The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 22: Ein kleiner Held This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Sämtliche Werke 22: Ein kleiner Held Vier Novellen Author: Fyodor Dostoyevsky Contributor: Dmitriĭ Vladimirovich Filosofov Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky Editor: Arthur Moeller van den Bruck Translator: E. K. Rahsin Release date: October 5, 2025 [eBook #76986] Language: German Original publication: Muenchen: Piper, 1912 Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library. *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 22: EIN KLEINER HELD *** F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski, Dmitri Philossophoff und anderen herausgegeben von Moeller van den Bruck Übertragen von E. K. Rahsin Zweite Abteilung: Zweiundzwanzigster Band F. M. Dostojewski Ein kleiner Held Vier Novellen München und Leipzig R. Piper & Co. 1912 R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1912 Druck von Mänicke u. Jahn in Rudolstadt Inhalt Vorwort VII Ein kleiner Held 1 Weihnacht und Hochzeit 67 Njetotschka Neswanowa 83 Der Bettelknabe 373 Vorwort Der Band bringt, als der letzte der Ausgabe, vier Geschichten, die dadurch in einer gewissen abschließenden und versöhnenden Weise verbunden sind, daß sie, wenn auch mehr oder weniger tragisch, von Kindern und Kinderseelen handeln. Die drei ersten dieser Geschichten – „Kleiner Held“, „Weihnacht und Hochzeit“, „Njetotschka Neswanowa“ – stammen aus der frühesten Zeit Dostojewskis und gehören den Jahren 1848 und 1849 an. Die größte von ihnen, „Njetotschka Neswanowa“, ist das Bruchstück eines Romanes, in der Wirkung ein liegengebliebenes Manuskript, ein unausgearbeiteter Entwurf, doch eben deshalb von einer Größe der psychologischen Anlage und übrigens auch von einer Großartigkeit der künstlerischen Erfassung, die ihn zu den tiefsten und gewaltigsten Dingen zählen lassen, die wir von Dostojewski besitzen. Die Dichtung erschien in den „Vaterländischen Annalen“, ihre Fortsetzung wurde durch Dostojewskis Verhaftung im Jahre 1848 unterbrochen, und nach der Rückkehr aus Sibirien ist das Fragment dann unausgeführt und unvollendet geblieben. – Die vierte Geschichte des Bandes, der „Bettelknabe“, gehört zu jenen „letzten Novellen“ von der Art der „Kleinen“ in Band XX der Ausgabe, die dem „Tagebuch eines Schriftstellers aus dem Jahre 1876“ entnommen sind und wohl von unmittelbaren Tagesereignissen angeregt waren, wie Dostojewski sie in den Zeitungen aufgezeichnet fand, oder selbst auf der Straße erlebte. E. K. R. Ein kleiner Held Damals war ich noch nicht volle elf Jahre alt. Im Juli schickte man mich zum Besuch auf ein Gut in der Nähe von Moskau, zu meinem Verwandten T–off. Bei diesem hatten sich zu der Zeit einige fünfzig Gäste eingefunden, vielleicht sogar noch mehr ... genau weiß ich nicht, wie viele es ihrer waren – gezählt habe ich sie nicht. Es ging hoch her und man vergnügte sich nach Kräften. Fast hatte es den Anschein, als habe man die Feste zu feiern begonnen, damit sie nie wieder aufhören sollten, und der Hausherr schien sich geradezu geschworen zu haben, so schnell wie möglich sein ganzes Riesenvermögen zu vergeuden, ein Ziel, das er denn auch vor kurzem glücklich erreicht hat: er ist tatsächlich alles, auch den letzten Quadratfuß Land losgeworden. Jeden Augenblick trafen neue Gäste ein. Moskau war ja so nahe, daß man die Stadt vom Gute aus sehen konnte. Infolgedessen traten die aufbrechenden Gäste den zuletzt eingetroffenen meist nur den Platz ab und die Feste konnten schier endlos fortgesetzt werden. Vergnügungen aller Art folgten einander ununterbrochen und ein Ende dieser Reihenfolge war nicht abzusehen. Bald machte man hoch zu Roß Ausflüge in die Umgegend, bald weite Spaziergänge längs dem Fluß oder in den Wald; Picknicks und Diners im Freien gehörten zur Tagesordnung, und an schönen Abenden wurde regelmäßig auf der großen Terrasse des Herrenhauses gespeist. Diese war mit seltenen Blumen überreich geschmückt. Ihre duftende Blütenfülle ließ, vereint mit der glänzenden Beleuchtung der Tafel, unsere fast ausnahmslos hübschen jungen Damen noch viel schöner erscheinen, wenn sie in ihren frischen Farben nach den Ausflügen am Tage mit belebten Gesichtern und glänzenden schalkhaften Augen an der Tafel saßen und ein keckes Wortgeplänkel hin und her mutwillig und geschickt zu führen wußten, indes zwischen Scherz und Scherz ihr silberhelles Lachen erklang. Es wurde getanzt, musiziert, gesungen; bei schlechtem Wetter stellte man lebende Bilder, erfand Gesellschaftsspiele, bei denen es allerlei zu raten gab, und natürlich wurde auch Theater gespielt. Außerdem gab es manchmal Vorträge, die merkwürdigsten Erlebnisse wurden erzählt, Anekdoten herumgetragen usw. Aus der Gästeschar traten einige wenige von persönlicherem Gepräge ziemlich scharf hervor: und die waren denn auch anerkanntermaßen die Hauptpersonen. Selbstverständlich fehlte es auch hier nicht an Neid, Klatsch und den üblichen kleinen Verleumdungen, ohne die die Welt nun einmal nicht bestehen kann und ohne die wohl Millionen von Personen an ihrem Stumpfsinn sterben würden, wie die Fliegen im Herbst umkommen. Da ich aber damals erst elf Jahre zählte, fehlte mir noch das Verständnis für diese Menschensorte, und da meine Gedanken überdies mit ganz anderem beschäftigt waren, so blieb nur ein Teil von dem, was ich hin und wieder zufällig hörte, in meinem Gedächtnis haften. Später ist mir dann allerdings manches wieder eingefallen, was ich damals überhört oder nicht begriffen hatte. Sonst konnte sich nur das glänzende Äußere des Bildes meinen Kinderaugen dauernd einprägen. Und die allgemeine festliche Stimmung, die sorglose Fröhlichkeit, das heitere, glanzvolle Leben – alles das, was ich bis dahin noch nie gesehen und gehört hatte, konnte denn auch allerdings einen solchen Eindruck auf mich machen, daß ich mich in den ersten Tagen förmlich verlor und mir mein junger Kopf schwindlig wurde. Ich war natürlich noch ein Kind, nicht mehr als ein Kind, und die schönen Damen, die mich liebkosten, machten sich weiter keine Gedanken über mein Alter. Aber – merkwürdig! – trotz meiner elf Jahre bemächtigte sich meiner zuweilen doch schon eine seltsame Empfindung, die ich freilich selbst vorläufig noch nicht begreifen konnte: es war, als streiche irgend etwas ganz leise und zart über mein Herz, etwas Unbekanntes und Ungeahntes, wovon dann mein Herz wie nach einem heftigen Schreck zu brennen und zu pochen begann und mir oft ganz plötzlich das Blut heiß ins Gesicht trieb. Es kamen Augenblicke, in denen ich mich der verschiedenen kindlichen Vorrechte, die ich genoß, geradezu schämte und sie fast als persönliche Beleidigung empfand. Zuweilen aber bemächtigte sich meiner wiederum so etwas wie Verwunderung und ich schlich mich dann fort, irgendwohin, wo mich niemand sehen konnte, gleichsam nur, um einmal Atem zu schöpfen und mich an etwas zu erinnern, an irgend etwas, das da, wie mir schien, noch vor kurzem gewesen war ... wovon aber gleichwohl und ganz plötzlich jede Spur in meinem Gedächtnis wie ausgelöscht war ... – und ohne das ich doch, wie ich glaubte, nicht mehr auskommen konnte, wenn ich es auch keinem Menschen zeigen durfte. Zu guter Letzt schien es mir, daß ich den Menschen allen irgend etwas verheimlichte, wovon ich aber um keinen Preis auch nur ein Wort jemandem gesagt hätte, da ich kleiner Bursche mich dessen bis zu Tränen schämte. Bald aber begann ich in dem Trubel, der mich hier umgab, eine gewisse Einsamkeit zu empfinden. Es waren wohl noch andere Kinder da, aber sie waren alle entweder viel jünger oder viel älter als ich, und übrigens war es mir auch gar nicht um Spielgefährten zu tun. Freilich wäre mit mir nichts Besonderes geschehen, wenn ich nicht in der Gesellschaft eine Ausnahmestellung eingenommen hätte. In den Augen aller dieser reizenden Damen war ich noch das kleine unbestimmte Lebewesen, das sie liebkosten und mit dem sie wie mit einer Puppe spielen zu dürfen glaubten. Namentlich eine von ihnen, eine entzückende junge Blondine mit dem schönsten und reichsten Haar, das ich je gesehen habe und sehen werde, schien sich geradezu geschworen zu haben, mich nicht in Ruhe zu lassen. Während mich das Lachen, das sie unter den Gästen durch ihre ausgelassenen Scherze, die sie mit mir trieb, hervorrief, entschieden verwirrte und ärgerte, schien es ihr im Gegenteil und ganz fraglos ein riesiges Vergnügen zu bereiten. Sie benahm sich oft wie ein richtiges Pensionsmädel, doch sah sie dafür entzückend aus und in ihrer Schönheit war etwas, das sogleich in die Augen stach und einen einfach bestrickte. Natürlich glich sie nicht jenen kleinen verschämten blonden Mädelchen, die so zart und rosig sind und zutunlich wie weiße Mäuschen, oder die so lieblich aussehen wie Pastorentöchterchen. Sie war nicht sehr groß von Wuchs und ihre Gestalt ein wenig voll, ihr Gesicht aber hatte zarte, feine Züge, die entzückend gezeichnet waren. Es lag eine Elektrizität in diesem Gesicht, so daß es in ihm oft wie ein Blitz aufleuchten konnte, und überhaupt war sie – ganz Feuer, wie man zu sagen pflegt, lebendig, lebhaft, leicht. Aus ihren großen offenen Augen sprühten förmlich Funken, als wären sie Edelsteine. Nie würde ich solche blauen, strahlenden Augen gegen die schwarzen des Südens eintauschen, und sollten sie auch noch hundertmal dunkler sein, als der dunkelste andalusische Blick, denn meine Blondine war wirklich jener Schwarzäugigen ebenbürtig, die ein berühmter Dichter in so schönen Versen besingt, daß er zum Schluß dem ganzen Kastilien schwören konnte, sein Leben freudig hingeben zu wollen, wenn man ihm dafür erlaube, nur mit der Fingerspitze die Mantilla seiner Schönen zu berühren. Jetzt füge man noch hinzu, daß _meine_ Schöne die lustigste aller Schönen war und dazu das unvernünftigste, lachlustigste, unartigste Kind, und das alles, obwohl sie schon seit etwa fünf Jahren verheiratet war. Das Lachen wich fast nie von ihren Lippen, die so frisch und jung aussahen, wie die zarten Blätter einer Rose, wenn sie unter den Strahlen der Morgensonne kaum erst ihren duftenden Blütenkelch geöffnet und ihr die Sonne noch nicht die kühlen glitzernden Tautropfen abgetrunken hat. Ich weiß noch, am zweiten Tage nach meiner Ankunft wurde Theater gespielt. Der Saal war buchstäblich überfüllt: es gab keinen einzigen freien Platz, und da ich mich zufällig etwas verspätet hatte, mußte ich stehend der Aufführung zusehen. Aber das lustige Spiel zog mich immer mehr nach vorn und bald hatte ich mich ganz unbemerkt bis zu den ersten Reihen durchgearbeitet, wo ich dann endlich stehen blieb und mich auf die Lehne eines Stuhles stützte, auf dem eine Dame saß. Diese Dame war meine schöne Blondine. Ich muß aber hinzufügen, daß wir damals noch nicht bekannt miteinander waren. Und da nun – ich weiß nicht, wie es kam – begann ich ihre märchenhaft schönen Schultern zu betrachten, die so zart und weiß aussahen wie Milchschaum: obgleich es mir damals gewiß noch ganz gleichgültig war, ob ich die schönsten Frauenschultern sah oder den Kopfputz mit feuerfarbenen Bändern, der das graue Haar einer ehrwürdigen Dame in der ersten Reihe vor mir verdeckte. Neben der blonden Schönheit saß aber ein älteres Fräulein, eine von jenen, die, wie ich später beobachtet habe, sich immer möglichst in der Nähe junger und hübscher Damen aufhalten, und in der Regel gerade diejenigen wählen, die die männliche Jugend nicht zu verscheuchen pflegen. Doch dies nur nebenbei; ich erwähnte es bloß deshalb, weil dieses ältere Fräulein meine betrachtenden Blicke bemerkte, sich sogleich zu ihrer schönen Nachbarin beugte und ihr mit maliziösem Lächeln etwas ins Ohr flüsterte. Plötzlich sah sich diese nach mir um und ihr flammender Blick traf mich im Halbdunkel, so daß ich, der ich darauf nicht vorbereitet war, erschrocken zusammenfuhr. Da lächelte sie. „Gefällt dir das Stück?“ fragte sie mich und sah mir spöttisch mit zuzwinkerndem Blick in die Augen. „Ja–a,“ antwortete ich und sah sie immer noch mit einer gewissen Verwunderung an, an der wiederum sie Gefallen zu finden schien. „Warum stehst du denn? So wirst du doch müde. Oder sind alle Stühle besetzt?“ „Ja, alle, es ist kein Platz mehr frei,“ sagte ich, diesmal mehr mit meiner Sorge um einen Stuhl beschäftigt, als mit dem blitzenden Blick der schönen Dame, und dabei herzlich froh darüber, daß sich endlich ein gutes Herz fand, dem ich mein Leid mitteilen konnte. „Ich habe bereits gesucht, aber auf jedem Stuhl sitzt schon jemand,“ fügte ich hinzu, als wollte ich mich bei ihr darüber beklagen, daß alle Stühle besetzt waren. „Komm her!“ sagte sie schnell entschlossen, wie sie sich zu allem immer blitzschnell entschloß, gleichviel was für eine tolle Idee ihr in den Kopf kam. „Komm her zu mir, schnell, und setz’ dich auf meinen Schoß.“ „Auf den Schoß? ...“ wiederholte ich einigermaßen verwundert, und ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Wie ich bereits sagte, fingen meine Kindervorrechte nachgerade an, mich zu kränken und zu beschämen. Diese Blondine aber trieb es weit ärger als alle anderen. Überdies begann ich, der ich schon von jeher ein etwas schüchterner und verschämter Knabe war, mich gerade zu jener Zeit vor Damen ganz besonders zu fürchten, und deshalb machte mich ihre Aufforderung vollends unsicher. „Nun ja, auf den Schoß! Warum willst du denn nicht auf meinem Schoß sitzen?“ Und sie lachte, lachte immer übermütiger, lachte Gott weiß worüber – vielleicht über ihren eigenen Einfall oder vielleicht auch vor Freude darüber, daß sie mich so verlegen gemacht hatte. Ich errötete und sah mich in meiner Verwirrung verstohlen um – wie um eine Möglichkeit zu erspähen, irgendwohin zu entschlüpfen. Aber sie kam mir zuvor, erwischte meine Hand, zog mich geschwind zu sich und plötzlich – ganz unvermutet und zu meiner größten Verwunderung – preßte sie meine Hand mit ihren heißen Fingern wie in einen Schraubstock. Es tat schrecklich weh und ich mußte meine ganze Kraft zusammennehmen, um nicht aufzuschreien. Da war es denn wohl kein Wunder, daß ich die seltsamsten Gesichter schnitt. Hinzu kam noch, daß ich nicht nur verwundert und erschrocken war, sondern einfach entsetzt, und zwar über die Tatsache, die ich nun plötzlich am eigenen Körper erfahren mußte: daß so schöne Damen zugleich so böse sein und sich so schlimm an kleinen Jungen vergreifen konnten, die ihnen doch nichts getan hatten, und das noch dazu vor so vielen fremden Menschen! Wahrscheinlich spiegelte aber mein unglückliches Gesicht alle meine Seelenregungen wieder, denn die unartige Dame lachte unbändig und preßte dabei meine armen Finger, als wollte sie sie zerquetschen. Es schien ihr ein rasendes Vergnügen zu bereiten, etwas recht Tolles anzustellen und einen armen Jungen recht bis zur Verzweiflung zu peinigen und zum besten zu haben. Ich war in der Tat der Verzweiflung nahe. Erstens verging ich fast vor Scham, da alle, die in der Nähe saßen, sich nach uns umsahen, die einen erstaunt und verständnislos, die anderen lachend, da sie sogleich begriffen, daß die schöne Blondine wieder jemandem einen Streich spielte. Und zweitens wollte ich schreien vor Schmerz, denn die Schöne schien ihren ganzen Ehrgeiz darein zu setzen, meine Finger mit wahrem Ingrimm, gerade weil ich nicht schrie, zusammenzupressen. Ich aber hielt wie ein kleiner Spartaner stand und schrie nicht. Ich fürchtete, mit meinem Schrei das Publikum zu erschrecken und die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken: was aber dann mit mir geschehen wäre, das vermochte ich nicht einmal auszudenken! In meiner Verzweiflung begann ich einen erbitterten Kampf mit ihr, um meine Hand aus ihren Fingern zu reißen, aber die Grausame war ja viel, viel stärker als ich. Endlich hielt ich den Schmerz nicht länger aus und schrie auf – aber nur darauf hatte sie gewartet! Im Nu ließ sie meine Hand fahren und saß da, als wäre gar nichts geschehen, als wäre sie das unschuldigste Geschöpf der Welt, das nichts damit zu schaffen hat, wenn ein anderer unartig ist: kurz, wie es ein echter Schulbube tut, der, kaum daß der Lehrer ihm den Rücken kehrt, im Handumdrehen etwas anrichtet – und wäre es auch nur, daß er einem kleinen Schwächling einen Rippenstoß versetzt oder ähnliches mit dem Erfolg verbricht, daß der andere aufschreit – in der nächsten Sekunde aber wieder stramm und artig auf seinem Platz sitzt und fromm die Augen niederschlägt oder mit ungeteilter Aufmerksamkeit in seinem Buch liest und somit den Herrn Lehrer, der auf den Lärm hin wie ein Habicht auf ihn losschießt, mit einer langen Nase wieder abziehen läßt. Zu meinem Glück jedoch wurde gerade in diesem Augenblick die Aufmerksamkeit der übrigen durch das meisterhafte Spiel unseres Hausherrn in Anspruch genommen – er spielte nämlich in der Komödie die Hauptrolle. Stürmischer Beifall erscholl und ich benutzte schnell die Gelegenheit zur Flucht, drängte mich durch ein paar Reihen und lief in die entgegengesetzte Ecke, von wo aus ich halbversteckt hinter einer Säule mit Grauen dorthin spähte, wo mein grausamer Quälgeist saß. Sie lachte so, daß sie das Taschentuch an die Lippen pressen mußte. Und lange noch sah sie sich immer wieder nach mir um, jedoch ohne mich zu entdecken. Allem Anscheine nach tat es ihr sehr leid, daß unsere verrückte Balgerei so schnell ein Ende gefunden hatte, ja vielleicht heckte sie schon einen neuen Streich aus. Damit begann also unsere Bekanntschaft, und seit jenem Abend war ich meines Lebens nicht mehr sicher vor ihr. Sie verfolgte mich ohne Maß und Gewissen. Sie wurde einfach zu meinem Schreckgespenst. Das Groteske ihrer Scherze mit mir bestand hauptsächlich darin, daß sie beteuerte, bis über die Ohren in mich verliebt zu sein – und zwar sagte sie das ganz ungeniert in Gegenwart aller Gäste. Natürlich war das für mich, dem ohnehin mehr als nötig verschämten Knaben, ungefähr das Fürchterlichste, was ich mir denken konnte, und es ärgerte mich fast bis zu Tränen; ja ein paarmal brachte sie mich in eine so unangenehme und bedenkliche Lage, daß ich nahe daran war, mit dieser heimtückischen Anbeterin einen regelrechten Faustkampf zu eröffnen. Aber meine naive Verwirrung, meine Verzweiflung und Wut schienen sie nur anzustacheln, mich noch lebhafter zu verfolgen. Sie kannte kein Erbarmen, ich aber wußte nicht, wo ich mich vor ihr verbergen sollte, und zum Unglück wirkte noch das Gelächter der anderen, das sie durch ihre Scherze mit mir hervorzurufen verstand, anfeuernd auf sie, so daß man zu guter Letzt fand, sie gehe mit ihren Scherzen denn doch zu weit. Und wirklich muß auch ich zugeben – ich meine heute, denn damals konnte ich das noch nicht beurteilen –, daß sie sich zu viel mit einem solchen Kinde erlaubte, wie ich es damals war. Aber so war nun einmal ihr Wesen, das ja deshalb noch nicht schlecht zu sein brauchte: sie war eben auch noch ein richtiges verwöhntes Kind. Wie ich nachher erfuhr, soll gerade ihr Mann sie am meisten verwöhnt haben – ein dicker kleiner Herr mit einem frischen Gesicht, sehr reich und sehr beschäftigt, letzteres wenigstens nach seiner Lebensweise zu urteilen: ewig hatte er etwas vor, und keine zwei Stunden hielt er es an einem Ort aus, jeden Tag fuhr er vom Gut nach Moskau, oft sogar zweimal am Tage, und zwar, wie er behauptete, wegen geschäftlicher Angelegenheiten. Etwas Lustigeres und Gutmütigeres als es seine komische, aber dabei doch immer gesetzte Miene und Haltung war, hätte man schwerlich irgendwo finden können. Seine Frau liebte er nicht nur bis zur Schwäche – nein, er betete sie geradezu an wie seinen Abgott. Da versteht es sich wohl von selbst, daß er ihr nichts verbot, und daß sie tun konnte, was ihr gerade einfiel. Freunde und Freundinnen besaß sie eine Menge. Denn erstens gab es überhaupt wenige, die sie nicht liebten, und zweitens war sie gar nicht wählerisch in der Wahl ihrer guten Bekannten, obgleich auch ihrem Charakter viel mehr Ernst zugrunde lag, als man nach dem, was ich soeben erzählt habe, annehmen könnte. Aber von allen ihren Freundinnen liebte sie eigentlich nur eine junge Frau, eine entfernte Verwandte von ihr, die gleichfalls als Gast auf dem Gute weilte. Zwischen ihnen bestand ein ganz eigenes Freundschaftsverhältnis, eines von jenen seltsam zarten, geistig vornehmen, wie es sich zuweilen aus der Begegnung zweier sonst recht verschiedener Charaktere ergibt, die vielleicht sogar einander ganz entgegengesetzt sind, von denen aber der eine strenger und tiefer und reiner ist als der andere, während dieser mit feinem Taktgefühl ehrlicher Selbsteinschätzung und neidloser Liebe sich dem anderen unterordnet, indem er dessen Überlegenheit anerkennt und seine Freundschaft wie ein Glück und einen kostbaren Schatz im Herzen bewahrt. Daraus entwickelt sich dann dieses zarte, innerlich vornehme Verhältnis zueinander, das Güte und Nachsicht auf der einen Seite, auf der anderen Liebe und Verehrung des Höherstehenden kennzeichnen – eine Verehrung, der freilich eine gewisse Furcht nicht fehlt: die Furcht nämlich, sich in den Augen desjenigen, der für einen so hoch steht, etwas zu vergeben, was zugleich den glühenden Wunsch hervorruft, mit jedem Schritt und jeder Tat dem Herzen des Freundes näher zu treten. Sie waren beide in gleichem Alter, aber es war doch in allem ein schier unermeßlicher Unterschied zwischen ihnen, vor allem auch in ihrer äußeren Erscheinung. ^M–me^ M. war gleichfalls sehr schön, aber ihre Schönheit hatte etwas Eigenartiges, was sie auf den ersten Blick von der Schar der hübschen Damen unterschied; und dieses nur schwer erklärbare Etwas wirkte mit einer unwiderstehlichen Anziehungskraft auf Menschen oder richtiger, es erweckte in jedem, der ihr begegnete, ein gutes, reines Gefühl, das einen alsbald wie eine geheime, aber mächtige Sympathie zu ihr hinzog. Es gibt solche Gesichter. In ihrer Nähe fühlt ein jeder sich irgendwie besser, irgendwie freier und wärmer: und doch war der Blick ihrer traurigen großen Augen, aus denen Geist und Kraft sprachen, zugleich schüchtern und unruhig, wie in immerwährender Flucht vor etwas Feindlichem und drohend Grausamem, und diese seltsame Scheu breitete zuweilen solch eine Wehmut über ihre stillen Züge, die an die heiligen Gesichter italienischer Madonnen gemahnten, daß man bald ebenso traurig wurde, als hätte man selbst einen Kummer, vielleicht den gleichen wie sie, deren Leid man so recht nachfühlen konnte. Aus ihrem bleichen, schmalen Gesicht sah, trotz der vollendeten Schönheit seiner reinen, regelmäßigen Züge und der wehmütigen Strenge einer dumpfen, verborgenen Qual, doch noch das ursprüngliche klare Kinderantlitz hervor, das Gesicht der noch nicht vergessenen, vertrauensseligen Jahre – der Jahre eines vielleicht unbewußten Glücks. Und dazu kam dieses stille, etwas scheue, unbestimmte Lächeln und alles das erweckte eine so unerklärliche Teilnahme für diese Frau, daß im Herzen eines jeden unwillkürlich eine süße, innige Sorge um sie erwachte, eine Sorge, die für sie noch aus der Ferne sprach und einen über Zeit und Raum hinweg mit ihr verband. Sie war vielleicht etwas schweigsam und verschlossen, obwohl es zugleich schwerlich ein aufmerksameres und liebevolleres Wesen gab, als sie es zeigen konnte, wenn jemand der Teilnahme bedurfte. Es gibt Frauen, die im Leben geradezu wie barmherzige Schwestern sind. Vor ihnen braucht man nichts zu verbergen, nichts zu verschweigen, wenigstens nichts, was in unserer Seele krank und verwundet ist. Wer leidet, der gehe getrost zu ihnen und fürchte nicht, ihnen zur Last zu fallen, denn nur selten weiß jemand von uns, wieviel unendlich geduldige Liebe, wieviel Mitgefühl und welch ein Allverzeihen in manchem Frauenherzen sein kann. Ganze Schätze an Mitempfinden, Trost und Hoffnung ruhen in diesen reinen Herzen, die so oft selbst verwundet sind – Herzen, die viel trauern, mehr als andere lieben, aber die Wunden behutsam vor jedem neugierigen Blick verbergen, denn tiefes Leiden schweigt und verbirgt sich. Diese Frauen schreckt weder die Tiefe der Wunde noch ihre Fäulnis: wer an sie mit seinem Vertrauen herantritt, ist ihrer schon wert. Sie sind wie zum Helfen geboren ... ^M–me^ M. war von hohem Wuchs, biegsam und schlank, aber ein wenig mager. Ihre Bewegungen waren alle irgendwie ungleichmäßig, bald langsam und sanft und nicht ohne eine gewisse Würde, bald wieder kindlich schnell. Dabei sprach aus ihrer Geste zugleich so etwas wie ein Bangen, wie eine Schutzlosigkeit, die aber doch wieder niemanden um Schutz anflehte oder um Beistand bat. Ich sagte bereits, daß die bösen Bemerkungen der tückischen Blondine mich beschämten, ärgerten, peinigten, daß mein Herz mir blutete. Aber hierfür gab es noch einen anderen Grund, sogar einen recht seltsamen und dummen, den ich jedoch wie ein Heiligtum vor allen geheimhielt, für den ich wie ein Geizhals für seinen Schatz zitterte und der mir schon beim bloßen Gedanken, auch wenn ich ganz allein mit meinem verwirrten Kopf irgendwo in einer dunkeln Ecke saß, wo der forschende spöttische Blick meines Plagegeistes mich nicht erreichen konnte und ich mich vor allen blauen Augen sicher fühlte – der mir schon bei dem bloßen Gedanken an den Gegenstand dieser Ursache das Herz vor lauter Verwirrung, Scham und Furcht stille stehen machte. Mit einem Wort: ich war in ^M–me^ M. verliebt. Und doch – muß ich nicht annehmen, daß ich soeben den größten Unsinn gesagt habe: denn das war ja ganz undenkbar!? Trotzdem – warum machte von allen Gesichtern, die ich sah, nur ihr Gesicht einen solchen Eindruck auf mich? Weshalb folgte mein Blick nur ihr allein, wo sie ging oder stand, weshalb _liebte_ ich es, sie zu betrachten, obschon doch damals mein Sinn entschieden noch nicht danach stand, Frauen zu entdecken und ihnen nahezutreten? Es geschah das namentlich abends, wenn sich bei trübem oder kühlem Wetter die ganze Gesellschaft in den Sälen versammelte und ich dann aus irgendeiner Saalecke, wo ich einsam und verlassen saß, ziellos nach allen Seiten ausguckte – wohin die Augen selbst gerade wollten, da ich keine andere Beschäftigung für sie zu finden wußte. Außer meiner Verfolgerin sprach selten jemand ein Wort zu mir, so daß ich mich an solchen Abenden gewöhnlich sträflich langweilte. Dann betrachtete ich die Menschen und spitzte die Ohren, wenn ich Gespräche hörte, von denen ich oft kein Wort begriff. Da kam es denn ganz von selbst, daß die traurigen Augen und das stille Lächeln der schönen ^M–me^ M. Gott weiß weshalb meine Aufmerksamkeit fesselten, und dann konnte nichts mehr den seltsamen, unbestimmten und unfaßbar süßen Eindruck verwischen, den sie auf mich machte. Oft saß ich stundenlang und sah sie an und konnte meinen Blick nicht von ihr losreißen. Jede Geste, jede Bewegung, jeder Ausdruck ihres Gesichts prägte sich meinem Gedächtnis ein und ich lauschte auf jede Veränderung ihrer Stimme, die nicht laut war, sondern von einer tieferen, dunkleren, etwas verschleierten Klangfarbe – und merkwürdig! – aus diesen Beobachtungen und ihren seltsamen süßen Eindrücken erwuchs in mir eine ganz unerklärliche Neugier. Es war fast, als ahnte ich ein Geheimnis in ihr, das ich alsbald unbedingt ergründen wollte. Am quälendsten war mir daher meine Lage in ihrer Gegenwart. Denn alle diese Scherze und Neckereien erniedrigten mich in meinen Augen und waren für mein Gefühl die schrecklichsten Beleidigungen. Und wenn nun gar bei dem allgemeinen Gelächter über mich auch ^M–me^ M. zuweilen unwillkürlich mitlachte, dann kannte meine Verzweiflung keine Grenzen: ich war außer mir vor Schmerz und Scham und riß mich mit der Wut eines Besessenen aus den Händen meiner Verfolgerin – rannte nach oben, in den zweiten Stock, wo ich dann den ganzen Rest des Tages verbrachte, da ich mich nicht mehr im Saal zu zeigen wagte. Übrigens war ich mir damals weder über meine Scham noch über meine Erregung im klaren: der ganze Prozeß spielte sich vollkommen unbewußt ab. Mit ^M–me^ M. hatte ich noch keine zwei Worte gesprochen, und ich hätte natürlich nie den Mut gehabt, sie anzureden. Eines Abends aber, nach einem für mich elend verlaufenen Tage, blieb ich während des Spaziergangs hinter den anderen zurück und da ich schrecklich müde geworden war, ging ich durch den Garten wieder nach Hause. Ich wählte den kürzesten Weg – eine entlegene Allee – und da erblickte ich auf einer Bank plötzlich ^M–me^ M. Sie saß dort ganz allein, als habe sie diese Einsamkeit gesucht, saß zurückgelehnt, mit gesenktem Kopf, und ihre Finger bewegten mechanisch das Taschentuch, das sie in der Hand hielt. Sie war so in Nachdenken versunken, daß sie es gar nicht hörte, wie ich mich ihr näherte. Als sie mich erblickte, erhob sie sich schnell von der Bank, wandte das Gesicht fort und ich sah, wie sie das Taschentuch an die Augen führte, um die Tränenspuren fortzuwischen. Sie hatte geweint. Dann tat sie, als wäre nichts geschehen, lächelte mir zu und ging mit mir zum Hause. Ich habe vergessen, wovon wir sprachen; nur schickte sie mich unterwegs immer wieder unter verschiedenen Vorwänden von sich fort: bald bat sie mich, eine Blume zu bringen – bald sollte ich ihr sagen, wer dort in der nächsten Allee ritt. Sobald ich mich aber von ihr fortwandte, fuhr sie wieder schnell mit dem Tuch über die Wangen, da die ungehorsamen Tränen nicht versiegen wollten, vielmehr aus dem wehen, kämpfenden Herzen immer wieder in ihre armen Augen traten. Ich begriff sehr wohl, daß ich ihr lästig war, da sie mich so oft fortschickte. Sie aber sah doch, daß ich schon alles bemerkt hatte, und trotzdem konnte sie sich nicht beherrschen – das quälte mich für sie noch viel mehr! Ich ärgerte mich über mich selbst fast bis zur Verzweiflung, ich verwünschte mein Unglück und meine Dummheit, die mich keinen Vorwand finden ließ, unter dem ich mich hätte entfernen können, ohne sie noch obendrein merken zu lassen, daß ich um ihr Leid wußte. So ging ich denn betrübt und unglücklich, mit meinem Zwiespalt im Herzen, neben ihr her und fand trotz aller Anstrengung kein einziges Wort, mit dem ich unsere einsilbige Unterhaltung hätte beleben können. Diese Begegnung machte einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich ^M–me^ M. den ganzen Abend mit unersättlicher Neugier verstohlen betrachtete. Aber ungeachtet meiner Vorsicht trafen unsere Blicke sich doch ein paarmal, und als sie das zweite Mal diesen meinen Blick bemerkte, da lächelte sie. Es war das an diesem Abend das einzige Mal, daß ich sie lächeln sah. Die Trauer war jedoch noch nicht aus ihrem Gesicht gewichen und sie war sogar noch bleicher als sonst. Die ganze Zeit unterhielt sie sich mit einer alten Dame, die eigentlich, weil sie immer spionierte und Klatschgeschichten verbreitete, niemand ausstehen konnte, die vielmehr von allen gefürchtet wurde, weshalb man sich denn gewissermaßen gezwungen fühlte, im Verkehr mit ihr liebenswürdig und aufmerksam zu sein, ob man wollte oder nicht ... Gegen zehn Uhr traf plötzlich der Mann von ^M–me^ M. ein. Ich sah, wie sie bei dem unerwarteten Erscheinen ihres Gatten zusammenzuckte und wie ihr ohnehin schon so bleiches Gesicht noch um einen unheimlichen Grad stärker erblaßte. Es war das so auffallend, daß auch andere es bemerkten: wenigstens fing ich von einem leisen Gespräch in meiner Nähe ein paar Bemerkungen auf, aus denen ungefähr hervorging, daß die arme ^M–me^ M. kein gerade beneidenswertes Leben habe. Ihr Mann sei, wie man wisse, eifersüchtig wie ein Mohr, jedoch nicht aus Liebe zu ihr, sondern nur aus Liebe zu sich selbst. Dieser Mensch war nämlich ... in erster Linie ein „Europäer“, und zwar einer der neuzeitlichen, von modernen Ideen angekränkelten, mit denen er gerne großtat. Was sein Äußeres betraf, so war er ein brünetter, großer und sehr stämmiger Herr mit europäisch geschnittenem Backenbart und einem selbstzufriedenen, frischen Gesicht, mit zuckerweißen Zähnen und dem Auftreten eines vollendeten Gentleman. Man nannte ihn einen „klugen Menschen“. So nennt man nämlich in gewissen Kreisen einen besonderen, auf Kosten anderer fett gewordenen Menschenschlag, der so gut wie nichts tut und auch so gut wie nichts tun will, der vielmehr vom ewigen Müßiggang und Nichtstun anstatt des Herzens sozusagen nur ein Stück Speck im Leibe hat. Gerade von diesen Leuten aber hört man jeden Augenblick, daß sie nur infolge gewisser höchst verwickelter und ihnen feindlicher Umstände nichts zu tun hätten, daß sie ihren „Genius ermüdeten“ und daß es deshalb „traurig sei“, sie „unbeschäftigt zu sehen“. Das ist nun einmal ihre schönklingende Phrase, ihr ^Mot d’ordre^, das diese satten Fettwänste überall anbringen – weshalb sie einen denn auch schon längst langweilen, um nicht mehr zu sagen; wie eben jede ausgesprochene Tartüfferie oder jedes leere, alberne Wort. Übrigens scheinen einige dieser spaßigen Käuze, die auf keinerlei Weise eine Arbeit für sich finden können – zumal sie auch nie eine solche ernstlich suchen – gerade danach zu trachten, alle davon zu überzeugen, daß sie an Stelle des Herzens nicht ein Stück Speck, sondern im Gegenteil etwas sehr Tiefgründiges besäßen. Was dies Etwas freilich sei, eigentlich und im letzten Grunde, das würde auch der beste Chirurg nicht sagen können – nur aus Höflichkeit, versteht sich, könnte er es nicht! Diese Herren bringen ihr Leben damit zu, daß sie alle ihre Fähigkeiten zu billigem Spott, kurzsichtigster Kritik und maßlos dünkelhaftem Auftreten verwerten. Da sie aber nichts weiter zu tun haben, als die Fehler und Schwächen anderer zu entdecken und ans Licht zu zerren, und da sie von Güte und Nachsicht genau nur so viel besitzen, wie die Natur etwa einer Auster verliehen hat, so fällt es ihnen auch nicht schwer, unter solchen Umständen ziemlich umsichtig und mit viel Vorsicht unter den Menschen zu leben. Dessen rühmen sie sich denn auch über alle Maßen. So sind sie zum Beispiel fest überzeugt, daß womöglich die ganze Welt ihnen tributpflichtig sei, und sie betrachten diese Welt nahezu als ihre Vorratskammer. Sie sehen in allen anderen Menschen um sich her Dummköpfe und glauben, ein jeder gleiche einer Apfelsine oder einem Schwamm, aus dem sie, sobald sie nur wollen, auch den letzten Tropfen herauspressen können. Sie halten sich in gewissem Sinne für die Herren der Welt und scheinen anzunehmen, daß diese ganze löbliche Ordnung der Dinge einzig davon herrühre, daß sie so kluge und gewichtige Menschen sind. In ihrem maßlosen Eigendünkel werden sie nie eigene Mängel zugeben, sondern sich immer unter allen Umständen und in jeder Beziehung für vollkommen halten. Sie gleichen jenem besonderen Menschentyp, dessen Ahnherren Tartüffe und Falstaff sind, jenen Schelmen, die so viel und so oft betrügen, daß sie selbst schließlich glauben, alles was sie sagen, tun und lassen habe seine Richtigkeit, d. h. es sei von ihnen durchaus richtig, so zu leben und zu betrügen: sie haben eben ihre Beteuerungen, daß sie ehrlich und uneigennützig seien, so oft gehört, daß sie zu guter Letzt selbst glauben, sie seien uneigennützig und ihre Betrügereien zeugten von aufrichtigster Ehrlichkeit. Zu einer unparteiischen Selbstkritik und Selbsterkenntnis langt es bei ihnen nie. Zum Erfassen mancher Dinge sind sie eben viel zu schwerfällig. Im Vordergrunde aller Dinge und Geschehnisse steht ihnen immer die eigene goldene Person, der Moloch, dem sie alles opfern, ihr herrliches „Ich“! Die ganze Natur, die ganze Welt ist für sie nicht mehr als ein großer schöner Spiegel, der nur dazu geschaffen scheint, damit ein kleiner Gott sich ununterbrochen in ihm bewundern kann und außer seiner eigenen Person niemand und nichts zu sehen braucht. Da ist es denn kein Wunder, wenn sie unter solchen Umständen alle übrigen Erscheinungen der Welt immer irgendwie entstellt sehen und nie so, wie sie wirklich sind. Für alles haben sie eine fertige Phrase vorrätig und zwar – was übrigens äußerst geschickt von ihnen ist – immer nur eine der allermodernsten. Ja, man kann sagen, daß hauptsächlich sie es sind, die die Verbreitung der Phrase besorgen, deren Erfolg sie beizeiten wittern. Jawohl, Spürsinn – das ist das einzige, was man ihnen nachrühmen kann, denn in dieser Beziehung haben sie wirklich eine feine Nase; wenigstens ist sie fein genug, um derartige moderne Ausdrücke früher als andere herauszuschnüffeln und sich rechtzeitig anzueignen, so daß es fast den Anschein hat, als stammten sie von ihnen. Namentlich versehen sie sich mit solchen, die ihrer tiefen Liebe zur Menschheit Ausdruck geben sollen und die angeblich einzig richtige und vernunftgemäße Menschenfreundschaft dartun, um dabei gleichzeitig rücksichtslos über die veraltete Romantik herzufallen, mit ihr nicht selten alles Schöne und Erhabene zu verurteilen, ohne zu begreifen, daß jedes kleinste Gefühl derselben wertvoller ist, als ihre ganze Weichtierexistenz. In ihrer geistigen Stumpfheit sind sie unfähig, die Wahrheit in einer noch unfertigen, von der altbekannten abweichenden Form, in einem Übergangsstadium zu erkennen, und so lehnen sie denn alles ab, was noch im Entstehen ist und seine Form erst sucht und deshalb noch nicht ganz feststeht. Diese wohlgenährten satten Menschen haben ihr Leben gewöhnlich gleichsam im Zustande eines fortgesetzten Räuschchens heiter verbracht. Alles ist ihnen von anderen zurecht gemacht worden, selbst aber haben sie noch nie etwas geleistet und wissen natürlich nicht, wie schwer es ist, etwas zu vollbringen. Wehe dem aber, der mit irgendeiner Rauheit ihre satten Gefühle streift: das würde niemals verziehen, noch vergessen werden, Rache üben sie aber dafür mit Wonne. In der Summe ergibt sich, daß ein derartiger Held nichts mehr und nichts weniger ist als ein riesengroßer, bis zur letzten Möglichkeit aufgeblasener Sack, voll von Sentenzen, Modephrasen und Schlagwörtern aller Art. Übrigens war ^M–r^ M. doch ein etwas bemerkenswerterer Herr, zumal er eine Gabe besaß, die ihn immerhin durch eine gewisse Eigenart auszeichnete: er war nämlich ein guter Erzähler, war witzig und redselig, so daß in der Gesellschaft sich immer ein Kreis um ihn versammelte. An jenem Abend war er besonders gut aufgelegt; er riß die Unterhaltung an sich, war schlagfertig, beinahe geistvoll, gut gelaunt und brachte es so weit, daß alle nur ihm zuhörten und ihn anstaunten. Dagegen war ^M–me^ M. die ganze Zeit schweigsam und litt sichtlich: sie sah so traurig aus, daß ich fürchtete, jeden Augenblick wieder Tränen an ihren Wimpern erglänzen zu sehen. Alles das machte, wie gesagt, einen tiefen Eindruck auf mich. Ich war bestürzt und verwundert und eine seltsame Neugier erfaßte mich. Die ganze Nacht träumte mir von ^M–r^ M., während ich bis dahin selten von so peinigenden und aufregenden Träumen heimgesucht worden war. Am anderen Morgen wurde ich schon früh nach unten in den Saal gerufen, wo die Proben zu den lebenden Bildern, zu denen auch ich mich hergeben mußte, stattfanden. Diese lebenden Bilder, ferner eine Theateraufführung und ein großer Ball, alles an einem Abend, sollten zur Feier des Geburtstages der jüngsten Tochter unseres verschwenderischen Hausherrn stattfinden. Wir hatten im ganzen nur noch etwa fünf Tage Zeit. Zu diesem Fest waren aus Moskau und von den benachbarten Landgütern nicht viel weniger als hundert Personen eingeladen, so daß große Vorbereitungen getroffen werden mußten, die natürlich den Trubel noch erhöhten. Die Proben oder richtiger die Durchsicht der vorhandenen Kostüme fand zu einer so ungelegenen Zeit statt, weil der bekannte Künstler R., ein Freund und Gast unseres Hausherrn, der aus Gefälligkeit sich bereit erklärt hatte, die Bilder zu stellen, noch nach Moskau fahren wollte, um die fehlenden Requisiten einzukaufen. So hieß es denn: sich beeilen. Mich hatte man für ein lebendes Bild zusammen mit ^M–me^ M. ausersehen. Das Bild stellte eine Szene aus dem mittelalterlichen Leben dar und hieß: „Die Schloßherrin und ihr Page“. Ich war entsetzlich verwirrt, als ich mit ^M–me^ M. auf der Probe zusammentraf. Natürlich war ich überzeugt, daß sie sogleich alle meine Gedanken, Zweifel und Vermutungen, die mir seit dem letzten Abend durch den Kopf gefahren waren, aus meinen Augen erraten würde. Und überdies bedrückte mich noch so etwas wie ein Schuldgefühl ihr gegenüber, weil ich sie in ihrem Leid überrascht und ihre Tränen bemerkt hatte. Wußte ich denn, ob sie nicht vielleicht sogar sehr ärgerlich über mich war? Aber, Gott sei Dank, es verlief alles ohne irgendwelche Unannehmlichkeiten: ich wurde von ihr ganz einfach – gar nicht bemerkt. Ihre Gedanken waren offenbar mit etwas ganz anderem beschäftigt und sie schien weder mich noch sonst etwas von der Probe zu sehen. Sie machte den Eindruck, als laste eine große quälende Sorge auf ihr. Nach beendeter Probe lief ich schnell fort und kleidete mich um. Etwa zehn Minuten später trat ich auf die Terrasse, um in den Garten zu gehen. In demselben Augenblick trat aus einer anderen Tür auch ^M–me^ M. auf die Terrasse und zugleich erblickten wir beide vor uns ihren selbstzufriedenen Herrn Gemahl, der aus dem Garten heraufkam, wohin er gerade eine Schar junger Damen begleitet hatte. Die Begegnung mit seiner Frau kam auch für ihn ganz unerwartet. ^M–me^ M. errötete plötzlich und in ihrer hastigen Bewegung drückte sich ein gewisser Unmut aus. Der Herr Gemahl, der sorglos eine Arie vor sich hingepfiffen und unausgesetzt mit tiefsinniger Miene seinen schönen Backenbart geglättet hatte, runzelte ein wenig die Stirn, als er seine Frau erblickte und betrachtete sie, wie ich mich jetzt entsinne, mit entschieden inquisitorischem Blick. „Sie gehen in den Garten?“ fragte er, da er in ihrer Hand einen Sonnenschirm und ein Buch bemerkte. „Nein, in den Wald,“ sagte sie und errötete leicht. „Allein?“ „Mit ihm ...“ Sie wies auf mich. „Ich gehe morgens immer allein spazieren,“ fügte sie wie zur Erklärung hinzu, aber mit einer etwas unsicheren Stimme, die wohl gleichgültig klingen sollte, statt dessen aber genau so klang, wie wenn man zum erstenmal im Leben bewußt lügt. „Hm ... Ich habe soeben eine ganze Gesellschaft hinbegleitet. Sie versammeln sich dort alle bei der Rosenlaube, um N. das Geleit zu geben. Er verläßt uns, wie Sie wissen ... Es ist ihm da irgendwo in Odessa ein Malheur passiert ... Ihre Kusine (das war mein blonder Plagegeist) lacht und weint, beides zugleich, so daß man nicht aus ihr klug werden kann. Übrigens sagte sie mir, daß Sie aus irgendeinem Grunde auf N. böse seien und ihn deshalb nicht begleiten wollten. Natürlich ein Unsinn?“ „Sie scherzt nur,“ sagte ^M–me^ M. und stieg die Stufen der Terrasse hinab. „Also das ist jetzt Ihr täglicher ^Cavalier servant^?“ fragte er noch beiläufig mit spöttisch zuckenden Mundwinkeln und musterte mich durch sein Monokel. „Page!“ rief ich, wütend über seinen Blick, über seinen Spott, und dann lachte ich ihm gerade ins Gesicht und sprang mit einem Satz über drei Stufen ... „Nun, viel Vergnügen,“ brummte ^M–r^ M. und ging weiter. Ich war natürlich gleich zu ^M–me^ M. getreten, als sie auf mich wies, und hatte mir den Anschein gegeben, als hätten wir uns schon vor einer Stunde verabredet, und ich tat so, als sei ich schon einen ganzen Monat jeden Morgen mit ihr spazierengegangen. Nur konnte ich nicht begreifen, weshalb diese Begegnung sie so verwirrte, und was sie eigentlich im Sinne hatte, als sie sich zu der kleinen Lüge entschloß. Warum hatte sie nicht ganz einfach gesagt, daß sie allein gehe? So aber wußte ich nicht, was ich davon denken sollte. Dennoch begann ich allmählich, trotz meiner Unsicherheit und aller Befürchtungen, mit naiver Neugier verstohlen zu ihr aufzusehen: doch ganz wie vor einer Stunde in der Probe bemerkte sie auch jetzt weder meine Blicke noch meine stumme Frage. Nur dieselbe quälende Sorge spiegelte sich noch deutlicher, noch tiefer in ihren erregten Zügen wieder und sprach aus jeder Bewegung, sprach vor allem aus ihrem schnellen Gang. Sie mußte Eile haben, denn sie beschleunigte ihre Schritte und unruhig blickte sie in jede Allee, in jeden Durchhau im Walde, und zwar immer nach der Seite des Gartens hin. Auch ich begann etwas zu erwarten. Da vernahmen wir Pferdegetrappel hinter uns. Es war eine ganze Kavalkade, Damen und Herren, hoch zu Roß, die alle jenen N., der uns so plötzlich verließ, begleiteten. Unter den Reiterinnen erblickte ich auch meine Blondine, von der ^M–r^ M. uns erzählt hatte, daß sie gelacht und geweint habe, beides zugleich. Ihrer Gewohnheit gemäß lachte sie nun wieder wie ein Kind und war so mutwillig und lustig wie nur je. Sie ritt einen prächtigen Schimmel. Als die Gesellschaft uns erreichte, zog N. den Hut, hielt aber weder sein Pferd an, noch sagte er ein Wort zu ^M–me^ M. Bald waren sie alle hinter einer Wegbiegung verschwunden. Ich blickte zu ^M–me^ M. auf und – beinahe hätte ich aufgeschrien vor Überraschung: sie war totenbleich und rührte sich nicht, nur große Tränen standen in ihren Augen. Unsere Blicke trafen sich: ^M–me^ M. errötete jäh, wandte sich für einen Augenblick fort und ich las Unruhe und Ärger in ihrem Gesicht, obschon sie sich schnell und mit aller Gewalt zusammennahm. Ich war überflüssig, war lästiger noch als tags zuvor: das war mir klar. Aber wie sollte ich mich entfernen, unter welchem Vorwande? Da schlug ^M–me^ M. plötzlich, als habe sie meine Gedanken erraten, das Buch auf, das sie mitgenommen hatte, und, indem ihr wieder das Blut in die Wangen stieg, sagte sie – sichtlich bemüht, mich dabei nicht anzusehen – als habe sie es soeben erst bemerkt: „Ach! Das ist ja der zweite Band, ich habe mich versehen! Bitte, bring mir den ersten!“ Es war nicht mißzuverstehen! Ich hatte meine Rolle ausgespielt und auf einem geraderen Wege hätte man mich schwerlich fortschicken können. Ich lief mit dem Buche fort und kehrte nicht zurück. Der erste Band blieb an diesem Morgen unberührt auf dem Tische liegen ... Aber seitdem war ich so verändert, daß ich mir selbst ganz fremd vorkam: mein Herz pochte wie in fortwährender Angst. Ich wandte die größte Vorsicht an, um nicht irgendwie ^M–me^ M. zu begegnen. Dafür aber betrachtete ich von nun an mit einer nahezu wilden Neugier ihren selbstzufriedenen Herrn Gemahl, als wollte ich an ihm etwas Besonderes entdecken. Ich begreife jetzt selbst nicht, wie ich damals zu dieser lächerlichen Neugier kam, doch entsinne ich mich, daß alles, was ich an jenem Morgen erlebt, mich in ein ganz eigenartiges Erstaunen versetzt hatte. Und doch war es nur erst ein Anfang an diesem Tage gewesen, an dem mir noch ganz andere und noch viel größere Erlebnisse bevorstanden. Es wurde ausnahmsweise früher als sonst zu Mittag gespeist. Am Nachmittage sollten wir eine Ausfahrt nach einem Nachbardorf machen, um einmal ein richtiges Dorffest, das dort gefeiert wurde, kennen zu lernen – deshalb speisten wir früher. Ich hatte mich schon drei Tage auf dieses Fest gefreut, von dem ich Gott weiß wie viel erwartete. Den Kaffee tranken alle auf der Terrasse. Vorsichtig folgte ich den anderen aus dem Speisesaal und verbarg mich hinter mehreren Sesseln. Mich zog wieder meine Neugier dorthin: und die war so groß, daß ich ihr sogar auf die Gefahr hin folgte, von ^M–me^ M. bemerkt zu werden. Der Zufall fügte es jedoch anders: ich geriet in die Nähe meiner blonden Verfolgerin. An dem Tage war mit ihr ein Wunder geschehen, etwas schier Unglaubliches: sie sah plötzlich noch einmal so schön aus, als sie bis dahin ausgesehen hatte. Wie und warum das gekommen war – das weiß ich nicht, aber mit Frauen geschieht dieses Wunder ja recht oft! Unter uns befand sich ein neuer Gast, ein langer, blonder, junger Mann, der gerade aus Moskau eingetroffen war, fast wie um N. zu ersetzen, der uns am Morgen verlassen hatte, und von dem das Gerücht ging, daß er in unsere blonde Schönheit sterblich verliebt gewesen sei. Der neue Gast aber stand schon seit langer Zeit in einem Verhältnis zu ihr, wie Benedikt zu Beatrice in Shakespeares „Viel Lärm um nichts“. Kurz, unsere Schönheit fand an diesem Tage ungeheuren Beifall. Ihre Scherze und ihre Unterhaltung waren so entzückend, so zutraulich naiv, so verzeihlich unvorsichtig, sie war dabei selbst mit einer so graziösen Sicherheit vom allgemeinen Beifall überzeugt, daß sie die ganze Zeit über von allen Anwesenden tatsächlich nur bewundert wurde. Um sie herum bildete sich ein dreifacher Kreis von überraschten, verwunderten und entzückten Zuhörern, denn so bezaubernd hatte man sie noch nie gesehen. Jedes Wort von ihr ward wie ein verführerisches Wunderding erhascht und weitergegeben, jeder Scherz, jede schlagfertige Antwort erregte Begeisterung. Wie es schien, hatte niemand soviel Geschmack, Geist und Verstand an ihr vermutet. Ihre besten Eigenschaften wurden durch ihre täglichen kindischen Tollheiten, die oft fast zu Narrheiten ausarteten, in den Schatten gestellt und selten von jemand bemerkt – oder wer sie zwischen jenen Kindereien bemerkte, der hielt sie für Zufall, so daß ihr plötzlicher Erfolg mit einem allgemein verwunderten Geflüster aufgenommen wurde. Übrigens trug zu diesem Erfolg noch ein besonderer, etwas kitzliger Umstand bei – kitzlig wenigstens im Hinblick auf die Rolle, die der Herr Gemahl der ^M–me^ M. dabei spielte. Der Wildfang hatte sich nämlich vorgenommen – und wie ich bemerken muß: zu allseitigem Gaudium oder zum mindesten doch zu dem der goldenen Jugend – wahrhaft unbarmherzig ^M–r^ M., immer nur M., anzugreifen, und dies wohl aus verschiedenen Gründen, die in ihren Augen wahrscheinlich alle sehr gewichtig waren. Sie eröffnete im Kampf mit ihm ein richtiges Schnellfeuer von spöttischen Herausforderungen, Seitenhieben und Sarkasmen von der boshaftesten Art, die von allen Seiten so geschlossen, glatt und rund waren, daß man sie nirgends fassen konnte, um sie der gütigen Spenderin zurückzuwerfen, Sarkasmen, denen der Gegner nahezu wehrlos ausgeliefert war, die nie ihr Ziel verfehlten und ihr Opfer, das sich in vergeblichen Anstrengungen erschöpfte, schließlich in die wildeste Wut versetzten und zur komischsten Verzweiflung brachten. Ich weiß es zwar nicht genau, aber ich glaube doch sagen zu dürfen, daß dieser Zweikampf nicht zufällig entbrannte, sondern von ihr mit Absicht herbeigeführt wurde. Eigentlich begann der verzweifelte Kampf schon bei Tisch. Ich nenne ihn „verzweifelt“, denn M. streckte die Waffen nicht so bald. Er mußte mit Aufbietung seiner ganzen Geistesgegenwart all seinen Scharfsinn und seine allerdings recht geringe Gewandtheit zusammennehmen, um nicht eine Schlappe sondergleichen davonzutragen – um nicht mit Schmach und Schande das Feld räumen zu müssen. Der Kampf verlief unter fast unaufhörlichem Gelächter aller Zeugen und Teilnehmer. Jedenfalls hatte sich das Blatt für ihn an diesem zweiten Tage völlig gewendet und mit dem Beifall, den er am ersten Abend eingeerntet, war es zu Ende. Wie ich und auch andere bemerkten, war ^M–me^ M. mehrmals im Begriff, ihrer unvorsichtigen Freundin ins Wort zu fallen. Diese aber schien ihrerseits dem eifersüchtigen Gatten unbedingt eine Narrenkappe aufsetzen oder ihn wenigstens eine lächerliche Rolle spielen lassen zu wollen – etwa diejenige eines Blaubart, wenigstens nach dem zu urteilen, was ich noch behalten habe, und nach der Rolle, die ich selbst durch einen Zufall in dieser Komödie spielen sollte. Es geschah ganz plötzlich und so unvorhergesehen, daß ich kaum zur Besinnung kam. Ich stand und hörte zu, ohne etwas Böses zu ahnen, und hatte sogar meine Vorsicht vergessen, als ich mich mit einemmal mitten in den Streit hineingezogen sah: sie stellte mich plötzlich als den Todfeind und natürlichen Gegner des ^M–r^ M. vor, als den sterblich bis zur Verzweiflung verliebten Anbeter seiner Frau. Mit ihrem Ehrenwort verbürgte sich die Schreckliche für die Wahrheit ihrer Behauptungen, und sie beteuerte hoch und heilig, daß sie die sichersten Beweise besitze, z. B. habe sie noch an diesem Morgen im Walde gesehen ... – Doch sie konnte den Satz nicht beenden: ich unterbrach sie in dem für mich entscheidenden Augenblick. Aber dieser Augenblick wiederum war von ihr so geschickt abgepaßt, der Knoten war so genial geschürzt und die scherzhafte Lösung so wohl vorbereitet, und dabei alles so unnachahmlich wiedergegeben, daß eine schallende Lachsalve diesen letzten Trumpf begrüßte. Und obschon ich damals gleich erriet, daß die lächerlichste Rolle gar nicht mir zufiel, war ich doch so verwirrt, aufgebracht und erschrocken, daß ich mit Tränen in den Augen, mit dem Schmerz und der Erschütterung der Verzweiflung und Scham mich zwischen den Stühlen im Nu durchgedrängt hatte, mitten im Kreise stand und mit vor Tränen stockender Stimme empört meiner Feindin zurief: „Und Sie schämen sich nicht ... ganz laut ... und vor allen Damen ... eine solche Unwahrheit zu sagen!? ... Sie gebärden sich wie ein dummes Mädchen ... und das noch dazu vor Männern! Was werden die dazu sagen? Sie sind doch schon groß und ... verheiratet! ...“ Ohrenbetäubender Beifall unterbrach meine kindlichen Vorwürfe. Meine Standrede machte Furore. Es war aber nicht meine Geste, es waren auch nicht die Tränen in meinen Augen, die so erheiternd wirkten, sondern es war vor allem das, daß ich quasi als Verteidiger des ^M–r^ M. auftrat, was ein so unbändiges Gelächter hervorrief. In der Erinnerung muß ich jetzt gleichfalls lachen ... Damals aber erstarrte ich beinahe und verlor fast die Besinnung vor Entsetzen über diese Menschen – ich erbebte, bedeckte das Gesicht mit den Händen und stürzte fort, stieß in der Tür mit einem Diener zusammen, dem das Teebrett aus den Händen fiel, und lief wie der Wind nach oben in mein Zimmer. Ich riß den Schlüssel heraus, der von außen in der Tür stak, und schloß mich ein. Das war aber auch mein Glück, denn schon folgte mir eine wilde Jagd: eine halbe Minute später lief eine ganze Bande Sturm gegen meine Tür. Es waren alle unsere jungen Damen: ich hörte ihr Lachen, ihr Geschwätz, tausend Stimmen durcheinander, eine schneller als die andere – wie ein Schwalbenvolk zwitscherten sie durcheinander. Alle, alle ausnahmslos baten sie, flehten sie mich an, die Tür wenigstens auf einen Augenblick zu öffnen; sie schwuren, daß mir nichts Böses widerfahren werde, sie wollten mich nur totküssen, wie sie versicherten. Welche Drohung hätte fürchterlicher sein können? Ich verging vor Scham und preßte das Gesicht in die Kissen und hätte um keinen Preis die Tür geöffnet oder auch nur mit einer Silbe geantwortet. Sie lärmten und bettelten noch lange hinter der Tür, ich aber blieb gefühllos und taub, wie nur ein Elfjähriger sein kann. Was sollte ich jetzt tun? alles war aufgedeckt, alles verraten, was ich so eifersüchtig geheimgehalten und vor allen Blicken verborgen hatte! ... Ich war für ewig mit Schmach und Schande bedeckt! In Wirklichkeit hätte ich freilich nicht zu sagen gewußt, was ich so ängstlich geheimhalten wollte; immerhin aber hatte ich doch vor der Entdeckung dieses geheimgehaltenen Etwas wie ein Blättchen gezittert. Auch war ich mir bis dahin durchaus nicht klar darüber gewesen, ob es etwas Gutes oder Schlechtes, etwas Rühmliches oder Schmähliches sei. Nun aber kam mir, plötzlich, zu meinem großen Kummer unter Qualen die Erkenntnis, daß dies alles _komisch_ und _beschämend_ war! Mein Instinkt sagte mir zwar gleichzeitig, daß eine solche Auffassung falsch, unnatürlich und roh sei; aber ich war geschlagen, vernichtet; das Denkvermögen, oder vielmehr die Erkenntnisfähigkeit war in mir gleichsam gelähmt und schien sich irgendwie verwickelt und verwirrt zu haben. Es war mir unmöglich, mich gegen dieses Urteil aufzulehnen oder es auch nur gründlich zu untersuchen: ich war wie betäubt und fühlte nur, daß man mein Herz unmenschlich und schamlos verwundet hatte. Ich weinte ohnmächtige Tränen. Zugleich war ich gereizt: machtlose Wut kochte in mir und alsbald stieg sogar Haß auf, den ich zum erstenmal in meinem Leben empfand, denn zum erstenmal in meinem Leben hatte ich ernstes Leid und eine wirkliche Kränkung erfahren. In mir, dem unwissenden Kinde, war das erste noch unbewußte, noch unentwickelte Gefühl mit roher Hand berührt, das erste scheue mädchenhaft zarte Schamgefühl entblößt und entheiligt und der erste und vielleicht sehr ernste ästhetische Eindruck ins Lächerliche gezogen worden. Allerdings konnten die Lacher vieles nicht wissen und meine Qualen nicht voraussehen. Hinzu kam noch ein besonderer Umstand, über den ich mir selbst noch nicht ganz klar geworden war, oder richtiger: den zu untersuchen ich mich bis dahin nicht recht getraut hatte. In Kummer und Verzweiflung blieb ich auf meinem Bett liegen und verbarg das Gesicht in den Kissen. Frostschauer überliefen meinen Körper und ich fieberte. Zwei Fragen quälten mich: was hatte diese nichtsnutzige Blondine am Morgen im Walde zwischen mir und ^M–me^ M. gesehen, was hatte sie sehen können? Und die zweite Frage: wie, auf welche Weise, mit welchen Augen konnte ich jetzt noch ^M–me^ M. ins Gesicht sehen, ohne auf der Stelle in demselben Augenblick vor Scham und Verzweiflung zu vergehen? Ein ungewohnter Lärm auf dem Hof weckte mich aus der halben Bewußtlosigkeit, in der ich mich befand. Ich stand auf und trat ans Fenster. Der Hof war voll von Equipagen, Reitpferden, Stallknechten und Kutschern: es sah aus, als wollten alle Gäste uns verlassen. Ein paar Reiter saßen schon auf den Pferden, die übrigen Gäste nahmen in den verschiedenen Wagen Platz ... – Da fiel mir ein, daß wir ja nach dem Nachbardorf fahren sollten und eine gewisse Unruhe erfaßte mich: ich begann, mit den Augen meinen Klepper zu suchen, aber der war nicht zu sehen – folglich hatte man mich vergessen. Da hielt ich es nicht aus und lief Hals über Kopf nach unten, ohne an alle unangenehmen Folgen und den ganzen Vorfall noch weiter zu denken ... Unten erwartete mich eine vernichtende Nachricht: es gab für mich diesmal weder ein Pferd, noch einen Platz in einem Wagen – alle waren bereits besetzt und ich mußte das Vergnügen anderen abtreten. Von neuem Leid betroffen blieb ich an der Freitreppe stehen und blickte traurig auf die lange Wagenreihe und die Reiter und Reiterinnen, deren Tiere bereits unruhig tänzelten. Man wartete nur noch auf einen der Herren, der sich wohl etwas verspätet hatte. Unten vor der Freitreppe stand ein Reitpferd, schäumte ins Gebiß, scharrte mit dem Huf und zuckte bei jeder Kleinigkeit zusammen, wobei es große Lust verriet, sich zu bäumen. Zwei Stallknechte hielten das Tier am Zaum und zugleich sich selbst etwas bänglich nach Möglichkeit außer dem Bereich seiner Hufe, wie denn überhaupt alle in achtungsvoller Entfernung von ihm standen. Es hatte in der Tat seinen Grund, und einen sehr unangenehmen dazu, weshalb ich nicht mitkonnte. Abgesehen davon, daß noch neue Gäste angekommen waren, die die freien Plätze in den Wagen einnahmen, wollte es das Unglück, daß zwei Reitpferde erkrankten, von denen das eine mein Klepper war. Durch dieses Unglück wurde aber nicht ich allein betroffen: auch für unseren neuen Gast, den blassen, jungen Mann, von dem ich bereits gesprochen, stand kein Reitpferd mehr zur Verfügung. Infolgedessen hatte sich unser Hausherr gezwungen gesehen, seinen wilden, noch nicht ganz zugerittenen jungen Hengst dem Gast anzubieten, wobei er freilich zur Beruhigung seines Gewissens hinzufügte, daß es ein Ding der Unmöglichkeit sei, auf dem Tier zu reiten, und daß er schon längst beschlossen habe, den Hengst wegen seiner Wildheit zu verkaufen, sobald er nur einen Käufer finden würde. Doch der junge Mann erklärte trotz der Warnung, daß er sich im Sattel sicher genug fühle, und im übrigen auch völlig bereit sei, sich gleichviel auf was für einen Pferderücken zu setzen, wenn er nur mitreiten könne. Da schwieg denn der Hausherr – doch wie mir schien, spielte ein etwas zweideutiges verschmitztes Lächeln um seine Lippen: er stand in Erwartung des Reiters, der sich im Sattel so sicher wähnte, auf der Treppe, ließ auch sein Pferd noch warten, rieb sich die Hände und blickte immer wieder nach der Tür. Ähnliche Gedanken wie ihr Herr schienen auch die beiden Stallburschen zu haben, die den Hengst hielten und sehr stolz darauf waren, sich vor soviel Zuschauern als die Bändiger eines wilden Tieres zeigen zu können, das jeden Augenblick einen Menschen totzutrampeln vermochte. In ihren Augen aber schien das verschmitzte Lächeln des Herrn sich widerzuspiegeln und sie guckten gleichfalls immer wieder nach der Tür, in der der kühne Reiter doch bald erscheinen mußte. Übrigens verhielt auch das Tier sich nicht anders, als habe es sich mit seinem Besitzer samt den Stallburschen verabredet: es stand stolz und bis auf weiteres ruhig mit hocherhobenem Kopf da, wie wenn es fühle, daß einige Dutzend neugieriger Blicke auf ihm ruhten, und wie wenn es gerade auf seinen schlechten Ruf stolz sei – tat also ganz so wie mancher unverbesserliche Galgenstrick, der mit seinen Galgenstreichen prahlt. Und es war, als wollte das Tier den Kühnen herausfordern, der es wagen würde, ihm seine Freiheit zu nehmen. Dieser Kühne erschien endlich. Es war ihm peinlich, daß er die Gesellschaft so lange hatte warten lassen, und indem er sich eilig die Handschuh anzog, stieg er die Stufen hinab und sah erst auf, als er schon die Hand nach dem Pferdehals ausstreckte und ein wildes Bäumen des Tieres, begleitet von einem warnenden Schrei der Zuschauer, ihn verblüfften. Der junge Mann trat einen Schritt zurück und betrachtete verwundert den Hengst, der jetzt am ganzen Körper zitterte, wütend schnaufte und wild die blutunterlaufenen Augen rollte, wobei er sich immer wieder auf die Hinterbeine setzte und die Vorderbeine hob, als wäre er im Begriff, sich im nächsten Augenblick loszureißen und in wilden Sätzen davonzujagen – die Stallburschen womöglich hinter sich herschleifend. Der junge Mann betrachtete ihn immer noch mit einem gewissen Befremden: dann errötete er leicht, wie in einer kleinen Verwirrung – sah auf, sah sich im Kreise um und sah die erschreckten Damen ... „Es ist ein schönes Tier,“ sagte er, wie zu sich selbst, „und meiner Meinung nach muß es prächtig sein, darauf zu reiten, – aber ... aber wissen Sie was? _Ich_ werde es doch nicht versuchen,“ schloß er, sich mit seinem stillen, freundlichen Lächeln, das seinem guten und klugen Gesicht so vortrefflich stand, an unseren Hausherrn wendend. „Und dennoch halte ich Sie für einen vorzüglichen Reiter, mein Wort darauf,“ versetzte dieser sichtlich erfreut und drückte unwillkürlich und dankbar seinem Gast die Hand, „eben weil Sie auf den ersten Blick erkannt haben, was für ein Tier es ist,“ fügte er stolz hinzu. „Werden Sie es mir glauben, daß ich, der ich dreiundzwanzig Jahre lang Husar gewesen bin, schon dreimal das Vergnügen hatte, dank seiner Gnaden auf der Erde zu liegen, nämlich genau so oft, wie ich mich auf diesen ... nichtsnutzigen Satan gesetzt habe. – Tankred, he! mein Freund, hier ist man dir nicht gewachsen! Dein Reiter muß offenbar ein zweiter Ilja von Murom[1] sein, der vorläufig noch in seinem uns unbekannten Dorf Karatscharowo sitzt und wartet, bis dir die Zähne ausfallen. Na, führt ihn fort! Wir haben genug von ihm! Habt ihn umsonst herausgeführt!“ rief er den Stallburschen zu und rieb sich wieder selbstzufrieden die Hände. Ich muß hier bemerken, daß Tankred ihm nicht den geringsten Nutzen brachte und ganz umsonst seinen Hafer fraß. Überdies hatte er, der alte Husar, mit dem Ankauf dieses Pferdes seinen Ruhm als Pferdekenner eingebüßt, da er für dieses Tier, das außer seiner Schönheit gar keinen Wert besaß, eine märchenhafte Summe bezahlt hatte ... Nichtsdestoweniger war er jetzt sehr zufrieden mit dem Tier, das seinen schlimmen Ruf bewährte und sich somit immerhin einen gewissen Ruhm erwarb, gleichviel welcher Art dieser auch war. „Wie, Sie wollen nicht mit uns reiten?“ rief die Blondine, der es sehr darum zu tun war, daß ihr ^Cavalier servant^ gerade diesmal sie begleitete, „haben Sie denn wirklich keinen Mut?“ „Bei Gott, diesmal hab’ ich ihn nicht!“ antwortete der junge Mann lachend. „Und Sie sagen das im Ernst?“ „So wollen Sie denn wirklich, daß ich mir den Hals breche?“ „So setzen Sie sich schnell auf mein Pferd: fürchten Sie sich nicht, es ist lammfromm. Wir halten nicht auf – im Nu ist umgesattelt! Ich werde es auf Ihrem Pferde versuchen. Tankred kann doch nicht immer so unhöflich sein!“ Gesagt – getan. Sie sprang aus dem Sattel und stand schon vor uns, noch bevor sie zu Ende gesprochen. „Oh, da kennen Sie meinen Tankred schlecht, wenn Sie glauben, er werde Ihren Damensattel sich auflegen lassen! Und übrigens kann ich auf keinen Fall gestatten, daß Sie sich das Genick brechen – das wäre doch zu jammerschade!“ versetzte unser Hausherr seiner Gewohnheit gemäß mit affektierter Galanterie, die seiner Ansicht nach, gepaart mit einer gewissen Derbheit, wenn nicht mitunter gar verfänglichen Ungeniertheit, den alten Soldaten und „guten Kerl“ markierte, der, wie er sich einbildete, besonders den Damen gefallen müsse. Das war nun einmal eine seiner Marotten, die wir alle kannten. „Na, du, Schreihals – willst du’s nicht versuchen? Du wolltest doch so gern mitkommen,“ wandte sich die unerschrockene Reiterin plötzlich an mich, auf Tankred deutend. Sie meinte es mit ihrem Vorschlag wohl selber nicht sonderlich ernst, sondern sprach ihn nur aus, um nicht so ganz ohne weiteres das eigene Reitpferd wieder besteigen zu müssen, nachdem sie nun doch schon unnütz abgesprungen war, und ferner, um auch mich nicht „ungerupft“ zu lassen, der ich so vorwitzig gewesen war, mich wieder vor ihr zu zeigen. „Du bist gewiß nicht so, wie ... na, wozu Namen nennen – wie ein bekannter Held, und wirst dich nicht schämen, den Mut zu verlieren ... noch dazu, wenn ‚man‘ dir zuschaut, schöner Page,“ fügte sie hinzu, mit einem flüchtigen Blick auf ^M–me^ M., deren Wagen der Treppe am nächsten hielt. Haß und Rachedurst hatten mein Herz erfüllt, als sie, in der Absicht, Tankred gegen ihr Reitpferd einzutauschen, zu uns getreten war ... Wie aber soll ich das wiedergeben, was ich bei dieser plötzlichen Herausforderung empfand? Es wurde dunkel vor meinen Augen, als ich den Blick bemerkte, den sie ^M–me^ M. zuwarf. Wie ein Blitz durchzuckte mich die Idee ... ja, in einer Sekunde, in dem Bruchteil einer Sekunde, war die Idee schon Wille geworden ... Ihr Blick wirkte auf mich wie ein Funke auf ein Pulverfaß – oder war das Maß schon so zum Überlaufen voll, daß ich bei diesem letzten Tropfen plötzlich wie mit einem Schlage wieder ich selbst war und alles sich in mir aufbäumte – daß ich mit einer einzigen Tat alle meine Feinde schlagen und mich vor allen Zeugen an ihnen rächen wollte, indem ich zeigte, was für ein Held ich sei? Oder war es vielleicht das, daß jemand mir in diesem Augenblick, von dem ich noch nichts wußte, ein Stück Mittelalter durch irgendein Wunder oder eine Zauberei offenbarte und ich in meinem erhitzten Kopfe Turniere, Paladine, Knappen, schöne Edelfrauen, brechende Lanzen sah und Schwertergeklirr, Geschrei und Beifallruf der Menge hörte und zwischen all dem den schüchternen Schrei eines erschrockenen Herzens, der dem Stolzen auf dem Kampfplatz süßer klingt als alle Siegesfanfaren? ... Nein, ich weiß wirklich nicht, ob dieser Unsinn mir schon damals den Kopf verwirrte, oder ob ich, wie mir scheint, nichts anderes dachte und fühlte, als daß meine Stunde geschlagen hatte! Mein Herz stand still, und dann gab ich mir einen Ruck und mit einem Sprunge war ich von der Treppe und stand neben Tankred. „Ach, Sie glauben, ich fürchte mich?“ rief ich frech und stolz zugleich, in einer Erregung, die mir die Sinne benahm und das Blut ins Gesicht trieb. „Dann sollen Sie sehen!“ ... Und noch bevor jemand mich zurückhalten konnte, hatte ich schon eine Hand in Tankreds Mähne und einen Fuß im Steigbügel: Tankred bäumte sich, warf wild den Kopf in die Luft, riß sich mit einem Ruck und Satz von den Stallknechten los und raste vom Hof – ein Schrei des Entsetzens entrang sich allen Zuschauern. Gott weiß, wie es mir gelang, im Fluge noch den anderen Steigbügel zu finden; ebensowenig begreife ich, wie ich nicht den Zaum verlor. Tankred raste mit mir durch das offene Gittertor, bog scharf nach rechts zur Seite und jagte mit hochgestrecktem Kopf blindlings längs dem Gitterzaun weiter. Erst in diesem Augenblick hörte ich hinter mir das Geschrei der fünfzig Stimmen: und dieser Schrei erweckte in meiner Brust soviel Freude und Stolz, daß ich diesen verrückten Augenblick meiner Kindheit nie vergessen werde. Das Blut stieg mir zu Kopf und betäubte, erstickte meine Angst. Ich war mir meiner selbst nicht bewußt. Übrigens hatte das alles, soweit ich mich erinnere, wirklich etwas Ritterliches. Indessen begann und endete mein Rittertum in kaum einer Minute – anderenfalls wäre es dem Ritter auch sehr schlecht bekommen. Und auch so verdanke ich meine Rettung nur einem Wunder. Zu reiten verstand ich freilich, aber mein gewohnter Klepper erinnerte doch weit eher an ein Lamm als an ein Reitpferd. Selbstverständlich wäre ich von Tankred aus dem Sattel geworfen worden, wenn er dazu nur Zeit gehabt hätte. Am Ende des Hofzaunes scheute er aber vor einem großen Stein am Wege, bäumte sich und warf sich so wild herum, daß es mir noch jetzt ein Rätsel ist, wie ich im Sattel blieb und nicht wie ein Ball drei Klafter weit zu Boden flog, um zerschmettert liegen zu bleiben, und wie Tankred selbst bei dieser plötzlichen wilden Wendung sich nicht einfach überschlug. So aber jagte er zurück zum Gittertor, schüttelte wild den Kopf, warf die Beine scheinbar wie sie wollten in die Luft und schien mit jedem Satz und Seitensprung nur eines zu wollen: mich abzuschütteln, als wäre ich ein Tiger, der ihm auf den Rücken gesprungen und sich mit allen Zähnen und Pranken in sein Fleisch einkrallte. Noch ein Augenblick – und ich wäre geflogen –! Doch schon sprengten mehrere Reiter zu meiner Rettung herbei. Zwei von ihnen versperrten den Weg, zwei andere drängten ihre Tiere so dicht heran, daß sie mir fast die Beine zerdrückten, und schon hielten sie Tankred fest am Zaum. In wenigen Augenblicken waren wir wieder vor der Freitreppe. Ich wurde aus dem Sattel gehoben, bleich und an allen Gliedern zitternd. Tankred stand unbeweglich mit sich hebenden und senkenden Flanken, mit bebenden roten Nüstern und schnaufendem Atem; dabei zitterten alle seine Nerven wie vor Wut und Empörung über die ungestrafte Frechheit eines Kindes, das ihn so beleidigt hatte! Ringsum ertönten noch immer Ausrufe der Angst und des Schrecks und der Verwunderung. Da begegnete mein irrender Blick dem der ^M–me^ M., die erregt und bleich aussah, und – nie werde ich diesen Augenblick vergessen! – in dem Augenblick wurde ich feuerrot. Ich weiß nicht, was in mir vorging, aber verwirrt und erschreckt durch eine neue Empfindung senkte ich beschämt den Blick zu Boden. Doch mein Blick war bemerkt, war aufgefangen, war mir wieder gestohlen worden! Aller Augen wandten sich ^M–me^ M. zu, und als diese so plötzlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet sah, erschrak sie und errötete plötzlich selbst wie ein Kind, gleichsam infolge einer Empfindung, die gegen ihren Willen über sie kam, obgleich sie sich ganz unschuldig fühlte. Und in ihrer Verlegenheit zwang sie sich zu einem Lachen ... Doch half ihr auch das nicht, ihr Erröten zu verbergen ... Alles dies hätte einem unbeteiligten Beobachter natürlich sehr komisch erscheinen müssen – aber da bewahrte mich ein höchst naiver und unerwarteter neuer Ausfall der Ungezogenen vor dem allgemeinen Gelächter, indem er den ganzen Zwischenfall in ein besonderes Licht rückte. Sie, die mich zu meiner Tollkühnheit herausgefordert hatte und die ganze Zeit über mein unversöhnlichster Feind gewesen war, stürzte plötzlich zu mir, umschlang mich mit beiden Armen und bedeckte mich mit Küssen. Sie hatte ihren Augen nicht getraut, als ich ihre Herausforderung annahm und den Handschuh aufhob, den sie mir mit ihrem Blick auf ^M–me^ M. zuwarf. Und als ich auf Tankred dahinjagte, da war sie vor Angst und Gewissensbissen schier ohnmächtig geworden. Jetzt aber, nachdem alles überstanden war und sie wie alle anderen meinen Blick auf ^M–me^ M. bemerkte, dazu meine Verwirrung und mein plötzliches Erröten wahrnahm – jetzt, da sie dem Vorfall mit einer romantischen Deutung einen ganz anderen Sinn beilegen konnte – jetzt geriet sie in solches Entzücken ob meiner „Rittertat“, daß sie zu mir eilte und mich in ihre Arme schloß, gerührt, stolz, begeistert! Einen Augenblick später richtete sie sich schnell auf und wandte den übrigen, die sich um uns drängten, ihr Gesicht mit der ernsthaftesten Miene zu, in der unendlich viel kindlich naiver Stolz lag, und sagte, indes zwei kristallklare Tränen an ihren Wimpern hingen, mit einer so ernsten, wichtigen Stimme, wie ich sie von ihr noch nie gehört hatte: „^Mais c’est très sérieux, messieurs, ne riez pas!