Der graue Alltag und sein Licht : Roman

By Felicitas Rose

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Title: Der graue Alltag und sein Licht

Author: Felicitas Rose

Illustrator: H. Krahforst

Release date: December 21, 2024 [eBook #74959]

Language: German

Original publication: Berlin: Deutsches Verlagshaus Bong & Co

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER GRAUE ALLTAG UND SEIN LICHT ***





    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter
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    Buches.




Felicitas Rose · Der graue Alltag und sein Licht

[Illustration]




    Der graue Alltag
    und sein Licht

    Roman

    von

    Felicitas Rose

    Mit 26 Originalzeichnungen von H. Krahforst

    59. bis 68. Tausend

    Berlin / Leipzig
    Deutsches Verlagshaus Bong & Co.




        Meinen verehrten Gastfreunden
        _Käthe_ und _Ludwig Povel_
        in Dankbarkeit


    Alle Rechte, auch das der Übersetzung in andere Sprachen,
    vorbehalten
    Copyright 1922 by Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin
    Druck der Graphia Akt.-Ges. vorm. C. Grumbach in Leipzig




1.


Welch wunderliches Erlebnis, zur Erbin des »grauen Alltags« ernannt
zu sein! In unserer Familie ist seit Generationen ein Suchen nach
Licht gewesen, ein Hunger nach Freuden und Sonntagen. Und ein Durst
nach Arbeit, Pflichterfüllung und schöner Ruhe. Was fange ich mit dem
grauen Alltag an? Zu lesen steht es in dem großen, gelben Aktenbogen,
der sich auf meinem altmodischen Schreibtisch breitmacht. Das steife
Papier rollt sich eigenmächtig auf und wieder zusammen. Dann gibt es
einen knisternden Knack: »Ich bin hier,« sagt dieses Knistern, »du
schaffst mich nicht aus der Welt, auch nicht wenn du den Kopf in den
alten Sorgenstuhl einwühlst. Vogelstraußpolitik? Schäm’ dich!« Und des
Holzwurms Ticken und Bohren, der im Innern des Schreibtisches rumort,
klingt wie Entrüstung. Der gelbe Aktenbogen sagt:

»Laut Testament der Erblasserin ist Freiin Jesuliebe-Brigitte v. Lage
in Erfurt (Thüringen) die Universalerbin des grauen Alltags.«

Die Erblasserin ist vor 25 Jahren meine Taufpatin gewesen. Sie war
weitläufig mit uns verwandt, »von sieben Suppen eine Schnitte«, wie
der Volksmund sagt. Aber gerade diese eine Schnitte hat trotz ihres
wunderlichen Beigeschmackes meinen Eltern immer gemundet. – Trotzdem
dachte niemand von uns Thüringer Lages an den grauen Alltag. Da kam
Tante Jesuliebe einmal drunten von der holländischen Grenze zu uns
nach Erfurt. Wie ein altes Bild. Als ob die Zeit stehengeblieben sei,
oder als ob die Biedermeierkleidchen, die sie als Kind getragen, mit
ihr zugleich gewachsen seien: Die Eltern schickten sich in großer
Feierlichkeit an, Tante Jesuliebe in »Gückels Staatswagen« abzuholen,
während ich mich dem Mitfahren geschickt entzog und lieber hinter einem
Pfeiler an Silbers Hotel versteckt die Ankommende beobachten wollte.
In diesen Vorbereitungen stöberte mich ein wunderliches Lebewesen auf,
indem es mir einen riesengroßen, roten Regenschirm reichte, wie ihn
die Bauern an Markttagen über sich spannen. Dazu schrie es mich an:
»Was lungerst und kuckst du? Siehst du nicht, daß es regnet? Spann’
mir den Schirm auf, nimm mir einen Teil Sachen ab, und dann zeig’ mir
das schöne, alte Erfurt.« Ihre durchdringenden, grauen Augen sahen
mich so stolz und heischend an, daß ich, in altväterischem Gehorsam
erzogen, keinen Widerspruch wagte, sondern das Schirmungetüm öffnete.
– Darauf hing sie noch an meinen linken Arm ein Marktnetz, das mit
einem Zeitungspapier ausgelegt war: »Nachrichten aus der Grafschaft
Bentheim.« Bepackt war es mit Haar- und Kleiderbürsten, mit Kämmen,
Zahnbürste, Seife und Schwämmen bis oben hin. Sie selbst trug eine
große, mit roter Wolle gestickte Reisetasche, die den preußischen
Adler in schwarzweißen Perlen zeigte. Auf der Rückseite war in
gelber Seide riesengroß »~Bon voyage~« gestickt. So zogen wir durch
Erfurt und hatten ein großes Gefolge hinter uns von Schuljugend
und kopfschüttelnden und lachenden Müßiggängern. Ich kam aber gar
nicht zum »Schenie«, wie der Erfurter sagt, denn meine Unbekannte
erzählte so herrliche Geschichten von jedem alten Hause, von jeder
lutherischen oder katholischen Kirche, daß ich ganz glückselig zuhörte
und schließlich meinte, sie müsse ja wohl in Erfurt geboren sein, was
denn auch der Wahrheit entsprach. »Vor 200 Jahren«, rief sie pfiffig.
Und dann standen wir schließlich vor dem alten Kloster, darinnen mein
Vater seine Amtswohnung hatte, und die alte Dame meinte, just dahinein
wolle sie, und es schiene ihr beinahe, als sei ich ihr Patenkind
Brigitte-Jesuliebe Lage. – Oben fanden wir Vater und Mutter und die
alte Köchin recht mißmutig vor, da die Großtante nicht angekommen sei.

[Illustration]

»Lieber Herr Vetter, ich fahre nicht gern im Wagen rasch nach Hause,
sondern mache in jeder Stadt gern einen kleinen Umweg zu Fuß«,
bedeutete ihm damals der unverhoffte Gast. Der »kleine« Umweg hatte
zwei und eine halbe Stunde gedauert, und ich hatte den Krampf in beiden
Armen. Aber lustig war’s gewesen, und die alte Marie kochte frischen
Kaffee, und die Thüringer »Kräpfel, Wuchteln und Maulschellen«, das
Erfurter Eigengebäck, bildeten gleich das Abendbrot.

Großtante Lage aß 15 Stück davon, nahm immer nach je dreien einen
Löffel Bullrichsalz und ging dann gleich hochbefriedigt zu Bett. –

Der rote Regenschirm von der Großtante ist schuld, daß ich Erbin des
grauen Alltags bin. Mit dem roten Regenschirm hat sie alljährlich
der Reihe nach ihre Neffen und Nichten erprobt, die weit näher als
wir mit ihr verwandt waren. In Bayern, in Schlesien, in Pommern, in
Württemberg und in Holland war sie, aber überall hatte sich die Jugend
geweigert, mit ihr und dem Schirm durch die Straßen zu ziehen. Viel
Grobheit und Verlachen und eitel schnippische Antworten sind ihr zuteil
geworden; weiß nicht, welch guter Engel gerade damals über mir wildem,
unbotmäßigem Ding gewacht hat, daß ich meine spottlustige Zunge im
Zaume hielt. – So wurde es für mich wahrhaft eine »~bon voyage~«.
Herzlieber, guter, alter Regenschirm, hab’ Dank! Du ließest mich einen
Menschen finden und gabst mir eine Heimat!




2.


Heute erhielt ich einen Brief von einem der übergangenen Erben. Er
lebt in Holland in überreichen Verhältnissen und scheint glücklich zu
sein, den grauen Alltag nicht geerbt zu haben. Er redet mich »Verehrte
Regenschirmbase!« an, ist also auf dem laufenden. – Von Herzen wünscht
er mir Glück zu der Erbschaft, teilt mir mit, daß er nur noch von zwei
_alten_ Lages wüßte, einem Spitalweibchen Fernande Lage, die bei Minden
wohne, und einem Matthias Lage aus Paderborn, beide in kümmerlichen
Verhältnissen. Er, der Holländer, habe sie unterstützt, aber nie eine
Antwort erhalten. Das Spitalweibchen sei eine störrische Lutheranerin,
der Matthias Lage hingegen gläubiger Katholik. Von der damaligen
Jugend vor ungefähr 25 Jahren sei merkwürdigerweise außer ihm alles
verstorben, teils in Wochenbetten, teils in Duellen und sonstigen
Raufhändeln, die Lages seien ja allesamt eine närrische Art von ~Homo
sapiens Linné~. Dies zur Vervollkommnung der Familiengeschichte. Es sei
recht erfreulich, daß Muhme Jesuliebe mit echt Lagescher Spürnase noch
etwas Junges aufgestöbert habe. Zum Schluß hofft er, daß der Clemens
nicht im grauen Alltag spuke. Diese Bemerkung ist mir vollkommen
unverständlich, aber ich werde schon noch dahinterkommen. –




3.


Nun breche ich hier in Thüringen meine Zelte ab, es ist eigentlich
nur ein kleinwinziges Zelt im Dörfchen Hochheim bei Erfurt, wohin ich
mich verzog, als vier Augen sich schlossen und ich nun nichts weiter
vorstellte, als ein »armes Mädchen höherer Stände«. Das ist etwas
unglaublich Hartes und erschrecklich Weniges, und jeder glaubt sich
berufen, gute oder minderwertige Ratschläge, hie und da auch einen
kleinen Fußtritt zu geben. Oder auch mit feinfeinen Nadeln just in die
Stelle zu stechen, da es am wehesten tut. So wollten »gute Freunde und
getreue Nachbarn« mir durchaus meinen Urväterhausrat über den Kopf
weg verkaufen, und meine Aufwärterin nennt mich »kumplett verrückt«,
weil ich mir alles gerettet habe, da ich doch für Väterchens uraltes
Zylinderbüro und Muttchens eingelegten Schreibtisch »Unsummen«
bekommen hätte. – Diese Unsummen würden aber niemals die Summen
der Glückesstunden aufwiegen, die ich an diesen beiden Möbelstücken
erlebte, durchlitt und durchlachte. Märchenerzähler waren beide Eltern,
und führte mich Vater Ernst durch selbsterdachte köstliche Geschichten,
die ein unsagbar feiner, guter Humor durchsonnte, so gab mir Mutter
Pauline den Reichtum von Andersens Märchen. – Nun steht »Speditör
König« mit seinem Möbelwagen vor meiner Tür, und der Kutscher sagt:
»Hü, alle meine Pferde« zu dem einzigen, das davorgespannt ist, genau
wie es der kleine Klaus tut in Andersens Märchen. Ich habe soeben viele
Hände, schwielige und weiche vornehme, gedrückt und ziehe nun mit
meinem persönlichen Gepäck von dannen, als da sind: »Vaters Statur,
des Lebens ernstes Führen und Mütterchens Frohnatur und Lust zum
Fabulieren.«




4.


Mit Gott! Ich bin in Haus Lage. Von weiter, roter Heide ist es dicht
umgeben, von Birken und hohen Wacholdern, von Ginsterbüschen, die
leuchtend gelb blühen. Hier soll das Thüringer Waldkind daheim sein und
ist’s schon. Ist mit tausend feinen Fäden bereits gefesselt, schier
jede rote Dolde hat sich eng mit dem Herzen verknüpft. Hinter der
Heide, im Rücken von Haus Lage, liegt Wald, tiefer Tannen-, Eichen-
und Buchenwald, ein köstlich Fleckchen Erde. Im Park steht eine Ruine,
die Spanier haben im Dreißigjährigen Kriege das Schloß zerstört. Jetzt
rankt sich Efeu dicht herum, von den Gemächern ist nur das – Gefängnis
übriggeblieben, eine eisenbeschlagene, schwere Tür führt hinein. Das
Licht konnte nur durch eine Falltür von oben eindringen, wenn sich
nicht ein Sonnenstrahl just dann verirrte, wenn der Wärter das Essen
durch die Klappe schob. – Mich fröstelte, als ich diese Unterkunft
sah. Gefangen inmitten der weiten, weiten Heide …

Eine schneeweiße Bank habe ich hinsetzen lassen vor ein efeuumwuchertes
Fenster im Erdgeschoß. In diesem Fenster mag oft in tiefer Nische, die
von wohlerhaltener durchbrochener Steinornamentik umgrenzt ist, eine
schöne Fraue von Lage gesessen, gestickt und geplaudert haben. Mit wem?
Das werde ich wohl noch ergründen können, wenn ich erst einmal die
Bücherei durchstöbert habe. Auf dies Tagewerk freue ich mich. Deshalb
hat es noch gute Wege damit. Denn noch bin ich nicht zur Freude hier,
sondern zur Arbeit.

Die Tante Jesuliebe-Brigitte Lage scheint eine Arbeits_wut_ gehabt zu
haben. Überall begegnet man irgendeinem Sprichwort, das auf die Arbeit
Bezug hat, oder auch einem kategorischen Imperativ. Als ich gestern
hinter der Ruine den uralten Baum erkletterte, dessen verzweigte
Wurzeln sich wie ein Wappenschild von der Mauer abheben, las ich
eingeschnitten in den Stamm: »Arbeite!« Und war doch hingekommen, um
mich zu verstecken, um zu rasten und zu träumen. Und so viel Macht
hatte das herrische Wort, daß ich sofort wieder hinunterstieg und
selbst mit Hand anlegte bei der Säuberung des inwendigen Hauses, auf
daß mein Hausrat bald seine bleibende Statt fände. Wenn alles bis
auf den letzten Nagel an Ort und Stelle ist, dann will ich in Tante
Jesuliebes Gemächer gehen und die Erbschaft völlig antreten. Vielleicht
finde ich auch dort irgendeine Weisung, einen Brief …

Davor fürchte ich mich. Es ist gewiß töricht von mir, aber ich möchte
lieber allein einen, wenn auch schweren oder gefahrvollen, Weg gehen,
als mich durch Bitten oder Befehle einer Toten bestimmen zu lassen.

Heute nacht ließ mich der Vollmond nicht schlafen. Er stand grellweiß,
ein riesenhafter Scheinwerfer, am Himmel. Sein Licht lag gespenstisch
auf der Ruine und dem weiten Rasen davor. Ich erhob mich von meinem
Lager, hastig kleidete ich mich an und warf meinen dicken Flauschmantel
über. Die schwere Tür öffnete ich (alle Türen sind hier groß und
gewichtig) und schlich mich hinunter. Aber selbst unter meinem sachten
Schritt ächzte die alte Treppe, und das Ächzen löste ein seltsames
Echo in dem hallenden Gange aus. Dann stand ich auf dem Rasen vor der
Ruine, und nun trank ich buchstäblich die Schönheit der Vollmondnacht
in mich hinein. Haus Lage und das Trümmerschloß – eingebettet waren
sie in Licht. Nichts vom grauen Alltag ringsumher … Und in meinem
Innern ein grenzenloser Jubel, ein Glücksgefühl ohnegleichen. Ich
nickte dem alten Hause zu: Du bist mein! Und der Ruine: Du bist mein!
Der stille, mondbeschienene Park, die Sonnenuhr, ja der alte, schwarze
Geräteschuppen, den das Mondlicht malerisch verklärte, jedes bekam den
Gruß: Du bist mein! Die junge Brigitte Lage, die bisher nur gerechnet:
was soll ich essen, was soll ich trinken, womit soll ich mich kleiden?
Sie besaß plötzlich etwas; nicht etwas, – hundert Dinge. – Sie war
eine Erbin. Ja, aber Erbin des _grauen Alltags_. Warum hatte man dies
Fleckchen Erde so genannt? Warum bewußt einen Schatten darauf geworfen?
Der sich doch ganz und gar verbergen mußte, da Gottes Licht den grauen
Alltag in seine Arme nahm. Ich setzte mich auf die weiße Bank vor die
Ruine, meine Gedanken waren unruhig und jagten sich. »Der häßliche
Name müßte ganz verschwinden, er hat keine Berechtigung,« trumpfte ich
laut – »schwarze und graue häßliche Dinge werden in Lage nicht mehr
gelitten; ~dixi~, ich habe gesprochen …!«

Da fuhr etwas Graues, unsagbar Häßliches aus der einen großen, leeren
Augenhöhle der Ruine und strich klatschend über mein Haar hin. Laut
schrie ich auf.

Gleich darauf kam ein Lachen. Voll und tief, seltsam melodisch. – Und
eine gute Stimme sprach neben mir: »Heldenseele! – will Ewigkeitsnamen
ohne Hammer und Meißel ausmerzen. Schier nur mit einem Gedanken … Und
fürchtet sich vor einer Fledermaus. Kindskopf!!!«

Scheu sah ich mich um. Und da ich niemand entdeckte, so angestrengt ich
auch spähte, kroch mir wahrhaftig fröstelnde Furcht über den Rücken.
»Wer spricht da?« fragte ich bang. Und etwas beherzter: »Wer sind Sie?«

[Illustration]

»Die Fledermaus«, tönte die Antwort irgendwoher.

Da gab ich Fersengeld, und das tiefe, musikalische Lachen hallte
hinter mir drein. Die alte Kastellanin Eva empfing mich geruhig an der
Haustür. »Nur zahm, nur zahm!« sagte sie und zog mich hinein. Ohne
Staunen und weitere Worte, als sei es nichts Besonderes, daß ihre junge
Herrin nachts zwischen 2 und 3 Uhr wie ein Wirbelwind daherjage. Erst
als ich auf dem Rand meines Bettes saß und sie mir die feuchten Schuhe
auszog, äußerte sie sich, – schier beifällig. »Eine echte Lage, ich
habe nun den Beweis«, mümmelte sie, denn sie hat keinen Zahn mehr. »Da
ist noch kein männlicher und kein weiblicher Lage gewesen, der hier
nicht im Mondschein herumgegeistert hätte.«

»Eva! Wohnt noch irgend jemand außer uns im Haus Lage oder in der
Ruine?« fragte ich mit Herzklopfen.

»Irgend jemand? Da sind eine Menge! Da ist mein Neffe Josua, da ist die
Köchin Rahel, da ist der Gärtner Michael und sein Gehilfe Benjamin und
wohl zwanzig Parkarbeiter, die in der Ökonomie schlafen …«

»Nein, nein, die meine ich nicht«, wehrte ich ab. Diese
alttestamentliche Garde, die sie mir da aufzählte, lag mir nicht im
Sinne. Sie war alt, uralt, wie Eva auch. Und das Lachen hatte jung
geklungen – und fein gebildet. Also konnte die »Fledermaus« auch kein
Methusalem sein.

»Eva, wie alt bist du eigentlich?« fragte ich wieder.

»Das kann ich dem gnädigen Fräulein wohl auch morgen vormittag sagen,
nicht um 3 Uhr nachts«, lautete die Antwort; und wie ein Spuk war Eva
draußen. Sie ist unglaublich rasch, die Alte. Wäre der zahnlose Mund
nicht, das eisgraue Haar und die hundert Runzeln, man könnte ihr 50
Jahre weniger geben. Sie hört wie ein Fuchs und sieht wie ein Luchs
und läuft wie ein Wiesel. Aber sie spricht von Friedrich Wilhelm dem
Dritten, der einmal in Lage gewesen sein soll, – und von Goethe –
als sei sie mit beiden groß geworden. – Doch von ihrem Alter mag sie
nicht reden hören – die _echte_ Eva. – Man wählt hier in Lage die
Namen der Dörfler alle nach der Bibel. Der Hausvater sticht an der
Wiege des Neugeborenen mit spitzer langer Nadel in das Bibelbuch, und
welcher Name dem Stiche am nächsten ist, der wird für das Kind gewählt.
»Josua, der Neffe« gilt bei seiner Tante als Springinsfeld und Übermut,
immerhin schätze ich ihn auf Mitte der Fünfzig. Sie hat bei ihrem
eigenen hohen Alter den Maßstab für ihre Umgebung verloren. Ich weiß,
daß sie mich hinter meinem Rücken »das Kleine« nennt, aber es klingt
unendlich gut und mütterlich. Trotzdem bleibe ich für sie »das gnädige
Fräulein Lage«.

Diese Sachen überdachte ich, während ich mich wieder wohlig im warmen
Bette ausstreckte. Wollte den »Fledermausgedanken« entfliehen …




5.


Wir leben jetzt im Wonnemonat Mai. Aber das weiß ich nur vom
Hörensagen und aus Thüringer Briefen, die freilich spärlich genug
für mich abgegeben werden. Das _arme_ Freifräulein Lage war auch arm
an Freunden geworden, und die Erbin – _will_ nun nicht. »Eine Mauer
um uns baue«, möcht’ ich beten, wie das fromme Mütterlein im Gedicht
von Clemens Brentano. Das feste Mäuerlein um Haus Lage haben die
Spanier niedergerissen im Dreißigjährigen Kriege. Hätten auch etwas
Gescheiteres tun können. Nun ist’s freilich leicht, auf meinem Grund
und Boden herumzustöbern – für nächtliches Gesindel – Fledermäuse und
dergleichen …

Also wir merken hier nichts vom Wonnemonat. Es regnet und stürmt
und ist eisig kalt. Nur im Hause drin prasseln die Holzscheite in
zwei großen Kaminen und vier mächtigen Kachelöfen. Man könnte auf
Weihnachten raten, so gemütlich ist’s. Ich möchte erst einmal die
eisige Luft aus allen Zimmern bringen, sie ließ einem schier das Herz
erstarren, als ich herkam. »Davon weiß ich nichts«, meinte die alte Eva
geruhig, als ich sie darum befragte. »Das gnädige Fräulein Jesuliebe
hat wohl manchmal ein Feuerlein brennen lassen, aber der Herr Vater
selig und die Frau Mutter selig, und was sonst so von den Herrschaften
hier wohnte, die waren alle nicht für Wärme …«

Ich schaute die Eva scharf an, aber ich sah, die gute Alte hatte es
streng wörtlich gemeint.

Ich aber »bin für Wärme«. Herrgott, ja. Seit gestern friere ich in
Haus Lage. Ich schone den mächtigen Holzvorrat nicht. Josua hat mich
schon vorwurfsvoll angesehen. Aber ich weiß aus den Büchern, daß
der graue Alltag von 14000 Morgen Wald umgeben ist. Mit dem Förster
habe ich auch schon gesprochen, er ist alt, wie beinahe alles hier,
und lebt als Witwer bei seinem Sohn und der Schwiegertochter. Es ist
eine Erbförsterei. Die ganze Stube hängt bei ihnen voll »Förster«,
und darunter prangt immer derselbe Mann noch einmal als »reitender
Feldjäger«. Schmuck sehen sie alle aus, die »Förster Nordstamm«.
Vater und Sohn haben schon einen langen Gang mit mir durch »meinen«
Wald gemacht. Ich sage _meinen_ Wald, weil er mir gehört, und um
mich scherzend zu behaupten gegen den alten und den jungen Förster,
die auch beide von »ihrem« Walde sprechen. Die junge Frau Rika blieb
daheim, sie erwartet ihr erstes Kind und ist nicht sehr kräftig, aber
fröhlich und guter Dinge. – Als der Wald am dichtesten und tiefsten
wurde, schier wie ein Urwald, da spürte ich trotz des stundenweiten
Weges neue Kräfte. Welche Wonne, in diese tiefe, lockende Stille
hineinzudringen, vor jedem dieser seltsam geformten Ungeheuer staunend
stehenzubleiben. Sie begrenzten die schmale Spur, die kaum den Anspruch
auf die Bezeichnung »Weg« erheben konnte. Und die ihn oft genug drohend
verlegten, wie ich weithin mit meinen scharfen Augen sah.

»Nun wird es sehr unwirtsam«, bemerkte der alte Förster nach einer
Weile, und der junge stimmte ihm eifrig bei. »In diese Wildnis sind die
_Damen_ Lage nie eingedrungen, da ist oft nicht Weg noch Steg. Aber der
Herr Baron wollte eben seinen Urwald haben …«

Ich warf noch einen bewundernden und schmerzlich verlangenden Blick auf
die schmale Spur, die zwischen Stechpalmen und Farnen dahin führte. Und
dann nickte ich lachend einem wunderlichen Baume zu, der wahrhaftig wie
ein Waldweibchen aussah mit krummer Nase und zahnlosem Mund: »Gute
Nacht, Eichenmuhme, ich komme bald wieder und besuche dich.« Denn »der
Urwald ist jetzt _mein_«, wandte ich mich an meine Begleiter, »und was
mein ist, will ich kennenlernen von Ur to Enn.«

Vater und Sohn Nordstamm tauschten Blicke. »’s ist eben eine Lage«,
hießen diese Blicke, das war mir ganz klar, ohne daß sie mit ihrem
Finger auf die Stirn deuteten. Wir kehrten nun um, und ich prägte
meinem Gedächtnis den Weg ein, versäumte auch nicht, wie weiland Hänsel
und Gretel unauffällig rote Ilexbeeren zu streuen; sie reichten gerade
bis zur Grenze des Parkes, und von dort aus fand ich meine Heimat ohne
Führer. Ja, es ist meine Heimat. Nirgends sonst seit meiner sonnigen
Kinderzeit war ich so mit dem Herzen in irgendeiner Landschaft,
nirgend sonst seit Vaters Tode tönte so stark und süß die uralte ewige
Heimatmelodie aus Baum und Strauch, aus Fluß und Wiese, aus Hecken und
Ackerscholle. Lage, sei gesegnet!

Der Mond stand noch immer köstlich voll am Himmel. Ich ahnte eine
zweite unruhige Nacht, nahm mir aber fest vor, die Ruine und die
Fledermäuse heute unbeachtet zu lassen. Aber abkürzen wollte ich
die Nacht, indem ich mir aus Tante Jesuliebes Zimmer irgend etwas
Lesenswertes holte, mit dem ich mich in meinen roten Ledersessel
einkuschelte bei grünbeschirmter Lampe und prasselndem Kaminfeuer.
Schon dieser Vorsatz allein schuf Behaglichkeit. – Die alte Eva setzte
mir die Lampe und einen kleinen Imbiß, köstliche Buttermilch und
selbstgebackenes Schwarzbrot hin, dazu duftende Gravensteiner Äpfel.
Und nach der langen Wanderung vertilgte ich alles mit Stumpf und
Stiel. –

Es war unsagbar gemütlich. Mit einer brennenden Kerze auf hohem
silbernen Leuchter stieg ich dann ins Dachgeschoß, das Tante Jesuliebes
Zimmer in sich barg. Zwei große, seltsame, getäfelte Stuben, hoch
und geräumig. Der Wohnraum ist fast saalartig. Eine stattliche Reihe
»Lages« hängt an den Wänden, stattlich war auch bei den Mannsen der
Wuchs, doch die Frauen zeigten sich mit wenigen Ausnahmen klein und
zierlich. Ach! und hochmütig, – hochmütig schienen sie alle gewesen
zu sein. – So waren wir Thüringer Lages wohl aus der Art geschlagen.
Bei uns war _der Hochmut_ als _Dummheit_ gebrandmarkt worden, und
so _fehlte_ dieser Zug auch auf _Vaters_ Bild, der im Schmucke der
ordenbesäten Staatsuniform die Reihen schloß. Nicht hochmütig, –
hochgemut sah er aus, der einzige. In sein Anschauen vertieft, hätte
ich schier mein Vorhaben vergessen. Aber es klopfte an der Tür, und ich
schrak zusammen. Auch ohne mein »Herein!« abzuwarten, stand Eva dann
vor mir, und mit altmodischem Knicks teilte sie mir mit, daß man in
Zimmern Verstorbener nie länger als 7 Minuten weilen dürfte, wenn man
es zum erstenmal beträte, beim zweitenmal dann 14 Minuten, beim dritten
21, das sei nun »mal so«.

»Meine gute, alte Eva,« rief ich und gab ihr einen Kuß auf die runzlige
Wange, »gewöhne dich daran, daß bei mir nichts, aber auch gar nichts
›mal so‹ ist. Wir wollen unsern Tag recht sonnenhell beginnen und
ebenso klar schließen. Allem Aberglauben sagen wir ab, bei jeglichem
Spuk gehen wir der Ursache nach, und wo es uns nicht gelingt, da sind’s
halt Fledermäuse gewesen; hörst du, Eva?«

»Haben gnädig Fräulein Fledermäuse gesehen?« fragte sie ungerührt. »Das
wäre schade. Denn das bedeutet, daß gnädig Fräulein ihr Lebtag in Lage
bleibt, also sozusagen unvermählt. Schade, schade!« Und sie schüttelte
ihren alten Kopf anhaltend.

»O du unverbesserliche Eva!« Ich lachte herzlich. Dann ergriff ich ein
zierliches Buch, das in leuchtendes und duftendes Juchten gebunden war
und preislich auf Tante Jesuliebes altmodischem Schreibtisch lag. Und
einen schweren Folianten, der silberbeschlagen auf einem Bord ruhte,
hieß ich gleichfalls mitfolgen, so würde der Abend beim behaglichen
Lesen im Fluge vergehen, und der Mond sollte mich nicht wecken, noch
necken. –

       *       *       *       *       *

Beide Bücher sind leer. –

Fast leer.

Und ich sitze seit Stunden und grüble. – Das feine Juchtenbuch und der
gewichtige Foliant, sie tragen beide auf der ersten Seite den Vermerk:
»Mit Gott!«

Darunter steht mit Tante Jesuliebes feinkritzliger Handschrift, die so
in hellem Widerspruch steht zu ihrem derb zupackenden Wesen: »_Zünd an,
Brigitte! Zünd an!_« Den Tag und die Stunde, da sie es schrieb, hat
sie dabei vermerkt: »1. September 18…«

Ja, Tante Jesuliebe-Brigitte hat es selbst geschrieben. Aber sie hat
sich nie Brigitte genannt. Nur ich in der ganzen Familie Lage trug und
trage diesen Namen. – Die Mahnung gilt also mir …

[Illustration]




6.


Wer löst mir das Rätsel? Durch die Nacht hindurch hat es mich verfolgt,
und wenn mein Weg so fortläuft, wie er in Lage begonnen hat, da werde
ich mir das Schlafen abgewöhnen und gleichfalls herumgeistern. Aber
nicht in der Ruine, sondern im Märchenwald. Der hat mir’s angetan.
Doch Vater und Sohn Nordstamm dürfen mich nicht auf meinen weiteren
Forschungsfahrten begleiten, sie sind zu nüchtern und bodenständig.
Und wo ich ein Wurzelweib sehe mit drohend erhobenem Arm, das mir den
Weg verwehren will, da sehen sie einen überständigen Baum, der gefällt
werden muß. –

Zünd an, Brigitte, zünd an!

Solch ein Wort, das man nicht verstehen und nicht meistern kann, ist
wie ein Stachel.

Ich habe mich an die alte Eva herangepirscht und so vorsichtige und
so tolpatschige Fragen getan, daß sie mich endlich besorgt anblickte
und nach meinem Puls faßte. »Gnädig Frölen sollten sich ins Bett legen
ein paar Tage«, war ihre Meinung. »Das Lager Wasser macht dem Neuling
leicht Fieber, und die Lager Luft verwirrt Kopf und Herz.«

»Was nicht noch alles, Eva?« fragte ich, »woher hast du die Weisheit?«

»Ei nun, das Lager Fieber kenn’ ich seit siebenzig Jahren, und das von
der Luft steht sogar aufgeschrieben.«

»Wo denn, Eva? Wo steht’s geschrieben? Oh, ich fiebere wirklich vor
Erwartung, die ganze Lager Luft liegt voller Geheimnisse.«

»Ein Geheimnis ist es just niet« (Evas Sprache hat einen holländischen
Anklang), »aber graulich ist’s freilich anzusehen«, orakelte sie.

»Drunten in der Gruft liegt’s in einem offnen Sarg. Da sollte der Herr
Joochen Lage, † 1642, drinnen liegen, aber nur das Pergament fand man
anstatt seiner.«

Mit solchen Enthüllungen soll man nun zufrieden und ruhig sein.
Natürlich nahm ich mir vor, sofort, gleich in der nächsten Minute
in die Lager Gruft hinabzusteigen, die sich unter der nahen Kirche
befindet. Besonders da Eva mich angstvoll beschwor, dies erst am 7.
Tage zu tun, da sonst Gefahr bestünde, daß ich selbst noch im selben
Jahr in die gleiche Gruft überführt würde. ’s ist ein hartgesottner
Aberglaube hier rundherum, möcht’ ich ihn doch verjagen können mit
frisch-fröhlichem Gottesglauben …

Eva hätte mich auch nicht von der Gruftbesichtigung zurückhalten
können, so tat es ein Brief.

Der holländische »Enterbte«, wie er sich nennt, scheint großen Anteil
zu nehmen an meiner Anwesenheit im neuen Besitz. Es sind zwar nur
wenige Zeilen, aber warum schreibt er überhaupt? Mehr als einmal? Mehr
als nötig? Wir kennen uns nicht. Und fast möcht’ ich sagen, seine Worte
verwirren mich …

»Ich schätze, die verehrte Regenschirmbase ist mit dem Vertilgen von
Staub, Spinneweben und ›Fledermäusen‹ zu Ende gekommen. – Ich sehe
aus der Ferne Haus Lage schimmern und leuchten im Glanze des Mondes.
Denn wir haben doch jetzt Mondschein in Lage? Wenn auch abnehmend.
Und ich kalkuliere, in solch einer Mondscheinnacht wird man jetzt
der alten Eva zum Trotz (meine Empfehlung an sie, sie kennt mich als
›Ritter Lage‹) in die Gruft der Väter hinabsteigen und – hu! – den
Deckel von des Urahnen Joochen Sarg zurückschlagen und schaudernd
lesen: ›Lager Luft verwirret Kopf und Herz.‹ – – – Es kommt darauf
an, Regenschirmbase; manchmal schafft diese Verwirrung die einzig
richtigen Begriffe.«

Unterzeichnet sind diese närrischen Büttenpapierberichte mit »Vetter
Lage, der Enterbte.«

Als ob ich ihn enterbt hätte. Und eine Anschrift ist nie dabei.
Holland ist groß. Wohin soll ich ein Gegenzeichen schicken? Ihm
scheint auch gar nichts an einem solchen zu liegen. Aber da er mit dem
Ahnungsvermögen eines indischen Fakirs meinen Gedanken und Vorsätzen
nachspürt, so will ich wirklich erst am 7. Tage in die Gruft der Lages
steigen und mich durch nichts ins Bockshorn jagen lassen. Ganz gelassen
fragte ich heute die alte Eva nach dem »Ritter Lage«. »Jesus! Der
Clemens!« schrie sie auf. »Ob ich ihn kenne? Da könnt’ gnädig Frölen
ebensogut fragen, ob ich die Lager Kirche kenne, in der ich doch jeden
Sonntag bete. Gott verzeih mir die Sünde, daß ich den Schlingel und die
Kirche in einem Atem nenne, obgleich, – er war der Beste von allen
Lages, von _allen_«, murmelte sie.

»Bitte, nimm doch immer meinen Vater aus; ja, Eva?« betonte ich
kriegerisch; »er war unter allen Umständen der Beste.«

»Hab’ die deutschen Herren Lage nie gekannt,« entschuldigte sie sich
mit dem ihr eigenen tiefen, altmodischen Knicks, »nur die von Holländer
Seite.« –

»Steckt ein Geheimnis hinter dem ›Ritter Lage‹, oder kannst du mir von
ihm erzählen?« fragte ich.

Ein Lächeln huschte über ihr altes Gesicht, das es seltsam verschönte.
Ganz jung sah die alte Eva aus. – »Da reicht wohl mein altes Leben
nicht mehr hin, wollt’ ich vom Junker Clemens alles erzählen«, sagte
sie, und ihre Stimme hatte einen liebkosenden Klang. »Ich war die
junge Frau des Hausmeisters, als er geboren wurde. Seine Mutter starb
im Wochenbett, und da ich selbst mein drittes Kind nährte, so gab man
mir das Neugeborene mit an die Brust. Bis der düstere Vater ihn mit
sich nach Holland nahm. Schier gestorben wär’ der Kleine beim raschen
Nahrungswechsel; aber das kümmerte den Herrn Baron nicht. Bis der Herr
dann selbst starb und der Junker zurückkehrte und von gnädig Frölen
Jesuliebe erzogen wurde im Hause seiner Väter.« Eva lachte unhörbar vor
sich hin. »Von da ab hat es rumort und gespukt im alten Häuschen, im
Park, am See, im Busch, am Reihersteig und in der Gruft seiner Ahnen.
Überhand trieb er Hallodria, und konnt’ doch auch so ernsthaft dasitzen
und meine Geschichten, die ich ihm so ›zwischen Lichten‹ erzählte, mit
Augen und Herz verschlingen. Nur irgendwelcher ›Aberglaube‹ konnt’ ihn
wild machen, und da zankten wir uns oft drum. Denn er hielt vieles für
Aberglauben, was doch heilig …«

Ich klopfte ihr die runzlige Wange. »Laß nur gut sein, Eva, – viel
Heiliges ist da sicher nicht dabei.«

»Was weiß so ein Junges«, murmelte sie. »Man muß in alten Schlössern
hausen, da nimmt man vieles wahr, was sonst kein Mensch weiß.«

»Das haben schon Größere vor dir behauptet, meine gute, alte Eva, und
seit der Zeit redet sich mancher darauf hinaus.«

»Gnädig Frölen wollten vom Junker Clemens wissen …«

»Wenigstens vom ›Ritter Lage‹.«

»Nun freilich. Da hatte der Junker einmal etwas ganz Unerhörtes
ausgefressen – um Vergebung –, so sagt man hier in Lage. Er hatte
als ›weiße Frau‹ gespukt, und die gnädige Großtante war drüber krank
geworden. Freilich wurde sie bald wieder gesund, und der Schelmenjunker
hat ihr während der ganzen Zeit vorgelesen, trotzdem er mit der
Lager Jugend auf Erntedankfest tanzen sollte, – er war damals so
siebzehnjährig. Da sitzt man ungern bei einer Großtante. Es wurde aber
Familienrat gehalten, da kamen alle seine Streiche zutage, – Jesus,
es war eine Liste wie vom Steueramt. Unten saßen sie in der großen
Halle, und der gestrenge Ohm aus Holland, von dem er dann der Erbe war,
geruhte, auch zugegen zu sein. Da wurden dann Strafen festgesetzt, daß
einem die Haut schaudern konnte, und die eine Tante selig vom Junker
Clemens hätte ihn am liebsten in das Gefängnis von der Ruine getan,
das immer noch ganz wohl erhalten ist. Mit einemmal – ich brachte
gerade ein großes silbernes Brett mit den feinsten Porzellantassen und
-kannen herein, um den Tee zu reichen –, also mit einemmal schlägt der
große schwarze Ritter unten in der Halle sein Visier zurück und spricht
mit tiefer, hohler Stimme: ›Es sei ihm alles verziehen! Er hat die
wunderliche Milch der Mutter Eva getrunken … Vergebung dem Sünder!‹
Ich hör’s heute noch und seh’s noch, wie sie erst alle erstarrt saßen,
die ganze hohe Sippe, und wie sie dann kreischten und die Stühle
umwarfen, und wie der Saal leer wurde in großer Hast. Und ich hielt das
Tablett in meinen zitternden Händen, damit die feinen Tassen meiner
gnädigen Herrschaft heil blieben. Aber ich dachte, nun kommt dein
letztes Stündlein. Da hob sich noch einmal das Visier, und der schwarze
Ritter sagte: ›Gib mir ’ne Tasse Tee, Eva, und hilf mir aus dem Dingsda
’raus.‹ Jesus, da war’s der Junker, und nun wurde ich auch böse, aber
dann kriegt’ ich’s mit dem Lachen, ich gottlose Person, und half dem
Schelm. Er hat auch keine Strafe gekriegt, denn die hohe Sippe ist’s
nie gewahr worden, wer aus dem Ritter sprach. – Ich hab’ es aber immer
gesagt: dem Junker Clemens ist alles heilig und nichts.« –

»Eva,« sagte ich, »jetzt muß ich nur noch fragen, was ist aus ihm
geworden? Denn ein ›reicher Mann‹ ist mir zuwenig für diesen Ausbund.
Was ist er sonst noch?«

»Da fragen mich gnädig Frölen zuviel. Junker Clemens hatte große
Pfunde bekommen, aber wie er damit gewuchert hat, ist mir verborgen.
Für mich wird er allezeit der ›Junker‹ bleiben mit dem Übermut und
dem Unverstand und dem goldenen Herzen. Wenn er auch längst in den
Vierzigen sein muß und nie mehr herkommt und sein Unglück in Holland
verschließt.«

»Sein Unglück, Eva?«

»Ach, so geht es nun, man wird geschwätzig. Gnädig Frölen können da
kein Anteil nehmen, dazu ist die Verwandtschaft zu weit.« Überhebend
zuckte sie die Achseln. Als gehöre ihr der Ritter Lage mit Haut und
Haar. –

»Du nimmst doch auch Anteil an ihm, Eva, und bist gar nicht mit ihm
verwandt.«

Sie sah mich an, lange schweigend an. – »An meiner Brust hat er
getrunken …«, sagte sie dann ruhig.

Da faßte ich die alte Dienerin rundum und küßte sie. »Du hast recht,
Eva, und ich habe geredet wie ein dummes Kind. Aber du weißt, ich bin
einsam …«

Sie streichelte mich ungeschickt. »Hab’s nicht bedacht. Einsame
Menschen haben oft Liebe zu aller Kreatur … Aber man verschließt es in
sich … Ach, ich bin eine Schwätzerin …«

»Du bist meine liebe, gute Eva. Nun möcht’ ich dich nur noch fragen:
Kann man dem ›Junker Clemens‹ nicht helfen? Wenn ein Lage im Unglück
ist, so haut ihn die Sippe doch heraus …«

»Als ob ich den Junker selbst reden hörte. – Nein, gnädig Frölen, –
dem kann keine Sippe helfen.« Sie sprach hastig und leise in mein Ohr.
»Er hat rasch und unbedacht gefreit, – nun hat er ein irres Weib. Seit
20 Jahren! Das ist wohl Unglück. Und einen Knaben hatte er auch, –
ein armes, unglückliches Kind, vielleicht ist’s lang gestorben, und –
Gott walt’s. – Aber das ist mein Leid, daß der Junker nicht alles hat
der alten Eva zu tragen gegeben. Hab’ mir den Kopf zergrübelt, weshalb
er’s nicht tat. Bin drüber alt geworden, und man wird mich betten, ohne
daß ich meinen Junker Clemens wiedersah.«

Sie schlurfte hinaus und war mit einemmal gebückt und kümmerlich. Und
ich weiß jetzt, warum der Ritter Lage sich den »Enterbten« nennt.




7.


Viel Seltsames erlebe ich in Haus Lage …

Es scheint mir unfaßlich, daß ich 25 Jahre in Thüringen lebte, und daß
während dieser Zeit dies alte Haus tot für mich war. Denn überlebendig
zeigt es sich jetzt und eng mit mir verwachsen, als ob es nur gewartet
hätte, bis ich kam, um mich fest und unzerreißbar in seinen Bann zu
ziehen.

Heute fand ich wieder ein seltsam Gelaß. Ein Ring war mir vom Finger
gefallen, der blaue, leuchtende Saphir mit dem Kranz von alten, in
Platin gefaßten Diamanten, der unter Tante Jesuliebes Schmucksachen
für ihr Patenkind sich fand. Ich begab mich sofort auf die Suche,
und als ich ihn in einer Ecke entdeckte, sah ich auch ein Türchen,
fast am Erdboden klebend, und seltsame Zeichen trug es durcheinander
verschnörkelt. Aber mit Hilfe eines brennenden Wachsstockes entzifferte
ich mühelos die schlichte Mahnung: »~Ora et labora.~«

Das ~labora~ tritt einem hier ja überall entgegen, das ~ora et labora~
lehrten mich Vater und Mutter durch ihr Beispiel. Ich strich liebkosend
über den Spruch, da sprang das Türlein auf. Und in seiner kleinen,
dunklen Höhlung lag wieder ein Buch, danach ich gierig griff.

»Mit Gott, Brigitte Lage, zünd an! Zünd an!«

Du, der du allwissend bist und mich an deiner starken Hand hältst, hilf
mir, daß ich den Weg finde …, den rechten Weg. –




8.


’s ist tiefe Nacht. Aber ich will mich nicht zur Ruhe legen, ehe ich
meine Gedanken und das, was ich bis zum Abend erlebte, klar gesondert
habe. Bis jetzt, seit meiner Rückkehr aus dem Lager Forst saß ich
mit gefalteten Händen und sann, – und sann. Draußen hat Eva um die
Abendbrotzeit an meiner verschlossenen Tür gerüttelt und nicht eher
Ruhe gegeben, bis ich ihr zurief, daß mir nicht gut sei und ich
keiner Speise und keines Trankes bedürfe. Das Alleinsein würde die
beste Arzenei sein. Da ist sie gegangen, laut vor sich hinmurmelnd.
Vielleicht übertreffe ich an Narretei die ganze Sippe Lage, die ihr
durch die Finger lief.

Ich war mit raschen Schritten am heutigen Frühnachmittage ausgezogen.
Jetzt dünkt’s mich wie ein Märchen von der Prinzessin »Weißnichts« aus
dem Hause »Ohnearg«, die »alle Möglichkeiten verschlafen hatte und
ausging, das Glück zu suchen«.

Wie auf verbotenen Wegen schlich ich mich ums Forsthaus herum, um ja
nicht die Herren Nordstamm aufzustöbern. Am Arm den kleinen Binsenkorb,
der die handfeste Atzung für Vesper und zugleich Abendbrot barg. Bis
an die Grenze schritt ich, da wo das Waldweibchen drohend und zugleich
lockend seine knorrigen Arme reckt, – dann blieb ich tief atmend
einige Minuten stehen, auf daß ich voll Andacht in den Märchenwald
eingehen könne.

Wie still er schien, und wie lebendig er war!

Und wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, ich könnte ihn
nicht schildern, aber ich habe die _Liebe_, und deshalb vermag ich es:

Ich wandelte durch Dome, in denen tiefe Glocken läuteten, ich ging
durch Waldhüttchen hindurch, drinnen Zwerge kauerten und kicherten und
meine Kleider neckend streiften. An Riesenharfen schritt ich vorbei,
deren Kiefernsaiten von Harz troffen und einen Duft ausströmten, der
wohl Schwersiechen den heiligen Trost zurufen konnte: »Auf, nimm dein
Bett und wandle!«

Es grüßten mich Riesen und schauten wildgnädig auf das Menschlein, das
unter ihnen ging, es nickten mir spottend Alräunchen zu und schabten
ihre Fingerlein: O du Prinzessin Ohnearg und Weißnichts! Und waren doch
alle nur Bäume und Bäumchen.

Dann wieder taten sich Kirchen auf aus silberstämmigen Buchen, an denen
nicht Tadel noch Fehl war. Ihre Wipfel reichten bis zum Himmel und
klopften beim Herrgott an, daß er sie segne. –

Und dann kam der tief-tiefe Tannenwald. Edeltannen, bodenständig,
mit silbernem Schein, die mich ernst willkommen hießen, zarte
Douglastannen, die noch bange zitterten vor ihrer eigenen Schönheit.
Birken standen dazwischen, mit zartgrünen Schleiern ihre Reize
verhüllend, und sie hatten kleine, schwarzweiße Pilzwächter zu
ihren Füßen hingewiesen … Auch Kindertännlein wuchsen ringsumher,
wohlgezogene und doch fröhliche kleine Gesellen, und zwischen ihnen
lag die rostbraune Heide, in deren Winterdolden der Frühlingswind
harfte. Und über all dieses hatte die Sonne ihre warmen, leuchtenden
Mutterhände gelegt, ein Segen ohne Maß ging von ihr aus. Ich grüßte die
unermeßliche Schönheit und trank Gottesnähe in mich hinein. Da sah ich
mitten in der Tannenwildnis, aber hoch über ihr, ein Glockentürmlein,
und es war mir, als ginge von der schweigenden Glocke, die darinnen
hing, all das gewaltige Tönen aus, das den Wald erfüllte.

Aber das Tönen schwieg plötzlich, weil eine Menschenstimme lachte.
Mißtönend, klagend, schrill: einem Kauz hätte sie gehören können oder
einer kranken Waldtaube; aber es war doch ein Mensch, der vor dem
Kirchlein kauerte, das sich plötzlich aus dem Dickicht schob. Uralt und
schlicht, aber nicht verfallen; und etwas dahinter stand ein kleines,
festes Haus, schier mehr ein Tempel mit dorischen Säulen.

[Illustration]

Der Mensch hatte nicht viel Menschliches an sich. Nur als ich nahe
vor ihm stand und er mit demselben klagenden Lachen nach meinem
Kleidersaume griff, sah ich, daß es ein Jüngling war, ein Krüppel,
der nun in grotesken Sprüngen in das Innere des Tempels flüchtete.
Ich folgte ihm nicht, – ich öffnete sacht die Pforte des kleinen
Gotteshauses. Und hatte ich vorher in arme, verzerrte Züge geschaut,
so grüßte mich nun ein Marmorbildnis von wunderbarer Schönheit, von
Künstlerhand gemeißelt – der heilige Clemens. –

Nicht im großen Ornate des Papstes, im schlichten härenen Gewande hatte
ihn der Künstler dargestellt, wohl um die Demut äußerlich kundzutun,
die diesen Kirchenfürsten auszeichnete. Der Anker war ihm beigegeben
und ruhte zu Füßen des Bildnisses. – Später entdeckte ich noch ein
uralt Steingefüge des gleichen Heiligen, das sich außerhalb der
Kirche an ein Mäuerchen lehnte. Ein vermorschtes Holz steckte neben
ihm im Waldboden, und darin hing eine »ewige Lampe«, aber sie war
ungeschützt verlöscht, tot, und das Öl verdunstet. Es sah so traurig
aus, und deshalb löste ich die ungefüge Lampe aus der verrosteten
Klammer und trug sie in die Kapelle. Hier konnte ich sie gut an
einem hervorspringenden Eisenknauf befestigen, gerade dem heiligen
Clemens gegenüber. Und nahm mir vor, am nächsten Morgen mit einem
Ölkännchen wiederzukommen, es sollte nicht mehr dunkel und einsam
um den Heiligen sein. Als ich das Kirchenpförtchen wieder schließen
wollte, brach gerade die Abendsonne durch die Fenster, die in feiner
alter Glasmalerei die heilige Notburga zeigten, die »Dienstmagd« mit
der Sichel in der Hand. Darunter den Spruch: »Die Hand bei der Arbeit,
das Herz bei Gott.« Seltsam leuchtend rot war der Schimmer, der durch
dies Fenster in das Kuppelrund fiel. Und darin sah ich einen Fries,
von eines Meisters Hand gemalt: Unseres Heilandes Werdegang, seine
Geburt, sein Ringen, sein Leiden und seinen Tod. Da stand ich wie
gebannt, und die Blicke konnte ich nicht losreißen von dem Kindlein auf
dem Schoße der Gottesmutter und von dem Hirten, der auf der Schalmei
das Wiegenlied tönen läßt. – So geleitete ich mit Augen und Herz
den Christus. Aus jeder Darstellung wuchs er größer und göttlicher
heraus und gab mir die Erinnerung an meine Kinderzeit, als die Mutter
mich _diesen_ Christus lehrte. So lieb und schlicht, so zürnend und
gewaltig, so demütig und vergebend. –

Überreich beschenkt schritt ich aus der kleinen Kapelle hinaus in
meinen Märchenwald. – In der abendstillen Dämmerung wollte ich die
seltsamen Gesellen wieder grüßen, neugierig, welche Formen die Riesen-
und Zwergenbäume wohl im Halbdunkel annehmen würden, um mich zu
schrecken. Aber mein Fuß verhielt im Heidekraut, denn ein klagendes
Rufen scholl zu mir herüber. Hilfeheischend tönte es, und nun eilte ich
nach der Richtung des Tempels, woher es kam. – Die Pforte lief leicht
in ihren Angeln, als ich sie öffnete; ich trat in die Werkstatt eines
Bildhauers. Beinahe hätte ich über der Schönheit einer Marmorgruppe die
arme, zusammengeworfene Gestalt des Krüppels übersehen, der zu ihren
Füßen wie ein Bündel lag. Ein Blutbächlein rieselte an der Schläfe
des Jünglings hinunter, er hatte von einem Sockel wohl mit täppischem
Griff den Hammer herunterholen wollen, und dieser war ihm auf die
Stirn gefallen … Hastig verließ ich den Raum, denn der alte Brunnen
draußen fiel mir ein, an dem ein gefüllter Eimer hing. Ich tauchte
mein leinenes Tuch, das ich über mein Körbchen gebreitet hatte, in
das kühle Naß, lief wieder zurück und legte es auf die Wunde; gellend
schrie der Verletzte auf. Aber nichts rührte sich im Hause, so scharf
ich auch horchte. Nur die marmorne Gottesmutter, die den toten Sohn im
Arme hält, schaute voll Erbarmen auf uns nieder. Da nahm auch ich den
Kranken in meine Arme und bettete den schmerzzuckenden Kopf an meine
Brust. Er schlug die Augen auf, und nun lachte er, wie ein Kind, das
sich geborgen weiß. Aber auf meine besorgten Fragen antwortete nur ein
Lallen. Hart kniete es sich auf den Fliesen des Bodens, ich lehnte den
Kranken gegen den Marmor, löste das Tuch und lief wieder zum Brunnen.
Da tönte mir das Klagen nach, und wieder empfing mich der Schrei, als
ich den Umschlag erneuerte. Ratlos sah ich nach der großen Tür, die
mir in das Innere des Hauses zu führen schien, denn die Werkstatt war
nur eine große Halle. Über der Tür stand der Spruch gemeißelt: »~Nisi
Dominus aedificaverit domum, in vanum laboraverunt, qui aedificant
eam.~«

Das klang tröstlich, und ich durchschritt die Tür. Wie seltsam
mutete das große, traute Wohnzimmer an, das sich mir zeigte … In
dieser Waldwildnis ein so behaglicher Raum mit hohem Kamin, darinnen
ein loderndes Feuer brannte. Schwere Teppiche bedeckten den Boden,
flämische Möbel standen wuchtig an den Wänden. Nirgends ein Mensch,
außer dem, dessen tierische Laute fortgesetzt das Haus durchgellten.
Da ging ich zurück, beugte mich über den Kranken und rief ermunternd:
»Komm! Komm mit mir!« Er erhob sich plötzlich sehr gelenkig und
folgte mir, wie ein gehorsamer Hund. Das Blut an seiner Hand und auf
seiner Stirn schien ihm ungeheuer wichtig zu sein, aber sein Klagen
verstummte, als ich ihm begütigend sagte: »Das wird alles gut.« Von
seiner armen Sprache konnte ich nichts deuten, es schien mir aber, als
sei er gut Freund mit meinen Bäumen und Bäumchen.

So gingen wir Hand in Hand nach Lage zurück. Hier habe ich meinen
seltsamen Gast in einem freundlichen Gelaß gebettet, heilkräftige
Arnika auf die Wunde gelegt und will nun selbst, todmüde, mein Lager
aufsuchen. Gute Nacht, Märchenwald und Fledermäuse!




9.


Recht schlecht und unruhig habe ich geschlafen, ein Zustand, der
mir sonst fremd ist. Immer meinte ich, das klagende Rufen zu hören
und dazwischen energisches Zurechtweisen von einer zweiten Stimme.
Einmal war es so laut, daß ich aufstand und mich völlig ankleidete.
Ich horchte an der Tür des Gastzimmers, aber nichts regte sich
hinter ihr. Etwas Blinkendes lag am Boden, ich hob es auf und hielt
einen wunderlich geformten Knopf in der Hand, an dem noch ein Stück
Manschette hing. Mit großer Gewalt mußte er abgerissen worden sein.
Dreimal stand ich so in verschiedenen Zeitabständen vor dem Gemach,
beim drittenmal drückte ich die Klinke kurz entschlossen nieder.
Die große Stube war leer, das Bett sorgfältig geordnet, das Linnen
abgezogen und fortgeräumt. Die alte Eva stand an einem der beiden
offenen Fenster und stäubte gerade ein Tuch aus. Sie knickste, sah aber
an mir vorbei.

»Ich hatte einen Gast«, sagte ich etwas erregt …

»Er ist nicht mehr da«, war die ruhige Antwort. –

»Das sehe ich. Aber ich will wissen, wo er ist. Er stand unter meinem
Schutz.«

Sie sah mich hilflos an. »Gnädig Frölen dürfen nicht solch böses
Gesicht ziehen. Ich gebe keine Befehle, ich führe sie nur aus.«

»Wo ist der Kranke?«

»Fortgeholt.«

»Von wem?«

Ich stellte mich an das kleine, bleigefaßte Fenster, das vom Gange aus
nach dem Park schaut, und trommelte heftig mit den Fingern dagegen.
Und unter dieser Musikbegleitung enteilte Eva lautlos, ohne mir zu
antworten.

Ich habe dann den köstlichen Frühlingsmorgen benutzt und bin mit
einem Ölkrüglein durch den Märchenwald geschritten, um dem heiligen
Clemens das ewige Lämpchen anzuzünden. Dann hielt ich eine stille
Andacht und freute mich tief und glücklich des kleinen, stimmungsvollen
Kirchleins. Strich auch sacht mit der Hand über die wunderschöne
»~Pietà~«. Nirgends an der Gruppe fand ich einen Namen, – es ist auch
gleichgültig. Wer so etwas meißeln kann, ist ein König …

Zu Hause war ich dann guter Gedanken voll und setzte sie rasch in die
Tat um. Zwei Briefe schrieb ich. An Fernande Lage, das protestantische
Spitalweibchen, und an Matthias Lage, den gläubigen Katholiken. Ich
bat beide, ihren Wohnsitz aufzugeben, um zu mir in mein Haus, das auch
ihren Namen trüge, überzusiedeln. Sie sollten hier einen schönen,
glücklichen Lebensabend genießen, soweit es in meiner Macht läge, und
einst da ruhen, wo alle Lages ausrasteten. –

Damit habe ich bei dem »Ohm Matthias« sehr schlecht abgeschnitten.
Er schreibt seine Antwort so grob und mißbilligend, daß ich sie mir
ungefähr so übersetzt habe: »Gestorben wird, aber ob du es erlebst, du
dummes Wicht, das ist die Frage.«

Tante Fernande dankt mir kurz, verspricht ihr Kommen und lobt mich aus
einer falschen Voraussetzung. Sie findet es außerordentlich klug und
bedacht von mir, daß ich mir in ihr eine Beschützerin und Anstandsdame
heranholen will.

Nichts lag mir ferner. Ich will zwei einsamen Lages, die mittellos
in der unruhigen Welt wohnen, eine Heimat geben, eine friedenvolle,
sorgenlose.

In dieser besinnlichen Wald- und Heideeinsamkeit liegt jeder Gedanke an
Äußerlichkeiten weltenfern. Aber vielleicht hat die alte Fernande eine
innere Befriedigung davon, daß sie meint, sie sei mir nütze. Vielleicht
kann sie jetzt besser die Wohltat von mir annehmen. So will ich sie bei
ihrem Glauben lassen. –

Mein Tag ist immer reich und ausgefüllt. Ich schaue auch öfters
in das Försterhaus, wo die junge Frau etwas zagend ihrer schweren
Stunde entgegensieht. Man hat sie mit Ammenmärchen verstört, und ich
fürchte, meine Eva hat auch manchen Schatten ins Försterhaus getragen.
Neulich ertappte ich sie beim Räuchern mit Ginsterblüten. Der Geruch
war abscheulich und verpestete das schmucke Anwesen. Ich weiß, daß er
»Alpdrücken« beheben und »starke Wehen« hervorrufen soll. Aber ich weiß
auch, daß dieser Unsinn dem sehr bodenständigen Arzt in Lage das Leben
sauer macht. Deshalb verwies ich am Abend ganz energisch der guten
Alten ihr Tun. Ihr Widerspruch ist immer derselbe: »Was weiß so ein
Junges!« Aber da er unhörbar gemurmelt wird, lasse ich ihn unbeachtet.

