Westmark : Roman aus dem Elsaß

By Friedrich Lienhard

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Title: Westmark

Author: Friedrich Lienhard

Release date: September 20, 2024 [eBook #74449]

Language: German

Original publication: Stuttgart: Türmer-Verlag Greiner und Pfeiffer

Credits: Peter Becker, Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK WESTMARK ***



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                    Anmerkungen zur Transkription:

Das Original ist in Fraktur gesetzt; offensichtliche Druckfehler
sind stillschweigend korrigiert worden. Ungewöhnliche und heute
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Zur besseren Übersicht wurde das Inhaltsverzeichnis vom Bearbeiter
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Für die verschiedene Schriftformen sind folgende Zeichen benutzt worden:

    =antiqua gedruckter Text=    ~gesperrt gedruckter Text~

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                               Westmark

                          Roman aus dem Elsaß

                                  Von

                          Friedrich Lienhard


                              60. Auflage

                            [Illustration]

                               Stuttgart


                   Verlagsanstalt Greiner & Pfeiffer

               Druck von Greiner & Pfeiffer in Stuttgart




                               Inhalt

                                                          Seite

        Erstes Kapitel: ~Drei Einsiedler~                     1

        Zweites Kapitel: ~Dreierlei Gespräche~               18

        Drittes Kapitel: ~Elsaß und Thüringen~               37

        Viertes Kapitel: ~Ein Nachtgang~                     44

        Fünftes Kapitel: ~Zusammenbruch~                     55

        Sechstes Kapitel: ~Das Weinberghäuschen~             75

        Siebentes Kapitel: ~Briefe eines Elsässers~          87

        Achtes Kapitel: ~Ein Tag in Straßburg~               97

        Neuntes Kapitel: ~Aus Speckels Tagebuch~            119

        Zehntes Kapitel: ~Das Grab im Birkenwäldchen~       129

        Elftes Kapitel: ~Stille Menschen~                   153

        Zwölftes Kapitel: ~Heidelberg~                      164




                           Erstes Kapitel

                            Drei Einsiedler

                                   Die Welt ist groß: zieh hin und her,
                                   Du findest doch kein Elsaß mehr!

                                                   ~Ehrenfried Stöber~


Herbstwehmut überschauerte bereits die Gefilde der Westmark. Die
Weinberge um Lützelbronn begannen sich zu vergolden. Gärten und Felder
hatten ihre Sommerarbeit getan und waren willens, ihre Früchte den
Menschen abzugeben.

Über der Ebene und am Gebirg entlang war jener zarte Duft, der zumal
im Abendrot der elsässischen Spätsommerlandschaft einen wehmutvollen
Zauber verleiht. Noch glaubt man die Gluten des Sommers irgendwo in
den Tiefen zu spüren; aber sie sind vergeistigt, verhalten, nur noch
Melodie und Farbe, nicht mehr Leidenschaft.

Oder war diese veredelte Glut nur in der Seele des Einsamen, der oben
am Waldrand saß und den ernsten Blick in die Landschaft sandte?

Es war ein langer, hagerer Mann von etwa fünfzig Jahren, in dunkler
Kleidung, die sofort den Pfarrer oder Gelehrten verriet. Auf seinem
Lodenmantel gelagert, hatte er den Ellenbogen aufgestützt; neben ihm
lagen Buch und Filzhut. Die Stirn trat aus gelichtetem, angegrautem,
kurzem Haar bedeutend hervor. Herb, fast schwermütig wirkte das
längliche bartlose Gesicht mit den zwei tiefen Kummerfalten, die sich
von der Nase zu den Mundwinkeln herunterzogen.

Der Boden zwischen Weinberg und Kastanienwäldchen war trocken. Ein
wilder Kirschbaum breitete seine spitzen, welk herniederhangenden
Blätter über den Träumenden aus. Ein paar lange Halme standen
regungslos. Vergilbte Kastanienblätter bildeten einen Teppich; hie
und da lag eine gesprungene Schale der eßbaren Früchte. Und Risse im
Boden zeigten, daß sich in dieser geschützten hohen Waldecke nicht viel
Regen zu sammeln pflegte. Ein toter Winkel, der aber weit und breit den
schönsten Rundblick bot.

Es war ein Elsässer aus altem Geschlecht, der von diesem Lieblingsplatz
seine schwermütigen Gedanken über die Heimat hinauswandern ließ.
Pfarrer Johann Friedrich Arnold amtierte seit Kriegsbeginn in seinem
Heimatdorfe Lützelbronn. Aber so friedlich sich auch das Dörfchen zu
seinen Füßen von hier oben beschauen ließ: welch ein Lebenswirrsal lag
hinter dem stillen Manne! Er hatte einige Jahre auf seinem kleinen
Landgut Windbühl gesessen und gesonnen; er hatte noch früher als
philosophischer Privatdozent in Heidelberg Fuß zu fassen gesucht. Er
galt bei seinen Landsleuten und Amtsgenossen zwar als »arg gelehrt«,
genoß auch als vornehmer Charakter unbestimmte Achtung, erschien aber
doch den meisten als ein etwas abenteuerlicher Sonderling, der seine
Ziele überspannt hatte und nun eigentlich in einer unfruchtbaren Ecke
saß.

Der Elsässer hatte von einem Landsmann gelesen, der vor hundert Jahren
im Steintal, tief im Wasgenwalde, segensreich gewirkt hatte. Die
»Zeder« hatten sie jenen schlichten, frommen und festen Pfarrer von
Waldersbach genannt. Im Jahre 1826, im hohen Alter von sechsundachtzig
Jahren, war der Allverehrte gestorben. Jenen Patriarchen Friedrich
Oberlin hatte er sich zum Vorbilde genommen. Es waren in jenem
Edelmenschen Fähigkeiten an der Arbeit gewesen, die sich einst
beruhigend und beseelend auf die Umwelt ausgestrahlt hatten.

»Ich habe mir selbst ähnliche Kräfte auszuwirken gewünscht«, dachte
der Spätling auf seinem Hügel. »Allein das Schicksal hat mir kein
Wirkungsfeld gestattet.«

Er sah im Geist seine leidvoll hingesiechte Frau; er sah sich
erschüttert vor ihrem verzerrten Angesicht stehen bei jenem letzten
furchtbaren Besuch im Irrenhause ... Er sah im Geist seinen Sohn,
der jetzt da unten im Giebelzimmer des Pfarrhauses saß, mit einer
Nervenerschütterung heimgekommen aus der Somme-Schlacht ...

Und jäh zuckte nun er selbst empor. Ein ferner Kanonenschuß! Das kam
aus den Südvogesen. Unheimlich, ob auch gedämpft, rollte das nun wieder
Schlag um Schlag über die lang widerhallenden Berge. Es gab Tage, wo
diese Batterien nur tropfenweise zu vernehmen waren; und andre Tage, wo
die Fenster zitterten. Zwei Völker rangen dort wieder um des deutschen
Reiches Westmark! Zwei nur? Nein, viele Völker! Seit vier Jahren schon
ein Lebenskampf zwischen Deutschland und fast der ganzen übrigen Welt!
Und dieses deutsche Elsaß-Lothringen, dieses Alemannenland, das die
Gegner eine geraubte französische Provinz zu nennen wagten, war bei
alledem eins der leidenschaftlich umstrittenen Kampfziele. Auf den
Tag der Rache hoffte ja Frankreich seit Jahrzehnten! Auf den Tag der
Rache hatte auch im Elsaß eine kleine gehässige Minderheit gewartet
und gewühlt seit Jahrzehnten! Nun hatten sie ihren Rachekrieg. Europa
blutete. Und das Niederträchtige dabei war, daß die feindlichen
Völkerschaften dem deutschen Volk und dem deutschen Kaiser alle Schuld
zuschoben ...

Vier Jahre Weltkrieg! Er dachte an die ersten lodernden Kriegstage
zurück: wie er Schwester und Tochter seines damals krank liegenden
Nachbarn und Freundes Bieler noch im letzten Augenblick aus den
Südvogesen holte. Welche Flucht! Die furchtbaren Donnerschläge der
Kanonen, die hinter ihnen den dunkelblauen Nachthimmel in rote Glut und
die Dörfer in Rauch und Brand verwandelten! Die Franzosen waren über
die Schlucht und von Belfort her in Gebirg und Ebene eingebrochen. Eine
Reihe von elsässischen Ortschaften wurde besetzt; die Bevölkerung der
Kampfzone floh. In einem kleinen Gefährt holte er noch rasch die zwei
Frauen, die dort auf Besuch waren. Jenes ganze Dorf war auf der Flucht.
Bald wuchteten Bergwände hinter dem Zug der verstörten Flüchtlinge.
Die Sinne vernahmen wieder die Geräusche der Nähe. Lauter knarrten und
ächzten die Wagen; die schlürfenden Schritte und das Schnaufen der
Rinder machten sich stärker vernehmbar; ein Husten oder Niesen klang
kühner hinaus; auch zahlreicher als zuvor ein Weinen oder eines Kindes
Geplärr. Und vernehmlich rauschte neben der Straße der mitwandernde
Waldbach, der sich gleich jenen Elsässern in die Rheinebene zu flüchten
schien. Wohl verfolgte dumpfer Kanonenton Gehör und Gemüt noch lange.
Doch das Mordfeuer klang spärlicher und durch Ferne gemildert in die
Seele der Entsetzten.

Er sah sie im Geiste zwischen ihrem hochgetürmten Gerät. Mit gezügelten
oder gemessenen Schritten bewegten sich neben den Ochsen und Kühen
die Knaben und Greise, gedämpften Tones die Zugtiere ermunternd und
die nachwandelnde Herde antreibend. In der sternenhellen, mondlosen
Nacht blitzte von Zeit zu Zeit eine Laterne auf. Der vorderste Bauer
hatte seine Leuchte am Leiterwagen befestigt und erhellte als Führer
den Weg. Der alte Lehrer schritt manchmal die Reihe entlang und rief
ermunternd einzelne Namen in die Nacht hinaus; und von da und dort
scholl beruhigende oder seufzende Antwort. So kroch der Zug aus der
Finsternis des Wasgenwaldes in das weithin klaffende morgengraue
Flachland. Im Osten, über der Linie der Schwarzwaldberge, flimmerte der
erste Purpurschimmer der Morgenröte ...

Und ergreifend war es dem Pfarrer in Erinnerung, daß plötzlich in jenem
Flüchtlingszuge ein Knabe zu singen begann. Mit schöner Bergstimme sang
der Sohn der südlichen Elsaßberge das deutsche Volkslied:

                     »Zu Straßburg auf der Schanz,
                     Da ging mein Trauern an.
                     Das Alphorn hört' ich drüben wohl anstimmen,
                     Ins Vaterland wollt' ich hinüberschwimmen,
                     Das ging nicht an« ...

Wohl verwies ihm eine scheltende Frauenstimme das unpassende Singen.
Aber der Knabe fuhr leiser fort, ohne sich sonderlich einschüchtern zu
lassen. Und das trauervolle Lied schwebte fortan über der alemannischen
Flüchtlingsschar, wie das Weinen einer Seele, die mit verhülltem
Antlitz vor den Dämonen des westlichen Hasses nach Osten flieht ...

Dann ein andres Bild: jener begeisterte Auszug der elsässischen
Regimenter aus Straßburg! Wie dröhnte die Meisengasse, wo einst
Rouget de l'Isle die Marseillaise gesungen, vom Marschgesang der
blumengeschmückten deutschen Soldaten! »Lieb' Vaterland, magst ruhig
sein! Fest steht und treu die Wacht am Rhein!« Und winkende Hände
und Taschentücher aus allen Fenstern -- und heiße Tränen und heiße
Hoffnungen! Unbekannte schüttelten einander die Hand: »Auch ein Sohn
dabei? Jetzt hat's mit dem Zwitterwesen ein Ende! Jetzt bluten wir
miteinander!« Und seht doch, da springt einer aus dem Volk heraus und
nimmt dem Fahnenträger begeistert die Fahne ab -- und Frauen und Kinder
laufen weinend und lachend neben den Todgeweihten einher ... Auch sein
Sohn Gustav war dabei, leuchtend von inneren Flammen! ...

Und nun vier Jahre lang schwerer Kampf gegen ungeheure Übermacht! Der
letzte deutsche Angriff des Sommers 1918 war leider ebenso mißglückt
wie der Angriff der Österreicher an der italienischen Front. Die
deutsche Westfront wich langsam, langsam zurück ...

Der Träumer schauerte zusammen. Ein alter Bauer am Rande des Hohlweges
trug schwermütig Stangen auf einen Handwagen. Nur flüchtig hatte
der Alte bei der einsetzenden Kanonade nach Süden gelauscht. Jetzt
klapperten wieder gleichmäßig seine Holzschuhe durch die reine
Luft herauf. Sonst kein Laut. Das Dörfchen zu Füßen des Gelehrten
schimmerte mehr und mehr in einem letzten lieben Sonnenblick. Das zarte
Birkenwäldchen im Garten des Winzers Bieler, unmittelbar neben dem
weißen Pfarrhause, stand verklärt und zum Betreten nahe. Wie schön und
rein dieses geliebte Land, wenn man sein Bild mit stiller Seele aus
etlicher Höhe in sich aufnahm!

Steile Pappeln wuchsen in der Ebene. Sie standen wie feierliche
Zypressen auf einem Gottesacker. Die Störche rüsteten nun zur Südfahrt;
die Schwalben desgleichen.

»Elsaß gleicht in Wahrheit einem herbstlichen Friedhof«, dachte der
Einsame. »Mein Ohr vernimmt ein Lied der Schwermut. Wir sind ungeheuer
verlassen, wir Elsässer!«

Der Pfarrer und Professor war musikalisch. Er glaubte jetzt Liszts
zweite ungarische Rhapsodie zu vernehmen, die über die Ebene brauste
wie ein Heer von Geisterrossen und wieder verwehte -- nein, sich
verwandelte in ein Notturno oder eine Ballade von Chopin. Dann schien
das magische Singen und Klingen wieder verflogen. Ein ganz leiser
Abendhauch bewegte die Halme. Des Einsiedlers Blick umschattete sich ...

Aus dem Birkenwäldchen zu seinen Füßen erhob sich eine Gestalt. Die
Erscheinung wuchs. Jetzt füllte sie sein Gesichtsfeld aus -- und es
entspann sich ein Gespräch.

»Wer bist du?« fragte der Seher.

»Die Seele, die du liebst.«

»Wer ist die Seele, die ich liebe?«

»Von der du träumst.«

»Wie kann Gestalt annehmen, was in Lüften lebt? Kann elsässische Seele
Person werden? Kann sie als Mann oder Mädchen vor mein Auge treten?
Kann ich ihr die Freundeshand reichen oder sie liebend ans Herz ziehen?
Denn siehe, ich habe um die Seele meines Volkes gerungen lebenslang --
und habe sie nicht gefunden.«

»Hat deine Liebe nicht einst Gestalt genommen und einen Sohn gezeugt?«

»Ich habe wohl einen Sohn, doch ich bin um ihn bange. Um sein Gemüt
noch mehr als um seine zarte Gesundheit. Denn auf ihm lastet dieses
Landes tragisches Schicksal. Er wird darunter vergehen, fürcht' ich,
wie seine Mutter vergangen ist. Zwanzig Jahre bin ich allein; ich habe
mein Herz und meine Hoffnung in meinen Sohn ergossen. Und mein Sohn
droht mir zu zerbrechen.«

»Hast du niemanden als ihn?«

»Seine Braut, meine Schülerin und junge Freundin, die mir nicht minder
gut ist als ihm.«

»Wie kannst du sagen, daß du einsam seiest? Haben dich nicht beide
lieb?«

»Beide haben mich lieb. Und ich wüßte niemanden, den ich mehr liebe.
Und in ihnen lieb' ich dieses Land, das sich weit und wehmütig hinter
ihnen ausdehnt. Warum senkst du das Haupt?«

»Siehst du das Birkenwäldchen in deines Nachbars Garten?«

»Ich sehe es.«

»Dort wird ein Grab stehen.«

»Ein Grab? Wessen Grab?«

Die Luftgestalt erhob beide Arme, beschrieb einen Bogen, als wollte sie
das Land umfassen, und wiederholte:

»Ein Grab.«

»Ein Grab? Willst du mich damit schrecken? Schätzest du meine
geistigen Kräfte so gering ein? Du täuschest dich und mich mit diesem
Spinnwebgewand der Trauer. Willst du dieses Landes Seele sein? Nein,
nein, du bist nicht die letzte Tiefe der Westmark! Unseres Wesens
Kern ist trotz alledem Kraft, unsre letzte Tiefe ist schaffende Liebe.
Immer neu in jedem Frühling belebt sich die Natur, und aus Trümmern
erblüht Leben. Wirf dein Gewand ab, enthülle deinen Kern, deine Tiefe!
Enthüllst du dich nicht, Gespenst, so will ich selbst dich entzaubern!
Denn wir sind die Seele dieser Westmark, wir Schaffenden, wir
Lebendigen! Wir gestalten dich -- du nicht uns! Verschwinde!«

Ein Ruck, ein Griff in die blasse Luft: das Gesicht verschwand. Der
Seher warf einen Bann ab. Er saß nun aufrecht und atmete befreit.

Und siehe da! Die Sonne brach noch einmal in entzückender
Strahlenbrechung quer herüber in das Birkenwäldchen. Und dort, zwischen
den jungfräulichen weißen Stämmen, stand in der Tat eine menschliche
Gestalt in hellem Frauengewand und winkte herauf.

»Es ist Fanny«, sagte der Erwachte.

Und er nahm Hut, Buch und Mantel und ging mit großen Schritten hinunter
ins Tal.

                   *       *       *       *       *

Fanny Bieler hatte lange Stunden in ihrem Stübchen auf dem Fußboden
gesessen und in alten Briefen gekramt. Schubladen standen offen,
Papiere, Bänder, gepreßte Blumen lagen umher. Und mitten darin saß die
blonde kleine Gestalt, derart vertieft, daß sie die ganze Außenwelt
vergaß.

Da waren die Briefe ihres Bräutigams Gustav, sehr zahlreich, sehr
sauber geschrieben und gehaltvoll; dann waren da in großer, kräftiger
Schrift die meist kurzen, hingeschleuderten, sprühenden Briefe ihres
entfernten Verwandten Erwin ... Waren es nicht Liebesbriefe, glühender
als Gustavs gehaltene Schreibart?

... »Da sitz' ich auf dem Petersberg zu Erfurt, genialste aller Basen,
hab' einen ausgezeichneten Feldwebel und einen widerwärtigen Hauptmann,
werde mir aber meine Begeisterung nicht zerrupfen lassen durch einen
Überpreußen, dessen schnarrende Stimme sämtliche neun Musen in die
Luft sprengt. Was tut also der findige Rekrut? Er versetzt seiner
Cousine Liebeserklärungen. Weib, Weib, glückselig der Mann, der dich
in die Arme schließt! Ich könnte Freund Gustav, den grundguten Kerl,
prügeln, daß er Dich nicht jeden Tag jauchzend durch die Stube trägt,
Du anmutigstes elsässisches Maidel, dessen einziger, erster und letzter
Kuß von damals -- weißt Du, beim Auszug, in unsrer Stube am Münster --
o Straßburger Münster --, dessen einziger Kuß, sag' ich, mir heut' noch
und für immer auf den Lippen brennt! Leb' wohl, Fanny, ich schwöre Dir,
kein Mädchen zu berühren, und nichts zu tun, was Dich betrüben könnte!
Und ich danke dem Himmel, daß im Elsaß Mädchen wachsen wie Du! Wenn Du
ein Eckplätzchen in deinem Herzen neben Deinem Gustav übrig hast, so
laß mich dort uffm Schemele sitzen und behalt e bißl lieb.

                                 Deinen Freund und Vetter ~Erwin~.«

Solche Briefe liest ein hübsches Mädchen nicht ohne Stolz und
Ergriffenheit, selbst wenn sie noch so glücklich verlobt ist. Fanny
kam in ein holdes Verträumtsein; dann prüfte sie sich selbst. »Kann
ich denn treu sein?« dachte sie plötzlich. Und sie ertappte sich
darauf, daß sie oft mit mehr Lust und Laune an Erwin schrieb als an
ihren Bräutigam. Und doch: wie innig hatte sie Gustav lieb! Sie war so
entsetzt über diese feine Untreue, über dieses leise, leise Liebesspiel
mit dem lebhaften, langen, blonden Erwin, dessen Augen so lustig hinter
dem Kneifer sprühten; sie war so bestürzt über die Möglichkeit, für
einen andern noch Raum zu haben in ihrem bräutlichen Herzen -- daß sie
jäh aufsprang, alle Briefe in die Schublade warf, abschloß und mit
zwei, drei Schritten die Treppe hinunterflog an das Klavier, wo sich
ihre heiße Natur in Liszt und Chopin austobte.

Dann lief sie hinaus in den Garten.

Sie war im Städtchen gewesen und trug noch ihr hellgraues Kleid mit
breitem rotem Gürtel. Den Lodenmantel hatte sie umgeworfen; die Wangen
glühten; die feste, volle Brust atmete stark.

Alles in der feingebauten, spannkräftigen, nicht großen Gestalt war
beherrschte Glut. Um ihr blondes, über den Schläfen geringeltes
Haupthaar hatte sich das Netz einer Spinne gewickelt. Das junge Mädchen
blieb mit zusammengepreßten Lippen stehen, blinzelte nach oben und
suchte das Gespinst zu entfernen. Der rote Mund war erstaunlich schmal,
aber voll, gleichsam gewölbt; die Adlernase zwischen den blauen Augen
wirkte bedeutend und gab dem ovalen, rosigen Gesichtchen Charakter. So
klein die Gestalt war, sie bekundete Festigkeit und Wärme zugleich.

»=Allons donc!=« rief sie jetzt und schleuderte das lästige
Anhängsel mit kurzem, raschem Ruck an ein Birkenstämmchen, das
erschrocken einige Blätter über das ungeduldige Persönchen fallen ließ.

Sie lief nun im höheren Teil des Gartens hin und her, wo das Wäldchen
an den Pfarrgarten grenzt. Wie oft war der Jugendfreund und Geliebte
über diese Mauer gesprungen! Sie lauschte insgeheim auch heute auf sein
Kommen. Aber sie war zu stolz, um sich diese schmerzliche Ungeduld
merken zu lassen. Scheinbar wohlgemut schritt sie flinken, federnden
Schrittes hin und her, als ob sie zu lange gesessen hätte und sich
etwas erwärmen wollte. Ja, sie summte leis-wehmütig ein Liedchen von
der schönen armen Lilofee vor sich hin, das sie vom Wandervogel Erwin
gelernt hatte, und blickte hartnäckig nach der Ebene hinaus oder nach
dem Wald empor. Im Weinkeller klopfte der Vater mit dem lahmen Schauli
an den Fässern herum -- -- und fernher von Süden setzte nun wieder die
Kanonade ein.

Drüben aber, im Giebelstübchen des Pfarrhauses, freilich auf der
abgelegenen Seite, saß der beurlaubte kränkelnde Gustav, keine
hundert Schritte von der lebensprühenden Geliebten entfernt. Seine
Ruhr und seine Wunde waren geheilt; aber Herz und Nerven gehorchten
noch nicht. Vom stolz-einsamen Vater und von der menschenscheuen,
aus dem Irrenhause in die Ewigkeit hinübergeschlichenen Mutter hatte
der begabte Jüngling viel Einsamkeitsbedürfnis im Blute. Seine
Dachkammer war sein Reich; die Tür an der Speichertreppe pflegte er
von innen zu verriegeln. So war er unnahbar. Niemand konnte ihn aus
der selbstgewählten Einsiedelei herunterlocken, wenn er nicht Lust
hatte; auch nicht der verehrte Vater und noch weniger die Braut und
Spielgenossin. Er hatte seine Trutzstunde; man mußte ihn allein lassen.

Manchmal freilich überwältigte den Jüngling der Drang, sich an Menschen
anzuschmiegen. Dann herunter, ein Sprung über die Mauer -- es lag dort
ein altes Brett, das man schief anstellte, um der Fußspitze einen Halt
zu geben -- und er war in den Armen der küssedurstigen Geliebten der
zärtlichste und bei aller Inbrunst ritterlichste Liebhaber.

Mit Tränen der Dankbarkeit und der Rührung dachte Fanny an all die
liebenswerten Eigenschaften des Leidenden. Sie selber, sinnenstark
und rein zugleich, verband ungewöhnliche Liebeskraft mit einem
ungewöhnlichen jungfräulichen Stolz. So war es ihr denn nicht gegeben,
den Geliebten zu umwerben oder gar an seiner Türe zu betteln. Eher die
Lippen blutig beißen -- --

Sie riß eine letzte Rose so hastig ab, daß sie sich in den Zeigefinger
stach. Mit Ingrimm, einem schmollenden Kinde nicht unähnlich, stand
sie nun und saugte am Finger. Der dunkelgrüne Lodenmantel war von der
Schulter geglitten. Und wie sie nun in ihrem hellen Kleide dastand,
den zierlichen Finger am Munde, dachte sie lebhaft an Onkel Arnold; so
pflegte sie den Vater ihres Bräutigams zu nennen. Er war so oft mit
seiner Weisheit und Ruhe ihr Zufluchtsort: wo blieb er denn heute?

Ein Vorgang drängte sich lebhaft und anschaulich vor ihr inneres
Auge. Das war damals eine der schwersten Nächte ihres Lebens. Zittern
überlief die kleine Gestalt, wenn sie daran dachte. Das war die Nacht
im Herbst 1914, als ihr Bruder Georges, im Auto vorüberkommend, nach
der Schweiz und nach Frankreich zu fliehen entschlossen war, mit
falschem Paß -- ein fahnenflüchtiger Stabsarzt! Furchtbare Nacht!
Ihr Bruder und der herübergeeilte Pfarrer waren aneinandergeraten,
deutschgesinnt der reife Onkel Arnold, verhetzt von Französlingen der
junge Elsässer. Es ward ein Ringen auf Tod und Leben. Vater Bieler
verkroch sich; das junge Mädchen saß mit zusammengebissenen Zähnen
in der Sofaecke, grausam eingekeilt zwischen dem geliebten Pfarrer
und nicht minder geliebtem Bruder. Und ihr Bräutigam, der kerndeutsch
gesinnte Elsässer, stand derweil auf dem deutschen Schlachtfeld! Noch
einmal hatte der Pfarrer den Flüchtling zur Pflicht zurückgeführt; aber
tags darauf entwich dieser dann doch seinem deutschen Vaterlande. Und
nun stand Georg Bieler längst auf der Liste der ausgebürgerten Elsässer
-- ein Landesverräter!

Sie war damals dem geliebten Onkel Arnold an den Hals geflogen, als
er den Bruder noch einmal beredet hatte. Und -- wann war's doch? Ein
zweites Mal, schon früher, hatte der väterliche Freund sie an sein Herz
gerissen, der hohe, nach außen so kühle Mann, und mit einem Jubelruf in
die Lüfte gehoben. Das war -- ja, das war in jener Philosophiestunde
mit Gustav auf dem Gutshof Windbühl, als sie den Kant zornig an die
Wand warf. Die Stelle wußte sie nicht mehr; aber sie erinnerte sich
ihres Entsetzens nach der jähen Tat, sie erinnerte sich des verärgert
scheltenden Gustav -- und wie sie dastand, den Finger am Munde, von
dem Gedanken gelähmt: »Um Gottes willen, was wird nun Onkel Arnold
sagen, der Philosoph?!« Aber Onkel Arnold, der Mensch, lachte laut auf;
er packte das temperamentvolle Mädchen unter den Armen, hob es wie
ein Kind hoch und küßte es mitten auf den blühend warmen Mund. Es war
wirklich so: sie wurde von ihm geküßt -- und hatte doch Kants Kritik
der reinen Vernunft an die Wand geworfen!

Immer war es Onkel Arnold, der sie verstand, der ihr zu Hilfe kam, der
vor allem ein lebendiger Mensch war und dann erst ein Gelehrter.

Und während sie nun, den Finger noch am Munde, wie damals in der
philosophischen Stunde, ihre Augen am Berghang schweifen ließ -- siehe,
da saß ja Onkel Arnold oben am Kastanienwäldchen unter dem Kirschbaum!

Sofort begann sie zu winken. Endlich ein Mensch!

                   *       *       *       *       *

Gustav stand in seinem Dachstübchen am offenen Fenster und beobachtete
durch den Feldstecher den Vollmond.

»Ich bin geheimnisvoll mit dem Mond verbunden«, dachte er. »Der Tag ist
mir zu grell und zu laut.«

Bleich wie das langsam über das Gebirge emporsteigende Nachtgestirn war
auch sein Antlitz. Er trug neben dem kurzen dunklen Schnurrbart noch
an den Backenknochen etlichen Haarwuchs, so daß er mit seinem etwas
düstern Ausdruck einem Bildnis des Dichters Lenau nicht unähnlich sah.
Schlank, von feinem Gliederbau, in Gebaren und Sprechweise gedämpft,
gehörte der gewissenhafte junge Mann zu jenen Naturen, die sich weder
aufdrängen noch durchsetzen, sondern am liebsten ihre Person auswischen
möchten.

»Gäb's doch nur eine Tarnkappe!« seufzte er manchmal. »Ich möchte am
liebsten unsichtbar durchs Leben gehen.«

Er hatte sich zur wohlgelungenen Abgangsprüfung vom Gymnasium ein
wertvolles Zeißsches Fernglas erbeten. Sternkunde war eine seiner
Leidenschaften. Da war es nicht verwunderlich, daß man ihm den
Spitznamen »Sterngucker« anhängte.

Andrerseits war er ein Kleinkrämer, ein Sammler, der mit fast komischer
Zärtlichkeit wunderlichste Dinge einheimste und aufbewahrte: Steine,
Blumen, Briefmarken und eine Fülle von kleinen Erinnerungen, mit
beschriebenen Bändern oder Aufschriften versehen, ebenso genau geordnet
und durchgeführt wie sein Tagebuch. Philosophie und Literatur waren
sein Studium; die Sternenliebhaberei zu vertiefen, war er zu wenig
Mathematiker. Und seine Schwäche auch in seiner Wissenschaft bestand
darin, daß er sich gar zu gern in Kleinkram verlor. Er verbrachte oft
Stunden damit, eine nicht genau bezeichnete Stelle aus Goethe oder
dergleichen selber aufzusuchen, auch wenn der Gewährsmann, dessen Buch
er las, noch so zuverlässig scheinen mochte.

»Warum nur die Leute nicht genau die Seiten angeben,« knurrte er
ärgerlich, »wenn sie einen Dichter anführen!«

Alsdann schrieb er sich Band und Seite seiner Quelle mit Bleistift
an den Rand und war beruhigt. Dem Gehalt des angeführten Wortes
nachzudenken, vergaß er darüber.

Er war der geborene Spezialist und Kleinforscher und gehörte in eine
Bibliothek oder auf den Lehrstuhl einer modernen Hochschule.

Und diesen feingestimmten Nervenmenschen packte das Schicksal und
stellte ihn mitten in das Grauen der Somme-Schlacht. Gewissenhaft und
treu hielt er in den Gasgranaten aus bis zum Letzten. Er liebte sein
deutsches Vaterland. Eine Glutwelle der Begeisterung hatte auch ihn
hinausgerissen, wie seinen liebsten Freund, den anders gearteten Erwin.

Jetzt saß der junge Elsässer hier mit zerrütteten Nerven. Er starrte
die zerfurchte Mondfläche an, legte dann das Glas beiseite und kam in
eine sinnlose schaukelnde Bewegung, wobei er immer -- in Erinnerung an
einen Satz des Philosophen Kant -- die Worte vor sich hinleierte: »Der
bestirnte Himmel über mir -- das moralische Gesetz in mir -- über mir
-- in mir -- --« bis er sich, plötzlich erwachend, umsah und in ein
Stöhnen ausbrach: »Herrgott, ich bin ja krank!«

Schwer warf er sich auf den Diwan, zog die Decke über sich, schloß die
Augen und murmelte leis in sich hinein: »Ich bin krank, ich bin krank!«

Ein widerlicher Duft, der aus dem Keller zu kommen schien, lag über dem
Dorfe. Oh, wie das an die Leichengerüche der Schlachtfelder erinnerte!
Warum man ihn nur so allein ließ? Er ringelte sich zusammen, ganz klein
-- und Bilder aus den grauenvollsten Kriegstagen rollten ununterbrochen
und marternd über seine Seele hinweg. Nur bittere, nur quälende Bilder
-- ein Mückenschwarm von Dämonen und Fratzen! ...

Plötzlich -- er fuhr empor -- kamen schwere Stiefelschritte die
Bodentreppe herauf.

»Was ist das? Nicht möglich! Hab' ich denn vergessen, die Bodentüre zu
verriegeln?«

Gustav sprang auf. Und schon hüstelte draußen jemand, klopfte an
und streckte dem aufschließenden Bewohner ein drollig lächelndes,
wohlgenährtes Gesicht entgegen.

»Salüt, Güschtel!«

Das französische »=Salut=« und dabei eine feldgraue Uniform? Doch
was für eine Uniform war denn das?

Gustav stand sprachlos. Violetter Kragen -- ein Generalstäbler?
Nein, dieses pfiffig-dumme Gesicht paßte nicht in den Generalstab.
Maschinengewehr? Jäger? Was denn eigentlich?

»Gel, Güschtel, do gücksch jetzt?« rief der Eingetretene, eine
stämmige, fast feiste Gestalt. Und jetzt erkannte Gustav seinen
Schulkameraden, den Sohn des Gastwirtes, der als Apotheker im Städtchen
tätig war.

Apotheker also!

»Ich bin nämlich ein deutscher Krieger«, sprach der eintretende
Elsässer mit komisch betontem Hochdeutsch, »und verteidige das
Vaterland.«

Er sah an seiner Uniform hernieder und nahm sich offenbar selber
nicht ernst. Um den sinnlichen Mund war ein etwas unsicheres, fast
ängstliches Lächeln, in den Augen ein Zwinkern und Blinzeln. Er hielt
sich gebückt und schien immer um sich zu horchen, ob nicht jemand um
den Weg sei, vor dem man die Knochen zusammennehmen müsse. Und an der
niedrigen Stirn dieses unwillkommenen Besuchers sah Gustav wieder jene
wohlbekannten Falten, die wie ein breites Grinsen sichtbar wurden,
wenn der Spaßmacher die kleinen Augen hoch riß -- dieser Spaßmacher
und Lebemann, der durch sein überlegen weltmännisches Gebaren so oft
den schüchternen Jungen begönnert und lüstern belehrt hatte. Wie eine
Dunstwolke schob es sich in das Zimmerchen eines vornehmen Einsiedlers,
der die dargebotene Hand kaum mit den Fingerspitzen berührte.

»=Salut=, Alterle!« wiederholte der Dicke gemütlich und nahm
gleich das Fernrohr zur Hand. »Bisch, glauw' ich, wieder emol e bissel
Sternegücker? Wie geht's denn allewil?«

Gustav murmelte einiges, und jener trat ans Fenster, äugelte durch
das Glas, bedauerte, daß man nicht zu Bielers Fanny hinübergucken
könnte und fragte blinzelnd, »wie weit« denn der Verlobte mit der
»kleinen netten Mamsell Bieler« sei. Er schnalzte dabei, als ob es
sich um eine besonders feine Weinsorte handelte. Und dann fuhr er
fort, in seiner gemütlich-sinnlichen Art zu erzählen, daß er sich
mit den Etappenoffizieren ganz gut stehe, besonders mit dem dortigen
neuen Hauptmann. Mit vielen »weisch, Güschtel«, setzte er spöttelnd
auseinander, das sei so ein »hungernder Agrarier aus Pelzpommern«, dem
das Fell fast platze, so verstehe er sich zu mästen. Und besonders sei
der Schwob »hinter de Maidle her«. Aber jetzt krache die Front bald
zusammen, dann rutsche die ganze Bande über den Rhein ...

»Weisch, Güschtel, was Maidle anbelangt, macht er mir nix vor!«

Er setzte sich und schlug sich lachend auf den Schenkel. Dies alles
geschah mit so zwangloser Selbstverständlichkeit, als wäre Gustav
nicht nur sein alter Duzfreund, sondern auch der Gesinnungsgenosse
seiner gemeinen Gelüste. Durch Anbiederungston pflegt die Gattung der
Lüstlinge ihre Gewalt auszuüben. Gustav duckte sich dann gewöhnlich und
hatte gegenüber so viel Sicherheit nicht den Mut zur Gegenwehr.

Auch heute drohte der arme Junge dem lähmenden Dunstkreis zu erliegen.
Er wollte nicht unhöflich sein; er gab wortkarge Antwort -- doch
immerhin: er gab Antwort. Und der gesprächige andere sorgte schon
dafür, daß keine Stockung eintrat.

Auf einmal aber kam etwas zur Sprache, was den zarten Leidenden an
seiner empfindlichsten Stelle traf und zum wildesten Gegenkampf
herausrief.

Der Hauptmann aus dem Städtchen -- so plauderte der Eindringling --
sei ein herzhafter Trinker und, wie gesagt, ebenso handfest hinter den
Mädchen her ...

»Na, nimm din' Braut in Obacht, Güschtel! Die isch e hitzig's Ding,
die klein' Bieler. Das wär' so e Bisse, wenn er sich emol hinter die
hermacht! Der versteht's besser als dü Hasefües!«

Sehr viel weiter kam der unglaubliche Bursche allerdings nicht. Als
noch eine häßliche Anspielung fiel, war es zu Ende. Gustav zuckte
empor, Gustav trommelte mit beiden Händen -- und auf einmal sprang
er auf, packte den Feisten mit grimmiger Gewalt am Hals, schüttelte
ihn, stieß den Überraschten mit unnatürlicher Kraft an die Stubentür
und schlug ihm, schäumend vor Zorn, mit der Faust ins Gesicht. »Dü
hundsgemeiner Kerl! Du hast mich vergiftet von Kind an! Du bist schuld
an meinen kaputten Nerven! Rüs mit dir -- oder ich bring' dich um! Ich
bring' dich um!«

Der Brünstling schrie auf vor Angst -- »Güschtel, mach' m'r nix« --
tastete nach der Mütze, bot diesem wahnsinnigen Anfall gegenüber ein
Bild des Entsetzens -- und taumelte endlich, ohne den leisesten Versuch
einer Gegenwehr, die Treppe hinunter, von den krankhaft herauszuckenden
Zornrufen des Rasenden verfolgt. Es war ein schrecklicher Auftritt.
Das Wort »Lump«, aus Gustavs feinem Munde immerzu wiederholt, war
das letzte, was über den Speicher scholl. Dann schleuderte er dem
Fliehenden noch ein Paar Handschuhe nach, warf den Riegel in die
Bodentür und lief in sein Stübchen zurück, das er gleichfalls fest
hinter sich abschloß. Geschüttelt von nervösen Atemstößen, lag der
Kranke nun wieder auf seinem Diwan, während der andere mit dem
geschwollenen Auge unten der verstört herbeigelaufenen Haushälterin
Lisy zurief: »Der do owe isch verruckt!«

                   *       *       *       *       *

Fanny war inzwischen dem heimkehrenden Pfarrer entgegengegangen und
hatte ihm halb ärgerlich, halb kummervoll geklagt, daß Gustav wieder
einmal unnahbar auf seiner Dachkammer hause.

»Also drei Einsiedler«, versetzte Onkel Arnold ruhig. »Nun, zwei davon
haben sich wenigstens zusammengefunden.«

»Du bist müde, Onkel Arnold, gel? Sonst käm' ich nach dem Abendessen
hinüber -- und wir spielten Gustav die fünfte Symphonie vor.«

»Ja, komm nur, Kind! Müde? Na, man ist halt doch nicht so kräftig
genährt und hat seit Kriegsbeginn fünfundzwanzig Pfund abgenommen.
Hungerblockade! Diese Fastenkur haben wir dem Präsidenten der
amerikanischen Plutokratie zu verdanken. Der Mann will uns
vergeistigen. Hörst du, wie es da im Süden bis in die Nacht hinein
pocht? Dämonen nageln einen Sarg zu. Das Zeitalter des Materialismus
stirbt ... Ja, Kind, komm nur! Ich hab' noch ein paar Amtsgeschäfte,
dann spielen wir den unsterblichen Beethoven. Das lockt den dritten
Einsiedler herunter.«

Und so geschah es.

Gustav hatte sich nach der ungewöhnlichen Turnbewegung merkwürdig
rasch erholt. Er ertappte sich sogar auf Lachanfällen. Zu komisch, wie
der dicke Feigling winselte: »Güschtel, mach m'r nix!« Und den Sieger
durchströmte ordentlich ein Wohlbehagen, daß sein Faustschlag so gut
gesessen.

»Hätt' ich's vor zehn Jahren schon getan, mir wär' wohler in meiner
Haut«, murmelte er. »Von außen ein sogenannter gemütlicher Kerl -- von
innen ein sittlicher Lump und gemein bis ins Mark!«

Und als unten das vierhändige Spiel emporrauschte, durchflutete ihn
wieder der Drang nach einer reinlichen Lebensgemeinschaft. Er schlich
unauffällig hinunter, an der kurz und herzlich während des Spiels ihm
zunickenden Fanny vorbei, und kauerte dann auf dem Schaukelstuhl,
seiner Lieblingsmusik lauschend.

»Was hast du denn mit dem Apotheker gehabt?« fragte der Vater, als sie
nachher allein waren. Er fragte möglichst gelassen, gleichsam nebenhin,
während er seine lange Pfeife in Brand setzte.

Den habe er, entgegnete Gustav, mit Wucht und Wonne die Treppe
hinuntergeschmissen, denn der Kerl habe mit gemeinen Redensarten sein
Zimmer verstänkert.

»Papa,« fügte er nach einigem Zaudern hinzu, »was ist denn das für ein
neuer Hauptmann im Städtel?«

»Je weniger man von ihm spricht, um so besser für ihn und uns,«
entgegnete der Pfarrer. »Er schnarrt, nennt uns Elsässer eine
Rasselbande und beginnt jeden dritten Satz mit: ›Sagen Se mal!‹
Ein Zerrbild preußischer Energie, und ein Hohn auf altpreußische
Einfachheit. Hoffentlich richtet er kein Unheil an.«




                            Zweites Kapitel

                          Dreierlei Gespräche

                           O Elsaß, Oberlins und Speners Land!
                           Zwei Völkern den Versöhnungsbund zu stiften,
                           Sei zwischen beiden du das Liebesband!

                                                        ~Adolf Stöber~


Der nächste Tag brachte dem Einsiedler Gustav ein Göttergeschenk, wie
er sich jubelnd ausdrückte. Sein Freund Erwin, der junge Straßburger
Lehrer, kam jählings angeflogen, um nach kurzem Urlaub Abschied zu
nehmen. Denn es ging wieder an die flandrische Front.

»Gott sei Dank, daß du gekommen bist!« rief Gustav. »Dich brauch' ich
ja ganz herzbitterlich! Sie lassen mich hier alle so grausam allein!
Gott sei Dank, daß man sich endlich wieder einmal aussprechen kann!«

Er zerdrückte dem langen, blonden Feldgrauen, dessen sonnige Blicke
durch Brillengläser strahlten, fast die Hand.

»Herrschaft, Güschtel, was isch denn los?«

Die Unterhaltung zwischen den beiden elsässischen Unteroffizieren
ward in des Landes alemannischer Mundart geführt, sprang aber oft in
Hochdeutsch über.

»Sie verstehn mich nicht! Kein einziger hier versteht mich!«

»Oho! Was fängst du denn wieder für Mücken, Gustav! Dein Vater soll
dich nicht verstehen? Und die unvergleichliche Fanny? Babbel doch kein
so dumm Dings daher, alter Hypochonder!«

Erwin warf seine Mütze auf den Tisch, schwang sich daneben und
begann einen Apfel zu essen, den er im Vorbeigehen auf dem Speicher
mitgenommen hatte.

Sie verstanden sich immer vortrefflich, die beiden Vettern oder
vielmehr sehr entfernten Verwandten. Erwin nannte Gustav »Cousin«,
gab aber auch Fanny den Namen »Cousine«; und irgendwo mochte ja auch
eine Verwandtschaft oder Familienfreundschaft stecken, ohne daß man
alle die Verschwägerungen oder sonstigen Versippungen nachzurechnen
für nötig hielt. Im übrigen aber war der leichtblütige Blondkopf Erwin
von außen und innen ein Gegenbild zu dem dunklen Düsterling. Er liebte
das Wandern im Wasgenwald und in den Alpen, war Schneeschuhläufer, wie
sein Bruder Willy, und ein Freund von Sonnenbädern und Ruderfahrten.
Leichten Schrittes pflegte er einherzuschreiten, Sonne verbreitend,
wohin er kam, bei Schülern und Amtsgenossen beliebt, nur dem trockenen
und etwas grämlichen Schulinspektor verdächtig, weil er vor allem
Mensch und dann erst und dadurch Lehrer war.

»Großherzig und giftfrei«, faßte einmal der Philosoph Arnold sein
Urteil über ihn zusammen.

Mit seinem sonnigen Gemüt ergänzte Erwin den Grübler und Einspänner
Gustav vortrefflich und wirkte lösend und mitreißend auf dessen
schwerflüssige Denkart. Der Sterngucker war in seiner Gegenwart immer
wie verwandelt und warf in eifriger Mitteilsamkeit seine scheuen
Verhüllungen ab.

»Du bist mir immer ein Sonnenbad«, gestand er dem Langen. »Man läuft
mit dir gleichsam splitternackt auf den Matten herum und freut sich an
Licht und Luft.«

»Was quält dich denn? Rüs mit d'r Sproch'!«

»Acht Monate sitz' ich jetzt da 'rum, Erwin, mit schwachem Gedärm und
schlechten Nerven! Zum Verzweifeln!«

»Du hast doch deinen Vater« -- --

»Ja, ja, und habe Fanny, ja, schon recht! Aber die sind gesund!
Verstehst du? Gesund, viel zu gesund für mich! Unter uns: ich bin ihnen
nicht gewachsen.«

»Nanu? Das bissele Nervengezappel?«

»Eintun, es geht nicht, mein Lieber, geht nicht! Fanny, so klein sie
ist, sprüht von Kraft und Temperament. Die ist wie Stahl, wie eine
Springfeder, wie die Unruh in der Uhr. Die braucht einen anderen Kerl
als mich. Sechs Stunden durch Wald und Berg laufen, dann einen Abend
lang Klavier, und den Tag wie ein Fest beschließen -- das ist's, was
sie braucht. Ich bin ein gebrochener Mensch. Zum Verzweifeln! Ich sitze
da oft und weine vor mich hin und versteck's vor Fanny und Papa, damit
sie nicht mit mir leiden.«

»Herrschaft, wie du mir leid tust!« rief Erwin in hellem Mitgefühl und
sprang vom Tisch herunter, um sich aber gleich wieder hinzusetzen. »Geh
doch in ein Sanatorium! Tu etwas für deine Gesundheit! Sitz doch nicht
so untätig da 'rum!«

»Nützt nichts«, murmelte Gustav. »Das liegt zu tief in mir. Ich
hab' schon immer an unüberwindlicher Einsamkeit gelitten. Es ist zu
wenig Liebe in der Welt. In München hab' ich manchmal minderwertige
Frauenzimmer auf der Straße angesprochen und hab' ihnen Geld geschenkt,
nur um ein warmes Wort zu hören, nicht aus Gemeinheit, sicherlich
nicht. Wir modernen Menschen sind ja alle herzquälend einsam! Ich
möchte manchmal ein Kind streicheln, mich mit Kindern -- weißt du, so
wie's Ludwig Richter malt -- im Grase wälzen, Purzelbaum schlagen, lieb
haben -- und weiter nichts! Weiter gar nichts!«

»Sapristi noch emol!« schalt der andre. »So tu's doch! Zerbrich doch
den Bann der Spießbürgerei! Mach' dumme Streiche, spring' über die
Schnur! Mensch, sei genial wie deine Braut!«

Und Erwin erging sich voll Feuer in dem Gedanken, wie heilsam und
befreiend ein kühner Entschluß sei, auch wenn er alle Philister
verblüffe.

»Hab' doch fröhliches Gottvertrauen, alter Grämling! Lebt denn der
alte Gott nicht mehr? Haben ihn die Engländer abgesetzt? Hat ihn
eine Parlamentsmehrheit niedergestimmt? Oder hat der Heuchler Wilson
und seine niederträchtige Presse -- -- Du, den Wilson hass' ich am
allermeisten! Der wird uns Deutsche noch alle niederboxen! Verhungert,
wie wir sind!«

Erwin lief hinaus, holte einen neuen Apfel und biß kräftig drein.

»Siehst du, Gustav, ich bin als Kriegsfreiwilliger eingetreten, hab'
erst an den Vogesen geschanzt, bin dann auf dem Petersberg zu Erfurt
gedrillt und bei sonst guten Vorgesetzten zuletzt von einem Hauptmann
elendiglich schikaniert worden, weisch, von so 'me Hähä-Kerl mit dem
Monokel im Auge, kuranzt und kujoniert, sag' ich dir! Elsässer und
Lehrer hat er nicht leiden können -- na, hol' ihn der Erzengel Gabriel
in den siebenten Himmel, ich gönn's ihm von Herzen, dem ausrangierten
Knochen! Dann nach Flandern, gleich in die Schlacht -- und die Hälfte
der Kompagnie weggeblasen! Wir andern aber in den Schützengräben bis
an den Bauch im Wasser! Herrschaft, Güschtel, das schlaucht! Und dann
mörderisches Trommelfeuer! Sakerlot, und hab's halt doch durchgebissen,
Gustav! Getanzt haben wir wie die Indianer, wenn wir wieder in
Ruhestellung waren, und haben Läuse gefangen und Heimatlieder gesungen.
Dazu ist man halt jung und Soldat!«

Er lachte unwiderstehlich und warf den Apfelrest durchs Fenster.

»Ja, wenn ich deine Spannkraft hätte!« meinte Gustav, hörte aber doch
schon beträchtlich aufgeräumter zu.

»Du hast sie, Gustav! Sie ist nur verschüttet, wie ein Unterstand,
in den sich eine blödsinnige Granate verirrt hat. Grab deine Energie
wieder heraus! Und dann aufs neu' ans Werk! Herrschaft, was ist im
Elsaß aufzubauen! Grad im Elsaß, in der deutschen Westmark! Weißt was,
Gustav? Wir müssen einen Bund gründen, wir Jung-Elsässer! Und ich hab'
schon einen Namen dafür! Weißt, welchen? Elsaß leit' ich von Edelsassen
ab: also Bund der Edelsassen!«

»Freilich, hier ist nach dem Kriege viel zu tun, einfach alles! Wenn's
nicht schief geht an der Westfront! Hast du den Tagesbericht gelesen?
Immer zurück!«

»Wir müssen eine vornehm gesinnte, ritterliche Jugend erziehen! Wir
müssen Elsässer zu Edelsassen formen! Herrliche Aufgabe!«

Erwin war in vollem Feuer und kam aus seinem Lieblingsausruf
»Herrschaft« gar nicht mehr heraus. Er steckte seinen akademischen
Vetter mit Begeisterung an.

»Ihr Akademiker versimpelt ganz und gar in lauter Kleinwissen! Da haben
wir Mittelschullehrer eine ganz andre Einheit. Und du Sammelhans ganz
besonders verkrümelst dich in Spitzfindigkeiten. Auch mir macht der
Schulinspektor das Leben sauer genug; ich bin manchmal kreidebleich vor
Zorn und Scham dag'standen, wenn er mir in der Klasse herumgenörgelt
hat, es hat mich wahrhaftig g'fuchst -- -- Lüej do, e Spätzel!«

Ein Spatz hatte sich in die Dachkammer verflogen. Beide Jünglinge
machten sofort Jagd auf den verängsteten Vogel und vergaßen Grimm und
Herzeleid. Aber der kleine Gast entwich wieder, und sie setzten ihr
Gespräch fort.

»Güschtel, es muß ein andrer Geist ins Elsaß! Freudigkeit fehlt in
der Westmark; sie ist erstickt unter Paragraphen! Gustav, wir stecken
vom Elsaß aus die ganze deutsche Welt mit einem neuen Feuer an! Wir
zeigen's denne Schwowe!«

»Stimmt, stimmt!« rief der andre Elsässer. »Es giftet mich schon lang,
wie jetzt wir Elsässer behandelt werden, hüben und drüben! Falsch und
feig -- so heißt's von uns! So kann's nit fortgehen, Erwin!«

»So isch's, Gustav! Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen!
Zusammenhalten, doppelt stramm unsre Arbeit tun, und dem Kerl an d'
Gurgel fahren, der aufs Elsaß schimpft!«

»Ich hab' emol a Feldwebel ...«

Jetzt waren die zwei jungen Kriegsmänner, die von ganzem Herzen
Deutsche, aber auch von ganzem Herzen Elsässer waren, im vollen Zuge.
Gustav erzählte einen siegreichen Zusammenstoß mit einem Feldwebel;
er war aufgetaut; seine Schwermut war mit dem Sperling davongeflogen.
Dann kamen sie auf tapfere Landsleute zu sprechen, die sich das Eiserne
Kreuz erster Klasse geholt hatten.

Und hier gab es plötzlich eine jähe Pause, als das Wort
»Landesverräter« fiel. Gustav erblaßte. Beide dachten an Fannys Bruder.
Riesenhaft erhob sich wieder der Schatten ...

Endlich stieß Gustav schweren Atems hervor:

»Jetzt weißt du wohl auch, warum ich ein gebrochener Mensch bin.«

Erwin murmelte ingrimmig vor sich hin; es klang etwas wie
»Cerclebrüder« daraus hervor. Die Welschlinge in Straßburg hatten
sich vor einem Jahrzehnt und noch länger in einem »=Cercle des
étudiants=« gesammelt; für die gleichgestimmten Frauen und Mädchen
gab es einen »=Cercle des annales politiques et littéraires=«;
da wurde nur französisch gesprochen. Planmäßig hatten Franzosen und
Französlinge daran gearbeitet, Elsaß-Lothringen in westliche Kultur und
Sprache einzutauchen und deutschem Wesen zu entfremden. Die elsässische
Luft war vergiftet. Fannys Bruder Georg war in diese Kreise geraten.
Seine Flucht war die Folge.

»Weißt du, wo ich ihn zuletzt gesehen habe?« begann endlich Erwin.
»Beim =Monôme=! Als einmal die Cerclebrüder nachts das Kleberdenkmal
im Gänsemarsch umschritten, du weißt ja, um sich durch diese stumme
Kundgebung zum Franzosentum zu bekennen! Die Simpel! Die Kindsköpf,
die! Die haben uns den Weltkrieg eingebrockt, die Revanchemännle,
die nichtsnutzigen! Und das haben wir mitangesehen, geduldet in
Deutschland! Und dann nennt man die deutsche Regierung noch tyrannisch!
Herrschaft, würden die Franzosen einen Wetterlé geduldet haben?
Aufgehängt hätten sie ihn, den Falschmünzer!«

Erwin, immer ins Allgemeine strebend, trachtete den Freund vom
Persönlichen loszureißen. Dieser aber, obschon zu den flammenden Worten
nickend, hing doch unentwegt einem düstren Gedanken nach. Und jetzt
faßte er den Freund am Arm und sagte gedämpft, als ob er ein Geheimnis
ausplauderte:

»Du, Erwin, und etwas von dem Geist steckt auch in Fanny!«

»Unsinn!« rief der andre. »Sie hat dich lieb!«

»Hat mich lieb, aber hängt auch an ihrem Bruder! Weißt du, dieser
Faquin mit dem gewichsten Schnurrbärtchen -- =Monsieur Bielère= --
dieser Schwadronneur und Schwerenöter hat alle Cercle-Weiber berauscht!
So recht der französisch parlierende Arzt für französisch parlierende
alte Jungfern! O nein, da mach' ich nicht mit! Da bin ich viel zu
steif, zu still, zu innerlich dazu, um's mit so einem aufzunehmen, denn
im Parlieren ist er mir über, mein Französisch ist erbärmlich. Und in
sinnlich-eleganten Salonmanieren ist er mir erst recht über. Und das
fühlt Fanny! Ich spür's ganz gut, daß sie mich manchmal im stillen mit
ihrem flotten Bruder vergleicht« -- --

»Unsinn, Gustav! Phrasen dreschen kann jeder =Commis-Voyageur=
oder Zwischenhändler! Bohr' dich nicht in solchen Verfolgungswahn
hinein! Die Sache ist traurig genug -- aber sie will halt überwunden
werden, wie andres Kriegsleid auch! Himmel, wie viele von unsren
Kameraden liegen schon im Boden!«

Und Erwin packte den Freund unter den Arm.