^“ Und sie deutete auf mich, ohne zu gewahren, daß alle wie bezaubert vor ihr standen und nur sie ansahen. Diese ihre unerwartete schnelle Bewegung, ihr ernstes liebes Gesicht, ihre offenherzige Naivität und diese aufrichtigen Tränen in ihren ewig lachenden Augen – alles das erschien ihnen als ein so unerwartetes Wunder, daß alle sie ansahen, wie gebannt durch diesen Zauber ihrer Leidenschaftlichkeit, ihres Blickes und ihrer Stimme. Niemand konnte die Augen von ihr abwenden, so schön war sie in ihrer Rührung und Begeisterung. Sogar unser alter Hausherr wurde rot wie eine Tulpe. Und wie man später behauptete, soll er gesagt haben: „Zu seiner Schande müsse er gestehen, daß er mindestens eine ganze Minute lang in seinen schönen Gast verliebt gewesen sei.“ Ich aber war jetzt natürlich ein Ritter, war ein Held! „Delorges! Toggenburg!“ ertönte es aus dem Kreise. Viele applaudierten. „Ja, ja, die junge Generation!“ bemerkte unser Hausherr. „Aber jetzt kommt er mit, jetzt muß er unbedingt mit uns mitkommen!“ rief die Blondine schnell, „wir müssen ihm einen Platz verschaffen! Oder er setzt sich zu mir aufs Pferd, auf meinen Schoß ... ach, nein, nein! Das geht ja nicht!“ ... unterbrach sie sich, auflachend, und konnte dabei ihr Lachen nicht bezwingen bei der Erinnerung an unsere erste Bekanntschaft. Doch während sie lachte, streichelte sie zärtlich meine Hand, sichtlich von Herzen bemüht, meine Freundschaft zu gewinnen und die Kränkung vergessen zu machen. „Unbedingt! Unbedingt!“ riefen gleich mehrere Stimmen, „den Platz hat er sich erobert!“ Und im Augenblick war alles besorgt: jenes selbe ältere Fräulein, das mich mit ihrer schönen Freundin bekannt gemacht hatte, wurde sogleich von der ganzen Jugend mit Bitten bestürmt, ihren Platz mir abzutreten und statt meiner zu Haus zu bleiben. Zu ihrem größten Ärger blieb ihr denn auch nichts anderes übrig, als den Bitten Gehör zu geben und mit sauersüßem Lächeln auszusteigen – innerlich wohl dem Bersten nahe vor Wut über mich. Ihre Beschützerin, meine gewesene Feindin und nun größte Freundin, rief ihr jedoch, als sie an ihr vorüberritt, wie ein Kind lachend zu, daß sie sie beneide und gern mit ihr tauschen wollte, denn es werde gleich regnen und dann würden wir alle naß. Ihre Prophezeiung traf wirklich ein. Etwa eine Stunde später überraschte uns ein Platzregen und wir mußten mehrere Stunden in den Bauernhäusern warten. Erst gegen zehn Uhr kehrten wir zurück, in feuchter, frisch-kühler Regenluft. Kurz bevor wir aufbrachen, trat ^M–me^ M. zu mir und fragte mich verwundert, warum ich nichts weiter angezogen hätte, als meine leichte Matrosenbluse. Ich sagte, ich hätte keine Zeit gehabt, meinen Mantel mitzunehmen. Da nahm sie eine Nadel und steckte meinen Kragen höher fest und nahm von ihrem Halse ein kleines, seidenes Tuch, das sie mir um den Hals band. Sie beeilte sich dabei aber so sehr, daß ich ihr nicht einmal danken konnte. Zu Haus angekommen, suchte ich sie und fand sie schließlich im kleinen Salon, im Gespräch mit der Blondine und dem freundlichen jungen Mann, der den Ruf eines guten Reiters damit eingebüßt hatte, daß er Tankred nicht zu reiten wagte. Ich trat an sie heran, bedankte mich und gab ihr das Halstuch zurück. Ich schämte mich jetzt des Vorgefallenen und wollte schnell fortgehen, nach oben auf mein Zimmer, um dort in aller Ruhe und Muße über irgend etwas, was ich im Augenblick selbst nicht zu nennen vermocht hätte, nachzudenken und mir darüber Klarheit zu verschaffen. Ich war so voll von neuen Eindrücken. Indem ich das Tuch zurückgab, errötete ich natürlich wieder bis über die Ohren. „Ich wette, der Junge hat das Ding behalten wollen,“ bemerkte der junge Mann lachend, „man sieht es ja seinen Augen an, wie leid es ihm tut, sich von Ihrem Tuch trennen zu müssen ...“ „Natürlich, natürlich doch!“ fiel ihm die Blondine ins Wort. „So ein Schlingel! Ach du!“ ... sagte sie scheinbar sehr angehalten und schüttelte mißbilligend den blonden Kopf, verstummte aber sogleich unter dem ernsten Blick der ^M–me^ M., der sie bat, ihre Scherze mit mir nicht wieder zu weit zu treiben. Ich ging schnell fort. „Wohin läufst du denn! So lauf doch nicht weg!“ – damit holte sie mich im Nebenzimmer ein und erfaßte freundschaftlich meine beiden Hände – „hättest du es doch einfach nicht zurückgegeben, wenn du’s so gern behalten wolltest! Hättest doch sagen können, daß du es verloren hast oder irgendwohin gelegt, und damit basta! Und das hast du nicht verstanden? Du bist mir mal ein Tor!“ Und sie gab mir mit dem Finger einen leichten Backenstreich und lachte, weil ich wieder feuerrot wurde. „Jetzt sind wir doch gute Freunde, nicht wahr? Hat unsere Feindschaft ein Ende, sag’!? Ja oder nein?“ Ich lachte und drückte ihr ohne ein Wort die Hand. „Nun, das ist gut! ... Aber warum bist du so bleich geworden und warum zitterst du? Hast du dich erkältet?“ „Ja, ich fühle mich nicht ganz wohl ...“ „Ach, du Armer! Das kommt von der Aufregung! Weißt du was? Geh jetzt lieber gleich ins Bett, warte nicht erst auf das Abendessen, und wenn du dich gut ausschläfst, wird es vergehen. Komm!“ Sie führte mich nach oben, und wie es schien, konnte sie mir nicht genug Liebes erweisen. Während sie mich zum Auskleiden allein ließ, lief sie nach unten in die Küche und brachte mir heißen Tee, den ich, als ich schon im Bett lag, trinken mußte. Dann brachte sie mir noch eine warme Decke und deckte mich sorgfältig zu. Ihre liebevolle Sorge wunderte und rührte mich nicht wenig, – oder vielleicht waren auch meine Nerven nach allen Erlebnissen an diesem Tage und obendrein noch durch das Fieber besonders empfänglich dafür. Ich schlang plötzlich meine Arme um ihren Hals, als wäre sie mein liebster und bester Freund, und mit einem Male kamen alle Eindrücke des Tages wieder und stürmten auf mein ermattetes Herz: ich war den Tränen nahe und schmiegte mich fest an ihre Brust. Sie erriet meine überwallende Empfindung und ich glaube, mein Wildfang war selbst beinahe gerührt. „Du bist ein guter Junge,“ flüsterte sie mir zu und sah mich mit stillen Augen an, „so sei mir nun nicht mehr böse, ja? wirst mir nicht mehr böse sein?“ Mit einem Wort: uns verband von nun an die treueste, zärtlichste Freundschaft. Es war ziemlich früh am Morgen, als ich erwachte, aber die Sonne erfüllte das Zimmer schon mit goldigem Licht. Ich sprang gesund und munter aus dem Bett, von der Erkältung empfand ich nichts mehr, statt dessen aber eine unendliche, unerklärliche Freude. Ich dachte an den ereignisreichen letzten Tag und Abend und ich hätte ein ganzes Glück dafür hingegeben, wenn ich in diesem Augenblick wieder meinen neuen Freund, unsere blondlockige Schönheit hätte umarmen können. Aber es war noch zu früh und sie schliefen wohl noch alle. Ich kleidete mich schnell an, ging in den Garten und von dort in den Wald. Ich schlug die Richtung ein, in der der Wald am dichtesten war, der Duft der Bäume harziger, und wo die Sonnenstrahlen neckisch und nur wie verstohlen hier und da durch das dichte Blattgewirr lugten. Es war ein wundervoller Morgen. Ich ging weiter und weiter, bis ich schließlich am anderen Waldrande anlangte, auf einem Bergabhange nicht weit vom Fluß. Die Moskwa ist dort keine zweihundert Schritte vom Waldesrande entfernt, wenn man den Abhang hinabgeht. Auf dem anderen Ufer wurde Heu gemäht. Ich blieb stehen und schaute hinüber: ich sah, wie ganze Reihen scharfer Sensen bei jedem Ausholen der Schnitter in der Sonne aufblitzten und dann wieder verschwanden, gleich kleinen glänzenden Schlangen, die schnell immer von neuem ins Gras huschten, als wollten sie sich verstecken, und wie das gemähte Gras in dicken bauschigen Büscheln zur Seite flog und in langen geraden Streifen liegen blieb. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich so hinübergeschaut haben mochte, als ich plötzlich aus meinen Träumen zur Besinnung kam: aus dem Walde, ungefähr aus der Richtung des Durchhaus, der sich zwischen dem Fahrweg und dem Herrenhause hinzog, vernahm ich Pferdegeschnauf und ungeduldiges Scharren mit dem Huf. Ich konnte jedoch nicht sagen, ob der Reiter sein Tier gerade erst anhielt, oder ob schon längere Zeit das Stampfen und Schnaufen zu hören gewesen war, das ich – in mich selbst versunken, wie ich, während ich den Schnittern zusah, dagestanden – nur nicht gehört hatte. Neugierig kehrte ich zurück in den Wald und schon nach wenigen Schritten vernahm ich Stimmen, die schnell, aber leise durch die Stille erklangen. Ich ging noch näher und bog die Äste der letzten Büsche zur Seite und – erschrocken wich ich zurück – durch die Zweige schimmerte ein weißes Kleid: eine weiche Frauenstimme schlug an mein Ohr und ließ mein Herz erzittern. Es war ^M–me^ M. Sie stand neben einem Reiter, der vom Pferde herab schnell auf sie einsprach, und zu meiner Verwunderung erkannte ich in ihm N., jenen jungen Mann, der uns tags zuvor verlassen hatte, begleitet von allen jungen Damen und auch von ^M–r^ M. Hatte man nicht gesagt, er müsse irgendwohin, weit nach dem Süden Rußlands reisen? Wahrlich, es war nur zu erklärlich, daß ich mich recht verwunderte, als ich ihn wieder bei uns und noch dazu so früh am Morgen und allein mit ^M–me^ M. im Walde erblickte! Sie schien geweint zu haben und sah erregt aus, aber so schön hatte ich sie noch nie gesehen. Der junge Mann hielt ihre Hand in der seinen und führte sie, im Sattel sich herabneigend, an seine Lippen. Ich hatte sie beim Abschied überrascht. Ich glaube, sie beeilten sich. Endlich zog er aus der Brusttasche einen Brief, reichte ihn ^M–me^ M., umfing sie mit dem einen Arm, sich wie vorher im Sattel herabbeugend, und küßte sie – fest und lange. Einen Augenblick später wippte die Peitsche und er sprengte schnell an mir vorüber, auf und davon. Sie aber stand noch eine Weile und blickte ihm nach, dann wandte sie sich um und kehrte langsam, nachdenklich und traurig zum Hause zurück. Nach wenigen Schritten schien sie plötzlich zu sich zu kommen, wie aus einem Traum zu erwachen – und sie bog schnell die Zweige der Büsche am Durchhau zur Seite und ging durch den Wald. Ich folgte ihr, erstaunt und verwirrt durch das, was ich gesehen hatte. Mein Herz pochte laut, wie nach einem großen Schreck. Und dennoch war ich wie erstarrt und betäubt: meine Gedanken waren zerstreut und ich konnte sie nicht sammeln; aber ich erinnere mich, daß ich furchtbar traurig war. Hin und wieder sah ich ihr weißes Kleid durch das Grün schimmern. Ich folgte ihr ganz willenlos, fast mechanisch, und hatte dabei nur den einen Gedanken, sie nicht aus dem Auge zu verlieren und doch selbst nicht von ihr gesehen zu werden. Endlich trat sie auf den Weg, der aus dem Walde in den Garten führte. Ich wartete eine Weile, dann trat ich gleichfalls aus dem Walde. In demselben Augenblick bemerkte ich auf dem gelben Kies des Weges ein geschlossenes Kuvert, das ich auf den ersten Blick erkannte – es war dasselbe, das vor etwa zehn Minuten N. ^M–me^ M. eingehändigt hatte. Ich hob es auf, betrachtete es von allen Seiten: ein weißes Kuvert ohne Aufschrift, ohne ein Zeichen, dem Format nach nicht sehr groß, aber recht dick und schwer, wie wenn mindestens drei Bogen Postpapier in ihm waren. Was enthielt dieser Brief? Vielleicht das ganze Geheimnis! Vielleicht war in ihm alles das ausgesprochen, was N. in den wenigen Minuten des kurzen Wiedersehens nicht zu sagen gewagt hatte. Er war ja dem Anscheine nach nicht einmal abgestiegen ... Sollte er sowenig Zeit gehabt haben oder fürchtete er vielleicht bei einem längeren Abschied seinem gegebenen Wort nicht treu bleiben zu können – Gott mag es wissen ... Ich blieb stehen, legte den Brief mitten auf den Weg, gerade auf die sichtbarste Stelle und versteckte mich hinter einem Baum, so daß ich den Brief im Auge behalten konnte, denn ich dachte, ^M–me^ M. werde bald bemerken, daß sie ihn verloren hatte, und dann, um ihn zu suchen, auf demselben Wege in den Wald zurückkehren. Ich hielt aber das Warten nicht lange aus, hob den Brief wieder auf, steckte ihn in die Tasche und lief ihr nach. Sie war aber schon im Garten und ging in der großen Allee geradeswegs zum Hause, ging schnell, doch mit gesenktem Kopf. Da wußte ich nicht, was ich tun sollte. Sie einholen und ihr den Brief geben? Das hätte verraten, daß ich alles gesehen, daß ich alles wußte. Wie sollte ich ihr dann noch in die Augen blicken? und was würde sie von mir denken? Ich hoffte immer noch, daß sie zu sich kommen, sich des Briefes erinnern und dann bemerken werde, daß sie ihn verloren hatte. In dem Falle hätte ich ihn unbemerkt fallen lassen: und sie würde ihn sogleich gefunden haben. Aber nein, sie dachte offenbar nicht an den Brief! Sie näherte sich schon dem Hause, und auf der Terrasse hatte man sie bereits erblickt. An diesem Morgen waren alle viel früher aufgestanden, denn am Abend nach der mißlungenen Ausfahrt hatte man sogleich einen neuen Ausflug verabredet, wovon ich noch nichts wußte. Alle hatten sich schon zur Abfahrt bereitgemacht und saßen gerade beim Frühstück auf der Terrasse. Ich wartete gute zehn Minuten, damit man mich nicht zusammen mit ^M–me^ M. aus dem Garten kommen sah, machte einen Umweg und näherte mich von einer anderen Seite dem Hause. Sie ging auf der Terrasse unruhig hin und her, sah bleich und erregt aus und aus allem war zu ersehen, daß sie sich Gewalt antat, um ihre Erregung und Angst nicht zu verraten; dennoch sprach aus ihren Augen, ihrem unruhigen Gang, aus jeder Bewegung soviel Qual und Pein, daß sie wohl jedem, der sie beobachtet hätte, aufgefallen wäre. Sie stieg die Stufen hinab und ging ein paar Schritte auf dem Wege in den Garten; ihre Augen suchten angstvoll und sogar unvorsichtig und auffällig auf dem Kies und dem Fußboden der Terrasse. Da wußte ich: jetzt endlich vermißte sie den Brief und fürchtete wohl, ihn in der Nähe des Hauses verloren zu haben – ja, sie schien davon überzeugt zu sein. Jemand machte die Bemerkung, und nach ihm wiederholten sie alle anderen, daß sie bleich und nervös aussehe. Es folgten Fragen nach ihrer Gesundheit, lästige Ratschläge. Sie mußte beruhigen, scherzen, lachen, mußte eine heiter gelassene Miene zur Schau tragen. Zuweilen flog ihr Blick zu ihrem Mann hinüber, der am anderen Ende der Terrasse sich mit zwei Damen unterhielt, und dann überlief wieder jenes Zittern ihren Körper und jene große Befangenheit kam über sie, wie an dem Abend, als er unerwartet hier eingetroffen war. Ich stand, die Hand in der Tasche, in der ich den Brief krampfhaft festhielt, etwas abseits auf der Terrasse und flehte das Schicksal an, daß sie mich endlich bemerken möge. Ich wollte sie beruhigen, trösten, und war’s auch nur mit einem Blick, oder ihr, wenn es anging, heimlich ein paar Worte zuflüstern. Doch als sie mich dann zufällig ansah, da zuckte ich zusammen und senkte den Blick. Ich sah ihre Qual und täuschte mich nicht in meiner Annahme. Auch jetzt weiß ich von ihrem Geheimnis nicht mehr als damals, nichts weiter als das, was ich soeben wiedergegeben. Aber ihr Verhältnis zu N. war vielleicht doch nicht von der Art, wie man es auf den ersten Blick vermuten könnte. Vielleicht war dieser Kuß ein letzter Abschiedskuß, ein dürftiger Lohn für ein Opfer, das er ihrer Ruhe und Ehre brachte? Er verließ sie. Er reiste irgendwohin, weit fort, vielleicht fürs ganze Leben, um sie nie wiederzusehen. Und schließlich, dieser Brief, den ich kampfhaft umklammerte – wer weiß, was er enthielt? Wer konnte da urteilen? Zweifellos wäre die plötzliche Aufdeckung ihres Geheimnisses ein entsetzlicher, ein vernichtender Schlag für sie gewesen. Ich sehe noch heute ihr Gesicht vor mir, wie sie dort ging und stand: nein, mehr konnte man nicht leiden! Fühlen, wissen, überzeugt sein, und wie auf seine Hinrichtung darauf warten, daß in einer Viertelstunde oder schon in der nächsten Minute alles der Öffentlichkeit preisgegeben sein würde – der Brief konnte doch jeden Augenblick von jemandem gefunden werden! Er war ohne Aufschrift, man würde ihn erbrechen und dann ... was dann? Welche Hinrichtung könnte furchtbarer sein, als die, die sie erwartete? Sie stand und ging hier mitten unter ihren zukünftigen Richtern. Nach wenigen Minuten würden alle diese lächelnden, schmeichelnden Gesichter streng und unerbittlich aussehen. Spott, Bosheit und eisige Verachtung würde sie in ihnen lesen und dann würde ewige, hoffnungslos dunkle Nacht ihr Leben abschließen ... Damals freilich begriff ich das alles noch nicht so, wie jetzt. Ich konnte es nur ahnen und Mitleid mit ihr empfinden, tiefes, unsagbares Mitleid mit ihrer Angst, die ich nicht einmal ganz verstand. Doch was auch immer ihr Geheimnis gewesen sein mag – durch jene qualvolle Stunde, deren Zeuge ich war und die ich niemals vergessen werde, hat sie viel gesühnt, wenn hier überhaupt etwas zu sühnen war. Plötzlich erscholl der fröhliche Ruf zur Abfahrt. Ein lautes Stimmengewirr war die Antwort, und unter Scherzen und Lachen brach man auf. In wenigen Minuten hatten alle die Terrasse verlassen. ^M–me^ M. weigerte sich, mitzufahren und gestand schließlich, daß sie sich nicht wohl fühle. Doch Gott sei Dank, alle beeilten sich und niemand belästigte sie weiter mit Fragen oder Ratschlägen: dazu hatten sie jetzt keine Zeit. Nur wenige blieben zu Haus. Ihr Mann war zu ihr getreten und sagte ihr irgend etwas: sie erwiderte, daß ihr Unwohlsein schnell vergehen werde, er solle sich deshalb nicht beunruhigen; hinlegen wolle sie sich nicht, sie werde in den Garten gehen, allein ... oder mit mir ... Dabei sah sie sich nach mir um. Ich errötete vor Freude: das war ja die beste Gelegenheit, die sie mir damit bot! Einen Augenblick später machten wir uns auf den Weg. Sie ging denselben Weg, den sie gekommen war, sie schien sich unwillkürlich jeder Allee, jedes Umweges im Garten, jedes Fußsteiges zu erinnern, und sie ging, ohne den Blick vom Boden zu erheben, ohne mich zu beachten – vielleicht hatte sie es schon vergessen, daß ich mit ihr ging. Als wir an den Waldrand kamen, wo ich den Brief gefunden hatte und wo der Kiesweg aufhörte, blieb sie plötzlich müde stehen und sagte mit einer Stimme, die mir ins Herz schnitt, so verzweifelt und hoffnungslos traurig klang sie, daß sie sich schlecht fühle und zurückkehren wolle. Doch kaum waren wir wieder beim Gartenzaun angelangt, da blieb sie von neuem stehen und starrte vor sich hin. Ein wehes, qualvolles Lächeln zuckte um ihre Lippen und wie erschöpft und wie aus Erschöpfung sich allem ergebend, sich in alles fügend, was auch über sie hereinbrechen sollte, kehrte sie stumm zum Walde zurück, diesmal ohne mir ein Wort zu sagen, ohne mich zu beachten ... Ich hätte mich selbst zerreißen mögen, und doch verfiel ich nicht auf einen Ausweg ... Wir gingen, oder richtiger, ich führte sie an jene Stelle, wo ich vor etwa einer Stunde gestanden und plötzlich den Hufschlag gehört hatte. Nicht weit von dort war am Fuß einer alten Ulme ein bankartig gehauener großer Feldstein, von Hagebutten, wildem Jasmin und Efeu umgeben. (Der Wald hatte eine Menge solcher „Überraschungen“, wie Bänke, Grotten, kleine Brücken und ähnliches.) Sie setzte sich auf die Bank und sah geistesabwesend auf das entzückende Landschaftsbild, das sich uns bot. Nach einer Weile schlug sie das Buch auf und tat, als läse sie, aber sie saß reglos, wandte weder ein Blatt, noch las sie: sie wußte wohl selbst nicht, was sie tat. Es war gegen halb zehn Uhr. Die Sonne stand schon hoch am klaren, endlos hohen blauen Sonnenhimmel und schien in ihrem eigenen Feuer zu verbrennen. Die Schnitter waren bereits weit, man konnte sie von unserem Ufer kaum noch sehen. Ununterbrochen folgten ihnen die langen Streifen des gemähten Grases und wenn die Luft sich ab und zu wie in einem leisen Wehen regte, dann trug sie frischen Heuduft. Ringsum aber ertönte unermüdlich das Zwitschern jener, die „weder säen, noch ernten“ und frei sind wie die Luft, in der sie fliegen. Es lag solch ein seliges Wohlsein in der ganzen Natur! Ich blickte scheu auf die arme Frau, die allein wie eine Tote inmitten dieses frohen Lebens war: an ihren Wimpern hingen Tränen, die ihr das Leid aus den Augen gepreßt. In meiner Macht war es, diese arme, traurige Seele aufzurichten und zu beglücken, und doch wußte ich nicht, wie ich es anfangen sollte, und ich quälte mich entsetzlich. Hundertmal war ich schon im Begriff, zu ihr zu treten, um ihr den Brief zu übergeben, und jedesmal stieg mir dann die Röte wie Feuer ins Gesicht. Plötzlich erleuchtete mich ein guter Gedanke: ich war auf ein Mittel verfallen und wie erlöst! „Ich werde Ihnen Blumen pflücken! Wollen Sie?“ fragte ich sie so froh, daß sie aufsah und mich anblickte. „Gut,“ sagte sie endlich mit müder Stimme, kaum merkbar lächelnd, und wieder sah sie ins Buch. „Sonst wird hier auch das Gras gemäht und dann mähen sie alle Blumen nieder!“ rief ich fröhlich und sprang davon. Bald hatte ich schon eine ganze Menge gepflückt, wenn es auch nur ein Strauß einfacher, unscheinbarer Feldblumen war, die man wohl kaum in einer Vase ins Zimmer stellen würde. Und doch, wie froh schlug mein Herz, als ich die Blumen suchte und zum Strauße zusammenband! Heckenrosen und wilden Jasmin brach ich. Dann lief ich zu einem nahen Kornfeld. Dort, das wußte ich, blühten Kornblumen. Die pflückte ich, und dazu lange goldgelbe Ähren, die schönsten suchte ich aus. Am Wegrande fand ich auch ein ganzes Büschel Vergißmeinnicht und mein Strauß konnte sich eigentlich schon sehr wohl sehen lassen. Weiter im Felde fand ich hellblaue Glockenblumen und wilde Nelken und unten am Flußufer gelbe Wasserrosen. Endlich, schon auf dem Rückwege, als ich noch auf einen Augenblick in den Wald trat, um einige Silberahornzweige zu brechen und sie unten kranzartig um die Blumen zu legen, fand ich wilde Stiefmütterchen und in ihrer Nähe, durch ihren Geruch aufmerksam gemacht, im Grase ganz versteckt, süß duftende Veilchen, die vom Tau noch feucht waren. Mein Strauß war fertig. Mit dünnen langen Gräsern umwand ich die Stiele und zwischen die Blumen, ganz vorsichtig, steckte ich den Brief, so daß man ihn deutlich sehen konnte, wenn man dem Bukett nur einige Beachtung schenkte. So brachte ich es ^M–me^ M. Unterwegs schien es mir, daß der Brief doch gar zu auffallend hervorragte: deshalb verdeckte ich ihn etwas mehr mit den Blüten. Als ich mich ihr schon näherte, schob ich ihn noch etwas tiefer hinein, und als ich schon ganz nahe bei ihr war, stieß ich ihn so tief in den Strauß, daß man von ihm nichts mehr sehen konnte. Das Blut schoß mir wieder ins Gesicht, ich wollte es mit den Händen bedecken und sogleich fortlaufen, aber sie sah nur so zerstreut auf meine Blumen, als habe sie ganz vergessen, daß ich sie für sie gepflückt hatte. Mechanisch hob sie die Hand, nahm, fast ohne aufzusehen, mein Geschenk in Empfang und legte es achtlos auf die Bank – und wieder sah sie ins Buch, wie in Gedanken verloren. Ich hätte weinen mögen vor lauter Ärger über den Mißerfolg meines Planes. „Wenn der Strauß nur bei ihr bleibt,“ dachte ich, „wenn sie ihn nur nicht vergißt!“ Ich legte mich in der Nähe der Bank ins Gras, schob die rechte Hand unter den Kopf und schloß die Augen, als wollte ich schlafen. Dabei aber beobachtete ich sie heimlich unausgesetzt. Es verging eine geraume Zeit, vielleicht zehn Minuten; wie mir schien, wurde ihr Gesicht immer bleicher ... Plötzlich kam ein glücklicher Zufall mir zu Hilfe. Es war das eine große goldbraune Hummel, die ein freundliches Lüftchen zu uns führte. Sie summte zuerst über meinem Kopf, dann flog sie zu ^M–me^ M. Diese schlug mit der Hand nach ihr, schlug noch einmal, aber die Hummel wurde wie zum Trotz nur noch zudringlicher. Da griff ^M–me^ M. nach meinem Strauß, um mit ihm das Tier zu verscheuchen. In dem Augenblick löste sich aus den Blumen der Brief und fiel gerade auf das aufgeschlagene Buch. Ich zuckte zusammen. Sie blickte, stumm vor Verwunderung, bald auf den Brief, bald auf die Blumen und schien ihren Augen nicht zu trauen. Plötzlich wurde sie feuerrot, erhob schnell den Blick und sah sich nach mir um. Doch schon hatte ich die Augen geschlossen und tat, als schliefe ich fest: für keinen Preis hätte ich ihr jetzt offen in die Augen geschaut. Mein Herz pochte laut und schien doch stillstehen zu wollen – ich hielt den Atem an. Ich weiß nicht, wie lange ich so lag: zwei bis drei Minuten vielleicht. Endlich wagte ich es, ganz, ganz vorsichtig die Augen zu öffnen. Sie saß und las den Brief, und an ihren glühenden Wangen und glänzenden Augen, die tränenfeucht waren, ihrem verklärten Gesicht, in dem jeder Zug vor freudiger Erregung zu beben schien, erriet ich, daß der Brief ihr Glück gab und ihr Kummer wie eine trübe Wolke verscheucht wurde. Ein schmerzlich süßes Gefühl schlich in mein Herz und es fiel mir schwer, mich noch weiter schlafend zu stellen ... Niemals werde ich diese Stunde vergessen! Plötzlich hörte ich rufen, nicht weit von uns erklangen Stimmen: „^M–me^ M.! ^Natalie! Natalie!^“ Sie antwortete nicht, stand aber schnell auf, trat zu mir und beugte sich über mich. Ich fühlte es, daß sie mir gerade ins Gesicht sah. Meine Lider wollten schon zucken, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen und rührte mich nicht. Ich versuchte, möglichst gleichmäßig und ruhig zu atmen, aber das Herz wollte mich ersticken mit seinen ungestümen Schlägen. Da brannten plötzlich Tränen und ein Kuß auf meiner Hand, die auf meiner Brust lag. Und noch einmal, zweimal küßte sie mir die Hand. „^Natalie! Natalie!^ Wo bist du?“ klang es wieder. „Gleich!“ sagte ^M–me^ M. mit ihrer weichen, dunklen, von Tränen durchzitterten Stimme, und so leise, daß nur ich es hören konnte. Da stockte mein Herz und verriet mich: heiß trieb es mir all mein Blut ins Gesicht. Im nächsten Augenblick glühte ein schneller heißer Kuß auf meinen Lippen. Ich schlug vor Schreck mit einem schwachen Schrei die Augen auf, doch da fiel auf sie etwas seidig Weiches – es war jenes kleine Tuch –, als sollte es meine Augen vor der Sonne schützen. Einen Augenblick später war sie schon fort. Ich vernahm nur noch das Geräusch eilig sich entfernender Schritte. Dann war ich allein ... Ich riß das Tuch vom Gesicht und küßte es außer mir vor Entzücken. Ich war wie fassungslos! ... Lange lag ich im Grase, hatte die Ellbogen aufgestützt und schaute sinnverloren und ohne mich zu rühren geradeaus auf die Hügel, die Felder und Wiesen, den Fluß, der sich zwischen ihnen in großen Biegungen hinwand und weit, soweit das Auge nur folgen konnte, sich hinschlängelte, zwischen neuen Bergen und Gütern und Dörfern, deren Häuser in der sonnenhellen Ferne wie kleine Punkte vom Grün sich abhoben, schaute auf die blauen kaum sichtbaren Wälder, die wie in Rauch gehüllt am Horizonte sich hinzogen: und eine seltsam süße Stille, die aus der feierlichen Ruhe der Landschaft hervorzugehen schien, beruhigte allmählich mit einer unendlichen Sanftheit mein erregtes Herz. Wie eine Erleichterung war es, ich atmete freier ... Aber meine ganze Seele begann, sich seltsam dumpf und süß zu sehnen, als sähe sie etwas, was sie noch nie gesehen, als wäre plötzlich ein Ahnen in ihr erwacht. Furchtsam und doch voll Freude begann mein Herz etwas Geheimnisvolles zu erraten, leicht bebend vor Erwartung ... Und plötzlich weitete sich meine Brust, und in ihr wogte und schmerzte es, als wäre sie durchbohrt – und Tränen, selige Tränen entströmten meinen Augen. Ich bedeckte das Gesicht mit den Händen und zitternd wie ein Grashalm gab ich mich wehrlos der ersten Erkenntnis und Offenbarung des Herzens hin, dem ersten noch unklaren Einblick in meine Menschennatur. Mit diesem Augenblick endete meine Kindheit. – – – – – – – – – – – – – – – * * * * * Als ich zwei Stunden später ins Haus zurückkehrte, befand ^M–me^ M. sich nicht mehr unter den Gästen. Sie war mit ihrem Mann nach Moskau gefahren, wie es hieß, auf irgendeine plötzlich eingetroffene Nachricht hin. Ich habe sie nie wiedergesehen. Weihnacht und Hochzeit Vor ein paar Tagen sah ich einer Trauung zu ... oder nein! Ich werde Ihnen zuerst von einer Weihnachtsfeier erzählen. Eine Trauung ist ja an sich sehr schön und auch diese gefiel mir sehr ... aber das andere Erlebnis ergriff mich doch noch mehr. Als ich der Trauung zusah, wurde ich an jene Weihnachtsfeier erinnert. Doch ich will erzählen, wie das zuging. Vor etwa fünf Jahren erhielt ich eines Tages zwischen Weihnacht und Neujahr eine Einladung zu einem Kinderball, der in dem Hause einer mir bekannten, angesehenen Familie stattfinden sollte. Der Hausherr war eine einflußreiche Persönlichkeit, die gute Verbindungen besaß, einen großen Bekanntenkreis hatte, eine gewichtige Rolle in der Gesellschaft spielte und alle möglichen Intrigen zu spinnen pflegte, so daß man ohne weiteres annehmen konnte, dieser Kinderball sei nur ein Vorwand für die Eltern, namentlich für die Herren Väter, einmal ganz harmlos in größerer Anzahl zusammenzukommen und bei der Gelegenheit ganz zufällig über allerlei bemerkenswerte Dinge und Ereignisse zu reden. Da mich aber besagte Dinge und Ereignisse nichts angingen und ich unter den Anwesenden so gut wie gar keine Bekannten vorfand, verbrachte ich den Abend in der Gesellschaft ziemlich ungestört und mir selbst überlassen. Dasselbe tat auch noch ein anderer Herr, der, wie mir schien, sich weder durch Rang noch Namen auszeichnete und wohl gleich mir nur durch einen Zufall auf diesen Kinderball geraten war ... Er fiel mir sofort auf. Sein Äußeres machte einen guten Eindruck: er war groß von Wuchs, hager, auffallend ernst und sehr gut gekleidet. Man sah ihm deutlich an, daß es ihn nicht nach Zerstreuung und fröhlicher Unterhaltung verlangte. Wenn er sich in einen stilleren Winkel zurückzog, nahm sein Gesicht, dessen dichte schwarze Brauen sich zusammenzogen, einen harten, fast finsteren Ausdruck an. Bekannt war er offenbar, außer mit dem Hausherrn, mit keinem einzigen Anwesenden. Und es war wohl unschwer zu erraten, daß das ganze Fest ihn entsetzlich langweilte. Gleichwohl spielte er bis zum Schluß mutig die Rolle eines angenehm unterhaltenen, glücklichen Menschen. Nachher erfuhr ich, daß er aus der Provinz stammte und nur auf kurze Zeit nach Petersburg gekommen war, wo sich ein verwickelter Prozeß, von dem für ihn alles abhing, in den nächsten Tagen entscheiden sollte. Zu unserem Hausherrn hatte ihn ein Empfehlungsschreiben gebracht, infolgedessen er von diesem höflichkeitshalber zu dem Abend eingeladen worden war – doch durfte er, wie es hieß, durchaus nicht darauf rechnen, daß sich der einflußreiche Mann deshalb für ihn verwenden werde. Und da man nicht Karten spielte, dem unbekannten Fremden keine Zigarren anbot und auch sonst niemand ein Gespräch mit ihm anknüpfte – wahrscheinlich erkannte man den Vogel schon von weitem an den Federn –, so war der Mann gezwungen, um doch irgendwo seine Hände zu lassen, sich den ganzen Abend über den Backenbart zu streichen. Freilich war dieser Bart sehr schön, nur strich er ihn doch etwas gar zu viel, so daß man tatsächlich glauben konnte, zuerst sei der Backenbart erschaffen worden und dann erst zu diesem Bart, und auch nur, um ihn zu streichen, der ganze Mann. Außer diesem Herrn, der sich um das Fest der fünf dicken kleinen Söhne des Hausherrn wenig kümmerte, fiel mir noch ein zweiter Herr auf. Doch der war eine ganz andere Erscheinung. Der war nämlich eine Persönlichkeit! Er hieß Julian Mastakowitsch. Auf den ersten Blick erriet man, daß er ein Ehrengast war und zum Hausherrn in ungefähr demselben Verhältnis stand, wie dieser zu jenem Unbekannten, der sich den Backenbart strich. Der Hausherr und die Hausfrau sagten ihm unendlich viele Liebenswürdigkeiten, machten ihm geradezu den Hof, führten alle ihre Gäste zu ihm, um sie ihm vorzustellen, ihn selbst aber stellten sie keinem vor. Wie ich bemerkte, erglänzte im Auge des Hausherrn sogar eine Träne der Rührung, als Julian Mastakowitsch zum Lobe des Festes versicherte, er habe selten so angenehm die Zeit verbracht. Mir ward ordentlich unheimlich in der Gegenwart eines solchen Menschen: und so zog ich mich denn, als ich mich am Anblick der Kinder genugsam ergötzt hatte, in ein kleines Boudoir zurück, in dem zufällig kein Mensch war, und setzte mich dort in die Blumenlaube der Hausherrin, die fast das halbe Zimmer einnahm. Die Kinder waren alle unglaublich nett und lieb und echt kindlich und wollten unter keiner Bedingung den „Großen“ gleichen, ungeachtet aller Ermahnungen der Gouvernanten und Mütter. Im Nu hatten sie den ganzen Weihnachtsbaum bis auf das letzte Anhängsel geplündert und auch schon Zeit gehabt, die Hälfte der Spielsachen zu zerbrechen, noch bevor sie festgestellt hatten, für wen ein jedes Spielzeug überhaupt bestimmt war. Ein kleiner Knabe mit dunklen Augen und braunen Locken gefiel mir ganz besonders: er wollte mich unbedingt erschießen, denn er hatte ein hölzernes Gewehr bekommen. Doch am meisten lenkte seine kleine Schwester die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich. Sie war etwa elf Jahre alt, zart und bleich, mit großen, nachdenklichen Augen. Die anderen Kinder hatten sie irgendwie gekränkt, und da kam sie denn in das Zimmer, in dem ich saß, setzte sich in einen Winkel und beschäftigte sich mit ihrer Puppe. Die Gäste deuteten unter sich respektvoll auf einen reichen Kaufmann, den Vater der Kleinen, und jemand wußte flüsternd mitzuteilen, daß an barem Gelde bereits jetzt dreihunderttausend Rubel für sie als Mitgift beiseite gelegt seien. Ich sah mich unwillkürlich nach der Gruppe um, die ein so interessantes Gespräch führte, und mein Blick fiel auf Julian Mastakowitsch, der, die Hände auf dem Rücken gekreuzt und den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, sehr aufmerksam dem müßigen Gespräch zuzuhören schien. Gleichzeitig mußte ich mich über die Weisheit der Gastgeber, die diese in der Verteilung der Geschenke zu bezeugen gewußt hatten, nicht wenig wundern. Das kleine Mädchen z. B., das bereits dreihunderttausend Rubel besaß, hatte die schönste und teuerste Puppe erhalten. Der Wert der anderen Geschenke dagegen sank von Stufe zu Stufe herab, je nach dem Range der Eltern dieser Kinder. Das letzte Kind, ein kleiner Knabe von etwa zehn Jahren, ein mageres, rötlichblondes Kerlchen mit Sommersprossen, bekam nur ein Buch, das belehrende Geschichten enthielt und von der Größe der Natur, von Tränen der Rührung und ähnlichem handelte, ein nüchternes Buch, ohne Bild, ohne eine Verzierung. Er war der Sohn einer armen Witwe, die die Kinder des Hausherrn unterrichtete und kurzweg die Gouvernante hieß. Er selbst war ein ängstlicher, verschüchterter Knabe. Er trug eine kleine russische Bluse aus billigem Nanking. Nachdem ihm sein Buch eingehändigt worden war, ging er lange Zeit um die Spielsachen der anderen Kinder herum; er hätte wohl furchtbar gern mit diesen anderen gespielt, aber er wagte es nicht – man sah es ihm an, daß er seine gesellschaftliche Stellung bereits vollkommen begriff. Ich beobachte gern Kinder beim Spiel. Ungeheuer interessant ist ihre erste selbständige Äußerung im Leben. Es fiel mir auf, daß der kleine arme Knabe sich von den reichen Geschenken der anderen so hinreißen ließ, namentlich von einem Puppentheater, in dem er gewiß gern eine Rolle übernommen hätte, daß er sich zu einer Schmeichelei entschloß. Er lächelte und suchte sich angenehm zu machen, er gab seinen Apfel einem kleinen pausbackigen Jungen, der bereits einen ganzen Sack voll Naschwerk hatte, und er entschloß sich sogar, einen von ihnen huckepack zu tragen, nur damit man ihn nicht vom Theater fortjage. Doch im nächsten Augenblick wurde er von einem Erwachsenen, der gewissermaßen den Oberaufseher spielte, mit Püffen und Stößen fortgetrieben. Der Junge wagte nicht, zu weinen. Sogleich erschien auch schon die Gouvernante, seine Mutter, und sagte ihm, er solle die anderen nicht stören. Da kam denn der Kleine in jenes Zimmer, in dem das Mädchen saß. Sie ließ ihn zu sich kommen und beide begannen eifrig, die schöne Puppe anzukleiden. Ich hatte schon über eine halbe Stunde in der Efeulaube gesessen und war fast eingeschlummert, unbewußt eingelullt durch das Kindergespräch des kleinen rotblonden Jungen und der zukünftigen Schönheit mit der Mitgift von dreihunderttausend Rubeln, als plötzlich Julian Mastakowitsch ins Zimmer trat. Er benutzte die Gelegenheit, die ihm ein großer Streit unter den Kindern im Saale bot, unbemerkt zu verschwinden. Vor wenigen Minuten hatte ich ihn noch an der Seite des reichen Kaufmannes, des Vaters der Kleinen, in lebhaftem Gespräch gesehen, und aus einzelnen Worten, die ich auffing, erriet ich, daß er die Vorzüge der einen Stellung im Vergleich mit einer anderen pries. Jetzt stand er nachdenklich an der Efeulaube, ohne mich zu sehen, und schien zu überlegen. „Dreihundert ... dreihundert ...“ murmelte er. „Elf ... zwölf, dreizehn – sechzehn. Fünf Jahre! Nehmen wir an, zu vier Prozent – zwölf mal fünf ... das macht sechzig. Ja, von diesen sechzig ... nun, sagen wir, im ganzen nach fünf Jahren – vierhundert. Ja! ... tja! ... Aber der wird doch nicht bloß vier Prozent nehmen, dieser Hund! Mindestens acht, wenn nicht sogar zehn. Na, sagen wir – fünfhunderttausend! Hm! eine halbe Million Rubel, das ist schon besser – nun, und dann noch die Aussteuer ... hm ...“ Sein Entschluß stand fest. Er räusperte sich und wollte das Zimmer bereits verlassen – da sah er plötzlich die Kleine im Winkel mit ihrer Puppe neben dem armen Jungen, und blieb stehen. Mich bemerkte er hinter dem dichten Efeu nicht. Wie mir schien, war er sehr erregt. Ob diese Erregung nun auf die Berechnung, die er soeben angestellt hatte, oder auf etwas anderes zurückzuführen war, das ist schwer zu sagen, doch rieb er sich lächelnd die Hände und schien kaum ruhig stehen zu können. Die Erregung wuchs noch bis ins ganz Unbegreifliche, als er einen zweiten entschlossenen Blick auf die reiche Erbin warf. Er wollte einen Schritt vortreten, blieb aber wieder stehen und blickte sich zuerst nach allen Seiten um. Dann näherte er sich auf den Fußspitzen, als sei er sich einer Schuld bewußt, langsam und ganz leise dem Kinde. Er lächelte. Als er dicht hinter der Kleinen stand, beugte er sich zu ihr nieder und küßte sie auf den Kopf. Die Kleine schrie vor Schreck auf, denn sie hatte ihn bis dahin nicht bemerkt. „Was tust du denn hier, mein liebes Kind?“ fragte er leise, blickte sich um und klopfte ihr dann die Wange. „Wir spielen ...“ „Ah? Mit ihm?“ Julian Mastakowitsch warf einen Blick auf den Knaben. „Du könntest, mein Lieber, in den Saal gehen,“ riet er ihm. Der Knabe schwieg und blickte ihn groß an. Julian Mastakowitsch sah sich wieder schnell nach allen Seiten um und beugte sich von neuem zu der Kleinen. „Was hast du denn da, mein liebes Kind? Ein Püppchen?“ fragte er. „Ein Püppchen ...“ antwortete die Kleine etwas zaghaft und runzelte leicht die Stirn. „Ein Püppchen ... Aber weißt du auch, mein liebes Kind, woraus diese Puppe gemacht ist?“ „N–nein ...“ antwortete die Kleine flüsternd und senkte das Köpfchen noch tiefer. „Nun, aus alten Läppchen, mein Herzchen. Aber du könntest doch in den Saal gehen, Junge, zu den anderen Kindern,“ wandte sich Julian Mastakowitsch mit einem strengen Blick abermals an den Knaben. Doch das Mädchen und der Kleine runzelten die Stirn und faßten sich gegenseitig an. Sie wollten sich offenbar nicht voneinander trennen. „Aber weißt du auch, wofür man dir dieses Püppchen geschenkt hat? ...“ fragte Julian Mastakowitsch, dessen Stimme immer einschmeichelnder wurde. „N–nein ...“ „Nun, dafür, daß du ein liebes und artiges Kind gewesen bist.“ Hier blickte sich Julian Mastakowitsch wieder nach der Tür um und fragte dann mit kaum hörbarer, vor Erregung und Ungeduld zitternder Stimme: „Aber wirst du mich auch lieben, kleines Mädchen, wenn ich zu deinen Eltern zum Besuch komme?“ Bei diesen Worten wollte Julian Mastakowitsch noch einmal das Mädchen küssen, doch als der kleine Knabe sah, daß sie dem Weinen schon ganz nahe war, umklammerte er sie plötzlich angstvoll und begann vor lauter Teilnahme und Mitleid mit ihr selbst laut zu weinen. Julian Mastakowitsch wurde ernstlich böse. „Geh, geh fort, geh fort von hier!“ sagte er ärgerlich. „Geh in den Saal! Geh zu deinen Kameraden!“ „Nein, nicht, nicht! Er soll nicht gehn! Gehen Sie fort,“ sagte das kleine Mädchen, „er aber soll hier bleiben, lassen Sie ihn hier!“ fügte sie fast weinend hinzu. Da ertönten laute Stimmen an der Tür und Julian Mastakowitschs gewichtiger Oberkörper schnellte empor. Er war sichtlich erschrocken. Doch der kleine Knabe erschrak noch mehr als Julian Mastakowitsch, gab das kleine Mädchen frei und schlich geduckt längs der Wand ins Eßzimmer zurück. Auch Julian Mastakowitsch ging ins Eßzimmer, ganz als wäre nichts vorgefallen. Er war purpurrot im Gesicht, und als er im Vorübergehen einen Blick in den Spiegel warf, schien sein Aussehen ihn selbst zu verwirren. Vielleicht ärgerte er sich darüber, daß er so erregt war, und daß er so unvorsichtig gesprochen hatte. Offenbar hatte ihn seine Berechnung selbst so bestrickt und begeistert, daß er trotz seiner ganzen Würde und Klugheit recht wie ein Knabe handelte und schon jetzt und unbedacht genug auf sein Ziel geradeswegs loszusteuern begann. Ich folgte ihm alsbald in das andere Zimmer – und wahrlich, was ich dort erblickte, war ein seltsames Schauspiel! Ich sah nämlich, wie Julian Mastakowitsch, der hochangesehene würdevolle Julian Mastakowitsch, den kleinen Knaben einschüchterte, der immer weiter vor ihm zurückwich und nicht wußte, wo er sich vor Angst lassen sollte. „Marsch, wirst du wohl! Was tust du hier, Taugenichts? Geh! Geh! Du stiehlst hier Früchte, wie? Du willst hier Früchte stehlen? Marsch, mach’, daß du fortkommst, wirst du wohl, ich werd’ dir zeigen!“ Der eingeschüchterte Knabe entschloß sich schließlich zu einem verzweifelten Rettungsversuch: er kroch unter den Tisch. Das rief aber in seinem Verfolger noch größere Wut hervor. Zornig riß er sein langes Batisttaschentuch aus der Tasche und begann damit den Kleinen unter dem Tisch zu peitschen, damit er von dort hervorkrieche. Doch der Kleine war mäuschenstill vor Angst und rührte sich nicht. Ich muß bemerken, daß Julian Mastakowitsch ein wenig korpulent war. Er war, was man so nennt, ein satter Mensch, mit roten Wänglein, einem kleinen Schmerbäuchlein, untersetzt und mit dicken Schenkeln, – kurz, ein stämmiger Bursche, an dem alles so rund war wie an einer Nuß. Schweißtropfen standen ihm schon auf der Stirn, er atmete schwer und fast röchelnd. Das Blut drang ihm vom Bücken rot und heiß zu Kopf. Er wurde jähzornig, so groß war sein Unwille oder – wer kann es wissen? – seine Eifersucht. Ich lachte schallend auf. Julian Mastakowitsch wandte sich blitzschnell nach mir um und wurde ungeachtet seines gesellschaftlichen Ansehens, seiner einflußreichen Stellung und seiner Jahre geradezu fassungslos verlegen. In dem Augenblick trat durch die gegenüberliegende Tür der Hausherr ins Zimmer. Der kleine Junge kroch unter dem Tisch hervor und rieb sich den Staub von den Knien und Ellenbogen. Julian Mastakowitsch kam zu sich und führte schnell das Taschentuch, das er noch an einem Zipfel hielt, an die Nase und schnaubte sich. Der Hausherr blickte uns drei etwas verwundert an, doch als lebenskluger Mensch, der das Leben ernst auffaßte, wußte er sogleich die Gelegenheit, mit seinem Gast unter vier Augen sprechen zu können, auszunutzen. „Ach, sehen Sie, das ist jener Knabe, für den ich die Ehre hatte, zu bitten ...“ begann er, auf den armen Kleinen weisend. „Ah!“ versetzte Julian Mastakowitsch, noch immer nicht ganz auf der Höhe der Situation. „Er ist der Sohn der Gouvernante meiner Kinder,“ fuhr der Hausherr erklärend und in verbindlichem Tone fort, „einer armen Frau. Sie ist die Witwe eines ehrlichen Beamten. Ginge es nicht irgendwie, Julian Mastakowitsch ...“ „Ach, ich entsinne mich! Nein, nein!“ unterbrach dieser ihn eilig. „Nehmen Sie es mir nicht übel, mein bester Philipp Alexejewitsch, aber es geht ganz und gar nicht. Ich habe mich erkundigt: Vakanzen gibt es nicht und selbst wenn eine bestünde, so kämen doch zehn Kandidaten eher in Betracht als dieser, da sie eben ein größeres Anrecht darauf hätten ... Es tut mir sehr leid, aber ...“ „Schade,“ sagte der Hausherr nachdenklich, „es ist ein stiller, bescheidener Knabe ...“ „Scheint mir eher ein richtiger Bengel zu sein, soweit ich sehe,“ bemerkte Julian Mastakowitsch mit verzogenem Lächeln. „Geh, was stehst du hier, mach’ dich fort! Geh zu deinen Spielkameraden,“ wandte er sich an den Kleinen. Dann konnte er offenbar der Versuchung nicht widerstehen, auch mir einen Blick zuzuwerfen. Ich aber hielt nicht an mich, sondern lachte ihm offen ins Gesicht. Julian Mastakowitsch wandte sich sogleich ab und fragte sehr vernehmlich den Hausherrn, wer dieser sonderbare junge Mann eigentlich sei. Sie begannen miteinander zu flüstern und verließen das Zimmer. Ich sah nur noch durch die offene Tür wie Julian Mastakowitsch, der dem Hausherrn aufmerksam zuhörte, verwundert und mißtrauisch den Kopf schüttelte. Als ich genügend gelacht hatte, begab ich mich gleichfalls in den Saal. Dort stand jetzt der einflußreiche Mann, umringt von Vätern, Müttern und den Festgebern und sprach lebhaft auf eine Dame ein, der man ihn soeben vorgestellt hatte. Die Dame hielt das kleine Mädchen an der Hand, das Julian Mastakowitsch vor zehn Minuten geküßt hatte. Er lobte die Kleine bis in den siebenten Himmel, pries ihre Schönheit, ihre Grazie, ihre Wohlerzogenheit, und die Mutter hörte ihm fast mit Tränen in den Augen zu. Die Lippen des Vaters lächelten. Der Hausherr nahm mit sichtlichem Wohlgefallen teil an der allgemeinen Freude. Die übrigen Gäste waren gleichfalls angenehm berührt und selbst die Spiele der Kinder wurden unterbrochen, damit sie durch ihr Geschrei nicht störten. Die ganze Luft war voll von gehobener Stimmung. Später hörte ich, wie die tiefgerührte Mutter der Kleinen in ausgesucht höflichen Redewendungen Julian Mastakowitsch bat, ihrem Hause die besondere Ehre zu erweisen und sie zu besuchen, und ich hörte weiter, mit wie ungefälschtem Entzücken Julian Mastakowitsch der liebenswürdigen Aufforderung unfehlbar nachzukommen versprach, und wie die Gäste, als sie darauf, so wie es der gesellschaftliche Brauch verlangte, nach allen Seiten auseinandergingen, sich in geradezu gerührten Lobpreisungen ergingen, die den Kaufmann, dessen Frau und Töchterchen, namentlich aber Julian Mastakowitsch hoch über sie selbst erhoben. „Ist dieser Herr verheiratet?“ fragte ich hörbar laut einen meiner Bekannten, der neben Julian Mastakowitsch stand. Julian Mastakowitsch warf mir einen zornigen Blick zu, der wohl seinen Gefühlen entsprach. „Nein!“ antwortete mein Bekannter, offenbar höchst peinlich berührt durch meine ungeschickte Frage, die ich absichtlich so laut an ihn gerichtet hatte ... * * * * * Vor ein paar Tagen ging ich an der –schen Kirche vorüber. Die Menschenmenge, die sich vor dem Portal drängte, und der reiche Schmuck desselben fielen mir auf. Ringsum sprach man von einer Hochzeit. Es war ein trüber Herbsttag und es begann zu frieren. Ich drängte mich mit den anderen in die Kirche und erblickte den Bräutigam. Es war das ein kleiner, rundlicher Herr mit einem Schmerbauch und vielen Orden auf der Brust. Er war überaus beschäftigt, eilte hin und her, traf Anordnungen und schien sehr aufgeregt zu sein. Endlich verbreitete sich von der Tür her lautes Gemurmel: die Braut war erschienen. Ich drängte mich weiter durch die Menge und erblickte eine wunderbare Schönheit, für die kaum der erste Lenz angebrochen war. Sie war aber bleich und traurig. Ihre Augen blickten zerstreut. Es schien mir sogar, daß diese Augen noch gerötet waren von vergossenen Tränen. Die strenge Schönheit ihrer Gesichtszüge verlieh ihrer ganzen jungen Erscheinung eine gewisse hoheitsvolle Würde und Feierlichkeit. Und doch schimmerte durch diese Strenge und Würde und diese Trauer noch das unschuldige unberührte Kindergemüt – und es verriet sich darin etwas unsäglich Unerfahrenes, Unbewußtes, Kindliches, das, wie es schien, ohne eine Bitte wortlos für sich um Schonung flehte. Man sagte, sie sei kaum erst sechzehn Jahre alt geworden. Ich blickte aufmerksamer auf den Bräutigam und plötzlich erkannte ich in ihm Julian Mastakowitsch, den ich seit fünf Jahren nicht wiedergesehen hatte. Ich blickte nochmals auf die Braut ... Mein Gott! Ich drängte mich durch die Gaffenden zum Ausgang, um schneller aus der Kirche zu kommen. In der Menge erzählte man sich, daß die Braut reich sei: sie bekäme allein an barem Kapital eine halbe Million Rubel mit und eine Aussteuer im Werte von soundsoviel ... „Dann stimmte also die Berechnung!“ dachte ich bei mir und trat auf die Straße hinaus ... Njetotschka Neswanowa I. Meinen Vater habe ich nicht gekannt. Er starb, als ich zwei Jahre alt war. Dann heiratete meine Mutter zum zweitenmal. Diese zweite Ehe brachte ihr viel Leid, obgleich es eine Liebesheirat war. Mein Stiefvater war Musiker. Er hatte ein sehr merkwürdiges Schicksal, und überhaupt war er der seltsamste und wunderlichste Mensch, den ich bisher kennen gelernt habe. Sein Einfluß auf mich war groß und die Eindrücke, die ich von ihm empfing, waren so stark, daß ich sie mein Leben lang nicht vergessen werde. Doch muß ich zunächst, damit meine Erzählung verständlicher sei, seine Lebensgeschichte wiedergeben. Alles was sich auf dieselbe bezieht, habe ich von dem berühmten Geigenvirtuosen B. erfahren, der in seiner Jugend ein guter Freund meines Stiefvaters gewesen ist. Der Familienname meines Stiefvaters lautete Jefimoff. Geboren wurde er auf dem Gute eines reichen Großgrundbesitzers als Sohn eines armen Musikers, der nach langen Irrfahrten sich dort niedergelassen hatte und in das Orchester des Gutsherrn eingetreten war. Sein Brotherr lebte auf großem Fuß und liebte Musik bis zur Leidenschaft. Man erzählte von ihm, daß er, der sich nie von seinem Gute rührte und nicht einmal nach Moskau fuhr, sich plötzlich aufgemacht habe und ins Ausland gereist sei, in irgendeinen Kurort, nur um einen berühmten Geigenvirtuosen zu hören, der dort, wie die Zeitungen berichteten, drei Konzerte geben sollte. Auf seinem Gut unterhielt er ein großes Orchester und gab fast seine ganzen Einkünfte für die Besoldung und den Unterhalt der Musiker aus. In dieses Orchester nun trat mein Stiefvater als Klarinettist ein. Als er zweiundzwanzig Jahre alt war, machte er die Bekanntschaft eines eigenartigen Menschen. In demselben Gouvernementskreise lebte ein reicher Graf, der sich durch den Unterhalt eines Haustheaters ruinierte. Dieser Graf hatte den Kapellmeister seines Orchesters, einen Italiener, wegen seiner schlechten Aufführung entlassen. Der Kapellmeister war in der Tat ein schlechter Mensch. Als er seine Stellung verloren, kam er bald ganz herunter, trieb sich in den Dorfschenken umher, betrank sich, ja er bettelte sogar, und da hatte natürlich niemand mehr Lust, ihm eine Anstellung zu geben. Mit diesem Menschen befreundete sich nun mein Stiefvater. Ihre Freundschaft war aber von einer ganz besonderen Art, denn niemand konnte behaupten, daß der Jüngere sich durch diesen Umgang irgendwie zu seinem Nachteil veränderte, und selbst der Gutsbesitzer, der ihm anfangs verboten hatte, mit dem Italiener zu verkehren, ließ schließlich diese sonderbare Freundschaft gewähren. Da starb plötzlich der Italiener. Bauern fanden ihn eines Morgens im Graben an einem Zaun liegen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet und ergab, daß er am Herzschlage gestorben war. Sein ganzes Hab und Gut befand sich bei meinem Stiefvater, der sogleich an der Hand von Dokumenten nachwies, daß er das volle Recht hatte, die Sachen zu behalten: er besaß ein eigenhändiges Schreiben des Verstorbenen, in dem dieser Jefimoff zu seinem Erben erklärte, falls er, der Italiener, früher sterben sollte, als Jefimoff. Die Hinterlassenschaft bestand aus einem schwarzen Frack, den er sorgfältig aufbewahrt hatte, in der Hoffnung, doch noch einmal eine Anstellung zu finden, und einer Geige, an der nichts Sonderliches auffiel. Dieses Erbe machte denn auch niemand dem Klarinettisten streitig. Da erschien nach einiger Zeit ein Musiker, der im Orchester des Grafen die erste Geige spielte, bei dem Gutsbesitzer und überreichte ihm einen Brief vom Grafen. In diesem Brief bat der Graf den Gutsbesitzer, seinen Klarinettisten Jefimoff zu bereden, ihm, dem Grafen, die Geige des verstorbenen Italieners zu verkaufen. Er bot für dieselbe dreitausend Rubel und schrieb, daß er den Jegor Jefimoff schon mehrmals zu sich habe bitten lassen, um den Kauf persönlich abzuschließen, doch dieser Mensch sei leider zu nichts zu bewegen. Der Graf schloß seinen Brief mit der Bemerkung, daß er für die Geige das biete, was sie wert sei: deshalb sehe er in der hartnäckigen Weigerung Jefimoffs, sie ihm dafür abzutreten, den beleidigenden Verdacht, er, der Graf, wolle bei diesem Kauf die Unkenntnis des Klarinettisten ausnutzen. Aus diesem Grunde bäte er jetzt um seine, des Gutsbesitzers, Vermittelung. Dieser ließ Jefimoff sogleich zu sich rufen. „Weshalb willst du die Geige nicht verkaufen?“ fragte er ihn, „du brauchst sie doch nicht. Man bietet dir dreitausend Rubel, gerade so viel, wie sie wert ist, und du irrst dich, wenn du glaubst, daß dir jemand mehr für sie zahlen wird. Der Graf will dich doch nicht übervorteilen.“ Jefimoff erwiderte, daß er aus freien Stücken zu dem Grafen nicht gehen werde, doch wenn man ihn zwingen wolle, so müsse er sich eben dem Willen seines Herrn fügen. Dem Grafen werde er aber die Geige nicht verkaufen, und wenn man sie ihm mit Gewalt nehmen werde, so hinge auch das wiederum nur von dem Willen seines Herrn ab. Natürlich verletzte er mit einer solchen Antwort die empfindlichste Charakterseite des Gutsbesitzers. Dieser pflegte nämlich immer mit Stolz von sich zu sagen, daß er wisse, wie er mit seinen Musikern umzugehen habe, denn sie seien alle bis auf den letzten wirkliche Künstler, und deshalb sei sein Orchester nicht nur besser als dasjenige des Grafen, sondern besser sogar als eines in der Hauptstadt! „Nun, schön,“ entgegnete der Gutsbesitzer, „ich werde dem Grafen schreiben, daß du die Geige nicht verkaufen willst, weil du eben nicht – willst ... basta! weil du das volle Recht hast, sie zu verkaufen oder nicht zu verkaufen, wie es dir beliebt, hast du mich verstanden? Aber ich frage dich jetzt selber: was machst du mit der Geige? Dein Instrument ist die Klarinette, die du leider noch recht mittelmäßig spielst. Verkauf’ die Geige mir. Ich gebe dir dreitausend.“ (Wer wußte denn, daß es ein solches Instrument war!) Jefimoff lächelte. „Nein, Herr, ich werde sie Ihnen nicht verkaufen,“ sagte er, „aber versteht sich, wenn Sie mit Gewalt ...“ „Ja, zwinge ich dich denn, will ich dir denn Gewalt antun!“ rief der Gutsbesitzer empört – um so mehr empört, als es sich in Gegenwart des gräflichen Musikers zutrug und dieser nach solchen Antworten eine recht unvorteilhafte Vorstellung von der Stellung der Musiker des Gutsbesitzers gewinnen mußte. „Mach’, daß du fortkommst, du Undankbarer! Geh mir aus den Augen! Was würdest du ohne mich überhaupt anfangen mit deiner Klarinette, auf der du nicht einmal zu spielen verstehst? Bei mir aber wirst du satt, wirst du bekleidet und erhältst dein Gehalt; du lebst hier in einem vornehmen Hause, spielst nur hier die Rolle eines Künstlers, aber du willst das nicht einsehen! Geh mir aus den Augen und reiz’ mich nicht durch deine Anwesenheit!“ Der Gutsbesitzer pflegte denjenigen immer fortzuschicken, über den er sich ärgerte, denn er fürchtete seine eigene Heftigkeit. Mit einem „Künstler“, wie er seine Musiker nannte, wollte er aber unter keinen Umständen streng ins Gericht gehen. Der Kauf kam nicht zustande und damit schien die Sache abgetan zu sein – als plötzlich, etwa einen Monat nach jener Auseinandersetzung, der erste Violinist des Grafen etwas Unerhörtes angab: auf eigene Verantwortung nämlich reichte er eine Anzeige ein, nach der Jefimoff die Schuld am Tode des Italieners trug, den er umgebracht habe, um in den Besitz der Hinterlassenschaft zu gelangen. Ferner beschuldigte er ihn, jenes Schriftstück, in dem der Italiener Jefimoff zu seinem Erben einsetzte, mit List und Gewalt dem Verstorbenen abgerungen zu haben, was er durch Zeugen beweisen zu können vorgab. Weder die Bitten des Gutsbesitzers, der für Jefimoff eintrat, noch die Vorhaltungen des Grafen konnten ihn von seinem Vorhaben abbringen. Man gab ihm zu bedenken, daß gegen die ärztliche Untersuchung der Leiche sich nichts einwenden lasse, daß er gegen sein Gewissen handle, vielleicht aus persönlicher Rache, weil jener ihm das kostbare Instrument nicht abgetreten hatte. Der Musiker blieb aber bei seiner Behauptung, schwur sogar, daß er im Recht sei und der Herzschlag nicht infolge des Trunkes eingetreten wäre, sondern als Folge einer Vergiftung, weshalb er eine nochmalige Untersuchung der Leiche verlangte. Auf den ersten Blick konnte man seine Beweise sehr wohl ernst nehmen. Natürlich wurde das Verfahren sogleich eingeleitet. Jefimoff wurde verhaftet und nach dem Stadtgefängnis abgeführt. Die Gerichtsverhandlungen, die das ganze Gouvernement mit Spannung verfolgte, nahmen einen sehr schnellen Verlauf und endeten damit, daß der Musiker der falschen Anklage überführt wurde. Man verurteilte ihn zu einer gerechten Strafe, ungeachtet dessen, daß er bei seiner Behauptung beharrte. Endlich gestand er, daß er zwar keine positiven Beweise besaß und die angeführten selbst erfunden hatte, jedoch habe er sich dabei von seinen Vermutungen leiten lassen, die schließlich zu seiner festen Überzeugung geworden seien, und deshalb bliebe er auch jetzt – nachdem die Unschuld Jefimoffs vom Gericht bereits unzweifelhaft festgestellt worden war – bei seiner Überzeugung, daß die Ursache des Todes jenes italienischen Kapellmeisters einzig und allein Jefimoff gewesen, der ihn, wenn nicht gerade vergiftet, dann eben auf irgendeine andere Weise umgebracht habe. Es blieb ihm übrigens erspart, seine Strafe abzubüßen: er erkrankte plötzlich an einer Gehirnentzündung, verfiel in Wahnsinn und starb im Krankenhause. Während dieser ganzen Zeit sorgte der Gutsbesitzer für Jefimoff wie ein Vater für seinen Sohn. Er, der sonst nie sein Gut verließ, fuhr mehrmals in die Stadt, um den Armen im Gefängnis zu besuchen und ihn zu trösten; er schenkte ihm Geld, und als er erfuhr, daß Jefimoff gern rauchte, brachte er ihm die besten Zigaretten; und als dann mein Stiefvater endlich freigesprochen wurde, veranstaltete er für sein ganzes Orchester ein großes Freudenfest. Er betrachtete die gegen Jefimoff erhobene Anklage als etwas, was sein gesamtes Orchester anging, denn auf die gute Aufführung seiner Musiker legte er wenn nicht mehr, so doch ebensoviel Wert, wie auf ihr musikalisches Können. Es verging ein Jahr, als man eines Tages auf dem Gute erfuhr, daß in der Gouvernementsstadt ein bekannter französischer Violinvirtuose eingetroffen sei und daselbst konzertieren werde. Als der Gutsbesitzer dies hörte, bot er sogleich alles auf, um diesen Künstler als Gast bei sich auf dem Gute zu sehen. Zu seiner Freude nahm der Franzose die Einladung an. Schon war alles zu seinem Empfang bereit, die ganze Gesellschaft der Umgegend eingeladen, als plötzlich etwas Überraschendes geschah. Eines Morgens wurde dem Gutsbesitzer gemeldet, Jefimoff sei nirgends zu finden. Man suchte, forschte, schickte Boten aus – er war und blieb spurlos verschwunden. Das Orchester befand sich in einer verzweifelten Lage: der Klarinettist fehlte, was tun? Da erhielt der Gutsbesitzer am dritten Tage nach der Flucht Jefimoffs einen Brief von dem Franzosen, in dem dieser mit verletzendem Hochmut absagte und hinzufügte, er werde hinfort sehr vorsichtig sein müssen mit solchen Herren, die ein eigenes Orchester hielten: es sei so „deprimierend“, ein großes Talent im Dienst eines Menschen zu sehen, der es nicht zu schätzen wisse. Er brauche als Beispiel nur Jefimoff zu nennen, den genialsten Künstler und besten Violinisten, den er in Rußland gehört habe! Der Gutsbesitzer las den Brief mit wachsender Verwunderung. Wie? Jefimoff, derselbe Jefimoff, um den er sich so gesorgt hatte, dem er soviel Gutes erwiesen, derselbe Jefimoff hatte es fertiggebracht, ihn so gewissenlos, so unverschämt zu verleumden, und das noch bei einem berühmten Künstler, auf dessen gute Meinung von seinem Orchester er soviel Wert legte! Und dann – der Brief enthielt noch ein anderes Rätsel: der Franzose nannte Jefimoff den genialsten Künstler und besten Violinisten, den er in Rußland gehört, und aus seiner Schlußbemerkung ging hervor, daß er dachte, man wolle Jefimoffs Talent nicht anerkennen, und zwinge ihn, ein anderes Instrument zu spielen, als dasjenige, welches ihm zukam. Dies überraschte den Gutsbesitzer dermaßen, daß er beschloß, sogleich in die Stadt zu fahren, um mündlich mit dem Franzosen zu sprechen. Da traf kurz vor seiner Abfahrt ein Schreiben vom Grafen ein, in dem dieser ihn zu sich aufforderte und ihm mitteilte, daß der französische Künstler und Jefimoff beide bei ihm seien und der Franzose ihm den Fall erzählt habe. Er, der Graf, sei über die Frechheit der Verleumdung Jefimoffs so empört, daß er ihn vorläufig nicht aus dem Hause lasse, und außerdem sei die Anwesenheit des Gutsbesitzers auch deshalb notwendig, weil die Verleumdungen Jefimoffs auch ihn, den Grafen selbst, beträfen. Kurz, man müsse in der Sache Klarheit schaffen, und zwar je eher, desto besser. Da begab sich denn der Gutsbesitzer unverzüglich zum Grafen, ließ sich dem Franzosen vorstellen und erklärte ihm den Sachverhalt. Er sagte, er habe es nicht geahnt, daß in Jefimoff ein so großes Talent stecke: er kenne ihn nur als einen recht mittelmäßigen Klarinettisten – daß der Mensch auch die Geige spiele, habe er erst aus dem Brief erfahren. Außerdem, fügte er hinzu, sei Jefimoff ein freier Mensch gewesen und hätte ihn zu jeder Zeit verlassen können, wenn er wirklich so unzulässig behandelt worden wäre. Der Franzose war sehr verwundert. Man ließ Jefimoff kommen. Der war aber in seinem Benehmen kaum wiederzuerkennen: hochmütig trat er ein, antwortete spöttisch und hatte die Frechheit, zu behaupten, daß alles wahr sei, was er dem Franzosen gesagt. Diese Unverschämtheit ärgerte den Grafen dermaßen, daß er meinem Stiefvater ins Gesicht sagte, er sei ein Lump und Lügner und habe verdient, daß man ihn schonungslos bestrafe. „Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Graf,“ versetzte mein Stiefvater höhnisch, „dank Ew. Gnaden bin ich nur mit genauer Not der Strafe für ein Kriminalverbrechen entgangen. Ich weiß ja doch nur zu gut, auf wessen Veranlassung hin Alexei Nikiforytsch, Ihr ehemaliger Musiker, die Anzeige gegen mich erstattet hat.“ Das war zu viel für den Grafen. Er geriet außer sich vor Wut über diese empörende Beschuldigung. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen. Und ein Polizeibeamter, der sich gleichfalls im Saal befand und wegen einer Rücksprache mit dem Grafen kurz zuvor eingetroffen war, erklärte hierauf, daß die beleidigende Frechheit Jefimoffs eine böswillige Verleumdung sei, weshalb er höflichst um die Erlaubnis bäte, ihn sogleich und ohne weiteres hier im Hause des Grafen arretieren zu dürfen. Auch der Franzose äußerte seinen größten Unwillen und sagte, eine solche Undankbarkeit hätte er nie für möglich gehalten. Da brauste mein Stiefvater jähzornig auf und rief aus, selbst Gefängnishaft unter dem Verdacht eines Kriminalverbrechens und alle Gerichtsverhandlungen der Welt ziehe er jenem Leben vor, das er bisher erduldet, da er als Musiker im Orchester des Gutsbesitzers sein Brot habe verdienen müssen und in seiner Armut keine Mittel und folglich keine Möglichkeit gehabt habe, sich früher freizumachen. Er wurde aus dem Saal geführt. Man schloß ihn in einem entlegenen Zimmer ein und sagte ihm, daß man ihn am nächsten Tage nach der Stadt bringen werde. Gegen Mitternacht öffnete sich die Tür des Zimmers, in dem Jefimoff gefangen saß. Es war der Gutsbesitzer. Er war im Schlafrock und in Morgenschuhen und hielt eine brennende Laterne in der Hand. Offenbar hatte er nicht einschlafen können, hatte wach gelegen, bis er schließlich, um den quälenden Gedanken ein Ende zu machen, trotz der späten Stunde wieder aufgestanden war. Jefimoff schlief nicht: mit Verwunderung sah er den späten Gast eintreten. Der stellte die Laterne auf den Tisch und setzte sich in schwerer Erregung ihm gegenüber auf einen Stuhl. „Jegor,“ sagte er, „warum hast du mir das angetan?“ Jefimoff antwortete nicht. Der Gutsbesitzer wiederholte die Frage und ein seltsam tiefes Gefühl, ein seltsamer Kummer klang aus seinen Worten. „Ja, das mag Gott wissen, warum!“ entgegnete endlich mein Stiefvater und wandte das Gesicht fort. „Da muß schon der Teufel seine Hand im Spiel gehabt haben! Ich weiß es selber nicht, wer mich zu all dem treibt! Nun ja, ich kann nicht mehr bei Ihnen bleiben, ich kann nicht ... Der Teufel sitzt mir auf dem Halse!“ „Jegor!“ hub der Gutsbesitzer an, „komm zu mir zurück! Ich werde alles vergessen, werde dir alles verzeihen. Höre: du wirst der Erste unter meinen Musikern sein, ich werde dich unvergleichlich besser stellen ...“ „Nein, Herr, nein, reden Sie nicht weiter – ich gehöre nicht mehr zu Ihnen! Ich sagte Ihnen schon, der Teufel sitzt mir auf dem Halse. Ich würde Ihr Haus anzünden, wenn ich bliebe. Es kommt so über mich – und zuweilen ist es solch eine Qual, daß es besser wäre, ich wär’ nicht geboren! Jetzt kann ich nicht mehr für mich einstehen, also lassen Sie mich schon lieber in Ruh, Herr. Das ist alles über mich gekommen, seitdem dieser Teufel mit mir Freundschaft schloß ...“ „Wer das?“ fragte der Gutsbesitzer. „Nun, jener doch, der dort wie ein Hund am Zaun krepierte, von dem keiner mehr was wissen wollte, der Italiener!“ „Hat _er_ dich, Jegoruschka, im Geigenspiel unterrichtet?“ „Ja. Er. Vieles habe ich von ihm gelernt – zu meinem Verderben. Hätt’ ich ihn doch lieber nie gesehn!“ „Aber spielte er denn auch so meisterhaft die Geige, Jegoruschka?“ „Nein, er selbst spielte schlecht, aber er unterrichtete gut. Gelernt habe ich allein, er hat mich nur geleitet – und eher könnte mir die Hand verdorren, als daß ich diese Kunst verlernte! Ich weiß jetzt selbst nicht, was ich will. Versuchen Sie es, fragen Sie mich: ‚Jegorka! was willst du? Ich kann dir alles geben!‘ – Ich würde gewiß, so wahr ich lebe, Ihnen kein Wort zu antworten wissen, denn ich weiß selbst nicht, was ich will. Nein, Herr, lassen Sie mich lieber in Ruh. Ich werde doch unbedingt so etwas mit mir anstellen, daß man mich ... etwas weiter fortschickt, und damit Punktum!“ „Jegor!“ begann der Gutsbesitzer nach einer Weile wieder, „so ohne weiteres werde ich dich nicht verlassen. Willst du nicht bei mir bleiben, dann geh; du bist ein freier Mensch, halten kann ich dich nicht. So einfach aber werde ich jetzt doch nicht von dir fortgehen, Jegor. Spiel’ mir etwas vor, auf deiner Geige, tu mir den Gefallen, Jegor. Ich bitte dich, spiel’! – um Christi willen! Ich befehle dir nicht, verstehe mich nicht falsch, ich will dich nicht zwingen; aber ich bitte dich von Herzen: spiel’ mir, Jegoruschka, spiel’ mir das vor, was du dem Franzosen vorgespielt hast! Erleichtere mein Herz! Du bist halsstarrig – gut, ich bin’s auch. Du siehst, ich habe gleichfalls meinen Dickschädel, Jegoruschka. Ich kann dir nachfühlen, so fühl’ auch du, wie ich fühle. Ich will nicht leben, wenn du mir nicht aus eigenem freiem Willen das vorspielst, was du dem Franzosen vorgespielt hast!“ „Nun gut, es sei!“ sagte Jefimoff. „Ich hatte mir wohl geschworen, Ihnen niemals vorzuspielen, gerade Ihnen nicht, aber mein Herz entbindet mich jetzt von meinem Schwur. Ich werde Ihnen vorspielen, doch, damit Sie’s wissen, zum ersten und zum letzten Mal, Herr, Sie sollen mich nie wieder hören, niemals, und sollten Sie mir auch – tausend Rubel bieten.“ Er nahm seine Geige und begann, seine Variationen russischer Lieder zu spielen. B. sagte mir, nichts habe er mit solcher Leidenschaft und so wundervoll gespielt, wie diese Variationen – sie wären sein erstes und bestes Können gewesen. Dem Gutsbesitzer, der ohnehin Musik nicht gleichmütig anhören konnte, rannen die hellen Tränen über die Wangen. Als das Spiel zu Ende war, stand er auf, nahm dreihundert Rubel aus seiner Brieftasche, reichte sie meinem Stiefvater und sagte: „Jetzt geh, Jegor. Ich werde dich von hier hinauslassen, und deine Beleidigung des Grafen – auch das laß meine Sorge sein: ich werde alles beilegen. Aber nun höre: komme mir nie wieder in den Weg. Die Welt steht dir offen, und wenn wir uns begegnen sollten, so wird es sowohl mir wie dir peinlich sein. Nun, leb’ wohl! ... Wart’! Noch einen Rat gebe ich dir auf den Weg, nur einen: trink nicht und lerne, lerne unermüdlich. Auch bilde dir nicht zu viel ein! Das sage ich dir, sage es dir wie dein leiblicher Vater es dir sagen würde. Also gib acht, ich wiederhole es: lerne und rühre das Glas nicht an, greifst du aber einmal nach ihm und trinkst einen Schluck aus Kummer (und den wirst du reichlich kennen lernen!) – dann ist alles verloren, das wisse, dann geht dir alles zum Teufel und dann wirst auch du vielleicht genau so, wie dein Italiener, irgendwo in einem Graben verrecken. Jetzt lebe wohl! ... wart’, küss’ mich.