Ich saß mit der jungen Frau Nordstamm an der leeren Wiege, drin das zu
Erwartende liegen soll, und wir hatten die ganze kleine Aussteuer um
uns herum gebreitet, aber die Türe sorgfältig verschlossen: daß nur
ja kein unberufenes Männerauge unser törichtes Tun belauschen sollte.
Jedes gestrickte Mützchen wurde über der Faust anprobiert, und die
kleinwinzigen Linnen wurden vor die eigene Brust gehalten, um den
staunenswerten Unterschied recht deutlich zu sehen. Und ich erhielt von
der jungen Frau das Lob, daß ich »recht wie eine Mutter fühle«. Dreimal
packten wir das Bettzeug der Wiege aus und ein, und legten immer wieder
ein neues, noch zierlicheres Hemdchen, Jäckchen, Mützchen hinein. Und
die angehende Mutter schaukelte sacht das Gestell, darauf zwischen
leuchtenden Rosen und Tulipanen der Spruch gemalt war: »Onze Heere God
zal dat Kind bewaren.«

[Illustration]

Von meiner Entdeckung im Lager Wald sagte ich nichts, vielleicht war’s
eine eifersüchtige Wallung, die keinem Menschen sonst das Kirchlein
gönnte. Eines heimlichen Bangens kann ich mich nicht erwehren. Die
junge Frau ist überzart. Wenn ihr Gatte etwas sagt, fliegt Blässe
und Röte über ihr schmales Gesicht, fast möchte ich sagen, es sieht
wie Abneigung aus, womit sie ihn anschaut. Aber freut man sich dann
_so_ auf das Kindchen? Der Arzt predigt ungeheure Schonung der jungen
Frau. –

Von der Wiege kommend, traf ich beim abendlichen Heimweg auf ein
Grab. Ich hatte einen anderen, weiteren Weg gewählt, vor dem mich
der alte Förster Nordstamm gewarnt. »Der Wilde Jäger sollte dort
umgehn mit Heihallo und Hussida.« Herr Förster, das war gefehlt. Vor
halsbrecherischen, schlechten Wegen lasse ich mich gern warnen, denn
meine Gesundheit gehört nicht mehr mir, sondern dem »grauen Alltag«.
Aber dem »Spuk« gehe ich entgegen. –

Es lief alles friedlich ab. Ich fand ein Grab in tiefster Waldwildnis
versteckt, und meine zerrissenen Hände geben Zeugnis, wie hartnäckig
ich mich durch Brombeeren und Ilex durchkämpfte. Einen Namen trug die
Ruhestätte nicht, ein winziges Kreuzlein, roh aus Holz geschnitzt,
steckte darauf. Vom Grabe aus schritt ich nach der Lager Kirche und
ließ mir vom Küster den Schlüssel zur Gruft geben. Ihm blieb der Mund
offen stehen. »Bi disse Tid?« fragte er fast tonlos. –

Ja, der Sarg ist leer, nur ein altes Pergament liegt darinnen. Joochen
Lage, † 1642: »Die Lager Luft verwirret Kopf und Herz.« Rings um
mich standen die Holzsärge bis an die Decke hinauf übereinander, ein
trostloser Anblick. Drei oder vier Steinsärge mit alter Ornamentik
reihten sich rings in der Gruftrundung; ein paar neumodische Zinksärge
zeigten, daß auch Holländer Mynheers de Lage hier in den letzten drei
Jahren beigesetzt worden waren. Ich löschte den Wachsstock, der in der
Nische für abendliche Besucher aufbewahrt wird, und schritt im Lichte
des letzten Mondviertels über den Friedhof.

    »Der Türmer, der schaut zu Mitten der Nacht
    Hinab auf die Gräber in Lage.«

Auch hier ruhten Vorfahren, die nicht in der düsteren Gruft
hatten liegen wollen, umgeben von Steinen und Moder, jedem Zufall
preisgegeben, der die ungeschützten Särge zerstören konnte. Ich blieb
noch einige Zeit an der tausendjährigen Buche stehen und dachte meiner
Eltern, dachte des weißen Kreuzes auf dem Friedhof zu Erfurt: »Sei
getreu bis an den Tod«, dachte in Liebe und Heimweh an die beiden
Efeuhügel, die Unersetzliches bergen.

Als ich dann in mein Zimmer trat, glänzte schon von weitem das große,
gelbliche Büttenpapier, auf dem der »Enterbte« mir seine närrische
Weisheit darzureichen pflegte, und ich war just in der rechten
Stimmung, sie anzunehmen.

»Die liebwerte Regenschirmbase geht sehr selbstherrlich vor, wie mir
scheint. Mit ihrer unverbrauchten Kraft lockt sie kranke Kinder aus
fremden Häusern, denn wenn die feine, kleine Lagesche Spürnase auch
unvergleichlich ist und ungeheuer nett in dem gescheiten Gesichtchen
steht, so hat sie doch über die Grenze geschnüffelt. Die schmale Spur
zwischen Clemenskapelle und Tempel _ist_ diese Grenze, und der Tempel
steht nicht mehr auf Brigitte Lages Grund und Boden. Hausrecht soll
man ehren, oder??? Für die Lampe bedankt sich der heilige Clemens.
Sie muß jeden Tag gefüllt werden, das gebe ich zu bedenken, aber
hübsch jenseits der Grenze bleiben, ohne die Werkstatt zu betreten
… Und damit die liebe Regenschirmbase nicht wieder so zerschunden
aus dem Ilexgewirr des Waldgrabes hervortaucht und sich unnützen
Grübeleien hingibt, so diene zur Vervollkommnung der Familiengeschichte
(siehe oben), daß in besagtem Grabe der Urahn Joochen wirklich ruht,
wenigstens das fein säuberliche Gerippe. Meine eigenen Hände haben ihn
dort still beigesetzt, als ich einst entdeckte, daß sein Sarg offen
stand und beim Umfallen schon einmal die Gebeine verloren hatte.

Durch meine nüchterne Enthüllung hoffe ich die Regenschirmbase richtig
eingeschätzt zu haben … Den goldenen Manschettenknopf bitte ich in der
Clemenskapelle niederzulegen.

            Der Enterbte.«

Ich habe den Brief hin und her gewendet, aber da keine Marke ihn
zeichnete, konnte ich auch nicht sehen, woher er kam. Die Kenntnis
des Ritter Lage von meinen Wegen und Taten ist mir unheimlich, die
verschiedenen Rüffel, die er mir erteilt, empören mich. Wenn aber
wirklich der Tempel nicht auf meinem Grund und Boden steht, so hat
der Mann recht, und ich muß meine »Grenzen« besser studieren und
innehalten. Eine beschämende Mahnung für mich von dem Fremden. Wer mag
ihm nur alles hinterbringen? Das ist der häßliche Beigeschmack der
ganzen Angelegenheit, daß hier irgendein Spion in meiner Nähe sitzt.
Und merkwürdig quälend für mich der Gedanke, daß sich »Ritter Lage« zu
solch einem Spiel hergibt.

[Illustration]




10.


Natürlich habe ich sozusagen »fliegenden Fußes« den Knopf in der
Kapelle hinterlegt und lächerlicherweise nach Verlauf von einer
Stunde festgestellt, daß er verschwunden war. Gleichzeitig habe ich
das Gelübde getan, den Märchenwald zu meiden und die Clemenskapelle
überhaupt nicht wieder zu betreten. Mag doch die Lampe austrocknen oder
-brennen, – ich bin Protestantin, habe gar nichts damit zu tun. –

»Die ewige Lampe brennt«, schreibt daraufhin Ritter Lage. »Es gehört
keine blühende Phantasie dazu, um herauszuklügeln, daß Brigitte Lage
ihren fein aufgesetzten Kopf in den Nacken wirft, wie Rassepferdchen
tun, und in weiblicher Unlogik den armen Heiligen entgelten lassen
will, was der Unheilige verbrochen hat. Also sie brennt wieder, und man
braucht überhaupt gar nicht mehr zu kommen. – Meine Bitte entsprang
auch nur einer augenblicklichen Verlegenheit. Ich hatte mir den Fuß
bös verletzt und konnte nicht so rasch, als ich wohl wollte, in die
Kapelle humpeln … Von Holland her, verehrte Regenschirmbase … Aber in
richtiger Erkenntnis der weiblichen Logik humpelte ich doch … Übrigens
war selbstverständlich schon früher eine ewige Lampe in der kleinen
Waldkirche, – auch ohne daß Sie das Lichtchen anzündeten, – aber sie
war verlöscht … Wie gesagt, mein Fuß ist schuld. Die Lampe hängt in
einer Nische am Altar versteckt, aber ich benutze das rührend komische
Steinnäpfchen meiner rührend komischen Regenschirmbase …

Sie erkennen daraus, wie sehr ich Ihnen ergeben bin. –

            Der Enterbte.«

Natürlich war das wieder Spiegelfechterei. Denn als ich hinlief, in
hellem Ärger über meine Pflichtvergessenheit – dem Kranken gegenüber,
der seinen verletzten Fuß aufs Spiel setzte … da war die Lampe im
Verlöschen und wäre ohne Zweifel ohne mich jetzt tot. Ritter Lage hatte
sich also darauf verlassen, daß ich sofort in jähem Mitleid kommen
würde …




11.


Matthias und Fernande Lage sind eingetroffen. Die Urbilder der
»Kümmerlichkeit«.

Dabei ist beider Geist rege, und die Zungen sind scharf geschliffen.
Ohm Matthias wirkt wie »Gift und Operment«. Ich habe, bildlich
gesprochen, mein Väterchen zu Hilfe gerufen, – mich buchstäblich zur
inneren Ruhe erzogen. Haus Lage »flog«. Ich kann mir unmöglich denken,
daß das Spitalweibchen in ihrem Leben viel elektrische Klingeln zur
Verfügung gehabt hat, um dienstbare Geister heranzurufen. Heute zeterte
sie nach dem »Personal« und war sehr ungehalten, als auf ihr Rufen nur
immer _ich_ erschien. Eva hatte ich zur jungen Försterin beurlaubt,
die plötzlich erkrankt ist. Der Fall macht mir rechte Sorgen. Wie gern
wäre ich selbst hingegangen, um zu hören, was ihr zugestoßen ist.
Statt dessen vernehme ich Klagen und Jammertöne zweier unzufriedener
Geister, die eigentlich recht glücklich sein müßten, daß sie nun eine
Heimat haben. Kaum mit einem Augenwink haben sie die Frühlingspracht
da draußen gestreift, als ich sie vom Bahnhof mit unsern munteren
Pferdchen »Hans« und »Fritz« abholte. Und jedes geringfügige Scheuen
der allerdings stark temperamentvollen Tiere quittierte Tante Fernande
mit gellendem Schrei. Ohm Matthias saß dagegen mit stoischer Ruhe auf
seinem Sitz und bemerkte nur bissig, daß bei einem etwaigen Durchgehen
der Pferde ebensogut »spekulative Erben« den Hals brechen könnten, als
er selbst.

[Illustration]

Mein herzliches Lachen schien ihn etwas zu entwaffnen. Ich glaube
nicht, daß Ohm Matthias auch nur das geringste zu vererben hat. –

[Illustration]

Denn er zeterte in seinem Zimmer umher und verlangte eine
»Gästezahnbürste«. Vermutlich muß ich bei diesem zärtlichen Verwandten
ganz und gar umlernen, muß ihm Urbegriffe beibringen. – Aber sie sind
nun wenigstens untergebracht in den beiden sonnigsten Zimmern, die ich
zu vergeben habe. »Nicht standesgemäß«, kritisierten beide. Aber Haus
Lage ist überhaupt nicht »standesgemäß« im landläufigen Sinne. Ein
Vorfahr hat es sogar »seine Tonne« genannt. Der suchte seiner Lebtage
»Menschen«, und da er sie nicht fand, löschte er seine Diogeneslaterne
und zog sich grollend nach Lage zurück. – Es ist schade, daß dieser
Ahn seine Anspruchslosigkeit nicht auf Ohm Matthias und Tante Fernande
vererbt hat, unser Zusammenleben wäre dann ersprießlicher. Auch die
Verschiedenheit der beiden Konfessionen wirkt sich übel aus. Ohm
Matthias macht um die protestantische Kirche einen auffallend weiten
Bogen, als berge sie Gefahren für sein Seelenheil, besucht auch die
Gräber der dort Ruhenden niemals. Er fährt jeden Freitag und jeden
Sonntag mit der Kreisbahn nach N., um Messe und Predigt zu hören, und
kommt stets so unduldsam wieder, daß ich als Parole und Feldgeschrei
ausgegeben habe: »Kein Gespräch über Religion bei Tische!« »Kämpfe um
Luther und Ignaz Loyola werden nur im stillen Kämmerlein unter vier
Augen ausgefochten.« –

Lade ich Pastor Oswald zum Sonntagsbraten ein, so ißt Ohm Matthias auf
seinem Zimmer; und speist Hochwürden Trewes bei uns, der die Seelen
seiner katholischen Schäflein mit Nahrung versorgt, so verschwindet
Tante Fernande in ihre Gemächer. Es ist eine lächerliche Gesellschaft.
Aber beide Verwandte sind einsam, sie haben nie Liebe kennengelernt,
sondern nur Armut, Krankheit und Zurücksetzung. So will ich ihnen von
dem Reichtum abgeben, den ich in mir spüre, und von all dem Äußeren,
das mir ein gütiges Geschick zuwarf.

Eva grollt mit mir, aber das soll mich nicht beirren. Sie möchte
einen stillen, vornehmen Haushalt führen als meine Dienerin und
als Beschließerin von Haus Lage. Die beiden Verwandten dünken sie
Eindringlinge, wunderliche Bilder, unwürdig des Rahmens, der sie
umgibt. Ich aber mit meiner Jugend und stürmenden Kraft will noch
nichts von Stille, Ruhe und Nur-Vornehmheit wissen. »Teich mit
Entengrün« nannte mein Vater solche Beschaulichkeit. Er pflegte Steine
hineinzuwerfen und freute sich, wenn das Wasser sich klärte und Kreise
zog. Ich aber bin meines Vaters Tochter.

Ungeheuer viel Pläne trage ich in mir. Ich muß in Lage bauen. Ein
hübsches Lehrerhaus möchte ich haben. Das Schulhaus ist uralt, die
Lehrersfrau klagt über Ratten und sonstiges Geziefer. Auch kann die
blitzsaubere Frau dem Kalk nicht wehren, der von Wänden und Decken
fällt und von der Schuljugend zertreten und überall herumgetragen wird.
– Ein Lehrerhaus muß schmuck sein, außen und innen.

Wie will er reine Gedanken in die Herzen der Kinder tragen, wenn
seine Wohnstätte unsauber ist? Bisher scheint hier in Lage für den
Lehrer alles gut genug gewesen zu sein. Hei, damit will ich aufräumen.
– Der alte Pfarrer, der im Ruhestand lebt, sieht scheel zu meinen
Erneuerungsgelüsten. Gottlob hat er nicht mehr dreinzureden, und
der junge Pfarrer Oswald ist ganz meiner Ansicht und gibt mir nach
bestem Wissen und Gewissen gute Ratschläge. Vielleicht tut es im
Laufe der Jahre auch einmal der »Ritter Lage«. Wohin man auch hört,
wird er als der Bestkundige der Grafschaft bezeichnet, und auch
aus seinen närrischen Briefen spricht seine Vertrautheit mit allen
hiesigen Verhältnissen. Holland ist also doch nicht so weit, Herr
Vetter Clemens, als Sie mich glauben machen wollen … Zuerst und vor
allem andern aber will ich der Pietät Genüge tun und das Grab von
Brigitte-Jesuliebe Lage instand setzen lassen. Es liegt auf dem
Friedhof hier, aber fern von den andern Gräbern an sehr unwirtlicher
Stelle. Nichts ist angepflanzt rings um die Ruhestatt der letzten
Besitzerin von Haus Lage, ich fand beim Aufräumen einzelne vermoderte
Sträuße, die irgendein dankbares Gemüt ihr heimlich hingelegt haben
mag. Auch kein Kreuz oder Stein bezeichnet das Grab, nur die öde
Nummer, die der Totengräber in seinem Buche vermerkt hat. Ich sprach
mit Eva. Sie zuckte die Achseln und wandte sich ab. –

Eva, Eva, wenn ich spüren sollte, daß du Menschenfurcht kennst! Daß du
um des unduldsamen Eiferns des alten Herrn Pastors willen deine Pflicht
versäumt hast an deiner Herrin, an meiner Wohltäterin! Sie hat dich
gespeist und getränkt und besoldet und ist dir eine gerechte Obrigkeit
gewesen. Sie hat mit dir geweint und gelacht, du hast die Füße unter
ihren gedeckten Tisch gesetzt. Heilig ist solche Gastfreundschaft. »Ein
undankbarer Mensch aber steht unter dem Tier. Denn jedes edle Tier ist
dankbar«, sagt der Philosoph Hilty.




12.


Ich werde mich mit dem alten Pastor noch einmal auseinandersetzen. Er
geht des öfteren um den Friedhof herum, wenn ich darin arbeite, und
sieht mir scharf auf die Finger. Ich habe mir einen tüchtigen Gärtner
und seinen Gehilfen aus der Stadt kommen lassen, damit erst einmal
Ordnung auf dem Gottesacker geschaffen wird. Wie der Friedhof, so das
Dorf und sein Patron. Meine eigene Bequemlichkeit, die Instandsetzung
des Parkes, des Gartens, die Gewächshäuser, – alles dies kann warten,
ich erachte es gering gegen die Pietätspflicht. Am 29. Juni ist der
Geburtstag der Heimgegangenen. Einen Stein will ich dann bestellen, der
Tante Jesuliebes Namen tragen soll.

Jesuliebe!

Ich weiß nicht, ob sie Gott und Gottes Sohn geliebt hat. Sie soll die
Kirche nie besucht haben.

Aber die Armen und Siechen haben mir von ihr erzählt, von ihrer
gebefrohen rechten Hand, die nicht wußte, was die linke tat. So soll
auf dem Stein nur stehen: »… ihre Werke folgen ihnen nach«.

Wenn mir der Ritter Lage nur nicht so viel Rätsel aufgeben möchte! Und
ich wette, wenn ich den nächsten Brief öffne, so steht darin: »Ich bin
gar nicht rätselhaft, verehrte Regenschirmbase.« Sein Gedankenlesen
ist unheimlich. Heute lag sein Brief auf Urahn Joochens Grab im
Walde. Dessen Geburtstag ist heute, das habe ich aus der Urkunde
entnommen, und Ritter Lage nahm natürlich an, daß ich Kranz oder Strauß
niederlegen würde:

»Ich muß abbitten, liebste Regenschirmbase, wie ein ganz armer Sünder.
Glaubte und – fürchtete, daß das rasche, junge Geschöpf dem Wunsche
der Toten schon nachgekommen wähnte (zünd an, Brigitte Lage, zünd an!),
wenn es dem heiligen Clemens alltäglich seine Lampe füllte … Und nun
ist dies Menschenkind so reif, daß es tiefer und weiter gedacht hat,
und so gut, daß es mit _Freuden_ den Hilferuf der Heimgegangenen in die
schöne Tat umsetzt. Wäre ich nicht ein alter, kranker, verbitterter
Mann, der unfroh fern in Holland (?) sitzt …

Aber ich darf doch in Gedanken die kleine, fleißige, tapfere Hand
küssen, die unser altes Lage mit so sicherem Griff gepackt hat. – Doch
kann der alte Mann seinen Rat nicht vorenthalten: Jeder Kraftfahrer
läßt seine Maschine _langsam_ angehen. Bei Brigitte Lage ist noch
zuviel Überschüssiges. Nach diesem Tempo muß der Körper schließlich
Lehrgeld zahlen. (Ich überlege, aus welchem Teich Vetter Ernst der
Hüne und Base Pauline die Bodenständige dies winzige Lebewesen
herausgefischt haben.) Aber zäh ist’s, zäh, das merke ich schon. Und
das braucht Lage. Also langsam! Langsam! Es wäre ein Jammer, wenn das
Maschinchen einen Knacks bekäme.

            Der Enterbte.«

Wie ist es nur möglich, daß solch ein Wort so froh machen kann! Bin
ich so sonnenhungrig, daß mich ein paar hingeworfene Brocken schon
Lichtstrahlen dünken? Jedenfalls ist das »Maschinchen« neu geölt, und
– Dank für den guten Rat, Ritter Lage! –




13.


Welch großes Unglück! Ich bin ganz verstört. Die junge Förstersfrau
wird sterben. – Mein Gott, wie ich das so bestimmt hinschreiben kann.
– Sie ist schwer gefallen, als sie nach der kurzen Krankheit, die sie
neulich zu überstehen hatte, ihren geliebten Wald zum erstenmal wieder
aufsuchen wollte. Gleich will ich wieder zu ihr hin. – Von überall her
werden die Ärzte erwartet. – Die Kranke ist ohne Besinnung. –

Abends: Tot! Ich fasse es nicht. Soll nicht Allmutter Natur die
werdende Mutter schützen? Ein kleines gesundes Mädchen hat sie geboren,
aber sie selbst … Das Kind schlummert bei mir in Haus Lage, es würde
sonst ganz vergessen vom unglücklichen Vater, den der Schmerz bis zum
Toben gebracht hat. Die Flinte hing er um und lief in den Wald, der
alte Förster hinter ihm drein. Im Hause blieb eine alte, durch die
Ereignisse völlig kopflose Wärterin und das kleine, schreiende Kind.
Da habe ich’s auf den Arm genommen und bin mit ihm durch den Wald
geschritten. Wohlverwahrt lag es an meiner Brust.

Und wie ich das warme Etwas spürte, – kam mir das Leben, das ich
geführt hatte, seltsam leer und öde vor – bis heute … Die weise Frau
aus Lage hat mir ein richtiges »Wochenzimmer« eingerichtet und mit
derben Scherzen, wie sie diese Frauen leicht annehmen, nicht gekargt.
Alle Sachen und Sächelchen, die solch ein Neugeborenes braucht, sind
vom Försterhaus in mein Schlafzimmer übergesiedelt, und die alte
Wärterin Marianne hat auch wieder einen Kopf bekommen, den ich ihr
etwas zurechtsetzte.

Nun bin ich Mutter. Herrgott, hab’ Dank! Und hilf mir, daß ich eine
rechte Mutter werde für dies Waislein.

Aber ein junges Leben mußte dafür auslöschen …

Wie ist alles so seltsam!

Der alte Förster kam heute und sah das schlafende, rote Gesichtchen
lange gramvoll an.

Der unglückliche Vater hat noch nicht nach seinem Kinde gefragt.

Über all dem Neuen vergaß ich aber doch die Clemenskapelle nicht,
ich halte dort meine Morgenandacht und lege mir in der tiefen,
göttlichen Ruhe meinen Tag und seine Pflichten zurecht. Meine eigene
evangelisch-lutherische Kirche ist ja immer geschlossen …

Viel wirre, bunte, krause Gedanken mußte ich heute in der Waldkapelle
verarbeiten. Wir wollen übermorgen das Kind taufen am Sarge seiner
Mutter und dann die Tote zur letzten Rast geleiten. Wie sollen wir das
Kind nennen? Es sind keine Bestimmungen getroffen, die Eltern hatten
nur immer vom »Stammhalter« gesprochen. Armes, kleines Mädchen, man
hatte dich gar nicht erwartet. Der Vater antwortet auf keine Frage, die
dich betrifft. Soll ich dir _meinen_ Namen geben?

Als ich von der Kapelle fortschritt, hockte wieder der Krüppel davor.
Hastig haschte er nach meiner Hand, legte sie sich auf seinen armen
Kopf, an sein Gesicht. Und wackelte wieder neben mir her. Als ich mit
der Hand nach dem Tempel wies, sah ich plötzlich einen bösen Ausdruck
auf seinem ohnehin so häßlichen Antlitz. Und als er sich vor mir
niederwarf und nach meinem Kleidersaum griff, herrschte ich ihn zornig
an.

Wie konnt’ ich mich so vergessen! Diesem Ärmsten der Armen muß wohl
vor allen Dingen meine Liebe gehören, will ich dem Wort nachfolgen:
»Was ihr getan habt einem der Geringsten unter euch, das habt ihr mir
getan.« – Als ich heimkam, war auch der Krüppel an der Schwelle und
ließ sich nicht wegbitten, noch verjagen. Ich wollte ihn wieder in sein
Zimmer bringen, aber Eva stand plötzlich vor der Tür, nahm seine Hand,
führte ihn hindurch und schloß hinter sich zu. Es scheint, daß ich
wenig Herrscherrecht hier habe …

»~Gratulor~«, schreibt Ritter Lage. »Also wir haben ein kleines Kind
bekommen? Ich konnte es mir natürlich denken. Ganz Lage wird hinfüro
Kleinzeugs in die Welt setzen, denn Freifräulein Brigitte nimmt alles
an ihr warmes Herz. Und wenn Haus Lage nicht ausreicht, so ist der
Tempel noch da und die Clemenskapelle. Ich stelle alles zur Verfügung
und helfe auch beim Anbau. Das Haus der Regenschirmbase muß wie eine
Ziehharmonika sein. –

Über den Namen des Kindes dürfen Sie sich nicht den hübschen Kopf
zerbrechen. Es gibt nämlich nur _einen_ Namen für dies Heidekind:
›_Erika_‹.

›Clementine‹ würde ich anmaßend von _mir_ finden. Und gegen ›Brigitte‹
sträube ich mich, und werde es _nie_ zugeben.

Und nun, verehrte Regenschirmbase, noch eine ganz ernste Sache:
Sie werden den idiotischen Krüppel, der leider hie und da Ihren Weg
gekreuzt hat, _nie_ wieder berühren! Ich verlange das ganz einfach
von Ihnen, kraft meines Rechtes als älterer Vetter. Und die kleine
Base, die so fein zu organisieren, so tapfer zu befehlen, so lieb zu
bitten versteht, wird ohne Widerspruch gehorchen. Und wird den Kranken
mit Strenge in das Haus mit dem tempelartigen Vorbau verweisen, das
auf meinem Grund und Boden steht. – Und nachdem das kleine Mädchen
bis jetzt so getan hat, als hätte sie aufmerksam den Brief bis hieher
gelesen, während sie doch ihre Gedanken nur an dem einen Punkte haften
ließ, daß ich den Namen Brigitte verwerfe, sage ich ihm leise ins Ohr,
daß Brigitte ganz _einzig_ ist, gar nicht noch einmal in der Welt
vorkommen _kann_, und es mir deshalb vom künstlerischen Standpunkt aus
unleidlich ist, irgendein Lebewesen ebenso genannt zu wissen wie sie …

            Clemens, der Enterbte.«




14.


Wir haben die Taufe der kleinen Erika begangen. Pastor Oswald hat
wie ein rechter, echter Hirt gesprochen, aber im Kopf und Herzen des
unglücklichen Vaters der Kleinen ist wohl nichts haftengeblieben.

Es gibt nichts Trostloseres, als solch eine Feier am offenen Sarge
einer Mutter. Aber die Sitte will es hier so, und Sitten und Gebräuche
können sehr unbarmherzig sein. Ich kam auch nachgerade in eine
bedrückend trübe Stimmung hinein und wunderte mich eigentlich, daß
die Mutterhände sich nicht plötzlich ausstreckten und das Kind zu
sich betteten. Und daß sie nicht all die vielen laut weinenden Weiber
fortwiesen, die so sehr mit ihrem Geschrei die Ruhe des Todes und die
Ruhe des lebenden und schlafenden Kindleins störten.

Nach der Taufe wurde der Sarg geschlossen und fortgetragen. Der junge
Förster stand wie ein Taumelnder. Sein Vater schob ihn zu mir hin,
vielleicht sollte er mir danken, daß ich sein Kind in mein Haus und
an mein Herz nahm. Ich sah in zwei schier erloschene Augen und in
versteinerte Züge. Da wandte ich mich ab und trat zur Seite, und der
alte Vater stützte den jungen Sohn und führte ihn zu den Menschen,
die den Sarg zum Friedhof geleiteten. Es war ein seltsamer Tag und
ein besinnlicher Abend. Für die Teilnehmer an der Trauerfeier und dem
Begräbnis – es war wohl das ganze Dorf versammelt – habe ich Kaffee
kochen und einen Imbiß herrichten lassen im Forsthaus. Eva war mit
zwei Mädchen dort und hat alles versorgt. – Ich selbst betreute das
Kind und blieb mit wunderlichen Gedanken bei der Wiege. Ohm Matthias
und Tante Fernande spielten Schach. Diese Stunden versöhnen beide, und
infolgedessen sind’s auch für mich Feierstunden. Ich schaukelte sacht
die Wiege. Im Kamin loderten knackende Holzscheite. Mein Leben hat nie
lodernde Flammen gekannt, nur herzerquickende Wärme …

Hab’ Dank über das Grab hinaus, mein herrlicher Vater! Und du,
herzliebste Mutter! Ihr gabt mir das Eiland, die sonnige, behütete
Jugend. Pflanztet die heilige Menschenliebe in mein Herz, und ich erbte
von euch beiden doch Herbheit genug, ein kleines, festes Mäuerlein um
mich zu bauen. –

Wenn die Liebe, die die Dichter besingen und unsterblich machen, so
furchtbare Kraft hat, daß sie einen starken, bodenständigen, fast ein
wenig bäurisch-tölpelhaften Mann wie den jungen Förster Nordstamm zum
Greise wandelt, der schier ohne seine fünf Sinne herumgeht, der seiner
Vaterpflicht vergißt, weil ihm das junge Weib starb, – dann will ich
mich vor der Liebe bewußt hüten. – Bisher ist sie noch nicht an mich
herangetreten. Man hat in ehrlicher Freude mit mir geplaudert, auch
ist wohl manch ein kecker Bewunderungsblick zu mir hingeflogen, aber
man bestürmt _arme_ Töchter höherer Stände nicht mit Bitten: »Komm auf
mein Schloß mit mir.« Ich hätte auch, – zwar mit dem Schloß, aber
nicht mit dem Bittenden, etwas anfangen können. Jetzt hat mir ein
gütiges Geschick ein Schloß »ohne lästiges Zubehör« geschenkt, – das
ist herzerquickend schön. Ei, und das Kindlein? das rosige, atmende,
werdende Etwas? Sollten Leute, die keine Menschenliebe kennen, nicht
gerade dies Kleinchen ein lästiges Zubehör nennen? Für mich ist’s ein
Gottesgeschenk. –

Schier setzt mein Herzschlag aus bei dem Gedanken, man könnte dies
Geschenk jemals wieder zurückfordern. –

Ich habe die väterlichen Ratschläge des seltsamen Briefschreibers
beherzigt und ein langsameres Tempo angeschlagen. Habe noch etliches
gutes Personal angenommen, damit ich von gröberer Arbeit verschont
bleibe, und habe mir die feinere vorbehalten. Das ist z. B. die
restlose Versorgung des Kindleins, das neben meinem Bette schläft,
und das ich bade, trockenlege, ankleide, und mit dem ich plaudere
und lache. Ich glaube nicht, daß der mütterliche Leib allein zur
Mutterschaft heiligt, – mütterlicher Geist, liebendes Herz und
sorgende Hände können sich wohl auch den Namen Mutter verdienen. Vater
Nordstamm hat seinem Kinde noch nicht nachgefragt, so gehört es mir
um so einziger und inniger. Und wenn die Vaterliebe nicht etwa ganz
plötzlich hervorbrechen sollte, so will ich durch meine Erziehung die
Kindesliebe pflanzen und großziehen, dann wird die kleine Hand einmal
mahnend und weckend an das verstörte Herz klopfen und es überwinden. –

Zu meinem Bereich gehört ferner noch die Armenpflege. Es gibt genug
Kranke und Arme in Lage. Arm an Besitz und auch an Geist. Viele davon
gehörten in ein festes Haus, weniger um ihrer Gefährlichkeit willen,
als um der Aufsicht willen, die ihnen völlig fehlt. Es ist soviel
tönendes Erz und klingende Schelle um sie herum, aber es mangelt die
Liebe. Ob wohl dem Krüppel im Tempel jenseits meiner Grenze Liebe
gegeben wird …?

Nirgends habe ich ein weibliches Wesen im engeren und weiteren Umkreise
des Tempels entdeckt, und solch ein armes Geschöpf braucht doch treue
Hände … Und warum es wohl frei herumläuft, wenn es einem doch verboten
ist, ihm Gutes zu tun?

Ganz verloren und schüchtern bin ich mit diesen Fragen zu Eva gekommen,
aber ein Granit kann nicht härter im Schweigen sein als sie. Auch
bekommt sie, wenn man sie bedrängt, so hilflose Augen, denen gegenüber
ich selbst hilflos werde. Ich frage dann nicht weiter, aber meinem
offenen, mitteilsamen, liebebedürftigen Herzen sind diese Rätsel in und
um Lage etwas sehr Quälendes. –

»Kleine Mädchen müssen nicht neugierig sein«, schreibt Ritter Lage.
»Und nun vollends eine verständige Mutter von mindestens 25 Kindern,
die ich so beiläufig zusammengezählt habe, und von denen die alte
Korb-Sina am Ende des Dorfes die Älteste, Ohm Matthias der Zweite, ich
selbst der Mittelste und Klein Erika die Jüngste ist. Oder hat man
inzwischen noch ein Kind bekommen, das man meinem spürenden Spotte
unterschlägt? Ich traue der jungen, unberechenbaren Regenschirmbase ein
ganzes Waisenhaus zu. –

Haben Sie übrigens in dem Schatze Ihrer Märchen und Geschichten,
die Sie den Dorfkindern auf Ihren Samaritergängen mit vollen Händen
austeilen, auch das Märchen schlechthin von ›Gitti und dem Zornebock‹?
Meine Großmutter erzählte es mir, mein geliebtes Großchen, das ich
›Grodeli‹ nannte. Und Sie sind das Urbild dieser Großmutter, die Ihre
Urahne war. Deshalb nenne ich Sie in meinen Gedanken meistens Gitti,
und mich können Sie als den Zornebock betrachten. Ach, es ist ein
köstliches Märchen. Eben ein _Märchen_. Und ich rede und denke jetzt
blühenden Unsinn, was ich doch bisher meiner verehrten Base ›Gitti
Regenschirm‹ überließ.

Warum der Krüppel nicht von weiblichen, fürsorgenden Händen betreut
wird? Weil nicht jeden das Ewigweibliche hinanzieht, sondern die
meisten _hinab_. –

Warum er nicht in einem festen Hause verwahrt ist? Das geht Sie nichts
an.

            Clemens, der Enterbte.«




15.


Ich habe eine schwere Zeit hinter mir. Klein Erika war krank, mein
süßes Kind. Wie schneidet es ins Herz, ein Hilfloses leiden zu sehen.
Der Arzt war gar nicht recht bei der Sache, wie mir schien. Und schier
spöttisch lehnte er meine eigenen Ratschläge ab, welche die Angst
geboren hatte. Mir war, als denke er, daß Klein Erika wohl am besten
bei seiner toten Mutter aufgehoben und hier auf der Welt doch nur
unwillkommen und schließlich eine Last sei. Männerweisheit. –

Ich habe dann seiner Gleichgültigkeit gegenüber nach meinem Ermessen
gehandelt, habe vorsichtig mit Umschlägen operiert, um das Fieber
nicht hochkommen zu lassen und die Schmerzen zu lindern. Warum muß
eine Mutter in das Reich der Schatten gehen und etwas so Zartes
zurücklassen? Ich glaube, wenn ein krankes Kindlein aus der
Mutterbrust trinkt, muß es gleich gesunden. Und ich habe nur _Liebe_ …

       *       *       *       *       *

Fünf bange Tage konnte ich das Zimmer nicht verlassen. Das Lichtlein
drohte immer auszulöschen. Ich bat Eva, die Lampe in der Kapelle zu
betreuen, wurde aber mit einem barschen »Tut nicht nötig« abgewiesen.
Nun mußt’ ich des öftern an das Dunkel denken, das den Clemens umgibt …

Heute trieb es mich auf den Friedhof. So lange hatte mich dies stille
Fleckchen nicht gesehen, und ich wollte doch Tante Jesuliebe-Brigittes
Grab so herrichten lassen, wie die Seltsame, die Eigenbrötlerin, die
unendlich Gütige, es verdiente.

»Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren«, sagte einst der
fromme Simeon. »Denn meine Augen …«

Ich rieb die meinen heute in unfaßbarem Staunen, – meinte, die Vision
müsse verschwinden. Aber sie blieb leuchtend weiß vor meinen Blicken
bestehen und hob sich von tiefdunklen Tannen ab. Die »~Pietà~« aus
dem geheimnisvollen Tempel stand auf dem Grabe von Jesuliebe Lage. –
Ich frage nicht, wie man sie hinzaubern konnte, ohne daß ich nur das
Geringste davon gewahr wurde. Denn in der tiefen Stille meines Hauses
und meiner weiteren Umgebung müßte man wohl das Rollen und Ächzen eines
schweren Wagens vernehmen, dem solch ein Marmor anvertraut ist …

Ich frage nicht. In mir ist plötzlich der Wille geboren, alles, was
Lage mir gibt, als ein liebes Wunder anzunehmen. Fragen sind laut, sind
unharmonisch. Dies Marmorbildnis tönt wie eine große Symphonie. Die
Liebe spannte alle Saiten, und ein gewaltiger Geist vermochte darauf zu
spielen.

Ich wandle durch das Königreich der Freude. –

       *       *       *       *       *

Mein Kindlein ist wieder gesund. Es schläft und trinkt und tut sonst
allerhand, was ich wie die gewiegteste Familienmutter beurteilen
lerne. Über natürliche Dinge wird hier im Dorfe mit größter Offenheit
gegen jedermann gesprochen. Zweideutigen Witz aber kennt man nicht.
Ich könnte meine ganze Umgebung mit dem altmodischen Worte »keusch«
bezeichnen. So war meine Mutter Pauline, und ich finde sie nun in fast
allen Dorffrauen wieder. Von meinen Leuten scheint noch niemand die
~Pietà~ gesehen zu haben. Ohm Matthias meidet jeden Gedanken an Tod und
Vergänglichkeit, Tante Fernande lebte mit Jesuliebe Lage auf gespanntem
Fuße. Eva schweigt sich aus, und ich würde es auch nicht ertragen
können, von irgend jemand Kritik zu hören. Von dem Heiland in den Armen
der Gottesmutter geht eine unsägliche Liebe aus, und von der Maria, in
deren Herzen man die sieben Schwerter ahnt, leuchtet eine Tapferkeit,
daß ich jede bange Mitschwester zu diesem herrlichen Bilde schicken
möchte, auf daß sie den Kampf mit dem Leben wieder aufnähme.

Nach dieser Morgenfreude konnte ich hochgemut durch das Dorf gehen
und jeglichen Kleinmut, Bitterkeit, Neid, Scheelsucht und sonstige
Lieblichkeiten siegreich überwinden. Bis in das letzte Häuslein drang
ich heute. Da wohnt die Korb-Sina. Eine alte, wunderliche Frau hoch in
den Sechzigen, mit Adlernase und funkelnden, schwarzen Äuglein. Sie
wird gefemt im Dorfe ob ihres Lebenswandels, den sie in der Jugend
führte. Da soll kein Bauer in Lage gewesen sein, dem sie nicht das
Herz rascher klopfen machte; man sieht es den Ehrbaren und Finsteren
heute nicht mehr an, daß sie um der schönen Sina willen vom Pfade der
Tugend gewichen. Heute flicht die alte Sina die Körbe, die sie leider
vergaß, in ihrer Jugend auszuteilen, und ihr zahnloser Mund erzählt
unermüdlich alle Schlechtigkeiten, welche die Lager Männer nach ihrer
Meinung einst an ihr begangen, in die Ohren ihrer Enkelin hinein. Es
ist das uneheliche Kind ihrer eigenen unehelichen Tochter, die aber
längst gestorben. Um dieser Enkelin willen besuche ich die Korb-Sina
und höre ihre endlosen, wilden Geschichten gelegentlich mit an. Maria
Dörping ist ein schönes, herbes Mädchen, das ungeheuer einsam seinen
Weg bisher gegangen ist. Sie hält das Haus der Großmutter in tadelloser
Ordnung, zieht in dem kleinen Gärtchen die schönsten Rosen, Reseden
und Heliotrope, von denen sie mir jedesmal mit ernstem Gesicht einen
Strauß bringt, den ich daheim zwischen die Bilder meiner Eltern stelle.
Haus Lage selbst beut mir noch keine Blumen dar. Da wuchert nur Ilex
ringsumher mit unwahrscheinlich großen, roten Beeren. Doch nein,
ich vergesse den Busch Jelängerjelieber, der sich baumartig hoch an
Haus Lage anschmiegt. Er duftet stark und süß in mein Arbeitszimmer
hinein. Maria Dörping hat sich das kleine Haus am Dorfende überaus
schmuck hergerichtet. Von der Genialität der Großmutter ist nichts
auf sie übergegangen. Wie Kraut und Rüben wuchern alle Gegenstände
um die alte Frau herum, aber Maria schafft immer wieder Ordnung.
Auch einen Hausaltar hat sie aufgebaut, trotzdem sie lutherisch ist.
Aber die Dörfler sind so unduldsam, daß sie selbst in der Kirche die
Nachbarschaft der Korb-Sina meiden, und so betet auch die Enkelin
lieber daheim in ihren vier Wänden. Sie hat ein altes, zerbrochenes
Altarbild gefunden und dies vor eine große Kiste gestellt, hat alles
mit einer sauberen weißen Decke mit breiter, gehäkelter Spitze
überdeckt, große Ilexsträuße, die in der Gegend des Försterhauses
am dichtesten wachsen, darauf gestellt und läßt von ihnen ein hohes
Kreuz umrahmen, das sie sich von Münster mitbrachte, wo Maria für
ein Geschäft feine Nähereien arbeitet. Auf dem Altarbild steht mit
mächtigen geschnörkelten Buchstaben geschrieben:

    HErr CHRIST iss aufferstanden
    Van all den Dodesbanden,
    Darob verjubelliert met schall
    Undt jubels laut o Christen all.
    Verswunden iss all Sorge itzt,
    Erstanden iss Herr JESU Christ
    Diweyl ER überwunden:
    Das Heyl for uns gefunden.

Es ist wohl eine uralte Reliquie, und die Großmutter ist sehr stolz
darauf. Auch auf ihre Enkelin ist sie’s, und zeigt es auf ihre Art.
Argwöhnisch wacht sie über dem Mädchen, läßt sie kaum aus den Augen,
und kehrt Maria Dörping von einer ihrer Reisen zurück, so wird sie
von der quälenden, forschenden Neugierde der alten Frau förmlich
überfallen. Es ist, als ob die Enkelin alle Tugenden besitzen müsse, um
welche sich die Großmutter in eigener Jugend nie gekümmert. – Bewerber
für die schöne Maria sind noch nicht unter das Dach des letzten Hauses
in Dorf Lage getreten. Jeder stößt sich an dem schlechten Ruf der alten
Frau, die sowohl innerlich als äußerlich und auch mit der krächzenden
Stimme recht an die Hexe im Pfefferkuchenhaus gemahnt. Ich aber kaufe
Körbe über Körbe, die teils zierlich, teils derb und fest von der alten
Frau geflochten worden sind. Sie gibt sie nicht billig her, aber ich
handle nicht. Und jedesmal krächzt sie widerwärtig, wenn sie glaubt,
mich übers Ohr gehauen zu haben. – Maria aber sieht mich mit ihren
tiefen, guten Augen ernst und dankbar an. Um dieses Blickes willen gehe
ich immer wieder in das seltsame Haus. –

Ritter Lage schreibt:

»Es lohnt sich wohl, eine ~Pietà~ zu meißeln, wenn man solch einen Dank
dafür empfängt. Ich sah ein Paar so leuchtende Blauaugen …

Und ich sah ein junges Menschenkind federnden Schrittes davoneilen und
sah es Bäume umarmen. Das nenne ich _Dank_. Keine Jury der Welt könnte
einem Künstler _so_ lohnen. – –

Im übrigen macht es mir eine unbändige Freude zu beobachten, wie die
liebe Regenschirmbase im Walde der Schwierigkeiten Bäume fällt. So ein
echtes ›Mutterchen‹. Ich habe Tränen gelacht (in Holland natürlich),
als ich durch ein Riesenfernrohr sah, wie Sie dem spannenlangen
Erdenwürmchen Wadenwickel machten. Ohne daß auch nur eine Spur von
Wade vorhanden war. – Der liebe Gott hat ebenso gelacht wie ich und
das Kind gesund werden lassen zum Lohne Ihrer Tapferkeit und zum
endgültigen Siege über die neunmal kluge Medizin und ihre Vertreter. –

Den Verkehr mit der Korb-Sina sehe ich nicht sehr gern. Die alte Dame
ist der Extrakt von sämtlichen Hexen, Alben und bösen Königinnen
unserer Märchen und paßt gar nicht zur verehrten Regenschirmbase, bei
der die Engelsflügel nur noch Frage der Zeit sind. Hinwiederum billige
ich das Aufstapeln der Körbe in Haus Lage sehr. In Scharen werden die
Freier antreten. Bitte, legen Sie Fußangeln und Selbstschüsse. Ein
Hausschild mit der Inschrift ›Bissige Hunde‹ habe ich bereits gemalt,
es steht zu Ihrer Verfügung. –

            Der Enterbte.«




16.


Der Sonntag begann heute so wunderschön und endete so wunderlich, –
die Kirchenglocken läuteten in den klaren Morgen hinein, mein Lage
sah aus wie eine Märchenprinzessin, die sich zum Empfang des Prinzen
rüstet, der sie heimführen will. Nun ich ihn niedergeschrieben habe,
muß ich über den Vergleich lachen. –

Pastor Oswald hielt eine kernige Predigt. Sein ganzes Wesen ist kurz
und bündig, einfach und schlicht. Viel schlichter, als es bedingt
wäre. Denn Eva erzählte mir, daß er einer reichen Hamburger Familie
entstamme, und daß seine Mutter aus gräflichem Hause sei. Er habe alles
beiseite getan und sei aus innerem Antriebe Pfarrer geworden. Das
Pfarrhaus unterscheide sich in seiner Einfachheit in nichts von den
Bauernhäusern. Ich mag den frischen Gesellen wohl leiden. Habe ihn auch
gebeten, jeden Sonntag mit mir zu essen. Wenn es irgend paßt, kommt
auch die Lehrersfamilie mit dazu. Nur ist da schon allerhand Kleinzeug,
und die Eltern sind nicht immer abkömmlich. Aber es ist das, was ich
mir wünsche: Pfarrhaus, Lehrer- und Gutshaus Hand in Hand. Pastor
Konrad Oswald hüllt sich in ablehnendes Schweigen, wenn das Gespräch
einmal auf seine zukünftige Frau Bezug nimmt. Ohm Matthias ist darin
nicht sehr taktvoll. Er bohrt den Geistlichen jeden Sonntag von neuem
mit seinen Fragen und Scherzen an. Selbst Tante Fernande hat es ihm
schon des öfteren verwiesen, freilich mit dem verblüffenden Zusatze,
daß der Pastor meinen könne, sie selbst habe Absichten auf ihn. Mein
helles Lachen nahm sie sehr übel. –

»Ein evangelisches Pfarrhaus ohne Frau ist wie ein Haus ohne Dach«,
kam ich scherzend meinem Ohm zu Hilfe; aber da traf mich ein so
leuchtender Blick aus Pastor Oswalds Augen, daß er mich verwirrte und
ich fürderhin eine recht schweigsame Hausfrau für die kleine Tafelrunde
abgab.

Oh, nur das nicht! Nur jetzt nichts Verwirrendes, Hemmendes in mein
Leben tragen, das der _Arbeit_ gewidmet sein soll. Der Arbeit, die aus
der Menschenliebe geboren wird. Riesenkräfte fühle ich in mir, meinem
Hause, dem Dorfe, allen denen, die mühselig und beladen sind, ein
fester Untergrund zu sein. Und freuen will ich mich mit den Fröhlichen.
Ich meine, es gibt deren viel zu wenig in Lage. Nur das Lehrerhaus ist
ein wirklich fröhliches, da bin ich so gern daheim.

Man sagt, es sei leichter, Mitleid zu hegen, als Mitfreude. Oh, dies
paßt dann nicht auf mich. Grenzenlos kann ich mich mit anderen freuen.
Vielleicht liegt es daran, daß an meines herrlichen Vaters rundem
Familientisch jeden Abend das gleiche, alte Lied angestimmt wurde: »Wir
sitzen so fröhlich beisammen und haben einander so lieb … Und jeden,
_ja jeden wird’s freuen, wenn einem was Gutes geschah_.« –

So ist dieser Begriff der Mitfreude mir ganz in Fleisch und Blut
übergegangen. –

Doch wohin ich meine Augen schicke, sie treffen auf Not, auf Trauer,
tiefen Kummer und Elend, auf Krankheit und Siechtum. Eigentliche Armut
kennt Lage nicht; es hat wohl jeder Hausvorstand, wenn er fleißig
ist, sein gutes Auskommen, aber von den älteren Leuten ist kaum eines
recht gesund, außer Maria Dörpings Großmutter, die sich der bekannten
Zähigkeit des Unkrautes erfreut. –

Aus all diesen Erwägungen heraus will ich ein Krankenhaus in Lage
bauen. Auf sonnigem Grund, auf einer schönen großen Wiese soll es
stehen. Im Rücken wird das Haus den Wald haben, der es vor scharfen
Winden, die hier im Winter empfindlich blasen sollen, schützen wird.
– Als ich Ohm Matthias von meinem Plan erzählte, sang er mit höchst
unmelodischer Stimme: »Kommt ein Vogel geflogen«, und tippte auf seine
Stirn. Desto herzlichere Zustimmung bekam ich vom Lehrer Hein Borgers
und seiner prächtigen Frau »Mien«. Ihre frohe Lebensbejahung bildet
eine rechte Kraftquelle für mich. Und Pastor Oswald »steckte wieder
seine Lichter an«, wie ich heimlich sage. Ich habe nirgends wieder so
klare, strahlende Augen gesehen von der Bläue eines tiefen Bergsees. Er
drückte mir, wie schon so oft, mit Urkraft die Hand, daß ich meinte,
meine Rechte müsse nach diesem Drucke einfach auf den Boden fallen. Er
ist danach immer sehr unglücklich, kann sich aber diese urwüchsige Art
der Zustimmung nicht abgewöhnen. –

Gleich nach der Kirche machte ich meine Besuche im Dorfe. Sprach auch
bei Maria Dörping vor, die gerade ihre Hausandacht beendet hatte.
Großmutter sperrte alle Fenster der Diele auf und bemerkte bissig,
daß allzu arge Frömmigkeit schlechte Luft mache. Da hat dann Maria
eine eigene Art, sie anzusehen, worauf die alte Frau sich brummend
verzieht. –

Maria Dörpings Freudentränen über meinen Krankenhausplan waren mir
eine rechte Sonntagsgabe. Ich habe mit der Herben viel gute Pläne
durchgesprochen. Auf dem Rückwege sah ich ein sehr hübsches, sehr
üppiges Mädchen an einem Zaune stehen. Sie knickste und bat mich, doch
auch einmal in ihr Haus einzugehen, Vater und Mutter würden sich so
sehr geehrt fühlen. Es klang mir wie Spott aus ihren Worten, aber sie
hatte ihre Mienen gut in der Gewalt und lief überraschend anmutig für
ein Dorfkind vor mir her ins Haus.

Dorfschmied Klas Tönnings ist ein Hüne, seine kleine, zarte Frau
sieht zu ihm auf, wie zu einem Heiligen. Wie kann eine Tochter so
verschieden von ihren Eltern sein! Die Augen des Ehepaares sehen
bedachtsam in die Welt, im Blicke der Mutter liegt etwas Schüchternes,
um nicht zu sagen Verschüchtertes. Der Schmied soll an Jähzorn leiden,
und irgendeine dunkle Geschichte liegt ob dieses Zornes in seiner
Vergangenheit. Die Tochter scheint ihm ohne Erfolg um seinen rötlich
struppigen Bart zu gehen, der ihm fast bis auf die Brust herabhängt.
Vater Schmied bewacht seine Tochter mit Augen und Mienen, ich meine
die Kandare zu sehen, an der er sie hält. Die Mutter streichelt hie
und da verstohlen die hübsche, gepflegte Hand der Tochter, die diese
dann unwillig zurückzieht. Das sind so meine Beobachtungen. Irgendeinen
Zweck verfolgt das Mädchen, da sie mich in die Schmiede bat, – und
diese Erkenntnis stört mich in meiner Unbefangenheit. – Als ich dann
fortging, bot sie mir ihre Begleitung an, und da auch der Schmied es
zu wünschen schien, so wehrte ich mich nicht. Gese Tönnings ist mir
unsympathisch, aber als ich sah, wie sie ganz in Klein Erika aufging,
und wie flink ihre Bewegungen waren, kam mir der Gedanke, sie mir als
Kinderpflegerin anzulernen. Denn bei der Ausführung meiner vielen Pläne
werde ich oft außer dem Hause sein. –

Nach Tisch fuhren plötzlich Wagen vor. Ich trank gerade mit Pfarrer
Oswald und Tante Fernande den Mokka, Ohm Matthias saß grollend in
seinem Gemach, weil der evangelische Pfarrer ihn störte. Eva meldete
die Heidkamper Herrschaften und Baron Ellers. Es sind meine nächsten
Nachbarn, doch immerhin 20 Kilometer von Lage entfernt. Überaus
rasch fand ich mich mit Herrn und Frau von Heidkamp in den gleichen
Anschauungen. Sie sind freilich alle älter als ich und kargten nicht
mit guten Ratschlägen und Mahnungen, die ich gewiß beherzigen werde
unbeschadet meiner Selbständigkeit. Denn ich komme ja als Fremde
hierher, und Thüringer Sitten und Gebräuche werden sich schwer
in meine bodenständigen Leute einpflanzen lassen. So muß ich die
Umlernende sein. Baron Ellers, der überraschend gepflegt und nach dem
»~dernier cri~« der Großstadt aussieht, versetzte mir sofort allerhand
vergnüglichen Klatsch aus der Umgegend. Auch Lage selbst schonte er
nicht. Bei verschiedenen Geschichtchen sah ich ihn erstaunt-ablehnend
an, dann räusperte er sich und wurde für den Rest des Tages recht
manierlich. Er meldete mir auch gleich drei oder vier weitere
frauenlose Freunde teils aus Münster, teils vom Lande an, die sich
»nächsten Sonntag die Ehre geben wollten«, und natürlich mußte ich an
die Fußangeln und bissigen Hunde des »Enterbten« denken.

Und gerade, als ich an ihn dachte, sprachen sie von ihm. Er scheint
allen Leuten Rätsel aufzugeben. Man fragte mich, ob er die wunderbare
»~Pietà~« selbst aus Holland hergeleitet habe, ob er mir seinen Besuch
gemacht … Ich antwortete kurz verneinend und war endlich froh, als sie
alle wegfuhren. Wie wenig passend fügen sich all diese geselligen Töne
in die stille Harmonie meiner Einsamkeit. –

Kurz vor dem Abendbrot erschien noch ganz unerwarteter Besuch, der
im Ruhestand lebende Pastor Külpers. – Er war mir in seiner steifen
Zugeknöpftheit, die er zu Anfang zeigte, aber noch angenehmer, als
in der väterlich bevormundenden Art, die er im Laufe des Gespräches
herauskehrte. Würde eine liebe, alte Pfarrfrau in weißem Haar, bekannt
und vertraut mit allen Familien, Tugenden und Untugenden meines Dorfes,
mir Ratschläge gegeben haben, ich würde sie ohne Vorbehalt dankbar
annehmen. Aber diesem lehrhaften Tone des alten Herrn gegenüber,
der mit messerscharfer Unduldsamkeit jegliches Tun und Lassen
seiner Mitmenschen, Vorgänger und Nachfahren kritisierte, ließ mich
aufmucken. –

Es hat bis jetzt noch nichts Gnade vor seinen Augen gefunden, was
ich getan, angeordnet und unterlassen habe, aber ganz besonders mein
Nichtbeachten der verschiedenen Konfessionen in meinem Dörflein
scheint ihm bitteres Unbehagen zu schaffen.

»Sie haben es sich gewiß gar nicht überlegt, gnädiges Fräulein, was
für böses Blut es machen muß, wenn Sie in Ihr protestantisches Haus,
dem die brave, fromme Eva vorsteht« … »Meinem Hause stehe ich vor«,
warf ich ein. Er beachtete es gar nicht … »nicht nur einen streng
katholischen Verwandten dauernd aufnahmen, sondern auch, wie ich heute
zu meinem schmerzlichen Bedauern sah, der leichtfertigen Tochter des
gleichfalls katholischen Schmiedes Tönnings Einlaß gewährten. Überhaupt
würde ich vermeiden, anrüchige Personen zu besuchen, wie z. B. die
Korb-Sina.«

»Da bin ich anderer Meinung,« widersprach ich, »ich habe tiefes
Erbarmen mit Maria Dörping, der Enkelin, sie trägt schwer an dem
Verfemtsein ihrer Großmutter.«

Der Pfarrer lächelte mild über meinen Eifer. »Sie sind noch stürmend
jung, gnädiges Fräulein, es ist die Pflicht alter Leute, Sie auf
mancherlei Gerede aufmerksam zu machen, das sich über Ihrem Kopf
zusammenzieht …«

»Mancherlei Gerede ist Klatsch«, sagte ich mit eisiger Abwehr.

»Da ist z. B. die Clemenskapelle drinnen im sogenannten Holländer Wald,
ich bin nie dort gewesen trotz meiner langjährigen Tätigkeit hier,
– man hat Sie gesehen, wie Sie mit einem Ölkrüglein die ewige Lampe
füllten, – Sie sind Protestantin …«

Ich stand so rasch und ungestüm auf, daß mein Stuhl umfiel.

Und blieb stehen und sah den alten Mann an, ganz fest, und ganz
schweigend. Hier ist also meine Achillesferse …

Und dann hörte ich, wie die Tür hinter ihm ins Schloß klappte.

Ritter Lage schreibt: »Tat’s weh, kleine Regenschirmbase? Ja, das ist
nun so echt Lage. Aber nun nicht gleich denken, daß aller Schmelz
von dem Bilde fort ist, das sich das phantasievolle Geschöpfchen so
nett zurechtgemalt hatte. Es ist richtiger, wenn Sie etwas nüchterner
werden. Vielleicht hat auch der Herr Pfarrer in manchem recht. Wer zu
großen Dingen auf dem Wege ist, soll sich nicht mit kleinen aufhalten.
Den Nadelstich mit der Clemenskapelle lassen Sie sich nur gefallen. Ich
wußte es gleich, daß dieser rührende Liebesdienst, den die Protestantin
dem Heiligen erwies, einen Sturm im Wasserglase verursachen würde. So
etwas versteht niemand, nicht einmal ich. Denn wir gehen gewöhnlich
im Trott und im ausgefahrenen Gleise. Aber ich kannte und verehrte
Vetter Ernst Lage. Nur er konnte einen solchen Außenseiter zur
Tochter haben, – Sie können aber jetzt ganz unbesorgt und folglich
streng zurückhaltend sein. Ich werde die Lampe nie mehr verlassen,
noch versäumen. Warum wollen Sie den Lagern Ursache geben, ›ihr Maul
dreinzuhängen‹, wie die Bibel sagt? Sie wissen ja auch, daß sich Flecke
am schärfsten von weißem Grunde abheben. Kleines weißes Bähschäfchen!
Wieviel Wolle wird man Ihnen noch ausrupfen! – Zum Schluß noch gute
Ratschläge: Seien Sie ein wenig strenger mit Ohm Matthias und ein wenig
netter mit der alten Eva, sie verdient es um Sie.