»Komm mit, Alter! Jetzt gehn wir 'runter und trinken e Fläschel
Ottrotter, oder was ihr sonst Gutes im Keller habt! Hopp, hopp!
Und Fanny -- siehst du, Gustav, sie ist eine fröhliche Aufgabe,
kein Anlaß zur Trauer! Nimm an, Fanny sei das verkörperte Elsaß!
Erobere diese hübsche Verkörperung so recht von innen heraus -- sei
gewinnend, liebenswürdig, bestrickend, unwiderstehlich, kurzum:
genial! Herrschaft, wenn ich an deinem Platz wär'!«

Er lachte in seiner gutartig hellen, bezwingenden Art, schritt
aufgeräumt mit ihm hinunter und verbarg seine Sorgen um die wankende
deutsche Westfront.

Fanny kam herübergelaufen. Auch Schwester Lisy, die den Haushalt
führte, in ihrer lächelnden, rosigen Ruhe und Rundlichkeit, setzte sich
dazu. Und so schufen sie eine gesellige Nachmittagsstunde, dampfend von
Zukunftsplänen, wie sie das Elsaß nach dem Kriege entgiften und mit
Frohsinn anstecken wollten. Der fünfzigjährige Philosoph, der tagsüber
kräftig in seiner Gemeinde gearbeitet hatte, um dem Bürgermeister über
all die Lebensmittelsorgen und tausenderlei Verfügungen ins klare zu
verhelfen, ward wieder jung mit den Jungen und schüttelte den Trübsinn
ab.

Fanny sprühte von Geniefeuer. Sie stand mit Erwin in einem reizenden
Neckverhältnis; sie beflügelten sich gegenseitig und waren wie zwei
Falter, die in blauer Luft miteinander spielend, immer höher steigen.
Und während Gustav wieder still ward und in sich zusammensank, wurde
dort das Funkenwerk fast schon Flamme.

»Er isch halt immer verliebt, der Erwin«, meinte einmal die gutmütig
auflachende Lisy, die an dem heitren Jungen gleichfalls Freude hatte.

Aus ihm aber, der nach drei Tagen wieder mit der Übermacht der
Franzosen und Engländer zu kämpfen hatte, sprach eine wehmutvolle
Glut, ein Heimweh, ein Liebesverlangen. In seinen Worten war
eine schwungvolle Poesie. Man hatte von Lenau gesprochen, Fannys
Lieblingsdichter. Er nahm das Buch und schlug auf. Und da er ein
ausgezeichneter Vorleser war, kamen die melodischen Klänge in der
bewölkten Stube wundervoll zur Wirkung:

                  »Rings im Kreise lauscht die Menge
                  Bärtiger Madjaren froh;
                  Aus dem Kreise rauschen Klänge --
                  Was ergreifen die mich so?«

mit den Schlußworten:

                  »Ahnen sie des Jünglings Ehre?
                  Ahnen sie sein frühes Grab?«

Fanny, diese feinbesaitete Natur, saß nach ihrer Art zusammengekauert
im Schaukelstuhl und hatte die graublauen Augen auf den Vorleser
gerichtet, regungslos, die Arme um das hochgezogene Knie geschlungen.
Sie sah ein Schlachtfeld der flandrischen Ebene, tiefhangende schwarze
Wolken, ein schwefelgelbes schmales Abendrot, rauchende Dörfer darin
und ragende Fensterhöhlen -- und zwischen den schattenhaft hinziehenden
Heeren die furchtbaren Flammen einschlagender Granaten ...

Plötzlich fuhr sie zusammen. Eine Stimme klang nahe an ihr Ohr: »Was
krieg' ich fürs Vorlesen?« Und Erwins Gesicht beugte sich lachend und
keck-verlegen zu ihr herab.

Fanny sprang auf und wollte ihn unbefangen auf die Wange küssen; doch
er drehte sich ein wenig und nahm den Kuß voll und unmittelbar von
ihrem Munde.

Bald darauf verabschiedete sich der junge Krieger mit etwas
übertriebener Lustigkeit. Onkel Arnold und Gustav beschlossen, ihm eine
Strecke das Geleit zu geben. Im Hausflur, als die andern schon draußen
waren, packte Fanny den zuletzt gehenden schwermütigen Verlobten rasch
von hinten her um den Hals und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich hab' dich
doch ganz allein lieb!«

                   *       *       *       *       *

Als Fanny durch die Seitentür des Hofes in ihr väterliches Haus
zurückkehrte, ward sie Zeuge eines eigenartigen Vorganges.

War das nicht der lahme Schauli? Wollte er wieder einmal die etwas
einfältige alte Salome necken?

Der krumme Kellermeister, der neben dem Taubenschlag sein Stübchen
hatte und seit einem Jahrzehnt zum Hauswesen gehörte, rollte eben ein
leeres Faß unter die Fenster der Wohnstube. Und nun war er wahrhaftig
im Begriff, hinaufzuklettern!

Drinnen ging's hitzig her. Und zwar -- es war kein Zweifel -- in
französischer Sprache. Im Dorf lag bayerische Einquartierung; vor der
nahen Schmiede lungerten Feldgraue herum. Wurde jenes politische
Gespräch in Bielers Wohnstube noch lauter, so konnte die ganze Gasse
das unpolierteste elsässische Französisch vernehmen. Und dann -- dachte
Schauli mit Recht -- war »der Teufel los«.

So rollte denn der krumme Schalk sein Fäßchen heran, nahm erst eine
Prise aus der Birkendose und verfügte sich mit seinen Säbelbeinen etwas
mühsam auf den Faßboden. Und plötzlich sich erhebend, streckte er den
schnauzbärtigen und buschigen Graukopf mit der zerknitterten Hausmütze
ins Fenster.

»=Messieurs!=« rief der alte Zuave. »=Excusez=, awer 's isch
vun dr ditsche Rejeerung verbotte, franzehsch ze redde!«

Sprach's und verschwand wieder schmunzelnd in die Tiefe, die
französisch parlierenden Brüder Bieler ihrem Staunen überlassend.

»Wer isch denn drinne, Schauli?« rief Fanny herüber.

Schauli drehte den Kopf aus dem Kellereingang zurück und legte einen
Ton komischer Hochachtung in seine Antwort.

»Dr Herr Charles üs Stroßburi!«

»Sunsch nix?«

Es klang nicht gerade entzückt.

»Nee, Mamsell Bieler, sunscht wüßt' ich jetzt im Aueblick juscht net
viel Nejes«, meinte der alte Spaßvogel ernsthaft und humpelte in seinen
Keller.

»Was isch des jetzt do gsin, Jean?« fragte drin der ältere der beiden
Brüder, der Straßburger Kaufmann und Kirchenälteste Charles Bieler.

»Dr krumm Schauli, der alt' Narr!« brummte der Winzer Johann Bieler und
schenkte ein. Aber die Brüder sprachen fortan elsässisch und dämpften
ihre Stimmen. Und überdies schloß Charles das eine Fenster und Jean
das andre. Dabei schnellten einige Weinranken zurück, die sich in den
Fensterflügel klemmen wollten; und Papa Bieler, dessen Käppchen schief
saß, machte eine ärgerliche Bewegung, als scheuchte er verspätete
Wespen hinweg. Er war sichtlich verstimmt.

Sie hatten sich über den Preis des Weines, den Herr Bieler aus
Straßburg zu kaufen gekommen war, noch nicht geeinigt. Sein Bruder
setzte ihm erfolglos auseinander, welche Lasten jetzt den Winzer
zu Boden drückten. Er war empört über Kriegswirtschaft und
Zwischenhändler; der Weinbau mache ihm längst keine Freude mehr. Er
werde sich zurückziehen.

Dann brachen sie ab; und der Straßburger fragte plötzlich nach Fannys
entflohenem Bruder.

Der ältere Bieler war ein ansehnlicher Herr, mit wohlgeübten,
bedächtigen Bewegungen, die einen kühlen Abstand gegen seine
Angestellten bedeuten sollten. »Der Herr Bieler« -- seine Waschfrau
sprach das Wort mit ebensoviel Hochachtung, die Hände am Schürzenzipfel
abtrocknend, wie der Lehrjunge, wenn er schnell ein paar gestohlene
Rosinen hinunterschluckte und eine respektvolle Haltung annahm. Für
Madame Bieler war er nur in vertrautem Kreise »d'r Charles«; vor allen
andren war er auch in ihrem Munde »d'r Herr«; und der Lehrbub wußte,
was sie meinte, wenn sie ihm zurief: »=Voyons donc=, Schosef,
wart' nur, wenn d'r Herr heimkummt!«

»D'r Herr« -- da lag Würde drin. Zumal wenn er den Kneifer auf die
Nasenspitze setzte, obwohl nicht sehr kurzsichtig, und dann, über
die Gläser hinüberschauend, mit seinen Leuten sprach: da spürte man
den reichen Mann, die alte Familie. Diesen Kneifer hatte er an einer
schwarzen Schnur immer erreichbar in der oberen Westentasche, spielte
oft damit und gab seinen Worten Nachdruck, indem er mit der Rechten
den flachen Kneifer auf und ab bewegte: »=Voila!= So isch d'
=affaire=!«

Sein Bruder, Fannys Vater, war mehr ländlicher Art, gutmütig und
natürlich, weniger kühl und weniger hoffärtig. Papa Bieler trug einen
kurzen grauen Spitzbart, ein Sammetkäppchen auf dem fast kahlen
Kopf und eine blaue Schürze, in deren oberem Teil ein großes buntes
Taschentuch zu stecken pflegte. Er schnupfte ebenso leidenschaftlich
wie sein Gehilfe Schauli und fuhr häufig, besonders in erregten
Augenblicken, mit dem Taschentuch über die Nase. Wenn er recht
ungeduldig oder ärgerlich war, wie heute, so rückte er das bestickte
Käppchen fortwährend von einem Ohr zum andern und kratzte sich bald
links, bald rechts. Und während sich der abgearbeitete Mann etwas
gebückt hielt, stand der beleibte Straßburger aufrecht mit seinen
langen Rockschößen und hatte gern die linke Hand hinter dem Rücken,
während die Rechte mit dem Kneifer belehrte. Straßburg beherrschte das
Feld; Lützelbronn kam nicht dagegen auf.

»Weisch, Jean,« stellte der Herr Bieler aus Straßburg fest, »dü bisch
allewil e bissel e schwacher Charakter gsin. Awer was de Georges
anbelangt -- er het absolument recht!«

Und er verteidigte seines Neffen Fahnenflucht.

Die Brüder sahen sich selten, zumal während des Krieges. Es war die
erste gründliche Aussprache. Im alten Bieler wollte der Kummer und
Verdruß ob des Sohnes Tat nicht zur Ruhe kommen. Aber der Straßburger
billigte die Flucht; ja, er hatte sie angeregt.

»Ich bin früher bei der Regierung geachtet gewesen,« erwiderte Papa
Bieler, »jetzt bin ich geächtet. Der Herr Kreisdirektor ist oft zu
mir gekommen, der Herr Bezirkspräsident hat mich wie 'en alte =ami=
behandelt. Jetzt gehen sie mir alle aus dem Wege. Aber der Gendarm
streicht ums Haus herum; und wenn der Bezirkshauptmann kommt, so macht
er ein paar Augen -- na, du kannst dir's denken! Ich bin nichts mehr,
ich gelt' nichts mehr. Und das hab' ich meinem Sohn zu verdanken.«

Fanny war während der Erörterungen eingetreten, hatte den Oheim
kurz begrüßt und einen Teller voll Trauben auf den Tisch gestellt.
Schweigend setzte sie sich auf einen Stuhl. Und als sie eine Weile
zugehört hatte, ging sie ebenso stumm wieder hinaus.

»Und ihr zwei habt nicht an die dort gedacht, an Fanny,« fuhr Papa
Bieler fort, »sonst hättet ihr's euch besser überlegt. Du weißt, daß
sie mit dem Gustav da drüben verlobt ist. Und du weißt, daß sie im
Pfarrhaus deutsch sind bis auf die Knochen!«

Das brachte den Herrn Bieler aus Straßburg plötzlich in Aufruhr. Eine
Flutwelle von angestautem Zorn und Haß ergoß sich aus dem sonst so
gehaltenen Städter:

»So ein Professor, der kein rechter Pfarrer, und so ein Pfarrer,
der kein Professor ist! Der Halbschwob ist euer Unglück! Den hat
die Regierung da hergesetzt, daß er aufpassen soll! Ein bezahlter
Regierungsagent! Glaubst du denn, der tut sich nur so aus Mitleid
um die Gemeinde kümmern? Der wird wissen, was er für sein Aufpassen
bekommt! Und du bist so dumm und gibst dem Schwob deine Tochter! Die
hätt' in Straßburg die brillantesten Partien machen können! Und da
hängt sie jetzt an dem Schwowe-Trottel!«

Der Herr Bieler aus Straßburg verlor alle Fassung. Er wurde gehässig.
Ihm waren allerlei Heiratsabsichten, die er mit seiner Nichte geplant
hatte, zu Wasser geworden. Und auf einmal schrie er: »Der da drüben
wird wissen, =ma foi=, woher das Geld stammt, mit dem er sein Gut
instand hält, während er da den Pfarrer spielt! Aber wart' nur: d'
Franzose komme wieder ins Land! No paß uff!«

Ein Weilchen ließ der Winzer seinen empörten Bruder toben. Dann aber
packte ihn selber, den gutartigen Alten, jene Wut, die selten, aber um
so furchtbarer aus dem biederen Alemannen herausbrach. Ein Faustschlag
donnerte auf den Eichentisch.

»Halt's Mül, Charles! Jetzt haw ich, zum Dunderledder noch emol, din
daub Gebabbel satt! Müeß denn glich jeder e bezahlter Spion sin,
wenn er Achtung het vor Ditschland?! So e hirndumms, simpelhaftes,
nixnutziges Cercle-Gebabbel! Dü hesch mine Büe uff'm Gewisse, dü, ja dü
mit dine Hetzrede!«

Vater Bieler schrie es dem verdutzten Straßburger mit Zorn und Schmerz
ins Gesicht, dann schritt er stracks hinaus und schmetterte die Tür
dermaßen hinter sich zu, daß die farbigen Luxteller an der getäfelten
Wand tanzten. Und der erschrockene Bruder stand allein.

»=Allons donc! Allons donc!=« sagte Herr Bieler, legte die
Hände auf den Rücken und war bestürzt. So hatte er den Jean noch nie
gesehen. Mit dem war's verschüttet. Er ging hin und her, legte sich
einige versöhnliche Wendungen zurecht und lauschte nach der Tür. Aber
der andre gab ihm keine Gelegenheit, seine einlenkenden Redensarten
anzubringen. Papa Bieler war in den Keller gegangen und klopfte mit
Schauli wahrhaft erbost an den Fässern herum.

Was tun? Sollte man zur »Tante Sophie« hinaufgehen, die im
Giebelstübchen hauste, halb gelähmt an den Beinen, ganz und gar nicht
an der Zunge? Nun ja, einen »=Bonjour=« mußte man ihr sagen, kurz
und höflich. Tante Sophie war die Schwester der beiden Bieler, sehr auf
den braven Winzer gestimmt, wenig aber auf den »Hochmutszipfel«, wie
sie den Straßburger zu nennen pflegte.

Dieser stand verdrießlich am Fenster. Es lag ein wohltuend warmer
und reiner Himmel über Haus und Garten, über Dorf und Weinberg
nebst dunklem Bergwald. Und in der Luft war dieses verheißungsvolle
unterirdische Pochen in manchen Kellern, und fernher irgendein
Knabenruf oder schnatternde Enten am Dorfteich. Alle Laute, auch das
Hähnekrähen, waren klar und nahe. Nur gedämpft, fast träge, klang heute
der altgewohnte Kanonendonner durch die Stille ...

»Die Welt wär' schön,« dachte plötzlich Herr Bieler, »wenn's keine
Politik gäb'.«

Er schenkte sich unbehaglich sein Weinglas voll. Das Gold funkelte
in der Sonne. Er hob das Glas gegen das Licht. Mit wem nun anstoßen?
Und auf was? Auf Frankreich? Man war schließlich doch kein Franzose;
und Elsässer zu Tausenden bluteten jetzt gegen den welschen Nachbarn.
Sollte man ihnen Niederlage und Untergang wünschen? »=Ma foi,
non=, sell geht net.« Auf Deutschland? Na, das hatte auch so seine
Mucken. Aufs Elsaß? Ja, aber man war ja nicht einmal im Ländel einig!

Ohne zu trinken setzte der sonst so sichere Herr Bieler das Glas wieder
ab. Ihn durchschauerte zum erstenmal das äußerst ungewohnte Gefühl der
Vereinsamung. Fannys stummes Kommen und Gehen mitten in dem politischen
Gezänk ward ihm auf einmal, in der blauen Stille dieses wehmutschönen
Herbsttages, schmerzlich bewußt. Das Ehrenmitglied des Straßburger
=Cercle= ahnte da ein Frauenleid, an dem bisher seine politische
Verbohrtheit blind und stumpf vorübergegangen war.

Langsam trank er endlich den ausgezeichneten Rappoltsweiler Riesling
allein aus. Dann nahm er Hut, Mantel und Schirm, wechselte in der
Küche einige Worte mit Fanny und Salome, sagte im Giebelstübchen der
unwirschen Tante Sophie »=Bonjour=« und zog seines Weges, ohne den
beleidigten Bruder noch einmal gesehen zu haben.

Als der Straßburger verschwunden war, tauchte erst der alte Schauli
zwischen den Oleanderbüschen des Eingangs aus dem Keller auf und
streckte den Kopf empor wie ein Dachs aus dem Bau. Er witterte,
schnoberte nach allen Seiten in die Luft und winkte dann seinem Patron
und Arbeitgeber. Nun erst hinkte, stöhnte und schimpfte der Weinsticher
selber in Hof und Stube hinauf und begab sich nachher bald zu Bett.
Sein rheumatisches Leiden hatte ihn wieder gepackt.

»=Mais dis-donc, papa!=« rief die besorgt herbeieilende Fanny,
»warum bisch denn in de Keller gange?«

»=Tais-toi!=« rief der verärgerte Alte zurück. »Schilt dü nit au
noch! Do dran isch der Stroßburjer Giftnickel schuld.«

Und er machte seiner Leber Luft. Er passe nicht mehr in die Zeit und er
vertrage den Keller nicht mehr. Man solle ihm seine Ruh' lassen. Wenn
doch nur die Tochter unter der Haube und die Tante Sophie in Pfalzburg
bei der Schwester oder am Nordpol bei den Eskimos säße! Er selber aber
freue sich auf den Moment, wo er mit seinem einzig wahren =Ami=,
seinem Jugendfreund Sorgius, im Spital oder im Diakonissenhause in der
Sonne sitze oder in der Taverne sein Schöppele trinke. Mehr wolle er
nicht.

                   *       *       *       *       *

»Lisy, verstehst du, daß man sich einmal ausweinen muß?« rief die
stürmische Fanny, indem sie in Schwester Lisys stilles Stübchen trat,
sich vor sie hinwarf und fassungslos zu schluchzen begann. »O Lisy, ich
kann und kann und kann's nicht mehr aushalten!«

»Um Gottes willen!« rief die erschrockene Lisy, legte die Stickerei
beiseite und streichelte das blonde Köpfchen in ihrem Schoße. »Was isch
denn g'schehn, Kind?«

»Ich hab' Georges lieb und hab' Gustav lieb und hab' Erwin lieb -- und
Onkel Arnold und alle hab' ich lieb! Ich sterbe an zu viel Liebe! Und
mich hat keiner lieb!«

Das holde Kind in seinem hellgrauen Gewand lag weinend vor den Knien
der immer dunkel gekleideten Freundin, deren Schattenriß sich breit vom
Fenster abhob.

Schwester Lisys reife Ruhe wirkte auf diese heißherzige Natur immer
sehr wohltuend. Über zwanzig Jahre älter als Fanny, ziemlich zur Fülle
neigend, war sie in Reden und Bewegungen von angeborener, durch den
Umgang mit Leidenden verstärkter Bedachtsamkeit. Ein Dutzend Jahre
war sie Krankenpflegerin gewesen und hatte sich hernach der Massage
gewidmet. Sie besaß dazu eine geheimnisvolle Begabung. Genesungskraft
entströmte ihren weich-warmen Händen. Sie betrachtete diese Tätigkeit
als eine Art Gottesdienst; ein stilles, von keinem gemerktes Gebet für
die Kranke pflegte ihre Arbeit zu begleiten. Von sich selbst machte
sie nicht viel Wesens; allen Dank der Genesenen brachte sie ihrem
himmlischen Vater dar, mit dem sie sich in inniger Einfalt verbündet
wußte. Ungern hatte sie sich kurz nach Kriegsbeginn, nach einer
schweren Typhuserkrankung, bereden lassen, Vetter Arnold den Haushalt
zu führen. Sie war dann, immer als »Schwester Lisy« in Lützelbronn
geblieben, sehnte sich aber nach ihren Straßburger Lazaretten und
Kranken, nach ihrem eigentlichen Berufsfeld.

»Was haben sie dir denn wieder einmal angetan, Kind?« Sie pflegte die
Kleine meist »Kind« zu nennen in ihrer mütterlichen Freundschaft. »Ist
die Tante ungattig? Setzt der Papa 's Käppel zu viel aufs link' Ohr? Wo
fehlt's denn?«

»Lisy,« rief Fanny jäh, warf die Arme empor und riß der Freundin Kopf
zu sich herab, »hast du denn gar keine Augen, siehst du denn nicht, daß
wir alle umeinander herumgehen? Siehst du denn nicht, daß wir alle so
schrecklich einsam sind?!«

Und sie erzählte in hastigen Worten den bösen Zusammenstoß zwischen den
Brüdern; und Papa habe so »gekrischen«, wie sie ihn noch nie schreien
gehört habe; und der Onkel sei ganz kreideweiß gewesen; und die Tante
sei unausstehlich giftig, humple in der Küche herum und mache ihr und
Salome das Leben schwer.

»Ja, ja,« sagte Lisy bekümmert, »dein Bruder hätt's halt doch nicht tun
sollen.«

»Gel, ja, alles Unglück kommt nur von da her, nur von da!« stimmte
Fanny leidenschaftlich bei. »Denn seit jener Zeit -- ich fühl's genau
-- traut mir auch Gustav nicht mehr ganz. Es ist etwas zwischen uns
zweien. Und, Lisy, ich will dir's nur gestehen« --

Das ehrliche Kind zögerte einen Augenblick und flüsterte dann, wie im
Beichtstuhl, der Freundin ins Ohr:

»Gustav hat recht! Ein Teil meiner Phantasie ist nicht immer bei ihm,
ist oft bei meinem Bruder in Frankreich. Lisy, ich sag's nur dir, dir
ganz allein! Ich male mir's oft aus, wie sie's dort wohl schwer haben,
da doch so ein großer Teil von Frankreich verwüstet ist, wie sie aber
doch so tapfer weiterkämpfen. Und daß sie doch eigentlich feinere
Manieren haben als die Deutschen -- weißt du, ich mal' mir's halt nur
so aus. Und daß Georges nun für immer drüben bleiben muß und ich hier
...«

Sie brach zögernd ab, mit dem fragenden Blick eines Kindes, und schaute
fast ängstlich in Lisys Gesicht, ob sie denn nun nicht ganz und gar
verurteilt werde.

Das rosige, volle Gesicht der milden Freundin wurde ungewöhnlich ernst.

»Liebes Kind,« sprach sie, »bist du drüben gewesen? Nein. Aber ich.
Du malst dir aus, was sich viele Elsässer ausmalen. Ich kenne die
Franzosen, hab' liebe Freunde unter ihnen, kenne aber auch ihre Fehler.
Stell' dir ja nicht vor, daß hinter den Bergen, wo das Abendrot den
Himmel so schön goldig färbt, alles eitel Licht und Farbe sei! Das
ist falsche Romantik. Sieh dir dort einmal das Bild meines Bruders
an, des Lehrers, den sie als Geisel verschleppt und schauerlich
mißhandelt haben! Ein so stiller, braver Mensch! Freilich könnten die
Deutschen von den Franzosen auch lernen, vor allem, daß man auf seine
Nation stolz sein muß. Denn das sind sie drüben; sie haben darin mehr
Charakter als wir hierzulande. Aber wir haben Ordnung, Ernst und Tiefe.
Und im Grund auch viel mehr Liebe, Fanny. Es ist nur jetzt überall so
viel Haß und Kälte in der Welt, daß wir alle frieren. Nein, nein, mal'
dir über die Franzosen nichts Romantisches aus! Die Religion hat dort
einen schweren Stand. Ich wünsch' ihnen und uns den Frieden -- aber
französisch werden? Gott möge das Elsaß vor dem Unglück bewahren!«

»Lisy,« sagte Fanny, in ihrer sprunghaften Art plötzlich von einem
anderen Gedanken durchzuckt und die Tränen aus den Augen wischend,
»hast du denn eigentlich nie geliebt? Ich habe nie eine so selbstlose
Person gesehen wie dich.«

Schwester Lisy lächelte ihr unsagbar gütiges Vollmondlächeln, nahm das
schmale Gesichtchen der Kleinen in beide Hände und fragte mütterlich:

»Kind, was verstehst du denn eigentlich unter Liebe? Sag' mir doch
einmal das zuerst!«

»Nun, daß dich ein Mann ganz besonders und vor allen andren Menschen
dich ganz allein lieb hat und du ihn.«

Lisy schaute mit einem eigentümlichen Blick durchs Fenster in eine
weite Ferne.

»Weißt, Fanny, das sind so junge Mädchenträume. Die macht man einmal
durch in deinem Alter, aber man bleibt nicht dabei stehen. Man will
anfangs freilich besitzen, nach und nach aber will man etwas anderes:
nämlich helfen. Mir liegt das Helfenwollen im Blut; denn als Tochter
eines Arztes bin ich schon in Kinderjahren an den Operationstisch
gewöhnt worden. Siehst du, und so frag' ich halt immer zuerst, was
andre leiden ... Entschuldige nur, ich muß von Zeit zu Zeit aus dem
Fenster schauen: Vetter Arnold sitzt jetzt schon wieder stundenlang
bei einer Kranken, hat das Essen versäumt und kommt, scheint's,
nicht mehr nach Hause. So macht er's immer. Und wenn er heimkommt,
geht's gleich wieder an den Schreibtisch bis Mitternacht. Und die
vielen Lebensmittelsorgen, die Mißstimmung im Volke, die sittlichen
Verwilderungen in der vaterlosen Jugend und alles das -- es reibt
ihn vor der Zeit auf. Denn er gehört in geistig vornehme Luft, nicht
in so kleinliche Verhältnisse. Er gehört überhaupt nicht ins Elsaß.
Denn hier ist alles vergiftet. Sieh dir doch nur einmal sein Gesicht
an, wie sich da Wehmut eingegraben hat!«

Fanny stützte den Kopf in beide Hände und lauschte nachdenklich.

Lisy schaute immerzu durchs Fenster. Wolkenschatten zogen über ihr
mildfreundliches Gesicht, als sie nun wie zu sich selber mit ihrer
angenehm leisen Stimme plauderte:

»Ich kenne ihn seit meinem zehnten Jahre. Er ist ja älter als ich.
Ein merkwürdiger Sonderling schon als Knabe! Durch meinen Stiefvater
sind wir Verwandte geworden und haben uns eigentlich immer gut leiden
können. Heute schaut man auf die Gefühle jener Zeit zurück wie auf --
nun, wie soll ich sagen -- wie auf welke Albumblätter und vergilbte
Briefe. Ach, und es hat doch damals recht weh getan, bis es überwunden
war!«

Sie wandte ihr Gesicht plötzlich wieder dem immer noch vor ihr knienden
Mädchen zu.

»Geliebt, Fanny? Ob ich geliebt habe? Ich habe immer geliebt. Erst
war's ein einzelner Mann, später wurden es sehr viele Männer und
Frauen. Ja, Kind, ich hab' mich auch einst manche Nacht in den Schlaf
geweint und habe Gott angefleht, er möge mir eines bestimmten Mannes
Liebe schenken. Aber Gott hat etwas Besseres vorgehabt; er hat's später
erhört, nur ganz anders. Er hat mir Liebe über Liebe gegeben; Tränen
der Dankbarkeit, ja Küsse dankbarer Liebe auf diese zwei Hände sind
mir geschenkt worden. Fanny, und das ist so heilig-schön, daß es jenes
andre wahrscheinlich übertrifft. Mein Liebesvermögen ist nicht ärmer
geworden, sondern reicher. Sollen wir Frauen denn immer erst Weibchen
sein und dann erst Menschen?«

Fannys blaue Augen waren größer als je. Sie erhob sich, setzte sich
auf Lisys Schoß, legte den Arm um den Hals der Freundin und den Kopf
an ihre Schulter. Und mit einem Seufzer und bebender Stimme sagte sie
leise:

»Du bist besser als ich, Lisy, und bist größer. Wenn ich deinen
einsamen Weg gehen müßte -- es wäre mir grauenhaft!«

Sie schüttelte sich.

»Nein, ich darf nicht dran denken, nein, nein, nicht dran denken! Es
würde mir die Kraft nehmen, es würde mich umbringen!«

Sie schloß die Augen. Ahnungen schüttelten ihren empfindlichen Körper,
und ihre Seele schauderte vor Wüsteneien, die sie in der Ferne zu sehen
glaubte.

Die ruhige Freundin küßte des erregten Mädchens glühende Wange
und sagte liebkosend: »Liebs kleins Fannjele« -- als ob sie
zu einem hilflosen Kinde spräche. So saßen sie ein Weilchen
aneinandergeschmiegt, bis sich Fannys heißes, volles Herz am
gleichmäßig atmenden Busen der reiferen Vertrauten beruhigt hatte.

»Vergiß doch eins nicht,« schloß dann Lisy das Gespräch ab, in
ihrer gedämpften, behutsamen Art immer wieder ablenkend, »nämlich,
daß eigentlich Vetter Arnold am einsamsten ist von uns allen und
am schwersten zu leiden hat. Bedenk' doch schon das Unglück mit
seiner Frau! Und was für literarische Pläne hat er gehabt, wie
viel ungedruckte Papiere verschimmeln in seiner Schublade, wieviel
Hoffnungen hat er eingesargt! Mußt nicht nur an dich denken, kleine
Fanny. Ihr alle wißt ja gar nicht, was für Feuer noch in dem scheinbar
so abgeklärten Manne glüht, denn ihr kennt ihn nicht so wie ich ihn
kenne. Und auch ich -- ach, er schließt seine letzte Tür nicht auf!
Er verheimlicht seine Tiefen; es hat niemand den Schlüssel zu seiner
Seele. Auch mich braucht er nicht; und sobald ich Ersatz habe, gehe ich
wieder nach Straßburg. Dich aber haben sie ja alle lieb, Fanny, auch
Erwin, auch Onkel Arnold. Und du willst über Einsamkeit klagen?«

Fanny hatte schweigend den nicht bitteren, doch sehr wehmütigen Ton
dieser Worte in sich aufgenommen. Jetzt sprang sie von Lisys Schoß
herunter, packte der Freundin Kopf und schaute ihr mit jähem Verstehen
in die ruhig ihren Blick aushaltenden braunen Augen. Es wurde kein Wort
weiter zwischen ihnen gewechselt. Doch das junge Mädchen bedeckte das
Gesicht der Überwinderin mit leidenschaftlichen Küssen.

Dann flog sie davon. Und Schwester Lisy griff mit einem leisen Seufzer
wieder nach ihrer Arbeit.

Und sie dachte einem ebenso erhabenen wie einfachen Gedanken nach.
Liebe verbindet, Haß trennt. In diesem Lande waren einst Männer der
Liebe und der edlen Menschlichkeit wie Spener, Oberlin und Pfeffel
geboren. Gediehen denn heute nur noch Menschen des Hasses? Und doch,
wie sich auch der Verstand der Verständigen und der Wille der Titanen
anstrengen mögen: nur die Liebe hat erlösende Kraft.




                            Drittes Kapitel

                          Elsaß und Thüringen

                         Nie werde ich Ihnen, edle, beste Octavie, mit
                         Worten ausdrücken können, wie innig ich Sie
                         verehre und liebe.

                              ~G. K. Pfeffel~ in seinem letzten Briefe
                                           an Octavie von Stein (1809)

                              ... »Wenn Sie sich mit Gott unterhalten
                              und ihm Ihre ehrenwerte Familie und Ihre
                              Freunde empfehlen, so erinnern Sie sich
                              bisweilen auch Ihres ergebenen und
                              verehrungsvollen Johann Friedrich Oberlin,
                              Pfarrer.«

                              Aus einem Briefe ~Oberlins~ an ~Octavie
                                                     von Stein~ (1798)


   Ingo Freiherr von Stein, Leutnant d. Lw., an seine Frau Elisabeth

Auf den Höhen des Steintals, in einer großartigen Vogesenlandschaft,
sitz' ich auf einem Brunnentrog und schreibe vom Elsaß nach Thüringen.

Es ist der Bezirk jenes Pfarrers Oberlin, der ebenso wie der Dichter
Pfeffel mit unsrer Urahne Octavie befreundet war.

Du weißt, daß ich den Sonntag mit einem Choral auf dem Meisterharmonium
zu eröffnen pflege; nun, heute spielt' ich den Choral »Ich bete
an die Macht der Liebe« im Pfarrhause zu Waldersbach, wo einst
Oberlin gewohnt hat. Links ragen die Trümmer des Schlosses derer von
Stein-Rathsamhausen; um mich her, in erhabenem Weitblick, ist eine
mattblaue, kühle Herbstluft. Ich höre keine Glocken, denn sie werden
wohl auch hier in Kanonen umgegossen sein; doch die Glocken sind in mir
... Trauerglocken, Elisabeth!

Ja, ich bin sehr traurig gestimmt und will mir das Herz leicht
plaudern. Flaumacher war dein Spielmann nie; doch Deutschlands
Lage -- bitter ernst! Ich habe neulich zu Straßburg von Freund
Trotzendorff vieles gehört, worüber ein Soldat nicht spricht, sondern
mit knirschendem Erröten schweigt. Doch hängt damit zusammen, daß mich
vor ein paar Tagen ein Etappen-Erlebnis ingrimmig aufgewühlt hat. Es
handelte sich, kurz und derb, um besoffene (entschuldige!) und zotende
Kameraden. Du kennst mich! Das hört sich dein Lebenskamerad bis zu
einem Siedepunkt schweigend an, dann setzt es ein Donnerwetter, im
Namen deutscher Würde und deutscher Sitte -- aber so donnernd, daß
diesen unpreußischen Neupreußen Maul und Nase klafften. Worauf ich
einen blutjungen braven Leutnant -- altpreußische Zucht, feiner und
reiner Mensch -- am Arm nahm und den Saustall (entschuldige abermals
meinen Landsknechtston!) verließ. Es gibt Dinge, über die ich keinen
unsauberen Spaß dulde. Dazu gehört die Ehe.

Genug!

Stell' dir die vorausgehenden harten Wochen vor: meist im vordersten
Graben, im schweren Abwehrgefecht bei meinen übermenschlich tapferen,
blutenden, sterbenden Kriegskameraden, ich selbst immer mitten unter
meinen Wackeren, den Stahlhelm auf dem Kopf, naßkaltes Wetter, die
Füße Eis, die Augen entzündet, der Magen knurrend -- so haben wir
scheußliche Übermacht bekämpft, bis Ablösung kam. Dann trottet man
stumpf, todmatt, Schattengestalten, aus der Feuerzone in Ruhestellung,
säubert das Fell, futtert kräftig und schläft wie ein Sack. Und wacht
auf und -- hält in den Händen deinen goldenen Freudenbrief, den man mit
Küssen bedeckt, wie einst deinen Mund.

O mein Lieb, mein Weib! Ich hab' dir ja schon gedankt -- aber nun
entschuldige, daß ich heute mit solchen Mißakkorden den Brief begonnen
habe, als ob mein Herz nicht trotz alledem voll Fröhlichkeit wäre!
Ganze Feldpakete voll demütigen Dankes könnt' ich dir nach Thüringen
senden. Also zum Knirps Gottfried hat sich eine Irmgard Elisabeth
Luise gesellt! Wie das meinen Kriegsknochen wohltut! So blüht dort im
innersten Thüringen heiliges Leben -- und hier sucht man's mit allen
Kniffen der Kriegskunst zu vernichten! Meine Gute, meine Stille, so
oft ich an dich denke, sehe ich dich als eine deutsche Madonna, dein
Kind an nahrhafter Brust, in dich hineinlächelnd, das Wunder des
Lebens hegend und herzend an diesem Quell. Das Zauberspiel der Liebe
und das Geheimnis des Werdens und Vergehens bleiben mir immer aufs neu'
erstaunlich und heilig. Was tragt und duldet ihr alles um des Lebens
und der Liebe willen, ihr geduldigen Frauen! Man muß euch ja verehrend
auf den Händen tragen und ritterlich lieb haben!

Meine Sorge gilt dem Elsaß. Mir ist bang um des Reiches Westmark.
Und wie hab' ich sie liebgewonnen! Könntest du doch einmal von der
Zaberner Burgruine Hohbarr oder von dem uralten Kloster Odilienberg
auf diese von Fruchtbarkeit strotzende Ebene und ihre dichtgesäten
Dörfer hinausschauen! Und dann dieser Kranz von alten Reichsstädten:
Kaysersberg, Türckheim, Kolmar, Schlettstadt -- und wie sie alle
heißen, deutsch und unaussprechlich für die Franzosen! In einem
schmalen Grenzstreifen, wie hier, wird Französisch gesprochen, überall
sonst alemannische Mundart. Ich sah das zerschossene Hochfeld, ging
über die Perhöhe, wo nun ein Blockhaus steht, und trank Tee im
Pfarrhause zu Wildersbach, bei einem Urenkel Oberlins. Aber es liegt
etwas Banges in der Luft -- die bulgarische Front ist durchbrochen --
mehr will ich nicht sagen ...

Am Sonntag war ich in Lützelbronn, einem reizenden Dorf am
Vogesenrande. Mein Bataillon hatte Ausspannung. Ich gehe durch den Ort
und horche auf: da wird ja mit Verständnis mein wahrlich nicht leichter
Liszt gespielt, das =Sonetto del Petrarca=! Ich hinein: »Was für
ein Haus?« -- »Das Pfarrhaus.« Also warte ich den Schluß ab und lasse
mich keckweg bei dem Konfranziskaner anmelden.

Drinnen find' ich den Pfarrer, ein hageres Gelehrtengesicht, und ein
heiter-natürliches, straffes Blondinchen mit einer vornehmen Adlernase,
einem blühenden, feinen Mund und stahlgrauen Augen -- eine Elsässerin,
von der sich sagen läßt: Zauber der Französin im Bunde mit deutscher
Wärme. In ihren Bewegungen kurz, rasch und bestimmt, von reizvoll
wechselndem Mienenspiel -- und dann wieder mit großen deutschen
Blauaugen weltverloren zuhörend, wie ein Raffaelscher Engel zu Füßen
der Sixtina. Sie ist nebenbei mit dem Sohn des Pfarrers verlobt; ich
hab' mich also nur mit schicklichem Maß in so viel Anmut verliebt ...

Ein mäßiges Instrument, aber ich schwelgte. Derweil glühte hinter dem
alten stumpfen Kirchturm das Abendrot hinab und tauchte Dorf und Stube
in himmlisches Feuer.

Dann Gespräch mit dem Pfarrer, als die Kleine verschwunden war. Und
wieder ein Aufhorchen. Sieh da, ein ernster, tiefer Idealist, ein
Charakter! Nach außen beherrscht, innen voll verhaltener Glut. Leute
dieser Art altern nicht. Je länger wir sprachen, desto jünger redete
sich dieser König ohne Land, der seine Pläne, Träume, Gedanken wie
Gold vor mir ausschüttete, der mir geistgefüllte Schubladen zeigte,
kurzum, der von Ideen strotzt. Kannst dir denken, Elisabeth, daß ich
Feuer fing! Er liest seinen Homer griechisch; er kennt Plato ebensogut
wie Kant; er ist Religionsphilosoph und Mystiker. Dabei spricht er
glänzend, warm und klar.

Und immer mehr stieg vor meiner Seele ein Trauerspiel empor. Dieser
Königsadler im Käfig, mit seinem etwas zerrupften Gefieder und seinen
hangenden Flügeln, zeigte mir, trotz alledem, daß er noch fliegen
konnte. Warum aber sitzen solche Talente in der Ecke? Warum führen sie
nicht? Fehlt es uns nicht überall an Führern? Ich habe lange darüber
gesonnen: Ist er ein elsässisches -- ein deutsches -- ein europäisches
Opfer? Hat ihn der dürr-materialistische Zeitgeist um die Verwendung
seiner Kräfte geprellt? Schleiermacher ist sein Lehrer; und von da
aus hat er sich besonders mit der Romantik befreundet; er kennt genau
Novalis und Hölderlin, diese schön angelegten, aber unerfüllten Seelen
voll Weisheit und Liebe. Einmal, als er sprach von der Notwendigkeit
eines neuen Herzensaufschwungs der Deutschen, kam er so ins Feuer, daß
er ans Klavier sprang und mit mächtigen Akkorden und entsprechendem
Tenor das »Wachet auf, es nahet gen dem Tag« aus den »Meistersingern«
hinaussang. Und mit Wucht fuhr es danach aus ihm heraus: »Wo bleibt
denn eure Kraft, euer Einfluß, ihr deutschen Gralsucher?! Ich muß
euch anklagen, ihr seelenlosen, kurzsichtigen Deutschen, und sage mit
Bewußtsein ›euch‹, denn ich Elsässer, vor 1870 geboren, fühle mich
jetzt als ein zwischen den Nationen zermalmter Europäer. Ihr seid
Knechte eines seelenlos verrömerten Staatsbegriffes geworden! Wo habt
ihr eure einst führende Gemütsmacht? Wo habt ihr die Liebe? Ihr habt
sie für das Linsengericht äußeren Fettwerdens verkauft! Ihr wollt
Engländer- und Amerikanertum nachäffen! Gebt acht, das bezahlt ihr!
Habt ihr uns Elsässern etwas andres ins Land gebracht als Paragraphen
und Polizei? Warum habt ihr uns nicht beizeiten Selbständigkeit
gegeben? Nun sehen Sie sich um, wie unsere Leute verbittert sind!
Neudeutschland hat sich im Lebenston gegen uns vergriffen! Der Franzose
täuscht wenigstens mit liebenswürdigen Phrasen über seine Leere
hinweg. Nein, keine Widerrede, Herr Hauptmann, ich würde nicht so
sprechen, wenn ich nicht bitterlich an Deutschland gelitten hätte, also
Deutschland liebte!«

So hat mir der anfangs verschlossene Sonderling sein Herz entsiegelt.
Er war Privatdozent in Heidelberg gewesen, hat sich dann auf sein Gut
zurückgezogen und bei Kriegsbeginn diese Pfarrei übernommen. Wieviel
Tüchtige leiden edel und unbeachtet in den Tiefen unseres Volkes!

Kurzweg, unter einem bedeutenden Eindruck fuhr ich nach Straßburg zu
Freund Trotzendorff.

Hier unterbrech' ich mein Schreiben einen Augenblick. Weißt du,
weshalb? Lache nicht: eine Bachstelze setzt sich auf den Rand des
Brunnentrogs, wippt mit dem langen Schwanz, trippelt anmutig und
zutraulich näher und beäugt mich. Und hat weder vor Revolver noch
Feldgewand Angst, sondern trinkt ganz gemächlich. Ich nehm's als einen
Gruß von dir aus dem Lande der Liebe ...

Der tapfere Haudegen Trotzendorff ist von seinen Wunden genesen, doch
dürr wie ein Lattenzaun. Du kennst seine völkische Tonart, seit er in
die Politik geraten; das Elsaß war schon lange sein Sorgenkind. »Viel
kleinliche, ja erbärmliche Erfahrungen hab' ich hier eingeheimst«,
sagte mir der graue Recke. »Die Elsässer sind von Natur freimütig und
gastfrei; aber sie sind unter der welschen Hetze der letzten Jahrzehnte
duckmäuserig und zweideutig geworden, Zwittergestalten! Jammerschade um
so guten Stoff!«

Am Abend beim Statthalter. Die alte deutsche Reichsstadt wirkt im
Herbstnebel schwer und mittelalterlich. Noch gigantischer ragt und
wuchtet in der Mitte das berühmte Münster mit dem einzigen, schlanken,
durchgeistigten Turm, der sich übrigens in diesem rheinischen Kies-
und Schlammboden zu senken gedroht hat vor lauter Kummer um die Zeit.
Alte schmale Gassen, überhängende Stockwerke, sonderbar altdeutsch
anmutende Straßennamen, wie Tücherstub-, Schreiberstub-, Goldschmied-
oder Zimmerleutgasse. Universität und Kaiserpalast sind Lazarette; viel
entsagungsvolle Arbeit wird da von Professoren getan; ein Kirchen- und
Kunsthistoriker war mein geistvoll gesprächiger Führer. Zwischen den
neuen Amtsgebäuden am Kaiserplatz, durch das Wasser getrennt, steht
am Staden der vornehm wirkende Statthalterpalast. Sehr hohe Gemächer,
weiß-goldner Ton, roter Teppichboden; einfach-freundliche Formen der
kriegsmäßigen Geselligkeit. Es waren da allerlei Offiziere, Geheimräte,
Professoren; ich sprach besonders mit Elsässern. Kehrreim aller
sorgenvollen Gespräche war immer wieder: Was wird aus dem Elsaß? So
stand oder saß man in Gruppen beisammen, rauchte, plauderte und schritt
dann durch die aussichtslose Nebelnacht der abgeblendeten Stadt nach
Hause ...

Der lederbraune, hagere Trotzendorff, zweimal dem Tode nahe, ist ernst
geworden wie ein Karmeliter. Treitschke und Lagarde blieben zwar seine
Führer und Freunde; doch zum Völkischen ist das Religiöse getreten; er
hat sich vertieft. »Wir haben die deutsche Seele vernachlässigt, mein
Junge«, war einer seiner Aussprüche. Und da tauchte mir das Dörfchen
Lützelbronn im Gesichtsfeld auf, der rauchende Pfarrer, das entzückende
Blondinchen. Ich erzählte Freund Trotzendorff davon; er hatte den Namen
gehört. »Einer von den Alt-Elsässern, die wir heranholen werden, wenn
hier nach dem Kriege von uns aufgebaut wird.« Wenn! ...

Ich denke an meine erste Kriegszeit hier im Elsaß. Unvergeßliche,
packende Tage und unheimlich großgestimmte Nächte! Scheinwerfer, die
ruckweise den Himmel absuchen, marschierende Regimenter, schwüldunstige
Rheinebene -- dann Namen wie Barr, Andlau, Hohwald -- dann seh' ich uns
im Straßengraben rasten -- Meldereiter, Radfahrer keuchen vorüber --
und nun rasseln und knarren Batterien nach vorn, bärtige Leute, die in
bewußt strammer Haltung, geschüttelt und gerüttelt, auf neugeschirrten
Rossen und Wagen sitzen, mit Zurufen von der rastenden Infanterie
begrüßt ... Wir nach, mit klopfendem Herzen, in den wachsenden
Kanonendonner hinein -- und noch am Abend Sturm! Das war meine
Feuertaufe. Literweise hat elsässischer Boden mein thüringisch Blut
getrunken!

Was hatte man seitdem von den flandrischen Trichtern bis zu den
russischen Sümpfen und rumänischen oder serbischen Schafweiden
alles auszuhalten! Deutschland im Kampf gegen die ganze Welt!
Zeitgenossen, spürt ihr auch, was da geleistet wird? Deutsche Soldaten
halten Wacht an jeder Eisenbahnbrücke, in jeder Ortschaft Belgiens
und Nordfrankreichs, im ganzen Reiche, in Westrußland bis hinaus
ans Schwarze Meer; deutsche Gouverneure, Richter, Bürgermeister,
Polizeibeamte sind in allen besetzten Gebieten ausgestreut. Oft
unter schwersten Verhältnissen arbeitet irgendwo in der Ferne ein
vereinzelter blutjunger Leutnant in irgendeiner Kommandantur oder in
einer verwahrlosten, von Deutschen wieder in Schwung gebrachten Fabrik.
Und wie verleumdet uns diese teuflische Auslandspresse! Daß es auch
bei uns Schufte gibt -- selbstverständlich! Aber die Mehrzahl unseres
tapfer duldenden Volkes sorgt für Ordnung und Methode, trotz Hunger und
Not; und die wackeren Männer stehen im blutigen Kampf. Hungerblockade,
Lügenblockade, Übermacht von außen und Zersetzung von innen werden
vielleicht ihr Ziel erreichen -- aber das weiß ich: unbesiegt werden
wir deutschen Soldaten vom Schlachtfeld abrücken!

Behüt' dich Gott, meine Gute, mein Weib, mein Glück! Dieser Brief
deutet mehr an, als er ausführt. Sorgen genug! Doch wir stehen fest wie
einst die Zeder Oberlin, dessen Grabmal ich gestern in Fouday besucht
habe.

Es dunkelt an den Gebirgen, ein feiner Kaminrauch sammelt sich über
Waldersbach, die Sonne ist hinter die westlichen Kuppen hinabgesunken
-- etwas vom Wirken eines gütigen Menschen ist hier in der himmlischen
Luft geblieben und schimmert herüber. Der Bergquell, der neben meinem
Sitz sein kristallklares Wasser in den Holztrog rieseln läßt, wird
vernehmlicher und singt sein uralt Einsiedlerlied in die beginnende
Nacht. Über der Gegend von Schirrgutt und Bellefosse wartet schon der
Mond -- derselbe Mond, der sich vielleicht eben jetzt in deinen Augen
spiegelt, meine liebe, liebe Elisabeth!

                                                          ~Dein Ingo.~




                            Viertes Kapitel

                             Ein Nachtgang

                 Mir ist so weh ums Herz,
                 Mir ist, als ob ich weinen möchte
                 Vor Schmerz.
                 Gedankensatt
                 und lebensmatt
                 Möcht' ich das Haupt hinlegen in die Nacht der Nächte.

                                                       ~Karl Candidus~


Hauptmann Ingo von Stein, der thüringische Freiherr, ahnte nicht, wie
verwirrend sein Besuch im Pfarrhause zu Lützelbronn gewirkt hatte.

Als Gustav das neuartige Klavierspiel unter sich vernahm, kam er auf
seinen Hausschuhen aus der Einsiedelei heruntergeschlürft. Er streckte
den Kopf in die Küche und fragte Schwester Lisy scheu und mißtrauisch,
wer denn da drin so toll phantasiere.

»Ein Hauptmann«, ward ihm zur Antwort.

»Hauptmann?!«

Wie ein elektrischer Schlag traf ihn das Wort. Das also war der
Hauptmann, von dem ihm der unselige Apotheker ins Ohr geflüstert
hatte! Was in der Tiefe geschwelt, schlug als Flamme empor. Und als
im selben Augenblick Fanny mit hochrotem Gesicht herausschoß und ihm
strahlenden Auges zurief, er solle doch hereinkommen, der Hauptmann
spiele ja himmlisch -- schmetterte Gustav mit den Worten: »Fällt mir
nicht ein!« die Speichertüre zu, riegelte hinter sich ab und sprang mit
zwei, drei Sätzen wie gehetzt die Treppe hinauf, oben noch einmal seine
Dachkammertüre mit Donnerhall zuschlagend und abschließend.

Fanny stand betäubt. »Was isch denn das gsin?!« Dann stampfte sie
zornig auf, glutrot bis zu den Schläfen hinan. »Das muß man sich
gefallen lassen, Lisy! Könnt' man sich da nicht gleich die Faust
zerbeißen vor Zorn?! Üble Laune ist das Allerwiderwärtigste, was es
auf Gottes Erdboden gibt!« Und sie lief in der Küche hin und her,
wahrhaft empört, und schalt, während Lisy ihr bekümmertes »ach Gott!
ach Gott!« ratlos dazwischenseufzte.

»Jetzt ist mir die Freude an der Musik vergällt«, schloß die zornige
Kleine. »Jetzt kann ich mich wieder heimtrollen und Rüben schaben.« Das
Weinen war ihr nahe, als sie grimmig davonging.

Gustav blieb den ganzen Abend unsichtbar. Sein Vater hätte ihn gern zu
den fesselnden Gesprächen hinzugezogen. Doch kein Pochen hatte Erfolg.
Er lag oben und malte sich in unsinnigen Bildern aus, daß ihm doch nur
Fannys Mitleid gehöre, daß aber ihre sinnenkräftige Natur schon lang
auf den Funken warte, auf den glutvollen, hinreißenden Mann, und daß
dieser lebhaft da unten sprechende Hauptmann sie offenbar im Sturm
geweckt, begeistert, erobert habe. Denn so hatten ihre stahlblauen
Augen noch nie geflammt!

Er lauschte den verhallenden Schritten, als der Spielmann sich
spät entfernte; er glaubte zu vernehmen, daß diese Schritte hinter
Bielers Haus verstummten. Und weiter fieberte und phantasierte der
Nervenkranke, da sei gewiß eine Verabredung getroffen. Fannys Stube
ging auf den Garten, an dessen ansteigendem Ende das Birkenwäldchen
den Hang krönt, ihr Lieblingsplatz. Ob sie den Hauptmann im Garten
erwartet? Denn Fanny ist ein unberechenbares Geschöpf, das sich im
großartigen Rausch ergibt, gänzlich moralfrei, nur Natur, nur Weib ...

Er lag und zerwühlte den Kopf; er sprang auf und lief hin und her; er
holte sein Tagebuch und schrieb sich das Herz leicht.

Mitternacht schlug. Es duldete ihn nicht mehr. Er schlich auf
Fußspitzen die Treppe hinunter und durch das leise knarrende
Hintertürchen in den Garten. Alles still. Milde Spätsommernacht; am
Himmel strichweise flimmernde Wölkchen, dazwischen feinfunkelnde kleine
Sterne. Hinter den Tannen mußte bald der Mond kommen.

Gustav ging am Pfirsichstaket entlang; dort lag das Brett; er stellte
es an und stieg geräuschlos auf die Mauer. Hinübergebeugt verharrte er
eine lange Weile, lauschend, spähend -- regte sich da nicht etwas? War
das nicht ein Geflüster? Nein, es war doch wohl nur ein verlaufenes
Nachtlüftchen oder vom unteren Dorfe her der immer fließende Brunnen,
dessen Ablauf sich ins Waschhaus und von dort in den tiefen Fischteich
ergießt. Irgendwo ein Hundegebell. Er blieb in seiner halbliegenden
Stellung, bis ihn die Glieder schmerzten. Dann stieg er vorsichtig
hinüber und schlich schattenhaft zwischen den Birken hin, den Blick auf
Fannys Kammerfenster gerichtet.

Der Mond stieg; der Giebel wurde hell. Die Helligkeit kroch langsam
weiter, wandab. Und jetzt schien der Mond in Fannys Fenster. Sieh
an -- das halbe Fenster stand ja offen! Neu aufzuckende Qual! In
jagender Gedankenschnelle fuhr es ihm in den Kopf, daß in der Nähe die
Gartenleiter hing; sie mochte ungefähr bis zu jener Höhe reichen. Die
schwülsten Ausmalungen peinigten ihn. Ja, jetzt war es ihm unfehlbar
gewiß: Fanny war falsch! Fanny, des langen Harrens auf solch siechen
Bräutigam müde, hatte sich von einer Minute zur andren dem Fremden an
den Hals, in die Arme geworfen! Zwar, allerdings, sie pflegt ja immer
mit angelehntem Fenster zu schlafen -- das ja wohl -- aber -- ja, was
denn? Das halbe Fenster war ja offen -- -- und horch!

