen gegenüber bin, diesmal – es waren aber auch so seltsame Umstände! ... Kurz, ich entschloß mich im Augenblick, trat auf sie zu und – würde unbedingt „Meine Gnädigste!“ gesagt haben, wenn ich nicht gewußt hätte, daß diese Anrede in allen russischen Romanen, die die höheren Gesellschaftskreise schildern, mindestens tausendmal vorkommt. Das allein hielt mich davon ab. Doch während ich noch nach einer passenden Anrede suchte, kam das junge Mädchen wieder zu sich, sah sich um, erblickte mich, schlug die Augen nieder und huschte an mir vorüber. Ich folgte ihr sogleich, was sie jedoch zu fühlen schien, denn sie verließ den Kai, überschritt die Straße und ging auf dem anderen Trottoir weiter. Ich wagte nicht, ihr dorthin zu folgen. Mein Herz zitterte wie einem gefangenen Vogel. Da kam mir ein Zufall zu Hilfe. Auf jenem Trottoir tauchte plötzlich in der Nähe meiner Unbekannten ein Herr auf – ein Herr in zweifellos soliden Jahren, jedoch mit einer Gangart, die sich nicht gerade als solid bezeichnen ließ. Er ging wankend und stützte sich mitunter an die Häuser. Das junge Mädchen schritt indes gesenkten Blicks weiter, ohne sich umzusehen, und so schnell, wie es alle jungen Mädchen tun, die nicht wünschen, daß jemand sich ihnen nähere und sich erbiete, sie in der Nacht nach Hause zu begleiten. Der wankende Herr hätte sie auch niemals eingeholt, wenn er nicht mit einer gewissen Schlauheit auf etwas Nichtvorherzusehendes verfallen wäre: ohne ein Wort oder einen Anruf, raffte er sich nämlich plötzlich auf und lief ihr möglichst leise nach. Sie ging wie der Wind, doch der Herr kam ihr schnell näher und holte sie ein – das Mädchen schrie auf, und ... ich dankte dem Schicksal für den Rohrstock, den ich in meiner Rechten hielt! Im Augenblick war ich auf der anderen Seite, im Augenblick begriff auch der Herr, um was es sich handelte, und die Vernunft siegte in ihm: er schwieg, trat zurück, und erst als wir fast schon außer Hörweite waren, protestierte er in ziemlich energischen Ausdrücken gegen meine Handlungsweise. Doch wir hörten ihn kaum. „Nehmen Sie meinen Arm,“ sagte ich zu der Unbekannten, „dann wird er es nicht mehr wagen, Sie zu belästigen.“ Schweigend legte sie ihr Händchen, das von der Aufregung und dem Schreck noch zitterte, auf meinen Arm. Oh, du ungerufener Herr! Wie segnete ich dich in diesem Augenblick! Ich warf einen schnellen Blick auf meine Begleiterin: sie sah reizend aus und war brünett, wie ich es mir gleich gedacht hatte. An ihren dunkeln Wimpern glänzten noch Tränen – ob vom Schreck oder von dem Kummers, über den sie am Kai geweint, das lasse ich dahingestellt. Aber ihre Lippen versuchten schon, zu lächeln. Auch sie sah mich heimlich an, errötete, als ich es bemerkte, und senkte den Blick. „Sehen Sie, nun, warum liefen Sie vorhin von mir fort? Wäre ich bei Ihnen gewesen, so wäre nichts geschehen ...“ „Aber ich kannte Sie doch nicht! Ich dachte, daß Sie ebenso ...“ „Ja, kennen Sie mich denn jetzt?“ „Ein wenig. Aber – weshalb zittern Sie?“ „Oh, da haben Sie gleich alles erraten!“ versetzte ich entzückt, denn ich glaubte aus ihrer Bemerkung entnehmen zu dürfen, daß sie, die so schön war, auch klug war. „Wie Sie gleich auf den ersten Blick erkennen, mit wem Sie es zu tun haben! Es ist wahr, ich bin Frauen gegenüber befangen, und ich leugne auch nicht, daß ich mich im Augenblick erregt fühle, ebenso wie Sie vor ein paar Minuten, als jener Herr Sie erschreckte ... Auch ich fühle jetzt so etwas wie einen Schreck: die ganze Nacht erscheint mir wie ein Traum, mir, der ich es mir niemals habe träumen lassen, daß ich jemals in die Lage kommen könnte, mit einem jungen Mädchen in dieser Weise zu sprechen.“ „Was? Wirklich?“ „Mein Wort darauf; und wenn mein Arm jetzt bebt, so kommt das nur daher, daß er noch nie von einer so reizenden kleinen Hand, wie die Ihrige, berührt worden ist. Ich bin jetzt des Umgangs mit Frauen vollständig ungewohnt; das heißt, ich will damit nicht etwa sagen, daß ich früher einmal einen solchen Umgang gewohnt gewesen bin. Nein, ich lebe von jeher allein und für mich ... Ich weiß nicht einmal, wie man mit ihnen spricht. Auch jetzt zum Beispiel weiß ich nicht, ob ich Ihnen nicht irgendeine Dummheit gesagt habe. Ist das der Fall, so sagen Sie es mir, bitte, ganz offen. Ich werde es Ihnen nicht übelnehmen ...“ „Nein, nein, gar nicht, im Gegenteil. Und wenn Sie schon einmal verlangen, daß ich aufrichtig sein soll, dann will ich Ihnen sagen, daß solche Befangenheit den Frauen sogar sehr gefällt. Und wenn Sie noch mehr wissen wollen, dann will ich gleich gestehen, daß sie auch mir gefällt, und ich werde Sie nicht früher fortschicken, als bis ich bei unserem Hause angelangt bin.“ „Sie sind ja so reizend, daß ich gleich meine ganze Befangenheit verliere,“ rief ich entzückt, „und dann – lebt wohl alle meine Chancen! ...“ „Chancen? Was für Chancen, und wozu? Nein, das gefällt mir nun wieder gar nicht!“ „Verzeihung, es war mir auch nur so ... entschlüpft, ganz gegen meinen Willen! Aber wie können Sie auch verlangen, daß in einem solchen Augenblick nicht der Wunsch erwachen soll ...?“ „Zu gefallen etwa?“ „Nun ja, versteht sich. Aber seien Sie – oh, um Gottes willen, seien Sie großmütig! Bedenken Sie, wer ich bin! Ich bin schon sechsundzwanzig Jahre alt – und noch habe ich mit keinem Menschen Verkehr gehabt. Wie sollte ich da plötzlich nach allen Regeln der Kunst eine Unterhaltung anzuknüpfen verstehen? Aber Sie werden mich um so besser begreifen, wenn alles offen vor Ihnen liegt ... Ich verstehe nicht zu schweigen, wenn das Herz in mir spricht. Nun, gleichviel ... Glauben Sie mir, ich kenne keine einzige Frau, keine einzige! Ich habe überhaupt keine Bekanntschaft. Ich träume nur jeden Tag, daß ich endlich irgend einmal irgendwo doch irgend jemand treffen und kennen lernen werde. Ach, wenn Sie wüßten, wie oft ich schon auf diese Weise verliebt gewesen bin ...“ „Aber wie denn das, in wen denn?“ „Ja, in niemand, einfach in ein Ideal, das ich im Traum vor mir sehe. Ich ersinne in meinen Träumen gewöhnlich ganze Romane. Oh, Sie kennen mich noch nicht! Doch was sage ich! – natürlich habe ich mit zwei oder drei Frauen gesprochen, aber was waren denn das für Frauen? Das waren ja nur solche Wirtinnen, daß ... Aber ich will Sie lieber fröhlich machen und Ihnen etwas erzählen: Ich habe schon mehrmals die Absicht gehabt, so ganz ohne weiteres irgendeine Aristokratin auf der Straße anzureden. Selbstverständlich, wenn sie allein ist, und ebenso selbstverständlich mit aller Ehrerbietung, aber doch mit Bangen, und um ihr dann voll Leidenschaft zu sagen, daß ich so allein umkomme, und um sie zu bitten, daß sie mich nicht fortjage und daß ich sonst keine Möglichkeit habe, auch nur je irgendeine Frau kennen zu lernen. Ich würde ihr sagen, daß es sogar die Pflicht jeder Frau sei, die bescheidene Bitte eines so unglücklichen Menschen, wie ich einer bin, nicht abzuschlagen. Daß schließlich alles, um was ich sie bitte, nichts weiter sei, als daß sie mir erlaube, ihr brüderlich zwei Worte sagen zu dürfen, daß sie mir nur etwas Teilnahme zeigen und mich nicht gleich im ersten Augenblick davonjagen solle, daß sie mir vielmehr aufs Wort glauben und daß sie anhören möge, was ich ihr zu sagen wünsche, und sollte sie mich auch auslachen, gleichviel! – aber daß sie mir wenigstens etwas Hoffnung geben und mir zwei Worte sagen müsse, nur zwei Worte, damit würde ich mich zufrieden geben, und sollten wir uns auch nie wiedersehen! ... Aber Sie lachen ... Übrigens rede ich ja auch nur deshalb ...“ „Seien Sie mir nicht böse. Ich lache, weil Sie ja Ihr eigener Feind sind ... wenn Sie es versuchten, so würde es Ihnen schon gelingen, und wäre es auch auf der Straße: je einfacher, desto besser. Kein einziges Mädchen, wenn sie nur nicht schlecht oder dumm ist oder in dem Augenblick gerade sehr geärgert über irgend etwas, würde es übers Herz bringen, Sie fortzuschicken, ohne Ihre zwei Worte anzuhören – wenn Sie so bescheiden darum bitten ... Doch nein, was sage ich! Natürlich würde sie Sie für einen Verrückten halten! Im übrigen habe ich da nach meinem Empfinden geurteilt. Ich weiß doch auch ein wenig, wie die Menschen sind.“ „Oh, ich danke Ihnen,“ rief ich, „Sie wissen nicht, was Sie mir mit Ihrer Antwort gegeben haben!“ „Gut, gut! Aber sagen Sie mir, woran haben Sie es erkannt, daß ich ein Mädchen bin, mit dem man ... nun, das Sie für würdig halten ... Ihrer Aufmerksamkeit und Freundschaft ... Mit einem Wort, keine Hauswirtin, wie Sie sagten ... Warum entschlossen Sie sich, sich gerade mir zu nähern?“ „Warum? Warum! Sie waren allein, jener Herr benahm sich so dreist und jetzt ist es Nacht: da werden Sie doch zugeben, daß es meine Pflicht war ...“ „Nein, nein, vorher, dort, auf der anderen Seite, am Kai. Da wollten Sie sich mir doch schon nähern?“ „Dort, auf jener Seite? Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf antworten soll ... Ich fürchte ... Ja sehen Sie, ich war heute so glücklich: ich ging und sang, ich war draußen vor der Stadt ... ich habe mich noch nie so glücklich gefühlt. Sie dagegen ... aber vielleicht schien es mir nur so ... verzeihen Sie, daß ich Sie daran erinnere – es schien mir, daß Sie weinten, und ich ... ich vermochte das nicht mitanzuhören ... es preßte mir das Herz zusammen ... Mein Gott, konnte ich Ihnen denn nicht helfen? Durfte ich nicht Ihren Kummer teilen? War es denn Sünde, daß ich brüderliches Mitleid mit Ihnen empfand? ... Verzeihen Sie, ich sagte Mitleid ... Nun gleichviel, mit einem Wort – konnte es Sie denn beleidigen, wenn ich da unwillkürlich das Verlangen empfand, mich Ihnen zu nähern? ...“ „Schon gut, hören Sie auf, sprechen Sie nicht weiter ...“ unterbrach mich das Mädchen. Sie sah verwirrt zu Boden und ich fühlte, wie ihre Hand zuckte. „Es ist meine Schuld, daß ich überhaupt davon anfing. Aber es freut mich, daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe ... So, jetzt bin ich gleich zu Hause, ich muß hierher in die Querstraße, nur noch zwei Schritte ... Leben Sie wohl, und ich danke Ihnen ...“ „Ja, sollen wir uns denn wirklich niemals wiedersehen? ... Soll das denn schon das Ende sein?“ „Sehen Sie, wie Sie sind!“ sagte sie lachend, „anfangs wollten Sie nur zwei Worte reden, und jetzt! ... Übrigens will ich nichts verschwören ... Vielleicht werden wir einander noch begegnen ...“ „Ich werde morgen wieder hier sein,“ sagte ich schnell. „Verzeihen Sie, ich fordere bereits ...“ „Ja, Sie sind recht ungeduldig ... fast fordern Sie bereits ...“ „Hören Sie, hören Sie!“ unterbrach ich sie, „verzeihen Sie, wenn ich Ihnen wieder irgend so etwas sage ... Aber sehen Sie: ich kann nicht anders, ich muß morgen hierherkommen. Ich bin ein Träumer, ich kenne so wenig wirkliches Leben, und einen solchen Augenblick, wie diesen, erlebe ich so selten, daß es mir ganz unmöglich wäre, ihn mir in meinen Träumen nicht immer wieder zu vergegenwärtigen. Von Ihnen werde ich jetzt die ganze Nacht träumen, die ganze Woche, das ganze Jahr! Ich werde unbedingt morgen hierherkommen, gerade hierher, wo wir jetzt stehen, und um dieselbe Zeit, und ich werde glücklich sein in der Erinnerung an die heutige Begegnung. Schon jetzt ist mir diese Stelle hier lieb. So habe ich noch zwei oder drei andere Stellen in Petersburg, die mir lieb sind. Ich habe einmal sogar geweint, ganz wie Sie vorhin, als plötzlich eine Erinnerung in mir erwachte ... Vielleicht haben Sie heute dort am Kai gleichfalls nur deshalb geweint, weil eine Erinnerung über Sie kam ... Verzeihen Sie, ich habe wieder davon gesprochen! Sie waren dort vielleicht einmal ganz besonders glücklich ...“ „Nun gut,“ sagte das Mädchen plötzlich, „also hören Sie: ich werde morgen auch hierherkommen, um zehn Uhr. Ich sehe, daß ich es Ihnen doch nicht verwehren kann ... Aber Sie wissen noch nicht, um was es sich handelt – ich muß nämlich sowieso unbedingt hierherkommen. Denken Sie deshalb nicht, daß ich Ihnen ein Stelldichein gebe. Ich muß vielmehr aus einem ganz besonderen Grunde und in meinem eigenen Interesse hierherkommen, damit Sie’s wissen. Aber ... nun gut, ich will ganz aufrichtig sein: es tut nichts, wenn auch Sie kommen. Erstens könnte es wieder eine Unannehmlichkeit geben, wenn ich allein bin, wie heute, aber das ist nicht so wichtig ... Nein, kurz, ich würde Sie gern wiedersehen, um ... um ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen. Nur, sehen Sie, Sie werden mich doch jetzt nicht verurteilen? Denken Sie deshalb nicht, daß ich so leicht ein Stelldichein gebe ... Ich würde es auch nicht tun, wenn nicht ... Nein, das mag noch mein Geheimnis bleiben! Aber zuvor eine Bedingung ...“ „Eine Bedingung?! Sagen Sie, sprechen Sie es aus – ich bin mit allem einverstanden, bin zu allem bereit!“ rief ich förmlich begeistert. „Ich stehe für mich ein – ich werde gehorsam, werde ehrerbietig sein ... Sie kennen mich –“ „Gerade deshalb, weil ich Sie kenne, fordere ich Sie auch für morgen auf,“ sagte das Mädchen lachend. „Ich kenne Sie bereits ganz genau. Aber wie gesagt, kommen Sie nur unter einer Bedingung: seien Sie so gut und erfüllen Sie meine Bitte, ja? Sie sehen, ich rede ganz offen: Also: daß Sie sich nicht in mich verlieben ... Das darf nicht geschehen, auf keinen Fall. Zur Freundschaft bin ich herzlich gern bereit, hier, meine Hand darauf ... Aber verlieben, nein, nur das nicht, ich bitte Sie!“ „Ich schwöre Ihnen,“ rief ich und ergriff ihre Hand. „Schon gut, schwören Sie nicht, ich weiß ja doch, daß Sie fähig sind, sich wie Pulver zu entzünden. Verübeln Sie es mir nicht, wenn ich Ihnen so etwas sage. Aber wenn Sie wüßten ... Ich habe auch keinen Menschen, mit dem ich ein Wort sprechen oder den ich um Rat fragen könnte. Natürlich sucht man im allgemeinen seine Ratgeber nicht auf der Straße, aber Sie sind eine Ausnahme. Ich kenne Sie schon so gut, als wären wir zwanzig Jahre Freunde. Nicht wahr, Sie sind doch kein Ungetreuer, Sie werden Ihr Versprechen doch halten? ...“ „Sie werden sehen, Sie werden sehen ... nur freilich, wie ich die nächsten vierundzwanzig Stunden überleben soll, das weiß ich nicht!“ „Schlafen Sie so fest wie möglich. Und nun, gute Nacht – und vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen schon mein Vertrauen geschenkt habe. Aber es war so hübsch, was Sie vorhin sagten, und Sie haben recht, man kann einander doch wirklich nicht über jedes Gefühl Rechenschaft geben, und wenn es auch nur brüderliches Mitgefühl ist! Wissen Sie, das sagten Sie so lieb, daß mir sogleich der Gedanke kam, mich Ihnen anzuvertrauen ...“ „Ja, aber worin denn?“ „Morgen sag’ ich’s Ihnen. Bis dahin mag es noch mein Geheimnis bleiben. Um so besser für Sie: das Ganze wird so wenigstens wirklich wie ein Roman aussehen. Vielleicht werde ich es Ihnen schon morgen sagen, vielleicht aber auch morgen noch nicht ... Ich werde mit Ihnen vorher noch von anderem sprechen: wir müssen uns erst näher kennen lernen ...“ „Oh, was mich betrifft, so erzähle ich Ihnen morgen meinetwegen alles von mir! Aber was ist das nur? Mir kommt es vor, als geschehe ein Wunder mit mir ... Wo bin ich, mein Gott?! So sagen Sie doch, sind Sie nun wirklich nicht ungehalten darüber, daß Sie mich nicht gleich zu Anfang fortgeschickt haben? Es waren nur zwei Minuten: und Sie haben mich für immer glücklich gemacht. Ja, glücklich! Wer weiß, vielleicht haben Sie mich sogar mit mir selbst versöhnt und alle meine Zweifel aufgehoben ... Vielleicht habe ich Augenblicke ... Ach nein, morgen erzähle ich Ihnen alles, dann werden Sie alles erfahren, alles ...“ „Gut, abgemacht! Und Sie erzählen zuerst.“ „Einverstanden.“ „Dann also auf Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen!“ Wir trennten uns. Ich lief noch die ganze Nacht umher: ich konnte mich nicht entschließen, nach Haus zurückzukehren. Ich war so glücklich ... ich dachte nur an dieses Wiedersehen! Die zweite Nacht. „Da hätten wir’s also glücklich überlebt!“ sagte sie zum Gruß und drückte mir lachend beide Hände. „Ich bin schon seit zwei Stunden hier. Sie wissen nicht, wie ich den Tag verbracht habe.“ „Ich weiß, ich weiß ... Doch zur Sache! Was meinen Sie wohl, weshalb ich hergekommen bin? Doch nicht, um solchen Unsinn zu reden, wie gestern! Nein, hören Sie mich an: wir müssen hinfort klüger sein. Ich habe mir das reiflich überlegt.“ „Warum denn, warum denn klüger? Ich meinerseits bin ja gern dazu bereit: nur ist mir sowieso schon in meinem Leben nichts Klügeres geschehen, als gestern ...“ „Wirklich? Aber hören Sie – erstens bitte ich Sie, meine Hände nicht so zu drücken; und zweitens teile ich Ihnen mit, daß ich heute lange über Sie nachgedacht habe.“ „Nun, und? Was war das Ergebnis?“ „Das Ergebnis? Ich kam zu der Einsicht, daß wir von neuem anfangen müssen, denn zum Schluß sagte ich mir doch, daß ich Sie ja noch gar nicht kenne und daß ich mich gestern recht wie ein Kind, wie ein ganz kleines Mädchen benommen habe. Dabei stellte es sich aber heraus, daß an allem natürlich nur mein gutes Herz schuld war, das heißt, ich habe zum Schluß vor mir selbst ordentlich groß getan, wie das ja zu guter Letzt immer geschieht, wenn wir uns über uns selbst Rechenschaft geben. Und deshalb, um den Fehler wieder gutzumachen, habe ich mir vorgenommen, zunächst alles über Sie ganz genau in Erfahrung zu bringen. Da ich nun aber niemand kenne, bei dem ich mich nach Ihnen erkundigen könnte, so müssen Sie selbst mir alles erzählen, aber auch alles und ganz ausführlich. Nun also: was für ein Mensch sind Sie? Schnell – so fangen Sie doch an, erzählen Sie Ihre Geschichte!“ „Geschichte?“ rief ich erschrocken, „meine Geschichte? Aber wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich eine Geschichte habe? Ich habe keine Geschichte ...“ „Ja – Wie haben Sie denn überhaupt gelebt, wenn Sie keine Geschichte haben?“ fragte sie lachend. „Oh, ganz ohne jede Geschichte! Also, ich habe eben gelebt, für mich allein, wie man bei uns zu sagen pflegt, eben ganz allein, immer allein, vollkommen allein – wissen Sie, was das heißt, ‚allein‘?“ „Aber wie denn: allein? So, daß Sie niemals jemand gesehen haben?“ „O nein, gesehen – das schon. Aber trotzdem war ich immer allein.“ „Ja wie, ich verstehe Sie nicht. Sprechen Sie denn mit keinem Menschen?“ „Strenggenommen – mit keinem einzigen.“ „Aber was sind Sie denn für ein Mensch, erklären Sie mir das doch. Nein! Warten Sie, ich errate es schon von selbst: Sie haben ganz sicher auch eine Großmutter, genau wie ich. Die meinige ist blind, wissen Sie, und nun läßt sie mich ihr Lebtag nicht von sich fort, so daß ich fast schon zu sprechen verlernt habe. Als ich ihr nämlich vor zwei Jahren einen kleinen Streich spielte und sie einsehen mußte, daß sie kein Mittel hatte, solchen Streichen vorzubeugen, da rief sie mich zu sich und steckte mein Kleid mit einer Stecknadel an das ihrige – und so sitzen wir denn seitdem tagaus tagein nebeneinander. Sie strickt ihren Strumpf, obschon sie blind ist; ich muß neben ihr sitzen, nähen oder ihr aus einem Buch vorlesen – ... oh, oft kommt es mir selbst ganz sonderbar vor, daß ich nun schon zwei Jahre lang in dieser Weise angesteckt bin ...“ „Mein Gott, das muß allerdings furchtbar sein! Aber ich, ich habe keine solche Großmutter.“ „Dann begreife ich nicht, wie Sie immer zu Hause sitzen können?“ „Hören Sie, Sie wollten ja wissen, wer ich bin?“ „Allerdings!“ „Im Ernst?“ „Natürlich!“ „Gut. Ich bin also: ein – Typ.“ „Was? Ein Typ? Was für ein Typ?“ fragte das Mädchen verwundert und lachte dann so herzlich, als habe sie ein ganzes Jahr lang nicht gelacht. „Aber ich sehe schon, es ist riesig lustig, sich mit Ihnen zu unterhalten! Warten Sie: dort ist eine Bank, setzen wir uns! Hier geht kein Mensch vorüber, niemand kann uns hören. So, nun fangen Sie an mit Ihrer Geschichte! Denn, daß Sie keine haben, glaube ich Ihnen nicht. Sie haben eine, Sie wollen sie nur nicht erzählen. Aber zuerst sagen Sie mir, was ist ein Typ?“ „Ein Typ? Ein Typ ist ein – Original. Das ist so ein komischer Kauz,“ erklärte ich, und mußte gleichfalls lachen. „Es gibt nun einmal solche – wie soll ich sagen – Charaktere. Sie wissen doch, was ein Träumer ist?“ „Ein Träumer? Natürlich! Ich bin selbst eine Träumerin! Manchmal, wenn man so neben Großmutter sitzt – was kommt einem da nicht alles in den Sinn! Fängt man erst einmal an, zu träumen, so spinnen sich die Träume bald von selbst weiter und da kommt es denn vor, daß ich in der Phantasie einfach einen chinesischen Prinzen heirate ... Mitunter ist es auch ganz gut – zu träumen. Nein, übrigens, weiß Gott! Namentlich wenn man auch noch sein anderes hat, woran man denken kann ...“ schloß das Mädchen unvermittelt und diesmal ziemlich ernst. „Vortrefflich! Wenn Sie einmal einen chinesischen Prinzen geheiratet haben, dann werden Sie mich vollkommen verstehen! Also hören Sie ... Doch erlauben Sie: ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen.“ „Endlich! Es fällt Ihnen wirklich früh ein, danach zu fragen!“ „Mein Gott, ja ... Ich dachte gar nicht daran, ich war auch so schon glücklich ...“ „Ich heiße – Nasstenka.“ „Nasstenka! Nur Nasstenka?“ „Nur! Ist Ihnen denn das noch zu wenig, Sie Unersättlicher?“ „Zu wenig? Oh, im Gegenteil, es ist viel, sehr viel, Nasstenka, Sie gutes kleines Mädchen, Sie, die für mich gleich am ersten Abend zur Nasstenka geworden sind!“ „Das meine ich auch. Nun?“ „Nun ja, also, Nasstenka, dann hören Sie mal zu, was für eine komische Geschichte das ist.“ Ich setzte mich neben sie, machte eine pedantisch ernste Miene und begann, als wäre es eine Vorlesung: „Es gibt, Nasstenka, wenn Sie das noch nicht wissen, es gibt hier in Petersburg recht merkwürdige Winkel. Es ist, als schiene dorthin niemals _die_ Sonne, die für alle Petersburger leuchtet, sondern eine andere, neue, die gleichsam nur für diese Winkel geschaffen ist, und es ist auch ganz so, als schiene sie auf alles andere in der Welt mit einem ganz anderen, einem besonderen Licht. In diesen Winkeln, liebe Nasstenka, ist es, als rege sich ein ganz anderes Leben, eines, das gar nicht dem gleicht, das uns sonst umgibt, sondern eines, das es nur, wie man meinen sollte, in einem tausend Meilen fernen Reich geben könnte, nicht aber hier bei uns in unserer ernsten, überernsten Zeit. Doch gerade dieses Leben ist nur eine Mischung von etwas rein Phantastischem, glühend Idealem, und zugleich doch – leider, Nasstenka! – trübe Alltäglichem und glatt Gewöhnlichem um nicht zu sagen: bis zur Verzweiflung Gemeinem.“ „Pfui! Großer Gott! Das ist mir mal eine Einleitung! Was werde ich da wohl noch zu hören bekommen?“ „Sie werden zu hören bekommen, Nasstenka – mir scheint, ich werde niemals müde werden, Sie Nasstenka zu nennen – Sie werden hören, daß in diesen Winkeln seltsame Menschen leben – Wesen, die man Träumer nennt. Ein Träumer ist – wenn man es genauer erklären soll – kein Mensch, sondern, wissen Sie, eher so ein gewisses Geschöpf sächlichen Geschlechts. Gewöhnlich lebt der Betreffende irgendwo in einem von aller Welt abgeschlossenen Winkel, als wolle er sich sogar vor dem Tageslicht verbergen, und wenn er sich einmal in seine Behausung zurückgezogen hat, dann wächst er mit ihr zusammen, ungefähr wie eine Schnecke mit ihrem Haus, oder er gleicht wenigstens in der Beziehung jenem merkwürdigen Tiere, das beides zugleich, nämlich sowohl Tier als auch das Haus des Tieres ist und das wir Schildkröte zu nennen pflegen. Was meinen Sie aber, weshalb liebt er so seine vier Wände, die unfehlbar hellgrün angestrichen, öde, trübselig und in einem nahezu unstatthaften Maße verräuchert sind? Weshalb ist dieser komische Mensch, wenn ihn jemand von seinen wenigen Bekannten besucht – übrigens endet es immer damit, daß auch diese wenigen ihn bald vergessen – weshalb ist er dann immer so betreten und verwirrt? Weshalb hat er ein Gesicht, als habe er in seinem einsamen Winkel geradezu ein Verbrechen begangen, als habe er Papiere gefälscht oder Gedichte fabriziert, um sie an eine Zeitschrift zu senden, natürlich mit einem Begleitbrief, in dem er mitteilt, daß der Verfasser gestorben sei und daß er es als Freund für seine heilige Pflicht halte, des Verstorbenen Werke zu veröffentlichen? Weshalb, sagen Sie mir das, Nasstenka, weshalb will das Gespräch zwischen den beiden nie so recht vorwärts kommen und weshalb fällt von den Lippen des plötzlich hereingeschneiten Freundes, der doch sonst stets zu Scherz und Lachen und Gesprächen über das schöne Geschlecht oder über andere angenehme Themata aufgelegt ist, kein einziges Scherzwort? Weshalb fühlt sich dieser neue Freund bei seinem ersten Besuch – denn ein zweiter pflegt in diesem Fall nicht zu folgen – weshalb fühlt auch er sich befangen und weshalb wird er trotz seiner Fähigkeit, geistreich zu sein – das heißt, vorausgesetzt, daß er sie wirklich besitzt – immer einsilbiger beim Anblick der verzweifelten Miene des andern, der sich übermenschlich, doch leider vergeblich anstrengt, das Gespräch zu beleben und zu zeigen, daß auch er eine Unterhaltung zu führen imstande sei und über das schöne Geschlecht zu plaudern? um so wenigstens durch seine Bereitwilligkeit zu allem und jedem die Enttäuschung des Gastes zu mildern, der nun einmal das Pech hat, dorthin geraten zu sein, wohin er nicht gehört! Weshalb greift schließlich der Gast nach seinem Hut und empfiehlt sich schnell mit der Entschuldigung, das ihm plötzlich etwas überaus Wichtiges eingefallen sei, das nicht den geringsten Aufschub dulde? und weshalb befreit er seine Hand so schnell aus der heißen des anderen, der mit tiefster Reue im Herzen noch gutzumachen sucht, was sich nicht mehr gutmachen läßt? Weshalb lacht dann der fortgehende Freund, sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hat, und weshalb schwört er sich, nie wieder diesen Sonderling aufzusuchen, obschon der im Grunde gar kein so übler Bursche ist? und weshalb kann er seiner Phantasie nicht das kleine Vergnügen versagen: den Gesichtsausdruck des Sonderlings während der Zeit seines Besuches wenigstens entfernt mit demjenigen eines Kätzchens zu vergleichen, das, von unartigen Kindern unter heimtückischen Lockungen eingefangen, tüchtig gepeinigt worden und das endlich unter den Stuhl in einen dunkeln Winkel geflüchtet ist, um sich dort erst einmal das Fell durchzulecken, sein mißhandeltes Schwänzchen mit beiden Vorderpfoten zu waschen und zu putzen und dann noch lange feindselig auf die Natur der Dinge und das Leben überhaupt und ebenso auch auf den Brocken zu blicken, den ihm eine mitleidige Küchenseele von den Leckerbissen der herrschaftlichen Tafel zuwirft?“ „Hören Sie,“ unterbrach mich Nasstenka, die die ganze Zeit verwundert mit großen Augen und halboffenem Mündchen zugehört hatte, „hören Sie: ich begreife ganz und gar nicht, was das alles soll und weshalb Sie gerade mich so sonderbare Dinge fragen? Alles, was ich verstehe, ist nur, daß Sie diese Geschichte zweifellos selbst erlebt haben.“ „Ganz zweifellos,“ versetzte ich mit ernster Miene. „Nun, wenn es wahr ist, dann fahren Sie fort,“ sagte Nasstenka, „denn jetzt möchte ich sehr gern wissen, wie das endet.“ „Sie wollen wissen, Nasstenka, was er in seinem Winkel denn eigentlich tat, unser Held, oder richtiger, ich, denn der Held des Ganzen bin doch ich, ich selbst mit meiner eigenen bescheidenen Person. Sie wollen wissen, weshalb ich mich durch den unerwarteten Besuch des Bekannten so aus dem Gleichgewicht gebracht fühlte und wie ein ertappter Sünder errötete, als die Tür sich auftat und weshalb ich den Gast nicht zu empfangen verstand und eine so unglückliche Rolle als Hausherr spielte?“ „Nun ja, selbstverständlich will ich das! Aber hören Sie: Sie erzählen ja sehr schön, doch ließe sich das alles nicht irgendwie weniger „schön“ erzählen? Denn sonst reden Sie ja, als hätten Sie ein Buch vor sich, aus dem Sie ablesen!“ „Nasstenka!“ versetzte ich mit wichtiger und strenger Stimme, während ich mir nur mit Mühe das Lachen verbiß, „liebe Nasstenka, ich weiß, daß ich schön erzähle, aber verzeihen Sie, anders verstehe ich nun einmal nicht zu erzählen. Jetzt, liebe Nasstenka, jetzt gleiche ich dem Geiste des Königs Salomo, der tausend Jahre in einer Truhe unter sieben Siegeln gefangen war und nun von allen sieben Siegeln befreit worden ist. Jetzt, liebe Nasstenka, wo wir uns nach so langer Trennung wiedergefunden haben – denn ich kenne Sie ja schon lange, lange, Nasstenka, weil ich nämlich schon lange jemand suche ... worin zugleich der Beweis dafür liegt, daß ich gerade Sie gesucht habe und daß es uns vom Schicksal vorbestimmt gewesen ist, gerade hier zusammenzutreffen – jetzt haben sich tausend Klappen in meinem Kopf geöffnet und ich muß mein Herz in einen Strom von Worten ausgießen – oder ich ersticke an ihnen. Deshalb bitte ich Sie, mich nicht zu unterbrechen, Nasstenka, und geduldig und ergeben zuzuhören: wenn nicht – dann verstumme ich ...“ „Nein, nein, nein! Das sollen Sie nicht! Erzählen Sie! Ich werde kein Wort mehr sagen!