            Der Enterbte.«

War ich nicht gut mit dir, alte Eva?

Wer ist schuld an dem Mißtrauen, das ich dir seit einiger Zeit
entgegenbringe?

Als ich es Eva beinahe abbittend sagte, fing sie an, bitterlich
zu weinen. Aber meinen drängenden Fragen setzt sie doch Schweigen
entgegen. So will ich nun eben gut mit ihr sein …




17.


Das Zimmer, darinnen Tante Jesuliebe gearbeitet und geschafft hat, und
darin sie nach hartem Kampfe auch gestorben ist, habe auch ich mir zur
Wohn- und Arbeitsstätte erkoren. Der riesengroße, ovale Tisch darin ist
wohl eigentlich ein Eßtisch gewesen, aber die Verstorbene hat ihn als
Schreibtisch benutzt, und ich tue desgleichen. Man kann die eingehenden
Schreibereien übersichtlich darauf ordnen, man kann an verschiedenen
Stellen daran schreiben, ohne nur ein Blatt von dem zu verschieben, was
sonst auf dem Tische ruht, und sowohl das Juchtenbuch, als auch der
ehrenfeste Foliant, den man kaum aufheben kann ob seiner Schwere, haben
darauf Platz. »Mit Gott, Brigitte Lage, zünd an!« …

Als ich heute durch den Ahnensaal schritt, war mir’s, als schaue das
Bild von Jesuliebe Lage mich an. Es pflegt eigentlich über den Kopf
des Beschauers hinweg zu sehen; der Maler hat diese Eigentümlichkeit
der Verstorbenen, deren ich mich wohl erinnere, ganz vorzüglich
herausgeholt und dargestellt. Aber sie sah mich wahrhaft heute an mit
gutem Blick.

Hab’ ich ihren Wunsch denn schon erfüllt? Bin ich auf dem Wege dazu?

In Tante Jesuliebes Zimmer kommen mir Erkenntnisse. Sitze ich in dem
runden Sessel am Schreibtisch, in dem ich schier versinke, so wird
mir alles übersichtlich in Kopf und Herz, was mir vorher ungeordnet
schien. Vielfach verknotete Dinge entwirren sich, in dunkle Wege fallen
Lichtstrahlen, Hindernisse lassen sich übersteigen.

Die Fäden vieler Menschenschicksale laufen hier in Haus Lage
zuhauf. Muhme Jesuliebe hat angefangen, sie zu einer Webkette
zusammenzuscheren. Ihr Wille und Werk blieb unvollendet.

Entriß ihr der Tod das Handwerkszeug?

Ich glaube das nicht.

Denn als sie die Worte niederschrieb: »Zünd an, Brigitte!«, da erwählte
sie mich klaren Geistes zur Vollenderin ihres begonnenen Werkes. Und
erst nach Monaten traf sie der lähmende Schlag, dem bald der harte Tod
folgte. Aus der drängenden Bitte der Toten klingt es wie Jammer zu mir
herüber.

Klage über ihre Unfähigkeit?

Wie kann ich dies beschämende, herabsetzende Wort mit Muhme Jesuliebes
Klugheit und Arbeitswillen paaren? Wird es mir, der jungen, so viel
minderen Nachfahrin, gelingen, die zusammengeschorenen Lebensschicksale
zu einem festen Gewebe zu vereinen?

Wie nennt sich das bindende Edelmaterial für den starken Einschlag?
Herrgott, ich fühl’s, es verlohnt sich kein Suchen, denn nach der
_Liebe_, und ich brauche nichts zu wissen, was mich die Liebe nicht
lehrt. –




18.


Bin noch gar nicht wieder in meinen Märchenwald gekommen. Gerade
weil es mich mit Allgewalt zu ihm hin- und in ihn hineinzieht, nehme
ich mich an die Kandare. Über mich befehlen soll nur die Arbeit. Es
ist wohl die feste Mauer, um die ich gebetet habe. Sie hat sich wie
ein Gürtel rings um Lage gelegt. Und wohin ich nur schaue, gibt es
Arbeit zu überwältigen, zu der sich außer meinen eigenen nicht allzu
viele willige Hände ausstrecken. Immer wieder gehe ich auf die Suche.
Maria Dörping und Gese Tönnings habe ich mir verpflichtet. Diese
beiden Gegenfüßler, von denen die eine das leichtsinnige Heim mit der
übelbeleumundeten Großmutter adeln, und die andere den ihr eigenen
leichtsinnigen Ton in das strenge, ehrbare Gefüge des Elternhauses
hineinsingen will. Die beiden verschieden gearteten Mädchen haben kein
gutes Einvernehmen und arbeiten widerwillig miteinander. Maria Dörping
sagt nichts, aber sie »blickt«. Ihre ernsten Augen fragen unablässig:
»Warum verflachst und verhudelst du dir dein eigenes Leben?« Diese
fragenden Augen reizen Gese Tönnings, und sie bricht den Streit vom
Zaun, der aber höchst einseitig geführt wird.

[Illustration: Lasset die Kindlein zu mir kommen. ❇ Nimm dein Bett und
wandle.]

So habe ich den beiden verschiedene Arbeitsfelder zugewiesen; Maria
hat für die Vormittage einen Kindergarten übernommen und besucht und
sammelt am Nachmittage die Lahmen und Siechen, bis das Haus auf der
sonnigen Wiese fertig sein wird, das beide Trüppchen aufnehmen soll.
»Im Auftrage des Ritter Lage« erschien ein Architekt bei mir, der mir
Baupläne unterbreitete, zu denen ich nur freudig ja und amen sagen
konnte. Es wird ein reizendes Haus. Einstöckig, langgestreckt. Mit
zwei gleichen, hochgewölbten Eingangspforten, über denen je ein Spruch
gemeißelt wird. Für die Siechen: »Auf, nimm dein Bett und wandle!« Und
für die Kleinen: »Lasset die Kindlein zu mir kommen!«

Zwei helle große Dielen enthält das Haus, darinnen die Siechen rasten
und die Kindlein rennen sollen, wenn schlechtes Wetter den Aufenthalt
im Garten und Wald verbietet; hohe, luftige, helle Zimmer bergen die
Betten und Möbel. Auch einen Andachtsraum mit einem schönen Harmonium
sollen meine Pflegebefohlenen haben, der wird das Schönste im ganzen
Hause werden. Denn ~ora~ steht vor ~labora~. –

Die leichtherzige, fröhliche, leichtlebige, leichtsinnige Gese
Tönnings habe ich für Haus Lage verpflichtet. Sie versteht sich gut
mit meiner alten Eva. Ob diese ihr gute Lehren gibt, die von Gese
angenommen werden, oder ob sich Eva aller Einmischung enthält und
Geses Tüchtigkeit als Kinderpflegerin anerkennt, entzieht sich meiner
Beurteilung. Die beiden arbeiten jedenfalls Hand in Hand, und Klein
Erika gedeiht.

Auch der junge Förster Nordstamm erwacht langsam wieder zum Leben und
besucht das Kind hie und da. Im Gegensatz dazu hat sich der Großvater
Nordstamm grollend zurückgezogen und wirkt mehr und mehr wie ein
knorriger Eichbaum, den man nächstens in den Märchenwald verpflanzen
kann. Wunderliche Lebewesen hat unser Herrgott um mich herumgestellt,
aber ich habe sie alle liebgewonnen, weil sie mir soviel geben. Oder
weil ich ihnen soviel geben darf? Ich fühle eine Quelle in mir, die
immer stärker strömt, je mehr man davon trinkt. »Solch Spendegold
erschöpft sich nicht.«

Mein neuer Bechsteinflügel ist angekommen. Es ist das einzige, von dem
ich fühle, daß ich es außer der Arbeit haben _muß_.

[Illustration]

Mit Beethoven habe ich das köstliche Instrument eingeweiht. Die Fenster
hatte ich weit geöffnet, und in die stille Mondnacht hinein klang und
sang das Adagio aus der 2. Symphonie.

    »Still sank der Abendsonne Gold
    Hinunter an des Himmels Zelt.
    Im Abendfrieden süß und hold
    Ruht um mich her nun Wald und Feld.

    O wohnte doch im Herzen drein
    So süßer Friede für und für;
    Mein Gott, laß mich dein eigen sein,
    Den Frieden find’ ich nur bei dir.«

Diese schlichten Worte sind den Tönen untergelegt … Die Fledermäuse der
Ruine müssen gelauscht und mein Spiel hinterbracht haben, auch müssen
sie die 2. Symphonie und ihre Geschichte kennen.

Ritter Lage schreibt: »O wohnte doch im Herzen drein so süßer Friede
für und für …

Regenschirmbase, hilf mir!

            Der Enterbte.«




19.


Wie auf gut geölten Rollen läuft mein Haushalt. Wenn hie und da ein
Ruck eintritt, ein Signal ertönt, das scheinbar gebieterisch »Halt«
verlangt, so sind dann Ohm Matthias und Tante Fernande die Ursache. –
Beide haben noch manchmal ihren Koller. Sie sind zu verschieden, und
ihre Gegensätze berühren sich durchaus nicht.

Trotz der gänzlichen Verarmung ist das »Spitalweibchen« doch immer die
Freiin Lage geblieben. Und jetzt in den Kleidern der Muhme Jesuliebe,
die in ungeahnter Fülle die Schränke zierten, und die ich Tante
Fernande überließ, sieht sie wirklich vornehm aus. Sie verkörpert recht
das ~ancien régime~ in Lage, ist überhaupt nicht mit dem frischen Wind
einverstanden, der durch mein Regiment weht, das sie demokratisch
nennt. Ich kann die vielen, schwerseidenen Staatskleider gar nicht
in Einklang mit Muhme Jesuliebes Aufzug und Anzug in Erfurt bringen.
Vor zehn Jahren hätte man sie als Vogelscheuche in die Erfurter
Gemüsefelder stellen können, und jetzt sitzt Tante Fernande in den
ererbten Sachen wie eine Fürstin da.

Ohm Matthias dagegen ist recht verwildert, um nicht zu sagen
verwahrlost, sowohl in seiner Kleidung, als auch in seinen Worten.
– Er ist nie Soldat gewesen und ohne jede Straffheit und Disziplin.
Sein Umgang mit Frauen hat sich wohl nur auf ungebildete Hauswirtinnen
beschränkt. Jetzt murrt er leise und schimpft laut über die Bevorzugung
der Tante Fernande. Denn die Männerbeinkleider, die Muhme Jesuliebe
unter ihrem Frauenrock trug, und die ich ihm bereitwillig zur Verfügung
stellte, passen ihm nicht. Er hat sich unter der Pflege von Haus Lage
ein kleines Bäuchlein angemästet, und Muhme Jesuliebe war dürr wie die
sieben mageren Jahre.

Nun redet er des öfteren von »Kleiderhaken«, »Bohnenstangen« und
»Plattformen«, was Tante Fernande aufs höchste anwidert. Sie wirft dann
die Schachfiguren mit unnachahmlicher Grandezza zusammen, schreitet
hoch erhobenen Hauptes hinaus, und ihre steife Seidenschleppe rauscht
und raschelt hinter ihr drein. Dann bleibt der höchst ärgerliche,
unkultivierte Hausgenosse für den Rest des Abends mir allein
überlassen. Das ist eine große Schattenseite unseres Zusammenlebens.
Es wird mir schwer, ihn in Schach zu halten. Ich bin scheu und
hilflos seiner Art gegenüber. Außerdem hat mir von Anfang an die mir
anerzogene Ehrerbietung vor dem Alter die Waffen, die sonst wohl eine
Frau gebraucht, aus der Hand gewunden. Und doch widerstrebt es mir, ihn
einfach sitzen zu lassen und wie Tante Fernande hoheitsvoll aus dem
Zimmer zu schreiten. Denn dann ist mir’s, als wollte er das gerade so
haben, damit er sich richtig rekeln könnte. Er pflegt dann die Beine
auf die Sofalehne zu legen, den Kragen abzutun, einen abscheulichen
Knaster zu rauchen und auf den Teppich zu spucken. Überdies liegt
mir die Mahnung unablässig in den Ohren: »Seien Sie etwas strenger
mit Ohm Matthias.« So habe ich also gestern abend versucht, streng
zu sein. Dem war ein geradezu schrecklicher, aufregender Nachmittag
vorhergegangen. Klein Erika fieberte wieder etwas, und ich wollte bei
ihr bleiben, schickte deshalb Gese Tönnings nach dem Zimmer, in welchem
Tante Fernande und Ohm Matthias mit dem Kaffee meiner harrten. Sie
sollte mich entschuldigen und dann gleich zu meiner Hilfe zurückkehren.
Statt dessen erschien sie erst nach langer Pause aufgeregt und weinend
mit der Entschuldigung, der Herr Baron Matthias von Lage habe sie
ungebührlich aufgehalten, und … und … und nun sei das gnädige Fräulein
Fernande dazugekommen, aber schon wieder in hellem Zorne fortgelaufen,
und … und … und … Genug, ich ging nun doch selbst nach oben und fand
Ohm Matthias sehr gemütlich Kaffee schlürfend, was er immer in lauter,
häßlicher Weise tut. Und da ich wirklich ärgerlich erregt war, und mir
außerdem eine ekle Wolke häßlichen Fuselduftes entgegenschlug, so sagte
ich ihm in knapper Form, wenn auch halblaut und beherrscht, daß ich
mir Übergriffe gegen mein Personal energisch verbäte. Da sagte er mir
denn Sachen, die mich ganz und gar in Harnisch brachten. Daß das kleine
Wicht Gese nicht an dem Kusse sterben werde, den er ihr in höchst
väterlicher Weise verabreicht hätte, und daß sie gewiß ganz andere
Sünden zu beichten hätte.

Mir stiegen heiße, zornige Tränen auf, denn von dieser allerhäßlichsten
Seite hatte ich den Ohm noch gar nicht kennengelernt. Wie widerlich
war es mir, den alten Mann so reden zu hören. Als ich ihm das sagte,
schleuderte er mir laut an den Kopf, daß der Teufel alt sei, aber nicht
er, Freiherr von Lage, und daß es gar nicht ausgeschlossen sei, daß
er noch einmal eine junge Frau nach Lage brächte … »Im übrigen, meine
liebe Nichte Brigitte,« schloß er seine entsetzliche Philippika, »wer
im Glashause sitzt, soll bekanntlich nicht mit Steinen werfen; und wer,
wie du, den jungen Pastor Oswald toll gemacht hat, also daß er neulich
in seiner Verfassung ein kleines Mädchen ›Heinrich‹ getauft hat …«

Er lachte so laut und dröhnend zu seiner greulichen Bemerkung, daß er
sich verschluckte und wiederholt aus einer kleinen, versteckten Flasche
nachtrinken mußte, um nicht zu ersticken. Und dann wollte er mich
streicheln, aber er stolperte über den Teppich und mußte sich setzen,
wobei er mir zurief, ich sollte nicht »so’n verfluchtes Gesicht«
ziehen, wir seien doch die besten Freunde …

In diesem Augenblicke trat die alte Eva ein; o wie liebte ich ihr
runzliges Gesicht und ihre ernsten Augen. Wie eine Mutter nahm sie mich
bei der Hand und führte mich die Treppe hinauf in mein Arbeitszimmer. –




20.


Es ist nicht so häßlich und niederdrückend, was böswillige Menschen
sagen, als daß dies Böswillige haftet und belastet und einen
kraftvollen Baum, der das innige Bestreben hat, hinauf ins Licht
zu wachsen, wie eine Schmarotzerpflanze umschlingt und im Wachstum
aufhält. Aber Pastor Oswald …

Er ist’s wohl wert, daß man sich länger mit ihm beschäftigt. Er hält
sich seit einiger Zeit von Haus Lage fern; oder von mir? Warum muß sich
immer zwischen zwei junge Freunde jenes andere drängen …? Könnten wir
beide nicht Schulter an Schulter arbeiten, zwei gute Kameraden, die
_nur_ das Wohl der Pfarrkinder des Dorfes im Auge haben?

Warum muß ich durch mein Verhalten ihm weh tun? Ich weiß, daß er nur
um Brigitte Lage wirbt. Mein »Drumherum«, das schiert ihn nicht. Er
selbst gibt bei Kollekten die größten Summen, größer sogar als der
reiche Holländer Ritter Lage. Denn Pastor Oswald gibt mit eigener Hand
und weiß, wo es jedesmal besonders not tut, und Ritter Lage läßt
seinen Verwalter bestimmen, der immer die gleiche hohe Ziffer ausfüllt.
Um nicht zu sagen, Pastor Oswald gibt mit dem Herzen und Ritter Lage
mit dem Verstand. Das sagte ich auch heute der alten Eva. Da hob sie
freilich erschrocken abwehrend die Hand. Sie ist über jede Kritik
persönlich beleidigt, die man an den »Besten von allen Lages« legt.

Pastor Oswald hat mir neulich seine alte Mutter angemeldet. Sie will
auf ein paar Tage von Hamburg her den Sohn besuchen. Ihr Bild, das
eine unendlich gütige, vornehme alte Frau zeigt, steht auf seinem
altmodischen Spinett …

»Sie werden meine alte Mama liebgewinnen,« sagte er mir schlicht und
doch sehr bestimmt, »sie ist einzig …«

Ich habe sie schon lieb. Es liegt etwas in ihren Augen, das unmittelbar
zu mir spricht. Aber ihr Sohn kann mir nur Bruder sein. – Wenn er’s
doch wäre! Ich habe nie einen Bruder gehabt und sehne mich oft nach
solch einem natürlichen Beschützer.

Ohm Matthias habe ich noch nicht wiedergesehen. Er erscheint nicht
einmal zu den gemeinsamen Mahlzeiten. Zuerst bin ich schweigend über
dies eigenartige Verhalten hinweggegangen, habe auch nicht nach ihm
geschickt. Heute fragte ich aber doch die Eva, ob sie ihm das Mahl auf
sein Zimmer bringe. Sie schüttelte abweisend ihr graues Haupt. Tante
Fernande aber bisse sich lieber die Zunge ab, als daß sie mich nach
dem ungeschliffenen Gesellen fragen würde. Und wenn sie etwas von ihm
wüßte, so erführe ich’s doch nicht von ihr. Ich komme mir wieder einmal
im eigenen Hause recht wie »Mamsell Niemand« vor. –

Ritter Lage schreibt: »Mein Herz habe ich ganz und gar abgeschafft, es
hält nur auf, Verstand ist besser. Bis jetzt riet ich ja der verehrten
Regenschirmbase immer gut, und sie ist im großen ganzen folgsam
gewesen. Wenn ich es auch unangebracht fände, sie in dieser Hinsicht
zuviel zu loben. – Aber Ohm Matthias ist ein so ungezogener Junge mit
seinen siebenzig Jahren, daß die kleine Gitti, selbst wenn sie ›streng‹
tut, nur lächerlich wirkt.

Ich habe also den Rüpel nach Holland entführt, und nun sitzt er erst
einmal fest bei mir, und ist sehr nüchtern geworden. Kann aber nicht
sagen, daß er mir etwa in diesem Zustande besser gefällt. Mir geht wohl
überhaupt jegliches Verständnis ab für adlige Müßiggänger, die sich
durchs Leben gelumpt haben und nun auf dem ehrenhaften Wappenschilde
der Vorfahren ausruhen. Dreimal hat sich Ohm Matthias schon mit mir
schlagen wollen, aber wir sägen jetzt Holz zusammen, und da wird
er hübsch zahm dabei. Sollte der alte Sünder einmal von Holland
herüberwechseln, so bitte ich Sie, ihn ganz unbeachtet zu lassen,
ja, ich verlange das wieder ganz einfach von Ihnen. Weil das weiße
Mähschäfchen noch weltdümmer ist, als die kleine Gitti im Märchen, und
es einem heiß und kalt wird, wenn man zusieht, mit was für Gelichter
sie sich umgibt. Es wird diesmal ein Schreibebrief von der Dicke des
ehrenfesten Folianten auf Ihrem Schreibtisch. Unverantwortlich ist’s,
was Sie mir für Sorgen und für Schreiberei machen. – Also wie ich oben
sehr richtig bemerkte, ich habe das Herz abgeschafft und würde Ihnen
_auch_ dazu raten, wenn Sie dann nicht einfach umfielen und mausetot
wären, Sie ›Herz‹ schlechthin. Aber etwas muß ich Ihnen abgewöhnen, und
das ist die Sentimentalität. Etwas ganz Abscheuliches. Wenn Sie die
nicht abtöten, dann werden Sie schließlich noch Frau Pastor Oswald. Ein
elender und aufreizender Gedanke für mich. Warum? Weil Sie gar nicht
zu ihm passen, weil er Sie teilweise dreidoppelt überragt mit seinem
umfassenden Wissen und teilweise wieder gar nicht an die dumme kleine
Gitti heranreicht. Und weil der gute Mann gar kein Leben mit Ihnen
aushielte, sondern ich ihn wahrscheinlich nach 2–3 Jahren, vielleicht
auch schon eher, von einer meiner Eichen abschneiden müßte, denn auf
Ihrem Grund und Boden würde er sich schon aus lauter Wohlerzogenheit
nicht aufhängen.

Aber nun kommt seine Mutter. Und ihr Anblick wird die Rührseligkeit
der Regenschirmbase ins Ungemessene steigern. Die alte Dame ist
die verkörperte gute Kinderstube. Ganz ›Hamborgerin‹. Sie trägt
eine schneeweiße Fladduse auf dem Kopf, aus welcher liebliche
Korkzieherlöckchen hervorquellen. Und sie hat schwarze, sprechende,
kluge Augen. Und ist eine ganz ›süße‹ alte Frau. Und sie wird Sie ›mein
Töchterchen‹ nennen, und das ist bitter.

Sie sind just das, was sie sich für ihren Konrad wünscht. ›Konrad,
sprach die Frau Mama.‹ Um Gottes willen, Gitti, haben Sie Erbarmen mit
dem Gottesmann. Winken Sie ab, ehe es zu spät ist. Denken Sie nicht
einen Augenblick, daß er an Ihrem Nein zugrunde geht, bloß weil er sich
jetzt etwas in die Einsamkeit begeben hat.

Sie brauchen keinen Wanderkameraden, Gitti, Sie brauchen einen
_Mitflieger_. Sie würden ja immer schon auf dem Hausschornstein sitzen,
wenn der arme Pastor noch nach seinem Bratenrock suchte, um auszugehen.
Herrgott, wie würde mir der Mann leid tun, der Sie kriegte. Ich meine
natürlich einen Nichtflieger.

Wenn Sie sich nun gehörig über mich geärgert und fest beschlossen
haben, mich nie kennenzulernen, kommen Sie schleunigst zu mir nach
Holland und helfen Sie mir und Ohm Matthias Holz sägen. Das macht sanft.

            Der Enterbte.«




21.


Heute habe ich Frau Oswald aus Hamburg meinen Besuch gemacht. Sie
schickte ein Mädchen zu mir herüber, das sie wohl aus Hamburg
mitbrachte; denn die schwarzen Kleider mit den schneeigen Kragen und
Manschetten, den Stickereischürzen und den getollten Kopfhäubchen, von
denen lange Bänder niederhängen, kennt man hier nicht. Sie knickste
zierlich und meldete mir, daß »Madame Oswald« ihres hohen Alters wegen
noch lange ruhen müsse, ehe sie es wagen dürfe, herauszugehen, und daß
sie mich deshalb bitten lasse, zu kommen …

Ja, sie war sehr lieb und gut, die alte Dame, aus innerer Herzensgüte
heraus, und alles gefällt mir an ihr. Sie nannte mich auch »mein
Töchterchen«, und das klang lieb und vertraut. Wie lange hat mich
niemand so genannt! – Und die vornehme Art, die fein beherrschten
Formen erinnerten mich an meine Mutter. Ich will recht unbefangen zu
ihr sein, will mich durch nichts, auch nicht durch gelbe Büttenpapiere,
die von irgendwoher zu mir fliegen, beeinflussen lassen. Es ist
nichts Berechnendes an der alten Dame. Man sieht sofort, daß sie ein
reiches, ruhiges Leben gelebt hat, nach ihrem eigenen Willen, ein Leben
der feinen Arbeit, des schönen Ausruhens, ihre dunklen Augen haben
nur Kultur gesehen. – In ihrem stattlichen Sohne, der aus innerer
Überzeugung einen schweren Beruf wählte, der ihn in herbe Schlichtheit
führte, da er ihn doch auf reiche besonnte Höhe hätte heben können,
sieht sie wohl das Sinnbild edler Männlichkeit. Wenn sie mich also für
würdig erachtet, an seine Seite zu treten, so muß mich das ehren. Und
wir könnten für das Dorf ein Segen werden …

Es ist plötzlich eine wunderliche Stimmung über mich gekommen, soll
ich’s Weichheit, Beängstigung, Untapferkeit nennen? Wie beschämend für
meines Vaters Tochter. Wird es sich auch an mir bewahrheiten: »Die
Lager Luft verwirret Kopf und Herz?« Mich soll _nichts_ verwirren. –




22.


Die allheilende Arbeit hat mich bei der Hand genommen. Sie versagt
niemals; und so habe ich auch auf den steinigen Pfaden, die sie mich
führte, meine Wirrnis und Weichheit verwunden. Wie sehr mein Dorf und
seine Leute ungeteilte Aufmerksamkeit verlangen, wird mir täglich mehr
bewußt. Sie erziehen mich zur inneren Ruhe und zum logischen Denken.
Hie und da erscheint der umsichtige Baumeister des neuen Krankenhauses
auf dem Plan und unterbreitet mir neue, praktische Gedanken, in
welche ich mich vertiefe, und welche ich dann beinahe alle gutheißen
kann. Wie weit mich des Baumeisters Vortrag, in dem vielfach die
Worte wiederkehren: »Baron Lage meint …«, »Baron Lage gibt anheim …«,
beeinflußt, will ich dahingestellt sein lassen.

Heute begleitete mich der Architekt durch das ganze Dorf. Es gibt
überall etwas zu flicken, auszuheben, anzubauen. Den jungen Dörflern
macht es Spaß, ein neues Dach über den Kopf zu bekommen, die Alten
murmeln und murren und haben nicht viel Dank für mich. Sie scheuen
jegliche Unruhe. Der neunzigjährige Wilm Lammers meinte, wenn das
morsche Dach von selbst herunterfiele, dann würde das für ihn auch ein
Zeichen vom Herrgott sein, daß seine Zeit gekommen sei. –

Aber ich möchte lieber die Balken aufhalten, die den Dorfältesten zu
erschlagen drohen. – Es war ein erfrischender Arbeitsgang mit dem
jungen, schaffensfreudigen Baumeister, und ich kam recht erfrischt
heim. Meine Frische trage ich dann zuerst ins Kinderzimmer, wo Klein
Erika immer mehr dem Leben entgegenwächst, und für mich bedeutet das
Menschwerden dieses Geschöpfchens eine Quelle reinsten Glückes. Ich
tue dem Kleinchen um so mehr Handreichungen und widme ihm von meiner
knappen Zeit, als mir Gese Tönnings unaufmerksam und fahrig zu werden
scheint. Sie sieht auch nicht gut aus und hat ihre »unverschämte
Frische«, wie sich Ohm Matthias auszudrücken beliebte, bedeutend
eingebüßt. Sie scheint es vermeiden zu wollen, daß ich sie frage, denn
sie ist meistens abwesend, wenn ich das Kinderzimmer aufsuche. –

Eva geht mit umwölkter Stirn umher. Als ich gestern abend im Lager
Wald unsern Brunnen besichtigte, löste sich aus dem Dunkel der dicht
stehenden Tannen ein Menschenpaar, – ich meinte, flüchtig Gese
Tönnings erkannt zu haben, aber beide tauchten rasch im Dunkel wieder
unter. – Alte Eva, ich glaube nicht, daß just im Lager Forst ein Kraut
gegen die Liebe wächst, da es doch in der weiten Welt nirgends zu
finden ist. –

Am Nachmittage gleich nach Tische machten wir eine kleine Ausfahrt
rund um mein Besitztum herum. Hans und Fritz wurden vor den leichten
Jagdwagen gespannt und scheuten denn auch glücklich vor jedem Busch,
vor jedem weißen Meilenstein oder Papier, ja selbst vor Kinderwagen,
die leer oder mit Insassen vor den Türen standen. Der alte Kutscher
meinte tiefsinnig: »Vor’n Kinderwagen scheut sich mancher.«

Madame Oswald holte ich ab, und auch der Pfarrer schloß sich uns an.
Wir saßen recht behaglich zusammen, und ich spürte den Gewinn, den das
Finden einer schönen Seele bringt. Pfarrer Oswald ist ungeheuer beliebt
im Dorf; selbst die Pfefferkuchenhexe lachte mit ihrem zahnlosen Munde,
als wir einen Augenblick zu ihr eintraten, da sie krank ist. Maria
Dörping blickte mit ernsten Augen auf Pfarrer Oswald und mich. –

Ritter Lage schreibt: »Also das kleine Mädchen will in sein Unglück
rennen, und der Gottesmann hält seinen Talar ausgebreitet, damit
es recht weich fällt. Und die würdige Hamburger Madame, die doch
bereits einen so kostbaren Zobelpelz besitzt, möchte sich noch ein
Kuppelpelzchen dazu verdienen. O Welt, Welt, wie bist du närrisch! Ich
kann aber nicht behaupten, daß es sehr vergnüglich ist, Zuschauer zu
sein. Wenngleich ich mich noch weniger zum Mitspielen eigne. Und der
›getreue Eckart‹ hat allezeit die kläglichste Rolle gespielt. Aber
daß Sie ›Nein‹ sagen können, kleine Regenschirmbase, haben Sie doch
bewiesen, als gestern der große Schreibebrief mit dem talerdicken
Siegel ankam. Üben Sie sich nur hübsch weiter im Rufen dieses hübschen
Wörtchens. Armer Baron Ellers! Seine Schulden schreien lauter, als
Klein Erika, wenn sie Leibweh hat. – Deshalb müssen Sie auch nicht gar
zu tugendhaft entrüstet sein. Was weiß so ein schneeiges Bähschäfchen
von Schulden! Und es schadet Ihrer Charakterentwicklung (die noch
sehr mangelhaft ist) durchaus nicht, wenn Gitti einsieht, daß sie
selbst auch mal nebenbeifällt und das Lagesche Vermögen als Nummer
Eins betrachtet wird. Im übrigen strahlten Ihre Augen heute dermaßen
in reinster Bläue, als Sie meine Grenze überfuhren, daß ich glaubte,
der Himmel habe sich plötzlich auf Lage herabgesenkt. Sie sehen, der
bissige Hofhund, der in Holland an der Kette liegt, kann auch poetisch
werden.

Alles in allem könnte ich Ihnen doch beinahe empfehlen, Pfarrer
Oswald auch bald dingfest zu machen. Er kuscht schon aus innerster
Überzeugung, und wie Sie ihn gestern im Jagdwagen anstrahlten, das war
nichts anderes als Tierquälerei.

Gitti, Gitti! Nun wollte ich wieder, Sie blieben das kleine Mädchen,
das Blumen küßt und Bäume umarmt.

            Der Enterbte.«

Klein Erika hatte heute wieder Fieber, es ist doch ein recht zartes
Kind. Und ich blieb bei ihm, trotzdem der Krankenhausbau und
verschiedene Beratungen über Wohlfahrtseinrichtungen mich eigentlich
ins Dorf und ins Pfarrhaus riefen. Aber Gese Tönnings ließ mich im
Stich, kam erst erhitzt und verweint um die Mittagszeit in Haus Lage
an, und ich sah wohl, daß sie mit dem Herzen nicht bei der kleinen
Kranken war. Ich vermutete, daß der jähzornige Schmied um irgendeiner
Sache willen seine Tochter gezüchtigt habe, und sprach das auch
mißbilligend aus. Denn Gese steht jetzt in meinen Diensten, und ich
verlange, daß sie auf dem Posten ist. Geses Gesicht verfärbte sich,
als ich ihren Vater erwähnte, und mit allen Zeichen der Angst bat
sie mich, gegen ihn von ihrer Unpünktlichkeit zu schweigen. »Bist du
verliebt, Gese?« fragte ich mit scherzhaftem Ernst.

Da weinte sie plötzlich schwer. – –




23.


Mein Geburtstag ist angebrochen. Es ist eigen, daß niemand darum weiß
… Im Elternhause wurde er immer wie ein hohes Fest begangen. Der Vater
pflegte auf dem Harmonium den gleichen Choral zu spielen: »Lobe den
Herren, den mächtigen König der Ehren.« Der gehörte zur Eröffnung
des Feiertages, und die liebe Mutter hatte die selbstgebackene
Geburtstagsbrezel, die sich rosinengefüllt über den ganzen Tisch
ausbreitete, mit Lichtern besteckt. So viel Jahre, so viel Lichtchen.
Wie hätte heute der Tisch im Glanze von 26 Lichtern strahlen können!

So tat es diesmal nur eine goldene Morgensonne, die Tante Fernande und
mich beschien. Ich hielt unsere Andacht über den Text: »Freuet euch!
Und abermals sage ich euch, freuet euch.« Gerade weil mir so einsam und
weh ums Herz war …

Komme eben von meinem morgendlichen Rundgang zurück.

[Illustration]

Der Geburtstagstext warf sein Licht auf meinen Weg. Zur Clemenskapelle
eilte ich und fand dort eine wohlbehütete ewige Lampe, und der
Wandfries mit seiner köstlichen Malerei gab mir Frieden und senkte
etwas in mein Herz, das beinahe wie Glück aussah. Und auf dem Rückweg,
da kam plötzlich das Freuen, denn an meinem Lieblingsbaum, einer
starken, wunderlich geformten Birke, lehnte – ein Regenschirm. Lehnte
_der_ rote Regenschirm der Muhme Jesuliebe, der mein Schicksal ward.
An seiner gelben schweren Elfenbeinkrücke, auf deren umschließendem,
silbernem Ring der Name eingraviert war, baumelte ein Heidestrauß,
mit leuchtendem Band eingebunden. Im Strauße steckte ein gelbes
Geburtstagswachslicht, mit Rosengirlanden verziert.

Als ich das liebe Geschenk sah, kam ein solch übermütiges Freuen
in meine Seele, daß ich das Ungetüm aufspannte und in hellstem
Sonnenschein unter dem roten Riesendach heimwärts wandelte, die
närrischste Lage, die wohl je durch den Lager Busch stolzierte …

Es ist mir niemand begegnet, und ich habe meinen Schatz in die tiefsten
Tiefen meines ungeheuren Kleiderschrankes versenkt, das einzige Möbel,
das mein rotes Ungetüm fassen konnte.

Lieber Herrgott, schick’ einen Abglanz meiner Freude in das Herz und
das Haus eines Einsamen!




24.


Es hat heute abend ein Sturm eingesetzt, der ganz wunderlich ist
im Hochsommer. Er könnte einem kalten November an der Nordsee Ehre
machen. Mir bringt dieser Sturm doppelte Behaglichkeit. Er dringt
nicht durch die festen Mauern meines Hauses, sondern tobt sich in den
leeren Fenstern der Ruine aus. Die Fledermäuse haben sich versteckt.
Die alte Eva läßt mich heute seltsam allein. Ich weiß, daß sie meinen
Geburtstag nicht ahnt, aber sie hat noch keinen Tag vergehen lassen,
ohne daß sie mir ein liebes Wort gesagt, einen Wunsch, ein Gottbehüt’!
Heute streiften mich mehrmals scheu ihre Augen … Aber ich kann mich
täuschen. Dies alte Haus verleitet dazu, Gespenster zu sehen. Ist
mir’s doch auch allabendlich, wenn ich mich zur Ruhe begeben will, als
läge ein zusammengeworfenes Bündel vor meiner Stubentür, dasselbige
unselige Bündel, das ich damals vor der ~Pietà~ fand. Aber die Bahn
ist immer frei, sobald ich die oberste Treppenstufe erreiche. Weshalb
narren mich meine Sinne? Ich habe keine Angst vor dem Krüppel, ich
meide ihn nur aus Gehorsam. Manchmal packt mich das seltsame, kindische
Gelüst, ungehorsam zu sein. Ich wehre mich dann gegen Unsichtbares,
gegen Büttenpapiere und Befehle, gegen Fledermäuse und Enterbte. Dann
kommt mir jäh der Gedanke, hinauszulaufen nach dem »Holländerwald«
und den Krüppel zu suchen. Ihn in mein Haus zu nehmen, ihm Mutter zu
sein. Ihm Gutes zu tun unter hundert persönlichen Opfern. Weil ein
schweres Geschick ihm alles Menschentum, alles Menschenwürdige nahm,
ihn zum stammelnden Kinde ummodelte, mit dem abschreckenden Antlitze
eines mißgestalteten Zwerges. Daß man mir diesen Samariterdienst nimmt
und mit kurzen, herrischen Worten meine Christenpflicht verneint,
dünkt mich ein Eingriff in meine freie Liebestätigkeit. Mir fehlt auch
der Krüppel in dem Bilde, das ich mir von meinem Krankenhause und
Siechenheim malte. Der »Enterbte« wird nie zugeben, daß ich den Kranken
betreue. Und der ist doch wahrhaft »enterbt«. – Denk’ ich an den
Krüppel, so wirft sich der »graue Alltag« wie ein schwarzer Meltau auf
alle Blumen, die sich für mich in Lage erschlossen. Ein Meer von Blüten
vernichtet er.

Der Sturm draußen ist allgemach in ein ächzendes Klagen übergegangen.
Einmal schlug es wie in schwerem Schlag und Fall gegen meine Tür, nun
weint es draußen, wie ein wunder Mensch …


            Nachts.

Die Gese Tönnings lag gestern abend auf der Schwelle des Hauses. Ach,
– freilich ein wunder Mensch. Und bis nach Mitternacht mußte ich ihre
Beichte anhören. Die hat mir Kopf und Herz verwirrt … Laut hätte ich
weinen mögen über meine arme Mitschwester, die sich ihr junges Leben so
verpfuschte. Aber wir Frauen von Lage können nur schwer die erlösenden
Tränen finden. Vielleicht hielt sie auch der Ekel zurück, der mich bei
dieser Beichte schüttelte, – und den ich jetzt mit Scham als tiefes
Unrecht und Pharisäertum erkenne. – Darf ich als Unversuchte, sorglich
Behütete aburteilen?

Wer sich frei fühlet von Schuld, der werfe den ersten Stein …

[Illustration]

Ich habe Gese Tönnings aufgehoben. Will sie bei mir behalten bis zu
ihrer schweren Stunde und für das Kind sorgen, das sie unter dem Herzen
trägt, Sie ist die Liebste des jungen Försters Nordstamm gewesen, –
schon jahrelang, und diese Erkenntnis ward auch zum jähen Schlag für
Frau Rika. Der die Zarte lähmte und unfähig zum Weiterleben machte.
Welch ein düstres, schuldvolles Kapitel in Dorf Lage!

Als ich das gänzlich verstörte, zitternde Mädchen auskleidete, um es
ins Bett zu bringen, sah ich entsetzliche Striemen auf Armen, Händen
und Rücken. »Mein Vater«, kam es würgend aus ihrer Kehle. Und ich kann
am Abschluß meines Geburtstages nur beten: »O Gott, Allerbarmer, nimm
den grauen Alltag wieder von meinem Hause und gib mir lichten Sonntag
durch reine Menschenliebe!« –

Ritter Lage schreibt: »Kleine Regenschirmbase, es _muß_ Ihnen ja
über den Kopf wachsen. Und bei mir sitzt die Angst zu Tische, und
die Sorge, Sie könnten schließlich doch den Gottesmann bitten, Ihr
dauernder Berater zu werden, weil Sie nicht mehr aus noch ein wissen.
Standesamtlich beurkundeter Lebensgenosse und dazu kirchlich angetraut.
Und alles nur aus dem starken, eigensinnigen Verlangen heraus, Gutes
zu tun. Denn lieb haben Sie ihn nicht. Das weiße Schäfchen von Lage
hat überhaupt keine Ahnung von Mannes- und Weibesliebe, und ich selbst
will auch beileibe keinen Lehrstuhl für dies Kapitel errichten und
Sie etwa als aufhorchenden Studenten zu meinen Füßen sitzen sehen.
Aber es widerstrebt mir ebenso, daß in Ihre kleinen, feinen Ohren
überaus rüde Bekenntnisse hineinerzählt werden. Sie sollten als
störrische Lutheranerin die Ohrenbeichte ablehnen. Sprächen nicht
ernste Gründe dagegen, so wäre ich längst in die Erscheinung getreten.
Es dünkt mich unritterlich, daß ich die kleine Gitti allein im Walde
der Schwierigkeiten Bäume fällen lasse. Und meine ernsten Gründe
sind schließlich nur – Eitelkeiten … Kleine Gitti, was habe ich
prophezeit? Jeder würde Ihnen sein Kleinzeug vor die Türe legen. Und
die Regenschirmbase hebt getreulich auf und meint, es kommt vom lieben
Gott. Und dünkt sich wunder wie alt und verständig, und sollte doch von
Rechts wegen unter Vormundschaft kommen.

            Der Enterbte.«




25.


Ich habe heute einen schweren Gang hinter mir. War bei Geses Vater, dem
Schmied. Der Mann ist wie von Sinnen. Nicht zornig oder wüst, nicht
schimpfend oder aufbegehrend. Er stiert nur vor sich hin und arbeitet
nicht. – All seinen Jähzorn hat er wohl bereits an seiner Tochter
ausgelassen, wie die furchtbaren Male an ihrem Körper ausweisen. Nun
ist er wie versteint. Die Mutter aber scheint Schande und Leid der
Tochter ganz vergessen zu haben und sieht nur ihren Mann. Und die Angst
um ihn, um seine Starrheit schaut herzzerreißend aus ihren bangen
Augen. Sie fragt ihn um hundert Dinge und bekommt nie eine Antwort. Ist
dann schon wieder erfinderisch bemüht, seine Aufmerksamkeit auf etwas
anderes zu lenken. Während ich dort war, kam Baron Ellers mit seinem
prachtvollen Gespann, von dem ihm wahrscheinlich kein Hufeisen mehr
gehört. Und Schmied Tönnings, der es sich sonst nicht nehmen läßt, die
Guts- und Hofbesitzer der Umgegend allein zu bedienen, rührte sich
nicht von seinem Stuhl und überließ es ganz seiner Frau, ob sie den
vornehmen Kunden vom Gesellen bedienen lassen wolle. Als der Feierabend
eingetreten war und ich keine Störung mehr befürchtete, setzte ich mich
ganz nahe zum Vater Schmied hin und sprach eindringlich, aber ganz
ruhig über Geses Unglück.

Und da brach ein Zorn los, so allgewaltig, daß das Haus schier
erzitterte, und der Schmerz, das fressende Leid eines in seiner Ehre
verletzten Mannes, des angesehensten im ganzen Dorfe, bebte durch
diesen furchtbaren Zorn. –

Ich habe nichts ausgerichtet.

Sein Haus soll die Tochter nicht wieder betreten, und er hat mich nicht
gefragt, wo sie dann bleibt. Und die Mutter sah an mir vorbei, sah nur
ihren Mann.

Sind das noch Eltern? Haben sie wirklich einst das Kindlein in Liebe
empfangen, geboren und gehegt? Und sind jetzt nur grausame Härte und
Mißachtung? Was geht in ihren Seelen vor? In welchem Versteck kauert
die Liebe, die alles glaubt, alles hofft, alles duldet? Die langmütig
ist und nicht das Ihre sucht? Lange saß ich und grübelte über das Wesen
der »Größten« nach. Wie hat sie die Herzen der Menschenkinder in dem
kleinen Dörflein Lage zusammengerüttelt! Wie mag Frau Rika gelitten
haben! Und in welcher Form lebt die Liebe in des jungen Försters
Brust? Kann sie auch feige machen? Daß er der wilden, schönen, üppigen
Gese treulos wurde und sich die sanfte, feingebildete Rika in sein
Haus nahm? Und doch nicht leben konnte ohne die begehrende Art der
Schmiedstochter?

Die alte Eva läuft in Ängsten umher. Wir finden Gese Tönnings
nicht, – sie ist nach dem Bescheid, daß sie nicht ins Elternhaus
zurückkehren dürfe, nicht aufzufinden. Ich selbst bin ruhig. Gese ist
zu lebensbejahend, um einen jähen Abschluß zu machen. Aber sie hat den
lodernden Zorn von ihrem Vater geerbt und wird ihn wohl im Lager Busch
herumtragen. Die Zuneigung zu Klein Erika war nur ein Flackerfeuer. Es
ist das Kind der »anderen«, die sich zwischen sie und den Geliebten
stellte; Gese Tönnings scheint in ihrer Not und Zerfahrenheit völlig
vergessen zu haben, daß sie sich bei mir für das Kind verpflichtete. Es
schlummert drüben in seinen Kissen und ahnt nichts von den Kämpfen und
Irrungen um sich herum. Die es doch so nahe angehen. –

Ritter Lage schreibt: »Nun kann die kleine Gitti zeigen, ob sie Schneid
hat. Feine, linde Frauenhände besitzt sie, das weiß ich. Aber jetzt
gibt es weniger Wunden zu verbinden, als sturre Trotzköpfe zu zwingen
und Feiglinge an ihre Pflicht zu mahnen.

Patronin von Lage, werde hart!

Im Laufe des Tages wird der Bursche Nordstamm bei Ihnen anklopfen, der
Sünder, der sein häßliches Geheimnis so außerordentlich schlangenklug
vor Deutschland und Holland zu wahren wußte, und den nur sein eigen
Weib durchschaute. Arme kleine Rika! – Regenschirmbase, gehen Sie
tapfer durch all den Schmutz und all das Leid hindurch, und lassen Sie
sich Ihre leuchtenden Blauaugen nicht verdunkeln. Wir alle brauchen
dies ›Licht im grauen Alltag‹.

            Der Enterbte.«

O ich glaube wohl, daß ich Schneid genug in mir habe. Der half mir über
das widerliche Gefühl der tiefen Abneigung hinweg, das in mir aufstand,
als Förster Nordstamm mir gemeldet wurde. Dann schlug es jäh in Mitleid
um. Denn ich bin ja eine Frau, die Menschen und Tiere nicht leiden
sehen kann. Und wie ein erbarmungslos durch Busch und Dorn gehetztes
Wild sah der Jägersmann aus. Stoßweise, gequält gab er mir seinen
Bericht. Der Schmied hatte ihm aufgelauert. Mit einer Peitsche war er
über ihn hergefallen. Eine breite, rote Spur zog sich quer über sein
blasses Gesicht.

»Ich bin geschändet,« stöhnte er, »ich kann mich nie wieder vor jemand
blicken lassen.«

»Nicht _mehr_ geschändet, als Gese Tönnings und ihre Eltern«, sagte ich
laut.

Da schlug er beide Hände vor sein Gesicht. »Warum hat man sie mir nicht
vor vier Jahren gegeben?« klang es verbissen. »Da sollte die Gese zu
gering für die Erbförsterei sein. Meine Mutter hat’s nicht gelitten,
die Rika mußte es werden. Da ist die Gese leichtsinnig geworden, hat’s
trotzdem mit mir gehalten. Schlecht ist sie nicht, – schlecht nicht.
Gnädiges Fräulein haben es selbst gesehen, daß sie das Kleine von
meiner Frau gehegt hat. Und wenn ich mir nicht das Leben genommen hab’,
als meine Frau starb, und ich mir sagen mußte, ich hab’ sie auf dem
Gewissen, so ist mir die Gese in den Arm gefallen, als ich das Gewehr
losdrücken wollte …«

»Toben Sie nicht so«, wies ich ihn zurecht, denn seine Stimme war immer
lauter geworden. »Es ist viel Schuld und Wirrnis gekommen, – doch
es kann wohl geschlichtet werden. Aber trauen Sie wirklich der Gese
Tönnings zu, daß sie der Erbförsterei wohl ansteht?«

»Der Erbförsterei!« sagte er verbittert. »Dem Begriff ist schon mancher
von meiner Sippe geopfert worden. Viel Glück ist da nicht gesehen
worden in dem Hause. Und als ich’s hineinbringen wollte, da schloß man
die Tür vor ihm zu.«

»Wenn Sie meinen, daß Gese Tönnings dies Glück ist, so will ich Ihnen
helfen«, sagte ich fest. »Ihr Kind soll im Vaterhause geboren werden.«

»Das leidet mein Vater nicht, und nicht der Schmied.«

»Das wollen wir sehen.« Ich stand auf, und Förster Nordstamm tat
desgleichen. Er sah unschlüssig zu mir herüber, aber die Hand konnte
ich ihm nicht reichen, ich legte sie fest in die Falten meines Kleides.
Da wandte er sich und ging langsamen, schweren Schrittes durch den Park
dem Walde zu. – Ich setzte mich wieder still in den großen Ohrenstuhl
und faltete die Hände über meinen Knien. Es ward eine Stunde der
tiefsten Einkehr in mich selbst. –

So stark wie nie zuvor mußte ich meiner Eltern gedenken, meiner Mutter
Pauline, die so ganz Liebe war und doch gar keine Überschwenglichkeiten
kannte. Und meines Vaters, der wiederum die ganze Welt mit einer
großen, nachsichtigen, verstehenden Liebe umfaßte, »himmelhoch
jauchzend« und »zum Tode betrübt« sein konnte und über allem nie die
große Linie vergaß. An seiner starken Hand führte er mich allem Schönen
entgegen, zeigte mir jede kunstvolle Pflanze, jede prächtige Rose, die
im großen Gewächshause der Welt aufblühte, und ließ mich doch auch an
keinem Wiesenkräutlein vorbeigehen, das meiner Entwicklung von Nutzen
sein konnte. Und seine köstlichen Gedanken und Wahrsprüche, erlesen und
erlebt, die er meinem Verständnis nahebrachte! Die mir alle nur den
einen Weg zur inneren Ruhe wiesen, den Weg der _Liebe_. – Den Weg, den
die Erde nicht kennt, _nur_ die Liebe.

Auch das rechtfühlende Herz suchte er in mir schlagen zu lassen. Er
pries es als den Mittelpunkt der ganzen Welt und meinte, daß vor der
Echtheit eines solchen rechten Fühlens sich das Weltgeschehen ordne. –

In all dieses Versenken meiner eigenen Seele in tiefe, besinnliche
Stille schrillte das Glöcklein von Haus Lage und brachte mir einen
Besuch.

Madame Oswald war es, die so gut in den Urväterhausrat von Lage paßt.
Wenn sie mit ihrem weißen, stillen Gesicht und den mütterlichen Augen
im alten Ohrenstuhl sitzt, wirkt sie recht wie ein Bild des Friedens.

Heute freilich nicht. Heute war sie voll Unrast, und diese teilte sich
mir so stark mit, daß ich allen guten Gedanken Valet geben mußte und
recht aufgeregt und zwiespältig wurde. Nicht so, nicht so. Ich kann
da nicht folgen. Ich vermag es nicht, eine so schwerwiegende Frage
wie meine Verheiratung in Hast zu erledigen. Ich kenne die Liebe
nicht, und glaube es der alten Frau, daß so tiefe Achtung und ein so
großes Vertrauen, wie ich es Pastor Oswald entgegenbringe, wohl Gründe
sein können, auf denen man ein Haus ohne Reue aufbaut. Aber etwas
erwartungsvoller müßte doch mein Herz schlagen, wenn wirklich das
Glück geschritten käme. Ich freue mich gewiß, wenn ich Oswald begegne,
habe eine schöne Sicherheit, wenn er neben mir schreitet, oder mir
gegenüber sitzt, und auch ein bewunderndes Gefühl für seine überlegene
Geistigkeit. –

Genügt dies schon? Wie werte ich jenes andere, das
Himmelhochjauchzende, Zumtodebetrübte, das die Dichter Glück nennen?
Oder sind wir überhaupt nicht zum Glück geboren, sondern nur zur
Pflicht? Und ist stärkste Pflichterfüllung zugleich höchstes Glück?

Ich konnte Madame Oswald keine befriedigende, abschließende Antwort
geben. Auch hielt mich ein leises Befremden davon zurück. Daß Pastor
Konrad Oswald nicht selbst um mich warb, sondern die Mutter schickte.
Ist das Hamburger Sitte? Aber wir beiden Hauptbeteiligten sind nicht
mehr so jung, daß wir Vertreter brauchten. Gewiß ist alles gut gemeint,
aber ich vermisse das Unmittelbare. Können sich zwei gereifte Menschen
nicht auch ein ehrliches Nein sagen? Es hätte ja auch nicht unbedingt
ein Nein sein müssen. Ich bin nur nicht für die Hast eines raschen
Verlöbnisses. Nicht nur das Ziel ist schön, auch der Weg zum Ziele. –
Er muß tausend Wunder bergen, und die Prinzessin Ohnearg aus dem Hause
Weißnichts bedarf ihrer. Bedarf eines langen, langen Wanderweges bis
zur leuchtenden Wunderlampe. Aber ich glaube nicht, daß Pastor Oswald
mir diesen Weg zeigen kann. Vielleicht müßte ich ihn an irgendeiner
Wegecke stehenlassen und einsam und befreit weiterwandern …

In seiner alten Mutter war ein Drängen, das seltsam von ihrer
beherrschten Vornehmheit abstach und ihr das Ausgeglichene nahm, das
mich sonst so entzückt hatte. So schieden wir beide unfroh voneinander,
und hätten uns doch gern in Fried und Freude festgehalten. Ich sah
der feinen Gestalt, die mit dem Schwebeschritt der Krinolinenzeit
dahinwippte, lange nach. Eine sorgende, sorgliche Mutter ging von mir,
– und ich bin elternlos. – –

Ritter Lage schreibt: »Man wird die kleine Gitti ihrem Schicksal
überlassen müssen. Sie will, scheint es, ohne guten Rat verständiger
Vettern gehen, trotzdem sie noch, sozusagen, im Steckkissen liegt. Nun
dann Glück zu! Mir kommt das Liedchen in den Sinn:

    »Wer winters an den Lenz schon denkt,
    Der Hecken lauter Rosen schenkt,
    Geht mutig-froh und schnelle.«

Die kleine Gitti mit ihrer Eulenspiegelnatur wird sich den braven
Pastor schon zurechtdenken … Übrigens ist er weit mehr, als nur brav,
– ist ein aufrechter Mann und guter Hirte. Aber aus all den Handlungen
der selbständigen Regenschirmbase habe ich meine Folgerungen gezogen.
Diese treffen hart, aber zum Glück nur mich selbst. –

Leb’ wohl, Gitti! Leb’ wohl!

            Der Enterbte.«

       *       *       *       *       *

Da war es mir, als bräche mein Herz mitten entzwei … Ich sollte
wohl lachen und mich selbst ausschelten. Was ist denn in mein Leben
gekommen, und was scheidet jetzt aus? Lächerliche gelbe Büttenpapiere,
die mich Mores lehrten, und hinter denen sich ein völlig Fremder birgt.
Und ich tausche dagegen eine wirkliche, warme Heimat ein …

Lieber Gott, ich kann es nicht, ich kann es nicht. Oh, wie bin ich
einsam! Aber ich würde noch einsamer im Pfarrhaus sein. Denn man will
mir das gelbe Büttenpapier nehmen …


            Abends.

Ganz rasch und doch wohldurchdacht habe ich an Pastor Oswalds Mutter
geschrieben. Quält mich nicht, ich kann euren Willen nicht tun! Und
nun ist sie krank, die liebe, gütige Frau, sie hat sich hingelegt und
will niemand sehen. Vielleicht ist dies der erste Fehlschlag in ihrem
wohlgefügten Leben, deshalb trifft er sie hart. – Wie quälend für
mich, daß ich ihn tun mußte.

Aber nun ich den gordischen Knoten durchhieb, schlägt mir auch das
Herz wieder stark in der Brust. Denn ich habe meine Freude wieder. Und
ich kann nie wieder ganz einsam werden, denn nun bleiben mir ja die
närrischen Briefe, die ganz lieben …

[Illustration]

Wie licht ist plötzlich der Lager Wald! Wie duftet er! Dieser Geruch
macht trunken. Ich will hineintauchen in seine Kraft und in seine herbe
Schönheit. Lager Wald, ich liebe dich!




26.


O mein Ritter Lage! Mein Junker Clemens! Mein Enterbter! Du! Du! Du
Liebster!

Ich gebe dir all diese Namen in meiner heiligen Heimat verschwiegener
Stille, lege sie nieder in die starken Blätter des Lager Folianten.
Der hütet sie fein, bis meine Augen sich einst schließen. Dann liest
vielleicht einmal eine junge Nachfahrin, wie in der Ahne Herzen eine
Flamme gelodert, eine keusche Liebe geglüht, von der nur Gott wußte.
– Und sie wird den jungen Kopf senken und erschauern. Weil die Macht
einer keuschen Liebe so unsagbar groß ist.

[Illustration]

Ritter Lage, du hattest mein Bestes im Sinne und tatest das Unrechte.
Du durftest mich nimmer verlassen. –

Ich habe Mitleid mit dir, Junker Clemens, denn du bist noch dümmer als
die dumme Regenschirmbase. Ja, du bist der rechte Zornebock im Märchen.
Der stieß die kleine Gitti zu dem schönen, rotwangigen Prinzen, gerade
als sie anfing, den garstigen Zornebock mehr als ihr Leben zu lieben.

Was hast du getan, Ritter Lage?!

Der ganze Wald ist tot. Und ich wollte, ich läge im Waldgrabe beim
Ahnen Joochen Lage, dessen Gebeine so »fein säuberlich« vom Urenkel
begraben wurden. Und ich wollte, die dunklen Stechpalmen überwucherten
alles mit ihrem satten Grün und ihren spitzen Stacheln. Und die
leuchtend roten Beeren kündeten das Herzblut.

Die Clemenskapelle steht verlassen, die Lampe ist verlöscht …

Im Sinnen darüber (denn er hatte doch versichert, er wolle es nie mehr
verlassen, noch versäumen) schritt ich nach dem Tempel. Der Tempel
ist leer, – offen stehen die Türen … Eine alte Frau, mir unbekannt,
rumorte mit allem Handwerkszeug, das man zum Säubern braucht, in den
verlassenen Räumen umher. Sie sah mich feindselig an, und ich floh vor
ihren spähenden Blicken.

Mein Märchenwald stand schweigend. Kein Rauschen und Flüstern war zu
hören; er hielt den Atem an. Das Waldweibchen grüßte mich traurig, der
erhobene, einlaßwehrende Arm war abgeschlagen …

Da schlang ich die Hände um den uralten, rissigen Stamm und sank an ihm
nieder in die braune, streng duftende Heide. Und weinte, wie ich nie
geweint. Lang anhaltend, bitterlich. –


            Andern Tags.