Nein, nur der Hund knurrte. Der Hund im Hofe hatte etwas gemerkt und
wurde unruhig, schlug auch kurz und halblaut an. Gustav überlegte.
Sollte er Lärm machen? Sollte er dem ganzen Hause, dem ganzen Dorfe,
dem ganzen Erdball ausschreien, was hier vorging? Ein paar Augenblicke
überbrauste den Leidenden mit fast unwiderstehlicher Macht eine wilde
Blutwelle: »Jawohl, schrei es hinaus, brülle, tobe, tobe, tobe! Schlage
den Schlaf und den Frieden dieser Menschen von Lützelbronn in Fetzen
und Stücke, da doch dein eignes Glück in Trümmern liegt!« Aber diese
brausende Woge verebbte wieder; der Tobsuchtsdrang wich. Wenn Fanny
glücklich war, mochte sie halt ohne ihn glücklich sein; lieb behalten
wollte er sie dennoch.

Nun empfand er Mitleid mit sich selber. Er schlich weiter, glitt an der
andren Seite über die Mauer und ging, bereits mit aufquellenden Tränen
kämpfend, hinab an den immerzu plaudernden Brunnen und weiter an den
jetzt mondüberschimmerten, schwärzlich glatten Weiher.

Dort stand er lang am Ufer, wie eine Weide, immerzu ins Wasser
starrend. Er ließ seinen Tränen freien Lauf. Seine geliebte Braut
hinter ihm in den Armen des Hauptmanns! Und er -- ein gebrochener
Mensch!

Sein Weinen ging allmählich in Gebet über. Und immer war es Fanny,
der nun auch sein Gebet galt, wie vorher seine Tränen. Gott möge
sie doch nicht schlecht werden lassen -- so betete der Arme --, nur
nicht schlecht werden, nicht ihrer leicht entflammten Sinnlichkeit
unedel erliegen lassen. Er wollte selber gern das Opfer bringen, gern
entsagen, gern untergehen und sich von der Welt fortstehlen; aber Gott
möge doch Fanny segnen, seine geliebte Fanny!

Das Wasser hatte unheimliche Anziehungskraft. Ein Sprung in die Tiefe
-- und du bist frei! Und Fanny ist frei und kann sich den Mann wählen,
der zu ihr paßt. Und diese Welt voll Haß und Kampf, voll Verleumdung
und Lüge rollt weiter, ob ein Schwächling spurlos verschwinde oder
nicht. Er entwarf Abschiedsbriefe. Da waren einige Menschen, denen er
noch gern ein letztes gutes Wort niedergeschrieben hätte ...

Tränen, Gebet und die Gedanken an die Seinen verringerten nach und nach
die Seelenspannung. Es floß etwas hinweg. Die Dämonen verließen ihn. Er
schaute leichter atmend und nunmehr empfindlich fröstelnd in die kühle
Nacht. Ach, war doch am Ende all seine Erregung Unsinn? Hatte nicht
Fanny sogar im Winter das Fenster offen? Und dann: unten lag ja der
Hofhund; und über ihr schlief Tante Sophie ihren leichten Schlummer;
und eine Leiter hätte man doch wohl irgendwo sehen müssen. War doch
vielleicht alles nur Einbildung?

Beschämt und müde schlich der Nachtwandler spät nach Hause, legte sich
möglichst geräuschlos zu Bett und versank sofort in todähnlichen Schlaf.

                   *       *       *       *       *

Gustavs Nachtgang war bemerkt worden.

Sein Vater lag noch lange Stunden wach, nachdem der thüringische
Gast die Gedankenmasse des Elsässers aufgewühlt hatte. Welch eine
Wonne und Wohltat ist doch solche Aussprache! Wahrlich, der Mensch
braucht den Menschen zur gegenseitigen Belebung; wir alle nähren uns
voneinander. Viel Gutes in uns verkümmert, verdorrt, vertrocknet,
wenn es nicht durch wechselseitige Elektrizität, durch Gespräche,
durch Herzensaustausch zur wärmenden Flamme angefacht wird. Der stille
Gelehrte hatte die Empfindung, daß er eine Verjüngung erlebt habe.
Er hatte sein Selbstvertrauen wiedergefunden. Und auch das Vertrauen
zum deutschen Volke, das er seit Jahren und Jahrzehnten auf ebenso
verderblich materialistischen Wegen sah, wie die ganze übrige Welt.
Also lebten in Deutschland doch noch Männer, die genau so dachten wie
er, sogar im feldgrauen Kriegsgewande? Und also war er nicht allein,
nicht ganz allein?! Wie tut es doch bis in das Innerste wohl, sich
von einem wertvollen Mitmenschen in seinen eigensten Gedanken und
Gesinnungen bestärkt und bestätigt zu fühlen! Es ist eine paradiesische
Begegnung, wenn sich zwei Gralsucher die Hände reichen ...

Mitternacht hatte vom Turm geschlagen. Da hörte der Halbwache
schleichende Schritte, dann das Knarren der Hintertüre. Jemand ging
nach unten, nach dem Garten. Litt Gustav wieder an Schlaflosigkeit?
Suchte er nach seiner wunderlichen Weise Mitternachtsstille und lief
ein Weilchen im Garten auf und nieder? Der Pfarrer träumte weiter; er
drohte einzuschlummern. Da schlug es vom Kirchturm eins -- und noch war
Gustav nicht zurück.

Jetzt überkam den Vater des jungen Kranken eine unbestimmte Besorgnis.
Er stand auf, kleidete sich einigermaßen an, nahm das Taschenlaternchen
und ging hinaus. Die Bodentüre stand offen; er begab sich nach oben
und klopfte an. Keine Antwort; aber Licht brannte. Er trat ein; das
Zimmer war leer; auf dem Tisch unter der Arbeitslampe lag ein offenes
Tagebuch, an dem Gustav geschrieben hatte.

Zwischen Vater und Sohn pflegte mit einer selbstverständlichen
Natürlichkeit das Briefgeheimnis gewahrt zu werden. Jetzt aber, in der
sorgenvollen Ahnung, daß den Sohn irgendeine Seelenqual umhertreibe,
beugte sich der Vater über den Schreibtisch und las die frisch
beschriebenen Blätter des sonst sorgsam verschlossenen Geheimbuches.

Er war entsetzt. Wilde Worte, wüste Bilder, jagende Buchstaben! Und
alles drehte sich um die eine Frage: Mann und Weib! Die Feder hatte
gerast, Tinte verspritzt, mitten im Satz abgebrochen und war dann in
wirr gekritzelte und durchgestrichene Zeichnungen übergesprungen --
-- alles ohne Hemmung, weder Sitte noch Anstand achtend, durchgehende
Rosse einer krankhaft ausgepeitschten Phantasie!

»... Weibgeheimnis -- Waldgeheimnis -- man will immer tiefer
eindringen -- ja, ja, ich verstehe den Mord am Wild, den Mord am Weib
-- das Geheimnis herauswühlen, das Lustgeheimnis, den Zauber, die
Verhexung -- wo steckt das im Weib? Wo, wo? Her damit! -- Kind und
Spielzeug -- Lustmörder und Opfer -- Wollust des Mordens -- Mord und
Minne gehören zusammen -- Doppelrausch! Das kann der Franzose: mit
Geschmack verführen -- das will Fanny, das will jedes Weib -- und ich
Jammerlappen bin zu brav, zu deutsch, zu feig, zu schwach dazu -- -- --
-- und dennoch ein lüsterner Schuft!« ...

Dann Bilder von Frauengestalten, ein Hexentanz von Strichen! Doch nach
und nach war offenbar Beruhigung eingetreten. In Gustavs wiederum
gleichmäßiger, schöner Handschrift kam nun eine Art Trauerlied:

»Nacht, Nacht, Nacht! Und ich bin immer allein! Der Baum hat eine
Stimme, wenn der Nachtwind kommt, denn er rauscht, und ihm antwortet
ein anderer Baum, ein Busch, ein Halm -- und sie klagen miteinander der
Mutter Nacht ihr altes Leid. Aber ich bin immer allein.

»Es ist irgendwo ein Land, weitab. Da sind die Leute freundlich und
friedlich; da kommt einer zum andren, wenn dieser traurig ist, faßt
seine Hand und spricht lieb zu ihm oder weint mit ihm, und sie sind
gemeinsam traurig. Aber ich bin immer allein.

»Ach, es weint in mir, wie ein Brunnen in der Tiefe rauscht. Und mir
wäre wohl, wenn die Wasser heraufstiegen und aus meinen Augen über
die Wangen flössen. Ach, mir wäre wohl, wenn ich ein Dichter wäre und
singen könnte, was in mir weint. Doch ich habe kein Saitenspiel, und
die Wasser kommen nicht herauf zu mir, und das Weinen bleibt in der
Kehle -- und ich bin immer allein ... Nacht, Nacht, Nacht!« ...

Tief erschüttert stand der Vater vor diesen Bekenntnissen seines
einsamen Sohnes. Das also war die Nachtseite seiner am Tage so scheu
verschlossenen Seele! Wie von Scham übergossen schlich der Pfarrer auf
den Zehen in sein Zimmer hinunter, verriet durch kein Licht, daß er
wachte, und legte sich wieder in sein Bett, um noch lange schlaflos ins
Dunkel zu starren.

Später hörte er den Sohn mit verstohlenen Schritten zurückkommen. Wo
war der Junge gewesen? Hatte er, von diesen niederen Vorstellungen
gepeinigt, vielleicht seine kindlich-reine Braut aufgesucht? Und war
denn vielleicht auch Fanny, diese tagsüber so unbefangene Natur, in
ihren Tiefen so wie dieses Tagebuch? Was mochte man wissen! Man konnte
ja an allem irre werden!

»Da wollt' ich noch eben mit diesem Hauptmann den Himmel auf die
Erde holen -- und vermag nicht einmal in meinem Hause Seelenfrieden
herzustellen! Da wollt' ich noch eben die elsässische Seele retten --
und schaue nicht einmal in meines Sohnes Seele! Weib und Werk sind mir
entglitten -- jetzt entgleitet mir auch mein Sohn!«

Nur ein Vater vermag es zu ermessen, welche Qualen diesen Mann in der
einen Nacht heimsuchten. Er empfand seinen Sohn als ein von Gott ihm
anvertrautes Gut; er war von der Gewißheit durchdrungen, daß er am
Thron Gottes Rechenschaft über ihn abzugeben hatte. Aber er besaß ja
diese junge Seele nicht mehr, die er doch erzogen hatte, er besaß auch
nicht Fanny! »Ist denn dies nun das neue Elsaß? Gärt solche heimliche
Lebensgier in den Tiefen dieses jungen Geschlechtes? Denken sie denn
nur an sich, immer nur an sich, und nicht an des Vaterlandes große Not?
Fanny, Fanny, bist denn auch du so von Sinnlichkeit zerfressen wie der
unglückliche Zeichner dieser Bilder? In welche Welt der Dämonen bin ich
da geraten! Sie toben also nicht nur an der Front, die Dämonen, nicht
nur in der Lügen- und Verleumdungspresse -- sie vergiften auch meinen
allernächsten Bezirk, meine zwei liebsten Menschen.«

Es gibt Nächte so tiefer Qual, daß der Mensch eine Art Vortod
durchmacht. Da löst sich alles, was noch an der Erde hängt. Die Seele
fühlt sich in ein graues Nichts hinausgestoßen. Sie kann sich an
nichts mehr halten, denn es ist zum Halten nichts mehr vorhanden.
Überall furchtbare Leere! So ist es beim Sterben, wenn keine Liebe den
Menschen begleitet, der den Körper verlassen soll. Liebe jedoch ist wie
ein Licht, das den Weg hell und freundlich macht.

Und der Philosoph, wiederum ganz schlichter Mensch geworden, tat
dasselbe, was sein Sohn unten am Weiher tat. Seine gramvollen Gedanken
gingen in Gebet über. Er bot dem Allwaltenden sein Werk als Opfer an.

»Ich will auf alle persönliche Ehre und auf das letzte Restchen
Eitelkeit verzichten; ich will die ganze Summe meines Fleißes
verbrennen: wenn ich nur die paar Menschen meines Umkreises, ja nur
einen einzigen Menschen vor Verwirrung und Untergang bewahren und einem
edlen Leben gewinnen kann ...«

Die Uhr tickte; der Mond stieg. Sein Licht wanderte durch die hohe
Nacht. Um den Erdball zuckten Fernfunken der drahtlosen Telegraphie;
um den Erdball zuckten Kriegsberichte, Haß und Verleumdung; Raketen,
Granaten und Scheinwerfer stellten ihre Flammen in den Dienst des
Kampfes; auf dem Meere dröhnte da und dort ein torpediertes Schiff in
die Luft; und auf unschuldige Städte fielen mörderische Bomben, während
in manchem deutschen Hause die Kinder ungesättigt zu Bett gingen.

Aber aus den Tiefen vieler Menschenherzen quollen Tränen und Träume
empor: Träume von einer künftigen edleren Lebensgemeinschaft, wo
niemand mehr aus Mangel an Liebe verhungern wird.

                   *       *       *       *       *

Noch zwei schlaflose Augen hatten Gustavs Nachtgang beobachtet. Als
der Hund knurrte und unwillig anschlug, wurde Tante Sophie in ihrem
Giebelstübchen aufmerksam. Ihr Bett stand nahe an der Fenstergardine.
Sie reckte den äußerst hageren Leib und spähte hinaus; denn ihre
Phantasie war immer mit Einbrechern und Spionen beschäftigt. Und
wahrhaftig: ein Mensch ging durch den Garten, kletterte über die Mauer
und sprang jenseits hinab!

Nun aber auf! Die halblahme Alte knipste Licht an, hüpfte mit
ungewohnter Lebendigkeit in den Morgenrock und in die Wollschuhe --
und dann humpelte, schlürfte, ächzte sie über den Speicher hinüber an
die andre Giebelstube und klopfte mit knochigem Finger der knurrigen
Salome: »Sälmele, =vite, vite=! Mach Sie schnell uff! Awer
schnell! Es isch e Inbrecher am Hüs!«

Salome schlüpfte zunächst unter die Bettdecke. Dann endlich, nach
längerem Klopfen und Winseln, entschloß sie sich, aus den Federn zu
kriechen und der verängsteten Tante Sophie zu öffnen. Diese schoß
sofort ans Fenster: »Do, do geht er, gück, do! Do geht einer an de
Brunne!« Und erzählte flüsternd und entsetzt ihre Beobachtungen. »Was
für griserlichi Zitte! Sälmele, Sälmele! Mr isch sines Lewes nimmeh
sicher! =Vous verrez=, es gibt noch Revolution im Land! Jerum,
jerum, wär' ich nur schon im Spital oder im Totebaum!«

Die beiden ältlichen Jungfrauen lebten sonst in fortwährendem
Kleinkampf. Aber Not schweißt Herzen zusammen. So pflegten sie denn
auch manchmal bei schweren nächtlichen Gewittern einander an die Tür zu
pochen und rasch ihre geliebtesten Sachen zu packen; dann setzten sie
sich, auf das Schlimmste gefaßt, zitternd und seufzend auf die unterste
Stufe der Bodentreppe, die eine mit ihrer eisernen Kassette und einigen
Kleidungsstücken, die andre mit Hutschachtel, Käfig und Kanarienvogel.
So warteten sie alsdann, bis das Wetter vorüber war. Worauf sie wieder
in ihre Stuben und Besonderheiten entwichen, um sich gegenseitig am
andren Morgen doppelt unfreundlich und mißtrauisch zu behandeln.

Also standen sie denn auch heute nacht Schulter an Schulter spähend
am Fenster, in mangelhaften Gewändern, und schauten über die Geranien
hinunter nach der Gespenstergestalt, die an den stillen, glatten Weiher
ging und dort lange, lange stand ...

Als aber am andren Morgen Salome, mit der nächtlichen Neuigkeit
geladen, schnellfüßig nach unten in die Küche lief und sich das
erstaunte Gesicht der Haustochter ausmalte, wurde sie enttäuscht. Denn
zunächst kam Fanny sehr spät in die Küche. Wo blieb sie denn nur immer
so lang in den letzten Tagen? Was machte sie denn in ihrem Zimmer? Gab
es so viel Post zu beantworten? Und verdrießlich wirtschaftete Salome
zwischen ihrem Geschirr herum, bis sie Schaulis habhaft wurde, dem sie
dann umständlich und mit schmückenden Zutaten das nächtliche Abenteuer
erzählte.

Fanny hatte allerdings an diesem Morgen einen Brief erhalten, und
zwar von Erwin. Sie war heute nicht auf seinen Ton gestimmt; denn sie
war Feuer und Flamme für eine ganz andre Arbeit, die sie vor kurzem
begonnen hatte und der sie jede freie Minute widmete. Immerhin wirkte
Erwins Schreiben für den Augenblick aufheiternd, wenn es auch ernst
ausklang.

»Liebste Kussy -- verzeih, da verschreib' ich mich gleich zu Beginn,
denn ich wollte natürlich Cousine Fanny schreiben, zog es aber in
~ein~ Wort zusammen, denn mir tanzt noch dein Kuß vor den Augen,
auf den Lippen, in der Feder herum! Und wen die Mussy geküßt --
verzeih, ich wollte natürlich Muse schreiben, aber meine Muse heißt
Fanny, und so zog ich's wieder in ~ein~ Wort zusammen! Wen also
die Muse geküßt, den hat Apollo am Ohrläppchen, und er reimt fortan Kuß
und Schuß. Hat dich nicht deine verstorbene Mutter ›=ma douce=‹
oder ›=ma doucie=‹ genannt? Also deutsch: Duß und Dussy! Und habt
ihr mir nicht manchmal gesagt, ich sei ein ›Schöute‹ oder ›Schussele‹,
das heißt ein fahriger, närrischer Bursche? O Dussele, Kussele,
Mussele -- wie würden wir zwei uns reimen! Aber das ist doch alles
nur papierlich, nicht natürlich, mithin ein erbärmlicher Kriegsersatz
für mündlichen Bericht! Schuß tötet, Kuß belebt -- hol's der Kuckuck,
daß ich zu ersterem verdammt bin! Lieb Schussinchen -- nein, halt --
kurzum, es schusselt, kusselt, dusselt mir unter der Hirnschale herum,
daß ich keinen Brief zusammenkriege. Leb' wohl für heute! In einer
Stunde wieder im Feuer! =N.B.= Beinschuß, nicht schwer, liege im
Lazarett. Gedenket mein! Erwin.«

Fanny las diesen Brief zwei- und dreimal. Und sofort tippte sie
Antwort. Denn sie saß bereits an der Schreibmaschine, die mit
Leichtigkeit und Anmut von ihr gehandhabt wurde.

»Dein Schusselebrief, lieber Erwin, klingt ja so ernst aus, daß ich
aus dem Lachen in jähes Erschrecken geriet, als ich deine Schlußworte
las. Hoffentlich doch nicht schlimm? Schreib' ja recht bald wieder!
Ich bin an der Schreibmaschine, daher diese ungewöhnliche Schrift,
die ich sonst für Briefe nicht mag, weil sie so unpersönlich ist.
Aber neben mir liegen Stöße von beschriebenem Papier. Und weißt du,
was ich tue? Es ist mir durch ein Gespräch mit Lisy so recht bewußt
geworden, wie einsam Onkel Arnold ist. Da liegen seine ziemlich
schlecht geschriebenen Arbeiten in seinen Schubladen. Er würde sie gern
dem oder jenem Kollegen oder Verlagsbuchhändler vorlegen, kann sich
aber nicht zu einer Abschrift entschließen, mag sie auch nicht einem
Abschreiber anvertrauen. Es ist so eine tiefe Gleichgültigkeit über ihn
gekommen. Weißt du, was ich nun mit Lisys Hilfe getan habe? Wir haben
ihm den ganzen Stoß aus dem Schreibtisch gestohlen! Und ich sitze und
schreib' sie ihm heimlich ab! Nun verrat mich aber nicht! Es soll eine
Überraschung werden. Und schreib doch auch Gustav einen recht, recht
lieben, ermunternden Brief! Gott behüte dich, du Schussele! Fanny.«

Als hernach Fanny in die Küche kam und händereibend an die ganz
andersartige Arbeit ging -- es war Wäschetag --, hatte sie für Salomes
spukhaften Bericht gar kein Ohr. »Dumm Dings, Salome! Ihr zwei alti
Jungfere han do owe G'spenschter g'sehn!«

Alte Jungfer ließ sich aber die bäuerlich kräftige Salome gar nicht
gern nennen, auch nicht im Scherz, und selbst nicht von der Mamsell
Fanny. Sie habe noch recht scharfe Augen, meinte sie, und war sehr
verschnupft. Da sie ohnedies nicht an Gesprächigkeit litt, so gab es
ein schweigsames Arbeiten.

Doch das innere Lächeln verschwand nicht von Fannys wunderhübschem
Gesichtchen, das unter dem weißen Arbeitskopftuch womöglich noch
reizender aussah.




                            Fünftes Kapitel

                             Zusammenbruch

                            Im heißen Tiegel liegt mein Vaterland.
                            Daß ihm die Glut zur Läuterung gereiche,
                            Daß es verjüngt dem Flammengrab entsteige:
                            Dies füge des allmächt'gen Schmelzers Hand!

                                                  ~Karl Hackenschmidt~


Schmerz reift den Menschen. In einer Stunde der Erschütterung kann die
Seele mehr erstarken als in sechs dürren Jahren.

Durchdrungen von der Großartigkeit des Opfergedankens, ging Arnold am
andern Morgen an sein Tagewerk. Er war bisher Gelehrter gewesen, zu
sehr Gelehrter, auch als Pfarrer; er hatte sich auf einsamen Höhen
gefühlt und als verkannt empfunden; er hatte Hochmut beherbergt. Nun
wollte er ganz schlichter Mensch sein: liebender Mensch, der aber
vielleicht durch Liebe schöpferisch wird. Gedeiht nicht alles Hohe nur
durch Opferung? Opfert nicht die Mutter unter Lebensgefahr ihre Kraft
und vieler Nächte Schlaf, damit ihre Kinder gedeihen? Bringt nicht der
Freund dem Freunde seine Fürsorge und Anteilnahme dar? Taucht nicht
das Saatkorn in die Erde und opfert seine Form, damit aus Finsternis
vielfältige Frucht ans Licht emporsteige?

»Ich habe auf falschen Wegen Werk und Glück gesucht«, dachte er überm
Ankleiden; »ich will meinen Gelehrten-Ehrgeiz opfern und schlicht
vom Herzen aus zu leben versuchen, Mensch zu Mensch. Ich will meine
Verstandesarbeit verbrennen; denn sie war unbeseelt. Mit diesem
Weltkriege -- das spür' ich jetzt -- donnert eine unbeseelte Zeit zu
Ende. Oder sind es schon Geburtswehen? Wird unter Tränen Seele geboren?«

Er trat an den Schreibtisch.

Und nun widerfuhr ihm eine seltsame Überraschung. Er öffnete die untere
Schublade zur Rechten. Da pflegte er seit Jahren den Stoß seiner
fertigen Handschriften zu verwahren. Aber das Fach war leer. Nur ein
vergessenes Heftchen Volkslieder lag darin; das war wohl irgendwie
einmal dazwischen geraten. Er zog es hervor und las den Titel: »Rosen
und Rosmarin. Auswahl deutscher Volkslieder mit Bildern von Rudolf
Schäfer«. War er denn verhext? Lagen die Papiere etwa im linken Fach?
Auch nicht. Hatte er sie bereits herausgenommen, als er im Gespräch
mit dem thüringischen Gast diese Arbeiten erwähnte? Möglich. Aber
er entsann sich dessen nicht. Er wußte, daß er, mit nachdrücklicher
Hindeutung, einmal voll stolzen Grimmes von seinen geistgefüllten
Schubladen gesprochen hatte, die niemand begehre. Und nun waren
beide leer? Er fuhr sich über Augen und Stirn. Hatte er sie denn
nachtwandelnd bereits verbrannt?

Bestürzt stand der Gelehrte vor dieser Leere. Er blätterte in den
gemütvollen deutschen Volksliedern, die keinerlei Gelehrsamkeit
beanspruchten und doch von Leben strahlten.

                »Es war ein Markgraf über dem Rhein,
                Der hatte drei schöne Töchterlein« ...

Und hier das lange nicht vernommene:

                   »Wenn ich ein Vöglein wär'
                   Und auch zwei Flüglein hätt'« ...

Und dann:

                   »Es waren zwei Königskinder,
                   Die hatten einander so lieb ...«

Oder »Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht« -- »Ich hört' ein
Sichlein rauschen, wohl rauschen durch das Korn« -- -- Er las sich
hinein; er vergaß Ort und Zeit; er ließ die warmherzigen Zeichnungen
auf sein Empfinden wirken. »Und wovon singen sie alle, diese Lieder?
Was suchen sie alle?« Er gab sich selber Antwort: »Immer nur des andren
Seele! Immer nur Liebe!«

Ihm däuchte, da müßte irgendein Zauber walten, ein Elfenspuk. Doch die
Tagesarbeit rief. Er warf das Heft auf den Tisch und frühstückte rasch.
Dann bewegte sich seine hohe, hagere Gestalt mit den bekannten großen
und langsam-würdigen Schritten in etwas wiegender Gangart durch den
Ort nach der Schule, wo er fast täglich ersatzweise Unterricht zu geben
pflegte.

Unterwegs begegnete ihm der katholische Pfarrer.

»=Bonjour, Monsieur Arnold!=« rief ihm dieser auf französisch
zu. »=Avez-vous déjà entendu la dernière nouvelle?=« Und ins
Elsässische überspringend: »D' Bulgare han Waffestillstand gemacht!
=A la bonne heure!= Gemunkelt het mr's schun lang! Awer 's isch
Tatsach'! Do steht's! In zwei Woche isch Fridde im Land! Jetzt isch's
mit Ditschland fertig!«

Seine Augen leuchteten vor Triumph.

Arnold achtete die katholische Kirche und lebte mit deren Vertreter in
äußerem Frieden. Dieser ziemlich kurze, festgebaute Bauernsohn mit dem
vollen Gesicht und der eckigen Stirne war echt alemannischen Gepräges.
Aber er hatte einst den französelnden und jetzt landesflüchtigen
Abgeordneten von Kolmar gewählt und pflegte dessen französisch
geschriebene Zeitung zu lesen. Seine Vorstellungswelt war den Franzosen
erlegen. Er bemühte sich, mit den Fabrikanten der Nachbarschaft ein
bäuerlich-elsässisches, für Pariser Ohren unerträgliches Französisch
zu radebrechen. Durch den Beichtstuhl hatte er Einfluß auf die
Frauen, durch diese wieder auf des Dorfes Männer; er hielt seine
Gemeinde kirchlich und politisch fest in der Faust. Den Anschluß an
den deutschen Katholizismus lehnte er ab. »=Qui dit catholique, dit
français=,« meinte er; »Frankreich und Italien sind die Mütter
unsrer heiligen Kirche.« Mit Arnold hatte er nur einen einzigen
Strauß gehabt; den aber hatte er spielend gewonnen. Der evangelische
Pfarrer hatte seinen Stiefbruder in Christo freundlich gebeten, den
Gottesdienst am Sonntagmorgen etwas später zu legen; denn seine
Frauen und Männer, durch die schwere Wochenarbeit dieser Kriegszeiten
übermüdet, könnten am Feiertag nicht genügend ausschlafen. Der
evangelische Gottesdienst pflegte in der gemeinsamen Kirche vor dem
katholischen stattzufinden. Doch der klerikale Kollege schlug ab; jene
Stunde sei alter Brauch; ein Gesuch an das Straßburger Konsistorium war
gleichfalls erfolglos: der Bischof gab seinem Pfarrer recht. Arnold
zuckte die Achseln, schwieg und ließ sich fortan auf keine Bitte an den
Amtsbruder mehr ein, noch weniger auf einen Streit. Sie waren Nachbarn
und grüßten sich; aber keine Brücke der Liebe ging von einem zum andren.

Wie nun die beiden, im äußeren und inneren Bau so verschiedenartigen
Vertreter der Religion der Liebe beisammen standen, durchzuckte den
langen Forscher und Träumer die Erinnerung an jenen Vorfall. Und
nach den Erschütterungen der Nacht empfand er bei dem Blick in diese
triumphleuchtenden Augen einen tiefen Schmerz. Sind wir denn wirklich
Diener des Meisters von Golgatha? Dann gab er dem andren ganz ruhig,
nachdem er sich aus dessen frisch vom Postamt geholter Zeitung
unterrichtet hatte, eine kurze Antwort.

»Mein Vater«, sprach er, »war ein Verehrer des Papa Oberlin im
Steintal, der in friedloser Zeit als Mann des Friedens gewirkt hat.
Ihm zu Ehren erhielt ich die Vornamen Johannes und Friedrich. Ich
hänge sehr am Elsaß, aber noch mehr an Deutschland. Und wenn nun nach
vier tapferen und geduldigen Kriegsjahren Deutschland der Übermacht
unterliegt, so werde ich es erst recht lieben. Denn es ist einfach
wundervoll, wie sich unsere deutschen Truppen schlagen.«

Dann zog er vor dem etwas verdutzten Amtsgenossen katholisch-
französischer Prägung freundlich den breiten, weichen Filzhut und bog
um die Ecke.

Der Tag war mit beträchtlicher Arbeit angefüllt. Der schmalschultrige,
wenn auch zähe Philosoph und Pfarrer hatte Nerven und Sinne kräftig
zusammenzunehmen.

Sofort nach dem Schulunterricht war ein sterbender Greis zu besuchen.
Mit ihm betete der Seelsorger den 121. Psalm, dessen sich der
achtzigjährige Alte noch erinnerte und den er mit lallender Stimme laut
nachsprach. Dann weiter, zu zwei andren Kranken, den Ärmsten seiner
Gemeinde. Da lag ein hinsiechendes Mädchen von kaum achtzehn Jahren;
und bei ihm, an Gesichtsrose erkrankt, die Mutter. So groß war hier
die Armut, daß Mutter und Tochter in demselben Bette lagen. Und welche
Stubenluft! Oft schon hatte ihnen Arnold aus seiner eigenen Tasche
ausgeholfen; und Schwester Lisy pflegte ihn bei alledem zu unterstützen
wie die freilich sprödere Fanny. Aber woher in diesen Zeiten all die
nötigen stärkenden Nahrungsmittel nehmen! Es waren geistig dumpfe
Menschen, die ihn da aus trüben Augen anstarrten. Doch schien er in
seinen Tröstungen und Gebeten heute den rechten Herzenston zu treffen.
Denn heftig atmete die Frau; sie mochte in ihrer verkümmerten Seele zum
ersten Male die ganze Lichtlosigkeit ihres geist- und gottfernen Lebens
ahnen.

Zu Hause erwartete ihn ein kriegsblinder Theologe, mit dem er bis zum
Mittagessen Griechisch trieb.

Gustav kam zur Mahlzeit aus seiner Klause herunter, weich gestimmt,
müde und in sich gekehrt. Der Blinde erzählte von seinem Aufenthalt
in Marburg. Man besprach die überaus drohende Kriegslage und
die bedenkliche innerpolitische Zersetzung. In Palästina hatten
australische, neuseeländische und indische Truppen der Engländer
die Türken geschlagen und nordwärts über Damaskus zurückgedrängt.
Bagdad war vom englischen Feinde längst genommen. Der Engländer saß
an der nordrussischen Murmanküste. Von Amerika herüber zogen, wie
Dämonenscharen, Mannschaften, Munition und Maschinen in schweren Massen
nach Frankreich, um die deutsche Westfront zu übermannen. Deutschland
war von der See her blockiert und hungerte: in ungeheurer Einkreisung
rückten die Vernichtungsheere näher und immer näher. Nun war, völlig
unerwartet, die bulgarische Mauer zerbrochen, derart zerbrochen, daß
manche Bataillone ohne einen Schuß ihre Stellungen im Stich ließen
und davonliefen. Die bulgarischen Parlamentäre standen im Lager der
Saloniki-Armee. In wenigen Tagen war die Verbindung mit der Türkei
abgeschnitten. Dann mußte auch dieses müde Volk zusammenbrechen!

Nach dem Essen nahm der Geistliche den Blinden an den Arm und
wanderte mit ihm und einem leidenden Schulmädchen in das Städtchen
zum Augenarzt. Das Kind mit dem dick verbundenen Auge an der linken
Hand, den Mann mit der schwärzlichen Brille am rechten Arm -- so zog
er durch die gelblichen Weinberge dahin. »Dienen will ich,« dachte er,
»nur dienen. Wer bin ich in diesem allgemeinen Zusammenbruch, daß ich
mit meinem Schicksal zu hadern wage? Kannst du in deinen Bücherhimmeln
selig sein, Famulus Wagner, wenn draußen so viel Herzen und Völker
leiden? Ich will das Leid der Gesamtheit mittragen. Ich will
wenigstens einigen helfen; ich will mit dem Rettungsboot auf das Wrack
hinausfahren und ein paar Leute an Land holen.«

So empfand er. Und von seinen Gesprächen strömte Kraft und fürsorgende
Liebe aus.

Abends nach der Heimkehr war noch eine Sitzung: er hatte den
Aufsichtsrat der Landwirtschaftskasse zu sich gebeten, die er vor
einigen Jahren gegründet hatte. Wohl hätte diese nüchternen Dinge auch
ein Gemeindeschreiber besorgen können; doch der war längst gefallen.

Drüben bei Bielers, im Waschhaus, stand und schaffte tagsüber die
kleine, straffe, kräftige Fanny, mit Leidenschaft an ihre Arbeit
hingegeben. Und abends eilte sie trotz großer Müdigkeit noch an
die Schreibmaschine. »Logos und Eros« war der Titel der gelehrten
Untersuchung, die sie abschrieb. Jenes griechische Wort hat im Bezirk
des Apostels Johannes besonderes Gewicht erlangt und bedeutet ewige
Weisheit; das andere war Platos geistigen Gefilden entnommen und heißt
Liebe. Sie wunderte sich, daß Onkel Arnold über so schlichtmenschliche
Dinge so gewunden und gelehrt schrieb. Aber sie klapperte wacker und
gewandt eine ganze Stunde lang, bis ihr das Köpfchen auf die Tasten zu
sinken drohte. Worauf sie ihr Lager aufsuchte und schon in der Mitte
des Nachtgebetes fest entschlief.

                   *       *       *       *       *

In Rauchgebilden, die sie mit dem Munde formten und in die Luft
entließen, saßen Offiziere, Beamte und bürgerlicher Anhang in der
Hinterstube des städtischen Gasthofes. Auch ihre Gespräche waren
Rauchgebilde, aufsteigend aus den Gehirnen und Worte formend, womit sie
ihre letzte Meinung voreinander verbargen.

Unter ihnen saß ein norddeutscher Hauptmann. Seine genauere Berufsart
ist für die Gesamtheit des großen Geschehens ebenso belanglos wie sein
Name. Einer von vielen. In allem ungefähr das Gegenteil des Hauptmanns
Ingo von Stein. Von außen ein Scharfmacher; innerlich haltlos. Der
junge Apotheker an seiner Seite war im Innern ein entschiedener
Französling, nach außen gemütlich und von geduckter Höflichkeit; auch
stets bereit, mit sich Spaß treiben zu lassen, ohne es scheinbar
übelzunehmen, da er selber voll Schnurren steckte. Zwischen beiden
gab es Abstufungen, anständige, nüchterne Menschen, wie sie in jeder
Stadt der Westmark zu finden sind: Altdeutsche und deutschgesinnte
Eingeborene, Halbelsässer und Französlinge. Aber keine warme innere
Einheit.

Am besten verstanden sich Hauptmann und Apotheker. Rosig und
rund gediehen beide in der allgemeinen Nahrungsnot. Sie liebten
scharfgewürzte Speisen und scharfgewürzte Späße. Und wenn die anderen
verduftet waren, saßen sie noch im dicken Rauch und vergnügten sich an
den allersaftigsten Geschichten, wobei selbst die Kellnerin beinahe
errötete und beide Gesellen duzend und scherzend ohrfeigte. Der
Hauptmann blieb bei alledem wiehernd laut und derb; der Apotheker
beschränkte sich auf ein niederträchtiges Schmunzeln.

»Sagen Se mal, Dicker!« pflegte dann der Hauptmann seinen
Gesinnungsgenossen anzureden. Der Dicke zwar hätte das Kosewort
mit ebensoviel Recht zurückgeben können; aber als Sohn eines immer
verbindlich lächelnden Gastwirtes war er auf nichtssagende Höflichkeit
eingeübt und nahm sich auch im angetrunkenen Zustande zusammen. Die
Spitzen, die er gesprächsweise dem »Schwob« dennoch versetzte, im Bunde
mit unechten Schmeicheleien, verstand nur die elsässische Kellnerin. Er
wußte immer irgendwie durch Hintertüren Schaumwein, Gänseleberpasteten
und ähnliche Kostbarkeiten zu ergattern, wozu er dann den Hauptmann
gastfrei einlud. Dieser glaubte sich mit den Eingesessenen bereits
vortrefflich angefreundet zu haben, obwohl er erst wenige Monate im
Lande war. Er hielt sich für unwiderstehlich; hätte man Leute wie
ihn früher gerufen, meinte er selbstgefällig, die Rasselbande der
Landesverräter hätte die Knochen ganz anders zusammengenommen. Vom
wahren Wesen der Elsässer hatte er keine Ahnung.

Da er zudem ein wenig mit der Zunge anstieß oder sich beim schnellen
und schnarrenden Reden verhudelte, so war es dem Apotheker ein
leichtes, seine Sprechweise mit stärkstem Lacherfolg nachzuahmen,
sobald der andre den Rücken gedreht hatte.

»Woher haben Sie denn nu eigentlich Ihr blaues Auge, Dickerchen?«
fragte der Hauptmann. »Sie wollten heut' abend, als die Herren darauf
anspielten, nicht recht mit der Sprache heraus. Na nu los!«

Gustavs Schulkamerad zog die Brauen hoch und blinzelte schalkhaft, als
ob es sich da um ein ganz besonderes feingewürztes Abenteuer handelte.

Endlich sagte er:

»Das hab' ich Ihnen zu verdanken, Herr Hauptmann!«

»Nanu, wieso denn? Hab' ich Sie in der Bezechtheit verhauen?«

»Das nicht, aber die Sache ist nämlich so. Es ist hier in der
Nachbarschaft einer auf Sie eifersüchtig.«

Und nun erzählte der eine Dicke dem andern den Vorfall im
Giebelstübchen zu Lützelbronn. Wobei er freilich die Tatsachen boshaft
umfärbte. Er vergaß nicht die Fahnenflucht des jungen Bieler und
verweilte bei dessen »apart netten« Schwester; er stellte schnalzend
fest, der alte Bieler habe einen wohlgefüllten Weinkeller, dessen
Geheimnisse eine Untersuchung verlohnten.

»Kenne den Fall ganz genau«, prahlte der Hauptmann, spitzte jedoch die
Ohren und stieß Rauchkringel in die Luft. »War schon dort, reiches
Haus, sah freilich weder die Kleine noch die Weine -- hübscher Reim,
was? Sagen Se 'mal, Dicker, Sie kennen ja das Terrain hierzulande: kann
man da 'rankommen?«

                   *       *       *       *       *

Tags darauf stand der Hauptmann in Bielers Wohnstube.

Fanny war aus der Küche herausgeschossen, als sie das Auto vorfahren
hörte. Sie war hochrot vom Herdfeuer, trocknete rasch die Hände ab und
erregte des Hauptmanns vollkommenes Entzücken. In schneidigen Formen
hatte er die anmutige Kleine begrüßt, die aber ihrerseits den Vater
rief und wieder an ihre Arbeit ging.

Papa Bieler, mit dem Käppchen in der Hand, war die Höflichkeit selber.
Ihm pochte seit seines Sohnes Flucht jedesmal aufs neue das Herz, wenn
ein Kraftwagen in sein Hoftor rasselte und Offiziere absetzte.

Er schenkte, nach einigen einleitenden Worten, dem Gast sofort einen
kristallklaren Schnaps ein. Und der Hauptmann sah sich mit Behagen in
der wohlgetäfelten Bürgerstube um.

»Noch e Schnäpsel, Herr Hauptmann? 's isch e Quetsch.«

»Mit Vergnügen, Herr Bieler! Wie nennen Sie das? Quetsch?«

»Von Zwetschgen gebrannt, verstehn Sie!«

»Ach so, natürlich! Zwetschgenwasser! Famos! Wissen Sie, Herr Bieler,
man hat mir Ihre geradezu musterhaften Kellereien gerühmt. Aber ich
sehe, Sie verstehen sich auch auf Schnapsbrennerei. Überhaupt: eine
urgemütliche Gastfreundschaft hier im Elsaß! Und ein schönes Land, Herr
Bieler, ein sehr schönes Land!«

»Ja, ja, Herr Hauptmann, unser Sprüchel hat schon recht:

                   »Das Elsaß, unser Ländel,
                   Es isch meineidi schön,
                   M'r hewe 's fescht am Bändel
                   Un lonn 's bi Gott nit gehn« ...

Der Hauptmann mußte sich das Mundart-Sprüchlein erst verhochdeutschen
lassen, stimmte dann aber lebhaft bei.

»Alle Wetter, ja, stimmt! Hören Sie da oben am Hartmannsweiler Kopf
unsre Batterien? Fest am Bändel! Stimmt! Und wenn alle andren Fronten
zusammenkrachen, ich sage Ihnen, hier kommen sie nicht durch! Hören
Sie, wie das da oben pocht?«

Der Hauptmann spielte auf den Geschützdonner an.

»Ja, ja,« sagte der Weinsticher ernst, »wie Hammerschläge auf einen
Sargdeckel.«

»Nicht übel!« nickte der Hauptmann. »Unter Ihrem Käppchen stecken ja
anscheinend ganz gute Einfälle. Sargdeckel: die Revanche-Idee wird
zugenagelt! Von wem sind denn diese hübschen Teller?«

»Vom Maler Lux.«

»Elsässische Motive?«

»Da die Schlösser von Rappschwihr -- ich mein': von Rappoltsweiler --
da die Burgruine Girbaden -- dort Kaysersberg -- Reichenweier -- nett
gemacht! 's isch e Elsässer, der Lux.«

»Und das hübsche Mädel da in der Bauernkappe? Ist das nicht Ihr
reizendes Töchterchen, das ich vorhin leider nur auf einen Augenblick
zu begrüßen die Ehre hatte?«

»Joh, 's isch 's Fanny. Schad', daß die netten Trachten fast ganz
verschwunden sind. Es isch halt nimmer so viel Freud' auf der Welt,
Herr Hauptmann.«

»Ein Prachtsmädel! Zum Anbeißen! Wenn man so 'was sieht, möchte man
sich ja gleich Knall und Fall in so 'ne hübsche Elsässerin verlieben.«

Bieler lachte kurz auf, stieß das Käppchen auf das linke Ohr und
kratzte hinter dem rechten, ging aber auf den Ton ein.

»Ha, jetzt, wissen Sie halt: ein Preuß' als Schwiegersohn« --

»Würde Ihnen ausgezeichnet bekommen! Und das Bild da, der französische
Soldat --?«

»So hab' ich einmal ausgesehen. Ich hab' siebzig bei Fröschwiller
mitgemacht.«

»Aha, Wörth?«

»Sehen Sie da: den Finger hat mir ein Bayer weggeschossen, Herr
Hauptmann. Ich bin Zuave gewesen -- =vous savez: caporal=! Und
eine zweite Kugel da in den linken Arm. Am Kirchhof zu Fröschwiller
bin ich gelegen bis in die Nacht und fascht gar verblutet -- ah,
=bigre=! Na, aber es hat sich wieder gemacht. Mein Handwerk als
Winzer oder Winsticher, wie man hierzuland sagt, kann ich auch mit
einem halbsteifen Arm besorgen. Lang mach' ich's freilich nimmer; ich
verpachte meine Reben; es paßt mir nicht mehr recht, man wird alt. =A
propos= wollen Sie meinen Keller sehen, Herr Hauptmann?«

»Sehen Sie, jetzt werden Sie warm, Herr Kriegskamerad! Da braucht man
also nur auf den Knopf Fröschweiler zu drücken -- was? Nu sagen Se mal,
ist's denn wirklich wahr, daß ihr Elsässer wieder französisch werden
wollt? Sprechen Sie mal frisch von der Leber weg! Ich las da neulich,
der Maire eines von den Franzosen besetzten Dorfes im Sundgau hätte
beim Empfang Poincarés vor Rührung geweint --«

Bieler lachte.

»Oh lala, Plän' von Paris! Wissen Sie, wie das G'schichtel passiert
ist? Der Maire hat kein Französisch gekonnt, da hat seine Frau zu
ihm gesagt: Dummer Kaib, du fängst an zu weinen -- und richtig:
 ›=Monsieur le Président=‹, hat er hinausgeschmettert -- so
viel hat er nämlich behalten von der Rede, als er den Präsidenten
empfangen sollte -- dann ist er stecken geblieben, hat's Nastuch
herausgezogen und erbärmlich geweint. Und der Präsident hat ihn
umarmt: ›=Embrassez-moi, Monsieur le maire!=‹ und die Pariser
Zeitungsleut' han Purzelbaum g'schlagen über den gerührten Maire!
Aber sehen Sie, so sind die Franzosen! Sie machen aus allem e
=comédie=!«

Der Hauptmann stimmte schallend in Bielers Lachen ein und fuhr dann in
seiner etwas gönnerhaft-jovialen Tonart fort: »Aber von den Schwoben
wollt ihr auch nicht viel wissen, was? Nu geben Sie mal Ihrem Herzen
einen Stoß und sprechen Sie deutsch heraus: was ist denn eigentlich
für euch eingesessene Elsässer, für euch widerspenstige, bockbeinige
und doch wieder urgemütliche Alemannen ein Schwob? Ihr habt ja selber
einmal zum Herzogtum Schwaben und Alemannien gehört! Ihr seid ja selber
dickköpfige Schwaben! Also los!«

»Soll ich Ihnen emol e G'schichtel verzählen?«

»Immer los!«

»Unser junger Lehrer -- er ist leider bei Ypern gefallen -- hat einmal
in der Dorfschule seine kleinen Kneckes gefragt: Kinder, was ist denn
ein Schwob? Da hebt einer den Finger und sagt: Ein Schwob, das ist
einer, der als sagt: ›geh' mal weg da!‹ Sehen Sie, das ist für uns
Elsässer ein Schwob!«

Die Worte »geh' mal weg da« hatte der Winzer in schneidigstem
Kasernenton hinausgedonnert. Der Hauptmann prustete vor Lachen
und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. »In Ihnen steckt ja ein
tadelloser Feldwebel, Herr Bieler! Na, 's ist aber auch manchmal ganz
verdammt nötig, euch Elsässer anzuschnauzen. Lieber den farnesischen
Stier zum Rekruten drillen!«

Der Horizont drohte sich zu verfinstern; das Gespräch wurde heikel.
Papa Bieler beeilte sich, seine Einladung auf das allerfreundlichste zu
wiederholen. Und beide wanderten miteinander in den weitläufigen Keller.

                   *       *       *       *       *

An demselben Tage bat Arnold seinen Sohn um eine Unterredung.

Gustav sah ihn erstaunt an. Vater und Sohn, beide lang und schmal,
feldgrau der Junge, dunkel der andre, wanderten wie Schatten im großen
Zimmer auf und ab.

»Sieh, Gustav,« begann der Vater mit bewegter Stimme und gütigem Ernst,
»wir zwei gehen immer umeinander herum, und unsere Herzen kommen nicht
zusammen. Soll ich denn das Trauerspiel, das ich einst mit deiner
Mutter erlebt habe, nun auch mit dir auskosten? Du kannst doch das
gewiß nicht wollen.«

Gustav wußte nicht recht, worauf der Vater anspielte. Er brachte die
einleitenden Worte mit dem neulichen Abend in irgendeine unbestimmte
Beziehung.

»Ich habe«, fuhr Arnold fort, »nach dem Besuche des thüringischen
Freiherrn eine schwere Nacht durchgemacht. Dieser Mann hat meine
Gedankenkräfte aufgewühlt. Ich bin mir vollends bewußt geworden, daß
ich auf einem toten Punkt sitze. Wir alle drei sind auf einem toten
Punkt, du und Fanny und ich. Wir müssen uns neu beleben und erwärmen,
sonst geht unser Seelenleben zugrunde. Am besten wär's, wir wanderten
aus, in ein Land, wo man große Gedanken und ein reines Herz ungestört
auswirken kann. Hier im Elsaß ist das unmöglich. Hier ist zu viel Haß.«

»Aber wohin?« warf Gustav müd' und schmerzlich ein. »Ist die moderne
Welt nicht überall gleich herzlos?«

»Was geht uns die moderne Welt an, Gustav! Hindert sie uns drei,
wenigstens untereinander herzlich zu sein? Geben wir einander wirklich,
was wir uns geben könnten? Diese Frage habe ich mir neulich in bittrer
Nacht vorgelegt. Und ich bin bei dieser Prüfung erschrocken, wie wenig
wir uns gegenseitig vor seelischer Einsamkeit schützen. Du hast Fanny
durch dein Benehmen tief gekränkt, als sie dich einlud, dem Spiel des
Hauptmanns zuzuhören« -- --

»Das war eine Verwechslung, Papa«, beeilte sich Gustav zu versichern.

»Hast du ihr das gesagt? Hast du um Verzeihung gebeten? Nein. Vielmehr
verspinnst du dich erst recht in deine Einsamkeit und erwartest, daß
wir, immer nur wir dich wieder herausbetteln. Doch wie es in uns
aussieht, das kümmert dich nicht. Grenzenlose Ichsucht, Gustav! Doch
ich will nicht schelten. Ich möchte dich nur vor dem Irrweg deiner
Mutter bewahren. Immer war sie die Gekränkte; immer suchte sie die
Ursache ihres inneren Unfriedens in der Umgebung. Nie wird jemand
erfahren, wie ich unter ihren Launen gelitten habe. Und wenn sie
mich mit pfeilspitzen Worten aufs tiefste verwundet hatte -- ins
Schlafzimmer, Tür hinter sich zu, eingeriegelt! Genau wie du! War der
Anfall dann vorüber, so weinte sie und schlich beschämt wieder heraus.
Ich blieb über Menschenkraft rücksichtsvoll; doch etwas in mir erstarb.
Ungern sag' ich das alles; denn es ist ja auch für mich immerdar eine
Beschämung, daß ich da nicht helfen konnte. Sie glaubte sich als
Elsässerin in Heidelberg verkannt und verfolgt; weil sie Verwandte
in Frankreich hatte -- oder was weiß ich weshalb! Aber hier im Elsaß
hielt sie's auch nicht aus. Unser altes Grenzlandschicksal: Hans im
Schnakenloch! Spürte sie den kommenden Weltkrieg? Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, daß Mangel an Liebe und Mangel an Vertrauen tatsächlich
die Wurzeln aller Friedlosigkeit sind.«

»Das liegt so in der ganzen Zeit«, bemerkte Gustav. »Eiskalt alles! Was
soll man tun, Papa? Weißt du einen Rat? Ich weiß keinen!«

»Abschütteln die Zeit! Bist du einverstanden, wenn wir drei eine
Art Trutzbund gegen die Zeit schließen? Wir wandern in eine kleine
Universitätsstadt aus, du, Fanny und ich. Ein Mülhauser Fabrikant
will mir schon lang mein Gut Windbühl abkaufen; das bringt ein paar
Hunderttausend. Du heiratest Fanny, baust deinen Doktor, tust dich als
Privatdozent auf. Unser Geld reicht. Ein Kandidat wartet auch schon auf
meine Pfarrei Lützelbronn« -- --

»Und das Elsaß?« unterbrach Gustav erregt. »Unser Elsaß im Stich
lassen, Papa?«

»Wichtiger sind mir mein Sohn und seine Braut, jawohl, Gustav! Ich bin
Ketzer genug, das zu sagen. Ihr geht mir hier an den Verhältnissen
zugrunde. Und dann das Entscheidende, lieber Junge: seit dem
bulgarischen Zusammenbruch müssen wir mit Deutschlands Niederlage
rechnen. Dann aber wird hier aus allen Ritzen Gesinnungslumperei den
einziehenden Franzosen entgegenkriechen. Dann kann der Arbeiter für
etliche Sous seinen Liter Rotwein trinken und sein Weißbrot essen,
schwingt also nach so langem Hunger begeistert die Trikolore und hat,
was er will. Das machen wir nicht mit, Gustav. Wir halten zu dem tapfer
erliegenden Deutschland.«

Gustav schritt lebhaft hin und her. Stand es schon so weit mit der
deutschen Westmark?

»Das Elsaß im Stich lassen, Papa?!«

»Hätt' ich einen entscheidenden Berufsposten, der für Religion,
Sprache, Sitten wichtig wäre, glaub' mir, Gustav, ich bliebe, ich
kämpfte! Aber --«

»Erwin wollte einen Elsaß-Bund gründen --«

»Erwin -- das ist etwas anderes. Ja, das soll er tun! Erwin ist jung
und spannkräftig. Der beißt es durch. Ja, diese neuelsässische Jugend
soll hier deutsche Art und Sprache wachhalten, was auch kommen mag.
Aber nicht du, nicht Fanny und nicht mehr ich. Euch beiden will ich
leben, meine Kinder, und zwar in reiner Luft! Hier ist Luzifer zu
mächtig; hier kann Christi Reich jetzt nicht aufgebaut werden.«

Und Arnold deutete an, daß sich ihm durch den Freiherrn von Stein eine
wertvolle Beziehung zu dessen nahem Freunde, dem Oberstleutnant von
Trotzendorff in Straßburg, eröffnet habe. Das seien deutsche Menschen,
denen das Herz auf dem rechten Fleck sitze. Er werde alles Nötige in
die Wege leiten.

So sprachen sie mehr als eine Stunde lang.

Gustav wurde immer wärmer und ging mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit
auf seines Vaters Pläne ein. Die Herzen fanden sich. Vater und Sohn
schüttelten sich die Hände. Jetzt spürte der Junge, wie tief der Vater
sich um ihn sorgte, derart sorgte, daß er auch das heißgeliebte Elsaß
zu verlassen willens war, um nur seinen Kindern in reiner Lebensluft
Führer zu sein. Noch nie waren sich die beiden so nahe gekommen.
Gustavs Krankheitsgefühl war verflogen; die Aussicht, aus all der
dumpfen Enge herauszukommen, hatte ihn umgewandelt.

»Und nun will ich dir etwas vorschlagen, Gustav«, schloß der
gleichfalls belebte Pfarrer und legte dem Jungen beide Hände auf die
Schultern. »Jetzt läufst du stracks zu Fanny hinüber und sagst ihr
einige recht, recht gute Worte, gel? Sie ist ja ein so liebes, ein so
grundvornehmes Geschöpf! Man kann ihr ja gar nicht genug dankbar sein,
wie sie all das Schwere hell und heiter trägt. Ach, Gustav, eine so
lebendig liebe Menschenseele ist mehr wert als alle Politik Europas!«

»Du hast recht, Vater! Ich danke dir für diese Stunde. Du glaubst
nicht, wie mir diese Aussprache gut getan hat! Ich bin ein ganz neuer
Mensch. Und jetzt geh' ich zu Fanny.«

»Setzt gleich den Hochzeitstag fest!« rief ihm der Vater nach.

Der feldgraue Unteroffizier eilte stürmischen Schrittes davon.

Und Arnold schritt noch lange in seinem Zimmer auf und ab, glühend
bewegt. Er hatte einen Sturmangriff auf seines Sohnes Herz gewagt; und
der Sturm war gelungen.

»Menschen gewinnen« -- das waren die Gedanken, die ihn durchgluteten --
»Herzen in Flammen versetzen, damit sie zu Entschlüssen fähig werden!
Ich verstehe den Flammenspender von Golgatha nun auf neue Weise: er
hat Wolken hinweggerissen, die uns von der Sonne der Liebe getrennt
haben; nun kann die göttliche Wärme wieder herein. Ach, was war ihm das
ganze riesige Römerreich mit seiner Weltpolitik! Schattengebilde! Aber
die unsterblichen Seelen, die er dem Reich Gottes gewann, die waren
ihm alles. Das ist der Sinn der Kreuzigung: wir sind der äußeren Welt
gekreuzigt, doch um so funkelnder lebt, liebt, leuchtet das Herz, das
ewig ist, das aus dem Kosmos kommt und den schattenhaft dahinrollenden
Planeten samt Geburt und Tod sieghaft überdauert« ...

Er nahm den Hut und ging auf Krankenbesuche.