“ „Ich fahre also fort: es gibt, liebe Freundin Nasstenka, es gibt für mich an jedem Tage eine Stunde, die ich ungemein liebe. Das ist die Stunde, in der die Geschäfte, Büros und Kanzleien schließen und die Menschen alle nach Hause eilen, um zu Mittag zu speisen,[2] sich hinzulegen und etwas auszuruhen, und in der die Menschen unterwegs Pläne schmieden für den Abend, die Nacht und die ganze übrige freie Zeit, die ihnen noch verblieben ist. In dieser Stunde pflegt auch unser Held – Sie müssen mir schon erlauben, Nasstenka, von mir in der dritten Person zu erzählen, denn in der ersten würde das alles viel zu unbescheiden klingen – also, in dieser Stunde pflegt auch unser Held, der gleichfalls seine regelmäßige Tagesarbeit hat, mit den anderen Menschen eines Weges zu gehen. Ein seltsames Gefühl des Vergnügens spricht aus seinem blassen, ein wenig erschlafften Gesicht. Nicht teilnahmlos sieht er auf die Abendröte, die am kalten Petersburger Himmel langsam erlischt. Nein, ich lüge, wenn ich sage, daß er sie sieht: er sieht überhaupt nicht, sondern er schaut, und er schaut gleichsam unbewußt, als wäre er müde oder als wären seine Gedanken gleichzeitig mit irgendeinem fernen, anderen, eigenartigen Gegenstande beschäftigt, so daß er schon sehr bald für seine Umgebung kaum noch einen flüchtigen Blick hat, und auch diesen nur bei irgendeinem Zufall, der ihn ablenkt. Er ist beinahe zufrieden, denn er hat bis morgen die lästige Arbeit getan, er ist froh wie ein Schüler, der von der Schulbank kommt und sich nun wieder seinen Lieblingsspielen und Streichen widmen kann. Wenn Sie ihn von der Seite beobachten, Nasstenka, werden Sie sogleich bemerken, daß das frohe Gefühl auf seine angegriffenen Nerven und auf seine krankhaft überreizte Phantasie bereits günstig eingewirkt hat. Seine Gedanken hüllen ihn gleichsam ein. Sie glauben, er denke an sein Mittagessen? An den Abend, der ihm bevorsteht? Was ist es wohl, was er so scharf ins Auge faßt? Ist es etwa jener Herr, der so höflich und doch so pittoresk die Dame grüßt, die in prächtiger Kalesche an ihm vorüberfährt? Nein, Nasstenka, was gehen ihn alle diese kleinlichen Nebensachen an! Er ist jetzt reich in seinem eigenen, seinem ureigensten, besonderen Leben: ganz plötzlich ist er reich geworden und der letzte Strahl der erlöschenden Sonne hat nicht vergeblich so lebenswarm vor ihm geglüht und in seinem erwärmten Herzen eine Fülle von Eindrücken wachgerufen. Jetzt bemerkt er kaum mehr den Weg, auf dem ihm noch kurz vorher jede geringste Kleinigkeit auffallen konnte. Die Göttin Phantasie hat bereits ihr goldenes Netz um ihn gewebt und füllt es nun aus mit den bunten Mustern eines unwillkürlichen und wunderlichen Lebens: und vielleicht – wer kann es wissen? – vielleicht hat sie ihn von dem massiven Granittrottoir, auf dem er nach Hause geht, mit launischer Hand bereits in den siebenten weltfernsten Himmel entführt? Wenn Sie jetzt versuchen wollten, ihn plötzlich anzureden und ihn zu fragen, wo er sich im Augenblick befinde, durch welche Straßen er gegangen – dann würde er ganz entschieden weder das eine noch das andere anzugeben vermögen und wahrscheinlich vor Ärger errötend irgend etwas, das ihm gerade einfällt, verlegen antworten. Deshalb fährt er auch plötzlich so zusammen und blickt sich erschrocken um – nur weil eine alte Frau ihn mitten auf dem Trottoir anhält und ihn nach einer Straße fragt, die sie nicht zu finden weiß. Mit ärgerlich gerunzelter Stirn schreitet er weiter, ohne es zu bemerken, daß von den Vorübergehenden mehr als einer bei seinem Anblick lächelt und mancher ihm sogar nachschaut, und daß ein kleines Mädchen, das ihm ängstlich ausweicht, plötzlich nach Kinderart laut auflacht, da ihren verwundert aufgerissenen Augen sein breites traumverlorenes Lächeln und die halben Gesten seiner Hände so komisch erscheinen. Doch schon hat dieselbe Phantasie in ihrem spielenden Fluge die alte Dame und die neugierig Vorübergehenden und das lachende kleine Mädchen und die Bauernkerle, die auf ihren Booten Abendrast halten, unten auf der Fontanka – nehmen wir an, daß unser Held sich in dem Augenblick an dem Kanalkai befindet – schon hat sie alles mutwillig in ihr Netz eingewebt, wie die Spinne die Fliegen, und mit der neuen Beute betritt der Sonderling seine Behausung, er setzt sich an den Tisch und ißt und beendet die Mahlzeit und kommt nicht früher zu sich, als bis Matrjona, seine ewig trübselige wortkarge Wirtin, nachdem sie alles vom Tisch abgeräumt, ihm seine Pfeife reicht: da erst, wie gesagt, kommt er zu sich und gewahrt mit Verwunderung, daß er bereits gegessen hat, ohne daß es ihm zu Bewußtsein gekommen wäre. Es dunkelt im Zimmer; in seiner Seele ist es leer und traurig. Ein ganzes Reich von Träumen ist rings um ihn eingestürzt – geräuschlos, lautlos, spurlos wie eben nur ein Traum vergehen kann, er wüßte nicht einmal mehr zu sagen, was er gesehen hat. Aber ein dunkles Empfinden, das in seiner Brust sich zu regen beginnt, erweckt allmählich einen neuen Wunsch, umschmeichelt verführerisch seine Einbildungskraft und ruft unmerklich wieder eine ganze Schar neuer Phantome heran. Stille herrscht in seinem kleinen Zimmer: die Einsamkeit und das Nichtstun liebkosen die Phantasie, sie glüht leise auf, eine leise Bewegung hebt in ihr an, wie ein leises Wallen, ähnlich dem Wasser in der Kaffeemaschine der alten Matrjona, die nebenan in der Küche ruhig wirtschaftet und sich ihren Köchinnenkaffee braut: wie lange noch und es beginnt zu brodeln ... Da fällt auch schon das Buch, das mein Träumer zwecklos und unbesehen aus der Reihe herausgegriffen hat, aus seiner Hand, noch bevor er bis zur dritten Seite gelesen. Die Einbildungskraft ist wieder erwacht: und plötzlich ist eine neue Welt, ein neues bezauberndes Leben um ihn herum entstanden. Ein neuer Traum – neues Glück! neues, verfeinertes, süßes Gift! Oh, was liegt ihm an unserem wirklichen Leben! Nach seiner allerdings sehr einseitigen Auffassung leben wir anderen, Nasstenka, ein Leben, das langsam ist, träge und schlaff. In seinen Augen sind wir alle so unzufrieden mit unserem Schicksal und quälen uns so sehr mit unserem Dasein! Und es ist ja auch wahr, sehen Sie nur, wie auf den ersten Blick alles zwischen uns aussieht, wie kalt, düster, unfreundlich, als wäre alles böse, feindselig ... Die Armen! denkt mein Träumer. Und es ist kein Wunder, daß er so denkt! Sie sehen nicht diese Zauberbilder, die so berückend, so verschwenderisch, so uferlos breit aus dem Nichts vor ihm erstehen, Bilder, auf deren Vordergrunde die erste Person, versteht sich, er selbst ist, er, unser Träumer mit seinem teuren Ich. Sie sehen nicht, was für Abenteuer, was für eine unabsehbare Reihe von Geschehnissen er erlebt! Sie fragen: Wovon er denn träumt? Wozu das Fragen? – doch einfach von allem, von allem ... vom Schicksal eines Dichters, der anfangs nicht anerkannt wird, dann aber überall Begeisterung erweckt; von seiner Freundschaft mit E. Th. A. Hoffmann, der Bartholomäusnacht, Diana Vernon, einer heroischen Rolle bei der Einnahme der Stadt Kasan durch den Zaren Iwan Wassiljewitsch, von einer Bühnengröße, einer Sängerin, von Johannes Huß vor dem Konzil, von der Auferstehung der Toten in „Robert der Teufel“ – kennen Sie die Musik? sie duftet nach dem Friedhof – von Minna und Anderem, von der Schlacht an der Beresina, vom Vortrag eines Gedichts bei der Gräfin W. D., von Danton, Kleopatra ei suoi amanti, einem Häuschen in Kolomna, vom eigenen Winkel in Petersburg, in dem neben ihm ein liebes Geschöpf sitzt, das mit offenem Mündchen und großen Augen an einem Winterabend ihm zuhört – genau so, wie Sie mir jetzt zuhören, mein junges Täubchen ... Nein, Nasstenka, was ist ihm, dem leidenschaftlichen Nichtstuer, was ist ihm jenes irdische Leben, das wir, Nasstenka, so gern einmal leben möchten? Er hält es für ein armes, ein armseliges Leben, das Mitleid verdient, und ahnt nicht, daß auch für ihn vielleicht einmal die Stunde schlagen wird, wo er für einen Tag dieses wirklichen Lebens gerne alle seine phantastischen Jahre hingeben würde, und nicht für einen frohen Tag, nicht für einen Tag des Glücks hingeben, nein, er wird nicht einmal wählen dürfen in dieser Stunde der Trauer und Reue und des unabwendbaren Wehs. Doch vorläufig ist diese furchtbare Zeit noch nicht angebrochen – er wünscht nichts, weil er über allen Wünschen steht, weil er ja alles hat, weil er schon übersättigt und selbst der Künstler seines Lebens ist, das er sich zu jeder Zeit nach eigenem Wunsch gestalten kann. Und so leicht, so natürlich ersteht diese phantastische Märchenwelt! als wären das alles gar nicht bloße Hirngespinste! Wirklich, man ist oft zu glauben versucht, daß dieses ganze Leben nicht eine Schöpfung des Gefühls, nicht eine wesenlose Luftspiegelung und trügerische Einbildung, sondern wahrhaftig Wirklichkeit, etwas wirklich Seiendes, ein greifbar Vorhandenes sei! Weshalb, sagen Sie mir das, Nasstenka, weshalb hält man in solchen Augenblicken des unwirklichen Erlebens oft den Atem an? Weshalb – woher kommt es, daß, wie durch eine unerforschliche Zaubermacht, der Puls schneller schlägt, daß Tränen den Augen entströmen, daß die bleichen Wangen des Träumers zu glühen anfangen und sein ganzes Sein von überwältigender Lust erfüllt wird? Weshalb vergehen ganze Nächte, die er in unerschöpflicher Freude und beseligendem Glück schlaflos verbringt, wie ein einziger kurzer Augenblick? Und wenn die Morgenröte rosig durch die Fensterscheiben schimmert und die erste Dämmerung mit ihrem ungewissen phantastischen Licht in das trübselige Zimmer schleicht, und unser Träumer sich ermüdet und erschöpft auf das Bett wirft, und einschlummert – weshalb hat er dann ein Gefühl, als vergehe er vor Entzücken mit seinem ganzen krankhaft erschütterten Geiste, und das mit einem so peinvoll süßen Schmerz im Herzen? Ja, Nasstenka, so täuscht man sich und glaubt als Fremder unwillkürlich, daß eine wirkliche, eine körperliche Leidenschaft unsere Seele errege! Unwillkürlich glaubt man, daß in unseren körperlosen Träumen etwas Lebendiges, Greifbares sei! Und was ist das doch für ein Betrug! Da ist zum Beispiel die Liebe mit ihrer ganzen unerschöpfbaren Freude und ihrer nimmermüden Pein in des Träumers Brust erwacht ... Ein Blick auf ihn genügt, um einen jeden von der Echtheit des Gefühls zu überzeugen. Werden Sie es da glauben, liebe Nasstenka, wenn Sie ihn so sehen, daß er diejenige, die er in seinen verzückten Träumen so rasend liebt, in Wirklichkeit niemals gekannt hat? Aber hat er sie denn nun auch _wirklich_ nur, _nur_ in berückenden Phantasiebildern gesehen? Und hat er diese Leidenschaft wirklich _nur_ – geträumt? Sind sie denn wirklich nicht durch Jahre ihres Lebens Hand in Hand gegangen – zu zweien, ohne sich um die Welt zu kümmern, das eigene Leben mit dem des anderen vereint? War sie denn wirklich nicht zu später Stunde, als er Abschied von ihr nahm, weinend an seine Brust gesunken, ohne auf den Sturm zu achten, der unter dem rauhen Himmel tobte, ohne den Wind zu spüren, der die Tränen an ihren schwarzen Wimpern trocknete? War das denn wirklich alles nur ein Traum im Wachen gewesen – auch der verwilderte einsame Garten mit den grasbedeckten moosigen Wegen, auf denen sie so oft zu zweien wandelten und Hoffnungen aufbauten und sich sehnten und einander liebten, einander so liebten, ‚so bang und süß‘, wie es im alten Liede heißt? Und dieses alte, verwitterte Herrenhaus, in dem sie so lange einsam und traurig leben mußte, mit dem alten finsteren Mann, der, ewig schweigsam und verdrossen, die Liebenden wie ein Schreckgespenst ängstete, sie, die ohnehin schon wie scheue Kinder ihre Liebe voreinander verbargen? Wie quälten sie sich, wie fürchteten sie sich, wie schuldlos und rein war ihre Liebe und wie – das versteht sich von selbst, Nasstenka – wie böse waren die Menschen! Und, mein Gott, hat er sie denn später wirklich nicht, fern von der Heimat, unter einem fremden südlichen Himmel, in einem Palazzo – unbedingt in einem Palazzo – in einer wundervollen ewigen Stadt bei rauschender Musik im Ballsaal wiedergesehen? Sind sie dann nicht auf den Balkon hinausgetreten, den Myrten und Rosen umrankten, und hat sie dort nicht ihre Maske abgenommen und ihm zugeflüstert: ‚Ich bin frei!‘ – und hat er sie da nicht in seine Arme geschlossen, wie toll vor Entzücken, und haben sie sich nicht wirklich aneinander geschmiegt und im Augenblick alles Leid vergessen und die Trennung und alle Qualen und das düstere Haus und den alten Grafen, den verwilderten Garten in der fernen Heimat und die Bank, auf der sie ihm den letzten leidenschaftlichen Kuß gegeben, um sich dann aus seinen Armen zu reißen ... Oh, Sie werden doch zugeben, Nasstenka, daß es da nur natürlich ist, wenn man zusammenfährt und wie ein ertappter Schüler verwirrt errötet, als hätte man soeben einen aus dem Nachbargarten gestohlenen Apfel in die Tasche gesteckt, wenn plötzlich die Zimmertür aufgestoßen wird und irgendein langer, gesunder Bursche, so ein guter, immer fröhlicher Junge, über die Schwelle tritt und mit lachendem Gruß ausruft, als wäre nichts geschehen: ‚Freund, ich komme soeben aus Pawlowsk!‘ Mein Gott! Der alte Graf war gestorben und sie war frei! Unfaßbares Glück brach für uns an. Das sagte und brachte man uns aus Pawlowsk!“ Ich hielt inne, da meine leidenschaftliche Rede zu Ende war. Ich weiß noch, daß ich schreckliche Lust hatte, laut, schallend aufzulachen, gleichsam irgend etwas aus mir herauszulachen, denn ich fühlte, daß in der Tat so ein feindliches Teufelchen sich bereits in mir zu regen begann und mir schon im Halse saß, und daß es mir im Kinn und in den Augenlidern zuckte ... Natürlich erwartete ich nichts anderes, als daß Nasstenka, die mich mit ihren klugen Augen groß ansah, nun in unbändig lustiges Kinderlachen ausbrechen würde, und ich bereute schon, daß ich so weit gegangen war und etwas erzählt hatte, das ich lange mit mir herumgetragen und deshalb wie aus einem Buch ablesend erzählen konnte. Ich hatte mich seit Jahr und Tag darauf vorbereitet, einmal vor mich selbst wie vor einen Richter zu treten und über mich ein Urteil zu fällen: und da hatte ich mich nun wirklich einmal nicht zu bezwingen vermocht und dieses Urteil gesprochen, jedoch, offen gestanden, ohne zu erwarten, daß ich Verständnis finden würde. Aber zu meiner Verwunderung schwieg sie eine Weile, dann drückte sie mir leise die Hand und fragte mit einer seltsam zartfühlenden Teilnahme: „Haben Sie wirklich Ihr ganzes Leben so verbracht?“ „Mein ganzes Leben, Nasstenka,“ antwortete ich, „solange ich auf der Welt bin, und ich glaube, so werde ich es auch beenden.“ „Nein, das geht nicht, das darf nicht geschehen,“ protestierte sie, sichtlich beunruhigt, „und das geschieht auch nicht! Dann wäre es ja ebensogut möglich, daß auch ich mein ganzes Leben bei meiner Großmutter verbringen muß! Hören Sie, wissen Sie auch, daß es gar nicht gut ist, so zu leben?“ „Ich weiß es, Nasstenka, gewiß weiß ich es!“ rief ich, ohne meine Gefühle noch länger zu unterdrücken. „Und jetzt weiß ich auch besser als je zuvor, daß ich alle meine besten Jahre verloren habe! Ich weiß es, und diese Erkenntnis schmerzt mich mehr als je, denn Gott selbst hat Sie, mein guter Engel, mir geschickt, um mir das zu sagen und zu beweisen. Jetzt, wo ich neben Ihnen sitze und mit Ihnen rede, mutet es mich schon wunderbar an, an meine Zukunft zu denken, denn in dem Leben, das noch vor, mir liegt – sehe ich wieder Einsamkeit, wieder nur dieses muffige, modernde, nutzlose Leben. Und was werde ich dann noch träumen können, das schöner ist als das Leben, nachdem ich doch in der Wirklichkeit hier neben Ihnen so glücklich gewesen bin! Oh, seien Sie dafür gesegnet, Sie liebes Mädchen, daß Sie mich nicht gleich nach dem ersten Wort zurückgestoßen haben und ich jetzt doch schon sagen kann, daß ich wenigstens zwei Abende in meinem Leben gelebt habe!“ „Ach nein, nein!“ rief Nasstenka und Tränen glänzten in ihren Augen. „Nein, so soll es nicht kommen! Wir werden nicht so auseinandergehen! Was sind zwei Abende!“ „Ach, Nasstenka, Nasstenka! Wissen Sie denn überhaupt, daß Sie mich für lange Zeit mit mir selbst versöhnt haben? Wissen Sie, daß ich jetzt nicht mehr so Schlechtes denken werde, wie in manchen früheren Stunden? Wissen Sie, daß ich mich vielleicht nicht mehr darüber grämen werde, Verbrechen und Sünde in meinem Leben begangen zu haben, denn ein solches Leben ist Verbrechen und Sünde! Und denken Sie nicht, daß ich irgendwie übertrieben habe, um Gottes willen glauben Sie das nicht, Nasstenka! Es kommen Augenblicke, in denen ich solch eine Seelenangst empfinde, solch einen Gram ... In diesen Augenblicken will es mir scheinen – und ich fange schon an, daran zu glauben –, daß ich niemals mehr fähig sein werde, ein wirkliches Leben zu beginnen, denn ich habe schon oft die Empfindung gehabt, als hätte ich jedes Gefühl verloren, und jede Aufnahmefähigkeit der Sinne in allem, was Wirklichkeit, was wirkliches Leben ist! weil ich mich schließlich selbst verflucht habe! weil meinen phantastischen Nächten schon Augenblicke der Ernüchterung folgen, die so furchtbar sind! Und währenddessen hört man, wie rings um einen die Menschenmassen lärmend im Lebensstrudel sich drehen, man hört und sieht, wie Menschen leben – wirklich leben, in der Wirklichkeit und im Wachen leben, und man sieht, daß ihr Leben nicht nach ihrer Willkür entsteht, daß ihr Leben nicht wie ein Traum verflattert, daß ihr Leben sich ewig erneut und ewig jung ist und keine Stunde der anderen gleicht, während die schreckhafte Phantasie, diese unsere Einbildungskraft, so trostlos und verzagt und bis zur Gemeinheit einförmig ist, eine Sklavin des Schattens, der bloßen Idee, eine Sklavin der ersten besten Wolke, die plötzlich die Sonne verdeckt und in wehem Leid das Herz zusammenpreßt, das echte Petersburger Herz, dem seine Sonne so teuer ist! Und erst im Leiden, was für eine Einbildung! Man fühlt, daß sie endlich doch müde wird und sich in der ewigen Anspannung erschöpft, diese scheinbar _unerschöpfliche_ Phantasie, denn man wird reifer und männlicher und wächst über seine früheren Ideale hinaus: sie stürzen ein und es bleibt nur Staub und Schutt von ihnen übrig. Und wenn es dann kein anderes Leben gibt, muß man aus demselben Schutt die Bruchstücke zusammenlesen und aus ihnen sich das neue Leben aufbauen. Und dabei verlangt und sehnt sich die Seele doch nach etwas ganz anderem! Und vergeblich wühlt der Träumer wie in einem Aschenhaufen in seinen alten Träumen und sucht in der Asche nach einem, wenn auch noch so kleinen Fünkchen, um es anzublasen und um mit dem von neuem angefachten Feuer das kaltgewordene Herz zu erwärmen und alles in ihm wieder zu erwecken, was ihm einst so lieb war, was die Seele rührte und das Blut in Wallung brachte, was den Augen Tränen entströmen ließ und eine so herrliche Täuschung war! Wissen Sie auch, Nasstenka, wie weit ich damit schon gekommen bin? Wissen Sie, daß ich bereits das Jubiläum meiner Empfindungen zu feiern gezwungen bin, Gedenktage dessen, was früher so schön war und dabei in Wirklichkeit doch nie gewesen ist – denn diese Jahres- und Gedenktage gelten alle denselben wesenlosen törichten Träumereien – und daß ich das tun muß, weil selbst diesen törichten Träumen nicht mehr neue folgen, die sie verdrängen würden: denn auch Träume müssen verdrängt werden! Von selbst hören sie nicht auf und so überleben sie sich nur. Wissen Sie, ich suche jetzt mit Vorliebe zu bestimmten Stunden jene Stellen auf, an denen ich einmal glücklich gewesen bin, in meiner Art glücklich, und dort versuche ich dann, das Gegenwärtige in der Phantasie nach dem unwiederbringlich Vergangenen zu gestalten oder das Vergangene mir zu vergegenwärtigen: und so irre ich oft wie ein Schatten ziellos und zwecklos in den Petersburger Winkelgassen umher. Und was für Erinnerungen das dann sind! Da erinnere ich mich zum Beispiel, daß ich hier genau vor einem Jahr gerade in derselben Stunde auf demselben Trottoir gegangen bin, ebenso einsam und mutlos traurig umherirrend, wie jetzt! Und man erinnert sich, daß auch die Gedanken damals ebenso traurig waren, und wenn es früher auch nicht besser war, so ist es einem doch, als sei es irgendwie besser gewesen, als habe man ruhiger gelebt, und man meint, daß es nicht dieses dunkle Grübeln gegeben habe, daß einen jetzt verfolgt ... daß ich nicht diese Gewissensbisse gekannt, die so peinvoll und unermüdlich quälen und mir weder am Tage noch in der Nacht Ruhe und Frieden gönnen! Und man fragt sich: wo sind denn deine Träume geblieben? Und schüttelt den Kopf und murmelt: wie schnell die Jahre vergehen! Und wieder fragt man sich: was hast du mit deinen Jahren angefangen? Wo hast du deine beste Zeit begraben? Hast du überhaupt gelebt? oder nicht? Sieh, sagt man zu sich selbst, sieh, wie kalt es in der Welt wird. Es werden noch einige Jahre vergehen und dann kommt die grämliche Einsamkeit, kommt mit der Krücke das zitterige Alter und bringt dir Kummer und Leid. Verbleichen wird deine phantastische Welt, verwelken und sterben werden deine Träume und wie das gelbe Laub von den Bäumen, so werden sie von dir abfallen ... O Nasstenka! Wie wird es dann so öde sein, allein zu bleiben, ganz allein, und nicht einmal etwas zu haben, worum man trauern könnte – nichts, gar nichts ... Denn alles, was man verloren hat, alles das war doch nichts, war eine Null, eine reine Null, war ja nichts als ein Träumen!“ „Nun aber hören Sie auf, rühren Sie mich nicht noch mehr!“ rief Nasstenka und wischte das dumme Tränchen fort, das ihr über die Wange rollte. „Jetzt hat das ein Ende! Wir werden nun nicht mehr allein sein, denn was mit mir auch geschehen sollte, wir werden doch immer Freunde bleiben. Hören Sie. Ich bin ein einfaches Mädchen, ich habe wenig gelernt, obschon die Großmutter mir von einem Lehrer Unterricht erteilen ließ, aber glauben Sie mir, ich verstehe Sie sehr gut, denn alles, was Sie mir da erzählt haben, habe ich selbst erlebt, wenn ich neben Großmutter angesteckt saß. Natürlich hätte ich das nicht so gut zu erzählen verstanden, wie Sie, ich habe das nicht gelernt,“ fügte sie etwas kleinlaut hinzu, da meine pathetische Rede ihr offenbar einen gewissen Respekt eingeflößt hatte, „aber ich bin sehr froh, daß Sie mir alles mitgeteilt haben. Jetzt kenne ich Sie, kenne Sie durch und durch. Und wissen Sie was? Ich will Ihnen nun auch meine Geschichte erzählen, alles, bis aufs Letzte, Sie aber müssen mir dann einen Rat geben. Sie sind ein sehr kluger Mann, ich weiß es, aber werden Sie mir nun versprechen, daß Sie mir nachher auch wirklich Ihren Rat geben?“ „Ach, Nasstenka,“ antwortete ich, „ich bin zwar noch nie ein Ratgeber gewesen, und nun gar ein kluger, wie Sie es von mir verlangen, aber ich sehe jetzt, daß es, wenn wir immer so leben würden, sogar sehr klug wäre und daß der eine dem anderen unzählige kluge Ratschläge erteilen könnte. Nun also, meine reizende Nasstenka, was für einen Rat brauchen Sie? Sagen Sie es mir ohne Umschweife. Ich bin jetzt so heiter, so glücklich, so mutvoll, daß ich wahrscheinlich nicht auf den Mund gefallen sein werde, wie man zu sagen pflegt.“ „Nein, nein!“ fiel mir Nasstenka schnell ins Wort. „Ich brauche keinen klugen Rat, sondern einen von Herzen kommenden, einen aufrichtig brüderlichen, einen, der so ist, wissen Sie, als hätten Sie mich schon ein Leben lang lieb!“ „Gut, Nasstenka, abgemacht!“ rief ich. „Aber wenn ich Sie auch schon ganze zwanzig Jahre geliebt hätte, ich könnte Sie deshalb doch nicht inniger lieben, als ich es jetzt tue!“ „Geben Sie mir Ihre Hand!“ sagte Nasstenka. „Hier haben Sie sie!“ „Also schön, dann lassen Sie uns jetzt meine Geschichte beginnen.“ Nasstenkas Geschichte. „Die eine Hälfte meiner Geschichte kennen Sie bereits, das heißt, Sie wissen, daß ich eine alte Großmutter habe ...“ „Wenn die zweite Hälfte nicht länger ist als diese ...“ wandte ich lachend ein. „Schweigen Sie und hören Sie mir zu. Ganz zuerst eine Abmachung: Sie dürfen mich nicht unterbrechen, sonst machen Sie mich schließlich noch verwirrt. Also, hören Sie jetzt artig zu. „Ich habe eine alte Großmutter. Zu der kam ich schon als ganz kleines Mädchen, denn meine Eltern starben früh. Ich nehme an, daß Großmutter einmal reicher war, denn sie spricht immer von den früheren besseren Tagen. Sie selbst hat mich denn auch Französisch gelehrt. Später nahm sie einen Lehrer. Als ich fünfzehn Jahre alt war – jetzt bin ich siebzehn – hörte der Unterricht auf. Damals war es also, daß ich ihr meinen Streich spielte. Was ich nun eigentlich verbrach, das werde ich Ihnen nicht sagen; genug, daß es durchaus kein schlimmer Streich war. Immerhin hatte er zur Folge, daß Großmutter mich eines Morgens zu sich rief und sagte, sie könne mich, da sie blind sei, nicht beaufsichtigen, und damit nahm sie dann eine Stecknadel und steckte mein Kleid an das ihrige und erklärte mir, daß wir so unser Leben verbringen würden, wenn ich mich nicht besserte. In der ersten Zeit war mir jede Möglichkeit genommen, mich freizumachem: was ich auch tat, arbeiten und lesen und lernen – alles mußte ich an Großmutters Seite tun. Einmal versuchte ich es mit einer List und beredete Fjokla, sich auf meinen Platz zu setzen. Fjokla ist unsere Magd, und die ist taub. Sie setzte sich also auf meinen Platz, als Großmutter in ihrem Stuhl eingeschlummert war, und ich lief schnell in die Nachbarschaft zu einer Freundin. Das ging aber schlecht aus. Großmutter wachte auf, bevor ich zurück war, und fragte irgend etwas, natürlich im Glauben, daß ich neben ihr säße, denn sie ist ja blind. Fjokla aber, die Großmutter wohl sprechen sah, konnte sie nicht verstehen, da sie doch nichts hört; also denkt und denkt sie, was sie wohl tun soll, steckt dann schnell die Stecknadel ab und kommt mir nachgelaufen ...“ Nasstenka begann zu lachen. Natürlich lachte ich auch. Doch wurde sie gleich wieder ernst. „Hören Sie, nein, lachen Sie nicht über Großmutter. Ich lache nur deshalb, weil es so komisch war ... Was soll man denn machen, wenn Großmutter wirklich so ist. Trotz allem habe ich sie doch lieb. Nun ja, mich erwartete aber doch eine schöne Strafpredigt: ich mußte mich sofort wieder hinsetzen und wurde von neuem angesteckt und dann: o Gott – nicht rühren durfte ich mich! „Nun also – ja, da habe ich noch zu sagen vergessen, daß wir, oder vielmehr, daß Großmutter ein kleines Haus besitzt. Es ist ein Holzhäuschen mit nur drei Fenstern in der Front, ein ganz kleines und ebenso alt wie Großmama. Oben aber ist noch ein Zimmer; und in dieses Zimmer zog ein neuer Mieter ein ...“ „Dann hatten Sie also auch früher schon einen Mieter?“ fragte ich beiläufig. „Nun, natürlich doch,“ versetzte Nasstenka, „und zwar verstand der besser zu schweigen, als Sie. Allerdings konnte er kaum noch die Zunge bewegen. Es war das nämlich ein altes Männlein, harthörig, hager, stumm, blind, lahm, so daß er selbst es schließlich nicht länger aushielt in der Welt und starb. Da ward das Zimmer frei und wir mußten uns nach einem neuen Mieter umsehen, denn die Miete für das Zimmer und Großmutters Pension sind fast unser ganzes Einkommen. Der neue Mieter war aber ein junger Mensch und kein Petersburger. Da er von der Miete nichts abzuhandeln versuchte, nahm ihn Großmutter, als er aber gegangen war, fragte sie mich: ‚Nasstenka, ist der Mieter jung oder alt?‘ Lügen wollte ich nicht und so sagte ich: ‚Ganz jung ist er gerade nicht, Großmama, aber er ist auch kein alter Mann.‘ „‚Und wie sieht er aus? Hat er ein angenehmes Äußere?‘ fragte sie weiter. „Ich wollte wieder nicht lügen. ‚Ja, Großmutter,‘ sagte ich, ‚er hat ein angenehmes Äußere.‘ Großmutter aber seufzte: ‚Ach, du meine Güte! Das wird dann wohl eine von Gott gesandte Prüfung sein! Ich sage dir das deshalb, mein Enkelkind, damit du ihn dir nicht zu oft ansiehst. Das ist mir jetzt mal eine Zeit! Solch ein armer Zimmermieter und dabei ein angenehmes Äußere! Das war in der alten Zeit ganz anders!‘ „Großmutter spricht nämlich immer von der alten Zeit. Jünger war sie in der alten Zeit und die Sonne schien wärmer in der alten Zeit und die Sahne wurde nicht so schnell sauer in der alten Zeit – alles war in der alten Zeit besser! Da saß ich denn und schwieg, dachte aber bei mir: weshalb bringt denn Großmutter mich selbst darauf, indem sie fragt, ob er gut aussieht und jung ist? Aber das war nur so ein flüchtiger Gedanke, ich begann wieder die Maschen zu zählen und strickte weiter, und darüber vergaß ich dann alles. „Eines Morgens aber – tritt plötzlich der Mieter bei uns ein: er wolle sich erkundigen, wo die neue Tapete bliebe, die man ihm für das Zimmer versprochen habe. Ein Wort gab das andere. Großmutter ist doch geschwätzig, und da sagt sie denn zu mir: ‚Geh, Nasstenka, in mein Schlafzimmer und hole das Rechenbrett.‘ Ich sprang sogleich auf, das Blut schoß mir ins Gesicht, ich weiß nicht, weshalb – dabei aber vergaß ich ganz, daß ich angesteckt war; statt nun die Nadel heimlich abzustecken, damit der Mieter sie nicht sähe, riß ich so, daß Großmutters ganzer Sessel in die Höhe ruckte. Als ich aber sah, daß der Mieter jetzt alles begriff, wurde ich noch viel röter und blieb wie gelähmt stehen: und plötzlich brach ich in Tränen aus – so schämte ich mich und so bitter war es, daß ich in die Erde hätte versinken mögen! Großmutter aber ruft mir zu: ‚Was stehst du denn, geh doch!‘ Ich aber weinte nur noch mehr ... Da erriet der Mieter, daß ich mich vor ihm schämte, und verabschiedete sich und ging schnell fort! „Seit jenem Vormittag stand mir, sobald ich nur ein Geräusch im Flur hörte, gleich das Herz still. ‚Vielleicht ist es der Mieter, der zu uns kommt,‘ dachte ich und steckte schnell auf alle Fälle die Nadel ab, heimlich, damit Großmutter es nicht merkte. Nur war es niemals er, – er kam nicht. So vergingen zwei Wochen. Da ließ er uns eines Tages durch Fjokla sagen, daß er viele Bücher habe; und gute Bücher, und ob da nicht Großmutter sich von mir vorlesen lassen wolle, um eine kleine Zerstreuung zu haben? Großmutter nahm das Anerbieten mit Dank an, nur fragte sie mich immer wieder, ob es auch wirklich anständige Bücher wären, ‚denn wenn sie unmoralisch sind,‘ sagte sie, ‚dann darfst du sie unter keinen Umständen lesen, Nasstenka, du würdest nur Schlechtes aus ihnen lernen.‘ „‚Was würde ich denn lernen, Großmama?‘ fragte ich, ‚was steht denn in schlechten Büchern geschrieben?‘ „‚Ja, mein Kind, da wird erzählt, wie junge Männer sittsame Mädchen verführen, wie sie sie unter dem Vorwand, sie heiraten zu wollen, aus dem Elternhause entführen und dann ihrem Schicksal überlassen, und wie die unglücklichen Mädchen zuletzt elend umkommen und zugrunde gehen. Ich,‘ sagte Großmutter, ‚ich habe viele solcher Bücher gelesen und alles,‘ sagte sie, ‚ist so herrlich geschildert, daß man die ganze Nacht heimlich in ihnen liest. Und deshalb, Nasstenka,‘ sagte sie, ‚sieh zu, daß du solche Bücher nicht liest. Was für Bücher sind es denn, die er uns geschickt hat?‘ „‚Es sind Romane von Walter Scott, Großmutter,‘ sagte ich. „‚Ah, Romane von Walter Scott! Aber sieh vorsichtshalber nach, ob nicht irgendwelche Spitzbübereien darin stecken. Vielleicht hat er einen Liebesbrief oder ein Zettelchen hineingelegt.‘ „‚Nein,‘ sagte ich, ‚es ist kein Zettelchen drin, Großmutter.‘ „‚Sieh mal ordentlich nach, auch unter dem Umschlagrücken; zuweilen stecken sie es dorthin, die Spitzbuben!‘ „‚Nein, Großmutter,‘ sagte ich, ‚auch unter dem Umschlagrücken ist nichts.‘ „‚Nun, Vorsicht kann nie schaden!‘ war ihre Antwort. „Und so fingen wir denn an, Walter Scott zu lesen, und in etwa einem Monat waren wir fast schon mit der Hälfte der Bücher fertig. Dann schickte er uns wieder neue Bücher, auch Puschkin war darunter, so daß ich ohne Bücher bald gar nicht mehr sein konnte und darüber ganz vergaß, wie früher darüber zu sinnen, wie ich wohl einen chinesischen Prinzen heiraten könnte. „So standen die Dinge, als der Zufall es einmal fügte, daß ich unserem Mieter auf der Treppe begegnete. Ich mußte für Großmutter etwas holen. Er blieb stehen, ich errötete – und er errötete gleichfalls; aber da lachte er auch schon und begrüßte mich und erkundigte sich nach Großmutters Befinden. Darauf fragte er, ob ich die Bücher schon gelesen hätte. Ich sagte: ‚Ja, ich habe sie gelesen.‘ – ‚Was hat Ihnen denn am besten gefallen?‘ fragte er weiter. Ich sagte: ‚Ivanhoe und Puschkin haben mir am besten gefallen.‘ Und damit war unser Gespräch für diesmal beendet. „Nach einer Woche begegnete ich ihm wieder auf der Treppe. Nur hatte mich an dem Tage nicht Großmutter geschickt, ich hatte vielmehr selbst etwas nötig. Es war nach zwei Uhr und um diese Zeit kam unser Mieter nach Hause, das wußte ich. ‚Guten Tag!‘ sagte er. ‚Guten Tag!‘ erwiderte ich. „‚Ist es Ihnen nicht langweilig, den ganzen Tag bei der Großmutter zu sitzen?‘ fragte er. „Wie er das fragte, da – ich weiß nicht, weshalb – errötete ich wieder und ich schämte mich und seine Worte kränkten mich – wohl deshalb, weil nun schon andere mich nach meiner Lebensweise bei Großmutter zu fragen begannen. Ich wollte fortgehen, ohne ihm zu antworten, aber ich hatte keine Kraft zum Gehen. „‚Sie sind ein gutes Mädchen,‘ sagte er darauf. ‚Entschuldigen Sie, bitte, daß ich so zu Ihnen spreche, aber, ich versichere Ihnen, ich wünsche Ihnen vielleicht mehr Gutes, als Ihre Großmutter es zu tun scheint. Haben Sie keine Freundinnen, die Sie besuchen könnten?‘ „Ich sagte, ich hätte jetzt keine, denn Maschenka, meine einzige Freundin, wäre nach Pskow gereist. „‚Wollen Sie nicht einmal mit mir ins Theater fahren?‘ fragte er mich darauf. „‚Ins Theater?‘ fragte ich, ‚aber was soll denn Großmutter –?‘ „‚Nun,‘ meinte er, ‚Sie brauchen es ihr ja nicht zu sagen, – kommen Sie heimlich ...‘ „‚Nein,‘ sagte ich, ‚ich will Großmutter nicht betrügen. Guten Tag!‘ „Er grüßte nur, sagte aber nichts. Am Nachmittag, wir hatten gerade erst gespeist, kam er plötzlich zu uns. Er setzte sich, unterhielt sich mit Großmutter, erkundigte sich, ob sie nicht zuweilen auch ausfahre, ob sie Bekannte habe – plötzlich aber sagte er: ‚Ich habe für heute eine Loge genommen, im Opernhaus; der Barbier von Sevilla wird gegeben, aber meine Bekannten, mit denen ich die Vorstellung besuchen wollte, sind plötzlich verhindert, und da sitze ich nun mit meinem Billett.‘ „‚Der Barbier von Sevilla!‘ rief Großmutter, ‚ist das etwa derselbe Barbier, den man in der alten Zeit gab?‘ „‚Ja,‘ sagte er, ‚es ist derselbe Barbier,‘ und dabei sah er mich an. Ich aber hatte schon alles begriffen und errötete und mein Herz hüpfte in Erwartung! „‚Aber den kenne ich ja!‘ rief Großmutter, ‚wie sollte ich den nicht kennen! Ich habe doch in meiner Jugend auf der Hausbühne die Rosine gespielt!‘ „‚Würden Sie dann nicht heute abend die Oper einmal wieder hören wollen?‘ fragte er. ‚So fände auch mein Billett noch eine Verwendung, sonst hätte ich es unnütz gekauft.