Was ist nur geschehen? Was habe ich denn getan? Verfehlt? Versäumt?
Wie Sonnenfinsternis liegt es über Lage. Aber noch gebe ich nicht
nach. Meines Vaters Tochter darf und will nicht feige sein. Die
4-Uhr-Morgenstunde fand mich schon wieder gerüstet zum Tagewerke. Wohl
mir, daß ich andern dienen darf, daß ich nicht mir selbst gehöre,
sondern dem Herrgott, der mir meine Wege weist. – Diese Wege führten
mich heute durch Disteln und Dorn. Mit widerborstigen Kranken und
unbotmäßigen Gesunden mußte ich mich ärgern und hatte alle meine
Kraft nötig. Und nahm sie zusammen und vermochte, milde zu urteilen
und durchgreifend zu helfen. Auch im Pfarrhaus sprach ich vor. Aber
die alte Dame ist noch krank, und da ich keine Aufforderung erhielt,
an ihr Lager zu treten, so entfernte ich mich rasch wieder. In der
Haustür traf ich mit Pastor Oswald zusammen, der ruhig und ernst wie
immer und durchaus nicht unfrei mit mir sprach. Nur die scharfe Blässe
seines vornehmen Gesichtes fiel mir auf. Er deutete leicht mit dem Kopf
nach der Tür hin, hinter der die alte Dame das Bett hütet. »Sie wird
nachgeben«, sagte er fest. Und fügte mit tiefem Ernst hinzu: »Lassen
Sie mich weiter auf Ihre Hilfe hoffen, Freiin Brigitte.«

Diese Bitte hat mir zu denken gegeben. Aber noch komme ich nicht hinter
ihren Sinn. Denn ich meine, durch meinen Brief an Madame Oswald habe
ich gezeigt, daß ich nicht helfen kann und nicht helfen will. –

Meine alte Eva sieht aus wie Sturm und Gewitter, eitel Regen und
wolkenverhangener Himmel. Durch einen inneren, mir unerklärlichen
Aufruhr huscht sie wie eine Junge durch meine Räume, vermeidet aber
trotzig jede Aussprache. Erst als ich meinen Arm um sie legte und
bittend sagte: »Wenn du wüßtest, wie einsam ich bin, meine gute Alte,
du gäbst mir scheffelweise Sonnenschein …«, da sah sie mich forschend
an und streichelte ungeschickt meine Hand. Ließ sie aber gleich wieder
fallen und murrte: »Andere und Bessere sind noch viel einsamer, und man
nimmt ihnen den letzten Sonnenschein und freut sich an eigener Liebe.«
– Eva, Eva, so dunkel hast du noch nie dahergeredet, und irgendeine
Not hat dich gepackt, daß du nicht weißt, was du sprichst. –




27.


Wunderliches, seltsames Leben! Mit diesem Gemeinplatz muß ich meinen
Tag beginnen. – Mein tiefster Wunsch, einen Bruder zu haben, einen
natürlichen Beschützer, ist in Erfüllung gegangen. Pastor Konrad
Oswald. Er ist mir Bruder geworden. Und sehr fröhlich und befreiend
schließt dieses Kapitel für mich ab. Madame Oswald freilich … Ich kann
ihr hier nicht helfen. Eine echte Mutter muß diesen Weg allein zu ihrem
Kinde finden. – Zwei Menschen standen heute vor mir Hand in Hand,
nachdem Pastor Oswald zuerst über eine Stunde allein mit mir gesprochen
hatte. Ich will sein zartes, liebes Bekenntnis, das mich ehrt und
stolz macht, nicht einmal diesem stillen Folianten anvertrauen. Wenn
er so groß ist, daß er eigenes Wollen begräbt, um die starke Linie
zu verfolgen, die in dem Wahlspruch gipfelt: gut sein und glücklich
machen, – wenn er nur an das Dorf denkt, an die trostbedürftigen
Alten, an die Hilfeheischenden, an die Siechen und widerborstigen
Gesunden, an das Edelmaterial, das in der Lager Jugend steckt …
Oh, dann soll mein Bruder Konrad gesegnet sein! Weil er selbst ein
Segen ist. Mit Maria Dörping hat er sich versprochen. Da kommen zwei
Edelmenschen zusammen. Ich bin innerlich so tief glücklich darüber,
daß ich mein Leid über den toten Wald und den leeren Tempel weit
zurückzudrängen vermag. Fühle auch, welch starke Kampfnatur ich bin. –
In dem Bestreben, diesen beiden zu helfen, wachsen mir noch ungeahnte
Kräfte. Was für Widerstände gibt’s hier noch zu überwinden! Nicht
allein bei der vornehmen Hamburgerin, der die Wahl des Sohnes ein so
harter Schlag gegen alle Tradition bedeutet, daß sie ihn um jeden Preis
abzuwenden versuchte. Auch der graue Alltag ist wie ein verstörter
Ameisenhaufen. Das ganze Dorf zischelt und schilt und mutmaßt, und das
einzige Lachende ist das breite Grinsen der Korb-Sina. Es ward ihr
wahrlich nicht an der Wiege gesungen, daß ihr Schwiegerenkel einst der
Pfarrer von Lage sein würde. Sie machte heute glänzende Geschäfte.
Verkaufte ihre sämtlichen Körbe. Sämtliche Dörfler gaben sich bei ihr
ein Stelldichein. Neues wollten alle über die unerhörte Begebenheit
erfahren, und doch ist niemand auf seine Kosten gekommen.

[Illustration]

Außer der Korb-Sina. Die strich ihre Batzen ein und schwieg. Kicherte
nur und hohnlachte wie eine rechte, echte Hexe. Aber nun hat sie
ihre Stube aufgeräumt und ihr Gottestischkleid angezogen. Am Fenster
sitzt sie geruhlich mit einem Strickstrumpf, und ihre Augen hängen an
dem blühenden Myrtenbaum, der auf dem Sims steht. Den hat sie lange
treulich für die Enkelin gehegt und betreut. Sie selbst und ihre eigene
Tochter hatten der Myrte und ihres Sinnbildes nicht geachtet. Aber
Maria Dörpings weißes Brautkleid wird von Myrten überrankt sein, und
ihren feinen Kopf wird der grüne, geschlossene Kranz zieren. All das
liest man im runenvollen Gesicht der Großmutter. Sie grüßt stolz jeden
neuen Besucher und macht sich den uralten Sinnspruch auf ihre Art
zurecht: »Ist der Zweig heilig, so ist es auch die Wurzel.« Noch geht
die Mißgunst durch das Dorf Lage und den grauen Alltag. Aber dessen
bin ich gewiß, es wird nicht standhalten vor Marias ernster Art. Sie
wird sich nicht überheben, wenn sie die Gattin des Seelsorgers ist,
vielmehr freiwillig den Panzer ablegen, mit dem sie sich umgürtet
hatte, weil sie fühlte, daß man sie und die Großmutter mied. Für
das Dorf war die Wahl, die Pastor Oswald traf, eine weise, er kann
Besseres mit dem vermögenslosen, schlichten Dorfkind wirken, denn mit
mir, seiner Patronin. – Auch äußerlich geben die beiden ein schönes
Paar. Maria ist hoch und schlank, und ihre herben, feinen Gesichtszüge
stimmen gut zu seiner hamburgisch rassigen Vornehmheit. Mir gegenüber
hat sie eine reizende Ehrerbietung, aus der ich spüre, wie gut Pastor
Oswald über mich geurteilt haben mag. Es wird ein gutes Zusammenwirken
werden. –


            Abends.

Ich glaube nicht, daß ich jeden Tag so arbeiten darf, wie ich es
heute tat. Denn in dem toten Wald ist niemand mehr, der Einhalt
gebietet. Und keinen Menschen auf Gottes weiter Welt stört es, wenn
das Maschinchen einen Knacks bekommt. Ich habe in der Dämmerstunde die
gelben Büttenpapiere in Atome zerschnitten und die stattliche Menge in
ein seidenes Tuch geknüpft. Das ist nun ein weiches, weißes, vornehmes
Ruhebett für meines jungen Lebens einzige Freude geworden. –

Ich habe das Bündel zum Lager Wald getragen und unter einem
Tannenbäumchen eingegraben. Nur ein kleiner Heidezweig schmückt das
seltsame Grab …

»Sie bringen ihre Garben und tragen edlen Samen …«

So soll es sein.

Viel Gutes soll aus diesem kleinen Hügel wachsen. – Denn was drinnen
ruht, ist die Güte, die ein Fremder der einsamen Waise bot.

[Illustration]


            Frühmorgens.

Die großen, hallenden Räume im grauen Alltag werden mir zu eng. Zudem
ist es Sonntag, und alle Waldglocken läuten ihn ein. So will ich
hinauswandern zur Clemenskapelle, mit raschen, einsamen Schritten, ehe
ich mit dem ganzen Dorf in der Kirche des grauen Alltags bete …


            Am Abend desselben Tages.

Derselbe Tag, derselbe Abend. Aber ich? Wer bin ich? Doch nicht
derselbe Mensch? Die Prinzessin Weißnichts, aus dem Hause Ohnearg? Die
alle Möglichkeiten verschlafen hatte und ausging, das Glück zu suchen?
O du mein einziger Lager Wald! Wie ich dir aberhundert Kosenamen gab,
so gib du mir den rechten Ruf zurück: Prinzessin Weißalles! Prinzessin
Findeglück!

»Meinen Eingang segne Gott«, so rief ich heute morgen laut, als ich
den Lager Wald betrat. Und just in diesem Augenblick legte sich die
liebe Sonne wie ein breites, goldenes Band um meine braune Heide. Die
zeigt schon viele rote Blüten und wartet nur noch auf die Mitte des
Augustmondes, um in vollster, leuchtend roter Pracht zu strahlen. Und
es taten sich Dome von silberstämmigen Buchen auf. Ihre Zweige reichten
bis zum Himmel und klopften beim Herrgott an, daß Er sie segne …

Wann hatte ich das schon einmal erlebt?

Jähe Freude beflügelte meinen Schritt. Ein Lichtchen leuchtete durch
die Tannenwildnis hindurch. Komm! winkte es, komm!

Da lachten wohl meine Augen und mein ganzes Herz. Und ich grüßte die
Clemenskapelle und die ewige Lampe. Auf der Schwelle des Kirchleins
lag das zusammengesunkene Bündel, das ich so gut kannte in seiner
Hilflosigkeit.

»Bist du auch wieder da?« fragte ich liebreich. Und ich beugte mich
nieder und küßte den armen Kopf mit dem borstigen, rötlichen Schopf.

Da geschah etwas Schreckliches. Der Krüppel sprang in furchtbarer
Gelenkigkeit auf und warf sich über mich. Jäh stürzte ich zu Boden
und schlug hart mit dem Hinterkopf an den steinernen Fuß des heiligen
Clemens. Da hab’ ich wohl gerufen, weit, weit hallend, in meiner
gräßlichen Angst und Not.

Und ebenso rasch ward ich auch der furchtbaren Bürde ledig, und ich
sah, wie der Krüppel in eine Ecke flog und dann grinsend entwich. Und
ich fühlte mich emporgehoben an ein wild klopfendes Herz und hörte
eine wundergute, tiefe Stimme an meinem Ohr: »Um Gott, nicht diese
angstvollen Augen, du! Hörst du mich? Gitti!«

Und ich sagte ganz leise an seinem Ohr: »Sprich weiter, du! Ich habe so
auf dich gewartet …«

Da ließ er mich rasch aus seinen Armen, daß ich taumelte, und ich
lehnte mich nun an den steinernen Heiligen, denn mir war’s, als drehe
sich die ganze Kapelle um mich herum.

Er aber stand vor mir, blaß und vornehm und verbeugte sich, als wären
wir auf dem Parkett und nicht in grüner Waldwildnis, und sagte scharf
mit ganz veränderter Stimme: »Ich bin Clemens, Freiherr von Lage.« –

Da wich der ganze Märchenzauber weit zurück. Aber doch nicht so weit,
daß ich in den gleichen, wunderlichen, frostigen Ton verfallen wäre,
wie der Ritter Lage.

»Ich bin die Regenschirmbase.«

»Wirklich!?« Das klang, als ob er mit einem Kinde spräche. Sein Gesicht
ist sehr veränderungsfähig. Viel Ironie, viel Spott, viel Ernst rumort
darin. Ein Gran Bitterkeit zieht die Mundwinkel leicht herunter. In den
dunkeln Augen liegt Güte. – Wir betrachteten uns ungewöhnlich lange.
Als wollten wir uns innerlich festhalten. Und unser Gebaren stach
seltsam ab von unsern kalten, förmlichen Worten.

Dann tönte ein Klageruf durch den Wald wie von einem fernen, wunden
Tier, und Ritter Lage wandte sich eilends und wortlos und entwich
durch die Tannenwildnis. Er ist schlank und zart gebaut, nicht über
Mittelgröße. Seinen linken Fuß zieht er nach, und die linke Hand
scheint kraftloser zu sein als die rechte …


            Andern Tags.

So soll es nicht weitergehen. Meine Arbeit darf nicht leiden unter
dem, was mich gepackt hat. Es wirkt sich aus fast wie ein starker,
körperlicher Schmerz. Solchem bin ich noch immer zu Leibe gegangen. –
Ich hoffte, das Allheilmittel, das ich seit Jahren anwende, würde auch
diesmal nicht versagen, – ein scharfer Marsch durch Wald und Heide.
Aber es hat versagt. Liegt es daran, daß ich den entgegengesetzten Weg
einschlug?

Der Lager Wald und die Clemenskapelle waren mir durch die neue Sachlage
verwehrt, so landete ich denn in einigen zerstreuten Katen, die
jenseits der großen Lager Heide liegen. Hier fand ich neue Arbeit und
neue Unrast und neue Sorgen: ein krankes, hilfloses Weib, einen Säufer,
eine Stube voll Kinder, viel Ungeziefer und böse Gerüche.

Solches Erleben hat mich sonst immer tapfer gefunden, heute machte
es mich elend. Vielleicht deshalb, weil mein eigenes wunderliches
feines Leid mich klein dünken mußte gegen das brutale Geschehen in
den Häusern meines Dorfes. Wie der Säufer mich anstierte! Und wie sein
jammervolles Weib doch noch in ihren Augen ein winzig kleines Fünkchen
jenes Feuers barg, das »die Größeste unter den dreien, Glaube, Liebe,
Hoffnung«, hütet. Ich sah, wie ein Lächeln über ihre erloschenen Züge
ging, als dem vom Trunke Zermürbten das muffige Mahl mundete. Dies
Lächeln redete in lauter Sprache, daß auch dies saure Leben noch
Sonnenstunden gebiert, eben weil es nur sauer, aber nicht bitter ist.

In dieser Erkenntnis durchquerte ich auf dem Rückweg die ganze weite
Heide und sog mit durstigen Lungen die reine, herbe Luft ein. Streckte
dabei beide Arme kraftvoll wieder und wieder weit empor und »atmete mir
den Feind aus der Brust«. –




28.


Ritter Lage hat eine Reise angetreten. Meine alte Eva spricht mit einem
Male ganz geruhlich von ihm, als hätten niemals Rätsel rings in den
Bäumen des Holländer Waldes gehangen …

Der Freiherr bringt seinen Sohn in eine fest umschlossene Anstalt …


            Nach acht Tagen.

Heute hat mir Ritter Lage seinen ersten Besuch gemacht. Tante Fernande
empfing ihn. Ganz große Dame und ~ancien régime~. Ich verhielt eine
Weile in meinem Zimmer. Denn ich hatte die beschämende Entdeckung
gemacht, daß mein Kalenderblock noch denselben Tag zeigte, an dem der
Enterbte und ich uns zum ersten Male sahen. Und jäh schoß mir das alte
Lied durch Kopf und Herz:

[Illustration: Der graue Alltag.]

»Die Tage, da du fern von mir, die zählen nicht in meinem Leben« – –.
Da riß ich wohl hastig die schwarzen Ziffern herab, bis der rote
Sonntag leuchtend vor mir lag. Und konnte dann äußerlich ganz ruhig den
seltenen Gast begrüßen.

Er saß im roten Ledersessel, »darinnen die Lages ausrasten«. Seine
dunkeln Augen sahen mich noch eine Weile ernst und gütig an, ehe er
sich langsam an dem festen Stock aufrichtete, dessen Elfenbeinkrücke in
seiner Rechten ruhte.

Die alte Eva stand neben ihm und hatte in ihren Augen einen ruhigen
Glanz. Und auf ihrem runzligen Antlitz ein stilles Lächeln voller
Befriedigung, das sagte: Was wollt ihr nun noch? Es ist ja jetzt alles
gut und in Ordnung.

Tante Fernande saß auf der kleinen Estrade, jeder Zoll die
Audienzgebende. Aber als Ritter Lage sie ruhig und schweigend
anblickte, verschwand sie hastig, und Eva folgte ihr. Nun standen wir
uns allein gegenüber.

»Sie haben sich Muhme Jesuliebes Räume wunderbar heimelig
eingerichtet«, begann er das Gespräch. »Man wird sich zusammennehmen
müssen, um sich aus diesem Raum loszureißen. Denken Sie, wie
entsetzlich es wäre, wenn ich immer hier bliebe …« Ich stand
schweigend; es war mir, als läse ich einen der närrischen
Büttenpapierbriefe.

Ritter Lage deutete mit seinem Stock auf eine Ausbuchtung der Mauer,
die in das Zimmer hineinragt. Sein Gesicht war blaß, seine Mundwinkel
zuckten. Spott, Verlegenheit und Unbehagen lagen in seinen Mienen.

»Die verehrte Regenschirmbase hat natürlich alles gläubig als Zauberei
hingenommen«, sagte er mit seltsamem Lachen. »Das macht, weil Sie die
Urkunde noch nicht kennen, und außerdem keinen Hang zur Neugierde
haben. Ich aber hatte schon als 10jähriger Bub herausgefunden, daß sich
hier eine ›Horchbucht‹ befindet. Wie Sie sie oft genug auf Plätzen, in
alten Höfen, Toren und Burgmauern sehen können. – Gitti, Sie werden
mir nachher die Ehre Ihres Gegenbesuches schenken. Lassen Sie den
Knigge und den guten Ton in allen Lebenslagen einmal ruhig beiseite.
Der graue Alltag braucht ihn nicht. Ich will Ihnen nur zeigen, daß seit
20 Jahren mein Schreibtisch in dieser Ausbuchtung steht, und daß ich
laut Urkunde lebenslängliches Heimatsrecht in Lage habe.«

Ich erschrak so heftig, daß ich mich am Tisch festhalten mußte.

»Fallen Sie bitte nicht um, Gitti«, sagte Ritter Lage. »Mein linkes
Bein ist heute besonders schmerzhaft, schief und verbogen, und die
linke Hand kraftloser denn je. Ich würde mitfallen, wollte ich Sie
aufheben. Glauben Sie auch nicht, daß es mir etwa Freude gemacht hat,
den Horcher zu spielen. Ich hatte ein weit geruhigeres Leben, als
Sie noch nicht Erbin des grauen Alltags waren. Sozusagen Schulter
an Schulter arbeitete ich mit Muhme Jesuliebe, und nach der Arbeit
schlüpfte die alte Dame durch die Tapetentür zu mir, strahlend und
lautlos lachend darüber, daß sie mit 80 Lenzen noch diese geheimen
Schleichwege gehen konnte. Wir waren uns sehr gut, Muhme Jesuliebe und
ich. Sie war die interessanteste Frau, die ich je gekannt. Ebensoweit
entfernt von künstlich erborgter Jugend, wie vom Quietismus des
Alters. Als sie dann starb und Gitti hier einzog, gab ich natürlich
immer Fersengeld, sobald sie das Zimmer betrat, denn ein geborener
Horcher bin ich nicht, Regenschirmbase. Die Flucht war aber nicht immer
möglich – mein Befinden ist großen Schwankungen unterworfen. Oft
habe ich zähneknirschend auf dem Ruhebett gelegen, während Ihr lieber
Plaudermund schier dicht an meinem Ohr seine Weisheit verzapfte.«

Er war wieder sehr blaß, als er dies sagte, und ich regte mich nicht.

»Kleine Gitti, es wäre barmherziger, wenn Sie schelten würden, anstatt
so schrecklich stumm und vernichtet dazustehen. Wenn ich Sie so hinters
Licht führte und nicht eher aus der Horchbucht hervortrat, so geschah
es auch, weil ich allzu Köstliches in dieser Zeit gelernt habe. – Weil
ich in eine liebe, ganz neue, wunderbar lichte Welt eintrat« …

»Aber man darf doch nicht horchen«, wendete ich gequält ein und rang
meine Finger ineinander.

»Ach, kommen Sie mir nicht mit Ihrer Kleinkinderstubenweisheit«, sagte
er ärgerlich. »Folgen Sie mir lieber in mein Reich und überzeugen Sie
sich, wie weitab mein Ruhebett von der Ausbuchtung entfernt steht.
Ich werde Sie hinübergeleiten und dann hierher zurückkehren. Mit ganz
leiser Stimme werde ich von hier aus Ihnen abbitten, und Sie werden es
trotzdem gellend in Ihren Ohren hören.«

Nun lachte ich doch ein klein wenig. »Ich glaube das noch nicht«, sagte
ich, ihm folgend.

Er drückte auf eine Erhöhung in der Wand, und da tat sich langsam eine
Tapetentür auf. Durch diese schoben wir uns hindurch, und sie fiel
sofort wieder lautlos ins Schloß. Der Raum, den wir betraten, ist
mir der liebste im ganzen Gewese. Groß und doch heimelig, mit ganz
erlesenem Geschmack eingerichtet. Seine Spitzbogenfenster gehen zur
schönsten Stelle des Parkes hinaus.

»Hier ist gar kein grauer Alltag,« sagte ich still, »hier wohnt das
Licht.« Aber ich redete nur zu mir selbst, denn Ritter Lage war schon
wieder durch die Tapetentür entschwunden. Ich hörte seinen Stock im
Nebenzimmer aufstapfen und vernahm auch das leise Räuspern, das »Junker
Clemens« an sich hat. Inzwischen fesselte meine Augen ein großes Bild
über dem kostbar geschnitzten Sofa, es war unser Stammbaum. »Joochen
Lage« las ich zu oberst in den Zweigen. »Geboren 1595, gestorben 1642
in’t Lager Huus.« Ich setzte mich still dem Bilde gegenüber auf das
breite, große Ruhebett, auf dem ein riesiges Eisbärenfell ausgebreitet
war, und meine forschenden Augen schweiften weiter über die Zweige und
Verästelungen des Stammbaumes. Da tönte es eindringlich in mein Ohr:
»Kleine Gitti, hörst du mich?«

Ich schaute mich um, aber ich war allein in dem schönen Raum.

»Gitti Regenschirm, weißt du, daß _du_ das Licht im grauen Alltag bist?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Gitti, wir sind viele Jahrhunderte durch grauen Alltag geschritten.
Bis _du_ kamst. Nun kann es nie wieder ganz dunkel werden in’t Lager
Huus.«

»Ritter Lage, ich möchte das alles zurückgeben. Für mich war die
ewige Lampe der Kapelle das Licht im grauen Alltag, und _du_ hast es
entzündet, Clemens Lage.« –

»Kleine Gitti, ich werde noch heute eine lange Reise antreten. Diese
Reise wird großes Glück oder unfaßbares Leid bringen, mir und dir …«

»Für mich ist es schon Leid, wenn du fortgehst, Ritter Lage …«

»Gottes Segen über dich, Gitti, Seelchen!«

Einen Augenblick war ich fassungslos. War es die Lichtfülle, die
über mein einsames Leben hereinbrach? Die meine Augen so blendete,
daß ich nichts in meinem Umkreis mehr unterscheiden konnte? Ich warf
mich auf das Ruhebett und lachte und weinte in das weiße Fell hinein,
und der vornehme Duft, der das ganze Zimmer beherrschte, legte sich
schmeichelnd auf meine Sinne.

Aber als ich dann aufsprang, weil die liebe, klangvolle Stimme
verstummt war, und dann durch die Tapetentür in mein eigenes Zimmer
schlüpfte, da war dieses kalt und dunkel und leer. Und wie in weiter
Ferne sah ich das stille Gesicht der alten Eva, und hörte ihre trockene
Meldung: »Der Herr Baron lassen sich bestens empfehlen.«




29.


Es ist gut, wenn ein geliebter Mund Worte prägt, die dann zu
Leitsternen werden. Mein Leitstern in all diesen Tagen, »die nicht
in meinem Leben zählen, da er fern von mir«, war das Wort: »Es kann
nie wieder ganz dunkel werden im grauen Alltag.« So konnte ich Sieger
bleiben tausend kleinen Widerwärtigkeiten gegenüber und konnte
Fröhlichkeit in mir tragen und Zuversicht tausendfältig abgeben. Trotz
des Heimwehs, das mich schüttelt. Trotz der tiefen Sehnsucht nach
seiner Stimme, seinen märchendunkeln Augen. Und ich vermochte es, meine
Unrast einzudämmen, die mich umtrieb im Lager Busch, im Holländerwald
und in der roten Heide. –

Über Nacht ist das Blühen gekommen. Rot leuchtend liegt meine Heide
da, weit ausgebreitet ihr schimmernder Teppich. Und die Sonne küßt sie
wieder und wieder und kann sich nicht satt sehen an ihrer Schönheit.
Der Morgenwind harft ein Preislied. In seinem Hauche neigen sich die
Birken huldigend ihrer Heidekönigin, deren kraftvollem Schoße sie ihre
schlanke Schönheit verdanken. Stärker duftet der Ginster, heilkräftiger
der Wacholder. Über Mittag surren die Bienen heran, alles atmet
rascher, – ein rastloses Arbeiten hebt an, ein liebedurchglühtes, ein
starkes Schaffen.

Dann wieder die betende Stille, die sonnendurchglühte Rast, bis der
Sonnenball zum letzten Male die Kiefernstämme küßt, daß sie metallen
glänzen. Und dann tot stehen, weil die leuchtende Mutter von ihnen wich
mit einem letzten Gute Nacht. –

Morgen, morgen leuchtet wieder die rote Heide!

       *       *       *       *       *

Im Forsthaus ist geschäftiges Treiben. Es scheint, als solle dort
wirklich das Glück Hüsung haben. Axthiebe schallen zu mir herüber, der
alte Förster zimmert eine neue Wiege. Denn die mit Rosen und Tulipanen
verzierte, in welcher Klein Erika ihren Einzug hielt, soll erst einmal
in meinem Hause bleiben. So rasch gebe ich mein süßes Kind noch nicht
her, wenngleich der junge Förster Nordstamm mich männlich-fest gebeten
hat, ihm Rikas Kind zu überlassen, auf daß er seine Vaterpflicht nicht
versäume. Ich habe es ihm versprochen. – Gese Tönnings blüht auf wie
eine Sonnenblume. Das Glück, die Erwartung macht sie gut. – Und ich
denke, wenn das Kind da ist, wird sein erstes Weinen selbst den Hammer
übertönen, den der Großvater Schmied kraftvoll-zornig schwingt …

Das Krankenhaus wächst, das Schulhaus glänzt in neuer Frische. Auch
dort soll ein kleiner Weltbürger seinen Einzug halten. Der Lehrer
teilte es mir strahlend mit.

Überhaupt schaue ich in lauter helle Gesichter. Als hätten sie mit den
Häusern zugleich einen neuen Anstrich erhalten. – Wie mir die Arbeit
willkommen ist! Wie sie mich ablenkt von dem gewaltigen Geschehen in
mir. Abzulenken _versucht_. Denn es bleiben immer noch Minuten, da mich
mein neues Erleben stürmisch überfällt.

[Illustration]

Hei ho, hei ho! Ich bin ein Kämpfer und lasse mich nicht rasch
unterkriegen. Aber ich bin auch ein Weib und ahne, daß ein Unterliegen
süß sein kann, wenn kraftvolle Arme uns zwingen und ein echter,
unverbrauchter, unzersplitterter Manneswille …

Ritter Lage, wo weilst du?

Ich habe heute die Ruine erstürmt, wie einst die Spanier die Burg.
Habe mich an Eisenknäufen festgehalten und emporgeschwungen, und immer
wieder fand mein tastender Fuß irgendeinen Vorsprung, bis ich den
Söller erreichte. Droben ließ ich mein weißes Tuch durch die Lüfte
wehen, es grüßte den Fernen.

    »Ich weiß nicht, wo du träumst und suchst und irrst,
    Ich weiß nur, daß du wiederkehren wirst.«




30.


Die Hochzeitsglocken läuten über die Heide.

Es liegt ein seltsames Drängen in ihren Klängen, Sie geben und schaffen
mir Unrast …

Förster Nordstamm führt heute Gese Tönnings heim.

Und morgen ist Pastor Oswalds Hochzeit.

Schmied Tönnings will keine Gäste haben. Er und seine Frau sind die
Trauzeugen. Dann will er die Tochter ins Forsthaus selbst geleiten, so
hat er es sich ausbedungen, nachdem ich ihn endlich soweit gebracht,
die verlorene Tochter bei sich wieder aufzunehmen. Tief mußte sie sich
beugen vor dem strengen Vater und die biblischen Worte nachsprechen:
»Ich bin nicht wert, daß ich dein Kind heiße.« Aber die Liebe half
ihr über alles Demütigende hinweg. Ich war heute für ganz kurze Zeit
in der Schmiede. Wollte der Braut wenigstens ein Myrtenzweiglein
bringen, damit das strenge, schwarze Kleid etwas Lichtes habe. Aber
der Vater litt es nicht. Gese Tönnings muß alle Folgerungen aus ihrem
Vergehen ziehen, und der strenge Vater führt ihre Mißgestalt durch die
Lager Kirche an den Altar mitten durch die gaffenden, lächelnden oder
mitleidigen Blicke hindurch. –

Und morgen schreitet Maria Dörping denselben Weg in ihrer schlanken,
herben Schöne und Reinheit.

Aber der graue Alltag wird ebenso raunen und zischeln, und die Kirche
wird noch gedrängter und voller sein. Denn man ist gespannt auf
die Korb-Sina, die sich vor Hochmut nicht zu lassen weiß über den
pfarrherrlichen Enkel und das Glück ihrer Enkelin. –

Der Trauung des Försters Nordstamm bleibe ich fern. Es dünkt mich
grausam, wie Schmied Tönnings sein Kind behandelt, da will ich die
Schar der Zeugen nicht vermehren. Wie hart habe ich früher selbst
geurteilt und verdammt. Von der hohen Warte der Unversuchten aus.
Und bin mir nie des häßlichen Pharisäertums bewußt geworden. Nun ist
dies überwältigende Erleben zum erstenmal über mich gekommen, und in
tiefen, verschwiegenen Stunden meiner einsamen Kemenate frage ich mich,
ob ich den Ritter Lage lieben darf? Mit jener brennenden Liebe, die
alles glaubt und alles hofft? Lebt nicht sein Weib, und kann sie nicht
gesunden? Muß ich nicht vielmehr jene entsagende Liebe in mir pflegen,
die nicht das Ihre sucht? Oh, diese Zweifel und Fragen, die über mich
herfallen mit scharfen Zähnen, mitleidlos … Sie quälen mich maßlos.
Und sie sagen: Du Aufrechte, du! Wie stehst du da, wenn sein Weib ihn
zurückfordert? Und mein Herz schreit auf und ruft dagegen, daß diese
Frau als Irre lebt seit zwanzig Jahren, und daß selbst das Gesetz die
Trennung erlaubt. – Aber sie kann gesunden …

Herrgott, höre mich! Wenn sie gesundet und dem Einsamen wieder das
Glück bringen kann, nach dem er verlangt, so will ich stark und groß
überwinden. Vergib mir das kindische Stammeln an seinem Ohr. Zu
strahlend das Licht, das über mich hereinbrach. So süß die erste Liebe.
So neu die Welt, die du mir auftatest, deinem Kinde so unbekannt. –
Da konnt’ ich wohl irregehen. Doch ich kenne den Weg, den mein rechtes
Fühlen mich weist, und bewußt will ich nicht straucheln, noch fehlen.
– Ich will auch dem fremden Manne vertrauen. Wohin mag ihn seine Reise
führen? Tiefes Glück soll sie bringen oder brennendes Leid? So sicher
ist er meiner Liebe, daß er beides in Betracht ziehen darf? Will er
sich trennen? Kann es sein, daß ihm daraus Kämpfe erwachsen? Daß sie
ihn nicht freigibt? Oh, so muß ich für uns beide stark sein. Vater,
du kannst dich auf deine Tochter verlassen. Feige wird sie niemals
sein. Aufrecht und einsam will ich meinen Weg gehen, wenn es in meinem
Schicksalsbuche also geschrieben steht, daß ich dem _einen_ nicht
folgen darf. –




31.


            Drei Tage später.

Was heute zu mir geschritten kam, sah dem Glück nicht gerade zum
Verwechseln ähnlich. Aber was es mir brachte, war doch ein winziger
Bruchteil davon. Das liebeverwöhnte Kind eines liebereichen Vaters ist
bescheiden geworden …

Ohm Matthias Lage kam mit einem Bündel angegangen, in nichts von einem
reisenden Handwerksburschen zu unterscheiden. Da ich auf der weißen
Bank vor der Ruine saß, lud ich ihn gleich ein, sich neben mich zu
setzen, und er berichtete recht gedrückt von seiner Lehrzeit beim
»Vetter Lage«. Mein Anblick und der von Haus Lage schien ihn aber
sehr zu heben, denn er wurde von Minute zu Minute aufgeweckter und
übte schließlich eine recht laute und schonungslose Kritik an seinem
Brotgeber. »Wenn ich bedenke, geliebte Nichte, daß dieser Clemens einer
der reichsten Grundbesitzer ist, so muß es dich und mich empören, wie
knapp er mich gehalten hat. Auf halbe Ration hatte er mich gesetzt,
und alkoholische Getränke habe ich überhaupt nicht zu sehen bekommen,
trotzdem ich weiß, daß dieser sogenannte ›Abstinent‹ den Keller voll
Rheinwein hat und ihn auch gebührend zu schätzen versteht.«

»Davon weiß ich nichts«, sagte ich eisig abwehrend. »Freiherr Lage hat
es jedenfalls gut mit dir gemeint. Und mit _mir_ auch«, setzte ich mit
einiger Betonung hinzu, die auch ihre Wirkung tat, denn Ohm Matthias
empfahl sich rasch. Als er über den Rasen schritt, sah ich aus seiner
Rocktasche einen großen Briefumschlag ragen, der eine atemberaubende
Ähnlichkeit mit gelbem Büttenpapier hatte. »Hat Freiherr Lage dir
nichts aufgetragen an mich?« rief ich ihm nach, heiser wie ein kranker
Vogel vor Erregung.

Er schlug sich vor die Stirn und drehte sofort um. »Der Clemens?
Natürlich! Natürlich! Seine ergebensten Empfehlungen und dieses
Handschreiben. Du mußt wissen, liebe Nichte, der Knabe Clemens ist
immer Grandseigneur, trotz Humpelbein und verkürztem Arm. Armen
Verwandten gegenüber natürlich Knote. Aber Standesgenossen in guter
Assiette halten ihn für vorbildlich.«

In mir regte sich eine tiefe Abneigung gegen den Schwätzer.

»Du hast an seinem Tisch gesessen, Ohm Matthias«, sagte ich streng.

»An seinem Tisch«, wiederholte er kläglich. »Leuteessen hat er mir
verabreicht. Und doch bin auch ich ein Freiherr Lage, und Clemens weiß
genau, daß ich russischen Kaviar höher schätze, als Reisbrei.«

Er schlurfte davon, und ich hielt mein Büttenpapier in der Hand und
löste den Umschlag nicht eher, als bis Ohm Matthias in die Hauspforte
eingetreten war. –

Ritter Lage schreibt: »Mancherlei Dinge sende ich in den grauen Alltag.
Gitti, die Leuchtende, wird sie sich verklären und mir besonders
über das _eine_ nicht zürnen, das Ohm Matthias benamset ist. Er soll
später ganz nach Holland übersiedeln … Vorläufig aber bitte ich die
Samariterin, sich noch eine Weile seiner anzunehmen. Karge Kost, viel
Arbeit und als Belohnung Sonntags ein Glas sauren Mosels. Also lautet
mein Rezept für ihn. – Ferner kommt ein Riesenkoffer, von dem Ohm
Matthias noch nichts ahnt. Er enthält eine vollständige Garderobe,
die Base Gitti ihm je nach Bedarf verabreichen soll. Ohm Matthias ist
immerhin ein Lage, und ich hoffe, daß der anständige äußere Mensch
Einfluß auf den innern gewinnt. Halten Sie aber jeden Handelsjuden von
ihm fern, denn unser Vetter neigt dazu, seine äußere, irdische Hülle
in Alkohol umzusetzen. Das Dritte wird durch einen Vertrauensmann an
Sie selbst abgegeben werden. Nicht jede ›Frawe von Lage‹ hat Freude
daran gehabt. Denn es ist ein ›strenges‹ Geschenk. Tief ernste Steine
sind es, und doch wird Ihr fröhliches Herz ihnen entgegenjubeln.
Topase können nur reine Frauen tragen, anders geartete lehnen sie ab.
Der Schmuck der Frawen von Lage hat 107 Jahre im Schranke eines alten
Schlosses in Holland geruht. Ich weiß, daß Sie seine Schönheit ganz
bewußt wieder auferstehen lassen werden. – Das vierte Päckchen …
Gittibase …, du Lichtchen von Lage, das gebe ich dir selbst, oder grabe
ihm im Lager Wald ein Grab. Der ist ohnehin ein rechter Friedhof für
das Glück der Lages. Behüt’ dich Gott!

            Clemens.«

Er gibt es mir selbst, oder …

Hinter dem »Oder« liegen die Kämpfe, liegt das Entsagen. Fast fürchte
ich, ich bin dem Glück weit weniger gewachsen, als dem Leid. Dieses
habe ich zur Genüge durchkostet, als die vier Augen sich für immer
schlossen, die meine ›heilige Kindheit‹ behüteten. Jenes aber birgt
für mich unfaßbare Möglichkeiten. Vor denen ich mich schier fürchte.
Und die ich doch herbeirufen möchte, weil ich sonnenhungrig und voll
Sehnsucht bin. –




32.


Pastor Oswald ist vorbildlich. Ich habe ihm heute wieder und wieder die
Hand geschüttelt, sein junges, feines, herbes Weib stand strahlenden
Blickes daneben. Er konnte seine Hochzeit innig froh begehen, denn
er hat das gestrige Fest, das wohl zu einem Pranger für Förster
Nordstamm werden konnte, durch Herzensgüte und Männlichkeit zu einem
Ehrentag umgewandelt. In aller Herrgottsfrühe ist er gestern zum
Schmied gegangen und hat ihm bedeutet, daß er seine liebe Kirche
nicht dazu hergäbe, ein Komödienhaus zu sein. Denn er wüßte, daß
die Weiber von drei Kirchspielen sich aufmachten, um Gese Tönnings
in gesegneten Umständen zu sehen, dazu als Vater und Großvater die
hochangesehenen Erbförster. Er gäbe also dem Schmied anheim, eine
stille Trauung in seinem oder des Försters Hause stattfinden zu lassen,
anders der Pfarrer die Trauung ablehne. – Wohl ist dem Schmied
der Zorn hochgekommen, daß seine Strafe an der Tochter nicht zur
Ausführung gelangen sollte, aber vielleicht gab er nach, weil er an
die aufregungslüsternen Dorfweiber denken mußte, die nun unbefriedigt
abziehen würden. So habe ich auch dieser Trauung beiwohnen können und
hörte eine liebe, warme kurze Ansprache meines Bruders Oswald.

Und heute war seine eigene Hochzeit, die auch eine Überraschung
bot. – Denn aus meinem Hause heraus holte sich der Pfarrer seine
Braut. Die Korb-Sina hat eine Feinfühligkeit bewiesen, die wir ihr
alle nicht zugetraut. Ganz heimlich, und doch wohlvorbereitet, hat
sie Dorf und Haus verlassen, um kein Ärgernis zu geben. Dadurch ist
die verachtete Frau eine Mahnung geworden für die selbstgerechte,
vornehme Mutter des Pfarrers, die sich nicht überwinden konnte, mit
der Korb-Sina an einem Tische zu sitzen, und deshalb in Hamburg
blieb am Ehrentag des Sohnes. Wie seltsam das alles! Wie verworren
die Ehrbegriffe in der Brust einer in Tradition versteinten Frau. So
übernahm ich die Rolle der Brautmutter, ließ Maria Dörping in den
grauen Alltag übersiedeln, um ihr das Erwachen im lichten Sonntag
des jungen Eheglückes doppelt sonnig zu gestalten. Ohm Matthias war
stellvertretender Brautvater. Ritter Lage hatte recht mit der Annahme,
daß der äußere Mensch den inneren stark beeinflußt. Ohm Matthias
war ganz Würde in den neuen Kleidern, und hätte er ein Vermögen zu
vergeben, so würde er dies heute Maria Dörping und ihren zukünftigen
Kindern vermacht haben. Auch um des schönen, dankbaren Lächelns
willen, mit dem die eltern- und verwandtenlose Braut ihn empfing,
um an seinem Arm in die Kirche zu schreiten. Wenn der Gotteshimmel
draußen sonnig über diesem Hochzeitstag strahlte und in Marias Herzen
seinen Abglanz fand, so sorgte der im Ruhestand lebende Pfarrer,
welcher die Traurede übernommen hatte, dafür, daß sie beide durch
Fegefeuer schritten. Der geharnischte Prediger erließ ihnen nichts.
Er selbst muß Erschreckliches in seiner längst durch den Tod gelösten
Ehe durchgemacht haben, sonst hätte er dem Paar nicht so erbarmungslos
die möglichen Schrecken und Schatten ihrer Zukunft vorführen können.
Über eine Stunde waren wir wirklich im grauen Alltag, und der Pastor
unterließ es, das kleinste Lichtstümpfchen anzuzünden. –

»Hu«, schüttelte sich Ohm Matthias, als er aus der Kirche trat.
Behauptete auch nachher kühn, der Trautext habe gelautet: »Heiraten ist
gut, Nichtheiraten ist besser.« Aber ich habe den Spruch gut behalten
und weiß, daß es die strenge Mahnung war: »Die Welt vergehet mit ihrer
Lust, wer aber den Willen Gottes tut, der bleibet in Ewigkeit.«


            Einige Tage später.

Heute weiß ich, daß wir alle vielleicht das Rechte taten, aber nicht
das Richtige für den grauen Alltag, für das Dorf. Ich spüre auf
Schritt und Tritt, daß ich an Vertrauen eingebüßt habe. Und bin zu
der Erkenntnis gelangt, daß ich wohl verwickelten Gedankengängen
gescheiter Menschen zu folgen vermag, daß ich aber der einfachen
Selbstverständlichkeit meiner Bauern noch wie ein Kind gegenüberstehe.
Wie sehr fehlt mir jetzt Ritter Lage. – Der Kluge würde wohl rechten
Rat reden. Unschätzbar waren seine gelben Büttenpapiere. Und ich
Törichte grub ihnen ein Grab im Lager Wald, anstatt die Worte lebendig
neben mir zu lassen, auf daß ich nachschlagen konnte.

Hätte ich es wohl für möglich gehalten, daß das Dorf die Korb-Sina
vermissen könne? Die man ihr ganzes Leben lang geschmäht und
verlästert? Jetzt gebärden sich die Leute, als sei das Wertvollste
verlorengegangen, und wir, der Pfarrer Oswald, seine Maria, ich und der
graue Alltag seien die Schuldigen. – Das verlassene Haus der Korb-Sina
ist immer von Neugierigen umlagert. Ich sehe dort täglich nach dem
Rechten, denn die Eigentümerin wird und muß ja wiederkommen. Wenn ich
mich nahe, weichen die Dörfler zurück und lassen mir freien Weg ins
Haus, zu dem ich die Schlüssel habe. Sie grüßen widerwillig, ich merke
es wohl, und es tut mir weh. –

Pastor Oswald sucht nach Marias Großmutter mit steter Emsigkeit, sie
ist wie vom Erdboden verschluckt. – Ich selbst bin etwas ruhelos
geworden, seit mir Klein Erika fehlt. Auf Pastor Oswalds Rat habe
ich das Kind seinem Vater hingebracht und bekam strahlende Freude
zum Lohn. Fand auch wirklich das Glück in der Erbförsterei. Gese
Nordstamm, geborene Tönnings nimmt sich rührend des Kindes, wie auch
des Großvaters an, der mit nimmermüder Sorgfalt beim Wiegenzimmern ist.
Und leuchtende Farbtöpfe stehen bereit, um die Rosen und Tulipanen
der älteren Wiege, darinnen Klein Erika ruht, noch zu übertreffen.
Wenn das Kind geboren ist, hoffe ich, daß auch Schmied Tönnings das
Forsthaus betreten und das gleiche seiner Frau erlauben wird. – Für
diese sturren Trotzköpfe sind es nur leere Formeln, was die Kirche
tut. In ihrem eigenen Innern haben sie sich Gesetze aufgerichtet, die
sie bis zur Selbstvernichtung befolgen. Auch Schmied Tönnings ist mein
Widersacher geworden, der mir nachträgt, daß Pastor Oswald ihn zwang,
gut und verzeihend zu _scheinen_. Ich sitze ganz untenan auf unseres
Herrgotts Schulbank und lerne.

Er möge erfüllen, daß einmal die Letzten die Ersten sein werden.

       *       *       *       *       *

Baron Ellers hat sich erschossen. Auf der Grenze zwischen seinem Gut
und dem Lager Wald hat man ihn gefunden. Ich hörte die Nachricht
durch meinen Gärtner, und heute hat es mir Frau von Heidkamp in einem
längeren Schreiben bestätigt. Ich darf mich mit dem Gedanken nicht
aufhalten, daß mein ererbtes Geld diesen Leichtsinnigen vielleicht dem
Leben erhalten hätte. Ich muß, bis ich fester in eigenen Erfahrungen
wurzle, meines Vaters Leben und Gedanken als Richtschnur behalten,
damit ich nicht fehlgehe: er, dessen Grundton verstehende und
verzeihende Liebe war, verachtete die Spieler …

Herr und Frau von Heidkamp bitten mich, sie nicht nur als Nachbarn,
sondern als Freunde zu betrachten.

Das will ich auch tun.

Diese beiden Lebenskameraden gehen recht Hand in Hand. Sie haben das
Leid in mancher Form kennengelernt. Eine schöne, liebenswerte Tochter
ist ihnen gestorben, ein leichtsinniger Sohn lebt, schafft ihnen
Kümmernisse und läßt sie um das Bestehen ihres Gutes bangen. Wir
wollen feste Tage ansetzen, an denen wir zusammenkommen. Für großen
Verkehr fehlt mir jegliche Veranlagung und die Zeit. Auch ist mir mein
Lebensplan ja vorgezeichnet …

»Das vierte Päckchen, Gitti, gebe ich dir entweder selbst, oder ich
grabe ihm im Lager Wald ein Grab …«

Nun muß ich warten, worin das vierte Päckchen besteht.

Ich falte meine Hände. –




33.


Der Schmuck der Frawen von Lage ist köstlich, und wahrlich, mein Herz
hat ihm entgegengejubelt und lacht noch heute. Und doch sind es die
ernstesten Steine, denen ich je begegnete.

Sie lasten nicht schwer, ich kann den Kopf auch unter dem Topasendiadem
hoch halten. Und doch haben sie Zwingendes an sich. Die Sinnbilder der
Reinheit mahnen: »Wir sind dein, du bist unsere Erbin. Erwirb uns, um
uns zu besitzen.«

Jeder Topas ist von einem feinen Strahlenkranz kleiner Brillanten
umgeben. Nie habe ich sonst diese Zusammensetzung gesehen. Nur ein
Ringlein fehlt bei dem Schmuck. Die beiliegende Urkunde besagt, daß die
Topase vor 107 Jahren ihre Besitzerin im Tode und im Sarge geschmückt
haben. Vielleicht ist der Ring an der Hand der Toten geblieben, – sie
ruhe in Frieden. Den anspruchslosesten Teil des Schmuckes, die Brosche,
habe ich mir zurückbehalten und trage sie täglich. Das Halsband will
ich zu einem weißen Tuchkleid anlegen an dem Tage, da Ritter Lage mir
wiederkehrt. Denn wiederkehren muß er ja …

Und wird mein Haus und Heim betreten …

Und wird mir das Glück bringen, oder das Entsagen … Wenn das Glück
geschritten kommt, dann trage ich das Diadem, – – den Brautschmuck
der Frawen von Lage.

Hilf Gott, – dieser Gedanke macht trunken …


            Einige Tage später.

Mit einem Schlage bin ich sehr klug und weise geworden. – Heute
erging ich mich im Lager Wald. Freilich mied ich den Märchenwald und
die Clemenskapelle, umging ängstlich die schmale Wegspur, die zwischen
Stechpalmen und Farnen nach dem Tempel führt. Ein Knacken seitwärts
im dürren Unterholz schreckte mich auf, und da sah ich die Korb-Sina,
die ihre große, blaue Schürze mit Tannenzapfen füllte. Ich verhielt
meinen Schritt, die Entdeckung war mir wertvoll, und ich wollte sehen,
wohin sie sich wenden würde. Sie drehte mir den Rücken zu, mochte aber
plötzlich fühlen, daß sie nicht allein sei, denn ein rauher Ton kam
aus ihrer Kehle. Fast wie ein Aufschluchzen. Dann kollerten die vielen
Tannenzapfen zur Erde, und unbekümmert durch das sie hemmende Unterholz
stürmte sie auf mich zu. – Breit grinsend, laut auflachend und mit
dem Ungestüm eines Kindes dann wieder weinend, so stand die alte Frau
endlich vor mir. »Ist sie glücklich?« stieß sie hervor. »Ist der Pastor
gut zu meiner Maria?«

Das war die einzige Sorge der verachteten Korb-Sina …

Wir standen Hand in Hand im Lager Wald, mich zog etwas zu der alten,
wilden Frau, das ich nicht mit Namen nennen kann. Dann erzählte ich
ihr von Marias Ehrentag, von unserm Suchen nach Korb-Sina selbst, und
riet ihr, ruhig wieder ins Dorf zu ziehen, die Lager würden sie besser
aufnehmen als selbst mich, ihre Patronin. »Die Lager?« rief die Alte
verächtlich. »Die kenne ich. Die schreien heute ›Hosianna‹ und morgen
›Kreuzige‹. Die sind noch so, wie man vor tausend und mehr Jahren war.
Nein, ich bin gut aufgehoben, und wenn die Baronin nur nachsehen will,
daß man mir nichts stiehlt, oder das Haus anzündet, dann hab’ ich keine
Not.«

»Wo steckst du, Sina?« fragte ich leise; denn wenn man diese Waldhexe
ansah, konnte man nur ein böses Geheimnis hinter ihr vermuten. Aber
sie erzählte ganz offen, daß sie am Tage ihrer Flucht nicht gewußt
habe, wo sie ihr Haupt hinlegen solle. Nur der eine Gedanke habe sie
umgetrieben, daß sie selbst ein Schandfleck auf Marias weißem Kleide
sei, und daß es am besten wäre, wenn sie im Walde stürbe. Aber da habe
sie plötzlich ein großer Hund aufgestöbert, und dem Hunde sei der Herr
gefolgt, der »verrückte, lahme Holländer«.

»Warum nennst du ihn verrückt?« fragte ich zornig und rasch.

»Weil er’s ist«, sagte sie ruhig. – »Wenn jemand Schlösser und Häuser
die Menge hat, dazu ein irrsinnig Weib seit 20 Jahren, und er vergräbt
sich diese 20 Jahre in den grauen Alltag, um seinen blöden Sohn zu
pflegen, dann ist er verrückt. Und sucht er keinen Umgang als die
schrullige Jungfer Jesuliebe, Gott hab’ sie selig, dann ist er wiederum
verrückt.« Sie lachte widerlich. »Früher, als ich noch jünger war,
hätte er mich nicht mit der Feuerzange angerührt, aber dazu war ich
ihm gut genug, sein Zimmer im grauen Alltag in Ordnung zu bringen. Die
alte Eva durfte beileibe nicht merken, daß er da hauste. Hei, wie die
mich verachtete, wenn sie mal ins Dorf kam! Und ahnte nicht, daß ich
jeden Morgen durch den unterirdischen Gang ›in’t Lager Huus‹ schlüpfte.
Und in der Horchbucht vernahm, was sie sich drinnen mit der Herrschaft
erzählte.«

»Warum betreute ihn die alte Eva nicht selbst?« fragte ich befremdet.

»’s war ’ne Marotte vom Herrn Baron«, war die Antwort. »Die Eva ist
gern mit dem alten Herrn Pfarrer zusammen, und dann läuft ihr der
Mund und das Herz fort. Von mir aber wußte der Herr Baron, daß ich
das verfemteste Weib im ganzen Dorf war und mit niemand zusammenkam.
Und grad so was Heimliches, das hat mich immer gelockt«, schloß sie
krächzend.

»Aber nun ist da doch nichts Heimliches mehr«, sagte ich ungeduldig.

»Nein, nicht viel mehr. Als die Baronin Jesuliebe starb und kurz
darauf Baronin Brigitte einzogen, da war der Herr Baron unstet und
zerfahren und fand, daß alles ein Unfug sei, und hat mich meines
Dienstes entbunden. Von da ab gab er sich der Eva zu erkennen.« Sie
lachte grell. »Ich wäre wohl überhaupt nie in sein Versteck gekommen,
hätte er gewußt, daß ich vor dreißig und mehr Jahren durch den
unterirdischen Gang zu seinem Vater schlüpfte … da trug Junker Clemens
noch kurze Höschen …«

»Schweig!« rief ich außer mir.

Die Korb-Sina hob abwehrend ihre Hand. »›Schweig!‹ So schreit man
einen bellenden Hund an. Vielleicht bin ich einer. Aber Sie, Baronin
Brigitte, sind noch wie ein Kind. Und Sie kennen die Liebe nicht und
wissen nicht, wie sie einen packen und unterkriegen kann, also daß man
auf Ehre und Zucht vergißt. – Nur fleißig beten, Baronin Brigitte, daß
der Geist willig bleibt und das Fleisch stark … Die Liebe kümmert’s
nicht, ob sie einfährt in Vornehme oder Geringe, in Gebundene oder
Freie …«

Wie eine Sibylle stand sie da.

Ich hielt eine Birke umklammert, und mir war’s, als schlüge mich die
alte Frau.

Sie wendete ihr runenreiches Antlitz mir zu, aus dem die schwarzen
Augen noch jugendlich funkelten. »Die Fräulein Baronin können mich
auch nicht mehr niederdrücken oder beleidigen«, sagte sie ruhig. »Denn
der aufrechte Herr Pastor Oswald ist mein Enkel geworden, und der Herr
Baron von Lage hat meine Hand in seine genommen. Und hat mir gesagt,
als ich ihm von meiner Flucht erzählte, daß meine Gesinnung ehrenhaft
sei …«

Sie schritt durch den Wald, und es war, als sei ihr krummer Rücken mit
einem Male geradegeworden. Und als gliche sie der aufrechten, herben
Enkelin Maria. –




34.


Ich höre nichts vom Ritter Lage. – Jeden Morgen schaue ich nach
dem Hause der Korb-Sina und nehme den Staub von den Möbeln des noch
hochzeitlich aufgerüsteten Stübchens. Es ist, als ob ich damit den
Staub vom Namen der Korb-Sina nähme. Zünd an, Brigitte! Immer mehr
lerne ich das Wort verstehen. –

Ich denke nicht an Liebe, ich denke nur an Arbeit.

Und wenn mein Puls einmal rascher schlägt, dann ist’s das Wohl meiner
Dörfler, was mich bewegt, ist’s die werktätige Nächstenliebe, die mich
durchströmt. Die Dörfler meiden mich noch. –

Ich will und muß sie mir zurückerobern. Der Gedanke, daß ich irgendeine
Pflicht verabsäumte, drückt mich sehr.

Mein Herz möcht’ ich aus der Brust nehmen und es ihnen entgegentragen.
– Gottlob, daß ich die Dorfkinder wenigstens mein eigen nennen kann.
Durch ihre Herzen hindurch werde ich den Weg wieder zu den Großen
finden.

[Illustration]

Die Kleinen begrüßen mich mit Hallo, wo sie mich sehen, und betteln
um »Geschichtens«. Die gebe ich ihnen bereitwillig, wenn mich so ein
ganzes Trüppchen nach entfernteren Katen begleitet. Das darf aber
auch nicht zu oft geschehen, weil in einigen Häusern die Kinder schon
rechte Hilfen sein müssen, oft bei schweren Arbeiten. Das möchte ich
alles noch ändern. Möchte die Dorfkinder als ranke, schlanke Bäumchen
heranwachsen sehen, nicht als krumme Zwerglein mit gewölbtem Rücken
und schiefen Beinchen, wie sie jetzt in dreifacher Auflage neben
mir her humpeln. Und die kleinen Mädchen mit schweren Verhebungen,
die vernachlässigt worden sind und sie nun von jeder Lebensfreude
ausschließen. Ich begegne da oft bei den Eltern einem erschreckenden
Stumpfsinn. »Krumme Bäume hat Gott auch lieb«, sagte mir gestern eine
Mutter. Mit diesem Gemeinplatz tröstet sie sich, daß ihr Kleiner,
während sie »zu Tanz ging«, einst aus dem Bettchen fiel. –

Pieter Dinkel ist ein interessanter Junge. Weit über seine 8 Jahre
hinaus geistig gewachsen. Dafür körperlich um so jämmerlicher
zurückgeblieben. Seine Augen sehen mich immer so ergründend an, und ich
helle mein Gesicht bewußt auf, wenn ich mit ihm spreche. Sobald er viel
gute Liebe und Verständnis spürt – und wann gäbe ich die ihm nicht –,
so wird auch sein gescheites Gesichtchen licht, und er plaudert recht
und gibt seine Schätze her wie ein aufgeschlossenes Schatullchen. –

Gestern war unser Donnerstag, der Märchennachmittag, der von den
Kindern ebenso glühend herbeigewünscht wird wie von mir. Da bin ich
Kind unter Kindern. Andersens Märchen von den Störchen entzückten uns
alle, ich habe ja nicht nur zuhörende Kinder, sondern auch ein paar von
den Ältesten des Dorfes darunter. Denen bietet die Wirklichkeit nichts
mehr, und sie flüchten sich deshalb in das Kinderland, das ihren 80
und 90 Jahren wieder nahe liegt. – Pieter Dinkel war eifrig um meine
Aufklärung bemüht. »Du … dat mit’n Storch is ni wohr!« sagte er mir
gestern, und ein großer Teil der Rotte Korah stand ihm eifrig bei.
»Morgen fröh will ik di dat vertellen, wie dat is …«

Aber als wir uns heute morgen trafen, um große Äpfelmengen aus meinem
Obstgarten in die Katen zu bringen, was immer einen Freudentag
bedeutet, da stellten sich auf der Wiese all die kleinen Neunmalklugen
vor Storch und Störchin hin, die auf der Wiese stolz einherstelzten,
und sangen mit schallender Stimme: »Storch, Storch, Bester! bring’ mi
’ne lüttje Swester.« Und Pieter Dinkel war der Vorsänger. –

Und über all der Märchenpoesie vergaßen die Kinder, mir klarzumachen:
»wie dat würklich is«.

Ehe sich die Störche zum Fernflug rüsten, haben sie das Lehrerhaus
noch mit Zwillingen bedacht. Frau Mien weinte, als ich heute bei ihr
war; sie meinte, es sei des Segens zu viel. Da tat mir des Lehrers
strahlendes Gesicht recht wohl, der ein wahrer Kindervater ist. »Alle
neune!« rief er mir entgegen, recht wie ein vergnügter Kegelbruder,
während er vorsichtig ein rosa und ein blaues Bändchen um die winzigen
Handgelenke der Neugebornen knüpfte. Nun wissen wir, wer Lina und
wer Stina ist. – Natürlich bin ich Patin von den Zwillingen. Mit
warmen Worten trug man mir dies Ehrenamt an, und ich will es mit der
Gewissenhaftigkeit versehen, wie es in meiner Thüringer Heimat noch
Sitte ist. –


            Am Tage darauf.