                   *       *       *       *       *

»Fort vom Elsaß?«

Das waren Fannys erste freudig-bange Worte, als Gustav seines Vaters
Vorschlag stürmisch vor der Geliebten ausschüttete. Den Vater im Stich
lassen, in fremde Umwelt auswandern, in die ungewisse Ferne -- und zwar
bald, in wenigen Wochen?! Ihr schoß es heiß in beide Schläfen. Und
doch! Und doch war es mehr Glück als Bangigkeit.

Denn wie angenehm verändert war Gustav!

Beide junge Menschenkinder waren allein in der Wohnstube. Unter ihnen,
im Keller, probten und tranken der Hausherr und sein Gast. Salome hatte
im Garten zu tun; Schauli und sein Schwiegersohn Stürli pochten an den
Fässern im Schuppen rüstig herum, denn die Weinlese nahte heran. Es war
bedeckter Himmel und ging bereits dem frühen Abend zu.

Der Braut schlug das Herz bis an den Hals hinan vor Freuden über
Gustavs zuversichtliche Sprechweise.

»Ja, fort vom Elsaß, Fanny! Wir ersticken hier. Wir müssen in reine
Luft. Papa hat recht. Nur diese sogenannte elsässische Frage ist
meine Krankheit -- und weiter gar nichts. Wenn ich von hier ganz weg
bin, wirst sehen, dann bin ich sofort kerngesund! Das sind ja doch
alles nur politische Kleingeister hier, die uns seit Jahrzehnten die
Kehle zugeschnürt haben mit ihrer tückischen Französelei. Die haben
uns verbittert und vergiftet. Gehst du mit, Fanny? Papa schickt mich
geradewegs zu dir herüber, ich soll dich fragen: wir alle drei wollen
zusammengehen! Was sagst du dazu?«

Die kleine Fanny schlug mit Kraft beide Arme um den langen Geliebten,
überselig in ihrem liebevollen Herzen. Und innig sprach sie zu ihm die
Worte der Ruth:

»Wo du hingehst, da will ich auch hingehen!«

Mit stürmischer Nervosität umarmte Gustav das holde Geschöpfchen,
neigte sich zu ihr, und sie küßten sich glühend. Fanny konnte sich kaum
von dem lang entbehrten Munde trennen. »Lieber, lieber, lieber Gustav«
-- so stammelte, so küßte sie -- »du weißt ja, wie ich dich lieb habe!
Ich gehe mit dir bis ans Ende der Welt!«

Er tastete nach dem Stuhl, setzte sich und zog die Geliebte auf den
Schoß; sie behielt die Arme um seinen Hals, als wollte sie ihn nie
mehr loslassen. Es war eine Liebesstunde, glühender als je zuvor; denn
Freiheit und Erfüllung schienen nahe wie noch nie.

»Ja, Fanny, ja, das weiß ich, daß du mit mir gehst bis ans Ende
der Welt! Und wenn der Stall hier rein ist, dann kommen wir
zurück, vollgesogen mit deutscher Kultur und erwärmt durch viele
Freundschaften. Ja, dann kommen wir zurück in die Heimat und arbeiten
an der elsässischen Volksseele! Aber nicht mit Paragraphen, sondern von
innen heraus!«

»Ach, hast du mich denn noch e bissele lieb, sag' doch, mein Gustav?
Ach sag' doch, sag' doch! Ich hab' dich ja so lieb, so lieb! Ach, was
liegt mir denn am Elsaß und an der ganzen Welt -- ich babbel hochditsch
und chinesisch und hottentottisch, was du willst -- awer lieb han soll
mich min Gustav, gel?!«

»Liebe Fanny, keinen Spaß machen! Mir ist mein Vaterland heilig, und
Deutschlands Not ist groß« -- --

»Ich mach' auch gar keinen Spaß, Liebster, will dich ja nur e bissel
zum Lachen bringen! Gelt, bist wieder ganz mein? Gelt, hast mich wieder
ganz arg lieb?«

Sie suchte nach den innigsten, eindringlichsten Worten und Kosenamen.

»Von Kind an hab' ich dich lieb, ja Fanny, ja, du gutes, heißes
Herz! Nur dich von Kind an! Und wenn ich eingesperrt oben in meiner
Dachkammer g'sessen bin, hab' ich dich erst recht lieb gehabt, Fanny,
unter heimlichen Tränen lieb! Weißt noch, wie ich zu dir g'sprungen
bin über die Gartenmauer? Fanny, ich muß dich ja um Verzeihung bitten,
Liebste, ich hab' da neulich so dumme Sachen von dir gedacht, wie der
Hauptmann da g'sin isch -- es sin d'Nerve, nur d'Nerve, ich mein's nit
so« -- --

»Red' nit davon, Gustav! Ach weißt denn noch, wie wir als oben im
Wald hinter den Rosenhecken g'sessen sin? Und du hast mir ein Kränzel
gemacht aus Heckenrosen, weißt noch? Und jetzt darf ich bald 's Kränzel
aufsetzen« --

»'s Myrtenkränzel, ja, Fanny! Kriegstrauung! Papa hat mich direkt
beauftragt: wir sollen den Tag festsetzen. Deine Ausstattung ist ja fix
und fertig; und dein Vater will sich schon lang ins Diakonissenhaus zu
seinem Freund Sorgius zurückziehen und das Haus dem Stürli verpachten;
und Tante Sophie geht zu ihrer Schwester nach Pfalzburg -- das haben
wir ja hundertmal besprochen. Und jetzt wird's Wahrheit! Fanny, dann
schaffen wir zusammen. Du tippst mir auf der Schreibmaschine meine
Arbeiten ab und« --

»Ja, Gustav, ja, und weißt, was ich in diesen Tagen schon immer tu'?
Ich sitz' oben und -- aber sag's keinem Menschen, gel, ja nicht! -- und
schreib' deines Vaters Handschriften ab. Er weiß es selber nicht, Lisy
und ich haben die Papiere gemaust. Und zu Weihnachten leg' ich sie ihm
unter den Tannenbaum!«

»Ach, Fanny, Fanny, neben all deiner Arbeit?! Du goldiges, kleines
Fannjele du!«

Sie saßen in trautester Umarmung. Das Abendlicht schimmerte durch
verschleierndes Gewölk noch einmal herüber. Die Ebereschen im Hofe mit
ihren glutroten Beeren schienen aufzuleuchten. Und die Braut flüsterte
ihrem Geliebten zu, nach dem Innigsten suchend, was sie ihm sagen
könnte:

»Gustav, ich bet' jede Nacht zum lieben Gott, er soll dich g'sund
machen. Wenn ich deine Frau bin -- dann gibt's nimmer so viel Tränen
auf der Welt. Ach, ich weiß ja allein, wie mein Papa heimlich unter
alledem leidet. Und er versteckt's vor allen und macht ein freundlich
G'sicht. Gustav, wir wollen uns recht lieb haben, gelt! Arg lieb!
Doppelt so lieb als alle andren Menschen. Es ist ja so viel Haß in der
Welt.«

Tränen stiegen ihr in die lieben Augen. Er küßte die Tränen fort. Und
von den Augen suchte sein Mund weiter Wangen und Lippen der Braut. Sie
vergaßen die ganze Welt.

In diesem Augenblick geschah etwas Furchtbares.

An die folgenden Minuten erinnerte sich nachher niemand mehr genau.

Eine schnarrende Stimme dröhnte plötzlich in diese süßeste aller
Stunden: »Reizend! Ei, ei! Ein Idyll mitten im Kriege! Hübsch! Reizend!«

Der Hauptmann war eingetreten; hinter ihm Bieler, der den Unseligen
vergeblich abzuhalten suchte. Jener hatte Fannys Stimme vernommen,
schon bereit, ins Auto zu steigen, und war seiner Witterung gefolgt, in
angetrunkenem Zustande nicht mehr abzulenken.

»Herr Hauptmann,« stotterte der Winzer, »es ist halt -- Sie müssen
exküsieren« --

»Einquartierung im Dorf, versteh' schon, Herr Bieler! Bitte Platz zu
behalten, meine Herrschaften! Ich ziehe mich verschämt wieder zurück!«

Das Liebespaar war so erstarrt, daß Fanny zwar mit einem Ruck von
Gustavs Knien abgesprungen war. Aber sie stand noch in naher Umarmung,
gleichsam ängstlich den Geliebten umschlingend.

»Was denken Sie denn von mir?!« sprühte sie jetzt empört heraus.

»Nur was ich sehe, schönes Kind!« scholl es zurück. »Ist mir aber
scheußlich interessant, dies pikante =tête-à-tête=!«

Jetzt ermannte sich Gustav und sprang auf.

»Herr Hauptmann -- mein Name ist Arnold -- Unteroffizier Arnold -- ich
habe die Ehre, hier im Hause -- Fräulein Bieler hat die Ehre -- -- ich
habe« --

Der Ärmste stotterte und kam ins Zittern; sein Herz hämmerte; seine
Nerven und Gedanken und Worte -- alles ward ein Irrwischtanz -- es
flimmerte vor seinen Augen.

»Ja, wer hat denn nu eigentlich die Ehre?« scherzte der verärgerte
Hauptmann unbarmherzig weiter. »Wenn einer ein hübsches Mädel auf dem
Schoß hat, so ist das allerdings eine ganz verdammt angenehme Ehre!
Und ein kolossales Vergnügen dazu. Im übrigen sammeln Sie Ihre sieben
Knochen, Unteroffizier, und machen Sie wenigstens die vorschriftsmäßige
Ehrenbezeugung! Mein Fräulein, ich ziehe mich zurück und überlasse
Ihrem schlotternden Liebhaber das Feld« --

Jetzt war es mit Gustavs Fassung gänzlich zu Ende.

»Es ist mein Bräutigam!« rief Fanny zornig und stampfte mit dem Fuß auf.

Und Gustav außer sich vor Wut:

»Herr Hauptmann, ich bin Kandidat der Philologie, ich bin kein
schlotternder Liebhaber, ich verbitte, verbitte, verbitte mir diese
unverschämte Beleidigung!«

Bieler zitterte am ganzen Körper und versuchte einen Schnaps
einzuschenken, was endlich gelang.

»E Schnäpsel, Herr Hauptmann! Gustav, =tais-toi=!«

»Babbe, =qu'est-ce que tu fais=? Dü schenksch dem Mann au' noch e
Schnaps in?« rief Fanny.

Und der Hauptmann, der schon in der Türe stand: »Nu auch noch
französisch?! Das fehlt gerade noch! Nur heraus mit eurem wahren
Gesicht, ihr Franzosenköppe! Euch kenn' ich nun! Erst führt ihr einen
ehrlichen Kerl in den Keller und macht ihn besoffen -- und unterdessen
sitzt die hübsche Tochter irgendeinem Unteroffizier auf dem Schoß!«

Gustav sprang mit geballter Faust auf ihn zu:

»Ich bin kein Franzosenkopf! Ich ersuche Sie, mein Eisernes Kreuz zu
achten! Ich hab' an der Somme für mein Vaterland geblutet -- und
Sie, Sie, Sie?! Ich kenne Sie jetzt ganz genau! Mein Vater ist der
Pfarrer hier im Ort -- der kennt Sie, der weiß, wie Sie's da drüben
im Städtchen treiben! Das ist die Sorte, die in einer Minute mehr
verdirbt im Elsaß, als zehn Jahre Kulturarbeit wieder gutmachen! Eine
Affenschande sind Menschen wie Sie für den deutschen Namen -- eine
Affenschande!«

So tobte er auf den Hauptmann ein und trieb ihn mit geballten Fäusten
geradezu vor sich her. Wie es kam, daß der Betrunkene draußen fiel,
war nicht zu erkennen; er hatte Besinnung genug, einige Leute von
der Einquartierung, die im Dorf lag, herbeizurufen; er ließ den
Unteroffizier abführen und seine Personalien feststellen, stieg dann in
den Kraftwagen und fuhr mit sausendem Hirn davon an die Stätte seines
Wirkens.

Hinter ihm blieb eine händeringende Braut. Und bei ihr der gänzlich
verstörte Papa Bieler, der sein freundlich einladendes »Noch e
Schnäpsel, Herr Hauptmann?« noch einmal gestammelt hatte -- worauf er
in Grimm und Schmerz Gläschen samt Inhalt in die Stube schleuderte.




                           Sechstes Kapitel

                         Das Weinberghäuschen

                                                      Ich baw für mich,
                                                      Sih du für dich!

                                       ~Alter elsässischer Hausspruch~


Der düstere Oktober des Jahres 1918 war über Deutschland
hereingebrochen.

Da ersuchte der deutsche Generalstab die demokratische Reichsregierung,
den Feind um Waffenstillstand zu bitten.

Und die Regierung tat den demütigen Bittgang.

Das legte sich dumpf und schwer auf das müde Volk; das bewirkte
Triumphgeheul im Ausland. Es war also nun so weit: das umstellte
Deutschland war zur Strecke gebracht!

Betäubung, untermischt mit Spannung, was wohl der Präsident der
amerikanischen Geldherrschaft antworten würde, lagen fortan auf den
deutschen Herzen. Zusammengebrochen! Bismarcks Volk bettelt nach
vierjährigem tapferen Ringen um Frieden! Nach vier so tapfer, zum
Teil so großartig bestandenen Kampf- und Hungerjahren! Bulgarien,
Türkei, Österreich-Ungarn -- alle hintereinander vor der Übermacht
zusammengebrochen!

Die Wendung geschah Anfang Oktober, um den Todestag des großen
Franziskus von Assisi, des Heiligen der Liebesinnigkeit. Da setzte
diese Demütigung ein; da wurde Deutschland in die Nacht geführt. Und
nach peinlichem Notenwechsel ward uns endlich, um den Geburtstag
eines Schiller und Luther, ein vernichtend schwerer Waffenstillstand
auferlegt.

Die Meister aber standen auf den Wolkenhöhen und schauten auf ihr
schwergeprüftes Deutschland. Sie wußten, daß ein beseeltes Volk aus
den Düsternissen dieser Prüfung emporzutauchen bereit war. Rauch
und Giftgase verrollten. Nun begannen sich die Geister im Innern zu
scheiden. Und in den Lüften die Millionen gefallener Kämpfer wirkten
mit, wirkten in wogenden Scharen hinunter auf ihres Volkes Seele ...

Johann Friedrich Arnold hatte etwas von einem Seher; er verbarg jedoch
diese Besonderheit. An jenem Tage, als er zum Krankenbesuch ausging,
begegnete ihm der Briefträger. Er nahm die Zeitung in Empfang. Und im
Gehen las er das Waffenstillstandsangebot:

»Die deutsche Regierung ersucht den Präsidenten der Vereinigten
Staaten von Amerika, die Herstellung des Friedens in die Hand zu
nehmen, alle kriegführenden Staaten von diesem Ersuchen in Kenntnis
zu setzen und sie zur Entsendung von Bevollmächtigten zwecks Aufnahme
der Verhandlungen einzuladen. Sie nimmt das von dem Präsidenten
der Vereinigten Staaten von Amerika in der Kongreßbotschaft vom 8.
Januar 1918 und in seinen späteren Kundgebungen, namentlich der
Rede vom 27. September, aufgestellte Programm als Grundlage für die
Friedensverhandlungen an. Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden,
ersucht die deutsche Regierung den sofortigen Abschluß eines
allgemeinen Waffenstillstandes zu Lande, zu Wasser und in der Luft
herbeizuführen. Max, Prinz von Baden, Reichskanzler.«

Sofortigen Abschluß ... Man befürchtet also Dammbruch der Westfront! ...

Arnold war ein warmherzig deutschgesinnter Mann. Als er aber nun das
Zeitungsblatt zusammenfaltete und in die Tasche steckte, sah er vor
seinen Augen die zahllosen versenkten Schiffe, mit all der vernichteten
Summe von Fleiß und Kulturarbeit, und sah die zahllosen Bomben, die
auf schlafende Städte gefallen waren. Und ihn schauerte. Er hatte
den Unsegen vorausgesehen. »Wir haben die Luft beherrschen gelernt
-- um zu zerstören; wir haben unter Wasser fahren gelernt -- um zu
zerstören; wir haben den Leib der Erde aufgewühlt und alles Land
zwischen Wasgenwald und flandrischer Küste in Wüstenei verwandelt.
Es mag Notwehr sein, gewiß, und all die Spannkraft und Tapferkeit
verdient Achtung. Aber es ruhte kein Segen darauf. Wir hätten
Erzeugungsmaschinen erfinden sollen, um uns vor Hunger zu schützen,
keine Zerstörungsmaschinen, keine Ferngeschütze. Vielleicht wird
Deutschlands Erschöpfung und Demütigung der spätere Segen werden -- für
ein neues Geschlecht.«

Er hob das Haupt. Sein Geist schaute die bedeutsame Wendung:
Neudeutschland wandert nun nach innen, Neudeutschland besinnt sich auf
seine Seele ...

                   *       *       *       *       *

Am oberen Ende des Dorfes Lützelbronn stand ein windschiefes Häuschen.
Dort, am Rande der Reben und des nahen Waldes, hauste der aus der
Schweiz zugewanderte Stürli mit Schaulis Tochter.

Wenn man die ausgetretene Steintreppe hinaufstieg, mußte man sich
erst durch ein Rudel Kinder hindurchwinden. Für diese Begegnung hatte
der Pfarrer Zwieback oder ähnliche Seltenheiten in der Tasche. Ein
Mädchen und vier Knaben bildeten bereits des Hauses Zierde; und das
schöpferische Ehepaar hatte sich beeilt, vor wenigen Tagen das halbe
Dutzend abzurunden.

Es waren gesunde, verwegene Jungen, die ihres Emmenthaler Vaters
eckigen Schädel und rechtschaffen-besonnene Gesichtszüge geerbt hatten,
fest auf ihren Beinen standen und herzhaft um sich zu hauen wußten. Nur
das Mädchen, die Älteste, war Frau Katharinas hübsches Ebenbild und
hatte deren blaue Augen und blondes Haar. Man sah diese sanfte, immer
geduldige, gewinnend lächelnde Anneliese kaum anders als mit einem
Bündel auf dem Arm, worin ein junger Elsässer schweizerischer Zucht in
die Welt schrie oder mit Andacht an einem Lappen sog.

Frau Stürli hatte böse Abenteuer wacker überstanden. Sie war von den
gallischen Nachbaren verschleppt worden und fast ein Jahr lang der
Heimat fern geblieben. Beim Einbruch der Franzosen in den südlichen
und mittleren Wasgenwald weilte sie gerade besuchsweise bei ihrer
Schwester, der Förstersfrau. Diese war mit den zwei Jungen im Städtchen
abwesend, als die Alpenjäger das einsame Forsthaus überfielen und
umstellten. Förster, Schwägerin und Dienstmädchen wurden der Spionage
angeklagt und sofort abgeführt, in Hausschuhen, wie sie gingen und
standen. So schleppten die Franzosen in den ersten Kriegsmonden mehrere
Tausend Elsässer als sogenannte Geiseln -- man wußte nicht, wofür --
aus den Grenzbezirken nach Frankreich davon. Die Leute wurden meist
schlecht behandelt, vom Pöbel beschimpft, und die deutsche Regierung
besaß nicht die Kraft, diese verschleppten Deutschen der Westmark durch
Gegenmaßnahmen zu befreien. Erst nach und nach, tropfenweise, nach
unzähligen Verhandlungen, kamen einzelne oder ganze Gruppen in die
Heimat zurück. Andere starben in der Gefangenschaft.

Pfarrer Arnold unterhielt sich gern mit dem tüchtigen Hansjakob Stürli;
nicht minder gern mit dessen ebenso kluger wie lebhaft-munterer
Lebensgefährtin.

Nach seinen Krankenbesuchen wanderte er nun zum Weinberghäuschen
hinauf, um der Wöchnerin ein paar gute Worte zu bringen.

Der Maler Ludwig Richter hätte seine Freude gehabt an der Kinderschar
mit dem bellenden Spitz. Das Haus beherbergte in seinem Anbau noch drei
Ziegen, zahlreiche Kaninchen, Hühner und Tauben. Und die Sperlinge
schienen für Hausdach und Gartenzaun ebensoviel Vorliebe zu hegen wie
die Eichhörnchen für die dichten Haselbüsche oberhalb des Hohlwegs.
Und weit hinab glühten die Reben. Die Sonne aber, die hier die Trauben
kochte, hatte ihre schöpferische Glut auch dem Häuschen geschenkt.

Die zehnjährige Anneliese mit ihren warmen Augen und ihrer herzlieben
Kinderstimme schaltete in der sauberen Küche und hantierte so flink,
daß die blonden Zöpfe flogen. Ihre Holzschuhe klapperten eifrig hin und
her. Um das Häuschen herum schrien mit vortrefflicher Lunge bald Hans,
bald Michel, bald Jakob Stürli in die herbstliche Luft; der älteste
knallte mit der Peitsche; der Spitz gab durch zielloses Bellen seiner
Daseinsfreude Ausdruck. Es war Leben im Weinberghäuschen. Selbst die
Sonnenblumen standen wie mit lebendigen Gesichtern.

Arnold grüßte sich durch die magere, aber handfeste Schar hindurch zum
Bette der Wöchnerin. Anneliese, die aus der Küche herbeilief, bekam
Bildchen geschenkt, die von Schwester Lisy aus Zeitschriften für sie
ausgeschnitten waren.

Frau Stürli entschuldigte sich seufzend und lächelnd wegen der
ungezogenen Buben.

»Man gönnt's ja den Kindern gern«, meinte sie. »Wenn nur mehr Platz im
Hause wär'! Wo soll denn das noch hin?«

»Woraus hervorgeht, Frau Stürli,« bemerkte der Pfarrer mit trockenem
Humor, indem er sich einen Stuhl ans Bett stellte, »daß Sie
entschlossen sind, das Halbdutzend fortzusetzen.«

»Ach jeh, Herr Pfarrer!« lachte die vergnügte Mutter. »Wie sollen wir
sie denn durchfüttern? Es geht ja so schon mager genug her! Wenn wir
nicht die Geißen hätten --«

»Hoho, ihr habt ja manchen Spargroschen,« erwiderte Arnold. »Und in
euren Buben wachsen Arbeitskräfte heran. 's Anneliesel ist ja schon
ein Hausmütterchen. Die Knirpse haben den Krieg trotz alledem gut
überstanden.«

»Wenn er doch nur zu Ende wär'!« seufzte es aus den Kissen.

»Er geht zu Ende, Frau Stürli. Da steht's in der neuesten Zeitung:
Deutschland bittet um Waffenstillstand.«

Die Frau schnellte empor. Sie hatte Politik in den Adern.

»Tun sie's wirklich? Bitten sie? O wie schad', wie schad'! Hat sich
das stolze Deutschland jetzt doch gebeugt? Ach Gott, was soll nun aus
der Welt werden! Jetzt kommt uns ja das ganze farbige Gesindel auf den
Hals!«

»Auf die vierzehn Punkte der Wilsonschen Erklärung sind die Deutschen
bedingungslos eingegangen. Dazu gehört auch ein Paragraph, das Unrecht
von 1870 müsse wieder gutgemacht werden -- mit andren Worten, Frau
Stürli, wir werden wieder französisch!«

»Aber, aber, aber -- das ist doch ganz unmöglich!« Frau Stürli
stammelte vor Bestürzung. »Dieser unchristlichen Nation sollen wir
ausgeliefert werden, diesen unritterlichen Franzosen? Bedenken denn
die Deutschen, was das heißt? Ich hab's durchgemacht, ich kann davon
ein Stücklein erzählen. Ach Gott, ach Gott! Und da liegt man nun im
Bett und kann sich nicht rühren! Soll ich denn nun mit meinen Kindern
französisch reden? Das ist ja eine ganz schändliche Vergewaltigung! Und
das nennen sie drüben Freiheit und Gerechtigkeit? Man weiß ja gar nicht
mehr, wie man dran ist in der Welt! Warum sollen wir Elsässer denn zu
Frankreich? Wir sind doch keine Franzosen!«

Die Schleusen waren geöffnet. Und wenn die beredte Frau in Zug kam,
so gab es so leicht kein Halten mehr. Ärgerlich lachend meinte ihr
gutmütiger Mann einmal: »Hätten doch nur die Kaiwe-Franzosen min' Frau
e bitzli länger behalten: sie hätt' sich vielleicht leer g'schwätzt!«

»Frau Stürli,« versuchte Arnold nach einer Weile zu unterbrechen, »es
denken leider nicht alle wie Sie. Übrigens ist an Ihnen eine Schulfrau
verloren gegangen.«

»Wer hat Ihnen das jetzt wieder verraten?« fragte sie verblüfft.

»Was denn?«

»Daß mich der Lehrer von Moosbach einst zur Frau gewollt hat.«

»Zur Frau? Schade. Ich gönne Sie zwar dem Stürli, denn er ist ein
grundbraver Mann. Aber Sie hätten im Schulhalten Großes geleistet. Da
muß halt einmal einer von Ihren Jungen dran.«

Frau Stürli lachte und strich sich eine Strähne vom hübschen Gesicht.
»Ich hab' ja auch Schule gehalten drüben im Gefangenenlager. Ach, Herr
Pfarrer, wenn ich da so lieg' und an jene Zeit zurückdenke!«

Sie lehnte sich in ihren weiß und rot karierten Kissen zurecht, die
hellblonde Frau, und kam mit lebhaftem Händespiel wieder einmal auf
ihre Leidensfahrt durch Frankreich zu sprechen.

»Es gibt drüben gewiß auch gute Menschen, das hab' ich erfahren. Aber,
aber -- wenn ich zum Beispiel an den Lüneviller Bahnhof denke, wie
wir da angekommen sind, hungernd, frierend, die Hände auf den Rücken
gebunden -- und dann diese heulende Menschenmenge! Das fürchterliche
=A mort! A mort!= wird mir wohl ewig in den Ohren gellen. Mein Schwager
ohne Kragen, die Magd in Pantoffeln, ich in Hausschuhen -- und dann
in dem Loch, in das sie uns einsperrten, nichts zum Zudecken! Und am
andren Morgen wieder zwischen Soldaten weiter, geschlagen, gestoßen,
angespien -- und immer nur =Boches= und =Cochons= und andre wüste
Schimpfworte! Und dann die Damen vom Roten Kreuz auf einem Bahnhof,
wo mein Schwager in der demütigsten Weise um ein bißchen Wasser bat!
›Krepiert lieber!‹ war die Antwort. ›Dann ist man euch los!‹ Herr
Pfarrer, Damen vom Roten Kreuz! Sie wissen, ich könnte stundenlang
so erzählen. Aber wozu! Es ist halt jetzt in der Welt, wie es in der
Offenbarung Johannis steht: Die Zornschale des Wahnsinns ist über die
verblendete Menschheit ausgegossen. Nur Haß, überall Haß. Die Armen
wissen nicht, was sie tun. Ein gesundes Hirn muß ich doch wohl haben,
und auch ein festes Herz dazu, denn sonst hätt' ich da drüben den
Verstand verloren.«

Der Säugling, der am Fußende in einer bunt bemalten Schaukelwiege
lag, schien mit kräftigem Stimmchen der Mutter Wort zu bestätigen.
Sofort kam Anneliesel herein, nahm das Kind auf den Arm und ging mit
beruhigendem Singsang hin und her. Draußen tobte die wilde Jagd; man
führte unter Leitung des Ältesten die Schlacht in den masurischen
Sümpfen auf, wobei die Jüngsten nebst einigen Nachbarsknaben als
Russen in Nesseln oder Düngerhaufen getrieben, geprügelt und gefangen
wurden. Am Fenster schimmerten im letzten Tageslicht grellrote
Geranien in die blitzblanke Stube. Der nachdenklich sitzende Pfarrer
ließ der Wöchnerin Plaudern über sich hinrieseln und überdachte
den baufälligen Zustand dieses sauber gehaltenen Häuschens, das
von der wachsenden Familie gesprengt wurde, wie das Wurzelwerk der
Tanne den Felsen auseinanderbricht. Die Politik verschwand vor
seinen inneren Augen; das Wunder des immer wieder sich erneuernden
Lebens wuchs in diesem fruchtbaren Heim vor seiner Seele empor.
Welch gesund-einfache Daseinswonne lärmte, schnaufte, leuchtete um
ihn her! Die gut gedeihende Familie, die sich zu beseelen und zu
durchgeistigen weiß -- so dachte er --, ist doch immer wieder das
Geheimnis der Krafterneuerung. Vor einigen Tagen hatte Arnold ein Heft
mit Madonnenbildern wohlgefällig durchblättert. Steht nicht auch an der
Spitze der christlichen Menschheit eine Familie?

Er ahnte, der rastlos ins Allgemeine strebende Philosoph, was uns in
den letzten Jahrzehnten zersetzt und gelähmt hatte. Uns lähmte der
allzu verständige Gehirnmensch. Doch wahrhaft lebendig sind nur das
schöpferische Herz und der schöpferische Schoß ...

Frau Stürli gab ihrer Plauderei eine unerwartete Wendung, die den
sinnenden Seelsorger wieder aufhorchen ließ.

»Ich hab' aber bei all dem Elend drüben in Frankreich etwas gelernt,
Herr Pfarrer, etwas Großes. Wissen Sie, was? Wenn die Leute um mich
her schimpften und höhnten -- da hab' ich gedacht: das bin ich ja gar
nicht, ihr armen dummen Leute, ihr haltet mich ja für eine Teufelin,
die den Soldaten Vitriol in die Wunden gegossen hat! Ich bin still
dazwischen gestanden, Herr Pfarrer, die Hände auf den Rücken gefesselt
-- und hab's zuletzt fertig gebracht, zu lächeln. Ich hab' an meinen
guten Mann, an meine armen Kinder gedacht. Es hat Tränen gekostet,
freilich, aber ich hab' doch gelächelt. Ich hab' die Leute um mich
herum gar nicht mehr gesehen. Und ich hab' an Christus gedacht, wie
er unter den Knechten und dem Pöbel geduldet, ein Fremdling, ein
heimlicher König, der ganz wo anders zu Hause ist: nämlich im Lande der
Liebe. Und da bin ich ruhig geworden und zum Tod bereit. Seitdem ist
etwas zwischen mir und der Welt. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ja, Frau Stürli, das glaub' ich zu verstehen, was Sie da meinen«,
nickte der Pfarrer. »Da sind wir bei einer sehr tiefen Erkenntnis
angelangt. Durch die Welt geht eine große Zweiheit. Dort auf der
einen Seite ist das Reich der Macht; das war zu Christi Zeiten das
Römerreich und die judäische Kirche; auf der andern aber ist das
Reich der ~Liebe~ oder das Reich ~Gottes~. Eins breitet
sich meist auf Kosten des andren aus. Dort ist Haß, Leidenschaft und
Rechthaberei; hier edle Bruderschaft. Wir Menschenseelen sind auf
diesen Planeten gesandt, um uns zu entscheiden, wem wir in den Tiefen
unsres Wesens dienen wollen. Sie haben sich, liebe Frau Stürli, dort
in Frankreich, in Ihres Lebens finstersten Stunden, für das Reich der
Liebe entschieden. Und ich sage Ihnen: Das wird Gott an Ihren Kindern
segnen.«

Die Blauaugen der Mutter füllten sich mit Tränen. Obwohl Arnold gar
nicht pastoral gesprochen hatte, faltete sie doch unwillkürlich die
Hände.

»Gott geb's!« flüsterte sie.

»Nun sagen Sie mir aber,« fuhr der Pfarrer fort, »wenn nun die
Franzosen in unser Land kommen, wenn das Elsaß politisch etwa wieder
französisch wird: was machen Sie denn da?«

Frau Katharina dachte nach.

»Dann erzieh' ich meinen Kindern Charakter ins Blut« --

»Ja, ja, schon gut, wenn aber die Franzosen unsre Obrigkeit werden?«

»Dann sag' ich: Kinder, seid untertan der Obrigkeit, denn sie hat
nun einmal Gewalt über euch; aber in euren Herzen bleibt mir freie
Männer, die Gott mehr gehorchen als den Menschen! Und ich denke, meine
Dickköpfe werden das tun. Denn die haben ihres Vaters Schädel und sind
eigensinnig wie Förstersdackel.«

Sie lachte. Der Pfarrer lächelte mit.

»Noch etwas andres, Frau Stürli! Liebkost Ihr Mann noch immer den
Gedanken, Bielers Haus und Gut zu pachten?«

»Und ob er's tut! Ach, der gut', gut' Mann! Er ist ja so ein Braver,
Herr Pfarrer, das glaubt man ja gar nicht! Wie oft am Abend rechnet
er mir vor, setzt sich da an den Bettrand und überschlägt seine
Ersparnisse. Es ist ja so schön, Pläne zu machen oder auch einander
vorzulesen, wenn die Kinder schlafen gegangen sind. Aber es langt halt
nicht!«

»Ein fleißiger, kluger und sparsamer Mann, das ist wahr,« lobte
Arnold. »Und ein guter Mensch dazu. Aber Bielers Weinberg ist keine
Kleinigkeit.«

»Wir haben ja noch eine Erbschaft im Hintergrund,« meinte Frau Stürli
kleinlaut und wollte etwas weitschweifig ihre Familienverhältnisse
auseinandersetzen.

»Schicken Sie mir einmal in der Dämmerung oder nach dem Nachtessen
Ihren Mann ins Pfarrhaus!« unterbrach Arnold. »Ich will die Dinge
gemütlich mit ihm durchsprechen. Was geschehen kann, soll gern
geschehen. An mir soll es jedenfalls nicht fehlen. Aber, Frau Stürli«
-- und er hob den Zeigefinger --, »wenn's Ihrem Herzen und Ihrer Zunge
möglich ist, so sprechen Sie nicht darüber!«

Es dunkelte bereits. Da kam ein Schuljunge den Weinberg heraufgehastet;
man hörte seine Holzschuhe schon von weitem klappern. Und seine Stimme
scholl von unten zu den spielenden Kindern herauf: »Ist der Pfarrer bei
euch, Hans?« Als bejaht wurde, rief es weiter aus der Dunkelheit: »Er
soll schnell heimkommen! Es isch ebbs g'schehn!«

                   *       *       *       *       *

Schon unterwegs, unter der Laterne am oberen Brunnenplatz, traf der
Pfarrer eine Gruppe von Bürgern und Feldgrauen. Sie besprachen ruhig
und mehr hoffnungsvoll als besorgt das deutsche Friedensangebot. Der
Pfarrer blieb einen Augenblick stehen. »Was gibt's sonst noch Neues,
Nachbarn? Da hat mich eben ein Junge nach Hause gerufen ...« Ach ja, es
solle ja eine Prügelei bei Bielers oder so etwas passiert sein, meinten
die Leute; und man munkle, der Gustav habe einem Hauptmann ein paar
Dachteln 'runtergehauen ... Der friedliebende, menschenscheue Gustav?
Das klang merkwürdig.

Eilends nach Hause! Das Pfarrhaus lag finster. Nur die Küche war hell
und laut. Schon beim Ablegen des Mantels hörte der Pfarrer Gustavs
heiser erregte Stimme, gegen die der alte Bieler nicht durchdrang.
»Und woher, Papa Bieler? Ihre Schuld, Ihre Schuld! Warum führen Sie
den Mann in den Keller? Warum machen Sie ihn betrunken? Aus Angst!
Warum aus Angst? Weil der Georges ausgerissen ist! Seitdem sind Sie ein
verängsteter, unsicherer, haltloser Mann -- --«

Er verbitte sich solche Sottisen von einem jungen Menschen, wehrte sich
der ergrimmte alte Bieler gegen den Aufgeregten, er wisse von allein,
was sich schicke und brauche sich keinen -- --

»Ruhig, Kinder, ruhig!«

Schweren Schrittes trat der Pfarrer in die Küche. Fanny eilte ihm
entgegen. »Gott sei Dank, Onkel Arnold!« Bieler brach ab, zog das
Taschentuch und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Alle atmeten
auf. Arnolds Frage nach dem Sachverhalt ließ wieder ein lebhaftes
Durcheinander aller Stimmen aufwirbeln. Aber Fanny drang durch, gab
knappen, klaren Bericht und versäumte nicht, Gustavs mutiges Auftreten
zu loben.

»Und jetzt?« rief Gustav, in dem eine trotzige Erregung heftig
nachschwang und den schmalen, schlanken Körper in zitternder Spannung
erhielt. »Was jetzt, Papa? Zu solchen Deutschen auswandern?! Ja, auf
eine deutsche Festung! Jetzt stellen sie mich vors Kriegsgericht.
Jetzt reißen sie mir Borten und Achselklappen runter. Jetzt könnt ihr
zwei eure Pläne allein machen! Mit mir ist's noch früher aus als mit
Deutschland.«

Er griff nach einem Glas, trat an die Wasserleitung und stürzte das
kühle Naß hinunter. Worauf er sich auf die Küchenbank setzte, in sich
zusammensank und fortan gänzlich schwieg. Lisy stand voll stummer
Bestürzung. Alle warteten auf Arnolds Rat.

In ihm schimmerte noch das Weinberghäuschen nach. Und von der andern
Seite her schattete das Schwere, das sich über Deutschland herabsenkte.
Er blieb gefaßt. Der Händel schien ihm belanglos. Jetzt galt es um
gewaltigere Dinge.

»Kinder,« sprach er, »vor wenigen Stunden haben drei von uns eine Art
Bund geschlossen oder schließen wollen. Wir wollten ein Land oder
eine Möglichkeit aufsuchen, wo man große Gedanken und ein reines Herz
ungestört auswirken könnte. Nun? Was ist daraus geworden? Gustav und
Fanny: so lang also nur hat unser Bund oder Vorsatz gedauert? Ich
wende kaum den Rücken, so pfuscht uns der Teufel ins Handwerk, während
Deutschland draußen zusammenbricht. Kinder, Kinder! Das war nicht
die Selbstbeherrschung, die ich euch lebenslang gepredigt habe. Hier
hattet ihr Gelegenheit, euch einmal groß zu benehmen, schweigend, edel,
abweisend --«

»Es war zu empörend!« brach es aus Fannys jungem Herzen heraus. »Du
kannst dich nicht hineinversetzen, Onkel Arnold, wie wüst das war!
So häßlich diese Stimme -- und die Gesinnung dahinter so gemein! Das
Gemeine haßt man, so leidenschaftlich als man nur kann!«

»Nun ja, Fanny! Aber verliert doch wenigstens untereinander die Haltung
nicht! Ich traf dich ja in wildem Gezänk, Gustav, mit unserem guten
Nachbar Bieler! Die Stunde ist ungeheuer ernst und groß; wir brauchen
unsre ganze Fassung. Da lest nur das Neueste! Es gibt jetzt bald
Frieden im Land, aber freilich einen bittern Frieden. Deutschland geht
ins dunkle Tal. Und wir alle mit.«

Der Pfarrer warf die Zeitung auf den Tisch. Niemand griff danach. Lisy
fragte seufzend: »Aber, Cousin, was soll man denn tun? Ein Händel mit
einem deutschen Offizier ist besonders hierzulande eine arg schlimme
Sache. Der Hauptmann kann uns ja alle ins Unglück bringen!«

»Nun, das wollen wir denn doch noch sehen«, erwiderte Arnold. »Ich
mache sofort eine Eingabe an das Gouvernement, an den Freund dieses
Freiherrn von Stein, der uns neulich besucht hat.«

»Ja, das tu, das ist ein Gedanke!« rief Fanny. »Soll ich die
Schreibmaschine herüberholen? Soll ich dir's mit Maschinenschrift
schreiben? Ich tippe ja Tag und Nacht und hab' solche Üb-- --«

Sie brach mitten im Wort ab. Das Blut schoß ihr ins Gesicht und der
Finger an den Mund. Sie stand wie einst in der mißglückten Kantstunde.

»Was schreibst du denn?« fragte Arnold verwundert. Aber er war
bereits in Gedanken an dem zu entwerfenden Brief und ging mit einer
abwinkenden, nachdenklichen Handbewegung darüber hinweg. »Nein,
es ist nicht nötig. Nur Eile tut not. Nachbar Bieler, Sie gehen
gleich zu Stürli: er soll sich zurechtmachen, er muß noch ins
Städtchen zum Postamt! Ich schreibe inzwischen den Eilbrief an den
Oberstleutnant Trotzendorff in Straßburg und zugleich ein Telegramm um
Zureiseerlaubnis zu einer persönlichen Aussprache. Komm, Gustav, den
Brief setzen wir zusammen auf!«

Arnold ging voraus. Sein Sohn erhob sich sehr mühsam aus seiner
gänzlichen Erschlaffung.

Und indem er zögernd stand, reckte er plötzlich wie ein Gähnender oder
wie ein Verzweifelter beide Arme in die Luft -- und glich in dieser
Stellung Laokoon zwischen den Schlangen.




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                        Briefe eines Elsässers

                                       Muttersprache deutschen Klanges,
                                       O wie hängt mein Sinn an dir!
                                       Des Gebetes und Gesanges
                                       Heil'ge Laute gabst du mir.
                                       Sollt' ich deine Fülle missen,
                                       O mich kränkte der Verlust
                                       Wie ein Kind, das man gerissen
                                       Von der warmen Mutterbrust.

                                                        ~Adolf Stöber~


                                                      Im Oktober 1918.

... O Gustav, Gustav, mir ist bitter weh ums Herz! Meine Spannkraft
ist ganz und gar verpufft. Herrschaft, ich werde wohl in meinem
ganzen Leben nicht mehr lachen! Es ist nicht mein zerschossener Fuß,
nicht mein persönliches Leid -- nein, nein, das ist alles nichtiges
Anhängsel. Doch Deutschlands Canossagang! Wir beugen uns, wir kriechen
zu Kreuz, wir küssen Wilsons Pantoffel!

Stell' dir den Briefschreiber vor! In einem niederrheinischen Lazarett,
noch des Schlachtfelds Unmelodien in allen Nerven, liegt und leidet
der Elsässer Erwin Ehrmann. Zornig und traurig, mit eingeschientem
Fuß, von einem unhöflichen Stabsarzt behandelt, liest er in der
Zeitung Deutschlands Bittgang. Und er liegt wie verhämmert, wie
dumm geprügelt von Kopfnüssen des Schicksals. Dazu also hat man so
bitterlich geblutet, gehungert, gefroren! Herrgott im Himmel, sind wir
denn schlechter als die andren? Allwaltender, was hast du mit deinen
Deutschen vor, daß du sie so erbarmungslos in die Asche wirfst?!

Innen und außen haben wir nirgends ein Genie; das ist unser Unglück.
Nur den großen und schlichten Hindenburg. In der Diplomatie Stümper
und Monokelschöpse, keinen Meister. Die haben unsren tapferen Soldaten
diesen gigantischen Krieg gegen solche Übermacht auf den Buckel
geladen wie einen überschweren Tornister. Da muß ja der zäheste
Landwehrmann und Krummstiefel zusammenbrechen.

Und unser Elsaß? Nach einem Punkt in Wilsons Programm soll das
sogenannte »Unrecht von 1870« wieder gutgemacht werden! Unrecht?
Die ehrliche Rückeroberung zweier geraubter deutscher Provinzen?
Und das Unrecht von 1681?! Reden nicht 90 Prozent von uns deutsch?
Weiß der König des Mammonlandes nicht, daß wir Alemannen sind,
die 1681 gewaltsam französisch gemacht wurden? Ist dies nun das
Selbstbestimmungsrecht der Völker? Ist das Völkerfrieden?

Tausende von uns Elsässern haben in diesem Weltkrieg mit deutschen
Kameraden gegen Frankreich und England gekämpft. Darf und kann man uns
nun einfach zu französischen Untertanen umfärben, wie man Militärhosen
dunkelblau färbt, um ein paar Zivilhosen draus zu schneidern? Kann man
Herzen und Zungen umfärben, Gustav?

Ich lasse mich nicht umfärben. Kommen wird einst ein Tag, da wir das
Elsaß zurückerobern, wenn sie's jetzt französisch machen. Nach Jena kam
Leipzig. Napoleon durchbrauste Deutschland siegreich bis Tilsit -- und
Europa bis Moskau -- und er wurde doch heruntergeholt. Auch die Stunde
der Engländer kommt noch!

Ich lasse mich nicht umfärben. Inniger als je fühl' ich mich mit diesem
tapfern und geduldigen Deutschland verbunden; besonders da ich hier
im Lazarett einen ganz prächtigen Westfalen gefunden habe, den ich
nicht nur Kameraden oder Stubengenossen, den ich Freund und Bruder
nennen darf. Werde nicht eifersüchtig, Gustav, und ihr andern geliebten
Gefährten! Aber mein Dirk ist mein Freund im reinsten Sinne des Wortes.
Beglückwünsche mich, Gustav, und freue dich mit mir!

Seine Mutter ist Holländerin. Daher der sonderbare Vorname Dirk. Im
übrigen heißt er Schütz und ist Sohn eines Arztes, der vor kurzem
gestorben ist. Er selber Ingenieur oder Techniker, blond, blauäugig,
gut und fromm. Es gibt ein Jugendbildnis von Albrecht Dürer, mit einer
Distel oder dergleichen in der Hand, sehr ausdrucksvoll geschnittene
Lippen -- dem gleicht er. Reiner Charakter; war in der Berliner
inneren Mission praktisch tätig und ist mit Arbeitern stromernd und
missionierend im Betrieb gewesen; Wandervogel; ganz Vollendungsdrang.
Und eine so stille, stille Art! Er ist viel ruhiger als ich. Ein
Granatsplitter hat ihm den rechten Arm übel zerrissen; doch geht von
seinem Leidenslager so wohltuende Ruhe aus, daß ich die Stunde segne,
in der man mich in diese Stube zu diesen katholischen Schwestern
getragen hat.

Bei uns ist noch ein Heidelberger Student, der sehr im Banne moderner
Literatur befangen ist. Da las ich denn auch allerlei, las die im
Nordland Geborenen Knut Hamsun, Hermann Bang, Strindberg, las die
Pariser Anatole France und -- ich weiß nicht, was alles! Ahasverische
Unruhe dort und hier! Maskentanz! Das pendelt zwischen Gehirn und
Unterleib, zwischen Verstand und Sinnlichkeit. Aber sie finden nicht
den Ruhepunkt dazwischen: das ~Herz~. So täuschen sie sich und
uns mit stilistischen Reizen, Kunststücken und Einfällen über den
mangelnden Mittelpunkt hinweg. Nein, nein, ich bin selber lebhaft genug
und brauche nicht noch Aufpeitschung. Das ist Wirbel, aber kein Ziel,
kein Ideal, kein Gott! Erst ist man von dem Mummenschanz gefesselt und
von all den Einzelheiten überrascht -- und immer wieder überrascht --
bis man diese Überraschungen gelangweilt an die Wand wirft. Seele her!
Und rote Wangen!

Dirk hat Seele; Dirk hat Mittelpunkt. Dort sind Kometen, hier ist
Sonne. Ein Frommer, kein Frömmler. Schlichte, deutsche, warme
Frömmigkeit, die keine Worte macht, die sich durch Ausstrahlung
mitteilt. Der Herzschlag wird ruhig in seiner Nähe. Ein Blick seiner
stillen Augen -- ein Klang seiner tiefen, langsamen Glockenstimme --
Gustav, und ich bin ganz voll Frieden. Er ist ein Choral von Bach.
Ich sah niemals in so frühem Alter solche Reife. Wenn Deutschland nur
ein Dutzend solcher Menschen hat, wird es nicht untergehen. Und es
~hat~ sie, mein Gustav, verlaß dich drauf, es hat sie!

Ich lasse mich nicht umfärben. Ich halte Dirks Landsleuten die Treue.
Und wenn ich mit zerschossenem Knöchel oder Klumpfuß wieder in die
Westmark einhinke -- paß auf, Herzensfreund! Dann gründen wir erst
recht den Elsaß-Bund! Dann tun wir, was uns die Französlinge vor dem
Kriege gelehrt haben, nur umgekehrt: wir halten unter französischer
Herrschaft deutsche Sprache und Art hoch, in einem Geheimbund herzlich
und heimelig hoch, bis uns ein erstarktes Deutschland wieder zum
Mutterlande zurückholt.

Leb' wohl für heute! Die schönste Stunde des hiesigen Tages naht: Dirk
will mir wieder einen Brief an seine Mutter diktieren. Heil!

                                                         Dein ~Erwin~.

                   *       *       *       *       *

Selig sind, die da Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen!
Ich habe Heimweh, Fanny. Aber hab' ich denn noch eine Heimat? Wenn das
Elsaß französisch wird -- ist dieses Land dann noch meine Heimat?

Tagsüber bin ich tapfer, liebes Cousinchen. Doch kaum fallen mir die
Augen zu, so wandert mein Geist, wandert durch mein geliebtes Elsaß.
Beim Wasgenstein, wo Walther um Hildegunde gekämpft hat, und bei der
Ruine Fleckenstein fang' ich an. Oben winken Ritter und Landsknechte:
»Herauf zu uns, Landsmann!« Unten aber, am Fuße der Felsmassen,
zwischen wilden Hecken, legt eine modern-französische Schildwache
das Gewehr an: »=Qui vive?=« Ich streiche dann in bangem Bogen
rund herum -- überall diese Stahlhelme, die ich nur zu gut kenne!
Also weiter -- durchs Steinbachtal nach den Burgen Falkenstein und
Neu-Winstein, nach dem Hanauer Weiher mit seinen Seerosen, nach Wörth
und Fröschweiler, nach Reichshofen und Niederbronn, nach Lichtenberg,
Dagsburg, Lützelburg und Hohbarr, nach dem Odilienberg und der
Hohkönigsburg! Wie der wilde Wandrer streich' ich den Wasgenwald hinauf
und hinab, hinab und hinauf die ganze Nacht -- und finde nirgends
Obdach!

Fanny, ich bin deutscher Lehrer, Wandersmann und Schneeschuhläufer, ich
habe meine Kinder für die Natur und für deutsches Lied, deutsche Kunst,
deutsches Dichten und Denken begeistert. Jetzt wollen Wildschweine in
meinen Weinberg brechen und alles verwüsten. Denk' ich ans Münster,
denk' ich an unsren Sängersaal, wo ich so oft im Männergesangverein
mitgesungen, so schießen mir die Tränen in die Augen. Du fühlst das
nicht so nach, Fanny, unsereins aber geht daran zugrunde.

Das heißt -- zugrunde? Nein, Cousinchen, den Gefallen tun wir ihnen
nicht! Ich stelle mich vielmehr auf Kampf ein. Wie das zu geschehen
hat, weiß ich noch nicht, aber ich weiß, ~daß~ es geschieht. Du
fühlst meinen Seelenzustand nicht nach, geliebte Fanny, verzeih, daß
ich's wiederhole! Denn deine Erziehung im Pensionat zu Nancy und eure
französischen Brocken im elsässischen Gespräch haben deinem Vaterhause,
trotz Onkel Arnolds Nachbarschaft, einen andren Ton gegeben. Mir
nicht. Und das ist neben den sämtlichen neunundneunzig herrlichen
Dingen, die ich an dir liebe, der einzige Schatten. Aber der Schatten
wird nun riesengroß. Verzeih, mein Frohmacherle von einst, mein
Freudenbringerle, daß ich das offen ausspreche!

Ich hab' Heimweh, Fanny. Ich möchte in irgend etwas, in irgend jemandem
ausruhen. Immerzu war ja Krieg, immerzu Haß! Schon als Kind hab' ich
die Mutter, als Knabe den Vater verloren. So sehr ich meine zwei
Schwestern liebe -- ich weiß nicht -- ich hab' halt Heimweh.

Mein Fuß heilt, mein Herz nicht. Behalt lieb

                                                       Deinen ~Erwin~.

                   *       *       *       *       *

... Aus deinem Briefe bin ich nicht recht klug geworden, lieber Gustav.
Krach gehabt mit einem Hauptmann? Was für ein Hauptmann? Einquartierung
oder Etappe oder Garnison? Einerlei. Daß du dich deiner Haut gewehrt
-- wacker! Im übrigen, lieber Gustav, was für ein Schauspiel! Wir sind
eingekeilt zwischen zwei Völkern. Von Frankreich vergewaltigt -- von
Deutschland angeschnauzt! Wohin soll man auswandern?

Ich will dir etwas Schönes erzählen. Dirks Schwester ist jetzt hier
in der Stadt und besucht jeden Tag ihren Bruder. Wie soll ich sie
schildern? Sie ist sein Ebenbild. So etwas Goldblondes hab' ich in
meinem Leben nicht gesehen. Das gibt's nur noch im Märchen. Hertha ist
ein rechtes liebes deutsches Mädchen -- das sagt alles. Sie ist jünger
als Dirk, doch ebenso stiller Art wie er, und voll Mütterlichkeit.
Wandervogel auch sie. Hat gestern ihre Laute mitgebracht und uns Lieder
vorgesungen. Ach, diese alten deutschen Lieder im »Zupfgeigenhansl«,
vom rosigsten Munde der Welt gesungen! Die »Königskinder« klingen in
ihrer niederdeutschen Mundart ganz anders:

                   »Et wassen twe Künigeskinner,
                   De hedden enanner so lef« --

-- so ungefähr. Und zum Anbeten schön ihre Marienlieder:

                   »Ufm Berge, da geht der Wind,
                   Da wiegt die Maria ihr Kind
                   Mit ihrer schlohengelweißen Hand,
                   Sie hat dazu kein Wiegenband.
                   Ach Joseph, lieber Joseph mein,
                   Ach hilf mir wiegen mein Kindelein« -- --

Von Gott wurde mir diese Dirkschwester gesandt, Herzensfreund, denn ich
wäre schwermütig geworden trotz Dirk. Herthas Augen sind ein deutscher
Waldsee bei blauem Himmel; und ihre Stimme -- du brauchst nur einen
Buchstaben zu ändern: Waldfee. Nicht stark, gar keine besondere Stimme,
sogar ziemlich leise, aber melodisch und seelenvoll und so jungfräulich
rein. Alles Leid schwindet, man wird wunschlos, wenn diese Waldfee
im blauen Gewand, goldne Zöpfe rund um den Kopf gebunden, auf Dirks
Bettrand sitzt. Um den Hals hat sie ein Muschelkettchen, das ovale
Gesichtchen ist von rosiger Farbe; sie ist ziemlich groß, doch von
schmalem Brustbau, nicht so voll und fest wie unsre kleine Fanny und
auch viel ruhiger und bedachtsamer in allen Bewegungen. Schweigend
sitzen die beiden holden Geschwister manchmal da, Hand in Hand, und
sehen sich nur innig an; oder sie erzählen halblaut von zu Hause, von
der Mutter. Wie haben sie ihre Mutter lieb! Gustav, daß du und ich
ohne Mutter aufgewachsen sind! Dirks Mutter hat eine grippenkranke
junge Schwester zu pflegen, sonst wäre die Witwe selber aus ihrer
westfälischen Heide hergereist.

Mir wird jetzt erst bewußt, wenn ich in dieses Mädchens Augen schaue,
was für Tiefe in dem einen Worte steckt: deutsches Gemüt. Laß dir von
einem solchen lieblichen Wesen nach all den Kriegsscheußlichkeiten
unsre alten deutschen Lieder halblaut singen, schwermütiger
Herzensfreund, und du weißt, was ich meine.

Mit diesen Menschen möcht' ich wohl gern Weihnachten feiern -- ich
würde weinen vor Glück!

Gustav, wir Heimatlosen grüßen einander. In inniger Freundschaft

                                                         Dein ~Erwin~.

                   *       *       *       *       *

                 Mein lieber, verehrter Onkel Arnold!

Hier hab' ich zwei Adelsmenschen kennen gelernt, einen Kriegskameraden
und seine Schwester. Wollt' ich nicht einen Bund der Edelsassen
gründen? Hier hab' ich zwei Edelinge gefunden. Gustav wird dir davon
erzählt haben. Die Spiegel dieser Blauaugen sind für mich Mimirs Quell
geworden: ich habe Weisheit getrunken. Und noch viel mehr. Das sind
Herzen, aus denen Licht und Wärme der Ewigkeit quillt!

Onkel Arnold, ich habe leider sehr viel Christen gesehen, die keine
Christen sind. Ich wäre irre geworden an der christlichen Religion,
ja, ich wäre wohl aus der Kirche ausgetreten; denn lieblose Gesichter
im Bunde mit biblischen Redensarten sind mir das Widerwärtigste auf
Gottes Erdboden. Da kamen Dirk und seine Schwester. Die haben mir die
christlichen Formen in unaufdringlicher Art wieder verklärt. Ihnen
könnt' ich den Kopf wieder vertrauensvoll an die Schulter legen und in
Glück und Dankbarkeit einschlafen wie das Kind an der Mutterbrust. Der
Krieg hat mich arg mitgenommen. Ich brauche Liebe, keine Redensarten.