‘ „‚Nun, meinetwegen, fahren wir,‘ sagte Großmutter, ‚weshalb sollten wir nicht?! Meine Nasstenka ist ja auch noch niemals im Theater gewesen.‘ „Mein Gott, war das eine Freude! Wir kleideten uns an und dann fuhren wir. Großmutter ist zwar blind, aber sie wollte doch wenigstens die Musik hören: und dann, wissen Sie, sie ist eine gute alte Frau: sie wollte hauptsächlich mir das Vergnügen gönnen, denn ohne seine Aufforderung wären wir wohl niemals in die Oper gekommen. Wie der Eindruck war, den der Barbier von Sevilla auf mich machte – nun, das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, das können Sie sich schon ohnehin denken. Den ganzen Abend sah er mich mit so guten Augen an und sprach so freundlich zu mir: und ich erriet gleich, daß er mich auf der Treppe nur hatte prüfen wollen, als er mich aufforderte, allein mit ihm ins Theater zu fahren. Da freute ich mich denn, daß ich ihm so geantwortet hatte! Und als ich zu Bett ging, war ich so stolz, so froh und mein Herz schlug so stark, daß ich sogar ein wenig fieberte, und die ganze Nacht träumte mir vom Barbier von Sevilla. „Ich dachte natürlich, unser Mieter werde jetzt öfter zu uns kommen – aber da täuschte ich mich. Er kam fast gar nicht mehr. Nur so, etwa einmal im Monat sprach er vor, und auch das nur, um uns aufzufordern, mit ihm ins Theater zu fahren. Zweimal fuhren wir auch noch – nur wollte mir diese Art gar nicht gefallen. Ich sah ein, daß ich ihm einfach nur leid tat, weil ich bei Großmutter tagaus tagein angesteckt sitzen mußte: weiter war es nichts. Und je länger sich das so fortsetzte, um so mehr kam es über mich: ich saß und versuchte zu lesen und zu arbeiten, aber ich konnte weder sitzen, noch lesen, noch arbeiten. Zuweilen lachte ich und stellte irgend etwas an, worüber Großmutter sich ärgern mußte. Dann wieder war ich den Tränen nahe oder weinte auch wohl wirklich. Zu guter Letzt wurde ich fast krank. Die Opernsaison war zu Ende und unser Mieter hörte nun ganz auf, zu uns zu kommen. Wenn wir einander aber begegneten – immer auf der Treppe, natürlich – da grüßte er nur so ernst und schweigend und ging an mir vorüber, als wolle er überhaupt nicht mit mir sprechen. Und wenn er schon längst oben war, stand ich immer noch auf der Treppe, rot wie eine Kirsche, denn das Blut stieg mir sofort ins Gesicht, sobald ich ihn nur erblickte. „Meine Geschichte ist gleich zu Ende. Gerade vor einem Jahr, im Mai, kam unser Mieter nach langer Zeit wieder einmal zu uns und sagte der Großmutter, daß er seine Geschäfte hier erledigt habe und wieder auf ein Jahr nach Moskau fahren müsse. Wie ich das hörte, erbleichte ich und sank auf einen Stuhl – ich glaubte, vergehen zu müssen. Großmutter merkte nichts davon, er aber verabschiedete sich kurz und ging. „Was sollte ich tun? Ich dachte und dachte und marterte mein Gehirn und grämte mich, bis ich endlich doch einen Entschluß faßte. Morgen fährt er, dachte ich, und so beschloß ich, noch an demselben Abend, sobald Großmutter eingeschlafen wäre, meinen Vorsatz auszuführen. So geschah es auch. Ich band, was ich an Kleidern und Wäsche nötig hatte, in ein Bündel, und mit dem Bündel in der Hand, mehr tot als lebendig, ging ich nach oben zu unserem Mieter. Ich glaube, ich brauchte eine volle Stunde, um die Treppe hinaufzusteigen. Als ich aber die Tür zu seinem Zimmer öffnete, da sprang er auf und sah mich an, als hielte er mich für ein Gespenst. Doch das dauerte nur einen Augenblick. Dann griff er nach dem Wasserglase und stand auch schon neben mir und gab mir zu trinken, denn ich hielt mich kaum auf den Füßen. Mein Herz schlug so, daß es mir im Kopf weh tat und meine Sinne sich verwirrten. Als ich aber wieder zu mir kam, tat ich nichts weiter, als daß ich mein Bündel auf sein Bett legte, mich daneben setzte, das Gesicht mit den Händen bedeckte und in eine Flut von Tränen ausbrach. Ich glaube, da begriff er im Augenblick alles, denn er stand vor mir und war bleich und sah mich so traurig an, daß es mir das Herz zerriß. „‚Hören Sie,‘ begann er, ‚hören Sie, Nasstenka, ich kann nicht! Ich bin ganz arm, ich habe vorläufig noch nichts, nicht einmal eine Stellung: wie sollten wir denn leben, wenn ich Sie heiratete?‘ „Wir sprachen lange. Schließlich war ich ganz fassungslos und sagte, ich könne nicht länger bei Großmutter bleiben, ich würde von ihr fortlaufen und ich wolle nicht, daß man mich mit einer Stecknadel anstecke: sobald er nur einwillige, wollte ich mit ihm nach Moskau gehen, da ich ohne ihn nicht mehr leben könne. Scham und Liebe und Stolz – alles brach da zugleich aus mir hervor: und fast wie in einem Weinkrampf sank ich aufs Bett. Ich fürchtete mich so vor einer Zurückweisung! „Er schwieg eine Weile, dann stand er auf, trat zu mir und ergriff meine Hand. „‚Hören Sie, meine gute, meine liebe Nasstenka!‘ begann er, und seine Stimme bebte vor Tränen, ‚hören Sie mich an. Ich schwöre Ihnen, wenn ich jemals in der Lage sein werde, zu heiraten, so sollen Sie mein Glück ausmachen. Ich versichere Ihnen, nur Sie allein könnten es. Doch hören Sie weiter: ich fahre jetzt nach Moskau und werde dort ein Jahr bleiben. Ich hoffe, mir in dieser Zeit ein Auskommen zu schaffen. Wenn ich dann, nach einem Jahr, zurückkehre und Sie mich noch liebhaben, so werden wir glücklich sein, das schwöre ich Ihnen. Jetzt jedoch ist es unmöglich, ich besitze nichts und ich habe kein Recht, auch nur irgend etwas zu versprechen. Sollte ich aber in einem Jahr noch nicht so weit sein, so werden wir noch etwas länger warten müssen, einmal aber werden wir unser Ziel erreichen – natürlich nur dann, wenn Sie nicht einem andern den Vorzug geben, denn binden will ich Sie mit keinem Wort, das kann ich nicht und darf ich nicht.‘ „So sprach er damals zu mir und am nächsten Tage fuhr er fort. Vorher aber sprachen wir uns noch aus und beschlossen, der Großmutter nichts zu sagen. Er wollte es so. Nun, und ... meine Geschichte ist fast zu Ende. Es ist jetzt genau ein Jahr vergangen. Er ist zurückgekehrt, er ist schon ganze drei Tage hier und ... und ...“ „Und – was?“ fragte ich gespannt. „... Und ist bis jetzt noch nicht gekommen!“ schloß Nasstenka, indem sie sich mit aller Gewalt zusammennahm, „kein Wort von ihm, kein Brief ...“ Sie stockte, schwieg ein wenig, senkte den Kopf und plötzlich brach sie, die Hände vor das Gesicht schlagend, in Tränen aus und weinte so verzweifelt, daß es mir das Herz zerriß. Eine solche Lösung hatte ich nicht erwartet. „Nasstenka!“ sagte ich mit aller Güte und Teilnahme in der Stimme. „Nasstenka, um Gottes willen, so weinen Sie doch nicht so! Woher wissen Sie es denn? Vielleicht ist er noch gar nicht hier ...“ „Doch, doch, er ist hier!“ bestätigte sie eifrig, „ich weiß es. Wir trafen damals noch eine Verabredung, an jenem Abend vor seiner Abreise – als wir uns ausgesprochen und uns alles gesagt hatten, was ich Ihnen soeben erzählt habe, da kamen wir hierher und spazierten hier auf und ab. Es war zehn Uhr und wir saßen auf dieser Bank. Ich weinte nicht mehr, es war mir so süß, zu hören, was er zu mir sprach ... Er sagte, er werde sogleich nach seiner Ankunft zu uns kommen, und wenn ich mich dann nicht von ihm lossagte, würden wir alles der Großmutter mitteilen. Jetzt aber ist er zurückgekehrt, ich weiß es, und zu uns ist er nicht gekommen, _nicht_ gekommen!“ Und wieder brach sie in Tränen aus. „Mein Gott! Kann man Ihnen denn nicht irgendwie helfen?“ rief ich und sprang in meiner Ratlosigkeit von der Bank auf. „Sagen Sie, Nasstenka, könnte ich nicht zu ihm gehen und mit ihm sprechen?“ „Ginge denn das?“ fragte sie, plötzlich aufschauend. „Nein, eigentlich nicht, natürlich nicht! ... Aber hören Sie: schreiben Sie ihm einen Brief.“ „Nein, das ist unmöglich, das geht erst recht nicht!“ versetzte sie schnell, senkte jedoch das Köpfchen und sah mich nicht an. „Weshalb denn nicht? Weshalb sollte es unmöglich sein?“ fuhr ich fort, denn mein Plan begann mir zu gefallen. „Die Frage ist nur: was für einen Brief! Zwischen Brief und Brief ist ein Unterschied und ... Ach, Nasstenka, vertrauen Sie mir doch! Ich will Ihnen keinen schlechten Rat geben. Es läßt sich das wirklich machen, glauben Sie mir! Sie haben doch den ersten Schritt getan – weshalb wollen Sie denn jetzt nicht ...“ „Nein, nein, es geht nicht, es geht wirklich nicht! Damals habe ich mich schon fast – aufgedrängt ...“ „Ach, Sie Kind!“ unterbrach ich sie, ohne mein Lächeln zu verbergen, „nein, da irren Sie sich. Und schließlich haben Sie dazu das volle Recht, da er Ihnen sein Wort gegeben hat. Übrigens scheint er auch, wie ich aus allem ersehe, ein durch und durch anständiger Mensch zu sein,“ fuhr ich fort und ließ mich von der Logik meiner Folgerungen und Schlüsse mehr und mehr gefangennehmen. „Wie hat er denn an Ihnen gehandelt? Er hat sich durch sein Versprechen gebunden. Er hat gesagt, daß er nur Sie heiraten werde, sobald er erst einmal so weit sein würde; Ihnen dagegen hat er volle Freiheit gelassen, so daß Sie, wenn Sie wollen, jeden Augenblick sich von ihm lossagen können ... Folglich dürfen Sie jetzt ruhig den ersten Schritt tun, denn er hat Ihnen in allem das Vorrecht überlassen – ganz gleich, ob es sich nun um die Rückgabe des bindenden Wortes handelt, oder um etwas anderes ...“ „Sagen Sie – wie würden Sie an meiner Stelle schreiben?“ „Was?“ „Nun, diesen Brief an ihn.“ „Ich? – Oh, ganz einfach: ‚Sehr geehrter Herr ...‘“ „Muß man unbedingt so anfangen?“ „Unbedingt. Übrigens, haben Sie etwas dagegen einzuwenden? Ich denke ...“ „Nein, nein, schon gut! Weiter!“ „Also: ‚Sehr geehrter Herr! Entschuldigen Sie, daß ich ...‘ Übrigens nein, Entschuldigungen sind überflüssig. Hier erklärt ja schon die Tatsache alles. Also einfach: ‚Ich schreibe Ihnen. Verzeihen Sie meine Ungeduld, aber ich war ein ganzes Jahr lang so glücklich, da ich immer in meiner Hoffnung lebte – woher sollte ich jetzt wohl die Geduld nehmen, auch nur einen Tag der Ungewißheit zu ertragen? Jetzt, wo Sie schon zurückgekehrt sind und mich doch noch nicht aufgesucht haben, muß ich annehmen, daß Sie Ihre Absicht inzwischen aufgegeben haben. In dem Fall soll dieser Brief Ihnen nur sagen, daß ich nicht klage und Ihnen keinen Vorwurf mache. Wie sollte ich auch, denn es ist doch nicht Ihre Schuld, wenn ich Ihr Herz nur für eine kurze Zeit zu fesseln vermocht habe. Dann ist es eben mein Schicksal ... Sie sind ein vornehm denkender Mensch und Sie werden über meine ungeschickten Zeilen weder lächeln noch sich ärgern. Aber trotzdem – vergessen Sie nicht, daß ein armes Mädchen an Sie schreibt, daß sie ganz allein ist und keinen Menschen hat, dem sie sich anvertrauen und der ihr Rat erteilen könnte, und daß sie auch nie verstanden hat, ihr Herz zu bezwingen. Doch seien Sie mir nicht böse, wenn es unrecht von mir gewesen sein sollte, auch nur für einen Augenblick in meiner Seele Zweifel gehegt zu haben. Ich weiß, daß Sie nicht einmal in Gedanken diejenige zu kränken vermögen, die Sie so geliebt hat und noch liebt.‘“ „Ja, ja! So habe ich es mir auch schon gedacht!“ rief Nasstenka und ihre Augen glänzten vor Freude. „Oh, Sie haben mich von allen meinen Ungewißheiten erlöst! Gott selbst hat Sie mir gesandt! Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen!“ „Wofür? Dafür, daß Gott mich zu Ihnen gesandt hat?“ fragte ich und betrachtete entzückt ihr freudestrahlendes Gesichtchen. „Ja, meinetwegen dafür!“ „Ach, Nasstenka! Wir sind doch wirklich manchen Menschen nur dafür dankbar, daß sie mit uns leben oder überhaupt nur leben. Ich zum Beispiel bin Ihnen ganz unendlich dankbar dafür, daß Sie mir begegnet sind und daß ich nun mein Leben lang an Sie werde denken können.“ „Nun, schon gut, genug! Aber jetzt – Sie wissen ja noch gar nicht alles – also hören Sie: Damals verabredeten wir, daß er sogleich nach seiner Rückkehr mir eine Nachricht zukommen lassen solle, und zwar durch meine Bekannten: gute, einfache Leute, die von all dem nichts wissen; falls er aber nicht schreiben könne, da sich in einem Brief doch oft nicht alles sagen läßt, so sollte er gleich am ersten Tage um Punkt zehn Uhr abends hierher kommen, wo wir uns dann treffen wollten. Daß er in Petersburg bereits angekommen ist, das weiß ich; aber jetzt ist er bereits seit drei Tagen hier und bis jetzt habe ich weder einen Brief von ihm erhalten, noch ist er selbst gekommen. Am Tage ist es mir nicht möglich, unbemerkt von Großmutter fortzugehen. Deshalb – oh, seien Sie so gut und geben Sie jenen Leuten, von denen ich sprach, meinen Brief – sie werden ihn weiterbefördern. Wenn aber eine Antwort von ihm eintrifft, so bringen Sie sie mir um zehn Uhr abends hierher – ja?“ „Aber der Brief, der Brief! Zuerst muß doch der Brief noch geschrieben werden! Sonst kann ich das allenfalls erst übermorgen besorgen.“ „Der Brief ...“ Nasstenka sah etwas verwirrt zu Boden, „der Brief ... ja aber ...“ Sie stockte und sprach nicht zu Ende, wandte das Gesichtchen, das wie eine Rose erglühte, von mir fort, und plötzlich fühlte ich in meiner Hand einen Brief – einen geschlossenen und natürlich nicht erst ganz vor kurzem geschriebenen Brief. Und zugleich – der Schalk rief eine Erinnerung in mir wach – klang mir plötzlich eine reizende graziöse Melodie im Ohr und – „Ro–osi–ina!“ sang ich. „Oh! ‚Ro–o–osi–i–ina!‘“ sangen wir beide, und ich war nahe daran, sie vor lauter Wonne in meine Arme zu schließen, während sie noch heftiger errötete und durch Tränen lachte, die wie Tautropfen silbern an ihren Wimpern glänzten. „Nun, genug, genug! Jetzt leben Sie wohl!“ sagte sie schnell. „Den Brief haben Sie, und auf dem Umschlag steht die Adresse, dort geben Sie ihn ab. Leben Sie wohl! Auf Wiedersehen: morgen!“ Sie drückte mir fest beide Hände, nickte mir noch einmal zu und huschte wie ein Schatten in ihre kleine Querstraße. Ich stand noch lange auf demselben Fleck und sah ihr nach. „Auf Wiedersehen: morgen! Morgen!“ fuhr es mir durch den Sinn, als sie meinen Blicken entschwunden war. Die dritte Nacht. Heute war ein trauriger regnerischer Tag, so grau und trüb und lichtlos – ganz wie das Alter, das mir bevorstand. Und jetzt bedrücken mich so seltsame Gedanken, so dunkle Empfindungen, und Probleme, die mir selbst noch völlig unklar sind, drängen sich in meine Gedanken – und dabei habe ich doch weder die Kraft noch den Wunsch, sie zu lösen. Nun, das ist auch eigentlich nicht meine Sache! Heute haben wir uns nicht gesehen. Als wir gestern Abschied nahmen, zogen schon dunkle Wolken auf und Nebel erhob sich. Ich sagte noch: „Morgen werden wir einen trüben Tag haben“. Sie antwortete darauf nichts – was hätte sie auch antworten sollen? Für sie war dieser Tag hell und klar und kein Wölkchen würde auf ihr Glück einen Schatten werfen. „Wenn es regnet, werden wir uns nicht sehen,“ sagte sie endlich, „dann komme ich nicht.“ Ich dachte, sie werde den Regen heute gar nicht bemerkt haben, aber sie kam doch nicht. Gestern sahen wir uns zum drittenmal – es war unsere dritte helle Nacht ... Indessen – wie doch Freude und Glück einen Menschen schön machen! Wie atmet im Herzen die Liebe! Es ist, als wolle man sein ganzes Herz in ein anderes Herz überströmen lassen, man will, daß alles froh sei! daß alles lache! Und wie ansteckend ist diese Freude! Gestern war in ihren Worten soviel Zärtlichkeit und in ihrem Herzen soviel Güte zu mir ... Wie aufmerksam sie war, wie nett, wie freundlich und lieb! wie sie mich ermunterte und mein Herz erquickte! Oh, wieviel süße Schelmerei vor lauter Glück! Und ich ... Ich nahm alles für bare Münze und dachte, daß sie ... Mein Gott, wie konnte ich nur so etwas denken? Wie konnte ich so blind sein, wo ich doch wußte, daß alles schon einem anderen gehörte und wo ich mir doch hätte sagen müssen, daß all ihre Zärtlichkeit und Liebe ... ja, ihre Liebe zu mir – nichts anderes war, als ein Ausdruck ihrer Freude über das bevorstehende Wiedersehen mit ihm und ihr Wunsch, an diesem Glücke auch mich teilnehmen zu lassen, oder es einfach auf mich zu übertragen? ... Als er aber nicht kam und wir vergeblich warteten, da ward sie doch traurig und bekümmert und verzagt. Ihre Bewegungen und ihre Worte waren nicht mehr so leicht und gleichsam beflügelt, nicht mehr so ausgelassen lustig. Doch sonderbarerweise verdoppelte sie dann ihre Aufmerksamkeit und Freundlichkeit gegen mich, und es war mir, als wolle sie alles, was sie für sich wünschte und worum sie bangte, weil es vielleicht für sie nie in Erfüllung gehen würde, unwillkürlich wenigstens mir schenken. Und zitternd für ihr eigenes Glück, voll Angst und Sehnsucht begriff sie endlich, daß auch ich liebte, daß ich _sie_ liebte, und etwas wie Mitleid mit meiner armen Liebe ergriff sie. Denn wenn wir selbst unglücklich sind, dann können wir das Unglück anderer besser nachfühlen, und das Gefühl zerstreut sich nicht so, sondern sammelt sich ... Ich kam zu ihr mit vollem Herzen, nachdem ich die Stunde des Wiedersehens kaum hatte erwarten können. Ich ahnte aber noch nicht, was ich in dieser Stunde empfinden würde, und ebensowenig sah ich voraus, wie anders alles enden sollte. Sie strahlte vor Freude, denn sie erwartete die Antwort. Und die Antwort, die sollte er selbst bringen ... daß er auf ihren Ruf unverzüglich zu ihr eilen würde – davon war sie fest überzeugt. Sie war schon eine ganze Stunde vor mir zur Stelle. Anfangs lachte sie über alles, fast über jedes Wort, das ich sprach. Ich wollte weitersprechen, doch plötzlich – schwieg ich. „Wissen Sie, weshalb ich so froh bin?“ fragte sie, „– und mich so freue, Sie zu sehen? – weshalb ich Sie heute so liebe?“ „Nun?“ fragte ich und mein Herz bebte. „Ich liebe Sie, weil Sie sich nicht in mich verliebt haben. Ein anderer zum Beispiel hätte doch an Ihrer Stelle angefangen, mich zu beunruhigen und zu belästigen und hätte geseufzt und den Kranken gespielt, Sie aber sind so nett und lieb!“ Und sie drückte meine Hand so fest, daß ich fast aufgeschrien hätte. Und dann lachte sie wieder. „Mein Gott! was sind Sie doch für ein Freund!“ fuhr sie nach einer Weile sehr ernst fort. „Ich glaube wirklich, daß Gott selbst Sie mir gesandt hat. Was würde wohl aus mir werden, wenn Sie jetzt nicht bei mir wären? Wie uneigennützig Sie sind! und mit wieviel Güte Sie mich lieben! Wenn ich verheiratet bin, werden wir gute Freunde sein – wie Brüder. Ich werde Sie fast ebenso lieben, wie ihn ...“ Das tat mir weh und im Augenblick empfand ich schmerzvolle Trauer, doch zugleich regte sich auch so etwas wie ein Lachen in meiner Seele. „Sie sind unruhig,“ sagte ich, „die Angst sitzt Ihnen im Herzen, denn Sie fürchten innerlich doch, daß er nicht kommen wird.“ „Gott mit Ihnen! – wäre ich weniger glücklich, so würden Ihr Unglaube und Ihre Vorwürfe mich wahrscheinlich zum Weinen bringen. Übrigens haben Sie mich auf einen Gedanken gebracht, über den ich noch lange grübeln kann. Doch das werde ich nachher tun; jetzt aber will ich Ihnen gestehen, daß Sie die Wahrheit erraten haben. Ja! Ich bin irgendwie nicht – ich selbst. Ich bin in der Tat eigentlich nichts als Erwartung und fühle und höre und nehme alles nur so von ungefähr ... Doch genug davon, reden wir nicht mehr von Gefühlen ...“ Da plötzlich hörten wir Schritte und aus der Dunkelheit kam uns ein Fußgänger entgegen. Wir zuckten beide zusammen, sie hatte fast aufgeschrien. Ich zog meinen Arm zurück, auf dem ihre Hand lag, und machte eine Wendung, um unauffällig fortzugehen. Doch wir täuschten uns: es war ein Fremder, der ruhig vorüberging. „Was fürchten Sie? Weshalb zogen Sie Ihren Arm zurück?“ fragte sie, indem sie wieder meinen Arm nahm. „Was ist denn dabei? Wir werden ihm Arm in Arm entgegengehen. Ich will, daß er sieht, wie wir einander lieben.“ „Wie wir einander lieben!“ rief ich. – „Oh, Nasstenka, Nasstenka!“ dachte ich im stillen, „wie viel du mit diesem Wort gesagt hast! Bei solcher Liebe, Nasstenka, kann das Herz wohl erfrieren ... und die Seele ist dann tottraurig ... Deine Hand ist kühl, Nasstenka, meine aber ist heiß wie Feuer. Wie blind du bist, Nasstenka! ... Oh! wie unerträglich kann doch ein glücklicher Mensch zuweilen sein! Aber dir böse sein: das könnte ich doch nicht! ...“ Schließlich war mein Herz so voll von alledem, daß ich sprechen mußte, ob ich wollte oder nicht. „Hören Sie, Nasstenka!“ rief ich, „wissen Sie, was heute den ganzen Tag mit mir gewesen ist?“ „Nun, was, was denn? Erzählen Sie schnell! Warum haben Sie denn bis jetzt geschwiegen!“ „Erstens, Nasstenka, als ich alle Ihre Aufträge erfüllt, den Brief bei Ihren guten Leuten abgegeben hatte, da ... da ging ich nach Hause und legte mich schlafen ...“ „Und das war alles?“ unterbrach sie mich lachend. „Ja, fast alles,“ versetzte ich, mich schnell zusammennehmend, denn die dummen Tränen wollten mir mit Gewalt in die Augen treten. „Ich erwachte erst eine Stunde vor dem von uns verabredeten Wiedersehen, aber es war mir, als hätte ich gar nicht geschlafen. Ich weiß nicht, was mit mir war. Und als ich herkam, da war es, als käme ich nur, um Ihnen das alles zu erzählen. Es war, als sei die Zeit für mich stehengeblieben, als müßte eine Empfindung, ein einziges Gefühl von nun an ewig mich beherrschen, als müßte ein Augenblick eine ganze Ewigkeit währen und als sei das ganze Leben in mir stehen geblieben ... Als ich erwachte, da war es mir, als erinnerte ich mich eines musikalischen Motivs, das ich einmal vor langer Zeit gehört und inzwischen vergessen haben mochte. Und es schien mir, als habe es sich schon mein Leben lang aus meiner Seele hervordrängen wollen, und jetzt erst ...“ „Ach, mein Gott!“ unterbrach mich Nasstenka, „wie kommt denn das? Ich begreife kein Wort.“ „Ach, Nasstenka! Ich wollte Ihnen diesen seltsamen Eindruck irgendwie wiedergeben ...“ begann ich mit trauriger Stimme, in der sich aber doch noch Hoffnung verbarg, wenn auch nur eine ganz entfernte. „Schon gut, hören Sie auf, schon gut, schon gut!“ sagte sie schnell – in einem Augenblick hatte sie alles erraten, die Schelmin! Sie ward sehr gesprächig und lustig und sogar unartig. Sie nahm meinen Arm, lachte, erzählte, wollte unbedingt, daß auch ich zu lachen anfinge, und jedes verwirrte Wort von mir rief bei ihr ein helles und übermütiges Lachen hervor ... Ich fing an, mich zu ärgern, und plötzlich begann sie zu kokettieren. „Hören Sie mal,“ hub sie an, „ein wenig ärgert es mich doch, daß Sie sich gar nicht in mich verliebt haben. Da werde einer jetzt klug aus den Menschen! Immerhin, mein unbezwingbarer Herr, müssen Sie doch wenigstens das anerkennen, daß ich so harmlos und offenherzig bin. Ich sage Ihnen alles, alles, gleichviel was für eine Dummheit mir gerade durch den Kopf fährt.“ „Da! Hören Sie? Es schlägt elf,“ sagte ich, als fernher der erste gemessene Schlag der Turmuhr erklang. Sie blieb stehen, ihr Lachen war verstummt, sie zählte jeden Schlag. „Ja, elf,“ sagte sie endlich etwas zaghaft und unschlüssig. Ich bereute sogleich, daß ich sie unterbrochen und die Schläge hatte zählen lassen. Und ich verwünschte mich ob der Bosheit, die mich angewandelt. Es tat mir leid um sie, und ich wußte nicht, wie ich mein Vergehen gutmachen sollte. Ich versuchte, sie zu trösten und Gründe für sein Fernbleiben zu suchen. Ich führte verschiedene Beispiele an, bewies und folgerte: und wirklich ließ sich niemand leichter überzeugen, als sie in diesem Augenblick, wie ja wohl ein jeder unter solchen Umständen mit Freuden jeden Trost anhören und selbst noch für den Schatten einer Rechtfertigung dem anderen dankbar sein würde. „Ja, und überhaupt,“ fuhr ich fort, indem ich mich immer mehr für ihn einsetzte, und dabei selbst sehr eingenommen von der Klarheit meiner Beweise war, „er konnte ja heute noch gar nicht kommen. Sie haben Ihre Erwartung und Unruhe auch auf mich übertragen, Nasstenka, so daß auch ich die Zeitschätzung ganz vergaß ... Bedenken Sie doch nur: er hat ja kaum erst den Brief erhalten können! Nehmen wir jetzt an, daß er verhindert ist, persönlich zu erscheinen, und daß er schreiben wird – dann können Sie den Brief doch gar nicht früher bekommen, als morgen. Ich werde in aller Frühe hingehen und Sie dann sogleich benachrichtigen. Und überdies können wir ja noch tausend andere Wahrscheinlichkeiten annehmen – sagen wir zum Beispiel: er ist nicht zu Hause gewesen, als der Brief kam, und er hat ihn vielleicht bis jetzt noch nicht gelesen. Es ist doch alles möglich.“ „Ja, ja!“ pflichtete mir Nasstenka schnell bei, „ich habe daran gar nicht gedacht, natürlich ist alles möglich,“ bestätigte sie mit bereitwillig nachgiebiger Stimme, aus der aber doch, wie eine ärgerliche kleine Dissonanz, ein anderer ferner Gedanke herauszuhören war. „Dann bleibt es dabei und wir machen es so: Sie gehen morgen möglichst früh zu jenen guten Leuten, und wenn Sie dort etwas erhalten, so benachrichtigen Sie mich unverzüglich. Sie wissen doch, wo ich wohne?“ Und sie nannte mir ihre Adresse. Dann wurde sie mit einemmale so zärtlich zu mir, und dabei schien sie doch eine gewisse Schüchternheit anzuwandeln ... Scheinbar hörte sie mir auch aufmerksam zu ... als ich mich aber mit einer Frage an sie wandte, da schwieg sie und kehrte verwirrt das Köpfchen von mir fort. Ich beugte mich ein wenig vor, um ihr ins Gesicht zu sehen – und wahrhaftig: so war’s: sie weinte. „Nun, nun! Ist’s möglich? Ach, was für ein Kind Sie sind! Was für ein kleines unvernünftiges Kind! ... Hören Sie doch auf! ... Worüber weinen Sie denn?“ Sie versuchte, zu lächeln und sich zu beherrschen, aber ihr Gesicht zuckte und ihre Brust wogte immer noch. „Ich habe nur über Sie nachgedacht,“ sagte sie nach längerem Schweigen. „Sie sind so gut, daß ich von Stein sein müßte, wenn ich das nicht herausfühlte. Wissen Sie, was mir soeben in den Sinn kam? Ich verglich Sie beide. Warum ist er – nicht Sie? Warum ist er nicht so wie Sie? Er ist schlechter, als Sie und doch liebe ich ihn mehr, als ich Sie liebe.“ Ich antwortete nichts. Sie aber wartete, wie es schien, auf eine Bemerkung von mir. „Selbstverständlich ist es möglich, daß ich ihn vielleicht nicht ganz verstehe, und ich kenne ihn ja auch noch gar nicht so gut. Aber wissen Sie, es ist mir, als hätte ich ihn immer ein wenig gefürchtet. Er war immer so ernst und so ... wie stolz. Natürlich, ich weiß ja, das war nur der äußere Schein. In seinem Herzen ist sogar noch mehr Zärtlichkeit, als in meinem ... Ich weiß noch, wie er mich damals ansah – wissen Sie, als ich mit meinem Bündel zu ihm kam ... Aber doch ist es so, als stellte ich ihn irgendwie gar zu hoch, und das ist dann doch wieder so, als wären wir einander nicht gleich, nicht ebenbürtig?“ „Nein, Nasstenka,“ sagte ich, „das bedeutet nur, daß Sie ihn mehr als alles andere in der Welt lieben, und sogar viel mehr als sich selbst.“ „Ja, nun gut, mag das so sein,“ entgegnete Nasstenka naiv, „aber wissen Sie, was mir jetzt wieder in den Sinn gekommen ist? Nur werde ich jetzt nicht mehr von ihm sprechen, sondern im allgemeinen – ich habe darüber eigentlich schon lange nachgedacht. Hören Sie also und sagen Sie mir: warum sind wir nicht alle wie Brüder zueinander? Warum kommt es einem selbst beim besten Menschen immer vor, als verberge er etwas vor dem anderen und verschweige es ihm? Warum sagt nicht ein jeder ganz offen, was er gerade auf dem Herzen hat, wenn man weiß, daß man seine Worte nicht in den Wind spricht? Jetzt schaut ein jeder drein, als sei er viel kälter und schroffer, als er es in Wirklichkeit ist, und es ist fast, als fürchteten die Menschen, sich etwas zu vergeben, wenn sie ihre Gefühle ohne weiteres voreinander äußerten ...“ „Ach, Nasstenka! Sie haben gewiß recht, aber das geschieht doch aus sehr verschiedenen Gründen,“ versetzte ich, während ich mich gerade in diesem Augenblick mehr denn je zusammennahm und meine innersten Gefühle verbarg. „Nein, nein!“ widersprach sie mir mit tiefer Überzeugung. „Sie zum Beispiel sind nicht so wie die anderen! Ich ... verzeihen Sie, ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll, was ich empfinde, aber es scheint mir, daß Sie ... zum Beispiel jetzt, gerade jetzt ... ja, es scheint mir, daß Sie mir ein Opfer bringen,“ sagte sie fast zaghaft und ihr Blick streifte mich dabei flüchtig. „Verzeihen Sie mir, daß ich so zu Ihnen spreche. Ich bin ein einfaches Mädchen und habe noch wenig gesehen im Leben, und wirklich: ich verstehe mich oft gar nicht richtig auszudrücken,“ fügte sie mit einer Stimme hinzu, die von einem verborgenen Gefühl zitterte, während sie sich zu einem Lächeln zwang, „aber ich wollte Ihnen doch sagen, daß ich Ihnen dankbar bin und daß ich dies selbst weiß und empfinde ... Oh, möge Gott Sie dafür glücklich machen! Das aber, was Sie mir damals von Ihrem Träumer erzählten, das ist ja gar nicht wahr! – ich meine: das hat doch nichts mit Ihnen zu tun! Sie werden gesund werden, und überhaupt – Sie sind doch ein ganz anderer Mensch, als wie Sie sich selbst geschildert haben. Sollten Sie aber einmal lieben, dann gebe Gott Ihnen alles Glück! Derjenigen aber, die Sie lieben, brauche ich nichts mehr zu wünschen, denn mit Ihnen wird sie ohnehin glücklich sein! Ich weiß es, ich bin selbst ein Weib, und darum können Sie mir glauben, wenn ich es Ihnen sage ...“ Sie verstummte und wir tauschten einen herzlichen Händedruck. Auch ich war zu erregt, um noch sprechen zu können. Wir schwiegen beide. „Ja, heute wird er nicht mehr kommen,“ sagte sie endlich und hob den Kopf. „Es ist zu spät ...“ „Er wird morgen kommen,“ sagte ich in festem, überzeugtem Tone. „Ja,“ sagte sie munter, „ich sehe es jetzt selbst ein, daß es heute noch zu früh war, und daß er erst morgen kommen wird. Nun, dann also auf Wiedersehen: morgen! Wenn es regnet, werde ich vielleicht nicht kommen. Aber übermorgen – übermorgen werde ich bestimmt kommen, und Sie – kommen Sie gleichfalls unbedingt. Ich will Sie sehen, ich werde Ihnen dann alles erzählen.“ Und als wir uns verabschiedeten, reichte sie mir die Hand und sagte, indem sie mir mit klarem Blick in die Augen sah: „Von nun an werden wir doch immer beisammen bleiben, nicht wahr?“ Oh! Nasstenka, Nasstenka! Wenn du wüßtest, wie einsam ich jetzt bin! Als es aber am anderen Abend neun schlug, da hielt ich es in meinem Zimmer nicht mehr aus: ich kleidete mich an und ging trotz des Regenwetters. Ich war dort und saß auf der Bank. Nach einer Weile stand ich auf und ging in ihre Gasse, dann aber schämte ich mich und zwei Schritte vor ihrem Hause kehrte ich wieder um, ohne nach ihren Fenstern hinaufgesehen zu haben. Ich kam in einer Stimmung nach Hause, wie ich sie bisher noch nie erlebt hatte. Wie feucht, wie öde, wie langweilig! Wäre das Wetter schön, sagte ich mir, dann würde ich die ganze Nacht lang dort umhergehen ... Doch bis morgen, bis morgen! Morgen wird sie mir alles erzählen. Immerhin mußte ich mir sagen, daß er auf ihren Brief nicht geantwortet hatte: wenigstens heute nicht. Doch übrigens, so ist es ja auch ganz in der Ordnung. Was sollte er auch schreiben? – Er wird ja selbst kommen ... Die vierte Nacht. Mein Gott, daß es so enden würde, so! Ich kam um neun Uhr. Sie war bereits da. Ich erblickte sie schon von weitem: sie stand wie damals, als ich sie zum ersten Male sah, damals, am Kai, und stützte sich auf das Geländer und hörte nicht, wie ich mich ihr näherte. „Nasstenka!“ rief ich sie an, kaum fähig, meine Erregung zu bezwingen. Sie fuhr zusammen und wandte sich schnell nach mir um. „Nun,“ sagte sie, „nun? Schneller!“ Ich sah sie verständnislos an. „Geben Sie mir den Brief! Sie haben doch den Brief gebracht?!“ Ihre Hand griff nach dem Geländer. „Nein, ich habe keinen Brief,“ sagte ich langsam. „Ist er denn noch nicht hier gewesen?“ Sie ward unheimlich blaß und sah mich lange starr an. Ich hatte ihre letzte Hoffnung vernichtet. „Gott mit ihm!“ sagte sie endlich mit stockender Stimme und zuckenden Lippen. „Gott mit ihm, wenn er mich so verläßt ...