“ Sie küßten sich, und darauf erhielt er seine Freiheit. Doch kaum war er frei, da begann er damit, daß er in der nächsten Kreisstadt seine dreihundert Rubel verjubelte, und zwar in Gesellschaft heruntergekommener, ganz verwahrloster Menschen, worauf er sich gezwungen sah, in das jämmerliche Orchester einer wandernden Theatertruppe einzutreten, wo er die erste und wahrscheinlich einzige Geige spielte. Das stimmte nun freilich nicht ganz überein mit seinen anfänglichen Absichten: so bald als möglich nach Petersburg zu fahren, dort in ein gutes Orchester einzutreten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und die übrige Zeit des Tages ausschließlich dazu zu benutzen, um sich zu einem vollendeten Künstler auszubilden. In jener kleinen Musikkapelle hielt er es denn auch nicht lange aus: er geriet mit dem Unternehmer in Streit, kündigte ihm und verließ die Gesellschaft. Dann brach für ihn eine Zeit an, in der er schließlich seinen Mut so weit verlor, daß er sich zu einer verzweifelten Tat entschloß, die seinen Stolz tief erniedrigte. Er schrieb an den Gutsbesitzer, seinen früheren Brotherrn, schilderte seine Lage und bat um Geld. Der Brief war noch in ziemlich selbstbewußtem Tone geschrieben, eine Antwort aber erhielt er auf ihn nicht. Dann schrieb er einen zweiten, diesmal einen erniedrigend schmeichelhaften Brief, in dem er den Gutsbesitzer seinen Wohltäter und einen wirklichen Kunstkenner nannte, um ihn zum Schluß wieder um eine Unterstützung zu bitten. Auf diesen Brief erhielt er endlich eine Antwort. Der Gutsbesitzer sandte ihm hundert Rubel mit ein paar von der Hand seines Kammerdieners geschriebenen Zeilen, in denen er erklärte, daß er hinfort mit Ähnlichem verschont zu bleiben wünsche. Nach Empfang dieses Geldes wollte mein Stiefvater sogleich nach Petersburg reisen, als er aber seine Schulden bezahlt hatte, blieb ihm nur noch so wenig von dem Gelde übrig, daß er an die Ausführung der geplanten Reise nicht mehr denken konnte. Er blieb also in der Provinz, trat wieder in irgendeine Musikkapelle ein, geriet dort wieder in Streit mit den anderen, und indem er sich so durchschlug, immer in der Hoffnung, bald nach Petersburg reisen zu können, verlebte er ganze sechs Jahre in der Provinz – bis ihn eines Tages Entsetzen erfaßte. Mit Verzweiflung sah er ein, wie viel seine Kunst durch dieses bedrückende und ungeordnete Bettlerleben bereits eingebüßt hatte. So ließ er eines Morgens seine Kapelle im Stich, nahm seine Geige und machte sich auf den Weg nach Petersburg, wo er nahezu als Strolch ankam. Er mietete sich irgendwo in einer elenden Dachkammer ein: und dort traf er zum erstenmal mit B. zusammen, der damals gerade erst aus Deutschland herübergekommen war und gleichfalls hier Karriere machen wollte. Sie schlossen bald Freundschaft miteinander. B. denkt jetzt noch mit tiefer Rührung an jene Zeit. Sie waren beide jung, beide hatten sie dieselben Hoffnungen und dasselbe Ziel, dem sie zustrebten. Nur war B. noch jünger und hatte von Armut und Leid und Künstlerelend erst wenig erfahren: überdies war er vor allen Dingen Deutscher und strebte zu seinem Ziel gewissermaßen systematisch und starrköpfig hin, mit ganz objektiver Einschätzung seiner Begabung, nachdem er schon im voraus genau berechnet hatte, wie weit er es bringen würde. Sein neuer Freund dagegen war immerhin schon dreißig Jahre alt, hatte sich durch das Elend bereits ermüden lassen, hatte schon an Geduld und Spannkraft verloren und seine ersten Kräfte eingebüßt, da er ganze sieben Jahre für sein täglich Brot in Provinztheatern und kleinen Orchestern auf verschiedenen Gütern hatte fiedeln müssen. Was ihn in dieser Zeit aufrechterhalten, war der ewige unverrückbare Gedanke, sich endlich aus seiner Misere herauszuarbeiten, Geld zu sparen und dann nach Petersburg zu reisen. Aber der Gedanke war unklar, dunkel, fast nur wie ein innerliches „Sich zu etwas berufen fühlen“, so daß er denn auch mit den Jahren viel von der anfänglichen Klarheit verlor. Als er nun endlich in Petersburg eintraf, da war eigentlich alles gleichsam unbewußt geschehen, wie aus einer alten Gewohnheit an einen ewigen Wunsch und ein ewiges Sichausmalen dieser Reise, so daß er beinahe selbst nicht mehr wußte, was er hier eigentlich suchte. Sein Enthusiasmus war konvulsivisch, sprunghaft, oft mit geradezu galliger Bitterkeit gepaart, oft sinnverwirrend, als wollte er mit diesem Enthusiasmus sich selbst betrügen und glauben machen, daß seine Kraft noch ungebrochen, daß seine erste Glut, seine erste Begeisterung noch ungeschwächt seien. Diese immerwährende Begeisterung machte auf den kühlen, mehr wissenschaftlich veranlagten B. den größten Eindruck. Sie blendete ihn und er sah in meinem Stiefvater geradezu ein zukünftiges Weltgenie. Anders konnte er sich die Zukunft seines Gefährten gar nicht vorstellen. Doch bald wurden ihm die Augen geöffnet und er erkannte, mit wem er es zu tun hatte. Er sah und begriff, daß diese ganze gewaltsame Begeisterung, diese Hitze und Ungeduld nichts anderes waren, als eine unbewußte Verzweiflung in der Erinnerung an die verlorene Zeit, in der er seine Begabung nicht auszuentwickeln vermocht hatte, begriff, daß schließlich sogar das Talent an sich, vielleicht sogar auch in den Anfangsjahren, gar nicht so groß gewesen war, fühlte heraus, daß da viel Verblendung mitspielte, unnützes Selbstgefühl, ursprünglicher Ehrgeiz und eine unausgesetzt arbeitende Phantasie, die sich immer nur mit dem eigenen Genie beschäftigt hatte. „Aber trotzdem,“ erzählte B., „muß ich die eigenartige Natur meines Freundes immer wieder bewundern. Vor meinen Augen spielte sich ein steter Kampf ab – der verzweifelte, fieberhafte Kampf eines krampfhaft angespannten Willens mit einer inneren Kraftlosigkeit. Der Unglückliche hatte sich bis dahin ganze sieben Jahre mit den bloßen Gedanken an seinen zukünftigen Ruhm begnügt und über diesen Zukunftsträumen gar nicht bemerkt, wie ihm mit der Zeit die Grundlage der Kunst immer mehr abhanden kam, wie er nach und nach seine Technik verlor und damit das Werkzeug seiner Kunst. Währenddessen aber entstanden in seiner wirren Phantasie jeden Augenblick die großartigsten Zukunftspläne. Er wollte nicht etwa nur ein erstklassiges Genie sein, der größte aller Violinvirtuosen der Welt, für den er sich bereits allen Ernstes hielt, – nein, er wollte überdies noch Komponist werden, – ohne vom Kontrapunkt auch nur eine Ahnung zu haben. Am meisten jedoch wunderte mich,“ fuhr B. fort, „daß dieser Mensch bei seinen geringen Kenntnissen von der Theorie der Kunst ein so tiefes, klares und man kann wohl sagen instinktives Kunstverständnis hatte. Er erfaßte und fühlte die Kunst so tief, daß es schließlich kein Wunder war, wenn er sich in seiner Selbsterkenntnis verirrte und sich, anstatt für einen tief nachempfindenden Kunstkritiker zu halten, für einen Kunstschöpfer, für ein Genie hielt. Zuweilen konnte er in seiner ungeschliffenen einfachen Ausdrucksweise, ohne, wie gesagt, etwas von einer Theorie oder Musikwissenschaft zu ahnen, so tiefe Wahrheiten sagen, daß ich ihn ganz verblüfft ansah und nicht begriff, wie er das alles erraten hatte, er, der nie etwas las, nie etwas lernte! Ich verdanke ihm viel,“ gestand B. freimütig, „denn er hat mit seinen Ratschlägen mir nicht wenig bei meiner Selbstvervollkommnung geholfen. Was nun mich betrifft,“ fuhr B. fort, „so war ich über meine Zukunft ganz ruhig. Auch ich liebte meine Kunst leidenschaftlich, obwohl ich von Anfang an wußte, was aus mir werden konnte, eben, daß ich im Grunde doch nur so etwas wie ein Handwerker in der Kunst bleiben würde. Ich bin aber doch stolz darauf, daß ich das, was die Natur mir gegeben, nicht wie ein fauler Knecht verscharrt, sondern hundertfältig vergrößert habe. Und wenn man jetzt die Reinheit meines Spiels hervorhebt und meine ausgearbeitete Technik bewundert, so verdanke ich das nur meiner ununterbrochenen, unermüdlichen Arbeit, der vollen Erkenntnis, d. h. der sachlichen Einschätzung meiner Kräfte, meiner freiwilligen Selbstverleugnung und meinem ewigen Kampf gegen Eigendünkel, gegen Zufriedenheit mit dem eigenen Können, gegen die Faulheit, der natürlichen Folge dieser Zufriedenheit.“ B. hatte dann versucht, auch seinerseits auf den Gefährten einzuwirken, nachdem er sich ihm anfangs ganz untergeordnet, aber sein gutgemeinter Rat hatte den anderen nur geärgert. Die Folge davon war eine langsam zunehmende Entfremdung. Bald bemerkte B., daß sein Genosse sich immer häufiger einer gewissen Apathie hingab, verstimmt und gelangweilt war, daß die Ausbrüche seiner Begeisterung immer seltener wurden, und sich statt dessen eine trostlose Mutlosigkeit bemerkbar machte. Zu guter Letzt schien Jefimoff auch seine Geige zu vergessen und rührte sie oft wochenlang nicht an. Da war es denn nicht mehr weit bis zum endgültigen Verkommen – und bald gab der Arme sich allen Lastern hin. Wovor ihn der Gutsbesitzer gewarnt hatte, gerade das geschah: er ergab sich dem Trunk. B. beobachtete ihn mit Entsetzen. Raterteilen und Zureden half nichts, das wußte er, und übrigens getraute er sich kaum noch, dem anderen ein Wort zu sagen. Allmählich verfiel Jefimoff in den größten Zynismus und verlor offenbar jedes Ehrgefühl. So, zum Beispiel, schämte er sich nicht im geringsten, auf B.s Kosten zu leben, und zwar tat er das in einer Art, als habe er das volle Recht dazu. Dabei waren die Mittel knapp. B. schlug sich noch irgendwie durch, erteilte Unterricht, spielte bei Kaufleuten, Deutschen und geringeren Beamten, wenn diese ihre Kränzchen und Tanzabende hatten, bekam dafür zwar nicht viel, aber immerhin genug, nun, um sich eben durchzuschlagen. Jefimoff dagegen wollte, wie es schien, die Notlage seines Freundes überhaupt nicht bemerken. Er nahm nicht die geringste Rücksicht auf ihn, sprach mit ihm in strengem Tone oder würdigte ihn mehrere Tage lang keines Wortes. Einmal äußerte B. mit aller Rücksicht und Vorsicht zugleich, daß es nicht schlecht wäre, wenn er sein Geigenspiel nicht gar zu sehr vernachlässigte, da er sonst ganz aus der Übung kommen könnte. Darüber ärgerte sich Jefimoff sehr und erklärte, er werde seine Geige hinfort überhaupt nicht mehr anrühren, – ganz als erwartete er, daß jemand ihn kniefällig darum bitte. Ein anderes Mal forderte B. ihn auf, mit ihm auf einem jener Bälle zu spielen: es sei ein größeres Fest, eine Geige genüge nicht. Diese Aufforderung versetzte Jefimoff in helle Wut. Empört erklärte er, er sei kein Straßenfiedler und könne nicht so gemein sein wie B. und die edle Kunst dermaßen erniedrigen, daß er simplen Spießbürgern, die von seinem Spiel und Talent doch nichts begriffen, zum Tanze aufspielte. B. erwiderte darauf kein Wort, Jefimoff aber begann in der Abwesenheit des Genossen, der fortgegangen war, um zu spielen, über den Zwischenfall nachzudenken und kam zu dem Schluß, B. habe ihm damit nur sagen wollen, daß er, Jefimoff, auf seine Rechnung lebe, und mit dieser Andeutung habe er ihm den Gedanken nahelegen wollen, gleichfalls Geld zu verdienen. Als B. zurückkehrte, begann Jefimoff plötzlich, ihm wegen seiner gemeinen Handlungsweise Vorwürfe zu machen, und schloß damit, daß er keine Minute länger mit ihm unter einem Dach bleiben werde. Er verschwand auch wirklich auf zwei Tage, am dritten aber erschien er wieder bei B., als wäre nichts geschehen, und setzte ruhig seine alte Lebensweise bei ihm fort. Nur die frühere Freundschaft und die alte Gewohnheit, und überdies wohl auch noch das Mitleid, das B. mit dem verlorenen Menschen empfand, hielten ihn davon ab, dieser schmählichen Lebensweise ein Ende zu machen und sich endgültig von seinem Stubengenossen loszusagen. Schließlich trennten sie sich aber doch. B. hatte Glück: er gewann die Protektion eines hohen Würdenträgers und bald darauf gab er sein erstes Konzert, das glänzend ausfiel. Damals war er schon ein vorzüglicher Künstler und bald verschaffte ihm seine schnell zunehmende Berühmtheit eine Stellung im Orchester der Kaiserlichen Oper, wo er vollauf verdienten Erfolg errang. Beim Abschied gab er Jefimoff noch Geld und beschwor ihn, doch wieder auf den rechten Weg zurückzukehren. Auch jetzt kann B. nicht ohne ein inniges Mitgefühl an ihn zurückdenken. Seine Bekanntschaft mit Jefimoff ist eben eines der größten Erlebnisse seiner Jugend gewesen und hat den tiefsten Eindruck in ihm hinterlassen. Gemeinsam hatten sie das gleiche Ziel erreichen wollen, wie sollten sie sich da nicht einander anschließen. Einerseits kam es, wie es nicht anders kommen konnte; anderseits waren es vielleicht gerade die Seltsamkeiten und die gröbsten, unangenehmsten Mängel Jefimoffs, die B. noch mehr an ihn fesselten. B. begriff ihn vollkommen. Er durchschaute ihn völlig und ahnte, wie das ganze enden mußte. Beim Abschied umarmten sie sich und ihre Augen wurden feucht. Da sagte Jefimoff unter Tränen mit versagender Stimme, daß er ein verlorener Mensch sei, er wisse es ja schon längst, aber jetzt erst habe er die ganze Größe seines Elends erfaßt. „Ich habe kein Talent!“ stieß er hervor, totenblaß. B. war erschüttert. „Höre, Jegor Petrowitsch,“ begann er, „was machst du aus dir? Du richtest dich mit deiner Verzweiflung nur zugrunde, hab’ doch nur ein bißchen Ausdauer und Mannhaftigkeit! Jetzt sagst du in einer Anwandlung von Mutlosigkeit, du hättest kein Talent. Das ist aber doch nicht wahr! Du hast Talent, ich versichere dich! Gerade _du_ hast es! Ich ersehe das schon daraus, wie du Kunst fühlst und begreifst. Und ein Beweis dafür ist auch schon dein ganzes früheres Leben. Du hast mir doch alles erzählt, und auch damals schon hat dich unbewußt dieselbe Verzweiflung ergriffen. Damals hat dein erster Lehrer, jener seltsame Mensch, von dem du mir so oft gesprochen hast, deine Liebe zur Kunst geweckt und dein Talent erraten. Du fühltest das damals ebenso stark und schwer, wie du es auch jetzt wieder fühlst. Damals wußtest du selbst nicht, was in dir vorging. Du hieltest es nicht aus bei deinem Gutsbesitzer und du wolltest fort von ihm, du wolltest etwas anderes, – aber was eigentlich, das wußtest du nicht. Dein Lehrer starb viel zu früh. Er ließ dich mit einem unklaren Streben zurück und vor allen Dingen erklärte er dir nicht dich selbst. Du fühltest, daß jener Weg nichts für dich war, du brauchtest einen anderen, einen breiteren, du fühltest, daß dir anderes zu erreichen bestimmt war, aber du begriffst nicht, wie dieses andere zu erreichen sei, und in deiner Sehnsucht und Qual ward dir deine ganze Umgebung zuwider und verhaßt. Deine sechs Jahre Armut und Elend hast du nicht umsonst durchgemacht: du hast in der Zeit gelernt, du hast gedacht, du hast dich selbst, hast deine Kraft erkannt. Jetzt kennst du die Kunst und zugleich deine Bestimmung. Mein Freund, glaub’ mir, jetzt tut dir nur noch Ausdauer und Mannhaftigkeit not. Dir steht Größeres bevor, als mir: du bist hundertmal mehr Künstler, als ich, doch gäbe Gott dir wenigstens ein Zehntel von meiner Ausdauer. Lerne und trink nicht, wie dir dein prächtiger alter Gutsbesitzer bereits sagte, und die Hauptsache – fange von neuem an, fang von Anfang an, fang mit dem Alphabet an, wenn du willst. Was quält dich denn jetzt? Armut? Hunger? Aber Armut und Hunger entwickeln doch den Künstler. Sie gehören zum Anfang, sind sogar untrennbar mit ihm verbunden. Vorläufig kennt dich noch niemand, und es will dich auch niemand kennen, so ist nun einmal die Welt. Das wird anders werden, sobald man erfährt, daß du Talent hast. Dann werden dich wieder Neid, kleinliche Gemeinheit, vor allem aber Dummheit viel mehr bedrücken, als Armut es je vermag. Ein Talent bedarf der Teilnahme, es will verstanden sein. Du aber wirst dann erst sehen, wie die Leute sind, die dich umgeben, sobald du nur annähernd etwas erreicht hast. Was sich in dir durch mühevolle Arbeit, Entbehrungen, Hunger und schlaflose Nächte herausgearbeitet hat, das werden sie geringschätzen, verachten oder überhaupt nicht beachten. Sie werden dich nicht ermutigen, dich nicht trösten, diese deine zukünftigen Freunde. Sie werden dir auch nicht sagen, was in dir gut und echt ist, wohl aber werden sie mit boshafter Freude deine Fehler hervorheben, werden gerade darauf hinweisen, was an dir schlecht ist, und darauf, worin du irrst, und unter dem äußeren Anschein der Kaltblütigkeit und der Gleichgültigkeit oder gar Verachtung deiner Person werden sie über jeden deiner Fehler frohlocken, als hätten sie ein Fest zu feiern – und Fehler hat doch wohl ein jeder! Du aber bist hochmütig, bist oft am unrechten Platz stolz, du könntest leicht einen dünkelhaften Wicht kränken, und dann wehe dir! Du bist allein und ein einziger, sie aber sind viele – sie werden dich mit Stecknadeln zu Tode quälen. Sogar ich fange schon an, das kennen zu lernen. So nimm dich doch jetzt endlich zusammen! Du bist noch längst nicht so arm, daß du nicht leben könntest, nur mißachte die Arbeit nicht, säge Holz, wie ich Holz gesägt habe bei den Bürgern und Beamten, wenn sie tanzten. Aber du bist ungeduldig, du bist krank vor Ungeduld, es ist zu wenig Einfachheit in dir, du verstellst dich zu viel, du denkst zu viel, du gibst deinem Kopf zu viel Arbeit. In Worten bist du dreist, sobald du aber den Violinbogen in die Hand nehmen mußt, wirst du mutlos. Du bist eigenliebig und es steckt in dir wenig Tapferkeit. So sei doch mutiger, warte ab, lerne, und wenn du auch deinen Kräften nicht traust, so arbeite nur. Es steckt Glut in dir, du hast etwas Elementares! Vielleicht erreichst du dein Ziel, oder wenn nicht, so laß es doch immerhin auf das Vielleicht ankommen. Verlieren kannst du dabei auf keinen Fall etwas, um so größer aber ist der mögliche Gewinn. Hier, Freund, ist euer russisches ‚Vielleicht‘ eine große Sache!“ Jefimoff hörte seinen einstigen Genossen mit tief aufgewühlten Gefühlen an. Während jener noch sprach, trat allmählich wieder Farbe in seine bleichen Wangen, seine Augen leuchteten auf und Mut und Hoffnung erglänzte in ihnen. Aber der gute Mut wurde schnell zum Selbstgefühl und dann zu der bei ihm üblichen Anmaßung: als B. sich dem Schluß seiner Standrede näherte, da hörte Jefimoff nur noch zerstreut und schon ungeduldig zu. Trotzdem drückte er ihm zum Schluß kräftig die Hand, dankte und – schnell wie immer in seinen Übergängen von tiefster Mutlosigkeit und Selbstverurteilung zum größten Hochmut, wenn nicht gar zur frechsten Vermessenheit – erklärte er selbstbewußt, der Freund möge sich nicht um ihn sorgen, er wisse, wie er seine Zukunft zu gestalten habe. Er hoffe, bald gleichfalls Protektion zu finden, dann werde er ein Konzert geben und mit einem Schlage Ruhm und Geld erwerben. – B. zuckte mit den Achseln, erwiderte nichts darauf und sie schieden voneinander, natürlich nicht auf lange. Jefimoff verjubelte sogleich das empfangene Geld und suchte ihn dann auf, um ihn wieder um Geld anzugehen. Dasselbe tat er zum dritten-, vierten- und bald zum zehntenmal, bis endlich die Geduld B.s erschöpft war und er ihm sagen ließ, er sei nicht zu Hause. Von da an verlor er ihn ganz aus den Augen ... Es vergingen ein paar Jahre. Da stieß B. eines Tages auf dem Heimwege aus der Probe in einer Gasse vor einer schmutzigen Trinkstube mit einem schlecht gekleideten, betrunkenen Menschen zusammen, der ihn plötzlich beim Namen nannte. Es war Jefimoff. Er hatte sich sehr verändert, sein Gesicht war gelb und aufgedunsen. Man sah es ihm auf den ersten Blick an, daß das liederliche Leben bereits seinen Zügen einen unverwischbaren Stempel aufgedrückt hatte. B. war trotzdem sehr erfreut, ihn wiederzusehen, und folgte ihm in die Trinkstube, wohin Jefimoff ihn schon nach den ersten zwei Worten zog. Dort, in einer abgelegenen kleinen verräucherten Stube, musterte er etwas eingehender seinen ehemaligen Stubengenossen. Da erst sah er, daß jener ganz zerlumpt war und daß seine Stiefel zerrissen waren. Die zerknüllte Hemdbrust hatte Weinflecke. Sein Haar fing schon an zu ergrauen und sich zu lichten. „Wie geht es dir jetzt? Wo lebst du?“ fragte B. Jefimoff schaute etwas betreten darein, im ersten Augenblick sogar beinahe eingeschüchtert, und antwortete so unzusammenhängend und stockend, daß B. nahe daran war, ihn für halbwegs verrückt zu halten. Endlich gestand Jefimoff, er könne nicht sprechen, bevor er nicht einen Schnaps getrunken, hier aber habe er schon lange keinen Kredit mehr. Er errötete, als er das sagte, wollte sich aber mit einem gewissen flotten Gehaben darüber hinweghelfen, was ihm jedoch mißlang: es wurde daraus etwas aufdringlich Gemeines, Unnatürliches, so daß der ganze Eindruck ein recht trauriger war und in dem gutmütigen B. aufrichtiges Mitleid erweckte. Er sah, daß alle seine Befürchtungen eingetroffen waren. Er bestellte also Schnaps. Jefimoffs Gesicht veränderte sich vor Dankbarkeit und er geriet so aus dem Gleichgewicht, daß er mit Tränen in den Augen fast im Begriffe war, B. die Hand zu küssen. Während des Essens erfuhr dann B. zu seiner größten Verwunderung, daß der Unglückliche inzwischen geheiratet hatte. Aber seine Verwunderung nahm noch zu, als er gleich darauf hören mußte, daß die Frau an seinem ganzen Unglück und Elend schuld sei, daß die Heirat sein ganzes Können vernichtet habe. „Aber wie denn das?“ fragte B. „Ja, Freund, seit zwei Jahren nehme ich meine Geige nicht mehr in die Hand,“ antwortete Jefimoff. „Sie ist eben ein ungebildetes, rohes Weib, eine richtige Köchin. Daß sie der ...! Na ja. Wir liegen uns nur in den Haaren, das ist alles, was wir tun.“ „Aber warum hast du sie denn geheiratet, wenn sie so ist?“ „Hatte nichts zu essen. Da machte ich ihre Bekanntschaft. Sie besaß etwa tausend Rubel ... da heiratete ich sie denn. Sie aber hatte sich in mich verliebt. Hat sich selbst mir an den Hals gehängt. Wer hatte sie drum gebeten! Das Geld ist verlebt, vertrunken, Freund, und – was Kunst! Es ist alles zum Teufel gegangen!“ B. hatte die Empfindung, als wolle Jefimoff sich gewissermaßen rechtfertigen, und zwar schien er sich damit sehr zu beeilen, wie um einer Bemerkung oder einer Frage zuvorzukommen. „Habe alles an den Nagel gehängt, alles,“ fuhr er fort und erzählte dann, daß er es in der letzten Zeit im Spiel fast bis zur Vollendung gebracht habe, so daß ... nun ja, B. sei zwar einer der ersten Violinspieler in Petersburg, aber ihm, Jefimoff, könne er doch nicht einmal das Wasser reichen, wenn er, Jefimoff, mal spielen wollte. „Ja, aber wie steht es denn jetzt mit dir?“ fragte B., dem der ganze Sachverhalt noch unklar war. „Warum suchst du dir dann nicht einen Verdienst?“ „Äh! – lohnt nicht!“ bemerkte Jefimoff mit wegwerfender Gebärde. „Wer versteht denn bei euch etwas von wirklicher Kunst! Was wißt ihr überhaupt? Nicht so viel, gar nichts wißt ihr! Irgend so einen Hopserwalzer den Ballettspringern vorzufiedeln – das könnt ihr allenfalls noch. Aber das ist auch alles. Wirkliche Künstler habt ihr ja überhaupt noch nicht gesehn, noch viel weniger gehört. Wozu euch aufrütteln! Bleibt, was ihr seid!“ Hierbei machte Jefimoff wieder eine geringschätzige Bewegung – geriet aber ins Wanken, da er schon ziemlich viel getrunken hatte. Dann forderte er B. auf, zu ihm zu kommen. Dieser lehnte das vorläufig ab, fragte ihn aber nach seiner Adresse und versprach, ihn am nächsten Tage aufzusuchen. Jefimoff, der nun schon genug gegessen und getrunken hatte, blickte spöttisch seinen früheren Genossen an und schien die größte Lust zu verspüren, ihn irgendwie zu verletzen. Als sie aufbrachen, griff er schnell nach B.s kostbarem Pelz und hielt ihn, wie ein Geringerer einem Höherstehenden, dem er beim Anziehen behilflich sein will. Und als sie durch das vordere Zimmer, die eigentliche Schenkstube, gingen, blieb er stehen und stellte B. den Wirtsleuten und dem Publikum als den ersten und einzigen Violinvirtuosen der ganzen Hauptstadt vor. Kurz, er benahm sich schmutzig. Nichtsdestoweniger suchte B. ihn am anderen Morgen in der Dachkammer auf, wo wir in größter Armut lebten. Ich war damals vier Jahre alt und meine Mutter war schon seit zwei Jahren mit Jefimoff verheiratet. Meine arme Mutter! Als völlig unbemittelte Gouvernante hatte sie, die eine vortreffliche Bildung besaß und schön war, einen älteren Bekannten geheiratet, meinen Vater, um aus der Armut herauszukommen. Aber die Ehe dauerte kaum drei Jahre. Mein Vater starb ganz plötzlich. Und als sein geringer Nachlaß unter seinen Erben verteilt wurde, blieb meine Mutter mit mir und einer nur kleinen Summe zurück, die von der Hinterlassenschaft ihres Mannes ihr zufiel. Wieder eine Gouvernantenstelle anzunehmen, wäre kaum möglich gewesen, jetzt, wo sie ein kleines Kind hatte. In dieser Zeit machte sie durch einen Zufall die Bekanntschaft Jefimoffs und verliebte sich tatsächlich in ihn. Auch sie war eine Enthusiastin, eine phantastische Träumerin. Auch sie sah in ihm ein großes Genie und glaubte seinen stolzen Worten, wenn er von seiner glänzenden Zukunft sprach. Ihrer Phantasie schmeichelte die Vorstellung von dem beneidenswerten Los, die Stütze und Gefährtin eines genialen Künstlers zu sein, und so heiratete sie ihn. Schon im ersten Monat schwanden alle ihre Hoffnungen und Träume: vor ihr blieb nichts, als die armselige Wirklichkeit. Jefimoff, der sie vielleicht nur aus dem Grunde geheiratet hatte, weil sie etwa tausend Rubel besaß, legte, als das Geld zu Ende war, sogleich die Hände in den Schoß und erklärte allen und jedem – es war geradezu, als hätte er sich über den Vorwand gefreut –, daß die Heirat sein Talent vernichtet habe, daß er in einer dumpfen Stube nicht arbeiten könne, unter den Augen einer hungrigen Familie ... da könne der Verstand weder Noten noch Melodien fassen, und schließlich: dieses Unglück sei ihm eben offenbar von Anfang an bestimmt gewesen. Wie es scheint, hat er bald selbst an die Richtigkeit seiner Klagen geglaubt und sich vermutlich über diese neue Rechtfertigungsmöglichkeit wirklich gefreut. Dieser unselige, trotz aller Begabung verlorene Mensch hatte wohl schon lange nach einem äußeren Vorwand gesucht, dem er alles Unglück und alle Mißerfolge zuschreiben konnte. An den furchtbaren Gedanken, daß er für die Kunst schon längst und unrettbar verloren war, an den konnte er sich natürlich nicht gewöhnen. Er kämpfte krampfhaft gegen diese unheimliche Erkenntnis an, kämpfte wie mit einem Alb, der auf ihm lastete, und als die Wirklichkeit ihn endlich zu besiegen begann und seine Augen für Sekunden öffnete, da war es ihm, als müßte er vor Entsetzen den Verstand verlieren. Wie sollte er auch auf das verzichten, was so lange Ziel und Zweck seines Lebens gewesen war, und so glaubte er bis zur letzten Minute, oder redete es sich wenigstens ein, daß noch nichts verloren sei. Kamen aber Stunden des Zweifels, dann gab er sich wieder dem Trunk hin, um vom Rausch die Qual verdrängen zu lassen. Zu guter Letzt wußte er vielleicht selbst nicht, wie unentbehrlich ihm die Frau in dieser Zeit war. Sie war ja für ihn eine lebendige Rechtfertigung, wie es denn fast zu seiner fixen Idee wurde, daß erst dann alles wieder gut werden würde, wenn er seine Frau, _die an allem Schuldige_, begraben habe. Meine arme Mutter verstand ihn aber nicht. Als geborene Träumerin ertrug sie nicht einmal den ersten Schritt in der feindlichen Wirklichkeit. Sie wurde heftig, böse, zänkisch, geriet jeden Augenblick in Streit mit dem Mann, dem es geradezu ein Vergnügen zu sein schien, sie zu quälen, und immer wieder sagte sie ihm, er solle doch arbeiten, sonst verlerne er ja alles. Aber die Verblendung und die fixe Idee meines Stiefvaters, überhaupt seine ganze Überspanntheit machten ihn gefühllos und fast unmenschlich grausam gegen sie. Er lachte nur und schwor, die Geige vor ihrem Tode nicht wieder in die Hand zu nehmen, ohne sich über seine grausame Rücksichtslosigkeit auch nur Gedanken zu machen, wenn er ihr dies ganz unumwunden ins Gesicht sagte. Meine Mutter, die ihn trotz allem bis zu ihrem Tode leidenschaftlich liebte, war einem solchen Leben nicht gewachsen. Sie wurde kränklich und zuletzt wirklich krank, und da sie sich nie erholen konnte, lebte sie, leidend wie sie war, nur unter ewigen Qualen. Und überdies mußte sie ganz allein für den Unterhalt der Familie sorgen. Sie begann zu kochen und richtete einen Mittagstisch für Fremde ein, aber ihr Mann entwand ihr heimlich alles Geld, und da kam es denn nicht selten vor, daß sie diejenigen, die das Essen abholen wollten, mit leerem Geschirr zurückschicken mußte. Als B. uns aufsuchte, hatte sie das Kochen schon aufgegeben; sie beschäftigte sich damals mit dem Färben alter Kleider und wusch außerdem Wäsche. So fristeten wir unser Leben dort oben in der Dachstube. Unsere Armut überraschte B. „Hör’ mal, was redest du denn da von deiner vernichteten Kunst?“ wandte er sich an meinen Stiefvater. „Sie ernährt dich doch, und was tust du?“ „Nichts!“ versetzte mein Stiefvater. Doch B. kannte noch nicht das ganze Unglück meiner Mutter. Ihr Mann brachte oft, wenn er nach Hause kam, eine ganze Bande der verschiedensten Kumpane mit und dann – was gab es dann nicht alles! B. redete lange Zeit auf seinen früheren Genossen ein. Er sagte ihm auch, daß er ihm in keiner Beziehung helfen werde, wenn er sich nicht besserte, auch Geld werde er ihm nicht geben, da er es doch nur vertrinke. Zum Schluß bat er ihn, ihm etwas vorzuspielen, damit er beurteilen könne, was sich für ihn tun ließ. Während mein Stiefvater die Geige hervorholte, wollte B. meiner Mutter heimlich Geld zustecken, aber sie nahm es nicht. Zum erstenmal sollte sie Almosen annehmen! Da gab B. das Geld mir, und die arme Frau brach in Tränen aus. Mein Stiefvater nahm die Geige aus dem Kasten, besah sie, sagte aber dann, daß er zuerst Schnaps trinken müsse, ohne den könne er nicht spielen. Der Schnaps wurde geholt. Er trank und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. „Ich werde dir aus alter Freundschaft etwas von meinen eigenen Kompositionen vorspielen,“ sagte er B. und zog unter der Kommode ein dickes, verstaubtes Heft hervor. „Alles dies habe ich selbst geschrieben,“ sagte er, auf das Heft deutend. „Nun, du wirst ja sehen ... Das, Freund, ist etwas anderes als eure Ballettstückchen!“ B. blätterte schweigend ein paar Seiten um; dann schlug er die Noten auf, die er bei sich hatte, und bat ihn, daraus etwas vorzuspielen. Es kränkte Jefimoff, daß seine Kompositionen so zur Seite geschoben wurden, aber er kam doch der Aufforderung nach, wohl in der Furcht, B.s Gunst und Anteilnahme zu verlieren. Er spielte. B. erkannte, daß er in der Zeit nach ihrer Trennung viel zugelernt, also auch viel gearbeitet haben mußte, obgleich er damit geprahlt, daß er die Geige seit seiner Heirat nicht mehr angerührt habe. Da hätte man die Freude meiner armen Mutter sehen sollen! Sie sah ihren Mann an und war wieder stolz auf ihn. Der gute B. war aufrichtig erfreut und wollte unbedingt meinem Stiefvater helfen. Er hatte schon damals gute Beziehungen und so tat er denn auch alles mögliche für seinen armen Studiengenossen, nachdem er von diesem das ehrenwörtliche Versprechen gefordert und erhalten hatte, daß er sich gut aufführen werde. Zunächst kleidete er ihn besser ein, natürlich auf seine Rechnung, dann ging er mit ihm zu ein paar bekannten Persönlichkeiten, von denen es abhing, ob Jefimoff in dem Orchester ankam, wo B. ihn unterbringen wollte. Was nun die Annahme einer Stellung betraf, so hatte Jefimoff natürlich nur großgetan, wie gewöhnlich, wenn es sich bloß um Worte handelte. Wenigstens nahm er das Anerbieten seines alten Freundes mit der größten Bereitwilligkeit an. B. erzählte mir, er habe sich für ihn geschämt wegen der Schmeicheleien und der geheuchelten Bewunderung, mit denen mein Stiefvater seine Dankbarkeit habe bezeugen wollen, wahrscheinlich in der Absicht, sich dadurch B.s Wohlwollen zu sichern. Er begriff endlich, daß man ihn auf den rechten Weg stellen wollte und er hörte sogar auf, zu trinken. Schließlich erhielt er auch wirklich eine Anstellung im Orchester eines Theaters. Die Prüfung bestand er gut, denn in einem Monat hatte er sich durch Fleiß und guten Willen alles wieder angeeignet, was er in anderthalb Jahren des Nichtstuns verlernt hatte. Er versprach, auch hinfort gut zu üben, seinen neuen Pflichten getreu nachzukommen und pünktlich und nüchtern zu sein. Unsere Verhältnisse besserten sich jedoch deshalb noch keineswegs. Mein Stiefvater gab nämlich von seinem Monatsgehalt meiner Mutter nicht einen Kopeken, er verlebte alles allein, vertrank und verjubelte das Geld mit seinen neuen Freunden, von denen er sich sogleich eine ganze Schar anlegte. Es waren das größtenteils am Theater Angestellte, Choristen, Statisten, mit einem Wort Leute, unter denen er der Erste sein konnte, während er alle Talentvolleren geflissentlich mied. Diesen dagegen konnte er imponieren und eine ganz besondere Achtung einflößen, was ihm schon gleich zu Anfang gelungen war, indem er ihnen sofort erklärt und sie durch seine Überzeugung gleichfalls überzeugt hatte, daß er eine verkannte Größe, ein Genie sei, daß seine Frau ihn zugrunde gerichtet und daß ihr Kapellmeister von der ganzen Musik keine Ahnung habe. Er machte sich über alle Solisten des Orchesters lustig, ebenso über die Wahl der Stücke, die gespielt wurden, wie auch über die Komponisten der Opern. Schließlich fing er an, eine ganz neue Theorie der Musik zu erklären. Kurz, er wurde dem ganzen Orchester lästig, geriet mit allen in Streit, nicht zuletzt auch mit dem Kapellmeister, wurde seinen Vorgesetzten gegenüber grob, erwarb sich den Ruf, der unruhigste, verdrehteste und zugleich der nichtsnutzigste Mensch zu sein, und brachte es so weit, daß er allen unerträglich wurde. Und in der Tat, es war doch recht seltsam anzusehen, daß ein so unansehnlicher Mensch, ein so schlechter und fahrlässiger Musiker so riesige Ansprüche stellte und in einem so selbstbewußten Ton prahlte. Es endete damit, daß er sich mit B. verfeindete: er erfand eine häßliche Klatschgeschichte, eine ganz niederträchtige Verleumdung seines Wohltäters und gab sie als selbsterlebte Wirklichkeit zum besten. Nach einem halben Jahr wurde er aus diesem Orchester wegen Nachlässigkeit und unzulässiger Aufführung in nicht nüchternem Zustande ausgeschlossen. Doch damit hatte man ihn noch nicht abgeschüttelt. Bald sah man ihn wieder in zerlumpten Kleidern, denn die guten waren verkauft oder versetzt, und in diesen Kleidern suchte er seine gewesenen Kollegen vom Orchester auf, ohne darauf zu achten, ob diese davon erbaut waren oder nicht, erzählte Klatschgeschichten, schwätzte Unsinn, klagte über sein Leben und forderte alle auf, zu ihm zu kommen, um seinen Hausdrachen zu sehen. Natürlich fanden sich Zuhörer, es fanden sich auch solche, denen es Spaß machte, dem an die Luft gesetzten Kollegen mittels Alkohol die Zunge zu lösen und sich durch sein Geschwätz erheitern zu lassen. Übrigens sprach er dann immer mit Geist und Witz, untermischte seine Reden mit beißendem Spott und diversen Zynismen, die namentlich bei gewissen Zuhörern stets des Beifalls sicher sind. Man nahm ihn für einen etwas verschrobenen Narren, den plaudern zu hören in müßigen Stunden ganz amüsant war. Auch zogen die Kollegen ihn gern auf, indem sie in seiner Gegenwart von einem neuen großen Violinvirtuosen zu sprechen anfingen, der sich angeblich auf einer Konzertreise in Rußland befinden sollte und auch nach Petersburg kommen werde. Sobald er das hörte, veränderte sich sein Gesicht, er wurde kleinlauter, erkundigte sich, wie der Künstler hieß, wo er konzertierte, wie groß denn sein Talent sei, und war offenbar eifersüchtig auf den Ruhm der ihm unbekannten Größe. Es scheint, daß erst in dieser Zeit sein systematischer Wahnsinn, sein Größenwahnsinn begann, diese fixe Idee, daß er der erste Geigenvirtuose, mindestens in Petersburg sei, daß aber das Schicksal ihn verfolge und er dank verschiedenen Intrigen natürlich nicht verstanden werde und deshalb in seiner Unbekanntheit verbleibe. Letzteres schmeichelte ihm sogar, denn es gibt solche Charaktere, die sich mit Vorliebe für verfolgt und unverstanden halten und sich laut darüber beschweren, oder im stillen zur Sättigung ihres Ehrgeizes wenigstens selber ihre nicht anerkannte Größe anbeten. Jefimoff kannte alle Petersburger Violinvirtuosen und konnte sie an den Fingern herzählen, doch war von ihnen allen, nach seiner Ansicht, kein einziger ihm gewachsen. Seine Kollegen aber und andere Sachverständige, auch manche Laien, die seinen Größenwahn kannten, brachten das Gespräch gerade deshalb auf die angebliche neue Größe, um ihn zu veranlassen, den vermeintlichen Rivalen im voraus zu kritisieren. Ihnen gefiel sein Grimm, seine boshaften Einfälle, es gefielen vor allen Dingen die sachlichen, klugen Bemerkungen, die er machte, wenn er das Spiel der anderen kritisierte. Oft verstanden sie ihn nicht, doch dafür waren sie überzeugt, daß kein zweiter auf der Welt so geschickt und in so packenden Karikaturen die Größen unter den zeitgenössischen Musikern darzustellen und herunterzureißen wußte. Und sogar diese Künstler, über die er so schonungslos spottete, fürchteten ihn ein wenig, denn sie kannten nicht nur seinen beißenden Witz, sondern erkannten auch die Richtigkeit seiner Angriffe und Urteile. Man hatte sich gewissermaßen schon daran gewöhnt, ihn in den Korridoren und hinter den Kulissen des Theaters zu sehen. Die Bedienten gewährten ihm widerspruchslos den Zutritt, wie einer unentbehrlichen Person. So wurde er im Theater zu einer Figur, etwa von der Art eines musikalischen Thersites. Das dauerte etwa zwei bis drei Jahre. Endlich aber fiel er allen auch in dieser seiner letzten Rolle lästig. Man setzte ihn formell vor die Tür und in den zwei letzten Jahren seines Lebens war mein Stiefvater für diese Leute wie verschollen, keiner von ihnen sah ihn je wieder. Übrigens – B. ist ihm doch noch zweimal begegnet, und zwar sah er ihn in einer so elenden Verfassung, daß noch einmal das Mitleid seinen Ekel besiegte. Er rief ihn an, aber das kränkte Jefimoff und er tat, als hätte er nichts gehört, zog seinen alten verbeulten Filz noch mehr über die Augen und ging vorüber. Es verging einige Zeit, da wurde B. am Morgen eines großen Festtages gemeldet, daß sein ehemaliger Kollege Jefimoff ihm zum Fest zu gratulieren wünsche. B. ging ihm entgegen. Jefimoff stand berauscht im Vorzimmer, verbeugte sich äußerst tief, fast bis zur Erde, seine Lippen murmelten etwas Unverständliches, doch weigerte er sich hartnäckig, näherzutreten. Der Sinn seines Besuches war ungefähr der: „Wie können wir unbegabten Leute mit so großen und vornehmen Berühmtheiten wie Euer Wohlgeboren Umgang pflegen? Für uns Geringe genügt auch ein Dienerplatz, wenn wir zum Fest gratulieren kommen: wir machen unseren Bückling und gehen wieder.“ Mit einem Wort, er war schmutzig, dumm und widerlich gemein. Seit jenem Morgen sah ihn B. lange Zeit nicht mehr, bis – bis zu der Katastrophe, mit der dieses ganze traurige, erstickend trostlose, kranke Leben endete. Es geschah das auf eine furchtbare Weise. Diese Katastrophe ist nicht nur das erschütterndste Erlebnis meiner Kindheit, sie ist sogar für mein ganzes Leben entscheidend gewesen. Doch zuvor muß ich noch erzählen, wie meine Kindheit war, und erklären, welche Bedeutung dieser Mensch für mich hatte, dieser Mensch, der einen so qualvollen Eindruck auf mein Kindergemüt machte und der die Ursache des Todes meiner armen Mutter gewesen. II. Meine Erinnerung an meine Kindheit reicht nicht sehr weit zurück, eigentlich nur bis zu meinem zehnten Jahr. Ich weiß nicht, wie es zu erklären ist, daß alles, was ich bis dahin erlebt habe, keinen einzigen klaren Eindruck in mir hinterlassen hat, an den ich mich jetzt noch erinnern könnte. Aber ungefähr von der Mitte meines neunten Jahres an, da erinnere ich mich des Erlebten fast Tag für Tag: es ist wie eine laufende Kette von Erinnerungen, ganz als wäre das alles erst gestern geschehen ... Allerdings kann ich mich auch noch einiger früherer Erlebnisse entsinnen, aber doch nur wie im Traum. So erinnere ich mich z. B. des immer brennenden Lämpchens in der dunklen Ecke vor einem altertümlichen Heiligenbilde; dann, wie ich einmal auf der Straße einem Pferde unter die Beine geriet, worauf ich, wie man mir später erzählt hat, drei Monate lang krank gelegen habe; ferner, wie ich während dieser Krankheit einmal in der Nacht neben meiner Mutter, in deren Bett ich schlief, plötzlich im Traum aufschrak und vom Schreck erwachte, und wie ich mich dann vor der nächtlichen Stille und Dunkelheit und den in der Ecke raschelnden und knabbernden Mäusen fürchtete; Ich zitterte die ganze Nacht vor Angst, ich zog mir sogar die Decke über den Kopf, aber ich wagte trotzdem nicht, meine Mutter zu wecken, woraus ich schließe, daß meine Furcht vor ihr noch größer war als vor den Mäusen und der Dunkelheit. Aber von der Stunde an, wo plötzlich das Bewußtsein in mir erwachte, entwickelte ich mich schnell, wider Erwarten schnell, und viele nichts weniger als kindliche Geschehnisse wurden mir mit einemmal in geradezu unheimlicher Weise faßbar. Alles klärte sich vor mir auf, alles wurde mir in kürzester Zeit verständlich. Und diese Zeit, in der ich bewußt zu leben anfing, an die ich mich, im Gegensatz zu den vorhergegangenen Jahren, mit ungewöhnlicher Deutlichkeit erinnere, hat in mir einen tiefen und traurigen Eindruck hinterlassen. Dieser Eindruck wiederholte sich dann jeden Tag und wuchs mit jedem Tag; er verlieh der ganzen Zeit meines Zusammenlebens mit meinen Eltern und somit meiner ganzen Kindheit eine dunkle und eigenartige Farbe. Jetzt scheint es mir, daß ich damals ganz plötzlich wie aus einem tiefen Traum erwachte (obschon dies mir, als es geschah, natürlich gar nicht weiter auffiel). Ich fand mich in einem großen Zimmer mit einer niedrigen Decke. Es war unsauber und die Luft darin dumpf. Die getünchten Wände waren von schmutziggrüner Farbe, in einer Ecke stand ein riesiger russischer Ofen. Durch die Fenster sah man auf die Straße, oder richtiger auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses, und diese Fenster waren breit und niedrig, fast nur wie horizontale Spalten in der Wand. Die Fensterbretter waren so hoch vom Fußboden, daß ich auf einen Stuhl und eine Fußbank klettern mußte, um mich, und auch noch immer mit Mühe, auf meinen Lieblingsplatz hinaufschwingen zu können – wenn niemand zu Hause war, der es mir verbot. Aus unserer Wohnung konnte man fast die halbe Stadt sehen, denn wir wohnten unter dem Dach in einem sechsstöckigen, sehr, sehr großen Hause. Unsere ganze Einrichtung bestand aus der Ruine eines alten zerrissenen Ledersofas, das ganz verstaubt war und aus dem überall der Bast der Polsterung hervorsah, ferner einem einfachen, ungestrichenen Tisch, zwei Stühlen, einem Bett, in dem meine Mutter schlief, einem Schränkchen in der Ecke, einer Kommode, die immer schief stand, und einem zerrissenen papierenen Wandschirm. Ich erinnere mich, es war einmal in der Dämmerung: das ganze Zimmer befand sich in Unordnung, auf der Diele lag alles durcheinander, Bürsten und Lappen, unser hölzernes Eßgeschirr, eine zerschlagene Flasche und ich weiß nicht was noch. Ich erinnere mich, meine Mutter war sehr aufgeregt und aus irgendeinem Grunde weinte sie. Mein Stiefvater saß in der Ecke, wie immer in einem zerrissenen Rock. Er antwortete ihr irgend etwas, antwortete unter einem höhnischen Auflachen, was meine Mutter noch mehr ärgerte, und dann flogen wieder Bürsten und Teller auf den Boden. Ich begann zu weinen und zu schreien und stürzte zu ihnen beiden. Ich war entsetzlich erschrocken und umklammerte wie verzweifelt meinen Vater, um ihn mit meinem Körper zu schützen. Gott mag wissen, weshalb es mir schien, daß der Ärger meiner Mutter grundlos und mein Vater unschuldig sei. Ich wollte für ihn um Verzeihung bitten, gleichviel was für eine Strafe an seiner Stelle auf mich nehmen. Ich fürchtete mich entsetzlich vor meiner Mutter und glaubte, daß alle sie ebenso fürchteten. Meine Mutter sah mich im ersten Augenblick ganz verwundert an, dann faßte sie mich an der Hand und zog mich hinter den Schirm. Ich beschädigte meine Hand am Bett – es schmerzte sehr –, aber der Schreck war doch größer als der Schmerz, und ich wagte nicht mal zu mucksen. Ich weiß noch, meine Mutter machte darauf meinem Vater bittere Vorwürfe, indem sie auf mich deutete. (Übrigens nenne ich ihn hier meinen Vater, obgleich er doch nur mein Stiefvater war, aber ich habe es erst viel später erfahren, daß zwischen uns überhaupt keine Verwandtschaft bestand.) Diese ganze Szene dauerte etwa zwei Stunden und zitternd vor Spannung bemühte ich mich, zu erraten, womit das alles enden werde. Endlich verstummte der Streit und die Mutter ging irgendwohin fort. Da rief mich der Vater zu sich, küßte mich, streichelte mein Haar, nahm mich auf den Schoß und ich schmiegte mich fest und süß an seine Brust. Es war die erste väterliche Zärtlichkeit, die ich empfand, und vielleicht kann ich mich deshalb von der Zeit an so gut alles Erlebten erinnern. Auch begriff ich, daß ich mir diese Liebe des Vaters durch meine Parteinahme für ihn verdient hatte, und da kam mir, ich glaube, zum erstenmal der Gedanke, daß er von der Mutter viel zu erdulden und viel Leid zu ertragen habe. Seit der Zeit konnte ich mich von dieser Vorstellung nicht mehr befreien und mit jedem Tag erregte und empörte sie mich mehr. In jener Stunde erwachte in mir eine grenzenlose Liebe zum Vater, aber es war eine wunderliche, gleichsam gar nicht kindliche Liebe. Ich würde sagen, daß es eher ein gewisses mitleidvolles _mütterliches_ Gefühl war, wenn eine solche Bezeichnung nicht komisch wäre – für ein Kind! Der Vater erschien mir immer dermaßen bedauernswert, so ungerecht verfolgt, so tyrannisiert, kurz, ich sah in ihm einen solchen Märtyrer, daß es für mich etwas ganz Unmögliches gewesen wäre, ihn nicht bis zur Besinnungslosigkeit zu lieben, zu trösten, nicht zärtlich zu ihm zu sein, mich nicht aus allen Kräften zu bemühen, für ihn zu sorgen und ihm Gutes zu tun. Ich verstehe bis jetzt noch nicht, woher mir gerade das in den Kopf gekommen sein mag, daß er ein solcher Märtyrer, ein so unglücklicher Mensch sei! Wer hat mir das eingegeben? Wie konnte ich, ein Kind, von seinen persönlichen Mißerfolgen und Enttäuschungen überhaupt etwas verstehen? Und doch verstand ich sie, wenn ich mir auch alles nach meiner Art zurechtlegte. Aber vorzustellen vermag ich mir trotzdem nicht, wie ich zu einer solchen Auffassung gelangen konnte. Vielleicht kam das daher, daß meine Mutter gar zu streng mit mir umging, weshalb ich mich denn an den Vater hielt, als an einen Menschen, der, wie ich glaubte, ebenso ungerecht von ihr behandelt wurde und in dem ich deshalb meinen Leidensgenossen sah. Ich erzählte bereits von meinem ersten Erwachen aus dem Kindheitsschlaf, von meiner ersten Regung in einem bewußten Leben. Mein Herz war von dem Augenblick an verwundet, meine Entwicklung setzte ein und vollzog sich mit unglaublicher, sich überhastender, ermüdender Schnelligkeit. Jetzt konnte ich mich nicht mehr mit bloßen äußeren Eindrücken zufriedengeben. Ich begann nachzudenken, zu überlegen, zu beobachten; aber dieses Beobachten geschah meinerseits so unnatürlich früh, daß mein Verstand nicht umhin konnte, alles nach eigenen Begriffen und Vorstellungen sich zurechtzulegen, und so befand ich mich denn plötzlich in einer anderen nur mir eigenen Welt. Alles um mich herum wurde immer ähnlicher jenem Wundermärchen, das der Vater mir oft erzählt hatte und das ich damals natürlich für lauterste Wahrheit hielt. So entstanden in mir seltsame Vorstellungen. Ich begriff sehr gut – aber wie das geschah, vermag ich nicht zu sagen –, daß ich in einer sonderbaren Familie lebte und daß meine Eltern irgendwie ganz und gar nicht den anderen Menschen glichen, die ich in dieser Zeit kennen lernte. Ich fragte mich, weshalb sind die anderen Menschen, die ich sehe, meinen Eltern auch äußerlich so unähnlich? Weshalb sah ich andere lachen und warum fiel es mir plötzlich auf, daß in unserem Winkel niemals gelacht wurde und niemand sich freute? Welche Macht zwang mich, das neunjährige Kind, so aufmerksam meine Umgebung zu beobachten und auf jedes Wort zu achten, das ich zufällig von den Leuten vernahm, die mir auf der Treppe oder auf der Straße begegneten, wenn ich abends meine Lumpen mit der alten Jacke meiner Mutter bedeckte, um in den nächsten Krämerladen zu gehen und für einige wenige Kupferlinge Zucker, Tee oder Brot zu kaufen? Ich begriff, und ich weiß nicht wie, daß in unserem Winkel irgendein ewiger Kummer, ein unerträgliches Leid herrschte. Ich zerbrach mir den Kopf, um zu erraten, warum das so war, und ich weiß nicht, wer mir dabei half, das Rätsel auf meine Art zu deuten: ich beschuldigte meine Mutter, ich hielt sie für die Todfeindin meines Vaters, aber ich wiederhole – ich verstehe es selber nicht, wie eine so ungeheuerliche Auffassung in meiner Phantasie entstehen konnte. Und je mehr ich mich dem Vater anschloß, um so mehr mußte ich meine arme Mutter hassen. Die Erinnerung an all das quält mich noch jetzt schmerzlich. Doch da gab es noch einen anderen Zwischenfall, der noch mehr als jener erste meine seltsame Annäherung an den Vater bewirkte. Einmal, es war gegen zehn Uhr abends, schickte mich meine Mutter in den Laden nach Hefe. Der Vater war nicht zu Hause. Auf dem Rückwege stolperte ich versehentlich und fiel hin, mitten auf dem Trottoir, und verschüttete den ganzen Inhalt der Tasse. Mein erster Gedanke war, wie sehr sich die Mutter ärgern werde. Da fühlte ich einen schrecklichen Schmerz im linken Arm, und zugleich merkte ich, daß ich mich nicht aufrichten konnte. Die Menschen blieben stehen. Ein altes Frauchen versuchte, mich aufzuheben, ein Knabe aber, der vorüberlief, schlug mit einem Schlüssel auf meinen Kopf. Endlich wurde ich wieder auf die Füße gestellt, ich hob die Scherben der zerschlagenen Tasse auf und ging wankend weiter, kaum fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Plötzlich sah ich den Vater. Er stand in der Volksmenge vor einem schönen Hause, das dem unsrigen gegenüberlag. Dieses Haus gehörte irgendwelchen vornehmen Leuten und war an jenem Abend herrlich erleuchtet. Vor dem Portal standen viele Equipagen und aus dem Inneren hörte man Orchestermusik. Ich faßte den Vater am Rockschoß, zeigte ihm die zerschlagene Tasse und sagte unter Tränen, daß ich vor Angst nicht wagte, zur Mutter zu gehen. Ich war plötzlich ohne weiteres überzeugt, daß er mich beschützen werde. Aber weshalb ich davon überzeugt war und wer es mir gesagt oder mich sonst irgendwie darauf gebracht hatte, daß ich von ihm mehr geliebt wurde, als von meiner Mutter, das weiß ich nicht. Warum ging ich zu ihm ganz furchtlos, während ich mich vor der Mutter aus lauter Furcht nicht zu zeigen wagte? Er nahm mich an der Hand, tröstete mich, und dann sagte er, er wolle mir etwas Schönes zeigen, und er hob mich auf und nahm mich auf den Arm. Ich konnte freilich nichts sehen vor Schmerz, denn er hatte meinen Arm gerade an der Stelle angefaßt, wo ich ihn mir beim Fall verletzt hatte, und das tat entsetzlich weh, aber ich schrie nicht, nur um ihn nicht zu beunruhigen. Er fragte mich mehrmals, ob ich etwas sähe. Und ich bemühte mich mit allen Fibern, ihm so zu antworten, daß es ihm recht wäre, und ich sagte, ich sähe rote Vorhänge hinter den Fenstern. Als er mich aber über die Straße auf das andere Trottoir tragen wollte, näher zum Hause, da fing ich plötzlich an zu weinen – ich weiß nicht, weshalb – umarmte seinen Hals und bat ihn, schneller nach Haus zur Mutter zu gehen. Ich weiß noch, seine Zärtlichkeit bedrückte mich und ich konnte es nicht mehr ertragen, daß der eine von ihnen, der Vater, – während ich doch beide so lieben wollte – gut und lieb zu mir war, und ich zur anderen, zur Mutter nicht zu gehen mich getraute und mich vor ihr nur fürchtete. Sie war übrigens fast gar nicht böse und sagte nur, ich solle schlafen gehen. Ich weiß noch, der Schmerz im Arm wurde immer heftiger, ich begann zu fiebern, doch war ich trotzdem ganz besonders glücklich und froh darüber, daß alles so gut verlaufen, und die ganze Nacht träumte mir von dem Hause gegenüber und von den schönen roten Vorhängen. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mein erster Gedanke, meine erste Sorge das Haus mit den roten Vorhängen. Kaum hatte die Mutter das Zimmer verlassen, da kletterte ich gleich auf das Fensterbrett, um das schöne Haus zu betrachten. Eigentlich hatte dieses Haus auch früher schon meine kindliche Neugier erregt. Am besten gefiel es mir abends, wenn auf der Straße die Laternen angezündet wurden und wenn dann aus dem Hause und in einem nahezu blutigen Licht die purpurroten Gardinen hinter den großen Scheiben zu leuchten begannen. Vor dem Portal hielten meist vornehme Equipagen, oder die Leute kamen gerade mit schönen, stolzen Pferden angefahren, und alles das fesselte mich sehr: das Geräusch und das Rufen der Kutscher und Diener, das ganze Hin und Her vor dem Hause und die farbigen Laternen an den Wagen und die geputzten Damen, die dann ausstiegen. Das ganze wurde in meiner kindlichen Phantasie zu etwas kaiserlich Großartigem und märchenhaft Wundervollem. Und gar nach meiner Begegnung mit dem Vater vor diesem reichen Hause, da wurde es in meinen Augen noch einmal so schon und beachtenswert. Nun entstanden in meiner erwachten Phantasie seltsame Vorstellungen und Vermutungen. Es ist wohl auch kein Wunder, daß ich unter so eigentümlichen Menschen, wie meine Eltern waren, gleichfalls zu einem eigentümlichen, zu einem leidenschaftlich phantastischen Kinde wurde. Was mich ganz besonders betroffen machte, war der Kontrast der Charaktere meiner Eltern. So z. B. wunderte es mich, daß die Mutter sich beständig um unsere armselige Wirtschaft sorgte und mühte und fortwährend dem Vater darüber Vorwürfe machte, daß sie allein für alle arbeiten und alle ernähren müsse, – ich fragte mich deshalb unwillkürlich, warum denn der Vater ihr gar nicht half, warum er fast wie ein Fremder bei uns wohnte? Einzelne Worte meiner Mutter gaben mir hierüber eine gewisse Aufklärung. So vernahm ich mit Verwunderung, daß Papa ein Künstler sei (dieses Wort merkte ich mir sogleich), ein Mensch mit einem großen Talent. Meine Vorstellungskraft schuf nun sofort den Begriff für das neue Wort, eben daß ein „Künstler“ etwas ganz Besonderes, jedenfalls ein außergewöhnlicher Mensch, also etwas ganz anderes als die übrigen Menschen sein müsse. Vielleicht war es zum Teil auch das Verhalten meines Vaters, das gerade diese Auffassung begünstigte; oder vielleicht hatte ich auch vorher schon das eine oder das andere gehört, was ich jetzt vergessen habe. Seltsam verständlich war mir der Sinn der Worte, die der Vater einmal in meiner Gegenwart mit einem ganz besonderen Gefühl sagte: „Es werde eine Zeit kommen, wo auch er nicht mehr arm, sondern gleichfalls ein reicher Herr sein werde, und erst wenn die Mutter gestorben sei, würde er endlich aufleben.“ Ich weiß noch, ich erschrak entsetzlich, als ich diese Worte hörte. Mein Schreck und Entsetzen waren so groß, daß ich nicht im Zimmer bleiben konnte und auf unseren kalten Flur hinauslief, wo ich in Tränen ausbrach: und ich weinte dort herzbrechend, die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben. Dann aber, als ich fortwährend darüber nachdachte und mich allmählich an diese schreckliche Hoffnung des Vaters gewöhnte – kam mir bald meine eigene Phantasie zu Hilfe. Wenigstens ertrug ich diese Qual der Ungewißheit nicht lange und mußte wohl naturgemäß zu irgendeiner Vermutung gekommen sein. Und da – ich weiß nicht, wie es anfing, aber zu guter Letzt glaubte ich wirklich, daß der Vater, wenn erst die Mutter gestorben sei, alsbald diese langweilige Wohnung verlassen und mit mir irgendwohin fortziehen werde. Aber wohin? – das konnte ich mir auch bis zuletzt nicht klar vorstellen. Ich erinnere mich nur, daß alles, womit ich jenen Ort, wohin wir beide gehen würden (daß wir zwei unbedingt zusammen gehen würden, stand für mich außer Frage), schmücken konnte, daß alles, was ich mir an Schönheit und Glanz und Großartigkeit vorzustellen vermochte – daß all das Verwendung in meinen Träumen von jener Zukunft fand. Ich glaubte, wir würden dann sofort reich sein und ich brauchte nicht mehr in den kleinen Laden zu gehen, um für die Mutter etwas zu besorgen, was mir immer sehr schwer fiel, da die Kinder aus dem Nachbarhause mich nie in Ruhe ließen, sobald ich aus dem Hause trat – und davor fürchtete ich mich sehr, namentlich wenn ich Milch trug oder Eier, denn ich wußte, daß ich fürs Verschütten oder Zerschlagen strenge Strafe zu erwarten hatte. Und dann malte ich mir aus, wie der Vater sich sogleich schöne Kleider bestellen und wir in ein glänzendes Haus ziehen würden, und da – da kam nun jenes reiche Haus mit den roten Vorhängen, meine Begegnung mit dem Vater vor demselben und der Umstand, daß er mir dort etwas zeigen wollte, meiner Phantasie sehr zu Hilfe. In meinen Zukunftsträumen war es ganz selbstverständlich, daß wir gerade in dieses Haus zogen, um dort wie in ewiger Seligkeit zu leben. Seit der Zeit sah ich täglich, namentlich abends, mit angespannter Neugier und Teilnahme aus unserem Fenster nach diesem für mich gleichsam verzauberten Hause, dachte an die Vorfahrt der Equipagen an jenem Abend und an die Gäste in den festlichen Gewändern, wie ich sie vorher noch nie gesehen. Und dann bildete ich mir ein, wieder die weichen Töne der Musik zu hören, die gedämpft aus dem Hause drang, und ich beobachtete die Schattenbilder der Gestalten, die sich auf den Vorhängen bewegten, und ich bemühte mich, zu erraten, was dort hinter den Fenstern vorging, – und immer schien es mir, daß dort das Paradies sei und ein ewiger Feiertag. Ich fing an, unsere armselige Dachstube und die zerlumpten Kleider, die ich trug, zu hassen. Und als einmal die Mutter mich schalt und mir befahl, vom Fensterbrett herabzuklettern, wo ich gerade wie gewöhnlich saß, da kam mir sogleich der Gedanke, sie sei eifersüchtig und wünsche nicht, daß ich dieses Haus betrachtete oder an dasselbe auch nur dachte, unser Glück sei ihr unangenehm und deshalb wolle sie es hintertreiben, wenigstens so lange, wie sie noch lebte ... Und den ganzen Abend beobachtete ich sie mißtrauisch. Wie konnte mein Herz sich nur so verstocken gegen ein so armes, unglückliches Wesen, wie es meine Mutter war! Jetzt erst begreife ich die ganze Qual ihres Lebens und kann nicht ohne stechenden Schmerz im Herzen an ihr Martyrium denken. Ja selbst damals schon, in jener dunkeln Zeit meiner wunderlichen Kindheit, während meiner unnatürlich schnellen Entwicklung, krampfte sich mein Herz oft zusammen vor Schmerz und Mitleid – und Unruhe, Verwirrung und Zweifel drängten sich in meine Seele. Auch damals schon lehnte sich mein Gewissen gegen mich selbst auf und ich empfand es sehr wohl, daß ich ungerecht gegen sie war. Aber es war, als scheuten und mieden wir einander. Ich entsinne mich nicht, jemals zärtlich zu ihr gewesen zu sein. Jetzt sind es oft die geringfügigsten Erinnerungen, die meine Seele nachträglich erschüttern und martern. Einmal, ich weiß noch (natürlich ist das, was ich jetzt erzählen werde, nichtig, fast belanglos, aber gerade solche Erinnerungen quälen mich nun am meisten und haben sich am tiefsten meinem Gedächtnis eingeprägt), – einmal, an einem Abend, als der Vater nicht zu Hause war, wollte die Mutter mich in den kleinen Laden schicken, um für sie etwas Tee und Zucker zu kaufen. Aber sie dachte lange nach und konnte sich immer nicht entschließen und zählte halblaut die Kupferstücke – ein Bettelsümmchen, über das sie noch verfügen konnte. Sie zählte und rechnete, wenn ich nicht irre, wohl eine halbe Stunde lang und konnte doch nicht die Rechnung beenden. Zudem verfiel sie in manchen Augenblicken, wahrscheinlich vom Leid, gleichsam in einen Zustand vollkommener Gedankenversunkenheit. Als sähe ich sie vor mir, so deutlich erinnere ich mich, wie sie vor sich hin sprach, langsam, dazu die Geldstücke einzeln zählend, als wäre jedes Wort ein wichtiges Ding. Ihre Wangen und Lippen waren blaß, ihre Hände zitterten beständig und wenn sie allein dasaß und nachdachte, dann bewegte sie immer den Kopf dazu. „Nein, nicht nötig,“ sagte sie endlich mit einem Blick auf mich, „ich werde lieber zu Bett gehen und schlafen. Wie? Willst du schlafen, Njetotschka?“ Ich schwieg; da hob sie ein wenig mein Kinn und sah mich so still und freundlich an, und ihr trauriges Antlitz klärte sich auf und verklärte sich in einem so mütterlichen und stillen Lächeln, daß mein Herz weich wurde und zu pochen begann. Überdies hatte sie mich „Njetotschka“ genannt, was bedeutete, daß sie mich in diesem Augenblick besonders lieb hatte. Diese Koseform meines Namens hatte sie selbst erfunden, indem sie meinen eigentlichen Namen Anna in ihn umwandelte. Wenn sie mich so nannte, „Njetotschka“, dann wußte ich, daß sie damit zärtlich zu mir sein wollte. Das rührte mich: ich hätte sie umarmen, mich an sie schmiegen, zusammen mit ihr weinen mögen. Sie, die Arme, streichelte dann lange meinen Kopf – vielleicht schon ganz mechanisch, ohne daran zu denken, daß sie mich streichelte, und dazu sagte sie immer: „Mein Kind, Annjeta, Njetotschka!“ Tränen wollten mir über die Wangen rollen, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen und beherrschte mich. Ich widersetzte mich gewissermaßen sogar ihrer Zärtlichkeit, indem ich ihr gegenüber nicht das geringste Empfinden äußerte, obschon ich mich damit selber quälte. Nein, diese Verstocktheit konnte nichts Natürliches sein! Der Mutter Strenge allein hätte mich nicht so gegen sie einnehmen können. Aber ich weiß, was es war: es war diese meine phantastische Liebe zu meinem Vater, die mich in ihrer Ausschließlichkeit verdarb. Zuweilen, wenn ich nachts auf meiner harten Unterlage in meinem Schlafwinkel unter der dünnen Decke erwachte, dann wandelte mich immer eine gewisse Furcht an. Halb im Schlaf erinnerte ich mich, wie ich bis vor kurzem, als ich noch etwas jünger und kleiner war, mit der Mutter in einem Bett geschlafen und mich dann nachts beim Erwachen weniger gefürchtet hatte: da brauchte ich mich nur fest an sie zu schmiegen, die Augen zu schließen und ich schlief sofort wieder ein. Ich fühlte, daß ich sie, ob ich nun wollte oder nicht, im geheimen doch lieben mußte. In meinem späteren Leben habe ich die Beobachtung gemacht, daß viele Kinder oft entsetzlich gefühllos sind, und daß sie, wenn sie jemand liebgewinnen, diesen einen Menschen ganz ausschließlich lieben, und selbstverständlich auf Kosten anderer. So war’s auch mit mir. Bisweilen herrschte in unserer Dachstube ganze Wochen lang Totenstille. Der Vater und die Mutter waren dann müde vom Streiten und ich lebte zwischen ihnen wie gewöhnlich, immer schweigend, immer denkend, träumend, mich sehnend, und stets in meinem Denken irgendwie bestrebt, irgend etwas mir Unbekanntes zu enträtseln. Indem ich sie beide beobachtete, begriff ich vollkommen, wie sie zueinander standen: ich begriff diese ihre dumpfe ewige Feindschaft, begriff das ganze Leid und diesen beklemmenden Druck des unordentlichen Lebens, das sich in unserer Dachstube eingenistet hatte, – begriff sie natürlich ohne ihre Ursachen und ihre ganze Tragweite, begriff sie eben nur so weit, wie ich sie damals begreifen konnte. An langen, stillen Winterabenden beobachtete ich sie aus meinem Winkel oft ganze Stunden ungestört, verfolgte jede Bewegung, studierte förmlich das Gesicht des Vaters, und gab mir die größte Mühe, zu erraten, woran er wohl denken mochte, und was ihn geistig so beschäftigte. Und dann war es wieder die Mutter, die mich betroffen machte und ängstigte. Sie konnte unermüdlich im Zimmer hin und her gehen, stundenlang, oft ging sie sogar mitten in der Nacht, wenn sie nicht schlafen konnte – sie litt überhaupt an Schlaflosigkeit – dabei flüsterte sie vor sich hin, als wäre außer ihr niemand im Zimmer, bald streckte sie die Arme aus, bald kreuzte sie sie über der Brust, bald rang sie die Hände wie in Verzweiflung oder unendlichem Weh und Kummer. Bisweilen rollten ihr Tränen aus den Augen, Tränen, die sie vielleicht selbst nicht verstand, denn es kam vor, daß sie zeitweilig wie in ein vollständiges Sich-selbst-vergessen versank. Sie hatte, zudem, außer ihren Sorgen, irgendein sehr schweres körperliches Leiden, das sie aber gar nicht beachtete. Die Einsamkeit und das Schweigen, das ich nicht zu brechen wagte, fingen an, immer schwerer auf mir zu lasten. Schon ein ganzes Jahr hatte ich mit erwachtem Geiste gelebt, immer gedacht, gegrübelt, geträumt und im geheimen mich mit unbekannten, unklaren Wünschen gequält, die plötzlich auftauchten. Ich war wie in einem Walde verirrt. Da war es der Vater, der mich zuerst bemerkte, mich zu sich rief und mich fragte, warum ich ihn so unverwandt ansähe. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm antwortete: ich weiß nur noch, daß er nachdenklich wurde und zum Schluß sagte, er werde ein Abc-Buch bringen und mich im Lesen unterrichten. Mit Ungeduld erwartete ich nun dieses sonderbare Buch und baute die ganze Nacht phantastische Träume auf – denn meine Vorstellung von einem Abc war nichts weniger als klar. Endlich, d. h. am nächsten Tage, begann der Vater auch wirklich mit dem Unterricht. Ich begriff sogleich, was von mir verlangt wurde, und lernte schnell und gut, denn ich wußte, daß ich ihm damit etwas zu Gefallen tat. Das war die glücklichste Zeit meines damaligen Lebens. Wenn er mich lobte, meinen Kopf streichelte und mich küßte, traten mir vor Freude sogleich Tränen in die Augen. So gewann mich der Vater allmählich lieb. Bald wagte ich denn auch schon, ihn anzureden, und dann sprachen wir oft ganze Stunden unermüdlich miteinander, obschon ich mitunter kaum ein Wort von dem, was er mir da erzählte, verstand. Aber ich fürchtete ihn doch noch irgendwie, fürchtete vor allem, er könnte denken, daß ich mich mit ihm langweilte, und deshalb bemühte ich mich nach Kräften, so zu tun, als verstünde ich alles. Zu guter Letzt wurde es ihm zur Gewohnheit, abends mit mir zu sitzen und zu sprechen. Sobald er mit sinkender Dämmerung nach Haus zurückkehrte, kam ich unverzüglich mit meinem Abc-Buch. Er setzte mich sich gegenüber auf die Bank und nach der Stunde las er mir gewöhnlich noch aus einem Buch irgend etwas vor. Davon verstand ich in der Regel fast nichts, aber ich lachte soviel ich konnte, denn ich glaubte, ihm damit Vergnügen zu bereiten. Und in der Tat, ich unterhielt ihn und mein Lachen schien ihn zu belustigen. Einmal aber erzählte er mir nach der Stunde ein Märchen. Es war das erste Märchen, das ich hörte. Ich saß wie verzaubert, fieberte vor Spannung, fühlte mich wie in ein Paradies versetzt, während ich ihm zuhörte, und zum Schluß wußte ich kaum noch, wo ich mich lassen sollte vor Begeisterung. Nicht, daß das Märchen an sich mir dermaßen gefallen hätte – nein, das war es nicht; aber das Unmöglichste war nun plötzlich möglich geworden, denn ich nahm doch alles für bare Münze. Natürlich ließ ich sogleich meiner eigenen Phantasie die Zügel schießen und im Nu waren alle meine phantastischen Träume für mich ebensogut wie bereits verwirklicht. Da stand natürlich gleich an erster Stelle das Haus mit den roten Vorhängen, die handelnde Person aber war – aus unbekannten Gründen – der Vater, obwohl er selbst das Märchen erzählte; dann kam die Mutter, die uns hinderte, ich weiß nicht wohin fortzuziehen; ferner – oder richtiger – ganz zuerst ich selbst mit meinen wunderschönen Träumen, mit allen meinen phantastischen, meinen tollen, meinen ganz unmöglichen Zukunftsbildern: alles das verwirrte sich dermaßen in meinem Kopf, daß es bald ein unentwirrbares Chaos bildete und mir für eine Zeitlang den Eltern gegenüber jedes Zartgefühl, sowie den Dingen gegenüber jedes Unterscheidungsvermögen für das, was Wirklichkeit und das, was Einbildung war, abhanden kam und ich Gott weiß wo lebte. In dieser Zeit verging ich fast vor Verlangen, mit dem Vater darüber zu sprechen, was uns bevorstand, was er selber erwartete und wohin er mich führen werde, wenn wir endlich unsere Dachstube verließen. Ich war meinerseits überzeugt, daß alles dies irgendwie sehr schnell in Erfüllung gehen werde, wie aber und in welcher Art – das wußte ich nicht, und gerade damit quälte ich mich so, daß ich mir beständig den Kopf darüber zerbrach. Bisweilen – und zwar vornehmlich abends – schien es mir, daß der Vater mir nun gleich heimlich zuzwinkern und mich auf den Flur hinausrufen werde, und ich nahm schon heimlich, so daß die Mutter es nicht sah, mein Abc-Buch und dann noch unser Bild, das seit undenklichen Zeiten uneingerahmt an der Wand hing und das unbedingt mitzunehmen ich in meinem Sinn fest beschlossen hatte – und dann liefen wir heimlich irgendwohin fort und kehrten nie wieder zur Mutter zurück. Und eines Tages, als die Mutter nicht zu Haus und der Vater gerade bei besonders guter Laune war – das aber war er regelmäßig, wenn er etwas getrunken hatte – da faßte ich mir ein Herz und ging zu ihm und fing an, von irgend etwas zu sprechen, in der Absicht, bei der ersten Gelegenheit auf mein geliebtes Thema überzugehen. Endlich erreichte ich es auch, daß er belustigt auflachte und da – da umschlang ich ihn fest und begann mit bebendem Herzen ganz angstvoll, als wäre ich im Begriff, von etwas Geheimnisvollem und Furchtbarem zu sprechen, verwirrt und zusammenhanglos und stockend ihn auszufragen: wohin wir denn eigentlich gehen sollten und wann denn und was wir mitnehmen und wo wir wohnen wollten und schließlich, ob wir denn nicht in das Haus mit den roten Vorhängen einziehen würden? „Was für ein Haus? Rote Vorhänge? Was soll das? Was phantasierst du, dummes Kind?“ Ich erschrak und versuchte angstvoll, ihm zu erklären, daß wir beide, wenn die Mutter einmal gestorben sei, doch nicht mehr hier auf dem Dachboden bleiben würden, daß er mich dann doch irgendwohin fortführen müsse, wo wir zwei reich und glücklich leben könnten. Und zu guter Letzt versicherte ich ihm noch, daß er selbst mir das alles versprochen habe. Dabei war ich vollkommen überzeugt, daß er mir wirklich früher einmal so etwas gesagt hatte, wenigstens schien es mir in dem Augenblick so. „Die Mutter? Gestorben? Wenn sie gestorben sein wird? ...“ wiederholte er und er sah mich verwundert an, während sich zwischen seinen buschigen, graumelierten Brauen eine Falte bildete und sein Gesicht sich ein wenig veränderte. „Was phantasierst du, Kind, dummes, armes Ding ...“ Und dann schalt er mich, und schalt mich sogar sehr und sagte, ich sei ein dummes Kind, ich könne nichts begreifen ... und ich weiß nicht, was er noch alles sagte, – sicher war er sehr betrübt. Ich begriff allerdings kein Wort von seinen Vorwürfen, begriff vor allem nicht, wie schmerzlich es für ihn sein mußte, daß ich seine Worte, die er der Mutter im Zorn und unter dem Druck des Elends gesagt, aufgefangen und behalten, sie womöglich auswendig gelernt und schon viel über sie nachgedacht hatte. Aber was es auch sein mochte und so groß auch seine eigene Überspanntheit war, dieser Zwischenfall mußte ihm doch zu denken geben. Ich aber konnte gar nicht verstehen, weshalb er sich über mich ärgerte, und ich fühlte eine gewisse Bitterkeit und Trauer in mir aufsteigen, immer höher und höher, bis ich zu weinen anfing. Dann dachte ich, daß alles, was uns dort in dem schönen Leben erwartete, wohl so wichtig sei, daß ich dummes Kind weder davon sprechen noch daran denken durfte. Nebenbei aber fühlte ich doch, obwohl ich ihn nicht sogleich verstand, daß ich die Mutter gekränkt hatte. Darob erfaßten mich Angst und Entsetzen und dann schlichen sich auch leise Zweifel in meine Seele und machten dort alles in mir unsicher. Als er jedoch sah, daß ich weinte und mich quälte, versuchte er mich wieder zu trösten, wischte mir mit dem Ärmel die Tränen ab und bat mich, ich solle nicht mehr weinen. So saßen wir denn eine Zeitlang schweigend. Er machte ein finsteres Gesicht und schien nachzudenken; dann fing er von neuem zu sprechen an; aber wie sehr ich mich auch anstrengte, es war mir doch alles, was er da sagte, zum mindesten unklar. Ich schließe aus einzelnen Worten, die ich noch behalten habe, daß er mir damals erklärte, wer er sei, was für ein großer Künstler er wäre; ferner, wie ihn niemand verstehe, und zuletzt, daß er ein ungeheures Talent habe. Ich weiß noch, daß er mich dann fragte, ob ich auch alles verstanden und daß er nach meiner selbstverständlich bejahenden Antwort die Frage wiederholte: „Also hat er Talent?“ Und ich antwortete: „Ja, er hat Talent,“ worüber er leise auflachen mußte, wahrscheinlich weil es ihm selbst zuletzt lächerlich erschien, daß er über einen für ihn so ernsten Gegenstand mit einem Kinde sprach. Unsere Unterhaltung unterbrach Karl Fedorytsch, der ganz unerwartet bei uns eintrat, und der Vater wies auf ihn und sagte: „Dieser dagegen, der Karl Fedorytsch, der hat zum Beispiel für keine fünf Kopeken Talent.“ Darüber mußte ich lachen, denn das kam mir, Gott weiß weshalb, sehr komisch vor und ich war wieder ganz froh und glücklich. Dieser Karl Fedorytsch war eine äußerst merkwürdige Erscheinung. Ich sah damals so wenige Menschen, daß ich mich seiner noch lebhaft erinnere. Ja: als stände er hier, so deutlich sehe ich ihn vor mir. Er war ein Deutscher, Meyer mit Namen, der nach Rußland gekommen war, weil er nur den einen Wunsch hatte: zum Petersburger kaiserlichen Ballett zu gehören. Leider war er aber ein so schlechter Tänzer, daß man ihn nicht einmal unter die Chortänzer, die den Hintergrund der Bühne ausfüllen mußten, aufnehmen konnte und ihn nur als Statisten verwandte. So spielte er stumme Rollen, etwa in der Suite des Fortinbras oder als einer der Ritter von Verona, die alle zwanzig mit einem Male ihre gepappten Klingen ziehen und ^unisono^ ausrufen: „Wir sterben für den König!