Sieh, Onkel Arnold, nicht nur daß man uns das Elsaß nehmen will, tut
mir so weh; aber daß so viel gemeine Gehässigkeit mit diesem Raub
verbunden ist. Was sind denn jener Kolmarer Priester und die andren
alle schon vor dem Kriege anders gewesen als Diener des Hasses?
Sie höhnten, schimpften und schürten gegen angebliche deutsche
Unterdrückung -- oh, laßt aber einmal sie und ihre Franzosen ins Land
kommen! Da wird man Drangsalierung erleben!

Ich wäre irre geworden an der ganzen Menschheit, wenn ich nicht Dirk
und Hertha gefunden hätte. Die aber hab' ich lieb. Ihr Dogma ist
mir gleichgültig: ich hab' sie lieb, denn sie sind gut. Gutsein ist
Christentum.

Nun weicht es wie Nebel von meinen Augen und zieht wie Sonne ein. Nicht
das Hirn erlöst, nur das Herz. Hirn ohne Herz ist des Teufels. Gut
sein, Onkel Arnold, lieb haben! Habt ihr mich nicht oft genug den immer
verliebten Erwin genannt? Gott sei Dank, daß ich's war! Ich will's
bleiben bis an mein seliges Ende -- und will im Himmel erst recht
lieben.

Daß ich hier im Lazarett, sitzend, den verbundenen Fuß auf einem
Schemel, einen Vortrag über das Elsaß gehalten habe -- mit Erstaunen
merk' ich, daß es mir jetzt erst einfällt. Und ich spüre auf einmal,
daß mir etwas anderes anfängt, wichtiger zu werden: eben die
Herzensgüte, die wahre Liebe. Ich war noch bis gestern entschlossen,
im Elsaß den Kampf aufzunehmen. Ob ich aber in ein gehässiges Elsaß
zurückkehre und ob mir ein Land der Verhetzung noch Heimat sein und
Sauerstoff für die Seele liefern kann -- wahrhaftig, ich weiß es nicht.
Ich will wohnen, wo Dirk und Hertha leben und lieben -- --

Und sieh, Onkel Arnold, in diesem Zusammenhange hab' ich mir auch über
dich, Gustav und Fanny Gedanken gemacht. Es liegt ein Bann über euch,
verzeih, wenn ich das ausspreche! Ich seh' euch aus der Ferne mit neuen
Augen an. Nicht daß ich euch etwa weniger liebte, o nein! Nur mein' ich
oft, das Beste in dir hätte sich in andrer als der elsässischen Luft
viel mehr entfalten können. Und Gustav weint ja erst recht nach innen.
Da versteh' ich nun plötzlich eure geplante Auswanderung. Es ist nicht
die örtliche Veränderung an sich, es ist das Aufsuchen einer reineren
Luft. Ja, jetzt versteh' ich das. Und ich spreche die Bitte aus: nehmt
mich mit -- und nehmt auch Dirk und Hertha in euren Bund auf!

Und noch eins! Da schoß es mir heut' in den Kopf: soll das Elsaß
vielleicht Opfer für uns sein? Sollen wir äußerlich heimatlos werden,
um dafür von dem gerechten Weltenlenker eine seelische Heimat der Liebe
einzutauschen? Mein väterlicher Freund, dann will ich das Opfer mit
Dank und Wehmut bringen, will meine elsässische Heimat, an der meine
ganze Seele hängt, nie mehr schauen -- dafür aber eintreten in das Land
der Liebe.

Sei in herzlicher Verehrung gegrüßt!

                                                         Dein ~Erwin~.

                   *       *       *       *       *

                            Arnolds Antwort

Mit herzlichem Dank, mein guter Erwin, bestätige ich den Empfang deines
Briefes. Du bist auf rechtem Wege, den bevorstehenden Verlust unserer
engeren Heimat -- denn wir ~werden~ Elsaß-Lothringen verlieren
-- durch Vergeistigung zu überwinden. Bring' das Opfer, lieber junger
Freund, bring' es freudig! Gott hat dir dafür dort zwei wertvolle
Menschen geschenkt. Du siehst, daß du aus der unsichtbaren Welt
geschützt und geleitet bist. Vertraue dieser Leitung!

Der peinliche, ja angesichts der großen und schweren Zeit doppelt
widerliche Vorfall mit dem Hauptmann, wovon dir Gustav geschrieben hat,
wird sich hoffentlich schadlos beilegen lassen. Morgen erwartet uns
in Straßburg zu einer persönlichen Aussprache der hierin bestimmende
Oberstleutnant; er ist mit dem thüringischen Baron befreundet,
der uns neulich hier besucht hat. In seinem Schreiben nimmt er in
liebenswürdiger Weise auf Gustavs Zustand Rücksicht und bittet nur
Bieler und mich nach Straßburg. Fanny soll mitkommen und sich zur
Verfügung halten, falls die Sache sich verwickelt; doch hofft er, alles
in der Stille abzumachen. Daß man sich überhaupt in solcher Zeit mit
solchen niedrigen Dingen auch nur einen Augenblick befassen muß, nicht
wahr, lieber Erwin! Siehst du, das ist unser Elsaß.

Doch noch etwas Gutschönes, etwas Schlichtmenschliches muß ich dir
erzählen, mein Lieber. Im Gespräch mit jenem Baron von Stein wies ich
neulich auf meine mannigfachen Arbeiten und Aufsätze hin, die ich
seit meinen Heidelberger Jahren in meinem Schreibtisch verschließe.
Gesprächsweise hatte ich wohl einmal Lisy oder Fanny davon Erwähnung
getan. Kurz, nach einer schweren Nacht suchte ich danach, aus einem
Grunde, der weiter nicht hieher gehört. Ich suche -- und finde nicht.
Zunächst geh' ich an meine Tagesarbeit, suche dann aber wieder und
ziehe endlich Lisy zu Rate. Diese wird rot, verlegen, weicht aus. Tags
darauf, mit dem lang erwarteten Brief des Oberstleutnants Trotzendorff,
der uns nach Straßburg bestellt, zu Fanny eilend -- was entdecke ich?
Das liebe Kind sitzt an der Schreibmaschine und schreibt mir schon
seit Tagen heimlich meine Handschriften ab, oft halbe Nächte über der
Arbeit verwachend! Du kennst ihre holdselige, kindliche Art, wenn
sie bei solchen anmutigen Streichen ertappt wird. Ich habe nach einer
Gewohnheit aus älteren übermütigen Zeiten sie wieder einmal wie ein
Kind auf die Arme genommen und ihr von Herzen gedankt.

Gott nimmt uns die Heimat, lieber Erwin, aber er schenkt uns Menschen.

Behalt lieb deinen väterlichen Freund

                                                       ~J. F. Arnold~.




                            Achtes Kapitel

                         Ein Tag in Straßburg

                                          Zu Straßburg, ja zu Straßburg
                                          Soldaten müssen sein ...

                                                           ~Volkslied~


Oberstleutnant von Trotzendorff saß in seinem Straßburger Amtszimmer.

Eine schmucklose Stube zu ebener Erde, ein großer Tisch in der Mitte,
Aktenschränke und einige Stühle -- das war seine Arbeitswelt. Vor den
vergitterten und geschlossenen Fenstern ging die Lebensbewegung der
Blauwolkengasse schattenhaft hin und her. Über der Stadt Straßburg
lastete eine lauernde und dumpfe Stimmung.

Die deutsche Westfront wich langsam, wenn auch unzerbrochen zurück.
Jedoch von hinten her nagte Zersetzung. Siegfriedstellung hieß unsre
festeste Linie im Westen. In der Tat: Hagen bereitete sich vor,
Siegfried in den Rücken zu stoßen. Und hart, ja hochmütig klang über
den Ozean herüber Wilsons Antwort auf das deutsche Friedensangebot.
Die Französlinge im Elsaß rieben die Hände. Eine triumphierende Tücke
war auf manchen Gesichtern der Straßburger unverkennbar; und oft genug
steckte man die Köpfe zusammen und tuschelte. Doch eisern hielt die
Kriegsmaschine vorerst noch die Haßgesinnung unter Zwang ...

Trotzendorff hatte den Stuhl zur Seite gedreht. Sein Ellenbogen lag auf
dem Tisch; die Hand spielte mit dem sehr großen Blaustift. Äußerlich
beherrscht, pflegte er die innere Erregung nur durch das Spiel der Hand
zu verraten. In gewohnter Weise saß er kerzengerade, breitschultrig,
gut gebaut, immer Soldat. Die graue Litewka mit dem Rosakragen des
Generalstäblers saß tadellos. Die buschigen Brauen gaben dem ehrlichen
Gesicht Ernst und Strenge, ungemildert durch das graue, knapp
geschorene Haar und den kurzen grauen Schnurrbart.

So saß der Preuße im Gespräch mit dem ungefähr gleichaltrigen
elsässischen Pfarrer Johann Friedrich Arnold.

Des Pfarrers schwarzgekleidete Gestalt war in der Tiefe des Zimmers
vom Fenster her beleuchtet. Er hatte die Hände auf die Krücke seines
Schirmes gestützt und hielt zugleich den Zylinderhut. Da er auch dunkle
Lederhandschuhe trug, hob sich das ziemlich bleiche, lange Gesicht
scharf ab von dem farblosen Ton der Hinterwand.

Zwei tiefernste Männer saßen einander gegenüber.

Sonst klingen um diese Herbstzeit Straßburger Glocken wehmutschön
durch die alte Nebelstadt. Besonders die metallenen Stimmen des hohen
Münsters haben ihren eigenen Klangzauber. Doch die Töne des Himmels
waren im Laufe des Weltkriegs gleichsam eingefroren; aus Besorgnis
vor Fliegergefahr hatte man das Geläute eingeschränkt; und viele
Glocken waren in Kanonen umgegossen. Nun herrschten nur die nüchternen
Geräusche der Straße, gelegentlich scharf unterbrochen vom grellen
Geklingel einer elektrischen Bahn.

»Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, daß sich unsre Zusammenkunft um
einige Tage verzögert hat«, sprach Trotzendorff. »Die Gegenseite
hat den Vorfall aufgebauscht. Aber ich hoffe die Sache möglichst
geräuschlos niederzuschlagen. Den Herrn -- wie heißt er doch gleich? --
Ihren Nachbarn Huber oder Bieler und ebenso den Hauptmann habe ich auf
eine halbe Stunde später bestellt. Es lag mir daran, zuvor mit Ihnen
allein zu sprechen, Herr Pfarrer. Wir haben übrigens zwei gemeinsame
Bekannte.«

»Zwei?« erwiderte der Pfarrer. »Das sollte mich zwar freuen, aber --
ich weiß nicht --«

»Da ist zunächst Baron von Stein, der Sie neulich besucht hat. Sie
haben sich ja angefreundet, wie ich höre. Sechs Jahre sind es wohl
her, da haben meine Frau und ich mit diesem Freunde Frankreich
bereist, die Provence, bis hinaus nach Lourdes, wo es mir freilich zu
mittelalterlich geworden ist. Ingo war damals ein wenig Schwärmer, wir
nannten ihn Spielmann. Hört er gute Musik, so ist er auch heute noch
derselbe und nicht mehr zu halten. Diesem Zuge seines Wesens verdankt
er Ihre Bekanntschaft -- und verdank' ich Ihren Brief und Besuch. Sie
sehen, wie wunderlich unser himmlischer Generalstab seine Menschen
lenkt.«

»Ich habe meinerseits«, schob hier Arnold höflich ein, »zu danken, daß
ich bei Ihrer übermäßigen Arbeit -- --«

»Freilich übermäßige und nicht erfreuliche Arbeit,« warf der Offizier
ein, fuhr aber nach einem Blick über den Tisch sogleich fort: »Dann
haben wir aber noch einen zweiten gemeinsamen Freund. Dort habe ich
zuerst von Ihnen gehört. Entsinnen Sie sich des Professors Lobsann in
Heidelberg und seiner prächtigen Frau Cäcilie?«

»Ach, was Sie sagen!« Der Pfarrer blitzte ordentlich empor. Die
Amtsstube verklärte sich. Er schaute Goethes Lieblingsplatz am
Heidelberger Schloß; er schaute den schön geschwungenen Neckar; er
betrat eine nahe Villa und lauschte dem Gesang der damals blutjungen,
eben aus der Schweiz nach Heidelberg vermählten Gattin eines seiner
Universitätsfreunde. »Mein lieber alter Freund Lobsann! Einer der
wenigen, der sehr wenigen, die mich mit Tränen in den Augen scheiden
sahen -- damals!«

»Ich weiß«, nickte Trotzendorff. »Lobsann hat mir's erzählt. Meine Frau
ist mit Frau Cäcilie befreundet.«

Im Nu waren die beiden Männer in Erinnerungen an Heidelberg ausgeflogen
und lustwandelten ein Weilchen in studentischen Fernen. Sie hatten im
Jahre 1886 die großzügige Festfeier der Hochschule miterlebt.

»Ein unvergeßliches Fest!« rief der Pfarrer. »Nicht nur das Schloß in
seiner bengalischen Beleuchtung, nicht nur der glühende Neckar -- mehr
noch der Geist des Ganzen, die überschäumende Festfreude in jenen vier,
fünf Tagen. Es ist dabei merkwürdig, wie man auf solchen Hintergründen
Einzelheiten behält. So kann ich z. B. nie vergessen, wie ein Kind, ein
kleiner blonder Lockenkopf, in der festlichen Menschenmasse unter die
Pferde einer vorüberfahrenden Kutsche geriet --«

»Sahen Sie das auch?« Trotzendorff ward lebhaft. »Und haben Sie
gesehen, daß einige Studenten und Offiziere den Pferden in die Zügel
sprangen? Nun, darunter war auch ich. Da haben wir also damals in
derselben Straße Schulter an Schulter gestanden, Herr Pfarrer, und
vielleicht gar miteinander gesprochen! Vorzüglich!«

»Lieber Gott, und in wie andrer Stimmung!«

Der Pfarrer seufzte. Man war wieder in der Gegenwart.

»Sie haben wohl inzwischen meinen ausführlichen Bericht gelesen, Herr
Oberstleutnant?«

Trotzendorff nickte.

»Genau gelesen. Mit Wehmut gelesen. Ja, ich kann wohl sagen: mit
Ergriffenheit. Ich bin schon einige Zeit hier in der Verwaltung und
arbeite täglich bis zum Umfallen. Aber Sie haben in diesem Bericht aus
dem besonderen Fall soviel Allgemeingültiges herausgeschlagen, daß
ich Ihnen dankbar bin. Ich habe die Elsässer dadurch besser verstehen
gelernt. Manches, was für unsern preußischen Ordnungssinn sachliche
Verfügung ist, wirkt auf diese Leute wie bösartige Absicht. Und sie
pflegen das dann unter dem Fremdwort ›Schikane‹ anzufeinden. Das tut
mir recht leid.«

»Diese Bemerkung in Ihrem Munde freut mich«, versetzte der Pfarrer.
»Unsereins kommt mit Volk wie mit Regierung gleicherweise in Fühlung.
Wieviel Bitterkeit müssen wir da allerdings bekämpfen! Es steht leider
nicht gut um die deutsche Sache im Elsaß, das muß ich offen sagen. Das
Kriegsgebiet spürt den Krieg doppelt. Und da wird von der politisch
unreifen Bevölkerung gewohnheitsmäßig sofort der deutschen Regierung
in die Schuhe geschoben, was doch Gebot der Zeit überhaupt ist. So
verwirrt und verdummt ist unsre Volksseele. An allem Übel in der Welt
sind nun einmal die Deutschen schuld. Was soll man gegen diese Seuche
anfangen?«

Der Pfarrer war erregt geworden. Er fuhr, da Trotzendorff nach seiner
Art schweigend gradaus blickte, sogleich fort:

»Aus meiner Eingabe haben Sie ungefähr die Welt kennen gelernt, in der
ich selber lebe. Nehmen Sie zur Musik und Orgelkunst, die mir teuer
sind, noch etwa Plato und das Neue Testament, Kant und Schleiermacher
hinzu, so haben Sie meinen geistigen Bezirk. Und in dieser Luft
habe ich auch meinen einzigen Sohn erzogen, also in gut deutscher
Geisteskultur. Sie können daraus ermessen, wie mich der neuliche Fall
verletzen mußte, mich, den deutschgesinnten Elsässer. Und so erzog ich
zum Teil auch seine Braut, die Tochter dieses unglückseligen Bieler,
der dort in Lützelbronn ein großes Weingut trotz aller Kränklichkeit
recht schön imstande hält. Das Mädchen ist ganz herrlich veranlagt.
Aber die Politik, natürlich, hat unser harmonisches Bildungsideal
beträchtlich gestört. Und mein Junge hat leider von seiner Mutter
her ein zartes Nervengeflecht, von mir selbst aber ein nicht allzu
starkes Herz. Lassen Sie nun diese Menschen unter den so schwierigen
Verhältnissen mit einer derben Natur zusammenstoßen -- -- nun, und es
läßt sich denken, daß es Scherben gibt.«

Trotzendorff schaute vor sich hin und nickte nachdenklich:

»Ja, ja, ich bin vollkommen im Bilde.«

Und der Pfarrer, der im Zuge war, setzte seine Herzensentlastung fort:

»Schauen Sie nur hinaus: was ist das für ein drückender Nebeltag!
Ist es nicht, als ob alle Menschen dieses Landes wie Schatten und
Gespenster ihrer Vergangenheit umherschlichen? Das Elsaß hat heimliche
Melodien, hat wundervolle Herzen -- aber sie können nicht los,
nicht heraus und haben alle Freudigkeit verloren. Denn es gibt doch
schließlich auch einen freudigen Trotz, wenn er einer guten Sache
dient. Aber die elsässische Sache ist nicht gut, sie macht ihre
französelnden Vertreter tückisch oder zum mindesten zweideutig. Das
ist unsre Lage. Die ersten Kriegswochen -- ein hinreißendes deutsches
Aufjauchzen bis zum letzten Eckensteher! Nach und nach freilich kam
wieder der Nebel. Doch im Herzensgrunde haben unsre edelsten Elsässer
eine ganz besonders tiefe Sehnsucht nach schön gestimmtem Leben voll
Gastlichkeit und Brüderlichkeit. Pöbel gibt's natürlich überall. Ich
spreche von der Minderheit der edlen Seelen. Und zu den Edlen rechne
ich, das darf ich mit Vaterstolz aussprechen, auch meinen Sohn. Er ist
weich, und jetzt nervenleidend, aber nicht weichlich. Eine gewisse
Gedämpftheit paßt übrigens in unsre elsässische Wesensart.«

Hier konnte sich Trotzendorff die Bemerkung nicht versagen: »Na, wir
Norddeutschen möchten denn doch dem Elsässer manchmal mehr Härte
wünschen. Der Vogesensandstein ist zu weich; er verwittert leicht, wie
Ihr Münster beweist, das man ja kaum ohne Baugerüst sieht.«

»Bitte: wir haben auch Granit«, erwiderte der Pfarrer lächelnd.

»Wie dem auch sei,« lenkte der Oberstleutnant ab, »ich war in jungen
Jahren hier, bin aber erschrocken, wie sich später die geistige Luft
verändert hat. Sagen Sie mir, wie ist denn das gekommen? Hat das mit
der Einkreisungspolitik eingesetzt?«

»Planmäßig von Frankreich aus geschürt«, bestätigte der Pfarrer. »Und
von der Regierung nicht mit Geschick bekämpft. Sehen Sie, da ist mein
Sohn in bitterste Tragik geraten. Der Bruder seiner Braut war einst
sein Schulfreund. Dann, als Student, geriet jener junge Bieler in den
sogenannten =Cercle des étudiants= --«

»Aha! Eine höchst gehässige Sippschaft. Wir haben hier die Liste seiner
sämtlichen Mitglieder. Das war ja ein ganz gefährlicher Geheimbund!
Unbegreiflich, daß die Regierung diese Französelei geduldet hat! Ich
habe die Akten durchgesehen: das war schon im Frieden längst kein
Frieden mehr. Das war ja wie der Mord in Serajewo, der den Krieg
eingeleitet hat: das war ein planmäßiges Töten des deutschvölkischen
Empfindens.«

»Weshalb man das geduldet hat? Weil Freisinn und Zentrum sofort der
Regierung in den Rücken fielen, sobald sie im Interesse nationaler
Würde Ordnung schaffen wollte. So wurde die Regierung unsicher.
Aber die Unterminierung ging weiter. Jedenfalls haben wir das Elsaß
innerlich nicht erobert, wir Deutschen, leider, leider! Mein Sohn holte
sich das Eiserne Kreuz, aber der junge Bieler -- und manch andrer noch
-- brannte nach Frankreich durch. Elsässer beide! Und nun bringen Sie
das unter einen Hut!«

»Und der alte Bieler?« fragte Trotzendorff.

»Der alte schwache Bieler rückt ratlos sein Käppchen von einem Ohr aufs
andre. Und Fanny, die Braut, steht zwischen Bruder und Bräutigam in
peinvollem Zwiespalt.«

Wieder ein Nicken: »Echt elsässisch!«

»Aber der Krieg klärt. Und so entscheidet sich's jetzt auch im Hause
Bieler -- das heißt: es ~hätte~ sich zugunsten Deutschlands
auch dort entschieden, trotz alledem, wenn jetzt nicht das fatale
Friedensangebot und Wilsons Antwort uns wiederum ins Unsichere
zurückwürfen. Wie denken Sie denn, Herr Oberstleutnant, über die Lage?«

Der Pfarrer richtete den Blick fragend auf den Offizier. Dieser wandte
mit kurzem Ruck den Kopf, an Schweigen gewöhnt, und schaute aus dem
Fenster. Es entstand eine ernste, fast düstere Pause, so daß Arnold
selbst wieder das Wort nahm und seinen Besorgnissen Ausdruck gab.

Plötzlich begann Trotzendorff selbst seine angestaute Bitterkeit zu
enthüllen: »Sie betrachten als vertraulich, was ich Ihnen sage, Herr
Pfarrer. Wir sind innerlich zersetzt. Wer und was uns zersetzt hat,
das ist eine Frage für sich. Tatsache ist: die Heimat fällt der Front
in den Rücken. Wir ~könnten~ noch aushalten, wenn im eignen Lande
nicht der Feind nagte. In den ersten Jahren hatte der Generalstab mit
preußischer Willenskraft das Ganze fest in der Hand. Aber die Helden
liegen unter dem Rasen, die Händler sitzen in den Klubsesseln! Das ist
die sogenannte Demokratie!«

Es klang kurz, scharf, bissig. Dann fuhr er mit zornig erhobener Stimme
fort:

»Aber glauben Sie nicht, daß ich damit jenen Hauptmann entschuldige!
Ihnen darf ich sagen: das ist jenes Zerrbild von Deutschtum, das auch
mir, dem Altpreußen, ganz verflucht auf die Nerven fällt und das aus
dem deutschen Wesen raus muß.«

»Sehr richtig! Das uns verhaßt macht im In- und Ausland!« stimmte der
Elsässer kräftig bei.

»Das weder Zucht noch Innerlichkeit kennt«, fuhr der Preuße fort.

»Das in Gasthöfen mit Kellnern umspringt wie mit Lakaien des
achtzehnten Jahrhunderts«, klang es vom Pfarrer her.

»Das sich abends den Bauch voll Bier pumpt und um Mitternacht Türen
schmettert«, bestätigte der andre.

»Das laute, schnarrende Deutschland, das die innere Stimme betäubt!«

»Das seelenlose Deutschland der Wucherer, Kriegsgewinnler und
Etappenschweine!«

So sprang es hin und her zwischen dem Altpreußen und dem Altelsässer.
Und hier erhoben sich beide. Trotzendorff streckte die Hand aus und
schlug in seines Besuchers Hand: »Wir verstehen uns, Herr Pfarrer!«

»Ich danke Ihnen, Herr Oberstleutnant!«

Der Pfarrer verbeugte sich leicht und nahm wieder Platz.

Dann wiederholte er seine Frage und formte sie genauer:

»Nehmen Sie mir die Sorge vom Herzen, soweit Ihnen der Dienst Offenheit
gestattet! Was für Aussichten hat das deutsche Friedensangebot? Wie
steht's um unser Elsaß?«

Der Oberstleutnant war sogar innerhalb seiner Familie in Dienstsachen
von peinlicher Verschwiegenheit. Er hatte darin, wie in seinem ganzen
Wesen überhaupt, etwas Starres. Jetzt sah er sein Gegenüber eine Weile
scharf und schweigend an; der Blaustift pochte auf die Papiere. Endlich
sagte er langsam: »Es würde Freund Lobsann und seine Frau gewiß freuen,
wenn Sie wieder Fühlung mit ihm nehmen würden. Sein oberes Stockwerk
steht leer. Sollten Sie einmal« -- und er betonte nun jedes Wort -- »in
die Lage kommen, sich aus dem Elsaß zurückzuziehen, so würden Sie dort
gewiß schöne deutsche Gastfreundschaft finden.«

Weiter sagte er nichts. Er schaute nur dem Pfarrer ernst und unverwandt
in die Augen. Und der Pfarrer verstand ...

Arnold senkte den Kopf, hob ihn dann wieder und fragte: »So brauchen
wir auch über den Offenen Brief an Wilson, den ich Ihnen entwurfsweise
mitsandte, heut' abend in unsrer deutsch-elsässischen Gesellschaft
nicht zu beraten? Hat er noch Zweck?«

»Das sind Dinge, die mich amtlich nicht kümmern dürfen. Wenn Sie mich
persönlich fragten, so würde ich etwa sagen: Einige rosenrote Politiker
wagen noch an die Möglichkeit eines Pufferstaates oder dergleichen
zu glauben. Ich nicht. Haben Sie übrigens Dank für die freundliche
Übermittlung!«

Und er legte das Schriftstück, einen von Arnold entworfenen Brief an
den Präsidenten Wilson, wieder in des Verfassers Hand zurück.

Jetzt meldete ein Unteroffizier unmittelbar hintereinander den Winzer
Bieler und den Hauptmann.

Trotzendorff war wieder ganz Soldat und Beamter. Die Rücksprache wurde
knapp und sachlich. Papa Bieler fand nach anfänglicher Verlegenheit
seinen unbefangenen Ton, ja einen schlichten Freimut.

»Herr Oberstleutnant,« sprach er treuherzig, »daß ich's nur gradheraus
sag': mich trifft viel Schuld, mich trifft die allermeist' Schuld. Ich
hab' die Dummheit gemacht, Herr Oberstleutnant, ich hätt' den Herrn
Hauptmann nicht in den Keller führen sollen. Mehr brauch' ich nicht zu
sagen.«

»Ihr Keller spielt dabei allerdings eine verhängnisvolle Rolle.«

»Herr Oberstleutnant, ich bin ein einfacher Bürgersmann und ein alter
Soldat von Anno siebzig. Hand uffs Herz, Herr Oberstleutnant: ich für
mein' Person hab' nie agitiert gegen die Rejierung, aber ich steh'
halt von wegen meinem Sohn auf der schwarzen Liste. Soll ich's dann in
solchem Fall mit dem Herrn Hauptmann verderben? Man wird charakterlos,
Herr Oberstleutnant, ich sag's und g'steh's ganz offen: man wird ein
schwacher Charakter.«

»Danke, Herr Bieler. Angenehm für Ihren Ruf ist die Geschichte freilich
nicht.«

Trotzendorff wandte sich zum Hauptmann; seine Stimme hatte äußerst
kalten Klang, wenn auch der Unwille beherrscht war: »Die Sache ist
für mich bereits geklärt. Ich bedaure, daß wir mit solchen Dingen in
solchem Augenblick unsre Zeit verlieren mußten. Es ist kein Grund
zu einem gerichtlichen Einschreiten. Ich möchte nur in Gegenwart
dieser Herren von Ihnen hören: was ist es mit der deutschfeindlichen
Gesinnung, deren sich angeblich alle, auch der Unteroffizier Arnold,
schuldig gemacht haben?«

»Durchaus, Herr Oberstleutnant, durchaus!«

Ungeduldig klopfte der Blaustift.

»Was heißt das: durchaus? Wollen Sie sich nicht freundlichst etwas
genauer ausdrücken?«

»Gestatten mir Herr Oberstleutnant, daß ich von einer Tatsache ausgehe,
die hier entscheidend ins Gewicht fällt.«

»Die wäre?«

»Bei den ersten Kämpfen im Oberelsaß wurde bekanntlich aus den Häusern
geschossen --«

»Na, na, was haben denn diese peinlichen Dinge hier zu tun?«

»Wenn ich mir gestatten darf, Herr Oberstleutnant: mein bester Freund
wurde dabei erschossen, infam, aus dem Hinterhalt. Also von Einwohnern
dieses Landes.«

Unwillig warf Trotzendorff den Bleistift hin.

»Wie können Sie so was behaupten, wenn Sie keine genauen Beweise
haben?! Ist das einwandfrei festgestellt? Sie wissen doch, daß
französische Soldaten bürgerliche Kleider im Rucksack hatten. Und daß
allerlei bedauerliche Mißverständnisse und Aufregungen vorgekommen,
wie sie bei der ungeheuren Erregung erster Kriegswochen leider nicht
zu vermeiden sind. Wir wollen lieber auf diesem Wege nicht fortfahren,
Herr Hauptmann. Die Elsässer leiden ohnedies genug unter dem Verhalten
einzelner Landsleute. Ich habe selbst sehr viele Elsässer kennen
gelernt, die sich äußerst tapfer gehalten haben. Also gut, ich lasse
Ihre Meinung insofern gelten: sie erklärt Ihr Vorurteil. Waren Sie
schon früher im Lande?«

»Niemals, Herr Oberstleutnant.«

»Nun ja. Aber jetzt die Gegenfrage: Wenn Ihnen dieses Haus
Bieler als -- wie sagen Sie in Ihrer Eingabe? -- als ›Brutstätte
deutschfeindlicher Gesinnung‹ verhaßt war, weshalb ließen Sie sich
dennoch im Keller bewirten? -- Sie schweigen. Auch eine Antwort.«

»Allerdings -- immerhin -- ich -- wie gesagt, ich will meine
menschlichen Schwächen nicht entschuldigen, Herr Oberstleutnant. Aber
die Tatsache, daß alle drei Beteiligten in französischer Sprache auf
mich eindrangen -- --«

Des Hauptmanns Stimme war wieder scharf und nasal geworden.

»Das stimmt nicht!« rief Bieler.

»Unmöglich!« fiel auch der Pfarrer ein. »In meinem Hause wurde nie
französisch gesprochen.«

»Kurz, ich fühlte mich plötzlich unter lauter Feinden.«

Bieler bekam Mut.

»Ich bin der Meinung, Herr Hauptmann, Ihr einziger Feind sind nicht
wir drei gewesen -- excusieren Sie mich --, sondern vielmehr der
Rappoltsweiler Riesling von Anno neunzehnhundertundelf. Und daß im
Pfarrhaus immer nur elsässisch oder hochdeutsch gesprochen wird, das
kann ich bezeugen.«

»Können Sie das auch von Ihrem Hause behaupten?« fiel der Hauptmann ein.

Aber der Pfarrer sprang zu Hilfe.

»Das Haus Bieler zu begreifen, muß man sich lang und liebevoll mit dem
Elsaß beschäftigt haben, Herr Hauptmann.«

Dem Oberstleutnant waren Wolffsche Depeschen gebracht worden, die er
während dieser Hin- und Herreden durchblätterte. Dann stellte er noch
einige kurze Fragen und beendete die Unterredung. Alle erhoben sich.

»Herr Oberstleutnant,« sagte Bieler, als er sich verabschiedete,
und der gebeugte Mann in seinem langen Sonntagsrock war nicht ohne
Würde, »sehen Sie, ich hab' dazumal Frankreich gedient und hab' meiner
Regierung Treue gehalten, wie sich's für einen Ehrenmann schickt.
Aber mein Sohn hat seiner Regierung keine Treue gehalten. Das ist
mein heimlicher Kummer, ihr Herren. Andre Eltern verlieren ihren Sohn
draußen im Krieg; ich hab' halt meinen Sohn auf dem Schlachtfeld der
elsässischen Ehre verloren.«

Trotzendorff reichte dem Alten die Hand. Und in seinem festen
Händedruck war Wärme.

»Gehen Sie ruhig nach Hause, Herr Bieler! Die Sache ist erledigt.«

Die Bürger gingen. Der Hauptmann blieb noch einen Augenblick, um
unter vier Augen eine kurze, aber eindrucksvolle Ansprache des
Oberstleutnants in Empfang zu nehmen.

                   *       *       *       *       *

Dem Weihnachtsfeste fliegen Engel der Liebe voraus. Es sind die Engel
der Überraschungen, des liebevollen Versteckspiels. Wochen hindurch
ist manche Seele auf Heimlichkeiten bedacht. Schon in den langen
Spätherbstabenden sitzen Mütter oder Töchter mit der unendlichen Geduld
der Frauen über irgendeiner Arbeit und sticken, stricken, nähen oder
malen, um zum Feste der Liebe mit einem erfreuenden Geschenk unter
den Weihnachtsbaum zu treten. Nur die Absicht des Freudemachens ist
mit solchen heimlich vorbereiteten Gaben verbunden. Und so ist um
die nahende Wintersonnenwende viel Herzlichkeit in der Lufthülle des
Erdballs wirksam.

An jenem Tage, als Arnold und der Winzer bei Trotzendorff ihre Sache
verfochten, saßen Madam Bieler und ihre Tochter Jacqueline vor
einem Korb mit Stoffresten, deren farbige Fülle sich um die beiden
Straßburgerinnen ausbreitete.

Langhin auf dem Stubenboden lag eine Fahnenstange. Das große Tuch
war jedoch losgeschnitten; es waren die elsässischen Farben Weiß und
Rot. Die Damen wühlten in ihren Vorräten, maßen und verglichen, ob
sich nicht zu den beiden Farben ein gleich großes Stück Tuch finden
möchte. Auch dies war eine geheimnisvolle Arbeit. Doch es sollte keine
Weihnachtsüberraschung werden. Sie suchten die Farbe Blau.

Diese Suche war gar nicht so leicht. Die meisten blauen Stoffreste
waren zu klein; oder der Stoff war Seide und paßte nicht zu dem
übrigen Tuch. Die Damen parlierten halb elsässisch, halb französisch.
Jacqueline, eine schlanke Brünette, saß zu den Füßen ihrer Mutter, die
mit der Brille auf der Nasenspitze matronenhaft im Lehnstuhl thronte.

Endlich kam die Tochter auf den Einfall, sie wolle einmal zu den
Schwestern Ehrmann in den Oberstock hinauflaufen und sich nach Stoff
erkundigen. Aber die Mutter hatte Bedenken. Wenn nun die zwei Mamselle
Ehrmann fragen würden, was sie mit dem Tuch anfangen wolle, was sollte
man denn da antworten?

»=Tu sais, maman=,« erwiderte die Tochter, »ich saa, mr welle e
=comédie= mache, e Theaterstückel.«

Und schon war sie aufgestanden; die Mutter solle sie nur machen lassen.
Und mit der niedlichen Lüge auf der Lippe verschwand die Holde nach
oben.

Erwins Schwestern lebten im Oberstock des Hauses Bieler ihr stilles
Dasein allbeliebt dahin. Henriette war als Lehrerin tätig und brachte
das nötige Geld in den Haushalt, den Dorothee leitete. Außer ihrem
Nachbarn, dem Kunstmaler Kaspar Speckel, sahen sie wenig Menschen in
ihrer hohen und heimeligen Wohnung mit den vielen Bildnissen an den
Wänden und den noch zahlreicheren Nippsachen auf den Altväter-Möbeln.
Ein Papagei und ein Kater gehörten zum Haushalt. Manchmal kamen
Kinder, lärmten ein bißchen und verschwanden wieder; manchmal auch gab
es einen Altjungferntee, soweit der entbehrungsreiche Krieg solche
Ausschreitungen gestattete. Sie lasen einander vor; sie spielten auch
gern auf einem betagten Tafelklavier. Es war eine behagliche Stille
in diesem Heim, an dem Krieg und Kriegsgeschrei fernab am Horizont
vorüberzogen.

Die hochnäsige Jacqueline kam eigentlich nur dann zu ihres Vaters
Mietern herauf, wenn sie etwas brauchte. Und so betrat sie auch heute
nach kurzem festem Anpochen ohne viel Umstände das Stübchen der
alternden Jungfrauen.

Allein sie traf es recht ungeschickt. Der Maler und Junggesell
stand mitten im Zimmer, Palette und Pinsel in der Hand, in seinem
beschmierten langen Graukittel. Er war auf einen Augenblick
herüberspaziert und erzählte grade mit dem ihm eignen erzschalkhaften
Gesichtsausdruck der Jungfer Dorothee eine Schnurre. Mitten im Wort
brach er ab, verbeugte sich mit komischer Übertreibung vor Jacqueline
und trat einen Schritt zurück. Aber er machte keinerlei Miene, in sein
Atelier zurückzukehren. Des Hausherrn Töchterchen mit ihren zwanzig
flotten Jahren war sonst nicht auf den Mund gefallen; diesmal aber
verhaperte sie sich unter den Blicken dieses unausstehlichen Kasperle,
wie sie ihn zu nennen pflegte, so sehr, daß sie ihre Bitte kaum zu
stammeln vermochte. Und bei der harmlosen Frage Dorothees, wozu sie das
Tuch brauche, verwirrte sich das Räderwerk ihres Sprachvermögens erst
recht. Kasperle legte tiefsinnig die Hand an den ergrauenden Spitzbart
und meinte, wenn Mamsell Jacqueline etwa ein altes Hemd opfern
wolle, so würde es seinem Pinsel eine Freude sein, mit Preußischblau
darüberzustreichen -- aber da war Jacqueline auch schon verschwunden
und hatte die kleine Tür kräftig hinter sich zugeschmettert.

Zornig kam sie wieder zu ihrer Mutter hinunter.

»=Maman=, do hilft halt nix, jetzt mueß doch min Unterrock dran!«

Sie erzählte kurz ihr Mißgeschick und hatte schon die Schere in
der Hand. Ein hübscher blauer Unterrock wurde der Länge nach
aufgeschnitten, und nun wurde geprobt. Die schwere, stattliche Frau
Bieler erhob sich, spannte das blaue Tuch mit ausgebreiteten Händen
vor sich hin, und Jacqueline hielt die bereits fertigen Fahnenstücke
Weiß und Rot darunter. Das schönste Blau-Weiß-Rot leuchtete als ein
hocherfreuliches Ergebnis in die Straßburger Stube.

Aber das Mißgeschick des Tages war noch nicht voll. Die Damen waren
so sehr in ihre Arbeit vertieft, daß sie das leise Klopfen ihres ewig
unbelehrbaren Mädchens vom Lande überhörten. Sofort ging auch schon
die Türe auf -- und plötzlich stand, ohne weiteres vom Dienstmädchen
freundlich hereingeschoben, Fanny Bieler in der Stube.

Die beleibte Matrone, die mit ihrer Brille grade noch über das blaue
Tuch hinübergucken konnte, war so erstarrt, daß sie noch ein Weilchen
in ihrer Stellung verharrte. Jacqueline merkte in ihrem Eifer erst
überhaupt nicht, daß sie Zuschauer hatte, sondern hielt von unten her
Weiß und Rot ebenso beharrlich fest und rief einmal über das andere
entzückt: »G'fitzt! 's isch g'fitzt! =Maman, ça y est!=«

Gustavs Braut durchschaute sofort den Hergang. Und in ihr Herz rann
ein eisiger Strom. Sie erbleichte und stand wortlos. Dann gab es ein
bestürztes Aufspringen der Tochter, dem eine übertrieben-freundliche
Begrüßung folgte. Auch die Mutter ließ die Arme sinken, nahm die
Hornbrille ab und gab Fanny die Hand. Danach packte sie schleunigst
ein, während Jacqueline ablenkend sehr eifrig mit der Cousine
plauderte, und gab der Magd Befehl, die Fahnenstange hinzubringen,
wohin sie gehöre; worauf es in der Küche noch ein besonderes
Donnerwetter setzte, des Inhalts: sie, das Käthel von Grafenstaden,
sei nicht nur die uneinsdümmste, sondern die allerdümmste in Gottes
Gänsestall.

Es kam keine rechte Unterhaltung zwischen den drei Damen in Fluß.
Madam Bieler hatte gönnerhaft recht viel zu fragen; und fast alle
Fragen enthielten eine kleine Spitze. Zögernd gab Fanny über die
Ladung in das Gouvernement und die Begleitumstände Auskunft; Mutter
und Tochter warfen sich Blicke zu. Dann wurde Tee gereicht. Fanny
hatte die Empfindung, daß sie unter verlarvten Feinden sei, nicht
unter Verwandten. Und als sie endlich, endlich den Vater die Treppe
heraufhusten hörte, sprang sie ihm entgegen:

»Wie steht's?« Er gab beruhigende Antwort. Das gefolterte Mädchen
atmete tief auf. Und nun war sie nicht mehr zu halten. Sie hatte
Einkäufe zu besorgen, verabschiedete sich von den Damen und lief
noch einige Augenblicke zur Jungfer Immergrün hinauf, wie sie Erwins
Lieblingsschwester zu necken pflegte.

Da oben war mehr Wärme. Da gab's ein herzhaft Händeschütteln, die
üblichen Wangenküsse und ein schnelles, gedrängtes, überfließendes
Erzählen von Erwin und von Gustav.

Und wie unser Dasein oft mit allerliebsten Neckereien durchflochten
ist, so geschah es auch hier. Fanny hatte gleichfalls ein Anliegen, das
Jacquelines Bitte überraschend ähnlich sah.

»Ihr habt doch einmal mit Erwin ein so hübsches Weihnachtsspiel
aufgeführt. Sag', Dorothee, habt ihr vielleicht noch die Kostüme?
Ich brauche nämlich ein weißes oder blaues Frauengewand. Pfarrer
Redslob, unser ehemaliger geistlicher Inspektor im Städtchen, feiert
nächste Woche seinen achtzigsten Geburtstag und zugleich seine goldene
Hochzeit. Du weißt, es sind so liebe, alte Leute. Da stellt man
ihnen lebende Bilder. Und ich habe -- es ist eine kleine geladene
Gesellschaft -- eine besondere Überraschung vor. Alles ganz ernst und
still, wie es ja in dieser Zeit selbstverständlich ist.«

Und voll Feuer plauderte sie weiter, daß sie unter Onkel Arnolds
Papieren einige »Gespräche« gefunden habe; darunter eine reizende
Unterhaltung zwischen jenem Ritter, den man den »armen Heinrich« zu
nennen pflegt, und dem Mädchen, das sich für ihn opfern will. Das wolle
sie mit Gustav aufführen und Onkel Arnold ebenso damit überraschen wie
die anderen Gäste des kleinen Kreises.

Dorothee erzählte lachend den mißglückten Versuch Jacquelines, in den
Besitz eines blauen Tuches zu kommen. »Weiß der Kuckuck, wozu sie's
braucht!« Fanny wußte Bescheid und fand ihre Heiterkeit wieder, als sie
Speckels Vorschlag vernahm. Dann aber holte Dorothee in der Tat ein
feines blaues Gewebe hervor, das sie der jungen Freundin anvertraute.

Und mit ihrem Paket lief die Kleine unter dem großen Hut in die
nebligen Gassen hinaus und war heilfroh, das Haus ihrer Verwandten
hinter sich und das blaue Tuch sicher im Arm zu haben.

Papa Bieler hatte das alte Bürgerhaus nur höchst ungern betreten; das
Lützelbronner Gespräch mit dem Straßburger wirkte noch unangenehm
in ihm nach. Aber es war ein Geschäft zum Abschluß zu bringen;
sein Bruder war ihm noch Geld schuldig. Er traf im Kontor einen
gutgelaunten Handlungsreisenden, der sich als Vertreter von Weil,
Blum & Co. vorstellte, witzig bemerkend, seine Firma sei leicht zu
behalten, man brauche nur an Blumenkohl zu denken. Und in der üblichen
Straßburger Mundart, die er mit französischen Brocken spickte, fuhr
dieser rundliche Blumenkohl fort, seine Späßchen zu machen, wobei er
mit zwinkernden Augen den Winzer zu föppeln begann, was er denn wohl
anfange, wenn man den Liter Rotwein demnächst für zehn Sous trinken
werde?

Bieler antwortete erst ziemlich unbeholfen, er werde sich ohnedies
bald vom Geschäft zurückziehen, und steckte seine Banknoten ein.
Als aber Weil, Blum & Co. nicht abließ, wurde der alte Mann bissig.
Er habe, sprach er, vorhin in der Münstergasse einen Bekannten aus
dem Württembergischen getroffen, der habe ihm erzählt, daß aus
seinem Städtchen von sechshundert jüdischen Wehrpflichtigen zwei
Mann umgekommen seien: der eine durch Krankheit, der andre durch
einen Sturz aus dem Wagen. Aber im Nachbarstädtchen seien von
siebenhundertundfünfzig christlichen Wehrpflichtigen hundertundzwanzig
den Heldentod gestorben, ohne die Vermißten. »Wie kommt das, he?«
schloß er ingrimmig.

Der Geschäftsreisende war beleidigt, aber nicht aus der Fassung
gebracht; er blinzelte ihn an, steckte beide Hände in die Hosentaschen
und antwortete ganz einfach und unverfroren: »Warum sin se so dumm?«

Und Bielers Bruder nickte kühl: »Sich für die Schwowe totschießen zu
lassen!«

Der ehrliche Winzer schaute hilflos von einem zum andern. Dann nahm er
ohne weitere Gegenrede seinen Hut: »=Bonjour=, ihr Herren«, und
entfernte sich.

Im Treppenhause erhielt der in sich versunkene, mißmutige Alte zunächst
einen tüchtigen Stoß auf die Magengegend. 's Käthel von Grafenstaden
kämpfte mit der Fahnenstange herum. Was sie denn vorhabe, fragte
Bieler verdrießlich, es sei ja gar keine Fahne dran. Das schon, meinte
Käthel, die recht gekränkt und ärgerlich aussah, aber man sei doch
nicht so »taub«, wie d' Madam immer sage, man wisse ganz genau, daß die
Herrschaften eine französische Fahne machen und daß d' Mamsell einen
schönen blauen Unterrock dazu zerschnitten habe ...

»So, so, so«, summte der Weinsticher nachdenklich vor sich hin, als er
seiner Wege ging. Und er bewunderte nicht wenig die Opferfreudigkeit
seiner Nichte Jacqueline.

                   *       *       *       *       *

Im Oberstock eines Kaffeehauses am Broglieplatze saßen sie abends
beisammen, die Mitglieder der Gesellschaft für elsässisch-deutsche
Kultur. Professoren, Pfarrer und Lehrer, Beamte, Buchhändler und
Kaufleute -- jeder Stand war vertreten. Mit Altelsässern plauderten
Altdeutsche, Eingewanderte mit Eingesessenen, alle in den Rauch
ihrer Zigarren und ihrer gemeinsamen Sorgen eingehüllt, lebhaft der
Erörterung hingegeben über den peinlichen Notenwechsel zwischen
bittender deutscher Regierung und befehlendem amerikanischem
Präsidenten.

Alle diese Elsässer erwarteten irgend eine unbestimmte Hilfe, ein
befreiendes Wort, einen Eingriff der göttlichen Macht ...

Soll unser Elsaß Spielball sein zwischen zwei Nationen? Hat man uns
nicht Autonomie versprochen? Darf man über uns verhandeln, ohne
uns zu fragen? Das Unrecht von 1870 soll wieder gutgemacht werden?
Welches Unrecht? Daß Deutschland in ehrlichem Krieg deutsches Land
zurückerobert hat? Und das Unrecht von 1681? Hat nicht Ludwig
der Vierzehnte in jener Septembernacht des Jahres 1681 die freie
Reichsstadt Straßburg mitten im Frieden überfallen und geraubt?
Weiß das Präsident Wilson nicht? Himmel, und wie hat Deutschland am
Lande gearbeitet in diesen vier Jahrzehnten! Wie ist Straßburg mit
seinem Rheinhafen und seiner Universität eine blühende deutsche Stadt
geworden! Weiß das Wilson nicht? Wir müssen ein Telegramm an Wilson
senden. Wir wollen Autonomie, wir wollen Volksabstimmung. Wir müssen
hier in Straßburg eine große Volksversammlung einberufen. Schwander ist
Statthalter, wir haben eine freisinnige Regierung, man kann sich nun
regen und offen reden -- los! ...

So schwirrten die Gespräche und verdichteten sich zu einer allgemeinen
Erwartung.

Der Vorsitzende, ein vollbärtiger, schmaler, mittelgroßer Professor
mit einer kahlen Denkerstirne, klopfte ans Glas. Und er sprach. Er
sprach klug und gehaltvoll; er sprach scharfsinnig. So hatte er
oft gesprochen; er war ein ausgezeichneter Theoretiker; aber er
war keine aufrüttelnde, ansteckende oder mitreißende Kraft. Warm
und schön, mit wohltuender Ruhe, sprach auch ein altelsässischer
katholischer Universitätsprofessor, ein temperamentvoller Arzt, ein
Gymnasiallehrer. Und alle Reden gipfelten in dem Wunsche, man möge,
nach dem Vorbilde der Reichsregierung, Telegramm und Sendschreiben an
den Präsidenten Wilson richten, daß Elsaß ein deutsches Land sei und
ein deutsches Land bleiben wolle.

Arnold saß bei einem seiner Freunde, dem blondbärtigen Pfarrer des
Diakonissenhauses, paffte Rauchkringel in die Luft und schwieg. Die
Augen halb geschlossen, schaute er in die Vielzahl dieser durch
Hunger und Sorgen abgemagerten Gesichter und sah sie von unzähligen
fließenden und immer wechselnden Rauchschlangen umringelt, die sich
mit höhnischen Fratzen über die aussichtslose Erörterung lustig
machten. Die Straßburger Luft war voll von bösen Dämonen; die Geister
der Revolutionszeit hatten Erlaubnis erhalten, sich ein Weilchen
wieder auf der Erde umzutreiben. Hatte nicht diesem Hause gegenüber,
beim Bürgermeister Dietrich, einst Rouget de l'Isle die Marseillaise
gesungen? Und wenige Häuser weiter, in der Blauwolkengasse, hatten
St. Just und Eulogius Schneider gehaust; und nicht weit war es zum
Kleberplatz, wo einst die fahrbare Guillotine am Ostersonntag 1793
erste Blutarbeit getan hatte.

Die Dämonen von damals huschten schon lange wieder durch Straßburgs
Gassen und Schenken, tuschelten, zischten, reizten den Pöbel unten und
oben, die Stunde begierig erwartend, wo sie herausbrechen könnten ...

Das sah Arnold. Und es schien ihm nicht der Mühe wert, seinen
Briefentwurf herauszuziehen und vorzulesen. Die gute deutsche Sache war
verloren.

Plötzlich aber erscholl sein Name. Er erwachte, sah sich um und
bemerkte viele Blicke auf sich gerichtet; und der Vorsitzende bat ihn,
seinen Offenen Brief an Wilson vorzulesen.

Arnold erhob sich langsam. Und er sprach zu seinen aufmerksam
horchenden Freunden:

»Wagen Sie denn immer noch an Gerechtigkeit und an Autonomie oder
dergleichen zu glauben, meine Herren? Hoffen Sie noch immer auf einen
Rechtsfrieden? Sehen noch immer nicht, daß diese Phrasen im Munde der
Feinde nur Machtmittel sind, um uns und die Neutralen irre zu führen?
England will uns niederknütteln -- und weiter nichts; Frankreich
will Elsaß-Lothringen, vielleicht das ganze linke Rheinufer, und will
sich weiden an einem zusammengebrochenen Deutschland -- und weiter
nichts. Völkerbund? Nein, nein. Das sagen sie nur, aber das wollen sie
nicht ... Weshalb aber gelingt ihnen diese unerhörte Vergewaltigung?
Sie, meine Herren, sagen gewiß: weil sie mehr Kapital, Menschen,
Munitionsmassen haben. Ich sage: weil sie mehr ~Leidenschaft~
haben. Ja, diese Völker haben mehr Leidenschaft, wenn auch in Formen
des Hasses. Sie sind zäher Willen, gefühlbelebter Willen. Wir aber,
wir Deutschen? Wir tragen das Malzeichen des Verstandes. Der verbürgt
zwar Ordnung und Methode, aber er verbürgt keine schöpferische Kraft
und Beharrlichkeit. Die Leute da drüben hinter den Bergen wollten
etwas mit der zähen Leidenschaft eines Liebenden. Hat man sich in
Altdeutschland mit ähnlicher Liebesleidenschaft um uns Elsässer
gerissen? Selbst die nichtswürdigen Tschechen und Slowaken setzen nun
ihren Staat durch, weil sie's mit Gefühl und Leidenschaft wollen. Was
wollen wir? Wo ist unser Ideal? Uns behaupten? Das ist nur negativ, ist
selbstverständlich, aber kein Ideal.«

Es ging eine unbehagliche Bewegung durch die Köpfe, die in den Rauch
eingezeichnet waren. Eine solche Rede hatte man nicht erwartet. Das
schmeckte nach Bußpredigt. Dieser Träumer von Lützelbronn! Da sang
er also glücklich wieder sein Liedlein vom vergessenen deutschen
Idealismus!

»Nennen Sie mich keinen Unheilsraben,« fuhr Arnold fort, »aber machen
Sie sich bereit auf die Wanderung durch die Wüste! Deutschland muß
jetzt durch die Wüste wandern, um nach Kanaan zu kommen. Es ist der
alte Mysterienweg. Sie mögen sagen: das spricht ein Ästhet oder
Ethiker, aber kein Politiker. Nun, ich breche auch ab. Meinen Brief
an Wilson will ich Ihnen aber doch wenigstens vorlesen, wenn auch mit
dickem Blaustift ein ›Zu spät‹ quer darüber geschrieben ist.«

Er las:

               ~Offener Brief an den Präsidenten Wilson~

  Herr Präsident! Hinter uns stehen Tausende von freien elsässischen
  Männern und Frauen, die genau so denken wie wir.

  Seit fast fünfzig Jahren sind wir staatlich wieder deutsch, wir
  Elsaß-Lothringer. Wir waren nach Art und Sprache deutsch, solange es
  eine deutsche Geschichte gibt: seit dem Niedergang des Römerreiches,
  seitdem der germanische Stamm der Alemannen und der germanische
  Stamm der Franken das Land am Oberrhein besiedelt haben. Also seit
  anderthalb Jahrtausenden! Die Sprache unseres Landes ist zu neun
  Zehnteln deutsch; die Namen unserer Dörfer und Städte, unserer Fluren
  und Flüsse, unserer Burgen und Berge sind deutsch. Es ist eine
  Fälschung zu sagen, daß wir  ›geraubte französische Provinzen‹ seien.
  Das Umgekehrte ist der Fall! Wir sind deutsches Land, einst in den
  Reunions- und Revolutionskriegen von Frankreich dem Deutschen Reiche
  geraubt, dann von Deutschland im offenen Kriege des Jahres 1870
  zurückerobert. Wir Elsaß-Lothringer sind also durch den Frankfurter
  Friedensvertrag vom 10. Mai 1871 zum deutschen Mutterlande
  zurückgekehrt. Das ist der Tatbestand.

  Und nun wollen die Völker der Entente, nun wollen Sie, Herr
  Präsident, ein deutsches Land gewaltsam wieder französisch machen?
  Nun wollen Sie den künftigen Völkerbund mit einem Bruch des
  Frankfurter Friedensvertrages beginnen?

  Wir Elsaß-Lothringer empfinden das nicht als Befreiung, sondern als
  Vergewaltigung.

  Und wir protestieren dagegen im Namen der Wahrheit und der
  Gerechtigkeit.

  Sie hatten, Herr Präsident, eine wahrhaft erhabene Sendung. Sie
  hatten die Aufgabe, den Völkern Europas den Frieden zu bringen. Sie
  haben es vorgezogen, den Feinden Deutschlands Munition zuzuführen;
  aber die Zufuhr von Lebensmitteln an deutsche Frauen und Kinder haben
  Sie nicht durchzusetzen für nötig gehalten. Eine bleiche Parade
  hungernder und durch Unterernährung dahingeschiedener Gestalten zieht
  anklagend an Ihrem Weißen Hause vorüber. Und um Deutschland vollends
  zu brechen, griffen Sie an der Seite unserer Feinde in den Kampf ein.
  Sie sind es, dem Deutschland neben innerer Zersetzung nunmehr den
  Zusammenbruch verdankt.