“ Sie schlug die Augen nieder – wollte dann zu mir aufsehen, vermochte es aber nicht. Eine Weile stand sie noch und meisterte ihre Erregung, dann wandte sie sich plötzlich fort, stützte die Ellenbogen auf das Geländer und brach in Tränen aus. „Beruhigen Sie sich! Beruhigen Sie sich!“ suchte ich sie zu trösten, doch hatte ich beim Anblick ihres Kummers nicht mehr die Kraft, fortzufahren – und was sollte ich ihr denn auch sagen? „Suchen Sie nicht mich zu trösten,“ sagte sie weinend, „reden Sie nicht von ihm, sagen Sie nicht, daß er noch kommen wird, und es nicht wahr sei, daß er mich so grausam verlassen habe, so unmenschlich grausam, wie er es getan! Und warum, warum? Sollte denn wirklich etwas Schlechtes in meinem Brief gewesen sein, in diesem unseligen Brief? ...“ Erneutes Schluchzen erstickte ihre Stimme. Ich glaubte, mein Herz müsse brechen vor Mitleid. „Oh, wie unmenschlich grausam das ist!“ begann sie wieder. „Und keine Zeile, kein Wort! Wenn er doch wenigstens geantwortet hätte, geschrieben, daß er mich nicht brauche, daß er mich nicht wolle! Aber so – nicht eine Zeile, nicht ein Wort in den ganzen drei Tagen! Wie leicht es ihm fällt, mich zu kränken, ein armes schutzloses Mädchen zu verletzen, dessen einzige Schuld nur darin besteht, ihn zu lieben! Oh, was ich in diesen drei Tagen durchgemacht habe! Mein Gott! Mein Gott! Wenn ich denke, daß ich das erstemal ungerufen, ungebeten zu ihm gegangen bin, daß ich mich vor ihm erniedrigt habe, geweint, daß ich ihn um ein wenig, nur ein wenig Liebe gebeten ... Und jetzt das! ... Nein, wissen Sie,“ – sie wandte sich mir wieder zu und ihre dunklen Augen sprühten – „es ist ja nicht möglich! Es _kann_ doch nicht so sein! Das ist doch unmenschlich! Entweder habe ich mich getäuscht – oder Sie! Vielleicht hat er den Brief gar nicht erhalten? Vielleicht weiß er bis jetzt noch nichts von ihm? Anders ist es doch nicht möglich, urteilen Sie doch selbst, sagen Sie mir, um Gottes willen, erklären Sie mir – ich kann es nicht begreifen – wie kann man einen Menschen so barbarisch roh behandeln, wie er mich behandelt hat! Kein einziges Wort auf meinen Brief! Selbst mit dem unwürdigsten Menschen geht man doch mitleidiger um! Oder – oder sollte ihm jemand etwas über mich erzählt haben?“ wandte sie sich plötzlich an mich. „Wie? was meinen Sie?“ „Wissen Sie was, Nasstenka: ich werde morgen zu ihm gehen, in Ihrem Namen.“ „Und?“ „Und ich werde ihn einfach fragen und ihm alles erzählen.“ „Und dann?“ „Und Sie schreiben ihm einen Brief. Sagen Sie nicht nein, Nasstenka, sagen Sie nicht nein! Ich werde ihn zwingen, Ihre Handlungsweise zu achten, er soll alles erfahren, und wenn er ...“ „Nein, mein Freund, nein!“ fiel sie mir ins Wort. „Lassen Sie es gut sein. Von mir wird er weiter kein Wort hören, kein Wort. Ich kenne ihn nicht mehr, ich liebe ihn nicht mehr, ich werde ihn ... ver ... ges ... sen ...“ Sie sprach nicht weiter. „Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich! Setzen Sie sich hier auf die Bank, Nasstenka,“ redete ich ihr zu und führte sie ein paar Schritte weiter, auf die Bank zu ... „Ich bin ja ruhig. Schon gut. Das ist nun einmal so. Diese Tränen – die werden schon versiegen! Was glauben Sie denn – daß ich mich umbringen werde, mich etwa ertränken werde? ...“ Mein Herz war zum Zerspringen voll. Ich wollte sprechen, aber ich konnte nicht. „Hören Sie!“ fuhr sie fort und sie ergriff meine Hand. „Sagen Sie: Sie würden doch nicht so gehandelt haben? Sie würden doch nicht dem Mädchen, das selbst zu Ihnen gekommen ist, weil es sein schwaches dummes Herz nicht zu meistern verstand – mit einem Hohnlachen antworten? Sie würden sie doch sicherlich geschont haben? Sie würden sich doch sagen, daß sie allein stand? daß sie vom Leben noch nichts wußte und daß sie sich nicht in acht zu nehmen und vor der Liebe zu Ihnen zu bewahren verstand, und daß das Ganze nicht ihre Schuld ist ... daß sie nichts getan hat ... O mein Gott! mein Gott!“ „Nasstenka!“ rief ich, unfähig, meine Erregung noch langer zurückzuhalten, „Nasstenka, Sie martern mich! Sie zerreißen mein Herz, Sie töten mich, Nasstenka! Ich kann nicht länger schweigen! Ich muß endlich sprechen, muß es aussprechen, was hier aus meinem Herzen heraus muß.“ Während ich das sagte, erhob ich mich von der Bank. Sie nahm meine Hand und sah mich verwundert an. „Was ist mit Ihnen?“ fragte sie schließlich. „Lassen Sie mich alles sagen, Nasstenka!“ bat ich entschlossen. „Erschrecken Sie nicht, Nasstenka, was ich Ihnen jetzt sagen werde, ist alles Unsinn, ist unmöglich und dumm! Ich weiß, daß es sich niemals verwirklichen wird, aber ich kann nicht länger schweigen – bei allem, was Sie jetzt leiden, beschwöre ich Sie und bitte ich Sie, mir im voraus zu verzeihen! ...“ „Aber was, was ist es denn?“ Sie hatte schon aufgehört, zu weinen, und sah mich unverwandt an. In ihren erstaunten Augen lag eine seltsame Neugier. „Was haben Sie nur?!“ „Es ist ja unmöglich, Nasstenka, ich weiß es, aber ich – ich liebe Sie, Nasstenka! Das ist es! So, jetzt ist alles gesagt! ... Jetzt wissen Sie, ob Sie so zu mir sprechen dürfen, wie Sie es soeben taten, und auch, ob Sie das anhören dürfen, was ich Ihnen noch sagen will ...“ „Ja was ... was denn? ... Was ist denn dabei? Ich weiß es doch schon lange, daß Sie mich lieben, es schien mir nur immer, daß Sie mich bloß – so ... einfach irgendwie – liebhätten ... Ach Gott!“ „Anfangs war es auch einfach so, Nasstenka, jetzt aber, jetzt! ... mit mir ist es ebenso wie mit Ihnen, als Sie damals mit Ihrem Bündelchen zu ihm gingen. Nein, ich bin noch schlimmer daran, als Sie, Nasstenka, denn er liebte damals niemand. Sie aber lieben ...“ „Was sagen Sie mir da! Ich ... ich verstehe Sie nicht. Aber, hören Sie, warum denn das ... oder, nein, wozu denn das alles, und so plötzlich ... Gott! Was für Dummheiten ich rede! Aber Sie ...“ Nasstenka geriet vollends in Verwirrung, ihre Wangen färbten sich purpurn und sie sah zu Boden. „Was soll ich denn tun, Nasstenka, was soll ich denn? Ich bin schuld, ich habe da irgend etwas mißbraucht ... Oder nein! nein, Nasstenka, ich habe keine Schuld, Nasstenka. Ich fühle das, ich spüre es, denn mein Herz sagt mir, daß ich kein Unrecht tue, ich kann Sie doch damit nicht kränken oder gar beleidigen! Ich war Ihr Freund; nun, und auch jetzt bin ich Ihr Freund – ich habe nichts verraten und habe keine Treulosigkeit begangen. Da sehen Sie, da rollen mir die Tränen über die Wangen, Nasstenka. Mögen sie rollen, mögen sie – sie stören niemanden. Von selbst werden sie wieder versiegen, Nasstenka ...“ „Aber so setzen Sie sich doch, setzen Sie sich!“ Und sie wollte mich förmlich zwingen, mich hinzusetzen. „Ach, mein Gott!“ „Nein, Nasstenka, ich will nicht sitzen. Ich kann jetzt nicht mehr lange bleiben und Sie werden mich auch nicht wiedersehen: ich werde Ihnen alles sagen – und dann gehe ich. Sie hätten es nie erfahren, daß ich Sie liebe. Ich hätte mein Geheimnis zu bewahren gewußt und hätte nicht angefangen, Sie jetzt in dieser Stunde mit mir und meinem Eigennutz zu quälen. Nein! Aber ich – ich habe es doch nicht ausgehalten! Sie fingen an, davon zu sprechen, Sie sind schuld, Sie sind an allem schuld, ich aber bin unschuldig. Sie können mich nicht so von sich stoßen ...“ „Aber nein, nein, ich schicke Sie ja gar nicht fort, nein!“ beteuerte Nasstenka, und sie gab sich die größte Mühe, ihre Verwirrung zu verbergen. „Nicht? wirklich nicht? Und ich wollte schon von Ihnen fortlaufen. Ich werde auch fortgehen, nur muß ich vorher alles sagen, denn als Sie hier sprachen, als Sie hier weinten und vor mir standen mit Ihrer Qual, und das, weil ... nun, weil – ich werde es aussprechen, Nasstenka –, weil man Sie verschmäht, da fühlte ich, daß in meinem Herzen soviel Liebe für Sie ist, Nasstenka, soviel Liebe! ... Und es tat mir so bitter weh, daß ich Ihnen mit dieser Liebe nicht helfen konnte, daß mir das Herz darüber schier brechen wollte, und ich, ich ... konnte nicht mehr schweigen, ich mußte sprechen, Nasstenka, ich _mußte_ sprechen! ...“ „Ja, ja! schon gut! Sprechen Sie nur, sprechen Sie ruhig so zu mir!“ sagte Nasstenka plötzlich mit einer unerklärbaren Bewegung. „Es wird Sie vielleicht in Erstaunen setzen, daß ich Ihnen das sage, aber ... sprechen Sie nur! Ich werde es Ihnen nachher erklären. Ich werde Ihnen alles erzählen!“ „Ich tue Ihnen leid, Nasstenka, Sie haben einfach nur Mitleid mit mir, Kind! Nun! Was verloren ist, ist verloren. Was man gesagt hat, läßt sich nicht zurücknehmen. Nicht wahr? Nun also, Sie wissen jetzt alles. Dies wäre unser Ausgangspunkt. Nun gut: so weit wäre alles erledigt, jetzt hören Sie weiter. Als Sie hier saßen und weinten, da dachte ich bei mir, – ach, bitte, Nasstenka, lassen Sie mich sagen, was ich dachte! – ich dachte, daß Sie ... daß Sie da irgendwie ... nun, mit einem Wort: daß Sie auf irgendeine Weise aufgehört hätten, ihn zu lieben. Dann – das habe ich auch gestern schon gedacht, Nasstenka, und auch vorgestern schon – dann würde ich es unbedingt so gemacht haben, daß Sie mich liebgewonnen hätten. Sie sagten doch, Sie selbst haben es doch gesagt, daß Sie mich fast schon liebhätten. Nun, und – was nun weiter? Ja, das ist nun fast alles, was ich sagen wollte. Zu sagen bliebe nur noch, was dann wäre, wenn Sie mich nun wirklich liebgewönnen: nur das! Also hören Sie, meine Freundin – denn meine Freundin sind Sie deshalb doch nach wie vor –: ich bin natürlich nur ein einfacher Mensch, bin arm und gering, doch handelt es sich ja nicht darum – ich weiß nicht, ich rede immer von ganz anderen Dingen, aber das kommt nur von der Verwirrung, Nasstenka –, nur würde ich Sie so lieben, Nasstenka, so lieben, daß Sie, auch wenn Sie ihn, den ich nicht kenne, immer noch weiter lieben sollten, doch nie merken würden, daß meine Liebe Ihnen irgendwie lästig wäre. Sie würden bloß spüren, würden bloß in jeder Minute fühlen, daß neben Ihnen ein dankbares, oh, so dankbares Herz schlägt, ein heißes Herz, das für Sie ... Ach, Nasstenka, Nasstenka! Was haben Sie aus mir gemacht!!!“ „Aber so weinen Sie doch nicht, ich will nicht, daß Sie weinen!“ sagte Nasstenka und stand schnell von der Bank auf. „Gehen wir, kommen Sie, weinen Sie nicht, so weinen Sie doch nicht!“ Und sie wischte mit ihrem Tüchlein über meine Wangen. „So, gehen wir jetzt. Ich werde Ihnen vielleicht etwas sagen ... Wenn er mich schon verlassen und vergessen hat, so ... obschon ich ihn noch liebe – ich kann Ihnen das nicht verheimlichen und will Sie nicht täuschen – aber hören Sie, und dann antworten Sie mir. Wenn ich zum Beispiel Sie liebgewönne, das heißt, wenn ich nur ... Oh, mein Freund, mein guter Freund! wenn ich bedenke, wie ich Sie gekränkt und wie weh ich Ihnen getan haben muß, als ich Sie dafür lobte, daß Sie sich nicht in mich verliebt hätten! O Gott! Ja wie konnte ich nur das nicht voraussehen, wie konnte ich nur so dumm sein, wie ... aber ... Nun ... nun gut, ich habe mich entschlossen, und ich werde Ihnen alles sagen ...“ „Hören Sie, Nasstenka, wissen Sie was? Ich werde jetzt fortgehen von Ihnen, das wird das beste sein. Ich sehe doch, ich quäle Sie nur. Da machen Sie sich jetzt Gewissensbisse, weil Sie sich über mich lustig gemacht haben, ich will aber nicht, daß Sie außer Ihrem Leid ... Ich bin natürlich schuld daran, Nasstenka, also – leben Sie wohl!“ „Nein, bleiben Sie, hören Sie mich zuerst an: können Sie warten?“ „Warten? Worauf warten?“ „Ich liebe ihn; aber das wird vergehen, das muß vergehen, das kann gar nicht – nicht vergehen; es vergeht schon, ich fühle es schon jetzt ... Wer weiß, vielleicht wird es noch heute ganz vergehen, denn ich hasse ihn, weil er sich über mich lustig gemacht hat, während Sie hier mit mir geweint haben ... und Sie, Sie hätten mich auch nicht so verstoßen, wie er es getan, denn Sie lieben wirklich, er aber hat mich überhaupt nicht geliebt, – und dann weil ich Sie ... schließlich selbst liebe ... Ja, liebe! so liebe, wie Sie mich lieben. Ich habe es Ihnen doch schon einmal gesagt, Sie haben es schon gehört, – ich liebe Sie, weil Sie besser sind, als er, weil Sie anständiger sind, als er, weil ... weil er ...“ Ihre Stimme versagte vor Erregung, sie legte ihren Kopf an meine Schulter, beugte ihn aber immer mehr, bis er an meiner Brust lag: und dann begann sie bitterlich zu weinen. Ich tröstete, ich streichelte sie, ich redete ihr zu, aber sie vermochte sich nicht zu beherrschen; sie drückte meine Hand und stammelte unter Schluchzen: „Warten Sie, warten Sie noch ein wenig. Es wird gleich vergehen ... ich höre ja schon auf ... Ich will Ihnen nur sagen ... denken Sie nicht, daß diese Tränen ... das ist nur so – von der Schwäche, warten Sie, bis es vergeht ...“ Endlich versiegten die Tränen, sie richtete sich auf, wischte noch die letzten Tränenspuren von den Wangen und wir gingen. Ich wollte sprechen, aber sie bat mich immer wieder, ihr noch ein wenig Zeit zum Nachdenken zu lassen. So schwiegen wir denn ... Endlich nahm sie sich zusammen und begann: „Also hören Sie,“ sagte sie mit schwacher und unsicherer Stimme, aus der aber plötzlich ein eigenes Gefühl klang und mein Herz so traf, daß es wie in einem süßen Schmerz erzitterte. „Denken Sie nicht, daß ich unbeständig und leichtsinnig sei, oder daß ich so schnell und leicht vergessen könne und untreu werde ... Ich habe ihn ein ganzes Jahr geliebt und ich schwöre bei Gott, daß ich niemals, niemals auch nur mit einem Gedanken ihm untreu gewesen bin. Er aber hat das mißachtet: er hat sich mit mir nur einen Scherz erlaubt – Gott mit ihm! Aber es hat mich doch verletzt und mein Herz gekränkt. Ich ... ich liebe ihn nicht mehr, denn ich kann nur das lieben, was gütig ist, großmütig, was mich versteht und was anständig ist; denn ich selbst bin so, er aber ist meiner unwürdig, – nun, noch einmal, Gott mit ihm! Es ist besser so, als wenn ich später erfahren hätte, wie er eigentlich ist ... Also – jetzt hat das ein Ende! Und wer weiß, mein guter Freund,“ fuhr sie fort, indem sie mir die Hand drückte, „wer weiß, vielleicht war meine ganze Liebe nur eine Gefühlstäuschung oder nur Einbildung, vielleicht begann das alles mit ihm nur aus Unart, weil ich dieses eintönige Leben führte und ewig an Großmutters Kleid angesteckt war? Vielleicht ist es mir bestimmt, einen ganz anderen zu lieben, einen, der mehr Mitleid mit mir hat und ... und ... Nun, lassen wir das, reden wir nicht mehr davon,“ unterbrach sich Nasstenka stockend und atemlos vor Erregung, „ich wollte Ihnen nur sagen ... ich wollte Ihnen sagen, wenn Sie, obwohl ich ihn liebe – nein, geliebt habe, – wenn Sie mir trotzdem sagen ... Ich meine, wenn Sie fühlen und glauben ... Ihre Liebe sei so groß, daß sie die frühere aus meinem Herzen verdrängen könnte ... wenn Sie soviel Mitleid mit mir haben und mich jetzt nicht allein meinem Schicksal überlassen wollen, ohne Trost und Hoffnung, wenn Sie mich vielmehr immer so lieben wollen, wie Sie mich jetzt lieben, so – schwöre ich Ihnen, daß meine Dankbarkeit ... daß meine Liebe Ihrer Liebe wert sein wird ... Wollen Sie daraufhin meine Hand nehmen?“ „Nasstenka!!“ Ich glaube, Jauchzen und Tränen erstickten meine Stimme. „Nasstenka! ... Oh, Nasstenka! ...“ „Schon gut, schon gut! Nun lassen Sie es genug sein!“ sagte sie schnell, in augenscheinlicher Hast, und sich nur mit Mühe beherrschend. „Jetzt ist alles gesagt, nicht wahr? Ja? Nun, und Sie sind jetzt glücklich und ich bin glücklich, also wollen wir weiter kein Wort mehr davon sprechen! Warten Sie ... schnell, erbarmen Sie sich – sprechen Sie von irgend etwas anderem, um Gottes willen! ...“ „Ja, Nasstenka, ja! Genug davon, ich bin jetzt glücklich, ich ... Gut, Nasstenka, gut, sprechen wir von etwas anderem, schnell, schnell! ja! Ich bin bereit.“ Und wir wußten beide nicht, wovon wir sprechen sollten, wir lachten und weinten und sprachen tausend Worte ohne Gedanken und Zusammenhang. Bald gingen wir auf dem Trottoir auf und ab, bald über die Straße hinüber und blieben stehen, bald kehrten wir wieder um und gingen zum Kai: wir waren wie die Kinder ... „Ich lebe allein, Nasstenka,“ sagte ich einmal, „aber ... Nun, ich bin, versteht sich, Sie wissen es ja, Nasstenka, ich bin arm, ich bekomme jährlich nur tausendzweihundert Rubel, aber das macht ja nichts ...“ „Natürlich nicht, und Großmutter hat ihre Pension, so braucht sie von uns nichts. Wir müssen doch Großmutter zu uns nehmen.“ „Natürlich, die Großmutter müssen wir zu uns nehmen ... Aber meine Matrjona ...“ „Ach ja, und wir haben ja auch noch Fjokla!“ „Matrjona ist eine gute Seele, nur einen Fehler hat sie: sie hat nämlich gar kein Vorstellungsvermögen, Nasstenka, gar keines, Nasstenka, sie begreift nur, was sie aus Erfahrung kennt. Aber auch das schadet nichts ...“ „Natürlich nicht, die können beide zusammen leben. Nur müssen Sie schon morgen zu uns kommen.“ „Wie das? Zu Ihnen? Gut, ich bin bereit ...“ „Sie mieten einfach bei uns. Wir haben doch oben noch ein Zimmer: das steht jetzt leer. Wir hatten eine Mieterin, eine alte Frau, eine Adlige, aber sie ist ausgezogen und abgereist, und Großmama will nun, das weiß ich, einen jungen Mann zum Mieter haben. Ich fragte sie: ‚Warum denn gerade einen jungen Mann?‘ Darauf sagte sie: ‚Es ist doch immer besser, man ist auch sicherer, und ich bin schon alt. Du brauchst deshalb nicht zu glauben, Nasstenka, daß ich dich mit ihm verheiraten will.‘ Da wußte ich denn, daß sie es gerade deshalb will ...“ „Ach, Nasstenka! ...“ Und wir lachten beide. „Nun, genug, hören Sie auf. Aber wo wohnen Sie denn? Ich habe ganz vergessen, zu fragen.“ „Dort, in der Nähe der ... Brücke, im Hause eines gewissen Barannikoff.“ „Das ist so ein großes Haus, nicht?“ „Ja, ein großes Haus.“ „Ach, das kenne ich, das ist ein schönes Haus. Nur, wissen Sie, ziehen Sie aus und kommen Sie recht bald zu uns ...“ „Morgen, Nasstenka, gleich morgen! Ich schulde dort wohl noch ein wenig für die Wohnung, aber das schadet nichts ... Ich bekomme bald mein Gehalt ...“ „Wissen Sie, ich werde Stunden geben, um auch zu verdienen; ich werde noch dazulernen, was mir fehlt, und dann kann ich Unterricht geben ...“ „Natürlich, das wird vortrefflich gehen ... und ich werde bald Zulage erhalten, Nasstenka ...“ „Dann werden Sie also schon morgen unser Mieter sein!“ „Ja, und dann fahren wir in die Oper und hören den Barbier von Sevilla, denn der wird bald wieder gegeben werden.“ „Ja, fahren wir!“ sagte Nasstenka lachend, „oder nein, lieber nicht zum Barbier von Sevilla, sondern wenn etwas anderes gegeben wird ...“ „Gut, also zu einer anderen Aufführung. Natürlich, das wird auch viel besser sein, ich dachte im Augenblick nicht daran ...“ Und wir sprachen und gingen: alles war wie ein Rausch – als hielte uns ein Nebel umfangen und als wüßten wir selbst nicht, was mit uns geschah. Bald blieben wir stehen und sprachen lange Zeit stehend auf einem Fleck, bald gingen wir wieder und gingen Gott weiß wie weit, ohne es zu bemerken, immer unter Lachen und Weinen ... Bald wollte Nasstenka plötzlich unbedingt nach Haus und ich wagte nicht, sie zurückzuhalten und wir machten uns schon auf den Weg; nach einer Viertelstunde aber bemerkten wir plötzlich, daß wir wieder auf unserer Bank am Kai angelangt waren. Bald seufzte sie tief auf und ein Tränchen rollte über ihre Wange – ich sah sie erschrocken und verzagt an ... Da drückte sie mir schon von neuem die Hand und wir gingen abermals und sprachen weiter ... „Aber jetzt ist es Zeit, jetzt ist es wirklich Zeit, daß ich nach Hause gehe! Ich glaube, es ist schon sehr spät,“ sagte Nasstenka endlich entschlossen, „wir dürfen nicht gar zu kindisch sein!“ „Ja, Nasstenka, aber schlafen werde ich heute doch nicht mehr. Ich gehe überhaupt nicht nach Hause.“ „Ich werde, glaube ich, auch nicht einschlafen. Aber Sie müssen mich noch begleiten ...“ „Selbstverständlich!“ „Doch diesmal drehen wir nicht mehr um, hören Sie?“ „Nein, diesmal nicht ...“ „Ehrenwort? ... Denn einmal muß man doch wirklich nach Hause gehen!“ „Also: mein Ehrenwort, diesmal wird es ernst,“ sagte ich lachend ... „Nun, gehen wir!“ „Gehen wir.“ „Sehen Sie den Himmel, Nasstenka, schauen Sie hinauf! Morgen werden wir einen wundervollen Tag haben ... Wie blau der Himmel ist, und sehen Sie nur den Mond! Diese kleine gelbe Wolke wird ihn gleich verdecken ... sehen Sie, sehen Sie! ... Nein, sie gleitet am Rande vorüber ... Sehen Sie doch, sehen Sie! ...“ Doch Nasstenka sah weder die Wolke, noch den Himmel – sie stand wie erstarrt neben mir und dann schmiegte sie sich plötzlich mit einer seltsamen Verzagtheit an mich, immer fester, als suche sie Schutz, und ihre Hand erzitterte in meiner Hand. Ich sah sie an ... noch schwerer stützte sie sich auf mich. In diesem Augenblick ging ein junger Mann an uns vorüber – er sah uns scharf an, zögerte, blieb stehen und ging ein paar Schritte weiter. Mein Herz erbebte ... „Nasstenka, wer ist das?“ fragte ich leise. „Das ist _er_!“ flüsterte sie und klammerte sich zitternd an meinen Arm. Ich hielt mich kaum auf den Füßen. „Nasstenka! Nasstenka! Bist du es?“ erscholl es da plötzlich hinter uns und zugleich trat der junge Mann wieder ein paar Schritte näher ... Mein Gott, was klang aus diesem Ruf! Wie sie zusammenfuhr! Wie sie sich von mir losriß und ihm entgegeneilte! ... Ich stand und sah zu ihm hinüber, stand und sah ... Doch kaum hatte sie ihm die Hand gereicht, kaum hatte er sie in seine Arme geschlossen, da befreite sie sich schon von ihm und ehe ich mich dessen versah, stand sie wieder vor mir, umschlang mit beiden Armen fest meinen Hals und drückte mir einen heißen Kuß auf die Lippen. Dann, ohne mir ein Wort zu sagen, lief sie zu ihm zurück, erfaßte seine Hände und zog ihn fort. Lange stand ich und sah ihnen nach ... bald waren sie meinen Blicken entschwunden. Der Morgen. Meine Nächte endeten mit einem Morgen. Der Tag war unfreundlich: es regnete und die Tropfen schlugen in eintöniger Wehmut an meine Fensterscheiben; im Zimmer war es düster, wie gewöhnlich an Regentagen, und draußen trübe. Mein Kopf schmerzte, mich schwindelte und das Fieber einer Erkältung schlich durch meine Glieder. „Ein Brief, Herr, durch die Stadtpost, der Postbote hat ihn gebracht,“ sagte Matrjona. „Ein Brief! Von wem?“ „Ja, das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr, sehen Sie nach, vielleicht steht es drin, von wem er ist.“ Ich erbrach das Siegel. Der Brief war von ihr. „Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie mir!“ schrieb mir Nasstenka. „Auf den Knien bitte ich Sie, mir nicht böse zu sein! Ich habe Sie wie mich selbst getäuscht. Es war ein Traum, eine Täuschung ... Der Gedanke an Sie macht mich jetzt krank vor Qual. Verzeihen Sie, oh, verzeihen Sie mir! ... Beschuldigen Sie mich nicht, denn was ich für Sie empfand, empfinde ich auch jetzt noch: ich sagte Ihnen, ich würde Sie lieben, und ich liebe Sie auch jetzt, ja ich empfinde für Sie jetzt noch viel mehr, als Liebe. Gott, wenn ich Sie doch beide zugleich lieben könnte! Oh, wenn Sie und er doch ein Mensch wären! Gott sieht und weiß, was ich alles für Sie tun würde! Ich weiß, daß Sie nun schwer zu tragen haben und daß Sie traurig sind. Ich habe Sie gekränkt und habe Ihnen weh getan, aber Sie wissen doch – wenn man liebt, gedenkt man der Kränkung nicht lange. Sie aber lieben mich! Ich danke Ihnen! Ja! Ich danke Ihnen für diese Liebe. Denn in meiner Erinnerung wird sie mich durchs ganze Leben begleiten wie ein süßer Traum, den man auch nach dem Erwachen nimmer vergessen kann. Nein, nie werde ich vergessen, wie Sie mir so brüderlich Ihr Herz offenbarten und in Ihrer Güte für Ihr ganzes Herz mein krankes, verwundetes annahmen, um es mit Zartheit und Liebe zu pflegen und wieder gesund zu machen ... Wenn Sie mir verzeihen, wird die Erinnerung an Sie sich verklären durch das Gefühl ewiger Dankbarkeit, die in meiner Seele niemals erlöschen kann. Und diese Erinnerung werde ich heilig halten und nie vergessen, denn mein Herz ist treu. Es ist auch gestern nur zu dem zurückgekehrt, dem es von jeher gehörte. Wir werden uns wiedersehen, Sie werden zu uns kommen, Sie werden uns nicht verlassen, werden ewig unser Freund sein und mein Bruder ... Und wenn wir uns wiedersehen, dann geben Sie mir Ihre Hand – ja? Sie werden Sie mir entgegenstrecken, wenn Sie mir verziehen haben, nicht wahr? Sie lieben mich doch unverändert? Ja, lieben Sie mich, verlassen Sie mich nicht, denn jetzt liebe ich Sie so tief, weil ich Ihrer Liebe würdig sein will, weil ich sie verdienen will ... mein lieber Freund! In der nächsten Woche wird unsere Hochzeit sein. Er ist voll Liebe zu mir zurückgekehrt, er hat mich niemals vergessen ... Seien Sie nicht böse, daß ich von ihm geschrieben habe. Aber ich will mit ihm zu Ihnen kommen, und Sie werden ihn auch liebgewinnen, nicht wahr? So verzeihen Sie mir denn und vergessen Sie mich nicht und behalten Sie lieb Ihre Nasstenka.“ Lange las ich diesen Brief, las ihn immer wieder, und Tränen traten mir in die Augen; schließlich entfiel er meiner Hand und ich vergrub mein Gesicht in den Händen. „Nun, Herr, sehen Sie denn gar nichts,“ hörte ich nach einer Weile Matrjonas Stimme. „Was, Alte?“ „Nu, ich hab’ doch das Spinngewebe von überall runtergeholt, können jetzt heiraten, wenn Sie wollen, können Gäste einladen, wenn’s Ihnen einfällt, mir soll’s recht sein ...“ Ich sah sie an. Sie ist eine rüstige, noch _junge_ Alte, aber ich weiß nicht, weshalb ich sie plötzlich mit erloschenem Blick, mit tiefen Runzeln im Gesicht, alt und schwächlich vor mir zu sehen glaubte ... Ich weiß nicht, weshalb es mir plötzlich schien, daß auch mein Zimmer um ebensoviel Jahre älter geworden sei wie sie. Die Farbe der Wände sah ich verblichen, an der Zimmerdecke sah ich noch mehr Spinngewebe, als sich bisher dort angesammelt hatten. Ich weiß nicht, weshalb es mir, als ich durch das Fenster hinausblickte, schien, als ob das Haus gegenüber gleichfalls gealtert sei, trübseliger und baufälliger geworden, die Stukkatur von den Säulen abgebröckelt, die Karniese rissig und geschwärzt und die hellbraunen Wände fleckig und schmutzig. Vielleicht war der Sonnenstrahl daran schuld, der plötzlich durch die Wolken brach, um sich gleich wieder hinter einer noch dunkleren Regenwolke zu verstecken, so daß alles noch trüber, düsterer wurde ... Oder hatten meine Augen in meine Zukunft geschaut und etwas Ödes, Trauriges in ihr erblickt, etwa mich selbst, wie ich jetzt bin, nur um fünfzehn Jahre älter, in demselben Zimmer, ebenso einsam, mit derselben Matrjona, die in all den Jahren doch um nichts klüger geworden ist ...? Aber die Kränkung nicht verzeihen, Nasstenka, dein helles seliges Glück mit dunkeln Wolken trüben, dir Vorwürfe machen, damit dein Herz sich quäle und gräme und kummervoll poche, während es doch nichts soll als jauchzen vor Seligkeit, oder auch nur ein Blatt der zarten Blüten, die du zur Trauung mit ihm in deine braunen Locken flichst, mit rauher Hand berühren ... o nein, Nasstenka, das werde ich nie, nie! Möge dein Leben Glück sein und so hell und lieb, wie dein süßes Lächeln, und sei gesegnet für den Augenblick der Seligkeit und des Glücks, den du einem anderen einsamen, dankbaren Herzen gegeben hast! Mein Gott! Einen ganzen Augenblick der Seligkeit! Ja, ist dann das nicht genug für ein ganzes Menschenleben? ... Das junge Weib I. Ordynoff mußte sich eine neue Wohnung suchen, so ungern er es auch tat. Die Frau, bei der er bis dahin als Zimmermieter gelebt, eine arme bejahrte Beamtenwitwe, hatte sich durch unvorhergesehene Verhältnisse gezwungen gesehen, Petersburg zu verlassen, um in eine öde Provinz zu ihren Verwandten zu reisen, und zwar ganz plötzlich, noch vor Ablauf ihres Mietskontraktes. Der junge Mann, der das Recht hatte, bis zum Ersten des nächsten Monats in der Wohnung zu bleiben, dachte mit Bedauern an sein stilles Leben in den gewohnten vier Wänden und empfand ein ausgesprochenes Unbehagen bei dem Gedanken, dieses ihm lieb gewordene Zimmer nun verlassen zu müssen. Er war arm, die Wohnung übrigens für seine Verhältnisse ziemlich teuer: so nahm er denn schon am Tage nach der Abreise der Witwe kurz entschlossen seine Mütze und ging, um die Petersburger Straßen zu durchwandern, und dabei Ausschau zu halten nach Mietszetteln, die an den Haustüren angeschlagen waren, namentlich nach solchen an älteren und schlechteren Häusern und Mietskasernen, in denen er am ehesten Aussicht hatte, bei irgendwelchen armen Leuten ein Zimmer für sich zu finden. Er suchte schon lange und war mit seinen Gedanken anfangs auch gewissenhaft bei der Sache, doch nach und nach wurde seine Aufmerksamkeit von ganz anderen, ihm bis dahin völlig unbekannten Empfindungen abgelenkt. Er begann um sich zu blicken – zunächst nur flüchtig, wie aus Zerstreutheit, ohne sich etwas Bestimmtes dabei zu denken, bald jedoch aufmerksamer und schließlich mit ausgesprochener Neugier. Die vielen Menschen um ihn her, das ganze bewegte, rastlose, lärmende Straßenleben, all das Neue, das ihm dort begegnete, die ungewohnte Umgebung – dieses ganze kleinliche Leben und alltägliche Hasten nach Erwerb, das dem im tätigen Leben stehenden, stets beschäftigten Petersburger schon so zuwider ist, daß er bis an sein Lebensende stets nach Mitteln und Wegen sucht, um sich einmal irgendwo in ein warmes Nest zurückzuziehen, sich mit sich abzufinden und zufrieden geben zu können – diese ganze schale Prosa und Langeweile erweckte jetzt im Gegenteil in Ordynoff eine seltsam still-frohe, helle Empfindung. Seine bleichen Wangen röteten sich leicht, in seine Augen trat der Glanz einer neuen Hoffnung, und fast gierig begann er, die kalte, frische Luft einzuatmen. Es wurde ihm so wundervoll leicht zumute. Er hatte von jeher ein stilles, vollkommen einsames Leben geführt. Vor etwa drei Jahren, nachdem er sein Examen bestanden und in gewissem Sinne ein freier Mensch geworden war, hatte er eines Tages einen alten kleinen Herrn aufgesucht, den er bis dahin nur vom Hörensagen gekannt, und hatte lange gewartet, bis der galonierte Kammerdiener ihm die Ehre antat, ihn zum zweitenmal bei seinem Herrn zu melden. Dann trat Ordynoff in einen hohen, dämmerigen, öden Saal, einen jener langweiligen großen Räume, wie sie sich noch in einzelnen herrschaftlichen Häusern aus früherer Zeit erhalten haben, und erblickte in ihm einen silberhaarigen, mit Orden über und über behängten Greis, der seines Vaters ehemaliger Freund und Kollege im Staatsdienst gewesen war und der für ihn, den Sohn, die Vormundschaft übernommen hatte. Der Alte händigte ihm ein, was ihm noch zukam. Die Summe war nicht groß: der Rest einer einst wegen Schulden unter den Hammer gekommenen und noch von den Ureltern stammenden Erbschaft. Ordynoff nahm das Päckchen gleichgültig in Empfang, verabschiedete sich für immer und trat wieder auf die Straße. Es war ein Herbstabend, kalt und düster; der junge Mann war nachdenklich und eine seltsame, eigentlich ihm selbst unbewußte Traurigkeit überkam ihn. Seine Augen brannten; er fühlte, daß ihn fieberte und daß er sich erkältet hatte. Unterwegs rechnete er nach, daß er mit seinen Mitteln etwa zwei bis drei Jahre auskommen konnte, und wenn er hungerte, vielleicht sogar vier. Es dunkelte bereits, ein feiner Regen sprühte nieder und erfüllte die Luft mit einer Feuchtigkeit, die bis ins Mark drang. Er mietete im ersten besten Hause ein kleines Zimmer – eben bei jener armen Beamtenwitwe, die ihn jetzt im Stich gelassen hatte – und in einer Stunde war er auch schon eingezogen. Dort lebte er dann wie ein Einsiedler, ganz, als hätte er sich von aller Welt losgesagt. So kam es, daß er in zwei Jahren vollkommen weltfremd geworden war. Er wurde es, ohne es selbst zu merken; und vorläufig kam es ihm auch gar nicht zu Bewußtsein, daß es noch ein anderes Leben gab – ein rauschendes, lautes, wogendes, ewig wechselndes, ewig rufendes Leben, eines, das früher oder später doch nicht zu umgehen war. Natürlich wußte er, daß es ein solches Leben gab – wie hätte er das schließlich nicht wissen sollen! – aber er kannte es nicht und suchte es niemals auf. Schon von Kindheit