“ Nichtsdestoweniger gab es wohl keinen einzigen Künstler auf Erden, der an seinen Rollen so leidenschaftlich hing wie Karl Fedorytsch. Sein größtes Unglück und Lebensleid war, daß er nicht ins Ballettkorps aufgenommen wurde. Die Tanzkunst stellte er über jede andere Kunst und in seiner Art hing er an ihr ebensosehr, wie der Vater an seiner Geige. Sie waren beide an demselben Theater angestellt gewesen, dort hatten sie sich kennen gelernt, und seit der Zeit besuchte der Statist, der nun auch schon außer Diensten war, seinen ehemaligen Kollegen vom Orchester und blieb ihm als einziger von allen bis zuletzt treu. Sie sahen sich sogar recht oft und beklagten dann beide ihr trauriges Los, das ihnen den Fluch auferlegt hatte, von den Menschen nicht verstanden zu werden. Der Deutsche war der gefühlvollste, der liebevollste Mensch der Welt und meinem Stiefvater in glühendster, uneigennützigster Freundschaft zugetan. Der Vater dagegen hatte, glaube ich, keine gerade besondere Zuneigung zu ihm, er duldete ihn eben nur als seinen Bekannten in Ermangelung anderer. Leider konnte der Vater in seiner Einseitigkeit durchaus nicht begreifen, daß die Tanzkunst auch eine Kunst sei, womit er den armen Deutschen bis zu Tränen kränkte. Da er nun diese schwache Seite des anderen kannte, machte es ihm Spaß, sie immer wieder wie von ungefähr zu berühren, um sich dann an dem Eifer des armen Karl Fedorytsch zu ergötzen, der fast aus der Haut fuhr vor Empörung und Leidenschaft in seinem Bemühen, für seine geliebte Tanzkunst das Gegenteil zu beweisen. Von diesem Karl Fedorytsch und seiner Freundschaft mit meinem Stiefvater hat mir nachher noch manches derselbe B. erzählt, der diesen begeisterten Ballettänzer immer den Nürnberger Springkäfer nannte. Unter anderem entsinne ich mich noch lebhaft ihrer Zusammenkünfte, wenn sie beide etwas getrunken hatten und dann als verkannte Größen ihr Schicksal betrauerten. Auch ich, die ich diese beiden Sonderlinge still für mich betrachtete, trauerte mit ihnen, und wenn sie Tränen vergossen, so heulte ich mit, wenn ich auch selber nicht wußte, worüber und warum. Das trug sich aber immer in der Abwesenheit der Mutter zu, denn der Deutsche fürchtete sie sehr und wartete deshalb, wenn er kam, gewöhnlich so lange auf dem Treppenflur, bis jemand aus dem Zimmer trat: erfuhr er dann, daß die Mutter zu Hause war, so machte er schleunigst kehrt und lief die Treppe hinunter. Jedesmal brachte er deutsche Gedichte mit, begeisterte sich an ihnen, indem er sie uns laut vorlas, und dann deklamierte er mit Gesten, wobei er zwischendurch die Sätze mit Müh und Not in ein zum mindesten eigenartiges Russisch übersetzte, damit auch wir den Sinn verstanden. Das belustigte den Vater, ich aber lachte oft Tränen. Einmal hatten sie sich irgendein russisches Werk verschafft, das sie beide ungeheuer begeisterte, in einem solchen Maße begeisterte, daß sie es nachher fast bei jeder Zusammenkunft immer wieder von neuem lasen. Ich erinnere mich, es war ein Drama in Versen von irgendeinem vorübergehend berühmten russischen Schriftsteller. Die ersten Strophen hatte ich so gut behalten, daß ich später nach mehreren Jahren dieses Drama gleich wiedererkannte, als ich das Buch einmal zufällig in die Hände bekam. Es handelte von dem Unglück eines großen Künstlers, irgendeines Jacopo, der auf der einen Seite ausruft: „Ich bin verkannt!“ und auf der folgenden: „Ich bin erkannt!“ – oder war es: „Ich bin talentlos!“ und dann: „Ich habe Talent!“? Kurz, etwas Ähnliches war es jedenfalls. Es endete natürlich höchst tragisch. Das Drama war freilich an sich ganz wertlos. Nur auf diese beiden Leser, die in dem Helden viel Ähnlichkeit mit sich selbst entdeckten, wirkte es in der naivsten und zugleich tragischsten Weise. Ich weiß noch, Karl Fedorytsch geriet dann zuweilen in solche Ekstase, daß er aufsprang, zur anderen Wand des Zimmers eilte und den Vater und mich, die er „Madmuasell“ nannte, unabweisbar beschwörend, mit Tränen in den Augen und im heiligen Verlangen nach ausgleichender Gerechtigkeit bat, „sogleich hierselbst“ zwischen ihm, seinem Schicksal und dem Publikum die Schiedsrichter zu sein. Darauf begann er zu tanzen, und während der verschiedenen Pas, die er uns nun vortanzte, schrie er uns zu, wir sollten ihm sogleich sagen, was er sei, ein Künstler oder nicht, und ob man wohl das Gegenteil sagen könne, d. h. daß er etwa kein Talent habe? Der Vater war dann sofort höchst aufgeräumt, gab mir heimlich Winke, als wollte er sagen, ich solle nur aufpassen, wie vorzüglich er sich gleich über den Armen lustig machen werde. Mich wandelte die Lachlust an, aber der Vater drohte heimlich mit dem Finger und ich nahm mich aus allen Kräften zusammen, um mir das Lachen zu verbeißen. Auch jetzt noch, bei der bloßen Vorstellung jenes Bildes, ist es mir unmöglich, nicht zu lachen. Ich sehe ihn so deutlich vor mir, diesen armen Karl Fedorytsch! Er war äußerst klein von Wuchs, dazu spindeldünn, das Haar schon grau, die Nase gebogen und rot und immer mit Tabakspuren geschmückt. Seine Beine hatten eine ganz absonderlich krumme Form; trotzdem schien er auf ihren Bau noch stolz zu sein und trug Beinkleider, die so eng wie Trikot anlagen. Wenn er dann endlich nach dem letzten Sprunge stehen blieb, mit zu uns ausgestreckten Armen und uns zulächelnd – in der Pose und mit dem Lächeln der Ballettänzer auf der Bühne – da wahrte der Vater noch eine gute Weile das Schweigen, als könne er sich nicht entschließen, das Urteil zu fällen, und ließ absichtlich den verkannten Tänzer in dieser schwierigen Pose verharren, bis jener auf seinem einen dünnen Bein schon zu schwanken begann, trotz seiner krampfhaften Anstrengung, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Schließlich erbarmte sich der Vater: zunächst sah er nur mit ernster Miene mich an, als wolle er mich fragen: „Was sagen wir ihm nun?“ – und gleichzeitig richtete sich auch der furchtsam flehende Blick des Tänzers auf mich. „Nein, Karl Fedorytsch, man sieht, es ist verlorene Liebesmüh, du triffst doch nicht das Richtige!“ sagte der Vater dann endlich in einem Ton, als fiele es ihm schwer, die bittere Wahrheit sagen zu müssen. Dann entrang sich der Brust Karl Fedorytschs ein richtiges Stöhnen, aber im Nu faßte er wieder Mut, erbat mit beschleunigten Gesten von neuem unsere Aufmerksamkeit, versicherte, er habe nicht nach dem betreffenden System getanzt, und flehte uns an, nochmals die Schiedsrichter zu sein. Und wieder eilte er zur anderen Wand und sprang dann zuweilen mit solchem Eifer umher, daß er mit dem Kopf an die Stubendecke stieß, und zwar schmerzhaft stark – aber er verwand den Schmerz wie ein Spartaner, stand dann wieder in der schwierigen Pose, streckte wieder mit einem Lächeln die zitternden Arme aus und erwartete wieder unser Urteil. Doch der Vater war unerbittlich und wiederholte nur ebenso düster: „Nein, Karl Fedorytsch, das scheint nun einmal dein Schicksal zu sein: du triffst es nicht!“ Dann versagte gewöhnlich meine letzte Selbstbeherrschung und ich brach in erlösendes Lachen aus, und der Vater desgleichen. Karl Fedorytsch, der nun endlich den Scherz begriff, wurde rot vor Zorn und sagte mit Tränen in den Augen und mit einem tiefen, wenn auch komischen Gefühl, das mich später quälte, weil es mein aufrichtiges Mitleid mit diesem armen Unglücklichen erweckte, zum Vater gewandt: „Du bist ein treuloser Freund!“ Und er griff nach seinem Hut und lief von uns fort, mit allen Schwüren schwörend, daß er nie wieder zu uns kommen werde. Aber der Schatten dieses Streites pflegte nie lang zu sein. Nach ein paar Tagen erschien er wieder bei uns, wieder wurde das berühmte Drama gelesen, wieder wurden Tränen vergossen und zum Schluß bat uns der naive Karl Fedorytsch abermals, die Schiedsrichter zwischen ihm, den Menschen und dem Schicksal zu sein, bat flehentlich, diesmal aber wirklich im Ernst über ihn zu urteilen, wie es sich wahren Freunden gezieme, und nicht wieder unseren Spott mit ihm zu treiben. Einmal schickte mich die Mutter in den kleinen Laden, wo ich etwas Notwendiges kaufen sollte, und als ich zurückkehrte, hielt ich hübsch achtsam das silberne Kleingeld in der Hand, das man mir herausgegeben hatte. Auf der Treppe traf ich den Vater, der im Begriff war, auszugehen. Ich lachte ihn an, denn ich konnte mein Gefühl der Freude nicht verbergen, wenn ich ihn sah. Als er sich zu mir herabbeugte, um mich zu küssen, bemerkte er das silberne Geldstück in meiner Hand ... Ich habe noch nicht erwähnt, daß ich jeden Ausdruck seines Gesichts so gut kannte, daß ich seine Wünsche gewöhnlich auf den ersten Blick erriet. Sah ich ihn bedrückt und traurig, so hätte ich vergehen mögen vor Leid. Am niedergeschlagensten war er, wenn er gar kein Geld hatte und sich nichts zu trinken kaufen konnte – denn das Trinken hatte er sich schon zur Gewohnheit gemacht. In jenem Augenblick nun, als wir einander auf der Treppe begegneten, schien es mir, daß in ihm etwas Besonderes vorgehe. Seine trüben Augen irrten eigentümlich unruhig umher, ja, ich glaube, im ersten Augenblick sah er mich gar nicht. Als er aber dann das Geld in meiner Hand bemerkte, da wurde er plötzlich rot und gleich darauf sehr bleich, dann streckte er die Hand aus, wie um das Geld von mir zu nehmen, zog sie aber sofort wieder zurück. Offenbar kämpfte er mit sich. Endlich war es, als habe er sich überwunden und er sagte, ich solle nur zur Mutter hinaufgehen; er selbst aber ging schnell ein paar Stufen hinab – bis er plötzlich von neuem stehen blieb und mich zurückrief. Er sah sehr verlegen aus. „Hör mal, Njetotschka,“ sagte er hastig, „gib mir dieses Geld, ich werde es dir zurückgeben. Nicht? Du gibst es doch deinem Papa? Du bist doch ein gutes Kindchen, Njetotschka?“ Ich hatte das fast vorausgefühlt. Aber im ersten Augenblick ließen mich doch der Gedanke, wie böse die Mutter sein werde, meine Ängstlichkeit und vor allem die instinktive Scham für mich und für den Vater unwillkürlich zögern und hielten mich davon ab, ihm das Geld zu geben. Er bemerkte es sofort und sagte rasch: „Nein, nein, nicht nötig, ist nicht nötig! ...“ „Nein, nein, Papa, da, nimm! Ich werde sagen, ich habe es verloren oder die Nachbarkinder haben es mir fortgenommen.“ „Nun gut, gut; ich wußte doch, daß du ein kluges Mädchen bist,“ sagte er. Und er lächelte mit zitternden Lippen, ohne sein Entzücken zu verbergen, als er das Geld in seiner Hand fühlte. „Du bist ein gutes Mädchen, bist ja mein Engelchen! Gib her, ich werde dir dein Händchen küssen!“ Und er griff nach meiner Hand, aber ich zog sie schnell zurück. Ein gewisses Mitleid mit ihm bemächtigte sich meiner und die Scham stieg in mir immer höher und wurde qualvoll. Ich hielt es nicht aus und lief in meinem Schreck nach oben, ohne mich nach dem Vater weiter umzusehen, den ich stehen ließ, wo er stand. Als ich ins Zimmer trat, glühten meine Wangen und mein Herz schlug laut in einer quälenden, mir bis dahin noch unbekannten Empfindung. Dennoch sagte ich der Mutter ganz furchtlos, ich hätte das Geld im Schnee verloren und lange gesucht, trotzdem aber nicht wiederfinden können. Ich hatte mindestens Schläge erwartet, doch die bekam ich nicht. Die Mutter war anfangs allerdings außer sich, denn wir waren damals furchtbar arm. Sie schrie mich an, aber schon im nächsten Augenblick schien sie sich zu besinnen und hörte auf, mich zu schelten; sie sagte nur, ich sei ein ungeschicktes, nachlässiges Mädchen und offenbar liebte ich sie nicht, da ich mit ihrem schwer erworbenen Gelde so unachtsam umginge. Diese Bemerkung betrübte mich mehr, als Schläge es vermocht hätten. Denn meine Mutter kannte mich bereits: meine Empfindsamkeit, die oft schon an eine krankhafte Reizbarkeit grenzte, war von ihr nicht unbemerkt geblieben, und so glaubte sie gerade mit diesen bitteren Vorwürfen – wie dem, daß ich sie wohl nicht liebte – mich mehr zu strafen und eher zu größerer Achtsamkeit erziehen zu können, als mit den sonst üblichen Strafmitteln. In der Dämmerung, um die Zeit, wo der Vater gewöhnlich zurückkehrte, erwartete ich ihn wie immer auf dem Flur. Ich war in großer Verwirrung. Meine Gefühle waren aufgepeitscht durch etwas, das auch mein Gewissen geradezu krankhaft peinigte. Endlich kam der Vater und ich war sehr froh über sein Kommen, ganz als hätte ich gehofft, daß es mir dadurch leichter werden würde. Er war heiterer Laune, aber als er mich erblickte, nahm sein Gesicht sofort einen geheimnisvollen, ein wenig verzerrten Ausdruck an. Er blickte ängstlich nach unserer Tür und zog mich in den verstecktesten Winkel, blickte wieder scheu nach der Tür, nahm dann aus der Tasche einen von ihm gekauften Pfefferkuchen und begann nun flüsternd, jedoch in ermahnendem Tone mir zu erklären, daß ich der Mutter niemals mehr Geld entwenden und es ihr verheimlichen dürfe: das sei häßlich und eine Schande und überhaupt sehr schlecht. Diesmal sei es nur deshalb so gekommen, weil er das Geld gerade sehr notwendig gebraucht habe, aber er werde es zurückgeben und dann könne ich sagen, ich hätte das Geld wiedergefunden; es der Mutter abzunehmen sei jedoch eine Schande, und ich solle in Zukunft nicht einmal mehr daran denken, so etwas wieder zu tun, er aber werde mir, wenn ich auf ihn hörte, noch mehr solcher Pfefferkuchen kaufen. Zum Schluß sagte er sogar, ich möchte mit der Mutter Mitleid haben, sie sei so krank, die Arme, und sie allein arbeite für uns alle und ernähre uns. Ich hörte in großer Angst zu, ja ich zitterte am ganzen Körper und die Tränen wollten mich fast überwältigen. Ich war so bestürzt, daß ich kein Wort zu sagen wußte und mich nicht von der Stelle rührte. Endlich ging er ins Zimmer, nachdem er mir vorher noch verboten hatte, zu weinen oder der Mutter etwas davon zu sagen – letzteres schärfte er mir ganz besonders ein. Wie ich bemerkte, war auch er sehr verwirrt. Den ganzen Abend verbrachte ich wie unter einem entsetzlichen Bann und zum erstenmal wagte ich nicht, ihn anzusehen oder zu ihm zu gehen. Und auch er mied sichtlich meinen Blick. Die Mutter ging im Zimmer auf und ab und sprach vor sich hin, wie sie es gewöhnlich in ihrer Gedankenversunkenheit tat. An jenem Tage fühlte sie sich bedeutend schlechter und hatte auch schon die Anzeichen von einem Anfall zu überstehen gehabt. Kurz, infolge dieser ganzen inneren Qual stellte sich bei mir Fieber ein. Krankhafte, wirre Träume peinigten mich – bis ich es schließlich nicht mehr aushielt und zu weinen anfing. Mein Weinen weckte die Mutter; sie rief mich leise an und fragte, ob mir etwas fehle. Ich antwortete nicht, weinte aber noch verzweifelter. Da zündete sie das Licht an, kam zu mir und versuchte mich zu beruhigen, im Glauben, ein Traum habe mich erschreckt. „Ach, du kleines, dummes Kind!“ sagte sie, „immer noch weinst du, wenn dir etwas träumt. Nun, schon gut, sei ruhig!“ Und sie küßte mich und sagte, ich solle in ihr Bett kommen und bei ihr schlafen. Aber ich wollte nicht, denn ich wagte nicht, sie zu umarmen und zu ihr zu gehen. Ich wand mich innerlich vor Qual. Ich wollte ihr alles erzählen. Ich war schon im Begriff anzufangen, aber da fiel mir wieder der Vater ein und sein Verbot, und ich sagte nichts. „Mein armes Kindchen ... Njetotschka ...“ hörte ich die Mutter leise sprechen, während sie mich noch mit ihrer alten Jacke zudeckte, da sie bemerkt hatte, daß ich wie von Schüttelfrost am ganzen Körper zitterte, „du wirst wohl ebenso krank werden wie ich.“ Und sie sah mich dabei so traurig an, daß ich ihren Blick nicht ertragen konnte, krampfhaft die Augen schloß und mich fortwandte. Ich erinnere mich nicht mehr, daß ich einschlief, aber noch lange hörte ich im Halbschlaf, wie die arme Mutter mich leise beruhigte, um mich in den Schlaf zu lullen. Noch nie hatte ich eine schwerere Qual zu erdulden gehabt. Mein Herz krampfte sich bis zum körperlichen Schmerz zusammen. Am nächsten Tage ward mir etwas leichter zumut. Ich fing wieder an mit dem Vater zu sprechen, aber ohne des Vorgefallenen zu erwähnen, denn ich erriet, daß ihm das sehr unangenehm sein müsse. Ich täuschte mich nicht: er war sogleich zur Unterhaltung bereit und sofort guter Dinge, denn auch er schien die Spannung zwischen uns als ungemütlich empfunden zu haben, wenigstens hatte er immer ein finsteres Gesicht gemacht, wenn unsere Blicke sich trafen. Jetzt bemächtigte sich seiner eine seltsame Freude, eine fast kindliche Zufriedenheit, als er mich wieder ganz arglos und munter sah. Die Mutter ging wie gewöhnlich bald fort und dann tat er sich keinen Zwang mehr an. Er küßte mich so, daß ich in ein nahezu übertriebenes Entzücken geriet und weinte und lachte – beides zugleich. Schließlich sagte er, er wolle mir etwas Schönes zeigen, das zu sehen mich sehr freuen werde – als Belohnung dafür, daß ich ein so kluges und gutes kleines Mädchen bin. Damit knöpfte er seine Weste auf und nahm einen Schlüssel, den er an einer schwarzen Schnur am Halse trug, sah mich geheimnisvoll bedeutsam an, als wolle er in meinen Augen das ganze Vergnügen sehen, das ich seiner Meinung nach empfinden mußte, öffnete unseren großen Koffer und entnahm ihm behutsam einen länglichen schwarzen Kasten, den ich bis dahin noch niemals gesehen hatte. Diesen Kasten berührte er mit einer gewissen Zaghaftigkeit – überhaupt war er plötzlich ganz verändert: das Lachen war aus seinem Gesicht verschwunden, das nun einen wahrhaft feierlichen Ausdruck annahm. Diesen geheimnisvollen Kasten also öffnete er ganz behutsam und entnahm ihm einen absonderlichen Gegenstand, den ich bis dahin auch noch nicht gesehen hatte – ein Ding von äußerlich recht seltsamer Form. Er nahm es gleichfalls mit großer Vorsicht und nahezu mit Andacht in die Hand und sagte, das sei seine Geige, sein Instrument. Hierauf fing er an mit leiser, feierlicher Stimme zu mir zu sprechen – und er redete sehr lange, aber ich verstand ihn nicht. Ich behielt nur die mir bereits bekannten Ausdrücke, daß er ein Künstler sei, daß er Talent habe, daß er einmal auf dieser Geige spielen werde und zu guter Letzt, daß wir dann alle reich sein werden und daß uns schließlich irgendein großes Glück blühen werde. Tränen traten ihm in die Augen und rollten über seine Wangen. Ich war sehr ergriffen. Zum Schluß küßte er seine Geige und ließ auch mich sie küssen. Als er sah, daß ich sie gern näher betrachtet hätte, führte er mich zum Bett der Mutter und gab mir die Geige in die Hand; aber ich sah wohl, daß er zitterte vor Angst, ich könnte sie vielleicht irgendwie zerschlagen oder zerbrechen. Ich nahm die Geige und berührte die Saiten, die in einem leisen schwingenden Ton erklangen. „Das ist Musik!“ sagte ich, indem ich zu ihm aufsah. „Ja, ja, das ist Musik,“ wiederholte er, sich freudig die Hände reibend, „du bist ein kluges Kind, bist ein gutes Kind!“ Aber trotz seines Lobes und Entzückens sah ich doch, daß er sich um seine Geige ängstigte, und da ergriff mich gleichfalls eine Angst, – ich gab sie ihm schnell zurück. Sie wurde mit derselben Behutsamkeit wieder eingepackt, der Kasten verschlossen und in den Koffer zurückgelegt; der Vater aber, der nochmals meinen Kopf streichelte, versprach, mir jedesmal die Geige zu zeigen, wenn ich wieder so klug, brav und gehorsam sein würde wie jetzt. So hatte die Geige unseren gemeinsamen Kummer vertrieben. Erst am Abend flüsterte er mir im Fortgehen heimlich zu, ich solle nicht vergessen, was er mir tags zuvor auf dem Treppenflur gesagt habe. So wuchs ich in unserer Dachstube auf, und allmählich steigerte sich meine Liebe, – nein, richtiger gesagt, meine Leidenschaft, denn ich kenne kein anderes Wort, das ein so unbezwingbares, mich selbst quälendes Gefühl, wie ich es für den Vater empfand, ausdrücken könnte – steigerte sich bis zu einer krankhaft ausgearteten Empfindsamkeit. Ich kannte nur noch eine einzige Lust: an ihn zu denken, von ihm zu träumen, nur noch einen Wunsch und Willen – alles zu tun, nur um ihm eine Freude oder sei es auch ein noch so kleines Vergnügen zu bereiten. Wie oft erwartete ich ihn, zitternd und blau vor Kälte, auf der zugigen Treppe, nur um wenigstens ein paar Augenblicke früher sein Kommen zu hören und ihn zu sehen. Streichelte er mich, wenn er bisweilen zärtlich zu mir war, so wurde ich ganz wirr vor Freude. Und doch peinigte es mich oft bis zum körperlichen Schmerz, daß ich in meinem Verhalten zu meiner armen Mutter so hartnäckig kühl blieb. Es gab Augenblicke, wo ich hätte vergehen mögen vor Qual und Mitleid, wenn ich sie ansah. Bei dem ewigen Streit der Eltern konnte ich nicht gleichmütig bleiben und unparteiisch zusehen, ich mußte zwischen ihnen wählen und mich für einen von ihnen entscheiden. Und so stellte ich mich denn auf die Seite dieses halb wahnsinnigen Menschen, nur weil er in meinen Augen so mitleiderregend, so erniedrigt war und ganz zu Anfang einen so unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht, meine Phantasie entfesselt hatte. Doch schließlich – wer könnte das so genau sagen, weshalb ich gerade seine Partei ergriff? Vielleicht fühlte ich mich gerade deshalb so zu ihm hingezogen, weil er so eigenartig war, sogar in seiner äußeren Erscheinung eigenartig, und nicht so ernst und unwirsch wie die Mutter, weil er fast wahnsinnig, weil an ihm hin und wieder so etwas von Gauklerart war, und schließlich, weil ich ihn weniger fürchtete und sogar weniger achtete als die Mutter. Er war irgendwie – mehr meinesgleichen. Ja allmählich bemächtigte sich meiner das Gefühl, daß ich ihm sogar überlegen sei, daß ich ihn mir unmerklich unterwarf, und daß ich ihm unentbehrlich wurde, ja zuweilen kokettierte ich geradezu mit ihm. In der Tat, diese wunderliche Anhänglichkeit meinerseits erinnerte in etwas an einen Roman ... Doch dieser Roman sollte nicht von langer Dauer sein: ich verlor bald meine Mutter und meinen Vater. Ihr Leben fand ein schreckliches Ende, das sich schwer und qualvoll meiner Erinnerung eingeprägt hat. Wie sich das zutrug, will ich jetzt erzählen. III. Zu jener Zeit wurde ganz Petersburg alarmiert durch eine große Neuigkeit: es verbreitete sich das Gerücht von der bevorstehenden Ankunft des berühmten S–z. Alles, was musikalisch war in Petersburg, geriet in Aufregung. Sänger, Schauspieler, Dichter, Maler, sämtliche Musiknarren, aber auch solche, die niemals Musiknarren gewesen waren und mit bescheidenem Stolz gestanden, daß sie keinen Ton von der ganzen Musik begriffen, jagten nun alle mit wahrer Gier nach den Billetten zu diesem Konzert. Der Saal konnte kaum den zehnten Teil der Enthusiasten fassen, die die Möglichkeit hatten oder sich schufen, fünfundzwanzig Rubel Eintrittsgeld zu zahlen. Doch die europäische Berühmtheit dieses S–z, sein lorbeerumkränztes hohes Alter, dabei die unverwüstliche Frische seines Talentes, sowie die Tatsache, daß er in letzter Zeit nur noch äußerst selten öffentlich spielte, und ferner die Versicherung, daß er zum letztenmal eine europäische Konzertreise unternehme, dann aber das Spielen endgültig aufgeben werde, erregten die Gemüter und die Neugier der Menschen. Mit einem Wort, die Spannung war eine ungeheuere. Ich erzählte bereits, daß die Ankunft jedes neuen Violinvirtuosen, jeder auch noch so kleinen „Berühmtheit“, auf meinen Stiefvater stets den unangenehmsten Eindruck machte. Er war dann immer einer der ersten, die sich beeilten, den angereisten Künstler zu hören, um möglichst bald die Größe seiner Kunst beurteilen zu können. Nicht selten wurde er geradezu krank, nur dadurch, daß er das Lob anhören mußte, das irgendeinem neuen Stern gespendet wurde, und er beruhigte sich nicht eher, als bis er an dem Spiel des Gelobten irgend etwas auszusetzen fand, was er dann als seine „unmaßgebliche Meinung“ mit beißendem Spott überall, wo er nur konnte, zum besten gab. Der arme Wahnsinnige glaubte, daß es nur ein einziges Genie in der ganzen Welt gäbe, nur einen einzigen Künstler, und dieser Künstler war natürlich er selbst. Das Gerücht nun, und alsbald die Gewißheit, daß das Weltgenie S–z in Petersburg konzertieren werde, wirkte auf ihn geradezu wie eine Erschütterung. Übrigens muß ich bemerken, daß Petersburg in den letzten zehn Jahren kein einziges größeres Talent gehört hatte, geschweige denn ein Genie gleich S–z. Deshalb hatte auch mein Stiefvater von dem Spiel wirklich erstrangiger europäischer Künstler noch gar keine richtige Vorstellung. Man hat mir erzählt, mein Vater habe sich damals schon nach dem ersten unsicheren Gerücht wieder hinter den Kulissen eingefunden. Er sei sehr aufgeregt gewesen und habe sich mit größter Unruhe nach S–z und dessen bevorstehendem Konzert erkundigt. Da man ihn lange nicht gesehen, soll sein plötzliches Wiederauftauchen sogar einen gewissen Effekt gemacht haben. Jemand habe ihn reizen wollen und herausfordernd gemeint: „Ja, mein lieber Jegor Petrowitsch, jetzt werden Sie nicht mehr Ballettmusik zu hören bekommen, sondern eine, die Sie nicht mehr leben lassen wird auf Erden!“ Er soll erbleicht sein, als er diesen Spott hörte, habe aber doch noch ruhig geantwortet, wenn auch mit verzerrtem Lächeln: „Warten wir ab. Aus der Ferne hält man oft für einen Berg, was sich in der Nähe als ein Kamel entpuppt. Dieser S–z ist ja doch nur in Paris gewesen, da haben eben die Franzosen seinen Ruhm ausgeschrien, aber – nun ja, man weiß doch, was Franzosen sind!“ usw. Alles lachte. Der Arme fühlte sich gekränkt, aber er bezwang sich und fügte nur hinzu, daß er übrigens gar nichts sagen wolle, man werde es ja bald erleben, vorläufig müsse man abwarten, bis übermorgen sei nicht lange, die Wunder würden schon an den Tag kommen. B. erzählte mir, an demselben Tage, kurz vor der Dämmerung, sei ihm auf der Straße Fürst H. begegnet – ein Dilettant als ausübender Künstler, als Mensch jedoch ein unvergleichlicher Kunstkenner und Kunstliebhaber. Sie setzten gemeinsam ihren Weg fort, sprachen natürlich auch von dem bereits eingetroffenen großen Virtuosen, als B. plötzlich meinen Vater erblickte, der vor dem Fenster einer Musikalienhandlung stand und aufmerksam ein Konzertprogramm studierte, das in großen Lettern das Konzert des berühmten Geigenvirtuosen S–z ankündigte. „Sehen Sie dort diesen Menschen, der vor dem Fenster steht?“ wandte sich B. schnell an den Fürsten. „Wer ist das?“ fragte der Fürst. „Sie haben von ihm schon gehört. Das ist derselbe Jefimoff, von dem ich Ihnen mehrmals erzählt habe, und der einmal durch Ihre Protektion eine Anstellung erhielt.“ „Ach ja, ich entsinne mich!“ sagte der Fürst. „Sie haben mir viel von ihm erzählt. Er soll ja sehr interessant sein, sagt man. Könnte ich ihn nicht mal spielen hören?“ „Lohnt nicht,“ versetzte B. kurz. „Und es ist auch so niederdrückend. Das heißt, ich weiß nicht, wie es auf Sie wirkt, aber auf mich macht es immer einen schrecklichen Eindruck. Sein Leben ist – eine einzige entsetzliche Tragödie. Eine Hölle. Ich habe tiefes Mitgefühl mit ihm, wie schmutzig er auch sein mag, immer wieder nehme ich Anteil an ihm. Sie sagten, er müsse interessant sein. Das ist er wirklich, aber der Eindruck, den er in einem hinterläßt, ist gar zu schmerzhaft und schwer. Erstens ist er ein Wahnsinniger, und zweitens hat dieser Wahnsinnige drei Verbrechen auf dem Gewissen, denn außer seinem eigenen Leben hat er noch zwei andere Menschenleben zugrunde gerichtet: das seiner Frau und seiner Tochter. Wie ich ihn kenne, würde es ihn auf der Stelle töten, wenn er sich von seinem Verbrechen überzeugte. Aber das ganze Entsetzen besteht ja gerade darin, daß er es sich nun schon acht Jahre lang _fast_ eingesteht und daß er acht Jahre lang mit seinem Gewissen ringt, um es sich nicht nur ‚fast‘, sondern vollkommen einzugestehen.“ „Sie sagten, er sei arm?“ fragte der Fürst. „Ja; aber die Armut ist für ihn jetzt eher ein Glück, denn sie ist in seinen Augen seine Rechtfertigung. Solange er arm ist, kann er einem jeden versichern, daß nur die Armut ihn zurückhalte und daß er, wenn er reich wäre, dann auch genügend Zeit hätte, und vor allem keine Sorgen, um zeigen zu können, was für ein Künstler er sei. Er hat mit der sonderbaren Hoffnung geheiratet, daß tausend Rubel, die seine Frau damals besaß, ihm helfen würden, sein Ziel zu erreichen. Er handelte wie ein Phantast, wie ein Dichter, und so hat er stets gehandelt. Wissen Sie, was er in diesen acht Jahren immer behauptet hat und auch jetzt noch zu behaupten nicht müde wird? – Daß die Ursache seines ganzen Elends seine Frau sei: die hindere ihn an allem. Und er selbst tut dabei nichts: denkt nicht einmal daran, zu arbeiten. Nehmen Sie ihm aber diese Frau – da wäre er der unglücklichste Mensch der Welt. Jetzt hat er schon mehrere Jahre lang die Geige nicht angerührt – und wissen Sie, warum nicht? Weil er jedesmal, sobald er den Bogen in die Hand nimmt, sich innerlich doch gestehen muß, daß er nichts ist, eine Null, aber kein Künstler. So dagegen, wenn er den Bogen nicht anrührt, kann er sich noch dem schönen Glauben hingeben, daß es doch wieder nicht wahr sei. Er ist ein Träumer. Er glaubt, daß er mit einemmal, wie durch ein Wunder, plötzlich der berühmteste Mensch der Welt sein werde. Sein Wahlspruch ist: ^aut Caesar, aut nihil^, als könnte man so einfach und in einem Augenblick ein Cäsar werden. Sein ganzes Verlangen, seine einzige Begierde ist – Ruhm. Wenn aber ein solches Gefühl zum ersten und einzigen Antrieb eines Künstlers wird, so ist der Betreffende schon nicht mehr Künstler, da er dann den Grundtrieb des Künstlers eingebüßt hat, nämlich die Liebe zur Kunst einzig um der Kunst willen, und nicht aus anderen Gründen, wie etwa, weil sie Ruhm verschafft. Da nehmen Sie zum Beispiel diesen S–z: wenn er den Bogen in die Hand nimmt, dann gibt es für ihn in der ganzen Welt nichts mehr außer seiner Musik. Nach der Musik ist für ihn das Geld die Hauptsache, und erst an dritter Stelle, glaube ich, steht für ihn der Ruhm. Aber er hat sich wenig um ihn gesorgt ... Wissen Sie, was dagegen diesen Unglücklichen jetzt am meisten beschäftigt,“ fuhr B. fort, mit einer Kopfbewegung auf Jefimoff deutend. „Ihn beschäftigt jetzt nur eine allerdümmste, nichtigste, ja sogar erbärmlichste und lächerlichste Sorge, und zwar die: ist er, Jefimoff, größer als S–z oder ist S–z größer als er – und nichts weiter, denn er ist auch jetzt noch überzeugt, daß er der erste Künstler der Welt sei. Versuchen Sie ihn zu überzeugen, daß er kein Künstler ist, und ich versichere Sie, er wird tot hinfallen – es wäre zu schwer, zu schrecklich für ihn, auf seine fixe Idee zu verzichten, der er schon sein ganzes Leben geopfert hat und deren Grundlage immerhin tief und ernst war, denn anfangs gehörte er wirklich zu den Berufenen.“ „Dann kann das ja interessant werden, wenn er jetzt S–z zu hören bekommt,“ bemerkte der Fürst. „Ja,“ sagte B. nachdenklich. „Doch nein: er wird sich auch dann wieder mit sich zurechtfinden. Seine Einbildung ist stärker als die Wahrheit, die er erfahren könnte: deshalb würde er auch sicherlich gleich irgendeine neue Erklärung für sie finden.“ „Meinen Sie?“ fragte der Fürst. Sie hatten sich inzwischen meinem Vater genähert. Dieser wollte, als er sie erblickte, unbemerkt an ihnen vorübergehen, doch B. hielt ihn auf und redete ihn an. Er fragte ihn, ob er das Konzert des berühmten S–z besuchen werde. Jefimoff antwortete gleichmütig, er wisse das noch nicht, er habe da etwas vor, was wichtiger sei als Konzerte und alle angereisten Virtuosen: doch übrigens, er werde sehen, bestimmt könne er es noch nicht sagen, aber wenn sich gerade ein freies Stündchen erübrigen sollte – warum dann schließlich nicht? – vielleicht, wie gesagt, werde er sich die Mühe nehmen. Ein schneller, etwas unruhiger Blick streifte B. und den Fürsten, ein mißtrauisches, flüchtiges Lächeln, dann hob er den Hut, nickte B. zu und ging weiter, unter dem Vorwand, daß er keine Zeit habe. Doch ich wußte schon seit einem Tage um die Sorge des Vaters. Was es nun gerade war, was ihn quälte, das wußte ich freilich nicht, aber meiner Beobachtung war natürlich nicht entgangen, daß er in der letzten Zeit etwas auf dem Herzen hatte. Sogar die Mutter schien dies bemerkt zu haben. Sie war in diesen Tagen sehr krank und konnte kaum die Füße bewegen, was ihr das Gehen fast unmöglich machte. Der Vater kam bald nach Haus, bald ging er wieder fort. Am Morgen erschienen bei uns drei oder vier Gäste, seine ehemaligen Freunde, worüber ich mich sehr wunderte, da sonst außer Karl Fedorytsch so gut wie kein Mensch zu uns kam. Die anderen hatten ja alle schon längst ihre Besuche bei uns eingestellt, eben seitdem der Vater nicht mehr am Theater angestellt war. Schließlich erschien auch noch Karl Fedorytsch ganz außer Atem und in höchster Eile und brachte ein Konzertprogramm. Ich hörte ihren Gesprächen zu und beobachtete sie aufmerksam: alles das peinigte mich so, daß ich mich gewissermaßen schuld fühlte an dieser ganzen Aufregung und Unruhe, die ich im Gesicht des Vaters las. Ich wollte unbedingt wissen, wollte verstehen, wovon sie sprachen: und da hörte ich denn zum erstenmal den Namen S–z. Aus den weiteren Gesprächen erfuhr ich, daß man mindestens fünfzehn Rubel zahlen mußte, wenn man diesen S–z hören wollte. Ferner entsinne ich mich noch, wie der Vater plötzlich irgendwie die Geduld verlor, mit der Hand geringschätzig durch die Luft schlug und halb spöttisch sagte, er kenne diese fremdländischen Wunder, die angeblich unerreichbaren Größen mit ihren fabelhaften Talenten, kenne auch diesen S–z. Das seien alles Juden, die auf russisches Geld Jagd machten, was ihnen hier besonders leicht fiele, da die Russen in ihrer Einfalt sowieso schon jeden Unsinn bewunderten, um wieviel mehr noch das, was der Franzose aus Chauvinismus in den Himmel höbe, ohne beurteilen zu können, was Talent sei und was nicht. Damals wußte ich bereits, was das bedeutete: kein Talent haben. Die Gäste lachten und bald gingen sie alle wieder fort, während der Vater ganz verstimmt zurückblieb. Ich erriet, daß er aus irgendeinem Grunde auf diesen S–z böse war, und so trat ich, um ihm zu gefallen und seinen Kummer zu zerstreuen, an den Tisch, nahm das Programm, versuchte das Gedruckte zu buchstabieren und las laut den Namen S–z. Dann lachte ich, sah den Vater an, der in Nachdenken versunken auf dem Stuhl saß, und sagte: „Ach, das ist gewiß auch so einer wie Karl Fedorytsch, der wird’s auch nie zu etwas bringen!“ Der Vater zuckte zusammen, als hätte ich ihn erschreckt, entriß mir das Programm, schrie mich an und trampelte mit den Füßen, ergriff seinen Hut und wollte schon aus dem Zimmer gehen, kehrte aber sogleich zurück und rief mich auf den Flur hinaus. Dort küßte er mich, sagte mir, ich sei ein gutes Kind, ein kluges Kind, und ich würde ihn deshalb bestimmt nicht betrüben wollen, er erwarte von mir einen großen Dienst – worin dieser aber bestehen sollte, das sagte er nicht. Zudem bedrückte es mich, ihn anzuhören: ich sah und fühlte, daß seine Freundlichkeit nicht aufrichtig war – und das erschütterte mich geradezu. Ich fing an, mich um seinetwillen zu quälen. Am folgenden Tage beim Mittagessen – d. h. am Tage vor dem Konzert – war der Vater wie zerschlagen. Er war so ganz anders und sah immer wieder nach der Mutter hin. Schließlich – ich wunderte mich nicht wenig – fing er sogar an, mit ihr zu sprechen (ich wunderte mich deshalb, weil er sonst fast nie mit ihr sprach). Nach dem Essen aber ließ er es sich plötzlich angelegen sein, um meine Gunst zu werben: jeden Augenblick rief er mich, bald unter diesem, bald unter jenem Vorwand auf den Treppenflur und nachdem er sich vorher umgesehen, als hätte er gefürchtet, daß jemand kommen könnte, streichelte und küßte er mich, nannte mich ein gutes Kind und ein folgsames Kind, ganz gewiß, sagte er, liebte ich meinen Papa und deshalb würde ich auch bestimmt das tun, worum er mich bitten werde. Alles das versetzte mich in eine höchste Spannung, die schließlich unerträglich wurde. Endlich, als er mich zum zehntenmal auf den Treppenflur gerufen hatte, fand die Sache ihre Erklärung. Mit schuldbewußter, gequälter Miene, sich fortwährend unruhig nach allen Seiten umsehend, fragte er mich, ob ich wisse, wo die Mutter jene fünfundzwanzig Rubel aufbewahrte, die sie vor einem Tage nach Haus gebracht. Ich erstarrte vor Schreck, als ich diese Frage vernahm. Da hörten wir plötzlich ein Geräusch auf der Treppe, der Vater erschrak, ließ mich stehen und eilte fort. Er kam erst gegen Abend zurück, verwirrt, betreten, niedergeschlagen und besorgt, setzte sich schweigend auf einen Stuhl und seine Blicke suchten nun wieder mich, ja er sah mich geradezu frohen Mutes an. Da erfaßte mich wieder eine sonderbare Angst und ich wich absichtlich seinem Blick aus. Als es schon ganz dunkel geworden war, rief mich die Mutter, die den ganzen Tag im Bett gelegen, zu sich und gab mir etwas Kupfergeld, für das ich ihr aus dem kleinen Laden ein wenig Tee und Zucker kaufen sollte. Tee wurde bei uns sehr selten getrunken. Die Mutter erlaubte sich diesen Luxus – denn das war er bei unseren beschränkten Mitteln – nur dann, wenn sie sich krank fühlte und fieberte. Ich nahm das Geld und kaum war ich auf dem Flur, da lief ich, was ich laufen konnte, lief in der Furcht, daß man mir nachkommen könnte. Meine Vorahnung täuschte mich auch nicht: der Vater holte mich auf der Straße ein und zog mich ins Haus zurück. „Njetotschka!“ begann er mit unsicherer Stimme. „Mein Täubchen! Höre: gib mir dieses Geld, ich werde es dir gleich morgen ...“ „Papa! Papachen!“ rief ich flehend und zitternd und ich warf mich vor ihm auf die Knie, um ihn zu beschwören, „Papachen! Ich kann nicht! Ich darf nicht! Mama ist krank, sie muß Tee trinken ... Man kann das Geld doch nicht Mama nehmen, wirklich nicht, glaub mir! Ein anderes Mal, nächstens werde ich dir ...“ „Du willst nicht? Du willst nicht?“ flüsterte er wie in rasender Wut. „Also du willst mich nicht mehr lieben? Nun gut! Jetzt verlasse ich dich! Bleib denn allein bei Mama, ich werde von euch fortgehen und dich nehme ich nicht mit. Hörst du, böses Mädchen, hörst du, was ich sage?“ „Papachen!“ rief ich entsetzt, „nimm das Geld, nimm! Was soll ich jetzt tun?“ stammelte ich, mich an seinen Rockschoß klammernd, „Mama wird doch weinen, sie ist doch krank, sie wird mich doch wieder schelten!“ Ich glaube, er hatte diesen Widerstand nicht erwartet, aber das Geld nahm er; dann – wohl in der Furcht, meinem Jammern und Weinen nicht standhalten zu können – verließ er mich schnell und lief auf die Straße. Ich stieg die Treppen hinauf, aber vor unserer Stubentür verließen mich meine Kräfte. Ich wagte nicht, einzutreten, ich konnte nicht eintreten; alles, was an Herz in mir war, war erschüttert und in Aufruhr gebracht. Ich vergrub das Gesicht in den Händen und wankte zum Fenster, wie damals, als ich den Vater hatte sagen hören, er wünsche, die Mutter stürbe bald. So stand ich, die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt, wie benommen und erstarrt, und doch lauschte ich und gab acht auf jedes noch so leise Geräusch unten auf der Treppe. Endlich hörte ich jemand schnell heraufkommen. Das war er; ich erkannte ihn am Gang. „Bist du hier?“ flüsterte er, als er mich erblickte. Ich warf mich ihm entgegen. „Da!“ stieß er rauh hervor und steckte mir das Geld in die Hand, „nimm es! Nimm es zurück! Ich bin jetzt nicht mehr dein Vater, hörst du? Ich will nicht mehr dein Vater sein! Du liebst Mama mehr als mich! So geh zu Mama! Ich will von dir nichts mehr wissen!“ Damit stieß er mich fort und eilte wieder die Treppe hinunter. Ich lief ihm weinend nach. „Papa! Papa! lieber Papa! Ich werde gehorchen!“ rief ich schluchzend, „ich liebe dich mehr als Mama! Nimm das Geld, behalt es! – Papa! ...“ Er hörte mich nicht mehr – ich sah nur, daß er verschwunden war. Diesen ganzen Abend war ich wie krank und zitterte in Fieberschauern. Ich weiß noch, die Mutter sagte mir irgend etwas, rief mich zu sich: ich war aber nicht bei Besinnung, ich hörte nichts und sah nichts. Es endete mit einem Anfall: ich fing an zu weinen, zu schreien – Mama erschrak sehr und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie nahm mich zu sich ins Bett und ich umschlang ihren Hals und schlief denn auch allmählich ein, doch zuckte ich im Schlaf noch jeden Augenblick zusammen oder erschrak über irgend etwas. So verging die Nacht. Am anderen Morgen erwachte ich erst sehr spät, als die Mutter schon fortgegangen war. Sie ging um diese Zeit immer ihrer Arbeit nach. Der Vater und ein Unbekannter saßen im Zimmer und beide sprachen sehr laut. Ich konnte es kaum abwarten, bis der Fremde endlich aufbrach, und als wir allein waren, lief ich zum Vater und bat ihn leise, unter Tränen, mir doch zu verzeihen. „Und wirst du auch wieder ein gutes Kind sein wie früher?“ fragte er mich streng. „Ja, Papa, ja!“ stammelte ich. „Ich werde dir sagen, wo Mamas Geld liegt. Sie hat es in ihrem Kasten, in der Schatulle, dort lag es wenigstens gestern.“ „Gestern? Wo?!“ rief er und sprang auf. „Wo lag es?“ „Aber der Kasten ist verschlossen, Papa!“ sagte ich schnell. „Du mußt warten, bis Mama mich am Abend schickt, um das Geld zu wechseln, denn das Kupfergeld, das habe ich gesehen, ist ausgegangen.“ „Ich brauche fünfzehn Rubel, Njetotschka! Hörst du? Nur fünfzehn Rubel! Verschaff’ sie mir heute; morgen werde ich dir alles zurückgeben. Ich werde gleich gehen und dir Bonbons bringen, Nüsse auch ... auch eine Puppe werde ich dir kaufen ... und morgen wieder eine ... und jeden Tag werde ich dir Naschwerk bringen, wenn du ein gutes und folgsames Kind sein wirst!“ „Ach nein, das ist nicht nötig, Papa, das ist nicht nötig! Ich will kein Naschwerk, ich werde es nicht essen, ich werde es dir zurückgeben!“ rief ich, während die Tränen mich fast erstickten, denn mein Herz krampfte sich zusammen und wollte vergehen. Ich fühlte in diesem Augenblick, daß ich ihm nicht leid tat und daß er mich auch gar nicht liebte, da er doch nicht sah, wie ich ihn liebte, und sogar glauben konnte, daß ich für Naschwerk ihm dienen werde. In diesem Augenblick begriff ich zehnjähriges Kind ihn vollkommen, ich durchschaute ihn ganz und gar und schon fühlte ich, daß diese Erkenntnis mich nun für immer durchdrungen hatte, daß ich ihn nicht mehr lieben konnte, daß ich meinen früheren Papa für immer verloren. Er aber war geradezu begeistert von der Aussicht, durch mich das Geld zu bekommen. Er sah nun, daß ich für ihn zu allem bereit war, daß ich alles für ihn tun werde, aber nur Gott weiß es wie viel dieses „alles“ damals für mich war. Ich wußte, was dieses Geld für meine arme Mutter bedeutete; ich wußte, daß sie krank werden konnte vor Aufregung und Sorge, wenn ihr dieses Geld abhanden kam, und meine Reue schrie in mir. Er aber sah nichts davon, er hielt mich immer noch für ein dreijähriges Kind, während ich schon alles begriff. Seine Freude kannte keine Grenzen: er küßte mich, redete mir zu, nicht zu weinen, versprach mir, heute noch mit mir von der Mutter fortzugehen – wahrscheinlich um meiner in dieser Richtung unermüdlich arbeitenden Phantasie zu schmeicheln. Schließlich zog er aus seiner Tasche ein Konzertprogramm: und nun erzählte er und beteuerte, daß dieser Mensch, zu dem er am Abend gehen werde, sein Feind sei, sein Todfeind, aber seinen Feinden werde der Anschlag gegen ihn nicht gelingen. Er glich entschieden selber einem Kinde, während er von seinen Feinden sprach. Als er dann aber bemerkte, daß ich nicht wie gewöhnlich während seiner Erzählungen lächelte, sondern ernst und schweigend zuhörte, da nahm er seinen Hut und ging aus dem Zimmer, da er noch irgendeinen eiligen Gang vorhatte, wie er sagte, aber im Fortgehen küßte er mich noch einmal und nickte mir mit einem ungewissen Lächeln zu, als hätte er sich meiner doch nicht ganz sicher gefühlt, und wie um der Möglichkeit vorzubeugen, daß ich meine Absicht etwa wieder änderte. Ich sagte bereits, daß er wie ein Wahnsinniger war: das fühlte ich schon am Tage vor dem Konzert. Das Geld brauchte er, um ein Billett zu diesem Konzert kaufen zu können – als wenn sein Vorgefühl ihm ganz richtig die Ahnung eingegeben hätte, daß dieses Konzert sein ganzes Schicksal entscheiden mußte! Darüber verlor er so den Kopf, daß er am Vorabend das bißchen Kupfergeld von mir nehmen wollte, als hätte er sich schon damit das Billett verschaffen können. Noch stärker machte sich sein seltsames Wesen bei Tisch bemerkbar, als wir wie gewöhnlich spät am Nachmittag zu Mittag aßen. Er konnte einfach nicht stillsitzen und aß keinen Bissen, jeden Augenblick stand er auf und setzte sich, wie sich besinnend, wieder hin; bald griff er nach dem Hut, als wollte er fortgehen, bald war er seltsam zerstreut, bald flüsterte er vor sich hin, bald sah er plötzlich auf und suchte mich mit den Augen, um mir dann zuzuzwinkern und verschiedene Zeichen zu machen, vor lauter Ungeduld, endlich in den Besitz des Geldes zu gelangen, und als ärgere er sich über mich, daß ich es noch immer nicht der Mutter entwendet hatte. Sogar der Mutter fiel sein fremdes Wesen auf und sie sah ihn verwundert an. Ich aber war wie zum Tode verurteilt. Nach dem Essen zog ich mich in meinen Winkel zurück und zitternd vor Fieber zählte ich die Sekunden bis zu der Zeit, wo die Mutter mich gewöhnlich nach Kleinigkeiten in den Laden schickte. In meinem Leben habe ich nicht qualvollere Stunden verbracht: sie werden ewig und unverwischbar in meiner Erinnerung stehen. Was durchfühlte ich da nicht alles in Gedanken! Es gibt Zeitspannen – man könnte sie mit einer Anzahl Minuten beziffern –, wo man in seiner Erkenntnis viel mehr erlebt, als in ganzen Jahren. Mein Gefühl wußte, daß ich etwas Schlechtes und Häßliches zu tun im Begriff war; er selbst hatte ja noch meine guten Instinkte bestärkt, als er mich das erstemal kleinmütig zum Schlechten verleitet, um mir dann, vielleicht erschrocken, jedenfalls aber das Geschehene bereuend, zu erklären, daß ich sehr schlecht gehandelt hatte. Begriff er denn nicht, wie schwer es ist, eine Natur zu betrügen, die begierig ist, ihre Eindrücke ganz zu erfassen und die schon viel Schlechtes und Gutes durchfühlt und durchdacht hat? Ich begriff doch, daß es die äußerste Not war, die ihn bewog, mich nochmals ins Laster zu stoßen und somit meine arme, schutzlose Kindheit zu opfern – die ihn bewog, es nochmals zu wagen, meinem noch ungefestigten Gewissen diesen Stoß zu versetzen. Und während ich dort in meinem Winkel kauerte, fing ich an, bei mir darüber nachzudenken: warum versprach er mir noch eine Belohnung für das, was ich schon aus eigenem freiem Willen tun wollte? Neue Empfindungen, neue, bis dahin noch nie empfundene Triebe, neue Fragen erhoben sich scharenweis in mir, und ich quälte mich mit ihnen. Dann mußte ich plötzlich an die Mutter denken. Ich stellte mir ihre Verzweiflung vor, wenn ihr dieser mühselig erarbeitete Lohn genommen würde. Endlich legte die Mutter die Arbeit, die sie schon über ihre Kräfte verrichtete, aus der Hand und rief mich. Ich erbebte und ging zu ihr. Sie nahm aus der Kommode das Geld und indem sie es mir gab, sagte sie: „Geh, Njetotschka. Nur laß dir um Gottes willen nicht falsch zurückgeben, wie neulich, und sieh dich vor, daß du auch nichts verlierst.“ Ich sah flehend zum Vater hinüber, aber er nickte mir zu, lächelte zustimmend und rieb sich die Hände vor Ungeduld. Die Uhr schlug sechs, das Konzert sollte um acht beginnen. Auch er muß während dieses Wartens viel erduldet haben. Ich blieb auf der Treppe stehen, um auf ihn zu warten. Er war aber so aufgeregt und ungeduldig, daß er alle Vorsicht vergaß und mir hastig und fast auf dem Fuß folgte. Ich gab ihm das Geld: auf der Treppe war es dunkel, sein Gesicht konnte ich nicht sehen; aber ich fühlte, daß er am ganzen Körper zitterte, als er das Geld empfing. Ich stand erstarrt wie im Krampf, und rührte mich nicht vom Fleck. Ich kam erst zu mir, als er mich nach oben schickte, um ihm seinen Hut aus dem Zimmer zu holen. Er wollte nicht einmal mehr hineingehen. „Papa! Wirst du ... denn nicht mitkommen ins Zimmer?“ fragte ich mit versagender Stimme, mich noch an meine letzte Hoffnung klammernd – an seinen Beistand. „Nein ... du geh lieber allein ... was? Wart’ wart’!“ rief er, sich schnell besinnend, „wart’, ich werde dir gleich Naschwerk bringen – aber du geh nur erst ins Zimmer und bring mir meinen Hut her.“ Mir war, als presse eine eiskalte Hand mein Herz zusammen. Plötzlich – stieß ich ihn fort und eilte wie gejagt die Treppe hinauf. Als ich ins Zimmer trat – sah ich verstört aus, und wenn ich damals gesagt hätte, daß man mir das Geld genommen, da hätte die Mutter es mir wohl geglaubt. Aber ich konnte keinen Laut hervorbringen. In einem Anfall der Verzweiflung, die mich plötzlich wie ein Krampf packte, warf ich mich über das Bett der Mutter und vergrub das Gesicht in den Händen. Nach einer Weile hörte ich die Tür leise kreischen und der Vater trat ins Zimmer. Er kam, um sich seinen Hut zu holen. „Wo ist das Geld?!“ rief plötzlich die Mutter, die jetzt blitzartig erriet, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war. „Wo ist das Geld? Sprich! Sprich!“ Und sie riß mich vom Bett und stellte mich vor sich hin, mitten ins Zimmer. Ich schwieg, den Blick zu Boden gesenkt; ich wußte kaum, was in mir vorging und was man mit mir tat. „Wo ist das Geld?!“ schrie sie mich an und plötzlich – sah sie sich nach dem Vater um, der schon nach dem Hut griff. „Wo ist das Geld?“ wiederholte sie. „Ah! Dir hat sie es gegeben? Du Verruchter! Mein Mörder du! Mein Henker! So willst du auch sie verderben! Das Kind! sie, sie?! Nein doch! So gehst du mir nicht fort!“ Und schon war sie bei der Tür, verschloß sie und steckte den Schlüssel zu sich. „Sprich! Gestehe!“ wandte sie sich an mich – mit einer Stimme, die vor Erregung kaum hörbar war, „gestehe mir alles! So sprich doch, sprich! Oder ... ich weiß nicht, was ich mit dir mache!“ Sie ergriff meine Hände und zerdrückte sie beinahe, um mich zum Geständnis zu zwingen. Sie war außer sich und sich gewiß nicht vollkommen bewußt dessen, was sie tat. Ich aber schwor mir, zu schweigen, kein Wort vom Vater zu sagen, – doch schlug ich schüchtern zum letzten Male die Augen zu ihm auf ... Ein Blick von ihm, nur ein Wort, irgend etwas, was ich von ihm erwartete und worum ich bei mir im stillen betete – und ich wäre glücklich gewesen trotz aller Schmerzen, trotz jeder Folter ... Doch – mein Gott! Mit einer gefühllosen, drohenden Geste befahl er mir, zu schweigen, als hätte ich in diesem Augenblick noch irgendeines anderen Drohung fürchten können. Es schnürte mir die Kehle zu, benahm mir den Atem, meine Füße – ich fühlte sie nicht mehr ... bewußtlos fiel ich hin ... Der Anfall, den ich tags zuvor gehabt, wiederholte sich. Ich erwachte, als plötzlich an unsere Tür geklopft wurde. Die Mutter öffnete sie und erblickte einen Menschen in einer Livree, der etwas zögernd ins Zimmer trat, sich verwundert umsah und nach dem Musiker Jefimoff fragte. Der Vater sagte, daß er derjenige sei, den er suche. Da überreichte ihm der Diener ein Kuvert und erklärte, Herr B., der augenblicklich beim Fürsten H. weile, habe ihn geschickt. Das Kuvert enthielt ein Billett zum Konzert des berühmten S–z. Das Erscheinen dieses Dieners in der glänzenden Livree, dieses Abgesandten vom Fürsten H., der ihn zu dem armen Musiker schickte – all das machte im ersten Augenblick einen großen Eindruck auf die Mutter. Ich sagte bereits, daß die arme Frau meinen Vater immer noch liebte. Selbst nach ganzen acht Jahren der Enttäuschungen, des Kummers und Leids hatte ihr Herz sich noch nicht verändert: ja, sie konnte ihn immer noch lieben! Weiß Gott, vielleicht sah sie nun wieder eine Veränderung in seinem Leben bevorstehen. Sogar der Schatten einer Hoffnung konnte sie schon beeinflussen. Wer weiß, vielleicht hatte er sie in seiner Verschrobenheit einfach angesteckt mit seinem unerschütterlichen Selbstbewußtsein! Und es wäre doch auch gar nicht anders möglich gewesen, als daß dieses Selbstbewußtsein auf sie, die schwache Frau, nicht einen gewissen Einfluß gehabt hätte – was Wunder, wenn sie da auf diese Aufmerksamkeit des Fürsten gleich tausend Pläne für ihn baute. Sofort war sie bereit, wieder gut zu ihm zu sein, ihm alles zu verzeihen, die Qual der ganzen Zeit ihres gemeinsamen Lebens, sogar diese letzte Schandtat miteinbegriffen, – daß er ihr einziges Kind zu opfern sich nicht scheute – war bereit, getragen von der Flut ihrer wieder hervorbrechenden Hoffnung, diese Schandtat als ein einfaches, kleines Vergehen aufzufassen, als einen Kleinmut, wenn man will, den die Armut, das elende Leben und seine verzweifelte Lage entschuldigen konnten. So verzieh sie ihm, und empfand in diesem Augenblick unendliches Mitleid für den verkommenen Mann. Der Vater geriet in Aufregung. Auch ihn überraschte die Aufmerksamkeit B.s und des Fürsten. Er wandte sich ohne weiteres an die Mutter, flüsterte ihr etwas zu und sie verließ das Zimmer. Nach etwa zwei Minuten kehrte sie zurück, brachte das gewechselte Geld und der Vater gab dem Diener sogleich einen Silberrubel, worauf dieser nach einer höflichen Verbeugung fortging. Die Mutter verließ nun wieder für einen Augenblick das Zimmer und kehrte mit einem Bügeleisen zurück, suchte das beste Vorhemd ihres Mannes heraus und bügelte es auf. Sie band ihm eigenhändig die weiße Batistkrawatte um den Hals, die sich seit undenklichen Zeiten noch erhalten hatte samt einem schwarzen, schon recht abgetragenen Frack, der für ihn noch vor seinem Eintritt ins Orchester angefertigt worden war. Nachdem er die Toilette beendet hatte, nahm er den Hut, doch vor dem Fortgehen bat er noch um ein Glas Wasser. Er war bleich und setzte sich in vollkommener Erschöpfung auf einen Stuhl. Das Wasser mußte ich ihm übrigens reichen – vielleicht hatte sich schon ein feindseliges Gefühl ins Herz der Mutter geschlichen und ihre erste Aufwallung abgekühlt? Dann ging der Vater. Wir waren allein. Ich zog mich wieder in meinen Winkel zurück und von dort aus sah ich lange schweigend auf die Mutter. Zum erstenmal sah ich sie in einer solchen inneren Aufregung: ihre Lippen bebten, die bleichen Wangen hatten sich gerötet und von Zeit zu Zeit bemerkte ich an ihr nervöse Zuckungen. Zuletzt brach ihre Qual das Schweigen und ihr ganzes Elend drängte sich in Klagen unter dumpfem, verzweifeltem Aufschluchzen hervor. „Ich, ich allein bin an allem schuld, ich Unselige!“ klagte sie sich an. „Und was soll aus ihr werden? Was wird aus ihr, wenn ich sterbe?“ Sie blieb plötzlich mitten im Zimmer stehen wie getroffen durch diesen einen Gedanken. „Njetotschka! Mein Kind! Mein armes Kind! Du Unglückliche, du Arme!“ sagte sie, meine Hände erfassend und mich krampfhaft umarmend. „Bei wem lasse ich dich, wenn ich dich nun nicht mehr erziehen, dich nicht mehr hegen und pflegen kann? Mein armer Liebling! Oh, du verstehst mich nicht! Oder doch? Wirst du behalten, was ich dir jetzt sage, Njetotschka? Wirst du dich später noch dessen erinnern?“ „Ja, Mamachen, ja!“ beteuerte ich und faltete die Hände, wie um es zu beschwören. Lange und fest hielt sie mich in ihren Armen, als bangte ihr vor dem Gedanken, daß sie sich von mir trennen mußte. Mein Herz wollte brechen. „Mamachen! Mama ...“ stammelte ich stockend, denn das Schluchzen saß mir in der Kehle, „warum ... warum liebst du Papa nicht?“ Und die unterdrückten Tränen liefen mir über die Wangen. Ein Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Und wieder, von neuer Qual gepeinigt, setzte sie ihre Wanderung durch das Zimmer fort. „Die Arme, die Arme! Und ich hab’ es nicht einmal bemerkt, wie sie herangewachsen ist! Sie weiß, sie weiß alles! Mein Gott! Und was waren das hier für Eindrücke, welch ein Beispiel!“ Und sie rang die Hände in ihrer Verzweiflung. Dann kam sie wieder zu mir und küßte mich in wahnsinniger Liebe, küßte meine Hände, auf die ihre Tränen fielen, bat, flehte um Verzeihung ... Ich hatte noch nie soviel Leid, noch nie einen Menschen so vor Leid zusammenbrechen gesehen ... Schließlich versank sie gleichsam ermattet in stumpfes Brüten. So verging wohl eine ganze Stunde. Endlich stand sie müde auf, sichtlich erschöpft, und sagte mir, ich solle schlafen gehen. Ich ging in meinen Winkel, tat wie sie geheißen, wickelte mich fest in die Decke – aber einschlafen konnte ich nicht. Mich quälten die Gedanken an sie und die Gedanken an den Vater. Mit Ungeduld erwartete ich seine Rückkehr. Entsetzen erfaßte mich bei dem Gedanken an ihn. Ungefähr nach einer halben Stunde nahm die Mutter das Licht und trat leise an mein Bett, um zu sehen, ob ich schlafe. Ich schloß schnell die Augen und stellte mich schlafend, damit sie sich beruhigte. Als sie sich dann von meinem Schlaf überzeugt hatte, ging sie leise zum Schrank, öffnete ihn und schenkte sich ein Glas Wein ein. Sie trank und legte sich dann schlafen. Das brennende Licht blieb auf dem Tisch und die Tür unverschlossen, wie das immer geschah, wenn der Vater spät nach Hause kam. Ich lag in halber Bewußtlosigkeit, doch kein Schlaf schloß meine Augen. Kaum sank ich in Schlummer, da wachte ich auch schon wieder auf, erschreckt durch furchtbare Traumgesichte. Die Beklemmung wuchs und wurde immer bedrückender. Ich wollte schreien, doch der Schrei erstarb in meiner Brust. Endlich – schon spät in der Nacht – hörte ich, wie unsere Tür geöffnet wurde. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit darüber verstrich, als ich aber die Augen plötzlich ganz aufschlug, da erblickte ich den Vater. Wie es mir schien, war er sehr bleich. Er saß auf dem Stuhl gleich neben der Tür und war in Gedanken versunken. Im Zimmer herrschte Totenstille. Das tropfende Talglicht erhellte traurig unser Heim. Ich sah lange auf den Vater, aber er rührte sich noch immer nicht. Er saß unbeweglich, immer in derselben Stellung, den Kopf auf die Brust gesenkt und die Hände starr auf die Knie gestützt. Zwei-, dreimal wollte ich ihn anrufen, aber ich konnte es nicht. Meine Erstarrung wich nicht von mir. Plötzlich erwachte er gleichsam aus seiner Versunkenheit, sah auf und erhob sich vom Stuhl. Eine Weile stand er mitten im Zimmer – es war, als suchte er nach einem Entschluß. Dann trat er plötzlich ans Bett der Mutter, horchte, und nachdem er sich überzeugt, daß sie schlief, ging er zum Koffer, in dem seine Geige lag. Er öffnete den Verschluß, nahm den schwarzen Violinkasten und stellte ihn auf den Tisch; dann sah er sich wieder um; sein Blick war trüb und unstet, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er nahm die Violine, legte sie aber gleich wieder hin, kehrte zurück zur Tür und verschloß sie. Dann, als er den offenstehenden Schrank bemerkte, ging er leise hin, sah dort das Glas und den Wein stehen, schenkte sich ein und trank. Darauf griff er zum drittenmal zur Geige, legte sie aber zum drittenmal wieder hin und ging nochmals zum Bett der Mutter. Starr vor Angst erwartete ich, was nun geschehen werde. Er stand lange horchend, zu lange, wie mir schien. Dann schlug er plötzlich die Decke von ihrem Gesicht zurück und befühlte es mit der Hand. Ich zuckte zusammen. Er beugte sich nochmals über sie, ganz tief, sein Kopf berührte sie fast, als er sich aber zum letztenmal aufrichtete, da glitt es wie ein Lächeln über sein unheimlich bleiches Gesicht. Leise und behutsam breitete er die Decke wieder über die Schlafende, bedeckte den Kopf, die Füße ... ich aber begann zu zittern, in einer dunklen, unklaren Angst: ich fürchtete für die Mutter, fürchtete ihren tiefen Schlaf, mit bangem Herzklopfen sah ich unverwandt auf diese unbewegliche Linie der Decke, die in eckigen Umrissen über den Gliedmaßen ihres Körpers lag ... Wie ein Blitz durchzuckte plötzlich ein furchtbarer Gedanke mein Gehirn! Nachdem er alle Vorbereitungen beendet, ging er wieder zum Schrank und trank den Rest des Weines aus. Er zitterte am ganzen Körper, als er an den Tisch trat. Man konnte ihn kaum wiedererkennen – so totenblaß war er. Wieder nahm er die Geige. Ich hatte sie schon gesehen und wußte, daß sie ein Instrument zum Spielen war, aber jetzt erwartete ich von ihr etwas Schreckliches, Unheimliches, Wunderbares ... und ich fuhr zusammen unter ihren ersten Tönen. Der Vater begann zu spielen. Doch die Töne sprangen seltsam und unterbrochen durcheinander; auch hielt er jeden Augenblick inne, wie um sich an etwas zu erinnern; – bis er mit zerquältem Antlitz den Bogen hinlegte und so eigentümlich auf das Bett sah. Dort schien ihn etwas immer noch zu beunruhigen. Wieder ging er zum Bett ... Jede seiner Bewegungen verfolgte ich und ließ ihn nicht aus den Augen, obgleich mir das Herz stillstand vor Angst. Plötzlich begann er eilig nach irgend etwas zu suchen – und wieder durchzuckte mich jener furchtbare Gedanke. Ich fragte mich: warum wachte sie denn nicht auf, als er ihr Gesicht befühlte? Dann sah ich, daß er alles zusammenschleppte, was es an Kleidern bei uns gab: er nahm die Jacke der Mutter, seinen alten Rock und seinen Schlafrock, sogar mein Kleid, das ich über eine Stuhllehne geworfen hatte, und mit all dem deckte er sie zu, so daß von ihr unter dem Kleiderhaufen nichts mehr zu sehen war. Sie lag immer noch regungslos, ohne ein Glied zu rühren. Sie schlief einen tiefen Schlaf. Es war mir, als atmete er freier auf, sobald auch diese Arbeit getan war. Jetzt störte ihn nichts mehr, nur irgend etwas beunruhigte ihn noch: er rückte das Licht von seinem Platz und setzte es etwas weiter, und sich selbst stellte er mit dem Gesicht zur Tür, um vom Bett nichts mehr zu sehen. Dann nahm er die Geige und wie mit einer Geste der Verzweiflung schlug er mit dem Bogen auf die Saiten ... Die Musik begann. Doch das war nicht Musik ... Ich erinnere mich deutlich jener Nacht, erinnere mich alles dessen, was ich damals sah und hörte, und um wieviel mehr noch dessen, was einen so erschütternd tiefen Eindruck auf mich machte. Nein, das war nicht Musik, wie ich sie später zu hören Gelegenheit gehabt habe! Das waren nicht Töne einer Geige, sondern es war, als wenn zum erstenmal in unserer dunklen Wohnung jemandes grauenhafte Stimme donnernd erscholl. Oder waren meine Empfindungen falsch, vielleicht krankhaft und überreizt, oder hatte das, was ich bereits erlebt und gesehn, meine Gefühle auf diese erschütternden und erlösungslos qualvollen Eindrücke schon derartig vorbereitet – gleichviel! – ich bin trotzdem fest überzeugt, daß ich Gestöhn, eines Menschen Schreie und Schluchzen hörte. Tiefste Verzweiflung ergoß sich in diesen Tönen, und als es schließlich zum furchtbaren Finale kam, in dem alles hervorbrach, was es an schluchzendem Weh, was es an Qual in zerquälten Herzen und an Sehnsucht in hoffnungslosem Sehnen gibt, und als all das sich plötzlich wie zu einem einzigen Ausdruck vereinigte ... da konnte ich es nicht mehr aushalten – ich erbebte, Tränen entströmten meinen Augen und mit einem verzweifelten Schrei stürzte ich zum Vater und umklammerte ihn mit meinen Armen. Er schrie auf und ließ seine Geige sinken. Eine Weile stand er betäubt, wie verloren. Dann begannen seine Augen nach allen Seiten hin zu springen und zu laufen, als suche er etwas – plötzlich erfaßte er die Geige, holte mit ihr über meinem Kopfe aus ... noch ein Augenblick, und er hätte mich wohl auf der Stelle erschlagen. „Papa!“ schrie ich auf, „Papachen!“ Er erzitterte am ganzen Körper und trat taumelnd zwei Schritte zurück. „Ach! Da bist ja auch du noch! So ist noch nicht alles aus! So bist du mir noch geblieben!“ schrie er, mich an den Schultern mit Wucht emporhebend. „Papachen!“ rief ich, in der Luft von ihm gehalten, „nicht, nicht! Ich fürchte mich! Ach, bitte, nicht!“ Mein Weinen schien Eindruck auf ihn zu machen. Er stellte mich vorsichtig wieder hin und sah mich eine Weile stumm an, als erkenne er mich – und erinnere er sich nach und nach an etwas Vergessenes. Und plötzlich war es, als drehe ihn innerlich irgend etwas um, als träfe ihn plötzlich ein furchtbarer Gedanke – aus seinen trüben Augen brach ein Strom von Tränen, und er beugte sich zu mir nieder und begann mir aufmerksam ins Gesicht zu sehen. „Papachen!“ bettelte ich angstvoll, „sieh mich nicht so an, Papachen! Laß uns von hier fortgehen! Komm schnell! Komm, wir wollen laufen!“ „Ja, laufen wir, laufen wir! Es ist Zeit! gehen wir, Njetotschka! Schnell, schnell!“ Und eine Hast kam über ihn, als sei er erst jetzt drauf verfallen, was er zu tun hatte. Geschäftig sah er sich nach allen Seiten um, – ein Taschentuch der Mutter, das auf dem Fußboden lag, hob er schnell auf und steckte es zu sich, dann erblickte er noch eine Kopfbedeckung und auch diese hob er auf und verbarg sie bei sich, als rüste er sich zu einer weiten Reise und wolle sich nun mit allem versorgen, was er vielleicht brauchen konnte. Ich zog mir im Nu mein Kleid an und begann gleichfalls in großer Eile zusammenzuraffen, was mir für die Reise notwendig erschien. „Hast du alles? hast du alles?“ fragte er, mich zur Eile antreibend, „ist alles fertig? Dann schnell, schnell!“ Ich machte eilig mein Bündel fertig, warf mir ein Tuch um den Kopf und schon waren wir im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als es mir plötzlich einfiel, daß ich ja auch noch das Bild, das an der Wand hing, mitnehmen mußte. Der Vater war damit sogleich einverstanden. Er war jetzt ganz still, sprach nur flüsternd und trieb mich nur zur Eile an. So holten wir beide einen Stuhl herbei, stellten auf ihn die Bank – und dann erst gelang es uns, als wir endlich mit Mühe und Not auf dieses wackelige Gestell hinaufgeturnt waren, das Bild zu erreichen. Damit hatten wir alle Vorbereitungen getroffen. Er nahm mich an der Hand und wir wollten schon gehen – aber plötzlich blieb er stehen. Er rieb sich lange die Stirn, als müsse er sich auf irgend etwas besinnen, was wir noch vergessen hatten. Endlich fiel es ihm ein: er suchte unter dem Kopfkissen der Mutter nach dem Schlüsselbund, schloß die Kommode auf und begann eilig nach etwas zu kramen und zu wühlen. Endlich kehrte er zu mir zurück und brachte mir einiges Geld, das er in der Schatulle gefunden hatte. „Hier, nimm, nimm das, verwahre es,“ flüsterte er, „verlier’s nicht, und vergiß es nicht, vergiß es nicht!“ Er gab mir zuerst das Geld in die Hand, nahm es aber wieder zurück und steckte es mir in das Leibchen. Ich weiß noch, daß ich zusammenzuckte, als dieses Silber meinen Körper berührte, und es war, als begriffe ich jetzt zum erstenmal, was Geld ist. Wir waren nun wieder fertig zum Aufbruch, doch plötzlich hielt er mich nochmals zurück. „Njetotschka!“ – er dachte ersichtlich mit großer Anstrengung nach. „Mein Kindchen, ich ... ich vergaß ... Ja was denn? ... was war’s doch? ... Ich weiß nicht mehr ... Ja, ja richtig! da fällt’s mir ein! ... Komm her, Njetotschka!“ Er führte mich nach dem Winkel, wo das Heiligenbild hing und sagte, ich solle niederknien. „Bete, mein Kind, bete! Es wird dir besser sein! ... Ja, wirklich, es wird besser sein,“ flüsterte er mir zu, auf das Heiligenbild deutend, und dabei sah er mich so seltsam an. „Bete, Njetotschka, bete, bete!“ sagte er mit eigentümlich flehender, beschwörender Stimme. Ich warf mich auf die Knie, faltete die Hände, und, erfüllt von Entsetzen, von Verzweiflung, die sich meiner bemächtigt hatten, schlug ich mit der Stirn auf den Boden und lag minutenlang wie erstarrt. Ich nahm krampfhaft alle meine Gedanken zusammen, sammelte alle meine Gefühle in meinem Gebet – aber die Angst überwältigte mich. Ich erhob mich wie gemartert von Leid. Ich wollte nicht mehr mit ihm gehen; ich fürchtete ihn; ich wollte dableiben. Schließlich brach das, was mich so quälte und bedrückte, mit Gewalt aus mir hervor. „Papa!“ rief ich unter strömenden Tränen, „aber Mama? ... – Was wird mit Mama? Wo ist sie? Wo ist meine Mama?“ ... Die Tränen erstickten meine Stimme, ich brachte nichts mehr hervor. Auch er sah mich unter Tränen an. Dann faßte er mich an der Hand, führte mich zum Bett, schob den draufgeworfenen Haufen Kleider fort und schlug die Decke zurück. Mein Gott! Sie lag tot, schon erkaltet und erstarrt. Das Gesicht hatte bereits bläuliche Leichenfarbe. Da warf ich mich, als wäre mir jede Empfindung abhanden gekommen, über sie und umklammerte ihre Leiche. Der Vater stellte mich auf die Knie. „Verneige dich vor ihr, Kind!“ sagte er, „nimm Abschied von ihr ...“ Ich neigte mich tief. Der Vater tat es zugleich mit mir ... Er war unheimlich bleich; seine Lippen bewegten sich und schienen zu flüstern. „_Ich_ war es _nicht_, Njetotschka, _ich nicht_,“ sagte er zu mir, mit zitternder Hand auf die Leiche deutend. „Hörst du, _ich nicht_: _ich bin nicht schuld daran_. Behalt das, Njetotschka.“ „Papa, laß uns jetzt gehen,“ flüsterte ich angstvoll. „Es ist Zeit!“ „Ja, jetzt ist’s Zeit, schon längst Zeit!“ sagte er schnell, faßte fest meine Hand und beeilte sich, das Zimmer zu verlassen. „So, jetzt brechen wir auf! Gott sei Dank, Gott sei Dank, jetzt hat alles ein Ende!“ Wir stiegen die Treppen hinunter. Der verschlafene Hausknecht öffnete uns die Tür, während er uns etwas mißtrauisch musterte und sich fragen mochte, weshalb der Vater sich so beeilte, daß ich ihm kaum nachkam. Wir gingen unsere Straße bis zum Ende und gelangten auf den Kai des Kanals. In der Nacht war Schnee gefallen, der lag weiß auf der Straße, und es schneite auch jetzt noch in feinen Flöckchen. Es war kalt; mich fror bis ins Mark und ich lief dem Vater nach, mich krampfhaft an seinem Frackschoß festhaltend. Die Geige hatte er unterm Arm und immer wieder blieb er stehen, um das Futteral, das zurückglitt, nach vorn zu ziehen. Wir gingen etwa eine Viertelstunde. Da bog er vom Trottoir auf den abschüssigen Weg, der zum Kanal hinabführt, und setzte sich auf den letzten Prellstein. Zwei Schritte von uns war ein Durchgang. Ringsum war keine Menschenseele zu sehen. Gott! Als erlebte ich es noch in diesem Augenblick, so deutlich erinnere ich mich jenes furchtbaren Gefühls, das mich dort plötzlich erfaßte! Endlich also ging das in Erfüllung, wovon ich schon ein Jahr lang geträumt: wir hatten unser armseliges Heim verlassen ... Aber war es denn das, was ich ersehnt, was ich erträumt und erhofft, was meine Kinderphantasie sich aufgebaut, wenn ich mir das Glück desjenigen, den ich so unkindlich liebte, vorzustellen versucht hatte? Doch am meisten quälte mich plötzlich der Gedanke an die Mutter. Warum hatten wir sie verlassen? fragte ich mich, – so ganz allein? Warum hatten wir ihren Leib wie eine unnütze Sache dort liegen lassen? Und ich weiß noch, das quälte und beunruhigte mich mehr als alles andere. „Papachen,“ begann ich, unfähig, meine qualvolle Sorge länger zu ertragen, „Papachen!“ „Was willst du?“ fragte er rauh. „Warum haben wir, Papa, warum haben wir Mama dort gelassen? Warum verließen wir sie?“ fragte ich weinend. „Papachen! Laß uns nach Haus zurückkehren! Laß uns jemand zu ihr rufen.“ „Ja, ja!“ rief er plötzlich auffahrend und er erhob sich vom Prellstein, als sei ihm etwas Neues eingefallen, das alle seine Zweifel aufhob. „Ja, Njetotschka, so geht das nicht: wir müssen zur Mama zurückkehren; sie hat es dort kalt! Geh zu ihr, Njetotschka, dort ist ein Licht, du weißt doch! Fürchte dich nicht, ruf jemand zu ihr und dann komm wieder her zu mir. Geh allein, ich werde dich hier erwarten ... Ich werde nirgendwohin fortgehen ...“ Ich ging, aber kaum war ich wieder auf dem Trottoir, als plötzlich ein Etwas durch mein Herz fuhr ... Jäh blickte ich mich um und da – sah ich ihn laufen, schon auf der anderen Seite, sah ihn von mir fortlaufen! Er verließ mich also, verließ mich in diesem Augenblick! Ich schrie aus aller Kraft und lief ihm in furchtbarer Angst nach. Ich war außer Atem, er aber lief immer schneller, immer schneller ... ich verlor ihn schon aus den Augen. Ich fand seinen Hut, den er im Laufen verloren hatte. Ich hob ihn auf und lief wieder weiter. Ich rang nach Atem und meine Füße wollten mir versagen. Ich hatte die Empfindung, daß etwas Schreckliches mit mir geschah: es schien mir die ganze Zeit, daß das ein Traum sei, und zuweilen hatte ich sogar dasselbe Gefühl wie in einem Traum, wenn mir träumte, daß ich von irgend jemand fortlief, meine Füße aber brechen wollten, während meine Verfolger mich bereits erreichten – und ich selbst jäh in einen Abgrund stürzte. Qual wollte mich zerreißen: er tat mir so leid, mein Herz schrie nach ihm und es wollte brechen, als ich mir vorstellte, wie er lief, so ohne Mantel, ohne Hut, und noch dazu von mir fort, von mir, seinem geliebten Kinde ... Ich wollte ihn schließlich nur erreichen, um ihn noch einmal mit meinen Armen fest zu umschlingen und ihn zu küssen und ihm zu sagen, daß er mich nicht fürchten solle: um ihn meiner Liebe zu versichern, ihn zu beruhigen, um ihm zu sagen, daß ich ihm ja nicht weiter nachlaufen wolle, wenn er das nicht wünsche, daß ich vielmehr allein zur Mutter zurückgehen werde. Ich sah, wie er in eine Straße einbog. Als ich gleichfalls an diese Ecke kam und auch in die Straße einbog, sah ich ihn noch einmal, doch weit vor mir, dahinlaufen ... Dann verließen mich meine Kräfte: ich fing an zu weinen, zu schreien. Ich weiß noch, daß ich während des Laufens mit zwei Männern zusammenstieß, die mitten auf dem Trottoir stehenblieben und verwundert uns beiden nachschauten. „Papa! Papachen!