  Und mit diesem Zusammenbruch unseres deutschen Vaterlandes brechen
  auch wir Elsaß-Lothringer zusammen. Wir sollen nun wieder
  hinübergeschleudert werden zu Frankreich. Wir protestieren. Wir
  wollen uns durch Schweigen nicht mitschuldig machen an diesem
  ungeheuerlichen Verbrechen. Wir halten treu zu unsrem deutschen
  Vaterlande. Und wir schreiben diesen Brief nicht aus irgendwelchem
  Haß gegen irgendwelche Nachbaren, mit denen wir vielmehr im Frieden
  zu leben wünschen, sondern nur im Interesse der Menschlichkeit und
  der Wahrheit.

Allgemeiner Beifall umwogte diesen Brief. Man trank dem Verfasser
zu, man schüttelte ihm die Hände. Und sofort setzte die Erörterung
ein. Es wurde vorgeschlagen, den Brief ins Englische zu übersetzen
und in Tausenden von Flugblättern über den englisch-amerikanischen
Truppen durch Flieger abwerfen zu lassen. Die Einberufung einer
Volksversammlung in das Sängerhaus ward beschlossen; man müsse von
Wilson Volksabstimmung verlangen. Der Abschnitt, der des Präsidenten
unfreundliche Stellungnahme angriff, die Hungerparade, wurde
beanstandet; denn dergleichen könnte verletzen. Andere jedoch riefen:
»Sagt's ihm nur, denn es ist die Wahrheit!« Und so bekundete sich
an diesem bewegten Abend viel guter Wille dieser treuen Söhne ihrer
elsässischen Heimat und ihres deutschen Vaterlandes.

Doch die Dämonen kicherten: Zu spät! Und Arnold schied aus dem Rauch
in den Nebel hinaus mit dem schmerzlichen Gefühl: die Sache der
Deutsch-Elsässer ist verloren.

»Eine Handvoll Französlinge hat mit Hilfe der feindlichen Truppenmassen
dieses kerndeutsche Land vergewaltigt«, schloß er ein Gespräch mit
einem befreundeten Bibliothekar, der ihn nach dem Gasthofe begleitete.
»Die Lüge herrscht in der Welt wie nie zuvor. Und das Gemeine lauert
auch hierzulande auf den Augenblick, wo es deutsche Ordnung wie einen
lästigen Tornister abwerfen und sich nach all der Kriegsspannung
schamlos austoben kann. Ich spüre das. Gute Nacht, lieber Freund! Ich
sah im Geiste die entflohenen elsässischen Landesverräter im Schutze
französischer Soldaten wieder einmarschieren und mit einer schwarzen
Liste von Haus zu Haus ziehen, ihr Werk fortsetzend: den Verrat. Halten
Sie Ihr Bündel geschnürt! Wenn der Franzos einrückt, werden Ihnen die
Straßburger Wackes die Fenster einwerfen!«

»Und Sie?« fragte der andre.

»Je nun, ich! Mit dem Elsaß hab' ich abgeschlossen. Ich ziehe aus und
suche. Ich suche ein Deutschland, das durch den Schmerz reif wird, das
an der Stirne das Malzeichen der Gottheit trägt, das sich um den Altar
der Seele versammelt, wo ein Gott der Weisheit und der Liebe verehrt
wird: -- ein Deutschland also, das es noch nicht gibt, an dem wir aber
vielleicht bauen dürfen.«

                   *       *       *       *       *

»Bist du's?«

Eine weibliche Stimme flüsterte es, als Arnold oben im Gasthof seine
Zimmertüre aufschloß. Und Fanny schlüpfte aus der Türe gegenüber und
huschte zu ihm herein. Es war spät. Sie hatte auf ihn gewartet.

»Ich muß dir doch noch schnell Gutenacht sagen, ich hätte ja sonst
gar nicht schlafen können«, sagte sie hastig und halblaut, um die
Nachbarschaft nicht zu stören. »Ich hab' heute gleich ein Telegramm
an Gustav geschickt. Ach, ich bin ja so froh, so froh, daß alles gut
gegangen ist!«

Eine warme Welle überrieselte den Mann, der vor ihr stand und aus dem
schweren Pelzmantel lächelnd auf das leichte anmutige Wesen herabsah.
Starr erschien ihm die Pflichtwelt eines Trotzendorff, schattenhaft die
fruchtlosen Pläne seiner politischen Freunde -- doch siehe, hier war
ein lebenatmendes, der Herzensleidenschaft fähiges und nur vom Herzen
aus die Welt erfassendes reines Geschöpf, das ihn kindlich lieb hatte!

»Aber, Kleine, noch auf? Schnell, schnell zu Bett! Wir wollen ja morgen
ganz früh abfahren! Gutenacht, mein Seelchen!«

Zwei Wangenküsse nach gewohnter Art, eine herzliche Umarmung -- und
schon verschwand sie wieder lautlos, schalkhaft noch durch ihre
Türspalte den Finger an den Mund legend:

»Gute Nacht!«




                            Neuntes Kapitel

                         Aus Speckels Tagebuch

                                      Ich frage nie beim goldnen Weine,
                                      Warum im Glas die Perle glimmt:
                                      Sei er vom Rhodan oder Rheine,
                                      Genug, wenn er mich höher stimmt!

                                                        ~Ludwig Spach~


Es ist der Entente gleichgültig und der deutschen Diplomatie unbekannt,
daß mein Atelier einerseits auf einen Hof geht und andrerseits auf das
Straßburger Münster schaut. Dort ist's eng, hier ist's groß; dort haust
der Philister, hier das Genie.

Ich überlasse dem boshaften oder dem geneigten Leser, zu erraten, ob
ich mehr dort oder mehr hier aus dem Fenster schaue.

Die drei Stockwerke sind reichhaltig. Von meinen Fenstern aus, ganz
einfach vor meiner Staffelei hin und her wandernd, kann ich dort in die
Zeitlichkeit, hier in die Ewigkeit blicken.

In der Höhe, über dem dritten Stockwerk, blüht ein Feldchen
elsässischen Himmels. Punkt zehn Uhr hat sich die Augustsonne derart
über die Straßburger Dächer und Schlöte herübergearbeitet, daß sie
einen vollen Lichterguß in meinen Hof strömen lassen kann. Dann
glänzt plötzlich mein Atelier in einer unerträglichen Helle; und auf
meinen Pinsel legt sich ein so frech-vergnügtes Sonnenlicht, daß ich
aufspringe und die Gardine zureiße. Aber auf diesen dramatischen Punkt
hat eine Wolke hinter dem Telephonnetz nur so gelauert: jetzt wälzt
sie sich feist und dick über den Hof; das helle Himmelsfleckchen ist
verdeckt, es wird stockdunkel hinter meiner Gardine. Was muß da ein
Mensch von gesunden Empfindungen anfangen? Aufspringen muß er, seine
Arbeit unterbrechen muß er und die Gardine flammenden Blicks wieder
aufreißen muß er. Das muß er. Wobei sich die Schnur verhudelt.

Ich brauche kaum zu bemerken, was nun folgt. Jeder Kenner Schopenhauers
und der von Schopenhauer beschatteten Welt sagt sich mit bitterem
Lächeln, daß schon nach einer Viertelstunde das oben gekennzeichnete
viereckige Sonnenlicht wieder mit seiner ganzen verletzenden Grelle
auf meiner Staffelei grinst. Und so geht mein Kampf mit der Sonne
und um die Sonne oft Morgen für Morgen. Das ist halt der Straßburger
Himmel. Das liegt so im Schicksal der Elsässer. Wenn ich gegen elf Uhr
sämtliche Flüche aus Shakespeare verbraucht habe, etliche zwanzig Male
von meinem Sitze aufgesprungen bin und erschöpft zu einem Spaziergang
mit darauffolgendem Mittagessen davonwanke, so ist gemeinhin meine
Gardine geplatzt oder die Schnur zerrissen. Alsdann benützt meine
rüstige Wirtin meine Abwesenheit, um zu den Shakespeareschen
Kraftworten, die noch überall in den Gardinen hängen, etliche Dutzend
weit überlegener Straßburger Waschpritschen-Koseworte hinzuzufügen,
wobei sie mich Wackes nennt, was doch eigentlich verboten ist. Eine
wackere Frau!

Es ist traurig, daß man sich über eine Gardine aufregt. Aber ich
kämpfe einen Künstlerkampf; ich kämpfe einen Kampf für Harmonie und
Gleichmaß, gegen grelle Gegensätze und Überreizung, die ich nun einmal
nicht vertrage. Und ich habe seit vorgestern ein Mittel gefunden, jene
Gegensätze im Elsaß und am Fenster siegreich zu überwinden: ich bin
ihnen einfach aus dem Weg gegangen. Ich habe nämlich kraftvoll meine
Staffelei gepackt und bin vom Fenster weggerückt. Und als die Sonne
nachkam, bin ich wieder gewandert. Und nun werde ich ganz gemütlich mit
meiner Staffelei im Zimmer herumwandern, bei immer offener Gardine.
Heute mal' ich zum Beispiel mitten im Zimmer und hohnlache nach dem
Fenster hin, wo der Fußboden sich wieder von Minute zu Minute in den
oben angedeuteten grellen Gegensätzen bewegt; ich arbeite mit Behagen,
rauche meine Zigarette und führe mit Gemütsruhe den Pinsel; denn meine
Leinwand wird weder so dunkel noch so grell, daß ich jemals in meinem
Schaffen gestört würde.

Im übrigen -- was gehen mich die Narrheiten am Himmel an? So wenig wie
die am politischen Himmel. Kann ich eine harmonische Lichtverteilung
vornehmen? Weder am Himmel noch in Europa.

                   *       *       *       *       *

Nachdem ich mich hiermit als Neutralisten jenseits des europäischen
Narrenschiffes vorgestellt habe, lasse ich allerlei Beobachtungen
folgen.

Auf meinem Hofe wohnt ein elsässischer Abgeordneter. Rechts, im zweiten
Stock. Es ist ein Mann mit vielen Sorgenlinien im Gesicht, ein Mann,
der oft einen Zylinderhut und immer einen Gehrock trägt. Er liest ganze
Stöße von Zeitungen, hält sehr gern Reden, die reichlich mit »dürfte«,
»sollte«, »wollte«, »möchte«, »in der Lage sein« und »nicht umhin
können« gespickt sind; denn das klingt gut. Und er hat sich durch viel
Übung und lange Gewohnheit eine jetzt nicht mehr zu verändernde Miene
tiefsten Nachdenkens angewöhnt; die Gesichtsfalten können tatsächlich
nicht mehr in eine andere Lage geraten, er sieht immer wichtig, schlau
und nachdenkend aus, auch wenn er den größten Unsinn spricht oder gar
nichts denkt.

Das letztere aber ist in der elsässischen Kammer ein guter alter Brauch.

Das Beste an ihm ist sein Sohn. Der kleine Braunkopf heißt Franz oder
François und ist in jeder Beziehung das Gegenteil eines Abgeordneten.
Man könnte ihn mit Recht einen Ungeordneten nennen. Er macht keine
stilisierten Redensarten, sondern sagt zu aller Welt frischweg »du«;
er hält keine Reden, wenn er über etwas empört ist, sondern springt
seinem Gegner an den Hals, wirft ihn zu Boden und prügelt sich mit ihm
herum, daß einem das Herz im Leibe lacht. Die Pförtnersfrau, Bielers
Lehrbub und zwei Dienstmädchen kommen dann empört herbeigelaufen und
trennen die Kämpfenden; ich aber oben auf meinem Altan zwischen den
Lorbeerbäumchen hetze mit Kraft und Geschick auf die Gasse hinunter:
»Pack' an, Franz! Hau' em de Buckel voll!«

Ich will offen bekennen, daß ich den Knirps mit Bewußtsein zu einem
Raufbold erzogen habe. Obschon oder weil ich selber ein Mann des
Friedens bin. Doch um so lieber schaut man Raufereien von ferne zu.
Denn es geht elend fad und zimperlich in Bielers Haus und Hofe her.
Daß die Mütter mich Ketzer durchschaut haben und mich als wunderlich
hassen, brauche ich nicht zu versichern. Den drei heiratsfähigen, im
=Bon Pasteur= gebildeten Töchtern des Abgeordneten bin ich ein
Gegenstand des Greuels; der Monsieur Bieler und die anderen betrachten
mich mit einem achtungsvollen Mißtrauen, kurz, es ist eine erquickende
Nachbarschaft.

Dafür habe ich regelrechte Freundschaft geschlossen mit Kindern,
Lehrbuben, Dienstmädchen, Hunden und mit dem sehr zahmen Kater nebst
dem Papagei der beiden braven Schwestern Ehrmann.

Die Kinder tragen so ungekünstelte Gesichter zur Schau, babbeln so
natürlich und offen hinaus, daß es mir ist, wenn ich in diese Welt
schaue, als läse ich mein Lieblingsbuch, die Grimmschen Märchen.
Die Gesichter der Erwachsenen in diesem Haus und Hof, besonders der
Gebildeten, sind meistens Kitsch; sie glauben nämlich die reine
Einfachheit und einfache Reichhaltigkeit des Schöpfers verbessern zu
müssen; sie haben sich eine Menge von verlogenen Linien ins Gesicht
gewöhnt, sie haben sich einen merkwürdigen Gang und eine ungewöhnliche
Kopfhaltung zurechtgemacht; sie wissen, daß sie beobachtet werden, sie
richten sich nach der Welt, sie hängen von der Welt ab. Den großen
Schöpfer haben sie abgeschüttelt, der Gesellschaft aber haben sie sich
unters Joch gebeugt. Nix für mich!

Mit der Mamsell Bieler und den drei jungen Damen ist das eine
eigentümliche Geschichte. Ich habe ihre Kinderbildnisse gesehen;
da waren sie noch lieb und natürlich. Heute gelten sie alle vier
als »Schönheiten«; aber es ist Kunstpoesie, keine Volkspoesie; es
ist sogar mehr Kunst als Poesie. Es sind Linien in ihrem Gesicht,
die von berechnendem Verstande hineingezeichnet wurden; man liest
ihnen Wohlerzogenheit, Pensionat, Höflichkeit, Tantenbelehrung,
Konfirmandenunterricht, Salon- und Balleindrücke leicht vom Gesicht
ab; ihre Gesichter sind Anschlagzettel und Programme. Leider sucht
man in dem reichen und verwickelten Speisezettel vergeblich nach der
Glanznummer, nach dem einen Worte, das alle andern auswischt und
überflüssig macht. Unbefangenheit heißt das Wort.

Nebenbei radelt nur Lina, Susanne trägt einen Kneifer, und Lucie hat
weder Rad noch Kneifer, wird aber beinahe als »Aschenbrödel« behandelt,
denn sie muß immer kochen. Gute Lucie, wärst du nur noch viel mehr
Aschenbrödel, mit langem Zopf und roten Bäckchen, denen man hinter der
Tür einen Kuß gibt, wärst du nur ganz und gar Aschenbrödel! Von der
Mamsell Jacqueline Bieler will ich nicht reden -- -- meineidi vornehm!
Wenn ich nur wüßte -- es würde mich anatomisch interessieren --, wie
sie es macht, um die rückwärtigen Körperteile beim Gehen so entenmäßig
zu bewegen! Sie hat natürlich einen modernen Faltenrock und Pariser
Stöckelschuhe. =Et elle barle français= -- daß ein Pariser die
Wände raufklettert, wenn er sie hört!

Sie grollen mir alle drei bis vier, besonders die zwei ältesten. Ich
bin natürlich Junggeselle. Und nachdem wir uns einmal gesprächsweise in
der Aubette ein wenig angebiedert hatten -- sie saßen zufällig neben
mir, ich lebe sonst zurückgezogen wie eine Kirchturmdohle -- wurde ich
eingeladen. Das ist aber schon acht Jahre her. Es war ein glänzender
Abend. Lina erzählte von ihrem Rad, und Susanne spielte Klavier und
sang erbärmlich dazu; ich war taktlos genug, zu gähnen, mit dem kleinen
Franz zu plaudern und weder Spiel noch Radfahren zu loben. Was soll
ich mir Zwang antun? Kurz, sie grollen mir seit acht Jahren. Meine
Ehrlichkeit ist ein Grund zu törichter Feindschaft geworden in dieser
verkehrten Welt. Und wenn sie mir begegnen und eben noch einigermaßen
natürliche Gesichter zeigten -- einigermaßen! --, so treiben sie
sich sofort eine ganze Expressionisten-Ausstellung von Unnatur ins
Gesicht, halten den Kopf steif, schieben die Unterlippe vor, legen
sich zwei strenge Falten an beide Seiten der Nase und nicken von oben
herab. Ich bin ja weder körperlich noch geistig groß, muß aber doch
die Lippen pressen, um nicht herauszuplatzen über diese närrische
Gesichtsfälschung der zwei säuerlichen Jungfern.

Da spricht man immer von der Frauenfrage. Das Mitleid mit der armen
unterdrückten Frau und der unverheirateten Jungfrau ist Mode geworden
und Sport, wie das Mitleid mit dem Arbeiter. Warum spricht man denn
nicht von der Junggesellenfrage? Wenn ich elend müde bin vom Wochentag
und will einen rechten Sonnentag behaglicher Gemütsfülle und herziger
Unbefangenheit aufsuchen, so werde ich -- vor dem Kriege wenigstens,
jetzt ist man ja vernünftiger -- in eine »Soiree«, auf einen
Ballabend und dergleichen eingeladen, wo unverheiratete Weibchen Jagd
machen. Und als ich der Frau Geheimrat antwortete: »Verehrteste Frau
Geheimrat! Entschuldigen Sie mich nachsichtig, ich bin weder krank noch
verhindert, aber solche Abende sind mir zu langweilig« -- da wurde
mir die Dame komischerweise böse. Soll man denn lügen? Ich kann euch
versichern, wenn meine Freunde -- ach Gott, leider von der sogenannten
Gesellschaft abhängige Referendare und junge Ärzte, die sich um solche
Abende nicht drücken können -- nachher zurückkommen und mich beim
Gläschen Wein in einer versteckten Schenke treffen, so wettern sie
auf den Tisch, atmen tief und rufen: »Gott sei Dank! Endlich einmal
gemütlich!«

                   *       *       *       *       *

Ein paar Studienjahre hab' ich im oberbayrischen Bergland gemalt. Ein
Bauernhäuschen gab mir Unterkunft. Weißgetünchte Wände, Heiligenbilder,
ein einziger Stuhl, ein Schrank, ein Bett stellten mein Zimmerchen dar.
Nicht einmal ein Tisch stand darin, die Tinte war vertrocknet; mit
Bleistift schrieb ich meine paar Ansichtskarten auf dem Fensterbrett.
Aber drüben, jenseits eines grillendurchsungenen Hochtales, wuchsen
die malerisch köstlichsten Berge aus dem blühenden Gelände. Wunderbar
ging dort die Sonne unter! Die Schneefelder waren Purpur, die Zacken
erglühten wie die Zinnen einer Himmelsstadt. Am Berg hin säuselte ein
Abendglöckchen, ein heimkehrender Hirte sang von der Höhe. Da war die
Welt schön, groß und farbig ... Von Politik hat kein Mensch gesprochen.

Ich hatte nach der Arbeit meine Gitarre auf dem Schoß und griff
Akkorde. Es war ein tiefer Genuß, in dieser erhabenen Welt voll
großartiger Einfachheit zu malen und zu träumen. Ein hübsches Mädchen
der Nachbarschaft, aus dem Försterhause, das allabendlich in unserer
kleinen Küche Milch holte, hatte mir einige Griffe auf der Gitarre
beigebracht. Ein rosiges liebes Mädchen, das nur immer meinte: »Ach,
ich bin gar zu dumm!« und dabei hatte sie doch eine so feine Seele
und das niedlichste Gesichtchen der Welt. Wir saßen dann, das alte
Hutzelweiblein, das mich bewirtete, und des Försters Mädchen, in der
kleinen Küche beisammen. Ich half Kaffee mahlen, wir plauderten und
erzählten; ich war ungeschickt im Gitarrespiel, und sie verbesserte
mich -- das war ein »Gesellschaftsabend«, wie ich sie liebe. Manchmal
kamen auch noch sonstige Burschen und Mädchen aus den Gehöften, oft
prächtige Gestalten, Gesichter und Köpfe. Da war Rasse! Und wir
hatten bei einigen Glas Bier einen unterhaltsamen Abend, bis draußen
der funkelnde Mond über den Kuppen stand, so um elf. Ich selbst saß in
Hemdärmeln wie die andern und hatte nur Filzpantoffeln an den nackten
Füßen; sie saß auf dem kleinen Schemel, der Großvater im Lehnstuhl;
und die andern hatten sich Holzblöcke aus Winkeln hervorgeholt. Wir
sprachen über alles, über Gott und Welt, Stadt und Land, über Elsaß,
Deutschland und Frankreich, über Norwegen und andre Länder, die ich
bereist; denn wenn man nur die richtigen, schlichten, herzlichen Worte
wählt, so läßt sich über alles sprechen mit diesen schlichten Leuten
aus dem Volke.

Wenn sie dann alle fort waren und ich stand wieder allein an meinem
Fenster und schaute noch einmal hinaus in diese wunderbare Mondnacht,
so habe ich niemals mit einem »Gott sei Dank! Endlich gemütlich!« aufs
Fensterbrett geschlagen. Wohl aber bin ich manchmal noch in den Garten
hinuntergesprungen und habe mit Leni allein gekost und geküßt -- sie
war nebenbei die einzige, die ich jemals wahrhaft geliebt habe ... Vor
fünfundzwanzig Jahren!

Seitdem ist die ganze Welt vergiftet. Ich kann mich nicht mehr zu Leni
flüchten. Sie wird zwischen einem Rudel Kinder sitzen und bereits im
Kriege gefallene Söhne beweinen ...

                   *       *       *       *       *

Ich habe zuweilen merkwürdige Anfälle. Vor einer Viertelstunde zum
Beispiel sprang ich auf den Stuhl und vom Stuhl auf den Tisch. Auf dem
Tisch kreuzte ich die Arme und überschaute die Welt.

Ich hatte nämlich eine Schrift gelesen, die mich ganz außerordentlich
ärgerte. Und in solchen Fällen fängt mein Blut so bedenklich an zu
sieden, daß ich auf ungewöhnliche Weise die Harmonie meiner Seele
wiederherstellen muß. Ich schmeiße dann die Schrift, Zeitung oder
Zeitschrift -- es handelt sich meist um Kunstkritik -- mit Kraft und
Schwung an die ziemlich hohe Atelierdecke; breit auseinanderflatternd
und klatschend schlägt alsdann, nach dem natürlichen Gesetz der
Schwere, das Papier wieder auf den Fußboden auf. Ich kreuze die Arme
und gehe nun etliche Male mit Stampfen über den knisternden Wisch
hinweg; und meine Seele hohnlacht über die Afterweisheit auf dem
Fußboden. Bin ich einigermaßen beruhigt, so hebe ich den zerknitterten
Schwätzer, der die Flügel lappen läßt wie ein toter Sperling, mit
verächtlichem Mitleid wieder auf, halte ihn mit zwei vorsichtigen
Fingern hoch und werfe ihn vollends in den Papierkorb. Dann bin ich
wieder harmonisch und hab' die ganze, nunmehr gesäuberte Welt wieder
leidlich lieb.

Vor einer Viertelstunde hatte mich eine hochnäsige Schrift über die
moderne Kunst geärgert; der Mann sprach mit einem Obenherab von den
Unsterblichen Michelangelo, Raffael und Leonardo, mit einer modernen
Frechheit über Schwind und Richter, bewies so wenig Sinn für Abstände
und so ganz und gar keine Ehrfurcht vor dem Großen, dieser Wurm und
Werktagslehrbub -- daß ich ihn mit wahrer Wut an die Decke sauste.
Leider fiel er auf den Tisch, und da er auf dem Tisch passende
Gesellschaft fand, eine Nummer des »Vorwärts«, genudelt mit Haß
und Gift, eine Nummer einer konservativen Monatsschrift, triefend
von Langeweile, und einen wirren Haufen von Kunstzeitschriften --,
so bestieg ich ganz einfach den langen Tisch, reckte mich, schaute
aufatmend ins Zimmer und trampelte eine Weile mit gekreuzten Armen auf
dem gesamten Druckpapier hin und her. Napoleon bei Austerlitz! Die
Sonne kam gerade um die Ecke und grinste dazu. Und Spitzwegs Geist
streckte den Kopf mit einer weißen Zipfelmütze behutsam über die
Fensterkakteen und kicherte vernehmlich.

Es ist das ein wenig verrückt. Indes, wir Junggesellen haben ja kein
liebevolles, in nützlicher Nähe bescheiden an einer Stickerei sitzendes
Weib zur Hand, dem wir unsere Gefühle in den Schoß schütten können.
Wir müssen also unsere Zornanfälle etwas eigentümlicher entleeren. Wir
plaudern mit Stühlen, werfen mit Tintenfässern nach dem Teufel, kämpfen
mit Papier, schließen mit Kindern Kameradschaft oder bemalen Leinwand
... So hilft man sich halt in dieser bösen, bösen Zeit.

Manche meiner Freunde, ich gesteh' es, steigen nicht auf den Tisch,
sondern setzen sich dran und schreiben Gegenartikel. Diesem Gewimmel
von Knirpsen, die heutzutage das Papier bedrucken, gönnen sie
Gegenartikel! Ich zucke die Achseln; meine Methode ist einfacher.

                   *       *       *       *       *

Man wird sich ohne anstrengendes Nachdenken sagen können, wie ich zu
jener Völkerkeilerei stehe, die man jetzt Weltkrieg nennt.

Daß der Tabak schlechter und spärlicher wird, ist bedauerlich. Daß es
eine Vorsehung gibt, wie mein Freund, der Vikar von Jung St. Peter
behauptet, davon hab' ich Beweise. Denn dieses Gemetzel hat erst
begonnen, als ich das dienstpflichtige Alter eben hinter mir hatte.
Ich blieb auf meiner neutralen Höhe. Täglich wanderte ich an den
Rhein, suchte mir ein nettes Landschäftel heraus und malte. Was soll
man anders tun? Auch noch Leute umbringen? Das geschieht schon ohne
mich mit allen Maschinenkünsten der Neuzeit. Oder ich porträtiere
elsässische Stadtbürger und Offiziere der Generalität. Während der
Sitzungen schimpft der eine auf die Preußen; mit dem plaudre ich über
meine Studienjahre in Paris und Fontainebleau. Der andre hat gegen
die Franzosen allerlei auf der Leber; den unterhalt' ich von meinem
Aufenthalt in München und Oberbayern. In beiden Fällen rauch' ich meine
Zigaretten weiter oder streife nach alter schlechter Gewohnheit den
beschmierten Daumen am Kittel ab. Es gibt hüben wie drüben interessante
Köpfe. Politik interessiert mich nicht.

Ich hab' ein paar tausend Bilder in meinen drei Zimmern und im Atelier
aufgespeichert. Das ist meine Bibliothek und meine ganze Freude.
Verkaufen tu' ich nicht. Nur wenn ich Geld brauche; und auch dann nur
an Leute, die mir gefallen. Aber zeigen tu' ich gern. Da sperren sie
dann die Augen auf, die Herrschaften aus Philistäa!

Wenn freilich der Redakteur vom »Elsässer« (e bissel giftig) und der
von der »Straßburger Post« (ein gemütlicher Düringer) in meinem Atelier
zusammenkommen, so gibt's Krach. Beide sind Kunstkenner und meine guten
Freunde, können sich aber gegenseitig nicht schmecken. Der eine ist
ein klerikaler Alt-Elsässer, der andre hat preußisch-protestantische
Auffassungen. Da hilft man sich halt, wie's eben geht: wenn der
Klerikale bei mir ist, häng' ich zur Warnung für den andern ein
schwarzes Fähnchen ans Fenster. Und besucht mich der Preuße, so warnt
solange Schwarz-Weiß-Rot. Beim ersteren Fähnchen sagen die Philister:
Der Herr Speckel hat Trauer; beim andren fragen sie: Steht wieder ein
Sieg in der Zeitung?

Soll ich mich in den Völkerhändel einmischen? Werden meine Landschaften
dadurch duftiger? Oder meine Bildnisse ähnlicher?

Ich hab' eine närrische Anhänglichkeit an die Rheinlandschaft. Das
Wasser, die Weiden, der Duft, das Licht, die Enten, das ferne Münster
und die zärtliche Linie der noch ferneren Berge, ob nun Schwarzwald
oder Vogesen -- ich sitz' drin, wie die Spinne im Netz. Ich rauche wie
ein Schlot; häng' auch am Rhein draußen die Angel manchmal ins Wasser
-- und kann mir nicht denken, was sich an dieser Landschaft und an
meinen Malereien ändern sollte, ob nun am Münsterzipfel die deutsche
Fahne hängt oder die Trikolore ...




                            Zehntes Kapitel

                      Das Grab im Birkenwäldchen

                                     O Himmelskönigin,
                                     Nimm meine Seel' dahin!
                                     Nimm sie zu dir in'n Himmel hinein
                                     Allwo die lieben Englein sein,
                                     und vergiß nicht mein!

                                                           ~Volkslied~


Herbstwind weinte über den Wasgenwald. Die zerbrochenen
mittelalterlichen Burgen standen fröstelnd auf den Höhen entlang.
Zerfetztes Gewölk flog um die drei Rappoltsteiner Schlösser; und ganz
in schweren Wolken stand die Hohkönigsburg.

Deutschland ging der Stunde seiner Demütigung entgegen.

Und über die Welt kroch jene Seuche, die man die Grippe nennt.
Sie warf oft binnen weniger Tage unter Erscheinungen, die mit der
Lungenentzündung vergleichbar waren, junge Menschen auf die Bahre,
zumal Mädchen und Kinder. Auch die seelische Seuche des Hasses ging
weiter. Und Tag für Tag setzte sich noch der Kampf an der Westfront
fort. Europa war voll von Blut, doch arm an nährender Milch. Rot war
die Farbe der Welt; das Weiß der Unschuld hatte sich in den Himmel
zurückgezogen ...

                   *       *       *       *       *

Im Lützelbronner Pfarrhause war neue Lebensbewegung eingekehrt. Es
wurde gepackt und gebündelt. Arnold hatte in Straßburg von seiner
kirchlichen Behörde seine Entlassung erbeten und erhalten. Der Vikar,
der ihn vertrat, wohnte bereits im Pfarrhause. Auch Fanny war eifrig
dabei, ihre Ausstattung in Kisten zu packen. Es ging nach Heidelberg,
in eine neue, in eine reinere Welt!

Freund Lobsann hatte auf Arnolds Anfrage auf der Stelle freudig
geantwortet. In seiner warmherzigen Art stellte er dem Freunde von
ehedem sein Haus zur Verfügung. Wie in alten Zeiten zitierte er
im Urtext Horaz und Homer, die er gründlich kannte, und schloß:
»=Mehercule, mi amice=, das obere Stockwerk samt dem großen
Altan, den Sie so lieben, freut sich, soweit sich eben Steine freuen
können; und wieviel mehr wir lebendigen Menschen! Sie können sogleich
einziehen. Es ist Raum genug für das Brautpaar -- das ja wohl bis
dahin Ehepaar ist -- und für Sie selbst. Meine Frau übt ein Dutzend
Lieder ein, damit uns diese bitter schwere Zeit nicht unterkriegt.
Liselottchen hält ihr schönstes Sonntagslächeln bereit, das ihren
zehn Jahren zur Verfügung steht; und was, notabene, die ganze
Woche nachzuleuchten pflegt. Also =satis de hac re mihi dixisse
videtur=, sagt Cicero, auf deutsch: Genug geschwätzt! Willkommen!«

Auch Bieler lebte auf. Eines Abends kam er zu Schwester Lisy herüber,
mit der er sich ganz besonders gut verstand, schloß die Küchentüre
hinter sich zu und teilte ihr angenehm erregt mit, Stürli habe ihm
bereits eine ansehnliche Kaufsumme als Anzahlung auf den Tisch gelegt.
Woher er denn wohl das Geld habe?

Lisy, die immer Gelassene, die sich noch mehr als Bieler auf das
Diakonissenhaus und auf ihre Straßburger Kranken freute, pflegte bei
solchen Anlässen verschwiegen zu lächeln.

»Seien Sie doch froh, Papa Bieler, daß sich das so schön macht!« meinte
sie.

Aber der Alte witterte weiter und fragte mit pfiffigem Gesicht:

»Ist's wahr, daß der Nachbar« -- so nannte er meist den Pfarrer,
wobei er mit dem Daumen über die Achsel deutete -- »sein Gut Windbühl
verkauft hat? An den reichen Mülhäuser?«

»Kann schon so sein«, lächelte Lisy.

Und Bieler nickte:

»Na, dann weiß ich ja alles. Ein gutes Herz hat er halt doch, der
Nachbar.«

Die Weinlese war vorüber. Ihr Duft lag noch über dem Dorfe. Und den
Winzer überkam, als er nach Hause schritt, ein ganz leises Bedauern,
eine unbestimmte Wehmut. Aber er wußte sein Haus in guten Händen.

Schweren Gemütes, das er unter ermunternden Scherzen zu verbergen
suchte, schritt nur Arnold selber durch die verödenden Räume. Jeden Tag
erwartete Deutschland das Eintreffen der Waffenstillstandsbedingungen.
Und was mochte denn nur in Kiel vorgehen? Munkelte man nicht von
Meutereien? In solchem furchtbaren Augenblick auch noch Meuterei!

Fanny und Gustav hatten sich mitten unter all der Umsiedelungsarbeit
mehrmals unter geheimnisvollen Andeutungen zurückgezogen, um dann laut
und vortragend Wechselreden zu tauschen.

»Was treiben sie denn?« hatte Arnold gefragt.

»Geheimnis«, ward ihm zur Antwort.

Aber das angebliche Geheimnis ward rasch enthüllt. Eines Tages kam
Fanny zornig-verdrießlich zu Onkel Arnold gelaufen.

»Nun? Wieder einmal Krach? Mit wem denn?« forschte er.

»Verzeih, aber ich bin ganz unglücklich! Eine Überraschung für dich und
eine Abschiedsfeier für die Freunde hierzulande ist mir schändlich zu
Wasser geworden. Ich habe die Freude dran ganz verloren und will dir's
nur gleich heraussagen. Ach, daß es so wenig Freude auf der Erde gibt,
so wenig Liebe! Warum er mir nur immer wieder alles verdirbt! Wer? Aber
natürlich Gustav!«

Und sie erzählte. Unter Arnolds Papieren hatte sie einen Band
»Gespräche« gefunden, meist philosophischer Art, eines aber so schön,
so wunderschön, daß sie's gar nicht genug hatte lesen können.

»Das wollte ich mit Gustav auswendig lernen und vortragen. Dorothee hat
ein feines blaues Gewand dazu geliehen, Gustav hätte eine Art graue
Mönchskutte getragen. Pfarrer Wirz mit seinem Weißbart und seiner
ruhigen Baßstimme hätte am Schluß den Arzt gesprochen. Weißt du, der
hätte hinter den beiden aus dem Vorhang treten müssen und -- --«

»Aber, Kind, ich weiß ja gar nicht, wovon du sprichst!«

»Wart' nur -- und hätte die beiden gleichsam eingesegnet, verstehst du?
Gustav hat auch erst zugesagt. Dann aber, natürlich, wie er ja so ist,
wurde er ängstlich und fragte, wer dabei zuhöre. Und dann paßte ihm der
nicht -- jener nicht -- und runzelt die Stirne -- und er wolle nicht
vor den Leuten Theater spielen in so ernster Zeit, obwohl wir doch
unter uns sind und es ein so edler Stoff ist -- kurz, er will nicht!
Siehst du, und da sitz' ich nun, kann meine Rolle genau -- und Gustav
streikt! Ach, wie gern hätt' ich dich damit überrascht! Daß er mir das
so verpfuschen mußte! Denn mit irgendeinem anderen kann und will ich
etwas so Zartes nicht spielen.«

»Aber nun sag' mir doch endlich: Was ist es denn?«

»Das Gespräch zwischen dem armen Heinrich -- weißt du, jenem kranken
Ritter -- und dem Mädchen, das ihn lieb hat und sich für ihn opfern
will. Ein so herrlicher Gedanke! Ich hätte so gern dieses Mädchen
spielen -- und noch mehr sein mögen!«

»Zeig' einmal her!«

Arnold nahm die Blätter in die Hand.

»Sieh an, sieh an! Das glaubt' ich lange schon tot und dahin. Und das
lebt noch? Das sollte nun durch dich lebendig werden?«

»Wann hast du das geschrieben, Onkel Arnold?«

»Lange her! Solch ein Mädchen hab' ich mir einst als Frau ersehnt. Es
ist dann freilich ein wenig anders geworden.«

»Warum hast du mir nie genauer davon erzählt, Onkel Arnold? Warum
schließest du deine letzten Herzkammern vor uns allen zu -- auch vor
mir?«

»Auch vor dir? ... Du bist Braut. Wenn ich ganz offen sprechen würde,
könnte das auf eine Braut entmutigend wirken.«

»Auf mich? Nie und nimmer!«

»Wenn ich dir nun sagte, daß ich an selbstlose, restlose Frauenliebe,
an echte, vom Himmel ausgehende und in den Himmel wieder heimkehrende
Liebe nicht mehr glaube?«

»Du? Onkel Arnold, das kannst du andren sagen, aber doch nicht mir!
Denn ich habe deine Schriften gelesen. Und da steckt ja in aller
Philosophie so viel von deinem Herzen drin! Also mir redest du nichts
vor!«

Sie machte eine köstlich abwehrende, altkluge Schüttelbewegung mit
der kleinen Hand. Und er betrachtete sie lächelnd, wie sie in ihrer
blühenden Weiblichkeit vor ihm stand, wobei sich in der Erregung des
Gespräches der Busen hob und senkte, so daß ihr goldnes Kettchen am
offenen Halse funkelnd tanzte. Sein Auge wurde feucht, er zuckte
wehmütig die Achseln und schaute in die Blätter, halblaut murmelnd:

»Ich glaub' nicht mehr an Lieb' und Treue. Erzähl's nicht weiter! Denn
es ist eine Schande für mich, eine solche innere Leere verraten zu
müssen.«

Und ablenkend fuhr er fort:

»Komm, wollen doch einmal das Gespräch miteinander lesen! Bin
neugierig, wie das heute auf mich wirkt -- nach so langen Jahren und in
so ganz andrer Zeit!«

Und sie lasen.

Mit müder Stimme begann er die Rolle des armen Heinrich zu sprechen.
Fanny fiel ein, ohne in das Blatt zu schauen, und sprach mit Innigkeit
die Worte der Agnes. Und mehr und mehr gerieten beide in Ausdruck, in
Feuer, in tiefe Gemütsbewegung ...


                           ~Das Liebesopfer~

          Ein Gespräch zwischen Agnes und dem armen Heinrich
                  vor dem Hause des Arztes zu Salerno

~Heinrich.~ Hier ist das Ziel ... Hier wohnt der Arzt ... Sind
nicht deine Füße wund?

~Agnes.~ Herr, es ist ein Rosenblatt, das auf meine Sandalen fiel.
Und wären gleich meine Füße wund, sie schmerzen mich nicht.

~Heinrich.~ Sie schmerzen dich nicht, du gutes, geduldiges Kind!
Wie sollten dich wunde Füße schmerzen, da du so Großes zu erleiden
willens bist! Dich opfern zu lassen, damit ich gesund werde!

~Agnes.~ Seufzet nicht um meinetwillen, lieber Herr! Sehet, ich
bin nicht bange, ich will freudig mein Blut geben, damit Ihr gesundet.
Meine Mutter hat mir viel erzählt vom Christuskind, das auf die Erde
gekommen ist, um sich opfern zu lassen für die Menschen. Und sie hat
mir gesagt: Blut hat Heilkraft.

~Heinrich.~ Blut hat Heilkraft ... Hat sie dir das gesagt, liebes
Mädchen?

~Agnes.~ Ja, Blut und Tränen, hat sie gesagt. Ich hab's wohl nicht
verstanden, aber ich hab's behalten. Meine Mutter war gut und hat nie
gelogen. Doch hat sie viel geweint.

~Heinrich.~ Blut und Tränen ... Viel Blut hab' ich vergossen, doch
selber wenig Tränen. Viel getötet, doch wenig lebendig gemacht. Ritter
bin ich gewesen und habe dem Kampf und dem Genuß gelebt ... Und nun
will dieses holde Kind für mich sterben! Aus Mitleid! Aus Liebe für
einen kranken Menschen sterben! ... Nein, nein, das ist übermenschlich
... Nein, du holdes Kind, ich nehme dein Opfer nicht an! Ich will
nicht glücklich sein auf Kosten deines blühenden Lebens!

~Agnes.~ Mein guter Herr, ich bin eine arme, unwichtige Magd, Ihr
aber könnt noch Großes tun in der Welt.

~Heinrich.~ Und du etwa nicht? Kannst du nicht Gattin sein und
einen Mann beglücken? Kannst du nicht Mutter sein und Kinder aus deinem
reinen Blut und aus deiner reinen Seele nähren und als herrliche
Menschen der Welt schenken? Ist das nicht etwa groß?!

~Agnes.~ Euch nähr' ich mit meinem Blut und Euch mit meiner Seele
-- und so werdet Ihr ein herrlicher Mensch durch mich -- und ich
schenke Euch der Welt, lieber Herr! Seht, so bin ich Mutter und tue
Großes. Und habt Ihr mich nicht im Scherz oft Euer lieb traut Weib
genannt, weil ich Euch von ganzem Herzen gut bin? Seht, so bin ich
Gattin -- und bin Euch Schwester -- und bin dreifach glücklich. Ist das
nicht groß?

~Heinrich.~ O wie heilig ist eine Frau! Ich hab' es nie gewußt,
daß eine liebende Frau so heilig sein kann. Mir waren die Frauen
unheilig, denn sie lockten meine Begierden zutage. Du, Kind, machst
mich fromm! Mein herzlieb Schwesterchen, laß mich deine Hände küssen --
nein, den Saum deines Gewandes! Wenn du zu Gott kommst, bitte für mich!
Denn ich selbst bin unwert, mit Gott zu sprechen.

~Agnes.~ Wenn ich zu Gott komme, werde ich ihm erzählen, wie sehr
Ihr gelitten habt.

~Heinrich.~ Du bist schön, du bist geschaffen, einen Mann zu
beglücken, ich muß dich anschauen immerzu.

~Agnes.~ Ich beglücke einen Mann, denn ich beglücke Euch.

~Heinrich.~ Lockt dich nicht die Lust der Welt, du junges Blut?

~Agnes.~ Ich habe Hartes erlebt, und ich habe im Herzen viel
Schönes erschaut. Der Wald und die wilden Wasser sind voll von Stimmen;
in den Hütten unsrer deutschen Heimat ist viel Wundersames; und meine
Mutter erzählte mir von den großen Heiligen, die über die Gebirge
wanderten und die wunderbare Stadt Gottes suchten. Lieber Herr, die
Leute schelten mich wohl Träumerin, denn mich lockt nicht, was andre
lockt. Ich suche ein sehr Schönes, ein sehr Großes. Wollet mir nicht
die Pforte versperren, mein trauter Herr; wollet mir gestatten, daß
ich aus Liebe zu Euch diese Erde verlasse und heimkehre zu Gott.

~Heinrich.~ Kind, Kind, du überwältigst mich! Kind, schau' seitab,
denn in meinen Augen ist etwas, was ich seit Kindertagen nicht mehr
kannte: ~Tränen~! Ich möchte dich fragen, glaubst du denn an
deine unsterblichen Geister? Aber ich frage nicht, denn du lebst ja
mitten unter ihnen! Ich möchte dich fragen: siehst du sie denn, hörst
du sie denn? Aber ich frage nicht, denn ich schaue ja ihren Abglanz in
deinen Augen! Und so hat sich der Himmel auf dich herniedergelassen,
so steht der Himmel gestaltet und lebendig vor mir -- in ~dir~,
du fremdartig süße Jungfrau, du Kind, du Gattin, du Mutter, du meine
bräutliche Schwester Agnes! Siehe, das Wunder der Liebe! Dieses Mädchen
will sterben aus Liebe! -- Ich wußte bisher nur von einem Genuß aus
Liebe -- von Begehren, Ergreifen, Besitzen! Siehe das Wunder der Liebe!
Zum erstenmal eine Jungfrau, vor der ich betend in Staub sinke -- nicht
begehrend -- geheilt von Begierde -- besiegt!

~Agnes.~ Steht auf, mein teurer Herr! Nicht besiegen will ich
Euch, ich will Euch frei und gesund machen.

~Heinrich.~ Und du machst mich frei und gesund! Wie ich diesen
Mantel abschleudre, so schleudr' ich ab Trotz und Haß, Lust und Gier --
so werf' ich ab mein ganzes bisheriges Leben -- so werd' ich wieder ein
Kind wie du und fahre gereinigt von neuem in die Welt -- durch dich,
Agnes!

~Agnes.~ Da kommt der Arzt! O Ritter, es ziemt sich nicht, daß Ihr
mir geringer Magd die Hände küsset! ... Seht, der Arzt ist außer sich
vor Verwunderung! ... Wie sagt Ihr, ehrwürdiger Vater? Der Ritter wäre
-- dieser Ritter wäre -- genesen, sagt Ihr?! Mein Herr ist -- wieder
gesund?!

~Der Arzt.~ Ja, Mädchen, er ist wieder gesund! Durch dich ist
er gesund geworden: durch Gott, der in dir wohnt und der aus dir
gesprochen hat zu diesem Beladenen und Kranken! Nicht mehr brauchst du
nun zu sterben, liebes Kind, du darfst mit ihm leben. Siehe, in seinen
stillen Tränen fließt nun hinweg, was ihn krank gemacht hat. Nicht
nur Blut erlöst, auch die heilige Träne der Reue hat erlösende Kraft.
Daß er in reiner Reue weinen konnte, das hat ihn gesund gemacht. Und
du hast ihm die Träne geschenkt, du hast ihn erlöst, du holdes Herz,
dessen Liebe stärker ist als alle Sünden und Wunden der Welt.


Sie waren zu Ende.

Arnold hatte auch des Arztes Worte gesprochen. Seine Hand lag noch
segnend auf des Kindes lichtem Scheitel. So stand er ein Weilchen und
schaute bewegt in ihr seelenvolles, geradezu fromm und madonnenhaft
durchstrahltes Antlitz. Sie hatte, der Rolle entsprechend, die Hände
gefaltet und blickte zu ihm empor -- zu ihm, der hier Kranker und Arzt
zugleich war und mit feuchten Augen auf das holde Gebilde herniedersah.

Die Empfindungen, die zwischen Mann und Weib wie Strahlen hin und her
gehen, sind der Vernunft und dem Willen nicht erreichbar. Sie kommen,
sie sind da, sie wirken -- niemand weiß oder wird je wissen, wie es
geschah. Man mag sie beherrschen oder verbergen, aber die Tatsache
bleibt dieselbe. Und es kommt nun auf die sittliche Reife und seelische
Reinheit an, ob sie veredelnd wirken oder verheerend.

»Ich danke dir, Fanny«, sprach Arnold leise. »Immer wieder werde ich
den Weg gewiesen: den Weg der Liebe. Die schönste Darstellung hätte
mich nicht reiner beglückt. Kind, nun wollen wir aber Gustav nicht
vergessen. Sieh, du darfst ihm die Rolle des armen Heinrich nicht
zumuten. Er leidet schon genug unter dem Mitleid. Laß ihm diese edle
Scheu!«

»Du hast recht!« fiel Fanny ein, sofort seinen Gedanken erfassend.
»Nein, nein, sie sollen mir ihn nicht bemitleiden! Stolz soll er sein!
Ich dachte nur an dich und an die Überraschung, auch an meine eigne
schöne Rolle, und zu wenig an Gustav. Der liebe, liebe Gustav! Ich
laufe gleich zu ihm hinauf und bitt' ihn um Verzeihung.«

                   *       *       *       *       *

Es ziemt uns nicht, irre zu werden an einem Volke, das nach
vierjähriger, heldenhafter Geduld und meist siegreicher Gegenwirkung
panikartig zusammenbricht.

Vieles wirkt bei solchem Zusammenbruch einer Nation ineinander.
Nur schwächliches oder unedles Denken sucht nach einem einzigen
Sündenbock, dem man die gesamte Schuld aufbürden könnte. Wenige wissen
das Glück mit Maß und den Schmerz mit Würde zu tragen. Auch viele, sehr
viele Deutsche haben sich in den Herbsttagen 1918 erbärmlich benommen.

Bulgarien, Türkei und Österreich, unsere bisherigen Verbündeten, lagen
entmannt, entwaffnet, wehrlos am Boden.

Nun kam die Reihe an uns. Es war kein Heldenstück mehr, das
eingeschnürte Volk zur Übergabe zu zwingen. Nicht durch Waffensieg
hat Frankreich vermocht, die Deutschen vom französischen Boden und
aus Elsaß-Lothringen zu vertreiben. Nicht einmal mit Hilfe seiner
Verbündeten. Das bleibt eiserne Tatsache. Die deutsche Westfront wich
langsam, aber unbesiegt.

Einem solchen Heere hätte man, gleich einer tapferen Besatzung,
großherzige Bedingungen gestatten können. So war's Brauch, so lange die
Menschheit Kriegsgeschichte schreibt.

Aber der Waffenstillstand wurde unmenschlich schmachvoll. Und der
November 1918, an dem der französische Generalissimus unserem Heer
solche Bedingungen aufzwang, bleibt eingebrannt in die Chronik der
Weltgeschichte und in das Schuldbuch Frankreichs.

»Sofortige Räumung von Belgien, Frankreich und Elsaß-Lothringen binnen
vierzehn Tagen.

»Abzugeben 5000 Kanonen, 30000 Maschinengewehre, 3000 Minenwerfer, 2000
Flugzeuge.

»Räumung des linken Rheinufers; Mainz, Köln, Koblenz besetzt vom Feinde.

»5000 Lokomotiven, 150000 Wagen, 10000 Kraftwagen abzugeben.

»Im Osten Truppen hinter die Grenze vom 1. August 1914 zurückzunehmen.

»Verzicht auf die Friedensverträge von Brest-Litowsk und Bukarest.

»Rückgabe der Kriegsgefangenen, doch ohne Gegenseitigkeit.

»Abgabe von 100 =U=-Booten, sechs Dreadnoughts, acht leichten
Kreuzern; die übrigen Schiffe entwaffnet und überwacht.

»Blockade bleibt bestehen; deutsche Schiffe dürfen weiter gekapert
werden ...«

»... Hündisch!« rief Gustav, als er die Zeitung in zitternden Händen
hielt. Die Zornröte schlug dem Unteroffizier, der für sein Vaterland
nicht mehr kämpfen konnte, in das blasse Gesicht. »Schamlos! Schamlos!
Lassen unsere Frauen und Kinder weiterhungern, machen geordnete
Heimführung unmöglich, wissen genau, daß man in vierzehn Tagen
den Riesenapparat von drei Millionen Mann nicht heimführen kann,
entwaffnen, knebeln uns, behalten unsre Gefangenen -- -- und das
unterzeichnen unsre deutschen Vertreter?! Braust denn nicht eine letzte
Zornflamme durch das ganze deutsche Volk?!«

Nein. Es brauste keine letzte Zornflamme durch das deutsche Volk: denn
es war bereits von innen zersetzt.

Zwei Tage vor Abschluß des Waffenstillstandes war in Deutschland die
Revolution ausgebrochen. Und mit der unheimlichen Schnelligkeit des
neuzeitlichen Drahtverkehrs hatte sie sich innerhalb weniger Tage, ja
Stunden sämtlicher deutscher Städte bemächtigt. Hagens Speer war wieder
einmal in Siegfrieds Rücken gefahren. Das alte deutsche Trauerlied!
Parteiwut war mächtiger als die hier allein rettende oder mildernde
einmütige völkische Zornflamme. Als Schillers und Luthers Geburtstag
über die deutsche Erde ging, lag Bismarcks Reich von außen zerhämmert,
von innen unterhöhlt als Trümmerhaufen am Boden.

In Kiel begann es. Die deutsche Marine hatte sich durch einzelne
Heldentaten und kühne Fernfahrten ausgezeichnet. Im ganzen hatte sie
weniger Blut gelassen als die Kameraden an den Landfronten. Um so mehr
Muße war für Zersetzungsarbeit durch Schriften und Flugblätter des
Umsturzes. In jenen Herbsttagen sollte die deutsche Flotte durch einen
Vorstoß in den englischen Kanal die flandrische Nordfront entlasten.
Die Mannschaft meuterte. Die Bewegung dehnte sich auf Kiel aus; die
Stadt wurde besetzt; auf den behördlichen Gebäuden wehte die rote
Flagge; ein sozialdemokratischer Abgeordneter flog im Luftschiff heran
und übernahm die Leitung. Nach russischem Vorbild wurde die Revolution
ins Werk gesetzt, wie es kurz zuvor auch in Österreich geschehen war.
Ein Arbeiter- und Soldatenrat trat an die Spitze; der Stadtkommandant
wurde bei seiner Weigerung, sich abführen zu lassen, erschossen.

Und Ähnliches geschah in Hamburg. Die Bewegung griff nach Berlin über,
wohin bewaffnete Matrosen zogen. In allen Städten sah man einzelne
Matrosen auftauchen, schüren und führen -- und nach derselben Formel
waren über Nacht rote Fahnen gehißt, rote Maueranschläge zu lesen, die
wichtigsten Gebäude besetzt, sämtliche deutsche Fürsten entthront. Das
überraschte Bürgertum sah dem Treiben schweigend zu, erschöpft vom
langen Kriege, betäubt vom unerhörten Waffenstillstand -- noch mehr
betäubt, daß es deutschen Brüdern möglich war, in solchem Augenblick
dem kämpfenden Vaterland in den Rücken zu fallen.

Eine Partei, die seit Jahrzehnten planmäßig auf den Umsturz
hinarbeitete, die sich nicht in das Reich mit eingefügt hatte,
deren Abgeordnete fluchtartig den Saal zu verlassen pflegten, wenn
das Hoch auf den Kaiser ausgebracht wurde -- diese Partei wählte
diesen Augenblick, um ihre freiheitlichen Ideale durchzusetzen. Es
fiel niemanden ein, ihr den Sieg streitig zu machen. Man sah zu,
wie auf den Straßen den Offizieren die Achselklappen abgerissen
wurden, wie das soldatische Grüßen mit einem Schlage aufhörte; ja
die Aufrührer rühmten sich, daß sie seit Monaten Fahnenflüchtige und
Drückeberger organisiert, mit falschen Papieren ausgestattet und mit
Aufklärungsschriften zur Werbearbeit umhergesandt hätten. Und so waren
es denn auch besonders wohlgefütterte und gut bezahlte Helden der
Etappe, die nach Kundwerdung des Waffenstillstandes sinnlos flohen,
wobei zu Schleuderpreisen Wehr und Waffen an die Belgier verkauft
wurden. Die Männer der Front freilich, die dem Tod ins Auge geschaut
hatten, blieben treu und tapfer bis zum letzten bittern Schluß, in
fester Haltung vom Schlachtfeld abrückend ...

Und der Kaiser des Bismarckschen Reiches? Jener Kaiser, der vor
achtundzwanzig Jahren als junger Regent den Reichsschmied, zur
schmerzlichen Überraschung des deutschen Volkes, kurzerhand entlassen
hatte? Man war auf seine freiwillige, großzügige Abdankung gleich
nach Wilsons erster Antwortnote gefaßt. Allein der letzte Hohenzoller
zauderte. Durch Zugeständnisse an die Demokratie glaubte man die
Regierung verhandlungsfähig zu machen. Doch die Antwort von drüben
verzögerte sich, die deutschen Nerven versagten mehr und mehr, die
Zersetzung griff um sich -- und der Kaiser, der sich unter seinen
Deutschen nicht mehr sicher glaubte, floh nach Holland. Desgleichen der
Kronprinz. Beide entsagten dem Thron.