Heute tat ich einen seltsamen Fund. –

Er paßte so gut zu dem herbstlichen Wetter, das plötzlich eingesetzt
hat und mich nach prasselndem Kaminfeuer verlangen ließ. Und dabei war
mir, als ob Ritter Lage sich ganz in meine Gedankengänge hineinversetzt
hätte. Das ist natürlich eine lächerliche Annahme. Aber ich schaffe
mir solche Lichtchen in den grauen Alltag. – Als ich gestern anfing
zu frieren, dachte ich an Ohm Matthias, der mir in einem hellgrauen,
leichten Röckchen herumgeistert, von dem er behauptet, es stände ihm
besonders gut. Ich aber hielt den dicken, dunklen Flauschrock, der sich
in dem Riesenkoffer vorfand, seinem rheumatischen Adam für angemessener
und holte das warme Kleidungsstück herbei. In die Brusttasche wollte
ich ein reines Seidentuch stecken, denn Ohm Matthias ist Schnupfer.
Und ich bin doch dem Ritter Lage für die Sauberkeit der gespendeten
Sachen mit verantwortlich. Da entdeckte ich ein Buch in der Brusttasche
… Es ist ja unmöglich, daß der Flauschrock 150 Jahre alt sein kann,
also daß der Schreiber selbst das Buch darinnen vergessen hätte. –
So sendet es mir also Ritter Lage in meine Einsamkeit und wünscht,
daß ich mich immer weiter in der Familiengeschichte vervollkommne.
(Siehe oben.) Bin ich mit dem Studium fertig, so füge ich das schlanke
Büchlein dem ehrenfesten Folianten ein, damit meine Nachfahren nicht so
lange wie ich im Dunkel herumzutappen brauchen.




35.


            Lager Huus, 12. November 1762.

Ich, Freiherr Thassilo von Lage bin hier seßhaft worden an der
holländischen Grenze in’t Lager Huus. Das ist ein verflucht altes
Gerümpel. Da möcht’ ich schier lieber noch mit meinem gnädigsten Herren
dem alten Fritzen kampieren. Im Zelt, durch das der Regen surrt. Und
mich mit den Podagraknochen herumschleppen in Dreck und Jammer wie
bei Kollin, und dann wieder brüllen vor Freude wie bei Leuthen: »_Nun
danket Alle Gott!_« Das waren noch Zeiten! Nun soll ich hier fest
sitzen auf eigenem Mist und alle Morgen krähen. ~Mille tonnerres.~
Solches war nicht wohl getan von der Mynheersippen mich alten Haudegen
erben zu lassen.

Ich dachte lieber wie jener alte Tscherkessenfürst, dem sein
Panzerhemde, sein Haß und seine Freiheit unverkäuflich waren. –

Ja, hätt ich mein jung, schön Weyb noch, da sollts wohl ein Wonnen
ohngleichen sein in dieser Einsamkeit zu hausen. Und es hätte ein
weites Revier in der grenzenlosen braunen Heide gehabt, um sich
schelmisch vor mir zu verbergen. Wär aber heuer auch nicht mehr so
behend wie dazumal, – als ichs hergeben mußt an den Sensenmann. – Hol
ihn dieser und jener!!!

Als ichs meinem allergnädigsten Herren gehorsamst vermeldete, was ich
für ein Erbe getan, fluchte der alte Fritz nicht wie ein Stadtsoldat?
~Mille tonnerres!~ Und schlug er sich nicht auf die Schenkel und
lachte, daß ihm der Odem fortblieb? Und schrie er mich nicht an?:
»Baron Lage, ich rat Ihm, gewöhn’ Er sich das Saufen an, denn vor
schöne Weiber ist Er zu häßlich und hat auch nicht die ~mériten~ dazu.
Aber das Saufen allein kann Ihn retten, daß Ihn nicht der ††† holt in
dem _grauen Alltag_ da unten an der holländisch Grenz’. Sauf Er Lage,
sauf Er feste!«

Und hat mein allergnädigster Herr nicht somit das Wort geprägt wie eine
Münz’? _Grauer Alltag!_ Dabei solls bleiben!

[Illustration]

Grauer Alltag! Das paßt auf dieses ganze Klima. Paßt auf den dusteren
Wolkenhimmel. Paßt auf die Ödweiligkeit des Dorfes und auf meine
eigene. – Hab ja auch noch Kunersdorf zu verdauen gehabt. ~Mille
tonnerres!~ Kriegsglück ist wandelbar. Habe mich und mein Leid und
den gachen Zorn über die Misere vergraben in den »dorischen Tempel«.
Der liegt just an der Grenze von Holland und Hannover. (Preußen?)
Man kann auf zweierlei Art diese Grenz überschreiten. Entweder man
läßt sich durch Stechpalmreiser zermürmeln und zerschinden, oder man
schleicht lautlos die steinern Stiege hinunter und kriecht durch den
unterirdischen Gang in’t Lager Huus, ~Mille tonnerres~. Waren also
auch Füchse und Filus, die Lages. Denn ein ehrenhafter Kerl braucht
keine unterirdischen Gänge. Und das Lager Huus ist nie ernsthaft
belagert worden, also daß man hätt flüchten müssen auf heimlichem Wege
in den Lager Forst. – Hoffe nun auf Den da Oben, daß es nun bald
Frieden geben wird zwischen König und Kaiserin. Zuschauer sein mit
einem dauerhaften Granatsplitter im rechten Arm und dem Zipperlein in
beiden Beinen, das ist nichts forn alten Haudegen. _Grauer Alltag!_
Ich wollt, ich könnt Schloß und Dorf zum Taufstein tragen und der
Pastor müßt sein Sprüchlein hersagen, damit es fest sei für Kind und
Kindeskind. Und der große Fritz, mein allergnädigster Herr wäre Pate
for das langweilige, dustre Kind. – _Grauer Alltag!_ Der Nam macht mir
ordentlich Spaß. ’S ist aber der einzige Spaß hier. Mein Kriegskamerad,
der Baron Ellers hat auch geerbt. Eine propre Klitsche in meiner
Nachbarschaft. Ob er sie halten wird? Die Ellers sind alle Jeuratten.
Irgend eine Passion muß man hier freilich haben. Ists kein sauberes,
eigen angetrautes Weyblein, so hat Einen der ††† gleich beim Kanthaken.
Die Ellers retten sich immer knapp vor der Pistolenkugel durch eine
reiche Heirat. Hat sich der Kumpan so ’ne verflucht dröge Jungfer
rangeheiratet. Drög, aber reich. – Und er könnte nun Dukatenmännchen
spielen … Tuts aber nicht. – Weil Schwiegermutter und Eheweyb ihre
mageren Arme um die Geldsäcke schmiegen, wenn da überhaupt von
»schmiegen« die Rede sein kann. ~Mille tonnerres!~ Nun lebt Ellers von
seinem Humor. Hat die beiden Weyber in seinem Schloß gelassen, und er
selbst hat sich ein klein Häusgen aufgebaut im Park, das nennet er nun
das »bessere Jenseits«. Steckt ein grimmer Humor drin. –

Ich aber will doch lieber den grauen Alltag auf dem Halse haben und
frei sein, als das bessere Jenseits schon auf Erden besitzen und in
Schußweite eine böse Schwiegermutter und ein mageres Weyb …


            Im Dezember 1764.

So ’ne urkundlich verbriefte und versprochene Schreiberei über meines
Lebens Läufte, die immerhin für Andere langstielig ist, bildet eine
höxt unangenehme Beigabe für ’n alten Officier. Ist das Einzige, das
ich dem großen Fritzen, meinem König und Herrn ungern nachmache.
Hab mir deshalb auch das dünnste Büchlein herausgeholt aus all den
Schweinsledernen, in welche die Lager Sippe ihre Bekenntnisse pflanzen
soll. So hat es Joochen Lage, der Urahn bestimmt. – Hat gleich eine
ganze Zunft, die der Buchbinder, in Nahrung gesetzt. Sind ehrenfeste
Folianten drunter von der Dicke eines Meßbuches. Gott bewahr die
Lages, daß das alte Haus mal ’n Schriftsteller gebiert. Und noch
dreidoppelt die, so dann Alles lesen müssen, was der über die Lagen
zusammenschmieret. Ich lob mir dies schlanke, dünne Formatlein.

Heut kam ein reitender Bote herüber von Holland. Der Vetter Clemens,
gleichaltrig mit mir und verheiratet mit der Gräfin ~Frenswegen~ zeigt
mir wieder die Geburt eines Sohnes an. Bittet um die Ehre meiner
Patenschaft. Soll er haben. Ist aber von seiner Seit nicht viel Ehr zu
holen und von meiner keine Freude. Wird wohl wieder ’n Kröpelbub sein,
oder sonst was Schadhaftes. Das geht nun so durch Generationen. Aber
keiner der Mynheers hat die Selbstzucht eigenem Glück Valet zu geben
und einsam zu bleiben. Immer wieder wird geheiratet und noch dazu beide
Augen zugedrückt bei der Wahl der Gattin. – Ich alter Kavallerist
bin auf die Freite wie zum Pferdekauf gegangen. Habs nie bereut. Ein
kerngesund Weib ist ’ne Gottesgabe. Da mußte der Herrgott bei mir schon
mit Knüppeln dreinschlagen und die schwere Seuchen schicken, auf daß
meine Herztraute überhaupt mal umwarf, und zum Liegen kam. Und nicht
wieder aufstand … Hatten einen Sohn. Wie ein Apfelbaum war er, in
voller Blust. Und rank und schlank, breitschultrig, groß, ein echter
deutscher Lage. Zog mit mir ins Feld, fiel bei Kollin. Herrgott du
weißt es, – bin seitdem noch nicht wieder ganz auf Du und Du mit Dir.
Ob ich wohl noch vor meinem eigenen Ende den tieferen Sinn der Weisheit
kennen lerne: »wen Gott lieb hat, den züchtigt Er?« Hab bis jetzt
immer gedacht: Ei, so soll Er mich weniger lieb haben und Andere feste
zwiebeln, die mehr auf dem Kerbholz führen, als ich. –

Bin nun ein einsamer Krabauter geworden.

Aber besser einsam, als ’n Drachen im Hause haben und des Teufels
Großmutter noch als Dreingab, wie der Ellers. Und dreimal besser als
ein elender Krüppel, der seinem Vater ewig lebendige Anklage darstellt,
ist ein ranker, schlanker Bub tief in der Erde von Kollin.

»Kein seliger Tod ist in der Welt, Als wer vorm Feind erschlagen!« …

       *       *       *       *       *

Brigitte schreibt:

            Haus Lage, im Oktober.

Das Büchlein von dem alten Haudegen will mich gar nicht loslassen. Ich
füge es jetzt in den ehrenfesten Folianten ein. Wie traurig klingt
die Mär von den krüppelhaften Lages! In unserer deutschen Sippe ist
kein Fehl, noch äußerer Tadel. Kraftvoll recken wir unsere Glieder
jedem neuen Tage entgegen, und ich will jeden Morgen aufs neue dafür
danken. –

Ich habe mich immer gescheut, das Gebrechen des Ritters Lage
eingehender zu beschauen. Den verkürzten Arm, die kraftlose Hand, den
schwer nachschleppenden Fuß …

Meinte immer, er müsse den Blick fühlen wie eine bohrende Nadel und
mein frauenhaftes Mitleid wie eine Kränkung. Aber die Gebrechen
bedeuteten mir nichts Schweres. Erst jenes Büchlein brachte mir
schweres Nachsinnen, macht mich unfrei und schafft mir Wirrnis …

Doch meine ich, wo so viel starke Geistigkeit spricht, da ist die Hülle
des Körpers nur ein Schatten, der ohnedies von seines Herzens Glanz
durchleuchtet wird.

Ob dem Ritter Lage die Kette, die ihm mit dem irren Weib angeschmiedet
war, nicht lastender dünkte, als der eigene körperliche Schaden? Aber
vielleicht denkt darüber ein Mann anders, als ein Weib. Er will immer
sieghaft dastehen. Die Frau will nur lieben. Liebt auch Gebrechen,
Narben und Wunden … Meint gar, sie heilen zu können, was Jahrzehnten
nicht gelang. Nur durch die Liebe, die nach den Worten des Heilandes
Berge versetzt. –

Ei, Brigitte, wie würde Ritter Lage spotten, wenn er deine Philosophie
lesen könnte! Wie würde es gelbe Büttenpapiere regnen! Oh, daß ich
sie jetzt hätte! Oder erwarten könnte! Daß ich so gar nichts von ihm
höre! –

Aber Eva weiß von ihm, – ich vermag jetzt auch von ihrem
verschlossenen Antlitz zu lesen. Hie und da steht und geht sie sinnend
und schaut mich an, lange und immer schweigend. Dann kommen Tage, wo
sie im Hause rumort, unwirsch zu jedem ist und nur mich mit einer
Weichheit behandelt, als täten mir alle übrigen das gebrannte Herzeleid
an. Dann wieder strahlt jedes Runzelchen ihres alten Gesichtes, sie
spricht mit sich selbst und stößt merkwürdige Töne aus, die halb
Schluchzen, halb Lachen sind. Und dann flieht sie vor mir, wohl aus
Angst, sie könnte in ihrer inneren Freude herausplaudern, was mir
verborgen sein soll. Dieses Erratenmüssen ist für mich anregend und
anstrengend zugleich, – oft kommt eine müde Traurigkeit über mich. –

Meine Spaziergänge in die Heide sind freudlos.

Die braunen Dolden atmen Schwermut. Die Wacholder stehen stachlig und
herb als strenge Wächter am Heiderand, und die Ginsterbüsche sind kahle
Sträuche, die ihre schmalen, mageren Ärmchen strecken, wie Kinder, die
um Brot betteln.

Auch ich strecke meine Hände. Auch ich bin in Not. Meine Seele dürstet
und hungert nach Sonne. Ritter Lage, hörst du mich?




36.


Gese Nordstamm, geborene Tönnings hat ein Kind geboren. Aber es ist
noch in der gleichen Nacht gestorben. Die Aufregungen, die Unrast,
ihre Unbeherrschtheit und Sorglosigkeit haben wohl doch dem Ungeborenen
geschadet. Es war nicht lebensfähig. Förster Nordstamm hat die winzigen
vier Bretter und zwei Brettchen mit dem jämmerlichen Inhalt auf den
Friedhof getragen und ihn zu seiner ersten Frau gebettet. Man muß
abwarten, ob aus dem kleinen Sarge Segen kommen wird. Ob sich Gese nun
zu einer rechten Mutter für Klein Erika wandelt. Die Schmiedsleute
scheinen einer großen Last ledig zu sein, da das anstößige Steinchen
aus ihrem Wege gewichen ist. Die Mutter sitzt bei Gese und pflegt
sie, und der Schmied geht rauchend und redend mit dem Schwiegersohn
umher und hat Klein Erika einen ungeheuren Ball mitgebracht als
Ersatz für das Brüderchen. Ich aber sinne, ob all dieses Geschehen
schon ausreichen soll, meinen Tag zu füllen. Gegenüber meiner starken
Gesundheit und Kraft, die sich in großem auswirken möchte, dünkt mich
alles rings um mich her nur Kleinkram. In den lustigen Sachen, die das
Dorf mir auch wohl bringt, steckt kein Gran Humor, und das Traurige hat
keine eigentliche Tragik. Alles ist Oberfläche. – Ich aber glaubte,
die Mission der Tiefe zu haben. –

Mit Pastor Oswald komme ich wenig zusammen. Ist sein neues Leben,
vereint mit der herben Maria, noch zu überwältigend für ihn? Drückt
ihn der Kummer um die Unversöhnlichkeit seiner Mutter? Erlebt er
Enttäuschungen? Ich habe das Gefühl, als meide er mich bewußt und lasse
lieber einmal unrichtigen Sachen ihren Lauf, als daß er in Haus Lage
eintritt, um alles mit mir, seiner Patronin, zu besprechen.

Vielleicht aber treibt meine Phantasie besondere Wucherblüten, weil ich
so einsam bin. Über mein Haus, meinen Park, über den Obstgarten und
seine überreiche Ernte schreibe ich nichts in den ehrenfesten Folianten
hinein. Meine Nachfahren sollen mit ihren leiblichen Augen sehen, daß
ich alles Ererbte wirklich besaß, weil ich es in heißer Arbeit erwarb.
– Um die zehnte Abendstunde, wenn ich mein Personal um mich versammelt
und mit ihm gemeinsam gesungen, gebetet und den Abendsegen gesprochen
habe, dann setze ich mich zum Folianten und halte Zwiesprache mit
ihm. Er ist ein fester Bestand von Haus Lage, das mich ja selbst mit
eisernen Klammern festhält, wie die bronzenen Klammern den schweren
Ledereinband um das ungefüge Papier, auf das ich meine Eintragungen
bringe. – Dann aber begebe ich mich zur Ruhe und schlafe immer
schnell und gesund ein, also daß ich mein Tagewerk frisch in frühester
Morgenstunde beginnen kann. Es ist gut, daß ich mit der eigentlichen
Landwirtschaft nichts zu tun habe, wie würde meine Unwissenheit auf
diesem Gebiete hemmend wirken. Der ganze Betrieb liegt in den Händen
von Ritter Lage und seines Administrators, aber entfernt von Lage, auf
holländischem Gebiet. Ich beziehe alles Nötige zu Tagespreisen von dem
Gute, und meine Küche betreut mein Hausmeister Ludwig im Verein mit dem
Schlachter und dem Kolonialwarenhändler des Dorfes. Ich selbst würde
noch viel einfacher leben, wenn nicht Ohm Matthias und Tante Fernande
eine reiche Tafel liebten. Doch schränke ich alles so weit ein, daß
man unseren Tisch nur als »herrschaftlich«, nicht als reich oder üppig
bezeichnen kann. – Einen Todesfall hat mein Dorf seit gestern wieder
zu verzeichnen, ich sage nicht Verlust. Denn es war der widerliche
Säufer aus der letzten Kate meines Besitzes, der einem bösen Fall zum
Opfer wurde. Und ich stehe nun vor der Aufgabe, diesen Augiasstall zu
reinigen, sobald der Tote unter der Erde ist. –

Und wieder bin ich vor einem Rätsel, sinne, grüble und – lerne. Dieses
schwarze Schaf ist mit nimmermüder Liebe geliebt worden. Vom ersten
Sehen an war die Frau ihm verfallen und ist ihm in die üble Kate
gefolgt, hat ihm die Kinder geboren über ihr körperliches Vermögen, ist
siech und elend geworden und hat ihn geliebt. Hat ihn gepflegt und für
ihn gesorgt, bis sie selbst aufs Krankenlager kam; hat sich peinigen,
treten und schlagen lassen – und hat ihn geliebt. Nie hat sie ihm
eines der unflätigen Worte zurückgegeben, mit denen er um sich warf,
nie ist sie zornig geworden. Eine eigene Art hatte sie, ihn anzusehen,
und dieser Blick sagte: »Wenn du da unten herumkriechen willst, – mich
bringst du nimmer hinunter.« »Vielleicht war dieser hochmütige Blick
ein Unrecht, das ich jahrelang an ihm beging,« – so klagte mir heute
das arme Weib, das nicht einmal aufatmet in dem Gedanken, nun endlich
Ruhe vor ihm zu haben. –

Sie hat sich aus dem Bett geschleppt, näht mit rotgeweinten entzündeten
Augen Trauersachen zurecht und kühlt zwischendurch noch die Wunden, die
ihr seine Peitsche schlug.

Frauenliebe! Nie ausgesungenes Wort. –

Wer wie ich in einer so märchenhaften Kinderstube aufwuchs, wem
hochstehende, feinsinnige Eltern Lebenskameraden waren, der findet sich
schwer in einer brutalen Welt zurecht. Man dünkt sich oft ein Ei ohne
Schale. Aber ich habe mich in all dieser Zeit schon gestrafft, und eine
festere Schale wird noch wachsen. Auch die innerlichen, unsichtbaren
feinen Flügel, mit denen man sich erheben kann, wenn andere meinen, man
kröche mit ihnen … Zünd an, Brigitte! Auch in dir selbst. Auf daß du
nicht zum Pharisäer werdest! – –

Ohm Matthias hat eine Reise angetreten. Ich mußte ihm wohl oder übel
einen ganz neuen Anzug in sein Köfferchen legen und gab ihm auch das
nötige Kleingeld. Er will nach Paderborn fahren, um seine Papiere in
Ordnung zu bringen, sagte er mir, und fügte hinzu, Ritter Lage habe es
für sehr unordentlich erachtet, daß er jetzt noch immer nicht mit allen
nötigen Ausweisen versehen sei. Das bewog mich natürlich besonders,
seinen Reisegelüsten nachzugeben. Aber Ohm Matthias ist wie ein Kind.
Ich fürchte, er rächt sich in der Stadt für alles, was wir ihm hier
vorenthalten. Und ist doch längst nicht mehr kräftig genug, um auf
seinen Körper loszuwirtschaften. So ist er nun abgezogen, ganz »feiner
Hund«, wie er Tante Fernande zurief, und sie sah wie eine Glucke aus,
die ein Entlein ausgebrütet hat, das sich vor ihren sichtlichen Augen
in eine Stromschnelle begibt. –


            Einige Tage später.

Bin kaum zum Ausruhen, noch weniger zum Nachdenken gekommen. Denn die
allerletzte Kate meines Dorfes beanspruchte mich völlig. Wohl hatte ich
mir Hilfe genug mitgenommen, eine derbe Magd, die das kleine Haus unter
Seifenwasser setzte, mit erstaunten Augen und glucksendem Lachen davon
Kenntnis nahm, daß ihre vornehme Herrin auch grobe Arbeit tun konnte,
und dann mit ihr, mit Kraft und Ausdauer, Frische und Fröhlichkeit,
den Stall säuberte, daß die kranke Frau in ihrem Bett gar nicht wußte,
wie ihr und ihrem armseligen Hausrat geschah. Hie und da steckte auch
wohl eines der vielen Kinder, die währenddem in der Nachbarschaft
untergebracht waren, seinen Wuschelkopf neugierig in die beginnende
Ordnung, um ganz überwältigt wieder davonzustürzen, und abends lohnte
es sich dann wohl der Mühe, die zwei aufgeräumten, sauberen Stuben zu
sehen: die frisch überzogenen Betten, die leuchtenden, rosakattunenen
Fenstervorhänge und den gescheuerten Tannentisch. Daherum saßen nun
frisch gewaschene Mägdlein und Buben mit ihren sauber gekämmten Tollen
und Zöpfchen und schrieben und lasen ihre Schularbeiten. Es war weder
Vollmond noch Sternenhimmel über mir, als ich endlich in die Nacht
hinaustrat, um nach Haus Lage zurückzukehren. Und doch war es seltsam
klar in mir und um mich. War es der Glanz aus sieben Augenpaaren, der
auf meinem Heimweg lag? – Als ich nach Hause kam, fand ich mancherlei
Post vor, auch barg meine große Ledertasche Papiere, welche mir die
kranke Frau des Trunkenboldes übergeben hatte, den man gestern zur
letzten Ruhe getragen. Pfarrer Oswald hat die Vormundschaft der
Kinder übernommen. So schickte ich denn Ludwig hinüber zum Pfarrhaus,
um den Freund endlich einmal wieder in’t Lager Huus zu bitten. Das
sollte ein lichtes Beratungsstündlein werden, und so dankbar bin ich
jedem, der mich über das Bangen, das Heimweh, das Warten hinwegbringt
durch frisch-fröhliche Arbeit, gutes Verstehen und einen herzlichen
Händedruck.

Pastor Oswald folgte meinem Diener fast auf dem Fuße. Und wie er unter
der grünen beschirmten Hängelampe saß, die mein Arbeitszimmer so
traulich erhellt, erschrak ich vor der fahlen Blässe seines Gesichtes,
vor dem Gram, der in seinen Augen lag.

»Um Gott, was ist mit Ihnen?« fragte ich rasch und nahm seine kalte
Hand noch einmal in meine Rechte.

Er schien mit der Antwort zu ringen, dann kam es stockend von seinem
Munde: »Ich habe die Sünde wider den heiligen Geist begangen. –
Ich habe ein Weib genommen, um die heiße Liebe zu einer anderen zu
bezwingen. Und _kann_ sie nicht zwingen. Ich wollte groß sein und bin
kleiner im Denken und Handeln als der Geringste meiner Pfarrkinder.«
Er stand vor mir, als sei ich sein Beichtiger.

»Nicht doch, nicht doch«, rief ich laut. »Um Gott, was haben Sie mir da
gesagt? Und ich war so ruhig, so froh all die Zeit gewesen!«

»Weil Sie mich loswaren«, sagte er bitter. »Auch Sie tragen ein wenig
Schuld an meiner Not, Freiin Brigitte. Nicht weil Sie mich als Freier
ablehnten, – das war Ihr gutes Recht, aber _wie_ Sie es taten. Sie
sind sehr rasch, Baronin, – sehr selbstsicher und selbstherrlich,
trotz Ihrer Weltfremdheit und Kindlichkeit, die eine ganz neue Welt
für mich bedeutete. Sie warteten gar nicht ab, ob ich selbst um Sie
werben würde, Sie nahmen ganz einfach die Wünsche meiner alten Mutter
schon als Werbung auf: Und wehrten sofort ungestüm ab, verletzten mein
Ehrgefühl aufs schwerste …«

Ich fühlte, daß ich blaß und kalt wurde. »So hätten Sie gar nicht um
mich geworben?« fragte ich tonlos.

»Nein«, entgegnete er fest. »Denn ich sah, daß Sie meiner starken,
großen Neigung gar kein Verständnis entgegenbrachten. Zum Toggenburger
eigne ich mich nicht. Aber zum Warten. Ich wäre Ihr Freund geblieben,
hätte mit Ihnen Hand in Hand dem Dorfe das Beste gegeben, was wir geben
konnten. Und vielleicht …«

»Nein, _niemals_ …«, rief ich rasch.

Eine rote Lohe schoß ihm in das Antlitz. »Sehen Sie, wie ungestüm und
doch irrgehend Sie in Ihrem Urteil sind«, sagte er verweisend. »Lassen
mich nicht einmal ausreden. Ich wollte sagen, _vielleicht_ hätte ich
_überwunden_ …«

Nun war es an mir, mich brennend zu schämen.

Er sah es und half mir ritterlich. »Tat ich Ihrem Stolze weh? Ich mache
es wieder gut, indem ich Ihnen sage, daß ich _niemals_ überwinde. Sie
treten nicht in ein Mannesleben, um vergessen zu werden. Sie fühlen das
auch, fühlen es so stark, daß Sie Ihre Folgerungen gewissenhaft ziehen.
Daß Sie sich der Pflichten eisern bewußt sind, die Ihnen Ihre große
Macht über die Menschen auferlegt.«

»Ahnt Frau Maria all dieses?« fragte ich laut.

»Sie _weiß_ es«, war seine Antwort. »Weiß es viel länger, als Sie
selbst es wissen. Und in ihrer großen Liebe zu mir sagte sie dennoch
_ja_, denn sie wollte mir helfen zu überwinden, wollte dabei auch Ihr
großes Liebeswerk am Dorfe fördern … Und nun gehen wir beide –«

»Was heißt das?« fragte ich bestürzt.

»Das heißt, daß ich mich um eine ausgeschriebene Pfarrstelle in Berlin
beworben habe. Man will mir wohl im Kultusministerium, die Fäden
sind bereits angeknüpft, und im großen Getriebe der Weltstadt fragt
auch niemand nach Marias Herkunft. So bleibt ihre feine Seele vor
Nadelstichen verschont, – sie trägt genugsam an dem großen Leid, daß
mein Herz und meine Seele in Lage bleiben. Und doch neidet sie Ihnen
beides nicht, Freiin Brigitte, denn sie ordnet sich Ihnen unter.« –

Wir sahen uns an, und ich fühlte, daß etwas unendlich Gutes und Großes
mit diesem Manne aus meinem Leben schied. Einen Augenblick durchfuhr
mich der Gedanke, ob es nicht das Glück gewesen sei, das ich mit meinem
raschen Handeln von meiner Schwelle verjagt hatte. Aber da stand es
plötzlich mit leuchtender Schrift vor meinem Auge: »Das vierte Päckchen
bringe ich dir selbst, Gitti!«

Und dieser Gedanke flutete wie ein Meer von Glück über mich hin.

»Mein Herz ist seit langem gebunden!« sagte ich laut. »Und ich hoffe
unablässig, daß mein Bruder Konrad Oswald Frieden und Überwinden finden
möge. Grüßen Sie mir Maria. Ich werde sehr einsam durch euer Fortgehen,
aber es ist das beste so.« –

Die scharfe Blässe hatte sich wieder über Oswalds Gesicht gelegt; er
verbeugte sich tief und schritt über meine Schwelle hinaus in die
Nacht. Ich aber lehnte meinen Kopf an die Mauer der Horchbucht und
sagte eindringlich: »Ritter Lage, bring’ mir Sonne! _Ritter Lage, ich
gehöre dir für Zeit und Ewigkeit!_«




37.


Der letzte Satz, den ich auf der vorigen Seite niederschrieb, ist ein
so tiefes Erleben, daß ich mich wie ein neugeborener Mensch fühle.
– Es _wurde_ etwas in mir, oder soll ich bekennen, »ich ward?« –
_Dieses_ Werden kann nicht einseitig sein! Es muß in seinem gewaltigen
Geschehen auch die Seele des andern erschüttert, ja neu geschaffen
haben. Denn ich habe dieses »Werden« meiner Bruderseele mit erlebt,
hab’ es in tiefem, wortlosem Verstehen gefühlt … Es wird mich fördern
in meiner Menschenkenntnis.

»Fördern«, das ist mein liebstes Wort im deutschen Wörterbuch.

Einer den andern fördern. Jeder Mensch jeden andern Menschen. Sich
immer dieser Aufgabe bewußt sein bei jedem Wort und jeder Tat. Mich
selbst fördert ja nicht das, was ich erlebe, sondern was mir zum
Erlebnis wird …

Ein Neugeborenes bin ich. Herrgott, hilf dem Kinde weiter!


            Zwei Tage darauf.

Ich habe die Hochstimmung nicht verloren und abgetan, aber ich verberge
sie tagsüber und hole den kostbaren Schatz nur des Abends hervor, wenn
ich ganz allein bin mit meinen Gedanken und Erinnerungen, mit dem
Mondlicht, das durch mein Spitzbogenfenster lugt, mit dem Folianten und
mit meiner Liebe. –

Es ist nutzbringend, wenn man die Kraft besitzt, sich rasch
umzuschalten. Ich mußte gestern den Schritt vom Erhabenen zum
Lächerlichen tun. Er hat mein Gleichgewicht wohl ein wenig erschüttert,
aber nicht zu Fall gebracht. Ohm Matthias kehrte von der Reise zurück,
nicht allein. An seinem Arm führte er ein Lebewesen, teils Frau, teils
Kind, teils Dirne – der alten Eva sträubte sich bei dem Anblick jedes
Haar auf dem Kopfe. »Meine Braut«, sagte Ohm Matthias vorstellend, und
er warf dem Wesen Blicke zu, daß ich in seiner Seele rot wurde.

Nach einigen Augenblicken des inneren Umschaltens in eine niedrigere
Sphäre drängte ich das Menschenkind, fast ohne daß es dies gewahr
wurde, auf die Halle hinaus, wo es zwar auch noch nicht am Platze war,
denn der schien mir weit ab vom Weichbilde des Lager Huus zu liegen,
aber es blieb doch einstweilen im Vorraum stehen. Ich selbst trat zu
Ohm Matthias ins Zimmer und schloß die Tür hinter uns mit hartem Druck.

»Ohm Matthias, ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich üble Scherze
durchaus nicht vertragen kann und auch nimmer in meinem Hause leide.«

»Üble Sachen?« stotterte er. »Da verstehe ich dich nun nicht, liebe
Nichte. Die Dame ist meine Braut.«

»Die Braut eines Freiherrn von Lage wird immer von irgendeinem
Anverwandten in das Haus ihres zukünftigen Gatten gebracht«, sagte ich
eisig. »Du wirst die Person sofort veranlassen, Haus Lage zu meiden,
oder du selbst verläßt dieses Dach.«

Er sträubte und wand sich und knurrte verschiedenes, aber mein Finger
zeigte gebieterisch nach der Halle, und da fügte er sich endlich.
Ich hörte einen sehr erregten Wortwechsel, und dann steckte Ohm
Matthias noch einmal seinen Kopf zur Tür herein. »Hast du Geld, Nichte
Brigitte?« fragte er kläglich. »Ich kann doch das Mädchen unmöglich
ohne einen Pfennig fortschicken.« Ich entnahm einen Schein aus meiner
Tasche, und Ohm Matthias nickte beifällig. »Du bist nobel, Nichte
Brigitte, – von mir hätte sie nicht soviel bekommen.« Damit lief
dieser lächerliche Lage mit raschen, schnellen Schrittchen hinaus und
nahm draußen mit glucksendem Lachen wortreichen Abschied. Dann sah ich
die widerliche Person über den Rasen nach dem Dorfe schreiten. Ein
grobes Scherzwort rief sie noch einem vorübergehenden Knechte zu, seine
Antwort verschlang das wütende Bellen des Hofhundes, und dann trat
Stille ein. –

Der Schmutz des Alltags hatte mich gestreift, aber inmitten _meines_
grauen Alltags brennt ein Sonntagslicht, das ist nimmer auszulöschen. –


            Später.

Wie um die Wahrheit des letzten Wortes zu bekräftigen, halte ich ein
gelbes Büttenpapier in der Hand. Wunderlich ist mir zu Sinn, nachdem
ich es gelesen. Wo weilt der Schreiber? Warum kommt er nicht zu mir? Er
muß in meiner Nähe sein, sonst würde ja das Geschehen in meinem Hause
nicht zu seiner Kenntnis gelangen. – Wie alles auch zusammenhängen
möge, er hat mich trösten wollen! –

Ritter Lage schreibt:

»Ohm Matthias hat endgültig Ihr Haus verlassen, Regenschirmbase, und
ist auf dem Wege nach Holland. Dies Holland aber liegt weiter als der
Tempel und die Clemenskapelle, und so wird er Ihren Weg nicht wieder
kreuzen. Gitti …!«

Weiter nichts.

Was hinter dem Ausruf steht, wie ich mir die kleinen Punkte übersetzen
soll, ich weiß es nicht. Ohm Matthias ist tatsächlich fort, Eva
hat das Zimmer mit einem Lächeln tiefer, innerlicher Befriedigung
ausgeräumt und mit andern Möbeln instand gesetzt. So, als wollte sie
dieses Kapitel als gänzlich abgeschlossen betrachtet wissen. Wie gern
füge ich mich hierin. Und als Tante Fernande mir weinend, mit immer
wiederkehrendem, ungezähltem Gottseidank um den Hals fiel, da spürte
ich, wie recht Ritter Lage gehandelt hatte. –




38.


            Im November, abends.

Heute habe ich einen ganz neuen Lebensinhalt bekommen. Ich brauchte
nicht nur aus Büttenpapieren zu schöpfen oder die alte Eva
auszuhorchen, sondern ich hörte ein paar kluge Männer über Ritter Lage
urteilen. Ich war mit Hausmeister Ludwig, der meinen Wagen lenkte, nach
Heidkamp hinübergefahren, wo mich das liebe Ehepaar endlich einmal
umhegen wollte. Dort traf ich eine Herrengesellschaft, landsässige
Leute und solche aus Münster, Osnabrück, Lingen und aus Holland. Es war
ungeheuer anregend.

»Ich höre gern, wenn kluge Männer reden, daß ich begreifen kann, wie
sie es meinen.« Ob ich so mäuschenstill zugehört hätte, wenn sie
nicht vom Ritter Lage erzählt hätten? Es kam ihnen lächerlicherweise
erst lange danach zum Bewußtsein, daß ich ja auch eine Lage sei. Aber
Clemens spielt mit allen Verstecken, und so nahm man auch dann einfach
an, daß ich genau so ahnungslos über sein Tun und Treiben sei, wie
alle andern. Nur ein Baron von ter Mählen, ein kluger, älterer Mann
Anfang der Fünfziger, der über große Besitzungen verfügt und sich doch
meistens in München aufhält, um der Kunst zu leben, rückte lebhaft
seinen Stuhl zu mir heran und fragte mit warmer Anteilnahme: »Eine Base
des Clemens Lage? Wie ungeheuer interessant für mich!« Ich sah ihn
erstaunt an und fühlte, wie die Farbe in meinem Gesicht kam und ging.
Er legte, wie ein väterlicher Freund, seine Hand auf die meine, nicht
zudringlich oder gönnerhaft, nur beruhigend, so schien es mir. »Clemens
Lage und ich waren Korpsbrüder bei den Bonner Borussen«, sagte er.
»Ich könnte sentimental werden, wenn ich dran denke, daß das Leben uns
trennte … Wir studierten beide Rechtswissenschaft, – ich ging nach dem
Examen in den Verwaltungsdienst, und er zog sich auf seine Besitzungen
zurück. Nun, Sie wissen, was für ein mustergültiger Landwirt er ist,
wie angesehen in Holland und Deutschland. Seine Kolonien, seine
Arbeiterhäuser haben Weltruf. Und seine Kunst … Freiin Brigitte, kennen
Sie seine Kunst?«

Ich nickte, und meine Augen müssen wohl gestrahlt haben. Denn der
Freund lachte froh in sie hinein. – Dann wurde er plötzlich ernst,
und wie ein Schleier legte es sich über seinen hellen Blick. »Clemens
Lage heiratete vor ungefähr 20 Jahren und brachte mir seine junge Frau,
– mir, seinem älteren Freunde, der ich bereits nach ganz kurzem Glück
Witwer wurde und einsam in Bonn saß …« Herr von ter Mählen sah mich
eine Weile forschend an, dann raunte er hastig: »Die Frau des Clemens
war das genaue Gegenteil von _Ihnen_, Baronin.«

»Warum sollte sie mir gleichen?« fragte ich.

»Das ist die rechte Frage, und Sie sollen die Antwort gleich haben.
Weil der Clemens Sie mir schon in seiner Studentenzeit geschildert
hat. Lächeln Sie nicht so ungläubig, Baronin, er hat Sie mir in seiner
lieben, raschen, begeisterten Art von Kopf bis zu Fuß innerlich und
äußerlich dargestellt, – ja er hat eine kleine Tonfigur geformt, die
Ihnen aufs Haar gleicht, und dies Figürchen hielt er liebevoll in
seiner Hand und rief: ›Wenn du je solch einem Mädchen begegnest, so
halte es fest, – hörst du, halte es fest, für _mich_.‹ Ich bin niemals
seinem Ideal begegnet – bis _heute_.«

»Oh,« wehrte ich ab, »Sie kennen mich ja gar nicht.«

»Doch, doch,« lachte er gütig, »ich habe Sie jetzt stundenlang
geprüft, es ist nicht nur die verblüffende äußere Ähnlichkeit mit dem
Clemens-Ideal, es ist Ihr ganzes Wesen, Ihre Stimme, nicht zuletzt Ihre
Anschauungen, Ihre liebe Kindlichkeit, Ihr Fleiß … Lassen Sie es sich
doch ruhig sagen, Baronin. Meinen Sie denn, man spräche nicht ringsum
in Dorf und Stadt von der jungen Philanthropin?«

Ich wußte natürlich gar nichts zu antworten. Auch wollte ich so gern
mehr vom Ritter Lage hören. Aber ich meinte, der Sprecher müsse den
Aufruhr spüren, in dem ich mich befand. Plötzlich bog er sich zu mir
nieder und sprach weiter, aber leise und eindringlich: »Seitdem das
Unglück über ihn hereinbrach, habe ich nichts mehr direkt von Clemens
gehört, er war immer so einer, der nur seine Freude teilte, also daß
seine Freunde schließlich mehr bekamen, als er selbst, aber sein Leid,
das behielt er wie die größte Kostbarkeit für sich. Bis es sich wieder
in Segen für andere gewandelt hatte. Nun erzählt man sich, daß Clemens
ein völliger Einspänner geworden ist, daß sein Humor trübe fließe und
zumeist bitter sei, und daß der Sarkasmus seine sprichwörtliche Güte
totgeschlagen habe.« –

Wieder wurde es still zwischen uns. Dann nahm Herr von ter Mählen meine
beiden Hände und sah mir gütig, voll warmer Teilnahme, in die Augen.
»Baronin, Sie kennen den Clemens, und er kennt Sie, Sie wohnen sich so
nahe, er muß Ihren Bestrebungen das tiefste Interesse entgegenbringen,
und – Sie verkörpern das, was sich der Jüngling geträumt, der Mann
gesucht und nicht gefunden – – _warum_, warum stehen Sie nicht als
Gattin an seiner Seite?«

Ungestüm war ich aufgesprungen. Zornig hatte ich ihn angesehen. »Und
seine Frau?« fragte ich ganz vernichtet.

Ein tiefes Befremden malte sich auf dem Antlitz des Freundes. »Seine
Frau? Hat er Ihnen nie von ihr erzählt? Sie ist tot seit über zehn
Jahren. Ich hatte damals an ihn geschrieben, aber nie eine Antwort
erhalten. Baronin, der Clemens hat uns, seinen Freunden, immer Rätsel
aufgegeben, aber dies ist das am schwersten zu ratende. Warum mag er
sich gegen Sie verschlossen haben? Just gegen Sie?«

Baron von ter Mählen sann vor sich hin. Er hatte meine Hände
losgelassen, und öfters wiegte er den Kopf. Und wenn er mich dazwischen
anblickte, so schien ihm danach das Rätsel immer schwieriger zu sein.
Ich kann es nicht schildern, wie es in mir aussah nach der Enthüllung.
Und wie es jetzt in mir aussieht und stürmt und jubelt und bangt.
Meine Liebe frei von Sünde. Mein Begehren keine Schuld. Wenn er mir
das vierte Päckchen reicht, dann darf ich es nehmen, ohne in Kampf und
Not zu kommen. Ich brauche nicht auf eines anderen Leid mein Glück
aufzubauen. Diese Gedanken gingen durch meine Seele, während ich
inmitten der lachenden, plaudernden andern neben dem Freunde stand.
Und ich muß wohl alles – ja selbst meine gute Kinderstube vergessen
haben, denn der Baron sagte plötzlich eindringlich: »Sie sind aus den
Fugen, Freiin Lage, mein Gott, habe ich an Schweres gerührt? Kommen
Sie, ich rufe Frau von Heidkamp, damit sie Bescheid weiß, dann hebe ich
Sie in mein Gefährt und fahre Sie rasch nach Lage. Nicht abwehren, ich
meine es gut mit Ihnen.« Und so geschah es, daß ich bald daheim war
und Herr von ter Mählen mich noch um die Erlaubnis bat, daß er bald
wiederkommen dürfe. Wie gern gab ich sie ihm! _Sein_ Freund, der Freund
_seiner_ Jugend, ist auch der meine. –

Aber das Grübeln nimmt kein Ende. Warum, warum? Warum kommt Ritter Lage
nicht zu mir?

Wer hält sein Geschick und das meine in der Hand, wenn sein krankes
Weib schon lange heimging?

Wer darf außer ihr uns namenloses Glück oder unfaßbares Leid bringen?


            Im Dezember.

Wie still es im grauen Alltag ist! Rings lastet der Schnee auf der
weiten Heide, der Kirchturmknopf trägt eine weiße Kappe, genau wie
die grauen Mauerpfeiler an meiner Parkpforte und alle Knäufe und
Buckel an Haus Lage. Märchenhaft die ganze Landschaft. Die Ruine
schaut recht einem trutzigen Greise gleich. Weißes Haupt und morsche
Glieder, aber Herz und Sinn noch stark. Die Ruine dräuet immer noch,
trotz der zerstörten Mauern, ist aber gefestigt und steht stattlicher
da, als Haus Lage selbst in seiner langgestreckten Behaglichkeit. Der
weiße Schnee deckt alle Schäden zu bei beiden Burgen. – Seit vielen
Tagen fällt er in kleinen, beharrlichen Flocken, ein leichter Frost
begleitet ihn. Gestern klingelte ein Schlitten auf den Gutshof, die
Heidkamper mit Baron von ter Mählen holten mich ab, um mir entfernte
Heide- und Waldstrecken zu zeigen. Ich nahm, rasch entschlossen, Tante
Fernande, die mir wirklich mit der Zeit eine treue Freundin wird,
mit auf die frohe Fahrt. Baron von ter Mählen spielte den Kutscher.
Er saß hinter uns auf der Pritsche und erzählte sehr lieb und frisch
an uns eingemummelte Insassen hin. Hie und da flüsterte er auch eine
ausgesuchte Bosheit in mein Ohr, er machte sich über Herrn von Heidkamp
lustig, der durchaus selbst hatte fahren wollen. Tante Fernande
kicherte währenddem unablässig, der Schnee machte sie trunken, sie
kommt so wenig heraus. Einen vorzüglichen Weinpunsch bekamen wir in
Campe, einen gleichwertigen starken Kaffee tranken wir dann in unserm
Forsthause. –

Wir sahen dort ein Bild trautester Behaglichkeit. – Der alte
knorrige Baum Förster Nordstamm mit der mütterlichen Schmiedsfrau
auf dem großblumigen Sofa, der Schmied und der junge Förster ihnen
zur Seite. Letzterer hielt auf dem Schoß die kleine Erika, die ihren
goldenen Lockenkopf zärtlich an ihn geschmiegt hatte. Gese ging
mütterlich zwischen ihnen einher und bereitete uns dann rasch in
großer Zierlichkeit ein leckeres Vesperbrot und duftenden Mokka. Als
wir wieder im Schlitten saßen, meinte Herr von Heidkamp sinnend: »Also
mußte wirklich die kleine, wertvolle Frau Rika sterben, damit dies von
uns eben geschaute Glück in den Wald und die Welt hinauswüchse?«

Und alle nahmen rasch das Thema auf und philosophierten darüber, bis
sie sich ganz verstiegen hatten und festsaßen. Ich schwieg. – Mein
Erleben hat mich befangen gemacht, und ich fürchte mich vor meinen
eigenen Worten und Gedanken. Man neckte mich weidlich ob meiner
Schweigsamkeit. Als wir dann in Lage ausstiegen, lud ich alle zu einem
Plauderstündchen und späterem Imbiß ein, aber nur Frau von Heidkamp
blieb bei mir. Die beiden Herren verabschiedeten sich, standen aber
lachend und heischend auf demselben Platze, ohne den Schlitten wieder
zu besteigen. – »Sie haben gar nichts zu fordern, Heidkamp«, rief
Baron von ter Mählen. »Setzen Sie sich schleunigst hin; ich war
der Kutscher und fordere ganz gehorsamst, aber unweigerlich mein
Schlittenrecht.« – Tante Fernande kicherte wieder und schien ganz
überwältigt, als der Baron ihre runzlige Wange mit seinem Schnurrbart
berührte. Ich trat etwas zaghaft näher und sah dem lieben Freunde in
die Augen. »Wie ein sterbendes Reh«, raunte er mir zu. »Das mache sich
ein anderer zunutze.« Und er nahm mich bei beiden Händen, und wie ich
so gehorsam den Kopf neigte, küßte er mich ganz zart auf die Stirn.
Frau von Heidkamp aber reichte ihm fröhlich lachend den Mund und ließ
sich mehrmals auch noch für Tante Fernande und mich mitküssen, bis Herr
von Heidkamp Einhalt gebot und behauptete, er bekäme eiskalte Füße,
wenn er nicht mittun dürfte. Da liefen wir lachend ins Haus, und das
Schellengeklingel des abfahrenden Schlittens lachte mit uns.

Als wir dann am behaglichen Kaminfeuer zu zweien in den tiefen Sesseln
saßen, nahm die Freundin, die soviel älter ist als ich, meine Hand.
»Kleines, weißes Mähschäfchen«, sagte sie innig. Und ich erschrak, da
sie die lieben Worte des Ritter Lage gebrauchte. »Warum küßten Sie den
prächtigen, ritterlichen Menschen nicht?« fragte sie. »Man soll nicht
Spielverderber sein.« –

»Ich habe das Küssen nie gelernt«, entgegnete ich ernsthaft.

»Was sind Sie für ein närrischer Kerl!« rief sie verblüfft. »So was
lernt man doch nicht, oder meinen Sie, ich hätte ganz brave Lektionen
bei irgend jemand genommen, bis ich es zu dieser Kunstfertigkeit
gebracht?«

Ich nickte wie ein Pagode. »Ja, so sah es aus.«

»Du liebe Zeit, Sie sind wirklich hinterwäldlerischer, als ich dachte;
und ich dachte schon viel«, meinte sie liebreich und streichelte mich.
»Sehen Sie, Kleines, ›so was‹ _kann_ man von Urbeginn, oder man lernt
es _nie_. Das ist meine Ansicht. Ich habe es schon während meiner
Schul- und Pensionszeit wacker ausgeübt, und es hat mir rasend viel
Spaß gemacht. Aber wie ist das mit Ihnen? Ist niemals ein Mann zärtlich
mit Ihnen gewesen?«

»Mein Vater,« entgegnete ich rasch, »er liebte mich so sehr.«

»Schön und gut, Kleines. Aber über Väter wollen wir an diesem
entzückenden, heißen Kaminfeuerchen heute mal gar nicht reden.« Sie
rückte ganz nah an mich heran und nahm meine Hände fest in die ihren.
»Sie haben mir selbst gesagt, daß Sie schon 26 Jahre erlebt haben,
kleine, liebe Brigitte,« sagte sie zärtlich, – »wie seltsam, daß Sie
die Liebe noch nicht kennen … Ist Ihnen nun selbst nie der Wunsch rege
geworden, daß Sie einmal jemand in die Arme nehmen möchte, so, so ganz
innig – so bis zum Selbstvergessen, ein fremder Mann …?«

Da sagte ich ihr ganz rasch und ganz aufrichtig: »Nein, – nie! Ich
habe wohl gewünscht, daß mir, da mein Vater von seiner Brigitt’
fortgegangen ist, – irgendein andrer lieber Mensch einmal sagen
möchte: ›ich hab’ dich lieb, Gitti –‹, immer wieder, einen ganzen Tag
lang, nur den einen Satz: ›ich hab’ dich lieb …‹, aber über das andere
hab’ ich nie nachgedacht …«

»Seltsam, seltsam«, sagte Frau von Heidkamp, und ich war so froh, daß
sie ernst blieb und mir aufs Wort glaubte. Und dann kam die alte Eva
und brachte uns viele schöne Leckerbissen und alten, schweren Rotwein
aus den reichbesetzten Kellern von Haus Lage. Und wir wurden sehr
vergnügt. Als mein Diener Frau von Heidkamp dann in meinem schönen,
bequemen Viktoriawagen verstaut hatte, um sie heimzufahren, beugte
sie sich noch einmal zu mir herunter und raunte mir zu: »Ich darf es
natürlich niemand verraten, daß die schöne Brigitt’ Lage noch nicht
küssen kann, sonst will es sofort die ganze Nachbarschaft lehren,
jawohl, mein lieber Mann an der Spitze … Gut’ Nacht, Mähschäfchen …« So
verlief der seltsame Abend gestern, an dem ich zum ersten Male einer
gütigen Freundin und Frau einen Einblick gab in mein einsames Herz. Das
tat mir wohl, denn mir ist bang, daß die große Einsamkeit wunderlich
macht. –




39.


            Weihnachts-Heiligabend.

_Hei, ruft der Winter, hier ist mein Revier!_

    Es legt der Schnee die weißen, kalten Hände
    Fest über Heid’ und Moor.
    Durch Ried und Rohr
    Verflattert sich der Vögel frierend Volk in dem Gelände.

    Der Krähen krächzender Chor
    Streicht über meinem Haupt,
    Und eisbelaubt
    Lehnt eine Birke an dem Gattertor.

    Ich steh’ am Weiher, dessen Spiegel blind
    Und winterschwer bereift.
    Eishändig greift
    Das Heimweh nach dem bangen Menschenkind.

_Du! ruft die Sehnsucht … Du! Komm her zu mir!_

       *       *       *       *       *

Ich gehe umher wie im Traum. Seltsam ist der Traum. Riesenkräfte wirken
in mir, und doch bin ich von süßer Mattigkeit umfangen. Alle Menschen
liebe ich und möchte ihnen das spendende, selbstlose Christkind sein.
Zu Fuß bin ich gewandert über die verschneite Heide bis in das letzte
Hüttchen meines Dorfes mit schwerem, fast meine Kräfte übersteigendem
Gepäck. Helfen wollt’ ich, helfen! Und ich konnte helfen. Und konnte
Frieden und Freude _bringen_ in verzagte Herzen. Und gerade die
letzte Hütte, darinnen die Witwe des verstorbenen Trunkenboldes ihr
erdenschweres Dasein dahinlebt, brachte mir selbst den meisten Trost.
Wie die Ärmste zum Leben erwacht! Wie ihre Kinder mit den neuen,
warmen, reinen Kleidern neue Menschen angezogen haben. Alles war rein
und warm und weihnachtlich bei ihnen, jedes Eckchen bereit, die heilige
Weihnachtsfreude zu empfangen.

Wir sangen ein paar schöne Weihnachtslieder zusammen nach jenen uralten
Melodien, die weitere Jahrhunderte hindurch jung und bejahend bleiben
werden.

Dann kamen draußen Schritte, und der Schnee wurde an der Tür
abgeklopft. Pastor Konrad Oswald trat zu uns herein, in Schnee gehüllt
und beladen wie Knecht Ruprecht. Und die Kinder liefen auf ihn zu,
Ludwig, Lisel, Fritz, Ada und Hilde, und die Kleinste nannte ihn
jubelnd »Hans Muff«. Ganz zu Hause schien er bei ihnen, und ich sah,
daß er niemals die arme Kate verabsäumt hatte. Weit öfters als ich
war er dort gewesen und hatte aus reichem, geistigem und nicht minder
greifbarem Erdenreichtum gesteuert und geholfen. Mitsammen wanderten
wir dann am Nachmittage, da eben die Sonne sich zum Sinken anschickte,
über die weiße, schneeige Heide. Und da sagte er mit erloschener
Stimme: »Und nun geh’ ich fort. Ich reise schon heute mit Maria nach
Berlin.« Da erschrak ich, denn ich weiß, daß mit ihm mich der treuste
Bruder verläßt. Aber die Sprache seiner Augen ist zu eindringlich, ich
muß ihn selbst gehen heißen. So gaben wir uns die Hand, und als ich in
den Lager Forst einbog und noch einmal über die Heide schaute, die rot
glühte im Strahle der Abendsonne, da stand er noch wie festgewurzelt,
ein schwarzer, einsam ragender Baum in der öden Heide. Und sein Arm
winkte mir ein letztes Lebewohl. –

Ich fürchtete mich nicht in meinem Lager Walde. Trotzdem es anfing zu
dunkeln und immer finsterer wurde, je mehr ich mich dem Märchenwalde
näherte.

Und es taten sich Dome von silberstämmigen Buchen auf, die reichten
bis zum Himmel und klopften beim Herrgott an, daß Er sie segne … Immer
wieder kommen mir diese gleichen Gedanken. Und gestern war mir ganz
eigen fromm und gut zu Sinn.

Und was ich nun in der Folge niederschreibe, da ist auch kein Fehl
daran, und hat sich alles so zugetragen und sich wie Flammenschrift in
mein Herz und mein Gehirn eingebrannt. – – –

Auch das Lichtchen in der Clemenskapelle brannte, und aus dem Tempel
schimmerte es hell. Ein breiter Strom goldgelben Lichtes floß heraus,
als sollte dem Christkind der Weg bereitet werden.

»Sieh, da naht es schon«, sagte die dunkle, klangvolle Stimme des
Ritter Lage. Und wie immer stritten sich Güte und Sarkasmus in diesem
Klange. Als ob er auf mich gewartet hätte, so trat er heraus und
streckte mir beide Hände entgegen. Aber meine Füße wollten mich nicht
weitertragen, und ich schwieg hartnäckig.

»Will man zum heiligen, oder zum profanen Clemens?« scherzte er; um
dann ernst hinzuzusetzen: »Die Regenschirmbase tut immer das Richtige.
Jetzt schweigt sie, – wie der Märchenwald dort …«

Da trat ich rasch näher und legte meine kalten Hände in die seinen und
rief: »Der Märchenwald sagt: ›Gottwillkommen, Ritter Lage!‹«

Er nickte ernst. »Dies sieht der Regenschirmbase gleich. Sie fragt
nicht, bringst du Gutes oder Schlimmes? Sie scheint auf Gerechte und
Ungerechte.«

»Was Ritter Lage mir bringt, _kann_ nur gut sein«, sagte ich überzeugt.
»Man spürt den Segen nur nicht immer gleich, – und – ich brauche viel
Sonne – und bin so einsam.«

Die letzten Worte konnte er kaum vernommen haben, so leise hatte ich
sie gesprochen. Und doch schlug er mit einem Male beide Hände vor sein
Gesicht. Es sah erschütternd aus.

Was sollte ich tun? Ich kämpfte mit den Tränen. Aber er war mir doch
zu fremd, ich konnte ihn nicht berühren, sosehr ich ihn liebte. Da
hatte er sich schon wieder in der Gewalt. Seine Hände sanken herunter,
er faßte den Elfenbeinstock fester in die Rechte und machte eine
Handbewegung, daß ich ihm folgen solle. Er führt mich ja nie, – sein
Gebrechen erlaubt es nicht. –

»Wir können hier nicht im Schnee stehenbleiben, Gitti«, sagte er
heiser. »Sonst bin ich morgen ganz invalide. Vergessen Sie nie, daß ich
ein armer Schächer bin, nicht so voll Saft und Kraft wie die kleine,
_deutsche_ Lage. Nur Mitleid dürfen Sie nicht mit mir haben, von Gitti
vertrage ich kein Mitleid.«

Ich folgte ihm in den Tempel.

Der Vorraum, der sonst die ~Pietà~ beherbergte, war warm und
tiefbehaglich. Schwere Teppiche von einem satten Blau bedeckten den
Fußboden, die Wände waren mit silbern schimmerndem Brokat bezogen,
mattgedunkelte Gobelins erhöhten die Vornehmheit des Raumes. Nur eine
Madonna della Sedia in ovalem, mattsilbernem Rahmen hing als einziges
Bild in dem Rund. Im großen weißen Marmorkamin loderten Buchenscheite.
Ich schaute in die Flammen. Er blieb an der Pforte stehen, – ich aber
fühlte seine Blicke auf mir ruhen. Und diese Blicke sind Kraftquellen.

»Ehe ich Ihnen Schweres zu tragen gebe, Freiin Brigitte Lage, sage
ich Ihnen, daß ich Sie liebe, wie ich noch nie eine Frau geliebt.
Sie verkörpern mir das Höchste, das Schönste, das Beste. Ich, der
fünfzigjährige Mann, habe um Sie mit einer Demut geworben, die mir
sonst weltenfern ist. Unter Grobheit und bittrem Humor versteckte ich
meine heiße Sehnsucht, Sie an meinem Herzen zu halten, Sie zur Liebe
zu erwecken, diesen reinen, stolzen Mund zu küssen, bis er meine Küsse
erwidere. Gitti, für jeden Blick aus deinen Augen, der mir galt, der
mich suchte, für jedes gütige, kindliche Wort sollst du tausendmal
gesegnet sein!«

»Sprich weiter, Ritter Lage«, sagte mein Herz, aber mein Mund
blieb stumm. Man kann nicht reden, wenn das Glück so übermächtig
hereinbricht, man kann nur beten für den, der es uns bringt. –
Totenstille im Raum. Minutenlang.

Da wendete ich meinen Kopf von den Flammen fort und sah nach ihm hin.
Sah, daß er in einen der tiefen Sessel gesunken war, daß der Stock auf
dem Boden lag, sah sein weißes Gesicht, die blassen Lippen, den tiefen
Schmerzenszug um den Mund, sah seine Augen, die mich auf den Platz zu
bannen schienen, da ich stand.

»Ich bin so glücklich«, sagte ich nur leise. Aber dann lief ich doch
zu ihm hin; es war ja zu unnatürlich, daß wir uns so ernst und traurig
ansahen und doch wußten um unsere große Liebe.