“ rief ich zum letztenmal, doch plötzlich glitt ich aus auf dem Trottoir und fiel hin, gerade vor dem Portal eines Hauses. Ich fühlte, wie Blut mein ganzes Gesicht überströmte. Im nächsten Augenblick verlor ich die Besinnung. – – – – * * * * * Ich erwachte in einem weichen, warmen Bett und erblickte vor mir freundliche, liebevolle Gesichter, die über mein Erwachen sehr froh zu sein schienen. Ich sah eine alte kleine Frau mit einer Brille auf der Nase, einen großen Herrn, der mit tiefem Mitleid auf mich blickte, dann eine wunderschöne junge Dame und zuletzt einen grauen alten Herrn, der meine Hand am Gelenk festhielt und auf seine Uhr sah. Ich war zu einem neuen Leben erwacht. Der eine von den beiden Männern, die mir begegnet waren, während ich dem Vater nachlief, war Fürst H. gewesen, und gerade vor dem Portal seines Hauses war ich hingefallen. Als man nach vieler Mühe endlich erfuhr, wer ich war, entschloß sich der Fürst, der meinem Vater das Billett geschickt hatte und nun nicht wenig bestürzt war über den seltsamen Zufall, mich in sein Haus zu nehmen und mich zusammen mit seinen Kindern zu erziehen. Nachforschungen nach dem Vater ergaben, daß er irgendwo außerhalb der Stadt angehalten und festgenommen worden war, wobei er sich in einem Anfall von Tobsucht wie rasend gewehrt hatte. Er wurde in die Irrenabteilung eines Hospitals geschafft, wo er nach zwei Tagen starb. Er starb, weil ein solcher Tod die natürliche Folge seines Lebens war. Er mußte so sterben, als alles, was ihn im Leben bis dahin aufrechterhalten hatte, mit einemmal zusammengebrochen, als es wie ein Phantom, wie ein Traum vergangen war, wie ein körperloses leeres Phantasiegebilde. Er starb, als auch seine letzte Hoffnung verschwunden, als wie mit einem einzigen Schlage vor seinen eigenen Augen das ganze Werk seiner Einbildung zerspellt worden war und ihm plötzlich alles das klar zur Erkenntnis kam, womit er sich sein Leben lang betrogen und worauf er sich sein Leben lang gestützt hatte. Die Wahrheit blendete ihn mit ihrem unerträglichen Licht, und das, was Irrtum gewesen war, wurde nun auch für ihn selbst Lüge. An jenem Abend hörte er die Kunst eines wirklichen Genies, das unmittelbar zu ihm von sich sprach und das ihn zugleich auf ewig verurteilte. Mit dem letzten Ton, der den Saiten der Geige des großen S–z entflog, tat sich vor ihm das ganze Geheimnis der Kunst auf, und das Genie, das ewig junge, mächtige und echte, erdrückte ihn mit seiner Wahrheit. Als ob alles, was ihn sein ganzes Leben lang nur in geheimen, ungreifbaren Qualen gepeinigt, alles, was ihn bis dahin nur wie ein Spuk geschreckt und in seinen Träumen unfühlbar, unerhaschbar gequält hatte, was sich ihm, wenn auch nur von Zeit zu Zeit, ins Bewußtsein gedrängt, doch wovor er stets mit Entsetzen geflohen war, wovor er sich hinter der Lüge seines ganzen Lebens zu verschanzen gesucht, und alles, was ihm sein Vorgefühl gesagt, aber was er bis dahin nicht hatte einsehen wollen, – als ob all das plötzlich strahlend hell vor ihm aufleuchtete und sich seinen Augen offenbarte, die sich bis dahin so eigensinnig geweigert hatten, das Licht als Licht anzuerkennen, und die Finsternis als Finsternis! Doch die Wahrheit war unerträglich für seine Augen, die zum erstenmal in all das hineinsahen, was gewesen, in das, was war und in das, was ihn erwartete: sie blendete ihn und verbrannte seine Vernunft. Sie traf ihn jäh wie ein Blitz, und sie zündete auch wie ein Blitz. So war denn das geschehen, was er sein Leben lang mit Bangen und Schauder erwartet hatte. Das Richtschwert, das schon immer über seinem Kopf gehangen, als habe er zeit seines Lebens in unsagbaren Qualen jeden Augenblick erwartet, daß es auf ihn fallen werde, – nun endlich war es wirklich gefallen! Der Schlag war tödlich. Er wollte fliehen vor dem Gericht über sich, aber es gab für ihn kein Wohin, denn seine letzte Hoffnung war verschwunden, seine letzte Entschuldigung ihm genommen. Diejenige, deren Leben so viele Jahre auf ihm gelastet, die ihn angeblich nicht leben ließ, die, nach deren Tode er seinem blinden Glauben nach plötzlich aufleben, ja gewissermaßen auferstehen würde, – die war nun tot. Jetzt war er endlich allein, nichts bedrückte ihn mehr, nichts fesselte ihn mehr: jetzt war er endlich frei! Da wollte er zum letztenmal in krampfhafter Verzweiflung über sich ein Urteil fällen, wollte wie ein unparteiischer Richter ohne Ansehen der Person unerbittlich streng und gerecht über sich selbst Gericht halten. Doch sein entkräfteter Bogen war unfähig, seinen innersten musikalischen Willen zu gestalten ... Und in dem Augenblick, in dem er das erkannte, ergriff der Wahnsinn, der schon zehn Jahre lang auf ihn gelauert hatte, von ihm Besitz. IV. Meine Genesung machte nur langsame Fortschritte; doch auch dann noch, als ich schon nicht mehr zu Bett lag, waren meine Sinne noch lange Zeit wie gelähmt und ich konnte nicht begreifen, was nun eigentlich mit mir geschehen war. Es gab Augenblicke, in denen es mir schien, daß ich träumte, und ich weiß noch, wie sehr ich wünschte, daß alles Geschehene wirklich nur ein Traum gewesen sein möge! Wenn ich abends einschlief, dann hoffte ich, plötzlich wieder in unserer ärmlichen Dachstube zu erwachen und den Vater und die Mutter zu erblicken ... Allmählich aber wurde mir doch meine neue Lage klarer und ich begriff nach und nach, daß ich ganz allein zurückgeblieben war und bei fremden Menschen lebte. Da fühlte ich es denn zum erstenmal, daß ich eine Waise war. Wißbegierig begann ich, all das Neue, das mich nun umgab, zu betrachten und zu beobachten. Anfangs erschien mir das Ganze so seltsam und märchenhaft, alles verwirrte mich: sowohl die neuen Gesichter wie die neue Lebensart und die Gemächer des alten fürstlichen Hauses, die mir noch heute so deutlich vor Augen stehen, – so groß und hoch und prächtig, aber auch so düster und dunkel waren sie, daß ich, ich weiß es noch wie heute, im Ernst fürchtete, durch irgendeinen langen, langen Saal gehen zu müssen, in dem ich mich, wie mir schien, vollständig zu verlieren glaubte. Meine Krankheit war noch nicht ganz überstanden und deshalb waren auch meine Eindrücke so lastend, wie es bei meiner Stimmung und dem Düster-Feierlichen dieses Hauses wohl eben nicht anders sein konnte. Hinzukam, daß eine mir selbst unklare Sehnsucht und Bangigkeit in meinem kleinen Kinderherzen immer größer wurde. Mit Verwunderung blieb ich zuweilen vor einem Gemälde, einem Spiegel, einem Kamin von kunstvoller Arbeit stehen, oder vor einer Statue, die sich gleichsam nur zu dem Zweck in einer tiefen Nische versteckt hatte, um von dort aus mich besser beobachten zu können oder mich irgendwie zu erschrecken. – Ich blieb stehen und dann wußte ich plötzlich selbst nicht mehr, weshalb ich stand, was ich wollte, woran ich dachte, und nach diesem Erwachen befiel mich immer eine gewisse Angst und Verwirrung und mein Herz schlug laut. Von den Menschen, die ich während meiner Krankheit außer dem alten kleinen Hausarzt hin und wieder zu sehen bekam, machte ein schon ältlicher Herr den größten Eindruck auf mich. Er war immer ernst, aber zugleich war er so gütig, und er konnte mich bisweilen mit so tiefem, aufrichtigem Mitleid ansehen! Sein Gesicht war mir bald das liebste von allen. Gern hätte ich mit ihm gesprochen, aber ich wagte nicht anzufangen: er sah fast immer niedergeschlagen aus, auch sprach er wenig, meist nur ein paar Worte, und niemals erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. Das war der Fürst H., der mich gefunden und in seinem Hause aufgenommen hatte. Als ich mich schon auf dem Wege der Besserung befand, wurden seine Besuche seltener. Und als er, wie es hieß, zum letztenmal kam, brachte er mir Konfekt, ferner ein Kinderbuch mit Bildern mit und küßte und bekreuzte mich und bat mich, doch nicht mehr so traurig zu sein. Während er mir tröstend zuredete, sagte er mir, daß ich bald eine Freundin haben werde, ein kleines Mädchen wie ich, seine Tochter Katjä, die vorläufig noch in Moskau sei. Darauf sprach er mit einer ältlichen Französin, der Erzieherin seiner Kinder, und mit dem mich pflegenden Mädchen, wies auf mich und verließ uns. Seitdem sah ich ihn ganze drei Wochen nicht. Der Fürst lebte in seinem Hause sehr einsam. Die größere Hälfte des Hauses bewohnte die Fürstin, doch sah sie ihren Mann oft wochenlang nicht ein einziges Mal. Mit der Zeit fiel es mir auf, daß auch die Dienstboten, daß überhaupt alle Hausbewohner selten von ihm sprachen, als hätte er gar nicht im Hause gelebt. Alle achteten ihn und augenscheinlich liebten sie ihn sogar, indessen schienen sie ihn doch für so etwas wie einen Sonderling zu halten. Und es war, als wisse auch er, daß er sehr seltsam erschien, irgendwie unähnlich den anderen Menschen, und als vermeide er es deshalb nach Möglichkeit, sich zu zeigen ... Ich werde an einer anderen Stelle noch auf ihn zurückkommen und sehr viel und recht ausführlich von ihm erzählen müssen. Eines Morgens zog man mir reine, feine Wäsche an und ein schwarzes wollenes Kleid mit weißem Trauerbesatz – ein Kleid, auf das ich mit trauriger Verwunderung sah; mein Haar wurde sorgfältig gebürstet, und dann führte man mich aus den oberen Zimmern nach unten in die Gemächer der Fürstin. Ich stand wie gebannt, als die mich Führende schließlich meine Hand freigab: eine solche Pracht, solch einen Reichtum ringsum hatte ich noch nie gesehen. Doch dieser Eindruck währte nur einen Augenblick und ich erbleichte, als ich die Stimme der Fürstin vernahm, die mich näher herantreten hieß. Schon während des Ankleidens hatte ich gefühlt und gefürchtet, daß mich irgendeine Qual erwartete, obschon ich selber nicht begreife, wie ich auf diesen Gedanken kam. Überhaupt trat ich mit einem seltsamen Mißtrauen in die Welt meines neuen Lebens und dieses Mißtrauen brachte ich ohne Ausnahme allem entgegen, was an mich an Neuem herankam. Die Fürstin war sehr freundlich zu mir und küßte mich. Da wagte ich denn, sie etwas weniger befangen anzusehen. Sie war dieselbe schöne Dame, die ich schon an meinem Bett gesehen hatte, als ich aus meiner Bewußtlosigkeit zu mir kam. Ich küßte ihre Hand, zitterte aber dabei doch so sehr, daß ich auf ihre Fragen keine einzige Antwort zu geben vermochte – ich konnte mich einfach nicht so weit sammeln. Sie ließ mich auf einem niedrigen Taburett neben sich hinsetzen. Ich glaube, dieser Platz war schon im voraus für mich bestimmt. Allem Anschein nach hatte die Fürstin nur den einen Wunsch, mich mit ganzer Seele an sich zu schließen, mich ganz zu gewinnen und mir vollständig die Mutter zu ersetzen. Ich dagegen konnte nicht begreifen, daß ich bereits in ihrer Gunst stand, durch mein Verhalten aber in ihrer Einschätzung nichts gewann. Man gab mir ein schönes Bilderbuch und sagte, ich solle die Bilder betrachten. Die Fürstin selbst schrieb an einem Brief, hielt aber hin und wieder im Schreiben inne, um verschiedene Fragen an mich zu stellen, auf die ich jedoch nichts Gescheites zu antworten wußte – ich war verwirrt, stockte, verlor den Faden und wagte nicht, von neuem anzufangen. Kurz, obschon mein früheres Leben ein recht ungewöhnliches gewesen war und die größere Rolle das Schicksal in ihm gespielt hatte, das die Wege der Eltern, man kann wohl sagen, mystisch verbunden, und obgleich es überhaupt viel Interessantes und Unerklärliches, ja sogar etwas Phantastisches gehabt, so erschien ich doch in diesem Augenblick – es wirkte ordentlich komisch inmitten der ganzen melodramatischen Situation, in der ich mich befand – als ein ganz gewöhnliches, schüchternes oder eingeschüchtertes und genau genommen sogar dummes Kind. Namentlich letzteres gefiel der Fürstin äußerst wenig, und ich glaube, sie hatte mich sehr bald satt, was natürlich nur meine Schuld war. Gegen drei Uhr kamen die ersten Gäste – es war der Empfangstag der Fürstin – und sie war nun wieder sehr freundlich und lieb zu mir. Auf die Fragen der Fremden nach mir, antwortete sie: oh, das sei ein sehr interessanter Fall – und dann erzählte sie auf französisch alles Weitere. Während ihrer Erzählung sahen mich alle an, man schüttelte die Köpfe, Ausrufe des Bedauerns wurden laut. Ein junger Herr richtete seine Lorgnette auf mich und musterte mich eingehend; ein wohlriechender alter kleiner Herr wollte mich küssen, ich aber saß erbleichend und errötend, mit niedergeschlagenen Augen, wagte mich nicht zu rühren und zitterte am ganzen Körper. Mein Herz schlug dumpf und tat mir zum Brechen weh. Ich versetzte mich in mein früheres Leben, in unsere ärmliche Dachkammer, ich dachte an den Vater, an unsere langen, schweigsamen Abende, an die Mutter, und als ich an die Mutter dachte – da schwammen meine Augen plötzlich in Tränen und die Kehle war mir wie zugeschnürt. Ach, und ich wäre so gern fortgelaufen, verschwunden, allein geblieben ... Dann, als der letzte Besuch gegangen war, wurde das Gesicht der Fürstin wieder merklich strenger. Sie sah mich jetzt nichts weniger als freundlich an, sprach trocken zu mir, indes ihre durchdringend blickenden fast schwarzen Augen auf mir ruhten, die bisweilen wohl eine Viertelstunde lang auf mich gerichtet waren, und ihre fest zusammengepreßten schmalen Lippen mich ganz besonders einschüchterten. Am Abend wurde ich nach oben zurückgeführt. Ich fieberte im Einschlafen, erwachte in der Nacht aus wirren Träumen, weinte und war so unglücklich! Am nächsten Tage aber begann wieder dasselbe Spiel, d. h. man brachte mich wieder zur Fürstin. Schließlich wurde es ihr langweilig, ihren Gästen von mir zu erzählen, und den Gästen – ihr Mitleid und Bedauern zu äußern. Überdies war ich auch noch ein so gewöhnliches Kind, „ohne jegliche Naivität“, wie, ich weiß noch, die Fürstin sich in einem Gespräch mit einer älteren Dame unter vier Augen auf deren Frage ausdrückte, ob es sie denn wirklich nicht langweile, sich mit mir „abzugeben“? Da wurde ich denn am Abend fortgeführt und brauchte nicht wieder zu ihr zurückzukehren. Ich hatte meine Rolle in ihrer Gunst ausgespielt. Übrigens durfte ich überall hingehen und mich aufhalten wo ich wollte. Und ich konnte auch nicht stillsitzen: eine tiefe, krankhafte Unruhe, die wohl aus dem Heimweh und einer unbestimmten Sehnsucht irgendwohin entstand, peinigte mich und ich war froh, wenn ich endlich von allen fortgehen konnte, nach unten in die großen Räume. Ich weiß noch, ich hätte so gern mit den Dienstboten gesprochen, aber ich fürchtete, sie könnten böse werden, und so schwieg ich lieber und blieb einsam. Mein liebster Zeitvertreib war: mich irgendwo in einem Winkel zu verstecken, wo es möglichst unauffällig war – hinter einem Stuhl oder einem anderen Gegenstand, der mich vollständig verbarg – und mich dann dort gleich in die Erinnerung zu versenken und über alles, was mit mir geschehen war, nachzudenken. Doch sonderbar! – Das Ende meines Zusammenseins mit den Eltern, diese furchtbaren letzten Tage unseres gemeinsamen Lebens, die hatte ich wie vergessen, wenigstens als lebendige Vorgänge lebten sie nicht mehr in mir. Freilich wußte ich noch alles – entsann mich der Nacht und der Geige und des Vaters, ich wußte, wie ich ihm das Geld verschafft hatte; aber alle diese Vorgänge, sagen wir, begreifen, sie mir erklären – das konnte ich nicht ... Es wurde mir nur noch schwerer ums Herz, und wenn ich in der Erinnerung zu jenem Augenblick gelangte, in dem der Vater mich vor der toten Mutter niederknien hieß, dann erschauerte ich plötzlich vor Kälte. Ich zitterte und hätte schreien mögen. Das Atmen wurde mir schwer, so eng wurde mir die Brust und so laut pochte mein Herz, daß ich schließlich erschrocken aus meinem Winkel hinausstrebte und wieder nach oben lief. Übrigens – ich sagte, daß man mich allein ließ, doch ist das nicht ganz wörtlich zu nehmen: ich wurde die ganze Zeit mit peinlicher Gewissenhaftigkeit beaufsichtigt, denn der Fürst hatte es so angeordnet, daß man mir volle Freiheit geben, jedoch mich gleichzeitig nie aus den Augen lassen solle. Es fiel mir auf, daß von Zeit zu Zeit jemand von den Dienstboten oder von den anderen, die im Hause lebten, in das Zimmer sah, wo ich mich gerade aufhielt, und dann wieder fortging, ohne mir ein Wort zu sagen. Diese Aufmerksamkeit wunderte mich und zum Teil beängstigte sie mich sogar. Ich begriff nicht, warum man das tat. So dachte ich mir denn, man wolle mich zu irgendeinem Zweck aufbewahren und dann später Gott weiß was mit mir angeben. Ich weiß noch, deshalb wollte ich auch das Haus immer weiter durchsuchen, um ein Versteck auszukundschaften, in dem ich mich im Notfall verbergen konnte. So verirrte ich mich einmal und kam ganz unvermutet ins Treppenhaus. Da war alles aus weißem Marmor, die Treppe selbst mit Läufern bedeckt und mit Blumen und Vasen geschmückt. Auf jedem Absatz der Treppe saßen je zwei große Menschen, die sehr bunt gekleidet waren, in Handschuhen und blendend weißen Halsbinden. Ich sah sie in höchster Verwunderung an und konnte trotz eifrigen Nachdenkens nicht begreifen, warum sie dort saßen, schwiegen und nur einander ansahen, sonst aber nichts taten. An diesen einsamen Streifzügen durch das fürstliche Palais fand ich mit der Zeit immer mehr Gefallen. Aber es gab da noch einen anderen Grund, weshalb ich so gern aus den oberen Zimmern fortlief. Dort oben lebte eine alte Tante des Fürsten, ein altes Fräulein, das so gut wie nie das Haus, ja fast nicht einmal ihre Zimmer verließ. Diese alte Dame war womöglich die wichtigste Person im Hause und ich fürchtete sie sehr. Im Verkehr mit ihr beobachteten alle eine geradezu feierliche Etikette und sogar die Fürstin, die so stolz und selbstbewußt auf alle herabsah, mußte genau zweimal wöchentlich, an bestimmten Tagen, der Tante persönlich ihren Besuch machen. Sie kam gewöhnlich vormittags; es entspann sich ein trockenes Gespräch, das häufig von feierlichem Schweigen unterbrochen wurde, während die Alte ein Gebet flüsterte oder den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten ließ. Der Besuch dauerte so lange, wie die Tante es gerade für gut befand: sie erhob sich dann von ihrem Platz und küßte die Fürstin auf den Mund, womit sie zu verstehen gab, daß die Fürstin sie nun verlassen konnte. Anfangs hatte die Fürstin diese Tante sogar jeden Tag besuchen müssen, doch war in der Folge auf Wunsch der alten Dame eine Änderung und Erleichterung erfolgt: und zwar brauchte die Fürstin hinfort an den übrigen fünf Tagen der Woche nicht mehr persönlich zu erscheinen, sondern mußte sich nur an jedem Morgen durch einen Diener nach dem Befinden des alten fürstlichen Fräuleins erkundigen. Überhaupt verbrachte sie ihr Leben fast wie in einer Klosterzelle. Mit fünfunddreißig Jahren hatte sie sich auch wirklich einmal in ein Kloster zurückgezogen und siebzehn Jahre daselbst verlebt, jedoch nicht den Schleier genommen. Dann hatte sie das Kloster wieder verlassen und war nach Moskau gezogen, um bei ihrer Schwester, einer verwitweten Gräfin L., deren Gesundheit mit jedem Jahr mehr zu wünschen übrigließ, zu wohnen und sich auch mit der älteren Schwester, einer gleichfalls unverheirateten Fürstin H., zu versöhnen, nachdem sie etwa zwanzig Jahre lang in Feindschaft mit ihr gelebt hatte. Man sagt aber, die drei alten Damen sollen keinen Tag in Eintracht verbracht haben, tausendmal seien sie schon im Begriff gewesen, auseinanderzugehen, was sie dann aber doch nicht taten, da schließlich eine jede von ihnen den beiden anderen unentbehrlich geworden war, eben weil die Streitigkeiten die Langeweile und damit die trüben Stunden des Alterns verscheuchten. Doch ungeachtet dieses ihres wenig anziehenden Lebens und des feierlichen Stumpfsinns, der in ihrem Moskauer Palais herrschte, hielt es doch die ganze Moskauer Gesellschaft für ihre Pflicht, die Besuche bei den drei alten Damen fortzusetzen. Man sah in ihnen einfach die Hüterinnen aller aristokratischen Überlieferungen und Gesetze des alten Bojarentums. Die Gräfin soll übrigens eine prächtige Frau gewesen sein, wenigstens lebte sie noch nach ihrem Tode in vielen guten Erinnerungen fort. Petersburger, die nach Moskau kamen, machten bei ihnen ihre ersten Besuche. Wer in ihrem Hause empfangen wurde, der wurde überall empfangen. Nach dem Tode der Gräfin trennten sich die unverheirateten Schwestern: die ältere blieb in Moskau und trat dort ihren Teil von der Hinterlassenschaft der kinderlosen Gräfin an, und die jüngere, die zeitweilige Klosterfrau, siedelte nach Petersburg zu ihrem Neffen, dem Fürsten H., über. Dafür mußten die beiden Kinder des Fürsten, Katjä und Alexander, nach dem Tode der Gräfin in Moskau bei der Großtante bleiben, zu ihrer Zerstreuung und zu ihrem Trost in der Einsamkeit. Die Fürstin, die ihre Kinder leidenschaftlich liebte, durfte kein Wort dawider reden und mußte für die ganze Zeit der Trauer auf ihre Kinder verzichten. Ich vergaß zu sagen, daß das ganze Haus noch Trauer trug als ich hinkam, aber die Frist nahte sich schon ihrem Ende. Die alte kleine Dame kleidete sich nur in Schwarz und die Kleider waren alle von gewöhnlichem schwarzem Wollenstoff. Dazu trug sie fein gefältelte und gesteifte weiße Krägelchen, die ihr das Aussehen einer Stiftsdame verliehen. Der Rosenkranz kam nie aus ihrer Hand, und feierlich fuhr sie regelmäßig zum Morgengottesdienst, fastete nahezu täglich, empfing verschiedene höhere Geistliche und andere ehrbare Personen und las in frommen Büchern. Sie führte, mit einem Wort, ein richtiges Klosterleben. Deshalb herrschte auch in den oberen Zimmern eine unheimliche Stille; nicht einmal eine Tür durfte kreischen: die Alte hatte ein Gehör wie eine fünfzehnjährige und ließ sogleich nach der Ursache des geringsten Geräusches fragen. Deshalb sprachen dort alle nur flüsternd und schlichen auf den Fußspitzen, ja die arme Französin, auch ein altes Dämchen, mußte sogar auf ihr geliebtes Schuhwerk verzichten – auf Stiefel mit hohen Absätzen! Denn: Absätze waren verpönt. Zwei Wochen nach meiner Aufnahme im Hause, ließ die alte Dame sich plötzlich nach mir erkundigen: wer ich sei, was ich tue, wie ich ins Haus gekommen usw., usw. Ihre Wißbegier wurde sogleich mit größter Diensteifrigkeit befriedigt. Darauf erschien der zweite Abgesandte bei der Französin, um zu fragen, warum die Prinzessin mich bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen habe. Da war die Aufregung groß: mir wurde schnell das Haar gekämmt, wurden Gesicht und Hände gewaschen, obschon sie ganz rein waren, man zeigte mir, wie ich mich verbeugen, wie ich die Hand küssen mußte, auch sollte ich freundlich dreinschauen und munter sprechen – kurz, man brachte mich vollständig aus dem Gleichgewicht. Darauf machte sich von uns aus eine Abgesandte auf den Weg, um die Prinzessin zu fragen, ob sie nicht das Waisenkindchen zu sehen wünsche? Die Antwort lautete zunächst verneinend, doch gab sie dann eine andere Stunde an: man solle mich am nächsten Tage nach der Morgenandacht zu ihr bringen. Ich schlief die ganze Nacht nicht und man sagte mir später, ich hätte viel phantasiert, wohl weil ich im Traum schon zu ihr gegangen sei, denn ich habe sie aus Gott weiß welchem Grunde immer wieder um Verzeihung gebeten. Endlich erfolgte meine Vorstellung. Ich erblickte eine hagere, kleine Dame, die auf einem riesengroßen Lehnstuhle saß. Sie nickte mir zu und setzte sich die Brille auf, um mich besser betrachten zu können. Ich weiß noch, daß ich ihr gar nicht gefiel. Sie machte die Bemerkung, ich sei ganz verwildert, verstände weder die Hand zu küssen, noch zu knixen. Es folgten Fragen, auf die ich keine Silbe zu antworten wußte; als sie mich aber nach meinen Eltern zu fragen anfing, da begann ich zu weinen. Das war der alten Dame sehr unangenehm. Übrigens versuchte sie mich zu trösten und sagte mir, ich solle auf Gott vertrauen. Darauf fragte sie, wann ich zum letztenmal in der Kirche gewesen sei, und da ich ihre Frage kaum verstand – denn in der Beziehung wußte ich noch so gut wie nichts – geriet sie in Entsetzen über meine bisherige Erziehung. Sie ließ die Fürstin zu sich bitten. Es folgte eine ernste Beratung, die damit endete, daß man beschloß, mich sogleich am nächsten Sonntag in die Kirche zu führen. Bis dahin wollte die alte Dame für mich beten. Zugleich sagte sie, man solle mich wegbringen, ich hätte einen sehr ungünstigen Eindruck auf sie gemacht. Das war freilich kein Wunder, anders hätte es wohl gar nicht sein können. Aber ihr Mißfallen war doch schon mehr als augenscheinlich. Am selben Tage noch ließ sie sagen, ich sei zu unartig, man höre mich im ganzen Hause – während ich die Zeit über mäuschenstill gesessen hatte. Natürlich hatte es der alten Dame nur so geschienen. Indes erfolgte diese Bemerkung auch am nächsten Tage. Zum Unglück ließ ich noch eine Tasse fallen, die auf dem Parkett zerschlug. Darüber gerieten die Französin und alle Dienerinnen fast außer sich, und ich wurde sogleich ins entlegenste Zimmer gebracht, wohin mir alle händeringend und kopfschüttelnd folgten. Ich erinnere mich nicht mehr, wie die Sache schließlich auslief. Jedenfalls lag hier der andere Grund, weshalb ich mich so viel lieber unten in den großen Räumen aufhielt, denn dort, das wußte ich, beunruhigte ich keinen Menschen. Einmal saß ich unten in einem Saal ganz allein. Ich saß, das Gesicht wieder in den Händen vergraben, den Kopf gesenkt, und rührte mich nicht. Ich weiß nicht, wie viele Stunden darüber vergingen. Ich dachte und dachte vergeblich, denn mein junger unreifer Verstand konnte meinen Gram nicht bewältigen und es wurde mir immer schwerer ums Herz und mein Kummer wurde immer größer. Da vernahm ich plötzlich eine leise Stimme über mir: „Was fehlt dir, meine Arme?“ Ich sah auf: es war der Fürst. Aus seinem gütigen Gesicht sprach soviel tiefes Mitleid, so aufrichtige Teilnahme! Aber ich sah ihn so unglücklich, so traurig an, daß seine großen blauen Augen feucht wurden. „Arme kleine Waise!“ sagte er leise und streichelte meinen Kopf. „Nein, nein, nicht Waise! Nein!“ stammelte ich – und ich stöhnte, denn alles erhob sich in mir und ich wollte mich gleichsam losringen von etwas Ungreifbarem, das mich zu umklammern drohte. Ich glitt vom Stuhl, hielt seine Hand umfaßt, küßte sie, daß meine Tränen sie benetzten, und wiederholte nur flehend: „Nein, nein, nicht Waise! Nicht!“ „Mein Kind, – was hast du nur, meine arme Kleine? Was fehlt dir, Njetotschka?“ „Wo ist Mama? Wo ist meine Mama?“ rief ich laut weinend, unfähig, meinen Kummer noch länger zu verbergen – und kraftlos sank ich vor ihm auf die Knie. „Wo ist meine Mama? Sag’ mir, wo ist meine Mama?“ „Verzeih mir, mein Kind! ... Ach, du arme Kleine, da habe ich sie daran erinnert ... Mein Gott, was habe ich getan! Komm, komm mit mir, Njetotschka, komm!“ Er faßte mich an der Hand und führte mich mit sich fort. Er war sichtlich erschüttert. Wir gelangten in einen Raum, in dem ich noch nie gewesen war. Es war das Betzimmer. Draußen herrschte bereits Dämmerung. Im Licht der Lämpchen strahlten hell die goldenen Einfassungen und die Edelsteine der Heiligenbilder. Aus all diesem Glanz und Gold schauten dunkel und matt die Antlitze der Heiligen. Alles erinnerte hier so wenig an die anderen Zimmer, war so unähnlich dem, was ich bis dahin überhaupt gesehen hatte, war so geheimnisvoll und ernst, daß ich bestürzt stillstand und der Schreck sich meines Herzens bemächtigte. Meine Nerven waren ja ohnehin schon in krankhafter Erregung. Der Fürst ließ mich vor dem Muttergottesbilde niederknien und blieb neben mir stehen. „Bete, Kind, bete hier; oder laß uns gemeinsam beten,“ sagte er mit leiser, stockender Stimme. Doch ich konnte nicht beten: ich war zu bestürzt, zu erschrocken – mir fielen die Worte des Vaters ein, in jener letzten Nacht, an der Leiche der Mutter, und ich bekam einen neuen Nervenanfall. Ich mußte wieder das Bett hüten, und während dieser zweiten Periode meiner Krankheit wäre ich fast gestorben. Die Ursache dieser Verschlimmerung war folgende: Eines Morgens schlug ein bekannter Name an mein Ohr: S–z. Eines von den Dienstmädchen hatte den Namen an meinem Bett genannt. Ich fuhr zusammen: die Erinnerungen stürzten über mich, und sinnend, träumend und mich quälend lag ich in Fieberphantasien, ich weiß nicht wie viele Stunden. Als ich erwachte, mußte es schon sehr spät sein: im Zimmer war es dunkel. Die Nachtlampe war erloschen, das Mädchen, das im Zimmer gesessen hatte, war nicht da. Plötzlich hörte ich ferne Musik. Bisweilen verstummten die Töne ganz, dann aber wurden sie wieder deutlicher und deutlicher, als näherten sie sich mir. Ich weiß nicht, welch ein Gefühl sich meiner bemächtigte, noch welch eine Absicht in meinem fiebernden Kopf plötzlich entstand. Ich erhob mich, stieg aus dem Bett – woher ich die Kraft dazu nahm, weiß ich nicht – zog mir schnell mein Trauerkleidchen an und verließ tastend das Zimmer. Im zweiten und dritten Zimmer traf ich auch keinen Menschen. Endlich erreichte ich den Korridor. Die Musik wurde lauter und lauter. In der Mitte des Korridors war die Treppe; auf diesem Wege hatte ich mich immer nach unten in die großen Säle geschlichen. Die Treppe war hell erleuchtet; unten hörte ich Schritte. Ich verbarg mich in einem Winkel, um nicht gesehen zu werden, und bei der ersten Möglichkeit schlich ich nach unten in den großen Korridor. Die Musik tönte aus dem angrenzenden großen Saal; von dorther kam auch Geräusch und ein Stimmengewirr, als hätten sich an tausend Menschen dort versammelt. Die große Tür, die aus dem Korridor in den Saal führte, war verhängt mit doppelten purpurroten Sammetportieren. Ich hob die erste auf, die auf der Korridorseite hing, und stellte mich zwischen beide Portieren. Mein Herz schlug so stark, daß ich mich kaum auf den Füßen hielt. Nach ein paar Minuten hatte ich meine Aufregung so weit bezwungen, daß ich schon wagte, den Rand der anderen Portiere, die an der Saalseite der Tür hing, ein wenig umzubiegen ... Mein Gott! Dieser riesengroße düstere Saal, den am Tage zu betreten ich mich kaum getraut hatte, flimmerte jetzt im Licht von tausend Kerzen. Wie ein Meer von Licht strahlte es mir entgegen, so daß meine Augen, die sich an das Dunkel gewöhnt hatten, im ersten Moment bis zum Schmerz geblendet waren. Aromatische Luft schlug mir wie ein heißer duftender Wind entgegen. Eine Unmenge Menschen wogte dort durcheinander und alle sahen, wie mir schien, froh, heiter, glücklich aus. Die Damen hatten so schöne, so helle Toiletten, überall sah ich vor Vergnügen leuchtende Augen. Ich stand wie bezaubert. Doch war es mir, als hätte ich das alles schon irgendwo, irgendwann wie im Traum gesehen ... Mir fielen die Stunden der Dämmerung ein, unsere Dachstube, das hohe Fenster, tief unten die Straße mit den strahlenden Laternen, die Fenster des gegenüberliegenden Hauses mit den roten Vorhängen, die Equipagen vor dem Portal, der Hufschlag und das Schnaufen der stolzen Pferde, das Rufen und Durcheinander auf der Straße, die Schattenbilder hinter den Fenstern auf den leuchtend roten seidenen Vorhängen, und dazu eine gedämpfte ferne Musik ... Also hier war dieses Paradies! fuhr es mir durch den Sinn, hierher also wollte ich mit dem armen Vater gehen ... So war denn das alles kein Traum? ... Ja, ich hatte das alles in meinen Träumen schon gesehen! ... Hellauf lohte meine Phantasie, deren Feuer von der Krankheit bereits doppelt geschürt sein mochte, und Tränen einer geradezu schrankenlosen Seligkeit rollten mir über die Wangen. Ich suchte mit den Augen den Vater in dieser Gesellschaft: „der muß hier sein, er ist gewiß hier,“ dachte ich und mein Herz schlug so vor Erwartung und Spannung, daß mir der Atem stockte ... Die Musik verstummte, doch gleich darauf erhob sich ein großes Getöse, und dann ging es durch den ganzen Saal wie ein Geflüster. Ich betrachtete voll Neugier und Unruhe die Gesichter, die ich sehen konnte, und bemühte mich, jemanden zu erkennen. Plötzlich ging eine neue große Erregung durch den Saal. Ich erblickte auf einer Erhöhung einen großen, hageren Greis. Sein bleiches Gesicht lächelte, er verbeugte sich etwas steif und grüßte nach allen Seiten. In der Hand hatte er eine Geige. Tiefes Schweigen trat ein, es war, als hielten alle den Atem an, alle sahen auf den Greis, alle schienen etwas zu erwarten. Da nahm er die Geige, hob den Arm und berührte mit dem Bogen die Saiten. Die Musik begann, und ich fühlte, wie etwas mir das Herz zusammenpreßte. Mit einem Gefühl von unsagbarer Angst und mit zurückgehaltenem Atem horchte ich auf diese Töne: etwas Bekanntes erklang in meinen Ohren, als hätte ich das schon irgendwo gehört: – und wie eine Vorahnung stieg es in mir auf, wie eine Erwartung von etwas Furchtbarem, etwas Entsetzlichem, das sich auch in meinem Herzen entscheiden sollte. Schon klang die Geige lauter, schneller und greller folgten die Töne. Da klang es bereits wie eines Menschen Gestöhn, darauf wie klagendes Schluchzen, wie jemandes vergebliches Flehen, doch die Menge blieb stumm, während die Töne über sie hinklangen – dann stöhnten sie auf und versagten wie in Verzweiflung. Immer bekannter, immer bekannter wurde mir etwas im Herzen. Aber das Herz weigerte sich noch, daran zu glauben ... Ich biß die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen vor Schmerz, ich klammerte mich an die Portiere, um nicht hinzufallen ... Ich schloß die Augen, und schlug sie plötzlich wieder auf: ich glaubte nichts anderes, als daß es ein Traum sei, aus dem ich in einem furchtbaren, mir aber schon bekannten Augenblick erwachen werde, und ich sah wie im Traum wieder jene letzte Nacht, ich hörte dieselben Töne ... Ich schlug wieder die Augen auf, um mich zu überzeugen – sah die Menschenmenge ... Nein, das waren andere Menschen, andere Gesichter ... Und doch war es mir, als ob alle ganz wie ich etwas erwarteten, ganz wie ich sich in tiefer Sehnsucht quälten, wie ich diesen Tönen der Verzweiflung entgegenschreien wollten: doch aufzuhören, nicht ihre Seelen zu zerreißen – aber das zitternde Beschwören und Flehen der Töne wurde nur noch herzzerreißender, verzweifelter und haltloser ... bis plötzlich der letzte furchtbare, rasende Schrei ertönte und mir fast die Sinne nahm ... Kein Zweifel! das war derselbe, derselbe Schrei! Ich erkannte ihn, ich hatte ihn schon einmal gehört, wie damals in jener Nacht durchbohrte er mich. „Der Vater! der Vater!“ durchzuckte es mich wie ein Blitz, „er ist hier, das ist er, er ruft mich, das ist seine Geige!“ Und wie ein Stöhnen erhob es sich aus dieser Menschenmasse, ohrenbetäubendes Getöse erschütterte den Saal. Lautes, verzweifeltes Weinen brach aus meiner Brust. Ich hielt es nicht mehr aus, ich schlug die Portiere zurück und stürzte in den Saal. „Papa! Papa! das bist du! Wo bist du?“ rief ich wie von Sinnen. Ich weiß nicht, wie ich zu ihm hinkam: man ließ mich durch, man trat vor mir auseinander, und ich warf mich mit einem gequälten Schrei ihm entgegen – ich glaubte, den Vater zu umarmen ... Plötzlich sah ich, daß mich jemandes lange, hagere Hände erfaßten und hoch in die Luft hoben. Jemandes schwarze Augen sahen mich an und schienen mich verbrennen zu wollen mit ihrem Feuer. Ich starrte ihn an: „Nein! Das ist nicht der Vater! Das ist sein Mörder!“ fuhr es mir durch den Sinn. Da geriet ich so außer mir, eine so rasende Verzweiflung erfaßte mich – und plötzlich schien es mir, daß über mir ein Lachen erklang und dieses Lachen vom ganzen Saal widerhallte, wie ein einziger brausender Beifall ... Ich verlor das Bewußtsein. V. Das war die zweite und letzte Periode meiner Krankheit. Als ich wieder zu Bewußtsein erwachte, erblickte ich das Gesicht eines Kindes vor mir, eines Mädchens von ungefähr meinem Alter, und unwillkürlich streckte ich ihr die Hände entgegen. Schon der erste Blick auf diese Altersgenossin hatte meine Seele wie mit einem Glücksgefühl, wie mit einer süßen Vorahnung erfüllt. Es war ein ideal schönes Gesichtchen, eine geradezu ergreifende, eine strahlende Schönheit – von jener Schönheit, vor der man plötzlich stehen bleibt, wie durchbohrt in süßer Verwirrung, wie erschrocken vor Entzücken, und der man dankbar ist allein schon für ihr Vorhandensein, dafür, daß unsere Augen sie schauen dürfen, und daß sie uns begegnet ist. Es war die Tochter des Fürsten, Katjä, die während meiner Krankheit aus Moskau zurückgekehrt war. Sie lächelte mir zu, als sie meine unwillkürliche Bewegung sah, und meine geschwächten Nerven erbebten bei diesem Lächeln in süßem Entzücken. Die kleine Prinzeß rief sogleich ihren Vater, der keine zwei Schritte vom Bett mit dem Arzt sprach. „Nun, gottlob! Endlich! Nun, Gott sei Dank!“ rief der Fürst, meine Hand erfassend, und sein Gesicht verriet aufrichtige Freude. „Das freut mich, das freut mich, das ist doch ein Glück!“ fuhr er schnell zu sprechen fort – es war seine Art, schnell, wenn auch meist leise zu sprechen. „Und dies kleine Mädchen hier ist meine Katjä, mein Töchterchen. Nun könnt ihr Freundschaft schließen – jetzt hast du eine Spielgefährtin. Aber du mußt nun auch schnell gesund werden, Njetotschka. Du böses kleines Mädchen, wie wir uns um dich geängstigt haben! ...“ Meine Genesung machte auch wirklich sehr schnelle Fortschritte. Nach ein paar Tagen konnte ich schon das Bett verlassen. Jeden Morgen kam Katjä an mein Bett, immer mit einem Lächeln oder gar Lachen, das nicht von ihren Lippen wich. Auf ihr Erscheinen wartete ich wie auf ein Glück. Ich hätte sie so gern geküßt! Aber das mutwillige Prinzeßchen kam immer nur auf ganz kurze Zeit, sie konnte fast überhaupt nicht stillsitzen. Ewige Unruhe, laufen, springen, lachen und tollen, daß man es im ganzen Hause hörte – das war für sie einfach Lebensbedingung. Deshalb erklärte sie mir auch gleich am ersten Tage, daß es sie furchtbar langweile, bei mir zu sitzen: sie werde daher nur sehr selten zu mir kommen, und auch das nur deshalb, weil ich ihr leid täte – da ginge es eben nicht anders, denn gar nicht kommen, das ginge wiederum auch nicht. Aber wenn ich gesund sein würde, dann sollten wir – so versprach sie – sehr gut miteinander auskommen. Es war denn auch jeden Morgen ihr erstes Wort: „Nu, bist du jetzt gesund?“ Da ich aber immer noch mager und bleich war und das Lächeln sich nur schüchtern, mit zaghafter Angst gepaart, in meinem traurigen Gesicht hervorwagte, so runzelte das Prinzeßchen die Stirn, schüttelte mißbilligend das Köpfchen und ihr kleiner Fuß stampfte oft ungeduldig auf. „Aber ich sagte dir doch gestern, daß du heute gesund sein sollst! Was? Man gibt dir wohl nichts zu essen?“ „Ja, wenig,“ antwortete ich schüchtern, denn ich fürchtete mich schon vor ihr. Ich hatte nur den einen Wunsch: ihr zu gefallen, und deshalb fürchtete ich für jedes Wort, für jede Bewegung. Ihr Kommen entzückte mich mit jedem Tage mehr. Solange sie bei mir saß, ließ ich sie nicht aus den Augen, und wenn sie fortgegangen war, sah ich immer noch dorthin, wo sie zuletzt gestanden oder gesessen hatte. Ja, in der Nacht sah ich sie sogar schon in meinen Träumen. Im Wachen aber, wenn sie nicht bei mir war, ersann ich ganze Gespräche mit ihr, war ihr Freund, tollte, spielte und weinte mit ihr, wenn man uns schalt oder für irgendeine besondere Tollheit bestrafen wollte. Kurz, ich dachte an sie und sah sie im Traum und träumte von ihr, als wäre ich in sie verliebt gewesen. Ich wollte um jeden Preis bald gesund werden und schnell zunehmen, wie sie es wünschte. Wenn sie zuweilen morgens in mein Zimmer gestürmt kam und ich dann wieder ihre ungeduldige Frage hörte: „Bist noch nicht gesund? Ach Gott, immer noch bist du so mager!“ dann wurde ich ängstlich, als wäre dies meine Schuld. Es konnte aber auch schwerlich etwas Ernsteres geben, als die Verwunderung Katjäs darüber, daß ich nicht binnen vierundzwanzig Stunden genas, worüber sie sich bereits allen Ernstes zu ärgern anfing. „Nu, dann – willst du, ich bringe dir heute eine Pastete?“ sagte sie mir einmal. „Iß sie, davon wirst du bald wieder dick.“ „Bring,“ sagte ich, froh darüber, daß ich sie nochmals zu sehen bekommen würde. Nach der Erkundigung, ob ich schon gesund sei, setzte sich das Prinzeßchen gewöhnlich mir gegenüber und begann mich mit ihren dunklen Augen ernsthaft zu betrachten. Und auch jedesmal, wenn sie mir etwas sagte oder mich fragte, betrachtete sie mich zuvor von oben bis unten mit der naivsten Verwunderung. Aber unsere Unterhaltung kam nie so recht in Gang. Ich fürchtete mich vor Katjä und ihren schroffen Ausfällen, während ich anderseits fast verging vor Verlangen, mit ihr zu sprechen. „Warum schweigst du?“ begann sie, nachdem wir uns eine Zeitlang stumm betrachtet hatten. „Was macht dein Papa?“ fragte ich, froh über die plötzlich gefundene Frage, mit der ich nun jedesmal ein Gespräch anfangen konnte. „Nichts. Es geht ihm gut. Ich habe heute zwei Tassen Tee getrunken, nicht eine. Und du wieviel?“ „Eine.“ Wieder Schweigen. „Heute hätte mich Falstaff beinahe gebissen.“ „Ist das ein Hund?“ „Ja, ein Hund. Hast du ihn denn noch nicht gesehen?“ „Nein, ich hab’ ihn wohl nicht gesehen.“ Ich wußte nichts mehr zu sagen und das Prinzeßchen sah mich wieder mit Verwunderung an. „Sag? Gefällt es dir, wenn ich mit dir spreche?“ „Ja, sehr: komm öfter, wenn du kannst.“ „Das hat man mir auch gesagt, daß es dich freuen werde, wenn ich zu dir komme, aber du, steh schneller auf. Die Pastete werde ich dir heute ganz bestimmt bringen ... Aber warum schweigst du denn immer?“ „So.“ „Du denkst wohl viel?“ „Ja, ich denke viel.“ „Mir aber sagt man immer, daß ich viel spreche und wenig denke. Ist es denn schlecht, wenn man spricht?“ „Nein. Ich bin froh, wenn du sprichst.“ „Hm! ich werde Madame Léotard fragen, die weiß alles. Aber woran denkst du denn?“ „Ich denke an dich,“ sagte ich nach kurzem Schweigen. „Und das macht dir Spaß?“ „Ja.“ „Dann liebst du mich wohl?“ „Ja.“ „Aber ich liebe dich noch nicht. Du bist so mager! Wart’, ich werde dir gleich die Pastete bringen! Nu, adieu!“ Und das Prinzeßchen, das mich fast im Fluge abküßte, war schon verschwunden. Nach dem Essen brachte sie mir auch wirklich die Pastete. Sie kam hereingelaufen, ausgelassen wie ein Kobold, lachend und jauchzend vor Freude, daß sie mir etwas zu essen brachte, was mir zu essen verboten worden war. „Iß, iß mehr, iß recht viel, das ist nämlich meine eigene Pastete, ich habe selbst nicht gegessen. Nu, adieu!“ Und schon war sie fort. Ein anderes Mal kam sie wie ein Wirbelwind ins Zimmer, gleichfalls nach dem Essen. Ihre schwarzen Locken waren wie vom Sturm verwirrt, ihre Augen blitzten und die Bäckchen glühten wie Purpur: sie mußte nach ihren Lernstunden schon etliche Stunden gelaufen und gesprungen sein. „Kannst du Federball spielen?“ rief sie atemlos, übersprudelnd und in größter Eile. „Nein,“ sagte ich, und es tat mir schrecklich leid, daß ich nicht „ja“ sagen konnte. „Ach, wie du bist! Nu, werd schnell gesund, dann zeig’ ich es dir. Ich kam nur deshalb. Ich spiele jetzt mit Madame Léotard. Adieu, man wartet auf mich!“ Endlich durfte ich das Bett verlassen, obschon ich mich noch immer schwach und kraftlos fühlte. Mein erster Gedanke war, mich jetzt nie mehr von Katjä zu trennen. An ihr war etwas, was mich unwiderstehlich zu ihr hinzog. Ich konnte mich kaum sattsehen an ihr, worüber Katjä sich sehr zu verwundern schien. Dieser Drang zu ihr war so stark und ich gab mich diesem neuen Gefühl so leidenschaftlich hin, daß es von ihr natürlich nicht unbemerkt bleiben konnte, und anfangs erschien es ihr denn auch unerhört seltsam. Ich weiß noch, einmal während eines gemeinsamen Spiels hielt ich es plötzlich nicht mehr aus und warf mich ihr an den Hals, um sie zu küssen. Sie befreite sich aus meiner Umarmung, erfaßte meine Hände – und mit zusammengezogenen Brauen, als hätte ich sie beleidigt, fragte sie mich: „Was fällt dir ein? Warum küßt du mich?“ Ich fuhr schuldbewußt zusammen bei ihrer schnellen Frage und sagte kein Wort. Die Prinzeß zuckte mit ihren kleinen Schultern, zum Zeichen ihres Nichtbegreifenkönnens (dieses Achselzucken war ihr schon zur Angewohnheit geworden), dann preßte sie überernst ihre kleinen weichen Lippen zusammen, ließ die Spielsachen liegen und setzte sich auf den Diwan, von wo aus sie mich sehr lange betrachtete – wobei sie anscheinend tief und ernsthaft über etwas nachdachte, ganz als habe sie da ein schwieriges Problem zu lösen, das plötzlich in ihren Gedanken aufgetaucht war. Es war dies gleichfalls so ihre Angewohnheit in allen unklaren Fällen. Ich aber konnte mich an diese schroffen Äußerungen ihres Charakters lange nicht gewöhnen. In der ersten Zeit beschuldigte ich nur mich allein und dachte, daß ich wirklich sehr viele Eigenheiten haben mußte. Aber wenn dies auch zum Teil zutreffen mochte, so quälte ich mich doch in einer gewissen Ungewißheit mit der einen Frage: warum ich mit Katjä nicht gleich Freundschaft schließen und ihr ein für allemal gefallen konnte? Meine Mißerfolge in der Beziehung kränkten mich bis zum körperlichen Schmerz und ich hätte über jedes unbedachte Wort Katjäs, über jeden mißtrauischen Blick von ihr weinen mögen. Mein Leid wuchs nicht nur mit jedem Tage, sondern sogar mit jeder Stunde, denn mit Katjä ging alles sehr schnell. Schon nach ein paar Tagen merkte ich, daß sie mich gar nicht mehr leiden konnte, ja daß ich ihr schon verhaßt wurde. In der Seele dieses kleinen Mädchens geschah alles schnell, schroff, – manch einer würde sagen brutal, und vielleicht mit Recht, wenn in allen diesen blitzschnellen Veränderungen eines geraden, naiv-offenherzigen Charakters nicht zugleich eine angeborene, eine gewisse vornehme Grazie gewesen wäre. Unsere Entfremdung begann damit, daß zuerst Zweifel in ihr aufstiegen und aus den Zweifeln wurde Verachtung, und zwar wie ich glaube, deshalb, weil ich kein einziges Spiel zu spielen verstand. Die Prinzeß liebte zu tollen, zu laufen, sie war stark, lebhaft, gewandt, ich aber – gerade das Gegenteil. Ich war noch von der Krankheit her schwach, war still und nachdenklich: Kinderspiele machten mir kein Vergnügen. Mit einem Wort, mir fehlten alle Eigenschaften, deren ich bedurft hätte, um Katjä zu gefallen. Außerdem konnte ich es nicht ertragen, andere mit mir unzufrieden zu sehen: dann wurde ich traurig, verlor allen Mut und hatte erst recht nicht mehr die Kraft, das Verfehlte wieder gutzumachen und den schlechten Eindruck zu verwischen, – kurz, ich verfiel dem Unglück ganz. Das war nun etwas, was Katjä nicht begreifen konnte. Anfangs schien es sie eher zu verblüffen, sie sah mich dann, wie es ihre Art war, mit stummer Verwunderung an, nachdem sie sich, wie es zuweilen vorkam, eine ganze Stunde mit mir abgemüht hatte, um mich z. B. das Reifenspiel zu lehren, das ich immer noch nicht begreifen wollte. Und da ich gleich traurig wurde und Tränen mir in die Augen traten, so wandte sie sich, nachdem sie über mich nachgedacht und doch weder durch ihr Denken noch durch mich selbst einen Aufschluß erhalten hatte, einfach von mir ab und spielte allein weiter, ohne mich noch zum Mitspielen aufzufordern, ja sogar ohne überhaupt noch mit mir zu sprechen, – und das nicht nur an diesem einen Tage, sondern gleich ein paar Tage lang. Von diesem Verhalten war ich so betroffen, daß ich ihre Geringschätzung kaum ertragen konnte. Meine neue Einsamkeit wurde nun fast noch bedrückender als die frühere in der Dachstube, und ich begann wieder zu trauern und zu grübeln: wieder bedrückten dunkle Gedanken mein Herz. Madame Léotard, die uns beaufsichtigte, bemerkte schließlich diese Veränderung in unserem Verhalten zueinander. Und da ihr natürlich mein fremdes Wesen zuerst auffiel, vor allem meine Verlassenheit, so wandte sie sich ohne weiteres an die Prinzeß und schalt sie sehr, weil sie mit mir nicht umzugehen verstünde. Die Prinzeß runzelte die Stirn, zuckte mit den Schultern und erklärte darauf, sie könne mit mir nichts anfangen, zu spielen verstände ich nicht, ich dächte immer Gott weiß woran, sie aber werde lieber auf den Bruder warten, der bald aus Moskau zurückkehren müsse, dann könne sie mit ihm ganz anders spielen, mit ihm sei es viel lustiger. Doch Madame Léotard begnügte sich nicht mit dieser Antwort, sie hielt ihr vor, daß sie mich allein sitzen lasse und nicht bedenke, daß ich noch krank wäre, deshalb könne ich auch nicht so lustig und ausgelassen sein wie sie, Katjä, was übrigens auch viel besser sei, denn das, was Katjä anrichte, sei unerhört, sie habe dies verbrochen und jenes angestiftet und vorvorgestern hätte die Bulldogge sie deshalb zur Strafe fast aufgefressen. Kurz, Madame Léotard schalt ohne Nachsicht und schloß ihre Strafpredigt damit, daß sie sie zu mir schickte, mit der Weisung, sich sogleich mit mir zu versöhnen. Katjä hatte die Standrede mit großer Aufmerksamkeit angehört, als sage man ihr nun wirklich etwas Neues, und es schien ihr einzuleuchten, daß in diesem Neuen etwas richtig und gerecht war. Sie ließ ihren Reifen, den sie durch das Zimmer gerollt hatte, liegen, trat auf mich zu, sah mich ernst an und fragte etwas ungläubig: „Willst du denn spielen?“ „Nein,“ sagte ich schnell, noch erschrocken von der Standrede der Madame Léotard. „Was willst du denn?“ „Ich werde hier sitzen, denn mir fällt das Laufen schwer. Nur sei mir deshalb nicht böse, Katjä, ich habe dich sehr lieb.“ „Nun gut, dann werde ich allein spielen,“ sagte sie langsam, gleichsam überlegend und als wundere sie sich darüber, wenn sich jetzt beinahe herausstellte, daß sie an gar nichts schuld wäre. „Nun denn, adieu, ich werde dir nicht böse sein.“ „Adieu,“ sagte ich, stand auf und reichte ihr die Hand. „Vielleicht wollen wir uns küssen?“ fragte sie nach kurzem Nachdenken – wohl in der Erinnerung an jenen Kußzwischenfall und zugleich, um mir etwas Angenehmes zu erweisen und dadurch schneller den Zwist mit mir beizulegen. „Wie du willst,“ sagte ich in scheuer Hoffnung. Sie trat an mich heran und küßte mich todernst, ohne auch nur im geringsten zu lächeln. Und als sie so alles getan, was man von ihr verlangte, ja sogar noch mehr als das, nur um einem armen Mädchen ein Vergnügen zu bereiten, da lief sie zufrieden und froh von mir fort, und bald hörte man wieder in allen Zimmern ihr Lachen und Tollen, bis sie sich erschöpft und atemlos auf einen Diwan warf, um sich zu erholen und neue Kräfte zu sammeln. Dann sah sie mich aber doch die ganze Zeit mißtrauisch an, da ich ihr offenbar wunderlich erschien. Es war, als hätte sie gern mit mir gesprochen, als hätte sie gern gewisse Fragen, die ihr in bezug auf mich durch den Sinn fuhren, beantwortet, aber ich weiß nicht, weshalb sie diesmal nicht fragte und sich bezwang. Katjä lernte gewöhnlich morgens. Madame Léotard unterrichtete sie nur in der französischen Sprache. Der ganze Unterricht bestand im Wiederholen der Grammatik und im Lesen der Fabeln von Lafontaine. Man unterrichtete sie deshalb nur in diesem Fach, weil es ohnehin schon schwer gewesen war, sie dazu zu bewegen, wenigstens zwei Stunden täglich zu lernen. Auf diesen Ausgleich war sie schließlich nur auf Bitten des Vaters eingegangen, und auf Befehl der Mutter. Ihr Versprechen aber erfüllte sie sehr gewissenhaft. Sie war außerordentlich begabt, sie begriff leicht und behielt das Begriffene. Aber auch in der Art ihres Lernens hatte sie ihre kleinen Eigenheiten: wenn sie z. B. irgend etwas einmal nicht sofort begriff, dann begann sie gleich selbst nachzudenken, denn eher tat sie alles Mögliche, als daß sie andere um eine Erklärung dessen bat, was sie sich selbst mit eigenem Verstande nicht zu erklären vermochte, – sie schien sich dann einfach zu schämen. Ja, es soll sogar vorgekommen sein, daß sie sich tagelang mit einer Frage gequält und über sich selbst geärgert hatte, weil sie sie nicht ohne fremde Hilfe beantworten konnte: denn nur im äußersten Fall, wenn sie schon ganz müde geworden war vom Denken, ging sie zu Madame Léotard und bat sie, ihr die Sache zu erklären, der ihr eigener Verstand noch nicht gewachsen war. Und so war sie in allem. Sie hatte schon viel nachgedacht, was man ihr freilich auf den ersten Blick gar nicht zugetraut hätte. Und doch konnte sie mitunter noch furchtbar naiv sein: zuweilen stellte sie für ihr Alter unglaublich dumme Fragen, und zuweilen wiederum verrieten ihre Antworten die spitzfindigste Schlauheit und das weitsichtigste, feinste Verständnis. Da ich mit der Zeit auch zu lernen anfangen konnte, so nahm mich Madame Léotard eines Tages gewissermaßen ins Verhör, und nachdem sie festgestellt, daß ich schon sehr gut las, aber noch sehr schlecht schrieb, erklärte sie, es sei nun die höchste Zeit und die größte Notwendigkeit, daß ich mit dem Französischen anfinge. Ich widersprach natürlich nicht und am nächsten Vormittage setzten wir uns, Katjä und ich, an den Lerntisch zu beiden Seiten von Madame Léotard. Unglücklicherweise war Katjä gerade an diesem Tage so zerstreut und auch schwerfällig im Begreifen, daß Madame Léotard sie gar nicht wiedererkannte. Ich aber lernte im Nu das französische Alphabet, denn ich hatte nur den einen Wunsch, es Madame Léotard recht zu machen. Sie aber ärgerte sich die ganze Zeit über Katjä und zum Schluß wurde sie so böse, daß sie sie heftig schalt: „Nehmen Sie sich an ihr ein Beispiel,“ sagte sie, auf mich weisend, „ein noch halbkrankes Kind lernt zum erstenmal und hat in einer Stunde zehnmal mehr begriffen als Sie. Schämen Sie sich!“ „Sie weiß mehr als ich?“ fragte Katjä verwundert, „aber sie lernt doch erst das Alphabet!“ „In wieviel Stunden haben Sie das Alphabet gelernt?“ „In drei.“ „Und sie in einer einzigen. Folglich begreift sie dreimal schneller als Sie und wird Sie im Nu überholen. Das sehen Sie doch ein?“ Katjä dachte einen Augenblick nach und plötzlich wurde sie feuerrot. Überhaupt war Erröten, Beschämtsein – das erste bei ihr, gleichviel ob es sich um einen Mißerfolg, einen Ärger, um eine Kränkung handelte oder ob man sie bei einer Unart ertappte und schalt. Diesmal traten ihr fast Tränen in die Augen, aber sie schwieg und sah mich nur einmal so an, als wolle sie mich verbrennen mit ihrem Blick. Da erriet ich, was sie empfand. Die Arme war über alle Maßen stolz und ehrgeizig! Als wir Madame Léotard verließen, versuchte ich, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, um ihren Ärger zu verscheuchen und zu zeigen, daß es mich nichts anging, was die Französin sagte, aber Katjä schwieg, als hätte sie mich überhaupt nicht gehört. Etwa nach einer Stunde kam sie in das Zimmer, wo ich mit einem Buch saß, jedoch ohne zu lesen, denn ich dachte die ganze Zeit nur an Katjä – ich war doch noch zu bestürzt und erschrocken bei dem Gedanken, der nicht von mir wich, daß Katjä nun wieder nicht mit mir sprechen wollte. Sie sah mich finster an, setzte sich wie gewöhnlich auf den Diwan und betrachtete mich eine gute halbe Stunde. Länger hielt ich es nicht aus: ich hob den Kopf und sah sie fragend an. „Kannst du tanzen?“ fragte sie mich darauf. „Nein.“ „Aber ich.“ Schweigen. „Kannst du denn Klavier spielen?“ „Nein, auch nicht.“ „Aber ich spiele. Das ist sehr schwer zu erlernen.“ Ich schwieg. „Madame Léotard sagt, du seist klüger als ich.“ „Madame Léotard war nur böse auf dich,“ sagte ich. „Wird Papa auch böse sein?“ „Das weiß ich nicht,“ antwortete ich. Wieder Schweigen. Plötzlich stampfte die Prinzeß ungeduldig mit dem Fuß auf. „So wirst du jetzt über mich lachen, weil du schneller begreifen kannst als ich?“ rief sie, unfähig ihren Ärger zu verbergen. „Ach nein, nein!“ Ich sprang auf, um zu ihr zu laufen und sie zu umarmen. „Und Sie schämen sich nicht, so etwas zu denken und so zu fragen, Prinzeß?“ ertönte plötzlich die Stimme der Madame Léotard, die uns schon eine Weile aus dem anderen Zimmer beobachtet und das Gespräch gehört hatte. „Schämen Sie sich! Sie beneiden das arme Kind und prahlen vor ihr, daß Sie tanzen und Klavier spielen können. Wie häßlich von Ihnen! Ich werde alles dem Fürsten erzählen.“ Die Prinzeß errötete. „Das war schlecht von Ihnen. Sie haben Sie mit Ihren Fragen absichtlich gekränkt. Ihre Eltern waren arm und konnten keine Gouvernanten für sie halten; sie hat alles aus sich selbst gelernt, weil sie ein kluges Kind ist. Sie sollten Sie lieben und gut zu ihr sein, Sie aber wollen mit ihr nur streiten und sie kränken. Schämen Sie sich! Schämen Sie sich! Sie ist doch eine Waise! Sie hat keinen Menschen, der ihr nahe steht. Es fehlte nur noch, daß Sie auch damit zu prahlen anfangen, daß Sie eine Prinzeß sind und sie nicht. Ich lasse Sie allein. Denken Sie darüber nach, was ich Ihnen gesagt habe und bessern Sie sich.“ Die Prinzeß dachte genau zwei Tage nach. Zwei Tage lang hörte man sie weder lachen noch tollen. In der Nacht hörte ich, wie sie sogar im Traum mit Madame Léotard stritt. Ja, es schien fast, als magere sie ein wenig ab in diesen zwei Tagen, wenigstens wurde ihr zartes Gesichtchen merklich bleicher. Am dritten Tage begegneten wir uns zufällig unten in den großen Räumen. Die Prinzeß kam von der Mutter und als sie mich erblickte, blieb sie stehen und setzte sich nicht weit von mir auf einen Stuhl. Ich erwartete mit Bangen, was nun kommen würde. „Njetotschka, weshalb hat man mich deinetwegen gescholten?“ fragte sie plötzlich. „Oh, das geschah nicht meinetwegen, Katenjka[2],“ sagte ich schnell, wie um mich zu rechtfertigen. „Aber Madame Léotard sagt doch, ich hätte dich beleidigt.“ „Nein, Katenjka, du hast mich nicht beleidigt.“ Die Prinzeß zuckte mit der Achsel – ein Zeichen, daß sie mich nicht verstand. „Warum weinst du denn immer?“ fragte sie nach kurzem Schweigen. „Ich werde nicht mehr ... wenn du es nicht willst,“ sagte ich und die Tränen traten mir schon in die Augen. Sie hatte dafür wieder nur ein Achselzucken. „Hast du auch früher immer geweint?“ Ich antwortete nicht. „Warum lebst du bei uns?“ fragte sie plötzlich, wieder nach neuem kurzem Schweigen. Ich sah sie verwundert an und fühlte so etwas wie einen Stich ins Herz. „Weil ich eine Waise bin,“ sagte ich schließlich, nachdem ich mich zusammengenommen. „Hattest du Eltern?“ „Ja.“ „Nun, und – die haben dich nicht geliebt?“ „Nein ... sie liebten mich,“ antwortete ich mit Mühe. „Sie waren aber arm?“ „Ja.“ „Sehr arm?“ „Ja.“ „Und bei denen hast du nichts gelernt?“ „Nur lesen.“ „Hattest du Spielsachen?“ „Nein.“ „Hattest du Kuchen?“ „Nein.“ „Wieviel Zimmer hattet ihr?“ „Ein Zimmer.“ „Nur ein Zimmer?“ „Ja.“ „Und hattet ihr Dienstboten?“ „Nein, wir hatten keine Dienstboten.“ „Aber wer hat euch denn bedient?“ „Ich ging selbst ... einkaufen ...“ Die Fragen der Prinzeß zerrissen mir immer mehr das Herz. Dazu kamen die Erinnerungen ... und meine Verlassenheit und die Verwunderung der Prinzeß – all das traf und verletzte mein Herz, daß es wie aus Wunden blutete. Ich zitterte fieberhaft vor Erregung und die Tränen drohten mich zu ersticken. „Dann bist du wohl froh, daß du bei uns wohnst?“ Ich schwieg. „Hattest du schöne Kleider?“ „Nein.“ „Schlechte?“ „Ja.“ „Ich habe dein Kleid gesehn, man hat es mir gezeigt.“ „Warum fragst du mich dann noch?“ rief ich aufstehend, erschüttert von einem neuen, noch nie empfundenen Gefühl, „warum fragst du dann noch?“ fuhr ich fort, und das Blut stieg mir vor Unwillen heiß ins Gesicht. „Warum lachst du über mich?“ Die Prinzeß war gleichfalls errötet und erhob sich auch, aber sie beherrschte sich schnell. „Nein ... ich lache nicht,“ sagte sie. „Ich wollte nur wissen, ob es wahr ist, daß deine Eltern arm waren?“ „Warum fragst du mich nach meinen Eltern?“ rief ich und Tränen rollten mir über die Wangen vor Seelenschmerz. „Warum fragst du mich _so_ nach ihnen? Was haben sie dir getan, Katjä?“ Katjä stand betreten vor ihrem Stuhl und wußte nicht, was sie antworten sollte. Da trat der Fürst ins Zimmer. „Was fehlt dir, Njetotschka?“ fragte er, als er meine Tränen bemerkte. „Was fehlt dir, weshalb weinst du?“ fragte er nochmals und sah Katjä an, die feuerrot geworden war. „Wovon spracht ihr? Worüber habt ihr gestritten? Njetotschka, worüber weinst du?“ Ich konnte nicht antworten, aber ich ergriff die Hand des Fürsten und küßte sie unter Tränen. „Katjä, sag du, und sprich die Wahrheit: was ist hier vorgefallen?“ Katjä verstand nicht zu lügen. „Ich sagte ihr, daß ich gesehen habe, was für ein schlechtes Kleid sie trug, als sie noch bei ihrem Papa und ihrer Mama lebte.“ „Wer hat es dir gezeigt? Wer hat es dir zu zeigen gewagt?“ „Ich habe es selbst gesehen!“ sagte Katjä in bestimmtem Tone. „Nun gut! Ich kenne dich, du willst niemanden angeben. Und was weiter?“ „Und dann fing sie an zu weinen und fragte: warum ich mich über ihren Papa und ihre Mama lustig gemacht?“ Das hatte sie zwar nicht getan, aber offenbar war es ihre Absicht gewesen, da auch ich es nach der ersten Frage so aufgefaßt hatte. Sie antwortete dem Vater keine Silbe: und dies war ebenso gut wie ein Geständnis. „Du gehst sofort zu ihr und bittest sie um Verzeihung,“ befahl der Fürst, auf mich weisend. Die Prinzeß stand bleich und stumm und rührte sich nicht. „Nun,“ sagte der Fürst. „Ich will nicht,“ sagte Katjä schließlich halblaut, aber mit fest entschlossener Miene. „Katjä!“ „Nein, ich will nicht, ich will nicht!“ schrie sie plötzlich mit blitzenden Augen und stampfte mit beiden Füßchen. „Ich will nicht, Papa, ich will nicht um Verzeihung bitten. Ich liebe sie nicht. Ich will nicht mit ihr zusammenwohnen ... Ich bin nicht schuld, daß sie den ganzen Tag weint. Ich will nicht, ich will nicht!“ „Komm mit,“ sagte der Fürst, sie an der Hand fassend, um sie in sein Kabinett zu führen. „Njetotschka, geh nach oben,“ wandte er sich zu mir. Ich wollte ihn zurückhalten, wollte für Katjä um Verzeihung bitten, doch der Fürst wiederholte streng seinen Befehl und ich ging nach oben, eiskalt vor Schreck, wie eine Tote. In unserem Zimmer sank ich auf den Diwan und umklammerte meinen Kopf mit den Händen. Ich zählte die Minuten. Ich erwartete Katjä mit fiebernder Ungeduld, ich wollte mich ihr zu Füßen werfen. Endlich kam sie: sie ging ohne ein Wort an mir vorüber und setzte sich in den fernsten Winkel; Ihre Augen waren rot und die Wangen geschwollen von Tränen. Da schwand meine ganze Entschlossenheit. Ich sah sie angstvoll an und meine Angst lähmte mich. Ich beschuldigte mich mit allen Fibern, ich mühte mich krampfhaft, mir vor mir selbst zu beweisen, daß ich allein an allem schuld sei. Tausendmal wollte ich zu Katjä gehen und tausendmal sank mir der Mut, da ich nicht wußte, wie sie sich zu mir verhalten würde. So verging ein Tag und noch einer. Am Abend dieses zweiten Tages wurde Katjä wieder munterer und nahm sogar ihr Reifenspiel vor, doch bald ließ sie den Reifen liegen und zog sich wieder in ihren Winkel zurück. Kurz bevor wir zu Bett gingen, wandte sie sich plötzlich zu mir und kam sogar zwei Schritte auf mich zu: ihre weichen Lippen zuckten, als setze sie zum Sprechen an, aber sie blieb stehen, wandte sich wieder fort und ging zu Bett. Nach diesem Tage verging noch ein Tag, und die erstaunte Madame Léotard nahm Katjä zu guter Letzt ins Verhör: ob sie krank sei oder was mit ihr geschehen, daß sie sich mit einemmal so still verhalte? Katjä antwortete ausweichend irgend etwas, was ich nicht hören konnte, doch kaum hatte Madame Léotard ihr den Rücken gekehrt, da wurde sie rot und begann zu weinen. Sie lief aus dem Zimmer, um von mir nicht weinend gesehen zu werden. Einmal aber mußte doch die Erlösung kommen; und dies geschah denn auch am dritten Tage nach unserem Streit: nach dem Essen kam sie in mein Zimmer und näherte sich mir zaghaft. „Papa hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu bitten,“ sagte sie. „Wirst du mir verzeihen?“ Ich erfaßte schnell ihre beiden Hände und stieß in atemloser Hast hervor: „Ja! Ja!“ „Papa befahl mir, dich zu küssen, – wirst du mich küssen?