Ein Fels im Meere stand noch Generalfeldmarschall Hindenburg. Sein
Generalstabschef Ludendorff hatte schon Wochen zuvor von seinem
Platze weichen müssen: Ludendorff, der mit eiserner Willenskraft auch
innerpolitisch die Reichsregierung zu stärken versuchte, Ludendorff,
der freilich die Bitte um Waffenstillstand aussprach, aber ein so
unerhörtes Abkommen wohl niemals unterzeichnet hätte. Mit der ihm
eigenen monumentalen Ruhe, wenn auch blutenden Herzens, wandte sich der
allverehrte greise Feldmarschall in jenen Tagen des Zusammenbruchs noch
einmal an sein Feldheer, nicht mehr zum Kampf ermunternd, nur noch zur
Pflichttreue:

»Der Waffenstillstand ist unterzeichnet worden. Bis zum heutigen Tage
haben wir unsre Waffen in Ehren geführt ... Bei der wachsenden Zahl
unsrer Gegner, bei dem Zusammenbruch der uns bis an das Ende ihrer
Kraft zur Seite stehenden Verbündeten und bei den immer drückender
werdenden Ernährungs- und Wirtschaftssorgen hat sich unsere Regierung
zur Annahme harter Waffenstillstandsbedingungen entschließen müssen.
Aber aufrecht und stolz gehen wir aus dem Kampfe, den wir über vier
Jahre gegen eine Welt von Feinden bestanden. Aus dem Bewußtsein, daß
wir unser Land und unsere Ehre bis zum äußersten verteidigt haben,
schöpfen wir neue Kraft. Der Waffenstillstandsvertrag verpflichtet
zum schnellen Rückmarsch in die Heimat -- unter den obwaltenden
Verhältnissen eine schwere Aufgabe, die Selbstbeherrschung und treueste
Pflichterfüllung von jedem einzelnen von euch verlangt, ein harter
Prüfstein für den Geist und den inneren Halt der Armee. Im Kampfe habt
ihr euren Generalfeldmarschall niemals im Stiche gelassen. Ich vertraue
auch jetzt auf euch.«

Und das Frontheer machte seinem Hindenburg Ehre. In musterhafter
Ordnung marschierten die Massen Tag für Tag nach Deutschland zurück. Es
war ein ernstes Wandern in abgeschabtem Waffenrock, ein ernstes Reiten
auf hageren Gäulen, nicht vergleichbar dem einst so glänzenden Auszug
in jenen blumenreichen Hochsommertagen, als die singenden Truppenzüge
nach Westen und Osten rollten ...

                   *       *       *       *       *

Auch Gustav erhielt in diesen Tagen seine Entlassung.

Er weilte zu diesem Zweck in Straßburg.

Seit dem siegreich beendeten Zusammenstoß mit dem Hauptmann waren seine
Nerven in einer erstaunlichen Spannung. Er schien völlig genesen.
Es war ihm ein Bedürfnis, Menschen aufzusuchen, erregt mit ihnen zu
plaudern und sie mit seinen Plänen zu unterhalten. Aber dem genauen
Beobachter konnte nicht entgehen, wie sehr ihn jenes Erlebnis in den
Tiefen aufgewühlt hatte.

Als seine Papiere geordnet waren, steckte er sich gleich bei einem
studentischen Freunde am Schiltigheimer Ring in bürgerliche Kleidung.
Dann wanderten sie durch den Contades mit seinen nunmehr unbelaubten
Riesenplatanen in die nervös lebendige Stadt.

Sieh da: zwei Plakate werben um Aufmerksamkeit! Schwarz-weiß-rot das
eine umrandet: »Elsässer, denkt daran, daß ihr deutschen Stammes
seid! Wollt ihr euch einem fremden Volke ausliefern, das euch weder
achtet noch liebt?« Daneben jedoch, in blauem Drucke, zweisprachig:
»=L'heure de la liberté a sonné=« -- o weh! Und am Schluß:
»=Vivent la France et l'Alsace-Lorraine réunies à jamais!.=«

Ja, da war er wieder, der unglückselige Zwiespalt, der das Elsaß zerriß!

Und daneben ein roter Zettel, die beiden andren überleuchtend: »An die
Bürgerschaft der Stadt Straßburg! Wie in allen anderen Städten hat sich
auch in Straßburg ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet. Er hat die
öffentliche Gewalt in seine Hand genommen. Die bisherigen reaktionären
Mächte sind abgesetzt ...«

Die beiden Freunde wandern nach dem Kleberplatz. Sie sehen die Menge
mehr und mehr anschwellen; französische Sprache wird lauter und kecker,
oft im Munde von Gassenjungen, die kaum ein paar Worte können. Überall
eifriger Redetausch; etwas wie Hohn und Haß, das zutage drängt. Eine
Gruppe summt um das Kleberdenkmal; es wagen sich Rufe heraus: »=Vive
la France!=« Einige Jungen klettern empor und hängen dem General
einen Lorbeerkranz um die Schulter, schieben ihm zwei blau-weiß-rote
Papierlaternen in die Hände. Und da und dort tauchen in frecher Haltung
bereits Burschen auf, die im Knopfloch blau-weiß-rote Rosetten tragen
... Es gärt und brodelt in Straßburg ... Kraftwagen mit roten Fähnchen
rattern durch die Stadt. Am Münster weht die rote Fahne.

Der letzte Statthalter, vor kurzem noch ein glänzender, um die Stadt
hochverdienter Bürgermeister, hat sich zurückgezogen; die Offiziere
im Gouvernement bauen ihre Tätigkeit ab. Trotzendorff sucht bis
zuletzt zu retten, was zu retten ist. Diese Revolution ist kein
Gewaltereignis, kein Gewitter; man bemerkt sie von außen wenig; sie ist
der gleichzeitigen tückischen Grippe vergleichbar und verbreitet sich
mit der unheimlichen Schnelligkeit und Unfaßbarkeit einer Seuche. Wer
regiert eigentlich? Man weiß es kaum. Unbekannte von gestern!

Noch duckt sich der kleine französisch gesinnte Teil der Straßburger
Bevölkerung. Die revolutionäre Regierung verbietet das Tragen von
Landesfarben. Doch Geduld! Nächste Woche ziehen die Franzosen ein! ...

Und dann?

Gustav und sein Freund wandern bangen Gemütes am Kaiserplatz entlang.
Sie kommen an das Kaiser-Wilhelm-Denkmal: das bronzene Reiterstandbild
ist durch ein häßliches Holzgerüst verdeckt; auch der tote Kaiser
ist also abgesetzt! Einige elsässisch und französisch redende junge
Leute stehen davor und ermuntern sich offenbar wechselseitig in einem
zunächst scherzhaft hingeworfenen Plan, der aber ekle Wahrheit werden
sollte. »M'r hole 'ne 'runter!« versteht Gustav. Und jäh erschrickt
er und nimmt seinen Freund unter den Arm, gleichsam Schutz suchend:
denn da steht ja wahrhaftig auch der Apotheker, rund und vergnügt, in
flottem bürgerlichem Kleid! »Die sind vom =Cercle des étudiants=«,
wirft Gustavs elsässischer Begleiter verächtlich hin; »komm, sonst
kribbelt's mich, einem oder dem andren den Stock über den Schädel zu
hauen. Das kriecht jetzt wieder aus allen Löchern heraus und über die
Grenze herüber!«

Sie entfernen sich raschen Schrittes. Gustavs Herz pocht zum
Zerspringen. Jetzt wird auch Georges Bieler bald wieder im Lande sein!
Herr im Himmel, nur fort aus dem Elsaß! Hier wartet ja überall die
Hölle!

In der Kaiser-Friedrich-Straße holt sie ein befreundeter Arzt ein.
»Woher? Wohin?« fragt man sich. -- »Ich? Das werden Sie schwerlich
erraten. Ich habe mir eben vom Arbeiter- und Soldatenrat eine Wache
vors Haus erbeten. Man hat mich bedroht, und ein Anschlag ist mir
verraten worden.« -- »Aber Sie sind doch Alt-Elsässer?!« -- »Gewiß!
Mein Verbrechen ist unser Telegramm an Wilson oder meine deutsche
Gesinnung. Sie glauben nicht, was für ein gemeiner Haß in den Tiefen
unsres Volkes schwelt -- nicht ehrlicher, nicht begründeter, nein,
heimtückischer Haß, Freude am Gemeinen als solchem! Bei unseren Feinden
entlädt sich dieses Gift gegen Deutschland schon lange; auch der
Waffenstillstand ist ja von niedrigstem Haß diktiert. Bei den Roten
bekundet er sich im Haß gegen die Reichen. Und hier in Straßburg wirkt
beides zusammen. Die Welt ist krank an der Haß-Grippe. Und wir haben
keinen Spezialisten für diesen unheimlich schweren Fall ...«

So häuften sich die Erfahrungen in Straßburg.

Gustav eilte wie gehetzt nach Lützelbronn zurück. Ihn überkam eine
ungeheure Angst. Nur jetzt fort! Aus dem Elsaß fort! Aber -- -- nach
Heidelberg? War denn nicht auch dort Revolution?

Zu Hause erfuhr er von der verstörten Lisy, daß dem Pfarrer Drohbriefe
aus dem eigenen Dorfe zugegangen waren: man werde ihn noch totschlagen,
ehe er das Dorf verlasse.

Dann kam ein Lehrer aus dem hinteren Vogesental durchgewandert; seine
Gattin stammte aus Altdeutschland. Auch er war im Begriff, zu seiner
bereits in Sicherheit gebrachten Familie über den Rhein zu flüchten.

»Und stellen Sie sich vor,« berichtete er bekümmert, »ich war Soldat,
ließ mein Schulhaus im Schutz der Gemeinde zurück -- und wie find'
ich's wieder? Meine kostbare Bücherei beschmutzt und zerfetzt, meine
einzigartige Briefmarken- und Schmetterlingsammlung gestohlen,
meine Möbel und Bilder verschandelt! So verdirbt man mir mein sauer
verdientes Eigentum! Als ein halber Bettler zieh' ich jetzt über
den Rhein, ich, ein deutschgesinnter Elsässer! Merken Sie aber die
Hauptsache: es war ~deutsche~ Einquartierung, die mir das angetan
hat!«

Der Mann schied von seiner Heimat, in seinem Rucksack etliche
Habseligkeiten davontragend, um sich jenseits des Rheines ein neues
Leben zu zimmern. Viele sollten ihm noch folgen ...

Und nun marschierten heimziehende Soldaten durch Lützelbronn, tapfre
Mannschaften, die bis zuletzt ihre Stellungen in den Südvogesen
verteidigt hatten.

Unter ihnen tauchte ein Leutnant auf, der mit Gustav von der
Universität her bekannt war.

»Ach, Freund, Freund,« rief der gutherzige Schwabe mit Tränen in
den Augen, als er seinem gepreßten Innern Luft machte, »kein Neckar
und kein Rhein waschen diese Schmach von Deutschland ab. Ich habe
nächtelang nicht geschlafen. Meine Mutter ist Tirolerin. Und nun hocken
die italienischen Katzelmacher in jenen herrlichen Bergen! Südtirol von
der Salurner Klause bis zum Brenner ist seit Beginn des Mittelalters
von Deutschen bewohnt. Die Bevölkerung hat einstimmig erklärt, nicht
von Nordtirol abgetrennt werden zu wollen. Dennoch, diesem klaren
Entschluß und dem Wilsonschen Programm zum Trotz, hausen jetzt dort die
Italiener, denken Sie sich, und wollen das Land bis zum Brenner von uns
losreißen, gut deutsches Land, das ich durch meine Mutter lieb habe wie
mein Heimatland! Und über München regiert ein Galizier! Diesen Unfug
lassen sich die derben Bayern gefallen! Und überall in diesem Elsaß so
viel Gehässigkeit -- es erwürgt mich, Freund! ... Ach, das liebe Elsaß!
Seit Mai 1915 bin ich hier an der Front. Ich hab' euer Ländle unendlich
liebgewonnen. Und mehr als das: ich hab' ein wundervolles, reines Mädle
hier gefunden, das mich lieb hat. Aber ich bin halt evangelisch -- und
sie ist katholisch. Wir haben uns trotzdem ewige Liebe geschworen,
obschon ihr Pfarrer -- ein übrigens wahrhaft guter Mann -- seine
Bedenken hat. Was dieses Weib mir in all den schweren Seelenkämpfen
gewesen ist, kann ich nicht in Worte fassen. Gestern hab' ich ihr ade
gesagt. Ich werde dieses Gesicht und diese Tränen nie vergessen. Sie
ist der Kirche gehorsam; sie will bleiben. Aber sie weiß -- sobald sie
zu mir nach Stuttgart kommt, ist sie vor Gott und Menschen meine Frau.
Ich dränge sie nicht; ich hab' kein Wort über die Lippen gebracht;
Kuß und Tränen war alles. Nennen Sie mich weichlich, lieber Freund,
meinthalb, aber -- es ist halt zu viel, gar zu viel, was jetzt auf ein
treues deutsches Herz einstürmt!«

So kummervoll schied dieser Schwabe, der letzte der vielen deutschen
Soldaten, die während des vierjährigen Weltkrieges im Pfarrhause von
Lützelbronn Einkehr gehalten hatten.

Unmittelbar nachher war auch Gustav verschwunden.

Fanny kam herüber und brachte einen zornflammenden Brief Erwins;
sie legte ihn schweigend auf Onkel Arnolds Tisch. Der wunde Krieger
in seinem fernen Lazarett war empört über all die Vorgänge; und er
schrieb betrübt, daß er nun allein liege, voll Weh um das Elsaß, voll
neuerwachter Sehnsucht nach Fanny und den Freunden, mutterseelenallein,
trotz der vielen Leute um ihn her -- denn der Sonnenschein sei auch aus
diesem Hause verschwunden, wie aus der ganzen Zeit: Dirk und Hertha
seien nach ihrer westfälischen Vaterstadt abgereist.

Eine Weile stand Fanny am Fenster und schaute den abziehenden deutschen
Truppen nach. Marschierende Männer, endloses Fuhrwerk, bis in die
beginnende Nacht, ausgestoßen vom Elsaß, eingeschluckt vom inneren
Deutschland ... Wasser, die sich verliefen ...

Dann fragte sie nach Gustav. Aber er war nirgends zu finden.

Man wartete, ward unruhig, fragte in der Nachbarschaft umher; man lief
auf seine nächsten Lieblingswege hinaus und rief seinen Namen.

Endlich kam Fanny auf den Gedanken, in seinem Studierzimmer genauer
Umschau zu halten.

Es lag deutlich sichtbar ein Brief auf dem wohlgeordneten Schreibtisch.
»An meine Lieben«, stand auf dem Umschlag. Mit bebenden Knien öffnete
die Braut, las den Inhalt und sank mit einem Wehlaut zu Boden.

Der Brief enthielt nur die wenigen Worte:

  »Ich kann das Schreckliche nicht ertragen, das über mein deutsches
  Vaterland und über mein armes Elsaß hereingebrochen ist. Sucht mich
  im Teich und begrabt mich im Birkenwäldchen!

                                           Euer unglücklicher Gustav.«

                   *       *       *       *       *

Auf der Höhe des herbstlich leeren Gartens standen die blätterlosen
Birken weiß und still.

Man schaut von dort weit hinaus in das elsässische Land.

In diesem Birkenwäldchen grub man Gustavs Grab.

Das Kreuz darauf war gleichfalls aus lichtem Birkenholz. Die runde
Holztafel in der Mitte, nach Art der Kriegergräber, enthielt nur Namen
und Datum.

Das Grab war von Kränzen, Blumen und Immergrün gänzlich zugedeckt. Ein
Stechpalmenkranz -- ein Dornenkranz -- hing am Kreuz. So lag dieser
Tote, den sie aus den Wasserrosen emporgezogen hatten, allein und
abseits, wie er im Leben scheu und einsam gewesen war.

Fanny war in einem furchtbaren Zustand. Sie weinte nicht, sie sprach
nicht. Sie irrte wie ein Schatten umher oder schloß sich ein. An nichts
mehr legte sie Hand an; für nichts mehr hatte sie Teilnahme. Kaum aß
sie das Nötige auf ihrem Zimmer.

Die Bewohner von Lützelbronn waren erschüttert; auch die ungünstig
gesinnten Dörfler verkrochen sich beschämt. Viel ehrliche Teilnahme
wagte sich zum Abschied heraus und gab sich in unbeholfenen Worten und
manchem Händedruck dem Pfarrer kund, der in einer ergreifenden Grabrede
seinen Schmerz entladen hatte.

Schon war der Möbelwagen abgefahren; Arnold selbst wollte am nächsten
Morgen folgen. Fanny hatte auf Lisys besorgte Frage, was sie zu tun
gedenke, nur mit wegwerfender Handbewegung und bitter gekräuselten
Lippen kurz geantwortet: »Ich bleib', wo ich bin -- oder geh' zu
Georges nach Frankreich!« Mehr war aus ihrem verschlossenen, ja
verkrampften Zustand nicht herauszubringen. Man sah nur, daß sie
entsetzlich litt.

Arnold hatte nach seiner Gewohnheit das schauerliche Erlebnis in der
Stille verarbeitet. Jetzt wollte er versuchen, Fanny vor dem Äußersten
zu bewahren. Man fürchtete ernstlich für ihren Verstand. Er ging ihr
nach. Aber sie war bisher jeder Unterredung ausgewichen.

An jenem letzten Abend jedoch traf er sie im Birkenwäldchen an seines
Sohnes Grab. Wieder suchte sie mit nervöser Hastigkeit zu entfliehen.
Doch er trat ihr in den Weg, breitete beide Arme aus und bat in so
schlichten, zu Herzen gehenden, eindringlichen Worten, ihm endlich
zu gestatten, ihr wenigstens in der Stille Ade zu sagen, daß sie mit
hängenden Armen vor ihm stehen blieb, wie ein gefangenes Wild.

»Sieh, Fanny,« sprach er, und der ganze Schmerz der letzten Tage
zitterte noch in der Stimme nach, »so dürfen wir beide nicht
auseinandergehen. Willst du denn auch mich zusammenbrechen sehen,
wenn du dich so gegen mich verstockst und verbitterst? Ich habe
keine Tränen, so wenig wie du. Wo soll man denn anfangen zu weinen
-- und wo aufhören? Zwischen euch beiden Kindern zu wandern, das war
meines Lebens letztes Glück und einzige Freude. Und jetzt? Heimat
und Kinder sind mir genommen. Und das Deutschland meiner Liebe dazu!
Denn das Deutschland, in das ich jetzt auswandre, ist nicht das Land
meiner Liebe. Ich bin grauenhaft einsam. Und doch -- mein Leid um die
Menschheit ist noch größer. Und ich würde tausend Opfer bringen, wenn
ich nur der Menschheit helfen könnte.«

Fanny hatte sich auf ein Bänkchen gesetzt. Sie fröstelte, zog den
Lodenmantel um die Schultern, stützte das Köpfchen in beide Hände und
starrte schweigend vor sich hin.

Wie im Selbstgespräch fuhr der Pfarrer fort, dem es Wohltat war, sich
durch Aussprache zu erleichtern.

»Es ist mir wie ein schwerer Traum, daß ich da vorgestern gestanden,
im schlichten Rock, und meinem Sohn die Grabrede gehalten habe. Mein
letzter Gottesdienst im Elsaß! Was für ein Abschluß! Dort die Leute
-- und vom Turm kein Glockenklang! Und der Text aus Jeremias: O Land,
Land, Land, höre des Herrn Wort! Mit Posaunenstößen möcht' ich's der
ganzen Westmark ins Herz dröhnen: O Land, Land, Land, höre des Herrn
Wort! Elsaß, du hast die Liebe verloren! Menschheit, du hast keine
Liebe mehr!«

Er atmete heftig, ging hin und her und blieb wieder vor Fanny stehen,
doch gleichsam in sich hineinsprechend.

»Sieh, Fanny, ich habe zu Saarburg in Lothringen auf dem Schlachtfeld
ein Christusbild gesehen, das mir tiefen Eindruck gemacht hat. Das
Kreuz ist zerschossen, der Heiland scheint frei in der Luft zu schweben
und die Arme auszubreiten über das Weh der Welt. Segnet er? Flucht
er? Ach, Fanny, wir wollen groß sein, wir wollen es dennoch als Segen
deuten und nicht als Fluch. Denn aus diesem grenzenlosen Haß ~muß~
ja doch, ~muß~ eine neue Liebe kommen. Sie muß kommen, denn wir
verhungern sonst auch seelisch, wie wir leiblich ausgehungert sind.«

Wieder ging er hin und her, seine Gefühle und Gedanken waren jetzt in
mächtiger Bewegung, lösten sich und drängten hinaus. Er rang schweren
Atems die Hände und blieb vor dem geschmückten frischen Grabhügel
stehen. Der Herbstabend dunkelte; weit irgendwo her aus hohen Lüften
klang der Schrei der Wandergans. Eine unendliche Wehmut schwoll über
des Vaters Herz.

»Ja, mein Sohn, mein lieber, lieber Sohn,« sprach er, mit Tränen
kämpfend, »ich will dennoch, dennoch nicht irre werden im Glauben
an das Gute, an das Göttliche hier auf Erden, wenn auch deine liebe
Seele zusammengebrochen ist. Ich will trotz dieser Niederlagen, die
Deutschland und die ich persönlich erlitten habe, die Waffen an ein
neues Geschlecht weiterzugeben versuchen. Das gelob' ich dir hier an
deinem Grabe. Dir ist kein Heldentod draußen bei deinen Brüdern auf dem
Schlachtfeld beschieden gewesen; im Nebel, einsam und verirrt, hast du
dich von uns fortgeflüchtet. Gott wird deine Seele wiederherstellen --
--«

Seine Stimme brach. Die Wohltat der Tränen ward ihm zuteil. Er tastete
nach Fannys Hand und hielt sie fest. Sie zuckte auf, kämpfte eine Weile
mit sich selbst und stieß plötzlich hart, heiß, aus gequälter Brust die
Worte heraus: »Ich kann nicht weinen wie du -- und will nicht weinen
-- und will nicht beten -- und will nicht an Gott glauben -- und an
nichts. Geh nur, Onkel Arnold! Laß mich allein -- auch du!«

Sie riß die Hand los und sprang auf. Aber in ihrem leidenschaftlichen
Herzen begann es zu tauen. Sie hatte die Rede wieder gefunden. Mit
heißen, trockenen Augen starrte sie ins Leere. Und ein angestauter,
zorniger Schmerz ergoß sich in wilde Anklagen gegen Gott und Welt, und
vor allem in Verwünschungen gegen Deutschland.

»Nein, an nichts mehr glaub' ich -- an nichts! Am wenigsten an euer
Deutschland, an das er so geglaubt hat. Diese würdelose Nation, die
erst mit dem Säbel rasselte und jetzt um Frieden winselt! Läßt sich
von hergelaufenem Gesindel regieren! Wieviel brave junge Menschen
liegen tot -- und Lumpenpack regiert! Ist das euer Deutschland? Nein,
nein, ich will nichts hören von biblischen Redensarten und Land,
Land! -- Alles falsch! Ich fahre nach Frankreich zu Georges -- ich
bleibe bei Georges! Der nimmt die Welt, wie sie ist, der hat mir nie
idealistische Phrasen vorgelogen wie ihr! Jetzt zeigt sich's, daß er
recht hat! Die Franzosen sind Sieger -- und ihr unfruchtbaren Träumer
und Phrasendrescher seid zusammengebrochen! Nein, ich will nicht zu den
Deutschen. Wie unstolz sind diese Leute, beschimpfen ihren Kaiser, sind
feig und schieben die Schuld auf diesen Sündenbock ab! Wie grundgemein!
Wo ist denn da Liebe? Wo Vornehmheit? Wo Ehrgefühl? Wo, wo, wo?! Das
hat diesem guten Gustav das Herz gebrochen! Das allein! Ihr Deutschen
habt ihn umgebracht!«

So entlud sich das leidenschaftliche Kind.

»Großer Gott, ja,« seufzte der Pfarrer, »ich kann dir nicht
widersprechen, Fanny. Wo aber mögen Liebe und Ehre hingezogen sein?
Etwa nach Frankreich, zu den schwarzen und braunen Völkerschaften, die
man gegen uns herangehetzt hat? Und war denn nicht auch Gustav ein
Deutscher?«

»Nein! Ein Elsässer!«

»Hat er nicht Schulter an Schulter mit deutschen Kameraden den
gemeinsamen Feind bekämpft?«

»Weil er mußte! Innerlich ein Abgrund! Er war immer einsam, weil
er zu vornehm war. Er hatte dich und mich -- ach, und selbst uns
kaum -- er hatte kein Volk, kein Vaterland. Er ist nur auf die Erde
gekommen, um zu leiden. Und auch ich habe ihn nicht erlösen können --
und niemand! Ach, die ganze Menschheit ist voll Gift und Galle und
niedriger Gesinnung. Am meisten aber Deutschland. Und Deutschland ist
am schuldigsten, denn es hat immer die größten Phrasen gemacht von
Idealismus und deutschem Gemüt und gar von der berühmten deutschen
Treue! Treue? Hahaha! Ich lache! Ich geh' nach Frankreich, werf' mich
dem ersten besten -- -- nein, ich geh' in die Lazarette und pflege
Franzosen gesund, daß sie wieder schießen können -- auf Deutschland!«

»O Fanny, Fanny! Also Revanche? Rache? Auch du?! Und hast du dann den
Vorrat von Liebe und Güte in der Welt vermehrt? Glaubst du, daß deine
Absicht im Sinne des grundguten Menschen ist, der hier unter dem Rasen
liegt?«

»Grundgut, ja, das war er!« Es klang weicher, wie von einem
Aufschluchzen begleitet. »Gut war er. Ach, Onkel Arnold, da liegt der
letzte gute Mensch begraben. Ja, gut, gut! Und ich bin schlecht genug,
keine Tränen zu finden. Ach Gott im Himmel droben, gib mir Schlaf,
gib mir Tränen und Gebet -- denn ich halt's nimmer aus! Ich werde
wahnsinnig!«

Sie schrie fast vor Schmerz und preßte beide Schläfen. Arnold legte ihr
sanft die Hand auf die Schulter.

Jetzt fühlte er den Augenblick gekommen, wo ihr Inneres zugänglich
wurde.

»Fanny, ich hab' einen letzten Gruß von ihm an dich.«

Er zog ein Blatt hervor. Sie fuhr auf.

»Etwas Geschriebenes? Hat er noch etwas hinterlassen?«

»Ein unvollendetes Gedicht --«

»Gib, gib!«

»Darf ich dir's vorlesen? Es ist kaum noch hell genug. Doch komm, wir
setzen uns hier ans Grab. Morgen früh fahr' ich nach Heidelberg. Du
bist die Letzte, mit der ich mich aussprechen wollte. Lisy soll mich
nicht begleiten; sie spricht geläufig Französisch und wird sich auch
unter fremder Besetzung mit ihren geliebten Kranken zurechtfinden. Dich
aber wollte ich nicht in solcher Bitterkeit zurücklassen. Und erst
recht nicht will ich dich bereden, mich etwa zu begleiten, du hast ja
deinen Entschluß bereits gefaßt -- --«

»Lies, lies!«

Und er las im letzten Dämmerlicht mühsam seines Sohnes letztes Gedicht:

      »In schwerer, zuckender Stille der Nacht,
      In ferner Kriegsgewitter Glut,
      Mein Elsaß, wie hab' ich an dich gedacht,
      Mein Elsaß, wie innig war ich dir gut!
      Bin ich dein Sohn und darf dich besingen?
      Oder trennt mich mein Wandern und Ringen?
      Ich zog nach Deutschland, um das zu erfangen,
      Was mir die Stimmen der Deutschen sangen:
      Ward ich ein Fremder und weniger echt,
      Weniger echt als ihr seßhaften andern?
      Hab' ich im suchenden Sehnen und Wandern
      Jemals verleugnet mein heimisch Geschlecht,
      Jemals vergessen mein Land am Rhein? ...
      Also hab' ich, im Donner der Schlacht,
      Deutsche Westmark, an dich gedacht,
      Elsaß, umschimmert von Jugendschein!
      Ich grüße dich -- und weiß mich dein!
      Ich grüße dich, mein Glockenland,
      Mein wetterumsprühter Wasgaurand,
      Wo auf den Hügeln, herbstlich still,
      Mancher Kirchhof mich mahnen will,
      Daß einst auch mir nach Wanderns Frist
      Elsässische Scholle beschieden ist -- --«

Hier schlug Fanny jäh die Hände vors Gesicht und rief kurz und wehvoll
hinaus:

»Ach nein, nein, Gustav, nicht einmal ein Kirchhof! Du armer, armer
Mensch!«

Sie schluchzte auf. Und Arnold las weiter, langsam, soweit es
heranrückende Nacht und herabrinnende Tränen noch gestatteten:

      »Ich grüße dich! Dort bin ich erwacht,
      Dort hab' ich der Mutter ins Auge gelacht,
      Dort hat mich der Vater ins Feld geführt,
      Erste Liebe hab' ich gespürt
      Und habe gefunden die süße Braut -- --

Hier bricht es ab, Fanny. Dir also galt sein letztes Wort ...«

Der Pfarrer schwieg. Fanny lag auf Gesicht und Händen und weinte
herzbrechend, geschüttelt, gestoßen vom ungeheuren Schmerz, der nun
in Sturzwellen über das unglückliche Kind hinwegbrauste. So saßen
sie nebeneinander, beide ihren Tränen anheimgegeben, indes die Nacht
herabsank und die späte Abendglocke über Dorf und Landschaft klang.

Dann erhob er sich, gefaßt, wieder seiner selbst Herr:

»Fanny, wir müssen nun scheiden. Sieh, ich werde elsässische Erde nicht
mehr betreten, so lange dieses Land französisch ist. Du weißt aber,
Fanny, daß auch in der Ferne jemand mit innigster Teilnahme an dich und
mit heißer Liebe an das Elsaß denkt. Mehr will ich nicht sagen. Und
wenn du glaubst, daß es im Sinne dieses braven Jungen ist, deinen Vater
und seinen Vater aufzugeben und nach Frankreich zu ziehen und dort Haß
zu nähren -- so tu's, wenn du es vermagst!«

Er stand vor ihr. Die letzten Worte hatte er stark betont. Sie sprang
auf, wischte mit dem Taschentuch heftig in den nassen Augen und packte
dann seine Hand. Und mit der alten raschen Entschlußkraft sagte sie
voll Inbrunst:

»Nein, Onkel Arnold, Gott im Himmel weiß: ich tu' nichts, was Gustav
betrüben könnte!«

»Dann, liebe Fanny, atme ich auf, dann scheid' ich beruhigt. Kommst du
mit hinunter ins Haus? Es hat schon zu Nacht geläutet.«

»Ja, Onkel Arnold, ich komme mit,« sprach sie, und die ganze weiche
Liebe und Güte ihres Wesens hatte sich wieder hindurchgerungen und
zitterte nun aus der warmen Stimme des schönen Mädchens, indessen
immerzu die Tränen über ihre Wangen flossen.

»Und hör', Onkel Arnold, ich will dir noch schnell etwas sagen: ich
lasse dich nicht allein ziehen. Es muß dir jemand bei der Einrichtung
helfen. Nimm mich mit nach Heidelberg!«




                            Elftes Kapitel

                            Stille Menschen

                                        Ihr kommt, Winde, fern herüber,
                                        Ach, von des Knaben,
                                        Der mir so lieb war,
                                        Frisch grünendem Hügel ...

                                                              ~Mörike~


                         Dirk an seine Mutter.

Liebe Mutter! Diesen Brief schreibt für mich die Hand eines Kameraden
aus dem Elsaß, der mit mir im Lazarett liegt. Nimm demnach an der
fremden Schrift keinen Anstoß. Es ist Erwins Hand; aber es ist
mein Herz. Ich kann ihm alles anvertrauen. Wir haben Freundschaft
geschlossen.

Quäl' dich nicht, Muttchen, daß du mir kein Futterpäckchen schicken
kannst! Sieh, was du mir schickst, ist tausendmal mehr wert. Wie
herrlich die Worte, die du mir schreibst! Wüßtest du, wie sie mich
heimlich begleiten, mir alles vergolden, das Schwere leicht machen! Ich
küsse deine lieben Hände, die mir so viel Schönes schreiben, liebes
Mutterherz!

Es ist Sonntag. Vor mir steigt unser schöner Garten auf, darin ihr
nun in der Laube sitzt. Und vor mir steigen viele, viele solcher
deutschen Sonntage aus der Kinderzeit auf. Wie hast du uns doch gut
gelehrt, Sonntag zu feiern! Heute danke ich dir dafür. Ich lese zur
Nachmittagsfeier deine lieben Briefe, die Auszüge aus Büchern, aus
denen du so treu und fleißig schöne Stellen abschreibst, und den Faust!
So bin ich im Geiste bei euch, immer, Mutti, immer!

Weißt du, wie du uns einmal sagtest, es läge ein so großer Trost
darin, daß der Himmel mit all seinen Sternen sich über die ganze Welt
spannt? Denn man ist bei solchem Aufblick in das Weltall niemals
allein; man braucht nur abends die Sterne zu grüßen, so schwingt die
Seele mit; und von den Sternen her kommen silberne Strahlen, die uns
irdisch Getrennte miteinander verbinden. Wie oft habe ich in stillen
Sternennächten daran gedacht!

Ach ja, deine Märchen! Wir meinten in unsrer Jugend, du hättest
ein großes, großes Märchenbuch, daraus du sie alle wußtest -- und
es war doch nur dein großes Herz! Wie schade, daß du sie nicht
aufgeschrieben hast, all die lieben Märchen! Sie sind aber in
meinem Herzen aufgeschrieben und kommen oft zu mir, die vertrauten
Gestalten. Mutterchen, das sind Schätze, die mir kein Schicksal
rauben kann. Ich meine oft, ich müßte schon deshalb heimkommen, um
all die Liebe einigermaßen zurückzahlen zu können, die ich einst als
Selbstverständlichkeit gedankenlos von dir hingenommen habe. Aber kann
man denn dies alles einer Mutter vergelten? Uralt möcht' ich werden,
Mutti, um dir lebenslang Dankbarkeit erweisen zu dürfen.

Stell' dir ja nicht vor, daß ich hier im Bett Trübsal blase vor Heimweh
und Angst um das bißchen Leben! Ach nein, dazu neigen weder mein
heiterer Erwin noch ich selbst trotz aller Geduldsproben. Wir lesen und
lernen immer weiter. Da durchblätterten wir eben Fidus-Bilder und sind
entzückt von der leichten Anmut dieser immer jungen, durchgeistigten
und beseelten Gestalten. Den Faust freilich, mit dem ich auszog, hab'
ich nicht mehr: er ward verschüttet im Trommelfeuer und liegt begraben
in Flanderns Erde. Aber deine Abschriften hab' ich auf dem Herzen
gerettet. Und mein Erwin ist unermüdlich, mir vorzulesen. Hölderlin
und Mörike sind eben der Gegenstand unsrer Liebe. Meister Raabe macht
ihn, den Süddeutschen, freilich manchmal ungeduldig. Auch hat er sich
jetzt in ein Buch vertieft: »Jesus im Urteil der Jahrhunderte«. Es ist
staunenswert, mit welcher Leuchtkraft die Gestalt des Heilands in den
Herzen der Menschen immer wieder verjüngt erstanden ist. Ob sie auch in
Deutschland und Europa wieder einziehen wird, wenn sich einmal dieser
Irrsinn des Völkerhasses ausgetobt hat?

Ich habe neulich Uhdes »Flucht nach Ägypten« gesehen. Bilder machen mir
überhaupt viel Freude. Da empfand ich ein Stück meiner Lebensaufgabe.
Diese traurigen, ganz armen Menschen müssen vor dem Haß flüchten,
friedlose, heimatlose Unglückliche, wie sie auch in Deutschland
millionenhaft durcheinanderwimmeln, besonders in den Fabrikstädten.
Ihnen praktisch helfen, alles andere gering achten, nicht am Zeitgeist
herumnörgeln, sondern bei sich selber mit der neueren, reineren Denkart
gründlichst beginnen -- sieh, das haben Erwin und ich einander gelobt.
Es ist furchtbar einfach und furchtbar schwierig. Denn wie soll man in
rechter Weise an die Seelen der Menschen herankommen? Ich habe wenig,
wenig bisher getan, aber glaube mir, Mutter, Deutschland muß von innen
heraus erneuert werden. Und wir müssen alle mitarbeiten, damit recht
viele Menschen so werden wie -- wie du, mein goldiges Muttchen! Damit
ist alles gesagt.

Wenn Hertha kommt, so wird das ein Festtag sein. Ich übe mich
inzwischen in der Tugend der Geduld. Es ist eine Folter, hier
faulenzend stillhalten zu müssen, während unsere Kameraden sich draußen
opfern. Und der Opfergedanke, liebe Mutter, ist doch das Größte, was
die Welt kennt.

Ich grüße und küsse euch herzlich

                                                          Euer ~Dirk~.

                   *       *       *       *       *

                        Hertha an ihre Mutter.

Mein liebes Mutterle! Eben habe ich Dirk gesehen, ich komme vom
Lazarett. Wie hat sich der Junge gefreut! Du weißt ja, wie er dann ist,
er sagt nicht viel, aber er strahlt.

Leider habe ich mich ziemlich unbedacht eingeführt: ich hatte Lilien
mitgebracht, ohne zu bedenken, daß sie doch sehr stark duften. Dirks
Kamerad, Erwin Ehrmann, der lange Elsässer, von dem wir ja schon
wußten, saß gerade bei ihm auf dem Bettrand und las ihm vor. Er war
der erste, den ich sah, brach mitten im Wort ab, als ich eintrat,
und starrte mich an, als ob er einen Geist sähe. Dabei bin ich doch
wahrhaftig nicht blaß zu nennen, und mein hellblaues Kleid sieht
auch nicht nach Geisterspuk aus. Dann beugte sich Dirk vor und rief:
»Hertha!« Und ich stand mit meinem dicken Lilienstrauß ein Weilchen
recht dumm da, bis ich zu einer richtigen Begrüßung Mut und Worte fand.
Danach ist es aber wunderschön geworden. Der Elsässer war so taktvoll,
aus dem Zimmer hinauszuhumpeln, damit wir ungestört plaudern könnten.
Dirk konnte mir nicht genug sagen, was es für ein lieber Mensch sei,
dessen natürliche Heiterkeit ihm sehr wohltue. Und ich hatte denselben
angenehmen Eindruck.

Mein lieber Dirkbruder ist schmal geworden, aber seine stille Frohnatur
ist unverändert. Es geht ein so schönes Leuchten von ihm aus wie immer.
Ich habe ein Stündchen an seinem Bett gesessen und ihm unendlich viel
von dir erzählt. Hoffentlich darf er bald in unser Lazarett, damit wir
ihn in der Nähe haben. Ich werde gleich morgen mit dem Oberstabsarzt
sprechen.

Es ist mit Dirk sonderbar; als ob er einen Panzer um sich hätte, durch
den nichts Gemeines hindurchdringen kann. Wieviel Häßliches muß man als
Jugend- und Armenpflegerin anhören! Aber Dirk und ich sind ja so gut
beschützt. Unser Panzer heißt Liebe. Und du, lieb Muttchen, hast ihn
geschmiedet. Wir danken dir mit jedem Atemzug.

Jetzt ist ein wundervoller Abend. Ich sehe durch das Fenster des
Gasthofes auf einen schlanken Kirchturm, hinter dem ein erster Stern
sichtbar wird. Nennst du mich nicht oft dein Sternenkind, lieb
Mutterle, weil ich Sterne so lieb habe? Aber die Sterne im Himmel des
Menschenherzens habe ich noch lieber. Unser größter Reichtum ist doch
der Mensch. Und wenn ich einen liebenswerten Menschen kennen lerne,
so empfinde ich das wie ein Gottesgeschenk. Herzensmuttchen, das hast
du uns gelehrt in deiner stillen, besinnlichen und so unaufdringlich
feinen Art!

Meine Reise verlief herrlich; ich habe gelesen, geplaudert, geträumt
-- verzeih, das tu' ich nun einmal so gern! -- und habe den Text zur
Schlußandacht meines nächsten Unterhaltungsabends durchdacht: »Gott
wird abwischen all' ihre Tränen« (Offenb. 7, 17). Der Betrieb auf der
Bahn war furchtbar. Aber ich sage mit meinem Schiller: »In des Herzens
heilig stille Räume mußt du fliehen aus des Lebens Drang«. Dieses
innere Reich kann uns niemand nehmen.

Unterwegs, in meiner vierten Klasse, wo man bekanntlich den Mitmenschen
näher kommt als in der zweiten, dachte ich über mein Ziel nach. Die
gebildete weibliche Jugend zurückgewinnen für Gott, ihr helfen in ihren
Zweifeln, ihr die Augen öffnen für soziale Hilfe; die erwerbende Jugend
erziehen zu freudiger, beseelter Berufsauffassung, zu mütterlichen
Menschen; den Arbeiterinnen das Formgefühl für die Gestaltung des
Lebens verfeinern in edlen Erholungsstunden -- was für Aufgaben! Ich
saß neben einem nett gekleideten alten Herrn und las von Zeit zu
Zeit in meinem Buch. Da kam ein Kriegskrüppel herein und verkaufte
Postkarten. Ich fragte ihn, wo er seine Wunden erhalten und dergleichen
mehr. Da streifte der Mann seine Hosen auf und zeigte seine schweren
Narben (manche Gans hätt' es vielleicht unschicklich gefunden), und
wir sprachen hin und her. Dem Ärmsten tat unsere Teilnahme wohl. Als
er weiter gehinkt war, kam ich mit meinem Nachbarn ins Gespräch.
Er freute sich, daß sein ältester Sohn unterm Rasen lag und kein
Bettelbrot suchen müsse. Und da war sie wieder, die schöne Erfahrung
des Krieges: das gemeinsame Leid schlug eine Brücke von Seele zu Seele.
Wir berührten tiefste Fragen; wir sprachen über das Leid, den Tod, das
Fortleben der Seele, über Gebetserhörung und solche stillen, tiefen
Dinge. Er bekannte sich als Katholiken und gestand, daß er bezüglich
Seelenmesse und Fegfeuer viele Kämpfe durchgemacht habe. Ich sagte,
was ich vom Wert des Leides zu sagen wußte, und bat ihn, seinem noch
ungefestigten jüngeren Sohn, der auch Soldat ist, recht viel und warm
zu schreiben, damit der starke Strom der Elternliebe dort eine Kraft
bleibe. Denn ich weiß ja, wie deine Briefe, Muttchen, für Dirk Freude
und Kraft sind.

Mutterle, es reisen jetzt viele Hetzer und Schimpfer in den
Eisenbahnen; man sagt, sie seien bezahlt. Warum reisen keine Boten
Gottes, um unauffällig das Gute zu wecken und das Edle zu ermutigen?
Auf jedem Bahnhof kann man zotige Sachen kaufen: warum sammelt man
keine edelmenschlichen Züge und schickt sie mit dem allerschönsten
Bilderschmuck in die verarmte Menschheit hinaus?

Die Kinder der Welt machen sich oft lustig über die Kinder Gottes,
als ob fromme Menschen Trottel wären. Wir sind aber weder dumm noch
trottelhaft, wohl aber häufig feig. Das Laster hat eine Art Mut, denn
es hat Frechheit. Hätten die Guten doch denselben ruhigen Mut, sich zum
Göttlichen zu bekennen!

Es ist inzwischen Nacht geworden, ich beende diesen Brief und den
reichen Tag. Meine Lilien hab' ich wieder mitgenommen; aber es
sind nur noch drei: eine hat sich Dirk auserbeten, eine andre sein
Freund Erwin. Der letztere scherzt und neckt gern, er hat mich gleich
Lilienfee oder Lilofee getauft.

Gut' Nacht, Mutterle! Könnt' ich doch morgen Dirk losbekommen und in
sein Heimatlazarett mitbringen! In die Sterne schauend, grüßt dich innig

                                            Dein Sternenkind ~Hertha~.

                   *       *       *       *       *

                            Erwin an Dirk.

Mein Dirk, seit du fort bist, hat mich eine gute Kraft verlassen.
Kein Buch schmeckt mir mehr, keine Zigarette, keine Mahlzeit. Nie
hat wohl ein holderer Bote einen lieberen Freund entführt, als deine
blonde Schwester meinen lieben Dirk. Ich werde sie künftig von Lilien
nicht mehr trennen können, und muß auch immer gleich an Mörike denken,
dessen Gedicht ich dir grade vorlas: »Wenn ich, von deinem Anschaun
tief gestillt, mich stumm an deinem heil'gen Wert vergnüge« -- als
die blaue Gestalt eintrat und mit den Lilien an der Tür stand wie
eine Erscheinung aus einer andren Welt. Gott sei Dank, daß es kein
Todesengel war! Aber geholt hat sie dich doch. Wie ich ohne dich den
Kummer über das Elsaß verwunden hätte, Dirkbruder, weiß ich nicht.
Nun rollen wieder die Wolken über mein Gemüt. Schreibt mir doch bald
ein Wort, zwei Worte, viele Worte! Grüße dein herrliches Mütterlein
und, mit ein bißchen Groll, daß sie dich entführt hat, deine Schwester
Hertha!

In Herzenstreue

                                                         Dein ~Erwin~.

                   *       *       *       *       *

                           Hertha an Erwin.

Lieber Herr Ehrmann! Der Todesengel ist nun doch gekommen. Dirk ist
soeben der Grippe erlegen. Es ist mir unmöglich, mehr zu schreiben. Er
hat noch kurz vor seinem Sterben von Ihnen gesprochen. Wir danken Ihnen
innig für alle Güte, die Sie meinem lieben Bruder so reichlich erwiesen
haben. In namenlosem Schmerz

                                                ~Hertha Maria Schütz~.

                   *       *       *       *       *

                        Erwin an Dirks Mutter.

  Verehrte gnädige Frau!

Welch eine Nachricht! Ich bin betäubt vor Kummer und Schmerz. Herr
im Himmel, warum müssen unsere Besten so dahingehen! Die Kunde hat
mich wie ein Donnerschlag getroffen. Wenn ich nicht durch Dirk mein
Gottvertrauen so vertieft hätte, ich würde verzweifeln. Da liegt man
mit seinem Klumpfuß, muß dieses alles über sich ergehen lassen und kann
sich nicht wehren, kann nur knirschen, fragen, immer wieder fragen,
was denn Allvater mit seinem deutschen Volke vor hat, daß er uns im
einzelnen und im ganzen so furchtbar prüft. Ihr Sohn Dirk war der
reinste und bei so jungen Jahren reifste Mensch, den ich in meinem
Leben kennen gelernt habe. Wir hatten uns schon in Flandern, in den
heillosen Schlachten um Ypern, kurz berührt; doch wahrhaft befreundet
haben wir uns erst im Lazarett. Seine Freundschaft war das Glück dieser
Leidenszeit, in der ich ja auch meine elsässische Heimat verloren habe.
Dirk hat mich wieder fromm gemacht. Wir hatten schon davon gesprochen,
daß ich das Weihnachtsfest mit ihm bei seiner über alles geliebten
Mutter und bei seiner nicht minder teuren Schwester verleben dürfte.
Ach Gott, wir träumten beide, daß wir dann gesund seien und mitarbeiten
wollten, das schwergebeugte Deutschland wieder instand zu bringen. Nun
ist es dahin! Verehrte Frau, Sie dürfen auf diesen Sohn im edelsten
Sinne stolz sein. Wir jungen Leute haben einander ganz vertraulich das
Herz geöffnet, auch mit unsren Kämpfen und, meinerseits, Irrungen;
ich habe in diese reine Seele schauen dürfen -- oh, es war ein ganz
entzückendes Kunstwerk! Und dieses Kunstwerk ist Ihr mütterliches
Verdienst. Gott segne Sie dafür und stärke Sie in Ihrem großen Schmerz!

Dirk lebt im jenseitigen Reiche. Immer stärker glaube ich an dieses
unsichtbare Land. Es wandern so viele Tüchtige dahin aus, die unsre
Gedanken und Gefühle unwillkürlich nachziehen. Der Tod hat seine
Schrecken verloren. Und mir geht ein gewaltiger Gedanke durch Kopf
und Herz: ob der Herr über Leben und Tod grade die hinüberruft, die
er drüben braucht? Denn leuchtendes Leben, Liebe, Schaffen ist doch
gewiß auch dort! Und mein Freund Dirk ist nun unter diesen Leuchtenden
und Liebenden, die von drüben her an der Menschheit, an unsrem armen
Deutschland mitschaffen.

Grüßen Sie die Dirkschwester, die ich herzlich bitte, mir ausführlicher
über ihn zu schreiben, und seien Sie meiner innigsten Teilnahme nebst
lebenslanger Dankbarkeit versichert!

                           Ihr tiefbetrübter

                                                      ~Erwin Ehrmann~.

                   *       *       *       *       *

                           Hertha an Erwin.

                         Lieber Herr Ehrmann!

Über Dirk soll ich Ihnen schreiben. Ach, wie gern tu' ich das! Wir
denken, fühlen, reden und schweigen ja nichts andres Tag und Nacht als
Dirk.

Sein Leben war Schönheit, stille Freudigkeit und strahlende Reinheit.
Um uns beide, die wir frühe den Vater verloren haben, waren die
starken, schützenden Kräfte der Mutter. Und hinter der Mutter mit ihrer
gesammelten Kraft und Wärme standen höhere Mächte, Schutzgeister,
die wir in oft geradezu wunderbarer Weise an der Arbeit fühlten.
Wir sind in den Wuppertaler Formen der Frömmigkeit erzogen, ohne
engherzig zu sein, auf werktätige Liebe eingestellt. Aber auch die
Kunst, besonders Malerei, und die Natur sind uns Erzieher geworden.
Dirk und ich schauten gern gute Bilder, und Blumen sind immer auf
meinem Tische; auch hatte er an den neuerdings wieder aufgekommenen
Reigentänzen und Volksliedern ebensoviel Freude wie ich. Und wie sind
wir miteinander gewandert in Sturm und Regen, in Frühlingslust und
Sommersonne, am Meer, in Wald, Heide, Bergen! Wir haben mit allen Poren
Natur eingetrunken. Und mit dieser Sonne im Herzen, braungebrannt von
Luft und Wind, ist dann Dirk zur sozialen Arbeitsgemeinschaft nach
Berlin-Ost gegangen und hat seine Lebensfrische den Arbeitern gebracht.
Es ging ein Zauber von ihm aus. Das haben mir viele gesagt. Wer nicht
mehr an den reinen deutschen Menschen glauben konnte, der brauchte nur
diesen sonnigen Jungen anzusehen.

Auch für alle ähnlichen modernen Bewegungen, die auf Beseelung
ausgehen, so für Johannes Müller, die Neulandgruppe in Eisenach,
Euckens Philosophie, sogar die Steinersche Theosophie hatten Dirk und
ich offene Augen. Aber wir haben uns nie aus dem Geheimnis unsrer
eigentlichen Kraft herausreißen lassen. Und dieses Geheimnis hatte uns
die Mutter eingepflanzt. Es ist das schlichte werktätige Christentum,
wie es uns besonders im Johannes-Evangelium verkündet wird.

Wir hatten jedes unsre kräftige Eigenart; und doch erinnere ich mich
aus unsrer nicht leichten, mit Arbeit tüchtig ausgefüllten Jugend
keines Zankes zwischen uns. Wie oft hat mich seine Hand auf dem
Spaziergang gefaßt: Du bist müde, Schwesterlein, wir wollen nicht so
schnell gehen! Seine Briefe an mich waren voll von kleinen eingeklebten
Bildern, die das Geschriebene launig belebten. Und häufig hat mich
ein Strauß oder sonst eine Aufmerksamkeit von ihm auf meinem Tisch
überrascht. Sein Wesen war Güte und in der Güte still beherrschte Kraft.

So denk' ich mir die kommenden Seelen im gereinigten, durch Schmerz
gereiften deutschen Vaterlande. Ich habe jetzt oft ein Gefühl wie vor
Sonnenaufgang in den Alpen. Wir sehen die Spitzen der Berge sanft
erglühen, den Himmel lichter und goldner werden, die Wolken in einem
tiefen Feuer aufleuchten. Ob der Weltkrieg, der unsren irdischen Augen
Vernichtungsflamme scheint, in höherem Sinne das Morgenrot einer neuen
Zeit ist?

Unsere Weihnachtsfeiern waren immer so schön. Für das nächste Fest
hatten wir schon unsre Pläne gemacht. Ich wollte in weißem Kleide durch
die Tür kommen und wie der Sternsinger in den alten Dreikönigspielen,
mit dem Stab, an dem der goldne Stern funkelt, auf das Kind und Maria
blickend, sprechen:

            »Stille, stille!
            Gottes Minne!
            Still, o Himmel,
            Still, o Meer --
            Nun schweigt und ruht!
            Sterne, ihr sollt stille stehn,
            Winde, ihr sollt leiser wehn,
            Seht, o seht das frohe Wunder!
            Welten haben sich gefunden,
            Hohe Feuer sind entglommen,
            Sind in Lust und Glanz entbronnen,
            O Sonn' in einer Wolke Glut:
            Dies holde Knäblein, das da ruht,
            Wisset, ist Gott und Mensch zugleich!
            Sein' Gottheit aus der Menschheit sieht,
            Wie die Sonn' aus der Wolke glüht ...«

Ist nicht eine geradezu Rembrandtsche Beleuchtung in diesen einfachen
alten Worten? Wie haben wir zu Weihnachten immer gesägt, gemalt,
gepappt, vergoldet und versilbert! Wir bauten manchmal aus Moos,
Feldsteinen, hölzernen Schafen, Hirten und dergleichen das halbe Zimmer
in eine Weihnachtslandschaft um. Wie einsam wird diese Weihnacht werden!

Doch ich bin müde. Heute war ich in einer Sitzung des städtischen
Arbeitsnachweises; mehrere tausend Frauen wurden hier aus der
Rüstungsindustrie entlassen; welche wirtschaftliche Umwälzung! Und auf
allen Gassen schreit man nach größerem Lohn. Aber wenige rufen nach
ewigen Dingen. Meine Mutter und ich fühlen uns oft wie Fremdlinge in
dieser wild erregten Welt, wenn wir so miteinander durch die Straßen
gehen.

Nächstens ist ein Bachkonzert. Das habe ich mit Dirk nie versäumt. Bach
und Beethoven waren seine Lieblinge. Wir haben da so eine liebe alte
Kirche, Weiß und Gold, wunderschöne heimatliche Schnitzereien; wenn
ich da sitze, wo ich oft mit Dirk und Mutter saß, weiß ich: Hier ist
Heimat. Da fühl' ich Dirk neben mir. Wenn wir manchmal zu lang irgendwo
blieben und ich ins Träumen kam, vernahm ich plötzlich seine gute
tiefe Stimme leis am Ohr, und er mahnte mich mit den Worten des alten
Volksliedes: »Schwesterlein, Schwesterlein, wann gehen wir nach Haus?«

Ach, daß ich diese Stimme nie mehr höre!

Seien Sie herzlich gegrüßt!

                                                             ~Hertha.~

                   *       *       *       *       *

                        Dirks Mutter an Erwin.

      Lieber Herr Ehrmann!

Wir wissen durch Dirk, ein wie treuer Freund Sie ihm gewesen sind.
Wollen Sie seiner Mutter und Schwester eine Freude bereiten? Elsaß ist
jetzt von den Franzosen besetzt. Sie werden also wohl vorläufig nicht
nach Hause können. Wenn es Ihr Gesundheitszustand erlaubt und wenn Sie
durch keine andren Absichten oder Pflichten verhindert sind, kommen Sie
doch bitte zu uns beiden Vereinsamten und feiern Sie mit uns das stille
Fest des Lichtes und der Liebe! Dann wollen wir von Dirk sprechen,
dessen Geist gewiß bei uns sein und sich mit uns freuen wird in seinen
verklärten Höhen.

Mit herzlichen Grüßen Ihre

                                                       ~Paula Schütz~.




                           Zwölftes Kapitel

                              Heidelberg

                     ... so möchte man freilich den Weg dahin
                     richten, wo Freundschaft und Neigung den reinsten
                     Empfang versprechen.

                              ~Goethe~ an Marianne von Willemer (1817)


Am Eingang des Heidelberger Schloßgartens erhebt sich ein stattlicher,
gelb getönter Steinbau.