an hatte er einsam gelebt; doch jetzt, nachdem er herangewachsen, hatte diese Einsamkeit ihre eigene, besondere Gestalt angenommen. Ihn verzehrte eine Leidenschaft, eine von jenen tiefen, unersättlichen Leidenschaften, die das ganze Leben eines Menschen erschöpfen, und die solchen Wesen, wie Ordynoff war, keinen auch noch so geringen Platz in der Sphäre des anderen Lebens gewähren. Diese seine Leidenschaft war – die Wissenschaft. Zunächst verzehrte sie seine Jugend, nahm ihm langsam mit ihrem berauschenden Gift den Schlaf und seine Seelenruhe, nahm ihm die gesunde Nahrung und die frische Luft, die niemals Gelegenheit hatte, in seine dumpfe Stube einzudringen: doch Ordynoff gewahrte alles das gar nicht in seinem Rausche, und wollte es auch nicht gewahren. Er war jung und vorläufig verlangte er nach nichts anderem. Die Leidenschaft machte ihn der äußeren Welt gegenüber völlig zum Kinde und für immer unfähig, gewisse gute Leute zum Platzmachen zu veranlassen, wenn das einmal erforderlich sein sollte, um für sich selbst ein Unterkommen zwischen ihnen zu verschaffen. Die Wissenschaft ist für manch einen ein Kapital, das er fest in Händen hat; die Leidenschaft Ordynoffs dagegen war wie eine gegen ihn selbst gerichtete Waffe. Es lebte in ihm mehr ein unbewußter Trieb, zu lernen, zu ergründen und Wissen in sich aufzunehmen, als daß es ganz bestimmte Gründe und Schlußfolgerungen waren, die ihn dazu veranlaßten, – und so war es bei ihm mit allem, gleichviel womit er sich nun beschäftigte, selbst mit den kleinsten Dingen. Schon als Kind hielt man ihn für einen Sonderling, da er seinen Kameraden so durchaus unähnlich war. Seine Eltern hatte er früh verloren, er erinnerte sich ihrer überhaupt nicht mehr; von den Kameraden aber mußte er wegen seines seltsamen menschenscheuen Wesens gar manche kindlichen Angriffe und Roheiten ertragen, was ihn dann erst recht menschenscheu und verschlossen machte. Doch seinen einsamen Beschäftigungen lag niemals, auch jetzt nicht, ein Plan oder gar ein System zugrunde: statt dessen leitete ihn einzig und allein die Begeisterung für die Idee, der Drang, das Fieber des Künstlers. Er schuf sich eine eigene Anschauung der Dinge; sie entwickelte und formte sich in ihm im Laufe von Jahren und in seiner Seele erstand allmählich, vorläufig noch dunkel und unklar, aber dabei doch schon wundervoll beseligend, seine neue Idee, die in einer ebenso neuen, gleichsam erleuchtenden Form Gestalt gewinnen sollte; und indem sie in dieser Gestalt aus ihm hervordrängte, peinigte, quälte, zerriß sie seine Seele. Noch fühlte er bloß schüchtern ihre Originalität, ihre Selbständigkeit und Richtigkeit, die ihm wie eine Offenbarung der Wahrheit erschien: mit allen seinen Kräften spürte er, daß es ihn zu der Schöpfung hindrängte, die sich vorerst freilich noch in ihm bildete, denn der Zeitpunkt der Gestaltung selbst war ja noch weit, vielleicht sehr weit entfernt, und vielleicht war diese Gestaltung überhaupt ganz unmöglich! Jetzt ging er also durch die Straßen wie ein weltfremder Einsiedler, der plötzlich aus seiner stummen Einöde in eine laut lärmende Stadt geraten ist. Alles erschien ihm neu und seltsam. Er war aber dieser Welt, die hier rings um ihn wogte und rauschte, so fremd geworden, daß er nicht einmal daran dachte, sich über seine sonderbaren Empfindungen zu wundern. Es war vielmehr, als bemerke er seine Weltfremdheit selbst gar nicht; im Gegenteil, es bemächtigte sich seiner sogar eine ganz eigenartig berauschende Empfindung der Freude, ähnlich dem Gefühl, wie es ein Hungriger empfindet, wenn man ihm nach langem Fasten wieder zu essen und zu trinken gibt – obschon es natürlich seltsam erscheinen muß, daß eine so geringfügige Änderung in der äußeren Lebenslage, wie ein Wohnungswechsel, einen Petersburger, und wäre er selbst ein Ordynoff, noch derart aus dem Geleise bringen konnte. Freilich ist zu berücksichtigen, daß er all diese Jahre hindurch fast nur in seinem Zimmer verbracht hatte, und jedenfalls niemals aus einem solchen oder ähnlichen Grunde wie heute, der unbedingte Aufmerksamkeit für die Umgebung erheischte, durch die Straßen der Stadt gegangen war. Er fand aber mehr und mehr Gefallen daran, in dieser Weise durch die Straßen zu schlendern. Alles sah er an, auf alles horchte er hin. Doch auch jetzt las er, seiner Art getreu, zwischen den Bildern, die sein Auge sah, wie in einem Buch zwischen den Zeilen. Alles machte seinen besonderen Eindruck auf ihn und kein Eindruck entging ihm; mit denkendem Blick sah er sich die Menschengesichter an, schaute er sich hinein in die Physiognomie der ganzen Umgebung, horchte er auf das Gesumm und Gerede und den Volkston, der bisweilen an sein Ohr schlug, – ganz als hätte er die Schlüsse, zu denen er in der Stille einsamer Nächte gekommen war, jetzt an allem, worauf er stieß, auf ihre Richtigkeit hin prüfen wollen. Und manche Kleinigkeit, die andere sonst wohl übersehen, fiel ihm auf und erweckte in ihm einen neuen Gedanken, und zum erstenmal im Leben ärgerte er sich darüber, daß er sich so lange in seiner Zelle lebendig begraben hatte. Hier geschah alles viel schneller: sein Pulsschlag war voll und belebt, sein Verstand, der bedrückenden Einsamkeit entrückt, in der seine Tätigkeit fast schon mehr ein bloßes Reagieren auf den angespannten und begeisterten Willen zur Arbeit geworden war, arbeitete jetzt ganz von selbst, schnell, und doch ruhig, sicher und kühn. Und überdies empfand er fast unbewußt das Verlangen, auch sich selbst hineinzuzwängen in dieses für ihn fremde Leben, das er bisher nicht gekannt, oder das er doch nur, richtiger gesagt, mit dem Instinkt des Künstlers geahnt hatte. Unwillkürlich begann sein Herz schneller zu schlagen, fast wie in einer Art Liebessehnsucht und glühenden Mitempfindens. Immer forschender sah er die Menschen an, die an ihm vorübergingen: sie waren ihm aber alle fremd und alle mit ihren eigenen Sorgen und Gedanken beschäftigt ... Da schwand allmählich auch Ordynoffs Sorglosigkeit: die Wirklichkeit trat näher an ihn heran, schon empfand er sie als lastenden Druck, und dann kam es über ihn wie das seltsam unwillkürliche Grauen einer großen Ehrfurcht. Er wurde müde unter der auf ihn eindringenden Flut der neuen Eindrücke, wie ein Kranker, der freudig zum erstenmal aufgestanden ist, doch bald erschöpft vom Licht und Glanz, betäubt und schwindlig von den lauten bunten Bildern des rastlosen Lebens und den wechselnden Eindrücken die Augen schließt und niedersinkt. Bang und traurig ward ihm zumute. Er fing an, für sich zu fürchten, für seine ganze Tätigkeit und sogar für die Zukunft. Ein neuer Gedanke raubte ihm die Ruhe: es kam ihm plötzlich in den Sinn, daß er ja doch sein ganzes Leben lang allein gewesen war, daß es keinen einzigen Menschen gab, der ihn liebhatte, und daß auch er niemals Gelegenheit gehabt, jemanden zu lieben. Einige der Vorübergehenden, mit denen er unter irgendeinen Vorwande ein Gespräch anzuknüpfen versuchte, sahen ihn verwundert und recht sonderbar an. Es schien ihm, daß sie ihn für einen Verrückten oder zum mindesten für irgendeinen Sonderling hielten – was er ja übrigens auch war. Er erinnerte sich, daß ihm eigentlich schon von Kindheit an alle ausgewichen waren und in seiner Gesellschaft sich unbehaglich gefühlt hatten, hauptsächlich wohl seines nachdenklichen und eigensinnigen Charakters wegen. Er wußte, daß das tiefe Mitempfinden, zu dem er wohl fähig war, doch niemals ein Gefühl der seelischen Gleichheit zwischen ihm und den anderen, oder auch dem einzelnen, dem sein Mitempfinden galt, aufkommen ließ, weshalb es von allen, eben von ihrem Gefühl aus, abgelehnt wurde: und das hatte ihn denn schon als Kind unter seinen Spielgefährten gequält. Jetzt fiel es ihm wieder ein und er sagte sich, daß ihn ja tatsächlich schon von jeher und zu jeder Zeit alle Menschen gemieden, und daß man sich niemals um seine Einsamkeit gekümmert hatte. In Gedanken versunken war er weitergegangen, ohne auf den Weg zu achten, bis er schließlich merkte, daß er sich in einem vom Zentrum weit entfernten Stadtteil befand. In einem billigen und menschenleeren Speisehaus ließ er sich etwas zu essen geben und machte sich dann wieder auf den Weg. Von neuem streifte er umher, ging durch viele Straßen, über Plätze, an grauen und gelben Zäunen entlang. Dann kamen graue windschiefe Häuschen, dann wieder riesenhafte Gebäude großer Fabriken, rot, rauchgeschwärzt, unförmig mit ragenden Schloten. Dabei war die Umgebung rings doch wie ausgestorben, so verlassen, öde, düster und feindselig – wenigstens machte sie auf Ordynoff diesen Eindruck. Es wurde Abend. Aus einer langen Gasse kam er auf einen freien Platz, an dem eine Pfarrkirche lag. In seiner Zerstreutheit ging er hinein. Der Gottesdienst war beendet und die Kirche schon ganz leer; nur zwei alte Weiber knieten noch nahe beim Eingang. Der Kirchendiener, ein altes Männlein mit silbergrauem Haar, löschte die Lichter. Die Strahlen der Abendsonne ergossen sich von oben durch ein schmales Fenster der Kuppel in einem Lichtstrom durch das Innere der Kirche bis zu einem der Nebenaltäre, den sie mit flimmerndem Glanz umwoben. Die Sonne sank und das Licht wurde immer schwächer, doch je mehr die tiefe Dämmerung unter den Gewölben dunkelte, um so leuchtender erglänzten an manchen Stellen die vergoldeten Heiligenbilder, vor denen die kleinen Flammen der Wachskerzen und Öllämpchen zuckend brannten. Ordynoff hatte sich in einer Anwandlung tiefer Schwermut, die wie ein bis dahin unterdrücktes Gefühl plötzlich aus der Vergessenheit hervorbrach und ihn nun überflutete, in der dunkelsten Ecke an die Mauer gelehnt und vergaß dort für einen Augenblick sich und alles um ihn her. Da vernahm er den dumpfen Schall von Schritten, die sich gemessen vom Eingang her näherten. Er sah auf und wandte den Kopf, kaum aber hatte er die beiden Eingetretenen erblickt, da bemächtigte sich seiner eine ganz unerklärliche Neugier. Es waren ein alter Mann und ein junges Weib. Der Alte war hoch von Wuchs, noch stramm und rüstig, aber hager und krankhaft bleich. Seinem Äußeren nach konnte man ihn für einen aus weiter Ferne angereisten Kaufmann halten. Er trug einen langen, schwarzen, mit Pelz gefütterten Mantel lose über die Schultern geworfen – offenbar ein Sonntagskleidungsstück – darunter einen gleichfalls langen, von oben bis unten zugeknöpften russischen Leibrock, wie er in alten Zeiten mit zur Nationaltracht gehörte. Um den Hals war nachlässig ein grellrotes Tuch geschlungen. In der Hand hatte er eine Pelzmütze. Ein langer schmaler, halb schon ergrauter Bart fiel auf seine Brust und unter den überhängenden buschigen Brauen glühte ein feuriger, fieberhaft erregter, dabei hochmütiger und scharfer Blick. Das junge Weib, das etwa zwanzig Jahre alt sein mochte, war bezaubernd schön. Sie trug einen hellblauen, mit kostbarem Fell verbrämten kleinen Pelz und um den Kopf ein weißes Atlastuch, das unter dem Kinn zu einem Knoten geschlungen war. Sie ging mit gesenktem Blick, und eine sinnende Hoheit, die seltsam ergreifend aus ihrer ganzen Erscheinung sprach, spiegelte sich in den zarten Linien ihrer kindlich reinen und frommen Züge wie in trauriger Verklärung wieder. Es war etwas Sonderbares an diesem unerwarteten Paar. Unter der mittleren Kuppel blieb der Alte stehen und verneigte sich nach allen vier Seiten, obschon die Kirche ganz leer war; dasselbe tat auch seine Begleiterin. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie zum großen Heiligenbilde der Mutter Gottes, der die Kirche geweiht war, und dessen mit Edelsteinen besetzte goldene Bekleidung und reiche Einfassung durch den Flammenschein der vielen Wachskerzen in blendendem Glanz erstrahlte. Der Kirchendiener, der sich noch hier und da etwas zu schaffen machte, grüßte den Alten mit Ehrerbietung; dieser erwiderte den Gruß jedoch nur mit einem kurzen Kopfnicken. Vor dem Heiligenbilde warf sich das junge Weib auf die Knie nieder und berührte mit der Stirn den Fußboden. Der Alte nahm das Ende des Schleiers, der am Fußgestell des Bildes hing, und breitete ihn über ihren Kopf. Dann vernahm man dumpfes Schluchzen in der Kirche. Ordynoff war betroffen durch die Feierlichkeit der Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, und erwartete mit Ungeduld die Beendigung ihres Gebets. Nach einer Weile erhob sie den Kopf und wieder fiel heller Lichtschein auf ihr entzückendes Gesicht. Ordynoff zuckte zusammen und trat unwillkürlich einen Schritt vor. Sie hatte ihre Hand bereits dem Alten gereicht und beide verließen langsam die Kirche. Tränen standen in ihren dunkelblauen Augen und als sie die Lider mit den langen dunklen Wimpern senkte, rollten diese Tränen über ihre zarten, bleichen Wangen. Auf ihren Lippen erschien flüchtig ein Lächeln, aber es verwischte in ihrem Antlitz doch nicht die Spuren einer fast kindlichen Angst und eines gleichsam mystischen Grauens. Zaghaft schmiegte sie sich an den Alten, und man sah, daß sie vor Erregung zitterte. Betroffen und im Grunde doch von einem ungeahnt süßen Gefühl, das wie ein Wille war, dazu getrieben, ging Ordynoff den beiden nach – und unter dem Rundbogen vor dem Portal überholte er sie. Der Alte sah ihn feindselig und streng an; auch sie sah nach ihm hin, jedoch so teilnahmslos und zerstreut, daß man ihr anmerkte, wie ein einziger und ganz anderer, fernliegender Gedanke sie beschäftigte. Ordynoff folgte ihnen in einiger Entfernung, ohne eigentlich selbst zu wissen, weshalb er es tat. Es war schon dunkel geworden. Der Alte und das junge Weib gingen in eine lange, breite, schmutzige Straße, die geradeaus zur Stadtgrenze führte – eine Straße der Buden, billigen Herbergen und Einkehrhöfe, in der die verschiedensten Kleinhändler ihre Läden hatten; dann bogen sie in eine schmale lange Sackgasse ein, die zwischen langen Zäunen zu einer großen vierstöckigen Mietskaserne führte, durch deren Höfe man aber wieder auf eine andere, gleichfalls große und belebte Straße gelangen konnte. Sie näherten sich bereits dem Hause. Plötzlich wandte sich der Alte zurück und sein Blick maß unwillig den jungen Mann, der ihnen so beharrlich folgte. Ordynoff blieb wie gebannt stehen; sein Tun erschien ihm selbst plötzlich sehr sonderbar. Da sah sich der Alte noch einmal nach ihm um, als wolle er sich überzeugen, ob sein drohender Blick die Wirkung nicht verfehlt habe; dann traten sie beide, er und das junge Weib, durch die schmale Fußpforte in den Hof des Hauses. Ordynoff kehrte um. Er befand sich in der unangenehmsten Stimmung und ärgerte sich über sich selbst: ganz umsonst hatte er einen Tag verloren, umsonst hatte er sich ermüdet und überdies noch diesen sowieso schon mißlungenen Tag mit einer großen Dummheit gekrönt, indem er eine ganz gewöhnliche Begegnung für eine Gott weiß wie besondere Begebenheit gehalten! Am Vormittage hatte er sich noch darüber geärgert, daß er so weltfremd und menschenscheu geworden war. Und doch war es nur sein Instinkt gewesen, der ihn veranlaßt hatte, alles zu fliehen, was ihn in seinem äußeren und dadurch vielleicht auch in seinem inneren Leben, das nun einmal ganz seiner Idee gehörte, hätte zerstreuen, beeinflussen und erschüttern können. Jetzt wenigstens gedachte er mit Wehmut und einer gewissen Reue seines ungestörten Winkels; dann erfaßte ihn eine seltsame Traurigkeit und Sorge befiel ihn beim Gedanken an seinen künftigen Verbleib: wo er ein neues Unterkommen finden könne und wie lange er wohl noch ein solches werde suchen müssen. Dabei aber verstimmte es ihn wieder am meisten, daß ihn solche Nichtigkeiten überhaupt so beschäftigen konnten. Ermüdet und unfähig, zwei Gedanken aneinanderzureihen, langte er endlich – es war mittlerweile schon ziemlich spät geworden – wieder bei seiner alten Wohnung an, und erst als er ins Haus trat, kam es ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß er fast daran vorübergegangen wäre, ohne es zu bemerken, noch zu erkennen. Verwundert über seine Zerstreutheit schüttelte er den Kopf, schrieb sie aber doch nur seiner Müdigkeit zu und trat, im letzten Stockwerk unter dem Dach angelangt, in sein kleines Zimmer. Er zündete ein Licht an, setzte sich und brütete gedankenverloren vor sich hin. Da stand plötzlich wieder das Bild des weinenden jungen Weibes greifbar deutlich vor seiner Seele. Und so glühend heiß, so tief und stark war der Eindruck, so voll Liebe hatte sein Geist diese sanften und frommen Züge in sich aufgenommen und gab seine Phantasie sie ihm jetzt wieder, diese Züge, aus denen mystische Rührung und Grauen, kindliche Demut und hingebender Glaube sprachen, daß seine Augen sich verdunkelten und gleichsam Feuer seine Glieder durchströmte. Doch die Erscheinung zerrann. Dem Rausch folgte dumpfes Grübeln, dann Ärger und schließlich eine gewisse ohnmächtige Wut. Ohne sich auszukleiden, wickelte er sich in die Decke und warf sich auf sein hartes Lager ... Ordynoff erwachte am anderen Morgen ziemlich spät und in unruhiger und niedergedrückter Stimmung. Er mußte sich nahezu Gewalt antun, um nur an seine nächstliegenden Sorgen zu denken. Als er sich dann wieder auf den Weg machte, schlug er die entgegengesetzte Richtung ein, um nur ja nicht den Weg zu gehen, den er tags zuvor gegangen war. Endlich fand er bei einem armen Deutschen, Spieß mit Namen, der mit seiner Tochter Tinchen eine Giebelstube bewohnte, ein Stübchen für seine Ansprüche. Spieß entfernte sogleich, nachdem er das Handgeld erhalten, den Mietszettel, fand Ordynoffs Liebe zur Wissenschaft, um derentwillen er ganz ungestört zu leben wünschte, sehr, sehr lobenswert und versprach zum Schluß, sich seiner recht annehmen zu wollen. Ordynoff erklärte, daß er gegen Abend einziehen werde. Als das erledigt war, wollte er sich wieder nach Haus begeben, änderte aber unterwegs seine Absicht und schlug einen anderen Weg ein: im Augenblick wurde auch seine Stimmung besser, obschon er innerlich selbst über sich lächeln mußte. Der Weg erschien ihm diesmal in seiner Ungeduld ungeheuer weit, wenigstens bedeutend weiter, als er gedacht. Endlich erreichte er die Kirche, in der er am vergangenen Abend gewesen war. Es wurde gerade die Messe gelesen. Er suchte sich einen Platz, von dem aus er fast alle Betenden sehen konnte: doch die, die er suchte, waren nicht darunter. Mit gerötetem Antlitz verließ er nach langem vergeblichem Warten die Kirche. Hartnäckig bemühte er sich, ein gewisses ungewolltes Gefühl in sich zu ersticken und zwang sich mit aller Gewalt, seine Gedanken nach seinem Willen zu lenken. Er wollte an ganz gewöhnliche Dinge denken, und da fiel ihm denn ein, daß es ja Zeit zum Mittagessen sei – und da er Hunger verspürte, ging er in dasselbe Speisehaus, in dem er tags zuvor eine Kleinigkeit genossen hatte. Dann streifte er wieder umher, ging durch unbekannte, aber belebte Straßen und dann wieder durch menschenleere Gassen, bis er sich schließlich in einer Gegend jenseits der Stadtgrenze fand, wo sich weit das herbstlich fahl gewordene Feld hinzog. Er wäre unversehens noch weiter gegangen, wenn ihn nicht die Stelle ringsum mit einem neuen, lange nicht mehr empfundenen Eindruck aus seiner Gedankenversunkenheit geweckt hätte. Es war ein trockener kalter Tag, wie sie nicht selten sind im Petersburger Oktober. Nicht allzu fern war eine Hütte zu sehen, und neben ihr zwei Heuschober. Ein kleines verhungertes Bauernpferd, dessen Rippen man fast zählen konnte, stand mit gesenktem Kopf und hängenden Lefzen, als dachte es über irgend etwas nach, abgeschirrt neben einer zweiräderigen Tarataika. Ein gewöhnlicher Hofhund, der in der Nähe eines zerbrochenen Wagenrades einen Knochen benagte, begann zu knurren, und ein etwa dreijähriger Bengel, der mit nichts weiter als einem Hemdchen bekleidet war, kratzte sich seinen weißblonden Lockenkopf und starrte verwundert den einsamen Städter an. Hinter der Hütte dehnten sich Gemüseplätze und Felder aus. Am Horizont zogen sich Streifen dunkler Wälder hin und drüber war der Himmel klar und blau. Von der anderen Seite aber zogen langsam trübe Schneewolken auf, die vereinzelte Wölkchen vor sich herschoben, als trieben sie eine Schar schwebender Zugvögel lautlos, ohne einen Schrei, ohne einen Flügelschlag, hoch oben am Himmel vorüber. Es war so ruhig und gleichsam feierlich schwermütig, alles erfüllt von einer verborgenen, atembeklemmenden Erwartung ... Ordynoff ging weiter und weiter, doch die Öde bedrückte ihn nur noch mehr. Er kehrte wieder um und ging zurück nach der Stadt, von wo jetzt fernes Kirchengeläut, das zum Abendgottesdienst rief, zu ihm drang. Er beschleunigte seine Schritte, und nach kurzer Zeit betrat er wieder die Kirche, die ihm seit dem gestrigen Tage so vertraut war. Die junge Unbekannte war schon da. Sie kniete nicht weit vom Eingang unter vielen anderen Betenden. Ordynoff drängte sich durch das eng beieinander stehende Volk, durch die Schar von Bettlern, alten zerlumpten Weibern, Kranken und Krüppeln, die alle bei der Kirchentür auf Almosen warteten, und kniete dicht neben ihr nieder. Seine Kleider berührten die ihrigen, er hörte ihr erregtes Atmen und das inbrünstig betende Flüstern ihrer Lippen. Wieder war ihr Antlitz von einem Gefühl hingebenden Glaubens durchgeistigt und wieder rannen Tränen aus ihren Augen und versiegten auf ihren glühenden Wangen, als hätten sie ein furchtbares Verbrechen von ihrer Seele abzuwaschen. An der Stelle, wo sie beide knieten, war es so gut wie ganz dunkel, nur hin und wieder, wenn die Flamme im Lämpchen vor dem nächsten Heiligenbilde im Winde aufflackerte, der durch eine geöffnete Zugklappe des schmalen Fensters strich, huschte zitternder Lichtschein über ihr Gesicht und jeder Zug desselben schnitt sich in das Gedächtnis des jungen Mannes ein, umflorte seinen Blick und bohrte sich unter unerträglicher Pein in sein Herz. Nur lag in der Qual zugleich auch eine trunkene Wonne, eine rasende Lust. Doch zuletzt ging dieser Zustand über seine Kraft. Er vermochte es nicht länger auszuhalten. Seine Brust erbebte vor Schmerz, und es war ihm, als verginge etwas in ihm vor unsagbar süßem Sehnsuchtsweh – ein tiefes Schluchzen erschütterte ihn plötzlich und er beugte seine heiße Stirn auf die kalten Fliesen der Kirche. Er fühlte nichts als den Schmerz in seinem Herzen, das in süßer Qual vergehen zu wollen schien. Es wäre schwer zu sagen, was diese seine aufs äußerste gesteigerte Eindrucksfähigkeit bewirkt hatte: ob sie unaufhaltsam, wie sie durchbrach, auf das qualvoll bedrückende, erlösungslose Schweigen der langen schlaflosen Nächte zurückzuführen war, als eine Folge des oft durchlebten Zustandes, in dem ein unbewußter Drang, eine unklare Sehnsucht und das herrisch ungeduldige, ringende Streben seines Geistes ihm das Herz mit einer unausgesprochenen Qual so überfüllt hatten, daß es nun an einem Punkt angelangt war, an dem es ihn unfehlbar zerrissen hätte, wenn es nicht eine Erlösung in ebendiesem Ausbruch gefunden. Oder war einfach nur die Zeit des Ausbruches gekommen, wie alles einmal kommt, was im natürlichen Verlauf der Dinge kommen muß – wie an einem drückend schwülen Sommertage der Himmel plötzlich dunkel wird und ein Gewitterregen unter Donner und Blitz zur Erde niederrauscht, um alles, was in der Sonnenglut zu vergehen droht, von Hitze und Durst zu erlösen, um in klaren Regentropfen an smaragdenen Zweigen hängen zu bleiben, das Gras niederzudrücken und die zarten Blumenkelche zur Erde zu biegen, auf daß dann bei den ersten Sonnenstrahlen alles sich wieder erhebe, um wie befreit von neuem zur Sonne zu streben und sieghaft seinen köstlichen frischen Duft zum Himmel emporzusenden in der Freude über das erneute Leben. Dieselbe berauschende Lebenswonne, die nach dem Gewitter die ganze Natur zu empfinden scheint, jedes Blatt, das noch feucht vom Regen glänzt, jeder Blütenkelch, der unter der Last der Tropfen sich geneigt hat und nun sich wieder zur Sonne aufrichtet – dasselbe Gefühl hatte auch Ordynoff ... Nur hätte er selbst nicht zu sagen vermocht, was mit ihm geschah: so wenig, so gar nicht war er sich seiner selbst bewußt. Deshalb bemerkte er auch nicht, wie der Gottesdienst zu Ende ging, und kam erst zu sich, als er, seiner Unbekannten folgend, sich abermals durch die Volksmenge drängte. Sie wurden immer wieder durch das hinausströmende Volk aufgehalten: dabei aber hatte sie ihn dann, beim Stehenbleiben und Warten, zum erstenmal bemerkt, hatte sich mit merklich wachsender Verwunderung wieder und wieder nach ihm umgesehen, und plötzlich, als seine Augen ihrem erstaunten hellen Blick begegneten, war sie errötet – ganz plötzlich wie in einem jähen Begreifen, das ihr die Glut ins Gesicht trieb. In demselben Augenblick aber tauchte auch schon die hohe Gestalt des Alten im Gedränge vor ihnen auf: und er nahm sie wortlos bei der Hand. Und wieder traf der Blick des Alten Ordynoff mit einem so gehässigen, boshaft spöttischen Ausdruck, daß Ordynoffs Herz plötzlich von einer ganz seltsamen rasenden Wut erfaßt wurde. In der Dunkelheit verlor er sie bald aus den Augen: er drängte sich erschrocken weiter durch die Menge, machte sich rücksichtslos Platz und trat aus der Kirche. Die Abendluft berührte ihn kalt, aber sie erfrischte ihn nicht: sie benahm ihm den Atem, beengte seine Brust und sein Herz begann langsam und stark zu schlagen, mit einer Wucht, als wolle es seine Brust zersprengen. Er suchte sie lange, mußte es aber dann doch aufgeben, da er sie nirgends mehr finden konnte: sie waren weder auf der Straße noch in der Sackgasse zu sehen. Doch zugleich entstand in ihm bereits ein Gedanke, der sich alsbald zu einem jener Pläne entwickelte, die zwar in der Regel mehr oder weniger wahnwitzig zu sein pflegen, deren Ausführung aber in solchen Fällen fast immer glänzend gelingt – ganz abgesehen davon, daß gerade diese unsinnigen Pläne am ehesten in die Tat umgesetzt werden, vernünftigere dagegen sehr oft nur Pläne bleiben. Ordynoff begab sich am nächsten Morgen gegen acht Uhr zu jenem Hause, trat von der Gasse aus durch das Tor und befand sich auf einem schmalen, schmutzigen Hinterhof. Der Hausknecht, der dort mit einem Spaten hantierte, sah von seiner Arbeit auf, stützte sich auf den Spatenstiel, musterte Ordynoff vom Kopf bis zu den Füßen und fragte schließlich, was er hier wünsche. Dieser Hausknecht war ein noch junger Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren, dabei von eigentümlich altväterischem Aussehen, klein, mit runzligem Gesicht und von offenbar tatarischer Abstammung. „Ich suche ein Zimmer,“ sagte Ordynoff ungeduldig. „Was für eins denn?“ fragte der Kerl spöttisch und sah ihn mit einer Miene an, als wisse er bereits um sein ganzes Vorhaben. „Ich will hier ein Zimmer mieten.“ „Im Vorderhaus gibt’s keins,“ versetzte der Tatar etwas rätselhaft. „Aber hier?“ „Hier auch nicht.“ Und damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. „Vielleicht gibt es doch einen Mieter, der mir eins abtreten würde?“ fragte Ordynoff und drückte dem Hausknecht ein Trinkgeld in die Hand. Der Tatar sah ihn an, steckte das Geld in die Tasche und machte sich dann wieder etwas mit seinem Spaten zu schaffen – erst nach einigem Schweigen erklärte er nochmals: „Nein, hier gibt’s keins.“ Der junge Mann hörte ihn aber nicht mehr: er ging bereits auf den halbverfaulten schwankenden Brettern, die über eine Pfütze führten, zum einzigen Eingang des Hinterhauses, zu einer Treppe, die ebenso schmutzig war, wie das ganze Haus schmutzig aussah, und deren unterste Stufe in einer zweiten Pfütze halbwegs versank. Unten, neben dem Eingang, wohnte ein armer Sargmacher, an dessen Werkstätte Ordynoff ohne zu fragen vorüberging, um auf der halbzerbrochenen gewundenen Treppe hinaufzusteigen. Im oberen Stockwerk angelangt, fand er, mehr tastend als sehend, eine schwere Tür, die einst mit Bastmatten beschlagen gewesen war, von denen jetzt jedoch nur noch wenig mehr als einzelne Stücke an ihr hafteten. Er drückte auf die Klinke und öffnete die Tür. Er hatte sich nicht geirrt. Vor ihm stand der Alte, den er in der Kirche gesehen, und blickte ihn mit äußerster Verwunderung starr an. „Was willst du?“ stieß er halblaut mit rauher Stimme hervor. „Haben Sie ein Zimmer zu vermieten?“ fragte Ordynoff, ohne eigentlich selbst zu wissen, was er sagte oder sagen wollte. Hinter dem Alten hatte er seine Unbekannte erblickt. Der Alte sagte nichts, er bemühte sich nur, die Tür zu schließen, um Ordynoff auf diese Weise hinauszudrängen. „Ja doch! – wir haben ein Zimmer!“ sagte da plötzlich das junge Weib mit freundlicher Stimme. Der Alte wandte sich nach ihr um. „Ich brauche nicht viel mehr als einen Winkel,“ sagte Ordynoff, indem er schnell eintrat und sich an das junge Weib wandte. Doch das Wort erstarb ihm auf den Lippen: etwas Seltsames spielte sich plötzlich vor seinen Augen ab, eine stumme und doch beredte Szene. Der Alte war so leichenblaß geworden, als würde er im Augenblick ohnmächtig zusammenbrechen, und sah mit einem bleischweren, unbeweglichen, durchdringenden Blick das junge Weib an. Auch sie erblaßte zunächst, dann aber stieg ihr mit einem Male jäh das Blut ins Gesicht und in ihren Augen blitzte etwas Seltsames auf. Ohne ein weiteres Wort führte sie Ordynoff in das Nebenzimmer. Die ganze Wohnung bestand aus einem einzigen, allerdings recht großen Zimmer, das durch zwei Scheidewände in drei Räume geteilt war. Aus dem ziemlich dunklen und schmalen Vorzimmer, in das man vom Flur aus trat, führte geradeaus eine Tür offenbar in das Schlafzimmer. Rechts von dieser führte eine andere Tür nach dem Zimmer, das vermietet werden sollte. Es war das ein schmaler, enger Raum, der durch die Scheidewand gewissermaßen an die zwei niedrigen Fenster angedrückt erschien. Überdies war er noch vollgepackt mit den verschiedensten Sachen, die nun einmal zu einem Haushalt gehören. Es war ärmlich und eng, aber doch nach Möglichkeit sauber. Die Einrichtung bestand aus einem einfachen ungestrichenen Tisch, zwei ebenso einfachen Stühlen und zwei Bettladen, die eine an der Scheidewand, die andere an der der Tür gegenüberliegenden Wand. Ein großes altertümliches Heiligenbild mit einer vergoldeten Strahlenkrone stand in der Ecke auf einem Winkelbrett und vor ihm brannte das Öllämpchen. Ein mächtiger russischer Ofen, an den sich die Scheidewand anschloß, stand zur Hälfte in diesem Zimmer, zur Hälfte im Vorzimmer. Eigentlich bedurfte es keiner Versicherung, daß diese Wohnung für drei erwachsene Menschen zu eng war. Sie begannen, das Notwendige zu besprechen, sprachen aber so verwirrt und zusammenhanglos, daß sie einander kaum verstanden. Ordynoff, der zwei Schritte von ihr entfernt stand, glaubte ihr Herz pochen zu hören: er sah, daß sie vor Erregung und anscheinend auch vor Angst zitterte. Schließlich verständigten sie sich doch irgendwie und die Sache ward abgeschlossen. Der junge Mann erklärte, daß er sogleich einziehen wolle, und blickte sich unwillkürlich nach dem Alten um. Der war zwar immer noch bleich, aber auf seinen Lippen lag bereits ein stilles, sogar nachdenkliches Lächeln, das jedoch schnell verschwand, als er Ordynoffs Blick begegnete: sofort runzelte er wieder finster die Stirn. „Hast du einen Paß?“ fragte er plötzlich mit lauter, rascher Stimme, indem er gleichzeitig schon die Tür zum Flur öffnete. Ordynoff bejahte die Frage, die ihn etwas stutzig machte. „Wer bist du?“ „Wassilij Ordynoff. Habe keine Anstellung. Lebe ganz für mich,“ antwortete er, ebenso kurz angebunden, wie der Alte in seiner rauhen Art. „Ich gleichfalls,“ versetzte der Alte. „Ich bin Ilja Murin, Kleinbürger. Genügt dir das? – Gut, dann geh!