“ Als Erwiderung auf ihre Frage küßte ich ihre Hände. Als ich aufsah, bemerkte ich in ihrem Gesicht eine seltsame Bewegung. Ihre Lippen und ihr Kinn bebten, in ihren Augen standen Tränen, aber sie unterdrückte schnell ihre Erregung und flüchtig erschien sogar ein Lächeln auf ihren Lippen. „Ich werde gehen und Papa sagen, daß ich dich geküßt und um Verzeihung gebeten habe,“ sagte sie leise, fast wie zu sich selbst. „Ich habe ihn schon drei Tage nicht gesehen. Er sagte, ich dürfe nicht eher zu ihm kommen, als bis ich sein Gebot erfüllt habe,“ fügte sie nach kurzem Nachdenken hinzu. Und sie ging zögernd und mit nachdenklichem Gesichtchen zum Vater, als wäre sie selbst noch nicht sicher, wie nun der Empfang beim Vater ausfallen würde. Eine Stunde später hörte ich oben wieder den alten Lärm, Katjäs Lachen und Laufen, Falstaffs Gebell, ja irgend etwas wurde umgeworfen und zerschlagen, Bücher fielen von einem Tisch, der Reifen rollte wieder federleicht durch alle Räume – kurz, ich hörte, daß Katjä sich mit dem Vater versöhnt hatte, und mein Herz erbebte vor Freude. Doch zu mir kam sie nicht und vermied es sichtlich, mit mir zu sprechen. Dafür hatte ich die Ehre, in hohem Maße ihre Neugier zu erregen. Immer öfter setzte sie sich mir gegenüber, um mich in Ruhe zu betrachten. Und ihre Beobachtungen wurden immer naiver. Das verwöhnte, eigenwillige Kind, das von allen im Hause verzogen und gehätschelt und wie ein kostbarer Schatz gehegt wurde, konnte es nicht begreifen, wie es kam, daß ich schon ein paarmal auf ihrem Wege mit ihr zusammengestoßen war, während sie das gar nicht gewollt hatte. Sie hatte aber ein gutes, prächtiges Herzchen, das allein schon mit seinem guten Instinkt immer den richtigen Weg fand. Den größten Einfluß auf sie hatte der Vater, den sie geradezu vergötterte. Von der Mutter wurde sie bis zum Wahnsinn geliebt, nur war die Mutter gleichzeitig unglaublich streng, und von ihr hatte Katjä den Eigensinn, den Stolz und die Charakterfestigkeit geerbt, dafür aber mußte sie auch alle Launen der Mutter ertragen, obschon diese oft in moralische Tyrannei ausarteten. Doch – sie ertrug sie. Die Fürstin hatte eine sonderbare Auffassung von dem, was Erziehung ist, und so war Katjäs Erziehung eine eigenartige Mischung von grenzenloser Verwöhnung und unerbittlicher Strenge. Was gestern erlaubt war, war heute plötzlich verboten, und zwar ganz grundlos, so daß das Gerechtigkeitsgefühl im Kinde völlig mißachtet und ständig verletzt wurde ... Doch davon später. Ich will hier nur bemerken, daß das Kind sein Verhalten zu den Eltern danach richtete. Dem Vater gegenüber war sie ganz so, wie sie war, sie gab sich ihm rückhaltlos, mit vollen Händen: da war in ihrem Wesen nichts Verborgenes, nichts Zurückhaltendes. Im Verkehr mit der Mutter dagegen war sie das gerade Gegenteil: verschlossen, mißtrauisch und widerspruchslos gehorsam. Aber ihr Gehorsam war nicht aufrichtig, sie gehorchte nicht aus Überzeugung, sondern sozusagen einem notwendigen System gemäß. Ich werde später noch darauf zurückkommen und mich dann klarer auszudrücken versuchen. Übrigens sei es hier noch zur besonderen Ehre meiner Katjä gesagt, daß sie schließlich ihre Mutter vollkommen verstand, und wenn sie ihr gehorchte, so tat sie das schon mit der vollen Erkenntnis der grenzenlosen Mutterliebe, die die Fürstin zu ihr hatte und die sich bis zur krankhaften Exaltation steigern konnte – dem aber trug die Prinzeß in nachsichtiger Großmut Rechnung. Leider sollte dies später ihrem heißen Köpfchen wenig helfen! Doch ich habe fast noch gar nicht erwähnt, was in mir vorging. Ein neues, mir unerklärliches Gefühl erregte mich damals in einer ganz ungewohnten Weise und ich übertreibe wohl nicht, wenn ich sage, daß ich unter diesem neuen Gefühl wie unter einer Pein litt. Kurz – man verzeihe mir das Wort, aber – ich war in meine Katjä verliebt. Ja, das war Verliebtheit, richtige Verliebtheit, Verliebtheit mit Tränen und Entzücken, leidenschaftliche Verliebtheit! Was zog mich so zu ihr? Woraus entstand diese meine Liebe? Sie begann mit dem ersten Blick auf Katjä, als alle meine Sinne plötzlich so – so süß betroffen wurden von dieser Schönheit. Alles an ihr war schön: keine einzige ihrer schlechten Eigenschaften war angeboren, – alle waren sie nur angenommen und alle standen sie mit ihrem Instinkt auf Kriegsfuß. Aus allem ersah man die gute Veranlagung, die nur zeitweilig eine falsche Form annehmen konnte, doch alles an ihr, angefangen mit jenem inneren Kampf, leuchtete in froher Zuversicht, alles versprach, in Zukunft Schönheit zu sein. Alle Menschen hatten Freude an ihr, alle liebten sie, verwöhnten sie. Wenn man uns spazieren führte – gewöhnlich gegen drei Uhr – blieben die Menschen, die uns begegneten und sie erblickten, beinahe betroffen stehen, und nicht selten hörten wir hinter uns einen Ausruf der Bewunderung. Sie war zum Glücklichsein geboren, sie mußte dazu geboren sein – das war die erste Empfindung eines jeden, der sie sah. Vielleicht hatte sich damals, als ich aus tiefem Schlaf erwachte und sie erblickte, zum erstenmal mein ästhetisches Empfinden geregt, war mein Gefühl für das Schöne durch ihre Schönheit erweckt worden, – und dies wird wohl die ganze Ursache meiner Liebe gewesen sein. Der größte Fehler der Prinzeß – oder richtiger der Grundzug ihres Charakters, der sich gewaltsam in seine natürliche Form prägen wollte und sich deshalb naturgemäß in einem unnormalen, eben in einem Kampfzustand befand – war _Stolz_. Dieser Stolz erstreckte sich bis in naive Kleinigkeiten, schlug oft in Eigenliebe um und wurde zu einer unbewußten Überhebung, so daß z. B. Widerspruch, gleichviel welcher Art, sie nicht kränkte und auch nicht einmal ärgerte, sondern nur in Verwunderung setzte. Sie begriff nicht, wie etwas anders sein konnte, als wie sie es wünschte. Aber das Gerechtigkeitsgefühl siegte doch immer in ihrem Herzen. Wenn sie sich einmal überzeugt hatte, daß sie wirklich unrecht getan, dann fügte sie sich ohne zu murren und mit fester Entschlossenheit dem Urteilsspruch ihrer Erzieher. Daß sie aber anfangs im Verkehr mit mir sich selbst nicht immer ganz treu blieb, erkläre ich mir mit ihrer unüberwindlichen Abneigung, die zeitweilig die Geradheit und Einheit ihres ganzen Wesens störte. Anders aber konnte es wohl gar nicht sein: sie war viel zu leidenschaftlich in ihren Empfindungen, und so waren es immer erst die Zusammenstöße mit der Wirklichkeit, die ihr allmählich die Augen öffneten und sie auf den richtigen Weg zurückführten. Alles, was sie unternahm und anfing, hatte ein gutes Endergebnis, doch wurden diese Endergebnisse regelmäßig mit fortwährenden Abweichungen und unter ständigen Verirrungen erkauft. Katjä hatte mich bald genügend beobachtet und entschloß sich deshalb, mich fortab in Ruhe zu lassen. Sie tat, als wäre ich überhaupt nicht da. Sie sprach mit mir kein überflüssiges Wort, ja fast nicht einmal das Notwendige. An ihren Spielen beteiligte ich mich nicht mehr – doch hatte sie mich nicht etwa mit Gewalt verdrängt, sondern es so geschickt einzurichten verstanden, daß es den Anschein hatte, als wäre ich selbst damit einverstanden gewesen. Der Unterricht wurde fortgesetzt, aber wenn man mich ihr noch wegen meiner Aufmerksamkeit und meines schnellen Begreifens als Beispiel vorhielt, so würdigte sie mich nicht mehr der Ehre, sich dadurch in ihrer Eigenliebe gekränkt zu fühlen, obschon diese Eigenliebe eine höchst peinlich ausgeprägte war – eine so heikele, daß sogar unsere Bulldogge, Sir John Falstaff, sie verletzen konnte. Falstaff war ein kaltblütiger Phlegmatiker, dabei aber böse wie ein Tiger, ja wenn man ihn reizte, ging er sogar so weit, daß er nicht einmal mehr seinem Herrn gehorchte. Und noch ein bedeutsamer Charakterzug: er liebte entschieden keinen einzigen Menschen im ganzen Hause; sein größter Feind aber war zweifellos die alte Prinzessin, die Tante des Fürsten ... Doch davon später. Die ehrgeizige Katjä gelüstete es nun eines Tages, den unfreundlichen Falstaff zu besiegen. Es war ihr unangenehm, daß es ein Wesen gab, sei es auch nur ein vierbeiniges, das ihre Autorität nicht anerkannte, sich ihr nicht unterwarf, ja, sie nicht einmal liebte. So beschloß denn die Prinzeß, Falstaff anzugreifen. Sie wollte über alle herrschen – warum sollte nun Falstaff allein ungestört seine Freiheit genießen dürfen? Aber die unbeugsame Bulldogge ergab sich ihr doch nicht. Es war einmal nach dem Essen, wir saßen beide unten im großen Saal, während Falstaff mitten im Saal auf der Diele lag und faul seine Nachmittagssiesta genoß. Da fiel es der Prinzeß plötzlich ein, ihn sich unterwerfen zu wollen. Sie ließ ihr Spiel liegen und begann sogleich mit dem Versuch, sich Falstaff zu nähern: vorsichtig, auf den Fußspitzen schleichend, umschmeichelte sie Falstaff mit den zärtlichsten Kosenamen, winkte liebevoll beschwichtigend mit der Hand und ging immer näher, immer näher. Falstaff aber zeigte schon von ferne seine furchtbaren Zähne. Prinzeßchen blieb stehen. Ihr ganzes Vorhaben bestand ja nur darin, zu Falstaff zu gelangen und ihn einmal zu streicheln – eine Kühnheit, die er bisher noch keinem gestattet hatte, außer der Fürstin – und ihn dazu zu bringen, daß er ihr folge. Das war nun eine schwere Aufgabe, verbunden mit einer ernsten Gefahr, denn Falstaff hätte sich keineswegs gescheut, ihr eine Hand abzubeißen oder auch das ganze Prinzeßchen zu zerfleischen. Er war stark wie ein Bär und ich verfolgte von meinem Platze aus nicht grundlos mit angstvoller Spannung Katjäs Vorgehen. Ich wußte, wie schwer es war, sie zum Verzicht auf eine Absicht, wenn sie sich eine solche einmal in den Kopf gesetzt, zu bewegen, und selbst das Gebiß Falstaffs, das dieser ihr in äußerst unmanierlicher Weise zeigte, war für sie noch kein genügendes Argument. Sie begriff nur, daß sie sich doch nicht so geradeswegs ihm nähern konnte und änderte nach kurzem Zögern ihre Taktik, indem sie nun im Kreise um ihn herumging und diese Kreise immer enger machte. Als sie aber bei der dritten Umkreisung der Grenze zu nahe kam, die Falstaff als nächste und eben noch erlaubte Distanz zu sich nicht überschritten wissen wollte, da zeigte er wieder die Zähne. Die Prinzeß stampfte mit den Füßchen auf, kehrte ihm geärgert den Rücken und setzte sich aufs Sofa, um nachzudenken. Da fiel ihr nach einigen Minuten ein neues Mittel ein; sie verließ sofort den Saal und kehrte mit einem ganzen Vorrat von Kringeln, Kuchen und Pasteten zurück – kurz, sie änderte die Waffen. Doch auch die neuen Waffen ließen Falstaff völlig kalt, wohl weil er ohnehin schon viel zu satt war. Den Kringel, den sie ihm zuwarf, würdigte er nicht einmal eines Blickes; und als die Prinzeß wieder an der besagten äußersten Grenze anlangte, erfolgte ein diesmal noch energischerer Protest: er erhob den Kopf, zeigte die Zähne, knurrte und machte eine Bewegung, als wolle er gleich aufspringen. Die Prinzeß wurde rot vor Zorn, ließ den ganzen Vorrat liegen und setzte sich wieder auf ihren Platz. Sie war sichtlich sehr erregt. Ihr kleiner Fuß schlug ununterbrochen auf den Teppich, ihre Wangen glühten und in die Augen traten fast Tränen vor Ärger. Da geschah es, daß sie plötzlich meinen Blick auffing – alles Blut stieg ihr heiß ins Gesicht. Sie sprang auf und ging mit entschlossenen Schritten gerade auf die furchtbare Dogge zu. Vielleicht war es diesmal die Überraschung, die Falstaff lähmte. Er ließ den Feind die Grenze überschreiten, und erst als sie nur noch zwei Schritte von ihm entfernt war, empfing er die Unbedachte mit dem unheimlichsten Knurren. Katjä blieb für eine Sekunde stehen –, aber nur für eine Sekunde –: dann trat sie entschlossen vorwärts. Ich erstarb vor Schreck. Sie war aber so beseelt von ihrem Entschluß, wie ich sie noch nie gesehen hatte: ihre Augen blitzten in trotziger Siegesgewißheit. Sie hätte ein entzückendes Modell für einen Künstler abgegeben. Mutig widerstand sie dem drohenden Blick des bösen Tieres, und auch sein unheimliches Gebiß schreckte sie nicht ab. Die Dogge hob den Kopf. Aus der breiten Brust kam ein unheildrohendes Knurren – im nächsten Moment, so schien es, werde das Tier sie zerfleischen. Doch die Prinzeß legte stolz ihre kleine Hand auf seinen Rücken und streichelte ihm dreimal über das Fell. Einen Augenblick verharrte Falstaff in Unentschlossenheit. Dieser Augenblick war der furchtbarste: dann stand das Tier schwerfällig auf, streckte sich und verließ in phlegmatischer Ruhe den Saal, vermutlich in der Erwägung, daß mit Kindern zu kämpfen sich doch nicht lohne. Die Prinzeß blieb triumphierend auf dem eroberten Platz stehen und warf mir nur einen unbeschreiblichen Blick zu, einen siegesgesättigten, siegesberauschten Blick. Ich war noch bleich wie ein Handtuch. Sie bemerkte das und lächelte. Aber da breitete sich mit einemmal auch über ihr Gesichtchen Totenblässe. Kaum konnte sie noch bis zum Sofa gehen, auf das sie nahezu ohnmächtig niedersank. Doch meine Liebe zu ihr kannte keine Grenzen. Seit diesem Tage, wo ich eine solche Angst um sie ausgestanden, konnte ich mich nur noch mit Mühe beherrschen. Ich verging vor Sehnsucht, tausendmal wollte ich mich ihr an den Hals werfen, aber eine unerklärliche Scheu hielt mich regungslos und wie gebannt auf meinem Platz zurück. Ich erinnere mich noch, daß ich ein Zusammensein mit ihr absichtlich zu vermeiden suchte, damit sie meine Erregung nicht sähe; trat sie aber zufällig in das Zimmer, in das ich mich zurückgezogen hatte, dann fuhr ich zusammen und mein Herz begann so stark zu pochen, daß ich wie von einem Schwindel erfaßt wurde. Ich glaube, dies alles entging Katjä nicht, und nachdem sie es bemerkt hatte, war sie die nächsten zwei Tage, wie mir schien, etwas verwirrt. Bald aber hatte sie sich auch damit abgefunden. So verging ein ganzer Monat, in dem ich einsam litt. Meine Gefühle besitzen eine gewisse unerklärliche Dehnbarkeit, wenn man sich so ausdrücken kann; meine Natur ist bis zur letzten Möglichkeit geduldig, so daß ein plötzlicher Ausbruch der Gefühle nur im wirklich äußersten Fall eintritt. Man muß nämlich wissen, daß Katjä und ich in dieser ganzen Zeit kaum fünf Worte miteinander gewechselt haben. Nach und nach wurde es mir aber infolge gewisser Anzeichen immer klarer, daß ihr Verhalten zu mir nicht auf Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit zurückzuführen sei, sondern daß es nur eine absichtliche Fernhaltung ihrerseits war: ganz als habe sie sich das Wort gegeben, mich in gewissen Schranken zu halten. Doch ich schlief schon nicht mehr in den Nächten und am Tage konnte ich meine Verwirrung selbst vor Madame Léotard nicht verbergen. Meine Liebe zu Katjä verstieg sich bis zu Seltsamkeiten: so nahm ich einmal heimlich ihr Taschentuch, ein anderes Mal ihr Haarband an mich, und diese Gegenstände küßte ich dann nachts unter Tränen. Anfangs kränkte mich ihre Gleichgültigkeit so sehr, daß ich mich wirklich verletzt fühlte; hernach aber war alles in mir verwirrt und ich konnte mir selbst nicht mehr über meine Empfindungen Rechenschaft geben. So kam es, daß meine alten Eindrücke allmählich von den neuen verdrängt wurden, und die Erinnerung an mein früheres trauriges Leben verlor mit der Zeit ihre krankhafte Intensität, da sie der neuen Wirklichkeit weichen mußte. Ich weiß noch, wenn ich in der Nacht erwachte, stand ich bisweilen leise auf und schlich auf den Fußspitzen zum Bett der Prinzeß. Stundenlang konnte ich dann stehen und die Schlafende in dem milden Licht unserer Nachtlampe betrachten. Manchmal setzte ich mich sogar auf ihr Bett und beugte mich über ihr Gesicht, und ihr warmer regelmäßiger Atem berührte mich wie ein traumhaft sanftes Wehen. Leise, bebend vor Unsicherheit, küßte ich dann wohl oft ihre Händchen, ihre kleinen Schultern, Wangen, auch ihr Füßchen küßte ich, wenn die Decke sich verschoben hatte und das Füßchen hervorsah. Bald glaubte ich zu bemerken – ich beobachtete sie doch unausgesetzt, wenn auch heimlich – daß sie von Tag zu Tag mehr nachsann und ihr Charakter seine frühere gefestigte Gleichmäßigkeit eingebüßt hatte: es kam vor, daß wir sie oft einen ganzen Tag nicht tollen hörten, dann aber machte sie wieder solchen Lärm, wie ich ihn zuvor noch nie gehört. Sie wurde reizbar, anmaßend, sie wurde abwechselnd bleich und rot und trieb es mit mir oft bis zu kleinen Grausamkeiten: bald wollte sie plötzlich nicht gleichzeitig mit mir essen und nicht neben mir sitzen, ganz als flöße ich ihr Abscheu ein; bald ging sie zur Mutter und saß dort fast ganze Tage, obschon sie genau wußte, wie sehr die Sehnsucht nach ihr mich verzehrte; bald wiederum setzte sie sich mir gegenüber und betrachtete mich stundenlang, so daß ich vor tödlicher Verwirrung nicht wußte, wo ich mich lassen sollte, nur immer errötete und erbleichte und doch nicht aus dem Zimmer zu gehen wagte. Zweimal hatte Katjä sich bereits über Fieber beklagt, während man sie früher nie krank gesehen hatte. Da erfolgte eines Morgens eine besondere und bedeutungsvolle Wandlung: auf unbedingten Wunsch der Prinzeß zog sie nämlich nach unten zur Mutter, die fast ohnmächtig wurde vor Angst, als Katjä über Erkältung klagte. Ich muß bemerken, daß die Fürstin mit mir sehr unzufrieden war und die ganze Veränderung, die sie an Katjä bemerkte, meinem schädlichen Einfluß zuschrieb, oder doch dem Einfluß meines „düsteren Charakters“, wie sie sich ausdrückte. Sie hätte uns schon viel früher getrennt, doch hielt sie es für ratsamer, die Trennung noch aufzuschieben, da sie damit, wie sie wußte, beim Fürsten auf hartnäckigen Widerstand gestoßen wäre. Obschon der Fürst ihr in allem ihren Willen ließ, konnte er bisweilen doch mit geradezu eigensinniger Starrheit auf seinem Willen bestehen. Sie kannte den Fürsten gut. Dieser Umzug der Prinzeß machte mich so betroffen, daß ich eine ganze Woche in der schrecklichsten Gemütsverfassung zubrachte. Ich quälte mich mit meiner Sehnsucht nach ihr und zerbrach mir den Kopf über der Frage, weshalb ich Katjä wohl solchen Abscheu einflößte. Meine Trauer darob zerriß mir die Seele und das Gerechtigkeitsgefühl und ein bitterer Unwille begann sich in meinem gekränkten Herzen zu erheben. Es entstand plötzlich ein gewisser Stolz in mir, und wenn ich mit Katjä vor unserem Spaziergang zusammentraf, dann sah ich sie so frei, so ernst an, so anders als früher, daß es sie offenbar betroffen machte. Natürlich trat diese meine Veränderung nur hin und wieder zutage, wie in sich durchdringenden Ausbrüchen, dann aber tat mir das Herz von neuem weh und der Schmerz wuchs und wuchs und ich wurde noch schwächer, noch kleinmütiger als ich vorher gewesen war. Da, eines Morgens, zu meiner größten, mich freudig verwirrenden Überraschung, kehrte die Prinzeß zu uns nach oben zurück. Ihr erstes war, daß sie gleich unter unbändigem Lachen Madame Léotard an den Hals flog und lachend erklärte, nun werde sie wieder bei uns wohnen – dann grüßte sie mich mit einem Nicken, sah aber schnell wieder fort und erbettelte sich die Erlaubnis, an diesem Tage nichts lernen zu brauchen. Den ganzen Vormittag tollte sie umher. Ich habe sie nie lebhafter und ausgelassener gesehen. Doch gegen Abend wurde sie still, nachdenklich und wieder breitete eine gewisse Traurigkeit einen Schatten über ihr reizendes Gesichtchen. Als die Fürstin am Abend bei uns erschien, um nachzufragen, wie es ihr gehe, da sah ich, daß Katjä sich aus allen Kräften bemühen mußte, froh und lustig zu scheinen. Nachher aber, als wir allein zurückblieben, brach sie plötzlich in Tränen aus. Ich war bestürzt. Die Prinzeß bemerkte, daß ich sie beobachtete, und verließ das Zimmer. Es waren Anzeichen, daß eine unerwartete Krisis sich in ihr vorbereitete. Die Fürstin beriet mit den Ärzten, ließ sich von Madame Léotard jeden Tag ausführlich Bericht erstatten, und wünschte, daß sie Katjä nicht aus den Augen ließ. Nur ich ahnte den wahren Grund dieser Veränderung. Mein Herz begann vor Hoffnung laut zu pochen. In der Tat, unser kleiner Roman näherte sich der entscheidenden Wendung. Am dritten Tage nach Katjäs Rückkehr zu uns nach oben fiel es mir auf, daß sie mich den ganzen Vormittag mit so guten Augen ansah und so lange ihre Blicke auf mir ruhen ließ ... Ein paarmal trafen sich unsere Blicke und jedesmal erröteten wir und schlugen die Augen nieder, als schämten wir uns. Da lachte zu guter Letzt Prinzeßchen auf und ging fort. Um drei Uhr kleidete man uns für den Spaziergang an. Plötzlich trat Katjä an mich heran. „Dein Schuhband hat sich gelöst,“ sagte sie zu mir, „komm, ich werde es zubinden.“ Ich wollte mich bücken, um selber die Schleife zu binden, tief errötend darüber, daß Katjä nun endlich wieder etwas zu mir sprach, doch sie kam mir zuvor. „Gib her!“ sagte sie in lachender Ungeduld und kniete schnell nieder, zog meinen Fuß zu sich und band die Schleife von neuem. Mir stockte der Atem; ich wußte nicht, was tun, und ich empfand nur eine süße Wonne in meiner Erschrockenheit. Als die Schleife fertig war, stand sie auf und musterte mich vom Kopf bis zu den Füßen. „Da ist auch das Hälschen bloß,“ sagte sie, mit dem Finger an meinen Hals tippend. „Nein, laß nur, ich werde es dir schon richtig binden.“ Ich widersprach nicht. Sie löste die Schleife meines Halstüchleins und band es von neuem nach ihrem Geschmack. „So kann man sich ja einen Husten holen,“ sagte sie mit einem schelmischen Lächeln und aus ihren dunklen feuchten Augen streifte mich ein spitzbübischer Blick. Ich war wie von Sinnen: ich wußte nicht, wie mir geschah, noch was in Katjä vorging. Zum Glück dauerte unser Spaziergang nicht lange, sonst hätte ich es nicht ausgehalten und sie auf der Straße geküßt. Als wir aber die Treppe hinaufstiegen, gelang es mir, sie heimlich auf die Schulter zu küssen. Sie bemerkte es, zuckte zusammen, sagte jedoch kein Wort. Am Abend wurde sie festlich angekleidet und nach unten geführt. Bei der Fürstin waren Gäste. Doch noch am selben Abend stand dem ganzen Hause eine große Aufregung bevor. Katjä bekam einen Nervenanfall. Die Fürstin war außer sich vor Schreck. Der Arzt kam und wußte nicht, was er sagen sollte. Man schrieb alles den üblichen Kinderkrankheiten zu, auch dem Alter Katjäs, ich aber dachte darüber ganz anders. Am nächsten Morgen erschien Katjä wieder so wie immer, rosig, lustig, von unerschöpflicher Gesundheit, dafür aber mit solchen Launen und Eigenheiten, wie sie noch niemand an ihr beobachtet hatte. Erstens wollte sie den ganzen Vormittag Madame Léotard nicht gehorchen. Darauf erklärte sie mit einemmal, zur Großtante, der alten Prinzessin, gehen zu wollen. Und richtig, diesmal wurde der Prinzeß der Zutritt zu den Gemächern der Großtante gewährt, freilich ganz gegen die Gepflogenheit der alten Dame, die ihre Großnichte gar nicht leiden konnte, ewig an ihr etwas auszusetzen fand und sie gewöhnlich überhaupt nicht sehen wollte – diesmal aber, wie gesagt, entschloß sie sich, Gott weiß weshalb, sie zu empfangen. Anfangs ging auch alles gut, die erste Stunde verlief im schönsten Frieden, denn dem Schelm war es plötzlich eingefallen, für alle ihre Ungezogenheiten, den verursachten Lärm und alle Störungen freiwillig um Verzeihung zu bitten. Und die Großtante verzieh ihr auch feierlich und sichtlich tief gerührt. Das war aber der Spitzbübin noch zu wenig. Und es fiel ihr ein, auch solche Streiche zu beichten, die sie noch gar nicht verbrochen hatte, die vorerst nur als Pläne in ihrem Köpfchen lebten. So nahm sie den Ausdruck einer reumütigen Büßerin an und beichtete, daß die fromme Dame ob solchen Insichgehens anfangs ganz verzückt war, denn es schmeichelte ihrer Eigenliebe nicht wenig, über Katjä diesen Sieg davonzutragen, über Katjä, den Abgott des ganzen Hauses, den Liebling aller Menschen, deren Launen gegenüber sogar die Fürstin machtlos war. Katjä gestand also, daß sie die Absicht gehabt habe, eine Visitenkarte an das Kleid der Großtante zu kleben; dann – Falstaff unter ihrem Bett zu verbergen; dann – ihre Brille zu zerbrechen; dann – alle ihre frommen Bücher fortzuschleppen und an deren Stelle die französischen Romane der Mama zu legen; dann – Knallerbsen in ihren Zimmern auszustreuen; dann – ein Spiel Karten in ihre Tasche zu stecken, usw., usw. Kurz, eine Sünde war schlimmer als die andere. Die Großtante wurde starr und bleich und schließlich gelb vor Ärger – bis Katjä zuletzt doch nicht mehr an sich halten konnte, in tolles Lachen ausbrach und wie ein Wirbelwind davonlief. Die alte Prinzessin ließ sogleich die Fürstin zu sich bitten, und aus dem Vorfall wurde eine große Geschichte, in deren Verlauf die Fürstin ihre Anverwandte fast unter Tränen bat, Katjä diese Unart zu verzeihen und nicht auf einer Strafe zu bestehen, schon wegen ihres krankhaften Zustandes nicht. Die Prinzessin jedoch wollte davon nichts wissen und erklärte, am nächsten Tage noch das Haus zu verlassen, welche Drohung sie erst dann zurückzog, als die Fürstin ihr auf ihr Ehrenwort versprach, die Bestrafung nur bis zur völligen Genesung der Tochter hinauszuschieben, dann aber dem gerechten Wunsch der alten Dame gewissenhaft nachzukommen. Dennoch erhielt Katjä sogleich einen strengen Verweis und mußte unten bei der Fürstin bleiben. Aber der Schelm blieb dort nicht lange. Als ich etwas später gleichfalls nach unten ging, traf ich sie bereits auf der Treppe. Sie hatte die Tür aufgesperrt und rief Falstaff. Ich aber erriet sofort, daß sie eine furchtbare Rache plante. Und wirklich: die Sache verhielt sich folgendermaßen. Unter allen Feinden der alten Dame gab es entschieden keinen unversöhnlicheren als Falstaff. Er war zwar gegen niemand freundlich, liebte die Menschen grundsätzlich nicht, war hochmütig, stolz, ja sogar bis zur Rücksichtslosigkeit anmaßend. Er liebte, wie gesagt, niemanden, verlangte aber von allen den schuldigen Respekt, den ihm denn auch alle pflichtschuldigst und möglichst von weitem entgegenbrachten, wobei sie dem Respekt noch eine Dosis Furcht beizumischen pflegten. Da traf nun eines Tages die alte Prinzessin ein und mit einemmal veränderte sich seine ganze Lebenslage – ihm ward schnödes Unrecht angetan: man verbot ihm formell den Zutritt zur oberen Etage. In der ersten Zeit war Falstaff außer sich vor Empörung über diese Beleidigung und kratzte eine ganze Woche an der Tür, die ihm am Ende der Treppe den Zugang versperrte. Bald jedoch erriet er, wer und was die Veranlassung zu dieser Maßregel gewesen war, und als am nächsten Sonntag die alte Prinzessin ihre Gemächer verließ, um sich zum Gottesdienst in die Kirche zu begeben, da stürzte sich Falstaff mit einem Wutgeheul auf die Arme. Nur dem glücklichen Zufall, daß mehrere Diener anwesend waren, hatte sie es zu verdanken, daß sie der schrecklichen Rache des gekränkten Köters entging. Falstaff wurde schmählich hinausgejagt und von dem Tage an wurde er jedesmal ins entfernteste Zimmer gezerrt, bevor die alte Dame ihre Gemächer verließ. Sämtliche Dienstboten erhielten die strengsten Vorschriften. Aber dennoch fand das rachedurstige Tier zwei- oder dreimal Gelegenheit, in das verbotene Gebiet einzubrechen. War er erst auf der Treppe, so raste er wie der Blitz durch die ganze Zimmerflucht bis zum Schlafgemach der Alten. Kein Dienertroß konnte ihn dann mehr zurückhalten. Zum Glück war die Tür zu dem Schlafzimmer immer verschlossen und Falstaff konnte weiter nichts tun, als so lange fürchterlich heulen, bis die Diener ihn wieder fortgeschafft hatten. Die alte Dame aber, die während des Geheuls so schrie, als werde sie von Falstaff schon lebendig aufgefressen, wurde jedesmal krank von dem Schreck und von der ausgestandenen Angst. Mehrmals schon hatte sie ihr Ultimatum an die Fürstin gestellt und einmal war sie sogar so weit gegangen – in einem Moment der Kopflosigkeit vermutlich – daß sie erklärt hatte, entweder sie oder Falstaff müsse das Haus verlassen; aber die Fürstin hatte in eine Trennung von Falstaff nicht eingewilligt. Die Fürstin hatte im allgemeinen für andere nicht gerade viel Liebe übrig, aber diesen Falstaff liebte sie, nächst den Kindern, mehr als alles auf der Welt. Vor etwa sechs Jahren war der Fürst einmal von einem Spaziergang mit einem kleinen jungen Hunde zurückgekehrt, einem schmutzigen, kranken Wesen von wahrhaft mitleiderregendem Aussehen, der aber nichtsdestoweniger eine Bulldogge reinster Rasse war. Der Fürst hatte ihn irgendwie gerettet. Der Hund freilich benahm sich äußerst unmanierlich und deshalb wurde er auf Wunsch der Fürstin auf den Hinterhof geschafft und dort an die Kette gelegt. Der Fürst hatte nichts dagegen einzuwenden. Zwei Jahre darauf nun, als die Familie den Frühling in einem Landhause an der Newa verbrachte, fiel der kleine Alexander – Katjäs jüngerer Bruder, gewöhnlich Ssascha genannt – in den Fluß. Die Fürstin sah es, schrie auf und wollte sich sogleich in die Fluten stürzen, nur mit Gewalt konnte man sie davon abhalten, denn es wäre ihr Tod gewesen. Die Strömung aber riß schon das Kind mit sich fort und nur das Kleidchen sah man noch an einer Stelle an der Oberfläche auftauchen. In größter Hast versuchte man ein Boot loszubinden, aber eine Rettung des Kindes wäre ein Wunder gewesen. Da jagte plötzlich in großen Sätzen die riesige Bulldogge ans Ufer und sprang ins Wasser, schwamm in mächtigen Stößen dem ertrinkenden Knaben nach, packte ihn mit dem Gebiß und schwamm im Triumph ans Ufer zurück. Die Fürstin stürzte vor ihm nieder, umarmte den schmutzigen, nassen Hund und küßte ihn wie von Sinnen. Doch Falstaff, der übrigens damals noch auf den prosaischen, ja sogar höchst plebejischen Namen „Frix“ hörte, war ein ausgesprochener Feind aller Zärtlichkeiten und erwiderte die Liebe der Fürstin damit, daß er sie in die Schulter biß, soweit sein Rachen nur fassen konnte. Die Fürstin litt bis an ihr Lebensende an der Narbe, aber ihre Dankbarkeit für die Rettung des Sohnes kannte trotzdem keine Grenzen. Falstaff mußte in die Gemächer der fürstlichen Familie übersiedeln, wurde gereinigt, gewaschen und bekam ein Halsband aus getriebenem Silber. Er hielt sich fortan zumeist im Boudoir der Fürstin auf, lag dort auf einem prachtvollen Bärenfell, und bald brachte es die Fürstin so weit, daß sie ihn ungestraft streicheln durfte. Als sie erfuhr, daß ihr Liebling „Frix“ hieß, war sie entsetzt über diese Geschmacklosigkeit und sogleich mußten alle helfen, einen anderen passenderen Namen ausfindig zu machen, wenn möglich einen klassischen, recht altertümlichen. Hektor und Cerberus waren leider schon zu abgedroschen, es mußte ein ganz besonderer Name sein, wie er dem Günstling der Fürstin zukam. Nach langer vergeblicher Liebesmüh’ schlug der Fürst zu guter Letzt, im Hinblick auf die ungeheure Gefräßigkeit der Dogge, den Namen Falstaff vor. Der Name fand den größten Beifall und wurde gewählt. Falstaff führte sich hinfort auch weit besser auf. Als reinblütiger Engländer war er naturgemäß schweigsam und ernst, griff niemanden als erster an, sondern verlangte nur, daß man sein Ruhelager auf dem Bärenfell achtete, und ihm überhaupt die schuldige Ehrfurcht bezeuge. Von Zeit zu Zeit jedoch bemächtigte sich seiner so etwas wie ein Spleen und Falstaff gedachte mit bitteren Gefühlen der Tatsache, daß sein unversöhnlicher Feind, der ihm seine souveränen Rechte genommen, immer noch unbestraft weiterlebte. Dann schlich er heimlich bis zur Treppe, die nach oben führte, und da er diese gewöhnlich verschlossen fand, legte er sich dort in ihrer Nähe irgendwohin, möglichst unbemerkbar in einen Winkel, oder wo er sonst am wenigsten auffiel, und nun wartete er arglistig auf einen vergeßlichen Dienstboten, der die Tür vielleicht zu schließen vergaß. Bisweilen wartete er in seiner Rachsucht drei Tage lang vergeblich, denn es war allen aufs strengste eingeschärft, die Tür nicht offen stehen zu lassen. Auf diese Weise hatte er zuletzt seine Wut schon zwei Monate verbeißen müssen – vor zwei Monaten nämlich war er zum letztenmal nach oben gerast. „Falstaff, Falstaff!“ rief die Prinzeß, die Tür offen haltend, in den freundlichsten Tönen Falstaff auf die Treppe bittend. In diesem Augenblick hatte Falstaff bereits gewittert, daß die Treppentür aufgemacht wurde und war schon im Begriff, über seinen Rubikon zu springen. Aber die Aufforderung dazu von seiten der kleinen Prinzeß erschien ihm dermaßen unbegreiflich, daß er im ersten Moment entschieden seinen Ohren nicht traute. Er war schlau wie eine Katze, und um sich den Anschein zu geben, als habe er die Fahrlässigkeit, die die Tür offen stehen ließ, gar nicht bemerkt, ging er zum Fenster, legte die Vorderpfoten auf das Fensterbrett und begann, das Haus gegenüber zu betrachten ... Kurz, er benahm sich wie die argloseste Seele der Welt, etwa wie ein gleichgültiger Spaziergänger, der für einen Augenblick stehenbleibt, um die Architektur eines schönen Gebäudes zu bewundern. Indessen schlug aber und wiegte sich sein Herz schon in süßester Hoffnung. Wie groß war daher seine Überraschung, seine Freude, wie geriet er förmlich außer sich vor Übermut, als die Tür vor ihm sogar sperrangelweit aufgemacht wurde und er überdies noch gerufen, gebeten, angefleht wurde, das verbotene Gebiet zu betreten und seinen gerechten Rachedurst unverzüglich zu stillen! Er heulte auf vor Freude, zeigte die Zähne, und raste, es war unheimlich anzuschauen, in wahrem Siegesrausch wie der Wind an uns vorüber. Er raste mit solcher Wucht, daß der Diener, der ihm oben in den Weg kam, vom Stoß reichlich eine Klafter weit zur Seite flog und sich nach dem entsprechenden Naturgesetz noch einmal in die Runde drehte. Falstaff flog wie eine Kanonenkugel. Madame Léotard kreischte auf vor Schreck. Doch Falstaff prallte schon an die verschlossene Tür, richtete sich hoch auf und heulte los, daß Gott erbarm’. Als Antwort ertönte ein fürchterliches Geschrei des alten Fräuleins. Und schon stürmte von allen Seiten die Legion der Feinde herbei, das ganze Haus lief nach oben, und das Ende war, daß Falstaff, der wilde Falstaff, gefesselt an allen vier Beinen, mit einem geschickt über seinen Kopf geworfenen Maulkorb unschädlich gemacht und schmachvoll am Lasso geschleift, wie ein besiegter Sieger vom Felde des Kampfes nach unten zurückkehrte. Ein Bote wurde zur Fürstin entsandt. Diesmal war die Fürstin nicht mehr zum Entschuldigen und Begnadigen geneigt. Aber wer sollte nun bestraft werden? Sie erriet natürlich sofort, wer die Schuldige war, – ihr Blick fiel auf Katjä ... Die stand bleich und schuldbewußt da. Die Arme dachte erst jetzt an die Folgen ihres Streiches. Der Verdacht konnte aber auch auf die unschuldigen Dienstboten fallen, und deshalb war Katjä schon im Begriff, die Wahrheit zu gestehen. „Du hast es getan?“ fragte die Fürstin streng. Ich sah, wie Katjä totenblaß wurde – da trat ich schnell einen Schritt vor und sagte mit fester Stimme: „Ich habe Falstaff heraufgelassen ... Aus Versehen,“ fügte ich hinzu, denn mein ganzer Mut sank zusammen vor dem drohenden Blick der Fürstin. „Madame Léotard, bestrafen Sie sie. Aber ich wünsche, daß Sie mit dieser Strafe ein Exempel statuieren!“ sagte die Fürstin und verließ das Zimmer. Ich sah Katjä an: sie stand wie getroffen, wie betäubt, ihre Arme hingen schlaff herab, ihr erbleichtes Gesichtchen sah zu Boden. Die einzige Strafe, die man in der Erziehung der Kinder des Fürsten anwandte, war, daß man sie in einem leeren Zimmer einschloß. In einem leeren Zimmer zwei Stunden allein zu sein – das ist wohl weiter nicht schlimm. Wenn aber das Kind mit Gewalt, gegen seinen Willen, eingeschlossen wird und man ihm erklärt, daß ihm die Freiheit genommen ist, so ist die Strafe gar nicht so unbedeutend. Gewöhnlich wurde Katjä oder ihr Bruder auf zwei Stunden eingesperrt. Mich sperrte man, in Anbetracht der ganzen Ungeheuerlichkeit meines Vergehens, auf vier Stunden ein. Ich verging fast vor Freude, als ich in mein Gefängnis trat. Ich dachte an Katjä. Ich wußte, daß ich gesiegt hatte. Doch anstatt der vier Stunden saß ich dort bis vier Uhr morgens. Und das geschah auf folgende Weise. Zwei Stunden nach meiner Einkerkerung erhielt Madame Léotard die Nachricht, daß ihre Tochter aus Moskau eingetroffen und erkrankt sei und sie zu sprechen wünsche. Sie fuhr sogleich hin und natürlich vergaß sie mich darüber ganz und gar. Das Mädchen, welches nach uns zu sehen hatte, nahm an, ich sei von Madame Léotard schon vor ihrer Abfahrt aus der Haft entlassen worden. Katjä wurde bald darauf nach unten zur Mutter gerufen und mußte dort bis elf Uhr abends sitzen. Als sie nach oben zurückkehrte, war sie sehr erstaunt, mich nicht in meinem Bett zu sehen. Nastjä half ihr beim Auskleiden, doch die Prinzeß hatte ihre Gründe, weshalb sie sie nicht nach mir fragte. Sie legte sich hin und wartete auf mich, denn obschon sie wußte, daß ich nur auf vier Stunden eingesperrt war, dachte sie doch, das Kindermädchen werde mich sogleich bringen. Nastjä aber hatte mich ganz vergessen, um so mehr, als ich mich immer allein auskleidete. So kam es, daß ich in meinem Gefängnis nächtigen mußte. Es war gegen vier Uhr morgens, als mich plötzlich Lärm und Gepolter aufweckten. Ich hatte mich auf die Diele gelegt und war eingeschlafen. Im ersten Augenblick schrie ich auf vor Angst, doch dann unterschied ich Katjäs Stimme, die von allen anderen am lautesten ertönte, darauf die Stimmen von Madame Léotard, Nastjä und der Beschließerin. Endlich wurde die Tür aufgemacht und Madame Léotard umarmte und drückte mich unter Tränen an ihr Herz, und bat mich, ihr zu verzeihen, daß sie mich vergessen hatte. Ich schlang meine Arme um ihren Hals und zerfloß in Tränen. Dabei zitterte ich vor Kälte und alle Knochen taten mir weh von der harten Diele. Ich suchte mit den Augen Katjä, sie lief aber schon in unser Schlafzimmer zurück, und als ich hinkam, lag sie schon im Bett und schlief oder stellte sich schlafend. Am Abend hatte sie anfangs allerdings auf mich gewartet, war aber dann unwillkürlich und unversehens eingeschlummert und hatte bis vier Uhr morgens geschlafen. Nach ihrem plötzlichen Erwachen hatte sie dann alle aus den Federn gebracht, zunächst die zurückgekehrte Madame Léotard, darauf Nastjä, alle weiblichen Dienstboten – und zusammen mit diesen befreite sie mich. Am nächsten Morgen wußte schon das ganze Haus von meinem Abenteuer. Sogar die Fürstin soll gesagt haben, man sei gar zu streng mit mir verfahren. Den Fürsten aber sah ich damals zum erstenmal wirklich aufgebracht. Er kam in sichtlich großer Erregung gegen zehn Uhr zu uns nach oben. „Ich bitte Sie, Madame,“ wandte er sich an die Französin, „was soll denn das für eine Methode sein? Wie sind Sie mit dem armen Kinde umgegangen? Das ist ja barbarisch, wahrhaft barbarisch! einfach skythisch! Ein armes, schwächliches Kind, und noch dazu solch ein verträumtes, eingeschüchtertes, kleines Mädchen – und das sperren Sie in ein dunkles Zimmer für die ganze Nacht ein! Das heißt doch das Kind geradezu dem Verderben ausliefern! Wissen Sie denn nicht, was sie in ihrem jungen Leben schon erlebt hat? Nein, das war von Ihnen einfach unmenschlich, ich versichere Sie, Madame! Und wie ist eine solche Strafe überhaupt möglich? Wer hat sich nur so etwas ausdenken können?“ Die arme Madame Léotard begann unter Tränen und in großer Verwirrung den Sachverhalt zu erklären. Sie sagte, daß ihre Tochter angekommen sei, und darüber habe sie mich vergessen, die Strafe an sich sei gut, wenn sie nicht zu lange dauere, und sogar Jean Jacques Rousseau sage etwas Ähnliches. „Jean Jacques Rousseau, Madame! Was geht mich Jean Jacques an! Der ist keine Autorität. Und übrigens hat Rousseau kein Recht, von Erziehung zu sprechen, denn er hat sich von seinen eigenen Kindern losgesagt, Madame! Jean Jacques Rousseau war ein unsittlicher Mensch, Madame!“ „Jean Jacques Rousseau! Jean Jacques ein unsittlicher Mensch! ^Prince! Prince!^ Was sagen Sie!“ Und Madame Léotard wurde rot vor Entsetzen. Sie war im Grunde eine prächtige Frau und nahm nicht gern etwas übel; wenn man sich aber unterfing, an ihren Lieblingen etwas auszusetzen, etwa den klassischen Schatten eines Corneille oder Racine im Jenseits zu beunruhigen, oder Voltaire zu beleidigen oder Jean Jacques Rousseau einen unsittlichen Menschen zu nennen – oh Gott! Tränen entstürzten den Augen der guten alten Dame und sie bebte vor Erregung. „Sie vergessen sich, ^mon prince^!“ rief sie außer sich, mit vor Aufregung unsicherer Stimme. Der Fürst besann sich denn auch sofort und entschuldigte sich, dann trat er zu mir, küßte mich mit tiefem Gefühl, bekreuzte mich und verließ uns. „^Pauvre prince!^“ seufzte Madame Léotard, die nun ihrerseits weich wurde. Darauf setzten wir uns an den Lerntisch und der Unterricht begann. Die Prinzeß war aber sehr zerstreut. Bevor wir hernach zum Essen nach unten gingen, kam sie auf mich zu, mit glühendem Gesichtchen, doch lachenden Lippen, blieb vor mir stehen, faßte mich an den Schultern und sagte schnell, als schäme sie sich Gott weiß aus welchem Grunde: „Was? Hast du gestern lang genug für mich gesessen? Nach dem Essen wollen wir heute in den Saal gehen und spielen.“ Jemand kam und die Prinzeß wandte sich blitzschnell von mir fort. Nach dem Essen, in der Dämmerung, gingen wir beide Hand in Hand in den großen Saal. Die Prinzeß war sehr aufgeregt und atmete schwer. Ich dagegen war froh und glücklich wie nie zuvor. „Willst du Ball spielen?“ fragte sie mich. „Stell’ dich hierhin!“ Sie stellte mich in die eine Saalecke, doch anstatt nun von mir fortzugehen und den Ball mir zuzuwerfen, blieb sie drei Schritte vor mir stehen, sah mich an, errötete, schlug die Hände vors Gesicht und warf sich aufs Sofa. Ich machte eine Bewegung zu ihr hin – sie dachte aber, ich wolle fortgehen. „Geh nicht fort, Njetotschka, bleib bei mir,“ sagte sie schnell, „das wird gleich vergehen.“ Da sprang sie auch schon auf, und über und über erglühend, mit Tränen in den Augen, warf sie sich an meine Brust. Ihre Wangen waren feucht, ihre Lippen wie Kirschen so rot – und die Locken in wirrem Durcheinander. Sie küßte mich wie von Sinnen, küßte mein Gesicht, meine Augen, Lippen, den Hals, die Hände, und dabei weinte sie, wie in einem Nervenanfall; ich schmiegte mich fest an sie und wir umarmten uns süß und selig, wie zwei gute Freunde oder – wie ein Liebespaar, das sich nach langer, langer Trennung wiedersieht. Katjäs Herz pochte so stark, daß ich jeden Schlag spürte. Im Nebenzimmer ertönte eine Stimme: Katjä wurde zur Fürstin gerufen. „Ach Njetotschka! Nu! Auf Wiedersehen – bis zum Abend! bis zur Nacht! Geh jetzt nach oben und wart’ auf mich!“ Sie küßte mich noch ein letztes Mal leise, unhörbar, fest, und dann eilte sie dem Ruf nach. Ich lief nach oben, sinnlos, trunken, wie erlöst, warf mich auf den Diwan, preßte das Gesicht ins Kissen und weinte vor Entzücken. Mein Herz schlug so heftig, als wolle es die Brust sprengen. Ich weiß nicht, wie die Stunden bis zum Abend vergingen. Endlich schlug es elf und ich ging zu Bett. Die Prinzeß kehrte erst um zwölf zurück; sie lächelte mir von ferne zu, sagte aber kein Wort. Nastjä entkleidete sie und schien es wie absichtlich langsam zu tun. „Schneller, schneller, Nastjä!“ drängte Katjä. „Was ist denn das, Prinzeßchen, sind wohl die Treppe heraufgelaufen, daß das Herzchen so schlägt?“ fragte Nastjä. „Ach, mein Gott, Nastjä! Wie kann man so langweilig sein! Schneller, schneller doch!“ Und Prinzeßchen stampfte geärgert mit dem Fuß auf. „Ach, was für’n Herzchen!“ sagte Nastjä und küßte das Füßchen der Prinzeß, von dem sie gerade den Strumpf abzog. Endlich war alles beendet, die Prinzeß lag im Bett und Nastjä verließ uns. Im Nu sprang Katjä aus dem Bett und eilte zu mir. Ich empfing sie mit einem Freudenschrei. „Komm zu mir, komm in mein Bett!“ sagte sie schnell und selbst schon im Begriff, mich aus dem Bett zu heben. Einen Augenblick später lagen wir beide in ihrem Bett, umschlangen uns fest und schmiegten uns aneinander. Die Prinzeß erstickte mich fast mit ihren Küssen. „Ich weiß doch, wie du mich geküßt hast, wenn du glaubtest ich schliefe!“ flüsterte sie, über und über errötend. Ich weinte. „Njetotschka!“ flüsterte Katjä unter Tränen, „du mein Engel, ich hab’ dich doch schon so lange, so lange schon lieb! Weißt du, seit wann?“ „Nein, seit wann?“ „Als Papa mir befahl, dich um Verzeihung zu bitten, nachdem du deinen Papa verteidigt hattest, Njetotschka ... Du mein Wai–sen–kindchen!“ sagte sie gedehnt und wieder bedeckte sie mich mit Küssen. Sie weinte und lachte zugleich. „Ach, Katjä!“ „Nu was? – nu – was?“ „Warum hast du so lange ... so lange ...“ ich sprach nicht zu Ende. Wir hielten uns krampfhaft umschlungen und sprachen wohl drei Minuten lang kein Wort. „Hör’ mal, was hast du denn alles von mir gedacht?“ fragte die Prinzeß. „Ach, ich hab’ so vieles gedacht, Katjä! Ich habe nur an dich gedacht, Tag und Nacht.“ „Und in der Nacht von mir gesprochen, das habe ich gehört.“ „Wirklich?“ „Und sogar geweint!“ „Siehst du! – warum warst du denn so stolz?“ „Ich war doch dumm, Njetotschka! Das kommt so zuweilen über mich und dann bin ich machtlos. Ich war die ganze Zeit böse auf dich.“ „Weshalb?“ „Weil ich selber schlecht war. Anfangs deshalb, weil du besser warst als ich. Dann deshalb, weil Papa dich mehr liebte! Papa aber ist ein guter Mensch, Njetotschka. Nicht wahr?“ „Ach ja, das ist er!“ rief ich ganz begeistert. „Ja, ein guter Mensch,“ wiederholte Katjä ernsthaft. „Aber was soll ich mit ihm anfangen? Er ist immer so ... Nun, und dann bat ich dich um Verzeihung und begann dabei fast zu weinen, und darüber ärgerte ich mich wieder.“ „Das sah ich, das sah ich, daß du dem Weinen nahe warst.“ „Schweig, Dummchen, weinst selbst jeden Augenblick!“ rief Katjä und hielt mir den Mund zu. „Weißt du, ich wollte dich furchtbar lieben, dann aber wollte ich dich plötzlich wieder so hassen und ich haßte dich, haßte dich so!“ ... „Weswegen denn?“ „Ja so – ich war bös auf dich. Ich weiß nicht, weshalb! Dann aber sah ich, daß du ohne mich nicht mehr leben konntest, und da dacht’ ich: wart’, ich werde sie doch noch quälen, die Schändliche!“ „Ach, Katjä!“ „Mein Seelchen!“ rief sie, meine Hand küssend, „und dann, weißt du, wollte ich mit dir nicht mehr sprechen, ich wollte nicht, für keinen Preis! Und weißt du noch, wie ich Falstaff streichelte?“ „Ach du, du Unerschrockene!“ „Aber wie ich mich _fürchtete_!“ sagte sie und schüttelte sich. „Doch weißt du auch, warum ich zu ihm ging?“ „Warum?“ „Ja, weil du zuschautest. Als ich sah, daß du mich ansahst ... Ach! – da war mir alles andere gleich – ich ging! Hab’ ich dich erschreckt, was? Fürchtetest du dich für mich?“ „Entsetzlich!“ „Ich weiß. Aber wie ich dann froh war, daß Falstaff abtrollte! Mein Gott, und wie mich dann plötzlich die Angst packte, als er aus dem Zimmer war! Solch ein Scheu–sal!“ Und die Prinzeß schüttelte sich wieder und lachte nervös, indes ein Gruseln sie faßte. Plötzlich erhob sie ihr heißes Köpfchen und sah mich lange aufmerksam an. Zwei Tränchen glänzten noch wie Diamanten an ihren langen Wimpern. „Nu, was ist denn eigentlich an dir, daß ich dich so liebgewonnen habe? Du! – bleich bist du, die Haare blond, selbst solch ein Dummchen, das immer gleich weint, die Augen blau ... Du mein Wai–sen–kindchen!“ Und Katjä umfing mich wieder, um mich von neuem mit Küssen zu bedecken. Einige ihrer Tränen fielen auf meine Wangen. Sie war tief gerührt. „Und wie ich dich doch liebte! – aber immer dachte ich: nein und nein, ich sag’s ihr doch nicht! Ich war ja so eigensinnig! Was fürchtete ich denn eigentlich, weshalb schämte ich mich vor dir? Sieh doch, wie gut wir es jetzt haben!“ „Katjä! Es schmerzt mich so!“ sagte ich außer mir vor Freude. „Es bricht mir das Herz entzwei!“ „Ja, Njetotschka! Hör’ weiter ... Ja aber, wart’, sag’ zuerst, wer hat dir den Namen Njetotschka gegeben?“ „Mama!“ „Wirst du mir von deiner Mama erzählen?“ „Alles, alles!“ versprach ich begeistert. „Aber wohin hast du meine zwei Taschentücher gesteckt, die mit den Spitzen? Und mein Haarband, warum hast du das versteckt? Ach du, schämst du dich nicht! Ich weiß doch alles!“ Ich lachte und errötete tief. „Nein, da dachte ich doch: wart’, da werd’ ich sie noch ein bißchen quälen, mag sie warten. Manchmal aber dachte ich wieder: aber ich lieb’ sie ja gar nicht, ich kann sie nicht ausstehen! Du aber warst immer so still, wie so ein frommes Lämmchen! Und wie ich fürchtete, daß du mich für dumm halten könntest! Du bist klug, Njetotschka, du bist doch sehr klug, nicht?“ „Ach, pfui Katjä, was fällt dir ein!“ rief ich fast beleidigt. „Nein, du bist klug,“ sagte Katjä in bestimmtem und ernstem Ton, „das weiß ich. Nur, weißt du, eines Morgens stand ich auf und hatte dich plötzlich so lieb, ganz furchtbar lieb! Die ganze Nacht hatte mir nur von dir geträumt. Da dachte ich: ich werde zu Mama übersiedeln und ganz dort wohnen. Ich will sie nicht lieben, ich will nicht! Als ich aber dann am Abend unten bei Mama einschlief, da dachte ich: wenn sie jetzt käme, wie in der vorigen Nacht – doch du kamst nicht. Und wieviel Mühe es mich da kostete, zu tun als schlafe ich ganz ruhig! Ach, wie dumm wir waren, Njetotschka!“ „Aber warum wolltest du mich denn nicht lieben?“ „So ... Ach, was sage ich! – ich hab’ dich doch die ganze Zeit geliebt! Immer hab’ ich dich geliebt. Erst später kam das – daß ich dich nicht ausstehen konnte. Ich dachte, ach, ich werde sie einmal totküssen oder totkneifen! Da hast du’s nun, du Dummchen!“ Und sie kniff mich. „Aber erinnerst du dich noch, wie ich dir deine Schuhschleife band?“ „O ja!“ „O ja! – war’s dir angenehm? Weißt du, ich sah dich an: wie lieb sie doch ist, dachte ich, halt, ich werd’ ihr die Schleife binden – was sie dann wohl denken wird? Und da hatte ich gleich selbst solch ein gutes Gefühl. Und wirklich, ich wollte dich auf der Stelle abküssen ... Aber ich küßte dich doch nicht. Dann aber fand ich das alles so komisch, so schrecklich komisch! Und auf dem ganzen Wege, während unseres Spazierganges, glaubte ich, jetzt, im nächsten Augenblick nicht mehr an mich halten zu können und laut auflachen zu müssen. Ich konnte dich nicht ansehen, so komisch war’s. Und wie froh ich doch war, daß du für mich ins Gefängnis gingst!“ – Das leere Zimmer wurde „das Gefängnis“ genannt. – „Und hattest du Angst?“ „Ach, fürchterlich!“ „Ja, und weißt du, ich freute mich nicht nur darüber, daß du vor Mama meine Schuld auf dich genommen hattest, sondern noch viel mehr darüber, daß du für mich im Gefängnis sitzen mußtest! Ich dachte: jetzt sitzt sie da und weint, ich aber – wie habe ich sie lieb! Morgen werde ich sie so küssen, so küssen! Und du tatest mir doch kein bißchen leid, bei Gott, du tatest mir gar nicht leid, obschon ich auch etwas weinte.“ „Ich aber, siehst du, habe nicht geweint, ich war dir zum Trotz gerade sehr froh!“ „Hast nicht geweint? Ach, du Böse!“ rief die Prinzeß und saugte sich an mir fest mit ihren weichen Lippen. „Katjä, Katjä! Mein Gott, wie bist du reizend!“ „Nicht wahr? Aber jetzt mach’ mit mir, was du willst! Schlag mich, kneif mich! Bitte, kneif mich! Täubchen, ach, nu, so kneif mich doch!“ „Wildfang!“ „Nu, und was noch?“ „Dummchen ...“ „Und was noch?“ „Küss’ mich!“ Und wir küßten uns, weinten, lachten, unsere Lippen waren schon geschwollen vom Küssen. „Njetotschka! Erstens, höre: du wirst jetzt immer zu mir schlafen kommen. Küßt du gern? Dann werden wir uns auch küssen. Und dann: ich will nicht, daß du so langweilig bist. Warum langweiltest du dich? Wirst du mir das erzählen, ja?“ „Alles werde ich dir erzählen. Aber jetzt bin ich nicht mehr traurig, sondern lustig!“ „Nein, wart’ nur, bald wirst du auch so rote Wangen haben wie ich! Ach, wenn doch der Morgen schneller käme! Willst du schon schlafen, Njetotschka?“ „Nein.“ „Nu, dann, laß uns erzählen!“ Und wir sprachen wohl gute zwei Stunden. Gott weiß was wir da alles zusammenphantasierten. Zuerst entrollte Katjä alle ihre Zukunftspläne und teilte mir mit, daß sie ihren Papa am meisten von allen liebte, fast sogar mehr als mich. Dann kamen wir überein, daß Madame Léotard eine gute Frau und gar nicht streng war. Dann setzten wir sogleich fest, was wir am nächsten und übernächsten Tage tun würden, und überhaupt bestimmten wir unser Leben etwa schon für zwanzig Jahre im voraus. Für die allernächste Zukunft entwarf Katjä folgenden Plan: an einem Tage würde sie mir befehlen und ich alles ausführen, und am nächsten Tage umgekehrt, dann würde ich befehlen und sie widerspruchslos gehorchen; und dann würden wir beides zugleich tun, also uns gegenseitig Befehle erteilen; und dann würden wir es einmal absichtlich so machen, daß wir in Streit gerieten, nur so zum Schein, und dann uns schnell wieder versöhnen. Mit einem Wort, uns erwartete schier unendliches Glück. Schließlich wurden wir aber doch müde. Meine Augen fielen mir schon zu. Katjä lachte mich aus, nannte mich eine Schlafmütze und – schlief selbst noch vor mir ein. Am nächsten Morgen erwachten wir beide zugleich, küßten uns schnell, denn wir hörten Schritte, und ich konnte gerade noch rechtzeitig in mein Bett schlüpfen, bevor Nastjä ins Zimmer trat. Den ganzen Tag wußten wir nicht, was wir miteinander anfangen sollten vor Freude. Wir liefen aus einem Zimmer ins andere und versteckten uns fast die ganze Zeit vor den anderen, denn fremde Augen fürchteten wir am meisten. Zu guter Letzt begann ich ihr meine Lebensgeschichte zu erzählen. Katjä war geradezu erschüttert. „Du, du Böse! Warum hast du mir das alles nicht früher erzählt? Ich hätte dich dann gleich so lieb gehabt, so lieb! Doch sag’: haben dich die Jungen auf der Straße schmerzhaft geschlagen?“ „O ja. Und ich hatte schreckliche Angst vor ihnen!“ „Pfui, die schändlichen! Weißt du, Njetotschka, ich habe selbst einmal gesehen, wie ein Knabe einen anderen auf der Straße schlug. Weißt du, morgen werde ich heimlich Falstaffkas Hundepeitsche mitnehmen und wenn mir noch solch einer begegnet, dann werde ich ihn so hauen, so hauen!“ Ihre Augen blitzten vor Zorn. Wir erschraken, wenn jemand ins Zimmer trat; wir fürchteten, beim Küssen überrascht zu werden, denn wir küßten uns an jenem Tage wenigstens hundertmal. So vergingen der erste und der zweite Tag. Ich fürchtete schon, zu sterben vor Entzücken. Das Glücksgefühl war so mächtig, daß es mir den Atem raubte. Doch unser Glück sollte nicht von langer Dauer sein. Madame Léotard, die Katjä auf Wunsch der besorgten Fürstin nicht aus den Augen lassen sollte, beobachtete uns drei Tage mit wachsender Verwunderung und in dieser Zeit bemerkte sie manches, was ihr zu denken gab. Am dritten Tage ging sie zur Fürstin und berichtete gewissenhaft, was ihr an uns aufgefallen war: daß wir beide wie außer Rand und Band seien, schon drei Tage uns nicht voneinander trennten – uns jeden Augenblick küßten, weinten, lachten und unaufhörlich plauderten, was sie früher nie bemerkt habe: sie wisse gar nicht, welchem Einfluß das zuzuschreiben sei; aber es wolle ihr scheinen, daß die Prinzeß sich in einem krankhaften Zustande befinde, und deshalb meine sie, es wäre vielleicht besser, wir kämen seltener zusammen. „Das habe ich schon längst gedacht,“ versetzte die Fürstin. „Ich ahnte es, daß man von dieser sonderbaren Waise nur Scherereien haben werde! Was man mir von ihr erzählt hat, von ihrem früheren Leben, – ist geradezu haarsträubend, ist einfach entsetzlich! Sie hat augenscheinlich Einfluß auf Katjä. Sie sagen, Katjä liebe sie sehr?“ „Ich glaube, sogar unsinnig!“ Die Fürstin errötete vor Ärger. Sie war schon damals eifersüchtig auf die Liebe ihrer Tochter zu mir. „Das ist mir doch zu unnatürlich,“ sagte sie. „Früher waren sie einander so fremd, und ich muß gestehen, das freute mich. So klein dieses Mädchen auch noch ist, aber ich bin vor nichts sicher. Sie verstehen mich? Sie hat schon mit der Muttermilch alles das eingesogen, ihre Angewohnheiten oder vielleicht sogar ihre Neigungen. Ich begreife nicht, was der Fürst an ihr gefunden hat! Tausendmal habe ich ihm schon den Vorschlag gemacht, sie in einer Pension unterzubringen.“ Madame Léotard versuchte nun, mich zu verteidigen, aber die Fürstin hatte ihren Entschluß bereits gefaßt. Katjä wurde nach unten gerufen und dort sagte man ihr, daß sie mich nicht vor dem nächsten Sonntag wiedersehen dürfe, also erst nach einer ganzen Woche. Ich erfuhr das erst am späten Abend und Entsetzen erfaßte mich. Ich dachte an Katjä und fürchtete, sie werde unsere Trennung nicht überleben. Ich geriet außer mir und meine Verzweiflung war so groß, daß ich in der Nacht krank wurde. Am nächsten Morgen kam der Fürst zu mir und sagte mir leise, als wir allein blieben, ich solle ruhig auf ein baldiges Wiedersehen hoffen. Leider waren aber seine Bemühungen vergeblich, denn die Fürstin blieb bei ihrem Entschluß. Meine Verzweiflung dagegen wuchs mit jeder Stunde und der Schmerz würgte mich, daß ich an ihm zu ersticken glaubte. Am dritten Morgen brachte mir Nastjä einen Zettel von Katjä. Sie schrieb mir mit dem Bleistift auf einem abgerissenen Stück Papier in fürchterlichen Krähenfüßen folgendes: „Ich liebe dich unsinnig. Ich sitze bei ^maman^ und denke nur darüber nach, wie ich fortlaufen könnte. Ich werde unbedingt fortlaufen, das schwöre ich dir, und deshalb weine nicht. Schreib’ mir, wie du mich liebst. Ich aber umarme dich die ganze Nacht im Schlaf, und habe furchtbar gelitten, Njetotschka. Ich schicke dir Konfekt. Adieu.“ Ich antwortete auf demselben Wege. Den ganzen Tag las ich immer wieder Katjäs Brief und weinte. Madame Léotard quälte mich mit ihrer Zärtlichkeit. Am Abend erfuhr ich, daß sie zum Fürsten gegangen war und gesagt hatte, daß ich sicherlich zum drittenmal krank werden würde, wenn ich Katjä nicht wiedersähe, und daß sie es bereue, die Fürstin beunruhigt zu haben. Ich fragte Nastjä, was Katjä mache. Sie sagte, Katjä weine nicht, sei aber sehr bleich. Am nächsten Morgen flüsterte Nastjä mir zu: „Gehen Sie ins Kabinett des Fürsten. Aber gehen Sie über die Treppe, die rechts nach unten führt.“ Alles in mir wurde lebendig in froher Vorahnung. Atemlos vor Erwartung lief ich nach unten und klinkte die Tür auf zum Kabinett. Es war niemand da. Plötzlich wurde ich hinterrücks krampfhaft umschlungen und Katjä küßte mich leidenschaftlich. Lachen, Tränen ... Im Nu riß sie sich aus meinen Armen, lief zum Vater, kletterte wie eine Eichkatze an ihm empor bis auf seine Schulter, konnte sich aber dort nicht halten und sprang auf den Diwan. Das brachte auch den Fürsten so aus dem Gleichgewicht, daß er sich setzen mußte. Katjä lachte unter Tränen. „Papa, was bist du für ein guter Papa!“ „Wildfang! Ihr seid mir beide gut! Was ist denn mit euch geschehen? Woher diese Freundschaft? Woher diese Liebe?“ „Ach, frag’ nicht, Papa, davon verstehst du nichts!“ Und wir hielten uns wieder fest umschlungen. Ich betrachtete sie bang: sie hatte abgenommen in den drei Tagen. Die frische Farbe ihres Gesichtchens war einer zarten Blässe gewichen. Da mußte ich weinen vor Leid. Nastjä klopfte an die Tür – ein Zeichen, daß Katjäs Abwesenheit der Fürstin aufgefallen war. Katjä wurde leichenblaß. „Laßt es jetzt genug sein, Kinder. Wir werden hier jeden Tag zusammenkommen. Nehmt jetzt Abschied für heute und Gott mit euch!“ sagte der Fürst. Er war sichtlich gerührt, da er unseren Schmerz sah; doch es sollte anders kommen. Am Abend desselben Tages kam aus Moskau die Nachricht, daß der kleine Ssascha schwer erkrankt sei und fast schon in den letzten Zügen liege. Die Fürstin beschloß sofort, am nächsten Morgen die Reise anzutreten. Das geschah alles so schnell, daß ich es erst eine Minute vor ihrer Abfahrt erfuhr. Daß wir uns überhaupt noch verabschieden konnten, Katjä und ich, hatten wir nur dem Fürsten zu danken, denn die Fürstin hatte davon nichts wissen wollen. Die Prinzeß war wie zerschlagen. Ich lief wie von Sinnen nach unten und warf mich an ihre Brust. Der Reisewagen wartete schon vor dem Portal. Katjä sah mich an und plötzlich wurde sie ohnmächtig. Ich bedeckte sie mit Küssen. Die Fürstin bemühte sich erschrocken um sie und gab ihr Essenzen zu riechen. Endlich schlug sie die Augen auf und ihre erste Bewegung war, daß sie mich wieder umarmte. „Leb’ wohl, Njetotschka!“ sagte sie plötzlich und sie versuchte zu lächeln, aber es sprach nur eine unsagbare Rührung aus ihrem Gesichtchen. „Du, sieh nicht auf mich; das ist nur so; ich bin nicht krank, nach einem Monat komme ich wieder. Dann werden wir uns nie mehr trennen.“ „Genug, Katjä,“ sagte die Fürstin ruhig, „fahren wir!“ Aber die Prinzeß kehrte noch einmal zurück. Noch einmal umfing sie mich krampfhaft. „Mein Leben!“ konnte sie mir noch zuflüstern, „auf Wiedersehen!“ Wir küßten uns zum letztenmal und die Prinzeß verließ mich – für lange, sogar für sehr lange Zeit. Es vergingen acht Jahre, bis wir uns wiedersahen! * * * * * Ich habe von dieser Episode meiner Kindheit mit Absicht so ausführlich erzählt. Unsere Lebensgeschichten sind eben untrennbar verbunden. Ihr Roman – ist auch mein Roman. Es war mir wie vom Schicksal bestimmt, sie kennen zu lernen, und ebenso ihr, mich zu finden. Und überdies konnte ich der Lust nicht widerstehen, mich nochmals in meine Kindheit zu versetzen ... Jetzt wird meine Erzählung schneller fortschreiten. Mein Dasein sank damals wie in eine große Stille und erst als ich mein sechzehntes Jahr bereits vollendet hatte, war es mir, als erwachte ich wieder zu einem wirklichen Leben ... Doch zuvor muß ich noch ein paar Worte über die erste Zeit nach der Abfahrt der fürstlichen Familie sagen. Ich blieb mit Madame Léotard zurück. So vergingen zwei Wochen. Dann traf aus Moskau ein Abgesandter des Fürsten ein und brachte die Nachricht, daß die Rückkehr nach Petersburg auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben worden sei. Da nun Madame Léotard aus Gründen, die ihre eigene Familie angingen, nicht nach Moskau übersiedeln konnte, so hatte sie im Hause des Fürsten nichts mehr zu tun. Sie blieb aber in derselben Familie, indem sie zur ältesten Tochter der Fürstin übersiedelte. Ich bin bisher noch nicht auf Alexandra Michailowna zu sprechen gekommen – wohl deshalb, weil ich sie bis dahin nur ein einziges Mal gesehen hatte. Sie war die Tochter der Fürstin aus deren erster Ehe. Die Herkunft und Verwandtschaft der Fürstin waren etwas dunkel. Ihr erster Mann war ein Gutspächter gewesen. Als sie dann zum zweitenmal geheiratet hatte, wußte sie nicht, was sie mit ihrer ältesten Tochter anfangen sollte. Auf eine glänzende Partie konnte sie nicht hoffen. Die Mitgift war mäßig; aber schließlich, vier Jahre vor meiner Aufnahme, hatte man für sie dennoch einen reichen Mann, der schon einen bedeutenden Posten bekleidete, gefunden. Alexandra Michailowna kam in neue Gesellschaftskreise und sah um sich eine andere Welt. Die Fürstin besuchte ihre Tochter im ganzen nur zweimal im Jahre. Der Fürst, ihr Stiefvater, besuchte sie dagegen in jeder Woche und nahm dann auch Katjä mit. In der letzten Zeit sah die Fürstin es sehr ungern, daß Katjä zur Schwester ging; da brachte der Fürst sie oft heimlich hin. Katjä vergötterte die Schwester, obwohl sie ganz entgegengesetzte Charaktere waren. Alexandra Michailowna war damals zweiundzwanzig Jahre alt, still, zart, sehr liebreich. Ja es war, wie wenn ein heimlicher Kummer, ein verborgener Schmerz ihre schönen Züge verklärte. Und dennoch hatte ich die Empfindung, als paßten der Ernst und die Trauer nicht gut zu ihrem schönen lieben Antlitz, ganz wie etwa einem Kinde Trauer nicht steht. Man konnte sie nicht ansehen, ohne sogleich tiefe Sympathie für sie zu empfinden. Sie war fast durchsichtig bleich und wie es hieß, zur Schwindsucht geneigt. Sie lebte sehr zurückgezogen und liebte weder bei sich viele Gäste zu empfangen, noch selbst Besuche zu machen. Ihr Leben war das einer Einsiedlerin. Kinder hatte sie zunächst nicht. Ich weiß noch, sie kam einmal zu uns gefahren, um mit Madame Léotard zu sprechen, und sie trat damals zu mir und küßte mich mit tiefem Gefühl. Mit ihr war ein hagerer, schon älterer Herr gekommen. Ihm traten die hellen Tränen in die Augen, als er mich sah. Das war der Geigenvirtuose B. ... Alexandra Michailowna legte den Arm um mich und fragte, ob ich bei ihr leben und ihr Töchterchen sein wolle. Ich sah ihr ins Gesicht und erkannte in ihr die Schwester meiner Katjä, und ich umarmte sie mit einem dumpfen Schmerz im Herzen und empfand wieder, wie groß meine Einsamkeit war ... Ganz, als hätte mir wieder jemand gesagt: „Du bist eine Waise!“ Darauf gab mir Alexandra Michailowna einen Brief des Fürsten, den ich mit unterdrücktem Schluchzen las. Der Fürst schrieb in Liebe und Güte, Gottes Segen möge auf mir ruhen und ich möge in dem langen Leben, das mir noch bevorstehe, glücklich sein. Zum Schluß bat er mich noch, auch seine andere Tochter zu lieben. Katjä schrieb mir gleichfalls einige Zeilen. Sie schrieb, daß sie sich nun gar nicht mehr von der Mutter trenne. Bevor dieser Tag zu Ende ging, kam ich also wieder in ein anderes Haus, zu anderen Menschen, nachdem ich mein Herz von neuem von allem hatte losreißen müssen, was mir schon lieb und traut geworden war. Müde, wie zerschlagen, betrat ich das neue Heim. Mein Herz blutete ... Und so beginnt in meiner Erzählung denn jetzt ein neuer Abschnitt meines Lebens. VI. Mein neues Leben verlief so still und ruhig, als hätte ich unter Einsiedlern gelebt ... Ich brachte bei ihnen mehr als acht Jahre zu und erinnere mich nicht, daß in dieser Zeit, abgesehen von einigen wenigen pflichtschuldigen Diners, jemals eine größere Gesellschaft im Hause gewesen wäre oder daß Verwandte, Freunde und Bekannte sich bei uns zusammengefunden hätten. Mit Ausnahme von zwei oder drei Personen, die hin und wieder einmal vorsprachen – z. B. der Künstler B., der ein guter Freund des Fürsten H. und auch seiner Stieftochter Alexandra Michailowna war, und die Herren, die fast ausschließlich in Amtsangelegenheiten zu dem Gemahl Alexandra Michailownas kamen – kam so gut wie niemand zu uns. Alexandra Michailownas Mann war beständig von seinem Dienst in Anspruch genommen, und konnte sich nur selten für eine kurze Zeit freimachen, die er dann gleichmäßig zwischen dem Familienleben und den gesellschaftlichen Pflichten teilte. Hervorragende Verbindungen, die er unmöglich vernachlässigen konnte, zwangen ihn ziemlich oft, die Gesellschaft an sich zu erinnern. Fast überall hielt sich das Gerücht von seinem schrankenlosen Ehrgeiz, doch da er sich gleichzeitig des Rufes erfreute, ein tüchtiger, ernster Mensch zu sein, da er überdies, wie bereits erwähnt, schon ein hohes Amt bekleidete, und Glück und Erfolg ihn wie es schien von selbst aufsuchten, so war die Gesellschaft weit davon entfernt, ihm ihre Sympathie zu entziehen. Ja, noch mehr als das: man brachte ihm beständig und ganz allgemein eine gewisse besondere Teilnahme entgegen, die man dagegen seiner Frau vollständig versagte. Alexandra Michailowna lebte in völliger Einsamkeit: aber es war, als sei ihr das nur angenehm, ja als freue sie sich sogar darüber. Ihr stiller Charakter war gleichsam geschaffen für dieses stille Leben. An mir hing sie mit ganzer Seele, sie liebte mich wie ihr eigenes Kind, und ich, deren Tränen ob der Trennung von Katjä noch nicht versiegt waren, – ich, mit meinem wehen Herzen, ich warf mich wie erlöst in ihre mütterlich zärtliche Umarmung. Und vom ersten Tage an hat meine glühende Liebe zu ihr nie aufgehört, noch jemals etwas von ihrer Glut eingebüßt. Sie war mir Mutter, Schwester, Freund, sie ersetzte mir alles und hegte und pflegte meine Jugend. Hinzu kam, daß ich bald erriet und herausfühlte, daß ihr Geschick durchaus nicht so glücklich war, wie man es auf den ersten Blick wohl glauben konnte, wenn man nach ihrem stillen und ruhigen äußeren Leben urteilte, nach ihrer scheinbaren Freiheit und ihrem guten, stillen Lächeln, das so oft ihr liebes Gesicht verklärte. Ich entdeckte vielmehr im Laufe meiner Entwicklung fast täglich etwas Neues im Leben meiner Wohltäterin, etwas, das in langsamer Qual von meinem Herzen erraten wurde, und mit dieser traurigen Erkenntnis wuchs zugleich meine Liebe zu ihr und mit der Liebe meine Anhänglichkeit. Ihr Charakter war schüchtern und weich. Wenn man ihre reinen, klaren Gesichtszüge sah, die förmlich Ruhe ausströmten, dann hätte man es auf den ersten Blick nicht für möglich gehalten, daß irgendeine Unruhe in ihrem reinen Herzen wohnen konnte. Es war undenkbar, daß sie auch nur irgendeinen Menschen nicht hätte lieben können; das Mitleid siegte stets in ihrem Herzen, selbst über Ekel und Abscheu – indes war sie aber nur sehr wenigen Freunden zugetan und lebte auch innerlich in vollständiger Einsamkeit ... Ihrer Natur nach war sie leidenschaftlich und empfänglich für alle Eindrücke, gleichzeitig aber war’s, als sei ihr selbst bange vor ihrer Empfänglichkeit und als bewache sie deshalb ihr Herz jeden Augenblick, damit es sich nicht vergäße – und wär’s auch nur in Träumen. Es fiel mir auf, daß ihr bisweilen in den lichtesten Stunden mit einem Male Tränen in die Augen traten: als sei plötzlich eine Erinnerung in ihrer Seele aufgetaucht, die Erinnerung an etwas, was ihr Gewissen qualvoll peinigen mochte und ewig wie auf der Lauer lag, um im Augenblick des Glücks plötzlich hervorzuspringen und das Glück feindlich zu verscheuchen. Und je ruhiger, glücklicher, zufriedener sie war, um so näher, schien es, war der Kummer, um so unfehlbarer erschienen plötzlich die Tränen – wie ein Anfall, der über sie kam. Ich entsinne mich keines einzigen vollkommen ruhigen Monats in den ganzen acht Jahren. Ihr Mann liebte sie anscheinend sehr, und sie – sie vergötterte ihn. Aber schon auf den ersten Blick schien es einem, als gäbe es etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen. Es mußte da irgendein Geheimnis walten – ein Geheimnis in ihrer Vergangenheit – wenigstens geschah es, daß ich schon vom ersten Tage an etwas Ähnliches vermutete ... Ihr Mann machte auf mich, als ich ihn zum erstenmal sah, den Eindruck eines finsteren Menschen. Diesen ersten Eindruck empfing ich noch als Kind und deshalb konnte ihn auch nichts verwischen. Äußerlich war er ein hagerer Mensch von hohem Wuchs, und man hatte die Empfindung, als verberge er mit Absicht seinen Blick hinter den großen, grünen Gläsern seiner Brille. Er war trocken, nichts weniger als mitteilsam, und selbst unter vier Augen im Verkehr mit seiner Frau fand er sozusagen niemals ein rechtes Thema zur Unterhaltung. Offenbar war ihm die Gegenwart von Menschen lästig. Mich beachtete er überhaupt nicht; dagegen fühlte ich mich jedesmal, wenn wir abends im Salon Alexandra Michailownas zum Tee zusammenkamen, während seiner Anwesenheit äußerst ungemütlich. Heimlich beobachtete ich Alexandra Michailowna, und zu meinem Kummer bemerkte ich, daß sie dann jedes ihrer Worte erwog und über jede Bewegung nachdachte. Sie aber erbleichte, wenn sie sah, daß ihr Mann schroffer oder unfreundlicher wurde; oder sie errötete auch wohl plötzlich, als habe sie aus einem seiner Worte irgendeine Anspielung oder einen Vorwurf herausgehört. Ich fühlte es, daß ihr das Zusammensein mit ihm schwer fiel, und doch schien sie, wenigstens soweit sich das nach äußeren Anzeichen beurteilen ließ, keinen Augenblick ohne ihn leben zu können. Mir fiel besonders ihre ungeheure Aufmerksamkeit ihm gegenüber auf: kein Wort, keine Bewegung wurde von ihr überhört oder übersehen. Es war, als wolle sie nach allen Kräften es ihm recht machen und als fühle sie, daß ihr das dennoch nicht gelang. Ja, es war fast, als erbettele sie von ihm seinen Beifall: ein flüchtiges Lächeln, ein halbes freundliches Wort von ihm – und sie war glücklich ... glücklich wie ein Mädchen in der ersten Zeit einer noch schüchternen, noch hoffnungslosen Liebe. Sie ging mit ihrem Manne um, so vorsichtig, wie mit einem Schwerkranken. Er aber sah auf sie, wie mir schien, mit einem sie drückenden und quälenden Mitleid herab. Sobald er mit einem Händedruck von ihr Abschied genommen und sich wieder in sein Kabinett zurückgezogen hatte, war sie gleich wie verwandelt. Ihre Bewegungen, ihre Unterhaltung, alles an ihr wurde sofort viel freier, heiterer, sicherer. Nur eine gewisse Verwirrung war an ihr noch lange nach jedem Wiedersehen mit ihm bemerkbar. Sie fing dann gleich an, sich jedes von ihm gesprochene Wort ins Gedächtnis zurückzurufen, wie um es nochmals zu prüfen. Oft wandte sie sich dann auch an mich mit der Frage, ob sie sich nicht verhört habe: hatte Pjotr Alexandrowitsch sich so oder so ausgedrückt? – und als suche sie noch nach einem anderen Sinn in dem, was er gesagt! Erst nach etwa einer Stunde wurde sie dann wieder sie selbst, als habe sie sich nun endlich davon überzeugt, daß er mit ihr vollkommen zufrieden sei und daß sie sich grundlos beunruhige. Dann wurde sie plötzlich froh und heiter und gut, küßte mich, lachte mit mir oder setzte sich an den Flügel und spielte, was ihr gerade einfiel. Oft spielte und improvisierte sie dann, ohne es zu gewahren, wie zwei Stunden darüber verstrichen. Dann kam es wohl auch vor, daß das Spiel plötzlich verstummte und ich sie weinen sah. Sobald sie aber meine Aufregung bemerkte, versicherte sie mir schnell und flüsternd – als fürchte sie, daß man uns hören könnte –, es sei nichts, wirklich, es sei nichts, diese Tränen kämen nur so von selbst, sie hätten nichts zu bedeuten, sie sei, im Gegenteil, sehr froh und glücklich und ich solle mich nur nicht aufregen. War ihr Mann abwesend, so geschah es oft, daß sie sich um ihn plötzlich beunruhigt fühlte und sich nach ihm zu erkundigen begann: wohin er gefahren, warum, wann, zu wann er die Pferde bestellt, ob er krank oder gesund, bei guter oder schlechter Laune gewesen, was er gesagt usw., usw. Von seinen Dienstangelegenheiten und seiner Arbeit mit ihm zu sprechen – das wagte sie grundsätzlich nicht. Wenn er ihr einmal etwas riet oder sie um etwas bat, dann hörte sie ihn ergeben an und schien sich in acht zu nehmen, wie eine Sklavin vor ihrem Gebieter. Sie hatte es sehr gern, wenn er irgend etwas von ihren Sachen lobte, etwa ein Buch, einen Kunstgegenstand oder eine ihrer Handarbeiten. Sie war dann gleichsam stolz darauf, und sah sofort glücklich aus. Ihr Glück aber kannte keine Grenzen, wenn er einmal – es geschah freilich nur sehr selten und auch dann fast wie aus Versehen – zu den beiden kleinen Kindern ein wenig Zärtlichkeit äußerte. Ihr Gesicht verklärte sich dann geradezu, es strahlte vor Glück, und in diesen Augenblicken gab sie sich in ihrem Verhalten dem Mann gegenüber manchmal vielleicht etwas zu sehr ihrer Freude hin. Z. B. trieb sie dann die Kühnheit bisweilen sogar so weit, daß sie plötzlich selbst und unaufgefordert ihn bat – allerdings immer noch zaghaft und mit schüchterner Stimme – irgendeine neue Komposition, die ihr der Musikalienhändler zugesandt, anzuhören, oder seine Meinung über ein Buch zu sagen, oder ihr gar zu erlauben, ihm ein bis zwei Seiten daraus vorzulesen, wenn diese einen großen Eindruck auf sie gemacht hatten. Gewöhnlich kam der Gatte gnädig allen ihren Wünschen nach und lächelte, wie man über ein Kind nachsichtig lächelt, wenn man ihm irgendein seltsames Spiel nicht verbieten will, um ihm nicht vorzeitig seine Naivität zu rauben. Ich weiß nicht, weshalb mich dieses Lächeln, diese hochmütige Nachsicht, diese Ungleichheit zwischen ihnen immer so empörte! Ich schwieg aber, bezwang mich und beobachtete sie nur aufmerksam mit kindlicher Neugier, jedoch mit frühreifen ernsten Gedanken. Bisweilen bemerkte ich, daß ihm plötzlich etwas einzufallen schien: es war, als besinne er sich, als erinnere er sich gegen seinen Willen an etwas Schweres, Furchtbares, Unabwendbares, und im Nu verschwand das nachsichtig herablassende Lächeln aus seinen Zügen und seine Augen sahen plötzlich mit solchem Mitleid auf die Frau, daß es wie eine Lähmung über sie kam und ich von diesem Mitleid förmlich körperlichen Schmerz verspürte: hätte es mir gegolten – ich glaube, es hätte mich zu Tode gequält. Im Augenblick verschwand dann auch alle Freude aus dem Gesicht Alexandra Michailownas. Die Musik, wenn sie gerade spielte, oder ihre Stimme, wenn sie gerade vorlas, brach ab. Sie erbleichte, nahm sich krampfhaft zusammen und schwieg. Es folgte ein peinliches, drückendes Schweigen, das bisweilen lange andauerte. Endlich versuchte ihr Mann das Schweigen zu brechen. Er erhob sich, um wie mit Gewalt den Ärger und die Erregung in sich niederzuzwingen, und nachdem er ein paarmal in finsterem Schweigen durch das Zimmer geschritten war, drückte er seiner Frau die Hand, atmete tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar abgerissene Worte hervor, die sie beruhigen sollten, und verließ das Zimmer; Alexandra Michailowna aber brach in Tränen aus und eine tiefe, qualvolle Traurigkeit kam über sie. Oft segnete und bekreuzte er sie vor dem Fortgehen, wie ein Kind, abends beim Abschied, und sie empfing den Segen mit Tränen der Dankbarkeit in stiller Ehrfurcht. Aber es gab da ein paar Abende (nur zwei oder drei in den ganzen acht Jahren), die ich nicht vergessen kann ... Dann war Alexandra Michailowna plötzlich ganz verändert. In ihrem sonst so stillen Gesicht spiegelten sich dann plötzlich anstatt der beständigen Unterwerfung und Selbsterniedrigung vor dem Manne – Zorn und Empörung. Das Gewitter zog langsam herauf. Der Mann wurde schweigsamer, schroffer und sein Gesicht noch finsterer als sonst. Schließlich hielt es das wunde Herz der armen Frau nicht mehr aus. Mit vor Aufregung stockender Stimme begann sie ein Gespräch, anfangs in abgerissenen, unzusammenhängenden Sätzen voll von Andeutungen und bitter verschwiegenen Worten; bis sie plötzlich, als könne sie ihr Leid nicht mehr ertragen, in Tränen ausbrach – und dann folgte ein Zornesausbruch mit Vorwürfen, Klagen und Verzweiflung wie in einer schweren Krisis. Aber man hätte sehen müssen, mit welcher Geduld ihr Mann das alles ertrug, mit welcher Teilnahme er sie zu beruhigen suchte und wie er ihr die Hände küßte, bis schließlich auch ihm die Tränen in die Augen traten: dann war’s als rufe ihr Gewissen ihr plötzlich etwas zu und werfe ihr ein Verschulden vor. Die Tränen ihres Mannes erschütterten sie und händeringend in neuer Verzweiflung warf sie sich zu seinen Füßen nieder und flehte unter Schluchzen und Weinen um seine Verzeihung, die er ihr denn auch sofort gewährte. Doch ihr Gewissen ließ ihr noch lange keine Ruhe und sie fuhr fort, ihn unter Tränen um Verzeihung zu bitten. Nach diesen Ausbrüchen war sie dann die ganzen folgenden Monate noch schüchterner, noch ängstlicher vor ihrem Mann als zuvor. Mir blieben alle diese Klagen und Vorwürfe vollkommen unverständlich; überdies wurde ich dann immer unter irgendeinem Vorwande aus dem Zimmer geschickt, aber ganz konnten sie dies alles doch nicht vor mir verbergen. Ich beobachtete und sah ... und was ich nicht sah, das erriet ich, und so schöpfte ich schon gleich zu Anfang den Verdacht, daß es sich dabei um ein Geheimnis handeln mußte, daß diese plötzlichen Ausbrüche eines wunden Herzens nicht gewöhnliche Nervenkrisen waren, daß ihr Mann nicht ohne Grund immer so finster aussah und dieses zweideutige Mitleid mit der armen kranken Frau hatte, daß auch ihre Schüchternheit und Ängstlichkeit und auch diese bescheidene sonderbare Liebe, die sie ihrem Manne kaum zu zeigen wagte, ihren besonderen Grund haben mußten, und ebenso ihre Einsamkeit, ihre nahezu klösterliche Zurückgezogenheit, sowie ihr plötzliches Erröten und Erbleichen in der Gegenwart ihres Gatten, das mir immer wieder auffiel und immer wieder zu denken gab. Doch solche Szenen kamen, wie gesagt, nur sehr, sehr selten vor, und da unser Leben ohnehin so überaus eintönig verlief und Alexandra Michailowna mir auch schon so nahe stand, als hätte ich sie mein Leben lang gekannt, und ich andererseits mich schnell entwickelte und viel Neues in mir erwachte –, wenn es mir auch noch nicht zu Bewußtsein kam –, immerhin, ein Neues, das mich von meinen Beobachtungen ablenkte – so gewöhnte ich mich eben an dieses Leben und an die Eigenheiten der Menschen, die mich umgaben. Freilich dachte ich, wenn ich sie mitunter betrachtete, über sie dennoch nach, das war wohl anders auch nicht gut möglich, aber mein Denken führte vorläufig noch zu keinem Ergebnis. Hinzu kam, daß ich sie glühend liebte und mich unwillkürlich hütete, mit meiner Neugier ihre Wunde zu berühren – dazu achtete ich ihr Leid viel zu sehr. Sie aber verstand mich vielleicht noch besser als ich selbst mich verstand, und wie oft sagte sie mir für meine Liebe und Anhänglichkeit ihren stummen Dank! Wie oft, wenn sie meine Sorge um sie sah, lächelte sie mir unter Tränen zu oder sie scherzte selbst über ihr häufiges Weinen, oder sie