In steilen Terrassen steigen dort Gärten und Landhäuser längs der
gewundenen Straße bis hart an die Schloßmauer heran. Und ihnen entgegen
wächst von oben her der Bergwald, der seine Bäume und Büsche tief in
die Schloßtrümmer hineinsendet, wo er dann noch mit Efeu alle Ritzen
und Gräben der zerbrochenen, doch zärtlich erhaltenen Burg liebevoll
einspinnt.

Jenes herrschaftliche Haus entfaltet seine Hauptfront mit Altanen und
Steintreppen nach der Nordwestseite. Dort türmt sich das ansehnliche
Gebäude aus den Gärten empor und gipfelt zuletzt in einem kleinen Turm,
der einer Sternwarte gleicht.

Goethes Lieblingsstätte ist so nahe, daß man aus den Fenstern zu dem
daselbst Stehenden hinüberplaudern könnte. Und vom Altan aus hat man
dieselbe Aussicht auf den edelgeschwungenen, westwärts in den Rhein
dahingleitenden Neckar, wie einst der weimarische Dichter, der jene
Stätte an der umsponnenen Mauer um die Zeit seiner freundschaftlichen
Liebe zu Marianne von Willemer besonders liebgewonnen hat. Auch der
Gingo-Biloba-Baum, der in Lied und Briefworten jener Tage genannt
wird, steht noch in den weitläufigen Schloßanlagen. Und zarte Romantik
genug wittert überall in den Lüften, die im Mai von Blüten, Bienen
und Vogelsang üppig begnadet sind. Niemals auch entschläft hier die
immer neu aus der Universitätsstadt heraufquellende Zechromantik
Scheffelschen Tones. Und der alte deutsche Wanderdrang fühlt sich
oft mit Rucksack und Laute in diesen einst so roh gesprengten, samt
der ganzen Pfalz fürchterlich verwüsteten, doch in einzigartiger
Ruinenschönheit wohlerhaltenen Schloßbezirk getrieben.

Hier hatte Frau Cäcilie Lobsann-Schultheß, von Zürich kommend, Gatten
und Heim erwählt. In ihrem überaus anmutvollen Wesen waltete wieder ein
Hauch des weimarischen und des romantischen Geistes deutscher Dichtung
und deutscher Fraulichkeit.

Es war in jenen November- und Dezembertagen eine milde, helle Witterung
mit nächtlichem Sternenschein und dunstfreiem Vollmond. Zögernd nur
wichen die reinen Abendröten hinunter, nachdem sie sich lange im
wellenlosen Spiegel des farbenschimmernden Neckarstromes gelabt hatten.
Der Bismarckturm drüben am sanft ansteigenden Hügel stand massig unter
den abendlichen Farben. Er hatte in mondhellen Sommernächten manchem
Fliegerkampf über dem unfernen Mannheim-Ludwigshafen zugeschaut. Oh,
wie dann die dumpf donnernde Luft durchzuckt war von ununterbrochenen
Schrapnell-Blitzen der heftig abwehrenden Geschütze! Jetzt lag das
blutgetränkte Europa in unheimlicher Ruhe; die Dämonen des Weltkrieges
schienen entwichen. Oder waren sie, wie jene nordwärts fliegende
winterliche Rabenschar, ins innere Deutschland geflogen und hausten
dort in den Geistern der Revolution?

In jenem wuchtigen, einem Palazzo der Renaissancezeit vergleichbaren
Bau hatte der ausgewanderte Elsässer Arnold im ersten Stockwerk
Zuflucht gefunden. Hier atmete er auf. Er konnte sich keine angenehmere
Wohnstätte wünschen. Fanny hatte während der rüstig betriebenen
Einrichtung den Schmerz betäubt. Behaglich erwuchsen die schmucken
Räume unter ihren fest zugreifenden Händen. Die Bücher standen geordnet
und warteten auf Benutzung. Das Speisezimmer bildete den Übergang zum
großen Steinbalkon, und daneben war noch ein kleineres Zimmer, worin
sich Fanny vorläufig niedergelassen hatte.

Nur vorläufig; denn sie war entschlossen, nach vollbrachter Arbeit
in das französische Elsaß zurückzukehren. Niemand suchte das
willensstarke, vom Schmerz überschattete ernste Mädchen im Trauergewand
an ihrem Entschluß zu hindern, da sie erste Versuche dieser Art
sofort zurückgewiesen hatte. Alle waren taktvoll genug, ihr in so
wichtiger Lebensentscheidung, ob sie fernerhin zur deutschen oder
zur französischen Familie gehören wollte, Freiheit zu lassen. Allein
mit der ihrer Schweizerart eigentümlichen Zähigkeit wartete Frau
Cäcilie seufzend auf eine passende Stunde zu nochmaligem Angriff;
und noch geheimer war Arnolds wehmutvolles Bedauern. Die ebenso
lebhaft-natürliche wie herzensgute Hausfrau hatte das junge Mädchen
rasch ins Herz geschlossen; beide hatten Künstlerblut. Und dem nunmehr
amtlosen Einsiedler war es, als ob mit Fanny das letzte Restchen Heimat
am Himmel dahin zu schwinden drohte.

Professor Lobsann, Mediziner und Musikfreund, war beglückt,
Gastfreundschaft erweisen zu können. Liselottchen, das
gesprächig-liebenswürdige Töchterchen, beherrschte hier den Kreis und
trat in Wettbewerb mit der Mutter, deren Reichtum an Einfällen sie
geerbt, deren warme Braunaugen sie jedoch abgelehnt hatte, um Vaters
Blauaugen vorzuziehen.

Die Kleine war ein bestrickendes Persönchen. Sie hatte im ersten
Augenblick Fannys ganze Liebe gewonnen, so daß sie sogar den
tüchtigen Schwestern Weller ein wenig untreu wurde, die Lobsanns Haus
leiteten. Hatte die etwas an den schweizerischen Tonfall der Mutter
erinnernde Sprechweise der Elsässerin ihr Ohr erobert und durch das
musikempfängliche Ohr das kleine Herz? Oder die rasche, dabei innige
Art, wie Fanny zu liebenswerten Menschen Stellung nahm? Oder die noch
von Schmerz durchzitterte Seele der verwaisten Jungfrau? Kurz, das
zehnjährige Kind, das sonst sein eigenes Setzköpfchen zu bekunden
und sich nicht ohne weiteres anzuschmiegen pflegte, warf sich mit
erstaunlichem Zutrauen in die Arme der neuen Freundin. Und wohl mochte
die verlassene Braut dabei ahnen, daß ihr das Glück eigener Kinder für
immer versagt sei.

Fanny hatte im Balkonzimmer den Tisch geschmückt, soweit es in dieser
Jahreszeit möglich war. Der Abend schimmerte herüber. Die Teestunde
sollte eine Art Einweihungsfeier werden, in einfachsten Formen. Frau
Cäcilie war in einem kornblumenblauen Kleid heraufgeeilt und zog Fanny
schnell noch zu einem Plauderviertelstündchen neben sich auf das Sofa.

Und da ergab es sich nun, daß sie plötzlich auf Arnolds Heidelberger
Anfangszeit zu sprechen kam.

»Ja, und da wollt' ich noch sagen, Fanny,« plauderte sie in ihrer
geläufigen, manchmal umständlichen und begründenden Art, »ist Ihnen
nicht auch schon an Professor Arnolds Gesicht das schmerzliche Lächeln
aufgefallen? Ich habe diesen wehmütigen Zug, der sich ihm tief
eingegraben hat, geradezu entstehen sehen. Denn ursprünglich war er
nicht so, er war vielmehr heiter und zu Neckereien aufgelegt, so daß
wir in jener allerdings nur kurzen Zeit unserer ersten Bekanntschaft
manchen Redestrauß miteinander ausgefochten haben. Es endete freilich
immer versöhnlich, und zwar meist mit einer Schokoladetafel Lindt und
einem unter Blumen versteckten Verschen. Aber die Geschichte mit seiner
Frau -- --«

»Daß sie geisteskrank wurde?« fragte Fanny gespannt. »Ich habe nie
Näheres darüber gehört.«

»Nein, noch früher. Man spricht ungern davon. Sie war immer ein wenig
nervös, ein wenig unbefriedigt und leicht gekränkt, in der wirklich
törichten Meinung, daß man sie als Elsässerin nicht voll achte, wozu
aber sicherlich gar kein Grund vorlag, wenn man auch einmal auf die
Französlinge im Elsaß schimpfte. Und dann, ja, es ist halt traurig
zu sagen -- dann kam die Verirrung mit dem Studenten. Sie hat ihren
Gatten und das zweijährige Bübchen einfach sitzen lassen und ist eines
Tages mit einem jungen Mann durchgegangen, um freilich nach ein paar
Wochen oder Monaten beschämt und gebrochen wieder heimzukehren. Von
da ab war eine Störung in ihrem seelischen Wesen. Man hat die Sache
möglichst zugedeckt. Aber schließlich hat man sich die Augen nicht
mehr verschließen können, daß sie geisteskrank war. Im Irrenhause ist
sie dann gestorben. Es hat ihn furchtbar mitgenommen. Seine Stellung
hier war unmöglich geworden. Denn nicht wahr: er selbst vertritt ja
so etwas wie philosophischen Idealismus und fühlte den Vorgang als
eine öffentliche Niederlage, da er nicht einmal in seiner nächsten
Umwelt Ordnung schaffen konnte. Er hat Zeiten gehabt, wo er an Gott
und an aller Weltordnung irre geworden ist; aber ausgesprochen hat
er sich höchstens einmal zu meinem Mann, und der trägt solche Sachen
nicht weiter. Nur die Musik bot dem Vereinsamten immer wieder Trost.
Da hab' ich ihn mit meinen Liedern oft erfreuen dürfen. Überhaupt,
edle Hausmusik -- -- obwohl, ich muß es Ihnen halt ganz verstohlen
gestehen, liebe Fanny, mich drängt's und reißt's doch auch immer wieder
nach dem Konzertsaal. Das liegt mir so von Mutter und Großmutter her
im Blut. Sich so recht in Formen der Kunst austoben, eine kunstsinnige
Zuhörerschaft hinreißen -- ach, Fanny, verstehen Sie das?«

Ja, Fanny konnte diesen edlen Ehrgeiz nachfühlen.

»Ist's das vielleicht, was jene unglückliche Frau gesucht hat?« fügte
sie nachdenklich ein. »Hat ihr vielleicht die Befreiung durch die Kunst
gefehlt? Onkel Arnold sagte mir einmal, sie habe zu Kunst und Musik
kein Verhältnis gefunden. Können Sie sich das vorstellen, Frau Cäcilie?
Und er so musikalisch! Und sogar ein Stück Poet wie auch Gustav!«

Und Fanny erzählte von jenem Band »Gespräche«, den sie unter den
Papieren gefunden. Sie glaubte die Unterhaltung zwischen Agnes und dem
armen Heinrich jetzt noch besser zu verstehen. Und bitter brach auch
heute wieder die Klage durch, daß ihr selbst dem Verlobten gegenüber
keine Erlösungskraft beschieden gewesen.

Frau Cäcilie tröstete.

»Das ist Schicksal, liebe Fanny. Mit wieviel Widerwärtigkeiten im
Haushalt und im Künstlerberuf hab' ich zu kämpfen gehabt! Manchmal
hab' ich dagesessen, gänzlich mürb und müde, die Hände im Schoß, und
hab' mit Tränen im Auge Gott gefragt: Warum denn mir das alles? Was
hab' ich denn Schlimmeres getan als die andren? Da haben mir wertvolle
Freunde nebst edel gehaltener Dichtkunst, Religion und Musik wiederum
Kraft und Gleichmaß gegeben. Vieles hat sich mir nicht erfüllt. Aber
das ist Schicksal, Fanny. Manches Leben zerbricht freilich dabei, wie
jetzt Deutschland zerbricht und wie Ihr armer Gustav zerbrochen ist.
Aber Sie haben mir ein schönes, schlichtes Wort von Professor Arnold an
seines Sohnes Grab berichtet: Gott wird seine Seele wiederherstellen.
Ja, das wird der Allgütige tun. Gott wird auch die deutsche Seele
wiederherstellen. Und wird auch Sie und mich führen, liebe Fanny, wie
es zu unsrem Heil gut ist. Nicht wahr? Denn obschon ich so himmelblau
und heiter neben Ihrem schwarzen Kleid sitze -- auch ich habe manches
durchgekämpft. Und ich verstehe Sie -- -- ach nein, ~dich~, Fanny!
Laß uns einander du sagen! Ist es dir recht, Schwesterseelchen?«

Die beiden Frauen küßten sich und saßen fortan umschlungen wie zwei
junge Mädchen, die Freundschaft fürs Leben geschlossen haben. Fanny
sprach nicht viel, atmete nur heftig; denn ungeklärte Entschlüsse
rangen in ihr, die sie erwog, während die Schweizerin von den Festen im
Hottinger Lesezirkel zu Zürich, von den Heidelberger Bach-Aufführungen
und von eigener edelgeplanter Geselligkeit weitersprach. Hier tat
sich eine reichere, leuchtkräftigere Welt auf als im gar zu kleinen
Winzerdorf Lützelbronn.

Und plötzlich, wie ja oft die Gedanken und Gefühle vertrauter Freunde
insgeheim zusammenklingen und gleichzeitig auf die Lippen treten,
sprach es die Hausfrau zaghaft aus:

»Schade, Fanny, wirklich sehr schade, daß mein Liselottchen dich nicht
immer um sich hat. Das Kind wird Heimweh nach dir bekommen, wenn du
weggehst -- und ich halt auch es bizzli.«

Das ward treuherzig und lächelnd, zuletzt in Züridütsch, aber
doch recht wehmütig gesagt. Und sie schaute die junge Freundin so
liebreizend dabei an, daß Fanny abermals den Arm um sie schlang. »Wie
gut ihr alle zu mir seid!« Es tat der Elsässerin unendlich wohl, solche
innige Teilnahme zu spüren.

»Was gedenkst du denn in Straßburg zu tun?« beharrte Frau Cäcilie.

»Ich werde meinem Bruder Georges den Haushalt führen«, erwiderte Fanny
etwas kleinlaut. »Und überhaupt -- ich werde arbeiten, arbeiten und
vergessen.«

Jetzt kam das jüngere Fräulein Weller, eine rotwangige Blondine, eilig
herauf und meldete einen Besucher, der Fräulein Bieler zu sprechen
wünsche.

»Es ist ein Sanitäter aus Straßburg und hat ein Paket von Schwester
Lisy.«

Fanny schnellte empor.

»Aus Straßburg? Aber die Grenzen des besetzten Gebietes sind ja
abgesperrt!«

»Der Sanitäter ist doch durchgekommen. Da ist er!«

Ein großer, hagerer Mann im feldgrauen Mantel, mit runder Hornbrille
trat schweren Schrittes ein und blieb in soldatischer Haltung stehen,
ein längliches Paket in der linken Hand.

Hatte bei den Frauen alle Rede in zarten, hellen Schwingungen das
Zimmer belebt, so erklang hier eine wortknappe, männliche Baßstimme,
die fast rauh und rostig wirkte. Man spürte, daß dieser Soldat dem
Tod ins Angesicht geschaut hatte und auf Redensarten des Salons nicht
gestimmt war. In kurzen, schlichten Worten berichtete er, daß er bis
zuletzt im Kunstschul-Lazarett zu tun gehabt.

»Das war uns erlaubt. Wir mußten nur aus den Hosen das Rot abtrennen
und eine bürgerliche Mütze aufsetzen, auch alle Abzeichen entfernen. So
hab' ich den Einzug der Franzosen mitangesehen. Hier sind Zeitungen,
hier Bildkarten und hier ein Brief von Schwester Lisy.«

Er entnahm den Taschen die zerknitterten, stark nach Tabak duftenden
Papiere und gab auch das verschnürte Paket ab.

Auf einige Fragen, woher und wohin, kam schlichte Antwort. Es war
Fernblick in den Augen dieses Mannes, der während des Sprechens gradaus
nach dem Fenster in den Abendhimmel schaute. Er hatte eine Farm im
inneren Afrika, am Kilimandscharo. Von dort war er bei Ausbruch des
Krieges nach Deutschland gereist, um mitzukämpfen. Man sprach mit
Achtung vom tapferen Lettow-Vorbeck, der Deutsch-Ostafrika vier Jahre
hindurch unbesiegt verteidigt hatte. Dann fragte man nach den Zuständen
in Straßburg.

»Erbärmlich! Hätte nie vermutet, daß im schönen Elsaß so viel
Gemeinheit haust. Wenn Altdeutsche oder Deutsch-Elsässer ausgewiesen
werden, muß das innerhalb vierundzwanzig Stunden geschehen. Dann
sammelt sich der Pöbel am Desaix-Denkmal bei der Kehler Rheinbrücke.
Die Ausgewiesenen, Männer von Bildung und Pflichttreue, werden
truppweise bis dorthin gefahren; von dort müssen sie zu Fuß über
die Rheinbrücke gehen und werden dabei beschimpft, verhöhnt, ja oft
mißhandelt und mit Schmutz beworfen. So geht's auch in Kolmar und
Mülhausen. Auf militärischen Lastautos, wie Tiere, führt man sie auch
dort dem Pöbel zur Schau durch die Straßen nach der Grenze. In höheren
und Volksschulen ist französische Sprache befohlen; die Marseillaise
wird eingedrillt. Beim Einzug der Franzosen schwangen die Kinder
französische Fähnchen und schrien wie besessen ›=vive la France!=‹
Die ganze Bevölkerung war berauscht. Frankreich bringt ihnen ja den
Himmel auf Erden: Schokolade, Milch, Mehl, Rotwein -- alles im
Überfluß! Aber nach jedem Rausch kommt der Kater. Es wird auch im Elsaß
katern.«

Der Soldat räusperte sich rauh und schwieg. Er hatte nicht viel Zeit
und machte Anstalt, sich zu verabschieden. Noch am Abend hoffte er zu
seinen alten Eltern nach Sachsen weiterfahren zu können.

»Und Lisy! Wie geht's denn Schwester Lisy?«

»Sehr gut. Das heißt, sie hatte einen Grippe-Anfall. Es wird wohl
alles im Briefe stehen. Besonders erschüttert hat sie die Schändung
des Kaiser-Wilhelm-Denkmals. Nichtsnutzige Burschen, Elsässer leider
und französische Soldaten, haben das Bronze-Reiterstandbild unseres
ehrwürdigen alten Kaisers Wilhelm =I.= vom Sockel gerissen, in
Stücke geschlagen und den Kopf an Seilen vor das Denkmal des Generals
Kleber geschleift.«

»Was haben sie getan?!« rief Fanny entsetzt.

»Es wird im Briefe stehen«, wiederholte der Sachse. »Es waren
Mitglieder eines Cercle von elsässischen Studierenden. Daß aber
einer von Ihren Verwandten dabei war, Fräulein Bieler, der eben aus
Frankreich zurückgekehrt ist, das hat Schwester Lisy ganz besonders
zusammengeschmettert.«

»Doch nicht mein Bruder?!«

Fanny zitterte am ganzen Körper, als sie die Frage stellte.

Der Erzähler verwies mit ausgestrecktem Zeigefinger abermals auf das
Schreiben und sprach gleichsam tröstend: »Das steht alles da drin.«

Dann schritt der Afrikaner in die beginnende Nacht hinaus, von Frau
Cäcilie verabschiedet, die Fanny allein ließ, damit sie den Brief lesen
könne.

                   *       *       *       *       *

Im großen Arbeitszimmer des ausgewanderten Elsässers waren bereits
etliche Gäste mit Lobsann angekommen. Die beiden Freunde Ingo von
Stein und Oberstleutnant Richard von Trotzendorff hatten sich im nahen
Schloßhotel durchreisend auf wenige Tage einquartiert. Sie waren
hocherfreut, in diesem neuen Lebensbezirk den ehemaligen Pfarrer
von Lützelbronn so vortrefflich untergebracht zu finden. Beide
trugen bürgerliche Kleidung. Die Revolution hatte ihnen persönliche
Ungelegenheiten nur wenig bereitet. Den Versuch freilich eines unreifen
Burschen, dem Oberstleutnant auf offener Straße die Achselstücke
abzureißen, hatte dieser mit einer so wuchtigen und wirksamen
Ohrfeige beantwortet, daß der Rekrut an eine Laterne taumelte. Dann
hatte Trotzendorff die Hand an den Revolver gelegt, die Umstürzler
durchbohrend angeschaut und unbehindert seinen Weg fortgesetzt, wenn
auch hinter ihm geschimpft wurde. Der Schmerz über das schmachvolle
Betragen deutscher Truppen hatte in diesem Altpreußen ebenso großartige
Formen angenommen, wie sein Ingrimm, der in verzehrenden Flammen unter
seinen buschigen Augenbrauen hervorschoß. Er hatte schon früher nicht
viel gesprochen; während des Krieges und dieser furchtbaren Herbsttage
war er schweigsamer geworden als je zuvor. Er litt unendlich. Doch in
den Tiefen hofften er und Ingo trotzdem auf ein neues Erwachen der
deutschen Seele.

Derselbe Ernst lag über allen Damen und Herren des erlesenen kleinen
Kreises.

Ein schlanker, feingebauter Generalstabsoffizier mit durchgeistigten
Zügen erzählte aus eigener Anschauung von des Kaisers letzten Tagen im
Hauptquartier zu Spaa.

»Wir glaubten die Verantwortung für des Monarchen persönliche
Sicherheit nicht mehr übernehmen zu können. Die Memmen von der Etappe
flohen ja kopflos. Ein Unteroffizier des Kraftwagenparks in unserem
Großen Hauptquartier ist im Kraftwagen mit der gesamten Löhnung
durchgegangen. Durch solche feigen Flüchtlinge sind uns Milliardenwerte
an Heeresgerät und Stoffen aller Art verloren gegangen. Befehle wurden
nicht mehr ausgeführt, die Offiziere waren machtlos. Da sah ich den
sonst so selbstsicheren Kaiser zum ersten Male unsicher. Er wußte
nicht, was tun; er schämte sich, zu fliehen und zögerte lange; zu
einer frühen und freiwilligen Thronentsagung konnte er sich auch nicht
entschließen, denn er glaubte dann erst recht den Zusammenbruch zu
beschleunigen. Endlich, an einem schmutzig-grauen Regentage, ging's
fort nach der holländischen Grenze.«

»Und unser Hindenburg?«

»Ihn sah ich zuletzt, wie er den Bahnsteig betrat, gebrochen in seiner
äußeren Haltung, begleitet von einem Mann in Soldatenuniform mit roter
Armbinde. Ein zweiter Zug stand in der Nähe; dort stiegen Mannschaften
ein; niemand beachtete den Sieger von Tannenberg. Der Feldmarschall
bestieg den Wagen, an dessen beiden Enden eine Wache mit roten Binden
am Arm Platz nahm. Inzwischen entwürdigten sich deutsche Soldaten, den
ersten Feinden Hurra zuzurufen; es waren französische Offiziere von der
Waffenstillstandsgruppe. Diese hatten mehr Würde im Leib: sie blickten
gradaus und dankten nicht.«

Trotzendorff knirschte. Er stand mit gekreuzten Armen und stieß
zwischen den Zähnen hervor:

»Die Franzosen haben uns bisher gehaßt, jetzt verachten sie uns.«

»Sie wollten noch vom Kaiser erzählen«, warf Ingo hin, um die dumpfe
Pause zu unterbrechen.

Der Offizier erzählte.

Es war ein trauriger Regentag, als der lange Eisenbahnzug mit dem
letzten Hohenzollern und seinem Gefolge in die kleine niederländische
Station bei Schloß Amerongen einfuhr. Überall Schlamm, Pfützen,
nasse letzte Blätter und weithin graue, flache Landschaft. Unter
Regenschirmen warteten einige Dutzend Berichterstatter und allerlei
neugieriges Volk nebst holländischen Soldaten und Gendarmen. Langsam
krochen die schwarzen Wagen heran, mit heruntergelassenen Gardinen, ein
Leichenzug. Der Kaiser, in feldgrauer Generalsuniform, mit Mütze und
Pelzmantel, steigt mit seinen Leuten aus. Er begrüßt in seiner raschen
alten Weise seine Gastgeber. Die Zeitungsherren schweigen; ein paar
Zurufe ertönen; er will in gewohnter Freundlichkeit militärisch danken,
doch die Hand zuckt wieder vom fahlen Gesicht zurück: denn schrille
Pfiffe fahren darein. So geht er schnell zum Auto. In einem Kraftwagen
unmittelbar dahinter nimmt ein niederländischer General Platz, der
Leiter des Internierungsdienstes. Und nun ein peinliches Warten bei
strömendem Regen und ungehemmt herandrängender Menge, die den Monarchen
anstarrt. Einem alten General in des Kaisers Gefolge rollen die Tränen
aus den Augen. Endlich sind die zahlreichen Koffer auf Lastautos
umgeladen. Der Zug der Kraftwagen setzt sich unter schwachen Zurufen
in Bewegung und verschwindet zwischen herbstnassen Büschen und
emporspritzendem Schlamm in der Richtung nach Amerongen.

Der Offizier schwieg.

Es ging eine Bewegung der Teilnahme wie von einem inneren Weinen durch
die Versammelten. Sie alle waren freiheitlich gestimmt, wie das ja dem
Süddeutschen und zumal dem Badenser im Geblüt liegt; aber sie hatten
auch Verständnis für Ehrfurcht. Besonders der bewegliche, in Gebärden
und Sprechweise jugendlich wirkende Professor Lobsann lief einige Male
hin und her, angeblich um Streichhölzer zu suchen, in Wahrheit um eine
Träne zu verbergen.

»Und im Berliner Schloß«, stellte einer der Anwesenden fest, »hält
ein wahnsinniger Hetzer aus demselben Fenster Ansprachen, aus dem
bei Kriegsbeginn der Kaiser gesprochen -- der Kaiser, dem auch die
Sozialdemokratie zugejubelt hat! Und in den Schloßräumen hausen die
meuterischen Matrosen, denen grade dieser Monarch seine ganze Liebe
geschenkt hatte. Man möchte ausspucken, wenn man auf der Straße eine
Matrosenuniform sieht.«

So suchten sich die Herzen zu erleichtern. Bitter gebrandmarkt
wurde besonders die ungeheuerliche Verschwendung der nunmehrigen
Parteiherrschaft, unter der auch die Soldaten für ihre Wachen gut
bezahlt wurden, während gleichzeitig die Arbeiter durch Streikdrohungen
geradezu unerhörte Löhne erpreßten. Mammon, überall der fluchwürdige
Götze Mammon!

Ein anwesender höherer Beamter mit abgearbeiteten Zügen bekam einen
Zornanfall.

»Arbeiter! Arbeiter!« rief er mit rotem Gesicht und geschwollener
Stirnader. »Sind wir denn nicht alle Arbeiter?! Haben wir denn
nicht für das Staatsganze gearbeitet bis zum Umfallen?! Erhält eine
Munitionsarbeiterin nicht dreimal so viel Gehalt als wir alten,
abgeschafften Aktenmenschen? Welcher Teufel und Dämon hat denn
dem deutschen Volke seit Jahrzehnten dieses Wahnsinnsgedudel vom
unterdrückten Arbeiter vorgesungen? Wurde nicht die Arbeiterschaft
verhätschelt und verpäppelt, seit der Kaiser zur Regierung kam? Hat er
nicht ihretwegen Bismarck weggejagt?! Und das ist nun ihr Dank! Stellen
Sie sich einmal unter die Leute beim Milchholen oder beim Bäcker,
wenn unsre braven Hausfrauen in dieser Dienstbotennot dort mitwarten
müssen -- und hören Sie das unflätige, freche Reden der Arbeiterfrau
mit an! Diese Menschen hat der Satan geführt seit Jahrzehnten, aber
nicht der liebe Gott. Mag unser pflichttreuer Hohenzoller gefehlt haben
-- diese Bande ist nicht berufen, wahrlich nicht, ein um Preußen so
hochverdientes Königsgeschlecht abzusetzen!«

So machte sich dieser Gerichtsbeamte Luft.

Und die Anwesenden stimmten kräftig bei. Auch Ingo. Doch immer auf
Ausgleich bedacht, streifte der Thüringer die Asche von seiner
Zigarette und sagte wie im halben Selbstgespräch:

»Wohl wahr! Immerhin ... Als ich zuletzt durch Weimar kam -- vor
einigen Monaten --, sah ich ein paar junge Damen der gebildeten Stände
aus einer dortigen Teestube in die Dämmerung heraustreten, trällernd,
frech und Zigaretten rauchend. In der Schillerstraße ähnliche
moderne Erscheinungen: blecherne, laute, leere Stimmen, Faltenröcke,
Gamaschen, dreister Blick. Das ist weibliche Jugend mancher besseren
Stände. Wohlgemerkt: in Weimar, nicht in der berüchtigten Berliner
Tauentzienstraße! Wenn man als vielgereister Europäer den Blick für
diese Dinge übt, so entgeht einem nicht eine wichtige Tatsache:
die Roheit der unteren Stände ist nur die Widerspiegelung des
Seelentiefstandes der oberen. Das, Herr Geheimrat, möchte ich als
Ergänzung zu Ihren durchaus richtigen Beobachtungen hinzufügen. Und
du, Richard: weißt du noch, wie wir einmal auf meinem Gut Waldeck an
einem Winterabend beisammen saßen und vom unbeseelten Deutschland
sprachen? Das war schon ein bis zwei Jahre vor dem Weltkrieg. Ich habe
mich merkwürdig oft mit dem Kaiser im Traum beschäftigt; ich fühlte,
daß er mit seinen unruhigen Reisen und Festen auf falschem Wege war,
denn ich selbst hatte lange mit solchem Reisedrang zu kämpfen gehabt.
Freund Trotzendorff« -- Ingo fügte das lächelnd hinzu -- »hatte
übrigens den freundschaftlichen Ehrgeiz, mich auf Grund meines Werkes
über Heldentum und Friedrich den Großen persönlich mit Seiner Majestät
zusammenzubringen. Nun, es ist ihm ja auch gelungen, und zwar auf der
Wartburg. Ich hatte gar viel auf dem Herzen, was ich dem Kaiser sagen
wollte, besonders über sein Nicht-Verhältnis zu Kunst und Dichtung.
Aber ich bin gar nicht zu Worte gekommen. Majestät wußte schon alles,
wenn nicht mehr. So war denn die Unterredung kurz, schmerzlos und
nichtssagend. Ich denke mit Wehmut daran zurück.«

»Leider!« nickte der Geheimrat. »Majestät wußte immer alles, wenn nicht
mehr. Er redete nur, er fragte nicht. Und in Wahrheit, meine Herren,
war er im Innern oft recht unsicher: er hat es nur durch forsche Reden
verdeckt.«

Nun wob Lobsann eine feine Bemerkung ein:

»Sie wissen, meine Herrschaften, in der nordischen Edda ist vom
Weltbrand die Rede. Alle Asen-Götter gehen unter. Einer jedoch überlebt
und tötet die Midgardschlange. Dieser eine ist Widar. Und ihn, den
sonst wenig bekannten, fast geheimnisvollen Gott, nennen die Sänger den
 ›schweigsamen Asen‹. Widar der Schweigsame überlebt. Wo mag er stecken,
unser Widar, der nicht viel redet, sondern handelnd den neuen Himmel
und die neue Erde heraufführen hilft?«

Ingo war entzückt von diesem Gedanken. Er schüttelte dem nicht gern
vortretenden, doch manchmal sehr sinnig eingreifenden Gastherrn in
seiner liebenswürdigen Weise die Hand.

Jetzt trat mit leichten, zierlichen Schritten Frau Cäcilie ein und
brachte Mozartsche Stimmung in den schweren Gesprächston. Und zugleich
mit ihr einige neue Gäste: ein Stadtpfarrer und ein Musikdirektor mit
ihren Frauen. Sie hatte die elsässischen Zeitungen und Bildpostkarten
mit herübergebracht. Und sogleich nach dem Begrüßungsaustausch spann
sich das Gespräch in dieser neuen Richtung weiter.

Was für ein Anblick für den Elsässer Arnold, als er die »Straßburger
Neue Zeitung« vom 22. November entfaltete! In fetten Buchstaben
obenan ein »=Vive la France!=« Das Blatt hatte jetzt einen
französischen Untertitel und französische Aufsätze vor den deutschen.
Und sieh an: Als verantwortlicher Direktor zeichnete da noch immer
derselbe Maler und Mundartdichter, dem einst der Kaiser persönlich den
Roten Adlerorden mit schmeichelhaften Worten überreicht hatte! Jetzt
aber -- was für Anhimmelungen Frankreichs! Ein andres Blatt war die
sozialdemokratische »Freie Presse«, äußerlich und innerlich noch übler
anzusehen. Da wurden die Beschauer gleich von einer Riesenüberschrift
»Wilhelm die Memme« angefunkelt. »Feig wie ein Hund« -- »bei
Wilhelminchen Schutz und Hilfe suchen« -- »Großmaul« -- so spie dieses
Gewürm, dieser Elsässer!

Dann die Bildkarten, die von Hand zu Hand gingen: Parademarsch der
Franzosen vor dem Kaiserpalast -- Festgewimmel um das fahnenumwogte
Kleberdenkmal -- jauchzendes Volksgedränge, fahnenschwingende Jugend --
hier ein begeisterter junger Mensch, der dem französischen General das
Pferd am Zügel führt -- --

So also sah es jetzt in Straßburg aus.

»Was sagt Fanny dazu?« fragte Arnold. »Und wo bleibt sie?«

Frau Lobsann erzählte von dem Besuche des durchreisenden
Lazarettgehilfen, der Paket und Brief von Schwester Lisy gebracht, und
von der Schändung des Kaiserdenkmals. Arnold horchte hoch auf, als
er vernahm, ein Verwandter Fannys habe sich an dem häßlichen Vorgang
beteiligt.

»Ein Verwandter?« fragte er mit fast erschrockenem Staunen. »Das kann
doch nur ihr Bruder sein --?«

»Dem sie den Haushalt führen will«, setzte Cäcilie bedeutsam hinzu. Und
ein höchst gespannter Zug trat auch in ihr Antlitz.

Arnold verstand diesen fragenden Blick. Er nickte ihr zu und
entschuldigte sich bei der Gesellschaft: »Ich will zu ihr hinübergehen.
Ich fühle, sie macht eine wichtige Entscheidung durch.«

Und er begab sich zu seiner Leidensgenossin.

                   *       *       *       *       *

»Du hast einen Brief von Lisy bekommen, Fanny?«

Gedankenlos hatte sie auf Arnolds Pochen »=entrez!=« gerufen nach
ihrer elsässischen Gewohnheit. Und als er ins Zimmer trat, bot sich
ihm ein sonderbarer Anblick, der ihn wie ein schwermutvolles Gleichnis
durchdrang.

Fanny stand im letzten goldbronzenen Winterlicht, das sich bereits
mit dem Schimmer des Mondes mischte, am Fenster und hatte das
Paket auszupacken begonnen, wobei sie gerade eine fast armslange,
schneeweiße Gipsfigur betrachtend in die Höhe hob. Diese Figur war eine
überaus schlanke Frauengestalt mit entzückenden Biegungen des hohen
Leibes und nicht minder bewundernswertem Faltenfluß des Gewandes; der
Stab in ihrer Rechten war zerbrochen, der gesenkte Kopf trug eine feine
Binde über den Augen, und in der lang und matt herunterhängenden Linken
war eine Schriftrolle. Die ganze Figur atmete Trauer.

»Was hast du denn da?«

»Das schickt dir Lisy«, erwiderte die Elsässerin.

Mit einem leisen Ausruf des Entzückens erkannte er jetzt die Gestalt.

»Wie lange schon habe ich mir diese beiden Figuren gewünscht! Die gute
Lisy! Es ist wohl auch die zweite dabei?«

Fanny stand schon über das Paket gebeugt und entnahm der Holzwolle auch
die zweite Statuette.

Diese Gestalt trug eine Krone auf dem Haupt, einen unzerbrochenen
Stab mit dem Kreuz in der Rechten, in der Linken aber einen Kelch;
sie wirkte weniger schlank als die biegsam-anmutige andere, dafür
aber priesterlich und königlich: ein breiter Mantel wallte von den
Schultern. Freundlich und tröstend schaute diese Siegerin hinüber zu
der Verblendeten und Besiegten.

Es war ein Gipsabdruck jener beiden bewundernswerten Standbilder, die
am Seitenportal des Straßburger Münsters jeden Besucher entzücken. Die
sieghafte Gestalt mit Kreuzesfahne und Gralskelch pflegt man als die
christliche Kirche zu bezeichnen, die andre als die Synagoge. Aber für
Arnold erhob sich aus den weißleuchtenden Figuren, die fortan seinen
Schreibtisch zieren sollten, eine andre Symbolik.

»Das zerbrochene, blinde, schmerzvolle Elsaß!« rief er aus und hob die
Trauergestalt mit beiden Händen ins Licht empor. »Nein, mehr noch:
die ganze unerlöste Seele der Menschheit überhaupt, die sich noch
nicht durchgerungen hat zur Liebe! Sieh, Fanny, und hier das Kreuz
der opfermütigen Liebe und der Gralskelch der Weisheit, aus dem der
Gottsucher Mut des reinen Lebens trinkt! O wie sinnig von Lisy, wie
schön, wie schön, mir dies als letzten Gruß aus dem Elsaß nachzusenden!
Die treue Seele!«

Auch Fanny hatte Gutes erhalten: feinste, weiche Wolle und mehrere
Tafeln ihrer Lieblingsschokolade, die sie schon so lange vermißt hatte,
nebst andren angenehmen Kleinigkeiten des Haushaltes.

Dann übergab sie ihm mit ernstem Gesicht Lisys Brief.

Er las:

                       Meine liebe, liebe Fanny!

  Durch einen braven Menschen, den ich kürzlich im Lazarett kennen
  gelernt habe, erhältst du diesen Gruß aus dem nun so ganz andren
  Elsaß. Stell' die Figuren auf den Schreibtisch meines lieben Vetters
  und eigne dir selbst das übrige an. Was soll ich euch schreiben?
  Wenn ich's nicht erlebt hätte, ich hätt's nie geglaubt, daß so viel
  Haß und Gemeinheit in unseren Leuten steckt. Einige Tage war ich
  im oberen Elsaß. Dort predigte ein evangelischer -- merk' wohl,
  kein katholischer -- Geistlicher, daß wir achtundvierzig Jahre
  Knechtschaft hinter uns hätten; ein andrer stellte in seiner Predigt
  Betrachtungen über Blau-Weiß-Rot an: daß man lange sehnsüchtig
  gewartet, ob sich das Blau des Himmels und der Hoffnung oder das
  Schwarz der Trauer mit dem Weiß-Rot der Elsässer verbinden würde.
  Im Gotteshause hing die Trikolore! Kindern hat man Naschereien
  gegeben, damit sie ja recht mit Straßenschmutz auf die ausgetriebenen
  Altdeutschen werfen. Der einziehende französische General hat in
  seiner öffentlichen Rede wohl fünfmal das Wort ›Boche‹ benutzt.
  So unritterlich ist diese einst ritterliche Nation geworden.
  Aber das Schändlichste hab' ich in Straßburg erlebt. Denk' dir
  nur, sie haben das Standbild des alten Kaisers Wilhelm in Stücke
  geschlagen! Und mich mußte mein Schicksal grade am Platz in später
  Stunde vorüberführen -- ach, Fanny, um wen und was wohl zu sehen
  und zu hören? Daß dein eben aus Frankreich mit den ersten Truppen
  eingezogener Bruder bei den Cercleleuten war, die das getan haben!
  Ich hab' ihm zugerufen, aber sie haben mich nicht beachtet. Mein
  Herz hat Tränen geweint, und ich hab' kaum noch den Weg in meine
  Finkweilerecke gefunden. Ich bin noch schwach von der Grippe. Alice,
  die treue Freundin, hat mich gepflegt. Ihr Vater ist interniert, Gott
  mag wissen, warum! Sobald es angeht, wandern auch sie über den Rhein.
  Mich zwingt es innerlich, hier zu bleiben und zu sehen, wie weit ich
  meiner unglücklichen und verblendeten Heimat dienen kann. Aber für
  Vetter Arnold ist hier allerdings keine Luft mehr. Gott behüt' euch!
  Bleibt mir gut, wie euch immerdar aus tiefstem Herzen lieb behält

                                                         eure ~Lisy~.
Arnold hatte gelesen.


Fanny stand derweil am Fenster zwischen den beiden weißen Figuren und
hatte die Stirn an die Scheibe gedrückt.

Jetzt wandte sie sich um.

Sie schauten sich voll ins Gesicht.

»Onkel Arnold,« sprach sie mit der so oft aus ihr herausbrechenden
offenen, tiefernsten Wahrhaftigkeit, »kannst du dir vorstellen, daß ich
meinem Bruder den Haushalt führe? Kannst du dir vorstellen, daß ich in
ein solches Elsaß zurückkehre und dich allein lasse?«

Er faßte aufleuchtend ihre beiden Hände.

»Fanny! Liebste Fanny!«

»Du kennst mich genug«, fuhr sie fort. »Du weißt, daß ich wohl immer
Liebe gesucht, niemals Liebesgeschichten. Und du wirst mir die Kraft
zutrauen, daß ich auch unvermählt bei dir bleiben kann -- als deine
Tochter und Pflegerin und, wenn's gelingt, vielleicht ein wenig
Mitarbeiterin. Traust du mir das zu?«

»Aber Erwin -- und wer sonst etwa Anspruch auf dich erheben könnte von
all den tüchtigen jungen Männern in Deutschland, die sich jetzt nach
Weib und Heim sehnen?«

»Erwin wird seine Hertha finden. Und die andern jungen Männer finden
Mädchen genug. Aber du bist einsam. Du schließest dich viel zu schwer
an jemand an. Doch falls du mich brauchen könntest -- -- Vater, ich
habe keine Heimat mehr als dich. Behalt mich bei dir!«

Die letzten Worte klangen so innig, daß er sich zu dem unaussprechlich
hold vor ihm stehenden Mädchen hinabneigte und nach alter zarter Weise
ihren Mund küßte. Er konnte kaum seine Tränen zurückhalten, als er in
das blasse, bittende Gesichtchen sah. Sie hatte ihn zum ersten Male
Vater genannt.

»Wir wollen einander Heimat sein, liebes Kind«, sagte er leise.

Dann nahm er die weiße Trauerfigur vom Fensterbrett, Fanny die
sieghafte andre -- und so gingen sie miteinander hinüber zur
Gesellschaft.

                   *       *       *       *       *

Die seelisch verarmte und viel umhergetriebene moderne Menschheit sucht
lange schon nach einer edlen Lebensgemeinschaft. Aber es blieb vor dem
Kriege meist bei pflichtmäßigen Abfütterungen oder bei dem üblichen
Vereinswesen. Dazwischen sammelten sich da und dort stille Inseln,
heilige Haine, wo sich beseelte Menschen in festlichen Zwiesprachen
miteinander austauschten.

Erst der Weltkrieg führte die Herzen näher zusammen.

Man hatte auch im Hause Lobsann jene schöne Form der Geselligkeit
gewählt, wo nicht mehr Mahlzeit und Rangordnung, sondern die zwanglose
Aussprache die Hauptsache war. Es wurde Wein nebst Zigarren für die
Herren, Tee und Gebäck für die Frauen herumgereicht; und es fehlte
nicht an ehrlich bewunderten belegten Brötchen. Aber zumeist erfreute
das herzlich belebte, geistig hochgestimmte, künstlerisch verschönte
Gespräch.

Ein dem Hause befreundeter Dichter trug nach ungezwungenen
Einleitungsworten etliche Verse vor. Dann sang Frau Lobsann deren
Vertonung, wobei der Musikdirektor begleitete. Leicht knüpfte sich eine
Unterhaltung darüber an, inwiefern der Tonkünstler dem Dichter gerecht
worden war oder aus Eigenem Stimmungen hineingetragen hatte. Weitere
Lieder folgten, Präludien von Bach, Tonstücke von Liszt, Schubert und
Schumann flochten sich ein. Sowohl Fanny als auch Ingo und Arnold
hielten heute ihr laienhaftes Temperament zurück und spielten nicht;
der Gatte der Künstlerin und der Musikdirektor, ein ausgezeichneter
Lisztkenner, widmeten sich dem Klavier.

Fanny war in so großem und neuem Kreise zunächst scheu. Als sie mit
ihrem väterlichen Freunde eintrat, knüpfte das Gespräch naturgemäß an
die eigenartigen Statuetten an. Da erst entdeckte Arnold auf dem Rücken
der beiden Bilder eingegrabene Worte. Auf der Siegergestalt las er den
Satz: »Mit Jesusblut überwind' ich dich«; und zwischen den schmalen
Schultern der abgewandten Trauernden fand er die Worte: »Dasselbig Blut
erblendet mich«.

Das gab ihm Anlaß, mit unerwartet ausbrechendem Feuer über die Aufgabe
der deutschen Zukunft zu sprechen.

»Unsere elsässische Freundin, die dort zurückbleibt, schickt uns da
eine großartige Mahnung aus dem Eliland, aus dem nunmehrigen Fremd-
und Elend-Land. Wir sollen durch verstärkte Liebe, durch opferfreudige
Liebe -- denn das ist Jesu Blut -- dem bisherigen Zeitgeist den Speer
zerbrechen, die Augen erblenden und die anklagende Schriftrolle aus
der Hand ringen. Der Theosoph würde sagen: wir sollen Luzifer und
Ahriman in Christus umwandeln oder Bosheit in Güte. Der Apostel hat es
ausgedrückt: Überwindet Böses mit Gutem! Sehen Sie, da hab' ich meine
ganze künftige Lebensaufgabe in sichtbaren Zeichen vor mir auf meinem
Schreibtisch stehen! Haß wird nicht durch Haß überwunden, nur durch
schaffende Liebe!«

Ingo von Stein, der sich nach den Zerrüttungen des Weltkriegs
auf verinnerlichte symbolische Lebensbetrachtung freute, ging
mit Verständnis auf diese Gedanken ein. Er fühlte sich von den
durchgeistigten Zügen des hochgewachsenen Pfarrers und Professors immer
wieder angezogen und erzählte ihm von seinen eigenen, durch den Krieg
unterbrochenen Arbeits- und Bauplänen.

»Lobsann besitzt hier ein eigenartiges Haus, nicht wahr?« sprach der
Spielmann. »Dieser Monumentalbau hat ja da unten geradezu Katakomben.
Ich könnte mir ausmalen, daß man hier Grotten und einen Geheimtempel
in den Berg hineinbauen und eine auserwählte Geisterschaft zu einem
Geheimbund versammeln könnte, etwa wie in Goethes Wanderjahren.«

»Einen Orden der Entsagenden?« bemerkte Arnold lächelnd. »Sehr fein,
wenn sie Irdischem entsagen und Höheres gewinnen, also zugleich
Schaffende sind.«

Ingo war es auch, der neben Frau Cäcilie und dem gastlichen Hausherrn
allvermittelnd und feinfühlig die Verbindung zwischen den einzelnen
Gästen herstellte. So schleppte er seinen zugeknöpften, an Vertrutzung
leidenden Trotzendorff zu Fanny am Arm heran, damit er -- wie er
scherzend bemerkte -- Zeuge werde einer regelrechten Liebeserklärung.

»Verargen Sie mir's nicht, mein gnädiges Fräulein,« sprach er, »ich
gestehe hiermit eine alte Schwäche für Elsässerinnen. Einmal bin ich
einer Landsmännin von Ihnen bis nach Barcelona in Spanien nachgereist.
Und eine meiner Urahnen stammt aus dem oberen Elsaß. Obschon ich
sehr, sehr glücklich verheiratet bin, ich kann's nun einmal nicht
lassen, mich an jungen Mädchen zu freuen -- nebenbei mit gütiger
Erlaubnis meiner ganz von Eifersucht freien Herrin --, so recht zu
freuen, wie man sich an schönen Bildern und guter Musik ergötzt. Zu
meinen Lieblingsdichtern gehört Herr Walther von der Vogelweide; und
ich selber singe gern zur Laute. Gnädiges Fräulein, was will ich mit
alledem sagen? Es ist die verblümte Form für eine Einladung nach Haus
Stein-Waldeck in Thüringen. Sie wären die erste nicht -- wie meine Ahne
Octavie beweist --, die den Weg vom Elsaß nach Thüringen zu rechter
Zufriedenheit zurücklegen würde.«

Es war nichts Besonderes, was er sagte; doch spürte man sein Bemühen,
der Vereinsamten einige ritterliche, herzlich gemeinte Artigkeiten zu
verabreichen.

Allein Frau Lobsann kam dazu und wehrte sich scherzend: »So, so, Sie
wollen uns Fanny weglocken? Da wird nichts draus! Wir stehen der
Romantik näher als dem Klassizismus, Goethe ausgenommen. Und die
Romantik gehört in das blühende Heidelberg, nicht in das dürftige
Thüringen.«

Jetzt raffte sich sogar der Preuße Trotzendorff auf, überwand seine
wuchtende Sorge und Bitternis und mischte sich in den Wettkampf der
Worte und der Herzen.

»Erlauben Sie mir zu sagen, daß Elsaß immer noch Reichsland ist,
demnach mehr zu Berlin-Potsdam als zu Heidelberg und Thüringen gehört.
Ich spreche also auch meinerseits eine Einladung aus. Deutschland hat
zwei Seelen: die eine heißt Weimar, gnädiges Fräulein, da kann Ihnen
mein Freund Stein Führer sein, gehen Sie aber weiter nach Potsdam und
Sanssouci -- da werden meine Frau und ich Ihnen gern unsre bescheidene
Gastlichkeit bieten.«

Arnold saß schweigend daneben. Er rauchte seine Zigarre und dachte
manches; aber er sprach es nicht aus; denn das lag hinter ihm. Er
dachte: Sieh an, wie man sich da um die elsässische Seele bemüht! O
ihr lieben Deutschen, hättet ihr doch das ein wenig früher getan!

Lobsann hatte einige befreundete Professoren eingeladen. Er wollte
sachte anpochen und lauschen, ob sein elsässischer Freund sich wieder
in den Lehrkörper der Universität einfügen ließe. Doch Arnold winkte ab.

Es gibt vornehme, schicksalbelastete Menschen, zu deren Lebensleid eine
feine seelische Einsamkeit gehört; sie sind einmal in entscheidender
Stunde zu kurz gekommen, weil der ihnen nötige Vorrat von liebendem
Verständnis ausgeblieben; da hat sich etwas in ihnen zugeschlossen.
Sie bleiben auf Erden heimatlos; und sie sprechen wenig über ihre
himmlische Heimat, weil sie auch über dieses Heiligste nur wieder
Mißverständnis und Gleichgültigkeit befürchten müssen.

Arnold war in diesen Zustand eingetreten.

»Wieder Professor?« sprach er mit herb ablehnendem Lächeln. »Nein,
Freund, ich bin mit meiner professoralen und pastoralen Weisheit
gleichermaßen zu Ende. Es soll übrigens, sagen einige, auch an den
deutschen Universitäten Nährboden vorhanden sein für den Bazillus des
Neides. Und mir persönlich scheint, daß es just das Professorentum
oder der Papier-Verstand ist, was wir überwinden müssen. Deutschland
braucht Seele. Sehen Sie, lieber Freund, dort liegen Stöße von
schriftstellerischen Arbeiten, die alle aus der Gelehrsamkeit in die
Schlichtmenschlichkeit übersetzt sein wollen. Ich gestehe Ihnen, daß
ich von dem lauten, würdelosen, meuternden und streikenden Deutschland
angewidert bin. Dieses hadernde Volk ist auch geistig keine Einheit
mehr. Alles haben sie in Geschwätz und Vernünftelei aufgelöst, auch
Christus und das Reich Gottes. Sie gehorchen nicht Gott, sondern
dem Zeitgeist. Daher sind sie auch von Gott als Großmacht verworfen
worden. Wie hat dieses gegenwärtige Deutschland seine Genies behandelt,
einen Richard Wagner, einen Bismarck! Nein, nein, dieses Land der
lauten Mittelmäßigkeit, nur durch Drill zusammengehalten, hat schon
lange keine Ehrfurcht mehr. Nun hoffe ich noch auf eine Auslese, auf
das heimliche Deutschland, auf jene Großmacht des Herzens, deren
Weisheit aus Märchen, Mythos und einzelnen Meistermenschen uns
entgegenleuchtet. Dieser Großmacht will ich in aller Stille zu dienen
suchen. Nicht also dem Papier, sondern dem königlichsten Stoff, den
dieser Planet beherbergt: der gottsuchenden Menschenseele.«

Und über seine Züge verbreitete sich ein warmes Leuchten, als er nun,
mit einer Wendung zu der nahe sitzenden Hausfrau, auf Fanny deutete und
eine Hauptsache aussprach, die bis jetzt noch nicht gesagt war: »Sie
bleibt!«

»Sie bleibt?!«

Die Künstlerin in ihrem warmherzigen Rokoko-Naturell sprang lebhaft
auf, packte Fannys Köpfchen und küßte sie.

Man wurde aufmerksam und unterbrach das Gespräch.

»Sie bleibt?«

So ging es fragend und flüsternd von Mund zu Ohr.

»Wer? Wieso?«

Und Ingo fügte hinzu:

»Werden hier von schönen Frauen Küsse ausgeteilt, wenn man bleibt?«

Jetzt klopfte Professor Lobsann frohgemut ans Glas.

»Sie bleibt! Meine Damen und Herren, sie bleibt! Sie alle beginnen
einen Rundgesang und fragen, was das heißt. Sie wissen es nicht,
deshalb muß ich es Ihnen erklären. Wir haben unser Elsaß verloren;
von allen Seiten hören wir mit Bitterkeit, wie deutsche Brüder unter
Drangsalen von dort ausgejagt werden oder durch Auswanderung dieser
Schmach zuvorkommen. Zwei dieser wertvollen Menschen, die durch großes
Leid gegangen sind, haben wir hier in unsrer Mitte. Es war meiner
Frau und mir eine Herzensfreude, ihnen dieses Haus zur Verfügung zu
stellen. Aber unsre liebe Elsässerin wollte schon in den nächsten Tagen
in die Heimat zurückkehren. Das war uns schmerzlich, doch wir ehrten
ihren Entschluß. Nun hören wir, daß sie aus irgendeinem Grunde -- ich
vermute, der Zauber hängt mit diesen beiden Figuren zusammen -- sich
entschlossen hat, hierzubleiben für immer. Daher, meine Damen und
Herren, unser freudiger Ruf: sie bleibt! Und so hält unser Herz dennoch
das Elsaß fest. Denn viele Gute von dort kommen zu uns. Und gemeinsam
wollen wir, die ausgewanderten Edelsassen und die im Reiche wohnenden
Edeldeutschen, durch Leid geläutert die deutsche Seele bauen. Es ist
Elsässer Wein, den ich Ihnen hier vorgesetzt habe, meine Herren! Stoßen
Sie mit mir an! Unsere liebe, nie zu vergessende deutsche Westmark --
und das beseelte Reich!«

Die Gläser klangen.

Fanny und Arnold standen Hand in Hand.

Und der Schimmer der zusammenklingenden, mit goldgelbem Wein gefüllten
Pokale fiel auf das Straßburger Münster, das groß und still an der Wand
hing.

                                 Ende.




                  Weimar und Westmark -- Edelgut,
                  Bezahlt mit Geist, bezahlt mit Blut.

                  Geistland und Grenzland, Wort und Wehr --
                  Das Wort nehmt ihr uns nimmermehr!

                  Und raubt ihr uns des Reiches Mark,
                  So bleibt uns doch der Goethepark

                  Und neben Weimars heil'gem Hain
                  Der Wartburg geistbelebter Stein.

                  Die deutsche Kraft besinnt sich dort:
                  Und starke Wehr wächst aus dem Wort.

                  Uns aber, die wir heimatlos,
                  Geziemt es: duldet still und groß!

                  Das unbeseelte Reich zerbrach,
                  Wir stehn vor aller Welt in Schmach;

                  Nun bleibt uns aufzubaun ans Licht
                  Ein Seelenreich, das nie zerbricht.

                  Hier, deutsche Jugend, ist die Bahn:
                  Beseelt Neudeutschland! Fanget an!

                    ~Weimar, 21. November 1918~











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