“ ... Innerhalb zweier Stunden war Ordynoff eingezogen, eigentlich selbst nicht weniger darüber verwundert, als es Herr Spieß und seine Tochter Tinchen waren, die nach vergeblichem Warten zu der Überzeugung kamen, daß der verschwundene Mieter sie nur habe betrügen wollen. Ordynoff freilich begriff selbst nicht, wie das alles so gekommen war, aber im Grunde wollte er es auch gar nicht begreifen. II. Sein Herz pochte so stark, daß er vor den Augen grüne Punkte tanzen sah, und hin und wieder erfaßte ihn ein Schwindel. Der Kopf tat ihm weh. Mechanisch machte er sich daran, sein geringes Hab und Gut auszupacken, entnahm einem Bündel, das seine Wäsche enthielt, das Notwendigste, schloß den Bücherkasten auf und begann die Bände und Schriften auf dem Tische zu ordnen. Bald aber entfiel auch diese Arbeit seinen Händen. Was er tun mochte – immer wieder erschien vor ihm das Bild des jungen Weibes, das vom ersten Augenblick an sein Herz mit so unlösbaren Banden gleichsam umkrampft hatte, – und so viel Glück war plötzlich in sein armes Leben geflutet, daß seine Gedanken wie in einem Rausch untergingen und sein Geist ganz wirr ward und er selbst nicht mehr wußte, was er wollte. Er nahm seinen Paß, um ihn dem Alten, dessen Mieter er nun geworden war, einzuhändigen – natürlich in der Hoffnung, bei der Gelegenheit sie zu sehen. Murin öffnete aber die Tür nur ein wenig, nahm den Paß in Empfang, nickte bloß und sagte „Gott mit dir!“, worauf er die Tür wieder schloß. Ein unangenehmes Gefühl überkam Ordynoff. Es wurde ihm, ohne daß er wußte warum, so schwer, diesen Alten anzusehen. In seinem Blick lag stets so etwas wie Verachtung und Bosheit. Doch der unangenehme Eindruck verwischte sich bald. Er lebte ja schon den dritten Tag wie in einem Wirbel, im Vergleich zu seinem früheren stillen Leben. Nur denken konnte er jetzt nicht, ja, er fürchtete sich förmlich davor. Alles hatte sich für ihn plötzlich verändert: er hatte die dunkle Empfindung, als sei sein Leben in zwei Hälften gebrochen und von seinen Gedanken galt kein einziger mehr der ersten Hälfte. Er empfand nur den einen Trieb, nur die eine Erwartung ... Ohne zu wissen, wie er das Benehmen des Alten deuten sollte, kehrte er in sein Zimmer zurück. Beim Ofen, in dem das Essen kochte, machte sich ein kleines, vor Alter krummes Weib zu schaffen. Sie war so schmutzig und zerlumpt gekleidet, daß man sie nur mit Widerwillen ansehen mochte. Dabei schien sie eine unglaublich böse Person zu sein. Das war die Dienstmagd. Ordynoff, der sie etwas vor sich hinbrummen hörte und ihren zahnlosen Unterkiefer sich bewegen sah, redete sie an, erhielt aber keine Antwort: es war, als schwiege sie vor lauter Bosheit. Endlich kam die Mittagsstunde. Die Alte nahm das Essen aus dem Ofen – Kohlsuppe, Pasteten und Rindfleisch – und brachte es in das andere Zimmer. Dasselbe Essen brachte sie auch Ordynoff. Nach dem Mittagessen trat in der Wohnung Totenstille ein. Ordynoff nahm ein Buch zur Hand, las Satz für Satz und ganze Seiten, wobei er sich bemühte, den Sinn des Gelesenen zu erfassen, der ihm aber selbst dann unklar blieb, wenn er das Gelesene nochmals las. Bald schon warf er das Buch beiseite und schickte sich an, seine Habseligkeiten noch weiter zu ordnen. Nur dauerte auch das nicht lange. Ungeduldig nahm er schließlich seine Mütze, seinen Mantel und ging auf die Straße. Ohne auf den Weg zu achten, ging er weiter und gab sich die größte Mühe, seine Gedanken zu sammeln und wenigstens etwas über seine neue Lage nachzudenken. Doch diese Willensanspannung wurde ihm förmlich zu einer Qual – als müsse er sich selbst foltern. Offenbar hatte er sich erkältet: bald erfaßte ihn ein Schüttelfrost, bald glühte er im Fieber und zuweilen begann sein Herz so stürmisch zu schlagen, daß er sich an eine Wand lehnen mußte. „Nein, lieber tot ... lieber tot sein,“ murmelten seine fieberheißen Lippen, ohne daß er es selbst recht wußte. So irrte er noch lange in den Straßen umher – bis er schließlich durch eine starke Empfindung von Kälte und Feuchtigkeit zum erstenmal bemerkte, daß es ja in Strömen regnete. Da besann er sich und kehrte zurück. Kurz bevor er das Haus erreichte, erblickte er den Hausknecht, der ihn, wie ihm schien, schon eine Weile stillstehend mit Neugier beobachtet hatte, seinen Weg nach Hause aber sogleich wieder fortsetzte, als er sich bemerkt sah. Ordynoff erreichte ihn mit ein paar Schritten. „Guten Tag. Übrigens, wie heißt du?“ „Hausknecht heiß’ ich,“ antwortete der Tatar grinsend. „Bist du schon lange hier Hausknecht?“ „Das will ich meinen.“ „Mein Wirt, der Murin, bei dem ich zur Miete wohne, ist doch Kleinbürger?“ „Das wird er wohl sein, wenn er’s gesagt hat.“ „Was treibt er denn eigentlich?“ „Treibt? – Er lebt. Ist krank, betet. Weiter nichts.“ „Ist das seine Frau?“ „Welche Frau?“ „Die bei ihm lebt?“ „Das wird sie wohl sein, wenn er’s gesagt hat. Leb wohl, Herr.“ Der Tatar berührte den Mützenschirm und trat in seinen Schlupfwinkel unter dem Torbogen. Ordynoff stieg die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Die Alte öffnete ihm zaudernd die Tür, wobei sie wieder etwas vor sich hinbrummte, klinkte die Tür hinter ihm ein und kroch langsam zurück auf den Ofen, auf dem sie den größten Teil ihres Lebens zuzubringen schien. Es dunkelte bereits. Ordynoff wollte sich von seinen Wirtsleuten Streichhölzer holen, doch die Tür zu ihrem Zimmer war verschlossen. Er rief die Alte an, die sich etwas aufgerichtet hatte und, auf den Ellbogen gestützt, vom Ofen herab ihn anglotzte, als dächte sie darüber nach, was er wohl dort an der verschlossenen Tür zu suchen habe. Schweigend warf sie ihm eine Streichholzschachtel zu. In sein Zimmer zurückgekehrt, nahm er wieder seine Bücher vor. Allmählich wurde ihm immer sonderbarer zumut und obschon er selbst nicht begriff, was in ihm vorging, setzte er sich auf die Bettlade, zu der er sich eigentümlich hingezogen fühlte. Und dann war ihm, als schliefe er ein. Mehrmals kam er wieder zu sich und erriet – es war ein Erraten und sich Merken in einem Zustande des Halbbewußtseins –, daß es gar kein Schlaf war, sondern nur eine krankhafte, qualvolle Benommenheit. Einmal hörte er, wie an die Tür gepocht und wie die Tür geöffnet wurde, und er sagte sich, daß es wohl die Wirtsleute waren, die von der Abendmesse zurückkehrten. Bei der Gelegenheit fiel ihm ein, daß er zu ihnen gehen mußte, um etwas zu holen. Er erhob sich denn auch und ging zu ihnen – d. h. es schien ihm, daß er sich erhob und ging – doch plötzlich stolperte er und fiel auf einen Haufen Holz, den die Alte mitten im Zimmer hingeworfen hatte. Von da an wußte er nichts mehr, und als er die Augen, wie ihm deuchte, nach langer, langer Zeit öffnete, gewahrte er mit Verwunderung, daß er noch auf derselben Lade lag, in den Kleidern, so wie er war, und daß ein berückend schönes junges Weib in zärtlicher Sorge sich über ihn beugte, mit einem stillen und mütterlichen Ausdruck im Blick. Er fühlte, wie ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben wurde und wie man ihn mit etwas Warmem zudeckte, und wie eine zarte Hand sich auf seine heiße Stirn legte. Er wollte danken, wollte diese Hand fassen, sie an seine heißen trockenen Lippen führen, mit Tränen benetzen und küssen, eine ganze Ewigkeit lang küssen. Er wollte so vieles sagen, aber was – das wußte er selbst nicht! Oh, sterben hätte er mögen, vergehen in diesem Augenblick! Doch seine Arme waren schwer wie Blei und ließen sich nicht bewegen. Es war ihm, als sei er stumm geworden und könne deshalb nicht sprechen, und daher fühlte er nur, wie sein Blut so durch alle Adern jagte, daß er glaubte, emporgehoben zu werden. Jemand gab ihm Wasser zu trinken ... Dann sank er wieder in tiefe Bewußtlosigkeit. Am anderen Morgen erwachte er gegen acht Uhr. Die Sonne schien in goldenen Strahlenbündeln durch das grünliche billige Glas der Fensterscheiben. Ein wundervolles Gefühl durchströmte alle Glieder des Kranken. Er war ruhig und still – war unsagbar glücklich. Er hatte die Empfindung, als sei jemand soeben an seinem Bette gewesen, ganz nah an seinem Kopfkissen. Und während er vollends zu sich kam, dachte er daran, sich nach diesem Menschen im Zimmer umzusehen, um seinen neuen Freund zu entdecken und zum erstenmal im Leben zu ihm zu sagen: „Guten Morgen, habe Dank, mein Guter!“ „Wie lange du schläfst?“ sagte da zärtlich eine Frauenstimme. Ordynoff sah sich um, jemand trat an sein Bett, und über ihn neigte sich mit einem freundlichen hellen Lächeln das Gesicht seiner schönen jungen Wirtin. „Wie krank du warst,“ fuhr sie fort, „aber nun laß es genug sein; wozu beraubst du dich der Freiheit! Die ist süßer als Brot, schöner als die liebe Sonne. Steh auf, mein Täubchen, steh auf!“ Ordynoff ergriff ihre Hand und drückte sie krampfhaft. Er glaubte, noch zu träumen. „Warte, ich habe dir Tee gemacht. Willst du Tee? Trink ihn, es wird dir davon besser werden. Ich bin selbst krank gewesen und weiß, wie das ist.“ „Ja, gib mir zu trinken,“ sagte Ordynoff mit noch matter Stimme und versuchte, aufzustehen, was ihm auch gelang. Er fühlte sich zwar noch recht schwach, wie zerschlagen, und ein Kältegefühl im Rücken ließ ihn erschauern. In seinem Herzen aber hatte er ein Gefühl, als werde er von den Sonnenstrahlen erwärmt und mit einer hellen, feiertäglichen Freude erfüllt. Er fühlte das Unsichtbare: daß für ihn ein neues, starkes Leben anbrach. Einen Augenblick war ihm, als erfasse ihn ein leichter Schwindel. „Du heißt doch Wassilij?“ fragte sie. „Oder habe ich mich verhört? Hat dich mein Herr nicht gestern so genannt?“ „Ja, Wassilij. Und wie heißt du?“ fragte Ordynoff, indem er sich ihr näherte, obschon er sich kaum auf den Füßen hielt. Plötzlich wankte er. Sie ergriff seine Hände und lachte. „Ich? – Katherina!“ Und sie sah ihn mit ihren strahlenden, blauen Augen an. Beide hielten sie sich an den Händen. „Du willst mir etwas sagen?“ fragte sie endlich. „Ich weiß nicht ...“ Ihm war, als trübe sich sein Blick. „Wie sonderbar du bist! Laß gut sein, du, mein Lieber, gräme dich nicht, sei nicht traurig – komm, setze dich hierher, hier scheint die Sonne, die wird dich erwärmen. So, nun sei ganz ruhig! Komme mir nicht nach,“ fügte sie hinzu, als sie sah, daß der junge Mann eine Bewegung machte, als wolle er sie zurückhalten – „ich werde gleich wieder bei dir sein, da wirst du mich sehen können, soviel du nur willst!“ Sie kam denn auch sogleich wieder, brachte ihm den Tee, den sie auf den Tisch stellte, und setzte sich ihm gegenüber. „Da, nun trinke! – Wie, schmerzt dir der Kopf noch?“ „Nein, jetzt schmerzt er nicht mehr,“ sagte Ordynoff, „oder ich weiß nicht, vielleicht schmerzt er auch ... ich will nicht ... schon gut, schon gut! ... Ich weiß nicht, was mit mir ist ...“ stieß er unter Herzklopfen hervor, und er suchte ihre Hand. „Bleibe hier, geh nicht fort von mir, gib ... gib mir wieder deine Hand ... Vor meinen Augen dunkelt es ... In dir sehe ich meine Sonne,“ sagte er, als risse er jedes Wort aus seinem Herzen, und es war doch, als empfinde er schon Seligkeit, wenn er zu ihr nur sprechen konnte. Heiß stieg es in ihm auf und schnürte ihm die Kehle zusammen – bis die Spannung sich plötzlich in einem dumpfen, erschütternden Schluchzen entlud. „Du Armer! Du hast wohl noch nie mit guten Menschen gelebt? Bist ganz allein und einsam in der Welt? Hast du gar keine Verwandten?“ „Niemand, ich bin ganz allein ... laß, was tut das! Mir ist jetzt besser ... so ... wohl!“ Es war, als phantasiere er. Das Zimmer schien sich um ihn zu drehen. „Auch ich habe jahrelang keine Menschen gesehn ... Du siehst mich so an ...“ sagte sie plötzlich nach minutenlangem Schweigen und stockte ... „Was ... wie denn?“ „So, als wärmten dich meine Augen! Weißt du, wenn man jemand so liebt ... Ich habe dich doch schon bei deinen ersten Worten in mein Herz geschlossen. Wenn du krank werden solltest, werde ich dich pflegen. Aber du darfst nicht wieder krank werden, nein! Wenn du aber wieder ganz gesund bist, dann wollen wir wie Bruder und Schwester leben, ja? Willst du? Es ist doch schwer, eine Schwester zu finden, wenn Gott einem keine Geschwister gegeben hat.“ „Wer bist du? Woher kommst du?“ stammelte Ordynoff mit matter Stimme. „Oh, nicht hier ist meine Heimat ... aber was geht dich das an? Weißt du, die Leute erzählen, wie zwölf Brüder in einem dunklen Walde lebten und wie in dem Walde ein schönes Mädchen sich verirrte. Und sie kam zu den zwölf Brüdern und machte Ordnung im Hause, und säuberte alles, und was sie tat, tat sie mit Liebe. Als nun die Brüder zurückkehrten, sahen sie, daß ein Schwesterchen den Tag über bei ihnen gewesen war, und sie riefen sie und baten sie, doch bei ihnen zu bleiben. Und da kam sie denn auch und blieb bei ihnen. Und die Brüder nannten sie ihr Schwesterchen und ließen ihr alle Freiheit und allen gehörte sie gleich an. Kennst du das Märchen?“ „Ich kenne es,“ sagte Ordynoff leise. „Schön ist es doch zu leben. Sag, bist du froh, daß du lebst?“ „Ja – ja! eine Ewigkeit leben ... lange leben!“ phantasierte Ordynoff. „Ich weiß nicht,“ meinte Katherina nachdenklich, „ich würde doch auch den Tod nicht missen wollen. Ob es gut ist, zu leben? – ja, zu lieben, und gute Menschen liebzuhaben, ja ... Sieh, da bist du aber wieder bleich geworden ...“ „Ja, mich schwindelt ...“ „Wart, ich bringe dir meine Kissen und Decken, und werde dir das Bett schön aufmachen. Dann wird dir von mir träumen und das Übel wird von dir weichen. Unsere Alte ist auch krank ...“ Und schon während sie sprach, machte sie das Bett zurecht, wobei sie ab und zu über die Schulter nach Ordynoff hinüberblickte. „Wie viele Bücher du hast!“ sagte sie, als sie nach beendeter Arbeit den Koffer ein wenig abrückte. Dann brachte sie die Decken und trat zu ihm, stützte ihn mit dem rechten Arm und führte ihn zum Bett, auf dem sie ihm die Kissen zurechtrückte, um ihn dann zuzudecken. „Man sagt, Bücher verdürben die Menschen,“ fuhr sie fort und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Liest du gern in Büchern?“ „Ja,“ antwortete Ordynoff, selbst im Zweifel darüber, ob er schlief oder wachte. Und wie um sich zu versichern, daß es kein Traum war, suchte er Katherinas Hand und preßte sie in der seinen. „Mein Herr hat viele Bücher: solche!“ – sie beschrieb mit der Linken ein großes Format – „er sagt, es seien heilige Bücher. Und er liest mir aus ihnen immer vor. Ich werde sie dir später zeigen. Soll ich dir erzählen, was er mir aus ihnen vorliest?“ „Erzähle,“ flüsterte Ordynoff, ohne den Blick von ihr losreißen zu können. „Betest du gern?“ fragte sie wieder nach kurzem Schweigen. „Weißt du was? – ich fürchte, ich fürchte immer ...“ Sie sprach es nicht aus, und wie es schien, dachte sie über irgend etwas nach. Ordynoff führte ihre Hand an seine Lippen. „Was küßt du meine Hand?“ Ihre Wangen erröteten leicht. Und dann lachte sie: „Ach nun, da! – küsse sie nur!“ und sie hielt ihm beide Hände hin. Dann befreite sie die eine Hand und legte sie auf seine heiße Stirn, und plötzlich – streichelte sie ihn und dann glättete sie sein Haar, und dabei errötete sie immer mehr. Endlich kniete sie neben seinem Bett nieder und lehnte ihre Wange an seine Wange: er spürte den feuchtwarmen Hauch ihres Atems ... Plötzlich fühlte Ordynoff, daß heiße Tränen über seine Wange rollten – sie weinte. Er wollte etwas sagen, denken, wurde aber immer schwächer, immer schwächer ... er konnte kein Glied mehr rühren. Da stieß jemand an die Tür und die Klinke klapperte. Ordynoff hörte nur noch, wie der Alte, sein Wirt, eintrat. Und darauf fühlte er, wie Katherina sich erhob, übrigens ganz langsam, ohne jeden Schreck, fühlte, wie sie beim Weggehen das Zeichen des Kreuzes über ihm machte. Er lag mit geschlossenen Augen. Plötzlich brannte ein heißer langer Kuß auf seinen Lippen: der fuhr ihm wie ein Dolchstoß ins Herz. Er wollte aufschreien, verlor aber die Besinnung ... Damit begann für ihn ein sonderbarer Zustand, ein Traumleben, wie es nur Krankheit und Fieber verursachen können. Es kamen Augenblicke, in denen es ihm in einer Art unklaren Bewußtseins schien, daß er verurteilt sei, in einem langen, endlosen Traum voll seltsamer Aufregungen, Kämpfe und Leiden zu leben. Empört und entsetzt suchte er sich aufzulehnen gegen dieses Fatum, das ihn knechten wollte, doch im Augenblick des heißesten, verzweiflungsvollsten Kampfes fühlte er, wie ihn plötzlich eine andere feindliche Kraft überfiel und niederrang, und dabei empfand er mit jeder Fiber, wie er von neuem die Besinnung verlor und wie wieder undurchdringliches, bodenloses Dunkel sich vor ihm auftat, und er glaubte sogar selbst den Schrei der Qual und Verzweiflung zu hören, mit dem er in diesen offenen Schlund versank. Dann aber kamen wieder andere Augenblicke eines kaum zu ertragenden, überwältigenden Glücks, wie man es nur selten empfindet: Augenblicke, in denen die Lebenskraft im ganzen Menschen sich krankhaft steigert und der Mensch sich wie in einer höheren Sphäre befindet, wo alles Vergangene sich klärt und in allem Zusammenhang offenbart, wo die kurze Gegenwart mit ihrem Licht ein klingendes, tönendes Triumph- und Freudengefühl auslöst und die unbekannte Zukunft wie ein Traum im Wachen vor einem liegt, und man nicht weiß, woher sich unsagbare Hoffnung wie erquickender Tau auf die Seele legt, und aufschreien möchte vor lauter Seligkeit, während man doch fühlt, wie schwach und hilflos das Fleisch vor dieser Wucht der Eindrücke ist, und der Lebensfaden, der ins Vergangene zurückreicht, zerreißt und das neue Leben wie ein Leben nach einer Auferstehung vor uns erscheint ... Dann schwand ihm wieder das Bewußtsein und eine Art Halbschlaf umfing ihn, in dem er alles, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, nochmals durchlebte und das Gesehene, verschwommenen Nebelbildern gleich, in wirrer, hastend drängender Folge an seinem geistigen Auge vorüberzog. Es erschien ihm dabei in diesen Visionen alles ganz anders, seltsam und rätselhaft. Dann wieder vergaß er alles jüngst Geschehene und wunderte sich, daß er nicht mehr in seiner früheren Wohnung bei seiner alten Wirtin war. Er konnte es sich nicht erklären, warum die alte gute Frau zu seinem Ofen kam, in dem noch die letzten Kohlen glühten – er glaubte noch den schwachen, zitternden Widerschein der verlöschenden Glut an der Wand zu sehen – und warum sie nicht, bevor sie die Ofentür schloß, ihre hageren alten Hände am Feuerschein wärmte, wie sie es sonst immer getan, stets nach alter Leute Art vor sich hinmurmelnd, ab und zu mit einem Blick nach ihrem sonderbaren Pensionär, den sie für mindestens „nicht ganz richtig“ hielt: von diesem ewigen Sitzen „hinter den Büchern“, wie sie meinte. Dann wieder fiel es ihm ein, daß er ja umgezogen war, aus welchem Grunde konnte er sich freilich nicht mehr entsinnen, obschon sein ganzer Geist ausströmen wollte in einen ewigen, ununterbrochen empfundenen, unbezähmbaren Drang ... Doch wohin, wozu es ihn drängte, was die Ursache solcher Qual war, und wer diesen unerträglichen Feuerbrand, der sein Blut zu verzehren schien, in seine Adern geschleudert – das wußte er wieder nicht und konnte sich auch nicht darauf besinnen. Oft griff er gierig nach einem Schatten, oft glaubte er, leichte Schritte in seinem Zimmer zu vernehmen, Schritte, die sich seinem Lager näherten, und eine süße, weiche Stimme zärtliche Worte flüstern zu hören; ihm war, als spüre er feuchtwarmen Atem wie einen Hauch über sein Gesicht gleiten, und ein herrliches Gefühl der Liebe erschütterte ihn tief im Innersten, daß seine Seele erbebte. Und heiße Tränen fielen auf seine glühenden Wangen und plötzlich drückte sich weich und verlangend ein Kuß auf seine Lippen: da war es, als verginge sein Leben vor brennender unauslöschlicher Pein: es schien ihm, als stehe das ganze Sein, die ganze Welt still, als stürbe sie für Jahrhunderte rings um ihn, und über alles sinke lange, tausendjährige Nacht ... Dann war es ihm wieder, als erlebe er nochmals die sorglosen Jahre seiner ersten Kindheit, ja er glaubte sogar, das Landhaus zu sehen, in dem er geboren war, und die saftigen Wiesen und Auen, auf denen er als kleiner Junge umhergelaufen und vielleicht Blumen gepflückt hatte. Wenigstens glaubte er, alles dies zu sehen, – bis er plötzlich eine Gestalt auftauchen sah, deren Anblick ihn mit einem mehr als kindlichen Entsetzen erfüllte und das erste schleichende Gift von Leid und Qual und Tränen in sein Leben brachte. Es war ihm, als habe der fremde Alte sein ganzes zukünftiges Leben in seiner Macht, doch vermochte er trotz seines Entsetzens nicht, den Blick von ihm abzuwenden, und der Alte folgte ihm überall hin: er lauerte hinter jedem Baum und Strauch hervor, nickte ihm grinsend zu und spottete seiner und neckte ihn und verwandelte sich in jedes Spielzeug und saß plötzlich wie ein Gnomenkopf auf dem Halse seines Steckenpferdchens und wandte sich grinsend und Gesichter schneidend immer wieder nach ihm um. Und in der Schule saß er zwischen den Schülern, oder versteckte sich unter der Bank. Oder der Deckel eines seiner Bücher hob sich um Fingerbreite und aus dem Dunkel unter dem Deckel sahen ihn die boshaften Augen heimtückisch an. Schlief er, so setzte sich der scheußliche Geist an sein Bett und verscheuchte die süßen Kinderträume und erzählte flüsternd nächtelang ein wundersames Märchen, von dem er zwar nichts verstand, so angestrengt er auch lauschen mochte, das aber nichtsdestoweniger sein Kinderherz mit Grauen und einer nicht mehr kindlichen Leidenschaft peinigte. Und der böse Alte erzählte flüsternd weiter, bis eine dumpfe Betäubung seine Sinne lähmte und er schließlich wieder ohnmächtig wurde. Und dann, mit einem Male, war es ihm, als erwache er, und wieder begann ein seltsames Zusammenspiel von halbem Bewußtsein und halbem Traum: er erwachte als erwachsener Mensch, und Bilder des jüngst Erlebten umgaukelten ihn. Er wußte, wo er sich im Augenblick befand, wußte, daß er einsam und weltfremd war, einsam unter fremden, verdächtigen Leuten, die – hier begann wieder ein Traum – in sein Zimmer schlichen und in den dunklen Winkeln flüsterten und der alten Frau zunickten, die wieder am Ofen hockte und ihre hageren alten Hände am Feuer wärmte und ihnen gleichfalls zunickend auf das Bett wies, in dem er lag. Er fühlte sich verwirrt, erregt: er wollte wissen, wer diese Leute waren, was sie hier wollten und warum er sich selbst in diesem Zimmer befand, und da kam es denn wie ein Begreifen über ihn, daß er in so etwas wie eine Räuberhöhle geraten sei, verlockt durch irgendeine ihm bis dahin unbekannte, zwingende Macht, ohne sich vorher die Hausbewohner und namentlich seine Wirtsleute näher anzusehen. Die Ungewißheit peinigte ihn und sein Argwohn wuchs – und da begann wieder in der nächtlichen Dunkelheit das flüsternd erzählte Märchen, doch nicht der heimtückische Alte erzählte es jetzt, sondern eine kleine fremde Greisin, die es, vor dem Ofen hockend, im zitternden Feuerschein der erlöschenden Glut leise, leise vor sich hinflüsterte, während ihr alter Kopf mit dem Silberhaar dazu nickte. Aber schon stiegen neue Schreckbilder vor ihm auf: das geflüsterte Märchen, das er kaum hörte und noch weniger verstand, wurde zu Gestalten und Gesichtern, und er gewahrte mit Schrecken, daß alles, was er je in seinem Leben erlebt hatte, selbst alle seine Gedanken und Träume und was er in Büchern gelesen und vieles, was er schon längst vergessen hatte – daß alles wieder lebendig wurde, in riesenhaften Gebilden sich vor ihm erhob, durcheinanderschob, ihn umringte, umtanzte: vor seinen Augen taten sich Zaubergärten auf, er sah ganze Städte erstehen und wieder einstürzen, er sah unübersehbare Friedhöfe, deren Gräber sich auftaten und ihre Leichen zu ihm entsandten, und die Leichen lebten – er sah ganze Rassen und Völker kommen, wachsen und vor seinen Augen aussterben, und er sah schließlich jeden seiner Gedanken, kaum daß er ihn zu denken begann, schon in leibhaftig greifbarer Form vor seinen Augen sich verwirklichen – sein Denken war nicht mehr rein geistige Vorstellung und Verbindung von Begriffen, sondern Schöpfung, Schöpfung ganzer Welten, Schöpfung ganzer Scharen von Wesen – und er sah sich selbst gleich einem Stäubchen getragen in diesem unendlichen unbegrenzten Weltall, aus dem es kein Entrinnen gab, keine Flucht an irgendeiner Grenze. Und er überschaute alles und sah, wie dieses ganze Leben durch seine empörende Tyrannei ihn bedrückte und knechtete und mit ewiger, unendlicher Ironie verfolgte. Er fühlte, wie er starb und in Staub und Asche zerfiel, ohne Auferstehung, auf ewig starb; er wollte fliehen – aber es gab keinen Winkel im ganzen All, wo er sich hätte verbergen können. Da packte ihn die Wut der Verzweiflung, er riß alle seine Kräfte zusammen, mit einem wahnsinnigen Schrei, wie ihm schien, und – erwachte. Sein ganzer Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt. Im Zimmer herrschte Totenstille: es war tiefe Nacht. Und doch war ihm, als vernehme er immer noch irgendwoher die Erzählung des ihm unverständlichen wundersamen Märchens, als erzähle eine heisere Stimme etwas ihm scheinbar Bekanntes: von dunklen Wäldern und tollkühnen Räubern, von dem verwegenen Häuptling einer Bande, ganz als wäre von Stenka Rasin selbst, dem Kosakenhelden, die Rede, und dann von heiteren Kumpanen und sorglosen Vagabunden, und von einer jungen Schönheit und von dem Mütterchen Wolga. War das nicht ein Märchen? Hörte er es nicht im Wachen? Wohl eine ganze Stunde lag er mit offenen Augen in peinvoller Erstarrung, ohne ein Glied zu rühren. Endlich versuchte er, sich vorsichtig aufzurichten, und mit Freude merkte er, daß die grausame Folter seine Kraft nicht ganz gebrochen hatte. Das Fieber mit seinen Visionen war gewichen, jetzt begann für ihn wieder die Wirklichkeit. Er gewahrte, daß er noch so angekleidet war, wie während seines Gesprächs mit Katherina: es konnte folglich noch nicht gar so lange her sein, daß sie ihn verlassen hatte. Eine jähe Entschlossenheit durchströmte ihn und stählte seine Kraft. Wie er die dünne Scheidewand betastete, stieß seine Hand an einen großen Nagel, den man dort zu irgendeinem Zweck eingeschlagen hatte. Er erfaßte ihn und richtete sich auf, wobei er eine feine Spalte zwischen den dünnen Brettern der Scheidewand entdeckte, durch die ein kaum bemerkbarer Lichtschein in sein Zimmer drang. Er legte das Auge an die Öffnung und hielt den Atem an. In der einen Ecke des anderen Zimmers stand ein Bett, davor ein Tisch, über den ein bucharischer Teppich gebreitet lag und der mit großen alten Büchern in Einbänden, die an alte Kirchenbücher oder sonst welche heiligen Schriften erinnerten, beladen war. In der Ecke hing ein ebenso altertümliches Heiligenbild wie dasjenige in Ordynoffs Zimmer, und vor dem Bilde brannte gleichfalls ein Lämpchen. Auf dem Bett lag Murin, mit einer Pelzdecke bedeckt, sichtlich entkräftet und krank und bleich wie ein Leintuch. Auf seinen Knien lag ein aufgeschlagenes Buch. Dicht am Bett saß auf einer kleinen Bank Katherina; mit den Armen umschlang sie den Alten und schmiegte sich an seine Brust. Sie sah ihn mit aufmerksamen, kindlich verwunderten Augen an und schien mit unersättlicher Neugier fast bebend vor Erwartung seiner Erzählung zu lauschen. Hin und wieder hob sich die Stimme des Erzählers und dann trat Leben in sein blasses Gesicht: in seinen Augen blitzte es auf, er zog die Brauen zusammen, sein Mund zuckte und Katherina schien zu erbleichen vor Angst und Aufregung. Dann wieder glitt es wie ein Lächeln über das Antlitz des Alten, und Katherina begann leise zu lachen. Plötzlich standen Tränen in ihren Augen: und da streichelte der Alte zärtlich über ihr Köpfchen, wie man ein kleines Kind streichelt, und sie umschlang ihn fester mit ihren weißen Armen und schmiegte sich noch liebender an seine Brust. Anfangs dachte Ordynoff, es sei noch ein Traum, ja, er war sogar überzeugt davon. Dennoch stieg ihm das Blut zu Kopf und in den Schläfen hämmerte es schmerzhaft, als wolle es die Adern sprengen. Er ließ den Nagel los, erhob sich vom Bett und ging leise, wankend und tastend, wie ein Schlafwandelnder durch sein Zimmer, ohne selbst zu wissen, was er tat, getrieben von dem Feuerbrand in seinem Blut – und so näherte er sich der Tür zu dem Zimmer der anderen und stieß sie mit aller Kraft auf: der verrostete Riegel brach, die Tür flog auf und unter Lärm und Gepolter trat er einen Schritt über die Schwelle in das Schlafzimmer seiner Wirtsleute. Er sah, wie Katherina entsetzt emporschnellte und wie die Augen des Alten unter den zornig zusammengezogenen Brauen funkelten und wie furchtbarer Jähzorn sein ganzes Gesicht entstellte. Er sah, wie der Alte, ohne die Augen von ihm abzuwenden, mit irrender Hand nach der Flinte tastete, die an der Wand hing, wie es in der Mündung aufblitzte, die die unsichere Hand des Ergrimmten gerade auf seine Brust richtete – ein Schuß tönte, und gleich darauf ein wilder, fast unmenschlicher Schrei ... Als der Rauch sich verflüchtigt hatte, bot sich Ordynoff ein entsetzlicher Anblick. Zitternd beugte er sich über den Alten. Murin lag in Krämpfen auf der Diele, Schaum vor dem Munde, das zuckende Gesicht, in dem von den Augen nur das Weiße zu sehen war, völlig entstellt. Ordynoff erriet, daß den Unglücklichen ein schwerer Anfall betroffen hatte. Zusammen mit Katherina kniete er bei ihm nieder, um ihm zu helfen ... III. Die ganze Nacht verbrachten sie in Aufregung bei dem Kranken. Am anderen Tage ging Ordynoff trotz der eigenen noch nicht überstandenen Krankheit schon frühmorgens hinaus. Auf dem Hofe traf er wieder den Hausknecht. Diesmal grüßte der Tatar schon von weitem und blickte ihn neugierig an, schien sich aber plötzlich zu besinnen und machte sich an seinem Besen etwas zu schaffen – schielte aber doch heimlich nach Ordynoff hinüber, der sich langsam näherte. „Nun, hast du in der Nacht nichts gehört?“ fragte ihn Ordynoff. „Hab’ wohl gehört.“ „Was ist das für ein Mensch? Wer ist er überhaupt?“ „Hast selber gemietet, mußt selber wissen. Nicht meine Sache.“ „Zum Teufel, Bursche, sprich, wenn ich dich frage!“ rief Ordynoff wütend in einer krankhaften Gereiztheit, die ihm an sich selbst ganz neu war. „Was denn? Ist doch nicht meine Schuld. Deine eigene Schuld – hast Menschen erschreckt. Unten wohnt der Sargmacher, der hört sonstig nichts, aber heut hat er doch gehört, und seine Alte ist sonstig taub auf beiden Ohren, hat’s aber auch gehört, und auf dem anderen Hof, was schon weit genug ist, hat man’s auch gehört – da siehst du! Ich werde auf die Polizei gehen.“ „Nicht nötig, ich gehe bereits,“ sagte Ordynoff und wandte sich zur Pforte. „Meinetwegen – hast selber gemietet ... Herr, Herr, wart!“ Ordynoff sah sich um; der Hausknecht berührte höflich die Mütze. „Nun?“ „Wenn du gehst, geh ich zum Hauswirt.“ „Und?“ „Zieh lieber aus.“ „Du bist dumm,“ versetzte Ordynoff und wandte sich von neuem zum Gehen. „Herr, Herr, wart doch!“ Der Hausknecht berührte wieder die Mütze und grinste halb verlegen: „Herr, ich möchte was raten: halt lieber dein Herz fest. Wozu armen Mensch verfolgen? Weißt doch – das ist Sünde. Gott sagt auch, das soll man nicht – weißt doch selber!“ „Nun höre mal – hier, nimm dies. Und nun sage mir: wer ist er?“ „Wer er ist?“ „Ja.“ „Ich sag’ auch ohne Geld.“ Hier griff er wieder nach dem Besen, fegte ein-, zweimal, sah dann wieder auf und blickte Ordynoff mit wichtiger Miene musternd an. „Du bist ein guter Herr. Willst du nicht mit guten Menschen leben, dann nicht, ganz nach deinem Belieben. Da hast du gehört, was ich meine.“ Hieran blickte ihn der Tatar noch ausdrucksvoller an, schien aber, als er Ordynoffs Gleichgültigkeit bemerkte, gekränkt zu sein und machte sich wieder mit seinem Besen zu schaffen. Endlich tat er, als habe er die Arbeit beendet, näherte sich mit geheimnisvoller Miene Ordynoff, machte eine eigentümliche Geste, deren Bedeutung Ordynoff jedoch gleichfalls unverständlich blieb, und flüsterte: „Er ist – verstehst du!“ „Was?“ „Verstand ist fort.“ „Wieso?“ „Wenn ich dir sage! Ich weiß, was ich weiß!“ fuhr er in noch geheimnisvollerem Tone fort. „Er ist krank. Er hatte eine Barke, solche große, weißt du, und noch eine und noch eine dritte und vierte, die fuhren alle auf der Wolga, ich bin selber von der Wolga, und dann hatte er noch eine Fabrik und die brannte nieder und so kam denn das!