begann mir auch wohl zu erzählen, daß sie sehr zufrieden, sehr glücklich sei, alle seien so gut zu ihr, alle hätten sie lieb, nur quäle es sie sehr, daß Pjotr Alexandrowitsch sich ihretwegen gräme und sich um ihre Seelenruhe sorge, während sie im Gegenteil so glücklich sei, so glücklich ...! Und sie schloß mich mit tiefem Gefühl in ihre Arme, innige Liebe verklärte ihr Gesicht, so daß mein Herz, wenn man dies sagen kann, vor lauter Mitempfinden schmerzte. Nie werde ich ihr Gesicht vergessen. Es waren regelmäßige Züge, und ihre Magerkeit und Blässe, schien es, erhöhten nur noch den Reiz ihrer strengen Schönheit. Das reiche schwarze Haar, das – in der Art wie es damals getragen wurde – vom Scheitel glatt nach unten gekämmt war, warf tiefe Schatten auf das Oval der Wangen; um so liebreizender aber war der frappierende Kontrast ihrer großen kindlich klaren blauen Augen, aus denen einen soviel Zärtlichkeit, Liebe und Güte ansah, und in denen bisweilen auch soviel Naivität lag und soviel Zaghaftigkeit und Schutzbedürftigkeit. Es waren Augen, die jede Empfindung zu scheuen schienen, die jede Herzensregung fürchteten, gleichviel ob es flüchtige Freude oder stille Trauer war. Doch in glücklichen ruhigen Stunden lag in diesem Blick, der so tief ins Herz drang, soviel Klarheit und Wärme, soviel ruhige Reinheit, dann schauten diese blauen Augen so zärtlich, so süß einen an, dann spiegelte sich in ihnen soviel Sympathie mit allem, was edel und gut war, was um Liebe oder um Mitleid bat, daß man sich ihr mit ganzer Seele hingab, daß die Seele sich ihr vollkommen unterwarf und zu ihr hinstrebte und von ihr, wie man meinte, dieselbe Klarheit und Ruhe und Versöhnung und Liebe erhielt. So schaut man bisweilen hinauf in den blauen Himmel und fühlt, daß man Stunden und Stunden in diesem süßen Schauen verbringen könnte und daß die Seele freier und ruhiger wird, ganz als spiegele sich in ihr wie in einem stillen Wasser die große weite Himmelskuppel. Wenn aber – und das geschah so oft – die Begeisterung ihr Farbe ins Gesicht trieb und ihre Brust sich vor Erregung hob und senkte, dann sprühten ihre Augen in dunklem Feuer, als wenn ihre Seele, die keusch die reine Flamme des sie so begeisternden Schönen hütete, sich ganz in ihre Augensterne versetzt hätte. Dann war sie geradezu wie vom Heiligen Geist erfüllt. Und in diesem plötzlichen Aufschwung der Seele mitten aus stiller ruhiger Stimmung zu glühendster Begeisterung und reiner strenger Vergeistigung lag so viel von naivem kindlichen Glauben, daß ein Künstler wohl sein halbes Leben dafür hingeben würde, wenn er dieses Frauenantlitz in einem solchen Augenblick hätte sehen und diese Begeisterung auf der Leinwand hätte wiedergeben können. Schon in den ersten Tagen nach meiner Übersiedelung merkte ich, daß sie sich in ihrer Einsamkeit über meine Anwesenheit freute. Damals hatte sie nur ein Kind und war erst seit einem Jahre Mutter. Doch zu mir war sie stets wie zu einer leiblichen Tochter und niemals machte sie einen Unterschied zwischen mir und ihren eigenen Kindern. Und mit welchem Eifer sie sich an meine Erziehung machte! Madame Léotard mußte oftmals lächeln, wenn sie in der ersten Zeit ihren Übereifer sah. Und in der Tat, wir fingen mit einem Mal so ziemlich alles an, wir begannen mit so vielen Fächern, daß wir uns bald ganz verloren. Sie wollte mir auf ein Mal so viel beibringen, daß es sie zu liebevoller Ungeduld trieb, ich aber oder vielmehr mein Wissen keinen großen Nutzen daraus ziehen konnte. Anfangs betrübte sie meine Hilflosigkeit; dann mußte sie aber lachen und dann fingen wir nochmals von vorn an – doch trotz des ersten Mißerfolges erklärte sich Alexandra Michailowna kühn gegen das altbewährte System der Madame Léotard. Sie stritten lachend um ihre Methoden, aber meine neue Lehrerin blieb kategorisch bei ihrer Feindschaft gegen jegliches System und behauptete, wir würden nach etlichen Versuchen den richtigen Weg schon finden und es habe keinen Sinn, mir den Kopf mit toten Regeln vollzustopfen: der ganze Erfolg hinge nur davon ab, daß man meine natürlichen Fähigkeiten erkannte und weckte und davon, daß man auf meinen guten Willen zu wirken vermochte. Darin aber hatte sie zweifellos recht, denn ihre Methode siegte mit glänzendem Erfolg. Erstens fielen bei uns die Rollen der Lehrerin und Schülerin ganz fort. Wir lernten wie zwei Freundinnen, und nicht selten machte es sich so, daß ich Alexandra Michailowna belehrte, ohne ihre kleine List zu bemerken. Und wir gerieten nicht selten sogar in Streit und mit glühendem Eifer suchte ich die Sache ihr so zu erklären, wie ich sie begriff, bis Alexandra Michailowna mich unmerklich auf den richtigen Weg führte. Das endete dann gewöhnlich damit, daß ich, wenn mir endlich ein Licht aufging und ich plötzlich ihre List erriet und einsah, daß sie, was oft genug geschah, ganze Stunden zu meinem Nutzen geopfert hatte – daß ich mich dann an ihren Hals warf und sie krampfhaft umarmte. Später tat ich das nach jeder Stunde. Meine Empfindsamkeit überraschte und rührte sie so, daß sie mich immer ganz verwundert ansah. Sie begann mich nach meinem früheren Leben zu fragen, und nach meinen Erzählungen wurde sie jedesmal zärtlicher zu mir und ernster – ernster, weil ich ihr mit meiner traurigen Kindheit außer dem Mitleid auch noch eine gewisse Achtung einflößte. Nach meinen Geständnissen führten wir gewöhnlich noch lange Gespräche, in denen sie mir meine Erlebnisse zu erklären versuchte, so daß es mir vorkam, als erlebe ich das alles nochmals und als lerne ich dabei viel. Madame Léotard fand diese Gespräche viel zu ernst für mein Alter, und wenn sie meine unwillkürlichen Tränen bemerkte, sagte sie oft, sie seien gar nicht am Platz. Ich aber dachte darüber ganz anders, denn nach _diesem_ Unterricht wurde es mir immer so leicht und frei und süß ums Herz, ganz als hätte es in meinem Schicksal nichts Dunkles und Trauriges gegeben. Und ich war auch Alexandra Michailowna viel zu dankbar dafür, daß sie mich veranlaßte, sie mit jedem Tage mehr zu lieben. Madame Léotard war natürlich nicht darauf verfallen, daß auf diese Weise allmählich alles in mir sich glätten und ordnen und seine Harmonie finden mußte, was sich früher wirr und vorzeitig stürmisch in meiner Seele erhoben hatte, alles, wovor mein wundes Kinderherz in seinem bitteren Schmerz so ratlos gestanden, daß es hätte verstocken müssen, da es nur den Schmerz fühlte, aber nicht begriff, warum und woher die Schläge es trafen. Unsere Tage fingen damit an, daß wir uns im Kinderzimmer zusammenfanden, ihr Kindchen weckten, es ankleideten, wuschen, fütterten, mit ihm spielten und ihm das Sprechen beizubringen versuchten. Hatten wir uns mit ihm genug abgegeben, dann begann das Lernen. Dies Lernen erstreckte sich eigentlich auf alles und war doch an nichts gebunden. Wir lasen, erzählten einander unsere Eindrücke und Gedanken während der Lektüre; dann, wenn wir davon genug hatten, gingen wir zur Musik über, und die Zeit verging wie im Fluge. Die Abende verbrachten wir meist sehr gemütlich, zuweilen kam B., Alexandra Michailownas Freund, und auch Madame Léotard gesellte sich zu uns. Oft wurde dann aus der Unterhaltung ein eifriger Disput über die Kunst oder über das Leben (das wir fast alle nur vom Hörensagen kannten) oder über die Wirklichkeit und das Ideal, über Vergangenes und Zukünftiges, und es wurde darüber Mitternacht und noch später, ohne daß wir es merkten. Ich hörte mit allen Fibern zu, ich begeisterte mich mit ihnen, ich lachte oder ich war ergriffen, und an diesen Abenden erfuhr ich denn auch nach und nach alles Nähere, was meinen Stiefvater und meine erste Kindheit betraf. Inzwischen wuchs ich heran; man nahm für mich Lehrer an, doch hätte ich von diesen ohne Alexandra Michailownas Hilfe so gut wie nichts gelernt. Bei meinem Geographielehrer hätte ich von dem ewigen Suchen der Städte und Flüsse auf den Karten nur erblinden können! Mit Alexandra Michailowna dagegen unternahm ich wahre Weltreisen, wir durchstreiften so märchenhafte Länder, sahen so viele Wunder, verbrachten so viele phantasieerfüllte Stunden miteinander, und unser Eifer war in der Begeisterung so groß, daß alle Bücher, die sie gelesen hatte, nicht mehr genügten und wir uns neue Bücher verschaffen mußten. Bald konnte ich meinen Geographielehrer belehren, wenn er auch, das muß man ihm um der Gerechtigkeit willen lassen, bis zum Schluß seine Überlegenheit insofern bewahrte, als er die Lage jedes Städtchens mit peinlichster Genauigkeit in Längen- und Breitengraden anzugeben wußte, sowie die Zahl der Einwohner in Tausenden, Hunderten und Zehnern. Dem Geschichtslehrer wurden die Stunden gleichfalls pünktlich bezahlt, aber erst nachdem er gegangen war, fingen wir, Alexandra Michailowna und ich, mit der Geschichte an: dann holten wir unsere Bücher hervor und lasen – lasen bis tief in die Nacht. Nie habe ich größere Begeisterung empfunden als bei diesem Lesen. Wir waren dann beide so begeistert, als wären wir selber die Helden, die jene großen Taten vollbrachten. Natürlich lasen wir zwischen den Zeilen noch mehr heraus als aus den Zeilen; überdies verstand Alexandra Michailowna meisterhaft zu erzählen oder eine Begebenheit zu erläutern, so daß man das Geschehnis förmlich miterlebte, als geschähe es eben jetzt. Mag es nun auch meinetwegen komisch anmuten, daß wir uns so begeisterten und bis nach Mitternacht saßen und lasen, ich ein Kind, und sie eine Frau mit einem wunden Herzen, das so schwer am Leben trug! – Aber es war so. Ich wußte, daß sie sich neben und mit mir gleichsam erholte. Soweit ich mich erinnere, machte ich mir schon damals seltsame Gedanken, wenn ich sie still betrachtete, und noch bevor ich etwas aus ihrem Leben erfuhr, hatte ich schon vieles erraten. Ich wurde dreizehn Jahre alt. Mit Alexandra Michailownas Gesundheit ging es mehr und mehr bergab. Sie wurde reizbarer und die hoffnungslose Trauer kam immer öfter über sie. Ihr Gatte verbrachte nun gewöhnlich längere Zeit bei ihr, wenn er auch ebenso schweigsam und finster blieb wie früher. Da begann ich denn, immer lebhafteren Anteil an ihrem Schicksal zu nehmen. Ich entwuchs bereits der Kindheit, viele neue Eindrücke, Beobachtungen und Vermutungen hatten in mir schon bestimmtere Formen angenommen, und das Geheimnis, das so schwer auf dieser Familie lag, begann mich immer mehr zu quälen. Es gab Augenblicke, wo es mir schien, daß ich dieses Rätsel fast schon erriet. Doch dann kam auch wieder eine gewisse Gleichgültigkeit, eine Apathie über mich, ja sogar ein gewisser Ärger konnte mich erfassen, und ich vergaß meine Anteilnahme, da ich auf die eine Frage doch keine Antwort erhielt. Bisweilen – und das kam immer häufiger vor – hatte ich das seltsame Bedürfnis, allein zu bleiben und zu denken, immer nur zu denken. Das war ganz wie zu jener Zeit, als ich noch bei den Eltern lebte und damals – noch vor meiner Freundschaft mit meinem Stiefvater – ein ganzes Jahr lang nachdachte und aus meinem Winkel die Welt Gottes betrachtete, so daß ich zu guter Letzt unter den von meiner eigenen Phantasie geschaffenen Phantomen ganz vereinsamte. Der Unterschied bestand nur darin, daß jetzt mehr neue unbewußte Triebe in mir waren und größere Ungeduld, stärkere Sehnsucht, mächtigeres Verlangen nach Bewegung, nach Auflehnung mich quälte, so daß ich nicht mehr wie früher meine Spannung und Sammlung ausschließlich auf eine einzige Sache hinlenken konnte. Aber auch Alexandra Michailowna fing an, sich von mir zu entfernen. In diesem Alter konnte ich ihr fast nicht mehr Freundin sein. Ich war kein Kind mehr, ich fragte nach gar zu vielem, und zuweilen sah ich sie so an, daß sie ihre Augen vor mir niederschlagen mußte. Es gab sonderbare Minuten. Ich konnte ihre Tränen nicht ertragen und oft traten bei ihrem Anblick auch mir Tränen in die Augen. Ich warf mich an ihre Brust und umfing sie leidenschaftlich. Was konnte sie mir antworten? Ich fühlte es, daß ich ihr eine Last war. Bisweilen aber – und das waren dann schwere traurige Minuten – war sie es, die mich plötzlich wie in innerer Verzweiflung umarmte, als suche sie meine Teilnahme, als könne sie ihre Einsamkeit nicht länger ertragen, als hätte ich sie schon ganz verstanden, als hätten wir schon gemeinsam gelitten. Doch trotz alledem blieb zwischen uns ein Geheimnis, das fühlten wir, und da war ich es, die sich in diesen Minuten von ihr zu entfernen begann. Es wurde mir schwer, mit ihr zusammen zu sein. Überdies verband uns fast nichts mehr, außer der Musik. Doch auch die wurde ihr von den Ärzten schon verboten. Bücher? Das war schließlich sogar das gefährlichste Gebiet. Sie wußte entschieden nicht, was und wie sie mit mir lesen sollte. Wir wären nicht einmal über die erste Seite hinausgekommen: jedes Wort hätte man als Andeutung, jeden belanglosen Satz als Rätsel auffassen können. Gespräche zu zweien, wie früher, in glühender Offenheit – mieden wir schon. Gerade in dieser Zeit gab das Schicksal meinem Leben plötzlich und in ganz unvorhergesehener Weise eine andere Richtung. Meine Aufmerksamkeit, meine Gefühle, mein Herz, mein Kopf – alles wandte sich mit einem Mal und mit ganzer angespannter Kraft, die bis zur Begeisterung stieg, plötzlich einer anderen, mir bis dahin noch ganz unbekannten Tätigkeit zu und ich versetzte mich, fast ohne dessen gewahr zu werden, in eine neue Welt; ich hatte keine Zeit, zurückzusehen, mich umzuschauen, mich zu besinnen; es konnte ja leicht mein Verderben sein, was ich auch deutlich selbst fühlte; doch die Versuchung war größer als die Angst und ich ging weiter aufs Geratewohl, mit geschlossenen Augen. Und auf lange Zeit ließ ich mich so ablenken von jener Wirklichkeit, die mir bereits so lästig geworden war und in der ich schon so durstig und doch vergeblich einen Ausweg gesucht. Was das war, will ich jetzt erzählen. Von den drei Ausgängen aus dem Eßzimmer führte der eine in die großen Empfangsräume, der andere in mein Zimmer und in die Kinderzimmer, und der dritte in die Bibliothek. In die Bibliothek führte aber noch eine andere Tür, die von meinem Zimmer nur durch ein Arbeitskabinett getrennt war, in dem gewöhnlich der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs saß. Der war zugleich sein Sekretär und gewissermaßen seine rechte Hand. Den Schlüssel zur Bibliothek und zu den Bücherschränken hatte er. Eines Tages nach dem Essen, als er nicht zu Hause war, fand ich diesen Schlüssel auf dem Teppich im Kabinett. Ich wurde neugierig, behielt den Schlüssel und versuchte, ob sich mit ihm die Tür aufschließen ließ. Ich trat in die Bibliothek. Es war das ein ziemlich großes, sehr helles Zimmer, in dem an den Wänden acht große Bücherschränke standen. Die vielen Bücher waren Pjotr Alexandrowitsch einmal mit einer Erbschaft zugefallen, oder wenigstens ein großer Teil derselben. Die anderen Bücher hatten sich nach und nach angesammelt, da Alexandra Michailowna beständig welche kaufte. Mir hatte man bis dahin nur mit großer Vorsicht Bücher zum Lesen gegeben, so daß es für mich unschwer zu erraten war, daß man mich vieles nicht lesen lassen wollte, also vieles für mich noch ein Geheimnis blieb. Dies nun erweckte in mir unbezwingbare Neugier, und in einer Anwandlung von Furcht und Freude und mit einem ganz besonderen Gefühl, über das ich mir keine Rechenschaft gab, schloß ich den ersten Schrank auf und nahm das erste Buch aus der Reihe. In diesem Schrank waren nur Romane. Ich behielt den Band, verschloß den Schrank und brachte das Buch mit einem so eigentümlichen Empfinden, mit klopfendem und doch wieder stillstehendem Herzen zu mir, auf mein Zimmer, als hätte ich geahnt, daß damit eine große Umwälzung in meinem Leben eintreten sollte. Erst als ich in meinem Zimmer in Sicherheit war und auch die Tür verschlossen hatte, schlug ich das Buch auf. Doch zu lesen wagte ich noch nicht – eine andere Sorge beschäftigte mich: zunächst mußte ich mir ein für allemal den freien Zutritt zur Bibliothek sichern, und zwar so, daß niemand etwas davon merkte, damit ich mir zu jeder Zeit jedes beliebige Buch verschaffen und bei mir behalten konnte. Ich beschloß daher, auf das Vergnügen, das entwendete Buch sogleich zu lesen, vorläufig zu verzichten: statt dessen brachte ich das Buch zurück, aber den Schlüssel behielt ich dafür bei mir. Ich behielt ihn und verheimlichte es – das war die erste schlechte Tat in meinem Leben. Nun wartete ich auf die Folgen, doch die waren nicht schlimm: nachdem der Sekretär den Schlüssel einen ganzen Abend vergeblich gesucht hatte, ließ er am nächsten Morgen einen Schlosser rufen und der fand nach kurzem Suchen in einem mitgebrachten großen Schlüsselbund einen passenden neuen Schlüssel. Damit war die Sache erledigt und niemand erfuhr, daß er den alten Schlüssel verloren hatte. Trotzdem war ich vorsichtig und ging mit List erst nach einer Woche in die Bibliothek, nachdem ich mich überzeugt hatte, daß nicht der geringste Verdacht gegen mich bestand. Anfangs wählte ich immer die Zeit, wenn der Sekretär nicht zu Hause war, und ging dann durch sein Arbeitszimmer; später aber ging ich ruhig aus dem Eßzimmer in die Bibliothek, denn der Sekretär hatte zwar den Schlüssel in der Tasche, doch um die Bücher kümmerte er sich so wenig, daß er das Zimmer überhaupt nicht betrat. Mit wahrem Heißhunger begann ich zu lesen und das Gelesene nahm mich ganz in seinen Bann. Alle meine neuen Bedürfnisse, alle unklaren Wünsche meines Entwicklungsalters, die sich so unruhig und rebellisch in meiner Seele erhoben hatten, vorzeitig durch meine Frühreife erweckt – all das strömte von jetzt ab dem neuen Ausweg zu, als hätte es mit ihm den richtigen Weg gefunden. Bald waren mir Herz und Sinne so bezaubert und meine Phantasie entwickelte sich so schrankenlos, daß die ganze Welt, die mich bis dahin umgeben hatte, für mich wie vergessen, irgendwo fern versunken lag. Es war, als hielte mich das Schicksal selbst an der Schwelle des neuen Lebens – nach dem es mich schon so stürmisch verlangte, über das ich bereits Tag und Nacht wie über ein Rätsel nachgedacht – bevor es mich in dieses Leben eintreten ließ, noch einen Augenblick zurück, um mich auf eine Höhe zu führen und mir von dort aus die Zukunft in einem Zauberpanorama zu zeigen, und als eine lockende, glänzende Perspektive. Es war mir gewiß bestimmt, diese ganze Zukunft gleichsam im voraus kennen zu lernen, sie zuerst in den Büchern zu lesen und dann in Träumen, in Hoffnungen und leidenschaftlicher Sehnsucht, in süßer Erregung meines jungen Geistes zu durchleben. Ich las ohne Auswahl, wie mir die Bücher in die Hände kamen, doch das Schicksal behütete mich: das, was ich bis dahin erfahren und empfunden hatte, war alles so rein, so herb, daß die einzelnen, heimtückischen und schmutzigen Seiten mir nichts mehr anhaben konnten. Mein guter Kinderinstinkt, meine Jugend und meine ganze Vergangenheit beschützten mich, und es war mir nur, als sähe ich plötzlich mein ganzes früheres Leben bewußt in heller Beleuchtung. Tatsächlich erweckte jede Seite, die ich las, gleichsam Erinnerungen in mir, als hätte ich das alles oder doch etwas Ähnliches schon irgendeinmal selbst erlebt; ja gerade diese Leidenschaften, dieses ganze Leben mit seinen märchenhaften Bildern kamen mir so bekannt vor. Und wie hätte es denn auch anders sein können: wie hätte ich darüber die Wirklichkeit nicht bis zur Entfremdung vergessen sollen, da doch in jedem Buch vor mir die Gesetze desselben Schicksals verkörpert waren, desselben Geistes, der über dem Menschenleben thront, alle jedoch wie aus einem obersten Gesetz des Menschenlebens fließend, das zugleich die Rettung und Erlösung der Menschheit enthielt. Eben dieses oberste Gesetz, dessen Bestehen ich schon vermutete, suchte ich nun aus allen Kräften, mit allen Instinkten, die eine Art Selbsterhaltungstrieb in mir aufgeweckt hatte, zu erraten. Es war, als sei ich schon im voraus durch irgendwen darauf aufmerksam gemacht worden, weshalb meine Aufmerksamkeit sich mit einer solchen Selbstverständlichkeit gerade darauf richtete. Es war, als dränge sich ein Hellsehen in meine Seele, und mit jedem Tage wuchs und erstarkte in ihr eine eigene Sehnsucht, obschon gleichzeitig mein Verlangen nach dieser Zukunft, nach diesem Leben, von dem ich täglich las und das mich täglich mit der ganzen nur der Kunst eigenen Gewalt und allen Reizen der Dichtung erschütterte und lockte, immer mächtiger wurde. Doch wie gesagt, meine Phantasie beherrschte auch meine Ungeduld und ich war, um die Wahrheit zu gestehen, nur in meinen Träumen kühn, in Wirklichkeit aber fürchtete ich mich instinktiv vor der Zukunft. Und deshalb, wie nach geheimer Verabredung mit mir selbst, hatte ich es mir unbewußt zum Vorsatz gemacht, mich vorläufig mit diesem Leben in der Phantasie zu begnügen, in dem ich dafür die unbehinderte Selbstherrscherin sein konnte und in dem es nur Glück und Freude gab; das Unglück aber, wenn es auch zugelassen war, spielte dort nur eine passive Rolle, eine Art Übergangsrolle, die notwendig war nur um der Kontraste willen: damit das Schicksal sich in meinen begeistert erträumten Romanen zum Guten wenden und zu einem glücklichen Schluß führen konnte. So deute ich mir jetzt meine damalige Stimmung. Und dieses Leben, dieses Leben ausschließlich in der Phantasie, dieses Leben in schroffer Abkehr von allem, was mich umgab, konnte sich ganze drei Jahre lang fortsetzen! Dieses Leben war mein Geheimnis, und selbst nach ganzen drei Jahren wußte ich noch nicht, ob ich mich vor einer plötzlichen Aufdeckung desselben fürchten sollte oder nicht. Das, was ich in diesen drei Jahren erlebt hatte, stand mir gar zu nah, war schon zu sehr verwachsen mit mir! In allen diesen Träumen spiegelte ich mich selbst viel zu deutlich wider, so daß fremde Augen, gleichviel wessen Augen, durch einen unvorsichtigen Blick in meine Seele mich verwirrt und erschreckt hätten. Hinzu kam, daß wir alle im Hause so einsam lebten, so außerhalb der Gesellschaft, so klösterlich still, daß sich unwillkürlich in jedem von uns ein Innenleben, eine Konzentration auf sich selbst entwickeln mußte. Und das geschah denn auch mit mir. In diesen drei Jahren sah ich in meiner Umgebung nicht die geringste Veränderung: nach wie vor herrschte das farblose Einerlei, das, wie ich mir jetzt gestehe, wenn ich nicht von meinem geheimen Leben erfüllt gewesen wäre, ganz entschieden meine Seele zerrissen und mich aus diesem traurigen Kreise Gott weiß auf welchen Ausweg getrieben hätte. Madame Léotard alterte merklich und zog sich fast ganz in ihr Zimmer zurück; die Kinder waren noch so klein, daß sie nicht in Frage kamen; B. war gar zu einseitig und Alexandra Michailownas Gatte gar zu ernst, gar zu unnahbar und verschlossen. Zwischen ihm und seiner Frau herrschte immer noch dasselbe rätselhafte Verhältnis, das mich wie ein unheilvolles, düsteres Geheimnis immer mehr bedrückte und meine angstvolle Sorge um Alexandra Michailowna von Tag zu Tag vergrößerte. Ihr Leben, das so freudlos und farblos war, begann schon zu erlöschen. Ihr Zustand verschlimmerte sich mit jedem Tage. Von ihrer Seele hatte allmählich eine Art Verzweiflung Besitz ergriffen; etwas Unbestimmtes, worüber wohl auch sie keine Rechenschaft zu geben vermochte, schien lähmend auf ihr zu lasten, und sie trug es still, wie ein unvermeidliches Kreuz, das zu tragen sie für die kurze Zeit ihres Lebens nun einmal verurteilt war. Und doch schien es mir, als verstocke allmählich ihr Herz in dieser dumpfen Qual; ja selbst ihr ganzes Denken nahm eine andere Richtung und wurde düster, traurig, trostlos. Namentlich eine Beobachtung traf mich: es schien mir, daß sie, je älter ich wurde, sich um so mehr von mir entferne, so daß ihre Verschlossenheit mir gegenüber schließlich die Form einer gewissen Reizbarkeit annahm, die sich wie Ärger äußerte. Ja es gab Augenblicke, wo ich die Empfindung hatte, sie liebe mich überhaupt nicht mehr; ich schien ihr lästig zu sein. Deshalb begann auch ich mich von ihr zurückzuziehen, und nachdem das einmal geschehen, wurde ich von ihrer Verschlossenheit gleichsam angesteckt. So kam es denn, daß alles, was ich in diesen drei Jahren erlebte und was allmählich in mir reifte, mein Geheimnis blieb. Und da wir uns einmal voreinander verschlossen hatten, konnte ich ihr später nie mehr ganz offen mein Innerstes zeigen, obschon ich sie immer noch mehr lieben lernte. Ich kann jetzt nicht ohne Tränen daran denken, wie sehr sie an mir hing, wie sie sich in ihrem Herzen gelobt, ihren ganzen großen Liebesreichtum an mich zu verschwenden und wie sie ihrem Gelübde, mir eine Mutter zu sein, bis zum Tode treu blieb. Es ist wahr, das eigene Leid lenkte sie zuweilen für eine Zeitlang von mir ab und ich glaube, daß sie mich dann einfach vergaß – um so mehr, als ich mich nach Möglichkeit bemühte, sie nicht an mich zu erinnern. Inzwischen wurde ich sechzehn Jahre alt, ohne daß sie mein Heranwachsen gemerkt hätte. Aber in klareren Stunden, wenn sie bewußter um sich sah, war es doch, als erschrecke sie plötzlich: und sie ließ mich dann eilig aus meinem Zimmer, wo ich gewöhnlich gerade lernte, zu sich rufen, und überschüttete mich mit Fragen, wie um mich zu prüfen, zu ergründen – tagelang mußte ich dann bei ihr sitzen. Sie gab sich Mühe, alle meine Wünsche, alle meine Gefühlsregungen zu erraten und war offenbar in Sorge um mein Alter. Und wie sie sich um meine Gegenwart sorgte, so sorgte sie sich auch um meine Zukunft, und mit unerschöpflicher Liebe, ja geradezu mit Ehrfurcht vor meinem Leben suchte sie mich für alle Zeiten mit ihrer Hilfe auszurüsten. Doch wir waren uns innerlich schon fremd geworden und deshalb merkte sie es nicht, daß sie mitunter gar zu naiv vorging und ich ihre Absicht viel zu sehr durchschaute. So z. B., als sie einmal – das war schon nach meinem sechzehnten Geburtstag – in meinen Büchern gekramt hatte, fragte sie mich plötzlich, was ich lese, und als sie sah, daß es nur kleine Geschichten für etwa zwölfjährige Kinder waren, da erschrak sie. Ich erriet sofort, was sie erschreckt hatte, und beobachtete sie aufmerksam. Ganze zwei Wochen ließ sie es sich nun angelegen sein, mich vorzubereiten und zu prüfen und vor allem meinen Reifegrad festzustellen. Endlich entschloß sie sich: und auf unserem Tisch erschien „Ivanhoe“ von Walter Scott, ein Roman, den ich schon längst und mindestens dreimal gelesen hatte. Anfangs verfolgte sie mit ängstlicher Erwartung, welcher Art der Eindruck war, den ich empfing; bald jedoch wich diese Gespanntheit zwischen uns und wir begeisterten uns beide, und ich war froh, so froh, daß ich mich jetzt nicht mehr vor ihr zu verstellen brauchte! Als wir den Roman beendet hatten, war sie entzückt von mir. Jede Bemerkung, die ich während der Lektüre gemacht, jede Äußerung und Auffassung war richtig gewesen. Ja ihrer Meinung nach war ich sogar schon zu weit entwickelt. Überrascht und entzückt davon, machte sie sich nun wieder freudig daran, meine Entwicklung zu leiten; sie wollte sich nie mehr von mir trennen; doch das lag nicht in ihrer Macht. Das Schicksal trat sehr bald wieder trennend zwischen uns und verhinderte eine beiderseitige Annäherung. Dazu bedurfte es nur der ersten leisen Anwandlung ihrer Krankheit und ihr Leid siegte in ihrer Seele; und dann folgte wieder eine Entfremdung, wieder stand ihr Geheimnis, stand Mißtrauen zwischen uns, und vielleicht war es sogar wieder wie eine Verstockung von ihrer wie von meiner Seite, die sich zwischen uns schob. Doch selbst dann gab es Augenblicke, die nicht in unserer Macht standen. Spannende Lektüre, ein sympathisches Wort, die Macht der Musik – und wir vergaßen uns, sprachen uns aus, oft sogar mehr als nötig, und dann fühlten wir uns bedrückt voreinander. Es war dann immer wie ein plötzliches Sichbesinnen und wir sahen uns wie erschrocken über uns selbst mit argwöhnischer Neugier und mit Mißtrauen an. Jede von uns hatte ihre Grenze, bis zu der sie sich der anderen nähern konnte; diese Grenze zu überschreiten wagten wir nicht, auch wenn wir es gewollt hätten. Eines Nachmittags vor der Dämmerung las ich im Salon Alexandra Michailownas zerstreut in einem Buch. Sie saß am Flügel und improvisierte nach Motiven italienischer Musik. Als sie schließlich auf die Melodie einer bekannten Arie überging, begann ich, von der Musik, die mich gefangennahm, gleichsam dazu aufgefordert, leise die Melodie mitzusingen. Die Musik bezauberte mich und ich stand plötzlich auf und trat an den Flügel. Alexandra Michailowna schien meinen Wunsch zu erraten und ging auf die Begleitung über, liebevoll jedem Ton meiner Stimme folgend. Es war, als sei sie durch die Stärke meiner Stimme überrascht. Ich hatte bis dahin noch nie in ihrer Gegenwart gesungen, ja und auch ich wußte noch nicht, ob ich überhaupt irgendwelche Stimmittel besaß. Jetzt aber waren wir plötzlich beide wie von einem Geist erfüllt. Ich hob die Stimme mehr und mehr, eine mir bis dahin unbekannte Energie erwachte in mir, eine Leidenschaft, die von Alexandra Michailownas freudiger Verwunderung, die ich aus jedem Takt ihrer Begleitung heraushörte, noch geschürt wurde. Und der Schluß der Arie gelang mir so gut, ich war so beseelt, so hingerissen von dem Lied, daß sie ganz begeistert meine Hände ergriff und mich strahlend ansah: „Annjeta! Aber du hast ja eine wundervolle Stimme!“ rief sie entzückt. „Mein Gott! und ich habe davon nichts gewußt!“ „Ja, ich habe es ja selbst jetzt erst bemerkt!“ versicherte ich, gleichfalls ganz erschüttert vor Freude. „Ach, Gott segne dich, Gott segne dich, mein liebes, unschätzbares Kind! Danke Gott für diese Gabe! Wer weiß ... Ach, mein Gott, mein Gott!“ ... Sie war so ergriffen von der Überraschung, so außer sich vor Freude, daß sie nicht wußte, was sie mir sagen, wie sie mir ihre Liebe zeigen sollte. Das war eine jener Stunden der Aufrichtigkeit, der Zuneigung und Annäherung, die es in der letzten Zeit schon lange nicht mehr zwischen uns gegeben hatte. Eine Stunde später war es wie ein Fest im Hause. Sie schickte sogleich zu B. und ließ ihn zu sich bitten. In der Erwartung seiner nahmen wir ein anderes Lied vor, das mir bekannter war. Diesmal zitterte ich vor Angst. Ich wollte nicht durch einen Mißerfolg den ersten Eindruck zerstören. Doch bald gab mir meine Stimme selbst wieder Mut und machte mich sicher. Ich sang und wunderte, wunderte mich über den Umfang meiner Stimme. Dieser zweite Versuch verscheuchte jeden Zweifel. Alexandra Michailowna wußte vor Freude nicht, wo sie sich lassen sollte, sie schickte nach den Kindern, sogar nach der Kinderfrau, und schließlich – ließ sie sich so weit hinreißen, daß sie zu ihrem Mann ging und ihn aus seinem Kabinett zu uns rief – eine Kühnheit, an die sie zu jeder anderen Zeit nicht einmal zu denken gewagt hätte. Pjotr Alexandrowitsch nahm die Neuigkeit wohlwollend auf, gratulierte mir und war der erste, der da sagte, man müsse meine Stimme ausbilden. Alexandra Michailowna, die vor Dankbarkeit so glücklich war, als hätte er für sie Gott weiß was getan, wollte ihm dafür fast die Hände küssen. Endlich kam B. Seine Freude war groß. Er liebte mich sehr und gedachte meines Stiefvaters, der Vergangenheit, und als ich ihnen zwei oder drei Lieder vorgesungen, erklärte er mit ernster und sogar besorgter Miene, ja sogar mit einer gewissen geheimnisvollen Feierlichkeit, daß ich zweifellos gute Stimmittel hätte, vielleicht auch sogar Talent, und deshalb sei es natürlich ganz unmöglich, meine Stimme etwa nicht auszubilden ... – jedoch ... Und nun war es, als besinne er sich, und er wie auch Alexandra Michailowna schienen sich zu sagen, daß es gefährlich sei, mich schon zu Anfang so zu loben, und ich bemerkte, wie sie sich nun mit einigen Blicken schnell verständigten und sich später noch flüsternd verabredeten, so daß ihre kleine Verschwörung gegen mich recht ungeschickt und naiv ausfiel. Ich lachte im stillen den ganzen Abend, denn als ich wieder gesungen hatte, sah ich, wie sie sich Mühe gaben, gleichgültig zu bleiben und wie sie sogar einige Mängel mit Absicht hervorheben und laut besprachen. Ihre Selbstbeherrschung währte aber nicht lange und B. war der erste, der von der Freude übermannt, sich untreu wurde. Ich hatte nicht vermutet, daß er mich so gern hatte. Den ganzen Abend herrschte eine frohe Stimmung und die lebhafte Unterhaltung war so freundschaftlich wie nie zuvor. B. gab die Lebensgeschichten einiger Künstler zum besten und erzählte von der Kunst der berühmten Größen mit der Begeisterung des Künstlers, oft sogar fast ehrfurchtsvoll und ergriffen. Es war auch die Rede von meinem Stiefvater, und dann ging die Unterhaltung auf mich über, auf meine Kindheit, dann auf den Fürsten und die Familie des Fürsten, von der ich nach der Trennung so wenig gehört hatte. Auch Alexandra Michailowna wußte wenig von ihnen, B. dagegen am meisten, da er mehrmals in Moskau gewesen war. Doch hier bekam das Gespräch etwas Geheimnisvolles und Rätselhaftes, und zwei oder drei Umstände, die hauptsächlich den Fürsten betrafen, blieben mir ganz unverständlich. Alexandra Michailowna erkundigte sich nach Katjä, doch B. wußte von ihr nichts Besonderes zu berichten oder schien vielmehr absichtlich nichts berichten zu wollen. Das machte mich stutzig. Ich hatte Katjä nicht nur nicht vergessen, sondern meine frühere Liebe zu ihr hatte sich eher noch vertieft; aber es war mir nie in den Sinn gekommen, daß mit ihr irgendeine Veränderung vor sich gegangen sein könnte. Ich hatte weder an die langen Jahre der Trennung, noch an die Verschiedenheit unserer Erziehung und unserer Charaktere gedacht. Sie hatte mich in meinen Gedanken nie verlassen, sie lebte immer noch so, wie ich sie als Kind gesehen, neben mir, und in meiner Phantasie gingen wir stets Hand in Hand. Da ich mich selbst immer als Heldin jedes von mir gelesenen Romanes sah, so ersann ich für meine Freundin, die Prinzeß, immer eine Rolle neben mir und verdoppelte somit den Roman, von dem dann der zweite Teil ausschließlich von mir handeln sollte, ersann ihn mit Hilfe aller meiner Lieblingsautoren, die ich natürlich erbarmungslos bestahl. An jenem Abend wurde auch gleich im Familienrat beschlossen, welchem Professor meine Ausbildung nun übertragen werden sollte. B. empfahl den allerbesten. So fuhr denn schon am nächsten Tage der berühmte Italiener D. bei uns vor, prüfte meine Stimme, sagte ungefähr dasselbe, was sein Freund B. gesagt hatte, meinte aber, es wäre für mich von viel größerem Nutzen, wenn ich zusammen mit seinen anderen Schülerinnen bei ihm lernte, der Ehrgeiz und das gute Beispiel wären vortreffliche Hilfsmittel usw., usw. Alexandra Michailowna war damit einverstanden, und so ging ich von diesem Tage an regelmäßig dreimal wöchentlich früh morgens um 8 Uhr in Begleitung eines Dienstmädchens ins Konservatorium. Jetzt muß ich von einem sonderbaren Erlebnis erzählen, das auf mich einen großen, nachhaltigen Eindruck machte und nach welchem ich wie nach einem schroffen Bruch in ein anderes Alter eintrat. Ich war damals noch nicht ganze siebzehn Jahre alt, als plötzlich eine mir selbst ganz unverständliche Apathie von meiner Seele Besitz zu ergreifen begann; eine eigentümliche, unerträgliche, schwermütige Stille, die ich selbst nicht begriff, kam über mich. Alle meine Erwartungen, mein ganzes Streben und Wollen war verstummt, sogar meine Phantasie schwieg wie vor Kraftlosigkeit. Eine kalte Gleichgültigkeit war in mir an die Stelle der früheren unbeholfenen drangvollen Glut getreten. Sogar für mein Talent, das doch von allen, die ich mit ganzer Seele lieb hatte, so bewundert wurde, konnte ich keine Neigung und Liebe bei mir mehr aufbringen und ich mißachtete es gefühllos. An nichts nahm ich Anteil, und selbst für Alexandra Michailowna empfand ich nur dieselbe kalte Gleichgültigkeit, obschon ich mir deshalb Vorwürfe machte. Meine Apathie wurde nur von grundloser Traurigkeit oder von plötzlichen Tränen unterbrochen. Ich hatte das Verlangen nach Einsamkeit. Und in dieser eigentümlichen Zeit wurde durch ein seltsames Erlebnis meine ganze Seele bis auf den Grund erschüttert und diese Stille in einen wahren Sturm verwandelt. Mein Herz wurde getroffen und verwundet. Und das geschah folgendermaßen. VII. Ich trat in die Bibliothek (diese Stunde werde ich nie vergessen) und nahm den letzten Roman von Walter Scott, den ich noch nicht gelesen hatte. Ich weiß noch, daß ein gegenstandloser Kummer mich fast wie mit einer Vorahnung quälte. Ich wollte weinen. Im Zimmer war es noch goldig hell von den letzten schrägen Strahlen der sinkenden Sonne, die mit einer Lichtfülle durch die hohen Fenster auf das glänzende Parkett fielen. Es war still. Auch in den Nebenzimmern war keine Menschenseele. Pjotr Alexandrowitsch war nicht zu Hause und Alexandra Michailowna war krank und lag zu Bett. Ich weinte auch wirklich, und während ich im zweiten Teil des Romans blätterte, versuchte ich, aus den einzelnen abgerissenen Sätzen, die ich hier und da las, den Zusammenhang des Ganzen zu erraten. Es war fast, wie wenn man ein Buch aufs Geratewohl aufschlägt und den ersten besten Satz wie einen Orakelspruch liest. Es gibt solche Augenblicke, wo alle geistigen und seelischen Kräfte sich krankhaft anstrengen und plötzlich wie in einer hellen Flamme des Bewußtseins aufflammen, und in diesem Augenblick wird dann die erschütterte Seele, die sich gleichsam im Vorgefühl, ja vielleicht sogar schon im Vorgenuß des Zukünftigen quält, wie von einem prophetischen Traum erfüllt. Und man will so leben, so leben, und das Herz, das in heißester, blindester Hoffnung aufflammt, will mit einemmal gleichsam die Zukunft herausfordern – die Zukunft mit ihrer ganzen geheimnisvollen Unbekanntheit, auch mit Stürmen und Ungewittern, wofern sie nur Leben ist, wirkliches Leben! Gerade das war es, was ich empfand. Ich erinnere mich, daß ich gerade das Buch schloß, um es dann aufs Geratewohl wieder aufzuschlagen und mit dem Gedanken an meine Zukunft einen Satz als Orakelspruch zu lesen. Doch als ich die Buchdeckel aufklappte und die Blätter sich teilten, lag vor mir auf dem aufgeschlagenen Buch ein beschriebener Bogen Postpapier, zweimal gefaltet und so zusammengepreßt, als sei er schon vor Jahren in dieses Buch gelegt und dann vergessen worden. Neugierig untersuchte ich meinen Fund. Es war ein Brief, jedoch ohne Adresse, ohne Anrede und als Unterschrift standen nur zwei Buchstaben: S. O. Meine Neugier verdoppelte sich, ich entfaltete das fast zusammengeklebte Papier, das vom langen Liegen auf den Blättern eine helle Stelle von der Größe seines Formats hinterlassen hatte. An den Faltstellen war das Papier schon stark mitgenommen: man hatte den Brief wohl oft gelesen. Die Tinte war verblaßt – er mußte schon vor langer, langer Zeit geschrieben worden sein. Einzelne Wörter stachen mir in die Augen und mein Herz begann zu klopfen vor Erwartung. Verwirrt besah ich den Brief von allen Seiten, wie um das Lesen noch hinauszuschieben. Zufällig sah ich näher hin und hob ihn zum Licht: ja! es waren deutliche Tränenspuren zu sehen, stellenweise waren sogar ganze Buchstaben verwischt. Wessen Tränen mochten das sein? Und schließlich las ich mit stockendem Herzschlag die erste halbe Seite und – fast hätte ich aufgeschrien. Ich stellte das Buch zurück, schloß den Schrank, verbarg den Brief in meinem Kleide und lief auf mein Zimmer, dessen Tür ich verschloß, und dann machte ich mich daran, den Brief nochmals vom Anfang an zu lesen. Mein Herz schlug so laut, daß die Buchstaben vor meinen Augen tanzten und ich lange nicht begriff, was ich las. Der Brief war eine Aufklärung, für mich eine Lösung des Geheimnisses, – wie ein Blitz durchzuckte es mich, denn ich erriet sogleich, an wen er gerichtet war. Ich wußte, daß ich nahezu ein Verbrechen beging, wenn ich diesen Brief las, doch der Augenblick war stärker als ich! der Brief war an Alexandra Michailowna gerichtet. Hier ist er: ich schreibe ihn wortgetreu ab. Unklar begriff ich, was er enthielt und noch lange nachher habe ich über das Rätsel nachgedacht und mich grübelnd zerquält. Mit diesem Augenblick brach mein früheres Leben ab. Mein Herz war für lange Zeit erschüttert, fast für immer, denn dieser Brief hatte viele Folgen. Die Vorahnung, mit der ich das Orakel nach meiner Zukunft befragen gewollt, hatte mich nicht getäuscht. Dieser Brief war das Letzte, war ein letzter, furchtbarer Abschied. Während ich ihn las, krampfte sich mein Herz so schmerzhaft zusammen, als verlöre ich selbst damit alles, als würden mir auf ewig sogar meine Träume und Hoffnungen genommen, als bliebe mir nichts mehr als ein unnötiges, überflüssiges Leben. Wer war er, der diesen Brief geschrieben? Wie war nachher sein Leben? Dieser Brief enthielt so viele Andeutungen, so viele Beweisstücke, daß man sich nicht täuschen konnte, und doch auch so viele Rätsel, daß es unmöglich war, sich nicht in den Vermutungen zu verlieren. Dennoch kann ich sagen, daß ich mich kaum irrte; übrigens offenbarte allein schon der Stil des Briefes, der auch sonst noch vieles verriet, den ganzen Charakter dieses Verhältnisses, über dem zwei Herzen gebrochen sind. Die Gedanken und Gefühle des Schreibenden lagen offen zutage. Doch hier ist der Brief – ich schreibe ihn Wort für Wort ab: „Du wirst mich nicht vergessen, sagtest Du – und ich glaube Dir, und von nun an ist mein ganzes Leben in diesen Deinen Worten. Wir müssen uns trennen, unsere Stunde hat geschlagen. Das wußte ich längst, meine stille, meine traurige Schönheit, aber erst jetzt habe ich es begriffen. Während der ganzen Zeit, die _uns_ gehörte, seitdem Du mich liebtest, hat mein Herz mich geschmerzt und gezittert um unsere Liebe, und – wirst Du’s glauben? – jetzt ist mir leichter! Ich wußte es schon längst, daß es so enden werde, so war es schon vor uns bestimmt. Das ist Schicksal. Und weißt Du, laß es mich Dir sagen, Alexandra: wir waren _nicht ebenbürtig_; das habe ich immer, _immer_ gefühlt! Ich war Deiner nicht wert, und ich, ich allein müßte die Strafe für mein durchlebtes Glück tragen! Sag’, was war ich im Vergleich mit Dir, bevor ich Dich kennen lernte? Gott! nun sind schon zwei Jahre darüber vergangen und ich bin immer noch wie von Sinnen; ich kann es bis jetzt noch nicht begreifen, daß _Du mich_ lieben konntest! Ich verstehe nicht, wie es zwischen uns so weit kam, womit es begann. Erinnerst Du Dich noch, was ich war im Vergleich mit Dir? War ich denn Deiner wert, was war an mir, wodurch zeichnete ich mich aus? Bevor ich Dich kennen lernte, war ich roh und einfältig, und mein Aussehen traurig und düster. Ein anderes Leben wünschte ich nicht, ich rief es weder, noch wollte ich es rufen. Alles in mir war niedergedrückt und ich kannte in der ganzen Welt nichts Wichtigeres, als meine tägliche Arbeit. Ich hatte nur eine Sorge – das war der nächste Tag; doch selbst zu dieser verhielt ich mich gleichmütig. Früher, ja, einmal vor langer Zeit, da hatte ich wohl etwas Ähnliches erträumt und wie ein Narr phantastische Schlösser gebaut. Seitdem aber war viel, viel Zeit vergangen und ich richtete mich so gut es ging in meinem Leben ein, lebte einsam, verschlossen, ruhig und sogar ohne die Kälte zu fühlen, die mein Herz erstarren ließ. Und so verstummte es. Ich wußte doch, daß für mich nie eine andere Sonne aufgehen werde, und ich glaubte daran und murrte nicht, denn ich begriff, daß es _so sein mußte_. Als Du an mir vorübergingst, wußte ich nicht, daß ich es wagen durfte, meine Augen zu Dir zu erheben. Ich war wie ein Sklave vor Dir. Mein Herz bebte nicht neben Dir, es sehnte sich nicht und verhieß mir nichts von Dir: es war ruhig. Meine Seele erkannte die Deine nicht, wenn es in ihr auch leicht war neben ihrer schönen Schwester. Das weiß ich; das fühlte ich dumpf. Das konnte ich fühlen, denn selbst in das letzte Stäubchen dringt Gottes Sonnenlicht und wärmt und liebkost es ebenso wie die schönste Blume, neben der es in wunschloser Demut fröstelt. Als ich aber alles erfuhr, weißt Du noch, nach jenem Abend, nach jenen Worten, die meine Seele bis auf den Grund erschütterten – da war ich wie geblendet, bestürzt, alles verwirrte sich in mir, und – was glaubst Du? – ich war so betroffen, ich traute mir so wenig, daß ich Dich nicht verstand! Davon habe ich Dir nie etwas gesagt. Du wußtest nichts; nicht so war ich früher, wie Du mich kennen lerntest. Wenn ich gekonnt hätte, wenn ich gewagt hätte, zu sprechen, so hätte ich Dir längst alles gestanden. Doch ich schwieg, jetzt aber werde ich Dir alles sagen, denn Du sollst wissen, wen Du verlierst, von was für einem Menschen Du Dich trennst. Weißt Du auch, wie ich Dich anfangs verstand? Die Leidenschaft erfaßte mich wie ein Feuer, wie ein Gift ergoß sie sich in mein Blut; sie verwirrte alle meine Gedanken und Gefühle, ich war wie von schwerem Wein berauscht, wie im Dunst ging ich umher und auf Deine reine _mitleidige_ Liebe antwortete ich nicht wie ein Ebenbürtiger einer Ebenbürtigen, nicht wie einer, der Deiner reinen Liebe wert wäre, sondern besinnungslos, herzlos. Ich erkannte Dich nicht. Ich antwortete Dir wie einer, die sich in meinen Augen _bis zu mir vergaß_, und nicht wie einer, die mich bis zu sich erheben wollte. Weißt Du, was ich von Dir dachte, was das für mich bedeutete: _die sich bis zu mir vergaß_? Doch nein, ich werde Dich nicht mit meinem Geständnis beleidigen; nur eines will ich Dir sagen: Du hast Dich bitter in mir getäuscht! Niemals, niemals konnte ich mich bis zu Dir erheben. Ich konnte Dich nur unnahbar anschauen, Dein Wesen geistig erfassen in meiner schrankenlosen Liebe. Meine Leidenschaft aber war nicht Liebe. Liebe fürchtete ich; ich wagte nicht, Dich zu lieben. In der Liebe – ist Gemeinsamkeit, Gleichheit, ihrer aber war ich nicht wert ... Oder ich weiß nicht, was mit mir war! Oh! wie soll ich mich nur ausdrücken, um von Dir verstanden zu werden ... Ich glaubte anfangs nicht ... Oh! weißt Du noch, als meine erste Erregung sich gelegt und mein Blick sich geklärt hatte, als mir nur ein reines, makelloses Gefühl geblieben war – da war meine erste Empfindung Verwunderung, Verwirrung, Furcht und – weißt Du noch – wie ich mich plötzlich aufschluchzend Dir zu Füßen warf? Weißt Du noch, wie Du verwirrt, erschrocken, mit Tränen in den Augen mich fragtest, was mit mir sei? Ich schwieg, ich konnte Dir nicht antworten; aber meine Seele zerriß sich in Stücke. Mein Glück bedrückte mich wie eine unerträgliche Last und mein Schluchzen sprach: „Wofür das? Womit habe ich das verdient? Wofür mir dieses Glück? Meine Schwester, meine Schwester!“ Oh! und wie oft – Du merktest es nicht – wie oft habe ich heimlich Dein Kleid geküßt, heimlich, denn ich wußte, daß ich Deiner nicht wert war, – und es benahm mir den Atem, mein Herz schlug langsam und stark, als wolle es stehenbleiben und das – für immer. Wenn ich Deine Hand nahm, erbleichte ich und zitterte; Du verwirrtest mich mit Deiner Reinheit. Nein, ich verstehe nicht – das alles auszudrücken, wovon meine Seele erfüllt war und was sich so mächtig in Worten aus ihr herausdrängen will! Weißt Du auch, daß es mir oft schwer war, Deine mitleidige, gleichmäßige Zärtlichkeit zu ertragen, daß sie mir eine Qual war? Als Du mich küßtest (das tatest Du einmal, und ich werde es nie vergessen), da umflorte sich mein Blick und mein Geist versank wie in einem dunklen Nebel. Warum starb ich nicht in diesem Augenblick zu Deinen Füßen? Sieh, ich sage zum erstenmal „Du“ zu Dir, und doch hast Du es schon so oft von mir verlangt, schon vor langer Zeit. Wirst Du verstehen, was ich sagen will? Ich will Dir _alles_ sagen und sage Dir dies: ja, Du liebst mich, mit einer großen Liebe, Du liebtest mich wie eine Schwester ihren Bruder; Du liebtest mich wie Dein Geschöpf, denn durch Dich ist mein Herz auferstanden, Du hast meinen Geist aus dem Schlaf geweckt und ihn mit süßer Hoffnung erfüllt; ich aber konnte es nicht, wagte es nicht ... ich habe Dich nie meine Schwester genannt, weil ich nicht Dein Bruder sein konnte, weil wir ungleich waren, weil Du Dich in mir täuschtest! Doch Du siehst, ich schreibe nur von mir; selbst jetzt in dieser Stunde des Elends, denke ich nur an mich, obschon ich weiß, daß Du Dich um mich quälst. Oh, quäle Dich nicht meinetwegen, meine liebe Freundin! Wenn Du wüßtest, wie ich jetzt in meinen eigenen Augen erniedrigt bin! All das ist an den Tag gekommen und – wieviel Lärm um nichts! Du wirst statt meiner verstoßen, Dich straft man mit Verachtung, mit Spott, denn ich stehe ja so niedrig in den Augen der Menschen! Oh, wie groß ist meine Schuld, daß ich Deiner nicht wert war! Hätte ich Rang und Titel oder persönlichen Wert in ihren Augen, wenn ich ihnen mehr Achtung einflößte – dann würden sie Dir verzeihen! Ich aber bin nichts, bin wertlos, bin lächerlich, noch Niederigeres aber als das Lächerliche gibt es nicht. Denn – _wer_ sind sie, die da schreien? Gerade deshalb, weil _diese_ schon schrien, verlor ich den Mut – ich war von jeher schwach. Weißt Du, in welch einer Stimmung ich jetzt bin? – ich lache über mich selbst und ich glaube, sie haben recht, wenn sie sagen, ich sei mir selbst verhaßt und in meinen eigenen Augen lächerlich. Ich hasse sogar mein Gesicht, meine Gestalt, alle meine Angewohnheiten, alle meine ungeschickten Bewegungen; ich habe sie immer gehaßt! Oh, vergib mir meine rohe Verzweiflung! Aber Du selbst hast mich gelehrt, Dir alles zu sagen. Ich habe Dich ins Unglück gestürzt, durch mich bist Du ihrem Spott und Gelächter verfallen – weil ich Deiner nicht wert war! Und dieser eine Gedanke quält mich; er klopft unaufhörlich in meinem Gehirn und foltert und zerreißt mein Herz. Und immer scheint es mir, daß Du gar nicht _den_ Menschen geliebt hast, der ich war, sondern einen, den nur Du in mir sahst –: daß Du Dich getäuscht hast in mir. Das ist es, was mich schmerzt, das ist es, was mich jetzt quält, was mich zu Tode quälen wird: oder aber – ich werde darüber wahnsinnig! Ich muß Abschied von Dir nehmen, Abschied! Jetzt, wo alle es wissen, wo ihr Geschrei und ihr scharfes Urteil ertönt (ich habe es gehört!), jetzt, wo ich klein und erniedrigt bin in meinen eigenen Augen und mich vor mir selber schäme, ja wo ich mich sogar für Dich schäme, wegen Deiner Wahl, wo ich mich verflucht habe, – jetzt muß ich verschwinden um Deiner Ruhe willen. So verlangt man es, und Du wirst mich nie mehr wiedersehen, nie mehr. So muß es auch sein, so ist es vom Schicksal bestimmt! Es hat mir gar zu viel gegeben; wohl aus Versehen; und jetzt macht es seinen Irrtum gut, indem es mir alles wieder nimmt. Unsere Wege haben sich gekreuzt, wir lernten uns kennen, und nun gehen wir auseinander bis zu einem neuen Wiedersehen! Wo wird das sein, wann wird das sein? Oh, sag’ mir, Du Liebe, wo werden wir uns wiedersehen, wo kann ich Dich finden, wie kann ich Dich verstehen lernen – und wirst auch Du mich dann verstehen? Meine Seele ist so voll von Dir! Oh, wofür, wofür das uns? Warum gehen wir auseinander? Belehre mich – ich begreife das nicht, ich werde es nie begreifen, ich kann es nicht – lehre Du mich, wie man das Leben in zwei Hälften brechen, wie man das Herz sich aus der Brust reißen und ohne Herz leben kann! Wenn ich daran denke, daß ich Dich nie mehr sehen werde, nie mehr, nie mehr! ... Gott, was für ein Geschrei sie erhoben haben! wie ich jetzt für Dich fürchte! Vor einer Stunde habe ich mit Deinem Mann gesprochen: wir sind beide seiner nicht wert, obschon wir schuldlos vor ihm sind. Er weiß alles; er sieht uns so, wie wir sind, und er begreift alles, auch früher schon ist ihm alles klar gewesen. Und jetzt ist er wie ein Held für Dich eingetreten. Er wird Dich gegen ihr Geschrei verteidigen und beschützen; er liebt und achtet Dich grenzenlos; er ist Dein Retter, während ich verschwinde! ... Ich wollte ihm die Hände küssen! ... Er sagte mir, ich solle unverzüglich verreisen. Es ist schon beschlossen! Es heißt, er habe Deinetwegen mit ihnen allen gebrochen; dort sind ja alle gegen Dich. Man wirft ihm zu große Nachsicht und Schwäche vor. Mein Gott! Was sie nicht alles von Dir reden! Und dabei wissen sie nichts! _Sie können ja nicht, sie sind nicht fähig_, die Wahrheit zu begreifen! Vergib, vergib ihnen, Du Arme, wie auch ich ihnen vergebe. Mir aber haben sie mehr genommen als Dir! Ich weiß nicht – nein, ich weiß nicht, was ich Dir schreibe. Was sagte ich Dir gestern beim Abschied? Ich habe doch alles vergessen. Ich war wie von Sinnen – Du weintest ... Vergib mir diese Tränen! Ich bin so schwach, so kleinmütig! Ich wollte Dir noch etwas sagen ... Oh! Noch einmal Deine Hände küssen, mit diesen Tränen benetzen, die hier auf dem Papier meine Worte verwischen! Noch einmal zu Deinen Füßen sitzen! Wenn _sie_ nur wüßten, wie rein und gut Dein Gefühl war! Aber sie sind ja blind; ihre Herzen sind stolz und hochmütig; sie sehen nicht und werden das niemals sehen. Denn _sie haben das nicht, womit man sieht_! Sie werden es nie glauben, daß Du schuldlos bist, auch wenn die ganze Welt es ihnen schwören sollte. Wie sollten sie auch das begreifen! Und doch werden sie mit Steinen nach Dir werfen! Wessen Hand wird die erste sein? Oh, die werden nicht zaudern, tausend Steine werden sie aufheben! Ja, sie werden sich dazu erdreisten, weil sie wissen, wie man das macht. Sie werfen alle zugleich und sagen, sie selber seien schuldlos, deshalb dürften sie es! Oh, wenn sie wüßten, was sie tun! Wenn man ihnen nur alles sagen könnte, alles, rückhaltlos alles, damit sie es hören, sehen, begreifen und sich überzeugen könnten! Doch nein, sie sind nicht so schlecht ... Ich rede in meiner Verzweiflung ... – vielleicht verleumde ich sie! Vielleicht stecke ich Dich mit meiner Angst um Dich an! Nein, fürchte sie nicht, fürchte sie nicht, Du Liebe! Man wird Dich verstehen lernen; wenigstens hat einer Dich schon begriffen: Dein Mann. Also hoffe! Leb’ – leb’ wohl! _Ich danke Dir nicht!_ Für immer leb’ wohl. S. O.“ Meine Verwirrung war so groß, daß ich lange Zeit nicht wußte, was in mir vorging. Ich war erschüttert, erschrocken. Die Wirklichkeit traf mich gar zu plötzlich, gar zu unerwartet mitten in dem lustigen Leben meiner Träumereien, wie ich es schon drei Jahre lang lebte. Mit Schrecken wurde ich gewahr, daß ich ein großes Geheimnis in meinen Händen hielt und daß dieses Geheimnis mein ganzes Leben in Fesseln schlug ... wie? – das wußte ich selbst noch nicht. Ich fühlte, daß in diesem Augenblick eine neue Zukunft für mich begann. Jetzt war ich ungewollt eine nahe, gar zu nahe Teilhaberin an dem Leben und den Beziehungen jener Menschen, die noch die ganze mich umgebende Welt ausmachten, und ich fürchtete für mich. Als was würde ich in ihr Leben eintreten, ich, die Ungerufene, ich, die ihnen Fremde? Was würde ich ihnen bringen? Was wird jemals diese Fessel lösen können, die mich so plötzlich an ein fremdes Geheimnis kettete? Wer konnte das wissen? Vielleicht wird meine neue Rolle sowohl für sie wie für mich qualvoll sein? Ich konnte nicht schweigen oder diese Rolle nicht annehmen oder das, was ich erfahren, für alle Zeit in meinem Herzen verschließen. Aber was erwartete mich? Was sollte ich tun? Und schließlich – was hatte ich denn eigentlich erfahren? Tausend Fragen, alle noch unbestimmt und unklar, erhoben sich vor mir und bedrückten mein Herz unerträglich. Ich war wie verloren. Dann kamen, erinnere ich mich, andere Minuten mit neuen, seltsamen, von mir noch nie empfundenen Eindrücken. Es war mir, als löse sich etwas in meiner Brust, als fiele die frühere Sehnsucht plötzlich von mir ab und als werde mein Herz langsam von etwas Neuem erfüllt, von dem ich noch nicht wußte, ob ich darüber trauern oder mich freuen sollte. Meine Stimmung in dem Augenblick glich derjenigen eines Menschen, der auf ewig sein Haus, sein früheres, ruhiges, sorgenloses Leben verläßt, um sich auf einen weiten unbekannten Weg zu begeben, und der sich nun zum letztenmal im Kreise umschaut und in Gedanken von allem Abschied nimmt, während es dem Herzen bitter weh ist in einer bangen Vorahnung all des Unbekannten und Traurigen und vielleicht auch Feindseligen der Zukunft, in die ihn sein neuer weiter Weg hineinführt. Zuletzt brach ich in Tränen aus und das krampfhafte Weinen erleichterte mein Herz. Ich hatte das Bedürfnis, jemanden zu sehen, zu hören, ihn fest, krampfhaft zu umarmen. Jetzt konnte, jetzt wollte ich nicht mehr allein bleiben; ich lief zu Alexandra Michailowna und verbrachte den ganzen Abend bei ihr. Wir waren allein. Ich bat sie, nicht zu spielen, und weigerte mich, trotz ihrer Bitten, ihr etwas vorzusingen. Ich fühlte mich bedrückt und konnte mich zu nichts sammeln. Ich glaube, wir weinten beide. Wenigstens soweit ich mich erinnere, erschrak sie über meine Stimmung und redete mir in Sorge zu, mich doch zu beruhigen, und mich nicht aufzuregen. Sie beobachtete mich angstvoll und versicherte mir, ich sei krank und müsse mich mehr schonen. Ich verließ sie gequält und wie mit mir selbst zerfallen. Ich war halb bewußtlos und fieberte, als ich zu Bett ging. Es vergingen mehrere Tage, bevor ich aus diesem Zustande mich herausfand, gleichsam erwachte und meine Lage klarer übersehen konnte. Damals lebten wir ganz einsam, denn Pjotr Alexandrowitsch war in einer besonderen Angelegenheit nach Moskau gereist und blieb dort drei Wochen. Alexandra Michailowna hatte aber trotz dieser kurzen Zeit der Trennung schreckliche Sehnsucht nach ihm. Zuweilen war sie innerlich ruhiger, schloß sich aber dennoch in ihr Zimmer ein, woraus ich ersah, daß ich ihr lästig war. Aber auch ich hatte das Verlangen nach Einsamkeit. Meine Gedanken arbeiteten mit geradezu krankhafter Angespanntheit und doch kam ich wie aus einem Nebel nicht heraus. Dann verfiel ich wiederum für ganze lange Stunden einem quälenden, nicht abzuschüttelnden Sinnen, das wie ein Traum über mich kam. Und es war mir dann, als lache jemand leise über mich, als habe sich etwas in mir niedergelassen, was mir jeden Gedanken verwirrte und vergiftete. Ich konnte die quälenden Bilder nicht loswerden, die jeden Augenblick vor mir auftauchten und mir keine Ruhe gaben. Ich sah ein langes, trostloses Martyrium, ein Opfer, das still und ruhig und klaglos und – umsonst gebracht wurde. Es schien mir, daß derjenige, dem dieses Opfer galt, sie verachtete und über sie lachte. Es schien mir, daß ich einen Sünder sah, der einem Gerechten Sünden vergab, und mein Herz riß in Stücke! Gleichzeitig aber wollte ich mich mit aller Gewalt von meinem Verdacht befreien; ich verfluchte diesen Verdacht und haßte mich selbst, weil alle meine Überzeugungen keine Überzeugungen waren, sondern nur Vorahnungen, und weil ich meine Eindrücke und Empfindungen vor mir selber nicht rechtfertigen konnte. Dann wieder erinnerte ich mich all jener Sätze, dieser letzten hervorgestoßenen Worte des furchtbaren Abschieds. Ich stellte mir diesen Abschied vor, den – _unebenbürtigen_; ich bemühte mich, den ganzen qualvollen Sinn dieses Wortes zu erfassen: „unebenbürtig“. Und furchtbar erschütterte mich dieser letzte verzweifelte Abschiedsgruß: „Ich bin lächerlich und schäme mich selber Deiner Wahl.“ Was war das? Was sind das für Menschen? Wonach sehnen sie sich, was quält sie, was haben sie verloren? Und ich überwand mich und las nochmals mit angespannter Aufmerksamkeit diesen Brief, der soviel Verzweiflung enthielt, dessen Sinn mir aber so fremd war, so unbegreiflich. Doch der Brief sank mir aus der Hand und eine aufrührerische Erregung bemächtigte sich meines Herzens ... Das alles mußte ja einmal seine Lösung finden, aber ich sah den Ausweg nicht oder ich fürchtete ihn! Ich war fast krank, als eines Tages die Reiseequipage Pjotr Alexandrowitschs in den Hof fuhr. Er war aus Moskau zurückgekehrt. Alexandra Michailowna eilte außer sich vor Freude ihrem Mann entgegen, ich aber blieb wie gelähmt stehen. Ich weiß noch, daß ich selber bis zum Schreck über meine plötzliche Erregung betroffen war. Ich hielt das nicht lange aus und lief auf mein Zimmer. Ich begriff nicht, was mich so erschreckt hatte, aber die Tatsache, daß ich erschrocken war, flößte mir Furcht ein. Nach einer Viertelstunde wurde ich gerufen und ich erhielt einen Brief vom Fürsten. Im Salon erblickte ich noch einen Unbekannten, der mit Pjotr Alexandrowitsch aus Moskau angekommen war, und aus einzelnen Worten, die ich aus dem Gespräch auffing, verstand ich nur so viel, daß er für lange Zeit bei uns bleiben werde. Das war der Bevollmächtigte des Fürsten, der in irgendwelchen wichtigen Angelegenheiten der fürstlichen Familie, die bis dahin in den Händen Pjotr Alexandrowitschs geruht hatten, nunmehr nach Petersburg übersiedelte. Er war es, der mir den Brief des Fürsten übergab und sagte, die Prinzeß habe mir gleichfalls schreiben wollen und noch bis zum letzten Augenblick versichert, daß sie den Brief unbedingt schreiben werde, aber zu guter Letzt habe sie ihn doch mit leeren Händen abreisen lassen und ihn gebeten, mir mündlich folgendes zu sagen: daß sie mir entschieden nichts zu schreiben habe, sie habe ganze fünf Briefbogen zerrissen, und sei zu der Überzeugung gekommen, daß in einem Brief sich doch nichts sagen ließe, wir müßten eben von neuem Freundschaft schließen; und ferner solle er mich versichern, daß uns ein baldiges Wiedersehen bevorstehe. Auf meine ungeduldige Frage, wann das sein werde, antwortete mir der fremde Herr, daß die ganze fürstliche Familie allerdings die Absicht habe, bald nach Petersburg zurückzukehren, und vermutlich werde das auch geschehen. Meine Freude darüber war so groß, daß ich nicht wußte, was ich tun oder sagen sollte, und ich ging schnell nach oben auf mein Zimmer, schloß mich ein und erbrach unter Tränen den Brief des Fürsten. Der Fürst verhieß mir ein baldiges Wiedersehen mit ihm und Katjä und gratulierte mir tief gerührt zu meinem Talent; zum Schluß gab er mir seinen Segen und versprach, für meine Zukunft zu sorgen. Ich weinte, während ich den Brief las; doch zu den Tränen gesellte sich eine so unerträgliche Traurigkeit, daß ich, wie ich mich erinnere, um mich selber in Angst geriet. Ich wußte nicht, was mit mir geschah. Es vergingen ein paar Tage. In dem Zimmer zwischen dem meinigen und der Bibliothek, wo früher Pjotr Alexandrowitschs Sekretär und Gehilfe gearbeitet hatte, arbeitete jetzt jeden Vormittag und häufig auch abends bis nach Mitternacht der neuangekommene Herr. Oft schlossen er und Pjotr Alexandrowitsch sich im Kabinett des letzteren ein und arbeiteten zusammen. An einem Nachmittage bat mich Alexandra Michailowna, zu ihrem Mann ins Kabinett zu gehen und ihn zu fragen, ob er zum Tee zu uns kommen werde. Im Kabinett war niemand, doch in der Annahme, daß er bald zurückkehren werde, blieb ich dort und wartete. An der Wand hing sein Porträt. Ich erinnere mich noch, daß ich zusammenfuhr, als ich plötzlich dieses Bild erblickte, um es dann mit einer mir selbst unbegreiflichen Erregung zu betrachten. Es hing ziemlich hoch und die Dämmerung machte es noch undeutlicher; um es nun besser zu sehen, zog ich einen Stuhl heran und stieg auf ihn hinauf. Ich wollte etwas aufdecken, ja es war, als hoffte ich, eine Antwort auf meine Zweifel und Fragen zu finden, und ich weiß noch, daß mir vor allem die Augen an diesem Porträt auffielen. Zugleich fiel es mir auch ein, daß ich noch niemals die Augen dieses Menschen gesehen hatte: er verbarg sie immer hinter den Brillengläsern. Schon als Kind hatte ich seinen Blick nicht gemocht, und zwar infolge eines unerklärlichen, seltsamen Vorurteils, das ich aber jetzt gleichsam als gerechtfertigt empfand. Meine Phantasie war beeinflußt. Plötzlich schien es mir, daß die Augen des Bildes sich verwirrt abwandten, um meinem forschenden, prüfenden Blick auszuweichen, daß sie ihn krampfhaft mieden, und daß Lüge und Betrug in diesen Augen waren; es schien mir, daß ich es erraten hatte, und eine geheime Freude, die ich selbst nicht begriff, antwortete in mir auf dieses Erraten. Ein halblautes „Ach!“ entschlüpfte mir unwillkürlich. Da war’s mir plötzlich, als sei noch jemand im Zimmer. Ich sah mich um: vor mir stand Pjotr Alexandrowitsch und betrachtete mich aufmerksam. Plötzlich errötete er. Ich wurde feuerrot und sprang vom Stuhl herab. „Was tun Sie hier?“ fragte er mich streng. „Warum sind Sie hier?“ Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Doch ich nahm mich zusammen und brachte so gut es ging die Aufforderung Alexandra Michailownas hervor. Ich weiß nicht, was er mir antwortete; ich weiß auch nicht, wie ich das Kabinett verließ; als ich aber zu Alexandra Michailowna kam, da hatte ich die Antwort, auf die sie wartete, spurlos vergessen, und ich sagte aufs Geratewohl, ja, er werde kommen. „Aber was ist mit dir, Njetotschka?“ fragte sie, „du bist ja ganz rot; sieh doch im Spiegel, wie du aussiehst ... Was fehlt dir, Kind?“ „Ich weiß nicht, ich bin schnell gegangen ...“ sagte ich. „Und was hat denn Pjotr Alexandrowitsch gesagt?“ unterbrach sie mich etwas verwirrt. Ich antwortete nicht. Da hörten wir Schritte, er kam schon, und ich ging schnell hinaus. Ganze zwei Stunden wartete ich in großem Kummer. Endlich wurde ich zu Alexandra Michailowna gerufen. Sie war schweigsam und bekümmert. Als ich eintrat, traf mich nur ein schneller forschender Blick von ihr und sie schlug die Augen nieder. Ich glaubte, eine gewisse Verwirrung in ihrem Gesicht zu bemerken. Bald sah ich, daß sie bei schlechter Laune war; sie sprach wenig, vermied mich anzusehen und als Antwort auf die besorgten Fragen B.’s klagte sie über Kopfschmerz. Pjotr Alexandrowitsch war dagegen gesprächiger als sonst, unterhielt sich aber nur mit B. Alexandra Michailowna trat zerstreut an den Flügel. „Singen Sie uns etwas vor,“ bat B., sich an mich wendend. „Ja, Annjeta, singe deine neue Arie,“ sagte Alexandra Michailowna schnell, als freue sie sich über den Vorwand. Ich blickte zu ihr auf: sie sah mich in unruhiger Erwartung an. Doch ich konnte mich nicht überwinden. Statt an den Flügel zu treten, um wenigstens irgend etwas zu singen, geriet ich in Verwirrung, wurde verlegen und wußte nicht, zu welcher Ausrede ich meine Zuflucht nehmen sollte; schließlich ärgerte ich mich und schlug die Bitte rund ab. „Warum willst du denn nicht singen?“ fragte Alexandra Michailowna, dabei sah sie mich an und dann, für den Bruchteil einer Sekunde, ihren Gatten. Diese zwei Blicke brachten mich um meine ganze Selbstbeherrschung. Ich erhob mich in größter Verwirrung, die ich nicht mehr zu verbergen vermochte, und zitternd von einer Empfindung, die wie Ärger und Ungeduld war, wiederholte ich heftiger als angebracht, daß ich nicht wolle, nicht könne – ich sei krank. Indem ich das sagte, sah ich alle offen an, doch Gott weiß, wie gern ich mich in diesem Augenblick in meinem Zimmer vor allen versteckt hätte. B. war erstaunt und Alexandra Michailowna sichtlich bekümmert, doch sagte sie kein Wort. Pjotr Alexandrowitsch aber erhob sich plötzlich von seinem Platz, sagte, er habe etwas Wichtiges vergessen, und wie im Ärger darüber, daß er soviel kostbare Zeit vergeudet, verließ er eilig das Zimmer, nachdem er vorausgeschickt, daß er später vielleicht noch vorsprechen werde – doch drückte er auf alle Fälle B. schon zum Abschied die Hand. „Aber was fehlt Ihnen nur?“ fragte mich B., „Sie sehen auch wirklich krank aus.“ „Ja, ich bin nicht ganz wohl, wirklich nicht,“ versetzte ich ungeduldig. „Du bist bleich, vorhin aber warst du so rot,“ sagte Alexandra Michailowna und plötzlich stockte sie. „Ach, das ist doch nichts!“ suchte ich sie zu beruhigen und ging schnurstracks zu ihr. Ich sah ihr offen in die Augen. Die Arme hielt meinen Blick nicht aus, senkte ihren Blick wie eine Schuldige und eine leichte Röte stieg in ihre blassen Wangen. Ich nahm ihre Hand und küßte sie. Sie sah mich – das fühlte ich – mit erheuchelter Freude an. „Verzeihen Sie, daß ich heute ein so schlechtes, böses Kind war,“ bat ich sie herzlich, „aber wirklich, ich bin krank. So seien Sie mir nicht böse und erlauben Sie, daß ich jetzt auf mein Zimmer gehe ...“ „Wir sind alle Kinder,“ sagte sie mit einem schüchternen Lächeln, „auch ich bin ein Kind, und schlechter, viel schlechter als du,“ flüsterte sie mir leise ins Ohr. „Dann gute Nacht und bleibe gesund. Nur, um Gottes willen, sei mir nicht böse.“ „Weswegen?“ fragte ich, so sehr traf mich dieses naive Geständnis. „Weswegen?“ wiederholte sie in plötzlicher Verwirrung, ja sogar als erschrecke sie über sich selbst. „Ja weswegen? Nun siehst du, wie ich bin, Njetotschka. Was habe ich dir da gesagt? Gute Nacht! Du bist klüger als ich ... Ich aber bin schlimmer als ein Kind.“ „Nun, schon gut!“ Ich war gerührt und wußte nicht, was ich ihr darauf sagen sollte. Ich küßte sie nochmals und ging aus dem Zimmer. Mein Unmut galt hauptsächlich mir selbst, denn ich fühlte, daß ich zu unvorsichtig war und mich nicht zu benehmen verstand. Es war da etwas, dessen ich mich bis zu Tränen schämte, und mit großem Leid im Herzen schlief ich ein. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mein erster Gedanke, daß der ganze letzte Abend – nur eine Gespensterseherei gewesen sei, daß wir uns gegenseitig nur mystifiziert hatten, indem wir solchen Nichtigkeiten die Bedeutung von Gott weiß was für Begebenheiten beilegten, daß wir uns einfach übereilt hatten, und zwar alles das nur infolge unserer Unerfahrenheit im Leben und unserer Ungewohntheit, äußere Eindrücke zu empfangen. Ich fühlte es, daß dieser Brief an allem schuld war, daß er mich gar zu sehr beunruhigte, daß meine Einbildungskraft durch ihn aus ihrem gewöhnlichen Geleise gehoben war und daß ich deshalb am besten tat, wenn ich in Zukunft überhaupt nicht mehr an ihn dachte. Nachdem ich so meinen ganzen Kummer verscheucht hatte, wurde ich – in der Überzeugung, daß ich den Entschluß, überhaupt nicht mehr an den Brief zu denken, ebenso leicht werde ausführen können – langsam ruhiger, ja fast sogar heiter, und begab mich in die Gesangsstunde. Die Morgenluft erfrischte meinen Kopf endgültig. Diese Wanderungen frühmorgens zu meinem Lehrer waren mir zu einer wahren Erquickung geworden und ich liebte sie sehr. Es war so lustig, durch die Stadt zu wandern, die sich schon zu beleben anfing und wie ein Uhrwerk ihre tägliche Arbeit begann. Wir gingen gewöhnlich durch die Hauptstraßen, die natürlich am belebtesten waren, und mir gefiel dieser Anfang meiner Künstlerlaufbahn, eben dieser Kontrast zwischen der alltäglichen Kleinlichkeit, der engen, doch lebendig pulsierenden Sorge, und der Kunst, die mich zwei Schritte von diesem Leben entfernt erwartete, im dritten Stock eines riesigen Hauses, das von oben bis unten von Menschen bewohnt war, die die Kunst, wie mir schien, so gut wie überhaupt nichts anging. Ich mit meinen Noten unterm Arm inmitten dieser geschäftigen, besorgten Menschen – neben mir die alte Natalja, die mich begleitete und mir jedesmal ahnungslos das Rätsel zu erraten gab: woran sie eigentlich und vornehmlich denken mochte – und schließlich mein Lehrer, halb Italiener, halb Franzose, ein ganzer Sonderling, in manchen Augenblicken ein richtiger Enthusiast, viel öfter aber ein Pedant und am meisten und vor allem ein Geizhals – alles das zerstreute mich, brachte mich zum Lachen oder zum Nachdenken. Hinzu kam, daß ich, so zaghaft ich in der Beziehung auch noch war, doch schon mit leidenschaftlicher Hoffnung meine Kunst liebte. Ich baute mir schon Luftschlösser, malte mir die schönste Zukunft aus, und nicht selten kam ich nach Haus – glühend von meinen Phantasien! Kurz, in diesen Stunden war ich fast glücklich. Dasselbe empfand ich auch damals, als ich gegen zehn Uhr zurückkehrte. Ich hatte alle Sorgen vergessen und war, wie ich mich noch deutlich erinnere, so froh gelaunt, so ganz erfüllt von irgendwelchen Zukunftsträumen. Doch plötzlich, wie ich die Treppe hinaufstieg, zuckte ich zusammen, als hätte ich mich verbrannt. Über mir hörte ich die Stimme Pjotr Alexandrowitschs, der in diesem Augenblick die Treppe herabstieg. Das unangenehme Gefühl, das sich meiner bemächtigte, war so stark, die Erinnerung an den letzten Abend traf mich so plötzlich und so feindselig, daß ich meine Empfindung wirklich nicht verbergen konnte. Ich verbeugte mich leicht vor ihm, doch mein Gesicht drückte wohl so deutlich alles aus, daß er einen Augenblick verwundert vor mir stehen blieb. Da errötete ich und ging schnell hinauf. Er brummte mir noch etwas nach und ging dann seiner Wege. Ich hätte weinen mögen vor Ärger und konnte doch nicht begreifen, was eigentlich vorgegangen war. Den ganzen Tag war ich wie verwirrt und wußte nicht, zu was ich mich entschließen sollte, um dieser ganzen Qual ein Ende zu machen und sie endlich loszuwerden. Tausendmal nahm ich mir vor, fortan vernünftiger zu sein, und tausendmal nahm mich die Angst doch wieder gefangen. Ich fühlte, daß ich diesen Menschen haßte, und war gleichzeitig in Verzweiflung über mich selbst. Ich wurde krank von der ewigen Aufregung und verlor alle Gewalt über mich. Ich ärgerte mich schließlich über alle, und verbrachte den ganzen langen Tag auf meinem Zimmer. Auch zu Alexandra Michailowna ging ich nicht. Sie kam selbst zu mir. Als sie mich erblickte, schrie sie fast auf. Ich war so bleich, daß ich, als ich in den Spiegel sah, vor mir selber erschrak. Alexandra Michailowna blieb eine ganze Stunde bei mir und ging mit mir um wie mit einem kranken Kinde. Ihre Aufopferung und Liebe machten mich aber so traurig und ihre Zärtlichkeit war für mich so schwer zu ertragen und es war mir so qualvoll, sie anzusehen, daß ich sie bat, mich allein zu lassen. Sie verließ mich in großer Sorge um meinen Zustand. Endlich brach ich in Tränen aus und weinte wie in einem richtigen Weinkrampf. Danach wurde mir bedeutend leichter ... ... Leichter, weil ich mich entschlossen hatte, zu ihr zu gehen. Ich wollte vor ihr niederknien, ihr den Brief geben, den sie verloren hatte, und ihr alles gestehen: alle Qualen, die ich ausgestanden, meine Zweifel, und wollte sie mit der ganzen schrankenlosen Liebe, die in mir für sie glühte, umfangen, wollte ihr sagen, daß ich ihr Kind, ihr Freund sei, daß ich mein ganzes Herz vor ihr öffne, damit sie hineinschaue und sähe, wieviel glühende Liebe und unerschütterliches Vertrauen zu ihr in ihm waren. Mein Gott! Ich wußte, ich fühlte ja, daß ich die letzte war, der sie ihr Herz aufdecken konnte, doch um so eher, so schien es mir, wäre dann eine Rettung möglich, um so gewichtiger wäre dann mein Wort ... Ich erriet, ich begriff ihren Schmerz, wenn auch dunkel und unklar, und mein Herz bebte vor Entrüstung bei dem Gedanken, daß sie vor mir erröten könnte, _sie_ vor _meinem_ Richterstuhl ... „Du Arme, du Arme, _du_ solltest jene Sünderin sein, für die du dich hältst?