Er stöhnte auf, als ich seine Hand ergriff. »Ist’s nicht erbärmlich,«
stieß er zwischen den Zähnen hervor, »daß ich hier sitze und die
kleine, feine Frau steht vor mir und muß mich trösten?«

»Ich verstehe vieles nicht«, sagte ich fest. »Ich kenne Ihren Kummer
nicht. Wollen Sie ihn nicht mit mir teilen, Ritter Lage? Ich hab’ dich
doch so lieb, Clemens, weißt du es denn nicht?«

Da sah er mich wieder an, und vor diesem Blicke erhob ich mich und ging
langsam nach dem niedrigen, seidenen Diwan, der sich längs der Wände
hinzog. Dort setzte ich mich hin, ganz still. –

Da tönte wieder seine tiefe, gute Stimme, aber es war mir, als käme
sie aus Fernen. »Gitti, mein süßes Kind, hör’ mich an. Wir müssen
uns trennen. Ach, daß ich dir, der allzeit Gebenden, Gütigen, dieses
Christfest bringen muß!«

»_Mußt_ du es?« fragte ich zurück. Und vielleicht schwang ein Gran
Zorn mit in meiner Frage. Ich wehrte mich, da man mein Herz zertrat.

Seine Stimme ward fester, schier feindlich. »Frage nicht so, Gitti.
Ich bin nie ein Tierquäler gewesen, und gegen dich brutal zu sein, ist
das Schwerste, was mir das Geschick bisher auferlegte. Jawohl, das
_Schwerste_«, betonte er noch einmal stark, wohl weil ich mich ein
klein wenig gerührt hatte.

Er selbst schmiegte sich noch tiefer in den alten, großen Sessel, die
hoch lodernden Flammen umleuchteten sein strenges Profil. Er sah an
ihnen und an mir vorbei und erzählte mit harter, weh tuender Stimme:
»In vielem, was ich dir jetzt sage, werde ich dir Elementarbegriffe
beibringen, – unterbrich mich dann nicht, ich möchte haushalten mit
deinen und meinen Kräften. Vorerst aber bitte ich dich, heute hier
auf eine Stunde die Hausfrau zu spielen und dir und mir jenen Wein
dort zu kredenzen, Wein vom deutschen Rhein, alt und fein wie er, und
abgelagert in den Lageschen Kellern. Gitti, Geliebte, ich bring’ ihn
dir!«

Er hob das Rubinglas, in das ich den wie Öl rinnenden Trank gegossen.
Wir sahen uns an und tranken schweigend. –

»Gitti, – denke dir einen jungen Kerl, vierundzwanzigjährig, und bis
zum Wahnsinn verliebt in ein Mädchen. Oder denke dir ihn nicht, er
trägt auch nicht einen einzigen Farbenton, der mir heute gliche … Dies
Mädchen, gleichaltrig mit mir, war meine holländische Base. Vornehm und
rassig äußerlich, innerlich zügellos, unbeherrscht. Das erste Jahr
unserer Ehe verging im Rausch. Ich hatte gar keine Zeit zum Erwachen.
Dann … wurde unser Kind geboren. Und der Mund, von dem ich nur maßlose
Liebesworte gehört, schmähte mich von da ab in rasendem Zorn … Gitti,
du kennst das traurige Etwas, das man meinen Sohn nennt … Gitti, sie
sagte, sie schrie, ich hätte ihn belastet …

Gitti, ich war damals rank und schlank wie ein junger Baum. Zart, wie
die Holländer Lages alle, aber nicht so wie jene Lages aus Antwerpen,
von denen das dünne Büchlein des alten Haudegen spricht. Hast du
über das Büchlein nachgedacht, du kleine, feine, kerngesunde Gitti?
Antworte!«, herrschte er mich an.

»Ich habe darüber nachgedacht.«

»Und du liebst mich noch, du Süße? Du fliehst nicht meilenweit und
schlägst nach mir? Und entziehst dich mir? Und, und – –«

Er bohrte seine Fäuste in die Augen.

Ich lächelte. Freilich mit viel Schmerzen, aber doch so, wie man über
ein großes Kind lächelt, das zornigen Unsinn herausredet. »Noch mehr
lieb’ ich dich, noch viel, viel mehr …« sagte ich innig.

»Da ist es wieder, dein verfluchtes Mitleid«, sagte er, zornig
verbissen. »Gitti, – ich kann dein Mitleid nicht vertragen.«

»Und _ich_ nicht dein Quälen«, rief ich und sprang auf. Stand ihm dann
gegenüber ganz kalt vom Kopf bis zu den Füßen. Tief erbittert. »Warum
schlägst du mich, Clemens Lage? Was habe ich dir getan?«

Er lachte grell. »Die Situation ist neu: ›Ritter‹ Lage, ein kleines,
feines Frauchen schlagend. _Meine_ Fraue, deren Farben ich trage … Aber
du hast recht. Wann hättest du _nicht_ recht, du weißes Mähschäfchen?«

»Ich bin kein Mähschäfchen! Und ich hasse den Namen jetzt und will ihn
nie wieder hören …«

»Wollen wir uns zanken, Gitti? Willst du mir jetzt alles zurückgeben,
was du an Zorn aufgespeichert nach Empfang meiner Briefe, denen nie
eine Antwort ward? Nicht doch, nicht doch. Was ich an dir so liebe, ist
deine vornehme Beherrschtheit in jeder Lage, Gitti, – oh, ich habe
dich wohl studiert. Und du wirst jetzt ganz gehorsam auf deinen Platz
dort zurückgehen, in demselben Gehorsam, in dem dich der prächtige
Vetter Ernst Lage erzogen hat. Damit ich dir mein grausames Märchen
weiter erzählen kann. Oder liebst du nur himmelblaue Märchen von
blonden, großen Schlagetot-Prinzen, Sieh-und-stirb-Helden. Und von
Erbsen-Prinzessinnen?«

»Nein«, rief ich laut. »Du hast mich ja das Märchen vom garstigen
Zornebock gelehrt, und – ich kenne die Prinzessin wohl, die ihn
und sich erlösen wollte. – Sie mußte mit bloßen Füßen durch spitze
Schwerter gehen, aber jeder Blutstropfen bedeutete Erlösung …«

Er sah mich an, als sähe er mich zum erstenmal. »Gitti, ich fürchte
mich vor dir. Vor deiner Güte. Gibt es so etwas auf dieser Welt?
Herrgott, werde ich’s jemals verwinden können, daß ich dich nicht vor
zwanzig Jahren kennenlernte und beide Hände über das Thüringer Waldkind
breitete, bis du mein Weib werden konntest??? – – –

Höre weiter, Gitti. –

Meine Frau liebte mich nicht mehr. Und wenn ich es nicht fassen wollte,
›daß Liebe brechen kann‹, wie es im Volksliede heißt, so gellte mir
ihr Haß, ihre tiefe, kränkende Abneigung in die Ohren. Dann wurde ich
plötzlich krank, Gitti, – lächerlich krank, – ich bekam die Masern.
Lach’ doch, Gitti. Denn man brachte mich, den Freiherrn von Lage, ins
Spital, weil meine Frau mich nicht pflegen wollte. – Und die Masern
waren schwer. Vielleicht hätte ein Kind sie überwunden. Aber der
_Freiherr_ von Lage war seitdem ein _gebundener_ Mann. Ich erstand
aus der Krankheit, so wie du mich siehst. Nicht gleich so schlimm. Es
kam nach und nach. Und das Schicksal bejahte den Widerwillen meiner
Lebensgefährtin. Die Tragik meiner Ehe kannte nur ein Mensch außer mir,
Leo von ter Mählen in München. – Ihm hatte ich meine Frau gezeigt,
als er noch in Holland wohnte. Kleine Gitti, diesen Freund müßtest du
kennenlernen … Aber vielleicht könnte ich’s noch gar nicht ertragen,
daß du ihn kennenlerntest …«

»Ich habe ihn kennengelernt.«

Er fuhr auf aus seiner bequemen Stellung.

»Gitti! Wie kam das?«

»Durch die Heidkamper.«

»Nun, – und?«

»Ich habe ihn sehr liebgewonnen.«

Clemens Lage lachte leise. »Ich gönne ihm das. Es klang anders, als du
_mir_ dies Wort sagtest …«

»Ohhh …«

»Quäle ich dich schon wieder, Gitti? Ändert sich Zornebock nie? – Was
sprachst du mit Leo?«

»Nur von dir. Er erzählte mir von einer Tonfigur, die du geformt …«

Wieder richtete sich Ritter Lage lebhaft auf. »Hat er den Tag und die
Episode behalten? Das ist Freund Leo, wie er leibt und lebt. Knüpfte er
keine Bemerkung daran?« Er sah mich forschend an.

»O doch. Er sagte, daß – ich diesem Figürlein aufs Haar gliche … Und
– er fragte mich …«

»Du brauchst es nicht zu sagen. Ja, ich hab’ dich all mein Leben lang
gesucht. – Geh fort, Gitti, du kamst zu spät …«

Da wollte ich wirklich gehen, aber er hielt mich in raschem Griff
zurück. Es tat weh, so fest griff er zu.

»Willst du wohl, Wilde«, zürnte er. »Du sollst nicht immer gehorchen …
Sieh, ich möchte zu Ende kommen mit meinem Märchen aus tausendundeiner
– Wahrheit. – Wenn ich zu Ende bin, lasse ich dich sicher
heimgeleiten. –

Gitti, – Freund Leo und ein anderer Freund, ein Arzt in München,
hielten mich aufrecht. Sie sagten mir, daß ich mich mit Gespenstern
plage, daß ich innerlich gesund sei, sie forschten und brachten
gute Kunde … Ich wurde ruhig, wurde gesammelt und froh, trotz meines
Leidens, das niemals Fortschritte machte, mich nicht ernstlich an
ernster Arbeit hinderte. So wurde, wie allen echten Lages, die Arbeit
meine Lebensgefährtin. Die andre – versagte ganz, sie steigerte sich
in furchtbare Reizbarkeit und den berüchtigten Lageschen Jähzorn hinein
… bis ihre Nerven zerrissen.

Das war mein Leben an ihrer Seite, Gitti.«

»Warum sagtest du mir nichts, Clemens? – Gleich, – als wir uns das
erstemal sahen? – Oder warum schriebst du mir nicht, – daß – – sie
lange, lange tot sei?« fragte ich langsam und leise, und meine Augen
funkelten ihn durch Tränen an. –

Er verstand mich sofort und erschrak.

»O Gitti«, sagte er weich. »Auch _diesen_ Kelch hab’ ich dich trinken
lassen? Und konnte doch wissen, daß eine Gitti darunter leiden _mußte_,
einen Mann zu lieben, der nicht frei war. – Erlaß mir die Antwort! –
Es ist die eine so weh tuend für dich, wie die andere. Aber nun höre,
wie _du_ in mein Herz kamst, Gitti, – willst du es hören?«

»Ja, Ritter Lage.«

»Die Base Jesuliebe erzählte mir von dir. Erzählte von Erfurt und
deinem Elternhause. Und ich öffnete mein einsames Herz, das all
sein Lebtag von der Jungszeit an gedarbt, gehungert und gefroren
beim harten Vater, fern der toten Mutter – bis Base Jesuliebe kam,
die Wunderliche, Unvergleichliche. Und wie ich mein Herz weit ihren
Erzählungen auftat, da schlüpftest du mit hinein, du geschmeidige
Schmerle aus dem Thüringer Waldbach – – und bliebst darinnen.«

»Ja«, bestätigte ich glücklich.

»Sie lacht schon wieder, die veränderliche kleine Regenschirmbase«,
spottete Ritter Lage; »sie trägt Sonne und Tränen in _einem_ Säckchen
mit sich herum.«

»Warum sollt’ ich nicht, Clemens Lage? Du brauchst beides.«

»Ich brauche nichts von dir, Gitti«, sagte er herb. »Herrgott, was rede
ich da? – – Gleichviel. Ich nehme nichts von dir an, du bist ganz
frei, Gitti.« Und nun überstürzten sich seine Worte, als rede er im
Fieber. Er tat’s wohl auch. – »Damals, als ich spürte, daß ich dir mit
Haut und Haar verfallen war, Gitti, und doch auch glaubte, innerlich
gesund zu sein, da tat ich auch heilig Gelöbnis, daß ich um dich werben
wollte in Ehrfurcht. Um die Mutter meiner Kinder, Gitti, hörst du, mein
scheues Kind? Gott, Gott! Wenn ich dran denke, was Jesuliebe Lage mir
von dir erzählte! Von deinen närrischen – anspruchsvollen Wünschen,
Gitti … Trunken war ich vor Glück. – Dich zu nehmen, dich zu lehren,
dich aufzuwecken … Und da nahm ich das Ringlein vom Topasenschmuck
und band es mit einem Myrtenzweig und goldenem Bande an meiner Mutter
Gebetbuch. Dort hängt es an dem Tannenbäumchen, Gitti. – Aber du wirst
es nie bekommen und tragen … Denn – ich reiste landauf landab, die
Kreuz, die Quer in jede große oder kleine Stadt, darinnen kluge Ärzte
lebten, und eröffnete mich ihnen … Und es hat mir jeder versichert
– – – Gitti – Liebes – – _daß ich entsagen müsse_.« –

[Illustration]

Als Ritter Lage mir dies Schwere aufzuheben gegeben, – da bin ich
wohl sehend geworden und um Jahre gereift. Ich erhob mich von meinem
Platze und ging festen Schrittes zum Tannenbäumchen, nahm das »vierte
Päckchen« von seinen Zweigen und öffnete es. Ein rotes Gebetbüchlein
mit goldenem Schloß lag darin, daran hing an goldenem Kettchen der
Topasenring. Ich steckte ihn an meinen Finger und trat zum Ritter Lage.
»Hier steht deine Braut, Clemens Lage«, sagte ich schlicht. »Was ist’s,
dem wir entsagen müssen? Denk’ nicht daran, Ritter Lage. Wenn wir
beisammen sind, – _das_ ist Glück. Wenn ich mit dir zu Tisch sitze,
dich pflegen darf in Krankheit, die Gott verhüten möge, _das_ ist
Glück. Dein Leiden, das ist wohl traurig – – könnt’ ich’s für dich
tragen. Ich wollt’ dich dann wahrlich nicht fortschicken, sondern dich
bitten, mich zu stützen, Ritter Lage. Und – wenn wir kein Kindchen
haben dürfen, – – hab’ ich nicht drunten ein ganzes Waisenhaus voll?
Und darf ich nicht deine Schwester sein?«

[Illustration]

»Gitti, du marterst mich unsäglich«, stöhnte er auf. »Mit deiner holden
Güte marterst du mich. – Willst du mich durchaus ganz klein sehen?
Soll ich dir bekennen, daß ich zu solchem zahmen Glück nicht tauge? Daß
ich dich in derselben Stunde, da der Priester uns verbunden, in meine
Arme reiße, meine stolze, scheue Gitti? Und daß ich es doch nicht zum
zweiten Male ertragen würde, mich geschmäht und verachtet zu sehen von
einem Weibe, weil der Sieche, der Krüppel nach Menschenglück und Lust
verlangt hatte? Geh, Gitti, – ich _bitte_ dich, geh.«

Da löste ich meine Füße von der Stelle, wo ich stand. Und sah ihn an,
der mich fortwies. Und schritt zum Tisch und mußte mich an diesen
klammern, weil sich der Raum rings um mich drehte. Muß wohl sehr weiß
und krank ausgesehen haben, denn Ritter Lage stand plötzlich neben mir.
Aufrecht, nur leicht auf den Stock gestützt. Den linken Arm legte er
um mich. Tief und gut sah er mir in die Augen. »Was bin ich für ein
Barbar! Darf ich verlangen, daß dies kleine Mädchen stärker sei als
ich? Soll ich dich küssen, Gitti? Darf ich? Wirst du dann wieder mein
tapferes Lieb? Wirst du dann wieder rote Wangen haben und strahlende
Augen? Darf ich dir zeigen, wie unsäglich lieb ich dich habe? Und daß
du dich doch nicht zu fürchten brauchst vor dem bösen Zornebock? Hast
du Vertrauen zu mir?«

Ich nickte stumm.

Da nahm er mich an sein Herz. Ritter Lage lehrte mich den ersten Kuß.
– Sonne war ringsum. Sonne. Ich lebte, ich ward. Ich ward gut und
fromm. Und erhielt die Kraft, einen Schattenweg zu durchwandern durch
Kälte, Einsamkeit und Not. –

Wir standen Hand in Hand und Mund an Mund.

Lange, lange.

Die Uhr auf dem Simse tickte.

Die Buchenscheite loderten und fielen zusammen.

Baumzweige, schwer von der Schneelast, schüttelten sich im Wind an den
Fenstern.

Nur vier Worte fielen: »Du Scheue, meine Königin!«

[Illustration]

Heilig war die Stunde. – Und so viel Gotteskraft gab sie mir, daß ich
mich sacht aus seinen Armen lösen konnte. »Du!« sagte ich zitternd vor
Scheu und vor Liebe, »du! Leb’ wohl! Hab’ Dank!« Und ich legte meine
kühle Hand auf seine heißen Augen. Da schwieg sein Begehren; und der
köstliche Zug des humorvollen Spottes, den ich so gern sehe, legte sich
um seinen vornehmen Mund. –

Er nickte nach der Seite hin, als spräche er zu jemand anderem: »So
echt die Gitti! Sie dankt _mir_ für eine Stunde namenlosen Glückes, die
_sie_ mir schenkte …«

Er ging nach der Wand hin und drückte auf einen Elfenbeinknopf.
Nicht lange, da stand die alte Eva auf der Schwelle einer verborgen
sich öffnenden Tür. Und sie hielt einen hohen silbernen Leuchter mit
brennender Kerze in der Hand. »Liebe Eva,« sagte Ritter Lage mit
fester Stimme, »führe unsere junge Königin zurück in ihr Schloß.« Er
entnahm ihrer Hand den schweren Leuchter und hielt ihn mit seiner
kraftvollen Linken über meinem Haupte und folgte uns durch den schmalen
unterirdischen Gang, den ich zum erstenmal betrat.

Der Schatten lief über die weißen Wände, – sein Schatten … An einer
uralten Bronzetür mit wuchtigen Beschlägen endete der Gang.

Die alte Eva nestelte an umfangreichem Schlüsselbund und schloß auf.

»Leb’ wohl, Glück!« sagte leise seine dunkle Stimme hinter mir.

Da wendete ich mich und sah lange abschiednehmend in das liebste
Antlitz auf der ganzen Welt. Und reichte ihm meine Hand, die er
ehrfurchtsvoll an seine Lippen zog.

Dann blies mein Mund in die flackernde Kerze. – Und so löschte ich mit
eigenem Willen das Licht aus, das mein Glück im grauen Alltag war. –




40.


            An einem Sonntagmorgen.

Ich komme eben von meinen Dorfgängen zurück. War auch vorher in der
Kirche. Und ganz früh schon im Märchenwald … Der keine Wunder mehr
birgt.

Meine Mutter sang früher ein uralt Lied:

    »Die Sunn scheint nit mehr wie eh’.
    Der Tag ist nimmer heiter,
    So liebreich gar nit meh’.
    Mein Herz ist nimmer mein.
    Ich hab’s an dich gehangen,
    Doch bist du von mir gangen,
    Herzallerliebster mein!«

»So liebreich gar nit meh.«

Ein liebreicher Tag! Der war einst mein. Meine ganze Jugend war solch
liebreicher Tag. Und dann jener heilige Christabend! Da _seine_
Liebe mich weckte. Wie könnt’ ich sonst ganz in anderen aufgehen?
Nächstenliebe üben? Opfer bringen, Christ sein, mich selbst verleugnen
um der mühseligen Brüder und Schwestern willen? Mit seinem Bekenntnis
hat er mich geadelt, hat mir Gesundheit, Kraft und Güte verliehen und
sich selbst gut und gütig gezeigt. Denn Ritter Lage ist verschlossen.
Er weiß, was für Aufgaben meiner harren. Er weiß, wieviel Sonne ich
abgeben muß. So senkte er mit seinem Bekenntnis eine Fülle von Sonne
in mich hinein, die sich niemals erschöpfen kann. – Aber vielleicht
fühlte er auch erst, als er mich küßte, wie gut er mir war. »Du
Scheue!« »Meine Königin!« hat er mich genannt. Und einmal strich es an
meinem Ohr hin: »Liebste!« Kann eine Frau wohl je vergessen, wenn der
einzige Mann, den sie im Herzen trägt, Liebste zu ihr sagt? – Nun bin
ich Frau Liebe, Frau Treue, Frau Güte. Wenn ich mit umflortem Blick die
Wunderwelt Gottes streife, die bereiften Bäume, die schneeglitzernde
Heide, die Abendsonne über dem tiefdunkeln Weiher … dann rufe ich wohl
zugleich:

»Ich sollte in Freuden vor euch stehen und meine Augen strahlen lassen:
ihr seid so schön. – Habt Geduld! Ich will es wieder lernen, das
heilige Lachen.« Und so sage ich auch den kranken Menschen, die nach
meinen frohen Augen verlangen, weil sie meinen, diese zwei Sonnen
ständen ihnen wohl zu, da sie doch von Gottes Sonne in ihrem Siechtum
nichts sehen.

Du Ritter Lage! Das war deine Mission. Was ich jetzt tue an
Heilkräftigem und Gutem, du hast es ausgelöst für immer durch dein
Bekenntnis. Und wenn ein Segen von mir ausgehen wird, – _du bist sein
Urquell_. – –


            Montag.

Der liebe Freund war gestern bei mir. Leo von ter Mählen. Ritter Lage
hatte ihn geschickt. Wie arbeitete es in seinem Antlitz, als er vor mir
stand! Er hielt eine lange Weile wortlos meine Hände, und dann klang es
nur: »Freiin Brigitte! Sie armes, tapferes Mädchen …«

»Wer tapfer ist, ist niemals arm«, entgegnete ich ihm leidlich fest.
Dann saßen wir erst lange schweigend.

»_Das_ hatte ich nicht vermutet«, sagte er endlich. »_Das nicht._ –
Das reichste Glück hätte mir gerade eben getaugt für Clemens Lage.
Diese düsteren, zwanzig Jahre, die hinter ihm liegen, hätten verklärt
werden müssen durch ein Meer von Licht, das durch Sie zu ihm gekommen
wäre, Freiin Brigitte. Könnt’ ich’s dem Clemens schaffen … was setzte
ich _nicht_ dafür ein? Glauben Sie mir, Brigitte?«

»Ich glaube es Ihnen. Und der Gedanke, daß Sie, sein bester und
liebster Freund, in meiner Nähe bleiben, das macht meinen Weg so viel
sonniger.«

»Sie sind bescheiden, Baronin. Aber daß Sie nur über mich zu befehlen
brauchen, das soll Ihnen immer gegenwärtig sein. Ich will Ihnen die
Hände unter die Füße breiten, genügt Ihnen das?«

»Es ist viel zu viel«, wandte ich ein. »Ich bin Ilexwege gewohnt, bin
auch nicht wehleidig. – Hat Ihnen Clemens Lage erzählt, daß wir uns
restlos ausgesprochen haben?«

»Menschen wie ihr können sich niemals restlos aussprechen«, meinte er
ernst. »Ihr seid dazu geschaffen, ein ganzes Dasein lang euch immer neu
zu sehen und zu erleben.«

»Immer neu zu sehen und zu erleben«, wiederholte ich. »Das habe ich mir
ersehnt mein ganzes, junges Leben lang …« Und ich wehrte meinen Tränen
nicht, die plötzlich hervorbrachen.

Da sprang Baron ter Mählen auf. »Nicht so, nicht so, teure Brigitte,«
rief er, »ich kann Sie nicht leiden sehen …«

Er lief im Zimmer umher, wie ein Tiger im Käfig. Der Schmerz, zwei
liebe Freunde im aussichtslosen Kampfe zu sehen, hob ihn aus dem
Gleichgewicht.

»Haben Sie Clemens Trost gebracht?« fragte ich endlich leise.

»Meinen Sie, Baronin, daß solches Geschehen irgendeinen Trost in sich
birgt? Oder daß unser Freund aufnahmefähig gewesen wäre? Überdies
bedürfen Clemens und ich niemals vieler Worte. Ich sagte ihm nur: ›Es
ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan.‹« – –

Ich wand meine Hände in bitterm Schmerz ineinander.

»Wäre es nicht besser gewesen, Brigitte, Ritter Lage hätte Sie
unwissend gelassen? Er hat Sie aufgestört durch das Bekenntnis seiner
Liebe …«

»Wagen Sie es, dies auszusprechen?« rief ich außer mir. »Hätte er
geschwiegen, so hätte er einen Verschmachtenden ohne Wegzehrung auf
eine Wüstenwanderung geschickt. Dessen ist ein Ritter nicht fähig. Oder
bereut er jene Stunde im dorischen Tempel?«

»Sieh, sieh, was der Lagesche Jähzorn für Blüten treibt«, sagte
Baron Leo beruhigend. »Clemens denkt genau wie Sie. Sogar das Wort
›Wegzehrung‹ gebrauchte er.«

»Ich segne jene Stunde«, sagte ich fest. »Und ich werde immer so mein
Leben formen, als sei ich seine Gattin und hätte die Ehre seines Namens
zu hüten.«

Ter Mählen sah mich erschrocken an. »Das ist ein vorschnelles Wort, das
Sie sich geben, Brigitte Lage. Ihr Leben liegt noch unausgefüllt in
langer Strecke vor Ihnen …«

»Es ist randvoll ausgefüllt!« rief ich. »Vom ersten Augenblicke an
wußte ich, daß Ritter Lage mein Schicksal war. So lächerlich es Ihnen
klingen mag, Baron, – die wunderlichen Berichte, die Clemens auf das
dicke gelbe Büttenpapier schrieb, gaben mir all das, was Vaters früher
Tod an meiner Erziehung zum Menschen übrigließ. Ich verdanke Ritter
Lage mein Selbst.«

»Und Ihr Glück, Brigitte? Ihre volle Entfaltung? Ihre Erfüllung?«

»Ich bin nicht unglücklich«, wehrte ich ab. »Ich habe Clemens Lage
reiner, fester und größer zu eigen, als ihn je ein Weib besitzen
könnte. Aber meine Jugend und mein Begehren hat er mit sich genommen,
die gab ich ihm als Geschenk in jener Stunde. Und er gab mir dafür sein
Vertrauen …«

Baron von ter Mählen streckte mir beide Hände hin. »Sie haben sich das
Größeste vorgenommen, Freiin Brigitte. Sie wollen aufgehen in andern.
Doppelt schwer das Wagnis, weil Sie aus sich, und _nur_ aus sich selbst
Liebe schürfen wollen, ohne selbst erneut zu werden. Aber wenn ein
Mensch auf Gottes Erde dies Wagnis unternehmen kann, so sind _Sie_ es.
Werden Sie mich rufen, Baronin, wenn Sie meiner bedürfen?«

Er stand auf, und ich gab ihm meine Hand, die er ehrerbietig küßte.

Ich bejahte seine Frage. Dann war er gegangen, und meine einsame
Wanderung begann. – – –




41.


Die alte Eva kommt mir von Kräften. Freilich ist sie weit über die
Siebenzig hinaus. Aber sie konnte doch noch huschen und schleppt sich
jetzt am Stock. Den verbirgt sie vor mir. Wie töricht! Sie soll ein
gutes Ausruhen und meine töchterliche Pflege in Haus Lage haben. Es ist
mir ein lieber Gedanke, daß ich selbst älter werde bei diesem alten
Inventar und … Nein. Wenn ich diesen Satz zu Ende schreibe, so klingt
aus ihm müde Entsagung und Verzicht. Das soll nicht sein. Wenn ich
untapfer an meine Mission herangehe, so kann Ritter Lage keine Freude
an Gitti haben. Seinen Stolz auf mich, den will ich mir verdienen.
Seit ich weiß, wie hoch er mich wertet, seitdem will ich diese Höhe
erreichen … Auch nicht wegmüde und wund auf dem Gipfel niederfallen.
Weiterschreiten. – Hie und da rückschauend rasten, aber nicht rosten.


            In der Dämmerung.

Eben ging die alte Eva aus meinem Zimmer. Sie hatte lange bei mir
gesessen, nachdem sie um mein Vertrauen gebeten. – Da hab’ ich es ihr
geschenkt, der alten Dienerin des Hauses Lage, und habe sie dadurch
zur Freundin emporgehoben. Viel Wirrnis hat außerdem diese Aussprache
geklärt. Eva hat sehr unter unserm Mißtrauen gelitten. Ihre Berichte
an den im Ruhestand lebenden Pfarrer waren gut gemeint und sind böse
entstellt worden. Nun wird auch dieser Stein des Anstoßes weggeräumt,
denn der alte Pfarrer verläßt Lage. Das ist gut für den jungen, und
auch für das Dorf, und nicht zuletzt für mich, die Schutzherrin. –

Der Nachfolger Oswalds ist ein ruhiger Gelehrter. Kein Feuerkopf, wie
ihn wohl Lage brauchen könnte, wenigstens die Jugend, die schon gleich
am ersten Sonntag nach seiner Predigt Gesichter aufsteckte, die besagen
sollten: »Der Mann tut uns nichts.«

Und seine Frau scheint kränklich zu sein. Immer etwas stöhnend und
Klageweibchen. Pastoren und Lehrer sollten gesunde Frauen heiraten,
– wer sollte es _nicht_? Aber es steckt ja auch viel Grausamkeit
in dem Verlangen. Ich hatte mich darauf gefreut, mit der Pastorin
die praktische Leibsorge auszuüben, während dem Pfarrherrn das
Seelenheil der Dörfler verbleiben sollte. Damit ist es nun nichts.
Zu allererst muß ich immer die Pfarrfrau betreuen, die mir immerhin
ein gutes Vertrauen entgegenbringt. – Aber mehr als 365 Krankheiten
erlaube ich ihr nicht. Heute hielt sie mich und sich auch mit viel
Schreckhaftem auf, bis ich ihr den guten Rat gab, mich zu begleiten
und über dem wirklichen Leid und der Not ihrer Pfarrkinder die eigenen
Schwierigkeiten zu vergessen. Und nun haben die 3 Wanderstunden,
die wir heute von Haus zu Haus unternahmen, hoffentlich Gutes
ausgewirkt. – Die Pfarrfrau sah mit großen, erstaunten Augen auf
all die Bresthaftigkeit ringsumher, sah auch leuchtende Augen über
eingefallenen Wangen und hörte den dankerfüllten Bericht einer
Mutter, daß sie nach monatelangem Wachen am Bett ihres kranken
Kindes nun wieder ein Stündchen hätte ruhen können, weil es so
herrlich vorwärtsginge. – Und sah dann auch den erbärmlichen kleinen
Krüppel, um den diese Nächte durchwacht wurden. Das »Nichtsehen« und
»Dochglauben« wird allen Menschen so schwer. Auch meiner Pfarrerin von
Lage muß man mit Beweisen kommen. –

Die Sonntagmorgen sind mir meine liebsten Stunden. Wenn ich von
meinen Samaritergängen zurückkehre, wie Ritter Lage meine Dorfbesuche
nannte, dann kann ich nicht sofort in das Gleichgewicht kommen. Ich
muß erst mit Bäumen, Sträuchern, Wiesen, Wald und Feldern Zwiesprache
halten. Heute suchte ich meine Birke; ich rieb mir die Augen, weil ihr
kraftvoller Stamm mir sonst immer schon von weitem leuchtete in seinem
scharf umrissenen Schwarzweiß. Dann fand ich sie am Boden liegend. Mein
Ausruf mag wohl wie ein Stöhnen geklungen haben, denn der Förster ging
von den Holzfällern fort und trat mit der Entschuldigung zu mir heran:
»Die Birke hatte den Wurm in sich.« Den Wurm in sich – mein Kleinod,
mein prächtigster Baum …

Ich schaute auf den Gefällten nieder und dachte daran, daß hundert
Frühlinge ihn in Liebe zum Licht emporgetragen hatten … Ein Wurm schlug
ihn zu Boden und nichtige Menschenhand. – Der Förster sah befremdet
nach mir hin, als ich antwort- und grußlos weiterschritt. Mir galt
der Wald nichts mehr, da der eine Baum fehlte. Wie schwer wird meine
Erziehung zum Verzicht sein! Vor wieviel Lücken soll ich noch stehen
und tatlos warten, bis sie sich schließen, oder bis sich mein Empfinden
vor ihnen verschließt?

Auf diesem ernsten Heimwege begegnete mir die Korb-Sina. Mir war sie
wie ein Gruß, wie der winzige Teil eines Glückes, das verschollen war
und vergessen sein sollte. Ich hätte sie mit beiden Händen festhalten
und an mich ziehen mögen. Um leise eifrig an ihrem Ohr hin zu sprechen:
»Wie geht es _ihm_? Wo weilt er? Betreust du ihn? Hängt mein Name noch
in seinen Räumen? Spricht er von mir?«

Aber als ich hastig ihren Namen rief, sah sie mich mit bösen Augen
an und stieß nur hervor: »Maria ist fort!« Da war ein Klang drin,
erschütternder als der Fall der Birke. –

»Was soll das, Sina?« rief ich noch. –

Da war sie schon entwichen. –

Aber meine Füße wollten mich kaum weitertragen. Ich sah ihr lange nach.
_Dir_ gibt sie die Schuld, daß das einzige, was diese verachtete Frau
besitzt, fern von ihr und der Heimat leben muß …

Wie stark muß ich werden, um auch ungerechte Vorwürfe klaglos zu
ertragen. Und wie abgeklärt, gerecht und verzeihend, um über allem zu
stehen und – »wohlzutun denen, die dich beleidigen oder verfolgen«.

Still war mein Heimweg, nachdenklich trat ich ins Haus. – Hier
fand ich Tante Fernande meiner wartend. Mit heißen roten Bäckchen
trippelte sie in ihrem Sonntagsstaatsgewand im langgestreckten Zimmer
auf und nieder, ungeduldig zusehend, wie ich die Garderobe ab- und
zusammenlegte. Bis Eva kam, um alles in den Schrank zu hängen. Die
Krinoline, welche Tante Fernande unter den Kleidern von Muhme Jesuliebe
trägt, wippte auf und nieder, und sämtliche Falbeln rund um den weiten
Rock schienen in derselben Aufregung wie die Trägerin selbst zu sein.
Als ich dann endlich äußerlich geruhig neben ihr saß, packte sie die
Nöte ihres alten Herzens aus.

Haus Lage sei ein kaltes Grab, sie aber nicht gewillt, sich in ein
solches schon mit siebenzig Lenzen hineinzulegen, da die deutschen
Lages doch allesamt 90 Jahre und mehr erreichten. So sie aber dieses
Leben in Langeweile weiterführen müsse, würde ihr mattglimmender Docht
unweigerlich verlöschen.

Also gewählt drückte sich Tante Fernande aus, denn das Idiom des
Altenfrauenhospitals war ihr nie recht geläufig gewesen, und das wenige
davon hatte sie schnell in Haus Lage vergessen.

»Ei«, entgegnete ich ihr. »Da ist rasch abzuhelfen. Langeweile soll
der widerlichste Gast sein, den man sich denken kann. Gottlob, daß
ich ihn in meinem ganzen Leben nicht kennenlernte. Tante Fernande,
ich habe keine Kindergärtnerin, seit Maria Oswald fort ist, und die
neue Pfarrfrau ist kränklich. Willst du dies Amt übernehmen in deiner
frischen Rüstigkeit?«

Das letzte war allerdings etwas stark aufgetragen, aber ihr ganzes
Persönchen verjüngte sich unter meinen Worten, und lebhaft erwog sie
alle Vorteile dieser neuen Tätigkeit. Zuletzt kam freilich noch ein
tiefer Stoßseufzer als Frage, wer ihr den Ohm Matthias ersetzen
könne, der zwar ein ungehobelter Patron und Barbar, doch ein Meister
im Schachspiel gewesen sei, und dieses entbehre sie ungeheuerlich. So
versprach ich ihr denn als Partner den Baron von ter Mählen, und sie
lächelte sofort versöhnt.

Dann wurde sie elegisch. »Ich hatte es mir anders gedacht, Nichte
Brigitte. An den ersten Besuch von Baron _Clemens_ Lage hatte ich
Hoffnungen geknüpft …«

Da geleitete ich sie sacht zur Tür hinaus. Sie ist ja wie ein Kind und
wird sich rasch beruhigt haben. Ich aber nicht. Ich kann noch nicht von
Möglichkeiten reden hören, welche die Prinzessin Ohnearg und Weißnichts
verschlafen hat …


            31. Dezember.

Heute ist Silvester. So einsam habe ich es wohl noch nie erlebt.
Daheim bei den Eltern pflegten wir aufzubleiben bei Kartenorakel
und Bleigießen, und in der Neujahrsnacht wurden dann noch einmal
die unvergeßlichen Weihnachtslieder unter der brennenden Thüringer
Edeltanne gesungen, bis Licht um Lichtchen knisternd erlosch. – Und
dann saß man still plaudernd noch ein Stündchen zusammen, und ich
nahm goldene Vater- und Mutterworte in jedes neue Jahr mit hinüber
und baute auf ihnen mein Leben weiter auf. Gesegneter Untergrund!
Gesegnet Silvester! Heute bin ich allein. Tante Fernande ist zu Pastors
gegangen. Sie hat im Spital eine Menge fröhlicher, lebenbejahender
Altjahrsabendscherze kennengelernt, sogar Mummenschanz haben die
verhutzelten Weiblein getrieben, und ich konnte Tante Fernande nur mit
Mühe zurückhalten, als Knecht Ruprecht verkleidet ins Pfarrhaus zu
stapfen. Ordentlich alt kam ich mir neben ihr vor, als sie kichernd mit
ihrem Laternchen abzog, in ihrem Pompadour Kartenspiele und Scherze
bergend, als Überraschung für das biedere, pfarrherrliche Paar.

Die alte Eva habe ich zu Bett geschickt, – mir selbst wollte ich die
Novellen von Wilhelm Raabe auf meinen Schreibtisch legen …

       *       *       *       *       *

Da lag schon etwas anderes …

Ritter Lage schreibt: »Mein heiliges Lichtchen soll am Silvesterabend
nicht noch einsamer brennen, als es ohnehin leuchtet. Ich will bei ihm
sein. Du! Du!

Leo ter Mählen hat mir erzählt. Hat mir ein Wort von Dir gesagt, wie es
eben nur das Licht von Lage in seinem Herzen hegen kann: ›Ich will mein
künftiges Leben so formen, als ob ich Ritter Lages Gattin sei und die
Ehre seines Namens zu hüten hätte.‹ –

Und nun sage ich Dir, der ich immer tölpelhaft in Dein Leben eingriff,
Dich mit bösen Worten kränkte, wo Du die Liebe selbst verkörpertest,
und Dich schlug, wenn ich Dich hätte streicheln sollen, daß Du mich
nicht so hart strafen darfst, Gitti. –

Nicht freveln darfst Du – nicht einsam bleiben.

Um Deiner selbst willen nicht, Du starkes, schönes, geliebtes Geschöpf.
_Das_ soll meine Strafe sein, daß ich Dich inmitten der Deinen sehen
muß an der Seite eines kraftvollen Gatten, dem Du gesunde Kinder
schenkst …

Gitti, um eines boshaften, siechen Mannes willen, der Deine Liebe
hundertfach kränkte und verletzte; und der sie zum Schlusse nicht
einmal annimmt aus Deinen reinen Händen … Gitti, – nicht um
meinetwillen darfst Du verkümmern in Einsamkeit und Öde von Lage …

Laß Dich herausreißen von einer starken, vornehmen Männlichkeit,
verschwende keinen Gedanken mehr an mich.

Wenn mein Leiden größere Fortschritte machen sollte, so will ich mich
selbst in Haus Lage vergraben, wenn Du es verlassen hast. Dein Geist,
Gitti, bleibt ja doch darinnen und wird sich meinem brennenden Heimweh
zugesellen …

            Der Enterbte.«

Nach dem Lesen dieses Briefes bin ich zum erstenmal als Herrin
aufgetreten. Ich habe die Antwort geschrieben und dann in der
Silvesternacht die alte Eva geweckt und habe sie durch den
unterirdischen Gang mit dem Briefe zu Ritter Lage geschickt. Bis zur
Hälfte des Weges geleitete ich die Müde an meinem Arm, und sie schritt
wacher und froher als je zuvor. Weil sie hofft …

Clemens hat ihr selbst meinen Brief abgenommen:

»Ritter Lage, Du hast gar nicht das Recht, mir so zu schreiben. Denn
da Du meine Liebe und mein persönliches Ich ablehntest, gehöre ich
wieder ganz mir selbst. Über mich selbst aber habe auch nur ich zu
entscheiden.

Ich bleibe allein. –

Und die letzte Lage möchte dereinst in Lage sterben. Deshalb weise mich
nicht fort aus dem Urväterhaus, auch wenn Du lebenslängliches Wohnrecht
darin hast. Ich werde Dir nie im Wege sein. Und Du allein sollst
bestimmen, wer unser Erbe dereinst antreten soll. Bis dahin – höre
wohl zu, Ritter Lage – verwalte ich dies Erbe, als ob ich Deine Gattin
sei und die Ehre Deines Namens zu hüten hätte. – Eine deutsche Lage
schenkt Herz und Mund und Leib und Seele _freiwillig_ nur dem, den sie
liebt. Dem bleibt auch ihre Treue über das Grab hinaus. Selbst wenn er
ihrer nicht wert wäre. So hat es mich mein Vater gelehrt. Du aber bist
der Ritter Lage, und ich gab Dir meine Liebe ohne Vorbehalt.

In das Dunkel unserer Tage aber laß uns Sonne tragen.

            Deine Brigitte.«


            Im Januar.

Wie öde ist dieser Monat. So lastend der Schnee. Und wenn er vertaut,
wie tief und zäh dann der Schmutz in der Dorfstraße. Ich muß dann
plötzlich an mein liebliches, reinliches, blühendes Erfurt denken,
darinnen ich nie einen so dichten, nimmer sich hebenden, nassen Nebel
erlebte. Oder sind das nur Stimmungen? Ist alle Verklärungskraft von
mir gewichen? Dünkte mich nicht einst auch der Nebel schön? Weil ich
durch ihn hindurch in die Waldkapelle schreiten durfte, in der mein
Licht glühte? Und lachte ich nicht früher hellauf, wenn ich mit meinen
festen Rindsledernen im Schlamm steckenblieb, nur weil es Lager Erde
war, die sich an meine Sohlen heftete und mich festhielt im Lager Grund?

Aus der Tiefe schmerzlicher Stunden, des Heimwehs, der Vereinsamung
hilft mir jetzt oft Beethoven, der Schutzherr der deutschen Lages.
Wenn ich nicht allzuoft an meinen Flügel komme, so liegt es an der
großen Arbeitslast, die auf mir ruht, und die Baron von ter Mählen
»ungeheuerlich für ein kleines Mädchen« findet. Er ahnt doch wohl nicht
so recht, daß diese Arbeit meinen einzigen Gesundbrunnen bildet, in den
ich niedertauche, wie in ein Kohlensäurebad. Und dann die Musik, –
Beethoven! Die Töne dünken mich Eimerchen, die sich in mich versenken
und dann wieder emporsteigen, randvoll gefüllt mit guten Gedanken und
Vorsätzen, die sich nun verteilen lassen auf ödes Brachland rings
um mich her. Musik ist Religion, sie hebt meine Seele zu Gott. Die
Holländer Lages waren nicht ausübend musikalisch, sie sind allezeit nur
»musikhungrig« gewesen, wie mir einmal Baron ter Mählen andeutete. Und
dies Innerliche ist oft mehr als protzendes Künstlertum.

Mein köstlicher Bechsteinflügel ist recht mein treuer Freund. Er
muß mir ja auch alles ersetzen, was sonst in junge Herzen Glück
hineinbringt. Und ich kann ihm weit mehr anvertrauen als irgendeinem
lebendigen Menschen. Und wenn er es weit hallend ausplaudert bis in
den Winterwald hinein oder es flüsternd an das leuchtende Kaminfeuer
hinsagt, so tut er mir nicht weh, sondern wohl. – –

Am Siechenheim und Krankenhaus wird bienenfleißig gebaut, soweit es
wechselnde Witterung zuläßt. Der junge Baumeister verehrt den Ritter
Lage sehr und hat diese Verehrung auf mich übertragen. Er geht ganz
in unsern Gedanken und Anregungen auf, und jedesmal, wenn ich den Bau
besichtige, finde ich wieder etwas Neues. Etwas noch Schöneres und
Zweckmäßigeres, als ich es mir vorgestellt hatte. Das ist ein köstlich
Miteinanderarbeiten. Wenn der Frühling kommt, dann wird wohl das Haus
fertig stehen, und ich will ihm und zugleich meinem Haus und Dorf einen
neuen Namen geben. Das »Lager Huus« soll freilich bestehen bleiben,
aber »der graue Alltag …« Könnt’ ich dies Wort verschwinden lassen!
Könnt’ ich’s mit hartem Meißel ausmerzen bei den Leuten und in meinem
eigenen Innern. Noch bin ich nicht so weit. An jenem Tage freilich,
jenem unvergeßlichen, da der Topasenring im Tannenbäumchen hing, da mir
Ritter Lage sagte: »Ich habe dich lieb, Gitti …«, da hätte ich jubelnd
rufen mögen: »Ist irgendwo auf dieser gesegneten Gotteswelt noch grauer
Alltag?« Und hätte Kraft und Willen gehabt, ihn mit meinem Überfluß an
Liebe zu durchsonnen. Das ist vorbei. Ein Abglanz jenes Geständnisses
aber blieb als stilles Leuchten in mir. Es kann nie wieder ganz dunkel
werden in Lage. Aber grau ist es noch ringsumher, und wie soll ich
einen leuchtenden Namen finden, wenn er nicht aus Licht und Helle
herausgeboren wird? Warten muß ich. In Gehorsam gegen Gott warten.

Mich strebend weiter mühen.

Zünd an, Brigitte, zünd an!




42.


            Im Februar.

Wie schrieb ich so treibend fröhlich in den ehrenfesten Folianten
hinein, als noch eine treibende Fröhlichkeit in mir selbst schaffte.
Jetzt nehme ich immer nur Anläufe, aber es kommt nicht zum sicheren
Sprunge über die Hemmungen hinweg. Die lieben Nachbarn, das Pfarrhaus,
die Lehrersleutlein, die Heidkamper und Baron Leo sorgen sich um mich.
Man sagt mir, daß ich schlecht aussähe, große, bange Augen bekommen
hätte und Anlage zur Einsiedelei in mir trüge, der ich um die Welt
nicht nachgeben dürfe. Man schlägt mir eine große, zerstreuende Reise
vor, und jeder einzelne dieser treuen, besorgten Freunde hat mir einen
andern Fahrplan ausgearbeitet. Zerstreuung erhoffen sie für mich! –
Und ich brauche Sammlung. Niemals habe ich in Lager Abgeschlossenheit
Theater und Konzerte so sehr entbehrt, wie ich in der lauten Stadt die
Natur entbehrte. Und jetzt soll ich schon fahnenflüchtig werden? Meinen
Vorsätzen? Muhme Jesuliebes Mahnungen? Meinem Dorfe? Meinem Hause?
Meinem Lager Wald? Wie wenig kennt ihr doch alle die Gitti. Die Ehre
des Namens Lage gebietet, da ich hier bleibe. So sei es. –

Heute, nach so langen Wochen, kam ein guter, treuer Brief des Pastors
Konrad Oswald aus Berlin. – Maria kann sich in der Großstadt nicht
eingewöhnen, so schreibt er, aber er selbst fühlt sich ganz auf dem
rechten Posten. Er muß noch Petrus, der Fischer sein, seine Kirche
ist noch vielfach leer, aber auf die Hilfe und Treue der wenigen,
die ihm allsonntäglich zuhören, baut er fest. Von der Seelsorge
außerhalb der Kirche spricht er überaus fesselnd und rühmt Maria, die
eine vorbildliche Pfarrfrau sei und mit den elendesten Kranken und
verkommensten »Gesunden« in seinem Sprengel Fühlung habe. Aber alle
seine werbenden Berichte über Marias Eigenschaften vermöchten kein Echo
im Herzen seiner Mutter zu wecken, die mit verstockter Starrheit an
ihrem Eigensinn festhalte. Nicht mit Bitterkeit schreibt er davon, aber
tieftraurig. Es muß sehr schmerzen, wenn man in einem nahestehenden
Menschen echte Liebe vermutete und erfindet ihn als klingende Schelle
und tönendes Erz. –

Ich aber will es noch nicht wahr haben, daß diese feine, alte Frau
nur verstockt ist. Wer will ein Mutterherz und seine vielfarbigen
Schwingungen ergründen, oder sie gar mit kurzen Worten abtun?
Jedenfalls bin ich sehr glücklich, daß Pfarrer Oswald mir endlich
geschrieben hat, und daß ich auf diese Weise Bindeglied bleibe. Denn
ich hörte von Frau von Heidkamp, daß Oswalds Mutter herzensgut von mir
gesprochen habe. – So wird sie mich auch eines Tages wieder in ihre
Freundschaft rufen und wird bei mir anfragen, wie es ihrem Sohne gehe.
Dann kann ich ihr antworten, daß er die rechte Gattin fand, die seinen
Beruf ideal erfaßt und in ihm aufgeht, und daß es töricht von der
Mutter sei, sich nicht in seinem Glücke mit zu sonnen.


            Grauer Alltag im Mai.

Heute jährt es sich, daß ich ins Lager Huus einzog. Aber ich muß
erzählen, was mir geschah, als ich das letztemal den ehrenfesten
Folianten aus der Hand legte. –

Es war an einem lenzigen Februartag, da ich zum erstenmal wieder leise
singend in den Wald schritt. Ein altes Lied aus Kindertagen fiel mir
ein. Und mir wurde frühlingsfroh zu Sinn, und kindhaft war mein Fühlen
und nicht ahnend, daß der Abend dieses vorlenzigen Tages ein weher,
herbstlicher, ein brutal zerstörender sein sollte.

    »Nun fangen die Weiden zu blühen an,
    Die Vögelein zwitschern schon dann und wann;
    Und lieget auch noch in Furchen der Schnee,
    Und täte der Reif auch dem Frühling weh – –
    Wer weiß, über Nacht …
    Da kommt er mit Macht!
    _Nun jauchze, mein Herz!_«

Wirblig war’s mir in Kopf und Herz von den aberhundert Erinnerungen,
die durch dieses Lied geweckt wurden. An köstliche, unvergeßliche
Stunden, da wir es einst im Thüringer Walde sangen. Ich lehnte mich
sinnend an den Stamm einer der Weiden, die den Lager Weiher umstehen.
Und die schier rot wie Blut leuchteten von warmer, treibender
Vorfrühlingskraft. – Da sagte eine mißtönende Stimme irgendwoher:
»_Sie kann singen – – sie kann es schon wieder._« Dann folgte ein
schrilles Lachen.

Die Korb-Sina hatte sich schier in die Höhlung der Weide verkrochen,
ein Korb mit Baumerde stand neben ihr. Das Weib sah mich böse an, und
doch auch abwesenden Blickes, als sei sie sich nicht völlig bewußt, mit
wem sie spreche.

Und da ich in ihre gramvollen Züge sah und die Anklage, die in den
Augen stand, nicht ertragen konnte, fragte ich eindringlich: »Sina, was
habe ich dir getan?«

Die Alte kreischte auf. »Sie fragt! Sie untersteht sich zu fragen!
Die reiche Baronin fragt, was sie dem ärmsten Weib im Dorf gestohlen
hat.« – –

Nun hätte ich wohl weit fortlaufen mögen, aber Sina hielt mich mit
harten, knochigen Fingern fest.

»Laß mein Kleid und meine Hand los,« gebot ich ruhig, »ich setze mich
neben dich auf den andern Stamm, wenn du mir Wichtiges zu sagen hast.«

»Wichtiges?« wiederholte sie spöttisch. »Ich glaube wohl. Wichtiges! Je
nun, wie man es nimmt! Wichtiger für Sie, gnädige Baronin, als für die
verachtete Korb-Sina. Wenn Sie mir nicht meine Maria genommen hätten,
behielte ich’s für mich, was ich weiß …«

»Ich habe dir nicht deine Maria genommen«, rief ich ungestüm, aber sie
fuhr fort, als hätte ich sie nicht unterbrochen.

»So aber bin ich für Gerechtigkeit. Warum sollen Sie, die Fremde, die
eigentlich gar nicht hierher gehört, die Lager Luft riechen, die Lager
Milch trinken und das rote Lager Gold besitzen und meine Maria da in
der stickigen, wilden Stadt hocken, allein, mit einem Mann, der _dich_
liebt, jawohl _dich_, _dich_!« Und sie schüttelte mich.

Ich riß mich los. Mein Herz schlug laut, aber ich war doch ruhig, oder
ich konnte es scheinen. »So wirst du mich nie wieder berühren, Sina!«
gebot ich fest. »Das schickt sich nicht für dich und nicht für mich.
Und das weißt du wohl. Und nur, weil du Sehnsucht nach deiner Enkelin
hast, antworte ich dir. –

Konrad Oswald liebt seine Maria«, fuhr ich fort. »Wer in so warmen
Worten sein Weib preist, wie es Marias Gatte tut, der gehört ihr auch …«

Sina machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ehren muß er sie, aber das andre, das andre … Warum sind Sie hier?«
fuhr sie mich an. »Meinen Sie, weil ich die verachtete Korb-Sina bin,
ich merke nichts? Ich spüre die Motten nicht, die ums Helle flattern?
Bis sie sich verbrannt haben? – Ich hab’ den Herrn Baron Ellers
gefunden, _ich_ hab’ ihn zuerst gesehen«, trumpfte sie auf. – Mir
war jetzt sehr bang geworden. Sinas Augen sahen nicht aus, als ob die
Besitzerin völlig klar sei. – Und es war auch empfindlich kalt auf
dem feuchten Weidenstamm. Mich fröstelte. »Ja, und dann ist da der
Baron von ter Mählen, ist Mitte 50 und macht noch schöne Augen. Und
der Heidkamper. Und der Baumeister! Und der neue Pfarrer! Alles, alles
Motten …«

»Sie ist verrückt,« sagte ich mir, »sie sieht entsetzlich aus, und du
mußt rasch fort von ihr.« Aber ich blieb doch ruhig sitzen, um sie
nicht zu reizen. Und plötzlich bog sie sich zu mir herüber, daß ein
widerlicher Atem meine Wange streifte; er kam wie aus einer Gruft. »Ja,
und dann ist da noch der Baron Clemens Lage …«

Kerzengerade fuhr ich in die Höhe. »Was unterstehst du dich??!« –
»Hab’ ich’s getroffen?« zischte sie frohlockend. »Ahhhh! Aber den, –
den bekommen Sie nicht! Der ist gezeichnet. Gott sei Lob und Dank! Den
hält sein Schicksal von Ihnen weg und – – –«

»Seine Ehrenhaftigkeit«, sagte ich laut und wußte nicht, warum ich es
sagte, und warum ich diesem schrecklichen Weibe Rede und Antwort stand.

»Seine Ehrenhaftigkeit!« kreischte sie toll auflachend. »Ahhh, nennt
man das so bei den Vornehmen??? Also aus Ehrenhaftigkeit nahm er Sie
nicht am Weihnachtsabend und verdarb Sie? Da Ihnen die Liebe aus den
Augen sprang, als ob Sie ein Bauernkind wären, Sie gnädige Baronin?«

Mir war’s, als erstarrte ich in eisiger Kälte körperlich und seelisch
vom Kopf an bis zu den Füßen. »Ich weiß nicht, wo du gelauscht haben
magst, Sina,« entgegnete ich tonlos, »ich weiß auch nicht, warum du mir
all dies Entsetzliche sagst … auch nicht, warum du den Baron Lage so
schmähst, der dir nur Gutes getan hat und noch tut …«

Wieder lachte sie schrill. »Ich weiß es«, sagte sie dann böse. »Und
ich weiß auch, warum Sie nicht aufstehen und weglaufen. Weil Sie Angst
vor der Korb-Sina haben. Die könnte Sie hinterrücks überfallen, weil
sie durchaus will, daß Sie alles bis zuletzt anhören. Sie sind jung
und gesund, gnädige Baronin, Ihnen macht das bißchen Kälte nichts aus,
mir gibt es vielleicht den Rest. Gleichviel, ich muß Ihnen noch eine
Geschichte erzählen.«

Da setzte ich wirklich zum Fortlaufen an, aber ein so unheimlicher
Blick traf mich, daß ich mich frierend wieder auf dem Weidenstamm
zusammenduckte. Jetzt redete sie mit einer eintönig marternden Stimme,
die nur hie und da von einem haßerfüllten Ausruf durchzischt wurde:
»Wenn eine alte Dienerin schlecht von ihrem Herrn denken muß, den
sie von seinen Bubenjahren an vergöttert hat, – dann ist es ebenso
ein fressend Leid, als wenn jemand seine Liebste verliert, – ja, so
denk’ ich. Und wenn die zimperliche Eva den ›Ritter Lage‹ fatschte und
hätschelte und sich einbildete, all seine Klugheit hätte er von ihr,
seiner Amme, in sich hineingetrunken, und wenn sie ihm später all seine
dummen Streiche nachsah und ihn vor Strafen schützte: so hat sie es
vielfältig von ihm wiederbekommen. Er hat sie, als er noch Kind war,
gestreichelt und geküßt und nach ihr verlangt; und als er Jüngling war,
hat er sie angelacht und ihr zugejubelt, wenn er in die Ferien kam.
Wo ich aber seinen Weg kreuzte, da hat er mich verächtlich aus seinen
schwarzen Augen angeguckt, und seine Mundwinkel hat er herabgezogen, ja
einmal, als ich ihn lachend festhalten wollte, zog seine Peitsche einen
roten Striemen über meinen Hals. Da sollt’ er abbitten, – das gnädige
Fräulein Jesuliebe verlangte es von ihm. Denn sie war gerecht. Aber der
Junker demütigte sich nicht vor mir, denn er war stolz. Da ließ ihn das
gnädige Fräulein hungern, denn sie wollte ihn _recht_ erziehen, aber
er hungerte lieber, als daß er sich mit mir abgab. – Dann ist er mir
immer aus dem Wege gegangen. Aber ich liebte so sehr seine Schönheit
und Sauberkeit und Vornehmheit und stand von weitem und hatte nur den
einen Wunsch, ihm Handreichungen tun zu dürfen, ihm zu dienen, wie die
alte Eva. Aber er hatte einmal scharf und abschließend geäußert: ›Nicht
mit der Feuerzange möcht’ ich die anrühren.‹ Bei jedem andern hätte ich
gelacht, denn ich war schön, und alle liefen mir nach, aber bei diesem
Dreikäshoch, der er damals war, schmerzte es mich zum Schreien. Dann
vergingen die Jahre, er kam auf die Universität und auf die Akademie
nach München, und dann heiratete er nach Holland. Erst als Witwer ging
er ›in’t Lager Huus‹ und begegnete mir und sprach mit mir, denn ich
war ja nun eine alte, verwitterte Frau geworden. Und da er unerkannt
in Lage wohnen wollte, unerkannt auch von Eva, so bat er mich, seine
Zimmer und den Tempel in Ordnung zu halten, und sah wohl, daß ich
verschwiegen war wie das Grab, verschwiegener als Eva, die allgemein
Geachtete, die deshalb mit jedermann plauderte. Und ich meinte, es gebe
in der ganzen Welt keinen Ritter, denn den Ritter Lage.«

In diesem Augenblick schob ich ganz mechanisch in ihre lange Rede
hinein: »Es gibt in der ganzen Welt keinen Ritter, denn den Ritter
Lage!«

Sie schien es diesmal nicht zu hören, denn sie fuhr gleich fort zu
erzählen. Aber sie richtete sich steil auf dabei, während sie vorher
ganz zusammengesunken war. »Gnädige Baronin, Sie wissen, daß ich ein
heißes Geschöpf war. Aber ich war eine gute Mutter. Von meinen Kindern
hat keins zu darben brauchen, ich hab’ auch keines fortgegeben, sie
fanden alle Unterschlupf bei der Korb-Sina, die für alle Brot schaffte.
Daß sie dann doch auch alle verdarben, das machen Sie mit den Vornehmen
aus, mit Ihresgleichen, gnädige Baronin, denen ein Mensch nichts gilt,
nur ihr tierisches Gelüst. Aber meine beiden Enkelinnen, die Maria und
die Martha, die sollten was Gutes werden. Das gelobte ich mir! Und ich
dachte: ›Sind die Zweige heilig, so ist es auch die Wurzel.‹ Sie kennen
die Maria, gnädige Baronin. Die hat die verfemte Großmutter wieder zu
Ehren gebracht durch ihre Reinheit. Die Martha war auch rein. War ein
siebzehnjähriges Kind. Und so schön, daß sie jeden Thron geziert hätte.
Und ich, die verachtete Korb-Sina, die einst jedem gehört hatte, der
ihr anstand, die sagte zu ihrem Enkelkind: ›Martha, halt dich rein!
Gib dich nur dem, den du liebst, bewahr’ dich ihm auf, er wird es dir
danken!‹ Wie konnt’ ich auch mir einbilden, just _meine_ Enkelin werde
den lieben, der sie auch heiratet.« – Wieder lachte die Korb-Sina
schrill. »Auf guten Boden fielen meine Ermahnungen. Die Martha hielt
sich rein und brav, bis sie liebte. Und da lief sie dem einen Manne
nach wie ein Hündlein. ›Jag’ mich fort und tritt mich, aber dann nimm
mich!‹ Er soll sich ihrer erwehrt haben, sie hat es mir hundertmal
beteuert. Aber was beteuert ein Weib nicht, wenn sie liebt und auf dem
Mann keinen Makel lassen will! Und ein so Starkes und Reines und Feines
war meine Martha, daß sie den Namen jenes Mannes, der sie verdarb, mit
ins Grab genommen hat. _Jawohl, ins Grab!_« schrie Sina sinnlos hinaus.
»Gestorben ist sie in Not und Schande. Einen Knaben hat sie geboren.
Und jener verruchte Mensch weiß nicht, daß er einen zweiten Sohn
besitzt. – Gnädige Baronin, ich habe geforscht, gesucht, zehn lange
Jahre hindurch. Auch der Pfarrer Oswald hat mir geholfen, aber wie soll
man einen Namen ausfindig machen, der in einem Grab aufgehoben ist? Das
Kind hab’ ich erhalten mit meinem Verdienst durch Körbeflechten. Und
Pfarrer Oswald hat auch von seinem Reichtum gegeben, damit der Knabe
eine gute Schule besuchen konnte. Aber was nützt die beste Schule,
wenn er doch nur einen Mutternamen trägt! Hartmut Dörping. _Hartmut!_
Glaub’ es schon, daß die Martha auf diesen Namen verfiel. Denn einen
harten Mut kann dieser Jung brauchen all seiner Lebtage. Bei einem
verbitterten, alten Fräulein ist er in Pflege, die benötigt die paar
Groschen des Jungen blutsauer und gibt ihm doch nur harte Worte dafür.«

Korb-Sina sah mir jetzt starr ins Gesicht. Wie versteint in Haß und
Grimm waren ihre Züge. »Gnädige Baronin,« sagte sie heiser, – »da
komme ich neulich einmal zu ihm und finde den Hartmut weinend und die
Nährmutter keifend, und er bittet: ›Großmutter, nimm mich doch mit in
den grauen Alltag! Laß mich lieber dort die Dorfschule besuchen, als
hier das Gymnasium. Ich kann doch auch in Lage ein Ehrenmann werden.‹
Denn das ist das einzige, was ihm die Martha hinterlassen hat, ein
Zettelchen, drauf hat sie geschrieben: ›Was mein Jung mal werden
soll? Ein Ehrenmann, wie es sein Vater war.‹ – Hätt’ ich den Zettel
gefunden, ehe der Hartmut ihn fand, dann hätte mein Haß ihm erzählt,
was sein Vater in _Wahrheit_ ist. Aber nun konnt’ es die Großmutter
nicht übers Herz bringen, und ich hab’ gelogen, – gelogen … Weil die
Kinderaugen mich so anschauten: ›Tu mir nichts zuleid!‹ Aber dann
wollt’ ich sein Köfferchen auf dem Oberboden suchen und fand es auch
und habe das alte Schloß erbrochen und fand – – ein uralt Medaillon
von meiner eigenen Großmutter, die eine sittenstrenge, hochangesehene
Frau war. Den Schmuck hatt’ ich der Martha als Amulett mitgegeben. Und
nicht mehr dran gedacht. Und drinnen im Medaillon fand ich _auch_ ein
Erbe, – einen Zettel, der war wie ein Blitz in der Nacht … Jesus!
mir wird sehr ungut!« unterbrach sich die Alte, die zuletzt nur ganz
heiser gesprochen hatte. Und sie griff nach ihrem Herzen. Da umschlang
ich sie mit meinen Armen. »Komm, Sina, ich führe dich heim.« Aber sie
wehrte mich ab. Mit blauen, zitternden Lippen und fahlem Gesicht fragte
sie heiser: »Wissen Sie, was drauf stand? Ich las es mit diesen meinen
alten Augen: ›_Clemens-Hartmut von Lage!_‹«

»_Nein!_« sagte ich laut. Und erschrak vor meiner eigenen Stimme.