“ „Er ist also verrückt?“ „Nein doch, nein! Gar nichts von verrückt! Er ist ein kluger Kopf. Alles weiß er, viele Bücher hat er gelesen und dann anderen die Wahrheit gesagt! So – kam jemand: zwei Rubel, drei Rubel, vierzig Rubel, wie gerade ein jeder gibt – er schlägt das Buch auf und sagt dir alles, so und so, die ganze Wahrheit! Aber zuerst Geld auf den Tisch, ohne Geld – kein Wort!“ Und der Tatar lachte vor lauter Gefallen an der Taktik Murins. „Er hat geweissagt, die Zukunft prophezeit?“ „M–hm!“ Der Hausknecht nickte zur Bestätigung wichtig mit dem Kopf. „Immer was wahr ist! Er betet zu Gott, betet viel. Aber das – versteh! – kommt so zuweilen über ihn,“ fügte der Tatar wieder mit seiner rätselhaften Geste hinzu. In dem Augenblick rief jemand vom anderen Hof nach dem Hausknecht und gleich darauf erschien ein kleiner gebeugter alter Mann in einem Pelz. Er ging hüstelnd und, wie es schien, irgend etwas in seinen grauen spärlichen Bart murmelnd, mit schleppenden Schritten vorsichtig und langsam über den Hof, als fürchte er, jeden Augenblick auszugleiten. Man konnte glauben, es sei ein vor Altersschwäche kindisch gewordener Greis. „Der Hauswirt! Der Hauswirt!“ flüsterte hastig der Tatar, nickte Ordynoff flüchtig zu und lief, die Mütze vom Kopf reißend, diensteifrig zu dem Alten, dessen Gesicht Ordynoff bekannt schien, wenigstens mußte er ihm unlängst irgendwo schon begegnet sein. Er überlegte noch, daß das schließlich nicht weiter erstaunlich war, und verließ den Hof. Der Hausknecht aber schien ihm jetzt ein geriebener Betrüger zu sein. „Der Kerl hat mich ja einfach dumm machen wollen!“ dachte er. „Gott weiß, was noch dahintersteckt.“ Damit trat er auf die Straße. Doch neue Eindrücke lenkten ihn bald von den unangenehmen Gedanken ab. Übrigens waren diese Eindrücke auch nicht angenehmer Art: Der Tag war grau und kalt und es schneite ein wenig. Er fühlte, wie ihn wieder Kälteschauer durchrieselten. Es war ihm, als beginne die Erde unter ihm zu schaukeln. Da vernahm er plötzlich eine bekannte Stimme, die ihm in übertrieben freundlichem Tone einen guten Morgen wünschte. „Jaroslaw Iljitsch!“ sagte Ordynoff. Vor ihm stand ein gesund aussehender rotwangiger Herr von etwa – dem Aussehen nach – dreißig Jahren, nicht groß, mit grauen, blanken Äuglein, das ganze Gesicht ein einziges Lächeln, und gekleidet – nun, wie ein Jaroslaw Iljitsch immer gekleidet ist. Und mit diesem Lächeln streckte er ihm verbindlich die Hand entgegen. Ordynoff hatte vor genau einem Jahre seine Bekanntschaft gemacht, und zwar ganz zufällig, fast auf der Straße. Was zu dieser Bekanntschaft, abgesehen vom Zufall, in erster Linie beigetragen, war die besondere Vorliebe Jaroslaw Iljitschs, mit berühmten und angesehenen Leuten, namentlich mit literarisch gebildeten, mit bekannten Schriftstellern oder doch wenigstens vielversprechenden Talenten bekannt zu sein. Obschon dieser Jaroslaw Iljitsch nur eine sehr süßliche Stimme besaß, so wußte er ihr doch in der Unterhaltung, selbst mit den aufrichtigsten Freunden, einen ungewöhnlich selbstsicheren, jovialen und sonoren Ton zu verleihen, der etwas förmlich Imponierendes hatte – ganz als sei er nun einmal auf Grund einer gewissen Überlegenheit von vornherein zu disponieren gewohnt, und zwar gleich in einer Weise, als dulde er überhaupt keinen Widerspruch. „Wie kommen Sie denn hierher? in diese Gegend?“ rief Jaroslaw Iljitsch mit dem lebhaftesten Ausdruck herzlicher Freude über das unverhoffte Wiedersehen. „Ich wohne hier.“ „Seit wann denn?“ Die Stimme Jaroslaw Iljitschs klang sogleich um einen Ton oder ein paar Töne höher, denn er war wirklich überrascht und vergaß daher sozusagen seinen anderen Ton. „Und ich hab’s nicht mal gewußt! Dann bin ich ja so gut wie Ihr Nachbar! Ich wohne nämlich auch hier, sogar in nächster Nähe. Schon über einen Monat bin ich aus dem Rjäsanschen Gouvernement zurückgekehrt. Na, es freut mich, daß ich Sie doch mal eingefangen habe, bester Freund!“ Und Jaroslaw Iljitsch lachte sein gutmütiges Lachen. „Ssergejeff!“ rief er, plötzlich sich zurückwendend, in aufgeräumtester Stimmung. „Erwarte mich bei Tarassoff, aber daß sie dort ohne mich keinen Sack anrühren! Und dem Olssufjeffschen Hausknecht gib einen Rüffel und sag ihm, daß er sich sofort nach dem Geschäft begeben soll. In einer Stunde bin ich da ...“ Und nachdem er diesen Auftrag einem anderen zugerufen, faßte er gut gelaunt Ordynoff unter den Arm und führte ihn zum nächsten Gasthaus. „So, das wäre erledigt. Aber jetzt lassen Sie uns nach der langen Trennung gemütlich ein paar Worte miteinander reden. Nun, sagen Sie zunächst, wie steht es mit Ihrer Arbeit?“ erkundigte er sich fast ehrfürchtig und mit gesenkter Stimme, wie eben ein teilnehmender eingeweihter Freund es tut. „Ja ... was soll ich Ihnen sagen ... nicht anders, als früher,“ antwortete Ordynoff etwas zerstreut, da er gerade einem ganz anderen Gedanken nachhing. „Das ist edel von Ihnen, Wassilij Michailowitsch, sehen Sie, so etwas erkenne ich an! Das nenne ich, sein Leben einer höheren Idee weihen!“ Hier drückte Jaroslaw Iljitsch Ordynoff kräftig die Hand. „Gott gebe Ihnen Erfolg auf Ihrem Gebiet ... Himmel! bin ich froh, daß ich Sie getroffen habe! Doch mal ein andrer Mensch, als so der tagtägliche Durchschnitt! Wie oft hab’ ich dort an Sie gedacht und mich im stillen gefragt, wo er wohl jetzt sein mag, unser genialer, geistreicher Wassilij Michailowitsch!“ Jaroslaw Iljitsch verlangte ein besonderes Zimmer für sich und seinen Gast, bestellte einen Imbiß, Schnäpse, und was so dazu gehört. „Ich habe inzwischen recht viel gelesen,“ fuhr er mit einschmeichelndem Blick und in bescheidenem Tone fort. „Zunächst einmal den ganzen Puschkin ...“ Ordynoff sah ihn zerstreut an. „Ja, in der Tat, das muß man ihm lassen: die Schilderung der menschlichen Leidenschaft ist allerdings ganz bewundernswert bei ihm. Doch zunächst erlauben Sie mir, Ihnen meinen Dank auszudrücken. Sie haben so viel für mich getan, eben durch die Klarlegung einer richtigen Denkart, Ihrer eigenen Weltanschauung, sozusagen ...“ „Aber ich bitte Sie! ...“ „Nein! – erlauben Sie: keine Widerrede! Ich liebe es nun einmal, jedem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und ich bin stolz darauf, daß wenigstens dieses Gefühl – eben das für die Gerechtigkeit – in mir nicht eingeschlummert ist.“ „Ich bitte Sie, dann sind Sie gegen sich selbst ungerecht, und ich wüßte wirklich nicht ...“ „Nein, im Gegenteil, durchaus gerecht,“ widersprach Jaroslaw Iljitsch mit ungewöhnlichem Eifer. „Was bin ich denn im Vergleich mit Ihnen? Nicht wahr?“ „Ach, Gott ...“ „O ja ...“ Kurzes Schweigen folgte. „Als ich aber Ihrem Rat nachkam, habe ich zugleich eine Menge schlechter Beziehungen aufgegeben, und damit auch, versteht sich, viele schlechte Gewohnheiten,“ hub nach einem Weilchen Jaroslaw Iljitsch wieder in demselben Tone an. „In meiner freien Zeit nach dem Dienst sitze ich jetzt größtenteils zu Hause, lese abends irgendein nützliches Buch und ... ich habe wirklich nur den einen Wunsch, Wassilij Michailowitsch, meinem Vaterlande zu dienen, d. h. soviel eben in meinen Kräften steht ...“ „Das würde bei Ihren Möglichkeiten nicht wenig sein.“ „Meinen Sie? ... Weiß Gott, Sie legen einem immer Balsam auf die Wunden, mein edler junger Freund!“ Jaroslaw Iljitsch reichte Ordynoff ungestüm die Hand und dankte mit einem kräftigen Druck. „Sie trinken nicht?“ fragte er dann, nachdem sich seine Erregung etwas gelegt. „Ich kann nicht, ich bin krank.“ „Krank? Was Sie sagen? Nein, wirklich – in der Tat? Schon lange? – und wie, wo haben Sie sich denn das zugezogen? Wollen Sie, ich werde sofort – – welcher Arzt behandelt Sie? Ich werde sogleich meinen Arzt benachrichtigen, ich eile selbst zu ihm hin. Er ist überaus geschickt, glauben Sie mir!“ Und Jaroslaw Iljitsch wollte bereits nach seinem Hut greifen. „Nein, danke, nicht nötig! Ich lasse mich überhaupt nicht behandeln und liebe Ärzte nicht ...“ „Was Sie sagen? Aber das geht doch nicht so! Wirklich: er ist überaus geschickt!“ beteuerte Jaroslaw Iljitsch überzeugt. „Vor kurzem noch – nein, das muß ich Ihnen doch erzählen! – Vor kurzem, ich war gerade bei ihm, kam ein armer Schlosser zu ihm. ‚Ich habe mir hier,‘ sagt er, ‚die Hand mit meinem Werkzeug beschädigt. Bitte, Herr Doktor, machen Sie mir meine Hand wieder gesund ...‘ Nun, Ssemjon Pafnutjitsch sah, daß dem Armen der Brand drohte und traf sofort seine Vorbereitungen zur Amputation. Er amputierte in meiner Gegenwart. Aber das tat er so, sage ich Ihnen, mit solch einer Eleg... das heißt in einer so entzückenden Weise, daß es, ich muß gestehen – wenn nicht das Mitleid mit dem leidenden Menschen es verhindert hätte – einfach ein Vergnügen gewesen wäre, zuzusehen! – ich meine so der Wissenschaft halber. Aber, wie gesagt, wann und wo haben Sie sich denn Ihre Krankheit geholt?“ „Beim Umzug in meine neue Wohnung ... Ich bin soeben erst aufgestanden.“ „Ja, Sie sehen auch noch recht angegriffen aus. Sie hätten eigentlich nicht gleich so hinausgehen sollen. Also dann leben Sie nicht mehr dort, wo Sie früher wohnten? Aber was hat Sie denn zum Umziehen veranlaßt?“ „Meine alte Wirtin verließ Petersburg.“ „Domna Ssawischna? Ist’s möglich? ... Solch eine gute alte Frau! Sie wissen doch? – ich empfand für sie wirklich fast so etwas wie – Sohnesgefühle. Es war so etwas ... etwas wie aus Urgroßväterzeiten in ihrem halb schon begrabenen Leben. Und wenn man sie so ansah, schien es einem fast, als habe man die guten alten Zeiten selber noch leibhaftig vor sich ... Das heißt, ich meine so jene gewisse ... eben so eine gewisse Poesie – Sie verstehen schon, was ich sagen will! ...“ schloß Jaroslaw Iljitsch etwas konfus und errötete vor Verlegenheit allmählich bis über die Ohren. „Ja, sie war eine gute alte Frau.“ „Aber erlauben Sie, zu fragen, wo haben Sie sich denn jetzt eingemietet?“ „Nicht weit von hier, im Hause eines Koschmaroff.“ „Ah! den kenne ich. Ein prächtiger Alter! Wir sind sogar sehr gut miteinander bekannt, kann ich sagen, – wirklich, ein netter alter Mann!“ Jaroslaw Iljitsch war es sichtlich sehr angenehm, von diesem netten alten Mann reden und von sich sagen zu können, daß er mit ihm gut bekannt sei. Er bestellte noch ein Schnäpschen und begann zu rauchen. „Haben Sie Ihre eigene Wohnung?“ „Nein, ich lebe wieder bei einem Vermieter.“ „Bei wem denn? Vielleicht kenne ich ihn gleichfalls.“ „Bei Murin, einem Kleinbürger. Ein alter Mann, groß von Wuchs ...“ „Murin ... Murin ... warten Sie mal: auf dem hinteren Hof, über dem Sargmacher?“ „Ja.“ „Hm ... und haben Sie es dort ruhig?“ „Ich bin erst vor kurzem eingezogen.“ „Hm ... ich meinte nur, hm ... übrigens, ist Ihnen noch nichts Besonderes aufgefallen?“ „In welchem Sinne? Wie meinen Sie das?“ „Ich will ja nichts gesagt haben ... ich bin ja überzeugt, daß Sie es bei ihm gut haben werden, wenn Sie mit Ihrem Zimmer zufrieden sind ... Ich meinte es durchaus nicht in diesem Sinne. Das will ich vorausgeschickt haben. Aber – da ich eben Ihren Charakter kenne ... Ja, wie finden Sie denn eigentlich den Alten?“ „Er ist, glaube ich, ein sehr kranker Mensch.“ „Ja, er ist sehr leidend ... Aber haben Sie sonst nichts ...? so was, hm ... Besonderes an ihm bemerkt? Haben Sie mit ihm gesprochen?“ „Nur sehr wenig. Er scheint menschenscheu und wohl auch boshaft zu sein.“ „Hm ...“ Jaroslaw Iljitsch sann nach. „Ein unglücklicher Mensch!“ sagte er schließlich nach längerem Schweigen. „Er?“ „Ja ... Ein unglücklicher und dabei unglaublich seltsamer und ungewöhnlicher Mensch. Übrigens, wenn er Sie sonst nicht belästigt ... Verzeihen Sie, daß ich überhaupt Ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt habe, aber es interessiert mich gewissermaßen selbst ...“ „Ja, da haben Sie nun auch mein Interesse erweckt ... Ich würde jetzt sehr gern Näheres über ihn erfahren, da ich nun einmal bei ihm wohne –“ „Tja, sehen Sie mal, ich weiß nur so ... dies und das. Man sagt, der Mensch sei früher sehr reich gewesen. Er war Kaufmann, wie Sie wahrscheinlich bereits gehört haben. Dann aber traf ihn mancherlei Unglück und er verarmte. Bei einem Sturm waren mehrere seiner großen Wolgabarken zerschellt und mit der ganzen Fracht untergegangen. Ferner hat er eine große Fabrik besessen, deren Leitung, wenn ich nicht irre, einem Verwandten anvertraut war, und diese Fabrik brannte nieder, wobei der Verwandte in den Flammen umgekommen sein soll. Das war natürlich ein schrecklicher Verlust, wie Sie sich denken können. So soll denn auch Murin, wie man erzählt, nach der Katastrophe in einer solchen Stimmung gewesen sein, daß man schon für seinen Verstand zu fürchten begann. Und in der Tat hat er sich auch im Streit mit einem anderen Kaufmann, einem gleichfalls reichen Barkenbesitzer, so sonderbar benommen, daß man sich den Vorfall schließlich nicht anders hat erklären können, als eben mit einer gewissen Geistesstörung, was ich denn auch gelten lassen will. Ich habe noch manches andere gehört, was für diese Auffassung gleichfalls sprechen könnte. Dann ist da noch etwas vorgefallen, – etwas, wofür es eigentlich keine Erklärung mehr gibt, es sei denn, daß man es einfach als Schicksal auffaßt.“ „Und das war?“ forschte Ordynoff. „Man sagt, daß er, vermutlich in einem Augenblick des Wahnsinns, einen jungen Kaufmann, den er bis dahin sogar liebgehabt, umgebracht habe. Nach begangener Tat aber, als er wieder zur Besinnung gekommen, sei er darüber so verzweifelt gewesen, daß er sich das Leben habe nehmen wollen. Wenigstens erzählt man so. Wie dann die Sache verlaufen ist, das weiß ich nicht genau, eines aber steht fest: daß er nämlich während der ganzen folgenden Jahre Buße getan hat ... Aber was ist mit Ihnen, Wassilij Michailowitsch? – strengt meine Erzählung Sie an?“ „Oh, nein, bitte, fahren Sie nur fort ... Sie sagen, er habe Buße getan, aber vielleicht nicht er allein?“ „Das weiß ich nicht. Wenigstens ist außer ihm niemand in diese Angelegenheit verwickelt gewesen. Übrigens habe ich nichts Näheres darüber gehört. Ich weiß nur ...“ „Nun?“ „Ich weiß nur – das heißt, ich habe eigentlich nichts Besonderes hinzuzufügen ... ich will nur sagen, wenn Ihnen mal etwas Außergewöhnliches auffallen sollte, dann müssen Sie sich eben sagen, daß das einfach die Folgen der verschiedenen Schicksalsschläge sind, die ihn einer nach dem anderen betroffen haben.“ „Er scheint recht gottesfürchtig zu sein. Vielleicht ist er nur scheinheilig?“ „Das glaube ich nicht, Wassilij Michailowitsch. Er hat so viel gelitten. Mir scheint er vielmehr ein Mensch mit reinem Herzen zu sein.“ „Aber jetzt ist er doch nicht mehr wahnsinnig? Den Eindruck macht er wenigstens nicht.“ „O nein, nein! Dessen kann ich Sie versichern. Er ist jetzt zweifellos wieder im vollen Besitz aller seiner Verstandeskräfte. Nur daß er, wie Sie ganz richtig bemerkten, sehr gottesfürchtig und wohl auch ziemlich wortkarg ist. Aber im allgemeinen, wie gesagt, ist er sogar ein sehr kluger Mensch. Spricht gewandt, sicher ... und ist, wissen Sie, überhaupt ein findiger Kopf. Seinem Gesicht sieht man übrigens auch jetzt noch sein stürmisches Leben an. Das pflegt ja gewöhnlich seine Spuren zu hinterlassen. Wie gesagt, ein seltsamer Mensch, und ungeheuer belesen!“ „Er liest aber, wie mir scheint, nur religiöse Bücher?“ „Ja, er ist Mystiker.“ „Was?“ „Ein Mystiker. Aber das ganz unter uns gesagt. Ich will Ihnen auch noch verraten – aber als Geheimnis, das zwischen uns bleiben muß –, daß er eine Zeitlang unter strengster Aufsicht stand. Dieser Mensch hatte nämlich einen großen Einfluß auf alle, die zu ihm kamen.“ „Inwiefern das?“ „Es klingt zwar kaum glaublich, aber ... Sehen Sie, damals lebte er noch nicht in diesem Stadtviertel. Er hatte schon einen gewissen Ruf, und eines Tages fuhr Alexander Ignatjewitsch – erblicher Ehrenbürger, ein angesehener, allgemein geachteter Mann – fuhr also eines Tages mit einem Leutnant zu ihm, natürlich nur aus Neugier. Sie kommen zu ihm, werden empfangen, und der sonderbare Mensch sieht sie an. Er begann wie gewöhnlich damit, daß er sich die Gesichter der Leute genau und prüfend ansah, ehe er dareinwilligte, sich mit den Betreffenden überhaupt einzulassen. Gefielen sie ihm nicht, so schickte er sie hinaus, und zwar, wie man sagt, oft in einer sehr unhöflichen Weise. Er fragte also auch diese, was sie wünschten? Alexander Ignatjewitsch antwortete ihm darauf, das könne ihm ja seine Gabe und Menschenkenntnis von selbst sagen. ‚Dann bitte, ins andere Zimmer,‘ antwortete er, indem er sich an denjenigen wandte, der von beiden allein ein Anliegen an ihn hatte. Alexander Ignatjewitsch erzählt nun zwar nicht, was er dort im anderen Zimmer gehört oder erlebt hat – als er aber wieder herausgekommen ist, da soll er weiß wie Kreide gewesen sein. Dasselbe weiß man auch von einer Dame der Petersburger Gesellschaft zu berichten: auch sie soll ihn kreideweiß und in Tränen aufgelöst verlassen haben.“ „Sonderbar. Aber jetzt beschäftigt er sich doch nicht mehr damit?“ „Es ist ihm strengstens untersagt. Übrigens gibt es noch andere Vorfälle. Ein junger Fähnrich zum Beispiel, der Sproß und die Hoffnung einer vornehmen Familie, hat es sich einmal erlaubt, über ihn zu lächeln. ‚Was lachst du?‘ – Mit diesen Worten soll sich der Alte geärgert zu ihm gewandt haben. ‚In drei Tagen wirst du das sein!‘ Und dabei kreuzte er seine Arme so über der Brust, wie man sie den Leichen im Sarge über der Brust zu kreuzen pflegt.“ „Nun, und?“ „Tja, ich wage nicht, daran zu glauben, aber man sagt, die Prophezeiung sei tatsächlich eingetroffen. Er hat die Gabe, Wassilij Michailowitsch ... Sie beliebten zu lächeln während meiner treuherzigen Erzählung. Ich weiß, Sie sind mir, was Aufklärung betrifft, weit voraus. Aber ich glaube nun einmal an ihn. Er ist kein Scharlatan. Übrigens erwähnt auch Puschkin etwas Ähnliches in seinen Werken.“ „Hm! Ich will Ihnen nicht widersprechen. Aber, Sie sagten, glaube ich, daß er nicht allein lebe?“ „Das weiß ich nicht ... Ach so, ja, ich glaube, seine Tochter lebt bei ihm.“ „Seine Tochter?“ „Ja, – oder nein: seine Frau, glaube ich. Ich weiß nur, daß es irgendein Frauenzimmer ist. Hab’ sie nur flüchtig vom Rücken gesehen und nicht weiter beachtet.“ „Hm! Sonderbar ...“ Der junge Mann verfiel in Nachdenken. Jaroslaw Iljitsch dagegen in angenehme Beschaulichkeit. Das Wiedersehen mit Ordynoff hatte ihn erfreut und fast gerührt, überdies war er sehr mit sich selbst zufrieden, da er eine so anregende Geschichte hatte erzählen können. Er saß, betrachtete Ordynoff und rauchte dazu. Plötzlich sprang er erschrocken auf. „Mein Gott, da ist schon eine ganze Stunde vergangen und ich denke nicht mal daran! Bester, teuerster Wassilij Michailowitsch, ich danke dem Schicksal, daß es uns zusammengeführt hat, aber jetzt – jetzt muß ich eilen! Ist es erlaubt, Sie einmal in Ihrem Gelehrtenheim aufzusuchen?“ „Warum nicht, bitte, es wird mich sehr freuen. Vielleicht spreche ich auch einmal bei Ihnen vor, wenn ich Zeit finde ... ich weiß noch nicht ...“ „Was Sie sagen? – Wollen Sie wirklich? Damit würden Sie mich unendlich erfreuen! Sie glauben nicht, wie sehr es mich ehren würde!“ Sie verließen das Gasthaus. Als sie auf die Straße hinaustraten, stürzte ihnen Ssergejeff entgegen und meldete, daß William Jemeljanowitsch sogleich vorüberfahren werde – und sie erblickten auch tatsächlich ein Paar hellgelber Pferde und ein elegantes Wägelchen im Hintergrunde der Straße. Jaroslaw Iljitsch drückte die Hand seines „besten“ Freundes, ganz als gelte es, sie zu zerdrücken, griff an den Hut und eilte dem Gefährt des Würdenträgers entgegen, wobei er sich unterwegs noch zweimal nach Ordynoff umsah und ihm zum Abschied wiederholt zunickte. Ordynoff empfand eine solche Müdigkeit in allen Gliedern, daß er kaum die Füße zu bewegen vermochte. Mit Mühe schleppte er sich nach Hause. An der Pforte traf er wieder den Hausknecht, der aus der Ferne aufmerksam seinen Abschied von Jaroslaw Iljitsch beobachtet hatte und nun sehr zuvorkommend tat. Doch Ordynoff ging ohne ein Wort an ihm vorüber. In der Tür stieß er mit einer kleinen grauen Gestalt zusammen, die gesenkten Blickes gerade aus Murins Wohnung trat. „Herrgott, vergib mir meine Sünden!“ flüsterte das Kerlchen, indem es entsetzt zur Seite sprang. „Verzeihen Sie, habe ich Sie verletzt?“ „N–nein, danke untertänigst für die Aufmerksamkeit ... O Herrgott, Herrgott!“ Und das kleine Männlein stieg murmelnd, sich räuspernd und fromme Sprüche flüsternd, mit äußerster Vorsicht die Treppe hinunter. Es war das der Hauswirt: derselbe, dem gegenüber der Tatar sich so überaus dienstfertig gezeigt hatte. Und jetzt erinnerte sich Ordynoff, daß er dieses gebrechliche Männlein bei Murin bereits an dem Tage gesehen hatte, als er einzog. Er fühlte, daß die letzten Erlebnisse seine Nerven erschüttert und überreizt hatten; wußte auch, daß seine Phantasie und Empfindsamkeit aufs äußerste erregt waren, und er nahm sich daher vor, sich vor allem selbst nicht zu trauen. Allmählich verfiel er wieder in einen Zustand völliger Regungslosigkeit, der ihn wie ein Gefühl bleierner Schwere gefangen hielt und seine Brust wie mit einer Zentnerlast bedrückte, unter der sich sein Herz in dumpfer Sehnsucht quälte. Seine ganze Seele war voll von lautlosen, unversiegbaren Tränen ... Er sank wieder auf das Bett, das sie für ihn zurechtgemacht hatte, und begann von neuem zu lauschen. Deutlich unterschied er das Atmen zweier Menschen im Nebenzimmer, das eine war schwer, krankhaft, ungleichmäßig, das andere sanft, oft gar nicht vernehmbar, auch unregelmäßig, doch wie von innerer Erregung beherrscht: als schlage dort ein Herz in dem gleichen Verlangen, in der gleichen Leidenschaft. Hin und wieder hörte er ihre leisen, weichen Schritte und das Geräusch ihrer Kleider, und jede Bewegung ihrer Füße erweckte in seiner Brust einen dumpfen, qualvollen und doch süßen Schmerz. Endlich schien es ihm, als höre er ein leises Schluchzen und dann ein inbrünstiges Gebet. Da wußte er, daß sie vor dem Heiligenbilde auf den Knien lag und in Verzweiflung die Hände rang ... Wer war sie? Für wen betete sie? Welch eine verzweiflungsvolle Leidenschaft marterte ihr Herz? Weshalb quälte es sich und grämte es sich und ergoß es sich in so heißen und hoffnungslosen Tränen? Er begann, alles, was sie zu ihm gesprochen, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, jedes Wort, das noch wie Musik in seinen Ohren klang, und auf jede Erinnerung, auf jeden Ausdruck, den er in Gedanken andächtig wiederholte, antwortete sein Herz mit einem dumpfen schweren Schlage ... Einen Augenblick schien es ihm, als sehe er das alles nur im Traum. Doch in demselben Augenblick erbebte auch schon sein ganzes Wesen bis ins Mark, daß er zu vergehen glaubte vor Schmerz und Sehnsucht, als er in der Erinnerung nun wieder ihren heißen Atem, ihre weiche Wange und ihren glühenden Kuß zu spüren meinte. Er schloß die Augen und verlor sich in seligen Gefühlen. Irgendwo schlug eine Uhr. Es wurde spät. Die Dämmerung sank. Plötzlich war ihm, als neige sie sich wieder über ihn und sehe ihn an mit ihren wundersamen, klaren Augen, die feucht schimmerten von glänzenden Tränen und einem hellen Glück, so still und rein, wie der hohe unendliche Himmel an einem heißen Sommertage. Und aus ihrem Antlitz sprach eine so feierliche Stille und ihr Lächeln war eine solche Verheißung von unendlicher Seligkeit, war so voll Mitleid und Barmherzigkeit, und so voll kindlicher, vertrauensseliger Hingebung schmiegte sie sich an seine Schulter, daß ein Stöhnen sich seiner entkräfteten Brust entrang vor lauter Glück. Es war, als wolle sie ihm etwas sagen, etwas ihm anvertrauen. Wieder glaubte er, den Klang einer Stimme zu vernehmen, der sein Herz durchbohrte. Gierig atmete er die Luft ein, die ihr naher Atem erwärmte und gleichsam mit einer elektrischen Spannung für ihn erfüllte. In Sehnsucht streckte er die Arme aus, schöpfte tief Atem und schlug die Augen auf ... Sie stand vor ihm, über ihn gebeugt, bleich wie nach einem großen Schreck, am ganzen Körper vor Aufregung zitternd. Sie sprach etwas zu ihm, sie flehte und rang die Hände. Er umschlang sie mit seinen Armen, sie sank zitternd an seine Brust ... IV. „Was hast du? Was ist dir geschehen?“ fragte Ordynoff, plötzlich erwacht, sie immer noch in starker und heißer Umarmung an sich pressend. „Was fehlt dir, Katherina? Was ist dir zugestoßen, mein Lieb?“ Sie weinte leise und verbarg ihr glühendes Gesicht an seiner Brust. Lange Zeit vermochte sie nichts zu sprechen. Ihr ganzer Körper zitterte, wie nach einem großen Schreck. „Ich weiß nicht, ich weiß es nicht,“ brachte sie endlich kaum vernehmbar hervor, als stehe ihr das Herz still vor Angst, „ich weiß auch nicht, wie ich zu dir gekommen bin ...“ Und sie schmiegte sich noch fester an ihn, und in einem unbezwingbaren, krankhaften Gefühl küßte sie seine Schulter, seinen Arm, seine Brust. Endlich, wie in Verzweiflung, preßte sie die Hände vor das Gesicht und sank in die Kniee. Als aber Ordynoff sie in einem unsagbaren Gefühl von Beklemmung emporhob und sie neben sich niedersetzen ließ, da errötete sie heiß vor Scham und ihre Augen baten wie um Gnade, und das Lächeln, das sie auf ihre Lippen zwang, verriet, daß sie kaum zu versuchen wagte, die unbezwingbare Macht der neuen Empfindung zu brechen, denn der Versuch wäre ja doch fruchtlos gewesen. Plötzlich schien wieder etwas sie zu erschrecken: mißtrauisch schob sie ihn mit der Hand zurück, sah ihn kaum mehr an und antwortete gesenkten Blickes nur angstvoll und leise auf seine sich überstürzenden Fragen. – „Hat dich vielleicht ein böser Traum geängstigt? Oder ist dir sonst etwas Böses zugestoßen? Sag doch! Oder hat er dich erschreckt? ... Er fiebert und phantasiert ... Vielleicht hat er im Fieber etwas gesprochen, was du nicht hättest hören sollen? ... Du hast etwas Furchtbares gehört? Ja? Oder war es nur ein Traum?“ „Nein ... ich schlief ja gar nicht,“ antwortete Katherina, mit Mühe ihre Aufregung niederringend. „Ich fand keinen Schlaf. Er aber schwieg, nur einmal rief er mich. Ich trat an sein Bett, sprach zu ihm, rief ihn – ich ängstigte mich so! – aber er hörte mich nicht und wachte nicht auf. Er ist sehr schwer krank, möge der liebe Gott ihm helfen! Da senkte sich wieder der Gram in mein Herz, bitterer Gram, und ich betete, betete! Und da, sieh, da kam das über mich ...“ „Beruhige dich, Katherina, sei ruhig, mein Lieb, sei ruhig! Wir haben dich gestern erschreckt ...“ „Nein, ich erschrak ja gar nicht!“ ... „Was ist es denn? Ist dir denn das auch früher schon geschehen?“ „Ja, auch früher schon!“ Und sie erbebte und schmiegte sich wieder wie ein geängstigtes Kind an ihn. „Sieh, ich bin doch nicht umsonst zu dir gekommen,“ sagte sie, ihr Weinen unterbrechend, und dankbar drückte sie ihm die Hände, „und nicht umsonst wurde es mir so schwer, allein zu sein! Also nicht mehr weinen, weine auch du nicht, wozu solltest du um fremdes Leid Tränen vergießen! Spare sie für trübe Tage, wenn es dir in der Einsamkeit schwer wird und du keinen Menschen bei dir hast! ... Höre, hattest du eine Geliebte?“ „Nein ... vor dir – keine ...“ „Vor mir? ... Du nennst mich deine Geliebte?“ Sie sah ihn plötzlich mit Verwunderung an, wollte etwas sagen, schwieg aber und senkte den Blick. Leise stieg ihr die Röte ins Gesicht, das plötzlich wie in Flammenglut getaucht stand. Leuchtender, durch die vergossenen Tränen glänzten ihre Augen und eine Frage schien auf ihren Lippen zu schweben. Mit verschämter Schelmerei blickte sie ein-, zweimal zu ihm auf, dann senkte sie plötzlich wieder den Kopf. „Nein, ich kann nicht deine erste Liebe sein,“ sagte sie, und „nein, nein,“ wiederholte sie nachdenklich mit leisem Kopfschütteln, und allmählich erschien wieder ein stilles Lächeln auf ihren Lippen, „nein, mein Lieber,“ fuhr sie fort, „ich werde nicht deine Geliebte sein!“ Und sie sah ihn an, aber da sprach plötzlich so viel Weh aus ihrem Gesicht, eine so hoffnungslose Trauer, und so überraschend brach aus ihrem Innersten Verzweiflung hervor, daß Ordynoff ein unbegreifliches krankhaftes Gefühl des Mitleids mit ihrem ihm unbekannten Leid erfaßte: und er sah sie an, wie einer, dessen Mitleid ihm selbst zur noch größeren Qual wird. „Höre, was ich dir sagen werde,“ sagte sie mit einer Stimme, die ihm ins Herz schnitt, und sie nahm seine Hände und drückte sie, wie um aufsteigende Tränen zu ersticken. „Höre mich an, Lieber, und vergiß es nicht, was ich dir sage: bezähme du dein Herz und liebe mich nicht so, wie du mich jetzt liebst. Es wird dir dann leichter sein, du wirst dich vor einem argen Feinde bewahren und eine liebe Schwester gewinnen. Ich werde zu dir kommen, wenn du willst, werde dich liebkosen und es mir doch nicht zur Schande werden lassen, daß ich dich kennen gelernt habe. War ich doch auch Tag und Nacht bei dir, als du das böse Fieber hattest! Nimm mich als Schwester! Wir sind doch nicht umsonst einander gut und nicht umsonst hab’ ich unter Tränen für dich zur Gottesmutter gebetet! Eine andere wirst du nicht finden. Suche auf dem ganzen Erdenrund, durchsuche den Himmel – nein, glaube mir, du wirst keine zweite finden, die dir eine solche Geliebte sein wird, wie ich, wenn es Liebe ist, um was dein Herz bittet. Oh, glühend werde ich dich lieben, werde dich ewig so lieben wie jetzt, und werde dich deshalb lieben, weil deine Seele so rein ist, so hell, so ... so durchsichtig! – ich werde dich lieben, weil ich, als ich dich zum ersten Male sah, sogleich fühlte, daß du meines Hauses Gast bist, ein erwünschter, ein ersehnter Gast, und uns nicht ohne Grund um Aufnahme batest. Ich werde dich lieben, weil deine Augen lieben, wenn du einen ansiehst, und von deinem Herzen künden. Und wenn sie etwas sagen, dann weiß ich gleich alles, was in dir ist, und dafür möchte man dann das Leben hingeben, um dieser deiner Liebe willen, möchte alle Freiheit dem eigenen Willen nehmen, denn es ist süß, desjenigen Sklavin zu sein, dessen Herz man gefunden hat ... Aber _mein_ Leben, das gehört ja nicht mir, das ist schon fremdes Eigentum, und der Wille ist gebunden! Doch die Schwester nimm und sei mir ein Bruder und hilf mir mit deinem Herzen, wenn wieder das Schlimme mich anficht. Nur sorge du selbst, daß ich mich nicht zu schämen brauche, zu dir zu kommen und die lange Nacht wie jetzt bei dir zu bleiben. Hörst du mich? Hat auch dein Herz es gehört? Hast du auch alles verstanden, was ich dir sagte? ...“ Sie wollte noch etwas hinzufügen, sah zu ihm auf und legte die Hand auf seine Schulter, doch da war es, als verließe sie alle Kraft, aufschluchzend sank sie an seine Brust und in einem Weinkrampf tobte ihre Leidenschaft sich aus. Ihre Brust wogte, ihr Gesicht brannte wie in Glut. „Mein Leben!“ stammelte Ordynoff, dem die Erregung die Augen umflorte und den Atem benahm. „Meine Wonne ... du!“ flüsterte er, ohne zu wissen, was er sagte, ohne die Worte, ohne sich selbst zu begreifen, zitternd vor Furcht, mit einem Hauch den ganzen Zauber zu zerstören, den ganzen Sinnenrausch, und damit alles, was mit ihm geschah und um ihn war und was er eher für Unwirklichkeit als für Wirklichkeit hielt: so entrückt fühlte er sich! „Ich weiß nicht, ich verstehe dich nicht, ich habe vergessen, was du mir sagtest, alle Vernunft ist in mir erloschen – nur das Herz fühle ich ... meine Königin du!