“ – das wollte ich ihr sagen, wenn ich vor ihr kniete. Mein Gerechtigkeitsgefühl empörte sich in mir, ich war meiner selbst nicht mehr mächtig. Ich weiß nicht, was ich noch alles gesagt hätte – erst später kam ich zur Besinnung, nachdem ein Zufall mich und sie vor dem Verderben bewahrt, indem er mich fast beim ersten Schritt zurückhielt. Entsetzen erfaßte mich. Hätte denn ihr zu Tode gequältes Herz überhaupt noch in neuer Hoffnung auferstehen können? Ich hätte sie nur auf der Stelle getötet! Es geschah aber folgendes: Als ich auf dem Wege zu ihr gerade durch das vorletzte Zimmer vor ihrem Salon gehen wollte, trat plötzlich durch eine andere Tür in dasselbe Zimmer Pjotr Alexandrowitsch und ging, ohne mich zu bemerken, wenige Schritte vor mir gleichfalls zu ihr. Ich blieb wie gelähmt stehen; er war der Letzte, den ich in diesem Augenblick hätte sehen mögen. Ich wollte schon zurückkehren, doch plötzlich bannte mich die Neugier regungslos an den Fleck. Er durchschritt das Zimmer, blieb einen Augenblick vor dem Spiegel stehen, ordnete mit der Hand das Haar, und mit einem Male – zu meiner sprachlosen Verwunderung – hörte ich ihn irgendeine muntere Melodie summen. Wie ein Blitz durchzuckte eine dunkle, ferne Erinnerung aus den Kinderjahren mein Gedächtnis. Doch damit die seltsame Empfindung, die ich in diesem Augenblick hatte, verständlicher wird, will ich jene Erinnerung mitteilen. Noch im ersten Jahre meines Aufenthaltes in diesem Hause machte mich einmal eine gleichfalls zufällige Beobachtung ganz betroffen, die mir aber erst jetzt voll zu Bewußtsein kam, denn erst jetzt, erst in diesem Augenblick begriff ich die Ursache meiner unerklärlichen Abneigung gegen diesen Menschen! Ich erwähnte bereits, daß ich mich schon damals in seiner Gegenwart immer bedrückt fühlte. Auch habe ich bereits erzählt, was für einen Eindruck sein finsteres, bedrückendes Wesen auf mich machte, sein oft trauriges, geradezu gramvolles Gesicht; wie schwer es mir ums Herz war nach jenen Stunden, die wir zusammen am Teetischchen Alexandra Michailownas verbrachten, und dann – was für ein peinvolles Gefühl mein Herz erfüllte, als ich – was nur zwei- oder dreimal geschah – fast Zeugin war jener niederdrückenden, mir so ganz unklaren Szenen. Es war in demselben Zimmer und um dieselbe Zeit, als er, ganz wie ich, zu Alexandra Michailowna ging. Mich erfaßte eine rein kindliche Scheu, als ich allein mit ihm zusammentraf, und ich versteckte mich gleichsam schuldbewußt im Winkel und betete, daß er mich nicht bemerken möge. Geradeso wie damals, blieb er vor dem Spiegel stehen und ich zuckte zusammen von einer unbestimmten, gar nicht kindlichen Empfindung: es schien mir, daß er sein Gesicht plötzlich verändere. Wenigstens hatte ich vorher, als er zum Spiegel trat, deutlich ein Lächeln in seinem Gesicht gesehen – ein Lächeln, während ich ihn früher noch niemals lächeln gesehen hatte, denn (ich erinnere mich, das machte mich noch am meisten betroffen) – er lachte nie in Alexandra Michailownas Gegenwart. Und nun plötzlich, kaum daß er einen Blick in den Spiegel geworfen, veränderte sich sein ganzes Gesicht: das Lächeln verschwand wie auf Befehl und an seine Stelle trat der Ausdruck eines unsäglich bitteren Gefühls, das sich anscheinend mit Gewalt aus dem Herzen drängte, eines Gefühls, das zu verbergen scheinbar nicht mehr in menschlicher Macht stand, wie groß auch immer jeder edelmütige Versuch dazu sein mochte, und es zuckte um seine Lippen – ein anscheinend konvulsivischer Schmerz ließ seine Stirn sich runzeln und zog die Brauen zusammen. Der Blick verbarg sich düster hinter den Brillengläsern – kurz, sein Gesicht wurde wie auf Kommando zum Gesicht eines ganz anderen Menschen. Ich erinnere mich, daß ich, als ohnehin ängstliches Kind, vor Furcht erzitterte, vor Furcht, das zu begreifen, das ganz zu erfassen und zu durchschauen, was ich sah, und seit jenem Augenblick saß die bedrückende, unangenehme Empfindung unausrottbar in meinem Herzen. Und nach dem Blick in den Spiegel senkte er den Kopf, nahm eine müdere Haltung an, jene, in der er gewöhnlich bei Alexandra Michailowna erschien, und ging leise in ihr Boudoir. Diese Erinnerung war es, die mich nun plötzlich wie ein Blitz durchzuckte. Auch jetzt glaubte er, ganz wie damals, daß er allein im Zimmer sei und blieb vor demselben Spiegel stehen. Ganz wie damals stand ich dort, von ihm unbemerkt, mit einem feindseligen unangenehmen Gefühl. Als ich ihn aber dieses Liedchen summen hörte (ein Lied von ihm, von dem man alles eher als das hätte erwarten können!) und vor Überraschung wie gelähmt stehenblieb, als mir in diesem Augenblicke blitzartig die Ähnlichkeit mit dem einen von mir als Kind erlebten Augenblick einfiel – da, ich kann es nicht wiedergeben, was für eine Empfindung mir plötzlich messerscharf ins Herz schnitt. Alle meine Nerven zuckten davon zusammen und als Antwort auf dieses unglückselige Liedchen brach ich in ein solches Gelächter aus, daß der arme Sänger mit einem Aufschrei zwei Schritte weit vom Spiegel fortsprang und, bleich wie der Tod, wie ein schmachvoll auf frischer Tat ertappter Verbrecher, mich ansah, außer sich vor Schreck, vor Verblüffung und vor Wut. Sein Blick reizte mich krankhaft und ich antwortete auf ihn mit nervenschüttelndem, unersättlichem Lachen – ihm gerade ins Gesicht. Dann ging ich lachend an ihm vorüber und trat, ohne mit dem Lachen aufzuhören, bei Alexandra Michailowna ein. Ich wußte, daß er hinter der Portiere stand, daß er vielleicht unschlüssig war, ob er gleichfalls eintreten sollte oder nicht, daß Wut und Feigheit ihn an den Fleck bannten, wo er stand – und mit einer seltsam gereizten, herausfordernden Ungeduld erwartete ich, wozu er sich entschließen werde. Ich hätte wetten können, daß er nicht eintreten werde, und ich hätte meine Wette gewonnen. Er kam erst nach einer halben Stunde. Alexandra Michailowna sah mich lange Zeit mit größter Verwunderung an, doch sie fragte mich vergeblich nach der Ursache meiner Erregung. Ich konnte nicht antworten, ich war zu atemlos. Endlich begriff sie, daß ich einen Nervenanfall gehabt hatte, und ihre Augen folgten mir beunruhigt. Als ich mich etwas erholt hatte, erfaßte ich ihre Hände und bedeckte sie mit Küssen. Jetzt erst besann ich mich und jetzt erst sagte ich mir, daß ich sie getötet hätte, wenn das zufällige Zusammentreffen mit ihrem Mann nicht gewesen wäre. Ich sah sie an, als sähe ich in ihr eine Auferstandene. Pjotr Alexandrowitsch trat herein. Ich blickte flüchtig zu ihm hin: er sah aus, als sei nichts geschehen, also düster und verschlossen wie gewöhnlich. Es fiel mir nur auf, daß er sehr bleich war und ich sah seine Mundwinkel zucken: da erriet ich, daß er seine Erregung nur mit Mühe verbarg. Kühl grüßte er Alexandra Michailowna und setzte sich schweigend auf seinen Platz. Seine Hand zitterte ein wenig, als er die Tasse in Empfang nahm. Ich erwartete einen Zornesausbruch und eine stumme Angst erfaßte mich. Ich wollte schon hinausgehen, konnte mich aber nicht entschließen, Alexandra Michailowna, deren Gesicht sich beim Anblick ihres Mannes verändert hatte, zu verlassen. Sie hatte gleichfalls ein Vorgefühl, das ihr nichts Gutes verhieß. Und das, was ich mit solcher Angst erwartete, geschah denn auch endlich. Inmitten des tiefsten Schweigens sah ich auf und mein Blick begegnete den Brillengläsern Pjotr Alexandrowitschs, die geradeaus auf mich gerichtet waren. Das war so überraschend, weil so ungewohnt, daß ich zusammenzuckte, fast einen Schrei ausstieß, und die Augen niederschlug. Alexandra Michailowna bemerkte meinen Schreck. „Was ist mit Ihnen? Warum erröten Sie?“ fragte Pjotr Alexandrowitsch schroff und fast grob. Ich schwieg; mein Herz klopfte so stark, daß ich kein Wort hätte hervorbringen können. „Weshalb ist sie errötet? Weshalb errötet sie immer?“ fragte er, sich an Alexandra Michailowna wendend, indem er frech auf mich wies. Mein Unwille benahm mir den Atem. Ich warf einen flehenden Blick Alexandra Michailowna zu. Sie verstand mich. In ihre bleichen Wangen stieg edle Röte. „Annjeta,“ sagte sie zu mir mit so fester Stimme, wie ich sie von ihr unter keinen Umständen erwartet hatte, „geh auf dein Zimmer, ich werde sogleich zu dir kommen; den Abend werden wir zusammen verbringen ...“ „Ich frage Sie, haben Sie mich gehört oder nicht?“ unterbrach Pjotr Alexandrowitsch mit erhobener Stimme, als höre er gar nicht, was seine Frau sagte. „Weshalb erröten Sie, wenn Sie mir begegnen? Antworten Sie!“ „Weil Sie sie erröten machen und mich gleichfalls,“ antwortete statt meiner Alexandra Michailowna, vor Aufregung stockend. Ich blickte erstaunt zu ihr auf. Die Schärfe ihrer Entgegnung schon gleich zu Anfang war mir ganz unverständlich. „_Ich_ mache Sie erröten, _ich_?“ fragte Pjotr Alexandrowitsch, wie es schien auch über alle Maßen erstaunt und das „Ich“ stark betonend. „Für _mich_ sind _Sie_ errötet? Ja kann _ich_ denn überhaupt _Sie_ für _mich_ erröten machen? An wem ist es, an _mir_ oder an _Ihnen_, zu erröten, was meinen Sie?“ Diese Frage war so deutlich, auch für mich, und mit so gehässigem beißenden Spott gesagt, daß ich vor Entsetzen aufschrie und zu Alexandra Michailowna stürzte. Überraschung, Schmerz, Vorwurf und Entsetzen sprachen aus ihrem todbleichen Gesicht. Ich blickte flehend auf Pjotr Alexandrowitsch und faltete die Hände, um ihn zu beschwören. Wie es schien, war er selber etwas erschrocken, doch die Wut, die ihm diese Worte entrissen, war noch nicht vergangen. Aber meine stumme Bitte schien ihn doch einigermaßen zu verwirren. Meine Geste mußte verraten, daß ich schon vieles von dem wußte, was zwischen ihnen ein Geheimnis gewesen war und daß ich den Sinn seiner Worte sehr gut verstanden hatte. „Annjeta, geh auf dein Zimmer,“ wiederholte Alexandra Michailowna mit schwacher, jedoch fester Stimme und sie erhob sich vom Stuhl, „ich habe dringend mit Pjotr Alexandrowitsch zu sprechen ...“ Sie war anscheinend ruhig; doch diese Ruhe beängstigte mich mehr als jede Aufregung es vermocht hätte. Ich stand, als habe ich ihre Worte nicht gehört, und rührte mich nicht vom Fleck. Ich sah sie an und versuchte mit Anspannung aller Kräfte aus ihrem Gesicht zu erraten, was in ihrer Seele vorging. Es schien mir, daß sie weder meinen Ausruf, noch meine Geste richtig verstanden hatte. „Da sehen Sie jetzt Ihr Werk!“ sagte Pjotr Alexandrowitsch, auf seine Frau weisend. Mein Gott! Noch niemals hatte ich eine solche Verzweiflung gesehen, wie ich sie jetzt in diesem vor Gram todmüden, gleichsam erstorbenen Gesicht, sah. Er faßte mich am Handgelenk und führte mich zur Tür. Im Hinausgehen blickte ich mich noch einmal nach ihnen um. Alexandra Michailowna stand am Kamin, die Ellenbogen aufgestützt, den Kopf zwischen beiden Händen, mit denen sie ihn krampfhaft zusammenpreßte. Die ganze Stellung ihres Körpers drückte unerträgliche Qual aus. Ich griff nach Pjotr Alexandrowitschs Hand und drückte sie flehend. „Um Gottes willen! Um Gottes willen!“ flüsterte ich stockend, „haben Sie Erbarmen mit ihr!“ „Fürchten Sie sich nicht, fürchten Sie sich nicht!“ sagte er und sah mich dabei eigentümlich an. „Das ist nichts, nur ein Anfall. Gehen Sie, gehen Sie.“ In meinem Zimmer warf ich mich auf das Sofa und vergrub das Gesicht in den Händen. Ganze drei Stunden verblieb ich in dieser Stellung und in der Zeit stand ich Höllenqualen aus. Schließlich konnte ich mich doch nicht mehr bezwingen und ließ fragen, ob ich zu Alexandra Michailowna kommen dürfe. Die Antwort brachte mir Madame Léotard. Pjotr Alexandrowitsch ließ mir durch sie sagen, daß der Anfall überstanden und eine Gefahr nicht vorhanden sei, doch bedürfe sie noch der Ruhe. Ich blieb aber trotzdem bis drei Uhr nachts auf und ging ruhelos in meinem Zimmer hin und her. Meine Gedanken arbeiteten. Ich befand mich in einer Lage, die mir rätselhafter als jemals war, aber ich fühlte mich gewissermaßen ruhiger – vielleicht deshalb, weil ich mich am schuldigsten von allen fühlte. In ungeduldiger Erwartung des nächsten Morgens ging ich zu Bett. Am anderen Tage bemerkte ich zu meinem großen Kummer eine mir unerklärliche Kälte im Wesen Alexandra Michailownas. Zuerst glaubte ich, das sei nur deswegen, weil es ihrem reinen, vornehmen Herzen schwer werde, nach der Szene mit ihrem Mann, deren Zeugin ich gewesen war, mit mir zusammen zu sein. Ich wußte, daß dieses Kind imstande war, vor mir zu erröten und _mich_ womöglich noch um Verzeihung zu bitten, weil diese unglückliche Szene _meinem_ Herzen weh getan. Bald aber bemerkte ich an ihr so etwas wie eine bestimmte Sorge, wie einen Unwillen, der einen einzigen bestimmten Grund zu haben schien und sich nun in verschiedenen Formen äußerte: bald antwortete sie trocken und kühl, bald klang aus ihren Worten ein gewisser Doppelsinn, als wolle sie etwas Besonderes andeuten; dann wurde sie wiederum sehr lieb und gut zu mir, als bereue sie diese Schroffheit und Kälte, die ihr Herz ja doch nicht lange für mich empfinden konnte, und ihre freundlichen leisen Worte suchten den Eindruck zu verwischen und verrieten, daß ihre Unfreundlichkeit ihr von Herzen leid tat. Schließlich fragte ich sie ganz offen, was mit ihr sei und ob sie mir vielleicht etwas zu sagen habe. Meine plötzliche schnelle Frage verwirrte sie ein wenig, doch sofort sah sie wieder auf, sah mich mit großen, stillen Augen und einem zarten Lächeln an und fragte mich: „Nichts, Njetotschka; nur, weißt du, als du mich so plötzlich fragtest, da geriet ich in Verwirrung. Aber das geschah nur deshalb, weil es so plötzlich kam ... ich versichere dir. Doch höre, sage mir die Wahrheit, mein Kind: hast du nicht so etwas auf dem Herzen, wovon du ebenso verwirrt werden könntest, wenn man dich ebenso plötzlich und unerwartet danach fragen würde?“ „Nein,“ antwortete ich, und sah sie mit hellen Augen offen an. „Nun, dann ist es ja gut! Wenn du wüßtest, mein Kind, wie ich dir dankbar bin für diese schöne und offene Antwort. Nicht, daß ich dich irgendeines Schlechten verdächtigt hätte, – niemals! Einen solchen Gedanken würde ich mir nie verzeihen. Doch höre: ich nahm dich als Kind zu mir und jetzt bist du siebzehn Jahre alt. Du hast ja selbst gesehen: ich bin leidend; ich bin selbst wie ein Kind, das Nachsicht beansprucht. Ich konnte dir die leibliche Mutter nicht vollständig ersetzen, obgleich mein Herz für dich überreich an Liebe war. Wenn mich jetzt Sorgen um dich quälen, so bin ich selbstverständlich schuld daran und nicht du. Verzeihe daher meine Frage und vergib mir, wenn ich mein Versprechen nicht erfüllt habe, das ich dir und dem Vater gegeben, als ich dich in mein Haus nahm. Das quält mich sehr und hat mich immer gequält, mein Kind.“ Ich umarmte sie und brach in Tränen aus. „Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen für alles!“ sagte ich, und benetzte ihre Hände mit meinen Tränen. „Sprechen Sie nicht so zu mir, zerreißen Sie mir nicht das Herz. Sie sind mir mehr denn eine Mutter gewesen, Gott segne Sie für alles, was Sie an mir getan haben, Sie und der Fürst, an mir Armen, Verlassenen! meine Liebe, meine Gütige!“ „Genug, Njetotschka, genug! Umarme mich lieber, so, von Herzen! Denn, siehe, Gott weiß, warum es mir scheint, daß du mich zum letztenmal umarmen wirst.“ „Nein, nein,“ rief ich laut aufschluchzend wie ein Kind, „nein, nur das nicht! Sie werden noch glücklich sein! ... Noch vieles steht Ihnen bevor. Glauben Sie mir, wir werden alle noch glücklich sein.“ „Ich danke dir, ich danke dir für deine Liebe, Njetotschka. Nur wenige lieben mich; sie haben mich alle verlassen!“ „Wer hat Sie denn verlassen? Wer denn?“ „Früher waren es ihrer mehr; du weißt es nicht, Njetotschka. Sie haben mich alle verlassen, sie sind fortgegangen, als wären Zeichen geschehen. Und ich habe auf sie gewartet, mein ganzes Leben lang gewartet; nun Gott mit ihnen! Sieh Njetotschka, wie spät schon der Herbst ist; bald gibt es Schnee: und mit dem ersten Schnee sterbe ich, – doch ich will nicht klagen. Lebt alle wohl!“ Ihr Gesicht war schmal und durchsichtig; auf ihren Wangen brannten rote Flecke; ihre Lippen bebten und waren wie von einem inneren Feuer verbrannt. Sie ging ans Klavier und schlug ein paar Akkorde an; in dem Augenblick riß eine Seite und ein langer zitternder Ton heulte auf ... „Hörst du, Njetotschka, hörst du?“ fragte sie mit verlöschender Stimme, und wies auf das Klavier. „Diese Saite hat man zu sehr angespannt: sie hielt’s nicht aus und zerriß. Hörst du, wie der Ton klagend erstirbt!“ Sie sprach mühevoll. Ein stumpfer, seelischer Schmerz lag auf ihrem Gesicht, ihre Augen standen voll Tränen. „Genug davon, Njetotschka, meine Liebe, genug; bringe die Kinder her.“ Ich führte sie herbei. Ihre Gegenwart schien sie zu beruhigen und sie erholte sich. Nach einer Stunde aber mußten alle sie wieder verlassen. „Wenn ich sterbe, so bleibst du bei ihnen, Annjeta? Ja?“ sagte sie flüsternd, als fürchte sie, gehört zu werden. „Haben Sie Erbarmen, Sie töten mich!“ konnte ich ihr nur antworten. „Ich habe ja bloß gescherzt,“ sagte sie und verstummte lächelnd. „Und du hast daran geglaubt? Ich sage doch manchmal, Gott weiß was! Ich bin wie ein Kind, mir muß man alles verzeihen.“ Dabei sah sie mich ganz schüchtern an, als fürchtete sie sich, etwas auszusprechen, was ihr auf dem Herzen lag. Ich wartete. „Sieh zu, erschrick ihn nicht,“ sagte sie endlich mit niedergeschlagenen Augen und mit heller Röte im Gesicht, so leise, daß ich es kaum hören konnte. „Wen?“ fragte ich verwundert. „Meinen Mann. Du erzählst ihm am Ende alles wieder.“ „Wieso, warum denn?“ wiederholte ich meine Frage mit immer wachsendem Erstaunen. „Nun, vielleicht erzählst du es ihm auch nicht, wer kann es wissen!“ antwortete sie und sie versuchte offenbar, mich schlau anzusehen, und ein gutmütiges Lächeln spielte in ihren Mundwinkeln und die Farbe stieg ihr mehr und mehr zu Gesicht. „Lassen wir das; ich scherze ja nur.“ Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. „Nur höre, du wirst sie aber lieben, wenn ich sterbe, – ja?“ fügte sie ernst hinzu und wieder mit einem geheimnisvollen Gesicht, „so, als liebtest du deine eigenen Kinder, – ja? Denke daran: ich habe dich immer wie eine mir Verwandte behandelt und geliebt.“ „Ja, ja,“ antwortete ich, ohne zu wissen, was ich vor Tränen und Erregung sagte. Ein heißer Kuß brannte auf meiner Hand – es gelang mir nicht, sie ihr rechtzeitig zu entziehen. Verwunderung lähmte meine Zunge. „Was geht in ihr vor? Was denkt sie sich? Was war gestern mit ihr?“ ging es mir durch den Kopf. Dann klagte sie über Müdigkeit. „Ich fühle mich schon längst krank, ich wollte euch nur nicht ängstigen,“ sagte sie. „Ihr liebt mich doch beide, – nicht wahr? ... Auf Wiedersehen, Njetotschka; verlaß mich jetzt, am Abend komme bestimmt wieder?! Wirst du kommen?“ Ich gab ihr mein Wort, und freute mich, nur fort zu kommen. Länger konnte ich es nicht mehr ertragen. „Du Arme, Arme! Welch ein Verdacht treibt dich ins Grab?“ schluchzte ich auf: „was für ein neuer Kummer zernagt und zerreißt dein Herz, ein Kummer, den du nicht einmal auszusprechen wagst? Mein Gott! Dieses Leid, das ich an ihr schon so lange kannte, dieses Leben ohne Freude, diese bescheidene Liebe, die nichts fordert. Und noch dazu jetzt, jetzt, vor dem Tode, da ihr Herz müde ist, fühlt sie sich als Schuldige, die nicht einmal zu murren wagt, und nicht zu klagen – und jetzt überfällt sie noch ein neues Leid, dem sie sich widerstandslos ergeben muß!“ Am Abend, in der Dämmerstunde, benutzte ich die Abwesenheit Owroffs (desselben, der aus Moskau gekommen war), ging in die Bibliothek, öffnete einen Schrank und suchte in den Büchern etwas, um es Alexandra Michailowna vorzulesen. Ich wollte sie von ihren schweren Gedanken ablenken und sie durch etwas Lustiges, Leichtes aufheitern ... Ich suchte lange. Die Dunkelheit trat ein und mit ihr wuchs mein Leid. In meine Hände fiel wieder dieses Buch, in dem sich der Brief befand, dessen Folgen mich bis jetzt nicht mehr verlassen hatten – dessen Geheimnisse mein Dasein von neuem zerbrachen, und es wehte aus ihm so kalt, so unbekannt und geheimnisvoll, wehte noch jetzt aus der Ferne des Gewesenen so drohend zu mir herüber ... Was wird mit uns, dachte ich: der Winkel, in dem mir so warm war, so leicht und frei – verödet. Der reine, helle Geist, der meine Jugend hütete, verläßt mich. Was steht mir bevor? Ich stand in Versunkenheit, nachdenkend über alles Vergangene, das meinem Herzen so teuer war, stand da, als fühlte ich das Bevorstehende, Unbekannte und mir Drohende ... Ich erinnere mich dieses Augenblicks so deutlich, als erlebte ich ihn noch einmal: so tief hat er sich mir ins Gedächtnis eingeschnitten. Ich hielt in meinen Händen den Brief und das aufgeschlagene Buch, meine Wangen waren feucht von Tränen. Plötzlich fuhr ich zusammen: über mir ertönte eine mir bekannte Stimme. In demselben Augenblick fühlte ich, daß man mir den Brief aus den Händen riß. Ich schrie auf und wandte mich um: vor mir stand Pjotr Alexandrowitsch. Er packte mich an der Hand und zwang mich, auf dem Platz zu bleiben; mit der rechten Hand hielt er den Brief ans Licht und mühte sich, die ersten Zeilen zu entziffern ... Ich wäre bereit gewesen, eher zu sterben, als ihm den Brief zu überlassen. An seinem triumphierenden Lächeln sah ich, daß es ihm gelungen war, den Anfang des Briefes zu lesen. Ich verlor meine Sinne ... Einen Augenblick später, ohne mir bewußt zu sein, was ich tat, stürzte ich auf ihn und riß ihm den Brief aus der Hand. Das geschah so unerwartet, daß ich selbst nicht mehr begreife, wie es mir gelingen konnte, mich des Briefes zu bemächtigen. Doch, als ich bemerkte, daß auch er wieder den Brief mir entwenden wollte, steckte ich ihn schnell in meine Bluse und wich einige Schritte zurück. Einen Augenblick sahen wir einander schweigend an. Mich schauerte, er – bleich, mit zitternden, blau angelaufenen Lippen, – brach zuerst das Schweigen. „Nun wohl!“ sagte er mit einer Stimme, die vor Erregung schwach war – „ich hoffe, Sie wollen selbst nicht, daß ich hier Gewalt anwende – geben Sie mir also freiwillig den Brief.“ Erst jetzt kam ich zu mir. Scham und Unwille ob eines so groben Überfalls überwältigten mich. Heiße Tränen stürzten mir aus den Augen. Ich zitterte vor Aufregung und eine Zeitlang war ich nicht imstande, ein Wort hervorzubringen. „Haben Sie gehört?“ sagte er und trat einen Schritt auf mich zu. „Lassen Sie mich, lassen Sie!“ rief ich und ich wich vor ihm zurück, „Sie handeln niedrig an mir, unedel. Sie haben sich vergessen! ... Lassen Sie mich gehen! ...“ „Wie? Was heißt das? Wie wagen Sie es noch, einen solchen Ton anzuschlagen ... nach alledem, was Sie ... Geben Sie ihn mir zurück, sage ich Ihnen!“ Er trat noch einen Schritt auf mich zu, doch als er in meinen Augen soviel kalte Entschlossenheit sah, da blieb er stehen und überlegte ... „Gut!“ sagte er endlich trocken, als hätte er einen Entschluß gefaßt, wenn er sich auch immer noch mühsam beherrschte. „Eines nach dem andern, doch zuerst ...“ Er sah sich im Zimmer um. „Wer ... hat Sie in die Bibliothek gelassen? Warum steht dieser Schrank offen? Wie kommt es, daß Sie den Schlüssel dazu haben?“ „Ich werde Ihnen darauf nicht antworten,“ sagte ich, „ich kann mit Ihnen nicht darüber sprechen. Lassen Sie mich gehen!“ Ich ging zur Tür. „Erlauben Sie,“ sagte er, und faßte mich an der Hand – „so werden Sie nicht davonkommen!“ Ich entzog ihm schweigend meine Hand und wandte mich wieder zur Tür. „Wie Sie wollen. Aber ich kann es Ihnen nicht gestatten, daß Sie in meinem Hause Briefe von Liebhabern empfangen ...“ Ich schrie auf und sah ihn entsetzt an ... „Und darum ...“ „Halten Sie ein!“ rief ich aus. „Wie können Sie das? ... Wie können Sie mir das sagen? ... Mein Gott! Mein Gott! ...“ „Wie? Was! Sie drohen mir noch! ...“ Ich sah ihn verzweifelt an, wie zerschmettert. Der Kampf zwischen uns stieg bis zur höchsten Erbitterung. Doch ich konnte nicht begreifen. Ich flehte ihn mit einem Blick an, nicht weiter zu gehen. Ich war bereit, ihm jede Beleidigung zu verzeihen, wenn er nur jetzt innehielt. Er sah mich durchbohrend an und schien zu überlegen. „Bringen Sie mich nicht zum Äußersten,“ flüsterte ich erschrocken. „Nein, damit muß ein Ende gemacht werden!“ sagte er schließlich, als besinne er sich wieder. „Ich muß Ihnen gestehen, ich wankte einen Augenblick vor diesem Blick,“ fügte er mit eigentümlichem Lächeln hinzu. „Doch unglücklicherweise spricht die Sache für sich selbst. Es ist mir gelungen, den Anfang des Briefes zu lesen. Das war ein Liebesbrief! Sie werden mich nicht davon abbringen! Nein, lassen Sie alles! Und wenn ich einen Augenblick zögerte, so geschah es nur, weil ich zu Ihren übrigen schönen Eigenschaften auch Ihre Fähigkeit zu lügen hinzufügen mußte, und darum wiederhole ich ...“ Mit jedem Wort, das er sprach, füllte er sich mit Bosheit an. Er war bleich; seine Lippen verzogen sich und zitterten und nur mit Mühe konnte er die letzten Worte hervorbringen. Es war vollkommen dunkel geworden. Ich stand schutzlos da, vor einem Menschen, der fähig war, einer Frau das Schlimmste anzutun. Und im Grunde war alle Wahrscheinlichkeit gegen mich; ich wand mich vor Scham, alles verwirrte sich in mir, ich konnte die Wut dieses Menschen nicht verstehen. Ohne ihm zu antworten, außer mir vor Angst, stürzte ich aus dem Zimmer, und ich kam erst zu mir, als ich vor der Zimmertür Alexandra Michailownas stand. In dem Augenblicke hörte ich seine Schritte; und schon wollte ich ins Zimmer stürzen, als ich plötzlich wie vom Schlag gerührt stehen blieb. „Was wird mit ihr geschehen?“ ging es mir durch den Kopf ... „Diesen Brief ...! Nein, lieber alles auf der Welt, als diesen Stoß in ihr Herz –“ und ich stürzte zurück. Doch schon war es zu spät: er stand neben mir. „Wohin wollen Sie, kommen Sie ... nur nicht hier, nicht hier!“ flüsterte ich ihm zu und griff nach seiner Hand ... „Schonen Sie sie ...! Ich komme zurück in die Bibliothek, oder ... wohin Sie wollen?! Sie werden sie vernichten!“ „Sie sind es, die sie vernichtet!“ antwortete er, und trat von mir zurück. Alle meine Hoffnungen schienen verloren. Ich begriff, daß er die ganze Szene vor Alexandra Michailowna tragen wollte. „Um Gottes willen!“ rief ich und hielt ihn aus aller Kraft zurück. Doch in diesem Augenblick hob sich die Portiere und Alexandra Michailowna stand vor uns. Sie sah uns verwundert an. Ihr Gesicht wurde noch bleicher. Mit Mühe hielt sie sich auf den Füßen. Es hatte sie viel gekostet, bis zu uns zu kommen, als sie unsere Stimme gehört. „Wer ist da? Wovon redet ihr hier?“ fragte sie, in großer Verwunderung. Es trat Schweigen ein und sie erbleichte wie ein Leinentuch. Ich stürzte auf sie zu, umarmte sie und führte sie zurück in ihr Kabinett. Pjotr Alexandrowitsch folgte uns. Ich drückte mein Gesicht an ihre Brust und umschlang sie immer fester und fester, ersterbend in Erwartung. „Was ist mit dir, was ist mit euch?“ fragte noch einmal Alexandra Michailowna. „Fragen Sie sie. Sie haben sie noch gestern so verteidigt,“ sagte Pjotr Alexandrowitsch und ließ sich schwer auf einem Sessel nieder. Ich umklammerte sie immer fester und fester in meiner Umarmung. „Aber, mein Gott, was bedeutet denn das?“ rief Alexandra Michailowna in großem Schrecken angstvoll aus. „Sie zittert ja und ist in Tränen aufgelöst. Annjeta sag’ mir doch, was ist zwischen euch geschehen.“ „Nein, erlauben Sie mir zuerst das Wort,“ sagte Pjotr Alexandrowitsch und näherte sich uns. Er ergriff mich an der Hand und zog mich von ihr fort. „Bleiben Sie dort stehen,“ sagte er und wies in die Mitte des Zimmers. „Ich werde Sie richten vor derjenigen, die Ihnen die Mutter ersetzte. Und Sie, bitte, beruhigen Sie sich, Alexandra Michailowna, und setzen Sie sich in den Lehnstuhl. Mir tut es bitter leid, daß ich Sie nicht mit dieser unangenehmen Aufklärung verschonen kann. Denn sie ist nötig –!“ „Mein Gott! Was wird das sein?“ murmelte Alexandra Michailowna und sah mit qualvollen Augen erst mich, dann ihren Mann an. Ich rang die Hände vor diesem verhängnisvollen Augenblick. Von ihm erwartete ich keine Schonung. „Kurz,“ fuhr Pjotr Alexandrowitsch fort, ... „ich wünsche, daß Sie in der Sache urteilen. Sie haben immer (und ich weiß nicht warum, das ist so eine Ihrer Phantasien), Sie haben immer – noch gestern, zum Beispiel, gedacht, gesagt ... ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ... ich schäme mich dieser Voraussetzungen ... Kurz, Sie haben sie immer verteidigt, und mich angegriffen, Sie warfen mir ungerechtfertigte Strenge vor; Sie haben dabei noch auf ein anderes Gefühl hingewiesen, das mich zu dieser unerlaubten Strenge beeinflusse; Sie ... ja, ich begreife nicht, warum ich meiner Aufregung nicht Herr werden kann, warum ich erröte bei dem Gedanken an Ihre Anspielungen, warum ich sie nicht offen vor ihr auszusprechen vermag ... Kurz, Sie ...“ „Oh, das werden Sie nicht tun! Nein, Sie werden das nicht sagen!“ rief Alexandra Michailowna aus, errötend vor Scham. „Nein, Sie werden sie schonen. Das habe ich, ich, alles ausgedacht! Ich habe jetzt keinen Verdacht mehr. Verzeihen Sie es mir, verzeihen Sie. Ich bin krank, man muß mir verzeihen, nur sagen Sie ihr nichts, nein ... Annjeta, gehe fort von hier, schnell, schnell! Er scherzt; an alledem bin ich schuld; oh, das ist ein böser Scherz ...“ „Kurz, Sie sind auf sie eifersüchtig gewesen,“ warf Pjotr Alexandrowitsch erbarmungslos ihr zur Antwort hin. Sie schrie auf, erbleichte und stützte sich auf den Sessel, kaum noch imstande, sich auf den Füßen zu halten. „Möge Gott Ihnen verzeihen!“ murmelte sie endlich mit schwacher Stimme. „Vergib mir für ihn, Njetotschka, vergib; ich bin an allem schuld. Ich war krank, ich ...“ „Das ist Grausamkeit, Schamlosigkeit, Niedrigkeit!“ rief ich, außer mir, denn ich begriff jetzt alles, alles, begriff vor allem, warum er mich vor den Augen seiner Frau richten wollte. „Das ist nur verachtungswürdig – Sie ...“ „Annjeta!“ rief Alexandra Michailowna, vor Schreck nach mir greifend. „Komödie! Komödie und weiter nichts,“ Pjotr Alexandrowitsch trat in unbeschreiblicher Erregung auf uns zu. „Komödie, sage ich Ihnen,“ während er ununterbrochen mit hämischem Lächeln seine Frau ansah, „und die Betrogene in dieser ganzen Komödie sind nur – Sie. Glauben Sie, daß wir,“ stieß er atemlos hervor und wies auf mich – „solche Erklärungen fürchten; glauben Sie, daß wir noch so dumm sind, beleidigt zu sein und bis an die Ohren zu erröten, wenn man uns von ähnlichen Dingen redet. Entschuldigen Sie bitte, ich drücke mich vielleicht zu einfach, zu aufrichtig, zu grob aus, doch – das muß geschehen. Sind Sie denn noch immer überzeugt, meine Dame, von der ordentlichen Aufführung dieses ... Mädchens?“ „Mein Gott! Was ist Ihnen? Sie vergessen sich!“ murmelte Alexandra Michailowna, halb erstarrt vor Schreck. „Bitte, nicht diese großen Worte!“ unterbrach sie verächtlich Pjotr Alexandrowitsch. „Ich liebe das nicht. Hier liegt die Sache sehr einfach: gemein bis zur höchsten Gemeinheit. Ich frage Sie nach ihrem Betragen: wissen Sie ...“ Doch ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen, ich ergriff ihn an der Hand und zog ihn zur Seite. Nur ein Augenblick und – alles war verloren. „Sagen Sie nichts von dem Brief!“ flüsterte ich ihm zu, „Sie werden sie auf der Stelle vernichten. Ein Vorwurf über mich, wird zugleich ein Vorwurf für sie sein. Sie kann mich nicht verurteilen, denn ich weiß alles ... verstehen Sie, _ich weiß alles_!“ Er sah mich scharf mit durchbohrender Neugier an und – das Blut trat ihm ins Gesicht. „Ich weiß _alles, alles_!“ wiederholte ich. Er schien noch zu zögern. Auf seinen Lippen lag eine Frage. Ich griff vor: „An allem, was geschehen ist –“ sagte ich laut, mich zu Alexandra Michailowna wendend, die uns mit schüchterner, mit trauriger Verwunderung ansah, „bin ich allein schuld. Bereits seit vier Jahren habe ich Sie betrogen. Ich habe den Schlüssel zur Bibliothek genommen und seit vier Jahren lese ich heimlich Bücher. Pjotr Alexandrowitsch hat mich überrascht – bei einem Buch ... das sich nicht in meinen Händen befinden durfte. Aus Sorge um mich hat er die Gefahr vor Ihnen vergrößert! ... Doch, ich will mich nicht verteidigen“ (beeilte ich mich hinzuzufügen, als ich ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen bemerkte): „ich bin an allem schuld. Die Versuchung war stärker als ich, und da es einmal geschehen war, schämte ich mich, es Ihnen zu gestehen ... Das ist alles, fast alles, was zwischen uns vorgefallen ist.“ „O – ho, das ist aber kühn!“ flüsterte neben mir Pjotr Alexandrowitsch. Alexandra Michailowna hörte mir mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein Mißtrauen. Sie sah abwechselnd erst mich, dann ihren Mann an. Es trat Schweigen ein. Ich wagte kaum zu atmen. Sie senkte ihren Kopf auf die Brust und bedeckte die Augen mit der Hand, offenbar um jedes Wort zu erwägen, das ich gesprochen hatte. Endlich hob sie den Kopf und sah mich forschend an. „Njetotschka, mein Kind, ich weiß, du verstehst nicht zu lügen,“ sagte sie. „Ist das nun alles, was geschehen, wirklich alles?“ „Alles,“ antwortete ich. „Alles?“ wandte sie sich fragend an ihren Mann. „Ja, alles,“ antwortete er mit großer Überwindung, „alles!“ Ich atmete auf. „Du gibst mir das Wort, Njetotschka?“ „Ja,“ antwortete ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber ich konnte mich doch nicht beherrschen und blickte auf Pjotr Alexandrowitsch. Er lachte, als er hörte, wie ich mein Wort gab. Ich wurde über und über rot und meine Verwirrung konnte der armen Alexandra Michailowna nicht entgehn. Ein qualvolles Leid drückte sich auf ihrem Gesicht aus. „Genug,“ sagte sie traurig. „Ich glaube euch. Wie sollte ich euch nicht glauben?“ „Ich denke, ein solches Geständnis genügt,“ bemerkte Pjotr Alexandrowitsch. „Sie haben’s gehört? Was glauben Sie wohl?“ Alexandra Michailowna schwieg. Die Situation wurde immer unerträglicher und unerträglicher. „Ich werde morgen alle Bücher durchsehen,“ fuhr Pjotr Alexandrowitsch fort. „Ich weiß nicht, um was es sich dort noch handelte; aber ...“ „Welches Buch las sie denn?“ fragte Alexandra Michailowna. „Welches Buch? Antworten Sie doch,“ wandte er sich an mich. „Sie verstehen es ja besser, die Sache zu erläutern,“ fügte er mit verhaltenem Spott hinzu. Ich verlor meine Fassung und konnte kein Wort mehr hervorbringen. Alexandra Michailowna errötete und schlug die Augen nieder. Es folgte ein langes Schweigen. Pjotr Alexandrowitsch ging geärgert im Zimmer auf und ab. „Ich weiß ja nicht, was zwischen euch vorging,“ begann endlich Alexandra Michailowna, zaghaft jedes Wort aussprechend – „doch wenn das wirklich alles gewesen ist,“ fuhr sie fort, bemüht, jedem Wort einen besonderen Nachdruck zu geben, während sie gleichzeitig vermied, ihn anzusehen, da der unbewegliche Blick ihres Mannes sie immer mehr verwirrte, „wenn es nur das _gewesen ist_, dann weiß ich nicht, warum wir uns so quälen und darüber fast verzweifeln wollen. Schuld daran bin nur ich, ich allein, und das schmerzt mich sehr. Ich habe ihre Erziehung auf mich genommen, ich muß auch für sie verantworten. Sie muß mir daher meine Nachlässigkeit verzeihen. Ich wage es nicht, sie zu verurteilen. Und doch, worüber sollen wir uns jetzt noch aufregen? Die Gefahr ist ja vorüber. Sehen Sie sie doch an: hat ihre unvorsichtige Handlungsweise auch nur irgendwelche Folgen hinterlassen? Als ob ich mein Kind, meine geliebte Tochter nicht kennte? Weiß ich denn nicht, daß ihr Herz rein und edel ist, und daß in diesem lieben Köpfchen,“ fuhr sie fort, indem sie mich zu sich heranzog und mich streichelte, „der Verstand rein und hell ist ... Laßt gut sein, meine Lieben! Hören wir damit auf! Offenbar liegt etwas anderes in unserem Kummer, vielleicht lag auf uns allen nur ein vorübergehender Schatten. Aber wir wollen durch Liebe und durch unser gutes Einvernehmen alle Mißverständnisse zerstreuen. Vielleicht ist vieles unausgesprochen zwischen uns und ich bin vor allem schuld daran. In mir sind zuerst, weiß Gott was für Verdächtigungen aufgestiegen, an denen nur mein armer kranker Kopf schuld ist ... Und ... und, wenn ich sie auch zum Teil schon ausgesprochen habe, so müßt ihr sie mir beide verzeihen, weil ... weil die Sünde doch nicht so groß ist, wenn ich vermutete ...“ Sie errötete und sah schüchtern ihren Mann an und erwartete mit Bangen ein Wort von ihm. Während sie sprach, lag ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen. Er brach seinen Gang durch das Zimmer ab und stellte sich gerade vor sie hin, die Hände auf dem Rücken. Er betrachtete sie in ihrer Erregung und ergötzte sich an ihr; als sie aber seinen unverwandten Blick auf sich ruhen fühlte, wurde sie verwirrt. Er blieb ruhig stehen, als erwartete er noch irgend etwas. Ihre Erregung verdoppelte sich. Endlich unterbrach er diese erdrückende Szene durch ein leises, anhaltendes boshaftes Lachen: „Mir tun Sie leid, arme Frau!“ sagte er endlich, bitter und ernst, nachdem er zu lachen aufgehört hatte. „Sie spielen eine Rolle, der Sie nicht gewachsen sind. Was wollen Sie im Grunde genommen? Sie wollen mir wieder neue Verdächtigungen unterschieben, oder, besser gesagt, die alten Verdächtigungen, die Sie nur mangelhaft in ihren Worten verbergen können. Der Sinn Ihrer Worte ist der, daß kein Grund vorhanden sei, ihr böse zu sein, daß sie rein und gut sei auch nach der Lektüre unsittlicher Bücher, deren Moral – das sage ich von mir aus – bereits etliche Früchte gezeitigt zu haben scheint; und schließlich, daß Sie selber für sie einständen; war es nicht so? Und dann – nachdem Sie das erklärt, deuten Sie noch etwas anderes an. Sie denken, mein Argwohn und meine Feindseligkeit entsprängen einem gewissen anderen Gefühl. Sie deuteten mir gestern sogar an – bitte, unterbrechen Sie mich nicht, ich liebe es, alles offen auszusprechen – Sie deuteten gestern an, daß bei manchen Menschen (nach Ihrer Bemerkung, wenn ich mich recht erinnere, wären diese Leute in der Regel gesetzte, ernste, gerade, kluge, starke Menschen und Gott weiß was für Vorzüge Sie Ihnen in einer Anwandlung von Großmut noch gaben!), daß bei gewissen Menschen also, sage ich, die Liebe (und Gott weiß wozu Sie sich das ersannen!) sich auch gar nicht anders äußern könne, als eben schroff, heftig, verletzend, oft mit Argwohn und Feindseligkeit gepaart. Übrigens entsinne ich mich nicht mehr genau, ob Sie sich gerade mit diesen Worten ausdrückten ... Bitte, unterbrechen Sie mich nicht; ich kenne Ihren Zögling ausgezeichnet: sie darf bereits alles hören, alles, wiederhole ich Ihnen zum hundertsten Mal, – alles! Sie sind betrogen. Doch ich begreife nicht, warum es Ihnen beliebt, auf der Behauptung zu bestehen, daß gerade ich solch ein Mensch sei! – weshalb Sie gerade mich mit diesem Narrenhemd aufputzen wollen! Liebe zu diesem jungen Mädchen steht meinen Jahren nicht mehr an; ja und schließlich kann ich Sie versichern, meine Gnädigste, daß _ich weiß, was meine Pflicht ist_, und wie großmütig Sie mich auch entschuldigen wollten, ich bleibe dabei, was ich gesagt habe: _daß ein Verbrechen immer ein Verbrechen, eine Sünde immer eine Sünde, immer eine schmutzige, ehrlose Schandtat sein wird, auf welche Stufe der Größe und Herrlichkeit Sie das lasterhafte Gefühl auch erheben mögen_! Doch genug! Genug davon! Und daß mir nichts mehr von diesen Schändlichkeiten zu Ohren kommt!“ Alexandra Michailowna weinte. „Mag das mir gesagt sein, mag ich das verdient haben und tragen – ich will’s ja!“ sagte sie, indem sie mich unter Schluchzen umarmte. „Mögen meine Vermutungen schlecht und schändlich gewesen sein, daß Sie so grausam über sie spotten können! Aber du, mein armes Kind, wofür bist du verurteilt, solche Kränkungen zu hören? Und ich kann dich nicht einmal beschützen! Ich muß stumm sein! Mein Gott! – nein! ich kann nicht schweigen, das können Sie nicht von mir verlangen! Ich ertrage es nicht ... Ihr Benehmen ist widersinnig! ...“ „Lassen Sie, lassen Sie, beruhigen Sie sich nur!“ redete ich ihr flüsternd zu, um sie in ihrer Aufregung zu beschwichtigen, denn ich fürchtete, daß Vorwürfe von ihr ihn um seine letzte Beherrschung bringen würden. „Aber Sie blindes Weib! ...“ rief er denn auch heftig, „Sie wissen ja nicht, Sie sehen ja nicht ...“ Er stockte einen Augenblick. „Fort von ihr!“ befahl er heftig und riß meine Hand aus den Händen Alexandra Michailownas. „Ich gestatte Ihnen nicht, meine Frau zu berühren! Ihre Berührung besudelt! Ihre Anwesenheit ist eine Beleidigung für sie! Aber ... ja aus welchem Grunde soll ich schweigen, wo doch alles ausgesprochen werden muß!“ rief er, mit dem Fuß stampfend. „Und ich werde es sagen, ich werde alles sagen. Ich weiß nicht, was Sie da _wissen_, mein gnädiges Fräulein, und womit Sie mir drohen wollten, und ich will es auch nicht wissen. So hören Sie denn ...“ fuhr er fort, sich an Alexandra Michailowna wendend. „Schweigen Sie!“ rief ich, und ich hätte mich fast auf ihn gestürzt, „schweigen Sie! Sie sagen kein Wort!“ „So hören Sie denn ...“ „Schweigen Sie!! Im Namen ...“ „Im Namen wessen, mein Fräulein?“ griff er das Wort blitzschnell auf und sah mir eine Sekunde lang durchdringend in die Augen. „Im Namen wessen? ... So hören Sie denn – ich habe ihr einen Brief ihres Geliebten entrissen! Jetzt wissen Sie, was in unserem Hause geschieht! Nun haben Sie es gehört, was unmittelbar neben Ihnen sich zuträgt! Das war es, was Sie nicht gesehen, nicht bemerkt haben!“ Ich hielt mich kaum auf den Füßen. Alexandra Michailowna wurde totenblaß. „Das kann nicht sein,“ stammelte sie, kaum hörbar. „Ich habe diesen Brief gesehen, ich habe ihn in der Hand gehabt und die ersten Zeilen gelesen – von einer Täuschung kann also keine Rede sein. Der Brief war von einem Geliebten. Sie entriß ihn mir und jetzt ist er wieder in ihrem Besitz. Die Sache ist so klar, sie liegt ja auf der Hand! Und wenn Sie noch zweifeln, so sehen Sie sie doch nur an und dann versuchen Sie, auch nur auf den Schatten eines Zweifels noch zu hoffen!“ „Njetotschka!“ schrie Alexandra Michailowna plötzlich auf. „Nein, nein, sag’ nichts, sprich nichts! Ich weiß nicht, was gewesen ist, was ... wie ... mein Gott, mein Gott!“ Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte. „Nein! Das ist nicht möglich!“ rief sie wieder. „Sie haben sich geirrt. Das ... das ... ich weiß, was das bedeutet!“ sagte sie plötzlich langsam, während sie ihren Mann mit unverwandtem Blick ansah. „Sie ... ich ... konnte nicht, – nein, du wirst mich nicht betrügen, du kannst mich nicht betrügen! Erzähl’ mir alles, sag’ mir alles: er hat sich doch geirrt? Ja, nicht wahr, er hat sich geirrt? Er hat etwas anderes gesehen, er war verblendet? Ja, nicht wahr? Nicht wahr? Höre: warum solltest du mir nicht alles sagen, Annjeta, mein Kind, mein liebes Kind?“ „Antworten Sie, antworten Sie schnell!“ ertönte über mir die Stimme Pjotr Alexandrowitschs. „Antworten Sie: habe ich oder habe ich nicht den Brief in Ihren Händen gesehen?“ „Ja!“ antwortete ich atemlos vor Aufregung. „Dieser Brief war von Ihrem Geliebten?“ „Ja!“ „Mit dem Sie auch jetzt in Verbindung stehen?“ „Ja, ja, ja!“ sagte ich schon außer mir, bestätigte alles blindlings, nur um unserer Qual ein Ende zu machen. „Haben Sie gehört? Nun, und was sagen Sie jetzt! Glauben Sie mir, Sie mit Ihrem guten, allzu vertrauensseligen Herzen,“ fügte er hinzu und nahm die Hand seiner Frau, „glauben Sie mir und sehen Sie Ihren Irrtum ein, – Ihren Irrtum in allem, was Ihre kranke Phantasie Ihnen vorgegaukelt hat. Sie sehen jetzt, wer dieses ... Mädchen ist. Ich wollte nur Ihre Vermutungen ^ad absurdum^ führen. Ich habe das alles schon längst bemerkt und es freut mich, daß ich sie endlich vor Ihnen entlarvt habe. Es war mir schwer, sie neben Ihnen zu sehen, in Ihren Armen, an einem Tisch mit uns, ja, in meinem Hause. Und Ihre Blindheit empörte mich. Deshalb, und zwar nur deshalb, schenkte ich ihr überhaupt meine Aufmerksamkeit und beobachtete sie; und diese Aufmerksamkeit haben Sie bemerkt; und nachdem Sie Gott weiß was für einen Verdacht als Grund angenommen, haben Sie dann auf dieser Grundlage in Ihrer Einbildung weitergebaut. Doch jetzt ist die Sache aufgeklärt, alle Zweifel sind widerlegt, und morgen, mein Fräulein, morgen noch werden Sie nicht mehr in meinem Hause sein!“ schloß er, sich an mich wendend. „Halten Sie ein!“ sagte Alexandra Michailowna und sie erhob sich. „Ich traue dieser ganzen Szene nicht. Sehen Sie mich nicht so zornig an, lachen Sie nicht über mich. Ich rufe Sie selbst zum Richter auf, ich will nur meine Meinung sagen. Annjeta, mein Kind, komm zu mir, gib mir deine Hand, so. Niemand ist ohne Fehl, wir sind alle sündig!“ sagte sie mit einer Stimme, in der Tränen zitterten, und sie sah gleichsam demütig zu ihrem Mann auf. „Und wer von uns darf jemandes Hand von sich stoßen? Gib mir doch deine Hand, Annjeta, mein liebes Kind! Ich bin nicht würdiger, nicht besser als du; du kannst mich nicht durch deine Gegenwart kränken, denn ich bin gleichfalls, _gleichfalls eine Sünderin_.“ „Meine Gnädigste!“ rief Pjotr Alexandrowitsch betroffen. „Was reden Sie! Vergessen Sie nicht! ...“ „Ich vergesse nichts. Unterbrechen Sie mich nicht, lassen Sie mich zu Ende sprechen. Sie haben in ihren Händen einen Brief gesehen, Sie haben ihn sogar gelesen; Sie sagen – und sie ... hat gestanden, daß dieser Brief von demjenigen sei, den sie liebt. Aber beweist denn das, daß sie sich vergangen habe? Gibt Ihnen denn das schon das Recht, sie so zu behandeln, sie so in Gegenwart Ihrer Frau zu beleidigen? Ja, mein Herr, in Gegenwart Ihrer Frau? Haben Sie denn schon alles ergründet? Wissen Sie denn schon, wie sich das alles verhält?“ „Ja was! – jetzt soll ich sie wohl noch um Verzeihung bitten? Ist es das, was Sie wollen?“ rief Pjotr Alexandrowitsch wütend. „Ich danke, ich habe die Geduld verloren über Ihrem Gerede! Und wissen Sie überhaupt, von wem Sie reden, was und _wen_ Sie verteidigen? Ich durchschaue doch alles ...“ „Und sehen doch nicht einmal die Hauptsache, weil Ihr Zorn und Ihr Stolz Sie blenden. Sie sehen das nicht, was ich verteidige und wovon ich rede. Nicht das Laster verteidige ich. Doch haben Sie auch bedacht – und das werden Sie einsehen, sobald Sie nachdenken – haben Sie bedacht, daß sie vielleicht wie ein Kind unschuldig und unwissend ist! Noch einmal, nicht das Laster verteidige ich! Ich beeile mich, mich zu rechtfertigen, wenn Ihnen das erwünscht ist. Ja, wenn sie Gattin, wenn sie Mutter wäre und ihre Pflichten vergessen hätte –, dann würde ich Ihnen beistimmen ... Sie sehen, ich rechtfertige mich. So vergessen Sie das nicht und machen Sie mir keine Vorwürfe! Wenn sie aber diesen Brief erhalten hat, ohne etwas Böses zu ahnen? Wenn sie sich in ihrer Unerfahrenheit nur von einem großen Gefühl hat verleiten lassen und weil sie keinen Menschen fand, der sie zurückgehalten hätte? Wenn vielleicht gerade mich die größte Schuld trifft, weil ich ihr Herz nicht behütet habe? Wenn dieser Brief der erste war? Wenn Sie mit Ihrem rohen Verdacht ihr mädchenhaft reines Empfinden verletzt haben? Wenn Sie ihre jugendliche Phantasie mit Ihren zynischen Reden und Bemerkungen über diesen Brief beschmutzt haben? – wenn Sie nicht sehen oder nicht sehen wollen, daß in diesem keuschen mädchenhaften Antlitz nichts als Reinheit und Unschuld ist und bange mädchenhafte Scham, – die Scham, die ich jetzt erkenne, die ich auch dann erkannte, als sie wie verloren in dieser Pein nicht wußte, was sie sagte, und in ihrer Herzensangst auf alle Ihre unmenschlichen Fragen mit diesem ‚Ja, ja, ja!‘ antwortete. Das war unmenschlich von Ihnen, das war grausam; ich erkenne Sie nicht wieder; das werde ich Ihnen niemals, niemals verzeihen!“ „Ach, erbarmen Sie sich, erbarmen Sie sich!“ rief ich beschwörend, und ich drückte sie mit meinen Armen fest an mich. „Hören Sie auf, glauben Sie mir, verstoßen Sie mich nicht ...“ Ich fiel vor ihr auf die Knie. „Und wenn,“ fuhr sie atemlos fort, „wenn nun ich nicht bei ihr wäre, wenn Sie sie mit Ihren Worten erschreckt hätten und die Arme jetzt selbst glaubte, sie sei schuldig, wenn Sie ihr Gewissen, ihre Seele verwirrt, die Ruhe ihres Herzens zerstört hätten ... Mein Gott! Und Sie wollten sie aus dem Hause jagen! Aber wissen Sie denn nicht, mit wem man das tut? Sie wissen, daß Sie, wenn Sie sie aus dem Hause jagen, dann uns beide, uns zusammen fortjagen, – mich gleichfalls. Haben Sie gehört, mein Herr?“ Ihre Augen blitzten, ihre Brust arbeitete schwer; ihre krankhafte Erregung steigerte sich bis zur letzten Krisis ... „Jetzt habe ich aber wahrlich genug gehört, meine Gnädigste!“ rief Pjotr Alexandrowitsch, „genug davon! Ich weiß, es gibt platonische Leidenschaften – und weiß das zu meinem Verderben, meine Gnädigste! Hören Sie? – zu meinem Verderben! Aber ich bedanke mich dafür, mit diesem vergoldeten Laster unter einem Dach zu leben! Ich verstehe es nicht. Und deshalb – fort mit ihm! Und wenn Sie sich schuldig fühlen, wenn Sie sich irgendeiner Schuld bewußt sind (nicht an mir ist es, Sie zu erinnern, meine Gnädigste), wenn Ihnen der Gedanke gefällt, mein Haus zu verlassen ... so bleibt mir nichts weiter übrig, als zu sagen, als Sie daran zu erinnern, daß Sie bedauerlicherweise vergessen haben, Ihre Absicht auszuführen, als es die rechte Zeit war, die eigentliche Zeit, vor Jahren, schon vor ... sollten Sie das Datum vergessen haben, so kann ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen ...“ Ich sah sie an. Sie stützte sich krampfhaft auf mich, vergehend vor Seelenschmerz, die Augen halb geschlossen, in unmenschlicher Qual. Noch ein Moment – und sie wäre hingefallen. „Oh, um’s Himmels willen, haben Sie wenigstens diesmal Erbarmen! Sagen Sie nicht das letzte Wort!“ rief ich außer mir und warf mich Pjotr Alexandrowitsch zu Füßen, ohne daran zu denken, was ich tat: doch – es war schon zu spät. Nur ein leiser Schrei ertönte als Antwort auf meine Worte und die Arme fiel bewußtlos hin. „Da! Sie haben sie getötet!“ sagte ich. „Rufen Sie zu Hilfe, retten Sie sie! – Ich erwarte Sie in Ihrem Kabinett. Ich muß mit Ihnen sprechen: ich werde Ihnen alles sagen ...“ „Ja, was? Ja, was denn?“ „Später!“ Die Ohnmacht dauerte zwei Stunden. Das ganze Haus war in Aufregung. Der Arzt schüttelte zweifelnd das Haupt. Nach zwei Stunden ging ich ins Kabinett zu Pjotr Alexandrowitsch. Er war soeben erst von seiner Frau gekommen. Jetzt ging er im Zimmer auf und ab, biß sich die Lippen fast blutig und sah bleich und verstört aus. Ich hatte ihn noch nie so gesehen. „Was wollen Sie mir denn sagen?“ fragte er mich schroff. „Sie sagten vorhin ...!“ „Hier ist der Brief, den Sie mir entrissen. Sie erkennen ihn doch?“ „Ja.“ „Nehmen Sie ihn.“ Er nahm den Brief und führte ihn ans Licht. Ich beobachtete ihn aufmerksam. Nach wenigen Sekunden drehte er den Brief hastig um und sah nach der Unterschrift. Ich sah, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. „Was ist das?“ fragte er mich starr vor Betroffenheit. Ich blieb ihm die Antwort nicht schuldig. „Vor drei Jahren fand ich diesen Brief in einem Buch. Ich erriet, daß er vergessen war, las ihn und – erfuhr alles. Ich behielt ihn, denn ich wußte niemanden, dem ich ihn hätte geben können. Ihr konnte ich ihn nicht geben. Ihnen? Doch Ihnen konnte der Inhalt dieses Briefes nicht unbekannt sein, er aber enthält die ganze traurige Lebensgeschichte ... Welchen Zweck nun Ihre Verstellung hatte – das weiß ich nicht –, das ist mir vorläufig noch unklar. Noch durchschaue ich Ihre dunkle Seele nicht ganz. Sie wollten Ihre Überlegenheit bewahren – und das ist Ihnen denn auch gelungen. Aber wozu? Um über ein Wahnbild den Sieg davonzutragen, um über eine Kranke zu herrschen, um ihr zu beweisen, daß sie sich verirrt habe und daß Sie dagegen _sündlos_ vor ihr ständen! Und Sie haben Ihren Zweck erreicht, denn dieser Verdacht ist – zur fixen Idee eines erlöschenden Geistes geworden, ist vielleicht die letzte Klage eines gebrochenen Herzens über die Ungerechtigkeit des Urteils der Menschen, mit dem Sie übereinstimmten. ‚Was ist denn dabei Schlimmes, daß Sie mich liebten?‘ Das war es, was sie sagte, das wollte sie Ihnen beweisen. Aber Ihr Stolz, Ihr eifersüchtiger Egoismus waren unbarmherzig. Leben Sie wohl. Weitere Erklärungen sind nicht nötig! Aber nehmen Sie sich in acht, ich kenne Sie jetzt, ich durchschaue Sie, vergessen Sie das nicht!“ Ich ging auf mein Zimmer – fast bewußtlos. An der Türe hielt mich Owroff, der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs, auf. „Ich habe mit Ihnen zu sprechen,“ sagte er mit einer höflichen Verbeugung. Ich sah ihn an und begriff nicht gleich, was er sagte. „Später, entschuldigen Sie mich, ich fühle mich nicht wohl,“ sagte ich schließlich und ging an ihm vorbei. „Also dann morgen,“ sagte er und machte seine Verbeugung mit einem zweideutigen Lächeln. Vielleicht schien es mir aber auch nur so? Es war fast wie eine Vision, die vor meinen Augen flüchtig auftauchte ... Der Bettelknabe Kinder sind ein seltsames Volk: sie drängen sich in Träume und Gedanken. Vor Weihnachten und dann wieder am Christabend selbst begegnete mir regelmäßig an einer bestimmten Straßenecke ein kleiner Knabe, der gewiß nicht älter war als, sagen wir, etwa siebenjährig. Trotz der grimmigen Kälte war er fast sommermäßig gekleidet, doch um den Hals war ihm irgendein altes abgetragenes Zeug gewickelt – also mußte ihn doch jemand ausrüsten, bevor er hinausgeschickt wurde. – Er ging „mit dem Händchen“: so lautet der technische Ausdruck und er bedeutet – betteln. Den Ausdruck haben diese Knaben selbst erfunden. Solcher Knaben, wie er, gibt es eine Menge, sie laufen einem überall in den Weg und jammern etwas Auswendiggelerntes; dieser aber jammerte nicht und sprach auch gewissermaßen unschuldig und außergewöhnlich, und seine Augen sahen mich voll Vertrauen an – also mußte er noch ein Anfänger sein. Auf meine Fragen antwortete er, daß er eine Schwester habe; sie sitze ohne Arbeit und sei krank. Vielleicht sagte er die Wahrheit, nur erfuhr ich später, daß es solcher Knaben unzählige gibt; sie werden „mit dem Händchen“ auf die Straße geschickt, auch in der fürchterlichsten Kälte, und wenn sie nichts erbetteln, so setzt es natürlich Hiebe. Hat der Knabe ein paar Kopeken eingesammelt, dann kehrt er mit frosterstarrten Händen in irgendeinen Kellerraum zurück, wo irgendeine Bande säuft – eine von jenen, die, wie es heißt, „Sonnabends nach Arbeitschluß in den Fabriken den Sonntag zu feiern anfangen und nicht vor dem Mittwochabend zur Arbeit zurückkehren“. Dort, in den Kellern, trinken mit ihnen auch ihre hungernden und geprügelten Weiber, dort schreien auch ihre hungrigen kleinen Kinder nach der Mutterbrust. Schnaps und Schmutz und Ausschweifung, aber vor allem – Schnaps: die sind dort zu finden. Mit den erbettelten Kopeken wird der Knabe sogleich in die nächste Schenke geschickt und muß ihnen noch mehr Schnaps bringen. Zum Scherz gießen sie dann auch ihm das Feuerwasser in den Mund und gröhlen vor Lachen, wenn es ihm den Atem verschlägt und er in die Knie bricht und fast erstickt an der Abscheulichkeit, über der ihm Hören und Sehen vergeht. „... und in den Mund das Greuliche Erbarmungslos mir goß ...“[3] Ist er ein wenig herangewachsen, so wird er in eine Fabrik gesteckt, doch alles, was er erarbeitet, muß er wieder in den Keller bringen, und jene setzen das Geld weiter in Branntwein um. Doch schon bevor sie in die Fabrik kommen, sind diese Kinder kleine Verbrecher. Sie durchstreifen die Stadt und kennen die verschiedensten Schlupfwinkel in Kellern und Schuppen und auf Höfen, wo man unbemerkt nächtigen kann. Hat doch ein Kleiner bei einem Hofknecht mehrere Nächte in einem Holzkorb geschlafen, ohne daß der Knecht es gewahr wurde. In erster Linie sind sie natürlich kleine Diebe. Das Stehlen wird bei ihnen zur Leidenschaft, sogar bei Achtjährigen, und nicht selten ohne jedes Bewußtsein von dem Verbrecherischen der Tat. Zu guter Letzt lernen sie alles ertragen – Hunger, Kälte, Schläge – nur für das eine: für ihre Freiheit, und bald laufen sie von ihren Aussaugern fort, um dann schon von sich aus, aus eigenem Antriebe und zum eigenen Vergnügen zu vagabundieren. Solch ein junger Wildling weiß oft so gut wie nichts, weder in welchem Lande er wohnt, zu welcher Nation er gehört, ob es einen Gott gibt, einen Zaren; ja man erzählt sogar solche Unwissenheit von ihnen, daß man es nicht glauben will – und dennoch sind dies alles Tatsachen. Der Knabe im Himmel zum Christfest. Doch ich bin ein Schriftsteller, und ich glaube, diese „Geschichte“ habe ich selbst erfunden. Da schreibe ich: „ich glaube“, und weiß doch genau, daß ich sie selber erfunden habe; aber es scheint mir die ganze Zeit, daß sie irgendwo irgendwann wirklich geschehen sei und zwar gerade am Christabend in _irgendeiner_ großen, großen Stadt und bei grimmiger Kälte. Ich sehe einen Knaben, aber einen noch ganz kleinen, etwa von sechs Jahren oder noch jünger. Dieser kleine Knabe erwachte an jenem Tage in einem feuchten und kalten Keller. Er hatte nur ein altes Kittelchen an und zitterte vor Kälte. Er sah seinen Atem, der wie weißer Dampf seinem Munde entströmte, und da es langweilig war, auf dem Koffer im Winkel zu sitzen, so hauchte er absichtlich diesen Atem recht stark heraus und sah dann zu, wie der Dampf sich ballte und verschwand. Aber er hatte Hunger und wollte etwas essen. Er war seit dem Morgen schon mehrmals zu der Lagerstätte gegangen, wo auf einem alten, wie eine Hand dünnen Schlafsack, irgendein Bündel als Kissen unter dem Kopf, seine kranke Mutter lag. Wie sie hierher kam? Vermutlich war sie mit ihrem Knaben aus einer anderen Stadt gekommen und hier erkrankt. Die Winkelvermieterin des Kellers war schon vor zwei Tagen von der Polizei abgeführt worden; und die anderen Winkelmieter hatten sich verlaufen, nur einer von ihnen lag dort seit vierundzwanzig Stunden, noch bevor die Feiertage anbrachen – schon stocksteif besoffen. In einem anderen Winkel ächzte vor Rheumatismus eine Achtzigjährige, die irgendeinmal irgendwo als Kinderfrau gelebt hatte, jetzt aber einsam und stöhnend auf den Tod wartete; sie brummte und schalt immer auf den Knaben, so daß dieser sich fürchtete, ihrem Winkel zu nah zu kommen. Auf dem Flur fand er etwas zu trinken, aber eine Brotkruste war nirgends zu finden, und wohl zum zehnten Mal versuchte er, seine Mutter aufzuwecken. Ihm wurde schließlich bange in der Dunkelheit: es war schon längst dunkel geworden, doch niemand machte Licht. Als seine Hand das Gesicht seiner Mutter berührte, wunderte er sich, daß es so kalt war wie die Wand. „Das ist hier aber mal kalt!“ dachte er, sann ein Weilchen, während seine Hand unbewußt auf der Schulter der Toten ruhte, dann hauchte er auf seine Fingerchen, um sie zu wärmen, und dabei fiel ihm sein Mützchen ein, das auf seinem Lager lag; das setzte er sich auf den Kopf – und plötzlich kam es ihm in den Sinn, den Kellerraum zu verlassen, und er ging tastend zur Tür. Er wäre vielleicht sogar schon früher aus dem Keller gegangen, aber er fürchtete den großen Hund, der ihm oben den Ausgang versperrte und die ganze Zeit kläffte. Jetzt war es still, der Hund war nicht zu sehen, und eh’ er sich dessen versah, stand der Kleine auf der Straße. O Gott! Was war das für eine Stadt! Noch nie hatte er Ähnliches gesehen! Dort, von wo er mit der Mutter gekommen war, war es so finster in der Nacht: auf eine ganze Straße kam nur eine einzige Laterne. Die Fenster der niedrigen Häuser wurden abends mit Läden verschlossen; auf der Straße war, sobald nur die Dämmerung sank, niemand mehr zu sehen, alle schlossen sich in den Häusern ein und nur die Hunde, die es zu Hunderten und Tausenden gab, bellten und heulten die ganze Nacht. Doch dafür war es dort warm und man gab ihm zu essen, hier aber – ach, wenn er nur etwas zu essen bekäme! Und was ist das nur für ein Lärm und Gesumm, und wieviel Licht und Menschen und Pferde und Wagen – und die Kälte, die Kälte! Aus den Nüstern der heißgejagten Tiere strömt weißer Dampf, durch den weichen lockeren Schnee schlagen die Hufe zuweilen hellklingend auf das Steinpflaster, und wie die Menschen sich alle drängen, und, lieber Gott, wie gern er etwas essen würde, wenn auch nur ein kleines Stückchen, gleichviel was, und die Fingerchen schmerzten so sehr. An ihm vorbei ging ein Hüter der Ordnung und wandte sich ab, um den Knaben nicht zu bemerken. Und da ist wieder eine andere Straße – oh, und wie breit sie ist! Hier ist es aber wirklich schön! Wie sie doch alle lärmen und laufen und fahren, und Licht, wieviel Licht hier ist! Aber was ist denn das? Oh – was für ein großes Fenster, und hinter dem Fenster ist ein Zimmer, ein großes Zimmer, und in diesem Zimmer ist ein Baum bis an die Decke, ein Christbaum, eine große Tanne, und an der flimmern so viele Flämmchen, so viele goldene Sachen, und hängen Äpfel, und ringsum sind lauter Püppchen und Pferdchen, und Kinder laufen im Zimmer umher und alle sind sie so festlich angekleidet, so sauber und schön, und sie lachen und spielen und trinken und essen schönes, schönes Naschwerk. Und dort tanzt jetzt ein kleines Mädchen mit einem kleinen Knaben – was für ein schönes kleines Mädchen! Und da hört man auch Musik, durch das Fenster mit den großen Scheiben hört man sie ganz deutlich. Und der kleine Junge schaut und wundert sich und schon lacht er, und doch schmerzen ihm schon seine Füßchen und Zehen, und die Fingerchen an den Händen sind schon ganz rot, schon wollen sich die Gelenke nicht mehr biegen und das Bewegen tut weh, nur denkt er jetzt nicht daran. Aber dann spürt er plötzlich doch wieder, daß ihm die Händchen so schmerzen, und er fängt an zu weinen und läuft weiter, und wieder sieht er durch ein Fenster ein Zimmer und dort sind mehrere solcher Bäume, aber nicht so große, und auf den Tischen sind lauter Kuchen und Kuchen, rote und gelbe und weiße und braune und hinter dem langen Tisch stehen vier reich gekleidete Damen, und jedem, der an den Tisch kommt, geben sie von ihren schönen Kuchen, die Tür aber öffnet sich jeden Augenblick und viele Menschen gehen von der Straße zu ihnen hinein. Der Knabe steht und guckt, und wie die Tür sich wieder öffnet, da schlüpft auch er hinein. Ach! wie man ihm böse ist, ihn anschreit und fortjagt! Eine von den Damen kommt schnell auf ihn zu, gibt ihm eine Kopeke und dann öffnet sie selbst die Tür und schickt ihn hinaus auf die Straße. Wie er erschrak! Die Kopeke aber fiel ihm gleich aus der Hand, und schlug klingend auf die Treppenstufe: er konnte seine blauroten Fingerchen nicht mehr biegen, um das Geld zu halten. Und der Knabe läuft auf die Straße und geht schnell weiter – so schnell er kann, aber wohin, das weiß er nicht. Er möchte auch wieder weinen, aber er wagt es nicht, und er läuft und läuft und haucht auf die Fingerchen. Und so traurig wird er, so bitter traurig darüber, daß er sich so allein und verlassen fühlt, und eine Bangigkeit will über ihn kommen, doch plötzlich – ja was ist das? was ist denn da wieder zu sehen? Da stehen die Menschen dicht gedrängt und staunen: hinter den Scheiben eines großen Fensters stehen drei kleine Puppen in roten und grünen Kleidchen und sind ganz, ganz wie lebendig! Und ein alter kleiner Mann sitzt dort und spielt auf einer großen Geige, oder es sieht wenigstens so aus, als spiele er, und noch zwei andere stehen dort und spielen auf kleinen Geigen und nicken dazu im Takt mit den Köpfen und sehen einander an, und ihre Lippen bewegen sich, als ob sie sprächen – nur hört man das eben nicht durch die Fensterscheiben. Zuerst dachte der Knabe, daß sie alle wirklich lebendig seien, als er aber dann erriet und sich überzeugte, daß es „nur Püppchen“ waren – da mußte er lachen. Er hatte so etwas noch nie gesehen und gar nicht gewußt, daß es solche Püppchen gab! Und er will doch auch weinen, aber zugleich muß er lachen – lachen über die Püppchen. Plötzlich fühlt er, daß ihn jemand hinterrücks am Schlafittchen packt: ein großer böser Bube steht hinter ihm und haut ihn plötzlich auf den Kopf, reißt ihm das Mützchen ab und versetzt ihm von unten einen Stoß mit dem Fuß. Der Kleine fällt hin, doch da schreit schon alles und schilt, daß ihm angst und bange wird und er aufspringt und fortläuft und läuft – bis er gar nicht mehr weiß, wo er ist. Und da kriecht er unter einem Hoftor auf einen fremden Hof und hockt dort hinter einem Holzstapel hin: „Hier wird man mich nicht finden und es ist auch dunkel!“ denkt er. Und so hockt er ganz still und kauert sich zusammen und kann kaum noch atmen vor Angst, und plötzlich, ganz plötzlich wird ihm so wohl: die Füßchen und Händchen schmerzen nicht mehr und ihm wird so warm, so warm wie auf dem Ofenbänkchen. Da fährt er auf einmal zusammen: ach, er wäre ja fast eingeschlafen! Wie gut es hier einzuschlafen ist: „Ich werd’ hier noch ein Weilchen sitzen und dann gehe ich wieder zu den Püppchen,“ denkt er und lächelt bei dem Gedanken an sie: „ganz wie lebendig sind sie ...!“ Und dann ist es ihm, als höre er auf einmal seine Mutter singen, ganz leise, daß er es kaum hören kann, aber er hört es doch. „Mama, ich schlafe! – ach, wie ist es hier schön zu schlafen!“ „Komm zu mir, mein Knabe, zum Christbaum, es ist Weihnacht, Kind,“ flüsterte über ihm eine leise Stimme. Er denkt, das wäre nun seine Mama, aber nein, das ist nicht sie! Doch wer rief ihn denn? – das sieht er nicht, aber jemand beugt sich über ihn und umfängt ihn in der Dunkelheit; und er streckt ihm die Hand entgegen und ... und plötzlich – oh, wieviel Licht! Oh, welch ein Christbaum! Das war – oh, solche Bäume hatte er noch gar nicht gesehen! Wo ist er jetzt – es leuchtet und strahlt alles um ihn und soviel schöne Puppen überall – doch nein, das sind ja alles kleine Knaben und Mädchen, nur sind sie alle so leicht, alle umringen sie ihn, sie schweben, sie küssen ihn, sie nehmen und tragen ihn mit sich fort, und da fühlt er, daß er auch schon schwebt und dort: ja dort ist seine Mama und sie nickt und lächelt ihm selig zu. „Mama! Mama! Ach, wie ist es hier schön, Mama!“ ruft der Knabe und er umarmt die Kinder und will ihnen schnell alles von den Püppchen, die er hinter dem Fenster gesehen, erzählen. „Ach, wer seid ihr, Jungen? und wer seid ihr, Mädchen?“ fragt er sie lachend und hat sie alle schon so lieb. „Es ist hier Weihnacht beim Christkind,“ antworteten sie ihm, „dann ist hier im Himmel immer ein Christfest für all die kleinen Kinder, die auf Erden keinen Christbaum haben ...“ Und er erfährt, daß alle die Knaben und Mädchen einst auf Erden ebensolche Kinder waren, wie er, nur daß die einen schon kaum geboren als Findlinge in den Körben starben, in denen sie auf die steinernen Treppen vor den Türen der Petersburger Beamten ausgesetzt wurden, daß die anderen bei finnischen Bäuerinnen erstickten, an die sie vom Findelhaus zur Erziehung gegeben waren; daß wieder andere an den ausgezehrten Brüsten ihrer Mütter starben (während der Hungersnot in Ssamara), und wieder andere in Waggons dritter Klasse an der verpesteten Luft, und alle waren sie jetzt hier, alle waren sie jetzt Engel beim Christkind und er selbst war unter ihnen und hieß sie zu ihm kommen und segnete sie und ihre sündigen Mütter ... Die Mütter aber dieser Kinder stehen auch dort, nur abseits, und weinen: und eine jede erkennt ihren Knaben oder ihr Mädchen, und die schweben zu ihnen und küssen sie, wischen ihnen die Tränen mit ihren Händchen von den Wangen und bitten sie, nicht zu weinen, denn sie hätten es jetzt so gut ... * * * * * Unten auf Erden aber fanden am nächsten Morgen Hofknechte hinter einem Holzstapel die kleine Leiche eines erfrorenen Knaben. Man fand auch seine Mutter. Die war schon vor ihm gestorben. Im Himmel sahen sie einander wieder. Wozu ich eine solche Geschichte nur erfunden habe, die so gar nicht in das gewöhnliche, vernünftige „Tagebuch“ paßt! Zudem habe ich versprochen, ausschließlich oder doch fast nur von wirklichen Begebenheiten zu erzählen! Aber – nun ja, das ist es eben: es scheint mir, es ist mir doch, als hätte das wirklich alles so sein können – ich meine das, was im Keller und hinter dem Holzstapel geschah, jenes andere aber, von der Christnacht im Himmel –, ja da weiß ich nun nicht, was ich Ihnen sagen soll, ob das auch wirklich so hätte sein können oder – nicht? Doch dazu bin ich ja Dichter, um es zu wissen. Fußnoten [1] Der größte Held der russischen Volksdichtung, ein Bauernsohn aus dem Dorf Karatscharowo, wo er gelähmt in der Hütte der Eltern sitzt, bis vorüberziehende Bettler (mythische Gestalten) ihn durch Zauber heilen. E. K. R. [2] Diminutiv von Katjä. E. K. R. [3] Strophe aus einem Gedicht von Nekrassoff, das das Leben eines ähnlichen Knaben zum Gegenstand hat. E. K. R. Anmerkungen zur Transkription. Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach: F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung: Zweiundzwanzigster Band R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1912. Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt. Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): Katjä (Kätja) Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): [S. 275]: ... Tages kaum aus Moskau die Nachricht, daß der ... ... Tages kam aus Moskau die Nachricht, daß der ... [S. 286]: ... atmetet tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar abgerissene ... ... atmete tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar abgerissene ... *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 22: EIN KLEINER HELD *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state’s laws. The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation’s website and official page at www.gutenberg.org/contact Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine-readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit www.gutenberg.org/donate. While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. 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