»Ja!« schrie sie mich an. »Den ich als etwas Höheres geliebt und
geschätzt hatte, der hat mir meine junge Enkelin geschändet …
Inzwischen ist längst die Wahrheit erwiesen worden … Nicht wahr,
das ist _nicht_ schön? He? Das tut weh? Und ich sag’s noch einmal:
_Clemens-Hartmut Lage!_ Und sag’ auch noch einmal: Es ist ebenso
schlimm für einen treuen Diener, wenn er seinen Herrn als schlecht
erkennt, als wenn ein Mädchen seinen Liebsten verliert. Und nun …«

Aber ich hörte nicht mehr, was sie weiter sprach, – ich war an
ihr vorbeigegangen, wie im Schlafwandel, dachte nur: dort in der
Richtung muß wohl dein Haus liegen, und auf diesen Weg steuerte ich
mechanisch zu. Einmal war’s mir, als schlüge ein Laut, wie von einem
verwundeten Tier an mein Ohr, aber ich wandte mich nicht. Ich hörte
mich hie und da laut »nein« sagen, es brannte sich dies eingelernte
Wort in mein Gedächtnis. In der Halle von Haus Lage schrie ich dies
»Nein« dem eisernen Ritter in das offene Visier und taumelte die
eichengeschnitzte Treppe hinauf. Und rief das »Nein« zur Horchbucht
hin, und dann hat mich die alte Eva gefunden …


            Nach langer Zeit.

    … Nun greift das graue Entsagen hinein in meine Not …
    Drinnen zu Grab meine Liebe läutet Gevatter Tod.

              »Vogel über der Heide,
              Der klagend die Heimat mied,
              Ich glaube, wir beide, wir beide
              Haben dasselbe Lied –«

Dies alles ist heute ein Vierteljahr her. Dreizehn Wochen.

Dreizehn soll ein böse Zahl sein.

Aber ich habe sie doch überstanden.

Ich lebe, ich kann stehen und gehen und ja und nein sagen und »Händchen
geben«, und sogar hintereinander fort plaudern, wie eine sehr gut
aufgezogene Puppe, mit der man aber nur Sonntags spielen darf.

Sogar das Denken hat mir der Arzt schon wieder erlaubt, aber ich
mache noch nicht allzuviel Gebrauch davon. Vorhin hielt mir Eva zum
erstenmal einen Spiegel vor, ich schaute lange verwundert hinein, ehe
ich begriff, daß das wunderliche Geschöpf mit den hageren Wangen, dem
ungeschickt kurz abgeschnittenen Ringelhaar und den großen dunkel
umränderten Augen die Brigitte sein sollte. Nicht Gitti, nein, –
Gitti ist am Typhus gestorben. Es lebt nur Brigitte Lage, d. h. sie
vegetiert, wie Baron Leo behauptet. Als der mich das erstemal nach
meiner überstandenen Krankheit sah, erschrak er so heftig, daß ich
lächeln mußte. Gewiß ein trauriges Lächeln. –

»Welches Wetter ist über Sie gegangen, Freiin Brigitte?« fragte er
heiser vor Erregung.

»Nur ein Wirbelsturm, Baron Leo«, entgegnete ich matt.

»Und ich darf nicht wissen, von wannen er kam?«

»Nein.«

Er saß nun eine ganze Weile schweigend neben mir. Und dann kam etwas
sehr Verwunderliches. Er erzählte mir, daß er eine große Reise nach dem
Süden vorhabe und – und – nun er mich so ganz zerbrochen da vor sich
sähe, – so krank …

»Ich bin weder zerbrochen, noch krank«, wehrte ich entrüstet.

»Also so stark und lebensbejahend und gesund,« verbesserte er sich
rasch und leicht gereizt, – – »so meine ich, eine große, anstrengende
Reise ist für Sie ein Kinderspiel, Brigitte. Daß Sie mir das Teuerste
sind, wissen Sie, und – ich bitte Sie inständig aus ehrlichem Herzen
heraus, seien Sie mein, gehen Sie mit mir! Gewiß, ich bin ein alter
Mann gegen Sie, fünfundfünfzig vorbei, – aber ich will Sie auf Händen
tragen, will Sie vor jeder Unbill schützen, – – –«

Einen Augenblick war’s mir, als müßte ich meine eiskalte Hand in
die seine legen. Mich fror so erbärmlich. So sehr sehnte ich mich
nach Schutz und Wärme. Aber als ich in seinen Augen eine verlangende
Zärtlichkeit las, da erschrak ich bis ins Herz hinein und bin wohl
furchtsam in mich zusammengekrochen, denn er stand langsam auf, strich
sacht über mein Haar und sagte müde: »Ich gehe schon, Freiin Brigitte.
Aber, – darf der alte Mann nach seiner Reise – recht verständig
geworden, wiederkommen? Mit Ihnen würde ja alles Licht aus meinem Leben
gehen, das möcht’ ich mir nicht leichtsinnig verscherzen.«

»Ja, kommen Sie«, rief ich. Und ich hielt einen Augenblick seine
verläßliche warme Hand fest, denn mir brannte die Frage auf der Seele:
»Glaubst du, daß dein liebster Freund, der Ritter Lage, etwas Niedriges
tun kann? Etwas ganz Unverzeihliches? Etwas, das ihn weltenweit mir
entfremdet, der er das Liebste war?« Aber ich vermochte die Frage nicht
zu formen …

Baron Leo sah mich kopfschüttelnd an, und mit ernstem Antlitz war er
gegangen. –

Seitdem sitzt jeden Tag mein Arbeitszimmer voll Besuch.

Man »zerstreut« mich.

O du liebes, heiliges Alleinsein wann werde ich dich wieder zu eigen
haben???


            Ende Mai.

Der Abschied von Baron Leo und seine wunderliche Frage hatten mich
wieder eine Wegstrecke zurückgebracht; nun muß ich sie noch einmal
durchwandern. Ich lag wieder 8 Tage fest. Aber heute hat man mich in
einen Liegestuhl gebettet und in die Sonne hinausgetragen. Sie liegt
warm und leuchtend vor dem Platz an der Ruine, und ich schaue von
dem Schreibpult, das man meinem Lager sinnreich angeschraubt hat,
oft hinauf in die Fensterhöhlen und träume mich in jene glückliche
Zeit zurück, da die Fledermäuse dort so harmlos und so … beglückend
herumflatterten. Da ich noch die Prinzessin Weißnichts aus dem Hause
Ohnearg war. Wieviel Jahre liegt das zurück?

O du Frühling in Lage! In deiner herben Schönheit! Ich tausche dich mit
keinem Land der Welt. Ich erlebe den Lenz zutiefst in meiner Brust.

    Lenzseelchen hebt das feine, duft’ge
    Flaumfedergleiche Erstgefieder
    Und fliegt durch Hecke, Hag und Heide,
    Und jeder Flug bedeutet Lieder.

    Und wo es rastet auf dem Fluge,
    Ob es nun Baum, ob Blatt, ob Blüte,
    Da ist’s, als ob auf dieser Ruhstatt
    Ein Gottesflämmchen flimmernd glühte.

    Und wo es schläft in einer Dornheck’,
    Die Händlein flicht in einer Rose,
    Da ist’s, als ob die Gottesmutter
    Das Jesuskindlein hält im Schoße.

    O Lenzesseelchen! Weich und linde
    Bereit’ ich dir ein heil’ges Stellchen
    In meines Herzens stillster Kammer.
    Sitz nieder! Sei mein Treugesellchen!

Wieder wurde mir heut ein Brief von Pastor Oswald gebracht, darin er
klagt, daß ich schweige und sein erster Brief kein Echo fand. »Habe
ich Sie verloren, teure, verehrte Freiin Brigitte?« fragt er. »Hat
meine kopflose Fahnenflucht mich Ihre Freundschaft gekostet? Und ich
wollte doch mit einer fast unmöglich großen Bitte zu Ihnen kommen.
Wollte fragen, ob Sie und Lage mich wieder aufnehmen wollen als reuigen
Sünder. Der nicht wußte, wie hart es ist, _nicht_ im ›grauen Alltag‹ zu
leben. Freiin Brigitte, meine Maria hat mir anvertraut, daß sie sich
Mutter fühlt, und nun will ich, daß unser Kind in Lage geboren wird,
daß es im Lager Wald, in Lager Luft atmen, spielen, schlafen soll, und
dann wachsen, gedeihen, arbeiten unter Ihren Augen, Freiin Brigitte. –
In Marias Blick trat ein eigenes, schönes Leuchten, als ich ihr davon
sprach, – so fröhlich hat sie noch nie ausgesehen, seit sie mein Weib
wurde. Eine herbe Anklage für mich. – – Wird die liebe, gütige Herrin
von Lage, die wir nie aufgehört haben, unsere Schutzherrin zu nennen,
nein sagen? Oder uns helfen, die Wege zu ebnen, die dem Treulosen die
verlassene Kanzel wieder freigeben? Mein Leben lang will ich’s Ihnen
danken. – Von Großmutter Sina hörten wir aus einem ihrer knappen
Schreiben, daß es bergab mit ihr geht. Vor einem Vierteljahr erkrankte
sie schwer. Aber das werden Sie, barmherzige Samariterin, besser
wissen, als ich.« –

›Barmherzige Samariterin!‹

Wie ein Schlag traf mich dieses Wort. »Zünd an, Brigitte, zünd an«,
hatte Muhme Jesuliebe mich ermahnt …

Und ich war nichts, als der Levit, der _den_ unbarmherzig liegen ließ,
der unter die Räuber gefallen war …

Erkenntnisse kamen mir unter den Augen der alten Ruine, inmitten der
leuchtenden Sonne …


            An einem Sonntage im Juni.

Heute durfte ich zum ersten Male ausgehen.

Müßig habe ich nicht gesessen während der Zeit der völligen Genesung,
ich mußte »Wege ebnen«. Und es ist mir gelungen. – Nicht zu sagen,
wie mich das freut. Zu Hilfe kam mir bei meinen Bemühungen die große
Beliebtheit, deren sich Konrad Oswald erfreut. Jung und alt machten
runde, frohe Augen, als ich ihnen die Möglichkeit in Aussicht stellte,
den ehemaligen Seelsorger wieder nach Lage zu bekommen. Am frohsten
war der »Neue«. »Haben Sie es denn geahnt, verehrte Baronin,« fragte
er immer wieder, »geahnt, daß meine Eheliebste und ich uns von hier
fortsehnten? Ach, und es nicht zu sagen vermochten …«

Und ich lachte, und wurde ordentlich ein wenig rot. Denn es ist so
wunderlich, wie mir alles zum Glücke ausschlägt. Nun brauche ich nicht
einmal traurig zu sein in dem Gedanken, daß Oswald und ich einen
treuen Hirten von seiner Herde fortjagen, um uns und unsere Wünsche
an seine Stelle zu setzen. Denn es ist des Hirten eigener Wunsch und
Wille. Und die Hirtin schmiegte sich an ihren Gatten und meinte:
»Dies Lage ist so erdrückend!« Und schämte sich dann doch etwas ihres
Ausspruches. »Können Sie mir sagen, was Sie mit ›erdrückend‹ meinen?«
fragte ich forschend. »Ja, das kann ich«, war die rasche Antwort.
»Die Lager verlangen zuviel von einem Sterblichen, und besonders von
ihrem Pastor; ich glaube nicht, daß _wir_ das schaffen können. Die
Menschen sind hier alle so besitzergreifend. Man ist gar nicht mehr
›manselbst‹.« Also die Pastorin. »Nein, manselbst darf man freilich
nicht sein«, meinte ich zustimmend und zugleich nachsinnend, denn mich
dünkte, es war arg lange her, daß ich einmal die Gitti Lage vorgestellt
hatte. Und wer bin ich jetzt? Ich gehöre dem grauen Alltag … Wie ist
mein Name?

       *       *       *       *       *

In vier Wochen kann vielleicht schon die Vorstellung von Konrad Oswald
stattfinden, – – ich freue mich wie ein Kind auf unser Wiedersehen. –


            Ein paar Stunden später.

Eben komme ich von der Korb-Sina. Sie ist sehr verändert. Wie erloschen
die Lichter der scharfen, stechenden Augen. –

Wir waren uns lange forschend gegenüber. Sie lag in ihrem Bett, und ich
stand über sie gebeugt und sah in ihr fahles, eingefallenes Gesicht.
Und sie blickte mich an, als sähe sie mich zum erstenmal: »Sie kommen
zu _mir_? gnädige Baronin!« kam es endlich langsam von ihren welken
Lippen.

Und da erzählte ich von Konrad und Maria Oswald, von allen
Möglichkeiten, die sich ihnen und uns böten, und nicht zuletzt von dem
heiligen Glück, das der jungen Frau bevorstünde. Da weinte die Greisin,
und es sah erschütternd aus, weil die Tränen ihr nicht mehr leicht
flossen. –

»Jesus! Daß ich’s erlebe!« rief sie leise, und faltete ihre Hände.
Und dann versuchte sie, sich aufzurichten, und fiel doch immer wieder
kraftlos zurück, so daß ich sie in meinen Armen stützen mußte. Und
plötzlich packte sie meine Hände beschwörend: »Nicht der Maria sagen,
daß die Martha verdorben ist,« flehte sie, »nicht der Maria sagen!«

»Die Martha ist _gestorben_, aber doch nicht verdorben!« Ich
streichelte ihre welken Hände. Da horchte die Greisin auf. Und ich
sprach eindringlich weiter, weil mich mein Herz dazu trieb. »Wenn die
Martha ihr alles hingab, so tat sie es doch aus großer Liebe, – und
Liebe adelt doch das, was sie tut … Und sagt nicht irgendein Großer:
›Die Mutterschaft tilgt jede Schuld am Weib?‹ Warum willst du dein Herz
zermartern, Sina, und hassen, du, die Großmutter … Wir wollen nicht
richten, Sina …«

»Jesus, was habe ich getan!« weinte die wilde Alte und rang die Hände;
»_Ihnen_ wollt’ ich Leid zufügen, und Sie bringen mir Trost. Ach, wie
das brennt! Aber nun kann ich wohl noch wieder gesund werden! Und wenn
dann erst einmal die Maria da ist …«


            Am nächsten Tage.

Ja, wenn erst einmal die Maria da ist!

Sie kommt vielleicht heute noch, aber sie kommt zu spät. Man holte mich
noch gestern am Abend zur sterbenden Sina. Sie hatte allein nach _mir_
verlangt, und so wehrte ich der bekümmerten Eva, die meinte, es sei für
mich kaum Genesene ein zu großes Wagnis, zur Nacht noch einmal ins Dorf
zu wandern.

»Eva, wenn du mich hinderst, im grauen Alltag meine Pflicht zu tun,
dann gehe ich in mein Thüringen zurück und suche mir dort ein Feld …«

Da sah sie mich erschrocken an und ließ mich gewähren. Zwei Stunden
weilte ich bei der Korb-Sina.

Es war ein ruhiges Sterben nach der Unrast ihres Lebens.

Fünf Worte wiederholte sie unablässig. Sie waren wohl das einzige
Gebet, das in ihrem Herzen gelebt. Zwei Stunden lang fünf Worte! So
prägten sie sich mir ein. _Martha! Maria! Clemens-Hartmut Lage!_


            Am übernächsten Abend.

Eben ging Konrad Oswald von mir. Er war auf meine Drahtung hin gleich
von Berlin abgereist, aber allein. Da die Greisin heimgegangen, sollten
seiner Maria zwecklose Anstrengungen und Aufregungen erspart werden.
Nun bereitet er alles für die Beerdigung vor, und jeder rüstige Dörfler
hat sich ihm zur Verfügung gestellt. Daß er nur wieder da ist! So meint
jeder in Lage, und die Gesichter sind alle aufgehellt.

Über mich aber war Konrad Oswald sehr bekümmert.

»Ich glaubte, der Lager Boden wäre die rechte Erde für das seltene
Kräutlein,« meinte er liebreich, »und nun? Soll der alte Joochen Lage
und sein elendes Pergament recht behalten?«

»Lager Luft verwirret Kopf und Herz«, spann ich seine Worte weiter.
»Ei, lieber Freund, das _war_ einmal. Jetzt sind wir alle klarsehende
Leute geworden, aber Gott bewahre uns vor Ernüchterung!«

»Mit dem letzteren braucht man bei Ihnen wohl keine Sorge zu haben«,
scherzte er und setzte bekümmert hinzu: »Aber sonst gefallen Sie mir
gar nicht, Baronin.«

»Gefalle ich etwa mir selbst?« rief ich ungestüm. »Ich bin ein ganz
anderes Lebewesen geworden, das sich selbst erst kennenlernen muß. Und
dazu fehlt mir die Zeit …«

       *       *       *       *       *

Auch Konrad Oswald ist kopfschüttelnd von mir gegangen, ebenso wie
damals Baron Leo.

Ich möchte eine hohe Mauer um Lage bauen. Möchte dahinter
einsiedlerisch hausen. – Bis ich hellsehe, was ich will.


            Im Juli.

Immer habe ich jetzt Feiertage im Sinne, die sich just jähren. –

Ich komme nicht los von der Erinnerung.

Auch jetzt ist ein Tag in Sicht – – da stand vor einem Jahr der rote
Regenschirm an der grünen Birke … Ich möchte an meinem Geburtstage
wieder diesen Regenschirm in Händen halten, ihn aus den Tiefen des
alten Schrankes hervorholen … wie kindisch …

Ich möchte wieder ein Kind sein. An Vaters Hand nur ein einzig Mal
durch den Lager Wald schreiten und ihm erzählen. Und ihn fragen
über Gut und Böse und die mannigfachen Wege, die dazwischenlaufen
über Distel und Dorn und Stechpalmreiser. Wie würde der einzige mir
weitschauend raten und helfen! Nun muß ich alles allein durchkämpfen
und allein überwinden.




43.


            Am Geburtstage.

    Wie seltsam die Luft, und der Tag so klar,
    So märchenverträumt und schön,
    Ich möchte mit dir durch Fels und Kar
    Und Wildnis wandernd gehn.

    Durch dunkelen Schratt und Urwaldgestrüpp
    Über wurzelzerrißnes Gestein,
    Durch wilder Tiere weißschimmernd Geripp …
    Nur Gott – und wir beide allein. –

Allein bin ich gewandert. Erst plan- und ziellos. Dann bewußt an des
Ahnen Joochen Waldgrab, zum Tempel, zur Clemenskapelle, an die Stelle,
da einst die liebe Birke stand, mein hoher Baum der den Wurm in sich
trug …

Alles steht verlassen, verloren, verödet …

Und nicht das kleinste Zeichen fand ich, daß man mein gedachte …

Da ging ich fort aus dem Lager Wald und trat in die Häuser meines
Dorfes und in die allerletzte Kate, wo seit dem Tode des Säufers
ein fröhliches Leben aufblüht. Und ich beschenkte alle an meinem
Geburtstage und hörte mit seltsamer Anteilnahme, wie die Mutter den
Kindern vom toten Vater erzählte und den allerkleinsten, die sich
des Rohen und seines Lasters nicht erinnerten, sein Leben verklärend
schilderte.

Und ich neidete dem Weib seine riesengroße Liebe, – und sein restloses
Verzeihen. –

Dann schritt ich in Korb-Sinas verlassenes Haus, zu dem ich immer noch
die Schlüssel habe, weil Pfarrer Oswald keine Zeit fand, den Nachlaß
zu sichten. Und setzte mich an den alten Schreibsekretär, der aus
besseren Zeiten stammt, und blätterte in der großen Bibel; zwischen
zwei Kapiteln sperrte ein altmodisches Lesezeichen die Blätter weit
auseinander. Da lag ein kleiner schmaler Papierstreifen, und ich las im
Dämmerlicht: »Clemens-Hartmut Dörping, bei Fräulein Herwardson in K… Im
letzten Haus am Grabenteich …«

Mir aber war’s, als hätte ich gelesen: »_Zünd_ an, Brigitte, zünd an!«


            Mitte August.

Nun jährt sich auch schon wieder das Blühen der Heide. Ob es mich
jemals alt und schon vielmal erlebt dünken wird? Nein, immer wieder
grüßt es mich als Offenbarung. Du, meine rote Heide! Grenzenlos ist
deine Schönheit, die leuchtende; grenzenlos deine Macht, die siegende;
grenzenlos deine Stille, die träumende; grenzenlos, wie meine Liebe,
die sehnende, zu dir, du meine rote Heide! – Aber war sie je so
leuchtend, so siegend, so still, so liebevoll wie diesmal? Da zwei
verträumte, wunderschöne Kinderaugen in all das Blühen schauen und eine
seltsam weiche, tiefe Knabenstimme mich fragt: »So also schaut sie aus,
deine Heide, Gittimuhm’?«

Wo ich das Licht dieser Kinderaugen fand, soll der ehrenfeste Foliant
erfahren. –

Zünd an, Brigitte, zünd an!

Mit dem Zettel aus dem Bibelbuch der Korb-Sina kam ich nach Haus. Und
ich spürte ihn immer zwischen meinen Fingern und fühlte, daß ich nicht
loskam von ihm. Wohl erschrak Eva sehr, als ich sie einen Koffer rüsten
hieß, und sie wehrte sich tapfer und packte mit Sorgfalt, und diese
Zwiespältigkeit brachte sie wieder in huschende Unrast. Meinen braven
Diener hieß ich auch, sich bereitmachen, und er las sich im Fahrplan
zurecht und legte mir die fertigen Auszüge vor. So fand mich der Abend
meines Geburtstages im Eilzuge und der leuchtende, helle Augustmorgen
schon in K. Das Städtchen lag altmodisch zwischen Wiesen und Wäldern
eingebettet, die Fenster der kleinen, seltsam bunten Häuser blinzelten
verträumt. – Der Diener brachte mich in einen sauberen Gasthof, wo
man mir so rasch einen duftenden Kaffee vorsetzte, als habe man mich
als lieben Gast erwartet. Dann gab man uns einen knappen, von jeder
Neugier baren Bescheid über das letzte Haus in K., und nach dem Imbiß
wanderten wir hin. Ich hieß den Diener, sich in das Gärtchen zu setzen,
das in allen Farben spielte von den gelben Sonnenblumen an über bunte
Malven und leuchtend roten Mohn zum braunen Frauenschühlein und lila
Heliotrop, dessen Duft uns schon auf der Landstraße begrüßt und umweht
hatte. Einen altmodischen Klopfer setzte ich in Bewegung, da kamen auch
schon flinke Füße, und es wurde geöffnet. Zum erstenmal tauchten meine
Blicke wieder in Lager Augen.

»Fräulein Herwardson ist verreist«, berichtete die tiefe, ruhige
Knabenstimme.

»Clemens-Hartmut Lage!« sagte ich – und dann stieg ein heißes Rot in
mein Gesicht.

»Ja, – Clemens-Hartmut bin ich,« meinte er erstaunt, »aber ich heiße
Dörping.«

So hatte ich ihn gefunden. Und ich war des Glückes voll, wie nie in
meinem Leben. Alle Bitterkeit war ausgelöscht, alles Häßliche in ein
verklärendes Licht getaucht, – ich fühlte, wie schwer mein Kampf
gewesen war und restlos nun mein Sieg. Voll Entzücken sah ich in das
schöne, reine Antlitz des Knaben, sah die schlanke, biegsame, gesunde
Gestalt, der auch der von ungeschickten Dorfschneiderhänden angepaßte
grobe Anzug nichts anhaben konnte.

»Du lieber Junge, ich bin die Freiin Brigitte Lage, und ich stand
jemand sehr nahe, der – – –«

»Gewiß der lieben Großmutter Sina«, entgegnete er lebhaft. »Sie hat mir
Ihren Namen genannt. Sie können eintreten, Fräulein von Lage, – meine
Pflegemutter kommt nicht vor morgen zurück. Ich muß das Haus bewachen«,
setzte er mit leichtem Stolz hinzu. Sein ganzes Gebaren war köstlich
altväterisch, ritterlich, weit über seine zehn Jahre hinaus bedächtig.
Er öffnete mir eine weiße Flügeltür, die in ein Biedermeierzimmer
führte, und hier rückte er mir einen Sessel und ein Fußbänkchen
zurecht, alles mit der Grandezza eines geschulten Pagen. In straffer
Haltung blieb er vor mir stehen, bis ich ihm bedeutete, sich neben mich
zu setzen. –

›Du lieber, feiner Junge!‹ mußte ich nur immer denken. Und mein Herz
war gar nicht bei mir, sondern bei dem Knaben, der schon nach kurzer
Zeit zutraulich seine Hand auf die meine gelegt hatte.

»Ich liebe Lage so sehr«, sagte er mit tiefstem Aufseufzen.

»Kennst du es denn, Clemens-Hartmut?«

»O so _gut_! Aber nicht wirklich, nur aus Großmutter Sinas Erzählungen.
Sie war eine sehr edle Frau, nicht wahr, Fräulein von Lage? Sie hat mir
so viel Gutes getan, wie nirgend ein Mensch.«

Ich strich ihm über den dunklen Lockenkopf. »Sie hat dich und deine
Mutter sehr geliebt, mein Junge«, sagte ich warm. Da nickte er ernst.

»Nun kommen bald die Herbstferien«, meinte er sinnend. »Wie gern
möcht’ ich sie einmal bei Großmutter verbringen! Warum kenne ich Lage
gar nicht? Vielleicht kann man das teure Fahren sparen und zu Fuß
hinwandern. Solche Sehnsucht hab’ ich nach Großmutter Sina …«

Er sah mich vertrauensvoll an, und ich zermarterte mir Herz und
Kopf, wie ich wohl diesem Kind zart genug den Tod dieser Großmutter
übermitteln könnte. Ich meinte, ich könne es nicht ertragen, diese
Augen, in denen schon ein frühes Weh stand, noch mehr verdunkelt, und
die feinen, schmalen Lippen in Schmerz verzogen zu sehen. –

»Soll ich dir von Lage erzählen?« fragte ich auswegsuchend.

»Wie schön!« Er strahlte. »Ich gehe heute erst um zehn Uhr in die
Schule. Aber ich sehe durch das Fenster einen fremden Mann in unserm
Garten, ich muß fragen, was er will, und ihm verbieten, irgendeine
Blume abzureißen, sonst wird Fräulein Herwardson rasend …«

Ich lachte herzlich. »Meinst du, Clemens-Hartmut, daß meine Gegenwart
nicht etwas heilsamen Zwang auferlegt?«

»Ich glaube nicht«, meinte er altklug. »Sie sieht dann gar nicht, wer
dabei ist, und schlägt nur so drauflos …«

»Du sagst doch nicht, daß sie dich schlägt, – _dich_«, rief ich
hastig, und eine tiefe Abneigung gegen die Person stieg in mir hoch.

Der Junge legte einen Augenblick sein Gesicht auf seine Arme, aber dann
schaute er mit zusammengepreßten Lippen mir gerade ins Gesicht. »Sie
ist nicht gut«, sagte er leise.

»Mein Junge, mein ganz lieber Junge!« konnte ich nur sagen und legte
den Arm um seine schlanke, leichte Gestalt, und er schmiegte sich
für die Dauer eines Augenblickes an mich an, und ich fühlte, daß ein
trockenes Schluchzen ihn überkam.

»Es ist nicht männlich, ich weiß es,« sagte er leise, »aber Sie sind
gut mit mir, das kann ich beinahe nicht ertragen. Wenn die Großmutter
Sina kam, war ich auch immer so elend … Wir wollen hinaus in den Garten
gehen, – bei den Blumen bin ich immer am liebsten, und ich sehe es
jetzt, Ihr Diener hat ein gutes Gesicht, Fräulein von Lage.«

»Könnten wir nicht doch noch ein Weilchen hier allein bleiben,
Clemens-Hartmut? Ich möchte dir so gern etwas von Lage erzählen, –
etwas Ernstes …«

»Ja, Lage ist sehr ernst«, sagte er ruhig. »Großmutter Sina meinte,
es lache kein Mensch in Lage, und es gäbe auch gar nichts zu lachen.
Deshalb war ich ja so froh, als Sie vorhin eine so lustige Bemerkung
machten. Beinahe hätte ich auch gelacht, aber ich bin es so gar nicht
gewohnt.«

Ich sah voll tiefen Erbarmens auf den lieben Burschen hin und war in
großer Not. Denn ich wußte nicht, wie ich zu dem Schweren überleiten
sollte. – Und auch er sah mich an, und eine Menge wichtiger Fragen
schienen ihm durch Kopf und Herz zu gehen. Sein ausdrucksvolles Gesicht
verriet es. –

»Was dünkt dich, mein kleiner Clemens, soll ich dich gleich heute mit
nach Lage nehmen?«

Die Frage sprang ihn förmlich an, und weil ich dazu lachte, denn dies
Seelchen brauchte ja Lachen und Freude, so glaubte er wohl, es sei ein
fröhlicher Scherz von mir. Wie Sonnenschein ging’s über sein beredtes
Mienenspiel, und nun sah ich auch, daß der Junge den Lageschen Humor
besaß.

»Der Clemens kann gleich mit Ihnen gehen, Fräulein von Lage, aber der
Hartmut muß warten, bis Fräulein Herwardson zurückkommt.«

»Was fange ich mit einem halben Jungen an?« scherzte ich weiter, »und
was soll ich von ihm mitnehmen, den Kopf oder die Füße?« –

»_Alles!_« rief er plötzlich ungestüm und schmiegte sich an mich. »Wir
wollen gleich jetzt fortgehen und nie wiederkommen, ja? Weiß es die
Großmutter? Oder ist alles nur ein Spaß?«

»Das wäre ein schlechter Spaß, wenn du doch solche Sehnsucht nach Lage
hast … Aber die Großmutter Sina weiß nichts, – sie war sehr krank,
mein lieber Junge, und liegt immer noch fest im Bett.«

»Krank war sie? Dann erschrickt sie am Ende, wenn ich sie so überfalle.
Aber vielleicht kann ich dann erst ein paar Wochen bei _Ihnen_ wohnen,
Fräulein von Lage …«

»Wäre dir das lieb, mein Junge? Du kennst mich noch so wenig.«

»Oh, ich kenne Sie gut«, meinte er ernsthaft. »Ich habe Sie schon oft
geträumt, da sahen Sie genau so aus, wie Sie da sitzen. Sie hatten ein
weiches, weißes, seidenes Kleid an, ganz licht waren Sie …«

»Du närrischer Schwärmer,« lachte ich, »du liest gewiß viel Märchen.«
Und setzte leise an seinem Ohr fragend hinzu: »Kennst du das Märchen
von Gitti und dem Zornebock?«

Er schüttelte die dunklen Locken. »Ist es schön?« fragte er.

»Ja, sehr schön, aber sehr traurig.«

Da streichelte er mich. Und wie ich die warme, schmale Kinderhand auf
meinem Gesicht fühlte, da zog ich das Kind an mich und küßte es, und
dann sagte ich ihm, daß seine Großmutter heimgegangen sei.

»Heimgegangen?« wiederholte er ernst, und mit den tränenlosen Augen sah
er trostlos wie in Fernen hinein. »Wohin ist sie gegangen?«

»Zu Gott, Clemens-Hartmut.«

Er schüttelte langsam den Kopf. »Fräulein Herwardson sagt, das wäre
_auch_ ein Märchen …«

Da sprang ich rasch auf, und ein fester Entschluß nahm Besitz von mir.
»Du lieber Junge,« rief ich, »du wirst jetzt dein Köfferchen packen,
und ich rufe meinen braven, zuverlässigen Diener da draußen. Der wird
hier in K. bleiben und unermüdlich aufpassen, wann deine Pflegerin
wiederkommt. Er soll ihr sagen, daß ich dich mit mir nahm, – – und
daß du nicht wieder zurückkehrst – – –.«

»Wohin? Großmutter Sina ist tot«, sagte er tonlos.

»_Mein_ Junge! _Mein_ Junge!«

Das stammelte und lachte und weinte ich so ein Weilchen vor mich hin.
Bis es in dem kleinen, verstörten Jungskopf zu dämmern anfing und er
forschend, ungebärdig fragte: »Ihr Junge? Ich soll Ihr Junge in Lage
sein?«

»Ja! ja! ja! _Mein_ Lager Junge!«

»Und wie soll ich dich nennen, Fräulein von Lage?«

»Gittimuhm! Sag’ Gittimuhm!!!!«


            Ende August.

So ist es geschehen, daß mein Herzensjunge neben mir in der blühenden
Heide sitzt, daß ich in die Klarheit seiner Kinderaugen schauen darf,
und alles, was ich an Bitterem erlebt, liegt weit hinter mir. Wir
haben uns köstlich traut in Lage eingerichtet. Mein Junge hat das
große, sonnige Zimmer bekommen, das einst Ohm Matthias bewohnte, wir
machen nun Pläne, wie wir es im Winter ausstatten. Diese unverwöhnten
Kinderhände füllen zu können, ist ein Glück ohnmaßen. Wie bescheiden
sind seine Wünsche! Wie köstlich sein Erstaunen, wenn sie gewährt
werden.

Wir haben uns selbst Ferien gegeben. Ich schrieb an den Direktor des
Gymnasiums in K., und er bestätigte mir, was ich ahnte und immer aufs
neue erlebe, daß ich ein seltenes Kräutlein in meinen Hausgarten
gepflanzt habe,

    »ich grub’s mit allen Würzlein aus …«

Die hafteten nicht fest in der ehemaligen Heimat, der man wohl gar
nicht diesen trauten Namen geben darf. Clemens-Hartmut blüht auf in
Lage. Ich habe dem Direktor meine Pläne unterbreitet, und er ist
mit allem einverstanden. Konrad Oswald, unser alter, neugewählter
Pfarrer, übernimmt den Unterricht des Knaben, – alljährlich wird
Clemens-Hartmut in K. geprüft, ob er Schritt hält mit der Klasse,
die seinem Alter angemessen ist. Die Stunde, da ich mit Konrad Oswald
über Clemens-Hartmut sprach, war schwer und wunderlich. Oswald weiß
jetzt, daß mein Junge Urenkel der Korb-Sina ist, und will es auch Maria
mitteilen. Er hält sein Weib für großdenkend genug, daß sie restlos
ihre verwandtschaftliche Liebe dem Knaben entgegenbringen wird. Ich
denke nicht engherzig, daß Clemens nur _meine_ Liebe braucht und der
anderen gar nicht bedarf, – ich will ihm die gleiche liebereiche
Kindheit und Jugend schaffen, wie auch ich sie einst mein nannte.
Da soll jeder gesegnet sein, der mir Herz und Hände füllt. Auch
vom Klassenlehrer meines Jungen erhielt ich einen lieben, wahrhaft
väterlichen Brief, trotzdem der Herr noch jung und stürmend ist. Er
bittet um die Erlaubnis, Clemens-Hartmut öfters besuchen zu dürfen,
um seinen Werdegang noch unmittelbarer verfolgen zu können, denn er
erwartet etwas »Besonderes von dem ›schwarzen Burschen‹«. Wie mich das
stolz macht!

Daß Clemens-Hartmut Ritter Lages Sohn ist, habe ich Oswald nicht
erzählt …

Ich warte auf Baron Leo, das zweite Ich des Ritter Lage.

Dieser abgeklärte, reife Mann wird mein bester Berater sein. Ich sehne
die Stunde herbei, da ich ihm alles sagen kann, was mich zutiefst
bewegt. Und ich weiß, in jener Stunde wird Baron Leo ganz sachlich
urteilen, – er wird unser beider Glück im Auge haben, Clemens’ Glück
und das meine, und _nur diesen_ einen Punkt. – Deshalb lege ich alles
in seine verläßlichen Hände. –

In mir selbst aber ist wieder die Sehnsucht aufgewacht und sieht mich
mit großen, erwartungsvollen Augen an. Darf ich sie grüßen? Wenn
Clemens-Hartmut gesund, feingliedrig und wohlgebaut ist … Ist damit
nicht der Fluch von den Lages genommen? Wenn _doch_ das Glück in mein
Leben träte, und nicht das Entsagen? Herrgott, du weißt es! Ich selbst
wollte nie etwas anderes begehren, als in heiliger Liebe, die zugleich
edelste Freundschaft wäre, neben Ritter Lage zu wandern, ungezählte
Jahre hindurch. Nur sein liebes, kluges Antlitz immer und immer wieder
anschauen dürfen, seine Augen vertrauend, liebevoll auf mich gerichtet
zu wissen, seine feste männliche Hand in der meinen zu halten, – es
würde mir wahrlich nicht nur Genügen bedeuten, sondern Überfluß.

Wie aber sollte ich den Reichtum ertragen, wenn ich wirklich sein Weib
sein dürfte? Ganz eins mit dem Geliebtesten?

Dies Glück zu fassen, müßte ich wohl erst lernen. Herzliebster Lehrer,
glückselige Schülerin!


            In der Nacht vom Sonntag zum Montag.

Heute hatte ich Gäste.

Es war ein angeregter Kreis meiner nächststehenden Freunde, und
zugleich ein Einstandsfest für meinen Pflegesohn, – eine Feier
für den neuen Pfarrer Konrad Oswald und ein Begrüßungsfest für den
heimgekehrten Freund Leo von ter Mählen. Es waren nur die Heidkamper
da, der geistvolle katholische Pfarrer Trewes, beide Oswalds, sowie
unsere guten Pastorsleute Hansen. Morgen ziehen sie an den sonnigen
Rhein, glückselig, dies dunkle Heideland verlassen zu dürfen. In ihrer
Freude wurden sie ganz geistvoll-strahlend beredt und machten einen so
gewinnenden Eindruck, daß Oswald mir scherzend zuraunte: »Gestehen Sie
es nur, verehrte Baronin, es tut Ihnen schon leid, mich hergeholt zu
haben …«

Da konnten wir beide uns freilich fröhlich-verständnisvoll zunicken.

Nach dem Abendbrot kam Clemens-Hartmut auf ein Stündchen zu uns herein.
Als er mich in meinem weichen, weißseidenen Gesellschaftskleide sah,
das sich in reichen Falten um mich und den alten, geschnitzten, grünen
Sessel legte, – da leuchteten seine dunklen Augen auf. Ohne auf die
fremden Menschen zu achten, lief er zu mir hin und rief mit seiner
weichen, schönen Stimme: »Siehst du, wie du leuchtest, du Lichtchen?«

Dann küßte er mir etwas verwirrt die Hand, weil mein Gesicht ihm wohl
blaß und ungewöhnlich ernst erschien. Ich hatte ihn in einen schwarzen
Samtanzug getan, seine dunkeln Locken wurden köstlich von einem
schweren Brüsseler Kragen eingerahmt, wie man sie auf van Dycks Bildern
sieht. Ich fand ihn in einer der Lageschen Truhen. Die schlanken
Beinchen, an welche sich enge Kniehosen anlegten, steckten in seidenen
Strümpfen und Schnallenschuhen.

Ein schönes Bild war mein Junge. Ich erhob mich an seiner Hand und
stellte ihn ganz feierlich als meinen Pflegesohn vor. –

Frau von Heidkamp liefen die hellen Tränen über das Gesicht. Sie ist
so rasch und warm empfindend, man las ihre Gedanken beinahe schon
vom Gesicht ab, ehe sie sich ungestüm äußerte: »Was gebt ihr für ein
entzückendes Bild ab, ihr beiden Schwarzweißen!« Dann küßte sie mich
und den Jungen, der es sich mit einem leichten Trotz, den sie reizend
fand, gefallen ließ. –

Erst als alle andern uns beglückwünscht hatten, kam langsam Baron Leo
aus seiner entfernten Ecke auf uns zu. Sein vornehmes, leicht erblaßtes
Gesicht mit den ausdrucksvollen ernst-frohen Augen war in befremdetem
Erstaunen auf den Knaben gerichtet.

»Wie heißest du???« fragte er mit nicht ganz fester Stimme.

»Clemens-Hartmut Dörping.«

Baron Leo legte einen Augenblick die Hand über die Augen. Als er sie
sinken ließ, war sein Gesicht völlig entfärbt.

»Was ficht Sie an, Baron Leo?« fragte ich leise.

»Eine Erinnerung«, war die ebenso leise Antwort. »Ich habe nur ein
einzig Mal den Ritter Lage als Kind gesehen, er sah aus wie dieser –
Ihr Junge.«

       *       *       *       *       *

Dann wurde es noch recht lustig an jenem Abend. Es wurden Reden auf
Haus Lage und die »junge Mutter« gehalten; die geistreichste in sehr
flüssigen Versen gab uns der katholische Pfarrer. Voll Humor war sie
außerdem, und gleich darauf dankte Clemens-Hartmut überraschend nett,
in kindlichen, feinen Reimen, in meinem und seinem Namen. Dann nahm er
auf einen Wink von mir bescheiden Abschied und zog sich zurück. Und in
all der fröhlichen Lautheit, die nun folgte, und in der die berühmten
schweren Weine des Lager Kellers nicht geschont wurden, dachten Baron
Leo und ich unablässig das Gleiche: »Wären doch alle erst fort! Wir
haben uns soviel zu sagen.«

Und es wurde wirklich einmal Mitternacht, die Gäste fuhren und gingen
fort, und ich weiß nicht, auf welche Weise es Baron Leo fertigbrachte,
sich nicht von den Heidkamps in ihren Wagen zwingen zu lassen. Auch
die leise neckenden und erstaunten Zurufe der Heidkamperin ließen
ihn völlig kalt, er tat, als sei er der Gebieter »von’t Lager Huus«.
Mit lauter Stimme verkündete er, daß Wichtiges mit der Baronin Lage
er zu besprechen habe und deshalb dankbar die gütige Einladung des
Pfarrhauses Oswald annähme, um dort zu übernachten. Er würde auch den
verehrten Herrschaften so rasch als irgend möglich dorthin nachfolgen.
– Dann gab er noch allen das Geleit, während ich drinnen am großen,
runden Tisch stand und die Papiere meines Jungen aus einer grauen,
unscheinbaren Mappe nahm und vor mich hinbreitete. Mit raschem Ruck
wurde dann von Baron Leo die Tür geöffnet, ohne daß er vorher noch
einmal geklopft hätte.

»Wer ist der Junge, Freiin Brigitte? Ist er Lages Sohn?«

»Ja.«

Dann erzählte ich ihm alles. Und sah, wie es in dem Freunde arbeitete,
und sah, daß er heute noch nicht als »alter, verständiger Mann« zu mir
gekommen war, sondern daß er erst während meiner Erzählung seine eigene
Hoffnung für immer begrub. Ich hatte wohl nicht hindern können, daß
_meine_ Hoffnung mich durchleuchtete.

Noch lange, nachdem ich geendet, saß er mir schweigend gegenüber. Dann
stand er langsam auf und nahm meine beiden Hände. »Sie sollen Ihre
Mission keinem Unwürdigen anvertraut haben, Freiin Brigitte, ich hafte
Ihnen für die sorgsamste Ausführung. Noch in dieser Nacht fahre ich mit
dem Kraftwagen nach Holland. Was soll ich Ritter Lage sagen?«

»_Daß ihm die Gitti gehört für Zeit und Ewigkeit in Lager Treue!_«


            September.

Heute ist mein Krankenhaus und mein Kinderheim geweiht worden.

Welch schöner Tag! Wenn er auch seltsam für mich war, da ich nichts vom
Ritter Lage und nichts von Baron Leo gehört habe. Wenigstens nichts,
was von Belang für mich ist. Clemens Lage hat für das Krankenhaus eine
große Summe an Oswald überwiesen, die dieser mir heute überreichte.
Er tat es in Feierlichkeit, und ich dankte mit wohlgesetzten Worten.
Neben mir stand mein Junge, und die Dörfler alle schauten neugierig,
aber doch freundlich in sein schönes, feines Gesicht. Die wenigsten
haben den Ritter Lage von Angesicht gesehen, so fällt ihnen auch keine
Ähnlichkeit auf. Pastor Oswald und Pfarrer Trewes hielten je eine
Ansprache an die protestantischen und katholischen Dorfbewohner; der
sympathische Baumeister überreichte mir ein Bund, und ich erschloß
das Haupttor mit einem besonders kunstreich geschmiedeten Schlüssel.
Dann folgten mir alle durch die schönen, großen Zimmer und lichten,
kleinen Nebenräume. Im Saal war eine lange, blumengeschmückte Tafel
aufgestellt, geblümte Kannen, Tassen und Teller und Berge von Kuchen
standen darauf. –

Clemens-Hartmut war überall.

Wo es etwas zu helfen gab, besonders bei den uralten Weiberchen und
bresthaften Mannsen sah ich das schöne, in Mitleid und Liebe leuchtende
Knabenantlitz.

Und wo er sprach und half, da streckten sich auch mir runzlige Hände
voll Dank entgegen: »Was ist er doch für ein lieber Bub!«

An den Kinderbettchen stand er und machte den Kleinsten Schattenspiele
mit seinen gelenkigen Fingern, und den Größeren erzählte er Märchen.
Und war doch bei mir, just wenn ich ihn brauchte, und fragte zärtlich:
»Ist meine Gittimuhm fröhlich?« Und jedesmal nickte ich, nur um die
sonnigen Augen nicht zu trüben.

Und gewann auch wieder eigene Freude, weil ich hoffte …

Abends hatte ich dann noch die näher am Bau Beteiligten bei mir zu
Gast. Baron Leo wurde sehr vermißt. Frau von Heidkamp legte mir
Daumschrauben an, sie wollte wissen, was wir damals »in der Nacht«, wie
sie sich ausdrückte, zu schwatzen gehabt hätten, und was in aller Welt
der Baron in Holland wolle.

»So ein Schatullchen!« meinte sie ärgerlich, als ganz und gar nichts
aus mir herauszubekommen war. »Wer hat den Schlüssel zu Ihnen?«

       *       *       *       *       *

In diesen ernsten Tagen des Harrens, und wiederum der Erfüllung, da
doch mein Bau zu Ende gekommen war und alles Notleidende in meinem Dorf
eine liebe, umhütende Heimat gefunden hatte, war mir mein köstliches
Instrument ein wahrer Sorgenbrecher und ein schönes Erleben. Ich hätte
wohl der Heidkamperin sagen können, daß Beethoven den Schlüssel zu
meinem Herzen habe, aber das wäre ihr doch nicht die rechte Antwort
gewesen. –

Als ich neulich am Flügel saß und fantasierte, kam mir ein liebes
Thüringer Volkslied nach dem andern unter die Finger, und da setzte
mit einem Male eine Flöte ein und begleitete mich zart und fein recht
aus einem musikalischen Empfinden heraus. Ich sah auf. Mein Bub stand
an den Flügel gelehnt, und ich sah, wie er die kleine Blechflöte
meisterte, die er wohl irgendwann auf dem Jahrmarkt erstanden hatte.

»Das tönt gut, Gittimuhm«, sagte er, als ich die Hände von den Tasten
sinken ließ.

»Und seit wann spielt mein Junge die Flöte?«

»Ohh! Seit ich von Großmutter Sina ein so schönes Buch bekam: ›Der
große König und sein Rekrut.‹ Da wollt’ ich Flöte blasen und schnitt
mir erst eine aus Weiden, und die nahm mir Fräulein Herwardson fort.
Dann kaufte ich mir diese hier für 40 Pfennige und blies nur draußen
auf der Wiese darauf, und im Winter im Hühnerstall. Da hat mich mal
der Flötist von der Stadtkapelle gehört, der kaufte Eier von Fräulein
Herwardson. Und da hat er mir ganz umsonst Stunde gegeben, so ein
guter Mann. Denn er war arm. Deshalb suchte ich ihm im Frühjahr und
Sommer Kräuter zum Tee. Er hatte es auf der Brust. Und der Tee tat ihm
so gut. Schafgarbe und Quendelchen, Tausendgüldenkraut, Königskerze,
Huflattich, Beifuß und Kamille …«

»Und war denn der Flötist zufrieden mit deinen Leistungen?«

»Oh, der wollte mich schon mit in die Kapelle nehmen. Da hätte ich
Geld verdienen können. Aber – nicht mit einer Blechflöte … Und eine
richtige Flöte kostet 20 Mark! Denk’ nur, Gittimuhm, zwan–zig –
Mark!!!«

»Es ist erstaunlich!« –

Seit jenem Tage musiziere ich mit meinem Jungen, aber nur zur Belohnung
fantasieren wir zum Schluß zweistimmig, denn er lernt ganz planvoll
von mir das Klavierspiel, und wir sind fiebereifrig auf die Erledigung
der Aufgabe. So versüße ich mir das Bangen, das Harren, das Warten …
Diese drei Dinge hat der Böse erfunden, und jeder Heilige soll machtlos
dagegen sein. –

Auch das Rennen hinein in den Lager Wald trägt nicht mehr die Heilkraft
von ehedem in sich. –

Freilich hat es einen Reiz mehr bekommen durch meinen lieben, kleinen
Wanderkameraden, der sich mir sofort anschließt, sobald mein Fuß den
Park betritt. So köstlich war es, ihm alle meine Stätten zu zeigen, den
Märchenwald, den Ilexpfad, Joochen Lages Grab, die Clemenskapelle und
den verschlossenen Tempel. Die vielen, mich überstürzenden Knabenfragen
hatten nichts Quälendes für mich, ich mußte ja unablässig daran denken,
daß es ein Lage ist, dem ich Rede und Antwort stehe. –

Und wundergut war das Wandern zu zweien, dies Austauschen der Gedanken
über alles, was zwischen Himmel und Erde einem zehnjährigen Prinzen und
einer Prinzessin, die alle Möglichkeiten verschlafen hat, verständlich
und unverständlich ist.

Was ich mir in stillen Stunden erhofft und ersehnt, solch ein Wandern
mit dem geliebtesten Menschen auf dem Erdenrund, – – nun gab es mir
das Geschick in diesem Knaben, Ritter Lages Sohn. –

Bei ihm lerne ich das rechte _Schauen_. »Wenn ihr nicht werdet wie die
Kinder.« Und ich lernte das herzliche Lachen über harmlose Dinge und
Begegnungen. Häßlichkeiten verklärt mir der sonnige Bursch durch sein
liebes Lachen. –

[Illustration]

Eine »wüste Insel« haben wir entdeckt. So nennt sie der Schelm. Sie
liegt im großen Lager See, und man muß 30 Schläge rudern, dann kann
der Kahn anlegen. Es ist wohl seit undenklichen Zeiten kein Lage
drauf gewesen, ein kleiner Urwald erwartete uns. Aber mein Diener hat
Clemens-Hartmut versprochen, daß er roden wolle, und da ihm bereits die
Wünsche meines Jungen Befehl sind, so hat Ludwig schon Hofarbeiter von
mir erbeten, die ihm bei dem Gröbsten helfen sollen. Ein Tau haben wir
bereits über die Mitte der Insel gespannt, das ist die Grenze zwischen
Siribisi und Satafuna, unsern beiderseitigen Reichen. Am äußersten
Ende eines jeden Besitztumes werden dann zwei Hütten gebaut, so hat es
sich Clemens-Hartmut ausgedacht. Und sie heißen Blauaug und Schwarzaug
und sollen uns beiden zur Wohnstätte dienen. – Bis jetzt ist also die
Insel gar nicht »wüst«, d. h. _einsam_, sondern sie wird von einer
Kolonne fleißiger Arbeiter und Holzfäller belebt, und mein Junge geht
wichtig zwischen ihnen einher, oder »rodet« mit ihnen, ganz stolz, daß
ihm der Schweiß ebenso rinnt, wie den Großen. Abends sehen wir dann
am Seegestade dem Sonnenuntergang zu und genießen den köstlich warmen
Herbst. Eng aneinandergeschmiegt machen wir unsere Beobachtungen.

Wir träumen uns hinein, daß alles lebt und alles fühlt.

Daß alles in der Natur ein lustiges, oder ein ernstes Frage- und
Antwortspiel ist, und daß der See sich kräuselt und Wellen schlägt, und
dadurch dem Wind und dem Sturm Antwort gibt.

Aus den in unendlichen Mengen herumliegenden, wunderlich geformten
Steinen haben wir uns ein Alphabet gemacht und lernen jetzt lesen. Wir
kennen die Buchstaben schon leidlich auseinander. Wo meine Blauaughütte
hinkommen soll, liegen preislich davor 9 Riesensteine aus unserm
Alphabet, die heißen »Zornebock«, und in Siribisi liegen 5 solcher
Ungetüme, die besagen: »Gitti«.

Alles in allem sind wir zwei närrische Lages, wie sie im Buche stehn. –


            Im Oktober.

Unsere beiden Blockhütten sind fertig und sollen morgen eingeweiht
werden. Clemens-Hartmut »hängt nur noch in den Gräten«, so unendlich
wichtig hat er den Fall genommen, und es bedurfte schon seiner großen
Verehrung für Konrad Oswald, daß er das Lernen nicht vergaß. Oswald
besitzt mein ganzes Vertrauen. Wie ruhig und sicher er den Knaben
leitet! Wie er das reiche, überquellende Gefühlsleben vor dem Uferlosen
zu bewahren sucht und eindämmt! Und wie er brachliegendes, schönes
Erdreich bepflanzt und betreut mit der Menschenliebe des echten
Erziehers.

Er hat auch seine Geige wieder hervorgesucht und übt mit meinem Jungen
kleine, schöne Zwiegesänge ein, die ich dann begleite. Hie und da hört
das Personal unsern Konzerten zu, und Eva behauptet, Lage würde »ganz
neu«.

Morgen mit dem frühesten wollen Clemens-Hartmut und ich in die
Blockhütten siedeln und unsere Monarchien ausrufen. Mit köstlicher,
geheimnisvoller Wichtigtuerei deutete mir mein Junge heute zart an, es
sei durchaus nicht ausgeschlossen, daß Prinz Schwarzaug die Prinzessin
Blauaug im Laufe der Jahrhunderte heimführe …

Und ich gab ihm mit gebührendem Ernste zu bedenken, daß Prinzessin
Blauaug niemals heiraten, sondern sich zu gegebener Zeit lieber in eine
Birke verwandeln wolle. In deren Schatten solle dann Prinz Schwarzaug
jeden Sommertag sitzen. Das fand mein Junge auch viel romantischer und
der wüsten Insel angemessener, als eine gewöhnliche Heirat. –

In diesen Tagen wird Baron Leo zurückerwartet.

Ich schreibe dies so nüchtern und ruhig hin, als berge diese Tatsache
nichts Aufregendes in ihrem Schoß. Denn wenn ich je meine Kräfte
zusammenhalten mußte, so ist es jetzt geboten. Auch nicht das geringste
darf absplittern … Ich spüre es, daß ich an einer großen Wende stehe. –


            In der Blauaughütte des Reiches Satafuna.

Der ehrenfeste Foliant, den ich im Nachen auf unsere wüste Insel
mit hinübernahm, liegt vor mir und soll erfahren, was in dem gelben
Büttenpapier steht, das ich in der Blauaughütte fand:

»_Meine_ Gitti! Ich muß Dich so nennen, wenn Du Dich auch vielleicht
innerlich ganz gegen mich verschlossen hast. –

Deine Tat, Gitti, – diese hochherzige, stille Tat ist das größte
Erleben, das mir widerfuhr.