“ ... Seine Stimme versagte vor Aufregung. Sie schmiegte sich immer fester, immer wärmer, glühender an ihn. Da erhob er sich taumelnd und, unfähig, sich noch länger zu bezwingen, wie entkräftet vor Seligkeit, sank er in die Knie vor ihr. Eine Erschütterung wie ein Schluchzen brach endlich schmerzhaft aus seiner Brust hervor und durchrieselte seinen ganzen Körper – und von der Fülle der noch nie empfundenen Verzückung bebte seine Stimme, die tief aus seinem Innersten hervordrang, wie der Ton einer Saite, die man in Schwingung gebracht. „Wer bist du, wer warst du? Woher kommst du? Aus welchem Himmel bist du zu mir herabgestiegen? Es ist ja alles wie ein Traum, ich kann noch nicht glauben, daß du wirklich bist! Schilt mich nicht ... laß mich sprechen, laß mich alles dir sagen, alles! ... Ich habe schon lange einmal sprechen wollen ... wer bist du, meine Freude, sag? Wie hast du mein Herz gefunden? Erzähle mir, bist du schon lange meine Schwester? ... Wo warst du bisher, erzähl mir von dir, – erzähl mir, wo hast du früher gelebt, was hast du dort geliebt? Erzähle mir alles, ich will alles von dir wissen! Wo ist deine Heimat? Ist der Himmel dort wie bei uns? Wer war dir dort nahe, wer hat dich vor mir geliebt? Zu wem hat dich zuerst dein Herz gedrängt? ... Hast du deine Mutter gekannt und hat sie dich als Kind geliebkost und gepflegt oder bist du wie ich unter Fremden aufgewachsen? Sage mir, bist du immer so gewesen? Erzähl mir von deinen Träumen und Wünschen und was von ihnen in Erfüllung gegangen ist und was nicht – erzähle mir alles! ... Wer war der erste, den dein Mädchenherz liebgewann und wofür hast du es ihm hingegeben? Sage mir, was soll _ich_ dafür geben, was muß _ich_ dir geben ... für – dich?! ... Sag mir, mein Lieb, meine Sonne, mein Schwesterchen, sag mir, womit kann ich mir dein Herz verdienen?“ Seine Stimme versagte und er preßte den Kopf in ihren Schoß. Als er aber aufblickte, überlief es ihn vor Schreck: Katherina saß totenblaß und regungslos auf dem Bett, ihre Augen starrten mit leerem Blick über ihn hinweg in die Luft, nur ihre Lippen zitterten in stummem, unsagbarem Schmerz. Langsam erhob sie sich, wankte zwei Schritte vom Bett und fiel vor dem alten Heiligenbilde nieder ... sinnlose, unverständliche Worte entrangen sich stoßweise ihrer Brust. Sie schien ohnmächtig zu werden. Ordynoff hob sie auf, trug sie auf sein Bett und stand in atemloser Angst über sie gebeugt. Nach einer Weile schlug sie die Augen auf, bewegte sich, wie um sich auf den Ellbogen zu stützen, sah sich mit irrem Blick im Zimmer um, sah zu ihm auf und tastete nach seiner Hand. Sie zog ihn näher zu sich, ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie etwas sagen, aber sie konnte nichts hervorbringen. Endlich brach sie in einen Strom von Tränen aus. Sie stammelte ein paar Worte, aber das Schluchzen zerriß dieselben und erstickte ihre Stimme. Als sie dann wieder den Kopf hob, sah sie mit solch einer Verzweiflung Ordynoff an, daß er, der sie nicht verstand, sich näher über sie beugte, um keinen Laut aus ihrem Munde zu verlieren. Endlich hörte er sie deutlich flüstern: „Ich bin verdorben, man hat mich verdorben, ich bin verloren!“ Ordynoff erhob jäh den Kopf und sah sie voll Bestürzung an. Ein gemeiner, scheußlicher Gedanke durchzuckte ihn. Und Katherina sah dieses plötzliche schmerzliche Zusammenzucken seines Gesichtes. „Ja! Verdorben!“ stieß sie hervor, „ein böser Mensch hat mich verführt, – _er_, _er_ ist mein Verderber! ... Ich habe ihm meine Seele verkauft ... Warum, oh, warum hast du von der Mutter gesprochen! Wozu brauchtest du mich daran zu erinnern: Gott möge dir ... möge dir verzeihen! ...“ Und sie weinte still vor sich hin. Ordynoffs Herz schlug so todesweh, daß er vor Schmerz hätte aufschreien mögen. „Er sagt,“ flüsterte sie geheimnisvoll, mit zurückgehaltenem Atem, „er sagt, wenn er stirbt, wird er kommen und meine sündige Seele holen ... Ich gehöre ihm, ich hab’ ihm meine sündige Seele verkauft ... Und jetzt quält er mich und liest mir aus seinen Büchern vor ... Dort, sieh, das ist sein Buch! Dort! Er sagt, ich habe eine Todsünde begangen ... Sieh, da liegt sein Buch, sieh ...“ Und sie wies mit Grauen auf einen großen Band. Ordynoff hatte nicht bemerkt, wie der in sein Zimmer geraten war. Er nahm ihn mechanisch – es war eines von jenen mit reichem Bilderschmuck ausgestatteten Büchern der Altgläubigen, wie er sie früher einmal gelegentlich gesehen hatte. Doch war er unfähig, seine Aufmerksamkeit auf irgend etwas zu lenken. Sacht umfing er sie und redete ihr beruhigend zu. „Denk nicht daran, laß das jetzt ... Man hat dich geängstigt und erschreckt ... ich bin ja bei dir ... Ruhe dich bei mir aus, mein Lieb, mein Licht!“ „Du weißt noch nichts! nichts!“ Sie umklammerte wieder seine Hände. „Ich bin ja immer so! ... Immer fürchte ich mich ... Aber du, nein, du quäle mich nicht, quäle mich nicht! ...“ „Ich gehe dann zu ihm,“ fuhr sie nach einer Weile fort. „Manchmal bespricht er mich einfach mit seinen eigenen Worten, ein anderes Mal nimmt er sein Buch, das größte, und liest mir vor – liest so drohende und strenge Worte! – ich weiß nicht, was es ist, und ich verstehe auch nicht jedes Wort, aber mich überkommt dann solch eine Angst, und wenn ich auf seine Stimme horche, ist es mir, als spräche das gar nicht er, sondern ein anderer, kein guter, sondern einer, den nichts erweicht und der so unerbittlich ist, daß es mir das Herz zermalmt und die Qual noch größer wird, als zu Anfang mein Gram war!“ „Geh nicht mehr zu ihm! Warum gehst du zu ihm?“ sagte Ordynoff, ohne sich dessen recht bewußt zu sein, was er sprach. „Warum bin ich zu dir gekommen? Frag mich – ich weiß es nicht ... Er aber sagt mir immer: bete, bete, bete! Zuweilen stehe ich in dunkler Nacht auf und bete lange –, stundenlang. Oft übermannt mich der Schlaf, aber die Angst weckt mich wieder, immer wieder, und dann kommt es mir vor, daß ringsum ein dunkles Gewitter aufsteigt, daß mir Schlimmes droht, daß die Bösen mich zu Tode quälen und zerreißen werden, daß ich keines Menschen Hilfe zu erflehen vermag und mich niemand vor dem Furchtbaren retten kann. Meine Seele will sich selbst verzehren, und es ist, als wolle sich mein ganzer Körper in Tränen auflösen ... Dann fange ich wieder an, zu beten, und bete und bete, bis die Gottesmutter liebevoller auf mich herabschaut. Dann erst stehe ich auf und gehe halbtot wieder zu Bett, manchmal aber schlafe ich auch so vor dem Heiligenbilde kniend ein. Da kommt es denn vor, daß er erwacht und mich ruft ... und dann liebkost und tröstet und beruhigt er mich ... und dann wird mir wohl viel leichter. Ja, gleichviel was für ein Unglück auch noch käme, bei ihm fürchte ich mich nicht mehr. Er ist mächtig! Groß ist sein Wort!“ „Aber was, was ist denn dein Unglück?!“ ... fragte Ordynoff zitternd, mit Verzweiflung im Herzen. Katherina erbleichte. Sie sah ihn wie eine zum Tode Verurteilte an, der man die letzte Hoffnung auf Gnade nimmt. „Ich ... ich bin verflucht, ich bin eine Seelenmörderin, meine Mutter hat mich verflucht! Ich habe meine eigene Mutter umgebracht!“ ... Ordynoff umschlang sie wortlos. Bebend schmiegte sie sich an ihn. Er fühlte, wie ein Zittern ihren Körper durchlief, als wolle sich ihre Seele diesem Körper entringen. „Ich habe sie unter die feuchte Erde gebracht,“ sagte sie, ganz beherrscht von der Erinnerung und ihrer Aufregung – und sie schien das unwiderruflich Geschehene, unwiederbringlich Vergangene in diesen Augenblicken noch einmal zu erleben. „Ich wollte es schon lange sagen, aber er verbot es mir immer, bald mit Bitten, bald mit Vorwürfen und zornigen Worten. Zuweilen freilich beginnt er selbst, mich daran zu erinnern, als wäre er mein Feind und Widersacher. Mir aber kommt alles das – so auch heute nacht – wie stets und immer gegenwärtig vor ... Höre, höre mich! Das ist schon lange, sehr lange her, ich weiß nicht einmal mehr, wann es war, und doch steht es vor mir, als wäre es gestern gewesen, wie ein Traum der letzten Nacht, der bis zum Morgen mein Herz bedrückt hat. Der Gram macht die Zeit noch einmal so lang. Setze dich, setze dich hierher, ich werde dir mein ganzes Leid erzählen – verfluche mich, die ich schon verflucht bin ... Ich will dir mein ganzes Leben anvertrauen ...“ Ordynoff wollte sie aufhalten, wollte sie am Sprechen verhindern, doch sie faltete die Hände, wie um ihn bei seiner Liebe anzuflehen, ihr doch Gehör zu schenken, und dann fuhr sie in noch größerer Erregung fort. Ihre Erzählung war wirr und sprunghaft, ihre Stimme verriet den Sturm, der in ihrer Seele tobte, aber trotzdem verstand Ordynoff alles, denn ihr Leben war für ihn zu seinem eigenen Leben geworden, ihr Leid auch sein Leid. Er glaubte wieder seinen Feind vor sich zu sehen. Der Feind wuchs vor ihm auf mit jedem ihrer Worte und ward immer greifbarer, und es war ihm, als presse er mit ungeheurer Kraft sein Herz zusammen und spotte obendrein mit höhnischen Schimpfworten seiner Wut. Sein Blut begann zu sieden, drängte sich heiß in seine Gedanken und brachte sie in Verwirrung. Da war es ihm denn, als stehe der boshafte Alte aus seinem Traum plötzlich auf (Ordynoff war davon überzeugt) und stände leibhaftig vor ihm. „Es war eine Nacht wie heute,“ begann Katherina, „nur viel dunkler und grausiger, und der Wind heulte durch unseren Wald, wie ich es noch nie gehört hatte ... begann schon in jener Nacht mein Verderben? ... Die Eiche vor unseren Fenstern brach. Ich weiß noch, der alte Bettler, der immer zu uns kam – er war schon ein ganz, ganz alter Mann – erzählte, daß er sich dieser Eiche noch aus seiner Kindheit erinnere: damals sei sie schon ebenso groß gewesen, wie dann, als der Sturm sie brach. In derselben Nacht – wie heute entsinne ich mich dessen noch! – wurden Vaters Barken auf dem Fluß von diesem Sturm zertrümmert, und als die Fischer zu uns gelaufen kamen – wir wohnten bei der Fabrik – da fuhr der Vater gleich selbst zum Fluß, obschon er krank war. Wir blieben allein, Mutter und ich. Wir saßen beide im Zimmer, ich schlummerte, Mutter aber war so traurig und weinte still ... und ich wußte, warum sie weinte. Sie war erst vor kurzem vom Krankenbett aufgestanden, war noch ganz blaß und sagte mir immer, ich solle ihr das Totenhemd nähen ... Plötzlich, um Mitternacht, höre ich: jemand klopft draußen an die Pforte. Ich sprang auf, alles Blut strömte mir zum Herzen – die Mutter schrie auf vor Schreck ... Ich sah nicht nach ihr hin, ich fürchtete mich, aber ich nahm die Laterne und ging selbst hinaus, um zu öffnen ... Das war er! Mir wurde bange, denn ich bangte mich immer, wenn er kam, und das schon von Kindheit an, soweit meine Erinnerung zurückreicht, seitdem ich überhaupt denken kann! Damals hatte er noch kein graues Haar: sein Bart war dunkel und sein Blick brannte wie Feuer. Bis dahin hatte er mich noch kein einziges Mal freundlich angesehen. Er fragte: ‚Ist die Mutter zu Hause?‘ Ich schloß die Pforte und sagte, daß der Vater nicht zu Hause sei. Er sagte darauf nur: ‚Ich weiß,‘ und plötzlich sah er mich an, so an ... zum ersten Male sah er so auf mich. Ich wandte mich zum Gehen, er aber stand immer noch. ‚Warum kommst du nicht herein?‘ – ‚Ich überlege,‘ sagte er. Langsam folgte er mir – als wir aber eintraten, fragte er plötzlich leise: ‚Warum sagtest du mir, daß der Vater nicht zu Hause sei, als ich nach deiner Mutter fragte?‘ Ich schwieg ... Die Mutter erstarrte, als sie ihn sah – und wollte dann zu ihm stürzen ... Er aber schenkte ihr kaum einen Blick – ich sah alles. Er war ganz naß und durchfroren – woher er kam und wo er sich aufhielt, das haben Mutter und ich nie gewußt. Damals hatten wir ihn schon ganze neun Wochen nicht gesehen ... Die Mütze warf er nun auf den Tisch, die Fausthandschuhe streifte er ab – neigte sich aber nicht vor den Heiligenbildern, bot keinen Gruß der Hausfrau – sondern setzte sich ans Feuer ...“ Katherina stützte den Kopf in die Hand, als bedrücke und quäle sie etwas, doch schon bald erhob sie ihn wieder und fuhr fort: „Er fing an, mit der Mutter tatarisch zu sprechen. Ich verstand kein Wort. Früher hatte man mich immer fortgeschickt, wenn er kam; damals aber wagte die Mutter nicht, ihrem eigenen Kinde ein Wort zu sagen. Der Böse kaufte meine Seele, ich aber sah die Mutter an, als wäre ich stolz darauf. Ich merkte, daß sie von mir sprachen. Mutter begann zu weinen. Ich sah, wie seine Hand wieder an seinen Dolch fuhr – in der letzten Zeit hatte ich schon mehrmals seine Hand nach dem Dolch, den er vorn im Gürtel trug, greifen sehen, wenn er mit der Mutter sprach. Ich stand auf und griff nach seinem Gürtel, um ihm den Dolch zu entreißen. Er aber knirschte vor Wut und wollte mich fortstoßen – stieß mich auch vor die Brust, doch ich ließ nicht los. Ich dachte, jetzt sterbe ich auf der Stelle; es wurde mir dunkel vor den Augen und ich brach lautlos zusammen, aber ich schrie nicht auf. Und da sah ich, obschon mir fast die Sinne schwanden, – wie er seinen Gürtel abnahm und den Ärmel an der Hand aufstreifte, mit der er mich gestoßen, und den kaukasischen Dolch aus der Scheide zog und ihn mir reichte: ‚Da, schneide sie ab, die Hand, räche an ihr, was sie dir tat; ich aber, du Stolze, werde mich dafür tief bis zur Erde vor dir verneigen.‘ Ich legte den Dolch beiseite. Mein Herz begann dumpf zu schlagen, aber ich sah nicht nach ihm hin. Ich weiß noch, ich lächelte, sagte aber kein Wort und sah nur der Mutter in die traurigen Augen, und sah sie zornig an, während zugleich ein schlechtes Lächeln auf meinen Lippen blieb. Und die Mutter saß ganz bleich und totenstill ...“ Ordynoff lauschte mit unendlicher Spannung jedem Wort ihrer Erzählung. Doch allmählich legte sich ihre Erregung und ihre Rede wurde ruhiger. Die Erinnerung überwältigte das arme junge Weib und löste ihren Gram in ein Gefühl auf, das weit hinaus über das ganze uferlose Meer ihrer Sinne reichte. „Er nahm die Mütze, ohne zu grüßen. Und ich nahm wieder die Laterne, um ihn hinauszugeleiten, indem ich der Mutter zuvorkam, die, obwohl sie noch krank war, doch aufstehen und ihm das Geleit geben wollte. Wir kamen zur Pforte, ich öffnete sie ihm, verscheuchte die Hunde, schwieg aber. Er blieb stehen und plötzlich nimmt er die Mütze ab und grüßt mich mit einem Gruß bis zur Erde. Zugleich sehe ich, wie er die Hand in den Mantel schiebt und aus der Brusttasche ein kleines, mit rotem Saffianleder überzogenes Kästchen hervorholt und es öffnet. Ich sehe hin: es sind echte Perlen. Sie sollten für mich sein. ‚Ich habe,‘ sagte er, ‚im Städtchen eine Schöne, der wollte ich zum Gruß diese Perlen bringen, doch nun habe ich sie nicht ihr gebracht: nimm sie, schönes Mädchen, schmücke mit ihnen deine Schönheit oder zertritt sie mit dem Fuß, wie du willst, aber nimm sie.‘ Ich nahm sie, aber zertreten wollte ich sie nicht – das wäre zuviel Ehre gewesen. So nahm ich sie tückisch und sagte kein Wort. Ich kehrte zurück in das Zimmer und legte sie vor der Mutter auf den Tisch – dazu hatte ich sie genommen! Sie schwieg lange Zeit und war wie ein Handtuch so bleich, und, es war, als hatte sie Furcht, mit mir zu sprechen. ‚Was bedeutet das, Katjä?‘ fragte sie endlich. Ich aber sagte: ‚Dir, Mutter, hat es der Kaufmann gebracht, mehr weiß ich davon nicht.‘ Und ich sah, wie ihr die Tränen über die Wangen herabrollten und wie das Atmen ihr schwer wurde. ‚Nicht mir, böses Töchterchen, nicht mir!‘ Ich weiß noch, so weh sprach sie die Worte, so weh, als sei ihre ganze Seele voll Tränen. Und ich sah auf – ich wollte mich zu ihren Füßen niederwerfen, aber statt dessen sagte ich, was mir der böse Geist plötzlich eingab: ‚Nun, wenn nicht dir, dann wohl dem Vater. Wenn er zurückkehrt, werde ich sie ihm geben und ihm sagen, daß Kaufleute hier waren und ihre Ware vergessen haben ...‘ Da brach sie in Tränen aus und weinte bitterlich ... ‚Das werde ich selbst tun, werde dem Vater sagen, was für Kaufleute hier waren und nach was für einer Ware sie fragten ... Ich werde es ihm schon sagen, wessen Tochter du bist, du Gottlose! Du bist nicht mehr meine Tochter, du bist eine arglistige Schlange! Als mein Kind verfluche ich dich!‘ Ich schwieg und keine Träne trat mir ins Auge ... Ach! es war alles wie erstorben in mir ... Ich ging hinauf in mein Mädchenzimmer und die ganze Nacht horchte ich auf den Sturm und zusammen mit dem Sturm, das fühlte ich, immer lauschend, entstanden in mir meine Gedanken. „Fünf Tage vergingen. Dann kehrte gegen Abend der Vater heim, düster und böse, denn unterwegs hatte ihn die Krankheit noch mehr mitgenommen. Ich sah, den einen Arm trug er in der Binde – da erriet ich, daß der Feind seinen Weg gekreuzt hatte. Und der Feind hatte ihn krank gemacht. Und ich wußte auch, wer sein Feind war: Ich wußte alles! ... Mit der Mutter sprach er kein Wort, nach mir fragte er nicht, die Leute ließ er alle zusammenrufen und befahl, die Fabrik stillstehen zu lassen und das Haus vor Fremden zu hüten. Da ahnte mein Herz, daß in unserem Hause etwas nicht gut war. So wachten wir denn. Die Nacht verging langsam, wieder stürmte es draußen im Dunkeln und meine Seele wurde von Erregung geschüttelt. Ich öffnete das Fenster – mein Gesicht glühte, meine Augen weinten und mein Herz konnte keine Ruhe finden. Wie Feuer brannte es in mir! So – hinaus hätte ich mögen, hinaus aus dem drückenden Zimmer, und weit weg, bis ans Ende der Welt, wo die Blitze und Stürme entstehen, wo das Unwetter geboren wird! Meine Mädchenbrust bebte und zitterte ... plötzlich, es war schon spät – ich erwachte wie aus leichtem Schlummer ... oder hatte sich ein Nebel auf meine Seele gesenkt und mich verwirrt? – plötzlich höre ich, wie ans Fenster gepocht wird: ‚Mach auf!‘ – und ich sehe, ein Mensch ist an einem Strick heraufgeklettert. Ich ahnte sogleich, wer der späte Gast war, öffnete das Fenster und ließ ihn in mein einsames Zimmer. Das war _er_! Die Mütze nahm er nicht ab, setzte sich auf die Truhe, und sein Atem ging keuchend, als sei eine Meute von Verfolgern hinter ihm her gewesen. Ich stand und wußte, daß ich bleich war. ‚Ist der Vater zu Hause?‘ fragte er. – ‚Ja.‘ – ‚Und die Mutter auch?‘ – ‚Auch die Mutter,‘ sagte ich. ‚Dann sei jetzt ein Weilchen still ... Hörst du nichts?‘ – ‚Ich höre.‘ – ‚Was?‘ – ‚Ein Pfeifen unter dem Fenster!‘ – ‚Nun, willst du jetzt, schönes Mädchen, den Feind um seinen Kopf bringen? Willst du den Vater rufen und mich dem Verderben preisgeben? Deinem Mädchenwillen füge ich mich: was du willst, das geschehe! Hier hast du einen Strick, binde mich, wenn dein Herz dir befiehlt, für deine Mädchenehre einzustehen.‘ – Ich schwieg. – ‚Nun? Sprich doch, meine Schöne!‘ – ‚Was willst du?‘ fragte ich. – ‚Was ich will? Von meiner alten Liebe Abschied nehmen und einer neuen, einer jungen Liebe – dir, mein schönes Mädchen, meine Seele verpfänden ...‘ Ich lachte auf. Ich weiß selbst nicht, wie seine freche Rede mein Herz berühren konnte. ‚So laß mich jetzt, schönes Mädchen, nach unten gehen, mein Herz prüfen und dem Vater und der Mutter meinen Gruß entbieten,‘ sagte er und stand auf. Ich zitterte so, daß mir die Zähne aufeinanderschlugen, und ich mein Herz wie glühendes Eisen in der Brust fühlte. Und ich ging, öffnete ihm die Tür. Doch wie er schon über die Schwelle trat, nahm ich alle meine Kraft zusammen und stieß noch hervor: ‚Da hast du dein Geschmeide, und wage es nicht wieder, mir Geschenke zu bringen!‘ – und ich warf ihm das rote Kästchen mit den Perlen nach.“ Katherina hielt inne, um Atem zu schöpfen. Sie wechselte, wie schon oft während ihrer Erzählung, wieder die Farbe: ihre blauen Augen waren dunkel und glänzten seltsam. Plötzlich aber erblaßte sie von neuem und ihre Stimme senkte sich und bebte wie in verhaltener Trauer. „Ich blieb allein,“ fuhr sie fort, „und es war mir, als habe mich ein Wirbelsturm erfaßt. Plötzlich höre ich rufen, schreien, höre wie über den Hof die Leute laufen, höre: ‚Die Fabrik brennt!‘ Ich rührte mich nicht, ich hörte nur, wie alle aus dem Hause liefen; ich selbst blieb allein mit der Mutter. Ich wußte, daß sie mit dem Tode rang, seit drei Tagen lag sie schon im Sterben, ich, ihre verfluchte Tochter, ich wußte es! ... Plötzlich tönte ein Schrei unter meinem Zimmer, nur ein ganz schwacher, leiser Schrei, der so klang, wie ein Kind aufschreit, wenn es im Traum erschrickt, und dann war wieder alles still ... Ich löschte das Licht aus – es überlief mich kalt in der Dunkelheit, ich bedeckte das Gesicht mit den Händen, ich fürchtete mich, mich umzusehen. Dann drang plötzlich wieder Stimmengewirr zu mir, lauter und lauter – von der Fabrik her kamen Menschen gelaufen. Ich beugte mich weit zum Fenster hinaus – und ich sah: da brachten sie den Vater, tot, und ich hörte noch, wie man sagte: ‚Von der Treppe fiel er, von der Treppe ... gerade in den siedenden Kessel – der Teufel muß ihn hinuntergestoßen haben!‘ Ich sank auf mein Bett; kein Glied rührte sich, aber ich wartete, doch wußte ich selbst nicht, auf was und auf wen ich wartete. Furchtbar war diese Stunde. Ich weiß nicht, wie lange ich so saß. Ich weiß nur, daß ich schließlich ein Gefühl hatte, als drehe sich alles rund um mich. Im Kopf empfand ich einen dumpfen Druck und der Rauch biß mir in die Augen. Und es freute mich, daß mir das Ende nahte. Da berührte plötzlich jemand meine Schultern und hob mich auf. Ich schlug die Augen auf und sah, so gut ich sehen konnte: _er_ war es – und ganz versengt waren seine Kleider und heiß, ich glaube, sie schwelten noch und rochen nach Rauch. „‚Ich bin gekommen, um dich zu holen, schönes Mädchen,‘ sagte er. ‚Führe du mich aus dem Verderben, wie du mich ins Verderben hineingeführt hast. Meine Seele habe ich heut für dich geopfert. Allein aber kann ich für die Sünde dieser verwünschten Nacht nicht Vergebung erflehen – es sei denn, daß wir zwei gemeinsam beten und bitten!‘ Und er lachte dann, der Böse! ‚Nun weise den Weg,‘ sagte er, ‚wie man von hier fortkommt, ohne gesehen zu werden!‘ Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn. Wir stiegen die Treppe hinunter, gingen leise durch den Korridor, ich schloß die Tür der Vorratskammer auf – die Schlüssel trug ich bei mir – und wies auf das Fenster. Dort lag der Garten. Da ergriff er mich, hob mich auf seinen starken Arm und schwang sich mit mir aus dem Fenster. Hand in Hand liefen wir weiter, lange liefen wir. Dann stand endlich der dichte dunkle Wald vor uns. Er blieb stehen und horchte. ‚Sie verfolgen uns, Katjä! Die Verfolger sind uns auf den Fersen, schönes Mädchen, aber nicht in dieser Stunde ist es uns bestimmt, unser Leben zu lassen! Küsse mich, schönes Mädchen, verheiße mir Liebe und ewiges Glück!‘ – ‚Wovon sind deine Hände blutig?‘ fragte ich. – ‚Sind meine Hände blutig, mein Lieb? Ich habe eure Hunde gemetzelt. Sie bellten zu laut für den späten Gast. Komm!‘ Und wir liefen weiter. Da sahen wir auf dem Waldweg meines Vaters Reitpferd, das hatte die Zügel zerrissen und war aus dem Stall gelaufen: es hatte nicht mit verbrennen wollen! ‚Das schickt uns Gottes Hilfe!‘ sagte er, ‚ich hebe dich, Katjä, aufs Pferd!‘ Ich schwieg. ‚Oder willst du nicht? Ich bin doch kein Unchrist, kein böser Geist, da sieh, ich bekreuzige mich, wenn du willst,‘ und er schlug auch wirklich das Kreuz. Dann schwang er sich aufs Pferd, hob mich zu sich hinauf und ich drückte mich an ihn und vergaß an seiner Brust alles um mich her, und es war ganz so, als hielte mich nur ein Traum umfangen. Als ich aber aus diesem Traum erwachte, da sah ich, daß wir an einem breiten, breiten Fluß waren. Er stieg ab, hob mich vom Pferde und ging zum Schilf: dort hatte er seinen Nachen versteckt. Zum Abschied klopfte er dem Tier noch den Hals: ‚Nun leb wohl, alter Freund!‘ sagte er, ‚geh, such dir einen neuen Herrn, die alten haben dich alle verlassen.‘ Das ging mir so nah! Ich schlang meine Arme um den Hals des Tieres und preßte das Gesicht an sein glattes Fell und küßte es. Dann stiegen wir in den Nachen, er nahm die Ruder und bald lag das Ufer weit hinter uns. Und sobald das Ufer nicht mehr zu sehen war, zog er die Ruder ein und schaute sich rings um auf dem Wasser. Und während er noch so schaute, murmelte er: „‚Grüße dich, Mütterchen, du freier Strom, bist manches Gottesmenschen Ernährerin und mir meine Beschützerin! Hast du mein Gut auch bewahrt, meine Waren sanft getragen?‘ Ich schwieg und hatte den Blick gesenkt, denn mein Antlitz brannte vor Scham. ‚Hättest du doch lieber alles genommen, du stürmische, unersättliche,‘ murmelte er weiter, ‚und würdest mir nun dafür versprechen, meine schönste, vielkostbare Perle zu hüten und zu wiegen! Sag mir doch nur ein Wort, Mädchen, was bist du so stumm? – strahle Wärme, sei Sonne und verscheuche das Dunkel der Nacht!‘ Und er sagte es und lachte selbst dazu! Sein Herz brannte nach mir, ich fühlte es, aber doch wollte ich, in meiner Scham, das nicht dulden. Ich wollte etwas sagen, aber ich wußte nicht, wie ich es sagen sollte, und so sagte ich nichts. ‚Nun, wohlan, wie du willst!‘ sagte dafür er zu meinem scheuen Schweigen, sagte es wie mit Trauer, und war sehr niedergeschlagen. ‚Mit Gewalt läßt sich Liebe doch nicht erzwingen. Gott mit dir, du Hochmütige! Da sieht man, daß dein Haß gegen mich groß ist! Bin ich deinen blauen Augen so wenig liebwert erschienen, meine Taube?‘ Ich hörte es und Haß kam über mich, Haß aus Liebe; doch bezwang ich mein Herz und sagte: ‚Liebwert oder nicht liebwert, wie kann ich das wissen, wohl aber eine andere Törichte, Schamlose, die ihr reines Mädchenstübchen in dunkler Nacht entweiht, die ihre Seele für eine Todsünde verkauft und die ihr unkluges Herz nicht bezwungen hat. Das wissen vielleicht nur meine heißen Tränen und das sollte auch der noch wissen, der wie ein Verbrecher auf das Leid, das er verursacht, obendrein stolz ist und über ein Mädchenherz sich lustig macht!‘ Ich sagte es, vermochte dann aber nicht länger an mich zu halten und brach in Tränen aus ... Er schwieg, und sah mich nur an, daß ich wie ein Blatt erzitterte. ‚So höre denn, Mädchen,‘ sagte er dann, und seine Augen brannten auf mir, ‚es sind keine leeren Worte, die ich dir sage, sondern es ist ein großes Wort, das ich dir jetzt gebe: solange du mir Glück schenken wirst, so lange werde ich dir ein milder Herr sein, wenn du mich aber einmal nicht mehr liebhast, – so mache keine unnützen Worte, sage nichts, bemühe dich nicht: nur ein Zucken deiner Zobelbrauen, ein Blick aus deinem dunklen Auge, eine Bewegung deines kleinen Fingers laß genug sein und ich gebe deine Liebe frei und schenke dir deine goldene Freiheit zurück. Nur wird das zu derselben Stunde, du wunderbar Stolze, mein Leben enden und mir den Tod bringen.‘ Da lächelten alle meine Sinne zu seinen Worten ...“ In tiefer Erregung hielt Katherina in ihrer Erzählung inne. Sie holte schwer Atem, lächelte sinnend vor sich hin und wollte fortfahren, doch da begegneten ihre glänzenden Augen Ordynoffs fieberglühendem Blick, der wie gebannt an ihrem Antlitz hing. Sie zuckte zusammen, wollte etwas sagen, aber nur das Blut stieg ihr wieder ins Gesicht ... Und nun – wie fassungslos hob sie die Hände, umklammerte ihren Kopf und warf sich mit dem Gesicht auf das Kissen. – Alles erbebte in Ordynoff! Ein qualvolles Gefühl, eine Erregung, über die er sich keine Rechenschaft zu geben vermochte und die unerträglich war, ergoß sich wie ein Gift durch alle seine Adern und wuchs, und wuchs: ein wilder und doch gefesselter Trieb, eine gierig verlangende, nicht zu ertragende Leidenschaft verschlang sein ganzes Denken und tobte durch alle seine Gefühle. Gleichzeitig aber begann eine unendliche, uferlose Trauer immer lastender sein Herz zu bedrücken. Mehr als einmal hatte er, während Katherina erzählte, aufschreien und ihr zurufen wollen, daß sie doch schweigen solle. Er wollte sich ihr schon zu Füßen werfen und sie unter Tränen anflehen, ihm seine früheren Liebesqualen, sein erstes, ihm selbst noch unverständliches reines Verlangen wiederzugeben, und er sehnte sich förmlich zurück nach den Tränen, die nun schon lange versiegt waren. Sein Herz verging vor Sehnsucht und es war ihm, als sei es blutüberströmt und schließe alle Tränen in sich ein, die seine Seele nicht mehr erlösen wollten. Er begriff kaum, was Katherina ihm erzählte, und das Gefühl, das das arme junge Weib in ihm erregte, machte seine Liebe irre und scheu. In diesem Augenblick verfluchte er seine Leidenschaft: sie drohte, ihn zu ersticken, sie marterte ihn und es war ihm, als fließe nicht Blut, sondern siedendes Blei durch seine Glieder. „Ach, nicht das ist mein Elend, was ich dir bis jetzt erzählt habe!“ sagte Katherina, sich wie nach einem plötzlichen Entschluß aufrichtend, „nicht das, nicht das!“ stieß sie mit einer Stimme hervor, in der ein neues, sie überwältigendes Gefühl zitterte und in der die ganze Qual ihrer Seele lag, die sich zu zerreißen schien. „Mein Leid und mein Jammer ist etwas ganz anderes! Was ist mir die Mutter, wenn ich auch auf der ganzen Welt keine zweite leibliche Mutter mehr finden kann! Was liegt mir daran, daß sie mich in einer bitteren Stunde verflucht hat! Was liegt mir an meinem früheren sonnigen Leben, an meinem warmen Stübchen und meiner Mädchenfreiheit! und was liegt daran, daß ich mich dem Bösen verkauft und meine Seele dem Verderben hingegeben habe, daß ich für das kurze Glück ewige Schuld trage! Ach, nein, das ist es nicht, obschon darin mein Verderben liegt! Aber bitter ist mir dies und es zerreißt mein Herz, daß ich seine Sklavin geworden bin, daß meine Entehrung und Schande mir Schamlosen lieb sind, daß das gierige Herz sich daran freut, seiner Schmach zu gedenken, als wäre sie eine Lust und ein Glück – das, nur das ist mein Elend, daß keine Kraft zur Empörung in ihm ist und kein Zorn über die ihm angetane Schmach! ...“ Der Herzschlag stockte in der Brust des armen Weibes und ein krampfhaftes Aufschluchzen erstickte ihre Worte. Ihr Atem strich heiß über ihre brennenden Lippen, ihre Brust hob und senkte sich und ihre Augen blitzten in wildem Zorn. Ihr ganzes Gesicht war dabei in diesem Augenblick so bezaubernd, es sprach solch eine Flut von Gefühl und Leidenschaft aus ihm und jeder Zug, jede Linie ihres Antlitzes bebte in einer so berauschenden Schönheit, daß alles feindliche Empfinden, das in Ordynoffs Brust aufstieg, sofort wieder verschwand. Sein Herz drängte zu ihr hin, wollte sich an ihr zitterndes Herz drücken und voll Leidenschaft in sinnlosem Rausch gemeinsam mit ihr in den Wellen desselben Sturmes untertauchen, in demselben Ausbruch unbeschreiblicher Raserei, gemeinsam mit ihr vergehen und, wenn es sein mußte, mit ihr sterben. Katherina begegnete dem flimmernden Blick Ordynoffs und lächelte, daß eine doppelte Flammenglut sein Herz durchloderte. Er wußte nicht mehr, was mit ihm geschah. „Hab Erbarmen mit mir, hab Gnade!“ flüsterte er ihr mit verhaltener Stimme zu und beugte sich zu ihr nieder, so nah, so nah, daß sein Atem mit dem ihren zusammenströmte, während er ihr zugleich in die Augen sah. „Du richtest mich zugrunde! Ich weiß von deinem Leid nichts, meine Seele ist verwirrt ... Was geht es mich an, worüber dein Herz weint! Sage, was du verlangst ... ich werde es tun. So komm, laß, töte mich nicht, bring mich nicht um! ...“ Regungslos sah ihn Katherina an. Die Tränen waren versiegt auf ihren heißen Wangen. Sie wollte ihn unterbrechen, wollte seine Hand erfassen, wollte selbst etwas sagen und fand doch kein Wort. Ein seltsames Lächeln erschien langsam auf ihren Lippen, ja fast war es, als wolle ein Lachen hervorbrechen ... „So habe ich dir wohl noch nicht alles erzählt,“ sagte sie endlich mit stockender Stimme. „Höre weiter ... wirst du auch mir zuhören, du heißes Herz? Höre, was deine Schwester dir erzählt. Du hast noch wenig von ihrem Leid erfahren! Ich wollte dir erzählen, wie ich mit ihm ein Jahr verlebte, doch wozu ... Als aber dies Jahr vergangen war, da zog er mit seinen Freunden stromabwärts und ich blieb bei seiner Pflegemutter am Landungsort. Ich wollte dort bis zu seiner Rückkehr verweilen. Ich wartete einen Monat, wartete noch einen – da begegnete mir im Städtchen ein junger Kaufmann, und wie ich ihn erblickte, erinnerte ich mich meiner früheren goldenen Jahre. ‚Schwesterchen, liebes Schwesterchen!‘ sagte er, als er mich erkannte, ‚ich bin Aljoscha, dein Spielkamerad: die Alten verlobten uns als Kinder – weißt du noch? Hast du mich vergessen? Erinnere dich, ich bin aus demselben Ort wie du ..