Und kein Schmerz und kein Glück meines Lebens, ja selbst nicht jener
Weihnachtsabend im Tempel, reicht an diese Deine Tat heran. –

Ihr Wert liegt in der Stille, mit der Du sie ausführtest.

_Wie danke ich Dir?_

Über die Möglichkeit einer Dankabtragung gegen Dich sinne ich seit
jenem Tage nach, da Leo mir von meinem Sohn erzählte. Er war nicht so
zartfühlend wie Du, – er hat mir nichts erlassen, nicht einmal Deine
schwere Erkrankung, den ›Wirbelsturm‹, der über Dich gegangen ist,
meine blasse, weiße Rose. –

Und so habe ich ihn auch über mich ergehen lassen.

Dein schweigendes Dulden war ja härter für mich, als jeder Vorwurf.
Aber für einen Vorwurf wiederum ist mein herbes Mädchen zu scheu. Und
die einzige Entschuldigung, die es für mich gibt, hast Du, meine Gitti,
in Deinem Gerechtigkeitssinn gewiß gleich selbst angenommen: Ich war
jung, war völlig frei, und – ich kannte _Dich_ nicht.

Natürlich habe ich nicht die Belohnung für mein Verhalten verdient, daß
_Du_ die Mutter meines Knaben geworden bist in Deiner aufopfernden,
holden Güte. Der Gedanke, daß Gitti Lage meinen Sohn erzieht, an ihrem
reinen Herzen, ist beinahe unfaßbar. Ich nehme das Geschenk stolz und
demütig zugleich aus Deiner Hand.

Ich weiß auch, daß Du, mein verehrungswürdiges Kind, längst gut von mir
denkst. In Deiner Seele hat überhaupt kein häßlicher, herabsetzender
Gedanke Raum. Aber daß Du Dich vor mir erschreckt hast, Du Feine, –
der Gedanke kann mich jetzt noch rasend machen. –

Meine Gitti, wie danke ich Dir recht?

Alles, was ich an äußeren Gütern besitze, gehört Dir und meinen beiden
Söhnen. Das ist alles inzwischen schon notariell festgesetzt. Mein
Wunsch ist, daß mein Kind bei Dir bleibt und Dich auf Händen trägt,
weil dies der Vater nicht vermag …

Meine Gitti, weißt Du auch, was das furchtbarste ist für einen
aufrechten Mann? Du mußt die beiden letzten Worte streng geistig
nehmen, damit Du nicht laut lachst über den ›Aufrechten‹. Das
furchtbarste also ist, dem Weibe seiner einzigen Liebe zu gestehen,
daß man am Boden liegt, – – körperlich zerschmettert von grausamer
Schicksalshand.

So, – ich habe es Dir gesagt. Aber _das_ verlange nicht von mir –
trotzdem ich Dir ja nach Deiner Tat _jedes_ Opfer bringen müßte, – daß
ich Dich, Du gesundes, kraftvolles Geschöpf, meine Niederlage _sehen_
lasse. –

Gott segne Dich tausendfach! Hab’ Dank und lebe wohl!

            Clemens Lage.«




44.


            Ende Oktober.

Wie bunt schaut unser Wald aus!

So fröhlich!

Als lebte nur Lachen in Lage …

Als wäre da kein Krankenhaus, kein Siechenheim, keine Trennung, noch
Trübsal.

Herbst war mir immer freund. Seine Stürme hochwillkommene Pfadgesellen.

Diesmal ist er mir zu froh. Seine Farbenpracht tut den überwachten
Augen weh. –

Er, der mich sonst so gut verstand, wenn ich meine Not in ihn
hineintrug, er lacht jetzt, da ich weine, er rüttelt mich auf, da ich
nach Ruhe verlange …

Und in den Melodien, die er zu mir trägt, schwingt zuviel Hoffnung …

Hoffnung verwirrt.

Gewißheit stählt.

Mein Kind läßt mich kaum noch allein. Es ist, als wolle Clemens-Hartmut
alles von _mir_ empfangen, die neue Welt, die ihm jetzt aufgeht, mit
_meinen_ Augen sehen. Und er soll doch ganz auf sich gestellt sein. Die
Feinheit seines Empfindens überrascht mich immer aufs neue, und ich
sage mir, daß ihm vieles davon das Mädchen aus dem Volke gegeben haben
muß. –

Seit ich weiß, wie Ritter Lage denkt und handelt, und wie unverworren
seine Vergangenheit sich abgespielt hat, ist eine große Klarheit über
mich gekommen.

Und der Wunsch, gut und groß zu handeln, weitsichtig, ohne einen Hauch
von Eifersucht auf das, was war. Ich möchte wissen, wie Martha Dörpings
Wesenheit war, denn ich möchte das Gute in ihr in ihrem Sohne pflegen.
– Wie gewaltig und ausschließlich muß Ritter Lage mich lieben, wenn
er mich die Mutter seines Sohnes nennt. Er tut alles mit bewußter
Absicht. Das Wehtun und das Wohltun. Bei mir ist noch zuviel Unbewußtes
und Gefühl. Ich darf auch nicht sagen, ich bin, wie ich bin, nehmt mich
so und verbraucht mich so. Dazu habe ich noch zuwenig geleistet. Aber
ich kann bitten: Vergebt mir, wenn ich irre, denn ich strebe noch. –

Meine ganze Arbeit in Lage hat für mich ein anderes Gesicht bekommen.
Ich tue das Gute um des Guten willen ohne Dank, – und ich lebe damit
zugleich meinem Jungen vor. Beispiel ist besser als Mahnung.

Und eine köstliche Wechselwirkung hebt an.

Clemens-Hartmut als Erzieher.

Seine fragenden Kinderaugen haben die Macht, alles Gute aus mir
herauszuholen. Und wenn er mit seiner warmen Stimme ruft: »Du bist doch
das Schönste und Beste auf der ganzen Welt«, dann sehe ich ihm still in
die lieben Augen und denke: »Du! Du formst mich dazu.«

Pastor Konrad Oswald sieht mit verständnisleuchtenden Augen auf uns
beide. Als ich ihn bat, mir pädagogischen Rat zu geben, sagte er, daß
es geborene und erlernte Erzieher gäbe, er sei ein erlernter und ordne
sich mir unter. Das ist gewiß Scherz, aber es scherzt sich wohltuend
mit Pastor Oswald. –

Zwischen uns ist alles klar und rein.

Er umhegt Maria mit der »Höflichkeit des Herzens, die der Liebe
verwandt ist«. Die Aussicht auf das Kind, die nun ganz nahegerückt ist,
hat ihn zur Selbstbesinnung gebracht, hat ihn auch um viele Jahre
gereift. Er verträgt es sogar, wenn ich ihn hie und da »Konradbruder«
nenne, und ich meine, es kann eine Zeit kommen, da er mich ganz
unbefangen-fröhlich Schwester Brigitte rufen wird. Wenn das Kind da
ist. Winzige, neugeborene Kinderhändchen dünken uns schwach und haben
doch höchste Liebeskraft im Festhalten und Zurückführen zu dem, was
uns frommt. – Ich hatte den Pfarrer Oswald auch gebeten, mir ein paar
Freunde für Clemens-Hartmut auszusuchen. Aber es scheint, als lasse
ein Lage sich keine Genossen bestimmen. Zuerst hat er Konrad Oswald
stürmisch entgegnet: »Die Gittimuhm ist mein einziger Freund und soll
es bleiben.« Aber dann hat er doch ganz still und bewußt Umschau
gehalten, mehr aus Gehorsam, als aus Bedürfnis. Und hat sich von
Pfarrer Trewes den Hein Broders zuführen lassen und von Pastor Oswald
den Richard Borgers und hat aus eigenem Ermessen den verkrüppelten,
gescheiten Pieter Dinkel dazugetan. – Mit Hein lernt er, mit Richard
treibt er Sport, und mit Pieter lacht er. Deshalb steht der Pieter bei
mir ganz obenan, denn das Lachen braucht mein Junge am meisten.

Ich wollte meinen Buben oft gern daheimlassen, wenn ich in meine Heime
wandere zu den Kranken, den Siechen und Krüppelkindern, denn ich
fürchtete, er würde mir zu ernst und still beim Entdecken und Schauen
des vielen Elends; aber seit mir die kranken Kinder bekannt haben: »Es
ist jetzt so schrecklich lustig auf der Welt, seit der Clemens-Hartmut
da ist«, lasse ich meinen Jungen nach Herzenslust diese »schrecklich
lustige Welt« verkörpern. Und wirklich, das Lachen aus dem Saal der
kleinen Krüppel schallt bis zum Krankenhaus herüber. Gestern ließ
ich die beiden Freunde Clemens-Hartmut und Pieter Dinkel, die all
diese Lachlust entfesselten, zu den Großen rufen. Da machten sie denn
ihre Kunststücke, wobei mein Junge der Leiter war und Pieter zu den
erstaunlichsten Leistungen verführte, bis dann Clemens-Hartmut noch als
Märchenerzähler auftrat.

Am Abend meinte eine der bresthaftesten alten Frauen: »Auf die Art
möcht’ ich noch 20 Jahre im Krankenbett liegen.«

Selig sind die Genügsamen. –

Als mein Junge und ich am selben Abend durch den herbstlichen Wald
heimwärts schritten, während Pieter Dinkel in unglaublichen Sprüngen
mit seinen Krücken den Weg zweimal machte wie ein junger Hund,
meinte Clemens-Hartmut sinnend: »Ich werde Arzt. Man müßte sie alle
gesundmachen können.«

»Wir wollen ihnen täglich Lachen und Liebe bringen,« sagte ich und
faßte meinen Jungen fester. »das ist _fast_ so gut wie Gesundheit.« –

»Mensch!« rief Pieter Dinkel dem Clemens-Hartmut zu, »wenn sie gesund
würden, kriegten sie ja unsere schönen Kunststücke nicht mehr zu sehen.«

Unsere Verblüffung ließ Pieter das letzte Wort. –


            An einem Sonntag im November.

Um im Glück zu versinken und alle Seligkeiten der ganzen weiten
Welt in sich zu spüren, bedarf es nicht des Wonnemonats Mai, und
auch nicht der Rosen von Schiras. Es kann ein grauer, verhangener,
sturmgepeitschter Novembertag sein, an dem die Sonne sich verkrochen
hat hinter Regenwolken, wie eine mürrische Alte hinter einem Berg von
grauer Strickwolle. Und es kann ein kleiner, krummer, unterernährter
Junge an Krücken gehumpelt kommen und uns ein gelbes Büttenpapier
bringen … siehe, es ist das Glück! Der Brief vom Ritter Lage war dem
armen Pieter Dinkel, der heute seinen schlechten Schmerzenstag hatte,
mehrfach in den von Schmutz bekrusteten Novemberschnee gefallen, aber
in meinen Augen war alles schneeweiß, was mir die kleine verbogene
Jungshand reichte, und die einzigen Schattenstriche bildeten die
steilen, aufrechten, deutlichen Schriftzüge des geliebten Absenders. –

Pieter Dinkel schulterte seine Krücken, weil er sich dann einbildete,
er sei ein kerzenschlanker Soldat und werde von der andern Ehrenwache
abgelöst, und meldete, wie es ihm wohl vorgesagt war, kurz und
militärisch: »Empfehlung von Baron ter Mählen, in einer Stunde wäre er
hier.«

»Es ist gut, Pieter Dinkel.«

Er humpelte zu Clemens-Hartmut, ich verhielt auf meinem Platz, bis ich
das doppelte Kinderlachen hörte, dann stürmte ich in mein Zimmer.

Blumen holte ich mir vom Fenstersims auf meinen Tisch, weiße, duftende
Hyazinthen, warmleuchtenden gelben und lila Krokus, lachend blaue
Amaryllis. Und verteilte sie und stellte dazwischen

    Anemon’ und Pulsatille,
    O wie schläft mein Wald so stille,
    Pulsatill’ und Anemone
    Flocht ich mir zur Blumenkrone.

Und mitten unter die Blumen legte ich den Brief, – seinen Brief mit
den Spuren der lieben Lager Erde. – Dies Verzögern des Zieles war ein
kindisches Spiel voll fröhlicher Erwartung und spannendem Reiz.

»Du!« sagte ich still-selig zu dem gelben Büttenpapier. »Bist du wieder
bei mir, Ritter Lage?«

»Meine Gitti! Man berichtete mir nach Holland, daß mein geliebtes,
weißes Licht von Lage überall Lachen und Liebe hintrage und in alles
Elend der traurigen Katen lindernd hineinleuchte. Und so sah ich Dich
immer vor mir, wie Du die vertrauten Wege gingst, Leid im Herzen und
doch immer Freude gebend. Wo nahmst Du sie her? Aus dem Grunde Deiner
tiefen Seele, denn unter all Deiner eigenen Not ruht bei Dir ein
Nibelungenschatz von Freude. –

Weißt Du noch, daß ich Dir schrieb, das letzte Opfer dürftest Du nicht
verlangen, Du Starke, Gesunde, Nimmermüde: mich am Boden liegen zu
sehen, krank und gekrümmt. Mich, den Du so treulich den ›Ritter‹ Lage
nennst, mich, der einst geträumt und gehofft, die Rüstung, in der sich
der Knabe scherzend verbarg, würde sich einmal prall und beengend um
des Mannes Muskeln schließen …

Gitti, ich bring’ Dir das letzte Opfer. Und bitte Dich: Komm zu mir!
Zeige mir unsern Sohn Clemens-Hartmut. Ich möchte ihn sehen, mit ihm
sprechen, Dich an seiner Seite. Auf seinen zwei jungen Augen ruht
unser Geschlecht, Gitti, wir sind verantwortlich für dieses Reis am
alten Stamm. Man sagt mir, daß seine Augen schön, offen, gütig und
wahrhaftig sind. Wie die Deinen, Gitti. – Man hat mir auch von Blauaug
und Schwarzaug auf der wüsten Insel Satafuna-Siribisi erzählt, und der
Lagesche Humor grüßte mich bis zum hellen Lachen. Ihr beiden Kinder
werdet mir noch mehr zutragen, und der sieche Mann wird noch einmal
Freude trinken. – Denn meine gütige Gitti wird es über sich gewinnen,
nicht vor mir zu erschrecken. Sie wird es nicht einmal ihren Augen
erlauben, sich für die Dauer eines Atemzuges zu verdunkeln, weil ihr
Licht mein Leben bedeutet. –

Gitti, komm! Mein Heimweh eilt Dir entgegen! –

            Dein Clemens.«

Laut rief ich: ›Ich komme!‹ Aber ich wußte nicht, wohin ich gehen
sollte. Doch ich holte Eva, und wir packten ein paar Köfferchen mit
fliegenden Händen, und mein Herz wußte nicht, ob es vor Glück oder vor
Leid so rasend schlug. – Aber nach einer Stunde war Baron Leo bei
mir, und seine große Ruhe teilte sich mir mit. Er hieß die Köfferchen
forttragen und sagte mir, daß Clemens Lage seit ein paar Tagen wieder
im Bildhauertempel wohne und wir nur durch den Lager Forst zu schreiten
hätten. – Viel Seltsames, schier Bedrängendes erzählte mir noch der
liebe Freund von der schweren Krankheit des Ritters Lage, und seine
Blicke ruhten voll Erbarmen auf mir. Aber in mir lebte nur der eine
Gedanke des Wiedersehens mit dem liebsten Manne, der meiner bedurfte.
Der mich brauchte und meine Kraft. –

Wieder nach einer Stunde brachen wir auf. Der Diener Ludwig schritt mit
einer hellen Laterne vor uns her. Baron Leo und Clemens-Hartmut nahmen
mich in die Mitte, und staunend betraten die beiden den Märchenwald
in seiner seltsamen Schönheit und schönen Seltsamkeit. Keines von
uns sprach ein Wort. Was in uns vorging, war Schweigen gebietend.
Clemens-Hartmut schaute aus verträumten Augen, und hie und da drückte
er meine Hand fester. Ich hatte ihm gesagt, daß es zu meinem liebsten
Freunde ginge, und dieser Freund sei sterbenskrank …

In der Clemenskapelle brannte die ewige Lampe.

Mein Herz grüßte sie. Dann war es plötzlich hell am Tempel, und ein
fremder alter Wärter in Dienerkleidung steckte eine Fackel in einen
Eisenknauf. Er verbeugte sich tief, als ich an ihm vorbeischritt. Baron
Leo gab ihm die Hand. »Dies ist Jan Ulles, der dem Clemens vor vielen
Jahren von Lage nach München und von dort nach Holland gefolgt ist«,
stellte er ihn vor. Da reichte ich ihm rasch auch meine Rechte. »Guten
Abend, Jan Ulles«, rief die weiche, liebe Stimme von Clemens-Hartmut. –

Nun stand ich in der Werkstatt an jener Stelle, wo ehedem die ~Pietà~
stand. Und drüben war eine Tür … Mir war’s, als töne es hinter jener
Tür: »Komm, Gitti!« Und da klopfte ich leise. »Ja,« klang es von
drinnen, »_ja_!«

Ich ging hinein.

Oh, ich weiß es, daß ich erschrak. Und doch war meine Liebe so
unsäglich groß. Ich hätte alles Leuchten der Welt haben mögen, um es in
meine Augen zu legen. Aber sie brannten nur wie Feuer, und da weinte
ich, um das Feuer zu löschen. Und stürzte hin an sein Lager, auf beide
Knie ließ ich mich nieder vor ihm und umschlang ihn: »Ritter Lage, wie
hab’ ich mich nach Dir gesehnt!«

Sein tiefes, schönes Lachen klang. Dem hatte der tückische Feind nichts
anhaben können. »Sie ist dieselbe noch! Gott Lob und Dank. Es fehlt nur
der rote Regenschirm.«

Und dann mit tiefem Ernst und hinreißender Zärtlichkeit: »Du
Ewig-Geliebte! Du bist bei mir! Gitti! Mein Licht!«

Ich kniete näher zu ihm heran und richtete mich auf. Und sah sein
völlig entfärbtes Gesicht mit den scharfen Falten, welche die Krankheit
gegraben, die erschreckende Hagerkeit, die wachsgelben Hände, die tief
liegenden Augen, die blasse, hohe Stirn. Und ich küßte ihn innig, da er
es nicht zu wagen schien.

»Wer ist draußen?« fragte er endlich leise. »Leo? Und der Junge? Laß
sie noch eine Weile warten. Mir ist jetzt, als hätte ich doch nur
_dich_ sehen wollen. – Aber nein, – es ist ja richtig. Wir haben
viel zu sprechen über Clemens-Hartmut. – Der Arzt hat mich gehörig
präpariert, damit mich die Schmerzen nicht heimsuchen, solange du
hier bist. Aber sie kommen oft plötzlich und verspotten uns. Rufe den
Jungen, Gitti!«

Clemens-Hartmut kam. Und er sah meine brennenden Tränen und mein tiefes
Leid.

»Weine doch nicht, Gittimuhm,« rief seine weiche, gute Stimme, »ich
habe dich noch nie weinen sehen.« Und sich zu Ritter Lage wendend,
legte er seine warme, feine Kinderhand auf die des Kranken. »Ich werde
bestimmt Arzt,« meinte er beruhigend, »es dauert nicht mehr lange, dann
sind Sie gesund.«

Ritter Lage lächelte. »Das hoffe ich«, sagte er bedeutungsvoll. »Und
nun laß dich einmal recht betrachten, Clemens-Hartmut.«

Vater und Sohn sahen sich schweigend in die Augen.

Dann winkte Clemens, daß sich der Knabe wieder entfernen solle. Er
gehorchte schweigend, und die Tür schloß sich hinter ihm. –

Ich zog mir einen niedrigen Hocker zu dem Ruhebett hin und saß nun ganz
nahe bei dem Geliebten.

»Wie gut sieht der Bub aus!« sagte Clemens leise. »Das schönste Kind
unter all den Lageschen Ahnenbildern … Du wirst ihn recht erziehen,
meine Gitti.« –

»Das will ich, Clemens. Und du wirst mir helfen, ja, Geliebter?«

»Nein, das kann ich nicht«, entgegnete er schroff. »Dies Kind braucht
deine _Liebe_ und gutes, wohlerwogenes Manneswort des Erziehers Oswald.
Ich hab’ genugsam am eigenen Leibe gespürt, was für Gifte sich in eine
Erziehung mischen lassen. Und so soll Clemens-Hartmut niemals Spott
und Ironie zu spüren bekommen, diese Register auf der Dissonanzenorgel,
die man _mir_ zog, und die ich nun am besten meistere.«

»Clemens! Mich hast du nur Liebe spüren lassen.«

»Du echtes Kind!« lachte er. »Mit deiner Verklärungskraft! Ist alles
Weh schon vergessen, das dir von mir kam? Wie gut wäre ich bei dir
aufgehoben gewesen! Und nun sag’ mir, Gitti, – und sieh mich an dabei,
hörst du … wie ein plaudernder Knabe will ich dich fragen –: Was hat
dir den tiefsten Eindruck gemacht in unserm gemeinsamen Erleben? Gelt:
die geheimnisvollen Büttenpapiere? … Oder die ~Pietà~? Über deren Wert
du das für mich feinste Urteil faßtest, indem du Blumen küßtest und
Bäume umarmtest. Oder …?«

»Dein Kuß war es!« rief ich ungestüm. »Ach, du weißt nicht, wie es ist,
wenn man sich nach etwas sehnt und innewird, daß man es nie in seinem
Leben erfahren kann … Da hast _du_ es mir gegeben!« Und ich barg mein
Gesicht in seine Hände und küßte sie.

»Du Seltsames«, sagte Ritter Lage. »Dafür dankst du mir? Für neue
Welten und herb-süße Seligkeiten, die du mich kennen lehrtest, dankst
du mir?«

»Immer, allezeit! Du hast mich aufgeweckt! Es ist so trostlos, sein
Leben zu verschlafen. – Wie sollt’ ich dir nicht danken? Ich bin nun
auch gar nicht scheu mehr, bin recht aufdringlich. Gelt? Findest du
nicht?«

»Erschrecklich.« Und er lachte wieder. »Sieh, – wie wir beide
schulmeistern. Ich lehre dich küssen, und du lehrst mich lachen.
_Wieder_ lachen, meine Gitti. Ah, das ist ungewohnt und tut wohl und
weh.« – Er lehnte sich matt zurück. –

»Nun muß ich gewiß gehen, Liebster«, rief ich erschrocken und richtete
mich auf.

»Ein Weilchen noch,« – bat er, »eine kurze, wichtige Frage lang. Sag’
mir, meine Gitti, was dein höchster Wunsch ist. Du bist noch so jung.
Ich weiß, du liebst Lage und alles, was damit zusammenhängt, – dein
Dorf, deine Leute, die Kapelle, den Märchenwald. Was davon mein ist,
möchte ich _dir_ schenken, möchte dich restlos glücklich sehen, Gitti …
wunschlos … Sprich – Liebste …«

Da nahm ich mein Herz in beide Hände.

Und alle Scheu wich von mir, nur ganz Bitte war ich.

»Laß mich immer bei dir bleiben,« bat ich, – »schick’ mich nicht
fort! Ich mißgönne jedem, selbst deinem alten, treuen Diener, die
Handreichungen bei dir. – Ich darf dich krank und am Boden liegen
sehen, denn ich bin ja dein Kamerad, einen bessern findst du nit!
Ritter Lage! Laß mich bei dir bleiben!«

»Du! Du einzige!« Wie ein Aufschluchzen klang es. Er zog meine Hand an
seine Lippen. Dann rief ich seinen Diener, und ihm folgte Baron Leo auf
dem Fuße. Der Diener gab dem Kranken Wein und ordnete die Kissen, dann
ging er in den Vorraum zu Clemens-Hartmut zurück. Währenddem sprachen
Leo ter Mählen und ich leise miteinander. Bis uns Ritter Lages Stimme
ganz lebhaft rief: »Sie hat entschieden, Freund Leo. Was ich nicht
fassen konnte und wollte, – sie bringt das ungeheure Opfer freiwillig
… Leo, sie bittet mich darum, – Leo, sieh dir dies tapfere Kind an,
– mit Lachen kommt Gitti zum Zornebock … Küsse ihr die Hand, Leo, und
neige dich tief vor der jetzigen und künftigen Herrin von Lage …«

Noch eine Stunde durfte ich bei ihm bleiben. Ritter Lage fühlte sich
wohler denn je. Nur etwas rasch und fieberhaft sprach er. – Er
wollte mich in alles einführen, in seine Pläne über die holländischen
Besitzungen, in das Wohl und Wehe seiner Arbeiter.

Wie war sein Denken scharf, logisch, großzügig und weitsehend! Oft
mußte ich ihn bitten, langsamer vorzugehen, weil ich ihm nicht zu
folgen vermochte.

Dann lachte er herzerquickend musikalisch.

Und wir beide vergaßen in dieser angeregten Stunde die ganze Not, die
sonst so lastend lag. –




45.


            Am 1. Advent.

    Der Morgen wachte weh herauf.
    Der Wind trieb peitschend Staub zuhauf,
    Und wirbelnd warf er ihn an meine Wange.
    Ich quälte keuchend mich bergan.
    Es wehte wild durch Tal und Tann,
    Und stöhnend stand ich still, gebeugt und bange.

    * * *

    Da stach blitzender Sonnenstrahl
    Durch Wolkenberge hin zu Tal
    Und legte leuchtend sich als Aureole
    Um Büsche, Bäume, Wiese, Wald,
    Und meine Unrast wurde bald
    Im Aufruhr der Natur zum ruhnden Pole.

    So kam das Glück mir über Nacht …
    Es schlief bei Gott und ist erwacht,
    Und siegend bricht es durch die Wolkenberge.
    Herrgott, hab’ Dank! Von dir gesandt,
    Nehm’ ich’s geweiht aus deiner Hand,
    Und über aller Zweifel Meer holt mich der Ferge.

Ein Tannenbäumchen steht vor mir mit einem Wachslicht.

In acht Tagen, wenn ich die zweite Kerze aufstecke, dann zündet
auch der Küster nebenan in der alten Kirche die zwei hohen Lichte
an, und ich werde dem Ritter Lage angetraut. Alle, denen wir unser
Verlöbnis mitgeteilt haben, sahen mich lieb und seltsam an. Und ich
kann diese Blicke nur mit Erstaunen sehen. – Wenn sie mir alle voll
Neid begegneten, so würde ich sie verstehen; ihr Mitleid aber muß ich
zurückweisen. Keiner sieht in mein Herz, keiner weiß, wie es darinnen
ausschaut. Nur Gott und ich.

Liebe, Leid und Dank wohnen darin. –

Der andern Blick erfaßt nur den gebeugten, kranken Menschen, der ein
junges, kraftvolles Weib freien will. – Ich sehe in ihm den großen
Künstler, der eine ~Pietà~ schuf, den rastlosen Arbeiter, als der er
mir von Leo ter Mählen geschildert wurde, den großzügigen Gutsherrn,
der auch _nicht einen_ seiner Insten vergißt, sondern ihnen _der_
Helfer schlechthin bedeutet. Ich sehe ihn somit in vielerlei Gestalt,
und in jeder einzelnen groß und bedeutend, immer imstande, mich zu
lehren.

Die großen Schlagetots ringsum, die ich kennenlernte, sie haben alle
nicht die feine Seele meines Ritter Lage. Wenn er diese auch oft unter
messerscharfem Spott verbirgt.

Am herbsten verspottet er ja sich selbst, seine Flügellahmheit, sein
Gebundensein an den forthelfenden Stock. –

Wenn ich diesen Spott aus seiner Seele nehmen, wenn ich selbst sein
Stab sein könnte durch Jahrzehnte hindurch!

Meine Jugend und meine Kraft gehört ihm. Und jeder Atemzug, jedes Wort,
jeder Blick, vor allem aber jede _Tat_ soll ihm sagen: »_Ich diene
dir._ Zu allem, was ich tue, gibst du mir die Stärke durch deine Liebe.«

       *       *       *       *       *

Jeden Tag gehe ich zum Liebsten durch unsern Märchenwald. Hie und da
finde ich im Schnee eine Heideblüte, deren sattes Rot sich unter der
weißen, kalten Decke frisch erhielt. Die bring’ ich dem Ritter Lage,
und dann lächelt er. – Lacht über seine dumme Gitti, die in Eiseskälte
nach einer so schlichten Blume sucht. Aber ich weiß doch, daß er sich
darüber mehr als über all meine prangenden Gewächshausblüten freut. Und
wenn er dann meine erstarrten Finger einzeln nacheinander zum Leben
küßt, – es sind zärtliche Glücksstunden.

Clemens-Hartmut geht jetzt etwas einsame Wege. Die Eifersucht auf
den fremden Mann kämpft mit seinem Mitleid. Oft kann er mich trotzig
ansehen. Meine Nichtbeachtung dieses Zustandes hilft ihm am besten.
Er sagt jetzt »Pflegevater« zu meinem Clemens, und dieser hat ihm das
»Du« angeboten. Clemens-Hartmut empfängt jetzt schon alles aus der
Hand seines Vaters, – die Annahme an Kindes Statt ist vorbereitet und
wird vollzogen, wenn ich Ritter Lages Ehefrau bin. Die volle Wahrheit
erfährt mein Junge erst, wenn er reif genug ist, sie zu erfassen. Bis
dahin fülle ich sein Herz mit Liebe zu meinem einzigen.

Meine Dörfler sind wunschlos glücklich, daß ich Freifrau Lage werden
will. Die Alten kommen und erzählen mir Geschichten aus den Jugendtagen
meines Verlobten, sie loben den Schelm, der er damals war, über den
Schellenkönig, und aus allem klingt es wie rührendes Erbarmen und
Trostbringen zu mir hin.

Clemens macht meinem Dorf große, geldliche Zuwendungen, jede einzelne
Haushaltung bekam am Verlobungstage eine ansehnliche Beisteuer. Und
sie tragen allsonntäglich ihre Wünsche für den »guten, gnädigen Herrn«
in die Kirche, das weiß ich. Und ich drücke alte und junge, runzlige
und schwielige Hände und danke ihnen, daß sie sich für ihn im Gebet
falten. – Viel Besuche habe ich empfangen, die ganze Nachbarschaft
bis weit nach Holland hinein kam angefahren. Bei allen sah ich das
herzliche Bestreben, über die ungewöhnliche Sachlage hinwegzukommen.
Daß die Braut ohne den Verlobten empfängt. Tante Fernande, meine
mütterliche Freundin, ist bemüht, mich wacker zu unterstützen. Sie
hat in den letzten Monaten viel im »Gotha« gelesen und möchte dadurch
ihre Spitalzeit selbst vergessen. Aber sie weiß nicht, wie sie
sich gehaben soll, wenn plötzlich in ihre tadellose Rangliste eine
Almosenempfängerin hineinfällt, die ihrer Herrin mit dem Herzen, ohne
die nötige Besuchskarte Glück wünschen möchte. Auch Gese Nordstamm geb.
Tönnings paßte nicht in Tante Fernandes Festfolge. Und doch war es für
mich solche Freude, die schöne, stattliche Frau Förster zu sehen, die
sich als Mutter ihrer Zwei so recht zu ihrem Vorteil verändert hat.
Sie vertritt mich sehr würdig im Dorf bei Krankenbesuchen, da Maria
Oswald die weitesten Wege nicht mehr zu schaffen vermag und mich mein
geliebter Kranker in Anspruch nimmt. –

Geh’ ich ins Siechenheim, das einzige, dem Ritter Lage mich selbstlos
abgibt –, dann schicke ich Clemens-Hartmut und Pieter Dinkel
zu ihm. Sie sind zuerst Zauberkünstler und Akrobaten, und dann
seine Bildhauerlehrlinge. Alles läßt er ihnen herbeischaffen, was
Jungenherzen erfreut, und dem krummen Pieter Dinkel geht eine ganz neue
Welt auf. Kommen sie zurück, so bringen sie mir vorsichtig kleine, von
Ritter Lage und ihnen selbst geformte Figürchen mit, es sind aber immer
nur »Gittis«, und die drei scheinen nichts dazuzulernen. –

So stellen sich die Sonnenblicke für mich dar, denen sich die reichen
Stunden anreihen, da ich am Lager des Kranken sitze, mit ihm plaudere,
ihm vorlese, oder mit ihm Schach spiele. Heute sagte er mir plötzlich:
»Du siehst so schön aus, Gitti. Täglich erlebe ich dich schöner. Du
mußt immer Weiß tragen, Winter und Sommer. Auch wenn ich tot bin. Aber
dann löscht ja auch dein Leuchten, und es wird dunkel. – Gut, kleine
Regenschirmbase, ich gestatte dir dann ein schwarzes Kleid …«

Ich muß mich dann fest in der Gewalt haben. Das lehrt mich unsägliche
Liebe. Ich kann jetzt fröhlich lachen mit sieben Schwertern im Herzen.

Clemens sagt jetzt oft »Regenschirmbase« zu mir, es ist, als ob mit
diesem Wort die ganze liebe, hoffnungsfrohe Vergangenheit lebendig
würde und ihn hinübertrüge über die schmerzreiche Gegenwart.

Etwas ist noch vorhanden, was viel Kraft von mir fordert. Das sind die
Stunden, da die Ärzte die Krankheit günstiger ansehen und ihm leichte
Besserung in Aussicht stellen. Dann tritt ein gequälter Ausdruck
in sein sonst so männlich beherrschtes Antlitz, und Zorn und Angst
wechseln ständig miteinander ab. Einmal formte es sich sogar zu den
marternden Worten: »Brigitte, bereust du? Brigitte, sei ehrlich!«

Dann aber freue ich mich meiner Liebe, die stärker ist als der Tod;
und ich kann ihn lesen lassen auf dem Grund meiner Seele, darinnen
nichts ist, was nicht dem Ritter Lage gehört. Hörst du mich, Ritter
Lage? Nichts, nichts gibt es an mir und in mir, das nicht dein wäre!
– – – Es gibt Stunden, da ich die Krankheit segne, wenn sie nicht
Schmerzen bringt. – Denn ich darf stundenlang bei ihm sein, weil keine
strenge Pflicht ihn von meiner Seite ruft. Und bin ich erst sein Weib,
dann trennt uns auch kein Abend und keine Nacht mehr.

Baron Leo ist fast täglich bei mir, bei uns. Er hat sich zu den
Heidkampern einquartiert. Die Heidkamperin möchte mir so viel sein in
dieser Zeit, aber mein Leid, das ich mit Aufbietung all meiner Kraft
unter meine Füße zwinge, das überwältigt die liebe Freundin. Wie Bäche
rinnen ihre Tränen, sobald sie meiner ansichtig wird, ganz ohne Fassung
ist die gutmütige, weiche Seele. Deshalb kann ich auch nicht ihren
Wunsch erfüllen, sie ein einzigmal mit zu Ritter Lage zu nehmen. Er
würde sich in vernichtendem Spott dagegen wehren, denn Beherrschung
gilt ihm alles. –

Baron Leo vermag es, stundenlang mit mir bei dem Kranken zu sein und
ganz frohmütig zu scherzen. –

Nur Zukunftspläne formen wir nicht. Ritter Lage haßt Schonung.

So schlägt uns keine Stunde. Genau wie den Glücklichen. –

Über den neuen Namen, der den »grauen Alltag« verdrängen soll, spricht
Clemens des öfteren mit uns, aber wir finden keinen Ersatz. Ganz hitzig
können wir bei dem Suchen werden, und einig sind wir uns nur darin, daß
der »graue Alltag« verschwinden muß. –

»Öde und langweilig ist’s eigentlich nie bei den Lages gewesen«,
erzählte Clemens; »ich habe in vielen der alten Folianten geblättert.
Vielleicht war die Sippe zu gescheit dazu. Also hat der ›Alltag‹ keine
Berechtigung. Aber das ›Graue‹, das Unheimliche und Düstere –, das
haben wir kennengelernt, bei Gott!« Er war blaß, als er dies sagte,
und seine Zähne knirschten leicht. »Soll nicht doch der Name bestehen
bleiben, Gitti?«

»Nein, Clemens!«

»Wie zart und leise sie diesen kleinen Widerspruch wagt, – hörst
du, Leo? Und könnte doch zornig sein, daß ich dem garstigen Namen
Berechtigung zuweise, da das Lichtchen von Lage längst alle Winkel
erhellt hat.«

»_Du_ bist das Licht von Lage«, sagte ich an seinem Ohr. »Ich habe es
vom ersten Sehen an gewußt.«

»Der Leuchter taugt nichts«, rief er schroff, und warf plötzlich die
Schachfiguren durcheinander. –

In solchen Augenblicken vermag ich es, lachend mit ihm zu schelten
und an seinen dunklen Locken zu zausen. Würde ich schweigen zu seinem
Zornanfall, so würde sofort das Mißtrauen in ihm aufstehen. Daß ich
Mitleid haben könnte …

Und so muß ich in angespannter Selbstzucht alles niederzwingen, was
sonst ein junges Menschenkind sich zur Hilfe heranholt in seiner
seelischen Not.

Oft verläßt Baron Leo brüsk das Zimmer, dann legt sich eine tiefe
Zornesfalte zwischen Ritter Lages Augen, und ich muß rasch mein eigenes
Antlitz an seiner Brust bergen, damit er nicht gewahr wird, daß ich
mich fürchte. Schreckhaft bin ich geworden. Das hätte ich nie von der
mutigen Gitti gedacht. –


            Am 2. Advent.

Eben habe ich das zweite Lichtchen entzündet.

Ich bin schon im Brautkleid. Aber mein Liebster ist heute recht
schwach nach einer schlaflosen Nacht. Die Ärzte sind bei ihm und
haben angeordnet, daß die Trauung nicht in unserer Kirche, sondern im
Tempel stattfindet. Die Stätte, da wir uns fanden, soll uns auch ewig
binden. –

Pfarrer Trewes und Konrad Oswald sollen uns nach protestantischem und
katholischem Ritus zusammengeben, gleich nachdem der Ortsvorsteher uns
standesamtlich verbunden hat.

Leo von ter Mählen geleitet mich durch den unterirdischen Gang zu
meinem Liebsten.

Tante Fernande als stellvertretende Brautmutter weint unablässig und
ist kaum zu gebrauchen.

Eva sieht grau und verfallen aus.

So läßt mich alles allein.

Denn Baron Leo kann auch nur die nötige Haltung bewahren, indem er sich
mit ungewohnter Strenge panzert.

Wie bin ich einsam in der heiligen Stunde, da sonst eine Braut
am Mutterherzen ruht und sich alle Bangigkeit von treuen Lippen
hinwegscheuchen läßt. Selbst Clemens-Hartmut muß der Feier fernbleiben.
Was soll dies liebe, ernste, heißempfindende Kind bei solch seltsamem
Fest?


            Am nächsten Morgen.

Diese Zeilen trage ich nun in den ehrenfesten Folianten mit meinem
neuen Namen ein. Ich heiße Brigitte Freifrau von Lage geborene Freiin
von Lage. Gott segne meinen Ausgang und Eingang in das neue Leben! –

Unsere beiden Diener Jan Ulles und Ludwig geleiteten gestern unsern
kleinen Zug mit Lichtern durch den Gang. Es durchschauerte mich
seltsam … Einen Augenblick faßte Leo von ter Mählen meinen Arm
fester. Wollte er mich zurückhalten? Oder glaubte er, ich würde die
Besinnung verlieren? Groß und stolz sah ich ihn an, da murmelte er eine
Entschuldigung. –

Vor der Tür zu Ritter Lages Zimmer ließ man mich allein. Wieder klopfte
ich leise und öffnete sacht die Tür nur eine kleine Spalte. Denn ich
hörte meinen Geliebten leise sprechen. War es ein Gebet? Ich faltete
auch meine Hände.

… »schreibe mir meine Bitte vor, du, die ganze Weisheit und die volle
Güte. Und der du mich von Ewigkeit an geliebt hast. Ja, deine große
Sorge ist meine letzte Stunde. Du willst, daß sie glücklich sei, und um
sie so zu machen, bereitetest du alles vor, vom Anbeginn des Lichtes …
Lichtchen, bist du es?«

»Ja, Ritter Lage.«

»So komm doch herein, du Schönes, du Scheues, du ganz Liebes! Wärest du
eher gekommen, hätten wir miteinander beten können. Alle Lages fangen
ihren Ehestand mit Gebet an. Selbst so wilde, rastlose Gesellen, wie
ich einer bin. Gott grüß’ dich, Gitti!«

»Gott grüß’ dich, Liebster!«

[Illustration]

Dann war die schöne Feier. Und dann gingen die andern alle fort. Nur
wir beide saßen Hand in Hand und Mund an Mund. Und er umschlang mich
mit seinem gesunden Arm, während ich vor ihm kniete, und sagte mir
aberhundert Liebesworte ins Ohr. – Die ich nimmer vergessen werde.
Eva kam, und ich folgte ihr und legte ein weites, weißes, weiches
Hausgewand an, das mit einem feinen goldenen Gürtel von seltsamer Form,
Ritter Lages Brautgeschenk, zusammengehalten wurde. In diesem Kleide
durchwachte ich meine Brautnacht. Mein liebster Mann schlummerte bald
ein, und heute morgen schaute er ganz hell aus den Augen und grüßte
mich froh: ›Guten Morgen, Freifrau von Lage!‹ Und jagte mich dann heim
in den grauen Alltag, auf daß auch ich mich ausruhen solle. Dafür
begehrte er unsern Sohn, Clemens-Hartmut Lage. – Der Junge ist baß
erstaunt, daß aus ihm schier über Nacht ein Freiherr Lage geworden ist.
Er ist zärtlich-gut zu seinem Vater und betreut ihn wie ein gelernter
Krankenwärter. – Auch ich habe fest und traumlos ein paar Stunden
geschlafen. –


            Am heiligen Abend.

O du fröhliche, selige Weihnachtszeit!

Nie habe ich dies alte, erinnerunggesättigte Lied so innig gesungen
wie diesmal. – Fröhlich und selig sind die Tage bis heute verlaufen.
Ritter Lage, wie liebt dich dein Weib! Daß ich bei dir sein, daß ich
dich pflegen darf! Daß ich jeden Tag und beinahe jede Stunde hören
darf: ›Meine Gitti, sei gesegnet!‹ Nun hat mein einziger doch heute zum
erstenmal Pläne geschmiedet, und ich habe ihm jauchzend zugestimmt.

Gleich nach dem Fest wollen wir mit dem Reise-Kraftwagen in ein
milderes Klima fahren. Der graue Alltag drückt zu sehr die Stimmung
herunter, – – der Name tut es, und auch die graue, dicke Nebelluft.
– Baron Leo und Ludwig wollen uns als Kuriere begleiten. Mein Tag war
heute schon reich und ausgefüllt. Denn ich brachte die erlesenen Gaben,
die mein Liebster mir für unser Dorf gespendet, in die Häuser, und
überall leuchteten Lichter im grauen Alltag, das waren die dankbaren
Augen meiner Pflegebefohlenen.

Wie gern hätte ich auch im Krankenhaus und Siechenheim und besonders
in meinem eigenen ›Lager Huus‹ ein besonderes Licht angezündet, indem
ich ihm einen lichten Namen gab. – Aber mein Suchen war immer noch
ergebnislos.

Mein Leben ist jetzt so licht. Mich stört der »graue Alltag« nicht.
Mein Glück durchleuchtet ihn.

Mein Glück???

Ja! Ritter Lages Kamerad zu sein, ist Glück. –

Auch wenn ich ihn stützen muß, anstatt daß er der kleinen Gitti Stab
und Stütze ist.

Mein _Herr_ ist er darum doch. –

Wie köstlich es ist, sich jedem Wunsche des Herzlieben zu beugen.

Wie hat sich sein Befinden gehoben seit unserm Hochzeitstage! Eine
große, köstliche Ruhe ist über uns beide gekommen. Meine Hände falten
sich. _Sein_ Kamerad! Ist es nicht _mehr_, als zwei gesunde Menschen
sich geben können?

Und gibt es in der ganzen, weiten Welt eine Liebe, die größer, reiner,
tiefer, ursprünglicher und gewaltiger ist als die des Ritter Lage zu
seiner Gitti? – Als heute morgen an unserer kleinen Frühstückstafel,
an der außer uns nur unser geliebter Junge Clemens-Hartmut teilnahm,
das kristallene Schaumweinglas an das meine klang und meines Gatten
tiefe, schöne Stimme rief: »Ich bring’ es dir, meine Königin«, da
meinte ich, selbst das Glas müsse springen vor Überfülle der Freude …
Sonne, Sonne leuchtete allüberall. –

»Und ich bring’ dir das meine, du herzliebster Ritter Lage«, rief ich
schier übermütig und trank den Schaumwein bis auf die Nagelprobe. –

»Wie ihre Augen leuchten!« rief Clemens-Hartmut begeistert. »Ist
Gittimutter nicht schön?«

»Du wirst sie all dein Lebtag als das Höchste lieben und ehren! Gib mir
deine Hand darauf, Clemens-Hartmut!«

Wie feierlich klang die Stimme meines Liebsten! Und dann froh, wie ich
sie selten hörte, gesättigt von einem tiefen Glücksempfinden: »_Gott
segne mein Licht von Lage!_«


            Am 1. Weihnachtstage.

Ich komme von meinem Liebsten.

Ich klopfte an seiner Tür.

Aber er hörte mich nicht.

Ich ging hinein.

Aber er sah mich nicht.

Geschlossen waren die liebsten Augen der Welt … Für immer!!

Herrgott! Gib meinem Liebsten fröhliche Urständ!

Ich selbst darf nicht zerbrechen. Ich soll seinen Sohn erziehen. Ritter
Lages Kamerad bin ich gewesen. Ich trage seinen Namen. Er hat mich
geliebt und liebt mich über den Tod hinaus.

Seinen Knaben an der Hand, trat ich in den Märchenwald. Und die heilige
Weihnachtssonne leuchtete wie der Stern von Bethlehem über Lage. Da
wußte ich es, daß du im Lichte weilst, mein Geliebter … Und daß nun
auch deine Gitti fürder nicht im »grauen Alltag« wandeln dürfe. Aus
meinem tiefsten Leid geboren, aus dunkelster Herzensnacht heraus, gabst
du mir, Gott, den Namen für mein Haus und mein Dorf:

        »_Auf der Sonnenseite._«

[Illustration]




Bongs Goldene Klassiker-Bibliothek


    _Arndt_, 4 Bde.
    _Arnim_, 2 Bde.
    _Arnim_ und _Brentano_, Des Knaben Wunderhorn, 2 Bde.
    _Bürger_, 2 Bde.
    _Chamisso_, 2 Bde. (3 Teile).
    _Chamisso_ (Vollst. Ausg.), 3 Bde.
    _Droste-Hülshoff_, 3 Bde.
    _Eichendorff_, 3 Bde.
    *_Fouqué_, 1 Bd.
    _Freiligrath_, 3 Bde.
    _Goethe_ (Auswahl) 6 Bde.
    _Goethe_ (Erweiterte Ausgabe), 10 Bde.
    *_Goethe_ (Vollst. Ausgabe mit Register), 22 Bde.
    *_Goethe_, Register allein, 2 Bde.
    _Grabbe_, 3 Bde.
    _Grillparzer_ (Auswahl), 5 Bde.
    _Grillparzer_ (Vollständ. Ausg.), 7 Bde.
    _Grimm_, Märchen, 1 Bd.
    *_Grimm_, Sagen, 1 Bd.
    _Grimmelshausen_, 3 Bde.
    _Grün_, 3 Bde.
    _Gutzkow_, 4 Bde.
    _Gutzkow_ (Erweit. Ausgabe), 7 Bde.
    _Gutzkow_, Ritter v. Geiste, 3 Bde.
    _Halm_, 2 Bde.
    _Hauff_, 3 Bde.
    _Hebbel_, 5 Bde.
    _Hebbel_ (Werke und Tagebücher), 7 Bde.
    _Hebbel_ (Tagebücher), 2 Bde.
    _Hebel_, 2 Bde.
    _Heine_ (Auswahl), 5 Bde.
    _Heine_, 15 Teile (Vollst. Ausg.), 7 B.
    _Herder_, 6 Bde.
    _Herwegh_, 1 Bd.
    _Hoffmann_ (E. T. A.), 8 Bde.
    _Hoffmann v. Fallersleben_, 2 Bde.
    _Hölderlin_, 2 Bde.
    _Homer_, 2 Bde.
    *_Immermann_, Münchhausen mit Oberhof, 1 Bd.
    _Immermann_, 3 B.
    _Keller_ (Gottfried), 5 Bde.
    _Keller_ (Gottfried), (Erw. Ausg.), 6 Bde.
    _Kerner_, (Just.), 2 B.
    _Kleist_ (H. v.), 3 Bde.
    *_Körner_, 1 Bd.
    _Lenau_, 2 Bde.
    _Lessing_, 4 Bde.
    _Ludwig_, 3 Bde.
    *_Meyer_, C. F. 3 Bde.
    _Mörike_, 2 Bde.
    *_Nestroy_, 1 Bd.
    *_Nibelungenlied_, 1 Bd.
    _Novalis_, 2 Bde.
    *_Raimund_, 1 Bd.
    _Reuter_, 6 Bde.
    _Scheffel_, 3 Bde.
    _Schenkendorf_, 1 Bd.
    _Schiller_, Auswahl, 6 Bde.
    _Schiller_ (Vollständ. Ausgabe), 12 Bde.
    _Shakespeare_, Dramen, 4 Bde.
    _Shakespeare_ (Erweiterte Ausgabe), 6 Bde.
    _Shakespeare_ (Vollst. komment. Ausgabe), 7 Bde.
    _Stifter_, 5 Bde.
    _Storm_, 3  Bde.
    _Sturm u. Drang_, Dichtungen aus der Geniezeit, 2 Bde.
    _Tieck_, 2 Bde.
    *_Uhland_ (Schulausgabe), 1 Bd.
    *_Uhland_ (Erweit. Ausgabe), 2 Bde.
    _Wagner_ (Richard), 6 Bde.
    *_Zschokke_, 4 Bde.

Jeder Band in Ganzleinen 3 M., Halbleder 5 M., Ganzleder 6 M. Die mit *
bezeichneten Bände 50 Pf. mehr.


_Lessing_ (Vollständ. Ausg.) 25 B. 150 M. Leinen, in Halbleder 200 M.

_Lessing_, Anmerkungen und Register allein 5 Bde. 30.– M., in
Halbleder 40.– M.


Den Freunden von »Bongs Goldener Klassiker-Bibliothek« steht das 160 S.
starke, =reich illustr. Bändchen »Lebensbilder unserer Klassiker«=
gegen Einsendung von 25 Pf. postfrei zur Verfügung. Die »Lebensbilder«
enthalten eine Schilderung des Lebens und Wirkens unserer Klassiker
sowie die Inhaltsangaben der in »Bongs Goldener Klassiker-Bibliothek«
erschienenen Werke, ferner: 58 Porträte und einen Anhang: »Grundlinien
der Kultur- und Literaturgeschichte von 1740 bis zur Gegenwart«.


Berlin · Deutsches Verlagshaus Bong & Co. · Leipzig




Romane von

Felicitas Rose

        Jeder Band in Ganzleinen gebunden 6.50 M.,
        die mit * bezeichneten Bände auch in Halbleder je 10 M.


*Die Wengelohs. Geschichte einer Postfamilie.

Es ist, als ob die Welt Reuters in neuer Wandlung auferstanden wäre und
ein Klang aus dem Waldhorn Eichendorffs darüber hinflöge.


*Der hillige Ginsterbusch.

Soeben erschienen. – Das Aufblühen einer edlen Frauenseele. Ein Buch
der Selbsterneuerung von innen heraus, wie es unserer Zeit dringend not
tut!


*Die Erbschmiede.

Ein Buch aus der Seele der Lüneburger Heide, das geheimnisvolle
Einblicke in die Eigenart der wortkargen, kraftvoll gütigen Heidjer
erschließt.


*Heideschulmeister Uwe Karsten.

Die stille und doch mächtige Poesie der Heide, wie sie in so
ergreifender Melodie seit Liliencrons Heidebildern nicht gehört wurde,
durchströmt dieses Buch, und mit dem Leben der Heide hat die Dichterin
Menschenschicksale zu einem wunderbaren Zusammenhang verflochten.

            (Badische Neueste Nachrichten.)


*Erlenkamp Erben.

Der Abenteuerlust des Erben der Erlenkamp steht das bodenständige
Patriziertum gegenüber. Der ernsten Tragik hält köstlicher Humor das
Gleichgewicht, und gesunde Lebensbejahung treibt die Sorgenwolken immer
wieder auseinander. Ein Buch in spannender künstlerischster Formung.

            (Abendpost, Chikago.)


Die Eiks von Eichen.

Kantige Menschen, die im Jähzorn fehlen können, aber in Wahrheit einen
Schatz von Tatkraft und leuchtender Güte bergen. Geheimnisse der
Kinderschule werden ausgebreitet, seltsame Gestalten und eigenartige
Erlebnisse legen eine ungewöhnliche Stimmung über dieses Buch.

            (Fränkischer Kurier.)


Das Lyzeum in Birkholz.

Der stille, schwermütige Zauber der niederdeutschen Landschaft, die
anheimelnde Geschlossenheit einer kleinen Stadt, der schwerblütige
Charakter des Heideschulmeisters stehen scharf umrissen, oft von
satirischen Lichtern umspielt, in den meisterlich miteinander
verwobenen Schicksalen.

            (Düsseldorfer Tageblatt.)


*Der Tisch der Rasmussens. Die Geschichte einer Familie.

Eine spannende Handlung, durchweht von einem köstlichen Humor.

            (Süddeutsche Heimatweisen.)


Meerkönigs Haus.

Mit vollendeter Kunst stehen die Menschen im ruhigen, selbstsicheren
Leben der alten Hansastadt, und wie aus Gemälden alter deutscher
Meister schauen sie uns daraus entgegen.

            (Literaturbericht, Berlin.)


Der Mutterhof. Ein Halligroman.

In diesem Roman ist alles groß, stark, sicher und schicksalsvoll. Auf
dem Mutterhof gilt der uralte Wahlspruch vom Segen der Fruchtbarkeit,
doch eine schwere Tragik hängt über der jungen Frau Maren, der das
Schicksal Mutterglück verweigerte.

            (Tägliche Rundschau.)


Der graue Alltag und sein Licht. Mit 26 Originalzeichnungen von _H.
Krahforst_, Aachen.

Ein bestrickender Zauber geht von diesem Buch aus, das uns vom Alltag
zum Licht führt. Wieder weiß Felicitas Rose ungemein zu fesseln,
Gestalten wachsen in bunter Fülle empor, und die mannigfachen
Schicksale sind mit der sicheren Hand einer reifen Künstlerin
gezeichnet.

            (Tägliche Rundschau.)


Drohnen. Eine Geschichte für junge und alte Nichtstuer.

Lebensechte Gestalten in bunter Fülle, eigenartige und fein beobachtete
Charaktere, feiner, warmer Humor.

            (Karlsruher Tageblatt.)


Bilder aus den vier Wänden.

Ein köstlicher Humor durchleuchtet diese intimen und feinen
Kabinettstücke. Aus den Erzählungen spricht eine Liebe, die über die
engen Grenzen sich weitet zur alles umfassenden Menschenliebe.

            (Breslauer Morgenzeitung.)


Rotbraunes Heidekraut. Lieder. Mit 4 Bildern von _H. Krahforst_.

Ganzleinen 3 M.


Provinzmädel. 5 Doppelbände, jeder Doppelband in biegsamem Ganzleinen
2.50 M. Band I: Kleinstadtluft / Kerlchens Lern- und Wanderjahre. /
Band II: Kerlchen wird vernünftig. / Kerlchen als Erzieher. / Band
III: Kerlchen als Anstandsdame / Kerlchen als Sorgen- und Sektbrecher.
/ Band IV: Kerlchens Flitterwochen / Kerlchens Mutterglück. / Band V:
Kerlchens Ebenbild / Liebesgeschichten.

_Sprudelnder Humor – Köstliche Situationen!_


Berlin · Deutsches Verlagshaus Bong & Co. · Leipzig




Bongs Jugendbücherei

Von Ministerien, Schulmännern, Erziehern, sowie den Prüfungsausschüssen
und der Presse bestens empfohlen.

    *=Über und unter der Erde.= Technische Rekorde. Von _Hans
        Dominik_. Mit 170 Abbildungen, Skizzen und Photographien.

    *=Triumphe der Technik.= Von _Hans Dominik_. Mit 203
        Abbildungen, Zeichnungen und Photographien.

    *=Die Abenteuer des Fürsten Dshaparidse=, des größten
        Bärenjägers Sibiriens. Erzählt vom letzten überlebenden
        Gefährten _Egon von Kapherr_. Mit 170 Abbildungen.

    *=Jugend-Turn- und Sportbuch= von ~Dr.~ _Ed. Neuendorff_. Mit
        zahlreichen Abbildungen.

    *=Das Buch der Physik.= Errungenschaften der Naturerkenntnis.
        Von _Hans Dominik_. Mit 154 Abbildungen, Tabellen,
        technischen Skizzen und Photographien.

    *=Das Buch der Chemie.= Errungenschaften der Naturerkenntnis.
        Von _Hans Dominik_. Mit 150 Abbildungen, Tabellen,
        technischen Skizzen und Photographien.

    =Gemälde und ihre Meister.= Mit erklärenden Texten berufener
        Mitarbeiter, sowie einem Geleitwort von Stadtschulrat ~Dr.~
        _Arnold Reimann_. Mit 8 farbigen und 40 schwarzen Beilagen.

    =Unter den Wilden.= _Entdeckungen und Abenteuer._ Von
        ~Dr.~ _Adolf Heilborn_. Mit 5 farbigen Beilagen und 36
        Textbildern.

    =Wilde Tiere.= Von ~Dr.~ _Adolf Heilborn_. Mit 4 farbigen
        Beilagen und 39 Textbildern.

    =Leben und Treiben zur Urzeit.= Von ~Dr.~ _O. Hauser_. Mit 4
        farbigen Beilagen, 145 Textbildern und einer Karte des
        Vézèretales.

    =Deutsche Dichter.= Von _Felix Lorenz_. Mit Proben aus
        den Werken, 4 bunten Beilagen, 73 Textbildern und 66
        Handschriftenproben.

    =Berühmte Musiker und ihre Werke.= Herausgegeben von Prof.
        _R. Sternfeld_. Mit 76 Textbildern, 13 Faksimiles und 44
        Notenbeispielen.

    =Seelenleben unserer Haustiere.= Von ~Dr.~ _Th. Zell_. Mit 4
        bunten Beilagen und 80 Textbildern.

    =Im Wunderlande der Technik.= _Meisterstücke und neue
        Errungenschaften._ Von _Hans Dominik_. Mit 190 Abbildungen
        und Originalzeichnungen, technischen Skizzen und
        Photographien.

    =Das Sternenzelt und seine Wunder.= Von Prof. ~Dr.~ _Joseph
        Plaßmann_. Mit 2 Tafeln und 108 Abbildungen.

    =Die schönsten Märchen der Weltliteratur.= Gesammelt und
        herausgegeben von Prof. _Friedr. v. d. Leyen_. Mit vielen
        farbigen Kunstblättern und Textbildern. 2 Bände.

Jeder Band in Halbleinen 4 M., die mit * versehenen Bände je 5 M.


Berlin * Verlag von Rich. Bong * Leipzig




    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

    Korrekturen:

    S. 269: wiederum mein → wiederum ist mein
      für einen Vorwurf wiederum {ist} mein herbes Mädchen zu scheu





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER GRAUE ALLTAG UND SEIN LICHT ***


    

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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
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computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
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Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
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freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
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